BeNeLux €  6,80 Finnland €  8,70 Griechenland €  7,30 Norwegen NOK  92,– Portugal (cont) €  6,90 Slowakei €  7,10 Spanien €  7,10

Spanien €  7,10 Tschechien Kc 210,- Printed

Dänemark dkr 64,95 Frankreich €  7,10 Italien €  7,60 Österreich €  6,50 Schweiz sfr  8,50 Slowenien €  6,90 Spanien / Kanaren €   7,30 Ungarn Ft 2990,- in Germany

Der neue Chef

VORABDRUCK
Manfred Krugs

von Ex-Kanzler Kurz

geheimes Tagebuch
Was Verbrennerautos

US-MILLIARDÄR THIEL
künftig noch wert sind
AB AUF DEN SCHROTT?

in Europa
GEHT
Kremlchefs und
der drohende Krieg
Das Machtspiel des
PUTIN?
WIE WEIT
DEUTSCHLAND€ 5,80
Nr. 4 | 22.1.2022
 sevDesk.de

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HAUSMITTEILUNG

Titel | Seiten 8, 11, 14, 18

Wird Russland in die Ukraine einmarschieren? Wie

könnte der Westen reagieren? Und was bedeutet das für
die Menschen vor Ort? Ein großes SPIEGEL -Team hat in
Julia Kochetovaa / DER SPIEGEL

Berlin, Washington, Moskau, Kiew und Charkiw in der

Ostukraine recherchiert, um diese Fragen zu beantwor-
ten. Christian Esch, Büroleiter des SPIEGEL in Moskau,
hat dafür mit drei Putin-Expertinnen per Videochat über
die möglichen Pläne des russischen Präsidenten disku-
tiert. Unter ihnen war Nina Chruschtschowa, Enkelin des
ehemaligen sowjetischen Staatschefs Nikita Chrusch­
tschow, die in New York Internationale Politik lehrt. In Kiew traf Esch zudem Olexij Danilow, den
Sicherheitsberater von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Danilows Einschätzungen finden sich in
einem Artikel, der beschreibt, wie gut – oder besser wie schlecht – die ukrainische Armee auf
einen mög­lichen Angriff Russlands vorbereitet ist.

Ukraine | Seite 21

Charkiw ist die zweitgrößte Stadt in der Ukraine, sie liegt

Igor Chekachkov / DER SPIEGEL

im Osten des Landes, unweit der Grenze zu Russland, und
sie gilt als zerrissene Stadt. Hier leben Ukrainer und Rus-
sen, darunter Geflüchtete aus den Separatistengebieten,
­zusammen, an kaum einem anderen Ort sind die inneren
­Konflikte des Landes besser zu beobachten. SPIEGEL-
Redakteurin Lina Verschwele (r.) traf drei Frauen in Char-
kiw, die auf sehr unterschiedliche Weise auf die Kriegs­gefahr
­reagieren: Eine bereitet sich auf die Flucht vor, eine zieht sich in die Erinnerung an die Vergangenheit
WIR SIND STOLZ
zurück, eine fragt sich, ob die Bevölkerung der Ukraine jemals wieder zusammen­findet. Verschwele
glaubt, »dass dies, wenn es überhaupt gelingen kann, sehr schwierig werden wird«.
B CORP™
Habeck | Seite 28 Z E RT I F I Z I E RT Z U S E I N
In der kommenden Woche wird Robert Habeck, Minister für Wirtschaft und Klimaschutz, den
Jahreswirtschaftsbericht vorlegen, gewöhnlich ist das ein mäßig interessanter Termin. Doch die- Begleiten Sie uns auf dem Weg
ses Mal wird es anders sein, denn Habeck wird ausführlich darüber sprechen, wie er Wachstum
zu nachhaltigem Wohlbefinden
und Fortschritt definieren will, welche Maßstäbe künftig für den Wohlstand in Deutschland gel-
ten sollen. Über diese Vorhaben und die Konsequenzen sprach Habeck mit den SPIEGEL -Redak-
teuren Martin Knobbe und Gerald Traufetter in seinem Büro, dem man ansieht, dass Habeck noch
nicht lange im Amt ist. Die schwere Couchgarnitur ist noch von seinem Vorgänger Peter Altmaier,
Habeck hatte auch noch keine Zeit, sich eigene Kunst an die Wand zu hängen. Dankbar sei er für
die Dusche, sagte Habeck, die einer seiner Vorgänger, Philipp Rösler, hatte einbauen lassen. So
könne er ab und an mal fünf Kilometer joggen gehen. Über Habecks Reform des Jahreswirtschafts-
berichts sagt Traufetter: »In der Wirtschaft wird er sich damit nicht nur Freunde machen.«

Finnland | Seite 56

Das weltweit erste Endlager für hoch radioaktiven Müll liegt in Finn-
land, die Fahrt hinab dauert etwa zehn Minuten, dann endet der
­Zugangstunnel in einer geräumigen Halle, in der Nähe der Stollen, in
denen vom Jahr 2025 an die Brennstäbe aus finnischen Atomreakto-
ren gelagert werden sollen. Wenige Kilometer entfernt liegt die Klein-
stadt Eurajoki, wo die Mehrheit der Einwohner das Endlager begrüßt.
Juuso Westerlund / DER SPIEGEL

Warum das so ist, warum ausgerechnet die Finnen als erste Nation
ein Endlager für hoch radioaktiven Müll in Betrieb nehmen werden,
recherchierte SPIEGEL -Reporter Uwe Buse (r.) in Eurajoki und der
Hauptstadt Helsinki: »Finnlands Konsenskultur, Vertrauen in die In-
stitutionen, geschickte Öffentlichkeitsarbeit des Bauherrn sind wich-
tige Mosaiksteine, wenn man den Erfolg der finnischen ­Regierung
verstehen will.« R I T UA L S . C O M / C E RT I F I E D B C O R P
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 3
INHALT TITEL

8 | Diplomatie  Die Bundes­

regierung kann sich nicht auf eine
Haltung gegenüber Putin einigen
DER SPIEGEL 76. Jahrgang | Heft 4 | 22.1.2022

11 | Welchen Druck kann der

Westen aufbauen?
Ukrainische Soldaten bei
Militärübung in der
Nähe von Donezk im 14 | Russland  SPIEGEL -­
Dezember 2021 Gespräch mit den Expertinnen
­Ma­sha Gessen, Nina
­Chruschtschowa und Sabine
­Fischer über Putins Motive

18 | Militär  Wie verteidigungs­

fähig ist die Ukraine bei
einem russischen Angriff?

21 | Ukraine  In der Stadt

­Charkiw zeigt sich die Spaltung
des Landes

Ukrainian Defense Ministr y Press Ser vice / AP

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel  Die Abschaffung

des Paragrafen 219a des
­Straf­gesetzbuchs ist nicht genug

24 | Merz bekommt Korb von

Merkel / Lafontaine-Fans
­be­drohen eigene Genossen /
Der gesunde Menschenverstand /

Deutschland kann sich nicht raushalten So gesehen: Gönnt euch

28 | Wohlstand  Vizekanzler
Habeck im SPIEGEL -Gespräch
KRISE IN OSTEUROPA   Während Russland an der Grenze zur Ukraine aufrüstet, steht über neue Ziele für die Wirtschaft
die Bundesregierung immer stärker unter Druck. Unterstützt sie die Regierung in und den Ukrainekonflikt
Kiew durch Waffenlieferungen? Stimmt sie für härtere Sanktionen gegen Russland – 33 | Grüne  Vor allem Ricarda
und für ein Ende der Gaspipeline Nord Stream 2? | 8, 11, 14, 18, 21 Lang muss die Ermittlungen der
Staatsanwälte fürchten

34 | Karrieren  Rolf Mützenich –

derzeit der wohl unglücklichste
Sozialdemokrat

36 | Netzwelt  Wie die AfD

bei Facebook größer erscheint,
als sie ist

38 | Corona  Die schwierige

­Suche nach einer Exitstrategie
Kate Green / Getty Images

42 | Pandemie  Für ­ungeimpfte

Kinder bleibt wenig Spaß in der
Julia Steinigeweg

Freizeit
KPA / ddp

1997 44 | Sexuelle Gewalt  Wenn

Frauen Kinder missbrauchen –
ein SPIEGEL -Gespräch
Robert Habeck Bernardine Evaristo Manfred Krug
Der Klimaminister will aus der Die britische Autorin beeindruckt Die Tagebücher des Stars 48 | Extremismus  Funktionäre
sozialen auch eine ökologische durch Aufrichtigkeit und lebens- geben Einblick in sein Leben als bei der Ditib Nord sympathi­
Marktwirtschaft machen. | 28 kluge Ratschläge. | 118 ­Werbegesicht und Vater. | 114 sieren mit den »Grauen Wölfen«

4 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
50 | Katholiken  Das Münchner 82 | Österreich  Bundeskanzler
Missbrauchsgutachten erschüttert Nehammer über die beschlossene
die Kirche Impfpflicht

84 | Analyse  Die Schweiz

DEBAT TE ­entfernt sich weiter von der EU

52 | Krisenbewältigung  86 | Brasilien  Die Pandemie

Drew Angerer / Getty Images / AFP

Die Idee eines starken Staates trieb viele Menschen in prekäre
Jobs als Kurierfahrer

REPORTER
SPORT
54 | Familienalbum / Wozu
braucht der Mensch Orden? 89 | Zwei Ehrungen zum Welt-
fußballer des Jahres / Ist Covid-19
55 | Eine Meldung und ihre riskant für Sportlerherzen? Milliardär und Strippenzieher
­Geschichte  Ein Witwer, Peter Thiel investierte früh in PayPal und Facebook. Nun drängt der
ein Grab – und ein Tenorhorn 90 | Olympia  Großveranstal­ Trump-Verbündete in die US-Politik, engagiert Österreichs Ex-Kanzler
tungen belasten die Umwelt und unterstützt rechte Kandidaten. | 78
56 | Umwelt  Die Finnen
und ihr Atommüll 94 | Skitourismus  Der Winter-
sportort Ehrwald kämpft sich
61 | Ortstermin durch die Pandemie
»Corona-Hölle« Sylt

WISSEN
WIRTSCHAF T
98 | Das Tonga-Rätsel / Analyse:
62 | Neue Staatshilfe für Unzureichende Immunität nach
Galeria / Materialmangel bei Omikron-Infektion?
Blutuntersuchungen
100 | Astronomie  Die Geschich-
64 | E-Fuels  Sind die neuen te des »James Webb«-Teleskops
Treibstoffe die Rettung für
­Verbrenner? 104 | Naturschutz  Gibt es
Windkraft ohne tote Vögel?

Posiva
67 | Analyse  Der Euro-Stabili-
tätspakt sollte abgeschafft werden 106 | Gentechnik  Das Schicksal
der ersten Designerbabys der Welt Atomgrab für die Ewigkeit
68 | Weltwirtschaft  China wird Die Finnen wollen das Klima retten. Sie glauben den Aussagen
zum Risiko für die Konjunktur der Wissenschaft und auch der Politik – und bauen nahe der Stadt
KULTUR ­Eurajoki das weltweit erste Endlager für hoch radioaktiven Müll. | 56
70 | Unternehmen  Hat der
Nachwuchs keine Lust aufs Top- 108 | Ein Filmfestival will
management? ­hypnotisieren / Die neue Staffel
von »Der Pass«
72 | Corona  Die enttäuschende
Bilanz der Luca-App 110 | Kino  Die Nostalgie
von Starregisseur Paul Thomas
73 | Start-ups  Der Program- Anderson
mierer der wichtigsten Impf­
statistik der Welt 114 | Schauspieler  Manfred
Krugs Tagebücher im Vorabdruck
74 | Immobilien  Der alltägliche
Pfusch auf deutschen Baustellen 118 | Karrieren  Bernardine
­Evaristo erzählt ihr Leben

AUSLAND
Hans G. Lehmann

120 | Literatur  Gratulation zum

140. Geburtstag Virginia Woolfs
76 | Wird Silvio Berlusconi Prä-
sident Italiens? / Der Jemenkrieg 123 | Ausstellungskritik  Dalís
­weitet sich aus Verehrung für Sigmund Freud
Das langsame Sterben der alten Straßenstars
78 | USA  Wie der rechtslibertäre SPIEGEL-TV-Programm | 39 Bestseller | 122 Die Zukunft gehört den Elektroautos – doch was wird aus den
Impressum, Leserservice | 124
Techmilliardär Peter Thiel die Nachrufe | 125 Personalien | 126
­Zigmillionen Fahrzeugen mit Benzin- und Dieselmotor? Unbeug­
Politik aufmischen will Briefe | 128 Hohlspiegel / Rückspiegel | 130 same Verbrennerfans setzen ihre Hoffnung auf E-Fuels. | 64
Titelfotos [M]: Alexei Druzhinin / Sputnik / Kremlin Pool Photo via AP; Sergey Pivovarov / REUTERS
Oben: Wladimir Putin beobachtet eine Marineübung vor der Krim am 9. Januar 2020. Unten: Russische Panzer bei einer Militärübung nahe der ukrainischen Grenze am 12. Januar 2022. Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 5
Das kann nur ein Anfang sein
LEITARTIKEL  Der Paragraf 219a soll fallen, die Ampel will das Werbeverbot für Abtreibungen streichen.
Eine echte Hilfe für ungewollt Schwangere aber sähe anders aus.
Cord / IMAGO
D
Plakat auf einer ie Ampelkoalition hat versprochen, sie werde »Fort­
Demonstration schritt wagen«. Bundesjustizminister Marco Busch­
gegen das Werbe­
verbot für mann will diesem Anspruch nun als Erster gerecht
Schwangerschafts­ werden. Das behauptet er jedenfalls. Am Montag stellte
abbrüche er einen Entwurf zur Abschaffung von Paragraf 219a des
Strafgesetzbuchs vor. Dort ist das sogenannte Werbe­
verbot für Schwangerschaftsabbrüche festgeschrieben.
Buschmann könnte damit nun ein Gesetz abräumen, das
in der Großen Koalition noch zu heftigen Diskussionen
geführt hatte.
Die SPD wollte Paragraf 219a schon in der vergangenen
Legislaturperiode streichen, konnte der Union aber nur
einen halb garen Kompromiss abringen: Ärztinnen und
Ärzte dürfen seitdem öffentlich darüber informieren, dass
sie Abbrüche vornehmen, nicht aber darüber, wie das
geschieht. Eine wirkliche Verbesserung brachte diese Ge­
setzesänderung nicht. Wenige Monate später wurde etwa
in Berlin eine Ärztin verurteilt, weil sie auf ihrer Website
nicht nur angab, dass sie Abtreibungen durchführt, son­
dern auch, mit welchem Verfahren sie abtreibt.
Bis heute werden Informationen über Abtreibungen
also durch ein Gesetz reglementiert, dessen Ursprünge
in der Weimarer Republik liegen. Entsprechend aus der
Zeit gefallen wirkt das, wofür der Paragraf steht. Er basiert
auf der Sorge, dass ausufernde Werbung zu einem pietät­
losen Umgang mit Abtreibungen führen könnte. Eine
Streichung des Paragrafen heiße, dass es künftig keinen
Sollte Abtrei­ Unterschied mehr gebe, »ob sie für eine Schönheitsklinik
oder eine Abtreibungsklinik Werbung machen«, klagte
bung nicht unlängst der Ex-Kanzleramtschef Helge Braun. Was nicht
endlich ent­ zutrifft. Denn unsachliche Werbung wird in Deutschland
durch das ärztliche Standesrecht untersagt.
kriminalisiert Das Problem ist, dass dem Paragrafen 219a ein krudes
werden? Frauenbild zugrunde liegt. Schwangere sind demnach
6 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
leicht beeinflussbare Wesen, die sich schnell zu unüber­
legten Entscheidungen verführen lassen. Das ist weit von
der Realität entfernt: Laut einer kalifornischen Studie
bereuen 95 Prozent den Abbruch später nicht. Hierzu­
lande sind sich mehr als zwei Drittel der Frauen so sicher,
dass das verpflichtende Beratungsgespräch über die Ab­
treibung keinerlei Einfluss auf ihren Entschluss hat. Die
meisten Schwangeren sind heute sehr wohl in der Lage,
selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen.
Dass dafür der Zugang zu Informationen vereinfacht
wird, ist ein guter Schritt. Aber mindestens so wichtig ist
es, bei der Debatte über 219a eine breite und gute ärzt­
liche Versorgung nicht aus den Augen zu verlieren.
Abbrüche sind in Deutschland bis heute nur unter
­bestimmten Voraussetzungen straffrei. Ob es tatsächlich
nötig und sinnvoll ist, Abtreibungen über das Strafrecht
zu regeln, ist zumindest diskussionswürdig. Einer briti­
schen Studie zufolge senkt diese Kriminalisierung nicht
die Zahl der durchgeführten Abtreibungen, sondern er­
höht lediglich die Anzahl unsicherer Abbrüche.
Auch in Deutschland ist diese eingeschränkte Legalität
für ungewollt Schwangere und Ärzteschaft oft belastend.
Zudem ist die Versorgungslage mangelhaft. Bis heute ist
die medizinische Ausbildung zur Durchführung von Ab­
brüchen unzureichend. Das und die Stigmatisierung füh­
ren wohl auch dazu, dass viele junge Ärztinnen und Ärz­
te keine Abbrüche anbieten. Laut Statistischem Bundes­
amt nimmt die Zahl der Stellen, die Abtreibungen durch­
führen, seit Jahren ab. In manchen Regionen Deutschlands
müssen Frauen mehr als 100 Kilometer fahren, um eine
Praxis zu finden. Beratungsstellen berichten immer wie­
der von Fällen, in denen Schwangere für eine Abtreibung
ins Ausland reisen, weil sie hierzulande innerhalb der
vorgegebenen Frist keinen Termin bekommen.
Die Abschaffung des Paragrafen 219a ist daher ein
richtiger, aber kein ausreichender Schritt. Wirklich fort­
schrittliche Politik sollte bereits lange vor der Schwanger­
schaft ansetzen. Etwa bei der Familienpolitik und der
Frage, wie man in verschiedenen Lebenssituationen gute
Bedingungen zum Kinderkriegen schafft. Oder beim
­Thema Verhütung: Zahlen der Bundeszentrale für gesund­
heitliche Aufklärung zeigen, dass Frauen mit wenig Geld
Verhütung häufiger unterbrechen oder ganz weglassen,
weil sie zu teuer ist. Sie werden häufiger ungewollt
schwanger und treiben häufiger ab.
Eine Koalition, die sich traut, Cannabis zu legalisieren,
sollte vielleicht auch den Mut aufbringen, an anderer
Stelle groß zu denken, und sich die Frage stellen: Sollte
Verhütung nicht kostenlos sein? Sollte Abtreibung nicht
endlich entkriminalisiert werden? Und wenn man doch
am Strafrecht festhält: Wie lässt sich bei Abbrüchen eine
gute medizinische Versorgung sicherstellen?
Der Abschied von Paragraf 219a darf nicht das Ende
der Debatte sein. Sondern der Anfang.
Sophie Garbe  n
TITEL

Eiskalter Nervenkrieg
DIPLOMATIE  Washington drängt auf scharfe Sanktionen, falls Russland
die Ukraine angreifen sollte. Doch die Bundesregierung ist uneinig, sie fürchtet die wirtschaftlichen
Folgen – und lässt den Westen damit unentschlossen wirken.

AP

Russische Truppen auf der ukrainischen Krim: Größte Drohkulisse seit dem Ende des Kalten Krieges

8 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


D
er Besuch war in gewisser Weise
konspirativ. Kein Foto, keine Presse­
mitteilung, die Runde war zunächst
klein: William Burns, der Chef der
CIA, wurde in der vergangenen
Woche zunächst von Kanzler Olaf Scholz
und dessen Amtschef Wolfgang Schmidt emp­
fangen. Später kamen BND-Chef Bruno Kahl
und Mitarbeiter des Kanzleramts dazu. Der
Chef des Auslandsgeheimdienstes der USA
sagte unverblümt: Sollte Russland die Ukrai­
ne angreifen, dann werde sich der Druck
auf Berlin erhöhen, sich klar gegen Moskau
zu stellen.
Es war trotz des freundlichen Tons unter
den Beteiligten kein einfacher Termin.
Deutschland und die USA liegen seit Wochen
auseinander. Burns hatte eine Fülle von Ge­
heimdienstinformationen über Truppenbe­
wegungen und Sabotageeinheiten dabei, um
Berlin von der US-Sicht auf die russische Be­
drohung zu überzeugen.
Das wollte auch US-Präsident Joe Biden –
und bot Scholz einen kurzfristig anberaumten
persönlichen Termin in Washington an. Es
wäre ein Antrittsbesuch, vor allem aber wäre
es die Gelegenheit für beide Regierungschefs,
die gemeinsamen Schritte in der akuten
Kriegsgefahr eng abzustimmen.
Doch Scholz soll abgelehnt haben, die
nächsten Tage seien verplant, mit Reisen
und wichtigen Sitzungen. Nun suchen beide
Seiten einen neuen Termin. Womöglich fin­
det das Treffen erst Anfang oder Mitte Fe­
bruar statt.
Man glaubt es kaum: Da baut Russland
die größte Drohkulisse seit dem Ende des
Kalten Krieges auf, zieht an der Grenze zur
Ukraine rund 100 000 Soldaten zusammen,
stationiert Kampfpanzer, Artilleriegeschütze
und Raketenwerfer – und der deutsche Bun­
deskanzler sieht sich nicht in der Lage, seinen
Terminkalender freizuräumen, um einer
­Einladung des amerikanischen Präsidenten
zu folgen.
Was muss noch passieren, damit im Kanz­
leramt ein größeres Gefühl der Dringlichkeit
entsteht? Reicht es nicht, dass der russische
Präsident Wladimir Putin den Westen zu er­
pressen versucht, Ultimaten ausspricht und
mit militärischen Konsequenzen droht, falls
die Nato eine Mitgliedschaft der Ukraine
nicht ausschließt?
Als ob Putin der Welt mit der Besetzung
der Krim nicht schon gezeigt hätte, dass er
sich um das Völkerrecht im Zweifel nicht
schert. Als wären die Sorgen der baltischen
Staaten unbegründet, dass ihnen ein ähn­
liches Schicksal drohen könne wie der Ost­
ukraine. Dort sabotiert die russische Führung
mithilfe ergebener Separatisten seit 2014 die
Souveränität der Regierung in Kiew.
Westliche Geheimdienste und Militärs hal­
ten die Option eines russischen Einmarsches
für real, aber die Koalitionsparteien in Berlin
bekräftigen in diesen Tagen lieber, welche
Druckmittel gegen Moskau sie nicht anwen­
den wollen. Ein Ausschluss Russlands aus
Kanzler Scholz
dem internationalen Zahlungssystem Swift?
Besser nicht, heißt es, das würde die eigene
Wirtschaft treffen. Waffenlieferungen an die
Ukraine? Mit den deutschen Rüstungsexport­
richtlinien angeblich nicht vereinbar. Ein
Stopp von Moskaus Prestigeprojekt Nord
Stream 2? Sollte man nicht mit Russlands
Ukraine­politik »vermengen«, meint SPD-
General­sekretär Kevin Kühnert.
Zwar weiß derzeit niemand genau, was
Putins Ziel ist – diplomatische Gelände­
gewinne mithilfe militärischer Drohungen
oder eine Militäroperation unter dem Vor­
wand mangelnder Zugeständnisse des Wes­
tens? Aber vor allem in der Kanzlerpartei
ist der Hang groß, die Kriegsgefahr herun­
terzuspielen. Zugleich teilen viele in der
SPD, aber auch Teile der Grünen die Kreml-
Lesart: Russland sei bei der Erweiterung
von Nato und EU nach Osten betrogen
­worden.
Der Schlingerkurs der Deutschen ist eine
Gefahr für die Strategie der westlichen Ver­
bündeten. Sie besteht darin, den Preis für
einen militärischen Angriff »so hoch wie
möglich zu treiben«, wie ein EU-Beamter es
Konfrontative Grüne
»Wie sollte sich die Bundesregierung
grundsätzlich gegenüber der russischen
Regierung verhalten?«, Antwort »konfrontativ«
in Prozent, nach Parteipräferenz
Grüne
FDP 22
CDU/CSU 20
SPD 17
AfD 12
S Quelle: Civey-Umfrage für den SPIEGEL vom 14. bis 19. Jan.;
Befragte: 5013; die statistische Ungenauigkeit der Umfrage liegt
bei 4,7 bis zu 7,2 Prozentpunkten; an 100 fehlende Prozent:
»kooperativ«, »teils / teils«, »weiß nicht«
TITEL
ausdrückt. Das Zeitfenster, in dem eine Ab­
schreckung Putins überhaupt noch möglich
sei, drohe sich zu schließen, sagte ein rang­
hoher Nato-Diplomat dem SPIEGEL . Habe
Putin erst einmal intern die Entscheidung
zum Angriff auf die Ukraine gefällt, könne
er sie womöglich kaum noch revidieren,
ohne seine innenpolitische Position zu schwä­
chen. Deshalb sei es für EU, USA und
Nato entscheidend, so einig und entschlossen
wie eben möglich aufzutreten. Jedes Zögern
könne der russische Präsident als Signal
­werten, dass er den nächsten Schritt wagen
Florian Gaer tner / IMAGO / photothek
kann.
Abschreckung funktioniere nur, so die Bot­
schaft aus Washington, wenn man möglichst
keine Optionen vom Tisch nimmt. Dazu ge­
hören nach Auffassung der USA sowohl Waf­
fenlieferungen an die Ukraine wie auch die
Androhung maximaler Sanktionen. In beiden
Fällen steht die Bundesregierung auf der
Bremse.
Am Montag reiste die deutsche Außenmi­
nisterin nach Kiew. Nichts habe sie seit ihrem
Amtsantritt so sehr beschäftigt wie die Sicher­
heit der Ukraine, sagte Annalena Baerbock,
um dann Waffenlieferungen aller Art an ihre
ukrainischen Gastgeber erneut auszuschlie­
ßen. Zu einem Bruch mit Parteiprinzipien,
wie ihn einst der grüne Außenminister Josch­
ka Fischer mit dem Bundeswehreinsatz im
Kosovo wagte, ist Baerbock vorerst nicht be­
reit. Die restriktive deutsche Rüstungspolitik
sei ja bekannt, sagte die Parteichefin: »Ich
ändere meine Haltung nicht mit Blick darauf,
an welchem Ort ich bin.«
Für die Grünen ist die Frage ambivalent.
Einerseits sind sie die Partei der Friedens­
bewegten, das ist Teil ihres Gründungsmythos.
Andererseits hat Robert Habeck bereits im
Mai gefordert, Defensivwaffen an die Ukrai­
ne zu liefern. »Waffen zur Verteidigung, zur
Selbstverteidigung kann man meiner Ansicht
nach der Ukraine schwer verwehren«, sagte
der Parteichef damals dem Deutschlandfunk.
Dem Vernehmen nach hatte er den Vorstoß
mit anderen wichtigen Außenpolitikern ab­
gestimmt.
Doch schon damals regte sich Widerstand.
Der Abgeordnete Jürgen Trittin sagte, der
Vorschlag würde dem Grundsatz widerspre­
chen, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern.
Inzwischen ist Trittin außenpolitischer Spre­
cher seiner Fraktion, an dem kategorischen
Nein zu Waffenlieferungen hat sich nichts
geändert. Dem SPIEGEL sagte er, die »gesam­
te Bundesregierung« halte Waffenlieferungen
41 an die Ukraine für einen Fehler. Es gebe zu­
dem keine Unterscheidung zwischen Defen­
siv- und Offensivwaffen. »Da soll man sich
und andere nicht hinters Licht führen.«
Die grüne Europaabgeordnete Hannah
Neumann dagegen findet, über Lieferungen
von Schutzausrüstung könne im Falle eines
russischen Angriffs durchaus verhandelt wer­
den, aber: »Bevor wir über Defensivwaffen
diskutieren, müssen wir erst mal wissen, was
die Ukraine konkret will«, sagte sie dem
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 9
TITEL
­ PIEGEL . Noch etwas forscher ist der
S Außenminister Antony Blinken nach
grüne Europaabgeordnete Sergey La-
godinsky: »Wir können nicht der neu-
trale Schlichter sein, wenn ein Staat
einseitig einen anderen bedroht. Man
kann eine militärische Eskalation nur
vermeiden, wenn wir glaubhaft ma-
chen, dass wir in so einem Fall Kon-
sequenzen ziehen. Das geht auch mit
Hilfe zur Selbstverteidigung etwa mit
Defensiv­waffen.«
Auch in der FDP haben Russlands
Drohungen eine Debatte ausgelöst.
Noch am 11. Januar hat die Vorsitzen-
de des Verteidigungsausschusses, Ma-
rie-Agnes Strack-Zimmermann, das
heikle Thema mit dem Verweis auf
den Koalitionsvertrag der Ampel zu
umschiffen versucht. Dort habe man
Lieferungen in Krisengebiete ausge-
schlossen, da »gehört die Ukraine
dazu«.
Keine zehn Tage später klingt
Strack-Zimmermann nicht mehr so
apodiktisch. Man solle über »Defen-
sivwaffen« für die Ukraine nachden-
ken, forderte sie.
Eine klare Haltung ist bei den Li-
beralen allerdings nicht zu erkennen.
Ihr Außenpolitiker Alexander Graf
Lambsdorff lehnt Waffenlieferungen
ab, das verbiete schon das Kriegs­
waffen­kontrollgesetz. Auch er findet
den Begriff von Defensivwaffen
schwierig. Wenn man sich die Ge-
schichte militärischer Auseinander-
setzung anschaue, könnten diese
Waffen auch für andere Zwecke ge-
nutzt werden. Schutzwesten, Helme
oder Nachtsichtgeräte will der Frak-
tionsvize aber durchaus in die Ukrai-
ne liefern lassen.
Der FDP-Außenpolitiker Bijan
Djir-Sarai hingegen, seit Kurzem de-
signierter Generalsekretär der Partei,
will die Möglichkeit von Waffenliefe-
rungen zumindest diskutieren. »Zu
einer realistischen Außenpolitik ge-
hört auch, dass alle Optionen auf
den Tisch gehören«, sagte er dem
­ PIEGEL .
S zeigt sich in der Bundes­
Die stärksten Forderungen nach
Waffenlieferungen kommen aus der
CDU. Ausgerechnet, denn als Kanz-
lerinpartei waren die Christdemokra-
ten bei dem Thema noch sehr zurück-
haltend. Die bisherige Ablehnung
von Waffenlieferungen an Kiew sei
angesichts der Lage nicht mehr halt-
bar, sagt nun Unionsfraktionsvize
Johann Wadephul. Der CDU-Außen-
experte Jürgen Hardt findet, Deutsch-
land müsse »mehr als nur Verbands-
zeug« schicken.
Selbst der künftige Parteivorsit-
zende Friedrich Merz plädiert dafür,
Waffenlieferungen an die Ukraine zu
erwägen.
10 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Der ukrainische Botschafter in
Deutschland, Andrij Melnyk, der die
Rüstungswünsche seiner Regierung
seit Langem in Berlin vorträgt, sieht
die Berliner Debatte mit Sympathie.
»Wir begrüßen den Sinneswandel der
CDU/CSU in dieser für Kiew lebens-
wichtigen Frage sowie erste Aufrufe
zum Tabubruch innerhalb der Ampel-
koalition, vor allem in der FDP«, sagt
Melnyk. Die Lieferung von Schutzaus-
rüstungen allein wäre eine »reine Sym-
bolgeste«. Was die Ukraine dringend
brauche, seien »robuste Verteidigungs-
waffen« für eine »effektive Abwehr
eines groß angelegten Militärangriffs
Russlands sowie als einzig ernst zu
nehmende Abschreckung für Putin«.
D
och ungeachtet der Debatte
bei Grünen und Liberalen
regierung bislang keine
Neigung, auf die Forderun-
gen Kiews nach Rüstungsgütern ein-
zugehen. Das liegt vor allem an der
SPD. Waffenlieferungen könnten als
Beitrag zur Eskalation gewertet wer-
den, sagt der außenpolitische Sprecher
der SPD-Fraktion, Nils Schmid, »ganz
abgesehen von den historischen Impli-
kationen, bei denen erstmals seit dem
Zweiten Weltkrieg deutsche Waffen
gegen Russland eingesetzt würden«.
Doch so leicht wird sich Deutsch-
land nicht aus der Affäre ziehen kön-
nen. Da der Kanzler nicht nach Wa-
shington reisen wollte, schickte der
US-Präsident am Donnerstag seinen
Berlin. Der hatte, wie zuvor schon der
CIA-Chef, eine unmissverständliche
Botschaft im Gepäck: Wenn Berlin
schon einen Sonderweg geht und kei-
ne Waffen liefern will, dann sollen sich
die Deutschen doch bitte an harten
Finanz- und Wirtschaftssanktionen
beteiligen, falls Putin losschlägt.
Russland habe die Wahl zwischen
»zwei Pfaden«, sagte Blinken auf
einer Veranstaltung der Atlantik-Brü-
cke. Der eine gehe über die Diploma-
tie und könne zu Frieden und Sicher-
heit führen, der andere beschreite den
der »Aggression, der nur zu Konflik-
ten, ernsthaften Konsequenzen und
internationaler Verurteilung führt«.
Russian Foreign Ministr y / TASS / action press
Öffentlich betont die Bundesregie-
rung die enge Abstimmung mit den
Vereinigten Staaten. Falls Russland
militärisch gegen die Ukraine vorgehe,
werde es einen hohen Preis zahlen,
sagt Außenministerin Baerbock in na-
hezu jede Kamera. Aber worin dieser
Preis bestehen soll, darüber gehen die
Meinungen der Verbündeten auseinan­
der. Man müsse Finanzsanktionen
genau prüfen, sagte Baer­bock beim
Außenministerin Besuch ihres US-Kollegen. Es gehe
Baerbock, nicht darum, was nach außen am här-
Außenminister
Lawrow:
testen klinge, sondern um Sanktionen,
Das Zeitfenster droht »die dann auch wirklich Wirkung ent-
sich zu schließen falten, und zwar nicht gegen einen
selbst, sondern gegenüber Russland«.
Die Verbündeten diskutieren bei-
spielsweise, ob sie Russland aus dem
internationalen Zahlungssystem
Swift ausschließen sollen. Briten und
Amerikaner hatten das ursprünglich
vorgeschlagen. »Das ist die ultimative
Wirtschaftssanktion«, sagt Bundes-
wirtschaftsminister Robert Habeck
im Gespräch mit dem SPIEGEL (siehe
Seite 28). Sie würde Russland hart
treffen – aber auch das eigene Land.
Das haben die Fachbeamten in sei-
nem Ministerium dem Vizekanzler
eindrücklich erklärt.
Der Swift-Ausstieg würde den ge-
samten Zahlungsverkehr zwischen
russischen und deutschen Unterneh-
men zum Erliegen bringen. Darunter
fallen Kredite, die Firmen bei Banken
»Zu einer des jeweils anderen Landes bedienen.
Was die Ministerialen aber noch mehr
realistischen beunruhigt, ist der mögliche Ausfall
Außenpolitik von Energielieferungen nach Deutsch-
gehört auch, land. Auch dafür werden die Dienst-
leistungen der von amerikanischen
dass alle Banken dominierten Genossenschaft
Optionen auf mit Sitz in Belgien in Anspruch ge-
nommen.
den Tisch Russland vom Zugang zu Swift ab-
gehören.« zuknipsen würde demnach den Stopp
Bijan Djir-Sarai, russischer Erdgasimporte bedeuten.
designierter Das würde die ohnehin hohen Preise
FDP-Generalsekretär für den Brennstoff weiter steigen las-

UKRAINEKRISE
Geldverkehr oder Gas abdrehen?
Welche Sanktionen der Westen gegen Russland verhängen könnte – und welche Nebenwirkungen
sie hätten. Ein Überblick.
Wenn es nach der Wortwahl geht, sind die
Reihen im Westen fest geschlossen. Ein
russischer Angriff auf die Ukraine werde
»politische Folgen« und »hohe Kosten«
haben, heißt es unisono in Washington
und Brüssel. Man bereite »einen gan­
zen Strauß von Sanktionen vor«, sagt der
EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.
Das Problem ist nur, dass die Konse­
quenzen für Moskaus Wirtschaft nicht
­immer berechenbar und die Schäden für
die eigene Wirtschaft oft beträchtlich sind.
Soll der Westen kein russisches Öl oder
Gas mehr kaufen? Was bringt es, den
Techsektor zu boykottieren oder Moskaus
Banken vom internationalen Zahlungs­
verkehr abzuklemmen? Womit kann man
Putin strafen, ohne sich selbst zu schaden?
Darüber gehen die Meinungen auseinan­
der, wenn in Europa und den USA über
die Antwort auf Putins Drohungen nach­
gedacht wird.
Unumstritten ist, dass es Russlands
Wirtschaft langfristig schwer träfe, wenn
der Westen im Angriffsfall weniger
Mikrochips nach Russland liefern würde.
Das könnte den Flugzeugbau und die
Waffenindustrie schädigen, die nicht nur
wichtige Exportbranchen sind, sondern
auch Prestigeindustrien für Wladimir
Putin. Im Gespräch ist zudem, den Export
von Bauteilen für Kampfflugzeuge und
Raketen zu beschränken.
Selbst simple Halbleiter für wenige
Euro pro Stück könnten als Druckmittel
dienen; schließlich wird die globale Chip­
industrie weitgehend von Firmen aus den
USA und ihren Verbündeten beherrscht.
Die modernsten Fabriken stehen in den
USA, in Europa, Taiwan und Südkorea.
Die USA haben schon mit den Sanktio­
nen gegen Huawei bewiesen, wie effektiv
sie die Chipversorgung als Waffe gegen
­Rivalen einsetzen können. Seit die Regie­
rung von Donald Trump den Export
von Smartphone-Prozessoren an Huawei
­einschränkte, brach der Umsatz des
chinesischen Technologiekonzerns ein.
Russland besitzt nur wenige, zumeist
veraltete Fabriken und ist auf Patente
westlicher Firmen angewiesen. Der
­Computerhersteller IRU beispielsweise,
der an einem komplett in Russland
­gefertigten Desktop-PC arbeitet, lässt
­seine Prozessoren in Taiwan fertigen.
Und der Chiphersteller Angstrem-T ging
2019 bankrott, nachdem sich das Unter­
nehmen wegen der Krim-Sanktionen von
seinem amerikanischen Partner abnabeln
musste.
Allerdings: Ein Chipboykott würde erst
mit monatelanger Verzögerung wirken.
Unmittelbar spürbar wäre es dagegen,
Russland aus dem Swift-System auszu­
sperren, dem Rückgrat der Finanzwelt.
Rund 11 000 Banken in mehr als 200 Län­
dern nutzen das Netzwerk, um grenz­
überschreitende Zahlungen abzuwickeln.
»Gerade wegen der massiven Folgen
wäre die glaubwürdige Drohung mit dem
Swift-Ausschluss Russlands äußerst
wirksam«, sagt Gabriel Felbermayr, Direk­
tor des ­Österreichischen Instituts für
Wirtschaftsforschung in Wien. Die Kolla­
teralschäden indes wären immens.
Würde Russland abgeklemmt, könnten
Unternehmen ihre Rechnungen im Aus­
land allenfalls noch über Umwege beglei­
chen; grenzüberschreitende Zahlungs-
und Warenströme würden versiegen. Der
Boykott würde jedoch auch im Westen
hohe Schäden verursachen: Exporte euro­
Schwer angeschlagen
Russisches Bruttoinlandsprodukt
Veränderung gegenüber dem Vorjahr in
Prozent
+ 10,0
+5
0
−5
2000 −7,8
Russische Auslandsschulden
in Milliarden Dollar
Banken
600
500
400
300
200
andere Sektoren
100
0 sene und abgestimmte Antwort geben.«
2003
S Quellen: Weltbank, Russische Zentralbank
TITEL
päischer Firmen könnten genauso wenig
bezahlt werden wie russische Gaslieferun­
gen nach Europa; die Russland­kredite
europäischer Bankhäuser stünden eben­
falls im Feuer. Der designierte CDU-Chef
Friedrich Merz warnte deshalb vor einer
»Atombombe für die Finanzmärkte«.
Ähnlich fällt das Kalkül aus, wenn der
Westen die Einfuhr von Öl und Gas
aus Russland stoppen würde. Auch das,
sagt Felbermayr, wäre »eine Sanktion,
die in Moskau wirklich verstanden wird«.
Allerdings mit gravierenden Folgen für
den Westen.
Deutschland bezieht rund 55 Prozent seines
Erdgases aus Russland. Theoretisch könn­
te die Bundesrepublik mehr Brennstoff
aus anderen Ländern einführen. Doch es
gibt zu wenige Terminals für Flüssiggas
in Europa – und keines in Deutschland.
Zugleich würde der Preis für Flüssiggas
in die Höhe schießen. Die deutschen
­Speicher sind so leer wie seit Langem nicht,
und weil die Märkte liberalisiert sind, hat
die Regierung nur wenige Instrumente,
um gegenzusteuern. Bundeswirtschafts­
minister Robert Habeck verspricht zwar,
den Gasmarkt stärker zu kontrollieren.
»Deshalb müssen wir die Möglichkeiten
verbessern, für den nächsten Winter
vorzusorgen, damit die Gasspeicher gut
gefüllt sind«, sagt der Grünenpolitiker
im Interview (Seite 28). Und erklärt, das
Gasmarktdesign ändern zu wollen. Doch
im aktuellen Konflikt hilft sein Verspre­
chen kaum, weshalb ein Importstopp,
ähnlich wie der Swift-Ausschluss, als un­
wahrscheinlich gilt. Anders sieht es bei
−3,0 Nord Stream 2 aus. Die Röhre wird nicht
dringend gebraucht, zumindest so lange
nicht, wie Russland Gas durch die
2020 bestehen­den Leitungen strömen lässt.
Zwischen den USA und Deutschland ist
vereinbart, dass die Röhre im Kriegsfall
nicht genehmigt wird. Das hatte schon Ex-
Bundeskanzlerin Angela Merkel mit US-
Präsident Joe Biden abgesprochen. Alles
wird nun davon abhängen, was Russland
tatsächlich plant – und ob dies dann als
Kriegsfall gewertet wird. Oder ob Russland
die Ukraine unterhalb der Schwelle
einer echten Invasion zu destabilisieren
versucht. »Der Westen«, sagt ein hochran­
giger EU-Diplomat, »wird eine angemes­
2021* Tim Bartz, Michael Brächer, Alexander Demling,
* 3. Quartal Michael Sauga, Gerald Traufetter n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 11
TITEL
sen. Fraglich ist auch, wie schnell Er- fizierungsbehörde überlassen. Doch
satz zu beschaffen wäre. 2020 deckte
Russland 55 Prozent des deutschen
Erdgasbedarfs.
Theoretisch könnte sich Deutsch-
land auch mit Flüssiggaslieferungen
etwa aus den USA, Afrika oder dem
Nahen Osten versorgen. Das Gas ist
vorhanden, es gibt jedoch keine deut-
schen Hafenterminals, an denen die
LNG-Tankschiffe festmachen könn-
ten. Man müsste auf Anlagen in den
Niederlanden, Polen oder Italien aus-
weichen. Außerdem gilt das soge-
nannte Frackinggas als eine der größ-
ten Umweltsünden und ist obendrein
sehr teuer.
Die Bundesregierung steckt also,
was Sanktionen angeht, in wirtschaft-
lichen Zwängen. Ihr Handlungsspiel-
raum ist gering. Wohl auch deshalb
hat sich Bundeswirtschaftsminister
Habeck, dessen Ressort für Sanktio-
nen zuständig ist, gegen den Swift-
Ausstieg entschieden. Hinzu kommt,
dass Habeck nicht auf Konfrontation
setzen will. Man solle vielmehr ȟber
neue Geschäftsfelder nachdenken, die
helfen können, beide Seiten aus dieser rigens: Es wehre sich in ihm alles da-
konfrontativen Rolle herauszufüh-
ren«, sagt Habeck dem SPIEGEL .
Was dem Wirtschaftsminister vor-
schwebt, ist wirtschaftliche Koopera-
tion, auch mit Russland. »Natürlich
hätte Russland Potenziale für Wasser-
stoff, für Windkraft«, so Habeck und
denkt dabei an Lieferungen von grü-
nem Wasserstoff. »Es sollte dem rus-
sischen Regime klar sein: Russland
hat viel zu verlieren, wenn es auf
einen Krieg setzt, und es kann gewin-
nen, wenn es seine Truppen zurück-
zieht und deeskaliert«, sagt der Vize- Vernehmen nach nicht begeistert, dis-
kanzler.
A
uf diese Weise würde Russ- kussion heikel. Er ist frisch im Amt,
land im Geschäft bleiben, eigentlich wäre die Russlanddebatte
auch wenn das klimaneu- eine Chance, sich zu profilieren. Sein
trale Deutschland in den Problem ist, dass er bei dem Thema
kommenden Jahrzehnten befangen ist. Ihn verbindet nicht nur
kein Erdgas mehr einkaufen werde.
Es darf jedoch bezweifelt werden,
dass sich der Kreml von dieser lang-
fristigen wirtschaftlichen Perspektive
zu einem kurzfristigen politischen
Einlenken im Ukrainekonflikt brin-
gen lässt.
Uneinigkeit herrscht zwischen den
Ampelpartnern auch über Putins
Prestigeprojekt, die Ostseepipeline
Nord Stream 2. Grüne und FDP leh-
nen die Doppelröhre seit Langem ab,
die SPD hat sie stets gegen Kritik der
USA und vieler Osteuropäer vertei-
digt. Im Koalitionsvertrag hat die
Ampel den Konflikt mit dem Hinweis
auf das europäische Energierecht ver-
tagt und die Entscheidung der Zerti-
12 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
so viel Zeit bleibt vermutlich nicht,
die Lage an der ukrainischen Grenze
zwingt die Koalition zu einer Ent-
scheidung.
Die USA pochen darauf, dass die
Pipeline Teil eines Sanktionspakets
wird. Die Regierung in Washington be-
ruft sich dabei auf eine Vereinbarung,
die sie mit der damaligen Kanzlerin
Angela Merkel im vergangenen Som-
mer getroffen hat. »Das Gas fließt noch
nicht, deshalb können wir es auch als
Hebel verwenden«, sagte US-Außen-
minister Blinken beim Treffen mit sei-
ner Amtskollegin Baerbock in Berlin.
Doch prominente Sozialdemokra-
ten versuchen, die Abmachung zu
hintertreiben. Ausgelöst wurde die
Diskussion von Kevin Kühnert. Der
Streit um Nord Stream 2 gehöre jetzt
mal beendet, forderte er vergangene
Woche bei seiner ersten Pressekonfe-
renz als Generalsekretär. Von einer
»gewissen Obsession« sprach der
­Generalsekretär, Projekte zu beerdi-
gen, »die einem schon immer ein Dorn
in den Augen gewesen sind«. Und üb-
gegen, »dass man potenzielle interna­
tionale Konflikte herbeireden sollte«.
Es war der Moment, in dem die
SPD neben ihrem Haltungsstreit auch
ein handfestes Kommunikationspro-
blem bekam. Pragmatiker in der SPD
gaben sich von Kühnerts Naivität ent-
setzt, linke Genossen wie Ralf Steg-
ner warnen hingegen vor »Säbelras-
seln«. Es ging drunter und drüber.
Nur von Lars Klingbeil und Saskia
Esken war kaum etwas zu hören. Bei-
de waren von Kühnerts Auftritt dem
tanzierten sich aber nicht öffentlich.
Vor allem für Klingbeil ist die Dis-
eine Freundschaft zu Gerhard Schrö-
Warme der, sondern auch zu Kühnert. Würde
Beziehung er Kühnert stützen, wäre das ein Af-
front gegen Kanzler Scholz, und an-
Anteil der Erdgas- dersherum. Also sagt er kaum etwas
importe aus – mit Ausnahme eines Podcasts, den
Russland . . .
er vor knapp zwei Wochen mit Küh-
. . . an den deutschen nert aufnahm: »Ich hab einfach nur
Erdgasimporten, 2020 keinen Bock auf Krieg«, sagte Kling-
beil flapsig. Er sei niemand, der das
russische Vorgehen verteidige, er leh-
ne das »aufs Schärfste« ab. »Aber es
55,2 % reicht eben nicht zu sagen: Alles, was
die Russen machen, ist doof.«
Das Thema soll nun parteiintern
besprochen werden, von Koordinie-
Norwegen 30,6 rungskreisen ist die Rede, Arbeits-
Niederlande 12,7 gruppen. Es darf bezweifelt werden,
sonstiges Europa 1,5
dass die Partei so viel Zeit hat. Die
Sozialdemokratie, die seit je stolz ist
. . . an den Erdgasim-
porten der EU, 2020 auf die Entspannungspolitik Willy
Brandts, muss ganz schnell klären,
was wichtiger ist: ihre Tradition oder
die Erkenntnis, dass es gegenüber
43,9 % Moskau offenbar mehr Härte braucht.
Für den Kanzler ist die Debatte
unangenehm. Keine zwei Monate im
Amt, steht er durch den russischen
S Quellen: BP, Eurostat Aufmarsch vor seinem ersten großen
außenpolitischen Test. Scholz muss
Härte zeigen, ohne die Verhandlun-
gen zu belasten, er muss in Europa
seine Rolle finden, ohne die deutsche
Debatte aus den Augen zu verlieren.
Bislang stand auch Scholz auf der
Bremse, wenn es um einen möglichen
Stopp von Nord Stream 2 ging. Noch
kürzlich antwortete er auf die Frage,
ob die russisch-deutsche Pipeline ein
»privatwirtschaftliches Projekt« sei,
mit Ja. Er vertrat damit eine Linie, die
selbst seine Vorgängerin Angela Mer-
kel als unhaltbar erkannt hatte.
Mittlerweile hat Scholz seinen Ton
geändert, er warnt Moskau vor har-
ten europäischen Reaktionen, sollte
Putin losschlagen. Ausdrücklich be-
SPD-Politiker ruft sich der Kanzler jetzt auf die Ver-
Klingbeil, Kühnert:
»Einfach keinen einbarung seiner Vorgängerin mit
Bock auf Krieg« US-Präsident Biden, der zufolge die
Pipeline durch die Ostsee nur in Be-
trieb gehe, wenn die Ukraine als
Transitland für russisches Gas nach
Westeuropa erhalten bleibe. »Wir ste-
hen zu allen Aspekten, die dazuge-
hören. Dazu gehört eben auch, dass
es hohe Kosten haben wird und alles
zu diskutieren ist, wenn es zu einer
militärischen Intervention gegen die
Ukraine kommt.«
Offenbar beginnt der Druck aus
den USA zu wirken. CIA-Chef Burns
soll Scholz gebeten haben, bis zum
Mike Schmidt / SZ Photo
Treffen mit dem US-Präsidenten nicht
mehr von einem »privatwirtschaft­
lichen Projekt« zu sprechen.
Andere Genossinnen und Genos-
sen distanzieren sich deutlicher von
 TITEL

der Pipeline. »Sollte Russland die Ukraine

angreifen, müssen alle Optionen auf dem
Tisch liegen, auch Nord Stream 2«, sagt Ka-
tarina Barley, Vizepräsidentin des Europa-
parlaments und EU-Beauftragte der SPD,
dem SPIEGEL . »Wir müssen diese Bazooka Flexibles Jubiläumsangebot
in der Hinterhand behalten.« So sieht es auch
Bernd Lange, SPD-Europaparlamentarier aus Lesen Sie den SPIEGEL,
Hannover und Vorsitzender des Handelsaus-
schusses. »Wenn Sanktionen gegen Russland solange Sie möchten.
Wirkung entfalten sollen, muss man auf die
Energiewirtschaft zielen. Sollte es zu einer Ohne Vertragsbindung. DER SPIEGEL ohne Mindestlaufzeit,
russischen Aggression kommen, ist Nord jederzeit kündbar
­Stream 2 nicht mehr zu halten.«
Auch die sozialdemokratische Verteidi- 25 % Jubiläumsrabatt. Die ersten 52 Ausgaben für nur
gungsministerin Christine Lambrecht, die € 4,20 statt € 5,60 pro Ausgabe
eine Woche zuvor noch gesagt hat, man solle
Kostenloser Versand. Wöchentliche Lieferung frei Haus
Nord Stream 2 »nicht in diesen Konflikt hin-
einziehen«, warnt jetzt davor, das Pipeline- innerhalb Deutschlands
projekt als mögliches Druckmittel gegen Pu- Noch mehr. Inklusive der Beilagen SPIEGEL Bestseller und
tin auszuschließen. »Wenn Russland mitten SPIEGEL Geld
in Europa einen Krieg vom Zaun bricht, muss
und wird das harte Konsequenzen haben«,
so Lambrecht, »das schließt alle politischen,
diplomatischen und wirtschaftlichen Möglich-
keiten ein.«
Vielleicht haben die Erkenntnisse ihrer Mi- Einfach jetzt anfordern:
litärs die Sicht der neuen Befehlshaberin ge-
schärft. Bereits Mitte Dezember hatte der abo.spiegel.de/flexibel75
oberste Nato-General Tod Wolters alle Part-
nernationen gebeten, ihre gesamte militäri- oder telefonisch unter 040 3007-2700
sche Sensorik, also gleichsam die Augen und (Bitte Aktionsnummer angeben: SP22-059)
Ohren der Streitkräfte, auf das Krisengebiet
an der ukrainischen Grenze zu lenken. Alle
Erkenntnisse, mahnte Wolters, müssten
schnell und unverzüglich innerhalb des Bünd-
25 %
nisses geteilt werden, jedes Detail zähle.
sparen im
Die Bundeswehr reagierte schnell. Das ersten Jahr
militärische Nachrichtenwesen baute eine
Taskforce auf, die Tag und Nacht eigene Sa-
tellitenbilder und Erkenntnisse der Alliierten
auswertet. Sie überwacht die Grenzregion
täglich unter anderem mit einer Armada von
Aufklärungsflugzeugen. Mitte der Woche
reihte sich auch ein deutscher »P3«-Seefern-
aufklärer in den Schwarm ein. Der mit Sen-
sortechnik vollgestopfte Flieger kreist eigent-
lich über dem Mittelmeer, nun drehte er Run-
den über der Ostsee vor Kaliningrad.
Das deutsche Bild deckt sich weitgehend
mit der Einschätzung der USA. Bisher, so
ranghohe Militärs, sei Russland trotz des mas-
siven Truppenaufmarschs an der Grenze noch
nicht zu einer Invasion der Ukraine und dem
Halten des Gebiets bereit. Wenn allerdings
alle Unterstützungskräfte bereitstünden, die
derzeit gut sichtbar aus ganz Russland zur
Grenze gezogen würden, ändere sich die Lage.
In den ersten Februarwochen werde man
wissen, was Putin wirklich wolle, heißt es
im Verteidigungsministerium. Die Militärs
sprechen, wie die Klimaforscher, von einem
Kipppunkt.
Markus Becker, Florian Gathmann, Matthias
­Gebauer, Kevin Hagen, Valerie Höhne,
Martin Knobbe, Veit Medick, Jonas Schaible,
­Fidelius Schmid, Christoph Schult, Christian
Teevs, Gerald Traufetter, Severin Weiland n

Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 13

TITEL

»Putin bereitet gerade

seinen Eintrag in
die Geschichtsbücher vor«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Wer ist Wladimir Putin? Was treibt ihn an? Nina Chruschtschowa,
Sabine Fischer und Masha Gessen kennen den Kremlchef so gut wie wenige andere internationale Expertinnen.
Er wolle Russland zu imperialer Größe zurückführen, meinen sie, in der
Hoffnung, dadurch selbst unantastbar zu werden. Und dafür brauche er immer neue Siege.

Chruschtschowa ist die Enkelin des ­ehemaligen haben. Russland profitiert gerade von genau Das Problem ist, dass der Kreml irgendwann
sowjetischen Staatschefs Nikita C
­ hruschtschow. dieser Ambiguität. Moskau hat die Initiative vielleicht nicht mehr von seinen Maximal-
Sie lehrt internationale Politik an der New übernommen, und der Westen hat Mühe, forderungen abrücken kann, ohne sein Ge-
School in New York. mit den bedrohlichen Entwicklungen an der sicht zu verlieren.
Fischer arbeitet als Russlandexpertin für die ukrainischen Grenze Schritt zu halten. Ich Chruschtschowa: Es ist typisch für Putin, alle
Berliner Stiftung Wissenschaft und P
­ olitik (SWP), halte es nach wie vor für zweifelhaft, dass es anderen unter Spannung zu halten. Natürlich
einen Thinktank, und sitzt im Vorstand der zu einer groß angelegten Invasion kommt. ist es möglich, dass er nach Kiew durchmar-
Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde. Die Kosten für Russland wären enorm. Und schiert. Aber es wäre verrückt. Was will er
Gessen ist Schriftstellerin und Journa­lis­tin der Nutzen überschaubar, denn Russland anfangen mit einem Land mit 40 Millionen
in New York. Ihre Putin-Biografie »Der Mann ­kontrolliert jetzt schon die umstrittenen Ge- Einwohnern, das ihn so sehr hasst, dass er
ohne Gesicht« ist 2012 in mehreren Sprachen biete im Osten der Ukraine. Die Truppen an dort dauerhaft Truppen stationieren müsste?
erschienen. der Grenze wiederum reichen kaum aus, um Die russischen Aktienkurse sind schon jetzt
bis nach Kiew zu marschieren. Im Moment eingebrochen, die Banken wanken. Ich frage
SPIEGEL: Frau Chruschtschowa, Frau Fischer, spielt die russische Führung mit Drohungen. mich: Wie viel Eskalation ist noch nötig, bis
Frau Gessen, steht eine Invasion in die sich Putin respektiert fühlt? Das ist ja eine
­Ukraine durch Russland unmittelbar bevor? alte russische Geschichte, dass wir uns nicht
Gessen: Es gibt etwas, das mich stört an der genügend respektiert fühlen. Putin hat vor
Debatte, und das ist, dass viele so tun, also allem deshalb Truppen an die Grenze ge-
bestünde jetzt plötzlich die Gefahr eines Krie- schickt, um seinen diplomatischen Forderun-
ges in der Ukraine. Dabei befindet sich das gen Nachdruck zu verleihen. Aber die Ame-
Land doch seit sieben, acht Jahren im Krieg. rikaner haben bislang keinen Millimeter
Nun laufen Vorbereitungen für eine sehr viel preisgegeben. Jetzt geht es wie in früheren
weitreichendere Invasion. Seit Monaten zieht Krisen darum, wer als Erster zuckt. Und auch
Russlands Führung Truppen an der ukraini- wenn ich selbst denke, dass die Russen nicht
schen Grenze zusammen. Diese Woche wur- unbedingt in einer starken Position sind – Pu-
de berichtet, dass Familien russischer Diplo- tin sieht das anders, da bin ich mir sicher.
maten das Land verlassen hätten. Und die Sonst würden sie jetzt nicht auch noch drohen,
Kommunistische Partei, eine der Parteien im Truppen nach Lateinamerika zu schicken.
russischen Parlament, die der Kreml kontrol- SPIEGEL: Warum sucht er gerade jetzt die
liert, hat offiziell vorgeschlagen, die abtrün- ­Eskalation?
nigen Regionen in der Ostukraine als souve- Gessen: Es gibt dafür eine Reihe von Gründen,
Jens Schlueter / Getty Images

räne Staaten anzuerkennen. Das würde einen
juristischen Vorwand für einen Einmarsch
Russlands schaffen. Heißt das, dass es auch
so kommen wird? Das werden wir wohl erst
wissen, wenn es so weit ist.
Fischer: Es ist schwierig vorauszusagen, was
passiert, vor allem deshalb, weil wir es bei
Russland mit einem komplett intransparenten,
personalisierten politischen System zu tun
Das Gespräch führten die Redakteure Christian Esch,
Maximilian Popp und Christoph Scheuermann.
und kein einziger davon hat mit der Ukraine
zu tun. Putins Popularität in der Bevölkerung
schwindet. Er macht sich Gedanken um sein
historisches Erbe. Und er sorgt sich darum,
wie es in Russland in den nächsten Jahren
weitergeht. Putin ist ein alter Mann. Und er
muss mitansehen, wie um ihn herum eine
»Putin verbringt sehr Reihe alte Männer taumelt. In Belarus hält
viel Zeit allein. Das Internet sich das Regime nur durch den Einsatz von
Gewalt und mit der Hilfe Moskaus an der
benutzt er nicht.« Macht. In Kasachstan ist die Machtübergabe
Autorin Gessen gescheitert. Putin will einer ähnlichen Krise

14 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


in seinem eigenen Land zuvorkom-
men. 2014 hat das schon einmal her-
vorragend geklappt. Die Annexion
der Krim kam Putin relativ billig,
auch die Sanktionen haben ihm kaum
wehgetan. Aber seine Beliebtheit
schnellte in die Höhe, und das für lan-
ge, lange Zeit. Nun versucht er das
zu wiederholen.
Fischer: Putin hält den Westen für
schwach. Die Biden-Regierung ist vor
allem mit Innenpolitik beschäftigt,
Deutschland hat gerade erst einen
Regierungswechsel hinter sich, und
in Frankreich stehen Präsident-
schaftswahlen an. Der überstürzte,
chaotische Abzug aus Afghanistan
hat dem Ruf des Westens enorm ge-
schadet. Putin will das für sich nutzen.
Er glaubt, der Westen könne sich ge-
rade nicht zusammenraufen. Aber es
ist gut möglich, dass er sich, wie Nina
sagt, verschätzt hat. Die Krim lässt
sich auch nur schwer mit dem Rest
der Ukraine vergleichen. Der Einsatz
im Donbass war bei den allermeisten
Russinnen und Russen schon sehr viel
weniger populär.
SPIEGEL: Was bedeutet die Ukraine
emotional für Putin?
Chruschtschowa: Putin versteht sich
als großer Historiker. Vergangenen
Sommer hat er einen Aufsatz ge-
schrieben, in dem er behauptet, dass
TITEL
Alexei Nikolsky / ITAR-TASS / IMAGO
Präsident Putin bei Russen und Ukrainer eins seien, Brü- gekniffen, diesmal sind sie zu allem
Schießübung: der, und dass der Westen sie spalten bereit. Die warten nur darauf, dass
»Es geht darum, wolle. Er tritt in die Fußstapfen von Putin einen falschen Schritt macht,
Russland neu
zu positionieren« Alexander Solschenizyn, der bereits dann schlagen sie zu. Die Frage ist,
in den späten Achtzigerjahren argu- wie weit man das im Kreml versteht
mentierte, dass die russische Welt aus und wer Putin überhaupt noch berät.
Russland, der Ukraine und Belarus Der Unterhändler Sergej Rjabkow
bestehe und die drei zusammenge- gibt sich manchmal versöhnlich. Er
führt werden müssten. Aber eines hat sagte neulich: Wir sehen keinen gro-
sich in den vergangenen 20 Jahren ßen Krieg in Europa. Und sofort gin-
immer wieder gezeigt, auch wenn es gen die Aktienkurse wieder hoch.
sich jetzt, da Putin älter wird, ändern Das gehört zur ständigen Zweideutig-
mag: Putin ist ein kalkulierender, vor- keit, die für Putin bisher gut funktio-
sichtiger Spieler. Er nimmt nicht mehr niert hat. Aber ein falscher Schritt,
in den Mund, als er schlucken kann. und Russland wird begraben.
Und meiner Meinung nach glaubt er Fischer: Das größte Risiko ist, dass
nicht, dass er die Ukraine schlucken die Situation schlicht außer Kontrol-
kann. le gerät. Wir haben mittlerweile rund
SPIEGEL: Er müsste ja nicht gleich die 600 000 russische Staatsbürger in den
ganze Ukraine schlucken. Er könnte Separatistengebieten. Die Lage an
sich zum Beispiel auf ein Drittel be- der »Kontaktlinie« ändert sich stän-
schränken. dig. Es gibt türkische Drohnen auf
Chruschtschowa: Der Donbass, Odes- ukrainischer Seite. Im Oktober wur-
sa, Mariupol – das wäre eine Möglich- den sie eingesetzt, und das hat man
keit, ja. Aber dann stellt sich die Fra- in Moskau schlecht aufgenommen.
ge der Sanktionen. Die werden näm- Die Lage kann jederzeit eskalieren,
lich anders ausfallen als nach der Moskau sähe sich dann geradezu ge-
Krim-Annexion. Wenn man Antony zwungen zu reagieren. Außerdem
Blinken oder Victoria Nuland (den halte ich hybride Angriffe für wahr-
US-Außenminister und seine Top­ scheinlicher als eine militärische In-
diplomatin –Red.) hört, hat man den vasion. Wenn Russland tatsächlich
Eindruck: Die wollen fast schon wie- tut, was Putin »militärisch-techni-
dergutmachen, was sie 2014 nicht ge- sche« Schritte nennt, dann sollten wir
tan haben. Damals haben die USA uns auf hybride Interventionen in der
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 15
TITEL

Ukraine gefasst machen und auf Manöver in
Belarus und anderswo in der Region.
SPIEGEL: Putin wird im Oktober 70 Jahre alt.
Er ist seit mehr als 20 Jahren an der Macht.
Was will er noch erreichen? Wie will er er­
innert werden?
Gessen: Putin bereitet gerade seinen Eintrag
in die Geschichtsbücher vor. Nina hat seinen
Ukraineartikel erwähnt. Das war eine Ab­
rechnung mit der Idee, dass die Ukraine als
souveräner Staat überhaupt denkbar sei.
Nach den Protesten in Kasachstan twitterte
Margarita Simonjan, die Chefin des Propa­
gandasenders RT, das sei alles eine Folge des
Wahns, die ehemaligen Sowjetrepubliken
könnten souveräne Staaten sein. Was wir se­
hen, ist eine Art konzertierte Kampagne,
jedenfalls soweit Russland überhaupt zu kon­
zertierten Kampagnen fähig ist. Es geht da­
rum, das Russland der Putin-Ära neu zu posi­
tionieren – als ein Imperium, das zu seiner
früheren Größe zurückkehrt. Putin will als
»Sammler der russischen Lande« in die Ge­
schichte eingehen …
SPIEGEL: … als »Sammler der russischen Lan­
»Ich fürchte, dass wir die Timothy Snyder hat über Putin gesagt, er sei
wie der typische reiche Bekannte, der Hobby­
Phase des ehrlichen historiker geworden sei und einem jetzt stän­
­Dialogs fast hinter uns dig in den Ohren liege mit seinen Geschichts­
gelassen haben.« themen. Er hat zwar keine Ahnung von dem
Fach, aber er glaubt viel zu wissen, und das
Politologin Chruschtschowa hat einen riesigen Einfluss auf seine Weltsicht.
Sabine hat zu Recht auf Afghanistan hinge­
wiesen: Ich glaube, Putin fühlt sich durch den
katastrophalen Rückzug darin bestätigt, dass
er die Welt versteht und die Amerikaner sie
nicht verstehen.
SPIEGEL: Handelt Putin rational? Oder eher
emotional?
Gessen: Er selbst hält sich für völlig rational.
Aber das ist ja auch eine Frage des Stand­
punkts. Nehmen wir die Annexion der Krim:
Viele von uns hätten 2014 gesagt, diese Ent­
scheidung war nicht rational. Aber es hat sich
ausgezahlt: Das war ein Schritt, der das Re­
gime gefestigt hat, jedenfalls aus Putins Per­
spektive. Wir sollten ihn also nicht als irra­
tional abtun. Er verhält sich in seinem Uni­
versum folgerichtig.
SPIEGEL: Putin sagt, die Nato habe sich ent­

ZUMA PRESS / IMAGO

de« ging schon Großfürst Iwan III. in die Ge­ gegen allen historischen Absprachen in Rich­
schichte ein. tung Osten ausgedehnt. Hat er damit recht?
Gessen: Ja, Putin will nicht einfach nur die Chruschtschowa: Aus seiner Sicht hat er recht,
Sowjetunion wiederherstellen. Es geht um ja. 1990 wurde Michail Gorbatschow zugesi­
imperiale Größe. Seine bisher größte Leistung chert, dass die Nato nicht einen Zoll weiter
ist, die Krim zurückgeholt zu haben. Jetzt ließ und dessen Statuen nun umgeworfen nach Osten expandieren werde. Damals ging
fragt er sich: Was kann ich noch zurückholen? werden. es vor allem um Ostdeutschland. Ich habe
Nach der größten geopolitischen Katastrophe Chruschtschowa: Wenn die Eliten Putin nicht damals für den US-Botschafter in Moskau
unserer Zeit – wie Putin den Zerfall der So­ stürzen, bleibt er wohl bis zu seinem Lebens­ gearbeitet, Jack Matlock, der sagte: Die Rus­
wjetunion genannt hat –, die uns Gebiete ge­ ende im Kreml. sen hätten sich das schriftlich geben lassen
kostet hat, auf die wir ein Recht haben, was SPIEGEL: Wenn Sie Putin in einem einzigen sollen. Haben sie aber nicht, und das verur­
kann ich da zurückbringen, sodass man sich knappen Satz oder einem Wort beschreiben sachte eine Menge Missverständnisse. Putin
an mich erinnern wird? Dieser Gedanke steht müssten – was wäre das? denkt, Russland sei übers Ohr gehauen wor­
auch hinter seinen Gesprächen mit dem Wes­ Chruschtschowa: Ich hätte ein Wort. Sein den und er müsse das zurechtbiegen. Deshalb
ten. Man spricht vorgeblich über die Angst KGB-Tarnname war »Motte«. Er ist eine möchte er zurück zum Status quo vor 1998,
vor einer militärischen Bedrohung, weil die ­Motte! in eine Zeit, bevor der US-Senat der Möglich­
Nato den eigenen Grenzen näher gerückt sei. SPIEGEL: Wer trifft im Kreml Entscheidungen? keit einer Nato-Osterweiterung zustimmte.
Aber die eigentliche Frage an den Westen ist: Putin allein? Oder gibt es Berater, auf die Er will seinem Land das politische Erbe hin­
Wie könnt ihr etwas nehmen und als souve­ er hört? terlassen, dass er die Nato aufgehalten hat.
ränen Staat behandeln, das uns gehört? Und Fischer: Das hängt davon ab, um welche The­ Natürlich wird er, sollte er das jemals errei­
uns so daran hindern, es zurückzuholen? men es geht. Von allen Entscheidungsprozes­ chen, nicht in Ruhestand gehen.
Chruschtschowa: Putin sieht sich als Teil der sen im System ist der zur Außen- und Sicher­ SPIEGEL: Teilen normale Russinnen und Rus­
Weltgeschichte. Sein Lieblingszar – genauer heitspolitik am stärksten zentralisiert und sen den Blick ihres Präsidenten auf die Welt?
gesagt: seine Lieblingszarin – ist Katharina personalisiert. Da gibt es ein paar Leute um Gessen: Wir reden hier ja von einem Auto­
die Große. Über sie hat er gesagt, sie sei bes­ ihn herum, das deckt sich zum Teil mit dem kraten, der seit mehr als 22 Jahren an der
ser noch als Peter der Große, weil sie mehr Sicherheitsrat, aber nicht ganz. Und es gibt Macht ist. Insofern ist es schwierig, seine
Land gesammelt und weniger Blut vergossen ein paar undurchsichtige Figuren, die eben­ Sicht auf die Welt von der seines Volkes zu
habe. Er sieht sein Erbe darin, das Bluten zu falls hin und wieder einen Einfluss auf ihn trennen – vor allem, weil er seit 21 Jahren
stoppen, das bestimmt seine Haltung und sei­ haben mögen. Aber ich glaube, am Ende ent­ ein faktisches Medienmonopol besitzt. Tat­
nen Konflikt mit dem Westen. scheidet Putin allein. sächlich glaube ich, dass sein emotionales
SPIEGEL: Was meinen Sie mit »das Bluten Gessen: Die ehrliche Antwort ist wieder ein­ Verhältnis zum Rest der Welt relativ genau
stoppen«? mal: Wir wissen das nicht. Ich glaube, Putin dem entspricht, was viele Russen fühlen. Er
Chruschtschowa: Selbst wenn es eine Eini­ verbringt sehr viel Zeit allein. Das Internet zapft eine tief sitzende Nostalgie für verlo­
gung mit dem Westen gibt, kann er sagen: benutzt er nicht. Das heißt, wer immer gera­ rene Größe an. Inzwischen gibt es eine gan­
Wir haben das Schwinden unseres Einflusses de mit ihm redet, hat übergroßen Einfluss auf ze Generation, die noch nicht einmal geboren
aufgehalten. Wir sind ein Imperium und wer­ ihn. Das ist ein sehr, sehr altmodisches Sys­ war, als er ins Amt kam, und die von einem
den als solches behandelt. Wenn das passiert, tem; und das Ohr des Zaren zu haben ist da­ Regime geprägt wurde, das auf ebendieser
könnte er das Gefühl haben, dass er die Macht rin von unschätzbarem Wert. Wir wissen, Nostalgie auf­gebaut ist.
abgeben und 2024 den Kreml verlassen kann. dass Putin sich früher manchmal bei einzel­ Fischer: Nach mehr als zwei Jahrzehnten Pro­
Allerdings kann er das wohl nicht mehr nach nen Menschen schlau gemacht und sich ihnen paganda ist es schwer zu sagen, ob die Men­
der Erfahrung von Nasarbajew … geradezu als Schüler aufgedrängt hat. Aber schen diese Botschaften wirklich tief im In­
SPIEGEL: … dem langjährigen Präsidenten ich wüsste nicht, dass das in den vergangenen nern teilen. Putin repräsentiert sicher die
von Kasachstan, der freiwillig sein Amt ver­ Jahren noch passiert wäre. Der Historiker überwältigende Mehrheit der politischen

16 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


Elite im Land und die Mehrheit des Volkes.
Aber wenn man sich Umfragen genauer an-
schaut und mit den Leuten in verschiedenen
Teilen des Landes spricht, erhält man ein dif-
ferenzierteres Bild.
Chruschtschowa: Ich glaube gar nicht, dass
es so sehr um Propaganda geht. Die Vorstel-
lung einer großen Nation ist immer noch zen-
tral für viele Russen, egal was ihnen der Staat
erzählt. Sie halten die Idee, dass Amerika die
Welt beherrscht, für unfair. Dass Putin für ein
starkes Russland steht, gefällt den meisten im
Land, nicht nur wegen der irren und offen-
kundigen Propaganda überall.
SPIEGEL: Wie denkt Putin über Deutschland?
Chruschtschowa: Er hat es geliebt. Er hat Ger-
hard Schröder geliebt.
Fischer: Aber das ist vorbei.
Chruschtschowa: Genau. Er hoffte, er könnte
mit Angela Merkel große Deals abschließen,
so wie Nord Stream 2. Er ist ein kleiner Mann,
besonders was seine Vorstellungen und Ideen
betrifft. Jetzt fühlt er sich betrogen. Vor allem
nach der Sache mit Alexej Nawalny.
Fischer: Die Behandlung Nawalnys in Berlin,
der Besuch Angela Merkels im Krankenhaus
und ihre Stellungnahme haben dazu beige-
tragen, dass die privilegierte Beziehung zwi-
schen Deutschland und Russland endgültig
Geschichte ist. Dabei war das Verhältnis bei-
der Länder ja selbst dann noch besonders, als
die Bundesregierung nach der Krim-Anne-
xion für Sanktionen gegen Moskau stimmte.
Natürlich ist Deutschland immer noch zentral
für Moskau wegen seiner wirtschaftlichen
Größe und des Gewichts in Brüssel. Aber das
spezielle Verhältnis ist zu Ende.
SPIEGEL: Wie blickt Putin auf die neue Regie-
rung in Berlin?
SWP
»Wir sollten uns auf
­hybride Interventionen
gefasst machen.«
Analystin Fischer
TITEL
Fischer: Es gibt viel Unruhe in Moskau, was
die Beteiligung der Grünen an der Macht an-
geht. Die Grünen verkörpern aus russischer
Sicht das, was falsch läuft in der deutschen
Politik. Es gab – oder gibt – gewisse Hoffnun-
Das Wissen
gen in Bezug auf die SPD. Mit Merkel hat ein
Schwergewicht der europäischen Politik die
Bühne verlassen, die Nachfolgeregierung
der Besten
wird als schwächer, unerfahrener gesehen.
SPIEGEL: Wie wahrscheinlich ist es, dass Putin
westliche Länder angreift?
Jetzt
Chruschtschowa: Es gibt ja bereits hybride neu im
Angriffe, und je weniger erfolgreich er in der
Ukraine ist, desto mehr wird er diese Art des
Handel
Kriegs ausdehnen. Er hat sich gerade mit Ver-
tretern von Iran getroffen, die ihm eine Zu-
sammenarbeit vorschlugen, um den Einfluss
der Vereinigten Staaten zu beschneiden. Pu-
tin übt sich in politischem Judo und ist damit
noch lange nicht fertig. Er ist ein Taktiker,
kein Stratege. Wir wissen heute noch nicht,
wo künftig die Schwachstellen des Westens
sein werden, aber wenn sie sichtbar werden,
wird er sie nutzen wie jeder gute Judomeister.
SPIEGEL: Wie soll der Westen darauf reagie-
ren? Was ist die beste Strategie gegen Putin?
Chruschtschowa: Konfrontation hat uns nie
weit gebracht. Dialog ist immer besser. Es
wäre ein Fehler des Westens, Putin zu ächten
und schon Treffen mit ihm als Konzession zu
sehen. Ich fürchte aber, dass wir die Phase
des ehrlichen Dialogs fast hinter uns gelassen
haben, so viel Misstrauen, wie es gibt, und so
viel Lust, die andere Seite hereinzulegen. Wir
sollten versuchen zu dechiffrieren, was er will,
denn zumindest im Moment navigiert er noch
Das wird schon
in diplomatischen Gewässern. Wie Sie Projekte erfolgreich zum
Fischer: Es gibt keine große Strategie in der
Abschluss bringen
russischen Außenpolitik, außer zu schauen,
wo sich gerade eine Möglichkeit auftut oder
der Einfluss des Westens gerade schwindet.
Das bestimmt Russlands Handeln etwa im Weitere Themen:
südlichen Mittelmeer und in Afrika. Dazu
hilft Moskau autokratischen Regierungen in Aufsichtsräte
der unmittelbaren Nachbarschaft, Stabilität Investoren werden zur
herzustellen. Miteinander im Gespräch zu
bleiben ist dennoch wichtig zu Themen wie neuen Macht
Deeskalation, Rüstungskontrolle. Der Aus-
tausch mit der russischen Gesellschaft muss
weitergehen. Zugleich muss deutlich werden, Win-win
dass bestimmte Aktionen einen hohen Preis So haben Sie noch
nach sich ziehen.
Chruschtschowa: Mir fällt gerade der eine nie verhandelt
prägnante Satz zu Putin ein, nach dem Sie
vorhin gefragt hatten: Putin passt perfekt zu
Russland, aber er tut Russland nicht gut. Viertagewoche
SPIEGEL: Was meinen Sie damit? Wie Ihr Team weniger
Chruschtschowa: Die Russen befürworten das
Imperium als Lebensform, insofern passt Pu- arbeitet und mehr erreicht
tin perfekt zum Land. Die Menschen mögen
ihn, sie wollten ihn haben. Vielleicht inzwi-
schen nicht mehr so sehr, auch wenn er halb-
wegs beliebt ist. Er tut Russland aber nicht gut,
weil das Land durch ihn einem Großmacht-
streben anhängt, das nicht zeitgemäß ist. manager-
SPIEGEL: Frau Chruschtschowa, Frau Fischer,
Frau Gessen, wir danken Ihnen für dieses
Nachrichten
Jetzt App
­Gespräch.  n downloaden
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 17
harvardbusinessmanager.de
TITEL

Pavlo Bagmut / Ukrinform / IMAGO

Faktisch schutzlos
MILITÄR Russische Truppen stehen jetzt an der Grenze im Norden, Osten und Süden des Landes. Kiews
Armee ist zwar moderner als 2014 – aber die Luftwaffe und die Marine sind hoffnungslos unterlegen.

W
as, wenn russische Rake- sammengezogen hat, machen ihm her kaum Fortschritt gebracht. Die
ten in der Hauptstadt ein- Sorgen. Auch nach Belarus verlegt Sorge wächst, Putin könne eine In-
schlagen? Wo findet er Moskau nun Panzer, Artilleriege- vasion in die Ukraine beginnen, auch
dann Zuflucht? Jarema schütze und Militärfahrzeuge, offi- wenn Moskau diese Möglichkeit be-
Duch biegt im Norden von Kiew in ziell zu Übungszwecken. Von der streitet.
einen Hinterhof unweit seiner Woh- belarussischen Grenze bis nach Kiew Was also, wenn der Kremlchef den
nung. Im Keller eines der roten Back- sind es gerade einmal 100 Kilometer. Befehl für einen Angriff auf die Ukra­
steingebäude soll sich ein Schutzraum Lange schien die Gefahr für die ine gibt – hätten die ukrainischen
befinden, so zeigt es jedenfalls eine Kiewer weit weg. Viele Menschen, Streitkräfte eine Chance gegen seine
Karte der Stadtverwaltung. Doch auch Jarema Duch, hatten gelernt, übergroße Armee?
Hinweisschilder fehlen. mit ihr irgendwie zu leben. Jetzt aber Taras Tschmut kann sich noch gut
Duch ist 34 und arbeitet als frei- scheint vieles möglich, selbst von erinnern, wie ukrainische Streitkräf-
beruflicher PR-Berater. Er gehört zu einem Angriff auf die Hauptstadt ist te vor etwa acht Jahren kämpfen
einer größer werdenden Gruppe von die Rede. mussten. »Die Soldaten trugen Jeans,
Kiewern, die sich überlegen, wie sie Russlands Präsident Wladimir Pu- Turnschuhe, einen alten Helm und
sich und ihre Angehörigen im Ernst- tin hat mit »militärtechnischen Maß- hatten ein Maschinengewehr, beides
fall schützen können. Duch tauscht nahmen« gedroht, sollte er die ver- auch aus Sowjetzeiten«, sagt der Lei-
sich mit anderen Einwohnern im Netz langten Sicherheitsgarantien von den ter der Nichtregierungsorganisation
aus, und auch wenn die Stadt ruhig USA und der Nato nicht bald erhal- »Ukrainisches Militärzentrum« in
wirkt, wächst bei einigen die Furcht. ten. Treffen und Gespräche zwischen Übung des Kiew, die Soldaten unterstützt.
­ukra­inischen
Die Nachrichten über die rund Putin und dem US-Präsidenten Joe Militärs nahe Kiew:
Damals, 2014, hatte Russland zu-
100 000 Soldaten, die Russland an Biden sowie zwischen deren Diplo- »Großer Nachhol­ erst die ukrainische Schwarzmeer-
den Grenzen seines Heimatlandes zu- maten und Unterhändlern haben bis- bedarf« in der Logistik Halbinsel Krim besetzt, dann prorus-

18 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


sische Kämpfer bei Gefechten im Donbass
mit Waffen und Einheiten unterstützt. Die
ukrainischen Streitkräfte waren bei Ausbruch
des Krieges kaum in der Lage, Widerstand
zu leisten. Gerade einmal 5000 Soldaten sol-
len damals kampfbereit gewesen sein. Hun-
derte fielen allein bei der Schlacht um die
Stadt Ilo­wa­jsk – ein Trauma.
Heute hat sich die ukrainische Armee, jahr-
zehntelang unterfinanziert und von Korrup-
tion zermürbt, modernisiert. »Die Soldaten
tragen Uniform und Stiefel, die besser sind
als in vielen Nato-Ländern, eine neue kugel-
sichere Weste und einen guten Helm und
­verfügen über moderne Funkgeräte«, sagt
Tschmut.
Der 30-Jährige diente selbst in der Armee
und absolvierte Trainingseinheiten mit Aus-
bildern aus Nato-Ländern wie Großbritan-
nien. Er gehört einer Reserveeinheit von
900 000 Frauen und Männern an, die in den
vergangenen fünf Jahren in den Streitkräften
aktiv waren. Heute zählen die ukrainischen
Streitkräfte 209 000 Soldaten.
Der Anteil der kampferprobten Soldaten
ist hoch: Regelmäßig werden Armee-Einhei-
ten an der Front im Donbass im Rotations-
prinzip eingesetzt und sammeln so Gefechts-
erfahrung. Die Soldaten seien heute viel bes-
ser ausgebildet und ausgestattet und dadurch
viel stärker, sagt Tschmut. Diese Einschätzung
teilen westliche Experten.
Inzwischen präsentiert die Führung in
Kiew mit Stolz ihre Truppen. Am 30. Jahres-
tag der Unabhängigkeit der Ukraine im ver-
gangenen August zeigten die Streitkräfte in
einer großen Parade nicht nur ihre moder­
nisierten Kriegsgeräte aus Sowjetzeiten wie
etwa den nachgerüsteten Kampfpanzer
­T-64BM2, sondern auch neue Waffen wie die
Kampfdrohne vom Typ »Bayraktar« TB2, die
sie bereits zu Dutzenden in der Türkei gekauft
haben.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer sollten
sehen, sagte Präsident und Oberbefehlshaber
Wolodymyr Selenskyj bei der Parade, wofür
das Land die ständig wachsenden Militäraus-
gaben verwende. Die lagen im Jahr 2020 bei
rund sechs Milliarden Dollar, fast dreimal so
hoch wie noch zehn Jahre zuvor. Allerdings
reicht das Budget bei Weitem nicht aus, um
die umfassende Modernisierung des Militärs
allein zu stemmen – noch immer sind Teile
des Waffenarsenals veraltet und müssten re-
pariert werden.
Das Militär ist nach wie vor auf finanziel-
le und technische Unterstützung aus dem Aus-
land angewiesen, die es von Nato-Ländern
wie Kanada, Polen und Litauen erhält, aber
vor allem von den USA. Seit 2014 hat Wa-
shington Ausrüstung im Wert von 2,5 Milliar-
den Dollar geliefert: Humvee-Geländewagen,
Patrouillenboote, Radarsysteme und Anti-
panzerwaffen des Typs »Javelin«. Die briti-
sche Regierung unterstützt die Streitkräfte
seit Jahren vor allem mit Trainingsprogram-
men, in dieser Woche begann London darü-
ber hinaus, Panzerabwehrwaffen in die Ukra­
Bedrohlicher Aufmarsch
Russisches Militär im Grenzgebiet zur Ukraine und Umgebung
Ost-
see
LITAUEN
Minsk
POLEN
BELARUS
Kiew
Charkiw
UKRAINE
SLOWAKEI
Donezk
UNGARN
MOLDAU
RUMÄNIEN
Die Krim, im März 2014
von Russland annektiert,
SERBIEN
gehört völkerrechtlich
zur Ukraine. Schwarzes Meer
S Quelle: Rochan Consulting; Stand: 12. Januar
ine zu schicken. Und dennoch gibt es überall
Ausrüstungslücken, erst am Mittwoch bat der
ukrainische Botschafter in Berlin, Andryi
Melnyk, die Bundesregierung um Kriegsschif-
fe und Luftabwehrsysteme.
Auch die Ukrainer selbst unterstützen ihre
Armee. Allein Tschmuts NGO hat seit 2014
rund sechs Millionen Euro Spenden gesam-
melt – das Geld wird für die Ausstattung der
Soldaten an der Front im Donbass ausgege-
ben, etwa für Aufklärungsdrohnen, Compu-
ter, Antennen und Minenräumgerät.
Doch auch wenn sich die Armee in eine
Truppe westlichen Zuschnitts nach Nato-Stan-
dard wandelt, warnt der frühere britische Be-
rufsoffizier Glen Grant vor erheblichen De-
fiziten, die im Fall einer Invasion schaden
könnten. Grant, 68 Jahre alt, hat jahrelang
das Verteidigungsministerium in Kiew beraten.
Nicht alle Reformen würden greifen, sagt er.
Sowjetische Denkmuster und veraltete Struk-
turen seien nach wie vor im Militär und in der
Rüstungsindustrie vorhanden, die Moderni-
sierung brauche Zeit. Aber die hat Kiew ver-
mutlich nicht. Vor allem, weil Luftwaffe und
Marine komplett überholt werden müssten.
Viele der Kampfflugzeuge stammen noch
aus Sowjetzeiten. Russland hat dagegen längst
seine Jets optimiert, die Ukraine hatte dafür
aber keine Ressourcen. Die Luftwaffe kann
nach Angaben des Kiewer Militärexperten
Tschmut die Flugzeuge nicht einmal mehr kom-
plett warten, weil manche Teile nur noch in
Russland hergestellt werden, mit dem sich das
Land seit fast acht Jahren im Konflikt befindet.
Noch viel gravierender sei die Lage der
Luftabwehr. Kiew habe etwa keine Waffe, die
russische »Iskander«-Raketen abfangen kann.
Die russischen Gefechtsköpfe könnten pro­
TITEL
Moskau
Russische
Truppenstärke*
7500
1000 Soldaten
RUSSLAND
Militärlager (Auswahl)
* geschätzte Mindestanzahl
Luhansk KASACHSTAN
Von moskautreuen
Separatisten
kontrollierte Gebiete
200 km
blemlos Brücken, Flughäfen oder Eisenbahn-
strecken zerstören. »Das ist einfach nicht
mehr zu rechtfertigen«, sagt Tschmut.
Und auch die Marine, die mit der Krim-
Annexion 70 Prozent ihrer Schiffe verloren
hat, ist auf See praktisch wehrlos. »Die Ukrai­
ne hat kein einziges Kriegsschiff, das in See
stechen kann«, sagt Verteidigungsexperte
Grant. Auch diese Schwächen kann Moskau
im Fall eines Angriffs für sich nutzen.
Kiew steht einer russischen Streitmacht
gegenüber, die ihr nicht nur zahlenmäßig mit
rund viermal so vielen Soldaten überlegen
ist, sondern sich auch nach gut zehn Jahren
Militärreform technologisch erneuert hat.
Moskau verfügt über 2840 Kampfpanzer –
dreimal mehr als die Ukraine. In Kriegen wie
in Syrien, aber auch in der Ukraine, konnte
die Armee ihre Fähigkeiten testen.
Wie lange die Ukraine im Fall einer Inva-
sion Widerstand leisten kann, hängt vor allem
von der Art des Angriffs ab. Im schlimmsten
Fall würden russische Verbände das Land von
mehreren Seiten aus attackieren: Die Trup-
pen könnten von Norden aus Belarus und
Russland die Grenze zur Ukraine überqueren,
zeitgleich könnten Einheiten die teilweise be-
setzten Gebiete um Donezk und Luhansk im
Osten ganz einnehmen und parallel im Süden
weiter bis nach Mariupol und zur besetzten
Krim vordringen. Dazu könnte Moskaus Luft-
waffe ukrainische Radar- und Kommunika-
tionsanlagen zerstören.
Analysten warnen, dass ukrainische Sol-
daten durch eine solche Großoffensive an der
bisherigen Frontlinie im Donbass umzingelt
und abgeschnitten werden könnten. Alles
hinge davon ab, wie schnell das ukrainische
Militär reagiert. Die Armee habe, was die
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 19

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TITEL
Logistik angeht, »großen Nachholbedarf«,
sagt Militärexperte Grant. Schließlich müss-
ten die Soldaten bislang vor allem einen Gra-
benkrieg im Osten des Landes führen. Trup-
penteile schnell zu verlegen, sie mit Munition,
Treibstoff und Lebensmitteln zu versorgen,
darauf sei das Militär kaum vorbereitet. »Es
geht im Fall einer Großoffensive vor allem
darum, den Vormarsch der russischen Trup-
pen zu verlangsamen und Zeit zu gewinnen.«
Deshalb seien moderne Waffen wie die »Bay-
raktar«-Kampfdrohnen und »Javelin«-Rake-
ten gegen die Panzer so wichtig.
Andere Experten wie der ukrainische Ge-
neral Wiktor Muschenko gehen eher von
einem regional begrenzten Schlag Moskaus
aus. Muschenko war zwischen 2014 und 2019
Generalstabschef der ukrainischen Armee
und rechnet mit einer Offensive im Süden.
Auf der annektierten Krim hat die russische
Armee zahlreiche Truppen stationiert, zudem
kann sie mit einem Angriff über das Meer
ihre maritime Überlegenheit ausspielen, was
sie bereits in Manövern demonstriert habe.
»Im Süden ist es für uns besonders gefährlich«,
sagt Muschenko. Der General glaubt aber,
dass Moskau nicht angreifen werde, ohne zu-
vor für eine weitere »Destabilisierung der
Ukraine« zu sorgen.
Entsprechende Versuche sind bereits im
Gange. Vor wenigen Tagen zeigten die Web-
sites Dutzender ukrainischer Behörden plötz-
lich nationalistische Botschaften in drei Spra-
chen: »Ukrainer! … habt Angst und erwartet
das Schlimmste«, stand da. Der Angriff er-
regte Aufsehen, wirkte aber harmlos. Als
weitaus schädlicher kann sich allerdings die
»Wiper«-Schadsoftware entpuppen, die Ha-
cker im Geheimen auf Behördenrechnern
verteilten. Sie manipuliert den Startvorgang
der befallenen Computer. Das Programm
tarnt sich als Erpressungstrojaner und be-
hauptet, dass gegen eine Zahlung in der Kryp-
towährung Bitcoin der Zugriff auf die Daten
wieder möglich werde. Tatsächlich ziele es
aber darauf ab, die Geräte unbrauchbar zu
machen, warnen Microsoft-Analysten.
In der Ukraine weckt das ungute Erinne-
rungen. Ende 2015 hatten Hacker Teile der
Stromversorgung des Landes lahmgelegt, es
kam zum ersten Blackout, der erste weltweit
bekannte Fall dieses Ausmaßes. Der IT-Si-
cherheitsexperte John Hultquist fühlt sich
angesichts der neuen Vorfälle in der Ukraine
an Cyberangriffe auf Georgien 2008 erinnert,
die wenige Wochen vor der russischen Inva-
sion in das Land begannen. Auch diesmal
könnte es sich nur um die Ouvertüre handeln,
fürchtet Hultquist, der Cyberattacken für das
US-Unternehmen Mandiant analysiert. Sein
Team habe Hinweise darauf gefunden, dass
die jüngste Operation gegen die Ukraine aus
Belarus heraus gesteuert worden sei. Er gehe
davon aus, dass russische und belarussische
Hacker dort zusammenarbeiteten, das sei
»das wahrscheinlichste Szenario«.
»Wir sind, was unsere Cybersicherheit an-
geht, faktisch schutzlos«, sagt der Kiewer
20 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Verteidigungsexperte Taras Tschmut. Aller-
dings glaubt er, dass Russland die zunehmen-
de Feindseligkeit der Ukrainerinnen und
Ukrainer unterschätze. Nach einer jüngsten
Umfrage ist mehr als die Hälfte der befragten
Ukrainerinnen und Ukrainer bereit, Wider-
stand zu leisten, über 33 Prozent sogar be-
waffnet.
2014 hätten viele Ukrainer, gerade Militärs,
noch »eine Barriere im Kopf« gehabt, gegen
Russen zu kämpfen, sagt Ex-Generalstabschef
Muschenko. Man sei immerhin Teil der großen
Sowjetarmee gewesen und habe oft gemein-
sam Ausbildungen absolviert. »Diese Zweifel
sind vorbei, die Einstellung ist klar: Russland
ist der Aggressor, den es zu bekämpfen gilt.«
Der Preis für den Kreml werde hoch, warnt
auch der britische Verteidigungsexperte Grant.
Auf beiden Seiten könne bei einer Offensive
viel Blut fließen. »Das wird kein Durchmarsch
für Moskau.« Ganz gleich, für welche Art der
Invasion Putin sich entscheide, »die Ukrainer
werden sich und ihr Land ­verteidigen«. Aller-
dings wirke Präsident Selenskyj seltsam
schwach und abwesend, kriti­siert Grant. »Ich
wünschte, wir hätten jemanden vom Kaliber
Churchills, nicht Selenskyj«, sagt auch Tschmut.
Der Präsident hat lange geschwiegen und
postete lieber ein Instagram-Video aus seinen
Neujahrs-Skiferien in den Karpaten. Erst am
Mittwoch äußerte er sich in einer Ansprache
an seine Bürgerinnen und Bürger zu einer
möglichen Invasion. Seine zentrale Aussage:
Die Warnungen vor einem Angriff seien Ge-
rüchte. »Die Risiken gibt es nicht seit gestern,
und sie sind nicht gewachsen. Was gewachsen
ist, ist der Hype«, sagte Selenskyj. Nur Stun-
den zuvor hatte US-Außenminister Antony
Blinken bei seinem Besuch in Kiew explizit
gewarnt, Russland könne »sehr kurzfristig«
angreifen.
Doch Selenskyj wollte Bürger und Wirt-
schaft beruhigen. Auch sein oberster Sicher-
heitsberater Olexij Danilow scheint die öko-
nomischen Folgen der Debatte mehr zu fürch-
ten als eine Invasion. Denn diese Bedrohung
sei seit Jahren bekannt. »Wenn das für einen
Teil der westlichen Welt neu ist – für uns ist
es das nicht«, sagt er in Kiew. Und eine Er-
oberung der Ukraine könne Russland sich gar
nicht leisten: »Um unser Territorium zu kon-
trollieren, brauchte es mindestens 1,5 Millio-
nen Soldaten.«
Im Kiewer Hinterhof sagt Jarema Duch, er
wolle lieber »auf alles vorbereitet sein«. Er
hat bereits Lebensmittelkonserven und einen
Campingkocher gekauft, für den Fall, dass es
in der Hauptstadt keinen Strom mehr geben
sollte.
An der von der Stadtverwaltung markier-
ten Stelle für den Schutzraum findet er nur
ein Büro mit Computern. Sollte er Zuflucht
suchen müssen, will er lieber zur nächsten
Metrostation laufen. Dort, tief unter der Erde,
glaubt Duch, sei es sicherer.
Christian Esch, Christina Hebel, Katja Lutska,
Marcel Rosenbach
Mitarbeit: Alexander Chernyshev n

