Sie sind auf Seite 1von 115

BeNeLux €  7,50 Finnland €  9,50 Griechenland €  7,90 Kroatien € 9,10 / KN 68,56 Österreich €  7,10 Schweiz sfr  9,40 Slowenien €  7,50

ch €  7,10 Schweiz sfr  9,40 Slowenien €  7,50 Spanien / Kanaren €   8,00 Ungarn Ft 3790,-


Dänemark dkr 69,95 Frankreich €  7,70 Italien €  8,20 Norwegen NOK  125,– Portugal (cont) €  7,50 Slowakei €  7,70 Spanien €  7,70 Tschechien Kc 229,- Printed in Germany

ÖSTERREICH

Einfach unter
Weniger Arbeit

die Erde damit?


KLIMAKILLER CO 2
fürs gleiche Geld?
VIER-TAGE-WOCHE

alles ausgelöst hat


Was die Ibiza-Affäre

Das unheimliche Schattenreich von


Söldnerführer Prigoschin und der Wagner-Truppe
Nr. 20 | 13.5.2023
DEUTSCHLAND € 6,40
HAUSMITTEILUNG

Titel | Seiten 42, 49, 52

Dmitr y Serebr yakov / DER SPIEGEL


Spätestens seit Jewgenij Prigoschin mit seiner »Gruppe
Wagner« im ukrainischen Bachmut Tausende Menschen für
ein paar Quadratkilometer Landgewinn opferte, gilt der
russische Söldnerführer als Schlüsselfigur im Regime von
Wladimir Putin. Prigoschin sei der Mann fürs Schmutzige,
heißt es in der Titelgeschichte, für die ein Team um
­ PIEGEL -Reporter Christian Esch monatelang recherchiert
S
hat. Esch sprach mit vier ehemaligen Wagner-Kämp­fern,
die von der ukrainischen Armee gefangen genommen wurden. Darf man mit Kriegsgefangenen spre-
chen? »Es war eine Abwägung: Als Kriegsgefangene können sie sich nicht frei äußern, gleichzeitig
können nur sie Einblicke in die Gruppe geben«, sagt er. »Wir nennen deshalb ihre echten Namen
nicht und zeigen auch nicht ihre Gesichter.« Russlandkorrespondentin Christina Hebel wiederum
­besuchte mehrere Friedhöfe im Süden Russlands, einer davon ist ein eigener Friedhof der Söldner-
truppe. Dort zählte sie mehr als 600 Grabstellen, darauf Kränze im Stil des Wagner-Logos mit
schwarzen, gelben und roten Plastikblumen. Auf dem Friedhof liegen vor allem Kämpfer, die Prigo-
schin aus Strafkolonien in die Truppe holte – darunter ein junger Mann aus dem Gebiet Wolgograd,
der wegen wiederholten Diebstahls verurteilt worden war, wie seine Tante dem SPIEGEL erzählte.

Uiguren  | Seite 82

Noch im vergangenen Jahr war es für Journalistinnen und


Journalisten nahezu unmöglich, in Xinjiang zu recherchie-
Gilles Sabrié / DER SPIEGEL

ren. Weite Teile der Region im Westen Chinas, in der die


unterdrückten muslimischen Uiguren leben, waren durch
einen monatelangen Lockdown gesperrt. Nach dem Ende
von Pekings Null-Covid-Politik gehörte SPIEGEL -Kor­
Haarverlust?
respondent Georg Fahrion zu den Ersten, die sich dort wie-
der umschauen konnten – ständig beobachtet von der chi-
nesischen Staatsmacht. Als Fahrion sich einem mutmaßlichen Zwangsarbeitslager näherte, folgte
Jetzt spürbar
ihm ein Mann in weißen Sneakers und Trainingsanzug über einen matschigen Acker. »Er hatte
sich mit einer Schaufel nur mäßig überzeugend als Reisbauer getarnt«, sagt Fahrion, der die
reduzieren!
­Atmosphäre trotz der Überwachung weniger bedrückend fand als bei seiner letzten Recherche
vor zwei Jahren. Immer wieder hätten sich Uiguren getraut, ihn anzusprechen. Sein Eindruck: Mit Koffein, Ginkgo und dem
»Die Repressionen halten nach wie vor an, sind aber viel weniger sichtbar.« gesunden pH-Wert 5,5
Klima  I Seite 96
Christopher Lund / DER SPIEGEL

ANTI-HAARVERLUST1 SHAMPOO
NHE-Pflegeformel regt die Durch-
Kohlendioxid ist Gift für das Klima – zumindest in der Menge, die
wir Menschen produzieren. Jetzt suchen Firmen nach technischen blutung in der Kopfhaut an
Lösungen, um das Gas unter Tage und unter dem Meeresgrund end- aktiviert die Haarwurzel
zulagern. »Es wird nicht reichen, einfach weniger CO2 aus Schorn- 90 % der Frauen und Männer
steinen und Auspuffen zu blasen, um die Klimakrise zu meistern«,
bestätigen: dichteres Haar²
sagt SPIEGEL -Redakteur Claus Hecking (l.), der gemeinsam mit fünf
Kolleginnen und Kollegen in Deutschland, Norwegen und Island recherchiert hat, welche Chan- 1 erblich bedingt
cen und Risiken die Verfahren mit sich bringen. Hecking besuchte den isländischen »Orca«, die 2 Klinisch-dermatologische Anwendungsstudie an
40 Männer und Frauen mit erblich bedingtem
größte CO2-Filteranlage der Welt. Das Team gehört zum »Climate Desk« des SPIEGEL , an dem Haarausfall über 6 Monate; Prof. P. Arenberger,
Redakteurinnen und Redakteure aus allen Fachgebieten beteiligt sind. »Das Megathema Klima- Hautklinik, 3. Med. Fak. Karls-Univ. Prag 2009

wandel ist zu groß und komplex für ein einzelnes Ressort«, sagt Redakteur Kurt Stukenberg, der
zusammen mit seinem Kollegen Oliver Trenkamp die Berichterstattung koordiniert.
sebamed Produkte sind in über 120 Studien
SPIEGEL GESCHICHTE dermatologisch-klinisch getestet.
In Apotheken und Drogeriefachabteilungen.
Wer im Mittelalter anders dachte als die Vertreter der Kirche, lief Gefahr, als Ket-
zer verfolgt und verbrannt zu werden. Auch in der Neuzeit bekämpfte die Kirche
Abtrünnige mit aller Macht. Die neue Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE er-
zählt von der langen Ära religiöser Intoleranz – und von dem späten Mea culpa
des Vatikans, der erst im Jahr 2000 um Vergebung für die »Verirrungen der Ver-
gangenheit« bat. SPIEGEL GESCHICHTE ist ab Dienstag im Handel erhältlich.
SEBAMED NIMMT IHRE
Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 3 HAUT IN SCHUTZ
INHALT TITEL

42 | Russland  Wie Söldner­


führer Prigoschin mit seiner
­Wagner-Truppe für Putin
DER SPIEGEL 77. Jahrgang | Heft 20 | 13.5.2023
­Tausende in den Tod schickte

49 | Die Wagner-Gruppe sollte


zu Kriegs­beginn ausgebootet
werden

52 | Militärstrategie  Welche
Chancen hat die ukrainische
Gegenoffensive?

DEUTSCHLAND

8 | Leitartikel  Das deutsche


Asyltheater hilft nur der AfD

10 | Union will Patriotismus-


Initiative starten / Kitas fürchten
Pleite / Die Gegendarstellung

Valentin Sprinchak / TASS / action press


14 | Reformen  Parteien
und Regierung suchen nach
neuen Arbeitszeitmodellen

17 | Verkehr  Volker Wissings


seltsame Personalpolitik bei der
Autobahn GmbH

18 | Außenpolitik  Der frühere

In Putins Fleischwolf ukrainische Botschafter in


­Berlin, Andrij Melnyk, und sein
Nachfolger beharken sich
öffentlich
TITEL In der Schlacht um Bachmut hat Söldnerführer Jewgenij Prigoschin Tausende
Männer seiner Wagner-Truppe in den Tod geschickt. Wer ist dieser Mann, 20 | Macht  Walter Kohl
wehrt sich gegen Vorwürfe von
der sich in Putins Russland unflätige Kritik an den Herrschenden erlaubt? Und wie Ex-»Bild«-Chef Kai Diekmann
wurden seine weltweit operierenden Militärunternehmen so bedeutend? | 42, 49
22 | Soziales  Politikerinnen
und Experten sprechen über
ihren Blick auf Kinderarmut in
Deutschland

26 | Sicherheit  Behörden war­


nen vor neuem Links­terrorismus

28 | Strafjustiz  Die Regierung


will mildere Strafen für
Florian Schroetter / EXPA / picture alliance

Kinderpornografie ermöglichen

30 | Affären  Die berüchtigte


Nachrichtenhändlerin
Tibor Bozi / Redux / laif

Christina Wilkening steht in


­Österreich vor Gericht
Christine Fiedler

33 | Mobilität  Streitobjekt
E-Roller – was die Städte unter­
nehmen
Sebastian Kurz Franziska Kuschel T. C. Boyle
Österreichs Ex-Kanzler ­stolperte Die Historikerin kritisiert einen Der US-Schriftsteller schickt 36 | Schicksale  Wie es
über die Folgen des Ibiza-­ allzu milden Blick ihrer Kollegin in »Blue Skies« eine Familie in die sich anfühlt, einen Herzinfarkt
Skandals vor vier Jahren. | 76 Katja Hoyer auf die DDR. | 38 Klimakatastrophe. | 106 zu überleben

6 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEBAT TE 86 | Libanon  Ein Podcast bricht
mit Tabus der arabischen Welt
38 | Deutsche Geschichte 
Historikerin Franziska ­Kuschel 88 | Analyse  Wie sich die Türkei-­
sieht eine Schieflage in der Wahl auf die EU, die Ukraine

Arnaldur Halldorsson / Bloomberg / Getty Images


­aktuellen Ost-West-Debatte und Syrien auswirken könnte

REPORTER SPORT

40 | Familienalbum / Wann 89 | TV-Rechte für Frauen-­


kommt das Weltraumhotel? Fußball-WM / Was muss ein
Bergführer können?
41 | Eine Meldung und ihre
Geschichte  Wie der Prozess 90 | Fußball  Viktoria Berlin will
um den Einbruch bei Star-DJ die Sportwelt revolutionieren
Robin Schulz Osnabrück bewegt Deponie für das Klimagift
93 | Terrorismus  Die Histo­
Das Tempo der Energiewende reicht nicht aus, um den Treibhaus-
57 | Ortstermin  Eine Brücken- rikerin Petra Terhoeven über das
gasausstoß schnell genug zu senken. Klar ist: Ohne CO₂-Endlager
sprengung als Public Viewing Olympia-Attentat von 1972
sind die Klimaziele nicht zu halten. Doch wohin damit? | 96

WIRTSCHAF T WISSEN

58 | Grundsteuerschock 94 | Analyse: THC am Steuer /


für Eigenheime / Biobauern Impfung gegen die Vogelgrippe
­enttäuscht von Özdemir
96 | Klimakrise  Schon bald
60 | Subventionen  Vertreibt müssen weltweit gigantische
der hohe Strompreis die CO2-Endlager entstehen
Industrie aus Deutschland?
101 | Ökologie  Schuldenerlass
64 | Spionage  Gefährliche für den Naturschutz
­Sicherheitslücken im Telefonnetz
102 | Hirnforschung  Das
67 | Karrieren  Erfolglose Musi- ­Geheimnis des guten Schlafs
Kai Heuser

cal-Geschäfte von Ralph Siegel

68 | Globalisierung  Westliche KULTUR


Manager fürchten Chinas neues Sie wollen die Fußballwelt verändern
Anti-Spionage-Gesetz 104 | Faszination Verfolgungs­
Die Frauen von Viktoria Berlin planen die Fußballrevolution wie ein
jagd / Asterix in China
feministisches Start-up. Sie kämpfen für Gleichberechtigung, Diver-
70 | Greenwashing  Deutsche-
sität und Nachhaltigkeit, und sie meinen es verdammt ernst. | 90
Bank-Whistleblowerin Desiree 106 | Literatur  T. C. Boyles
Fixler über die Verlogenheit der Roman über die Klimakrise
Finanzbranche
109 | Ortstermin  Danger Dan
braucht ein neues Klavier
AUSLAND
110 | Karrieren  Der irre Horror
74 | Italien vor Verfassungs­ von Regisseur Ari Aster
reform? / Der raue Alltag der
Frauen in Afghanistan 112 | Missstände  Claudia Roth
über Arbeits­bedingungen bei
76 | Österreich  Vier Jahre nach Dreharbeiten
Maria Korneeva / Getty Images

der Ibiza-Affäre sind Dutzende


Verdächtige im Visier der Justiz 113 | Schauspiel  Regisseurin
Felicitas Brucker und
80 | Essay  Warum Deutschland ihre »Nora«-Inszenierung
sich endlich mit dem real
­existierenden Staat Israel befassen 115 | Ausstellungskritik ­
sollte Gerhard Richter, Vija Celmins
und die Farbe Grau
82 | China  Das Regime baut »Schlaf müsste wie Sport gesehen werden«
die Folterlager ab und SPIEGEL-TV-Programm | 71 Bestseller | 114 Schlafstörungen zerbrechen Ehen, sagt der Hirnforscher Emmanuel
Impressum, Leserservice | 116
­unterdrückt die Uiguren dafür Nachrufe | 117 Personalien | 118
Mignot und berichtet im Interview von dauermüden Politikern,
mittels Tourismus Briefe | 120 Letzte Seite | 122 zu frühem Schulbeginn und schlummersüchtigen Hunden. | 102

Titelfotos [M]: Mikhail Metzel / SNA / IMAGO; AP / dpa; RIA Novosti / SNA / IMAGO; REUTERS; Valentin Sprinchak / ITAR-TASS / IMAGO Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 7
Deutsches Asyltheater
LEITARTIKEL  In der Flüchtlingsdebatte führen Bund und Länder ein Schauspiel auf, das mit der Realität
an den EU-Außengrenzen wenig zu tun hat. Und am Ende nur der AfD hilft.

den Polizisten, sondern an den Herkunftsstaaten. Warum


also dieses Schauspiel?
All die Scheinlösungen wecken Erwartungen, werden
die irreguläre Migration aber kaum wesentlich verringern.
Das Asyltheater wird enttäuschte Wähler hinterlassen.
Am Ende dürfte es einmal mehr nur die AfD stärken.
Was bei der Aufführung in Berlin tatsächlich neu war,
und zwar substanziell, das war die Haltung der Deutschen
zu jenen Asylfragen, über die in Brüssel seit Langem ver-
handelt wird. Die EU-Kommission hat vor mehr als zwei
Jahren einen konkreten Vorschlag unterbreitet: Für einige
Asylsuchende sieht er Schnellverfahren an den Außen-
grenzen vor, abgelehnte Bewerber sollen direkt aus den
dort geplanten Zentren abgeschoben werden. Diesen Plan
will die Bundesregierung nun nach langem Zögern unter-
Jihed Abidellaoui / REUTERS stützen – pünktlich zum Flüchtlingsgipfel. Bis Anfang Juni,
so die Hoffnung der Kommission, sollen die EU-Staaten
eine gemeinsame Position gefunden haben.
Das käme einem Wunder gleich. Und trotzdem ist der
Versuch richtig. Denn nur eine gemeinsame europäische
Migrationspolitik kann die Rechtsbrüche an den Außen-

G
Tunesische Küsten- anz zum Schluss ging der Vorhang noch einmal auf. grenzen beenden. Nur sie kann das aktuelle System ab-
wächter, Flüchtende Im Kanzleramt traten am Mittwochabend Olaf lösen, in dem Italien, Spanien und Griechenland die Ge-
im Mittelmeer
Scholz und die Vertreter der Länder auf die Bühne flüchteten oft einfach Richtung Deutschland weiterwinken.
und verkündeten ihren Kompromiss: Die Flüchtlings- Doch die Mittelmeerstaaten dürften dem Plan mit den
pauschale für 2023 wird um eine Milliarde Euro erhöht. Asylzentren an ihren Grenzen kaum zustimmen. Und
Ein bisschen mehr Hilfe vom Bund für die überlasteten entscheidend wäre ohnehin, dass die EU genügend Staaten
Kommunen. Der unspektakuläre Showdown war der findet, die ihr die abgelehnten Asylbewerber abnehmen.
vorläufige Schlussakt im großen deutschen Asyltheater. Andernfalls könnten viele Menschen in den Lagern an
Tagelang stritten Bund und Länder um Geld, das die der Peripherie unter haftähnlichen Bedingungen auf eine
Gemeinden einfordern, um Geflüchtete in Würde unter- Abschiebung warten, die nie kommt. Es würde ein neues
bringen zu können. Rund um dem Gipfel wurde dann auch Moria drohen.
viel über Abschottung gesprochen. Das deutsche Publikum Um das zu verhindern, braucht es funktionierende
sollte offensichtlich den Eindruck gewinnen, dass die hohe Rücknahmeabkommen mit sicheren Dritt- und Herkunfts-
Zahl von Asylbewerbern endlich reduziert würde. ländern. SPD, Grüne und FDP hatten sich im Koalitions-
Den Auftakt machte FDP-Chef Christian Lindner. Man vertrag vorgenommen, dies auszuhandeln. Die Idee:
müsse auch den »physischen Schutz der Außengrenze« Deutschland ermöglicht mehr legale Einwanderung, dafür
in Betracht ziehen, erklärte er bedeutungsschwer. Ein nehmen die Partnerstaaten abgelehnte Asylbewerber
bemerkenswert ahnungsloser Satz, klingt er doch ganz zurück. Der Kompromiss ist nicht perfekt, aber er bietet
so, als wäre Europa in weiten Teilen noch gar nicht ein- immerhin eine Alternative zum Modell Orbán, das nur
gezäunt. Als schleppten griechische Grenzschützer nicht auf Härte, Abschottung und Mauern setzt.
längst Asylsuchende aufs Meer zurück, um sie dort auf Anderthalb Jahre lang ist so gut wie nichts passiert.
aufblasbaren Rettungsflößen auszusetzen. Und als hätten Den entscheidenden Staatssekretärsposten besetzte Innen­
kroatische Beamte noch nie auf Schutzsuchende einge- ministerin Nancy Faeser monatelang nicht. Joachim Stamp,
All die Schein- schlagen, die auf dem Weg nach Westeuropa sind. der Sonderbevollmächtigte, der die Abkommen verhan-
lösungen Viele der jetzt diskutierten Vorschläge sind nicht neu.
Vor allem die Union fordert Kontrollen und Zurückschie-
deln soll, trat seine Stelle erst im Februar an.
Migrationsdiplomatie ist mühselig. In den Herkunfts-
werden die bungen an den deutschen Grenzen – als wäre es realistisch, staaten sind die Deals unbeliebt; das Angebot an die Auf-
irreguläre ein Land, das mitten in Europa liegt, abzuschotten, als nahmestaaten muss so gut sein, dass die Abkommen nicht
würden die Flüchtlinge nicht trotzdem ein Schlupfloch bei jedem Stimmungswechsel in sich zusammenfallen,
Migration finden. Vertreter von Kommunen und Ländern schlagen wie es beim EU-Türkei-Deal passiert ist. Gerade deshalb
kaum vor, eine spezialisierte Einheit der Bundespolizei zu schaf- brauchte es das, worauf der Kanzler normalerweise be-
fen, offenbar eine Art GSG 9 für Abschiebungen. Jeder, sonders stolz ist: effiziente Arbeit hinter den Kulissen –
wesentlich der sich ernsthaft mit der Materie auseinandersetzt, dürf- und weniger Theater.
verringern. te wissen: Rückführungen scheitern in der Regel nicht an Steffen Lüdke n

8 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

Christian Charisius / dpa


Hamburgbesucher haben ein zwiespältiges Verhältnis zu den zwei Elbtunneln der Stadt: Den einen (Neuer Elbtunnel) fürchten sie, weil sie dort oft
mit dem Auto im Stau stehen. Den anderen (Alter Elbtunnel) lieben sie – er gilt als eine beliebte Sehenswürdigkeit der Stadt. 1911 eröffnet, als
­erster Flusstunnel des Kontinents, verbinden noch heute zwei Röhren die Stadtteile St. Pauli und Steinwerder. Doch auch hier schränken Baustellen
den Zugang ein: Seit 1995 wird er saniert. Die Arbeiten verzögern sich seit Jahren, die Kosten steigen auf inzwischen mehr als 131 Millionen Euro.
Zurzeit entfernen Arbeiter die Betonverschalung in der westlichen Röhre. 2026 soll die Sanierung abgeschlossen sein.

