Sie sind auf Seite 1von 124

BeNeLux € 7,10 Finnland € 9,10 Griechenland € 7,50 Norwegen NOK 105,– Portugal (cont) € 7,20 Slowakei € 7,40 Spanien

i € 7,40 Spanien € 7,40 Tschechien Kc 220,- Printed


Dänemark dkr 67,95 Frankreich € 7,40 Italien € 7,80 Österreich € 6,80 Schweiz sfr 8,90 Slowenien € 7,20 Spanien / Kanaren € 7,70 Ungarn Ft 3390,- in Germany

MISSBRAUCH

der CDU-Politiker
Der Strichjunge und

dabei riskiert
Krieg verändert –
und was der Westen
Wie der Leopard 2 den
und China schon
FAHRERLOSE AUTOS
So weit sind Amerika
»Ich bin ein
Hochstapler«

JETZT SIEGEN?
MEDIENSTAR WELZER
DEUTSCHLAND

KANN DIE UKRAINE


Nr. 5 | 28.1.2023
€ 6,10
Wir sehen die Welt mit anderen Augen
als früher. Und Geld kann man heute
auch fortschrittlicher anlegen
• Jetzt in Investmentfonds anlegen oder ansparen
• Mit unseren Investmentfonds setzen wir alles daran, dass Sie
zuversichtlich in Ihre finanzielle Zukunft blicken können
• Unsere erfahrenen Expertinnen und Experten haben die Märkte
im Blick und arbeiten täglich daran, mehr aus dem Geld unserer
Anlegerinnen und Anleger zu machen. Zuverlässig und
vorausschauend – seit mehr als 65 Jahren
Mehr Infos unter www.union-investment.de oder bei einer
persönlichen Beratung in einer unserer Partnerbanken.
Geld zeitgemäß mit
Investmentfonds
anlegen

Aus Geld Zukunft machen

Weitere Informationen, Hinweise zu Chancen und Risiken, die Verkaufsprospekte, die Anlagebedingungen und die Basisinformationsblätter erhalten Sie kostenlos in deutscher
Sprache bei Union Investment Service Bank AG, 60329 Frankfurt am Main, oder unter www.union-investment.de/downloads. Stand: 1. Januar 2023
HAUSMITTEILUNG

Titel | Seiten 12, 17, 20, 22, 25


J. Maria Fritz / DER SPIEGEL
D. Butzmann / DER SPIEGEL

Als am Dienstagabend klar war, dass der Westen Kampfpanzer


liefert, twitterte der ukrainische Vizeaußenminister Andrij Mel-
nyk ein Foto von sich mit einem Glas Bier. »Ich werde mich heu-
te betrinken«, schrieb er – vor Freude, versteht sich. In der
Ukraine sind viele erleichtert, dass das Ringen um die Lieferung
von Leopard-2-Panzern endlich ein Ende hat. Die »Leos« sollen
Wladimir Putin an den Verhandlungstisch zwingen. Doch könnte der Westen auch tiefer in die-
sen Krieg rutschen. Olaf Scholz verhandelte im Hintergrund mit anderen Staats- und Regierungs-
chefs einen Pakt, der verhindern soll, dass Putin sich Deutschland als bevorzugtes Vergeltungsziel
aussucht. Ein SPIEGEL-Team um Redakteur Veit Medick zeichnet in mehreren Artikeln auch nach,
wie es zu seiner Wende in der Panzerfrage kam. In der Ukraine recherchierte Reporter Christoph
Reuter. »Es ist erstaunlich, welche Bedeutung die Panzer in der Debatte bekommen haben«, sagt
Medick. »Der Krieg in der Ukraine, auch Scholz’ Kanzlerschaft, stehen jetzt an einem Kipppunkt.«

Harald Welzer | Seite 102

Der Sozialpsychologe Harald Welzer (r.) gehörte zu


Deutschlands beliebtesten Talkshowgästen. Dann eckte
Winnetou
er mit Äußerungen zum Krieg an, provozierte mit zwei-
und die
Ruben Plasencia / DER SPIEGEL
felhafter Medienkritik – und machte sich aus dem Staub,
als es ihm in Deutschland zu kalt wurde. SPIEGEL-Autor
Arno Frank besuchte Welzer in dessen Domizil auf den
Kanaren. Den genauen Ort seiner »Eremitage« mochte
Wirklichkeit
der Soziologe nicht im SPIEGEL lesen, wohl aber, dass er
regelmäßig dort überwintere. Auch auf einer Wanderung Erfahren Sie in
redeten die beiden über große Probleme der Menschheit.
Der Klimakrise hat Welzer früh zu Aufmerksamkeit verholfen. Verzicht mag er dennoch nicht der neuen Ausgabe
predigen. Den Klimaschaden durch seine Flugreisen etwa könne man ja auch kompensieren. Do-
zieren, merkte Frank, liegt dem Buchautor, der heute nur noch selten an Universitäten lehrt. Als SPIEGEL GESCHICHTE,
Frank sich kurz in Welzers umfangreicher Bibliografie verhedderte, merkte der das sofort: »Da
hat wohl einer seine Hausaufgaben nicht gemacht!« wie die Indigenen
Nazijäger im Netz | Seite 32 Nordamerikas
D. Butzmann / DER SPIEGEL

Rechtsextreme und Neonazis kommunizieren im Netz meist in geschlossenen tatsächlich lebten –


Gruppen. Um mitlesen zu können, was sie da verabreden, braucht es Menschen,
die wissen, wie sie sich in diese Gruppen einschleichen können. Ein SPIEGEL- und warum sich
Team um Ann-Katrin Müller und Roman Höfner hat einige dieser Internetaktivis-
tinnen und -aktivisten befragt. Warum begeben sie sich in die Gefahr, von ge- Klischees so
waltbereiten Neonazis enttarnt und gejagt zu werden? »Sie haben das Gefühl,
dass es notwendig ist«, sagt Müller, »sie können nicht aufhören, selbst wenn es ihnen nicht gut da- hartnäckig halten.
mit geht.« Tatsächlich haben die Nazijäger mit den gefundenen Daten schon geholfen, die Iden-
titäten von Extremisten aufzudecken, von denen einige inzwischen vor Gericht stehen. Und sie
haben sehr wahrscheinlich schon Terroranschläge verhindert. »Diese Leute erreichen oft viel mit
ihrer Arbeit, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt«, sagt Höfner. »Manche von ihnen ha-
ben nicht einmal ihr privates Umfeld eingeweiht.«

Hinweis für Abonnenten


Am vergangenen Wochenende konnte die Deutsche Post wegen der Warnstreiks den SPIEGEL lei-
der nicht allen Abonnenten wie gewohnt zustellen. Sollte es wieder zu Streiks kommen, würden
Jetzt
wir Sie per E-Mail informieren und Ihnen einen digitalen Zugriff freischalten. Dort könnten Sie –
selbstverständlich kostenlos – alle Artikel lesen, ob im digitalen SPIEGEL oder in
im Handel
der Heftoptik als PDF. Damit wir Sie erreichen können, bitten wir Sie, uns Ihre
E-Mail-Adresse mitzuteilen, gern über abo.spiegel.de/infoservice. Oder Sie
scannen den nebenstehenden QR-Code. Natürlich sind wir auch persönlich für
Sie da unter der Nummer 040 3007-2700 (Mo. bis Fr. von 8 bis 19 Uhr und
Sa. von 10 bis 18 Uhr). Oder Sie senden eine E-Mail an aboservice@spiegel.de.

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 3


INHALT TITEL

6 | Leitartikel Die Panzer­


lieferung an die Ukraine
könnte den Anfang vom Ende
DER SPIEGEL 77. Jahrgang | Heft 5 | 28.1.2023
des Kriegs bedeuten

12 | Rüstung Wie Kanzler


Scholz den Bündnispartner
USA auf seinen Kurs zu Panzer­
lieferungen drängte – und was
die Deutschen darüber denken

17 | Der neue Leopard­2­Boom


erfreut die deutschen Hersteller

20 | USA Die ehemalige


Regierungsberaterin Angela
Stent über die Fehler des
Westens im Umgang mit Russland

22 | Ukraine Warum die


deutschen Panzerlieferungen
wichtig sind für das Land

25 | Was den Leopard 2 A6

Krauss-Maffei Wegmann / dpa


so besonders macht

DEUTSCHLAND

8 | Immer mehr Bundeswehr-


angehörige verweigern den
Kriegsdienst / Deutsch-iranische
Parlamentariergruppe vor
Die Panzerwende dem Aus / Klimaprotestierer
sollen Polizeieinsatz zahlen /
Die Gegendarstellung
RÜSTUNG Wochenlang zögerte Olaf Scholz mit der Freigabe von Kampfpanzern,
dann kam der Durchbruch. Eine internationale Allianz soll der Ukraine nun 26 | Parteien Warum der
Provokateur Wolfgang Kubicki
mehrere Dutzend Leopard 2 liefern. Der von Wladimir Putin angezettelte Krieg geht gute Chancen hat, wieder zum
in eine neue Phase. Wie kam es zum Sinneswandel des Kanzlers? | 12 FDP­Vize gewählt zu werden

28 | Regierung SPIEGEL ­
Gespräch mit Bauministerin
Klara Geywitz über
gebrochene Wahlversprechen

31 | Demokratie Für die Linke


wird die Wahlwiederholung
in Berlin zum Schicksalsmoment

32 | Rechtsextremismus
Wenn Freizeitermittler Nazis
Ruben Plasencia / DER SPIEGEL

jagen
Apollonia Theresa Bitzan
Ziv Koren / Polaris / laif

35 | Verbrechen Die Akte des


Messerstechers Ibrahim A.

36 | Krawalle In Bonn ging es


in der Silvesternacht hoch her

Harald Welzer Benjamin Netanyahu Raphaela Edelbauer 38 | Missbrauch Der eine


Der Soziologe fällt aus der Schafft der Premier die Im Buch der Österreicherin war Täter, der andere
Rolle des geschmeidigen Talk- Demokratie ab? In Israel regieren taumeln Jugendliche durch das Opfer – nach mehr als 50 Jahren
show-Intellektuellen. | 102 Extremisten mit. | 72 Wien von 1914. | 106 treffen sie sich jetzt wieder

4 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
43 | Ortstermin Wie eine 78 | Nigeria Das Land droht
bayerische Gemeinde zum »failed state« zu werden
die Energiewende schafft
82 | Libanon Die deutsche
44 | Zeitgeschichte Was das Witwe des ermordeten
Horrorjahr 1923 und die Dissidenten Lokman Slim und
Gegenwart gemeinsam haben ihre Suche nach Gerechtigkeit

REPORTER SPORT

48 | Familienalbum / Schaffen 85 | Die längsten Tennis-


sich die blauen Häkchen ab? matches / Bringt Spitzensport
die Bevölkerung in Bewegung?

Waymo
49 | Eine Meldung und ihre
Geschichte Schlagerlegende 86 | Psychologie Warum
Ireen Sheer geht in Musikrente Sportler betrügen Deutschland fährt hinterher
Der Traum vom selbstfahrenden Fahrzeug hat sich bislang für
50 | Hoffnung Unterwegs mit 89 | Fußball Der Niedergang
die deutschen Autobauer nicht erfüllt. Techriesen aus China und
den Drohnenjägern von Kiew des italienischen Rekordmeisters
den USA dagegen schmieden große Pläne. | 58
Juventus Turin
55 | Kolumne Leitkultur

WISSEN
WIRTSCHAF T
90 | Weniger Tierversuche in den
56 | Pkw-Hersteller gegen USA / Analyse: Selbst geringe
Euro 7 / Verstimmung zwischen Mengen Alkohol sind schädlich
Uniper und Stadtwerken
92 | Pandemie Hass auf For-
58 | Autoindustrie VW, BMW scher – die toxische Suche nach
und Mercedes klammern sich dem Ursprung des Coronavirus

Werner Dieterich / Westend61


ans Ideal vom Privatauto – und
verpassen den Trend zu 96 | Archäologie Das Alltags-
autonom fahrenden Taxiflotten leben der Menschen in Babylon

62 | Mode Der neue Chef 98 | Psychologie Trainings-


der Edelmarke Boss setzt auf pädagoge Swen Körner über die
Masse statt Luxus richtige Selbstverteidigung
Wer stoppt Mietenwahnsinn und Baukrise?
64 | Pharmaindustrie Europa
Die Wohnungsnot wächst. Im SPIEGEL-Gespräch erklärt Bauministerin
löst sich zu langsam aus der Ab- KULTUR Klara Geywitz, warum die Ampelkoalition ihre Ziele
hängigkeit von Indien und China
verfehlt – und macht Druck auf den Justizminister. | 28
100 | Klagelieder von Joe Henry /
66 | Finanzen Ökonom Gabriel Der traurig-schöne Film »Wann
Zucman über weitreichende kommst du meine Wunden küssen«
Ideen zur globalen Besteuerung
von Unternehmen und Reichen 102 | Karrieren Ein Besuch bei
Harald Welzer, der Deutschland
68 | Industriepolitik Bei der von den Kanaren aus erklärt
Wasserstofftechnologie verspielt
Europa seine Führung 106 | Literatur Warum das
Wien-Panorama »Die Inkommen-
surablen« die Kritik spaltet
AUSLAND
108 | Hip-Hop Fettes Brot im
Johannes Arlt / DER SPIEGEL

70 | Dänemark will den SPIEGEL -Gespräch über ihre


Bettag abschaffen / Das Leid Auflösung und Humor im Rap
der Indigenen in Brasilien
112 | Kino Der tolle Jugendfilm
72 | Israel Netanyahus neue »Close« von Lukas Dhont
Regierung versucht, die
Gewaltenteilung abzuschaffen 115 | Albumkritik Poprebellin
Raye lässt einen schwindeln Jein heißt Jein
76 | Kaukasus Die seltsame SPIEGEL-TV-Programm | 65 Bestseller | 107 Eine der populärsten und witzigsten deutschen Hip-Hop-Gruppen
Erkrankung des ehemaligen geor- Impressum, Leserservice | 116
Nachrufe | 117 Personalien | 118
hört auf – Fettes Brot blicken zurück auf 30 Jahre Bandgeschichte
gischen Präsidenten Saakaschwili Briefe | 120 Letzte Seite | 122 und verpasste Chancen auf Reichtum. | 108

Titelfoto [M]: Christian Thiel Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 5


Es ist an der Zeit, den Spieß umzudrehen
LEITARTIKEL Die Lieferung von Leopard-2-Panzern an die Ukraine könnte der Anfang
vom Ende des Krieges sein.

Angriffe abzuwehren. Sie könnten selbst in die Offensive


gehen.
Im besten Fall wird die Ukraine besetztes Gebiet
zurückerobern, vielleicht sogar im Donbass oder auf der
Krim. Das galt bislang als rote Linie für viele westliche
Regierungen. Putin dürfe nicht so sehr in die Enge ge-
trieben werden, dass er sich zu einer Verzweiflungstat
hinreißen lässt, lautete das Kalkül. Doch was wie eine
Eskalation des Krieges aussieht, könnte ein entscheiden-
der Schritt zu seinem Ende sein.
In der gegenwärtigen Lage gibt es für Putin keinen
Grund zum Verhandeln. Er hat seine Kriegsziele nicht
erreicht. Einen langen Zermürbungskrieg kann Russland
eher durchhalten als die Ukraine – wegen seiner dreimal
so großen Bevölkerung, seines militärischen Potenzials
und weil es für Putin auf ein paar Zehntausend Tote mehr
oder weniger nicht ankommt.
Kay Niet feld / dpa

Der Ukraine weitere Unterstützung zu verweigern hie-


ße, den Krieg unübersehbar in die Länge zu ziehen – mit
all den Opfern und dem Leid, das damit verbunden ist.
Nur wenn Putin eine Niederlage droht, wird er seine Hal-
Kanzler Scholz uch wenn Olaf Scholz es nicht so sagt: Die Lieferung tung überdenken. Kampfpanzer verhindern Verhandlun-
erklärt die
Panzerentscheidung
im Deutschen
Bundestag
A von Leopard-2-Panzern stellt einen Wendepunkt
im Krieg in der Ukraine dar. Das gilt militärisch,
weil Kampfpanzer die mächtigste Waffe einer Landarmee
gen nicht. Sie schaffen die Voraussetzung dafür.
Unter welchen Bedingungen dann Gespräche statt-
finden werden, wie ein mögliches Ergebnis aussehen
sind. Das gilt aber vor allem politisch und psychologisch. könnte, das alles lässt sich noch nicht absehen. Es wird
Der Bundeskanzler selbst hatte seine bisherige Zurück- viel Staatskunst erfordern, diesen Krieg durch Verhand-
haltung damit begründet, der Westen dürfe nicht Kriegs- lungen zu beenden. Jetzt geht es erst einmal darum, sol-
partei werden. Das Bereitstellen des Leopard 2 galt Olaf che Gespräche möglich zu machen.
Scholz als der eine Schritt zu viel. Wer den gehe, riskiere Aber wie weit wollen Europa und die USA gehen? Es
ein Überschwappen des Krieges, auf die Nachbarländer gibt bereits erste Forderungen aus dem Bundestag, der
der Ukraine, auf Deutschland. Ukraine auch Kampfflugzeuge zu liefern. Warum nicht
Nun hat Scholz seine Haltung revidiert. Mit der Lie- auch U-Boote, die die russische Schwarzmeerflotte atta-
ferung von 14 Kampfpanzern des Typs Leopard 2 weitet ckieren könnten?
Deutschland seine militärische Unterstützung für die Das sind berechtigte Fragen. Es gibt keinen Grund, sie
Ukraine aus. Dass der Kanzler erst nach reiflicher Über- vorschnell zu beantworten. Die Unterstützer der Ukrai-
legung auf die neue Linie eingeschwenkt ist, sollte man ne sollten sich alle Optionen außer dem Einsatz von Sol-
ihm nicht vorwerfen. Es ist gut, dass die Bürger den Ein- daten und Nuklearwaffen offenhalten. Bislang hat Putin
druck haben, ihr Regierungschef mache sich diesen Schritt den Westen mit seiner strategischen Ambiguität in Atem
nicht leicht. gehalten. Es ist an der Zeit, den Spieß umzudrehen.
Am Ende hat Scholz die richtige Entscheidung getrof- Zwei Dinge werden in den nächsten Wochen und Mo-
fen, darauf kommt es an. Die Verbündeten werden eben- naten entscheidend sein. Die Bundesregierung muss ihre
falls Panzer liefern, auch die USA. Der Westen will, dass Verpflichtungen so schnell wie möglich erfüllen. Das
die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Scholz weigert sich schuldet sie der Ukraine. Das schuldet sie auch ihren
bislang, diesen Satz auszusprechen. Aber das ist die Bot- Partnern, von denen nicht wenige Zweifel am Willen und
Kampfpanzer schaft hinter der Entscheidung für den Leopard 2 A6, eine an der Entschlossenheit Berlins haben. Das ist der Preis,
der modernsten Kampfmaschinen der Neuzeit. den Scholz für seine abwartende Haltung zahlt.
verhindern Kriegsgerät wie dieses ist für die Ukraine ein soge- Im Bundestag hat der Kanzler an die Bürgerinnen und
Verhandlungen nannter Gamechanger. Das Gefecht der verbundenen Bürger appelliert: »Vertrauen Sie mir.« Dafür müsste
Waffen gilt als Schlüssel moderner Kriegsführung. Erst Scholz einer besorgten Bevölkerung besser erklären,
nicht. Sie im Verbund mit einem Leopard 2 kann der bereits ver- warum er heute für richtig hält, was er noch vor einigen
schaffen die sprochene Schützenpanzer Marder seine Wirkung voll Monaten als zu riskant abgelehnt hat. Sonst verfestigt
entfalten. Das garantiert der Ukraine keinen Sieg, aber sich der Eindruck, er tue am Ende immer das, was ande-
Voraussetzung es verändert die militärische Situation. Die Truppen Kiews re zuvor gefordert haben. Das ist auf Dauer gefährlich.
dafür. müssen sich nicht mehr darauf beschränken, russische Ralf Neukirch n

6 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


Für Deine
spontanen
Ideen
bleiben wir
flexibel.

CLEVER VORSORGEN:
R+V-AnsparKombi Safe+Smart
Die clevere Vorsorge zum Ansparen und
spontan Ausgeben*. Zum Beispiel für die
Auszeit mit Deiner Familie.

Jetzt informieren: ruv.de/vorsorge

* Weitere Informationen und Bedingungen unter ruv.de/vorsorge


DEUTSCHLAND
Lisi Niesner / REUTERS

Seit bald einem Jahr ist die Straße vor der russischen Botschaft in Berlin ein Protestort gegen den Angriffskrieg in der Ukraine. Jetzt ist auch die
russische Opposition präsent: Oleg Nawalny, Bruder des inhaftierten Regimegegners Alexej Nawalny, hat dort am Dienstag den Nachbau einer Zelle
aufgestellt, in dem man die unmenschliche Einzelhaft in Russland nachempfinden könne. Alexej Nawalny hatte 2020 einen Giftanschlag überlebt
und wurde 2021 von der russischen Justiz verhaftet. Seine Unterstützer berichten seit Wochen von Gesundheitsproblemen des Oppositionellen.

Fluchtpunkt Davos?
AFFÄREN Im Fall der Maskenmillionärin Andrea Tandler führt die Spur zu einem Schweizer Apartment.

ine Wohnung im Schweizer Nobelort Davos soll einer der Jahr 2020, bei denen Tandler allein dem Bund Corona­Schutzaus­
E Gründe sein, die zur Festnahme der Maskenmillionärin An­
drea Tandler geführt haben. Bei Steuerermittlungen gegen
die Geschäftsfrau, die seit Dienstag in Untersuchungshaft sitzt,
rüstung der Schweizer Firma Emix für rund 700 Millionen Euro
vermittelt haben soll (SPIEGEL 9/2022).
Tandler und ihr ebenfalls verhafteter Partner Darius N. sollen dabei
waren Fahnder auf ein Apartment in der Davoser Hertistraße ge­ 48,3 Millionen Euro Provision kassiert haben. Dabei könnte Tandler
stoßen, das Schweizer Behörden der Familie Tandler zuordneten Gewerbesteuern hinterzogen haben, weil sie erste Deals über ihre
und das der Beschuldigten womöglich als Fluchtpunkt hätte Münchner Werbefirma abgeschlossen, die Einnahmen aber auf eine
dienen können. Auf die Spur der Wohnung waren die deutschen frisch gegründete Firma im steuergünstigen Grünwald geleitet haben
Ermittler durch eine Überweisung gekommen: Im Juli 2020 waren soll. Zudem hätte Darius N. für seinen Anteil womöglich Schenkung­
rund 15 000 Euro auf ein Konto bei der Graubündner Kantonal­ steuer zahlen müssen. Die mutmaßlich hinterzogene Summe soll sich
bank geflossen. Als Verwendungszweck waren der Begriff »Woh­ auf 10 bis 15 Millionen Euro belaufen; es drohen mehrere Jahre Haft.
nung Tandler« und eine in der Schweiz gebräuchliche Abkürzung Aufgrund der hohen Straferwartung in Verbindung mit der Wohnung
für Wohneigentum vermerkt. Gegen Tandler, Tochter des Ex­ im Nicht­EU­Staat Schweiz sah die Justiz offenbar Fluchtgefahr
CSU­Ministers Gerold Tandler, ermittelt die Staatsanwaltschaft gegeben. Tandler und N. haben stets jedes Fehlverhalten bestritten.
München I seit mehr als einem Jahr. Es geht um Geschäfte im Ihre Anwälte reagierten am Donnerstag nicht auf Anfragen. AMP, SRÖ

8 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


Mehr Verweigerer starken Truppe. Unter den Re-
DIE GEGENDARSTELLUNG
servisten und Reservistinnen,
MILITÄR Seit Beginn des die einmal bei der Bundeswehr
Ukrainekriegs haben deutlich gedient haben und danach an Letzte Runde
mehr aktive Soldatinnen und Wehrübungen teilnehmen, ist
Soldaten der Bundeswehr den die Zahl von Anträgen auf
Dienst an der Waffe verweigert. Kriegsdienstverweigerung noch Von Alexander Neubacher Ich frage mich: Wo sind
Laut einer internen Statistik des stärker angestiegen. Im Jahr all die Menschen hin, die bis-
Bundesverteidigungsministe- 2021 hatten demnach nur 10 Re- eit wir vor einigen Jah- lang das Land am Laufen
riums verweigerten im Jahr
2022 insgesamt 235 aktive Sol-
daten und Soldatinnen nach-
servisten den Kriegsdienst ver-
weigert, im Jahr 2022 waren es
hingegen bereits 271. Daneben
S ren in ein Haus gezogen
sind, wo einem nicht
täglich die Zeitung aus dem
hielten? Im Sabbatical? In El-
ternzeit? Im Vorruhestand
oder in irgendeinem Home-
träglich den Kriegsdienst. Im reichten 2022 auch 617 unge- Briefkasten geklaut wird, ha- office? Warum kommen keine
Vorjahr gab es lediglich 176 sol- diente Personen einen Antrag ben wir ein Abo. Unser Zu- Leute nach; will niemand
cher Anträge – die Steigerung auf Kriegsdienstverweigerung steller heißt Herr Stöhr. Er ist mehr Geld verdienen? Findet
beträgt demnach mehr als ein. Viele der aktiven Soldaten der zuverlässigste Mensch, sich wirklich keiner, der an-
30 Prozent. Die meisten Ver- schrieben in den Begründungen den ich mir vorstellen kann. stelle von Herrn Stöhr künftig
weigerer in Uniform sind der für ihre Anträge, dass sie bei Dabei weiß ich kaum, wie er die Zeitung austrägt, auch
Statistik zufolge Zeitsoldaten ihrem Eintritt in die Bundes- aussieht. Einmal traf ich ihn, nicht unter den Hunderttau-
und kommen vor allem aus dem wehr nicht mit einer realen krie- als ich sehr spät von einer Par- senden Zuwanderern der
Heer und dem Sanitätsdienst gerischen Auseinandersetzung ty kam; es war dunkel, und letzten Jahre?
der rund 200 000 Personen gerechnet hätten. MGB wir erschraken uns beide. Ich habe gelesen, dass
Herr Stöhr kommuniziert praktisch alle Zeitungen
über Zettel, auf denen er Frohe Deutschlands händeringend
Linke gegen Drehtür konflikt«. Es gehe nicht, »dass Ostern und Frohe Weihnach- nach Zustellern suchen. Beim
man eben noch als unabhängi- ten wünscht oder, sehr selten, Verlag der »Kölnischen Rund-
MEDIEN Der Vorsitzende der ger Journalist ein Loblied auf eine Urlaubsvertretung ankün-
Linken, Martin Schirdewan, for- einen Politiker singt, welches digt. Umso trauriger war ich, Nichts gegen Work-
dert eine Abkühlungsphase für einem Bewerbungsschreiben als diese Woche ein Abschieds-
Journalistinnen und Journalis- gleicht, und wenige Tage später brief im Kasten lag. Er höre al-
Life-Balance, aber
ten, die prominente Posten in als Sprecher ebendieses Politi- tersbedingt auf, schreibt Herr wer hält Deutschland
der Regierung übernehmen. kers in dessen Ministerium Stöhr, am Sonntag sei sein jetzt am Laufen?
Hintergrund ist der Wechsel wechselt«. Vor solchen Seiten- letzter Tag. Und es sei unklar,
des ARD-Reporters Michael wechseln müssten Journalisten wie es mit unserer Zeitung schau« experimentieren sie
Stempfle an die Spitze des Stabs eine »Abkühlungsphase« ein- weitergehe. Personalmangel, mit Drohnen; ich bin ge-
Informationsarbeit des Vertei- halten, um den »Verdacht eines man kennt das Problem. spannt, wie sie die Briefkas-
digungsministeriums. Kurz vor Drehtür-Effekts« zu vermeiden. Ich werde Herrn Stöhr ver- tenklappe aufkriegen wollen.
Bekanntwerden der Personalie Der Vorgang habe »mehr als missen. So wie auch die Bä- Nächste Woche wird die
hatte Stempfle für tagesschau. ein Geschmäckle« und beschä- ckerei in unserem Bezirk Bundesagentur für Arbeit
de einen positiven Artikel über dige »den Ruf unabhängiger vermisst wird, die zum neue Daten zur Beschäfti-
seinen künftigen Chef, SPD- Berichterstattung«. Stempfle da- Jahreswechsel nach 91 Jahren gungslage verkünden. Bezie-
Verteidigungsminister Boris Pis- gegen bestritt jeden Interessen- dichtmachte, weil die beiden hungsweise zur Nichtbeschäf-
torius, verfasst (»Ein Vollblut- konflikt und betonte, dass die Inhaber (»Wir bekommen kei- tigungslage, denn der Trend
politiker, der anpackt«). Linken- Gespräche über seinen Wechsel ne Leute«) keine Kraft mehr ist klar: Fast überall fehlen
chef Schirdewan sieht darin erst nach Erscheinen des Arti- haben, den Betrieb allein zu Arbeitskräfte; Millionen Stel-
einen »klassischen Interessen- kels stattgefunden hätten. TIL stemmen. Oder die zwei Post- len sind unbesetzt.
filialen, deren Türen seit eini- Zugleich wollen immer
gen Tagen verriegelt sind; mehr Leute Teilzeit arbeiten.
eine dritte wird demnächst Wussten Sie, dass die durch-
Nachgezählt ebenfalls schließen. schnittliche Wochenarbeits-
Wenn ich nach 23 Uhr noch zeit in Deutschland geringer
MINT* in
Deutschland Prozent eine Runde drehe, komme ich ist als in allen EU-Staaten
307.0
5
– 6,5 gegenüber
dem
mir immer öfter vor wie in der außer Dänemark und den
328.5 Zombieserie »The Walking Niederlanden?
9

Studierende, Vorjahr
Dead«: alles tot bis auf einzel- Ich gönne allen Menschen
67

die im ersten
ne schwankende Gestalten. eine schöne Work-Life-Ba-
1

Fachsemester
0
202
02

ein MINT-Fach 2 Viele Kneipen und Restau- lance. Aber ich glaube, dass
wählten
Innerhalb rants werfen ihre Gäste jetzt sich eine Volkswirtschaft wie
der nächsten zwei Stunden früher raus, weil unsere nicht in Teilzeit betrei-
12 Jahre im
Ruhestand
eh keine Bedienung mehr da ben lässt, ohne dass es zu Ver-
2021, in Prozent ist. Sorry, halb elf, letzte Run- lusten kommt.
häf tigte de. Und das in Berlin, wo es Und an Herrn Stöhr: Dan-
B esc 45
NT- 22 vor Corona in 71 Jahren nie ke für Ihre Zuverlässigkeit, Sie
MI 3 35 bis unter 55
%2 55 u eine Sperrstunde gab. werden uns fehlen.
10 r 25 beisr 35 nd ä
lter
unt
e unt
er: 25
Alt An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
S Quellen: Bundesagentur für Arbeit, Destatis, KfW Research; * Fächer und Berufe aus den Alexander Neubacher im Wechsel.

Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 9


CHAPPATTES WELT Kein Austausch mehr
mit Irans Parlament
AUSSENPOLITIK Die deutsch-
iranische Parlamentariergruppe
des Bundestags soll ihre Arbeit
einstellen. Das befürworten so-
wohl Vertreter der Regierungs-
fraktionen als auch der opposi-
tionellen Union übereinstim-
mend. »Ich unterstütze das
ebenso wie meine beiden Kolle-
ginnen Katja Mast (SPD) und
Irene Mihalic (Grüne)«, sagte
Johannes Vogel, Erster Parla-
mentarischer Geschäftsführer
der FDP-Fraktion. Das iranische
Parlament stütze ein Regime,
welches brutal gegen die eigene
Bevölkerung vorgehe und To-
desstrafen gegen Demonstrie-
rende verhänge. »Für mich
kann es daher keine Zusam-
menarbeit zwischen den Parla-
mentsgruppen geben«, sagte die
Erste Parlamentarische Ge-
schäftsführerin der SPD, Katja
Mast. Die Union unterstützt die
Pläne der Ampelfraktionen »als
notwendiges und deutliches Si-
Teure Blockade zei gegen alle an der Aktion be- gekündigt, Schadensersatzan- gnal an das Mullah-Regime«, so
teiligten Aktivisten bereits ent- sprüche gegen Aktivisten der der Erste Parlamentarische Ge-
LUF TVERKEHR Die Mitglieder sprechende Gebührenverfahren »Letzten Generation« geltend schäftsführer der CDU/CSU,
der Protestgruppe »Letzte Ge- eingeleitet. Die genaue Höhe zu machen (SPIEGEL 50/2022). Thorsten Frei. Es könne ange-
neration«, die am 24. Novem- der entstandenen Kosten werde »Wir betreiben unsere Forde- sichts des Terrors gegen die ira-
ber auf dem Vorfeld des Haupt- derzeit noch ermittelt. CDU- rungen weiter«, heißt es nun nische Bevölkerung keinen nor-
stadtairports BER den Flugbe- Politiker Oellers begrüßt das: von der Lufthansa. Mittlerweile malen interparlamentarischen
trieb blockierten, sollen die »Kosten und Schäden, die durch liege ein Gutachten vor, »wel- Austausch geben. Die Idee ent-
Kosten des von ihnen verur- solche Aktionen zulasten der ches unsere Schadensersatzan- stand ursprünglich im Präsi-
sachten Großeinsatzes der Si- Bevölkerung entstehen, müssen sprüche als aussichtsreich dium des Bundestags. Dort war
cherheitskräfte zahlen. Das geht in jedem einzelnen Fall von den einschätzt«. Auch die BER-Be- zuvor bereits die Arbeit der
aus der Antwort der Bundesre- Verursachern getragen werden – treibergesellschaft prüft mögli- deutsch-russischen Parlamenta-
gierung auf eine schriftliche Fra- und nicht vom geschädigten che Schadensersatzklagen – will riergruppe ausgesetzt worden.
ge des Bundestagsabgeordneten Steuerzahler.« Zuvor hatten be- aber zunächst das Ergebnis der Formal muss der Ältestenrat die
Wilfried Oellers (CDU) hervor. reits die Lufthansa und die Ber- strafrechtlichen Untersuchung Auflösung solcher Gruppen be-
Demnach habe die Bundespoli- liner Flughafengesellschaft an- abwarten. FIN, MUM, SRÖ schließen. CSC, CTE

Bargeld und Deutschland in Untersuchungs- CDU-Rundfunkräte Es gehe um die Frage, ob die


haft. Ein weiterer Verdächtiger – »nötige journalistische Distanz«
kiloweise Gold der frühere Bundeswehroberst kritisieren WDR gewahrt worden sei. In einem
TERRORISMUS Bei den Ermitt- Maximilian Eder – wurde in Ita- MEDIEN Die fünf CDU-Politi- Brief, den die CDU-Rundfunk-
lungen gegen eine rechtsextre- lien festgenommen und soll aus- kerinnen und -Politiker im räte an den Intendanten Tom
me »Reichsbürger«-Gruppe um geliefert werden. Bei mehreren WDR-Rundfunkrat kritisieren Buhrow geschickt haben, heißt
den Frankfurter Geschäftsmann der Beschuldigten handelt es die Berichterstattung des Sen- es, der WDR habe »in einem
Heinrich XIII. Prinz Reuß hat sich um ehemalige Polizisten ders zur Räumung in Lützerath. permanent beschickten Live-
die Bundesanwaltschaft Bargeld oder Soldaten, einzelne waren In der Sitzung des Rundfunkrats ticker in allen denkbaren De-
in Höhe von mehr als 420 000 noch aktiv im Dienst. Die Zahl in der kommenden Woche wer- tails« über Lützerath berichtet –
Euro sichergestellt. Zusätzlich der Verdächtigen könnte sich de man »den Vorschlag einbrin- dafür aber kaum über das
entdeckten die Fahnder nach weiter erhöhen. Die Fahnder gen, eine Gruppe zur Evaluation Hochwasser, das zur selben Zeit
Angaben aus Sicherheitskrei- haben mehr als 120 schriftliche des Programms einzusetzen«, im Märkischen Kreis herrschte.
sen gut 50 Kilogramm Gold Erklärungen entdeckt, in denen sagt Florian Braun, CDU-Land- NRW-Innenminister Herbert
und Edelmetalle. Unterdessen sich potenzielle Mitstreiter tagsabgeordneter und Mitglied Reul (CDU) hatte dem WDR
hat sich die Zahl der Beschul- zur Verschwiegenheit verpflich- des Gremiums. Die Gruppe sol- zuletzt vorgeworfen, eine Pres-
digten in dem Verfahren laut teten. In manchen der Doku- le »die Arbeit des WDR hin- sekonferenz von Klimaaktivis-
Bundesanwaltschaft auf 55 Män- mente wurde im Fall eines Ver- sichtlich der Räumung analysie- ten in Lützerath unkommentiert
ner und Frauen erhöht. 24 von stoßes die Todesstrafe ange- ren und überprüfen, ob alle übertragen zu haben. Der Sen-
ihnen befinden sich derzeit in droht. JDL, SRÖ, WOW Standards eingehalten wurden«. der wies den Vorwurf zurück. LE

10 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


»Grenze ßen distanziert – würde er ein
Parteiausschlussverfahren mit-
überschritten« tragen?
CDU-Vizechefin Karin Prien, 57, Prien: Es geht darum, ob ein
über den möglichen Ausschluss Parteiausschlussverfahren am
des umstrittenen Ex-Verfas- Ende mehr schadet oder mehr
sungsschutzpräsidenten Hans- nutzt. Diese Abwägung muss je-
Georg Maaßen aus der Partei der für sich selbst treffen. Ich
war bisher auch eher zurückhal-
SPIEGEL: Frau Prien, nach den tend. Bevor wir ein Parteiaus-

Annette Cardinale / DER SPIEGEL


jüngsten Rassismusäußerungen schlussverfahren starten, sollten
von Hans-Georg Maaßen wol- wir ziemlich sicher sein, dass es
len Sie, dass er die CDU ver- auch erfolgreich sein wird. Na-
lässt – notfalls durch einen Par- türlich wollen wir so einen
teiausschluss. Wie soll das funk- Mann nicht in seiner Opferrolle
tionieren? bestärken. Aber: Aus meiner
Prien: Für einen Ausschluss bie- Sicht hat er eine Grenze über-
tet unser Parteistatut den not- schritten, die es unerträglich
wendigen Rechtsrahmen. Gene- macht, gemeinsam mit ihm in
ralsekretär Mario Czaja hat die einer Partei zu sein. Ich finde »Ich bin weder plemplem
interne Prüfung von Ordnungs- deshalb, dass man alles versu-
maßnahmen in Auftrag gege- chen muss, um letztlich den noch bettlägerig«
ben. Ein Ausschlussantrag Ausschluss zu erreichen.
könnte am Ende durch den SPIEGEL: Das beantwortet nicht
DIE AUGENZEUGIN Charlotte Kretschmann, 113, ist
Kreisverband, den Landesver- die Frage nach Parteichef Merz.
band oder den Bundesvorstand Prien: Er hat sich klar von Maa- wohl die älteste Frau in Deutschland. Sie hat
erfolgen. ßen distanziert. Und auch er Spaß an Instagram und findet Putin unerträglich.
SPIEGEL: Maaßen ist Mitglied wird sich in diesem Abwägungs-
im Thüringer Kreisverband prozess befinden. Ich gehe da- »Oft werde ich jünger ge- erzählen wie ich? Vom Ersten
Schmalkalden-Meiningen. von aus, dass Friedrich Merz, so schätzt, man sieht mir meine Weltkrieg weiß ich nichts
Müssten also Ihre Parteifreunde wie viele andere auch, die Prü- 113 Jahre nicht an. Mein mehr. Im Zweiten Weltkrieg
dort nicht als Erstes handeln? fung, die im Konrad-Adenauer- Zahnarzt sagte, er könne das haben uns die Russen ver-
Prien: Ja. Und ich weiß, dass so- Haus durchgeführt wird, zur kaum glauben, ich sei ein trieben, wir waren die un-
wohl der Kreisverband als auch Grundlage seiner Entscheidung Wunder. Einige denken, in so erwünschten Deutschen. Im
der Thüringer Landesverband macht. einem Alter ist man nicht offenen Zug wurde ich
deshalb in Kontakt mit der Ber- SPIEGEL: Sollte die Sache schei- mehr fit. Ich bin weder plem- mit meiner kleinen Tochter in
liner Parteizentrale sind. Aber tern, hätte vor allem Maaßen plem noch bettlägerig. Im den Westen gekarrt. Mein
vielleicht entscheidet sich Maa- profitiert – ist es dieses Risiko Gegenteil. Ich könnte jetzt aus Mann kämpfte in Russland.
ßen ja doch noch, von selbst zu wert? dem Rollstuhl aufstehen Wir hatten Glück, nach sei-
gehen. Prien: Ja. Wir alle wissen, dass und mit dem Rollator ein paar ner Kriegsgefangenschaft
SPIEGEL: Und wenn nicht? der Parteiausschluss an extrem Schritte gehen. Soll ich? konnten wir in Stuttgart neu
Prien: Bis zum 13. Februar war- hohe rechtliche Hürden gebun- Ich übe das mit einem Phy- anfangen.
ten wir ab – andernfalls werde den ist. Und natürlich gibt es siotherapeuten im Pflegeheim Einen dritten Weltkrieg
ich den Antrag im Bundesvor- immer auch die Möglichkeit des hier in Kirchheim unter Teck. will ich nicht erleben. Fast
stand stellen. Scheiterns. Aber aus meiner Auch mein Kopf ist klar, ich wäre es dazu gekommen.
SPIEGEL: Hätten Sie da eine Sicht ist entscheidend, dass wir bin bester Dinge. Das sind die Gut, dass alle gegen Putin zu-
Mehrheit? jetzt ein Signal setzen: Herr guten Gene. Nur die Finger, sammenhalten. Der soll
Prien: Die Partei hat sich vom Maaßen darf nicht mehr Mit- die sind krumm, eine Arthro- nicht glauben, dass er machen
Thüringer Landesverband über glied der CDU sein. FLO, SSI se. Neulich bin ich gestürzt, kann, was er will. Abends
den Generalsekretär bis zum die Knie tun weh, ansonsten schaue ich Fernsehen, ich
Vorsitzenden Friedrich Merz geht es mir gut. Ich lese Zei- weiß über vieles Bescheid,
deutlich von Herrn Maaßen dis- tung ohne Brille, für die Ferne auch über das Internet. Mein
tanziert. Ich habe sehr viel brauche ich aber eine. Enkel hat mich berühmt ge-
Zuspruch für meinen Vorstoß er- Geboren wurde ich am macht, selbst meine Nichte in
halten. Maaßen hat sich offen- 3. Dezember 1909 in Breslau, Amerika kann mich sehen:
sichtlich immer weiter radikali- Schlesien, da war das noch auf Instagram. Nicht auf allen
siert – ich gehe deshalb davon nicht polnisch. Ich hatte eine Bildern gefalle ich mir. Ich
aus, dass es für einen solchen behütete Kindheit. Sie hätten trage schicke Blusen, meine
Antrag, wenn er denn erforder- mich sehen sollen beim Tur- Fingernägel sind rot lackiert.
lich wird, eine Mehrheit gibt. nen und Schwimmen. Beim Ich achte auf mein Äußeres.
Janine Schmitz / photothek / IMAGO

SPIEGEL: Wie ginge es weiter? 800-Meter-Lauf erhielt ich Die älteste Frau in
Prien: Es gibt ein klares Verfah- eine goldene Nadel von der Deutschland zu werden habe
ren, in dessen Verlauf natürlich Deutschen Sportbehörde. ich mir nicht vorgenommen.
auch Herr Maaßen angehört Neulich bat mich ein Histo- Ich kann nichts dafür. Ans
wird. Am Ende entscheidet das riker, ihm aus meinem Leben Sterben denke ich nicht, ich
zuständige Parteigericht. zu erzählen. Wer kann so habe ja noch Zeit.«
SPIEGEL: Sie sagen, Parteichef Prien viel aus eigener Erfahrung Aufgezeichnet von Christine Keck
Merz hätte sich klar von Maa-

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 11


TITEL
Moritz Frankenberg / picture alliance / dpa

Sein Krieg
RÜSTUNG Mit der Lieferung deutscher Leopard-Panzer geht der Krieg in der Ukraine in eine neue,
gefährliche Phase. Olaf Scholz muss nun international Scherben aufkehren, sein Land zusammenhalten –
und mit den Bündnispartnern eine Antwort darauf finden, wie das alles enden soll.

12 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


TITEL

Kanzler Scholz, jährige Kanzlerschaft hat bereits so viele Wen-


Bundeswehr­ depunkte, dass der Ausgangspunkt kaum
soldaten vor mehr zu erkennen ist.
Leopard 2
Mit dem Überfall Russlands auf die Ukrai-
ne wurde Scholz vom Abrüstungs- zum
Aufrüstungskanzler. Er brach mit der Regel,
keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, ver-
sprach historische Summen in die Bewälti-
gung der Energiekrise. Jetzt, nach wochen-
langem Ringen mit westlichen Verbündeten,
schickt seine Regierung deutsche Kampfpan-
zer in die Ukraine, die zu den modernsten
gehören, die die Bundeswehr im Angebot hat.
Ein Tabubruch, so sehen es manche.
Ein gutes Dutzend des Modells Leopard
2 A6 soll in ein paar Monaten an der Front
sein, im Krieg gegen Russland. Berlin gibt
auch die Lieferung von Leopard-Panzern aus
Polen frei. Die USA liefern eigene Kampf-
panzer, genauso Großbritannien. Das En-
gagement des Westens erreicht ein neues
Level, militärisch, politisch. Der Druck auf
Russlands Präsident Wladimir Putin wird stei-
gen, womöglich auch die Chance, die Russen
aus der Ukraine zu verdrängen. Zugleich
steigt auch das Risiko, dass der Westen tiefer
LEOPARD 2 A6
hineinrutscht in diesen Krieg, dass die Lage
Geschwindigkeit außer Kontrolle gerät.
vorwärts Für die Ukraine ist das zweitrangig, sie
max. 70 km/h kämpft um ihre Existenz, die Entscheidung
rückwärts
ca. 30 km/h
zum Leopard war überfällig. Russland mobi-
lisiert, eine Frühjahrsoffensive droht. Seit
Dieselmotor Monaten dringt Kiew auf die Panzer, jetzt
1500 PS sind die ersten wohl bald da. »Prost meine
Max. Reichweite
lieben Freunde«, twitterte Andrij Melnyk, der
450 km frühere Botschafter Kiews in Deutschland,
nachdem der SPIEGEL Scholz’ Wende am
Hauptbewaffnung Dienstagabend vermeldet hatte. Vor Freude
120-mm-Glattrohr-
kanone mit einer
werde er sich betrinken.
effektiven Reichweite Viele Außenpolitiker sind erleichtert,
von rund 4 km selbst in der SPD, die sich traditionell schwer-
tut mit Waffenlieferungen. Es ging nicht
Besatzungs­
mitglieder
mehr anders, so sieht man es bei den Sozial-
4 demokraten. »Die Lieferung weiterer Panzer
ist unverantwortlich!«, schimpft dagegen
Alice Schwarzer, die Feministin, eine von
vielen im Team Vorsicht. Scholz ist Kanzler
s gibt dieser Tage zwei Versionen von Sicht den Verstand verloren haben und vom eines in dieser Frage tief gespaltenen Landes,
E Olaf Scholz. Der eine ist ruhig, fast
stoisch, wie immer. Man sieht diesen
Kanzler im Fernsehen, im Bundestag. Ein
Kriegsfieber ergriffen sind. Die, so Scholz,
jedes Waffensystem zu durchdringen glauben.
Die erst Haubitzen für die Ukraine forderten,
die Geschichte wirkt nach. Die Schuld der
Deutschen im Zweiten Weltkrieg, dessen
Folgen, zu denen die deutsche Teilung
Mann, der konstant heruntergekühlt durch dann Panzer, jetzt Flugzeuge. Und irgend- gehörte, das alles schwingt mit. Scholz
die politische Szenerie gleitet. So wie am Mitt- wann ganz sicher auch Truppen. hat versucht, die Skeptischen und Leiden-
woch: ab ins Auto, rein in den Bundestag, »Diese Bellizisten!«, soll er in dieser schaftlichen gleichermaßen anzusprechen.
reden, raus aus dem Bundestag. Hier ein Woche intern geschimpft haben. »Diese Funktioniert hat das nicht. Nicht einmal die
Lächeln, da ein Lächeln. Kriegsbegeisterten!« Der Druck der vergan- Hälfte der Deutschen hält ihn laut einer
Kanzler sein, nichts leichter als das. genen Wochen zeigte sich. Der Frust, auch aktuellen Forsa-Umfrage noch für vertrau-
Den anderen Olaf Scholz sieht man nicht die Verachtung für alle, die ihm vorhalten, enswürdig, gerade mal ein Viertel für füh-
öffentlich. Er zeige sich, so erzählen es seine der Lage nicht gewachsen zu sein. rungsstark.
Leute im Kanzleramt und bei den Sozial- Nicht gewachsen? Lächerlich. Er hat es Der Streit um die Leopard-Panzer hat vie-
demokraten, in geschützten Räumen, hinter doch mal wieder allen gezeigt. So scheint les offengelegt. Man weiß jetzt mehr über den
verschlossenen Türen. Bei kleineren Treffen Scholz selbst die Lage zu sehen. Führungsstil des Kanzlers, aber auch über die
und Abstimmungen, in Telefonaten und ver- Jede Kanzlerschaft hat ihre Wendepunkte. Probleme, die Risse in den Beziehungen zu
traulichen Sitzungen. Bei diesem Scholz ent- Momente, die das Adrenalin in die Höhe trei- Washington, im westlichen Bündnis. Scholz
lädt sich immer wieder etwas. ben, die sich einbrennen. Helmut Kohl hatte muss Scherben aufkehren.
Er knöpft sich dann mal die Medien vor, die deutsche Einheit, Angela Merkel die Er hat Osteuropa gegen sich aufgebracht,
mal politische Analysten, mal Kritiker in der Flüchtlingskrise. Bei Olaf Scholz ist praktisch die Polen, die Balten, weil er lange wartete
eigenen Koalition. All jene, die aus seiner pausenlos etwas in Bewegung, seine gut ein- mit der Entscheidung. Der Kanzler hat auch

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 13


TITEL

Teile der US-Regierung verstört, weil ziehen. Das ist die Ansage aus Berlin.
er darauf pochte, dass auch Joe Biden Im transatlantischen Verhältnis kriselt
amerikanische Kampfpanzer freigibt. es plötzlich.
Schwierig, sagt man dort. Zwingend Anfang Januar dann ein Ruck:
nötig, sagt man im Umfeld des Kanz- Berlin zeigt sich bereit, Marder-
lers. Ohne ihn, ohne seine Beharrlich- Schützenpanzer zu liefern, wenn die
keit, alle zusammenzuhalten, hätte es USA und andere Partner dabei sind.
die Allianz womöglich zerrissen. »Es Die USA signalisieren, Bradley-
ist richtig, dass wir uns nicht haben Schützenpanzer für Kiew aus ihren
treiben lassen«, findet Scholz. Beständen freizugeben, auch Paris
Hier die Heldengeschichte, da die gibt grünes Licht, mittelschweres Ge-

Brendan Smialowski / AFP


Story eines Kanzlers, der immer erst rät zu liefern. Es soll ein gemeinsames
dann springt, wenn es nicht mehr Zeichen für die Stärke des Bündnisses
anders geht. Welche Version stimmt? sein. Aber Frankreichs Präsident Em-
Wie ist die Panzerentscheidung ent- manuel Macron, der sich ansonsten
standen? Wie reagiert das Land? Und in der Waffenfrage vornehm zurück-
wie stabil ist der Westen, was kommt hält, durchkreuzt die Inszenierung,
auf das Bündnis zu? Ukrainischer aufs Schlachtfeld im Osten der Ukrai- prescht mit der Ankündigung vor,
Der Krimi um die Panzer beginnt Präsident Selenskyj, ne? Praktisch unmöglich. Spähpanzer zu liefern.
US-Präsident Biden
im Spätsommer 2022. Scholz ist im Weißen Haus:
Was der Kanzler auch sieht: die Scholz steht wieder als Getriebe-
eigentlich mit der Energiekrise be- Hilfe fein kalibrieren Umfragen. Viele Deutsche haben ner da, verkündet hektisch, dass die
schäftigt, aber im Hintergrund wächst Angst, andere wollen Entschlossen- Ukraine den Marder bekommen wer-
der Druck, sich beim Leopard, der als heit sehen. Die einen lehnen die de. In Osteuropa wird man unruhig,
besonders effektiver Kampfpanzer Lieferung schwerer Waffen ab, die auch in der Koalition reiben sich vie-
gilt, zu bewegen. Er könnte die Wen- anderen sehen sie als zwingende Not- le die Augen. Was ist dann mit dem
de bringen, so sieht man es in vielen wendigkeit, um Putin in der Ukraine Leopard?
westlichen Hauptstädten. Einhalt zu gebieten. Scholz will nie- Der vorvergangene Dienstag, die
Mitte September drängen die manden verprellen. Härte und Vor- Frage erreicht die höchste Ebene:
Amerikaner darauf, dass die Deut- sicht, das ist sein Kriegskurs. Nach Scholz und Joe Biden schalten sich
schen den Leopard liefern. Sie habe außen lässt ihn das unentschlossen zusammen. Der Kanzler, so berichten
»höhere Erwartungen« an Deutsch- wirken. es Eingeweihte, erklärt in dem Ge-
land beim Thema Waffenlieferungen, Und die Russen graben sich an spräch, dass er sich den Export des
sagt die US-Botschafterin in Berlin, ABRAMS M1A2
weiten Frontabschnitten ein. Kiew ist Leopard vorstellen könne – aber nur
Amy Gutmann. Macht endlich was alarmiert, braucht Hilfe. Nur mit im Geleitzug mit den USA. Er er-
– das ist die Botschaft. Geschwindigkeit Kampfpanzern sei es möglich, die innert Biden daran, wie Washington
Scholz will nicht. Er hält die Rufe vorwärts Feindeslinien aufzubrechen, warnen zu Beginn des Krieges bei den Sank-
max. 70 km/h
nach dem Leopard noch für eine rückwärts
die Helfer von Präsident Wolodymyr tionen argumentiert habe, die Front
Falle, sieht die Gefahr einer Eskala- ca. 40 km/h Selenskyj um die Jahreswende. der Ukraineunterstützer müsse ge-
tion des Konflikts, will Deutschland Fast täglich telefoniert Jens Plöt- schlossen stehen. Wie Biden damals
innerhalb der Gruppe der Ukraine- Gasturbinenmotor ner, Scholz’ außenpolitischer Berater, von Deutschland verlangte, einen
1500 PS
unterstützer auf keinen Fall expo- jetzt mit US-Sicherheitsberater Jake harten Kurs mitzutragen.
nieren. Im Kanzleramt kursieren Max. Reichweite Sullivan. Das Weiße Haus muss die Glaubt man der deutschen Version
Szenarien, wie sich Putin für einen 425 km Hilfe fein kalibrieren, einige Repu- des Gesprächs, zeigt Biden Verständ-
deutschen Alleingang bei den Panzer- blikaner suchen längst nach jedem nis für die Argumente des Kanzlers,
Hauptbewaffnung
lieferungen rächen könnte. Nukleare 120-mm-Glattrohr-
Grund, das Engagement infrage zu erwähnt aber auch die Zweifel seiner
Angriffe. Cyberattacken, die die kanone mit einer stellen. Im Prinzip sind sich Plötner Militärs daran, ob eine Lieferung von
kritische Infrastruktur lahmlegen effektiven Reichweite und Sullivan einig, dass die Ukrainer Abrams-Panzern sinnvoll und tech-
könnten. Sabotageaktionen gegen von rund 4 km Kampfpanzer brauchen, um gegen nisch machbar sei. Die beiden Regie-
wichtige Pipelines. Die Szenarien des Besatzungs-
die Russen bestehen zu können. Doch rungschefs vertagen sich, beauftragen
Bundesnachrichtendienstes sind ein mitglieder der Grundkonflikt bleibt. Scholz lie- ihre Berater, weiter an einer Lösung
Albtraum. 4 fert nur, wenn die Amerikaner mit- zu arbeiten. Diskret.
Scholz nimmt sie ernst. Gerade Auf verschiedenen Ebenen ma-
deswegen, so heißt es unter seinen chen Scholz’ Leute dem Vernehmen
Vertrauten, wolle er bei den Panzern nach Druck. In Davos, beim Wirt-
die Amerikaner mit an Bord haben. schaftsgipfel. In Washington, in Ber-
Wenn schon Panzer, so seine Linie, lin, jeder Kontakt wird genutzt. Biden
dann nur, wenn Washington mitzieht. ist jetzt im Dilemma. Seine Militärs
Risikostreuung. Die Amerikaner raten ihm von der Lieferung ab. Aber
schütteln den Kopf. Machen sie nicht wenn er das Bündnis schützen will,
U.S. Army / Cover Images / picture alliance

schon genug? müsste er liefern.


2000 Leopard-Panzer stehen in den Der Poker wird auf einmal emp-
Beständen europäischer Nato-Staaten, findlich gestört. In deutschen Medien
sie wären in der Wartung viel einfacher heißt es am Tag nach dem Telefonat,
als der amerikanische Abrams. Das ist Scholz habe Biden ein Junktim dik-
die Haltung des US-Verteidigungs- tiert: Leopard-Panzer werde es nur
ministeriums. Der Abrams laufe mit geben, wenn die Amerikaner ihre
Flugbenzin, die Logistik sei viel zu Abrams liefern. In Washington wird
kompliziert, heißt es im Pentagon. Ab das als Affront gesehen. Der Ein-

14 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


TITEL

Kampfmaschinen von Deutsch-


land gelieferte
Die wichtigsten Panzertypen
oder angekündigte
moderner Armeen und
Exemplare
ihre Fähigkeiten

Panzerhaubitzen stehen Spähpanzer und


weit hinter der Front und -fahrzeuge dienen der
schießen im Bogen auf Aufklärung in feindlichem
weit entfernte Ziele. Territorium.

14 Panzerhaubitze 2000*

15 Berge-
panzer 2

Spezialpanzer legen
Brücken, schleppen defekte
Panzer ab, räumen Minen
oder transportieren
Soldaten.
kK ar t e 16 Brückenlege-
panzer Biber
5 Pionierpanzer
Dachs Grafi
Flakpanzer schützen die Schützenpanzer unterstützen
Kampftruppen vor Angriffen Kampfpanzer im Gefecht. Die
aus der Luft. Grenadiere bekämpfen z. B.
feindliche Infanterie, die
37 Gepard Panzerabwehrwaffen hat.

40 Marder

Kampfpanzer sind das


Zentrum der Panzertruppe.
14 Leopard 2

S Quellen: eigene Recherche, Bundesregierung * gemeinsames Projekt mit den Niederlanden


druck, andere Staaten erpressten das Weiße in Berlin eine Exportgenehmigung für 14 Leo- also und auch nicht sofort. Für Scholz ist
Haus, ist gefährlich. Im Pentagon stärkt das pard-Panzer beantragen und ein Veto aus Bidens Einlenken der Schlüssel, um die
die Vorbehalte, dort ist man der Meinung: Berlin notfalls ignorieren. Der britische His- Leopard-Panzer freizugeben. Dem US-Prä-
Scholz will durch seine Bedingung die ganze toriker Timothy Garton Ash mokiert sich über sidenten ist das Bündnis wichtiger als das
Panzersache ausbremsen oder zumindest den Kanzler, prägt auf Twitter das Wort Interesse seiner Militärs.
massiv verzögern. Aber Ramstein steht an, »scholzen« und schiebt die Definition gleich Für Scholz ist der Kompromiss ein Erfolg,
das Treffen der Ukraineunterstützer am hinterher: »Gute Absichten kommunizieren, für Biden allerdings hat er einen hohen poli-
Truppenstützpunkt in Deutschland. Da kann nur um dann jeden vorstellbaren Grund zu tischen Preis. Als der Präsident seine Ent-
der Knoten doch durchschlagen werden, nutzen / auszumachen / zu erfinden, um diese scheidung am Mittwoch im Weißen Haus vor-
glaubt man. hinauszuzögern und / oder zu verhindern.« stellt, fragt eine Reporterin: »Hat Deutsch-
Doch wieder stellt sich das Kanzleramt Alles scheint über Scholz zusammenzu- land Sie gezwungen, Ihre Meinung zu den
quer. Kurz vor der Ramstein-Runde erklärte brechen, öffentlich jedenfalls. Hinter den Abrams-Panzern zu ändern?« Biden lacht
Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt dem US- Kulissen sieht es besser aus. Denn Biden und sagt, er sei nicht gezwungen worden.
Verteidigungsminister Lloyd Austin in Berlin, kippt. Fest steht: Scholz hat die Angelegenheit
nur ein gemeinsames Panzerpaket sei mög- Anfang der Woche ist es dann so weit. Am verschleppt, das ist klein. Er hat den Schutz
lich. Einen deutschen Alleingang werde es mit Montag meldet sich erneut Jake Sullivan in der USA gesucht, großes Vertrauen in die
Scholz nicht geben. Auch dieses Gespräch Berlin. Bidens Sicherheitsberater hat gute Eigenständigkeit Europas hat er offensichtlich
wird öffentlich. Gefüttert mit Informationen Nachrichten. Er berichtet, das Weiße Haus nicht. Andererseits dürfte auch das öffentliche
aus US-Kreisen meldet die »Süddeutsche Zei- werde die Bedenken des Pentagon übergehen, Urteil über den Zauder-Kanzler etwas vor-
tung«, Austin sei frustriert aus dem Treffen die USA würden genug Abrams-Panzer für schnell gewesen sein, denn er hat sich gegen
herausgegangen. Es sei laut geworden. Die ein ukrainisches Bataillon bereitstellen. Ein Biden durchgesetzt. Mag sein, dass die Panzer
deutsche Seite stellt die Vorgänge anders dar. Bataillon, 31 Stück, keine riesigen Mengen wegen Scholz zu spät kommen, mag sein, dass
Demnach habe sich Austin die Argumente dieser Deal am Ende mehr ein Freundschafts-
des Teams Scholz ruhig angehört und betont, dienst des US-Präsidenten war als Teil eines
die deutsche Haltung zu respektieren. Er müs- genialen Plans. Aber die Gefahr, dass Putin
se das nun mit Biden besprechen. den Westen spaltet, sich wegen der Leopard-
Öffentlich steht Scholz plötzlich da wie je- »Lieferung strategisch Panzer nur Deutschland als Kriegsziel aus-
mand, der nicht nur Panzerlieferungen bremst, sucht, ist mit dieser Vereinbarung geringer
sondern auch noch die transatlantischen Ban- wie moralisch falsch.« geworden. Das steht für den Kanzler auf
de beschädigt. Polen kündigt an, man werde Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler der Habenseite. Die Kehrseite ist, dass Egos

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 15


TITEL

angeknackst sind. Für den Fortgang nicht eure schickt«, sagte der repu- Der deutsche Schriftsteller Wladi-
des Krieges ist das ungünstig. Gegen die blikanische Senator Lindsey Graham mir Kaminer, der aus der Sowjetunion
In Europa scheint Scholz’ Kehrt- Lieferung dem SPIEGEL . stammt, drückt es so aus: »Die Hälf-
wende eine Sogwirkung zu entfalten. »Natürlich gibt es Verärgerung«, te der Deutschen sitzt auf dem Pan-
Noch am Montag war bei einem Tref- sagte Jeff Rathke, langjähriger Diplo- zer, die andere Hälfte will lieber ab-
fen der Außenminister in Brüssel kei- mat und Präsident des Instituts für springen.«

Alber to Cristofari / Contasto / laif


ne Panzerallianz zu sehen. Als die moderne Deutschlandstudien an der Die Leopard-Entscheidung könnte
deutsche Ressortchefin Annalena Johns-Hopkins-Universität. Militä- den Graben noch vertiefen, auch in-
Baerbock jene ihrer Kollegen, die risch, so Rathke, wäre es sinnvoller nerhalb der akademischen Elite des
Scholz’ Zögern lauthals kritisiert hat- gewesen, nur ein Waffensystem zu Landes. Schon Ende April baten In-
ten, aufforderte, Anträge auf den Ex- liefern – den Leopard 2. »Die ganze tellektuelle in einem offenen Brief der
port ihrer eigenen Leopard-Panzer in Geschichte ist ernüchternd für alle Zeitschrift »Emma« den Kanzler um
Berlin zu stellen, zog nur Polens Mi- jene, die in Washington dafür gewor- Zurückhaltung bei der Lieferung
nister mit. Alle anderen schwiegen. ben haben, dass Europa eine stärkere schwerer Waffen, andere forderten
Die Entscheidung des Kanzlers hat und eigenständigere Rolle spielen das Gegenteil in einem offenen Brief,

Fabian Sommer / picture alliance / dpa


die Lage verändert, der politische sollte«, sagt er. »Denn sie zeigt, dass den die »Zeit« veröffentlichte.
Druck lastet nun auf den anderen. die Deutschen in entscheidenden Fra- Der SPIEGEL hat sich in dieser
Norwegen und Spanien wollen nun gen der europäischen Sicherheit nur Woche wieder bei beiden Seiten um-
ebenfalls Leopard-Panzer liefern. handeln, wenn die Amerikaner mit gehört, was sie von der geplanten
Finnland war schon so weit, Portugal an Bord sind.« Lieferung der Leopard-Panzer an die
ist nun auch dabei, Polen sowieso. Die Für Scholz waren es anstrengende Ukraine halten – erneut ergibt sich
Niederlande würden 18 von Deutsch- Wochen, doch was vor ihm liegt, ein gemischtes Bild.
land geleaste Leos beisteuern, auch dürfte kaum weniger kräftezehrend Alice Schwarzer, 80, Herausgebe-
Schweden schließt eine Beteiligung werden. Es ist nun auch sein Krieg, rin der Zeitschrift »Emma« und Ini-
nicht mehr aus. Das Leopard-Kontin- Deutschland gehört mit den Kampf- tiatorin des dort abgedruckten offe-
gent könnte am Ende beachtlich aus- panzern zur Spitze des Anti-Putin- nen Briefes, ist entsetzt, sieht schon
fallen. Bündnisses. Das Verhältnis zu den den großen globalen Flächenbrand
Entscheidend für die Stabilität des USA ist zu wichtig, er wird den kommen. »Die Lieferung weiterer
Westens aber ist die Achse zwischen Amerikanern in den nächsten Mona- Panzer ist unverantwortlich!«, sagt
Scholz und Biden. Die Amerikaner ten deshalb auch entgegenkommen sie. Ȇber 200 000 tote Soldaten
haben von Anfang an Rücksicht auf müssen. schon jetzt und täglich 1000 mehr,
Margita Hoesel

die Interessen der Deutschen genom- Zu Hause braucht Scholz eine an- auf allen Seiten, tote Zivilisten, ver-
men, so jedenfalls wird es im Weißen dere Führung. Offener, weniger heim- gewaltigte Frauen und die Verwüs-
Haus gesehen. Von Tag eins an ver- lich. Dass er seinen Kurs, für den es tung der Ukraine. Und nun auch noch
zichtete Biden auf jene scharfe Rhe- Intellektuelle Mahner durchaus gute Gründe gibt, wochen- die immer näher rückende Gefahr
torik, die Trump immer nutzte, wenn Flaßpöhler, Merkel, lang kaum erklärte, ließ ihn schwach eines Weltkrieges. Der würde allen
Schwarzer: »Zweifel
die Rede auf Deutschland kam. Biden überwiegen« wirken, undurchschaubar. Es müsse voran Deutschland treffen. Irgend-
verzichtete auf öffentliche Ermah- auch möglich sein, dass er mit ande- wann muss verhandelt werden. Wa-
nungen, setzte darauf, dass stille Di- ren Staatschefs spreche, ohne dass die rum also nicht jetzt? Sofort!«
plomatie mehr bewirkt. Das Resultat: halbe Weltgemeinschaft zuhört, sag- Der Politikwissenschaftler Wolf-
Scholz hat ihm praktisch aufgezwun- te er Teilnehmern zufolge in dieser gang Merkel, 71, gehörte zu den Erst-
gen, sich noch mehr in der Ukraine Woche vor SPD-Abgeordneten. unterzeichnern des Schwarzer-Brie-
zu engagieren, obwohl der Einsatz Das stimmt. Aber der Krieg fes, er äußert sich nun vorsichtiger als
innenpolitisch für Biden schon jetzt kommt jetzt in eine neue Phase, der Schwarzer, hält aber die Lieferung der
höchst riskant ist. Nicht nur der Kanzler muss endlich eine Sprache Leopard-Panzer »für strategisch wie
Trump-Flügel hält den Krieg für Res- Pro Panzer finden, um sein Land mitzunehmen. moralisch falsch«. Sie sei nur »poli-
sourcenverschwendung. Er sollte erklären, wozu die Panzer tisch kaum abwendbar« gewesen. Die
Öffentlich tut Biden nun so, als »Wie bewerten Sie es, gebraucht werden, was sein strategi- Befürworter waren zu laut. Dem »Ag-
dass Deutschland
wäre die deutsch-amerikanische Har- Leopard-Kampfpanzer sches Ziel in der Ukraine ist und das gressor Putin« aber, so glaubt Merkel,
monie wiederhergestellt. »Die Ver- an die Ukraine liefern des Westens. »Vertrauen Sie mir«, werde »mit der Panzerlieferung
einigten Staaten und Europa sind sich will?«, in Prozent sagte Scholz am Mittwoch im Bundes- nichts von seiner Eskalationsfähigkeit
komplett einig«, sagt er bei der Vor- tag. Das klang nicht so, als wollte er genommen«. Auch die Philosophin
eindeutig eindeutig
stellung des Panzerdeals und dankt falsch richtig seinen Stil ändern, sondern klang mal Svenja Flaßpöhler, 47, hat den »Em-
seinem »engen Freund« Olaf Scholz 32 40 wieder wie: Ich habe einen Master- ma«-Brief unterschrieben und würde
für seinen Führungswillen. Auch in plan, ihr werdet irgendwann davon es wieder tun, wie sie sagt. Sie ver-
der Bundesregierung beteuert man, erfahren. Die Frage ist, ob das gut stehe zwar die Argumentation, die zu
das monatelange Gezerre um die gehen kann. der Panzerentscheidung geführt habe,
Panzer werde keinen bleibenden Teile des Landes sind aufgewühlt, »doch meine Zweifel und Fragen
Schaden hinterlassen. Am Mittwoch verunsichert, von Anfang an bereite- überwiegen«.
schalteten sich Scholz und Biden so- 5
te der Krieg in der Ukraine vielen Der Publizist Gerd Koenen, der
wie der französische Präsident Ma- eher 14 Menschen Angst. Die Kampfpanzer- den Gegenbrief unterschrieb, ist ent-
cron und die Premiers von Großbri- falsch eher richtig lieferung stößt mehrheitlich auf Zu- täuscht von Scholz, und zwar nicht,
tannien und Italien zusammen. Die 9 unentschieden
stimmung, 54 Prozent der Deutschen weil der Kanzler nun Panzer liefern
Stimmung sei sehr heiter gewesen, halten sie laut einer Civey-Umfrage lässt, sondern weil er dies zu spät tue:
heißt es. S Quelle: Civey-Umfrage für für den SPIEGEL für sinnvoll. Im »Too little too late! Jetzt wie von An-

den SPIEGEL vom 25. bis 26.


»Ich bin enttäuscht, dass die Deut- Januar 2023; Befragte: 5044; Osten sind allerdings 62 Prozent fang an«, kritisiert Koenen, 78. »Hät-
schen dieses Spiel spielen: Wir schi- die statistische Ungenauig-
keit der Umfrage liegt bei bis
der Menschen dagegen. Scholz’ Kurs ten die Nato-Staaten sich nach der
cken unsere Panzer nicht, solange ihr zu 2,8 Prozentpunkten polarisiert. Invasion sofort und unzweideutig ver-

16 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


TITEL

INDUSTRIE

Zerstrittene Profiteure
Die deutschen Panzerhersteller stehen vor einem Milliardengeschäft – aber was können sie
überhaupt liefern, und wann?

Vor nicht allzu langer Zeit galt der Bundesregierung seine Produkte angebo­ munition, wie sie etwa für den Flugab­
Kampfpanzer Leopard als Relikt des Kal­ ten. KNDS­Chef Frank Haun verglich ihn wehrpanzer Gepard gebraucht wird,
ten Kriegs. Seit diesem Mittwoch kann daraufhin mit »Aale­Dieter«, dem Markt­ der in der Ukraine im Einsatz ist. Ein wei­
alles nicht schnell genug gehen. Gleich am schreier vom Hamburger Fischmarkt. teres Werk entsteht in Ungarn.
Morgen erklärt der neue Verteidigungs­ Nach der Leopard­Entscheidung stellt Künftig dürfte auch bei Panzern die
minister Boris Pistorius (SPD): »Ich habe Papperger Forderungen: »Was wir vor Nachfrage steigen, nicht nur um Lücken
vor, kurzfristige Gespräche mit der Rüs­ allem brauchen, ist Planungssicherheit.« zu füllen. Rheinmetall erwartet, dass etli­
tungsindustrie aufzunehmen.« Dazu gehöre dreierlei. »Erstens Aufträge, che Staaten ihre Armee aufstocken wol­
Zwei Firmen werden seine wichtigsten zweitens Rahmenverträge mit Abnahme­ len. Vergangenen Sommer haben die Düs­
Ansprechpartner sein, das Düsseldorfer garantien, insbesondere für Munition und seldorfer den Panther vorgestellt, den
Unternehmen Rheinmetall und Krauss­ Fahrzeuge.« Nur so könne Rheinmetall Prototyp eines neuen Kampfpanzers – ein
Maffei Wegmann (KMW) aus München, die nötigen Investitionen tätigen. Drittens Affront gegen KMW. Das Unternehmen
seit 2015 Teil der deutsch­französischen müsse man gewährleisten, dass die Liefer­ entwickelt mit dem französischen Hol­
Holding KNDS. Rheinmetall fertigt den ketten beim Hochlauf funktionieren. dingpartner Nexter selbst einen Panzer, zu
Turm und die 120­Millimeter­Glattrohr­ Panzerbauer sind bei etlichen Kompo­ dem Rheinmetall Turm und Kanone
kanone, KNDS produziert das Unterteil nenten von Zulieferern abhängig, die auch liefern soll. Papperger geht das alles nicht
samt Panzerung und fügt alle Kompo­ ausländische Kunden bedienen. Soweit es schnell genug; er will daher in Unterlüß,
nenten zusammen. sich um deutsche Firmen handle, könne Kassel und Bremen den Panther bauen.
Für beide Konzerne bedeutet die Ab­ der Bund vorgeben, dass deutsche Rüs­ Der Rüstungsboss hat große Pläne. Der
gabe von Leopard­Panzern an die Ukraine tungskonzerne aus übergeordneten natio­ Umsatz soll sich bis 2025 auf elf bis zwölf
neue Aufträge. Schon die bisherigen nalen Sicherheitsinteressen prioritär zu Milliarden Euro nahezu verdoppeln.
Waffenlieferungen reißen Lücken bei der beliefern seien, sagt Papperger. Bei KMW tritt man leiser auf. Man sei
Bundeswehr, die geschlossen werden müs­ Russlands Krieg verändert die Ge­ flexibel, die Produktion hochzufahren,
sen. Das Beschaffungsamt verhandelt mit schäftsbedingungen für Rheinmetall heißt es aus Unternehmenskreisen. Aber
KMW über Ersatz für die Panzerhaubitze grundlegend. Bereits im vergangenen Jahr auch in München wünscht man sich vom
2000, von der die Bundeswehr 14 Systeme hat der Konzern 700 Millionen Euro in­ Bund mehr Verlässlichkeit. KMW hat al­
an Kiew abgegeben hat. Nach SPIEGEL­ vestiert und die Kapazitäten um zehn Pro­ len Grund, misstrauisch zu sein. Als die
Informationen soll es noch im ersten zent erhöht. Die Planungen für dieses Bundeswehr Panzerhaubitzen in die
Quartal zu einem Vertrag kommen. Jahr, die eine Aufstockung in ähnlicher Ukraine schickte, sollte der Hersteller die
Auch die 14 Leopard­Panzer, die Kanz­ Größenordnung vorsahen, gelten schon Wartung in Litauen übernehmen. Nur an
ler Olaf Scholz bis Ende März aus Bun­ wieder als überholt. Bislang hat Rheinme­ die Bezahlung hatte man in Berlin nicht
deswehrbeständen schicken will, sollen tall vor allem in Munition investiert. Der gedacht: KMW habe in Vorkasse gehen
ersetzt werden. Das Verteidigungsministe­ spanische Hersteller Expal soll übernom­ müssen, heißt es in Branchenkreisen.
rium signalisierte, die Nachbeschaffung men werden. In Unterlüß baut der Matthias Gebauer, Martin Hesse,
der Leopard 2 A6 werde »unverzüglich Konzern eine Fabrik für Mittelkaliber­ Gerald Traufetter n
eingeleitet«. Aus der Truppe hieß es, man
werde als Ersatz neuere Modelle des Typs
2 A7 ordern. Kosten: mehrere Millionen
Euro, hinzu kommen Ersatzteilpakete und
Wartungsverträge.
Insider erwarten allerdings, dass
sich die Nachbeschaffung selbst bei einem
baldigen Vertragsschluss über Jahre hin­
ziehen wird. Auch Bündnispartner wollen
Leoparden an die Ukraine liefern, etliche
davon müssen erst instandgesetzt werden.
Sechs Monate dauert das, so lautet eine
Faustregel in der Branche.
Und das ist nur der Anfang. Im Prinzip
ist mit dem Ja zu den Leopard­Tanks
die Entscheidung gefallen, die ukrainische
Armee von altem Sowjetgerät auf west­
liche Technik umzustellen. Ein Milliarden­
geschäft. Das Problem: Die Unternehmen
Mar tin Meissner / AP

sind sich spinnefeind.


Rheinmetall-
Rheinmetall­Chef Armin Papperger Zentrale in
verfolgt einen aggressiven Wachstums­ Düsseldorf
kurs. Seit Beginn der Invasion hat er der

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 17


TITEL

wofür sie im Kalten Krieg entwickelt wurden:


als zentrales Waffensystem einer Armee, die
einen Angriff aus Russland abwehren muss.
In einem Landkrieg mit Panzerschlachten –
einer Form des Krieges, die überwunden
schien.
Kein Wunder, dass mit den Panzern ge-
spaltene Gefühle verbunden sind, Fragen und
Sorgen. Geben sie dem Kreml-Herrscher An-
lass, seine Wut auf Deutschland zu richten
und sogar eine direkte Konfrontation mit der
Nato zu erwägen? Angela Stent, amerika-
nische Sicherheitsexpertin und Regierungs-
beraterin unter Präsident George W. Bush,
hält Putin durchaus für fähig, Atombomben
einzusetzen. »Putin geht es immer um
Einschüchterung«, sagt sie (siehe Interview

Hans-Christian Plambeck
Seite 20).
Scholz beruft sich häufig auf die Ängste,
die Umfragen. Womöglich sind die Ergeb-
Verteidigungsminister Pistorius bei nisse aber auch deshalb gespalten, weil der
Truppenbesuch in Altengrabow
Kanzler selbst keine klare Linie vorgibt, son-
dern erst lange zögert und Gegenargumente
pflichtet, die massive Waffenungleichheit zwi- Die Nachkriegsgeneration hat eine speziel- vorträgt, dann aber doch die modernsten
schen Aggressor und Aggressionsopfer halb- le Beziehung zu Russland, der Kalte Krieg ist Waffen liefert.
wegs auszugleichen, hätten wir schon eine ihr altes Trauma. Die heute um die 40-Jähri- Ich lasse mich nicht treiben, liefere aber
ganz andere Lage.« gen und die noch Jüngeren wuchsen nach dem im Zweifel das beste Zeug – so lässt sich sein
Im Ausland wird manchmal übersehen, Mauerfall in einer stabilen europäischen Ord- Kurs bisher zusammenfassen. Scholz wirkt
wie stark sich die deutsche Geschichte auf nung auf – aus heutiger Sicht einer Komfort- manchmal selbst wie eine gespaltene Um-
heutige Befindlichkeiten auswirkt. Ein Faktor zone, in der Freiheit und Demokratie als so frage. Und nicht wie ein Kanzler, der die Stim-
ist die 40 Jahre währende deutsche Teilung. selbstverständlich galten, dass nun die Er- mung durch politische Klarheit lenken will.
Es ist sicher kein Zufall, dass in Ostdeutsch- schütterung über den Verlust alter Gewiss- Das westliche Bündnis steht nun vor neuen
land die Skepsis gegenüber Lieferungen von heiten umso größer ist. Konflikten, vor Fragen, wie man die Hilfe für
Panzern stärker ausgeprägt ist als im Westen. Mit dieser Erschütterung kommen jetzt die Ukraine ab jetzt noch weiter nach oben
Im Osten gibt es eine engere Bindung an auch die Panzer zurück, diese tonnenschwe- schrauben könnte. Mit der Lieferung von
Russland. ren Ungetüme, die aus der Zeit gefallen schie- Kampfpanzern scheint das letzte Tabu ge-
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretsch- nen und nun ein zweites Leben bekommen. fallen. Spektakuläre neue Waffensysteme
mer verstärkt solche Stimmungen regelmäßig. Sie werden zum ersten Mal dafür eingesetzt, wie Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe oder gar
Frühzeitig äußerte er »große Bedenken« gegen U-Boote zu liefern scheint nicht mehr unrea-
die Lieferung von Panzern, auch wenn die Linie listisch. Oder doch?
seiner eigenen Partei, der CDU, eine andere Begehrter Kampfpanzer Andrij Melnyk, vom Botschafter zum Vize-
ist. Als Biden und Scholz den Panzerdeal außenminister in Kiew befördert, hat bereits
verkündeten, war Kretschmer für Wahlkampf- Leopard 2 in der Nato und Europa vorgeschlagen, die Luftwaffe möge doch
auftritte in Berlin. Seine Enttäuschung sprach in Betrieb eingelagert bestellt Kampfjets wie ihre Uralt-Tornados an die
er in die Kamera: »Wir sind auf einer schiefen Ukraine abgeben. Die allerdings sind so ma-
Ebene«. Das mache »den Menschen Angst Deutschland 321 ca. 200 rode, dass selbst die Bundeswehr sie nur noch
und Sorge«. Griechenland 353 mit Mühe in der Luft halten kann. Realisti-
Es gibt andere Stimmen, auch im Osten. scher scheint der Plan zu sein, die Ukraine
Thüringens Regierungschef, der aus West- Spanien 327 langfristig mit F-16-Kampfflugzeugen aus
deutschland stammende Bodo Ramelow, war Türkei 316 amerikanischer Produktion auszurüsten, doch
früher strikter Gegner von Waffenlieferungen, dazu ist noch keine Entscheidung gefallen.
Polen 247
heute aber sagt er: »Jeder, der angegriffen Hubschrauber, vor allem aber Kriegsschif-
wird, hat das Recht, sich zu verteidigen.« Finnland* 100 100 fe und U-Boote sind teuer und bei der Bun-
Auch mit Panzern: »Meine Position bleibt. Schweiz* 134 deswehr Mangelware. Für die Ukrainehilfe
Die russische Armee muss die Ukraine ver- scheiden sie aus. In Zukunft dürfte es für Ber-
lassen, und nur eine souveräne Ukraine kann Schweden* 120 lin weniger um neue Waffensysteme gehen
den Frieden verhandeln.« Wie Kretschmer Kanada 82 als darum, die bereits gelieferten zu ergänzen,
stellt sich Ramelow gegen seine eigene Partei: zu warten und gleichzeitig die Lücken zu stop-
Österreich* 56
Er ist Vertreter der Linkspartei, die auf Bun- fen, die ihre Lieferung bei der Bundeswehr
desebene jetzt für den Widerstand gegen die Ungarn 12/44 gerissen hat. Es gehe – so formulieren es in
Panzerlieferungen mobilisieren will. Norwegen 36/16 Berlin dieser Tage manche – nicht um einen
Die Positionen verlaufen kreuz und quer, Sprint, sondern um einen Dauerlauf.
entlang und gegen Parteilinien. Scholz muss Dänemark 44 Ohne eine leistungsfähige Rüstungsindus-
auch viele Generationen im Blick haben, in Portugal 37 trie, die ihre Kapazitäten zügig ausbaut, wird
fast allen herrschen Ängste. Unter den sehr das nicht gehen. Für die Branche ist das Jam-
Slowakei 1/14
Alten hierzulande werden Erinnerungen an mern Teil der DNA. Doch dieses Mal klagen
den Zweiten Weltkrieg wach, an die Schuld Tschechien 1/13 die Rüstungsmanager womöglich zu Recht.
Deutschlands. S Quelle: IISS; Stand: 13. Januar 2023; * keine Nato-Staaten Warum sollten sie ihre Produktion ausweiten,

18 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


TITEL

wenn es die Bundeswehr auch nach fast einem Helfer in der Not lichen russischen Aggression begegnen zu
Jahr Krieg nicht geschafft hat, nennenswert können. Detailliert wird dort beschrieben,
neues Material zu ordern? Bilaterale militärische Unterstützungs- welche Fähigkeiten in welchen militärischen
In Frankreich lud der Verteidigungsminis- leistungen für die Ukraine, in Mrd. Euro Dimensionen von Cyber über Weltraum bis
ter schon Anfang September die Industrie zu in Prozent des BIP hin zu Marine, Luftwaffe oder den Landstreit-
einem Rüstungsgipfel, um sie auf eine Kriegs- USA kräften zum Einsatz kommen könnten.
wirtschaft einzustimmen und den Output zu 22,86 0,11 Vorsorge ist jetzt wichtig. Niemand weiß,
erhöhen. In Deutschland warten die Herstel- wie und wann der russische Krieg enden wird.
Großbritannien
ler bis heute auf ein solches Signal. Weder in Washington noch in Berlin oder
Scholz hat die Sicherheitspolitik schleifen 4,13 0,15 anderen Hauptstädten der Allianz scheint es
lassen – so jedenfalls der Eindruck vieler Ver- Deutschland Pläne für einen Frieden zu geben. Warum?
bündeter. Die Ankündigung, 100 Milliarden 2,34 0,06 Weil Putin bisher nicht erkennen lässt, dass
Euro in die Bundeswehr zu investieren, wur- Polen er zu Gesprächen ohne Vorbedingungen be-
de von den Partnern mit Erleichterung auf- 1,82 0,31
reit sein könnte. Die Leopard-Panzer sollen
genommen, doch seitdem fragen sie sich, was den Herrscher im Kreml auch zu Gesprächen
aus dieser Zeitenwende geworden ist. Kanada zwingen.
Das Nato-Ziel, zwei Prozent der Wirt- 1,36 0,08 Klar ist zudem: Selbst wenn der Krieg
schaftsleistung in die Verteidigung zu stecken, S Quelle: ifw-Kiel; Stand: 24. Jan. bis 20. Nov. 2022
irgendwann vorbei ist, wird Kiew dauerhaft
wird Deutschland jedenfalls in diesem Jahr auf die militärische und wirtschaftliche Unter-
wieder verfehlen. Und der Druck steigt. Der Altengrabow, Sachsen-Anhalt: »Schön, mal stützung seiner Verbündeten angewiesen sein,
nächste Nato-Gipfel in Vilnius im Juli wird wieder bei der Truppe zu sein«, sagte Pisto- um Russland von einem erneuten Angriff
die Zwei-Prozent-Marke wohl nicht mehr zur rius, der zuvor als Innenminister von Nieder- abzuschrecken. Es sei denn, in Moskau käme
Zielgröße, sondern zur Untergrenze erklären, sachsen schon viele Kasernen besucht hat. irgendwann eine demokratische Regierung
und das vermutlich ab sofort. Die Deutschen Man merkt ihm an, dass er es ernst meint mit an die Macht.
würde ein solcher Beschluss in Schwierigkei- der Zeitenwende. Doch davon mag man in Berlin, Washing-
ten bringen. Die zwei Prozent seien »nur die Die Nato hat sich bisher aus dem Krieg ton, Paris oder Warschau noch nicht einmal
Basis«, von der aus man weiter nach oben herausgehalten, aber man will vorbereitet träumen.
denken müsse, sagte Boris Pistorius, der neue sein. Seit Monaten lässt das Oberkommando »Dieser Krieg«, so sagt es einer aus dem
Verteidigungsminister, in dieser Woche intern. drei regionale Operationspläne für das ge- Team des Kanzlers, »wird noch lange dauern.«
Anders als seine Vorgängerin wirkt der Neue, samte Bündnisgebiet ausarbeiten. Die Tele-
Markus Becker, Tobias Becker, Susanne Beyer,
als wollte er wirklich für das Bundeswehr- fonbuch-dicken Pläne mit vielen Anhängen Matthias Gebauer, Konstantin von Hammerstein,
budget kämpfen. Gerade erst hatte er seinen sollen bis zum Gipfel in Vilnius fertig sein und Peter Maxwill, Veit Medick, René Pfister,
Antrittsbesuch bei Panzergrenadieren in das Bündnis in die Lage versetzen, einer mög- Tobias Rapp, Steffen Winter n

DEIN ZUHAUSE
SO EINZIGARTIG WIE DU
Ein System mit unendlich vielen Möglichkeiten in den
Bereichen Heizen, Beschattung, Licht, Zutritt sowie Sicherheit

Steuerung über die kostenlose Homematic IP App


– ganz einfach und ohne Registrierung

Zertifizierte Sicherheit und


höchster Datenschutz

homematic-ip.com
TITEL

Stent: Ich glaube, wir müssen eines zur Kennt-


nis nehmen: Putin hat den Zusammenbruch
der Sowjetunion niemals akzeptiert. Er hat
versucht, ihn rückgängig zu machen, seit er

»Putin ist absolut im Mai 2000 an die Macht kam, wahrschein-


lich schon vorher. Die Sowjetunion ist nie in
einem Krieg besiegt worden. Deshalb war es

fähig, Atomwaffen zu für Putin schwer zu verstehen, warum sie


überhaupt kollabiert ist.
SPIEGEL: Viele Deutsche erinnern sich noch,

gebrauchen« wie der neue Präsident Putin im September


2001 im Bundestag auf Deutsch von dem Bau
des gemeinsamen Hauses Europa sprach. Da-
mals klang er nicht wie ein Mann, der den
USA Wie groß ist nach dem Panzerbeschluss das Risiko für den Westen? Kontinent in Brand setzen will.
Stent: Es ist richtig, dass Putin zu Beginn seiner
Die amerikanische Russlandexpertin Angela Stent über den ersten Amtszeit ein Interesse an engeren Be-
Kremlherrscher und die Fehler des Westens im Umgang mit Russland. ziehungen zum Westen hatte. Die Bundestags-
rede ist dafür ein Beispiel, aber auch seine
Unterstützung der USA nach den Attacken
Stent, Jahrgang 1947, ist eine der besten Ken- ne Weltsicht teilen, an der Macht sind, wird vom 11. September 2001. Das Problem war
nerinnen Russlands in den Vereinigten Staaten. ihr Ziel sein, eine slawische Union zu bilden. nur, dass Putin erwartete, der Westen würde
Sie arbeitete im politischen Planungsbüro des Zu der würde neben Russland die Ukraine im Gegenzug für seine Hilfe akzeptieren, dass
amerikanischen Außenministeriums und gehören, Belarus und möglicherweise auch er eine russische Interessensphäre im postso-
war während der Präsidentschaft George W. die nördlichen Teile von Kasachstan. Russ- wjetischen Raum etabliert. Putin hat eine sehr
Bushs im National Intelligence Council, der land hat jede Vereinbarung gebrochen, die es alte imperiale Weltsicht, die Russlands Nach-
Schnittstelle zwischen Sicherheitsdiensten und mit der Ukraine seit dem Zusammenbruch barn über Jahrhunderte daran gehindert hat,
Politikern. Stent lehrte viele Jahre als Profes- der Sowjetunion geschlossen hatte und die ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.
sorin an der Georgetown University und ist die Souveränität der Ukraine gewährleisten SPIEGEL: Man könnte argumentieren, dass
heute Senior Fellow an der Brookings Insti- sollte. Wer also soll daran glauben, dass sich diese imperiale Weltsicht den USA nicht
tution, einer Denkfabrik in Washington. Russland an eine neue Friedensvereinbarung fremd ist. Präsident John F. Kennedy zum
hält? Das ist das Dilemma. Beispiel hat es Anfang der Sechzigerjahre
SPIEGEL: Professorin Stent, der Krieg gegen SPIEGEL: Die USA und Deutschland haben sich nicht akzeptiert, dass in Kuba – einem sou-
die Ukraine geht ins zweite Jahr, Hunderte darauf geeinigt, schwere Kampfpanzer in die veränen Staat – sowjetische Raketen statio-
Dörfer und Städte sind zerstört, Zehntausen- Ukraine zu liefern. Ist das ein Wendepunkt? niert werden.
de Soldaten und Zivilisten tot oder verletzt. Stent: Die deutsche Entscheidung, Leopard- Stent: Damals ging es um Atomwaffen, die
Wie kann dieser Krieg enden? Panzer zu liefern und es anderen Ländern innerhalb von wenigen Minuten die USA er-
Stent: Das weiß im Moment niemand, weil ebenfalls zu erlauben, zeigt mir, dass die Zei- reicht hätten. Heute kann keine Rede davon
keine Seite ein Interesse an Friedensverhand- tenwende in Deutschland real ist. Es ist ein sein, dass die Nato nukleare Sprengköpfe in
lungen hat. Die Russen glauben immer noch, Wendepunkt in der Nachkriegsgeschichte, in die Nähe der russischen Grenze verlegen will.
sie könnten die ganze Ukraine kontrollieren. der Deutschland immer eine Zivilmacht sein Ich weiß: Die Russen behaupten immer, wir
Und die Ukraine ist nicht bereit, jene Gebie- wollte und eine Ostpolitik verfolgte, bei der hätten eine Interessensphäre in Lateinameri-
te abzutreten, die sie seit Beginn des Krieges Russland im Mittelpunkt stand und die Nach- ka. Das mag früher gestimmt haben. Aber
am 24. Februar 2022 verloren hat. So gesehen barländer sich fügen mussten. heute? Schauen Sie sich nur Mexiko an, einen
sind wir weiter von einem Friedensschluss SPIEGEL: Sie haben sich große Teile Ihres Be- unserer engsten Partner. Mexiko hat den
entfernt denn je. rufslebens mit Russland und Putin beschäftigt. Ukrainekrieg nicht verurteilt, es hat Russland
SPIEGEL: Sie waren selbst unter George W. Hätte man diesen Krieg verhindern können, nicht kritisiert, es unterstützt nicht unsere
Bush mit für die Russlandpolitik der US- wenn der Westen nach dem Ende des Kalten Bemühungen, Kiew militärisch zu helfen. Das
Regierung zuständig. Wenn Sie heute ein Krieges rücksichtsvoller mit Moskau umge- klingt nicht so, als wäre das Land ein Vasall
Friedensabkommen aushandeln müssten – gangen wäre? Washingtons.
wie würden Sie vorgehen? SPIEGEL: Eine der Klagen Putins ist, dass bei
Stent: Es gab ja schon ein Abkommen, das im der Nato-Osterweiterung nicht auf die Sicher-
vergangenen März von den Türken vermittelt heitsinteressen Russlands Rücksicht genom-
wurde. Es sah vor, dass sich die Russen hinter men wurde.
die Linien vor der Invasion am 24. Februar Stent: Das ist ein Mythos, den Putin verbrei-
zurückziehen und die Ukrainer im Gegenzug tet. Er hat sich nicht dagegen gewehrt, als die
zusichern, nicht der Nato beizutreten, wenn baltischen Staaten 2004 in die Nato integriert
sie Sicherheitsgarantien aus dem Westen be- wurden. Er hat auch jetzt nicht interveniert,
kommen. Der Deal platzte, als bekannt wur- als Finnland und Schweden den Antrag stell-
de, welche Gräueltaten die russische Armee ten, in die Nato aufgenommen zu werden. Ich
in Butscha begangen hatte. glaube, Putin wendet sich nicht gegen eine
SPIEGEL: Die Falken in Washington sagen: Nato- oder EU-Mitgliedschaft der Ukraine,
Jeder Kompromiss, der Wladimir Putin Teile weil sie eine Bedrohung für Russland dar-
der Ukraine überlässt, wird ihn nur ermun- stellen würde. Sondern weil sie bedeuten
tern, sein Projekt voranzutreiben, das alte würde, dass er das Land nicht mehr angreifen
BROOKINGS

Sowjetreich wiederauferstehen zu lassen. und unter seine Kontrolle bringen kann.