Der Krieg in den Köpfen
UKRAINE  Charkiw liegt nahe der Grenze, die Stadt könnte bei einem Angriff
zum Kampfgebiet werden. Viele Bewohner sind schon einmal vor
Russland geflohen. Wie bereiten sie sich jetzt vor? Von Lina Verschwele
D
ie wichtigsten Dokumente
hat Olena Rosskasowa in
einen Micky-Maus-Rucksack
gepackt. Geburtsurkunden,
Abschlusszeugnisse, Reisedokumen-
te, dazu Medikamente und Bargeld.
Außerdem das liebste Kuscheltier
ihrer Tochter und ein Buch mit grie-
chischen Sagen, aus dem schon ihre
Eltern ihr vorgelesen haben. Die
Beat­les-Fotos an der Wand ihrer
Wohnung würde sie im Fall einer In-
vasion wohl zurücklassen, sagt sie.
Rosskasowa ist 46 Jahre alt, eine
Frau, die unangenehme Dinge gern
in Fröhlichkeit einhüllt. Außerdem ist
sie gern vorbereitet. Den Micky-
Maus-Rucksack habe sie »für alle Fäl-
le« gepackt, erzählt sie. Im Zweifel
hätte sie so das Wichtigste beisam-
men, so wie es die Behörden zur Vor-
bereitung empfehlen, sollte Russland
in der Ukraine einmarschieren. Ross-
kasowa würde dann den Rucksack
nehmen und mit ihrer neunjährigen
Tochter zu Freunden nach Uschhorod
reisen, in den südwestlichsten Zipfel
der Ukraine, weil man von dort
schnell ins Ausland kommt. Sie hat
alles durchdacht.
Rosskasowa lebt in Charkiw, der
zweitgrößten Stadt der Ukraine mit
knapp 1,5 Millionen Einwohnern,
rund ein Drittel davon Russen und
Angehörige der russischsprachigen
Minderheit. Aufgewachsen ist sie in
Luhansk, im tiefen Osten des Landes.
Seit Separatisten im Jahr 2014 die
Stadt unter ihre Kontrolle brachten
und die »Volksrepublik Luhansk«
ausriefen, kann Rosskasowa nicht zu-
rück. Die Bedrohung bleibt jedoch
nah: Ihre neue Wohnung liegt weni-
ger als 40 Kilometer von der russi-
TITEL
schen Grenze entfernt. In Charkiw
leitet sie die regionale Abteilung der
Renaissance-Stiftung des Mäzens
George Soros, die sich für Demokra-
tie und Menschenrechte einsetzt.
Weil sie für diese US-Stiftung tätig
ist, fürchtet Olena Rosskasowa im
Fall einer russischen Invasion das
Schlimmste. Daheim in Luhansk hät-
ten prorussische Separatisten bereits
damit gedroht, Feinde zu erschießen,
so hätten es ihr dort inhaftierte Freun-
de berichtet. Schon beim russischen
Truppenaufmarsch im vergangenen
Frühjahr erstellte sie mit Kollegen
eine Karte mit Schutzräumen in der
Stadt. Ihre aktuelle Situation ver-
gleicht sie mit einem Pulverfass, das
jederzeit explodieren könne. »Aber
jetzt habe ich alles getan, was ich
kann.«
Seit Wochen stehen rund 100 000
russische Soldaten nahe der ukraini-
schen Grenze. Charkiw könnte ein
mögliches Ziel eines russischen An-
griffs sein, aber niemand weiß, was
Moskau plant. Sicher ist, dass die
Stadt in dem aktuellen Konflikt eine
besondere Rolle spielt. Deutlicher als
anderswo zeigt sich hier die innere
Zerrissenheit der Ukraine. Charkiw
galt neben Donezk und Luhansk lan-
ge als eine Hochburg der Russland-
fans und Befürworter einer Annähe-
rung an Moskau. Schon bei den Mai-
dan-Protesten der Jahre 2013 und
2014, als viele Ukrainerinnen und
Ukrainer gegen ihren russlandfreund-
lichen Präsidenten und für eine enge-
Igor Chekachkov / DER SPIEGEL
re EU-Anbindung protestierten, war
die Lage in der Stadt angespannt.
Während die einen die gigantische
Leninstatue auf dem Platz der Frei-
heit unter Jubel zu Fall brachten,
demonstrierten andere für einen
»russischen Frühling«.
Grafikerin Auch in Charkiw unterstützte der
­Perewersewa: Kreml eine eigene »Volksrepublik«.
Lassen sich die
Gräben wieder
Anders als in Luhansk und Donezk
zuschütten? scheiterte sie jedoch an der Gegen-
wehr ukrainischer Sicherheitskräfte.
Bei den letzten Parlamentswahlen
vor drei Jahren wurde die prorussi-
sche Partei »Für das Leben« in Char-
kiw zweitstärkste Kraft. Im Vorfeld
der Wahlen hatte es Desinformations-
kampagnen und Sabotageakte gege-
ben, die Russland gesteuert haben
soll.
Rund anderthalb Millionen Men-
schen mussten seit 2014 fliehen, vie-
le aus den Separatistengebieten im
Osten des Landes. In Charkiw leb-
ten zeitweise mehr als 300 000 Bin-
Charkiw nenflüchtlinge. Für diesen Text hat
UKRAINE der SPIEGEL drei Frauen begleitet,
die nach den Protesten ihre Heimat
­verloren haben und sich nun er-
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 21
TITEL
Stadtansicht von Charkiw: Die Frage, wer das Land verteidigt, stellt sich hier besonders dringend
neut ­fragen, ob ein neuer Konflikt das Land
­zerreißt.
Da ist die Menschenrechtlerin Olena Ross-
kasowa, die Russland als Aggressor sieht und
eine Zukunft im Ausland erwägt; da ist die
Sozialarbeiterin Marina Fedortschenko, die
sich von der Ukraine verraten fühlt und sich
nach der Zeit vor dem Krieg zurücksehnt;
und die russische Grafikerin Jekaterina Pere-
wersewa, die sich fragt, ob sich die Gräben in
der Stadt und im ganzen Land jemals wieder
zuschütten lassen.
Das erste Treffen mit Marina Fedortschen-
ko findet in einer Shoppingmall statt, wo sie
Einkäufe erledigt. Aus den Lautsprechern
dudelt Popmusik, Fedortschenkos Stimme
klingt angriffslustig. Sie lacht über die Frage,
ob auch sie eine Notfalltasche gepackt habe.
Die 43-Jährige hält Debatten über eine neue
Invasion für Panikmache der Medien. »Davon
lasse ich mir mein Leben nicht verderben.«
Tatsächlich deutet nichts in Charkiw darauf
hin, dass die Bewohner besondere Angst vor
einem Krieg hätten. Die großen Plätze schmü-
cken Mitte Januar noch immer Weihnachts-
bäume, über den breiten Straßen hängen
Lichterketten. Soldaten sieht man kaum.
M
arina Fedortschenko hat das schon
anders erlebt. Bis 2014 wohnte
sie in Donezk. Dort habe der
Krieg in der Luft gelegen, lange
bevor Kugeln auch ihren Balkon erreichten,
erzählt sie. Nun will sie kein Opfer mehr sein.
Den Fotografen wird sie später bei sich zu
Hause anweisen, bitte keine traurigen Fotos
von ihr zu schießen.
Und doch klingt sie oft bitter. Von ihrem
alten Leben erzählt sie auf Russisch, sie
spricht dann schnell und aufgebracht. Sie
steckt noch mitten im Kampf mit der Vergan-
genheit. Damals verließ sie die Stadt wegen
der Kämpfe zwischen prorussischen Separa-
tisten und ukrainischen Soldaten. 2014 hat
22 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Demonstranten dicht an dicht auf einem Mai-
dan-Protest.
Von Russland hat Marina Fedortschenko
nichts anderes als eine Einmischung erwartet.
»Russland verteidigt sein Land, in seiner sehr
eigenen, sehr russischen und aggressiven
­Weise.« Bei Kämpfen zwischen Separatisten
und ukrainischen Soldaten sei Donezk aber
auch von der ukrainischen Armee beschossen
worden. Sie wischt sich Tränen von der Wan-
ge, als sie sagt, dass sie dafür eine Entschul-
digung erwarte.
W
ie viele, die aus den besetzten Ge-
bieten geflohen waren, fand auch
Marianna Ianovska / Shutterstock
Marina Fedortschenko anfangs
nur schwer eine Wohnung. Immer
wieder sah sie sich mit dem Vorurteil kon-
frontiert, Binnenflüchtlinge wie sie hätten
ihre Heimatstädte nicht genug verteidigt, sie
seien russlandfreundliche Verräter oder
schlicht kriminell. Selbst 2020 gaben in einer
Umfrage noch weniger als die Hälfte der be-
fragten Ukrainer an, den Flüchtlingen aus
auch Marina Fedortschenko in Donezk den dem Osten zu vertrauen.
Wunsch der Maidan-Demonstranten nach Marina Fedortschenko wurde durch den
einer Annäherung an die EU unterstützt. Nun Konflikt entwurzelt. »Hier in der Ukraine
sagt sie, dass sie sich dafür schäme. Ihr habe halten mich die Menschen für eine Prorussin«,
die Revolution alles genommen und das Land sagt sie. Ein Freund in Moskau beschimpfte
in einen Krieg gestürzt. Mehr als 13 000 Men- sie dagegen neulich als Banderowka, als ukra­
schen starben bei den Kämpfen im Donbass, inische Faschistin, als sie davon sprach, dass
auch einer ihrer Nachbarn. Russland den Krieg 2014 begonnen habe. Fe-
Mit zweien ihrer Söhne lebt Marina Fe- dortschenko ist kein Putin-Fan, sie glaubt aber,
dortschenko mittlerweile in einem Vorort dass es ohne Russland für die Ukraine einfach
von Charkiw. Aus ihrem Fenster blickt man nicht gehe. Die Maidan-Proteste sieht sie in-
auf eine Möbelfabrik, an der Wand hängen zwischen als Fehler, es sei dumm gewesen,
Bilder von einer Thailandreise, auf dem Kla- irgendeine Revolution zu unterstützen. »Es
vier steht das Foto ihres Sohnes auf dem Fuß- ist naiv zu glauben, dass wir gegen Russland
ballfeld von Schachtar Donezk. Fedortschen- kämpfen können.«
ko streicht über den Rahmen, obwohl kein In Charkiw stellt sich die Frage, wer die
Staub darauf liegt. Sie schwärmt von ihrem Ukraine überhaupt verteidigen würde, be-
früheren Leben in Donezk, von langen Aben- sonders drängend. Im Dezember gab in einer
den mit Freunden, der schöneren Wohnung, Umfrage ein Drittel der Ukrainer an, dass sie
ihrem eigenen Unternehmen. Ihre Familie sich im Fall eines russischen Angriffs auf ihre
lebte nur wenige Kilometer vom Donezker jeweilige Stadt militärisch wehren würden.
Flughafen entfernt, wo vor dem Krieg rund Marina Fedortschenko sagt, sie brauche keine
3000 Passagiere pro Stunde abgefertigt wer- neuen Helden. Ihre drei Söhne werde die Ar-
den konnten. Fedortschenko führte damals mee jedenfalls nicht bekommen.
eine Tourismusagentur und verreiste mehr- Marina Fedortschenko hat die vielen Gip-
mals im Jahr. Mit dem Krieg wurde der Flug- feltreffen, Gespräche und Pressekonferenzen
hafen in Donezk eine Ruine, zerstört ist auch zwischen Washington, Moskau, Berlin und
Fedortschenkos früheres Leben. Sie reist Kiew in den vergangenen Wochen bislang
kaum noch. ignoriert, es erscheint ihr unwichtig. 2014
Bis vor Kurzem arbeitete sie in Charkiw habe sie alles gelesen und verfolgt, genützt
für die Caritas, erst in der Familienhilfe für habe es nichts. Jetzt schaue sie nur noch Kino­
Binnenflüchtlinge, dann für ein Friedenspro- filme.
jekt. »Das war mein Traum, einen Dialog zu Auch die Grafikerin Jekaterina Perewerse-
schaffen«, sagt sie. Jetzt aber ist das Projekt wa verliert zu den Verhandlungen kaum ein
ausgelaufen und sie auf Jobsuche. Wort. Für sie sind die Nachrichten vor allem
Fedortschenko zweifelt nicht daran, dass ein Stressfaktor. Als ihr Chef neulich aus
russische Kräfte und russische Waffen hinter einem Artikel vorlas, in dem es um die russi-
den Separatisten in Donezk und Luhansk ste- sche Kriegsdrohung ging, habe sie einen gan-
hen. Sie sagt, sie kenne niemanden, der dort zen Nachmittag nichts mehr geschafft, weil
für die Abspaltung vom Rest des Landes ge- sie sich zu sehr darüber aufregte.
wesen wäre. Zum Beleg zeigt sie Fotos auf Perewersewa ist 27 Jahre alt und besitzt
ihrem Handy: Auf dem ersten sieht man ein einen russischen Pass, sie ist eine von denen,
paar Dutzend Menschen auf einer prorussi- die Putin mit seiner Annexion der Krim-Halb-
schen Demo in Donezk, auf dem nächsten insel 2014 angeblich schützen wollte. Sie floh

jedoch wie Marina Fedortschenko aus Do-
nezk. Dabei lebte sie bis zu ihrem elften Le-
bensjahr sogar im russischen Brjansk. Über
die Argumentation des Kremls entfährt ihr
ein kurzes, sarkastisches Lachen: »Weil sie
uns geschützt haben, habe ich mein Haus ver-
loren.«
Mitte Januar findet man sie in einer Keller-
werkstatt, umgeben von Freunden. An der
Decke hängt ein Bär aus Silberpappe, an einer
Wand ein Hase aus Holz. In ihrer Freizeit
plant Perewersewa Konzerte und Festivals,
von denen sie hofft, dass sie Binnenflücht-
linge und Alteingesessene zusammenbringen.
Tagsüber arbeitet sie als Grafikerin für ein
Kulturmagazin, sie sagt, es gefalle ihr, an
einer gemeinsamen Identität der Stadt mit-
zuwirken.
Wenige Tage nach dem Gespräch mit ihr
wird in der Ukraine ein neues Gesetz in Kraft
treten, das auch sie betrifft. Zeitungen, die
auf Russisch erscheinen, müssen nun genau-
so viele Exemplare auf Ukrainisch drucken.
Ähnliche Gesetze sehen bereits vor, dass Fri-
seurinnen, Kellner oder Barbetreiber ihre
Gäste zuerst auf Ukrainisch ansprechen müs-
sen. Befürworter des Gesetzes argumentieren,
man verhindere damit, dass der Kreml die
russischsprachige Minderheit vom Rest des
Landes abkapselt und für sich instrumentali-
Igor Chekachkov / DER SPIEGEL
Sozialarbeiterin Fedortschenko
Igor Chekachkov / DER SPIEGEL
Menschenrechtlerin Rosskasowa mit Tochter
TITEL
siert. Kritiker dagegen fürchten, dass der
Kreml eine angebliche Bedrohung der Russen
in der Ukraine zum Anlass nimmt, noch ag-
gressiver aufzutreten. Jekaterina Perewerse-
wa glaubt, für Russland sei das letztlich egal.
»Russische Propaganda findet immer etwas.
Und wenn nicht, dann denkt sie sich etwas
aus.«
Trotzdem fürchtet sie, dass die Debatte
um die richtige Form von Patriotismus das
Land weiter auseinandertreibt, wenn sich die
russischsprachigen Ukrainer und die Bewoh-
ner der selbst ernannten Volksrepubliken
zurückgelassen fühlen. Ein Ende des Krieges
erhofft und fürchtet sie gleichermaßen: »Wir
stellen uns das vor wie im Märchen, dass
dann alle vor Freude weinen und sich um-
armen. Aber die Zeit danach könnte schwe-
rer werden als die Zeit im Krieg.« Schon jetzt
stellt sie sich die Frage, wie sich die verschie-
denen Gruppen im Land wieder miteinander
versöhnen ließen.
Es gibt derzeit nicht allzu viele Menschen
in Charkiw, die offen über ihre Liebe zu Mos-
kau sprechen. Viele Unterstützer der prorus-
sischen Demonstrationen sind in den vergan-
genen Jahren nach Russland ausgereist.
Diejenigen, die in Charkiw geblieben sind,
müssen mit der Bedrohung leben, mit den
Fernsehbildern russischer Truppen an der
Grenze, mit dem drohenden Krieg. Die meis-
ten ignorieren die Bilder und hoffen darauf,
dass es so schlimm schon nicht kommen wird.
Und doch steckt der Krieg überall in der Stadt,
in der Erinnerung der Geflüchteten, in den
Köpfen von Marina Fedortschenko, Olena
Rosskasowa und Jekaterina Perewersewa.
Fedortschenko hat ihre Eltern zuletzt vor
sieben Jahren in ihrer Heimatstadt Alt-
schewsk besucht. Seit dem Krieg kann sie nur
noch auf dem Umweg über Russland einrei-
sen. Olena Rosskasowa hat mit ihrem Vater
keinen Kontakt mehr. Er lebt in Luhansk und
hält seine Tochter für eine amerikafreundliche
Verräterin.
Von Perewersewas Freunden aus der Schul-
zeit leben manche weiter in der »Volksrepu-
blik Donezk«, aus sehr unterschiedlichen
Gründen. Einer, so erzählt Perewersewa, be-
treibe dort Jugendarbeit für die selbst ernann-
te Regierung der »Volksrepublik«. Ein ande-
rer blieb als Psychologe dort, um den Men-
schen zu helfen. Die drei haben nur noch
selten Kontakt.
Jekaterina Perewersewa sagt, es sei ihr
leicht gefallen, aus Donezk fortzugehen.
»Aber Charkiw zu verlassen, das will ich mir
gar nicht vorstellen.« Von vielen Erinnerun-
gen an Donezk hat sie sich getrennt und statt-
dessen einen Hund angeschafft, als Zeichen,
dass sie angekommen ist. Einen Koffer für
den Fall eines Angriffs würde sie »aus Prin-
zip« nicht packen. Sollte es tatsächlich eine
russische Invasion geben, hat sie einen ande-
ren Plan. Sie würde in der Kellerwerkstatt
ihrer Freunde eine Party organisieren. So
wären sie erst einmal alle zusammen. Und
dann würden sie weitersehen. n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 23
DEUTSCHLAND

Mar tin Schutt / dpa

Im Thüringer Zoopark Erfurt hat man dieser Tage viel gezählt und gemessen. Im größten zoologischen Garten Thüringens stand eine Inventur an.
Hier etwa misst die Tierpflegerin Aline Gerbusch nach, wie groß das Horn des Breitmaulnashorns Marcita ist. Aktuell leben in dem Zoo 862 Tiere,
insgesamt 140 Arten gibt es zu sehen. Im Vergleich zum Jahreswechsel des vergangenen Jahres ist der Bestand somit annähernd gleich
ge­­blie­ben. Ein weiteres Tier wird aber schon sehnsüchtig erwartet. Vor wenigen Wochen wurde mittels Hormonanalyse herausgefunden,
dass die ­Nashorndame trächtig ist. Im Herbst 2022 erwartet man wieder gemeinsamen Nachwuchs von Marcita und dem Zuchtbullen Dino.

Zähes Geschäft
MASKENDEALS  Die Opposition im bayerischen Landtag versucht, die Emix-Geschäfte aufzuklären.

G erade erst hat der Untersuchungsausschuss des Landtags zur

Schutzmaskenbeschaffung in Bayern seine Arbeit aufge­
nommen, da wird schon deutlich, dass die Suche nach Filz­
ver­bindungen zwischen Politik und Maskenlieferanten zum zähen
Geschäft für die Opposition werden dürfte. In einer Anfrage an die
Landesregierung wollten die Grünen wissen, wie die CSU-nahe
Lobbyistin Andrea Tandler für die Schweizer Firma Emix die Tü­
ren zu einem 15-Millionen-Auftrag im Gesundheitsministerium im
März 2020 geöffnet hatte. Bayern kaufte damals überteuerte Emix-
Masken für 8,90 Euro pro Stück. Doch auf die Frage, in welcher
Funktion sich Tandler im Ministerium – vermittelt durch die dama­
lige Gesundheitsministerin Melanie Huml – vorstellte, heißt es
schlicht: »Dies ist nicht mehr nachvollziehbar.« Dabei wurden mit
Tandler Gespräche »durch die im Ministerium damals zuständige
Arbeitsebene« geführt.
Die Tür ins Huml-Ministerium hatte Monika Hohlmeier, Tochter
des verstorbenen CSU-Patrons Franz Josef Strauß, für Tandler geöff­
net. Auch hier: Es seien keine vollumfänglichen Aktenvermerke zur
Kommunikation Tandlers mit dem Ministerium angefertigt worden.
Immerhin aufzufinden war die SMS von Hohlmeier an Huml: »Liebe
Melanie, wollte dich nur fragen, ob Bayern Schutzmasken braucht,
weil da 1 Mio Restposten in der Schweiz existiert. Eilige Interessenan­
meldung nötig, da viele Anfragen. Ich bin nur Übermittlerin der
Nachricht …« Huml habe lediglich mit dem Satz geantwortet: »Liebe
Monika, wir haben Interesse«, dazu habe sie die zuständige Stelle im
Ministerium genannt. Mehr habe Huml dazu nicht kommuniziert. AMP

24 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022

Bedroht von
Lafontaine-Fans
SAARLAND  Im Parteiaus-
schlussverfahren gegen den frü-
heren Linkenvorsitzenden Os-
kar Lafontaine haben sich drei
Mitglieder der saarländischen
Landesschiedskommission für
befangen erklärt. Das geht aus
einem Schreiben des Gremiums
hervor, in dem es heißt, die drei
Kommissionsmitglieder seien
»massiven persönlichen und
schriftlichen Bedrohungen« aus-
gesetzt gewesen. Das Verfahren
liegt nun zunächst bei der Bun-
desschiedskommission, weil die
saarländische Kommission nicht
mehr beschlussfähig ist. Dem
Vernehmen nach gaben sich die
Drohenden als fanatische La-
Keine »Miliz der
Anständigen«
EXTREMISMUS  Nach dem Aus-
heben mehrerer Waffenlager in
Österreich hat die Staatsanwalt-
schaft Wien keine Hinweise auf
eine deutsch-österreichische
Neonazi-Gruppe namens »Miliz
der Anständigen« finden kön-
nen. Das teilte eine Sprecherin
der Behörde auf Anfrage des
SPIEGEL mit. Demnach hätten
die Ermittlungen im Umfeld
eines bekannten Neonazis letzt-
endlich »keine Anhaltspunkte
für die Existenz einer ›Miliz der
Anständigen‹ ergeben«. Im Juli
hatte das österreichische Innen-
ministerium mit einer Presse-
mitteilung für Aufsehen gesorgt:
Darin war von einem rechts­
Nachgezählt
Ausgaben des Bundes für die Corona-Aufklärung 2021, in Mio. Euro
286 Mio. Euro gab der Bund
insgesamt aus, 144 Mio. Euro
für die Impfkampagne »Zusammen
gegen Corona«, davon:
64
soziale
Medien 3 berichtete es die »Süddeut-
Radio-
spots
12
Printanzeigen
S Quelle: Bundesministerium für Gesundheit

fontaine-Unterstützer zu erken-
nen. »Oskar Lafontaine hat viel
für die Saarlinke geleistet. Eini-
ge übertreiben es wohl mit ihrer
Unterstützung für ihn«, sagt der
saarländische Linkenvorsitzen-
de Thomas Lutze zu dem Vor-
gang. In dem Ausschlussantrag
wird Lafontaine parteischädi-
gendes Verhalten vorgeworfen,
weil dieser vor der Bundestags-
wahl dazu aufgerufen hatte,
nicht mit der Zweitstimme die
Linke zu wählen. Lafontaine
wollte verhindern, dass Lutze
erneut in den Bundestag ein-
zieht. Er wirft ihm etwa vor,
sich mit unlauteren Mitteln
seinen Posten zu sichern. Ent-
sprechende Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft gegen Lutze
wurden aber eingestellt. TIL
extremen Netzwerk die Rede,
dessen Mitglieder sich ȟber
den Aufbau einer ›Miliz der An-
ständigen‹ austauschten, um
›das System zu kippen‹«. Der
damalige Innenminister und
heutige Bundeskanzler Öster-
reichs, Karl Nehammer, zeigte
sich alarmiert: »Ich bin zutiefst
beunruhigt, wenn eine solche
Gruppe voll automatische Waf-
fen oder Handgranaten in ihrem
Besitz hat.« Laut Presseberich-
ten vermuteten österreichische
Ermittler einen Teil der Tat­ver­
dächtigen in Deutschland. Aber
auch laut Generalstaatsanwalt-
schaft München, die ein Verfah-
ren gegen unbekannt eingeleitet
hat, konnten bisher keine Hin-
weise auf die angebliche Miliz
ermittelt werden. SRÖ, WOW
46
Werbung im
öffentlichen
Raum
3 sche Zeitung«, von Bundes-
16 digitale
Medien
TV-Spots
DER GESUNDE MENSCHENVERSTAND
Spiele der Diktatur
Von Markus Feldenkirchen
A ls Teenager war ich
wochenlang nicht an-
sprechbar, wenn die
Olympischen Spiele liefen.
­Jeden einzelnen Wettbewerb
verfolgte ich mit kindlicher
Begeisterung. Das ist lange
vorbei. Wenn am 4. Februar
die Winterspiele in Peking
starten, werde ich keinerlei
Euphorie mehr empfinden.
Nicht weil mein Interesse
am Sport erloschen wäre.
Sondern weil einfach nichts
stimmt bei diesem verloge-
nen Ereignis.
Wann immer Olympische
Spiele an Diktaturen verge-
ben wurden, kam nie etwas
Gutes dabei heraus. Es ist
Verrat am Sport und an der
olympischen Idee. Das Inter-
nationale Olympische Komi-
tee (IOC), das sich angeblich
der Völkerverständigung
und dem Frieden verpflichtet schafft euch ab!
fühlt, vergibt die Spiele an ein
Regime, das sich damit selbst
vermarkten kann, während es Wochen Wolfgang Maier,
in Tibet und Xinjiang Teile
der Bevölkerung wie Gefan-
gene hält.
Olympiafunktionäre recht-
fertigen sich unter anderem
mit dem Hinweis, die Athle-
tinnen und Athleten könnten
die Spiele ja dafür nutzen, vor ­November vom Weltcup in
Ort auf Missstände hinzuwei- China zurückkam. Zuvor
sen. Schön wär’s. Diese Sport- ­hatte er nach einem falsch
ler sind darauf angewiesen,
dass ihre vom Regime kon­
trollierten täglichen PCR-
Tests negativ ausfallen, um
starten zu können. Leichter
als mit einem manipulierten
Test ließen sich Kritiker noch
nie aus dem Verkehr ziehen.
Athleten und Betreuer
wurden in den vergangenen
Wochen über die Situation in
China informiert, auch von
einem Vertreter des Auswär­
tigen Amts. Dieser habe, so
tagsabgeordneten erzählt, die schafft euch ab!
An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen und Alexander Neubacher
im Wechsel.
nach kritischen Äußerungen
nicht mehr ins Land gelassen
wurden ­– was auch Athleten
passieren könne, die »negativ
auffallen«. Die chinesische
Regierung wolle sich durch
möglichst perfekte Spiele
­profilieren, öffentliche Kritik
sei den Behörden da »nicht
willkommen«.
Die Briten und die Nieder-
länder haben ihren Athleten
derweil empfohlen, ihre priva-
ten Handys zu Hause zu las-
sen und stattdessen Wegwerf-
telefone zu nutzen. Wegen
der berechtigten Angst vor
Überwachung. »Unter den ge-
gebenen Bedingungen ist es
kaum zu verantworten, wenn
man uns da einfach rüber­
Liebes IOC! Vergebt
Olympische Spiele
nicht mehr an
solche Regime. Oder
schickt«, klagte bereits vor
Sportvorstand beim Deut-
schen Skiverband der
­»Süddeutschen«.
»Ein Statement da drüben
zu setzen würde ich mich
nicht trauen«, sagte der Rod-
ler Tobias Arlt, als er im
positiven Test Tage im Qua-
rantänezimmer verbringen
müssen, das er sich obendrein
mit diversen Kakerlaken tei-
len musste.
Das Problem sind nicht
Sportler, die unter solchen Be-
dingungen schweigen, um die
Ausübung ihres Berufs nicht
zu gefährden. Das Problem
ist ein Verband, der die Ath­
letinnen und Athleten derarti-
gen Bedingungen aussetzt.
Und deshalb, liebes IOC: Ver-
gebt Olympische Spiele nicht
mehr an solche Regime. Oder
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 25
CHAPPATTES WELT
Grüne machen Druck
auf eigene Regierung
RECHTSSTAATLICHKEIT  Die
Grünen im Europäischen Parla-
ment haben die Bundesregie-
rung aufgefordert, mehr Druck
auf Polen und Ungarn auszu-
üben. Die Parteien des Ampel-
bündnisses müssten die Euro-
päische Kommission dazu drän-
gen, den sogenannten Rechts-
staatsmechanismus gegen beide
Länder einzuleiten, sagte der
Grünen-Europaabgeordnete
Daniel Freund. Die von War-
Gönnt euch
SO GESEHEN  Die
Grünen haben viel
mehr Boni verdient.
26 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
schau und Budapest ausgehen-
den Angriffe auf die Unabhän-
gigkeit der Justiz und den
Rechtsstaat, müssten endlich
schmerzhafte Sanktionen nach
sich ziehen, so Freund. Große
Worte, wie sie der französische
Präsident Emmanuel Macron
am Mittwoch vor dem Europa-
parlament gebraucht habe,
reichten nicht aus, sagte Freund.
Er wies darauf hin, dass Sozial-
demokraten, Grüne und Frei­
demokraten in ihrem Koali-
tionsvertrag die konsequentere
­Nutzung der bestehenden
Die Untreue-Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft gegen den
Grünen-Bundesvorstand we-
gen sich selbst bewilligter Co-
rona-Bonuszahlungen lassen
politische Gegner feixen – be-
legen aber nur, wie rückschritt-
lich unsere Justizbehörden
sind. Die in Rede stehenden
Summen verdienen kaum die
Bezeichnung »Bimbes«, für
solches Kleingeld hätte Fried-
rich Merz früher nicht einmal
einen müden Blick auf die
­Verpackung eines Aktienpa-
kets geworfen.
Tatsächlich hätten sich die
grünen Spitzenleute viel mehr
Rechtsstaatsinstrumente aus-
drücklich angemahnt haben.
Der neue Rechtsstaatsmecha-
nismus ist seit Anfang vergange-
nen Jahres in Kraft. EU-Kom-
missionspräsidentin Ursula von
der Leyen weigert sich, die An-
wendung des Instruments zuzu-
lassen, solange der Europäische
Gerichtshof nicht über die Kla-
gen Ungarns und Polens ent-
schieden habe. Beide Länder
hatten gegen den Mechanismus
geklagt. Mit einer Entscheidung
wird erst in den kommenden
Wochen gerechnet. RAN
zugestehen sollen als läppische honoriert werden? Oder we-
1500 Euro für die Corona-Be-
lastungen und die (noch nicht
justiziablen) erhöhten Weih-
nachtsgelder nach gutem
Wahlergebnis. Wir erwarten zu ten nicht sowieso sämtliche
Recht Spitzenleistungen von
denen, die uns regieren. Wenn für die zermürbenden Sitzun-
sich der Leistungsgedanke
in der Politik durchsetzen soll, tian Lindner mit Schmerzens-
sind aber künftig noch viel
mehr Boni zu verteilen.
Verdient Annalena Baer-
bock für die anstrengenden
Reisen als Außenministerin
etwa kein Kilometergeld? Soll- nen. Spätestens bei der nächs-
te Robert Habeck nicht für
jede Tonne eingespartes CO2
Korb für Merz von
Merkel und AKK
CHRISTDEMOKR ATEN  Die bei-
den ehemaligen CDU-Bundes-
parteivorsitzenden Angela Mer-
kel und Annegret Kramp-Kar-
renbauer haben Friedrich Merz
für ein Abendessen abgesagt.
Merz lud nach Angaben aus
Unionskreisen alle lebenden
CDU-Vorsitzenden ein, am
Samstagabend, kurz nach seiner
als sicher geltenden Wahl zum
Parteichef zu einem Dinner in
Berlin zusammenzukommen.
Der 66-Jährige, so heißt es,
habe mit dem Vorschlag auch
ein Zeichen der Versöhnung
mit Merkel setzen wollen, zu
der er seit Jahren ein äußerst
schwieriges Verhältnis hat.
Während Wolfgang Schäuble
und Armin Laschet dem Sauer-
länder zusagten, gaben Merkel
und Kramp-Karrenbauer Merz
einen Korb. Aus dem Büro der
ehemaligen Kanzlerin hieß es,
es gebe »terminliche Gründe«
für ihre Absage, bei Kramp-
Karrenbauer sind es private
­Angelegenheiten. Das Abend­
essen findet nun ohne die bei-
den Politikerinnen statt. Merz
hat neben den Vorsitzenden
auch Mitglieder des alten und
neuen Präsidiums eingeladen.
Ob Merz und Merkel in ihren
neuen Rollen einen besseren
Kontakt zueinander finden,
wird in der Partei mit Spannung
beobachtet. Der frühere Unions-
Fraktionschef hatte kürzlich
eingestanden, Merkel vor ihrem
Aufstieg zur Kanzlerin »völlig
unterschätzt« zu haben. VME
nigstens, weil er wegen der vie-
len Arbeit kaum noch zum
­Einkaufen kommt, einen Bring-
dienst-Bonus erhalten? Müss-
grünen Regierungsmitglieder
gen mit Olaf Scholz und Chris-
geld entschädigt werden?
Selbst­­verständlich. Solange je-
doch kleinliche Gesetze sie hin-
dern, liegt es an uns Wählerin-
nen und Wählern, sie zu beloh-
ten Bundestagswahl: mit dem
Amtsbonus. Stefan Kuzmany
Ploß fordert mehr
Zuschauer in Stadien
SPORT  Hamburgs CDU-Chef
Christoph Ploß fordert, dass
zeitnah wieder mehr Zuschauer
in Fußballstadien gelassen wer-
den. Im Dezember beschloss
die Runde der Ministerpräsi-
denten mit dem Kanzler, die
Publikumszahlen zu beschrän-
ken, was in den Bundesländern
jedoch unterschiedlich ausgelegt
wird. »Wenn man nicht unter
freiem Himmel ins Stadion ge-
hen kann, während manche
»Absolut tragisch«
Luise Amtsberg, 37, ist seit
Januar die neue Menschenrechts-
beauftragte der Bundesregie-
rung. Die Grünenpolitikerin
­fordert eine Lösung für die
­Geflüchteten an der polnisch-­
belarussischen Grenze.
SPIEGEL: Frau Amtsberg, haben
Sie das machtloseste Amt in der
Bundesrepublik?
Amtsberg: Nein, Deutschland ist
gerade im Bereich der Men-
schenrechte und humanitären
Hilfe ein zentraler Akteur in der
Welt. Mein Anspruch, und so
steht es auch im Koalitionsver-
trag, ist es, das Amt der Men-
schenrechtsbeauftragten bei Ge-
setzesvorhaben der Bundesregie-
rung zu stärken und dass die an-
deren Ressorts meinen Rat zu
gegebener Zeit heranziehen –
bei der Gestaltung von Lieferket-
ten oder Themen wie Rüstungs-
exporte oder der Asylpolitik.
SPIEGEL: An der Grenze zwi-
schen Belarus und Polen starben
Flüchtende bei dem Versuch, in
die EU zu gelangen. Werden Sie
ins Grenzgebiet reisen?
Amtsberg: Wenn es möglich ist,
auf jeden Fall. Wir stecken hier
in einem diplomatischen Dilem-
ma, dass ein europäischer Staat,
der nach EU-Gesetzgebung zur
Prüfung von Anträ-
gen verpflichtet
ist, genau das nicht
tut und auf der an-
deren Seite das be-
larussische Regime
steht, mit dem wir
bilateral nicht zu-
sammenarbeiten
können. Deshalb
war es richtig, dass
Annalena Baerbock
Konzertsäle gefüllt sind, ist das
widersprüchlich«, sagte Ploß.
Wer geimpft und getestet sei,
sollte auch wieder im Stadion
ein Fußballspiel genießen kön-
nen. »Es hat mit zielgenauer
Pandemiebekämpfung wenig zu
tun, wenn die Fans ausgerech-
net im Fußball-Land Deutsch-
land schlechtergestellt werden
als andere«, so Ploß. Zuletzt hat-
ten sich laut Medienberichten
die vier wichtigsten Profiligen
in einem Brief an die Regierung
über »existenzbedrohende«
»Symbolpolitik« beklagt. TIL
gleich zu Beginn nach Polen ge-
reist ist.
SPIEGEL: Duldet die EU Men-
schenrechtsverletzungen an der
polnisch-belarussischen Grenze
aus Angst vor dem belarussi-
schen Diktator Alexander Lu-
kaschenko?
Amtsberg: Es ist ein Erpres-
sungsversuch, und er hat Wir-
kung gehabt – nicht weil wir
nachgegeben haben, sondern
weil er gezeigt hat, dass wir bei
der Aufnahme von Flüchtlingen
in der EU offenkundig nicht in
der Lage sind, mit einer Stimme
zu sprechen. Die Frage nach
einer gemeinsamen Aufnahme
der Menschen ist immer noch
ungeklärt, was absolut tragisch
ist. Für uns als Bundesrepublik
ist klar, dass es für die Men-
schen im Grenzgebiet keine Lö-
sung ohne Polen geben kann.
SPIEGEL: Das heißt, Sie werden
sich aber in Ihrer Rolle als Men-
schenrechtsbeauftragte weiterhin
dafür einsetzen, dass diese Men-
schen aufgenommen werden?
Amtsberg: Ich werde mich wei-
ter dafür einsetzen, dass Men-
schen, die an den europäischen
Außengrenzen ankommen,
einen Schutzantrag stellen kön-
nen, der dann fair und sachlich
geprüft wird. Dabei kann dann
auch herauskommen, dass kein
Schutzbedarf besteht und eine
Abschiebung folgen
könnte. Aber Fakt
ist: Erst mal muss
geprüft werden,
entlang der Flucht-
geschichte des
Menschen. Und
dieses Recht wird
penofoto / IMAGO
an der polnisch-be-
larussischen Gren-
ze außer Kraft ge-
setzt. BER
Dmitrij Leltschuk / DER SPIEGEL
»Komafreies Vergnügen«
DER AUGENZEUGE  Michael Krause, 61, Anhänger
des FC St. Pauli, ist Mitglied des wohl einzigen
Fußball-Fanklubs, bei dem niemand Alkohol trinkt.
»Ich bin Fan des FC St. Pauli, Trinker, die zusätzlich Speed
seit mehr als 30 Jahren besit- oder Kokain genommen ha-
ze ich eine Dauerkarte für das ben. Die Gruppe vermittelt
Millerntor-Stadion – und lan- uns ein Gefühl von Sicherheit.
ge Zeit war ich bei den Spie- Es sind auch Leute dabei, die
len betrunken. Meine Karrie- nicht süchtig sind, aber Lust
re als Alkoholiker begann mit auf komafreies Fußballver-
18. Zuerst habe ich wenig ge- gnügen haben.
trunken, dann immer mehr Es kommt vor, dass sich je-
und öfter, bis ich irgendwann mand an uns wendet, der ge-
trinken musste, mein Körper rade den Entzug geschafft hat
brauchte den Alkohol. Als ich und zum ersten Mal wieder
exzessiv konsumiert habe, be- ins Stadion will. Den beglei-
kam ich Herzprobleme, Blut- ten wir dann zum Spiel, wir
hochdruck, ich war psychisch bleiben die ganze Zeit an sei-
instabil. Am 13. November ner Seite. Ein Fußballstadion
2007 habe ich meinen Entzug ist für einen trockenen Alko-
begonnen. Seitdem habe ich holiker ein Hochrisikogebiet,
nie wieder ein Glas angerührt. es gibt viele Trigger: Du siehst
Mittlerweile bin ich Sprecher Zuschauer, die Bier trinken;
der Weiß-braunen Kaffeetrin- du triffst die Leute, mit denen
ker*innen, wahrscheinlich du früher getrunken hast; du
sind wir der einzige alkohol- hörst den Bierverkäufer rufen,
freie Fußball-Fanklub in der durch den Block läuft.
Deutschland. Leider bilden Fußball und
Unsere zwei Gründerväter Alkohol eine Symbiose, im
haben sich vor 25 Jahren bei Stadion wird den Kindern
der Therapie kennengelernt, vorgelebt, dass der Konsum
sie hatten auch gesoffen. Man dazugehört. St. Pauli hat eine
riet ihnen, sie sollten ihre al- Bier- und eine Whiskeymarke
ten Trinkstätten meiden, aber als Sponsoren, das sagt alles.
sie wollten unbedingt weiter Wir haben beantragt, dass vor
zum FC St. Pauli gehen. Also jeder der vier Kurven ein Ge-
haben sie sich geschworen: tränkestand aufgebaut wird,
Wir passen im Stadion gegen- der keinen Alkohol aus-
seitig auf uns auf. Nach die- schenkt – das hat die Vereins-
sem Prinzip funktioniert der führung abgelehnt. Wir haben
Klub bis heute. aber einen Teilerfolg erzielt:
Wir haben etwa 40 Mitglie- Immerhin einen alkoholfreien
der. Anfangs waren es nur Al- Stand wird es künftig geben.«
koholabhängige, jetzt sind Aufgezeichnet von
auch Spielsüchtige dabei und Maik Großekathöfer
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 27
DEUTSCHLAND

»Existenzangst zerstört Glück«

SPIEGEL-GESPRÄCH  Bundeswirtschafts- und -klimaschutzminister Robert Habeck,
52 (Grüne), über Wohlstand, der sich nicht nur in Wirtschaftsleistung misst,
Wachstum ohne Klimaschäden und seine Idee, Russland entgegenzukommen
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

28 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


SPIEGEL: Herr Habeck, was ist für Sie ein
glückliches Leben?
Habeck: Ein weitgehend selbstbestimmtes
Leben. Das schließt Rücksichtnahme mit ein,
so wie man selbst rücksichtsvoll behandelt
werden möchte. Aber sein eigener Herr oder
seine eigene Dame sein zu können, bedingt
Glück.
SPIEGEL: Welche materiellen Bedürfnisse ge-
hören zum Glück?
Habeck: Ich glaube nicht, dass ein glückliches
Leben möglich ist, wenn man in existenziellen
Sorgen lebt. Existenzangst zerstört Glück.
SPIEGEL: Welche Rolle spielt für Sie Geld?
Habeck: Es ist eine Bedingung für die Möglich-
keit, ohne Sorgen zu leben. Aber es hat keinen
Selbstzweck für mich.
SPIEGEL: Jedes Jahr Ende Januar stellt Ihr
Ministerium den Jahreswirtschaftsbericht vor.
Bislang war darin das Bruttoinlandsprodukt
die entscheidende Zahl, mit der bemessen
wird, wie es dem Land geht. Sie wollen mit
dieser Regel brechen. Warum?
Habeck: Brechen würde ich nicht sagen. Sie
umfassender machen. Wir werden auch wei-
terhin das Wachstum in den verschiedenen
wirtschaftlichen Bereichen angeben. Aber
diese Maßstäbe allein erfassen den Zustand
einer Volkswirtschaft nicht ausreichend. Des-
halb haben wir erstmals Kriterien wie Bil-
dung, Verteilungsgerechtigkeit und Umwelt-
zerstörung mit betrachtet. Wir wollen damit
zeigen, dass gesellschaftlicher Reichtum das
BIP braucht, aber nicht in ihm aufgeht.
SPIEGEL: Mit wirtschaftlichem Wachstum stei-
gen auch die Löhne, der Staat hat höhere Ein-
nahmen, Bildung, soziale Gerechtigkeit, tech-
nologische Innovationen wachsen mit. Gilt
diese Grundannahme über die Marktwirt-
schaft nicht mehr?
Habeck: Doch, absolut. Dieser Zusammen-
hang existiert weiter. Jetzt in den Pandemie-
jahren können wir ja sehen, wie Menschen
und Gesellschaft unter einem wirtschaftlichen
Einbruch leiden. Leute verlieren Arbeit, der
Staat verschuldet sich hoch. Er braucht aber
Steuereinnahmen für Lehrerinnen und Leh-
rer, Krankenhäuser und Infrastruktur.
SPIEGEL: Manche gehen so weit zu sagen, dass
wir gar kein wirtschaftliches Wachstum mehr
brauchen.
Habeck: Ich halte das so pauschal für falsch.
Wachstum ist auch Ausdruck von Verände-
rung, Neues entsteht, Menschen haben Ideen,
setzen sie um – das führt zu Wachstum. Ohne
Wachstum und Produktivitätszuwächse wird
eine Gesellschaft ärmer. Der Traum vom eige-
nen Kartoffelacker und einem autarken Le-
ben wie im Jahre 1800 ist ein romantischer
Albtraum. Damals war die Ernährung
schlecht, die Menschen hatten Gicht und
sind meist viel früher gestorben. Wir müssen
aber natürlich die Frage beantworten, wo
wir Wertschöpfung generieren und zu wel-
chem Preis. Unser Ziel muss es sein, Wohl-
Das Gespräch führten die Redakteure Martin Knobbe
und Gerald Traufetter.
»Geld ist Bedingung für die
Möglichkeit, ohne Sorgen
zu leben. Aber es hat keinen
Selbstzweck für mich.«
stand von Ressourcenverbrauch und von
Klima schädigender Wirtschaftsweise zu
­trennen.
SPIEGEL: Die Weltwirtschaft funktioniert nach
jahrzehntelang geübten Regeln und Kenn-
zahlen. Isolieren Sie Deutschland damit nicht
im Kreis der großen Wirtschaftsnationen?
Habeck: Ich sehe es genau umgekehrt: Wenn
eine große Volkswirtschaft vorangeht und den
Wohlstand des Landes komplexer als bisher
misst, dann ist das ein starker Anreiz für an-
dere, es genauso zu tun. Wir wollen nach-
weisen, dass Ressourceneffektivität gut für
die Wirtschaft ist. Das wird dann auch im
Wettbewerb mit anderen Ländern hoch at-
traktiv.
SPIEGEL: Bisher galt: Der Staat soll sich weit-
gehend aus der Wirtschaft heraushalten. Was
gilt jetzt?
Habeck: Kreativität, Marktgeschehen und
Wettbewerb bringen die besten Lösungen
hervor. Es war nie die Tradition des Wirt-
schaftsministeriums, alles staatlich zu regeln,
aber auch nicht, alles ungeregelt zu lassen.
Wenn der Staat gut ist, setzt er als Vertreter
des Gemeinwesens die Rahmenbedingungen
für wirtschaftliches Wachstum. Die Löhne
etwa werden zwischen den Tarifpartnern aus-
gehandelt. Aber dass sie es machen, das wird
gesetzlich geregelt.
SPIEGEL: Soll der Staat eine stärkere Rolle
bekommen.
Habeck: Noch mal, wir brauchen Mut, Wage-
mut und die Freiheit, das Beste daraus zu ma-
chen. Um das maximal zu nutzen, wollen wir
das Verhältnis zwischen Staat und Unterneh-
men entlang der ökologischen Herausforde-
rung neu justieren, damit wir mit den richti-
gen Anreizen das unternehmerische Potenzial
voll ausschöpfen und die nächste technologi-
sche Revolution hervorbringen können.
SPIEGEL: Im Jahreswirtschaftsbericht schrei-
ben Sie, dass die Transformation nicht un-
bedingt zu einer Ausdehnung des materiellen
Wohlstands führe. Wenn Wohlstand nicht
mehr der Anreiz ist, wie werden Menschen
zum Arbeiten motiviert?
Habeck: Es geht nicht darum, keinen mate-
riellen Wohlstand mehr zu haben, sonst wür-
de der Fortschritt sich umkehren. Es geht nur
darum, ihn nicht als alleinigen Zweck zu
­definieren.
SPIEGEL: Heißt das dann: kein Luxus mehr?
Habeck: Nein, ich liebe mein Fahrrad und bin
damit gern unterwegs. Ich schau gern Filme
über einen Streamingdienst. Ich genieße die
Freiheit im Supermarkt, in die Regale zu grei-
fen, wenn ich Appetit darauf habe. Das gehört
zur Selbstbestimmung dazu, und viele Men-
DEUTSCHLAND
schen haben diese Freiheit nicht. Es muss
­darum gehen, die Bedingungen zu schaffen,
damit alle ihre Freiheit verwirklichen können,
und das, indem wir Armut bekämpfen. Ma-
terieller Wohlstand ist privat für viele erstre-
benswert und sicher auch eine starke Trieb-
kraft für Fortschritt, Investitionen und damit
für Prosperität. Volkswirtschaftlich und für
das Gemeinwesen gibt es aber auch andere
Ziele, die über das Bedürfnis nach privatem
Luxus hinausgehen und es manchmal auch
konterkarieren. Diese Ziele messen wir nun
ebenfalls.
SPIEGEL: Welche Branchen außer der Auto-
industrie soll der Staat künftig unterstützen?
Habeck: Da kann es keine abschließenden
Listen geben. Derzeit gibt es drei wichtige
Projekte von gemeinsamem europäischen
Interesse. Die Halbleiterproduktion ist in der
Coronazeit in extreme Lieferengpässe gera-
ten, sie trifft alle Technikbereiche bis zur
Automobilindustrie. Die Batterieproduktion,
weil sie die Grundlage für die Elektrifizierung
von ganz vielem wird. Und Wasserstoff. Die-
se Industrien hier in Europa zu halten oder
entstehen zu lassen rechtfertigt besondere
staatliche Unterstützung, weil damit auch die
Sicherheitsbelange Europas berührt werden.
SPIEGEL: Von welchen Industrien müssen wir
uns verabschieden, außer vom Kohlebergbau?
Habeck: Das regelt maßgeblich der Markt.
Die Aluhütten berichten von gesteigerter
Nachfrage nach grünem Alu. Aber auch poli-
tische Rahmenbedingungen werden dazu
führen, dass sich Industrien wandeln und auch
bestimmte Produkte nicht mehr notwendig
sind. Auspuffrohre und Einspritzdüsen brau-
chen E-Mobile nicht mehr. Diese Verände-
rungen sind immer schwierig für die Men-
schen, die in den Firmen arbeiten, und auch
für die Regionen. Aber in der Summe wird
die Transformation nicht dazu führen, dass
wir weniger Beschäftigung haben, weniger
Arbeit oder weniger Produktivität. Es werden
neue Bereiche und Geschäftsfelder entstehen.
SPIEGEL: Der Autozuliefererindustrie wird es
bei der Umstellung vom Verbrenner- zum
Elektroauto aber erst einmal schlecht gehen.
Habeck: Das stimmt. Andererseits werden
wir, wenn wir jetzt Stahl grün machen, In-
duktionsöfen bauen. Wir brauchen Elektro-
lyseure, neue Kraftwerke, Leitungen. Das ist
Maschinenbau at its best. Die Nachfrage ist
jetzt schon sehr groß. Bei dem gemeinsamen
europäischen Wasserstoffprojekt stellen wir
über acht Milliarden Euro für 62 Projekte in
Deutschland zur Verfügung.
SPIEGEL: Die Werften dagegen stecken in der
Krise.
Habeck: Das ist für die aktuelle Lage richtig,
aber auch hier müssen wir nach den Perspek-
tiven fragen. Ich kann und will den Menschen
weder verbieten noch verordnen, Kreuzfahr-
ten zu machen. Aber auch die Schifffahrt ist
Teil der Transformation. Schiffe werden um-
weltfreundlicher werden, mit LNG oder Was-
serstoff fahren. Und wir werden, wenn wir
Wasserstoff nach Europa holen, Wasserstoff-
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 29
DEUTSCHLAND
tanker brauchen. Auch die Schiffe der Küsten-
wache oder Schifffahrtspolizei werden klima-
neutral werden müssen.
SPIEGEL: Nachhaltig hergestellte Produkte
wie grüner Stahl sind teuer. Wie wollen
Sie die Unternehmen vor Billigimporten
schützen?
Habeck: Unter anderem wird es sogenannte
Differenzverträge geben. Die Unternehmen
bekommen den Unterschied zum CO2-Markt-
preis vom Staat.
SPIEGEL: Braucht man auch Zölle für nicht
nachhaltige Produkte?
Habeck: Wenn wir die Standards in Europa
in Richtung Klimaschutz setzen, müssen wir
uns vor CO2-intensiven Importen schützen.
Deswegen hat Frankreich den sogenannten
Grenzausgleichsmechanismus ganz oben auf
die Tagesordnung seiner Präsidentschaft im
EU-Rat gesetzt. Wir unterstützen das.
SPIEGEL: Wäre das nicht der Beginn eines glo-
balen Handelskriegs?
Habeck: Wir müssen sehr aufpassen, dass die
Regeln mit der Welthandelsorganisation kom-
patibel sind. Aber es geht darum, dass die
Unternehmen, die die Pariser Klimaverträge
umsetzen und für die Umstellung auf klima-
neutrale Produktion im globalen Wettbewerb
noch höhere Kosten haben, nicht deshalb im
Nachteil sind. Da braucht die Wirtschaft Schutz.
SPIEGEL: Die italienisch-amerikanische Öko-
nomin Mariana Mazzucato fordert eine Ver-
änderung des Kapitalismus, in dem Sinne,
dass die Wirtschaft einer Mission dienen soll,
die der Staat vorgibt. Können Sie dem etwas
abgewinnen?
Habeck: Absolut. Ich habe sie vor zwei Jahren
in Davos getroffen, danach ihre Bücher ge-
lesen. Sie ist eine der Ökonominnen, die mich
stark beeinflusst haben. Ihre Idee, die sie Mis-
sion Economy nennt, ist, ein Ziel zu definie-
ren, den Weg aber nicht vorzuschreiben. Das
bringt dann alle möglichen Innovationen. Ihr
Beispiel ist die amerikanische Mond- und
Raumfahrt. Da war das Ziel, Menschen ins
Spezialisten bei Bau der Pipeline Nord Stream 2*: »Energiepolitik hat eine geopolitische Dimension«
30 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
»Die fossilen Energien hohe Tarife zahlen. Was sagen Sie diesen
Menschen?
­werden perspektivisch teurer Habeck: Der Elektrizitätsmarkt wurde wie
werden. Das müssen wir der Gasmarkt komplett liberalisiert. Offen-
sichtlich konnten nicht alle Stromanbieter die
sozialpolitisch abfedern.« Versprechen, die sie den Kunden gemacht
haben, einhalten. Da ist eine Discountmen-
talität entstanden, die nur dann funktioniert,
All und auf den Mond zu bringen. Niemand wenn alles reibungslos läuft. Sobald es Un-
hat gesagt: Wir wollen Klettverschluss, Akku- sicherheiten im Markt gibt, bricht alles zu-
bohrer oder Strichcodes erfinden. Das ent- sammen. Das ist der Situation der Banken
stand, weil man es als Mittel zum Zweck vor dem Skandal um Lehman Brothers ähn-
brauchte. Davon können wir lernen. lich. Deshalb arbeiten wir daran, bei der ­Frage
SPIEGEL: Sie beschäftigen sich in Ihrem Jah- der Transparenz, aber auch bei den Anforde-
reswirtschaftsbericht kritisch mit der Teilha- rungen an die Tarife im Energiewirtschafts-
be der Bevölkerung am wirtschaftlichen Fort- gesetz nachzujustieren. Zweitens können die
schritt. Wie wollen Sie für mehr Gerechtigkeit Stromsperren und die Abschaltungen schon
sorgen? jetzt nicht mehr so einfach gemacht werden
Habeck: Kurzfristig mit der Anhebung des Min- wie bisher. So bekommen Menschen mehr
destlohns und dem Plan, Hartz IV zu einem Aufschub, um die Rechnung zu begleichen.
Bürgergeld zu wandeln. Eine Zahl in unseren Drittens ist der Ausbau der erneuerbaren
Daten hat mich am meisten enttäuscht: Wir Energien die Lösung. Was wir im Moment
bekommen zwar immer mehr Menschen mit erleben, ist der Hunger der Welt nach fossiler
höheren Bildungsabschlüssen, aber zehn Pro- Energie. Langfristig sind die Erneuerbaren
zent gehen ohne Abschluss aus der Schule. Sie die günstigste Alternative. Sie machen uns
sind nicht Teil der Aufstiegsdynamik, darum unabhängiger von den bisherigen Märkten.
müssen wir uns dringend kümmern. Dazu SPIEGEL: Diese Vision hilft denen wenig, die
kommt die Gerechtigkeitsfrage zwischen Stadt gerade ihre Rechnung nicht bezahlen können.
und Land, bei der Zugänglichkeit zu den Habeck: Kurzfristig wird die Koalition hier
­öffentlichen Institutionen gibt es ein deutliches über die Erhöhung des Heizkostenzuschusses
Gefälle. Die Gleichwertigkeit der Lebensver- beim Wohngeld helfen. Wir werden die CO2-
hältnisse muss weiter das Ziel sein. bedingten Mehrkosten beim Heizen fair zwi-
SPIEGEL: Muss der Staat bei der Lohngerech- schen Mietern und Vermietern aufteilen.
tigkeit nachhelfen? Außerdem entlasten wir die Stromverbrau-
Habeck: Tarifautonomie ist ein hohes Gut. cherinnen und -verbraucher deutlich, indem
Wir sehen aber, dass die Tarifbindung immer wir die EEG-Umlage so weit wie möglich
schwächer wird, weil immer weniger Leute nicht mehr über den Strompreis finanzieren,
gewerkschaftlich organisiert sind. Auch des- und das so früh wie möglich. Mittelfristig soll-
halb gibt es den Mindestlohn. ten wir aber auch ein Energiegeld einführen.
SPIEGEL: Der Gesetzgeber muss da nach­ Und: Wir schauen uns den Energiemarkt und
arbeiten? die Ursachen für die Preisanstiege an. Den-
Habeck: Vorsichtig, aber ja. noch muss man deutlich machen: Die fossilen
SPIEGEL: Es gibt noch drängendere Probleme. Energien werden perspektivisch teurer wer-
Viele Stromanbieter gehen pleite, deren Kun- den. Das müssen wir sozialpolitisch abfedern.
den müssen den Grundversorgern horrend Der Umstieg auf günstige und nachhaltige
Energie muss erfolgen.
SPIEGEL: Die Preise an den Energiemärkten
werden auch vom Ukrainekonflikt stark be-
einflusst. Ist es da nicht sonderbar, wenn Bun-
deskanzler Olaf Scholz bei der Gaspipeline
Nord Stream 2 zunächst von einem rein pri-
vatwirtschaftlichen Projekt spricht?
Habeck: Olaf Scholz weiß sehr gut um die
Bedeutung des Gastransits durch die Ukraine,
um die angespannte Situation in der Region
und hat deutlich gemacht, dass alles zu dis-
kutieren ist, wenn es zu einer weiteren mili-
tärischen Intervention in der Ukraine kommt.
SPIEGEL: Sie tragen als Wirtschaftsminister
Axel Schmidt / picture alliance / dpa
auch eine Verantwortung für Nord Stream 2.
Muss nicht laut und klar die Botschaft nach
Moskau gehen: Aus diesem Projekt wird
nichts, wenn Russland in der Ukraine ein-
marschiert?
Habeck: Es darf da keine Denkverbote geben.
Und es ist schon im deutsch-amerikanischen
* Auf dem Verlegeschiff »Fortuna« im September 2021.

Habecks neue Maßstäbe
Indikatoren, die laut Jahreswirtschaftsbericht
2022 als neue Messgrößen für nachhaltiges
und inklusives Wachstum in Deutschland
gelten sollen (Auswahl)
Klima und Wirtschaft
Treibhausgasemissionen pro 1 Mio. Euro BIP,
in Tonnen CO2-Äquivalenten
338,4
250,5
2010 2019
Gleichwertige Lebensverhältnisse
Überlastung durch Wohnkosten*,
betroffene Personen in Prozent
18
15
14,5
13,9
2010 2019
* Anteil der Personen, die in Haushalten leben, welche mehr
als 40 Prozent ihres Einkommens für Wohnen ausgeben
S Quellen: Entwurf des BMWK-Jahreswirtschaftsberichts
—
2022; Destatis; EEA
Kommuniqué vom Juli 2021 vereinbart, dass
Deutschland gemeinsam mit seinen europäi­
schen Partnern geeignete Maßnahmen ergrei­
fen wird, sollte Russland Energie als Waffe
benutzen oder weitere aggressive Handlun­
gen gegen die Ukraine begehen.
SPIEGEL: Ist dieses Kommuniqué noch gültig?
Habeck: Das ist eine gemeinsame Erklärung
zwischen Deutschland und den USA, ja.
SPIEGEL: Wie brisant ist die Lage?
Habeck: Sie ist besorgniserregend. Ich war ja
im Mai da. Die Soldaten liegen jetzt schon im
Schützengraben, Scharfschützen schießen. Es
kann jederzeit ein Vorwand gefunden werden,
militärisch zu eskalieren. Deshalb überlege
ich, was wir beitragen können, um zu de­
eskalieren. So sollten wir auch über neue
­Geschäftsfelder nachdenken, die helfen kön­
nen, beide Seiten aus dieser konfrontativen
Rolle herauszuführen.
SPIEGEL: Das wäre ein Bruch mit der Linie
Ihrer Partei, die eine harte Haltung gegenüber
Moskau fordert.
Habeck: Im Gegenteil. Russland weiß, dass
das Überschreiten von roten Linien sofort mit
scharfen Sanktionen, die längst vorbereitet
sind, belegt würde. Und es ist klar, dass Russ­
land diesen Konflikt anheizt und schürt. Es
ist aber kein befriedigender Zustand, es bei
dieser Situation zu belassen. Die Bemühung
DEUTSCHLAND
von Außenministerin Annalena Baerbock,
diplomatische Formate wieder in Gang zu
»Wer von
setzen, ist absolut notwendig. Und als Wirt­
schaftsminister suche ich meine Möglichkei­
ten, etwas beizutragen. Ihnen glaubt, dass
SPIEGEL: Auf Ihrer Ukrainereise sorgten Sie
mit dem Vorschlag für Furore, der Ukraine
Defensivwaffen zu liefern. Wie ist Ihre Hal­
tung heute dazu?
Demokratie eine
Habeck: Diese Frage wird von der Nato und
im Kreis der Nato-Partner besprochen und
ja auch immer mal wieder zugunsten der
Selbstverständ-
­Ukraine entschieden.
SPIEGEL: Liefert Deutschland dann Waffen
über die Nato?
lichkeit ist?«
Habeck: Wie gesagt, für diese Fragen gibt es
geeignete Formate innerhalb der Nato, und Joe Biden
in dieser Situation ist es sinnvoll, sich an die­
se zu halten.
SPIEGEL: Wenn die Nato Waffen liefern will,
macht Deutschland dann mit?
Habeck: Man wird sich jetzt im Rahmen der
Nato verständigen und das weitere Vorgehen
dort besprechen.
SPIEGEL: Würden Sie befürworten, Russland
für den Fall eines Angriffs vom Zahlungs­
system Swift auszuschließen?
Habeck: Das ist die ultimative Wirtschafts­
sanktion, aber ich werde hier nicht spekulieren.
SPIEGEL: Sind Sie dafür, sie notfalls zu ver­
hängen?
Habeck: Es ergibt keinen Sinn, abstrakt Sank­
tionen aufzuzählen. Noch mal, Ziel ist De­
eskalation.
SPIEGEL: Welche Art von Zusammenarbeit
mit den Konfliktparteien schwebt Ihnen vor?
Habeck: Die Ukraine hat große Kapazitäten
bei der Erzeugung erneuerbarer Energien.
Die Bundesregierung hat bei der Unterzeich­
nung des deutsch-ukrainischen Gasvertrags
auch einen »Grünen Fonds« aufgesetzt.
Deutschland stellt hier 150 Millionen Euro
zur Verfügung. Da müssen wir mit der Ukrai­
ne sprechen, wie sie da ein Geschäftsumfeld
kreiert, das für Investitionen attraktiv ist.
SPIEGEL: Wie ist das mit Russland?
Habeck: Natürlich hätte Russland Potenziale
für Wasserstoff, für Windkraft. Aber das ist
eben an Voraussetzungen gebunden. Es soll­
te dem russischen Regime klar sein: Russland Wie geht es weiter in den USA?
hat viel zu verlieren, wenn es auf einen Krieg
setzt, und es kann gewinnen, wenn es seine Watergate-Aufdecker Bob Woodward
Truppen zurückzieht und deeskaliert.
SPIEGEL: Die Gegner einer Absage von Nord liefert erschütternde Blicke hinter
Stream 2 argumentieren, wir Deutsche seien
ohnehin von russischem Gas abhängig, egal die Kulissen – das bleibende Buch
durch welche Leitung es fließt. Haben sie recht?
Habeck: Nord Stream 2 war immer ein geo­
über eine große Demokratie
politisches Projekt, in dem Sinne, dass man
mit der neuen Pipeline die Ukraine nicht mehr
in der Krise.
als Transitland benötigt. Damit einher geht
die Sorge, dass das geopolitische Interesse für Ü.: K. Petersen, H. Remmler, H. Schlatterer,
die Ukraine erlahmt, obwohl es sich klar nach S. Schmid, T. Stauder. 560 S. mit Abb. und Reg.
Europa hin orientiert und beim Maidan Men­ Auch als E-Book. Erscheint am 24. Januar 2022
schen für die Freiheit gestorben sind.
SPIEGEL: Müsste Deutschland Russland Ent­ hanser-literaturverlage.de
schädigung zahlen, wenn es Nord Stream 2
nicht genehmigt?
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 31
 DEUTSCHLAND

Einfach
Habeck: Die Bundesnetzagentur hat das Zer­
tifizierungsverfahren aktuell ausgesetzt.
Wenn es wieder aufgenommen wird, ist in
diesem Verfahren zu entscheiden, ob die Vo­
raussetzungen für die Zulassung nach deut­

wissen
schen und europäischen Regeln gegeben sind.

m eh r
Und wenn das nicht der Fall ist, dann sind
auch keine Entschädigungen fällig.
SPIEGEL: Aber noch mal: Die große Abhängig­
keit von Russland ist ein Fakt.
Habeck: In der Tat, daher begreife ich es als
meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Ver­
sorgungsvielfalt größer und die Abhängigkeit
von einem Land reduziert wird. Dafür sorgen
auch die erneuerbaren Energien, die den Be­
darf von Gas verringern werden. Außerdem
sind wir dabei, die Produktion und den Im­
port von grünem Wasserstoff voranzutreiben.
Energiepolitik hat also nicht nur eine öko­
logische, sondern auch eine geopolitische
­Dimension.
SPIEGEL: Müssen Sie für den Kriegsfall nicht
schnell dafür sorgen, dass unsere Gasspeicher
voll sind?
Habeck: Die bestehenden Vorsorgemechanis­
men wurden in diesem Winter genutzt. Es
wurden mehrere sogenannte Sonderauktio­
nen über die zuständigen Stellen am Markt
platziert und zusätzliche Mengen gesichert.
Die staatlichen Möglichkeiten sind gesetzlich
sehr begrenzt. Das ist unbefriedigend und
sicher nicht das letzte Wort. Der Winter hat
Jetzt ja gezeigt, dass wir mit reduzierten Beständen
noch anfälliger sind für Spekulationen, Preis­
am schwankungen und geopolitische Spannun­
Kiosk gen. Deshalb müssen wir die Möglichkeiten
verbessern, für den nächsten Winter vorzu­
sorgen, damit die Gasspeicher gut gefüllt sind.
Darin sehe ich eine politische Aufgabe.
SPIEGEL: Werden Sie dafür die gesetzlichen
Voraussetzungen schaffen?
Habeck: Da setzen wir uns jetzt dran.
SPIEGEL: Wo soll das Gas herkommen, wenn
nicht aus Russland?
Habeck: Deutschland bezieht derzeit sein Gas
zu 55 Prozent aus Russland. Die EU hat aber
Anlandungskapazitäten von Flüssiggas etwa
in den Niederlanden, Polen und Italien ge­
schaffen. Diese LNG-Terminals sind erst zu
Das Nachrichten- 30 Prozent ausgelastet. Würde man die auf
100 Prozent hochfahren, wäre es kapazitäts­
Magazin für Kinder mäßig möglich, weite Teile der Importe über
LNG abzuwickeln. Da ist aber noch nicht die
Frage des Preises berücksichtigt. Derzeit will
Für alle Kinder, die mitreden wollen. die ganze Welt Flüssiggas, das ist teuer. Die
Verständlich und spannend erklären SPIEGEL-Autoren aktuelle Gaspipelines hingegen führen direkt zu uns
nach Europa. Das hat es bislang immer so
Themen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Technik. Dazu kommen günstig für uns gemacht.
Büchertipps, Comics und kreative Ideen zum Mitmachen. SPIEGEL: Würde der Staat die Preisdifferenz
zum Flüssiggas begleichen?
Habeck: Wir werden uns genau anschauen,
wie das Gasmarktdesign der Zukunft ausse­
hen wird.
SPIEGEL: Herr Habeck, wir danken Ihnen für
Mehr erfahren: dieses Gespräch. n

www.deinspiegel.de Lesen Sie auch ‣ Der massive Windkraftausbau verschärft

den Konflikt zwischen Arten- und Klimaschützern | 104

32 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


Malus statt Bonus
GRÜNE  Ricarda Lang soll neue Vorsitzende ­
werden. Die Ermittlungen der Staatsanwälte wegen
­Untreue bringen sie nun in Bedrängnis.
D
er Weg war frei. Der Macht-
wechsel an der Grünenspitze
ist seit Monaten vorbereitet
worden. Seit dem Sommer werden
Gespräche geführt über die Nachfol-
ge der scheidenden Grünenvorsitzen-
den Robert Habeck und Annalena
Baerbock. Ricarda Lang, 28, bisher
Parteivizin, hat sich früh in Stellung
gebracht. Erst war es nur ein Gerücht,
dann ein offenes Geheimnis, dann
zog die einzige Konkurrentin zurück,
noch bevor sich Lang erklärt hatte.
Nächste Woche steht der Parteitag
an, dann sollte sie gewählt werden,
ohne große Konflikte. Echte Kampf-
kandidaturen deuten sich nicht an.
Und nun dieses Wort: Untreue. Es
ist nur ein Anfangsverdacht. Wie der
SPIEGEL herausfand, ermittelt bereits
seit dem 6. Januar die Staatsanwalt- Parteivizin Lang:
schaft gegen den gesamten bisherigen »Wir kooperieren
Parteivorstand wegen eines Corona- vollumfänglich«
bonus von 1500 Euro pro Kopf aus
dem Jahr 2020, der längst zurück-
gezahlt ist. Der Vorfall ist bekannt,
die Ermittlungen könnten auch im
Sande verlaufen. Aber dieses Wort
verändert eben alles: Untreue.
Es macht aus einer politischen
Tollpatschigkeit eine mögliche Straf-
tat. Es stört den reibungslosen Macht-
wechsel, und es wirft große Fragen
auf: Kann eine Frau, gegen die wegen
Untreue zulasten der eigenen Partei
ermittelt wird, Chefin dieser Partei
werden? Und umgekehrt, kann man
einer eigentlich gesetzten Kandidatin
die Wahl verwehren, obwohl es bis-
her kein Ermittlungsergebnis gibt,
keine Anklage?
Lang trifft die Nachricht beson-
ders, obwohl der Vorstand gemein-
sam entschied, dass alle Mitarbeiter
der Geschäftsstelle einen Bonus be-
kommen, zudem die Parteispitze
selbst. Die Kritik richtet sich auch
gegen Habeck und Baerbock: »Der
Vorgang reiht sich ein in das nicht
­besonders geschickte Vorgehen der
scheidenden Vorsitzenden«, sagt ein
Grüner. Aber nur Lang will aufsteigen
in der Partei.
DEUTSCHLAND
Habeck und Baerbock gehen, im gen Strategin erarbeitet. Sie hat ihre
Kabinett haben sie neue große Auf- Kandidatur genau abgewogen. Es gab
gaben. Der Geschäftsführer Michael parteiinterne Gegner, sie ist nicht un-
Kellner ist Parlamentarischer Staats- umstritten. Zu jung, zu grün war zu
sekretär, die andere Vizevorsitzende hören. Doch Lang hatte sich abge­
Jamila Schäfer kandidiert nicht wie- sichert, ein Netzwerk geschaffen.
der für den Vorstand. Marc Urbatsch, Von sich selbst sagt sie, dass sie in
der Schatzmeister, würde sein Amt ihrer Jugend nicht übermäßig poli-
gern behalten. Aber ein Schatzmeis- tisch interessiert gewesen sei, erst mit
ter ist ein Schatzmeister, und eine 18 habe sie angefangen, sich mit Par-
Parteichefin ist eine Parteichefin. teipolitik zu beschäftigen. Ihre Mut-
Obwohl der Bundesvorstand seit ter, Sozialarbeiterin in einem Frauen-
einiger Zeit von den Ermittlungen haus und alleinerziehend, habe ihren
weiß, entschied sich das Gremium, Job verloren, weil das Frauenhaus
stillzuhalten, nichts zu sagen, auszu- habe schließen müssen. Die Politisie-
sitzen. »Was ich am unglücklichsten rung, die bei Ricarda Lang folgte, war
finde, ist, wie die Geschichte, die ja schnell und gründlich. Mit 23 Jahren
im Kern alt ist, kommuniziert wur- wurde Lang Chefin der Grünen Ju-
de«, sagt ein Abgeordneter. Baerbock gend, mit 25 Jahren wurde sie Vize-
und Habeck haben das Schweigen zur vorsitzende, mit 27 zog sie in den
Tugend erhoben. Eine passive Stra- Bundestag ein. Mit nun 28 Jahren will
tegie, die sich nun rächt. Vor allem sie Parteichefin werden.
für Lang. In der Partei gilt als sicher, dass sie
Auf Unterstützung von oben kann trotzdem antreten wird. Bisher sei da
sie in dieser Lage kaum hoffen. Es gibt nicht mehr als ein Störgefühl. Darü-
keine Anzeichen, dass Habeck und ber, was es bedeuten würde, sollte es
Baerbock, die Ranghöchsten im Vor- zu strafrechtlichen Konsequenzen
stand, die politische Verantwortung kommen, will niemand reden. Nicht
für die gemeinsam getroffene Ent- nur Lang, Baerbock und Habeck
scheidung auf sich nehmen wollen. müssten dann ebenfalls mit Ärger
»Ricarda Lang braucht keine Schüt- rechnen. Sie selbst sagt auf Anfrage
zenhilfe«, sagt ein Grüner. Ihr poten- nur, die Sache liege nun bei der
zieller Co-Vorsitzender Omid Nouri- Staatsanwaltschaft, »mit der wir
pour, mit dem sie im Doppel antreten selbstverständlich vollumfänglich ko-
will, hat mit der Sache nichts zu tun operieren. Und dann, denke ich, wird
und kann ihr deshalb nicht helfen. das Thema auch abgeschlossen«.
Dabei hatte sich Lang in den ver- »Es ist nicht schön, es ist unange-
gangenen Jahren den Ruf einer klu- nehm. Trotzdem ist Ricarda Lang für
mich noch immer als Spitzenkandi-
datin wählbar«, sagt Thomas Heide-
mann, Sprecher im Kreisverband
Diepholz. Die allgemeine Einschät-
zung innerhalb der Partei lautet, Lang
müsse sich nicht allzu sehr sorgen, die
meisten würden es wie Heidemann
sehen. Also alles gut für Lang?
Es gibt auch andere Stimmen.
»Was sich meine Parteiführung hier
geleistet hat, ist verantwortungslos.
Dümmer geht es nicht. Ich erwarte
klare Antworten von den Verantwort-
lichen, die mit solchen banalen
Schlampereien einen enormen Scha-
den anrichten«, sagt Valentine Sie-
mon, Vorsitzende im Kreisverband
Elbe-Elster. »Wer wie Ricarda Lang
handelt, ist als künftige Parteivorsit-
zende überhaupt nicht tragbar.«
Janine Schmitz / picture alliance / photothek
Siemon ist Delegierte auf dem Par-
teitag. »Ich werde viele Fragen zu
stellen haben. Ich bekomme zu spü-
ren, dass bei uns aufgrund dieser Ent-
wicklungen haufenweise Mitglieder
gerade vom Glauben abfallen«, sagt
sie. Die Frage wird sein, wie groß der
Haufen ist.
Jelena Berner, Valerie Höhne,
Serafin Reiber, Jonas Schaible  n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 33
DEUTSCHLAND
Ein Mann am Limit
KARRIEREN  Rolf Mützenich war wichtig für den Wiederaufstieg
der SPD. Auf einmal wirkt er müde, fast bedrückt.
Was ist los mit dem Vorsitzenden der Bundestagsfraktion?
E
r braucht jetzt eine neue Telefonnum-
mer, möglichst schnell, es geht nicht
mehr anders. Ständig klingelt sein Han-
dy, manchmal noch spätabends. Funktionäre
wollen sich abstimmen, Mitarbeiter melden
sich, Journalisten fragen nach Terminen. Es
gibt Tage, da fühlt sich Rolf Mützenich, als
wäre er nicht nur für seine Abgeordneten er-
reichbar, sondern für das halbe Land.
Schluss jetzt, hat er seinen Leuten neulich
gesagt.
Diese Dauerbereitschaft, die müssten auch
mal andere übernehmen. Die Stellvertreter,
die Referenten. Sind ja genug Helfer da in
der Fraktion. Da wirkte Mützenich auf man-
che plötzlich nicht nur wie jemand, der die
Nummer wechseln will, sondern wie einer,
der Ruhe braucht. Abstand. Zeit zum Nach-
denken.
Wenn man sich dieser Tage in der SPD
bewegt, trifft man ausgesprochen viele gut
gelaunte, fast euphorische Menschen. Einen
Kanzler zum Beispiel, der beseelt ist vom
Wahlsieg. Abgeordnete, die ihr Glück kaum
fassen können. Ministerpräsidenten voller
Zuversicht. Und es gibt einen, dem diese
Leichtigkeit fehlt. Der müde wirkt, schwer-
mütig: Rolf Mützenich, Vorsitzender der Bun-
destagsfraktion, der vielleicht unglücklichste
Sozialdemokrat dieser Zeit.
Das ist auf den ersten Blick seltsam, weil
Mützenich akut nichts zu befürchten hat. Kei-
nen Aufstand, keine baldige Abwahl. Er ist
populär, vor ein paar Monaten wurde er als
Fraktionsvorsitzender mit 97 Prozent wieder-
gewählt, es war ein überragendes Ergebnis.
Aber der Umbruch macht ihm offenkundig
zu schaffen. Kolleginnen steigen auf, Jüngere
schießen nach oben. Das Tempo wird höher,
die Rolle der Fraktion hat sich verändert, und
Mützenich ist in einem Schwebezustand.
Er wird bald 63, politisch geht es aufs Ende
zu, jedenfalls ist klar, dass er nicht noch ewig
Vorsitzender wird bleiben können. Natürlich
liegt über der Fraktion unausgesprochen die
Frage, ob Mützenich jetzt, da so viel in Be-
wegung ist, eigentlich noch passt. Was er vor-
hat, wann er geht? Das zehrt.
Das Jakob-Kaiser-Haus im Parlamentsvier-
tel, vierter Stock, der Flur vor seinem Büro.
Mützenich steht plötzlich einfach da, schmal,
im Pulli, schnörkellos, wie man ihn kennt.
Der Kölner hat noch nie den Schnickschnack
34 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
gebraucht, den andere brauchen, um ihre Be-
deutung zu unterstreichen, die Entourage, die
teuren Anzüge. Während andere sich nach
oben geprotzt haben, war Mützenichs Auf-
stiegsgeheimnis die Unscheinbarkeit. Der
Außenpolitiker bekam seine Jobs aufgrund
seiner fachlichen Expertise. Und weil nie-
mand glaubte, er sei ein Karrierist.
»Mein Name ist Rolf Mützenich«, hat er
gesagt, als er vor zweieinhalb Jahren sein Amt
zunächst kommissarisch antrat, so als müsste
er sich dem politischen Publikum noch vor-
stellen. Ein Understatement, klar, aber es
wirkte. Mützenich schien auf Anhieb sympa-
thisch, wie jemand, der sich selbst nicht über-
mäßig wichtig nimmt. Ein Mensch auf einem
Parkett voller Maschinen.
Es ist nicht so, dass er immer nur nett wäre,
es gibt auch einen anderen Mützenich. Im
Frühjahr 2020 hat er sich gezeigt.
Die SPD-Fraktion suchte einen neuen
Wehrbeauftragten des Bundestags. Der Ham-
burger Johannes Kahrs rechnete fest mit dem
Job. Mützenich ließ ihn fallen, Eva Högl be-
kam den Posten, die Innenexpertin. Fertig,
aus. Kahrs zog sich beleidigt aus der Politik
zurück. Melancholiker und Machtmensch, es
gibt schon zwei Seiten an Mützenich.
Kürzlich, so erzählen sie es in der SPD,
meldete sich ein Neuling in einer Fraktions-
Michael Kappeler / dpa
Vorsitzender Mützenich, SPD-Fraktion
sitzung und fragte allen Ernstes, ob man in
einem Pandemiegesetz nicht noch schnell den
Mindestlohn unterbringen könne. Mützenich
habe ihm mit Engelsgeduld dar­gelegt, warum
das im parlamentarischen Verfahren nicht
ganz so einfach ist, wie man sich das bei den
Jungsozialisten vorstellt.
Und dann wieder der Machtmensch: No-
vember 2020. Mützenich musste einen neuen
Bundestagsvizepräsidenten vorschlagen.
Mächtige Kräfte kämpften für Ulla Schmidt,
die frühere Bundesministerin. Er wollte die
Brandenburgerin Dagmar Ziegler, Schmidt
trat trotzdem an. Es gab ein Stimmenpatt,
Riesenaufregung, Schmidt zog frustriert zu-
rück. Spiel, Satz und Sieg Mützenich.
Gerade huscht er wieder so still über die
Flure des Bundestags, dass man ihn kaum
bemerkt. Zweifelt, hadert. Es gibt Sozialde-
mokraten, die berichten von persönlichen
Gesprächen, nach denen sie denken: der Rolf,
der will nicht mehr. Ein Mann am Limit.
Genervt von der eigenen Gewissenhaftigkeit,
es allen recht machen zu wollen. Von Ent-
täuschungen. Vom Druck, immer liefern zu
müssen, fachlich, strategisch.
Mützenich will das so nicht stehen lassen,
er weiß, wie schnell man als Schwächling da-
stehen kann in der Politik, wenn man zu offen
ist mit seinem Innenleben. Man werde als
Chef immer für zwei Jahre gewählt, betont
er. Er habe auch noch einiges vor. »Zum Bei-
spiel die Projekte, die wir letztes Jahr plaka-
tiert hatten, durchs Parlament zu bringen.«
Es stehen wichtige Entscheidungen an, zur
Impflicht, bald auch zum Mindestlohn und
zu den Bauvorhaben der Ampel. Mützenich
will dafür sorgen, dass die Mehrheiten da
sind, vor allem: dass es bei den Sozialdemo-
kraten ruhig bleibt.
Wenn man so will, ist er auch in sein Amt
gehuscht, damals, im Juni 2019, als Andrea
Nahles so tragisch scheiterte. Er folgte ihr als
Fraktionschef nicht aufgrund seiner Ambi-
tion, sondern weil er ihr dienstältester Stell-
vertreter war. Sein leiser Stil tat der SPD gut,
Mützenich brachte den Sozialdemokraten
bei, sich wieder gegenseitig zuzuhören.
Aber die Zeiten haben sich geändert. Die
SPD ist nicht mehr im Tief, sie stellt den Kanz-
ler, die größte Fraktion, es braucht plötzlich
einen ganz anderen Mützenich. Einen, der
die Regierung stützt, sich im Zweifel aber
auch gegen Übergriffe wehrt. Der Ansprüche
stellt, Druck ausübt, verhindert, dass der
Kanzler macht, was er will, denn wenn das
geschieht, wird es in der SPD erfahrungs­
gemäß schwierig.
Der Job des Fraktionsvorsitzenden ver-
lange einem »eine Menge ab«, sagte Mütze-
nich kürzlich. Die Frage ist, ob er noch die
Lust dazu hat, dem Kanzler etwas entgegen-
zusetzen. Zuletzt schien das nicht so.
Als es im Herbst um die Regierungsbildung
ging, dominierte Scholz praktisch alles. Die
Debatte, die Frage der Ressortzuschnitte, das
Personal. In der Außenpolitik räumte Scholz
Mützenichs Nein zu bewaffneten Drohnen

Sozialdemokrat Mützenich: Melancholiker und Machtmensch in einer Person
ab, im Kabinett besetzte er vier Posten mit
Leuten, die nicht einmal Mitglied der Fraktion
sind. Machtverschiebungen machen sich
manchmal an Kleinigkeiten fest.
Und Mützenich selbst? Erlebt eigene Ent-
täuschungen.
Nach der Wahl wollte er Bundestagsprä-
sident werden. Lange sah es gut aus, dann
kamen die Zweifel in der Partei, ob wirklich
alle führenden Ämter im Staat männlich be-
setzt werden können. Mützenich zog zurück.
Wenige Wochen später wieder eine Ent-
täuschung. Viele in der Fraktion gingen
­davon aus, dass Mützenich als Minister ins
Kabinett wechseln würde. Keine Chance.
Scholz wollte nur zwei Posten mit Männern
von der SPD-Seite besetzen, Mützenich war
nicht dabei.
Ihn habe das beschäftigt, nachdenklich ge-
macht, sagen Vertraute. Den Job des Bundes-
tagspräsidenten hätte er gern bekommen.
Peter Rigaud / DER SPIEGEL
Raus aus dem alltäglichen Klein-Klein, rein
ins Repräsentative. »Natürlich reizt einen
Parlamentarier wie mich das Amt des Bundes-
tagspräsidenten«, gibt er unumwunden zu.
Aber er habe anders entschieden.
Natürlich schmeißt er nicht hin, so war er
nie. Mützenich kennt das Geschäft. Aber wäh-
rend die Regierung loslegt, muss er sich nun
mit seinem eigenen Ausstieg beschäftigen,
den richtigen Zeitpunkt dafür finden, ohne
sich treiben zu lassen. Es gibt kaum schwie-
rigere Disziplinen. Die Bedeutung von Poli-
»Natürlich reizt einen
­Parlamentarier wie
mich das Amt des Bundes-
tagspräsidenten.«
DEUTSCHLAND
tikern lebt auch von der Spannung, was für
sie noch folgen könnte. Fehlt die Perspektive,
schwinden rasch Macht und Aufmerksamkeit.
Nicht nur Armin Laschet weiß das, der ge-
scheiterte CDU-Kanzlerkandidat.
In der SPD ist es ein offenes Geheimnis,
dass ein Nachfolger für Mützenich längst be-
reitsteht. Matthias Miersch, Niedersachse,
Umweltpolitiker, knapp zehn Jahre jünger als
Mützenich und Chef der Parlamentarischen
Linken, der größten Strömung in der Frak-
tion. 95 Mitglieder hat Mierschs Truppe mitt-
lerweile. Fast die Hälfte der Abgeordneten,
ein großer Machtfaktor. Und die Rechten in
der Fraktion können auch mit ihm.
Inhaltlich, auch rhetorisch ist er aggressiver
als Mützenich, er steckt voller Energie. Als
Robert Habeck, der Vizekanzler, kürzlich sei-
ne Klimapläne vorstellte, fuhr Miersch ihm
in die Parade. Das sei ja alles richtig, sagte
Miersch, nur fehle Habeck bislang ein »Blick
auf die sozialen Folgen«. Da guckten sie bei
den Grünen.
Wenn es darum geht, dem Kanzler etwas
entgegenzusetzen, wäre er wahrscheinlich die
Ideallösung. Aber Miersch ist keiner, der auf-
muckt. Er will Mützenich nicht stürzen, er
kann das nicht machen, es würde all das zer-
stören, was der Chef an Harmonie aufgebaut
hat. Also wartet er ab. Mierschs Problem ist,
dass er schon lange wartet. So lange, dass
manche sich fragen, ob er den Sprung über-
haupt jemals schafft. Wenn man so will, ist
auch er in einer Art Schwebezustand.
Bis September kommenden Jahres ist
Mützenich gewählt, er steuert dann auf die
65 zu. Manche in der SPD denken jetzt an
Hans-Jochen Vogel, der auch mal Fraktions-
chef war. Vor gut 30 Jahren, Vogel war 65,
überraschte er mit einem unvermittelten Ab-
gang. Es sei an der Zeit zu gehen, sagte er
seinen verdutzten Leuten. Zwei Wochen
später war sein Nachfolger im Amt.
Mützenich hat noch ein bisschen Zeit, um
sich zu überlegen, ob er seine Leute wie Vogel
überrumpeln will oder ob er es diplomatischer
macht. Wie es weitergeht, hängt maßgeblich
davon ab, wie Miersch und er sich arrangie-
ren, ob sie einen Weg finden, einen Übergang,
mit dem alle leben können. Mützenich muss
frei über seine Zukunft entscheiden können,
kann aber zugleich kein Interesse daran
haben, so lange zu warten, bis Miersch ver-
glüht. Irgendwo werden sie sich treffen müs-
sen. Das ist die Schwierigkeit.
Die Verjüngung hat Mützenich jedenfalls
schon gestartet. Er schickt Jusos ans Redner-
pult im Plenum, nimmt Neulinge in die Ver-
antwortung, Verena Hubertz zum Beispiel,
34, eine Frau aus Rheinland-Pfalz. »Wer ist
das?«, fragte ein erfahrener SPD-Abgeordne-
ter erstaunt, als Mützenich sie als eine seiner
Stellvertreterinnen vorschlug.
Doch der Vorschlag ging durch, Gegen-
kandidaten gab es keine. Spiel, Satz und Sieg.
Mützenich, der Machtmensch.
Hin und wieder blitzt er schon noch auf.
Kevin Hagen, Veit Medick, Christian Teevs  n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 35
DEUTSCHLAND

[M] DER SPIEGEL: facebook

Kommentare und Profile von AfD-Fans bei Facebook: Auffällig unauthentisch

Der Scheinriese
NETZWELT Die AfD ist die größte deutsche Partei bei Facebook. Eine SPIEGEL-Analyse zeigt jetzt:
Rund ein Drittel der Topkommentatoren sind höchstwahrscheinlich nicht echt.