Neue Zweifel an Aussagen von Scholz


CUM-EX-SK ANDAL  In der Affäre um die Warburg Bank könnte eine E-Mail für den Kanzler gefährlich werden.

I m Cum-ex-Skandal um die Hamburger Warburg Bank mehrt


ein bisher öffentlich nicht bekanntes Dokument Zweifel an der
Glaubwürdigkeit von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Dabei
geht es um die Kontakte von Scholz zu Bankmiteigner Christian
Journalisten. Er habe da wegen der Berichte erstmals seinen Ter-
minkalender auswerten lassen, in dem die beiden weiteren Treffen
zu finden seien. An sämtliche Gespräche habe er keine eigene
­Erinnerung. Der damalige Linkenpolitiker Fabio De Masi warf
Olearius. Aus einer internen E-Mail des Bundesfinanzministeriums Scholz vor, im Juli 2020 die weiteren Termine mit Olearius »be-
(BMF) vom 30. Juni 2020 geht hervor, dass die Beamten Informa- wusst verschwiegen« zu haben. Es sei »völlig weltfremd« anzuneh-
tionen dazu in einer Word-Datei sammelten (»8Kontakt mit Herrn men, die engsten Mitarbeiter von Scholz hätten »nicht zuerst
Olearius.docx«). Die Datei diente demnach dazu, Scholz für die den Kalender geprüft«. SPIEGEL -Fragen zu der Mail wollte das
­Sitzung des Finanzausschusses am 1. Juli 2020 vorzubereiten, in der BMF nicht beantworten. Auf eine Anfrage des Linkenabgeordne-
er befragt wurde. Die zuständige Abteilung habe für die Vorberei- ten Christian Görke heißt es, für die Sitzung im Juli 2020 habe
tung auch »Rücksprache« mit Scholz gehalten, heißt es in der Mail. das Fachreferat für Scholz »wie üblich eine Vorbereitung erstellt«.
Die Sache ist für den Kanzler heikel, weil er erst im September Sie habe sich auch auf »mögliche Fragen durch die Mitglieder
2020 einräumte, es habe nicht nur ein Treffen mit Olearius gege- des Finanzausschusses« zu Warburg bezogen. Ein Aspekt sei auch
ben, sondern drei. Damals reagierte Scholz auf die Enthüllung von »eine Frage zu Kontakten mit Herrn Olearius« gewesen. SMS

10 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


Pässe einkassiert mindestens 2,5 Millionen Euro.
DIE GEGENDARSTELLUNG
Zwischen 2007 und 2020 ka-

Deutschland in klein
DIPLOMATIE Zypern und Malta men nach Angaben der zypri-
haben auf Russlands Überfall schen Regierung rund 9,7 Mil-
auf die Ukraine reagiert und liarden Euro zusammen. Nach
Dutzenden Menschen ihre »gol- Beginn des russischen Angriffs
denen Pässe« entzogen. 43 Rus- auf die Ukraine hat die Kom- Von Alexander Neubacher Neugestaltung des Marktplat-
sen und Belarussen hätten die mission die umstrittene Praxis zes mitreden darf.
zyprische, zwei die maltesische
Staatsbürgerschaft verloren, wie
die EU-Kommission auf eine
Anfrage des FDP-Europaabge-
erneut für widerrechtlich erklärt
und den EU-Staaten empfohlen,
den Entzug solcher Staatsbür-
gerschaften zu prüfen – vor al-
D er Bundestag sucht ge-
sunden Menschenver-
stand. 160 Frauen und
Männer ab 16, zufällig ausge-
Doch es gibt auch Kritiker.
Der CDU-Politiker Steffen
Bilger sagte diese Woche:
»Der beste Bürgerrat sind die
ordneten Moritz Körner ant- lem, wenn die Personen auf den wählt per Losverfahren, sol- Menschen im Wahlkreis.« Ein
wortete. Auf den Inselstaaten Sanktionslisten der EU stehen. len einen Bürgerrat bilden, Kommentator der »Süddeut-
gab es die Praxis, Investoren Gegen Malta geht die Brüsseler eine Art Deutschland in klein, schen Zeitung« wiederum
gegen hohe Geldzahlungen ein- Behörde juristisch vor, Zypern und das Parlament beraten. schrieb: »In der parlamentari-
zubürgern. Inhaber dieser hat seine Praxis aufgegeben. So haben es die Ampelfraktio- schen Demokratie des Grund-
»goldenen Pässe« konnten sich »Russen und Belarussen, die auf nen gemeinsam mit der Lin- gesetzes heißt der Bürgerrat
anschließend in allen EU-Län- der Sanktionsliste der EU lan- ken beschlossen. Wundern Sie noch immer Deutscher Bun-
dern niederlassen und Geschäf- den, verdienen keine EU-Staats- sich nicht, sollten Sie Post be- destag.« Allerdings hat die
te machen. Zypern verlangte bürgerschaft«, sagt FDP-Politi- kommen. gleiche Zeitung auch berich-
für einen Pass Investitionen von ker Körner. MBE Das erste Thema, um das tet, dass die Zufriedenheit der
sich der Bürgerrat kümmern Deutschen mit dieser Demo-
wird, ist ideal für eine volks- kratie abnehme.
Mehr Flagge zeigen werden. So will die Union »Ver- nahe Debatte: »Ernährung im Schlecht ist, wenn beim
fassung und Patriotismus als Wandel«. In einer Gesell- Verfahren getrickst wird, um
PATRIOTISMUS Die Unions- verbindendes Band stärken«. schaft, in der Ersatzfleisch für
Bundestagsfraktion will einen Der Antrag sieht etwa vor, dass manche zur Ersatzreligion ge- Was macht die
neuen nationalen Gedenktag die Kanzlerin oder der Kanzler worden ist und Kochbücher
etablieren: das Verkündungs- am 23. Mai eine »Rede zur Lage Titel haben wie »Gourmet Bi-
Ampel, wenn
datum des Grundgesetzes. Auf der Nation« halten solle. Außer- bel«, »Weber’s Grill-Bibel« das Nackensteak
Initiative des CDU-Abgeordne- dem soll die Nationalhymne oder »Kleine Veganer-Bibel«, gewinnt?
ten Philipp Amthor bringt seine häufiger gesungen und die Bun- sage ich emotionale Beratun-
Fraktion in der kommenden desflagge sichtbarer werden. Die gen voraus. eigene Interessen als Volks-
Woche einen entsprechenden Bundeswehr soll vermehrt öf- Die Frage ist, was passiert, willen ausgeben zu können,
Antrag im Bundestag ein. Der fentliche Gelöbnisse und Appel- wenn die 160 Normalos am wie im Fall der »Letzten Ge-
23. Mai – an diesem Tag wur- le abhalten. »Unsere nationalen Ende zu anderen Empfehlun- neration«. Die Klimakleber
de die Verfassung der Bundes- Symbole stehen nicht für Diskri- gen kommen, als die Regie- fordern einen »Gesellschafts-
republik Deutschland vor minierung oder für überhöhten rung gern hätte. Wenn also rat«, der zwar nach Zufallsre-
74 Jahren feierlich verkündet – Nationalismus, sondern haben herauskommt, dass das Volk, geln besetzt, aber von »Ex-
wird bislang zwar als »Tag des ein starkes Potenzial für einen der große Lümmel, eben nicht pert:innen mit Fakten und
Grundgesetzes« begangen, doch verbindenden Patriotismus, den vom Staat ermahnt werden Perspektiven versorgt« wer-
das reicht der Unionsfraktion wir aus der Mitte der Gesell- möchte, möglichst »fair, bio, den soll. Man ahnt, an wen
nicht. Das Datum soll ab dem schaft nicht den Gegnern unse- regional und saisonal einzu- hier gedacht wird. Das Ziel
kommenden Jahr anderen natio- res Staates überlassen dürfen«, kaufen«, wie es der grüne Er- der Beratungen (Deutschland
nalen Gedenktagen gleichgestellt sagt CDU-Mann Amthor. FIN, FLO nährungsminister Cem Öz- fossilfrei bis 2030) steht auch
demir von sich sagt. Wenn die schon fest; es geht nur noch
Frauen und Männer des Bür- ums Wie. Siehe das Motto von
gerrats zum Mittagessen in die DDR-Herrscher Walter Ul-
Nachgezählt Bundestagskantine gingen bricht: Es muss demokratisch
und nicht etwa begeistert, aussehen, aber wir müssen al-
Erwerbstätigkeit von Eltern in Deutschland sondern eher enttäuscht fest- les in der Hand haben.
mit mindestens einem Kind unter drei Jahren*
stellten: »Wie? Keine Curry- Auch die Ampel traut dem
Berufstätige Berufstätige wurst?« puren Zufall nicht. Für den
Mütter 2022 Väter 2022 Die Losdemokratie ist kei- Bürgerrat zur Ernährung ist
40 % 90 % ne neue Idee. Schon die alten vorsorglich festgelegt, dass der
Griechen besetzten so einige »Anteil der sich vegetarisch
Ämter. In Irland halfen 99 re- oder vegan ernährenden Per-
präsentative Zufallsbürger sonen« abgebildet sein muss.
2008 2008 dabei, Kulturkämpfe um Ab- Dagegen ist nichts zu sagen.
31 % 89 % treibung und gleichgeschlecht- Man fragt sich allerdings, wa-
liche Ehe zu beenden. Im rum es in Kleindeutschland
sächsischen Pirna wird dieses eine Tofu-Quote geben wird,
Jahr ausgelost, wer bei der aber keine für Nackensteaks.

8,2 Mio. Mütter mit minderjährigen Kindern gab es 2022,


davon 2,1 Mio. mit Kleinkindern unter drei Jahren. An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quelle: Destatis; * ohne Eltern in Mutterschutz oder Elternzeit


Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 11


CHAPPATTES WELT Verschobene Frist
ENERGIEPOLITIK  In der Am-
pelkoalition zeichnet sich ab,
dass das umstrittene neue Hei-
zungsgesetz später in Kraft tre-
ten soll. Diskutiert werden
unterschiedliche Vorschläge. In
der SPD-Fraktion kann man
sich vorstellen, das Inkrafttreten
des Gebäudeenergiegesetzes
(GEG) auf den 1. April oder
1. Juli 2024 zu verschieben.
Eigentümer könnten so sechs
Monate länger eine fossile
Heizung einbauen. Der nieder-
sächsische Wirtschaftsminister
Olaf Lies (SPD) hat einen an­
deren Vorschlag: Demnach soll
mit dem Heizungstausch nur
in Regionen begonnen werden
müssen, wo es bereits einen
kommunalen Wärmeplan gibt.
Eine Verschiebung auf 2027
wird in der SPD kritisch ge­
sehen. Das gilt auch für das
Bundeswirtschaftsministerium.
Dort will man verhindern,
dass das GEG in den Bundes-
tagswahlkampf im Jahr 2025 hi-
Dramatische kriegsfrieden« geworden sei. Jahrzehnten könne es so »zu neingezogen wird. Unter den
Selbst »Szenarien mit chemi- einer Steigerung von Fluchtbe- Beamten von Wirtschaftsminis-
Prognose schen, biologischen, radiologi- wegungen von aktuell 100 auf ter Robert Habeck (Grüne)
BEVÖLKERUNGSSCHUTZ  Das schen oder nuklearen Bedro- 200 Millionen bis 1 Milliarde« könnte man sich allerdings vor-
Technische Hilfswerk (THW) hungen« rückten »wieder in Menschen kommen. Verantwor- stellen, den Einbau klima-
warnt vor einer Zunahme von den Rahmen des Denkbaren«. tet hat das Papier THW-Präsi- freundlicher Heizungen für
Katastrophen und Bedrohun- Dramatische Folgen für den Be- dent Gerd Friedsam. Allerdings Neubauten wie geplant ab An-
gen, für die sich die Behörde völkerungsschutz habe auch die kann er nötige Reformen nicht fang kommenden Jahres vor­
wappnen müsse. Das geht aus Klimakrise. Weltweit lebten mehr selbst umsetzen, Ende zuschreiben. Bei Bestandsge-
einem Grundsatzpapier des schon mehr als drei Milliarden Juni geht er in den Ruhestand. bäuden könnte erst ein Jahr
THW hervor. »Die Anforderun- Menschen in Gegenden, »die Dem Vernehmen nach hätte er später damit begonnen wer-
gen an den Schutz der Bevölke- hochgradig anfällig für die Aus- gern verlängert, doch Innen­ den. Derzeit verhandelt die
rung« hätten sich »drastisch ge- wirkungen des Klimawandels« ministerin Nancy Faeser (SPD) Ampelkoalition den Gesetzent-
wandelt«, heißt es dort. Russ- seien. Auch die weltweiten hat andere Pläne: Mit Sabine wurf, sie will ihn bis zur Som-
lands Angriff auf die Ukraine Hungerprobleme verschlimmer- Lackner rückt erstmals eine merpause im Bundestag be-
zeige, »wie instabil der Nach- ten sich. In den kommenden Frau an die THW-Spitze. WOW schließen. HEJ, GT

Streit um Finanzloch Mail an alle Mitglieder, habe Kitas vor der Pleite tionsausgleichs und der be-
DEB-Chef Peter Merten in schlossenen Tariferhöhung. Die
EISHOCKEY  Während das Na- einer Videokonferenz auch zu- INFLATION  Mehrere Wohl- Träger könnten sich die steigen-
tionalteam in Finnland bei der gesagt, und zwar noch vor der fahrtsverbände in NRW werfen den Sach- und Personalkosten
WM spielt, eskaliert im Deut- WM. Nun aber hieß es in einer der schwarz-grünen Landesre- nicht leisten. Die Verbände for-
schen Eishockey-Bund (DEB) Merten-Mail: Wegen der WM gierung vor, die Zukunft von dern vom Land, die Mehrkosten
der Streit um eine offenbar an- seien »DEB-seitig alle Kapazitä- Kindertagesstätten und deren teils zu refinanzieren. Laut der
gespannte Finanzlage. Schon im ten gebunden«. Fragen zur Trägern zu gefährden. Das geht FW geht es um gut 160 Millio-
Mai 2022 hatte der DEB den ­Finanzlage werde man daher aus einem Schriftwechsel zwi- nen Euro. Bahr zeigt dafür im
Mitgliedern für 2023 ein Minus »ordnungsgemäß im Rahmen schen der Freien Wohlfahrts- Antwortschreiben wenig Be­
von 268.000 Euro vorausgesagt der nächsten Mitgliederver- pflege NRW (FW) und dem Mi- reitschaft. Die Haushaltssitua-
– das auch auf 400.000 Euro sammlung behandeln«. Die fin- nisterium für Kinder, Jugend tion des Landes sei »äußerst
steigen könne. Angesichts von det erst 2024 statt. In einer wei- und Familie hervor. Anfang Mai angespannt«. Für die anstehen-
Gerüchten, wonach das Loch teren Mail warf Prager dem schickte die FW einen Brand- den Zahlungen sollten eventu­
noch deutlich größer ausfallen Vorstand daraufhin vor, er wolle brief an den Staatssekretär Lo- elle Rücklagen genutzt wer-
soll, hatte der Landesverband den Mitgliedern »haushaltsrele- renz Bahr (Grüne) – darin ist den – doch die fehlten, beklagt
Schleswig-Holstein am 11. April vante Ausgaben vorenthalten«. von einer »bestandsgefährden- der FW-Vorsitzende Christian
von der DEB-Spitze Aufklärung Es sehe nach »gewaltigen Mehr- den Situation« für einige Träger Woltering. »Ohne Hilfe stehen
gefordert. Das, so Landeschef kosten« aus. Der DEB äußerte die Rede. Es gebe massive Geld- möglicherweise bald Hunderte
Wolff-Dietrich Prager in einer sich auf Anfrage nicht. AMP, GL sorgen etwa wegen des Infla- Kitas in NRW vor dem Aus.« LE

12 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


»Karrieren werden SPIEGEL: In der Coronapande-
mie waren viele Hochschulen
abgeschnitten« monatelang geschlossen. Ist
Der Mediziner Walter Rosen- mittlerweile wieder alles beim
thal, 68, leitet die Friedrich- Alten?
Schiller-Universität Jena und ist Rosenthal: Komplett geschlos-
neuer Präsident der Hochschul- sen waren sie ja nie. Und zum
rektorenkonferenz (HRK). Er Glück haben wir uns weiterent-
findet, Hochschulen müssten an- wickelt! Wir haben einen Crash-
genehmere Orte werden. kurs in Sachen Digitalisierung
gemacht. Die Flexibilität, Ver-