Stent: Dem würde ich im Prinzip zustimmen. SPIEGEL: Auf dem Nato-Gipfel im Jahr 2008
Solange in Moskau Putin oder Leute, die sei- Sicherheitsspezialistin Stent wollte der damalige US-Präsident George

20 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


TITEL

W. Bush einen »Membership Action


Plan« für die Ukraine und Georgien
verabschieden, mit dem den beiden
Ländern ein klarer Fahrplan für eine
Nato-Mitgliedschaft gezeigt werden
sollte. Die damalige Kanzlerin Ange-
la Merkel hat ihr Veto eingelegt. War
das der Keim des Desasters, in dem
wir heute stecken?
Stent: Es war sicher ein großer Fehler,
dass als Ergebnis des Vetos von Mer-
kel ein Communiqué verabschiedet
wurde, in dem zwar von der Nato-
Mitgliedschaft der Ukraine und Geor-
giens die Rede war, aber keine kon-
kreten Taten folgten. Es war ein Kom-
promiss, der alles nur schlimmer
machte. Er sorgte nicht dafür, dass
die beiden Länder unter den Schutz-
schirm der Nato kamen. Und er ver-
ärgerte die Russen, die kurz darauf
in Georgien einmarschierten.
SPIEGEL: Nach der Annexion der
Krim im Jahr 2014 hat der damalige

Jorge Silva / REUTERS


US-Präsident Barack Obama die Ukra-
inepolitik im Wesentlichen den Euro-
päern und vor allem Merkel überlas-
sen, die sich immer strikt gegen Waf-
fenlieferungen an die Ukraine ge-
wendet hat. War dies eine Einladung Bild Putins an sche Projekt war ja gerade deshalb so sierten Welt. Es ist ein Irrtum zu glau-
an Putin, den Konflikt weiter zu es- ukrainischem erfolgreich, weil die Staaten – mit ben, wir könnten uns in die Festung
Checkpoint
kalieren? wenigen Ausnahmen – so viel Geld USA zurückziehen, wenn Europa in
Stent: Sicher hätte die Regierung für den Sozialstaat ausgegeben haben Flammen steht.
Obama entschlossener reagieren und nur ein absolutes Minimum für SPIEGEL: Wird die Bedrohung durch
müssen, als Russland die Krim annek- Verteidigung. Solange das so bleibt, Russland automatisch mit seiner
tierte und in den Donbass einfiel. Und wird Europa den Schutz der USA schwindenden ökonomischen Kraft
sie hätte die Partner, insbesondere brauchen. abnehmen? Putin hat es nicht ge-
Deutschland, ermuntern sollen, die- SPIEGEL: Muss sich Europa über kurz schafft, die Wirtschaft seines Landes
sen Weg mitzubeschreiten. Das Pro- oder lang auf einen Präsidenten vor- zu modernisieren.
blem von Obama war, dass er sich bereiten, der sich nicht mehr der Nato Stent: Ich fürchte, solange Russland
nicht wirklich mit Russland beschäf- verpflichtet fühlt? 6000 atomare Gefechtsköpfe hat und
tigen wollte, weil ihm das zu kompli- Stent: Mit Donald Trump hatten wir Leute wie Putin im Kreml das Sagen
ziert war. Meine These lautet: Wir das ja schon. Es gibt einen eher tradi- haben, wird es eine Bedrohung für
stecken heute nicht in dieser schwie- tionellen Teil der Republikanischen seine Nachbarn bleiben.
rigen Lage, weil wir so böse zu Putin Partei – zu dem etwa Mitch McCon- SPIEGEL: Glauben Sie, dass Putin fä-
waren. Sondern im Gegenteil: weil nell gehört, der Fraktionschef im Se- hig ist, Atomwaffen einzusetzen,
wir ihm im Jahr 2014 nicht klar genug nat –, der unverbrüchlich zur Nato wenn er sich in die Ecke gedrängt
Grenzen gesetzt haben. Damals kam steht. Daneben existiert auch der fühlt?
er offenbar zu dem Schluss, dass er Trump-Flügel, der isolationistisch Stent: Ich glaube, er ist absolut fähig,
es immer weiter treiben kann, weil es denkt und der will, dass Europa mehr Atomwaffen zu gebrauchen. Die Fra-
keine Konsequenzen hat. für die eigene Verteidigung zahlt – ge ist, was er davon hat. Der Einsatz
SPIEGEL: Die USA sind bei Weitem und der eines Tages fragen kann: einer Bombe würde ihm keine Ge-
der größte Unterstützer der Ukraine. Warum brauchen wir überhaupt die ländegewinne verschaffen und eine
Glauben Sie, die Europäer werden Nato? Zu diesem Flügel würde ich kraftvolle Gegenreaktion des US-Mi-
jemals selbst für ihre eigene Sicher- auch Ron DeSantis zählen, den Gou- litärs nach sich ziehen. Nicht im Sinne
heit sorgen können? verneur von Florida, der wahrschein- eines nuklearen Gegenschlags, aber
Stent: Der Krieg hat gezeigt, wie ab- »Wir können lich republikanischer Präsidentschafts- dennoch sehr schmerzhaft. Gleich-
hängig die Europäer noch von den uns nicht kandidat werden will. zeitig würde Putin seine wichtigsten
USA sind. Für mich ist die Frage: Wol- SPIEGEL: Deutschland und Frankreich Verbündeten verprellen, China und
len sie das überhaupt ändern? Wir in die gehören zu den reichsten Ländern der Indien, auch wenn ich nicht glaube,
haben schon seit Jahrzehnten eine Festung USA Welt. Warum sollte eine Verkäuferin dass ihn das am Ende wirklich ab-
theoretische Debatte darüber, dass in Ohio für die Sicherheit der Euro- schrecken würde. Putin geht es immer
Europa eine eigene schlagkräftige Ar-
zurückzie- päer zahlen? um Einschüchterung, das sehen wir
mee und eine funktionierende Sicher- hen, wenn Stent: In Verlauf des 20. Jahrhunderts im Moment daran, dass er wahllos
heitsstruktur aufbauen sollte. Dazu Europa haben die USA zweimal versucht, ukrainische Städte mit Raketen und
müssten sich die großen Staaten zu- sich aus den Kriegen in Europa heraus- Drohnen angreift und die Infrastruk-
sammenfinden und die notwendigen in Flammen zuhalten. Zweimal hat das nicht funk- tur des Landes zerstört.
Schritte einleiten. Aber das europäi- steht.« tioniert. Wir leben in einer globali- Interview: René Pfister n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 21


TITEL

Johanna Maria Fritz / DER SPIEGEL


Punkmusik und Kanonendonner
UKRAINE In Kiew ist die Erleichterung groß, dass der Westen nach langem Zögern Kampfpanzer liefern will.
Doch können die Leopard 2 tatsächlich die Wende auf dem Schlachtfeld bringen?

nde Januar ist die Industriestadt mit einem Kaliber von 57-Milli- »Schmied«, stellt sich einer der
E Bachmut im Osten der Ukraine
nur noch über wenige Wege er-
reichbar, es droht eine Umzingelung
metern, die noch aus der Endzeit des
Zweiten Weltkriegs stammt, montiert
auf Lastwagen aus den Sechzigerjah-
Kämpfer der ukrainischen Territorial-
verteidigung, einer Einheit aus Reser-
visten und Freiwilligen, im Donbass
durch russische Truppen. Fährt man ren. Die Zielsteuerung wird justiert vor. Er ist tatsächlich Kunstschmied,
auf einer dieser schmalen Landstra- aus einem Lieferwagen, auf dessen aber auch Artillerist. »Pilot« war mal
ßen durch die Hügellandschaft, das Dach eine Starlink-Satellitenverbin- Topmanager eines Turbinenherstel-
Donnern der Detonationen schon im dung den Kontakt zur Aufklärungs- lers. Nur der Jüngste belässt es beim
Ohr, sind zwischen Bäumen einige einheit hält, die Drohnen aufsteigen Vornamen: Dima verdiente vor dem
alte T-72-Panzer der Ukrainer auszu- lässt. Krieg sein Geld als Kameraassistent
machen – nur keine Panzerhaubitze An der Front rund um Bachmut großer Filmproduktionen. Nun steu-
2000, kein Gepard-Flugabwehrpan- zeigt sich, wie sehr die Ukraine auf ert er die Drohnen.
zer, kein Himars-Mehrfachraketen- Militärhilfe aus dem Westen ange- Mehr als einen Monat lang frästen
werfer. Wie auch, wenn statistisch auf wiesen ist. Zwar hat das ukrainische und schraubten die drei in einer alten
alle 10, 20 Kilometer Front nur eines Militär sein Arsenal modernisiert, vor Instandsetzungshalle an den Recyc-
der westlichen Geräte kommt? allem mithilfe der Nato. Doch der ling-Waffen, erzählen sie. Im Novem-
Stattdessen taucht hinter einer Bö- Verschleiß in dem Krieg ist so groß, ber hätten sie zum ersten Mal damit
Ukrainische Soldaten
schung ein Geschütz auf Rädern auf, dass die Ukrainer gezwungen sind, bei Bachmut:
geschossen, erzählt Dima. Wie es
das aussieht, als wäre es aus einem sich zum Teil mit uraltem Gerät gegen Geschütz wie aus war? »Sehr lärmig. Aber das macht
Historienfilm gerollt: eine Kanone die russischen Angreifer zu wehren. einem Historienfilm nichts, ich bin nebenher Punkmusi-

22 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


TITEL

ker.« Sorgen macht Dima, was passiert, wenn Ausbildung ukrainischer Soldaten am Leo-
Moskau in Bachmut vermehrt reguläre Sol-
Es kursieren Bilder pard 2 beginnen. Im Frühjahr könnten die
daten einsetzt statt wie bisher Söldner der von Ukrainerinnen Leos in der Ukraine zum Einsatz kommen.
Wagner-Miliz. Die russische Armee verfüge Komplizierter ist die Lage beim M1-Ab-
anders als Wagner über Radar, das Artillerie
in Blusen, Mänteln rams. Die USA zogen ihre Panzerdivisionen
ortet. Dima und seine Kameraden müssten und Hosen mit bereits vor zehn Jahren aus Europa ab, wes-
dann nach jedem Schuss sofort die Position Leopardenmuster. wegen die Logistikkette nun neu aufgebaut
wechseln. Woran sie merken würden, dass werden muss. Der Abrams ist zudem schwie-
ein Radar im Einsatz ist? »Na, an dem Pfeifen riger zu bedienen als der Leopard. Nach Ein-
der Granaten, wenn wir beschossen werden. schätzung von Experten wird Kiew erst zum
Nicht gut. Aber was sollen wir sonst machen? Jahresende auf ihn zurückgreifen können.
Auf Hilfe warten?« Bei allen Unwägbarkeiten ist die Panzer-
Nirgends entlang der etwa 1000 Kilometer Wende für die Ukraine nicht nur militärisch,
langen Kriegsfront in der Ukraine wird der- weniger in direkten Duellen. Das könnte sich sondern auch psychologisch wichtig. Sie
zeit so heftig gekämpft wie im Donbass. Und nach Einschätzung von Militärexperten nun demonstriert die Bereitschaft des Westens,
kaum eine Stadt dort wurde in den vergan- ändern. Die Leopard-Panzer zählen aufgrund das Land langfristig zu unterstützen.
genen Wochen so oft von Russlands Truppen ihrer Beweglichkeit und Reichweite zu den Die Ukrainerinnen und Ukrainer durch-
angegriffen wie Bachmut. Welle um Welle besten Panzern der Welt. Sie können, effek- leben einen harten Kriegswinter. Die Atta-
regulärer Armeeeinheiten und Milizionäre tiver als sowjetische Modelle, aus voller Fahrt cken Russlands auf zivile Infrastruktur, die
bedrängten die ukrainischen Verteidiger im- heraus präzise feuern. ständigen Angriffe mit Drohnen, Raketen,
mer weiter. Erst am Mittwoch räumten die Die Amerikaner legten dem ukrainischen Cruise Missiles führen dazu, dass in weiten
Ukrainer ein, dass sie sich aus der Stadt Sole- Militär laut einem Bericht des Fernsehsenders Teilen des Landes immer wieder der Strom
dar, nahe Bachmut, zurückziehen mussten. CNN bereits nahe, die Taktik zu ändern. Statt ausfällt oder abgeschaltet wird.
Umso größer ist die Erleichterung in Kiew, sich in Abnutzungskämpfen wie in Bachmut Viele Bürgerinnen und Bürger frieren, ver-
dass sich Deutschland diese Woche nach aufzureiben, sollten die Ukrainer schnelle, bringen Tage in Bunkern, während draußen
monatelangem Zögern durchgerungen hat, unerwartete Vorstöße wagen. Die westlichen die Geschosse explodieren, Millionen muss-
moderne Leopard-2-Kampfpanzer zu liefern. Verbündeten stellen dafür bereits jetzt mo- ten aus ihren Häusern fliehen. Bei einem rus-
Insgesamt wollen die Deutschen gemeinsam derne Schützenpanzer und Truppentranspor- sischen Raketenangriff auf einen Wohnblock
mit europäischen Partnern zwei Bataillone ter sowie weitere Artillerie und Luftverteidi- in der Stadt Dnipro starben mindestens 46
mit jeweils 40 Leopard-Tanks bereitstellen. gung zur Verfügung. Zivilisten.
Die USA kündigten an, 31 M1-Abrams-Panzer Bei einem Vorstoß könnten die Leopard- Die Aussicht auf moderne Kampfpanzer
zu schicken. Großbritannien hatte Kiew kurz Panzer künftig im Idealfall russische Stellun- aus dem Westen macht den Menschen nun
zuvor 14 Challenger-2-Panzer versprochen. gen angreifen, während die Transporter mit neue Hoffnung. In den sozialen Medien
Es ist eine Zäsur. Bislang war der Westen da- Infanteristen in feindliches Gebiet durch- kursierten diese Woche etliche Bilder von
vor zurückgeschreckt, solche Offensivwaffen brächen. Mobile Flakpanzer wie der Gepard Ukrainerinnen und Ukrainern, die Blusen,
in die Ukraine zu exportieren. schützten dabei vor Luftangriffen und böten Mäntel, Hosen und sogar BH in Leoparden-
Nach Angaben des ukrainischen Oberkom- gleichzeitig den eigenen Kampfjets mehr muster tragen.
mandeurs Walerij Saluschnyj braucht seine Raum. Aus dem Hinterland käme Artillerie- Während die Ukraine in den ersten Mona-
Armee 300 westliche Panzer und 600 ge- unterstützung, etwa von der deutschen Pan- ten nach der russischen Invasion am 24. Fe-
panzerte Fahrzeuge, um auf dem Schlachtfeld zerhaubitze 2000. bruar vor allem darauf konzentriert war, sich
wirklich etwas gegen die Russen ausrichten Die Ukrainer haben die Überrumpelungs- zu verteidigen, überwiegt im Land mittler-
zu können. Trotzdem hofft man in Kiew, dass strategie mit begrenzten Mitteln bereits im weile die Ansicht, dass der Krieg nur dann
der Vorstoß der Europäer und Amerikaner Spätsommer bei ihrer Gegenoffensive in enden wird, wenn sich die russischen Truppen
einen Wendepunkt in dem Krieg bedeutet. Charkiw erfolgreich erprobt. Seither haben vollständig aus den besetzten Gebieten zu-
Der ukrainische Präsident Wolodymyr sich die Russen allerdings besser auf den Geg- rückziehen. Das ukrainische Militär wagt des-
Selenskyj schrieb auf Twitter, er sei Bundes- ner eingestellt und Stellungen verstärkt. halb seit dem Sommer im Osten um Charkiw
kanzler Olaf Scholz und »all unseren Freun- Jetzt stellt sich die Frage, wie schnell die und im Süden um Cherson Gegenoffensiven.
den in Deutschland aufrichtig dankbar«. Vize- Ukrainer die neuen Panzer an die Front brin- In dieser neuen Phase des Konflikts sind
außenminister Andrij Melnyk sprach gegen- gen. Deutschland will bereits in den kommen- Kampfpanzer besonders hilfreich.
über der Deutschen Presse-Agentur von ei- den Tagen mit der sechs- bis achtwöchigen Fachleute gehen davon aus, dass die
nem historischen Moment. Berlins Entschei- Ukraine mithilfe der Leopard-Panzer vor al-
dung für Panzerlieferungen sei ein »Game- lem im Süden versuchen könnte, Territorium
changer auf dem Schlachtfeld«. Kampflinie im Osten zurückzuerobern.
Auch Nato-Generalsekretär Jens Stolten- »Die Erwartung ist, dass die Ukraine in
berg ist überzeugt, dass die Leopard-Panzer russisch besetzte Gebiete der Region Saporischschja angreifen wird.
ukrainische Gegenoffensive
der Ukraine in einem »kritischen Moment« Dort gibt es einen langen Frontabschnitt. Da
des Kriegs helfen könnten, »sich zu verteidi- 100 km Charkiw in dieser Region in letzter Zeit nicht viel ge-
gen, zu gewinnen und als unabhängige Nation kämpft wurde, halten die Russen diesen Teil
zu bestehen«, wie er auf Twitter mitteilte. UKRAINE LUHANSK möglicherweise nicht in allzu großer Stärke«,
Russlands Botschafter in Berlin, Sergej sagt Mark Cancian, Militärexperte am Center
Netschajew, bezeichnete die geplante Liefe- Bachmut for Strategic and International Studies in Wa-
rung im Kurznachrichtendienst Telegram hin- Saporischschja DONEZK shington.
gegen als »extrem gefährlich«. Sie werde »den Sollten die Ukrainer in Saporischschja
Dnjepr
Konflikt auf eine neue Ebene der Konfron- RUSSLAND Erfolg haben, könnten sie über Melitopol bis
tation führen«. Cherson Melitopol
Asowsches
ans Asowsche Meer vorrücken. Sie würden
Bislang spielten Panzer in dem Krieg eher Meer dann das von den Russen kontrollierte Gebiet
eine nachrangige Rolle. Sie wurden vor allem S Quelle: Institute for the Study of War and AEI’s Critical
in zwei Teile trennen, was Russlands Logistik

zur Unterstützung der Artillerie eingesetzt, Threats Project; Stand: 25. Januar massiv erschweren würde. Mit einem Mal läge

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 23


TITEL

Johanna Maria Fritz / DER SPIEGEL (2)


Kameraden Dima, »Pilot«: Nirgends wird derzeit so heftig gekämpft wie im Donbass

dann womöglich selbst die Krim-Halbinsel in chef nur dann Zugeständnisse machen wird, USA nach seinen Vorstellungen nicht möglich
Reichweite ukrainischer Artillerie. wenn es für ihn auf dem Schlachtfeld eng seien, sagt die russische Politikanalystin und
Die Krim nimmt in dem Konflikt eine Son- wird. Gleichzeitig ist vor allem unter Euro- Kreml-Kennerin Tatjana Stanowaja.
derrolle ein, weil sie die Russen bereits seit päern nach wie vor die Sorge groß, dass Mos- Die Panzer-Wende habe ihm wohl end-
2014 besetzt halten. Seitdem ist die Halbinsel kau den Krieg doch noch über die Ukraine gültig klargemacht, dass sich der Westen in
ein beliebtes Ziel für russische Touristinnen hinaus eskalieren könnte. diesem Krieg nicht spalten lasse, wie er das
und Touristen. Sie hat auch für Russlands Bislang bleibt Putin beinhart, beharrt da- lange gehofft habe. Er müsse nun erkennen,
Machthaber Wladimir Putin selbst hohe sym- rauf, dass Gespräche mit Kiew nur dann mög- dass Amerikaner und Europäer auf eine ein-
bolische Bedeutung, die Annexion betrachtet lich wären, wenn er die eroberten Gebiete deutige militärische Niederlage Russlands
er als eine Art historische Wiedergutmachung. behalten kann, sein Krieg sich also gelohnt setzten. Die Frage ist, wie Putin nun mit die-
Für die ukrainische Armee ist die Krim hätte. ser Erkenntnis umgeht.
auf konventionellem Weg über Land oder See In Moskau hat man in diesen Tagen den Der russische Präsident sei kein besonders
kaum einzunehmen. Zu massiv ist das Boll- Eindruck, dass das Wort »Sieg« umso lauter guter Stratege, sondern ein Taktiker, der oft
werk russischer Soldaten. Präsident Selenskyj ertönt, je schlechter es für Russland in der Wochen oder länger brauche, sich auf eine
gab sich daher bisher zurückhaltend, was eine Ukraine läuft. Propagandisten und Politiker veränderte Lage einzustellen, sagt Stanowaja.
baldige Rückeroberung der Krim betrifft. stellen einen Triumph in der Ukraine als Natürlich könne er mit Nuklearwaffen dro-
Sollte es den Ukrainern jedoch gelingen, einzig denkbaren Ausgang des Kriegs dar. Sie hen, um den Westen abzuschrecken. Doch
bis zur Küste vorzudringen und die Versor- konstruieren unhaltbare Parallelen zum Zwei- selbst im Kreml habe man inzwischen ver-
gung der Krim zu kappen, dann, so glaubt ten Weltkrieg, indem sie behaupten, heute standen, dass es keinen Wert hat, rote Linien
Militärexperte Cancian, könnten die Russen wie damals stehe die Existenz Russlands auf zu ziehen, wenn man sie dann doch nicht
sie nur noch mit Booten versorgen. Die Halb- dem Spiel. einhält.
insel wäre für Moskau schwer zu halten. Der Vergleich ist bewusst gewählt. Die Er- Ein Rückzug komme für Putin zu diesem
Dafür müsste aber auch die ukrainische innerung an den Sieg über Hitler-Deutschland Zeitpunkt aber ebenfalls nicht infrage, glaubt
Artillerie deutlich weiter schießen können als hält das Land seit Generationen zusammen. Stanowaja. »Nach seinem Verständnis kann
bisher. Nach einem Bericht der Nachrichten- Nun schwört der Kreml die Bürgerinnen und Russland einfach nicht verlieren.«
seite Politico erwägen die USA, den Ukrai- Bürger abermals auf einen langen Krieg ein. Erst zu Jahresbeginn hat Putin General-
nern Munition zu liefern, die die Reichweite Putin habe bereits Ende vergangenen Jah- stabschef Walerij Gerassimow das Komman-
der Himars-Raketenwerfer von 80 auf 150 res begriffen, dass Verhandlungen mit den do über die sogenannte Spezialoperation in
Kilometer fast verdoppeln würde. Forderun- der Ukraine übertragen, damit die Befehls-
gen nach Kampfjets, wie sie der ukrainische kette klar auf einen General konzentriert ist.
Vizeaußenminister Andrij Melnyk diese Wo- Dieser Schritt gilt Militärexperten als mög-
che erneut erhoben hat, wiesen die westlichen liche Vorbereitung einer neuen Offensive im
Verbündeten bislang jedoch zurück. Frühjahr. Gut möglich auch, dass er noch
US-Präsident Joe Biden betonte am Mitt- Hunderttausende Soldaten an die Front
woch, den Krieg keinesfalls nach Russland »Nach Putins schickt.
tragen zu wollen. Dennoch gehen Amerikaner Es sieht danach aus, dass Putin auf die
und Europäer mit ihrem verstärkten Engage- Verständnis kann Panzer-Wende des Westens so ähnlich reagie-
ment eine Wette ein. Sie versuchen offenbar,
Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen.
Russland einfach ren könnte wie auf die meisten Rückschläge
in diesem Krieg – und erst mal weiter auf Zeit
Da könnte der Leopard helfen. nicht verlieren.« spielt.
Auch im Westen scheint man mittlerweile Tatjana Stanowaja, Ann-Dorit Boy, Christina Hebel, Oliver Imhof,
weitgehend davon überzeugt, dass der Kreml- Politikanalystin Maximilian Popp, Christoph Reuter n

24 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


TITEL

PANZERTECHNIK

Mit der S-Klasse in den Krieg


Fachleute hatten erwartet, dass die Bundesregierung allenfalls veraltete Panzer an Kiew liefert. Jetzt
soll es eine der moderneren Versionen des Leopard 2 werden. Der Haken: Das Gerät ist komplex.

328 Tage Bedenkzeit brauchte die Bundes­ lang und wiegt fast 1,4 Tonnen. Es kann wöhnen müssen. Denn der T­72, den sie
regierung, denn schon am achten Tag mehr Druck aushalten, deshalb starten kennen, wird mit Hebeln gesteuert.
nach Wladimir Putins Invasion bat Kiew manche Geschosse mit fünffacher Schall­ Doch das werden erfahrene ehemalige So­
um die wichtigste Landkriegsmaschine, geschwindigkeit. Die maximale Kampf­ wjetpanzerfahrer schnell hinkriegen.
die Deutschland hat: den Leopard 2. Seit distanz sind fünf Kilometer. Komplexer dürfte der Umgang mit
Dienstagabend ist klar: Deutschland lie­ Die Weiterentwicklung war auch eine Wärmebildgerät und Restlichtverstärker
fert. 14 Kampfpanzer werden als Teil Reaktion auf die Entwicklung von »Kon­ werden, durch die der »Leo« auch nachts
eines europäischen Pakets überstellt, takt­5« in der ehemaligen Sowjetunion, gut angreifen kann. Oder die Bedienung
insgesamt genug, um damit zwei Batail­ einer besseren Panzerung. Dafür wird ein der Feuerleittechnik, die bei jedem Schuss
lone auszurüsten. Schutzsystem aus etlichen Päckchen mit ballistische Faktoren wie Querwind,
Dass die Ukraine so früh um »Leos« Sprengladungen wie eine zweite Haut auf Pulvertemperatur oder Eigenbewegung
bat, ist kein Zufall. Der Leopard 2 ist die Panzerwannen und Türmen angebracht. des Panzers berechnet. Schlicht auf
zentrale Waffe der deutschen Boden­ Schlägt die Hohlladungsgranate eines Sicht zielen und feuern ist kaum noch
kampftruppen und in 15 weiteren europäi­ Feindpanzers auf eine dieser Kacheln, möglich. Nur: Die Systeme, die über
schen Armeen im Dienst. Fachleute halten zündet der Sprengstoff und schleudert ihnen unbekannte Interfaces und mit Be­
den Kompromiss aus Feuerkraft, Beweg­ dem Geschoss die Platte entgegen. fehlen auf Deutsch oder Englisch bedient
lichkeit und Schutz der Mannschaft, den Die Granate kann die Panzerung da­ werden müssen, könnten die Ukrainer im
Konstrukteure bei der Planung eingehen runter kaum noch knacken. Russische Pan­ Gefecht behindern.
müssen, bei keinem anderen Modell zer mit dieser sogenannten Reaktivpanze­ Immerhin geben sich die Bundeswehr­
für so gelungen. Er gilt manchen als der rung sind auch in der Ukraine im Einsatz, ausbilder im niedersächsischen Munster
stärkste Kampfpanzer der Welt. Kontakt­5 wurde bei moderneren T­72, Mühe, Gefechte realistisch darzustellen.
Unter Experten sorgt jetzt vor allem T­80 und T­90 verbaut. Die Ukrainer wer­ Beim Training für die Richtschützen nutzt
die versprochene Version für Verwunde­ den die Kanone des 2 A6 brauchen. die Truppe seit vergangenem Sommer
rung. Die meisten hatten erwartet, dass Das stärkere Geschütz und die moderne Modelle von Feindpanzern in Originalgrö­
die Bundesrepublik Leopard­Panzer der Ausrüstung haben allerdings einen Preis: ße, die eine australische Firma liefert.
Varianten A5 oder A4 abgibt, vergleichs­ Komplexität. Wenn der Leopard 2 A4 Die Blechattrappen sehen aus wie russische
weise alte Modelle, von denen Polen der VW Golf 1 ist, bei dem ein begabter Panzer, es gibt auch welche mit der Sil­
14 Stück ins Nachbarland schicken will. Schrauber noch selbst Hand anlegen houette vom T­14, Russlands modernstem
Stattdessen stellt Deutschland modernere kann, gleicht der 2 A6 der erstmals mit Kampfpanzer. Auf dem Schießplatz setzen
Panzer des Typs A6 zur Verfügung. Elektronik vollgestopften S­Klasse W 140 die Ausbilder Robotermodelle dieser Pan­
Für den Krieg gegen Russland könnte der von Mercedes. Die Ausbildung an dem zer ein, die auf Wärmebildkameras und
Unterschied entscheidend sein. elf Meter langen Gerät ist schwieriger. Radarschirmen echt aussehen. Das Be­
Seit der Einführung bei der Bundes­ Bereits in wenigen Tagen sollen ukrai­ dienen der Kanone trainieren die Soldaten
wehr haben Ingenieure den »Leo« so oft nische Soldaten geschult werden. Sie wer­ auch an Simulatoren. Immer wieder.
verbessert, dass kaum noch vom gleichen den sich an das Lenkrad des Leopard 2 ge­ Jörg Römer n
Modell gesprochen werden kann. Viel­
mehr steht er für eine Fahrzeugfamilie,
deren Varianten sich stark unterscheiden.
Schon die Form hat sich im Laufe der Jah­
re verändert. Ein typisches Merkmal ist
die keilförmige Front am Turm, die erst
mit der Zeit entstanden ist. Frühe Modelle
hatten noch eine senkrechte Turmfront,
die Granaten leichter durchschlagen konn­
ten. Erst in den Achtzigerjahren kam die
charakteristische abgeflachte Form.
Bevor im März 2001 der erste 2 A6
vom Hersteller an die Bundeswehr über­
geben wurde, war der Panzer umfänglich
überarbeitet worden. Die Ingenieure ver­
Philipp Schulze / picture alliance / dpa

besserten bereits zuvor unter anderem die


Bewegungsfähigkeit des Turms und bau­
ten neue Elektronik ein, darunter digitale
Feuerleittechnik. Vor allem aber hat der
2 A6 deutlich mehr Feuerkraft. Dafür
verlängerten sie die 120­Millimeter­Glatt­ Kampfpanzer
rohrkanone um ein Viertel. Das neue Leopard 2 A6
Rohr ist jetzt mehr als sechseinhalb Meter

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 25


DEUTSCHLAND

Freidemokrat chef bat Kubicki bereits im Herbst vergange-


Kubicki nen Jahres, noch einmal anzutreten. Er glaubt
offenbar, dass es ohne Kubicki nicht geht. Und
wer mag in der FDP schon dem Vorsitzenden
widersprechen? Ein parteiinterner Streit an-
gesichts schwieriger Umfragewerte – das
scheuen die allermeisten, das Trauma der
Selbstzerfleischung aus den Jahren 2009 bis
2013 ist präsent.
Kubicki war für die FDP schon immer Fluch
und Segen. Er holt bestimmte Wählerinnen
und Wähler ab, weil er den Haudegen gibt,
sich traut, Dinge zu sagen, die kein anderer
zu sagen wagt. Doch gerade weil Kubicki Din-
ge sagt, die andere für unaussprechlich halten,
vergrätzt er Wählerinnen und Wähler.
In den vergangenen Monaten nannte er den
türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan
eine »Kanalratte«, forderte mitten im Krieg
die Öffnung der russischen Pipeline Nord
Stream 2 und teilte gegen Bundesgesundheits-
minister Karl Lauterbach aus: »Isst kein Salz,
isst keinen Zucker, trinkt keinen Alkohol, hat
keine Freundin. Was hat er dann vom Leben?«
Aktuell vertritt Kubicki die These, dass
angeblich drei Viertel der FDP-Wähler mit
der Ampel fremdelten und es daher mehr
»FDP pur« brauche. Andere glauben hin-
gegen, dass die FDP durch das öffentliche
Nörgeln selbst für den Eindruck verantwort-
lich ist, sie könne sich nicht genug durch-
setzen. Sie verweisen darauf, dass sich die
Liste liberaler Erfolge sehen lassen könne:
‣ Ohne die FDP wären viele Coronamaß-
nahmen nicht so schnell ausgelaufen.
‣ Lindner setzte durch, die Einkommen-
steuertarife so zu verändern, dass Gehalts-
erhöhungen nicht von der sogenannten kalten
Progression aufgefressen werden.

Fluch und Haudegen ‣ Auf Druck der FDP wurden die Laufzeiten
der verbliebenen Atomkraftwerke verlängert.
‣ FDP-Verkehrsminister Volker Wissing ersann
die Idee eines günstigen bundesweiten Pau-
PARTEIEN Die FDP fremdelt mit der Ampel und redet
schaltickets für den öffentlichen Nahverkehr.
Hinzu kämen: Sondervermögen für die
deren Erfolge klein. Parteivize Wolfgang Kubicki fordert mehr Bundeswehr, Entlastungspakete in dreistelli-
Sybill Schneider / BILD

Abgrenzung von Rot-Grün. Andere fürchten, dass ger Milliardenhöhe, mehr Kindergeld und
sich dadurch das Problem der Liberalen noch verschärft. Korrekturen beim SPD-Wunschprojekt Bür-
gergeld. Den FDP-Kritikern an der Bundes-
regierung setzen die liberalen Optimisten
entgegen, seit der Nachkriegszeit habe noch
olfgang Kubicki ist bestens gelaunt. Kubicki, der Retter der FDP, das ist eine nie eine Koalition so viele Krisen und Kon-
W Das liegt nicht nur am Heizlüfter,
mit dem der Vizepräsident des Bun-
destags sein Parlamentsbüro zusätzlich
Erzählung, die dem 70-Jährigen gefällt. Sie
wird in seiner Partei allerdings nicht unein-
geschränkt geteilt. Einige halten den Anwalt
flikte zugleich bewältigen müssen.
Doch solche Stimmen dringen öffentlich
wenig durch. Lauter sind die FDP-Kreise, die
erwärmt. Er freut sich auch über den Zu- aus Kiel sogar für ein zentrales Problem. Er Selbstkritik üben und Erfolge schlecht verkaufen
spruch auf seine Ankündigung, im April er- vertrete nur sich selbst, lautet ein Vorwurf, er oder durch öffentliches Fremdeln mit der Ampel
neut als stellvertretender Parteivorsitzender verstoße gegen das Leitbild der Partei und kleinreden. Die Freidemokraten verhielten sich
zu kandidieren. gegen politische Beschlüsse, ein anderer. wie einst die SPD in der Großen Koalition, sag-
»Mir haben nicht nur viele aus der FDP Manche in der FDP-Führung ballten die te jüngst ein führender Sozialdemokrat, als am
gratuliert, sondern auch aus anderen Partei- Faust in der Tasche, als Kubicki am Montag Ende oft Kanzlerin Angela Merkel die Erfolge
en«, sagt er. »Christian Lindner und andere per »Welt« verkündete, noch einmal als Par- der SPD einheimste. Er verstehe nicht, so der
sagen mir: Wenn du das Parteiamt nicht mehr teivize zu kandidieren. Sie wollen aber nicht Spitzengenosse, warum die FDP nicht stärker
hättest, dann würde der FDP relativ viel feh- zitiert werden, denn sie wissen, dass Kubicki ihren Anteil an Kompromissen betone.
len.« Kubicki erzählt von einem Spenden- an der Basis und beim Wahlvolk beliebt ist. »Die Kommunikation der Erfolge in der
dinner am Vorabend in Berlin. »Mit den An- Vor allem aber wissen sie, dass Christian Ampel ist die Achillesferse der FDP«, mahnt
fragen für Auftritte könnte ich den Rest mei- Lindner einer nochmaligen Kandidatur seinen der Bundestagsabgeordnete und bayerische
nes Lebens bestreiten.« Segen gegeben hat. Mehr noch: Der Partei- FDP-Vizevorsitzende Ulrich Lechte. »Unser

26 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


DEUTSCHLAND

Marketing muss hier definitiv besser »Die Kommu- nommen, Kritiker gesperrt und den SPD und Grüne wollen, dann bin ich
werden.« Es müsse klar sein, dass die Account von Ex­Präsident Donald ein Vertreter der Dagegen­Partei.«
Ampel eine große Chance biete, lang nikation der Trump reaktiviert hatte, öffentlich Kubicki gefällt sich in der Rolle des
liegen gebliebene Projekte anzu­ Erfolge in der überlegt, sich bei Twitter abzumelden. Rebellen. Und er weiß, dass ihm vieles
packen. »Ich bin davon überzeugt, Ampel ist die Doch das eigentliche Problem der durchgelassen wird, wofür andere ab­
dass wir in einer Koalition mit der FDP liegt tiefer: Bis heute hat sie ihr gestraft würden. Zumindest traut sich
Union weitaus weniger Reformen hät­ Achillesferse Verhältnis zur Ampel nicht klären in der Parteispitze keiner, seine Eignung
ten umsetzen können, als das in der der FDP.« können. Sie kritisiert oder blockiert als FDP­Vize öffentlich infrage zu stel­
Ampel im ersten Jahr gelungen ist.« – wie jüngst bei der Reform des Waf­ len. Das wagen nur einfache Mitglieder
Ulrich Lechte,
Stattdessen werden die Themen FDP-Politiker fenrechts – Vorschläge der Partner. wie der Publizist Christoph Giesa.
der FDP oft von anderen Akteuren Auf Akteure von SPD und Grüne wir­ »Ich erwarte von einem stellvertre­
gekapert. Schmerzhaft mussten die ken die Liberalen mitunter wie eine tenden Parteivorsitzenden, inhaltliche
Liberalen das jüngst bei der Aktien­ Opposition in den eigenen Reihen. Impulse zu setzen, die über reine Pro­
rente erleben, einem Projekt, für das FDP­Vize Johannes Vogel propa­ vokationen hinausgehen«, sagt Giesa.
sie seit Jahren werben. Doch weil die giert deshalb einen Imagewandel »Leider ist das bei Kubicki schon seit
Federführung bei Arbeitsminister unter dem Slogan der »Dafür­Partei«. langer Zeit nicht mehr der Fall. Seine
Hubertus Heil liegt, ging das Vorha­ Der 40­Jährige ist in der Parteispitze quartalsmäßigen Provokationen pas­
ben bei der Präsentation Mitte Janu­ der Gegenpart zu Kubicki. Jung, sen nicht in die heutige ernste Zeit.«
ar in der Berichterstattung häufig mit smart, kein Mann der polternden Inhaltlich habe die FDP die Ära Möl­
dem SPD­Politiker nach Hause. Töne. Vogel, einst ein enger Wegge­ lemann begraben, so Giesa, das sollte
Ähnlich verhielt es sich bei den fährte Lindners, hat sich vom Partei­ nun auch in Stilfragen geschehen.
jüngst angekündigten Lockerungen chef emanzipiert und verfolgt seinen Giesa stört sich auch an Kubickis
der Coronaschutzmaßnahmen in eigenen Kurs. Auftritten in Krawallmedien wie auf
Bund und Ländern. Dass die FDP da­ Vogel will eine FDP, die mit Sach­ der Website von Ex­»Bild«­Chef Ju­
für hartnäckig seit Beginn der Koali­ arbeit überzeugt. Als Parlamentari­ lian Reichelt. Als Partei der Mitte sol­
tion gestritten hatte, davon war zu­ scher Geschäftsführer der Fraktion le sich die FDP nicht »auf den derzeit
letzt kaum noch die Rede. Dafür hiel­ handelte er jüngst diskret den Kom­ tobenden Kulturkampf einlassen«,
ten sich plötzlich viele Bundesländer promiss zum Bürgergeld aus. Auch dies schrecke nur Wähler ab. Giesa
die Lockerungen zugute, die erst das von der Ampel auf den Weg ge­ hofft auf Gegenkandidaten für Ku­
durch das auf Druck der Liberalen brachte Projekt der Aktienrente geht bicki bei der Parteivorstandswahl.
novellierte Infektionsschutzgesetz maßgeblich auf ihn zurück. Seine zu­ »Wettbewerb ist gesund, gerade für
überhaupt möglich geworden sind. rückhaltende Art ist aber auch sein die Partei des Wettbewerbs und der
Als Problem sehen viele Liberale größtes Manko – abseits der Fach­ individuellen Leistung.«
zwei ihrer eigenen Kabinettsmitglie­ debatten ist der Parteivize einer brei­ »Ich hätte kein Problem damit,
der. Da wäre Forschungsministerin teren Öffentlichkeit kaum bekannt. wenn jemand gegen mich antreten
Bettina Stark­Watzinger. Dass die Hes­ Vogel wirkt wie der Vertreter einer würde«, sagt Kubicki. »Leute, die
sin im vergangenen Jahr nicht nur für Generation des Sowohl­als­auch: etwas werden wollen, sollen sich
eine Bafög­Erhöhung sorgte, sondern Konfrontiert mit Kubickis Vorwurf, auch durchsetzen.«
auch die Ausbildungsförderung auf es brauche mehr »FDP pur«, weicht Derzeit sieht es allerdings nicht da­
mehr junge Menschen ausweitete, fiel er aus. Natürlich sei es richtig, »dass nach aus, als traute sich einer, gegen
kaum auf. Die einzige FDP­Frau am wir in der Partei die reine Lehre for­ Kubicki zu kandidieren. Die Einzige,
Kabinettstisch hat aus einem der Kern­ mulieren müssen«, sagt Vogel. Aber die es mit ihm aufnehmen könnte,
themen der Liberalen – Bildung – bis­ man sollte »nicht mit unserer Rolle in wäre wohl Marie­Agnes Strack­Zim­
lang wenig Funken schlagen können. der Verantwortung fremdeln, son­ mermann, die Vorsitzende des Vertei­
Unglücklich agiert auch Verkehrs­ dern wegweisende Weichenstellun­ digungsausschusses im Bundestag. Die
minister Wissing. Ausgerechnet der gen durchsetzen«. Düsseldorferin hatte am lautesten für
FDP­Politiker, der als einer der Strip­ Wenn man Kubicki nach Vogels die Lieferung schwerer Waffen an die
Fraktionsmanager
penzieher für das Zustandekommen Vogel: Vertreter einer
Begriff der Dafür­Partei fragt, wirkt Ukraine plädiert. Aber Strack­Zim­
der Dreierkoalition im Bund gilt, Generation des er etwas ratlos. »Wenn darunter ver­ mermann verzichtet auf eine Kandi­
kämpft nun auf einer Großbaustelle Sowohl-als-auch standen wird, alles zu erfüllen, was datur, wie sie dem SPIEGEL bestätigte.
mit den Bundesländern – bei der ge­ Zumal ihr Panzerplädoyer ihr auch
planten Einführung des bundesweiten Feinde eingebracht hat – wie man auf
49­Euro­Monatstickets im öffentlichen Kubickis Facebook­Seite verfolgen
Nahverkehr. Dabei war er es, der kann. Viele seiner rund 100 000 Fol­
gegen den anfänglichen Widerstand lower, die sich zu Wort meldeten, fei­
des FDP­Chefs und Finanzministers erten Kubickis Kandidatur, während
Lindner eine Milliarde an zusätz­ Strack­Zimmermann auf der Seite als
lichen Regionalisierungsmitteln aus »Kriegstreiberin« geschmäht wird.
dem Bundeshaushalt herausholte und Kubicki hatte der »Welt« gesagt,
damit den Ländern entgegenkam. seine Frau sei mit seiner erneuten
Mitunter erntet Wissing auch für Kandidatur nur einverstanden, wenn
seinen Kommunikationsstil Kritik. er bis Ende des Jahres zehn Kilo ab­
Anfang Januar postete er ein Selfie mit nehme. Ein Follower kommentierte
dem umstrittenen Twitter­Eigentümer daraufhin, es sei einfacher, zweistellig
Andreas Pein / laif

Elon Musk und dankte für ein »kon­ an Gewicht zu verlieren, als bei der
struktives Gespräch«. Dabei hatte der nächsten Bundestagswahl wieder
Liberale noch im Dezember, kurz zweistellig Wählerstimmen zu holen.
nachdem Musk die Plattform über­ Christoph Schult, Severin Weiland n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 27


DEUTSCHLAND

Geywitz: Das müssen Sie den Justizminister


fragen.
SPIEGEL: Jede zweite Neuvermietung ist ei-
ne Indexmiete, mit hohen jährlichen Preis-
steigerungen. Warum dämmen Sie das nicht

»Ich bin das Gesicht ein?


Geywitz: Indexmieten gab es auch früher
schon, aber die waren lange unproblematisch,

zur Baukrise« weil die Inflation so gering war. Ich kann mir
vorstellen, Indexmieten an die allgemeine
Mietpreisentwicklung zu koppeln oder auch
hier eine Kappungsgrenze festzulegen. Das
SPIEGEL-GESPRÄCH Die Mieten steigen vielerorts drastisch, die SPD hat steht aber nicht im Koalitionsvertrag, und die
FDP sieht keinen Handlungsbedarf.
400 000 neue Wohnungen pro Jahr versprochen. Bauministerin SPIEGEL: Hatten Sie selbst mal Ärger mit Ver-
Klara Geywitz, 46, erklärt, warum ihre Ziele zu ambitioniert waren. mietern?
Und sie fordert mehr Einsatz vom Koalitionspartner FDP. Geywitz: Ja, das war ein Klassiker. Als ich
jung war, nach der Wende, waren viele Häu-
ser überhaupt nicht saniert, klassische DDR-
SPIEGEL: Frau Geywitz, wir haben hier eine dern jetzt 500 Millionen Euro pro Jahr für Altbauten. Und da hat mein Vermieter ein-
Wohnungsanzeige für Sie: drei Zimmer in Ham- neue Wohnheime. fach eine Raufasertapete auf eine verschim-
burg-Winterhude, 60 Quadratmeter, knapp SPIEGEL: Auch die Mittelschicht leidet unter melte Wand geklebt. Der Schimmel kam
2000 Euro Kaltmiete. Wer kann das bezahlen? den hohen Mieten. Die Mietpreisbremse gilt dann nach einer Weile wieder durch, und es
Geywitz: Die allerwenigsten. als Rohrkrepierer, wann verschärfen Sie sie gab Ärger.
SPIEGEL: Was denken Sie als zuständige Mi- endlich? SPIEGEL: Viele Menschen sind auf ihre Ver-
nisterin, wenn Sie solche Anzeigen sehen? Geywitz: Wir haben zwei feste Verabredungen mieter heute ähnlich schlecht zu sprechen.
Geywitz: Die Lage auf dem Wohnungsmarkt im Koalitionsvertrag: Wir verlängern die Miet- Eine Berliner Bürgerinitiative fordert, Wohn-
ist schwierig. Jahrelang hat der Staat zu wenig preisbremse und senken die Kappungsgrenze. konzerne zu enteignen. Wie stehen Sie dazu?
Geld in den sozialen Wohnungsbau und zu Damit begrenzen wir den Anstieg von Mie- Geywitz: Der Berliner Senat hat eine Kom-
viel in andere Sachen investiert, die nicht zu ten. Das sind keine sehr komplexen Gesetz- mission eingesetzt, die sich damit beschäftigt.
preiswerten Wohnungen geführt haben. Das gebungsverfahren. Im Prinzip müssen da nur Das Ergebnis werde ich mir anschauen. An-
ändern wir gerade, aber es geht nicht von zwei Zahlen ausgetauscht werden. Nach mei- sonsten kommentiere ich die Berliner Landes-
heute auf morgen. nem Kenntnisstand existiert dieser Gesetzent- politik nicht. Das ist als Brandenburgerin
SPIEGEL: Verspüren Sie bei solchen Exzessen wurf auch bereits im Bundesjustizministerium. ohnehin schwierig.
nicht den Drang, zum Hörer zu greifen und Ich bin froher Hoffnung, dass er bald in die SPIEGEL: Ist Ihnen das Anliegen der Initiative
den Vermieter zu fragen: Haben Sie noch alle Ressortabstimmung eingebracht wird. denn sympathisch?
Tassen im Schrank? SPIEGEL: Ist Ihnen Justizminister Marco Geywitz: Nein. Ich komme aus einem Staat,
Geywitz: Nein. Es wird immer Leute geben, Buschmann zu langsam? der das mit den Eigentumsrechten seiner Bür-
die eine so hohe Miete zahlen können oder die Geywitz: Es ist jedenfalls höchste Zeit. Gut ger nicht so wahnsinnig wichtig genommen
viel Geld für ein Luxusauto ausgeben. Das ist wäre, wenn dafür nicht erst der Frühling über hat. Unser Dorf lag direkt an der Mauer, vie-
die Freiheit der Wohlhabenden. Wichtiger ist uns hereinbrechen muss. le sind kurz nach dem Mauerbau geflohen.
mir aber für alle anderen, dass wir da ein gutes SPIEGEL: Wenn nur zwei Zahlen ausgetauscht Und dann konnten andere dein Grundstück
Angebot an bezahlbaren Wohnungen schaffen. werden müssen: Warum ist das nicht längst bekommen, ohne dass der Staat sich geküm-
SPIEGEL: Da liegt doch das Problem. In Berlin passiert? mert hat, wer da im Grundbuch steht. Daher
kommen 139 Interessenten auf eine Woh- halte ich auch in unserem Rechtsstaat nicht
nungsanzeige. Das Angebot ist zu klein. viel von Enteignungen, höchstens als Ultima
Geywitz: Wir haben natürlich auch andere Ausbaufähig Ratio im Einzelfall, aber nicht in Größenord-
Ecken Deutschlands, wo es Leerstand gibt. Die- nungen. Es bleibt ein starker Eingriff in die
se müssen wir attraktiver machen, durch eine Baugenehmigungen für Wohnungen* Eigentumsrechte.
in Deutschland, in Tausend
bessere Bahnanbindung, durch mehr Home- SPIEGEL: Ein zentrales Wahlkampfverspre-
office in den Betrieben, mit einer besseren di- –16,3 % im Vergleich chen von Olaf Scholz und der SPD war, dass
gitalen Versorgung. Wir müssen aber eben auch zu November 2021 jedes Jahr 400 000 neue Wohnungen ent-
mehr Wohnraum schaffen, durch Umbauen. stehen. Voriges Jahr haben Sie das Ziel ver-
Da sind wir gerade dabei, im Baugesetzbuch fehlt, auch 2023 dürften Sie scheitern. Nun
entsprechende Änderungen zu schaffen. 30 soll es angeblich ab 2024 gelingen. Wie glaub-
SPIEGEL: Wieso sollten sich Leute, die in einer haft ist das Versprechen?
Großstadt wie Berlin leben wollen, durch sol- Geywitz: Ich habe gesagt, dass wir uns der
che Angebote aufs Land locken lassen? Zahl annähern wollen.
20
Geywitz: Solche Menschen gibt es, ja. Gerade SPIEGEL: Wie bitte?
Familien finden es attraktiv, aufs Land zu zie- Geywitz: Vor dem Ukrainekrieg konnten wir
hen. Das Wohnen muss dennoch auch in der in einem Jahr 300 000 Wohnungen bauen,
Stadt wieder erschwinglicher werden. Mir ist 10 für mehr reichten die Kapazitäten nicht. Um
zum Beispiel wichtig, dass auch Studenten das Wohnungsproblem zu lösen, müssen wir
und Azubis sich das Leben in der Großstadt die Kapazität ausweiten, und das wird nicht
leisten können. Deshalb geben wir den Län- einfach. Schon vor dem Krieg fehlten Fach-
Jan. Jan. kräfte und wichtige Bauteile. Jetzt sind die
Das Gespräch führten die Redakteure Michael Brächer, 2021 2022 gestiegenen Preise und andere Folgen des
Markus Feldenkirchen und Christian Teevs. S Quelle: Destatis; * in Neubauten und Bestand Ukrainekriegs noch hinzugekommen.

28 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


DEUTSCHLAND

SPIEGEL: Dann sagen Sie doch gleich,


dass die 400 000 Wohnungen auch
2024 nicht zu schaffen sind.
Geywitz: Wie die Baufertigstellungs­
zahlen 2024 sein werden, ist eine
Rechnung mit vielen Unbekannten.
Wir verbessern die Rahmenbedin­
gungen, so gut es geht.
SPIEGEL: Und das wäre?
Geywitz: Wir müssen innovativer wer­
den, damit die Bauwirtschaft produkti­
ver wird. Digitalisierung ist das eine.
Das andere die Bauforschung. Die ist in
Deutschland sträflich vernachlässigt wor­
den. Wenn Sie heute auf eine Baustelle
gehen, sieht es dort nicht groß anders
aus als vor 30 Jahren. Und wir müssen
stärker auf das serielle Bauen setzen.
SPIEGEL: Dabei werden Häuser aus
vorgefertigten Teilen zusammenge­
setzt, was Zeit und Geld sparen soll.
Fast wie beim Plattenbau.
Geywitz: Ehrlich gesagt, viele Men­
schen leben sehr gerne dort, und das
zu Recht. Serieller Bau kann sehr
individuell gestaltet werden und wird
heute oft aus schönem Baumaterial
wie Holz gebaut.
SPIEGEL: Muss der Staat nicht einfach
mehr Geld für den Wohnungsbau in
die Hand nehmen?
Geywitz: Das ist ein äußerst beliebter
Reflex: mehr Geld! Es ist aber nicht
die richtige Antwort. Wenn Sie ein­
fach Milliarden an Subventionen in
den Markt pumpen, steigen nur die
Preise. Es gibt aber nicht mehr Woh­
nungen. Für unser Problem ist das die
falsche Medizin.
SPIEGEL: Mieterbund, Baugewerk­
schaften sowie Sozial­ und Branchen­
verbände fordern ein Sondervermö­
gen von 50 Milliarden Euro für den
sozialen Wohnraum.
Geywitz: Das heißt vielleicht Vermö­
Peter Rigaud / DER SPIEGEL

gen, aber tatsächlich sind das Neu­


schulden. Ich glaube nicht, dass sich
das Problem allein mit Geld lösen
lässt. Schauen Sie, allein bis zum ver­
gangenen November haben wir über
die Bundesförderung für effiziente
Gebäude rund 306 000 Wohneinhei­ SPIEGEL: Sie wollen auch gemeinnüt­ SPIEGEL: Anstatt mit vernünftigen
ten gefördert. Ich glaube, ein Produkt, zige Wohnprojekte stärken. Was ha­ Preisen sind viele Mieter mit immer
das nur funktioniert, weil es eine ben Sie vor? neuen Mieterhöhungen konfrontiert.
staatliche Grundsubvention hat, ist Geywitz: Wir wollen Wohnraum Offenbar können Sie auch Ihr Wahl­
nicht zukunftsfähig. Wurde deswegen schaffen, der immer bezahlbar bleibt. versprechen von fairen Mieten und
mehr gebaut? Mitnichten! Das machen wir über Steuererleich­ bezahlbarem Wohnraum nicht halten.
SPIEGEL: Was schlagen Sie also vor? terungen und Zuschüsse für Inves­ Geywitz: Also erstens haben wir für
Geywitz: Wir müssen den sozialen titionen. Auch Unternehmen, die Mieterinnen und Mieter und Haus­
Wohnungsbau stärken und Familien schon Wohnungen haben, sollen die­ besitzer knapp vier Milliarden Euro
bei der Kreditfinanzierung unter die se mit unserer Förderung dauerhaft zusätzlich zur Verfügung gestellt –
Arme greifen. Wir haben ein Förder­ bezahlbar anbieten können. Ich bin mit der größten Wohngeldreform der
programm für Genossenschaftswoh­ mir sicher, dass wir hier einen stabilen Geschichte. Zweitens haben wir die
nungen aufgelegt und ein Programm Sozialdemokratin Markt schaffen können, mit Anle­ Mittel für den sozialen Wohnungsbau
für Azubi­ und Studentenwohnungen Geywitz: »Wohnen gern, die ihr Geld sozial und sicher auf 14,5 Milliarden Euro erhöht.
muss auch in
lanciert. All das führt dazu, dass In­ der Stadt wieder
anlegen wollen. Die Wohngemein­ Heute haben wir nur noch eine Mil­
vestoren viel Geld von uns bekommen. erschwinglich nützigkeit wird mehr bezahlbaren lion Sozialwohnungen, früher waren
Aber dafür müssen sie auch liefern. werden« Wohnraum schaffen. es drei Millionen. Wir müssen es

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 29


DEUTSCHLAND

schaffen, dass die Kurve wieder nach dachlosigkeit zuständig. Dabei kön-
oben geht. nen wir bei vielen Punkten helfen:
SPIEGEL: Mal ehrlich, ist Ihnen nicht Was tue ich, wenn ich keinen Melde-
unangenehm, dass die SPD bei ihren status habe? Wie komme ich wieder
wichtigsten Wahlversprechen nicht in die Krankenversicherung? Und
liefern kann? auch die Zusammenarbeit mit den
Geywitz: Nicht nur das. Ich bin das Ge- europäischen Nachbarn spielt eine

Rober t Grahn / euroluftbild.de / Vario Images


sicht zur aktuellen Baukrise, und das entscheidende Rolle. Für mich wird
fühlt sich nicht schön an. Ich weiß, dass die Bekämpfung der Obdachlosig-
die Bauwirtschaft nach vielen guten keit in diesem Jahr ein Schwerpunkt
Jahren eine harte Landung erlebt. Ich werden.
möchte nicht sagen, dass da leicht ver- SPIEGEL: Was heißt das eigentlich, die
dientes Geld gemacht wurde. Aber die Obdachlosigkeit überwinden?
Branche konnte dank der niedrigen Geywitz: Wir werden es wohl nicht
Zinskosten gute Margen erzielen. Die- schaffen, dass es im Jahr 2030 keine
se Phase ist jetzt vorbei, und das ist für Obdachlosen mehr gibt. Aber wir
die Beteiligten nicht schön. können dafür sorgen, dass jeder Ob-
SPIEGEL: Die Zahl der Bauaufträge Geywitz: Meine grünen Koalitions- Bauprojekt in dachlose einen Zugang zu einer indi-
und Baugenehmigungen bricht ein, kollegen – die ich sehr schätze – set- München viduellen Unterkunft bekommt.
zugleich wachsen die Anforderungen zen stark auf Energieeffizienz. Da- SPIEGEL: Wie das?
an Neubauten. Brauchte es nicht eine durch werden sehr gut gedämmte Geywitz: Ich fliege im Februar nach
Regulierungspause, anstatt das Bauen Gebäude errichtet, was nur mit High- Finnland. Das ist eines der wenigen
durch einen Wust neuer Regeln noch techlösungen und viel Dämmstoff ge- EU-Länder, in denen die Zahl der
komplizierter und teurer zu machen? lingt. Auch dabei entsteht CO2. Uns Obdachlosen sinkt. Dort gibt es ein
Geywitz: Wissen Sie, was Angela geht es doch darum, insgesamt die vielversprechendes Konzept namens
Merkel einmal gesagt hat, als sie ge- Treibhausgasbilanz beim Bau zu ver- Housing First, bei dem die Woh-
fragt wurde, was sie im Ausland an bessern. Dafür brauchen wir ganz nungssuche für Obdachlose an erster
Deutschland vermisst? andere Bauformen, bei denen nach- Stelle steht, bevor man sich um an-
SPIEGEL: Was denn? haltige Baumaterialien genutzt wer- dere Probleme kümmert wie Sucht
Geywitz: Dichte Fenster! Einige haben den und eine hohe Recyclingquote oder Arbeitslosigkeit. Außerdem
das der Kanzlerin vorgeworfen, weil erreicht wird. Darüber müssen wir brauchen wir einheitliche Standards
es sich nicht nach einem emotionalen reden, und das tun wir in der Koali- für die Unterbringung von Obdach-
Verhältnis zum Vaterland anhört. tion gerade. losen. Als Frau haben Sie keinen An-
Aber ich als Bauministerin kann das SPIEGEL: Noch ein hehres Ziel: Die spruch auf ein separates Zimmer.
nur unterstreichen. In Deutschland Koalition will bis 2030 die Obdach- Viele Frauen nutzen die Unterkünfte
gibt es eine hohe Bauqualität. Die losigkeit in Deutschland überwinden. deshalb nicht, weil sie Angst vor
Antwort der Branche auf die Krise Wie soll das gelingen? »Wenn Sie Übergriffen haben. Das wiederum
kann nicht lauten: Wir können uns Geywitz: Zunächst finde ich es er- einfach führt zu verdeckter Obdachlosigkeit,
das Bauen nicht mehr leisten, des- schreckend, dass wir die erste Bun- bei der Frauen in toxischen Situatio-
wegen sparen wir am Schallschutz desregierung sind, die das Thema mit
Milliarden in nen leben, aus denen sie keinen Aus-
und an den Ökovorschriften. So wird einer klaren Zuständigkeit versieht. den Markt weg finden. Wir sollten uns gemein-
man nicht zum Exportführer von Obdachlosigkeit beschäftigt die Län- pumpen, sam die Frage stellen, wie Obdach-
morgen. Wir müssen eine ganz ande- der und die Kommunen seit Jahr- lose künftig leben sollen.
re Debatte führen. zehnten. Laut Grundgesetz ist der steigen nur SPIEGEL: Frau Geywitz, wir danken
SPIEGEL: Welche denn? Bund nur für die Prävention von Ob- die Preise.« Ihnen für dieses Gespräch. n

WIR FERTIGEN ARMBÄNDER


AUS ALTEN FISCHERNETZEN.
DATEV DIGITALISIERT UNSERE
KAUFMÄNNISCHEN PROZESSE.
Bracenet befreit die Weltmeere von Geisternetzen und fertigt
daraus nachhaltige Produkte. Dank der digitalen Lösungen von
DATEV und der Unterstützung ihrer Steuerberatung halten sie
ihr Unternehmen immer auf Kurs.

GEMEINSAM-BESSER-MACHEN.DE Benjamin und Madeleine, Zukunft gestalten.


Gründer und Gründerin BRACENET Gemeinsam.
DEUTSCHLAND

13 Prozent, doch es gibt Risiken. Nie- Von einem schlechten Ausgang bei
mand weiß, wie hoch die Wahlbetei- der Wahl will Kipping nichts hören.
ligung bei der Wiederholung am Das Miteinander sei in Berlin ein an-
12. Februar, mitten im Winter, ausfällt. deres als in der Bundespartei; sie war
Zudem zeichnet sich im rot-rot-grünen acht Jahre lang Bundesvorsitzende.

Gegen den Lager ein Zweikampf zwischen Grü-


nen und SPD ab, was die Linke Auf-
merksamkeit kostet. Besonders belas-
Dort sei es viel um Formelkompro-
misse gegangen, in der Hauptstadt
müssten die Beschlüsse der Realität

Trend tend ist die Zerstrittenheit der Gesamt-


partei, der Richtungsstreit zwischen
Wagenknecht und ihren Gegnern. Für
standhalten. Deshalb würden inhalt-
liche Konflikte anders ausgetragen.
»Die Linke macht den Unterschied in
die Bundeslinke wäre ein Ergebnis der Regierung«, sagt Kipping. Sie ver-
DEMOKRATIE Die Wiederholung der unter zehn Prozent ein verheerendes weist auf den Volksentscheid zur Ent-
Signal. Es würde bedeuten, dass sich eignung von Immobilienkonzernen,
Abgeordnetenhauswahl in Berlin wird zur selbst ein eher erfolgreicher Landes- für dessen Umsetzung die Linke
Schicksalswahl für die strauchelnde Linke. verband dem Untergangssog nicht kämpfe.
mehr entziehen kann. Der Druck für Im Amt musste Kipping sich um-
kommende Wahlen würde steigen. gehend als Krisenmanagerin bewei-
in kalter Abend mit Sahra »Time of my Noch in diesem Jahr wird etwa in Bre- sen. 360 000 Kriegsflüchtlinge lande-
E Wagenknecht im Berliner Wahl-
kampf um das Abgeordneten-
haus, Bezirk Tempelhof-Schöneberg.
life«
Katja Kipping über
men gewählt, wo die Linke mitregiert,
oder in Hessen, dem letzten westdeut-
schen Flächenland mit Linksfraktion
ten 2022 in Berlin, dazu kam die
Energiekrise. Kippings Behörde or-
ganisierte ein »Netzwerk der Wär-
ihren Posten
Wagenknecht ist gekommen, um zwei als Sozialsenatorin im Landtag. 2024 steht Thüringen an, me«, bei dem sich Menschen in
Direktkandidaten zu unterstützen. das einzige Bundesland, in dem die öffentlichen Einrichtungen wie Bib-
Auf der Bühne wettert sie gegen den Linke den Regierungschef stellt. Ber- liotheken beraten lassen und aufwär-
ukrainischen Ex-Botschafter Andrij lin, das könnte eine Schicksalswahl für men können. Auch ein Härtefallfonds
Melnyk (»Naziverehrer«), gegen die Linke werden. wurde eingerichtet für Berliner, die
Außenministerin Annalena Baerbock Zwei Stunden bevor Wagenknecht ihre Energierechnungen nicht bezah-
(»eine der größten Fehlbesetzungen in Schöneberg auftritt, klackert Katja len können. Keine Frage, Kipping will
der Regierung«) und gegen Gesund- Kipping auf hohen Absätzen durch weitermachen. Und ihre Chancen
heitsminister Karl Lauterbach (»die den Flur eines Stadtteilzentrums in stehen recht gut, auch wenn ihre Par-
größte Fehlbesetzung der Regie- Marzahn, am östlichen Stadtrand tei dieses Mal schlechter abschneiden
rung«). Das Publikum applaudiert, Berlins. Die Sozialsenatorin ist zur könnte. Rot-Rot-Grün käme noch
schwenkt Plakate mit Wagenknecht- Stippvisite gekommen. »Hallöchen«, immer auf eine Mehrheit. SPD und
Zitaten, etwa: »Wir haben die ruft sie einem Mann zu, der in einer Grüne gelten in Berlin als so links,
dümmste Regierung Europas.« Nähstube lernt, wie man Knöpfe an- dass eine Regierungskonstellation mit
Im Hintergrund ist Gebrüll aus näht. Kipping spricht eine Stunde FDP oder CDU unwahrscheinlich
einem Megafon zu hören. Ein Mann lang mit den Mitarbeitern des Stadt- scheint. Selbst wenn die Linke wegen
hat sich als Krokodil verkleidet, nennt teilzentrums in einem der ärmsten eines schlechteren Ergebnisses statt
sich »Schnappi« und führt den klei- Viertel Berlins. Es geht um Integra- drei nur noch zwei Senatoren stellen
nen Gegenprotest gegen Wagen- tion, Obdachlosigkeit, Flüchtlinge. sollte, dürfte Kipping wohl bleiben.
knecht an, der etwas verloren einige Politikerin Wagen- »Time of my life«, so beschreibt Kip- Für die Linken hat das Ressort Sozia-
Meter entfernt stattfindet. Darunter knecht bei ping ihre Aufgabe als Sozialsenatorin. les eine hohe Priorität.
Wahlkampfauftritt
sind eigenen Bekundungen zufolge in Berlin: Besonders Als Linke sei sie perfekt geeignet, die Die größte Gefahr für die Berliner
Mitglieder der Linken. belastend Lage für die Ärmsten zu verbessern. ist die Bundespartei, die wenig Rück-
Der gut besuchte Auftritt Wagen- sicht auf die wichtige Wahl nimmt.
knechts gilt für den Landesverband Allein in der vergangenen Woche zet-
in Berlin als Unfall. Spitzenkandidat telten gleich zwei Parteigruppen eine
Klaus Lederer distanzierte sich schon Debatte über die Außenpolitik an.
vorher. Und so demonstrieren mitten Nebenbei legte sich die Fraktionsspit-
im Wahlkampf Mitglieder derselben ze mit dem ukrainischen Vizeaußen-
Partei gegeneinander. Der Trubel minister Melnyk an.
läuft der Strategie der Berliner Linken Und Wagenknecht, ist ihr Auftritt
zuwider, sich so gut wie möglich von eine Hilfe für die Linke? Nach ihrer
den Streitereien der Bundespartei ab- Rede in Schöneberg nimmt sie noch
zugrenzen. Auf Plakaten wirbt man ein Bad in der Menge, gibt Autogram-
hier demonstrativ mit »Berliner Lin- me und posiert geduldig für Selfies.
ke«. Dabei hat die Wahlwiederholung Ein Mann tritt an sie heran. Er sei Mit-
in der Hauptstadt auch viel mit dem glied der DKP, aber Wagenknecht
Gesamtzustand der Linken zu tun. habe ihn hier überzeugt. Deswegen
Bei dem Votum vor gut einem Jahr, werde er seine Erststimme dem
zeitgleich mit der Bundestagswahl, Linkenkandidaten geben. »Meine
konnte sich die Linke in Berlin dem Zweitstimme geht natürlich an die
Negativtrend im Bund widersetzen: DKP.« Wagenknecht macht ein
Sie schaffte mit 14 Prozent ein ordent- freundliches Gesicht. »Ja, für die
Florian Boillot

liches Ergebnis. Zweitstimme habe ich auch nicht


Jetzt rangiert die Linke in Um- geworben«, sagt sie.
fragen zwar noch zwischen 11 und Timo Lehmann n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 31


DEUTSCHLAND

Im braunen Netz
RECHTSEXTREMISMUS Eine neuartige Szene von antifaschistischen Freizeitermittlern
hat sich formiert. Gut getarnt, machen sie im Internet Jagd auf Neonazis
und enthüllen die Identitäten von Rädelsführern, die staatliche Behörden oft nicht finden.

»Es läuft oft nebenbei und ist unterhalt- ie Leute, die diese Sätze schreiben, etwa. Oder Neonazis, die Attentate planen.
samer als Netflix.«
»Ich bin mit dem Internet aufgewachsen
und bin ziemlich clever, wenn es um Technik
D haben eine ganz besondere Freizeit- Oder Unterstützer des Regimes von Wladimir
beschäftigung. Über das Internet jagen Putin, dem russischen Präsidenten.
sie Personen, Gruppen oder auch mal Unter- Über Wochen und Monate verfolgen sie
geht, hehe.« nehmen, die für sie Feinde der Demokratie ihre Zielpersonen. Die meisten nutzen aus
»Es ist eine gefährliche Arbeit. Aber ich sind. Den antisemitischen Verschwörungs- Prinzip nur legale Mittel: Sie infiltrieren Chat-
mache sie weiter, weil sie wichtig ist.« ideologen und Reichsbürger Attila Hildmann gruppen, sammeln dort Informationen und
puzzeln sie zusammen, um die wahre Identi-
tät von Neonazis oder Verschwörungsideo-
loginnen herauszufinden. Manche sind weni-
ger zimperlich und nutzen auch illegale Mit-
tel: Sie hacken E-Mails, legen Websites lahm,
klauen Daten von Unternehmen.
Wenn sie genug gesammelt haben, veröf-
fentlichen sie eine Zusammenfassung. Oft
geht der gesamte Datensatz an Medien, auch
an den SPIEGEL , manchmal auch an Sicher-
heitsbehörden.
Die Freizeitjäger im Internet sitzen zwar
auf der ganzen Welt, aber ihre Szene ist
schwer zu durchdringen. Der SPIEGEL weiß
von mehr als hundert solcher Rechercheure,
die jede freie Minute dafür nutzen, die Ge-
samtzahl aber dürfte weitaus größer sein.
Manche vernetzen sich in Gruppen, andere
handeln auf eigene Faust.
Immer wieder führten ihre Recherchen
dazu, dass Extremisten dingfest gemacht wur-
den – und nach SPIEGEL-Informationen sogar
sehr wahrscheinlich Terroranschläge verhin-
dert wurden. Die Aktivisten sind dabei aber
auch selbst in Gefahr, von ihren Zielpersonen
enttarnt und gejagt zu werden. Oder von Be-
hörden verfolgt zu werden.
Wer macht so etwas, in der Freizeit?
Und warum?
Am bekanntesten sind die Aktivisten von
Anonymous. Sie sind ein loses Kollektiv, fin-
den sich immer wieder zu unterschiedlichen
Recherchen zusammen. In Deutschland sam-
melt die wichtigste Gruppe ihre Informatio-
nen unter dem Namen AnonLeaks.
Illustration: Julius Maxim / DER SPIEGEL

»Wenn Aktivismus, dann soll es auch was


bewirken.«
»Uns eint nicht eine politische Vision, son-
dern das Bedürfnis, bei problematischen
Entwicklungen gegenzuhalten, wo Politik
und Gesellschaft den Arsch nicht hoch-
bekommen.«
»Hass ist ein Thema und Hetze, weil sie die
gemäßigten Stimmen aus dem gesellschaft-
»Anonymous«-Aktivisten: »Die Polizei ist gar nicht im Internet« lichen Diskurs drängen.«

32 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


DEUTSCHLAND

Zuletzt konzentrierten sie sich vor allem auf um seine Tarnung zu erhalten. Er habe eher
Rechtsaußen oder auf Unterstützer von Wla- Fragen gestellt und ironisch kommentiert, be-
dimir Putin: Sie erbeuteten E-Mails und Fi- teuert er.
nanzinformationen aus dem »Königreich »Irgendwie« habe er sich »an das Blut-
Deutschland« der Reichsbürger, interne vergießen, die Morde, Massaker und Ent-
Daten der Impfgegnerpartei »Die Basis« oder hauptungen gewöhnt«, von denen dort
des verschwörungsideologischen Senders immer wieder Videos geteilt werden. Auch
Klagemauer TV. wenn er sich dabei schlecht gefühlt habe.
Und sie gelangten an zwei Terabyte inter- Er habe weitermachen wollen, in dem
ne Daten des Rechtsextremisten Attila Hild- Wissen, dass »jeden Tag einer von ihnen
mann, aus dessen Gruppe heraus Menschen losziehen könnte, um Menschen zu ermor-
im August 2020 versucht hatten, den Reichs- den«. Eigentlich habe er weitermachen
tag zu stürmen. Anonymous-Hacker gelang- müssen.

Illustration: Julius Maxim / DER SPIEGEL


ten auch in den Besitz von 20 Terabyte Daten Herr X sicherte Nachrichten und teilte sie
des russischen Staatskonzerns Rosneft mit Journalisten aus unterschiedlichen Län-
Deutschland, in dessen Aufsichtsrat lange Ex- dern – unter anderem mit dem SPIEGEL .
Kanzler Gerhard Schröder saß. Wenn er etwas besonders Bedrohliches sah,
Die sehr spezielle Freizeitbeschäftigung versuchte er nach eigener Aussage, Kontakt
hatte in den vergangenen Jahren zunehmend zu zuständigen Sicherheitsbehörden aufzu-
Konsequenzen, auch offline. Nach SPIEGEL - nehmen.
Informationen hingen mehrere erfolgreiche Tatsächlich dürfte Xs Onlineaktivismus für
Ermittlungen mit den Daten von Anonymous einige Neonazis auch abseits der Bildschirme
zusammen. Aber auch gegen die Jäger selbst Ein Einzelkämpfer, nennen wir ihn Herrn X, Folgen gehabt haben: In mehreren Ländern
wird immer mal wieder ermittelt, etwa wegen ist seit zwei Jahren im Geschäft. 2021 begann wurden Mitglieder jener Gruppen festgenom-
des Hacks von Rosneft. er auf legalem Wege, aber mit viel Wissen men, zu denen auch er recherchierte. In Groß-
Die Anonymous-Aktivisten sehen sich über das Internet, Leuten nachzuspüren, die britannien, Dänemark und Estland landeten
mehr »politisch demotiviert« als politisch einen seiner Freunde im Netz rassistisch be- junge Männer vor Gericht, die Teil der Grup-
motiviert. Das berichten sie dem SPIEGEL in schimpft und bedroht hatten. pen waren – und zu denen Herr X Screen-
einem mehr als drei Stunden dauernden Chat, Herr X stieß schnell auf ein internationales shots in seinem Datensatz hatte, der auch bei
der auf einem ihrer Server stattfindet. Für sie
Neonazinetzwerk, in dessen Chats und den Ermittlern landete.
funktionierten die üblichen Mittel politischer
Propagandakanälen zu Gewalt aufgerufen Er verfolgte zudem eine Spur nach
Beteiligung nicht, schreiben sie. wird. Da werden Anleitungen zum Bom- Deutschland, zum Gründer der Gruppe »To-
Und: Sie halten die Behörden für inkom- benbau verbreitet und Videos von Terror- tenwaffen Division«. Der Neonazi, im Netz
petent, was das Internet angeht. »Wir kochenanschlägen geteilt, die Mörder als »Heilige« unter dem Namen »Forst« unterwegs, teilte
auch nur mit Wasser«, schreibt einer. »Wenn verehrt. dort unter anderem Videos, die zeigen, wie
die Behörden den Trick mit Wasser und Topf Mit falschen Angaben gelang es ihm, in die er an einem verlassenen Ort Sprengsätze zün-
und Feuer mal durchblicken würden, wäre Gruppen aufgenommen zu werden. »Ich habe det. Irgendwann, schrieb »Forst«, werde sei-
das schon nice.« wirklich viel Zeit investiert, mich jeden Tag ne Wut so groß sein, »dass ich eine Bombe
Ein anderer beschreibt, dass er anfangs ständig in den Gruppen aufgehalten, wenn auf den nächsten Ort legen werde, an dem
noch fürchtete, von den Behörden geschnappt die Arbeit es zuließ.« Er habe nur noch vor Jewgela ihre Rede halten wird«. Er wette da-
zu werden, auch wenn er, soweit er das be- dem Rechner gegessen. »Es war wie eine rauf. Mit »Jewgela« ist Angela Merkel ge-
urteilen könne, selbst »nichts wirklich Ver-Sucht«, gibt er zu. meint, es ist eine antisemitische Beleidigung,
botenes« angestellt habe. »Aber dann hat Die neonazistische Ideologie der Gruppen, die gern von Rechtsextremen und Neonazis
jemand rausgefunden, dass die Polizei gar die er infiltrierte, gründet auf den Schriften verwendet wird.
nicht im Internet ist«, scherzt er. Seitdem sei
des US-Amerikaners James Mason. 1992 Früh vermutete Herr X, dass »Forst« in
er entspannt. brachte Mason ein Buch mit dem englischen Deutschland wohnt. Und tatsächlich versteck-
Trotzdem wollen die Anonymous- Titel »Siege« heraus: »Belagerung«. Lange te sich hinter dem Pseudonym ein Potsdamer
Aktivisten nichts Genaueres zu ihren Identi-Jahre wurde es kaum beachtet, doch seit ein Teenager. Als die Polizei im Sommer 2021 die
täten sagen. Vornamen, Geschlecht, Berufe, paar Jahren ist es Pflichtlektüre für neue Mit- Wohnung durchsuchte, in der der damals
Alter? Keine Antwort. Selbst untereinander glieder der Chatgruppen. 16-Jährige mit seinen Eltern wohnte, be-
kennen sie sich in der Regel nicht, Details Die berüchtigste Gruppe, die sich auf Ma- schlagnahmten sie unter anderem eine
über ihr Privatleben vertrauen sie einander sons Ideen beruft, ist die »Atomwaffen Divi- NSDAP-Flagge und Chemikalien, die für
aus Sicherheitsgründen nicht an. Man findet sion« (AWD). US-amerikanische Sicherheits- den Bau von Sprengsätzen genutzt werden
sich im Netz, sucht sich Mitstreiter behörden warfen den Anhängern schon 2018 können.
mit den passenden Kompetenzen für die fünf Morde vor, AWD war da erst drei Jahre Damals kam der junge Neonazi noch
Jagd von Demokratiefeinden, kooperiert in alt. Andere Mitglieder sitzen heute Haftstra- glimpflich davon, erst ein Jahr später nahmen
manchen Fällen, macht in anderen allein fen wegen Verbrechen gegen politische Geg- die Behörden ihn dann wegen der Vorberei-
weiter. ner und Journalisten ab. tung einer schweren staatsgefährdenden
Um die ursprüngliche Gruppe ist es zwar Straftat in Gewahrsam. In der Zwischenzeit
»Psychisch ist es ziemlich anstrengend. Die ruhiger geworden, aber es haben sich neue war er in den Gruppen weiter aktiv.
Gewaltfantasien und der Hass haben mich nach ihrem Vorbild gebildet, sie nennen sich Der laxe Umgang frustriert Herrn X, wun-
zermürbt.« etwa »National Socialist Order«, »The Base« dert ihn aber nicht. Er habe immer wieder
»Einer der Menschen, die mir am nächsten oder »Feuerkrieg Division«. versucht, deutschen Behörden, die sich mit
stehen, wollte schon lange, dass ich damit In solchen Gruppen landete Herr X. »Ir- Extremismus befassen, Informationen zu-
aufhöre. Und eigentlich hätte ich eine The- gendwann habe ich verstanden, wer mit wem kommen zu lassen. Per E-Mail und über
rapie machen sollen.« zusammenarbeitet und wer was plant. Ich Bekannte. »Ich wurde immer verzweifelter,
»Ich wollte alles sammeln, was ich konnte, habe auch verschiedene Gruppenleiter iden- aber es schien niemanden zu interessieren.
um zu verhindern, dass etwas passiert.« tifiziert.« Dabei will X nie mitgehetzt haben, Niemand antwortete.« Eigentlich müssen

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 33


DEUTSCHLAND

Behörden jeden Hinweis mindestens »Eigentlich lauf gab es einen Terroranschlag: ren staatsgefährdenden Straftat zu
einer »Relevanzprüfung« unterzie- Ein 20-jähriger Neonazi raste mit zwei Jahren Haft verurteilt.
hen. So nennt es ein Sprecher des hätte ich seinem Auto in Gegendemonstran- Frau Y versteht sich selbst als Anti-
Bundesamts für Verfassungsschutz eine Thera- ten, tötete eine junge Frau. In den faschistin, seit 2016. Damals hatte der
auf Anfrage. Monatlich gehe »eine Chats der »Traditionalist Workers Ku-Klux-Klan eine Kundgebung im
hohe zweistellige bis niedrige drei- pie machen Party«, die Frau Y mitlesen konnte, kalifornischen Anaheim veranstaltet.
stellige Zahl an Hinweisen« zu sollen.« feierten die Mitglieder ihren Tod – Es kam zu Zusammenstößen mit lin-
Rechtsextremismus, Reichsbürgern und riefen dazu auf, dem Täter ken Gegendemonstrierenden, meh-
und »Querdenkern« ein. Bekenntnis eines unterstützende Briefe ins Gefängnis rere Menschen wurden niedergesto-
Aktivisten
Die Tipps seien unterschiedlich zu schicken. chen. Ähnliche Messerattacken gegen
wertvoll, man habe aber schon von Die »Feuerkrieg Division« konnte Linke gab es im selben Sommer bei
bislang unbekannten Sachverhalten Y zusammen mit anderen Aktivisten einem Neonaziaufmarsch in Sacra-
erfahren. Und es gebe auch immer infiltrieren, bevor Schlimmeres pas- mento, ebenfalls Kalifornien. »Das
wieder welche, »die das Ergebnis ge- sierte. 2018 schafften sie es in die ter- hat mich radikalisiert«, sagt Y.
zielter Recherchen der Hinweis- roraffine Gruppe mit mehr als 70 Mit- Inzwischen betreibe sie aber »eher
gebenden sind«. Das Fazit des Ver- gliedern aus zehn verschiedenen Forschung als Aktivismus«, so Y. Als
fassungsschutzes über die Jäger im Ländern. sie vor sechs Jahren anfing, auf loka-
Netz: »In der Gesamtschau stellen sie In den Chats teilten die Neonazis ler Ebene online über Rassisten zu
eine wertvolle Unterstützung bei der Bombenbauanleitungen und feierten recherchieren, fand sie kaum andere
Bekämpfung von Extremismus und Rechtsterroristen wie den Norweger Menschen, die dasselbe taten. Dann
Terrorismus dar.« Anders Breivik oder den Attentäter wuchs das Netzwerk, sie weitete ihr
Ähnlich positiv äußert sich auch auf die Synagoge in Halle, Stephan Recherchegebiet aus und teilte ihre
das Bundeskriminalamt über »Hin- Balliet. Die internen Chats wurden Fähigkeiten und ihr Wissen mit
weise aus der Bevölkerung«. Aber später über ein linksalternatives Me- Gleichgesinnten.
eine Statistik, wie viele jedes Jahr ein- dienportal veröffentlicht, sodass Be- An Behörden gibt Frau Y aus Miss-
gehen und wie relevant sie sind, wird hörden, Journalisten und Wissen- trauen grundsätzlich nichts weiter. Es
nicht geführt. schaftler sie einsehen konnten. sei denn, sie hat Sorge, dass jemand
Oberstaatsanwalt Benjamin Krau- Dem SPIEGEL war es 2020 mit- kurz davor ist, Gewalt anzuwenden.
se von der Zentralstelle zur Bekämp- hilfe dieser Chats möglich, den An- Eine Ausnahme machte sie nach eige-
fung der Internetkriminalität, die bei führer einer deutschen Zelle der ner Aussage auch, als sie auf ein gro-
der Generalstaatsanwaltschaft Frank- »Feuerkrieg Division« zu identifizie- ßes kinderpornografisches Netzwerk
furt am Main angesiedelt ist und mit ren: Hinter dem Pseudonym »Hey- stieß. In diesen Fällen schickte sie den
dem Datensatz von Anonymous zu drich« versteckte sich Fabian D., An- Sicherheitsbehörden ihre Erkennt-
Attila Hildmann ermittelt, klingt zu- fang zwanzig, aus Bayern. nisse über Dritte. Ansonsten teilt sie
rückhaltender: »Wir sind grundsätz- Die deutschen Sicherheitsbehör- diese mit Journalisten und Expertin-
lich offen für Hinweise und nehmen den hatten die Gruppe und besonders nen oder publiziert selbst auf einer
auch Daten entgegen.« Dafür gebe es D.s Treiben quasi parallel im Blick. Website.
auch ein Onlineportal. Man müsse Wenige Wochen vor der Veröffentli- Was aus ihren Fällen wird, weiß
aber immer beachten, »inwiefern das chung der Chats hatten sie bei dem sie nicht. »Ich finde so viel, da habe
uns zugespielte Material strafrecht- jungen Elektriker eine Hausdurch- ich nicht die Kapazität, alles weiter-
lich relevant oder verwertbar ist«. suchung durchgeführt, bei der sie zuverfolgen.«
Auch müsse die Validität der Daten mehrere Waffen fanden. D. wurde Maik Baumgärtner, Roman Höfner,
eingeschätzt werden. wegen der Vorbereitung einer schwe- Max Hoppenstedt, Ann-Katrin Müller n

»Ich verwende fast meine gesamte


Freizeit für diese Aktivitäten.
Manchmal nehme ich mir dafür
sogar einen Tag frei.«
»Die Infiltrationen mache ich meis-
tens selbst, und ich schlafe dann
wenig.«
»Am Anfang war ich sehr schockiert
und verängstigt von dem, was ich
in den Gruppen gelesen habe. Jetzt
habe ich einen Coach, der mir hilft.«

Frau Y, wie wir sie hier nennen, ist


Amerikanerin und hat sich auf Neo-
nazigruppen spezialisiert, die in den
Illustration: Julius Maxim / DER SPIEGEL

USA sitzen oder dort gegründet wur-


den. Teilweise sind diese aber bis
nach Deutschland vernetzt. Die Frau
ist schon länger dabei, hat etwa die
»Patriot Front« oder die »Traditiona-
list Workers Party« infiltriert.
Letztere organisierte 2017 eine
Neonaziversammlung in Charlottes-
ville, Virginia, mit. Bei dem Auf-

34 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


DEUTSCHLAND

angegriffen. Anlass war ein Streit. Im Januar


2018 wurde Ibrahim A. mit einem Gramm
Kokain erwischt, er musste wieder eine Geld-
strafe zahlen.
Im Juli 2021 zog Ibrahim A. nach Kiel. Den
Beamten der Stadt fielen seine Strafen auf,
sie kontaktierten das Bundesamt für Migra-
tion und Flüchtlinge (Bamf). Im November
2021 leitete das Amt ein Verfahren ein, um
ihm den Schutzstatus zu entziehen – es war
auch mehr als ein Jahr später noch nicht ab-
geschlossen.
Doch selbst wenn das Bamf zügig entschie-
den hätte, dass Ibrahim A. hier kein Schutz
zusteht: Wohin mit einem Mann ohne Staats-
angehörigkeit? Aus Behördenkreisen heißt

Fabian Bimmer / REUTERS


es, einen staatenlosen Palästinenser in die
Autonomiegebiete abschieben zu wollen sei
fast aussichtslos.
Fest steht, dass Ibrahim A. auch in Kiel
auffällig wurde. Streitereien, mal war wohl
Ermittler am Bahnhof Brokstedt: Blutspuren in vier Waggons
ein Messer im Spiel, Ladendiebstahl. Nach
dem 14. Januar 2022 verschwand er vom Ra-
dar der Behörden in Schleswig-Holstein.
Nur vier Tage später tauchte er in Ham-
burg auf, in der Schlange vor einem Obdach-

Vom Radar verschwunden losenheim. Er geriet offenbar in Streit mit


einem anderen Mann, stach ihm mit einem
Messer in den Arm, in den Hals, in die Hand.
Ibrahim A. gab an, Whisky, Heroin und Ko-
VERBRECHEN In einem Regionalzug bei Kiel erstach ein Asylbewerber kain konsumiert zu haben. Er wurde zu einem
Jahr und einer Woche Gefängnis verurteilt.
zwei Menschen. Wenige Tage zuvor saß er noch in U-Haft, weil Ibrahim A. legte Berufung ein und kam
er einen Mann mit dem Messer angegriffen haben soll. Wie konnte daher nicht in Strafhaft, sondern blieb in
es trotzdem zur Bluttat kommen? Untersuchungshaft. Die zog sich hin, im Ge-
fängnis Billwerder geriet er offenbar mit
einem anderen Gefangenen aneinander; er
s begann klein. Mit einer Flasche Par- Staatsanwaltschaft wirft ihm Mord und ver- soll zudem einen Vollzugsbeamten attackiert
E füm, 30 Euro wert. Ibrahim A. stahl sie
2015 aus einem Laden in Bad Münster-
eifel in Nordrhein-Westfalen. Das Amtsge-
suchten Totschlag vor.
Wer ist der Mann, der die Blutspur in dem
Regionalzug hinterließ? Und lassen sich sol-
haben. Daraufhin wurde er laut Justizbehör-
de psychiatrisch betreut.
Das Amtsgericht schrieb in seinem Ur-
richt Euskirchen verurteilte ihn zu einer Geld- che Taten verhindern? teil, Ibrahim A. habe in Deutschland »kein
strafe in Höhe von 15 Tagessätzen. Vor seiner Ankunft in Deutschland lebte tragfähiges soziales Netz«. Er habe keinen
Eine Bagatelle. Oder der Beginn einer kri- Ibrahim A. mit seiner Familie laut Gerichts- Beruf erlernt. Das Gericht sah ein Risiko von
minellen Laufbahn, von der sich im Rückblick unterlagen im Gazastreifen. Er und mehrere 50 Prozent, dass er wieder Straftaten be-
sagen lässt, dass sie steil war. Angehörige hätten »schwerste Misshandlung gehe. Es fehle an einer »günstigen Sozial-
Bis zu einer Bluttat, die schwierige Fragen durch die Hamas« erlitten. Ibrahim A. seien prognose«.
aufwirft. Fragen zu Kriminalität, härteren »Verbrennungen und Schnittverletzungen zu- Aber weil sich die Untersuchungshaft zu
Strafen, dem Asylrecht. Wie soll man umge- gefügt« worden. Die Hamas habe einen On- lange hinzog, hob das Landgericht den Haft-
hen mit einem palästinensischen Geflüchte- kel getötet. Seine Mutter starb demnach 2010, befehl am 19. Januar auf. Ein Psychiater sah
ten, ohne Familie im fremden Land, der im- sein Vater 2012. Er habe sechs Geschwister, kurz vor der Entlassung keine Fremd- und
mer wieder gewalttätig wird, in der Unter- die zumindest im August 2022 alle im Gaza- Selbstgefährdung. Ibrahim A. stand auf der
suchungshaft, in der Flüchtlingsunterkunft? streifen lebten. Straße, ohne Wohnung, allein.
Mit einem Mann, der sogar einen Freund Ibrahim A. sei vor der Hamas geflohen, Sein Anwalt kritisiert die Abläufe der Ent-
attackierte? sagt sein Anwalt Björn Seelbach. Im Dezem- scheidung. »Ich war überrascht, dass mein
Nach allem, was bisher bekannt ist, fuhr ber 2014 kam A. nach Deutschland und be- Mandant so plötzlich aus der U-Haft entlassen
Ibrahim A. am Mittwoch in einem Regional- antragte Asyl. Im Juli 2016 wurde ihm ein wurde«, sagte Björn Seelbach. Es wäre »bes-
zug von Kiel in Richtung Hamburg. 120 Men- Schutzstatus gewährt. Er hielt sich also legal ser gewesen, man hätte ihn auf die Entlassung
schen saßen in der Bahn. Ibrahim A. zog of- in Deutschland auf. Bis 2020 lebte er wohl vorbereiten können«.
fenbar kurz vor der Haltestelle Brokstedt ein vor allem in Euskirchen und Umgebung. Er Sechs Tage später fuhr Ibrahim A. nach
Messer und stach zu. Er tötete eine 17-Jähri- arbeitete zeitweise als Paketfahrer für Ama- Kiel. Er wollte laut Landesinnenministerium
ge und einen 19-Jährigen, verletzte fünf Men- zon und DHL. eine neue »Aufenthaltskarte« beantragen. Die
schen. In vier Waggons fanden die Ermittler Für das gestohlene Parfüm kassierte er Behörden sagen, er habe unauffällig gewirkt
Blutspuren. 2015 seine erste Verurteilung. Im Jahr darauf und sei an das Einwohnermeldeamt verwie-
Andere Reisende stoppten ihn offenbar. In wurde er wegen gefährlicher Körperver- sen worden.
Brokstedt nahmen Polizeikräfte den 33-Jäh- letzung schuldig gesprochen, ein Jahr auf Stattdessen stieg er in einen Regionalzug.
rigen fest. Er habe ruhig gewirkt, heißt es. Bewährung. Er hatte laut Gericht einen Roman Lehberger, Ansgar Siemens,
Inzwischen sitzt er in Untersuchungshaft, die Freund mit einem »scharfen Gegenstand« Wolf Wiedmann-Schmidt, Jean-Pierre Ziegler n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 35


DEUTSCHLAND

ein Dritter schickt Emojis: vier Flam-


men, zwei Blutstropfen und zwei
Polizeiautos. Keiner der Teilnehmer
verlässt die Gruppe. Sie planen die
Eskalation.