A
uf ihrem Profilbild trägt die junge Frau,
die sich Nadezda A. nennt, einen grau-
en Wollpullover und lächelt freundlich
in die Kamera. Sie beschäftigt sich viel mit
der Coronapandemie und scheint eine große
Anhängerin der »Alternative für Deutsch-
land« zu sein. Zumindest auf Facebook.
Dort schreibt sie etwa unter das Video
einer Bundestagssitzung: »unsere Zukunft
AfD«, dahinter ein blaues Herz, wie es Fans
der Partei gern machen. Die anderen Frak-
tionen »sollen für das verbrechen bestraft
werden«, dazu ein wütendes Emoji. Auch
meint sie: »AfD ist unsere Zukunft und Sicher-
heit.« Ihr gefallen die Seiten von Fraktions-
chef Tino Chrupalla, der AfD-Fraktion Sach-
sen und des Landesverbands Sachsen-Anhalt.
Nadezda A. gehört zu den Profilen, die auf
AfD-Seiten am häufigsten kommentieren, wie
vom SPIEGEL analysierte Daten ergeben ha-
ben. Doch während sie ihre politischen Posi-
tionen ganz offen und vor allem häufig mit-
teilt, gibt sie sonst nicht viel Privates preis.
Nur, dass sie verlobt sei.
Offenbar kein Zufall: Nadezda A. ist ein
Phantom. Eine Frau mit diesem Namen konn-
te der SPIEGEL nicht finden, weder im Netz
noch in der realen Welt. Schon das Profilbild
zeigt ein indisches Model. Und obwohl sie
fleißig auf Deutsch kommentiert, ist sie sonst
vor allem in russisch- und bulgarischsprachi-
gen Facebook-Gruppen Mitglied.
Nach Recherchen des SPIEGEL ist Nadez-
da A. Teil einer Phantomtruppe, die für die
AfD kämpft, der mit Abstand größten Partei
in den sozialen Netzwerken, besonders bei
Facebook. Während die Seiten von CDU,
CSU, SPD, Grünen, FDP und Linken auf
rund 150 000 bis 250 000 einzelne Likes
kommen, hat die AfD allein mehr als eine
halbe Million. Und das, obwohl sie erst seit
2013 existiert.
Auch sind ihre Anhänger aktiver: Allein
mit der offiziellen AfD-Seite interagieren
Facebook-Nutzer durchschnittlich 370 000-
mal im Monat, kommentieren Beiträge oder
geben ein »gefällt mir«. Die anderen Parteien
kommen auf nur etwas mehr als ein Zehntel
dieser Interaktionen im Monat, die CDU bei-
spielsweise auf 52 000, die Grünen nur auf
knapp 40 000.
Die AfD gilt deswegen schon länger als
»erste Facebook-Partei Deutschlands«, auch
weil sie ihre inhaltlichen Positionen daran
orientiert, was online gut funktioniert. Doch
die AfD ist bei Facebook nur ein Scheinriese.
Eine Datenauswertung des SPIEGEL zeigt,
dass 30 Prozent ihrer analysierten Topkom-
mentatoren höchstwahrscheinlich Fakeprofi-
le sind oder sich »unauthentisch« verhalten.
Zwischen dem 30. August und dem 10. Sep-
tember vergangenen Jahres haben Analysten
von »reset«, einer Initiative, die sich für digi-

36 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


tale Demokratie einsetzt, Daten von mehr als
700 Facebook-Seiten der AfD gesammelt. Sie
filterten die 500 Nutzer heraus, die am ak-
tivsten kommentierten, und stellten deren
Profile dem SPIEGEL zur Verfügung.
Der SPIEGEL wählte davon stichproben-
artig 150 Profile aus und untersuchte sie ge-
nauer, etwa auf ein unauthentisches Nutzer-
verhalten: Von vielen dieser Profile wird etwa
zu viel und zu schnell gepostet, was ein Indiz
dafür sein kann, dass dort kein normaler
­Nutzer agiert, sondern ihm oder ihr beispiels-
weise Software hilft, oder dass das Profil von
einer Firma betrieben wird.
Ein besonderes Augenmerk lag auch auf
möglichen Fake-Profilen: Kann man die an-
gegebenen Profilnamen anderweitig in Daten-
banken oder im Internet finden? Hat der
­Nutzer weitere Accounts in anderen sozialen
Netzwerken? Kann man Verwandte unter den
Freunden ausmachen? Ist auf einem der hin-
terlegten Fotos eine Person zu erkennen? Gibt
es Hinweise auf einen Wohnort, eine Arbeits-
stelle oder mögliche Hobbys? Kommentiert
diese Nutzerin oder dieser Nutzer auch in
Gruppen oder auf politischen Seiten ohne
AfD-Bezug? Wenn die große Mehrheit dieser
Fragen mit »Nein« beantwortet wurde, wur-
de ein Account als »fake« eingestuft.
So wie der von Erik S., der etwa unter
einem Beitrag von AfD-Fraktionschefin Alice
Weidel über die »Gottkanzlerin« herzieht und
rassistisch über nicht weiße Menschen schreibt
oder der in einem anderen Kommentar die
Grüne Annalena Baerbock als dumm darstellt.
Sein Profilfoto kommentiert er so: »Etwas schi-
cker und mal mit Sonnenbrille«. Auf dem
Schwarz-Weiß-Foto ist ein Mann mit gegeltem
Haar, Hemd, Sakko und Vollbart zu sehen –
und natürlich einer Sonnenbrille auf der Nase.
Doch das Foto kommt aus der Datenbank einer
Bildagentur. Auch sonst finden sich keine Hin-
weise auf eine reale Existenz von Erik S.
Andere Topkommentatoren, die sich hin-
ter einem Pseudonym verstecken, schreiben
unter AfD-Beiträgen auf Deutsch, sonst aber
häufig auf Englisch oder Spanisch. Spuren,
die diese Accounts hinterlassen, deuten darauf
hin, dass die Nutzer sich häufig im Ausland
aufhalten oder in Spanien oder auf den Phil­
ippinen leben. Ein anderer Account veröffent-
licht ausschließlich auf Bulgarisch, gibt als
Wohnort jedoch Jamaika an und postet Kom-
mentare wie »Nur AfD«.
Die Echtheit dieser Profile ist auch des-
wegen relevant, da der Facebook-Algorith-
mus Beiträge als interessanter einstuft, je ö
­ fter
sie kommentiert werden. Entsprechend wer-
den sie mehr Nutzerinnen und Nutzern prä-
sentiert. Wenn also knapp ein Drittel dieser
Profile unauthentisch ist, verschafft das der
AfD einen unfairen Vorteil in dem sozialen
Netzwerk – und auch im politischen Diskurs
der Plattform.
Ohnehin profitiert die AfD von den Face-
book-Algorithmen, die auf Emotionen wie
Wut oder Ärger anspringen, da diese die Nut-
zer länger auf der Plattform halten. Ohnehin
picture alliance / dpa
Fraktionschefs Weidel, Chrupalla
erzeugen emotional aufgeladene Beiträge der
AfD über Migration oder die Coronaregeln
viel mehr Reaktionen als sachlichere Posts
der demokratischen Parteien zur Steuer- oder
Sozialpolitik. Das nutzt die AfD gezielt aus.
Sie reagiert nicht nur schneller auf politische
Ereignisse, sondern animiert ihre Follower
auch geschickter, Posts zu kommentieren oder
zu verbreiten, etwa, indem sie Fragen stellt.
Gut zu sehen ist das bei Maria M. aus Süd-
deutschland. Diese Nutzerin gibt es wirklich
– und sie füllt Facebook in hoher Frequenz mit
Pro-AfD-Kommentaren, Videos und Artikeln.
Allein am Montag veröffentlichte Maria M. in
ihrem Account 79 Beiträge – zwischen 5.38
Uhr und 23.51 Uhr. Nahezu alle waren mit dem
identischen Text versehen, nur die Links zu
den geteilten Beiträgen waren unterschiedlich.
Und der Montag war kein Einzelfall.
Hyperaktive Nutzerinnen wie Maria M.
sind ein Glücksfall für die AfD, sie halten den
Facebook-Verkehr der in großen Teilen rechts-
extremen Partei in Gang und garantieren
Reichweite und Aufmerksamkeit.
Doch warum tut Facebook nicht mehr gegen
die falschen und unauthentischen Profile?
Die Whistleblowerin Frances Haugen, die
als Produktmanagerin bei Facebook arbeitete,
bevor sie den Konzern mit unzähligen internen
Dokumenten verließ, zeichnete zuletzt ein ver-
heerendes Bild von der Fehlerkultur des Unter-
Wachsende Fangemeinde
Zahl der »gefällt mir«-Angaben
für AfD-Facebook-Seiten
AfD-Bundespartei AfD-Bundestagsfraktion
»AfD Kompakt«* AfD im EU-Parlament
820.535
800.000
400.000
0 spricht das nicht.
2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
S Quelle: Facebook * Mitgliedermagazin

DEUTSCHLAND
nehmens. Bei einer mehrstündigen Anhörung
vor dem US-Senat sagte sie unter anderem,
dass keine besseren Systeme zur Erkennung
problematischer Inhalte eingeführt worden
seien, weil Facebook nicht genügend Personal
dafür gehabt habe – und auch nicht zusätzlich
eingestellt habe. Entscheidend seien auch die
Algorithmen selbst, weil sie negative Emotio-
nen wie Hass und Wut bevorteilen würden.
Kurz nachdem im September erste Doku-
mente von Haugen öffentlich wurden, ver-
kündete Facebook plötzlich, dass man fortan
härter gegen »bedrohliche Netzwerke« vor-
gehen wolle und deswegen deutsche »Quer-
denken«-Seiten gelöscht habe. Doch dem
PR-Schritt folgten nur bedingt Taten, die Lö-
schungen der demokratiefeindlichen Hetze
waren mindestens halbherzig. Denn eine
SPI EGEL -Recherche im entsprechenden
­Milieu zeigte, dass nur ein Teil der »Quer-
denken«-Seiten von Facebook entfernt wur-
den. Auch finden sich auf AfD-Seiten massen-
haft Beiträge und Kommentare mit gleichem
Inhalt, die ebenfalls gegen die von Facebook
selbst aufgestellten Standards verstoßen.
Das gilt auch für die falschen und un­
authentischen Profile, die der SPIEGEL fand.
Schließlich heißt es in den Standards von
Facebook: »Authentizität ist das Fundament
unserer Gemeinschaft.« Man verlange von
Nutzerinnen und Nutzern, dass sie die Namen
verwendeten, unter denen sie in ihrem Alltag
bekannt seien. »Unsere Authentizitätsricht-
linien sollen für ein sicheres Umfeld sorgen«,
erklärt Facebook, »in dem die Menschen ei-
nander vertrauen und sich gegenseitig zur
Rechenschaft ziehen können.«
Auf SPIEGEL -Anfrage schreibt eine Face-
book-Sprecherin: »Wir tolerieren keine Hass-
rede und Fake Accounts auf unseren Platt-
formen.« Wenn Inhalte gegen die Standards
verstoßen »oder wir darauf aufmerksam wer-
den, entfernen wir diese«. Man investiere
»umfangreich in Teams und Technologien,
um solche Inhalte schneller zu finden«. Auf
die Frage, ob die AfD als in großen Teilen
rechtsextreme Partei und ihre Follower be-
sonders betrachtet würden, antwortet sie
nicht. Sie verweist lediglich darauf, dass es
auch Ziel von Facebook sei, »effektiver Be-
drohungen von koordinierten Gruppen mit
authentischen Konten zu bekämpfen«. Daher
habe man Protokolle zur Durchsetzung ent-
wickelt. Warum die Löschung im September
dann aber nur einen Teil des »Querdenken«-
Netzwerks betraf, erklärt sie nicht.
Und die AfD? Die Pressestelle reagiert auf
Anfrage mal wieder empört. Die »Daten-Aus-
wertung« des SPIEGEL setzt sie in Anfüh-
rungszeichen und schreibt, diese entbehre
»jeglicher Grundlage«, man solle Belege vor-
zeigen. Gleichzeitig gibt sie zu, dass auf den
Kanälen der AfD auch Menschen »mit einem
Phantasienamen« kommunizieren.
Den Regeln von Facebook jedenfalls ent-
Maik Baumgärtner, Ariane Fries, Roman Höfner,
Ann-Katrin Müller  n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 37
DEUTSCHLAND
Gesundheitsminister Lauterbach: Warnung vor einer »Rekombinationsvariante«
Ende in Sicht?
CORONA  Länder wie Israel und Großbritannien lassen dem Virus inzwischen
so gut wie freien Lauf. Sollten die Beschränkungen auch in
Deutschland bald aufgehoben werden? Während Experten noch skeptisch
sind, wird die Forderung nach einer Exitstrategie laut.
D
as angekündigte Nachdenken gehört
mittlerweile zum guten Ton in der Pan-
demiepolitik. Armin Laschet nutzte als
Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen
die Osterfeiertage 2021, um zu grübeln. He-
raus kam der Vorschlag eines Brückenlock-
downs, der schnell verpuffte. Nun verriet
Markus Söder, der bayerische Ministerpräsi-
dent, dass auch er viel nachgedacht habe:
Heraus kam das Vorhaben eines Strategie-
wechsels. Die Coronapolitik dürfe nicht nur
aus Verordnungen bestehen, es brauche einen
»breiteren Ansatz«, sagte Söder.
Den Worten folgten zunächst zwar keine
Taten, doch mit seinem Vorstoß, die bisheri-
ge Coronapolitik zu hinterfragen, traf Söder
einen Nerv: Beginnt mit der offensichtlich
milderen Variante Omikron eine neue Phase
der Coronapandemie? Wird sie bald ende-
misch und damit anderen Infektionskrank-
heiten ähnlich? Ist es an der Zeit, sich trotz
anschwellender Ansteckungszahlen Gedan-
ken über Lockerungen zu machen?
Länder wie Israel, Großbritannien oder
Dänemark haben längst ihre Strategie ge­
ändert. Trotz teilweise horrender Infektions-
zahlen kehren die Menschen in ein weniger
reguliertes Leben zurück. Auch in Deutsch-
land mehren sich Forderungen, eine Strategie
38 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. »Sie
sind von zwei Jahren Pandemie – mit schmerz-
lichen Belastungen für die meisten – erschöpft.
Sie sehnen sich nach Klarheit und einer Aus-
sicht, wann sie wieder auf ein normales Leben
hoffen dürfen – und damit auf ein Ende der
Grundrechtseinschränkungen.«
Bayern, Sachsen-Anhalt und Thüringen
haben einen ersten, wenngleich kleinen
Schritt gemacht und die bundesweit verein-
barte 2G-plus-Regel für die Gastronomie zu-
nächst nicht eingeführt. Am Mittwoch kippte
der Bayerische Verwaltungsgerichtshof außer-
dem die 2G-Regel im Einzelhandel. »Sobald
es die pandemische Situation zulässt, sollten
die Maßnahmen gelockert werden«, fordert
Kay Niet feld / picture alliance / dpa
daher der FDP-Bundestagsabgeordnete und
Arzt Andrew Ullmann und erinnert an
den Zweck der Maßnahmen. »Die Kontakt-
beschränkungen sind nur dazu da, eine
­Überlastung des Gesundheitssystems zu
­verhindern.«
Ein Kollaps der Krankenhäuser ist in die-
sen Tagen nicht zu befürchten. Die sogenann-
te Hospitalisierungsrate, die auf die Auslas-
tung der Krankenhäuser mit Covid-19-Patien-
ten hindeutet, lag bundesweit am Donnerstag
bei 3,56. In der Weihnachtszeit 2020 betrug
der Wert 15.
Die Situation wirkt paradox. Einerseits er-
reichen die Infektionszahlen Rekorde, ande-
rerseits werden nicht mehr Coronapatienten
in die Krankenhäuser eingewiesen. Die Sie-
ben-Tage-Inzidenz liegt in Metropolen wie
Berlin bei weit über 1000, die Quarantäne-
fälle nehmen zu. Experten warnen daher vor
zu großer Gelassenheit: Das Gesundheits-
system könne noch an seine Belastungs­grenze
geraten. So sieht es auch der Bundesgesund-
zum Ausstieg aus dem strengen Corona­ heitsminister.
regiment vorzubereiten. Karl Lauterbach wirkt in diesen Tagen
»Sobald erkennbar ist, dass der Peak der nicht so, als käme ihm das Wort »Exit« leicht
Omikron-Welle überschritten ist, oder auch über die Lippen. Er sinniert lieber darüber,
wenn sich die Hospitalisierungsinzidenz ob notfalls strengere Maßnahmen nötig sind.
dauerhaft unter drei einpendelt, müssen wir Am Mittwochmorgen war der SPD-Politi-
aktuelle Beschränkungen überprüfen und auf ker in eine Sondersitzung des Gesundheits-
Basis der vorliegenden wissenschaftlichen Er- ausschusses des Bundestags zugeschaltet.
kenntnisse auch zurücknehmen – vorausge- Auch da schlug er einen besorgten Ton an. Er
setzt, dass keine neue gefährlichere Variante rechne damit, dass die Welle Mitte Februar
auftritt«, sagt zum Beispiel Joachim Stamp auf einen Höhepunkt zurolle, sagte er Teil-
(FDP), Vizelandeschef in NRW. nehmern zufolge. Die hohen Fallzahlen droh-
»Grundsätzlich brauchen die Menschen ten auch die Intensivstationen zu belasten.
eine nachvollziehbare Exitstrategie«, sagt Am Tag zuvor hatte Lauterbach vor einer
auch Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender »Rekombinationsvariante« im Herbst ge-
warnt, die ansteckender sein könnte als das
bisher bekannte Virus – und »besonders töd-
Im Schneckentempo lich«. Eine Mutante, die also alle schlechten
Eigenschaften von Delta und Omikron in sich
Impfquote in Deutschland
vereint. »Davor haben alle Angst«, sagte der
mindestens einfach geimpft Minister.
75,3 % Das Robert Koch-Institut hat er gebeten,
ein neues Modell aufzusetzen, um ablesen zu
grundimmunisiert können, wie groß die Omikron-Welle tatsäch-
73,1 % lich ist – und in welchem Ausmaß sie die Kran-
geboostert kenhäuser treffen könnte. In der Berliner
48,9 % Charité jedenfalls blickt man mit Sorge auf
die zunehmende Zahl an Covid-19-Patienten
S Quelle: RKI; Stand: 20. Januar auf den Normalstationen.
 DEUTSCHLAND

Wenn sich am Montag die Ministerpräsi-

dentinnen und Ministerpräsidenten wieder SPIEGEL TV Programm
mit Bundeskanzler Olaf Scholz zusammen-
setzen, werden sie wohl nicht über Lockerun-
gen sprechen. Das Ziel sei weiterhin, die Omi-
kron-Kurve abzuflachen, heißt es aus Regie-
rungskreisen. Bisher sei man in Deutschland
mit dieser Linie sehr gut gefahren und stehe
besser da als andere. Für ein Umdenken sei
es deshalb zu früh. Es gibt allerdings Länder,
die schon weiter sind.
In Israel hat man den Kampf gegen die
neue Virusvariante praktisch aufgegeben –
und einen Strategiewechsel eingeleitet. Mit
Beginn der fünften Welle hatte sich die Re-
gierung zunächst darum bemüht, Omikron
genauso hart zu bekämpfen wie dessen Vor-
läufer. Die Ein- und Ausreise wurde weit­
gehend eingeschränkt, Ausländer durften nur
in wenigen Ausnahmen ins Land kommen,
immer mehr Staaten wurden als »rot« de-
klariert, was das Reisen dorthin oder von dort

zurück schwierig bis unmöglich machte. Den-
noch überrollte Omikron das Land, die Test-
stellen gerieten an den Rand ihrer Kapazi-
täten, immer mehr Menschen saßen daheim
in Isolation.
In diesem Moment sah sich die Regierung
zum Umdenken gezwungen. Auf einmal
­durfte man sich mit Antigen-Tests aus der
Quarantäne freitesten, die Dauer wurde im-
mer weiter heruntergesetzt. Einen Lockdown
gibt es nicht, Bars und Restaurants sind ge-
öffnet.
Obwohl die Sieben-Tage-Inzidenz bei
knapp 4000 liegt, bleibt die Regierung bei
ihrer Linie: Das Virus ist nicht mehr einzu-
fangen, also wird es nicht mehr bekämpft.
Ähnlich ist die Strategie in London. Lange
hatte die Weigerung von Premierminister
­Boris Johnson, trotz immenser Zahlen harte
Restriktionen zu erlassen, in Europa für Irri-
tation gesorgt. Nun scheint Großbritannien
als eines der ersten Länder weltweit in den
Zustand der Endemie zu gleiten. Britische
Gesundheitsexperten wie Julian Hiscox von
der Universität Liverpool prognostizieren,
dass der Anfang vom Ende in Sicht sein
­könnte.
Lange schwankte die Strategie zwischen
dem Erreichen von Herdenimmunität und
harten Lockdowns, wenn die Infektionszah-
len zu sehr explodierten. Am 26. Januar nun
will Johnson die letzten Kontaktbeschrän-
kungen fallen lassen. Am Mittwoch verkün-
dete er das Ende der Maskenpflicht und
des obligatorischen Covid-Passes. Ab März
könnten Auflagen wie die Selbstisolation
wegfallen.
Rund 71 Prozent der britischen Bevölke-
rung sind vollständig geimpft, knapp 54 Pro-
zent geboostert, sehr viele sind genesen. Es
scheint, als würde Londons Konzept der na-
türlichen Herdenimmunität letztlich der Tür-
öffner zur Endemie werden. In Großbritan-
SPIEGEL TV
Holocaust-Mitorganisator Heydrich 1942 in Prag
SPIEGEL GESCHICHTE der Vereinigten Staaten erstreckt sich
DONNERSTAG, 27. 1., 23.50 – 0.35 Uhr, SKY über 2500 Kilometer und zeigt dabei eine
enorme Vielfalt. Hier finden sich Natur-
Die Konferenz – Wie der phänomene wie die Everglades, aber
­Holocaust organisiert wurde auch Metropolen wie Miami, New York
oder Boston. Mit der Helikopterkamera
Auf der Wannseekonferenz am 20. Januar wird etwa die Küstenlandschaft Neueng-
1942 besprachen führende NS-Vertreter lands in faszinierenden Luftbildern ge-
die sogenannte »Endlösung der Juden­ zeigt: Nobelvillen auf Martha’s Vineyard
frage«. Knapp 90 Minuten dauerte die oder in Rhode Island sowie die Walfän-
Sitzung in den geschmackvoll eingerich- gerinsel Nantucket und die weltberühmte
teten Räumen der Wannseevilla. Als Universität Yale in New Haven.
entspannt und heiter beschrieb später
Protokollführer Adolf Eichmann die Atmo-
sphäre. Gastgeber Reinhard Heydrich, SPIEGEL TV WISSEN
Chef des Reichssicherheitshauptamtes,
wollte wichtige Ministerien und Partei- MITTWOCH, 26. 1., 23.40 – 00.25 Uhr, SKY und bei
ämter in die Vorbereitungen zur Ermordung allen führenden Kabelnetzbetreibern
der europäischen Juden einbeziehen.
Es ging um die syste­matische Vertreibung Auf den Hund gekommen
und Vernichtung von rund elf Millionen
Menschen. Mit seinen genialen Fähigkeiten ist der
Hund ein Fall für die Wissenschaft. Die
Forscher interessieren sich vor allem
SPIEGEL GESCHICHTE für seine Spürnase, mit der er etwa eine
DIENSTAG, 25. 1., 20.15 – 21.05 UHR, SKY Million verschiedene Gerüche unter-
scheiden kann. Auch sein Sozialverhalten
Die Ostküste der USA – rückt zunehmend in den Fokus. Wie
Im Herzen Neuenglands konnte aus dem Raubtier Wolf »der beste
Freund des Menschen« werden?
Von den Traumstränden Floridas bis zum
Indian Summer in Maine – die Ostküste
VIDICOM

nien werden weiter Menschen an Covid ster-

ben, das dürfte der Regierung klar sein. Aber
NZZ

beim Stand der Durchseuchung wäre aus ihrer Yale University in New Haven Hund in Forschungslabor

Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 39

DEUTSCHLAND
Sicht die Umkehr zu einer No-Covid-Politik
ohnehin nicht mehr möglich.
Auch in Dänemark agiert die Regierung
gelassen. Zwar hat das Infektionsgeschehen
auch zuletzt nicht an Dynamik verloren, am
Mittwoch wurden mehr als 38 000 Neuinfek-
tionen vermeldet, doch auf den Intensiv­
stationen liegen halb so viele Patienten wie
im vergangenen Winter. Im Land gilt nun: Die
Ansteckungen lassen sich nicht mehr verhin-
dern, höchstens bremsen. »In ein paar Wo-
chen haben wir es sicherlich geschafft«, sagt
die Epidemiologin Lone Simonsen.
Kann Deutschland einen ähnlichen Weg
einschlagen? Expertinnen und Experten ver-
weisen einhellig auf die Unterschiede. Israel
ist mit Auffrischungsimpfungen gut aufge-
stellt, Risikogruppen wird bereits eine vierte
Impfung angeboten. Die israelische Gesell-
schaft ist zudem sehr jung, das Risiko für vie-
le schwere Verläufe dürfte geringer ausfallen.
In Dänemark liegt die Impfquote bei über
80 Prozent, Großbritannien hat durch viele
Genesene einen hohen Grad an Grundimmu-
nisierung. In Deutschland sind 73,1 Prozent
vollständig geimpft.
»Die Scheunentore ab sofort zu öffnen und
eine natürliche Durchseuchung der Bevöl­
kerung zuzulassen würde die Schwächsten
am härtesten treffen«, sagt Clemens Wendt-
ner, Chefarzt der Infektiologie an der Mün-
chen-Klinik Schwabing. »Omikron ist keine
große Gefahr mehr für vollständig Geimpfte
inklusive Boosterung – vorausgesetzt, es
­handelt sich um Immungesunde«, sagt er.
»Aber es wäre aus ärztlicher Sicht unverant-
wortlich, Omikron durch Altenheime und
Kliniken durchrauschen zu lassen. Dies wür-
de viele Menschenleben kosten.« Es gebe
außerdem auch eine Verantwortung für die
Unge­impften.
Isabella Eckerle, die das Zentrum für neu-
artige Viruserkrankungen an den Universi-
tätskliniken Genf leitet, erinnert an die Fol-
gen, wenn das Virus ungehindert weiterwan-
dern kann: »Omikron ist wie Sand im Ge-
triebe – die vielen kleinen Probleme, die
überall auftreten, weil viele Menschen erkran-
ken, können in der Summe folgenreicher sein
als die bisherigen Wellen.« Und Jörg Timm,
Leiter des Instituts für Virologie am Univer-
sitätsklinikum Düsseldorf, sagt: »Die Zahl der
Menschen ohne Grundimmunisierung in der
Altersgruppe über 60 Jahren ist mit knapp
drei Millionen noch zu groß.«
Eine rasche Durchseuchung dieser Gruppe
würde den Druck auf die medizinischen Sys-
teme stark erhöhen. Außerdem gebe es die
Gruppe der Kinder unter fünf Jahren, die bis-
lang nicht geimpft werden können. »Bevor
wir hier eine breite Durchseuchung ohne
Impfschutz akzeptieren können, müssen wir
noch mehr über die mittel- und langfristigen
Folgen einer Infektion in dieser Altersgruppe
wissen.«
Für die Bundesregierung gibt es daher nur
einen Weg aus der Pandemie: das Impfen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat das Ziel aus-
40 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
CSU-Vorsitzender Söder
gegeben, bis Ende Januar eine Quote von
80  Prozent zumindest an Erstgeimpften
zu erreichen. Doch die Impfmüden unter
den Deutschen leisten dem Aufruf nur schlep-
pend Folge.
Zurzeit bekommen pro Tag im Durch-
schnitt weniger als 50 000 Menschen ihre
erste Impfung. Für die 80-Prozent-Marke
müssten es mehr als 300 000 werden. Und
auch die Hoffnung, im Januar nochmals
30 Millionen Dosen verimpfen zu können,
wird sich wohl nicht erfüllen: Um diese Zahl
zu schaffen, müssten nun Tag für Tag mehr
als 1,1 Millionen Menschen erst-, zweit- oder
drittgeimpft werden. In der vorigen Woche
waren es im Schnitt täglich nur noch gut
550 000.
Für Lauterbach wäre ohnehin auch eine
Quote von 80 Prozent zu niedrig. Er ist des-
halb überzeugt, dass nur mit einer allgemei-
nen Impfpflicht der Ausstieg aus der Pande-
mie zu schaffen ist.
Für genügend Impfstoff hat die neue Re-
gierung nun gesorgt. Rechnerisch könne man
die gesamte Bevölkerung in diesem Jahr drei-
mal impfen, heißt es. Die Impfzentren sollen
bis Jahresende weiterlaufen.
Das Verfahren im Parlament aber zieht
sich hin, erst am Mittwoch soll es eine Orien-
tierungsdebatte geben. Lauterbach rechnet
Gespaltene Wahrnehmung
Befragung, wie die Pandemiemaßnahmen
wahrgenommen werden, in Prozent
Die aktuellen Coronamaßnahmen empfinde
ich als ...
streng
nicht streng
In Zukunft wünsche ich mir die Corona-
maßnahmen ...
streng 34
nicht streng
S Quelle: Hamburg Center for Health Economics, Befragung für
den European Covid Survey vom 23. Dezember 2021 bis
11. Januar 2022; Befragte: 1007
damit, dass das Gesetz frühestens im April
oder Mai in Kraft treten könnte.
Er geht bislang von drei verpflichtenden
Impfungen aus, dazu raten auch die meisten
Expertinnen und Experten. »Ich glaube nicht,
dass langfristig regelmäßige Boosterimpfun-
gen die Lösung sind«, sagt Isabella Eckerle
aus Genf.
Tatsächlich war das vorrangige Ziel der
Impfung nie, vor einer Ansteckung zu schützen
– sondern vor schwerer Erkrankung und Tod.
Ist dieser Schutz durch eine Dreifachimpfung
aufgebaut, halten die meisten Experten eine
Peter Kneffel / dpa
Infektion grundsätzlich für verantwortbar.
Doch es gibt Ausnahmen. »Ich kann mir gut
vorstellen, dass bei besonderen Risikokonstel-
lationen zusätzliche Impfungen notwendig
sein werden. Das betrifft aber nur einen Teil
der Bevölkerung«, sagt Virologe Timm.
Die SPD-Fraktionsspitze arbeitet gerade
an Details für einen Antrag, die Impfpflicht
soll demnach nicht für immer gelten. »Wir
sollten so viel Klarheit wie irgend möglich
schaffen – was die Anzahl der Impfungen und
eine zeitliche Befristung anbelangt«, sagt
Fraktionsvizin Dagmar Schmidt. »Die Impf-
pflicht könnte beispielsweise kontrolliert wer-
den wie bisher die Impf- und Genesenennach-
weise auch. Das Verfahren ist durch die 2G-
und 3G-Regeln schon erprobt.«
Es gebe aber auch andere Vorschläge, sagt
Schmidt. Wenn die Impfquote dann hoch ge-
nug sei, »werden Lockdowns und Kontakt-
beschränkungen nicht mehr nötig sein«. Die
Abgeordnete rechnet in den eigenen Reihen
»mit einer breiten Zustimmung«.
Beim Koalitionspartner FDP fragt man sich
allerdings, ob eine allgemeine Impfpflicht
überhaupt noch nötig ist. »Entscheidend ist
für mich, dass wir uns jetzt das Rüstzeug be-
sorgen, damit der kommende Winter nicht
der dritte Winter der Zumutungen, Einschrän-
kungen und Unfreiheiten wird«, sagt der
NRW-Vizelandeschef Stamp. »Sollte Omi­
kron tatsächlich den Übergang in eine ende-
mische Lage markieren, reicht möglicherwei-
se eine Beratungspflicht mit Impfoption.«
Zweifel am Sinn einer Impfpflicht scheinen
inzwischen auch in anderen Fraktionen zu
wachsen. Serap Güler, neu gewählte CDU-
Parlamentarierin und zuvor Staatssekretärin
für Integration in NRW, bemerkt, Omikron
habe nicht zur Überlastung des Gesundheits-
systems geführt. Zudem wisse im Moment
niemand genau, wie viele Impfungen zur Im-
munität führten. »Das ruft bei mir gerade eine
51 gewisse Skepsis hinsichtlich einer allgemeinen
Impfpflicht hervor«, sagt Güler, die auch Mit-
49
glied des CDU-Bundesvorstands ist. Es drohe
ein Vertrauensverlust, wenn die Politik offe-
ne Fragen unbeantwortet lasse.
Ende November hatte sich Güler noch
klar zur Einführung der Impfpflicht für alle
bekannt.
66
Anna Clauß, Florian Gathmann, Veronika
­Hackenbroch, Claus Hecking, Muriel
Kalisch, Martin Knobbe, Cornelia Schmergal,
­Richard C. Schneider, Severin Weiland n
 ANZEIGE

Kühlen für das Klima

Das Leibniz-Rechenzentrum spart bei seinem Supercomputer pro Jahr den Strombedarf
einer Kleinstadt. Laura Schulz, Head of Strategic Development and Partnerships, erklärt im Interview
mit Moderator Amiaz Habtu, welche innovative Kühltechnologie von Lenovo dahintersteckt.

In Garching bei München erkunden Habtu

und Schulz das Leibniz-Rechenzentrum
(LRZ) – eines der europaweit führenden
Rechenzentren und Heimat eines der
schnellsten Supercomputer Europas.

Hier finden unter anderem komplexe

Simulationen statt, die die Folgen des
Klimawandels darstellen oder den Weg
für personalisierte Medizin ebnen sollen.
* Der durchschnittliche Stromverbrauch pro 4-Personen-Haushalt wird mit 3,9 MWh/Jahr angenommen (Quelle: Stromspiegel 2021/22), was der Stromeinsparung einer Kleinstadt mit 1.347 Haushalten entspricht.

Mit einer Spitzenleistung von 26,9 Peta-

flops – und damit fast 27 Billiarden Rechen-
operationen pro Sekunde – stellt der Super-
computer, bestehend aus 6.448 Lenovo-
Servern, disziplinübergreifend Forschern
aus Physik und Chemie, Lebens-, Geo-,
Umwelt- und Ingenieurswissenschaften
ein gigantisches Leistungspotenzial zur
Verfügung.
Die Crux: Um überhaupt in der Lage zu
sein, diese immense Rechenleistung zu er-
bringen, muss das System kontinuierlich
gekühlt werden – ein Vorgang, der im
Normalfall viel Energie verbraucht. Nicht
so am LRZ: Denn dieser Supercompu-
ter zeichnet sich durch seine innovative
Warmwasserkühlung aus, die ihn zu einem
der energieeffizientesten Rechner seiner
Art weltweit macht.
Im Gespräch mit Moderator Amiaz Habtu
erklärt Laura Schulz, verantwortlich für
Lenovo Neptune:
Innovative Warmwasser-
kühlung reduziert
Stromverbrauch
Laura Schulz zeigt Amiaz Habtu das Leibniz-Rechenzentrum, Heimat eines der
energieeffizientesten Supercomputer der Welt
Strategic Development and Partner-
ships im LRZ, die Vorzüge der Lenovo-
Neptune-Technologie: „Bei der enormen
Rechnerleistung spielt die Kühlung eine
wichtige Rolle. Die von Lenovo eingesetz-
te Neptune-Warmwasserkühlung nutzt
dabei geschickt die Außentemperatur im
Münchner Norden aus und arbeitet ganz-
jährig mit freier Kühlung. Dabei wird das
aufgeheizte Kühlwasser auf das Dach des
LRZ geleitet und kühlt dort von alleine
wieder ab, ehe es erneut zur Kühlung der einem System dieser Größe führt dies zu
Server verwendet wird. Das spart Energie signifikanten Einsparungen: Der Strom-
und macht diese innovative Kühltech- verbrauch des Supercomputers ist dank
nologie besonders umweltfreundlich.“ dieser innovativen Lenovo-Technologie
Lenovo hat hierbei erstmals eine neue 20–30 Prozent niedriger als bei einer her-
Adsorptionskühltechnologie von Fahren- kömmlichen Kühlung. Pro Jahr wird so
heit genutzt, um aus Warmwasser effektiv der Strombedarf einer Kleinstadt* einge-
kaltes Wasser zur Kühlung von Speicher- spart – ein Riesengewinn für das Klima.
und Netzwerkinfrastruktur zu erzeugen. Das ganze Video-Interview mit Laura
Dadurch, so Laura Schulz, wird der Ein- Schulz finden Sie unter lenovo.spiegel.de.
satz von besonders energieintensiven me-
chanischen Kältemaschinen vermieden,
die ansonsten in vielen herkömmlichen
Rechenzentren zum Einsatz kommen. Bei
DEUTSCHLAND

lung der Ständigen Impfkommission für

12- bis 17-Jährige, doch diese hatte sich
­explizit dagegen ausgesprochen, dass eine
»Impfung zur Voraussetzung sozialer Teil-
habe gemacht wird«. Genau dieser Effekt
droht aktuell einzutreten, mit steigenden
­Infektionszahlen und darauf folgenden Ver-
schärfungen. Vermutlich geht er besonders
zulasten von Jugendlichen aus sozial schwie-
rigen Verhältnissen. Immerhin 43 Prozent der
12- bis 17-Jährigen sind laut Zahlen des Robert
Koch-Instituts noch nicht vollständig geimpft.
Aber auch für geimpfte Minderjährige
schränkt sich der Aktionsradius immer mehr
ein. In den Schulen fällt momentan fast alles
aus, was nicht zum Kernunterricht gehört:
Theateraufführungen, Orchester und Schul-
fahrten. Die Nachmittage verbringen viele
Schülerinnen und Schüler zu Hause, auf der
Couch oder vor dem Computer. Denn auch
wenn sie rechtlich Kinder und Jugendliche
noch einlassen dürfen, gehen etliche Sport-
und Musikvereine auf Nummer sicher und
reduzieren ihre Angebote.

lichtblick-hasenbergl.org
Nach Monaten wechselnder Restriktionen
sind Jugendliche deshalb in ihrer Freizeit stark
eingeschränkt. Die Politik ist derzeit damit
beschäftigt, gegen Bedenken der Lehrerver-
bände die Schulen einigermaßen offen zu hal-
Schüler beim Radtraining des Münchner Lichtblick-Zentrums: Absolute Ausnahme ten, damit die Kinder wenigstens nicht wieder
ganztags mit ihren Eltern zu Hause festgesetzt
sind. Vieles andere bleibt auf der Strecke.
Die Kids sollten Vorrang haben, versprach

Jung und ausgeschlossen

die Politik während der Pandemie regelmäßig.
Tatsächlich zwingt sie die Jugend in eine
­Solidarität der Generationen. Kinder und
­Jugendliche, bei denen die Infektion selten
schwer verläuft, sollen auf Kontakte im Alltag
PANDEMIE  Kinder und Jugendliche leiden stark unter den verzichten, damit nicht noch mehr ungeimpfte
Ältere sterben.
Coronaregeln. Sie dürfen zwar noch in den Unterricht – aber alles, Schon im April 2020 forderte der Uno-
was Spaß macht, fällt für viele von ihnen aus. Ausschuss für die Rechte des Kindes, bei allen
Maßnahmen zur Eindämmung »die Auswir-
kungen der Pandemie auf die Rechte des Kin-

E
ine Gruppe von Mädchen kurbelt aus-
gelassen an einem überlangen Kicker-
tisch. Draußen balgen sich Teenager auf
dem Rasen. Über der Eingangstür grüßt eine
Buchstabengirlande: »Herzlich willkom-
men«. Alles im Münchner Lichtblick-Haus
strahlt aus: Bitte kommt zu uns, wir freuen
uns auf euch, auch in Coronazeiten. Wir be-
trachten euch nicht als Gefahr.
Die Einrichtung für Kinder, Jugendliche
und Familien im sozial schwächsten Münch-
ner Stadtteil Hasenbergl-Nord war in der ge-
samten Pandemie nur zwei Wochen lang ge-
schlossen, ganz zu Anfang im Frühjahr 2020.
»Wir waren und sind immer da«, sagt Johanna
Hofmeir. Sie leitet das von der Katholischen
Jugendfürsorge betriebene Zentrum. Auch
während der Shutdowns und Kontaktbe-
schränkungen konnten die Jungen und Mäd-
chen unter Beachtung der Hygienevorschrif-
ten im Lichtblick-Haus beisammen sein, er-
möglicht durch gesetzliche Regelungen zur
Erziehungshilfe und zur Kindeswohlgefähr-
dung. Hofmeir und ihr Team konnten argu-
mentieren, es gefährde die armutsbelasteten
Kinder, sie nur mit ihren Familien zu Hause
zu lassen. Für den Zugang in das Lichtblick-
Haus reicht derzeit ein 3G-Nachweis, zur Not
auch ein Schnelltest vor Ort.
Das macht das Zentrum, das rund 100 Kin-
der und 50 Jugendliche aus 24 Nationen
­regelmäßig besuchen, zu einer absoluten Aus-
nahme. Viele Anlaufstellen für junge Men-
schen, wie Jugendtreffs, unterliegen derzeit
noch der 2G-Regelung, in der bayerischen
Hauptstadt und anderswo. Ähnlich müssen
es auch Kunstschulen, Fitnessstudios und
Pfadfindergruppen halten: Ab dem Alter von
14 Jahren dürfen nur geimpfte oder genesene
Jugendliche teilnehmen.
Das ist im Sinne des Infektionsschutzes
sinnvoll, macht aber die Jugendlichen letztlich
zu Geiseln der Impfansichten ihrer Eltern,
denn Minderjährige unter 16 Jahren dürfen
meist über ihre Immunisierung nicht selbst
entscheiden. Wenn die Eltern Impfgegner
sind, ist es für die Kinder schwierig. Zwar
existiert schon seit August eine Impfempfeh-
des zu berücksichtigen«.
Inzwischen benennen auch staatliche Stel-
len den Preis, den die Jungen für den Schutz
der Alten zu zahlen haben: »Wir beobachten
eine Zunahme von Selbst- und Fremdgefähr-
dungen, öfter auch die Flucht in Verschwö-
rungsideologien«, so das Sozialreferat der
Stadt München. Außerdem »steigt die Zahl der
Gewaltdelikte unter Jugendlichen sowie die Ju-
gendkriminalität im öffentlichen Raum«. Mäd-
chen und Jungen kämen seltener in Jugend-
einrichtungen, psychiatrische Beratungsstellen
in München hätten Wartezeiten von bis zu einem
halben Jahr, Jugendpsychia­trien seien überfüllt.
Meinungsverschiedenheiten zum Impfen
gingen quer durch Familien. Da entstünden
»Konflikte, die die jungen Menschen noch
zusätzlich belasten«. Die Münchner Fach-
leute empfehlen deshalb: »Vor diesem Hinter-
grund wünscht das Sozialreferat, die Kontakt-
beschränkungen für Ungeimpfte in den Kin-
der- und Jugendeinrichtungen aufzuheben
und diese über eine 3G-Regelung für alle
Nutzer*innen offen zu halten.«

42 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


Studie um Studie hat in den ver-
gangenen Monaten die negativen Fol-
gen der Pandemie und der Pandemie-
politik für Kinder belegt. In der
Untersuchung »Corona und Psyche«
des Universitätsklinikums Hamburg-
Eppendorf erklärten im Frühsommer
2020 mehr als 70 Prozent der befrag-
ten Kinder und Jugendlichen, sie
empfänden die Kontaktbeschränkun-
gen als belastend. Ebenso viele gaben
in einer weiteren Befragung im zwei-
ten Shutdown an, ihre Lebensqualität
sei gesunken. Die Jungen und Mäd-
chen trieben weniger Sport, dafür
verbrachten die Zwangsstubenhocker
deutlich mehr Zeit vor Handy, Tablet
und PC. Laut Erhebungen des Uni-
versitätsklinikums Essen haben auch
Suizidversuche von Kindern und Ju-
gendlichen zugenommen.
Kinder »waren insgesamt deutlich
weniger aktiv als vor der Pandemie«,
heißt es in einer Stellungnahme des
Deutschen Jugendinstituts (DJI) für
den Landtag von Nordrhein-West­
falen. »Es zeigt sich außerdem, dass
Einsamkeit ein großes Problem dar-
stellt.« Mädchen seien von depressi-
ven Verstimmungen noch stärker be-
troffen als Jungen. »Es ist fatal, wenn
ausgerechnet solche Aktivitäten aus-
fallen, bei denen Kinder und Jugend-
liche sich selber und das soziale Mit-
einander kennenlernen«, sagt die
DJI-Forscherin Alexandra Langmeyer,
Verfasserin mehrerer Studien zum
Thema. »Die Jugend ist die Lebens-
phase, in der es darum geht, sich von
zu Hause abzulösen.«
Langmeyer und ihr Team haben
auch mehrere Telefoninterviews mit
Kindern aus sozial belasteten Fami-
lien geführt und ausgewertet. Die seien
oftmals nicht gut über das Virus auf-
geklärt und äußerten sich bedrückt:
»Sie erzählen dann von einer Gefahr,
die ihnen und ihrer Familie droht. Et-
was, das sich wie eine dunkle Wolke
über den Alltag schiebt und sie ver-
ängstigt.«
Bedrückend sind auch die Schil­
derungen von Kindern und Jugend­
lichen aus dem Hamburger Stadtteil
Wandsbek, die in verschiedenen Ju-
gendeinrichtungen gesammelt wur-
den. Unter dem Stichwort »Mein Co-
rona-Feeling« nahmen Jungen und
Mädchen im vergangenen Früh­
sommer Videobotschaften auf oder
schickten Textnachrichten: »Wir wol-
len alles wieder normal haben wie
früher ohne masken rum laufen ge-
sund atmen und Zeit mit Freunden
verbringen«, heißt es in einer Text-
nachricht. Ein Junge sagt: »Die Tage
sind schneller fertig.« Ein Mädchen
suchte sich zur Gefühlsbeschreibung
eine Zeichnung mit einer wütenden
Fratze aus, ein anderes Mädchen das
Bild einer Frau, die mit gesenktem
Kopf weinend auf einem Stuhl sitzt.
Ob es irgendetwas Nettes gegeben
habe in der Zeit, wird ein Junge ge-
fragt: »Dass ich in der Schule in der
Pause die Maske abnehmen durfte.«
Die Probleme der Kinder aus ar-
men und benachteiligten Familien mit
Corona seien größer und sichtbarer,
sagt auch die Lichtblick-Leiterin. Für
alle gelte jedoch: »Die jungen Leute
brauchen emotionale Ankerpunkte«,
so Hofmeir. Das Problem in der Pan-
demie: »Diese Generation erlebt im
Moment zu wenig, macht zu wenig
aktive Erfahrungen, ist zurückgewor-
fen auf den Medienkonsum.«
Hofmeirs Stellvertreterin Dörthe
Friess sagt, das Zentrum habe Kirsch-
kernkissen und Steppwesten als Spen-
den eingeworben, damit bei Haus­
aufgabenbetreuung und Malkursen
im Dauerdurchzug niemand frieren
musste. Die Einrichtung hat Mess-
geräte angeschafft, die die Luftquali-
tät anzeigen, und die Köchin hat die
Monate hindurch für alle ein warmes
Mittagessen zubereitet.
»Wir haben mit den Kindern Fahr-
radfahren und Rollschuhlaufen ge-
übt«, erzählt Friess. Auch persönliche
Gespräche seien durch nichts zu er-
setzen – etwa wenn jemand beim
Impfen zögere. »Die Jugendlichen
fragen sich ja selbst, wie sie sich in
der Pandemie orientieren sollen. Sie
brauchen das Gefühl, dazuzugehören
und eine Chance zu haben.«
Aber wenn die Politik auf die Ju-
gendlichen schaute, sah sie meist eher
die Risiken als die berechtigten Be-
dürfnisse der Gruppe. »Statt auf eine
Party zu gehen, kann auch Impfen
eine gute Idee sein«, sagte Bayerns
Ministerpräsident Markus Söder
(CSU) kurz vor Weihnachten – ganz
so, als wären das Widersprüche.
­Söders Landesregierung hat vergan-
gene Woche eine Klausel in der Maß-
nahmenverordnung verlängert, wo-
DEUTSCHLAND
»Es ist so nach Ausnahmen von 2G für Jugend-
liche »zur eigenen Ausübung sport-
unübersicht­ licher, musikalischer oder schau­
lich gewor­ spielerischer Aktivitäten« möglich
den, dass fast sind – Lockerungen für die Jugend-
arbeit sollen folgen.
gar nichts Im Vergleich zu anderen Bundes-
mehr statt­ ländern ist das noch vergleichsweise
findet.« viel Freiheit: In Hamburg gilt ab dem
16. Lebensjahr eine strikte 2G-Regel,
Schülerinnen und Schüler müssen ab
dieser Woche im Sportunterricht Mas-
ke tragen. Auch in Nordrhein-West-
falen werden 16- und 17-Jährige bei
2G neuerdings wie Erwachsene be-
handelt. In Baden-Württemberg soll
mittelfristig eine Regelung auslaufen,
die Jugendliche von der 2G-Pflicht
ausnimmt. Niedersachsen stellte ver-
schärfte Vorgaben für Kinder und Ju-
gendliche bereits in Aussicht.
Der Bayerische Jugendring ver-
weist darauf, dass es in der Praxis
kaum möglich sei, zwischen Erlaub-
tem und Unerlaubtem zu unterschei-
den. Jugendring-Präsident Matthias
Fack sagt: »Wenn eine Trachtengrup-
pe Trachtentanz übt, was ist das
dann? Und warum darf sich diese
Gruppe mit 3G in der Kneipe treffen,
im Jugendzentrum aber nicht?«
Fack fordert, für organisierte Ju-
gendaktivitäten allgemein 3G einzu-
führen. »Wenn die Jugendlichen sich
nicht hinter der Tankstelle treffen
sollen, dann muss man eben die an-
deren Orte offen halten.«
Doch angesichts der Omikron-­
Variante und steigender Inzidenzen
dürfte es bis zum Frühjahr eher res-
triktiver zugehen. »Die Regelungen
ändern sich im Wochentakt«, klagt
Sabine Kohwagner, Mutter von zwei
schulpflichtigen Töchtern in Rosen-
heim und engagiert in der bundes-
weiten Vereinigung Initiative Fami-
lien. »Es ist so unübersichtlich ge­
worden, dass fast gar nichts mehr
Plakat des stattfindet.« Den Vereinen wanderten
­Hamburger Projekts
Corona-Feeling: inzwischen Trainer und Ehrenamtli-
Bedrückende che ab. »Die Politik muss hier andere
Schilderungen Modelle finden, sonst gehen gewach-
sene Strukturen dauerhaft verloren.«
Ziemlich abgekämpft las sich das
Rundschreiben, das der Bayerische
Handball-Verband vor dem Jahres-
wechsel an seine Mitglieder ver-
schickte: Man danke den Vereinen,
die »trotz widrigster Umstände und
unter sehr großem Aufwand« das
Training aufrechterhielten. »Gerade
für die Kinder und Jugendlichen ist
das von größter Wichtigkeit!« Und
entschlossen-offen.de
trotzdem: Angesichts der Coronala-
ge werde es »keine Wiederaufnahme
des Spielbetriebs vor Ende Januar
geben können«.
Jan Friedmann n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 43
DEUTSCHLAND

»Unvorstellbar, das kann

nicht stimmen«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Kindesmissbrauch durch Frauen? Das ist gleich ein doppeltes Tabu. Der Psychiater
Peer Briken weiß um die Folgen für Betroffene – und will Täterinnen stärker in den Blick nehmen.

Frank Höhne / DER SPIEGEL

44 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022

 DEUTSCHLAND

Briken, 52, ist Direktor des Instituts
für Sexualforschung, Sexualmedizin
und Forensische Psychiatrie des Uni-
versitätsklinikums Hamburg-Eppen-
dorf. Er gehört zu den Gründungs­
mitgliedern der »Unabhängigen
Kommission zur Aufarbeitung sexuel-
erfahren – und eben nicht vom Pfar- alt, als der Missbrauch begann, und
rer, Lehrer oder dem Fremden im oft dauerte die Situation über viele
Park. Und noch ein Klischee sollten Jahre an. In dieser Befragung kam ein
wir ablegen. noch viel größeres Tabu zur Sprache.
SPIEGEL: Welches? SPIEGEL: Nämlich?
Briken: Sexuelles Interesse an Kin- Briken: Die Betroffenen – auch hier
dern und Jugendlichen ist kein aus- zumeist männliche Betroffene –

Barbara Dietl
len Kindesmissbrauchs«. Seit 2016 schließlich männliches Phänomen. nannten zu 62 Prozent als Täterin die
untersucht sie sexuelle Gewalt gegen Das geht ganz klar aus unseren An- eigene Mutter.
Kinder und Jugendliche in der Bun- hörungen hervor. Mich beschäftigt SPIEGEL: Das Landgericht Schwein-
desrepublik Deutschland und der das schon länger, weil ich das Thema Sexualwissen­ furt hat gerade eine Mutter zu fünf
DDR. Dem öffentlichen Aufruf, der als Psychotherapeut und als Gutach- schaftler Briken Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Sie
Kommission ihre Geschichte zu erzäh- ter in Strafprozessen kenne. Aber uns hatte ihre anfangs neunjährige Toch-
len, sind bislang fast 3000 Betroffene hat doch gewundert, in wie vielen ter jahrelang ihrem Lebensgefährten
gefolgt. Gerade hat die Kommission – Fällen Frauen als Täterinnen, und zum Missbrauch überlassen und war
als Teil ihrer Arbeit – die Ergebnisse durchaus auch Einzeltäterinnen, ge- teils selbst dabei. Die Mutter hatte
aus einem Forschungsprojekt zum nannt wurden: Wenn es um Miss- auch zugelassen, dass der Mann das
Thema »Sexueller Kindesmissbrauch brauch in der Familie ging, war das Mädchen anderen Männern anbot.
durch Frauen« veröffentlicht. Die Zi- in fast jedem zehnten Fall so. Briken: Das sind Fälle, die großes Me-
tate von Betroffenen stammen, mit dieninteresse finden. Die Geschich-
deren Einverständnis, aus den Anhö- »... ob es nun anal war oder anders ten, die uns erzählt werden, sind
rungen und schriftlichen Berichten. irgendwie, auch unter Schlägen, dass meist weniger spektakulär.
sie mich geschlagen hat und sie sich SPIEGEL: Auf das Bekanntwerden der-
SPIEGEL: Herr Briken, Menschen, die dabei selbst befriedigt hat … Umso artiger Fälle folgt in der Regel ein öf-
als Kinder oder Jugendliche sexuelle mehr ich gelitten hab und gezeigt hab, fentlicher Aufschrei der Empörung:
Gewalt erlebt haben, vergraben diese wie ... wie weh mir das tut, und … und Wie kann eine Frau so etwas tun, und
Erlebnisse oft tief in ihrem Innern. ich geweint hab, umso mehr hat sie noch dazu die Mutter!
Hatten Sie in der Kommission mit ihre Freude gehabt.« Briken: Diese Empörung dient vor
einer so großen Resonanz gerechnet? allem dazu, sich das Thema vom Lei-
Briken: Nein, gar nicht. Aber anschei- SPIEGEL: In der amtlichen Statistik be zu halten, nach dem Motto: Ich
nend haben Betroffene das Bedürfnis, zum sexuellen Kindesmissbrauch selbst wäre nie sexuell erregbar durch
vor einer offiziellen Stelle Zeugnis sind Frauen eine Randerscheinung: meine Kinder. Mütter, die ich kenne,
darüber abzulegen, was ihnen als Nur 2,4 Prozent der Verurteilten im würden nie so was machen. Deshalb
Kindern oder Jugendlichen angetan Jahr 2019 waren weiblich. Bewegen gehört diese eine schreckliche Mutter
wurde. Selbst wenn sie sich zuvor sich Frauen unter dem Radar? besonders schwer bestraft. Nur: Mit
­keinem Menschen anvertraut haben. Briken: Eher ja. Vermutlich, weil man dieser Empörungshaltung bin ich
SPIEGEL: Aus welchem Motiv? immer nur sucht und findet, wovon blind für das, was womöglich vor den
Briken: Ihnen geht es vor allem um man annimmt, dass es auch existiert. eigenen Augen passiert.
die Anerkennung ihres Leids. Und Ich selbst habe noch Mitte der Nul- SPIEGEL: Missbrauchen Frauen an-
um Erleichterung. Manche wollen lerjahre mit meinem früheren Chef ders?
auch zum Ausdruck bringen, dass die zusammen eine Arbeit über Sexual- Briken: Oft gehen sie subtiler vor.
Verarbeitung sie stärker gemacht hat. straftäter geschrieben, darin tauchten SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
SPIEGEL: Was können Sie für die Be- Frauen auch nur als Mittäterinnen und Briken: Sie wenden nicht unbedingt
troffenen tun? Gehilfinnen auf. Weil wir der Mei- weniger Gewalt an, aber weniger of-
Briken: Zuhören. Dem erlittenen Un- nung waren: Frauen, die so etwas aus fensichtliche Gewalt. Oft fallen pene-
recht einen Raum geben. Wir sitzen eigenem Antrieb machen, gibt es trative Formen weg. Wohl auch des-
ja dort nicht als Therapeuten oder nicht. halb konnten viele Betroffene als
Ermittler, wir dürfen auch keine ju- SPIEGEL: Hätten Sie es besser wissen Etwa Kind das Sexualisierte an bestimmten
ristischen Prozesse anstoßen. Wir können? Handlungen gar nicht als solches ein-
suchen auch nicht nach Wahrheiten. Briken: Wenn wir die Betroffenen ge-
Die Taten, um die es geht, sind oft fragt hätten, ja. Schon vor 40 Jahren
längst verjährt. Tatsächlich ist diese gab es Auswertungen einer britischen
14 000 ordnen. Also: Was bedeutet es, wenn
die Mutter ungefragt den Raum be-
tritt, wenn man nackt ist? Woher soll
Aufarbeitungskommission ein welt- Kinder-Telefonhotline, die auf einen Fälle ein Zehnjähriger wissen, dass es nicht
weit einzigartiges Projekt. erheblichen Anteil von Täterinnen normal ist, wenn die Mutter noch sei-
SPIEGEL: Es gibt Anhörungs- und hindeuteten. Seither geben in inter-
Wahrheitskommissionen zu staat­ nationalen Erhebungen konstant bis
sexuellen nen Penis wäscht und ihm hilft, die
Vorhaut zurückzuziehen, weil er an-
lichem Unrecht, Völkermorden, zu zu 20 Prozent der Männer, die als Kindesmiss­ geblich eine Verengung hat? Oder
sexuellem Missbrauch in der katho- Kinder von sexuellem Missbrauch be- brauchs wenn sie sich den Jungen zum Auf-
lischen und evangelischen Kirche ... troffen waren, an, dass die Gewalt wärmen ins Bett holt?
Briken: In den meisten Berichten, die von einer Frau ausging. Oder dass
­erfasste die SPIEGEL: Wie erkennt man überhaupt,
wir hören, geht es um sexuellen Miss- eine Frau zumindest beteiligt war. Polizei 2020. dass etwas Missbrauch war?
brauch innerhalb der Familie. Damit SPIEGEL: Dem weiblichen Missbrauch Experten ge­ Briken: Spätestens in der Pubertät
haben sich andere Kommissionen so sind Sie nun in einer anonymen On- beginnen wir abzugleichen: Was pas-
nie befasst. Dabei ist das der Ort, wo linestudie nachgegangen. hen von einer siert bei den anderen? Vielleicht sagt
Kinder am häufigsten sexuelle Gewalt Briken: Wir haben über digitale Me- hohen Dun­ jemand: »Was, du schläfst bei deiner
dien Betroffene aufgerufen. Binnen Mutter im Bett? Das geht ja über-
Kurzem meldeten sich mehr als 200.
kelziffer aus. haupt nicht.« Auch erste sexuelle
Das Gespräch führte die Redakteurin Beate
Lakotta. Sie waren im Durchschnitt sechs Jahre Statista Kontakte mit Gleichaltrigen oder

Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 45

DEUTSCHLAND

eigene Partnerschaften helfen, ein Bewusst-

sein dafür zu entwickeln. Aber die Verarbei-
tung kann auch in eine andere Richtung gehen.
Ein Mann erzählte mir, wie ihn seine Stief-
mutter dazu brachte, dass er, wenn sie beim
Abwasch an der Spüle stand, sich regelmäßig
von hinten an ihr rieb. Er war in der Pubertät,
und das ging über lange Zeit so. Er hatte das
aber überhaupt nicht als traumatisch oder
übergriffig abgespeichert. Das erlebe ich vor
allem bei Männern häufig. Sie sagen nicht:
Ich bin von einer Frau missbraucht worden.
Sondern: Ich habe sexuelle Erfahrungen mit
einer älteren Frau oder mit meiner Mutter
gemacht.

»Später fing meine Mutter an, sich wegen jeder

Kleinigkeit ins Bett zu legen. Mit acht oder
neun habe ich sie regelmäßig bekocht, gefüt-
tert, gepflegt. In solchen Momenten entblößte

Frank Höhne / DER SPIEGEL

sie sich gerne vor mir und lächelte mich an.
Es kam vor, dass sie mich ins Schlafzimmer
rief. Ich erinnere mich, dass sie mich zwischen
den Beinen streichelte und dass ich sie oral
befriedigen sollte.«

SPIEGEL: Sind solche Formen des Missbrauchs

für das Kind weniger schlimm?
Briken: Sie können ausgesprochen schlimm
sein. Bei einem fremden Täter, der einen ins
Gebüsch zieht, ist die Situation eindeutig.
Aber Mutter und Vater – das sind eigentlich
die Personen, denen wir vertrauen und von
denen wir Vertrauen lernen. Oder lernen soll-
ten. Ein Missbrauch in diesem Rahmen er-
schüttert das Vertrauen auf besondere Art.
SPIEGEL: In welcher Stimmung finden die
Gespräche mit den Betroffenen statt?
Briken: Oft kommt große Traurigkeit zum
Vorschein. Auch Wut und Empörung. Bei vie-
len beeinträchtigt die Erfahrung das Leben
maßgeblich. Viele sagten uns auch, sie hätten
sich zuvor noch nie geöffnet. Das kenne ich
auch aus meiner Arbeit als Therapeut: Oft
gab es keine Anzeige oder Strafverfolgung.
Oft wurde das Thema nicht mal innerhalb der
Familie angesprochen.
SPIEGEL: Worauf führen Sie das zurück?
Briken: Auf die extreme Scham. Und die Be-
troffenen bringen das oft einfach nicht zu-
sammen: die Mutter als zentrale Vertrauens-
person und den Missbrauch. Viele Betroffene
berichten auch von einem Gefühl der Mit-
schuld, das ihnen ihre Mütter eingetrichtert
haben. Und dann ist da natürlich die große
Angst, ein ganzes Familiensystem zu zerstö-
ren, indem man so etwas auf den Tisch bringt.
SPIEGEL: Werden Mädchen seltener Opfer
sexueller Gewalt durch Frauen?
Briken: Zumindest berichteten Frauen uns
sehr selten vom Missbrauch durch eine Täte-
rin. Aber das heißt nicht, dass es nicht passiert.
SPIEGEL: Was bringt Sie darauf?
Briken: Ich erinnere mich an eine Betroffene,
die mir sagte: Wenn man die Scham verglei-
chen wollte, wäre sie bei Mädchen, die von
einem Mann missbraucht werden, schon groß.
Noch mehr schämen sich Jungs, die von einer
»Ich habe nicht mehr reagiert. Ich war wie tot.«
Frau missbraucht werden. Aber als Mädchen,
das von einer Frau missbraucht wird, bist du
die niedrigste Kategorie von Opfer.
»In einer Nacht war der Vater nicht da. Ich war
15 und habe mit der Mutter gesoffen. Es war
vereinbart, dass ich bei ihr im Bett schlafe. Wir
legen uns hin, da fängt sie an rüberzugreifen.
Ihre nackten Brüste wabbeln, immerzu sagt sie
zu mir: ›Papa, Papa!‹ … Ich meine, mit 15
brauchst du nicht viel, um erregt zu sein, noch
dazu im rauschigen Zustand. Sie zieht mich
auf sich, führt ihn bei sich ein, plötzlich merke
ich: Hoppla, was passiert hier? Ich raus, drehe
mich auf die Seite, aber sie lässt mich nicht in
Ruhe, greift rüber – ›Papa, Papa!‹ – und wälzt
sich wie eine rollige Katze. Aber ich habe nicht
mehr reagiert. Ich war wie tot.«
SPIEGEL: Wie erleben Söhne den Missbrauch
durch die eigene Mutter?
Briken: Wenn sie als Partnerersatz miss-
braucht werden, präsentiert die Mutter ihre
Übergriffigkeit oft als normal. Sie verstrickt
das Kind in emotionale und sexuelle Abhän-
gigkeiten. Ein Mann erzählte mir, wie die
Mutter ihn als Achtjährigen in ihr Bett holte,
nachdem der Vater die Familie verlassen hat-
te. Erst nur zum Kuscheln, aber dann fing sie
an, mit ihm intim zu werden. Irgendwann
war es an der Tagesordnung, dass der Sohn
mit ihr im Bett schlief. In der Frühpubertät
kam ihm das zunehmend komisch vor. Er hat
sich an seine Großeltern gewandt. Aber die
haben ihm nicht geglaubt. Mit 12 oder 13 Jah-
ren ging er selbst zum Jugendamt. Und auch
dort hat man gesagt: Unvorstellbar, das kann
nicht stimmen. Und hat ihn wieder wegge-
schickt.
SPIEGEL: Ist das typisch?
Briken: Zumindest auf dem Amt würde das
heute hoffentlich anders laufen. Der Fall die-
ses Mannes liegt Jahrzehnte zurück.
SPIEGEL: Wie ging es weiter?
Briken: Irgendwann tauchte der Vater wieder
auf. Er glaubte seinem Sohn, aber unternahm
nichts.
SPIEGEL: Warum nicht?
Briken: Vielleicht, damit der Tabubruch nicht
nach außen drang. Auch das ist für die Be-
troffenen schlimm: dieses Schweigen der Um-
welt, selbst dann, wenn der Missbrauch offen-
kundig ist. Erst schweigt die Familie, dann
schweigen die Nachbarn, am Ende schweigt
die Gesellschaft.
SPIEGEL: Weshalb kam der Mann zu Ihnen?
Briken: Er hatte ein extrem sexualisiertes Ver-
halten und ständig wechselnde Partnerschaf-
ten zu drogenabhängigen, sehr jungen Frauen.
Er selbst brachte das mit der Situation mit
seiner Mutter nicht zusammen, das hatte er
wohl erfolgreich verdrängt. Erst nach mehr-
jähriger Therapie brach das auf, erst da konn-
te er verstehen, warum er versuchte, sich über
diese immer neuen sexuellen Kontakte zu
besonders jungen Frauen in seiner Männlich-
keit zu bestätigen.
SPIEGEL: Was haben Sie über Missbrauchs-
täterinnen in Institutionen erfahren?
Briken: Aus unseren Anhörungen erinnere
ich mich an einen Mann, der von Übergriffen
durch eine Nonne berichtete. Bei unserer
Onlinestudie meldeten sich besonders viele,
die bei Adoptiv- oder Pflegeeltern oder in
Institutionen wie Heimen, Internaten oder
betreuten Wohneinrichtungen aufgewachsen
waren. Auch Betroffene, die auf Jugendwerk-
höfen in der DDR gelebt hatten, berichteten

46 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022

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manchmal von fürchterlichen Zuständen. philes Interesse haben. Bei Männern sind es kann für solche Akte. Weil, beim eigenen Kind
Frauen können sexuelle Gewalt auch gut als Schätzungen zufolge etwa ein bis drei Prozent. fällt es am wenigsten auf. Und sie hat sich ihr
Teil von Kinderbetreuungsaktivitäten ver- Aber es üben ja längst nicht alle Menschen Taschengeld aufgebessert mit uns.«
schleiern. Missbräuchliches Verhalten beim mit diesem speziellen Interesse sexuelle Ge-
Windeln, Waschen, Pflegen: Das findet in walt an Kindern aus. Frauen und Männer tun Briken: Das verkennen wir oft: Frauen, auch
einer Zeit statt, die Erinnerungen nicht zu- das auch, weil sie es erregend finden, Macht Mütter, missbrauchen auch aus eigener Mo-
gänglich ist. Wer soll darauf Rückgriff neh- auszuüben, oder weil sie keine Partnerschaft tivation – weil sie Lust dabei empfinden, weil
men? Die betroffene Person auf keinen Fall. mit Erwachsenen hinbekommen. Bei Män- es sie erregt. Das passiert keineswegs nur in
Noch dazu ist sexuelle Erregung bei Frauen nern erkennen wir immerhin an, dass es diese sozial verwahrlosten Verhältnissen.
von außen schwerer zu erkennen. Ein Mann ein bis drei Prozent gibt. Wir haben viel über SPIEGEL: Hassen diese Frauen sich dafür?
mit Erektion am Wickeltisch – da würden bei männliche Pädophilie und sexuelle Gewalt Briken: Einen Lustgewinn kann man auch
uns allen die Alarmglocken läuten. durch Männer geforscht. Und wir haben ge- haben bei etwas, was man moralisch verwerf-
lernt, von wem ein Risiko ausgeht und von lich findet. Aber genau diese Frauen, die an
»Eine Erzieherin hat sich immer einen Spaß wem auch nicht. sich bemerken, dass sie durch Kinder sexuell
daraus gemacht, die Jungs nackig antreten zu SPIEGEL: Und bei Frauen? erregbar sind und Gefahr laufen, selbst über-
lassen. Wir standen wie die Orgelpfeifen und Briken: Da haben wir einen blinden Fleck. griffig zu werden, die wollen wir erreichen,
mussten unsere Vorhaut zurückziehen. Die hat Projekte wie »Kein Täter werden« richten bevor sie straffällig werden.
dann überall geguckt, ob wir sauber sind. Und ihren Fokus auf Männer. Selbst bei Gerichten SPIEGEL: Gelingt das?
wer dreckig war, hat mit dem Lineal eins und Jugendämtern wird sexueller Kindes- Briken: Noch können wir diejenigen, die des-
draufgekriegt.« missbrauch durch Frauen oft noch eher nach- halb bei uns Hilfe suchen, an zwei Händen
sichtig betrachtet. abzählen.
SPIEGEL: Warum bleiben all diese Täterinnen SPIEGEL: Ein Klischee lautet: Frauen lassen SPIEGEL: Was haben diese Frauen gemeinsam?
unsichtbar? den Missbrauch ihrer Kinder durch den Part- Briken: Sie fragen sich: Warum bin ich so? Ist
Briken: Weil uns weibliche Rollenklischees ner zu, um den Mann zu halten. das, was ich erlebe, eine Pädophilie? Wie soll
und Mythen über Mutterschaft den Blick ver- ich damit leben? Soll ich mich von Kindern
stellen. Wahrscheinlich auch, weil die Sexual- »Dann kam der Tag, an dem beschloss ich, mit fernhalten? Was wäre, wenn ich selbst Kinder
forschung zumeist dem Geist von Männern meiner Schwester zur Polizei zu gehen. Die bekäme? So gut wie alle berichten, dass sie
entstammt. Unser Blick auf dieses Thema ist Öffnungszeiten merkte ich mir und sprach mit an anderen Stellen weggeschickt wurden,
sehr männer- und phalluszentriert, darauf hat der Schwester darüber. Das war ein Fehler, häufig, weil ihnen das niemand glaubt.
die britische Psychiaterin Estela Welldon denn sie petzte mein Vorhaben bei der Mutter. SPIEGEL: Manche kindlichen Opfer wieder-
schon in den Achtzigerjahren hingewiesen. Überraschend kam die Mutter eher von der holen als Erwachsene die eigene Missbrauchs-
SPIEGEL: Was hat sich seither in der Forschung Arbeit nach Hause und sie sagte: ›Wenn du situation mit umgekehrten Rollen.
getan? dort hingehst, gibt es diese Familie nicht Briken: Das kann geschehen, ist aber selbst-
Briken: Vor allem Forscherinnen haben in den mehr.‹« verständlich keine logische Folge. Dazu fällt
Blick gerückt, dass Frauen offensichtlich ihren mir ein Mann ein, dessen Mutter alleinerzie-
gesamten Körper sexualisieren können, aber Briken: Wenn ein Mann am Missbrauch be- hend war. Weil sie viel arbeiten musste, wur-
auch Prozesse wie Schwangerschaft oder Stil- teiligt ist, wird die Frau üblicherweise als pas- de er in den Ferien immer zu einer Freundin
len. Das sind aber Phänomene, die im recht- sives, unschuldiges und sexuell unterwürfiges der Mutter aufs Land gegeben. Die hat ihn
lichen Sinne gar nicht unserer Vorstellung von Opfer dargestellt. Ihre Verbrechen werden so ab der Pubertät sexuell missbraucht. Er selbst
sexuellem Missbrauch entsprechen. Auch zu stillen Verbrechen, über die man nicht hat das zunächst als etwas Tolles erlebt. Als
Vorgänge, die mit dem Versorgen von Kin- spricht. In der Kommission wurde uns aber Eingeführtwerden in die Liebe und Sexualität.
dern zu tun haben, können darunterfallen: nicht so selten von sexualisierter Gewalt in Als erwachsener Mann ist er aber selbst mehr-
besonders gründliches Waschen der Genita- organisierten Formen berichtet, an der Frauen fach übergriffig geworden.
lien oder Eincremen des Körpers können als beteiligt sind. Wir haben erfahren, wie je- SPIEGEL: Wäre es denn okay, wenn jemand
sexuell erregend empfunden werden. Aber mand durch seine Mutter zum Missbrauch an seinen Missbrauch für sich als tolle Erfahrung
das entgeht einem möglicherweise, wenn man die Landesgrenze gebracht wurde, in eine Art verbucht? Oder wäre es aus therapeutischer
mit einem männertypischen Blick darauf Kinderbordell. Wir haben gehört, dass Frauen Sicht in jedem Fall wichtig zu erkennen: Ich
schaut. Möglicherweise würden auch diese Kinder auf den Missbrauch durch Dritte vor- bin missbraucht worden?
Frauen selbst das, was sie tun, gar nicht als bereiteten. Sie machten ihnen Angst, damit Briken: Das ist eine gute Frage. Haben sexuel-
sexuell benennen. sie schwiegen. Sie hielten den Penis fest, sie le Interaktionen zwischen Erwachsenen und
filmten das Ganze, sie nahmen Geld. Kindern immer negative Folgen? Es gibt durch-
»Als Babysitter übernachtete ich bei der Be- SPIEGEL: Im Jahr 2018 war die Öffentlichkeit aus Forscher, die sagen: Nein, so ist es nicht.
treiberin eines Blumenladens, für die ich auch schockiert von den Staufener Missbrauchs- Wir wissen auch, dass es Menschen gibt, die
Blumen austrug. Am nächsten Morgen be- fällen. Die angeklagte Mutter hatte genau das sexuellen Missbrauch erlebt haben und keine
nutzte ich in der Küche ihre Duschkabine. Aus- getan: Sie hatte die dreijährige Tochter einer negativen Folgen berichten. Ich wüsste keinen
gerechnet da fing sie mit dem Abwasch an, der Freundin und ihren eigenen Sohn physisch Grund, warum man jemanden dazu zwingen
ewig dauerte. Mit einem Handtuch bedeckt für den Missbrauch durch den Lebensgefähr- sollte, seine Wahrnehmung zu ändern. Und
wollte ich an ihr vorbei. Sie verlangte von mir, ten trainiert. Später quälten und missbrauch- ich meine, Betroffene haben auch ein Recht
das Handtuch wegzunehmen. Sie sagte: ›Das ten sie den Jungen gemeinsam und gaben ihn darauf, nicht darüber sprechen zu wollen. Auch
machen Mütter für ihre Söhne, und du hast an zahlende Männer weiter, die teils von weit- Schweigen muss eine Lösung sein können.
ja keine mehr‹, dann hielt sie einen Lappen her anreisten. Die Mutter drehte, meist nach SPIEGEL: Herr Briken, wir danken Ihnen für
unter mein Glied, masturbierte es bis zu einem Anweisung des Mannes, Missbrauchsvideos. dieses Gespräch.
Samenerguss und säuberte es.« In einem dieser Clips war offenbar zu hören,
wie sie dabei zum Orgasmus kam. Wenn Sie sich Sorgen um ein Kind machen
SPIEGEL: Wie verbreitet ist sexuelles Interes- oder Fragen zum Thema haben, können Sie
se an Kindern bei Frauen? »Meine Mutter war sehr sadistisch, sie hat uns sich – auch anonym – unter 0800 22 55 530
Briken: In einer finnischen Studie gaben wirklich gequält bis gefoltert. Wahrscheinlich an das »Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch«
0,4 Prozent der Frauen an, dass sie ein pädo- hat die mich geboren, damit sie mich benutzen wenden.  n

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DEUTSCHLAND

bedauere er »zutiefst«, schreibt er in einer

Stellungnahme an den SPIEGEL . »Natürlich
habe ich sie umgehend gelöscht, zumal sie
nicht Ausdruck meine Haltung sind.« Das

Wölfe in Moscheen
könne er auch für seine Vorstandskollegen
sagen. Die Ditib habe, »auch aufgrund der
Verfehlungen einiger Funktionäre Com­
pliance-Richtlinien entwickelt«. Sie befänden
sich in der Einführungsphase und würden
EXTREMISMUS  Der islamische Verband Ditib gilt schon lange als »in Kürze bundesweit gültig sein«. Warum
er die Gruppen überhaupt aufführte, erklärt
verlängerter Arm Erdoğans. Einige der Moscheefunktionäre Gök nicht.
sympathisieren aber auch mit den rechtsextremen »Grauen Wölfen«. Die Anhänger der »Grauen Wölfe« be-
zeichnen sich selbst als »Ülkücüler«, über-
setzt heißt das »Idealisten«. Eine euphemis-

D
ie Website der Moscheeorganisation fletschten Zähnen und blutverschmiertem tische Selbsteinschätzung, bedenkt man, dass
Ditib Nord ist schlecht gepflegt. Die Mund findet, daneben steht: »Für ihr Heimat- deren Anhänger in den Siebzigerjahren Hun-
jüngste Pressemitteilung, eine »Stel- land sind Graue Wölfe bereit, jeden Preis zu derte linke Akademiker, Journalisten oder
lungnahme zu den Kopftuchdebatten«, bezahlen.« Kurden in der Türkei ermordeten. Experten
stammt vom Mai 2018, ein anderer Text be- Versehentlich wird Mehmet Gök die Seite zufolge ist das Weltbild der »Idealisten« auch
wirbt eine Jugendreise in die Türkei in den nicht angeklickt haben. Denn ihm gefielen heute noch nationalistisch, antisemitisch und
Herbstferien 2014. Dass die Ditib in Nord- auch noch zwei der lokalen Vereine der »Türk kurdenfeindlich. Viele von ihnen fantasieren
deutschland seit November einen neuen Vor- Federasyon« (»Türkische Föderation«), die von einem großosmanischen Reich, das vom
stand hat, erfährt man nicht. Dabei ist der der Verfassungsschutz ebenfalls den »Grauen Balkan bis nach China reicht.
Vorgang brisant. SPIEGEL -Recherchen zu- Wölfen« zuordnet. 2019 postete er die Foto- Kurdische Aktivisten, Politikerinnen oder
folge bindet sich der Landesverband unter montage eines Wolfs, der mit stahlblauen türkische Oppositionelle in Deutschland be-
der neuen Leitung des Hamburgers Mehmet Augen an der Seite des türkischen Republik- richten immer wieder von Gewaltandrohun-
Gök nicht nur enger an die türkische Regie- gründers Mustafa Kemal Atatürk wacht. Von gen aus diesem Milieu. Laut dem Büro der
rung, sondern rückt auch noch in die Nähe einem Kollegen aus dem Landesvorstand gab Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen
der Bewegung der rechtsextremen und anti- es dafür direkt ein »Daumen hoch«-Symbol. (Die Linke) gab es während des Bundestags-
demokratischen »Grauen Wölfe«. Der Ver- »Die Sympathien sind ganz offensichtlich«, wahlkampfs im September sogar einen kon-
band streitet dies ab. sagt der Duisburger Politikwissenschaftler kreten Anschlagshinweis gegen die Politi­
Alarmierend ist die Entwicklung zum Ismail Küpeli. Es sei eine übliche Symbolik kerin mit kurdisch-alevitischen Wurzeln. Sie
einen, weil die Ditib einer der wichtigsten der »Grauen Wölfe«, Atatürk auf diese Wei- zählt zu den schärfsten Kritikerinnen des
muslimischen Verbände in Deutschland ist – se in ihre Ideologie einzubauen. türkischen Regierungschefs Recep Tayyip
sie betreibt bundesweit rund 900 Moscheen. Inzwischen ist das Foto aus Göks Chronik Erdoğan im Bundestag und setzt sich be-
Zum anderen aber auch, weil die Organisation verschwunden. Die »kritisierten Social-Me- reits seit Jahren für ein Verbot der »Grauen
in einigen Bundesländern wie Nordrhein- dia-Likes« vor seinem aktuellen Ehrenamt Wölfe« ein.
Westfalen und Hamburg den Religionsunter-
richt an öffentlichen Schulen mitgestaltet.
In Hamburg ist die Kooperation seit 2012
im Rahmen eines Staatsvertrags mit muslimi-
schen und alevitischen Vertretern geregelt.
Ein Projekt, das bundesweit Aufmerksamkeit
erregte. Olaf Scholz (SPD), damals noch Ers-
ter Bürgermeister der Hansestadt, sprach von
einem »Meilenstein«. Die Ditib galt als ver-
lässlicher Gesprächspartner.
Zehn Jahre später ist die Euphorie verflo-
gen. In den kommenden Monaten muss der
Ham­burger Senat darüber entscheiden, wie
es weitergehen soll. CDU, FDP und AfD for-
dern schon seit geraumer Zeit, das Abkom-
men zu kündigen oder auszusetzen. Unter
anderem, weil das beteiligte Islamische Zen-
trum Hamburg als Außenstelle des iranischen
Regimes gilt.
Nun ist also auch der Landesvorstand von
Ditib Nord, zu dem mehr als 30 Gemeinden
in Hamburg und Schleswig-Holstein gehören,
teilweise mit Hardlinern besetzt. Bevor der
SPIEGEL bei ihm anfragte, machte der Vor-
sitzende Gök aus seinem Faible für die
»Grauen Wölfe«, auf Türkisch »bozkurtlar«,
keinen Hehl. Auf seiner Facebook-Seite
tauchte bei dem 43-Jährigen unter der Rub-
rik »gefällt mir« eine Seite auf, in deren Chro-
nik sich die Zeichnung eines Wolfs mit ge- Staatsgründer Atatürk mit Wolf (Montage): Übliche Symbolik der »Idealisten«

48 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


Umso erschreckender, dass man-
che der Ditib-Funktionäre im Netz so
offen ihre Sympathien für die Radi-
kalen bekundeten. Einer von Göks
Kollegen aus dem Landesvorstand
veröffentlichte auf seiner privaten
Facebook-Seite ein Bild von Alpars-
lan Türkeş, dem Gründungsvater der
»Grauen Wölfe«, und kommentierte:
»Wir erinnern uns in Dankbarkeit,
dein Platz soll das Paradies sein.«
Dieser Beitrag ist inzwischen eben-
falls gelöscht.
Auch ein weiteres Foto wirft Fra-
gen auf, wenngleich in anderer Hin-
sicht: Im Juli 2016 posierte der Ditib-
Mann bei einer Demo anlässlich des
gescheiterten Putschversuchs vor
dem Hamburger Generalkonsulat.
Neben ihm stehen ein paar Jugend-
liche, Türkeiflaggen um die Schultern
gehängt. Alle auf dem Bild strecken
den Zeigefinger der rechten Hand in
die Höhe. Die Geste symbolisiert im
religiösen Kontext, etwa beim Gebet,
die Einzigartigkeit Gottes. Das Sym-
bol wird immer wieder auch mit Is-
lamisten und Dschihadisten in Ver-
bindung gebracht. Was das Zeichen
bei einer politischen Veranstaltung
zu suchen hat, erklärt die Ditib nicht.
Auch in manchen der lokalen Mo-
scheevereine gibt es in der Führungs-
ebene Leute, die die »Grauen Wölfe«
bejubeln. Drei Vorstandsmitglieder
verschiedener Gemeinden in Schles-
wig-Holstein hatten »Idealisten«-
Seiten mit »gefällt mir« markiert. Bei
einem von ihnen waren es mehr
als zwei Dutzend. Ein Hamburger
Funktionär versah eine Gruppe mit
dem Titel »Zentrale des Clubs der
osmanischen Auferstehung« mit
einem Like. Das Profilbild der Seite
zeigt Erdoğan, der das Zeichen der
islamistischen Muslimbruderschaft
macht, eine Hand mit vier ausge-
streckten Fingern und eingeklapptem
Daumen.
Doch warum stellten manche der
Ditib-Leute ihre Geisteshaltung im
Netz so offen zur Schau – obwohl Ge-
spräche mit dem Hamburger Senat
für den Staatsvertrag anstehen?
Wissenschaftler Küpeli hat dafür
eine Erklärung: Die verbreiteten In-
halte würden gar nicht als extrem er-
kannt werden, sagt er. »Sie sind in
Teilen der türkischen Community pro-
blemlos anschlussfähig«. In Deutsch-
land spiegele sich damit lediglich eine
Entwicklung wider, die in der Türkei
schon seit Jahren zu beobachten sei.
Dort regierten die Rechtsextremisten
seit 2015 de facto mit, in Gestalt der
Partei der Nationalistischen Bewegung
(MHP), des politischen Arms der
»Grauen Wölfe«.
Der Hamburger Ali Ertan Toprak,
CDU-Mitglied und Vorsitzender der
Kurdischen Gemeinde Deutschland,
fordert deshalb, den Staatsvertrag
auszusetzen. »Die deutsche Politik
muss die Ditib neu bewerten. Der
Verband ist nicht mehr der, der er vor
zehn Jahren war.« Auch für Toprak
gehören Anfeindungen aus dem
»Idealisten«-Umfeld zum Alltag.
Beispiele für die Nähe der Mo-
scheeorganisation zu den »Grauen
Wölfen« gibt es nicht nur im Norden.
Der Landesvorsitzende der Ditib im
Saarland postete 2020 ein Foto von
sich am Grab des geistigen Vaters der
MHP, Alparslan Türkeş. In Hessen
kamen Ditib-Jugendliche laut einem
Veranstaltungsplakat vor zwei Jahren
beim »Kasseler Jugendtreffen« mit
Mitgliedern eines »Idealisten«-Ver-
eins zusammen, um über »Ehe und
Familienleben im Islam« zu sprechen.
Viele in der deutschen Politik hat-
ten gehofft, dass sich die Ditib durch
eine engere Einbindung nach und
nach von Erdoğan und den innen-
politischen Entwicklungen in der
Türkei lösen würde. »Im Moment
sieht es eher nach dem Gegenteil
aus«, sagt der Kölner Türkei-Exper-
te und Pu­blizist Eren Güvercin. 2023
stehen in der Türkei die nächsten
Wahlen an. Erdoğan und seine Partei
AKP sind in der Wählergunst gesun-
ken. »Er braucht die Ditib, um Wäh-
ler in Deutschland zu mobilisieren«,
so Güvercin.
Der Landesverband Nord dürfte
unter der Leitung von Mehmet Gök
schon ausreichend auf Kurs sein: Bei
der Vorstandswahl im November
wurde auch ein Imam aus Bad Sege-
berg ins Gremium gewählt. Die Geist-
lichen in Ditib-Moscheen sind in der
Regel bei der türkischen Religions-
behörde Diyanet angestellt und er-
halten von dort ihr Gehalt. Erdoğan
ist damit ihr oberster Boss. Die Ditib
Nord schreibt auf Anfrage: Der Mann
sei in Hamburg geboren und soziali-
DEUTSCHLAND
siert. Er habe nun eine »neue Stelle«
und sei kein Angestellter der Diyanet
mehr. Woher er nun sein Geld be-
kommt, bleibt unklar.
Im Landesvorstand dabei ist nun
außerdem ein Vertreter des Moschee-
vereins in Hamburg Billstedt. Seine
Linie ist klar: »Wo stehen wir?«, twit-
Axel Heimken / picture alliance / dpa
terte er im vergangenen Februar über
seinen privaten Account auf Türkisch.
Und lieferte die Antwort dazu:
»#WirsindanErdoğansSeite.«
Allerdings gefällt die Entwicklung
auch innerhalb der Ditib Nord längst
nicht jedem. »Das ist alles sehr be-
sorgniserregend«, sagt ein langjähri-
ges Vorstandsmitglied einer Moschee-
Ditib-Moschee in gemeinde. »Uns glaubt doch am Ende
Hamburg:
Zunehmende
wirklich kein Mensch mehr, dass wir
Linientreue unabhängig vom türkischen Staat
Richtung Ankara sind.« Der Mann möchte seinen Na-
men nicht veröffentlicht sehen, »Kri-
tik kommt hier nicht gut an«.
Für Leute wie ihn ist die zuneh-
mende Linientreue Richtung Ankara
bitter. »Ich will mit türkischer Politik
nichts am Hut haben«, sagt das Mit-
glied. Viele der Ehrenamtlichen hän-
gen sich rein, stellen gute Projekte auf
die Beine, etwa in der Flüchtlings-
arbeit oder bei den jüngsten Impf-
kampagnen in den Moscheen – und
müssen nun fürchten, in Misskredit
zu geraten. Das gesellschaftliche En-
gagement ist einer der Gründe, wa­
rum die deutsche Politik bisher an der
Ditib festhält.
Mit den jetzigen Strukturen sei die
Moschee- Ditib von innen heraus aber nicht re-
gänger formierbar, so der kritische Ditib-
Mann. Nach wie vor haben die Reli-
Musliminnen und
Muslime in gionsattachés, die die türkische Re-
Deutschland, die gierung nach Deutschland schickt,
mindestens einmal großen Einfluss auf die lokalen Ver-
monatlich ein
Gebetshaus* eine. Wohl auch, wenn es darum geht,
besuchen, nach einen neuen Landesvorstand zu
Herkunftsregion in ­wäh­len. Laut Satzung ist dafür die
Prozent Mitgliederversammlung zuständig.
Türkei Stimmberechtigte sind Delegierte aus
27 den einzelnen Moscheegemeinden,
deren Vorstandsmitglieder – und die
Mittlerer Osten Imame. Es sei ein offenes Geheimnis,
18 dass die Geistlichen für jene Kandi-
Nordafrika daten stimmten, die sich der Attaché,
7 also ihr Chef, und damit Ankara wün-
sche, sagen Insider.
Südosteuropa Ohnehin habe kaum jemand Lust,
7 sich mit einem Attaché anzulegen.
Naher Osten Denn im Falle eines Streits könne die-
4 ser einfach den Imam der Gemeinde
abziehen. Und was wäre eine Mo-
insgesamt schee ohne ihren Vorbeter? Die Ditib
18 streitet eine Einflussnahme vehement
* Moschee oder ein ab. Alle Stimmberechtigten würden
alevitisches Cem-Haus
»in einer freien, geheimen Wahl nach
S Quelle: Bamf, 3472
Befragte mit Migrations- demokratischen Prinzipien« entschei-
hintergrund ab 16 Jahren;
Umfragezeitraum Juli 2019
den. Die Ditib sei politisch neutral.
bis März 2020 Katrin Elger  n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 49
DEUTSCHLAND
Papst Benedikt 2013: Nichts bemerkt, nichts erinnert
In Amt und Unwürden
KATHOLIKEN  Ein Papst in Missbrauchsfälle verstrickt und der Lüge
bezichtigt – der GAU für die Kirche. Noch erschütternder aber ist das fast
alltägliche System des Vertuschens, das ein neues Gutachten aufzeigt.
D
ie Taten des katholischen Seelsorgers
waren längst aktenkundig, als er 1980
ins Erzbistum München wechselte. Erst
im Jahr zuvor soll Priester H. einen Elfjähri-
gen in der Diözese Essen zum Oralsex ge-
zwungen, schon vorher in Bottrop in einem
Park vor Kindern onaniert haben. Nachdem
Eltern berichteten, dass H. drei Ministranten
unsittlich berührt habe, wurde er aus dem
Bistum Essen nach München versetzt. Eine
Anzeige erfolgte nicht.
Der Erzbischof in München hieß damals
Joseph Ratzinger. Er habe H. »nicht gekannt
und auch keine Erinnerung an den Fall«,
50 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
UPI Photo / IMAGO
schreibt der emeritierte Papst Benedikt XVI.
gleich zu Beginn seiner aktuellen Stellung-
nahme zum Missbrauchsfall Peter H. Er be-
streitet auch, Kenntnis von der Warnung
eines Personalreferenten aus dem Bistum
Essen gehabt zu haben: Von H. gehe eine
Gefährdung aus, »die uns veranlasste, ihn
sofort aus dem seelsorgerlichen Dienst her-
auszunehmen«.
Priester H. ist einer von 235 mutmaßlichen
Tätern, die das Missbrauchsgutachten der
Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl
für das Erzbistum München identifiziert.
Die Juristen haben als externe Prüfer für die
Jahre 1945 bis 2019 Dutzende Personalakten,
Sitzungsprotokolle und Nachlassbestände
ausgewertet und 56 Zeitzeugen befragt. Ihr
Gutachten umfasst 1900 Seiten und nennt
insgesamt 247 männliche und 182 weibliche
Betroffene. Die meisten von ihnen waren
Kinder und Jugendliche, als die Vorfälle sich
ereigneten. Sie bleiben anonym.
Die Münchner Kirchenfürsten, das ist die
schockierende Bilanz der Anwälte, sahen
jahrzehntelang einfach weg und vertuschten
den Missbrauch. Allein dem früheren Erz-
bischof Friedrich Wetter wirft das Gutachten
in 21 Fällen Fehlverhalten vor. Und auch die
Kirchenverwaltung, Generalvikare, Offiziale
und Personalchefs, deckten die Taten.
Die Studie steht in einer Reihe von Miss-
brauchsgutachten, die bereits in anderen Bis-
tümern wie Aachen, Hildesheim oder Köln
für Entsetzen sorgten. Und doch ist die Er-
schütterung, die von der jüngsten Veröffent-
lichung für die katholische Kirche ausgeht,
besonders heftig. Jetzt werden auch dem ak-
tuellen Münchner Erzbischof Kardinal Rein-
hard Marx Versäumnisse vorgeworfen – und
mit Benedikt XVI. ist sogar ein Papst in die
mangelhafte Aufarbeitung von Missbrauchs-
fällen verstrickt.
Die Münchner Anwaltskanzlei wirft Bene-
dikt in insgesamt vier Missbrauchsfällen ein
Fehlverhalten vor. Im Fall H. hält sie seine
Aussagen, er habe nichts von den Taten des
Priesters gewusst, für wenig glaubwürdig.
Der Priester aus Essen sei ihm als »sehr
begabter Mann« angepriesen worden, »der
vielseitig eingesetzt werden könne«, schreibt
er in seiner Stellungnahme. Daher habe es
keinen Anlass gegeben, sich über die Hinter-
gründe zu informieren. Warum sich der »Be-
gabte«, der in den Siebziger- und Achtziger-
jahren mehrere Jungen missbraucht haben
soll, an seinem neuen Wirkungsort München
unverzüglich in Psychotherapie begeben soll-
te? Das interessierte ihn offenbar nicht.
Die entsprechende fachärztliche Beschei-
nigung habe ihm nicht vorgelegen, so der
emeritierte Papst. Außerdem sei man in den
Achtzigerjahren noch davon ausgegangen,
dass Pädophilie »therapier- und heilbar« sei.
Dass Priester H. weiter Kontakt zu Kindern
und Jugendlichen hatte, sei ihm nicht bekannt
gewesen. Auch von dessen Verurteilung zu
einer 18-monatigen Bewährungsstrafe im
Jahre 1986 habe er nichts gewusst.
Nichtwissen hatte im Erzbistum München
offensichtlich System. Seit 1945 sollen in der
Diözese laut Gutachten 40 Kleriker in der
Seelsorge beschäftigt worden sein, obwohl
bekannt war, dass sie sexuell übergriffig wa-
ren. 18 von ihnen waren sogar bereits wegen
Sexualdelikten von einem weltlichen Gericht
verurteilt worden.
Explizit bestreitet Joseph Ratzinger, am
15. Januar 1980 an einer Ordinariatssitzung
teilgenommen zu haben, in der Peter H.s
Missbrauchshintergrund mutmaßlich thema-
tisiert wurde. Die Verfasser des Gutachtens
zweifeln jedoch daran, dass es so war, wie