Kerstin Müller / DER SPIEGEL


SPIEGEL: Herr Rosenthal, viele anstaltungen auch online abhal-
junge Wissenschaftlerinnen und ten zu können, wollen wir nicht
Wissenschaftler klagen über mehr missen. Gleichzeitig muss
miese Arbeitsbedingungen, die Hochschule ein Präsenzort
über Kettenbefristungen und sein. Wir möchten, dass Studie-
Machtmissbrauch. Können Sie rende und Lehrende hier Zeit
die Kritik nachvollziehen? verbringen und sich austau-

»Die Kinder der Täter aus den


Rosenthal: Ja, über die Jahre schen.
hat sich vor allem im Postdoc- SPIEGEL: Viele Hochschulen

Baseballschlägerjahren«
Bereich eine große Unzufrie- sind auf diesen hybriden Be-
denheit angestaut. Wer stets nur trieb nicht ausgelegt. Es man-
befristete Arbeitsverträge be- gelt etwa an passenden Arbeits-
kommt, kann die Karriere nicht plätzen.
DIE AUGENZEUGIN  Anne Brügmann, 46, berät für
planen. Und es gibt strukturelle Rosenthal: Wir müssen drin-
Abhängigkeiten zwischen gend umbauen. Wir brauchen den Verein Opferperspektive in Brandenburg
­Betreuenden, Doktoranden und mehr abgeschirmte Plätze, an Menschen, die von rechter Gewalt betroffen sind.
Postdocs. Wenn eine einzige denen man ungestört arbeiten
Person entscheidet, ob jemand kann. Wir brauchen Gruppen- »Als ich davon gehört habe, Erwachsene. Wenn Jugend­
einen Anschlussvertrag erhält, räume, in denen ein gewisser dass eine Schülergruppe aus liche zu Tätern werden, kom-
entsteht ein ungesundes Geräuschpegel erlaubt ist, etwa Berlin in einer Brandenburger men sie meist aus einem rech-
­Machtgefälle. Das ist ein un­ für Videokonferenzen. Und wir Ferienanlage rassistisch be- ten Elternhaus, das ist unsere
haltbarer Zustand. brauchen Zonen, in denen Men- droht wurde, war ich nicht Erfahrung. Wenn auf die Ta-
SPIEGEL: Das Bundesministe- schen sich gern aufhalten, eine überrascht. Seit 1998 beraten ten nicht schnell Prozesse und
rium für Bildung und Forschung Zeitung lesen, Kaffee trinken. wir Opfer rechter Gewalt hier Urteile folgen, merken das die
hat kürzlich Eckpunkte für eine Die klassischen Stillarbeitsplät- in Brandenburg, vergangenes Täter: Sie fühlen sich sicher,
Reform des Wissenschaftszeit- ze in der Bibliothek passen Jahr haben wir 138 Übergriffe und das begünstigt weitere
vertragsgesetzes (WissZeitVG) nicht mehr zu einer Kultur, in gezählt. Taten. Vor Kurzem fiel ein
vorgelegt, das die Befristungen der Menschen auf dem Campus Die meisten Taten begehen Urteil zu einem Vorfall aus
regelt. Es klingt, als seien Sie aktiv an Onlineseminaren teil- keine offen erkennbaren Neo- dem Jahr 2016: Ein rechter
damit nicht zufrieden. nehmen möchten. nazis. Das sind vielmehr Men- Kampfsportler hatte einen af-
Rosenthal: Das stimmt. Das SPIEGEL: Schon heute liegt der schen, die rennen mit einer ghanischen Flüchtling ange-
BMBF wollte die Postdoc-Zeit, Sanierungsstau an Hochschulen bestimmten Einstellung rum, griffen und ihm doppelt den
die auf eine Promotion folgt, bei rund 60 Milliarden Euro. und wenn sich die Gelegen- Kiefer gebrochen. Das Gericht
von sechs auf drei Jahre verkür- Was Sie fordern, wird viel Geld heit ergibt, kommt es zu die- sprach den Mann nun frei –
zen, um frühzeitig Entfristungs- kosten. sen Angriffen. Ich habe immer weil nach der langen Zeit
entscheidungen herbeizuführen. Rosenthal: Klar, Wände zu ver- noch den Satz einer jungen nicht zweifelsfrei festgestellt
Das halte ich für illusorisch setzen und Gebäude umzu- Frau im Ohr, die ein Kopftuch werden konnte, dass er die
und problematisch, weil drei strukturieren ist teuer. Aller- trug und in der Straßenbahn Tat begangen hatte. Auch die
Jahre nicht ausreichen, um nach dings müssen wir die Bauten angegriffen wurde. Der Täter Ermittlungsarbeit in dem Fall
der Promotion international ohnehin klimagerecht ertüchti- beleidigte sie rassistisch, war mangelhaft gewesen.
sichtbare Forschungserfolge zu gen. Es gibt aber auch kleinere schubste und schlug sie gegen So schlimm wie in den
erzielen und sich so für eine Schritte, um eine Hochschule in die Schulter. Sie sagte: ›Das Neunzigerjahren ist es aber
Professur oder andere Dauer- einen angenehmeren Aufent- war ein erwachsener Mann, nicht. Es gibt inzwischen viel
stellen zu qualifizieren. Da wer- haltsort zu verwandeln. Ein und der sah ganz normal aus.‹ mehr zivilgesellschaftliches
den Karrieren abgeschnitten. Sofa ist keine Milliardeninvesti- Rassismus ist natürlich kein Engagement, und die Gesell-
SPIEGEL: Sie fürchten, Talente tion. Wir haben damit in Jena reines Brandenburger Pro­ schaft ist auch hier in unserer
könnten deshalb die Wissen- begonnen. Es hat einen immen- blem. Aber dass der jüngste Region diverser geworden.
schaft verlassen. sen Unterschied gemacht. OLB Angriff in der Region um Kö- Dass ein Fall wie die Attacke
Rosenthal: Die Sorge habe ich, nigs-Wusterhausen geschah, auf die Berliner Jugendlichen
ja. Die Leute haben keine Rosenthal ist kein Zufall: Es gab dort bundesweit Schlagzeilen
­Chance, in der kurzen Zeit ein jahrzehntelang Neonazi- macht, ist gut. Ich bin über-
Jens Meyer / Universität Jena

eigenes Forschungsprofil zu ent- Strukturen. Die heutigen Ju- zeugt: Je mehr Widerspruch
wickeln. Außerdem bietet der gendlichen sind die Kinder diese Taten bekommen, desto
Arbeitsmarkt außerhalb der der Täter aus den Baseball- mehr schreckt das zukünftige
Wissenschaft heute und in den schlägerjahren. In der Regel Täter ab.«
kommenden Jahren viel mehr erfolgen die Angriffe durch Aufgezeichnet von Hannes Schrader
attraktive Chancen als früher.

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 13


DEUTSCHLAND

Freitags gehört Vati mir


REFORMEN  Die Arbeitswelt steht vor gravierenden Umbrüchen, die Debatte über die Viertagewoche steht
exemplarisch dafür. Doch die Politik wirkt unvorbereitet – allen voran die SPD, die einstige Partei der Arbeiter.

Niels Starnick / BILD am Sonntag

Arbeitsminister Heil, Reinigungskräfte: Je nach Lebenssituation ändern sich die Bedürfnisse im Job

14 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

F
ünf Tage nachdem Cansel Kiziltepe ihr mann plädierte für »eine Viertagewoche mit
Amt als Berliner Arbeitssenatorin an- vollem Lohnausgleich«.
getreten hatte, erklärte die SPD-Politi- Andere Gewerkschafter sehen in ihr nur
kerin: In der Berliner Verwaltung könnte die eine der möglichen Optionen. »Eine Vier-
Viertagewoche erprobt werden. tagewoche ist kein Modell für alle«, sagt
Wie eigentlich immer, wenn es um Berliner ­Norbert Reuter, Leiter der tarifpolitischen
Behörden geht, war ihr der Spott sicher, unter Grundsatzabteilung von Ver.di. Weil das
anderem auf Twitter: Viertagewoche? In Ber- deutsche Arbeitsrecht im Grundsatz vorsieht,
lin heiße das ja wohl eher, dass die Verwaltung dass Arbeitnehmer maximal acht Stunden
ihre Arbeitszeit aufstocken müsse, haha. Aber am Tag arbeiten dürfen, würde eine Viertage-
Kiziltepe ist es ernst. woche auf 32 Wochenstunden hinauslaufen.
»Die Debatte um eine Viertagewoche ist In vielen Bereichen von Ver.di würden noch
sehr wichtig, und alle Arbeitgeber müssen Arbeitszeiten bis zu 40 Stunden die Woche

Michael Reichel / picture alliance / dpa


sich damit beschäftigen«, sagt die SPD-Linke. gelten, erklärt Reuter. Eine Verkürzung auf
Auch die Fünftagewoche oder bezahlten vier Tage bei vollem Lohnausgleich würde
Urlaub hätten sich Gewerkschaften und Be- die Gehälter also auf einen Schlag um bis zu
schäftigte einst hart erkämpft. »Seitdem hat 20 Prozent erhöhen. »Das wird auf erbitter-
sich die Arbeitswelt gewaltig verändert.« ten Widerstand der Arbeitgeber stoßen, was
Als Arbeitssenatorin wolle sie vorangehen wir in den jüngsten Tarifrunden bereits bei
und gute Arbeitsbedingungen schaffen. Für weitaus niedrigeren Forderungen gesehen
Kiziltepe heißt das: »Das Konzept einer Vier- haben«, sagt Reuter.
tagewoche ist es wert, erprobt zu werden.« Demonstrantin auf Kundgebung am 1. Mai
Wie unterschiedlich die Anforderungen
Es verändert sich gerade viel in der Art, sind, zeigt ein Blick auf den Bau. Dort ver-
wie Menschen arbeiten und arbeiten wollen. zu verlieren. Keinen, der mit 45 Jahren im ändert der Klimawandel die Arbeitsbedingun-
Homeoffice gehört für viele Angestellte in- Strukturwandel auf der Strecke bleibt. Kei- gen schon jetzt. Im Dachdeckerhandwerk
zwischen zum Alltag, Work-Life-Balance ist nen, der mit 52 aus gesundheitlichen Gründen haben Beschäftigte seit 2020 Anspruch auf ein
längst kein reines Modewort mehr, und der aufhört. Und auch keinen, der nicht mehr »Sommerausfallgeld«. Dadurch bekommen
Mangel an Fachkräften sorgt dafür, dass die arbeiten will, weil er das mit der Familie nicht sie teilweise den Lohn für Arbeitsstunden er-
Unternehmen die Wünsche ihrer Mitarbei- zusammenkriegt«, sagt Rosemann. »Wir müs- setzt, die wegfallen, weil es auf dem Dach zu
tenden ernster nehmen müssen. Eine Um- sen uns Gedanken machen, wie wir Arbeit so heiß zum Arbeiten wird. Auch in der IG Bau
frage der Hans-Böckler-Stiftung ergab, dass organisieren, dass sie zum Leben der Men- werde über die Viertagewoche diskutiert, sagt
sich 81 Prozent der Vollzeitbeschäftigten eine schen passt.« Gewerkschaftschef Robert Feiger, aber »weil
Viertagewoche wünschen, 8 Prozent von ih- Die Politik agiert bisher auch deshalb sich auf dem Bau Homeoffice nicht realisieren
nen selbst mit geringerem Lohn. ­zurückhaltend, weil im Kampf um Arbeits- lässt, sind wir umso mehr gefordert, attraktive
Umbrüche durch Klimawandel, künstliche bedingungen traditionell andere an vor­ Arbeitszeitmodelle anzubieten«.
Intelligenz, Fachkräftemangel und die ver- derster Front stehen: die Gewerkschaften. All das macht die Debatte nicht leichter.
änderten Bedürfnisse der Arbeitnehmer: Die Dort hat die Debatte über Konzepte wie SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil agiert vor-
nächste Zeitenwende könnte sich in der die Viertagewoche schon vor Längerem sichtig, zur Viertagewoche äußert er sich zu-
Arbeitswelt abspielen. Doch die politische ­begonnen. rückhaltend. Er lässt das Thema bei Gewerk-
Debatte darüber, wie mit diesen Herausfor- Knut Giesler, Bezirksleiter der IG Metall schaften und Arbeitgebern, die Regelung von
derungen umzugehen ist, läuft schleppend Nordrhein-Westfalen, erklärte Anfang April, Arbeitszeiten in den Betrieben ist ein Kern der
an. Man sucht noch nach einer Sprache, einem er wolle in der Tarifrunde der Stahlindustrie Tarifautonomie. »Die Diskussion um die Vier-
Sound für die neue Arbeitswelt. Ende des Jahres eine Viertagewoche fordern. tagewoche ist bei den Sozialpartnern in guten
Wie stellt die Politik sich auf die neuen Auch der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hof- Händen«, sagt er. Es stehe einzelnen Arbeit-
Zeiten ein, welche Antworten hat sie, welche gebern frei, eine Viertagewoche anzubieten.
bleibt sie schuldig? Aber auch Heil sieht den Bedarf für indi-
Fragt man Martin Rosemann nach der Zu- Vier gewinnt viduell angepasste Arbeitsmodelle. Wichtig
kunft der Arbeit, holt er tief Luft. Alles ziem- sei, »dass wir im Lebensverlauf flexibler arbei-
lich kompliziert. Rosemann ist SPD-Abge- 81 Prozent der Beschäftigten in Vollzeit ten können«, erklärt er. Wer kleine Kinder
ordneter und Sprecher für Arbeit und Sozia- wünschen sich laut einer Umfrage des WSI habe oder Angehörige pflege, habe andere
eine 4-Tage-Woche.
les seiner Fraktion. Ein Experte für Arbeit aus Bedürfnisse und Möglichkeiten als Berufsein-
Dafür angegebene Gründe, in Prozent
einer Partei der Arbeit. steiger. »Hier gibt es noch Spielraum für mehr
»Diese Diskussion ist schwierig, weil es Mehr Zeit für mich selbst Balance zwischen Arbeit und Privatleben.«
keine allgemeingültigen Antworten gibt«, sagt 97 Nur wie genau sie aussehen könnte, diese
Rosemann. Die Viertagewoche zum Beispiel. Balance, das bleibt unklar. In den Parteien
Mehr Zeit mit der Familie
In manchen Branchen eine Option, in anderen scheint man erst langsam umzudenken. Lan-
89
schwierig. In Krankenhäusern, wo jetzt schon ge waren politische Arbeitsdebatten von ganz
die Arbeitskräfte fehlen, werden die Stationen Mehr Zeit für Hobbys, Sport, Ehrenamt etc. anderen Fragen geprägt.
auch weiterhin sieben Tage die Woche besetzt 87 1993 erklärte der damalige CDU-Kanzler
sein müssen. Und ein Altenpfleger kann aus- Verringerung der Arbeitsbelastung Helmut Kohl im Bundestag: »Wir können die
gefallene Zeit nicht durch intensivere Pflege 75 Zukunft nicht dadurch sichern, dass wir unser
an anderen Tagen ersetzen. Gesundheitliche Probleme Land als einen kollektiven Freizeitpark orga-
Trotzdem, betont Rosemann, müsse man 31 nisieren.« Die Deutschen arbeiteten zu wenig,
sich den veränderten Bedürfnissen stellen. lautete die Botschaft. Damals ging es in der
»In Deutschland stehen wir noch ganz am S Quelle: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut Arbeitspolitik vor allem darum, Arbeitslosig-


Anfang dieser Debatte.« Genau deshalb müs- (WSI), Hans-Böckler-Stiftung, Onlinebefragung. Zum Thema keit zu bekämpfen.
wurden im November 2022 2575 sozialversicherungspflichtig
se man sie nun aber führen. »Wir können es Beschäftigte befragt, die nicht älter als 65 Jahre waren.
Bloß wie geht man damit um, wenn es an
uns gar nicht leisten, Leute im Arbeitsmarkt Mehrfachnennung möglich. Arbeitskräften mangelt? Was muss man Er-

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 15


DEUTSCHLAND

werbstätigen bieten, damit sie lange


berufstätig bleiben? In der Ampelkoali- 56 von wie den Liberalen niedrige Steuern.
Doch auch bei den Sozialdemokraten
leisten könne. Der CDU-Abgeordne-
te Carsten Linnemann sitzt auf der