Flammen und Blutstropfen Seit Neujahr diskutiert die Re-


publik über die Randale zum Jah-
reswechsel, im Blickpunkt steht oft
Berlin. Dort sind bislang 44 mut-
KRAWALLE Die Ausschreitungen zu Silvester erschütterten die Republik. maßliche Täter identifiziert, die meis-
ten männlich und jünger als 25 Jahre,
Jetzt zeigen Ermittlungen in Bonn, wie sich die Stimmung in solchen wie die Berliner Polizei Mitte Januar
Jugendgruppen hochschaukelt, wie rabiat der Hass auf Polizisten ist – und mitteilte.
was ein Netflix-Film damit zu tun hat. Der CDU-Bundestagsabgeordnete
Thorsten Frei sprach von »gewalt-
bereiten Integrationsverweigerern«,
ie Jugendlichen sind maskiert, einer überschaubaren Ladenzeile, »Jungs. Sollen Bundesinnenministerin Nancy Faeser
D sie stürmen eine Polizeiwache,
sie klauen Waffen. In einem
gestohlenen Streifenwagen fahren
einem Kiosk, einem Geldautomaten.
Die Hochhaussiedlung entstand in
den Siebzigerjahren, Bonn war noch
wir einen
Bullen
(SPD) von einem »Problem mit be-
stimmten jungen Männern mit Mi-
grationshintergrund, die unseren
sie zurück in ihr Viertel, verbarrika- Hauptstadt, und viele Bundesbe- entführen?« Staat verachten«. Die Vorfälle in Me-
dieren sich. Als Bereitschaftspoli- dienstete fanden hier ein Zuhause. dinghoven zeigen: Das Problem ist
zisten in der Hochhaussiedlung ein- Als der Regierungssitz nach Berlin Chatnachricht nicht auf Berlin beschränkt.
treffen, beschießen die Teenager sie verlegt wurde, verließen sie das In dem Bonner Viertel randalieren
mit Feuerwerkskörpern und nehmen Viertel, Migranten zogen in die leer an jenem Abend rund 40 junge Män-
einen Beamten als Geisel. stehenden Wohnungen. Die Arbeits- ner, einige von ihnen vermummen
Es sind Szenen aus dem französi- losigkeit ist für Bonner Verhältnisse sich mit Einmalmasken und Tüchern,
schen Film »Athena«, in dem der Re- hoch. so steht es im Einsatzbericht der Poli-
gisseur Romain Gavras die sozialen Doch wofür steht »Nazis« im zei. Demnach zünden sie Mülltonnen
Konflikte einer Banlieue abbildet. Der Gruppennamen? Sind damit Polizei- und Autoreifen an, zielen mit Silves-
Netflix-Film vom Herbst 2022 beein- beamte gemeint? terraketen und Pyrotechbatterien auf
druckte offenbar Jugendliche in Bonn. Der Gründer der WhatsApp- Streifenwagen, in denen Beamte sit-
Vier Tage nach Heiligabend gründet Gruppe lädt acht Kumpel ein. Sie zen. Einer berichtet später in Zeugen-
einer von ihnen eine WhatsApp- wohnen in Medinghoven und be- vernehmungen, wie ihn das Ausmaß
Gruppe. Er nennt sich »Le Monde nachbarten Stadtvierteln. »Silvester an Gewalt erstaunt habe.
vous Appartient«, die Welt gehört wird brennen MV«, schreibt er. Wer Verstärkung und die Feuerwehr
euch. Der Gruppe gibt er den Namen »nur halb dabei« sein wolle, der treffen ein. Danach fliegen wieder
»Silvester MV vs. Nazis«. solle austreten. Die Reaktionen sind Feuerwerkskörper und Steine in Rich-
MV steht mutmaßlich für Meding- eindeutig. »100 Prozent«, schreibt tung Einsatzkräfte. Barrikaden bren-
hoven, ein Stadtviertel von Bonn mit einer, ein anderer fragt nach Benzin, nen. Ein Beamter spricht später von
Instagram

Instagram

Instagram

Aufnahmen aus der Silvesternacht in sozialen Medien: »Sich deutlich entwickelnde Tumultlage«

36 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


DEUTSCHLAND

sein, dass sie für Vergehen zeitnah sanktio-


niert werden.«
Den mutmaßlichen Randalierern in Me- FASZINATION
dinghoven könnte ihr Chat zum Verhängnis
werden. Am 29. und 30. Dezember sollen ERDE
sie sich über Benzin und Gas für Molotow-
cocktails ausgetauscht haben, planten
angeblich den Bau von Schwarzpulver-

Kour trjameuf Kour trajme / Net flix


»Bomben«. Im Chat soll ein Video von auf-
geschnittenen Böllern und kleinen Bergen an
Pulver kursieren.
Einer fragt, »wie viele Bullenwagen« bren-
nen sollen. Ein anderer wollte noch weiter-
gehen: »Jungs. Sollen wir einen Bullen ent-
führen?« Antwort: »Bei Allah meine ernst.
Filmszene aus »Athena«
Wie bei Athena.« Es geht um einen »Huren-
sohn« und darum, wo dieser sein Auto parkt.
einer »sich deutlich entwickelnden Tumult- Die Ermittler vermuten, dass es sich um einen
lage«. Den Ermittlungen zufolge mutmaßlich Polizeibeamten handelt, der in dem Viertel
mittendrin: die Mitglieder der Gruppe »Sil- öfter Dienst verrichtete. Das Vorhaben bleibt
vester MV vs. Nazis«. vage. Der Chat endet am 30. Dezember um
Die Polizei entscheidet sich zum Rückzug; 16.48 Uhr.
auch die Feuerwehr entfernt sich aus dem Aber wie gewaltbereit sind die Jugendli-

Instagram
Gefahrengebiet. Sie warten auf einen Zug der chen wirklich, wie konkret waren ihre Pläne
13. Hundertschaft der Bereitschaftspolizei. für Silvester? Was hätten sie angerichtet, wä-
Die Beamten umstellen ab 0.56 Uhr den ren sie in jener Nacht nicht gestoppt worden?
Einsatzort, räumen ihn und halten flüchten- Der Bonner Strafverteidiger Marc Piel ver-
de Randalierer fest – darunter ein Mitglied tritt einen von ihnen. »Die Entführung eines
der WhatsApp-Gruppe. Die anderen entkom- Polizeibeamten war in keinster Weise eine
men. Zurück bleiben nur ein Camouflage- reale Vorstellung«, sagt er. Vielmehr handle
rucksack voll mit Feuerwerkskörpern und es sich um eine »absurde Spinnerei von jun-
ein Sachschaden in Höhe von mindestens gen Menschen«, die sich angelehnt an einen
30 000 Euro. Film »brüsten« wollten. Die Existenz der
Der jüngste Aufwiegler ist 16, der älteste WhatsApp-Gruppe und die Nachrichten da-
19 Jahre alt. Die meisten von ihnen besitzen rin stellten »keinen Nachweis konkreter straf-
neben der syrischen, marokkanischen oder rechtlich relevanter Handlungen« dar.
jordanischen die deutsche Staatsangehörig- Die Staatsanwaltschaft Bonn könnte zu 288 Seiten, durchgehend vierfarbig,
keit, zwei weitere sind irakische und soma- einem anderen Schluss kommen. »Wir wer- gebunden � 24,00 €
lisch-rumänische Staatsangehörige. Sie alle ten noch Beweismittel aus«, sagt Sprecher
leben noch bei ihren Eltern. Ein Spezial- Jonas Stallkamp. Es werde wegen schweren
einsatzkommando stürmt die Wohnungen Landfriedensbruchs, des tätlichen Angriffs
mit Sprengstoffhunden, bei den Durchsu- auf Polizeibeamte, versuchter Körperver-
chungen werden Böller, eine Schreckschuss- letzung, Brandstiftung und Sachbeschä- Qualmende Vulkane,
pistole und eine Gaskartusche sichergestellt. digung ermittelt. Alle Beschuldigten sind einsame Wüsten,
Die Ermittlungen dauern noch an, der Staats- polizeibekannt, unter anderem wegen Miss- traumhafte Atolle
schutz leitet sie. brauchs von Notrufen, Bedrohung, Dieb-
Ahmet Toprak hat zehn Jahre lang Anti- stahls, Beleidigung. und pulsierende Metropolen:
gewalttrainings mit muslimischen Jugend- Für die Ermittler hat nun eine Puzzlearbeit Über 50 faszinierende
lichen durchgeführt, heute ist er Pädagogik- begonnen. Ein Teil fehlt: Die Polizisten trugen Aufnahmen aus dem All und
professor an der Fachhochschule Dortmund. bei dem Einsatz Bodycams, kleine Kameras.
Jugendliche wie die aus Bonn seien hier ge- Doch die blieben ausgeschaltet. Sie seien di- die spannenden Geschichten
boren, hier aufgewachsen, sagt er. Da von rekt nach dem Aussteigen aus den Einsatz- dahinter präsentiert
»Integrationsverweigerern« zu reden halte wagen attackiert worden, sagen die Beamten dieses Buch, basierend auf der
er für »deplatziert«. Es seien junge Menschen, zur Erklärung. Aber es gibt allerhand Videos,
die ihren Weg nicht gefunden hätten, davon die Unbekannte noch in der Nacht bei TikTok beliebten SPIEGEL-Kolumne
gebe es genug in Deutschland auch ohne und Instagram einstellten. »Das Satellitenbild
Migrationshintergrund. Einige davon erinnern an Szenen aus der Woche«.
»Die Gewaltforschung belegt, dass Gewalt- »Athena«. Sozialarbeiter aus Medinghoven
anwendung eher in prekären Lebensverhält- kennen den Film. Sie wundern sich nicht,
nissen stattfindet: Es geht also mehr um eine dass sich viele ihrer Schützlinge mit den Pro-
soziale als um eine Integrationsproblematik«, tagonisten identifizieren. Wie die Jungs
sagt Toprak. Dass junge, desorientierte Män- im Film hätten auch sie so gut wie keine Per-
ner auf Polizeikräfte losgehen, sei kein neues spektive, sagt ein Pädagoge. In der Silves-
Phänomen. »Sie nehmen sie nicht ernst, so ternacht habe sich auch ihre Verbitterung
wie sie die ganze Justiz nicht ernst nehmen.« entladen. »Sie projizieren ihre Wut auf den
Das liege daran, dass es zu lange dauere, bis Staat – und damit auf die, die in dessen
Gewalttäter vor Gericht gestellt und verurteilt Dienst stehen.«
werden. »Für die Jugendlichen muss sichtbar Julia Jüttner n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 37


www.dva.de
DEUTSCHLAND

»Du hast die Kinder der Stadt gefickt«


MISSBRAUCH Vor einem halben Jahrhundert bezahlte ein CDU-Politiker einen 13-jährigen Jungen
für Sex. Nun trafen sie sich wieder. Der Fall führt zurück in eine Zeit, in der auch einflussreiche Männer
die Kinder nicht schützten, sondern den Sex mit ihnen förderten.

Dein Schweiß tropft in mein Haar zurückbringen in eine Zeit, die Klaus verges- »Bist Du eigentlich Christ? Dann wirst Du
Kann mich nicht bewegen sen wollte und Bera nicht vergessen kann. Die sicherlich damit rechnen, in der Hölle zu lan-
ich klein Erinnerungen aus diesen Jahren, die in ihm den.« Und später postete er auf Facebook
Du schwer tiefgefroren waren und nun wieder aufgetaut seine ganze Wut: »Niemand machte etwas
möchte schreien sind durch ein Datum. »Wir haben nämlich gegen Dich, während du 50 Jahre die Kinder
beiße in das Kissen. so eine Art goldene Hochzeit, der Klaus und dieser Stadt gefickt hast. Du Sau bist jeden
Dein Atem schnell ich«, hat Bera vor dem Treffen gesagt. Abend um den Bahnhof gezogen, dein Virus
die Schmerzen grell ist seit 50 Jahren in mir, es zerfrisst mir die
Du bist lange gegangen Michael: Der Auslöser, dass bei mir alles wie- Festplatte.«
und tropfst noch immer aus mir der hochkam, war das 50-Jährige mit dir. Ich Was als Abrechnung begann, wurde dann
auf das Bett bin fast daran zerbrochen, als ich mich an mei- aber doch noch zu einer persönlichen Auf-
auf das Handtuch. ne Stricherkarriere erinnert habe. arbeitung. Opfer und Täter, Stricher und
Im Waschbecken meine Kotze. Klaus: Du hast dich gemeldet, ich dachte: Wer Freier, Michael und Klaus.
Michael Bera war das überhaupt? Dann schaute ich nach In der Republik steht eine systematische
unten, vom Balkon: Ja, das ist er. Aufarbeitung hingegen noch aus: des öffent-
nde Oktober, das Hamburger SPIEGEL - Michael: Ich weiß noch, wie es bei dir zu Hau- lich geduldeten Missbrauchs von Kindern und
E Haus, und er ist tatsächlich gekommen.
Klaus, der Täter. 76 Jahre, dünnes Haar,
langsame, tastende Schritte – die Last des
se früher ausgesehen hat, immer wie geleckt.
Das Wohnzimmer. Das Schlafzimmer schräg
gegenüber. Wir hatten da Sex.
Jugendlichen durch Pädokriminelle in den
Siebziger- und Achtzigerjahren. Bislang fielen
allenfalls Schlaglichter auf die Szene, am be-
Alters. Und langsame, tastende Worte – die Klaus: Ich hatte eigentlich immer den Wunsch, kanntesten der Babystrich-Report »Christia-
Last des Gewissens. Vor ihm auf dem Tisch jemanden bei mir zu haben, um nicht allein ne F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«. Und
liegt sein Schlüsselbund mit einem Plastik- zu sein. Stricher-Sex schließt ja nicht aus, dass es gab Berührungspunkte mit anderen Auf-
Chip für den Einkaufswagen. Aufdruck CDU. man länger zusammenbleibt. Mehrere Jungs klärungsprojekten: zum »Runden Tisch
Die Partei, für die er jahrzehntelang als Funk- wohnten bei mir. Heimerziehung«, den die Bundesregierung
tionär gearbeitet hat. Michael: Ich nicht. Das Einzige, was ich von eingerichtet hatte – 2010 legte er seinen Ab-
dir wollte, war Geld. Dein Geld war die ein- schlussbericht über Quälereien in Kinder- und
Klaus: Hallo Michael. zige Macht, die du über mich hattest. Jugendheimen vor. Auch die »Unabhängige
Michael: Hallo Klaus, freut mich, dich zu sehen. Kommission«, die der Bund 2016 ins Leben
Am 8. November 2021 schrieb Michael Bera rief, um Opfer von sexuellem Kindesmiss-
Zwei Männer an einem Tisch, und zwischen eine Mail an die Hamburger CDU. Bera hatte brauch anzuhören, streifte das Thema.
ihnen ihre Geschichte, die sie verbindet, die keine Adresse von Klaus, der längst in Rente Es dauerte aber fünf Jahre, bis dieselbe
sie trennt, die sie wieder eingeholt hat. Das war; die CDU sollte die Mail weiterleiten. Kommission im Februar 2021 am Beispiel
Opfer und der Täter. Michael Bera und der »Werter Klaus, sicherlich wirst Du Dich meiner Berlin das frühere »Wirken pädosexueller
Mann, der ihn missbraucht hat, vor mehr als nicht mehr erinnern, ich denke fast jeden Tag Netzwerke« umriss und dabei zeigte, wie poli-
50 Jahren, als Bera 13 war, Strichjunge am an Dich … Du hattest Deinen Spaß und ich den tisch vermint das ganze Feld ist. In einer Vor-
Hamburger Hauptbahnhof. Ein Heimkind, Schmerz …« Und weiter: »Ich bin an meiner studie beschrieb sie, wie Täter ihren Miss-
das nicht wusste, wohin. Und Klaus, der ge- späteren Drogen- und Alkoholabhängigkeit brauch bis in die Neunzigerjahre ideologisch
nau wusste, was er wollte, und kaufte, was fast gestorben, aber wie Du siehst: HIER BIN verbrämt hatten. Angeblich ging es darum,
sich anbot. Jungs, die an einem Stahlgeländer ICH. Ich hoffe, dass Du noch am Leben bist sich selbst und die Kinder von kleinbürger-
lehnten, am Abgang zur U2. und erwarte Deine umgehende Rückmeldung.« lichen Zwängen zu emanzipieren, eine kind-
Klaus nahm Michael Bera damals mit nach Als keine Antwort kam, weder von Klaus liche Sexualität zu befreien, die unterdrückt
Hause. Gab ihm Bier, Valiumtabletten. Brach- noch von der CDU, wurde Beras Ton scharf. werde; ein Narrativ, das gerade bei Links-
te ihn in sein Schlafzimmer. Drang in ihn ein. intellektuellen erschreckend populär war.
Weil er ihn süß fand, weil er es geil fand. Ein Jugendämter sahen damals weg; in Berlin
»Arschficker«, wie so einer bei den Jungs am versorgten sie, unter der Regie von Helmut
Bahnhof hieß. Kentler, einem Sexualwissenschaftler, sogar
Bera, heute 64, nach einer Krankheit wie- »Wir haben eine Art goldene selbst Pädophile mit Pflegekindern; die Rede
der so dünn wie früher, hat sich für das Tref- war von einem »Experiment«. Und auch die
fen eine schwarze Lederhose mit Schlag an- Hochzeit, der Klaus und Polizei ließ den Missbrauch immer wieder
gezogen, weil der Klaus, der in Wahrheit ich«, sagt Bera vor dem laufen.
anders heißt, früher so auf Leder stand. Und Laut Vorstudie waren es meist schwule
auf »Veddelhosen«, Hosen mit Schlag. Mi- Treffen mit dem Mann, der Männer, die sich an Jungen unter 16 heran-
chael Bera will Klaus mit diesem Gespräch ihn missbraucht hat. machten und dafür in Homosexuellenverbän-

38 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


DEUTSCHLAND

Carolin Windel / DER SPIEGEL

Ehemaliger Strich-
junge Bera an
seinem früheren
Standplatz am
Hauptbahnhof
Hamburg

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 39


DEUTSCHLAND

den, aber auch in der Politik auf Kindheit ohne macht. Ich denke, wir waren auf liche im Stadtteil Volksdorf wurde
Unterstützung setzen konnten. Erst Augenhöhe. Michael Bera, so berichtet er es, drei
in den frühen Nullerjahren wurde die Schutz Michael: Ja sollte ich dir denn sagen, Tage vor seinem zwölften Geburtstag
rote Linie gezogen: dass man sich nicht wie ich mich fühlte? Ich war auf der von einem älteren Jungen vergewal-

Foto: Carolin Windel / DER SPIEGEL; Urheber: privat


gemein macht mit Leuten, die Sex mit Flucht, ich wurde gesucht. Ich war ein tigt. Danach haute er ab, kam ins
Kindern und Jugendlichen als gesell- Rohr im Wind. nächste Heim, haute wieder ab, das
schaftlichen Fortschritt verkauften. nächste Heim, und zwischen Heim
So wie er sein Leben erzählt, war die und Heim: der Bahnhof.
Klaus: Mein Verständnis ist so: Homo- Familie, in die Michael Bera am Der erste Freier, erinnert sich Bera,
sexualität ist nichts Schlimmes, auch 16. Juni 1958 hineingeboren wurde, sprach ihn an, da war er gerade zwölf.
nicht mit Minderjährigen. Ein 16-Jäh- eine Eishöhle. Wer sich dort anlehnen »So ein Apo-Typ, der von freier Lie-
riger ist für mich ausgereift. musste, erfror als Erster; die einzige be redete und mir hinterher Mescalin
Michael: Meine Bahnhofszeit begann Wärme kam von innen, der Alkohol. gab.« Bera hatte blaue Augen, ein
aber schon mit 13. Beras Mutter war 13, als sie zum ers- Kindergesicht, er war neu, er war
Klaus: Ich habe jedenfalls keinem an- ten Mal abtrieb. Sein Großvater fuhr zart. Die Freier warfen ihm einen
gesehen, dass er nicht will. mit ihr nach Holland, das Kind war Kussmund zu, sie schnalzten mit der
Bera als Kind um 1965
Michael: Ich wollte das nicht. Ich war von ihm. Kurz danach ließ er Frau Zunge, wenn er neben drei, vier,
mit mehr als 1000 Männern zusam- und Tochter ohne Geld für eine an- manchmal aber auch zehn anderen

Foto: Carolin Windel / DER SPIEGEL; Urheber: privat


men. Für mich war das die Curry- dere sitzen. Dasselbe wiederholte Jungs am Geländer der U-Bahn stand.
wurst-Pommes, damit ich was zu essen sich bei Beras Mutter: Sie bekam Mi- Bera tat so, als wäre er nicht interes-
hatte. chael mit 21. Ihr Mann suchte sich siert, damit die Männer nicht dach-
eine andere, und Beras Mutter such- ten, sie könnten den Preis drücken.
Neulich, erzählt Bera, stand er in der te Trost in der Flasche und beim Fal- Und am Anfang, als er noch alle Zäh-
Hamburger Innenstadt und hat los- schen, Ehemann Nummer zwei, ne hatte, als er noch nicht nach Stra-
geheult. »Einfach so, stundenlang.« einem Ex-Knacki. ße roch, kam er damit durch.
50 Jahre lang hat er den Mund gehal- Er könne sich nicht erinnern, so Manchmal gingen die Freier schon
ten über seine Zeit am Bahnhof, die Michael Bera, dass ihn seine Mutter in der Mittagspause an den Bahnhof,
mit 12 begann und mit 16 zu Ende ging. jemals in den Arm genommen hätte. die meisten erst nach der Arbeit, Her-
Die Jahre danach ist er herumgezo- Dafür erinnere er sich an Nächte vol- ren mit einem geregelten Leben. So
gen, mochte das Geräusch der Auto- Mit Mutter um 1964 ler Grölen, Zetern, Heulen, an Nach- wie Herr D., den er sofort wieder-
bahn, das Gefühl wegzukommen, barn, die die 110 wählten. An das erkannte. Sein Kinderarzt.
wohin auch immer. Später hangelte blaue Auge seiner Mutter, ihren Milz- Für 50 Mark nahm Michael Bera
er sich von Beruf zu Beruf, reparierte riss, ihre Knochenbrüche. Und beson- sie mit in ein Treppenhaus oder in die
Fahrräder, verkaufte Antiquitäten, ders genau, sagt Bera, erinnere er sich Büsche neben den S-Bahn-Gleisen.
nähte Teddybären; seit ein paar Jah- noch an den Tag mit den Blutspritzern Besser waren die Sugardaddys, denen
ren arbeitet er als Bürobote in einer überall im Bad, an die grüne Spülifla- er einen Hunderter wert war und die
Rechtsanwaltskanzlei. Er hat gehei- sche, die auf dem Boden stand, oben mit ihm in eine Pension um die Ecke
ratet, aber nicht mal seiner Frau etwas mit einem aufgesetzten Metalldorn. gingen. Da kostete das Zimmer einen
erzählt. Bis zu dem Brief an Klaus. Spuren der nächsten Abtreibung, Fünfziger die Nacht, und nach einer
Seitdem wühlt er in seiner Vergan- diesmal ohne Fahrt nach Holland. Stunde war der Freier wieder weg; er
genheit und kann nicht damit aufhö- Schon in der zweiten Klasse hatte selbst konnte bis zum nächsten Mor-
ren. »Den Mund zu halten ist wie mit- Bera 60 Fehltage, wie er erzählt. Für gen bleiben.
privat

machen. Ich will nicht mehr den Mund ihn war Schule Zwang. Seine Mutter Wenn es zu kalt war, lungerte er
halten«, sagt er, und dass er nicht wei- Als Jugendlicher 1974 zwang ihn nicht, sie konnte sich ja dagegen im Oldtime herum. Oder in
terleben kann, ohne die Vergangen- selbst zu nichts mehr zwingen und den Götterstuben. Kaschemmen, die
heit zurückzuholen. Es geht nicht da- war froh, als das Jugendamt Michael den Ruf hatten, dass dort ältere Män-
rum, Klaus hinter Gitter zu bringen – mit elf Jahren abholte, um ihn ins ner auf Knaben warteten. So wie an-
Ex-Strichertreff
dazu wäre es sowieso zu spät, alles Rosa Wolke um 1986:
Heim zu stecken. Sollten die sich geblich der »Brücken-Dieter«, der die
längst verjährt. »Ich will nur reden. Missbrauch kümmern. Im Johannes-Petersen- Jungs vor der Pissrinne im Oldtime
Nur ihm dabei ins Gesicht sehen.« vor der Pissrinne Heim für schwer erziehbare Jugend- eine Brücke machen ließ, wenn er an
sich herumrubbelte. Als »Brücken-
Michael: Ich war aus dem Heim ab- Dieter« Jahre später erwischt worden
gehauen; immer wenn ich Geld sein soll – von einer Wirtin, die den
brauchte, ging ich zum Bahnhof oder Schwulentreff übernahm, ohne zu
gleich zu dir nach Hause. ahnen, dass es ein Stricherladen
Klaus: Ich weiß nicht mehr, wie oft du war –, bekam sie von ihm zu hören,
bei mir warst. Ich suchte eigentlich das sei hier doch immer schon so ge-
jemanden, mit dem ich was unterneh- wesen: »Wenn man jung ist, muss
men kann, Kino, Essen, Sex natürlich man sich verkaufen, wenn man alt ist,
auch. Das war für mich eine Kontakt- muss man kaufen.«
börse in jeder Beziehung. Der Bahn- Besuch von der Polizei, so die Wir-
hof, das Oldtime (ehemalige Kneipe tin, die das Oldtime in Rosa Wolke
im Stadtteil Eimsbüttel –Red.). Im umbenannte, habe sie nie bekommen.
Oldtime waren auch Heimkinder. »Ich hatte keine einzige Razzia, ich
Dass die Jungen aus den Heimen an- verstand auch nicht, warum das so
schaffen gingen, das wusste ich. Ich war. Das wollte die Polizei gar nicht
habe dich aber nicht als Opfer ge- merken.« Sie selbst habe schließlich
privat

sehen. Den Eindruck hast du nicht ge- dafür gesorgt, dass Schluss war. »Ich

40 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


DEUTSCHLAND

sagte: kein Sex mit kleinen Jungs, nicht in Klaus: Bei dir war es die Hose, die mich lock-
meiner Kneipe.« Erst seien deshalb die Jungs te, eine schwarze Veddelhose, Lederabnäher,
weggeblieben, dann die Männer, dann habe Taschen für den Zollstock, doppelter Reißver-
sie zumachen müssen. schluss, eine sogenannte Schnellfickerhose,
Von seinem Stammplatz, am Geländer vor vorne ging die Klappe auf.
dem Bahnhof, konnte Michael Bera die Poli- Michael: Alle am Bahnhof wussten, die Hose
zei sogar jeden Tag sehen, das 11. Revier, es zieht bei den Freiern.
lag damals schräg gegenüber. Aber auch hier: Klaus: Ich habe aber nie gesagt: Du musst das
keine Gefahr. Nur einmal, sagt er, kam die oder das machen; da war nie Gewalt.
»Schmiere« tatsächlich herüber, sammelte ihn Michael: Ich erinnere mich anders: Du hast
ein, ließ ihn ins Heim bringen. Kurz danach mich gekniffen, in die Brust, in den Po. Aber
war Bera wieder da. ja, du hast mich zumindest nie stranguliert,
Es war ein Missbrauchsmilieu, das in aller bis ich rot wurde. Das waren andere.
Öffentlichkeit wucherte, als wäre nichts dabei,
und wie es so weit kommen konnte, erzählt Am Bahnhof lernte Bera, dass man in zehn

Carolin Windel / DER SPIEGEL


die Vorstudie der Missbrauchskommission Minuten 50 Mark verdienen konnte, für einen
am Beispiel Berlin. Viele Betroffene, so heißt kurzen Ekel. Und wie sich dafür ein paar
es da, hätten den Eindruck, die Täter seien Stunden gute Gefühle kaufen ließen. Valium
damals geschützt worden. Weil sie den Sound zum Runterkommen, Captagon, Ephedrin,
der Zeit getroffen und vor allem für linke Krei- Percoffidrinol zum Aufputschen. Manchmal
se »die ›richtige‹ Programmatik vertreten« auch Koks. Dazu noch »Heuler« (Alkohol)
hätten: freie Liebe, freies Leben, gegen Zwän- Bera-Tattoo
oder »Lacher« (Hasch, Marihuana).
ge, Verbote und Konventionen. Pädophile Bera ging den kurzen Weg nach unten, von
hätten gezielt die Bewegung gekapert, die sie würden Kentlers Schriften weiter zitieren. Können zu Müssen. Nicht lange, dann konn-
gegen Homofeindlichkeit kämpfte, um sich Seine Übergriffe bagatellisieren. Die Figur te er nicht 100 Mark am Tag verdienen, er
selbst als eine »zu Unrecht verfolgte Minder- Kentler heroisieren. musste. Er sagt, dass er nun auch Autos auf-
heit zu stilisieren«. Auch eine Kernforderung aus der Berliner brach, die Kassettenradios klaute; sein Hehler
Schwule Pädophile gaben damals Zeit- Vorstudie zu den Pädo-Netzen ließ die Wis- war sein Onkel. Für Erwachsene war er ent-
schriften »für Knabenliebhaber« und »Boy- senschaft kalt: Die Fachgesellschaften, allen weder nützlich oder lästig, also machte er sich
lover« heraus. Gründeten einen »Deutschen voran die der Sexual- oder Erziehungswissen- lieber nützlich, dafür gab es wenigstens Geld.
Arbeitskreis Pädophilie« (»Unser Ziel ist die schaftler, sollten systematisch aufklären, wel- Radios? Sex? Egal, Hauptsache, Scheine.
Legalisierung der Knabenliebe«). Sie fanden che Rolle sie damals gespielt hatten, vor allem Stammkunden? Umso besser.
bald danach Bündnispartner in Parteien, der wie sehr sie sich für Sex mit Kindern ins Zeug So wie Klaus. »Nach einer Zeit kam mir
Wissenschaft, in anderen Lobbygruppen. gelegt hatten. Der Missbrauchskommission das alles stinknormal vor«, sagt Bera. War
Vor allem die Grünen mussten später er- des Bundes fehlen für eine solche Untersu- das nicht auch sein Platz, den ihm das Leben
klären, warum Partei-Ikone Daniel Cohn- chung nämlich nach eigenen Angaben die zugeteilt hatte? »Ich dachte, ich habe es nicht
Bendit als presserechtlich Verantwortlicher Ressourcen. »Aber uns ist nicht bekannt, dass anders verdient, als ein mieser kleiner Stricher
der Zeitschrift »Pflasterstrand« die Sexerleb- seitdem an irgendeiner Stelle etwas geschehen zu sein. Ich bin böse, ich bin verdorben, ich
nisse von Pädophilen abgedruckt hatte. Wa- wäre«, sagt die Pressesprecherin der Kom- dachte, ein Heimkind landet am Bahnhof auf
rum die Partei die Bundesarbeitsgemeinschaft mission, Kirsti Kriegel. Die frühere Kommis- dem Strich, das ist eben so.« Dass er sich mit
Schwule, Päderasten und Transsexuelle mit- sionschefin, Sabine Andresen, ging noch wei- jedem Tag, jedem Freier mehr verlor, sei ihm
finanziert hatte, deren Koordinator wegen ter. Sie vermisste einen »klaren politischen nicht bewusst gewesen.
Sex mit Kindern mehrfach vorbestraft war. Willen, dass wir es als Gesellschaft wirklich Dabei musste ihm das schon der Blick in
Und warum im Berliner Landesverband ein wissen wollen«. den Spiegel sagen, und wie die Preise für
Parteifreund mitarbeitete, der vorher schon Kein Wunder also, dass die meisten Opfer ihn fielen. Mit 14, so Bera, verlor er vorn
wegen Missbrauchs im Knast gesessen hatte bis heute schweigen, aus Scham, aus Angst, den ersten Zahn, mit 15 sah er wie ein Geist
und nach seiner Zeit bei den Grünen zugab, aus Ohnmacht. Nicht aber Bera. aus. Der Alkohol, die Drogen. Die Freier hät-
sich an 140 Jungen vergangen zu haben. ten etwas Jüngeres gesucht; ihn vor drei Jah-
Viele Organisationen schüttelten all das in Michael: Meine Seele ist vergewaltigt worden, ren. Auch der Klaus. Der ließ sich nicht mehr
den Achtzigern und Neunzigern ab, andere das war Missbrauch. Durch mich, durch dich, blicken.
brauchten deutlich länger. Noch 2000 ereifer- durch die Szene. »Für Jungs wie mich, die halb tot waren,
te sich der Vorstand der Humanistischen Klaus: Ich habe es damals nicht so empfunden, hat sich keiner mehr interessiert. Ich war ein
Union über eine angeblich »geradezu kreuz- aber heute würde ich sagen: Natürlich war Zombie, ekelte mich vor mir selbst und habe
zugartige Kampagne gegen Pädophile«. Und das Missbrauch. Ich dachte aber nicht, dass du versucht, mich totzutrinken. Hat nicht ge-
bis heute, so die Vorstudie, befürchteten Be- erst 13 oder 14 bist, und wenn einer auf mich klappt.« Michael Bera erzählt, wie er nun
troffene, »dass es wenig Interesse an der Auf- zukommt und lässt sich anmachen, dann war selbst zum Täter wurde; er brachte einen Jun-
arbeitung von Netzwerken und deren Ver- es mir egal. gen aus einem Jugendwohnheim zu einem
flechtungen bis in die Machtzentren der Ge- Michael: Ich bin aber keinem hinterhergelau- Freier nach Bergedorf, einem Geschäftsmann
sellschaft gibt«. fen; ich stand nur da, und die Männer um- mit einem 280er Mercedes. Bera sah zu, wie
Im Fall des 2008 gestorbenen Sexualwis- schwirrten mich wie die Bienen. der Freier den Jungen missbrauchte, er hörte,
senschaftlers Kentler, der selbst Jungen zu wie der Junge vor Schmerz schrie; Bera kas-
sich nach Hause geholt und Sex mit ihnen sierte dafür Geld, wie ein Zuhälter.
gehabt haben soll, kommt ein Zwischenbe- Derselbe Freier drehte in einem Keller Por-
richt der Universität Hildesheim sogar zu dem nos. Bera sagt, er habe nicht darin mitgespielt,
Ergebnis, dass »jenes Netzwerk, mit dem Hel- Am Bahnhof lernte er, dass aber bei den Aufnahmen geholfen, Handtü-
mut Kentler verwoben war, bis in die Gegen- cher gereicht, solche Dinge. Und einmal sei
wart wirkt«. Die Vertuscher säßen immer
man in zehn Minuten da auch ein Mädchen vor der Kamera gewe-
noch in der Wissenschaft, in der Jugendhilfe, 50 Mark verdienen konnte. sen, das er aus einem Heim gekannt, das er

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 41


DEUTSCHLAND

sehr gemocht habe. Das Mädchen, lerpraktikant im Rathaus war – an die Umstrittene pädagogische Freizeit nach Frankreich
zusammen mit einem Hund. Sozialbehörde. Der Chef der Kinder- geschickt. Jenem Olaf R., der heute als
Danach konnte Michael Bera nicht und Jugendhilfe meldete sich, er neh- Toleranz einer der schlimmsten Sex-Straftäter
mehr; er ging weg vom Bahnhof. Die me Beras Schreiben »sehr ernst« und der Stadt gilt, mehrfach verurteilt we-
Jahre danach in der Kurzversion von wolle sich mit ihm treffen. Aber in gen Missbrauchs von Kindern.
Bera: Alkohol, Tabletten, rechtsex- dem Gespräch ging es dann offenbar Bera bekam schließlich für seine
treme Wiking-Jugend, linksextreme nicht um Klaus von der CDU, nur um Heimzeit aus dem Heimkinderfonds
KPD-ML. Die Bundeswehr. Ein Trip Beras Erlebnisse in den Heimen. Und des Bundes 9920 Euro, für eine Ka-
nach Indien und Pakistan. Drogen- auch Bera selbst sprach den Miss- meraausrüstung. Ein Witz, wie er fin-
absturz, kalter Entzug, knapp über- brauch durch Klaus nicht mehr an, det, eine Kamera gegen ein kaputtes

Frank Rumpenhorst / AP
lebt. Aber seine Freundin setzt sich wie er heute sagt. Leben. Und was, fragt Bera, war mit
den goldenen Schuss. 1987. Ein Warum die Sozialbehörde dem Vor- denen, die das gar nicht mehr erleb-
Schock – und Schluss. Im August 1987 wurf des sexuellen Missbrauchs da- ten, die sich umgebracht hatten, mit
habe er sein letztes Glas Rotwein ge- mals nicht nachging, bleibt offen. Ex- der Nadel oder weil sie nicht mehr
trunken. Und beschlossen: »Wenn ich Bürgermeister Beust sagt, er erinnere weiterleben wollten?
die schlechten Rollen im Leben alle sich nicht an das Schreiben. Wenn er Cohn-Bendit 1986 Danach zog Bera die Mauer des
gespielt habe, dann will ich ab jetzt den Brief aber an die Sozialbehörde Schweigens wieder hoch. Bis zum
die guten Rollen spielen.« weitergeleitet habe, dann sei das November 2021, dem 50-Jährigen mit
Er machte seinen Hauptschulab- schon richtig gewesen. Dagegen habe Klaus. Bis zur Mail an Klaus und an
schluss nach, begann eine Lehre, er in der Hamburger CDU damals gar die CDU, die sich aber nie bei Bera
Druckvorlagenherstellung, lernte sei- kein Amt gehabt – was nach Angaben meldete. »Der ganze Vorgang sagt
ne spätere Frau kennen, mit der er der Konrad-Adenauer-Stiftung aller- mir nichts, und demzufolge können
danach alles zusammen machte: die dings nicht stimmt: Beust schied dem- wir auch nichts dazu sagen«, lässt der

Galuschka / ullstein bild


Fahrräder, die Antiquitätenflohmärk- nach erst mit dem Ende seiner Amts- Sprecher der Hamburger CDU den
te, eine Teddy-Manufaktur. Ein biss- zeit als Bürgermeister im August 2010 SPI EGEL denkbar knapp wissen.
chen kiffte er noch, aber ansonsten aus dem Landes- und dem Bundes- Auch der Stadt schrieb Bera Ende
führte er ein nach außen heiles, bür- vorstand der CDU aus. Knapp drei 2021: dem Büro des Ersten Bürger-
gerliches Leben. Monate nach dem Bera-Schreiben. meisters, dem Innensenator, der da-
Nur innen sei nichts mehr heil ge- Gründe, nicht zu tief zu bohren, Littmann 2008 maligen Sozialsenatorin Melanie
wesen, sagt er. Er konnte nicht mit sei- gab es einige. Klaus selbst erinnert Leonhard von der SPD, die aber auch
ner Frau schlafen, nicht mal neben ihr sich beim Gespräch im SPIEGEL - nicht weiterhalf. Stattdessen ließ sie
in einem Doppelbett. »Weil ich keine Haus an eine Veranstaltung 1972 mit Bera mitteilen: »Ich bitte um Ver-
Nähe zulassen konnte. Nähe bedeu- dem Hamburger CDU-Landeschef ständnis, dass eine Weiterleitung Ihrer
tete Schmerz. Das hatte ich verinner- Dietrich Rollmann. Dabei sei, so E-Mail an Herrn (Nachname von
licht.« Er habe eine Mauer um sich Klaus, Cornelius »Corny« Littmann Klaus –Red.) nicht erfolgen kann.«
herum gebaut, um seine Erinnerun- aufgestanden, heute ein stadtbekann- Erst der SPIEGEL brachte Michael
gen unter Verschluss zu halten, aber ter Theaterchef und schwul, und habe und Klaus schließlich zusammen.
deshalb konnte er den Ballast auch Rollmann offen aufgefordert, sich als
nie loswerden. »Die Zeit am Bahnhof homosexuell zu outen. Schließlich sei Klaus: In den letzten Nächten habe
hat mein ganzes Leben geprägt.« der doch »ständig am Bahnhof«. Roll- ich nur noch von diesen Dingen ge-
Einmal, im Mai 2010, war er mal mann sei bleich geworden. Ihn selbst träumt. Es war falsch, es ist eine Be-
kurz davor, die Mauer einzureißen. kann man danach nicht mehr fragen, lastung für mich geworden. Ich denke:
Die Heimkinderkommission des Bun- er starb 2008. Bist du damals eigentlich verrückt ge-
des arbeitete sich gerade daran ab, Dafür Littmann, doch der lässt wesen? Ich kann mir gar nicht vor-
wie es früher in den Heimen zugegan- eine SPIEGEL -Anfrage unbeantwor- stellen, dass ich Sex mit einem 13-Jäh-
gen war. Mit Erziehern, die Sadisten tet; auch die Frage, ob und wie er sich rigen hatte, aber es ist ja passiert.
waren. Und Kinderseelen, die ihnen selbst an die Zeiten im Oldtime er- Michael: Ich erwarte keine Entschul-
ausgeliefert waren. Bera schrieb einen innert. Littmann gehörte zu denen, digung, ich bin froh, dass wir reden
Brief an Ole von Beust, den CDU- die 1980 auf dem Bundesparteitag der können.
Bürgermeister. Bera erzählte von Er- Grünen das Ziel verfolgten, Sex mit Klaus: Ich stehe dazu, ich kann es
ziehern, die ihn morgens um sechs Minderjährigen im Kern nur noch nicht rückgängig machen. Dazu muss
Uhr im Keller mit eiskaltem Wasser unter Strafe zu stellen, wenn Gewalt ich mich bekennen.
abgespritzt hätten, und anderen Straf- im Spiel ist. Michael: Vielleicht komme ich mir
aktionen in Hamburger Heimen. Was Bera anging, hatte die Stadt jetzt näher. Dass du mit mir redest,
An einer Stelle ging er weiter: einen weiteren wunden Punkt: Sie ist ein Geschenk. Dass ich nicht mehr
»Was macht ein Heimkind auf der habe ihn, so Bera, auch mal mit dem im Dunklen stehe. Im Dunklen zu
Flucht, das nichts zu essen hat? Es Betreuer Olaf R. auf eine erlebnis- stehen, mit sich allein, das ist das
friert sich den Arsch ab oder lässt sich Schlimmste.
selbigen von Männern aus der Wirt-
schaft, der Politik und der Arbeiter- Seine Stimme Nach dem Gespräch verlassen Mi-
schaft vergolden.« Hinter »Wirt- Als sich Michael Bera entschloss, dem SPIEGEL seine chael und Klaus das SPIEGEL -Haus
schaft« setzte er den Namen eines Geschichte zu erzählen, folgten Gespräche über viele Mo- gemeinsam. Sie sind noch nicht fertig;
bekannten Musikklubbesitzers. Und nate. Der SPIEGEL hat sich danach bemüht, die Angaben zu es sei noch zwei Stunden weiter-
hinter »Politik« den von Klaus. überprüfen. Vieles davon ließ sich bestätigen, durch Ge- gegangen, sagt Michael später. Die
Das Schreiben ging von Ole von spräche mit dem Täter »Klaus«, durch Beras Schriftwechsel beiden haben zu reden.
Beust – dem schwulen Bürgermeister, mit den Behörden; anderes bleibt wegen der zum Teil mehr Und nicht nur sie.
der mit 54 seinen späteren Mann ken- als 50 Jahre zurückliegenden Ereignisse seine Darstellung, Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch,
nengelernt hatte, als der noch Schü- seine Erinnerung – die Stimme eines Opfers. Andrea Müller n

42 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


DEUTSCHLAND

Ein Vertrag wurde aufgesetzt, eine


Leitung verlegt, zunächst in die Schu-
le, dann auch zu Privathaushalten.
Inzwischen sind 150 Haushalte an
das Wärmenetz angeschlossen, bei
Bedarf hilft eine zentrale Hackschnit-

Ganz weit vorn zelheizung.


Am Anfang gab es nur wenig
Nachfrage, erzählt der Bürgermeister,
»denn wir lagen preislich etwas über
ORTSTERMIN Fuchstal in Bayern hat die Energiewende fast schon dem Öl, deutlich über dem Gas«. Das
geschafft – gegen alle Widerstände. habe sich mit dem Krieg in der Ukra-
ine umgekehrt: »Momentan rennen
uns alle die Bude ein, ob sie nicht an-
rwin Karg beginnt die Dorftour geschlossen werden können.«
E bei den vier Windrädern im
Forst. Die grün-weißen Türme
ragen 149 Meter hoch in den Himmel,
400 bis 450 Haushalte sollen es
einmal sein, berichtet Karg auf der
letzten Station seiner Führung.
oben drehen sich die Rotoren träge Er schließt das Gitter zu einem Ge-
überm Nadelwald. »Zwischendurch lände mit einem Metallzylinder auf,
waren sie böse, weil sie angeblich 16 Meter hoch, daneben steht eine
unsere schöne Landschaft verschan- Batterie, so groß wie ein Schiffs-
deln«, sagt Karg. »Jetzt gelten sie container. Mit dem Strom aus den
wieder als gut.« Windrädern, der in Spitzenzeiten
Fuchstal, rund 4000 Einwohner, nicht ins Netz eingespeist wird, heizt
eine Autostunde westlich von Mün- die Gemeinde hier seit Kurzem Was-
chen im Landkreis Landsberg am ser für das Wärmenetz – die Anlage
Lech gelegen, ist zu einer Vorzeige- verbindet Windkraft und Wärme-

Simon Koy / DER SPIEGEL


gemeinde geworden, erst recht, seit erzeugung, worauf Bürgermeister
der Rest der Republik unter der Ener- Karg stolz ist.
giekrise ächzt. In seinem Bürgermeis- Und worauf sonst? »Dass wir es
terbüro sammelt Erwin Karg die Tro- ohne externe Investoren geschafft
phäen, den Deutschen Solarpreis, haben, dass das Geld im Dorf bleibt«.
den Deutschen Nachhaltigkeitspreis. Seine Verwaltung habe Fördermittel
Regelmäßig reisen Delegationen an, für einzelne Projekte aufgetrieben.
um von der kleinen Gemeinde zu ler- kraftanlagen« abzuringen. In Fuchs- Bürgermeister Karg Und wer als Bürgerin oder Bürger mit
nen, Bayerns Wirtschaftsminister Hu- tal hingegen liegen sie weit vorn, da vor der Heizanlage in der Gemeinde in die Windräder in-
bert Aiwanger von den Freien Wäh- drehen sich die Rotoren schon seit Fuchstal vestiert habe, freue sich jedes Jahr
lern war schon zweimal da. 2016, auch unter den alten Rahmen- über eine Ausschüttung. Für drei zu-
Karg, 59, parteilos, ein meinungs- bedingungen. sätzliche Windräder hätten nun statt
starker Ex-Polizist und Ex-Maschi- Karg und die anderen Verantwort- 115 schon 370 Teilhaber Anteile re-
nenbauer oft in Jeans und Lederjacke, lichen vor Ort setzen nicht nur auf serviert – eine kurze Mitteilung im
ist die treibende Kraft hinter der ört- Wind, sondern auch auf Sonne. »Ich Gemeindeblatt habe ausgereicht.
lichen Energiewende. Fuchstal hat sie muss immer schmunzeln, wenn ich Dabei gab es durchaus Widerstand
fast geschafft: Die Gemeinde produ- lese, wie andere Gemeinden jetzt die gegen die Windräder. Ein Bürgerbe-
ziert mit regenerativen Mitteln mehr ersten Dachsolaranlagen auf ihren gehren der Initiative »Wald-Wind-
Strom, als vor Ort verbraucht wird, Gebäuden beschließen«, sagt der kraft-Wahnsinn« konterte die Ge-
im Jahr 2030 will sie die Versorgung Bürgermeister. An diesem Punkt war meinde 2014 erfolgreich mit einem
mit Energie und Wärme vollständig seine Gemeinde schon 2006, da be- eigenen Ratsbegehren für die Wind-
allein stemmen. kam ein Feuerwehrhaus die ersten räder. Ein Streit mit der Nachbarge-
Ein Vorbild für die Republik? »Wir Module. meinde landete vor Gericht. Und
haben das gemacht, was alle hätten Mittlerweile sind fast alle öffentli- auch die Naturschutzbehörde hatte
machen können«, sagt Karg. »Seit chen Gebäude bestückt, bei der Orts- Einwände: Zersiedelung der Land-
dem Atomausstieg war klar, dass wir durchfahrt zeigt Karg nach links und schaft, Lärm, Störung der Tiere.
zehn Jahre Zeit haben, um den Strom rechts: die Grundschulen, die Mittel- Kommt künftig ein Rotmilan geflogen,
aus anderen Quellen zu produzieren.« schule, die Festhalle. Selbst eine teil- soll ein Wachsystem mit Kameras die
Umso mehr ärgert ihn, dass die CSU weise verfüllte Kiesgrube bedeckte »Momentan neuen Windräder für kurze Zeit ab-
2014 einen recht großen Mindestab- die Gemeinde mit Solarzellen, wei- schalten.
stand von Windkraftanlagen zu Sied- tere Freiflächenanlagen kamen hinzu. rennen uns alle In rund 15 Jahren kann Kargs Ge-
lungen vorschrieb. Das bedeutete für Die dritte Säule der Energiever- die Bude ein, meinde das örtliche Stromnetz vom
die Pläne vieler Kommunen das Aus. sorgung: die Biomasse. Ein Fischwirt Versorger zurückkaufen. Er selbst
»Da haben die Sitz gemacht vor und ein Landwirt betrieben gemein- ob sie nicht wird dann nicht mehr im Amt sein,
der Staatsregierung. Nur wir Fuchs- sam eine Biogasanlage und ärgerten angeschlossen aber seine Gemeinde möglicherweise
taler, wir sind weitergelaufen«, sagt sich, dass die freigesetzte Wärme ein- werden endgültig autark. Erwin Karg sagt:
Karg. Die CSU-Landtagsfraktion fach verpuffte. Gemeinsam mit der »Das europäische Stromnetz kann
brauchte bis vor wenigen Tagen, um Gemeinde fassten sie den Plan, damit können.« dann zusammenbrechen, aber Fuchs-
sich ein Bekenntnis zu »verbesserten die Mittelschule zu heizen, 1,7 Kilo- Erwin Karg, tal steht.«
Rahmenbedingungen für neue Wind- meter von der Biogasanlage entfernt. Kommunalpolitiker Jan Friedmann n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 43


DEUTSCHLAND

sich Forschende in Büchern und Ausstellun-


gen erstmals umfassend jenen einschneiden-
den Monaten, die zwar lange vergessen schie-
nen, im kollektiven Unterbewusstsein der
Deutschen aber fortlebten.
Vor allem die Angst vor Inflation sitzt bis
heute tief. 67 Prozent der Bundesbürger hal-
ten die steigenden Lebenshaltungskosten mit
Abstand für die größte Gefahr, wie eine Um-
frage 2022 ermittelte. Das ist eine deutsche
Besonderheit, denn obwohl die Preise in
Nachbarländern ähnlich steil ansteigen, sor-
gen sich in Dänemark oder den Niederlanden
deutlich weniger Menschen um die Inflation.
Auch der Kampf um Rohstoffe verbindet
damals und heute. Während jetzt der russi-
sche Angriffskrieg auf die Ukraine einen Kon-
flikt ums Gas entfacht hat, wurde 1923 um
Kohle gekämpft. Nach dem Ersten Weltkrieg
arbeiteten die Zechen des Reviers weiter,
doch Reichsregierung und Ruhrbarone liefer-
ten nicht genug an Frankreich, obwohl der
Versailler Vertrag sie dazu verpflichtete.
Der westlichen Siegermacht ging es
schlecht. Die deutsche Armee hatte weite Tei-

ullstein bild
le Frankreichs verwüstet, es fehlte Geld für
den Wiederaufbau. In den Morgenstunden
Französische Soldaten vor dem Essener Hauptbahnhof: »Alles auf Schikane angelegt«
des 11. Januar besetzten französische und bel-
gische Einheiten das Ruhrgebiet bis Dort-
mund. Erst strampelten Soldaten auf Fahr-
rädern über die Grenze, dann folgten Panzer.
Bis März marschierten 100 000 Soldaten ein.
Sie weckten Befürchtungen vor einem be-

Das deutsche Horrorjahr waffneten Konflikt. Reichskanzler Wilhelm


Cuno rief die Menschen an der Ruhr zum
passiven Widerstand auf. Beamte, Lokführer
und Bergarbeiter streikten.
ZEITGESCHICHTE Vor hundert Jahren zerrissen mehrere Krisen zugleich »Die Ruhrindustriellen unterstützen den
Widerstand, weil er ihnen nutzte«, sagt Theo
die Republik. Inflation und eine schwache Regierung stärkten die Grütter, Direktor des Essener Ruhr Museums.
Feinde der Demokratie. Jetzt zeigen Historiker erstaunliche Parallelen »Sie mussten faktisch keine Gehälter mehr
zu heute auf – und was sich aus 1923 lernen lässt. zahlen.« An einem Dienstag vor wenigen Wo-
chen eilt Grütter durch die ehemalige Zeche
Zollverein, wo seine Leute eine Schau zur
as Ehrenmal für die Opfer der »Dort- Tonnen Kohle ab – weil Deutschland Repa- Ruhrbesetzung aufbauen. Gerade verfrachten
D munder Bartholomäusnacht« im West-
park ist nicht zu übersehen. Über
einem Granitkubus ragen sechs Eisenkreuze
rationen nach dem Ersten Weltkrieg nicht
pünktlich gezahlt habe.
Die Invasion markierte den Auftakt zum
sie ein Maschinengewehr vom Typ Hotchkiss
M1914, französisches Standard-MG aus dem
Ersten Weltkrieg, in eine Vitrine.
in den Himmel. Davor liegen verwitterte deutschen Schicksalsjahr 1923. Was folgte, »Die Franzosen platzierten die Gewehre
Grabsteine. An einem Morgen im Dezember waren zwölf Monate Polykrise, wie Forschen- auf den Straßen und Plätzen der Ruhrmetro-
hasten ein Jogger und ein Gassigeher an dem de die Gleichzeitigkeit mehrerer schwerer polen«, sagt Grütter. »Und manchmal schos-
Monument vorbei. Krisen heute nennen. Sie trafen die junge sen sie auch scharf.« 109 Menschen starben
»Watt, Bartholomäusnacht? Nie gehört«, Weimarer Demokratie mit voller Wucht: Eine durch die Ruhrbesetzung im Jahr 1923. An
sagt der Gassigeher auf Nachfrage. Der Jogger Hyperinflation, verursacht vor allem durch Karsamstag etwa tötete ein französisches
ruft im Vorbeilaufen: »Keine Ahnung, watt die hohe Staatsverschuldung infolge des Welt- Kommando in Essen 13 Krupp-Beschäftigte.
datt is.« Die grünlich verfärbte Inschrift ist kriegs, stürzte Millionen ins Elend. Ein Pulk von Arbeitern hatte die Soldaten in
nur schwer zu entziffern. Gewidmet ist das Die Ruhrbesetzung beschleunigte das Fias- Bedrängnis gebracht. Bald darauf folgte die
Denkmal »sechs Dortmunder Bürgern«, die ko, schwächte die Regierung in Berlin, rechts- »Bartholomäusnacht«. Die Opfer hatten eine
am 10. Juni 1923 »als schuldlose Opfer der und linksextreme Kräfte witterten ihre Chance. Ausgangssperre missachtet.
französischen Besatzung niedergeschossen« Doch auch in der Reichswehr planten Gegner Die Besatzungstruppen ließen keinen
wurden. Zuvor hatten Unbekannte zwei fran- der Republik den Umsturz. Der Weg in die Zweifel daran, wer das Sagen hatte. »Die Bett-
zösische Feldwebel getötet. Diktatur stand weit offen. Nur durch Glück wäsche versaut, die Tischtücher voll von Rot-
Das Monument erinnert an die französi- kam es nicht zu einem Bürgerkrieg. wein- und Fettflecken, eingesessene Rohr-
sche Besatzung des Reviers vor genau hundert Jahrzehntelang wurde das Drama von His- stühle, verkrempelte und von den Hunden
Jahren: Im Januar 1923 marschierte Frank- torikern und Öffentlichkeit kaum beachtet. beschmutzte Sofas«, empörte sich ein Guts-
reichs Armee in die entmilitarisierte Indus- Das Jahr 1933 und der Machtantritt Adolf besitzer nahe Dortmund, der den Franzosen
trieregion ein, besetzte sie zweieinhalb Jahre Hitlers überschatteten die Ereignisse zehn sein Anwesen zur Verfügung stellen musste.
lang und transportierte Hunderttausende Jahre zuvor. Nun, zum Jubiläum, widmen »Alles auf Schikane angelegt und berechnet.«

44 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


DEUTSCHLAND

Die Folgen des Ruhrkampfs trau- besetzung hatten nationalistische Hitler das eigene Lager: Im Münchner
matisierten das ganze Land. Rund Kreise die Republik bekämpft und Bürgerbräukeller rief er die »natio-
eine Billion Mark kostete der passive Politiker ermordet. Nun, nach dem nale Revolution« aus.
Widerstand die Staatskasse pro Mo- französischen Einmarsch ins Ruhr- Hitler war zu voreilig. Denn jetzt
nat. Nicht nur die Gehälter der Strei- gebiet, sabotierten Rechtsextreme stellte sich der bayerische General-
kenden mussten kompensiert wer- den Abtransport von Kohle nach staatskommissar, der selbst den Sturz

Lars Berg / DER SPIEGEL


den. Die Reichsregierung bezahlte Frankreich mit Anschlägen auf Bahn- der Reichsregierung geplant hatte,
auch Arbeitslosengeld und leistete strecken, Brücken und Kanäle. gegen ihn und ließ den Putsch nieder-
Finanzhilfen für Post und Reichsbahn. Offiziell entsprach dieser »aktive schlagen. Womöglich war es ausge-
Schon seit Kriegsende und Revo- Widerstand« nicht der Politik der rechnet Hitler, der mit seinem Vor-
lution von 1918 hatten die Preise in Berliner Regierung, aber heimlich preschen verhinderte, dass rechtsex-
Deutschland stetig angezogen, nun unterstützte sie die völkischen Grup- treme Eliten den Parlamentarismus
stieg die Staatsverschuldung immer »1923 war ein pen mit Geld. Doch der Schulter- schon 1923 zerstörten.
höher. Rund 130 Notendruckereien schluss mit den Antidemokraten er- So blieb die Regierung Stresemann
des Reichs produzierten immer mehr Trauma, aber wies sich als Fehler. Als die Regierung im Amt und bremste nur eine Woche
Geldscheine – ihr Wert verfiel umso es kann uns – inzwischen geführt von Gustav nach dem Putschversuch mit einer
rasanter. Im Juli 1923 war ein Dollar auch Hoffnung Stresemann – im September 1923 den Währungsreform die Inflation. Das
350 000 Mark wert, Ende September passiven Widerstand wegen der de- Ruhrgebiet blieb noch zwei weitere
schon 100 Millionen. geben.« saströsen Wirtschaftslage aufgab, wit- Jahre besetzt. »Die Franzosen hatten
Rund 21 Millionen Mark pro Wo- Theo Grütter, terten Rechtsextreme Vaterlandsver- inzwischen den Zugverkehr im Ruhr-
che brauchte eine vierköpfige Familie Museumsdirektor rat und riefen zum Umsturz auf. gebiet unter Kontrolle gebracht, in-
im Herbst 1923 für den ganz norma- »In Millionen von Köpfen stand dem sie eigene Lokführer einsetz-
len Alltag. Am 19. November kostete damals plötzlich hell und klar die ten«, sagt Museumschef Grütter.
ein Kilo Rindfleisch in Berlin 4800 Überzeugung, dass nur eine radikale »Deutsche Eisenbahner im passiven
Milliarden Mark. Verzweifelt ver- Beseitigung des ganzen herrschenden Widerstand waren zum Teil ausge-
suchten die Menschen, über die Systems Deutschland würde retten wiesen worden.«
Runden zu kommen. Selbstmorde können«, schrieb Adolf Hitler später Andere bezahlten die Rebellion
nahmen zu. über den Herbst 1923. Ausgehend von mit dem Leben. Davon zeugt eine
Druck und Hektik bestimmten das Bayern, das sich als »Ordnungszelle« verwitterte Steintafel an einem Bahn-
Leben vieler, Werte wie Sparsamkeit gegen die angeblich sozialistische übergang in Dortmund-Löttringhau-
verloren ihren Sinn. »Wir versaufen Politik der Reichsregierung verstand, sen. Kaum noch lesbar ist der Name
unser Oma ihr klein Häuschen. Und bildete sich eine Verschwörung gegen des von den Franzosen hier erschos-
die erste und die zweite Hypothek«, die Weimarer Republik. senen Weichenwärters, der 1923 »im
sangen die Deutschen in einem Gas- Knotenpunkt des Komplotts war Ruhrkampf in Erfüllung seiner Pflicht
senhauer. »Das Leben wurde zu München. In seinem Band »Außer als Opfer der Besatzung« fiel.
einem Wettlauf, die frisch gedruckten Kontrolle. Deutschland 1923« zeich- Der Schatten von 1923 war lang.
Banknoten auszugeben, ehe das Ein- net der Historiker Peter Longerich Er reichte nicht nur bis 1933, dem
treffen der nächsten Serie von Geld- nach, wie hohe Militärs, Politiker und Jahr, als Deutschnationale ihren Plan
scheinen mit noch mehr Nullen sie Wirtschaftsleute in konspirativen verwirklichten, Hitler an die Macht
nutzlos machte«, so der Historiker Treffen den Übergang in eine Dikta- brachten und die Demokratie besei-
Mark Jones in seinem Buch »1923. tur planten. Neben NSDAP-Anführer tigten. Er reicht bis heute in die kol-
Ein deutsches Trauma«. Hitler mischte auch Erich von Luden- lektive Psyche der Deutschen. Man
Profiteure der Situation waren dorff mit, General des Ersten Welt- kann die Angst vor Instabilität und
jene, die Sachwerte besaßen, viele kriegs, der 1920 am sogenannten Inflation schon sehr deutsch finden.
Schulden hatten, Erfolg bei Börsen- Kapp-Putsch beteiligt gewesen war. Andere Nationen scheinen derglei-
spekulationen oder Zugang zu Devi- Kinder beim Spielen »Die Deutschnationalen und die chen gelassener zu nehmen, man
sen. »Der Mülheimer Industrielle mit wertlosem Deutschvölkischen rüsten zum ge- muss nur einmal nach Italien schauen.
Geld 1923, Tapezieren
Hugo Stinnes war der König der In- mit Banknoten:
meinsamen Umsturz«, warnte die Vielleicht aber hat es auch damit
flation«, sagt Direktor Grütter beim Die Folgen trafen jeden »Vossische Zeitung« am 5. November zu tun, dass die Deutschen eben der
Gang durch die Essener Ausstellung und jede 1923. Drei Tage später überrumpelte Stabilität der Demokratie nie ganz
zur Ruhrbesetzung. »Er lieh sich getraut haben. Auch das ist eine Er-
günstig Geld und investierte in Unter- fahrung, deren Wurzeln nach 1923
nehmen und Immobilien.« So wurde reichen. Eine zentrale Lehre zieht
er zum reichsten Mann Europas. Historiker Longerich deshalb aus den
Übergewinne einiger weniger, die Ereignissen von damals: »Es ist ent-
von der Krise profitieren, während scheidend, dass sich die Parteien der
die Mehrheit verliert – auch das klingt Mitte früh und entschieden gegen alle
100 Jahre später wieder vertraut. In Kräfte stellen, die das demokratische
Zeiten des Ukrainekriegs fahren System infrage stellen.«
Energiekonzerne Rekordgewinne ein, »1923 war ein Trauma, aber es
während Menschen mit niedrigem kann uns rückblickend auch Hoff-
Einkommen wegen der gestiegenen nung geben«, sagt Grütter. Er zeigt
Hulton Archive / Getty Images
Three Lions / Getty Images

Heizkosten nicht wissen, wie sie über auf ein Propagandaplakat von 1923,
die Runden kommen sollen. das Franzosen als Monster darstellt.
1923 profitierte neben den Indus- Dann sagt er: »Heute ist die deutsch-
triemagnaten noch eine Gruppe von französische Zusammenarbeit der
der Krise: Demokratiefeinde, vor al- Motor Europas.«
lem von rechts. Schon vor der Ruhr- Felix Bohr, Eva-Maria Schnurr n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 45


8 Prämien zur Wahl
Jetzt eine neue Leserin oder einen neuen Leser
werben und Ihre Prämie sichern!

TechniSat DIGITRADIO 370 CD BT Le-Creuset-Pfannenset, 2-teilig


DAB+/UKW-Stereoradio mit CD-Player, Audiostreaming Für alle Herdarten geeignet, mit großen Bratflächen.
per Bluetooth und USB-Anschluss. Ohne Zuzahlung. Größen: 24 und 28 cm. Ohne Zuzahlung.

€-160-Amazon-Gutschein € 160,– Prämie


Bei Bestellung bis 6.2.2023 erhalten Sie einen Bei Bestellung bis 6.2.2023 erhalten Sie € 160,–
Gutschein über € 160,– für Bücher, DVDs und mehr. als Prämie. Schnell sichern!
reisenthel-Carrycruiser
Allround-Genie für den täglichen Einkauf. Mit Tragegurt und Teleskopstange.
Maße: ca. 42 × 33 × 45 cm. Volumen: 40 l. Farbe: schwarz/dots. Ohne Zuzahlung.

Einfach jetzt bestellen:


abo.spiegel.de/p23
oder telefonisch unter:
040 3007-2700
SP23-102

KitchenAid-Küchenmaschine DER SPIEGEL zum Vorzugspreis


Küchenhelfer mit 4,28-Liter-Schüssel und vielen von nur € 5,60 statt € 6,10 im
Extras. Maße: 35 × 35 × 22 cm. Zuzahlung: € 229,–. Einzelkauf.
WHATSAPP
REPORTER
»Schaffen sich die
blauen Häkchen ab,
Herr Montag?«
SPIEGEL: Immer mehr Messen-
ger-Nutzer schalten die Lese-
bestätigung bei WhatsApp aus.
Was sind die Gründe?
Montag: Ein möglicher Grund
ist, dass jemand unter dem so-
zialen Druck leidet, antworten
zu müssen. Für andere hat es
eher mit Privatsphäre zu tun.
SPIEGEL: Deckt sich dieser Ein-
druck mit Ihren Daten?
Montag: Wir haben vorläufige
Daten aus einer eigenen Stu-
dienplattform mit mehr als
3200 Teilnehmenden. Wir woll-
ten wissen, wie viele davon die
Lesebestätigung deaktiviert ha-
ben, es sind etwa 33,5 Prozent.
SPIEGEL: Das sind nicht so viele.
Montag: In Relation schon,
wenn man bedenkt, dass viele
Nutzende sich nicht gern um
Systemeinstellungen kümmern.
SPIEGEL: Und sie verlieren
etwas. Sie erkennen umgekehrt
nicht mehr, ob andere ihre
privat

Nachricht gelesen haben.


Montag: Eine Funktion, die
vielen Menschen wichtig ist.

Bohnensuppe, 1971 SPIEGEL: Wer neigt dazu, die


blauen Häkchen auszustellen?
Montag: Ich gehe davon aus,
dass es Menschen sind, die so-
FAMILIENALBUM Zija Topali, 71, aus Fulda wieso sensibel auf diese Art von
Designelementen reagieren,
as Foto stammt aus dem Jahr 1971. Ich dien- Er war sehr nett zu uns einfachen Soldaten. Wenn häufig Personen, die vermehrt
D te als Feldjäger in der jugoslawischen Ar-
mee. Auf dem Foto stehe ich in der oberen
Reihe, Vierter von rechts. Ich war damals 20 Jahre
er mal eine Orange oder Banane hatte, warf er sie
jemandem zu und sagte: fang! Eines Tages sollte
ich ihm serbische Bohnensuppe bringen. Er hat
zu negativen Emotionen neigen.
SPIEGEL: Welche Menschen
reagieren besonders schnell auf
alt. Vor mir sitzen die Schauspieler Richard Burton zwei Teller verschlungen und meinte, so etwas Fei- die blauen Häkchen?
und Elizabeth Taylor, rechts davon eine Über- nes habe er in seinem Leben noch nicht gegessen. Montag: Das ist abhängig von
setzerin. Die übrigen Männer waren Soldaten der Als die Dreharbeiten beendet waren, spendier- der sozialen Nähe: Je enger
jugoslawischen Armee, die auch in dem Film mit- te er den Soldaten drei Millionen Dinar für ein Menschen mit jemandem sind,
spielten. Das Foto stammt aus einer Drehpause zu Abschiedsessen, rund 25 000 Euro, das war eine desto schneller antworten sie.
dem Film »Die fünfte Offensive«; es geht um den Menge Geld. 1973 wurde der Film veröffentlicht, SPIEGEL: Bedeutet umgekehrt …
Partisanenkrieg der Jugoslawen unter der Führung ich arbeitete zu der Zeit in einer Fabrik, die Auto- Montag: … je unwichtiger
des späteren Staatschefs Tito gegen Hitlers In- teile für Fiat herstellte. Es war eine gute Arbeit, jemand für jemanden ist, desto
vasion. Der Film zeigt die Kesselschlacht an der aber dann kam ein neuer Chef, der plötzlich ver- später erhält er Antwort.
Sutjeska im Südosten Bosniens, die damals die Wen- langte, dass wir alle albanisch reden. SPIEGEL: Innerhalb von Bezie-
de für die Jugoslawen war. Richard Burton spielte Das war mir zu viel, und ich ging nach Deutsch- hungen teilen blaue Häkchen
den Tito. Gedreht wurde an den Originalschau- land. Ich arbeitete sechs Jahre lang auf dem Bau mit: Ich sehe dich. Ohne Häk-
plätzen, wir waren da in Bosnien nahe Foča. und verlegte Estrich, ich lernte das Land kennen, chen wird der andere unsicht-
Burtons Ehefrau, Elizabeth Taylor, residierte in wir waren jeden Tag woanders. Später machte bar. Bringt das Ärger?
einem Luxushotel in Dubrovnik und wurde regel- ich eine Lehre zum Zahntechniker. In diesem Beruf Montag: Wenn Menschen Häk-
mäßig mit dem Hubschrauber zu den Drehorten arbeite ich noch heute, neben meiner Rente auf chen einsetzen, um zu sehen,
eingeflogen. Sie spielte allerdings in dem Film 520-Euro-Basis. Den Film von damals habe ich mir was bestimmte Personen tun,
nicht mit. Richard Burton selbst übernachtete in zigmal angesehen, schon deshalb, weil ich schauen muss man sich fragen, ob da
einem Promi-Zelt, und meine Aufgabe war es, wollte, ob ich nicht doch zufällig irgendwo auftauche. nicht anderes im Argen liegt. BHA
ihn im Beiwagen einer BMW zu den Schauplät- Aufgezeichnet von Barbara Hardinghaus
zen zu fahren. Burton brauchte, um für die Film- Christian Montag, 45, ist Leiter
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre
aufnahmen fit zu sein, jeden Tag einen halben Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: der Abteilung Molekulare Psycho-
Liter Wodka und einen halben Liter Whiskey. familienalbum@spiegel.de logie an der Universität Ulm.