Ratzinger schreibt. Denn: In der Regel wür-
den bei solchen Sitzungen fehlende Personen
im Protokoll vermerkt. Dies sei bei Ratzinger
nicht der Fall gewesen; mithin sei davon aus-
zugehen, dass er anwesend gewesen sei.
Erschwerend kommt hinzu, dass Ratzin-
gers damaliger Generalvikar Gerhard Gruber
seine einstige Aussage relativiert habe, wie
Gutachter Wastl sagt. Gruber wollte allein
dafür verantwortlich gewesen sein, dass H.
erneut in der Seelsorge eingesetzt wurde. Laut
Wastl hat Gruber jetzt ausgesagt, er sei zu
dieser Aussage gedrängt worden, um Bene-
dikt XVI. zu schützen.
Der bekundete nach der Veröffentlichung
des neuen Gutachtens »Schock und Scham«.
Bis zum Donnerstagnachmittag habe der
94-Jährige keine Kenntnis über den genauen
Inhalt des Gutachtens gehabt, teilte sein Spre-
cher Georg Gänswein in Rom mit. Er werde
das Papier nun studieren.
»Wir erleben hier den Zusammenbruch
eines Denkmals«, sagte der Betroffenen­
vertreter Matthias Katsch vom »Eckigen
Tisch« nach der Präsentation des Gutachtens.
Die Art und Weise, wie die Anwälte den eme-
ritierten Papst der Lüge überführt hätten, sei
»beeindruckend«. Katsch: »Damit ist die
Missbrauchskrise der katholischen Kirche
endgültig in ihrem Zentrum angekommen –
im Vatikan.«
Doch auch in der Diözese München wird
man sich nicht so schnell von den Ergebnissen
der Studie erholen. Denn Kardinal Marx, seit
2008 als Erzbischof im Amt, ist schwer be-
schädigt. Er soll in drei Missbrauchsverdachts-
fällen seiner Pflicht zur angemessenen Auf-
arbeitung nicht nachgekommen sein.
In einem Fall berichtete ein Betroffener
dem Erzbistum Anfang der 2010er-Jahre, er
sei vor Jahrzehnten von einem Seelsorger
sexuell missbraucht worden. Der Priester war
immer noch tätig und erhielt daraufhin ein
Zelebrationsverbot; der Missbrauchsbeauf-
tragte der Diözese erstattete Anzeige bei der
Matthias Balk / epd
Protestaktion von Betroffenen in München
DEUTSCHLAND
Staatsanwaltschaft, die das Verfahren wegen
Verjährung einstellte.
Der beschuldigte Seelsorger erklärte laut
einem Vermerk, er könne sich »nicht vorstel-
len«, die Tat begangen zu haben. Zugleich
äußerte ein Bistumsmitarbeiter massive Zwei-
fel an der Glaubwürdigkeit des Betroffenen.
Dieser erhielt 5000 Euro Entschädigung, die
Tat wurde aber als nicht erwiesen erachtet.
Dann dauerte es sechs Jahre, bis der Unter-
suchungsbericht an die Glaubenskongregation
in Rom weitergeleitet wurde.
In einer Stellungnahme rechtfertigte sich
Marx laut Gutachten, er selbst sei »als Erz-
bischof nicht in die operative Sachbearbeitung
eingebunden«. Die Münchner Anwälte wer-
fen ihm vor, dass er kaum mit Missbrauchs-
fällen befasst gewesen sei, obwohl die Leit-
linien der Deutschen Bischofskonferenz dies
eigentlich vorsehen. Das Urteil der Gutachter:
Sie konnten »nicht feststellen, dass Marx auf
ein entschiedenes Vorgehen gegen beschul-
digte Priester gedrängt hätte«.
Er sei »erschüttert und beschämt«, sagte
Kardinal Marx nach der Veröffentlichung
der Münchner Studie. »Als der amtierende
Erzbischof bitte ich deshalb im Namen der
Erzdiözese um Entschuldigung für das Leid,
das Menschen im Raum der Kirche in den
vergangenen Jahrzehnten zugefügt wurde.«
Kardinal Marx hatte wegen des Missbrauchs-
skandals Papst Franziskus bereits im Mai 2021
seinen Rücktritt angeboten. Doch der hatte
abgelehnt.
Das im Gutachten festgestellte Fehlver-
halten von Kardinal Marx zeige »die völlige
Opfervergessenheit und Konzentration auf
den Schutz der Institution, die alle Verant-
wortlichen betrifft«, sagt Betroffenenvertreter
Katsch. »Alle Bischöfe stehen nun potenziell
unter Verdacht, Missbrauch vertuscht zu ha-
ben. Bis zum Beweis des Gegenteils.«
Es gelte jetzt, eine Wende für die Miss-
brauchsbetroffenen einzuleiten. Die völlig in-
transparente und willkürliche Entschädigung
von Betroffenen müsse ein Ende haben, die
Politik müsse sich verstärkt einmischen und
vermitteln. Der Betroffenenvertreter appel-
liert an Papst Franziskus, die Archive der
Glaubenskongregation zu öffnen und die
brisanten Missbrauchsunterlagen von einer
unabhängigen Instanz analysieren zu lassen.
Seine Forderung: »Der Europarat könnte
eine Untersuchungskommission aus Experten
zusammenstellen, die das Aktenmaterial si-
cherstellt und sichtet.«
Priester H. beging auch nach Ratzingers
Wechsel in den Vatikan 1982 weitere Taten.
Bald nach seiner Verurteilung 1986 wurde
er nach Garching an der Alz versetzt, wo er
21 Jahre lang blieb und unter anderem Kon-
takt zu 150 Messdienern hatte. Eltern be-
schwerten sich, er habe ihre Kinder auf den
Mund geküsst. 2008 verbot das Erzbistum
dem Priester die Jugendarbeit und versetzte
ihn ein letztes Mal. Zwei Jahre später wurde
er suspendiert.
Felix Bohr, Annette Langer  n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 51
D E B AT T E W E N N D I E U N W I L L I G E N Z U S TA R K W E R D E N
Der Staat, wer sonst   Was passiert, wenn Bürger nicht
so vernunftbegabt sind, wie sich Politiker das wünschen?
Von Tobias Rapp
A
ls der englische Philosoph Tho-
mas Hobbes 1651 sein berühm-
tes Buch »Leviathan« ver­
öffentlichte, tobte in seinem Heimat-
land ein Bürgerkrieg. Puritaner,
Katho­liken, Anglikaner kämpften
­ge­geneinander, Engländer gegen
Schotten, Königstreue gegen Par­la­
men­­tarier. König Charles I. war zwei
Jahre zuvor geköpft worden. Es gebe
einen Krieg aller gegen alle, schrieb
Hobbes, und dieser Krieg sei der Na-
turzustand des Menschen. Nur ein
übermächtiger Souverän könne ihn
beenden – ebenjener titelgebende Le-
viathan, den Namen hatte sich Hobbes
bei einem mythologischen Seeunge-
heuer ge­liehen. Ein mit uneinge-
schränkter Macht ausgestatteter
Herrscher. Es war der Beginn des mo-
dernen Nachdenkens über den Staat.
Das staat­liche Gewaltmonopol garan-
tiert die Sicherheit der Bürger, wür-
den Staatsrechtler heute sagen – und
so Hobbes’ Grundgedanken einiges
von seinem Schrecken nehmen. Denn
für ihn steht vor allem die Gewalt des
Souveräns am Anfang staatlicher
Ordnung, sie bildet deren Grundlage.
Dazu existiere keine Alternative:
außer Chaos und Anarchie.
Es gibt ein Video aus dem Novem-
ber des vergangenen Jahres, das den
damaligen Regierenden Bürgermeis-
ter Berlins, Michael Müller, bei einem
Auftritt nach einer Bund-Länder-Kon-
ferenz zeigt. Müller war oft das Ge-
sicht der Coronamaßnahmen, wenn
er zusammen mit Angela Merkel die
Ergebnisse der Runde der Minister-
präsidentinnen und Ministerpräsiden-
ten, präsentierte. An jenem Spät-
herbsttag, kurz vor dem ab­sehbaren
Beginn der vierten Coronawelle,
sprach er noch einmal über die Corona­
monate, über die Impfungen, die Er-
folge und die Misserfolge. Und dann
sagte Müller wie nebenbei zwei er-
schütternde Sätze: Die niedrige Impf-
quote »liegt nicht daran, dass es zu
wenig Aufklärung gegeben hat, zu
wenig Werben, zu wenig Infrastruk-
tur, zu wenig Geld, zu wenig Impf-
stoffe oder zu wenig Entschlossenheit.
Der Grund ist, dass es zu viel Egois-
mus und zu viel Gleichgültigkeit gibt«.
52 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Erschütternd, weil die Sätze mit
einfachen Worten die Ratlosigkeit
und die Empörung eines Politikers
beschreiben, der an das Gute glaubte
und gegen eine Wand gelaufen ist.
Wahrscheinlich ist der zurückhalten-
de Michael Müller auch so etwas wie
der denkbar größte Gegenentwurf
zum Leviathan. Aber seine Sätze um-
reißen ein offensichtliches Dilemma:
Die ganze Macht der Bundesrepublik
Deutschland hat nicht ausgereicht,
ihre Bürgerinnen und Bürger vor dem
Virus zu schützen. Nicht deshalb, weil
es an Ressourcen gemangelt hätte –
die Menschen wollten einfach nicht
mitmachen, zumindest nicht in aus-
reichender Zahl. Und das vielleicht
Erschütterndste an Müllers Worten:
Ganz offensichtlich haben sich die
Verantwortlichen der deutschen Co-
ronapolitik nicht vorstellen können,
dass es diese sich verweigernden
Menschen tatsächlich gibt, dass also
die deutsche Impfkampagne an den
Unwilligen scheitern könnte. Die
Politiker glaubten an die Vernunft, an
den guten Willen, daran, dass die Bür-
ger das Richtige wollen und tun. Dass
man ihnen nur ein »Impfangebot«
machen müsse, und sie würden es an-
nehmen. Es ist bekanntlich anders
gekommen.
Der Liberalismus, also die Idee
einer modernen, liberalen Demokra-
tie, hat der Rechtswissenschaftler
Christoph Möllers einmal geschrie-
ben, müsse sich immer wieder darü-
ber klar werden, wer ihn eigentlich
bedrohe: der Staat oder der Nachbar.
Angesichts der fünften Coronawelle,
die gerade durchs Land geht, und der
Diskussion um eine Impfpflicht, die
vielleicht die sechste und siebte Wel-
le bekämpfen könnte, falls sich neue
M. Waldthausen / DER SPIEGEL
Virusvarianten nicht als besonders
heimtückisch erweisen sollten, müss-
te man ganz im Sinne Hobbes’ sagen:
Im Augenblick ist es der Nachbar. Der
Staat versucht, die Bürger zu schüt-
zen. Der Nachbar geht am Samstag
zur Anti-Coronamaßnahmen-De-
Rapp, Jahrgang monstration und setzt sich in der U-
1971, ist Autor
im Kulturressort
Bahn seine Maske nicht auf.
und seit 2009 Das ist ein unangenehmer Gedan-
beim SPIEGEL. ke. Zumindest für die Generation der
40- bis 65-Jährigen, der Männer und
Frauen also, die in den vergangenen
Jahren ins Zentrum der Macht vor-
gerückt sind und in Staat und Wirt-
schaft die Führungspositionen beset-
zen. Ihre Lebenserfahrung erzählt
ihnen nämlich eine andere Geschich-
te, in der die Bedrohung fast immer
vom Staat ausging – und in der die
politischen Konflikte darum kreisten,
dessen Bedeutung zu beschneiden. In
der Bundesrepublik Deutschland
drehte sich in den vergangenen
40 Jahren vieles um die Liberalisie-
rung aller Lebensbereiche, um den
Zuwachs an Freiheiten und Möglich-
keiten des Individuums. Das war ein
komplexer, nicht immer nur gradlini-
ger Prozess, der sich in der Politik, in
der Gesellschaft, vor den Gerichten
und in den Parlamenten vollzog, aber
die Stoßrichtung war eindeutig: gegen
die Macht des Staats und gegen die
Vorstellung, dass dieser sich allzu sehr
in das Leben der Bürgerinnen und
Bürger einmischen solle.
E
s gibt eine riesige Ausdifferen-
zierung der Lebensstile, und
von der Abschaffung der Wehr-
pflicht bis zur Ehe für alle, von der
Einführung von Volksentscheiden bis
zu den erweiterten Mitspracherech-
ten der Zivilgesellschaft bei öffentli-
chen Bauvorhaben – überall erkämpf-
ten sich die Bürgerinnen und Bürger
Einfluss, Bedeutung und Macht. Soll-
te die neue Regierung das alte Trans-
sexuellengesetz wie geplant durch
ein neues Selbstbestimmungs­gesetz
ersetzen und damit Menschen ermög-
lichen, ihre geschlechtliche Identität
auf dem Standesamt durch einen ein-
fachen Eintrag selbst zu definieren,
wäre das der größte Triumph dieser
Entwicklung: Etwas, das jahrhun­
dertelang von der Biologie bestimmt
war oder vom lieben Herrgott oder
von einer binär denkenden Bürokra-
tie, würde allein der Entscheidung des
Individuums überlassen.
Diese persönlichen Freiheiten gin-
gen einher mit der Deregulierung der
Wirtschaft; die Altersvorsorge wurde
in Teilen privatisiert, genauso das
­Gesundheitssystem und das Bildungs-

wesen. Der Markt könne die meisten
Dinge besser steuern als der Staat,
hieß es.
All das war und ist umstritten. Die
Linke geißelt den Neoliberalismus,
die Konservativen den Verlust an
Identität. Es ändert nichts daran, dass
alle ihre neuen Freiheiten umarmen.
Die moderne Bundesrepublik kennt
keinen Leviathan, wenn überhaupt
ist er nur noch ein Schatten der na-
tionalsozialistischen Vergangenheit.
Die Geschichte der Bundesrepublik
der vergangenen 40 Jahre ist eine der
Befreiung von der Vormundschaft des
Staats, der Emanzipation des Indivi-
duums.
Das soll nun falsch sein? Nur we-
gen Corona?
Es ist schwer, sich als Kind der bun-
desrepublikanischen Wohlfühldemo-
kratie vorzustellen, dass ein Denker
wie Hobbes etwas anders sein kann
als das Thema eines Politologiegrund-
kurses. Zu düster sein Bild der Welt
und des Menschen, zu schwach sein
Verständnis von Demokratie oder
politischer Freiheit. Aber er hatte
ein paar Einsichten, die möglicher-
weise immer noch gültig sind. Sie ha-
ben mit der Grundlage staatlicher
Macht zu tun. Wir stehen zwar nicht
vor der Gefahr eines Bürgerkriegs.
Aber selbst das kann schnell gehen,
wie die USA zeigen.
Dass die Coronapandemie die
Schwächen der Bundesrepublik auf-
gedeckt hat, dürfte mittlerweile Kon-
sens sein. Mit dem Versprechen, ­diese
Schwächen zu beheben, ist die neue
Bundesregierung in ihr Amt gekom-
men. Es mangelt zum einen an Digi-
talisierung auf allen Ebenen, das ist
der Hauptgrund dafür, dass die deut-
sche Verwaltung oft ineffizient ist.
Zum anderen ist die Bundesrepu-
blik zwar gut, wenn sie ihre alten
Stärken aus der Wohlfahrtsstaat-Ära
anwendet; das Kurzarbeitergeld und
eine Konjunkturpolitik wie aus den
Sechzigerjahren federten die Folgen
der Pandemie in ihrer ersten Phase
ab. Aber als in der zweiten Phase
­Risiken eingegangen werden mussten,
weil sich die Lage und auch die Er-
kenntnisse ständig änderten, war der
Staat überfordert. Er hätte Risiko­
manager sein müssen und konnte es
nicht. Von der Impfstoffbeschaffung
bis zur Vernetzung von Wissenschaft
und Politik.
Das Gute ist, all das sind keine un-
lösbaren Probleme. Es wird Geld kos-
ten und mühsam sein. Computer müs-
sen gekauft und Arbeitsabläufe opti-
miert, neue Gremien müssen gegrün-
det, und es sollte gelernt werden,
besser mit Risiken umzugehen. Das
Schlechte: Wir sind längst in der drit-
ten Phase der Pandemie. Und deren
Problem ist so einfach nicht in den
Griff zu bekommen. Es ist das, was
Michael Müller den »Egoismus« und
die »Gleichgültigkeit« nennt. Die
­Sache mit den Nachbarn. Oder um-
gedreht: die grundsätzliche Schwäche
des Staates selbst. In einer existen-
ziellen Situation erreicht er einen ent-
scheidenden Teil seiner Bürger nicht.
Diese Schwäche wird nicht ver-
schwinden, nur weil Corona vielleicht
irgendwann zu einer normalen Grip-
pe wird.
Tatsächlich gibt es viele Gründe,
die Coronapandemie nur für einen
Testlauf für die weit größere Heraus-
forderung des 21. Jahrhunderts zu
halten: den Klimawandel und die
­Frage, wie er zu begrenzen ist. Ein
paar Lockdowns und immer mal wie-
der ein Piks in den Arm, das wird
nicht reichen. Landwirtschaft, Ernäh-
rung, Verkehr, Wohnen, Reisen: Alles
wird sich radikal ändern müssen. Und
anders als bei Corona wird es kein
Versprechen darauf geben, dass man
nach der Krise wieder leben kann wie
zuvor. Es gibt kein Zurück zum alten
Normal. Das fossile Zeitalter geht zu
Ende, und niemand weiß, was dann
kommt.
Leemage / IMAGO
W
ie soll das gehen? Der Staat
wird sich die Souveränität,
die er in den vergangenen
Jahrzehnten aufgegeben hat, nicht so
»Leviathan«-Titel- ohne Weiteres zurückholen können.
blatt nach Stich Die Menschen werden sich ihre Frei-
von 1651: Ein paar
­Einsichten, die heit, so zu leben, wie sie wollen, nicht
­mög­licherweise nehmen lassen.
immer noch gültig Im Augenblick scheint es, als ob
sind der Klimawandel mit einer Mischung
aus technischem Fortschritt, Einsicht
und Geld bekämpft werden soll. Die
Technologien sollen besser, manche
Dinge teurer und andere billiger wer-
den, und ansonsten hofft man darauf,
dass man durchkommen wird und die
Mehrheit die Minderheit mitzieht.
Das wird aber kaum reichen. Eine
Impfkampagne kann nur dann funk-
tionieren, wenn fast alle Menschen
mitmachen. So ähnlich ist es beim
Klimawandel. Es wird nicht reichen,
dass ein paar gesellschaftliche Grup-
pen ihre Konsumgewohnheiten
­ändern, kein Fleisch mehr essen und
E-Auto fahren. Alle müssen es tun.
Die gesamte Wirtschaftsweise muss
sich ändern, die Kultur – überall in
der industrialisierten Welt.
Die Schwäche Das ikonische Titelblatt der Origi-
des Staates nalausgabe des »Leviathan« aus dem
wird nicht Jahr 1651 zeigt einen Stich. Er stellt
einen König dar, der Schwert und
verschwin- Zepter schwingt. Der Körper des
den, nur weil ­Königs aber besteht aus unzähligen
Corona viel- Menschen. Der König, der Staat, der
Leviathan, das sind wir, das sind alle.
leicht irgend- Nur deshalb kann der Staat funktio-
wann zu einer nieren. Man kann es sich nicht aus-
suchen, ob man mitmacht.
normalen Es ist eine Einsicht, auf die wir
Grippe wird. nicht gut vorbereitet sind. n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 53

REPORTER
Die längste Sekunde, 1968
FAMILIENALBUM Jürgen Reich, 83, aus Bonn
D ieses Bild stammt vom 12. März 1968.
Wenige Minuten vor der Aufnahme saß ich
noch im Cockpit dieser Fiat G-91. Ich
war damals 30 Jahre alt, Hauptmann und seit
einer Woche Leiter eines Kommandos mit
sechs Maschinen, Piloten und Technikpersonal
auf dem Marinefliegerhorst Sylt. Auf dem
Luft-Boden-Schießplatz am Ellenbogen bei List
übten wir den Einsatz von Bordkanone, Raketen
und Bomben. Um 8.45 Uhr startete ich als
»lead«, als Spitze einer Viererformation aus Fiat
G-91, vollgetankt und mit scharfer Munition
an Bord. Wegen der schlechten Beschaffenheit
der Startbahn wurde einzeln mit drei Sekunden
Abstand gestartet und nach dem Start aufge-
schlossen. Als ich in etwa 500 Fuß Höhe war und
die Reisegeschwindigkeit erreicht hatte, nahm
ich den Gashebel zur Geschwindigkeitsreduzie-
rung zurück. Im selben Augenblick gab es einen
Knall, die Geschwindigkeit nahm wie bei der
Vollbremsung eines Autos ab, die Triebwerks-
instrumente spielten verrückt, überall leuchteten
rote Warnlichter.
Dann rief der Pilot in der Formation rechts
hinter mir über Funk: »Lead, you are on fire,
bail out.« Aus dem Abgasrohr kamen meter-
lange Flammen. Bail out bedeutet: raus, sofort.
54 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Ich steuerte die Maschine noch Richtung Watten-
meer, durch meinen Kopf raste der gesamte
Vorgang wie ein Film. Dann betätigte ich den
Schleudersitz. Das Erste, was passiert, wenn
man den Hebel zieht, ist: Die Kabinenhaube wird
pyrotechnisch abgerissen. Dann dauert es
eine Sekunde. Wenn alles funktioniert, fliegt
anschließend der Schleudersitz. Eine Sekunde ist
nicht viel. Aber eine Sekunde kann unfassbar
lang sein. Diese Sekunde war definitiv die
längste meines Lebens. Ich wartete gefühlt eine
Ewigkeit.
Aber alles klappte. Ich landete kurz darauf auf
einem Acker, meine Maschine flog ohne mich
noch ein Stück über Kampen hinaus und stürzte
dann einige Hundert Meter nördlich vom Haus
von Axel Springer ab. Ein Bauer kam ange-
rannt. Er sah, dass ich unverletzt war, und bot mir
eine Zigarette an. Wir rauchten gemeinsam.
Um 8.50 Uhr nahm mich ein Hubschrauber auf,
der auf dem Rückweg zur Basis war. Um
8.58 Uhr wurde ich in der Nordseeklinik abgesetzt,
wo ich eine Nacht zur Beobachtung blieb.
Eine Woche später war ich wieder in der Luft.
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre
Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an:
familienalbum@spiegel.de
SYMBOLE
»Braucht der Mensch
Orden, Herr Krause?«
SPIEGEL: Gegen Bürgerprotest
hat der britische Ex-Premier
Tony Blair gerade von der
Queen den Hosenbandorden
bekommen. Wozu braucht
eine demokratische Gesellschaft
Auszeichnungen wie diese?
Krause: Es soll die Sichtbar-
machung besonderer Verdienste
sein. Jedes Herrschaftssystem
macht das.
SPIEGEL: Aber Blair hat ja nur
seine Arbeit getan – und mehr
als eine Million Petitions-
unterzeichner finden: ziemlich
schlecht.
Krause: Dass jemand einfach
nur seinen Beruf ausübt, als
Minister, Hochschullehrer oder
Diplomat, und dafür geehrt
wird – diesen Automatismus
gab es häufig auch bei uns. In
bestimmten Positionen konnte
man sich früher vor dem
Bundesverdienstkreuz quasi
nur durch Selbstmord retten.
Besonders der öffentliche
Dienst war überrepräsentiert.
SPIEGEL: Warum?
Krause: Es ist ein kostengünsti-
ges Mittel der Belohnung. Ein
saftiger Bonus – das geht in der
Privatwirtschaft; der Staat hat
weniger pekuniäre Möglichkei-
ten. Aber das hat nachgelassen.
Generell werden heute vom
Bundespräsidenten viel weni-
ger Verdienstkreuze vergeben
als vor 30 Jahren. Damals
waren es um die 5000 jährlich.
Heute sind es noch etwa 1200.
SPIEGEL: Ehrungen können in
falsche Hände geraten. Die
Dresdner Semperoper hat jetzt
ihren St. Georgs Orden ab-
geschafft. Es gab zu viel Ärger,
nachdem der ägyptische fine ar t images / INTERFOTO
Diktator Abdel Fattah el-Sisi
und zuvor Wladimir Putin
ausgezeichnet worden waren.
Krause: Wie sagte Schopenhauer
so schön? »Orden sind Wech-
selbriefe, gezogen auf die
öffentliche Meinung:
Ihr Wert beruht auf
dem Kredit des
Ausstellers.« Wer
die Falschen wählt,
kann seinen Kredit
verlieren. BSU
Daniel Krause, 49, ist Präsident
der Deutschen Gesellschaft für
Ordenskunde.

Freuet euch
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE
seiner Frau musizieren darf
D Der nächste
as Grab befindet sich auf dem
katholischen Friedhof der Ge-
meinde Verl in Ostwestfalen.
Ein heller, matter Stein, darauf in
geschwungener Schrift ein Name:
Anita Kade; direkt daneben ein wei-
terer Stein, noch ohne Gravur. Die
Steine wirken, auf eine angemessene
Art, fröhlich.
An diesem Ort kam Peter Kade im
Frühjahr 2020 eine Idee: Er könnte
ab und an für seine Frau musizieren,
schließlich war Musik ihre gemein-
same Leidenschaft gewesen. Kade
nahm also fortan sein Horn mit auf
den Friedhof, in unregelmäßigen Ab-
ständen, aber, so erzählt er es heute,
nie häufiger als einmal pro Woche. Er
setzte sich auf die Bank, die dem Grab
seiner Frau am nächsten ist, etwa fünf
Meter entfernt. Dann klappte er den
Notenständer aus und platzierte seine
Noten. Er übte und spielte Kirchen-
lieder, »Fröhlich soll mein Herze
springen«, oder »Freuet euch, ihr
Christen alle«, am liebsten spielte er
»Großer Gott, wir loben dich«. Damit
der Wind nicht in die Seiten griff, fi-
xierte Kade sie mit Wäscheklammern.
Nach ein paar Wochen bekam er
Post von der Friedhofsverwaltung.
Mehrere Anrufer, las er, hätten seine
Musik »als sehr störend« empfunden.
Friedhofsbesucher hätten »das Grab
ihrer Angehörigen gar nicht besucht,
als sie die Musik gehört haben«, an-
dere seien »tief emotional gegangen,
weil es ihnen nicht möglich war, ihrer
Trauer nachzukommen«. Und: »Wir
möchten Sie daher höflich bitten, Ihr
Spiel auf dem Friedhof ab sofort nicht
mehr zu praktizieren.«
Anderthalb Jahre später berichtet
die Lokalzeitung von dem Verbot. Als
Kade Anfang Januar davon erzählt,
sitzt er in dem Haus, das er bis kurz
vor ihrem Tod 2019 gemeinsam mit
seiner Frau bewohnte. Der Kamin
brennt, Kade, inzwischen 81 Jahre
alt, trägt Schirmmütze. Er habe sofort
bei der Friedhofsverwaltung angeru-
fen, sagt er. Er akzeptiere das Verbot,
habe er gesagt. Aber er habe sich wie
ein Verbrecher gefühlt, ihm seien die
Tränen gekommen. Seit dem Tele-
fonat hat Kade den Friedhof kein ein-
ziges Mal mit seinem Tenorhorn be-
Wieso ein Rentner nicht am Grab
treten. Aber er vermisst das Musizie-
ren. Kade glaubt, seine Frau habe ihn
hören können.
Musik, sagt er, habe sie immer zu-
sammengehalten. Kade war als Ju-
gendlicher aus Schlesien geflüchtet,
über eine Bekannte lernte er Anita
kennen, auch sie aus Schlesien. Sie
wurden ein Paar, bauten ein Haus,
bekamen zwei Kinder. Anita Kade
arbeitete zuerst bei der Stadtverwal-
tung, dann bei einem Unternehmen
im Ort, Kade als Kfz-Schlosser bei
Miele. »Wenn wir Feste gefeiert ha-
ben, ging es nur ums Tanzen und die
Musik«, sagt er, »um nichts anderes.«
Kade spielte, die anderen schunkel-
ten. 30 Gäste zu normalen Geburts-
tagen, zu runden doppelt so viele.
Musik sei immer die erste Wahl ge-
wesen, sagt Kade, für beide.
Ab dem 60. Geburtstag ging es
Anita Kade stetig schlechter. 2017
kam sie in ein Pflegeheim. Kade nahm
sein Akkordeon, auch das kann er
spielen, und musizierte regelmäßig
an ihrem Bett: »Wahre Freundschaft
soll nicht wanken«, ihr Lieblingslied.
Anita konnte zwar nicht mehr singen,
aber unter der Beatmungsmaske habe
er sie oft lächeln sehen, sagt Kade.
Nach dem Tod seiner Frau spielte er
einfach weiter für sie, nur eben auf
dem Friedhof.
Seine Tochter sitzt an diesem Tag
neben ihm, auf ihrem Handy zeigt sie
ein Video, aufgenommen im Frühjahr
2020. Sie hatte damals das Grab ihrer
Mutter besuchen wollen und durch
Zufall ihren Vater getroffen, auf sei-
ner Bank. Die Kamera schwenkt über
den Friedhof, die Abendsonne wirft
die Schatten der Grabsteine aufs
Gras. Im Hintergrund hört man ein
Horn, Kade spielt »Guten Abend,
gute Nacht«. Die Melodie vermischt
sich mit dem Zwitschern der Vögel.
Besucher, »Mein Abendlied«, sagt Kade. Er
hieß es, habe nie länger als eine Stunde ge-
bringe spielt, sagt er, wenn er fertig war,
nahm er sein Horn und ging heim.
dann seine Ein Friedhof ist nicht nur ein Ort
E-Gitarre für die Toten, er ist auch ein Ort für
die Lebenden. Sie können dort trau-
mit auf den ern, nachdenken, Kontakt zu den
Friedhof. Toten halten. Doch weil das jeder auf
seine Art macht, kann das zu Proble-
men führen. Die Frage ist dann, wie
man mit den Problemen umgeht.
Die Tochter sagt, sie habe bei der
Vorsitzenden des Kirchenvorstands
angerufen. Sie habe wissen wollen,
wieso ihr Vater nicht mehr für ihre
Mutter musizieren dürfe, wieso es
direkt ein Verbot gegeben habe. Die
Frau habe um Verständnis gebeten.
Kade, habe sie gesagt, könne zum
Präzedenzfall werden. Der nächste
Besucher bringe dann seine E-Gitar-
re mit auf den Friedhof. Kade sitzt
neben seiner Tochter, die Hände ver-
schränkt er auf dem Bauch. »Ich kann
mir nicht vorstellen, dass jemand sei-
ne E-Gitarre mit auf den Friedhof
bringt«, sagt er.
Witwer Kade mit Kade sagt, bei ihm hätte sich nie
seinem Tenor- jemand beschwert. Viele Menschen
horn, Ausriss aus
der »Neuen seien gekommen und hätten sich be-
Westfälischen« dankt. Eine Frau habe ihm ein katho-
lisches Gesangbuch gebracht, Kade
selbst hatte bis dahin aus einem evan-
gelischen gespielt. Ein Mann habe
Noten aus dem Internet ausgedruckt
und gebeten, sie für seine Frau zu
spielen. Eine andere Frau habe ihn
zum Grab ihres Mannes gebeten.
Kade findet, das Pfarramt hätte ihn
wenigstens kontaktieren können, be-
vor ein Verbot ausgesprochen wurde.
Er fährt noch immer zweimal die
Woche zum Friedhof, zu seiner Frau.
In der Adventszeit, sagt er, hätte er
Yannick Ramsel / DER SPIEGEL
gern gespielt. Es hätte ihm viel be-
deutet.
Die Verler Friedhofsverwaltung
schreibt auf Anfrage, die Sache sei
zwischen der Geschäftsführung des
Kirchenvorstands sowie Herrn Kade
einvernehmlich geklärt und bespro-
chen, »sodass der Vorgang für beide
Seiten abgeschlossen ist«.
Yannick Ramsel n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 55
REPORTER

Stollen im
künftigen Endlager
Onkalo

In

alle
Ewigkeit
UMWELT Das weltweit erste Endlager für hoch radioaktiven Atom-
müll entsteht in Finnland, nahe der Kleinstadt Eurajoki. Die große
Mehrheit der Einwohner findet das gut. Warum gelingt ausgerechnet
in Finnland, was in keinem anderen Staat bislang gelang?
Von Uwe Buse
Fotos: Juuso Westerlund

56 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


D
ie Temperatur hier unten sinkt
nie unter elf Grad Celsius. Vor
10, vor 100, vor 1000 Jahren
herrschten hier elf Grad, im Sommer
wie im Winter. Vor 10 000 Jahren und
selbst während der letzten Eiszeit, als
sich Gletscher kilometerhoch über
Nordeuropa erhoben, sank die Tem-
peratur nicht. Und so wird es bleiben.
Nach allem, was wir Menschen wis-
sen, werden während der nächsten
Eiszeit, wenn Europa erneut unter
dem Eis versinken dürfte, hier unten
immer noch elf Grad herrschen.
Hier unten, das ist ein Stollen nahe
der Nordostküste der Ostsee. Hier
spielen das Wetter, das Klima keine
Rolle, denn der Stollen wurde fast
einen halben Kilometer tief unter die
Erdoberfläche ins Gestein getrieben.
Die Temperatur hier unten wird nicht
von den Jahreszeiten bestimmt, son-
dern von der Glut des Erdinnern.
Es ist egal, was oben auf der Erde
geschieht, ob die Pandemie besiegt
wird oder nicht, ob der Klimawandel
begrenzt wird oder ob die Menschheit
im Laufe der kommenden Jahrtau-
sende zurücksinkt in die Barbarei.
Hier unten scheint selbst die Zeit
langsamer zu vergehen. Ein Riss
etwa, an einer Wand des Stollens,
dunkler noch als das ihn umgebende
Gestein, ist vor einer Milliarde Jahren
entstanden.
Vor einer Milliarde Jahren ent-
wickelte sich das Leben auf unserem
Planeten, während des Proterozoi-
kums, und Leben ist ein generöser
Begriff für die Einzeller, die damals
existierten und Sauerstoff als Stoff-
wechselendprodukt in eine giftige
Atmosphäre pumpten.
Seit dieser Zeit – lange bevor Am-
phibien aus dem Wasser an Land kro-
chen, bevor Dinosaurier die Erde
beherrschten und ausgelöscht wur-
den, bevor Säugetiere sich verbreite-
ten und schließlich der Mensch die
Bühne betrat – existiert dieser Riss,
und er hat sich nicht verändert. So
wie er heute aussieht, kaum fünf Mil-
limeter breit, gut einen Meter lang,
so sah er aus, als sich das Leben auf
der Erde entwickelte. Das ihn um-
gebende Gestein steht seither still,
und dies ist ein Grund, warum dieser
Stollen in der Nähe einer kleinen
Stadt namens Eurajoki ein guter Ort
sein soll, um einen der gefährlichsten
Stoffe zu lagern, den der Mensch je
produziert hat: hoch radioaktiven
Atommüll, Brennstäbe aus Kern-
kraftwerken.
Es ist 68 Jahre her, dass das erste
kommerzielle Kernkraftwerk der
Welt Strom ins Netz speiste. Es ge-
schah in der Sowjetunion, in Ob-
ninsk, der Stadt der Wissenschaftler,
am 27. Juni 1954. Es waren euphori-
sche Jahre. Energie im Überfluss schien
möglich, nicht nur in der Sowjet-
union. Weitere Reaktoren folgten, in
Europa, Asien, Amerika. Schon 1970
waren weltweit 90 Reaktoren in Be-
trieb, nur zehn Jahre später waren es
253, und die Zahl stieg ungebremst
weiter, bis zum 26. April 1986, als
sowjetische Ingenieure im Atomkraft-
werk Tschernobyl gegen Sicherheits-
vorschriften verstießen.
Zurzeit liefern 439 Reaktoren auf
vier Kontinenten Strom, und noch
immer gibt es nirgendwo auf diesem
Planeten ein Endlager für hoch radio-
aktiven Atommüll aus kommerziellen
Kraftwerken.
Demokratien wie Deutschland
scheiterten an dieser Aufgabe, autori-
täre Staaten wie China haben sie
ebenfalls noch nicht gelöst. Einer Na-
tion aber wird es nun gelingen, als
erster. Es ist keine Supermacht, es ist
Finnland. Der Stollen unter der West-
küste des Landes ist Teil des ersten
Endlagers für hoch radioaktiven Atom-
müll, und es hätte einen grandiosen
Namen verdient. Aber die Finnen
tauften es Onkalo, auf Deutsch:
Höhle.
Die Einkapselungsfabrik über
dem Endlager wird gerade gebaut,
vor Kurzem feierte man Richtfest.
Die ersten Stollen existieren schon,
man erreicht sie nach zehnminütiger
Fahrt durch den Zugangstunnel, der
sich wie eine gigantische Wendeltrep-
pe in die Tiefe schraubt. Zehn Pro-
zent beträgt das Gefälle, es geht vor-
bei an geparkten Radladern, an Las-
tern, deren Front immer nach oben
weist, Richtung Ausgang, um den
Tunnel im Falle eines Unglücks mög-
lichst schnell verlassen zu können.
Jetzt, an diesem Freitagnachmittag,
ist es still im Tunnel. Kein Bohren,
keine Explosionen sind zu hören,
nicht einmal Stimmen. Gearbeitet
Verwaltungschef
Lakaniemi
REPORTER
wird am Endlager im Schichtbetrieb,
ab Freitag gegen 15 Uhr ruht hier
alles. Es gibt keinen Grund zur Eile,
man liegt gut im Plan.
In drei Jahren soll der erste Be-
hälter, eine Röhre aus Kupfer, durch
einen Schacht ins Endlager hinab-
gleiten. Rund 3000 Röhren werden
folgen und ihren Platz in etwa 30 wei-
teren Stollen finden. Zurzeit ist ge-
FINNLAND
plant, dass Onkalo den hoch radio-
Atommüll- aktiven Atommüll von drei finnischen
Endlager Reaktoren aufnehmen wird, alle be-
Onkalo
trieben von TVO. Ob Onkalo auch
Eurajoki
den Atommüll des Konkurrenzunter-
Helsinki nehmens Fennovoima entsorgen
200 km wird, ist noch unklar. Sollte es keine
Einigung zwischen den beiden Fir-
S Karte: OpenStreetMap
men geben, wäre ein zweites End-

lager in Finnland nötig.
In 120 Jahren soll Onkalo gefüllt
sein und verschlossen werden. Für
immer. Die Baukosten: wahrschein-
lich 3,5 Milliarden Euro.
In Deutschland dagegen begann
die Suche nach einem geeigneten Ort
gerade erst wieder von vorn. Nach
vier Jahrzehnten, in denen explo-
riert, gebohrt, gemessen, debattiert
und demonstriert wurde, vor allem
in Gorleben. Nach vier Jahrzehnten,
nach einem jahrelangen politischen
Großkonflikt, der die Republik spal-
tete, steht Deutschland wieder ganz
am Anfang, weil Gorleben nicht ge-
eignet ist. Der Standort wurde auch
nach politischen Kriterien ausge-
wählt. Der damalige Ministerprä-
DEMO- sident von Niedersachsen, Ernst Al-
brecht, wollte einen Standort nahe
KR ATIEN der innerdeutschen Grenze, abgele-
WIE gen, dünn besiedelt, und er bekam
DEUTSCH- ihn. Sollte bei der neuen Suche alles
gut gehen, womit nicht zu rechnen
LAND ist, dann könnte es im Jahr 2050 viel-
SCHEITERN leicht ein Endlager in Deutschland
AM BAU geben.
Die Finnen dagegen haben über
EINES END- ihr Endlager nicht so verbissen ge-
LAGERS. stritten wie die Deutschen, sie haben
die Suche nach einem geeigneten Ort
vor 38 Jahren begonnen, sie haben
schon früh Geld für den Bau und den
Betrieb zurückgelegt. Und die Ge-
meinden, die infrage kamen, besitzen
sogar ein Vetorecht, das es in Deutsch-
land nicht gibt.
Wenn ein finnischer Gemeinderat
mit einfacher Mehrheit entscheiden
sollte: Nein, ein Endlager wollen wir
hier nicht haben, dann wäre es egal,
was die finnische Regierung will, was
die ganzen Experten sagen, die jahre-
lang geprüft und analysiert haben.
Dann gibt es kein Endlager, zumin-
dest nicht an diesem Ort.
Diesem demokratischen Wagnis
zum Trotz ist es nun aber bald so
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 57
REPORTER
weit. Onkalo soll 2025 seinen Betrieb auf-
nehmen.
Wie haben die Finnen das gemacht? War-
um gelingt ihnen, was bislang keiner hin-
bekommen hat, nicht mal die Chinesen, die
quasi über Nacht ganze Krankenhäuser aus
dem Boden stampfen? Und warum wollte eine
große Mehrheit der Menschen in Eurajoki das
Endlager vor der Haustür haben, wenn die
übliche Reaktion ansonsten lautet: überall,
nur nicht bei uns.
Einen ersten Überblick über Eurajoki kann
man vom Wasserturm der Stadt aus gewin-
nen, von ganz oben, aus einem Raum, der
rundum verglast ist. An klaren Tagen sieht
man von hier bis zum Meer.
Das Land da unten ist flach, baumbestan-
den und grün. Schneisen wurden in den Wald
geschlagen, Einfamilienhäuser sind zu sehen,
aus Holz gebaut, mal gelb, mal rot gestrichen.
Dazu ein paar Supermärkte, Restaurants,
Werkstätten. Keine Industrie. An mehreren
Orten wird gebaut. Eine neue Umgehungs-
straße, neue Häuser. Eurajoki wächst, trotz
des Endlagers, das da entsteht. Familien zie-
hen her, nicht fort.
Verantwortlich dafür ist auch Vesa Laka-
niemi, Verwaltungschef von Eurajoki, ein für
finnische Verhältnisse temperamentvoller
Mann und Freund der Musik. Als unten im
Endlager eine große Halle in den Fels ge-
sprengt worden war, dem Innern einer Kathe-
drale nicht unähnlich, fuhr Lakaniemi hinab,
um dort zu singen, wegen der Akustik und der
Erfahrung.
Angestrahlt von Scheinwerfern, einen
gelben Schutzhelm auf dem Kopf, sang er
»Romanssi«, einen finnischen Herzschmerz-
klassiker, bekannt durch Leif Wager, und das
nicht schlecht.
Im Rathaus von Eurajoki, in seinem Büro,
blickt Lakaniemi mit Nachsicht auf die Deut-
schen und eigentlich auch auf den Rest der
Welt. Er ist ein höflicher Mann, deshalb deu-
tet er nur an, dass die Deutschen wie viele
andere Nationen die Dinge seiner Meinung
nach verkomplizieren. »Wir Finnen sind Prag-
matiker«, sagt er, »wir brauchen ein Endlager,
weil wir den Atommüll nicht exportieren kön-
nen, also bauen wir eins.«
Mehr als 60 mögliche Standorte standen
anfangs auf der Liste von Posiva, jener Firma,
die das Endlager baut und betreiben wird und
die eine Tochterfirma der TVO ist, die meh-
rere Reaktoren betreibt. Am Ende favorisier-
te Posiva die Gegend um den Ort Eurajoki,
weil der Untergrund geeignet ist und weil ab-
zusehen war, dass der Gemeinderat zustim-
men würde. Die Abstimmung über den Stand-
ort endete in Eurajoki mit 20 zu 7 Stimmen
für das Endlager. Auch die zuständige Behör-
de für nukleare Sicherheit hatte nichts ein-
zuwenden gegen diese Entscheidung, und so
kam es zur Abstimmung im Parlament:
159 Abgeordnete stimmten dafür, 3 dagegen.
Dass das Ergebnis so eindeutig war, lag
auch an zwei mächtigen Quadern aus Beton,
die nur drei Kilometer neben dem Eingang
58 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
zum Endlager an der Küste stehen. Die Qua-
der sind ganz in Rot gehalten, nur die Kanten
sind weiß abgesetzt. Es handelt sich um Siede-
wasserreaktoren, ihre Namen: Olkiluoto 1
und Olkiluoto 2. Die Farbe soll sie finnischen
Wochenendhäusern ein wenig ähnlicher ma-
chen, die ebenfalls häufig in Rot und Weiß
gestrichen sind. Der erste Reaktor ging vor
mehr als 40 Jahren in Dienst, auch damals
stimmten die Mitglieder des Gemeinderats
mehrheitlich für den Bau, wenn die Mehrheit
auch nicht so deutlich war wie später bei der
Abstimmung über das Endlager. Es gab Vor-
behalte von Fischern, von Bauern, sie sorgten
sich um die Vermarktung ihres Fangs, ihrer
Ernte, aber konnten sich nicht durchsetzen.
In den Jahren zwischen dem Ja zu den
Reaktoren und dem Ja zum Endlager sei es
zu keinem Unfall gekommen, sagt Lakaniemi.
Immer wieder haben sich Gemeinderat und
Geschäftsführung des Atomkraftwerks ge-
troffen, um Veränderungen, Probleme zu
besprechen. »Wir werden fair behandelt, gut
informiert.« Einen Störfall im Jahr 2020, bei
dem zwar keine Radioaktivität austrat, aber
der Reaktor durch Notfallprozeduren ab-
geschaltet wurde, erwähnt er nicht. Ebenso
wenig das Ergebnis eines Stresstests der EU
aus dem Jahr 2012, der kritisiert, dass das
Kraftwerk nicht einmal einen Stromausfall
von einer Stunde überbrücken könnte.
Lakaniemis milder Blick auf das Kernkraft-
werk hat sicher auch etwas mit den Steuern
FRÜHER
ODER
SPÄTER
GEHT ES
IMMER
UM VER-
TRAUEN.
Forscher Väliverronen,
Atomkraftwerk Olkiluoto
zu tun, die Posiva und TVO zahlen. Heute
sind es jährlich rund 20 Millionen Euro. Bevor
das Geld floss, stand das Budget der Gemein-
de mit einer Million Euro im Minus. Im Jahr
darauf mit 16 Millionen Euro im Plus. »Es war
seltsam, auf einmal so viel Geld zur Verfügung
zu haben«, erinnert sich ein Mitglied des
Gemeinderats. »Wir wussten nicht so richtig,
wohin damit.«
Man baute eine Fontäne ins Foyer des
Rathauses und eine geräumige Eissporthalle,
zudem senkte der Gemeinderat den Teil der
Einkommensteuer, der in Finnland von den
Kommunen festgesetzt wird. Er liegt bei
18 Prozent, unabhängig vom Einkommen, das
ist eine der niedrigsten Quoten in Finnland.
Und ein guter Grund, nach Eurajoki zu ziehen.
Minna Piirainen kam vor ein paar Jahren
zusammen mit ihrem Mann in die Stadt, we-
gen der Steuer und wegen der Kinder. Zuvor
wohnte sie am Stadtrand von Helsinki, aber
dort seien Schulen geschlossen worden, vor
allem kleine Schulen, mit wenigen Schülern,
aus finanziellen Gründen. Viele kleine Schu-
len zu unterhalten koste eine Stadt mehr als
wenige große.
Hier in Eurajoki gibt es sechs Schulen, die
kleinste hat etwa 20 Schüler und Schülerin-
nen, und es gibt keine Pläne, eine davon zu
schließen. Auch sind die Wege zur Arbeit
kurz, das Leben ist weniger anonym als im
250 Kilometer entfernten Helsinki. Eurajoki
war der Ort, den Piirainen und ihr Mann ge-
sucht hatten, ruhig, überschaubar, nah am
Meer. Das Atomkraftwerk und das Endlager
stören sie nicht. »Das Kraftwerk war bislang
sicher, es wird weiterhin sicher sein, das Glei-
che gilt für das Endlager«, sagt sie. Alles an-
dere würde Piirainen, sie ist Verwaltungs-
angestellte, sehr überraschen. Sie will alt
werden in diesem Haus, mit ihrem Mann,
ihren inzwischen erwachsenen Kindern, die
hin und wieder zu Besuch kommen, und
ihrem Leguan, der Besucher misstrauisch be-
obachtet. Mit dem Tier auf dem Schoß sagt
sie dann einen Satz, den man in Deutschland
eher selten hört: »Ich vertraue der Politik und
mehr noch den Experten in der zuständigen
Behörde. Sie machen gute Arbeit.«
Es ist egal, mit wem man in Eurajoki über
das Atomkraftwerk, das Endlager spricht,
früher oder später geht es immer um Vertrau-
en. Vertrauen in den Staat, in Experten, in
Technik und Wissenschaft. Und dieses Ver-
trauen ist erstaunlich oft vorhanden.
Ein Ortsverband der finnischen Grünen
etwa bildete sich nie in Eurajoki, nicht wäh-
rend des Baus des Atomkraftwerks, auch nicht
nach der Entscheidung, das Endlager zu bau-
en. Es formierte sich auch nie eine feste Grup-
pe, die Widerstand organisierte. Der Sprecher
der Endlagergegner saß im Gemeinderat,
mittlerweile ist er Rentner und hat keine Lust
mehr, mit der Presse zu reden.
Die Experten, denen Minna Piirainen und
viele andere Einwohner Eurajokis so ver-
trauen, arbeiten im Osten von Helsinki, in
der Behörde für nukleare Sicherheit, dem

Säteilyturvakeskus, das, wenig über-
raschend, besser bekannt ist unter
seiner Abkürzung, Stuk. Der Chef der
Abteilung für Atommüll heißt Kai
Hämäläinen, er ist schmal, sportlich,
ein smarter Bürokrat, eher Manager
als Verwalter.
Hämäläinen führt durch lange, stil-
le Flure, vorbei an geschlossenen
Türen, zu einem kleinen Konferenz-
raum, hier umreißt er den Umgang
mit den Brennstäben und die Sicher-
heitsvorkehrungen im Endlager.
Die etwa vier Meter langen Brenn-
stäbe bestehen aus gepressten Uran-
tabletten, die aufeinandergeschichtet
und dann gebündelt werden zu einem
Brennelement. In der Brennkammer
des Reaktors zerfällt das Uran, setzt
Neutronen und damit Energie frei.
Wird ein Brennstab getauscht, lan-
det er für die nächsten 20 Jahre im
Wasser eines Abklingbeckens, das
sich neben den Reaktoren befindet.
Hier kühlt er ab.
In der Einkapselungsfabrik wer-
den die Brennstäbe dann in Kupfer-
röhren geschoben, deren Wand fünf
Zentimeter dick ist. So soll sicher-
gestellt werden, dass die Behälter im
Endlager im Laufe der Jahrtausende
nicht durch Wasserkontakt korrodie-
ren und lecken.
Durch einen Schacht werden die
Kupferröhren ins Endlager abgesenkt
und dann in die Stollen transportiert,
von ferngesteuerten Wagen. In den
Stollen befinden sich Bohrlöcher, im
Abstand von etwa sieben Metern. Auf
dem Boden der Bohrlöcher liegen ge-
presste Platten aus Bentonit, einem
Ton, der bei Kontakt mit Wasser an-
schwillt, sich im Gestein also selbst
verdichtet und so den möglichen Aus-
tritt von kontaminiertem Wasser er-
schwert.
Nun wird die Kupferröhre in das
Bohrloch eingesetzt, ebenfalls fern-
gesteuert. Ist die Röhre korrekt im
Loch positioniert, wird der schmale
Spalt zwischen Röhre und Gestein
gleichfalls mit Bentonit gefüllt, und
auch auf die Röhre werden Bentonit-
platten gelegt.
Sind alle Bohrlöcher in einem Stol-
len mit Kapseln belegt, wird der Stol-
len selbst vom Boden bis zur Decke
mit Bentonit verfüllt. Sind schließlich
alle Bohrlöcher in allen Stollen be-
legt, wird auch die Umschlagshalle,
der fünf Kilometer lange Zufahrts-
tunnel, der in mehreren Spiralen zur
Oberfläche führt, zugeschüttet und
die Einfahrt zum Endlager mit Beton
verschlossen.
Spätestens dann werden die Kern-
kraftwerke abgerissen, die Einkapse-
lungsfabrik wird ebenfalls verschwin-
Das Atommüll-Endlager Onkalo
Überirdische Anlagen
1 Der in Kupferröhren
1 Zufahrtstunnel
3 2
2 Von den Tunneln zweigen
Stollen
3 Die Kupferröhren liegen
8 Meter Bohrloch
mit Atom-
S Grafik müll
Einwohnerin
Piirainen
den und das Gelände renaturiert.
»Das Endlager ist so konstruiert, dass
es von sich aus sicher ist«, erklärt
Hämäläinen. Nachdem es verschlos-
sen wurde, braucht das Lager keinen
Strom, keine Wartung, keine Wachen.
Der hoch radioaktive Müll ruht in sei-
nem Grab, einen halben Kilometer
unter der Erde, unter Tonnen von
Lehm, Gestein und Beton.
Selbst wenn in naher oder ferner
Zukunft mehrere Röhren leckschlü-
gen, wenn Wasser ins Lager eindrän-
ge, dürfte sich die Radioaktivität über
dem Endlager nach dem Kenntnis-
stand von Hämäläinen und seinen
Experten nur um 0,1 Millisievert pro
Jahr erhöhen. Zum Vergleich: Die
natürliche Strahlungsdosis, der nie-
mand entkommen kann, liegt in Finn-
land bei durchschnittlich 5,9 Milli-
sievert.
Mehrere Jahre diskutierten Exper-
ten der Stuk mit Geologen, Medizi-
nern und einem Theologen darüber,
ob es sinnvoll sei, vor dem Endlager
zu warnen. Aber wie warnt man vor
einer Gefahr, die für die kommenden
100 000 Jahre besteht? Überdies nur
theoretisch – denn praktisch, da wa-
ren sich alle einig, sei das Endlager ja
ungefährlich. Nicht mit ein paar Schil-
dern jedenfalls.
REPORTER
Um die Größe des Problems zu
verdeutlichen, ein paar Zahlen, Fak-
ten und ein Blick in die Vergangen-
Ostsee
heit: Vor 100 000 Jahren lebten noch
Neandertaler in Europa. Der moder-
ne Mensch hatte den Weg aus Afrika
hierher noch nicht gefunden. Vor
gefüllte Atommüll wird 40 000 Jahren entdeckte der Mensch,
450 Meter tief abgesenkt
und über Zufahrtstunnel dass es mehr gibt als das reine Über-
verteilt. leben von Tag zu Tag. Er wurde zum
Künstler, bemalte Höhlenwände. Die
Stollen ab. Diese Schrift wurde 35 000 Jahre später er-
sind von Bohrlöchern
durchzogen. funden, vor gut 5000 Jahren also, und
nicht von Künstlern, sondern von
in den Bohrlöchern, Buchhaltern.
Bentonitton versiegelt Was könnte in den kommenden
die Löcher und Stollen.
100 000 Jahren alles geschehen? Ist
es angemessen, in Schriftform vor
dem Endlager zu warnen, gemeißelt
in Steinplatten oder gestanzt in Edel-
stahl, weil diese Materialien den Lauf
der Zeit wohl besser überstehen als
Papier oder digitale Daten? Aber wel-
che Schrift, welche Sprache wird in
100 000 Jahren in Finnland gespro-
chen werden, in Europa?
Dann vielleicht lieber Piktogram-
me. Oder Bilder, wie sie die Raum-
sonden »Voyager 1« und »Voyager 2«
in den interstellaren Raum trugen.
Comics? Die Kopie eines Gemäldes,
übergroß und monumental, die Bäu-
me überragend in die flache Land-
schaft gestellt? »Der Schrei« von Ed-
vard Munch würde sich eignen.
EURAJOKI Zurzeit lautet die Empfehlung:
W Ä C H S T. keine Warnung. Denn jede Warnung
kann auch eine Versuchung sein. Die
FAMILIEN Dokumente und Verträge sollen sicher
ZIEHEN in Helsinki verwahrt werden, und
HER, NICHT sollte ein Atomkrieg oder das an-
schwellende Meer die Stadt ausradie-
F O R T. ren, dann wird das Endlager wohl
einfach vergessen werden.
Es scheint in Eurajoki, in Finnland
am heiligen Ernst zu fehlen, an der
Verbissenheit, die in Deutschland so
oft anzutreffen ist, wenn es um die
Kernkraft geht.
In Finnland wurde hart diskutiert,
auch gestritten, aber es gab keine
Demonstrationen wie um das Kern-
kraftwerk Brokdorf, zu denen Tau-
sende anreisten, Atomkraftgegner
ketteten sich auch nicht an Schienen,
wie es in Norddeutschland geschah,
wenn die Castortransporte rollten.
Die Grünen in Finnland sind wegen
ihrer Ablehnung der Atomkraft zwei-
mal aus Regierungskoalitionen aus-
gestiegen, 2002 und 2014, das ist die
schärfste politische Reaktion, die es
gab. Aber heute lautet die offizielle
Position der Grünen, formuliert von
Veli Liikanen, dem Generalsekretär:
»Aus Gründen des Klimaschutzes
haben wir uns mit der eingeschränk-
ten Nutzung der Kernenergie, zumin-
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 59
REPORTER
dest für die Lebensdauer der bestehenden
Anlagen, abgefunden.«
Auch die Grünen in Finnland gehen also
pragmatisch mit der Atomenergie um, sie
haben einen Kompromiss gefunden, mit dem
die Mitglieder der Partei leben können. Und
mit dem es Finnland leichter fällt, seine Kli-
maziele zu erreichen.
Warum gelingt ausgerechnet den Finnen
so etwas? Worauf gründet dieser finnische
Pragmatismus?
In einem Café hinter der Universität Hel-
sinki versucht sich Esa Väliverronen, Profes-
sor für Kommunikationswissenschaft, an
einer Erklärung. Sie lautet: »Vertrauen ist
wichtig.«
Väliverronen erforscht die Beziehung zwi-
schen den Finnen und der Wissenschaft, den
öffentlichen Institutionen, auch der Politik.
Letztlich geht es in seiner Forschung um
Vertrauen, um den unsichtbaren Mörtel, der
eine Gesellschaft zusammenhält, jenseits aller
Meinungsverschiedenheiten und Debatten.
Und in Finnland gibt es reichlich von diesem
Mörtel.
»80 Prozent der Finnen sind der Meinung,
verlässlich sei eine angemessene Beschrei-
bung für Wissenschaftler und ihre Arbeit«,
zitiert Väliverronen Zahlen aus einer Um-
frage der Europäischen Kommission, dem
Eurobarometer. In Deutschland glauben das
nur 59 Prozent, skeptischer ist keine Nation
in der EU, nur die Zyprer blicken genauso
misstrauisch auf die Wissenschaft wie die
Deutschen.
Nicht viel anders sieht es aus, wenn man
Finnen und Deutsche fragt, ob sie Wissen-
schaftler nicht nur für verlässlich, sondern
auch für ehrlich hielten. In Finnland sind
76 Prozent der Bürgerinnen und Bürger die-
ser Meinung, in Deutschland nur 46 Prozent.
Sogar die Bulgaren sind weniger skeptisch,
sie landen bei 49 Prozent.
Die Finnen liegen auch ziemlich weit vorn,
wenn es um die Frage geht, ob es im Alltag
wichtig sei, sich in der Wissenschaft auszu-
kennen. 70 Prozent sind dieser Meinung, im
EU-Schnitt sind es 46 Prozent.
Dazu passt, dass die sozialen Netzwerke
in Finnland weniger bedeutend sind als Quel-
le von Informationen. Während sie in allen
anderen EU-Staaten an zweiter oder dritter
Stelle stehen, erreichen sie in Finnland nur
Rang fünf – hinter dem Fernsehen, hinter
Zeitungen, Fachzeitschriften und Online-
Enzyklopädien.
Wenig überraschend sind die Finnen bis-
lang auch recht gut durch die Pandemie ge-
kommen. 95 Prozent der Finnen sind der
Meinung, dass Impfstoffe hilfreich sind beim
Kampf gegen eine Pandemie. Die Impfquote
liegt etwa drei Prozentpunkte über der in
Deutschland, das Gesundheitssystem ist
leistungsfähig, mehr als 1700 Finnen starben
bislang an oder mit einer Infektion. Das sind
viermal weniger Tote pro 100 000 Einwohner
als in Deutschland. Natürlich hilft der Um-
stand, dass Finnland dünn besiedelt ist.
60 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Selbst die Rechtspopulisten in Finnland,
die PS, scheinen ein wenig vernünftiger zu
sein als die AfD, zumindest bestreitet sie
den Klimawandel und seine Gefahren nicht
in dem Maße.
Überhaupt scheint Finnland resistenter zu
sein gegen manche Anfeindungen unserer
Zeit. Die Kriminalitätsrate ist eine der nied-
rigsten der Welt. 95 Prozent sind der Mei-
nung, dass die Polizei gute Arbeit mache.
Vertrauen fast überall also, viel Vertrauen. Ist
das wünschenswert? Oder ist das eher naiv?
Während die Atomkraft in Deutschland
wieder im Zentrum einer hitzigen Debatte
steht, diskutieren in Finnland in weit stärke-
rem Maße Experten unter sich. Die Zivilge-
sellschaft mit ihren Bürgerinitiativen und
Nichtregierungsorganisationen ist in Finnland
deutlich kleiner als in Deutschland. Für den
finnischen Wald wird hart gestritten, sonst für
wenig.
So konnten die Experten in Finnland zu-
sammen mit Politikern beschließen, dass es
ausreichend ist, nach einem geeigneten Stand-
ort für das Endlager zu suchen. In Deutsch-
land dagegen muss es der beste sein.
In Deutschland muss das Endlager, sollte
es denn jemals Wirklichkeit werden, für eine
Million Jahre sicher sein. Den finnischen Ex-
perten reichen 100 000 Jahre.
Das Archiv der Internationalen Atom-
energiebehörde IAEO listet 903 Studien
und Papiere auf, die sich mit dem Endlager
FÜR DEN
WALD
WIRD HART
GESTRIT-
TEN,
SONST FÜR
WENIG.
Politiker Liikanen,
Ort Eurajoki
Onkalo beschäftigen, mit den geologischen
Gegebenheiten, mit Wasserflüssen, mit dem
Transport von Giftstoffen aus dem Lager.
Sind das genug Untersuchungen? Müssen
es mehr sein? Und wenn ja: Wann sind es
genug?
Vor der Hacke ist es duster, diese alte
Wahrheit aus dem Bergbau gilt noch immer,
auch wenn Wissenschaftler heute genauer
in den Berg hineinschauen können. Groß-
projekte wie der Bau eines Endlagers sind
wohl nie absolut sicher, ihre Folgen nicht zu
100 Prozent berechenbar. Am Ende muss ein
Endlager gewollt sein, von der Politik und der
Bevölkerung.
Der finnische Soziologe Tapio Litmanen
untersuchte mit Kollegen die Rollenverteilung
zwischen der Behörde für nukleare Sicherheit
Stuk und Posiva, der Firma, die das Endlager
baut und betreiben wird. Die Wissenschaftler
beschreiben das Verhältnis zwischen Behörde
und Firma als »einvernehmlich«, unter nor-
malen Umständen geprägt durch »gegensei-
tiges Lernen und Verbessern«. Stehen wich-
tige Entscheidungen an, »kommen zusätzliche
Spannungen in die Beziehung«.
Es gebe wenig Möglichkeiten für Bürger,
sich einzumischen. Und möglicherweise gibt
es auch wenig Interesse. Litmanen spricht
nicht davon, dass die Kontrolle unzureichend
sei. Er sagt, es gebe viel informelle Kommu-
nikation, sie erzeuge ein Gefühl des Zusam-
menhalts. Die öffentliche Diskussion in den
Medien nennt er »neutral« und beschreibt sie
als »protechnologisch«. Die Schweden da-
gegen seien kritischer und in Maßen »anti-
technologisch«. Wir Deutschen sind wohl
eher wie die Schweden.
Zurzeit ist es recht ruhig um das Endlager,
bald aber wird man wieder mehr hören, von
Onkalo, von Finnland, von der Kernkraft im
Land, und in Deutschland wird man sich
wahrscheinlich wieder wundern.
Bald soll ein dritter Reaktor in Eurajoki
ans Netz gehen, mit 13 Jahren Verspätung,
der Bau war dreimal teurer als geplant, rund
zehn statt drei Milliarden Euro. Materialpro-
bleme und ein Rechtsstreit zwischen dem Be-
treiber TVO und den Herstellern Areva aus
Frankreich und Siemens waren verantwortlich
für die Kostenexplosion. Der neue Reaktor ist
beladen mit 128 Tonnen Uran, er steht gleich
neben Olkiluoto 1 und Olkiluoto 2, ein weite-
rer Klotz aus Beton und Stahl.
Die Leistung von Olkiluoto 3 beträgt
1600 Megawatt, er ist einer der größten
Reaktoren der Welt. Die Anlage wird den
Anteil der Kernkraft an der finnischen Strom-
produktion auf mehr als 40 Prozent heben
und es Finnland ein Stück leichter machen,
seine Klimaziele zu erreichen.
Auch in Deutschland werden Kernkraft-
werke in diesem Jahr für Schlagzeilen sorgen.
Sie stehen im Landkreis Landshut, im Ems-
land, in Neckarwestheim. Es sind die letzten
Reaktoren, 3 von ursprünglich 17. Ende des
Jahres werden sie abgeschaltet. Dann ist
Deutschland kernkraftfrei. n

Auf 1500
ORTSTERMIN   Wie die Insel Sylt plötzlich zur »Corona-Hölle« wurde
D
ie Cranberrys müssen jetzt
­gezogen werden, das Kaktus-
moos muss weg, die kleinen
Kiefern, die auch die Heide verdrän-
gen. Das sind die Arbeiten, die fast
immer im Januar zu tun sind, es gibt
auf der Insel Zeiten für alles. Im März
sind die Zugvögel zurück und brüten,
bis dahin wollen sie fertig sein in der
Heide.
»Cranberrys«, zeigt Stella Kinne,
23, Rolli, geflochtene Zöpfe, »haben
die Seeleute gebracht«, dann weiter:
»Kaktusmoos aus Neuseeland.« Sie
ist die Naturschutzbotschafterin von
Sylt, eine Art Sprecherin der Natur-
schutzvereine. Die Botschaft: Der
Mensch kann der Natur assistieren,
aber manches regelt die Natur auch
von allein. Alles hat seine Zeit.
Es sind die invasiven, nicht heimi-
schen Pflanzen, die die hiesigen zu-
rückdrängen könnten, erklärt sie, den
Sonnentau, den Sumpfbärlapp. Am
Morgen war Kinne bei den Seehun-
den, später will sie noch nach Mor-
sum und List. Im Januar, sagt sie,
gebe es weniger, aber doch auch
­einiges zu tun, Inzidenz hin oder her.
Um Weihnachten und Silvester
herum waren viele Touristen auf die
Insel gekommen, und einige Gastro-
nomen hatten aus Furcht vor dem
Virus eine 2G-plus-Regelung einge-
richtet, freiwillig. Für den Tourismus
ist Corona das, was das Kaktusmoos
für die Dünen ist: eine Störung.
Sylt hatte lange Zeit vergleichswei-
se wenige Covid-Fälle, zwischen den
Feiertagen aber gab es auf der Insel
viele Feiern. Touristen und Einheimi-
sche trafen sich, im »Club Rotes
Kliff«, im »American Bistro«, alles
vermischte sich.
An den Tagen danach zählten die
Ämter bis zu 480 Neuinfizierte, alle
mit Erstwohnsitz auf Sylt. Bei gut
18 000 Einwohnern.
Inzidenzen werden in Deutsch-
land für Kreise berechnet, im Fall
Sylt: für den Kreis Nordfriesland.
Aber dann errechnete die »Sylter
Rundschau« eine Inzidenz nur für
die Insel und kam auf einen Wert von
rund 1500.
REPORTER
nicht zu ändern ist, mit Bedacht das
tun, was notwendig ist. Und das eine
vom anderen unterscheiden.
Kinnes erstes eigenes Projekt war
es, alle Strandpflanzen zu bestimmen,
zwei Monate lang ist sie die Strände
abgelaufen und hat sogar zwei neue
Pflanzen entdeckt, die Strandwolfs-
milch und den Strandrettich; die
Stranddistel war schon selten gewor-
den, an der Hörnum-Odde fand sie
noch welche, auch am Ellenbogen,
überall dort, wo die Menschen weni-
ger drübertrampelten. Eine Pande-
mie, aus Sicht der Stranddistel, hat
auch ihr Gutes.
Die Naturschützer haben die Ge-
biete abgesteckt, eine Weile gewartet
und dann gesehen, wie gut die Strand-
distel sich erholt. Im Laufe von zwei
Jahren hat Kinne begriffen, dass es
Gesetzmäßigkeiten in der Natur gibt,
auf die sie sich verlassen können. Es
geht ihr damit nicht anders als den
Menschen anderswo, die in zwei Jah-
ren Pandemie ebenfalls viel gelernt
Barbara Hardinghaus / DER SPIEGEL
haben: Masken helfen, Abstand hilft,
Impfen hilft. Manchmal muss man
einfach abwarten. Sie haben auch ge-
lernt, dass es immer Ausbrüche geben
kann. Mal hat man Glück, mal Pech.
Vor allem die Unternehmer der
Insel ärgerten sich über die Zahl
»1500«. Sie verunsichere Gäste, die
Die Zahl haben überregionale Zei- Naturschützerin anriefen und stornieren würden oder
tungen übernommen, sie toppten sie Kinne nicht mehr neu buchen, sagt Ole Kö-
mit Schlagzeilen wie »Corona-Hot- nig, der Immobilien baut und vermie-
spot« oder »Corona-Hölle«. »Sylt im tet. Er spricht von »Sylt-Bashing«.
Corona-Chaos«, schrieb die »Bild«- Auch auf Sylt, denkt Stella Kinne,
Zeitung. wäre es vielleicht eine gute Idee ge-
Die »Sylter Rundschau« setzte wesen, einfach mal abzuwarten.
einen Faktencheck dagegen, aber da Zu den Gesetzmäßigkeiten der Na-
war es schon zu spät. Das kleine Sylt tur gehöre auch, sagt sie, dass manch-
war plötzlich Teil der großen Aufge- mal nur Zeit vergehen müsse, bis sich
regtheit. Nach zwei Jahren Pandemie etwas bessere. Wie bei der Strand­
sind die Deutschen, die Menschen distel. Oder man wartet einfach ab
überhaupt, dünnhäutig geworden. und sieht, wie das Leben vom Frühjahr
Joshua Kimmich, Novak Djoković, an zurückkehrt. Und vertraut. Irgend-
die Impfpflicht – jede Diskussion wann wird auch Corona vorbei sein.
wirkt mittlerweile leicht hysterisch. Um Kinne herum schaufeln Bagger
Sylt war also nun »Hotspot« und einen Kreuzkrötentümpel. Wieder so
wollte gerade das nicht sein. Die Gäs- ein Beispiel: Im Frühling werden die
te kommen ja auch deshalb auf die Männchen an den Tümpel wandern,
Insel, weil sie sich erholen wollen von die Weibchen mit ihren Paarungs­rufen
der allgemeinen Aufgeregtheit. Weil anlocken, die dann im Tümpel laichen.
sie Ruhe suchen, Spaziergänge im Kinne sagt, sie gehe dann abends
Wind, den hohen Himmel, mal einen gern an diese Stelle, und wenn sie ein-
Schnaps trinken, Frieden. fach nur Geduld habe, höre sie bald
Stella Kinne hat Buchwissenschaft das schöne Konzert der Natur.
in Mainz studiert, sie wollte eigent- Unterdessen sind die Infektions-
lich nur den Bundesfreiwilligendienst zahlen auf der Insel schon wieder
auf Sylt machen, ein Jahr lang, und Sylt war nun etwas gesunken. Und Franz Ganser
hat dann entdeckt, wie viel man in vom »Kleinen Restaurant« bei-
der Natur erreichen kann, wenn man also »Hotspot« spielsweise sagt, er sei soweit zu-
etwas Geduld hat. Wat mutt, dat mutt, und wollte frieden. 60 Prozent Auslastung, das
mit diesem Motto sind die Norddeut- sei nicht schlecht, so sei es immer
schen bisher ganz gut durch die Pan- gerade das im Januar.
demie gekommen. Hinnehmen, was nicht sein. Barbara Hardinghaus n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 61
WIRTSCHAFT
Galeria-Filiale in Köln 2021
Galeria vor weiterem Staatskredit
HANDEL   Dem Kaufhauskonzern fehlen in der Pandemie wichtige Einnahmen. Nun erhört die Bundesregierung
die Bitte von Eigentümer René Benko nach neuen Hilfen. Das Geld könnte schon bald fließen.
E in erneuter, millionenschwerer Staats-
kredit für den angeschlagenen Waren-
hauskonzern Galeria steht offenbar
kurz vor dem Abschluss. Nach langwierigen
Verhandlungen über eine erneute Tranche
gehe man nun auf die Zielgerade, heißt es
aus dem Konzern und der Bundesregierung.
Derzeit würden letzte Details verhandelt,
die Auszahlung des Geldes solle folgen. Die
Rede ist dabei von 240 Millionen Euro. Ein
Teil des Geldes, wohl bis zu 20 Prozent, soll
dabei von Eigner René Benko und seiner Si-
gna-Gruppe kommen. Beide Seiten wollten
die Vereinbarung nicht kommentieren.
Es seien »sehr harte Gespräche« gewe-
sen, heißt es aus dem Umfeld von Benko.
So hätten das Wirtschaftsministerium und
der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF)
62 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
nicht nur die Eigenbeteiligung Benkos ge-
fordert, sondern auch eine mögliche Bürg-
schaft ins Spiel gebracht. In anderen Fällen
hatte der WSF von Unternehmen dabei
schon 100 Prozent der Kreditsumme als
­Sicherheit verlangt. Insgesamt, heißt es,
­falle Benkos Beitrag aber geringer aus, als
ursprünglich von der Bundesregierung
­verlangt.
Schon Anfang vergangenen Jahres hatte
der WSF dem aus Karstadt und Kaufhof ge-
schmiedeten Warenhauskonzern mit einem
Darlehen über 460 Millionen Euro gehol-
fen, die nötige Liquidität in der Pandemie-
zeit zu sichern. Der damalige Vertrag hatte
bereits die Möglichkeit zu einem weiteren
Kredit vorgesehen. Im Dezember stellte
Galeria dann einen weiteren Antrag – und
Ruper t Oberhaeuser / ddp
hoffte auf eine Zusage bis Jahresende. Bis
zu 220 Millionen Euro, so hieß es damals,
seien maximal nötig.
Zwar waren die Kaufhäuser zuletzt
­offen, angesichts der stark gesunkenen
­Frequenz in den Innenstädten gebe es »real
dennoch einen Lockdown«, heißt es im
Konzernumfeld. Im Dezember war von
einem Umsatzschwund bei Galeria in Höhe
von 40 Prozent die Rede. Durch die 2G-­
Regelungen im Einzelhandel kamen weit
weniger Konsumenten als erhofft – und für
den angeschlagenen Warenhauskonzern
nötig. Galeria hat erst spät damit be­-
gonnen, sein Onlinegeschäft zu verstärken.
Daher können Umsatzrückgänge in den
Kaufhäusern nicht so leicht aufgefangen
werden. GT, KIG, SBO
 »Das könnte die Häu-
serpreise anheizen«
Stefan Kooths, 52,
Omer Messinger / epa
­Ökonom am Kieler
­Institut für Welt-
wirtschaft, über den
Zinsanstieg bei
­Bundesanleihen
und die Auswirkungen auf
­Bauzinsen und Immobilienpreise
SPIEGEL: Herr Kooths, nach
141 Wochen ist die Rendite der
zehnjährigen Bundesanleihe am
Mittwoch erstmals über null
Prozent gestiegen. Eine Zeiten­
wende?
Kooths: Nein, davon sind wir
noch sehr weit entfernt. Die
Renditen liegen nur knapp über
null. Die Nulllinie selbst ist öko­
nomisch ohne eigene Bedeu­
tung. Es ist eher eine Änderung
mit symbolischem Wert: Die
zehnjährige Bundesanleihe gilt
als wichtigste Anleihe, an ihr
orientieren sich viele Anleger.
Mit Blick auf die weitere Ent­
wicklung dürften die Zinsen in
den nächsten Jahren steigen.
SPIEGEL: Warum?
Kooths: Die Richtung geben die
USA vor. Die Notenbank Fed
hat begonnen, die Leitzinsen zu
Milliardenspiele
UNTERHALTUNG   »Pay to Win«
heißt es, wenn man sich in
­Online-Games Vorteile erkaufen
kann – ein von vielen Spielerin­
nen und Spielern verachtetes
Konzept. Microsoft wendet es
gerade in der Realität an. Der
Konzern will 68,7 Milliarden
Dollar ausgeben, um hinter dem
chinesischen Riesen Tencent und
Sony zur drittgrößten Spielefir­
Wichtige Übernahmen in der
Spielebranche
Microsofts Angebot
2022 für Activision
68,7 Blizzard
Mrd. $ (»Call of Duty«,
»Candy Crush«)
Take-Two greift
2022 nach Zynga
12,7 (»FarmVille«)
Microsoft kauft
2021 ZeniMax
7,5 (»Doom«)
Microsoft kauft
2,5 2014 Mojang
(»Minecraft«)
S eigene Recherche
erhöhen, um die Inflation in
den Griff zu kriegen. Daneben
hat sie angekündigt, ihre Anlei­
hekäufe bis März zu beenden.
SPIEGEL: Was bedeutet das für
die Geldpolitik der Europäi­
schen Zentralbank (EZB)?
Kooths: Irgendwann wird auch
die EZB reagieren müssen,
wenn die Inflation nicht aus dem
Ruder laufen soll. Aber bisher
hält sie an ihrem expansiven
Kurs fest. Das erhöht die Ge­
fahr, irgendwann umso stärker
auf die Bremse treten zu müs­
sen, also die Leitzinsen stark er­
höhen zu müssen. Das könnte
dann Verwerfungen an den Fi­
nanzmärkten verur­sachen.
SPIEGEL: Was bedeutet die Ent­
wicklung der Anleiherenditen
für Sparer?
Kooths: Der Renditeanstieg bei
der Bundesanleihe ist minimal.
Er wird zudem von der steigen­
den Inflation mehr als aufge­
fressen. Für Sparer bleiben sol­
che Papiere wenig lukrativ. Um­
gekehrt sind die Bauzinsen trotz
des jüngsten Anstiegs immer
noch sehr günstig. Jeder, der
bauen kann, wird einen Kredit
eher jetzt als später aufnehmen.
Das könnte die Häuserpreise
zusätzlich anheizen. HEJ
ma der Welt aufzusteigen. Der
Xbox-Hersteller möchte sich den
skandalumwitterten Konzern
Activision Blizzard und dessen
Vorzeigetitel wie »Call of Duty«,
»World of Warcraft« und »Dia­
blo« schnappen. Es wäre die mit
Abstand teuerste Übernahme
eines Spieleherstellers über­
haupt. Der Vorstoß zeigt, wie
wertvoll große Gaming-Marken
gerade sind: Microsoft muss ein
Spiele-Monats-Abo bestücken
und kämpft mit Meta und ande­
ren Techkonzernen um das
coolste Metaversum. Zur Rela­
tion: Die finanzielle Dimension
des Deals erreichten bisher
­Verkäufe von Medienimperien
wie 21st ­Century Fox und Time
Warner. Die Welten von »Star
Wars« und Marvel kosteten Dis­
ney einst ­jeweils nur vier Mil­
liarden Dollar. Microsoft würde
sich mit dem Deal auch Markt­
macht bei den Handy­games er­
kaufen: Zu ­Activision Blizzard
gehört King, die Firma hinter
»Candy Crush«. 2015 kostete sie
5,9 Milliarden Dollar – damals
ein Rekordpreis. MBÖ
Gemüseverkäufer in Bangladesh
Teurer Dünger,
­weniger Lebensmittel
ROHSTOFFE   Die Welternäh­
rungsorganisation (FAO) rech­
net wegen der global steigenden
Düngemittelkosten nicht mehr
nur mit höheren Lebensmittel­
preisen, sondern nun auch mit
einer sinkenden Nahrungs­
mittelproduktion. Wegen des
knappen Angebots werde 2022
womöglich deutlich weniger ge­
düngt, sagt Josef Schmidhuber,
stellvertretender Direktor der
FAO-Division Märkte und
­Handel. »Wenn dann auch noch
das Wetter ungünstig wird,
­müssen wir mit einer spürbar
verringerten Lebensmittel­
produktion rechnen.« Infolge
des stark gestiegenen Erdgas­
Engpass bei Siemens
belastet Labore
MEDIZIN  ­Krankenhäuser und
Labore leiden unter Liefereng­
pässen bei Standardblutuntersu­
chungen. Einer der wichtigsten
Anbieter, Siemens Health­ineers,
liefert seit November 2021 nur
noch eingeschränkt wichtige
Reagenzien aus. Diese sind es­
senziell für den Betrieb der Sie­
mens-Analysemaschinen. »Von
den Lieferengpässen sind auch
Laboruntersuchungen betrof­
fen, die zeitnah erbracht wer­
den müssen, etwa Nieren- und
Leberwerte oder der Herzin­
farkt-Marker Troponin«, sagt
Ralf Junker, Direktor des Insti­
tuts für Klinische Chemie am
Universitätsklinikum Schleswig-
Holstein. Siemens Healthineers
begründet die Ausfälle mit
­Engpässen sowie signifikanten
Preissteigerungen bei Roh­
stoffen, der Verfügbarkeit von
Arbeitskräften sowie mit Stö­
Habibur Rahman / action press
preises haben sich diverse
Kunstdünger sprunghaft ver­
teuert (SPIEGEL 52/2021). Urea
(Harnstoff) etwa kostete laut
FAO im November gut dreiein­
halb mal so viel wie Ende 2020.
Der Grundstoff Ammoniak,
dessen Gewinnung enorme
Mengen an Erdgas verschlingt,
ist so kostspielig geworden, dass
große Düngemittelhersteller
­Fabriken zeitweise stilllegen
mussten. Die zwei größten
Stickstoffdünger-Exporteure
Russland und China haben ihre
Ausfuhren binnen eines Monats
um je etwa 40 Prozent redu­
ziert. Auch der wichtigste
­Phosphatdünger-Exporteur
­Marokko verkauft neuerdings
spürbar weniger als bisher ins
Ausland. CHE
rungen in der Transportlogistik.
Man investiere in die Optimie­
rung der Lieferketten. Ärzte
kritisieren die schleppende In­
formationspolitik von Siemens
Healthineers. »Dass in der aktu­
ellen Situation punktuell Liefer­
engpässe entstehen, lässt sich
vermutlich nicht vermeiden«,
sagt Junker. Die restriktive In­
formationspolitik der großen
Diagnostika-Anbieter sei jedoch
»schwer nachvollziehbar«. Sie­
mens Healthineers sagt, man
habe Verständnis für Kunden­
nachfragen und informiere »so
zeitnah wie möglich«. MUM
Blutproben
Eibner / IMAGO
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 63
WIRTSCHAFT

R
alf Diemer zählt zu den letzten Ver­
fechtern des Verbrennungsmotors.
Man erreicht ihn per Telefon zu­
verlässig in seinem BMW-Sportwagen mit

Werden 48 Millionen
Benzinantrieb, in dem er am Samstagmorgen
vergangener Woche über die Autobahn von
Berlin Richtung Stuttgart saust. Rund sechs

Autos wertlos?
Stunden kalkuliert Diemer für die 630 Kilo­
meter ein. Ein Elektroauto dieser Preisklasse,
sagt er, habe nur 200 bis 300 Kilometer
­Reichweite, »damit müsste ich auf dieser
­Strecke zumindest zwei Ladestopps ein­
E-FUELS  Die Ampelkoalition beschleunigt den Umstieg auf Elektro­ legen«. Statt sechs wäre Diemer siebenein­
halb Stunden unterwegs. »Nicht sehr attrak­
mobilität. Alternative Kraftstoffe spielen bestenfalls noch eine tiv«, findet er.
­Nischenrolle. Auf Benzin- und Dieselfahrer kommen schwere Zeiten zu. Diemers Sympathie für Kolben und Ver­
gaser hängt auch mit seiner Funktion zusam­
men. Er ist Geschäftsführer des Lobbyver­
bands »E-Fuel Alliance«, der 163 Unterneh­
men vertritt – eine potente Mischung aus
Mineralölkonzernen wie ExxonMobil, Ener­
gietechnikherstellern wie Siemens Energy
und Zulieferern wie Bosch oder Mahle.
Sie alle eint ein gemeinsames Interesse:
den schleichenden Tod des Benzin- und Die­
selmotors möglichst lange hinauszuzögern.
Er sei überzeugt, »dass Elektroautos ein zen­
traler Baustein zukünftiger klimaneutraler
Mobilität sein werden«, formuliert Diemer,
»aber es wäre ein schwerer Fehler, wenn
­Po­litik und Industrie sich nur auf eine einzige
Antriebsart verlassen würden.«
Das Versprechen der Initiative, erst im
Sommer 2020 gegründet, klingt zunächst ver­
heißungsvoll. Sämtliche Klimaziele ließen
sich demnach deutlich unkomplizierter er­
füllen als gedacht, ganz ohne Disruption und
aufwendigen technologischen Wandel. Ben­
ziner und Dieselautos könnten weiterhin
­gebaut, Tankstellen und Werkstätten unver­
ändert genutzt, Hunderttausende Arbeits­
plätze gesichert werden.
Wenn, ja wenn die weltweit rund 1,3 Mil­
liarden Fahrzeuge einfach mit künstlich her­
gestellten Kraftstoffen, sogenannten E-Fuels,
betankt würden. Bei deren Verbrennung im
Motor entsteht zwar genauso viel CO2 wie
bei herkömmlichem Benzin, doch bei der
Herstellung wird der Atmosphäre CO2 ent­
nommen. Die Nutzung der E-Fuels sei also
klimaneutral, behaupten zumindest ihre Ver­
fechter. E-Fuels und Elektromobilität könnten
sich ideal ergänzen, sagt Stefano Innocenzi,
Bereichsleiter »New Energy Business« bei
Siemens Energy. Ohne E-Fuels sei eine De­
karbonisierung bestehender Fahrzeugflotten
»kaum möglich«.
Entsprechend groß war zunächst das Inte­
resse der Politik. Die frühere Bundesregierung
sah synthetisch hergestellte Kraftstoffe als
mögliche Alternative zum Elektroantrieb und
machte sich in Brüssel dafür stark. Inzwischen
bröckelt die Unterstützung wieder. Aus­
gerechnet Bundesverkehrsminister Volker
Wissing, bislang Vorkämpfer der Technologie­
offenheit, sprach sich vergangene Woche
Lêmrich

gegen synthetische Kraftstoffe im Straßen­

Motor des Porsche-Oldtimers 911T: Fans des Kultmodells sollen klimaneutral fahren können verkehr aus: Man müsse »die verschiedenen

64 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


Energieträger dort einsetzen, wo sie am effi-
zientesten sind«, sagte der FDP-Politiker im
Interview mit dem »Tagesspiegel«, »das ist
beim Pkw der E-Antrieb.« Dass er die Aus-
sage am folgenden Tag im Bundestag leicht
relativierte, änderte nichts an seiner Grund-
aussage: Die Klimaziele ließen sich nur mit-
hilfe der E-Mobilität erreichen.
Wissings Strategiewechsel macht deutlich:
Weder Politik noch Autokonzerne haben ein
Interesse daran, den Siegeszug der Stromer
zu stoppen. BMW, Daimler und Volkswagen
wollen und müssen Millionen E-Autos in den
Markt drücken, damit sich ihre milliarden-
schweren Investitionen in die neue Antriebs-
art rentieren. Und Politiker in Berlin und
Brüssel sehen darin die einzige Chance, den
CO2-Ausstoß des Verkehrssektors zügig zu
senken – zumal für eine Massenproduktion
von E-Fuels keine Infrastruktur besteht.
Auch am Kapitalmarkt ist die Entschei-
dung längst gefallen. Milliardenschwere In-
vestoren, angefixt vom Tesla-Hype, verlangen
von VW und Co. klare Elektrostrategien. Zu-
mal die E-Offensiven, getrieben durch staat-
liche Kaufprämien, zunehmend bei den Kun-
dinnen und Kunden verfangen. Gut jedes
fünfte verkaufte Auto war im November und
Dezember bereits ein reiner Stromer.
Nur was bedeutet die Elektroeuphorie
eigentlich für den Bestand? Für die knapp
48 Millionen Benzin- und Dieselautos, die
noch immer auf Deutschlands Straßen fahren?
Droht ihren Haltern über steigende Benzin-
preise und strengere Klimagesetze eine kalte
Enteignung?
»Der Verbrenner birgt ein hohes Risiko,
für seine heutigen Käufer zum wertlosen Aus-
laufmodell zu werden«, warnt Ferdinand
­Dudenhöffer, Direktor des CAR-Center Auto-
motive Research. Mittelfristig würden die
Preise bei den Gebrauchtwagen einbrechen.
Um drohende Verluste zu vermeiden, emp-
fiehlt er, entweder zügig aufs Elektroauto um-
zusteigen – oder ein Verbrennerfahrzeug zu
leasen, sodass die Leasinggesellschaft das
Restwertrisiko trägt.
Die Optionen der Politik sind begrenzt.
Entweder sorgen EU-Kommission und Bun-
desregierung dafür, dass Verbrenner teurer
und unattraktiver werden, damit sie noch
schneller vom Markt verschwinden. Oder sie
wählen eine sanftere Lösung – und setzen
langfristig doch noch auf E-Fuels, wie es etwa
die Berater der Boston Consulting Group
(BCG) anregen. So könnten sie den Diesel-
autos und Benzinern einen langsameren und
womöglich klimafreundlicheren Abgang er-
möglichen – und den Wertverlust abfedern.
Stellt sich die Frage: Wäre ein solches Pal-
liativszenario überhaupt sinnvoll?
Im Nordwesten Niedersachsens lässt sich
die Antwort schon erahnen. Eine Baustelle
in der Weite des Emslands, rundherum Felder.
Dietrich Brockhagen ist mit dem Fahrrad aus
Oldenburg gekommen, rund 55 Kilometer
entfernt. Er zeigt auf die Windkrafträder, die
sich am Horizont drehen. Das sind seine.
E wie Erlösung?
Neuzulassungen von Pkw,
Veränderung 2021 gegenüber 2019
E-Autos (ohne Hybride)
Pkw mit Verbrennermotoren
+ 463 %
– 55 %
Anteil von Batteriefahrzeugen am gesamten
Pkw-Bestand in Deutschland 2021
1,1%
Effizienz der Antriebsmodelle
Reichweite von Pkw pro 18 kWh Energieeinsatz,
in Kilometern
Elektromotor
100
Wasserstoff
33
E-Fuels
16
S Quellen: KBA, BMU
Noch im Frühjahr soll es hier richtig los-
gehen, dann fließen die ersten Liter E-Fuel
in die Fässer. Die Anlage ist die erste ihrer
Art, die hierzulande in größerem Stil synthe-
tische Kraftstoffe herstellt. Gebaut wurde sie
nicht von Energiekonzernen, sondern von
der Klimaschutzorganisation Atmosfair, de-
ren Chef Brockhagen ist. Viele Unternehmen
warten dagegen noch ab – und hoffen auf
Fördergeld.
Statt wie bislang im Labor Reagenzgläser
zu füllen, soll im Emsland der Durchbruch
zur industriellen Produktion gelingen. Das
klingt größer, als es ist. Mit acht Fässern am
Tag, 350 Tonnen im Jahr, rechnet Brock­
hagen. So überschaubar die Anlage ist, kaum
größer als einige übereinandergestapelte Con-
tainer, so enorm ist der Aufwand.
Ökostrom aus vier Windparks hat sich At-
mosfair für das energieintensive Verfahren
gesichert. Erst spaltet ein Elektrolyseur Was-
ser in Wasserstoff und Sauerstoff auf. Der
Wasserstoff wird dann in einem Reaktor bei
rund 200 Grad mit aus CO2 gewonnenem
Kohlenstoffmonoxid (CO) gemischt – so ent-
steht künstlich hergestelltes Rohöl, das klima-
neutral ist. Mehr als fünf Euro kostet der Liter.
Die Anlage im Emsland zeigt, wie weit
Deutschland noch von einer Alltagstauglich-
keit synthetischer Kraftstoffe entfernt ist. Ein
einziger Airbus A 350 reicht, um die gesamte
Tagesproduktion zu verbrennen – innerhalb
von zwölf Minuten. Größere Produktions-
stätten stecken auch jenseits der Grenzen
noch in der Planung oder befinden sich im
Bau.
WIRTSCHAFT
An Tankstellen würde Brockhagen den
wertvollen Stoff ohnehin nicht verkaufen.
»Das macht überhaupt keinen Sinn«, sagt er.
Die Atmosfair-Standards schließen das sogar
aus, weil es den Klimaschutz ausbremsen
­würde. Die Energieeffizienz von E-Fuels ist
gegenüber Batterien einfach zu schlecht.
Stattdessen soll der künstliche Kraftstoff in
die Tanks von Flugzeugen fließen, weil dort
auf Langstrecken Batterien viel zu schwer
wären.
Das Urteil von Wissenschaftlern fällt auf
diesem Feld seit Jahren recht eindeutig aus.
»Es herrscht über alle großen Studien hinweg
Einigkeit, dass das Pkw-Segment von batte-
rieelektrischen Fahrzeugen dominiert werden
wird«, sagt Falko Ueckerdt vom Potsdam-
Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Ge-
meinsam mit 200 weiteren Forschern von
mehr als 25 Instituten wertet er Daten aus
und erstellt Szenarien, wie Deutschland seine
Klimaziele erreichen kann. »Dass E-Fuels in
Pkw einen wirksamen Beitrag zum Klima-
schutz leisten können, ist unwahrscheinlich«,
sagt er. Ein Grund sei, dass Elektroautos mit
derselben Menge Ökostrom den CO2-Ausstoß
fünfmal stärker senken als E-Fuels.
Weil sie in der Produktion Unmengen an
Energie benötigen, sind synthetische Kraft-
stoffe wahre Stromfresser. Um 100 Kilometer
zurückzulegen, benötigt ein E-Auto nur
­ungefähr 18 Kilowattstunden Strom, ein mit
synthetischem Kraftstoff betriebener Ver-
brenner 115 Kilowattstunden – mehr als das
Sechsfache.
Und das Problem ist: Ökostrom ist knapp
und wird es bleiben. Er wird nicht nur im Ver-
kehr benötigt, sondern auch in der Industrie
und zum Heizen. Das Angebot von grünem
Wasserstoff und insbesondere von E-Fuels
werde noch mindestens bis 2030 sehr be-
grenzt sein, sagt Ueckerdt voraus. Der Einsatz
sei deshalb nur dort sinnvoll, wo es keine
­effizienteren Alternativen gibt – etwa im Luft-
verkehr.
Um die nach 2030 noch herumfahrenden
Verbrenner mit synthetischen Kraftstoffen zu
betanken, brauchte es zur Erzeugung 500
Terrawattstunden Strom pro Jahr, so der PIK-
Forscher. Das entspricht in etwa der gesamten
derzeitigen jährlichen Stromnachfrage in
Deutschland. Eine gigantische Menge.
Während die Mineralölwirtschaft an ihren
Tankstellen am liebsten schon bald syntheti-
schen Diesel unter dem Symbol XtL anbieten
will, hat sich das Gros der Autohersteller
längst von der Vorstellung verabschiedet. Je
kleiner ihr Rückstand auf Tesla wird, desto
leiser wird der Ruf nach E-Fuels. In der
­Lobbyorganisation »E-Fuel Alliance« finden
sich nur zwei klassische Autobauer: der japa-
nische Hersteller Mazda und der italienische
Nutzfahrzeugbauer Iveco.
Daimler hingegen setzt, genau wie Tesla,
auf einen reinen Elektrokurs. Zumindest
kurzfristig seien E-Fuels »keine praktikable
Option«, sagt Entwicklungsvorstand Markus
Schäfer. Volkswagen-Boss Herbert Diess hält
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 65
WIRTSCHAFT
den Einsatz von E-Fuels in der Mas-
senmobilität schlicht für »Unsinn«.
Beide Konzerne investieren keine
nennenswerten Beträge mehr in die
Weiterentwicklung ihrer Verbren-
nungsmotoren. Sie halten sich ledig-
lich die Möglichkeit offen, syntheti-
sche Kraftstoffe später einmal in der
Bestandsflotte einzusetzen. VWs Pre-
miumtochter Audi hat sich aus frühe-
ren Pilotprojekten zur E-Kraftstoff-
produktion wieder zurückgezogen.
Selbst BMW-Chef Oliver Zipse, der
noch am vehementesten für Techno-
logieoffenheit plädiert, geht es bei
E-Fuels vorrangig um die Bestands-
flotte.
Porsche, von der E-Fuel-Lobby
gern als Pionier vereinnahmt, sieht
das ähnlich. Konzernchef Oliver Blu-
me will E-Fuels vor allem im Motor-
sport und bei Gebraucht- und Altfahr-
zeugen einsetzen. Fast drei von vier
jemals gekauften Porsche fahren
­heute noch, die lange Lebenszeit der
Sportwagen gehört zum Markenkern.
Künftig, so der Plan, sollen auch
die Fans des Kultmodells 911 klima-
neutral fahren können. Dazu lässt
sich der Sportwagenhersteller von
Siemens Energy eine E-Fuel-Produk-
tion im windreichen Chile errichten.
Noch in diesem Jahr soll sie starten,
bis 2026 die Kapazität auf 550 Mil-
lionen Liter anwachsen. Die Kraft-
stoffe sollen dann mit – ebenfalls
­klimaneutral betriebenen – Fracht-
schiffen nach Europa transportiert
werden, um damit die aussterbende
Spezies der Verbrennermodelle zu
betanken. Bei Neufahrzeugen hin-
gegen setzt Blume »ganz klar auf
Elektromobilität«. Bis 2030 will er
mindestens 80 Prozent der Porsche-
Flotte elektrifiziert haben.
Dennoch drängt die E-Fuels-Lob-
by unverdrossen auf steuerliche An-
reize und eine Anerkennung synthe-
tischer Kraftstoffe als klimafreund­
liche Alternative. Ihr Argument:
­Würden sie ähnlich gefördert wie die
E-Mobilität, hätte längst eine indus­
trielle Massenfertigung aufgebaut
werden können. Dann würden sich
Investoren und Autokonzerne stärker
dafür interessieren, die Preise würden
sinken.
EU-Kommissionsvizepräsident
Frans Timmermans, ein überzeugter
Verfechter der reinen Elektrolehre,
hält das für Wunschdenken. Allein
weil der für die E-Fuels-Produktion
nötige Ökostrom fehle. Er würde lie-
ber seine E-Offensive beschleunigen.
Nach SPIEGEL-Informationen er-
wägt das EU-Parlament Strafgebüh-
ren für Staaten zu erheben, die
nicht schnell genug die erforderliche
66 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Bernd Lammel
Mercedes 190 SL E-­Infrastruktur aufbauen. Pro zuge-
Roadster von 1961: lassenem Elektroauto sollen die Mit-
»Rolle im Ökosystem
der Mobilität« nicht gliedsländer künftig bis zu 3,5 Kilo-
mehr zu rechtfertigen watt Ladeleistung bereitstellen. Das
soll auch Zweifler wie Ungarn oder
Polen zu ihrem Glück zwingen. »Wer
seine Ziele nicht erreicht, dem dro-
hen für jeden fehlenden Ladepunkt
finanzielle Sanktionen«, sagt Ismail
Ertug, verkehrspolitischer Sprecher
der Sozialdemokraten im Europa­
parlament.
Dass sich FDP-Mann Wissing nun
auf die Seite der Stromerfraktion ge-
schlagen hat, löst vor allem bei einem
Mann besondere Erleichterung aus:
Klimaminister Robert Habeck. Den
ersten bedeutsamen Firmenbesuch
seiner Amtszeit stattet der Grünen-
politiker passenderweise einem Kon-
zern ab, der besonders auf E-Fuels
angewiesen ist: dem Flugzeugbauer
Airbus. In dessen Hamburger Werk
ließ sich der Minister am Dienstag
den Einsatz synthetischer Kraftstoffe
erklären. An seiner Seite stand Air-
bus-Chef Guillaume Faury, der in
Aussicht stellte, 2035 das erste mit
Wasserstoff betriebene Flugzeug auf
den Markt zu bringen.
Als Habeck in Hamburg-Finken-
werder aus der Halle tritt, ist er sicht-
21
lich zufrieden. »Ich bin froh, dass das
Thema in der Koalition jetzt durch
ist.« Das »Rückgrat« von Autos sei
elektrisch, das habe Volker Wissing
Prozent klargestellt.
Der Verkehrsminister rät vom
der neu Kauf neuer Benzin- oder Dieselmo-
­zugelassenen delle ab; ähnlich wie VW-Boss Diess,
der vor erheblichen Mehrkosten für
Pkw in die Verbrenner warnt. Schon heute
Deutschland sei deren Nutzung im Vergleich zu
einem Stromer um bis zu 50 Prozent
waren im teurer, argumentiert der Manager.
Dezember Und die Kosten dürften weiter
2021 reine ­explodieren: Der Benzinpreis wird
bis 2030 auf 2,50 Euro steigen, besagt
Elektroautos. eine Studie des Prognos-Instituts.
Quelle: Kraftfahrt- ­Parallel dürfte Ökostrom durch den
Bundesamt geplanten Ausbau erneuerbarer Ener-
gien tendenziell günstiger werden.
Analysten der US-Bank Morgan Stan-
ley gehen davon aus, dass ein Ver-
brenner »in nicht allzu ferner Zukunft
so teuer in der Anschaffung und im
Unterhalt sein wird«, dass seine wei-
tere »Rolle im Ökosystem der Mobi-
lität« nicht zu rechtfertigen sei.
Und wenn dann erst die heute ver-
kauften E-Autos den Gebraucht­
wagenmarkt erreichen, dürften die
Preise für Verbrenner weiter unter
Druck geraten, glaubt Autoexperte
Dudenhöffer. Bei einem Neupreis von
50 000 Euro hätte ein Batterieauto
nach zwei Jahren gut 39 000 Euro
Restwert, ein Verbrenner hingegen
nur knapp 35 000 Euro, rechnet er
vor. Ein wesentlicher Grund für die
Differenz ist die Kaufprämie, die auch
für Gebrauchtwagen gilt. Benzin- und
Dieselautos würden dadurch zuneh-
mend zu Ladenhütern, prognostiziert
Dudenhöffer, die die Händler nur
noch mit deutlichen Nachlässen los-
würden.
Heißt das also, sofort umzustei-
gen? Noch ist das mit einigen Tücken
verbunden. Wegen der Chipkrise liegt
etwa die Lieferzeit des VW-Stromers
ID.3 bei neun bis zwölf Monaten, der
Kleinwagen e-up ist gar nicht erst be-
stellbar. Hinzu kommt, dass E-Fahr-
zeuge noch immer vergleichsweise
teuer sind. Der ID.3 liegt vor Abzug
der Umweltprämie bei deutlich mehr
als 30 000 Euro. VW plant zwar einen
Volksstromer für 20 000 Euro, doch
der ist erst für 2025 vorgesehen.
Andererseits: Je länger man mit
dem Umstieg auf einen Stromer war-
tet, desto größer könnte der Abschlag
sein, den man dann auf einen neu
­angeschafften Verbrenner einkal­
kulieren muss. Die Unternehmens-
beratung EY sieht bei Benzin- und
Die­selautos mittlerweile ein größeres
Zukunftsrisiko als bei Stromern.
Der Wiederverkaufswert vieler Ver-
brenner werde schneller abstürzen,
»als wir uns das heute ausmalen«.
Die Frage sei weniger, ob, sondern
wann der Wendepunkt erreicht sei,
von dem an sich deren Preise nur
noch nach unten entwickelten.
Ralf Diemer jedenfalls glaubt
nicht, dass bei E-Fuels bereits das
letzte Wort gesprochen ist. In spätes-
tens drei bis vier Jahren werde die
Antriebsdebatte neu entflammen,
sagt der Lobbyist voraus. Dann näm-
lich werde die Politik feststellen, dass
ihre ehrgeizigen Klimapläne ohne
­E-Fuels gar nicht zu erfüllen seien.
»Der Verbrenner«, spricht Diemer sich
Mut zu, »ist noch lange nicht tot.«
Simon Hage, Martin Hesse,
Gerald Traufetter, Felix Wadewitz n