61
tion gehen die Meinungen auseinander. tut sich etwas. Als sich die SPD vor Treppe vor dem Reichstag, Blick auf
Die Grünen, vor allem die jünge- einigen Monaten zum Debattenkon- die Spree. Die Sonne scheint, ein paar
ren, zeigen sich offen für Konzepte vent traf, wagte die Parteijugend einen Besucher schlendern vorbei. Linne-
wie die Viertagewoche. »Die Vier- arbeitspolitischen Putsch: Kurzerhand mann sieht ihnen nach. »Klar wollen
tagewoche muss kommen, wenn wir beteiligten hob sie einen Antrag zur Einführung wir alle mehr Freizeit«, sagt er. Trotz-
uns als Gesellschaft geschlechterge- der 25-Stunden-Woche bei vollem dem: »Wenn wir immer weniger arbei-
recht weiterentwickeln wollen«, sagt britischen Lohnausgleich auf die Tagesordnung. ten, werden wir die Versorgung in
die 25-jährige Bundestagsabgeordne- Unternehmen Das wäre eher eine Dreitagewoche. wichtigen Bereichen nicht mehr ge-
te Emilia Fester. »Sie ermöglicht mehr
Zeit für eine gerechte Verteilung der
wollen bei der Zum Entsetzen der SPD-Spitze kam
der Antrag durch, Hubertus Heil saß
währleisten können.« 30 Jahre sind
vergangen, aber das ist in Teilen im-
Care-Arbeit, Entlastung von Arbeit- Viertagewo- kopfschüttelnd auf seinem Stuhl. Seit- mer noch der Sound von Helmut Kohl.
nehmenden und mehr Zeit und Ruhe che bleiben. dem versucht die Parteiführung, mög- Eine Viertagewoche sieht Linne-
für zivilgesellschaftliches Engage- lichst zu verschweigen, dass die mann kritisch, selbst vor zu hohen
ment.« So komme man auch den Er- Pilotstudie Juni bis 25-Stunden-Woche offizielle Be- Teilzeitquoten warnt er: Man müsse
Dezember 2022 von
wartungen der jüngeren Generatio- Boston College, schlusslage der SPD ist. zumindest mal diskutieren, »ob in Zu-
nen auf dem Arbeitsmarkt entgegen. University of Cam- Eine klare Linie haben die Genos- kunft nicht für Teilzeit im öffentlichen
Sogar der grüne Arbeitspolitiker bridge und dem sen nicht. Während Parteichef Lars Dienst eine sachliche Begründung er-
und frühere Ver.di-Chef Frank Bsirske Thinktank Autonomy Klingbeil bei der Viertagewoche forderlich sein muss«, sagt er.
unterstützt die Idee mittlerweile. »Wir bremst, wirbt seine Co-Vorsitzende Sachliche Begründung? Das dürfte
erleben einen tiefgreifenden Wandel Saskia Esken offensiv dafür. »Mit dem für Streit sorgen.
der Arbeitskultur in Deutschland. Die Angebot einer Viertagewoche in Voll- Es brauche nicht weniger Arbeit,
Erwartungen an Leben und Arbeit zeit können Arbeitgeber ihre Attrak- sondern bessere Bedingungen, so Lin-
ändern sich.« Dem trage ein Modell tivität in einem Arbeitsmarkt erheb- nemanns Haltung – indem etwa die
wie die Viertagewoche Rechnung. lich steigern«, sagt Esken. »Während Steuer- und Abgabenlast für mittlere
Wenige Tage zuvor hatte er noch bei einigen Tätigkeiten mobiles Arbei- und kleine Einkommen reduziert
gewarnt, angesichts des Fachkräfte- ten wesentlich zur Selbstbestimmung werde. Außerdem schlägt der CDU-
mangels sei eine Viertagewoche nicht beiträgt, können Beschäftigte bei- Politiker eine »Aktivrente« vor. »Wer
sinnvoll. Es kommt gerade einiges in spielsweise in der Pflege oder in an- das gesetzliche Rentenalter erreicht
Bewegung. deren Bereichen, wo Präsenz erfor- hat und gerne freiwillig weiterarbei-
Und die FDP? »Statt über eine derlich ist, durch die Viertagewoche ten möchte, soll das steuerfrei ma-
Viertagewoche zu diskutieren, sollten ebenfalls eine bessere Balance von chen dürfen. Damit könnten wir per-
wir über die notwendigen Stellschrau- Leben und Arbeit für sich erfahren.« spektivisch Hunderttausende zurück
ben reden, um weitere gesellschaft- Doch eine innerparteiliche Debat- in den Arbeitsmarkt holen.« Aller-
liche Wohlstandsverluste zu verhin- te über die Äußerungen der Partei- dings wohl weniger die Bauarbeiter
dern«, sagte Parteichef Christian chefin bleibt aus. In großen Teilen und mehr die Büroangestellten der
Lindner. Ende der Debatte. wirkt die SPD, als wollte sie diese Republik. Es ist eine Agenda, die Tei-
Die Liberalen wollen lieber ein an- Themen derzeit lieber ganz meiden. le der Arbeitsgesellschaft außen vor
deres Projekt vorantreiben: die Re- Grünenabgeordnete Ausgerechnet die Partei der Arbeiter lässt, so jedenfalls klingt das, was Lin-
form des Arbeitszeitgesetzes. In Fester: Den Erwar- schweigt dazu, wie die Arbeitsbedin- nemann skizziert.
tungen der jungen
ihrem Wahlprogramm 2021 warb die Generation auf dem
gungen der Zukunft aussehen sollten. Einige Bundestagsabgeordnete
Partei für »eine wöchentliche statt Arbeitsmarkt Anderswo ist die Sorge groß, dass sind inzwischen dazu übergegangen,
einer täglichen Höchstarbeitszeit«. entgegenkommen sich der Staat weniger Arbeit gar nicht sich Inspiration von außen zu holen.
Damit könne Arbeitszeit »möglichst Eine Delegation des Arbeitsausschus-
flexibel innerhalb des Arbeitstags ses reiste Anfang Mai nach Island.
selbst und innerhalb der Woche gelegt Nun schwärmen die Abgeordneten
werden«, sagt Pascal Kober, der so- von den Bedingungen dort. Ge-
zial- und arbeitsmarktpolitische Spre- schlechtergerechte Bezahlung, trans-
cher der FDP-Fraktion. parente Gehälter, in der Regel eine
Auf Druck der Liberalen wurde Arbeitszeit von 36 Stunden im öffent-
das Projekt in den Koalitionsvertrag lichen Dienst, 32 Stunden bei Schicht-
der Ampel aufgenommen. Passiert ist arbeit, Kitaplätze für alle, freie Nach-
noch nichts. mittage für die Familie.
Manche in der FDP sorgen sich Daran hat man in Island allerdings
allerdings, welchen Eindruck solche auch über Jahre gearbeitet: 2018 ver-
Vorstöße hinterlassen. Flexible Tages- abschiedete das Parlament ein Ge-
höchstzeiten, damit könnten Beschäf- setz, das gleichen Lohn für gleiche
tigte auch zwölf Stunden am Tag Arbeit vorschreibt, von 2015 an ver-
arbeiten müssen. »Die FDP ist nicht anstaltete man jahrelange Modellver-
nur die Partei der 80-Stunden-High­ suche zur Viertagewoche.
performer, sondern aller Menschen, Da könne man sich ja etwas ab-
die ihr Leben selbstbestimmt in die schauen, heißt es nun bei den Abge-
eigene Hand nehmen wollen«, sagt ordneten. Bis dahin dürfte es aller-
Julia Steinigeweg

Jens Teutrine, Vorsitzender der Jun- dings noch ein weiter Weg sein.
gen Gruppe der FDP-Fraktion. Markus Dettmer, Sophie Garbe, Veit
Auch die SPD hadert. Das Thema ­Medick, Jonas Schaible, Christoph Schult,
Arbeit ist vielen Genossen so heilig Sara Sievert, Severin Weiland  n

16 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

sichtsrat berief vor zwei Wochen eine Son-


dersitzung ein. Dort stoppte er die Personal-
träume des liberalen Ministers und wollte
das Verfahren in geordnete Bahnen lenken.
Das Präsidium des Aufsichtsrats wurde
­beauftragt, einen Ressortzuschnitt der künf-
tigen Geschäftsführung zu entwickeln, ein
Anforderungsprofil für die Bewerber zu er-
stellen und ein geregeltes Auswahlverfahren

Ber thold Fabricius / Welt / ullstein bild


zu starten.
Inzwischen ist eine Personalberatung ein-
geschaltet, die geeignete Kandidaten suchen
soll. »Birkner kann sich dabei bewerben oder
nicht«, heißt es aus dem Aufsichtsrat.
Im Verkehrsministerium rätselt man, wa-
Peter Rigaud rum Wissing derart breitbeinig verfährt. Es
sei eigentlich nicht seine Art, sagt einer seiner
Liberale Wissing, Birkner: Chaostage im Staatsbetrieb Beamten. Die Stimmung im Management
der Autobahn GmbH jedenfalls ist auf dem
Tiefpunkt.
In dieser Woche hat zudem die bisherige

Auf der Postenautobahn


Finanzgeschäftsführerin Anne Rethmann hin-
geschmissen. Rethmann war eine der wich-
tigsten Personen, die den Betrieb in der
Staatsfirma aufrechterhalten hatten.
Dem Vernehmen nach sind immer mehr
VERKEHR  Die bundeseigene Autobahn GmbH ist in der Krise, zwei Spitzen­ Führungskräfte bei der Autobahn GmbH ge-
nervt davon, wie Wissing und seine Beamten
leute verlassen das Unternehmen. Und FDP-Minister Volker in den Konzern hineinregieren. Innerhalb der
Wissing steht im Verdacht, dass er einen Parteifreund installieren wollte. Autobahn GmbH macht sich jedenfalls schon
seit Längerem Frust breit.
Der Aufsichtsrat hat sich am Donnerstag

B
undesverkehrsminister Volker Wissing Verkehrsminister den Nachfolger vor: Birk- in einer Sondersitzung mit der Personalie
(FDP) will Autobahnen sanieren und ner. Doch die forsche Art, mit der Wissing Rethmann befasst, es war die zweite Sonder-
ausbauen. Damit es schneller geht, hat einen Parteifreund auf den lukrativen Ge- sitzung innerhalb von zwei Wochen. Reth-
sein Haus ein neues Gesetz entworfen und schäftsführerposten (Jahresgehalt rund mann will zum 31. Dezember dieses Jahres
damit einen handfesten Koalitionskrach aus- 360.000 Euro) hieven wollte, hat in seinem ausscheiden.
gelöst. Erst nach der 30-stündigen Marathon- Umfeld viele irritiert. Und einer könnte besonders verbittert
sitzung des Koalitionsausschusses Ende März Es gibt dabei Parallelen zur Trauzeugen- sein: der scheidende Geschäftsführer Krenz.
konnte der Streit innerhalb der Ampel bei- affäre im Wirtschaftsministerium von Robert Wissing soll ihm als Trostpflaster für seinen
gelegt werden, 144 Autobahnprojekte sollten Habeck: Wie bei der Deutschen Energie- Abgang eine Abfindung versprochen haben.
angepackt werden. Agentur GmbH (Dena) wollte sich offenbar Schließlich war sein Vertrag bis 2025 ver­
Doch dieses Ziel ist nun in Gefahr. In der auch bei der Autobahn GmbH die Spitze längert worden. Doch der Aufsichtsrat
Autobahn GmbH, dem bundeseigenen Unter- eines Ministeriums mehr Kontrolle über ein scheint diese Pläne nun durchkreuzt zu ha-
nehmen für Bau und Erhalt des Fernstraßen- staatseigenes Unternehmen verschaffen. ben. Das Verkehrsministerium dementiert auf
netzes, herrscht derzeit Chaos. Einer der Grün- ­Kurioserweise gibt es eine personelle Ver- SPIEGEL -Anfrage, dass eine Abfindung ver-
de: der Verkehrsminister selbst. Unter ande- bindung zwischen beiden Fällen: Birkners sprochen worden sei.
rem weil er offenbar einen Parteifreund mit Ehefrau ist die Schwester der Ehefrau von Die Aufsichtsräte hatten ein Rechtsgutach-
dem Geschäftsführerposten bedenken wollte. Robert Habeck. ten in Auftrag gegeben, das dem SPIEGEL
Das Chaos begann damit, dass Geschäfts- Wissing, selbst Jurist, hätte mit der Be- vorliegt. Es müsse ein Aufhebungsvertrag mit
führer Stephan Krenz die Autobahngesell- nennung Birkners möglicherweise beinahe Krenz geschlossen werden, heißt es darin.
schaft verlassen wollte – aus Frust über die einen Rechtsverstoß begangen, weil zunächst Dieser liegt dem Aufsichtsrat seit Mittwoch-
Hausleitung, wie manche im Ministerium kein Auswahlverfahren vorgenommen wurde abend vor. Demnach stehe dem Geschäfts-
sagen. und stattdessen die Personalie bekannt ge- führer keine Abfindung zu, heißt es darin.
Im Januar teilte er seine Absicht mündlich geben wurde, ohne den Aufsichtsrat zu kon- Krenz werde am 30. Juni 2023 aus dem Unter-
dem Aufsichtsratschef und Parlamentarischen taktieren. Einen angeblichen Rechtsverstoß nehmen ausscheiden.
Staatssekretär im Verkehrsministerium, Oli- weist das Ministerium auf SPIEGEL -Anfrage Vor dem Parlament wird sich Wissing vie-
ver Luksic, mit. In der sich auftuenden Lücke zurück. len Fragen stellen müssen. Für sein Vorhaben,
sah die liberale Ministeriumsspitze offenbar Womit der Verkehrsminister offensichtlich mehr Fernstraßen zu bauen, dürfte die öf-
eine willkommene Gelegenheit, um einen nicht gerechnet hat, war die Gegenwehr im fentlich gewordene Kontroverse ebenfalls
lang gedienten Parteifreund zu belohnen: den Aufsichtsratsgremium. »Eine Mehrheit im nicht förderlich sein. Schon die Suche nach
ehemaligen niedersächsischen FDP-Chef Ste- Aufsichtsrat zu bekommen war vollkommen der bisherigen Geschäftsführung um Stephan
fan Birkner. Der 50-Jährige war mit seiner utopisch«, erklärt ein Mitglied gegenüber dem Krenz verlief äußerst zäh. Kaum ein Top-
Partei im vergangenen Jahr aus dem Landtag SPIEGEL . »Wissing ging wirklich davon aus, manager wollte auf den Schleuderposten
geflogen – und hatte daraufhin die aktive Poli- dass er das so regeln kann: meine Zuständig- wechseln.
tik verlassen. keit, mein Ressort, mein Vorschlag.« Jetzt dürfte die Suche noch ein wenig
Anfang April verkündete das Ministerium Mit dieser Chuzpe ist Wissing aber zu- schwieriger werden.
Krenz’ Kündigung – und prompt stellte der nächst gegen die Wand gefahren. Der Auf- Serafin Reiber, Gerald Traufetter  n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 17


DEUTSCHLAND

Zuständigkeit fallen. Doch Melnyk


belässt es nicht dabei.
Obwohl er offiziell für Nord- und

Duell der Diplomaten


Südamerika zuständig ist, äußert
sich Melnyk nicht nur weiter zur
deutschen Ukrainepolitik, etwa
jüngst in der ARD-Sendung »Anne
Will«. Er stellt auch die Eignung und
AUSSENPOLITIK  Der ukrainische Botschafter Oleksij Makejew und die Amtsführung seines Nachfolgers
öffentlich infrage. So behauptete
sein Vorgänger Andrij Melnyk befehden sich öffentlich. Melnyk, Makejew übe nicht genug
Schwächt ihr Streit die deutsche Unterstützung für das Land? Druck auf die Bundesregierung aus,
um weitere Waffenlieferungen zu
erreichen. »Jetzt schwimmen wir

V
or einigen Tagen bekam der eine Posse. Die beiden sind sich in nur noch mit dem Strom, lassen uns
ukrainische Botschafter in Ber- herzlicher Abneigung verbunden, ha- treiben«, sagte er der »Zeit«. »Statt
lin, Oleksij Makejew, 47, einen ben seit der Amtsübergabe kein ein- weiterzutrommeln, wiederholt mein
Brief aus Kiew. Absender war sein ziges Mal miteinander gesprochen Nachfolger mantraartig: Danke,
Vorgänger Andrij Melnyk, heute und pflegen ein sehr unterschiedliches Deutschland.«
­Vizeaußenminister. In dem Brief kri- Verständnis von Diplomatie. Nachdem Makejew sich im
tisiert Melnyk, dass sein Nachfolger Doch da sich die Ukraine im Krieg ­S PIEGEL -Interview gewehrt hatte
mit einer Tradition gebrochen habe, befindet, geht es um deutlich mehr. (»Der Botschafter der Ukraine in
die er, Melnyk, begründet habe. So Es geht darum, ob sie ihrem Land Berlin bin jetzt ich«), legte Melnyk
berichten es übereinstimmend meh- schaden, das immer wieder um auf Twitter nach: »7 Jahre habe ich
rere Quellen. Deutschlands Unterstützung kämp- in Berlin geschuftet, mit Schweiß
Worum genau ging es? fen muss. Welche politischen Folgen und Blut, voller Hingabe, Passion
Zum Gedenken an das Ende des hat dieser Streit? & Selbstaufopferung, habe meine
Zweiten Weltkriegs am 8. Mai hatte Seit Wochen schießt Melnyk öf- Gesundheit verloren, gegen enor-
Melnyk als Botschafter seines Landes fentlich gegen seinen Nachfolger. Im men Gegenwind angekämpft, damit
jedes Jahr das sowjetische Ehrenmal Herbst verließ er Berlin und kehrte »Der Bot­ ­meine UKRAINE respektiert wird.
im Tiergarten besucht, um der Mil- nach Kiew zurück, seit November Nun wird dieses Erbe mit Füßen
lionen ukrainischer Rotarmisten zu amtiert der 47-Jährige als einer von
schafter der ­zertrampelt.«
gedenken, die auf den Schlacht­ fünf stellvertretenden Außenminis- ­Ukra­ine Mehr Eskalation geht kaum.
feldern fielen oder als Kriegsgefan- tern. Die Erinnerungskultur gehört in Berlin bin Entgeistert verfolgt man im politi-
gene starben. Melnyk wollte damit zu seinem Aufgabengebiet, insofern schen Berlin das Duell der Diploma-
­Wladimir Putins Erzählung stören, mag die Intervention gegen Makejews jetzt ich.« ten. Gerade jene deutschen Politiker,
das »große russische Volk« habe den Weltkriegsgedenken sogar in seine Oleksij Makejew die sich für weitere Waffenlieferungen
Sieg über Nazideutschland allein ge- starkmachen, sorgen sich, dass der
schafft. Streit die Position der Ukraine schwä-
Sein Nachfolger hingegen ent- chen und den Kritikern der Ukraine-
schied, wegen des russischen An- hilfe in Deutschland Auftrieb geben
griffskriegs gegen sein Land keinem könnte.
sowjetischen Denkmal die Ehre zu »Ich würde mir wünschen, dass
erweisen. Stattdessen legte Makejew solche Differenzen hinter verschlos-
am vergangenen Montag in der Neu- sener Tür ausgeräumt werden«, sagt
en Wache in Berlin-Mitte, der zen­ der Grünenpolitiker Anton Hofreiter,
tralen Gedenkstätte für die Opfer von der auch Vorsitzender des Europa-
Krieg und Gewaltherrschaft, ein Blu- ausschusses ist. Die Ukraine brauche
mengebinde nieder. alle Unterstützung, die sie kriegen
Das Präsidialamt in Kiew hat es könne. »Öffentlicher Streit ist da
den Auslandsvertretungen überlas- nicht hilfreich.«
sen zu entscheiden, wie sie den FDP-Verteidigungsexpertin Marie-
8. Mai begehen. Doch Melnyk hatte Agnes Strack-Zimmermann sagt
wieder einmal Gefallen am Angriffs- zwar, dass die Unterstützung der
modus gefunden – er legte nach und ­Ukraine nicht davon abhänge, »ob
schimpfte in einem Interview über sich zwei Botschafter lieb haben oder
seinen Nachfolger. »Es war ein un- zum Kotzen finden«. Dennoch: »Das
verzeihlicher Fehler, zum Beispiel sollen die Herren unter sich ausma-
auf die seit 2015 traditionelle Kranz- chen, bitte möglichst geräuschlos.«
niederlegung am Ehrenmal Tiergar- Der SPD-Außenpolitiker Ralf
ten am 8. Mai zu pfeifen«, sagte er Stegner, stets ein Verteidiger des lan-
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

dem »Redaktionsnetzwerk Deutsch- ge zurückhaltenden Ukrainekurses


land«. von Kanzler Olaf Scholz (SPD), wirft
Und der Eklat war komplett. Melnyk vor, seinem Land zu schaden.
Würde die Ukraine nicht in einem »Der ehemalige ukrainische Botschaf-
Krieg um ihr Überleben kämpfen, ter Melnyk hat sein Amt mit unge-
wäre der öffentliche Schlagabtausch wöhnlichem Stil ausgeführt und ge-
der Topdiplomaten allenfalls Stoff für rade Forderungen nach militärischer