48 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


das jetzt vor in ihren Pantoffeln, steht
auf, hüpft den Hampelmann.
Sie hat auf Kohlenhydrate ver-

Vier Sterne, zichtet in all den Jahren, dabei isst


sie gern Pommes. Ist früh ins Bett
gegangen, während andere noch fei-

Nichtraucher, ruhig erten. Ihr Mann sagt, ihre ersten


Eigenschaften seien Gutmütigkeit
und Disziplin.
Sie hat jeden Tag das Singen geübt.
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Nach einem halben Jahrhundert Sie hat auch am Vorabend viel ge-
als Schlagersängerin möchte Ireen Sheer endlich auf die Couch. sungen, Jazz, Rock ’n’ Roll. Eine Band
spielte. Sie habe entertaint, sie habe
die Gäste wirklich unterhalten. Das
ie weißen Lilien stehen in Zel- Manchmal fuhren sie auch in der »Ab jetzt wird meint sie mit: Es war wie früher.
D lophan in einer Vase auf dem
Boden. In der Ankleide hängt
ihr Outfit vom Vorabend, ein Anzug
Nacht noch zurück nach Hause, das
lange in Tirol, in Ellmau, lag. Sie park-
ten im Hellen auf dem Hof, frühstück-
gelebt!!!«,
schreibt sie
Früher ist sie oft mit einem Or-
chester aufgetreten, Tänzern, sie trug
Kleider, die üppig waren und edel.
im Leoparden-Look und ein schwar- ten und gingen schlafen. auf Instagram. Stieg die Showtreppe hinab, sang im-
zer Jumpsuit mit Glitter, auf links ge- Bis zu 200 Auftritte im Jahr, 750 mer live. Seit einigen Jahren kommt
kehrt, weil sie so geschwitzt habe. Lieder, das, so sagt ihr Mann, sei die Musik vom Band, die Künstler
Es war ihr letzter Abend, ihr letz- ihre Bilanz. Dreimal sang sie beim singen im Halbplayback; einer trete
ter Auftritt, das Ende ihrer Karriere Eurovision Song Contest, einmal für nach dem anderen auf, ein Lied dür-
seit einem Gesangswettbewerb vor Deutschland. Damals hieß der Con- fe nicht mehr länger als drei Minuten
61 Jahren, als sie 12 Jahre alt war. test noch: »Grand Prix Eurovision de dauern. Es gehe kaum noch um den
Mittlerweile ist Ireen Sheer 73. la Chanson«, in der alten Welt. Gesang, nur noch um Stimmung.
Sie sitzt am Esstisch in einer oberen Damals sang sie vor ihrem Auftritt Am Tisch sagt sie, sie könne das
Etage eines breiten Altbaus in Berlin- für Deutschland, 1978, noch bei gut, loslassen. Sie habe Glück, auf-
Wilmersdorf. Sie hat etwas Zeitloses, Joachim Fuchsberger in der Sendung hören zu dürfen. Man muss sich die
ist noch schmal, noch mädchenhaft, »Auf los geht’s los«. 18 Millionen Schlagerrente auch leisten können.
mit langen, braunen Haaren. Menschen sahen ihr in der ARD zu. Sie feiert Geburtstage mit Roland
Im Wohnzimmer reden ihr Bruder Ihr Titel hieß »Feuer« (brennt nicht Kaiser, telefoniert mit Patrick Lind-
und ihr Neffe, die aus England da nur im Kamin). Sie trug einen weißen ner, schreibt SMS mit Mary Roos. Sie
sind, wo Sheer im Südwesten geboren Hosenanzug, sie bewegte sich leicht, wurden Weggefährten, verstanden
wurde, in Essex, als Tochter eines fröhlich, freundlich, stark. Das war einander, vielleicht auch ihr Leid.
englischen Vaters, einem Postboten, ihr Versprechen an die Leute: Das Mary Roos’ größter Hit war »Ari-
und einer Mutter aus Düsseldorf. Leben besteht aus mehr als nur All- zona Man«. Vicky Leandros’, Jahr-
Ihr Bruder wollte seine Schwester tag, Familie und Arbeit. gang 1952, »Ich liebe das Leben«. Sie
noch einmal auf der Bühne sehen, Am Esstisch in der Altbauwoh- haben alle etwas hinterlassen, das
vier Stunden hat die Show gedauert nung erzählt sie weiter aus ihrem vermutlich sie selbst überleben wird.
im Meistersaal in Berlin-Mitte. Freun- eigenen Leben. Sie nahm Trauben- Ihre Versprechen gelten noch. Was ist
de waren da, Roland Kaiser, Mary zucker vor dem Auftritt, wenn sie mit ihren eigenen Leben?
Roos, Cindy Berger von Cindy & Bert. müde war. Sie machte Gymnastik, 50 Sheer auf der Bühne,
Ireen Sheer wird am nächsten Tag
»Xanadu« hat Ireen Sheer gesungen »Jumping Jacks«, an Tagen, an denen Screenshot von der den Koffer packen. Sie wollen nach
und »Heut’ Abend hab’ ich Kopf- sie sich eher schlapp fühlte. Sie macht Website Bunte.de Namibia und Südafrika, bis Ostern.
weh«, ihren wohl größten Hit. Sie waren noch nie so lange verreist.
Sie sagt am Tisch, im schlichten Früher hat das Packen vor großen
blauen Wollpulli, es sei gestern noch Reisen eine Woche gedauert. Sie hat
einmal fast wie früher gewesen. Nach alles vorher anprobiert. Eine Hose
dem Auftritt habe sie noch ein Glas kann anders sitzen mit zwei Pfund
Bier getrunken, erschöpft, aber auch mehr. Für diesen Urlaub packt sie
erleichtert, dass es zu Ende ist. Sommerkleider ein, weit und leicht.
Es ist ja oft so eine Sache mit dem Sie möchte essen, Wein trinken, ans
Aufhören nach Schlagerkarrieren: Meer gehen. Wenn sie zurück ist,
Viele hören erst auf, wenn sie krank davon träumt Ireen Sheer, möchte
sind, wie Jürgen Drews. Oder sie sa- sie am Abend einfach auf der Couch
gen, sie machen Schluss, und machen sitzen und fernsehen, wie andere
weiter wie Howard Carpendale. Oder auch.
sie klingen einfach aus wie Bata Illic. »Ab jetzt wird gelebt!!!«, schreibt
Christian Schroedter / IMAGO

Ihr zweiter Mann Klaus, der auch sie auf Instagram vor ihrer Reise.
ihr Manager ist, sitzt neben ihr, rund, Bei ihrem Auftritt im Meistersaal
mit grauem Vollbart. Sie haben die sang sie auch den Gospelsong »Ama-
letzten zwei Jahrzehnte gemeinsam zing Grace«, sie stand da in ihrem
verbracht, sie sagen, sie saßen in man- Leoparden-Look. Sie hat den Song
chen Jahren bis zu 80 000 Kilometer a cappella gesungen, ganz ruhig und
im Auto, standen in Staus, übernach- fast leise, und sie sagt, kein Song sei
teten in Hotels, mindestens vier Ster- so sehr sie selbst wie dieser.
ne, ruhig, Nichtraucher. Barbara Hardinghaus n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 49


REPORTER

Am Himmel über Kiew


HOFFNUNGImmer wieder greift die russische Armee die ukrainische Hauptstadt mit Raketen,
Cruise Missiles und Drohnen an. Sie zerstören Wohnhäuser, töten Zivilisten.
Ein Oberst und sein Bataillon sollen die Angreifer abfangen. Haben sie eine Chance? Von Max Polonyi

ies sei eine Stadt voller Friedhöfe, sagt macht und eine Tokarew-Pistole im Schulter- ten. Auf die Ladeflächen der Trucks sind Sta-
D der Oberst, bremst den Geländewagen
am Außenposten neben einem Feld, in
dem Grabsteine so eng stehen wie Maispflan-
holster trägt. Er ist 52 Jahre alt und 1,90 Meter
groß, ein freundlicher Riese mit Boxernase und
weichen Händen. Er stapft durch den Matsch.
tive für Maschinengewehre und Suchschein-
werfer geschweißt, die Gewehre zeigen schräg
Richtung Himmel. Der Auftrag der Soldaten
zen im August, springt aus dem Fahrersitz Sein Kampfname ist »Skif«. Skif ist Ukrai- ist es, die Menschen in Kiew vor Luftangriffen
und landet im Matsch. Tagelang hat es ge- nisch für Skythe. Die Skythen waren ein Rei- zu schützen.
regnet und geschneit. Jetzt taut auf den tervolk, das im sechsten Jahrhundert vor
Gräbern der Schnee. Christi die Krim besiedelte und von dem über- Menschen wie Wiktorija und ihren Mann Boh-
Hier, einige Kilometer vor Kiew, an einem liefert ist, dass sich die Angehörigen das Ge- dan, 34 Jahre alt. Die Geschichte erzählen sich
Ort, der aus Sicherheitsgründen nicht genannt sicht zerschnitten, wenn sie trauerten. Seinen viele in der Stadt, raunen sie sich zu, wenn sie
werden darf, sind viele Straßen wegen des richtigen Namen darf man nicht schreiben. an dem gelben Haus in der Schylianska-Straße
Schlamms nur mit Allradantrieb passierbar. »Stillgestanden«, schreit der Oberst. 116 vorbeigehen, im Zentrum Kiews. Es war
Hier liegen acht Checkpoints und die Basis des Er zündet sich eine Zigarette an und mus- eine Jugendliebe, so erzählen es Freunde. Bei-
242. Bataillons. Im 242. dienen die Männer des tert sein Bataillon: 25 Mann vor Pick-ups. Sie de stammten aus Riwne im Westen des Landes,
Obersts. Sie kontrollieren den Luftraum über schweigen und schauen zu Boden, halten sollen dieselbe Schule besucht und 2019 ge-
300 Quadratkilometern nahe der Hauptstadt. Sturmgewehre, manche wühlen Patronen- heiratet haben. Es gibt Fotos davon, er im dun-
Der Oberst ist ein Mann, der vor dem Früh- gurte aus Munitionskisten, andere prüfen die kelblauen Anzug, sie mit weißem Blazer. Im
stück 200 Liegestütze und 100 Klimmzüge Zielvorrichtung ihrer Strela-Flugabwehrrake- April 2022 wurde Wiktorija schwanger. Am
Julia Kochetova / DER SPIEGEL (2)

1 | Soldat des 242. Bataillons an einem Checkpoint östlich von Kiew


2 | Zerstörtes Haus in Kiew nach Luftangriff 3 | Ukrainische Soldaten
1 mit Flugabwehrraketen 4 | Waffen des 242. Bataillons
5 | Oberst »Skif«

50 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


REPORTER

17. Oktober 2022 um 8.18 Uhr soll sie und seine Tochter ist längst verheira- si und bedeutet Zeuge. Man kann die
ihre letzte Nachricht geschickt haben, tet. Die beiden bräuchten ihn nicht Drohnen riechen. Jeder, den man in
als sie Explosionen gehört habe. Sie, mehr, sagt der Oberst. Kiew fragt, erinnert sich an ihren Ge-
ihr Mann und ihr ungeborenes Kind Weil er nichts zu verlieren habe, ruch. Er sei wie eine Mischung aus
starben an diesem Morgen des 17. Ok- sei er immer vorn mit seinen Sol- verschmortem Kabel und Tankstelle.
tober 2022, als eine iranische Drohne daten, wenn er an der Front ist. Die Sie seien laut, sagen alle. Wie eine
in ihr Haus flog und explodierte. Männer lieben den Oberst. Er schreit kaputte Kettensäge. Oder wie ein Mo-

Ian Whittaker / ddp


sie an, manchmal schubst er sie, der ped mit frisiertem Motor.
Der Oberst steht auf dem Feld und Oberst könne sehr, sehr wütend Shahed-136 sehen aus wie Papier-
betrachtet den Himmel. Der Himmel werden, sagen seine Männer, dann flieger mit zweieinhalb Meter Flügel-
ist grau und leer, es nieselt. Skif scherzt er mit ihnen und legt ihnen spannweite, sie wiegen 200 Kilo-
kannte Wiktorija und Bohdan nicht, väterlich die Hand auf die Schultern. gramm und tragen bis zu 50 Kilo
Einzelteile einer
aber er kennt die Geschichten, die zerstörten Drohne Wenn es Soljanka gibt, isst er immer Sprengstoff. Die 131er sind etwas
sie von den Toten in der Stadt erzäh- als Letzter. Ein guter Anführer esse kleiner. Manche beschreiben die
len, die Fotos, die sich die Soldaten nach seinen Soldaten, sagt der Oberst. Drohnen als einen Schwarm am Him-
auf den Telefonen zeigen, von zer- Alles Russische, was über das Plan- mel, dicht gedrängt wie Krähen, aber
schossenen Wohnungen und ver- quadrat der 242. fliegt, müssten sie das trifft es nicht. Schwärme sind in-
brannten Körpern. Der Oberst und abschießen. Wehe, wenn sie ein Ziel telligent, sie können untereinander
seine Männer sind für die Lebenden verfehlten, sagt der Oberst. An der kommunizieren. Shahed sind eher
verantwortlich. Jeder Tote sei einer Front konnte er den Feind sehen, es wie Herden aus Einzelgängern am
zu viel. Er fürchtet den Tag, an dem waren Soldaten – wie er. Soldaten Himmel. Es sind benzinbetriebene,
es heißt, er habe versagt. müssen essen und schlafen, sie können fliegende Vierzylindermotoren. Es
Er sagt, militärische Auszeichnun- fühlen und haben Angst. Der neue heißt, alle Teile, bis auf den Spreng-
gen bedeuteten ihm nichts, man müsse Feind des Obersts kennt keine Angst. stoff, seien im Baumarkt und im Elek-
ein Anführer sein. Er weiß nicht, wann Er ist unsichtbar zu Beginn, man trohandel frei erhältlich.
er das letzte Mal richtig geschlafen hat. hört ihn, bevor man ihn sieht. Er kann Seit dem 17. Oktober greift Russ-
Er steht jeden Tag um fünf Uhr auf, überall auftauchen, zu jeder Zeit. Er land ukrainische Städte nicht nur mit
macht seine Liegestütze und duscht, kommt wie bei Wiktorija und Bohdan Raketen und Marschflugkörpern, son-
während seine Männer noch schlafen. oft in hoher Zahl und in Dreiecksfor- dern auch mit diesen iranischen Ka-
Auch er hatte einmal eine Frau. mation, tieffliegend. Es sind Drohnen mikaze-Drohnen an. Die Drohnen-
Auch er hat mal mit einer Tochter aus iranischer Produktion, ihre Ty- angriffe sind für den Oberst und die
gespielt. Aber seine Frau hat ihn ver- penbezeichnungen lauten Shahed-131 Menschen, die er beschützen soll, eine
lassen, weil er immer unterwegs war, und Shahed-136. Shahed, das ist Far- neue Eskalation des Krieges. Nie-

Julia Kochetova / DER SPIEGEL (3)

4 5

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 51


REPORTER

mand könne sich verstecken, zu kei- viele Wege, sie zu bekämpfen, Flug-
ner Zeit, nirgendwo, das ist die Bot- Die Kamikaze-Drohne Motor mit Propeller- abwehrraketen wie die Strela, aber
antrieb, 1000 bis
schaft aus Moskau an ihn, an alle im 2000 km Reichweite, auch Signalstörer und die deutschen
Die von Russland
Land. Das Weiße Haus in Washington verwendete iranische 185 km/h Höchst- Gepard-Flakpanzer. Am besten funk-
nennt den Einsatz der Drohnen ein Shahed-136-Drohne geschwindigkeit tionierten aufgetankte Geländewagen,
Kriegsverbrechen. Für die ukraini- Suchscheinwerfer, ein gut geöltes Ma-
sche Regierung sind die Angriffe Ter- schinengewehr mit Leuchtspurmuni-
GPS-
ror. Die Kiewer haben einen eigenen Sensoren tion und jede Menge Glück.
Namen dafür: litajutschi mopedy. Ein eisiger Wind zieht auf, der
Fliegende Mopeds. Kameras und Oberst zieht sich den Kragen seiner
Sprengladung,
Das ukrainische Militär verrät we- ca. 50 kg Uniform ins Gesicht. »Zum Check-
nig über seine Strategie, aber es heißt, point«, sagt er und steigt in den Ge-
es zögen sich große Luftverteidi- ländewagen.
gungslinien durchs ganze Land, dazu Fast ein Jahr geht dieser Krieg, die

3D-Modell: Tim Samedov


gebe es zahlreiche Verteidigungs- meisten Mitglieder des 242. haben ihre
1 m2
zonen zum Schutz kritischer Infra- Familien seit langer Zeit nicht gesehen.
struktur und der Bevölkerung. Die Ihr Verband ist Teil der ukrainischen
erste Linie sei die Front, die Außen- Territorialverteidigung, sie sind Reser-
S Grafik
grenzen nach Norden, Osten und visten. Früher waren sie Maurer, Tank-

Süden. Die zweite ziehe sich über warte oder Architekten. Jetzt sind sie
Tschernobyl, wenige Kilometer hinter alle gleich, jetzt sind sie Soldaten.
der ersten. Eine weitere liege bei Wenn man sie fragt, wofür sie
Winnyzja im Süden. Der Oberst und kämpfen, antworten alle dasselbe: Sie
seine Männer überwachen einen Teil seien müde. Sie kämpften dafür, dass
des Luftraums bei Kiew, aber man darf dieser Krieg ende.
nicht schreiben, welchen Teil und wo
genau. Das sei zu gefährlich, heißt es. Am Morgen des 10. Oktober starb die
Der Oberst pustet Rauch in den Ärztin Oksana Leontjewa auf dem
Himmel, es nieselt. »Russenwetter«, Weg zu ihrer Arbeit im Kiewer Kran-

Ed Ram / Guardian / eyevine / ddp


sagt er. Russenwetter ist für den kenhaus Ochmatdyt, als ein russischer
Oberst schlechtes Wetter. Regen, Marschflugkörper ihr Auto traf. Leon-
Schnee, bedeckter Himmel, alles, was tjewa war Hämatologin, sie behan-
dunkel ist und wo man die Sonne delte etwa an Leukämie erkrankte
nicht sieht. Wenn Russenwetter ist, Kinder. Sie hinterließ ihren fünfjähri-
sei es ein unfairer Kampf. Denn sie gen Sohn Hryhorhi, den sie wenige
kämpften nicht gegen Menschen, Minuten vor dem Angriff im Auto in
sondern gegen Maschinen. Gegen den Kindergarten gebracht hatte.
fliegende Maschinen mit Sprengstoff ins Dorf. Befehl von oben, sagt der Zerstörtes Haus
im Kopf und einer Platine im Bauch, Oberst, keine Fragen. Am dritten Tag in der Schylianska- Niemand weiß genau, wie viele
Straße 116 in Kiew:
auf der die Russen Zieldaten gespei- des Krieges wurde er am Fuß verwun- Die meisten starben, Zivilisten durch den russischen An-
chert haben. Im Prinzip, sagt er, kämpf- det, er erzählte niemandem davon, ohne eine Bedrohung griffskrieg in der Ukraine gestorben
ten sie gegen Autopiloten. damit er bei seinen Männern bleiben gesehen zu haben sind. Eine der letzten offiziellen Zah-
Es gehört eigentlich zum Wesen konnte. Nach zwei Tagen war sein len ist vom 23. Januar und stammt
moderner Kriegsführung, dass sich Fuß so angeschwollen, dass ihm der von den Vereinten Nationen. Sie lau-
immer seltener Mensch und Mensch Stiefel nicht mehr passte. Die Sanitä- tet 7068. Darunter 2800 Männer,
gegenüberstehen. In der Ukraine ist terin fragte den Oberst, was passiert 1895 Frauen, 180 Mädchen und 223
das anders. Viele Kilometer entlang sei. »Nichts«, habe er geantwortet. Jungen, 35 Kinder und 1935 Erwach-
der Frontlinie haben sich Ukrainer Bei Charkiw hätten sie Schützen- sene, deren Geschlecht unbekannt ist.
und Russen in Sichtweite voneinander gräben gestürmt und russischen Pan- Regelmäßig veröffentlicht die Uno
eingegraben. Zwischen den Gräben zern gegenübergestanden. Jetzt sollen ein solches »civilian casualty update«,
liegt totes Land, das graue Zone heißt. sie Kiew gegen Maschinen verteidi- am Ende der Mitteilung steht immer
Die Taktiken erinnern an die aus den gen. Wenn der Oberst das Wort Ma- derselbe Satz: Es sei davon auszuge-
Weltkriegen: Artilleriebeschuss, dann schinen sagt, verzieht er sein Gesicht, hen, dass es deutlich mehr Opfer gebe,
rücken Fahrzeuge vor und schließlich als hätte er einen schlechten Ge- da die Kampfhandlungen andauerten.
Infanteriesoldaten, die feindliche Stel- schmack im Mund. Die Soldaten se- Die meisten starben, ohne eine Be-
lungen überrennen. Hier, im Landes- hen müde aus, sie haben bleiche Haut drohung gesehen zu haben, schreibt
inneren, ist das anders. Hier warten und tiefe Ringe unter den Augen. »Da- die Uno, durch Beschuss aus großer
sie auf fliegende Mopeds. wai«, sagt der Oberst, weitermachen. Man kann die Distanz, durch Artillerie, Raketen und
Der Oberst geht von Mann zu Im Vergleich zu großen Marschflug- Drohnen. Seit der Krieg begonnen
Mann und tritt seine Zigarette in den körpern sei an Drohnen das Gute, dass Drohnen hat, gibt es immer wieder Luftalarm
Matsch. Das 242. ist ein leichtes In- sie tiefer und langsamer flögen, deshalb riechen – wie im Land. Aber seit Oktober hat sich
fanterieregiment, so heißt das im Mi- könne man sie besser abschießen. Ein etwas verändert. Seitdem beschießt
litärsprech, sie sind Frontsoldaten. russischer Marschflugkörper fliege mit
eine Mischung die russische Armee etwa alle zehn
Keiner von ihnen ist ausgebildet im einer Geschwindigkeit von etwa 1000 aus ver- Tage die Städte mit Raketen, Marsch-
Kampf gegen Drohnen oder Marsch- Kilometern pro Stunde und klinge wie schmortem flugkörpern und Kamikaze-Drohnen.
flugkörper. Vor anderthalb Monaten ein Jet. Shahed-Drohnen schafften Die Angriffe zielen nicht auf Soldaten
seien sie hierher verlegt worden, aus höchstens 185 Kilometer pro Stunde, Kabel und oder militärische Einrichtungen, sie
der Region Charkiw, von der Front »eher 120«, sagt der Oberst. Es gebe Tankstelle. zerstören Wohnhäuser.

52 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


REPORTER

Der Himmel über Kiew ist leer und still, es habe er seine Frau nicht besuchen dürfen, te des Raums stehen vier zusammengescho-
gibt keine Flugzeuge mehr, die Lärm oder Kon- dann ließen sie sich scheiden. Ihr Name sei bene Tapeziertische, auf denen Landkarten
densstreifen erzeugen könnten. Am Flughafen Tatjana gewesen, sagt der Oberst. Seitdem liegen, drei Soldaten sitzen im Dunkeln vor
Hostomel stehen die Passagiermaschinen wie Tatjana weg sei, habe er nichts mehr zu ver- Laptops. Ein paar Schutzwesten lehnen in
Museumsstücke auf dem Rollfeld, Panzersper- lieren. Niemand warte auf ihn. Wenn der einer Ecke neben Sturmgewehren, daneben
ren blockieren die Zufahrten. Bei klarem Wet- Oberst über seine Ex-Frau redet, wird sein steht ein Weihnachtsbaum. Das sei der Lage-
ter ist Kiew nachts so dunkel, dass man die Blick weich, und dann lacht er so laut, dass raum, sagt der Oberst, von hier aus überwach-
Sterne gut sehen kann. Aber meist hängen man meint, die Wände wackeln zu sehen. ten sie den Himmel.
tiefe Wolken über der Stadt. Schlecht für Skif. Es gehört zur Lesart des Krieges, dass er Vier Flachbildschirme hängen an den Wän-
Der Oberst startet den Motor des Gelände- manche Menschen zu Helden macht. Die den, auf einem läuft stumm ein Nachrichten-
wagens und rast über Feldwege. Nach zehn Ukrainer haben einige davon. Meist sind sie sender, ein anderer zeigt eine Karte. Der
Minuten Fahrt hält er an einem Checkpoint. Mythen, Propaganda. So wie der »Geist von Oberst betrachtet die Karte. »Was Außerge-
Der Checkpoint besteht aus Holzlatten, Plas- Kiew«, ein Pilot, der mit seiner MiG russische wöhnliches?«, fragt er.
tikplanen und Autoreifen. Im Inneren ist es Kampfflugzeuge im Dutzend vom Himmel Die Karte zeigt das Gebiet zwischen Kiew
dunkel, ein Kanonenofen steht in einer Ecke, geschossen haben soll. Später stellte sich he- und dem russischen Belgorod. Darüber
an den Wänden zwei Feldbetten. Zwei Sol- raus, dass er nie existierte. schwirren Hunderte gelbe und rote Punkte.
daten wachen hier, der eine hat einen Auf- Oder die 13 mutigen Männer von der Die gelben Punkte stünden für ukrainische
näher am Helm, auf dem »Hass« steht, der Schlangeninsel, die sich dem Schlachtschiff Flugobjekte, Drohnen und Flugzeuge, die ro-
andere nennt sich Mara. Mara hat graues Haar »Moskwa« entgegengestellt haben sollen: ten für russische. Manche Punkte bewegen
und eine weiche Stimme. Man kann sich ihn »Russisches Kriegsschiff, fick dich«, sollen sie sich schnell wie Jets, andere langsam wie Se-
eher in einem Protestcamp gegen den Klima- gefunkt haben. Daraufhin habe die »Moskwa« gelflieger. Die Karte ist voller roter Punkte.
wandel vorstellen als im Kampfanzug. sie alle auf einen Streich getötet, hieß es in »Nichts Außergewöhnliches«, antwortet
Er schraubt ein Maschinengewehr auf einen ukrainischen Medien. Wenige Wochen danach ein Soldat.
Nissan und legt einen Patronengurt ein, den gaben manche von ihnen Interviews. Vor dieser digitalen Karte säßen sie rund
Gurt hält er von sich wie einen stinkenden Der Oberst sieht sich nicht als Held. Er um die Uhr, sagt er. Auf dem Bildschirm sehe
Fisch. Vor dem Krieg sei er Lebensmittelhänd- sagt, er habe nichts mehr zu verlieren. Bei man nicht, wie viele Drohnen es seien. Weil
ler gewesen, er sagt, er habe Oliven und Öl aus Charkiw habe er ein Knalltrauma erlitten, sie dicht zusammen flögen, sähen sie immer
Griechenland importiert. Wenn Skif nicht hin- viele Tage direkter Artilleriebeschuss, sagt er. aus wie ein einzelner Punkt. Erst kurz vor
hört, sagt Mara, er habe Angst vor dem Tod. Wegen des Knalltraumas habe er Migräne, er ihrem Ziel verließen sie die Formation, sagt
»Alles in Ordnung hier?«, fragt ein anderer müsse sich jeden Nachmittag eine Stunde hin- der Oberst.
Offizier. legen. Er taugt damit eher nicht für Kriegs- Jeden Tag schwebten die roten Punkte auf
Mara nickt. »Alles in Ordnung«, sagt er. propaganda. Er scheint wie ein Mann, der sie zu. Mal kämen sie von Norden aus Bela-
»Gut. Dann zurück zur Basis«, sagt der töten oder getötet werden will. rus, mal aus dem Süden, vom Schwarzen
Offizier. Meer, meistens von Russland aus dem Osten.
Die Basis ist ein umzäuntes Haus mit Die Psychologiestudentin Julija Kopenko starb Das Problem sei, sagt er, dass noch kein
großem Garten, in dem Garten gibt es ein am 14. März, als eine russische Rakete in ein einziges Ziel über ihr Planquadrat geflogen
Klettergerüst und einen kleinen Spielplatz. Wohnhaus im Kiewer Viertel Swjatoschynsky sei. Bei jedem Angriff hätten sie auf der Kar-
Vor dem Krieg sei das Haus ein Kindergarten einschlug und einen Brand auslöste. Rettungs- te zusehen müssen, wie die Drohnen außer-
gewesen, sagt der Oberst. Jetzt wohnt hier kräfte fanden sie tot in ihrer Wohnung, der halb ihrer Reichweite an ihnen vorbeigezogen
das 242. Bataillon. Rauch hatte sie wohl getötet. seien. Es sei wie verhext, sagt der Oberst. Sie
Die Küchenwände sind beklebt mit bunten seien bereit, aber könnten nichts tun.
Kinderzeichnungen, im ersten Stock schlafen Der Oberst stapft die Treppen des Hauses Wenn man ihn beobachtet, wie er vor der
die Soldaten in Stockbetten aus Holz. Im Flur hoch, der Flur ist nass und riecht nach feuch- Karte steht, die Augen auf den russischen
hängt ein Plakat, auf dem kindgerecht erklärt tem Karton. Im ersten Stock öffnet er eine Punkten, wirkt er fast verzweifelt. Als hoffte
wird, dass Covid-19 eine gefährliche Krank- Tür, dahinter ist ein großer Raum. In der Mit- er, dass es endlich einen Feind zum Bekämp-
heit sei. Im Hof parken olivfarbene VW-Bus- fen gibt, hier, über dem Kindergarten.
se, die Seitenfenster sind mit Pappe verdeckt.
Vor der Tür rattert ein Dieselgenerator. »Kein Ljubow Awramenko arbeitete bei der größten
Strom«, sagt der Oberst. ukrainischen Telefongesellschaft. Sie starb am
Eigentlich wollte er nie ein Militär werden. Morgen des 10. Oktober, als eine russische Ra-
Aber sein Vater habe ihn nach der Schule zur kete auf offener Straße in der Nähe der Taras-
Armee geschickt, und dort habe man ihn nicht Schewtschenko-Universität einschlug. Awra-
mehr gehen lassen, weil er ein ausgezeichne- menko war gerade auf dem Weg zur Arbeit.
ter Soldat gewesen sei. Er habe in acht Krie-
gen gekämpft. Wenn man ihn fragt, welche Es ist schwer, sich auf die Angriffe vorzube-
Kriege er meint, antwortet er: Bergkarabach, reiten, weil die Ukraine von drei Seiten vom
Abchasien, und wenn er den Rest sage, müs- Feind umgeben ist. Da die Raketen meistens
se er einen danach erschießen. aus dem Osten kommen, haben die Kiewer
In jedem Einsatz habe er sich nach zu Hau- je nach Flugkörper etwa eine halbe Stunde
se gesehnt. Irgendwann habe die Armee ihn Zeit, in die Bunker zu gehen. Im Normalfall
gehen lassen, dann war er endlich Zivilist. Er heulen die Sirenen in Kiew, lange bevor Ex-
Julia Kochetova / DER SPIEGEL

legte die Uniform ab und eröffnete einen Be- plosionen in der Stadt zu hören sind.
trieb in Kiew. Das sei die schönste Zeit seines Manchmal aber, wie beim Angriff am Mor-
Lebens gewesen, sagt der Oberst. gen des 14. Januar, kommen die Raketen mut-
Dann nahmen die Russen die Krim ein, maßlich auch von Norden, aus Belarus, nicht
und er ging wieder zur Armee. Er wollte nicht, weit weg von Kiew. Es war ein Samstag um
er musste. Sein Schicksal sei es, Befehle zu 9.30 Uhr, und die Explosionen waren in der
befolgen. Seinen Betrieb gab er auf, lange Zeit Ukrainische Soldaten bei Kiew ganzen Stadt zu hören. Es gab keine War-

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 53


REPORTER

nung, keine Zeit, um Schutz zu suchen, erst


kurze Zeit später heulten die Sirenen. »Feige
Manchmal träumt der sich nicht aus, hier in diesem Kindergarten,
in dieser Stadt voller Schlamm? Da sei nichts
Russen«, sagt der Oberst. Oberst davon, dass der mehr außer dem Sieg, antwortet der Oberst.
Er verlässt den Raum, geht den Flur ent-
lang und öffnet die Tür zu seiner Stube. Auf
Krieg doch irgendwann Aber vielleicht stimmt das nicht. Vielleicht
geht es dem Oberst nicht mehr um die Frei-
dem Schreibtisch liegen ein Laptop und drei endet. Dann will er heit, um Sieg oder Niederlage. Vielleicht
Schachteln Zigaretten. An der Wand hängt
die ukrainische Flagge neben einem Bild der
jeden Tag fischen gehen. dauert der Krieg in seinem Leben nun schon
so lange, dass er nur noch kämpft, um zu
Heiligen Jungfrau, auf dem Boden liegen ein kämpfen.
Gewehr und eine akustische Gitarre. Das und Er steht auf, geht zum Fenster und schaut
ein paar Kleidungsstücke, mehr besitze er raus. Nichts. Nicht mal ein Vogel. Der Himmel
kaum, sagt der Oberst. Dieser Raum sei sein ist leer.
Zuhause, er brauche nicht mehr. »Optics«, weil er vor dem Krieg Brillen ver- Wenn man die Menschen in Kiew fragt,
kauft habe. Er habe seine Familie seit einem wie lange dieser Krieg noch dauern könnte,
Am Morgen des 17. Oktober saß der Polizist Jahr nicht gesehen. Er würde gern mal wieder antworten viele, dass sie Angst haben. Angst
Oleksander Krawtschuk, 37, nach einer ein Konzert besuchen oder ins Theater gehen. davor, dass es ewig so weitergehen könnte.
Nachtschicht im Streifenwagen an der Ecke Aber Befehl sei Befehl. Wie in Afghanistan oder Syrien. Sie können
Tolstoi / Woksalna, mitten im Zentrum Kiews, Ihm gegenüber sitzt ein junger Mann am nichts tun, außer zu warten. Hoffnung ist das
und freute sich auf die Wachablösung. Die Tisch, früher war er Architekt. Er trägt eine Einzige, das ihnen bleibt.
Nachtschicht war ruhig verlaufen, ein Anruf Brille, sein Spitzname ist »Vegan«, weil er Es gibt Momente der Hoffnung. Seit eini-
wegen häuslicher Gewalt, ein paar Betrunke- hier der einzige Veganer gewesen sei. Er sagt, ger Zeit werden Falschparker wieder abge-
ne, die sich während der Ausgangssperre ver- er wolle so schnell wie möglich zurück an die schleppt, viele Kiewer freut das. Es heißt: Da
irrt hatten. Dann hörte Krawtschuk ein Ge- Front. Er fühle sich nutzlos hier in der Luft- sind noch Regeln.
räusch wie von einem frisierten Moped. Zwei verteidigung. Er betrachtet die Kinderbilder Der Rücktritt der deutschen Verteidigungs-
Punkte seien am Himmel erschienen, einen an der Küchenwand. Auf einem der Bilder, es ministerin Lambrecht zum Beispiel machte
Kilometer vor ihm, die Punkte flogen direkt ist mit Tusche gemalt, explodiert ein großes Hoffnung, darüber wird in den Cafés der Stadt
auf ihn zu. Zwei iranische Shahed. Krawtschuk Schiff, auf dessen Rumpf ein Z, das russische noch Tage danach erleichtert debattiert. Und
holte sein Gewehr aus dem Auto und schoss Kriegszeichen, gemalt ist. Vegan lächelt. natürlich jetzt die Ankündigung der Deutschen,
zwei Magazine leer. Eine der Drohnen schoss Der Oberst kommt rein, nimmt schwei- Leopard-Panzer liefern zu wollen. Die der
er ab, die andere flog weiter, in Richtung eines gend ein Küchenmesser, wirft es in die Luft Amerikaner, die wohl Abrams-Panzer schicken
Heizkraftwerks. Sie explodierte in der und rammt es in das Speckbrett. Wenn die werden. Und dass die Polen liefern werden, die
Schylianska-Straße 116, in Wiktorijas und Boh- Führung sein 242. nicht bald zurück an die Norweger, die Niederländer. Es sind gute Nach-
dans Wohnung. Krawtschuk hat für seinen Front rufe, werde er einfach selbst hinfahren, richten – in einem Strom der schlechten.
Einsatz einen Orden bekommen. »Besondere sagt er. Er könne nicht ewig hier herumsitzen, An einem Tag wird die Stadt Soledar bei
Tapferkeit im Dienst«, steht auf dem Etui. in einem alten Kindergarten mit Klettergerüst Bachmut von russischen Truppen eingenom-
im Hof. men, eine russische Rakete explodiert in einem
Menschen wie der Oberst haben sich ange- Vier Jahre lang war er auf der Militäraka- Mehrfamilienhaus in Dnipro. Dann stürzt in
passt an den Krieg. Viele leben nur mit dem demie, danach diente er bei den Spezialein- Browary ein Helikopter mit dem Innenminis-
Nötigsten. Seit dem ersten Drohnenangriff heiten. Wenn man ihm zusieht, wie er das ter nahe einem Kindergarten ab. Jeden Tag
im Oktober gehören Stromausfälle in Kiew Küchenmesser in die Luft schleudert, den eine neue Katastrophe. Jeder hier kennt
zum Alltag. Die ganze Stadt ist eingeteilt in Kopf wegdreht und es wieder auffängt, wirkt jemanden, der in diesem Krieg gestorben ist.
einen Stromstundenplan. Es gibt eine Web- er wie ein Schuljunge, der seine Klassenka- Und alle paar Tage Luftangriffe. Wenn die
site, auf der die Menschen ihre Adresse ein- meraden beeindrucken will. Ein Mann von Kiewer in den Himmel schauen, wenn der
geben können. Dann erscheint eine Tabelle, 100 Kilogramm, wie geboren für den Krieg. Oberst in den Himmel schaut, suchen sie am
auf der die Stunden des Tages in weiße, graue Warum will er an die Front, warum schläft er Horizont nach schwarzen Punkten und hor-
und schwarze Felder eingeteilt sind. Weiß be- chen nach fliegenden Mopeds.
deutet: Die Wohnung hat Strom. Grau be- Manchmal träumt der Oberst davon, dass
deutet: Die Wohnung hat vielleicht Strom. der Krieg doch irgendwann endet. Dann stellt
Schwarz bedeutet: Stromausfall. Die meisten er sich vor, wie er zurück nach Sosnyzja geht,
Felder sind schwarz. wo er geboren wurde. Er würde ein kleines
Jedes Viertel in Kiew ist davon betroffen. Haus am Ufer des Flusses kaufen und jeden
Ampeln fallen blockweise aus, Banken und Tag fischen gehen. Er erinnert sich an das
Apotheken werden gar nicht erst geöffnet. Angeln von früher: Im Morgengrauen auf-
Supermärkte schließen, während Kunden an wachen, durch blühende Wiesen gehen und
der Kasse die Kreditkarten ans Lesegerät halten. einfach die Angel auswerfen, egal ob sie an-
Es wird dunkel, und die Kassierer bitten alle, beißen oder nicht. Er muss dann nicht mehr
ihre Einkäufe stehen zu lassen und zu gehen. in den Himmel schauen, höchstens um zu
In vielen Aufzügen liegen Schuhkartons sehen, wie das Wetter wird.
mit Schmerztabletten, Wasser und Lebens- Wenn es so weit ist, wolle er nie wieder im
mitteln – falls jemand stecken bleibt. Hotels Leben eine Waffe anfassen. Er habe sein gan-
Julia Kochetova / DER SPIEGEL

bitten Gäste, das Licht so oft wie möglich aus- zes Leben nur Waffen in der Hand gehabt. Es
zuschalten, um das System nicht zu überlasten. sei genug, sagt der Oberst.
Es ist Nachmittag, und in der Küche des Eine gute Woche später meldet das ukrai-
Kindergartens des 242. Bataillons schabt ein nische Militär, dass man erfolgreich eine rus-
alter Soldat im Halbdunkel Speck von einer sische Angriffswelle abgewehrt habe. Allein
Schwarte und schüttet die Fetzen in eine in einer Nacht habe man 24 russische Droh-
Schüssel Soljanka. Er hat graues Haar und ist nen vom Himmel geholt.
schmächtig, er sagt, sein Kampfname sei Kinderbilder im Bataillonsquartier Mitarbeit: Halyna Rudyk n

54 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


REPORTER

Wenig später schickte mir der


Schauspieler Johann Jürgens den
Link zu seinem Beuys-Film. Groß-
artig. Er läuft mit einer eingetopften
Kugeleiche durch Kassel, brabbelt vor
sich hin und malt hier und da mit

Im Tatarengraben Kreide Dinge auf den Bürgersteig.


Alle, die er trifft, vergessen sofort,
dass Beuys lange tot ist. Er ist einfach
wieder da.
LEITKULTUR Alexander Osang über untote Künstler und trügerische Erinnerungen Ein Documenta-Gast sagt ihm, was
in seiner Abwesenheit passiert ist:
»Inzwischen habe ich ja nun einige
etzte Woche wollte ich mir die Bewegungen erleben dürfen. Die ihr
L Hand abhacken lassen, und das
kam so. Ich stand auf der Ge-
burtstagsfeier eines Freundes an der
Auf und Ab hatten. Sie haben alle ihre
Spuren hinterlassen, aber doch im
Großen und Ganzen nicht so viel be-
Bar und redete mit einer Frau über wegt, wie wir uns erhofft hatten.«
die katholische Kirche Ost-Berlins. »Aber gut. Da habe ich wieder
Sie kam aus dem Westen, war nun etwas zu tun«, ruft Beuys.
aber Mitglied in der Weißenseer Ge- Der Passant nickt ernsthaft. Beuys
meinde St. Josef, wo ich als Junge zieht mit der Kugeleiche weiter, um
ministriert habe. Ich besuchte in St. in einem Gemischtwarenladen einen
Josef den Religionsunterricht, ich Spaten zu besorgen. Er wolle den
wurde dort gefirmt und empfing die Kreis schließen, sagt er. Die letzte Ei-
Erstkommunion. che. Man hätte ihn sich gut in Lütze-
Die Frau fragte mich, ob ich auch rath vorstellen können. Wenn man
Alexander Osang / DER SPIEGEL

auf die katholische Schule gegangen sich alte Filme mit dem echten Beuys
sei, die sich den Hof mit der Kirche anschaut, merkt man, wie zeitgemäß
teilt. Ich sagte, es gab keine katholi- die Figur ist. Im Dokumentarfilm »Je-
schen Schulen in Ost-Berlin. Sie sag- der Mensch ist ein Künstler« erzählt
te: Doch, die Theresienschule zum er, wie er als Soldat im Zweiten Welt-
Beispiel, eine Mädchenschule früher. krieg abgeschossen wurde. »Unmit-
Katholische Mädchenschule? Nie- telbar hinter dem Tatarengraben auf
mals, sagte ich. Doch, sagte sie. Ich der Krim«, sagt Beuys da. »Dort wa-
sagte, ich würde mir die Hand abha- Schülerinnen. Wahrscheinlich dreht Pfarrkirche St. Josef ren Einsätze zu fliegen gegen die
cken lassen, wenn sie recht hätte. schon jemand einen Film. Die zehn in Berlin-Weißensee Brückenköpfe der russischen Trup-
Sie fragte: welche? Ich sagte: egal. Jüngerinnen Jesu. pen. Und diese Einsätze waren regel-
Es war ein ziemlich katholisches Weißensee ist mein Schicksal. Da mäßig zu fliegen.«
Gespräch. Ich brachte es nicht zu stand meine Kirche. Aus meinem Sätze, die wieder von vielen Deut-
Ende, weil ich gerade keinen Alkohol Kinderzimmerfenster sah ich auf den schen unterschrieben würden. Die
trinke und auf der Feier bald andere jüdischen Friedhof. Ich habe die Mut- Umfragen zeigen: Etwa die Hälfte des
interessante Gespräche führte. Über ter meines großen Sohns in der Nacht- deutschen Volks befürwortet die
die Gemeinsamkeiten der Kinder- bar Harmonie kennengelernt. Ich Lieferung von Kampfpanzern an die
erziehung in Ostdeutschland und habe im Kino Toni Indianerfilme und Ukraine. Beuys würde sich heute
Frankreich beispielsweise sowie über sowjetische Märchen gesehen. Im vo- auf der Berliner Stadtautobahn fest-
die Kostüme des Märchenfilms »Der rigen Sommer war ich noch mal da, kleben, während Funktionäre der
Schweinehirt«. um mir den wunderbaren Film »Bet- grünen Partei, die er mitbegründet
Johann Jürgens, ein Geburtstags- tina« anzugucken, ein Porträt der Lie- hat, wieder auf dem Weg zum Tata-
gast, der dort mitgespielt hat, erzähl- dermacherin Bettina Wegner. Wegner, rengraben sind. Am Ende von »Ak-
te lustige Geschichten von einem an- die von der Stasi verhört wurde und tion B« gräbt der falsche Beuys mit
deren Film, den er während der vori- in den Westen ausreiste, sagt an einer spontanen Helfern im Zentrum Kas-
gen Documenta drehte. Er sei mit Stelle, dass sie sich dort in Oskar sels ein Loch für die letzte Eiche. Als
falschen Zähnen, Hut und Trenchcoat Lafontaine verliebt habe, als er ihr er einem Mann den Spaten weiter-
als Joseph Beuys durch Kassel gelau- Stalins Lieblingslied auf Georgisch reicht, fragt der: »Darf ich das über-
fen, um eine Eiche zu pflanzen. Die vorsang. Das hat alle meine Feind- haupt?«
Menschen hätten ihn für echt gehal- bilder durchgeschleudert. Und jetzt Beuys sagt: »Es ist notwendig.«
ten. Jürgens kommt aus Neubranden- die Theresienschule. Zehn Ostmäd- Damit fasst er meine katholische
burg, kann aber die Stimme des Syn- chen bringen mich zur Strecke. Ich würde und meine sozialistische Erziehung
chronsprechers von Bruce Willis nach- Ich habe den Westen oft darauf gut zusammen, aber auch die Lage
machen und auch die von Joseph hingewiesen, dass Weißensee auf der wirklich gern heute insgesamt. Ich habe der Frau
Beuys. Der Kurzfilm heißt »Aktion B«. letzten Silbe betont wird. Alles lä- meine Hände aus Weißensee geschrieben, dass sie
Am nächsten Tag schickte mir cherlich. Es ist nicht nur so, dass ich recht hatte. Ich bereue. Ich würde
mein Freund, der Gastgeber, den Wi- dem Westen glaube, wie schlimm der behalten. wirklich gern meine Hände behalten,
kipedia-Eintrag zur Theresienschule. Osten war. Inzwischen glaube ich Wenigstens schrieb ich ihr, wenigstens die
Es gab sie. Die einzige katholische offenbar, dass er schlimmer war, als Schreibhand. Sie antwortet nicht. Sie
Oberschule, die in der DDR überleb- sie behaupten. Die deutsche Einheit aber die heizt mein Fegefeuer. Behalten Sie
te. Zeitweise hatte sie nur etwa zehn in meinem Kopf ist vollzogen. Schreibhand. mich bitte in guter Erinnerung. n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 55


WIRTSCHAFT

Funktionärin Müller

Stromer-Boom
Neuzulassungen von Fahrzeugen 2022 in Deutschland nach
Antriebsarten, in Tausend
Veränderung zu 2021, in Prozent

Benzin 863,4 –11,2


Hybrid/Hybrid-Plug-in 362,1 +9,6/+11,3

Wolfgang Wilde / ROBA Images


Diesel 472,3 –9,9
Elektro (BEV*) 470,6 +32,2
Flüssiggas (LPG) 15,0 +48,3
Erdgas (CNG) 1,8 –52,9
S Quelle: KBA; * Battery electric vehicle/reines Elektrofahrzeug

Konzerne rebellieren gegen Euro 7


MOBILITÄT Die neue EU-Abgasnorm soll die Hersteller zu strengeren Emissionsregeln und Kontrollen
verpflichten. Die Autokonzerne halten das jedoch nicht für machbar – und warnen vor Produktionsausfällen.

eutschlands Autolobby sieht wegen die Autoindustrie davor, dass sich Neufahr- ler mussten auf Halde produzieren, auch
D der neuen EU-Abgasnorm Euro 7 die
Fahrzeugproduktion gefährdet. Soll-
te die Norm in ihrer derzeitigen Fassung in
zeuge durch das strengere Reglement ver-
teuern würden. Vor allem die Produktion
von Kleinwagen werde unrentabel. Rund
weil sie es versäumt hatten, ihre Fahrzeuge
rechtzeitig an die neuen Regeln anzupassen.
Um ihnen diesmal mehr Zeit zu verschaf-
Kraft treten, »können Angebots- und Pro- um eine Sitzung des VDA-Vorstands am fen, plädiert VDA-Präsidentin Müller für
duktionsengpässe die Folge sein«, sagt Hil- Mittwoch war die Stimmung in der Branche gestaffelte Einführungstermine. Nur so ließe
degard Müller, Präsidentin des Verbands angespannt. Für das erforderliche Test- und sich »eine durchgängige Produktion mit ent-
der Automobilindustrie (VDA). In der vor- Genehmigungsverfahren sei nicht genügend sprechenden Sicherheiten für Beschäftigung
geschriebenen Zeit könnten nicht genügend Personal vorhanden, warnte der Chef einer und Verfügbarkeit einer breiten Fahrzeug-
Modelle entwickelt und genehmigt werden, Automarke. Es fehle an Testkapazitäten, palette« gewährleisten. Zudem schlägt der
die die neuen Voraussetzungen erfüllten. sowohl in Behörden als auch in Unterneh- VDA vor, die Stickoxidgrenzwerte deutlich
Die neue Abgasrichtlinie gilt ab Juli 2025 men. Die Folge: Fabriken könnten monate- zu reduzieren, dafür aber die bisher gelten-
für Pkw und Vans und sieht vor, dass Fahr- lang stillstehen. den sogenannten Test-Randbedingungen
zeuge geltende Schadstoffgrenzwerte auch Ein vergleichbares Szenario hat die Auto- beizubehalten. Die EU-Kommission will mit
unter Extrembedingungen wie hohen Tem- industrie bereits vor wenigen Jahren im der Euro-7-Norm sicherstellen, dass Fahr-
peraturen einhalten müssen. Um das nach- Zuge der Umstellung auf die strengere Prüf- zeuge unter realen Fahrbedingungen wesent-
weisen zu können, sind umfangreichere norm WLTP erlebt. Vielerorts wurde damals lich sauberer werden. Umweltorganisationen
Messungen erforderlich. Schon länger warnt die Produktion gedrosselt, manche Herstel- halten die Vorschriften für unzureichend. SH

56 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


Stadtwerke: Uniper Uniper-Kraft- Brauereien drohen Preisen für Energie, Rohstoffe
werk Datteln 4 und Vorprodukte. Das werde
treibt Preise Insolvenzen vor allem kleine und mittelgro-
ENERGIE Nach der Verstaat- KONSUM Die anstehende End- ße Brauereien in eine finanzielle
lichung von Uniper knirscht es abrechnung der Coronahilfen Schieflage bringen und die Zahl
zwischen dem Konzern und sei- bringt offenbar etliche Brauerei- der Insolvenzen steigen lassen,
nen Kunden, den Stadtwerken. en in Schwierigkeiten. Bis 30. so Erbe. Ȇber so manchem
Diese kritisieren, dass Uniper Juni müssen die Unternehmen Unternehmen hängt ein mit-

Stefan Ziese / ddp


von ihnen deutlich mehr Sicher- – wie in allen Branchen – ent- unter millionenschweres Corona-
heiten verlangt als noch vor sprechende Unterlagen bei den hilfen-Damoklesschwert.« Er
zwei Monaten. Uniper treibe Behörden einreichen und dann fordert eine pragmatische Lö-
dadurch die Energiepreise un- zu viel gezahlte Unterstützung sung, etwa eine Stundung der
nötig in die Höhe, monierte der schlechtern jedoch kurzfristig zurückzahlen. »Angesichts der Rückzahlungen. Bislang haben
Verband kommunaler Unter- die Kassenlage betroffener Uni- Multi-Dauerkrise kommen die staatliche Hilfen die Insolven-
nehmen, dies sei »in der aktuel- per-Kunden. Der Bund war im Überprüfungen für die Unter- zen auf stabilem Niveau ge-
len Situation absurd«. Uniper vergangenen Jahr mit mehr als nehmen zur denkbar ungüns- halten. Einer Auswertung des
bezeichnet die Forderungen als 13 Milliarden Euro bei dem tigsten Zeit«, sagt Jürgen Erbe, Datendienstleisters STP zufolge
notwendig, da Strom und Gas Konzern eingestiegen, um si- Fachanwalt für Insolvenzrecht haben zwischen 2018 und 2022
teurer seien als vor dem Ukrai- cherzustellen, dass der Konzern bei der Kanzlei Schultze & jährlich etwa ein halbes Dut-
nekrieg, zudem schwankten die Stadtwerke und Industriebetrie- Braun. Brauereien kämpfen mit zend Brauereien Insolvenz an-
Preise stark. Auch wenn der be weiter beliefern kann. Uni- sinkendem Absatz und hohen gemeldet. MMQ
Konzern zu gut 99 Prozent dem per ist Deutschlands größter
Bund gehöre, müsse er »markt- Gashändler, war vor dem Krieg
gerechte Maßstäbe anwenden«. aber stark abhängig von Russ-
Sicherheiten zu hinterlegen ist land. Seit der Drosselung und
üblich, wenn Stadtwerke Ener- späteren Einstellung russischer
gie im Voraus kaufen – sie grei- Lieferungen muss das Unter-
fen für den Fall, dass die Stadt- nehmen teures Gas auf dem
werke bestelltes Gas kurzfristig Weltmarkt kaufen. Der Bund
stornieren. Kommt der Vertrag muss die Mehrheit an Uniper
wie geplant zustande, erhalten spätestens 2028 wieder ab-
sie das Geld zurück. Die hohen geben, so verlangt es die EU-
Sicherheitsforderungen ver- Kommission. BEM

Rainer Jensen / dpa


Gebrauchtwagen- zeugen, wirkten diese Effekte
jetzt »wie ein Bumerang«: Bierproduktion
portale verlieren Corona- und Lieferkettenkrise
E-COMMERCE Der Druck auf klingen ab, Preise und Margen
Gebrauchtwagen-Verkaufsplatt- sinken. Allein fünf der größten ARD engagiert Buhrow den Vorsitz innehatte.
formen wie Carvana, Vroom Online-Gebrauchtwagenplatt- Der SWR begründet das Enga-
und Auto1 Group wird weiter formen haben 2022 in Summe PR-Berater gement mit dem »umfangrei-
zunehmen. Das besagt eine fast 60 Milliarden Dollar an MEDIEN SWR-Intendant Kai chen Reformprozess«, in dem
Analyse der Beratungsgesell- Unternehmenswert verloren. Gniffke setzt in den ersten Mo- sich die ARD befinde. Außer-
schaft Oliver Wyman: Nach Kurzfristig werde sich dieser naten als ARD-Vorsitzender auf dem habe man den Vorsitz
Jahren des Nachfragebooms, Abwärtstrend verschärfen, sa- die Dienste externer Kommuni- »deutlich früher als vorgese-
bewirkt durch einen pandemie- gen die Oliver-Wyman-Exper- kationsberater. Beauftragt wur- hen« übernommen und sich
bedingten höheren individuel- ten Andreas Nienhaus und Stef- de die Agentur fischerAppelt, rascher vorbereiten müssen als
len Mobilitätsbedarf und ein be- fen Rilling. In den USA sind die das Mandat ist bis Ende März geplant. Ursprünglich sollte
grenztes Angebot an Neufahr- Gebrauchtwagenpreise gegen- begrenzt. Zuletzt sorgten Äuße- Gniffke erst 2024 ARD-Vorsit-
über Januar 2022 bereits um rungen Gniffkes für Aufregung: zender werden, musste aber
mehr als 15 Prozent eingebro- Wenn man 2023 damit beginne, nach dem Rücktritt von Patricia
chen, in Europa erwarten die einen linearen Kanal einzu- Schlesinger ein Jahr früher ein-
Berater ähnliche Tendenzen. stellen, würden die Betroffenen springen. Gegen die ehemalige
Um Käuferinnen und Käufer »jaulen und quieken«, hatte der RBB-Intendantin wird wegen
nicht zu verlieren, müssen die SWR-Intendant im Dezember des Verdachts auf Untreue und
Plattformanbieter laut Analyse in einem SPIEGEL-Gespräch Vorteilsannahme ermittelt, sie
bei Kundenerlebnis und Preisen gesagt. Die Gewerkschaft Ver.di bestreitet die Vorwürfe. Eine
nachbessern. Nach einer Phase nannte diese Wortwahl »absto- Ausschreibung für den Berater-
der Konsolidierung und Digita- ßend«. Mit fischerAppelt enga- job gab es nicht, laut SWR war
lisierung würden Wachstum giert der SWR zwei alte Be- das bei dieser Auftragssumme
und Wert der Portale dann kannte: Bei dem Unternehmen nicht verpflichtend. Wie viel
wieder zunehmen. Der Konkur- arbeiten Svenja Siegert und Geld die Agentur bekommt,
renzdruck dürfte allerdings Birand Bingül, Letzterer als Ge- verrät der SWR nicht: »Wir
hoch bleiben: Auch Hersteller schäftsführer des Firmenzweigs können versichern, dass das
wie Volkswagen, BMW und fischerAppelt Advisors. Beide Angebot von fischerAppelt
Auto1

Volvo steigen zunehmend in waren von 2020 an ARD-Spre- nicht das höchste Angebot
Auto1-Homepage den Onlinevertrieb ein. SH cher, als WDR-Intendant Tom war.« AKÜ, RAI

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 57


WIRTSCHAFT

KI aus Kalifornien, Blech aus Stuttgart


AUTOINDUSTRIE Der Traum vom autonomen Fahren wird allmählich Realität – allerdings
wohl nur in China und den USA. Deutschlands Autobauer VW, BMW und Mercedes haben den mächtigen
Allianzen kaum etwas entgegenzusetzen. Werden sie zu reinen Zulieferern degradiert?

r ist einer der reichsten Männer Chinas, wenig Zählbares hervorgebracht. Gehypte Arizona. »Jetzt ist das Jahr, in dem sich die
E doch nur wenige Menschen haben ihn
jemals zu Gesicht bekommen. Inter-
views gibt er kaum. Öffentlichkeit interessiert
Projekte wie die Ford-Tochter Argo AI ver-
schwanden von der Bildfläche, Autokonzerne
wie VW oder Mercedes-Benz beerdigten
Unternehmen aus dem Forschungslabor in
Richtung einer Dienstleistung bewegen«, sagt
der deutsche Informatiker Sebastian Thrun,
ihn nicht. Man könnte den Multimilliardär hochtrabende Pläne. der als Vater des autonomen Fahrens gilt. Für
glatt übersehen, als er Anfang Januar auf der Doch mittlerweile können die, die durch- ihn wäre es endlich der lang ersehnte Durch-
Technologiemesse CES in Las Vegas auf- gehalten haben, erste greifbare Erfolge vor- bruch, den er eigentlich schon viel früher er-
taucht, in seiner dunkelblauen Regenhose, weisen. Firmen wie Waymo in den USA oder wartet hat. Und der Beweis, dass das Silicon
der schwarzen Daunenjacke und dem farblich Baidu in China schicken ganze Flotten selbst- Valley nach wie vor imstande ist, Produkte
passenden Mund-Nasen-Schutz. Nur der klei- fahrender Autos auf öffentliche Straßen, erst- hervorzubringen, die die Welt grundlegend
ne Trupp an Begleitern, die ihn mit riesigen mals transportieren autonome Trucks test- verändern (SPIEGEL 3/2023).
Schirmen vor dem herunterprasselnden Re- weise Güter über Highways in Texas und Amerikanische Software, chinesische
gen schützen, signalisiert, dass hier jemand Autos. Und die Europäer? Die Deutschen?
Besonderes spaziert: Li Shufu, Gründer und Verschlafen sie nach Mikrochips, E-Mobilität
Chef des Autokonzerns Geely, Großaktionär Kommt Europa zu spät? und Batterietechnologie die nächste Groß-
des Stuttgarter Autobauers Mercedes-Benz. innovation – und damit einen Markt, der laut
Zu Lis Imperium zählen unter anderem Umfrage unter 75 Industrie-Entscheidern, wann der Unternehmensberater von McKinsey im
jeweils erste kommerzielle Anwendungsfälle
der schwedische Hersteller Volvo, der E-Auto- für autonomes Fahren Stufe 4/5 zu erwarten Jahr 2035 ein Umsatzpotenzial von bis zu
Anbieter Polestar, der britische Sportwagen- sind, nach Weltregionen 400 Milliarden Dollar hat? »Die führenden
bauer Lotus, eine Beteiligung an Aston Mar- Nordamerika Asien-Pazifik-Region Spieler bei Robotaxis sind alle außerhalb
tin sowie die Hälfte an der Mercedes-Klein- Europa Europas angesiedelt«, sagt Markus Hagen-
wagenmarke Smart. Im vergangenen Jahr hat maier, Mobilitätsexperte der Boston Consul-
die Geely-Gruppe bereits 2,3 Millionen Fahr- Autonomes Fahren auf Autobahnen (Stufe 4) ting Group. In den Vereinigten Staaten und
zeuge verkauft. Nun will sich Li die Mobilität der Volksrepublik sei der Technologieglaube
der Zukunft erschließen. 2023 2025 2027 2029 ausgeprägter, der finanzielle Rückhalt für die
Hoch konzentriert umkreist der Chinese Anbieter deutlich stärker.
einen kugelförmigen Minibus ohne Lenkrad Autonomes Fahren im Stadtverkehr (Stufe 4) Wie gut der öffentliche Robotaxi-Service
und Außenspiegel. Läuft alles wie geplant, in einigen US-Metropolen bereits funktio-
wird dieses Elektrotaxi namens M-Vision 2023 2025 2027 2029 niert, lässt sich in der Potrero Avenue be-
schon bald ohne Fahrer durch amerikanische obachten, einer der Hauptverkehrsadern San
Städte kurven. Li Shufu inspiziert Kofferraum Fahrerlose Robotertaxis in Städten (Stufe 4/5) Franciscos.
und Rückbank. Er drückt ein paarmal auf Ein bewegliches, pinkfarbenes Licht auf
einen Touchscreen, der auf der Rückseite der dem Dach eines Waymo-Taxis zeigt die Ini-
2023 2025 2027 2029
Sitze angebracht ist und künftige Insassen bei tialen des nächsten Fahrgastes und verleiht
Laune halten soll. Prognostiziertes Marktvolumen für dem Wagen ein gewisses Disco-Flair. Doch
Li interessiert sich nicht nur für das futu- Robotertaxis im Jahr 2035, in Mrd. Dollar die Leuchte ist weit mehr als bunte Spielerei.
ristische Gefährt, sondern auch für die High- Mega- Metro- Groß- Dahinter verbirgt sich ein rotierender Lidar-
techfirma, die dem Auto das technologische cities polen städte Sensor, der Laserstrahlen in alle Richtungen
über 10 Mio. 3 bis 10 1 bis 3
Innenleben verliehen hat: Waymo, eine Toch- Einwohner Mio. Ew. Mio. Ew. schießt. Sie prallen an Objekten rund um das
ter des Internetriesen Alphabet. Auto ab und lassen den Computer im Auto
Der Autokonzern des Chinesen ist schon eine dreidimensionale Umgebungskarte er-
vor gut einem Jahr ein Bündnis mit dem Tech- Nord- 154 rechnen. Zusammen mit Kameras und Radar-
113
nologieführer aus dem Silicon Valley einge- amerika 62 sensoren erkennt das Auto so in Sekunden-
gangen: Die Elektroautos der Geely-Tochter bruchteilen seine Umwelt. Dank dieser künst-
Zeekr bestücken die Amerikaner mit Soft- Europa 30 35 38 lichen Intelligenz, produziert und vernetzt
ware und Sensorik. Es ist die ungewöhnliche von Waymo, kann das weiße Jaguar-Modell
Allianz zweier Konzerne aus Ländern, die in I-Pace autonom durch die engen, dicht be-
China 76 101 0
einem erbitterten Systemwettbewerb stehen fahrenen Straßen der Großstadt im Norden
– aber das gleiche Ziel verfolgen: die Metro- des Silicon Valley kurven.
polen dieser Welt mit selbstfahrenden Autos übrige Auch die Initialenanzeige auf dem Dach
Welt 59 76
auszustatten. 4 ist unverzichtbar. Im autonomen Taxi lässt
Mehr als ein Jahrzehnt lang hat der mil- kein menschlicher Fahrer mehr das Fenster
liardenteure Traum vom Roboterfahrzeug nur S Quellen: McKinsey-Umfrage Ende 2021, BCG herunter und winkt den Passagier heran. Im

58 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


WIRTSCHAFT

Autonome
Fahrzeuge im
Stadtverkehr
(Simulation)

metamor works / Shutterstock


Waymo-Auto sitzt, bis auf Weiteres, nur noch Dienst als Nächstes starten will, verwirrten entlassen hat – für den Mutterkonzern Al-
ein »Autonomiespezialist«, er kann im Ernst- Schaufensterpuppen, die vor den Geschäften phabet sind die hohen Defizite der Tochter
fall das Steuer übernehmen. Seine Hände standen, die digitalen Chauffeure: In den von verschmerzbar, er erwirtschaftete in demsel-
bleiben während der 15-minütigen Fahrt unter Boutiquen gesäumten Straßen des Fashion ben Zeitraum insgesamt 46 Milliarden Dollar
dem Lenkrad, kein einziges Mal greift er ein. District waren sie kaum von Fußgängern zu Gewinn. Aus seiner Sicht überwiegen die
Das Taxi schlängelt sich selbstständig um unterscheiden. Chancen auf die Weltmarktführerschaft das
einen Skateboardfahrer, erklimmt in gleich- Was ein Autofahrer mit Reflexen und ge- finanzielle Risiko.
mäßigem Tempo eine von San Franciscos be- sundem Menschenverstand angeht, ist für den Zuletzt hat der Hightechspezialist etliche
rüchtigten steilen Hügelstraßen, lenkt, blinkt, Computer ein komplexes mathematisches Durchbrüche erzielt. In Phoenix, wo Waymo
bremst und öffnet seine Türen wie von Geis- Problem. Solange der Waymo-Roboter nicht bisher nur auf den breiten Straßen einiger
terhand. Seine Software, den »Waymo Dri- jede Fahrsituation lösen kann, benötigt er ruhiger Vororte unterwegs war, fahren die
ver«, preist das Unternehmen als erfahrensten Sicherheitsfahrer hinter dem Steuer, Fern- Robotaxis seit November auch im quirligen
Autofahrer der Welt an. Mehr als 30 Millio- überwachung aus der Zentrale und viele, vie- Innenstadtverkehr sowie am Flughafen. Mit
nen Kilometer hat der digitale Chauffeur auf le Testkilometer. All das kostet Unmengen dem M-Vision hat das Unternehmen ein ori-
öffentlichen Straßen bereits zurückgelegt, gut Geld. ginär als Robotaxi konzipiertes Fahrzeug, das
30 Milliarden Kilometer in Simulationen. Waymo ist die größte von Googles »ande- man ab Ende dieses Jahres auf amerikani-
Waymo hat aus Fehlern der Frühphase ge- ren Wetten«, einem bunten Haufen eigener schen Straßen testen will.
lernt – und trotz technischer und finanzieller Start-ups. Allein in den ersten neun Monaten »Waymos großer Vorteil ist, dass sie keinen
Rückschläge nie aufgegeben. In der Wüsten- des Jahres 2022 haben sie 4,5 Milliarden Dol- Autokonzern als Mäzen haben«, sagt der
metropole Phoenix mussten die Robotaxis lar Verlust angehäuft, ein Großteil davon ent- Branchenanalyst Edward Niedermeyer, der
erst lernen, Kakteen von Menschen zu unter- fällt wohl auf Waymo. Auch wenn das Unter- den populären Industrie-Podcast »The Auto-
scheiden. In Los Angeles, wo Waymo seinen nehmen in dieser Woche einige Mitarbeiter nocast« moderiert. Rezessionen träfen die

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 59


WIRTSCHAFT

Autoindustrie besonders hart, teure »Wir wollen das automatisierte in den nächsten Jahren schrittweise
Langfristprojekte wie vollautonomes Fahren weiterentwickeln, um indivi- Wer fährt an Tempo 130 herantasten.
Fahren seien nicht zu vereinbaren mit duelles Fahrerlebnis und Sicherheit denn da? Deutlich bescheidener sind die
dem ständig wiederkehrenden Spar- zu steigern«, sagt Mercedes-Entwick- Ambitionen, wenn es um Level 4
zwang der Konzerne. lungsvorstand Markus Schäfer. An- Die fünf Stufen des geht, die nächste Stufe. Derzeit gibt
autonomen Fahrens
Noch vor wenigen Jahren präsen- ders als Robotaxi-Anbietern wie es dafür in Deutschland exakt einen
tierte auch VW auf der Techmesse Waymo geht es ihm nicht um einen Anwendungsfall – das Flughafen-
in Las Vegas große Visionen. »Mobi- Mobilitätsservice, sondern um tech- parkhaus in Stuttgart. Dort können
lität auf Knopfdruck« wollten die nologisch hochgejazzte Limousinen 1 Fahrer von S-Klasse und EQS, die
Wolfsburger bieten: Per Minifern- und SUV. Statt auf Fahrdienste um- sich das leisten wollen, das Fahrzeug
assistiert
bedienung sollten sich Kundinnen zusteigen, sollen die Kunden weiter Fahrassistenzsyste-
am Eingang abstellen und allein ein-
und Kunden ein VW-Roboshuttle na- in ihrem Privatauto sitzen – und dort me wie Tempomat parken lassen. Zulieferer Bosch hat
mens Sedric rufen, einen sogenannten Geld für Filme, Apps oder Software- oder Kollisionswarner das Parkhaus mit den nötigen Senso-
People-Mover, in dem sie laut Kon- Updates ausgeben. Es passe derzeit sorgen für mehr ren und Kameras ausgerüstet.
zept arbeiten, schlafen oder auch mal einfach nicht in die Luxusstrategie Sicherheit und Kom- Es dürften noch Jahre vergehen,
fort. Der Fahrer wird
mit Hanteln trainieren konnten. Das von Mercedes, einen People-Mover unterstützt, muss bis das autonome Fahren hierzulande
futuristische Gefährt wollte Volks- zu entwickeln, sagt Schäfer. das System jedoch einen echten Zusatznutzen bringt.
wagen an Flottenbetreiber, Verkehrs- Nach Revolution soll es trotzdem ständig überwachen; Das liegt auch an der Ideenlosigkeit
betriebe und an Privatleute verkau- klingen. Hörbar stolz kündigte Schäfer bereits weitverbreitet. der Politik. Bund, Ländern und Kom-
fen, die nicht mehr selbst fahren wollen. bei der CES an, Mercedes sei der ers- munen fehlt eine Strategie, wie sie mit
Es wäre ein revolutionärer Schritt te Hersteller, »der Level 3 in den USA Roboshuttles den innerstädtischen
gewesen vom reinen Hersteller zum anbieten kann«, zunächst im Bundes- 2
Verkehr entlasten oder den ländlichen
Dienstleister. staat Nevada. Diese dritte Stufe auf Raum besser anbinden können.
Gut fünf Jahre später ist im Kon- einer Skala von 1 bis 5 erlaubt es Auto- teilautomatisiert Während die USA und China auto-
zern Ernüchterung eingekehrt. fahrern, unter bestimmten Bedingun- Das System hält in nomes Fahren als Schlüsseltechno-
Das Projekt Sedric? Auf Eis gelegt. gen die Hände vom Steuer und die bestimmten Situatio- logie identifiziert haben, belässt es
nen die Spur, be-
Die Kooperation mit dem US-Spe- Augen von der Fahrbahn zu nehmen, schleunigt und die Bundesregierung bei wolkigen
zialisten Argo AI, vor Kurzem noch solange sie binnen zehn Sekunden ein- bremst. Der Fahrer Formulierungen. Ziel sei es, »dass der
als größer Wachstumstreiber der Zu- greifen können. Seit Mai 2022 können muss ständig auf- Automobilstandort Deutschland«
kunft gepriesen? Nach Milliardenver- Kunden in Deutschland die S-Klasse merksam sein. Er auch beim »automatisierten und ver-
darf die Hand nur kurz
lusten abrupt beendet. oder ihre elektrische Variante, den vom Lenkrad nehmen; netzten Fahren führend ist«, heißt es
Der größte Autokonzern Europas EQS, gegen einen Aufpreis von 5000 z. T. schon verfügbar. im Verkehrsministerium. Autonom
beschränkt sich fortan lieber auf klei- bis 7000 Euro mit dieser Stufe des fahrende Autos seien sicherer, zudem
nere Pilotprojekte. VW hofft darauf, automatisierten Fahrens erwerben. könnten sie »die soziale Teilhabe all
dass Stadtoberhäupter in Deutsch- Das klingt aufregender, als es ist. jener« erhöhen, »die selbst nicht in
land eher mit den Wolfsburgern zu- Bislang dürfen Mercedes-Fahrer nur 3 der Lage sind, ein Auto zu steuern«.
sammenarbeiten als mit einem High- auf bestimmten Autobahnabschnitten Konkreter wird es nicht, alles Weite-
techriesen aus Palo Alto oder Peking. und bei einer Höchstgeschwindigkeit hoch automatisiert re bleibt der Industrie überlassen. Der
Das Auto kann in be-
»Wir wollen eine europäische Ant- von 60 Kilometern in der Stunde dem stimmten Situationen wiederum fehlt der visionäre Takt-
wort auf Waymo oder Baidu bieten«, Fahrassistenten die Arbeit überlas- selbstständig fahren, geber – anders als in China.
sagt Christian Senger, bei Volkswagen sen. Die Zahl der bisherigen Nutzer z. B. in einem Stau. In der Volksrepublik schicken sich
Nutzfahrzeuge für autonomes Fahren halten Branchenexperten für über- Der Fahrer darf sich die Internetgiganten an, die Zukunft
für längere Zeit vom
zuständig. schaubar. Mercedes selbst nennt kei- Verkehrsgeschehen der Mobilität aktiv mitzugestalten.
In Hamburg will VW spätestens ne Zahlen. abwenden. Er muss Allen voran der Suchmaschinen-
ab nächstem Jahr autonom fahrende Dass die Möglichkeiten derart be- trotzdem jederzeit konzern Baidu.
Kleinbusse durch die Innenstadt fah- grenzt sind, hängt mit der komplizier- bereit sein, wieder die Mitgegründet wurde das Unter-
Kontrolle zu überneh-
ren lassen, zunächst mit Sicherheits- ten Rechtslage zusammen. Das Welt- men; z. T. schon nehmen im Jahr 2000 von Robin Li,
fahrer. Ab Ende 2025 soll der mensch- forum für die Harmonisierung von verfügbar. einem Programmierer, der lange Zeit
liche Chauffeur dann endgültig dem Fahrzeugvorschriften hat im Herbst in den USA gelebt hatte. Zu seinen
Roboter die Kontrolle überlassen. Level-3-Fahrten mit Geschwindigkei- ersten Geldgebern nach seiner Rück-
Danach ist die Expansion nach Mün- ten von bis zu 130 Kilometern pro 4 kehr nach China gehörte Google.
chen und später in andere europäi- Stunde erlaubt. Ausgenommen sind Auch bei Design und Technik waren
voll automatisiert
sche Großstädte vorgesehen. die USA und China, wo eigene, oft Kein Fahrer bei vor-
die Kalifornier Vorbild. In der An-
Selbst wenn der Plan aufgeht: industriefreundlichere Regeln gelten. her definierten Be- fangszeit war Lis Dienst nicht mehr
Werden Hightechkonzerne aus den Deutschland hat die Vorgabe zu Jah- dingungen erforder- als ein billiges Imitat. Der Erfolg der
USA oder China Europas Metropolen resbeginn als erstes Land umgesetzt. lich. Das System ersten Stunde war vor allem Raub-
kann alle Situationen
bis dahin nicht längst erobert haben? Bevor Autos tatsächlich selbstständig allein bewältigen.
kopien zu verdanken. Millionen an
Das autonome Fahren komme viel mit 130 über deutsche Autobahnen Musiktiteln konnte man bei Baidu
später als gedacht, glaubt VW-Boss brettern können, während die Fahrer herunterladen.
Oliver Blume. Statt Milliarden in sich mit Netflix-Serien amüsieren, 5 Inzwischen ist Lis Gründung ein
selbstfahrende Shuttles zu stecken, muss indes das Kraftfahrt-Bundesamt Milliardenkonzern, als Juwel gilt die
fahrerlos
sollen die elektronischen Fahrassis- jedem einzelnen Modell die Zulas- Ein Fahrer ist über- Tochtergesellschaft Apollo. Benannt
tenten seiner Pkw-Flotte schrittweise sung erteilen. Und das kann dauern. flüssig. Das System nach der ersten Mondmission, soll die
hochgerüstet werden. Das spart Geld, Hinzu kommt: Mit höherem Tem- fährt autonom unter Sparte das autonome Fahren in China
kostet aber womöglich Zeit. Diesen po steigt das Datenvolumen im selbst- allen Bedingungen. vorantreiben.
Wird derzeit nur für
konservativen Ansatz verfolgen auch fahrenden Auto dramatisch, Sensoren Roboshuttles ent- In einem Außenbezirk von Peking
die Wettbewerber BMW und Merce- und Chips müssen entsprechend leis- wickelt, noch nicht empfängt Wang Chong, er ist der
des-Benz. tungsfähig werden. Mercedes will sich für Privat-Pkw. Markenchef für intelligentes Fahren

60 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


WIRTSCHAFT

von Baidu. Die autonome Mobilität, sind sie realistisch. Dort wären wohl
sagt er selbstbewusst, sei eine der viele bereit, auf den Privat-Pkw zu
größten »disruptiven Innovationen in verzichten. Autos werden im Schnitt
der Geschichte der Menschheit«. Die nur ein paar Dutzend Kilometer pro
Volksrepublik liege dabei in aussichts- Tag bewegt, die allermeisten Fahrten
reicher Position. China sei erstens finden innerstädtisch statt. Der Spaß-
»der beste Markt für Elektrofahrzeu- faktor für Pendler ist begrenzt: In den
ge«. Zweitens sei die Akzeptanz für großen Städten stehen die Chinesen

Carsten Koall / picture alliance / dpa


autonomes Fahrens unter den Kun- oft stundenlang im Stau. Und zwi-
den in China am höchsten. Und drit- schen Metropolen wie Peking und
tens habe Baidu bis zum dritten Quar- Shanghai nimmt ohnehin niemand
tal 2022 mehr als 1,4 Millionen Fahr- das Auto. Dafür gibt es den Schnell-
ten autonom durchgeführt, »so viel zug und in Shanghai dann ein Taxi
wie nirgendwo sonst auf der Welt«. oder das Uber-Pendant Didi.
Die Zukunft der Mobilität, wie Selbst im ländlichen Raum ist das
Wang sie sich vorstellt, kann man Auto, anders als in Deutschland, we-
rund um die Apollo-Zentrale erleben, nig verbreitet. Wer in der Provinz
in einem Testgebiet, das 60 Quadrat- lebt, hat oft schlicht kein Geld, sich
kilometer groß ist. Zahlreiche weiße eines zu kaufen. Für die Wohlhaben-
Elektroautos kurven dort durch die deren wiederum gilt: Besondere Mar-
Straßen, auf den Dächern Kameras kenloyalität oder jahrzehntelange
und Radarsensoren. Was man durch Gewohnheiten gibt es kaum.
die getönten Scheiben kaum erkennt: Für VW, BMW und Mercedes sind
Am Lenkrad der Autos sitzt niemand das denkbar schlechte Nachrichten.
mehr, nur noch Aufpasser auf den Seit Jahrzehnten basiert ihr Wachs-
Beifahrersitzen. Buchen kann fast je- tum vor allem auf dem Chinaboom.
der ein solches Gefährt, man muss Gut ein Drittel ihrer Fahrzeuge ver-
dazu nur eine App herunterladen, kaufen sie auf dem größten Absatz-

Bloomberg / Getty Images


volljährig sein und eine chinesische markt der Welt. Steigen die Chinesen
Ausweisnummer vorweisen können. vermehrt auf Mobilitätsdienste um,
Der Preis liegt deutlich unter einer bricht diese Ertragsquelle weg – denn
gewöhnlichen Taxifahrt. Volkswagen und Co. haben keinen
Im August startete Apollo den ers- vergleichbaren Service zu bieten.
ten kommerziellen Betrieb mit Robo- Mehr als zwei Drittel des Robo-
taxis. In Wuhan und Chongqing fah- taxigeschäfts, prognostizieren die Be-
ren sie in einem Testgebiet komplett rater der Boston Consulting Group,
autonom, in Peking sitzt noch ein werden 2035 in den USA und China
Mensch auf dem Beifahrersitz – jede gemacht. Europa scheint in fast jeder
Stadt in China kann das selbst regeln. Hinsicht benachteiligt, auch architek-
Zusätzlich werden die Fahrten in der tonisch. Historisch gewachsene Städ-
Konzernzentrale noch von einem te wie Paris, Rom oder Berlin haben
Fahrer aus der Distanz begleitet, der eine höhere Verkehrsdichte und häu-
in einem Cockpit mit Lenkrad sitzt fig enge Straßen. Auf den Verkehrs-
Ng Han Guan / AP / picture alliance

wie in einer übergroßen Spielkonso- adern der US-Metropolen mit ihrem


le und im Erstfall einschreiten kann typischen Schachbrettmuster tun sich
wie ein Fahrlehrer. selbstfahrende Autos leichter. In Chi-
Das Selbstbewusstsein der Baidu- na werden neue Wohnviertel und
Ingenieure endet nicht an der Landes- Metropolen gezielt aufs autonome
grenze. Ihre Flotten seien in der Lage, Fahren ausgerichtet.
in jeder Stadt der Welt eingesetzt zu Am Messestand in Las Vegas zückt
werden, sagt Markenchef Wang. Im Milliardär Li Shufu sein iPhone. Er
Jahr 2025 werde es mehrere Anbieter Mercedes-Modell Autos. Der Besitz einer eigenen Ka- fotografiert einen himmelblauen Lkw
von autonomen Fahrdiensten geben, EQS mit Fahr- rosse wird laut Baidu-Prognose zum mit der Aufschrift »Waymo Via«, der
assistent, Kontroll-
die in großem Maßstab rund um den raum in Peking, reinen Hobby werden. Es werde im- neben einem Robotaxi geparkt ist.
Globus tätig sind: »Wir werden defi- Robotaxi von Baidu: mer Leute geben, die einen Oldtimer Den computergesteuerten Lastwagen
nitiv einer davon sein.« Eine der größten kauften oder eine G-Klasse von Mer- hat Waymo gemeinsam mit einem
Wie systematisch die Chinesen da- »disruptiven Inno­ cedes, sagt Wang, »Liebhaber, die Hersteller aus Stuttgart entwickelt:
vationen«
bei vorgehen, zeigt ihr Vierstufen- süchtig danach sind, das Geräusch Daimler Truck. Li, der Anteile an
plan. Stufe eins, die Digitalisierung, eines Motors zu hören«. Aber die Daimler hält, wirkt beeindruckt.
sei bereits erreicht, sagt Wang. Als Mehrzahl der Autos werde zum »öf- Dabei liefern die Deutschen vor
Nächstes müssten die Autos unter- fentlichen Eigentum«. Statt sich zwei allem die tonnenschwere Hardware.
einander, aber auch mit smarten Am- Tonnen Blech anzuschaffen, das die Die künstliche Intelligenz stammt von
peln kommunizieren. Danach folgt meiste Zeit ungenutzt in der Garage der Google-Schwester. Eine Arbeits-
Stufe drei, »die Verwirklichung des herumsteht, würden die Menschen teilung, die symbolträchtig ist: Die
autonomen Fahrens«. einen Flottenservice buchen, bequem KI kommt aus Kalifornien, das Blech
Der vierte Schritt dann dürfte den über eine App. aus Stuttgart.
deutschen Autobossen wirklich Angst Für Europa mögen solche Visionen Alexander Demling, Christoph Giesen,
einjagen: die Entprivatisierung des noch utopisch erscheinen, in China Simon Hage, Martin Hesse n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 61


WIRTSCHAFT

terher. Wenn der alternde Boss-Kun-


TikTok-Star Khaby Lame de mal was wagte, kombinierte Mann
in Boss-Kampagne
statt Hemd einen Rolli – und hielt sich
schon für hip.
Den Investoren lieferte das eine gan-
ze Weile verlässlich Dividende, zwi-
schenzeitlich wurden 80 Prozent der
Gewinne ausgeschüttet. Weiterent-
wickelt wurde indes kaum etwas, das
Wachstum blieb aus. Als das allmählich
zum Problem wurde, versuchte es
Claus-Dietrich Lahrs, Boss-Chef bis
2016, mit Luxus. Er kappte die Marke-
tingbudgets, veredelte das Sortiment
und wollte Boss näher an Marken wie

Giovanni A. Mocchetti / HUGO BOSS


Gucci und Prada heranführen. Die mög-
lichst teure Ware sollte nicht mehr im
Kaufhaus nebenan zu finden sein, son-
dern nur mehr in eigenen Boutiquen.
Als Lahrs zu s.Oliver wechselte, wo
er inzwischen auch schon wieder weg
ist, führte der bis dato Finanzchef Mark
Langer den Kurs entschlossen fort: ers-
te Reihe, höchste Preise. Und das, ob-
wohl das Konzept schon bei Lahrs’
Abgang nicht mehr wirklich funktio-

Jeder ein Boss nierte. In der Folge brachen Kunden-


zahlen, Umsatz und vor allem der Bör-
senwert ein. Binnen wenigen Jahren
hatte Langer den Kurs des Modekon-
MODE Die Marke Boss galt als zu verstaubt, zu teuer, zu männlich. zerns gedrittelt. Entsprechend genervt
waren zum Schluss die Investoren.
Dann kam Daniel Grieder und warf alles um. Statt auf Luxus Nun also die Rolle rückwärts. Boss
setzt er auf Masse, statt auf dezenten Chic für Karrieretypen auf lärmende verabschiedet sich aus der Exklusiv-
Mode für junge Leute. Ist das nur gewagt – oder schon Harakiri? liga, will mit »affordable luxury« die
breite Mitte ansprechen, alltäglichere,
populärere, auch günstigere Mode
raußen auf der Oxford Street ebensolchen sofort bestellt habe, prahlt produzieren – und endlich das Ge-
D beginnt es zu nieseln, drinnen
ist Daniel Grieder, 61, bester
Laune. Der Boss-Chef läuft durch sei-
der Hausherr der Filiale. Auch wegen
solcher Aktionen liegt wohl der Qua-
dratmeterumsatz in London zweiein-
Mainstream
statt Luxus
schäft ankurbeln. Masse statt Klasse
sei nun wohl die Devise in Metzingen,
sagen jene, die es nicht gut mit Grie-
nen neuen Flagship-Store mitten in halb Mal höher als anderswo. Marge vor Abzug von der meinen. Seit gut anderthalb Jah-
London, stoppt vor einem Tresen vol- Für das chinesische Jahr des Ha- Steuern für das ren läuft das Experiment.
Geschäftsjahr 2021,
ler Kram und lächelt breit. Da liegen: sen, das dieser Tage beginnt, hat Grie- in Prozent Grieder hat sich viel vorgenom-
Union-Jack-Cappies und Poloshirts, der wieder umdekorieren lassen. Mit men: Er will die Umsätze bis 2025 auf
auf deren Brust kleine London-Taxis goldfarbenen Bugs-Bunny-Manschet- PVH-Gruppe* vier Milliarden Euro verdoppeln, die
pappen, eine Polaroidkamera und ein tenknöpfen und einer Looney-Tunes- 10,6 Marke wieder unter die Top 100 der
London-Reiseführer. Das Sammelsu- Kollektion soll Boss das Reich der Abercrombie & Fitch Welt bringen, die gebeutelte Marge
rium ist nicht bloß Deko, es gibt alles Mitte erobern. Das könne »etwas 8,3 auf 12 Prozent steigern und nur noch
auch zu kaufen. Die Hälfte seiner ganz Großes« werden, sagt Grieder. Hugo Boss 30 bis 50 Prozent der Gewinne regel-
Kunden seien Touristen, sagt Grieder, Hasen in Anzügen also. Ist das für 8,1
mäßig ausschütten. Den Rest braucht
»die lieben solche Souvenirs«. ein Unternehmen, das gerade eben er für die Expansion, seine »24-Stun-
* Dazu gehört z.B. Tommy
Keine Kooperation ist Grieder zu noch als Inbegriff deutscher Chefeta- Hilfiger.
den-Lifestyle-Brand«, samt Nacht-
weit hergeholt, kein Anlass zu gering, genmode galt, nur gewagt? Oder wäsche, Jogginganzug, Kinder- und
kein Modegag zu überdreht. Immer ist schon Harakiri? Aktienkurs von Hugo gar Hundekollektion.
was los. Zum traditionellen Wimble- Boss bleibt Boss, das war einmal. Boss, Wochenwerte Und das alles gern grell, bunt, dick
in Euro
don-Turnier wurde ein übergroßer Ten- Noch Anfang der 2000er-Jahre war aufgetragen. Oder schon prollig?
nisschläger auf den Londoner Tresen der Name in den Konzernen Pro- Im Juni 2021 Grieder, der elf Millionen Euro Jah-
geklotzt, nebst eigener Turnierkollek- gramm: Laptop, Handy, Dienstwagen wird Grieder ressalär für seine Mission »Come-
tion. Im Sommer gab es eine Boss- und eben der Boss-Anzug waren die 80 CEO bei Boss. back« erhält, formuliert das natürlich
Fahrrad-Linie mit 5000 Pfund teurem Insignien einer gut laufenden Karriere. 60 58,94 vornehmer. Es gehe um die »Neuer-
E-Bike, für das sich tatsächlich 15 Käu- Doch während sich die Welt – und 40
findung eines etwas angestaubten
fer fanden. Vor ein paar Wochen fuhren die Mode – weiterentwickelte, jünger, Klassikers«.
20
sie für Boss’ Porsche-Wochen eigens weiblicher, lässiger wurde, traten sie Manch einer in Metzingen fragt
einen GT3 (von null auf 100 km/h in in Metzingen auf der Stelle, produ- sich trotzdem: Geht’s noch?
3,4 Sekunden) in die Londoner Lobby. zierten schwarze und blaue Eintönig- 2016 2023 Das Verrückte ist: Grieder liefert,
Ein Kunde war vom 300 000-Pfund- keit von der Stange. Qualitativ nicht S Quellen: macrotrends,
während der Rest der Branche darbt.
Flitzer so begeistert, dass er sich einen schlecht, modisch immer weiter hin- Refinitiv; Stand: 20. Januar Vor allem Anzughersteller leiden

62 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


WIRTSCHAFT

unter der anhaltenden Lust am Homeoffice Boss wollen wir künftig die Millennials anspre- sagt Grieder. So eine Pose passe nicht zur
und der »Casualization« ganzer Käufergene- chen. Mit der Marke Hugo die Generation Z.« Dynamik, die er ausstrahlen wolle. Zu seinem
rationen, dem Trend zu sportlicherer, weniger Erlaubt und erwünscht ist, was knallt. Dazu erkennbaren Willen, voranzugehen, umzu-
schicker Kleidung. Derweil übertrifft Boss brauche es: ständig neue Kollektionen, Insta- bauen, etwas zu verändern. Grieder lässt sich
sogar alle Erwartungen und schreibt Rekord- gram- und YouTube-Influencer, Mut und Spaß nur im Stehen ablichten. Ein Boss wie er sitzt
zahlen. 31 Prozent Wachstum im vergangenen am Experimentieren, erklärt Falcioni. Und dazu nicht still. Das ist seine Botschaft.
Jahr. Allein im vierten Quartal 2022 kamen passt, dass Topmodel Naomi Campbell, Ikone Mit seinen beiden Vorstandskollegen Yves
15 Prozent hinzu. Mehr als 3,6 Milliarden der Exaltiertheit, das neue Gesicht der Marke Müller (Finanzen) und Oliver Timm (Opera-
Euro setzte Grieder 2022 insgesamt um und werden soll. Sie hat sich für diesen Tag auf dem tives) hat Grieder einen umfassenden Werbe-
kratzt damit schon jetzt an der selbst gesetz- frisch sanierten Boss-Campus angekündigt. Die plan entworfen, intern »holy shit« genannt:
ten Vier-Milliarden-Euro-Marke. Vor Steuern Mitarbeiter sind ziemlich aufgekratzt. Sie renovieren die Firmenzentrale im Schwä-
blieben 335 Millionen Euro hängen – fast Man dürfe Boss’ globales Potenzial nicht bischen, stecken 500 Millionen Euro in das
50 Prozent mehr als zuletzt. unterschätzen, sagt Falcioni. Nur 14 Prozent Filialnetz, 50 Millionen Euro jährlich in die
Die Branche staunt, erste Experten von des Geschäfts mache Boss in Deutschland. Der Digitalisierung, 70 Millionen Euro mehr pro
Modefachhochschulen haben sich in Metzin- Rest finde weltweit statt, und da werde der Jahr ins Marketing als früher. Zeitweise be-
gen angekündigt, um in Fallstudien Grieders Name Boss vor allem verbunden mit deutscher anspruchten die Werbekosten einen zweistel-
Geheimnis zu lüften. Wie nur, wollen sie wis- Qualität. Eine Marke, die man nun neu auf- ligen Prozentsatz an den Umsätzen – was in
sen, schafft der Typ das? Oder ist all das ledig- lade. Auch mit Jogginghosen und Bugs-Bunny- der Branche als hoch gilt. Womöglich zu hoch.
lich teurer Budenzauber, dessen wahrer Preis Pullis. So, glaubt er, werde Boss wieder beliebt. »Die kaufen sich gerade einfach Marktan-
sich erst in einigen Jahren zeigt? Nur: Wird Boss so nicht auch beliebig? teile«, ätzt ein Berater. Grieder streitet das
»Boss ist die Story, die die ganze Branche Grieder will davon nichts wissen. Er hat kaum ab, lässt stattdessen im Fachblatt »Tex-
elektrisiert«, sagt der Mode-Grandseigneur sich im Londoner Store in Schale geworfen, tilwirtschaft« wissen, er könne sich dieses Jahr
einer großen Analystenfirma. Grieders Auf- erscheint in den drei neuen Stammfarben des gar Übernahmen vorstellen.
takt sei »gigantisch« gewesen, er feuere »aus Unternehmens: schwarzer Anzug, weißes Der Handel goutiert den Kurs. Sicher gebe
allen Rohren«. Nur: »In jedem guten Drama Hemd, kamelfarbener Mantel. Die Haare es bei einem solchen Umbau ein Risiko, sagt
kommt nach einem fulminanten Auftakt bald streng nach hinten gegelt, das Gesicht braun Mark Rauschen, Chef des Osnabrücker Mode-
danach die Wende.« gebrannt – also durchgestylt wie immer –, kaufhauses L & T. Aber Grieders Plan funktio-
Die Kritiker warten jedenfalls in sicherer trifft er internationale Investoren, um sie von niere. Rauschen freut sich über »Zugriff auf die
Deckung ab, wie lange Grieders Glück anhält. seiner neuen Strategie zu überzeugen. Die guten Kollektionen«, moderne Ware zu guten
»Daniel weiß, wie man eine Rakete anzün- Blaupause: Tommy Hilfiger. Konditionen, nicht nur langweilige Anzüge.
det«, sagt ein Manager, der lange unter Grie- In seinen 23 Jahren vor Boss hat Grieder die Seine Kunden müssten nicht immer nach Düs-
der gearbeitet hat. »Aber er surft auf einer amerikanische Modemarke nach der gleichen seldorf oder Hamburg, um ordentlich zu shop-
Welle, die er selbst kreiert hat. Mal schauen, Masche umgekrempelt: Er hat die eher sport- pen. Er könne dank Grieder nun mithalten.
wie lange die trägt.« Irgendwann werde Boss liche und lässige Hilfiger-Garderobe um Anzüge, Im Gegenzug räume er der Marke mehr
die Marketingausgaben herunterfahren müs- klassische Teile und festliche Mode ergänzt – Raum ein – und die beliebten Plätze direkt bei
sen, allein schon, um die vergleichsweise und drei Grundfarben betont: Weiß, Rot, Blau. den Rolltreppen. »Wir haben Grieders Story
schwache Marge von neun Prozent zu heben. Bei Boss läuft es nun andersherum: Diesmal geglaubt und gekauft«, sagt Rauschen. Vor
Spätestens dann, sagt der Manager, werde sich erweitert Grieder die existierende Anlassmode allem weil er bei Hilfiger solch einen Erfolg
zeigen, ob Boss sich auf dem hohen Niveau um Casual-, Sport- und Freizeitkleidung, fügt gehabt habe. Für Rauschen hat sich die Loya-
halten könne. »Das Missliche an den jungen Schwarz und Weiß Braunbeige hinzu. lität ausgezahlt. Boss sei im vergangenen Jahr
Kunden ist ja, dass sie ebenso schnell wieder »Ich habe das alles schon einmal gemacht«, eine seiner bestlaufenden Marken gewesen.
weg sind, wie sie kamen – wenn sie nicht dau- sagt Grieder. Tommy sei mehrmals am Boden Boss’ Wandel sei »überverkauft«, warnt
ernd etwas Neues geboten bekommen.« gewesen, er habe die Firma da jedes Mal raus- der Manager eines großen Onlinehändlers.
Tatsächlich lebt Grieders Erfolg momentan geholt. Eine Sache sei ihm dabei klar geworden: Günstigere Preise, jüngere Zielgruppe, das sei
vor allem vom Breittreten der Marke. Er re- »In der Krise immer Gas geben«, sagt der ein Selbstläufer. Langfristig aber leide die An-
aktivierte den traditionellen Einzelhandel und Schweizer. »Und so viel Krise wie jetzt war nie.« ziehungskraft und der »Heat« der Marke.
machte ihn zu seiner wichtigsten Absatzplatt- Also geht er in die Vollen. Als die Foto- Irgendwann seien dann wohl großzügige Ra-
form. Investierte Millionen in die sozialen grafin ihn bittet, sich doch hinzusetzen für das batte notwendig, um für die vielen Teile noch
Netzwerke und das Onlinegeschäft. Verpflich- Bild, wird sein Blick starr. Ob ihm das unan- Käufer zu finden. »Der wahre Preis dieser
tete etwa Khaby Lame, mit mehr als 154 Mil- genehm sei, will die Fotografin wissen? Ja, Strategie wird sich erst in ein paar Jahren in
lionen Followern größter TikTok-Star der der Bilanz wiederfinden.«
Welt – was Boss 2022 fast 50 Milliarden So- Grieder winkt ab. Was, fragt er, sei denn die
cial-Media-Klicks bescherte. Alternative gewesen? »In Klasse sterben oder
Damen und Kinder werden als Kunden qua- eine neue Klasse finden«, darum gehe es. Im
si neu entdeckt, das Sortiment wird stark er- Übrigen habe er bislang meist recht behalten.
weitert. Statt Büroanzügen und Abendgarde- Der Mann ist sich seiner Sache so sicher,
robe hängen vor allem Jogginghosen, Pullover dass er sogar gegen seine beiden Söhne ge-
und Lederjacken auf den Kleiderständern, wettet hat. Weshalb er sich einen solch
zumeist bedruckt und bestickt mit dicken, fet- schwierigen Fall antun wolle, hatten die ihn
ten Boss-Lettern. Mittelfristig, so Grieders vor seinem Wechsel zu Boss gefragt. Wie er
Plan, soll die klassische Garderobe nur noch es je schaffen wolle, die Marke cool und pro-
die Hälfte des Sortiments ausmachen. fitabel zu machen. »Gebt mir zwei Jahre«,
Dezentes Understatement, lange Kern der antwortete Grieder.
Marke, war gestern. Heute lässt Chefdesigner Familienintern gilt die Wette als gewon-
Marco Falcioni, ein Mann, der es liebt, Freizeit- nen. Der mittlerweile eingelöste Einsatz: eine
HUGO BOSS

Chic zu tragen und zu kreieren, einen hellblauen Umarmung. Für die Firma steht da mehr auf
»Miami Vice«-Anzug aus den Achtzigern aus dem Spiel.
dem Lager holen, um sich zu inspirieren. »Mit Manager Grieder Simon Book n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT

gen Kinderarzneimitteln um rund 18


Prozent höher als noch 2019. Auf­
grund der vielen kursierenden Infek­
te unter Kindern, vom Respiratori­
schen Synzytial­Virus bis zur Influen­

In der Fieberkurve za, hat das trotzdem nicht gereicht.