Vergesst den Stabilitätspakt!
ANALYSE Die EU-Kommission und einige Euroländer wollen das
­Währungsregelwerk reformieren. Besser wäre, es gleich ganz abzuschaffen.
D
ie EU-Kommission hat sich für
dieses Jahr Großes vorgenom-
men: Sie will einen Fetisch re-
formieren, den Stabilitäts- und Wachs-
tumspakt. Das Regelwerk schreibt den
Mitgliedsländern der Währungsunion
ein jährliches Staatsdefizit von maxi-
mal drei Prozent des Bruttoinlands-
produkts vor, die Staatsverschuldung
darf höchstens bei 60 Prozent liegen.
Getrieben wird die Kommission
von den Regierungen Frankreichs und
Italiens. Sie halten gemeinsam mit
anderen Südstaaten die Vorgaben
nicht mehr für zeitgemäß. Wohl auch,
weil sie immer wieder gern dagegen
verstoßen. Wegen der Pandemie sind
die Obergrenzen derzeit ohnehin aus-
gesetzt; doch auch für die Zeit danach
sollen sie großzügiger ausfallen und
nicht mehr so streng ausgelegt wer-
den, so wünschen es sich die Weich-
spüler. Die EU-Kommission zeigt
Verständnis für das Ansinnen.
Die Ampelkoalition steht, strenger
deutscher Tradition folgend, in Treue
fest zu dem Vertragswerk. Hierzu-
lande genießt der Stabilitätspakt noch
immer hohes Ansehen, schließlich
wurde er bei der Konzeption des Euro
auf Betreiben Deutschlands beschlos-
sen. Er sollte dazu beitragen, die
Staatsfinanzen der Eurostaaten in
Ordnung zu halten, auf dass die neue
Währung stabil bleibe.
So weit die Theorie. In der Praxis
hat der Pakt seine Untauglichkeit
gleich mehrfach bewiesen. Mehr als
120-mal verstießen die Eurostaaten in
der Vergangenheit gegen die Vorga-
ben, ohne dass auch nur ein einziges
Mal mögliche Sanktionen verhängt
wurden. Was eben passiert, wenn
Sünder über Sünder richten. Das
­Regelwerk nimmt heute schon keiner
mehr ernst; alle Versuche, es streng
auszulegen, scheiterten chronisch.
Was Brüssel nun plant, macht die
­Sache nicht besser. Wie sollen groß­
zü­gigere Vorgaben gepaart mit lockerer
Auslegung mehr Vertrauen stiften?
Tatsächlich stellt sich die Frage, ob
es den Stabilitätspakt 23 Jahre nach
Einführung des Euro überhaupt noch
braucht. Befürworter argumentieren,
das Regelwerk sei ein Garant dafür,
dass Bürger, Anleger und Märkte das
Vertrauen in die vergleichsweise jun-
ge Währung nicht verlieren.
Den Akteuren auf den Kapital-
märkten wird gemeinhin unterstellt,
dass sie Mängel der Wirtschaftspolitik
routinemäßig durchschauen, sich
nicht auf Dauer täuschen lassen. Soll-
te die Annahme stimmen, bedeutet
das für den Euro: Die Märkte sehen
die Gemeinschaftswährung als zu-
kunftsfähiges Konstrukt an, trotz des
wirkungslosen und der politischen
Willkür ausgesetzten Stabilitätspakts.
Die Bilanz des Euro fällt ziemlich
beeindruckend aus. Sein Wechselkurs
gegenüber anderen wichtigen Wäh-
rungen, allen voran dem Dollar,
­entwickelt sich stabil. Hinter der
­US-Währung hat er sich als zweite
globale Reservewährung etabliert.
Für die Einschätzung des Euro ist den Mehr als
Investoren offensichtlich gleichgültig, 120-mal
ob sich die Eurostaaten an den Stabi-
litätspakt halten oder nicht. Deshalb
­verstießen die
könnte er auch wegfallen. Staaten gegen
Wenn es dennoch Akteure gibt, die Vorgaben,
die ihr Vertrauen in den Euro auf die
zahnlose Vereinbarung stützen, soll- ohne dass
ten sie schnell von ihrem Irrglauben Sanktionen
befreit werden. Sie wären offensicht-
lich Opfer einer Täuschung, zu der verhängt
die Politik aktiv beiträgt. wurden.
Schlechte Gewohnheit
Zahl der Euroländer, die die Stabilitätskriterien nicht erfüllen
Neuverschuldung größer als 3 Prozent des BIP
15
Summe der Euroländer
5
1
2000 2010
Staatsverschuldung größer als 60 Prozent des BIP
15
5 Die Zukunft des Euro könnte ohne
3
2000 2010
S Quelle: Eurostat

WIRTSCHAFT
Verteidiger des Stabilitätspakts
führen zuweilen an, er habe bislang
Schlimmeres verhindert. Ohne seine
Richtwerte hätten die Mitgliedsländer
noch mehr Schulden angehäuft. Doch
das Argument zieht nicht. Die USA,
Kanada oder die Schweiz müssen
sich, da keine Mitglieder der EU, nicht
an die Vorgaben halten. Dennoch ha-
ben sie in den vergangenen Jahren
bei ähnlicher Ausgangslage auch nicht
mehr Schulden angehäuft als bei-
spielsweise die Eurostaaten Frank-
reich und Italien.
Was also würde geschehen, würde
Europa den Pakt, statt ihn zu refor-
mieren, gleich ganz abschaffen? Würde
das die Schleusen öffnen für staat­
liche Ausgabenexzesse? Eher nicht.
Anleger, Sparer und Investoren wä-
ren gezwungen, noch sorgfältiger
hinzuschauen als bisher, welcher
­Regierung sie ihr Geld anvertrauen.
Länder mit soliden Staatsfinanzen
kämen weiterhin billiger an Geld,
solche mit verschwenderischem Fi-
nanzgebaren könnten nur gegen
einen höheren Risikoaufschlag Kredit
aufnehmen. Kurzum, die Beurteilung
der Finanzpolitik in den Einzelstaa-
ten bliebe den Märkten überlassen.
Jedes Land wäre wieder für den Zu-
stand seiner Staatsfinanzen allein
verantwortlich, anders als heute:
Jetzt trifft jede Regierung Mitschuld
an einer möglichen Schieflage in
einem Partnerland, weil sie bei der
laxen Auslegung des Stabilitätspakts
mitmacht.
Sollte ein Land tatsächlich einmal
komplett über die Stränge schlagen
und von Zahlungsunfähigkeit bedroht
sein, stünde immer noch der Europäi-
sche Stabilitätsmechanismus (ESM)
bereit, um klamme Regierungen mit
Geld zu versorgen und den Fort­
bestand des Euro zu sichern.
Tatsächlich garantiert der während
der Eurokrise geschaffene Rettungs-
schirm stabile Staatsfinanzen in der
Eurozone viel wirksamer als der Sta-
bilitätspakt. Der ESM vergibt seine
Hilfskredite nur gegen Auflagen. Die
Pleiteländer haben keine andere
Wahl, als ihre Staatsfinanzen rasch
19
wieder in Ordnung zu bringen.
Der ESM wirkt sogar vorbeugend.
Regierungen bringen lieber prophy-
laktisch ihre Staatsfinanzen in Ord-
nung, als sich dem verordneten
2020
Fremdregime zu beugen. Italien
brachte in der Eurokrise rechtzeitig
Reformen auf den Weg, um den Bitt-
gang nach Luxemburg zu vermeiden.
8
den Fetisch Stabilitätspakt stabiler
2020 ausfallen als mit.
Christian Reiermann  n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 67
WIRTSCHAFT
Die Lokomotive bremst
WELTWIRTSCHAFT  Pekings radikale Null-Covid-Strategie droht zu scheitern. Das
wäre schlecht für die globale Konjunktur – insbesondere für deutsche Unternehmen.
D
ie Bürger Pekings erhielten
kürzlich eine ungewöhnliche
Warnung ihrer Stadtverwal-
tung. Das Verkehrsmanagement der
19-Millionen-Einwohner-Stadt schrieb
auf dem Kurznachrichtendienst Wei-
bo: »Im Falle von Verkehrsunfällen
mit Fahrzeugen für die Olympischen
Winterspiele achten Sie darauf, einen
Sicherheitsabstand einzuhalten.«
Und weiter: »Nehmen Sie keinen
Kontakt mit den Fahrzeugen oder zu
den Personen darin auf, und warten
Sie, bis Fachleute am Unfallort ein-
treffen.« Im Klartext: Auch wenn es
um Leben und Tod gehen sollte – Ab-
standhalten geht vor.
Die Ansteckungsängste der Füh-
rung sind groß. In China leben 1,4 Mil-
liarden Menschen. Zwar sind 85 Pro-
zent vollständig gegen das Coronavi-
rus geimpft – das aber mit Impfstoffen
aus eigener Produktion, die ersten
Studien zufolge kaum Schutz gegen
die Omikron-Variante bieten. Die Re-
gierung will deshalb das eigene Land
bei den Olympischen Winterspielen
um jeden Preis vor eingeschleppten
Coronafällen bewahren. Eine »olym-
pische Blase« soll die erwarteten
68 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Olympia-Werbezeremonie in Peking 2019
2900 Sportlerinnen und Sportler so-
wie weitere Gäste vom Rest des Lan-
des abschirmen.
Was aber, wenn die Strategie der
Abschottung scheitert? Die neue Va-
riante ist längst angekommen – sogar
in der Null-Covid-Festung Peking, wo
Behörden am vergangenen Samstag
den ersten Omikron-Fall publik mach-
ten. Die 26-jährige Patientin hatte die
Stadt in den vergangenen 14 Tagen
nicht verlassen, muss sich also dort
angesteckt haben. Sorgen bereitet den
Behörden auch ein Omikron-Aus-
bruch in der Hafenstadt Tianjin, die
komplett abgeriegelt wurde.
Das Wohl der zweitgrößten Volks-
wirtschaft der Welt ist von globaler
Relevanz – und für Deutschland
wachstumsentscheidend: Inzwischen
trägt China mehr als 18 Prozent zum
globalen Bruttoinlandsprodukt bei. Im
Jahr 2020 wurden zwischen China
und Deutschland Waren im Wert von
213 Milliarden Euro gehandelt, kein
anderer Handelspartner kann da mehr
mithalten. Deutsche Firmen produzie-
ren in chinesischen Fabriken alles, von
der Schraube bis zum ganzen E-Auto.
Die Lieferketten sind – trotz gegen-
läufiger Bemühungen – eng verfloch-
ten. Von »wahnsinnigen Sorgen« be-
richtet ein Experte: »Wir sind extrem
verwundbar, wenn Peking die Sache
nicht in den Griff bekommt.«
Sebastian Heilmann, Professor an
der Universität Trier und einer der
renommiertesten Chinaforscher der
Bundesrepublik, ist pessimistisch.
»Peking wird Omikron kaum aufhal-
ten können«, sagt er. »Eine Serie von
regionalen Lockdowns und Hafen-
schließungen kann Produktion und
Logistik zum Stillstand bringen und
die ohnehin angespannten Lieferket-
ten reißen lassen.«
Für »Onkel Xi« steht bei den
Olym­pischen Winterspielen also mehr
auf dem Spiel als die landeseigene Me-
daillenbilanz: Der Staatschef will sich
auf dem nächsten Parteikongress sei-
ne dritte Amtszeit ab­segnen lassen –
was ihn auf eine Stufe mit Mao Ze-
VCG / IMAGO
dong erheben würde. Nun könnte
Omikron eine zentrale Erzählung der
KP ins Wanken bringen: dass China
die Pandemie besser im Griff habe als
der Westen.
Was als Propagandaerfolg geplant
war, könnte zum Superspreader-
Event werden. »Die chinesische Füh-
rung dürfte es heute bereuen, dass sie
den Zuschlag für die Winterspiele be-
kommen hat«, sagt Max Zenglein,
Chefökonom des Mercator Institute
for China Studies in Berlin. Er glaubt
zwar, dass es der Regierung mit wei-
teren Shutdowns gelingen dürfte, die
Fallzahlen niedrig zu halten. »Aber
die wirtschaftlichen Schäden werden
dabei exponentiell wachsen, je mehr
Städte betroffen sind.« Das trifft in
erster Linie die chinesische Wirtschaft
selbst, würde aber schnell globale Fol-
gen nach sich ziehen.
Mit Abstand »Das Schlimmste für China kommt
Nummer 1 erst noch«, warnen die Analysten der
japanischen Finanzholding Nomura.
Top 5 deutscher Sie gehen von einer weiteren Schwä-
Handelspartner* chung der Wirtschaft durch die Pro-
2020, in Prozent
bleme im Immobiliensektor und die
China Kosten der Null-Covid-Strategie aus.
9,5 Die Analysten fürchten reihenweise
Fabrikschließungen und einen Ein-
Niederlande bruch der Exporte.
7,7 Schon jetzt leidet die Kauflaune
USA der Chinesen unter der historischen
7,7 Immobilienkrise, für die Evergrande
zum Symbol geworden ist. Der Im-
Frankreich mobilienkonzern hat rund 300 Mil-
6,6 liarden Dollar Schulden angehäuft
Polen und kann sie nicht zurückzahlen.
5,5 Zwar federt die Politik die Folgen der
Beinahepleite hinter den Kulissen ab,
* Exporte und Importe; um jeden Preis gerettet wird Ever-
Umsatz mit China:
213,2 Mrd. Euro. Gesamt- grande aber wohl nicht. Beobachter
umsatz: 2233,4 Mrd. Euro. glauben, dass die Partei ein Exempel
S Quelle: Destatis statuieren möchte. Die Botschaft an

Wettbewerber und Investoren: Niemand ist
zu groß zum Scheitern.
Eine radikale politische Kehrtwende. Jahr-
zehntelang ließ Peking die Immobilien-Bo-
nanza laufen, befeuerte sie doch das Wirt-
schaftswachstum. Nach Berechnungen des
Harvard-Professors Kenneth Rogoff trug der
Immobiliensektor im Jahr 2016 zusammen
mit der Bauindustrie noch 29 Prozent zum
Bruttoinlandsprodukt des Landes bei – eine
solche Quote schafften sonst nur Spanien und
Irland vor der Weltfinanzkrise, was sie dann
auch bitter bereuten.
Die Führung unter Xi Jinping hatte sich
angesichts von Geisterstädten und wachsen-
den Schuldenbergen entschlossen, den Im-
mobilienfirmen das Schuldenmachen zu er-
schweren – und provozierte damit den Show-
down mit Evergrande. Das Ziel: Luft aus der
Immobilienblase zu lassen, ohne dass die Kon-
junktur abgewürgt wird. Eine Gratwanderung,
denn die Immobilienentwickler stehen nicht
nur bei ausländischen Anlegern in der Kreide,
sondern vor allem bei chinesischen Sparern
und Bauarbeitern, die noch immer auf die
Auszahlung von Gehältern warten.
Solche Unsicherheit drückt auf den Kon-
sum, und weitere Corona-Lockdowns würden
die Stimmung zusätzlich verschlechtern.
Wenn die chinesischen Kunden hochwertige
Anschaffungen verschieben, tut das insbeson-
dere deutschen Herstellern weh, die mit Mar-
kenartikeln und Luxuskarossen made in Ger-
many üppige Gewinne machen.
Eine Lockdown-Welle innerhalb Chinas
könnte eine globale Abwärtsspirale in Gang
setzen. In fast allen Sektoren müsste dann mit
größeren Schwierigkeiten gerechnet werden,
sagt Wan-Hsin Liu, Forscherin am Kiel Institut
für Weltwirtschaft (IfW). Das bekämen auch
Kunden in der EU zu spüren, die angesichts
knapper Computerchips und ausgebuchter
Frachter schon jetzt oft monatelang auf Spie-
lekonsolen oder Neuwagen warten müssen.
Besondere Sorgen bereitet Pekings radi-
kale Null-Covid-Politik jenen deutschen Kon-
zernen, die in China in großem Stil produzie-
ren. Mitarbeiter an chinesische Standorte zu
entsenden ist kaum noch möglich. Die chine-
sische Luftfahrtbehörde hat zahlreiche inter-
nationale Verbindungen aus Sorge vor Omi-
kron gestrichen, obendrein gelten strikte
Quarantäneregeln. »Finden Sie mal einen
Monteur, der sich drei bis vier Wochen in ein
Quarantänehotel einsperren lässt, bevor er
endlich seiner eigentlichen Arbeit nachgehen
kann«, sagt ein Insider. »Das lässt niemand
freiwillig über sich ergehen.«
Und das ist nur ein Vorgeschmack auf die
Mittel, mit denen das Regime auf die weitere
Ausbreitung der Omikron-Variante reagieren
dürfte. Die kommenden Wochen würden zu
einem »Härtetest für die chinesische Zero-
Covid-Politik«, sagt Jens Hildebrandt voraus,
der Geschäftsführer der deutschen Handels-
kammer in Peking.
Dabei kämpfen viele deutsche Konzerne
schon jetzt mit Schwierigkeiten auf dem eins-
Der Boom ebbt ab
Chinas reales Wirtschaftswachstum (BIP),
in Prozent
2022 geschätzt
5,0 bis 5,6%
10
5 lag damit auf dem Vorkrisenniveau von 2019.
2000 2005 2010 2015 2020
Chinas Anteil am weltweiten BIP, in Prozent
2021 bis 2023
geschätzt
15
10
5
2000 2005 2010 2015 2020
S Quellen: IWF, Statistikamt China
tigen Hoffnungsmarkt. Autoriese Volkswagen
blickt auf ein miserables Chinajahr zurück.
Während Luxus-, Premium- und Sportwagen-
hersteller wie Porsche, Lamborghini oder
Bentley boomen, ist der Absatz der Massen-
marke VW in ihrem größten Markt 2021 um
14 Prozent eingebrochen. Einerseits, weil
manche Modelle nicht den Geschmack der
Kundschaft treffen, andererseits, weil Halb-
leiter und andere wichtige Teile fehlen.
Der Konzern musste Mitte Dezember in
der ostchinesischen Hafenstadt Ningbo für
eine Woche ein ganzes Werk schließen. Und
in Tianjin nahe Peking wurden die Bänder
Anfang vergangener Woche wegen eines Co-
vid-Ausbruchs angehalten. Während die dor-
tige Komponentenfertigung teilweise wieder
läuft, steht die Produktion von Fahrzeugen
weiterhin still. Für wie lange, scheint unklar.
Man hoffe, die Produktion »sehr bald« wieder
aufnehmen und Ausfälle kompensieren zu
können, heißt es bei VW.
Bessere Stimmung herrscht bei BMW und
Daimler, deren Limousinen- und Premium-
marken Rolls-Royce und Maybach bei wohl-
habenden Kunden nach wie vor gefragt sind.
Insbesondere die Kombination aus Luxus und
Elektroantrieb, heißt es bei Daimler, stoße
auf große Nachfrage. Denn trotz Covid neh-
me der Wohlstand in der Bevölkerung zu:
»Während die Elterngeneration oft noch gar
kein Auto besaß«, sagt Chinavorstand Hu-
bertus Troska, »steigen die Jungen jetzt auf
teurere Fahrzeuge um – sie können sich sogar
einen Mercedes leisten.« Der Trend wird da-
durch verstärkt, dass die vermögende Klien-
tel seit Ausbruch der Pandemie auf die ge-
WIRTSCHAFT
wohnten Auslandsurlaube verzichten muss.
Das gesparte Geld investiert sie in Premium­
autos und Luxuslimousinen.
Während der Absatz der Marke Mercedes
wegen Chipmangels leicht schrumpfte, ver-
kündete BMW für das Jahr 2021 sogar einen
Absatzrekord in China. Auch der Massen-
markt legte zu: Der Pkw-Absatz stieg um
6,5 Prozent auf 21,5 Millionen Fahrzeuge und
Das Vertrauen der Bevölkerung in die Wirt-
schaftskraft des Landes sei ungebrochen, sagt
Daimler-Vorstand Troska: »Wir sehen auch
für die nächsten zehn Jahre sehr großes Poten-
zial in China.«
Die deutschen Maschinenbauer haben sich
ihre positive Sicht auf die Zukunft ebenfalls
bewahrt. Ulrich Ackermann, der beim Bran-
chenverband VDMA die Abteilung für
Außenwirtschaft leitet, erwartet »ein passab-
les Wachstum auf dem chinesischen Markt«.
Er räumt indes ein, dass eine Omikron-Welle
»Gift für die Wirtschaft« wäre.
Im vergangenen Jahr war die chinesische
Wirtschaft um rund acht Prozent gewachsen,
wobei sich das Tempo im vierten Quartal
merklich abschwächte. Für 2022 hat die Par-
tei bislang noch kein Wachstumsziel ausge-
rufen, aber der führende staatliche Thinktank
Cass hat sich mit einer Zahl vorgewagt:
5,3 Prozent. Das wäre weniger als vor der
Pandemie, aber womöglich noch immer zu
optimistisch. Die Forscher des IfW erwarten
ein Plus von nur 4,1 Prozent – China würde
damit weniger wachsen als die Weltwirtschaft
insgesamt. Aus der Konjunkturlokomotive
China würde ein Bremsklotz.
Einen Crash dürfte Peking allerdings mit
allen Mitteln zu verhindern suchen. »Die
­Regierung wird nicht lange warten, bis irgend-
ein Wachstumstief erreicht wird, bevor sie
gegensteuert«, sagt IfW-Ökonomin Liu. Tat-
sächlich hat die chinesische Zentralbank be-
reits mit einer ersten Zinssenkung reagiert,
zudem stellt die Regierung Hilfen für Haus-
halte und kleine und mittlere Unternehmen
in Aussicht.
Pekings Plan hört auf den Namen »Zwei
Kreisläufe« und ist gewissermaßen die chi-
nesische Antwort auf die America-first-Poli-
tik von Donald Trump. China will zwar Ex-
portnation bleiben, aber die Nachfrage im
eigenen Land stärken. Die Partei plane eine
»autarke Festung China«, die immer weniger
von ausländischen Anbietern abhängig sein
soll, und zugleich die ganze Welt beliefern
könne, erklärt ­ Chinakenner Heilmann.
»Deutsche Hersteller werden nur so lange
willkommen sein, wie sie Produkte und
Dienstleistungen anbieten können, über die
chinesische Unternehmen noch nicht ver­
fügen.«
Das werde den Verdrängungsdruck auf
ausländische Unternehmen in den nächsten
fünf Jahren in China massiv erhöhen, so Heil-
mann. Die fetten Jahre made in China – sie
wären damit endgültig vorbei.
Michael Brächer, Simon Hage n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 69
WIRTSCHAFT
BWL-Student Wunderer
Generation Schneeflocke
UNTERNEHMEN   Vielen Firmen fällt es immer schwerer, Topnachwuchs-
kräfte zu finden. Auch weil vielen jungen Menschen Selbstverwirklichung
wichtiger ist. Will denn niemand mehr Manager werden?
D
er Weg in die Chefetagen der Zukunft
führt über Oestrich-Winkel im Rhein-
gau. Zwischen glitzerndem Rhein und
Rieslingreben steht das Schloss Reichharts-
hausen, ein Landgut, das Adlige vor Hunder-
ten Jahren ihren Gemahlinnen schenkten.
Heute gehen hier diejenigen ein und aus,
denen der Weg nach ganz oben qua Bildungs-
weg zusteht: die Studierenden der European
Business School, kurz EBS. Die Kaderschmie-
de, die 2015 in letzter Minute vor der Pleite
gerettet wurde, strahlt wieder in altem Glanz.
Wer 43 085 Euro für einen BWL-Bachelor
zahlen kann, bekommt hier nicht nur einen
Abschluss, sondern auch und vor allem ein
Netzwerk, das zuverlässig in die Unterneh-
mensberatungen und Konzerne führt.
Claas Wunderer sitzt vor der Schlossmau-
er und erzählt, warum er an einem solchen
Lebensweg gar kein Interesse hat. Der 19-Jäh-
rige wäre eigentlich der perfekte Kandidat:
Er studiert BWL, seine Eltern machten bei
der Telekom Karriere. Doch er hat andere
Pläne. »Ich will auf jeden Fall gründen«, sagt
der Drittsemestler.
Mit dieser Haltung ist er nicht allein. Als
am Nachmittag bei einem Workshop ein Red-
ner fragt, wer unter den Studierenden in na-
her Zukunft ein Unternehmen gründen will,
schnellen im Publikum 100 Hände in die Luft.
Wunderer hat die Veranstaltung mitorgani-
70 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Trainee Chouksey
siert. Dass er als Gründer vermutlich erst ein-
mal weniger verdienen würde, stört ihn nicht.
»Frei zu sein und selbst zu entscheiden, das
interessiert mich.«
Es sind junge Menschen wie Wunderer, oft
mit ähnlichen Wünschen und Träumen, die
das deutsche Management gerade zum Ver-
zweifeln bringen. Ausgerechnet in der Zeit,
in der die Deutschen in Massen in Rente
­gehen, ändern sich die Karriereträume derer,
die nachrücken sollten: Kreativität statt Hams-
terrad, Selbstverwirklichung statt Schufterei.
Es fehlt an Nachwuchs. Die großen Berater,
McKinsey etwa oder die Boston Consulting
Group, wollen so viele Leute einstellen wie
lange nicht mehr. Laut KfW-Ifo-Fachkräfte-
barometer aus dem November 2021 geben
52,2 Prozent der Wirtschaftsprüfer, Rechts-
und Steuerberater an, dass mangelnde Fach-
kräfte ihre Arbeit behindern. »Es ist schwerer
geworden, qualifizierte Berufseinsteiger zu
finden«, sagt Andreas Butz, Personaler des
Wirtschaftsprüfers EY. »Der Bedarf ist viel
größer als der verfügbare Pool an Berufsein-
steigern.« Und die interessieren sich oft nicht
mal für die offenen Stellen.
Simon Müller* wäre als promovierter IT-
ler der Traum vieler Personaler. Der 31-Jäh-
rige hat seine Doktorarbeit zu Softwaresicher-
* Name geändert.
Werkstudent Agidigbi
heit geschrieben, Grundlagenforschung. Ein
großes Digitalunternehmen hat ihm einen Job
angeboten, für ein »sehr, sehr gutes Gehalt«,
wie er sagt.
Müller, die braunen Haare zum Zopf zu-
sammengebunden, möchte sich jedoch nicht
»in den Dienst von großen, multinationalen
Konzernen« stellen. Er will nicht primär für
Geld arbeiten. »Es gibt gerade keine wichti-
gere Aufgabe als den Kampf gegen die Klima-
krise«, sagt er. Da möchte er seinen Teil bei-
tragen, beispielsweise indem er »Organisa-
tionen bei der digitalen Kommunikation
hilft«. Ist er nicht überqualifiziert, um anderen
Videotelefonie zu erklären? »Vielleicht«,
meint er. Er wolle sich aber nicht aus der
­Verantwortung ziehen. »Gerade auch, weil
ich so privilegiert bin.«
Müllers Privilegien sehen so aus: Er hat
Ersparnisse, die seinen Lebensunterhalt de-
cken, aus seiner Promotion. Er ist bürgerlich
in Niederbayern aufgewachsen. Mit seiner
Ausbildung, weiß er, würde er immer einen
Job finden, von dem er leben kann. »Wir ha-
ben nur noch wenige Jahre, die Klimakrise
effektiv zu bekämpfen«, sagt er. Um seine
Rente könne er sich später kümmern. »Ich
glaube, wenn wir Löhne gerechter aufteilen Fotos: Jürgen Nobel; Jann Höfer / DER SPIEGEL; Lisa Hör terer / DER SPIEGEL
würden, müsste sowieso niemand eine
40-Stunden-Woche arbeiten.«
Heiner Thorborg irritieren solche Ideen,
solche Ansprüche. Die heutigen Berufsein-
steiger, sagt er, seien anders als früher: stets
auf der Suche nach Selbstverwirklichung,
nach Freiheit, Flexibilität. Diese Generation
sei wie »Schneeflocken«, die »unter Druck
schmelzen«, statt zu Diamanten zu werden.
Thorborg, 77, ist Headhunter. Seit 33 Jahren
jagt er für Vorstände und Aufsichtsräte nach
neuem Personal. Noch nie, sagt er, sei es so
schwer gewesen, geeignete Kandidaten zu
finden, die nach ganz oben wollen. Zu ku-
schelig warm seien die Nester, in denen das
heutige Bildungsbürgertum aufwachse.

Was ja prinzipiell kein Problem
sein müsste. Es gibt, so Thorborg,
nämlich durchaus Menschen, die
­aufrücken könnten in Deutschlands
Führungsebenen: ausländische Stu-
dierende. Studierende mit Migrations-
hintergrund. Frauen. Ein kaum aus-
geschöpftes Reservoir.
Doch die Unternehmen verschlie-
fen diesen Wandel. »In der Wirtschaft
hat man sich viel zu lange darauf ver-
lassen, dass die Veränderungen auto-
matisch kommen«, sagt Thorborg.
Man habe unkonkrete Strategien ver-
folgt, die theoretisch Diversität för-
dern sollten, und sich praktisch darauf
beschränkten, mehr Frauen auf Fir-
menbroschüren zu drucken.
Dabei ist der Nutzen von Diversi-
tät längst bewiesen. Gibt es in den
Führungsetagen mehr gemischte
Teams, steigt die Wahrscheinlichkeit
für überdurchschnittlich hohe Erträ-
ge. Das Gleiche gilt für Menschen mit
Migrationsgeschichte: Unternehmen
mit diversen Belegschaften erzielen
bis zu einem Drittel mehr Gewinn als
solche, die in sich völlig homogen
sind. Thorborg fordert »konkrete
Vorgaben von oben, wer gefördert
werden soll«, und empfiehlt, dies in
Zielvereinbarungen des Topmanage-
ments aufzunehmen. »Es muss weh-
tun, sich nicht daran zu halten.«
Tatsächlich sehen Experten in Bil-
dungsaufsteigern und jungen Men-
schen aus Migrationsfamilien etwas,
das vielen anderen ihrer Generation
fehlt: Biss. Den unbedingten Willen,
aufzusteigen, und die Fähigkeit, Wi-
derstände auszuhalten.
Es gibt einige Vorbilder, die immer
wieder herangezogen werden für
­diese These: Tarek Müller, der den
Online-Modeversand About You
hochgezogen hat. Uğur Şahin und
Özlem Türeci, die beiden Biontech-
Gründer, die mit unternehmerischem
Eifer Deutschland vielleicht aus der
Pandemie hätten impfen können. Die
anekdotische Evidenz hinter diesen
Geschichten: Wer wenig in die Wiege
gelegt bekommen hat, der kämpft,
um nach oben zu kommen.
Doch stimmt das Klischee auch?
Thomas Fritz, 46, hat es untersucht.
Er war zehn Jahre lang für das Re­
cruitment bei McKinsey zuständig,
zuletzt als Personalchef. Heute forscht
er als Professor an der Fachhochschu-
le Aachen über den Führungsnach-
wuchs.
»Es gibt messbare Unterschiede
dazu, wie wettbewerbsorientiert sich
Studierende verhalten«, sagt er. Wie
sehr treffen sie karrierefördernde Ent-
scheidungen? Wie stark investieren
sie in ihr eigenes »Humankapital«? Er
und sein Team haben dafür die Le-
Weiß und bensläufe von 128 000 ausgewählten
männlich Studierenden untersucht, die zu den
besten 15 Prozent ihrer Abiturjahr-
Frauenanteil in allen gänge zählen. Ihn interessierte: Gibt
Vorständen in es innerhalb dieser Gruppe Unter-
Deutschland, 2022 schiede im Verhalten zwischen Män-
nern und Frauen? Zwischen Men-
schen mit oder ohne Migrations­
geschichte?
Seine Ergebnisse sind interessant.
18% Etwa zu Frauen. Jene ohne Migra-
tionshintergrund, fand Fritz, verhal-
ten sich oft weniger wettbewerbs-
orientiert als Männer. »Sie sammeln
eher das, was man ›Fleißpunkte‹
Ausländeranteil in den nennt.« Sie studieren kürzer, arbeiten
Dax-40-Vorständen, als wissenschaftliche Hilfskräfte, ma-
2021 chen viele Praktika in kleineren Un­
ternehmen. »Alles Dinge, die Zeit kos­
ten, aber nicht unbedingt als prestige-
trächtig gelten.«
Anders dagegen agieren Frauen
37% aus Migrationsfamilien. »Besonders
in männlich geprägten Umfeldern
verhalten sie sich so wie die Männer
unserer Studie«, sagt Fritz. Sie ab-
davon nicht aus solvieren Praktika in angesehenen
Europa oder USA: 3% Unternehmen, promovieren oder
machen sich schon während des Stu-
Frauenanteil unter den diums selbstständig. Es scheint, als
Start-up-Gründern in orientierten sich Frauen, die mehr
Deutschland, 2019 Barrieren haben, bei ihren Entschei-
dungen stärker an klassischen Kar-
rieremustern. Bei den Männern wie-
derum gab es – im Gegensatz zu
Thorborgs Erfahrungen – keine
16% Unterschiede zwischen jenen mit und
ohne Migrationsgeschichte. Warum,
ist schwer zu erklären – womöglich
haben sie weniger Druck, sich bewei-
S Quellen: EY, Simon Kucher
sen zu müssen.
& Partners, Female Founders Mugdha Chouksey hat Lust, Kar-
Monitor
riere zu machen, »vielleicht in einer
großen Bank oder einem Beratungs-
unternehmen«. Die 24-Jährige ist
2020 aus der westindischen Metro-
pole Pune in die Nähe von Koblenz
gezogen, für ihren Master. Sie hat
»Wir brauchen Finanzen an der WHU studiert, einer
konkrete Universität, die sich gern damit brüs-
Vorgaben, wer tet, die Führungskräfte von morgen
auszubilden.
gefördert Ein Praktikum zu finden, gestalte
werden soll.« sich indes als schwierig. »Bewerbung
auf Bewerbung, Absage auf Absage.
Heiner Thorborg,
Personaler Das war ziemlich frustrierend«, sagt
Chouksey. Dass ihr Studiengang auf
Englisch ist, hat ihr zwar beim Stu-
dieren geholfen – bei der Suche nach
einem Praktikum, wurden die fehlen-
den Sprachkenntnisse aber zum Pro-
blem. Und das, obwohl in internatio-
nalen Konzernen oftmals auf Englisch
kommuniziert wird. Alltag für Talen-
Samuel Schalch
te aus dem Ausland. Wer nicht flie-
ßend Deutsch spricht oder einen be-
eindruckenden Lebenslauf vorweisen
WIRTSCHAFT
kann – wofür Praktika ja eigentlich
gedacht sind –, hat es schwer.
Choukseys Ziel ist die Karriere,
nicht so sehr die Selbstverwirkli-
chung. Das sei nicht ganz untypisch
für Studierende aus ihrem Heimat-
land, erzählt sie. Und trotzdem war
sie nach den vielen Absagen kurz da-
vor, sich für ein Praktikum in Indien
zu bewerben, »um hier nicht meine
Zeit zu vergeuden«. Am Ende klapp-
te es in einem deutschen Großunter-
nehmen.
Auch Dennis Agidigbi, 24, Mutter
Deutsche, Vater aus Nigeria, ist ein
Wanderer zwischen den Welten. Er
kennt zwar »dieses Gefühl, der Ein-
zige im Raum zu sein mit meinen
Startbedingungen«. Aber jetzt sitzt
er, in Sneaker und Sweatshirt, in
einem Meetingraum mit einer Mini-
Tischtennisplatte bei einem Münch-
ner Software-Start-up. Er arbeitet
dort als Werkstudent, noch studiert
er an der TU München Management
und Technologie. Er zeigt auf die an-
dere Seite der Glaswand, wo der Rest
des Teams Code-Zeilen in über­di­
mensionale Bildschirme tippt. »Da
sitzt eine Spanierin, er da drüben
kommt aus Ägypten. Ich bin nicht
einmal der einzige Deutsch-Nigeria-
ner hier.«
Weiter oben, das weiß er, wird die
Luft dann immer dünner. Der Anteil
von Gründern mit Migrationshinter-
grund liegt fünf Prozentpunkte unter
ihrem Anteil an der Erwerbsbevölke-
rung insgesamt. Und obwohl sie häu-
fig besser qualifiziert sind und öfter
mathematisch-naturwissenschaft­liche
Abschlüsse haben, sammeln ihre
Konkurrenten ohne Migrationsge-
schichte fast 2,4-mal so viel Kapital
ein. Trotzdem glaubt Agidigbi, dass
er hier eher mehr Verantwortung
übernehmen kann. »In einem großen
Unternehmen ist es schwerer, Dinge
schnell zu verändern.«
Die Kultur von großen Konzernen
steckt oft voller Zugangsbarrieren.
»Muss ich mir einen teuren Anzug
leisten können, um zur Arbeit zu
kommen? Achtet beim Kundentreffen
jemand darauf, wie ich meine Suppe
löffele?« Ihm ist das zu kompliziert,
früher oder später möchte er ein eige-
nes Unternehmen gründen, bei dem
er die Kultur mitgestalten kann.
Im vergangenen Jahr hat er in
einer großen Beratungsfirma gearbei-
tet. Wäre er dort geblieben, hätte er
seine Mutter und seinen Vater finan-
ziell unterstützen können. Seine El-
tern aber, sagt er, haben das gar nicht
gewollt. Ihnen sei wichtiger, dass er
glücklich sei.
Janne Knödler, Timm Seckel n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 71
WIRTSCHAFT
Die App, die keiner
braucht
CORONA  Bei den Gesundheitsämtern herrscht Ernüchterung
über die Luca-App. Zwar wurden mit ihr millionenfach
Daten erhoben, doch nach SPIEGEL-Recherchen haben sie kaum
geholfen, Infektionen aufzudecken.
F
ünfzig Prozent auf alles – auch für Ge-
sundheitsämter. Die Betreiber der Luca-
App gingen in der vergangenen Woche
in eine Rabattoffensive, wie man sie sonst nur
von Möbelhäusern und Baumärkten kennt.
Zum halben Preis können Behörden in Zu-
kunft die App nutzen, um Corona-Kontakt-
personen zu warnen und Infektionsketten zu
verfolgen. So verkündete es der Betreiber
Culture4life, das Start-up hinter der App.
­Zudem sollen Bundesländer die Lizenzen für
Luca bald monatlich statt für ein ganzes Jahr
abschließen können, jederzeit kündbar. Kon-
taktnachverfolgung zu Bedingungen wie bei
Netflix – on demand und ohne Abo-Falle.
Die Niedrigpreiskampagne ist bitter nötig.
Denn in den Gesundheitsministerien und
Staatskanzleien zahlreicher Bundesländer
steht gerade die Zukunft der App auf dem
Spiel. 13 Länder hatten Luca im Frühjahr 2021
für zusammengerechnet 21,3 Millionen Euro
angeschafft. Jetzt muss die Politik entschei-
den, ob sie die auslaufenden Verträge ver-
längert.
IT-Experten kritisieren den Luca-Deal
schon lange. Die Länder hätten die App ohne
Ausschreibung und übereilt eingekauft,
außerdem habe sie Sicherheitslücken gehabt.
Zuletzt waren Ermittlungsbehörden an den
zentral gespeicherten Daten interessiert. Die
Mainzer Polizei etwa ließ sich unzulässiger-
weise Nutzerdaten vom Gesundheitsamt aus-
händigen. Doch die entscheidende Frage ist:
Wie viel bringt die App überhaupt bei der
Eindämmung der Pandemie?
Der SPIEGEL hat alle rund 380 Gesund-
heitsämter in Deutschland angefragt, wie
sie Luca nutzen und ob die App ihnen bei
der Arbeit hilft. Rund die Hälfte hat ge­
antwortet, aus ihren Rückmeldungen ergibt
sich eine ernüchternde Bilanz. 54 der Ämter,
die theoretisch mit der App arbeiten könnten,
haben in einem Dreivierteljahr noch kein ein-
ziges Mal Daten von Gaststättenbetreibern
angefordert.
Einige Ämter antworten nur vage, aber
von 121 örtlichen Behörden liegen hinrei-
chend detaillierte Angabe vor. Sie haben in
rund 1000 Fällen Daten von Restaurants,
72 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Was bringt die Luca-App?
Luca-Verträge
der Bundesländer
Vertrag
seit Früh-
jahr 2021,
Fortgang
offen
Vertrag
gekündigt
keine
Landes-
lizenz
Datenabfrage
der Gesundheitsämter*
in der Luca-App, in Prozent
noch nie 1- bis 5-mal öfter
41 37
Hilfe bei Nachverfolgung von
Infektionsketten durch die
Luca-Daten**, in Prozent
64 25 11
* Antworten von 131 Gesundheitsämtern
** Antworten von 121 Gesundheitsämtern
S Quelle: eigene Recherche
€
Diskotheken, Geschäften oder ähnlichen
­Stellen angefordert, knapp 280-mal halfen
die Informationen, Infektionsketten nachzu-
verfolgen. Zur Einordnung: Die entsprechen-
den Landkreise und Städte zählten allein von
Mai bis Ende Oktober ungefähr 390 000 Neu­
infektionen. Millionen Deutsche dürften in
dem Zeitraum im Restaurant gewesen sein,
viele davon haben den QR-Code der Gast-
stätte mit Luca eingescannt. Geradezu er-
schütternd ist da, wie wenig diese Daten die
Gesundheitsämter weitergebracht haben.
Schon wenige Monate nach dem Start der
App waren zahlreiche Ämter unzufrieden,
nur wenige beschrieben die App als Arbeits-
erleichterung, wie eine SPIEGEL-Recherche
im August zeigte (SPIEGEL 33/2021). »Wir
haben von Anfang an gesagt, dass die Luca-
App für uns wenig Sinn macht«, sagt Eike
Hennig, Leiter der Magdeburger Behörde und
Sprecher der Gesundheitsämter in Sachsen-
Anhalt. Die Daten aus der App würden kaum
helfen, die Pandemie einzudämmen. Sie ­seien
nicht genau genug, um das tatsächliche Infek-
tionsrisiko, beispielsweise in einem Restau-
rant, einzuschätzen.
So haben fast zwei Drittel aller Ämter, die
auf eine entsprechende SPIEGEL-Anfrage ant-
worteten, noch nie eine Infektionskette mit-
hilfe von Luca-Daten nachverfolgen können.
Ohnehin fällt auf, dass der Großteil der ver-
arbeiteten Luca-Daten auf wenige Behörden
entfällt. Die eifrigsten Nutzer sitzen in Ham-
burg, die Hansestadt kommt allein von Mai
bis November auf knapp 600 Abrufe. Und
selbst die Luca-Musterschüler deckten so ge-
rade einmal 44 Infektionen unter den Kon-
taktpersonen auf.
Warum die App seinem Amt nichts ge-
bracht habe, erklärt der Magdeburger Eike
Hennig so: »Wir müssen die positiv Geteste-
ten ohnehin anrufen und zu ihrem Risiko-
kontakt befragen.«
In der aktuellen Omikron-Welle spielt Luca
im Alltag der meisten Gesundheitsämter gar
keine Rolle mehr, weil die Inzidenzen zu hoch
sind und die Mitarbeiter mit der Nachver-
folgung der Kontakte kaum hinterherkom-
men. Hennig wirft keinem Ministerium vor,
Luca angeschafft zu haben, das sei schließlich
im guten Willen geschehen, man habe ver-
sucht die Arbeit der Ämter zu erleichtern.
»Aber heute muss man sagen, dass das ein
Fehler war.«
So hart ist die Politik in ihrem Urteil noch
nicht. Nur Bremen und Schleswig-Holstein
haben den Ausstieg bereits beschlossen. In
22 Hessen lässt die Landesregierung den Nutzen
der App evaluieren, in anderen Bundeslän-
dern wird um die Vertragsverlängerung ge-
stritten. In Hamburg etwa, wo das Gesund-
heitsamt die Luca-App so aktiv nutzt wie
nirgendwo sonst, votieren die Grünen in der
Koalition dagegen, während die SPD-geführ-
te Senatskanzlei offenbar dafür ist.
Luca-Chef Patrick Hennig glaubt weiter
an den Nutzen seiner App. »Kaum ein staat-
licher Bereich ist so unterdigitalisiert wie das
Gesundheitssystem.« Seine App habe von
Mai bis Ende Dezember 2021 über 550 000
Mal Warnhinweise verschickt. Zum Vergleich:
Die Corona-Warn-App, die ohne die Arbeit
der Gesundheitsämter funktioniert, hat allein
in diesem Januar bisher 6,6 Millionen Mal
Menschen gewarnt.
Für den Fall, dass der Staat die Luca-App
nicht mehr nutzen will, hat der Ent­wickler
schon einen alternativen Plan. Konzertver-
anstalter etwa könnten direkt über die App
Tickets und den 2G-plus-Status kontrol­
lieren. Zunächst sogar kostenlos. Und Re-
servierungen ließen sich über Luca auch
­abwickeln. Die Funktion findet sich ­bereits
in einem Luca-Markenschutzantrag aus dem
vergangenen März.
Max Hoppenstedt n

Herr der Coronazahlen
START-UPS  Im Alleingang hat Edouard Mathieu die weltweit führende
Impfstatistik aufgebaut. Die WHO schreibt Daten von ihm ab.
D
ie Statistik, auf die sich Tag für Tag die
Augen von Politikerinnen, Seuchenfor-
schern und Bürgerinnen rund um den
Globus richten, wird an einem Küchentisch in
Paris erstellt. Hier tippt Edouard Ma­thieu, 31,
Vollbart und Geheimratsecken, Zahlenkolon-
nen in sein Notebook ein und bearbeitet sie.
Impfdaten von sechs Kontinenten: von der
Volksrepublik China über das Königreich
­Lesotho bis hin zur Republik San Marino.
»Nur Nordkorea fehlt«, sagt der Datenchef des
Webportals Our World in Data (OWID).
Manche Werte klaubt sich Mathieu noch
immer selbst zusammen: in sozialen Netzwer-
ken oder per Crowdsourcing. Andere ­bekommt
er nun von Behörden zugeschickt. Viele Staa-
ten haben erkannt, wie wichtig das Werk des
»Zahlenfreaks« (Mathieu über Ma­thieu) ist.
Auch für sie selbst. Im Alleingang hat der Fran-
zose die globale Coronaimpfstatistik von Our
World in Data entwickelt. Das spendenfinan-
zierte, gemeinnützige Start-up mit 20 Mit-
arbeitern, beheimatet an der Uni Oxford, war
die erste – und monatelang einzige – Institu-
tion, die Impfzahlen aus der ganzen Welt Tag
für Tag einsammelte und aufbereitete.
Bis heute ist Mathieus Impfstatistik das
Maß der Dinge – und nicht etwa die der Welt-
gesundheitsorganisation. Die WHO hat 7000
Mitarbeiter, Verbindungen zu Gesundheits-
ministerien und -behörden auf allen Konti-
nenten. Aber sie schreibt einen Teil ihrer
Zahlen von OWID ab – nicht umgekehrt.
218 Länder und Territorien umfasst Ma­
thieus Statistik. Grafiken zeigen, wie weit die
größte Impfaktion der Geschichte voran-
schreitet. Wo viel geboostert wurde (Chile,
Malta, Island). Und wo 98 Prozent der Be-
völkerung noch nicht einmal die erste Spritze
bekommen haben (Burundi, Kongo, Haiti).
Die OWID-Statistik ist für politische Ent-
scheider weltweit zum Erfolgsmaßstab ge-
worden. Die puren Zahlen zeigen, welchen
Regierungen es besser als anderen gelingt,
ihre Bürger vor dem Virus zu schützen: indem
sie Impfstoff besorgen, die Verabreichung or-
ganisieren, Zweifler überzeugen. Gerade in
Europa haben Mathieus Zahlen die Debatte
immer wieder befeuert – etwa als Großbri-
tannien zunächst alle EU-Staaten abhängte.
Die Statistik verdeutlicht auch, wo die
Weltgemeinschaft versagt. »Nur 9,6 Prozent
* Auch der SPIEGEL-Verlag erhält Zuwendungen der
Stiftung für die »Globale Gesellschaft«, nicht jedoch für
die SPIEGEL-Redaktion.
der Menschen in Ländern mit niedrigem Ein-
kommen haben wenigstens eine Dosis erhal-
ten«, steht oben auf der Seite, extragroß.
Als Mathieu seine Idee vortrug, hielt sich
die Begeisterung bei OWID in Grenzen. Da-
mals, im November 2020, war das vom Deut-
schen Max Roser gegründete Portal noch
dünner besetzt als heute. Niemand wollte sich
weitere Arbeit aufhalsen. Das Start-up finan-
ziert sich aus Spenden, unter anderem von
der Melinda-und-Bill-Gates-Stiftung*.
Mathieu hielt die Zahlen für wichtig. Die
ersten Impfungen in der westlichen Welt soll-
ten starten, in Großbritannien, Israel, den
USA. Also beschloss er, selbst Buch zu führen.
Weil es sonst niemand tat. Die Weltgesund-
heitsbürokratie war mit sich selbst beschäftigt.
»Wir haben die wichtigsten Institutionen
angeschrieben: die WHO, die EU-Gesund-
heitsbehörde ECDC, die Johns-Hopkins-Uni-
versität in den USA«, berichtet er. »Keine
wollte von Anfang an die Impfdaten aller
Staaten erfassen.« Die WHO habe verlauten
lassen, man könne vielleicht von 2021 an
Daten sammeln, sofern es erforderlich sei.
Mathieu legte im Glauben los, das Daten-
konvolut lasse sich nebenbei erledigen. Doch
er musste ja für jedes Land die Zahlen auf-
treiben. Und viele veröffentlichten ihre Impf-
statistiken zu Anfang nur unsystematisch.
Er gab nicht auf, startete eine globale
Datensuche. Und weil ihm manche Behörden
Alexa Brunet / DER SPIEGEL
»Zahlenfreak« Mathieu
WIRTSCHAFT
weder Auskunft erteilten noch Informationen
auf ihren Homepages veröffentlichten, filzte
er die sozialen Netzwerke. »Damals haben
Gesundheitsminister, Regierungschefs oder
sogar Staatspräsidenten die Zahlen über ihre
Facebook- oder Twitter-Accounts kundge-
tan«, sagt er. Er schaute sich Videos von
Presse­konferenzen und Politikerreden an.
Durchforstete Presseerklärungen, »manchmal
in Sprachen, die ich selbst nicht spreche«.
Nach einer Weile kamen die Helfer: Frei-
willige aus vielen Nationen, die fasziniert wa-
ren von seiner Statistik. Sie übersetzten Do-
kumente, suchten nach aktuellen Zahlen und
Links zu Websites, auf denen die täg­lichen
Informationen kontinuierlich abrufbar waren.
»Von Weihnachten 2020 bis Ostern 2021 habe
ich jeden Tag zehn bis zwölf Stunden nur
Impfdaten gesucht, eingegeben, aktualisiert
und geprüft«, sagt Mathieu. Es zahlte sich aus.
Bald nahmen erste Staaten Kontakt zu ihm
auf. Sie schickten OWID ihre Zahlen immer
öfter so, dass sie das Start-up automatisch ver-
arbeiten kann. Manche Länder klappert Ma­
thieu aber bis heute über die sozialen Netzwer-
ke ab: Haitis Gesundheitsministerium veröffent-
licht bei Facebook, das Äthopiens auf Twitter.
Erst ein Vierteljahr nach Mathieu, im März
2021, stand die Impfstatistik der WHO. Nach
neun Tagen und drei Bitten um Auskunft er-
klärt die Organisation, warum sie so lange
brauchte: »Die Datenerhebung erfolgt über
die Regional- und Länderbüros.« Leider gebe
es »eine natürliche Verzögerung bei der Ein-
richtung eines Berichtssystems und der Kon-
solidierung von Daten über Länder und Re-
gionen hinweg«. Bis heute erhebt die WHO
nicht alle Daten selbst, sondern kopiert von
OWID die Zahlen für elf Staaten und Terri-
torien, darunter Russland und die Türkei.
Man habe meist »keine WHO-Repräsentan-
ten« vor Ort, so die Erklärung.
Der entscheidende Unterschied zwischen
Start-up und Uno-Behörde lässt sich wohl mit
zwei Attributen erklären: Flexibilität, Eigen-
initiative. Bei Mathieu löst das kein Triumph-
gefühl aus. Im Gegenteil: »In dieser Pandemie
werden die weltweit anerkanntesten Statisti-
ken nicht von der WHO erstellt, sondern von
Johns Hopkins bei Infektionen und Todes-
fällen sowie von uns bei Impfungen«, sagt er.
»Beides sind nicht staatliche Einrichtungen.«
Und es gebe auch private Statistikplattformen,
die nicht so sauber arbeiteten.
Er selbst würde gern noch detailliertere
Statistiken erstellen: etwa, wie umfassend die
besonders gefährdeten Risikogruppen in den
einzelnen Ländern geimpft sind. Aber selbst
er scheitert da noch an unzureichendem Roh-
material. Etwa vom Robert Koch-Institut.
»Die deutschen Zahlen sind ziemlich grob
unterteilt. Es gibt nur vier Altersgruppen«,
sagt der Franzose. »Alle anderen EU-Staaten
außer den Niederlanden schlüsseln sie genau-
er auf.« Warum es die Behörden im hoch ent-
wickelten Deutschland nicht besser hinbe-
kommen, ist Mathieu ein Rätsel.
Claus Hecking n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 73
WIRTSCHAFT
Wo der Pfusch boomt
IMMOBILIEN  Beim Hausbau liefern Handwerker immer öfter Murks ab.
Der Staat lässt die Eigentümer mit ihren Sorgen und Schulden allein.
Arbeiter auf Baustelle: »Viele Bauherren bedienen ihre Rechnungen viel zu treuherzig«
A
ndrea Brinkmeier und ihr Partner leben
in einem Zimmer von 18 Quadratme-
tern. Viel mehr als ein Bett, ein Schreib-
tisch und eine Kochzeile passt nicht hinein.
»Es ist kaum auszuhalten«, sagt sie. Das Fa-
milienweihnachtsfest im eigenen Zuhause fiel
aus, es fehlte der Platz für ihre drei Söhne und
den Hund.
Nur wenige Kilometer entfernt von ihrem
Miniapartment hätten sie problemlos feiern
können. Am Rand eines Vororts von Bielefeld
hat sich Brinkmeier mit ihrem Ex-Mann vor
einigen Jahren ein hübsches Einfamilienhaus
errichten lassen, mit Dachterrasse und klei-
nem Garten, so wie es der Traum vieler Fa-
milien ist. Doch hinter der weißen Fassade
blüht heute der Schimmel: Das Haus ist un-
bewohnbar.
Sie waren dort eingezogen, obwohl das
Gebäude noch nicht ganz fertig war. Mehrere
Räume waren nass, die Trockengeräte liefen
74 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Jochen Tack / IMAGO
Tag und Nacht. Der älteste Sohn musste beim
Vater unterkommen. »Das hat unsere Familie
auseinandergerissen«, sagt Brinkmeier. Denn
plötzlich habe die Familie keinen gemein­
samen Alltag mehr gehabt. Der Ärger be­
lastete sie enorm; einer der Söhne reagierte
allergisch auf die Feuchte, er nahm 18 Kilo
ab. Die Familie sah keinen anderen Ausweg:
Sie zog aus.
Seitdem streitet sich Andrea Brinkmeier
mit der Baufirma darüber, wer verantwortlich
für den Schimmelbefall und viele weitere
Mängel ist. »Ich will einfach nur, dass die Sa-
che geklärt wird und wir mit einem guten
Gefühl wieder einziehen können«, sagt sie
entnervt. Rund 68 000 Euro kostete sie die
Auseinandersetzung bereits, für Anwälte,
Gutachter, das Gericht.
Der Bauboom in Deutschland ist ungebro-
chen, trotz Pandemie. 2020 wurden rund
306 000 Wohnungen fertiggestellt, fast dop-
pelt so viele wie zehn Jahre zuvor. Doch der
unbedingte Wunsch nach den eigenen vier
Wänden zieht bisweilen böse Folgen nach
sich: Die Qualität auf den Baustellen sinkt,
es wird gepfuscht, dass sich die Balken biegen.
Verbraucherschützer und Anwälte berichten
von Jahr zu Jahr steigende Fallzahlen.
Die Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes
Bauen e. V. (Arge) hat gemeinsam mit dem
Verband Privater Bauherren (VPB) 1265 Prüf-
berichte von Bausachverständigen für Ein-
familienhäuser zwischen Februar 2017 und
März 2019 untersucht. Das Ergebnis: Ein ein-
wandfrei gebautes Haus ist alles andere als
die Regel.
Mängel fanden sich bei einem Viertel aller
Sanitärarbeiten, 22 Prozent aller Heizungs-
einbauten, bei jeder fünften Elektroinstalla-
tion und bei 15 Prozent der installierten Lüf-
tungsanlagen. Die Sachverständigen ermit-
telten in 58 Prozent der Fälle einen Schaden
von bis zu 5000 Euro pro Haus. Bei fast
40 Prozent betrugen die Kosten zur Behe-
bung der Mängel zwischen 5000 und 50 000
Euro. In 6 Prozent der Fälle übertrafen sie
sogar die Marke von 50 000 Euro.
Jedes neue Ein- oder Zweifamilienhaus
weist im Schnitt 23 Baumängel auf, so ein
Bericht des Bauherren-Schutzbunds (BSB)
von 2019. Betroffen sind meist Dächer, De-
cken, Fußböden, Wände und Haustechnik. In
fast jedem zweiten Fall traten die Mängel be-
reits vor der Fertigstellung des Rohbaus auf.
Wenn sie nicht frühzeitig erkannt werden, sei
das Schadenspotenzial besonders hoch. Denn
die Schäden zu beheben wird schwieriger,
wenn nachfolgende Gewerke den Pfusch
überbaut haben.
Verantwortlich für die Schlampereien ist
in erster Linie der ungeheure Termindruck,
der heute auf Deutschlands Baustellen
herrscht. Die Handwerker können sich vor
Aufträgen kaum retten, sie hetzen von Ein-
satzort zu Einsatzort. Und dann passieren
Fehler. Zudem macht sich der Fachkräfteman-
gel immer stärker bemerkbar, überall fehlt es
an qualifiziertem Personal.
VPB-Geschäftsführerin Corinna Merzyn
beobachtet seit Längerem, dass der Bera-
tungsbedarf in den Verbandsbüros deutlich
zunimmt. Besonders häufig treten laut
­Merzyn Probleme auf, wenn Kunden Objek-
te kaufen, die »schlüsselfertig« übergeben
werden. Sobald ein solcher Vertrag unter-
schrieben ist, haben Hausbauer kein Mit-
spracherecht mehr, welche Handwerks­
betriebe ein Generalunternehmer auf der
Baustelle einsetzt. Weil der Zeitdruck hoch
ist und Fachkräfte knapp sind, kommen
nicht selten ungelernte Subunternehmer zum
Einsatz.
Zugleich steigen die Anforderungen, ins-
besondere für den Klimaschutz. Häuser müs-
sen stärker gedämmt und so gut wie luftdicht
gebaut werden. Je mehr Schichten nötig sind,
desto komplexer wird das Vorhaben – und
desto höher ist die Fehleranfälligkeit. Wenn
bei einem ansonsten hochdichten Haus an
 WIRTSCHAFT

nur einer Stelle die Luft durchzieht, Zuleitungen zu den Heizungen ver­ Mängeln zu leben«, sagt Baurechts­
ist das Leck besonders anfällig für Der Bedarf ist tauscht hätten. Auch schienen ihr fachanwalt Bernd Kober, der auch
Schimmelbildung. »Früher musste
man hier weniger auf höchste Quali­
groß manche Materialien veraltet und bil­
lig. Einige Handwerker hätten ihr re­
Brinkmeier betreut. Erschwerend
kommt hinzu, dass Rechtsschutzver­
tät achten, weil es bauartbedingt zahl­ Baufertigstellungen gelrecht leidgetan, »die waren über­ sicherungen Baustreitigkeiten immer
reiche undichte Stellen gab«, sagt von Wohnungen* fordert«, sagt Brinkmeier. öfter ausschließen, den Versicherern
in Deutschland,
Merzyn. in Tausend Jetzt kann sie einem leidtun. Für ist das Risiko offenbar zu groß ge­
Die neue Bundesregierung kün­ ihre Bank sei das Haus wertlos, das worden.
digte an, dass dieses Jahr in Deutsch­ 300 Institut taxiere den Wert auf null Und selbst wenn es am Geld nicht
land 400 000 neue Wohnungen ge­ Euro. Rund 230 000 Euro hatte sie scheitert, ziehen sich die Auseinan­
baut werden sollen, um die Woh­ 200
für den Bau aufgenommen, Monat dersetzungen vor Gericht meist über
nungsnot zu bekämpfen. Expertinnen für Monat werden 964 Euro fällig, um Jahre hinweg. »Viele Baufirmen ver­
wie Merzyn erwarten, dass mit den die Kredite zu bedienen. schleppen Prozesse, wollen damit
ambitionierten Zielen das Baumän­ 100 Brinkmeiers Haus errichtete die Verbraucher aushungern und zu
gelproblem noch größer wird. Bau + Grund Nagel GmbH & Co. KG. einem Vergleich drängen«, sagt Ko­
Dass Andrea Brinkmeiers Haus Ein Anwalt der Firma teilte mit, sich ber. Besonders bitter wird es, wenn
Mängel aufweist, ist selbst für Laien 0 in einem laufenden ge­richt­li­chen Ver­ der Bauherr recht bekommt und das
unübersehbar. Die Decken im Dach­ 2010 2015 2020 fahren nicht äußern zu wollen. Bauunternehmen nach dem Gerichts­
geschoss sind ungewöhnlich niedrig. Andrea Brinkmeier kann sich den urteil in die Insolvenz geht. »Dann
* in Wohn- und
Die Familie wollte die Räume dort Nichtwohngebäuden Prozess nach ihrer Scheidung nur leis­ stehen Sie trotzdem mit leeren Hän­
vermieten, wenn die Kinder ausge­ S Quelle: Destatis ten, weil ihr neuer Partner ihr das den da«, sagt der Jurist.
zogen sind. Dann die böse Überra­ Geld für Gutachter und Anwalt aus­ Die Politik ignoriert das Problem
schung: Laut Bauamt gelten sie nicht legt. Die meisten Pfuschopfer verfü­ seit Langem, der letzte Bericht des
als Wohnfläche wie ursprünglich ge­ gen über solche Mittel nicht, sie ha­ Bundesbauministeriums über Schä­
plant, zu niedrig. ben oftmals ihr ganzes Geld in den den an Gebäuden stammt aus dem
Auch bei der Garage wurde in ge­ Bau gesteckt. Im Jahr 2020 wurde Jahr 1995. »Das wäre in etwa so, als
radezu schildbürgerhafter Weise ge­ jede vierte Erstfinanzierung vollstän­ hätte man in den Neunzigerjahren
schlampt: Die Eingangstür wurde an dig über ein Darlehen abgedeckt, vier TÜV-Berichte für Autos eingestellt«,
der falschen Stelle angebracht. Und Jahre zuvor waren es laut Berechnung kritisiert Peter Burk vom Institut für
bei der Gegensprechanlage vergaßen des Kreditvermittlers Dr. Klein noch Bauen und Wohnen. Es sei fatal, sagt
die Handwerker einfach, die Kabel rund 16 Prozent. er, dass die Bundesregierung seit Jah­
zur Tür zu verlegen. »Ich könnte Die Faustregel, wonach die Kun­ ren wegsehe, statt die Bürgerinnen
wahrscheinlich stundenlang weitere den mindestens 20 Prozent des Im­ und Bürger zu stärken.
Mängel zeigen«, sagt Brinkmeier, mobilienwerts aus eigenen Mitteln Zumal die Erfolgschancen höchst
während sie durch das Haus führt, Hausbesitzerin stemmen sollen, wird von vielen ungleich verteilt sind: Der Laie, der
Brinkmeier, Lebens-
mehr als 50 hat sie in einer Liste zu­ gefährte: »Die
Banken nicht mehr beherzigt. »Wer einmal im Leben baut, trifft auf ge­
sammengetragen. Handwerker waren dann keine Reserven für Rechtsstrei­ wiefte Bauträger, die es gewohnt sind,
Was ihr die meisten Sorgen berei­ überfordert« tigkeiten hat, ist gezwungen, mit den Objekte reihenweise abzuwickeln.
tet, ist indes der Schimmel. Brink­ Verbraucherschützer raten deshalb
meier bemerkte unmittelbar nach dazu, einen Sachverständigen zu be­
dem Einzug Verfärbungen im Arbeits­ auftragen, der den Baufortschritt be­
zimmer. Neben den Rollladenkästen gleitet. Der Aufwand kostet zwar
zogen sich Risse durch die Wand, der mehrere Tausend Euro, verringert
Putz platzte von den Wänden. »Im aber das Risiko, später böse Überra­
Sinne einer gesundheitlichen Vor­ schungen zu erleben.
sorge ist eine kurzfristige Nutzungs­ Es kann auch sinnvoll sein, bei
aussetzung empfehlenswert«, rät Mängeln Abschlagszahlungen nicht
der Schadstoffsachverständige Ger­ zu bedienen, zumindest teilweise,
hard Führer in einem 52-seitigen Gut­ oder Teile der Schlussrechnung ein­
achten. zubehalten. In der Rechtsprechung
Um die Mängel zu beheben, wä­ wird als angemessener Betrag ge­
ren aufwendige Sanierungen notwen­ wöhnlich das Doppelte der voraus­
dig. In mehreren Räumen müssten sichtlichen Beseitigungskosten erach­
Handwerker die Fußbodenkonstruk­ tet. »Viele Bauherren bedienen ihre
tion vollständig erneuern, den Wand­ Rechnungen viel zu treuherzig«, sagt
putz entfernen und neu aufbauen. Kober.
Ein Sachverständiger summiert die Bei Andrea Brinkmeier ist der er­
Kosten zur Mängelbeseitigung littene Schaden längst irreparabel –
auf 249 000 Euro. »Das käme einer auch wenn sie vor Gericht noch recht
Totalsanierung gleich«, sagt Andrea bekommt. Ihre Söhne hätten ohne
Brinkmeier. ein echtes Zuhause Abitur machen
Zu wenig Kontrolle kann man der müssen. Und sie selbst habe ihre
Bauherrin nicht vorwerfen. Fast jeden Feier­abende und Wochenenden mit
Lars Berg / DER SPIEGEL

Tag sei sie vor Ort gewesen und habe juristischen Schriftwechseln ver­
auf der Baustelle nach dem Rechten schwendet: »Diese verlorene Lebens­
gesehen, sagt sie. Manche Dinge sei­ zeit wird mir niemand wiederbringen
en ihr komisch vorgekommen. So be­ können.«
obachtete sie, wie Handwerker die Henning Jauernig n

Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 75

AUSLAND

Piroschka Van De Wouw / REUTERS

»Figaro, Figaro, Figarooo«: Aus Protest gegen die Coronamaßnahmen in den Niederlanden lässt sich eine Kundin die Haare in einem Konzertsaal
in Amsterdam frisieren, während drum herum das Concertgebouw-Orchester spielt. Mit dieser Aktion am Mittwoch in Dutzenden Theatern, Museen
und Musikhallen wehrt sich die niederländische Kulturszene dagegen, dass Friseursalons und Fitnessstudios aufmachen dürfen, Kulturstätten
­jedoch geschlossen bleiben. Sie setzten sich über das Verbot hinweg und luden zu Yoga und Haarschnitt, fast alle Termine waren sofort vergeben.

»Opa im Dienst«
ANALYSE   Italien sucht ein neues Staatsoberhaupt –
und liefert sich einen Wettstreit der alten
Männer. Welche Chancen hat Silvio Berlusconi?
Im Land der schnellen Machtwechsel gibt es eine Konstante:
Der Staatspräsident im Quirinalspalast soll Italien sicher durch
die vielen Regierungskrisen steuern. Nur alle sieben Jahre wird
im Parlament ein neues Staatsoberhaupt gewählt, ab Montag ist
es wieder so weit – entsprechend hektisch laufen die Sondie­
rungen. Bisher zeichnet sich ein Wettstreit der alten Männer ab.
Besonders ehrgeizig zeigte sich Silvio Berlusconi, 85. Der
umstrittene Ex-Ministerpräsident (Forza Italia) inszeniert sich
seit einiger Zeit als Elder Statesman. Erst bemühte er sich um das
rechte Lager, dann sammelte er fleißig Unterstützung im Parla­
ment ein, »Operation Eichhörnchen« tauften italienische Medien
die Aktion. Aber der Widerstand ist groß. Hunderttausende
unterschrieben eine Onlinepetition gegen den Cavaliere (»Der
Präsident muss Garant der Verfassung sein. Silvio Berlusconi
ist Garant von Korruption und Prostitution«). Drei ehemalige
Verfassungshofpräsidenten erklärten, Berlusconis Kandidatur
­»verletze die Würde der Republik«, und erinnerten daran, dass
er »für schwere Straftaten verurteilt« worden ist.
Stiller war es zunächst um Mario Draghi, 74. Er sei nur »ein
Opa im Dienst der Institutionen«, versicherte der Ministerpräsi­
dent vor Kurzem. Doch Ambitionen auf den Quirinalspalast hat
er nicht dementiert, in den vergangenen Tagen führte er diskret
zahlreiche Gespräche. Draghis Dilemma: Viele Partner seiner
»Regierung der nationalen Einheit« würden den populären Pre­
mier gern im Amt behalten. Würde er Staatspräsident, könnte
die nächste Krise drohen. Es ist unklar, wer an seiner Stelle das
labile Links-Mitte-Rechts-Bündnis, das von fast 90 Prozent der
Abgeordneten unterstützt wird, zusammenhalten könnte.
Und nun? Bis Donnerstagabend konnten sich die Parteien
nicht einigen. Vielleicht finden sie übers Wochenende eine all­
seits akzeptierte Person – oder die Wahlgänge ziehen sich ab
Montag tagelang hin. Möglicherweise schlägt aber auch die Stun­
de von Amtsinhaber Sergio Mattarella. Der scheidende Präsident
hat sich zwar eine neue Privatwohnung gesucht, aber er wird
für sein Krisenmanagement bewundert. Im Machtpoker von Rom
wäre der 80-Jährige für viele die bequemste Lösung. Frank Hornig

76 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022

 Wende im
Jemenkrieg?
NAHOST  Der Konflikt im Je-
men hat diese Woche die Ver-
einigten Arabischen Emirate
(VAE) erreicht. Drohnen-
und Raketenangriffe der jeme-
nitischen Huthi-Rebellen
haben laut Außenministerium
der Emirate am Montag eine
Explosion von Treibstofftanks
in einer Indus­triezone von
Abu Dhabi ausgelöst und drei
Arbeiter getötet.
Als Reaktion darauf flog die
von Saudi-Arabien und den
Emiraten geführte Militärkoali-
tion, die seit nunmehr sieben
Jahren gegen die Huthi Krieg
führt, Luftangriffe gegen Jemens
Hauptstadt Sanaa. Sie galten
dem Wohnhaus eines Huthi-
Militärführers. Außer ihm star-
ben 19 Menschen, unter ihnen
Frauen und Kinder.
Die Angriffe auf Abu Dhabi
dürften eine Reaktion der
Huthi-Rebellen darauf sein, dass
die VAE im Jemen seit einigen
Wochen wieder aktiver geworden
sind. Vasallentruppen der Emi-
Vater-Sohn-Komplex
SPANIEN  König Felipe VI. tut,
was er kann, um das angekratz-
te Image der spanischen Monar-
chie aufzubessern. Doch bei
­seinen Bemühungen funkt ihm
immer wieder sein Vater da­
zwischen. Der ehemalige König
Juan Carlos I. beherrscht der-
zeit wieder einmal die Schlag-
zeilen in Spanien.
Im Exil in Abu Dhabi soll er
laut der Zeitung »El País« mit
einem international gesuchten
Waffenhändler verkehren. Ab-
dul Rahman El Assir, 71, ist ein
alter Freund von Juan Carlos.
2018 ignorierte er mehrere Vor-
ladungen eines Madrider Ge-
richts. Ihm droht eine Verurtei-
lung wegen Steuerhinterzie-
hung. Inzwischen sucht ihn die
Juanjo Mar tin / AFP
Felipe, Juan Carlos
rate führen eine neue Offensive
gegen die Huthi an. Erstmals seit
mehreren Jahren gerieten die
von Iran unterstützten Rebellen
in die Defensive. Das weckte
Hoffnungen, dass sie an den
Verhandlungstisch bewegt wer-
den könnten. In den vergangenen
Monaten hatten die Huthi-
Befehlshaber diverse Gesprächs­
angebote abgelehnt, während sie
militärisch vorgeprescht waren.
Mit Drohnenangriffen kön-
nen die Huthi den Wirtschafts-
standort VAE empfindlich tref-
fen, weshalb sich die Frage
stellt, wie weit die Emirate mit
ihrem Engagement im Jemen
gehen würden. US-Präsident
Joe Biden sagte am Mittwoch,
er erwäge, die Huthi erneut als
Terrorgruppe zu klassifizieren.
Er hatte diese Einstufung
der Rebellen durch seinen Vor-
gänger Donald Trump zunächst
aufgehoben, weil es nicht die
in Schmuggel und Schatten­
wirtschaft versierten Rebellen
privat
sind, die unter den Folgen der
Strafmaßnahmen leiden –
­sondern vor allem Zivilistin-
nen und Zivilisten. BOL
spanische Justiz mit der Hilfe
von Interpol. Auch in Frank-
reich wird er juristisch verfolgt.
Laut »El País« soll nun aus-
gerechnet Juan Carlos den
Waffenhändler gefunden haben.
Demnach besuche El Assir
den Altkönig seit Monaten regel­
mäßig in der Privatresidenz in
Abu Dhabi, in der Juan Carlos
derzeit lebt. Der Ex-König
hatte Spanien im Sommer 2020
verlassen, weil die Justiz wegen
Steuerhinterziehung und Geld-
wäsche gegen ihn ermittelte.
Die Flucht aus dem Rampen-
licht schien damals wie der letz-
te Akt in der Korruptionsaffäre,
die seine ehemalige Geliebte
Corinna zu Sayn-Wittgenstein-
Sayn ins Rollen gebracht hatte.
Doch seitdem kommen regel-
mäßig neue Peinlichkeiten ans
Licht. Für das spanische Königs-
haus ist die Enthüllung unange-
nehm, auch Juan Carlos selbst
dürfte nicht begeistert sein.
Die spanische Presse spekuliert
seit Wochen, dass der Altkönig
am liebsten bald nach Hause
kommen würde und auf ein Zei-
chen seines Sohnes wartet. Ein
paar skandalfreie Monate wären
da sicher hilfreich gewesen. SLÜ
Grundschüler in Kampala
»Wie im Gefängnis«
UGANDA  Juristin Geraldine Kabami über die Folgen
der coronabedingten Schulschließungen
Kabami, 37, arbeitet
für die Friedrich-
Ebert-Stiftung in
Kampala und
ist Mutter von drei
kleinen Jungen.
SPIEGEL: Frau Kabami, nach
fast zwei Jahren können
Ihre Kinder wieder zur Schule,
wie erleichtert sind Sie?
Kabami: O, sehr erleichtert!
Die vergangenen Monate waren
äußerst schwierig. Meine Kin-
der sagten, sie lebten wie im
Gefängnis, und raten Sie, wer in
ihren Augen der Gefängniswär-
ter war? Ich natürlich – eine
berufstätige Mutter mit maulen-
den Kindern im Homeoffice.
Am schlimmsten war diese Un-
gewissheit, wann unsere Kinder
wieder lernen können und
welche Auswirkungen die lange
Auszeit auf ihre Bildung
haben wird. Diese Angst treibt
mich immer noch um.
SPIEGEL: Die arme Landbevöl-
kerung traf es noch härter …
Kabami: Die hatte laut offi­
ziellen Schätzungen 2021 weni-
ger als eine Mahlzeit pro Tag,
weil die Schulspeisungen weg-
fielen und viele Eltern nicht
mehr für das Essen ihrer Kinder
aufkommen konnten.
SPIEGEL: Warum dauerten die
Schulschließungen so lange?
Kabami: Weil unser Gesund-
heitssystem schon vor Corona
überfordert war mit HIV und
Malaria und die Armen links
liegen lässt. Dazu kommt, dass
viele Haushalte weder Internet
noch Strom haben. E-Learning
Esther Ruth Mbabazi / The New York Times / Redux / laif
und Homeschooling waren also
nur etwas für Eliten. All das
war ein empfindlicher Rück-
schritt, denn Uganda hatte eines
der fortschrittlichsten Schulsys-
teme Afrikas, der Grundschul-
besuch war kostenlos. Und jetzt
interessieren sich viele Kinder
plötzlich nicht mehr fürs Lernen …
SPIEGEL: Kann man Lernen
denn verlernen?
Kabami: Man vergisst, wie es
geht. Schule gilt für viele plötz-
lich als Zeitverschwendung.
Denn im Corona-Alltag sind an-
dere Dinge in den Vordergrund
gerückt: Isolation, Einsamkeit,
Gewalt; in der Folge auch
Antidepressiva und Betäubungs­
mittel – all das klingt drama-
tisch, und das ist es auch.
SPIEGEL: Wie viele der 10 Mil-
lionen Schulkinder werden
zurück in die Schule gehen?
Kabami: Laut Schätzungen viel-
leicht nur 60 Prozent. Dann
würden vier von zehn Schülern
fehlen. Das wäre eine Katastro-
phe, Uganda kann sich eine ver-
lorene Generation nicht leisten!
SPIEGEL: Was wird aus den Ab-
brechern?
Kabami: Hilfsarbeiter oder
­Bodaboda-Fahrer, so heißen bei
uns Motorradtaxis.
SPIEGEL: Wer zählt zu den größ-
ten Verlierern der Pandemie?
Kabami: Ganz eindeutig die
Mädchen. Teenagerschwanger-
schaften haben in erschrecken-
dem Maß zugenommen, ebenso
sexueller Missbrauch und Kin-
derehen. Dagegen kämpfen wir
seit Jahren, das sind weitere
Rückschritte. FIO
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 77
AUSLAND
Prophet und Provokateur
USA  Peter Thiel ist einer der reichsten Männer der Welt, er hat aus seinen reaktionären Überzeugungen und
seiner Skepsis gegenüber der Demokratie nie einen Hehl gemacht. Nun mischt er sich in die Politik ein.
I
m vergangenen Herbst stand einer der
reichsten Männer der Welt auf einer Büh-
ne in Orlando und sprach von seinem
Ekel vor der Welt der Reichen. Es ging nicht
um Villen und Jachten, die Statussymbole der
Milliardäre. Peter Thiel redete über das World
Economic Forum in Davos. Für gewöhnlich
treffen sich Politik und globale Finanzelite
jedes Jahr in den Schweizer Alpen, es soll ein
Ort der Ideen und der Debatte sein, so preist
sich das Treffen selbst an, das im Jahr 1971
von dem deutschen Ökonomen Klaus Schwab
gegründet wurde.
78 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Blake Masters
35, Manager bei
Thiel Capital
und Senatskandidat
für Arizona
Aber für Thiel ist es der Inbegriff der geis-
tigen Ödnis, eine totalitäre Dystopie. In Da-
vos gebe es keine eigenständig denkenden
Menschen mehr, sagte Thiel in Orlando, nur
Interessenvertreter: Vorstände von Konzer-
nen, Staatschefs, die Bosse von Nichtregie-
rungsorganisationen. Es sei ein Ort, an dem
man einen Blick in eine Zukunft erhaschen
könne, in der kein Widerspruch mehr existie-
re, sondern nur noch ein »hirntoter Borg«.
Die »Borg« sind eine kybernetische Spe-
zies aus der Weltraumserie »Star Trek«, die
von Planet zu Planet zieht und die dortigen
Peter Thiel
54, PayPal-
Mit­gründer und
Multimilliardär mit
düsteren Visionen
Ar t Streiber / AUGUST
Bewohner assimiliert. Ihr Schlachtruf lautet:
»Widerstand ist zwecklos!« Thiel sprach nur
20 Minuten, aber in der Rede steckten alle
Ideen und Widersprüche des Internetmilliar-
därs. Sein endzeitlicher Pessimismus, seine
Skepsis gegenüber einer globalen Ökonomie,
seine Furcht vor einer angeblichen linken
Meinungsdiktatur.
Das Silicon Valley hat Thiel zu einem reichen
Mann gemacht, sein Vermögen liegt laut Schät-
zungen irgendwo zwischen zwei und acht Mil-
liarden Dollar. Er hat den Bezahldienst PayPal
mitgegründet und war der erste externe Inves-

tor der Internetplattform Facebook, in
deren Verwaltungsrat er bis heute sitzt.
Doch Thiel war immer auch ein Außen-
seiter in der kalifornischen Techwelt,
in der sich bis heute ein hippiehafter
Fortschrittsglaube gehalten hat: die Zu-
versicht, dass Technik und das Netz
dabei helfen werden, die Welt in ein
digitales Paradies der Demokratie und
Gerechtigkeit zu verwandeln. Diese
Hoffnung hat Thiel nie geteilt. Wäh-
rend des Arabischen Frühlings, als die
Welt in dem Kurznachrichtendienst
Twitter noch ein Werkzeug der Be-
freiung sah, spottete er: »Man ver-
sprach uns fliegende Autos, stattdessen
bekamen wir 140 Zeichen.«
Wie viele im Silicon Valley ist Thiel
ein Libertärer, der sich nichts vor-
schreiben lassen will, schon gar nicht
von Politikern. Seine Staatsverach-
tung reicht so weit, dass er vor mehr
als zehn Jahren zum Anhänger der
»Seasteading«-Bewegung wurde, die
sich mit künstlichen Inseln auf dem
Meer dem Nationalstaat entziehen
wollte. Politik sei im Grunde nichts
anderes als kollektiver Hass einer
Gruppe auf die andere, sagte Thiel in
einem Interview mit dem Journalisten
Tim Cavanaugh im Jahr 2010.
Nun schickt sich Thiel an, selbst
Politik zu machen, als Strippenzieher
einer populistischen Bewegung. Er hält
Reden, spendet Millionen und unter-
stützt den Senatswahlkampf von Kan-
didaten, die seine düstere Weltsicht
teilen. Als »Trumpismus ohne Trump«
beschreibt sein Biograf Max Chafkin
Thiels Projekt. In den kommenden
Wochen soll Österreichs Ex-Kanzler
Sebastian Kurz als »Global Strategist«
bei Thiel Capital anfangen. Eine klas-
sische Investmentfirma ist Thiel Capi-
tal nicht, eher ein Beraterkreis. Kurz
ist der erste prominente Europäer und
Ex-Politiker in diesem Zirkel – für Bio-
graf Chafkin ein Zeichen, dass Thiels
politische Ambitionen weit über die
Grenzen der USA hinausreichen.
Thiel wird häufig als Konservativer
beschrieben, aber das führt in die Irre.
Er stellt das Konzept der Demokratie
grundsätzlich infrage. Im April 2009
veröffentlichte er im Magazin des
­Cato-Instituts einen Essay, der auf
kuriose Weise utopisch und reaktio-
när zugleich ist. Gleich zu Beginn
schreibt Thiel, dass er nicht nur gegen
überhöhte Steuern und totalitäre Kol-
lektive sei, sondern auch die Ideolo-
gie ablehne, »dass der Tod eines jeden
Individuums unvermeidbar« sei.
Er habe den Glauben daran ver-
loren, dass Freiheit und Demokratie
noch miteinander vereinbar seien,
fuhr Thiel fort und beschrieb die
Zwanzigerjahre des vergangenen Jahr-
AUSLAND
hunderts als die letzte Phase in der 1,25 Millionen Dollar unterstützt.
Gut investiert Geschichte der USA, in der es noch Nach Trumps Wahlsieg saß Thiel in
möglich gewesen sei, optimistisch in dem Team, das den Einzug Trumps
Firmennetzwerk im die Zukunft zu blicken. Später hätten ins Weiße Haus vorbereiten sollte.
Umfeld von Peter Thiel
(Auswahl) die Zunahme staatlicher Wohlfahrts- Gut zwei Jahre danach, im Frühjahr
empfänger und die Ausweitung des 2019, erhielt Palantir, eine von Thiel
Mitgegründete Frauenwahlrechts dafür gesorgt, »dass mitgegründete Softwarefirma, vom
Unternehmen
PayPal (1998–2002)
die Idee einer ›kapitalistischen Demo- US-Verteidigungsministerium den Zu-
Palantir (seit 2004) kratie‹ zu einem Widerspruch in sich schlag für einen Auftrag in Höhe von
wurde«. Der Aufsatz sorgte aus offen- mehr als 800 Millionen Dollar – bis
Mitgegründete kundigen Gründen für Aufregung, und dahin der größte Deal mit der US-Ar-
Start-up-Fonds
Founders Fund,
Thiel sah sich zu einer Klarstellung mee in der Firmengeschichte. Inzwi-
Valar Ventures etc. genötigt, die er mit einem grundsätz- schen ist das Verhältnis zwischen Thiel
Investments u.a. in lichen Vorbehalt gegen die Demokra- und Trump zwar abgekühlt. Sein In-
Facebook, Airbnb, tie verband: »Wiewohl ich denke, dass teresse an der Politik hat der Tech­
Stripe, N26, Spotify, niemand vom Wahlrecht ausgeschlos- unternehmer aber nicht verloren.
Trade Republic
sen werden sollte, habe ich doch wenig Am Samstag trat Trump in Flo­
Andere von Thiel Hoffnung, dass Wahlen die Dinge zum rence auf, einem Wüstenstädtchen in
gegründete Fonds Besseren wenden«, schrieb er. Arizona. Während der Ex-Präsident
Clarium Capital Umso überraschender war, dass seinen Nachfolger Joe Biden als »Ka-
Wetten auf makro-
ökonomische Trends Thiel im Juli 2016 – vier Monate vor tastrophe« beschimpfte und das Bild
Thiel Capital der Präsidentschaftswahl – auf dem eines Amerika zeichnete, das in In-
Investments und Parteitag der Republikaner auftrat. flation und Kriminalität versinkt, saß
politische Spenden;
Sebastian Kurz tritt hier Er sei Unternehmer, kein Politiker, Blake Masters in der ersten Reihe und
demnächst eine Position sagte Thiel, das verbinde ihn mit Do- applaudierte. Nachdem Trump gut
als Global Strategist an.
nald Trump. Die USA hätten den Mut eine Stunde gesprochen hatte, be-
Geschätztes verloren, sich große Ziele zu setzen. grüßte er neben einigen Getreuen im
Privatvermögen »Statt auf den Mars zu fliegen, sind Publikum auch Masters, »einen sehr
zwischen 2,8 (Forbes) wir in den Nahen Osten einmar- erfolgreichen, wirklich ganz tollen
und 8,6 (Bloomberg) schiert«, sagte Thiel und begründete Typen«.
Milliarden Dollar
seine Wahlempfehlung für Trump mit Masters ist Manager bei Thiel Ca-
S Grafik
der Hoffnung, dass dieser die USA in pital und einer der engsten Mitarbei-