18 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

Unterstützung eher undiplomatisch Verhandlungen zum Minsker Ab-


öffentlich vertreten«, sagt Stegner. kommen war er noch die rechte Hand
»Dass er nun seinen Nachfolger, der des damaligen Außenministers Pa-
zur üblichen diplomatischen Profes- wlo Klimkin, anschließend wurde er
sionalität zurückgekehrt ist, heftig auf das weniger wichtige Amt des
öffentlich attackiert, nutzt der Ver- Sanktionsbeauftragten versetzt. Mel-
tretung ukrainischer Interessen in nyk mochte es kaum glauben, als
Deutschland sicher nicht«, so der ­Makejew im vergangenen Jahr für
SPD-Mann. den Posten des Botschafters in Berlin
Wer in diesen Tagen mit Melnyk nominiert wurde, er hielt ihn für ab-
in Kiew telefoniert, der spürt schnell, gemeldet.
wie persönlich das Politische für ihn Jetzt könnte Melnyk der Weg in
geworden ist. Melnyk hat den Ein- die Bedeutungslosigkeit drohen.
druck, dass Makejew das Erbe seines Bereits die Ablösung als Bot-
siebenjährigen Kampfs in Berlin aus- schafter in Berlin war seiner for-
löschen will. Makejew könne wohl schen Art geschuldet. Er wäre gern
nicht ertragen, ständig mit seinem noch länger in Berlin geblieben,
unkonventionellen Vorgänger vergli- doch nach seinen Äußerungen über
chen zu werden, so Melnyks Analyse. den ukrainischen Nationalisten Ste-
Daher trachte er danach, alles, was pan Bandera, der eine Zeit lang im
mit ihm, Melnyk, verbunden sei, zu Zweiten Weltkrieg mit den Nazis ko-
durchkreuzen. operierte und dessen Anhänger am
Es ist die typische Melnyk-Mi- Holocaust beteiligt waren, musste

Dominik Butzmann / DER SPIEGEL


schung, wie die Deutschen sie im ver- er gehen. In der S ­ endung des Jour-
gangenen Jahr kennengelernt haben: nalisten Tilo Jung hatte er Bandera
Pathos, Wut und ein bisschen Selbst- verteidigt, es folgte ein Sturm der
gerechtigkeit. Entrüstung. Melnyk versicherte öf-
Melnyk glaubt, dass Makejew von fentlich, jeder, der ihn kenne, wisse,
den Regierenden in Deutschland ge- er habe »immer« den Holocaust
mocht werden wolle. Es sei aber nicht »auf das Schärfste verurteilt«.
die Aufgabe des ukrainischen Bot- Auch in der ukrainischen Regie-
schafters, jedermanns Liebling zu
sein. Im Krieg gehe es darum, knall-
»Statt weiter­ selbst vehemente Befürworter von
Waffenlieferungen wie die FDP-Poli-
rung ist nach SPIEGEL-Informationen
die Sorge groß, dass der aktuelle
hart ukrainische Interessen durchzu- zutrommeln, tikerin Strack-Zimmermann haben Streit der beiden Diplomaten dem
setzen. Melnyk hält es größtenteils wiederholt sich gegen die Lieferung westlicher Ansehen des Landes erheblich scha-
für sein Verdienst, dass Kanzler Kampfjets ausgesprochen – und ge- det. Melnyk spreche für sich selbst,
Scholz der Lieferung schwerer Waffen
mein Nachfol­ hen damit auf Distanz zu Melnyk. heißt es daher in Kiew. Seine Äuße-
bis hin zu Leopard-2-Panzern zuge- ger mantra­ Zwar bescheinigen auch deutsche rungen gäben nicht die Haltung der
stimmt hat. artig: Danke, Regierungsvertreter Melnyk Erfolge. ukrainischen Regierung wieder. Of-
In der Bundesregierung weist man Dazu zählt vor allem der Beschluss fenbar wurde der Ex-Botschafter
diese Sicht zurück. Melnyk solle sich Deutschland.« des Bundestags, den Hungertod von mehrfach aufgefordert, von Verbal-
von der Illusion befreien, dass seine Andrij Melnyk mehr als drei Millionen Ukrainerin- attacken in Richtung Deutschland ab-
öffentliche provokative Art etwas ge- nen und Ukrainern in der Stalin-Dik- zusehen – bislang vergebens.
bracht habe, sagt ein ranghoher Be- tatur, den sogenannten Holodomor, Melnyks Auftritte lassen auch an
amter. »Alles, was wir getan haben, als Völkermord anzuerkennen. Mit der Autorität von Außenminister
haben wir trotz und nicht wegen Mel- seiner Idee, ein Denkmal für die von Dmytro Kuleba zweifeln. Seit Län-
nyk getan.« den Nationalsozialisten ermordeten gerem steht Kuleba international
Der neue Botschafter vertrete sein Ukrainer in Berlin zu errichten, schei- im Ruf, amtsmüde zu sein. Die Di­
Land mit derselben Härte wie sein terte er jedoch auch wegen seiner un- plomatenfehde dürfte das Bild vom
Vorgänger, so der Beamte, aber er be- diplomatischen Art. Gesprächspart- zaudernden Außenminister festigen.
schwere sich nicht öffentlich. Make- ner berichten zudem von Indiskretio- Immerhin: Nach den jüngsten Ver-
jew sei damit »zur diplomatischen nen aus internen Gesprächen, mit balattacken hat Kuleba die streiten-
Norm« zurückgekehrt. denen Melnyk Vertrauen zerstört den Diplomaten aufgefordert, sich
Melnyks anhaltende Kritik an der habe. nicht mehr öffentlich zu äußern –
deutschen Ukrainepolitik sei »aus der Anders als sein Vorgänger hat Ma- vorerst mit Erfolg. Makejew hat wei-
Zeit gefallen«, heißt es aus Regie- kejew Zugang zu hochrangigen Re- tere Interviewanfragen abgelehnt.
rungskreisen. Selbst wenn es am An- gierungsvertretern. Als er im Auswär- Melnyk gab für diesen Text keine
fang Druck gebraucht habe – jetzt tigen Amt von Staatssekretär Tobias Zitate frei.
laufe die Unterstützung. Melnyks Lindner zum Antrittsbesuch empfan- Der streitbare Diplomat soll nun
Forderung nach deutschen Kampfjets gen wurde, gesellte sich Außenminis- ins Ausland entsendet werden – auf
hat die Regierung in der Ukraine bis- terin Annalena Baerbock hinzu. Neu- einen Posten, an dem er womöglich
lang nicht offiziell vorgetragen. Der lich, bei der Veranstaltung zum Jah- keinen allzu großen Schaden an­
Vizeaußenminister hatte noch im Ja- restag des russischen Angriffs im richten kann: Für Melnyk ist der Job
nuar eine »starke Kampfjet-Koali- Schloss Bellevue, sprach der Kanzler des ukrainischen Botschafters in Bra-
tion« verlangt, mit US-amerikani- mit Makejew. Melnyk hingegen wur- silien vorgesehen. Weit weg von
schen F-16 und F-35, Eurofightern de von Scholz gemieden. Deutschland.
und Tornados, französischen Rafale Für Makejew ist der Posten in Ber- Marina Kormbaki, Christoph Schult,
und schwedischen Gripen-Jets. Doch lin eine Art Comeback. Während der ­Severin Weiland  n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 19


DEUTSCHLAND

SPIEGEL: Diekmann zufolge begann das Zer-


würfnis zwischen Ihnen und Ihrem Vater
schon wesentlich früher, mit einem 1999 ge-
schlossenen Erbvertrag. Ihnen sei es, Zitat,
»immer nur ums Geld« gegangen.
Kohl: Auch das ist falsch, zumal ich von dem
Erbvertrag erst viele Jahre später erfahren
habe. Durch die Parteispendenaffäre und den
Suizid meiner Mutter 2001 sind wir als Fami-
lie noch enger zusammengerückt. Nach dem
Tod meiner Mutter war ich jahrelang unent-
geltlich als Assistent mit Generalvollmacht für
meinen Vater tätig. Mein Bruder Peter und ich
haben unter anderem durch eine erfolgreiche
Start-up-Investition in dieser Zeit einen sieben-
stelligen Betrag für ihn verdient. 2005 haben
wir gemeinsam als Familie seinen 75. Geburts-
tag gefeiert. Die Dinge änderten sich erst, als
Maike Kohl-Richter entschied, seine Familie
und sein Umfeld auszutauschen – mit Unter-
stützung ihres Trauzeugen Kai Diekmann.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Kohl: Herr Diekmann ist in dieser Angelegen-

Lars Berg / DER SPIEGEL


heit kein Beobachter, er ist Akteur. Er macht
sich zum Sprachrohr und Handlanger von
Maike Kohl-Richter bei ihrer Privatfehde
gegen uns. Er scheint einen ausgeprägten Pro-
filierungsdrang zu haben, wie schon auf den
Unternehmer Kohl: »Unvollständige und einseitige Darstellung unserer Familiengeschichte« Trauerfeiern für meinen Vater zu beobachten
war. Nun will er sich durch die Vermarktung
seines Buchs offenbar auch finanziell auf Kos-
ten unserer Familie bereichern.

»Ein Angriff aus


SPIEGEL: Herr Diekmann wirft Ihnen Ähnli-
ches vor. Sie und Ihr Bruder hätten vor allem
finanzielle Interessen verfolgt.

dem Nichts«
Kohl: Das ist bösartig und falsch. Ich habe
mich immer geweigert, öffentlich über die
Finanzen unserer Familie zu sprechen. Nach
den Aussagen von Herrn Diekmann bin ich
jedoch gezwungen, etwas klarzustellen: Die
MACHT  Der frühere »Bild«-Chefredakteur Kai Diekmann wirft Walter Kohl Schenkungen, die wir vor dem Suizid meiner
Mutter erhalten haben, entsprangen ihrer
vor, es sei ihm nur um das Geld seines Vaters gegangen. Sorge, im Zuge der Parteispendenaffäre alles
Hier reagiert der Sohn des Ex-Bundeskanzlers auf die Vorwürfe. verlieren zu können. Sie wollte ihren Kindern
»mit warmen Händen« geben. Zur vollen
Wahrheit gehört: Maike Kohl-Richter erhielt
SPIEGEL: Herr Kohl, in seinem neuen Buch nach dem schweren Unfall Ihres Vaters 2008 später ein Vielfaches an Schenkungen und
erhebt der frühere »Bild«-Chef Kai Diekmann nicht um die Frage gegangen, ob er überlebt, Zahlungen von meinem Vater, schätzungs-
schwere Vorwürfe gegen Sie und Ihren Bru- sondern »ausschließlich um ihr eigenes ma- weise mehr als fünf Millionen Euro. Warum
der. Sie hätten Verleumdungen über Ihren terielles Wohlergehen«. lässt Herr Diekmann das unerwähnt?
Vater Helmut Kohl ausgekübelt und ihn »als Kohl: Das ist eine zynische und unwahre
reine Gelddruckmaschine« betrachtet. Unterstellung. Mein Bruder und ich haben
Kohl: Das war ein Angriff aus dem Nichts, der zusammen mit unseren Familien unseren
mich überrascht hat. Herr Diekmann kennt Vater oft im Krankenhaus besucht. Schon
mich ja kaum, es gibt keine persönlichen oder dort begann die Isolierung meines Vaters
beruflichen Berührungspunkte zwischen uns. durch seine neue Lebensgefährtin Maike, die
SPIEGEL: Hat Sie Herr Diekmann vor der ihn wenig später geheiratet hat. Den Ärzten
­Veröffentlichung mit den Vorwürfen kon­ wurde untersagt, mit uns über den Gesund-
frontiert? heitszustand unseres Vaters zu sprechen, in
Kohl: Nein. Weder er noch sein Verlag haben unserem Elternhaus in Oggersheim wurden
Stefan Schnoor / People Picture

mit unserer Familie gesprochen. Ich habe erst die Türschlösser ausgewechselt und die Tele-
am Montagnachmittag durch einen Vorab- fonanschlüsse auf das Handy von Maike
druck des »Stern« von den Vorwürfen erfah- Kohl-Richter umgeleitet. Für viele Weg­
ren. Bei der Lektüre fragte ich mich: Warum begleiter, zum Beispiel seine langjährige
geht ein langjähriger Chefredakteur wie Diek- Haushälterin Hilde Seeber und seinen Fahrer
mann so unprofessionell vor? Ecki Seeber, brach damit schrittweise der
SPIEGEL: Herr Diekmann wirft Ihnen und Kontakt zu meinem Vater ab. Genau wie für
Ihrem Bruder unter anderem vor, es sei Ihnen unsere Familie. Autor Diekmann, Ex-Kanzler Kohl 2005

20 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

Einfach
»Herr Diekmann ist in
dieser Angelegenheit kein
Beobachter, er ist Akteur.«

SPIEGEL: Nach Veröffentlichung des Vorab­


drucks haben Sie angekündigt, juristische
Schritte gegen das Buch zu prüfen. Wogegen
genau wollen Sie vorgehen?
Kohl: Gegen zahlreiche falsche Äußerungen,
etwa im Zusammenhang mit dem Klinikauf­
m eh r wissen
enthalt meines Vaters oder unseren angeb­
lichen finanziellen Interessen.
SPIEGEL: In einer Passage beschreibt Herr
Diekmann, wie Sie nach dem Tod Ihres
­Vaters unangemeldet zu dessen Totenbett
vorgedrungen seien. Dort hätten Sie gebe­
tet und einige letzte Worte an den Verstor­
benen gerichtet. Es sei »ein absurder Auf­
tritt« gewesen.
Kohl: Ich habe vom Tod meines Vaters aus
dem Radio im Auto erfahren, wie hätte ich
mich voranmelden sollen? Ausgerechnet den
Abschied von meinem gerade verstorbenen
Vater auszuschlachten und für eine öffentliche
Bloßstellung zu instrumentalisieren sagt viel
über Herrn Diekmanns Charakter aus.
SPIEGEL: An anderer Stelle schreibt Herr
Diekmann, Sie hätten ihm gegenüber einmal
gesagt, den Namen Kohl zu tragen sei »wie
ein Judenstern«. Trifft das zu? Jetzt
Kohl: Diesen Versuch, mich mit Dreck zu
­bewerfen, weise ich entschieden zurück. am
SPIEGEL: In dem Buch werden Sie und Ihr
Bruder als selbstmitleidige Versager darge­
Kiosk
stellt, für die sich Ihr Vater angeblich ge­
schämt habe. Wie kommt Herr Diekmann zu
diesen Aussagen?
Kohl: Das müssen Sie ihn fragen. Die Me­thode
Diekmann funktioniert nach dem Prinzip:
sich im Privatleben anderer einnisten, Unru­
he stiften, Skandale produzieren. Die tenden­
ziöse, unvollständige und einseitige Darstel­
lung unserer Familiengeschichte dient seinem
Vermarktungsinteresse – eine durchschau­
bare Strategie. Wieso sich der »Stern« für so

Das Nachrichten-
eine PR-Kampagne instrumentalisieren lässt,
kann ich nicht nachvollziehen.
SPIEGEL: Tragen Sie nicht selbst dazu bei,
­indem Sie sich jetzt äußern?
Kohl: Glauben Sie mir: Meine Familie und ich
Magazin für Kinder
hätten es gern vermieden, Stellung zu dem
Buch zu beziehen. Aber kann man solchen Für alle Kinder, die mitreden wollen.
Schmutz unwidersprochen lassen? Wir möch­ Verständlich und spannend erklären SPIEGEL-Autoren aktuelle
ten nicht, dass unser Schweigen als Zustim­
mung missverstanden wird. Würden wir uns Themen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Technik. Dazu kommen
nicht gegen Diekmanns Narrativ wehren, Büchertipps, Comics und kreative Ideen zum Mitmachen.
würde es von der Öffentlichkeit irgendwann
als wahr akzeptiert werden.
SPIEGEL: Haben Sie inzwischen Frieden mit
Ihrem Vater geschlossen?
Kohl: Schon lange. Unsere Familie besucht
regelmäßig sein Grab, und wir wünschen uns, Mehr erfahren:
dass es endlich in einen würdigen Zustand
versetzt wird. www.deinspiegel.de
Interview: Melanie Amann, Sven Röbel  n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 21


DEUTSCHLAND

Blick nach unten


SOZIALES  Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt, doch Millionen Kinder leben
in prekären Verhältnissen. Was kann der Staat dagegen tun? Kann er überhaupt
etwas tun? Fünf Politikerinnen und Experten über ihre Sicht auf Armut. Von Anna Reimann