Und so hat sich eine bittere Wahr­
heit in Deutschland und Europa of­
fenbart: Die Pharmabranche ist ähn­
PHARMAINDUSTRIE Ibuprofen-Säfte für Kinder waren zuletzt gefährlich lich abhängig von ausländischen Zu­
lieferern wie die Energieindustrie.
knapp. Auch bei anderen Medikamenten herrscht Mangel. Während sich die Versorger vor al­
Ein Grund ist die fast komplette Abhängigkeit von Wirkstoffherstellern lem an Russland gekettet haben,
in Indien und China. Wie kommt Europa da raus? hängt der Medizinsektor am Tropf
von Indien und China. »Drehen die
uns den Hahn zu, stehen wir ohne
ie Fläschchen sind nicht größer während andere Apotheken bereits Antibiotika da«, sagt der CEO eines
D als eine Kinderfaust, Sekunde
um Sekunde werden sie befüllt,
im Takt der Maschinen. Zuletzt
leere Regale hatten. Denn die Al­
ternative Paracetamol bieten nur
noch zwei Hersteller in Deutschland
großen Pharmakonzerns, der nicht
öffentlich reden will, um nicht als
Panikmacher dazustehen.
45 000 Stück am Tag, 12,5 Millionen als Saft an, Bene Arzneimittel und Ein paar Türen neben der Ibuflam­
im Jahr. Ein Roboterarm schraubt die Ratiopharm. Produktionsstraße in Prag stehen
Deckel zu, ein anderer klebt ein Eti­ Dabei war das Angebot an Fieber­ braune Fässer im Flur, jeweils befüllt
kett darauf: Ibuflam, 100 Milliliter saft im vergangenen Jahr sogar be­ mit 25 Kilogramm reinen Ibuprofens.
Suspension. Jener Stoff, den Eltern in sonders hoch. Laut Bundesinstitut für Ein Fass trägt die Batch­Nummer
den vergangenen Wochen verzweifelt Arzneimittel und Medizinprodukte 2205004M, Haltbarkeit fünf Jahre.
in Apotheken zu ergattern versuch­ lagen die Einkäufe durch Apotheken Das weiße Pulver ist Teil der Roh­
ten. Jener Fiebersaft, der rund 43 Pro­ bei paracetamol­ und ibuprofenhalti­ ware für den Saft. Der Wirkstoff
zent Marktanteil in Deutschland hat kommt aus China von der Firma Bio­
und zuletzt vielerorts knapp wurde. cause, die in Jingmen in der Hubei­
Gerade mal vier Menschen arbei­ Dem Weltmarkt ausgeliefert Provinz sitzt.
ten in dem keimarmen Fabrikraum am Das Europäische Direktorat für die
Rande der tschechischen Hauptstadt Die größten Fabriken für den Wirkstoff Ibuprofen, Qualität von Arzneimitteln weist elf
maximale Jahresproduktionskapazität, in Tonnen*
Prag. Eine Frau legt immer mal wieder aktive Zertifikate für die Herstellung
Beipackzettel in den Schlitz einer Ma­ Firma Kapazität Land von Ibuprofen aus: Sieben der Her­
schine nach, zwei Männer schauen steller davon sitzen in Indien, zwei in
gelangweilt einem Industrieroboter IOLCP 12.000 Indien China, einer in den USA. Auch der
zu, wie er Pakete auf einen Hubwagen Solara 8400 Indien deutsche Chemiegigant BASF produ­
hievt, bevor die Paletten Richtung ziert seit mehr als 20 Jahren Ibupro­
Deutschland geschickt werden. Shandong Xinhua 5000 China fen, allerdings im texanischen Bishop.
Hätten sie hier in Prag bei Zentiva BASF 5000 USA In der Generikaindustrie, also bei
die Produktion nicht massiv aus­ jenen Pharmafirmen, die Kopien äl­
geweitet und die Maschinen durch­ Biocause 4800 China terer Medikamente mit ausgelaufe­
gängig laufen lassen, wäre die Not SI Group 4500 USA nem Patentschutz vertreiben, hat sich
beim großen Nachbarn noch größer eine strikte Aufgabenteilung einge­
gewesen. * entspricht 80 bis 85 Prozent des Weltmarktes bürgert. Der Wirkstoff wird fast nie
Fiebersaft ist zum Symbol dafür S Quelle: MOFSL, Stand: 2020 selbst hergestellt, sondern eingekauft.

geworden, wie wackelig die Versor­ Zentiva in Prag ist für seinen Fie­
gung mit Arzneimitteln in Deutsch­ bersaft auf China angewiesen. Mana­
land ist. Der Wirkstoff Ibuprofen ist Ibuprofen-Produktion im ger Tomás Pala sagt, dass die Chine­
weder das einzige noch das wichtigs­ chinesischen Xiangyang sen vertragstreu liefern würden – so­
te Medikament, an dem es mangelt. fern Lieferketten, Logistikengpässe
Aktuell fehlt es an: Krebsmedika­ und der Eigenbedarf daheim das eben
menten, Antibiotika, Hustenlösern, zulassen.
Blutdrucksenkern, Blutverdünnern, Alternative Lieferanten anderswo?
Psychopharmaka, Schilddrüsenme­ Gebe es nur theoretisch, sagt er.
dikamenten, Magensäureblockern, Man müsse – die Qualitätskontrol­
Impfstoffen, Schmerzmitteln. Und le in Europa eingerechnet – bis zu
die Liste ist längst nicht vollständig; sechs Monate einplanen, bis Ware
rund 400 Arzneimittel sind derzeit nur verfügbar sei. Allein die Genehmi­
schwer oder gar nicht lieferbar. gung für den Wechsel eines Wirkstoff­
Yang Dong / VCG / Getty Images

Beim Fiebersaft geriet die Lage herstellers zu bekommen, dauere.


zwischenzeitlich regelrecht außer Und den Stoff in Europa herzustellen,
Kontrolle. Ängstliche Eltern kauften würde sich ohne staatliche finanziel­
panisch auf Vorrat ein. Manch findige le Hilfe nicht rechnen, sagt Pala.
Apotheke bestellte palettenweise, Was also, wenn China nicht liefert?
solange es noch ging, um später das 2020 hätte ein Weckruf sein kön­
große Geschäft machen zu können, nen. Die indische Regierung be­

64 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


WIRTSCHAFT

schränkte über Nacht die Lieferung von 13


Wirkstoffen ins Ausland, darunter Paraceta- SPIEGEL TV Programm
mol, das Herpesmittel Aciclovir, das Anti-
biotikum Clindamycin. Die Alarmstimmung
hielt nicht lange an, weil Indien rasch wieder
Nachschub bereitstellte.
»Uns geht es wie Autoherstellern oder
Baubetrieben. Es fehlt immer etwas irgend-
wo«, sagt Zentiva-Manager Pala.
Der Unterschied: »Wenn ich ein neues
Auto bestelle und es nicht geliefert werden
kann, fahre ich mein altes Auto eben länger.
Fehlt aber mein Herzmedikament, habe ich
ein echtes Problem.«
Nicht nur der Wirkstoff kann ausgehen.
Auch bei den Fläschchen kam es zu Liefer-
ausfällen, weil Aluminium fehlte. Selbst simp-
les Verpackungsmaterial birgt Chaospoten-
zial. Bei Folien konkurrieren Pharmafirmen
mit Markenartiklern wie Coca-Cola; Roh-
ware für Sichtverpackungen war zeitweise
kaum zu beschaffen.

SPIEGEL TV
Hinzu kommt die Papierknappheit. »Nimmt
man dickeres oder dünneres Papier, ändern
sich die Maschineneigenschaften. Das kann
High-Deck-Siedlung in Berlin-Neukölln
dazu führen, dass weniger Fiebersaft vom
Band läuft«, sagt Pharmamanager Pala.
Und dann ist da noch das Geld. SPD-Bun- SPIEGEL TV viele Auswanderer ein Sehnsuchtsziel.
desgesundheitsminister Karl Lauterbach, 59, MONTAG, 30. 1., 23.15 – 0.00 UHR, RTL Was macht seine Faszination aus?
gab im Dezember unumwunden zu, dass bei
generischen Arzneimitteln zu sehr gespart Mitten in der Hauptstadt
wurde. und trotzdem am Rand der HARTES DEUTSCHLAND – LEBEN
Nachdem er die Krankenkassen dazu be- Gesellschaft IM BRENNPUNKT
wogen hatte, die Festbetragsregelung für be- Innenansichten der Neuköllner DONNERSTAG, 2. 2., 20.15 – 22.15 UHR, RTL ZWEI
stimmte Kinderarzneimittel zunächst für drei High-Deck-Siedlung
Monate auszusetzen, plant er nun eine grund- Folge 46 – Ruhrgebiet
legende Reform der Arzneimittelvergütung, Invasion der Ewiggestrigen Das Ruhrgebiet galt einst als Motor
auch um Knappheiten vorzubeugen. Die Das Leben der Völkischen Siedler in der deutschen Industrie. Schon lange
Pharmahersteller könnten dazu verpflichtet der Heide kämpft die Region mit überdurch-
werden, einen Teil ihres Angebots in Europa schnittlich hoher Arbeitslosigkeit. In der
zu produzieren. Dafür erhielten sie mehr
Geld. ARTE RE:
So gut das in der Theorie klingt, so schwie- MONTAG, 30. 1., 19.40 – 20.15 UHR, ARTE
rig ist die Umsetzung. Wirkstoffe, die in
Europa hergestellt werden, sind im Schnitt Auswanderer in Grönland –
20 Prozent teurer – eine Menge Geld im Lust auf Eis und Einsamkeit
margenschwachen Generikageschäft. Manch Mächtige Eisberge, klirrende Kälte,
einer hat auch wettbewerbsrechtliche Be- dunkle Winter. Wer in Grönland lebt,

RTLZWEI, SPIEGEL TV
denken. Man könne schließlich nicht einfach muss das arktische Klima und die
per Gesetz Lieferanten aus Asien benach- Einsamkeit mögen. Die größte Insel der
teiligen. Welt ist zugleich eine der am dünnsten
Das Ministerium erklärt auf Nachfrage, besiedelten Regionen. Nur ein geringer
Lauterbach wolle, dass etwa Krebsmedika- Teil Grönlands ist überhaupt bewohnbar. Heroinabhängiger Frank
mente oder Antibiotika »mit Wirkstoffpro- Dennoch ist der arktische Norden für
duktion in der EU bei Ausschreibungen von zweiten Ruhrgebiet-Folge lernen die
Kassenverträgen künftig bevorzugt werden SPIEGEL-TV-Journalistinnen den 48-jäh-
sollen«. rigen Frank kennen. Als seine Ehe zer-
Ob es mit ein paar Subventionen zur bricht, landet der gelernte Tischler auf
Standortpflege getan ist? der Straße. Dort verschlechtert sich der
Selbst bei teuren Originalprodukten wur- Zustand seines stark entzündeten Beins.
den in letzter Zeit auffällig viele Liefereng- Heroin und Kokain schwächen das
pässe beobachtet. Am Geld kann es da nicht Immunsystem des Dortmunders zusätz-
liegen, weil der Patentschutz billigere Kopien lich. Er muss ins Krankenhaus, fürchtet
verbietet. Trotzdem vertrauen die Pharma- eine Amputation – oder Schlimmeres.
SPIEGEL TV

firmen oft auf nur eine Produktionsstätte. Das Der 19-jährige Julian lebt in Bochum
ist einfach gewinnträchtiger, weil effizienter ebenfalls auf der Straße. Mit 13 Jahren
und kostengünstiger. Angler Max Audibert im Sermilik-Fjord im konsumiert er zum ersten Mal Heroin.
Martin U. Müller n Osten Grönlands Drei Entgiftungen hat er hinter sich.

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 65


WIRTSCHAFT

Wissenschaftler Zucman haben sich mehr als 135 Staaten auf eine
Mindeststeuer von 15 Prozent für große
Unternehmen geeinigt. Damit wird zum ers-
ten Mal eine Untergrenze für die Besteuerung
bestimmter Gewinne festgelegt. Aber grund-
sätzlich haben Sie recht: Es gibt immer noch
einen Abwärtswettlauf bei den Unternehmen-
steuern, Vermögensteuern sind auf dem Rück-
zug, und es fehlt an Ambitionen für progres-
sivere Einkommensteuern.
SPIEGEL: Wie kommt das?
Zucman: Erstens ist der Glaube verbreitet,
dass hohe Steuern in einer globalisierten
Welt zum Scheitern verurteilt sind, weil Rei-
che und Unternehmen in andere Länder aus-
weichen. Zweitens betreiben die Profiteure
erfolgreich Lobbyismus für den Status quo.
SPIEGEL: Etliche Milliardäre wie Warren
Buffett rufen längst nach höheren Steuern
für sich und ihresgleichen. Warum geht die
Politik darauf nicht ein?
Zucman: Immerhin wird heute mehr über
Steuern für Superreiche diskutiert. US-Prä-

»Europas sident Joe Biden hat in seinem letzten Haus-


haltsplan eine Mindeststeuer von 20 Prozent
für Menschen mit einem Vermögen von über
100 Millionen Dollar vorgesehen. Er ist damit

Empörung ist gescheitert, aber nur knapp. Die Überzeu-


gung wächst, dass der Anstieg der Ungleich-
heit gestoppt werden muss.
SPIEGEL: Was ist problematischer: die priva-

heuchlerisch« te Steuervermeidung durch Milliardäre oder


jene durch Unternehmen?
Zucman: Beide Probleme sind groß, und sie
hängen zusammen. Superreiche beziehen ihr
Einkommen oft vor allem aus Firmenanteilen.
Wenn Unternehmen ihre Gewinne in Steuer-
oasen verschieben, profitieren besonders ihre
vermögenden Anteilseigner.
Simon Lamber t / Haytham Pictures / REA / laif

SPIEGEL: Das dürfte mit der geplanten Ein-


führung der globalen Mindeststeuer von
15 Prozent für Unternehmen kaum noch mög-
lich sein. Nach jüngsten Schätzungen der
OECD werden die unterzeichnenden Staaten
damit rund 220 Milliarden Dollar pro Jahr
einnehmen.
Zucman: Das ist ein Erfolg. Trotzdem hat die
Reform viele Schwächen. Der Mindeststeuer-
satz von 15 Prozent ist viel zu niedrig. Die
Mittelschicht in Deutschland zahlt 30 bis 40
Prozent, wenn man alle Steuern einrechnet.
FINANZEN Gabriel Zucman gilt als der Robin Hood unter den Ökonomen. Es ist nicht zu verstehen, warum einige der
profitabelsten Unternehmen so viel weniger
Er hat viele Schlupflöcher in der globalen Mindeststeuer zahlen sollen. Selbst die 15 Prozent dürften
ausgemacht und warnt vor einem Wettlauf um immer niedrigere Abgaben. in vielen Fällen nicht abgeführt werden.
Die Regierungen müssten viel aktiver für Gerechtigkeit sorgen. SPIEGEL: Warum nicht?
Zucman: Die Mindeststeuer wird nicht fällig,
wenn ein Unternehmen in einem Land
Zucman, 36, forscht seit Jahren zu Vermö- Bekämpfung von Steuerhinterziehung unter- wirtschaftliche Aktivitäten nachweisen kann
gensverteilung und Steuern. Der gebürtige stützen soll. – also Fabriken oder Mitarbeiter. Es wird
Franzose gilt als Ziehsohn des Kapitalismus- mit der Reform also lediglich verhindert,
kritikers Thomas Piketty, unterstützte den SPIEGEL: Herr Zucman, seit Jahren fordern dass Firmen ihre Gewinne auf dem Papier
demokratischen Kandidaten Bernie Sanders Organisationen wie Oxfam oder der Club of in Steueroasen verschieben, in denen zum
im US-Präsidentschaftswahlkampf und hat Rome höhere Steuern für Reiche, doch es Teil null Prozent erhoben werden. Aber die
sich den Ruf eines Kämpfers für die Armen geschieht eigentlich nichts. Wovor hat die Verlagerung von Produktion in Niedrig-
erarbeitet. Zucman lehrt in Berkeley und Politik solche Angst? steuerländer ist weiterhin möglich. Da ist
Paris und leitet seit 2021 die Europäische Zucman: Ich würde nicht sagen, dass gar dem Wettlauf nach unten keinerlei Grenze
Steuerbeobachtungsstelle, die die EU bei der nichts passiert. Unter der Führung der OECD gesetzt.

66 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


WIRTSCHAFT

SPIEGEL: Die OECD argumentiert, die 15 Pro- sollte der Staat die zusätzlichen Einnahmen
zent seien nur ein Anfang. Es stehe jedem
»Es ist nicht hinnehmbar, behalten, anstatt Einkommensteuern zu senken.
Land frei, höhere Sätze zu erheben. dass Milliardäre den Die USA benötigen höhere Einnahmen, um in
Zucman: Viele Staaten haben schon heute das Gesundheitswesen oder in Bildung zu in-
einen Unternehmensteuersatz von über 15
niedrigsten effektiven vestieren. Länder wie Frankreich könnten dage-
Prozent – ihnen macht es die Reform nicht Steuersatz haben.« gen Steuersenkungen für Arbeiter und Familien
leichter, 20 oder 25 Prozent zu verlangen. Ich in Betracht ziehen. Grundsätzlich besteht in
bin auch nicht optimistisch, dass sich die allen Staaten ein Bedarf an Investitionen in
OECD bald auf einen höheren Satz verstän- Infrastruktur, höhere Bildung und andere öf-
digt. Für diese Abkommen gilt das Prinzip alle Unternehmen zu senken, fossile Indus- fentliche Güter. Sie sind der wichtigste Motor
der Einstimmigkeit. Das bedeutet de facto ein trien inklusive. Zweitens: Der IRA beläuft für das Wirtschaftswachstum der Zukunft.
Vetorecht für Steueroasen, die kein Interesse sich auf rund 360 Milliarden Dollar über zehn SPIEGEL: Die Lebenshaltungskosten sind
an Veränderungen haben. Jahre, das entspricht 0,1 Prozent des jährli- durch die Inflation gestiegen. Das führt zu
SPIEGEL: Entwicklungsländer wie Nigeria chen Bruttoinlandsprodukts der USA. In der wachsenden sozialen Verwerfungen.
befürchten, durch das Abkommen Steuerein- EU gab es in den vergangenen Jahren Steuer- Zucman: Die Rufe nach einer Beseitigung der
nahmen zu verlieren. Ist die Sorge berechtigt? senkungen für Unternehmen in Höhe von steuerlichen Ungerechtigkeit werden immer
Zucman: Das lässt sich schwer sagen, weil einem Prozent des BIP. lauter, das zeigen die Meinungsumfragen in
einige Regeln im Detail noch nicht feststehen. SPIEGEL: Die EU diskutiert aktuell, ob sie mit vielen Ländern. Es ist nicht mehr hinnehmbar,
Was zweifellos stimmt: Die OECD ist ein Klub einem neuen Subventionspaket reagiert. Hal- dass Milliardäre den niedrigsten effektiven
reicher Länder, der die Interessen von Ent- ten Sie das für sinnvoll? Steuersatz aller gesellschaftlichen Gruppen
wicklungsländern nicht ernst nimmt. Staaten Zucman: Das Problem an dem US-Ansatz haben.
wie Irland oder Ungarn haben viel mehr Ein- ist, dass die gezielten Entlastungen nicht mit SPIEGEL: In Deutschland zahlen Unterneh-
fluss auf die Reform als Länder wie Nigeria, einer Anhebung der generellen Steuersätze men für Körperschaft- und Gewerbesteuer
Indien oder Südafrika. Die OECD nennt den für Unternehmen verbunden sind. Eine gute insgesamt rund 30 Prozent, das ist mehr als
Reformprozess »inklusiv« – das ist eine Per- Vorgehensweise der EU wäre es daher zu in anderen westlichen Industriestaaten. Fi-
version des Begriffs. Inklusiv ist die Reform sagen: Wir zahlen Subventionen für den nanzminister Christian Lindner wünscht sich
vor allem für Steueroasen. Übergang zu einer grünen Wirtschaft, im Entlastungen. Halten Sie das für vertretbar?
SPIEGEL: Viele Staaten haben in der Corona- Gegenzug ziehen wir in allen EU-Staaten eine Zucman: Der durchschnittliche Körperschaft-
pandemie und der Energiekrise ihre Ausga- Untergrenze bei den allgemeinen Körper- steuersatz in der EU lag in den Achtziger-
ben stark erhöht. Müssen die Steuern nicht schaftsteuern ein, die über dem ambitions- jahren bei 45 oder 50 Prozent. Heute ist er
unweigerlich steigen, um die Haushalte zu losen globalen Minimum von 15 Prozent liegt, etwa halb so hoch, Deutschland liegt in der
sanieren? beispielsweise bei 25 Prozent. Nähe dieses Durchschnitts. Wenn wir den
Zucman: Wir sind tatsächlich an einem Wende- SPIEGEL: Steuernachlässe gäbe es also nur Trend fortsetzen, wird der Körperschaft-
punkt. In den letzten 15 Jahren haben sich noch bei Wohlverhalten? steuersatz in drei oder vier Jahrzehnten ver-
Regierungen in ihrer Finanz- und Haushalts- Zucman: Der Ansatz ließe sich in jedem Fall schwinden. Hinzu kommt, dass die Zeiten für
politik darauf verlassen, dass ihnen die Zen- systematisieren. Bislang fehlt es an Bedin- Unternehmen noch nie so gut waren: Ihre
tralbanken mit niedrigen Zinsen helfen. Wir gungen, die Unternehmen erfüllen müssen, Gewinne sind auf Rekordhöhe, die effektiven
erleben jetzt die Grenzen einer solchen Politik um von niedrigeren Sätzen zu profitieren. Die Steuersätze so niedrig wie seit Jahrzehnten
und ihre Nebenwirkungen, etwa die Inflation. EU könnte Steuererleichterungen etwa an nicht. Die Forderung nach einer weiteren
Deshalb bin ich sicher, dass es eine Rückkehr die Verpflichtung knüpfen, dass Firmen ihre Runde von Steuersenkungen ist deshalb ein
zu einer aktiveren Steuerpolitik geben wird. Präsenz in Steuerparadiesen verringern oder großes politisches Risiko.
SPIEGEL: Europäische Länder versuchen ge- transparenter werden. Wir brauchen einen SPIEGEL: Die USA sind vor einigen Jahren
rade, mit Übergewinnsteuern ihre Einnahmen solchen konditionierten Ansatz. vorgeprescht, um das Schweizer Bankgeheim-
zu erhöhen. Unternehmen hingegen fürchten, SPIEGEL: Steuererhöhungen taugen lediglich nis zu schleifen. Sehen Sie derzeit ein Land,
dass einmal eingeführte Belastungen nicht dann als Instrument für mehr Gerechtigkeit, das die Führung bei der globalen Mindest-
wieder verschwinden. wenn die Einnahmen denjenigen zugutekom- steuer übernehmen könnte?
Zucman: Übergewinnsteuern sind ein nütz- men, die Hilfe benötigen. Wie würden Sie das Zucman: Nein. Viele politische Entschei-
liches Instrument. Sie wurden nach den Welt- organisieren? dungsträger gehen von der Prämisse aus, dass
kriegen und der Ölkrise in den Siebzigern Zucman: Das hängt vom jeweiligen Land ab. In der einzige Weg zum Fortschritt der Konsens
erfolgreich eingesetzt – und auch wieder ab- Frankreich etwa ist das Verhältnis von Steuern ist. Das stimmt aber nicht. Die USA haben
geschafft. Aber sie sind keine Lösung für alle zum BIP sehr hoch, in den USA niedrig. Dort die Schweizer Banken damals einseitig
Probleme, weil Unternehmensteuern nur mit Wirtschaftssanktionen belegt, daraufhin
einen kleinen Teil der Staatseinnahmen aus- zogen andere Länder nach. Frankreich und
machen. Wir brauchen darüber hinaus Ver- Wie der Fiskus zugreift Deutschland hätten ebenso gut den Anfang
mögensteuern, Erbschaftsteuern und progres- machen können. Das Gleiche gilt nun für die
sive Einkommensteuern. Unternehmensteuerbelastung Einführung einer höheren Mindeststeuer von,
in ausgewählten Ländern, in Prozent
SPIEGEL: Die USA gewähren mit dem In- sagen wir, 25 Prozent.
flation Reduction Act (IRA) künftig massive Kolumbien 35,0 SPIEGEL: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Steuererleichterungen für Unternehmen, die Zucman: Nehmen wir an, ein Land würde sich
in grüne Technologie investieren. Die Euro- Deutschland 29,8 auf diese Höhe festlegen, und ein Unterneh-
päer sehen darin eine Verzerrung des Wett- USA 25,8 men zahlt weltweit weniger als diese 25 Pro-
bewerbs. Zu Recht? zent. Dann könnte die Regierung sagen: Du
Schweiz 19,7
Zucman: Die Empörung in Europa ist heuch- machst zehn Prozent deines Umsatzes bei
lerisch. Erstens sind die EU-Staaten Vorreiter Irland 12,5 uns, deshalb kassieren wir zehn Prozent dei-
in Sachen Steuerwettbewerb. Mit dem Unter- Ungarn 9,0 nes globalen Steuerdefizits ein. Diese Art von
schied, dass die USA mit ihren Entlastungen einseitigem Handeln wäre ziemlich effektiv.
auf die Förderung grüner Technologien zielen Brit. Jungferninseln 0 Man müsste es einfach nur machen.
– was besser ist, als einfach die Steuern für S Quelle: OECD; Stand: 2022, mit regionalen Steuern Interview: David Böcking, Isabell Hülsen n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 67


WIRTSCHAFT

trieb mit Industrieanlagen. Aber die Brüssels Wasserstoffförderung


Tendenz ist keine gute. kann da nicht mithalten, zumal es
In den vergangenen zehn Jahren mitunter Jahre dauert, bis die Sub-
ist der Anteil Chinas an den weltwei- ventionen genehmigt werden. Zudem
ten Elektrolyseur-Exporten auf mehr ist unklar, unter welchen Bedingun-

Fluch als 25 Prozent gestiegen, so zeigen


noch unveröffentlichte Daten des In-
stituts der deutschen Wirtschaft (IW).
gen Elektrolyseure ihren Grünstrom
von Wind- und Solarparkbetreibern
beziehen dürfen. Das bremst das

der Bürokratie Zeitgleich ist die Quote Deutschlands


auf knapp 9 Prozent abgesackt. »Die
Entwicklung«, sagt IW-Forscher Thi-
Wachstum und treibt die noch junge
Wasserstoffbranche schier zur Ver-
zweiflung.
lo Schaefer, »hat sich zuletzt weiter Der Dresdener Elektrolyseur-Her-
INDUSTRIEPOLITIK Noch ist Europa im beschleunigt.« steller Sunfire ist eins der wenigen
Geschäft mit Anlagen zur Wasserstofferzeugung Um gegen die günstige Massen- Einhörner der deutschen Wirtschaft,
ware aus China bestehen zu können, ein Start-up also, das bereits mehr als
Weltspitze. Doch China und Amerika holen müsste Europas Industrie so schnell eine Milliarde Dollar wert ist. Das
rasant auf. Verspielt der Kontinent erneut seinen wie möglich die Serienfertigung aus- Unternehmen vergrößert gerade sein
Vorsprung bei einer Zukunftstechnologie? bauen. Wird die Produktion verdop- Firmengelände, hat jüngst einen Auto-
pelt, so lautet eine Faustformel der mobilzulieferer übernommen und
Branche, sinken die Stückkosten um sitzt auf einem Berg von Aufträgen.
ie Geräte sind in etwa so groß fast ein Fünftel. Von einem »Giga- In rund 30 Prozent der Fälle steht
D wie Wohnwagen, und sie
werden unsere Zukunft bestim-
men. Es geht um Elektrolyseure, eine
Von China
eingeholt
watt-Rennen« spricht Wasserstoff-
experte Heid, bei dem es darum gehe,
»den Markt so rasch wie möglich
die finale Entscheidung aus; denn die
Kunden warten auf das zentrale Re-
gelwerk aus Brüssel, auf das sich die
geniale Technik, mittels derer ge- Weltmarktanteil bei hochzufahren«. Die EU habe dabei Beamten bis heute nicht einigen
wöhnliches Wasser in Wasserstoff den Elektrolyseur- gut begonnen, sagt der McKinsey- konnten. »Die EU hat viel Zeit und
Exporten, in Prozent
verwandelt wird, per Strom. Mit dem Mann. Nun aber gerieten die euro- Geld in die Innovationsförderung
Energiegas lassen sich Schiffe, Lkw Deutschland päischen Hersteller »gleich von zwei gesteckt«, klagt Sunfire-Chef Nils Al-
oder Flugzeuge antreiben oder auch China Seiten unter Druck«. dag. »Und jetzt sieht Brüssel zu, wie
Stahl- und Chemiefabriken am Lau- US-Präsident Joe Biden hat für andere den Markt entwickeln.«
fen halten. Stammt der Strom für die Wasserstoffprojekte gigantische Sub- Auch Siemens Energy warnt. Der
Elektrolyse aus erneuerbaren Quel- 30 ventionen ausgelobt, wenn die Konzern will die zentralen Kompo-
len, ist der gesamte Prozess klima- 25,3 Hersteller ihre Fabriken in die Ver- nenten seiner Elektrolyseure, die
neutral. Prima Sache also. einigten Staaten verlagern. Das be- sogenannten Stacks, weiter in seinen
In diesem Zukunftsgeschäft sind 20 nachteiligt vor allem europäische deutschen Werken fertigen. Aber das
EU-Unternehmen seit vielen Jahren Mittelständler, die sich den Transfer Unternehmen schließt nicht aus, Tei-
Markt- und Technologieführer. Auch nicht leisten können oder wollen. le der übrigen Produktion in die Ver-
das ist prima, die Frage ist nur, wie Zugleich hat Peking seine strate- einigten Staaten zu verlagern. Bidens
lange noch. Denn während sich Euro- 10 gischen Produktionsziele für den grü- Förderprogramm sei »ein Booster für
pa in einem Streit über die Regeln für nen Energieträger vervielfacht. Chi- den Aufbau der Wasserstoffwirtschaft
eine künftige Wasserstoffwirtschaft 8,5 nas führende Konzerne haben sich mit in den USA und macht den Markt
verzettelt (SPIEGEL 36/2022), haben belgischen und amerikanischen Fir- auch für uns sehr interessant«, sagt
0
chinesische Konzerne in großem Stil men zusammengeschlossen, um tech- Stefano Innocenzi, Leiter des
begonnen, den Markt aufzurollen. 2000 2021 nisch aufzuholen und sich um Auf- Geschäftsbereichs Sustainable Ener-
Wiederholt sich hier die Geschich- S Quelle: IW Köln träge in aller Welt zu bewerben – mit gy. »Wenn Europa nicht rasch Gegen-

te der europäischen Solarindustrie, ersten Erfolgen. Im vergangenen maßnahmen ergreift, werden viele
die im vergangenen Jahrzehnt nahe- Herbst hat der norwegische Konzern Investitionen in die USA abfließen.«
zu vollständig nach China abgewan- HydrogenPro den bislang größten Kommissionschefin Ursula von der
dert ist? Bernd Heid, Partner der Elektrolyseur der Welt aus seinem Leyen sieht den Kontinent ebenfalls
Unternehmensberatung McKinsey, Werk in der Volksrepublik importiert. gefordert, »mit den Angeboten und
warnt jedenfalls: »Europa läuft Ge- Anreizen außerhalb der EU mitzu-
fahr, eine potenzielle grüne Leit- halten«, wie sie vergangene Woche
industrie zu verlieren.« auf dem Davoser Weltwirtschafts-
Noch werden die »Schlüsselkom- forum beteuerte. Noch aber ist völlig
ponenten für die Wasserstofftechno- offen, wie die Antwort des Staaten-
logie« (Bundeswirtschaftsministe- bundes aussehen könnte, und so
rium) überwiegend im Manufaktur- macht die Industrielobby Druck. Die
betrieb und in kleinen Stückzahlen EU dürfe kein Regelwerk verabschie-
Doug Mills / The New York Times / Redux / laif

montiert. Noch sind die Europäer im den, das »die Entwicklung des Was-
Rennen um den grünen Wachstums- serstoffsektors verlangsamt«, heißt es
markt gut aufgestellt. in einem Brief des Branchenverbands
Zwar kostet ein chinesischer Elek- Hydrogen Europe an die EU-Spitze.
trolyseur höchstens die Hälfte eines Zudem werde »ein neuer Ansatz in
vergleichbaren Geräts aus Deutsch- der Industriepolitik dringend ge-
land oder Norwegen. Dafür ist die braucht«. Die implizite Drohung:
EU-Technologie leistungsfähiger, US-Präsident Biden,
Lasst endlich die Milliarden fließen,
langlebiger und flexibler einsetzbar, EU-Kommissionschefin von der Leyen sonst sind wir weg.
zumal im komplizierten Kombibe- Michael Sauga n

68 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


Eine
Mission
AUSLAND

Yi-Chin Lee / Houston Chronicle / AP


Zusammengekrachte Betten und Sofas, ausgekippte Einbauschränke, Klimaanlagen, die in Vorgärten gestürzt sind – was vom luxuriösen Leben
in einer Apartmentanlage mit Pool, Palmen und Fitnessstudio übrig bleibt, nachdem ein Tornado Teile der Metropole Houston in Texas
verwüstet hat, zeigt eine Luftaufnahme. Auch am Tag danach waren noch Zehntausende Haushalte ohne Strom, Menschen verloren ihr Dach über
dem Kopf oder mussten aus den Trümmern gerettet werden, und der Tornado zog weiter die Golfküste entlang Richtung Louisiana.

So fordert er die Umsetzung einer Klausel des Brüsseler Abkom­


Wiege des Serbentums mens von 2013: Sie sieht einen Verband der Gemeinden mit
serbischer Mehrheit im Kosovo vor. Ein Schritt, dem der Kosovo­
premier Albin Kurti allenfalls nach einer endgültigen Einigung
ANALYSE Im Konflikt zwischen dem Kosovo und
zustimmen will. Milorad Dodik, der Vučić­Verbündete und
Serbien deutet sich eine diplomatische Lösung an. mächtige Mann in der bosnischen Serbenrepublik, befeuert die
konfliktträchtige Debatte. Er vergleicht den noch strittigen
Euphorie verbietet sich, Optimismus scheint erlaubt: Nachdem Serbenverband im Kosovo mit seiner Republika Srpska, in deren
Serbiens Präsident Aleksandar Vučić am Montag erklärt hat, er Namen er immer wieder mit der Sprengung des Gesamtstaats
schließe ein Ja zu einer diplomatischen Lösung des Kosovo­ Bosnien und Herzegowina liebäugelt.
konflikts nicht mehr aus, keimt Hoffnung in Berlin, Paris und Vieles spricht dafür, dass der Belgrader Quasi­Alleinherrscher
Washington. Zwar wird Serbien das seit 2008 unabhängige Vučić Zeit gewinnen will. Vage erwähnt er bevorstehende
Kosovo auch weiterhin nicht offiziell anerkennen. Aber die Be­ Debatten mit dem Parlament und Widerstand aus der serbischen
ziehungen könnten sich bald normalisieren – nach Art des Opposition gegen den deutsch­französischen Plan. Der interna­
Grundlagenvertrags zwischen der Bundesrepublik und der DDR tionale Druck auf den Präsidenten ist zuletzt erheblich gewach­
aus dem Jahr 1972. Der derzeit kursierende Plan wurde maß­ sen – Wirtschaftssanktionen, ja sogar die Aufkündigung der visa­
geblich von Deutschland und Frankreich entwickelt. Wie Serbien freien Einreise in die Schengenstaaten sollen den Serben ange­
verweigern auch Russland, China und fünf EU­Mitgliedstaaten droht worden sein. Offen bleibt, ob diese Drohungen genügen,
der überwiegend albanisch besiedelten Nachbarrepublik bis heu­ solange Vučić im Gegenzug für die Aufgabe des Kosovo nichts
te die Anerkennung. Handfestes angeboten wird. Gilt die Region doch als Wiege des
Was Vučić, der gewiefte Taktiker aus Belgrad, sonst noch sagt, Serbentums. Eine ernsthafte Option auf einen EU­Beitritt Ser­
spricht allerdings dafür, erst einmal Vorsicht walten zu lassen. biens in absehbarer Zukunft etwa ist nicht in Sicht. Walter Mayr

70 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


Kampf gegen dass nun Erwachsene so wenig Flüsse mit Quecksilber ver­ dass der Handel mit illegal ge­
wiegen wie Kinder und dass seucht, Urwald abgeholzt und fördertem, sogenannten Blut­
Blutgold Kinder bis auf die Knochen ab­ die Tiere vertrieben, von denen gold in der EU unterbunden
BR ASILIEN Es ist eine Tragö­ gemagert sind«, sagte die neue die Indigenen leben. Die Gold­ wird. »Die illegale Goldförde­
die, die das Volk der Yanomami Ministerin für indigene Völker, sucher konnten darauf vertrau­ rung im Amazonas hat gravie­
vor allem unter dem rechts­ Sônia Guajajara. Die Regierung en, dass die Regierung nichts rend zugenommen und war in
extremen Präsidenten Jair Bolso­ Bolsonaro hatte nichts zum gegen sie unternehmen würde: der öffentlichen Wahrnehmung
naro durchlebt hat: Mindestens Schutz der Yanomami unter­ Bolsonaro steht den Goldsu­ hierzulande unterbelichtet«, so
570 Yanomami­Kinder unter nommen, obwohl indigene Or­ chern nahe. Er hatte die Indige­ Lemke. Sie wolle nun prüfen
fünf Jahren sind während Bol­ ganisationen appelliert hatten, nen­Schutzbehörde Funai be­ lassen, ob das Edelmetall in die
sonaros Amtszeit, die am 1. Ja­ Lebensmittel und Medikamente setzen lassen und dafür gesorgt, Lieferkettengesetze einbezogen
nuar endete, an den Folgen von zu liefern. Hauptverantwortlich dass die Umweltschutzbehör­ werden kann, die derzeit in der
Unterernährung und heilbaren für das Elend sind mehr als den nicht gegen die illegalen EU diskutiert werden und dafür
Krankheiten gestorben. »Wir 20 000 illegale Goldsucher, die Minen vorgingen. Die deutsche sorgen könnten, dass Händler
müssen die vorherige Regierung im riesigen Yanomami­Schutz­ Umweltministerin Steffi Lemke Umwelt­ und Menschenrechts­
dafür verantwortlich machen, gebiet aktiv sind. Sie haben die will sich nun dafür einsetzen, standards berücksichtigen. JGL

»Ein gesundes Signal«


UKR AINE Der Investigativjournalist Mychajlo Tkatsch
über Korruption und Rücktritte in Kiew

Tkatsch, 34, zählt Taycan für 100 000 Dollar he­


zu den bekanntes- rumfuhr. Er selbst sagt, er habe
Dmytro Larin

ten Journalisten das Auto nur für Testfahrten ge­


der Ukraine und liehen, aber wir haben Grund
leitet das Investiga- zur Annahme, dass er es ge­

Mar tin Sylvest / EPA-EFE


tivressort der Onlinezeitung kauft haben könnte. Dann der
»Ukrajinska Prawda«. stellvertretende Generalstaats­
anwalt, der im Krieg zehn Tage
Präsident Wolodymyr Selenskyj lang in Spanien Urlaub mach­ Dekan in Kopenhagen
räumt auf – mehrere Spitzen­ te – mit dem Auto und dem
beamte mussten nach Korrup­ Leibwächter eines Unterneh­
tionsvorwürfen zurücktreten. mers aus Lwiw. Und ein Regio­ Arbeiten statt Beten? Rückendeckung bekommen sie
Es ist die größte Entlassungs­ nalchef, der Milliardensummen dabei von Arbeitnehmern und
welle seit Beginn des russischen aus dem Haushalt über die DÄNEMARK Mit ihrem ersten Kirche: Hunderttausende Dänen
Angriffskriegs. Firma seiner Fitnesstrainerin großen Vorhaben stößt die unterstützen eine Petition der
laufen ließ. Anfang November gewählte Gewerkschaften gegen den Re­
SPIEGEL: Herr Tkatsch, haben SPIEGEL: Selenskyj hat sich aus­ dänische Regierung auf hart­ gierungsplan. Der Gewerk­
die Entlassungen Sie über­ drücklich bei den Journalisten näckigen Widerstand: Das schaftsbund drängt auf ein Refe­
rascht? bedankt – also auch bei Ihnen! Dreierbündnis von Ministerprä­ rendum, mehrere Bischöfe weh­
Tkatsch: Die Führung hatte kei­ Tkatsch: Sein Dank ist ein ge­ sidentin Mette Frederiksen will ren sich öffentlich gegen das
ne andere Wahl. Auf Korrup­ sundes Signal, dass er die Be­ angesichts des Ukrainekriegs Vorhaben – und Militärvertreter
tion, die so auffällig ist, muss deutung unserer professionellen mehr Geld für Dänemarks Mili­ fürchten, zum Sündenbock ge­
man reagieren, vor allem wenn Arbeit verstanden hat. Sie tär ausgeben. Für Kritik sorgt macht zu werden. Ministerpräsi­
das Land im Krieg ist und Men­ macht unser Land stärker und dabei die geplante Finanzierung. dentin Frederiksen ist jedoch
schen ums Überleben kämpfen. verteidigungsfähiger. Berechnungen des Finanzminis­ keineswegs auf Unterstützung
SPIEGEL: Mindestens drei Fälle SPIEGEL: Ist es zu Kriegszeiten teriums zufolge würden durch außerhalb ihrer Koalition ange­
betreffen Vorwürfe, die schwieriger geworden, über die Streichung eines Feiertags wiesen, denn erstmals seit Lan­
Sie selbst recherchiert haben. Korruption zu berichten? umgerechnet rund 430 Millio­ gem hat in Dänemark eine
Tkatsch: Jeder Fall ist auf seine Tkatsch: Es gab Diskussionen nen Euro zusätzlich in die Mehrheitsregierung das Sagen.
Art empörend. Da ist der Vize­ darüber, dass man die Korrup­ Staatskasse fließen. Der »Store Frederiksen könnte die Ent­
chef des Präsidentenbüros, der tion am besten nach einem Sieg Bededag« (Großer Gebetstag), scheidung nun als Macht­
im Sommer in einem Porsche im Krieg bekämpft. Ich halte der jährlich auf den vierten Frei­ demonstration nutzen, zumal
das für einen Irrtum. tag nach Ostern fällt, soll daher ihr blockübergreifendes Bündnis
National Anti-Corruption Bureau of Ukraine / AFP

SPIEGEL: Sie haben einen Aufruf ab 2024 nicht länger arbeitsfrei kaum erprobt ist und derzeit
an Präsident Selenskyj geschrie­ sein. Aus Sicht der Sozialdemo­ noch seine Grenzen auslotet.
ben. Die Korruption sei der in­ kratin Frederiksen ist das ein Die Entscheidung über den
nere Feind, »und je schneller »relativ billiger Ausweg«, um Feiertag dürfte schnell fallen,
ihm das Rückgrat gebrochen den Verteidigungsetat aufzusto­ bereits am 2. Februar soll die
wird, desto eher kommt der cken. Die Opposition aber fühlt erste Lesung über den Gesetz­
Sieg über den äußeren Feind«. sich übergangen. Von ganz entwurf stattfinden. Ganz verlo­
Tkatsch: Ich habe geschrieben, rechts bis links haben sich die ren ist der Feiertag jedoch nicht:
dass unser Land keine Zeit zu neun nicht regierenden Parteien Die Regierung hat angekündigt,
verlieren hat und wir diese Fälle auf einen alternativen Finanzie­ den Vorschlag der Opposition
Beschlagnahmtes Geld bekämpfen müssen. ESC rungsvorschlag geeinigt. »genau prüfen« zu wollen. ASC

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 71


AUSLAND

Die Geister, die er rief


ISRAEL Benjamin Netanyahus neue Koalition mit religiösen Extremisten
will die Demokratie beseitigen. Zwischen ihnen und ihren
Plänen stehen die Israelis, die zu Zehntausenden aufbegehren.

s dauert nicht lange, dann ruft Dan einzige Demokratie im Nahen Osten selbst
E Meridor zurück. Freundliche, sanfte
Stimme: »Erev tov«, sagt die Stimme,
guten Abend, auch auf Deutsch. Er sei über
aus.
Es geht also gerade um einiges. Das dürfte
auch Benjamin Netanyahu wissen, der Rou­
das, was in seinem Land passiere, »sehr be­ tinier, der am vergangenen Mittwochabend
sorgt, um es zurückhaltend auszudrücken«, in Jerusalem noch schnell eine Pressekonfe­
sagt Meridor. Aber weiter darüber sprechen renz einberuft. Er steht am Rednerpult, be­
wolle er nicht. schwichtigt mit tiefer Stimme. Niemand müs­
»Ich möchte mich dazu nicht in der aus­ se Israel verlassen, sagt er. All das Gerede sei
ländischen Presse äußern«, das sei eine rein »ein Tsunami von Lügen«. Bezalel Smotrich,
israelische Angelegenheit. sein neuer Finanzminister, sitzt daneben und
Dan Meridor, 75 Jahre alt, war lange ein nickt. Ein intakter Rechtsstaat werde weiter
wichtiges Mitglied des Likud, Benjamin Ne­ gestärkt, tönt Netanyahu – kein Grund also,
tanyahus konservativer Partei. Er war mehr­ »die Öffentlichkeit zu alarmieren«.
mals Minister in unterschiedlichen Netan­ Das sieht Moshe Ya’alon, Netanyahus frü­
yahu­Regierungen, bis er sich 2014 aus der herer Verteidigungsminister, ganz anders.
Politik zurückzog. Er gehört zu einer Hand­ Darüber sprechen will auch er nicht. Er
voll eher liberaler Likudniks, die skeptisch auf schickt eine SMS: »Shalom, ich bin nicht in­
das blicken, was sich gerade zusammenbraut. teressiert.« Niemand will als Nestbeschmut­
Denn was die neue, rechte Regierungs­ zer abgestempelt werden.
koalition unter Netanyahu plant, wirft die Ya’alon war zeit seines politischen Lebens
Frage auf, ob Israel eine Demokratie bleibt. ein Falke, am vergangenen Samstag steht er
»Um jeden Preis«, so sagt es Dan Meridor auf der Bühne an der Kaplan Street in Tel
in einem Interview mit einer israelischen Zei­ Aviv vor den Demonstranten und ruft: »Ein
tung, habe Netanyahu zurück an die Macht Staat, in dem der Premierminister die Richter
gedrängt. Sie bedeutet Immunität für ihn. ernennen und auch wieder entlassen kann,
Auch als Premierminister ist er angeklagt, hat einen Namen: Diktatur.« Harsche Worte
wegen Untreue, Betrugs und Bestechlichkeit – von einem, der die Richtung lange mitbe­
aber er kann nicht verurteilt werden. stimmt hat. Ya’alon war schon Generalstabs­
Um seinen Kopf aus der Schlinge zu zie­ chef der israelischen Armee, war an gezielten
hen, opfert er die Demokratie Israels. Ver­ Tötungen beteiligt und hat sich 2005 gegen
kauft sein Land an Fanatiker. So sehen es den Abzug aus dem Gazastreifen positioniert.
seine Kritiker, deren Zahl stetig wächst. Sein Auftritt bei der Demonstration mit mehr
Denn je konkreter die Pläne seiner neuen als 100 000 Menschen veranschaulicht, wie
Regierung werden, desto vehementer regt sich die Parameter in Israel jetzt verschieben.
sich Widerstand. In der Techbranche wird Es ist eben nicht bloß der Protest des libe­
gestreikt, die Universitätsrektoren schreiben ralen Tel Aviv – es protestieren nun auch Ver­ Israel hat keine festgeschriebene Verfas­
einen offenen Brief, sie befürchten einen Exo­ treter des rechten Lagers, verdiente Nationa­ sung, der Staat gründet sich auf zwölf soge­
dus in der Wissenschaft und den internatio­ listen, ehemalige Geheimdienstchefs oder nannte Basic Laws. Auch deshalb kommt dem
nalen Boykott. Und der Chef der israelischen Oberbefehlshaber der Streitkräfte gegen den Obersten Gericht eine so gewichtige Rolle zu:
Zentralbank warnt vor schweren wirtschaft­ Ausverkauf der Demokratie. Gegen ihren Es ist die einzige effektive Kontrollinstanz
lichen Folgen, wenn die Rechtsstaatlichkeit früheren Chef und die Geister, die er rief: sei­ gegenüber dem Parlament.
in Israel nicht mehr garantiert sei. ne Koalitionspartner, die religiösen Zionisten. Wenn das Parlament aber jegliches Urteil
Diejenigen, die jetzt in Jerusalem regieren, So große Proteste wie jetzt hat es seit den mit einer einfachen Mehrheit von 61 Sitzen
so viel steht fest, stammen allesamt aus dem Friedensgesprächen von Oslo 1993 nur 2011 überstimmen kann – und so wollen es die
antiliberalen bis rechtsradikalen Spektrum. gegeben, als die Israelis wegen der hohen Le­ neuen Regierenden –, dann wird die Ge­
Und sie wollen den Staat nach ihren Vor­ benshaltungskosten auf die Straße gingen. Und richtsbarkeit zur Makulatur. Und wenn sie
stellungen umbauen. Zum vorerst eindrück­ es ist leichter, sich gemeinsam gegen einen ho­ sich, wie sie es planen, zudem noch größeren
lichsten Opfer ihres Vorhabens könnte die hen Käsepreis und steigende Mieten zu wehren Einfluss bei der Ernennung der Richter
unabhängige Gerichtsbarkeit werden, ein als gegen die sogenannte Justizreform einer verschaffen, schwindet die Unabhängigkeit
zentrales Merkmal jeder Demokratie. Wenn gewählten Regierung, die aus unterschiedlichen der Justiz.
aber der jüdisch­demokratische Staat bloß Gründen vorhat, das Oberste Gericht zu schwä­ Der frühere Präsident des Gerichtshofs be­
noch jüdisch ist, knockt sich Israel damit als chen und die Gewaltenteilung auszuhebeln. zeichnete das Vorhaben von Justizminister

72 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


AUSLAND

Eyal Warshavsky / SOPA Images / LightRocket / Getty Images


Yariv Levin als »konstitutionelles Pen- Demonstration in Tel Zwischen den Regierungsplänen tur«. Auch am Habima-Platz vor dem
dant zu einem Putsch mit Panzern«. Aviv gegen die und ihrer Umsetzung steht die Be- Nationaltheater steht eine Bühne,
Regierung: »Vorwärts
Der Veränderungswille der neuen ins Mittelalter« völkerung – noch. In Teilen. Die Is- auch hier drängen sich die Menschen.
Regierung durchdringt fast alle Be- raelis drängen sich bereits die dritte »Buscha«, skandieren sie, Schande,
reiche: Die Besatzung des Westjor- Woche in Folge samstags in den Stra- wenn die Redner die Vorhaben der
danlands soll anders organisiert wer- ßen, in Tel Aviv, Jerusalem, in Haifa Regierung ansprechen.
den, was laut Experten de facto einer im Norden und Beerscheba im Süden. Bis vor Kurzem gehörte, wer in Tel
Annexion entspräche. Im Erziehungs- Anders als in der Woche zuvor reg- Aviv demonstrierte, zur sogenannten
und Bildungswesen sollen mehr reli- net es am vergangenen Samstag nicht. Linken. In Israel ordnen sich die par-
giöse Inhalte vermittelt werden. Aber Die Regenschirme sind Flaggen ge- teipolitischen Lager entlang der Auf-
auch die Stellung der Frau, die der wichen. Blau-weiß, der Davidstern fassung zum Konflikt mit den Palästi-
LGBTQ-Community und die der ara- an langen Stangen. Wenn jemand nensern. Aber seit die neue Regierung
bischen Minderheit sind Themen, die geht, reicht er seine Flagge weiter. Die am Zug ist, wird die Frage nachrangig,
die Fundamentalisten umtreiben. Stimmung ist friedlich, es sind Fami- wer hier für oder gegen einen sou-
»Vorwärts ins Mittelalter« war auf lien da, Alte und Junge. Über den veränen Palästinenserstaat ist.
einem der Plakate auf der Demons- Bildschirm neben der Bühne flimmert Denn Netanyahus Kabinett ist eine
tration zu lesen. in gelben Lettern: »Nein zur Dikta- Ansammlung von Extremisten. Und

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 73


AUSLAND

den Extremsten unter ihnen hat der Bisher habe der säkulare Netanya- Mehr als weile vor allem durch die Religiösen
Premier die Schlüsselposten gegeben. hu stets versucht, eine Art Koalitions- geprägt – die am schnellsten wachsen-
Oder besondere Befugnisse in ihren medley zu kreieren, also unterschied- 60 Prozent der de Bevölkerungsgruppe. Damit ist die
jeweiligen Ministerien. Oder beides. liche Politikrichtungen und Ideolo- jüdischen demografische Entwicklung ein ent-
Da ist zum Beispiel Itamar Ben gien zu mischen. Auch weil sich sein Israelis sehen scheidender Faktor, denn in Israel gilt:
Gvir, verurteilt wegen Hetze und Teile-und-herrsche-Prinzip dann je jünger, desto rechter. Mittlerweile
Unterstützung einer terroristischen leichter anwenden lässt. sich inzwi- verorten sich laut Umfragen mehr als
Vereinigung. Seine Partei, die Otzma Damit sei es vorbei, sagt Persico: schen im 60 Prozent der jüdischen Israelis im
Jehudit, jüdische Stärke, folgt ideo- »Weil diese Koalition von den Israelis rechten Lager. Das spiegelt auch die
logisch der verbotenen Kach-Partei am 1. November 2022 gewählt wurde.«
rechten Lager. Zusammensetzung des Parlaments.
des Extremistenrabbis Meir Kahane. Aber wie konnte es dazu kom- Der Durchmarsch der Extremisten
Wenn der in den Achtzigerjahren men? Wie wurden Parteien und ihre ins politische Zentrum erfolgte also
in der Knesset sprach, verließen Anhänger, die vor nicht allzu langer nicht zufällig; dem Kampf um die kul-
Abgeordnete den Saal aus Protest. Zeit noch zum extremen Rand zähl- turelle und ideologische Hegemonie
Aus diesem Dunstkreis kam auch ten, zum Mainstream? hat sich die Siedlerbewegung quasi
jener Attentäter, der 1995 den dama- Die kurze Antwort lautet: Das hauptberuflich gewidmet, größtenteils
ligen Premier Itzhak Rabin ermorde- Wahlergebnis war kein Betriebs- finanziert durch US-amerikanische
te. Ben Gvir ist jetzt Sicherheits- unfall. Die längere Antwort ist, dass Spenden. Dazu gehört auch, einen
minister, ihm untersteht die Polizei die messianische Rechte seit Langem souveränen Palästinenserstaat, wo
samt Grenzpolizei. pragmatisch und klug ihre Macht immer möglich, aktiv zu verhindern.
Eine seiner ersten Amtshandlun- ausgebaut hat. Sie hat Einrichtungen Finanzminister Bezalel Smotrich
gen war, frühmorgens unter Polizei- gegründet und Aktionsgruppen ins zum Beispiel ist Mitbegründer von
schutz auf den Tempelberg zu mar- Leben gerufen. Deren Mitglieder ha- gleich mehreren solcher Organisatio-
schieren. Er möchte durchsetzen, dass ben Gesetzentwürfe und Papiere aus- nen. Regavim etwa geht gegen jegli-
Juden dort wieder beten dürfen – was gearbeitet und damit immer wieder che Art von Bauvorhaben von Paläs-
ihnen bisher verboten war. Noch vor ihre Ideen und Forderungen in den tinensern und Beduinen vor, in der
einer Weile hatte Ben Gvir ein Bild öffentlichen Diskurs eingespeist. Negev, in Nordisrael oder im West-
des Massenmörders Baruch Goldstein Dass die Ideen von Ben Gvir und jordanland. Dazu zählen Gartenhäu-
im Wohnzimmer hängen. Goldstein Co. über die Jahre mehr und mehr Sicherheitsminister ser oder Verandadächer.
stürmte 1994 in Uniform die Ibrahi- Unterstützung fanden, wurde auch Ben Gvir, Premier Aber auch eigens dafür geschaffe-
Netanyahu:
mi-Moschee in Hebron und erschoss befördert durch das immer nationa- Der Durchmarsch
ne Medien verbreiten die rechte
dort 29 betende Muslime. Sein Grab listischere Bildungssystem. Das öf- der Extremisten Agenda, zum Beispiel die Gratiszei-
ist bis heute eine Pilgerstätte für jüdi- fentliche Bewusstsein scheint mittler- erfolgte nicht zufällig tung »Israel HaYom«. Netanyahu war
sche Extremisten. seit 2014 Kommunikationsminister,
Ben Gvirs Kompagnon Bezalel damit gehörten die Medien direkt zu
Smotrich ist jetzt sogar eine Art Dop- seinem Einflussbereich.
pelminister. Der bekennende Rassist Unter – noch größeren – Druck
lebt mit Frau und Kindern auf einem geraten derzeit jene, die versuchen,
illegalen Außenposten. Er wollte Demokratie und Menschenrechte zu
eigentlich Verteidigungsminister wer- schützen. So sitzt am vergangenen
den, nach einem Veto der US-Regie- Mittwoch Michael Sfard, einer der
rung ist er nun Finanzminister mit bekanntesten Menschenrechtsanwäl-
Spezialbefugnissen im Verteidigungs- te des Landes, vor seinem Bildschirm
ministerium für den Siedlungsbau. und versucht, die Frage zu beantwor-
Smotrich hat vor ein paar Jahren ten, ob die Regierung ihre Vorhaben
seinen Plan zur Lösung des Nahost- werde durchsetzen können. Sfard
konflikts präsentiert. Palästinenser schaut ernst. Das hänge davon ab, wie
Atef Safadi / AP

müssten entweder freiwillig gehen stark der innerisraelische Widerstand


oder würden umgesiedelt. »Zur Not gegen diese Pläne sei, sagt er. Zudem
kümmert sich die Armee darum«, soll komme es auf die internationalen Re-
er gesagt haben. aktionen an: Was ist der Preis, den
Diese Fundamentalisten wollen die Regierung zahlen muss, um ihre
einen »reinen Staat«, das ist ihr Ziel. Vorstellungen durchzuboxen?
Ausschließlich jüdisch soll er sein, und Dann muss er ein wenig lachen.
darin gelten dann keine bürgerlich- Mit dem Druck von außen ist das so
demokratischen Gesetze mehr, son- eine Sache; Israelis wie Sfard sind in
Haim Zach / Israel Gpo / ZUMA Press / picture alliance

dern nur noch die Halacha, die reli- dieser Hinsicht immer wieder ent-
giösen Gesetze des Judentums. täuscht worden. Von den USA, aber
Der Religionsforscher Tomer Per- auch von der EU. Eigentlich von all
sico ist klar in seinem Urteil: »So jenen, die vorgeben, Freunde Israels
etwas gab es noch nie«, sagt er dem zu sein.
SPI EGEL über Netanyahus neues Wenn die Regierung nur ein Fünf-
Kabinett: »Das sind alles Hardcore- tel von dem umsetze, was sie geplant
Religiöse.« Würden diese Fundamen- habe, werde Israel in Kürze ein ande-
talisten eine Regierung anführen, als res Land sein, sagt Sfard.
Premierminister etwa, »dann wäre »Wir werden schon bald sehen, ob
Israel bald so etwas wie Iran, eine das klappt. Sie sind schnell.«
Theokratie«, sagt Persico. Julia Amalia Heyer, Felix Rettberg n

74 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


Flexibles Vorteilsangebot.
Lesen Sie den SPIEGEL,
solange Sie möchten.
Flexibel bleiben. Kurze Laufzeit, monatlich kündbar
25 % Rabatt. Die ersten 52 Ausgaben für nur € 4,20 statt € 5,60 pro Ausgabe
Kostenloser Versand. Wöchentliche Lieferung frei Haus innerhalb Deutschlands
Noch mehr. Inklusive der Beilagen SPIEGEL Bestseller und SPIEGEL Geld

Einfach jetzt anfordern:


abo.spiegel.de/flexibel25
oder telefonisch unter 040 3007-2700
(Bitte Aktionsnummer angeben: SPAZ-002)

25 %
sparen im
ersten Jahr
AUSLAND

untersagt. Der letzte Beleg, der Ahnung da-


von vermittelt, wie es wirklich um den frühe-
ren Staatschef steht, stammt vom 22. Dezem-
ber: Er zeigt eine Szene während der Ge-
richtsverhandlung, in der es um die Zukunft

Ein georgischer Patient des per Video zugeschalteten Saakaschwili


ging. Ein abgemagerter, ungepflegter Mann
starrt darin wirren Blicks aus seinem Kran-
kenbett heraus in die Kamera.
KAUKASUS Einst wurde er als politischer Shootingstar gefeiert, Saakaschwili, gerade einmal 55 Jahre alt,
galt einst als »George Washington Osteuro-
jetzt soll Georgiens ehemaliger Präsident Micheil Saakaschwili in Haft pas«. So zumindest sah es 2012 der heutige
schwer erkrankt sein. Kritiker beschimpfen ihn als Simulanten. US-Präsident Joe Biden. Auch Barack Obama
Andere wittern eine Vergiftung durch den Kreml. rühmte das »große Vermächtnis« des georgi-
schen Reformers. Hillary Clinton schlug sogar
vor, Saakaschwili den Friedensnobelpreis zu
er Schauplatz des Dramas liegt am Georgien, lautlos ins Jenseits befördert wer- verleihen, drei Jahre bevor der 2008 seine
D Rand der georgischen Hauptstadt Tiflis.
Vor der Kulisse schneebedeckter Gipfel
steht dort ein neunstöckiger steinerner Klotz:
den. Weil er es wagte – lange vor dem ukrai-
nischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj –,
dem Kremlherrscher Wladimir Putin die Stirn
Truppen ins russisch besetzte Südossetien
schickte. Am Ende des folgenden Fünf-Tage-
Kriegs hatte Russland gesiegt – und Wladimir
die Vivamedi-Klinik. Ihre Betreiber werben zu bieten. Die Vivamedi-Klinik hingegen Putin seine Macht in den Separatistengebieten
mit dem Versprechen, Kranke in Höchst- nimmt für sich in Anspruch, jeden Patienten Nordgeorgiens zementiert.
geschwindigkeit heilen zu können (»Sparen angemessen zu behandeln. In zumindest einem Punkt sind sich An-
Sie Zeit, die einzige unersetzliche Ressource«). Im Eingangsbereich des Krankenhauses ist hänger und Kritiker einig: Saakaschwili schaff-
Womit nicht geworben wird: Seit mehr als uniformiertes Sicherheitspersonal postiert. te es wie keiner vor oder nach ihm, während
acht Monaten liegt hier der Patient Micheil Oben, im fünften Stock, schirmen Bewaffne- seiner von 2004 bis 2013 dauernden Präsident-
Saakaschwili, ohne dass sich sein Zustand er- te Saakaschwili ab. Der prominenteste Patient schaft »Georgia« so ins internationale Schein-
kennbar gebessert hätte. Im Gegenteil. Geor- des Hauses ist in einem Raum ohne Tageslicht werferlicht zu rücken, dass an Verwechslungen
giens ehemaliger Staatschef, wegen Amts- gegenüber der Abteilung für Reanimation mit dem gleichnamigen US-Bundesstaat, Hei-
missbrauchs zu sechs Jahren Haft verurteilt, untergebracht. mat des ehemaligen Erdnussfarmers und Ex-
darf nicht mehr besucht werden. Von Anwälten abgesehen, wird nur noch Staatschefs Jimmy Carter, nicht mehr zu den-
Saakaschwili soll auf russisches Geheiß, Saakaschwilis Mutter vorgelassen. Aufnah- ken war. Saakaschwilis kaukasische Minirepu-
das jedenfalls behaupten seine Anhänger in men des Patienten in Ton und Bild sind streng blik wurde zu einem »Leuchtfeuer der Freiheit«
im postsowjetischen Raum, so urteilte der ame-
Demonstration in rikanische Ex-Präsident George W. Bush.
Tiflis für Saakaschwilis Keine zehn Jahre nach seinem Abschied
Freilassung von der Macht gibt ein von der Gefängnis-
verwaltung veröffentlichtes Video den Poster-
boy des neuen Georgien globalem Gespött
preis: Zu sehen ist da Saakaschwili, wie er im
Krankenbett raucht, Pflegerinnen anbrüllt,
Gegenstände durchs Zimmer schleudert und
der Länge nach aus dem Bett purzelt. Nur
mühsam, auf eine Gehhilfe gestützt, schafft
er noch Schritte aus eigener Kraft.
Aus dem Mann, der sein kleines Land zur
großen Nummer auf der Weltbühne machen
wollte, ist ein Patient geworden, von dem
nicht nur Ärzte und Anwälte behaupten, er
schwebe in Lebensgefahr. »Mein Sohn stirbt,
unvermeidlich, wenn er nicht sofort aus dieser
Klinik herauskommt«, sagt Giuli Alasania,
Saakaschwilis Mutter.
Die elegante Dame, schwarze Lederhose,
roter Wollpullover, ist Abkömmling des geor-
gischen Königsgeschlechts der Bagratiden und
lehrt Orientalische Geschichte an der Tifliser
Universität. An der Tür zu ihrem Büro prangt
ein Aufkleber mit dem Text »Russland ist eine
Besatzungsmacht«. Drinnen hängen Fotos
von Mutter und Sohn bei Treffen mit den
Mächtigen in der westlichen Hemisphäre –
Irakli Gedenidze / REUTERS

mit Joe Biden, Bill Clinton, Nicolas Sarkozy.


Alasania ist, wie alle Vertreter des Saakasch-
wili-Lagers, der Ansicht, dass im traurigen
Schauspiel rund um ihren Sohn der Kreml Re-
gie führt – um Rache zu üben für den bewaff-
neten georgischen Konflikt mit Russland im

76 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


AUSLAND

Jahr 2008. Saakaschwili selbst nennt den ehemaligen Staatschef in Hand-


sich »Putins persönlicher Gefange- schellen.
ner«. Seine Mutter spricht von einem Er soll außerdem die Verantwor-
»Mord vor aller Augen« und davon, tung dafür tragen, dass in georgischen
dass Georgien zu einer »russischen Gefängnissen während seiner Amts-
Provinz« verkommen sei. zeit Häftlinge schikaniert, misshan-
Der letztgenannte Vorwurf richtet delt, ja sogar vergewaltigt wurden.
sich an die Adresse des lichtscheuen Hinzu kommen andere Anschuldi-
Milliardärs Bidsina Iwanischwili, des- gungen. Der Ex-Präsident habe pri-
sen Partei »Georgischer Traum« seit vate Dienstleistungen, Massagen,
mehr als zehn Jahren die Geschicke Schönheitsoperationen, auch Urlaube
Georgiens lenkt. Sein beträchtliches der Staatskasse angelastet.
Vermögen hat er nicht nur in Russ- Saakaschwili bestreitet die Vor-
land angehäuft, sondern auch von würfe. Auf Fragen, die der SPIEGEL
dort problemlos ausgeschleust – was ihm über seinen Anwalt schriftlich
ihm den Vorwurf eintrug, Putin etwas zukommen ließ, antwortet er, indem

Zurab Kur tsikidze / EPA-EFE


schuldig zu sein. er sich mit dem inhaftierten russi-
Zweimal täglich fährt Saakaschwi- schen Regimegegner Alexej Nawalny
lis Mutter zur Klinik am Stadtrand und vergleicht und behauptet, »nach allen
bringt ihrem Sohn Essen. Mal ist es ein Regeln der Kunst« vergiftet sowie ge-
Ei, mal Maisbrot, mal Krautsalat. »Al- foltert worden zu sein. Putin habe »zu
lerdings isst er davon kaum etwas«, meiner physischen Vernichtung auf-
sagt sie, »und wenn, dann erbricht er.« gerufen«.
Saakaschwili, der nach seiner Verhaf- Inhaftierter Wie eng die Zusammenarbeit mit Solidarität erfährt der Georgier
tung im Oktober 2021 in einen sieben- Saakaschwili bei der russischen Seite ist, schildert Ioseb vor allem aus der Ukraine. Saakasch-
einer Anhörung
wöchigen Hungerstreik getreten war, per Video: Nur noch
Gogaschwili. Er war stellvertretender wili sei eine Figur von »historischen
hat fast 50 Kilogramm an Gewicht mühsam Schritte Chef des georgischen Geheimdiensts Dimensionen«, sagt der Selenskyj-
verloren. Außerdem habe sein Kurz- aus eigener Kraft SSSG, inzwischen sitzt er in einem Berater Mychailo Podoljak: Der geor-
zeitgedächtnis gelitten, sagt Alasania, Gefängnis in der Nähe von Tiflis ein, gische Ex-Präsident müsse dringend
»seit er vergiftet wurde«. verhaftet unter anderem wegen an- medizinisch angemessen behandelt
Ein in San Francisco ansässiger geblichen Geheimnisverrats. In ver- werden, gern auch in der Ukraine.
Toxikologe urteilt mit einem, wie er schiedenen Facebook-Posts bezichtigt Saakaschwilis Krankenakte um-
es nennt, »vernünftigen Maß an me- er georgische Dienste enger Koopera- fasst an die 3500 Seiten. Von Miss-
dizinischer Gewissheit«, dass Saa- tion mit Moskau. Er selbst habe sich, handlung durch das Wachpersonal ist
kaschwili an einer Schwermetallver- schreibt Gogaschwili, beidseits der die Rede, von Platzwunden und wie-
giftung leide. Die mit dem SPIEGEL Grenze mit dem russischen FSB-Ge- derkehrender Bewusstlosigkeit. Geor-
kooperierende Recherche-Plattform neral Alexej Sedow getroffen. Mit je- giens Ombudsfrau fasste ihren Befund
Bellingcat, die wesentlich zur Auf- nem Mann also, der an der Operation im Dezember wie folgt zusammen:
klärung der lebensgefährlichen Ver- zur Vergiftung von Alexej Nawalny »Die Enzephalopathie (Schädigung
giftung des russischen Regimegegners beteiligt war. Höchstrangigen Aus- der Gehirnfunktionen –Red.), senso-
Alexej Nawalny beitrug, hat den ge- tausch zwischen den Spitzen der rus- motorische Neuropathie und Anämie
orgischen Behörden Erkenntnisse zu sischen und georgischen Geheim- haben sich weiter verschlechtert.« Die
Verdachtsmomenten im Fall Saa- dienste könne er bezeugen. Essstörung habe sich zu einer »lebens-
kaschwili angeboten. Unter anderem Unstrittig scheint, dass da auf dem bedrohlichen Kachexie«, also Auszeh-
dazu, welche russischen Staatsbürger Gebiet des EU- und Nato-Aspiranten rung, ausgeweitet.
im fraglichen Zeitraum mit unklarem Georgien gerade ein Stellvertreter- »Er wird nicht sterben, dafür ist er
Auftrag ins georgische Staatsgebiet konflikt ausgetragen wird. Im Mittel- viel zu feige«, prophezeit Tedo Japa-
eingereist sind. punkt steht der einst von US-Diens- ridze, der ehemalige Außenminister.
Ist es denkbar, dass russische ten als hyperaktiver »Duracell-Hase« Saakaschwili sei ein Simulant, be-
Geheimdienste dem aufmüpfigen abgestempelte Atlantiker Saakasch- hauptet Georgiens Regierungschef.
»Mischa« nach dem Leben trachten? wili. Seine Biografie liest sich wie ein »Auch ich glaube weniger an Lebens-
»Natürlich«, sagt Gigi Kalandadze, Thriller: In Georgien abgewählt und gefahr«, sagt Gela Nikolaishvili, der
ehemals Generalstabschef der geor- später ausgebürgert, floh er in die Anwalt der Gefängnisverwaltung.
gischen Armee, ein langjähriger Ukraine, wo er zum Staatsbürger und Von fortschreitender Demenz könne
Verbündeter Saakaschwilis: »Auch Gouverneur von Odessa wurde. bei einem Gefangenen, »der noch
ich bin im Dezember auf Wunsch Drei Jahre später wurde er auch Briefe in fünf Sprachen schreibt« und
der Russen in Deutschland verhaftet aus der ukrainischen Staatsbürger- zu seinem Cocktail aus Psychophar-
worden.« »Mein Sohn schaft entlassen, angeblich hatte er maka auch reichlich Cognac konsu-
Soll heißen: Der lange Arm Putins irreführende Angaben zur eigenen miert habe, keine Rede sein.
verschont niemanden, der es wagt,
stirbt, wenn Person gemacht. Als Staatenloser Dem Gerichtstermin am vergange-
sich mit Moskau anzulegen. Erst als er nicht sofort reiste er zu Fuß wieder in die Ukraine nen Dienstag blieb Saakaschwili fern.
die konstruierten Vorwürfe wegen aus dieser ein, wurde mehrfach verhaftet und Vermutlich nicht zuletzt aus ästheti-
angeblichen Amtsmissbrauchs sich schließlich vom neuen Präsidenten schen Gründen. »Ich glaube nicht, dass
als haltlos erwiesen, ließ die Branden- Klinik heraus- Selenskyj gnädig wieder eingebür- er sich in absehbarer Zeit noch mal
burger Staatsanwaltschaft Kalandadze kommt.« gert. Die spätere illegale Wiederein- zeigen wird«, sagt einer seiner An-
gehen, nach zwei Monaten. Der Giuli Alasania,
reise nach Georgien, getragen von der wälte: »Er sieht nämlich nicht mehr
Georgier kämpft inzwischen als Söld- Saakaschwilis Hoffnung, in der Heimat wie ein Mes- aus wie ein menschliches Wesen.«
ner an der Front für die Ukraine. Mutter sias empfangen zu werden, endete für Walter Mayr n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 77


AUSLAND

Zwischen den Fronten


NIGERIA Eine der größten Nationen der Welt versinkt in einem Strudel aus kaum fassbaren Grausamkeiten,
Terror, ethnischen und religiösen Konflikten. Nun wird in Nigeria gewählt –
was alles noch schlimmer machen kann. Von Fritz Schaap und Andy Spyra (Fotos)

Vermittler Musa

78 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


AUSLAND

n einem Morgen in Nigeria, zu Guinea überfallen Piraten Schiffe und getreten. Zwei Goldzähne sitzen dort,
A Beginn einer weiteren Woche,
in der er bis zur Erschöpfung
dafür kämpfen wird, dass sein Land
terrorisieren Fischerdörfer. Und der
Middle Belt, ein Gürtel, der sich über
mehrere Hundert Kilometer breit von
wo ihn einst die Eisenstange eines
Räubers traf. So erzählt er es. Sein
Lächeln wirkt wie Routine, überge­
nicht zerfällt, kommt Sadeeq Musa West nach Ost spannt, versinkt in Ge­ blieben aus vergangenen Tagen.
in dem Dorf der frischen Gräber an. walt. Bauern und Viehhirten streiten »Alle Seiten sagen immer, sie
Vor ihm liegen verbrannte Hütten, um fruchtbares Land. Hier lebt Musa. wüssten nicht, warum sie angegriffen
die Fenster sind durch die Hitze zer­ »Die Sicherheitslage ist so schlimm werden. Aber sie lügen!«, sagt Musa.
borsten, es riecht nach Ruß. Es gibt wie nie«, sagt der Sicherheitsexperte Er glaubt, der Überfall hänge mit fünf
keinen Strom, kein fließend Wasser, Cheta Nwanze vom nigerianischen Kühen zusammen, die hinter dem
keinen Staat mehr. Thinktank SBM Intelligence. Im Fe­ Dorf erschossen worden seien. Fünf
Ein junger Mann kommt auf Musa bruar finden Wahlen statt, die Gewalt Kühe reichen hier offenbar, um ein
zu. Joshua Moses hat fast alles ver­ nimmt zu. Gerade erst hat der Wahl­ Massaker auszulösen.
loren. Er zeigt auf das Haus, in dem leiter gewarnt, dass deshalb die Parla­ »Wahrscheinlich war es Rache«,
seine vier Brüder verbrannt seien. mentswahl abgesagt oder verschoben sagt Musa. Manchmal, erklärt er, ver­
»Selbst den Generator für die Wasser­ werden könnte. gifteten die Farmer das Wasser, um
pumpe haben sie gestohlen«, sagt er In Musas Heimat, dem Bundes­ die Kühe der Hirten zu töten, oder sie
mit rauer Stimme. Gut drei Wochen staat Plateau, zeigt sich der Zerfall streuten Gift aufs Gras. Ancha liegt
vor Musas Besuch, erzählt er, seien des Landes besonders deutlich. Hier an einem Fluss, der ganzjährig Wasser
die Viehhirten in Ancha eingefallen, treffen sich Nord und Süd, Christen­ führt. Tomaten wachsen dort und Pa­
bewaffnet mit Sturmgewehren. Er tum und Islam, hier ballen sich eth­ prika. Hirten und Farmer, beide be­
habe sie kommen sehen, habe sich im nische und religiöse Spannungen, anspruchen das fruchtbare Land.
Busch versteckt, während die Dächer Entführungen sind an der Tagesord­ Musa verteilt seine Nummer, macht
in Flammen aufgingen. »Ich sah sie nung, Gesetze gelten vielerorts nichts sich Notizen. Er bittet Moses, ihn an­
Häuser plündern und Ziegen steh­ mehr. zurufen, wenn sich ein Angriff ab­
len«, sagt Moses. Dann begann das Im Dorf Ancha steht Musa beim zeichnet. Dann steigt er ins Auto. Es
Töten. Schreie, Stille. Moses traute Treffen mit dem SPIEGEL im vergan­ sei nicht sicher an diesem Ort, sagt er.
sich zurück ins Dorf. 18 Leichen lagen genen Jahr nun unter einer Akazie »Ein Leben hier hat keinen Wert.«
verstreut. Nun markiert ein Halbkreis und versucht zu begreifen, was ge­ Langsam steuert sein Fahrer den Wa­
aus Steinen ihre Gräber. schehen ist. Ein feingliedriger, groß gen durch enge Kurven. Erst neulich
Ob es keinen Schutz gegeben gewachsener Mann, die Hosen an den sei er an dieser Stelle unter Feuer ge­
habe, fragt Musa, der Vermittler. Die Säumen abgewetzt, die Schuhe aus­ raten, erzählt Musa. Wenn man ihn
Soldaten, die seit einem vorherigen fragt, was er tut, um mit dem Grauen
Angriff im Dorf stationiert waren, umzugehen, sagt er: »Ich weine.«
hätten nichts unternommen, antwor­ Zerrissenes Land Musas Wunsch nach Versöhnung
tet Moses leise. »Sie sagten, wir sollen reicht bis in seine Kindheit. Vor 40 Jah­
uns selbst verteidigen.« Er schaut auf Todesopfer durch Gewalt im Zusammenhang mit politischen, ren, er war noch ein Junge, wurde
ökonomischen oder sozialen Missständen seit 2011*
die Erde, unter der seine Brüder lie­ sein Vater erschossen, so schildert er
gen. »Doch womit?« es. Der eigene Bodyguard habe den
Es ist diese Hilflosigkeit, die viele 75 500 1000 5000 10.000 36.740 damaligen stellvertretenden Leiter
in Nigeria teilen. Denn Musas Heimat­ einer Polizeistation in Jos, der Haupt­
Der Middle Belt, der Im Nordwesten Im Nordosten terrorisie-
land ist dabei zu zerfallen. sich als Übergangszone des Landes sind ren Dschihadisten von stadt des Bundesstaates, ermordet.
Mehr als 216 Millionen Menschen zwischen Nord und Süd gewaltsame Boko Haram und des »Hass hat ihn getötet«, sagt Musa. So
durch ganz Nigeria Banditengruppen regionalen Ablegers des
leben in dem Vielvölkerstaat, 2050 spannt, ist geprägt und Warlords aktiv. »Islamischen Staats«
etwas sollte anderen nicht passieren,
könnten es laut Uno bereits 400 Mil­ durch zahlreiche inner- die Bevölkerung. beschloss er und wurde Journalist.
lionen sein, mehr als in den USA, fast staatliche Konflikte. Aufklärung, glaubte er, könne Frieden
NIGER TSCHAD
so viele wie in der EU. Nigeria ist der schaffen.
bevölkerungsreichste Staat Afrikas, Er verfolgte, wie sich die Gewalt
Ni
ge

hat nominell das höchste Bruttoin­ in seiner Heimat ausbreitete, und be­
r

Borno
landsprodukt des Kontinents, eines richtete davon. Es änderte sich nichts,
der größten Ölvorkommen. Seine er kündigte. Wurde dann von der US­
BENIN
Filmindustrie, »Nollywood«, produ­ Jos Botschaft zum International Visitor
ziert rund 2500 Filme jährlich. Und Leadership Program in die USA ein­
Be

Plateau
doch bezeichnen Experten Nigeria geladen, von der britischen Regierung
nu

Abuja
e

zunehmend als »failed state«, hat die ins Vereinigte Königreich, wo er im


Regierung in weiten Teilen des Lan­ Jugenddienst hospitierte und Kurse
des keine oder wenig Kontrolle, leben NIGERIA an einem Institut für Friedensfor­
mehr als 60 Prozent in Armut. schung belegte.
KAMERUN
Im Nordwesten des Landes terro­ Golf von Guinea Im Bundesstaat Plateau gründete
risieren Warlords und Banditengrup­ Am Golf von Musa 2008 eine Organisation. Er
pen die Bevölkerung. Im Nordosten Guinea überfallen nannte sie Community Peace Obser­
Piraten Schiffe Im Nigerdelta
kämpfen die Dschihadisten von Boko und terrorisieren schwelt ein blutiger ver, Hilfsorganisationen wie USAID
Haram und dem örtlichen Ableger Fischerdörfer. Sezessionskonflikt. unterstützten die Arbeit. Ursprüng­
des »Islamischen Staats«. Im Niger­ 300 km lich wollte er nur die Spannungen
delta, dessen Umwelt durch die Öl­ zwischen Viehhirten und Landwir­
förderung zerstört wird, schwelt ein * nach Bundesstaaten, beruhend auf wöchentlichen Erhebungen in nigerianischen ten eindämmen, seinen Erhebungen
und internationalen Medien seit dem 29. Mai 2011
blutiger Sezessionskonflikt. Selbst das zufolge sind seit 2001 mehr als
S Quelle: Council on Foreign Relations (Nigeria Security Tracker); Stand: Dez. 2022;
Meer ist nicht sicher: Am Golf von Karte: OpenStreetMap 100 000 Menschen in diesem Konflikt

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 79


AUSLAND

gestorben. Inzwischen kümmert er sich um Wände, eine Sofagarnitur, Gitter vor den Lehrer, der andere arbeitet für die Stadtver-
weit mehr. Fenstern. Ein Heim bescheidenen Wohl- waltung. Nach Stunden stimmen die Entfüh-
Dutzende junge Männer und Frauen arbei- stands. Tsalha lässt sich in einen Sessel fallen, rer einer Summe von drei Millionen zu. Über
ten in den Gemeinden für Musa. Sie rufen ihn er ist immer noch unruhig. Wenn er redet, Mittelsmänner und mit Musas Hilfe wird das
oft mitten in der Nacht an, wenn wieder Kühe wippt sein rechter Fuß im Takt der Wörter, Geld an einen unbekannten Empfänger über-
auf fremden Feldern grasen und deswegen manchmal überholt er ihn. Musa fragt ihn, wiesen. Sie kommen frei.
Schüsse fallen, wenn Leute entführt, Dörfer wie es ihm gehe. Er werde immer wieder Man habe gerade mal zwei Polizisten hier
geplündert, Frauen vergewaltigt werden. Je- grundlos wütend, sagt Tsalha. Dann erzählt in der Kleinstadt, sagt Tsalha heute in seinem
den Tag, sagt Musa, frage ihn seine Frau, eine er dem Team des SPIEGEL seine Geschichte. Haus, während er Musa gegenübersitzt, »für
Lehrerin: »Warum kannst du dein Telefon Sie lässt sich nicht überprüfen, ähnelt jedoch mehr als 10 000 Menschen«. Keiner von den
nachts nicht ausmachen?« Er kann nicht. Son- in den Details vielen anderen Berichten von Polizisten besitze eine Waffe. Gemeinsam mit
dern eilt los, um zu schlichten. Manchmal mit Kidnapping in der Region. anderen hat Tsalha deshalb eine Bürgerwehr
Erfolg. Wo das Gewaltmonopol des Staats Ein leichter Regen fällt an jenem Samstag, aufgestellt. Er weiß, dass die Syndikate immer
erodiert, sind es Menschen wie Musa, die ver- der Tsalhas Leben verändert. Es hallt ein mehr Informanten in den Gemeinschaften
suchen, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Schuss durch den Ort. Tsalha schaut auf die platzieren, die ihnen sagen, wen zu entführen
Rund die Hälfte der Nigerianer würde am Uhr. Es ist 21.20. Sein Telefon klingelt. Ent- sich lohne. »Wir müssen uns selbst um die
liebsten auswandern, stellte das Meinungs- führer seien in der Stadt, habe ein Bekannter Sicherheit kümmern. Sonst kommen sie jeden
forschungsinstitut Gallup schon 2018 fest. Fast am anderen Ende der Leitung gewarnt. Tsal- Tag und holen, wen sie wollen«, sagt er, wäh-
täglich dringen apokalyptisch anmutende ha erzählt weiter, er habe an jenem Abend rend er seine Hände knetet. Noch immer lei-
Nachrichten aus dem Land: Gefängnisaus- zwei Freunde zu Besuch gehabt. Die drei be- de er unter Panikattacken.
brüche, Hinrichtungen, Anschläge. Ganze schließen, das Haus zu verlassen. Schwarz Festgenommene Entführer, erzählt Tsalha,
Schulklassen werden entführt, es gibt Baby- liegt die Nacht über dem Dorf. Sie gehen könnten sich häufig freikaufen. »Die Polizis-
fabriken, in denen Frauen vergewaltigt und hinaus, zu dem großen Metalltor in der Um- ten sind ja oft auch involviert.« Andere Poli-
die Säuglinge verkauft werden. Die Armee ist friedung des Hauses. Zu spät merken sie, dass zisten forderten Geld, damit sie ihre Arbeit
mittlerweile in jedem einzelnen der 36 Bun- das ein Fehler ist. Vier Männer stehen vor erledigen. »Das System ist verrottet«, sagt er
desstaaten aktiv. ihnen, Kalaschnikows in den Händen. und schaut auf das Gitter vor seinem Fenster.
»Die Menschen haben erkannt, dass nie- »Auf den Boden«, hätten sie geschrien, so Musa nickt traurig. Er verspricht, bald wieder-
mand das Gewaltmonopol hat, also greifen erinnert sich Tsalha. Die Entführer durchsu- zukommen, und steigt in seinen Wagen.
jetzt alle zur Gewalt. Das trägt dazu bei, dass chen die Taschen, beschlagnahmen die Telefo- Musa fährt an einem heruntergekomme-
das Land ein ›failed state‹ wird«, sagt der ne, treiben die drei Freunde die Hauptstraße nen Studentenwohnheim vorbei. Die Blech-
nigerianische Jurist Liborous Oshoma. Und entlang in Richtung der Berge. Sieben Stun- dächer der Häuser zeichnen sich gegen den
was in Nigeria passiert, hat Konsequenzen den lang laufen sie in Sandalen die Hänge grauen Himmel ab. Abgase wehen ins Auto.
für die Region: Konflikte breiten sich über die hinauf. »Wenn ihr den Mund aufmacht«, sol- Musa erzählt von einem Sicherheitstreffen,
Grenzen hinweg aus, destabilisieren Nach- len die Kidnapper gesagt haben, »bringen wir das er am Morgen mit Militärs und Politikern
barländer wie Niger und Tschad, befeuern die euch um.« hatte. Er ist wütend, weil sie die Gefahren zu
dschihadistische Bedrohung im Sahel. Sie fordern zehn Millionen Naira, umge- verdrängen scheinen.
Schon als das Land vor mehr als 60 Jahren rechnet mehr als 20 000 Euro. Tsalha weiß, Seit Beginn des Wahlkampfs, besagen sei-
die Unabhängigkeit erlangte, befürchteten dass seine Freunde nichts haben: Der eine ist ne neuesten Erhebungen, hat die Gewalt in
seine Führer ein Auseinanderbrechen des Plateau um mehr als 40 Prozent zugenom-
Staats mit seinen 250 verschiedenen Völkern. men. Die Jugend bewaffne sich immer mehr,
Wie so oft in Afrika waren die Grenzen von die Spannungen zwischen Christen und Mus-
den Kolonialherren ohne Rücksicht auf eth- limen werden sich weiter zuspitzen, vermutet
nische oder religiöse Trennlinien gezogen er. Mehr als 2700 Tote zählte die NGO The
worden. Damals sagte der Politiker Obafemi Armed Conflict Location & Event Data Pro-
Abolowo: »Nigeria ist keine Nation, es ist ject mit Bezug auf die Wahlen seit Beginn der
bloß ein geografischer Begriff.« heißen Phase des Wahlkampfs Ende Septem-
Nun könnte das Land vollends zerbrechen, ber. Über 10 000 seit Beginn 2022.
zusammengehalten wird es vielerorts nur Musas Organisation hat Umfragen in Auf-
noch von Gier. Wer in Nigeria Geld machen trag gegeben: Im vorvergangenen Jahr sagten
will, benötigt einen rudimentär funktionie- 56 Prozent der Menschen, sie hassten die An-
renden Staat als Spielwiese für Korruption hänger der jeweils anderen Religion. Im ver-
und Vetternwirtschaft. gangenen Jahr waren es schon 70 Prozent.
Es ist der Anstand, findet Sadeeq Musa, Journalist Musa im Hirtendorf Rafiki Der Landkonflikt ist hier, im Zentrum Nige-
der seinem Land abhandengekommen ist. Am rias, wo der mehrheitlich christliche Süden
Mittag des nächsten Tages setzt er sich in sei- auf den überwiegend muslimischen Norden
nen Wagen, um zu einem Entführungsopfer trifft, mittlerweile auch eine religiös befeuer-
zu fahren, über dessen Freilassung er drei te Krise. Die meisten Hirten sind Muslime,
Monate zuvor mitverhandelt hat. Aus dem die meisten Landwirte Christen.
Fenster blickt er auf Felder voller Hirse, die Politiker profitierten von dem Konflikt.
Äste der Mangobäume hängen tief von der »Sie profilieren sich vor ihren jeweiligen Glau-
Last ihrer Früchte. Kidnapping, sagt Musa, bensgruppen als Hardliner, beschuldigen die
sei nun auch hier in Plateau zu einer lukrati- anderen Ethnien, sich mehr vom Kuchen zu
ven Industrie geworden. nehmen – und gewinnen damit Wahlen«, sagt
In einem sandfarbenen Kaftan wartet Mo- Musa, während ein Polizist sich seinem Wa-
hammed Tsalha vor einem schweren Metall- gen nähert. Der Uniformierte fordert Wegzoll,
tor. Einmal die Woche besucht Musa den Musa schreit ihn an, darf schließlich passieren.
Raumfahrtingenieur – und hört ihm zu. Tsal- Politik ist in Nigeria vielerorts ein Weg,
ha führt die Gäste hinein. Braun gestrichene Milizionäre der Landwirte auf Patrouille an das Geld aus den Ölexporten zu kommen,