ein Land verwandeln könne, das sich ter des Techmilliardärs. Nun kandi-
wieder auf seine Wurzeln besinne. diert der 35-Jährige als Senator für
Thiel war zweifellos angezogen Arizona, Thiel unterstützt die Kam-
vom Anti-Establishment-Reflex der pagne mit mehreren Millionen Dollar.
Trump-Bewegung, aber es dürften Die beiden Männer lernten sich in
auch ökonomische Gründe für die Stanford kennen, wo Masters – wie
Verbindung mit dem Immobilien- einst Thiel – Jura studierte. Später
unternehmer gesprochen haben. Laut half Masters seinem Chef, das Buch
Chafkin wickelt Thiel seine Invest- »Zero to One« zu schreiben, in dem
mentgeschäfte über rechtlich dubiose Thiel jungen Unternehmern rät, ein
Steuersparmodelle ab, was dazu ge- Monopol anzustreben, statt sich im
führt habe, dass Thiel von einer pa- Wettbewerb mit Konkurrenten auf-
nischen Angst besessen sei, eine linke zureiben. Das Buch wurde zur ideo-
Regierung würde eines Tages mit logischen Fibel der »The winner takes
einer milliardenschweren Steuerfor- it all«-Mentalität im Silicon Valley.
derung vor der Tür stehen. Politisch liegt Masters auf der Linie
Thiel hat die Präsidentschafts­ seines Chefs. Vor wenigen Tagen trat
kampagne Trumps im Jahr 2016 mit er in einem Podcast mit dem Titel
»Wie man einen Wahlkampf wie ein
Start-up managt« auf. Seine erste
Priorität sei, die Grenze zu Mexiko
zu schließen, sagte Masters. Außer-
dem wolle er große Techkonzerne wie
Facebook und Twitter regulieren,
weil sie konservative Stimmen kne-
belten. Masters verlangte auch, Fa-
milien besser zu fördern, damit Haus-
frauen nicht in einen bezahlten Job
Tasos Katopodis / Getty Images
gezwungen werden. »Die traditionel-
le Familie ist bedroht, auch durch den
wirtschaftlichen Niedergang«, erklär-
te Masters, dessen Frau die drei Kin-
der zu Hause unterrichtet.
Durch Masters’ Kampagne ziehen
sich die Widersprüche, die auch
Politiker Trump: »Ein wirklich ganz toller Typ« Thiels Weltbild prägen. Thiel hat da-
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 79
AUSLAND
bei geholfen, Facebook zu einem Monopolis-
ten zu machen – nun beklagt er sich darüber,
dass Techfirmen angeblich konservative Stim-
men mundtot machten. Masters kämpft gegen
die Globalisierung und für konservative Fa-
milienwerte – und wird von einem schwulen
Milliardär unterstützt, der sein Geld auf den
internationalen Finanzmärkten vermehrt.
Wie Blake Masters verdiente auch der Au-
tor J. D. Vance sein Geld als Angestellter des
Thiel-Imperiums, und wie Masters versucht
Vance nun mit Thiels Hilfe, als Anti-Establish-
ment-Kandidat in den Senat einzuziehen.
Vance ist in Middletown aufgewachsen, einer
Stahlstadt im Mittleren Westen, durch die der
Sturm der Globalisierung gefegt war und In-
dustriearbeitsplätze vernichtet hatte. Weil
seine Mutter ihr Leben lang Drogenprobleme
hatte, wuchs er bei den Großeltern auf. Spä-
ter ging er zu den Marines und studierte Jura
in Yale. Sein Buch »Hillbilly Elegy« über sei-
ne Jugend in Ohio wurde ein Bestseller, weil
es eine Erklärung für die Wut des weißen
Amerika und den Aufstieg Trumps lieferte.
Vance läuft sich seit Monaten für die Kon-
gresswahlen im November warm, im Herbst
konnte man ihm im Hinterzimmer eines Res-
taurants in Steubenville im Bundesstaat Ohio
zuhören. Er schimpfte dort auf die demokra-
tische Elite in Washington, die fleißig dabei
geholfen habe, Jobs nach China und Mexiko
zu verschiffen. Er stimme zwar nicht in jedem
Punkt mit seinem Geldgeber überein, sagte
* Hier eine zweizeilige Fußnote. Nequatquia
que a volupta tenita pra nonseque magnatia.
Peter Duke
Autor Yarvin
er, aber bei seinem Kampf gegen die Über-
macht der Techindustrie sei Thiel ein echter
Verbündeter. Und dies sei das politisch wich-
tigste Schlachtfeld. »Wenn wir ohne Google,
Facebook oder Amazon nicht mehr unsere
Meinung sagen können, dann haben wir in
diesem Land keine echte Demokratie mehr.«
Thiel versucht mit seinen beiden Kandida-
ten Vance und Masters eine Art Revolution
von oben. Es ist, je nach Sichtweise, die Rache
des Silicon Valley an Washington – oder der
gigantische Bluff eines Milliardärs, der sich
politischen Einfluss sichern will, um auch in
Zukunft steueroptimiert seine Geschäfte be-
treiben zu können. In einem Interview nann-
te Masters die Steuertricks von Thiel brillant.
Vance wiederum, der Kämpfer für die Arbei-
ter im Mittleren Westen, besuchte im Sommer
ein exklusives Treffen in den Hamptons, um
für seine Kampagne Spenden einzutreiben –
unter anderem bei der rechten Milliarden-
erbin Rebekah Mercer und dem Medien­
mogul Steven Price.
Politik und Geschäft bildeten für Thiel im-
mer eine Einheit. PayPal war für ihn ein Ins-
trument, sich den Regeln des Nationalstaats
zu entziehen. Der Zahlungsdienstleister wur-
de schnell nach seiner Gründung im Jahr 1998
zu einer Plattform für illegale Geldtransfers.
Nachdem das Unternehmen eine Software
entwickelt hatte, um betrügerische Kunden
zu identifizieren, nutzte Thiel dies für den
Sprung in sein nächstes Projekt. Die Algorith-
men, die PayPal-Konten nach schmutzigem
Geld durchkämmten, bildeten die Grundlage
für eine Technologie, mit der die 2004 ge-
gründete Firma Palantir in Datenbergen nach
Terroristen suchte. Als Thiel im selben Jahr
500 000 Dollar in das soziale Netzwerk von
Mark Zuckerberg steckte, sah er in dem da-
mals 20-jährigen Harvard-Studenten wohl
eine jüngere Version seiner selbst: intelligent,
getrieben von Ehrgeiz, aber auch bereit, für
den Erfolg alle Regeln zu brechen.
Solange Vance und Masters ihre Wahlen
nicht blamabel verlieren, wäre jeder Ausgang
ein Gewinn für Thiel, glaubt sein Biograf
Chafkin: »Er ist jetzt als Großspender be-

kannt, von dem man einen 10-Millionen-
Scheck bekommen kann. Viele Republikaner
werden versuchen, Thiel zu gefallen.« Aber
dass er Kandidaten im Wahlkampf unter-
stützt, heißt noch lange nicht, dass Thiel noch
an die Demokratie glaubt.
Auf der »National Conservatism Confe-
rence« in Orlando, auf der Thiel mit so viel
Verve gegen die Finanzelite gewütet hatte,
lief ein Programmierer mit langen Haaren
und Lederjacke durch die Reihen, den man
eher auf einem Hackerkongress vermuten
würde als auf einem Treffen der rechtsintel-
lektuellen Elite. Er heißt Curtis Yarvin, be-
trieb unter dem Pseudonym Mencius Mold-
bug den Blog »Unqualified Reservations« und
ist der Held einer kleinen, neomonarchisti-
schen Gemeinde in den USA. Yarvin vertritt
die These, dass sich die USA seit dem New
Deal in den Dreißigerjahren im Griff einer
bürokratischen Elite befinden, die unabhängig
von dem gewählten Präsidenten agiert.
Wenn man mit Yarvin spricht, macht er aus
seinem Respekt vor dem kommunistischen
Regime in China kein Geheimnis. Allerdings
wünscht er sich für seine Heimat eher die un-
umschränkte Herrschaft eines Unternehmers.
Yarvin hat Tesla-Chef Elon Musk im Sinn,
dem er die Kraft zutraut, das Land in ein blü-
hendes Techkönigreich zu verwandeln. Ein
Gespräch mit Yarvin ist eine wilde, dunkle
Reise: Es geht um die Wähler Adolf Hitlers,
den Historiker Ernst Nolte, den europäischen
An.
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ganz intuitiv
warm, kalt,
hell, dunkel,
das Laut oder
Leise in Ihrem
Smart Home.
Es ist ja alles
möglich in der
Welt zwischen
An und
Aus.
Mehr erleben.
»Viele Republikaner
­werden versuchen, Thiel
zu gefallen.«
Max Chafkin, Thiel-Biograf
Bürgerkrieg und die Pariser Tagebücher Ernst
Jüngers. Wenn man ihm entgegenhält, dass
ein Freak wie er in einer Monarchie zuallererst
im Kerker verschwinden würde, erwidert Yar-
vin, Voltaire habe am Hofe Friedrichs des
Großen auch enorme Freiheiten genossen.
Thiels Biograf Chafkin schreibt, Yarvin sei
eine Art Hausphilosoph von Thiels staatsfeind-
licher Bewegung. Yarvin sagt, das sei Unsinn.
Der Milliardär habe nur einmal 250 000 Dol-
lar in sein Start-up investiert. Sicher ist, dass
sich in den Aufsätzen und Reden Thiels über-
all Spuren von Yarvins Denken finden – und
umgekehrt: der dunkle Fin-de-Siècle-Ton, die
Skepsis gegenüber Mehrheitsentscheidungen,
der Glaube an die erlösende Kraft des genia-
lischen Unternehmers. Nach den Attentaten
vom 11. September 2001 sponserte Thiel an
der Stanford University einen Kongress unter
dem Titel »Die Politik und die Apokalypse«.
Später erschien sein Beitrag als Aufsatz unter
dem Titel »The Straussian Moment«, eine An-
spielung auf den deutsch-amerikanischen Phi-
losophen Leo Strauss, einen scharfen Kritiker
der Aufklärung.
AUSLAND
In dem Aufsatz stellt Thiel die Frage, ob der
Westen in der Lage sei, den Kampf mit religiö-
sen Fanatikern aufzunehmen – und ob es nicht
an der Zeit sei, sich von den liberalen Werten
der Aufklärung zu verabschieden. Thiel ver-
wendet in dem Aufsatz eine Wendung, die
Yarvin auf seiner Website zitiert: »die rote Pil-
le schlucken«. Sie stammt aus dem Film »Ma-
trix«, in dem der Held Neo die Wahl bekommt,
entweder eine blaue Pille zu nehmen und wei-
ter in der Illusion zu leben, er führe eine selbst-
bestimmte Existenz – oder mit der roten Pille
aus der »Matrix« auszubrechen.
Man muss Thiel zugutehalten, dass er im
Gegensatz zu vielen Silicon-Valley-Größen
wenigstens zu seinen politischen Überzeugun-
gen steht. Während Zuckerberg, der mit Face-
book die wohl schlimmste digitale Hassma-
schine in der Geschichte der Menschheit ge-
schaffen hat, immer noch so tut, als sei ihm
die Demokratie wichtiger als sein Konto,
machte Thiel aus seinem reaktionären Herzen
nie eine Mördergrube. In Orlando sagte er
zum Schluss seiner Rede, es sei endlich wieder
an der Zeit, in den USA Konfettiparaden für
die Helden der Ge­genwart abzuhalten. Thiel
schlug eine mythenumrankte Figur vor, die in
libertären Kreisen kultische Verehrung ge-
nießt: Satoshi Nakamoto, der angeblich Bit-
coin erfunden hat – jene Währung also, mit
der die Superreichen sich der Kontrolle des
Staats entziehen wollen.
Alexander Demling, René Pfister n
Der Gira G1:
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AUSLAND
»Das ist ganz schön tief
reingegangen«
ÖSTERREICH  Der neue Bundeskanzler Karl Nehammer will die Politik
von Sebastian Kurz fortsetzen. Ein Korruptionsproblem seiner Partei?
Sieht er nicht.
Nehammer, 49, ist nach den Rücktritten der
Bundeskanzler Sebastian Kurz und Alexander
Schallenberg der dritte österreichische Regie-
rungschef innerhalb weniger Monate. Der im
Rang eines Leutnants ausgeschiedene Berufs-
soldat diente zuletzt als Innenminister und
steht für eine restriktive Linie in Fragen der
Zuwanderung. Seine anstehende Wahl zum
Vorsitzenden der christlich-konservativen Ös-
terreichischen Volkspartei (ÖVP) und somit
zum Nachfolger des einstigen Hoffnungsträ-
gers Kurz gilt als gesichert. Nehammer er-
scheint zum Interview im Kanzleramt am
Wiener Ballhausplatz mit 20 Minuten Ver-
spätung, aber bestens gelaunt.
SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, Sie waren bis
zum Wochenende in Quarantäne wegen einer
Coronainfektion. Wie geht es Ihnen jetzt?
Nehammer: Gott sei Dank sehr gut. Ich war
immer voll arbeitsfähig, auch weil ich dreimal
Politiker Nehammer: »Die rote Linie ist fix«
82 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
geimpft bin. Kaum Symptome, leichter Ver­
lauf, kein Verlust des Geschmackssinns.
SPIEGEL: Fotos zeigen Sie maskenlos und bier­
trinkend auf einer Skihütte – kurz vor der
Infektion. Kann es sein, dass selbst Sie als
Regierungschef das Virus unterschätzt haben?
Nehammer: Nein. Ich habe aus dem Augen­
winkel beobachtet, dass wir da ständig foto­
grafiert werden. Ich habe dann darum gebe­
ten, dass die Fotos, auf denen meine Kinder
auch zu sehen gewesen wären, gelöscht wer­
den. Sie können sicher sein: Ich unterschätze
dieses Virus keineswegs. Und ich kann Ihnen
sagen: Das Impfen fühlt sich gut an, ich bin
froh, dass wir diese Möglichkeit haben.
SPIEGEL: In Österreich soll ab Februar die
Impfpflicht gelten. Verweigerern drohen Buß­
gelder von bis zu 3600 Euro. Wie wollen Sie
das überhaupt kontrollieren?
Nehammer: Das ist gar nicht das große Pro­
blem. Wir haben in Österreich schon jetzt
Reiner Riedler / DER SPIEGEL
die strenge 2G-Regelung. 38 000 Kontrollen
pro Tag, das funktioniert. Aber wichtig ist: Wir
wollen die Impfpflicht nicht überfallsartig ein­
führen. Es wird eine sechswöchige Einfüh­
rungsphase geben, in der wir versuchen, auch
jene Menschen zu erreichen, die Ängste haben.
Die Impfpflicht betrachten wir als Ultima Ratio.
Wir würden sie nicht einführen, wenn wir eine
Impfquote wie Spanien oder Portugal hätten.
SPIEGEL: Österreich kämpft mit jeder Menge
Affären, Sie sind der dritte Kanzler binnen
zwei Monaten. Wie wollen Sie Vertrauen bei
den europäischen Partnern wiedergewinnen?
Nehammer: Durch Kontinuität und Klarheit.
Wir haben vom österreichischen EU-Beitritt
maßgeblich profitiert. Die EU ist das gelun­
genste Friedensprojekt in der Geschichte des
Kontinents. Mein Großvater hat den Ersten
Weltkrieg und viele Schlachten durchlebt, ich
weiß, wie viel Blut da geflossen ist. Im Übri­
gen bin ich ein Anhänger der Subsidiarität –
große Probleme auf großer Ebene lösen, klei­
nere dort, wo sie hingehören.
SPIEGEL: Kein Kanzler der Zweiten Republik
hat sich auf europäischer Ebene lautstärker
und kontroverser zu Wort gemeldet als Ihr
Vorvorgänger Sebastian Kurz – zur Migra­
tion, bei gemeinsamen Schulden oder Coro­
na. Wollen Sie seinen Kurs fortsetzen?
Nehammer: Sie sprechen das Thema Migra­
tion an. Schon als Innenminister habe ich ge­
sehen, wie wenig da in der EU an Fakten be­
kannt ist. Österreich ist ein Vorbild, wenn es
darum geht, Menschen Schutz zu gewähren.
Wir haben die zweitgrößte afghanische und
eine der größten tschetschenischen Gemein­
schaften innerhalb der EU. Da sind die Innen­
ministerkollegen oft sehr erstaunt, wenn sie
das hören – auch darüber, was das nicht zu­
letzt sicherheitspolitisch bedeutet. Wenn Ös­
terreich sagt, die Asyl- und Migrationspolitik
der Europäischen Union ist fehlgeschlagen,
der EU-Außengrenzschutz funktioniert nicht,
dann passiert das nicht aus einem vermeint­
lich fehlgeleiteten, nationalen Interesse heraus,
sondern aus einem gemeinschaftlichen.
SPIEGEL: In der Debatte um die Gaspipeline
Nord Stream 2 haben Sie sich bis vor Kurzem
für deren rasche Inbetriebnahme ausgespro­
chen. Müssen Sie angesichts der jüngsten Dro­
hungen durch Russland gegen die Ukraine
Ihre Position nicht dringend überdenken?
Nehammer: Nord Stream 2 ist eine notwen­
dige ressourcentechnische Einrichtung, um
Versorgungssicherheit in Europa zu gewähr­
leisten. Wichtig ist, dass wir da europäisch
abgestimmt vorgehen. Wir wissen uns an der
Seite der Bundesrepublik Deutschland. Öster­
reich hat sich immer als Brückenbauer ver­
standen. Meine Meinung: Eine Pipeline an
sich als Drohkulisse zu sehen, das ist eher
ungeeignet, insbesondere wenn es um die Ver­
sorgungssicherheit Europas geht.
SPIEGEL: Sagen Sie das, weil der teilstaatliche
österreichische Energieversorger OMV an der
Pipeline Interessen hat?
Nehammer: Nein, uns geht es darum, dass Nord
Stream 2 Versorgungssicherheit bedeutet.

SPIEGEL: Würden Sie bei einem russischen Ein-
marsch in die Ukraine Ihre Haltung ändern?
Nehammer: Für eine Verschärfung des Sank-
tionsregimes wäre Nord Stream 2 viel zu
klein. Aber grundsätzlich gilt: Die rote Linie
ist fix. Es gibt keine Toleranz für Politik mit
Gewalt. Das hat die EU gegenüber der Rus-
sischen Föderation immer klargemacht.
SPIEGEL: Vor der letzten Bundestagswahl
warnte Sebastian Kurz vor einem »Totalaus-
fall Deutschlands« für den Fall einer links-
gerichteten Regierung. Wie gehen Sie persön-
lich mit dem »Totalausfall« Olaf Scholz um?
Nehammer: Wir haben uns beim Europäi-
schen Rat kennengelernt. Deutschland ist für
uns ein wichtiger Partner, nicht nur, was die
Wirtschaftsbeziehungen betrifft. Man muss
noch sehen, wie die neue Bundesregierung
ihre nachbarschaftlichen Verhältnisse defi-
niert. Ich freue mich auf den Dialog. Im Üb-
rigen hat man durch das Coronavirus gesehen,
wie anachronistisch Grenzen und wie wichtig
gute Beziehungen sind. Entscheidend ist ja
nicht in der EU, welcher Partei ein Regie-
rungschef angehört. Sondern ob wir eine De-
finition für die gemeinsamen Interessen fin-
den. Das ist politisches Handwerk.
SPIEGEL: Ist die EU, wie so mancher behaup-
tet, in der schwersten Krise aller Zeiten?
Nehammer: Der Austritt Großbritanniens war
mit Sicherheit eine Zäsur. Ich hoffe, dass man
mir als Österreicher dieses Urteil nicht als
Anmaßung auslegt, aber ich halte diesen
Schritt für einen schweren Fehler. Großbri-
tannien hatte ein massives Migrationsthema,
einen erheblichen Teil an EU-Binnenmigra-
tion, und die Kommission war sehr lange nicht
bereit, sich mit diesem Thema auseinander-
zusetzen. Das war zwar nicht der alleinige
Grund, aber ein Motor für die spätere Aus-
trittsbewegung.
SPIEGEL: Könnte Migration zur Schlüssel­frage
für das Überleben der EU werden?
Nehammer: Ja, zumindest eine der Schlüssel-
fragen. Sie ist in der Lage zu destabilisieren
und auch radikale Kräfte in Regierungen der
EU zu spülen, das sind ja destruktive Wirkun-
gen. Schauen Sie sich bitte die Zahlen an: 24
EU-Staaten leisten in der Frage von Schutz-
gewährung weniger als Österreich. Also, ich
muss mir von Ländern wie Luxemburg und
anderen nicht vorschreiben lassen, was ich zu
tun habe und wie das funktionieren soll mit
Menschenrechten. Die können sich eher an
uns orientieren, wie Rechtsstaatlichkeit funk-
tioniert. Wir haben 40 000 Asylverfahren pro
Jahr, eine enorme Belastung für ein Land wie
das unsere. Und dann kommt die Kommission
und spricht von Verteilung. Da ist man sprach-
los. Die österreichische Position lautet: Reden
wir über das, was uns eint. Das heißt vor al-
lem: echter Außengrenzschutz, wirkungsvol-
le und schnelle Rückführungen.
SPIEGEL: Im März startet der Parlamentari-
sche Untersuchungsausschuss zum Thema
Korruption im Umfeld der ÖVP, auch weil
Sebastian Kurz und einigen seiner Vertrauten
Vorteilnahme vorgeworfen wird. Sie, als
Petr David Josek / AP
Kanzler Kurz 2021
Kanzler und angehender Parteivorsitzender,
sagten unlängst, die ÖVP habe »kein Korrup-
tionsproblem«. War das Ihr Ernst?
Nehammer: Ich finde es unzulässig, gegen die
Österreichische Volkspartei eine Pauschalver-
dächtigung auszusprechen. Wir stellen sechs
Landeshauptleute …
SPIEGEL: … und immerhin ein knappes Dut-
zend Beschuldigte in Verfahren, die bei der
Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwalt-
schaft anhängig sind.
Nehammer: Ja, aber Verurteilungen in Öster-
reich führen keine Staatsanwaltschaften
durch, sondern unabhängige Gerichte. Es gab
schon viele Einstellungen von Ermittlungs-
verfahren.
SPIEGEL: Aber warum gingen Sie so weit und
stellten Ihrer Partei einen Blankoscheck aus?
Nehmammer: Es geht hier um Tausende ÖVP-
Bürgermeisterinnen und -Bürgermeister, die
sich angesprochen fühlen – die haben sich
das nicht verdient. Gibt es nicht auch Korrup-
tionsermittlungen gegen Vertreter der SPÖ,
der Grünen, der Freiheitlichen? Ich finde nicht,
dass wir in Österreich ein außergewöhnliche-
res Problem haben als anderswo.
SPIEGEL: Wie bitte? Ex-Kanzler Kurz hat die
Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwalt-
schaft explizit beschuldigt, parteilich – also
linkslastig – zu sein.
Nehammer: Ich vertraue in höchstem Maße
auf die österreichische Rechtsstaatlichkeit.
SPIEGEL: Ihre Parteifreunde haben massive
Vorwürfe gegen diese Anklagebehörde er-
hoben und sprechen von »roten Netzwerken«
und »linken Zellen«.
Nehammer: Es steht jedem, vor allem jeder
Behörde mit viel Macht, gut zu Gesicht, sich
selbstkritisch zu hinterfragen. Denn Fehler
können passieren. Aber ich werde jetzt nicht
hier als Bundeskanzler die Rolle einer An-
klagebehörde kritisieren oder hinterfragen.
SPIEGEL: Sie sollen demnächst auch offiziell
den Parteivorsitz der von Sebastian Kurz erst
AUSLAND
in unerwartete Höhen und dann in die Tiefe
geführten ÖVP übernehmen. Wie muss sich
die Partei verändern?
Nehammer: Was Kurz gelungen ist, möchte
ich vertiefen und fortsetzen. Nämlich die ÖVP
wieder zu einer Volkspartei im Wortsinn zu
machen. Wirtschafts- und Forschungsstand-
ort, Landwirtschaft, Bildung, das alles ist
Volkspartei, das heißt: Wir müssen und wol-
len die Breite der Gesellschaft in der Politik
widerspiegeln.
SPIEGEL: Die Durchschnittsgesellschaft, vor
allem das ländliche Österreich, ist noch immer
entsetzt darüber, wie herablassend und vulgär
Kurz und seine Verbündeten in privaten Chats
über Parteifreunde und die Opposition rede-
ten. Wie lässt sich der Schaden reparieren?
Nehammer: Durch redliche, harte Arbeit. Klar
gesagt: Das, was man da liest, ist völlig in-
akzeptabel. Das ist nicht anders zu bewerten.
SPIEGEL: Warum sind Sie nach dem Rücktritt
von Kurz und dessen Nachfolger Alexander
Schallenberg eigentlich Bundeskanzler ge-
worden? Haben Sie selbst die Hand ge­
hoben?
Nehammer: Sebastian Kurz hat mich angeru-
fen und darüber informiert, dass er mich als
seinen Nachfolger vorschlagen wird. Ich habe
dann mit meiner Familie, meiner Frau ge-
sprochen. Unsere beiden Kinder finden das
unterschiedlich gut.
SPIEGEL: Sofern die Koalition nicht zerbricht,
müssen Sie noch knapp drei Jahre mit den
Grünen regieren. Die haben aber, namentlich
Vizekanzler Werner Kogler, den Rücktritt von
Sebastian Kurz maßgeblich betrieben. Wie
soll das funktionieren?
Nehammer: Sie werden sich vorstellen kön-
nen – das ist ganz schön tief reingegangen.
Das war ein massiver Einschnitt. Das Neue
an unserer Volkspartei seit Sebastian Kurz
war ja, dass wir nicht nur als politische Per-
sonen zusammenarbeiten, sondern einander
als Menschen auch mögen. Ich bin insofern
jetzt auch in der privilegierten Lage, politische
Freunde an meiner Seite zu haben. Wir ken-
nen uns lange, wir haben ein gemeinsames
Ziel vor Augen, das ist nicht nur der soge-
nannte türkise Anstrich. Da war ein Kreis aus
Menschen mit gleichen Zielen und ein Klima
des offenen Diskurses.
SPIEGEL: Kann Kurz in die Politik zurück-
kehren?
Nehammer: Er hat das für sich öffentlich und
klar ausgeschlossen. Daran sollten wir uns
halten. Total nachvollziehbar.
SPIEGEL: Werden Sie, nach all dem Chaos der
vergangenen Monate, die nächsten drei Jah-
re im Amt des Bundeskanzlers bleiben und
dann auch als Kandidat in die Nationalrats-
wahl 2024 ziehen?
Nehammer: Wenn es nach mir geht: ja. Wir
haben in der Koalition mit den Grünen, in
dieser Kombination aus bürgerlicher Mitte
und Linksalternativen, aus grundsätzlich an-
deren politischen Kulturen, einen Einzigartig-
keitswert. Wir können uns sehen lassen.
Interview: Oliver Das Gupta, Walter Mayr  n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 83
AUSLAND
Frosch im Kochtopf
ANALYSE  Selten war das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU
schlechter als derzeit. Droht ein Ende der Beziehungen?
W Eng
enn es nach der Regierung in
Bern ginge, bliebe im Ver-
hältnis zur Europäischen
Union alles, wie es ist: Die Schweiz
verzichtet auf die Mitgliedschaft, pro-
fitiert aber vom Binnenmarkt. Sie
bleibt Teil des Schengenraums, muss
aber keinen Beitrag zum EU-Haus-
halt leisten und geht ihrer Wege.
Die EU hingegen will diese Schwei-
zer Sonderrolle nicht länger akzeptie-
ren und droht, die Verträge auslaufen
zu lassen. Anders als beim Brexit käme
es in diesem Fall zwar nicht zu einem
harten Bruch, wohl aber zu einer Ero-
sion der Beziehungen. Die Folgen wä-
ren für beide Seiten gravierend: Die
Schweiz ist trotz ihrer nur rund 8,5
Millionen Einwohner der viertgrößte
Handelspartner der EU – und die EU
ist der mit Abstand wichtigste Handels-
partner der Schweiz. Auch deshalb will
die EU das Problem gern zügig lösen.
Brüssel fordert von der Schweiz
einen Rahmenvertrag, der die beste­
henden Marktzugangsabkommen zur
Personenfreizügigkeit, zum Luft-,
Güter- und Personenverkehr, zum
Agrarhandel und zur Beseitigung von
Handelshemmnissen bündelt. Nach
dem Willen der Kommission soll die
Schweiz EU-Recht automatisch über-
nehmen und nicht wie bisher von Fall
zu Fall; Konflikte soll der Europäische
Gerichtshof schlichten.
Seit mehr als einem Jahrzehnt
sprechen beide Seiten über ein Rah-
menabkommen. Sieben Jahre dauer-
ten die Verhandlungen, die im Jahr
2018 in einen 35-seitigen Vertragstext
mündeten. Dann ließ Bern zweiein-
halb Jahre verstreichen – um schließ-
lich dankend abzulehnen. Die Regie-
rung begründete ihren Rückzug mit
»erheblichen Differenzen« unter an-
derem bei Fragen der Personenfrei-
zügigkeit und des Lohnschutzes.
Die Schweizer Regierung hatte die
Verhandlungen mit Brüssel im Mai
einseitig abgebrochen. Außenminis-
ter Ignazio Cassis würde das Thema
am liebsten noch zwei Jahre vor sich
herschieben. Erst im Jahr 2024, nach
der Parlamentswahl, solle das »Am-
84 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
bitionsniveau einer institutionellen
Anbindung« der Schweiz an die EU
verbunden definiert werden, schlug er vor.
Anteil der EU am Doch die Debatte über die Bezie-
Außenhandel der hungen zur EU wird im Land immer
Schweiz 2021*, erbitterter geführt – und die EU-
in Prozent Kommission ist vom Schweizer Ver-
100 halten genervt. Das Verhältnis drohe
zu zerfallen, warnte unlängst der
74,4 neue Ansprechpartner der Schweiz
56,7 in Brüssel, der Kommissionsvizeprä-
50
sident Maroš Šefčovič.
Dabei nutzt ein enges Verhältnis
0 beiden Seiten. Die Schweiz verkauft
Importe Exporte die Hälfte ihrer Exportgüter in der
aus der EU in die EU EU, darunter Medizintechnik, Arz-
* Januar bis November neimittel, Präzisionsinstrumente.
S Quelle: Bundesamt für Zoll Rund 1,4 Millionen EU-Bürgerinnen

und Grenzsicherheit, Schweiz
und -Bürger leben und arbeiten in der
Eidgenossenschaft – etwa 16 Prozent
der Bevölkerung. Den Beitritt zum
Europäischen Wirtschaftsraum hatten
die Schweizer zwar 1992 in einer
Volksabstimmung abgelehnt; doch
Bern gelang es, sich mit mehreren
Abkommen einen eigenen Status
aufzubauen. Als Gegenleistung zahl-
ten die Schweizer die sogenannte
Kohäsionsmilliarde, umgerechnet gut
Einkaufstourist in 1,2 Milliarden Euro, an die ab 2004 bei­
Baden-Württemberg getretenen Mitgliedstaaten der EU.
Manuel Geisser / IMAGO
Die wachsende Kälte aus Bern hat
vor allem innenpolitische Gründe. In
der Regierung, dem siebenköpfigen
Bundesrat, sind fast alle großen Par-
teien von links bis rechts vertreten;
viele Mitglieder dieses Gremiums
sind EU-skeptischer geworden, auch
die beiden Bundesräte der Sozial­
demokraten (SP). Nicht nur Rechts-
nationale agitieren gegen den »Unter-
werfungsvertrag«, Spitzenpolitiker
anderer Parteien warnten ebenfalls
vor Souveränitätsverlust. In der föde­
ralistisch organisierten Schweiz wer-
den selbst Gesetze aus Bern zuweilen
von den Gemeinden und Kantonen
als Übergriff wahrgenommen.
Anders als die Briten nach dem
Brexit dürften die Eidgenossen nach
einem »Schwexit« nicht plötzlich vor
leeren Supermarktregalen stehen –
genau deshalb unterschätzten viele
im Land die Dringlichkeit der Lage,
warnt der Ökonom Patrick Dümmler
vom Thinktank Avenir Suisse. Er ver-
gleicht die Situation der Schweiz mit
einem Frosch im Kochtopf. »Das
Wasser erhitzt sich nur langsam, statt
rauszuspringen bleibt der Frosch sit-
zen und stirbt.«
Die Schweizer Medizintechnik-
branche mit 1400 Unternehmen be-
kam das als erste zu spüren. Im Mai
trat eine neue EU-Verordnung in
Kraft, seither werden in der Schweiz
zertifizierte Produkte – ob Röntgen-
geräte oder Verbandsmaterial – nicht
mehr automatisch anerkannt. Weil
die Schweiz im Gegenzug Importhür-
den aufbaut, gefährdet dies die Ver-
sorgung mit bestimmten Produkten.
»Die EU kann auf die Schweiz als
Absatzmarkt notfalls verzichten, um-
gekehrt gilt das nicht«, sagt Dümmler.
Wie es nun weitergeht, liegt in den
Händen von Außenminister Cassis, der
in diesem Jahr turnusgemäß den Vorsitz
der Regierung übernommen hat. Seine
Charmeoffensive, mit der er in Brüssel
Zeit gewinnen wollte, steckt schon jetzt
in Schwierigkeiten. Ursprünglich war
der Plan, die Zahlungen an osteuropä­
ische EU-Mitglieder zu verdoppeln, um
Brüssel freundlich zu stimmen – doch
das Parlament lehnte das kürzlich ab.
Weil das Weltwirtschaftsforum in
Davos verschoben wurde, fällt nun
auch ein Treffen von Cassis und dem
Kommissionsvize Šefčovič ins Was-
ser. Man suche derzeit nach einem
neuen Termin, heißt es in Bern und
Brüssel. Aber da nach wie vor unklar
ist, mit welcher Botschaft die Schweiz
der EU nun gegenübertreten will,
könnte dieser Termin – wenn es nach
den Schweizern geht – wohl gern
noch länger auf sich warten lassen.
Ann-Dorit Boy n
 Jetzt neu
im Handel

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AUSLAND
Im Straßenkampf
BRASILIEN  Millionen Menschen haben mit der Pandemie ihre Jobs verloren.
Viele heuerten als Fahrer einer der zahlreichen Liefer-Apps an –
und arbeiten unter furchtbaren Bedingungen. Von Marian Blasberg
Alex, 29: Das erste Mal, als es richtig
crashte, regnete es. Der Typ vor mir
bremste so abrupt, dass ich ihm hinten­
drauf fuhr. Das Essen, das ich liefern
wollte, lag überall auf dem Asphalt
verstreut. Ich habe ein Foto gemacht
und es an den Support geschickt, aber
die sagten: Dein Problem. Wenn du
nicht lieferst, musst du zahlen.
Yuri, 26: Einmal hat eine Senhora
einen Softdrink bestellt. 600 Milliliter,
sonst nichts. Die ließ mich kommen,
obwohl sie gegenüber von dem Laden
wohnte.
Als vor fast zwei Jahren die Pandemie
über Brasilien rollte, im März 2020,
und wir uns in unsere Wohnung zu-
rückzogen, traten Männer wie Yuri
und Alex in unser Leben. Sie nennen
sich Motoboys, Motorradkuriere, die
uns das Essen aus den Restaurants
lieferten, in die wir nicht mehr gingen,
und Einkäufe aus den engen, schlecht
belüfteten Supermärkten brachten,
in denen wir uns nicht mehr sicher
fühlten. Kaum ein Tag verging, an
dem wir nicht eine dieser bunten Lie-
fer-Apps aufriefen und uns durch
Speisekarten, virtuelle Wursttheken
oder Gemüsestände scrollten. Ein
paar Klicks und wenig später kündig-
te der Pförtner durch das Haustelefon
die Lieferung an.
Vor der Pandemie wurde der Las-
tenaufzug in unserem Mietshaus in
Rio de Janeiro von den Putz- und Kin-
derfrauen, Masseurinnen, Dogwal-
kern und anderem Servicepersonal
genutzt, das der brasilianischen Mit-
telschicht durch den Alltag hilft. Mit
Corona kamen die Motoboys. Junge,
in der Regel dunkelhäutige Männer,
deren Gesichter hinter Sturzhelmen
und Atemschutzmasken verborgen
sind, während sie ihre Thermobags
abschultern oder die Einkaufstüten
im Korridor aufreihen.
Die Kurierfahrer waren unser
Kontakt zur Außenwelt. Indem sie
sich dem Virus aussetzten, ermög-
lichten sie uns den Rückzug ins Ho-
meoffice. In einer Stadt wie Rio, die
86 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
so ungleich ist, dass es noch immer
separate Un­ter­schichtsaufzüge gibt,
wurden die Liefer-Apps zur Überle-
bensstrategie.
Millionen Brasilianer hatten mit
den Lockdowns ihre Jobs verloren.
Ein Notgeld, das die Regierung des
Coronazynikers Jair Bolsonaro wider-
willig aufsetzte, kam nicht nur zu spät
bei den Menschen an, es reichte oft
auch nicht, um die Familien zu ernäh-
ren. Während wir uns eine Tiefkühl-
truhe und ein Laufband für den Balkon
bestellten, investierten viele ihr Erspar-
tes in ein Motorrad, andere schraub­ten
sich ein Fahrrad zusammen oder mie-
teten sich stundenweise eines der oran-
gefarbenen Leihräder, die überall im
Stadtgebiet herumstehen. Wer gar
nichts hatte, begann zu Fuß.
Niemand weiß, wie viele Boten
sich auf Lieferplattformen wie Rappi,
Uber Eats oder Box Delivery regis­
trierten; Studien gehen davon aus,
dass es mehrere Millionen waren. Al-
lein beim Branchenführer iFood mel-
deten sich zwischen März und Juni
2020 rund 480 000 neue Fahrer an.
Mit der Pandemie dehnte sich in
Brasilien eine riesige Billiglohnkaste
weiter aus, die das Konsumverhalten
radikal veränderte. Es dauerte nicht
lange, da gehörten die Lieferboys mit
ihren bunten Rucksäcken zum Bild
der Stadt. Man sah sie überall. Auf
den Bürgersteigen vor Geschäften,
auf Plätzen, Bänken, unter Brücken,
»Die Pande- das Smartphone in Erwartung eines
Auftrags immer in der Hand. Schlän-
mie hat alle gelten sich durch den Verkehr, wichen
in die Knie Bussen aus, rasten falsch herum durch
Einbahnstraßen.
gezwungen. Viele der Motoboys, mit denen ich
Was bleibt gesprochen habe, können trotz Stress
und langer Arbeitszeiten von dem Job
dir schon nicht leben, aber machen trotzdem
übrig, wenn weiter. Es sei nicht die Zeit für große
Träume, das ist das, was sie mir zwi-
du nicht schen ihren Fahrten an einem kleinen
stehlen Gartentisch berichteten, der neben
unserem Wohnblock im Stadtviertel
willst?« Flamengo steht. Ihren vollständigen
Robson, Motoboy Namen wollen sie nicht in der Zeitung
lesen, weil sie fürchten, von ihren
Arbeitgebern blockiert zu ­werden.
Alex: Ich habe eine fünfjährige Tochter
und einen vierjährigen Sohn. Wenn
ich das Haus morgens verlasse, liegen
sie noch im Bett, und wenn ich abends
wieder da bin, schlafen sie schon. Das
ist mein Leben: Arbeit, Schlafen,
Arbeit, Schlafen. Kannst du nicht was
Richtiges tun, fragt meine Frau manch­
mal, aber so ist das jetzt.
Robson, 41: Die Pandemie hat alle in
die Knie gezwungen. Was bleibt dir
schon übrig, wenn am Küchentisch
drei kleine Kehlen schreien und du
nicht stehlen willst?
Die Zahl der Bestellungen bei der Lie-
ferplattform iFood stieg allein zwi-
schen März und September vergan­
genen Jahres um mehr als 40 Prozent
auf insgesamt 300 Millionen. Nach
Angaben des Unternehmens sind
knapp 300 000 Restaurants in ganz
Brasilien auf der Plattform regis­
triert – jedes fünfte im Land. Der Wert
des kolumbianischen Start-ups Rappi,
über das die Fahrer auch Supermarkt-
einkäufe erledigen, liegt bei mehr als
fünf Milliarden Dollar. Der Grund ist
nicht allein der Anstieg der Bestellun-
gen; mindestens so einträglich sind all
die Konsumentendaten, die die App
bei jedem Auftrag abfischt.
Für jeden Kunden, der über iFood
oder Rappi eine Pizza bestellt, zahlt
das Restaurant eine Provision an den
Betreiber. Ein Teil davon fließt weiter
auf das Konto eines Motoboys. Einige
der Firmen zahlen dabei einen fixen
Basistarif, in der Regel knapp einen
Euro. Andere schlagen noch ein paar
Cent für die Entfernung drauf. Einer
Universitätsstudie zufolge arbeitet die
Hälfte aller Fahrer an sieben Tagen in
der Woche. Dabei verdienen sie im
Schnitt pro Woche 260 Real, umge-
rechnet etwa 40 Euro, was unter dem
gesetzlichen Mindestlohn liegt.
An einem Freitagmittag öffnet
Robson, der den Schriftzug »Familie
ist das größte Gut« unterhalb der
Schläfe tätowiert hat, in seinem
Smartphone den Fahrtenspeicher.
Robson: Einnahmen heute: 25 Real.
Meine letzte Tour war ein Gemüse­
laden, wo ich für den Kunden eine
Möhre, eine Mango, Bohnen, drei Bir­
nen, eine Papaya, Eier, Brokkoli und
zwei Zucchini besorgt habe. Einkaufs­
preis: 13,79 Real. Mein Verdienst: 4,20
Real, umgerechnet etwa 70 Cent.
Rai, Anfang 20: Zu Beginn der Pande­
mie lief es noch gut. Manchmal hab
ich in der Woche 2000 Real gemacht.
Heute sind es häufig nur noch 100.

Protestierende Kurierfahrer in Rio de Janeiro 2020: Sie arbeiten sieben Tage die Woche, jede Pause wird bestraft
Jailson, 25: Zu den Stoßzeiten, wenn sie viele
Fahrer brauchen, gehen die Tarife leicht nach
oben. Genauso ist es, wenn es regnet. Aber
ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung, wie der
Algorithmus funktioniert.
Caio, 17: Er ist nicht rational.
Die Algorithmen seien eine Blackbox, sagt
der Wissenschaftler Rafael Grohmann, der
bei der Forschungsplattform DigiLabour die
neuen, digitalen Arbeitswelten untersucht. Je
nach Wetter oder Nachfrage pendelten die
Tarife ein paar Cent rauf oder runter. Sie än-
derten sich mit der Region, der Uhrzeit, der
Distanz oder der Zahl der eingeloggten Boten.
Entscheidender ist für die Fahrer etwas
anderes.
Jeder Motoboy hat ein Profil, das darüber
Auskunft gibt, wie viele Aufträge er angenom-
men hat, wie zuverlässig er geliefert hat oder
wie pünktlich er beim Kunden war. Je besser
das Rating, desto größer die Wahrscheinlich-
keit, dass er erneut gebucht wird. Wer eine
Fahrt ablehnt, weil er zum Beispiel eine Pau-
se macht, geht ein Risiko ein. Weil der Algo-
rithmus daraus schließt, dass der Fahrer nicht
verfügbar ist, hört sein Handy auf zu klingeln.
»Dieser Mechanismus hält sie in Bewe-
gung«, sagt Grohmann. »Sie sind in ihm ge-
fangen wie Laborratten.«
Jailson: Letztes Jahr sprang mir ein Labrador
ins Moto. Ich hab mir ein Band im Knie ge-
rissen und stand 15 Tage still. Als ich wieder
loswollte, hatte sich die Auftragslage spürbar
abgekühlt.
Rai: Mich haben mal zwei Typen vor einer
Favela abgepasst. Einer hielt mir eine Pistole
an den Gürtel und sagte: Bruder, steig mal ab.
Ich hab dem Support erklärt, dass mir das Rad
gestohlen wurde. Aber es reichte nicht. Sie
brummten mir zwei Tage Sperre auf.
Es gibt kein Netz, in das die Motoboys fallen
können. Es ist niemand da, der bei Unfällen
haftet, für Reparaturen aufkommt oder ihnen
hilft, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert.
Jeder Fehler kostet Geld. Wenn sich ein Kunde
im System beschwert, dass die Pizza nur lau-
warm geliefert wurde, bleibt das Handy danach
länger stumm. Wenn der Kunde die Bestellung
cancelt, weil der Kurier zu lange braucht, be-
kommt dieser die Kosten aufgebrummt. So gut
wie alle Motoboys berichten mir davon. Von
den verzweifelten Versuchen, diese Schuld zu
tilgen, von den Rechtfertigungsorgien, den kaf-
kaesken Chats mit dem Support, bei denen nie
ganz klar ist, ob sie mit einem Menschen kom-
munizieren oder mit einem Programm.
Alex: Als ich einmal ein Essen ausgeliefert
habe, streikte unterwegs die App. Internet-
problem, kommt vor. Als ich bemerkte, dass
das System die Fahrt nicht als abgeschlossen
anzeigte, bin ich zurück zur Kundin. Die be-
zeugte gegenüber dem Support, dass alles
AUSLAND
Andre Coelho / Getty Images
ordnungsgemäß abgelaufen war, aber auf der
Strafe blieb ich trotzdem sitzen. 70 Real.
Im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, bis
sich die Wut in Protesten entlud. In São Pau-
lo hatte der Motoboy Paulo Roberto da Silva
Lima ein gewerkschaftsartiges Netzwerk ge-
gründet, die »antifaschistischen Lieferboten«,
dem sich immer mehr frustrierte Fahrer an-
schlossen. Ab Juli 2020 legten sie in verschie-
denen Städten regelmäßig ihre Arbeit nieder.
Auf ihren Kundgebungen forderten sie bes-
sere Tarife und ein Ende der als willkürlich
empfundenen Blockaden. Sie forderten Kan-
tinen, mit Steckdosen und Klos.
Wenige Monate später verpflichtete der
Supreme Court in Großbritannien den Liefer-
und Fahrdienst Uber dazu, seinen Mitarbei-
tern einen Mindestlohn zu zahlen. Später
urteilte das höchste spanische Gericht, dass
Uber-Fahrer wie normale Lohnarbeiter zu
betrachten seien. Und ein Richter in den Nie-
derlanden erklärte, dass sie nur auf dem
Papier selbstständig sind.
Brasilien und Europa trennen mehr als ein
paar Tausend Kilometer. Die Argumente, die
die Anwälte der App-Betreiber vortragen, um
eine arbeitsrechtliche Beziehung zu bestrei-
ten, funktionieren in der Regel vor brasiliani-
schen Gerichten. Ihren Fahrern, sagen sie, sei
nicht verboten, für andere Anbieter zu arbei-
ten. Sie seien freie und unabhängige »Part-
ner«, die sich auf ein Geschäftsmodell einlie-
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 87
AUSLAND
ßen. In mehr als 300 Verfahren habe
man den Anbietern recht gegeben,
sagt Uber.
Rai: Natürlich kann ich frei entschei-
den, wann ich mein Handy einschalte.
Aber entscheide ich deshalb frei über
meine Arbeitszeit?
Alex: 16-Stunden-Arbeitstage sind kei-
ne Freiheit, sondern Sklaverei.
Jailson: Wenn ich Maurer wäre, könn-
te ich immerhin den Preis bestimmen,
für den ich arbeite.
Die Favela Dona Marta, wo Rai, Alex,
Jailson und die meisten ihrer Clique
aufgewachsen sind, ist ein Häuser­
dickicht, das in unserem Nachbarvier-
tel Botafogo einen steilen Hang hin-
aufwuchert. Ich war ein paarmal dort,
als sich Rio für Olympia herausputzte.
Einheiten einer neuen Favela-Frie-
denspolizei bezogen damals eine Wa-
che mit herrlichem Blick auf den Zu-
ckerhut. Gleich daneben gab es eine
neue Fußballschule, in der Rai bis zu
Beginn der Pandemie als Trainer
arbeitete. Wer oben am Hügel wohn-
te, der nutzte nun die neue Zahnrad-
bahn.
Es war eine Zeit der Träume. Einen
Moment lang schien es so, als ließe
sich der Abgrund überbrücken, der
die Personenaufzugfahrer von den
Lastenaufzugfahrern trennt. Im Rück-
blick wirken diese Jahre wie ein kur-
zer Waffenstillstand. Als die Welt der
Stadt den Rücken kehrte, kamen die
Banden wieder aus der Deckung. Der
Staat zog sich zurück. Die Zahnrad-
bahn steht heute regelmäßig still.
Auch Pedrinho ist in Dona Marta
aufgewachsen, ein 21-jähriger, drah-
tiger junger Mann, der mich aus miss-
trauischen Augen mustert.
88 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
»Die Polizis- Pedrinho, 21: Ich kenne viele, die sich
den Banden angeschlossen haben. Ich
»Herrenlosen«, will nicht auf die Poli-
tik warten. Acht Fahrer haben sie in
ten kamen bin lieber sauber, und genauso sah es Rio, die aus Umweltgründen das Rad
und drück- auch mein Bruder, der schon vor mir
für die Apps gefahren ist. Eines Abends
nehmen. Sie liefern nur bis 18 Uhr, alle
Einnahmen werden gerecht geteilt.
ten ab. Eine hatten wir unsere letzte Fahrt erledigt, Wer sie buchen will, schickt eine
Kugel traf als wir etwas zum Abendessen kauften WhatsApp-Nachricht an die Zentrale,
und unsere Maschinen abstellten. Wir die ein Politikstudent aus seinem al-
meinen wussten nicht, dass es einen Polizei- ten Kinderzimmer steuert.
Bruder in einsatz im Hügel gab. Als wir in eine
Gasse einbogen, kamen die Polizisten Lucas, 31: Anders als die Apps haben
den Ober- auf uns zu, schrien Schimpfwörter, wir keine elektronische Infrastruktur.
schenkel, dann drückten sie ab. Eine Kugel traf Ich mache alles manuell. Ohne eine
eine andere meinen Bruder in den Oberschenkel,
eine andere in den Hals (Pedrinho
NGO, die uns eine gewisse Zahl an
Fahrten garantiert, würden wir nicht
in den Hals.« wurde auch getroffen, er deutet auf überleben. Bislang, würde ich sagen,
eine vernarbte Schusswunde an sei- sind wir eher eine politische Bewe-
Pedrinho,
­Kurier­fahrer nem Schienbein). gung, die auf die Zustände in unserer
Mein Bruder war mein Compan- Branche aufmerksam macht.
heiro, aber er starb wie ein Bandit.
Später, auf der Wache, habe ich den Vor einigen Wochen, als die Stadträte
Polizisten alles gezeigt, meine iFood- in Rio über Kantinen für Motoboys
Timeline, meinen Rappi-Account. Ich diskutierten, fuhren die »Herrenlo-
sagte: Wir hatten unsere Liefertaschen sen« zum Protest vor das Gebäude.
dabei. Wir waren auf dem Rückweg Und im Mai, als zwei Kurierfahrer von
von der Arbeit. Sie hätten sehen kön- Polizisten verprügelt wurden, riefen
nen, dass wir keine Banditen sind, aber sie zur Sitzblockade auf.
es machte für sie keinen Unterschied. Jeder Mensch hat in Brasilien sei-
nen Platz, das ist die Realität. Richter
Brasilianische Abgeordnete haben und Politiker sorgen dafür, dass sich
mehrere Gesetzesvorschläge einge- an dieser Realität nichts ändert.
reicht, um die Anbieter der Apps Assis, der mir hin und wieder eine
zur Verantwortung zu ziehen. In ihren Pizza bringt, sagte kürzlich an der
Entwürfen geht es um Mindestlöhne, Tür, dass er seinen Buchhalterkurs
bezahlten Urlaub, Freizeitausgleich. canceln musste, weil er die Gebühren
Eigentlich Selbstverständlichkeiten, nicht mehr stemmen konnte. Auch
aber nicht in Brasilien, wo noch teils Robson, der sich für Churchill inte­
feudale Zustände herrschen. Als der ressiert und einst Geschichte studie-
Kongress 2013 ein Gesetz verabschie- ren wollte, sagt, er habe sich entschei-
dete, das Hausmädchen zum ersten den müssen. Arbeit oder Uni. Beides
Mal vollwertige Arbeitnehmerrechte gehe nicht, weil entweder das Geld
zusprach, hatten die Politiker jahr- fehle oder die Zeit.
Essensauslieferer in
zehntelang um Details gerungen. Während die Inflation die Sprit-
São Paulo 2020: Teils Eine Graswurzel-Kooperative, die preise derart in die Höhe trieb, dass
feudale Zustände sich »Despatronados« nennt, die viele Motoboys auf Fahrräder um-
stiegen, bekam ich meine zweite Imp-
fung. Ich gehe wieder aus dem Haus,
aber das Essen und die Einkäufe kom-
men immer noch per Kurier. Würde
ich beschließen, die Apps zu boy­
kottieren, nähme ich den Männern
Arbeit weg. Nutze ich sie, beute ich
sie aus. Es gibt keinen eleganten Aus-
weg aus dem Dilemma.
Alex: Seit letzter Woche wohne ich bei
meinem Bruder. Meine Frau hat mich
verlassen. Sie hielt es nicht mehr aus.
Victor Moriyama / Bloomberg via Getty Images
Eine Kollegin erzählte mir, dass sie
jetzt eine Festanstellung habe, bei
einem Restaurant. 2200 Real Gehalt
plus 350 Essenszuschlag plus 500 für
Reparaturen und Sprit. Ich fragte, ob
sie noch jemanden brauchten, und sie
sagte: Ja und Nein. Ja und Nein, das
sagen auch die Pförtner überall, wenn
ich nach Arbeit frage. Ich würde alles
machen – Hauptsache, Vertrag. n
SPORT

7
Doppelprämie
Die zwei Ehrungen zum Weltfußballer des Jahres
-mal erhielt Lionel
Mit dem Ballon d'Or für den Weltfußballer des Jahres Messi den Ballon d’Or,
werden Spieler seit 2007 ausgezeichnet. zuletzt 2021.

Sechs Jahre lang waren die Preise

zum Fifa Ballon d'Or für den Welt-
fußballer des Jahres verschmolzen.
Die erneute Trennung folgte aus
Cristiano Vermarktungsgründen. Nicht vergeben
Ronaldo wegen Corona-
Luka pandemie
Kaká
Modrić
Lionel 2010 11 12 13 14 15
Robert
Messi Lewandowski

Laci Perenyi / picture alliance

2007 08 09 2016 17 18 19 20 21

Der Fifa-Weltfußballer des Jahres

Lewandowski bei der
wird seit 1991 gewählt. Preisverleihung zum
Fifa-Weltfußballer 2020
S Grafik


Erstmals in der Geschichte des Sports gibt es zwei Weltfußballer des Jahres: Lionel Messi und Robert Lewandowski. Die Fachzeitschrift »France Football«
vergibt den Ballon d’Or seit 1956, anfangs an Europäer, seit 2007 an Spieler weltweit. Seit 1991 kürt der Weltfußballverband Fifa seine Besten. Trainer
und Kapitäne der Nationalteams stimmen gemeinsam mit Journalisten und Fans ab, die auf der Fifa-Website registriert sind. Die Fußballerinnen hatten
schon 2018 zwei Siegerinnen: die Norwegerin Ada Hegerberg und die Brasilianerin Marta. In diesem Jahr ist es nur eine, die Katalanin Alexia Putellas.

GUT ZU WISSEN
Wie gefährlich sind
­Herzprobleme für Fußballer?
In den vergangenen Tagen ha­
ben mehrere Fußballer Herz­
probleme nach einer Corona­
infektion öffentlich gemacht.
Alphonso Davies etwa wird
dem FC Bayern München
wegen einer Herzmuskelent­
zündung länger fehlen. Trainer
­Julian Nagelsmann nannte
den Fall »nicht so dramatisch«.
Aber wie gefährlich ist eine
Herzerkrankung für Sportler
wirklich?
Gunnar Gislason, Professor
für Kardiologie an der Uni­
Am häufigsten sehe man eine
Herzmuskelentzündung,
eine Myokarditis, nach viralen
Infektionen, sagt er. Das
Risiko bestehe bei gewöhnli­
chen Erkältungen, Grippe –
oder jetzt eben bei Covid-19.
Die Folgen einer Myokardi­
tis sind nicht harmlos. »Wenn
Sie eine Entzündung im Herzen
haben, kann sie Rhythmusstö­
rungen hervorrufen, die sehr
ernst zu nehmen sind. Sie kann
auch mit einer eingeschränkten
Herzfunktion und sogar mit
Fox-Images / ddp
lichen Anstrengungen fernhält, wieder an, stehen auch bei
bis das Herz sich erholt hat.« ihren Vereinen unter Druck.«
Wer sein Herz zu früh zu
stark belastet, riskiert im
Allerdings würden die Fälle
in der Regel auch öfter er­
schlimmsten Fall sein Leben.
Ärzte in Deutschland empfeh­
kannt, weil Profis regelmäßige
Medizinchecks haben.
len bei einer Myokarditis meist Entgegen vielen Gerüchten
mehrere Monate Trainings­ besonders unter Impfgegnern
pause. Die augenscheinliche kann Gislason aufgrund seiner
Häufung von Fällen unter eigenen Forschung nahezu aus­
Sportlern erklärt Gislason so: schließen, dass Impfungen für
»Sportler sind sehr ehrgeizig, Sportlerherzen gefährlich sein
sie fangen vielleicht zu früh können. Mit den mRNA-Vakzi­
nen gebe es ein sehr geringes
Risiko. »Wir sprechen bei rund
vier Millionen Impfungen mit
Biontech oder Moderna in Däne­
mark von etwas über 60 Fäl­
len, bei denen eine Myokarditis
oder Myoperikarditis festge­
stellt wurde.« Solche Fälle seien
zu erwarten gewesen. »Das

versität Kopenhagen, hat meh­
rere Studien zu Risiken von
Covid-19-Erkrankungen und
zu gesundheitlichen Schäden
nach Impfungen veröffentlicht.
Herzversagen einhergehen,
obwohl dies eine seltene Kom­
plikation ist«, sagt Gislason.
»Deshalb ist es wichtig, dass
man sich von schweren körper­
ist eine seltene, aber nicht un­
erwartete immunologische
­Reaktion. Diese wenigen Fälle
sind also überhaupt nicht be­
Davies unruhigend«, so Gislason. ARA

Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 89

SPORT
24 272
Bäume wurden umgepflanzt
Chinesisches Winterwunder
OLYMPIA  Die Spiele von Peking sollen zur Klimarettung beitragen, so das Versprechen der Organisatoren.
De facto zählen solche sportlichen Großereignisse zu den schlimmsten Umweltsünden.
F
ür die Veranstalter der Olympi­
schen Spiele in Peking steht der
größte Gewinner bereits fest, da
haben die Wettkämpfe noch gar nicht
begonnen. Es ist kein Rodler oder Bi­
athlet. Es sind sie selbst.
Drei Wochen vor dem Start im Na­
tionalstadion hat das Organisations­
team den Report »Nachhaltigkeit
für die Zukunft« veröffentlicht, eine
Klimabilanz der Spiele. Die chine­
sischen Olympiaplaner feiern sich
darin selbst, auf 132 Seiten. Obwohl
fast 4000 Athleten aus aller Welt in
Chinas Hauptstadt erwartet werden,
soll das Spektakel komplett klima­
neutral über die Bühne gehen, ist dort
90 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
zu lesen. Erstmals würden die Wett­
kämpfe ausschließlich mit erneuer­
barer Energie versorgt. Und weil
2008 in Peking bereits Sommerspie­
le stattfanden, seien Sportstätten re­
cycelt worden. Eine weitere Premiere.
Im Xiaohaituo-Berggebiet nörd­
lich von Peking seien zudem 24 272
Bäume verpflanzt worden, um Platz
für Pisten zu schaffen. Es wurden
600 Vogelhäuschen aufgehängt, um
dem Federvieh eine neue Heimat zu
bieten. China will der Welt zeigen,
wie man Natur und Mensch in Ein­
klang bringt.
Schon ein Blick auf die protzigen
Wettbewerbsstätten nährt Zweifel.
2 000 000
Kevin Frayer / Getty Images
Kubikmeter Wasser benötigt
die Produktion des Kunstschnees
Die Skisprunganlage ist eine gigan­
tische Betonkonstruktion. Die monu­
mentale Bobbahn, für 2,5 Milliarden
Dollar in die Berge gebaut, verschlägt
einem fast den Atem. Ȇbertrieben
und überdimensional«, findet Rodler
Felix Loch.
Das größte Problem: Das chinesi­
sche Winterwunderland wird nicht
von Natur aus weiß. In der Region
wird es zwar kalt, aber es fällt fast nie
Schnee. Seit Monaten arbeiten Dut­
zende Schneekanonen daran, die Pis­
ten und die braunen Hänge mit künst­
Olympia-Skisprung-
anlage in Zhangjiakou:
lichem Schnee zu bedecken.
Atemberaubende Die Winterspiele werden damit ein
Betonkonstruktionen besonders krasses Beispiel für Green­

washing im Sport. Weltweit spüren
Veranstalter den Druck, auf die Klima­
veränderung reagieren zu müssen.
Wegducken reicht nicht mehr.
Dabei stecken sie in einem Dilem­
ma: Je internationaler und beliebter
eine Sportveranstaltung ist, desto
größer ihr ökologischer Fußabdruck.
Ohne Flugzeug können selbst umwelt­
bewusste Sportler und engagierte Ver­
bände internationale Wettkämpfe
kaum erreichen. In Deutschland er­
nennen Vereine und Verbände Nach­
haltigkeitsbeauftragte, es gibt Um­
weltprojekte und Klimaschutzinitia­
tiven. Und allerlei Versprechen, bald
klimaneutral zu sein. Doch die meis­
ten Sportevents sind Energiefresser.
Carmen de Jong ist einiges gewohnt
vom Skizirkus in den Alpen. Seit Jah­
ren kritisiert die Straßburger Profes­
sorin für Hydrologie die Auswirkun­
gen der Kunstschneeproduktion auf
die Skigebiete, beklagt ir­reversible
Folgen durch den Bau von Speicher­
becken und Wasserleitungen.
Was sie allerdings in Peking be­
obachte, übersteige jedes Maß. »Die
Spiele werden die unnachhaltigsten
aller Zeiten«, sagt die Geografin. Be­
sonders ärgert sie sich über die künst­
liche Beschneiung in einem Gebiet,
das ohnehin unter Wassermangel
­leide. Zwei Millionen Kubikmeter
Wasser würden dafür gebraucht,
schätzt sie. Genaue Berechnungen
gibt es nicht. Die Chinesen behaup­
ten, für die Schneeproduktion werde
das Schmelzwasser aufgefangen und
wiederverwendet. De Jong hält das
für »ein Märchen«. Ein großer Teil
verdunste, der Rest sei verunreinigt
durch Erosion, Bakterien, Skier und
Pistenraupen. »Diesen Cocktail soll­
te niemand wieder die Berge hoch­
pumpen. Das widerspricht allen
Wasser­standards.«
Im Nachhaltigkeitsbericht hat die
Wissenschaftlerin etliche Widersprü­
che und unklare Aussagen markiert.
Vieles lasse sich nicht prüfen, weil
Daten fehlten.
Kein Wort findet sich etwa zum
Naturschutzgebiet Songshan, dessen
Kernzone sich vor einigen Jahren
noch genau dort befand, wo nun die
Pisten gebaut sind. Die Verwaltung
habe das Gebiet, in dem zahlreiche
geschützte Arten lebten, einfach so
umgelegt, dass es dem Bau nicht mehr
im Weg gewesen sei, sagt de Jong.
Als 2015 Pekings Bewerbung be­
wertet wurde, hatte auch das Inter­
nationale Olympische Komitee (IOC)
so seine Zweifel. Die Chinesen wür­
den die für die Beschneiung der Hän­
ge nötige Wassermenge unterschät­
zen, notierten die Experten in einem
SPORT
Report. Die Möglichkeiten, das Tau­
wasser zurückzugewinnen, würden
»Die Spiele neue Bäume sollen CO2 speichern.
Firmen nutzen solche Zertifikate
hingegen überschätzt. Heute lobt werden weltweit seit Langem, auch im Sport
IOC-Präsident Thomas Bach, China
habe »das Bewusstsein für Nachhal­
die unnach­ hat sich das Baumpflanzen zu einer
Art neuer Disziplin entwickelt.
tigkeitsthemen« gestärkt. haltigsten Das IOC lässt seit vergangenem
Das IOC selbst wähnt sich ohnehin
an der Spitze der Klimabewegung. Es
aller Zeiten.« Sommer pflanzen. In Mali und Sene­
gal entsteht der »Olympic Forest«.
residiert in Lausanne in einem nach­ Carmen de Jong, Längst forstet auch der Internationa­
Professorin
haltigen Gebäude. Die Mitarbeiter für Hydrologie le Skiverband auf. Die Deutsche Bi­
nutzen emissionsfreie Wasserstoff­ athletin Franziska Preuß hat im ver­
fahrzeuge des Sponsors Toyota. Seit gangenen Mai ihre erste Olympia­
2014 gehört das Thema Nachhaltig­ medaille gewonnen: die Biathlon
keit zum Reformprogramm für die Climate Challenge. Dabei sollten von
Spiele. Als dann die Vergabe anstand, zehn Sportlerinnen und Sportlern ge­
waren die Optionen indes beschei­ führte Teams Fans animieren, eine
den: Neben Peking stand nur Almaty Pflanzaktion für 100 000 Bäume zu
in Kasachstan bereit. unterstützen.
Durchsetzen kann das IOC klima­ Viele dieser Projekte sind umstrit­
gerechtes Verhalten ohnehin nicht. ten. Denn so sinnvoll eine Auffors­
Im Bewerbungsverfahren wird zwar tung sein mag, es dauert viele Jahre,
ein entsprechendes Konzept verlangt; bis die Pflanzen herangewachsen
ob es umgesetzt wird, bleibt weitge­ sind – sofern sie überhaupt die rich­
hend den Veranstaltern überlassen. tigen Standortbedingungen vorfin­
»Wir sind keine Sanktionsbehörde«, den und nicht verkümmern. Umwelt­
heißt es in Lausanne dazu. fachmann Sommer sieht noch ein
Trotzdem sind die Ziele hochge­ grund­sätz­liches Problem: »Solche
steckt. 2024 sollen in Paris sogar kli­ Kon­strukte nehmen den Druck von
mapositive Spiele stattfinden, bei den Veranstaltern, bei sich selbst et­
denen also mehr Kohlendioxid ein­ was zu tun.«
gespart als erzeugt wird. Sogar die Formel 1 will mitma­
Jörg Sommer, Vorsitzender der chen, sie setzt auf Biosprit und will
Deutschen Umweltstiftung, hält solche ab 2030 klimaneutral sein. Der deut­
Ankündigungen für »Quatsch«. Es sei sche Rennfahrer Sebastian Vettel
auch in Zukunft einfach nicht möglich, sammelt schon jetzt an den Renn­
internationale Sportveranstaltungen strecken Müll ein.
ohne eine Belastung des Klimas zu Dabei ist der Plastikabfall das klei­
organisieren. »Beim Sport ist es leider nere Problem, nicht mal die kraft­
so: Je internationaler er ist, umso mehr strotzenden Rennwagen sind aus
ist er mit Reisen verbunden. Der Ver­ Sicht der Naturschützer das Haupt­
Bobbahn am
kehr ist das Hauptproblem.« Königssee:
übel. Klimaschädlich ist, dass der ge­
Das IOC und andere Verbände wie Begraben unter Geröll samte Rennzirkus fortwährend um
die Fifa unternehmen aber nichts, um und Schlamm die Welt jettet, die Autos und die
die Reisen einzuschränken. Im
Gegenteil, sie setzen auf noch mehr
internationale Wettkämpfe und Meis­
terschaften, um ihren Sport zu ver­
markten. Im Sommer fand die Fuß­
ball-EM in elf Städten statt, die Teams
und ihre Fans jetteten durch ganz
Europa.
Zu positiven Klimabilanzen ge­
langt man da nur durch Rechentricks.
Die Belastungen werden kompen­
siert. In Peking sieht die Rechnung so
a rd en
t esg
aus: Es entstehen real rund 1,3 Mil­
h
berc
lionen Tonnen Kohlendioxid. Die
werden zum großen Teil von drei chi­
nesischen Sponsoren übernommen,
die diese Belastungen reduzieren,
Peter Kneffel / picture alliance / dpa
darunter PetroChina, einer der größ­
ten Ölkonzerne Asiens. Ähnlich ver­
hält es sich mit dem Ökostrom. Auch
er wird nicht eigens für Olympia pro­
duziert, sondern nur rechnerisch be­
reitgestellt.
Aufbessern lässt sich die Bilanz
auch durch Aufforstungsprojekte,
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 91
SPORT
tonnenschwere Ausrüstung im Ge-
päck – und dies keineswegs auf kli-
maschonendem Kurs. In diesem Jahr
geht es von Saudi-Arabien über Aus-
tralien nach Europa. Dann steht ein
Abstecher in die USA auf dem Pro-
gramm, bevor der Tross nach Aser-
baidschan, Kanada und Großbritan-
nien reist.
Der größte Klimabeitrag des
Sports würde darin bestehen, Wett-
kämpfe zu reduzieren oder sie zumin-
dest auf weniger Orte zu konzentrie-
ren. Anfang Januar beim Biathlon-
Weltcup in Oberhof im Thüringer
Wald hatte Regen die weiße Pracht
schmelzen lassen. Dass die Athleten
starten konnten, lag an einem Depot,
in dem Schnee den Sommer über ge-
lagert worden war.
Vor zwei Jahren ließen die Ver­
antwortlichen nach Thüringen sogar
mehr als 30 Lastwagenladungen
Kunstschnee aus Gelsenkirchen brin-
gen, die dort zuvor bei einem Bi­
athlon-Event im Stadion genutzt wor-
den waren. Im kommenden Jahr fin-
den in Oberhof die Weltmeisterschaf-
ten statt.
Dafür wird aufgerüstet. In einer
Halle wird der Schnee gelagert und
auf Vorrat produziert. Der ehemalige
Biathlon-Olympiasieger und jetzige
Vorsitzende des Sportausschusses im
Bundestag, Frank Ullrich (SPD), der
von dort stammt, findet das eine gute
Idee. Wintersport, sagt er, müsse in
Thüringen so lange gepflegt werden
wie möglich. Umweltschützer hin-
gegen kritisieren die Millioneninves-
titionen, Meisterschaften in Oberhof
seien »Schnee von gestern«.
Auch die Internationale Biathlon-
Union hat natürlich ein Nachhaltig-
keitsprogramm, fordert von den Ver-
92 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
anstaltern aber gleichzeitig Schnee-
sicherheit, notfalls mit künstlicher
Hilfe.
Viele Umweltinitiativen des Sports
bleiben Feigenblätter. Im vergange-
nen Sommer wurde die Bobbahn am
Königssee bei Berchtesgaden Opfer
des Klimawandels. Tagelang hatte es
geregnet, der Boden war völlig durch-
nässt. Dann fielen innerhalb weniger
Stunden weitere 100 Liter pro Qua-
dratmeter. Es löste sich eine Mure,
Geröll und Schlamm begruben die
älteste Kunsteisbahn der Welt.
Der Landkreis und die Sportver-
bände verlangen einen raschen Wie-
deraufbau. Das Versprechen: Der
Energieverbrauch der neuen Eisrinne
soll günstiger sein als vorher. Die bay-
erische Landesregierung sicherte zu,
die Kosten zu übernehmen. Schät-
zungen belaufen sich auf 53 Millionen
Euro.
Der örtliche Naturschutzbund
(Nabu) hält den Bau für keine gute
Idee. Das R ­ isiko, dass der Hang ins
Rutschen komme, sei seit Jahrzehn-
ten bekannt gewesen. Schlimmer
noch: 2010 war die Bahn verlängert
worden – in einen besonders gefähr-
deten Bereich. So sollte sie attraktiver
für eine Olympiabewerbung werden.
»Man hat den Eindruck, Landrat und
Kreistagsmehrheit hätten die Bahn
auch in den Königssee oder bis auf
den Watzmann hinauf verlängert, nur
um sie olympiatauglich zu machen«,
lästert Nabu-Mann Reinhard Bochter.
Er fordert einen kompletten Abbruch.
Der Landkreis prüft nun, ob der Neu-
bau durch gewaltige Mauern ge-
schützt werden kann.
Das nächste große Sportevent in
Deutschland wird die Fußball-Euro-
pameisterschaft in zweieinhalb Jah-
ren. Dazu erstellt das Öko-Institut für
die Bundesregierung derzeit eine
Klima­bilanz, auch bei der EM soll der
Fußabdruck kompensiert werden. Ein
Vorteil ist, dass die Stadien bereits
stehen. Der größte Klimakiller wird
der Verkehr sein, vor allem wenn
Fans per Flugzeug anreisen.
Auch ohne internationale Begeg-
nungen besuchen allein in der Bun-
desliga im Schnitt mehr als 350 000
Fußballfans Woche für Woche ihren
Klub, wenn die Pandemie es zulässt.
370 000 Tonnen Kohlendioxid wer-
den durch die Fans pro Saison pro­
duziert, hat Pamela Wicker, Sport­
wissenschaftlerin an der Universität
Bielefeld, errechnet, immerhin fast
HOCH ZWEI / IMAGO
ein Drittel des Ausstoßes von Peking.
Wickert hat Fans nach ihrem Rei-
severhalten in der Saison 2018/19 be-
fragt. Die Untersuchung offenbart
eine fatale Erkenntnis: Diejenigen
Rennstrecke in Vereine, die am erfolgreichsten sind
Abu Dhabi: Selbst die oder die stärkste Bindung zu ihren
Formel 1 will
klimaneutral werden
Fans haben, verursachen den größten
Kohlenstoff-Fußabdruck. Denn treue
Anhänger reisen ihrem Team auch zu
Auswärtsspielen hinterher, oft im
Auto (siehe Grafik).
Für die Fans müssten Anreize ge-
schaffen werden, möglichst umwelt-
freundlich zu reisen, findet Wicker.
Die Verantwortung der Vereine be-
ginne nicht erst am Stadioneingang.
Wie nachhaltig die Klubs selbst
sind, lasse sich schwer sagen, sagt sie,
es mangle an Daten. Da ist die Lage
in Deutschland offenbar nicht anders
als in China.
Im vergangenen Jahr analysierte
der Verein FC PlayFair, der sich für
Nachhaltigkeit im Fußball einsetzt,
Klimasünder was die Profivereine für Klima und
Fußball Umwelt unternehmen. Das Ergebnis
war beachtlich. PlayFair fand mehr
CO2-Fußabdruck von als 150 Beispiele, mit denen die Klubs
Fans bei Spielen der ihr grünes Gewissen entlasten wollen.
Fußball-Bundesliga*, Schalke verzichtet auf Strohhalme in
Auswahl
Getränken, Hoffenheim lässt Auto-
FC Bayern München grammkarten aus Rasenschnitt ferti-
674 gen, der FC St. Pauli Bienenstöcke
am Stadion aufstellen.
RB Leipzig
Im Dezember beschloss die Deut-
389
sche Fußball Liga, bei der Lizenz­
Schalke 04 vergabe auch die Nachhaltigkeit der
293 Vereine zu berücksichtigen. Wie
Borussia Dortmund
streng die Umweltwerte ausgelegt
und nach welchen Kriterien und
226
­Methoden sie ermittelt werden, ist
Werder Bremen allerdings noch völlig offen. Ernst
185 wird es für die Vereine erst zur über-
Mainz 05 nächsten Saison.
93
In einem Punkt sind sich die Ver-
antwortlichen einig. Es soll bei Ver-
* in kg CO2-Äquivalent, stößen Strafen geben. Das unterschei-
Saison 2018/19
det den Fußball immerhin vom IOC.
S Quellen: Loewen und
Wicker, Uni Bielefeld Michael Fröhlingsdorf n
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SPORT

Chris Riefenberg / DER SPIEGEL

Skigebiet Ehrwalder Alm in Österreich: Die Stimmung zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern im Ort ist angespannt

Wie verkraftet ein Bergdorf, in dem jeder

jeden kennt, so eine Situa­tion?
Nach dem Frühstück fährt Larchers Ge-

»0,0 Umsatz«
schäftspartnerin Regina Poberschnigg mit
­einigen Angestellten der Skischule Total zu
einer Erste-Hilfe-Schulung für Skilehrer­
anwärter in den Nachbarort Biberwier. Gute
Trainer sind in der Skination Österreich
SKITOURISMUS  Österreichs Wintersaison steht wegen der Pandemie ­Mangelware geworden. Viele Coaches h ­ aben
sich im Krisenwinter 2020/21 beruflich um-
erneut auf der Kippe, bei vielen Gastwirten macht sich Existenzangst orientiert. Um Nachwuchs heranzuziehen,
breit. Wie sich das im kleinen Tiroler Bergort Ehrwald anfühlt. werden jetzt im ganzen Land Lehrgänge
­abgehalten.
Für die Kurse in Biberwier wurde ein Kon-

K
urz vor dem Start der Skisaison Mitte
Dezember sitzt der Skischulleiter Peter
Larcher, 60, in seinem Büro in Ehrwald
und wippt nervös auf dem Stuhl hin und her.
Es riecht nach Skiwachs. Die Kaffee­maschine
läuft.
Es ist der erste Tag nach dem dreiwöchi-
gen Lockdown in Österreich. Restaurants,
Hotels und Bergbahnen dürfen wieder öff-
nen. Die Pisten im Skigebiet Ehrwalder Alm
in Tirol sind präpariert. Das große Geschäft
mit dem Wintersport kann beginnen.
»Aber kommen überhaupt Gäste?«, fragt
Larcher in die Runde. Ein Mitarbeiter checkt
am Computer die Buchungen für den Ski-
unterricht. Viele sind es noch nicht. Larcher
schlägt die Hände vors Gesicht. »Ich halt es
nicht aus!«
Ehrwald liegt am Fuß der Zugspitze. Im-
posantes Bergpanorama, 2600 Einwohner,
4000 Gästebetten. Die Einheimischen leben
gut vom Tourismus. Eigentlich.
Doch Corona hat den Ort schwer getroffen.
Vorigen Winter fiel die Skisaison von Dezem-
ber bis März aus, Lifte und Bergbahnen stan-
den zeitweise still. Die Bilanzen von Hote-
liers, Gastronomen und Skischul­betreibern
wurden verwüstet. »Wir hatten 0,0 Umsatz«,
sagt Larcher.
Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie
haben im vergangenen Jahr tiefe Einschnitte
hinterlassen. Jetzt geht es für viele Menschen
an die Existenz. Was diesen Winter noch
­hinzukommt, ist die soziale Spaltung, die
Corona ausgelöst hat. Für Impfverweigerer
gelten in Österreich weiterhin strenge Ein-
schränkungen, Geimpfte hingegen dürfen
in Ehrwald den Irish Pub, die Kletterhalle,
das Hallenbad besuchen. Eine Zweiklassen-
gesellschaft.
ferenzraum in einem Hotel gebucht. Es ist
sonst kein einziger Gast in dem riesigen Ge-
bäude. Ein Ausbilder erläutert den angehen-
den Skilehrern die Grundlagen der Reanima-
tion in Zeiten von Corona. Atemkontrolle?
»Ist euch überlassen, ob ihr das machen
wollt.« Mund-­zu-Mund-Beatmung? »Wird
wegen Covid nicht durchgeführt.«
Poberschnigg kontrolliert in der Lobby alle
Teilnehmer mit Schnelltests. Die 58-Jährige
hat Routine. Um die fehlenden Einnahmen
aus der Skischule zu kompensieren, ließ sich
die ausgebildete Sanitäterin als Teilzeitkraft
bei einem Rettungsdienst anstellen.
In ihrem neuen Job kommt Poberschnigg
viel herum im Ehrwalder Talkessel. Sie arbei-
tet in Testzentren, organisiert Corona-Scree-
nings in Hotels und Handwerksbetrieben.
Manchmal schlägt ihr die schlechte Stimmung
der Menschen ungefiltert entgegen. So wurde

94 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


sie bei einem Termin wegen ihres
Mund-Nasen-Schutzes angeschnauzt.
Ob sie noch nicht begriffen habe, dass
die Pandemie nur eine Erfindung der
Politik und der Medien sei, musste
Poberschnigg sich anhören.
»Bei vielen liegen wegen der Exis-
tenzangst die Nerven blank«, sagt
Poberschnigg. Ihr gehe es manchmal
auch nicht anders. Sie vermietet in
ihrem Haus Appartements. Einige
ihrer Stammgäste haben für diesen
Winter bereits storniert. Die Unge-
wissheit macht die Menschen mürbe.
Was ist, wenn ihre deutschen Gäste
wegen Corona die Lust am Skifahren
verlieren? In diesem Winter, vielleicht
länger.
Vor Ausbruch der Pandemie er-
neuerten sie und ihr Geschäftspartner
Peter Larcher in der Skischule für viel
Geld das Sortiment an Leihskiern,
Snowboards und Schneeschuhen.
Jetzt hängen viele der insgesamt
mehr als 800 Mo­delle kaum benutzt
in der Auslage.
Ein Überbrückungskredit half dem
Betrieb über den vorigen Corona­
winter. Im Sommer lief das Geschäft
mit Bergtouren gut. Nur was passiert,
wenn die Omikron-Variante Tirol den
nächsten Lockdown aufzwingt? »Wir
­befinden uns wie auf einem Blind-
flug«, sagt Poberschnigg.
Schon jetzt hat Corona die Wert-
schöpfungskette in Ehrwald erheblich
gestört. Weil weniger Touristen kom-
men, verkaufen die Bäcker weniger
Brötchen, weil Hoteliers Umbau-
oder Renovierungsmaßnahmen zu-
rückstellen, fehlen den örtlichen
Handwerkern Aufträge.
Der ganze Ort scheint in eine Ab-
wärtsspirale geraten zu sein. Auf
dem Gemeindeamt heißt es, viele
Übernachtungsbetriebe befänden
sich in einer »sanften Notlage«, ei-
nige kleinere Pensionen seien »kli-
nisch tot«. Bürgermeister Martin
Hohenegg muss gegen den Ausver-
kauf seiner Heimat ankämpfen.
Immobilien­spekulanten aus dem
Ausland kreisen schon wie Geier
über dem Dorf, um sich ein Schnäpp-
chen zu sichern.
Ehrwald ist in den vergangenen
Jahren zum Hotspot für Besserver-
diener geworden. Viel Ruhe und Na-
tur. Nach Innsbruck und München ist
es nicht weit. Die Restaurants im Dorf
sind erstklassig. Es gibt eine Eisbahn
und auf dem Weg Richtung Lermoos
einen Golfplatz. Vor einigen Jahren
eröffnete direkt neben der Talstation
der ­Tiroler Zugspitzbahn ein Vier-
sterneresort. Die Luxus-Chalets am
Ortsrand wachsen wie Pilze aus dem
­Boden.
SPORT
Das Skigebiet Ehrwalder Alm ge- pflicht, die in Österreich ab Februar
DEUTSCHLAND hört zu den beliebtesten Familien- gelten soll. Obwohl er dadurch lang-
revieren Österreichs. Die Liftanlagen jährige Mitarbeiter verloren hat, die
sind auf dem neuesten Stand, die Pis- sich partout nicht impfen lassen woll-
Garmisch-
Partenkirchen ten nicht zu steil. Im modernen Res- ten. Darunter erstklassige Bergführer
taurantkomplex Tirolerhaus oben und Skilehrer, die wussten, wie man
Ehrwald Zugspitze
an der Bergstation werden die Gäste mit Kunden richtig umgeht.
auf Rolltreppen zwischen den Stock- Larcher macht das traurig. »Wir
TIROL werken befördert. Für junge Freesty- waren ein gutes Team. Covid hat uns
ler gibt es einen Funpark mit riesigen auseinander­gerissen.«
ÖSTER- Schanzen. Die Stimmung zwischen Impf­
REICH
Kurz nach Weihnachten steht Ski- befürwortern und Impfgegnern
30 km
schulleiter Peter Larcher morgens vor im Ort ist angespannt. In vielen Fa-
dem kleinen Bürocontainer, der mit- milien gibt es Streit. Im Dorfladen
S Karte: OpenStreetMap ten im Skigebiet aufgebaut ist. Die im Zentrum kommt es immer wieder
Sonne scheint. Seine Laune hat sich zu h­ itzigen Debatten. Einmal ließ
etwas aufgehellt. Zwar ist das Ge- ein Impfskeptiker vor Wut den ge-
schäft mit Tagesgästen aus Bayern samten Einkauf einfach auf dem Tre-
eingebrochen, weil Besucher, die sen liegen und marschierte aus der
noch nicht geboostert sind, bei der Tür.
Einreise nach Österreich einen nega- Larchers Kollegin Regina Pober-
tiven PCR-Test vorlegen müssen. Da- schnigg ist ehrenamtliche Chefin der
für haben ungewöhnlich viele Winter- Ehrwalder Bergrettung. Kürzlich ver-
sportler aus den Niederlanden wegen glich jemand in einem Chat den deut-
des rigiden Lockdowns in ihrer Hei- schen Gesundheitsminister Karl Lau-
mat kurz entschlossen die Reise nach terbach mit Adolf Hitler. Die Empö-
Ehrwald angetreten. rung in der Gruppe war groß. Doch
»Wir profitieren von einer Art die Coronaleugner treten immer mas-
Flucht­bewegung«, witzelt ein junger siver auf, wie durchgeknallt. Eine
Skilehrer. Ärztin, die Impfungen für Kinder an-
Larcher, ein ehemaliger Weltmeis- bot, wurde angefeindet. Es gibt eine
ter im Tiefschneefahren, teilt die Trai- Berghütte, die von Impfgegnern be-
ner ein, begrüßt Gäste, beruhigt trieben wird wie eine Trutzburg. Weil
­Eltern, führt Kinder zu ihren Grup- die Angestellten wegen der 2G-Regel
pen. Er achtet darauf, dass die nicht mit der Bergbahn zur Arbeit
Corona­auflagen eingehalten werden. fahren können, gehen sie den Weg
Im ganzen Skigebiet gilt die 2G-Re- hinauf zu Fuß.
gel. Jeden Tag meldet Larcher den »Früher gab es bei uns 2 Prozent
Behörden die Zahl der Kurse und der Wahnsinnige, jetzt sind es 15 Pro-
Teilnehmer. Im Lift tragen die Schüler zent«, sagt Bürgermeister Hohenegg.
Masken. Die gemeinsame Preisver- Er sitzt in einem Besprechungs­
leihung nach dem Abschlussrennen zimmer im Gemeindeamt und guckt
entfällt in diesem Winter. zum Fenster raus. Draußen fährt eine
Im Sommer gab es im Ehrwalder Pferdekutsche vorbei durch den
Talkessel keine Coronafälle, kurz vor Schnee. Es könnte alles so idyllisch
Weihnachten waren es sechs. Anfang sein.
Januar stieg die Inzidenz in Tirol Er vermisse die »Freundlichkeit,
deutlich an. Larcher unterstützt die die Offenheit« der Dorfbewohner, das
Maßnahmen zur Eindämmung der »Ur-Gen der Gastfreundschaft« sei
Pandemie und begrüßt die Impf- manchem verloren gegangen, sagt
Hohenegg. Trotzdem glaubt er
fest daran, dass die Ehrwalder die Kri-
se »mit einem blauen Auge« überste-
hen werden, wenn es nicht abermals
zu einem Lockdown kommt. »Noch
sind wir eine robuste Gemeinschaft.«
An Silvester herrschte ab 22 Uhr
Sperrstunde. Es gab keine großen Fei-
ern. Die meisten Menschen hielten
sich an die Vorgaben.
Chris Riefenberg / DER SPIEGEL
Einige Bergführer stiegen in eine
Mar tin Hangen / DER SPIEGEL
Wand unterhalb des Gipfels der Zug-
spitze und entzündeten um Mitter-
nacht Bergfeuer – als wollten sie da-
mit die bösen Geister vertreiben. Die
Lichter ergaben die Jahreszahl 2022
und waren im ganzen Tal zu sehen.
Skilehrer Larcher Bergretterin Poberschnigg Gerhard Pfeil  n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 95
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WISSEN

Fikri Yusuf / Antara Foto / REUTERS

Auf dem Weg in die Freiheit: Helfer tragen auf der indonesischen Insel Bali eine Grüne Meeresschildkröte zurück an den Strand. Das Tier ist
kürzlich aus den Fängen von Wilderern befreit worden, die die geschützte Art weiterhin jagen, vor allem wegen der Eier und des Fleischs.

Trügerische Hoffnung
­Versuchsgruppe wurden Geimpfte und Unge­impfte aufge­
ANALYSE  Milder Verlauf und dann immun?
Von wegen. Möglicherweise schützt eine
­überstandene Omikron-Infektion nicht zuverlässig
vor anderen Coronavarianten.
Seit Wochen keimt die Hoffnung, dass die Omikron-Variante
die Pandemie beenden könnte: durch eine hohe Ansteckungs­
rate bei vergleichsweise milden Verläufen. Dadurch könnte,
so die Theorie, eine breite Immunität in der Bevölkerung
­entstehen – weil viele geimpft sind, sich angesteckt haben oder
beides.
Entscheidend dafür ist unter anderem, wie wirksam der
­Immunschutz nach einer Infektion mit der Variante tatsächlich
ist. Wer – ungeimpft – eine Ansteckung mit Omikron hinter
sich hat: Muss der oder die sich überhaupt noch impfen lassen?
Eine Gruppe um den Virologen Alex Sigal hat jetzt in
­Südafrika untersucht, ob die neu­tralisierende Immunität, die
durch ­Omikron hervorgerufen wird, auch die Abwehrkraft
gegen die Delta-Variante verstärkt. In die – sehr kleine –
nommen.
Das Ergebnis: Geimpfte ent­wickelten nach einer Omikron-
Durchbruchinfektion eine sehr gute Immunität sowohl gegen
die Omikron- als auch gegen die Delta-Variante.
Ungeimpfte hingegen wiesen nach einer Omikron-Infektion
eine etwas schlechtere neutralisierende Immunität gegen
Delta auf.
Womöglich muss Omikron eher wie eine neue Unterform in
der Gruppe der Sars-CoV-2-Viren betrachtet werden, so stark
fallen seine Veränderungen aus. Fachleute waren über die
außergewöhnlich hohe Zahl an ­Mutationen bei der Omikron-
Variante seit ihrer Entdeckung ­erstaunt.
Experten wie der Virologe Christian Drosten von der
­Berliner Charité wollen nicht ausschließen, dass eine Delta-­
ähnliche Variante zurückkehren wird. Wer vorher aus­
schließlich mit Omikron in Berührung gekommen sei, könnte
dann schlechter vor einer Infektion und einer Erkrankung
­geschützt sein als Geimpfte – weil sich die Viren so stark unter-
scheiden. Viola Kiel

98 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022

 Das Tonga-Rätsel
GEOGR AFIE  Nach dem Ausbruch eines
unterseeischen Vulkans im südpazifischen
Königreich Tonga am 15. Januar tun sich
Vulkanologen schwer damit zu erklären,
was bei der Eruption genau passiert ist.
»Wir rätseln noch«, sagt Thomas Walter
vom Deutschen GeoForschungsZentrum in
Potsdam. Probleme bereite der Mangel an
Daten: »Im Moment sind wir angewiesen
auf die Augen der Satelliten.« Ein unmittel-
bares dauerhaftes Über­wachungssystem
gab es nicht.
Dabei hatte der Vulkan schon vor Jahren
für Interesse gesorgt – nicht zuletzt weil
den. Die Insel war nur ein kleiner Teil eines Schwefel­dioxid gen Himmel schleuderte.
gigantischen, unsichtbaren Massivs und bil- »Wenn es bei dieser Menge bleibt, wird man
dete den Nordrand der etwa fünf Kilometer das womög­lich messen können«, sagt
weiten Caldera des Vulkans. So nennt man ­Vulkanexperte Walter, »aber einen relevan-
die kesselförmige Struktur, die beim Zusam- ten Einfluss auf das Klima der Südhalbkugel
menbruch von Magmakammern oder durch hat es nicht.« CHS
frühere Ausbrüche entsteht.
Ihr Schicksal ist mit der Frage verknüpft, Vulkan vor
wie es zu dem Tsunami kam, der sich darauf- Ausbruch in Tonga
hin über den Pazifik ausbreitete. Dass eine
einzelne Explosion so viel Wasser in Bewe-
gung bringt, wäre ungewöhnlich. Die Welle
könnte vielmehr für einen ­Kollaps der
­Caldera sprechen, bei der der Meeresboden
mit furioser Gewalt bewegt worden wäre.
Die langfristigen Folgen für das Welt­

Planet Labs PBC

dort nach Ausbrüchen Ende 2014 und An- klima dürften dagegen überschaubar
fang 2015 eine neue Insel entstanden war. sein. Satellitenmessungen zeigen, dass der
Jetzt ist das neue Eiland wieder verschwun- Vulkan lediglich 0,4 Millionen Tonnen

»Es wird signifikante

tem diese Messung stört, be- fahrtindustrie es versäumt, ihre
kommt man ungenaue Infor­ Technologie anzupassen?

Störungen geben«
mationen über die eigene Hansman: Um dieses Risiko
Höhe. Das ist ein Sicherheits­ weiß man schon lange. Aber es
risiko. gibt Sendefrequenzen, die für
SPIEGEL: Und dann kann das die Flugsicherheit reserviert
TECHNIK  John Hansman, 67, Professor für
Flugzeug bei schlechten Sicht- sind. Und jene für die Radar­
Luftfahrt am Massachusetts Institute of verhältnissen nicht landen? höhenmessung ist eine davon.
Technology, erklärt, wie der neue 5G-Mobil- Hansman: Genau. Solche Stö- Natürlich kann man Änderun-
D. Sella / MIT

rungen passieren nicht ständig, gen an der Flugzeugausstattung

funkstandard in den USA die Luftsicherheit
gefährden kann.
SPIEGEL: Herr Professor Hans-
man, die Chefs der größten US-
Fluggesellschaften haben vor
dem Einsatz des neuen Han-
dy-5G-Standards in der Nähe
von Flughäfen gewarnt, dem-
nach könnten massenhaft Flüge
ausfallen. Wo liegt das Problem
genau?
Hansman: Die Sorge ist, dass
der Mobilfunkstandard 5G den
Radarhöhenmesser stört. Hoch
oben messen Flugzeuge ihre
Höhe anhand des Luftdrucks.
Bei schlechter Sicht ist die Mes-
sung per Luftdruck aber nicht
mehr genau genug, um sicher
landen zu können. Dann ver-
wenden die meisten Flugzeuge
ein Instrumentenlandesystem,
kurz ILS. Das sendet einen
Funkleitstrahl aus, der den Pfad
zur Landebahn weist. Dieser
wird von Einflugzeichen, soge-
nannten Funkfeuern, die auf
der Landebahn angebracht sind,
vorgegeben. Bei schlechtem
­ iloten bis etwa 60 Meter über
P ist, etwa weil dort öfter Nebel
der Landebahn. Darunter
braucht man einen Radarhöhen­
messer, um die Höhe zu be­
stimmen.
SPIEGEL: Wir funktioniert der?
Hansman: Der Höhenmesser
schickt ein Signal vom Flugzeug
auf den Boden, das dort ab-
prallt und zum Flugzeug zurück-
kehrt. Das Problem ist, dass
die Radarhöhenmesser auf den
gleichen Frequenzen arbeiten
wie 5G. Wenn das Handysys-
aber doch hin und wieder. Es vornehmen, die das Problem
gibt wichtige Flughäfen, bei verkleinern würden. Aber das
denen das häufiger ein Problem ist so, als hätten Sie einen Nach-
barn, der über den Zaun hinweg
herrscht. In London, Chicago, Lärm macht. Ist es dann Ihr Job,
San Francisco oder New York eine Schallschutzmauer zu er-
ist das der Fall. Wenn diese Art richten? Oder alle Bewohner
von Störung auftritt, werden Ihres Hauses mit Noise-Cancel-
viele Flüge ausfallen, Flugpläne ling-Kopfhörern auszustatten?
durcheinandergeraten. Das ist eine komplizierte Frage,
SPIEGEL: Das zugewiesene Fre- immerhin gibt es auch starke
quenzband für 5G in den USA Argumente für das neue 5G.
liegt näher am Wellenlängen­ SPIEGEL: Wie berechtigt ist die
bereich des Höhenmessers als Forderung der Airlines, das
die in Europa verwendeten 5G- neue 5G rund um die Flughäfen
Frequenzen. Aber auch das einzuschränken?
ist lange bekannt. Hat die Luft- Hansman: Das wäre eine lokal
begrenzte Maßnahme, die das
Problem mit den Höhenmes-
sern beheben würde. An diesen
Orten kann man dann aber
nicht die gewünschte 5G-Leis-
tung anbieten.
SPIEGEL: Wie groß ist nun das
Risiko für die Flugsicherheit?
Hansman: Ich glaube nicht, dass
Flugzeuge deswegen abstürzen
werden. Die Sicherheit wird
jetzt dadurch gewährleistet, dass
man die Flugzeuge an gewissen
Rober t Alexander / Getty Images

Wetter fliegt man diesem Strahl Orten nicht landen lässt.

nach, bis man die Landebahn
sieht.
SPIEGEL: Wann kommen die
Radar­höhenmesser ins Spiel?
Hansman: Einfache Instrumen-
tenlandesysteme führen die
SPIEGEL: Kann es passieren, dass
Flughäfen wie Chicago, New
York oder San Francisco
bei schlechter Sicht schließen?
Passagiere in Nashville, Tennessee Hansman: Ja. Das würde
­passieren. KK

Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 99

WISSEN

Das Sternenauge öffnet sich

ASTRONOMIE  In Baltimore wird das teuerste Teleskop der Welt für seine Mission vorbereitet.
Und in Heidelberg wollen Forscher damit den Ursprung von Planeten, Sternen und Galaxien erkunden.
Zu Besuch an zwei Orten, an denen Weltraumgeschichte geschrieben wird.