R
icarda Lang kann sich an ein Karl-Josef Laumann, dem scheiden- f­rüher Abgeordneter der SPD im
bedrückendes Gefühl erinnern. den Präsidenten des deutschen Kin- Düsseldorfer Landtag und Bürger-
»Ich hatte eine schöne Kind- derschutzbunds Heinz Hilgers. Und meister von Dormagen, kann in sei-
heit, bin nicht in Armut aufgewach- der Integrationsbeauftragten von nem rheinischen Singsang sehr plas-
sen«, sagt die Grünenvorsitzende. Berlin-Neukölln, Güner Balci. tisch erklären, was Kinderarmut für
»Aber meine alleinerziehende Mutter ihn bedeutet.
musste sehr hart rackern, um über die Diagnose: Armut »Armut ist die Jeans, die nach der
Runden zu kommen.« Die Armut Wer gilt als arm? Eine gängige Defi- Wäsche nachts auf die Heizung
­lauerte, so nennt Lang das. nition, die auch die Bundesregierung kommt, weil es keine zweite gibt. Ar-
Wenn hingegen der FDP-Politiker teilt, lautet: Arm oder armutsgefähr- mut ist, wenn ein Kind kurz vor der
Martin Gassner-Herz über sein Auf- det ist, wer weniger als 60 Prozent Klassenfahrt Bauchschmerzen be-
wachsen auf einem Dorf in Baden- des Median-Nettoeinkommens ver- kommt und nicht mitfährt, weil der
Württemberg redet, spricht er von dient. Für eine Alleinerziehende mit Staat zwar die Kosten der Reise, aber
einer »Kindheit auf der Blümchen- zwei Kindern unter 14 Jahren lag nicht das Taschengeld deckt. Armut
wiese«. Davon, dass seine Eltern dieser Wert 2021 bei 1833 Euro ist, wenn man die Schule nicht
ihm alle Möglichkeiten eröffnen ­monatlich, für ein Paar mit zwei schafft, weil von Geburt an zu wenig
konnten. Welchen Einfluss das hatte, ­Kindern bei 2405 Euro. Nach einer Geld da war für Bildung.« Wenn zu
habe er erst verstanden, als er zur weiteren anerkannten Definition Hause das Geld fehle für Kinder­
Bundeswehr ging, sagt Gassner- ­gelten Kinder als arm, deren Eltern bücher, die Musikschule, den Mu-
Herz, 37. »Da waren Jungs, die nicht Bürgergeld, früher Hartz IV, be­ seumsbesuch, sei es wahnsinnig
dümmer und nicht fauler waren als kommen. 2,9 Millionen Kinder und schwer, den Anschluss zu halten.
ich, aber ich hatte schon einen Mas- Jugendliche leben in Deutschland in »Arme Jugendliche bleiben dreimal
ter und die noch keinen Hauptschul- Familien, auf die diese Beschreibun- so häufig ohne Schulabschluss wie
abschluss.« gen zutreffen. Kinder aus Haushalten der Mittel-
Lang und Gassner-Herz sitzen im Was für eine Kindheit sich hinter schicht«, sagt Hilgers, 74.
Bundestag und prägen die politische diesen Zahlen verbirgt, was so eine Er erzählt von Schuleingangstests,
Debatte über Kinderarmut in Lebenssituation mit Familien und Kinder beim ­kos­­ten- bei denen Fünf- und Sechsjährige auf
Deutschland mit – eine Diskussion, Eltern macht, sagen die Definitionen ­losen Mittag­essen Bildern Löwen und Elefanten nicht
in Berlin: Armut ist,
in der es viel um Zahlen geht, um nicht. sich die Schule für
erkannten, weil sie nie im Zoo waren
abstrakte Summen. 20 Milliarden Heinz Hilgers, 30 Jahre lang Prä- die Kinder nicht aus- und auch keine Bücher besaßen.
Euro fordern die einen, Sozialver- sident des Kinderschutzbundes, suchen zu können Was kann Politik da überhaupt
bände und Forscher beispielsweise, noch tun? Ist da nicht alles schon zu
für eine wirksame Kindergrund­ spät?
sicherung. Die anderen, etwa die Seit bald drei Jahren ist die Auto-
FDP, halten einen einstelligen Mil- rin und Journalistin Güner Balci, 48,
liardenbetrag für ausreichend. Da- Integrationsbeauftragte in Berlin-
zwischen steht die grüne Familien- Neukölln. Von ihrem Dienstsitz im
ministerin Lisa Paus, die demnächst Rathaus aus, dritter Stock, blickt sie
ein Regierungskonzept für eine Kin- auf die Karl-Marx-Straße. Nicht weit
dergrundsicherung vorlegen will. entfernt davon ist das Rollberg-Vier-
Doch es geht nicht nur ums Geld, tel, in dem Balci selbst aufgewachsen
sondern um die Frage, was eigentlich ist. Wohnblöcke aus den Sechziger-
Armut ausmacht. Wie eine halbwegs und Siebziger­jahren mit Sozialwoh-
gute Kindheit in Deutschland aus- nungen, viele Migrantenfamilien, die
sehen sollte. deutlich häufiger von Armut betrof-
Wie viel Geld muss dafür wohin fen sind als der Rest der Bevölkerung.
fließen? Und darf der Staat zulassen, Balci kennt die Probleme seit ihrer
Christian Ditsch / epd-bild

dass es arme Kinder gibt? Oder kann Kindheit. Und auch die Lage der
er es am Ende gar nicht verhindern? ­neuen Zuwanderer.
Darüber hat der SPIEGEL mit »Gestern habe ich eine Afghanin
Gassner-Herz und Lang gesprochen, getroffen, die mit Mann und fünf Kin-
aber auch mit anderen Expertinnen dern seit 2016 in einem Zimmer lebt.
und Politikern: dem CDU-Mann Versuchen Sie mal als Afghanin, in

22 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

»Wenige Straßenzüge von-


einander entfernt Hochkultur
neben Entwicklungsland«
Güner Balci, Integrationsbeauftragte von
Berlin-Neukölln
Jesco Denzel / DER SPIEGEL

Berlin für wenig Geld eine anständige Woh- alles erleben dürften, was zum Großwerden Gesellschaft sie am Ende verliere, weil sie
nung zu bekommen. Der größte Wunsch die- dazugehöre. »Wenn alleinerziehende Mütter nicht an die Kinder glaube.
ser Mutter ist: ein anderes Umfeld für ihre mit ihren Kindern in der Stadt sind und einen Die Grünenchefin kennt das Gefühl, ver-
Kinder.« Bogen um die Eisdiele, um andere Angebote heimlichen zu müssen, dass gerade zu wenig
Armut sei, wenn man festhänge, sich nicht für Kinder machen müssen, dann finde ich Geld da ist, um die gleichen Dinge zu tun
die Schule für die Kinder aussuchen könne, das bitter, das geht mir schon an die Seele«, oder zu kaufen wie die Klassenkameraden.
keine Wahlmöglichkeit habe, wie und wo sagt Laumann. »Ich war auf einer Schule, wo die meisten
man lebe, sagt Balci. Aus Sicht von Ricarda Lang, Jahrgang eher gut situiert waren. Bei uns aber war
Arm zu sein, das bedeute auch eine ande- 1994, wurde Armut in Deutschland sehr lan- Urlaub manchmal nicht drin. Oft habe ich
re Vorstellungswelt. Armut lenke die Gedan- ge mit individuellem Versagen gleichgesetzt. mir dann schon präventiv eingeredet, ich will
ken und bremse sie. Das beginne schon direkt Dieses Gefühl, »mit mir stimmt etwas nicht, das eh gar nicht, um mich nicht mit der Trau-
nach der Geburt, sagt Balci. »Eltern, die mit meiner Familie stimmt etwas nicht«, füh- rigkeit auseinanderzusetzen.«
in gesicherten Verhältnissen leben, können re, so die Forschung, dazu, dass sich Kinder Sie habe erlebt, sagt Lang, »wie ein ge­
sich, das Baby im Arm, die Frage stellen: Was weniger Selbstwert zuschrieben, sich zurück- ringer finanzieller Spielraum die Freiheit
habe ich hier für einen Menschen vor mir? zögen, dass sie unsichtbar würden. Dass die ­einschränken kann. Wie groß der Tribut
Was kann er gut, was will ich für ihn? Weil war, den meine Mutter körperlich und psy-
daraus etwas folgen kann, anders als für arme chisch zahlte, wie groß manchmal die Ein-
Eltern.« Jung und ohne Geld samkeit war«.
Bedürftige Kinder beschreiben sich oft
nicht als arm, auch weil Scham eine Rolle Armutsgefährdung *, Anteil der Betroffenen Ein großes Versprechen
in den jeweiligen Altersgruppen, in Prozent
spielt. Oder weil ihnen schlicht die Perspek- Wie Eltern ihre Kinder erziehen wollen, wel-
tive auf ein anderes Leben fehlt. Was wissen unter 18 Jahre che Werte sie vermitteln – dabei hat der Staat
Politikerinnen und Politiker über diese 20,8 so gut wie nichts mitzureden. Aber die Poli-
Scham? Können sie sich einfühlen? 18 bis unter 25 Jahre tik hat es in der Hand, wie sie Familien fi-
Im Dezember vergangenen Jahres hielt 25,5 nanziell ausstattet, welche Zugänge sie Kin-
NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann, dern zu Kultur und Bildung verschafft, wie
25 bis unter 50 Jahre
65, eine Art Wutrede im Düsseldorfer Land- viel unbeschwerte Kindheit auch unter
14,6
tag, kritisch auch gegenüber der eigenen Par- schwierigen Bedingungen möglich ist.
tei, leise im Ton und doch voller Wucht. Es 50 bis unter 65 Jahre Martin Gassner-Herz, FDP-Berichterstat-
gebe »so schlaue Leute«, ätzte Laumann, 12,7 ter für das Thema Kindergrundsicherung,
»die kotzen mich an«, die sagten: »Wenn du ab 65 Jahre sieht es so: Der Staat biete Kindern das, was
den armen Leuten mehr Geld gibst, dann tun 17,4 sie materiell bräuchten und das Verspre-
sie es verrauchen und versaufen und geben Gesamtbevölkerung chen: »Wenn du Sport machen willst, bist
es nicht den Kindern.« 16,6 du dabei, wenn du tanzen willst, willkom-
Vier Monate später klingt Laumann vor- men im Trachtenverein!« Und, sagt Gass-
* Personen in Haushalten mit einem Einkommen von weniger
sichtiger. Armut bedeute, sagt der Minister, als 60 % des mittleren Einkommens (Bundesmedian). ner-Herz: »Das Versprechen muss sein:
dass Kinder nicht teilhaben könnten, nicht S Quelle: Bertelsmann Stiftung Wenn deine Klasse in den Zoo fährt, kannst

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 23


DEUTSCHLAND

Bernd Wüstneck / picture alliance / dpa

Jens Krick / picture alliance

Marcus Simaitis
Jolin Held
»Seine Talente kann »Unter die Flügel »Es gibt keine »Wünsche mir größere
man nicht mit 15 Euro pusten, um ­Rechtfertigung Rolle der Schulen
aus dem Teilhabe­ eigene Talente zu für ungleiche beim ­Zugang zu
paket ausleben.« entdecken« Chancen.« Sozialleistungen«
Heinz Hilgers, scheidender Martin Gassner-Herz, Ricarda Lang, Karl-Josef Laumann,
Kinderschutzbund-Prä­sident FDP-Bundestagsabgeordneter Grünenvorsitzende NRW-Sozialminister (CDU)

du mit.« Aus seiner Sicht hält der Staat sein Kein Raum für Illusionen meint die Kraft der Zivilgesellschaft und Ver-
Versprechen unter dem Strich ein. »Eine Die Ampelkoalition hält die Kindergrund­ eine, der Netzwerke, die Geborgenheit ver-
ideale Welt gibt es nicht.« Keine Blümchen- sicherung für ein zentrales Instrument, aber mitteln. Das alles könne nicht der Staat leis-
wiese für alle also. noch sind die Konturen unscharf. Im Kern ten, das könnten nur die Menschen.
Fragt man den scheidenden Präsidenten geht es um die Frage: Braucht es vor allem Heinz Hilgers findet es verlogen zu sagen,
des Kinderschutzbundes, was der Staat Kin- mehr Geld für Familien – oder müssten sich mehr Geld nütze nichts. Im Bürgergeldsatz
dern bieten muss, dann klingt das erst mal vor allem Strukturen ändern? Und kann das seien für »sonstige Dienstleistungen« knapp
sehr ähnlich: Der Staat müsse dafür sorgen, eine ohne das andere gehen? 12 Euro vorgesehen, davon müssten auch
dass das Existenzminimum bei den Men- Der Staat müsse Kindern Teilhabe ver- Windeln bezahlt werden. Das billigste Mo-
schen ankomme und dass jedes Kind seine sprechen, sagte der Liberale Gassner-Herz. natspaket koste aber 39 Euro, das habe er
Talente ausleben könne. Trotzdem meint Reichen dafür die 15 Euro aus dem Bildungs- recherchiert.
Heinz Hilgers damit etwas vollkommen an- und Teilhabepaket, die monatlich für Hobbys Hilgers rechnet vor, dass das aktuelle »ver-
deres als der FDP-Mann. vorgesehen sind? Oder muss der Staat auch fassungsrechtlich notwendige steuerliche
»Man kann seine Talente nicht mit sicherstellen, dass Kinder sich Eis und Limo Existenzminimum« im Monat 746 Euro be-
15 Euro aus dem Bildungs- und Teilhabe- auf dem Schulausflug in den Zoo kaufen trage. Dieser Betrag werde also beim elter-
paket ausleben. Das reicht für nix.« Das Bür- ­können? lichen Einkommen nicht besteuert. »Mit wel-
gergeld enthalte für Kinder bis fünf Jahre Gassner-Herz antwortet nicht mit Ja oder chem Recht enthalten wir Kindern, deren
genau 1,72 Euro im Monat für Bildung. »Wie mit Nein, sondern: »Darüber diskutiere ich Eltern keine Steuern zahlen, dieses Existenz-
soll das gehen?« Der Staat enthalte armen gerne.« minimum vor? Deshalb fordere ich diesen
Kindern das Existenzminimum vor, so lautet Es sei aber, fügt er hinzu, ein Fehler, nur Betrag als Grundsicherung für alle Kinder.«
Hilgers’ Vorwurf. über Geld zu reden. Wenn es ein »Kinder- Hilgers kann sich geradezu in Wut rech-
Was also sollte der Staat garantieren? chancenportal« gäbe, eine digitale Plattform, nen. Wenn man ihn fragt, ob es nicht wichti-
Die Neuköllnerin Balci meint, alle Kinder auf der die bestehenden staatlichen finanziel- ger sei, in Bildung zu investieren, als mehr
müssten Chancen haben, als hätten sie wohl- len Leistungen einfach, zuverlässig und un- Geld direkt an Familien auszuzahlen, klingt
habende Eltern. Wenn ein armes Mädchen bürokratisch abgerufen werden könnten, wäre er fassungslos: »Es kann doch nicht sein, dass
Geige spielen wolle, die preiswerte Musik- das so etwas wie ein Willkommenssignal an wir armen Kindern das Existenzminimum
schule aber keinen Platz frei habe, müsse der arme Kinder – der wichtigste Schritt bei der verweigern, um gute Bildung für alle zu
Staat teureren Einzelunterricht ermöglichen, staatlichen Bekämpfung von Kinderarmut. ­zahlen.«
wie ihn das Kind aus der Akademikerfamilie Ein »Unter die Flügel pusten, um eigene Ta- Auch Karl-Josef Laumann klingt nach
bekomme. lente zu entdecken«, so sagt es Gassner-Herz. mehr als 30 Jahren in der Bundes- und Lan-
Drei Experten, drei Ansätze. Drei Denk- Er war sieben Jahre lang Sachbearbeiter despolitik nicht besonders hoffnungsvoll.
schulen. Und Karl-Josef Laumann? im Jobcenter. Alle seine Kunden hätten »Früher hieß es immer: Wenn wir einen
Der weiß aus Erfahrung, dass es zwar in Hartz IV bekommen, aber nicht alle deren Rechtsanspruch auf Kitabetreuung schaffen
vielen Regionen einen »Lehrstellenüberhang Kinder seien gleich arm gewesen. Der FDP- und das Angebot an Ganztagsschulen aus-
gibt«, aber zu viele junge Leute ohne Schul- Mann nennt das Beispiel einer alleinerzie- bauen, dann besiegen wir die Kinderarmut«,
abschluss. »Der Staat muss dafür sorgen, henden Mutter aus der Mittelschicht, die nach sagt er. »Jetzt haben wir beides. Aber das
dass auch Kinder, die keine Unterstützung einer Trennung auf Transferleistungen an- Problem ist nicht gelöst.« Denn immer noch
der Eltern haben, besser durch unser Schul- gewiesen gewesen sei. »Die wusste, wen sie seien arme Eltern zu wenig mit Schulen und
system kommen«, sagt Laumann. ansprechen muss, damit ihr Kind trotzdem anderen staatlichen Institutionen und Bil-
Darauf immerhin können sich alle eini- beim Fußballtraining mitmachen kann.« dungsangeboten vernetzt. Auch deshalb wür-
gen. Vielleicht ist das so etwas wie der Mini- Gassner-Herz nennt das den »nicht ma­ den viele Bedürftige die Leistungen gar nicht
malkonsens. teriellen Teil der Armutsbekämpfung«. Er erst beantragen, die ihnen zustünden.