80 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


AUSLAND

die die wichtigste Devisenquelle des


Landes darstellen. Ein durchschnitt-
licher Senator, erklärt Musa, verdiene
horrende Summen, während Fami-
lien mit fünf Kindern manchmal einen
Tag lang nichts zu essen hätten.
»Unser Problem ist nicht die Armut,
unser Problem ist eine Armut des
Geistes«, sagt er.
Wenige Tage später fährt Musa
nach Rafiki. Die Region nordwestlich
von Jos, in der das Dorf liegt, ist ein
Epizentrum des Konflikts. Immer
wieder kommt es zu schweren Zu-
sammenstößen. Hier vermutet Musa
die Täter von Ancha, dem Dorf der
frischen Gräber.
Rafiki ist eine Siedlung der Fulani,
des traditionellen Hirtenvolks. Rund
280 Familien leben in weit verstreu-
ten Hütten. Motorräder schleichen
über die Piste, umkurven die Schlag-
löcher. Vor einer Woche gab es wieder
Tote. Musa sucht eine Frau, die vor
wenigen Tagen ihre Söhne verloren
haben soll. Farmer hätten sie umge-
bracht, heißt es im Dorf.
Er läuft in Richtung eines kleinen
Flussbetts. Die trockene Erde staubt
unter seinen Füßen. Das Ackerland, Trauernde Mutter Langsam fährt er an der Straße »Nigeria ist eines der religiösesten
auf dem in der Regenzeit Mais, Kar- Suleiman in Rafiki, vorbei, die nach Ancha führt. Von den Länder Welt und zugleich eines der
Bauer Moses in
toffeln und Soja angebaut werden, seinem verbrannten
Soldaten, die das Dorf bewachen sol- gottlosesten«, sagt Musa. Er hört, wie
liegt brach. »Der Klimawandel ist Zuhause in Ancha len, ist nichts zu sehen. »Nach einem beschlossen wird, besser miteinander
einer der treibenden Gründe hinter (aufgenommen Angriff werden Notfallgelder ausge- zu reden, eine WhatsApp-Gruppe
den Konflikten hier«, sagt er. Im Nor- durch die zerbroche- schüttet, Soldaten losgeschickt. Dann einzurichten. Die Beschlüsse wirken
ne Fensterscheibe):
den, woher viele der Hirten kommen, Fünf Kühe reichen für
aber müssen die Menschen in den auf Musa beliebig.
breite sich die Wüste aus. Deswegen ein Massaker Gemeinschaften die Soldaten versor- Mit blutunterlaufenen Augen sitzt
drängten sie in den Süden. gen, das Geld wandert in die Taschen er in einer Ecke. Dann sackt sein Kopf
»Die Leute wissen nicht, wie ver- der Befehlshaber.« Musa schaut über nach vorn, und die Einsicht, die er so
heerend die Auswirkungen sie treffen die sanften Hügel. »Eine Woche spä- verzweifelt zu verdrängen versucht,
werden. Irgendwann werden die Fu- ter hören wir von den ersten Verge- bahnt sich ihren Weg: »Es wird nicht
lani verstehen, dass sie dabei sind, waltigungen durch die Soldaten.« funktionieren.« Wahrscheinlicher sei,
den Großteil ihres Viehs zu verlieren, Wenn Gewalt ausbricht, reagiere dass es jetzt schwere Angriffe geben
riesige Flächen Land. Alles wird ver- die Regierung entweder gar nicht oder wird. »Das ist meistens so nach Frie-
trocknen.« Rund 350 000 Hektar mit übertriebener Brutalität. Die Ar- denstreffen.« Warum, weiß er auch
fruchtbares Land gehen Schätzungen mee hat zu wenig Soldaten und Aus- nicht. Er geht die Treppe hinunter
zufolge in Nigeria jedes Jahr durch rüstung, um auch nur im Ansatz der und tritt ins Freie.
den Klimawandel verloren. Was wird Vielzahl der Konflikte Herr werden Wenn er überhaupt schlafen kann
das für ein Land mit einer derart stark zu können. Gleiches gilt für die Poli- in der Nacht, plagen ihn Träume. In
wachsenden Bevölkerung bedeuten? zisten, die oft schlecht ausgebildet und letzter Zeit erscheinen ihm immer
»Krieg«, sagt Musa. bezahlt werden. Und viele bessern ihr wieder die Männer, die auf dem Weg
Vor einer Ansammlung von Lehm- Gehalt auf, indem sie jene berauben, zu einer Beerdigung niedergeschos-
hütten bleibt er stehen, Zainab Sulai- die sie beschützen sollen. Nicht weni- sen wurden. »Nachdem ich die Leiche
man hockt auf dem Boden. Ihre Söh- ge Waffen würden von Polizisten und eines Mannes gefunden hatte, den sie
ne Umar und Idris, 16 und 14, wurden Soldaten an Kriminelle verkauft, sagt in Stücke gehackt hatten, konnte ich
ermordet. Wahrscheinlich aus Rache. Musa. 2015 verschwanden in Nigeria drei Tage lang nicht klar denken«,
Sie erzählt von den Schüssen, die zwei Milliarden Dollar, die für Waffen- sagt Musa.
sie gehört hat. Musa bittet sie, ihn an- käufe der Regierung bestimmt waren. Verloren wiederholt er den Satz.
zurufen, wenn es im Dorf Probleme Noch ein paar Tage später hat »In Stücke gehackt.« Dann fragt er:
gibt. Viel mehr kann er nicht tun. »Eines der Musa in einem Hotel am Stadtrand »Warum erschießen sie ihn nicht? Ma-
Auf dem Rückweg geht Musa an die Führer der Hirten und der Bauern chen es schnell? Nein! Einer trägt eine
einem verfallenen Schulgebäude vor- religiösesten versammelt. Sie sollen eine Art Road- Machete, einer eine Axt, und dann
bei. Kinder haben mit Kohle Sturm- Länder – und map zu einem Frieden ausarbeiten, hacken sie von hinten und vorn.«
gewehre auf die Wände gemalt. Musa ein Abkommen unterzeichnen. Musa schaut in die Ferne, über das
sagt: »Eine ganze Generation wächst
eines der Ein Imam und ein Pastor, die sich trockene, harte Land. Er weiß, dass
mit Gewalt auf. Es werden immer mehr gottlosesten« früher gegenseitig nach dem Leben er einen Kampf führt, den er nicht
Waffen.« Rund 80 000 Sturmgewehre Sadeeq Musa, trachteten, sind gekommen. Im Na- gewinnen kann. Doch er wird nicht
seien allein in Plateau im Umlauf. Aktivist men Gottes rufen sie zum Frieden auf. aufhören. n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 81


AUSLAND

der Nähe herum, warteten, dass er wieder


herauskommt.
Das Gespenstische an dem Fall ist: So viele
Details, Videoaufnahmen, Aussagen sind be-
kannt, aber dennoch laufen die Ermittlungs-

Fahrt in den Tod stränge ab einem bestimmten Punkt ins Leere:


dort, wo sie die Interessen und das Herrschafts-
gebiet der Hisbollah berühren. Der Name be-
deutet übersetzt Partei Gottes. Ihr Allmachts-
LIBANON Wer ermordete Lokman Slim? Es war die Hisbollah, anspruch speist sich daraus, als Vollstrecker
göttlichen Willens die Schiiten des Libanon als
sagt die deutsche Witwe des vor zwei Jahren getöteten ihre Mündel zu betrachten und den Staat zu
Dissidenten. Sie kämpft für Gerechtigkeit – gegen die mächtige Miliz. dulden, solange er sich nicht einmischt.
Selbst nach Israels Abzug aus dem besetz-
ten Südlibanon im Jahr 2000 wollte die His-
ielleicht hatte er die Autos nicht be- eine Siesta aufs Sofa legte. Noch dreieinhalb bollah den Kampf gegen Israel unbedingt
V merkt, die ihn fast zwei Stunden lang
durch den halben Libanon verfolgten.
Vielleicht wäre es ihm nach Jahren der Mord-
Stunden.
Seiner Ermordung vor zwei Jahren rief
international Entsetzen hervor. Die Regie-
fortsetzen – als brauchte sie den Kriegs-
zustand, um die Unterdrückung der eigenen
Bevölkerung zu rechtfertigen. Auch wenn sie
drohungen auch egal gewesen. Er hatte ja alles rungen der USA, Frankreichs und die Arabi- damit den nächsten verheerenden Angriff
überlebt. Bis jetzt. sche Liga verdammten diesen »barbarischen Israels auf den Libanon 2006 herbeiführte,
Als er am 3. Februar 2021 mittags am Akt« und forderten, die Schuldigen zur Ver- was Slim ihr vorwarf.
Haus eines Freundes im Dorf Niha ankam, antwortung zu ziehen. Doch niemand ist je- Dass überhaupt noch ermittelt wird, die
tief im Süden des Libanon, hatte Lokman mals verhaftet oder auch nur identifiziert Akten nicht stillschweigend geschlossen wur-
Slim, der prominenteste Widersacher der worden, obwohl Slims Mörder sich alles an- den, liegt vor allem an der Beharrlichkeit von
Hisbollah, noch knapp acht Stunden zu le- dere als unauffällig verhielten. Mindestens Lokman Slims deutscher Witwe, der Filme-
ben. Ein ruhiges Essen in heiterer Runde, so fünf Autos verfolgten Slim, ihre Insassen be- macherin Monika Borgmann, und an seiner
entspannt, dass Slim sich gegen 18 Uhr für schatteten das Haus, standen stundenlang in Schwester Rasha al Ameer, die den Verlag der

DER SPIEGEL

Witwe Borgmann in
Beiruter Familienvilla

82 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


AUSLAND

Familie nun allein weiterführt. »Viel- Hämatom am linken Fuß sprechen


leicht hatten sie gedacht, sie könnten dafür, dass er gestürzt war und mit
uns einschüchtern und wir würden Gewalt fixiert wurde.
das Land verlassen«, sagt Borgmann 20.40 Uhr: Der Nissan Pathfinder wird
in ihrem Beiruter Haus, wo sie mit in der Nähe beobachtet, auf dem Weg
Slim gelebt hat. »Aber das tun wir zur Autobahn. Die Ermittler vermu-
nicht.« Wer »sie« sind, sei recht klar, ten den verschleppten Slim darin.
sagt sie, Mitglieder der Hisbollah. 20.41 Uhr: Der Infiniti-SUV fährt in
»Aber das reicht nicht. Ich will ein dieselbe Richtung los, gefolgt von
Verfahren, ich will Gerechtigkeit.« Slims Toyota.
Gemessen an der Geschichte des 20.56 Uhr: Auch der Audi Q5 fährt
Libanon und den etwa 200 Morden wieder los. In den nächsten Minuten
an Schriftstellern, Journalisten, Geist- werden die Verfolger mehrfach in
lichen und hohen Politikern, wie Richtung Beirut gesichtet.
einem Präsidenten und einem Pre- 21.14 Uhr: Der Nissan Pathfinder ver-
mierminister, seit den Sechzigerjahren, lässt die Autobahn auf Höhe Baissa-
von denen fast keiner aufgeklärt wur- riye und fährt in eine Unterführung,

Jamal Eddine / UPI / laif


de, ist es wohl ein aussichtsloses Unter- ebenso Slims Auto. Irgendwann in
fangen. Aber das hat Lokman Slim den kommenden Minuten wird Lok-
auch im Leben nicht abgehalten, mit man Slim mit fünf Schüssen in den
Worten, Theaterinszenierungen, Fil- Kopf aus nächster Nähe erschossen.
men zur Stimme des friedlichen Auf- Eine Hinrichtung.
begehrens gegen die Hisbollah zu wer- 21.19 Uhr: Slims Toyota und der Nis-
den. Diese Stimme regte sich mitten Schiitische Kämpfer verfolgen bereits ein Toyota Camry, san Pathfinder verlassen den Tunnel
in deren Hochburg, denn der Spross in Beiruter Vorort: ein Mercedes und ein Audi Q5, die in auf einer kleinen Parallelstraße zur
Braucht die Hisbollah
einer alten schiitischen Familie blieb den Kriegszustand,
der folgenden halben Stunde mehr- Autobahn in Richtung der Stelle, wo
im ererbten Anwesen mit ummauer- um Unterdrückung zu fach gesichtet werden. am nächsten Morgen der Wagen mit
tem Garten in Südbeirut wohnen. Vor rechtfertigen? 12.42 Uhr: Ein Infiniti-SUV erscheint Slims Leiche gefunden wird.
dem Tor zwei Männer der Hisbollah, in Khalde, dahinter ein Nissan Path-
in drei Meter Höhe deren Videokame- finder. Beide werden bis abends im- Die Verfolgerautos werden zuletzt in
ra. »Wir sind gut bewacht«, spottete mer wieder in Slims Nähe gesichtet. Richtung Südosten, Hisbollah-Ge-
Slim, wenn man ihn darauf ansprach. 12.44 Uhr: Über zwei Telefonnum- biet, gesichtet und verschwinden an-
Aber als im Dezember 2019 die mern, die nie zuvor, nie danach be- schließend spurlos.
Außenmauern übersät waren mit nutzt worden sind, koordinieren sich 36 Kilometer sind es vom Entfüh-
Drohungen wie »Lokman Slim, Ver- die Fahrer. Eine SMS von der ersten rungsort bis zu der Straße neben der
räter« und »Ruhm dem Schalldämp- Nummer: »Ruf mich an, Kumpel!« Autobahn, wo Slims Wagen am
fer«, reagierte er mit einem prophe- 13.13 Uhr: Von der zweiten Telefon- nächsten Morgen gefunden wird. Die
tischen Statement: Für alles, was ihm nummer kommt eine SMS: »Wo bist Hälfte des Weges führt durch dicht
oder seiner Familie zustoße, werde du?« Immer wieder werden die Posi- besiedelte Dörfer. Alle Nummern-
Hassan Nasrallah, Chef der Hisbol- tionen abgeglichen. schilder der Verfolger sind bekannt,
lah, verantwortlich sein – sowie 13.34 Uhr: Ankunft Slims im Dorf Dubletten echter Kennzeichen.
Nabih Berri, Anführer der verbünde- Niha. Der Verfolger-Mercedes parkt Die meisten dieser Details wurden
ten Amal-Bewegung und im Neben- in der Nähe, die anderen vermutlich vom Polizeigeheimdienst zusammen-
beruf Parlamentspräsident. Dass ein ebenfalls. getragen. Der steht im Ruf, unabhän-
Prominenter aus den Reihen dersel- 15.11 Uhr: Der Toyota Camry fährt giger von politischem Druck zu agie-
ben Glaubensheimat es wagte, die wieder zurück, wird bis Khalde ge- ren als der Nachrichtendienst der
schiitischen Machthaber zu kritisie- sichtet. Armee oder die Staatssicherheit.
ren, war Verrat in deren Augen. Die 17.40 Uhr: Der Mercedes folgt, auch Doch auch die Fahndungsbemü-
US-Botschaft in Beirut hatte Slim seine Spur verliert sich in Khalde. hungen des Polzeigeheimdienstes in
bereits zuvor gewarnt, er sei ernsthaft 18.11 Uhr: Der Audi Q5 setzt sich in Slims Fall brechen da ab, wo sie den
in Gefahr, solle das Land verlassen. Bewegung, parkt im südlichen Nach- Tätern nahekommen: Wo begann
Doch ins Exil wollte er nicht. bardorf von Niha. und wo endete die Fahrt der Verfol-
Aus den fragmentarischen Ermitt- 20.36 Uhr: Slim bricht auf, ihm folgt gerautos? Gibt es dort keine Kame-
lungen verschiedener Stellen zu Slims weniger als eine Minute später der ras? Wenn all die Aufnahmen der
letzter Reise ergibt sich das Bild eines Infiniti-SUV. Die Ermittler vermuten, Wagen existieren, warum zeigt keine
hoch organisierten Killerkommandos. dass der Nissan Pathfinder 400 Meter ein Gesicht der Insassen? Warum
An jenem 3. Februar brach er in einem vom Haus entfernt den schmalen Weg wurden Slims Frau, Angehörige,
gemieteten Toyota Corolla nach Sü- blockiert. Dort werden Stunden spä- Freunde vernommen, aber nicht die
den auf. Überwachungskameras von »Wenn man ter Slims Brille, etwas abseits, und Anwohner? Warum sperrte niemand
Polizei, Tankstellen, Läden, Privat- zu beharrlich sein Mobiltelefon gefunden. die Fundstelle von Slims Wagen ab,
häusern, die Auswertung von Telefon- 20.38 Uhr: Lokman Slims Gesund- hinderte Schaulustige daran, das
daten und Slims Gesundheits-App nachfragt, heits-App auf seinem Telefon regis- Auto anzufassen, alle Spuren zu ver-
fügen sich zu einem Minutenprotokoll kommt ein triert 82 Schritte, knapp 60 Meter. Ein wischen?
dessen, was dann passierte. letzter Fluchtversuch? Eine Kugel, die »Wenn man zu beharrlich nach-
trauriges ihn präzise in der Mitte des Rückens fragt, kommt irgendwann so ein trau-
12.06 Uhr: Lokman Slims Toyota Schweigen.« trifft, verursacht innere Blutungen, riges Schweigen«, resümiert Monika
taucht zum ersten Mal bei der Ort- Moussa Khoury, was belegt, dass Slim noch gelebt hat. Borgmanns Anwalt Moussa Khoury
schaft Khalde auf Kameras auf, ihn Anwalt Abschürfungen an den Knien und ein die vergangenen Monate, »und dann

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 83


AUSLAND

die Frage: Wollen Sie einen erneuten »Dieser Kampf darüber, wie anstrengend das Töten wird geraucht, Verhaftete in Hand-
Bürgerkrieg riskieren?« gewesen sei und dass nur der gelern- schellen stehen mit dem Gesicht zur
Am Morgen des 4. Februar 2021, ist mein te Metzger daran Freude gehabt habe. Wand, Bewaffnete warten zwischen
als Slims Leiche gefunden wurde, war Leben. Ich Im Familienanwesen hatten Slim Anwälten und Besuchern. Die An-
der Sohn des Hisbollah-Generalsekre- habe kein und Borgmann »Umam« etabliert: hörung verschiebt sich um Stunden.
tärs nicht so schweigsam. Kaum lief im das wohl größte zugängliche Archiv Bis vor Kurzem sei Abu Samra als
Fernsehen die Nachricht vom Mord, anderes.« der Geschichte des Libanon. Eine einziger Richter überhaupt zum
twitterte Jawad Nasrallah: »Was für Monika Borgmann, Rettungsinsel für Pamphlete aus dem Dienst erschienen, heißt es. Die an-
manche Leute einen Verlust bedeutet, Dokumentarfilmerin Bürgerkrieg, Filmrollen der einst be- deren streikten, weil ihr Gehalt in der
ist in Wirklichkeit ein Gewinn und deutendsten Filmfirma Baalbeck Stu- rasenden Inflation kaum noch für den
eine unerwartete Güte«. Dahinter der dios, Melderegister des legendären Weg zur Arbeit reicht.
Hashtag: »keine Reue«. Später lösch- Carlton-Hotels. Die beiden bewahr- Abu Samra sitzt kettenrauchend
te er den Tweet, erklärte, er habe gar ten die Zeugnisse libanesischer Ge- an einem Schreibtisch in einem Aus-
nicht Slim gemeint. Sein Vater, Hisbol- schichte vor der Müllkippe. weichbüro und wartet auf Zeugen aus
lah-Chef Hassan Nasrallah, hat die Das Paar brachte einst verschlepp- Niha, die nicht erschienen sind. Die
Verantwortung für Slims Ermordung te libanesische Ex-Gefangene des Adressen sollte der Anwalt besorgen,
nie bestritten, stattdessen in einer TV- syrischen Foltergefängnisses von Pal- die örtliche Polizei mochte Abu Sam-
Ansprache lamentiert: »Irgendein myra zusammen: erst in einem Thea- ra offensichtlich nicht einschalten.
Vorfall passiert in deiner Gegend, und terstück, dann, 2016, in dem Doku- Aber warum? »Das«, erklärt der
automatisch wirst du angeklagt, bis mentarfilm »Tadmor«, in dem sie die Richter müde, »ist ein Verfahrensge-
das Gegenteil bewiesen ist.« Jahre ihres Martyriums noch einmal heimnis.« Ob es nicht sehr unge-
Als die Ermittler des Polizei- aufführten, die Rollen der Opfer und wöhnlich sei, dass die Suche an ent-
geheimdienstes die Hisbollah baten, der Täter übernahmen. scheidenden Stellen immer wieder
Aufnahmen der Überwachungskame- Nun ist nur noch Monika Borg- abbreche? »Nein.«
ras aus deren Terrain einsehen zu mann da. »Im Mittelpunkt von allem, Will man dorthin fahren, wo Slims
dürfen, verweigerte die Organisation was wir getan haben, stand dieser Mörder seine Leiche platzierten, raten
dies. Bei den Vernehmungen wurde Kampf gegen die Straflosigkeit. Jetzt europäische Diplomaten dringend ab:
Monika Borgmann gefragt, ob ihr mache ich weiter ohne Lokman – »Verlassen Sie nicht die Autobahn!«
Mann eine Affäre gehabt habe. Oder aber für ihn. Das ist mein Leben. Ich Am 14. Dezember 2022 wurde kaum
vielleicht doch Suizid begangen habe. habe kein anderes.« einen Kilometer entfernt vom Pfad,
»Nach dem Naheliegendsten haben Es dauerte fast neun Monate, bis auf dem Slims Auto stand, der irische
sie nie gefragt«, sagt Borgmann im es Borgmann und ihrem Rechtsanwalt Unifil-Soldat Seán Rooney erschos-
Arbeitszimmer des Familiensitzes. Khoury gelang, den Fall von einem sen, als er auf dem Weg zum Beiruter
Sie quäle bis heute die Frage, »was lokalen Gericht einer anderen Stadt Flughafen war. Die Uno-Mission soll
wäre geschehen, wäre ich mitgefah- nach Beirut überstellen zu lassen. Ein die brüchige Waffenruhe zwischen
ren? Ich hatte damals Angst vor Co- kleiner Sieg. Seither liegt er beim Israel und der Hisbollah bewahren.
rona, wollte nicht mit all den Freun- obersten Ermittlungsrichter für Straf- Doch als Rooneys Fahrzeug auf die
den in Niha in einem geschlossenen sachen, Charbel Abu Samra. Dem alte Küstenstraße abbog, zielten Be-
Raum sitzen. Wären wir jetzt beide integersten, furchtlosesten Richter waffnete immer wieder auf das Fah-
tot? Oder hätte es ihn gerettet?«. des Libanon, heißt es. rerfenster des gepanzerten Fahrzeugs.
Die Mission der beiden war es, An einem Donnerstag im Januar Bis sie es schafften, die Hecktür zu
dem ewigen Verdrängen und Vertu- 2023 findet die nächste Anhörung im öffnen und Rooney von hinten zu er-
Fundstelle der Leiche
schen im Libanon die Erinnerung ent- Slims: Gab es hier
Fall Slim statt. Der gesamte Gebäude- schießen. Gab es in der Gegend etwas,
gegenzuhalten. Wer hat welches Un- etwas, das man nicht komplex ist wegen einer Spontan- das die Soldaten nicht sehen sollten?
recht im Bürgerkrieg begangen? Wer sehen sollte? demonstration abgesperrt, im Gericht Ein »unbeabsichtigter« Zwischenfall,
sind die Mörder? Weltbekannt wur- kommentierte die Hisbollah.
den Borgmann und Slim 2005 mit Lokman Slim hatte eine unge-
dem Dokumentarfilm »Massaker«, wöhnliche Utopie für ein Ende der
für den sie bei der Berlinale und wei- Barbarei im Libanon. Keine Revolu-
teren Festivals ausgezeichnet wurden. tion, denn »selbst wenn es wirklich
Sie hatten es geschafft, sechs der Be- eine geben sollte, wäre noch nichts
teiligten des Massenmords an paläs- gewonnen«, schrieb er vor Jahren,
tinensischen Zivilisten in den Beiruter sondern: Normalität. »Es ist erst alles
Flüchtlingslagern Sabra und Schatila gut, wenn ich mich abends ins Auto
von 1982 zum Sprechen zu bringen. setzen, nach Haifa oder Damaskus
Nach dem Abzug der PLO-Kämp- fahren kann, um ein Bier zu trinken,
fer aus Westbeirut waren damals zwei und wieder zurückkommen kann.«
Tage lang Milizionäre der Forces Dann kam er nicht mal von einer
Libanaises durch die Palästinenser- Fahrt durchs eigene Land zurück.
lager gezogen und hatten jene ermor- Ahnte er, was eines Tages geschehen
det, die schutzlos zurückgeblieben würde? In einer Rede sagte er einmal
waren: Schätzungen zufolge Hunder- völlig unvermittelt: »Ich habe mich
te oder gar mehr als 3000 Frauen, immer gefragt: Was ist das letzte Bild
Kinder, Alte. Abgeschirmt von israe- im Kopf dessen, der gleich umge-
lischen Truppen unter Befehl Ariel bracht wird?«
Sharons, die sie gewähren ließen. In Er gab keine Antwort damals. Es
DER SPIEGEL

kargen Räumen sprachen die Männer, gibt keine für die Lebenden.
deren Gesichter nicht gezeigt wurden, Christoph Reuter n

84 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


SPORT

11:05
(auf 3
Tage
verte
ilt)

Wett
bew
Epische Duelle 7:01 2010
Wimb
erb Gewinner Verlierer
ledon John Isner Nicolas Mahut
Die längsten Matches in der USA Frankreich
Geschichte des Profitennis 2013 Da Tomáš Berdych, Stanislas Wawrinka,
viscup
Spieldauer in Stunden
6:43 Lukáš Rosol
Tschechien
Marco Chiudinelli
Schweiz
und Minuten 2015 Davisc Leonardo Mayer João Souza
up
Argentinien Brasilien
6:36
2018 Wimbledon Kevin Anderson John Isner
Südafrika USA

6:33 (auf 2 Tage verteilt) 2004 French Open Fabrice Santoro Arnaud Clément
Frankreich Frankreich

70:68
lautete der Spielstand am Ende
6:31
1984 Central Fidelity Banks
International, Richmond

1982 Daviscu
p
Vicki Nelson
USA
John McEnroe
USA
Jean Hepner
USA
Mats Wilander
Schweden
des fünften und entscheidenden
Satzes in dem Rekordmatch 6:22 Boris Becker John McEnroe
zwischen Isner und Mahut. viscup Deutschland USA
Der Satz dauerte acht Stunden 1987 Da

Tristan Fewings / CAMERA PRESS / ddp


Lucas Arnold Ker, Jewgenij Kafelnikow,
und elf Minuten – länger als
jedes Tennismatch zuvor oder 6:21 Da viscup
David Nalbandian
Argentinien
Marat Safin
Russland
danach. 2002
José Luis Clerc John McEnroe
avi scup Argentinien USA
6:20 19 80 D
Auch in der Zahl der Asse stellte John
Isner einen neuen Rekord auf: Ihm
gelangen 113, so viele wie noch keinem

S Quelle: TotalSportal
6:15 Spieler in einem Match.

Am kommenden Freitag startet die deutsche Mannschaft um Alexander Zverev mit einem Heimspiel gegen die Schweiz in den Daviscup. Der Team-
wettbewerb, den die Deutschen zuletzt 1993 gewinnen konnten, hat in der Vergangenheit wiederholt große Dramen hervorgebracht: Sechs der
zehn längsten Spiele in der Geschichte des Profitennis waren Daviscup-Duelle. Weitere Marathonmatches wie das Sechs-Stunden-Epos zwischen
Boris Becker und John McEnroe 1987 sind aber unwahrscheinlich: Mittlerweile werden nur noch zwei statt drei Gewinnsätze ausgespielt.

GUT ZU WISSEN London ist kein Einzelfall. Wirkung, die von Sport-
Zu diesem Schluss kommt großereignissen wie Olympia
Bringt Spitzensport die ein luxemburgisch-franzö-
sisches Forschungsteam. Fünf
ausgeht, sondern auch den
allgemeinen Einfluss von Leis-
Bevölkerung in Bewegung? Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler werteten drei
tungssportlern und deren Er-
folgen auf das Sportverhalten
Dutzend Studien aus, in de- der Basis.
Nach mehreren gescheiterten häufig bemühtes Argument nen der Frage nachgegangen Ihr ernüchterndes Fazit: Es
Anläufen sondiert der deutsche von Olympia-Befürwortern. wurde, welchen Effekt Spit- lasse sich nicht belegen, dass
Sport erneut eine Olympia- Die Winterspiele von Peking im zensport auf die körperliche Spitzensport die Bevölkerung
Bewerbung. »Wir sollten den vergangenen Jahr sollten an- Aktivität in der Bevölkerung in ihrem Sportverhalten be-
Mumm haben«, sagte Andreas geblich 300 Millionen Chinesen hat. Die Arbeiten, auf die einflusse. Entscheidungsträger
Michelmann, Präsident des für Schnee- und Eissport begeis- sich die Forscher dabei stütz- sollten sich dieser »begrenzten
Deutschen Handballbunds, tern, so propagierte es das Inter- ten, beleuchten nicht nur die Wirkung« bewusst sein und
vergangene Woche zu einer nationale Olympische Komitee. »ihre Maßnahmen entspre-
möglichen Kandidatur für Schon 2012 standen die Som- chend anpassen«, indem sie in
2036. Der Funktionär verwies merspiele in London unter dem bessere Strategien investieren,
auf die Sommerspiele 1972 in Motto »Inspire a Generation«. schreiben die Wissenschaftler.
München, die dem Sport hier- Mit der Realität hatte das wenig Als positives Beispiel nen-
zulande einen Aufschwung zu tun: Die Quote der Sporttrei- nen die Forscher Spanien: Dort
ZUMA Press / action press

beschert hätten, »auch in der benden auf den britischen Inseln hätten sich mehr Menschen
Breite«. Ein solcher Impuls sei stagnierte im Nachgang zu den sportlich betätigt, nachdem
»bitter nötig«, so Michelmann. Spielen. Schlimmer noch: Heute neue Sportstätten gebaut wor-
Dass Sportgroßereignisse sind in Großbritannien fast ein den waren – und nicht, als
im eigenen Land mehr und vor Viertel aller Kinder zwischen der spanische Spitzensport
allem junge Menschen zum zehn und elf Jahren adipös, vermehrt Erfolge auf inter-
Sporttreiben animieren, ist ein mehr als noch vor einer Dekade. Olympia 1972 in München nationalem Level feierte. TNE

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 85


SPORT
Jasen Vinlove / USA Today / ddp

Andreas Gora / IMAGO


1 2

PSYCHOLOGIE
Signale aus dem Darm
Der Sport lebt vom Fair Play. Doch selbst Amateursportler schummeln, was das Zeug hält. Nun hilft
auch noch moderne Technik dabei, Gegner und Schiedsrichter zu täuschen. Was treibt die Betrüger an?
Tim De Waele / Corbis / Getty Images

Lennar t Ootes

1 | Golfer Trump bei einem Turnier in Miami 2022 2 | Start


des Berlin-Marathons vor dem Brandenburger Tor 2019
3 | Suche nach versteckten Motoren in einem Rennrad bei
3 der Tour de France 2017 4 | Schachspieler Niemann auf
einem Turnier in Saint Louis 2022

86 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


SPORT

verbotener Substanzen, mit teils gravierenden schlagenen Ball durch einen neuen ersetzt,

W
gesundheitlichen Folgen für die Sportler. als Woods gerade nicht hinschaute. Trump
Dabei geht es beim Schummeln in den meis- selbst mache aus seinen Betrügereien keinen
ten Fällen weder ums große Geld noch um Hehl, er sei vielmehr stolz darauf, sich so
internationale Karrieren. Die Läufer, die in clever zu verhalten.
Berlin beim Marathon auffliegen, seien keine Donald Trump ist keine Ausnahme. Laut
Spitzensportler, sagt Milde. Es handle sich in einer Umfrage unter 410 Führungskräften aus
der Regel um ambitionierte Freizeitsportler, der Wirtschaft haben 2002 mehr als 80 Pro-
Wer den Marathon in Berlin zur Hälfte ge- wie es Millionen in Deutschland gibt. Beson- zent eingeräumt, es mit den Regeln nicht so
schafft hat, erreicht Schöneberg. Kurz hinter ders betroffen von dem Phänomen scheinen genau zu nehmen. Regelmäßig werden die
der 21-Kilometer-Marke biegt die Laufstrecke Individualsportarten zu sein. Die Motive: Pres- Caddies zu ihren Beobachtungen interviewt:
nach links in die Potsdamer Straße ein. Wer tige, Selbstdarstellung und Aufschneiderei. Rund ein Drittel gab zuletzt an, Zeuge von
sich stattdessen nach rechts wendet, kann »Ein sportlicher Lebensstil, Selbstoptimie- Betrügereien geworden zu sein.
das Ziel freilich auch erreichen – und zwar rung und Fitness werden in unserer Gesell- »Wie sich Menschen im normalen Leben
deutlich schneller. Man muss zwar die vor- schaft immer wichtiger«, sagt der Sportphilo- verhalten, sind sie auch auf dem Golfplatz«,
geschriebene Route verlassen. Aber schon soph Gunter Gebauer. »Je höher die gesell- gibt sich Alexander Klose, Vorstand des
nach wenigen Hundert Metern trifft man er- schaftliche Anerkennung einer bestimmten Deutschen Golf Verbands, keinen Illusionen
neut auf die Laufstrecke. Und ist schon bei Sportleistung ist, desto größer ist der Anreiz, hin. Es sei schlicht unmöglich, einen 50 bis
Kilometer 37. sich dafür so weit zu erniedrigen, dass man 100 Hektar großen Platz zu überwachen.
Diese Abkürzung nutzte vor Jahren der schummelt.« Wenn jemand einen Marathon Was ist aus dem Reiz des Sports geworden,
frühere mexikanische Präsidentschaftskandi- absolviert habe, noch dazu in einer guten Zeit, der ja eigentlich gerade darin liegt herauszu-
dat Roberto Madrazo, ein ambitionierter oder etwa ein niedriges Golf-Handicap vor- finden, wer die beste Leistung erbringt? Die
Hobbyläufer. Der damals 55-Jährige erreich- weisen könne, nötige das Bekannten, Kolle- Leipziger Sportpsychologin Anne-Marie Elbe
te nach zwei Stunden und 41 Minuten jubelnd gen, Geschäftspartnern oft Respekt oder Be- hat sich mit der Persönlichkeit von Dopern
die Ziellinie, eine kleine Sensation. Weltre- wunderung ab. befasst. Oft würden sie ihr unmoralisches Ver-
kordler Haile Gebrselassie war gerade mal Ältere Athletinnen und Athleten erliegen halten damit rechtfertigen, dass alle anderen
37 Minuten schneller. der Versuchung zu schummeln besonders schließlich auch schummeln würden.
Doch Madrazos dreister Trick flog auf. Die leicht, glaubt Gebauer, »alt werden ist in Entscheidend für den Regelverstoß sei
Veranstalter hatten, wie bei solchen Wett- unserer Gesellschaft nicht hoch angesehen. auch das Ziel der sportlichen Handlung: Geht
kämpfen üblich, Matten auf die Straßen ge- Man muss leistungsfähig sein oder zumindest es darum, sich selbst zu verbessern oder etwas
legt, mit denen beim Darüberlaufen automa- nach außen so erscheinen«. Nicht selten füh- Neues zu lernen, also beispielsweise eine
tisch die Zwischenzeiten registriert werden. re auch Selbstüberschätzung der Senioren persönliche Bestzeit zu laufen, einen Golf-
Bei dem Mexikaner fehlten die Zeiten nach zum Tricksen. schlag besonders präzise auszuführen? Oder
25 und 30 Kilometern, er wurde disqualifi- Ein wahres Dorado für größere und klei- kommt es nur darauf an, besser zu sein als die
ziert. Dumm gelaufen, sozusagen. nere Betrüger ist der angebliche Gentleman- Gegner?
Die mexikanische Abkürzung findet in sport Golf. Er findet praktischerweise ohne Diese Gewinner-Haltung führe fast
Berlin trotzdem jedes Jahr aufs Neue Nach- Schiedsrichter statt. Im Regelwerk ist das Fair zwangsläufig zu Enttäuschung und Frust.
ahmer. Andere tricksen, indem sie mit Fahr- Play verankert, und im Profisport sind Kame- Denn naturgemäß kann es nur einen Sieger
rad oder Elektroroller ein Stück fahren oder ras omnipräsent. Nichtsdestotrotz ist die Ver- geben. »Bei den Betreffenden steht die ›Ego-
die U-Bahn nutzen, um ins Ziel zu kommen. suchung, sich heimlich Vorteile zu verschaf- Orientierung‹ im Vordergrund«, erläutert
Manch einer schickt sogar andere Läufer mit fen, offenbar übermächtig. Man sieht Spieler, Elbe. Sie begünstige den Hang zu Schumme-
seinem Zeitnahmechip und seiner Startnum- die unauffällig die Position ihres Balls ver- leien.
mer auf die Strecke – für eine neue Bestzeit, bessern, Gras niedertreten oder störenden Manchmal hilft Erfindergeist, wie im Rad-
ohne sich anzustrengen. Bewuchs ausreißen. sport. Heute braucht es keine Dopingspritzen
Rund 100 der 40 000 Starter würden jedes Der Prototyp des Schummlers ist der frü- mehr, um die Alpen mit dem Rennrad hoch-
Jahr disqualifiziert, weil Zwischenzeiten fehl- here amerikanische Präsident Donald Trump. zustürmen wie einst Jan Ullrich und Lance
ten oder die gemessenen Ergebnisse nicht »Er wirft, kickt, schiebt den Ball ständig in eine Armstrong. Es reicht womöglich ein winziger
plausibel seien, sagt Renndirektor Mark Mil- bessere Position«, behauptet der bekannte Elektromotor. Immer wieder in den vergan-
de. Gut möglich, dass die wahre Zahl der Sportjournalist Rick Reilly, der ein Buch über genen Jahren verdächtigten die Profis bei der
Trickser weit höher liegt. Trumps Tricks geschrieben hat: »Egal wo der Tour de France einander, Antriebe in ihren
Warum machen die Schwindler das? Ein Ball liegt: Er lügt.« Die Bälle der Gegner be- Rädern zu verstecken.
sportlicher Wettkampf basiert auf Regeln, die fördere Trump gern mit einem beherzten Tritt 2017 wurde ein 43-jähriger französischer
allen Teilnehmenden die gleiche Chance bie- ins nächste Unterholz. Die Caddies, also die Radrennfahrer auf frischer Tat ertappt. Er war
ten. Fair Play, also die Einhaltung dieser Re- Helfer, die die Taschen der Spieler von Loch bei einem Straßenrennen kurz vor Schluss
geln und die Achtung der Gegner, gehört zur zu Loch transportieren, hätten Trump deshalb der Spitzengruppe locker davongeradelt. Im
Grundphilosophie des Sports. den Spitznamen »Pelé« verpasst – nach der Sitzrohr entdeckte die Polizei einen Tretlager-
Und doch hat die Schummelei eine lange brasilianischen Fußballlegende. motor, der Akku steckte in der Trinkflasche.
Tradition. 1904 fand der dritte Marathonlauf Selbst der US-Golfprofi Tiger Woods sei Der Sportler verteidigte sich, er habe den Zu-
bei Olympischen Spielen statt. Schon damals schon reingelegt geworden, so Reilly. Der da- satzantrieb nach einem überstandenen Band-
wurde der vermeintliche Sieger disquali- malige Präsident habe einen missraten ge- scheibenvorfall angeschafft, um schneller
fiziert, nachdem herauskam, dass er sich die wieder Anschluss zu finden. Er sei schließlich
knappe Hälfte der Strecke hatte fahren lassen. auch kein Einzelfall, der Motor stamme von
Seither ist die Liste der Betrüger wahr- einem Onlinehändler, der 20 bis 30 davon im
scheinlich schneller gewachsen als die der Sie- Monat verkaufe.
ger. Immer wieder wurden Athletinnen und »Man muss leistungsfähig Um solchen Technikbetrügern auf die
Athleten erwischt, die ihrer Karriere etwa mit Schliche zu kommen, habe der Radwelt-
unerlaubten Pharmaka nachhalfen. Die Erfol- sein oder so erscheinen.« verband aufgerüstet, berichtet Christian
ge ganzer Nationen basieren auf der Wirkung Gunter Gebauer, Sportphilosoph Magiera, Kommissär des Bundes Deutscher

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 87


SPORT

Radfahrer. So würden die Rahmen ren Spielen getrickst zu haben. Was »Bei allen zen, müsse der Sport die Regeln hoch-
auf auffällige magnetische Resonan- an den aktuellen Vorwürfen dran halten, fordert Tarmann. »Es braucht
zen überprüft, Tretlager auseinander- ist, untersucht derzeit eine interna- wichtigen auf der einen Seite strenge Kontrol-
geschraubt, Fahrräder geröntgt und tionale Kommission, der auch Klaus Spielen finden len, auf der anderen aber auch eine
sogar untersucht, ob in den Felgen ein Deventer angehört. Der Richter am inzwischen moralische Haltung der Athleten.«
Antriebssystem verborgen sei. Das Arbeitsgericht in Hamm ist der »Fair- Zur Abschreckung sind zudem
Risiko, erwischt zu werden, sei hoch, Play-Chef« des Deutschen Schach- Scans statt.« Leute wie Derek Murphy nötig. Der
die verhängten Strafen ebenso, so bunds. Klaus Deventer, amerikanische Datenanalyst wohnt
Magiera. Allerdings fänden derartige Im November war Deventer in der Schach- in Cincinnati und ist Hobbyläufer.
Untersuchungen hauptsächlich bei deutschen Provinz unterwegs. Als schiedsrichter Sein größtes Hobby aber ist es,
Profirennen statt, räumt der Rad- Schiedsrichter beobachtete er eine Schummler im Laufsport zu entde-
sportschiedsrichter ein. Das Gesche- Partie der zweiten Bundesliga West. cken. Murphy wertet die Statistiken
hen im Amateurbereich sei schwer Als die Spieler anschließend mit Me- von Veranstaltungen aus, geht Un-
einzuschätzen. »Was theoretisch talldetektoren gescannt wurden, er- gereimtheiten nach und betreibt
möglich ist, sehen wir an der Entwick- lebte Deventer eine Überraschung. einen Internetblog, in dem er über-
lung der E-Bikes.« Zwei Amateurspieler hatten ein Han- führte Trickser mit Bild zeigt.
Wie sehr moderne Technik Betrug dy mit einem Schachprogramm in der Viele Einträge drehen sich um den
begünstigt, zeigt sich im Schach. 1996 Tasche. Allein dass sie nicht vor dem Boston-Marathon, einen renommier-
galt es noch als Sensation, als der da- Spiel beim Schiedsrichter abgegeben ten Wettkampf, bei dem nur starten
malige Weltmeister Garri Kasparow wurden, sei ein Regelverstoß, erklärt darf, wer bei einem anderen Rennen
von einem Computer geschlagen wur- Deventer. eine Qualifikationszeit gelaufen ist.
de. Inzwischen ist selbst der weltbeste »Inzwischen finden solche Scans Sollten Läuferinnen und Läufer an-
Spieler chancenlos gegen simple bei allen wichtigen Spielen statt«, sagt schließend in Boston langsamer
Schach-Apps auf dem Handy. Das er. Zudem würden Partien nachge- unterwegs sein, erregen sie den Arg-
machen sich Spieler zunutze, indem spielt, um Auffälligkeiten festzustel- wohn des Sportdetektivs. Dann
sie gegen Computer trainieren – oder len, und mit statistischen Verfahren schaut er sich frühere Resultate an
sich von ihnen heimlich helfen lassen. ausgewertet. Es geht um die Integrität und gleicht diese etwa mit Facebook-
Bei Turnieren scheint eine zu- des altehrwürdigen Spiels. Es sei Einträgen ab.
nehmende Zahl von Schachprofis schwer abzuschätzen, wie verbreitet Murphy informiert nach eigenen
unter plötzlich auftretendem Harn- Betrug bereits sei, gibt sich Deventer Angaben auch die Laufveranstalter
drang zu leiden, manche suchen im vorsichtig: »Da gehen die Einschät- über seine Beobachtungen. Zuletzt
Minutentakt die Toilette auf, vor- zungen weit auseinander.« Er selbst fiel ihm eine Amerikanerin auf, die
rangig dann, wenn ihre Figuren auf gehe davon aus, dass so etwas regel- sich schon zweimal beim Berlin-Ma-
dem Brett in Bedrängnis geraten. Der mäßig vorkomme: »Es wird dazu füh- rathon für ein Rennen in Boston qua-
wahre Grund des Phänomens: Sie ren, dass bei Spielen regelmäßig spe- lifiziert hatte, dann aber in den USA
geben auf dem stillen Örtchen die zielle Anti-Cheating-Schiedsrichter fast zwei Stunden länger brauchte.
Spielsituation in ein Smartphone ein, eingesetzt werden.« Eine Prüfung ergab, dass die meisten
um den nächsten Spielzug berechnen Regelverletzer betrügen nicht nur Zwischenzeiten in Berlin fehlten –
zu lassen. ihre Gegner, sie vernichten das Wesen vermutlich weil sie getrickst hatte.
Unauffälliger ist es, sich von einem des Sports insgesamt. Der Wiener Viele Organisatoren von Sportver-
Helfer Hinweise geben zu lassen, per Sportethiker Paul Tarmann erinnert anstaltungen haben wenig Interesse
Zeichen aus dem Publikum oder mit daran: Nur weil sich Menschen auf an strengen Kontrollen. Sie führen zu
allerlei technischen Kniffs. Der Er- Regeln geeinigt hätten, könne über- Ärger mit den Betroffenen, negativer
findungsreichtum ist groß. Es wurden haupt ein Wettkampf stattfinden. Berichterstattung und einem Image,
schon präparierte Kopfhörer, Brillen, »Genau das mögen die Menschen am das Sponsoren und Teilnehmer ver-
Schuhe oder Hörgeräte gefunden. In Sport: Es gibt eindeutige und nach- schrecken könnte. Für German Road
entsprechenden Foren ist gar über vollziehbare Regeln. Wenn jeder Dopingsünder Races, eine Interessengemeinschaft
Armstrong
Morsekugeln im Anus oder Elektro- macht, was er will, geht der Sinn der im Juli 2004:
von mehr als 80 Laufveranstaltern,
nikchips zu lesen, die Spieler ver- sportlichen Auseinandersetzung ver- Hang zu habe die Suche nach Betrügern keine
schlucken, um so unauffällige Signale loren.« Schon um sich selbst zu schüt- Schummeleien hohe Priorität, gibt Michael Brink-
aus dem Darm zu erhalten. mann zu, der unter anderem für einen
Besonders ausgeprägt ist der Be- Marathon in Münster verantwortlich
trug beim Onlineschach. Die Schach- ist. Bislang vertraue man vor allem
seite Chess.com schließt nach eigenen darauf, dass die Läufer einander
Angaben jeden Tag mehr als 500 Be- gegenseitig kontrollieren und melden,
nutzerkonten, weil Spieler schum- wenn jemand auf dem Fahrrad vor-
meln. Auch fast 400 Titelträger, da- beiradle. »Wahrscheinlich sind uns
runter 46 Großmeister, seien schon die Schummler sowieso einen Schritt
Friedemann Vogel / Bongar ts / Getty Images

erwischt worden. voraus«, fürchtet Brinkmann.


Im vergangenen September ver- Wie es ist, Opfer eines Betrugs zu
setzte ein Streit an der Weltspitze die werden, erfuhr Brinkmann am eige-
Schachwelt in Aufregung. Weltmeis- nen Leib. Bei einem Volkslauf habe
ter Magnus Carlsen warf seinem jun- er bis kurz vor Schluss in Führung
gen Herausforderer Hans Niemann gelegen. »Plötzlich sprang einer von
vor, im Spiel gegen ihn mithilfe eines der Seite aus einem Busch und rann-
Computers betrogen zu haben. Be- te vor mir über die Ziellinie. Was geht
weise gibt es bislang nicht, Niemann bloß in solchen Leuten vor?«
hatte lediglich eingeräumt, bei frühe- Michael Fröhlingsdorf n

88 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


SPORT

Industriellendynastie prägte eine Klubidenti-


tät von Arbeit, Disziplin und Erfolg. 36-mal
gewann die »Alte Dame« die Meisterschaft.
Kein anderer Verein der Welt stellte nach eige-
nen Angaben so viele Weltmeister.
Doch Tradition ist mittlerweile nur noch
eine weiche Währung gegenüber den Reich-
tümern, die aus Katar (Paris Saint-Germain),
Abu Dhabi (Manchester City), Saudi-Arabien
(Newcastle United) oder Amerika in den Fuß-
ball fließen. Gerade erst hat der US-Investor
Todd Boehly den englischen Klub Chelsea

Daniele Badolato / Juventus FC / Getty Images


für drei Milliarden Euro übernommen. Juven-
tus’ Börsenwert dagegen hat sich seit der
Pandemie von 1300 auf 800 Millionen Euro
reduziert.
Die Turiner Mauscheleien erzählen
so auch einiges über die Verwirrungen der
Branche. Dass Juventus mit dem ebenfalls
schwer angeschlagenen FC Barcelona und
mit Real Madrid das Superliga-Manöver star-
tete, war eine verzweifelte Flucht nach vorn,
Geschäftspartner Agnelli, Ronaldo 2021 in Turin: Gemauschel in der Pandemie
ein letzter Versuch, das Fußballmonopoly
selbst zu kontrollieren. Die Revolution schei-
terte vor zwei Jahren vor allem an der dilet-
tantischen Planung.
Der aktuelle Wintertransfermarkt legt die
Kräfteverhältnisse nun in brutaler Deutlich-

Das Elend der »Alten Dame« keit offen. Mit bislang rund 470 Millionen
Euro haben die 20 englischen Klubs gut vier-
mal so viel Geld ausgegeben wie die 78 Erst-
ligavereine aus Deutschland, Frankreich,
FUSSBALL Juventus Turin, Italiens Serienmeister, ist in einen Spanien und Italien zusammen. Selbst Ab-
Betrugsskandal verwickelt. Wieder einmal. Nun droht der jähe Absturz. stiegskandidaten von der Insel kaufen dem
Kontinent die Stars weg und entreißen ihm
die besten Trainer.
as Schreiben, das in Italien nur das gen durch künstlich aufgeblähte Transfer- Verständnis oder gar Mitleid braucht Ju-
D »Ronaldo-Papier« genannt wird, ist
knapp und klar. Im Juli 2021 garan-
tierte Juventus Turins Sportdirektor dem
geschäfte. Die weiteren Verfahren könnten
weitaus gröbere Konsequenzen nach sich
ziehen. Dem börsennotierten Klub drohen
ventus in Italien deshalb nicht zu erwarten.
Zu selbstherrlich trat der Verein nach seinem
Comeback wieder auf. Die wegen der Mani-
»lieben Herrn Cristiano Ronaldo dos Santos Jahre ohne Champions League, der Verlust pulationen aberkannten Meisterschaften von
Aveiro«, vereinbarte Boni auszahlen zu wol- der besten Spieler – ein Absturz in die Be- 2005 und 2006 führt er bis heute mit in seiner
len. Sollte der Stürmerstar den Verein ver- deutungslosigkeit. Vereinschronik, als wäre nichts gewesen.
lassen, würde er sie bei der Vertragsauflösung Schulden, Strafen, Prozesse, dazu das ge- »Damals waren wir unschuldig«, beharren
bekommen. scheiterte Projekt der europäischen Superliga, die Juve-Ultras, fügten aber zerknirscht
Bei dem Geld handelt es sich um ausste- das Juventus federführend mit antrieb: Die hinzu: »Heute nicht. Heute zahlen wir den
hende Gehälter aus der Coronazeit. Eigent- Turiner wirken wie einer dieser alten Adligen, Preis dafür, dass dreckige Wesen aus dem
lich hatte Juventus verkündet, die hoch be- der von der neuen Zeit überrollt wird, seine Management unser Trikot wie ein seelenloses
zahlten Spieler hätten in der Pandemie Macht verliert und schließlich als trauriger Objekt behandelten.« Dieses Mal sei schlim-
auf Einkünfte verzichtet, um 90 Millionen Hochstapler endet. mer als 2006.
Euro einzusparen. In Wirklichkeit, so kam Schon vor dem Punktabzug der FIGC warf Zumal die Einnahmen ein kaum lösbares
später heraus, war das Geld nur gestundet die komplette Juventus-Führungsriege hin. Problem darstellen. In der vergangenen Sai-
worden. Allen voran Präsident Andrea Agnelli, der son erhielt die Serie A etwa 1,1 Milliarden
Diesen Bilanztrick und viele andere haben den Klub nach seinem letzten großen Skan- Euro TV-Gelder, nur rund ein Drittel der eng-
Staatsanwaltschaft, Sportjustiz und Börsen- dal, den »Calciopoli«-Schiedsrichtermani- lischen Liga. »Marginal und irrelevant« sei
aufsicht in den vergangenen Monaten zusam- pulationen, zurück an die Spitze geführt hat- man geworden, haderte John Elkann, Vor-
mengetragen. Mit abgehörten Gesprächen te. Nachdem Juve 2006 zum Zwangsabstieg standsvorsitzender der Agnelli-Holding, »die
und Zeugenaussagen von Profis wie dem verdonnert worden war, gewann der Klub Zukunft der Serie A steht auf dem Spiel«.
Europameister Giorgio Chiellini ergeben sie ab 2011 neunmal in Serie die Meisterschaft In der Klubführung hat Elkann nun zwei
ein niederschmetterndes Bild: Italiens Vor- und erreichte zweimal das Champions- Vertraute installiert. Auf sie warten juristi-
zeigeklub hat jahrelang systematisch seine League-Finale. Mit der Verpflichtung des sche Schlachten an allen Fronten. Cristiano
Geschäftsberichte frisiert. sündhaft teuren Ronaldo verhob sich Juve Ronaldo verließ im Sommer 2021 Juventus.
Vom Berufungsgericht des italienischen dann allerdings mächtig, die Kosten ließen Das ihm geschuldete Geld – 19,9 Millionen
Fußballverbands FIGC wurden dem Rekord- sich offenbar nur noch mithilfe krimineller Euro – wurde nicht ausbezahlt. Not leidet er
meister bereits 15 Punkte aberkannt, was ihn Energie bändigen. deshalb nicht: Bei seinem neuen Arbeitgeber
in der Tabelle auf Platz zehn zurückwirft. Und Dabei gäbe es 2023 ein großes Juve-Jubi- in Saudi-Arabien kassiert er das Zehnfache
da ging es noch gar nicht um die fingierten läum zu feiern. 1923 hatte die Agnelli-Familie dieser Summe – pro Saison.
Gehaltskürzungen, sondern um Luftbuchun- den Verein übernommen. Italiens führende Florian Haupt n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 89


WISSEN

Zhang Yudong / Xinhua / eyevine / laif


Bitte einmal weit ausstrecken: Dieser Milchuhu wird im Zoo von Johannesburg in Südafrika von einer Tierärztin untersucht – das medizinische
Standardprozedere für alle Neuankömmlinge. Die Vögel, in Afrika heimisch, gelten als eine der größten Uhu-Arten der Welt, sie werden über
einen halben Meter groß und erreichen eine Flügelspanne von bis zu 140 Zentimetern. Sie leben vor allem in Baumsavannen und Wäldern in
Wassernähe und haben als besonderes Merkmal ihrer Art rosafarbene Augenlider.

zufolge einem höheren Risiko aus, etwa Brust- oder Darmkrebs


Jeder Schluck ist einer zu viel zu entwickeln. Und ab sieben Einheiten steigt das Risiko von
Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfällen deutlich.
Die Kanadier vollziehen damit eine radikale Kehrtwende.
ANALYSE Die kanadische Suchtbehörde
Seit 2011 hielt man maximal zehn Drinks die Woche bei Frauen
räumt mit dem Irrglauben auf, dass begrenzter und 15 bei Männern für akzeptabel. Erkenntnisse der vergan-
Alkoholkonsum unbedenklich sei. genen Jahre haben das Fachteam jetzt aber überzeugt, den
Richtwert auf null zu setzen. So zeigte eine im November ver-
Ein kleines Bier, der Wein zum Essen: Wer in Maßen Alkohol öffentlichte Studie, dass in den USA zwischen 2015 und 2019
trinkt, gilt in Deutschland als »risikoarmer Konsument«. Eine übermäßiger Alkoholkonsum für rund 140 000 Tote verantwort-
Einheit Alkohol, also zehn Gramm für Frauen, das Doppelte lich war. Etwa 40 Prozent ließen sich auf das Trinken zurück-
für Männer, ist das von der Deutschen Gesellschaft für Ernäh- führen, etwa durch Autounfälle, Vergiftungen oder Tötungs-
rung empfohlene Limit pro Tag. Eine Einheit, das entspricht delikte. Die meisten Todesfälle wurden jedoch durch chronische
einem 0,3-Liter-Glas Bier oder einem 0,125-Liter-Glas Wein. Krankheiten verursacht. Bei schätzungsweise einem von acht
In Kanada ist nun Schluss mit dieser Toleranz. Laut den Todesfällen bei Erwachsenen im Alter von 20 bis 64 Jahren
neuen Empfehlungen des Canadian Centre on Substance Use sei übermäßiger Alkoholkonsum die Ursache.
and Addiction gilt für Frauen wie Männer ab sofort: Es gibt Das tägliche Glas Rotwein als Lebenselixier zu vermarkten
keine Menge Alkohol, die für die Gesundheit unbedenklich oder dürfte in Kanada von nun an schwierig werden. Bereits 2016 be-
sogar gut ist. Das neue Ideal heißt: fast vollständige Abstinenz. legte eine Reihe von Studien, dass niedriger bis moderater Alko-
Bereits zwei Alkoholeinheiten pro Woche sind demnach un- holkonsum keine herz- und gefäßschützende Funktion hat. Auch
gesund, aber immerhin noch risikoarm. Wer zwischen drei und die deutsche Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat
sechs Einheiten trinkt, setzt sich den kanadischen Experten dem Mythos vor zwei Jahren widersprochen. Kerstin Kullmann

90 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


Pillen ohne Tierversuche »Nature«. »Die Entwicklung von mehr In- ermöglicht das neue Gesetz der Gesund-
vitro-Systemen, die auf menschlichen Zellen, heitsbehörde, Medikamente zuzulassen,
MEDIZIN Ein neues Gesetz hebt in den menschlichem Gewebe und menschlichen die vorher nicht an Tieren getestet
USA die seit 1938 bestehende Vorschrift Organmodellen basieren, könnte in einigen wurden. Ob die klinischen Daten aus-
auf, dass ein Medikament in Tierversuchen Fällen aussagekräftiger sein.« reichend seien, so Grossman, werde
getestet werden muss, bevor es in klini- Geforscht wird unter anderem an pluri- die FDA aber weiterhin im Einzelfall
schen Tests an Menschen erprobt werden potenten Stammzellen, die sich in jeden im prüfen. KK
darf. Zukünftig wird laut Einschätzung Körper vorkommenden Zelltyp verwandeln
von Experten die amerikanische Arzneimit- lassen. Mit diesen Zellen bauen Forscher Laborratte
telbehörde Food and Drug Administration sogenannte Organoide auf, Cluster von Zel-
(FDA) deshalb vermehrt auf die Entwick- len, die das jeweils gewünschte Gewebe
lung und die Anwendung alternativer Test- nachahmen sollen.
methoden achten. Auch an »Multi-Organ-Chips« wird
Bereits im vorigen Juni beriet die ame- gearbeitet – kleinen Apparaten mit mensch-

Stefano Dal Pozzolo / Contrasto / laif


rikanische Gesundheitsbehörde ein Pro- lichem Gewebe, die ein Organsystem oder
gramm, das die Forschung mit fünf Mil- sogar einen ganzen Körper imitieren sollen.
lionen Dollar fördern soll. »Eine Maus oder Schließlich soll es künftig durch Einsatz
eine Ratte verarbeitet Medikamente und künstlicher Intelligenz möglich sein, Vor-
Chemikalien nicht immer auf die gleiche hersagen über Sicherheit und Wirksamkeit
Weise wie der Mensch«, sagte Namandjé eines neuen Medikaments zu erstellen.
Bumpus, die leitende Wissenschaftlerin Nach Aussage des Experten für
der FDA, im November der Fachzeitschrift Arzneimittelzulassung Steven Grossman

Die Software erklärte mir haar- SPIEGEL: Schulen und Unis


»Die Maschine operiert frei klein: »Hilmar Schmundt war stehen unter Druck, weil
ein deutscher Offizier und sie manchmal teils KI-gene-
von wahr oder falsch« Nazi-Funktionär.« Wie kommt rierte Prüfungsarbeiten
es zu solchen Fehlleistungen? vorgelegt bekommen.
Zweig: Das liegt in der Natur Zweig: Ja, und das Heraus-
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ Was kann ChatGPT?
dieser Technologie. Die Maschi- fischen von KI-generierten
Informatikprofessorin Katharina Zweig, 46, ne operiert hier völlig frei von Texten lässt sich nicht wirklich
von der Technischen Universität Kaiserslautern Vorstellungen wie wahr oder automatisieren mit Software.
falsch, auch »weiß« sie nicht, Da kommt ein Rüstungswettlauf
erklärt, wie das Programm funktioniert was Namen oder Personen auf uns zu. Daher halte ich
und warum es in den Schulunterricht gehört. oder Geburtsdaten sind. Alles, nicht viel von Verboten – wir
was derlei neuronale Netze müssen jetzt sehen, wie wir
SPIEGEL: Frau Zweig: Noch nicht sehr stark, tun, ist: Wahrscheinlichkeiten dieses neue Werkzeug vernünf-
Zweig, wie sehen aber ich habe die Studierenden berechnen. Die Software hat tig einbauen wollen.
Sie die Anwen- meiner »Informatik und dann einen Datensatz von etwa SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
dungsmöglichkeiten Gesellschaft«-Vorlesung jetzt 50 Millionen oder 100 Millio- Zweig: Das eigenständige
Felix Schmitt

von ChatGPT in gebeten, auszuprobieren, was nen Wörtern. Und wann immer Schreiben von Texten wird
der Zukunft, und ChatGPT kann. Ich bin ge- Sie ein Wort im Chatfenster noch als Grundkenntnis ver-
welche Heraus- spannt auf die Ergebnisse. eingeben, beginnt die Software, mittelt werden müssen, genauso
forderungen müssen noch ge- SPIEGEL: Bei der Faktenfindung eine Wahrscheinlichkeitsbe- wie wir heute trotz Taschen-
meistert werden, um das kann es allerdings zu Problemen rechnung anzustellen: Welches rechner auch immer noch
Potenzial von ChatGPT voll- kommen. Ich habe bei ChatGPT Wort könnte, rein statistisch die schriftliche Multiplikation
ständig auszuschöpfen? meinen Namen eingegeben. gesehen, als Nächstes kommen? beibringen. Aber wir werden
Zweig: Da gibt es noch viel zu besser argumentieren müssen,
tun. Aber bislang ist wohl die warum es sich noch lohnt, das
große Baustelle unser eigener auch selbst zu können.
Umgang mit und unsere Er- SPIEGEL: Sollte der mündige
wartungen an die KI. Teils sind Umgang mit KI-Chatprogram-
die Erwartungen überzogen, men vielleicht sogar an Schulen
teils werden die Möglichkeiten unterrichtet werden?
kleingeredet. Zweig: Auf jeden Fall. Mein
SPIEGEL: Diese erste Frage war Buch »Ein Algorithmus hat
von ChatGPT generiert. kein Taktgefühl« wird zum
Zweig: Sehen Sie, das Ergebnis Beispiel in Bayern bei der
war doch ganz passabel, die Fortbildung von Informatik-
Frage ein wenig hölzern formu- lehrern eingesetzt. Das freut
liert vielleicht, aber grund- mich sehr. Alle Schüler sollten
solide. Ich finde das bemerkens- im Unterricht lernen, wie
wert. sie sinnvoll mit KI umgehen.
Yann Schreiber / AFP

SPIEGEL: Spielen KI-basierte Der kluge Umgang mit


Chatprogramme wie ChatGPT Hausaufgabenerledigung
Chatbots dürfte bald zur
in Ihrem Unialltag bereits mit Tablet Allgemeinbildung zählen wie
eine Rolle? das Einmaleins. HIL

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 91


WISSEN

»... bevor die Debatte


außer Kontrolle gerät«
PANDEMIE Eine geheimnisvolle Telefonkonferenz, ominöse E-Mails,
ein Labor in China – wie die Suche nach dem Ursprung des
Coronavirus zu einer toxischen Debatte geriet. Und Forschende zu
Hassobjekten wurden, die um ihr Leben fürchten.

Januar 2020
An den chinesischen
Behörden vorbei
wird die Erbgut-
sequenz des neuen
Coronavirus aus
Wuhan veröffentlicht.

Ende Januar 2020

Koki Kataoka / The Yomiuri Shimbun / AP / picture alliance; VCG / Getty Images; Illustration: Getty Images
Die noch unveröffent-
lichte Arbeit der
chinesischen Expertin
für Fledermaus-
Coronaviren,
Shi Zhengli, zirkuliert
in Wissenschaftler-
kreisen. Seltsam-
keiten in der neuen
Virussequenz
fallen auf – ist es ein
Laborkonstrukt?
Evolutionsforscher
schlagen Alarm.

92 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


WISSEN

or genau drei Jahren besorgte Frage nach dem Ursprung der Seu- te sie je in einem Sarbecovirus, der
V sich der britische Seuchenex-
perte Jeremy Farrar ein Handy
mit Geheimnummer, rief seinen Bru-
che ließ manche der beteiligten
Forschenden nicht mehr los,
die Debatte wurde immer
Untergattung der Beta-Corona-
viren, zu denen Sars-CoV-2 ge-
hört, gesehen.
der an und seinen besten Freund und schriller, persönlicher und Wie zum Teufel war sie
gab Instruktionen, was zu tun sei, falls bösartiger, der rechtsra- da hineingekommen? In
ihm etwas zustoßen sollte. Was er dikale Vordenker Steve Wuhan, einer Millionen-
fürchtete, hatte nur am Rande mit Bannon rief gar dazu auf, metropole in China, gab es
seiner eigenen Sicherheit zu tun – Anthony Fauci zu köpfen. ein Labor, das mit Corona-
Farrar sah nichts Geringeres als den Um was also ging es in die- viren arbeitete – was, wenn
Weltfrieden in Gefahr. ser einen Stunde wirklich, Forschende das Ding dort
Farrar leitet den Wellcome Trust, als mehr als ein Dutzend mutwillig in ein Fledermaus-
die zweitgrößte Stiftung zur För- führende Wissenschaftler und virus hineingebastelt hatten?
derung medizinischer Forschung, eine Wissenschaftlerin sich Wenn US-Präsident Trump da-
und ihm war damals, in der letzten über 19 Zeitzonen hinweg zusam- von erführe? Geheimdienste wur-
Januarwoche 2020, Ungeheuerliches menschalteten? den informiert. Und Farrar organi-
zugetragen worden: Das neuartige Der Öffentlichkeit liegen, seit No- sierte die Telefonkonferenz mit sei-
Coronavirus, das sich anschickte, vember, ungeschwärzte E-Mails von Februar 2020 nem »Dreamteam«, wie er es nannte:
von China aus die Welt zu durch- Anthony Fauci vor, die dieser rund Wellcome­Trust­Chef »allesamt weltweit angesehene, mei-
seuchen, könnte aus einem Labor um die Telefonkonferenz mit Jeremy Jeremy Farrar nungsstarke Wissenschaftler, die sich
stammen. Farrar ausgetauscht hat. Und sieben organisiert eine gegenseitig ohne Furcht oder Gnade
Telefonkonferenz mit
US-Forscher hatten sich per E-Mail der Teilnehmer haben ausführlich mit dem obersten herausfordern würden«.
darüber ausgetauscht, dass das Virus dem SPIEGEL geredet, neben Fauci Seuchenmediziner der Es sei eine durch und durch wis-
so aussah, als wäre es »fast dafür und Farrar waren es Edward Holmes, USA, Anthony Fauci, senschaftliche Diskussion gewesen,
gemacht, menschliche Zellen zu infi- Evolutionsbiologe an der Universität und internationalen berichtet Marion Koopmans. Vor al-
Forschern.
zieren«, notierte Farrar in seinem Er- Sydney, Marion Koopmans, Chefin lem die Furinspaltstelle alarmierte die
innerungsbuch »Spike« – The Virus der Virologie am Medisch Centrum Experten. Wie diese auf natürlichem
vs. the People«. Könnte ein künstlich der Erasmus-Universität Rotterdam, Wege in das Virus hineingelangt sein
erzeugtes Virus, ob versehentlich und Robert Garry, Virologe an der konnte, habe er sich »damals nicht
oder absichtlich freigesetzt, fragte er amerikanischen Tulane Univer- vorstellen können«, sagt Robert
sich, »genau so ein Ding sein, für das sity. Ebenso: zwei weitere For- Garry heute. In der Konferenz
Länder in den Krieg ziehen«? scher, die nicht namentlich meldeten sich mehrere Viro-
Rasch organisierte der britische zitiert werden wollen, weil logen dazu zu Wort, da-
Forschungsmanager eine Telefonkon- sie die Attacken nicht mehr runter, so berichten Teil-
ferenz mit führenden Virologen und aushalten, die kommen, nehmer, Stefan Pöhlmann,
Spezialisten für Virusevolution aus sobald man sich zu dem Spezialist für solche Spalt-
Australien, USA und Europa. Thema äußert. stellen in Coronaviren.
Diese einstündige Zusammenkunft Ihre Geschichten zei- Die Virologen gaben
am Samstag, dem 1. Februar 2020, gen, wie sich ihr Schicksal Entwarnung. »Das kommt
sollte in die Geschichte eingehen: als mit der Ursprungssuche in der Natur auch vor«, sagt
Keimzelle eines fürchterlichen Ver- verwoben hat – und mit dem Marion Koopmans heute. In
dachts, den seither Verschwörungs- Verschwörungswahn. Sie sind Influenzaviren beispielsweise.
gläubige in aller Welt hegen – unter- Akteure und Opfer in diesem »Die Biologie sollte man nicht
stützt von rechtsextremen Politikern Drama. unterschätzen.«
in den USA und Europa: dass Antho- Auch zwei deutsche Virologen wa- In den Tagen danach diskutierten
ny Fauci, damals oberster Seuchen- ren eingeladen zu Farrars Konferenz, Februar 2020 die Forscher per Mail weiter, das lässt
berater von US-Präsident Donald Christian Drosten von der Charité Im medizinischen sich aus dem faucischen E-Mail-Kon-
Trump, den Wissenschaftlern an je- und Stefan Pöhlmann vom Deutschen Fachjournal »Lancet« volut lesen. Holmes, Andersen und
erscheint eine
nem Wochenende befahl, die wahre Primatenzentrum in Göttingen. Solidaritätserklärung
Garry vertieften ihre Sequenzana-
Herkunft des Virus aus einem chi- Beide wollten sich nicht im SPIEGEL für die chinesischen lysen. Dass das Virus ein klandestin
nesischen Labor zu vertuschen. Der äußern, weil ihnen, jedem auf seine Wissenschaftler, die erschaffenes Laborkonstrukt war, er-
Mediziner habe dadurch verschleiern Weise, die Debatte darüber zu toxisch auch der Virologe schien ihnen von Tag zu Tag weniger
Christian Drosten
wollen, dass die US-Gesundheits- geworden ist. unterschrieb. Die
wahrscheinlich; auch Farrar sah nun
behörde jene Frankenstein-Forschung Die Teilnehmer der Telefonkon- Möglichkeit eines höchstens noch eine 50:50-Chance.
selbst gefördert hat, aus der das Virus ferenz, so Farrars Idee, sollten sich Laborunfalls wird »Künstlich hergestellt« sei es »wahr-
hervorgegangen sei. »die Daten ansehen und auf neutrale, darin pauschal als scheinlich nicht«, schrieb er am
»Verschwörungs­
Drei Jahre später sprechen viele wohlüberlegte Weise eine Stellung- theorie« verurteilt.
Dienstag nach der Konferenz.
Indizien und Befunde zwar dafür, nahme abgeben«, als »Rahmen für die Am 8. Februar schickte Farrar eine
Simon Pauly / DER SPIEGEL; Julia Steinigeweg

dass Sars-CoV-2 vom Tier auf den weitere Debatte, bevor diese außer »Zusammenfassung« in die Runde.
Menschen übersprang, wahrschein- Kontrolle gerät und potenziell äußerst Inzwischen hatten sich die Forscher
lich auf dem Wildtiermarkt in Wuhan. schädliche Auswirkungen hat«. März 2020 festgelegt: »Die Analyse der Virus-
Das Ergebnis der
Aber das sogenannte Lab Leak aus Es gab mehrere verdächtige Stel- Telekonferenz wird
Erbgutsequenzen zeigt klar, dass das
dem nahen Wuhan Institute of Viro- len in der Virus-RNA; vor allem eine publiziert. Die Virus kein Laborkonstrukt oder ex-
logy kann immer noch nicht ausge- davon sollte in der Debatte eine Autoren, darunter der perimentell manipuliert ist.«
schlossen werden. Es bleiben Unwäg- bedeutende Rolle spielen: die so- Evolutionsbiologe Endgültig, erzählt Eddie Holmes,
Edward Holmes, legen
barkeiten, es fehlen wichtige Belege. genannte Furinspaltstelle. Mithilfe darin einen natür­
habe ihn eine neue Studie überzeugt,
Klar ist: Die angebliche Geheim- dieser Struktur dringt Sars-CoV-2 in lichen Ursprung des die ein ähnliches Coronavirus aus
konferenz hat Folgen bis heute. Die menschliche Zellen ein. Niemand hat- Virus nahe. einem Schuppentier beschrieb: Es

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 93


WISSEN

wies fast die gleiche Sequenz auf wie menheit der Forscher, die große Ver- der wagt es nicht mehr, sich mit mir
der neue Erreger, an einer weiteren, tuschung. in der Öffentlichkeit blicken zu las-
zuvor verdächtigen Stelle. Deswegen Eddie Holmes schüttelt genervt sen«, erzählt sie.
»tendiere ich jetzt«, notierte Holmes den Kopf: »Es gibt Leute, die hal- Anfang 2021 reiste Koop-
nach der Telefonkonferenz in einer ten die Telefonkonferenz für mans gemeinsam mit anderen
weiteren Mail, »zu der Theorie der eine Art Watergate, mit Fauci Ex perten im Auftrag der
natürlichen Evolution«. als Nixon und uns Wissen- WHO nach China, um nach
Ein Streit entbrannte um ein an- schaftlern als seinen Leuten. dem Ursprung der Pan-
deres Thema: Sollte man die Ergeb- Das ist kompletter Blöd- demie zu fahnden. Dazu
nisse veröffentlichen? Marion Koop- sinn! Und unserem Paper braucht es – falls das Virus
mans war dagegen. Sie schrieb den sprechen sie eine Art magi- natürlich entstand – frühe
Kollegen, dass die Gefahr bestünde, sche Kraft zu – als könnten Nachweise, Erbgutstück-
»eigene Verschwörungstheorien« zu wir damit irgendjemanden chen, mit deren Hilfe sich
befördern. Wenn man eine »Labor- davon abhalten, über einen dessen Anwesenheit in
flucht« als Hypothese in die Öffent- Laborursprung zu diskutie- einem tierischen Reservoir
lichkeit stelle, »wird das meiner Mei- ren.« und vielleicht sogar dessen
nung nach als ›Seht ihr, das haben die Die vage Hoffnung der Forscher, schrittweise Anpassung nachvoll-
auch gedacht‹ interpretiert«. mit der »Proximal Origin«-Arbeit ziehen lässt, von der Fledermaus
Ähnliche Bedenken müssen auch Verschwörungsideen einzudämmen, über einen tierischen Zwischenwirt
Christian Drosten umgetrieben haben erfüllte sich auch deshalb nicht, weil Februar 2021 an den Menschen.
WHO-Experten,
– dies lässt sich einer etwas pampigen die Idee eines im Labor gebastelten darunter die Virologin Solche Nachweise kann man, wenn
Mail entnehmen, die der Virologe Killervirus einfach viel zu gut als Ver- Marion Koopmans, überhaupt, nur finden, wenn man,
dazu am 9. Februar in die Runde schwörungsmythos taugt: In einer und chinesische strategisch geplant, Zehntausende
schrieb: »Arbeiten wir daran, unsere bedrohlichen Situation, der Pande- Wissenschaftler Proben nimmt. Von jenen Kreaturen,
stellen wenig
eigene Verschwörungstheorie zu ent- mie, hat man es mit einem vermeint- erhellende Ergebnisse die auf dem Wildtiermarkt in Wuhan
larven?« lich mächtigen Gegner zu tun: chine- der gemeinsamen verkauft wurden, von Exemplaren der
Jeremy Farrar indes argumentierte sischen Wissenschaftlern im Bunde Mission zur Suche Haus- und Pelztierfarmen, die den
für eine Publikation; er hoffte, mit einer mit Anthony Fauci. Da bietet die Ver- nach dem Ursprung Markt belieferten. Außerdem von
von Sars-CoV-2
»durchdachten wissenschaftlichen schwörung eine einfache Erklärung vor. Kritik wird laut, allen Menschen, die mit diesen
Arbeit« vor die Welle einer »polarisier- für alles. Und schon wird alles als Be- die WHO habe Geschöpfen je zu tun hatten. Und von
ten Debatte« zu kommen und diese weis für die Richtigkeit des Mythos zahnlos agiert. den allerersten – noch unbemerkten
mitgestalten zu können. Die Defensive gedeutet. – Covid-Kranken. Nur: Die Chance,
hielt er für »keine gute Position«. Zwar gab es im Mai 2021 noch eine frühe Sequenz zu finden, verrin-
Am 17. März 2020 erschien der einmal einen eindringlichen Appell gert sich mit der Zeit. Zwar ist es mög-
Artikel »The proximal origin of einer Gruppe von Wissenschaftlern, lich, dass irgendwann ein mit Sars-
Sars-CoV-2« im Fachjournal »Nature beide Hypothesen, Labor wie natür- CoV-2 nah verwandtes Virus entdeckt
Medicine«. Autoren waren, unter an- lichen Ursprung, ernst zu nehmen. Mai 2021 wird. Andererseits: Es gibt schier un-
deren, Holmes, Andersen und Garry. Doch statt der geforderten wissen- Internationale endlich viele Fledermaushabitate.
Es sollte eine der meistzitierten schaftlichen Auseinandersetzung ent- Wissenschaftler, Wenn es ein Laborunfall war,
Arbeiten der Welt werden; kaum ein spann sich in den folgenden Jahren darunter Verfechter müsste man wissen, mit welchen
der Laborhypothese,
anderer wissenschaftlicher Artikel eine immer giftigere, von rechten veröffentlichen einen Viren die Forscher arbeiteten, welche
wurde so oft getwittert, gebloggt, Parteien instrumentalisierte Debatte, Appell, vorurteilsfrei Experimente sie durchführten. Man
verlinkt wie dieser. Gleich zu Beginn die viele Teilnehmer der Telefonkon- sowohl einen bräuchte Laborbücher und Blutpro-
machen die Autoren klar, dass sie ferenz bis heute verfolgt. Sie erschüt- möglichen Ursprung ben der Mitarbeiter, um festzustellen,
von Sars-CoV-2
einen Laborursprung praktisch für tert ihren Glauben an die Integrität im Labor als auch in ob sie sich vielleicht unwissentlich
ausgeschlossen halten. der Wissenschaft, lässt sie nachts der freien Wildbahn infiziert – und das Virus in die Welt
Es ist ein seltsames Paper, ein Zwit- nicht schlafen – und bei einigen ist zu erforschen. getragen haben.
ter aus wissenschaftlicher Arbeit und von ihrem früheren Leben nicht mehr Als im März 2021 der Bericht der
Meinung. So wie auch die Telekon- viel übrig. WHO-Kommission vorgelegt wurde,
ferenz zwar eine wissenschaftliche hagelte es Kritik: Die WHO-Experten
Diskussion, aber im Grunde politisch Marion Koopmans: seien den chinesischen Autoritäten
motiviert war. »Diese Katze war von die verhasste Frau gegenüber zu unterwürfig aufgetreten;
Anfang an aus dem Sack«, sagt Ma- Koopmans, 66, leitet die Abteilung die Schlussfolgerung, ein Laborunfall
rion Koopmans. Das sei ihr völlig klar für Virologie am Erasmus Medisch sei »extrem unwahrscheinlich«, wurde
gewesen, aber leider nicht zu ändern. Centrum in Rotterdam. Sie ist eine als falsch und voreilig verurteilt.
»Und das war ein Problem.« der weltweit renommiertesten Wis- Marion Koopmans weiß um die
Verfechter der Laborhypothese senschaftlerinnen auf dem Gebiet der Kritik an der Mission. »Vielleicht
sahen denn auch in der Arbeit keinen Infektionskrankheiten, die vom Tier wäre es eine bessere Strategie gewe-
neutralen Debattenbeitrag. Sie ärger- auf den Menschen überspringen. sen, gleich zu Beginn der Pandemie
ten sich über die viel zu eindeutige Es ist ein Freitagmorgen im Januar. September 2021 ein Team nach China zu schicken,
David van Dam / De Beeldunie / laif

Festlegung auf einen natürlichen Koopmans fährt, wie jetzt immer, mit Ein Recherchekonsor- das mit den Mitarbeitern des Labors
tium veröffentlicht
Ursprung, erahnten den politischen dem Auto zur Arbeit, nicht mit der einen Forschungs-
eine respektvolle, aber doch sehr
Hintergrund. Fortan stand im Vor- Bahn. Öffentliche Verkehrsmittel zu antrag, der zeigt, dass deutliche ›Shit-happens-Diskussion‹
dergrund der Kritik an dem Papier benutzen sei zu riskant, sagt sie. das Wuhan Institute geführt hätte«, sagt sie. »Um ein für
selten die Wissenschaft – im Gegen- Rechtsradikale Gruppierungen in of Virology (WIV) alle Mal zu klären: Ist die Laborhypo-
plante, gemeinsam
teil, »Proximal Origin« beförderte ihrem Land nahmen sie ins Visier. mit US-Forschern
these vom Tisch?« Sie habe keine
die Legendenbildung, musste herhal- Über soziale Medien bekam sie gefährliche Experi- Evidenz für diese gesehen – aber sie
ten als Beweis für die Voreingenom- Morddrohungen. »Eins meiner Kin- mente durchzuführen. sei eben schwer auszuschließen.

94 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


WISSEN

Hätten die Teilnehmer der WHO- Sars-CoV-2 aus dem Wuhan Institute 2020 eine Solidaritätserklärung für
Mission einfach strengere Fragen of Virology entwichen sei, wäre er die Wissenschaftler des Wuhan In-
stellen, den Chinesen auf die Füße sofort von der Laborhypothese über- Juli 2022 stitute of Virology unterschrieb – was
treten müssen? »Ich glaube, die Leu- zeugt, sagt Holmes. »Aber wo ist die- In einer Gendaten- er später bedauerte. Heute befindet
bank erscheint,
te verstehen nicht ganz, was für eine ser Beweis?« automatisiert nach er sich im Rechtsstreit mit einem
Mission das war«, sagt Koopmans. Die Geheimdienste hätten alles Ablauf eines vier- Hamburger Physiker, der ihm unter
Das Mandat der WHO sei eben keine in ihrer Macht Stehende getan, um jährigen Embargos, anderem vorgeworfen hatte, die Öf-
strenge Prüfung gewesen, sondern herauszufinden, was in diesem Labor ein Inventar der Viren, fentlichkeit beim Thema Laborunfall
an denen im WIV bis
angelegt als gleichberechtigte wissen- vor sich ging. »Sie haben sogar Hin- 2018 gearbeitet wurde gezielt getäuscht zu haben. Deswegen
schaftliche Studie von WHO-Exper- weise dafür gefunden, dass es dort im – eine Art elektro- äußert Drosten sich dazu aktuell nicht
ten gemeinsam mit chinesischen For- August 2019 einen Ausfall der Klima- nische Zeitkapsel. Es – obwohl er bereits in zwei Instanzen
schern. anlage gab«, sagt Holmes. »Aber das, gibt keinen Hinweis Recht bekam.
auf einen Vorläufer
Für Verschwörungsgläubige ist was sie nicht finden können, soll ein von Sars-CoV-2. Befeuert wurde die Debatte im
Koopmans längst Teil einer inter- Beweis dafür sein, dass das Virus vor September 2021, als ein Recherche-
nationalen Vertuschungsaktion, die der Pandemie irgendwo in diesem konsortium aufdeckte, dass 2018
verhindern soll, dass das »Lab Leak« Labor war?« für das Wuhan Institute of Virology
ans Licht kommt. »Das ist so ein ver- Im Juli 2022 geschah etwas, das bei der Darpa, dem wissenschaft-
rücktes, heikles Thema«, sagt Koop- Holmes einmal mehr davon über- lichen Institut des Pentagon, For-
mans, »total politisch.« zeugt hat, dass das Virus nicht aus schungsgelder beantragt worden
dem Labor kommt: In einer offiziel- waren, mit denen unter anderem
Edward Holmes: len Datenbank, der GenBank, wur- der Einbau von Furinspaltstellen in
wütend in Australien den, weil ein vierjähriges Embargo Fledermaus-Coronaviren finanziert
In zwei Stunden sagt Eddie Holmes ablief, 163 Coronavirus-Sequenzen werden sollte. Zwar wurde der For-
dreimal »shit«, dreimal »bullshit« vom Wuhan Institute of Virology au- schungsantrag abgelehnt – aber prin-
und einmal »horseshit«. Außerdem tomatisch veröffentlicht. Sie stamm- zipiell war das genau die Art von
»insanity«, »idiocy«, »nonsense«, ten von 2018, dem Jahr vor Ausbruch Forschung, die die Wissenschaftler
»rubbish«. Er wirkt wie jemand, der der Pandemie. Eddie Holmes’ Name Juli/August 2022 in Farrars Telefonkonferenz befürch-
immer noch nicht glauben kann, in stand auch darunter – eine Verbin- Veröffentlichung tet hatten.
was für einen Horrorfilm er hinein- dung zwischen ihm und den angeb- zweier Studien, Drosten ist Mitglied der Sago-
geraten ist. lichen »Lab Leak«-Chinesen. Auf die nach Kombination Gruppe der WHO, die den Ursprung
von frühen Daten
Holmes ist Evolutionsbiologe, seit Twitter ging es rund, er erschien als aus Wuhan zu dem von Sars-CoV-2 weiter erkunden soll.
2012 ist er Professor an der University Kollaborateur. Ergebnis kommen, »Die WHO kann vielleicht Kontakte
of Sydney in Australien. Mehr als 700 In Wahrheit, das wurde Holmes dass Sars-CoV-2 vom vermitteln«, sagte er im Juni im SPIE-
Publikationen finden sich in der dann klar, bedeuteten die neu ver- Tier auf den Men- GEL , »aber sie wird nicht in der Lage
schen übersprang..
Datenbank Pubmed unter seinem öffentlichten Virussequenzen eine sein zu sagen: ›Jetzt hauen wir aber
Namen. Art Zeitkapsel: »Sie zeigen, an mal hier auf den Tisch und nehmen
Holmes war Gastprofessor an der welchen Viren im Wuhan Institute of alles auseinander!‹« Das sei nicht das
Fudan University in Shanghai, und Virology 2018 gearbeitet wurde«, Mandat der Mission.
schon Anfang Januar 2020 veröffent- sagt Holmes. Eine Inventur im ver- Für viele Wissenschaftler deutet
lichte er, an den chinesischen Behör- dächtigen Institut. inzwischen deutlich mehr auf einen
den vorbei, die Erbgutsequenz des Das Entscheidende: Es handelte natürlichen Ursprung des Virus hin.
neuartigen Virus, die sein chinesi- sich fast ausschließlich um eng mit Zwei Untersuchungen aus dem ver-
scher Kollege Zhang Yongzhen ent- Sars-CoV-1 verwandte Viren. Ein gangenen Jahr, die größtenteils be-
schlüsselt und ihm geschickt hatte. Virus, aus dem man im Labor kannte Daten mit neuen Metho-
Nur deshalb konnten überall auf der Sars-CoV-2 hätte basteln kön- den auswerteten, ergaben, dass
Welt so schnell PCR-Tests und Impf- nen, war nicht dabei. auf dem Wildtiermarkt von
stoffe entwickelt werden. Ein endgültiger Beweis Wuhan bereits zwei gene-
Seine engen Beziehungen zu Chi- gegen die Theorie des La- tisch unterschiedliche Li-
na machten ihn zu einem Hauptziel borunfalls ist das nicht, nien des Virus zirkulierten.
der Verschwörungshetze im Internet. Holmes weiß das. »Aber Das hieße, dass das Virus
Auf Twitter wird Eddie Holmes als es bestätigt, was die Chef- zuvor bereits Dutzende
Schlange mit chinesischen Fahnen virologin aus Wuhan, Shi Male auf den Menschen
auf der Brille dargestellt. »Vergan- Zhengli, immer gesagt hat«, übergesprungen sein muss.
genes Jahr war ich kurz davor, in eine sagt er. Und es sei auch lo- Drosten könnte sich gut
Depression zu rutschen«, erzählt gisch: Die große Sorge sei ge- vorstellen, das sagte er 2021
Holmes. wesen, dass ein Sars-1-Virus dem Schweizer Magazin »Re-
»Ich interessiere mich nur für die zurückkommen und eine Pande- publik«, dass diese Anpassung an
Wissenschaft, für die Grundlagenfor- mie verursachen könne. den Menschen auf einer der großen
schung«, sagt er, er klingt verzweifelt. »Keine Ahnung, was ich falsch ge- Pelztierfarmen passierte, die in der
»Die chinesische Regierung hat mei- macht habe«, sagt Holmes, »außer dass November 2022 Nähe von Wuhan stehen. Es würde
nem Kollegen Zhang Schreckliches ich weiß: Es gibt einfach keine Ver- Veröffentlichung der sich lohnen, diese gründlich zu unter-
Ken Cedeno / CNP / Polaris / laif

ungeschwärzten
angetan, nachdem er mit mir an den schwörung. Das ist mein Verbrechen.« E-Mails von Anthony
suchen.
chinesischen Behörden vorbei die Fauci zur Telekon- Jeremy Farrar ist weniger optimis-
Sequenz des neuartigen Virus veröf- Christian Drosten: ferenz im Februar. Sie tisch: »Die Frage nach dem Ursprung
fentlicht hatte. Warum sollte ich ein will nichts sagen enthüllen wissen- des Virus könnte auch in 100 Jahren
schaftlich nichts
Handlanger Chinas sein?« Christian Drosten, Chef der Virologie Neues, regen aber zu
noch umstritten sein.«
Wenn irgendwann ein echter Be- an der Berliner Charité, stand beson- neuen Verschwö- Rafaela von Bredow,
weis dafür auftauchen würde, dass ders in der Kritik, weil er im Januar rungsfantasien an. Veronika Hackenbroch n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 95


WISSEN

Antike Metropole Nimrud


(Farblithografie, 1853)

Bridgeman Images
Sumerer, Babylonier, Assyrer, Perser: Im
Lauf der Jahrtausende sind im Zweistromland
immer neue Reiche aufgestiegen und wieder
vergangen. Paläste wurden niedergebrannt,

Inseln des Wissens Tempel geplündert, ganze Städte unter Was-


ser gesetzt. Doch trotz aller Wirren ist die
Region von erstaunlich großer kultureller
Kontinuität geprägt.
ARCHÄOLOGIE Königstöchter, Sklaven, Exorzisten: Eine amerikanische Die wichtigste Konstante, erklärt Podany, sei
dabei die Schrift gewesen: So viele Sprachen
Assyriologin rekonstruiert anhand von Keilschriften das Leben und Dialekte sie auch sprachen, verwendeten
im antiken Mesopotamien – und erklärt, warum Sumer, Babylon und die Menschen doch stets dasselbe System von
Assyrien wirkmächtiger waren als andere frühe Hochkulturen. Strichen und Kerben, die sie mit dem Griffel in
weichen Ton drückten. Und weil sie dabei ein
Medium nutzten, das beständiger war als Papy-
ielleicht wird sich nie klären lassen, blickte zurück auf eine rund 3000-jährige Ge- rus oder Pergament, überdauerte eine uner-
V warum Rimut-Anu sein Elternhaus ver- schichte. Die Zeit des sagenhaften Königs von
ließ. Wie zuvor schon sein Vater hatte Uruk, Gilgamesch, lag für Rimut-Anu ungefähr
er in der Stadt Uruk das ehrwürdige Amt des so weit zurück wie die Zeit von Romulus und
messliche Vielfalt an Keilschriftdokumenten,
begraben in den Steppen des Nahen Ostens:
Chroniken und Wörterbücher, Lohn- und
Exorzisten ausgeübt. Es scheint, als hätte Remus für einen Bewohner des heutigen Rom. Lagerlisten, Schreibfibeln, Briefe und Verträge.
er bei seinem Abschied die Absicht gehabt, Für Amanda Podany steht der Exorzist von Geprägt in Ton, haben sich viele Millionen
irgendwann zurückzukehren. Sonst hätte er Uruk am Ende einer jahrtausendelangen, glor- Wörter erhalten, und in diesen Wörtern sind
wohl vor der Abreise seine Bibliothek nicht reichen Geschichte. Mit ihm beschließt sie ihr alltägliche Sorgen, Erinnerungen und Pläne
erst in Tonkrügen verstaut und dann im neues Buch über das antike Mesopotamien*. von Menschen konserviert. Überliefert sind
Boden vergraben. Die Assyriologin porträtiert diesen Kultur- damit auch Tausende Namen. Jeder von ih-
Diesen Vorkehrungen ist es zu danken, dass raum, indem sie die Biografien einzelner Men- nen steht für das Leben einer Frau oder eines
die Assyriologen heute, knapp 2500 Jahre spä- schen aneinanderreiht, die einst in den sagen- Mannes mit jeweils eigenen Hoffnungen,
ter, studieren können, was Rimut-Anu zurück- umwobenen Städten des Nahen Ostens wie Ängsten oder Ambitionen. Erst die Tontäfel-
gelassen hat: insgesamt etwa 160 Tontäfelchen Ninive, Assur oder Babylon lebten. chen ermöglichen es, auch den Alltag der
voller Beschwörungsformeln und Zaubersprü- Podany bringt dem Leser damit eine Kultur Akkader, der Babylonier und Assyrer wieder-
che, aber auch Hymnen, Omen, mathemati- nahe, die im öffentlichen Bewusstsein stets im auferstehen zu lassen.
sche und astrologische Schriften sind darunter. Schatten des alten Ägypten stand. Nicht ganz Am meisten interessiert sich Podany für
Viele der Texte sind auf Sumerisch abgefasst, so monumental wie die Pyramiden und nicht das Leben der einfachen Leute, der Bauern,
einer Sprache, die zu Rimut-Anus Lebzeiten ganz so prunkvoll wie das Grab Tutanchamuns, Wollspinnerinnen oder Kaufleute. Besonders
schon seit 1500 Jahren ausgestorben und nur erwies sich das Erbe Babylons am Ende den- viele Details jedoch sind über die Herrschen-
noch den Gelehrten geläufig war. noch als wirkmächtiger: Die Sternzeichen des den bekannt. Und so erzählt sie auch deren
Menschen, die von »Fallsucht«, »bösen Horoskops in der morgendlichen Tageszeitung Biografien, verbunden mit einem Abriss der
Geistern« oder anderen Übeln befallen waren, etwa entstammen ebenso der babylonischen politischen Geschichte des antiken Orients.
suchten bei Rimut-Anu Rat. In seinem »Exor- Überlieferung wie das Sexagesimalsystem, das Da ist zum Beispiel Sargon, der das erste
zisten-Handbuch« fand er Instruktionen, wie der Einteilung von Stunden und Minuten oder Großreich der Weltgeschichte gründete. Wäh-
knapp ein Dutzend seelischer Leiden zu be- Längen- und Breitengraden zugrunde liegt. rend in den Jahrhunderten zuvor kleinere
handeln seien. Stadtstaaten an Euphrat und Tigris rivalisiert
Uruk stand damals unter persischer Herr- hatten, herrschte Sargon vor rund 4300 Jah-
* Amanda Podany: »Weavers, Scribes, and Kings – A
schaft. Doch muss Rimut-Anu gewusst haben, New History of the Ancient Near East«. Oxford University ren über die Weiten vom Persischen Golf bis
dass dies nicht immer so gewesen war. Die Stadt Press; 672 Seiten. zum Mittelmeer.