Origami im Weltraum
Aufbau und Entfaltungsprozess Wissen- Hauptspiegel: Das »James Webb«-Teleskop
des »James Webb«-Teleskops schaftliche Durchmesser liefert Bilder im Infrarotbe-
Instrumente 6,5 m reich. Astronomen erwarten
von den Aufnahmen beson-
ders in diesen Bereichen
Zum Vergleich: neue Erkenntnisse:
Mensch, 1,8 m

Entstehung
von Sternen

Entstehung
und Eigenschaften
von Exoplaneten
Sekundär-
spiegel
Entstehung von
Galaxien im
frühen Universum
Der mehrlagige Hitzeschild
schirmt das Teleskop vor
der Wärmestrahlung von
Sonne, Erde und Mond ab.

Das »James Webb«-Teleskop

wird um den Lagrange-Punkt L2 Momentan
kreisen, der etwa 1,5 Mio. km werden die 18 Spiegel-
von der Erde entfernt ist. segmente fein justiert, und
das Teleskop kühlt ab.

Kourou, 25.12.2021, 9.20 Uhr

Start des »James Webb«-Teleskops Baltimore, 8.1., 8.53 Uhr
an Bord einer »Ariane 5«-Rakete Der rechte Teleskopflügel wird
ausgeklappt, der linke ist
bereits montiert.

Baltimore, 5.1., 11.51 Uhr

Der Sekundärspiegel ist
aufgestellt.

Baltimore, 5.1., 9.52 Uhr

Der Hitzeschild ist entfaltet.
Der Montageprozess des
Sekundärspiegels beginnt.
S Quelle: Nasa


100 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022

 WISSEN

M
ittwoch, 5. Januar, 9.52 Uhr
im Space Telescope Science
Institute in Baltimore, US-
Bundesstaat Maryland. Angespannt
blicken zwei Dutzend Männer und
Frauen auf Monitore. Auf ihnen lastet
die Verantwortung für die Zukunft
der Astronomie. Wenn etwas schief-
läuft an diesem Tag, dann wird dies
die Erkundung des Universums um
viele Jahre zurückwerfen.
Auf den Bildschirmen sind Zahlen-
kolonnen zu sehen, Diagramme, Ta-
bellen, technische Schaubilder. Zwei
große, an der Fensterfront von der
Decke herabhängende Bildschirme
zeigen auch für Laien erkennbar, wo-
rauf sich die Konzentration der Ex-
perten richtet: das »James Webb«-
Weltraumteleskop (JWST), das größ-
te und teuerste in der Geschichte der
Raumfahrt. Am ersten Weihnachts-
feiertag hat eine »Ariane 5«-Rakete
das omnibusgroße Instrument in den
Himmel gehoben. Nun rast es – rund
den Zirkel samt Sekundärspiegel auf-
wärts. Es ist, als stiege aus der Tele-
skopblüte ein mächtiges dreibeiniges
Insekt empor.
Wie schön wäre eine Liveschaltung
zu diesem fernen Spektakel! Doch
leider haben sich die Ingenieure
gegen Kameras an Bord entschieden.
Es hätte bedeutet, auch Scheinwerfer
anbringen zu müssen, und die brau-
chen Stromkabel, was bei einer Be-
triebstemperatur von minus 230 Grad
keine Kleinigkeit ist.
Leichter ist es, das Instrument sen-
sorisch zu kontrollieren. Deshalb ist
das Bild auf dem Monitor im Kontroll-
raum nur eine Simulation, zusammen-
gesetzt aus den Daten, die Hunderte
Sensoren, Temperaturfühler und
­Vibrationsdetektoren senden. Fort-
während prüft die Elektronik, ob alles
noch so abläuft, wie es soll.
Bisher gab es keine größeren Kom-
plikationen, nur kleine Zwischenfälle.
»Anfangs kühlte das Teleskop schnel-

Chris Gunn / NASA

eine Million Kilometer vom Kontroll-
raum in Baltimore entfernt – immer
weiter ins All hinaus.
Zwölf goldene, aneinander angren-
zende Sechsecke sind zu erkennen.
Wie der Fruchtknoten einer Blüte ra-
gen sie in der Mitte eines rautenför-
migen, silbrig schillernden Blattes aus
Kunststoff empor. Die Menschheit hat
dieses Hightechgerät als Kundschafter
entsandt, damit es neue Einsichten
über den Ursprung der Galaxien, der
Sterne und der Planeten liefert.
In diesem Moment aber gilt die
Aufmerksamkeit der Experten ganz
dem Gestänge, das quer über die gol-
dene Spiegeloberfläche geklappt ist.
Es sieht aus, als läge dort ein riesiger
Zirkel, und wo die beiden Schenkel
aufeinandertreffen, ist ein kreisförmi-
ges Etwas befestigt. Es ist der Sekun-
därspiegel des JWST, der an diesem
Tag aufgestellt werden soll. Seine Auf-
gabe wird es sein, das vom Primär-
spiegel gebündelte Sternenlicht in das
wissenschaftliche Messmodul im Zen-
ler ab, als wir es erwartet hatten«,
erzählt Feinberg. Er entschied, für
kurze Zeit die Heizung anzuschalten.
Ein anderes Mal blieb beim Lösen
eines Riegels das elektronische Feed-
back aus. »Ein Schreckmoment«, er-
zählt »Webb«-Manager David Hunter.
»Wir dachten, er klemmt.« Doch
dann registrierten die Vibrationsson-
den die bei der Entriegelung verur-
sachte Erschütterung. Die Ingenieure
atmeten auf: Fehlalarm.
Die Installation des Sekundärspie-
gels läuft nach Plan. Bald schwebt er
mehr als sieben Meter hoch über den
goldenen Sechsecken des Primärspie-
gels. Langsam bugsiert ihn das drei-
beinige Gestänge in seine Zielposition.
Es ist ein kalter, klarer Wintermor-
gen in Baltimore, durch die Fenster
des Kontrollraums ist strahlend blau-
er Himmel zu sehen. Irgendwo da
draußen, weit jenseits des Mondes,
vollzieht sich in der absoluten Stille
des Weltraums das Drama der Tele-
skopentfaltung. Im Vakuum gibt es
»Webb«-Manager ein »sehr emotionaler Moment«. Sei-
Feinberg, ne ganze Familie, »vom einjährigen
JWST-Spiegel: Enkel bis zur 94-jährigen Mutter«,
»Es wäre furcht-
bar, wenn wir es saß zu Weihnachten beisammen,
vermasseln« während Henning auf dem Bildschirm
live verfolgte, wie sein langjähriger
Traum in Erfüllung ging: Die Rakete
mit dem Teleskop an Bord ent-
schwand, von einer Säule aus Feuer
geschoben, in den Wolken.
Die Messgeräte des JWST sind
Henning vertraut. An zwei von ihnen
haben er und andere MPIA-Wissen-
schaftler mitgebaut. »Alle bewegli-
chen Teile sind von uns«, sagt Hen-
ning stolz. Gerade Mechanisches sei
bei Weltraumtemperaturen weit
unter minus 200 Grad Celsius schwie-
rig zu beherrschen.
Die Entwicklungsarbeit hat sich
gelohnt. Dass sie die »Webb«-Instru-
mente so gut kannten, verschaffte

trum des Observatoriums zu werfen.
Ohne den Sekundärspiegel wäre das
Teleskop funktionsuntüchtig.
Lee Feinberg, der für die Spiegel
verantwortliche Projektmanager, ist
nervös an diesem Morgen. Das heik-
le Manöver, die tennisplatzgroße
Kunststoffplane als Hitzeschild auf-
zuspannen, haben die Kollegen in den
Tagen zuvor bravourös gemeistert.
Da dürfen er und sein Team jetzt nicht
versagen. »Es wäre furchtbar, wenn
wir es vermasseln«, sagt Feinberg.
Gebannt verfolgt er, wie sich erst
kaum merklich, dann unverkennbar
etwas auf dem Bildschirm bewegt:
Eine dritte Stange stemmt von unten
keinen Schall: Keine knarrenden
Scharniere, keine surrenden Moto-
ren, und auch die Riegel, die das Drei-
bein schließlich arretieren, rasten
lautlos ein.
11.51 Uhr, für die Zunft der Astro-
nomen ein bedeutsamer Moment.
Der Sekundärspiegel ist montiert.
Von nun an fällt Sternenlicht ins In-
nere des »James Webb«-Observato-
riums. »Wir haben jetzt ein Teles-
kop«, sagt »Webb«-Manager Hunter.
Für Thomas Henning, einen der drei
Direktoren des Heidelberger Max-
Planck-Instituts für Astronomie
(MPIA), war der Start dieser Mission
1Million
den Max-Planck-Forschern einen
Vorsprung beim Wettstreit um die be-
gehrte Beobachtungszeit, also die
Stundenkontingente, während derer
sie das neue Teleskop für ihre Be­
Kilometer obachtungen nutzen dürfen. Die Hei-
delberger schnitten bei der Zuteilung
von so gut ab wie kaum ein anderes Ins-
titut weltweit: 10 der bewilligten
Baltimore JWST-Projekte stehen unter Leitung
entfernt rast eines Forschenden aus Heidelberg,
das Teleskop an mehr als zwei Dutzend weiteren
Projekten sind sie beteiligt.
immer Henning selbst interessiert sich für
weiter ins die Geburt neuer Planeten. Er möch-
All hinaus. te besser verstehen, wie sie durch Ver-
klumpung von Staub und Gas ent-

Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 101

WISSEN
stehen, und »Webb« soll ihm dabei helfen. Im
Lauf der vergangenen Jahre haben Henning
und seine Forscherkollegen eine Vielzahl von
Staubscheiben identifiziert, die um junge Ster-
ne herumwirbeln, und mit JWST wird er sie
nun ins Visier nehmen.
In einer Scheibe dieser Art kam vor gut
4,5 Milliarden Jahren die Erde zur Welt, jetzt
will Henning der Geburt neuer Erden bei-
wohnen. Grund zur Hoffnung besteht. Denn
in einigen der Scheiben klaffen auffällige
dunkle Ringe. Die Astronomen vermuten,
dass sie von frisch geborenen Planeten her-
rühren, die mit ihrer Schwerkraft allen Staub
der Umgebung an sich ziehen. »Dort wollen
wir uns jetzt auf die Jagd nach Babyplaneten
machen«, sagt Henning.
Mithilfe der Spektrografen an Bord des
Teleskops wird er die Prozesse im Kreißsaal
der Planeten detailliert nachzeichnen können.
So hofft Henning, verfolgen zu können, wie
Wasser in den Außenbezirken protoplaneta-
rer Scheiben an winzigen Staubpartikeln kon-
densiert und dann langsam einwärts wandert.
»Vermutlich ist das der Mechanismus, durch
den auch das Wasser, das sich heute auf unse-
rer Erde findet, einst in unseren Teil des Son-
nensystems gelangt ist«, sagt er.
María Claudia Ramírez-Tannus, eine junge
Mitarbeiterin von Henning, hat Beobach-
tungszeit beantragt – und bewilligt bekom-
men. Denn auch das ist eine Besonderheit des
JWST: Jeder darf Anträge stellen, eingereicht
werden sie anonym. Das soll verhindern, dass
die Koryphäen den Anfängern vorgezogen
werden. Das Verfahren habe sich bewährt,
sagt Nancy Levenson, die stellvertretende
­Direktorin des Space Telescope Science In­
stitute. »Der Anteil der Frauen und der Jung-
wissenschaftler, deren Projekte bewilligt wur-
den, ist ungewöhnlich hoch.«
JWST-Kontrollraum in Baltimore
102 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Ramírez-Tannus wird nun die Planeten-
entstehung im Sternhaufen Pismis 24 unter-
suchen können. Sie will herausfinden, ob die
Geburt in Regionen, in denen Sterne dicht
gedrängt aufeinander einwirken, anders ver-
läuft als rund um isolierte Sterne. Die Frage
sei von großer Bedeutung, sagt Henning:
»Manches spricht dafür, dass auch unser Son-
nensystem aus einem Gebiet mit hoher Ster-
nendichte hervorgegangen ist.«
Jubel, Klatschen, Schulterklopfen. Die Tech-
niker im Kontrollraum stoßen ihre Fäuste
aneinander. Seit Jahren haben sie sich auf
die Aufklapp-Prozedur des Teleskops vor-
bereitet. Jeder hatte mit zumindest kleineren
Pannen gerechnet. Nun mögen sie kaum
glauben, wie gut alles läuft. »Mich über-
rascht, wie wenig Überraschungen es gibt«,
sagt Feinberg.
Schon gleich nach dem Start schien es, als
stünde die »James Webb«-Mission unter
einem guten Stern: Die »Ariane«-Rakete hat-
te den Schubs in Richtung des JWST-Bestim-
mungsorts in 1,5 Millionen Kilometer Ent-
fernung so präzise dosiert, dass nur noch
wenige Korrekturen mit dem bordeigenen
Triebwerk nötig waren. Das spart genug
Treibstoff, um die Laufzeit der Mission
auf möglicherweise bis zu 20 Jahre zu ver-
doppeln.
Im Kontrollraum in Baltimore gehen Jah-
re des Bangens zu Ende. Das JWST ist die
bisher aufwendigste, komplexeste und teu-
erste Forschungsmission im Weltraum, und
vor allem: Es ist diejenige, die am wenigsten
scheitern darf. Das Zehn-Milliarden-Dollar-
Gerät ist das Flaggschiff der Nasa, die Erwar-
tungen sind gewaltig. Too big to fail.
Das »James Webb«-Teleskop ist ein Erbe
von Daniel Goldin, der 1992 mit über-
Bill Ingalls / EPA / NASA
schwänglichem Fortschrittsoptimismus sein
Amt als Nasa-Chef antrat. Er wollte die allzu
behäbige Raumfahrtagentur umkrempeln,
entrümpeln, schlanker und schlagkräftiger
machen. »Besser, schneller, billiger«, lautete
Goldins Parole. Ein Acht-Meter-Teleskop soll-
te in Rekordzeit ins Weltall befördert werden,
und das zum Schnäppchenpreis von weniger
als einer Milliarde Dollar.
Doch dann scheiterten zwei Marsmissionen,
und auch das Weltraumteleskop »Wire« ver-
sagte den Dienst. Die Nasa sah sich gezwungen,
zur alten Sicherheitsphilosophie zurückzukeh-
ren. Das ließ die Kosten explodieren.
Erst jetzt wurde den Entwicklern klar, auf
welch ein Himmelfahrtskommando sie sich
eingelassen hatten. JWST musste präzise,
leicht, faltbar, erschütterungsfest und bei ex-
tremer Kälte funktionstüchtig sein. Es schien
kaum möglich, all diese Anforderungen zu-
gleich zu erfüllen.
Selbst nach einer Reduktion auf 6,5 Meter
war der Spiegel noch zu groß, um in den
Frachtraum einer Rakete zu passen. Die
­Entfaltung im Weltraum jedoch, die nie
zu­vor erprobt wurde, ist eine heikle Angele-
genheit – und dies umso mehr, als die extreme
Leichtbauweise das Instrument fragil gemacht
hat.
Die größte Feindin der Techniker aber ist
die Kälte. Denn das Teleskop muss, um kla-
re Bilder zu produzieren, mithilfe des auf-
gespannten Hitzeschilds auf extreme Tem-
peraturen abgekühlt werden. Das schafft für
Ingenieure äußerst widrige Bedingungen:
thermische Verformung, Versprödung, Eis-
bildung selbst bei geringster Restfeuchtigkeit.
Bei der JWST-Betriebstemperatur von minus
230 Grad wird jeder mechanische Vorgang
zum Albtraum.
Laura Kreidberg ist noch dabei, ihre Abteilung
am MPIA aufzubauen. Vor knapp zwei
Jahren ist sie von der Harvard-Universität
nach Heidelberg gewechselt, um dort den
neuen Posten einer Max-Planck-Direktorin
anzutreten. Ihr Traum: Leben jenseits des
Sonnensystems zu finden. »Ich bin über-
zeugt, dass das irgendwann gelingen wird«,
sagt sie.
Ob ein ferner Planet Lebendiges beher-
bergt, hofft sie, anhand der Zusammenset-
zung seiner Atmosphäre nachweisen zu kön-
nen. Noch allerdings weiß niemand, anhand
welcher Moleküle sich fremde Lebensformen
verraten werden – und auch nicht, ob das
»Webb«-Teleskop empfindlich genug ist, sie
zu erkennen. Bis zum Nachweis außerirdi-
schen Lebens im All ist es noch ein weiter
Weg. Doch Kreidberg ist zuversichtlich, dass
das neue Himmelsauge sie einen großen
Schritt voranbringen wird.
Kreidberg arbeitet auf einem sich rasant
entwickelnden Forschungsfeld. »Vor 30 Jah-
ren, als das ›Webb‹-Teleskop konzipiert wur-
de, war noch kein einziger Exoplanet be-
kannt«, sagt sie. Erst 1995 wurden erstmals
schwache, regelmäßige Pendelbewegungen

eines Sterns nachgewiesen – ein indirekter
Beleg dafür, dass er von einem Trabanten um-
kreist wird.
Seither hat sich herausgestellt, dass Plane-
ten in der Galaxis allgegenwärtig sind. Fast
5000 von ihnen wurden inzwischen geortet,
und fortwährend werden neue entdeckt. Je
nach Bahn, Masse und Zusammensetzung
herrschen auf ihnen unterschiedlichste Be-
dingungen. Und »Webb« wird es erlauben,
diese zu studieren.
Kreidberg hat den Zuschlag erhalten, zwei
Exoplaneten mithilfe von JWST zu unter-
suchen. Der eine von ihnen ist Trappist-1c,
ein Gesteinsplanet, etwa 40 Lichtjahre von
der Erde entfernt, ähnlich groß und ähnlich
heiß wie die Venus. Kreidberg will messen,
wie sich das Lichtsignal von Trappist-1 ver-
ändert, wenn der Planet auf seiner Bahn hin-
ter seinem Mutterstern verschwindet. »Das
wird mir verraten, ob die Atmosphäre von
Trappist-1c so dicht ist wie die der Venus,
etwas dünner wie auf der Erde, oder ob es
dort fast gar keine Atmosphäre gibt wie auf
dem Mars«, sagt sie. Auch auf die Geschwin-
digkeit der Winde, von denen dieser Planet
umweht wird, werde sie Rückschlüsse ziehen
können.
Kreidbergs zweites Untersuchungsobjekt
heißt LHS 3844b. Auch hier handelt es sich
um einen Gesteinsplaneten ähnlicher Größe.
Doch anders als Trappist-1c kreist er auf
einem sehr engen Orbit um seinen Stern, ge-
rade einmal elf Stunden braucht er für eine
Umrundung. Diese extreme Bahn führt durch
enorme Strahlungshitze und die oftmals hef-
tigen Eruptionen des Sterns. Kreidberg geht
deshalb davon aus, dass die Atmosphäre von
LHS 3844b, falls sie je existiert hat, längst
fortgerissen worden ist.
Das heißt: Dieser Planet ist nackt. Keine
Gashülle trübt den Blick. Ähnlich wie beim
Mond tritt offen der Fels zutage. Das will sich
Kreidberg zunutze machen. Anhand des
­Infrarotlichts, das dieser Planet aussendet,
möchte sie herausfinden, aus was für Gestein
er besteht. Die Astrophysikerin wird dazu das
Licht von LHS 3844b in seine spektralen
­Bestandteile zerlegen und dann nach mar-
kanten Signalen suchen. »Basalt und Granit
zum Beispiel lassen sich anhand ihrer Sig­
naturen klar voneinander unterscheiden«,
sagt sie.
Mit ihren planetaren Detailstudien zählt
Kreidberg zu den Begründern einer neuen
Forschungsdisziplin: der Klima- und Geowis-
senschaft von Welten jenseits des Sonnen-
systems.
Samstag, 8. Januar, 8.53 Uhr. Im Kontrollraum
des Space Telescope Science Institute steht
eine weitere wichtige Etappe auf dem Pro-
gramm: Der rechte Teleskopflügel mit den
drei letzten Spiegelsegmenten wird aufge-
klappt. Wenn alles gut geht, wird JWST in
wenigen Stunden vollständig entfaltet sein.
Dann wird das Teleskop endlich wirklich so
aussehen wie auf all den Postern, die schon
WISSEN
Kreißsaal der Planeten Teleskop beantworten soll, interessiert er sich
nur als Laie.
Als Profi ist Feinberg schon am nächsten
Großprojekt beteiligt: der Entwicklung von
Konzepten für einen Nachfolger des »James
Webb«-Teleskops. Die Rede ist von einem
Observatorium, das den gesamten Frequenz-
bereich vom Infraroten bis zum Ultravioletten
abdeckt. Seine wichtigste Aufgabe soll es sein,
Planeten ins Visier zu nehmen, auf denen die
Voraussetzungen für die Entstehung von Le-
ben bestehen.
European Southern Obser vator y / Science Photo Librar y
In die Diskussionen speist Feinberg die
Erfahrungen ein, die er bei der Entwicklung
des JWST gesammelt hat. All die Tücken,
denen sich die »Webb«-Konstrukteure gegen-
übersahen, die enorme Kostenexplosion und
die vielen Verzögerungen hat er miterlebt.
Besonders eine Lektion hat er dabei gelernt:
Er empfiehlt beim nächsten großen Projekt
ein wenig mehr Bescheidenheit.
Er rät den Ingenieuren, die Komplexitäts-
falle zu vermeiden, in der sich die JWST-Ent-
Protoplanetare Scheiben wickler verheddert hätten. »Don’t try to do
everything«, sagt Feinberg: Versucht nicht,
noch einmal ein Instrument zu bauen, das
alles auf einmal kann.
Zehn Tage später ist es leerer geworden im
Kontrollraum des Space Telescope Science
Institute, viele der Monitore sind verwaist,
erzählt Feinberg. Die Techniker, die für die
Entfaltung des Teleskops zuständig waren,
sind verschwunden. Jetzt steht bald das Jus-
tieren und Kalibrieren des Instruments auf
dem Programm.
Das »James Webb«-Weltraumteleskop be-
findet sich nun 1,36 Millionen Kilometer von
der Erde entfernt, seine Geschwindigkeit hat
sich verlangsamt. Am Wochenende soll es
J. Schedler / CHART32 Team / NASA
in die Bahn rund um den sogenannten
­La­grange-Punkt L2 einscheren, an dem die
an dem Teleskop angreifenden Fliehkräfte
genau die vereinigte Schwerkraft von
Sonne und Erde aufheben werden. Um diesen
Punkt wird es dann die nächsten 20 Jahre
Nebel mit Sternhaufen Pismis 24 kreisen.
Feinberg ist noch in Baltimore geblieben.
seit Wochen im Foyer und auf den Gängen Ehe er sich zukünftigen Weltraumplänen zu-
des Instituts hängen. wendet, wird er noch die Feinabstimmung
Feinberg hat diesmal besser geschlafen. der Spiegel überwachen. Jedes der 18 sechs-
Verglichen mit den schwierigen Manövern eckigen Segmente lässt sich mittels jeweils
der letzten Tage ist der Vorgang, den die sechs hochpräziser Stellschrauben auf zehn
­Ingenieure an diesem Tag steuern, fast schon Nanometer genau in alle Raumrichtungen
Routine. Denn tags zuvor haben sie ihn kippen. Wieder und wieder werden die Tech-
­bereits erfolgreich erprobt. Da haben sie niker unter Feinbergs Regie jedes einzelne
den linken Flügel des Telekopspiegels auf- der Segmente bewegen, bis die 18 Bilder, die
gestellt. sie ins Messgerät projizieren, exakt mitein-
Trotzdem ist Feinberg aufgeregt. Für ihn ander in Deckung sind.
ist der heutige Tag ein Höhepunkt seiner Kar- Noch kann die Prozedur allerdings nicht
riere. 20 Jahre lang hat er Entwicklung, Fer- beginnen. Derzeit liegt die Temperatur des
tigung und Tests der 18 Spiegelsegmente über- Primärspiegels bei minus 207 Grad, das ist
wacht. Nun steht sein Werk vor der Voll- noch zu warm, um verwertbare Bilder zu lie-
endung. fern. Feinberg kann es kaum erwarten, bis
Bald wird Feinberg das Gerät den Astro- das Instrument ausreichend ausgekühlt ist.
nomen zur Nutzung übergeben. Er selbst ist »Erst wenn wir das erste scharfe Bild eines
Physiker, kein Astronom. Für die wissen- Sterns haben, bin ich am Ziel«, sagt er.
schaftlichen Fragen, die das »James Webb«- Johann Grolle  n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 103
WISSEN
Grün-grünes Dilemma
NATURSCHUTZ Der Windkraftausbau bedroht Vögel und Fledermäuse – und
verschärft den Konflikt zwischen Arten- und Klimaschützern.
Das könnte die Energiewende weiter verzögern. Doch es gibt Lösungen.
L
otta und Franzl fliegen im
Dienst der Forschung. Wenn
sie ihren Job gut machen, könn-
ten sie Tausende ihrer Artgenossen
retten.
Das Brutgebiet der Rotmilane liegt
beim Städtchen Donzdorf östlich von
Stuttgart. Ornithologen haben die
Greife dort im vergangenen Jahr mit
GPS-Geräten ausgerüstet. Noch sind
die Tiere im spanischen Winterquar-
tier. Doch bald werden sie wieder
über der Schwäbischen Alb kreisen.
»Wir wollen herausfinden, wie die
Vögel vor Windenergieanlagen ge-
schützt werden können«, sagt Frank
Musiol vom Zentrum für Sonnen-
energie- und Wasserstoff-Forschung
Baden-Württemberg. »Naturschutz-
forschung am Windenergietestfeld«
heißt das Projekt. Auch Fledermäuse
stehen im Fokus des Forschungsvor-
habens.
Wie schnell fliegen die Tiere? Wie
verhalten sich die Flugkünstler in der
Luft? Wie lassen sie sich automatisiert
erkennen, bevor sie Windkraftanla-
gen zu nah kommen? Antworten auf
solche Fragen könnten ein Massen-
sterben stoppen.
Tausende Greifvögel und Hun-
derttausende Fledermäuse fallen
Schätzungen zufolge jährlich in
Deutschland den Windkraftrotoren
zum Opfer. Und es könnten deutlich
mehr werden. Um die Klimaziele zu
erreichen, will Bundeswirtschafts-
minister Robert Habeck (Grüne) die
Windkraft massiv ausbauen. Den er-
neuerbaren Energien solle künftig der
Status einer »überragenden öf-
fentlichen Bedeutung« zuge-
schrieben werden, erklärte Ha-
beck in seiner »Eröffnungsbilanz
Klimaschutz«, »andere Schutz-
güter« könnten »nachrangig be-
urteilt« werden. Im Klartext: Der
Artenschutz soll zurückstecken, um
das Klima zu retten.
Naturschützer sind erzürnt. »Kli-
maschutz und Artenschutz dürfen
nicht gegeneinander ausgespielt wer-
den«, sagt etwa Klaus Hackländer,
104 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Erkennungssystem Vorstandsvorsitzender der Deut-
für Vögel in der schen Wildtier-Stiftung. Der Verlust
Schwäbischen Alb
der Artenvielfalt, befürchtet er, gehe
einher mit »nicht abschätzbaren Fol-
gen für die Funktion unserer Öko-
systeme«. Auch Wissenschaftler war-
nen. »Wir dürfen uns nicht in eine
Polarisierung treiben lassen«, sagt
Katrin Böhning-Gaese von der Sen-
ckenberg-Gesellschaft für Naturfor-
schung: »Es gibt Lösungen, um beides
gleichzeitig voranzutreiben.«
Das grün-grüne Dilemma belastet
das Verhältnis zwischen Windenergie
und Naturschutz seit Jahren. Kaum
etwas ist geschehen, um den Konflikt
zu befrieden. Detaillierte, aussage-
kräftige Studien über Gesamtzahl
und Arten der getöteten Tiere fehlen
bislang. Technische Lösungen wer-
den zwar entwickelt, bislang jedoch
sind nur wenige Anlagen damit aus-
gerüstet.
Gleichzeitig ist der Ausbau der
Windenergie auf dem niedrigsten
Stand der vergangenen zehn Jahre.
Auf See kam der Zubau 2021 ganz
zum Erliegen, an Land wurde in den
vergangenen drei Jahren im Schnitt
nur rund ein Gigawatt Leistung pro
Jahr zugebaut. Notwendig wäre etwa
das Fünffache.
Das Vorhaben der Bundesregie-
rung, den Anteil der erneuerbaren
Energien am Bruttostromverbrauch
bis 2030 auf 80 Prozent zu erhöhen,
liegt deshalb in weiter Ferne. Und die
Versäumnisse rächen sich jetzt.
Zunächst zur rechtlichen Situation.
Habeck schlägt ein »Wind an Land«-
Gesetz vor, das statt heute etwa
0,8 Prozent künftig 2 Prozent der
Landesfläche für Windenergie re-
servieren soll. Auch verlässliche
Vorgaben für die Beteiligung der
Öffentlichkeit und einheitliche Regeln
für den Natur- und Artenschutz, die
bislang Ländersache sind, sollen in
das Gesetz geschrieben werden.
Schon die Sichtung einzelner
Horste des Rotmilans konnte in der
Vergangenheit Projekte verhindern
oder verzögern. Das soll sich nun än-
dern. Anstatt das Einzeltier zu schüt-
zen, möchte die Bundesregierung
künftig auf »Populationsschutz« set-
zen. »Nationale Artenhilfsprogram-
me« sollen Ausgleich für individuelles
Vogel- oder Fledermausleid schaffen.
Doch nicht alle Fachleute sind
überzeugt. »Zumindest für Fleder-
mäuse halte ich Populationsschutz für
schwierig umsetzbar«, sagt Christian
Voigt vom Leibniz-Institut für Zoo-
und Wildtierforschung in Berlin.
Voigt ist Experte für die Nacht-
jäger. Regelmäßig geht er selbst auf
die Suche nach »Schlagopfern«. Im
Schnitt würden von jeder Wind-
energieanlage in Europa 14 Fleder-
mäuse jährlich getötet, berichtet er
– sofern die Anlagen nicht zeitweise
für die Fledermäuse abgeschaltet
würden. So hohe Verluste seien kaum
auszugleichen, zumal aus bislang un-
geklärten Gründen insbesondere jun-
ge und weibliche Fledermäuse durch
die Rotoren zu Tode kämen.
Besonders betroffen seien zudem
Fledermäuse auf Wanderschaft.
Unter den hiesigen Windenergie-
anlagen fänden sich neben toten Tie-
ren aus Deutschland auch solche aus
Polen, dem Baltikum und Russland.
»Fledermäuse haben große Streif-
radien«, sagt Voigt. Der Schaden sei
deshalb nicht lokal begrenzt. Wind-
parks wirkten sich deutlich auf die
Gesamtpopulation der Tiere aus.
Fraglich ist auch, ob es rechtlich
möglich ist, das sogenannte Tötungs-
verbot geschützter Arten mit Verweis
auf einen gesunden Gesamtbestand
auszuhebeln. Die EU-Vogelschutz-
richtlinie und die Fauna-Flora-Habi-
tat-Richtlinie regeln, wie Deutschland
mit Greifvögeln wie Rotmilan und
Kranich oder mit Fledermäusen, etwa
Rauhautfledermaus oder Großem
Abendsegler, umgehen muss. Mit
Populationsschutz allein ist es den
Regularien zufolge nicht getan. Viel-
mehr sei der »Individuenbezug« bei
»beiden Richtlinien inhärent«, schrei-
ben Experten des Kompetenzzen-
trums Naturschutz und Energiewen-
de (KNE). Der Europäische Gerichts-
hof habe diese Position zuletzt im
vergangenen März bestärkt.
Scheitert Habecks Windkraft-
Großoffensive also schon am EU-Ar-
tenschutzrecht? Die Gesetze lassen
Ausnahmen zu. Darauf baut der
Klimaminister. Sobald »ein über-
ragendes öffentliches Interesse« be-
stehe oder Maßnahmen »der öffent-
Arnulf Hettrich / IMAGO
lichen Sicherheit« dienten, könne die
Windkraft Vorrang haben.
Juristen begrüßen den Vorstoß.
»Diese Regelung würde die Rechts-
sicherheit verbessern«, sagt Thorsten

Rotmilan vor
Windradturm
Müller von der Stiftung Umweltenergierecht
in Würzburg. Allerdings sei der Passus kein
Freifahrtschein für den Bau von Windparks.
»Der Einzelfall muss immer noch geprüft wer-
den«, sagt der Jurist. So müsse etwa sicher-
gestellt sein, dass durch die geplanten Arten-
hilfsprogramme der »Erhaltungszustand« der
Population nicht verschlechtert werde.
Doch ist es sinnvoll, den Ausbau der Wind-
energie über Ausnahmen im Artenschutzrecht
zu regeln? Die EU-Gesetzgebung müsste an-
gepasst werden. Das allerdings dauert. Ha-
beck läuft die Zeit davon. Vielversprechender
erscheint es, jene Gebiete ganz vom Wind-
kraftausbau auszunehmen, in denen soge-
nannte windenergiesensible Vögel und Fle-
dermäuse in großer Dichte vorkommen.
Die Daten dafür liegen vor. Ein Gutachten
im Auftrag des Bundesamts für Naturschutz
zeigt, dass bis zu 3,6 Prozent der deutschen
Landesfläche »naturverträglich« für Wind-
kraft genutzt werden könnten – genug, um
Habecks Pläne zu verwirklichen.
»In Deutschland stehen ausreichend Flä-
chen zur Verfügung, um das Zwei-Prozent-
Ziel umzusetzen«, bestätigt Elke Bruns vom
KNE. Die Expertin fordert, konfliktarme Be-
reiche als »Vorranggebiete« für die Windkraft
auszuweisen. Dabei warnt sie vor pauschalen
Einschränkungen. Die umstrittene Windkraft
im Wald etwa, die vor allem in Baumhöhlen
wohnende Fledermäuse bedroht, will sie nicht
grundsätzlich verbieten. »Wald kann unter-
schiedlichen Wert für den Naturschutz ha-
ben«, sagt sie, »wird er zum Beispiel ohnehin
intensiv genutzt, würde ich die Windkraft
nicht kategorisch ausschließen.«
Auch Wolfram Axthelm, Geschäftsführer
des Bundesverbands Windenergie, hält es für
realistisch, genug Fläche für Windenergie-
anlagen zu reservieren »ohne in sensible Na-
turschutzbereiche hineingehen zu müssen«.
Axthelm begrüßt die Windenergie-Offensive
der Regierung. »Die Schützengräben zwi-
schen Arten- und Klimaschutz sind in den
letzten Jahren eher tiefer geworden«, sagt er.
Ein Neuanfang sei überfällig.
Dringend müsse unter anderem die Ge-
nehmigungspraxis vereinfacht werden. »Bis-
lang ist noch nicht einmal bundesweit einheit-
lich festgelegt, welche Arten durch die Wind-
energie als gefährdet gelten«, sagt Axthelm.
Die Auflagen für die Windparkbetreiber dürf-
ten nicht unverhältnismäßig werden. Die bun-
desweiten Populationen vieler Großvögel
hätten sich in den vergangenen Jahren »deut-
lich positiv entwickelt« oder seien, wie etwa
beim Rotmilan, stabil.
Organisationen wie der Naturschutzbund
Deutschland kritisieren solche bundesweiten
Luft nach oben
Zubau an Windkraftanlagen* in Deutschland,
in Gigawatt
Wind an Land Wind auf See
15
10
5 schnell genug, um eine Windkraftanlage in
2010 2015 2020 2025
* bis 2021 realer Zubau, ab 2022 zum Erreichen der Klimaziele
erforderlicher Brutto-Zubau
Flächennutzung in Deutschland
2 %* 66 % Land- und Forstwirtschaft,
Windräder Siedlungen, Verkehr etc.
28 % Landschaftsschutzgebiete
4 % Naturschutzgebiete
* Ziel der Bundesregierung, heute sind es 0,8 %
S Quellen: AGEE, BWE
WISSEN
Zahlen als irreführend. Die Bestandsentwick-
lungen seien regional sehr unterschiedlich.
Auch Axthelm weiß, dass die neue Regierung
die Branche so einfach nicht aus der Pflicht
entlassen wird. Technische Lösungen werden
bereits im Koalitionsvertrag angemahnt. Der-
zeit behelfen sich die Genehmigungsbehörden
häufig noch mit pauschalen Abschaltzeiten.
Während der Brutzeit »schlaggefährdeter«
Vogelarten oder in lauen Sommernächten,
wenn die Fledermäuse bevorzugt jagen, ste-
hen manche Windräder schlicht still, ein Är-
gernis für die Betreiber, die sich um den
Stromertrag ihrer Anlagen sorgen.
Bouke Atema / Alamy / mauritius images
Die Branche begrüßt deshalb inzwischen
jede Lösung, die den Konflikt befrieden könn-
te. Ein 2020 veröffentlichter Befund norwe-
gischer Forscher, dass lediglich ein Flügel je
Anlage schwarz zu streichen sei, um Vögel
wirksamer als bislang abzuschrecken, macht
Hoffnung. Andere technische Lösungen wer-
den mit Hochdruck entwickelt.
Kamera- oder Radarsysteme, ausgerüstet
mit künstlicher Intelligenz, sollen kreisende
Seeadler oder herantaumelnde Zwergfleder-
mäuse künftig automatisch erfassen. Systeme
von Firmen wie BirdVision oder IdentiFlight
werden bereits erprobt und könnten Wind-
energieanlagen künftig abschalten, sobald
Kollisionsgefahr droht.
Frank Musiol vom Windenergietestfeld in
Baden-Württemberg hat bereits Erfahrungen
mit einigen der Detektionssysteme gesam-
melt. Zwei hohe Messtürme haben der For-
scher und seine Kollegen auf der Albhochfläche
bei Donzdorf aufgebaut. Kameras und Mikro-
fone auf verschiedenen Höhen halten Aus-
schau nach Fledermäusen und Großvögeln.
Detektions- und Abschaltsysteme verschie-
dener Hersteller testen die Experten mit dem
Versuchsaufbau. Manche der technischen Ent-
wicklungen haben zum Beispiel Rotmilane
zuverlässig auf 700 Meter Entfernung er-
kannt.
Silhouette und Geschwindigkeit der Tiere
vermögen die Vorrichtungen dabei in Echt-
zeit zu ermitteln, berichtet Musiol. In Sekun-
denschnelle wird vollautomatisch bestimmt,
ob es sich um eine der zu schützenden Arten
handelt, auf die das System trainiert ist –
den harmlosen »Trudelmodus« zu versetzen,
bei dem die Rotorblätter langsamer rotieren.
2030
»Die meisten Kollisionen ließen sich tech-
nisch vermeiden«, sagt der Forscher, der mit
seinen Kollegen zusammen auch selbst ein
Detektionssystem entwickelt. Sobald die Rot-
milane Lotta und Franzl aus ihrem spanischen
Winterquartier zurückgekehrt sind, will Mu-
siol weitertesten – wenn er es noch darf. Denn
ausgerechnet Naturschützer versuchen der-
zeit, seine Forschung zu stoppen.
Der Verein Naturschutzinitiative aus
Rheinland-Pfalz hat Klage gegen die Versuche
auf der Schwäbischen Alb eingereicht, aus
Sorge um die geschützten Rotmilane. Musiol:
»Ein bisschen paradox ist das schon.«
Philip Bethge n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 105
WISSEN
Die verschwundenen
Kinder des Herrn He
GENTECHNIK  Die ersten Designerbabys der Welt wachsen abgeschirmt in China
auf, über ihr Wohlergehen ist nichts bekannt. Ihr Erschaffer sitzt im Gefängnis.
Dabei könnte ihr Schicksal die Zukunft der Fortpflanzungsmedizin beeinflussen.
A
ls sich He Jiankui entschloss,
die Gesetze seines Landes aus­
zutesten und die Grundsätze
moralisch vertretbarer Forschung
gleich mit, ging es offenbar nicht nur
darum, zwei ungeborene Mädchen
vor Krankheit zu bewahren. Der Bio­
physiker von der Southern Universi­
ty of Science and Technology in der
chinesischen Stadt Shenzhen wollte
selbst Geschichte schreiben. Deshalb
manipulierte er mittels Gentechnik
das Erbgut zweier Embryonen, um
diese gegen die Immunschwäche Aids
resistent zu machen. Er ließ sie einer
jungen Frau einpflanzen, die im Ok­
tober 2018 zwei Mädchen auf die
Welt brachte: die ersten gentechnisch
veränderten Babys.
Allerdings wurde dieses Tun, an­
ders als von He Jiankui erhofft, mit­
nichten als medizinische Großtat ge­
106 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Schale mit gentech-
nisch veränderten
Embryonen im Labor
in Shenzhen
feiert. Ethiker in der ganzen Welt
gaben sich entsetzt von dem Tabu­
bruch. Die chinesischen Behörden
schlossen sich der Empörung an und
ließen ihren vermeintlichen Forscher­
helden fallen. Er wurde zu einer
Geldstrafe in Höhe von umgerechnet
380 000 Euro und drei Jahren Ge­
fängnis verurteilt.
Doch was wurde aus den ersten
Designerbabys der Welt? Sie haben
die Pseudonyme Lulu und Nana und
wären jetzt im Kleinkindalter. Sie
können vermutlich schon mit Stäb­
chen essen, längere Sätze bilden,
Treppen laufen und dürften gerade
voller Neugier ihre Umgebung erkun­
den. Aber mehr als ihre Namen und
ihr Alter ist nicht bekannt.
Die chinesischen Behörden behan­
deln das Schicksal der Kinder wie ein
Staatsgeheimnis. Nicht einmal Mit­
glieder eines Komitees der Weltge­
sundheitsorganisation, das sich mit
dem Skandal befasste, konnten etwas
über das Wohlergehen der Mädchen
herausfinden. Benjamin Hurlbut, ein
Medizinhistoriker von der Arizona
State University in Tempe, hat mit
dem ehrgeizigen He Jiankui persön­
lich gesprochen und offenbar Zugang
zu einer Quelle aus dessen näherem
Umfeld. Er sagt: »Wie ich auf in­
direktem Wege höre, sind die Kinder
gesund. Was das bedeutet? Ich weiß
es nicht. Ob man dem Glauben
schenken kann? Das weiß ich auch
nicht.«
Dabei könnten verlässliche Ant­
worten die Zukunft der Fortpflan­
zungsmedizin entscheidend beein­
flussen: Sollten Lulu und Nana trotz
Mark Schiefelbein / AP / picture alliance
der Manipulation tatsächlich wohlauf
sein, wäre es dann nicht sogar gebo­
ten, die Technik weiter zu erforschen
und womöglich einzusetzen, um un­
heilbare Krankheiten zu vermeiden?
Sollte es den Mädchen dagegen in
Wahrheit schlecht gehen, wäre es
dann nicht an der Zeit, Experimente,
die zu genmanipulierten Menschen
führen, ein für alle Mal zu ächten?
Die Gruppe um He Jiankui hat die
Kinder offenbar mit der sogenannten
Crispr-Cas9-Methode hergestellt. Da­
bei handelt es sich um eine Art Gen­
schere, mit der man das Erbmaterial
DNA an bestimmten Stellen durch­
trennen kann. Sie ermöglicht es etwa,
ein bestimmtes Gen herauszuschnei­
den oder neue Genabschnitte in die
Schnittstelle einzufügen.
Mit dem Crispr-Cas9-Werkzeug
können Wissenschaftler nahezu nach
Belieben gentechnisch veränderte
Bakterien, Pflanzen und Säugetiere
herstellen. Diese Erfahrungen lassen
darauf schließen, dass Manipulationen
im Erbgut menschlicher Embryonen
leicht zu machen sind. Es ist also
wahrscheinlich, dass Nana und Lulu
tatsächlich Designerbabys sind, auch
wenn der letzte Beweis noch fehlt.
Auf einem Kongress hatte He Jian­
kui über seine Experimente gespro­
chen: Er will das Erbgut der Kinder
so verändert haben, dass sie sich nicht
mit der Immunschwäche Aids anste­
cken können. Dazu schaltete er an­
geblich ein Gen (»CCR5«) aus, wel­
ches Immunzellen des Menschen an­
greifbar macht für das HI-Virus. Bei
Nana sollen beide Kopien des Gens
(jeder Mensch trägt zwei davon) ma­
Die Eltern nipuliert sein; bei Lulu dagegen soll
fürchten, dass nur eine ausgeschaltet sein – damit
die Identität wäre dieses Mädchen allerdings gar
nicht vor dem HI-Virus geschützt.
der Kinder Von diesem Umstand einmal ab­
bekannt wird. gesehen, weiß niemand, wie die Ein­

griffe genau verlaufen sind. Seit der
Geburt der Kinder haben Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler
außerhalb Chinas mit der Genschere
an menschlichen Embryonen experi-
mentiert. Ihr Ziel war es allerdings
nicht, weitere Designerbabys zu er-
schaffen, sondern die Risiken des Ver-
fahrens zu untersuchen.
Das Ergebnis: Die Crispr-Cas9-
Methode ist unberechenbar. Sie
schneidet nicht immer an der ge-
wünschten Stelle ins Erbgut, sondern
manchmal auch irgendwo anders.
Solche Fehlschnitte könnten das
­Erbgut der beiden Crispr-Kinder auf
unvorhersehbare Weise verändert
haben.
Selbst wenn die Schere richtig an-
setzt, kann sie gefährlich sein. Der
Schnitt ins Erbmolekül hinterlässt
eine Lücke, die von einem bestimm-
ten Reparatursystem der Zelle wieder
verschlossen wird.
Der Biologe Shoukhrat Mitalipov,
der das Center for Embryonic Cell
and Gene Therapy in Portland, Ore-
gon, leitet, gehört zu denen, die das
Phänomen untersuchen. Er sagt: »In
vielen Fällen repariert der mensch-
liche Embryo die losen Enden, aber
nicht in derselben Abfolge wie zuvor.
Manchmal fehlen ein paar Bausteine,
oder es werden ein paar hinzugefügt,
manchmal fehlen große Abschnitte.
Es können viele Dinge passieren.«
Der aus der Schweiz stammende
Molekularbiologe Dieter Egli von der
Columbia University in New York
City warnt ebenfalls. Mit seinem
Team versuchte er, mit der Crispr-
Cas9-Methode ein defektes Gen auf
dem Chromosom sechs zu korrigieren.
Er probierte das an 40 menschlichen
Embryonen aus. Doch ungefähr der
Hälfte von ihnen tat die Genschere
gar nicht gut: Es gingen größere Ab-
schnitte des Chromosoms verloren,
in einigen Fällen löste es sich gar voll-
ständig auf.
Die Genschere sei noch nicht be-
reit für den Einsatz an Patienten, sag-
te Egli, als er seine Studie vorstellte –
zwei Jahre nach Geburt der von He
gentechnisch veränderten Mädchen.
Wären seine Ergebnisse rechtzeitig
bekannt gewesen, so Egli, »dann be-
zweifele ich, dass jemand den Ver-
such gewagt hätte, mit Crispr ein Gen
in einem menschlichen Embryo in der
klinischen Praxis zu verändern«.
Forscherinnen und Forscher aus
den USA und Südkorea haben das
Erbgut verschiedener Zelltypen des
Menschen in der Kulturschale mit der
Genschere geschnitten. Das Ergebnis:
Viele der Zelllinien wuchsen lang­
samer, sie waren gleichsam damit be-
WISSEN
Etwa schäftigt, das Loch in der DNA zu »Ein Teil des Versprechens bestand
50
verschließen. Andere Zellen dagegen darin, sowohl eine medizinische Über-
gediehen besser. Bei ihnen war offen- wachung als auch eine medizinische
bar jener Mechanismus defekt, der Versorgung zu gewährleisten. Die Idee
Prozent den Schnitt der Genschere überhaupt
erkennt. Just diese Eigenschaft macht
war, dass dies für immer geschieht
oder zumindest bis zum Alter von 18
Zellen auch anfällig dafür, bösartig zu Jahren«, sagt Benjamin Hurlbut. »Das
der Embryo­ wuchern. Das könnte bedeuten: In war das Versprechen des He-Labors
nen erlitten Embryonen, die mit Crispr-Cas9 be- – das es natürlich nicht mehr gibt.«
handelt wurden, könnten sich poten- Die Crispr-Kinder werden womög-
durch die zielle Krebszellen schneller vermeh- lich für den Rest ihres Lebens von den
Genschere ren als normale Zellen. Behörden kontrolliert. »Wenn sie er-
einen Verlust Ob den Crispr-Kindern solches
Unheil droht, lässt sich allerdings
wachsen sind, werden sie wahrschein-
lich erfahren, durch welches Verfah-
von Chromo­ kaum herausfinden. Das liegt an ihrer ren sie gegangen sind«, prophezeit
somen­ Entstehung im Labor. Die Embryo- Shoukhrat Mitalipov. Aber sollten sie
nen werden in einem frühen Stadium das überhaupt wissen? »Das ist
abschnitten. behandelt, wenn sie sich bereits teilen schwierig. Die Kinder sind Opfer
und aus vielen verschiedenen Zellen eines ungesetzlichen Eingriffs«, sagt
bestehen. Vermutlich wurden nicht der Humangenetiker Nöthen. »Man
alle von ihnen in den Experimenten sollte sie darüber aufklären, wenn sie
genetisch verändert. Aus diesem alt genug sind.«
Grund sind die Kinder wahrscheinlich Die Mutter und der Vater haben
sogenannte genetische Mosaike: Ei- womöglich nicht geahnt, worauf sie
nige Zellgruppen sind manipuliert, sich einlassen. »Als die Nachricht
andere nicht. draußen war, hatten die Eltern furcht-
Dieser Mischmasch würde bedeu- bare Angst, dass die Identität ihrer
ten, dass Nana den angeblichen Kinder bekannt werden könnte. Sie
Schutz gegen Aids gar nicht im gan- haben nicht mit der sehr negativen
zen Körper trägt. Zudem mache er internationalen Reaktion gerechnet«,
eine genetische Analyse nahezu un- sagt Hurlbut. Das habe ihm He Jian-
möglich, sagt der Arzt Markus Nöthen, kui noch vor seiner Verurteilung am
der das Institut für Humangenetik des Telefon offenbart.
Universitätsklinikums Bonn leitet. Dem Wunsch der Eltern nach Pri-
Untersuchte man etwa das Erbgut vatsphäre steht die Neugier der For-
einer Hautzelle, könnte man daraus schenden entgegen. »Es gibt nicht
nicht ableiten, wie es in Darm, Herz das prinzipielle Recht, etwas über die
oder Gehirn aussehe. Nöthen sagt: Gesundheit anderer Leute zu erfah-
»Wenn die Kinder Mosaike sind, ren«, sagt die Ärztin Alena Buyx, die
müsste man in so gut wie jede einzelne Vorsitzende des Deutschen Ethikrats.
Zelle schauen. Und das geht nicht, Doch da Nana und Lulu nun offen-
weil man die Zellen dabei zerstören sichtlich in der Welt sind und wohl
würde.« auch medizinische Daten von ihnen
Dem Fachblatt »Nature Biotech- gesammelt werden, gebe es auch ein
nology« zufolge wurden die Babys berechtigtes Interesse insbesondere
nach der Geburt ärztlich untersucht der Wissenschaft zu erfahren, wie
Biophysiker He: Die sowie nach ein, sechs und zwölf Mo- das Experiment ausgeht, zumal es
chinesischen naten; einen weiteren Termin habe den gesamten Genpool der Mensch-
Behörden ließen den
vermeintlichen es Ende vorigen Jahres gegeben. Über heit mit betreffen könnte. Buyx sagt:
Forscherhelden fallen die Ergebnisse ist nichts bekannt. »Wenn man die Daten der Kinder so
verschlüsselt, dass die absolute Ano­
nymität nachhaltig gewährleistet ist,
dann wäre eine Veröffentlichung aus
ethischer Perspektive wohl zulässig.«
Dazu seien die Chinesen kaum
­bereit, glaubt der Medizinhistoriker
Hurlbut. »Es hat den Anschein, als
sei es die oberste Prämisse der chi­
nesischen Behörden, diese Geschichte
Mark Schiefelbein / AP / picture alliance
verschwinden zu lassen. Deshalb
sind Nachrichten zu diesem Fall un-
erwünscht.«
Dennoch werden die ersten Desig-
nerbabys der Welt nicht vergessen.
Im März könnte es Neuigkeiten ge-
ben. Dann soll He Jiankui aus dem
Gefängnis entlassen werden.
Jörg Blech n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 107
KULTUR

»Capitol«-Kinosaal
in Göteborg

Gothenburg Film Festival

»Wir möchten aufrütteln«
KINO  Jonas Holmberg, 39, Leiter des Göteborg Film Festivals, will seine Zuschauer hypnotisieren lassen.

SPIEGEL: Herr Holmberg, vergangenes Jahr haben Sie eine Frau
für Ihr Festival auf eine einsame Insel geschickt und Filme schauen
lassen. Nun wollen Sie Hypnose ausprobieren – warum?
Holmberg: Ein grundlegendes Problem heute sind die Streaming-
dienste. Wer sie nutzt, um zu Hause Filme zu konsumieren,
wird meist von irgendetwas abgelenkt, anders als im Kino. Wir
möchten den Fokus wieder auf die Erfahrung des Filmschauens
an sich legen – durch Hypnose.
SPIEGEL: Ist das mehr als ein PR-Gag?
Holmberg: Film und moderne Hypnose sind kulturgeschichtliche
Zwillinge, entstanden Ende des 19. Jahrhunderts aus demselben
Zeitgeist. Tatsächlich hat das Gefühl, unter Hypnose zu stehen,
große Ähnlichkeit mit dem Gefühl, gebannt einen Film zu verfol-
gen. Unser Projekt geht der Frage nach, welche neuen Emotionen
in diesem ungewöhnlichen Zustand auftreten. Das Projekt ist eine
Lobeshymne auf das Kino.
SPIEGEL: Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die Hypnose den Zu-
schauerinnen und Zuschauern die Aufmerksamkeit erst recht raubt?
Holmberg: Es handelt sich nicht um die klischeehafte Art von
­Hypnose, unter der man etwa meint, ein Esel zu sein. Wir wollen
die Konzentration der Teilnehmenden schärfen.
SPIEGEL: Lässt sich die Idee im kommenden Jahr noch mal toppen?
Holmberg: Es geht nicht darum, so extrem wie möglich zu sein.
Aber je weiter man eine Sache ausreizt, desto klarer kann man sie
sehen. Deshalb gehen wir gern die unkonventionellen Wege. Wir
möchten die Menschen aufrütteln. STG

Alpine Abgründe
SERIEN  Als vor drei Jahren die
deutsch-österreichische Serie
»Der Pass« bei Sky startete, ließ
höchstens die Besetzung mit
­Julia Jentsch und Nicholas
­Ofczarek aufhorchen. Ansons-
ten handelte es sich um die x-te
Neuverfilmung einer dänisch-
schwedischen Krimireihe. Die
Serie überrollte die Zuschauer
dann mit einer radikalen Thril-
lerparabel auf die menschliche
Verkommenheit, die über acht
Folgen hinweg die Spannung
hielt. Die Erwartungen an die
zweite Staffel sind nun ungleich
größer, aber schnell wird klar,
dass sich auch in Erzählabgrün-
den lähmende Routine ein­
stellen kann. Die beginnt damit,
dass schon wieder ein Serienkil-
ler umgeht im alpinen Grenzge-
biet zwischen Deutschland und
Österreich. Diesmal meuchelt
er ausschließlich Frauen. Über
Umwege finden die Ermittler
Stocker (Jentsch) und Winter
(Ofczarek) wieder zusammen,
sie traumatisiert von den Erfah-
rungen aus Staffel eins, er ge-
handicapt wegen einer Kugel im
Kopf. Zwei an den Widrigkeiten
des Lebens Laborierende, von
der Angst getrieben, schuldig
am Tod des nächsten Opfers zu
werden. Allein – diesmal gene-
riert die Serie kaum Spannung.
Stattdessen stellt sich das Ge-
fühl ein, dass die Geschichte ein
Opfer ihres Erfolgs wurde,
­weitererzählt nur, weil es sich
wirtschaftlich lohnt. KAE

108 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022

Mit der Faust in
der Tasche
POP  Vor Schauspielerinnen, die
ins Gesangsfach drängen,
sollte man sich hüten: Entweder
­geraten die musikalischen Ver-
suche zu seicht oder zu kunst-
sinnig. Bei Christin Nichols, 35,
ist das ganz anders. Die Wahl-
berlinerin hat gerade ihr Debüt-
album vorgelegt, ein gitarren-
zweisprachig singt, nun hinter
sich gelassen, um ihre eigene
Popvision zu verwirk­lichen.
Wie ein Eitelkeitsprojekt hört
die sich nicht an. Den gesell-
schaftlich provokanten Gestus
ihrer früheren Band behält
­Nichols bei, legt jedoch auch
privatere Zweifel und Abgründe
offen. »Ich möchte, dass es
euch schlecht geht, so schlecht
wie mir«, singt sie in ihrer

pralles Testament der miesen
Laune, der Titel: »I’m Fine«.
­Nichols war schon im Film
­»Fucking Berlin« zu sehen, in
der ARD-»Eifelpraxis« und
in der queeren TV-Serie »All
You Need«. Theater hat sie
unter anderem an der Berliner
Volksbühne und in Leipzig
­gespielt. Seit Jahren macht
­Nichols aber auch mit viel
­Leidenschaft Musik. Bisher war
sie Sängerin des Elektropunk-
Duos Prada Meinhoff.
Ihren männlichen Partner
hat die Deutschbritin, die oft
von Geldmangel und Antriebs-
losigkeit erzählenden Rock­
hymne »Sieben Euro Vier«. Zu
zackigen Postpunk-Grooves
und Neue-Deutsche-Welle-
Zitaten beschreibt ­Nichols mit Yatromanolakis-Motiv*
­griffigen Slogans ein Trotz-­
Lebensgefühl, ­zerrissen zwi- Poetischer Protest
schen Ehrgeiz und Ekel vor den
­Instagram-Posen des Berühmt- AUSSTELLUNGEN  Sie habe wis-
seins. Im feministisch grun­ sen wollen, wie junge Menschen
dierten »Today I Choose Vio- in einem repressiven Staat leben,
lence« rezitiert sie sexistische sagt die Mannheimer Fotografin
Sprüche und ballt die Faust Julia Autz über ihre in Belarus
in der Tasche. Ihre Songs haben entstandene Fotoserie »While
Hitpotenzial. BOR I Was Waiting«. Auf einer ihrer
Aufnahmen sitzt ein junger
Mann in seinem abgedunkelten
Wohnzimmer, er starrt aufs
Aquarium, wirkt resigniert. Ende
Januar beginnt im Braunschwei-
ger Museum für Photographie
eine Gruppenausstellung zum
Wandel der Protestkulturen, und
da werden auch die eindrucks-
voll stillen Bilder von Autz zu se-
hen sein. Protest muss nicht auf
der Straße oder im Internet statt-
finden, das machen die an der
Lia Kalka / Freudenhaus Recordings
Yorgos Yatromanolakis
Der Athener Fotograf Yorgos
­Yatromanolakis hat ebenfalls
keine Demonstrationen doku-
mentiert, seine Bilder sind eine –
leicht verfremdete – Hommage
an die Landschaft Kretas, die
ihm nach Schicksalsschlägen
Trost bot: ein individuelles Be-
kenntnis zur Natur als Lebens-
grundlage und eine poetische Er-
gänzung zu den ­Klimaprotesten
der vergangenen Jahre. Franzis-
ka Habelt und Finn Schütt haben
die Schau kuratiert, sie sagen,
sie hätten mit den ausgewählten
Werken Schlaglichter werfen
wollen auf die prägenden Bewe-
gungen dieser Zeit. Gerade eine
jüngere ­Generation in Europa
wünsche sich eine offenere, sen-
siblere Gesellschaft – gelegent-
lich reagiere ein Staat darauf

Schau beteiligten Fotografinnen aber mit noch mehr Hartnäckig-

und Fotografen klar. Manchmal
bleibt nur die Möglichkeit, sich
zurückzuziehen ins Private, weil
alles andere zu gefährlich wäre.
* Aus der Serie »The Splitting of
Nichols the Chrysalis & the Slow Unfolding
of the Wings«, 2018.
keit. ­Daran erinnern soll auch
die Serie »Niemandsland« des
Dortmunder Fotografen Daniel
Chatard. Darin geht es um den –
vergeblichen –Widerstand gegen
die Vernichtung weiterer Dörfer
für die Braunkohleförderung. UK

Schimpfen
funktioniert
ZEITGEIST  Zu den Krisenge-
winnern dieser Tage dürfte das
Schimpfwort zählen. So viel ge-
meckert, geflucht, gepöbelt
wurde selten. Dazu gehört, dass
auch übers Schimpfen ge-
schimpft wird, über die allge-
meine Empörungskultur und
sogenannte Covidioten. Die
Germanistin Oksana Havryliv
legt nun ein Büchlein vor, das
helfen kann, mit kühlem Ver-
stand auf hitzige Debatten zu
blicken. Schimpfenden geht es
überraschend selten darum, mit lässt sich schlussfolgern, ist über die neue Normalität und
unflätigen Wörtern jemanden nicht nur destruktiv, im Gegen- kann sie besser verkraften.
zu beleidigen, selbst wenn sie teil. Wer seit beinahe zwei Jah- Das ist selten klug, aber manch-
sich aggressiv an eine konkrete ren durchhalten muss, tut gut mal verständlich. Wobei man
Person wenden. In den meisten daran, verbal Dampf abzulas- sich natürlich davor hüten soll-
Fällen steht die »kathartische sen. Zumal Schimpfen laut Hav- te, verbale Aggressionen zu ver-
Funktion« im Vordergrund. ryliv häufig auch eine »phati- harmlosen. Sie können als Er-
Menschen schimpfen, um nega- sche Funktion« hat: Wer ge- satz, aber auch als Katalysator
tive Emotionen abzureagieren: meinsam schimpft, bekundet physischer Aggressionen die-
Wut und Angst, Stress und gemeinsame Werte – und stärkt nen. Schimpfen ist
Schmerz, auch Ohnmacht. Das den Gruppenzusammenhalt. In eine ambivalente
funktioniert gut. So berichtet Vor-Pandemie-Zeiten ließ sich Angelegenheit. TOB
Havryliv von einem Versuch, dieses »korporative Schimpfen«
bei dem Teilnehmer ihre Hand gut in den Fankurven voller Oksana Havryliv:
in eiskaltes Wasser halten Fußballstadien beobachten, »Schimpfen zwischen
Scherz und Schmerz«.
­sollten: Wer fluchen durfte, hielt heute eher auf Demos. Wer ge- Picus; 96 Seiten;
länger durch. Schimpfen, so meinsam schimpft, erhebt sich 12 Euro.

Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 109

KU LT U R

Flucht in die Vergangenheit

KINO  Der Regisseur Paul Thomas Anderson hat mit »Licorice Pizza« seinen persönlichsten Film gemacht,
dabei sind Familie und Freunde. Aber warum spielt er schon wieder in den Siebzigerjahren?

Paul Thomas Anderson / Metro Goldwyn Mayer Pictures / Universal Pictures

Darsteller Haim, Hoffman: Im wahren Leben ein Rockstar

110 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


P
aul Thomas Anderson sagt kurz Hallo
am Telefon, dann muss er schon wieder
weg. Coronatest. Er ist auf Werbetour
für seinen neuen Film »Licorice Pizza«, dafür
wurden drei Tests pro Woche festgelegt. Das
ist irritierend normal, verortet man Anderson
doch in einem Paralleluniversum, in dem es
kein Sars-CoV-2 gibt, sondern Frösche regnet,
man von einem Harmonium verfolgt wird
und Menschen überdrehte Namen wie Rey-
nolds Woodcock oder Petunia Leeway tragen.
In Andersons Filmen passieren solche Dinge
mit einer Selbstverständlichkeit, dass man
keine weiteren Fragen hat. Ist einfach so. Und
meistens ist es schlicht wunderbar.
Publikum, Kritik und Branche sind sich bei
Anderson so einig wie selten, es mit einem
der größten Regisseure der Gegenwart zu tun
zu haben. Bei ihm kann man technische Bril-
lanz und erzählerische Fantasie erwarten, egal
bei welchem Thema oder Genre, denn er
macht sich sowieso alles zu eigen. Neben
Jean-Luc Godard und Rainer Werner Fass-
binder ist Anderson der einzige Filmemacher,
dessen Initialen ausreichen, um ein Kinoereig-
nis zu markieren: Der neue PTA ist da! Als
»god-tier PTA« lobte ein US-amerikanischer
Kritiker »Licorice Pizza« nach dem ersten
Screening, als Filmemachen auf höchstem
Niveau also, geradezu gottgleich.
Falls Kino eine Religion ist, ist Anderson
in jedem Fall ihr nahbarster Gott. Weniger
neurotisch als sein Kumpel Quentin Taranti-
no und weniger verkopft als die etwas älteren
Coen-Brüder, hat er das Gespür dafür, wie
viel er seinem Publikum abverlangen kann,
ohne es zu überfordern. Er spricht es emotio-
nal an und liefert zugleich das perfekt kom-
ponierte Bild dazu.
Diese Balance war schon immer Gold wert,
doch in Zeiten, in denen andere Arthouse-
Regisseure zwischen Streamingboom und
Superheldenschwemme an ihrem Beruf ver-
zweifeln, nimmt Anderson noch mal stärker
eine Sonderrolle ein. Seine Filme strahlen das
Selbstbewusstsein eines Künstlers aus, der
zutiefst an seine Kunst glaubt – und der die
Preise und die Zuschauerzahlen hat, um sich
darin bestätigt zu fühlen.
»In 50 Jahren werden wir wahrscheinlich
mit Schrecken darauf zurückschauen, wie un-
glaublich viel Gerede es über Streaming und
Veröffentlichungsstrategien gegeben hat«, sagt
Anderson, als er nach wenigen Minuten vom
Coronatest zurück ist. »Dabei werden wir es
hoffentlich nur mit einem weiteren Wandel in
der Geschichte des Kinos zu tun haben.«
Mit seinem neuen Film »Licorice Pizza«
zerstreut Anderson nun die Sorgen Holly-
woods, sein Publikum nur noch mit Super-
helden zu erreichen – und die alltäglichen
Sorgen des Publikums gleich mit. Für zwei-
einviertel Stunden führt der Film in die­
Sonne, in die Jugend, in ein Hollywood ohne
Kinokrise. Ob man nun von Winter, Netflix
oder dem Älterwerden die Nase voll hat:
­Anderson weist für jeden und jede einen
Fluchtweg auf.
KU LT U R
»Licorice Pizza«, rein willkürlich nach für mich war, in der Nähe des Showgeschäfts
einer ehemaligen Plattenladenkette benannt, aufzuwachsen«, sagt er. »Du warst sowohl
spielt 1973 im San Fernando Valley, dem Teil mittendrin als auch außen vor.«
des Großraums Los Angeles, in dem Warner »Licorice Pizza« ist mehr als nur bio-
Bros. und Disney ihre Studios haben. Das grafisch grundiert. Es ist – auch wenn das
Filmgeschäft ist allgegenwärtig, wenn auch Wort inflationär verwendet wird – Andersons
eher im Hintergrund – so wie in der Biografie persönlichster Film. Nicht nur spielt die Ge-
von Hauptfigur Gary (Cooper Hoffman), der schichte in der Zeit und an dem Ort, an dem
einst ein Kinderstar war. Nun, in der Pubertät, er selbst aufgewachsen ist. Er hat außerdem
geht er weiterhin zu Castings, wo er treuher- den Sohn seines verstorbenen Freundes Phi-
zig gelobt wird: »Du hast es immer noch lip Seymour Hoffman als Hauptdarsteller und
drauf, Gary!« Aber er weiß schon, dass er die Tochter seiner Grundschullehrerin als
sich, wie man heute sagen würde, diversifi- Hauptdarstellerin besetzt, und seine Partne-
zieren muss, und fängt an, ein Geschäft mit rin, die Schauspielerin Maya Rudolph, die
Wasserbetten aufzuziehen. vier gemeinsamen Kinder und seine Schwie-
Einer seiner Kunden ist der real existieren- gereltern spielen auch noch mit.
de Promifriseur und spätere Filmproduzent »Für Recherchen musste ich nur in mich
Jon Peters, zu dieser Zeit der Freund von Bar- hören«, sagt Anderson. Wenn er überlegte,
bra Streisand. »Strei-sääänd«, wie Gary von was für Schuhe eine Figur wohl tragen oder
einem irre gut aufgelegten Bradley Cooper in wie sich seine 15-jährige männliche Haupt-
der Rolle des Friseurs wiederholt korrigiert figur Gary fühlen würde, habe er die Antwor-
wird. Er wird sich später sehr ärgern, Gary ten intuitiv gewusst.
und dessen Freunde zum Aufbau des Wasser- Anderson wurde 1970 geboren und wuchs
bettungetüms in sein Haus gelassen zu haben. selbst im »Valley« auf. Sein Vater Ernie An-
Denn Gary mag zwar in seinen gestreiften derson, ein mittelmäßig erfolgreicher Schau-
Kurzarmhemden, die über dem Bauch bereits spieler, war vor allem als Erzählstimme in
spannen, wie ein zukünftiger Gebrauchtwa- TV-Produktionen zu hören. 1997, als seinem
genhändler aussehen. Im Herzen ist er aber Sohn mit »Boogie Nights« der Durchbruch
noch ein Kind und im Zweifelsfall für groben gelang, verstarb er.
Unfug zu haben. »Boogie Nights« dreht sich um einen
Gary ist Andersons Kumpel Gary Goetz- Porno­darsteller und dessen »Filmfamilie«,
man entlehnt, einem ehemaligen Kinderstar, Anderson überraschte darin mit einem liebe-
der später als Produzent von »Das Schweigen vollen Blick auf ein Business, an dem meist
der Lämmer« erfolgreich wurde, sich zuvor die ausbeuterischen Seiten betont werden. Er
aber an Geschäften wie dem Handel mit Flip- erhielt seine erste von mittlerweile vier Oscar-
pern oder eben Wasserbetten versuchte. Sein nominierungen für das beste Drehbuch und
Umfeld ist dagegen Andersons eigener Kind- von seinem Studio freie Hand für den nächs-
heit und Jugend entnommen. »Das ist eine ten Film. Er nutzte sie, um »Magnolia« zu
sehr akkurate Repräsentation davon, wie es drehen, einen weit ausholenden Episoden-
film, der ein wenig zu verbissen den Anspruch
erhebt, großes Autorenkino zu sein. Doch
Andersons Ruf als Könner war damit eta­
bliert, und fortan konnte er zwischen den
Sujets, Zeiten und Tonalitäten springen, zwi-
schen romantischen Komödien wie »Punch-
Drunk Love« und düsteren Epen wie »There
Will Be Blood«, ohne Fans und Anerkennung
aus der Branche zu verlieren.
Einem Muster schien Anderson die längs-
te Zeit nicht zu folgen, weshalb er auch mit
dem ähnlich unberechenbaren Stanley Ku-
brick verglichen wird. Doch mit »Licorice
Pizza« schleicht sich ein leichter Wieder-
erkennungseffekt ein: Es ist nach »Boogie
Nights« und »Inherent Vice« von 2014 sein
mittlerweile dritter Film, der im Kalifornien
der Siebziger spielt.
»Es macht doch viel mehr Spaß, einen Film
zu sehen, in dem keine Handys vorkommen«,
Rebecca Sapp / Getty Images for SBIFF
erklärt Anderson seine Vorliebe für diese Zeit
jenseits der biografischen Verbundenheit.
»Außerdem ist es einfach nicht so spannend
anzusehen, wenn ein Junge sich und sein
­Geschäft auf YouTube oder Instagram an-
preist, als wenn er Flyer vor einer Highschool
verteilt.«
Das fast schon obsessive Denken in attrak-
Filmemacher Anderson tiven Bildern hat dazu geführt, dass Anderson
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 111
KU LT U R
seit »Der seidene Faden« auch als sein
eigener Kameramann fungiert. Der
breite Erfolg seiner Filme dürfte aber
darin begründet sein, wie reizvoll er
seine Figuren zeichnet. Von Porno-
darsteller Dirk Diggler bis Sekten-
führer Lancaster Dodd würde man
keiner und keinem von ihnen auf der
Straße begegnen können, so sehr sti-
lisiert Anderson sie. Trotzdem schafft
er mehr als nur Kunstfiguren: In ihrer
Bedürftigkeit und ihrer Getriebenheit
sind sie unmittelbar menschlich.
Die Spannung zwischen Künstlich-
keit und emotionaler Aufrichtigkeit
liegt bei Anderson in der Besetzung
von Schauspielern und Schauspiele-
rinnen begründet, die in ihren Rollen
nicht verschwinden, sondern, im
Gegenteil, aus ihnen herausstechen.
Adam Sandler in »Punch-Drunk
Love«, seiner ersten ernsthaften Rol-
le überhaupt, gehört dazu oder Tom
Cruise in »Magnolia«. Ein ähnlicher
Besetzungsclou gelang Anderson nun
mit Alana Haim, der Hauptdarstelle-
rin von »Licorice Pizza«. Von ihrer
unbändigen Energie lebt der Film,
von ihr hat er seine leicht ruppige
Herzlichkeit.
Haim ist im wahren Leben ein
Rockstar. Zusammen mit ihren
Schwestern Este und Danielle bildet
sie die Band Haim, die für ihre
­furiosen Liveauftritte berühmt ist. Als
Fan ihrer Musik lud Anderson die
Schwestern vor einigen Jahren zum
Essen ein. Dabei stellte er fest, dass
ihre Mutter seine geliebte Kunst­
lehrerin in der Grundschule war. In
»Licorice Pizza« ist nun die gesamte
Haim-­Familie zu sehen – als Familie
von Hauptfigur Alana, gespielt von
Alana Haim in ihrer ersten Kinorolle
überhaupt.
Die 25-Jährige jobbt als Assisten-
tin eines Fotografen, der an Garys
Schule Fotos macht, als Gary auf sie
aufmerksam wird. Wie bei seinen Ge-
schäften fängt er sofort an, mit un-
erschütterlichem Selbstbewusstsein
112 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Eigenpromo zu betreiben, er lädt Ala-
na auf ein Date ein. Zu ihrer eigenen
Überraschung sagt sie zu. Was folgt,
ist ein beständiges Hü und Hott ihrer-
seits. Während Gary sich seiner Ge-
fühle so sicher wie am ersten Tag ist,
fragt sich Alana immer wieder, wa­
rum sie sich mit einem 15-Jährigen
und dessen Freunden trifft.
Die Antwort könnte darin liegen,
dass sie beide »hustler« sind, stetige
Werber und Verkäufer in eigener
­Sache, immer auf der Suche nach
dem nächstbesseren Deal – eben Ge-
triebene. Im Gegensatz zu Gary, des-
sen Geschäfte immer etwas im Un-
klaren bleiben, sieht man Alana sehr
genau beim Versuchen und Scheitern
zu. Bei einer Schauspielagentur, zu
der sie Gary führt, bekommt sie zu
hören, wie jüdisch sie aussehe. Ein
Date mit dem alternden Schauspieler
Jack Holden (Sean Penn), der ihr
­Rollen in Aussicht stellt, endet damit,
dass sie buchstäblich auf den Hintern
fällt.
Doch als sie Gary beim Anliefern
eines Wasserbetts aus der Patsche
helfen muss, ist Alanas Stunde ge-
kommen: Unter den widrigsten Um-
ständen manövriert sie den Liefer-
wagen samt Gary und seinen Kum-
pels aus einer bedrohlichen Situation
heraus – ohne Benzin und rückwärts.
Es ist eine grandiose, adrenalindurch-
zogene Szene, und das, obwohl sie
sich wie in Slow Motion vollzieht.
Allein für die Momente mit Alana am
Steuer lohnt sich der Kinobesuch.
Dass sich die Szene um Bewegung
dreht, ist dabei kein Zufall, denn
wann immer Anderson die verschie-
denen Elemente seines Films nicht
zusammengebunden bekommt, setzt
er auf Dynamik. Meist fangen Alana
und Gary einfach an zu rennen. Und
sie tun das häufig.
Ein ungleiches Duo an der Peri-
pherie des Showbiz, davon handelt
auch Quentin Tarantinos ebenfalls
episodisch angelegtes Epos »Once
Upon a Time in Hollywood«. Den
erzählerischen Fluss, der Tarantino
bei der Verbindung seiner disparaten
Episoden gelungen ist, verfehlt An-
derson allerdings.
Metro Goldwyn Mayer Pictures / Universal Pictures
Metro Goldwyn Mayer Pictures / Universal Pictures
In einem seiner verrückteren Wer-
ke würde das wohl nicht besonders
auffallen. Aber »Licorice Pizza« ist
sein naturalistischster Film, er bedient
sich so sehr echter Figuren und echter
Umstände, dass überpointierte Dreh-
bucheinfälle als ebensolche heraus-
stechen. Und unangenehm auffallen.
Warum Alana bei einer von Garys
Geschäftseröffnungen einen Bikini
trägt, während alle anderen vollstän-
dig bekleidet sind, kann man sich
Schauspieler Haim, etwa fragen. Auch warum sie Gary
Penn: Obsessives erst damit überrumpelt, dass sie ihm
Denken in attraktiven
Bildern ihre Brüste zeigt, ihm dann aber eine
runterhaut, als er freundlich fragt, ob
er sie auch anfassen könne. Und wozu
es diesen komplizierten Witz über
japanische Akzente braucht, bei dem
man nicht weiß, ob er letztlich auf
Kosten der einzigen Asiatinnen im
gesamten Film geht.
Wie bei Godard und Tarantino,
hat der Filmwissenschaftler Nathan
Lee geschrieben, habe er auch bei
Anderson den Verdacht, dass er ­alles
über das Leben aus dem Kino gelernt
habe und auf Kunstgriffe nicht ver-
zichten könne. Solche Kritik ist An-
derson merklich nicht gewohnt. Da-
rauf angesprochen, reagiert er nicht
unwirsch. »Ich hoffe sehr, dass sich
meine Filme nicht so anfühlen, als
wären sie vom ›echten Leben‹ ab-
geschnitten.« Gleichwohl lehnt er
es ab, mit zeitgenössischen Sensibi­
litäten auf zurückliegende Zeiten
zu blicken. Den Witz mit dem Akzent
hat er bereits damit verteidigt, dass
man die Vergangenheit und damit
auch Rassismus wahrhaftig darstellen
müsse.
In die Vergangenheit begibt sich
Anderson seit bald 20 Jahren. Seit
»Punch-Drunk Love« hat er keinen
Film mehr gedreht, der in der Jetzt-
zeit spielt. »Es ist aber nicht so, dass
ich es nicht versucht hätte«, sagt er.
Auch finanziell wäre es sinnvoller,
wegzukommen von der Geschichte.
Denn eine zeitgenössische Ausstat-
Fast hätte tung sei günstiger als eine historische.
Tarantinos Nachdem er »Once Upon a Time
in Hollywood« gesehen hatte, habe
letzter Film er sich wegen der Überschneidungen
Anderson sogar gefragt, ob er das soeben fertig-
davon gestellte Drehbuch zu »Licorice
­Pizza« beiseitelegen sollte. Doch er
­abgehalten, habe sich dagegen entschieden, sagt
»Licorice Anderson: »Man macht einen Film
nicht wegen anderer Filme, sondern
Pizza« weil man ihn machen muss.«
zu drehen. Hannah Pilarczyk n
SPIEGEL GESCHICHTE 
Auswanderung als Geschäftsmodell
Dank schneller Dampfschiffe wurde die Emigration nach Amerika
zur Massenbewegung. In Hamburg bot der Reeder Albert Ballin die
Atlantikpassage besonders günstig an.
Es nieselt in Hamburg an diesem 23. Mai 1912, kein Kaiserwetter
für Wilhelm II., der in die Hansestadt gereist ist. Eine Schiffstaufe
steht an. »Imperator« heißt der Koloss, der an diesem Tag vom
Stapel der Vulcan-Werft läuft, Länge: 277 Meter.
Es ist das größte Passagierschiff der Welt. Sechs Wochen
zuvor ist die »Titanic« gesunken. Die Deutschen wollen zeigen, wie
es besser geht: Die Zahl der Rettungsboote hat man noch
eilig aufgestockt. 344 Heizer und Trimmer wird es brauchen, um
das Schiff auf volle Fahrt zu bringen.
Oben in der ersten Klasse herrscht Grandhotelatmosphäre,
während sich im stickigen Zwischendeck Auswanderer drängen.
Am Schiffsbug prangt ein bronzener Adler, 16 Meter misst seine
Flügelspannweite, sein Schnabel ist aufgerissen. Auf dem Kopf
trägt er die Kaiserkrone, darunter steht: »Mein Feld ist die Welt.«
Neues aus der SPIEGEL-Welt: Warum Deutsche auswanderten und wie es ihnen in der
­neuen Heimat erging, erklärt die aktuelle Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE.
Weitere Themen im Heft
• Russlanddeutsche: Glückssucher
an der Wolga
• Little Germany: Heimatgefühle
in New York
• Brasilien: Deutschtum im Regenwald
Leseprobe
In der Nähe des Kaisers steht ein untersetzter Mann mit
Schnurrbart und Halbglatze. Es ist Albert Ballin, 54, Generaldirektor
der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft,
kurz: Hapag. Ballin hat das Unternehmen zur größten Reederei der
Welt gemacht – und zu einem Schleusentor für Emigranten,
die im Bauch der schwimmenden Statussymbole nach Amerika
aufbrechen.
Mit nicht einmal 15 Jahren begann Ballin in der Agentur seines
Vaters mitzuarbeiten, die Auswanderer auf Schiffe in die USA
vermittelte. Es gab etwa ein Dutzend solche Agenturen, die
­anfangs noch für die Reedereien tätig waren, bevor sie selbst
die Tickets verkauften.
Ballin & Co. organisierten daraufhin Zubringerpassagen nach
Großbritannien, von wo aus es weiter nach Nordamerika ging.
Das Agenturgeschäft ging auf Kosten der alteingesessenen deut-
schen Reedereien, das größere Angebot ließ die Preise sinken.
Ballin sah im bloßen Vermakeln von Tickets keine Wachstums-
chancen, er wollte ins direkte Geschäft mit den Auswanderern
einsteigen.
SPIEGEL GESCHICHTE erscheint sechsmal im Jahr, fächert
jeweils ein historisches Thema anschaulich und analytisch
auf – und liefert immer auch Erkenntnisse für die Gegenwart.
ERHÄLTLICH IM ABONNEMENT (ABO.SPIEGEL-GESCHICHTE.DE),
IM ZEITSCHRIFTENHANDEL UND UNTER AMAZON.DE/SPIEGEL.
148 SEITEN; 9,90 EURO.
KU LT U R

S
chon in den Siebzigerjahren
schrieb Manfred Krug eine Zeit
lang Tagebuch. Der Schauspie-
ler dokumentierte die Phase vor sei-
ner Übersiedlung von der DDR in

»Mir laufen die Tränen

die Bundesrepublik. Was er notierte,
war eine schonungslose Abrechnung
mit dem SED-Regime, eine glasklare

runter. Ich genieße es«

Analyse, dass dessen Tage gezählt
sind, ein Beleg seiner Courage, denn
ein Teil der Aufzeichnungen speiste
sich aus Gesprächen mit Politkadern
nach der Ausbürgerung des Dichters
SCHAUSPIELER  Doppelleben, Drehmüdigkeit, Schlaganfall: Die Tagebücher Wolf Biermann. Fast 20 Jahre später
sind diese Aufzeichnungen in dem
von Manfred Krug offenbaren einen Mann, der mehr an Buch »Abgehauen« erschienen, es
sich zweifelte, als man es ihm zugetraut hätte. Ein Vorabdruck. wurde binnen acht Wochen 150 000-
mal verkauft und avancierte zu einem
der Schlüsselbücher über die DDR in
der Nachwendezeit.
Erst 1996 begann Krug erneut,
ein Tagebuch zu führen. Sein Leben
schien in dieser Zeit aus den Fugen
zu geraten. »Was ich heute nicht auf-
schreibe, das werde ich morgen nicht
erlebt haben«, notierte er am 4. Au-
gust 1997. »Jeder über 50 sollte ein
Tagebuch führen, weil er dann mehr
erlebt.« Er verfasste es heimlich, we-
der Ehefrau Ottilie noch die Kinder
Josephine, Daniel und Fanny (Sänge-
rin) sollten es zu seinen Lebzeiten zu
Gesicht bekommen, obwohl Krug
ausdrücklich notierte, dass es später
veröffentlicht werden dürfe. Es um-
fasst mehrere Tausend Seiten, sie rei-
chen bis 2015, ein Jahr vor Krugs Tod.
Die Aufzeichnungen aus den Jahren
1996 bis 2003 sollen binnen der kom-
menden Monate in drei Bänden im
neu gegründeten Berliner Kanon Ver-
lag veröffentlicht werden.
Der erste Band ist – anders als »Ab-
gehauen« – weniger politisch. Er zeigt
einen Künstler inmitten einer großen
Sinn- und Daseinskrise. Sein Doppel-
leben mit seiner Geliebten Petra fliegt
auf, er ist mit knapp 60 Jahren noch
einmal Vater geworden. Er hadert mit
seinen Rollen im Fernsehen. Die Tele-
kom-Werbung, für die er verpflichtet
wurde, missfällt ihm. Sein engster
Freund und Drehbuchautor von »Lieb-
ling Kreuzberg«, Jurek Becker, stirbt
an Krebs. Krug selbst erleidet danach
einen Schlaganfall, seine Ehefrau Ot-
tilie erfährt erst am Krankenbett, dass
es neben einer Geliebten auch noch
die junge Tochter Marlene gibt.
Krugs Sprache ist kraftvoll, schnör-
kellos und von einer existenziellen
Monika Zucht / DER SPIEGEL

Wahrhaftigkeit. Seine privaten Erleb-

nisse bettet er ein in die gesellschaft-
lichen Verhältnisse, es entsteht ein
Sittengemälde des ausgehenden
Manfred Krug: »Ich sammle mein Leben zu-
sammen«. Kanon; 220 Seiten; 22 Euro. Er-
Darsteller Krug 1997: »In der schwersten Nacht meines Lebens war nun alles ans Licht gekommen« scheint am 26. Januar.