24 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

Der CDU-Politiker sagt: »Wenn ich es mir milie, das in einer top ausgestatteten Schule zum Fußballtraining zu gehen, sondern auch
wünschen könnte, würden die Schulen eine sitzt, ist trotzdem arm«, sagt sie. »Anders- in die Oper.
größere Rolle beim Zugang zu Sozialleistun- herum: Bekommt die Familie mehr Geld, Hilgers wurde 1948 geboren. »Ich hatte
gen spielen, denn sie sind aufgrund der Schul- aber bei den Schulen wird an der Ausstattung eine Lederhose, die das ganze Jahr getragen
pflicht das einzige System, in dem wir alle gespart, kann das Kind sein Potenzial nicht wurde, gestopfte warme Stricksocken. Da-
Kinder erreichen können.« ausschöpfen. Wir brauchen eine doppelte Ab- mals waren 90 Prozent bei uns auf dem Dorf
Man müsse die Menschen »lieb haben«, sicherung gegen Kinderarmut«, sagt Lang. arm. Das war auch nicht super, aber anders
um ihnen aus der Armut zu helfen, hat Lau- Und die Chancen, die müssten immer als heute. Denn wir waren nicht ausgegrenzt.«
mann im Landtag einmal gesagt. Aber er sagt gleich sein. »In einer modernen demokrati- Armut zu Hilgers Zeiten hatte einen er-
im Gespräch auch: »Wenn ein Kind morgens schen Gesellschaft gibt es keine Rechtferti- klärbaren Grund. Es waren die Nachkriegs-
ohne Butterbrot in die Schule geht, dann hat gung für ungleiche Chancen.« jahre.
das nicht zwangsweise mit materieller Armut Und heute? Hilgers sagt, Armut sei heute
zu tun. Sondern es kann auch damit zu Die Grenzen des Machbaren nicht mehr nachvollziehbar.
tun haben, dass niemand aufsteht und sich Wie viel Ungleichheit muss eine Gesellschaft Eine Frage an FDP-Mann Gassner-Herz:
kümmert.« zulassen? Welche Unterschiede aufgrund Kann er sich hineinversetzen in die Lage eines
Güner Balci sagt, in Berlin sehe sie, wie ihres Elternhauses müssen Kinder aushalten? Kindes, das eine Einladung zum Geburtstag
»wenige Straßenzüge voneinander entfernt Güner Balci hat das erste Buch, das sie als ausschlage, weil kein Geld für ein Geschenk
Hochkultur neben Entwicklungsland exis- Kind besaß, auf der Straße gefunden, vor da ist? Müsste nicht für jedes Kind in Deutsch-
tiert«. Dort wohnten Kinder, die kaum noch einer Eckkneipe. Ein Heft mit Witzen, sie land finanziell wenigstens ein Sommerurlaub
freie Zeit in ihrem Wochenplan hätten, Tai- wusste genau, wer es verloren hatte, der Sohn drin sein?
Chi, Klarinette, Ballett, Fußball und Nach- des Wirts. Aber sie gab es nicht zurück. »So Das sei ja für viele Eltern schwierig, sagt
hilfe – direkt neben Kindern, die nicht mal wertvoll war das für mich.« Gassner-Herz, auch für Menschen aus der
einen Bruchteil davon erleben könnten. Eine Kinder hielten mehr aus, als man denke, Mittelschicht. Er benutzt gern das Bild einer
»riesige Kluft, geradezu idealtypisch« für sagt sie: »Armut kann auch ein Ansporn sein, Aufstiegsleiter. Am unteren Ende, sagt er, sei-
Politiker, die etwas verändern wollten, sagt Kreativität zu entwickeln.« Aber nur wenn en die Sprossen zu weit auseinander, oft nicht
Balci. die Politik den Kindern alle Chancen eröffne, erreichbar. »Unsere Aufgabe ist es, die Spros-
Ihre Lösungsvorschläge passen auf ein an Kultur und Bildung teilzuhaben. Nicht nur sen dichter und erreichbarer zu bauen. Hoch-
Blatt, eine Art Bierdeckelreform für eine klettern müssen die Leute selbst.« Es sei eben
­gerechtere Gesellschaft, den Kampf gegen eine Leiter, kein Fahrstuhl.
Armut. Risikofaktor Kind »Hinter dem Wunsch der Eltern, den Kin-
»Kinderrechte müssen ernst genommen dern solle es einmal besser gehen, steckt sehr
werden«, sagt Balci. Sie will mit umfassenden Armutsgefährdungsquoten von Familien, viel Kraft und Antrieb«, sagt der Liberale.
gemessen am Bundesmedian, 2021*,
Studien über häusliche Gewalt beginnen, und in Prozent »Wir müssen darauf achten, dass dieser An-
dann müsse der Staat das Recht auf Unver- trieb nicht verloren geht.«
sehrtheit entschieden durchsetzen. »Denn Paarfamilien mit 1 Kind
nur heile Kinder können an der Gesellschaft Paarfamilien mit 2 Kindern Ein Kampfbegriff im besten Sinne
teilnehmen, egal ob arm oder reich.« Paarfamilien mit mehr als 2 Kindern Hilgers hält sich zugute, den Begriff Kinder-
Dann das Geld: Milliarden würde Balci in Alleinerziehende armut erstmals in der Debatte verankert zu
die Schulen und Bildung investieren, die Leh- haben. Ein politischer Kampfbegriff im besten
rer besser und leistungsgerecht bezahlen. »Sie 54,0 Sinne, findet er. Kinderarmut bedeute, »dass
HB** 50,0
sind die Manager unserer Gesellschaft.« 41,8 MV die ganze Argumentation Konservativer oder
Drittens: sozialen Wohnraum schaffen, HH** 35,8 Liberaler, an Armut seien die Leute selbst
massenhaft. »Normales Wohnen für Familien SH schuld, wegbricht. Denn Kinder können nicht
ist zum Luxus geworden.« schuld an ihrer finanziellen Lage sein«.
Und schließlich höhere Löhne: »Ich kann Er sieht bei den Liberalen einen grundsätz-
43,6
jeden verstehen, der Bürgergeld bezieht und NI lichen Widerspruch. »Die FDP, die sonst für
nebenher schwarz arbeitet« – statt einem Liberalismus und Freiheit auftritt, will bei
Vollzeitjob nachzugehen, von dem er nicht 38,1 armen Familien plötzlich bestimmen, wofür
50,9 BB
ordentlich leben könne. sie was ausgibt, misstraut den Menschen.«
ST 44,4
Und Direktzahlungen an die Familien? Die SN Das sei zutiefst paternalistisch. »Die Mehrheit
brauche es auch, sagt Balci. »Das Bürgergeld 41,8 45,4 der armen Kinder lebt bei Eltern, die erwerbs-
NW HE
reicht nicht zum Leben, nicht zum Sterben.« tätig sind und aufstocken müssen, Taxifahrer,
Seit Monaten ringen die Ampelpartner um 44,1 Friseure. Und all diesen Menschen wollen wir
RP
die Ausgestaltung einer Kindergrundsiche- misstrauen?«
39,6
rung. Es ist zäh. Dabei war am Anfang die BE Armut – für die einen ist das eine System-
Begeisterung groß. Als die Kindergrundsiche- frage, auch die Folge fehlender Wertschät-
rung in den Sondierungen der Ampelpartei- 50,5
zung. Für die anderen eine durch kleine
en vereinbart wurde, rief Ricarda Lang ihre 47,2 TH ­Änderungen abzumildernde Härte.
Mutter an. »Ich hatte das Gefühl, mit dem, SL** 39,1 Am Ende geht es um die Frage, was mach-
was wir da vorhaben, machen wir das Leben BW 31,6 bar ist. Oder was Politiker für machbar halten.
für Frauen wie sie ein bisschen freier, leichter, BY Güner Balci sagt: »Die Politiker, die darü-
selbstbestimmter.« ber reden, dass es doch schon so viel Geld für
Glaubt sie das heute noch? arme Familien gibt, sollten in den Spiegel gu-
Lang hält das Projekt immer noch für cken und sagen, was sie ihren eigenen Kindern
wichtig, den »zentralen Schritt beim Kampf ermöglichen. Und das sollten sie allen Kin-
* Erstergebnisse des Mikrozensus. ** Der Aussagewert für
gegen Kinderarmut«. Aber darüber hinaus Paarfamilien mit einem Kind ist eingeschränkt wegen niedriger dern geben. Klingt wie Luxus? Darauf lasse
zugrunde liegender Fallzahlen.
brauche es langfristige Investitionen in Bil- ich mich nicht ein in einem reichen Land wie
S Quellen: Bertelsmann Stiftung, Statistische Ämter des
dung, denn: »Das Kind aus einer armen Fa- Deutschland.« 
‡

Bundes und der Länder n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 25


DEUTSCHLAND

»Nazistrukturen«, »Repressionsbe-
hörden«, »Knast-Profiteure« sowie
staatliche Einrichtungen und Parteien

»Gib dem Bullen, was


aufgeführt – doch da ist die Szene fle-
xibel. Als Start für die Randale gilt
der erste Samstag nach der Urteils-

er braucht«
verkündung.
In Leipzig haben Linksextremisten
schon mehrmals hohe Sachschäden
verursacht. Ende März brannten in
der Stadt 19 Fahrzeuge eines Skoda-
SICHERHEIT  Nach dem Urteil gegen die mutmaßliche Extremistin Lina E. Autohauses. Auf der einschlägigen
Website indymedia.org fand sich spä-
befürchten Behörden eine Welle von Gewalttaten. Die Sorge wächst, ter ein Bekennerschreiben, das einen
dass im Untergrund eine neue Form von Linksterrorismus entstehen könnte. Zusammenhang mit dem Lina-E.-Ver-
fahren herstellte. Überschrift: »Re-
pression kann teuer werden«. Dem

A Das Bekenner-
ls Polizist in Sachsen braucht taten der Szene? Das Bundeskrimi- Autobauer wird vorgeworfen, sich
man ein dickes Fell. Im März nalamt (BKA) sieht Parallelen zur »stolz an der Ausrüstung von Polizei-
zog die Antifa durch Leipzigs einstigen RAF. Und auch das Bundes- schreiben einheiten auf der ganzen Welt« zu
Straßen, die Polizei registrierte amt für Verfassungsschutz (BfV) begann mit beteiligen. Kurz zuvor hatten Unbe-
Sprechchöre wie diesen: »Gib dem
Bullen, was er braucht, Hammer auf
warnt vor »Aktionen gegen Mitarbei-
tende der Strafverfolgungs- und Si-
den Worten: kannte die Baustelle einer Polizeiwa-
che auf der Eisenbahnstraße angegrif-
den Kopf, Stiche in den Bauch.« cherheitsbehörden« im Zuge des an- »Feuer für fen, dem Polizeirevier Leipzig-Süd-
Mordaufrufe sind in der Hochburg stehenden Urteils gegen die mutmaß- die Feinde der west wurden drei Einsatzfahrzeuge
der Linksautonomen keine Seltenheit liche Linksextremistin Lina E., die abgefackelt. Das Bekennerschreiben
mehr. Auf einem Plakat war der Rechtsextreme überfallen und erheb- Freiheit«. begann mit den Worten: »Feuer für
Name von Sachsens oberstem Staats- lich verletzt haben soll. Das Urteil die Feinde der Freiheit«.
schützer zu lesen, dazu die Worte: werde eine »hohe Symbolkraft« ha- Die Reihe ließe sich ewig fortset-
»Dirk Münster. Bald ist er aus Dein ben. Die Sorge wächst, dass Teile der zen. Mal brennen Autos des Sachsen-
Traum, dann liegst Du im Koffer- linksextremen Szene in Deutschland forsts, mal trifft es Wagen der Stadt-
raum.« wieder in den Terrorismus abdriften. verwaltung. Es brennt bei der Deut-
Dem Leitenden Kriminaldirektor Schon jetzt scheint festzustehen: schen Post oder der Mietwagenfirma
Münster untersteht die Sonderkom- Das Urteil gegen Lina E. und drei Hertz. Die Bekennerschreiben ähneln
mission »Linx«, die seit 2019 Strafta- mutmaßliche Mittäter, das voraus- sich, immer bezichtigen sich Links-
ten von Linksextremisten aufklären sichtlich Ende Mai oder Anfang Juni extremisten.
soll. Für die Staatsschützer ist die Dro- am Oberlandesgericht Dresden fällt, So bleibt auch bei den Sicherheits-
hung eine klare Anspielung auf den wird vor allem teuer. In einem Aufruf behörden ein mulmiges Gefühl, was
Mord der Roten Armee Fraktion mit dem Titel »The price for our free- wohl nach dem Urteil gegen Lina E.
(RAF) an dem damaligen Arbeitgeber- dom«, der Preis unserer Freiheit, dro- passieren wird. Sie gehen davon aus,
präsidenten Hanns Martin Schleyer, hen Autonome: Für »jedes Jahr Knast dass es vor allem in Leipzig, Hanno-
der 1977 ermordet im Kofferraum gibt es sofort 1 Million Sachschaden Ausschreitungen in ver oder Bremen zu Problemen kom-
Leipzig-Connewitz
eines Audi 100 gefunden wurde. bundesweit«. Die Bundesanwalt- 2021: Eine Million
men könnte. Doch dabei müsste es
Ist das nur verrohte Rhetorik oder schaft hat zusammen 18 Jahre Haft Euro Schaden nicht bleiben, für die Freilassung von
das Vorspiel für tatsächliche Gewalt- gefordert. Als mögliche Ziele werden für ein Jahr Haft Lina E. trommelten selbst Aktivisten
in Mailand, Barcelona, Zürich, Wien
und Athen. Eine europaweite Anrei-
se zum Tag X gilt bei Ermittlern als
»mögliches Szenario«.
Die Beamten und Beamtinnen ma-
chen sich zudem Gedanken, wie
Schäden in Millionenhöhe überhaupt
zu erreichen wären. Sie kamen auf
Luxusimmobilien, teure Autos und
Baumaschinen. In der Ankündigung
der Randale auf indymedia.org wird
zudem auf ein mögliches »Revival der
Wagensportliga« verwiesen. Die gab
es in den Neunzigerjahren. Gewinner
Sebastian Willnow / picture alliance / dpa

war, wer in seiner Stadt die meisten


Autos angezündet hatte.
Natürlich gelten auch das sächsi-
sche Landeskriminalamt oder das
Dresdner Oberlandesgericht als mög-
liche Anschlagsziele. Dass die Täter
vor derartigen Institutionen nicht zu-
rückschrecken, zeigten sie zuletzt
2019: Da brannte es eines Nachts an

26 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

Lina E. soll Jagd auf sie gemacht und schwers-


te Verletzungen einkalkuliert haben; die An-
geklagte schweigt zu den Vorwürfen der Bun- HAMSTERFAHRTEN,
desanwaltschaft. E. wurde am 5. November
2020 mit einem Haftbefehl des Bundesge- NISSENHÜTTEN
richtshofs festgenommen – doch die Taten
hörten danach nicht auf.
UND JAZZ –
Im Januar überfielen sechs Unbekannte
zwei anscheinend Rechte in Erfurt. Die Tat
wurde zufällig gefilmt. Die Männer wurden
WIE 1945
DER FRIEDEN

Ronald Wittek / EPA-EFE


mit einer Axt, Totschlägern und Pfefferspray
malträtiert und schwer verletzt. Im Februar
ging es in Budapest weiter. Rechtsextremisten
trafen sich dort zum »Tag der Ehre«. Ein of-
fenbar linker Sturmtrupp verletzte mehrere
BEGANN
Verdächtige Lina E., Polizisten Menschen zum Teil erheblich. Unter den bis-
her identifizierten mutmaßlichen Tätern sind
der Außenstelle des Bundesgerichtshofs in sechs Frauen aus Deutschland im Alter von
Leipzig. 20 bis 26 Jahren und vier deutsche Männer.
Die Behörden sorgen sich zugleich um Leib Auch diese Taten wurden gefilmt und zei-
und Leben ihrer Mitarbeiter und Mitarbeite- gen ein fast militärisches Vorgehen. Für die
rinnen. Richter und Staatsanwälte im soge- Ermittler führt der Fall direkt zum Dresdner
nannten Antifa-Ost-Verfahren haben offenbar Verfahren. Sie gehen von der Existenz einer
schon Personenschutz. Im Verlauf des Prozes- umherreisenden Gruppe aus, die Verbindun-
ses gegen die Linksextremisten kam es auch gen zur militanten Szene in Berlin und Thü-
zu »Outings« beteiligter Ermittler. Bekannt ringen unterhält, zum Umfeld von Lina E.
wurden demnach Namen, Dienstgrad und sowie nach Griechenland und Italien. Ent-
Dienststelle. Auf Twitter findet sich ein Hin- sprechende »Szenarien-Trainings« wurden
weis, der durchaus als Drohung verstanden nach Erkenntnissen von Ermittlern bereits
werden kann. Das Solidaritätsbündnis Antifa seit 2018 in Leipzig absolviert.
Ost schreibt dort von der Zeugenladung des Als tatverdächtig gilt etwa Johann Gunter-
Kriminalhauptkommissars Baum. Garniert ist mann, der Lebensgefährte von Lina E., der
der Tweet mit dem Foto eines Mannes, der seit Juli 2020 untergetaucht ist. In einer »Ge-
mit der Kettensäge einen Baum fällt. fährdungsbewertung« des BKA heißt es, Gun-
Das BfV erinnert aus gegebenem Anlass termann »nimmt im Rahmen der Vereinigung
an einen Hamburger Amtsrichter, der dienst- eine herausragende Stellung ein«. Seine Taten
lich mit Linksextremisten rund um den G20- seien von besonderer Brutalität, Skrupellosig-
Gipfel zu tun hatte. Sein Wohnhaus in Nieder- keit und Professionalität geprägt. Gunter-
240 Seiten mit Abb., gebunden � 24,00 €
sachsen sei mit Buttersäure und Farbbeuteln mann wird per internationalem Haftbefehl
Auch als E-Book erhältlich
angegriffen worden. Und es gibt ein Beken- gesucht. Das BKA registrierte, dass die Taten
nerschreiben zu einem Anschlag auf den Pri- in Ungarn von der deutschen linksmilitanten
vatwagen einer Beamtin des Landeskriminal- Szene »wohlwollend zur Kenntnis genommen Der 9. Mai 1945 war der erste
amts in Berlin. und positiv kommentiert« worden seien. Of- Friedenstag in Deutschland –
Die Frau wird mit vollem Namen genannt, fenbar gewöhnt sich die extreme Linke an die
ihre Adresse veröffentlicht. Die mutmaßli- blutigen Bilder. Auch das wäre eine Parallele und der Beginn einer Zeit
chen Täter werden darin sehr deutlich: »Auch zu den Anschlägen der Roten Armee Fraktion. des Aufbruchs, der Trauer und
wenn wir ihre genaue Adresse kennen und Es ist nicht die einzige Erinnerung an dun- der Lebensgier. Aus bewegenden
sie physisch und direkter hätten treffen kön- kelste Zeiten des Linksextremismus. Denn
nen, haben wir unsere Mittel auf das Ziel die meisten der mutmaßlichen Täter sind in- Dokumenten und Erinnerungen
Sachschaden an ihrem Auto zu verursachen zwischen untergetaucht und für die Ermittler bekannter und unbekannter
begrenzt. Wir verstehen unseren Angriff als nicht mehr greifbar. Das BKA geht davon aus, Zeitzeugen zeichnen Hauke Goos
Zeichen, dass die Anonymität auch höherer dass die Gesuchten längerfristig abgetaucht
Verantwortlicher des Repressionsapparates sein könnten und sich mit Geld sowie Falsch- und Alexander Smoltczyk
niemals sicher ist. Ihr Handeln verlangt nach papieren ausgestattet hätten. Die Truppe habe ein Bild dieses Sommers.
Konsequenzen.« Verwiesen wird auf zwei sich offenbar schon länger mit einem Leben In ihrem Buch machen sie die
ähnliche Fälle in München und Hamburg. Das in der Illegalität beschäftigt und sich darauf
Schreiben endet mit den Worten: »Kein Feier­ vorbereitet. Das BKA hält fest, ein derartig ersten Wochen nach Kriegsende
abend für Mörder in Uniform!« professionelles Vorgehen sei bei Linksextre- noch einmal hautnah erlebbar und
Die Angst ist, dass die Gewalt gegen Sa- misten »letztmalig zu Zeiten der RAF fest- zeigen, wie prägend diese Zeit
chen irgendwann auch in Gewalt gegen Men- stellbar« gewesen.
schen umschlagen könnte. Schon 2019 warn- Die von den Untergetauchten »ausgehende war für all das, was später kam.
te das sächsische Innenministerium in einem Gefahr in Bezug auf Begehung schwerer Ge-
vertraulichen Lagebild vor einer »hohen Ge- walttaten«, heißt es in dem BKA-Papier, dürf-
waltorientierung« der Linksextremen in Leip- te sich nach dem Urteil von Dresden »weiter
zig: »Bei Angriffen auf Infrastruktur, Behör- erhöhen«. Erfahrungen hätten gezeigt, dass
den etc. ist die Schwelle zum Terrorismus Kleingruppen im Untergrund vor allem eines
bereits erreicht.« Und Rechtsradikale sind machen: sich weiter radikalisieren.
schon jetzt nicht mehr sicher. Die Gruppe um Steffen Winter  n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 27


www.dva.de
DEUTSCHLAND

Account eines Freundes abfotografiert, oder


Eltern, die im Klassenchat ihres Kindes Kin-
derpornografie entdecken und das Bild dem
Lehrer oder anderen Eltern schicken, um die-
se zu informieren. Auch sie begehen nach
aktueller Rechtslage ein Verbrechen.
Die Bundesregierung plant deshalb eine
Änderung. Die derzeitige Regel könne »bei
Taten am unteren Rand der Strafwürdigkeit
dazu führen, dass eine tat- und schuldange-
messene Sanktionierung nicht mehr möglich
ist«, sagt eine Sprecherin des Bundesjustiz-
ministeriums. Deshalb werde derzeit ein Kon-
zept erstellt, damit »die Justiz wieder den
nötigen Spielraum hat, um den Einzelfällen
gerecht zu werden«. Es soll noch in diesem
Jahr fertiggestellt werden.
Viele in der Justiz und aus der Anwalt-