96 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


WISSEN

An einem bis heute unbekannten der Vater dem König von Elam als als die der Könige am Herzen liegen.
Ort gründete er eine neue Haupt- Braut vermacht. Elam, im Südwesten Geschichte Viele der Tontafeln enthalten Lager-
stadt: Agade, »eine der großen ver- des heutigen Iran gelegen, gehörte Mesopotamiens listen, Verwaltungstexte, Pachtver-
schollenen Stätten des Altertums«, nicht zur Friedensbruderschaft, trotz- träge oder Lohnbuchhaltungen. Rich-
wie Podany schreibt. Es muss eine dem war es reich und mächtig. Napir- um 3300 v. Chr. tig ausgewertet, lassen sich solchen
Erfindung der
prachtvolle Metropole gewesen sein. Asu war die einzige der Schwestern, Keilschrift, Uruk
Texten viele biografische Details von
Der Überlieferung zufolge erklang die einen Thronfolger gebar. erste Großstadt der Bierbrauern und Weberinnen, Ziegel-
auf allen Straßen Musik, die Lager- Vermutlich haben die drei Prinzes- Weltgeschichte brennern, Gastwirten, Prostituierten
häuser barsten vor Gold, Silber, Kup- sinnen miteinander korrespondiert. oder Barbieren entlocken.
fer und Lapislazuli. Und vielleicht, meint Podany, werden um 2250 v. Chr. Der wohl spektakulärste Fall eines
Seine Herkunft verklärte Sargon, sich irgendwann ihre Briefe finden, König Sargon, Tontafelfunds, der einen entlegenen
Hymnen seiner
vermutlich weil er aus wenig könig- in denen sie von ihren Erlebnissen Tochter Enheduanna Winkel des Orients wie mit Flutlicht
lichen Verhältnissen stammte. In bei Hof berichten. Wie mögen sie ausleuchtet, ist die Entdeckung der
einer allerdings lange nach seinem wohl reagiert haben, als sie erfuhren, um 1900 v. Chr. Archive im anatolischen Kanisch. Vor
Tod niedergeschriebenen Legende dass sie plötzlich in Babylon eine Assyrische Händler- knapp 4000 Jahren florierte dort am
kommt er selbst zu Wort: »Meine neue Stiefmutter hatten? Im Rahmen kolonie Kanisch Fuß einer Bergfestung eine Kolonie
Mutter war eine Priesterin. Sie setzte seiner Heiratspolitik hatte ihr Vater von Händlern. Aus der am Tigris ge-
um 1350 v. Chr.
mich aus in einem Korb aus Bast, den die Tochter des Assyrerkönigs zur König Burna-
legenen Stadt Assur stammend, hat-
sie mit Pech versiegelt hatte.« Sein Ehefrau genommen. Buriasch verheiratet ten sie sich hier angesiedelt. Tür an
Pflegevater, ein Gärtner, habe ihn aus Podany wartet noch mit vielen wei- seine drei Töchter Tür wohnten heimische Anatolier
dem Fluss gefischt. teren Geschichten aus der Welt der und fremdländische Kaufleute. Ihre
Faszinierender noch als die Ge- Paläste auf. Sie erzählt, wie frisch ver- um 1200 v. Chr. Kleidung und ihre Haartracht unter-
schichte Sargons ist diejenige seiner mählte Königspaare der Stadt Ebla im Zadamma und schieden sich; sie sprachen verschie-
Ku’e verkaufen ihre
Tochter Enheduanna. Sie war Pries- heutigen Syrien ihre Flitterwochen Kinder dene Sprachen und huldigten ver-
terin des Himmelsgottes Nanna in eingeschlossen in ein Mausoleum bei schiedenen Göttern. Doch das ge-
der Stadt Ur. Vor allem aber: Sie den toten Ahnen verbrachten; sie be- um 675 v. Chr.
meinsame Interesse am Handel ließ
gilt als erste Schriftstellerpersönlich- richtet, wie der König Babylons den König Asarhaddon sie die Andersartigkeit vergessen.
keit der Welt. Sie schrieb Hymnen, feindlichen Städten am Unterlauf des lässt sich von Mehr als 20 000 Täfelchen aus Ton
mindestens sechs sind überliefert. Tigris den Garaus machte, indem er Ersatzkönigen sind erhalten. Die Händler hatten sie
vertreten
»Ich, Enheduanna …«, hebt sie an: das Wasser des Flusses in den benach- in den Kellern ihrer Häuser verwahrt.
Ein literarisches Ich tritt hier, mehr barten Euphrat leitete; und sie be- Das erlaubt es den Forschern heute, ihr
als 1500 Jahre vor Homer, vor das schreibt das Gespinst der Intrigen und um 420 v. Chr. Leben in vielen Details zu rekonstru-
Exorzist Rimut-
Publikum. Schmeicheleien, von dem der Assyrer- Anu verlässt sein ieren. So lassen sich einzelne Lieferun-
Rund 1000 Jahre später spielt eine könig Asarhaddon umsponnen war. Haus in Uruk gen der Eselskarawanen nachvollzie-
andere Episode: Podany erzählt vom Aus Furcht vor Weissagungen seines hen, die beladen mit Zinnbarren oder
Schicksal der drei Prinzessinnen, de- Todes ließ er sich mehrfach monate- 331 v. Chr. Textilien von Assur aus durchs Taurus-
ren Vater Burna-Buriasch II. auf dem lang von Ersatzkönigen vertreten – die Alexander der gebirge zogen. Auch die politischen
Thron in Babylon saß. er anschließend umgehend hinrichten Große erobert Verhältnisse werden sichtbar: Fast an-
Es waren ungewöhnlich friedvolle ließ, damit er die Prophezeiung als Mesopotamien derthalb Jahrtausende bevor die Athe-
Zeiten. Die Herrscher Babyloniens, erfüllt betrachten konnte. ner erstmals am Fuß der Akropolis zur
Ägyptens und des Hethiterreichs All das klingt lebensprall, und doch Volksversammlung zusammentraten,
waren übereingekommen, den Krieg sind es nur Inseln des Wissens in einem praktizierten die assyrischen Bürger
gegeneinander einzustellen. Sie nann- Ozean des Unwissens. Es gab ganze von Kanisch bereits ihre eigene Form
ten sich »Brüder«. Zwischen ihren Königreiche in Mesopotamien, von der Demokratie.
Hauptstädten herrschte reger Verkehr. denen fast nichts überliefert ist. Podany Erstaunlich lebensnah muten noch
Die Mächtigen schickten sich Briefe, kann nur erzählen, wo vereinzelte Fun- nach vier Jahrtausenden die tönernen
Gesandte, kostbare Geschenke – und de antiker Archive Licht ins Dunkel Briefe an, die in den Satteltaschen der
The Trustees of the British Museum / bpk

auch Ehefrauen. werfen. Wo immer den Forschern Ton- Esel verstaut wurden: Ehefrauen im
Burna-Buriasch war besonders er- tafeln in die Hände fallen, sprudeln die fernen Assur klagen über ihre Ein-
folgreich als Heiratsdiplomat. Eine Geschichten. Und vielerorts in Syrien samkeit; Anwälte versuchen, im Auf-
seiner Töchter sandte er, begleitet von und im Irak, da ist sich die Forscherin trag ihrer Klienten Schulden einzu-
einer Heerschar von Zofen, als Braut sicher, liegen weitere Texte im Wüsten- treiben; Väter schelten den Leichtsinn
des Echnaton an den Nil. Glücklich sand verborgen – und damit weitere, ihrer gottlosen Söhne.
wurde sie dort allerdings nicht, stand noch unbekannte Biografien. Beispielhaft erzählt Podany die Ge-
sie doch ganz im Schatten von Nofre- Das gilt insbesondere für jene schichte von Assur-Idi, der von Assur
tete, der charismatischen Hauptfrau Lebensgeschichten, die Podany mehr aus seinen Söhnen in Kanisch Ge-
des Pharaos. schäftsanweisungen gibt. Er war auf-
Diese Schmach blieb ihrer Schwes- brausend und impulsiv, manchmal
ter Tawananna, die Vater Burna-Bu- scheint es, als wäre er von panischer
riasch dem Hethiterkönig zur Frau Angst vor dem Konkurs getrieben.
gegeben hatte, erspart. Denn der zog Und er hatte Erziehungsprobleme:
die Babylonierin seiner langjährigen Einer seiner Söhne hatte ihm die Enkel
Hauptfrau vor. Doch die Gunst des anvertraut. Doch die mochten sich
AGB Photo / IMAGO

Königs hatte ihren Preis: Tawananna dem strengen Großvater nicht fügen.
sah sich am Hof fortan von lauter Nei- Ratlos schreibt Assur-Idi, nun seien
dern umgeben. ihm die Kinder einfach davongelaufen.
Am besten traf es wohl Napir-Asu, Eine Gemeinschaft sehr anderer
die dritte der Schwestern. Sie hatte Keilschrifttafel, »Standarte von Ur«: Unermessliche Vielfalt Art zeichnet Podany anhand von Ton-

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 97


WISSEN

tafelfunden in der altbabylonischen Stadt


Sippar nach. Dort legten die Archäologen
nordwestlich des Tempels ein Viertel mit
ungewöhnlich engen Gassen frei. Sie gehen
davon aus, dass hier das sogenannte Gagum
lag, das Quartier, in dem die Dienerinnen des
Sonnengotts Schamasch lebten.
Die Frauen dort waren gebildet, fast alle
»Hauptziel ist der
konnten lesen und schreiben. Sie mussten
ohne Männer leben, Kinder durften sie kei-
nesfalls gebären. Wand an Wand wohnten sie
Unterleib«
in Reihenhäuschen, klein wie Klosterzellen.
Die meisten stammten aus gutem Hause. Kei- PSYCHOLOGIE Der Selbstverteidigungstrainer Swen Körner
nem Mädchen stand es frei, ins Gagum zu
ziehen. Diese Entscheidung war dem Vater über die Gewalt auf deutschen Straßen,
oder Bruder vorbehalten. Psychotricks für brenzlige Situationen und die richtigen Schläge,
Doch lebten die Gottesdienerinnen keines- wenn in Gefahr nichts anderes mehr hilft
wegs hinter Klostermauern. Im Gegenteil: Sie
nahmen am Geschäftsleben teil. Sie kauften
Häuser, Äcker und Obstgärten, sie vermiete- Körner, 56, ist Professor an der Deutschen seitdem das Impfen so ein politisches Thema
ten Wohnungen und verpachteten Land. Und Sporthochschule Köln und leitet die Abteilung geworden ist.
sie verliehen Silber gegen Zinsen. Das Gagum für Trainingspädagogik und Martial Research. SPIEGEL: Wann waren Sie zum letzten Mal in
war Nonnenkloster, Mädchen-WG und Immo- einer brenzligen Situation?
bilienbörse in einem. SPIEGEL: Herr Körner, seit den Silvesterkra- Körner: Das ist nicht lange her, ich kam nach
Podany schildert, wie Awat-Aya, eines der wallen herrscht der Eindruck vor, die Gewalt Mitternacht aus dem Urlaub zurück, wir sa-
Mädchen, in einem mehrtägigen Zeremoniell gegen Polizisten und Feuerwehrleute nehme ßen in der S-Bahn, da gab es Streit zwischen
dem Sonnengott angetraut wurde. Und auch zu. Stimmt das? einer Fahrkartenkontrolleurin und drei Ju-
sonst ist es beeindruckend, wie viele Schick- Körner: Klar, es gibt Gewalt gegen Einsatz- gendlichen, die keine Tickets hatten. Die Kon-
sale aus dem alten Mesopotamien sie zusam- kräfte. Und es kracht regelmäßig dann, wenn trolleurin hat die jungen Männer aus der Bahn
mengetragen hat: Sie erzählt von dem jungen Alkohol im Spiel ist, zusammen mit großen geschubst mit einem Bodycheck. Die Jugend-
Elletum, der in einer Privatschule der sume- Menschenmengen auf engem Raum, da sind lichen zogen sich auf dem Bahnsteig schnell
rischen Stadt Nippur Multiplikationstabellen die Einsatzstatistiken eindeutig. Die wissen- Fahrkarten und kamen zurück in die S-Bahn.
büffeln musste; von dem Baby einer Prosti- schaftlichen Daten sind hier allerdings sehr Sie beschimpften die Kontrolleurin, die stan-
tuierten, das aus einem Brunnen gerettet wer- differenziert. So haben leichte Körperver- den sich Nase an Nase gegenüber. Die Situa-
den konnte; und von Bazatum und Rischiya, letzungen und Beleidigungen gegen Polizisten tion war sehr aufgeladen, es war kurz vor
zwei Musikerinnen im Orchester des pracht- in den vergangenen Jahren zwar tatsächlich einer körperlichen Auseinandersetzung.
vollen Palasts in der Stadt Mari. zugenommen, schwere Körperverletzungen SPIEGEL: Wie haben Sie reagiert?
Auch Sklaven kommen vor. Einer von ih- gingen hingegen zurück. Körner: Ich bin aufgestanden und habe die
nen, der von Umma aus ins ferne Anschan SPIEGEL: Wird also nur mehr über Angriffe Streitenden mit ruhigen Worten auseinander-
entflohen war, wurde dort gefasst und für auf Einsatzkräfte berichtet? gebracht. Das ist auch gut gegangen.
einen Finderlohn von zehn Silberschekel sei- Körner: Wir haben gerade in einem Projekt SPIEGEL: Hatten Sie keine Angst, selbst an-
nem Besitzer zurückgegeben. Andere wurden mit Rettungsdiensten im Rhein-Main-Gebiet gegriffen zu werden?
überraschend human behandelt. Die Sklavin über drei Jahre hinweg die Einsatzdaten aus- Körner: Nein, ich beobachtete die Situation
Ischunnatu durfte nahe Babylon eigenver- gewertet. Das Ergebnis: Es wurden knapp genau. Beide Seiten hatten ein berechtigtes
antwortlich eine Gastwirtschaft erwerben. 30 Fälle von Körperverletzung und versuch- Interesse, die Kontrolleurin musste ihren
Tische, Stühle, Braukessel, drei Messer, eine ter Körperverletzung über ein elektronisches Job machen und war genervt, die Jugend-
Axt: Sorgsam wurde beim Verkauf das Inven- Einsatztagebuch dokumentiert – bei 363 000 lichen wollten sich keine Blöße geben. Das
tar aufgelistet. Einsätzen insgesamt. Von einer Gewalt- Wichtigste war, dass ich mich einmischte
Besonders anrührend ist die Geschichte explosion kann also keine Rede sein. Nur weil und ein gewisses Verständnis für beide Seiten
von Zadamma und seiner Frau Ku’e. Während wir so oft von immer mehr Gewalt hören, zeigte, damit sich das nicht hochschaukelte.
einer schweren Hungersnot am Ende des heißt das noch lange nicht, dass die Diagnose Durch mein Eingreifen waren die Beteiligten
13. vorchristlichen Jahrhunderts sah sich das stimmt. Das zu glauben ist im Übrigen gefähr- abgelenkt, und dadurch konnten sich die Ge-
Ehepaar gezwungen, die Kinder in die Skla- lich. Aus der Aggressionsforschung wissen müter etwas abkühlen.
verei zu verkaufen. »Unsere Kinder sind alle wir: Menschen, die davon überzeugt sind, SPIEGEL: Sie hätten zwischen die Fronten ge-
Babys. Ich habe niemanden, der sie ernähren dass die Welt immer brutaler wird, neigen raten können. War das nicht leichtsinnig?
kann«, gab die Mutter zu Protokoll. Der Käu- selbst öfter zu aggressivem Verhalten. Körner: Nein, ich beschäftige mich ja seit Jah-
fer war ein Wahrsager namens Ba’lu-malik. SPIEGEL: Ist es folglich unnötig, sich auf eine ren mit derlei Situationen. Ich war vorberei-
Er zahlte 60 Schekel. mögliche Selbstverteidigung gegen Gewalt- tet auf einen möglichen Übergriff. Ich hatte
Der Kaufvertrag endet mit den Worten: täter vorzubereiten? natürlich nicht meine Hände in den Taschen,
»Jetzt haben Zadamma, ihr Vater, und Ku’e, Körner: Keineswegs. Es kann jederzeit zu Ge- dann hätte ich keinen Schlag abwehren kön-
ihre Mutter, ihre Füße in den Ton gedrückt.« waltausbrüchen kommen, vor allem an Wo- nen; und ich hatte mich so hingestellt, dass
Die Abdrücke der zweijährigen Ba’la-bia und chenenden und Feiertagen. Und auch in kri- ich alle im Blick hatte.
der einjährigen Zwillinge Ba’la-belu und Isch- tischen Alltagssituationen. Wir bilden nicht SPIEGEL: Wäre es nicht klüger gewesen, Um-
ma’-Dagan sind noch erhalten. Podany: »Die nur Leute bei Sondereinsatzkommandos und stehende anzusprechen, damit sie Ihnen im
Mutter muss sie festgehalten haben, während normalen Polizeien aus, sondern zudem Notfall helfen oder die Polizei rufen?
sie jeweils den rechten Fuß auf einem Klum- Mitarbeitende in Arbeitsagenturen, Rechts- Körner: Das ist eine zweischneidige Sache. Es
pen Ton platzierte.« anwaltskanzleien, Arztpraxen und Rettungs- ist nicht einfach, Fremde davon zu überzeu-
Johann Grolle n diensten. Auch Impfstoffhersteller sind dabei, gen, Ihnen zu helfen. Manche haben Angst,

98 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


WISSEN

bis dahin Unbeteiligte könnten viel- aber kontrolliert wegkomme: ohne


leicht selbst aggressiv werden und Hast, ohne Stolpern, ohne Rempeln.
damit zu einer noch größeren Eska- SPIEGEL: Wenn die Flucht misslingt?
lation beitragen. Das wären viele un- Körner: Im Notfall muss ich mich kör-
bekannte Faktoren, die Sie nicht kon- perlich wehren können. Das sollte
trollieren können. Aber klar, bei einer man üben, damit es reflexartig klappt.
Konfrontation allein dazwischenzu- Die Hammerfaust ist ein einfacher
gehen, das sollte man nur tun, wenn Schlag, so als würde man mit dem
man viel Erfahrung hat und die Situ- Hammer schlagen, mit der Untersei-
ation es wirklich erfordert. te der geballten Faust. Auch den

Robin Wasser fuhr / DSHS Köln


SPIEGEL: »Verhalten bei Gewalt« Kniestoß kann jeder, dabei wird das
heißt Ihr neues Buch*. In der ersten Knie stark gebeugt und explosiv nach
Hälfte geht es fast ausschließlich um oben bewegt. Hauptziel ist der Unter-
Verständnis für das Gegenüber. Las- leib – wir reden von Notwehr.
sen sich Konfliktsituationen allein mit SPIEGEL: Und wenn ich festgehalten
Empathie entschärfen? werde oder sogar am Boden liege?
Körner: Nein, aber der klügste Um- Körner: Sie müssen bereit sein für eine
gang mit Gewalt lässt es gar nicht erst um aus der Eskalationsspirale heraus- Teilnehmende distanzabhängige Verteidigungskas-
so weit kommen, dass ich mich kör- zukommen. Denn eine Schlägerei geht eines Selbstverteidi- kade. Ist der Angreifer noch weit ge-
gungskurses
perlich verteidigen muss. Viele Selbst- meist für beide Seiten schlecht aus. nug weg, kann ich weglaufen. Hat er
verteidigungskurse und Ratgeber sind Heiße Aggression ist oft laut und über- schon sein Knie auf meiner Brust,
zu sehr auf die körperliche Abwehr raschend, aber sie lässt sich leichter helfen leider nur noch Methoden wie
fokussiert; dabei geht es bei Konflik- entschärfen. Wenn sich zwei Besoffe- ein Schlag Richtung Unterleib oder
ten zunächst um Begegnungen zwi- ne prügeln wollen, leiden sie meist Augen. Das Verletzungsrisiko für bei-
schen Menschen, die unterschiedliche beide an der sogenannten Alkohol- de Seiten ist groß, das sollte nur im
Interessen haben. Die meisten rut- kurzsichtigkeit. Das lässt sich für die äußersten Notfall eingesetzt werden,
schen ungewollt aus einem Konflikt Konfliktgestaltung nutzen, denn die um danach direkt zu fliehen. Auch
in eine tätliche Auseinandersetzung Besoffenen reagieren stark auf stump- lautes Schreien hilft, es erschreckt das
hinein. Und die Selbstverteidigung ist fe Reize. Türsteher nutzen das für sich, Gegenüber und hilft mir, auf Angriff
daher immer nur ein letzter Ausweg. die gehen dazwischen und bieten umzuschalten. Wenn der Aggressor
SPIEGEL: Angenommen, ich gerate in denen einen Bonbon an. Wenn es was überrascht ablässt, kann man fliehen.
eine Horde besoffener Fußballfans, Leckeres gibt, ist der Streit oft sofort SPIEGEL: Wie kann man das üben?
wie schütze ich mich? vergessen. Gewalt ist nach wie vor Körner: Die Schläge und Tritte kann
Körner: Am besten ist es natürlich, die eine Sache des Kleinhirns. man gut an einer Matratze üben. Gib
Situation früh zu erkennen und gar SPIEGEL: Und kalte Aggression? dir selbst ein Kommando, dann greifst
nicht erst in eine S-Bahn zu steigen, Körner: Die kalte Aggression ist be- du die Matratze an. Wiederhole im-
wenn die voller Fans ist und Sie sich wusst und rational. Der Aggressor mer wieder dieselben einfachen Trit-
damit nicht wohlfühlen. Aufmerk- will etwas erreichen, zum Beispiel te und Schläge, das ist sehr effektiv.
samkeit ist das A und O. Das sollten Geld oder Anerkennung in der Grup- Und sehr ermüdend. Nicht nachlas-
Sie im Alltag regelmäßig üben. pe. Das läuft nach einer Kosten-Nut- sen, immer weitermachen. Wichtig
Schauen Sie sich um, beobachten Sie zen-Rechnung ab. Da funktioniert ist, dass man schnell von null auf hun-
die anderen Menschen. Überlegen Deeskalation nicht, da muss man kla- dert kommt. Und sich, wenn die Ge-
Sie: Wo sind hier Fluchtwege? Welche re Grenzen ziehen. Brust raus, fester fahr gebannt ist, aber auch möglichst
Gegenstände könnte ich zum Schutz Stand, dem Blick nicht ausweichen. schnell wieder beruhigt. Auch das
einsetzen? Checken Sie die anderen Das macht dem Aggressor klar, dass gehört zum Training.
Personen, ihre Mimik, ihre Körper- der Übergriff Kosten haben wird. SPIEGEL: In einem Regionalzug zwi-
haltung, wie sie reden. SPIEGEL: Und was, wenn Ihre Psycho- schen Hamburg und Kiel stach ein
SPIEGEL: Was kann ich an der Körper- tricks nichts bringen? offenbar psychisch gestörter Mann
haltung erkennen? Körner: Im Ernstfall: weglaufen! Das auf die Fahrgäste ein, zwei Menschen
Körner: Falls es Ärger gibt, ist die ist eine oft unterbewertete Kunst. starben. Wie sollte man sich bei sol-
wichtigste Unterscheidung: Ist das SPIEGEL: Wegrennen kann doch jeder. chen Messerattacken verhalten?
kalte oder heiße Aggression? Heiße Körner: Ha, von wegen. Da kann viel Körner: Das hängt davon ab, zu wel-
Aggression ist emotional und spon- schiefgehen. Sie laufen panikartig chem Zeitpunkt man dazustößt. Sind
tan, da platzt jemandem der Kragen, weg, ohne auf den Verkehr zu achten. schon Menschen niedergestochen und
angetrieben von starken Emotionen Oder Sie bleiben viel zu früh stehen der Angreifer kommt plötzlich um die
wie Wut, Trauer, Panik und so weiter. und schauen sich nicht um, ob der An- Ecke, dann gibt es nur eine Lösung:
Hier hilft es oft, gut zuzuhören, ruhig greifer hinter Ihnen her ist. Oder Sie »Be more violent!« Dann hilft wirk-
zu sprechen, den Druck aus der Si- können sich erst gar nicht bewegen, lich nur massive Gegengewalt. Ist
tuation zu nehmen. Fragen Sie: Du Sie sind wie eingefroren, diese Flucht- man dabei, bevor der Angriff losgeht,
wirkst wütend, ist was passiert? Oder blockade nennt man auch »Freezing«. hat man mehr Optionen und kann
entschuldigen Sie sich einfach mal. So wie in einem Albtraum, in dem sich und seine Mitmenschen vielleicht
SPIEGEL: Man soll klein beigeben? man sich nicht bewegen kann. verbarrikadieren, auf der Zugtoilette
DSHS Köln

Körner: Nein, es geht darum, gegen die SPIEGEL: Wie kann man lernen zu oder in einem anderen Abteil. Oder
Erwartung des anderen zu handeln, fliehen? kann wenigstens Taschen, Jacken
Körner: Das geht überall, zum Beispiel oder den PC in Position bringen, um
Pädagoge Körner:
in einem überfüllten Klamotten- »Weglaufen ist
sich selbst zu schützen. So oder so –
* Swen Körner, Mario S. Staller: »Verhalten
bei Gewalt – Selbstschutz für Erwachsene«. geschäft. Ich gebe mir dann selbst ein eine oft unter­ eine extrem schwierige Situation.
Springer; 153 Seiten; 24,99 Euro. Startsignal und schaue, dass ich zügig, bewertete Kunst« Interview: Hilmar Schmundt n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 99


KULTUR

Magazin ohne Fotos,


ohne Farbe
MEDIEN Das nennt man ein
ambitioniertes Vorhaben, so
etwas wie einen deutschen
»New Yorker« hatte Hans
Magnus Enzensberger im Sinn,
als er 1980 »TransAtlantik«
gründete. Sein Verleger Heinz
van Nouhuys allerdings gab
im Hauptberuf das Herren-
magazin »Lui« heraus und galt
als Freund von Franz Josef
Strauß. Das konnte nicht gut
ankommen bei Enzensbergers
Zielgruppe, der linksintellek-
tuellen Leserschaft der alten
Bundesrepublik. In »Konkret«
geißelte Hermann L. Gremliza

Eg gleston Ar tistic Trust and David Zwirner


das Projekt als »Kacke mit Gla-
sur«. Enzensbergers Versuch,
Geist und guten Geschmack zu
vereinen, war wohl ein wenig
verfrüht. Der Publizist und sein
Team stiegen 1982 aus, 1991
wurde die Zeitschrift ganz ein-
gestellt. Nun widmet sich Kai
Sina, Literaturwissenschaftler
Eggleston-Fotos »Untitled«, 1965–68, »Untitled«, 1971–74 an der Universität Münster,
in einem interessanten kleinen
Buch der Zeitschrift, die fast

Bunt und geheimnisvoll ganz ohne Fotos oder Farbe aus-


kam, deren Texte aber oft lite-
rarischen Anspruch hatten. Als
Traum vom großen Magazin
KUNST Seine Bilder galten anfangs als oberflächlich, heute wird William Eggleston steht »TransAtlantik« in einer
als Pionier der Farbfotografie gefeiert. C/O Berlin zeigt, warum das so ist. Reihe mit anderen kühnen Pro-
jekten, die sich nicht dauerhaft
illiam Eggleston fotografierte in Farbe tik war wegweisend für jüngere Fotografen und durchsetzen konnten. Und so
W und nannte seine Bilder Kunst. Das war
Anfang der Siebzigerjahre unerhört,
denn damals galten bunte Fotos als oberflächlich.
Fotografinnen wie Andreas Gursky, Nan Goldin
oder Wolfgang Tillmans.
Die Retrospektive »William Eggleston. Myste-
könnte es ein reizvoller Abend
werden, wenn an diesem Sams-
tag der Buchautor Sina in Mün-
Walker Evans etwa, einer der bedeutendsten ry of the Ordinary« im Ausstellungsraum C/O chen mit der früheren Redakteu-
US-amerikanischen Fotografen, fand Farbbilder Berlin zeigt nun, wie er Farbe und ungewöhnliche rin Katharina Enzensberger und
»vulgär«, sie gehörten seiner Meinung nach nur Perspektiven adelte. Frühe Arbeiten in Schwarz- dem Feuilletonisten Claudius
in die Werbung. Wer als Kamerakünstler etwas Weiß sind zu sehen und berühmte Serien, etwa Seidl über »TransAtlantik« und
auf sich hielt, legte Schwarz-Weiß vor. Die beson- »Los Alamos«, entstanden auf Roadtrips durch die Folgen diskutiert. Standes-
dere Schnappschussästhetik des Südstaaten- die USA. Auch einige noch nie gezeigte Werke gemäß im Schumann’s, auch so
dandys Eggleston war seinem Ruf zunächst auch sind dabei, darunter Aufnahmen aus den Achtzi- ein Ort,
nicht förderlich. Er sah Poesie in bis dahin als gerjahren in Berlin. Eggleston beschrieb seinen von dem man
nicht bildwürdig geltenden Motiven, erhob diese Stil als »demokratisches Fotografieren«, zum hofft, dass
zum Kunstobjekt: Kaffeetassen im Diner und ungewöhnlichen Blick habe ihn Cézannes Male- sich Geist und
leuchtende Reklameschilder, vermüllte Straßen- rei angeregt. Der Künstler spricht ungern über Geschmack
ecken und Gullydeckel. Eine seiner berühmtesten seine Werke und sperrt sich gegen Interpretatio- mal begeg-
Aufnahmen zeigt eine nackte Glühbirne, die an nen der Fotos. Sie seien kein Kommentar zur nen. SHA
einer dunkelroten Zimmerdecke hängt. Als das amerikanischen Gesellschaft – er wolle nur den
Museum of Modern Art in New York 1976 seine Moment festhalten. CPA Kai Sina:
»TransAtlantik«.
Bilder zeigte, schimpften Kritiker sie »beliebig«. »William Eggleston. Mystery of the Ordinary«. Wallstein; 220
Heute gilt der 83-Jährige als Pionier. Seine Ästhe- C/O Berlin; bis 4. Mai. Seiten; 20 Euro.

100 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


Träume, Techno, Tod den auf. Man schaut den Zuhause im
Schwestern und ehemaligen
KINO Die Themen, die der Freunden beim Taumeln und Dazwischen
Kinofilm »Wann kommst du Tanzen zu, jeder ravt in seinem SACHBÜCHER Wo komme ich
meine Wunden küssen« ganz eigenen Rhythmus. Immer her, wo gehöre ich hin? Das sind
von Hanna Doose behandelt, tiefer wird der Zuschauer mit- Fragen, die Menschen schon im-
sind nicht neu, und auch das genommen in das Beziehungs- mer umgetrieben haben. Nur
Setting kommt einem erst mal geflecht der Hofbewohner, in so komplex wie heute waren die
bekannt vor. Es geht um Sinn ihre inneren Abgründe, bis sie Antworten noch nie. Die Auto-
suchende Großstädter auf dann vor einem realen stehen: rin Elisabeth Wellershaus, 48,
einem einsamen Hof. Den ha- In einer der schönsten Szenen berichtet in einem neuen Sach-
ben die Schwestern Maria und ziehen die Frauen in Ravekostü- buch über ihre sehr persönliche
Kathi geerbt. Maria war mal men und alter Verbundenheit Suche nach Identität. Und sie tut
Teil eines erfolgreichen Techno- durch die Landidylle hin zu der das ohne den Anspruch, fündig

Juliette Moarbes
performance-Ensembles mit Staumauer, an der die Mutter zu werden. Das macht »Wo die
zwei Freunden, die jetzt den von Kathi und Marie ihr Leben Fremde beginnt« so besonders,
Hof bewirtschaften. Kathi (Ka- ließ. Was den Film, der am ein tastendes Buch, postidenti-
tarina Schröter) lebt auch dort, 2. Februar startet, vor allem se- tär. Wellershaus ist in Hamburg- Wellershaus
sie ist an Krebs erkrankt, ver- henswert macht, ist die Art der Volksdorf aufgewachsen, einem
weigert sich aber einer Chemo- Inszenierung, die Bilder sind Wohlstandsrefugium am Stadt- ihrem Gartenzaun breitmachen.
therapie, stattdessen verschwin- großes Kino, und die Dialoge rand, die Großeltern weiß, die Das Bedürfnis nach Zugehörig-
det sie tagelang im Wald, kocht gewinnen dadurch, dass Dooses Mutter auch, der Vater schwarz keit, bemerkt sie, sei überall
Kräuter und heult den Mond Protagonistinnen einsilbig wer- und meist abwesend, ein Ferien- gleich groß: »Im Bioladen, in
an. Als Maria (Bibiana Beglau) den dürfen. Man fühlt den vater. Die klaren Verhältnisse, der Dönerbude, in der Eckknei-
aus Berlin mit reichlich MDMA Schmerz und die Sehnsucht der nach denen sich heute viele seh- pe – irgendwo will jede:r
und Kokain in der Tasche zu- Schauspielerinnen, dazu klingeln nen, hat Wellershaus also nie Stammgast sein.« Und irgend-
rückkehrt, reißt das alte Wun- die Glocken der Ziegen. NGA vorgefunden, sie hatte eine wo, das ist ihre eigentliche
Kindheit im Hier und Dort, ein Erkenntnis, fremdelt auch jeder.
Zuhause im Dazwischen. Heute Vielleicht ist es sogar das, was
arbeitet sie als Journalistin und die Menschen am meisten ver-
lebt in der Mittelschichtsblase bindet in der radikalen Vielfalt
eines superdiversen Berliner heute: das Fremdeln. Weil sich
Kiezes. Von dort blickt sie stau- niemand mehr irgendwo so ganz
Markus Zucker / Schiwago Film und DOMAR Film

nend auf das homogene Ver- zu Hause fühlen kann, geo-


ständnis von Gesellschaft, das in grafisch, familiär, psychisch, in-
ihren Kindertagen so selbstver- tellektuell. Den anderen zu
ständlich schien, und wundert akzeptieren in seinem Anders-
sich ebenso, wie fremd ihr heute sein, die Fremdheit auszuhalten,
mitunter schon der benachbarte, die sich nie ganz überwinden
weniger gentrifizierte Kiez ist, lässt – das ist die Herausforde-
wie ihre »reflexhafte Sehnsucht rung der Gegenwart. TOB
nach Vielfalt« mitunter »hinter
stumpfen Ängsten verloren Elisabeth Wellershaus: »Wo die Fremde
beginnt. Über Identität in der
geht«, wie sich Konventionen fragilen Gegenwart«. C. H. Beck;
Schröter, Beglau in »Wann kommst du meine Wunden küssen« und Privilegien auch hinter 158 Seiten; 22 Euro.

Summende präsentiert Songs, die sich donnas Schwester Melanie »Ich beziehe mich beim Kom-
schon beim ersten Anhören auf Ciccone verheiratet und hat mit ponieren auf die Bluesform, so
Klagelieder freundlich melancholische, un- ihr zwei erwachsene Kinder. wie Dichter sich zum Beispiel
POP Als sensibler Songwriter aufdringliche Weise einprägen. Zudem war er als Produzent für an der Form des Sonetts orien-
und zeitgenössischer Meister Es geht um das Entsetzen über andere Musikerinnen und Mu- tieren«, lautet ein Grundsatz
der Americana-Musik ist der in die amerikanische Politik der siker mitunter erfolgreicher als des Künstlers. Ein wirklich
North Carolina geborene Joe vergangenen Jahre, die Trauer mit seinen eigenen Werken. guter Songtext, so behauptet
Henry ab Mitte der Achtziger- um verlorene Weggefährten Henry, zeichne sich dadurch
jahre berühmt geworden – und und um private Niederlagen. aus, dass er schon beim Schrei-
letztlich hat er seither nichts da- »Near to the Ground« lautet ben und Lesen, ganz ohne
zugelernt, also nichts geändert, der programmatische Titel eines Musik, anfange zu summen. Bei
sondern seine Kunst der sehr Lieds. Stets verbindet der Lie- aller schmerzlichen Beschwö-
zurückgelehnten, melodiebe- dermacher die Schilderung nie- rung des irdischen Jammertals
geisterten, stets von Schwermut derschmetternder Ereignisse gelingen ihm so Songs von er-
getränkten Liedermacherei im- und Erkenntnisse mit einer fast staunlicher Schönheit. In seinen
mer weiter verfeinert. Auf sei- schon jenseitigen Gemütsruhe. besten Momenten wirkt dieses
nem neuen Album »All the Eye Nebenher hat sich Henry im Album, als schaffte es Henry,
Can See« lässt sich der mittler- Lauf seiner Karriere hin und sich selbst Trost zu spenden
weile 62-jährige Musiker von wieder für seine Schwägerin als in einer Welt, die offensichtlich
fast zwei Dutzend Kolleginnen Songschreiber einspannen vom Absturz in finstere
und Kollegen unterstützen und lassen – er ist seit 1987 mit Ma- »All the Eye Can See«-Cover Abgründe bedroht ist. HÖB

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 101


KU LT U R

Agent im Regenbogenland
KARRIEREN Der Sozialpsychologe Harald Welzer gehörte zu Deutschlands liebsten Talkshowgästen,
dann tanzte er mit Äußerungen zum Krieg und zu den Medien aus der Reihe.
Eine Reise zu einem, der seine Rolle liebt – und zu den Grenzen des Mitredens. Von Arno Frank

arald Welzer lacht überraschend oft. äußersten Rand von Europa. Westlich davon nicht erst erwartet. Aber so spricht er eben.
H Über aus seiner Sicht unhaltbare
Positionen, gedankenlose Journalisten,
verknöcherte Kollegen. Immer dann, wenn
kommt lange nichts, sagt er, »und dann ir-
gendwann New York«. Andere Zeitzone,
andere Welt. Hier holt sich der 64-Jährige die
Sogar mit der Katze, die ihm hier auf der Insel
zugelaufen ist.
Jenseits des Hörsaals gibt es nicht wenige,
er während des allmählichen Verfertigens der bronzene Bräune ab, die im blassen Umfeld die auf diesen Ton empfindlich reagieren. Wie
Gedanken beim Reden über das stolpert, was deutscher Talkshows bisweilen so aufreizend Andrij Melnyk, damals ukrainischer Bot-
er die »Dummheit« nennt. Und das geschieht wirkt. schafter in Berlin. Mit ihm liefert sich Welzer
alle paar Minuten. Überdies lastet auf ihm Welzer ist überzeugt, dass zumindest der im Mai 2022 bei »Anne Will« einen denk-
der Fluch des Ironiefähigen. Es ist nicht immer Winter in Berlin es nicht verdient habe, seine würdigen Schlagabtausch. Im Grunde ist es
klar, ob er etwas ernst meint oder spöttisch. kostbare Lebenszeit an ihn zu verschwenden. ein kommunikatives Zugunglück, das in
Bis er eben lacht. An den Kanaren schätzt er nicht nur den ewi- Melnyks bissiger Bemerkung gipfelt: »Ich bin
Gerade räsoniert er über Volker Wissing gen Frühling, das Alleinsein. Auch liegt ihm kein Student!«
von der FDP, »allein der Name, so geil, kann der Umstand, bisweilen mehr als 3600 Kilo- Die Szene würde in eine böse Medien-
man sich gar nicht ausdenken«. Im Sommer meter zwischen sich und ein Land zu bringen, satire passen. Der Diplomat wirft dem Intel-
2022 hatte der Verkehrsminister angesichts in dem er inzwischen zu jedem Thema befragt lektuellen grüblerischen Intellektualismus
des Niedrigwassers im Rhein vorgeschlagen, wird, zu dem ihm etwas einfällt. Und als So- vor, der Intellektuelle dem Diplomaten Ak-
den Strom kurzerhand zu vertiefen. Welzer ziologe und Sozialpsychologe fällt ihm im tivismus.
lehnt sich zurück und sagt sarkastisch: »Das Grunde zu jedem Thema etwas ein. Eingeladen ist Welzer als Erstunterzeich-
ist jetzt die nächste Maßnahme. Da legen wir Wenn das Gemüt eines Einzelnen ange- ner eines offenen Briefes in der »Emma«, der
noch eine Schippe drauf. Wenn es nicht mehr kränkelt ist, geht er zum Psychologen. Wird vor den »katastrophalen Konsequenzen«
genug regnet, müssen wir den Fluss ausbag- eine Gesellschaft sich selbst unheimlich, geht einer »eskalierenden Aufrüstung« warnte.
gern, damit wieder genug Wasser da ist. Das sie zum Soziologen. Dann legt sie sich bei Melnyk, geladen als Anwalt seines Landes,
ist ja ein logischer Schluss.« Was für eine Jutta Allmendinger, Andreas Reckwitz, Heinz nennt diese Position »moralisch verwahrlost«
Dummheit. Bude, Hartmut Rosa oder Armin Nassehi auf und wirft Welzer vor: »Es ist einfach jetzt für
Und dann ist es, als öffnete sich ein Über- die Couch. Sie, da in Ihrem Professorenzimmer zu sitzen
druckventil. Welzer lacht. Heiser, hoch und Sie sind sozusagen die »Avengers« der öf- und zu philosophieren.« Welzer verweist auf
ein wenig hechelnd. Nicht unbedingt herzlich, fentlichen Selbstvergewisserung. Ihre Stim- tief in der Gesellschaft verwurzelte »Kriegs-
aber ehrlich. men werden gehört, gerade weil sie aus dem erfahrungen«, was Melnyk als Umkehr von
Im Fernsehen hört man ihn so nur selten. politischen Off kommen. Werden sie von kei- Tätern und Opfern ausgelegt. Er erinnert den
Aber Welzer ist gerade nicht im Fernsehen. ner Seite angefeindet, machen sie etwas Deutschen daran, welche massenhaften Mas-
Er hat eine »Theorie der guten Orte«, die sich falsch. Beharren sie auf wissenschaftlicher saker seine »Vorfahren« in der Ukraine an-
wohl kaum auf das Studio von einem Talk- Abstraktion, sind sie langweilig. Schweigen gerichtet hätten. Da besteigt Welzer seinen
master wie Markus Lanz anwenden ließe. sie, sind es keine Intellektuellen. inneren Katheder und fordert Melnyk auf, er
Wohl aber auf die Insel, auf der er jetzt gera- Harald Welzer gehört in diese Reihe, ob- solle sich »über meine wissenschaftliche
de sitzt, im Kapuzenpulli vor einem Glas Was- wohl er seit einer Weile aus ihr heraustanzt. Arbeit« informieren.
ser auf der januarwarmen Terrasse seines Zu weit? Er ist so etwas wie die »loose can- »Das ging echt schief«, räumt Welzer heu-
Hauses mit Blick aufs Meer. Das Wetter ist an non« – eine schwere Waffe, die sich in schwe- te ein. Er habe sich aber von »dieser Kampf-
diesem Nachmittag in der Lage, gleichzeitig rer See auf schwankendem Deck aus der Ver- maschine« nicht den Text vorgeben lassen
die Sonne scheinen und einen zarten Regen ankerung gerissen hat. Niemand kann sie für wollen und bleibt bei seiner Mahnung, keine
niedergehen zu lassen. Regenbogenland. eigene Zwecke in Stellung bringen. Niemand schweren Waffen zu liefern: »Wir sind nicht
Obwohl sich der Ort mühelos recherchie- weiß, wohin sie als Nächstes rollt. Ein Agent die Ukraine, wir sind die Dritten.«
ren lässt, möchte Welzer den Namen der Insel der Verkomplizierung. Auf die Unterstellung mit den »Vorfahren«
nicht veröffentlicht sehen. Genau erklären Das Dilemma des Intellektuellen ist, dass ist er damals gar nicht erst eingegangen. Ob-
kann er seinen Wunsch nicht, meint das aus- er nicht über einer Debatte stehen und sie wohl er mit »Opa war kein Nazi« ein Buch
nahmsweise auch nicht ironisch, lässt es wie gleichzeitig führen kann. Welzer bricht mit über genau diesen Abwehrzauber geschrieben
eine Laune wirken. Offenbar ist es für den dieser Regel. Er fragt sich auch nicht, ob man hat, den Melnyk ihm zu Last legt. Und obwohl
Ruben Plasencia / DER SPIEGEL

Medienkritiker dann doch noch ein Unter- »das noch sagen darf«. Er tut es einfach, wenn es seinen Vater bei Kriegsende mit 16 Jahren
schied, ob etwas im Internet steht oder im es ihm geboten scheint. Stets im eigentümlich aus dem Osten mittellos in die Gegend von
SPIEGEL . melodischen Singsang eines Menschen, der Hannover verschlagen hatte, wo er ein Mäd-
Frühling und Sommer verbringt Welzer in zumindest nichts dagegen hat, sich selbst zu- chen aus ebenfalls »schwierigen Verhältnis-
Berlin, in einem ruhigen Außenbezirk an der zuhören. Es ist ein elaboriertes Reden von sen« kennenlernte.
Grenze zu Brandenburg. Herbst und Winter der Kanzel höherer Erkenntnis, die Wider- Seine Eltern beschreibt Welzer als »zwei
verlebt er auf einer Insel im Atlantik, am spruch theoretisch duldet und praktisch gar Strohhalme, die versuchten, sich aneinander

102 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


KU LT U R

Erklärer Welzer (r.), SPIEGEL-Autor Frank

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 103


KU LT U R

festzuhalten«. Von einer Herkunft aus prekä-


ren Verhältnissen spricht er nicht, weil er das
Beschönigende an einem Wort wie »prekär«
nicht mag: »Manche Menschen sind einfach
arm, da braucht es keine kaschierenden Wort-
girlanden.« Er redet auch nicht von »kleinen
Leuten«. Für ihn sind es »die guten Leute«.
Er schätzt, etwa die Hälfte der Bevölkerung
sei »in der medialen Öffentlichkeit, der Wis-
senschaft oder im Bundestag überhaupt nicht
mehr vertreten. Sie klingeln an deiner Tür als
Paketboten. Das ist eine Gesellschaft, die
nicht funktionieren kann«.
Und seine »wissenschaftliche Arbeit« qua-
lifiziert ihn durchaus, über den Krieg zu spre-
chen. In Hannover, Essen oder St. Gallen
forschte er mehr als zwei Jahrzehnte lang zu
Gruppengewalt, Erinnerung, Holocaust, Mas-
senmord und der Ästhetik des Nationalsozia-
lismus. Als Welzers Hauptwerk gilt bis heute
»Das kommunikative Gedächtnis«, in dem er
2002 eine »Theorie der Erinnerung« als kom-
plexen Akt permanenter Überschreibung vor-
legte. Mit »Klimakriege« (Untertitel: »Wofür
im 21. Jahrhundert getötet wird«) verhalf er
der Umweltfrage bereits 2008 zu größerer
Aufmerksamkeit.
Bald darauf setzte er so etwas wie eine
intellektuelle Diversifizierung in Gang. Weg
von der selbstgefälligen »Mittelstandssozio-
logie«, raus aus der empirischen Tiefe, rein
in die Breite. Die Idee sei gewesen, sagt Wel-
zer, endlich mal »ins Handeln zu kommen«.
Mit der Kollegin Dana Giesecke gründete
Welzer 2012 eine kleine Stiftung für eine »Welzer« erst seit vorgestern und nicht Kinnert, mit der er für Phoenix einen Podcast
»enkeltaugliche« Zukunft. Er lehrt nur noch schon seit 2016 auf dem Klingelschild. Welzer betreibt: »Die ist hochintelligent und erstaun-
sporadisch und veröffentlichte Bücher über nennt diesen Ort seine »Eremitage«, in den lich offen! Mir ein Rätsel, warum sie in der
die Digitalisierung, Aufrufe zu einer offenen idyllisch verwilderten Garten hat er bisher CDU ist!«
Gesellschaft oder, mit Michel Friedman, eine nur einen Aprikosenbaum und einen Apfel- Als Welzer gemeinsam mit Precht im
Meditation über die Auswirkungen der baum gepflanzt. Das Gärtnern liege ihm eben- vergangenen Jahr seine Medienkritik »Die
Pandemie. so wenig wie das Kochen, sagt er. Nachbarn vierte Gewalt« veröffentlichte, habe er
Popularität aber geht auf Kosten wissen- hat er nur zwei, was ihm ganz recht ist: »Ich zu dem Philosophen gesagt: »Dafür müssten
schaftlicher Relevanz. Welzer nimmt das in bin soziophob.« sie uns eigentlich ein Denkmal setzen!«
Kauf: »Sobald du mehr als sechs Bücher ver- Auf die einsame Insel, meint man, nähme Precht habe geantwortet: »Aus Pappe.
kaufst, bist du verdächtig. Sobald du bei ein Harald Welzer gern nur Harald Welzer Brennt besser.«
Fischer, Hanser oder auch Suhrkamp veröf- mit. Der Polemik gegen eine angebliche »Mei-
fentlichst, bist du schon fast nicht mehr zu- Ein weiteres leeres Zimmer beherbergt le- nungsmache der Leitmedien« ist anzumer-
gehörig. Und wenn das dann noch Bestseller diglich zwei Regale mit einigen Büchern. Tho- ken, dass sie mal eben schnell gestrickt wurde.
werden, dann bist du tot.« mas Bernhard, James Joyce, Volker Kutscher, Aus Kränkung über tendenziell ablehnende
Hat er nicht manchmal das Gefühl, eines Ijoma Mangold, keine Fachliteratur. Die Aus- Reaktionen der »Leitmedien« auf einen zwei-
Tages würde man ihm auf die Schliche kom- wahl wirkt nicht wie der Handapparat eines ten offenen Brief, der unter der Überschrift
men? »Ich sage ja dauernd, dass ich ein Hoch- Soziologen. Es ist, was man Stück für Stück »Waffenstillstand jetzt!« im Juni 2022 in der
stapler bin.« Im Gegenzug halte er gerade im Fluggepäck so anschleppen kann über die »Zeit« erschien. Precht und er »haben tele-
»die Durchblicker, die Fachausdrucksbeherr- Jahre. foniert und waren uns einig«, erinnert sich
scher, die Fachausdruckerfinder« für ausge- Von Richard David Precht kann Welzer Welzer: »Da muss man was machen, das kann
bildete Blender: »Das Hochstapeln ist es, was eine beachtliche Reihe Werke aufzählen, die doch nicht sein!«
du in den Geisteswissenschaften lernst.« er alle nicht gelesen habe. Er mag ihn aber Dabei war die Aufmerksamkeit, die dem
Gefährlich und deshalb interessant für den und bedauert, dass er vom Feuilleton unter- Buch in der Öffentlichkeit zuteilwurde,
Betrieb seien deshalb gerade Leute, die keine schätzt werde. Überhaupt scheint er gezielt bereits ein Dementi seiner Thesen von
Hochstapler sind. Intellektuelle, die sich »den solche Figuren ins Herz geschlossen zu haben, einer Verengung des »Meinungskorridors«.
Luxus der Abwägung auch in Situationen ge- über die in gewissen Kreisen nur mit den Au- Medienjournalist Stefan Niggemeier er-
statten, für die es kein Skript gibt«. Leute, die gen gerollt wird. Eckart von Hirschhausen, kannte »valide, wichtige Punkte« – bedau-
aus der Reihe tanzen. weil der aus Gründen der Nachhaltigkeit nicht erte aber, das Buch sei zu »schlampig« ge-
Sein Arbeitszimmer auf der Insel ist ein mehr auf Tournee gehen will: »Glaubt ihm schrieben, um als Grundlage für eine durch-
überraschend kahler Raum in einem seltsam auch wieder keiner, ist aber so!« Den Philo- aus nötige Diskussion über Journalismus zu
leeren Gebäude aus den Siebzigerjahren, sophen Peter Sloterdijk, weil der als Stilist taugen.
eigentlich zu groß für nur einen Bewohner. »unglaubliche Sprachbilder« finde. Und er Welzer hält an seinen Einwänden fest.
Es wirkt, als stünde das handschriftliche mag die konservative Publizistin Diana Konkrete Kritik an »Die vierte Gewalt« tut

104 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


KU LT U R

gegen den Krieg bin. Vorher zählte


ich zu den Guten, aber jetzt ist alles
dahin.«
Es klingt aber so, als könnte er das
gut aushalten, und Gedanken macht
er sich ja trotzdem, wie immer direkt
beim Sprechen. Mit 18 Jahren hätte
er sich vermutlich auch noch auf der
Straße festgeklebt, sagt er. Aber heu-
te? Apokalyptischen Aktivismus fin-
det er »fürchterlich, aber wichtig«.
Gerade denke er intensiv darüber
nach, wie man da eine vermittelnde
Rolle hinbekommen, die Verzweif-
lung »repolitisieren« könne. Ohne
Verbündete in der Mitte, unter den
»guten Leuten«, würde dieser Protest
ins Leere laufen. Unterdessen läuft
auch er ins Leere, Welzer hat sich ver-
irrt: »Das ist ein Privatweg, da geht’s
nicht weiter.«
Am Ausgang der Schlucht, zum
Meer hin, hängen winzige Ferienhäu-
ser am Fels, ein Falke sichelt durchs
Bild. Die Sonne scheint, ein feiner
Regen fällt. Welzer stoppt, hält inne,

Ruben Plasencia / DER SPIEGEL (3)


schaut und sagt, ganz unvermittelt
berührt: »Wie schön das ist!« Und
dann, komplett ohne Ironie: »Und
genau jetzt sterben in diesem Krieg
wieder drei Menschen. Das sollte
nicht sein. Aber der heuristische
Punkt ist doch: Man darf sich nicht
vereinnahmen lassen!«
er mit einem Schulterzucken ab: »Wer rutscht ist. Der Redakteur scheint Wanderer Frank, Wenn aber, wie jetzt für die Ukrai-
schreibt, macht Fehler, das ist ganz nicht begeistert, aber Welzer wird Welzer: Nicht ne, keine Zeit mehr bleibt für Abwä-
unbedingt herzlich,
normal.« Normal sei es auch, Gegen- schon etwas einfallen. Erst mal will aber ehrlich gungen aus dem Professorenzimmer?
wind auszuhalten. Ihm sei es ums er wandern gehen. Hier auf der Insel Wenn wirklich »ins Handeln« gekom-
Prinzip gegangen, er redet von einer verwischen sich die Grenzen zwi- men werden muss, weil es sonst zu
wohlwollenden Intervention. Be- schen Freizeit und Arbeit. Wenn Wel- spät sein könnte? Was hilft es, wenn
stätigt sieht er sich durch den Erfolg zer gerade nicht nachdenkt, fährt er ein Harald Welzer sich nicht verein-
des Buches. mit dem Rad zum Meer und geht nahmen lassen will? Und warum lä-
Wie bestellt erreicht ihn in dieser schwimmen. Oder eben auf eine chelt er nun schon wieder?
Sekunde wieder eine begeisterte Zu- Wanderung. Wir müssen den Miet- »Weil ich mich auch kaputtlachen
schrift. Kurz freut er sich vor dem wagen des Fotografen nehmen, weil könnte! Schon mal was von Arbeits-
Laptop über den schönen Zufall, doch Welzers prähistorischer Renault 4 teilung gehört? Es ist nicht meine Rol-
beim Überfliegen der Mail trübt sich zu schwach ist, mit drei Personen le, Entscheidungen zu treffen. Meine
seine Stimmung rasch ein. Der Ab- nebst Ausrüstung die Steigungen zu Rolle ist es zu beraten – und zwar
sender wünscht sich eine öffentliche bewältigen. ohne Mandat. Meinen Rat will ja nie-
Runde aus Welzer, der Publizistin Vor knapp drei Jahren erlitt Wel- mand. Trotzdem ist das doch die Rol-
Gabriele Krone-Schmalz und Wolf- zer einen Herzinfarkt. Er rutschte le, die unsereins in der Zivilgesell-
gang Grupp von Trigema, dem Textil- damals knapp am Tod vorbei, trat schaft haben sollte«, sagt er.
unternehmen mit dem Schimpansen danach aber nicht kürzer. Sondern Dann erspäht er einen weiteren
als Werbefigur. Offenbar hegt er Hoff- verfasste unter dem Eindruck der Wanderer, den er instinktiv sofort als
nung, eine Runde verlässlicher Putin- eigenen Endlichkeit einen »Nachruf Deutschen erkennt: »Den fragen wir
Freunde versammeln zu können. auf mich selbst«, ein Buch, in dem er jetzt nach dem Weg!«
Welzer kann der Idee nichts abgewin- über das Aufhören als Schlüssel zu Ein weiterer schöner Zufall wäre
nen: »Nur wenn der Affe auch dabei einer Zivilisation nachdenkt, die es, wenn der Fremde nun Welzer
ist.« Es gibt Menschen im weiten auch im 21. Jahrhundert überlebens- erkennen und ihm für seine Mei-
Kreis seiner Leserschaft, die hält er fähig ist. Jetzt wandert er los wie je- nungen danken würde. Der Mann
lieber höflich auf Abstand. mand, der sich nicht schonen muss. ist aber noch ganz begeistert von
Sein altmodisches Mobiltelefon Wenn er eine Pause macht, dann nur, einem Phänomen, das er eben erle-
klingelt, der Herr Meinhold von Ra- um auf die Schönheit der Natur hin- ben durfte: »Ihr habt gerade ganz
dio 1 ist dran. Es geht um die Kolum- zuweisen. Warum ist er, die Kassan- »Ich sage ja knapp einen dreifachen Regenbogen
ne, die Welzer bisweilen für den Sen- dra der Klimakrise, eigentlich nicht dauernd, dass verpasst!«
der einspricht. Er schlägt als Thema in Lützerath gewesen? »Weil ich hier Welzer winkt ab: »Kennste einen,
die Nachricht vor, dass Deutschland bin«, sagt er. »Bei den Kids bin ich ich ein Hoch- kennste alle«, sagt er ernst. Der Wan-
in einem Wirtschaftsranking abge- sowieso schlecht angesehen, weil ich stapler bin.« derer lacht. n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 105


KU LT U R

und Adam, der Sohn aus bestem kon-


servativem Hause.
Jetzt hätte Raphaela Edelbauer
es auch dabei belassen können, und
ihr Buch wäre schlicht ein guter Ro-

Mist oder Musil man geworden. Eine Mischung aus


»Babylon Berlin« und »Oh Boy«,
Coming of Age im Fin-de-Siècle-
Sündenpfuhl. Nur wäre das Edel-
LITERATUR Der Erste Weltkrieg steht vor der Tür, und drei Teenager stromern bauer wohl zu einfach.
Sie ist Österreicherin, aber das
durch Wiens Nachtleben. Huren, Drogen und Sigmund Freud inklusive. dürfte nicht der einzige Grund sein,
Raphaela Edelbauers Roman »Die Inkommensurablen« finden manche genial, warum Wien der Schauplatz dieser
andere misslungen. Woran liegt das? Geschichte sein musste. Wien war
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahr-
hunderts die europäische Stadt
ommt ein Junge vom Land deren voraus zu sein. Also auf nach schlechthin. Zentrum des K.-u.-k.-
K nach Wien und sucht eine
Psychoanalytikerin. So könnte
man den Roman »Die Inkommen-
Wien.
Auf der Suche nach seiner Ana-
lytikerin trifft Hans zwei Gestalten,
Reichs, die »Wiener Moderne« wurde
die Epoche später genannt. Es
herrschte Skepsis gegenüber den
surablen« von Raphaela Edelbauer Klara und Adam. Eins führt zum an- Naturwissenschaften, man war vom
in einem Satz beschreiben. Es klingt deren, und die beiden katapultieren Materialismus enttäuscht worden.
wie der Anfang eines Witzes, und das ihn mit sich ins tosende Chaos des Das Innere war plötzlich spannend.
Buch ist auch witzig. Ein Witz ist es kriegseuphorisierten Wien: Huren, Der Erkenntnistheoretiker Ernst
allerdings nicht, auch wenn es auf Drogen, Soldaten, lesbische Tänze Mach, der in Edelbauers Roman
Pointe geschrieben ist. Es ist der und Schönbergs musikalische Ex- mehrfach erwähnt wird, erklärte das
Autorin sogar sehr Ernst. perimente. Immer mal wieder gibt Ich für »unrettbar«, weil es keine
Das merkt man am Gestus, am es eine blutige Schlägerei, es wird souveräne Instanz darstellte. Es galt
großen Aufschlag, der gemacht wird. diskutiert über den Krieg und den nicht mehr: Hier bin ich, und dort ist
Hier will eine Autorin zeigen, was Sinn des Lebens. Mittendrin drei die Welt, und ich nehme die Welt
sie kann. Das Buch ist, wie der Titel Autorin Edelbauer:
selbstbesoffene Teenager: Hans, der wahr. Sondern: Dort ist die Welt, und
erahnen lässt, zugleich nicht über- Sehnsucht nach dem, Knecht, Klara, die mathematisch Be- die ist so komplex, dass ich völlig
mäßig zugänglich. Diese Mischung was sich nie abnützt gabte aus dem Lumpenproletariat, überfordert bin und nur noch wahr-
aus zur Schau gestellter Breitbeinig- nehmen kann, ohne zu verarbeiten.
keit und offensichtlichem Anspruch Die Welt zerfällt in tausend Teile.
stößt, das kann man jetzt schon an den Und das Ich auch. Oder, wie es schon
ersten Reaktionen im Feuilleton se- Robert Musils Hauptperson in »Mann
hen, auf Begeisterung oder totale Ab- ohne Eigenschaften« beschrieb:
lehnung. Dort ist entweder davon die »Könnte man die Sprünge der Auf-
Rede, »Die Inkommensurablen« sei merksamkeit messen, die Leistungen
»sprachlich übersteuert und inhaltlich der Augenmuskeln, die Pendelbe-
überfrachtet«. Oder es wird wie in der wegungen der Seele und alle die
»Süddeutschen Zeitung« festgestellt, Anstrengungen, die ein Mensch voll-
die Autorin bewege sich in »derselben bringen muß, um sich im Fluß einer
essayistischen Sphäre, auf die schon Straße aufrecht zu halten, es käme
das Erzählen Robert Musils hinsteuer- vermutlich – so hatte er gedacht und
te«. So ist das mit der deutschsprachi- spielend das Unmögliche zu berech-
gen Literatur. Mist oder Musil. nen versucht – eine Größe heraus,
»Die Inkommensurablen« erzählt mit der verglichen die Kraft, die Atlas
die Geschichte von Hans. Die Grund- braucht, um die Welt zu stemmen,
idee ist simpel, aus ihr ergibt sich alles gering ist, und man könnte ermessen,
Weitere fließend. Hans, 17, Bauern- welche ungeheure Leistung heute
knecht, der noch bis gerade eben sei- schon ein Mensch vollbringt, der gar
nen Körper als Landarbeiter aufrieb, nichts tut.«
fährt im Nachtzug nach Wien. Es ist Musils Roman beginnt an einem
der 30. Juli 1914. Bald ist Krieg. Man Augusttag 1913, und dass dieser Text
ahnt es schon. die Hintergrundfolie ist, vor der Edel-
Hans ist auf der Suche nach einer bauer ihre Geschichte erzählt, ist
Psychotherapeutin, von der er in offensichtlich. Denn was der film-
einer Zeitungsannonce gelesen hat. reifen Handlung, die das Buch auch
Er verspürt den Drang, seine Seele zu einem Pageturner hätte machen
einmal gründlich durchleuchten zu können, im Weg zu stehen scheint, ist
lassen, weil irgendetwas nicht in die Sprache Edelbauers. Gespreizt,
Apollonia Theresa Bitzan

Ordnung ist mit ihm. Er träumt merk- gestelzt, gelegentlich überwältigend


würdig. Er hat das Gefühl, den an- sprechen Edelbauers Figuren und
auch die Erzählerin. Natürlich hat
Raphaela Edelbauer: »Die Inkommensurablen«. niemand so geredet, schon gar kein
Klett-Cotta; 352 Seiten; 25 Euro. Knecht. Es ist eine Kunstsprache, die

106 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


KU LT U R

Edelbauer einzieht wie eine Ebene zwischen


dem, was passiert, und dem, wie es wahrge-
nommen wird. Es ist ihr Mittel, um zu zeigen:
Dort ist die Welt, und hier sind wir, und da-
zwischen, bevor die Welt uns erreicht, passiert BELLETRISTIK SACHBUCH
ganz schön viel. Vielleicht sogar alles.
Beispiel: In einer Rückschau wird eine Epi- Eine Liebesgeschichte
Die besten Geschichten
sode aus Adams Kindheit erzählt. Er will sich des Comedians
zwischen einer über
mit der Mütze aus den
einmal gegen den autoritären Vater durch- 50-jährigen Frau und
vergangenen drei
einem jungen Mann.
setzen, rennt aus Trotz in den Park und nistet Wie fühlt sich das
Jahren: ein Sammel-
sich dort in einer Baumkrone ein. Passanten surium an kurzweiligen,
an, wo führt es hin?
humoristischen
kommen, die Feuerwehr wird gerufen, bis es Die Antworten sind
Texten über dies, das
ebenso anrührend
dem Vater so unendlich peinlich ist, dass er wie brutal. | Platz 7
und was sonst
dem Sohn seinen Willen lässt. Und da heißt noch so war. | Platz 8
es: »Gegen vier Uhr hatte die Novität der
Situation sich abgenützt.« 1 (8) Ewald Arenz 1 (1) Prinz Harry
Die Liebe an miesen Tagen Dumont; 24 Euro Reserve Penguin; 26 Euro
Das kann man lächerlich finden. So wie
der Kritiker im SWR: »Manche Formulierun- 2 (–) Simon Urban / Juli Zeh 2 (2) Brianna Wiest 101 Essays, die dein Leben
gen sind nun so offensichtlich gekünstelt, dass Zwischen Welten Luchterhand; 24 Euro verändern werden Piper; 22 Euro
es nicht komisch, sondern peinlich wird.« Na-
türlich, es hätte auch heißen können: Irgend- 3 (2) Bonnie Garmus 3 (5) Gerhard Wisnewski verheimlicht –
wann wurde den Leuten langweilig, und sie Eine Frage der Chemie Piper; 22 Euro vertuscht – vergessen 2023 Kopp; 16,99 Euro

fanden den Jungen in der Baumkrone nicht 4 (1) Dörte Hansen 4 (3) Michelle Obama
mehr spannend. Es ist aber nicht dasselbe. Zur See Penguin; 24 Euro Das Licht in uns Goldmann; 28 Euro
Warum die Autorin diesen Stil gewählt hat?
Das Distinktionsbedürfnis ihrer Figuren, die 5 (3) Sebastian Fitzek 5 (6) Elke Heidenreich
sich zu einer höheren Schicht hochsprechen Mimik Droemer; 24 Euro Ihr glücklichen Augen Hanser; 26 Euro

wollen, ist das eine. Die Präzision ist das 6 Ulrike Herrmann Das Ende
andere. Das Neue nützt sich ab, die Wiener 6 (4) Mariana Leky (8)
Kummer aller Art Dumont; 22 Euro des Kapitalismus Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
Moderne ist morgen Schmäh von gestern, wo
am 30. Juli noch Frieden war, ist wenig später 7 (–) Annie Ernaux 7 (4) Stefanie Stahl
schon Krieg. Der junge Mann Suhrkamp; 15 Euro Wer wir sind Kailash; 22 Euro
Und die Sehnsucht nach dem, was sich
eben nie abnützt, nach etwas, das dem Zeit- 8 (20) Sabine Thiesler 8 (11) Torsten Sträter Du kannst alles lassen,
Verschwunden du musst es nur wollen Ullstein; 19,99 Euro
geist standhalten kann, treibt die Menschen Heyne; 22 Euro

in diesem Roman voran. Nach dem Augen- 9 (9) Kurt Krömer Du darfst nicht alles glauben,
9 (5) Colleen Hoover It starts with us –
blick, der verweilt. Nach dem Sinn, der bleibt, Nur noch einmal und für immer dtv; 20 Euro
was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
wenn alles schon vorbei ist. Oder einfach nur
nach dem Ereignis. Und Krieg ist eben auch 10 (7) Arno Geiger 10 (10) Richard David Precht / Harald Welzer
ein Ereignis. Das alles schwingt mit in diesem Das glückliche Geheimnis Hanser; 25 Euro
Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung
gemacht wird, auch wenn sie keine ist
Satz. Es ist deshalb ein großer Satz, es ist S. Fischer; 22 Euro
eine große Kunst, ihn zu schreiben, und das 11 (6) Ferdinand von Schirach
peinlich zu finden, ist, als würde man sich in Nachmittage Luchterhand; 22 Euro
11 (13) Andrea Wulf
einen Ferrari setzen und sich dann darüber 12 (10) Charlotte Link Fabelhafte Rebellen C. Bertelsmann; 30 Euro
beschweren, dass er zu schnell ist. Einsame Nacht Blanvalet; 25 Euro
Sigmund Freud, der in diesem Psycho- 12 (14) Hamed Abdel-Samad
Islam dtv; 24 Euro
analyse-Wien-Roman natürlich herumgeis- 13 (9) Tommy Jaud Komm zu nix – Nix erledigt
tert, hatte dem Menschen die finale Kränkung und trotzdem fertig Fischer Scherz; 15 Euro
13 (7) Petra Bracht / Claus Leitzmann
hinzugefügt. Nachdem der Homo sapiens Klartext Abnehmen Mosaik; 24 Euro
14 (–) Bret Easton Ellis
schon herausfinden musste, dass die Erde The Shards Kiepenheuer & Witsch; 28 Euro
nicht Mittelpunkt des Universums ist (Koper- 14 (19) Orlando Figes
nikus) und er selbst auch nicht Höhepunkt Eine Geschichte Russlands Klett-Cotta; 28 Euro
15 (12) Jonas Jonasson
der göttlichen Schöpfung, sondern Produkt Drei fast geniale Freunde auf dem Weg zum 15 (16) Biyon Kattilathu Spaziergang
der Evolution (Darwin), behauptete Freud: Ende der Welt C. Bertelsmann; 24 Euro zu dir selbst Gräfe und Unzer; 19,99 Euro
Wir sind nicht einmal Herr unserer Selbst.
Der Verstand hat nicht alles im Griff, vielmehr 16 (16) Susanne Abel 16 (15) Volker Ullrich
ist es das Unbewusste, das Libidinöse, das uns
Stay away from Gretchen dtv; 20 Euro Deutschland 1923 C. H. Beck; 28 Euro

treibt. Der Mensch im Wien der Jahrhundert- 17 (13) Mona Kasten 17 (18) Max Frisch / Ingeborg Bachmann »Wir
wende, das war: ein beleidigtes, triebgesteu- Lonely Heart Lyx; 18 Euro haben es nicht gut gemacht.« Suhrkamp; 40 Euro
ertes Tier.
Raphaela Edelbauer schaut sich dieses 18 (15) Camilla Läckberg 18 (–) Rachel Hanan / Thilo Komma-Pöllath »Ich
Tier genau an, folgt ihm durch die Nacht, gibt Kuckuckskinder List; 22,99 Euro habe Wut und Hass besiegt« Heyne; 20 Euro
ihm etwas zu fressen und freut sich, wenn es
19 (14) Mona Kasten 19 (–) Peter Hahne
doch noch auf die Couch der Analytikerin Fragile Heart Lyx; 18 Euro Das Maß ist voll Quadriga; 12 Euro
findet. Dort wartet aber natürlich nur die
große Enttäuschung. Denn der Mensch bleibt 20 (11) Jo Nesbø 20 (–) Michel Friedman
am Ende auch sich selbst ein rätselhaftes Tier. Blutmond Ullstein; 25,99 Euro Fremd Berlin Verlag; 20 Euro
Xaver von Cranach n Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 107


KU LT U R

Rapper
Lauterbach,
Vandreier,
Warns

Johannes Arlt / DER SPIEGEL


»Macht mit unserer Musik,
was ihr wollt!«
SPIEGEL-GESPRÄCH Die Hamburger Hip-Hop-Gruppe Fettes Brot, die den deutschen Rap geprägt hat,
wird sich auflösen. Hier sprechen die Bandmitglieder übers Abschiednehmen,
über Songs, die man besser nicht mehr singt, Humor im Rap und die Arbeit mit James Last.

Fettes Brot empfangen zu Franzbrötchen. Hinterhof an der Grenze zu St. Pauli, die Rote Hits von Fettes Brot wuchs seitdem: Der lokal-
Boris Lauterbach, 48, Martin Vandreier, 48, Flora, die alte deutsche Punk-Zentrale, ist nicht kolorierte, teils auf Platt vorgetragene Old-
und Björn Warns, 49, – besser bekannt unter weit. Zwischen Punk und Rap lagen vor über School-Rap »Nordisch by Nature«. Die WG-
ihren Künstlernamen König Boris, Dokter 30 Jahren auch die Anfänge von Fettes Brot, Party-Hymne aller Unschlüssigen »Jein«. Der
Renz und Björn Beton – sitzen in ihrem Ham- damals allerdings noch im holsteinischen Um- Stadion-Mitgröler »Emanuela«. Im August
burger Studio, an der Wand hängt ein Tour- land, Kreis Pinneberg, und nicht in Hamburg, hat die Band angekündigt, dass sie sich auf-
plakat, auf dem sie noch in ihren Zwanzigern der Stadt, mit der ihr Sound seit Mitte der löst – die Story der Gruppe sei »irgendwie
sind. Das Studio der Rapper liegt in einem Neunzigerjahre verknüpft ist. Die Liste der auserzählt«, hieß es in einem Statement.

108 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


KU LT U R

SPIEGEL: Herr Lauterbach, Herr Van- in Schenefeld zu spielen. Und deine »Jedem Ende SPIEGEL: Wenn man Ihnen zuhört,
dreier, Herr Warns, was halten Sie Schwester steht in der ersten Reihe überrascht, wie sehr Sie mit dem Er-
von Capital Bra? und kann alle Texte. Feddich. wohnt ein folg gehadert haben.
Lauterbach: Wir haben es über die SPIEGEL: Die Hip-Hop-Szene damals Zauber inne.« Warns: Ey! Bis heute. Wir haben Jahr
Jahre tunlichst vermieden, über an- war klein. Martin Vandreier für Jahr einen Riesenkoffer Geld ste-
dere Personen zu sprechen. Vandreier: Björn hatte Briefkontakt hen lassen, weil wir gesagt haben:
SPIEGEL: Sie haben dazu beigetragen, zu jedem Hip-Hopper Deutschlands. Nee, das wollen wir nicht machen.
dass Hip-Hop heute die erfolgreichs- Warns: Wer damals Fanzines gelesen Vandreier: Ich wäre mittlerweile be-
te deutsche Popkultur ist. Fühlen Sie hat, der kannte eben jeden. reit, ihn zu nehmen.
eine Verbindung zu jemandem wie SPIEGEL: »Nordisch by Nature« war Warns: Meinen kriegst du nicht.
Capital Bra, einem der größten deut- dann Ihr erster Hit. SPIEGEL: Capital Bra hat den Bra-Tee.
schen Rapper unserer Tage? Warns: Das war 1995. Wir waren auf Sie hätten »Fettes Brot« auf den
Vandreier: Es war immer unser unserer ersten professionell organi- Markt bringen können.
Wunsch, Hip-Hop möge sich diverser sierten Tournee, und parallel lief Lauterbach: Die Idee gab’s natürlich
zeigen. So gesehen: Ja, es begeistert »Nordisch by Nature« bei Viva und tausendfach. Und was meinen Sie,
uns, wenn Leute etwas ganz anderes bei MTV Deutschland rauf und runter. wie viele Fotografen uns in Bäckerei-
in Hip-Hop entdecken als wir. Parallel zur Tour hat sich sozusagen en fotografieren wollten?
SPIEGEL: Was haben Sie darin ent- das Publikum für deutschen Hip-Hop SPIEGEL: Ihr nächster Hit war dann
deckt? Damals, Anfang der Neunzi- verändert. 1996 »Jein«, in dem Sie die Unent-
ger am Stadtrand von Hamburg? SPIEGEL: Sie waren dabei, berühmt schiedenheit feiern. Im Nachhinein
Vandreier: Zuerst mal war Hip-Hop – zu werden. Führte das zu Spannun- klingt es wie die Hymne einer un-
ganz banal – beeindruckende Musik. gen innerhalb der deutschen Rap- schuldigeren Zeit, nach dem Party-
Und nichts, wofür man eine Klavier- Szene? soundtrack der Generation Maybe.
ausbildung brauchte. Nimm dir ein Vandreier: Erst mal hatten wir ein sehr Vandreier: Ich würde mir für jede
Mikrofon. Schreib ein paar Sachen gutes Gefühl dabei. Wir hatten ja alle neue Generation wünschen, dass sie
auf, die dir durch den Kopf gehen, unsere Freunde im Gepäck auf die- auch in diese Phase kommt, wo sie
finde ein paar funky Reime, über die sem Song. Davon handelte das Stück, das Gefühl hat: Ja, irgendwann muss
deine Freunde lachen müssen – und dass alle Rapper aus dem Norden zu- ich mich entscheiden, das schwant
schon kannst du dazu beitragen. Uns sammen feiern. Wir dachten: Wir mir schon – aber eben jetzt noch
ging es mit Hip-Hop so, wie es viel- nehmen die ganze Szene mit. Wir nicht.
leicht ein paar Jahre vorher für Gitar- sellen nicht out. Alles wächst, vom Lauterbach: Der Druck war für uns
risten mit Punk war. Die merkten ja Booker bis zum Management. Alle nicht so groß wie für junge Menschen
auch: Drei Akkorde reichen erst mal, haben was vom Erfolg. heute. Damals war die Idee eher: Das
wenn man mitmachen möchte. SPIEGEL: Aber? wird schon irgendwie. Allein die Tat-
SPIEGEL: Vor der Gründung von Fet- Vandreier: Trotzdem fanden Leute sache, dass unsere Eltern uns haben
tes Brot haben Sie auf Englisch ge- das scheiße. machen lassen und sagten: Das pro-
rappt. Warum? Warns: Vor allem die, die wir so schön bieren die jetzt ein paar Jahre lang,
Vandreier: Wir haben der deutschen mitnehmen wollten. und wenn das nichts wird mit der
Sprache nicht über den Weg getraut. Vandreier: Es kam uns irgendwann Musik, können sie immer noch was
Lauterbach: Obwohl ich auch immer selbst vor wie Ausverkauf. Also ha- Anständiges lernen. Das war ein gro-
Musik auf Deutsch gehört habe. ben wir die Single vom Markt genom- ßes Glück.
Bands wie Die Ärzte oder Ton Steine men. Später kam der Sänger Peter Vandreier: So schön das ist, dass die
Scherben. Auch Grönemeyer. Das Schilling bei irgendeiner Echo-Ver- jungen Leute heute mehr auf ihre Ge-
waren alles Sachen, die ich wahrge- leihung zu uns und sagte: Seid ihr sundheit achten, die Gründe dafür
nommen habe, die aber manchmal eigentlich bescheuert? Aber für uns sind eigentlich eher erschreckend. Sie
eben ein Coolness-Problem hatten. war es so richtig – das ist unsere Kul- haben das Gefühl, sie müssen für den
Warns: Aber dass unsere Lebensrea- tur, das darf nicht zerfleddern. Wir Arbeitsmarkt so performen, dass sie
litäten und die unserer amerikani- sind das Sprachrohr einer Szene. Musikvideo-Dreh
auf jeden Fall gesund und ...
schen Vorbilder sehr unterschiedlich Warns: Ganz schön viele ernste Ge- zum Fettes-Brot-Hit Lauterbach: … leistungsfähig …
waren, das hat sich auch mit 15 schon danken für so eine lustige Band! »Jein« 1996 Vandreier: … und fit sein müssen.
erschlossen. Wir haben Hip-Hop als Schrecklich.
Aufruf zur Kreativität verstanden. Lauterbach: Die Angst, unter die Rä-
SPIEGEL: Im Hip-Hop musste damals der zu kommen, ist bei vielen heute
alles »real« sein. Wie konnte das ge- sehr, sehr viel präsenter als damals.
hen, als Vorstadtkind? SPIEGEL: Wenn man Ihre alten Stücke
Warns: Na ja, wir mussten halt unse- hört, fallen der Humor und die Leich-
re eigene Realness da reinbringen. Da tigkeit auch deshalb auf, weil Hip-
konnten wir natürlich nicht von unse- Hop heute vor allem von tragischen
rer krassen Hood erzählen, wenn wir Geschichten lebt. Die erfolgreichsten
neben der Baumschule aufgewachsen Rapper erzählen meistens davon,
sind. dass es auf dem Weg zum Ruhm ein-
Lauterbach: Humor war die große Tür, sam wird, dass sie kämpfen müssen.
die wir genommen haben. Lauterbach: Der einsame Wolf. Das
Warns: Damals wusste ja eh niemand, ist ja auch eine Qualität von Hip-Hop,
Jens Herrndor ff / FBS

worauf das alles hinausläuft. Das dass auch diese persönlich-tragischen


Größte, was wir uns am Anfang vor- Biografien Platz darin finden können.
stellen konnten, war es, ein Bandshirt Die Amerikaner hatten das schon im-
zu machen. Und im Jugendzentrum mer. Es hat halt gedauert, bis das in

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 109


KU LT U R

Deutschland ging. Zu unserer Zeit war so et- »Uns gibt es zwar nur halb Warns: Das finde ich auch. Man ekelt sich ein
was gar keine Option. Die traurigen Geschich- wenig vor sich selbst.
ten, die in meinem Leben passieren, in Texten so lang wie die Stones, SPIEGEL: Kann man davon ausgehen, dass die
zu verarbeiten – die Möglichkeit war mir gar aber dafür dreimal so lang Hörer den Kontext kennen?
nicht bewusst. Lauterbach: Das Problem hast du als Musiker
SPIEGEL: Sie sind manchmal als Gymnasias- wie die Beatles.« immer. Sobald du einen Song rausbringst, ge-
ten-Hip-Hopper verspottet worden. Björn Warns hört er dir nicht mehr.
Lauterbach: Ich bin in einer Dreizimmerwoh- Vandreier: Es gab besoffene Festivalbesucher,
nung aufgewachsen, 65 Quadratmeter, mit die laut gerufen haben: »Bettina, pack deine
vier Leuten. Meine Eltern sind immer am Brüste aus!«
Bankrott langgeschlittert. Das war ziemlich SPIEGEL: Wie sind Sie damit umgegangen?
weit weg von der Reihenhaus-Mittelschichts- Lauterbach: Wir haben das wegignoriert. Da
idee, die manchmal auf uns projiziert wird. Vandreier: Sie meinen, dass unser komplet- kann man sich nicht dran aufreiben.
Aber das stand nicht an, das in unseren Songs tes Werk ein Dad-Joke geworden ist? Das Vandreier: Wenn man Musik veröffentlicht,
zu thematisieren. Armut ist ja auch etwas ist die Angst! Sagen wir mal so: Wenn es gibt man sie frei. Macht damit, was ihr wollt.
Superunangenehmes, das man so nicht mit irgendwann so wäre, möchte ich meinen Warns: Ich finde das im Großen und Ganzen
vielen Leuten besprechen möchte. Man freut Frieden damit machen. Es wäre absurd, in Ordnung. Ich habe mich immer gefreut bei
sich eher, wenn das nicht auffällt. Das ist alles wenn Sachen, die man damals witzig fand, der Vorstellung, dass auf Skihütten sehr be-
mehrschichtiger, als es sich manchmal für den heute noch genau so einen Effekt auf die trunkene Menschen »Schwule Mädchen«
Betrachter von außen anfühlt. Menschen hätten wie damals. Humor ist grölen. Eine Kindergärtnerin hat uns mal er-
SPIEGEL: Wie fanden Sie es, als sich die immer auch ein Kontrastmittel aktueller zählt, eine Mutter sei zu ihr gekommen und
migrantischen Kids in den Nullerjahren im Lebensumstände. habe sie gebeten, sie solle jetzt mal bitte da-
Hip-Hop durchboxten? SPIEGEL: Im vergangenen Sommer war es eine rauf achten, dass die Kinder nicht immer
Warns: Die waren doch schon immer da. Seit Nachricht, dass Die Ärzte »Elke« nicht mehr »Schwule Mädchen« singen. Da habe ich ge-
den ersten Tagen. spielen wollen, einen Song, der sich über ein dacht: hervorragend. Mission geglückt.
SPIEGEL: Aber sie waren lange weniger sicht- dickes Mädchen lustig macht. Lauterbach: Songs können trojanische Pferde
bar. Künstler wie Sie waren kommerziell er- Vandreier: Grundsätzlich ist es erst mal be- sein.
folgreicher. grüßenswert, dass Sprache sensibler wird SPIEGEL: Wie sind Sie Ende der Neunziger
Vandreier: Wir haben uns gefreut, als sich das oder dass man mehr guckt, was bestimmte auf die Idee gekommen, als Rapper Musik
geändert hat. Weil viele aus der Zeit unserer Wörter für verschiedene Gruppen bedeuten. zusammen mit der Easy-Listening-Ikone
Anfänge auch einen migrantischen Hinter- Ich empfand »Elke« in der achten Klasse James Last zu machen?
grund hatten. Und das fühlt sich gut an, wenn wirklich als das beste Lied der Welt. Aber Warns: Wir hatten den Song »Viele Wege füh-
man auf Augenhöhe miteinander die Charts heute ist es mir unangenehm. ren nach Rom« gemacht – und größenwahn-
regulieren kann. Aber die Themen haben sich SPIEGEL: Sie haben das Stück »Bettina, zieh sinnig, wie wir waren, wollten wir, dass an-
natürlich damit auch geändert. Wie Sie selbst dir bitte etwas an«. Im Refrain heißt es »Pack dere Leute ihn remixen. Dann haben wir halt
sagen: Im Moment ist gerade die tragische deine Brüste ein«. Man könnte auf die Idee unter anderem Herrn Last, also Hansi, an-
Geschichte angesagt. kommen, dass Sie Slut-Shaming betreiben. gefragt.
Lauterbach: Irgendwann haben die Leute auch Lauterbach: Das Lied handelt von einer Oben- SPIEGEL: Hip-Hop in New York ist aus alten
davon die Schnauze wieder voll und wollen ohne-Moderatorin aus dem Fernsehen. Das Funk- und Soul-Singles entstanden. Die findet
es genau anders machen. Thema des Songs ist ja die Hypersexualisie- man auf deutschen Flohmärkten eher selten.
SPIEGEL: Selbst wenn das Komische vielleicht rung der Gesellschaft. Insofern sehe ich den James-Last-Platten dagegen immer: War das
in anderen Spielarten wiederkommt – ist die Fall anders. Und wir schonen uns in dem Song einer der Gründe, ihn anzusprechen? Ähnlich
Zeit vielleicht über Ihren Humor hinweg- ja selbst nicht, wir sind ja die mit sich hadern- wie die Entscheidung, auf Deutsch zu rappen?
gegangen? den Fernsehzuschauer. Warns: Sie meinen eine Standortbestimmung?
Lauterbach: Wir haben das nicht so theore-
tisch bearbeitet. Wir haben einfach mit dem
gearbeitet, was vor unserer Haustür stattge-
funden hat.
Warns: Und Last wollte ja auch zunächst gar
nicht. Aber, hieß es dann vom Management,
er habe bald Geburtstag, es solle dazu eine
Compilation geben von Songs, die aus der
Zusammenarbeit mit anderen entstanden
sind – ob wir nicht daran Interesse hätten.
Warns: Er wurde 70. Und dann haben wir uns
in Hamburg in einer Bar getroffen. Wir wollten
den Typen kennenlernen und gucken, wie der
so ist. Weil das musikalische Werk ist ja sehr …
Vandreier: … vielschichtig.
Lauterbach: Es gibt sehr coole Sachen von
James Last. Aber natürlich auch sehr viel
Johannes Arlt / DER SPIEGEL

schlagereskes Zeug, womit wir nicht so viel


anfangen konnten.
Warns: Er hat uns dann Whisky unseres Ge-
burtsjahrgangs ausgegeben. Und das war für

* Tobias Rapp (M.) und Jurek Skrobala (r.) in


Lauterbach, Vandreier, Warns (2. v. r.), SPIEGEL-Redakteure*: »Nicht viel Platz für Nostalgie« Hamburg.