114 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


20. Jahrhunderts. »Manfred Krug
liebte intensiv, und er stieß viele vor
den Kopf. Er verlangte gutes Geld
und spendete etliches davon anonym,
etwa an die Überlebenden des KZ
Ravensbrück«, so Verleger Gunnar
Cynybulk. »Er war engstirnig und
großherzig, sanft und gemein. Er
war ein Mensch, und zu unserem
Glück hat er dabei mitgeschrieben.«
Der SPIEGEL veröffentlicht einen
Auszug des ersten Bandes, der in au-
thentischer Form und Schreibweise
belassen wurde. Janko Tietz
Sa 13. 1. 96 Ich war mit Otti, Daniel,
seiner Petra, Ottis Schwester Leono-
re und ihrem Mann Dieter, Fine und
ihrer Freundin im Offtheater »Reiss-
verschluss«, um mir Fanny in einer
Rumpf-»Möwe« anzuschauen. An-
schließend nach Hause. Dort hübsche
Tafel für alle außer Josephine und
Freundin. Ich hatte mit meiner Petra
verabredet, daß sie mit Marlene in
meiner Wohnung gegenüber auf mich
wartet. Dort saß sie, nur mit Unter-
wäsche bekleidet, im Ledersessel, das
Kind lag auf dem Fußboden, als plötz-
lich Ottilie ohne mein Wissen herein-
kam, um Butter aus meinem Tiefkühl-
fach zu holen. Damit war es passiert:
Otti war Petra und dem Kind be­
gegnet. Wenige Minuten später war
auch ich in die kleine Wohnung hi­
nübergegangen, um den Andruck des
Schutzumschlags für mein Tagebuch
(Die Rede ist von »Abgehauen. Ein
Mitschnitt und ein Tagebuch« –Red.)
zu holen. Ich wollte es zeigen. Petra
sagte, was geschehen war. Ich ging
wieder hinüber und brachte den
Abend in Würde zu Ende. Auch Otti
schien gefaßt. Um drei Uhr früh gin-
gen Daniel und seine Petra. Otti und
ich verabschiedeten uns sehr lieb von­
­einander. Ich fragte sie, ob sie Leono-
re beim Abschied etwas erzählt habe.
Nein, sagte Otti. Wir sollten uns mor-
gen in Ruhe unterhalten, sagte ich. Es
gäbe nichts zu unterhalten, ihre But-
ter sei einfach alle gewesen. Sie sei
nicht drauf gekommen, daß eine sol-
che Begegnung möglich gewesen
wäre. Von dem Baby kein Wort. Zum
ersten Mal war Otti ohne mein Wis-
sen in meine Wohnung gegangen,
während ich drüben bei ihr war. Und
gleich dieses Desaster. Ich schrieb ihr
ein paar Zeilen, die ich unter ihrer
Tür durchschob, bevor ich zu Bett
ging. »Meine liebe Otti, wenn Du
es über Dich bringen kannst, dann
laß uns wenigstens zwei Tage Schwei-
gen bewahren. Dann können wir ja
drüber reden und gemeinsam ent-
scheiden, was das vernünftigste Ver-
halten wäre. Und wenn es geht, rede
auch mit Deinen Schwestern nicht.
Einmal drüber geredet, ist wahr-
scheinlich schon falsch. Also zwei
Tage. Bleib cool, meine Liebe. Nichts
ist anders, als es bisher war, außer daß
ich gleich sechzig bin, und Du fünf
Jahre jünger … Montag denken wir
über das Beste nach.« Petra war mit
dem Kind schon längst hinten im Bett
und schlief, als ich rüberkam. Ich
habe sie nicht geweckt, hab noch eine
Flasche Bier getrunken, in die Glotze
gekuckt und mich geärgert.
So 14. 1. 96 … Abends Aussprache mit
Otti. Wir einigen uns, am Status quo
nichts zu ändern, gestehen einander
unsere gute alte Liebe. Das Kind hat-
te sie offenbar, als sie gestern Abend
Petra in der Werkstatt in Unter­
wäsche hatte sitzen sehen, NICHT
BEMERKT. Verrückt. Durch den
Schreck hat Otti offenbar nur eine
»Tunnelwahrnehmung« gehabt, wie
wenn jemand durch ein zusam­
mengerolltes Papierröhrchen kuckt.
Abends Petra mit Kind zu Besuch.
Kind lacht viel, macht täglich allerlei
Fortschritte, erkennt, aus welcher
Richtung die Stimme kommt, und fi-
xiert den Sprecher. Marlene kommt
mir ihren Gleichaltrigen weit voraus
vor, wie jedem Vater sein Kind. Petra
ist eine vorzügliche, duldsame, lie-
bende, treusorgende, alles verzeihen-
de, alles verstehende, alles beobach-
tende Mutter. Sie sagt, ein Jahr lang
werde erst einmal gnadenlos »ver-
wöhnt«, das könne nur nützen. (…)
Mo 15. 1. 96 Nachmittags bei Jurek im
Krankenhaus gewesen. Jurek sagt, er
habe keine Lust, Besucher zu trösten
und seine Krankheit herunterzuspie-
len, das sei anstrengender, als sie zu
erdulden. Ich habe ihm den Schutz-
umschlag für mein Tagebuch »Ab-
gehauen« gezeigt, er hat ihm gut ge-
fallen. Ti hat ihren Damenabend mit
Kartenspiel und Small talk. Sie ist so
großartig, daß es mir das Herz zer-
* Mit Schauspielerin Petra Duda 1990.
KU LT U R
reißt. Abends im Fernsehen den Film
»Fahrstuhl zum Schafott« gesehen.
Die unplausibelste Sache bei der Sto-
ry ist, daß der Kerl den Strick auf dem
Balkon hängen läßt. Aber in dem Film
kommt noch ein anderer Fahrstuhl
vor, nicht der zum Schafott, ein alter
Pariser Fahrstuhl. Dessen oben sicht-
bare Maschine, das Drahtseil, das
Umlaufrad, alles ist frei im Treppen-
haus montiert. Jeder kann sich Zu-
gang verschaffen. Wie arglos die
Menschen einmal waren. Wie arglos
zu sein sie sich einmal leisten konnten.
HIPP-FOTO
Frei 19. 1. 96 Das große und das kleine
Kind waren zu Besuch. Sie ist am
19. 9. 1995 um 9.54 geboren, also erst
Szene aus »Liebling vier Monate alt. Sie begrüßt mich im-
Kreuzberg«*: mer mit dem breitesten Lächeln, des-
»Ich habe ihm gesagt,
daß alle von den
sen sie nur fähig ist, und als Schau-
Drehbüchern spieler muß ich sagen: sie macht fast
begeistert sind« zu viel. Julius, mein Enkel, fünf Jah-
re älter als meine Tochter, war heute
drüben zu Besuch. Zum ersten Mal
begrüßte er mich mit Handschlag,
Küßchen und »Guten Tag, Opa«. Ich
konnte mich nicht enthalten zu sagen:
»Hat die Oma dir gesagt, du sollst den
Opa anständig begrüßen?« »Ja«, sag-
te er ohne Zögern, und das hat mir
gut gefallen. (…) Ich habe zwei Ein-
ladungen abgelehnt. Die Talk Show
»Talk im Turm« mit der Begründung,
daß ich dem Moderator Böhme nicht
den Schmutzartikel in seiner »Berli-
ner Zeitung« verzeihen würde, wo-
nach ich ein Miethai in Berlin bin. Er
hat diesen Artikel zwar nicht ge-
schrieben, aber verhindert hat er ihn
auch nicht. Es wäre um den Brand-
anschlag in Lübeck gegangen, über
den sich alle empören. Wir brauchen
eine vernünftige Justiz, Brandschutz
in Asylen, brandsichere Häuser für
Asylanten mitten in den Städten, be-
reitliegende Sprungtücher, Stricklei-
tern und ähnliches. Die andere Ein-
ladung, zu Fritz Egners Unterhal-
tungssendung »XXO – Fritz & Co«,
habe ich abgelehnt, weil das die größ-
te Prominentenverschleißmaschine
des Fernsehens ist (SAT.1): pro Sen-
dung werden neun »Prominente« in
einem illuminierbaren großen »Weih-
nachtskalender« verbraten. Stammt
aus Amerika. Scheußlich doof.
So 21. 1. 96 War von 16.30 Uhr bis
18.30 Uhr bei Jurek im Krankenhaus.
Wir haben dann allein über das Schrei-
ben und über eine andere Einstellung
»Bleib cool, zum Leben gesprochen. Ermahnung
meine an ihn, sich selbst niemals mehr so
unter Druck zu setzen und nieman-
Liebe. Nichts dem zu gestatten, das zu tun. Weniger
ist anders, schreiben. Das Schreiben abbrechen,
als es bisher sobald es ohne Genuß geschieht. Wir
Künstler, fanden wir gemeinsam her-
war.« aus, sind in der wunderbaren Lage zu
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 115
KU LT U R
»spielen«. Wir sprachen über Picasso. Die
Schauspieler seien nicht so gut dran, aber alle
autarken Künste wie Komposition, Schreiben,
Malen hätten ihren spielerischen Reiz vor
allem darin, daß der Künstler entscheiden
müsse, was er von dem Geschaffenen »stehen-
lassen« wolle und was nicht. Jurek: »Ich sage
das nicht gern: du solltest nicht im ›Tatort‹
singen.« Ich: »Wa­rum nicht?« Jurek: »Du hast
als Sänger eine eigene Karriere gehabt, du
machst dich klein. Die Zeitungen werden mit
Häme von dem spärlichen Vergnügen berich-
ten, dich im ›Tatort‹ singen zu hören …« Ich:
»Die Zeitungen sind mir endgültig schnurz.
Ich mache, was mir gerade einfällt. Ich bin
gleich sechzig. Die Idee dazu kam nicht einmal
von mir, sondern von der zuständigen Redak-
teurin (NDR, Heinze). Es handelt sich um
winzige Bonbönchen und nicht um wuchtige
Musikeinlagen. Ich finde es nett, daß wir die
einzigen musizierenden Kommissare im ›Tat-
ort‹ sind. Sonst wären wir nur Leichenbe-
schauer wie all die anderen.« Das war’s.
Jurek versucht es öfter, seine liebsten Men-
schen vor Schaden zu bewahren. Und zwar
grundsätzlich. Mich hat er schon vor man-
chem gewarnt, am heftigsten vor den Gefah-
ren des Alkohols. (…) Ich kann mich nicht
erinnern, je mit so großer Lustlosigkeit zur
Arbeit gefahren zu sein wie diesmal zu dem
Tatort »Das andere Leben«. Morgen abend
fliege ich um 21.00 Uhr nach Hamburg, um
dort im Hotel »Marriott« abzusteigen. Zwei
Tage habe ich vornehmlich mit Schlafen ver-
bracht; so kommt es mir vor. Ich erschlaffe
zusehends. (…)
Mo 9. 12. 96 Flug nach Hamburg, wo ich zwei
TV-Spots für Telekom drehen soll. Wohne
dort im »Marriott«-Hotel.
Di 10. 12. 96 11.00 Uhr in den Studios der
»Markenfilm«. Die Botschaft des TV-Spots
von 25 Sek. Länge: Man kann jetzt auch zu
dritt telefonieren, sowohl gleichzeitig als auch
nacheinander. Text hatte ich schon in Berlin
geändert. Viel gestrichen. Dennoch war der
Spot so randvoll mit Text, daß er kaum dar-
stellbar war. Das alte Lied.
Do 12. 12. 96 Flug von Hamburg nach Köln-
Bonn, gerade so am Warnstreik des Lufthan-
sa-Bodenpersonals vorbeigeschrammt. (…)
Auf konspirativen Wegen in Ron Sommers
Büro, Fahrstuhl kodiert und abgeschlossen.
Kindervater: »Der Mann ist hoch gefährdet.«
Sommer ebenfalls zierlich. Hübsch. Kann sich
nur mit Mühe konzentrieren, sein Gehirn
überschwemmt mit Sorgen. Er quält sich in
die Niederungen unseres Gesprächs, das fin-
de ich ehrenhaft für mich. Arme Sau. Som-
mers Job? Für kein Geld der Welt.
Dreimal fällt das Wort »Bundeskanzler«.
Sommer spürt wohl Halt an dem Dicken. Die-
sen Halt braucht er auch. Wehe, wenn der
ganze Laden einbricht. Wie soll einer mit
60 000 deutschen Beamten einen guten ka-
pitalistischen Betrieb aufbauen? Das wäre ein
Wunder. Ich frage Sommer, ob der Apparat
von Philipp Reis auf seinem Regalbrett ein
Nachbau sei oder ein Original. (Original geht
116 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
»Wenn es das Ende ist,
dachte ich, soll es nur so
sanft und schmerzlos
weitergehen, bis du nichts
mehr spürst.«
gar nicht.) … Dann reden wir über meine
Auffassung von Werbung. Ich sage: Kein
­Insistieren, kein Indoktrinieren, nicht die
Takes mit Text überladen, keine Inflation von
Botschaften, nicht dauernd den Namen Tele-
kom aufsagen, nicht servil grinsen, nicht
schmusen und einschleimen. Beide sagen, sie
seien ganz auf meiner Seite, sie hätten volles
Vertrauen zu mir, ich solle nur machen. Wun-
derbar. ­Abschied. Kindervater geht mit mir
hinter die Bühne, auf der Sommer eine Rede
hält. Dann bin ich dran. Im Saal stehen etwa
2000 Menschen.
Er überreicht mir nach langem Applaus
einen 5-Telekom-Aktien-Schein, hinter Glas,
zum Andiewandhängen. Dann läßt man mich
gnadenlos Autogramme geben. Neben mei-
nem linken Ohr schüttelt der kleine Kinder-
vater gnadenlos die Sammelbüchse für Unicef,
bis ich ihn, links fast ertaubt, bitte, ein Stück
apart zu bleiben. Zwischendurch ruft er Leu-
ten zu: »Halt! Moment! Erst spenden!« Das
ist nun leider schrecklich. Die Schlange wird
nicht kürzer. Kein Mensch will einfach nur
ein Autogramm. Alle »versorgen« die ganze
Verwandtschaft, und immer muß ich drauf-
schreiben: »Für Thorsten, für Torsten, für
Kirsten, für Kerstin, für Kirstin, für Kersten,
für Karsten.« Bis ich nach anderthalb Stunden
aufstehe und den Betrieb einstelle. Schluß.
Nase voll. Leichte Verstimmung zwischen
Kiva und mir, weil ich ihm vorhalte, er sei zu
keinem Zeitpunkt auf die Idee gekommen,
daß ich erschöpft sei. Danach zu einem Ita-
liener, dort vorzüglichen Lammrücken ge-
gessen und Rotwein getrunken. (…)
Do 6. 3. 97 Das war der letzte Drehtag. Ich bin
mittags zu Hause. Nach dem Duschen in Sie-
seby angerufen. Jurek liegt im Sterben. Es ist
fürchterlich. Er klingt so schwach. Ich habe
ihm gesagt, daß alle von seinem »Liebling«
und von den Drehbüchern begeistert sind.
Über die Drehbuchänderungen kein Wort.
Vielleicht wird er die Filme nicht mehr sehen.
Ich frage ihn, ob ich nächste Woche in Siese-
by vorbeikommen soll, wenn ich in Hamburg
bin. »Das ist nicht gut«, sagt er. Ich glaube, er
will mich nicht mehr sehen. Er kann nicht.
Abends Abschiedsfeier im »Châlet Suisse«.
Otto Meissner hält die übliche Rede. Alle sind
nett miteinander. Ich verabschiede mich
schweren Herzens von dem kleinen Adrian
Schröck aus Caputh, der so entzückend mei-
nen Enkel »Robertchen« gespielt hat. Ich
gehe von Tisch zu Tisch, schüttle all die Hän-
de, höre zu meinem Erstaunen manch gutes
Wort. Dann fährt mich Otto ins »Diener«, ich
höre mir wie immer einen Haufen Blödsinn
an, während ich mich ganz langsam mit Rot-
wein zuschütte.
Frei 14. 3. 97 Jurek ist tot. Beckers Telefon in
Sieseby ist blockiert. Otto Meissner, der die
Nachricht schon hatte, rief mich an. Ich habe
es weitergesagt an Klaus Poche, dessen
Schwester ebenfalls heute in Halle gestorben
ist, und an Stefan Heym. Helge Braune wuß-
te es schon. Die Beerdigung soll heute in einer
Woche, am Freitag, auf dem Friedhof in Sie-
seby stattfinden. Ottilie wird verreist sein. Ich
werde mit dem Anwalt Nicolas Becker rauf-
fahren. Ich rufe meinen Vater an und sage es
ihm. Er lebt unter dem Zwang, seinen latenten
Antisemitismus aus der Nazizeit irgendwie
gutmachen zu müssen. Jurek ist gerade der
sympathische Jude, der ihm dafür geeignet
scheint. Er sagt spontan: »Ich fahre zur Be-
erdigung, nimm mich mit.« 18.20 Uhr ruft
Christine aus Sieseby an. Ich habe sofort über
Praktisches gesprochen. Beerdigung ist also
am Freitag um 13.00 Uhr auf dem Friedhof
in Sieseby. Meinen Vater soll ich nicht mit-
bringen. Es wird in Berlin eine Gedenkfeier
geben, da können alle kommen, sagt sie, nur
nicht auf den Dorffriedhof. Ich sitze allein in
meiner Bude, mir laufen die Tränen runter.
Ich genieße es. Welche wunderbare Eigen-
schaft an uns Menschen. Der größte Ganove
kann sich an den eigenen Tränen reinigen. Ich
weiß, warum das Tier über die Fähigkeit zu
weinen nicht verfügt. Es braucht sie nicht.
Keine Ganoven unter den Tieren.
Leute kondolieren mir mit ihren falsch
klingenden Worten auf der Telefonmaschine.
Die »Süddeutsche« und die FAZ wollen einen
»großen Abschied« nehmen und hauen mich
um Nachrufe an. Abends fahren Otti und ich
in den Ostsektor. »Lampion« heißt die Knei-
pe beim Käthe-Kollwitz-Platz, in der Jutta
Voigt ihr erstes Buch feiert: »Der Tiger weint«.
Lüning ist da. Er sei immer eifersüchtig auf
Jurek gewesen, sagt er. (…) Ich habe mich mit
Wodka & Bier redlich abgefüllt. Ottilie blieb
am Tresen beim Bier und bei Lüning sitzen.
Ein Bandoneonspieler aus Potsdam spielte
für 100 Mark. Ein Trio russischer Musiker
kam vorbei und spielte für 50 Mark. Peter
Hacks, den ich mehr als zwanzig Jahre nicht
gesehen hatte, kam vorbei und spielte ver-
loren mit seinen Fingern an den Händen. Ein
Greis. Silberhaar. In seinen Augen die Frage:
Ist das noch mein Leben oder träume ich? Ich
erkenne ihn sofort wieder, an seinen Zähnen,
von denen die Hälfte die Farbe, die restlichen
den Standort gewechselt haben. (…)
Sa 15. 3. 97 Otti ist ganz lieb zu mir. Sie brät
zwei Enten und kocht ein Suppenhuhn. Mor-
gen früh muß sie um 4.00 Uhr aufstehen, um
für eine Woche nach Gran Canaria zu fliegen.
So 16. 3. 97 Die Kinder sind da. Jeder kricht
einen Teller Hühnersuppe, und abends essen
wir Ente mit Gelee auf Butterbrot. Marlene
ist einzigartig und wunderbar. Sie ist eine
Schönheit mit einem wohlgeformten Blond-
kopf. Sie hat ein kleineres und ein größeres
Auge, beide geschmückt von den schönsten
dunklen Wimpern und Augenbrauen. Sie hat
 KU LT U R

einen wunderbaren Gang. Sie ist eine fing an zu weinen und sagte immer
Augenweide. Noch hat sie eine ent- wieder: »Papa, Papa …« Ich konnte
zückende Baby-Nase, aber das kann kein tröstendes Wort für sie heraus-
bei den Eltern schlimm ausgehen. Sie bringen. Das gehörte in diesen Au-
spricht alles nach, und fast alles ver- genblicken zum Schlimmsten. Wäh-
steht sie. Es ist das schönste Kind rend mir das Gesicht zu erstarren
meines Lebens. Ich freue mich, daß schien, dachte ich an die Liebe zu
ich es habe. Und ich habe immer we- diesem Kind, zu meinem wunder-
niger Angst, es eines Tages der Tante baren Goldköpfchen. Petra fragte, ob
Ottilie und den Halbgeschwistern zu sie das Auto aus der Tiefgarage holen
präsentieren. Marlene ist sehr klug. solle. Ich schüttelte den Kopf. Ob sie
den Notarzt rufen solle, ich nickte,
Bei den folgenden Stellen handelt es sie rief die Feuerwehr. Um 23.15 Uhr
sich um Nachträge, wie ein Eintrag war der Wagen da, fünfzehn Minuten

adolph press
vom 25. 12. 97 zeigt: »Ich habe heute später auch eine junge Notärztin. Der
angefangen, ein paar Lücken im Tage- Blutdruck war so hoch, daß sie mich
buch zu füllen. Es handelt sich um die nicht für transportfähig hielt und erst
dunkle Zeit ab meinem Schlaganfall ein Medikament injizierte. Ich woll-
bis zur Entlassung aus der Rehaklinik. te meine Brille gewaschen haben,
Das wird einige Tage dauern.« konnte es aber nicht klarmachen, bis
Petra es endlich herausfand. Ich woll-
Mo 30. 6. 97 … Petra und Marlene wa- te alles gut sehen, was in den nächs-
ren zu Besuch. Es war halb elf, das ten Augenblicken mit mir geschehen
Kind wollte nicht müde sein, sondern würde. Ich wollte alles sehen, solan-
hungrig. Und es wollte Wurst haben. ge ich noch bei Besinnung war und
Ich ging in Ottis Wohnung, wo ich sehen konnte. Ich hielt es für möglich,
einen Wurstzipfel fand. Als ich die Tür daß ich ohnmächtig würde. Endlich
zu Ottis Wohnung wieder verschloß, schleppten mich die Sanitäter die
hatte ich das Gefühl, nicht zu wissen, Treppen aus dem 5. Stock herunter.
was ich tat. Ich stellte irgendwie me- Ich spürte, wie schwer ich ihnen war,
chanisch den Teller auf dem Tisch ab wie sie torkelten. Auf der Straße hat-
und kam mir hilflos vor. Petra sagte ten sich die Neugierigen aus den

Privat
später, ich hätte sie seltsam leer be- Kneipen im Haus versammelt und
trachtet. Das Kind wollte seinen glotzten. Dann fuhr ich, auf eine Tra-
Wurstteller haben. Ich verließ das Zim- ge geschnallt, mit Blaulicht und Fan-
mer, ging auf den Flur hinaus, wußte fare in einem rumpligen Auto, von
nicht, warum. Ich wußte nur, daß ich der jungen Ärztin und einem Sanitä-
eine Schwierigkeit zu lösen hatte und ter versorgt, in die Charité. Die Fahrt
daß ich allein sein wollte. Ich ging den schien mir endlos. Ich sah, daß die
Flur entlang auf die Toi­lette. Die Bilder, Ärztin schlank und hübsch war. Ich
die meine Augen übertrugen, waren stellte mir die nächtliche Großstadt
nicht gleich. Sie fügten sich nicht zu vor Augen, die vorbeifliegenden
einem Bild zusammen. Ich hatte das Häuser, während ich in Wahrheit
Gefühl, mit jedem Auge verschiedene bloß die schwankende Gluckerfla-
Monika Zucht / DER SPIEGEL

Dinge zu sehen – wie man sich den sche erblickte, aus der eine blutver-
Blick eines Chamäleons vorstellt. Ich dünnende Lösung in meinen Körper
wußte, daß in meinem Gehirn etwas sickerte. Mein ganzes Leben hin-
Außergewöhnliches vorging. Ein paar durch waren die Sanitätsautos flak-
Augenblicke lang konnte ich nichts kernd und trompetend durch die
empfinden als Angst. Städte gefahren. Ich habe mich
Ich spürte, daß ich in Sekunden- manchmal gefragt, wie dreckig mag
schnelle hilflos wurde. Plötzlich wuß- mir das Wichtigste. Immer wieder Familienvater Krug es dem Menschen da drinnen jetzt
te ich, daß ich nicht sprechen konnte, wollte ich sagen, daß der Computer mit Frau Ottilie und gehen, daß er mit so einem schreien-
den Kindern Daniel,
ohne es versucht zu haben. Aufrecht abgeschaltet werden müsse. Ich brach- Fanny und Jose­phine
den Auto durch die Stadt rasen muß;
gehen konnte ich. Ich ging zurück ins te es nicht heraus. Noch als ich hin- um 1989, mit vielleicht ist er schon tot. Jetzt lag
Zimmer und schaute stumm auf Petra, stürzte und spürte, daß der rechte unehelichem Kind zum ersten Mal ich in dem Auto. Und
ich wollte wissen, ob man mir etwas Arm nicht mehr in der Lage war, auf Marlene Ende der ich wußte nicht, wie es mir geht.
Neunzigerjahre, mit
anmerken würde. Petra fragte: »Ist den Computer zu zeigen, wollte ich Freund Becker: »Ich
Wenn es das Ende ist, dachte ich, soll
etwas passiert?« Sie nahm mich leicht es sagen. Ich wollte mich auf den neu- wollte alles sehen, es nur so sanft und schmerzlos wei-
stützend in den Arm. Ich konnte nicht en Ledersessel setzen und stürzte nie- solange ich noch bei tergehen, bis du nichts mehr spürst.
sprechen. Ich konnte nicht sagen: der, weil mein rechtes Bein den einen Besinnung war« Das wäre ein Geschäft. In der Chari-
»Der Computer muß ausgeschaltet Schritt nicht ausführen konnte, so er- té schob man mich in die Röhre eines
werden.« Das hätte ich gern gesagt. reichte ich den Sessel nicht, stürzte Magnet-Resonanz-Tomographen. Ich
Ich sah mich dastehen, hilflos, waid- vor ihm nieder. Mit dem linken Arm fühlte mich wie in einem Plastiksarg,
wund. Petra wußte nicht, was ich sa- befühlte ich den rechten, ich konnte in dem ich vergessen worden war. Es
gen wollte, sie wußte auch nicht, wie mir die Taubheit nicht erklären. war die Vorhölle. Schon nach Sekun-
das Gerät abzuschalten war. Niemand Die kleine Marlene verstand, daß den wollte ich fliehen. Es war klar,
sollte meine Notizen lesen, das war etwas Schlimmes geschehen war, sie daß dieses Gerät für jedermann zu

Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 117

KU LT U R
eng war, für einen fleischigen Menschen wie
mich umso mehr. Ich mußte mich zusammen-
reißen und alles tun, damit scharfe Bilder
entstehen konnten. Ich wagte nicht, Luft zu
holen, dazu schien mir kein Platz. Es wäre
kein Platz zum Schreien da gewesen.
… Petra blieb in der Wohnung bis 24.00
Uhr. Sie hat das Kind gestillt, etwas aufge-
räumt und versucht, sich zu beruhigen. Sie
mußte Otti anrufen und ihr auf den Anrufbe-
antworter sagen, was geschehen war: »Guten
Tag, Frau Krug, entschuldigen Sie, daß ich
anrufe. Ich würde das nicht tun, wenn es nicht
wichtig wäre. Manfred hat einen Schlaganfall
erlitten. Er wird in die Charité gebracht. Wenn
Sie dort hinkommen, melden Sie sich bitte in
der Rettungsstelle, ich werde auch dort sein.«
Petra stieg mit dem Kind in ein Taxi und sah
gerade noch Ottilie vor dem Haus vorfahren.
Es war Mitternacht.
Ottilie erinnert sich etwas anders: Sie sei
etwa um 23.00 Uhr nach Hause gekommen,
habe das Nachthemd schon angehabt, sich
dann entschlossen, doch den Anrufbeantwor-
ter noch abzuhören. Sie habe einen Schrei-
krampf, einen Nervenzusammenbruch erlit-
ten, habe wie verrückt auf den Küchentisch
getrommelt und sich später gewundert, daß
kein Hausbewohner sie gerettet habe. Sie
habe dann die Nachricht immer wieder ab-
gehört und sich gefragt: wie kann die Person
das Wichtigste vergessen, nämlich das Kran-
kenhaus zu nennen? Endlich habe sie das
Wort »Charité« wahrgenommen. Dann habe
sie eine Stunde dagesessen und geheult. Sie
dachte, ich sei tot.
Endlich habe sie ihre Schwester Leonore
angerufen, die sei nicht da gewesen. Und end-
lich sei sie mit einem Taxi in die Klinik ge-
fahren. Dort habe sie Petra und das Kind ge-
troffen, die seien um 2.00 Uhr morgens nach
Hause gefahren, sie selbst habe bis halb vier
ausgeharrt. Man habe ihr schließlich ein Zim-
mer bereitgestellt, sie sei aber bis zum nächs-
ten Morgen nach Hause gefahren. Als Petra,
bald nach dem Krankenwagen, auf dem Cha-
ritégelände angekommen war, hat sie die jun-
ge Ärztin noch getroffen, die ihr geholfen hat,
die Rettungsstelle zu finden. Petra saß mit
dem Kind in der Klinik, der Arzt bestätigte
ihr, daß es ein Schlaganfall sei. Sie sah mich
nur einmal, als ich in die Tomographie ge-
fahren wurde. Sie beschreibt, daß ich ihr und
dem Kind zugewinkt hätte.
Etwa um 2.00 Uhr kam Otti. Sie begrüß-
te Petra und setzte sich neben sie, das Kind
beachtete sie nicht. Petra berichtete, was sie
bis dahin wußte. Otti war sehr erregt. Nach-
dem ich die Tortur der Computerröhre über-
standen hatte, brachte ein Arzt die beiden
Frauen in mein Zimmer. Der Arzt hat Otti
gesagt, daß sie noch nicht wüßten, ob eine
Operation an meinem Gehirn nötig sei. In
der schwersten Nacht meines Lebens war
nun alles ans Licht gekommen. Stockend
brachte ich drei erste Worte über die Lippen:
»Alles in Ordnung?« Ottilie nickte mir zu:
Alles in Ordnung. (…) n insgesamt abzulehnen.«
118 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Unverwüstliches
Selbstbewusstsein
KARRIEREN  Die Autorin Bernardine Evaristo hätte ihr Memoir als
­ ollywoodreife Empowerment-Geschichte schreiben können. ­
h
Stattdessen erzählt sie ihr Leben. Und das ist sehr bereichernd.
N
ein, Prinz Charles habe sie noch nicht
getroffen, erzählt sie beim Small Talk,
mit dem das Videointerview beginnt.
Seit dem Jahreswechsel ist die Schriftstellerin
Bernardine Evaristo Präsidentin der Royal
Society of Literature, in der auch der Thron-
folger Mitglied ist. Klingt nach einem Buch-
klub, in dem Handverlesene auf Landsitzen
bei Earl Grey diskutieren. So sei es aber nicht,
sagt Evaristo. »Es hat mit dem Königshaus
nur insofern zu tun, als die Schirmherrin
­Camilla ist, die Duchess of Cornwall. Es han-
delt sich nicht um eine Ansammlung von Tee-
trinkern, sondern ist viel progressiver.«
Der beste Beleg dafür ist Evaristo selbst:
In der mehr als 200-jährigen Geschichte
der Organisation ist sie der erste schwarze
Mensch und die zweite Frau, die der Society
vorsitzt. Sie ist jetzt sozusagen die Queen
über 600 Mitglieder, zu denen die wichtigsten
zeitgenössischen Autorinnen und Autoren
zählen, etwa Salman Rushdie und J. K. Row-
ling. Sie kann Förderprogramme aufsetzen
und Kandidaten dafür mitauswählen.
Auf den ersten Blick ist es eine Über­
raschung, dass Evaristo, 62, ganz oben ange-
kommen ist. Ihr Durchbruch kam spät. Sie
machte in ihren Zwanzigern alternatives
­Frauentheater in London, veröffentlichte
in ihren Dreißigern das erste Buch. Ihre
­Romane in Versform, unter anderem über eine
schwarze Frau im römisch besetzten London,
verkauften sich lange so schlecht, dass, wie
Evaristo erzählt, sie sich die »halbjährliche
Tantiemenabrechnung gar nicht mehr ansah«.
Vor drei Jahren aber, da war sie schon
60, kam die Wende. Evaristo veröffentlichte
das Panorama »Mädchen, Frau etc.«, in dem
sie zwölf Lebensgeschichten schwarzer Frau-
en in Britannien erzählte. Damit gewann sie
den Booker Prize, das Buch wurde ein Best-
seller in vielen Ländern. Seitdem ist Evaristo
»Mit der Zeit habe ich gelernt,
das Konzept des Scheiterns
eine Starautorin, die für die »Vogue« Video-
seminare über kreatives Schreiben moderiert
und sich für die »Sunday Times« von Naomi
Campbell befragen lässt.
Evaristos Lebensweg scheint eine gute zeit-
genössische Empowerment-Geschichte über
eine lange verkannte Heldin abzugeben: Der
verdiente Ruhm kam so spät, weil Gesell-
schaft und Kritik für ihren Stil und ihre The-
men Rassismus und Gender nicht reif waren.
Aber ist es so simpel?
Evaristo mischt sich jetzt selbst in die öf-
fentliche Erzählung ihres Lebens ein. Ihr Me-
moir »Manifesto« trägt den Untertitel »War-
um ich niemals aufgebe«*. Das verheißt erst
mal Unheil. Bücher, in denen Stars aus dem
eigenen Leben Gedanken destillieren, die das
Publikum inspirieren sollen, sind heute sehr
beliebt. Meist liegt ihre einzige Qualität aber
darin, dass sie sehr kurz sind.
Tatsächlich ist »Manifesto« nicht nur im-
merhin mehr als 250 Seiten lang, sondern
auch von einer entwaffnenden Aufrichtigkeit,
die darin wurzelt, dass Evaristo sich selbst so
gut durchschaut hat wie eine kluge Schrift-
stellerin ihre Figuren. Sie erzählt von ihrem
Leben, vor allem von ihrer Kindheit, und
zwar nicht als woke Hollywoodstory, sondern
als plausible Abfolge von Beziehungen, Er-
fahrungen und Möglichkeiten, die erklären,
warum diese Bernardine zu der wurde, die
sie heute ist. Ein Mensch, der niemals aufgibt
und mit unverwüstlichem Selbstbewusstsein
Sätze hinbrettert wie diesen: »Mit der Zeit
habe ich gelernt, das Konzept des Scheiterns
insgesamt abzulehnen.«
Evaristos englische Mutter lernt ihren
­nigerianischen Vater 1954 bei einer Common-
wealth-Veranstaltung kennen, sie studierte,
um Lehrerin zu werden, er machte eine
­Ausbildung zum Schweißer. Sie gab, analy-
siert Evaristo, durch die Heirat nicht nur
ihren Weg in die Mittelschicht auf, Ehen
­zwischen Weißen und Schwarzen waren auch
* Bernardine Evaristo: »Manifesto. Warum ich niemals
aufgebe«. Aus dem Englischen von Tanja Handels.
Tropen; 256 Seiten; 22 Euro.
** Michaela Coel: »Misfits. Ein Manifest«. Aus dem
Englischen von Dominique Haensell. Ullstein; 128 Sei-
ten; 16,99 Euro.

Schriftstellerin Evaristo: »Ich habe jetzt meinen Moment in der Sonne«
im England der Fünfzigerjahre ein Tabu,
obwohl damals viele Menschen aus der
­Karibik einwanderten.
Bernadine Evaristos Großmutter sprach
nach der Hochzeit nie wieder ein Wort mit
ihrer Tochter, die Großtante von Evaristo
brach den Kontakt ab. Deren Mann, ein aus
Deutschland geflohener Jude, hielt Vorträge
über die »Gefahr, minderwertige ›Mischlinge‹
in die Welt zu setzen«. Evaristo schreibt: »Für
mich als Kind war das eine frühe Lektion
­darin, wie Menschen, die Opfer von Unter-
drückung waren, selbst zu Unterdrückern
werden können.« Sehr viel später habe sie
sich mit dem Mann angefreundet. Dass er
dann jeglichen Rassismus von sich wies, habe
sie ihm zwar nicht abgekauft, aber er sei mit
der Zeit gegangen. »Es war eine weitere Lek-
tion für mich, dass Menschen sich ändern und
wir uns gestatten dürfen, ihnen ihr früheres
Fehlverhalten zu vergeben.«
Evaristos Eltern sind katholisch und be-
kommen in zehn Jahren acht Kinder, Evaris-
to ist Nummer vier. Die Familie lebt in einem
weißen Viertel im Süden Londons. Man kön-
ne sagen, es habe sich manchmal angefühlt,
wie unter Belagerung zu leben, sagt Evaristo.
Regelmäßig werden der Familie die Scheiben
eingeschmissen. Der Vater schläft mit einem
Hammer unterm Bett.
Aber er ist nicht nur Beschützer, sondern
auch Unterdrücker. Er verprügelt seine Kinder
regelmäßig mit dem Gürtel und bringt eine
KU LT U R
In ihren späten Zwanzigern wird Evaristo
eine weitere hochambivalente Beziehung füh-
ren, mit einer gewalttätigen Frau, der »durch-
geknallten Domina«. Evaristo unterbricht
ihre Arbeit am Theater, lebt wie abgekapselt
von sich selbst. Die Freundin hilft ihr aber
auch aus einem Irrtum heraus: Als junger
Mensch habe sie Frauen idealisiert, sagt Eva-
risto, geprägt von einer liebenden Mutter und
einem Angst einflößenden Vater, so aber
­erkannt, dass die »Fähigkeit, uns moralisch
fragwürdig zu verhalten, uns allen eigen ist«.
Unterm Strich sei diese Frau »das größere
Arschloch als alle Männer zusammen« ge-
wesen und sie selbst auch Komplizin in der
jahrelangen Beziehung. Emotionaler Miss-
brauch sei nicht das richtige Wort für das, was
da geschehen sei. »Ich will meine Erfahrungen
nicht reduzieren, solche Begriffe können nicht
erfassen, wie ich über meine Vergangenheit
sprechen will. Ergibt das Sinn?«
Es kann gut sein, dass Evaristo mit ihrer
Haltung bei einer jüngeren Generation auf
Kritik stoßen wird. Das Anerkennen von Dis-
Ekua King / Evening Standard / eyevine / laif
kriminierung spielt im Moment eine große
Rolle, Evaristo hingegen blickt so optimistisch
auf den Menschen, dass der bei ihr gar nicht
als Opfer aus der Reibung zwischen gesell-
schaftlichen Verhältnissen und Individuum
hervorgehen kann – solange Missstände als
Antrieb genommen werden und nicht im
Selbstmitleid verharrt wird. Evaristo schreibt
über die Unterrepräsentation schwarzer Au-
torinnen und Autoren in der Literatur: »Ich
sah es als meine Pflicht, meine ganz persön-
emotionale Kälte ins Haus, die sie erstarren lichen Zweifel und Schwächen zu überwin-
lässt. »Was er in seiner Kultur erlebt hat, was den, um das mit dem Schreiben hinzukriegen,
in Nigeria in den Zwanzigerjahren die Norm denn mit welchem Recht beklagte ich mich
war, war, dass Kinder geschlagen werden, über unsere Zwangslage, wenn ich selbst
wenn sie sich schlecht benehmen – und das nichts auf die Reihe bekam?«
war’s, das war, was er tat«, sagt Evaristo. Auch die 34-jährige Schauspielerin und
Nach welchen Kriterien entscheidet eine Autorin Michaela Coel hat gerade ein Me­moir
Tochter, ob der gewalttätige Vater selbst Kind veröffentlicht, wie Evaristo ist sie in London
seiner Umstände ist oder verantwortlich für groß geworden, ebenfalls nicht in satten Ver-
sein Handeln? Evaristos Erinnerungen zeigen, hältnissen**. Sie wurde angenommen bei der
wie schwer es ist, darüber ein Urteil zu fällen. Guildhall School of Music and Drama, bei der
Sie schildert, wie sich ihr Vater in den Sieb- sich Evaristo einst erfolglos beworben hatte.
zigern von der Labour Party als Ratsmitglied Sie war dort, schreibt Coel, die erste schwar-
aufstellen ließ. Als ein anderer Mann ihn an- ze Studentin seit fünf Jahren.
griff und auch vor Rassismus nicht zurück- Frappierend ist, wie ähnlich beide schil-
schreckte, »griff mein Vater, der die typisch dern, wie viel Freiheit entstehen kann, wenn
britische Kunst des Passiv-Aggressiven nicht einem von klein auf klargemacht wird, dass
beherrschte, zu einer sehr viel archaischeren die Welt nicht auf einen gewartet hat. Und
Form der Vergeltung. Als er dem Mann eines trotzdem ist Coel viel wütender, prangert
Tages vorm Rathaus begegnete, streckte er, etwa die Doppelgesichtigkeit des Showbusi-
ein wahrer Yoruba-Krieger, den Mann mit ness an, das Außenseiter »auf Podeste« stelle,
einem Faustschlag nieder.« Er sei deshalb aus ihnen aber keine echten Chancen auf Aufstieg
der Partei ausgeschlossen worden, habe sich biete. Sie schreibt von weniger Erfahrung ge-
aber als parteiloser Kandidat erneut zur Wahl schliffen. Jünger eben.
gestellt – und gewonnen. Evaristo erzählt noch, sie sei froh, dass sie
Eine starke Unbeirrbarkeit. Als Leserin den Booker Prize so spät im Leben bekom-
erkennt man sie in seiner Tochter wieder, die men habe. »Wenn du ihn mit 25 bekommst,
sich nach dem Abitur bei vielen Schauspiel- kann es sein, dass dich die Welt mit 35 wieder
schulen bewirbt. »Drei Jahre lang sprach ich vergessen hat. Und dann hast du den Rest
überall vor und kassierte viele Absagen, es deines Lebens im Schatten. Ich aber habe
stand aber nie zur Debatte, nicht weiterzu- jetzt meinen Moment in der Sonne. Und den
machen, bis mich eine gute Schule meiner genieße ich.«
Wahl endlich aufnehmen würde.« Eva Thöne n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 119
KU LT U R
Im Bergwerk des Geistes
LITERATUR  Vor 140 Jahren wurde Virginia Woolf geboren. Eine Würdigung
der Autorin, die sich politisch als progressive Feministin
verstand, in ihrer Kunst aber vor allem eines war: Snob. Von Elke Schmitter
E
igentlich, schreibt sie an ihren
Kollegen, den Schriftsteller
E. M. Forster, »musst Du mich
35 nennen – nicht 40«. Einige Tage
vor ihrem runden Geburtstag im
­Januar 1922 zieht Virginia Woolf
Bilanz, so wie es ihre Art ist: ohne
Pathos, eher nebenbei, aber mit Ver­
ve. Das Schreiben sei nach wie vor
wie »Backsteine über eine Mauer hie­
ven«. Und: »Ich würde Dir gerne et­
was über dieses ganze verdammte im
Bett Liegen und nichts tun vorjam­
mern, und über das Aufstehen und
eine halbe Seite schreiben und wieder
ins Bett gehen. Ich habe 5 ganze Jah­
re (ich zähle) damit vergeudet.«
Virginia Woolf ist auf dem Weg,
sich als Autorin zu etablieren. Sie lebt
in Richmond, am Rand der britischen
Metropole, ihrer Gesundheit zuliebe.
Die Tochter einer großen Londoner
Familie – »hineingeboren in eine sehr
redselige, literarische, Briefe schrei­
bende, Besuche machende, typische
Gesellschaft des späten neunzehnten
Jahrhunderts«, wie sie selbst über
sich schrieb – führt in ihren mittleren
Jahren eine Vorstadtexistenz. Zwei
Dienstboten, die sie über Gebühr be­
schäftigen wie ungeliebte Kinder; Spa­
ziergänge; Autoren- und Verlagsarbeit
im Homeoffice. Die Hogarth Press der
Woolfs veröffentlicht Texte, die sie mit
der eigenen Druckerpresse fertigen –
eine nicht frauliche Handarbeit, die
sie liebt. »Das Mal an der Wand«, eine
Erzählung von ihr, ist dort erschienen,
es geht weiter mit Gertrude Stein,
­Maxim Gorki, Katherine Mansfield,
T.  S. Eliot; im Rückblick: der europäi­
schen Avantgarde. Nachmittags, zum
Tee, führt sie Tagebuch.
Die Katastrophe des Ersten Welt­
kriegs liegt keine drei Jahre zurück,
und die »alte Virginia wird sich schä­
men, wenn sie bedenkt, was für eine
Schwatztante sie war«, notiert sie
1921, »die immer nur über Leute ge­
sprochen hat, nie über Politik. Außer­
dem, wird sie sagen, hast du in einer
so außergewöhnlichen Zeit gelebt«.
Doch das »bedeutungsvollste Anzei­
120 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
chen des Friedens ist dieses Jahr der
Schlußverkauf; gerade vorbei; in
den Läden gab es eine Flut billiger
Kleider. Die Leute hatten aufgehört
zu kaufen«.
Woolf ergattert auf einem Markt
in Soho »Seidenstrümpfe (zweite
Wahl) für 1 Shilling 10 Pence«. Einer­
seits muss sie sparen. Andererseits
entspricht es ihrer Ästhetik, das De­
tail im Alltag zu würdigen. Denn in
»Wirklichkeit hat hinsichtlich der Er­
eignisse kein Augenblick Vorrang vor
dem anderen. Die Geschichtsbücher
werden daraus etwas viel Eindeutige­
res machen, als es ist«.
Sie ist umgeben von Deutern und
Lenkern der Zeit, die für die Ge­
schichtsbücher leben: John Maynard
Keynes, der in Versailles im britischen
Team über die Friedensbedingungen
verhandelte, die intellektuellen Stars
George Bernard Shaw und Lytton
Strachey gehören zum Freundeskreis.
Das Bewusstsein, dass die englische
Kultur – Tee mit Gurkensandwiches
im Park, das Natural History Museum
in London, prachtvolle Lesesäle, vik­
torianische Roben – bezahlt war mit
dem Imperialismus, mit Sklavenhan­
del und der Ausbeutung der Arbeiter
und Frauen, hat sich in ihren Kreisen
durchgesetzt.
Doch ziehen sie und ihre Freunde
unterschiedliche Schlüsse: Manche
verzichten auf Bedienung (und ver­
wirren damit die Hausmädchen in
den Herrenhäusern), manche werden
Pazifisten oder Vegetarier, und man­
che geben ihre opulenten Partys nun
mit schlechtem Gewissen.
Virginia, geborene Stephen, ist mit
dem Sozialisten Leonard Sidney
Woolf verheiratet und hält bei Gele­
genheit politische Reden; sprichwört­
lich wurde der Essay »Ein Zimmer für
sich allein«: Was wäre aus einer
Schwester Shakespeares geworden,
fragt Woolf darin. »Sie war, nehmen
wir einmal an, ebenso abenteuerlus­
tig, ebenso fantasievoll, ebenso be­
gierig, die Welt zu sehen, wie er. Aber
sie wurde nicht in die Schule ge­
schickt. Sie hatte keine Gelegenheit,
Grammatik und Logik zu lernen, von
Horaz und Vergil ganz zu schweigen.
Sie nahm hin und wieder ein Buch
zur Hand, eines ihres Bruders viel­
leicht, und las ein paar Seiten. Aber
dann kamen ihre Eltern herein und
hießen sie die Strümpfe stopfen oder
sich um den Hammelbraten kümmern
und nicht mit Büchern und Papieren
ziellos herumzutrödeln.«
Als Feministin war Woolf klar und
entschieden, und sie passte ihre Spra­
che der gewünschten Wirkung an. Für
sie war das Schreiben Kunst, Selbst­
verwirklichung sowie Handwerk zu­
gleich. Sie verdiente damit ihr Geld,
Fensterplatz und es war ihre Befreiung aus dem
in Woolfs Haus Käfig von Abhängigkeit und »Weib­
in Rodmell an
der Ouse 1946:
lichkeit«, in dem Frauen ihr Leben
Gespür für fristen mussten. Jahrhunderte haben
­Flüchtigkeit sie »als Spiegel gedient mit der magi­
schen und köstlichen Kraft, das Bild
des Mannes in doppelter Größe wie­
derzugeben«. Sie selbst verdankte
ihre Bildung allein ihrem Milieu, ge­
mischt aus Wohlstand und Boheme;
sie war ein privat erworbener Luxus.
Was armen Leuten und Frauen zu
wissen erlaubt war, wurde gemeinhin
von höherer Stelle entschieden.
»Sie war überzeugt davon«, so der
hochdekorierte E. M. Forster leicht
verschnupft nach ihrem Tod, »daß die
Gesellschaft für die Männer gemacht
sei, daß die Hauptbeschäftigung der
Männer darin bestehe, Blut zu ver­
Gisèle Freund / IMEC, Fonds MCC / bpk
gießen, Geld zu verdienen, Befehle
auszuteilen und Uniformen zu tragen
und daß keine dieser Beschäftigungen
bewunderungswürdig sei.« Forsters
Unmut rührte möglicherweise auch
daher, dass Woolf unlängst seinen
Vorschlag, sie – als einzige Frau –
in den Verwaltungsrat der London

Schriftstellerin Woolf 1939: »Ich fühle die Zeit dahinrasen wie einen Kinofilm«
Library zu berufen, abgelehnt hatte. Mit Män-
nern seines Schlages, ganz selbstverständlich
so misogyn wie gönnerhaft, verkehrte sie pri-
vat, kooperierte aber politisch keineswegs.
Sie wollte »kein Schönheitspflästerchen sein«.
So zogen Bevormundung wie Prüderie
ihrer gewohnten Höflichkeit Grenzen. Sie
kämpfte – erfolglos – für den Gebrauch des
Wortes »lewd« (geil) in einer Rezension zu
Henry James, und sie mokierte sich über eine
Bekannte, die bis zu ihrer Heirat mit 35 Jah-
ren kein Buch lesen durfte, das ihre Mutter
nicht zuerst geprüft hatte; »die ungehörigen
Seiten wurden umgefaltet«.
100 Jahre nach dieser Anekdote gibt die
Universität von Salford für Autoren wie
KU LT U R
Viktorianer wohl verschont bleiben, denn in
ihren Romanen war sie weder Feministin
noch Sozialistin, sondern vor allem: Snob.
Ihre Bücher stoßen zurück, wenn man eine
schnell erfassbare Handlung, pralle Charak-
tere, dramatische Dialoge erwartet. Woolf
zielte auf den Grund des Bewusstseins.
Wie entsteht dieses fragile Netz aus Erinne-
rungen, Ideen und sinnlichen Impressionen –
das sich verhärtet oder zerreißt, sobald man
es analytisch in den Griff nimmt, das man
mit Worten allerdings zeigen kann? »Ein
Anblick, ein Gefühl bewirkt diese Welle
im Geist«, erklärte sie ihrer Kollegin und
zeitweiligen Geliebten Vita Sackville-West,
»lange bevor er die dazu passenden Worte
formuliert.«
Das ist das Prinzip ihrer Poetik; Woolfs
Romane folgen dieser »Welle im Geist«, die
Gedanken und Wahrnehmungspartikel, Ge-
dächtnisfetzen und Elemente des Wohlklangs
vereint. Von Buch zu Buch nähert sie sich dem
Ziel einer »ganz anderen Methode: keinerlei
Gerüst; kaum ein Baustein zu sehen; alles im
Zwielicht, aber das Herz, die Leidenschaft,
die Stimmung daraus hervorleuchtend wie
ein Feuer im Nebel«.
Und mit beinahe jedem neuen Werk
bricht sie zu neuen Ufern auf: »Orlando«,
die über drei Jahrhunderte reichende Le-
bensgeschichte einer Märchenfigur, gehört
wie »Flush«, der Biografie eines Hundes, zur
Abteilung Scherz und tiefere Bedeutung;
»Mrs Dalloway« kontrastiert den Bewusst-
seinsstrom einer Londoner Lady mit dem
eines traumatisierten Veteranen in einem
Tageslauf.
Während spielerische Experimente wie
»Flush« oder »Orlando« ihr leicht von
der Hand gingen, war die Niederschrift von
Bewusstseinsexpeditionen (wie auch »Zum
Leuchtturm« und »Jacobs Zimmer«) oft eine
Gisèle Freund / IMEC, Fonds MCC / bpk
Qual. »Ich schreibe zwei Seiten völligen Blöd-
sinn, mit Anstrengung; ich schreibe Varianten
zu jedem Satz; Kompromisse; schlechte An-
sätze; Möglichkeiten; bis meine Kladde wie
der Traum einer Irren wirkt.«
Diese Arbeit im Bergwerk des Geistes
trieb Woolf mehrfach an ihre Grenzen; sie
hörte Stimmen, und ihre Jugendkrankheit
– heute überwiegend als manisch-depressi-
ve Psychose betrachtet – brach wieder auf.
Charles Dickens und Charlotte Brontë Trig- In der Hogarth Press erschienen Sigmund
gerwarnungen aus; die Lektüre von »Große Freuds psychoanalytische Schriften auf Eng-
Erwartungen« und »Jane Eyre«, so die Be- lisch, doch das Tragische wie das »Zwie-
gründung, könne »distress«, also psychische licht« in ihrer Familiengeschichte, die von
Belastungen verursachen. frühen Todesfällen, von Wahnsinn wie
Woolfs Werk wird trotz schwerer The- Missbrauch belastet war, blieb, höchst sub­
men – unter anderem: Trauma, Einsamkeit limiert, in der Literatur. Zur Stabilisierung
und Tod – von solchen Warnungen moderner ihres Befindens setzten Leonard und sie
pragmatische Hausmittel ein: ausgedehnte
Ruhezeiten, regelmäßige Mahlzeiten und
Bewegung an frischer Luft. Selbst die Ver-
lagsgründung war ursprünglich als thera-
Ihre Tagebücher und Briefe peutisches Hobby gedacht. Die Bedienung
sind voller Witz und einer Druckerpresse erforderte Konzen­
tration, war manuell anspruchsvoll und
­radikaler Introspektion. schließlich für beide eine geliebte Schinde-
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 121
KU LT U R

rei: Worte setzen statt Worte schreiben. Sich

dabei unterhalten.
Woolf blieb lebenslänglich den Vorlieben
ihrer Herkunftsfamilie treu, sie war redselig,
BELLETRISTIK SACHBUCH machte Besuche – und schrieb Briefe sowie aus-
führlich Tagebuch. Was so gewissermaßen
Die Bestsellerautorin hat Die Mitgründer des nebenher entstand, macht einen großen Teil
keine Angst vor den ganz Mainzer Unternehmens ihres posthumen Werkes aus und ist, dank vor-
großen Gefühlen, Leid Biontech haben Medizin­
und Schönheit sind bei geschichte geschrieben. züglicher Kommentierung auch in der deutschen
ihr oft ins Melodrama­ In diesem Buch erzählen Ausgabe, für Woolf-Beginner ein federleichter
tische übersteigert. Im sie, wie es ihnen gelingen Genuss: voller Witz, radikaler Intro­spektion und
Mittelpunkt Ihres neuen konnte, in Rekordzeit den
Romans steht ein Sehn­ weltweit ersten zugelas­ pointierter Beobachtung. Zum literarischen Be-
suchtsmotiv: die Insel­ senen Covid-19-Impfstoff trieb hielt sie, ihrer politischen Haltung wie dem
kette Hawaii. | Platz 10 zu entwickeln. | Platz 12 unzeitgemäßen Bewusstsein weiblichen Genies
folgend, auch mit wachsendem Ruhm Distanz:
1 (–) Michel Houellebecq 1 (1) Florian Illies »Habe ich Dir erzählt«, schrieb sie 1939 einer
Vernichten DuMont; 28 Euro Liebe in Zeiten des Hasses S. Fischer; 24 Euro
Freundin, »daß ich, da (der Schriftsteller Herbert
2 (1) Nele Neuhaus 2 (2) Hape Kerkeling George –Red.) Wells sich aus dem PEN-Club
In ewiger Freundschaft Ullstein; 24,99 Euro Pfoten vom Tisch! Piper; 22 Euro zurückgezogen hat, gebeten wurde, seine Nach-
folgerin zu werden? Worauf ich mit der Hand
3 (2) Sebastian Fitzek 3 (3) Marianne Koch schnippte, wie eine Griechin eine Laus vom
Playlist Droemer; 22,99 Euro Alt werde ich später dtv; 18 Euro Kopf ihres Kindes schnippt.«
Ab 1919 lebte sie mit Leonard im Wechsel
4 (5) Edgar Selge 4 (–) Mai Thi Nguyen-Kim Die kleinste
gemeinsame Wirklichkeit in London und im ländlichen Rodmell an der
Hast du uns endlich gefunden Rowohlt; 24 Euro Droemer; 20 Euro
Ouse. Während der deutschen Luftangriffe
5 (4) Jussi Adler-Olsen 5 (6) Daniel Schreiber im Zweiten Weltkrieg wurde ihr Verlagshaus
Natrium Chlorid dtv; 25 Euro Allein Hanser Berlin; 20 Euro in der Stadt schwer beschädigt; für den Fall
einer Besatzung erwog das Paar gemeinsamen
6 (3) Bernhard Schlink 6 (11) Elke Heidenreich Suizid. »Das mindeste, was ich als Jude zu
Die Enkelin Diogenes; 25 Euro Hier geht’s lang! Eisele; 26 Euro
erwarten hatte«, so Leonard in seinem Er-
7 (4) Anne Fleck innerungsbuch »Mein Leben mit Virginia«,
7 (6) Juli Zeh
Energy! »war, dass ich ›zusammengeschlagen‹ würde,
Über Menschen Luchterhand; 22 Euro dtv; 25 Euro
das wußten wir. Wir waren uns einig, daß wir
8 (–) Jürgen von der Lippe 8 (7) Laura Malina Seiler keine Zeit zu verlieren hatten, wenn es soweit
Sex ist wie Mehl Penguin; 18 Euro Zurück zu mir Rowohlt; 15 Euro war.« Am Anfang des Jahres 1941, mit der
Beendigung des Manuskripts von »Zwischen
9 (7) Susanne Abel 9 (9) Harald Welzer den Akten«, verschlechterte sich Woolfs psy-
Stay away from Gretchen Nachruf auf mich selbst S. Fischer; 22 Euro
dtv; 20 Euro chischer Zustand rapide. Am 28. März ging
10 (10) Boris Herrmann / Andreas Wolfers sie, die Manteltaschen mit Steinen beschwert,
10 (–) Hanya Yanagihara
Zum Paradies Claassen; 30 Euro
Allein zwischen Himmel und Meer in die Ouse, den nahe gelegenen Fluss.
 C. Bertelsmann; 24 Euro Zu ihrer Hinterlassenschaft hatte sie ein
11 (–) Kirsten Boie entspanntes Verhältnis. »Ich bewahre weder
11 (5) Gerhard Wisnewski verheimlicht –
Heul doch nicht, du lebst ja noch Oetinger; 14 Euro vertuscht – vergessen 2022 Kopp; 16,99 Euro auf, noch vernichte ich, sondern sammle ge-
mischte Bündel aus diesem und jenem, und
12 (14) Carsten Henn 12 (8) Joe Miller / Uğur Şahin / Özlem Türeci überlasse es der Nachwelt, falls es eine gibt,
Der Buchspazierer Pendo; 14 Euro Projekt Lightspeed Rowohlt; 22 Euro zu verbrennen oder nicht.« Dies und ihr enor-
mer Fleiß führten schließlich dazu, dass man
13 (8) Ken Follett 13 (13) Barack Obama / Bruce Springsteen
Never – Die letzte Entscheidung sehr vieles von ihr wissen kann. Wen sie wann
Lübbe; 32 Euro Renegades Penguin; 42 Euro
traf, was sie aß und trank, wie sie angezogen
14 (9) Kerstin Gier Vergissmeinnicht – Was man 14 (–) Ursula Weidenfeld war, wen sie küsste und wen vor allem nicht,
bei Licht nicht sehen kann S. Fischer; 20 Euro Die Kanzlerin Rowohlt Berlin; 22 Euro was sie von sich selbst dachte.
»Die Vögel«, heißt es zum Beispiel am
15 (11) Dirk Rossmann / Ralf Hoppe 15 (16) Eckart von Hirschhausen Mensch, Erde! 22.  Januar  1922, »wecken uns etwa um 7 Uhr
Der Zorn des Oktopus Lübbe; 20 Euro Wir könnten es so schön haben dtv; 24 Euro mit ihrem schrillen Gezwitscher; was ich für
ein Frühlingsanzeichen halte, aber ich bin eben
16 (10) Diana Gabaldon Outlander – Das 16 (12) Ferdinand von Schirach
Schwärmen von tausend Bienen immer optimistisch. Dichter, dampffarbener
Knaur; 28 Euro Jeder Mensch Luchterhand; 5 Euro
Nebel verdeckt sogar die Zweige, vom Towers
17 (–) Ronja von Rönne 17 (15) Tim Marshall Die Macht der Geographie ­Place ganz zu schweigen. Warum mache ich
Ende in Sicht dtv; 22 Euro im 21. Jahrhundert dtv; 24 Euro mir die Mühe und nehme es mit den Fakten
so genau? Ich glaube, es ist mein Gespür für
18 (12) Abdulrazak Gurnah 18 (–) Katherine May Überwintern – die Flüchtigkeit der Zeit: schon bald wird To-
Das verlorene Paradies Penguin; 25 Euro Wenn das Leben innehält Insel; 22 Euro wers ­Place nicht mehr da sein; & die Zweige,
19 (13) Matt Haig & ich, die hier schreibt. Ich fühle die Zeit da-
19 (–) Gabriele von Arnim Das Leben ist ein
Die Mitternachtsbibliothek Droemer; 20 Euro vorübergehender Zustand Rowohlt; 22 Euro
hinrasen wie einen Kinofilm. Ich versuche sie
anzuhalten. Ich spieße sie mit der Feder auf.«
20 (15) Hervé Le Tellier 20 (–) Uwe Wittstock Es ist, gemäß ihrer Poetik, der genau for-
Die Anomalie Rowohlt; 22 Euro Februar 33 C. H. Beck; 24 Euro mulierte Augenblick, der bleibt – eine buch-
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller stäbliche Mitteilung namens Literatur. n

122 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022


Traumhafte Neurosen
AUSSTELLUNGSKRITIK  Eine unterhaltsame Wiener Schau widmet
sich Salvador Dalís Fixierung auf Sigmund Freud –
eine Begeisterung, die eher nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.
I
m Juni 1938 hielt sich Salvador
Dalí in der französischen Provinz
auf, wollte lokale Delikatessen
genießen, verspeiste eines Abends
mit Freunden Schnecken. Das Titel-
blatt einer Zeitung geriet ihm ins
Blickfeld, darauf war ein Foto von
Sigmund Freud. In dem Moment sei
ihm klar geworden, behauptete er
später: »Freuds Schädel ist eine
Schnecke.«
So klang es, wenn Dalí jemanden
bewunderte. Neben seiner Muse und
Ehefrau Gala (»meine Siegesgöttin«)
war der Wiener Seelen- und Traum-
deuter Freud über Jahre sein größtes
Idol. Dalí wurde überhaupt erst zu
Dalí, weil er die Schriften des Öster-
reichers seit Mitte der Zwanzigerjah-
re verschlungen hatte. Seine Bilder
waren Rätsel, die auf die Macht des
Unterbewussten anspielten und von
denen er sagte, er könne sie selbst
nicht lösen, nur Freud könne das. Die-
ser sei der Bahnbrecher aller Surrea-
listen gewesen, »er versteht uns«.
Dalís Fixierung auf Freud steht
bald im Mittelpunkt einer Schau im
Museumsschloss Unteres Belvedere
in Wien. Schon der Ausstellungska-
talog mit seinen vielen Essays ist so
unterhaltsam wie aufschlussreich. Zu-
nächst hoffte der Künstler wohl, in
dem Begründer der Psychoanalyse
eine Vaterfigur zu finden; der eigene
Vater, ein Notar, hatte ihn einge-
schüchtert, wurde er wütend, hielt
im katalanischen Figueres die ganze
Straße »den Atem an«. Lieber war
ihm die radikale, aber ruhige Autori-
tät, die der Arzt aus Wien verkörper-
te. Freud schrieb über die Kastra-
tionsangst, Dalí malte sie in Bildern
und benannte sie auch ganz offen.
1933 entstand etwa das Gemälde »Ich
im Alter von zehn Jahren, als ich ein
Heuschreckenkind war (Kastrations-
komplex)«. Für die Kunst damals wa-
ren das neue und vor allem provozie-
rende Themen.
Als er Freud später sogar aufsuch-
te, empfand sich Dalí längst als eben-
bürtiger Experte für Neurosen aller
Art. Einige der Ölbilder, die er in
der Zeit schuf und die in der Ausstel-
lung gezeigt werden, passen übrigens
ebenso gut ins dünnhäutige 21. Jahr-
hundert. Etwa jene, auf denen er die
Stille als lähmenden Zustand einfing
und den Menschen als verlorenes We-
sen zeigte. Gemälde wie »Einsam-
keit« und »Alarmzustand« scheinen
wie gemacht für unsere geisterhafte
Coronagegenwart.
Dalí sagte, er sei sogar dreimal
nach Wien gereist, weil er sein Idol
habe treffen wollen, nur sei er nie vor-
gedrungen. Mindestens eine Reise
lässt sich auch belegen, 1937 stieg der
Maler im Hotel Krantz-Ambassador
ab. Im Juni 1938 flüchtete der jüdi-
sche, krebskranke Freud dann vor
den Nazis nach London. Im folgenden
Monat stand Dalí vor seiner Tür,
KU LT U R
unter dem Arm sein Gemälde »Meta-
morphose des Narziss«.
Für den Exilanten war der Nach-
mittag womöglich eine angenehme
Zerstreuung. In einem Brief bedank-
te er sich bei dem Schriftsteller Stefan
Zweig, der das Treffen arrangiert hat-
te und auch selbst erschienen war.
Zuvor, so gestand Freud, habe er die
Surrealisten für Narren gehalten, aber
»der junge Spanier mit seinen treu-
herzig fanatischen Augen und seiner
unleugbaren technischen Meister-
schaft hat mir eine andere Schätzung
nahe gelegt«. Dalí durfte eine Porträt-
skizze anfertigen, schien aber insge-
samt enttäuscht. Über seine eigene
»paranoisch-kritische Methode«, mit
der er – über Wahnvorstellungen – zu
einem neuen Wirklichkeitsbegriff ge-
langen wollte, mochte der Gastgeber
nichts hören. Freud rührte die mit-
gebrachte Zeitschrift nicht an, in der
Dalí einen Aufsatz dazu veröffentlicht
hatte.
Das langjährige Groupie war ge-
kränkt, noch Jahre später schrieb es
Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí / Bildrecht, Wien 2022 (oben und unten)
bedauernd, »zwei Genies waren ein-
ander begegnet, und es hatte keinen
Funken gegeben«. Der Maler suchte
sich schließlich neue Helden, Albert
Einstein war einer von ihnen und
noch ein weiterer Physiker, Werner
Heisenberg, von dem sich die Nazis
eine Atombombe erhofft hatten. Die
anderen wohl auch auf Dalís Erfolg
neidischen Surrealisten allerdings
warfen ihm vor, ebenso eine Faszina-
tion für die Diktatoren seiner Epoche
zu hegen. Er widersprach, obwohl er
vorher vorgeschlagen hatte, Hitler
»surrealistisch einzuordnen«.
Vielleicht war seine Moral tatsäch-
lich so weich wie die schmelzenden
Uhren, die auf einigen seiner Gemäl-
de zu sehen sind. Je mehr Zeit ver-
Dalí-Gemälde »Die geht, desto schwerer scheint dieser
Einsamkeit«, 1931, Künstler zu deuten. Was meinte er
Dalí-Skizze
von Freud, 1938
wirklich, was war Masche? Vielleicht
wäre Freud bei längerer Bekannt-
schaft eine Diagnose gelungen. Dalí
wollte ernst genommen werden und
hielt einen Vortrag im Taucheranzug,
er gab sich als Weltneurotiker und
wurde zum Weltstar – was er bis zu
seinem Tod 1989 genoss. »Der ein-
zige Unterschied zwischen mir und
einem Verrückten ist der, dass ich
nicht verrückt bin«, lautet einer
­seiner bekanntesten Sprüche.
Die Kunstwelt schien seiner Werke
eine Zeit lang überdrüssig. Sie jetzt
wieder hervorzuholen und neu zu be-
trachten ist eine gute Idee. Dalí mag
nicht verrückt gewesen sein, aber sei-
ne Bilder werfen die Frage auf, was
schon normal ist.
Ulrike Knöfel n
Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 123

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Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller, Malte Zeller
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 Nino Cerruti, 91 Dixie Dörner, 70
NACHRUFE Eigentlich wollte er Journalist Den Spitznamen »Beckenbauer
werden, doch sein Studium des Ostens« mochte er nicht
brach der Italiener ab, um die so gern. Er hatte seinen eigenen
von seinem Großvater 1881 ge­ Stil, Fußball zu spielen. Und
gründete Textilfabrik zu über­ außerdem hatte Hans-Jürgen
nehmen. Nino Cerruti kam Dörner ja auch schon seinen
1930 in Biella im Piemont zur eigenen Spitznamen: Jeder im
Welt und stieg gemeinsam mit Fußball nannte ihn Dixie. Dixie
seinen Brüdern ins mittelstän­ Dörner, das war wie ein Syno­
dische Familienunternehmen nym für Dynamo Dresden. Von
ein, als sein Vater 1950 starb. 1967 bis 1986 hielt er dem säch­
Dank seines Gespürs, eines läs­ sischen Traditionsklub die
sig-eleganten Stils, der Liebe Treue. Als Libero der Schwarz-
zum Detail und hochwertiger Gelben prägte Dörner die er­
Stoffe wurde die Marke Cerruti folgreichste Zeit des Vereins:

Siegfried Pilz / United Archives / ddp

1881 zum Impulsgeber in der Seine elegante Art, mit der
Männer­mode. Mit Cerruti kauf­ er aus der Abwehr heraus das
te man nicht einfach nur lu­ Spiel seines Teams dirigierte
xuriöse Kleidung, man gab ein und organisierte, machte ihn
Statement ab. 1967 eröffnete zu einem der besten deutschen
Cerruti in Paris seine erste Bou­ Fußballer seiner Zeit. Mit ihm
tique. Einige der besten italieni­ und durch ihn wurde Dynamo
schen Modedesigner begannen fünfmal DDR-Meister und fünf­
bei ihm ihre Karriere, darunter mal Pokalsieger. Dazu war Dör­
Giorgio Armani und Stefano ner bei den legendären Europa­
Hardy Krüger, 93 ­Pilati. Mitte der Siebzigerjahre
Er war ein Aufklärer. Ganz gleich ob er als Schauspieler, Schrift­ fing Cerruti an, Frauenmode
steller oder Reisereporter wirkte. Hardy Krüger klärte die Welt zu entwerfen, und trieb die Ex­
nach dem Zweiten Weltkrieg darüber auf, dass nicht alle Deutschen pansion des Unternehmens
schlechte Menschen sind. Und die Deutschen klärte er darüber auf, ­voran – Parfüms, Lederwaren,
dass die Welt groß und frei und schön ist. Seine Eltern waren Sport­bekleidung. Er folgte auch
­glühende Faschisten, er sollte auf einer NS-Kaderschmiede erzogen dem Ruf nach Hollywood und
werden. Seine Besetzung für einen Propagandafilm öffnete dem war als Kostümdesigner für die
15-Jährigen die Augen, er erfuhr von den Verbrechen. 1945 gelang glamourösen Looks von Julia
es ihm, als Jugendlicher noch an die Front geworfen, sich von der Roberts und Richard Gere in

Bob Thomas / Getty Images

Truppe abzusetzen. Angewidert vom seichten Kino der Nachkriegs­ »Pretty Woman« verantwort­
zeit ging Krüger nach Frankreich, dann nach England – wo er 1957 lich sowie für die kühlen An­
in »Einer kam durch« die Hauptrolle spielte, einen kriegsgefan­ züge in »American Psycho«. In
genen deutschen Jagdflieger. Es war der Beginn einer Karriere einer Szene des Films gibt der
im internationalen Kino, auch an der Seite von Größen wie James Hauptdarsteller rot verschmier­
­Stewart oder Charles Aznavour. Zeitweise lebte Krüger in einer te Laken in die Reinigung und
Lodge in Tansania, später verwandelte er sein Fernweh in erfolg­ sagt den berühmten Satz: »Cer­
reiche Fernsehformate (»Weltenbummler«), Reiseberichte und ruti kann man nicht bleichen. pokalduellen gegen Bayern
­Romane. Zeitlebens engagierte er sich gegen den Faschismus. Kommt nicht infrage.« Mitte München 1973 dabei, als die
­Hardy Krüger starb am 19. Januar in Palm Springs, Kalifornien. FRA der Neunzigerjahre begann der Bayern nur haarscharf am Aus­
Modeschöpfer, sich aus dem scheiden vorbeischrammten.
Geschäft zurückzuziehen, bis er 100 Länderspiele bestritt Dörner
Jochen Stay, 56 2002 endgültig ausstieg. Nino für die DDR, und es wären
Über den Jahreswechsel erlebte der Antiatom­ Cerruti starb am 15. Januar in noch mehr gewesen, wenn er die
kraftaktivist noch einmal Höhen und Tiefen: Drei Vercelli, Piemont. IPP WM 1974 in der Bundesrepublik
AKW wurden in Deutschland abgeschaltet. In nicht wegen einer Gelbsucht
seiner letzten Pressemitteilung warf Jochen Stay ­verpasst hätte. Die olympische
der Bundesregierung vor, die Entscheidung der Gold­medaille 1976 in Montreal,
Nina Lueth / laif

EU zur Nachhaltigkeit der Kernkraft nicht ver­ als die DDR im Endspiel Polen
hindert zu haben. Der Gründer der Organisation ­besiegte, entschädigte ihn. Nach
».ausgestrahlt« begann in der Friedensbewegung der Wende versuchte sich Dör­
mit gewaltfreien Blockaden der Pershing­depots ner als Trainer, unter anderem
in Mutlangen. Zur Antiatomkraftbewegung stieß er durch die Pro­ bei Werder Bremen. Der Erfolg,
teste gegen die geplante Wiederaufbereitungsanlage in Wackers­ der ihn als Spieler stets begleitet
dorf. Die wohl größte von ihm initiierte Aktion war 2010 eine Men­ hatte, blieb ihm dabei allerdings
Clemens Niehaus / Geisler / ddp

schenkette zwischen den AKW Krümmel und Brunsbüttel mit rund versagt. So kehrte er am Ende
120 000 Menschen. Der Protest richtete sich gegen die Laufzeit­ zu seinem Herzensklub Dynamo
verlängerung. Nach der Katastrophe von Fukushima 2011 revidier­ Dresden zurück, dem er ab 2013
te Angela Merkel den Beschluss. Für Stay war dies ein Triumph, als Aufsichtsrat diente. Dixie
genauso wie die Aufgabe der Pläne für das Endlager in Gorleben. Dörner starb nach langer Krank­
­Jochen Stay starb am 15. Januar in der Nähe von Buchholz in der heit in der Nacht zum 19. Januar
Nordheide plötzlich an den Folgen eines Herzleidens. GT in Dresden. AHA

Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 125

PERSONALIEN

Mutti Hilton?
Streamingdienste sind unersätt­
lich, unablässig kommt Neues,
alles wird gesendet, gern in
Fortsetzungen ohne Ende. Da
ist es bemerkenswert, wenn
eine Serie trotz prominenter
Hauptfigur nach nur sechs Fol­
gen abgesetzt wird. So gesche­
hen jetzt mit der Kochshow
»Cooking with Paris« auf Net­
flix, in der die Multimillionärin
Paris Hilton, 40, als hoffnungs­
los talentfreie Köchin auftrat.
Gründe werden nicht genannt,
warum die Welt fortan auf
­Hilton am Herd in fingerlosen
Spitzenhandschuhen und tief
dekolletierten Outfits verzich­
ten soll. Allerdings war nie ganz
klar, was in Sachen Kulinarik
überhaupt zu erwarten war,
­zumal Hilton den Eindruck er­
weckte, nicht zu wissen, was
Schnittlauch ist. Vielleicht ist
das ein Grund für das schnelle
Ende: Kein Zuschauer konnte
sagen, was das alles soll. Hilton
hatte verkündet, sie habe die
Kochshow übernommen, weil
sie bald Mutter werden wolle.
Da müsse sie halt lernen, wie
man Frühstück macht. Den Zu­
schauern reichte das wohl nicht.
Die Möglichkeit, dass Hilton
selbst die Zusammenarbeit be­
endet haben könnte, wird bisher
nicht diskutiert. Dabei hatte sie

ddp socialmediaser vice

in jüngerer ­Vergangenheit wirk­
lich keine Zeit, sich um Suppen­
töpfe zu kümmern. Sie war
sieben ­Wochen lang auf Hoch­
zeitsreise rund um die Welt. KS

Gelassen zum Ziel
Nach Jahrzehnten als erfolg­
reicher Bassbariton kann der
Brite Willard White, 75, seinem
Repertoire noch eine neue
Rolle hinzufügen: Er singt den
Grafen Monterone in Verdis
­berühmter Oper »Rigoletto«. ­
Die Inszenierung hat dieses
Wochenende in Leeds Premiere.
JB Millot
den Part, damals als Zweitbeset­
zung an der English National
Opera in London, die die
Geschichte in die New Yorker
Mafiawelt der Fünfzigerjahre
verlegte. Der in Jamaika gebore­
ne White bekam das Engage­
ment dann doch nicht, weil der
Regisseur fand, dass ein
Schwarzer nicht in die italie­
nisch-amerikanische Unterwelt
Ritter geschlagene Sänger sagte
dem »Telegraph« jetzt, er sei
damals ­gelassen geblieben:
»Wenn jemand meine Haut­farbe
ablehnt, dann tut er das.«
Opernfans können froh sein,
dass White überhaupt zu seinem
Beruf fand. Nie habe er Sänger
werden wollen, sagte er dem
»Telegraph«, er fand das sei etwas
für Mädchen. Lange habe er ge­

Vor 40 Jahren war White schon passe. Der 2004 für seine glaubt: »Kein echter Mann geht
einmal in der engeren Wahl für Verdienste um die Musik zum auf eine Bühne und singt.« KS

126 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022

Komplizierte Lage
Ohne sie wäre das Leben von
Rupert Grint, 33, völlig anders
verlaufen. Denn J. K. Rowling
schrieb die »Harry Potter«-­
Romane, und die Filme dazu
machten Grint zu dem, der er
heute ist. Er spielte achtmal
Ron Weasley, den besten
Freund des Titelhelden, zum
ersten Mal mit nur zwölf Jah­
ren, er verbrachte seine Puber­
tät auf dem Filmset. Grint
wurde berühmt, später hatte er
eine Zeit lang Mühe, sich in der
Welt außerhalb von Hogwarts
zurechtzufinden. Seit knapp
20 Monaten ist Grint nun glück­
licher Vater einer Tochter.
wie er jetzt in der »Times« Lob den Vätern
schrieb. Es falle ihm sehr
schwer, sich von der Figur des Die Schauspielerin Jessica
Ron zu lösen, er sei »verschmol­ ­Chastain, 44, vertritt die Mei­
zen« mit ihr. Auch der Autorin nung, dass die Rolle des Man­
fühlt er sich offenbar noch ver­ nes in Erziehungsfragen bei der
bunden, er vergleicht sie mit gesellschaftlichen Debatte ver­
einer Tante. Und fügt ein­ nachlässigt wird. »Ich glaube
schränkend hinzu: »Ich stimme nicht, dass wir Väter so wert­
nicht notwendigerweise mit schätzen, wie wir sollten«, sagte
­allem überein, was mein Tant­ Chastain der »Sunday Times«.
chen sagt. Aber sie bleibt mein Es sei hart, das als Frau zu sa­
Tantchen. Es ist kompliziert.« gen, aber die Beziehung eines
Grint spielt offensichtlich auf Kindes zum Vater sei genauso
Äußerungen von Rowling wichtig wie die zur Mutter.
an, die in der Transszene immer Umgekehrt müssten Männer
wieder für Unmut sorgten. verinnerlichen, dass die Rolle
Rowling verlieh ihrer Unter­ der Frau im Arbeitsleben gleich­
stützung für die LGBTQ-Szene wertig sei. Auf der Grundlage
schon oft Ausdruck, aber ihr dieser Erkenntnisse, so glaubt

Doch sein Leben misst er immer
noch in »Harry Potter«-Filmen,
SGP / BESTIMAGE
wurde auch wiederholt Trans­ Chastain, »können wir gesün­
feindlichkeit vorgeworfen. KS dere und glücklichere Menschen
werden«. Das Thema Gleich­
berechtigung beschäftigt die
vielfach ausgezeichnete Künst­ die Vereinbarkeit von Familie
lerin schon länger. Die Film­ und Beruf, seit sie Kinder hat.
branche weist da Defizite auf, Schon davor hatte sie einen
die Bezahlung von Frauen und Kollegen beobachtet, der sehr
Männern unterscheidet sich darunter litt, wegen langer
zum Teil erheblich. Chastain Arbeitstage seine Kinder selten
Andrew Crowley / CAMERA PRESS / laif

gründete 2016 ihre eigene Pro­
duktionsfirma, um dem etwas
entgegenzusetzen. Bei ihrem
aktuellen Film »The 355« sind
alle Hauptdarstellerinnen
gleichermaßen am finanziellen
Erfolg beteiligt. Chastain macht
sich nicht erst Gedanken über
zu sehen. Dass das nicht sein
müsse, habe sie schon damals
gefunden, so Chastain im Inter­
view. Beim Dreh von »The 355«
stand nun ein Wohnwagen aus­
schließlich zur Kinderbetreuung
zur Verfügung – eine ziemliche
Ausnahme in der Filmwelt. KS

Ein Hut für Noch bis zum 25. Januar kann

250 000 Dollar
Während ihrer Zeit als First
Lady fiel Melania Trump, 51,
nicht gerade durch eigene Bei­
träge auf. Jetzt hatte sie eine
Idee: Sie startete auf ihrer per­
sönlichen Website eine Auktion.
Im Angebot befindet sich jener
breitkrempige, weiße Hut, den
sie 2018 beim Staatsbesuch von
Frankreichs Präsident Emma­
nuel Macron und seiner Frau
Brigitte trug und der ihr
Gesicht kunstvoll verschattete.
»Getragen und signiert von
geboten werden, gezahlt werden
soll in der Kryptowährung Sola­
na. Während andere First Ladys
ihre Zeit im Weißen Haus in
Biografien Revue passieren lie­
ßen, hat Trump offensichtlich
vor, aus den Reliquien dieser
Jahre Kapital zu schlagen und
löst damit wieder mal einigen
Spott aus. Trotzdem könnte
noch manches folgen, zum Bei­
spiel der Parka mit der Auf­
schrift »I really don’t care, do u«,
den sie beim Besuch von Kin­
dern in einem Flüchtlingslager
trug, die nahe der mexikani­
Ron Sachs / ZUMA Press / Alamy / mauritius images

Melania Trump« wird auf der
Website verkündet; dazu gibt’s
eine Aquarellzeichnung ihres
Gesichts mit ebendiesem Hut
und ein NFT – ein digitales
Kunstwerk – desselben Motivs.
Das dreiteilige Arrangement
trägt den markigen Titel »Head
of State Collection«, als Start­
preis wird die Kleinigkeit
von 250 000 Dollar aufgerufen.
schen Grenze getrennt von ihren
Eltern lebten. Ein Teil der
Auktionserlöse soll an Melanias
Stiftung »Be Best« gehen und
Pflegekindern den Zugang zu In­
formatik- und Technologieunter­
richt ermöglichen, heißt es auf
der Website. Auf Nachfrage von
»New York Times« und CNN
äußerte sie sich allerdings nicht
zu der Höhe dieses Anteils. CLV

Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 127

BRIEFE
Gut gemalt, aber
empörend
Nr. 3/2022  Titel: Ein Quantum Angst
Mit Karl Lauterbach, die Spritze
in der Hand, sowie der Titelzeile
»Ein Quantum Angst« betreiben
Sie, sicherlich ungewollt, das
Geschäft der »Querdenker«. Im
Biathlon wäre nun mindestens
eine Strafrunde fällig. Mit einem
optimistisch dreinblickenden
Bundesgesundheitsminister so-
wie dem Titel »Ein Quantum
Zuversicht« hätte man vielleicht
für einige der Skeptiker den
Anreiz gesetzt, sich nun doch
impfen zu lassen.
Bernd Knauff, Neukirchen (Hessen)
»Ein Quantum Angst« mit einem
gut gemalten, aber empörenden
Bild von Karl Lauterbach – nein,
das finde ich kein bisschen witzig.
Sie sind doch die Angstma-
cher:innen! Beim Betrachten
Ihrer Titelillustration erkennt
man an einer eigentlich neben-
sächlich wirkenden Kleinigkeit
die, wie ich finde, üble Methode:
Die gezeigte »Impfspritze« ist
nicht nur mit einer offensichtlich
unbrauchbaren Kanüle versehen,
diese Kanüle ist zusätzlich viel
dicker als die zum Impfen tat-
sächlich benutzten. Als Impfärz-
tin weiß ich, dass die meisten Ge-
impften kaum etwas von der
Punktion spüren. Sie wissen
wahrscheinlich gar nicht, wie vie-
le Menschen tatsächlich schlimme
128 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
Angst vor Spritzen haben, und
wie Sie diese verstärken. In einer
nach wie vor Menschenleben ge-
fährdenden Pandemie finde ich
so ein Titelbild, das die übelsten
Vorurteile aufnimmt, unglaub-
lich. Ich finde, Sie sollten sich bei
Herrn Lauterbach entschuldigen.
Sabine Knauf, Berlin
Den Impfgegnern sollte man ein-
mal klarmachen, dass sie es der
Vernunft ihrer Vorfahren verdan-
ken, dass sie, ihre Kinder, Enkel
und Freunde von Pocken, Polio,
Masern, Grippe und Keuchhusten
verschont wurden.
Katja Mackens-Hassler, Hamburg
Es gibt ja sicherlich viel Pro und
Contra zum Thema Impfpflicht.
Zumindest sollten sich die, die
das Recht auf körperliche Unver-
sehrtheit wie eine Monstranz vor
sich hertragen, bewusst machen,
dass ihre Mitmenschen ebenfalls
ein Recht auf körperliche Unver-
sehrtheit haben, nämlich darauf,
nicht von Covid-durchsetzten
Aerosolwolken nicht maskentra-
gender Impfgegner behelligt und
gefährdet zu werden.
Heinz Essling, Bodenheim (Rhld.-Pf.)
Gerne auch
respektlos
Nr. 1/2022  Die Geschichten hinter
den Geschichten: Politiker kritisieren,
ohne destruktiv zu sein
Für »Die Geschichten hinter den
Geschichten – der besondere
Rückblick« bin ich Ihnen sehr
dankbar, lassen sie mich als Leser
doch ein wenig an den emotiona-
len Aspekten im Zuge der Ent-
stehung eines Beitrags teilneh-
men, die dem Beitrag selbst dann
normalerweise nicht mehr anzu-
merken sind. Ich würde mich
freuen, wenn diese Rubrik bei-
behalten werden könnte.
Dr. Reinhard Till, Backnang (Bad.-Württ.)
Die »Nachlese« im SPIEGEL ist
fast noch interessanter als die ur-
sprünglichen Berichte. Ihre Sorg-
falt und Ihr übermenschliches
Bemühen um Wahrheit beeindru-
cken mich. Dieser Einblick in das
Innenleben eines Journalisten ist
so was von wichtig. Journalisten,
wie Sie es sind, vertraue ich.
Peter Wolter, Leonberg (Bad.-Württ.)
Ich habe nichts dagegen, wenn
Sie und Ihre Kolleginnen und
Kollegen über die Schärfe der
einen oder anderen Formulierung
noch einmal nachdenken, bevor
Sie sie verwenden. Aber auf gar
keinen Fall möchte ich, dass Sie
aus falsch verstandener Rück-
sichtnahme vor deutlicher Kritik
an unseren Politikerinnen und
Politikern zurückschrecken! Die
Frage des von Martin Knobbe er-
wähnten Lesers: »Wen sollen wir
denn dann wählen?« beweist
doch zur Genüge, dass die Perso-
nen, die angetreten sind, Deutsch-
land zu regieren, allenfalls be-
dingt für diese Aufgabe geeignet
sind. Und gerade deshalb ist es so
wichtig, diesen Missstand als sol-
chen zu bezeichnen. Genau dafür
ist eine engagierte Presse und hier
insbesondere der SPI EGEL in
einer Demokratie da! Sie erfüllen
damit eine wichtige Funktion in
einer freien Gesellschaft. Scharfe
Kritik an Personen des öffent­
lichen Lebens hat mit »Nieder-
schreiben« nicht das Geringste zu
tun. Bitte, bitte bewahren Sie im-
mer eine kritische und gerne auch
»respektlose« Haltung gegenüber
den Mächtigen.
Uwe Protsch, Frankfurt am Main
Kritisch, nicht destruktiv wün-
sche ich mir den SPIEGEL und
möchte Martin Knobbe beipflich-
ten. Schon meine Mutter sagte
meinem Bruder in den Fünfziger-
jahren, das SPIEGEL -Lesen wür-
de ihn pessimistisch machen.
Manchmal finde ich die Themen
so frustrierend, dass ich das Heft
von hinten zu lesen beginne, in
der Hoffnung, etwas Erbauliches
zu finden.
Sigrid Hirsch, Düsseldorf
Mit großer Verwunderung las ich
den Beitrag von Maik Großekat-
höfer mit dem Titel »Warum ich
Müller für ein Opfer halte«. Frü-
her zählte es zu den Qualitäts-
standards, einen Menschen erst
dann als schuldig zu bezeichnen,
wenn er verurteilt war. Das Glei-
che gilt meines Erachtens auch,
wenn ein Mann unschuldig ist,
nämlich dann, wenn er freige-
sprochen wurde. Ein Medium,
auch nicht der große, von mir
sehr geschätzte, ist kein Gericht.
Herr Großekathöfer soll natürlich
alle relevanten Details recher-
chieren und darstellen, aber das
Urteil gehört meiner Meinung
nach in die Judikative. Auch ein
medial-öffentliches Urteil ist ein
Urteil.
Marion Aberle, Leiterin des Fachbereichs
Kultur und Kommunikation Deutsche
Unesco-Kommission e. V., Bonn
Ein Riss im Herzen
Nr. 2/2022  Trauer: Wie es sich
anfühlt, mit einem Alzheimerpatienten
zusammenzuleben
Kompliment für das wirklich be-
eindruckende Jubiläumsheft. Vie-
le, viele spannende Artikel. Doch
keiner hat mich so berührt wie
der über die prämortale Trauer.
Auch wenn es früher mein For-
schungsgebiet war, habe ich noch
nie einen derart komprimierten,
analytischen, fühlenden, präzi-
sen, gnadenlosen, liebenden, Au-
gen öffnenden Text einer pflegen-
den Angehörigen lesen dürfen.
Der Autorin schicke ich großen
Dank, mein Mitgefühl und meine
Solidarität.
Dr. Birgit Jansen, Kassel
Der Text hat mich beeindruckt
durch seine Direktheit, seine Ehr-
lichkeit und seine Authentizität.
Nicht wenige Angehörige, zu-
meist Frauen, sehen sich einer
solchen Situation gegenüber. In
Zukunft wird – auch mit der stei-
genden Lebenserwartung – die
Zahl der an Demenz erkrankten
Menschen steigen. Die Politik
drückt sich um Entscheidungen,
die Justiz meidet heiße Eisen wie
die Sterbehilfe, die Gesellschaft
verdrängt Themen wie Gebrech-
lichkeit oder Hilflosigkeit, die
Forschung hat prämortale Trauer
kaum auf dem Schirm. Ansatz-
punkte sehe ich darin, dass Tod
und Sterben kein Tabu mehr blei-
ben und Betroffenen (erkrankten
Menschen, aber auch ihrem Um-
feld) mehr Hilfestellung und weit-
reichende Selbstbestimmung zu-
erkannt werden.
Karin Unkrig, München

Und wieder deckt der
SPIEGEL Missstände
bei der Bundeswehr
auf, die zu dem Fazit
»bedingt abwehrbe­
reit« führen könnten.
Bleibt nur zu hoffen,
dass die Reaktion auf
der Hardthöhe sowie
im Kanzleramt mode­
rater ausfallen wird
als im Jahr 1962.
Christian Reineck, Berlin
Nr. 2/2022  Tropfende Raketen
beschäftigen die Bundeswehr
seit Jahren
Es ist gut, dass Frau S. es wagt
auszusprechen, was ist, und es ist
mutig vom SPIEGEL , dass er die-
se klare Überschrift für die ein-
drucksvolle Schilderung des All-
tags mit einem dementen Men-
schen zu Hause gewählt hat. Frau
S. leistet physisch und psychisch
Übermenschliches – wie Tausen-
de andere Angehörige bei der
Pflege ihrer Verwandten. Sie er-
lebt täglich neue Schrecklichkei-
ten. Vermutlich treffen Leserbrie-
fe mit den üblichen guten Rat-
schlägen ein, wie man mit viel
Liebe, Zuwendung, dem An-
schauen alter Fotoalben, dem Sin-
gen von Kinderliedchen und vor
allem einer geduldigen 24-Stun-
den-Präsenz das Leben eines de-
menten Menschen lebenswert
gestaltet und obendrein noch
wertvolle eigene Einsichten von
Sinnhaftigkeit erfährt. Dazu hät-
te ich nur eine Frage (aus eigenem
Erleben bei der Pflege einer ent-
KORREKTUREN
Zu »Der Fluch des Anfangs« in
Heft 2/2022, Seite 102: Amy Klo-
buchar ist Senatorin von Minne-
sota, nicht von Wisconsin.
Zu »Präsident von Europa« in
Heft 2/2022, Seite 30: Am 9. No-
vember jährt sich natürlich der Fall
der Berliner Mauer, nicht ihr Bau.
Zu »Immer hieß es, ihr seid
von vorgestern. Aber wir sind
immer noch da« in Heft 3/2022,
Seite 118: Die Scorpions haben
ihre Ballade »Wind of Change«
erst im Jahr nach dem Fall der
Mauer veröffentlicht, Ende 1990.
Ihre Klatschseiten:
diesmal besonders
blöd. Cher wird bos­
haft durch den Kakao
gezogen und als ihr
eigener Avatar darge­
stellt mit ihrer unka­
puttbaren Künstlich­
keit. Anscheinend ist
nichts wichtiger als
die Hülle der Frauen.
Sylvia Dürr,
Innsbruck (Österreich)
Nr. 2/2022  Cher – für immer
ein Mädchen
fernteren Verwandten): was tun
und was denken, wenn da eine
demente, ehemals kluge, gebilde-
te und fröhliche Frau in ihrem
Zimmer sitzt, nur noch aus Angst
und Wut zu bestehen scheint, sich
die Haare und den Tisch mit den
eigenen Exkrementen beschmiert
hat und ihre Tochter und mich,
die verzweifelt versuchen, Ord-
nung zu schaffen, als Drecksäue
und Hurenweiber beschimpft?
Name und Wohnort der Redaktion
bekannt
Schonungslos ehrlich, und des-
halb so berührend. Alles, was
einen Menschen ausmacht, den
man einmal geliebt hat, ist aus-
gelöscht – sein Charme, sein Cha-
risma, sein Humor, seine Her-
zenswärme, seine Vitalität, sein
Interesse am Weltgeschehen, sei-
ne Empathie … Die »prämortale
Trauer« gilt einem Zombie:
einem Menschen, der nicht mehr
lebt, sondern nur noch existiert.
Fee Zschocke, Hamburg
Das ist das Beste, was ich je zu
diesem Thema gelesen habe (und
das ist nicht wenig). Der Text
trifft hundertprozentig auf mich
zu. Auch ich habe diese Gedan-
ken und schäme mich dafür, halte
mich für eine Egoistin. Wie bei
dem Mann des Artikels sind die
vitalen Werte meines Mannes
noch super. Die Pflege und Ver-
antwortung für seine Gesund­
heit  habe ich zwar abgegeben,
und ich muss auch zugeben, das
macht es mir etwas leichter.
Trotzdem bleibt noch ein Riss im
Die Innenschau eini­
ger Ihrer Journalisten
hat mich stark be­
rührt: Das Reflektie­
ren, Nachspüren und
kritische Hinter­
fragen ahnt man als
Leser – die persön­
liche Auseinanderset­
zung nach Veröffent­
lichung lässt einen
den SPIEGEL noch
mehr wertschätzen.
Jutta Korn, Hamburg
Nr. 1/2022  Die Geschichten
hinter den Geschichten
Herzen und der berühmte Kloß
im Hals.
Name und Wohnort der Redaktion
bekannt
Die Lektüre hat mich total auf-
gewühlt. Mein Mann hatte erste
Anzeichen von Demenz im Som-
mer 2017. Ein Schlaganfall im
Juli 2019 hat diese Entwicklung
beschleunigt, hinzu kam eine
Schwerbehinderung. Jetzt, da ich
diesen Brief schreibe, bereite ich
mich auf seine Beerdigung in ein
paar Tagen vor, denn er ist nach
einem schweren Schlaganfall mit
73 Jahren verstorben. Was mich
die letzten Jahre gelehrt haben:
Trotz der ständig steigenden Zahl
von Demenzerkrankungen sind
viele Menschen nicht willens,
nicht in der Lage, zu unsicher, zu
feige, zu bequem, sich mit dieser
Krankheit auseinanderzusetzen.
Wir hatten einen großen Freun-
deskreis, immer ein offenes Haus,
mein Mann war Lehrer, in der
GEW und Kommunalpolitik ak-
tiv. Nur sehr, sehr wenige haben
den Kontakt aufrechterhalten,
und das lag nicht primär an Coro­
na. Natürlich war mein Mann
nicht mehr der, den sie gekannt
hatten, er – früher immer streit-
bar – hat kaum noch gesprochen,
die Diskussionen über Politik,
Philosophie, Literatur, Kunst gab
es nicht mehr. Aber er hat immer
erkennen lassen, dass er sich über
Besuche gefreut hat, zumal er bis
zuletzt alle Personen erkannt hat.
Deshalb war er ein dankbares
»Übungsobjekt« für den Umgang
mit dieser schwierigen Krankheit,
und es hat mich mehr als zwei Jah-
re lang immer wieder sehr traurig
und oft auch frustriert und wütend
gestimmt, wie wenige Freunde
und Bekannte diese Chance ge-
nutzt haben. Dabei könnte es
manchmal ganz einfach sein: ein
kleiner Spaziergang, Kaffee und
Kuchen auf der Terrasse, ein Sau-
nagang in unserem Haus mit dem
treuen Schulfreund … »Es wird
nicht besser, es wird jeden Monat
schlimmer.« – einer von vielen
Sätzen der Autorin, die ich nur zu
gut nachempfinden kann. Ich ma-
che keinen Hehl daraus, dass ich
mit einigen Tagen Abstand über
den Tod meines Mannes erleich-
tert bin, »Einfach. Weil. Man.
Nicht. Mehr. Kann.« Ich fühle
mich der Autorin tief verbunden.
Name und Wohnort der Redaktion
bekannt
Sie dürfen Ihrem Mann den Tod
wünschen. Sie dürfen auch um
Ihren geliebten Mann jetzt schon
trauern, denn das, was ihn als
Menschen ausgemacht hat, ist ja
gestorben. Wer Ihnen rät, sich
Zeit für sich zu nehmen, kennt
Demenz im fortgeschrittenen Sta-
dium nicht. Haben Sie den Mut,
Ihren Mann ins Heim zu geben,
wenn das finanzierbar und für
Sie und Ihr Kind das Richtige ist.
Versuchen Sie dann, dabei kein
schlechtes Gewissen zu haben.
Ich habe einen Bekannten (82),
der seine ebenfalls an Alzheimer
erkrankte Frau erst nach etlichen
Jahren ins Heim gegeben hat, als
er merkte, dass er die psychische
Belastung nicht mehr erträgt, und
der das Gefühl hatte, dass sie sich
im Heim eher wohler und gebor-
gener fühlte als in der scheinbar
fremden Wohnung mit dem
scheinbar fremden Mann, der sie
duschen und anziehen wollte.
Nicola Schneider, Hamburg
Gut, das Sie es sich von der Seele
geschrieben haben. Es hilft mir
sehr. Ohne »Kleinkind«, aber mit
der eigenen zusätzlichen Alters-
belastung – jetzt 80 Jahre alt. Es
war dieser Satz: »Genießt die
Zeit, die euch noch bleibt.« Das
bohrt, auch wissend, dass es Hilf-
losigkeit ausdrückt.
Name und Wohnort der Redaktion
bekannt
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Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
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Nr. 4 / 22.1.2022 DER SPIEGEL 129
HOHLSPIEGEL
Angebot zur Haarentfernung in einem
Kosmetikstudio in Garmisch-Partenkirchen
Welt.de über die Coronainfektion des
Fußball-Nationalspielers Timo Werner:
»Schwierig sei gewesen, ›zehn Tage gar
nichts zu machen: Bei mir war eher das
Hauptproblem, dass ich beim Treppen-
steigen ziemlich schnaufen musste, was
für einen Fußball ungewöhnlich war‹,
sagte Werner.«
In einem Migros-Supermarkt in Herblingen
(Schweiz)
Von Merkur.de: »Vor allem dauerhaft
müssen Schuhe laut Mietrecht vor der
Wohnungstür nicht gedudelt werden.«
Wetterprognose aus der »Braunschweiger
Zeitung«
Pcwelt.de über Phishing im Internet:
»Auf dieser verlinkten Webseite sollen die
Empfänger Zahlungsdaten wie Kredit-
kartennummern eingeben. Diese landen
dann in den Hemden der Cybergangster.«
Auslage in einem Geschäft in Ahlbeck
(Meckl.-Vorp.)
Aus dem »Hamburger Abendblatt«:
»›Nie Spitz auf Knopf rechnen‹, warnt
Verbraucherschützer Stecher. Außerdem
empfiehlt er, sich für die gewünschte
Immobilie mehr aufzuhalsen, als man
wirklich abzahlen kann.«
130 DER SPIEGEL Nr. 4 / 22.1.2022
R Ü C KS P I E G E L
Zitate
Die »Augsburger Allgemeine« berichtet
über die SPIEGEL -Recherche zum
designierten CDU-Generalsekretär
Mario Czaja (»Die fragwürdigen
Geschäfte des Mario Czaja«, Nr. 3/2022):
Das Nachrichten-Magazin SPIEGEL berich-
tete gerade über angeblich »fragwürdige Ge-
schäfte« Czajas. Er unterschrieb demnach
2017, drei Monate nach der für die CDU ver-
lorenen Abgeordnetenhauswahl, als Ge-
schäftsführer bei der Brückenköpfe GmbH.
Das Unternehmen betreut Neugründungen
im Gesundheitswesen und Czaja soll dort
seine Kontakte versilbert haben. Kurz vor
dem Parteitag wärmt der Bericht auch eine
alte Geschichte von Czajas in Deutschland
nicht anerkanntem Schweizer Diplom-Ab-
schluss auf. Wie viel davon an ihm hängen
bleibt, wird sich weisen. Bei seinen Partei-
freunden hat Czaja die Story offenbar nicht
geschadet, zumindest zeigen das viele Re-
aktionen.
Das »Handelsblatt« kommentiert die
Start in den SPIEGEL -Recherche zu den fragwürdigen
Corona-Boni bei den Grünen (»Staats-
zufriedenen anwaltschaft ermittelt gegen kompletten
Bundesvorstand der Grünen«, SPIEGEL+
Alltag am 19. Januar):
Beziehungskrisen lösen Die Sonderzahlung fiel in eine Zeit, in der
Pflegekräfte und Ärzte Übermenschliches
Genussvoll essen leisteten. Die Politiker und auch ihre Mit-
Finanzen planen arbeiter gehörten dagegen zu den eher Privi-
legierten in der Coronakrise. Dieser Vorgang
Ängste meistern fiel den Grünen dann im Bundestagswahl-
Schmerzen annehmen kampf auf die Füße. Sie entschuldigten sich
dafür, zahlten den Bonus zurück und ver-
Widerstandskraft stärken sprachen für die Zukunft Transparenz. Doch
für Letzteres haben sie nicht gesorgt. Erst
Recherchen des SPIEGEL haben dazu geführt,
dass die Öffentlichkeit von den Ermittlungen
der Staatsanwaltschaft in dieser Causa erfuhr.
Die Grünen, die bei Verfehlungen anderer
gern zur Moralisierung neigen, verhielten sich
mal wieder wie Politiker aller Parteien. Es gilt
die Salamitaktik – nur zugeben, was ohnehin
bekannt ist.
»Zeit Online« schreibt über den
Jetzt Generationenkonflikt bei der Linken
(»Aufstand aus Ruinen«, Nr. 3/2022):
im Handel So zitierte der SPIEGEL am Wochenende aus
einem Aufruf des Ältestenrats der Partei.
»Haltung und Erkenntnisse vorangegangener
Generationen von Sozialisten und Kommu-
nisten« seien für die heutige Linke keine
»Richtschnur des Handelns« mehr, stellte die-
ser bitter fest: Die Linke ist den Altvorderen
offenbar nicht mehr sozialistisch genug …
Und das Mitglied der Kommunistischen Platt-
form, Johanna Scheringer-Wright, zitiert der
SPIEGEL mit dem Satz »Susanne ist unfähig,
eine sozialistische Partei zu führen«.
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