110 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


KU LT U R

Schenken Sie Lesefreude


Jetzt Ihren Wunschtitel verschenken und Gutschein sichern.

Belieferung
endet
automatisch
DER SPIEGEL für ½ Jahr
Deutschlands bedeutendstes Nachrichten-
Magazin steht für einen unabhängigen und
investigativen Journalismus.
26 Ausgaben für nur € 5,60 pro Ausgabe.

»Dein SPIEGEL« für 1 Jahr


Das Nachrichten-Magazin für Kinder und
Jugendliche ab 8 Jahren, die unsere Welt
verstehen wollen. So macht Wissen Spaß!
12 Ausgaben für nur € 4,70 pro Ausgabe.

SPIEGEL GESCHICHTE für 1 Jahr


Hier wird die Vergangenheit emotional
und packend erzählt. Jede Ausgabe
widmet sich einem historischen Thema.
6 Ausgaben für nur € 8,50 pro Ausgabe.

Einfach jetzt anfordern:


Ihr Geschenk:
abo.spiegel.de/geschenk ein Amazon-Gutschein
oder telefonisch unter 040 3007-2700 in Höhe von € 20,–.

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 111


KU LT U R

uns so: wow. Der alte Herr mit den Millionen


Goldenen Schallplatten, der in einer Villa in
Florida lebt, trinkt hier gerade mit uns. Na ja,
und dann haben wir ganz fachmännisch an
unserem Whisky gesüppelt.
Lauterbach: Ja, und er war witzig! Er meinte:
Im Winter ist mir das hier zu kalt. Da müsst
ihr schon zu mir nach Florida kommen. Dann
Verloren im Schwarm
sind wir da hin, und er hat uns auf seinem
Golfplatz bekocht und bewirtet. Und daraus KINO Der Belgier Lukas Dhont wird als Filmemacher gefeiert. In seinem
ist der Song »Ruf mich an« entstanden. Das
war herzallerliebst. neuen Jugenddrama »Close« erzählt er von der Zerstörung einer
SPIEGEL: Sie haben nicht nur Musik mit Freundschaft und stellt klassische Vorstellungen von Männlichkeit infrage.
James Last aufgenommen, sondern auch Rio
Reiser gecovert oder bei »Die drei ???« mit-
gemacht. Sind Sie schnell gelangweilt? Sie reudig und zaghaft zugleich bewegen tival von Cannes gleich mehrere Preise. Nun
scheinen jedenfalls oft den Wunsch gehegt
zu haben, alles anders zu machen.
Vandreier: Ich fühle mich sehr erkannt in die-
F sich Léo und Rémi zum ersten Mal über
den Hof der Schule, die sie in Zukunft
besuchen sollen. Die beiden Teenager kennen
hat die Oscar Academy »Close« als einen der
besten fünf ausländischen Filme des Jahres
nominiert, die Verleihung ist im März.
ser Wahrnehmung. sich seit Jahren, sie spielen ständig zusammen, Der Regisseur folgt mit seinen Arbeiten
Lauterbach: Das nächste große Experiment sind in der Gegend immer gemeinsam unter- der Tradition der belgischen Brüder Jean-
ist, die coolste Bandauflösung aller Zeiten wegs. Nichts und niemand, so scheint es, kann Pierre und Luc Dardenne, die sich in ihren
hinzulegen. Auf eine Art und Weise, wie das sie trennen. Doch inmitten der anderen Schü- Filmen auch immer wieder mit Heranwach-
noch keiner gemacht hat. ler und Schülerinnen wirken sie verloren. Die senden beschäftigen und deren Lebensgefühl
Vandreier: Uns schwebt eine New-Orleans- große Gemeinschaft scheint eher bedrohlich einfangen. Mit einer umtriebigen Kamera
Haftigkeit vor – dass man zwar einen trauri- zu sein. sucht Dhont große Nähe zu seinen Figuren
gen Anlass hat, aber trotzdem eine Party fei- In seinem Jugenddrama »Close«, das im und folgt ihnen bei ihrem Bewegungsdrang
ert, an die sich keiner mehr erinnert nach drei vergangenen Jahr beim Festival von Cannes und ihren Interaktionen: Versonnen schaut
Tagen, weil sie so gut war. den Großen Preis der Jury gewann und nun Léo seinem Freund dabei zu, wenn er Oboe
Warns: Wir haben unsere Band oft mit einer in die deutschen Kinos kommt, erzählt der spielt. Rémi wird noch einige Zeit brauchen,
langen Ehe verglichen. belgische Regisseur Lukas Dhont von der bis er es richtig gut kann, aber Léo hat schon
SPIEGEL: Sind die Songs Ihre Kinder? ebenso innigen wie fragilen Beziehung zweier jetzt große Pläne. Er wolle Rémis Manager
Vandreier: Wir sprechen eher unser Publikum 13-Jähriger, von einer Zeit der Unbeschwert- werden, sagt er. Eines Tages würden sie um
so an: Leute, wir müssen euch was sagen, heit, die zu Ende geht. Er zeigt, wie sozialer die Welt reisen und viel Geld verdienen. Al-
Papa und Papa und Papa trennen sich. Da ist Druck eine ganz besondere Freundschaft zer- les scheint den beiden möglich. Aber bald ist
ja diese Sorge drin zu hören, dass das jetzt stören kann. es das nicht mehr.
nicht so leicht wird, wir es aber schon hin- Léo (Eden Dambrine) und Rémi (Gustav Wie ein junger Mensch zwischen der Suche
kriegen. De Waele) wachsen in der belgischen Provinz nach der eigenen Identität und dem Wunsch,
SPIEGEL: Es scheint keinen Rosenkrieg zu auf. Sie sind es gewohnt, miteinander zu ku- einer Gruppe anzugehören, zerrissen werden
geben. scheln und die Nähe des anderen zu genießen. kann, zeigte Dhont bereits in »Girl« (2018).
Vandreier: Nein. Es fühlt sich aufregend Auch ihre Eltern finden das in Ordnung. Doch Der Film dreht sich um die 15-jährige Lara,
an, so eine Trennung bewusst zu machen. die Unbefangenheit, mit der sich die zwei die im Körper eines Jungen zur Welt kam,
Viele Bands zerbröseln ja einfach. Oder ver- auch in der Öffentlichkeit berühren, sorgt in aber eine Frau sein möchte. Eine Hormon-
lieren an Bedeutung. Oder bleiben fürs Geld der Schule schon bald für Fragen: Was hat es therapie hat sie bereits begonnen. Wenn Lara
zusammen. mit euch auf sich, seid ihr eigentlich ein Paar? zur Ballettstunde geht, bindet sie sich vorher
Warns: Man muss es mal so sehen: Uns gibt Was seid ihr überhaupt? den Penis ab. Doch irgendwann kommt der
es zwar nur halb so lang wie die Stones, aber Die Mitschülerinnen und Mitschüler sind Moment, als die anderen Ballettmädchen von
dafür dreimal so lang wie die Beatles. Und anfangs eher neugierig als feindselig. Léo und Lara verlangen, dass sie sich vor ihnen aus-
das ist auch ungefähr so, wie ich uns empfin- Rémi geben ihnen Rätsel auf. Als sie sich er- ziehen soll. Du siehst uns ständig nackt, sagen
de. Dazwischen sind wir. klären sollen, haben die zwei Freunde zum sie, jetzt bist du mal dran. Dhont und sein
SPIEGEL: Sind Sie traurig? ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, anders großartiger Hauptdarsteller Victor Polster
Warns: Ja, natürlich. als die anderen zu sein. Sie ziehen daraus aber machen daraus eine bittere Szene über die
Lauterbach: Wir sind aber gerade noch so unterschiedliche Konsequenzen: Léo fängt Demütigungen, die eine Gruppe dem einzel-
mittendrin, da ist nicht so viel Platz für an, zu seinem Freund auf Distanz zu gehen. nen Menschen zufügen kann.
Nostalgie. Rémi fühlt sich mehr und mehr verlassen. In »Close« schwelgt Dhont zu Anfang in
Warns: Aber noch nie hatte ich so viel Bock, »Unsere Vorstellung von Männlichkeit ist sonnendurchfluteten Szenen. Rémi und Léo
ganz, ganz, ganz alte Lieder zu spielen, wie sehr beschränkt und setzt Jungen enorm unter laufen durch Blumenwiesen, radeln durch die
jetzt. Druck«, sagt Dhont. Das habe er selbst als weite Landschaft, es ist ein fröhliches Ab-
SPIEGEL: Ist das Aufhören die letzte Art und junger Mensch erlebt. »Es ist einschneidend, schiedsfest von der Kindheit, fast etwas zu
Weise, wie man noch mal richtig aufgeregt wenn wir als Teenager feststellen, dass die idyllisch. Noch stellen sich die zwei bei ihren
sein kann? Welt uns in Schubladen steckt.« In seinen Fil- Spielen vor, sie kämpften gegen imaginäre
Warns: Das weiß ich nicht. Wir probieren das men erzählt er davon, was diese Erfahrung Ritter. Und wenn sie nach all ihren realen und
zum ersten Mal aus. mit jungen Leuten macht. vorgestellten Abenteuern erschöpft sind, le-
Vandreier: Jedem Ende wohnt ein Zauber Dhont ist ein Shootingstar des jungen euro- gen sie sich zusammen ins Bett und schlafen.
inne. päischen Kinos. In Gent geboren, studierte Dhont zeigt die beiden dann von oben, fast
SPIEGEL: Herr Lauterbach, Herr Warns, Herr der heute 31-Jährige an der Royal Academy von der Decke aus. Es ist das Schlüsselbild
Vandreier, wir danken Ihnen für dieses of Fine Arts in Antwerpen und gewann 2018 dieses Films. Rémi und Léo scheinen in dieser
Gespräch. n mit seinem Spielfilmdebüt »Girl« beim Fes- Einstellung einen einzigen Körper zu bilden.

112 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


KU LT U R

»Wenn wir die Jungs zusammen


im Bett zeigen, denken 90 Prozent
der Zuschauer und Zuschauerinnen,
dass die beiden queer sind.« Das sei
ihm schon beim Schreiben des Dreh-
buchs klar gewesen, sagt Dhont.
Denn der große Irrtum unserer Ge-
sellschaft bestehe darin, jungen Men-
schen das Gefühl zu geben, Intimität
sei nur durch Sex möglich. »Wir müs-
sen dieses Muster durchbrechen. Es
kostet Jungs meist eine enorme Über-
windung zu sagen, dass sie einen
anderen Jungen lieben, in welchem
Sinne auch immer.« In »Close« wirkt
die Intimität zwischen Rémi und Léo
so selbstverständlich, dass die Frage,
ob sie schwul sind oder nicht, rasch
zur Nebensache wird.
Die vermeintlich untrennbare Ein-
Kris Dewitte / Pandora Film

heit zwischen den beiden Jungen löst


sich jedoch mehr und mehr auf. Bald
will Léo nicht mehr, dass sich Rémi
zu ihm ins Bett legt. Dieser Prozess
der Entfremdung ist schmerzhaft,
auch für das Kinopublikum. »Leider
ist das Bedürfnis, von vielen geliebt Szene mit aufzugehen, auf den Punkt. Zum tung zu stellen und mit anderen da-
zu werden, manchmal größer als das, Hauptdarsteller Zweiten passt die Maske zum Thema rüber zu sprechen, wollten wir in
Dambrine (M.):
von einem einzigen Menschen geliebt Ein Gesicht, der Schuld, die Léo auf sich lädt und unserem Film darstellen. Wir leben
zu werden«, sagt Dhont. »Dieser Film das alles um ihn die er verbergen möchte.« in einer Gesellschaft, die uns nicht
dreht sich um diesen unglaublich herum zum Léo fühlt sich schlecht, als er dazu ermutigt, persönliche Verant-
wertvollen Moment in unserem Le- Leuchten bringt merkt, wie sehr sein Freund leidet. wortung zu übernehmen.«
ben, in dem wir das Gefühl größter Rémi kann nicht verstehen, warum Der großartige Eden Dambrine
Nähe empfinden – nicht nur anderen, jetzt alles anders sein soll. Aus Frus- verkörpert Léos Wandlung von An-
sondern auch sich selbst gegenüber. tration und Verzweiflung geht er fang bis Ende fesselnd. Zunächst ein
Doch diese Intimität, die wir in unse- mitten auf dem Schulhof auf Léo los, unbekümmerter Junge, dessen Ge-
rer Kindheit erleben und nach der wir nur mit Mühe können die beiden von- sicht alles um ihn herum zum Leuch-
uns als Erwachsene oft sehnen, wird einander getrennt werden. In einer ten bringt, am Ende ein nachdenkli-
zerstört. Wir leben nun mal in einer tief berührenden Szene sieht das cher Heranwachsender, der mit seiner
kapitalistischen Gesellschaft, die auf Publikum danach, wie sich Léos Schuld leben muss. Auf der anderen
Konkurrenz ausgerichtet ist.« Augen mit Tränen füllen. Seite ist es herzzerreißend, wie uns
Dhonts Filme handeln eben auch Die Erfahrung, während der Pu- Gustav De Waele in das Drama von
davon, dass Menschen soziale Wesen bertät einen Kindheitsfreund zu ver- Rémi hineinzieht, für den die Welt
sind. Bei der Arbeit an seinen Filmen lieren, machen viele Menschen. zusammenbricht.
habe er oft das gleiche Bild vor Au- Freunde verändern sich in dieser Zeit Wie in »Girl« zeigt Dhont auch
gen: das eines Vogelschwarms aus so schnell wie man selbst, man lernt hier sein enormes Talent für den Um-
vielen Tieren, die alle in die gleiche andere kennen, mit denen man mehr gang mit jungen Darstellern. Es sei
Richtung fliegen. »Einerseits ist diese anfangen kann. Im Nachhinein eine Herausforderung, mit Menschen
totale Synchronizität wunderschön, kommt man sich herzlos vor, weil in diesem Alter zu drehen, sagt er.
andererseits furchterregend. Ich er- man auf die Gefühle des Freundes so Man könne dabei zusehen, wie sie
zähle von Menschen, die in der Grup- wenig Rücksicht genommen hat. Die- wachsen und sich verändern. Als er
pe aufgehen möchten und dabei ihr se universale Erfahrung greift Dhont nach dem Ende der Dreharbeiten
wahres Selbst aufgeben.« auf und spitzt sie zu. Rémi trifft eine Szenen mit seinen Hauptdarstellern
Der Schwarm, dem sich Léo in Entscheidung mit fatalen Konsequen- nachsynchronisieren wollte, musste
»Close« anschließt, ist eine Eisho- zen. Léo weiß, dass er dafür einen er feststellen, dass dies nicht mehr
ckeymannschaft. Weil die anderen Teil der Verantwortung trägt, und ver- ging. Ihre Stimmen klangen inzwi-
ihn für schwul oder weich halten, ver- schließt sich. Der einzige Mensch, mit schen ganz anders.
sucht er alles, um männlicher zu dem er über seine Gefühle reden »Es war eine großartige Erfahrung
wirken. Immer wieder fährt er beim könnte, wäre Rémi. Erst gegen Ende für mich, diese fragile Phase im Leben
Training mit voller Wucht gegen die des Films bringt Léo den Mut auf, sich der beiden Jungen miterleben zu kön-
Mayli Sterkendries / Pandora Film

Bande, auch um sich selbst zu bewei- einem anderen Menschen anzu- nen, zu sehen, wie sie sich gleichsam
sen, wie hart er im Nehmen ist. »Die vertrauen. vor meinen Augen entwickeln.«
Eishockeykluft ist eine Rüstung, die »Meist ist das Gefühl von Schuld Dhont hat diese kurze Zeitspanne,
den Körper schützt, aber auch ein- mit Scham verbunden«, meint Dhont. die aus uns andere Menschen machen
kerkert«, sagt Dhont. »Die Maske »Deshalb fällt es uns so schwer, da- kann, mit einem präzisen Blick und
verbirgt das Gesicht und nimmt ihm rüber zu reden. Diesen langwierigen, einem Feingefühl eingefangen, wie
die Individualität. Zum einen bringt komplizierten und qualvollen Pro- es im Kino selten ist.
dies den Wunsch, in einer Gruppe Regisseur Dhont zess, sich seiner eigenen Verantwor- Lars-Olav Beier n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 113


KU LT U R

SPIEGEL COACHING Leseprobe

Lieblingsposition: von oben herab SPIEGEL: Das klingt ja wirklich grandios.


Der Psychiater Marc Walter erklärt, warum Beziehungen mit Walter: Genau, allerdings ist die daraus entstehende übertriebene
pathologischen Narzissten so zerstörerisch sind. Selbstliebe nur ein Schutz vor der dahinterliegenden Zerbrechlich­
keit. Das Zerbrechliche ist die Grundlage jeder narzisstischen
SPIEGEL: Welche Wirkung haben narzisstische Persönlichkeiten Pathologie, innen drin ist alles fragil. Das aber soll ihr Geheimnis
auf ihre Umgebung? bleiben.
Walter: Ein sehr kluger, talentierter Narzisst kann seine Umgebung SPIEGEL: Kann man mit Narzissten eine glückliche Partnerschaft
für seine Zwecke erschreckend gut manipulieren. Diese Menschen führen?
sind oft sehr charmant, sind eitel, achten sehr auf ihr Äußeres, da Walter: Wer eine Beziehung mit einem Narzissten eingeht, sei es
kommt das Selbstverliebte wieder hinein, und auf diese Aus­ partnerschaftlich, beruflich, freundschaftlich, merkt irgendwann,
strahlung fallen potenzielle Partner oder Partnerinnen leicht herein. dass nichts Gemeinsames entsteht. Der andere ist nur an sich
SPIEGEL: Eine Ausstrahlung, die vor allem auf Äußerlichkeiten selbst interessiert, der braucht den anderen Menschen nur, damit
beruht? er funktionieren kann. Der Mangel an Einfühlungsvermögen einer­
Walter: Nein, viele haben vieles durchgemacht oder auch viel in seits und der permanente Hunger nach Bewunderung andererseits
Bewegung gesetzt. Alle Narzissten leben wie Münchhausen, sie machen die Beziehung zur Einbahnstraße. Irgendwann fühlen die
sind daran gewöhnt, sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zu Partnerinnen oder Partner sich missbraucht.
ziehen. Weil sie nie erfahren haben, dass ihnen jemand hilft, wenn SPIEGEL: Wer fühlt sich von einer destruktiven Person angezogen?
sie Hilfe gebraucht hätten. Sie machen alles selbst. Auch das Walter: Es sind oft schutzbedürftige Menschen, die ihr grandioses
macht ihre Ausstrahlung aus. Gegenüber für stark halten. Da kann man sich anlehnen.

Neues aus der SPIEGEL-Welt: Mit sechs einfachen Trainingsprogrammen


hilft Ihnen SPIEGEL COACHING, mehr für sich selbst da zu sein.

• Den eigenen Körper verstehen und lieben SPIEGEL COACHING »Ich sorge gut für mich –
• Lebensträume verwirklichen Sechs Trainingsprogramme für ein zufriedenes Leben«
• Einsamkeit überwinden enthält Checks, Tipps und wissenschaftlich
• Mit komplizierten Menschen umgehen begleitete Selbstcoachings zu Alltagsproblemen.
• Die Beziehung zu den Eltern klären ERHÄLTLICH IM ZEITSCHRIFTENHANDEL UND UNTER
• Selbstfürsorge stärken AMAZON.DE/SPIEGEL. 224 SEITEN; 14,95 EURO.

114 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


KU LT U R

genannt hat, beherzigt darauf ein Er-


folg versprechendes Prinzip des Pop.
Ein Prinzip der Vielschichtigkeit, der
Mehrdeutigkeit, der Zwischentöne.
Das Prince-Prinzip.
Das klingt zum Beispiel im Titel

Melodien mit Gift ihrer Single »Escapism« an. Welt-


flucht. Kann einerseits schädlich sein.
Ist andererseits aber auch etwas, das
gutes Entertainment – in diesem Fall
ALBUMKRITIK Die junge britische Sängerin Raye widersetzt sich den Regeln gute Popmusik – leisten will. Etwas,
des Musikbusiness – nach dem Prince-Prinzip. das manchmal guttut.
Über den Song schrieb eine US-
amerikanische »BuzzFeed«-Autorin
igentlich sollte es dieses Album kürzlich, Raye sei die neue Schutz-
E noch gar nicht geben. Das La-
bel, bei dem Raye unter Vertrag
stand, sperrte sich jahrelang gegen die
heilige der »Sad Girl Dance Songs«.
Der traurigen Stücke, zu denen man
tanzen kann. Damit hat Raye offen-
Veröffentlichung ihres Debütalbums. sichtlich einen Nerv getroffen, aus der
Jetzt bringt die Sängerin »My 21st Single wurde vor Kurzem ein Hit.
Century Blues« selbst raus. Ein Platz eins in Großbritannien, Platz
tougher Schritt. Oder ein naiver? drei in Deutschland.
Die 25-jährige Londonerin Raye, Der Erfolg bestätigt Rayes Ent-
die bürgerlich Rachel Agatha Keen scheidung, die Veröffentlichung ihres
heißt und aus einer Musikerfamilie Debüts selbst in die Hand zu nehmen.

The Orchard International Ar tist Ser vices


stammt, schrieb, so die Legende, ihr Aber auch sonst klingt das Album so,
erstes Lied mit sieben Jahren. Als als hätte es jetzt rausgemusst.
Teenager besuchte sie in ihrer Hei- Der Sound ist Pop, aber die Hal-
matstadt die Brit School, eine nam- tung ist anti. Liebliche Melodien
hafte Schule für darstellende Kunst, mischt Raye mit Gift. Ihre Songs sind
auf die auch schon Adele und Amy Abgesänge auf toxische Männer, etwa
Winehouse gingen. Kurz darauf kam einen Musikproduzenten, der sich
der Plattenvertrag. übergriffig verhalten habe (»Ice
Raye sang für David Guetta, Cream Man«). An anderer Stelle geht
schrieb für John Legend und Beyoncé. Mag Zufall sein. Doch nicht nur Musikerin Raye es um den Umgang mit der Umwelt
Mehrere Singles in den Top 20 der das Albumcover von Raye lässt an (»Environmental Anxiety«) oder mit
britischen Charts, mehrere Millionen Prince denken: Wie bei der Ikone, die sich selbst (»Body Dysmorphia«).
monatliche Hörer auf Spotify. Und, 2016 starb und sich zeitlebens legen- Rotwein. Marihuana. Schmerzmittel.
so erzählt sie die Geschichte, immer däre Kämpfe mit Plattenfirmen lie- Codein. Kokain. Ihr Album hat etwas
noch kein Album in Planung. ferte, ist der Konflikt zwischen Musi- von einer Entgiftungskur.
Heutzutage bauen Plattenfirmen ker und Industrie auch bei der Sän- Logisch, dass eine Melodie im Song
die Popstars der Zukunft oft über Jah- gerin das Thema. »Escapism« an den Streichersound
re auf, die Wartezeit bis zum Debüt Stilisierte Prince, der als 19-Jähri- aus Britney Spears’ Hit »Toxic« von
kann lang sein. Raye dauerte das zu ger seinen Deal mit Warner Music vor knapp 20 Jahren erinnert. Es ist
lang. 2021 twitterte sie ihren Frust in unterschrieb, sich mal als »slave« eine von vielen subtilen pophistori-
die Welt. Ihr Deal platzte. der Labels, als Sklave, besingt Raye, schen Anspielungen auf dem Album:
Ein Sinnbild ihrer Story hat Raye die als 17-Jährige ihren Vertrag mit Der einflussreiche Bluesgitarrist
gleich aufs Cover von »My 21st Cen- Polydor abschloss, auf dem Album B. B. King steht neben dem Eighties-
tury Blues« gepackt. Darauf sieht ihre Zeit in den »dungeons«. In den Popsänger Robert Palmer und der
man eine jüngere Version ihrer selbst. Kerkern. zeitlosen Funk-Rock-Band Red Hot
Sie balanciert in zu großen Stöckel- Sie ist nicht die Einzige, die das Chili Peppers.
schuhen auf einem Berg aus Mu- Thema derzeit umtreibt. Vor einem Überhaupt vermengt Raye auf
sikinstrumenten, Verstärkern und Monat veröffentlichte die Rapperin »My 21st Century Blues« die Musik-
Boxen. Aus dem Berg heraus greift Little Simz das Überraschungsalbum stile, als wollte sie sich einer einfa-
eine Männerhand nach ihr: Die noch »No Thank You«, auf dem sie wohl chen Vermarktbarkeit entgegenstel-
unerfahrene Nachwuchskünstlerin mit ihrem Ex-Manager abrechnet. len. Der gemeinsame Nenner lautet
scheint dank der von Männern be- Und Taylor Swift ist nicht nur be- R & B, doch die 15 Songs auf dem Al-
herrschten Musikindustrie ganz oben rühmt für ihre Hits, sondern auch für bum bewegen sich auch mal von Jazz-
gelandet zu sein. Doch der Abgrund ihren Schlagabtausch mit Musik- bar zu Technoklub und rüber ins
ist nicht weit. businessbossen. »All the white men Grenzgebiet zwischen Latin Pop und
Auf die Instrumente und Verstär- CEOs«, singt Raye nun auf ihrem De- Hip-Hop.
ker hat jemand in Rot Teile der Titel bütalbum, »fuck your privilege.« Rayes Debüt klingt ein bisschen
des Albums gesprüht. Diese Graffiti- Ein Mittelfinger in Richtung al- so, wie das Albumcover aussieht, die-
Ästhetik erinnert an ein anderes ter Machtstrukturen in der Musik- Der Sound ist ser Berg aus Musikinstrumenten.
Cover. Das von einem der posthum industrie – zu Klängen, die einen um- Pop, aber Beim Anblick kann einem schwindlig
veröffentlichten Alben eines der letz- armen. werden. Ein hässliches, komplexes,
ten großen Popstars des 20. Jahrhun- Raye, die ihr Album mal ein »häss- die Haltung schönes Gefühl.
derts. Prince. liches, komplexes, schönes Mosaik« ist anti. Jurek Skrobala n

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 115


INTERNE T www.spiegel.de
T WIT TER @derspiegel
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) · Mail spiegel@spiegel.de FACEBOOK facebook.com/derspiegel

Impressum INVESTIGATION Roman Höfner, Roman Lehberger, REDAKTIONSVERTRE TUNGEN Service


Nicola Naber. Reporter: Rafael Buschmann. DEUTSCHL AND
Koordination SPIEGEL TV : Thomas Heise BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin, Leserbriefe
HER AUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002)
STR ATEGIE & OPER ATIONS Philipp Löwe, Tel. 030 886688-100 SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg,
CHEFREDAKTION Steffen Klusmann (V. i. S. d. P.), Johanna Röhr, Anne Seith DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966,
Dr. Melanie Amann, Thorsten Dörting, Clemens Höges 01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0 Mail: leserbriefe@spiegel.de
REDAKTIONELLE ENT WICKLUNG Friederike
Freiburg, Jonas Mielke, Franca Quecke, Maximilian Rau DÜSSELDORF Markus Böhm, Lukas Eberle, Tobias Vorschläge für die Rubrik »Hohlspiegel« nehmen wir auch
LEITENDE REDAKTEURE Strategie & Operations: Großekemper, Torsten Kleinz, Benedikt Müller-Arnold, gern per Mail entgegen: hohlspiegel@spiegel.de
Susanne Amann. Blattmacher: Judith Horchert, Juliane MEINUNG & DEBAT TE Anna Clauß, Lothar Gorris, Miriam Olbrisch. Autorin: Katja Thimm. Jägerhofstraße
von Mittelstaedt, Oliver Trenkamp. Nachrichtenchef: Alexander Neubacher 19-20, 40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01 Hinweise für Informanten
Stefan Weigel. Managing Editors: Birger Menke, NACHRICHTEN Henrik Bahlmann, Malte Göbel, FR ANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Tim Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und Informa-
Dr. Susanne Weingarten. Creative Department: Bente Katharina Koerth, Sabrina Knoll, Florian Pütz, Sven Bartz, Fellnerstraße 7-9, 60322 Frankfurt am Main, tionen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen folgende
Kirschstein. Redaktionelle Entwicklung: Matthias Streitz. Scharf Tel. 069 9712680
Investigation: Jörg Diehl Wege zur Verfügung: Post: DER SPIEGEL , c/o Investigativ,
K ARLSRUHE Dietmar Hipp, Stephanienstraße 30, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg; Telefon: 040 3007-0,
LEBEN Leitung: Frauke Lüpke-Narberhaus, Malte 76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737
CHEFS VOM DIENST Print: Anke Jensen, Jörn Müller-Michaelis, Nike Laurenz (stellv.). Redaktion: Stichwort »Investigativ«; Mail (Kontakt über Website):
LEIPZIG Peter Maxwill, Postfach 310315,
Sucher. Online: Patricia Dreyer, Anselm Waldermann; Julian Aé, Irene Berres, Antje Blinda (Teamleitung 04162 Leipzig www.spiegel.de/investigativ. Unter dieser Adresse finden Sie auch
Melanie Ahlemeier, Lisa Erdmann, Kevin Hagen, Reise), Franziska Bulban, Markus Deggerich, Maren eine Anleitung, wie Sie Ihre Informationen oder Dokumente
Björn Hengst, Olaf Kanter, Nicolai Kwasniewski, Keller, Heike Klovert, Dr. Heike Le Ker, Eva Lehnen, MÜNCHEN Jan Friedmann
(Koordination Nachrichten), Martin Hesse, Rosental 10, durch eine PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten
Jonas Leppin, Florian Merkel, Charlene Optensteinen, Marthe Ruddat, Katherine Rydlink, Sandra Schulz,
Sebastian Späth, Julia Stanek, Nina Weber. 80331 München, Tel. 089 4545950 können. Der dazugehörende Fingerprint lautet:
Dr. Dominik Peters, Dr. Jens Radü, Daniel Raecke,
Martin Wolf Autoren: Jule Lutteroth, Marianne Wellershoff BADEN-WÜRT TEMBERG Christine Keck 6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC
JOB & K ARRIERE/START Leitung: Helene Endres, REDAKTIONSVERTRE TUNGEN/ Ombudsstelle
AUTOREN/REPORTER DER CHEFREDAKTION Sophia Schirmer (Leitung Start). Redaktion: Benjamin KORRESPONDENTENBÜROS AUSL AND Der SPIEGEL hat für Hinweise zu möglichen Unregelmäßig-
Susanne Beyer, Ullrich Fichtner, Thomas Schulz Ansari, Tanya Falenczyk, Helene Flachsenberg, Florian BANGALORE Laura Höflinger keiten in der Berichterstattung eine Anlaufstelle eingerichtet:
Gontek, Katharina Hölter, Maren Hoffmann, Markus BANGKOK Maria Stöhr
HAUPTSTADTBÜRO Dirk Kurbjuweit Sutera, Verena Töpper
ombudsstelle@spiegel.de. Sollten Sie als Hinweisgeber
Leitung: Dr. Melanie Amann, Sebastian Fischer, BRÜSSEL Markus Becker (Büroleitung), Ralf dem SPIEGEL gegenüber anonym bleiben wollen, schreiben
Martin Knobbe, Christoph Hickmann (stellv.), Wolf GESCHICHTE Leitung: Jochen Leffers, Dr. Eva-Maria Neukirch (Reporter Europapolitik), Michael Sauga Sie bitte an den Rechtsanwalt Tilmann Kruse unter
Wiedmann-Schmidt (Teamleitung Innere Sicherheit). Schnurr. Redaktion: Dr. Felix Bohr, Solveig Grothe, (Autor), Rue Le Titien 28, 1000 Brüssel,
Tel. +32 2 2306108, rv.bruessel@spiegel.de hinweisgeber-spiegel@bmz-recht.de
Redaktion: Maik Baumgärtner, Sophie Garbe, Florian Christoph Gunkel, Dr. Katja Iken, Dr. Danny Kringiel,
Gathmann, Milena Hassenkamp, Marina Kormbaki, Frank Patalong, Martin Pfaffenzeller K APSTADT Fritz Schaap, P. O. Box 15107, Redaktioneller Leserservice
Timo Lehmann, Veit Medick, Ann-Katrin Müller, Serafin Vlaeberg 8018, Cape Town, South Africa Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966
DEIN SPIEGEL Leitung: Bettina Stiebel, Alexandra
Reiber, Anna Reimann, Sven Röbel, Jonas Schaible, Klaußner (stellv.). Redaktion: Antonia Bauer, Claudia LOND ON Jörg Schindler Mail: leserservice@spiegel.de
Christoph Schult, Sara Sievert, Christian Teevs, Severin Beckschebe, Marco Wedig LOS ANGELES Philipp Wittrock
Weiland. Autoren, Reporter: Sven Becker, Markus Nachdrucke in Medien aller Art
Feldenkirchen, Matthias Gebauer, Konstantin von SCHLUSSREDAKTION Christian Albrecht, Gartred MEXIKO-STADT Jens Glüsing,
Tel. +52 55 56630526 Lizenzen für Texte, Fotos, Grafiken oder Videos
Hammerstein, Fidelius Schmid. Politik Hamburg: Alfeis, Gesine Block, Regine Brandt, Lutz Diedrichs,
Benjamin Schulz (Nachrichtenchef); Marc Röhlig Ursula Junger, Birte Kaiser, Dörte Karsten, Sylke Kruse, MOSK AU Christina Hebel, Glasowskij Pereulok Kontakt, Beratung: www.gruppe.spiegel.de/syndication
Stefan Moos, Sandra Pietsch, Fred Schlotterbeck, Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, Tel. +7 495 3637623 und Bestellung: syndication@spiegel.de,
DEUTSCHL AND/PANOR AMA Leitung: Anke Dürr, Sebastian Schulin, Sandra Waege NAIROBI Heiner Hoffmann, Tel. +254 111 341478 Tel.: 040 3007-3540 für Deutschland, Österreich, Schweiz.
Cordula Meyer, Hendrik Ternieden, Janko Tietz,
PRODUKTION & TEXTPRODUCING Leitung: NEW YORK Marc Pitzke, Bernhard Zand Für alle anderen Länder: The New York Times Licensing,
Dr. Markus Verbeet. Redaktion: Birte Bredow, Lisa Simone Daley, Mail: simonedaley@nytimes.com,
Angela Ölscher, Petra Thormann; Kathrin Beyer, PARIS Britta Sandberg, 4, Rue Goethe, 75116 Paris,
Duhm, Katrin Elger, Silke Fokken, Maik Großekathöfer, Telefon: +44 20 7061 3507, ISSN 0038-7452
Christoph Brüggemeier, Sonja Friedmann, Linda Tel. +33 158 625120
Hubert Gude, Kristin Haug, Armin Himmelrath, Philipp
Grimmecke, Britta Romberg, Gesche Sager, Stefan
Kollenbroich, Annette Langer, Katrin Langhans, PEKING Georg Fahrion, Christoph Giesen Nachbestellungen SPIEGEL -Ausgaben der letzten Jahre
Schütt, Martina Treumann, Holger Uhlig, Valérie
Gunther Latsch, Benjamin Maack, Peter Maxwill, ROM Frank Hornig, DER SPIEGEL , c/o Stampa
Christopher Piltz, Alexander Preker, Ansgar Siemens,
Wagner, Katrin Zabel sowie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE
Estera, Via dell’Umiltà 83/C, 00187 Rom und SPIEGEL WISSEN sind unter amazon.de/spiegel
Swantje Unterberg, Sara Wess, Jens Witte, Jean-Pierre BILDREDAKTION Leitung: Mascha Zuder, Jose
Ziegler. Autoren, Reporter: Jürgen Dahlkamp, Julia SAN FR ANCISCO Alexander Demling innerhalb Deutschlands nachbestellbar.
Blanco (stellv.), Mareile Mack (stellv.); Claudia Apel,
Jüttner, Beate Lakotta, Alfred Weinzierl, Dr. Klaus Tinka Dietz, Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Philine SAO PAULO Nicola Abé
Wiegrefe. Gebhardt, Niklas Hausser, Signe Heldt, Gillian Henn, SYDNEY Anna-Lena Abbott, Johannes Korge Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn,
Berlin: Juliane Löffler, Guido Mingels, Hannes Schrader
Daniel Hofmann, Andrea Huss, Rosa Kaiser, Jan TEL AVIV P. O. Box 8387, Tel Aviv-Jaffa 6803466, www.spiegel-antiquariat.de, Telefon: 0228 9296984
Kappelmann, Petra Konopka, Matthias Krug, Charlotte Israel
WIRTSCHAF T/NE TZWELT Leitung: Markus Brauck, Lensing, Theresa Lettner, Nasser Manouchehri, Parvin Abonnement für Blinde Audioversion:
Nazemi, Nicole Neumann, Daniel Nide, Inka Recke, WARSCHAU Tel. +48 22 6179295,
Yasmin El-Sharif, Judith Horchert (Netzwelt), Isabell
rv.warschau@spiegel.de Deutsche Blindenstudienanstalt e. V., Telefon: 06421 606265;
Hülsen, Stefan Kaiser, Cornelia Schmergal. Redaktion: Jens Ressing, Franziska Schade, Oliver Schmitt, elektronische Version: Frankfurter Stiftung für Blinde,
Benjamin Bidder, Michael Brächer, Florian Diekmann, Ireneus Schubial, Erik Seemann, Maxim Sergienko, WASHINGTON Roland Nelles, René Pfister,
Anke Wellnitz 1202 National Press Building, Washington, D. C. 20045, Telefon: 069 9551240
Kristina Gnirke, Simon Hage, Dr. Claus Hecking,
Henning Jauernig, Dr. Matthias Kaufmann, Matthias Mail: foto@spiegel.de Tel. +1 202 3475222
Abonnementspreise
Kremp, Alexander Kühn, Maria Marquart, Martin U. SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tel. +1 917 3998184 WIEN Walter Mayr Inland: 52 Ausgaben € 291,20, Studenten Inland: 52 Ausgaben
Müller, Anton Rainer, Stefan Schultz. STÄNDIGE FREIE AUTOREN Ann-Dorit Boy,
Berlin: Patrick Beuth, Simon Book, Markus Dettmer, L AYOUT Leitung: Dagmar Nothjung; Michael Abke, € 197,60, Auslandspreise unter www.spiegel.de/auslandsabo,
Lisa Debacher, Lynn Dohrmann, Bettina Fuhrmann, Christo Buschek, Giorgos Christides, Arno Frank, Oliver
Max Hoppenstedt, Michael Kröger. Autoren, Reporter: Das Gupta, Jochen-Martin Gutsch, Leo Klimm, Jasmin
Mengenpreise unter abo.spiegel.de/mengenpreise
David Böcking, Christian Reiermann, Marcel Ralf Geilhufe, Linna Grage, Fabian Greve, Louise
Jessen, Jens Kuppi, Annika Loebel, Kamila Ramezani, Lörchner, Juan Moreno, Max Polonyi, Wiebke Ramm,
Rosenbach, Gerald Traufetter (Chefkorrespondent) Abonnentenservice Persönlich erreichbar
Barbara Rödiger, Marco Stede Anja Rützel, Ines Zöttl
Mo.–Fr. 8.00–19.00 Uhr, Sa. 10.00–18.00 Uhr
DOKUMENTATION Leitung: Cordelia Freiwald,
AUSL AND Leitung: Mathieu von Rohr, Britta TITELBILD Teamleitung: Johannes Unselt; SPIEGEL -Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg
Kurt Jansson; Zahra Akhgar, Nikolai Antoniadis,
Kollenbroich (stellv.), Katrin Kuntz (stellv.), Maximilian Suze Barrett, Alexandra Grünig, Pia Pritzel, Dr. Susmita Arp, Verena Barchfeld, Lars Böhm, Eva Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070
Popp (stellv.), Julia Prosinger (stellv.), Özlem Topçu Marcus Wiechmann Bräth, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Almut Mail: aboservice@spiegel.de
(stellv.). Redaktion: Monika Bolliger, Alexander Cieschinger, Johannes Eltzschig, Klaus Falkenberg,
Chernyshev, Francesco Collini, Fiona Ehlers, Lena DIGITALES DESIGN Elsa Hundertmark
Catrin Fandja, Dr. Matthias Fett, Janine Große, Imko
Greiner (Teamleitung Globale Gesellschaft), Muriel GR AFIK & INTER ACTIVE Leitung: Ferdinand Haan, Thorsten Hapke, Dr. Dorothee Heincke, Susanne
Kalisch, Steffen Lüdke, Katharina Graça Peters, Jan Kuchlmayr, Dr. Matthias Stahl (stellv.); Cornelia Heitker, Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt
Petter, Jan Puhl, Alexandra Rojkov, Anna-Sophie Baumermann, Alexander Epp, Guido Grigat, Max Hunger, Stefanie Jockers, Tobias Kaiser, Renate
Schneider, Lina Verschwele. Autoren, Reporter: Christian Abonnementsbestellung
Heber, Frank Kalinowski, Anna-Lena Kornfeld, Chris Kemper-Gussek, Ulrich Klötzer, Anna Köster, Ines
Esch, Susanne Koelbl, Nadia Pantel, Christoph Reuter,
Thore Schröder.
Kurt, Niklas Marienhagen, Gernot Matzke, Lina Köster, Mara Küpper, Peter Lakemeier, Julia Lange, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
Moreno, Klaas Neumann, Dawood Ohdah, Bernhard Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
Berlin: Julia Amalia Heyer, Aleksandar Sarovic Riedmann, Lea Rossa, Alexander Trempler Dr. Andreas Meyhoff, Marvin Milatz, Cornelia
Moormann, Tobias Mulot, Claudia Niesen, Dr. Gerret oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
WISSEN Leitung: Michail Hengstenberg, Olaf KORREKTOR AT Sebastian Hofer von Nordheim, Sandra Öfner, Ulrike Preuß, Axel
Stampf, Kurt Stukenberg. Redaktion: Dr. Philip Bethge, DATENJOURNALISMUS Leitung: Marcel Pauly, Rentsch, Thomas Riedel, Sara Maria Ringer, Friederike Ich bestelle den SPIEGEL
Marco Evers, Johann Grolle, Dr. Veronika Hackenbroch, Patrick Stotz; Holger Dambeck, Lisa Goldschmidtböing, Röhreke, Andrea Sauerbier, Marko Scharlow, Mirjam i für € 5,60 pro gedruckte Ausgabe
Arvid Haitsch, Guido Kleinhubbert, Julia Koch, Julia Achim Tack, Christoph Winterbach Schlossarek, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario
Köppe, Julia Merlot, Jörg Römer, Nils-Viktor Sorge Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Anna Schwarz, Ulla i für € 0,70 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
(Teamleitung Mobilität). Autoren, Reporter: Rafaela SOCIAL MEDIA & LESERDIALOG Leitung: Ayla Siegenthaler, Meike Stapf, Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia E-Paper beträgt € 0,69) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe.
von Bredow, Christoph Seidler. Kiran, Angela Gruber (stellv.). Redaktion: Kai Bonte Stodte, Rainer Szimm, Dr. Marc Theodor, Andrea Tholl,
Berlin: Susanne Götze, Kerstin Kullmann, Hilmar (Forum), Nadine Burmester, Philipp Dreyer, Myriam Nina Ulrich, Louisa Uzuner, Peter Wahle, Dr. Charlotte Der Bezug ist zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar.
Schmundt, Frank Thadeusz. Autor: Jörg Blech Eyrolles, Ariane Fries (Teamleitung Community), Luisa Weichert, Peter Wetter, Karl-Henning Windelbandt,
Höppner, Aleksandra Janevska, Charlotte Klein, Alle Preise inkl. MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur
Anika Zeller, Malte Zeller
KULTUR Leitung: Stefan Kuzmany, Eva Thöne, Laura Sebastian Maas, Petra Maier (Teamleitung Google Web in Deutschland.
NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa,
Backes (stellv.). Redaktion: Felix Bayer, Tobias Becker, Stories), Annina Metz, Steffen Schiepe, Robert Los Angeles Times/Washington Post, New York Times,
Frauke Böger, Christian Buß, Xaver von Cranach, Nora Schlösser, Lara Schulschenk, Kim Staudt, Katharina Reuters, sid
Bitte liefern Sie den SPIEGEL an:
Gantenbrink, Oliver Kaever, Ulrike Knöfel, Carola Zingerle
Padtberg, Jurek Skrobala, Katharina Stegelmann. SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN
SEO Teamleitung: Insa Winter; Alexandra Knape, GMBH & CO. KG
Autoren, Reporter: Sebastian Hammelehle, Wolfgang
Höbel.
Bastian Midasch, Heiko Stammel, Hanna Zobel Anzeigen: Hannes Engler Name, Vorname des neuen Abonnenten
Berlin: Lars-Olav Beier, Elisa von Hof, Philipp Oehmke, VIDEO Leitung: Anne Martin. Redaktion: Benjamin Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 77 vom 1. Januar 2022
Hannah Pilarczyk, Tobias Rapp. Autoren, Reporter: Braden, Sven Christian, Dennis Deuermeier, Benjamin Mediaunterlagen und Tarife: www.spiegel.media
Andreas Borcholte, Enrico Ippolito Eckert, Manuel Genolet, Birgit Großekathöfer, Janita Vertrieb: Torben Sieb
Hämäläinen, Martin Jäschke, Heike Janssen, Marco Straße, Hausnummer oder Postfach
Kasang, Carolin Katschak (Teamleitung Talk), Eckhard Herstellung: Silke Kassuba
REPORTER Leitung: Özlem Gezer, Felix Dachsel
(stellv.), Christoph Scheuermann (stellv.). Redaktion: Klein, Andreas Landberg, Jonathan Miske, Fabian
Barbara Hardinghaus, Timofey Neshitov, Dialika Pieper, Rachelle Pouplier, Dr. Isabella Reichert, Leonie
Neufeld, Jonathan Stock, Antje Windmann. Autoren, Voss, Christian Weber PLZ, Ort
Reporter: Marc Hujer, Frauke Hunfeld, Alexander
Osang, Alexander Smoltczyk, Barbara Supp CHEFS VOM DIENST BEWEGTBILD Dirk Schulze,
Martin Sümening
Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
SPORT Leitung: Hauke Goos, Udo Ludwig, Lukas AUDIO Leitung: Ole Reißmann, Sandra Sperber,
Rilke, Jörn Meyn (stellv.). Redaktion: Peter Ahrens, Yasemin Yüksel, Olaf Heuser (Chef vom Dienst), Jannis
Anne Armbrecht, Matthias Fiedler, Michael Schakarian (Chef vom Dienst). Redaktion: Imre Balzer, Ich zahle nach Erhalt der Rechnung. Hinweise zu AGB,
Fröhlingsdorf, Jan Göbel, Nina Golombek, Benjamin Adrian Breda, Philipp Fackler, Robert Hauspurg, Lenne Datenschutz und Widerrufsrecht finde ich unter
Knaack, Marcus Krämer, Danial Montazeri, Thilo Kaffka, Marius Mestermann, Regina Steffens, Martin GESCHÄF TSFÜHRUNG Thomas Hass www.spiegel.de/agb
Neumann, Gerhard Pfeil Vornweg-Brückner (Vorsitzender), Stefan Ottlitz

USA: DER SPIEGEL (USPS no 01544520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Known Office of Publication: Data Media (A division of Cover-All Computer Services Corp.), 2221 Kenmore Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten
Avenue, Suite 106, Buffalo, NY 14207-1306. Periodicals postage is paid at Buffalo, NY 14205, Postmaster: Send address changes to DER SPIEGEL, Data Media, P.O. Box 155, Buffalo. NY 14205- SP-IMPR, SD-IMPR (Upgrade)
0155, e-mail: service@roltek.com, toll free: +1-877-776-5835; Kanada: SUNRISE NEWS, 47 Silver Shadow Path, Toronto, ON, M9C 4Y2, Tel +1 647-219-5205, e-mail: sunriseorders@bell.net

116 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Faye Cukier, 101 Wolfgang Draeger, 95
NACHRUFE »Es war eine quälende Ent­ Schauspieler war er mit Leib
scheidung, ein herzergreifen­ und Seele, nur auf der Bühne
des Opfer, Köln und alles, fühlte er sich unwohl. »Das
was wir liebten, zu verlassen«, Synchron ist für mich erfunden
schrieb Faye Cukier in ihren worden«, sagte Wolfgang Drae­
Erinnerungen »Flucht vor ger über seine Karriere. »Da
dem Hakenkreuz«, die 2012 bin ich nicht in der Öffentlich­
auf Deutsch erschien. 1938 keit, da arbeite ich im Dunkeln
war die 16­Jährige mit ihren und kann zeigen, was ich kann.
Eltern nach Antwerpen Ich muss mich nicht selbst dar­
geflohen – nachdem sie auf stellen.« Draeger wurde 1928 in
der Straße mit Steinen bewor­ Berlin geboren, besuchte das
fen und als Jüdin beschimpft Konservatorium für Musik und
Sulfiati Magnuson / Michael Ochs Archives / Getty Images

worden war. Die Familie Darstellende Kunst, spielte


wollte nach Nordamerika in den Fünfzigerjahren in zwei
weiter, doch der Andrang war Kabarettgruppen und arbeitete
zu groß. »Es gab keine Wolken als Rundfunksprecher. Er besaß
über Antwerpen, aber oh eine dieser Stimmen, auf die
so viele in mir selbst«, schrieb sich sogar Cinephile einigen
Cukier über diese Zeit. Im können, die das Synchronisieren
Mai 1940 flohen sie vor der von Filmen eigentlich für
Wehrmacht nach Ostende, Frevel halten. Generationen
konnten jedoch nicht nach von Kinogängern kannten
England übersetzen. In einem Woody Allen mit Wolfgang
Flüchtlingstreck liefen sie
zurück nach Antwerpen. Die
Befreiung durch die Alliierten
David Crosby, 81 erlebte Cukier in Brüssel.
Ende der Sechzigerjahre, in den durch Marihuana und LSD Auf Fotos aus dieser Zeit sind
vernebelten Sommern der freien Liebe und Bewusstseins­ die Erleichterung und Lebens­
erweiterung, übernahm David Crosby die Rolle des prototypi­ lust der jungen Frau gut zu

Peter Schuber t / ullstein bild


schen Hippies und Freigeistes. Seine Karriere kann man wie sehen. Sie zog in die USA,
ein Sinnbild der Ära betrachten: Auf das kurze High folgte ein heiratete dreimal und bekam
langer, selbstzerstörerischer Kater. Crosby, 1941 in Los Angeles zwei Kinder. Noch im hohen
geboren, war an der Gründung von zwei wichtigen Bands jener Alter besuchte Cukier Schulen
Zeit beteiligt: The Byrds und Crosby, Stills & Nash (später Crosby, und sprach mit Jugendlichen
Stills, Nash & Young). Er schrieb an Byrds­Klassikern wie dem über den Holocaust. Lange
psychedelischen »Eight Miles High« mit, gemeinsam mit Stephen Zeit hatte sie ihre Geschichte
Stills, Graham Nash und zeitweise Neil Young schuf er nach nicht erzählt. Sie habe sich Draegers zögerlichem Duktus;
seinem Rauswurf bei den Byrds eine politisch bewegte Super­ geschämt für das Glück, den immer war ihm eine höfliche
group. Crosby galt außerdem als Vorbild für die Figur des von Nationalsozialisten entkom­ Unsicherheit zu eigen. »Ich bin
Dennis Hopper gespielten Hippies im Gegenkultur­Kultfilm men zu sein, sagte sie dem ein Stotterer, und ich habe einen
»Easy Rider«. 1969 verunglückte Crosbys damalige Freundin »Kölner Stadt­Anzeiger«. In Hang zu Psychopathen und
tödlich, was den Musiker über Jahre in einen Strudel aus Drogen Gesprächen betonte sie aber Irren. Wenn ich die Rollen nicht
und Depressionen riss. »Ich war mein ganzes Leben lang ein auch die positiven Seiten ihres nur sprechen, sondern spielen
rechthaberischer, ruppiger und schwieriger Typ«, sagte er 2019, Lebens, etwa wie sie im müsste, würde ich sie genau so
seit Langem clean und in einer erfolgreichen Spätphase mittleren Alter Bauchtanzleh­ anlegen«, sagte Draeger über
seiner Solokarriere. David Crosby starb am 19. Januar. BOR rerin wurde. Noch als 90­Jäh­ die Allen­Rollen. Bei anderen
rige ging sie in Tanzcafés habe er sich anstrengen müssen,
in Köln, auch mit 100 Jahren »aber Woody Allen, das bin in
Lloyd Morrisett, 93 hatte sie lackierte Nägel. Faye vielen Dingen praktisch ich«.
Er erwies Millionen von Kindern weltweit einen Cukier starb am 23. Januar Bis zum Jahr 2013 sprach Drae­
großen Dienst: Der Psychologe Lloyd Morrisett im Seniorenheim der Synago­ ger Allens Filme auf Deutsch
hatte die Idee zur »Sesamstraße«, die mit gengemeinde Köln. BÖ ein, insgesamt mehr als 30.
Puppen wie Ernie und Bert, Elmo oder dem Auch Jack Lemmon, Alan Arkin
Greg Allen / AP

Krümelmonster berühmt wurde. Morrisett und Jean­Pierre Léaud lieh


studierte experimentelle Psychologie und plante er seine Stimme. Ein zweites
eine akademische Laufbahn, bis er seine Tochter Standbein fand Draeger in der
im Vorschulalter vor dem Fernseher beobachtete Welt der Jugendhörspiele
und staunte, wie viele TV­Jingles sie auswendig gelernt hatte. des Labels Europa: In den Rei­
Er beschloss, die Methoden der Werbung im Kinderfernsehen zu hen »TKKG« und »Die drei ???«
nutzen. Am 10. November 1969 lief »Sesame Street« zum ersten sprach er die Kommissare
Mal in den USA. 1973 kam die Sendung nach Deutschland. Glockner und Reynolds. Auch
»Der, die das / wer, wie, was? / Wieso, weshalb, warum? / Wer nicht in der ZDF­Serie »Das Erbe
fragt, bleibt dumm.« Das Titellied der hiesigen »Sesamstraße« der Guldenburgs« wirkte er mit.
Eybe + Eybe

dürfte mittlerweile viele Erwachsene nostalgisch stimmen. Lloyd Wolfgang Draeger starb am
Morrisett starb am 22. Januar in San Diego. CPA 23. Januar. KAE

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 117


PERSONALIEN

Neue Sphären
Sie tanzte schon lange, bevor
sie ein Mikrofon in die Hand
nahm, lernte Ballett und ge-
wann Wettbewerbe – Melanie
Chisholm, 49, bekannt als Mel C
von den Spice Girls, heißt
nicht umsonst »Sporty Spice«.
Ihre Fitness und ihre Liebe
zum Tanz haben Bestand, das
stellt sie gerade in London auf
der Bühne vom Sadler’s Wells
Theatre unter Beweis. Chisholm
ist Teil eines Trios, das das
Stück »How Did We Get Here?«
aufführt. Jules Cunningham
choreografierte und tanzt selbst
mit, außerdem der Profitänzer
Harry Alexander. Es ist das
erste Mal, dass Chisholm sich
an zeitgenössischem Bühnen-
tanz versucht. Dem »Guardian«
sagte sie, dass sie zuvor sogar
davor zurückgeschreckt sei,
Aufführungen zu besuchen.
Denn das Genre empfand sie als
»einschüchternd«: »Ich dachte,
ich würde das Ganze nicht ver-
stehen.« Wenn man den enthu-
siastischen Kritiken Glauben
schenken darf, hat sich diese
Sorge nicht auf ihre Leistung
ausgewirkt. Chisholms Auftritt

Sophia Spring / News Licensing / ddp


wird als »fantastisch gut« gefei-
ert. Der Ausflug in die Sphären
der ernsten Kunst begeistert sie:
»In der kommerziellen Welt, in
der ich zu Hause bin, muss im-
mer alles schnell erledigt wer-
den.« Bei diesem Projekt habe
sie ihre Geduld trainiert. KS

Sieg des Wortes Der iranische Ajatollah Kho- »ein Mensch, der in einem Zim-
meini hatte 1989 zur Tötung mer sitzt und schreibt«, ant-
Der indisch-britische Schrift- des Schriftstellers aufgerufen, wortete er 2021 einem »Times«-
steller Salman Rushdie, 75, hat weil dessen Roman »Die Journalisten auf eine entspre-
Anfang Februar etwas zu feiern: satanischen Verse« als Gottes- chende Frage. Für radikale
Sein Roman »Victory City« lästerung aufgefasst wurde; Islamisten bleibt Rushdie ein
erscheint auf Englisch. Es ist das jahrelang hielt er sich versteckt. Hassobjekt. Entstanden ist
erste Buch, das er veröffent- Seither deuten Kritiker Rush- »Victory City«, bevor Rushdie
licht, seit er im August 2022 Op- dies literarische Produktion verletzt wurde. Wie so viele
fer eines Attentats wurde. häufig im Lichte dieser Erfah- seiner Bücher handelt es von
Steffen Jänicke

Rushdie verlor dadurch die Seh- rung. Ein Umstand, der den der Redefreiheit: »Worte sind
kraft eines Auges und kann Autor nervt: Er sei »kein geo- die einzigen Sieger«, heißt
eine Hand nicht mehr bewegen. politisches Wesen«, sondern der letzte Satz sinngemäß. KS

118 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


Warmherzig und das am Sonntag endet, erwies Lohn der Liebesmüh
sie sich nun als unterhaltsame,
selbstironisch warmherzige und selbstironische Am Montag erschien ein
Es gibt verschiedene, mehr oder Insassin. Rowe erzählte amüsant Artikel über die Schauspielerin
minder kreative Möglichkeiten, von ihrer Baumarktbesessen­ Stephanie Hsu, 32, auf der
um zumindest dschungelcamp­ heit, dass sich ihr Leben drastisch Titelseite der internationalen
reife Berühmtheit zu erlangen. verändert habe, seit sie einen Ausgabe der »New York Times«,
Man kann vor Jahrzehnten Akkuschrauber besitze, und von am Dienstag wurde sie für einen
mal Popstar gewesen sein, als ihrem wehen Sehnen nach Oscar als beste Nebendarstel­
Kurzlunte vom Dienst durch ein einem Lebenspartner. Sie be­ lerin nominiert – läuft, könnte
paar Reality­Fummelformate richtet von ihrem harten Alltag man sagen. Vor allem weil die

Bur t Harris / ZUMA Wire / IMAGO


wüten – oder, wie Djamila Rowe, in einem DDR­Jugendwerkhof, Amerikanerin bisher noch nicht
55, behaupten, eine Affäre mit tröstet und tätschelt bedürftige häufig in Erscheinung getreten
einem Schweizer Botschafter Mitcamper und liefert ein per­ ist: experimentelles Theater,
gehabt zu haben, und später fektes Beispiel für jede Faszina­ zwei Broadway­Engagements,
widerrufen. Rowe brachte diese tionsfacette von »Ich bin ein eine wiederkehrende Rolle in
Strategie den Boulevardkampf­ Star – Holt mich hier raus!«, die der Serie »The Marvelous Mrs.
namen »Botschaftsluder« ein. über Gafflust hinausgeht. In Maisel«, eine in dem Fantasy­
Im diesjährigen Dschungelcamp, seinen besten Momenten führt film »Everything Everywhere
das Format nämlich Menschen All at Once«. Für Letztere erhielt waren. Was wiederum Hsu
nicht nur im Schlechten vor, Hsu nun die Oscarnominierung. bewegt: »Dann denke ich:
sondern leuchtet sie auch im In dem turbulenten Film spielt ›O mein Gott, das haben wir
Guten neu aus. Die Zuschaue­ sie die unglückliche Tochter der geschafft. Wir haben etwas
rinnen und Zuschauer können in Hauptfigur Evelyn, einer Frau, gemacht, das die Leute zum
diesen glücklichen Fällen alte die Probleme aller Art in Paral­ Weinen bringt, selbst wenn sie
Vorurteile korrigieren und Sym­ lelwelten zu bekämpfen hat. nur darüber nachdenken.‹
pathien neu sortieren. Man Das Mutter­Tochter­Verhältnis Und das ist verrückt. Das ist aus
kann über das Dschungelcamp ist auch nicht ganz einfach. Der unserer Liebesmüh entstan­
auch in seiner 16. Staffel genau­ Film und einige seiner Mitwir­ den.« Es sei heilsam gewesen
so die Nase rümpfen wie zur kenden erhielten bereits diverse zu erfahren, dass so viele Leute
Premiere 2004, die Ekelprüfun­ Auszeichnungen, bei den Oscars sich angesprochen fühlten.
gen und mancherlei mehr bekla­ wurde er jetzt insgesamt in elf Weil sie zu Beginn des Projekts
gen – aber dann verpasst man Kategorien nominiert. Immer nichts zu verlieren hatte, habe
die kleinen Blicke hinter die wieder, so berichtet es die »New sie alles gegeben – und durch
nach Schablone operierten Fas­ York Times«, werde Hsu ange­ das Ausmaß an Bestätigung wis­
Stefan Thoyah / RTL

saden. Von den 100 000 Euro sprochen von Leuten, die sie in se sie jetzt, dass sich das lohnt:
Siegesprämie würde sich Djami­ »Everything Everywhere All »Die Wildheit und Vorstellungs­
la Rowe übrigens als Erstes at Once« erlebt haben und von kraft in mir findet wirklich ein
einen Kühlschrank kaufen. ARÜ ihrem Spiel zu Tränen gerührt Echo in vielen Menschen.« KS

Vom Boxer zum stehen.« Trotzdem war sein Weg


zum Modeschöpfer für Haute
Modedesigner Couture kein geradliniger. Ayissi
Seine Kollektion war vergangene versuchte sich zunächst wie sein
Woche ein viel beachtetes Ereignis der Vater als Boxer, wurde später
Haute Couture Fashion Week in Paris, Tänzer im Nationalballett von Ka­
dabei sind seine Kreationen eher merun, bis ihn Anfang der Neun­
klassisch, in sanften Farbtönen oder zigerjahre eine Tournee nach Paris
schwarz gehaltene Kleider, Hosen, führte. Fasziniert von der Modewelt,
Jacken für Frauen. Aber schon vor den entschied er sich, in Frankreich zu
Schauen machte der aus Kamerun bleiben, obwohl er keine gültige Auf­
stammende Designer Imane Ayissi, 54, enthaltsgenehmigung besaß. Er
durch seinen außergewöhnlichen Le­ begann, als Fotomodell zu arbeiten,
bensweg von sich reden. Er habe sich nahm an Schauen für große Luxus­
alles selbst angeeignet und sich seit marken wie Yves Saint Laurent,
seiner Kindheit für Modedesign inter­ Givenchy oder Dior teil. Laut eige­
essiert, erzählte der Künstler wenige nen Angaben lebte und arbeitete
Tage vor dem Defilee der französi­ er mehr als acht Jahre lang ohne
schen Tageszeitung »Libération«. Sein Ausweispapiere in Paris. Es sei eine
Vater war Boxchampion und seine komplizierte Zeit für ihn gewesen.
Mutter eine Stewardess, die 1960 zur »Ich lebte ständig mit der Angst im
Miss Kamerun gewählt wurde. Ihre Bauch und traute mich kaum zum
eleganten Kleider hätten ihn schon als Einkaufen auf die Straße.« Kein
Matthew Avignone

kleinen Jungen fasziniert. Darum Wunder, dass dem mittlerweile eta­


habe er sie entwendet, um sie aufzu­ blierten Designer nach einer ge­
trennen – und wieder zusammen­ lungenen Modeschau manchmal die
zunähen: »Ich wollte die Kleider ver­ Tränen vor Rührung kommen. PE

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 119


Wollen die Union­Schreihälse
BRIEFE und zahlreiche Boulevardschrei­
ber partout nicht zur Kenntnis
nehmen, dass eine Lieferung der
Leopard­Kampfpanzer Deutsch­
lands an die Ukraine nicht nur
eine weitere Erhöhung der
Kriegsgefahr zwischen Nato und
Mit der Twitter­Shoppingtour hat ter als auch das Internet und das Russland zur Folge hätte, sondern
sich Elon Musk eine neue Bau­ Auto dienen nicht dem dazu auch weitere Millionen ukraini­
stelle geschaffen, die er nicht nötigen reduzierten und nach­ scher Flüchtlinge Richtung Wes­
braucht. Und das zusätzlich zu haltigen Lebensstil. Dass Auto­ ten mit sich brächte? Scholz und
den bestehenden Firmenbetei­ deutschland, das einst reichste Pistorius zeigen gottlob klare
ligungen und der gerichtlichen Land Europas, jetzt am Absteigen Kante trotz enormen Drucks.
Auseinandersetzung. Damit ver­ ist, bestätigt das. Wer mit seiner Thomas Enders, Koblenz
läuft er sich mehr und mehr auf Tätigkeit die Schöpfung schützt,
dem schmalen Grat zwischen Ge­ verdient dagegen kaum Geld. Ja, Verteidigungsminister Struck
nie und Wahnsinn. Vielleicht hat Priska Gehring, Freiburg im Breisgau war bei der Truppe sehr beliebt,
er das ja nun eingesehen, da er denn sie will Einsätze, nicht nur
Tom Zhu zum wichtigen Tesla­ üben. Wenn die Truppe nun hofft,
Manager berufen hat. Denn auch Krieg ist Pistorius werde »eine Art Peter
er ist nicht Gott. Struck 2.0«, dann hofft sie, auch
Rainer Szymanski, Grünheide (Brandenb.) Politikversagen er werde ihr zu einem militäri­
Nr. 4/2023 Bundesregierung: schen Einsatz verhelfen.
Die Twitter­Übernahme war Elon Was auf den neuen Verteidigungsminister Wolfgang Maucksch, Herrieden (Bayern)
Musks Versuch, zum Gott zu Boris Pistorius zukommt

So sehen Loser aus werden, angebetet von Millionen Im vergangenen Sommer hat
Usern. Was will man von einem Ein Trupp von zehn exzellenten, die Ukraine mit den geeigneten
Nr. 4/2023 Titel: Selbstzerstörung eines Soziopathen auch anderes erwar­ fachlich ausgewiesenen Jour­ Waffen an ungefähr einem Tag
Superstars
ten? Die nächste Stufe wird sein, nalisten – darunter gottlob eine 6000 Quadratkilometer zurück­
Ja, Elon Musk scheint für die All­ dass er, als Egomane, mit boden­ Frau – soll in Windeseile ein tref­ gewonnen. Nichts spricht da­
gemeinheit verrückt zu sein. Aber loser Enttäuschung reagiert. Mal fendes Porträt des neuen Vertei­ gegen, dass es kommenden Som­
dieses Genie quasi als Nazi ab­ sehen, wo das hinführt. Im Übri­ digungsministers Boris Pistorius mer so weitergeht. Natürlich
zubilden, wie Ihr Titelbild sug­ gen beruht sein »Erfindergeist« erstellen. Seine Biografie und möchte keiner als Totengräber der
geriert, geht gar nicht. Ich finde, im Wesentlichen darauf, mörde­ belegten Äußerungen sind eine russischen Armee dastehen. Für
Sie liegen seit Längerem bei den rischen Druck auf seine Ingenieu­ dankbare Fundgrube. Fazit: diese Rolle guckt man sich lieber
Titelbildern und ­storys daneben. re auszuüben. Dass Investoren durchsetzungsfähig, wenn auch ein besonders doofes Volk aus,
Marc Langentepe, Seedorf (Schl.-Holst.) ihn verherrlichen, zeigt nur, dass manchmal robust, dabei von sich dem zum Schluss jeder bestätigen
sie das gutheißen. Insofern ist überzeugt, bisweilen zu offen wird, dass dank seiner tollen Pan­
Der SPIEGEL ist schuld daran, alles wie immer: Der größte Hai (Deutschland sei indirekt am zer alles ganz schnell gegangen ist.
dass in meinem Exemplar die Sei­ im Becken wird von allen ande­ Krieg beteiligt), kanzlertreu. Die Peter Kampa, Dörpen (Nieders.)
ten über Elon Musk nass wurden. ren Fischen vergöttert – bis er Truppe werde ihn mit offenen
So geweint habe ich, als ich las, sie frisst. Armen aufnehmen, so die Erwar­ Die Deutschen sollten sich lieber
dass er die Tabelle der Reichen Dr. Michael Groß, Nesselröden (Nieders.) tung des Kanzlers. Der wird Pis­ für den Frieden mit Russland
nicht mehr anführt. torius wohl in der Panzerfrage die hervortun, als blindlings verant­
Andreas Willscher, Hamburg Musk reiht sich nahtlos ein in die Entscheidung für den »Leopar­ wortungslosen Kriegstreibern in
Riege jener menschlichen Irrlich­ den« auferlegen, um sich vom deutschen und ausländischen
»Selbstzerstörung« mit 153 Mil­ ter unter uns, die in ihrer Selbst­ Nimbus des ewigen Zauderers zu Medien und Politik zu folgen. Die
liarden US­Dollar auf dem Kon­ herrlichkeit davon überzeugt befreien. Wird der Minister damit ersten mit Liebesgrüßen aus Mos­
to – klingt lässig. scheinen, dass das Bündel Mate­ gleichzeitig zum Hoffnungsträger kau mittels nicht abwehrbarer
Ulrich Bihler, Homburg (Saarl.) rie, das wir »Mensch« nennen, für die angeschlagene Koalition? Hyperschallraketen gesendeten
bei ihnen von außergewöhnlicher Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.) Atombomben werden über den
Warum widmen Sie dem über­ Art sein muss. Mir sind Leute à Köpfen derer explodieren, in de­
heblichen und offenbar größen­ la Musk grundsätzlich suspekt – Nach der Blindgängerin Lambrecht ren Land die meisten von jeher
wahnsinnigen Elon Musk, der von Göttlichkeit keine Spur! sollte alles besser werden. Der gegen Russland gerichteten ame­
innerhalb kurzer Zeit das meiste Rüdiger Reupke, Isenbüttel (Nieders.) Neue hatte ja wenigstens sei­ rikanischen Bomben gelagert
Privatvermögen aller Zeiten ver­ nen Grundwehrdienst geleistet – sind – richtig: über den Köpfen
loren hat, eine Titelgeschichte? Wie beruhigend, dass solch toll, wie niedrig hier die Quali­ der Deutschen. Und die besten
Und dazu noch ein Interview mit reiche Menschen nicht gottgleich, fikationslatte gelegt wird. Und Freunde Deutschlands jenseits
seinem kritiklosen Bewunderer sondern eher beschränkt und dann dieser unsägliche Auftritt des Atlantiks werden aus sicherer
Frank Thelen, dessen Fonds im schwach sind. Das ist auch beim in Ramstein. Er habe sofort das Entfernung fasziniert den schau­
Jahr 2022 über 50 Prozent seines ehemals reichsten Mann Bill Ministerium angewiesen, festzu­ rig schönen Feuerball über Euro­
Werts verloren hat? So sehen Gates sichtbar geworden. Denn stellen, wie viele Panzer im Heer pa beobachten.
Loser aus, die sich in krasser Ver­ das so verdiente Geld hat nichts und der Industrie vorhanden Dr. Hans Renner, Innsbruck (Österreich)
kennung der Realität für Gewin­ zu tun mit der Bewahrung der seien, sagte Pistorius dort. Die
ner halten. Sie verdienen keine Schöpfung. Diese kann sich nur nächste Blendgranate der aktuel­ 20 Jahre lang hieß es, unsere Frei­
mediale Aufmerksamkeit. durch gegenseitige Rücksichtnah­ len Regierung. heit werde am Hindukusch vertei­
Dr. Helmut Eschweiler, Berlin me erhalten. Sowohl der Compu­ Knut Kriegsmann, Ulm digt, jetzt wird sie in der Ukraine

120 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


den Mietern einen gemeinwohl-
Deutschland darf So soll Journalismus Es ist seit jeher orientierten Eigentümer.
nicht Teil dieses sein: Missstände äußerst interessant, Christina Lolk, Bremen
Krieges werden, aufdecken, Namen was die Leser zu
Der so detaillierte und gute Be-
auch nicht, wenn nennen, auch wenn den einzelnen The- richt über die Doppelmoral, den
Frau Strack-Zimmer- es wehtut. Bravo! men meinen. Warum dreisten Betrug am Steuerzahler
mann, einige Nato- Inga Hänsel-Nell, Wuppertal nicht endlich eine und die Anstiftung zum Betrug der
Partner und viele Seite mehr dafür, linken Journalisten macht mich
fassungslos. Das gilt auch für die
Journalisten offenbar anstatt viele Seiten unfähige Berliner Verwaltung, die
eine andere Risiko- mit überflüssigen ihrer Kontrollfunktion nicht nach-
bereitschaft haben Themen wie den kommt und damit die Gier ermög-
licht, die sonst in den Artikeln der
als der Kanzler. Royals zu vergeuden? betreffenden Journalisten ange-
Rüdiger Lüttge, Gielsdorf Klaus Schröter, Weißenburg prangert wurde. Die Krönung in
(Brandenb.) (Bayern) diesem Sumpf ist Baustadtrat
Florian Schmidt, der sonst kein
Nr. 3/2023 Wie Medienleute in
Nr. 4/2023 Was auf den Berlin-Kreuzberg ein Haus
Blatt vor den Mund nimmt, es
neuen Verteidigungsminister sanierten – mit staatlichen aber nicht für nötig hält, den Be-
Boris Pistorius zukommt Fördergeldern in Millionenhöhe Nr. 3/2023 Briefe trug zu verfolgen, sondern lieber
seinen Bekannten einen Tipp zum
Kauf des Hauses in der Oranien-
verteidigt. Wenn die selbst er- Lissabon bis Wladiwostok. So ge- nenkreis handelt, welcher bei an- burger Straße gibt und einen Mie-
nannten Sicherheitsexperten sehen ist die zögerliche Haltung deren solche Dinge gnadenlos ter des Hauses auffordert, nicht
Strack-Zimmermann, Hofreiter des Kanzlers bezüglich der Leo- anprangert. mehr mit dem SPIEGEL zu spre-
und Co. sich durchsetzen, wird pard-Lieferung an die Ukraine Gerhard Draumann, Bürstadt (Hessen) chen. Wünschenswert wäre, dass
unsere Freiheit demnächst in Ost- eine Katastrophe für Deutschland der SPIEGEL zu den Verstößen der
deutschland verteidigt. Allerdings und die EU. Dieser Artikel zeigt genau die Journalisten Senator Andreas Gei-
fehlen uns dann die Panzer – die Richard Gubert, Meran (Italien) Doppelmoral, die manche haben, sel für Stadtentwicklung, Bauen
wurden zuvor in der Ukraine zu wenn es um den eigenen Geld- und Wohnen und Justizsenatorin
Schrott geschossen. Als Kanzler beutel geht. Es wird alles unter- Lena Kreck einen Fragenkatalog
Schröder die Teilnahme am Irak- Nur der Zipfel nommen, was man wahrschein- vorlegt, damit der Fall nicht im
krieg verweigerte, hat Angela lich aus eigenen Recherchen ge- Sande verläuft.
Merkel ihm vorgeworfen, er habe der Decke sehen hat, um die hohen Zuschüs- Patrizia Krienke, Hamburg
Deutschland international iso- Nr. 3/2023 Moral: Wie Medienleute se nicht zu verlieren. Es werden
liert. Gut, dass es in der SPD noch in Berlin-Kreuzberg ein Haus sanierten – Namensschilder für Wohnungen Das sind die tief recherchierten
besonnene Kräfte gibt, die nicht mit staatlichen Fördergeldern in montiert, obwohl nicht selbst be- Hintergrundartikel, die den
Millionenhöhe
aus reiner Betroffenheit handeln. wohnt, Mieter erhalten keinen SPIEGEL unersetzlich machen.
Krieg ist nicht die Fortsetzung Die Geschichte um das Haus schriftlichen Mietvertrag, Mieter Danke!
der Politik mit anderen Mitteln, Oranienstraße 169 macht wü- sollen sich nicht oder in anderen Stefan Berkholz, Berlin
sondern die Folge von Politik- tend. Weniger weil die Besitzer Wohnungen anmelden, Neben-
versagen. 3,4 Millionen abzogen, sondern kosten werden bar kassiert. Hof- Sehr gut recherchiert und ge-
Hartmut Herbst, Hannover weil sie damit durchkommen. fentlich hat der Beitrag Auswir- schrieben. Es trifft die Verhält-
Manchmal muss man Summen kungen auf die Eigentümer der nisse in Kreuzberg. Leider ist der
Wenn wir uns Russlands Ge- auf eine persönliche Ebene Oranienstraße 169. Bezirk bald nicht mehr sichtbar
schichte der vergangenen 200 herunterrechnen, um ein Gefühl Elmar Brändel, Königsbronn (Bad.-Württ.) als ehemaliges Modellvorhaben
Jahre vor Augen halten, im Be- für die Dimension zu bekommen: der »behutsamen Stadterneue-
sonderen mit Blick auf Putins Re- Ich müsste rund 250 Jahre alt Eine sehr aufschlussreiche Repor- rung« der Internationalen Bau-
gime, so verliert ein Russland, das werden, um mit meiner erar- tage. Sicherlich kein Einzelfall, ausstellung. Als links-ökologi-
sich territorial nicht erweitert, für beiteten Rente auf den Betrag auch über Berlin hinaus, wie sches Modell für die Republik und
viele Russen an Legitimität. Dies der 3,4 Fördermillionen zu Steuergeld in gutem Glauben darüber hinaus nach 40 Jahren
ist einer der Gründe, weshalb kommen. Nicht nur die Ultra- gierigen Einzelpersonen in den grüner Stadtregierung ist das
Russland diesen Krieg vernich- rechten sind eine Gefahr für Schlund gesteckt wird. Noch er- Quartier völlig abgerutscht, das
tend verlieren sollte. Andernfalls unsere Demokratie, sondern vor schreckender als die versagen- ist überall sichtbar. Sie haben den
wird es kaum nach der Ukraine allem die Selbstgerechten mit den Ämter ist allerdings die hier Zipfel der Bettdecke angehoben,
haltmachen und sich immer er- ihren Ansprüchen an die Gesell- beschriebene Doppelmoral der unter der sich ein verwobenes
weitern wollen, ob uns das gefällt schaft – ohne Gegenleistung, ver- Protagonisten. Aber das kennt Konstrukt von Pseudopartizi-
oder nicht. Ich erinnere an die steht sich. man ja leider wiederum aus vie- pation und Umweltorientierung
Drohung des russischen Außen- Christoph Nitsche, Straßenhaus len anderen Bereichen. bestens eingerichtet hat. Insofern
ministers Lawrow an Deutsch- (Rhld.-Pf.) Andrea Bauer, Oberammergau (Bayern) weiter so, Sie könnten mit dem
land vor einigen Monaten, die übernächsten Haus weiterma-
Wiedervereinigung sei nicht Im Kreise der sogenannten Edel- Es bleibt einem die Spucke weg, chen.
rechtmäßig gewesen. Dmitrij federn ist die Kriminalität, wie mit was für einer Selbstverständ- Peter Beck, Berlin
Medwedew gab noch eins drauf, in allen anderen Bevölkerungs- lichkeit die angebliche Förder-
als er sagte, Russland mache in gruppen, ebenfalls vorhanden. truppe kriminell zu Werke ging. Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
der Ukraine den ersten Schritt zur Schlimm ist es, dass es sich bei Ich hoffe inständig, dass sie damit Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
Schaffung eines Eurasiens von dieser Klientel um einen Perso- nicht durchkommt, und wünsche unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 5 / 28.1.2023 DER SPIEGEL 121


L E TZ T E S E I T E

Jetzt oder nie, Nostalgie HOHLSPIEGEL

Von Welt.de:
ZEITREISE Jahrzehntelang blickten die Bundesbürger nur nach vorn,
1973 erspürte der SPIEGEL eine Nostalgiewelle – mit der Rückkehr von
Petticoat und Elvis-Tolle, Rühmann- und Heimatfilmen.
Nr. 5/1973 »Jene Sehnsucht
nach den alten Tagen …«

Die »Rheinische Post« über Mozarts sogenannte


Die einen ließen Petticoat Krönungsmesse:
und Elvis-Tolle wieder auf-
leben, andere strömten in »Bis heute weiß man nicht recht, welche
Film-Retrospektiven der Krönung eigentlich gemeint sein soll: bei

RDB / ullstein bild


Zwanzigerjahre. Die ARD der Uraufführung trug sie noch keinen
sendete in drei Jahren 30 Flohmarkt in Beinamen. Er wurde dem Werk auch erst
Rühmann-Reprisen. Und wem das nicht reich- Zürich 1971 im 18. Jahrhundert angeheftet, also weit
te, der durfte eine Neuauflage des Heimat- nach Mozarts Tod 1791.«
filmklassikers »Grün ist die Heide« mit Schla-
gersänger Roy Black genießen. Als Keimzelle der Nostalgiewelle machte
Aus dem »Hamburger Wochenblatt«:
»Ein Gefühl geht um im Westen, und das der SPIEGEL – was sonst – die USA aus: Die
heißt Nostalgie«, konstatierte der SPIEGEL . Hinwendung zur Vergangenheit sei im Grun-
Dahinter steckte auch ökonomisches Kalkül: de nichts anderes als der Versuch, den Schre-
Diese »Kapricen« seien nicht denkbar ohne cken von Vietnamkrieg, Rassismus und Um-
die »Drohung der Langeweile im Stadium weltzerstörung zu entkommen. Das »para-
eines Vergeudungskapitalismus«, kritisierte lysierte Amerika« suche die »Signale und
das Magazin ganz im Sinne des linken Zeit- Symbole seines vermeintlich heiteren, angeb-
geistes. lich besseren Selbst«.
Dabei haftete dem »Heimweh nach den Europa ließ sich von der »Absetzbe-
Die »Lübecker Nachrichten« über Winfried Stöcker, den
Nichtigkeiten und Wichtigkeiten einer ver- wegung in Richtung Innerlichkeit« infizie- Besitzer des örtlichen Flughafens:
klärten Vergangenheit« auch eine gewisse ren, auch aus Frustration über »bisherige
Konsumverweigerung an: Der »fortgeschrit- Progressivitäten«. »Vernunft, Fortschritt, »Der Flughafen solle ›klein und fein blei-
tene Nostalgiker« giere »nach authentischen Technologie« – die drei Kernbotschaften ben, aber es soll auch Geld verdient wer-
Altwaren«. Trödelläden erlebten eine Jagd der Sechzigerjahre wurden von immer den‹, so der Airport-Chef. Noch investiere
auf die »Dekorationsscheußlichkeiten« ver- mehr Menschen im Westen in Zweifel ge- der Flughafeneigner jedes Jahr einen zwei-
gangener Dekaden. zogen. Rainer Lübbert stelligen Betrag.«

Aus einer Werbebroschüre des Gesundheitszentrums


durchforsten könnte, beschied der Kanzler
Top Secret mit einem knappen »Ja, könnte ich«. Seither
Ludwigsburg:

ist nichts geschehen. Insider gehen allerdings


davon aus, dass der korrekte Scholz alles
SO GESEHEN Die verschwundenen
Relevante sicher in einem Schließfach bei
Merkel-Geheimnisse der Warburg-Bank verstaut hat.
Anders bei Angela Merkel. Bereitwillig
Angesichts der Skandale in den USA um in öffnete die Altkanzlerin den Beamten die
Privatresidenzen gelagerte geheime Staats- Türen ihrer Wohnung in Berlin-Mitte, ihrer
dokumente wächst die Sorge deutscher Be- Datsche in der Uckermark sowie einer der Aus der »Stuttgarter Zeitung«:
hörden, auch hierzulande könnten sensible Öffentlichkeit bislang unbekannten Ferien- »Wer von Merklingen nach Ulm möchte,
Papiere abhandengekommen sein. Da das unterkunft in Braunschweig – doch alle kann den Fahrschein nicht über die
Problem in den Vereinigten Staaten ehemali- Objekte waren »verdächtig sauber«, wie es Online-Vertriebswege der Bahn buchen.
ge und amtierende Spitzenpolitiker wie in einem nach der Begehung angelegten Für Fahrten von Merklingen nach Ulm ist
Donald Trump, Joe Biden und zuletzt Mike Aktenvermerk heißt. Dabei müssen sie doch das dagegen möglich.«
Pence betrifft, richtet sich der Fokus der deut- irgendwo sein: der Plan zum großen Bevöl-
schen Ermittler auf Bundeskanzler Olaf kerungsaustausch der Deutschen durch syri- Die »Augsburger Allgemeine« über einen purpurfarbenen
Scholz und seine Vorgängerin Angela Merkel. sche Flüchtlinge ab 2015, die Bankbelege See nahe Hildesheim:
Beim Amtsinhaber stocken die Ermittlun- russischer Zahlungseingänge in Sachen Nord
gen nun bereits im Anfangssta- Stream 2 und das umfangreiche Kompro- »Die Experten raten vehement davon ab,
dium. Eine informelle Anfra- mat, mit dem sich Merkel im Laufe ihrer das Wasser zu betreten.«
ge, ob Scholz seine Potsda- Karriere der Herren Kohl, Stoiber, Merz,
mer Privatwohnung bitte Koch, Oettinger et al. entledigt hat.
Aus der »Stuttgarter Zeitung«:
nach versehentlich mitge- Die Frustration der Ermittler ist mittler-
nommenen geheimen weile so groß, dass sie selbst abwegige
Regierungsdoku- Hypothesen nicht mehr ausschließen wol-
menten aus seiner len. »Möglicherweise«, so versteigt sich
Zeit als Erster Ham- der Bericht, »hat diese Frau einfach keine
burger Bürgermeister Geheimnisse.« Stefan Kuzmany

122 DER SPIEGEL Nr. 5 / 28.1.2023


Jetzt aktuelle Nachrichten
lesen, hören, sehen
Entdecken Sie mit SPIEGEL+ jetzt die ganze digitale Welt des
SPIEGEL – mit Nachrichten und Hintergründen, Audio-Inhalten und
Videos. Inklusive ist das digitale Magazin und vieles mehr!

Jetzt Zugriff auf alle S+-Inhalte


auf SPIEGEL.de
1 Monat
gratis
Der digitale SPIEGEL
freitags ab 13 Uhr

PDF

Alle aktuellen SPIEGEL-


Magazine als PDF

Digitales Archiv mit allen


SPIEGEL-Titeln seit 1947

DER SPIEGEL und alle weiteren


S+-Inhalte zum Anhören

Kostenlosen Probemonat starten:


abo.spiegel.de/plus1
1&1 DSL und Glasfaser –
Notebook inklusive*

INTERNET
getestet: Anbieter, nicht einzelne Angebote & TELEFON

ab 9, 99 €/Monat*

50 MBit/s-Tarif für 12 Monate, danach ab 39,99 €/Monat


(Ohne Notebook)

Samsung
Galaxy Book2

0,–einmalig
€*

UVP 749,– €

Highspeed surfen, Streamen oder Gamen im ausgezeichneten 1&1 Netz.


1&1 wurde erneut Testsieger im großen Breitband-Test des PC Magazin*. Getestet wurde mit über 37 Millionen Messungen,
welcher Anbieter schnellste Download- und Upload-Raten bietet, beste Laufzeiten und höchste Stabilität. 1&1 konnte in allen Kategorien
überzeugen. Entscheiden Sie sich daher noch heute für einen 1&1 DSL- oder Glasfaser-Anschluss mit bis zu 1 GBit/s. Und sichern Sie sich im
Rahmen unserer großen Testsieg-Aktion ein Samsung Galaxy Book2 für einmalig 0,– €, anstatt 749,– € UVP.*
Oder wählen Sie 360,– € Willkommens-Prämie und sparen Sie ein Jahr lang jeden Monat 30,– €.*

*1&1 DSL 50 für 12 Monate für 9,99 €/Mon., danach 39,99 €/Mon. 1&1 Glasfaser 50 für 12 Monate 14,99 €/Mon., danach ab 44,99 €/Monat. Auf Wunsch mit Notebook für einm. 0,– €
ab DSL- oder Glasfaser-Tarif ab 50 MBit/s ab 39,99 €/Monat (DSL) bzw. 44,99 €/Monat (Glasfaser), z.B. Samsung Galaxy Book2 einm. 0, – € auf Wunsch zu DSL- oder Glasfaser-Tarif ab
250 MBit/s ab 49,99 €/Mon. Internet-Flat: Unbegrenzt surfen bis zu 50 MBit/s. Für Glasfaser-Tarife: In vielen Regionen möglich. Sofern keine Glasfaserleitung vorhanden: Ausbau und
Eigentümergenehmigung erforderlich. Aktion: Baumaßnahmen kostenfrei. Für alle Tarife gilt: Telefon-Flat: Kostenlos ins dt. Festnetz telefonieren. Anrufe in dt. Mobilfunknetze 19,9 ct/Min.
Mögliche Hardware: z. B. 1&1 HomeServer+ für 6,99 €/Monat. Der Preis fällt zu den zusätzlichen monatlichen Tarifleistungen an, die zusammen mit der Hardware angeboten werden. Versand:
1und1.de
einmalig 9,90 €. Bereitstellungspreis: einmalig 49,95 € (DSL) bzw. 67,40 € (Glasfaser). Mindestlaufzeit: 24 Monate. Abbildung ähnlich, Änderungen und Irrtümer vorbehalten. Preise inkl. 0721 / 960 6060
MwSt. 1&1 Telecom GmbH, 56403 Montabaur. WEEE-Reg.-Nr. DE13470330.

Das könnte Ihnen auch gefallen