Westend61 / IMAGO
schaft hoffen auf eine Anpassung. Die Essener
Rechtsanwältin Jenny Lederer, Mitglied des
Kind mit Ausschusses Strafrecht des Deutschen An-
Smartphone
waltvereins, hatte im Rechtsausschuss als
Sachverständige für Sexualstrafrecht ihre
Zweifel formuliert. Sie habe damals mit an-
deren Experten ausdrücklich vor dieser Straf-
verschärfung gewarnt und Schwierigkeiten

Ein Jahr Freiheitsstrafe


in der Praxis prophezeit, sagt sie. Letztlich
sei eingetroffen, was sie befürchtet habe:
»Den Staatsanwälten und Richtern wurde die

für ein falsches Foto


Flexibilität genommen.«
Die Folgen waren lange nicht so sichtbar,
auch weil die Datenauswertung oft dauert
und die Betroffenen nicht schnell vor Gericht
landeten. Inzwischen ist das Problem längst
STRAFJUSTIZ  Seit fast zwei Jahren sind Verbreitung, Erwerb und Besitz in der Praxis angekommen – und manche
Richter wehren sich auf ihre Weise.
von Kinderpornografie ein Verbrechen. Was ein wichtiges Signal Ein Richter am Amtsgericht München
gegen sexualisierte Gewalt sein sollte, entpuppt sich als Dilemma. ­setzte im vergangenen Jahr ein Verfahren aus
und legte den Fall dem Bundesverfassungs-
gericht zur Überprüfung vor: Es ist der Fall

D
eutschland in Zeiten des Homeschoo- hochgestuft. Wer Kinder missbrauche, wer des acht Jahre alten Mädchens, das einer
lings. Eine Mutter beobachtet, wie ihre Missbrauchsbilder konsumiere oder verbrei- Klassen­kameradin ein Foto ihres entblößten
acht Jahre alte Tochter sich mit dem te, müsse »in Zukunft mit der ganzen Härte Intimbereichs geschickt hatte. Nach Ansicht
Handy beschäftigt, anstatt die Schulaufgaben des Strafrechts rechnen«, sagte der damalige des Richters handelte die Mutter nicht aus
zu erledigen. Sie nimmt dem Kind das Telefon Unionsfraktionsvize Thorsten Frei und pädosexu­eller Motivation, sondern aus Ver-
weg und entdeckt dabei ein Foto, das sie ent- sprach von einem »Meilenstein für den Kin- ärgerung und zur Warnung.
setzt: Eine Schulfreundin hat der Tochter ein derschutz«. Der Richter bearbeitet eigenen Angaben
Bild ihres Genitalbereichs geschickt. In der juristischen Praxis bedeutet das: zufolge seit 2005 pro Jahr 75 Fälle aus dem
Die Mutter ist erbost, sie macht einen Die Justiz kann das Verfahren nicht wegen Bereich der Kinderpornografie. In seinem
Screenshot. Den schickt sie der Mutter des Geringfügigkeit einstellen. Es ist kein Einzel- ­Beschluss schreibt er, der Gesetzgeber sei
Mädchens, will diese informieren. Und sie richter oder Einzelrichterin zuständig, son- mit der Strafverschärfung »weit über das Ziel
stellt ihn in eine WhatsApp-Gruppe mit an- dern ein Schöffengericht. Und die Mindest- hinausgeschossen«.
deren Eltern, um diese zu warnen. Sie ahnt strafe beträgt ein Jahr. Gerade die »harmlosen« Fälle bräuchten
offenbar nicht, dass sie sich strafbar macht Das Gesetz trifft Geschädigte, die Screen- eine gesetzliche Regelung mit reduzierter
– und ihr sogar eine Freiheitsstrafe droht. shots angefertigt haben, um den eigenen Miss- Mindeststrafe. Demgegenüber stehe der
Mit dem Screenshot hat sie kinderporno- brauch zu dokumentieren und Beweise zu denkbar »krasseste« Fall: der vielfach ein-
grafisches Material hergestellt und sich in sichern; Menschen, die nur auf einen Miss- schlägig vorbestrafte Angeklagte, der bereits
dessen Besitz gebracht; per WhatsApp hat stand aufmerksam machen wollten und ille- viele Jahre im Gefängnis verbracht habe,
sie es verbreitet. Ein Verbrechen. So stuft es gales Material vorübergehend an sich genom- ­unbelehrbar und nicht geständig sei und eine
der Gesetzgeber seit dem 1. Juli 2021 ein. Da men haben; jemanden, der den gehackten Million kinderpornografische Inhalte mit
trat eine Neuregelung in Kraft, nach den schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern
Missbrauchsfällen von Staufen, Bergisch in Videoclips besitze. Selbst wenn darunter
Gladbach, Lügde und Münster wollte die Foltervideos oder ähnliche Abartigkeiten
Bundesregierung ein Signal setzen. Man ei- ­seien und die Opfer noch so klein, müsse ein
nigte sich auf die Verschärfung der Paragrafen Die Einstellung von Verfah- solcher Angeklagter eine Freiheitsstrafe von
176 und 184b des Strafgesetzbuchs. Der se-
xuelle Missbrauch von Kindern sowie Kin-
ren ist selbst in harmlosen maximal fünf Jahren fürchten. Das stehe nicht
im Verhältnis zu einem Jahr Mindeststrafe für
derpornografie wurden zu einem Verbrechen Fällen nicht möglich. den denkbar »harmlosesten« Fall, schrieb der

28 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

Münchner Amtsrichter und meldete verfas-


sungsrechtliche Bedenken an. DER
LANGE SCHATTEN
Das Bundesverfassungsgericht konnte er
damit nicht überzeugen, es hat seinen Antrag
nun als »unzulässig« zurückgewiesen. Der

DER LAGER
Amtsrichter will allerdings den Fall erneut
vorlegen und auch andere Verfahren nach
Karlsruhe tragen.
Das Amtsgericht Buchen in Baden-Würt-
temberg hat dem Bundesverfassungsgericht
ebenfalls ein Verfahren vorgelegt. Auf dem
Smartphone einer 22-Jährigen waren wenige
Bilddateien und ein Video kinderpornografi-
schen Inhalts gespeichert. Die Frau war Mit-
glied in mehreren Chatgruppen mit Gleich-
altrigen. Rund um die Uhr trudelten Nach-
richten ein, die meisten belanglos, darunter
viele »lustige« Memes, Videos und Bilder; die
junge Frau nahm sie teilweise offenbar gar
nicht wahr. Die Buchener Richter sind der
Auffassung, dass die Mindeststrafe in diesem
Fall gegen das Übermaßverbot verstößt. Eine
Entscheidung aus Karlsruhe steht noch aus.
Die Ermittlungen in diesem Verfahren
führte der Leitende Oberstaatsanwalt Florian

240 Seiten, gebunden � 22,00 € � Auch als E-Book erhältlich.


Kienle aus Mosbach. Er verfasste die An­klage
gegen die 22-Jährige, zog vor Gericht die Be-
weisaufnahme durch und hielt sein Plä­doyer
– im Vertrauen darauf, dass das Amtsgericht
Buchen den Fall richtig entscheiden und even-
tuell in Karlsruhe vorlegen würde.
Auch Kienle kritisiert die Reform des Para-
grafen 184b. Durch das neue Gesetz ist er
dazu gezwungen, solche Fälle anzuklagen und
den Betroffenen einen Pflichtverteidiger zu
bestellen. Kienle spricht von einem »deutlich
erhöhten Arbeitsaufwand« an falscher Stelle.
Wenn im Fall der 22-Jährigen die gleiche Er-
mittlerarbeit betrieben werde wie in gravie-
renderen Fällen, dann schließe er die Gefahr
nicht aus, dass die Verfolgung echter Pädo-
philer darunter leide. »Auch werden wir dem
Einzelfall nicht mehr gerecht«, sagt Kienle.
Der Rechtsanwalt Steffen Lindberg hat
nach seinen Angaben häufig mit Sexualde­
likten zu tun und war schon mit der Straf­
verschärfung konfrontiert. Bisher habe er eine
Vielzahl der Verfahren vorerst auf Eis legen Hunger, Angst und harte Arbeit gehörten zum Haftalltag
können, in der Hoffnung, dass der Paragraf der etwa 35 Millionen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg.
184b vor einer Entscheidung wieder abgemil-
dert und die Einordnung als Verbrechen rück-
Unter ihnen waren mehr als 11 Millionen Deutsche;
gängig gemacht wird. Beispielsweise den Fall die letzten kehren erst Mitte der Fünfzigerjahre nach Hause
eines Lehrers, der über eine WhatsApp-Grup- zurück. Heute hat ein Großteil der Deutschen einen Vater,
pe legale Pornografie bezogen habe. Darunter
seien unabsichtlich zwei »illegale Inhalte« Großvater oder Urgroßvater, der selbst Kriegsgefangenschaft
gewesen, die der Lehrer gelöscht habe; den- erlebt hat. SPIEGEL-Autor*innen spüren ihren Erlebnissen nach
noch drohe diesem nun eine Freiheitsstrafe.
Eine »völlig überzogene Maßnahme«, sagt und zeigen, wie die Traumata viele Nachkommen
Lindberg. bis in die Gegenwart beschäftigen.
Er kritisiert die handwerkliche Umsetzung
der Gesetzesänderung und spricht von »Wer-
tungswidersprüchen«: Er habe Mandanten,
die 5000 bis 10.000 kinderpornografische
Bilder besäßen und diese verbreiteten. Ihnen
drohe ebenfalls eine Mindeststrafe von einem
Jahr Freiheitsstrafe – wie dem Lehrer oder
der Mutter der Achtjährigen.
Julia Jüttner  n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 29 www.dva.de


DEUTSCHLAND

fus; vieles war Geraune, nicht zu überprüfen.


Fest steht dagegen eines: dass Wilkening als
Femme fatale des Sicherheitsapparats eine
große Nummer war. Und eine noch größere

Orakel des Ostens


als Bestatterin für Beamtenkarrieren.
In Wilkenings Mailverkehr, den die Ermitt-
ler sicherstellten, geht es immer wieder um
»Strohmänner« und »Wirtschaftsmafiosi«,
um »Oligarchen« und »schräge, fette, reiche
AFFÄREN  Eine Deutsche galt als Star einer Szene, in der vertrauliche Vögel«. Um Geheimdienste, Paramilitärs,
Seilschaften. Um die angeblich »gefährlichs-
Informationen beschafft und verkauft werden. Jetzt steht sie te Bande Rumäniens« oder die »Marionette
in Österreich vor Gericht, weil sie dafür einen Verfassungsschützer des Libanesen«. Was man eben so hört. Oder
geschmiert haben soll. gehört haben will.
Daraus ließ sich dann ein guter Plot er-
stellen, der für sie meist ein Komplott war.

W
ilkening. Christina Irmgard Wilke- Hauptverdächtiger ist Hubert B., ihr alter Wie man die Fakten dazu zusammenrührte,
ning. Nein, das klingt einfach nicht. Duzkumpel, der als Chefinspektor im Wiener das hatte sie gelernt, beim Fernsehen der
Jedenfalls nicht nach der dunklen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terro- DDR. Dort hatte Wilkening seit 1969 als
Welt der Geheimen. Nach dem aufregenden rismusbekämpfung (BVT) saß. Regisseurin und Autorin gearbeitet. Kaum
Leben von Bond, James Bond. Oder Dame, Dabei handelt es sich um eine Behörde, die war die Mauer gefallen, landete sie beim
König, As, Spion. Eher so nach Karo 7. Ganz ohnehin schon so viele Intrigen und Skandale Klassenfeind, dem Springer-Verlag. Aus der
kleines Karo. angehäuft hatte, dass sie Ende 2021 umgebaut Regimejournalistin wurde die Frau, die dem
Gut möglich, dass sich das auch Wilke- und für den Neuanfang gleich noch umgetauft Westen die Stasi erklärte – und die Täter jag-
ning dachte, die bekannteste, mittlerweile wurde. Jetzt holt sie also ein Skandal aus der te. Sie schrieb ein Buch, »Staat im Staate«, in
berüchtigtste deutsche Nachrichtenhändlerin. alten BVT-Zeit noch mal ein: ein Spitzenbeam- dem sie arbeitslosen Ex-Stasi-Leuten eine
Manchmal nannte sie sich kurz »Chris«. Oder ter, zuständig für Quellenführung, der sich an- Intimbeichte ihrer Sünden abnahm.
»Johanna«. Aber nachdem sie schon von der scheinend von einer windigen Nachrichten- Worüber sie nie schrieb, war ihre eigene
Stasi als »IM Nina« geführt und vom SPIEGEL dealerin aus dem Ausland bestechen ließ. Stasinähe: dass das Ministerium für Staats-
damit geoutet wurde, 1997, machte Wilkening Laut Anklage soll Hubert B. bis zu seiner sicherheit (MfS) sie seit 1984 als jene »IM
am liebsten so weiter. Als »Nina«. Wie in Suspendierung Mitte 2016 nicht nur regel- Nina« geführt hatte, die auf West-Journalisten
»Codename: Nina«, dem Film mit der Ge- mäßig für Wilkening in seinen Dienstrechner angesetzt war. »IM Nina« sei in »hohem
heimdienstkillerin. geschaut haben. Mit dem Behördencompu­ Maße mit vom MfS erhaltenen Aufträgen
»Nina«, die Unterschrift taucht deshalb ter bastelte der Chefinspektor demnach auch identifiziert«, notierte dazu ihr Führungsoffi­
auch in Hunderten Dokumenten auf, die dem- jene großen Schaubilder, die im Ermittler- zier. Als das herauskam, wartete die Öffent-
nächst vor dem Landesgericht St. Pölten in jargon »Tapete« heißen und bei Wilkenings lichkeit vergebens auf eine Stasibeichte der
Österreich eine Rolle spielen werden. Es ist Kunden aus der Wirtschaft so gut ankamen. Stasijägerin; sie bestritt eisern, je Inoffizelle
schon der zweite Prozess gegen die Privat- Darin erschienen die »Zielpersonen« der Mitarbeiterin des MfS gewesen zu sein. Aller­
detektivin, inzwischen 76, und wieder geht Nachrichtenhändlerin wie die Spinne im dings musste sie sich nun überlegen, wie es
es um den Vorwurf, dass sie einen Beamten Netz. Mit Linien zu Dutzenden Kontakt­ weitergehen sollte. Als Journalistin? Oder
bestochen haben soll. Denn so lief offenbar leuten. Und noch mehr Linien, die zeigten, eher als Spezialistin fürs Ausspähen? Sie ent-
ihr Geschäft: Wenn Firmen und reiche Privat- mit wem die Kontaktleute wiederum zu tun schied sich fürs Spähen.
personen diskrete Informationen brauchten, hatten. Anfangs lief es noch so, dass Wilkening mit
Auskünfte, die offiziell nicht zu bekommen heißen Tipps bei Behörden erschien, und die
waren, etwa über Geschäftspartner, Konkur- Diese Organigramme, plakatgroß, machten Ermittler waren geradezu elektrisiert von der
renten, korrupte Mitarbeiter, dann schalteten nicht nur optisch was her. Sie passten auch Dame mit den offenbar erstklassigen Drähten
sie Wilkening ein. gut zu Wilkenings notorischem Verdacht, dass zu alten Kadern im Osten. 1995 etwa drehte
Die Privatermittlerin schnüffelte sich an alle mit allen verbandelt waren und garantiert Wilkening einen Film für das WDR-Magazin
die Zielpersonen heran, zapfte Quellen in de- eine riesige Verschwörung lief. Gegen ihren »Monitor«, mit dem sie die Theorie anheizte,
ren Nähe an – und dank gut geschmierter Kunden. Davon nämlich lebte sie: ihren Auf- Uwe Barschel sei ermordet worden. Der Ex-
Kontakte zu Beamten auch immer wieder traggebern die Dinge so zu erklären, als wäre Ministerpräsident von Schleswig-Holstein,
Polizeicomputer und andere Behördenrech- die Welt ein Knäuel und sie die Einzige, die der tot in einer Genfer Badewanne lag, habe
ner. Jahrzehntelang verdiente Wilkening viel das gut versteckte Ende des Fadens finden vor der Wende dunkle Waffengeschäfte im
Geld damit, solche Geheimauskünfte zu be- könne, um alles aufzudröseln. Mit Erkennt- Ostblock gemacht; dazu gebe es in Moskau
schaffen. Mal echte, aus amtlichen Dateien. nissen, Erklärungen, die einerseits abenteuer- ein Geheimdossier, Deckname »Graf«. Die
Mal falsche oder fragwürdige aus eher trüber lich wirken mochten, andererseits umso atem- Staatsanwaltschaft Lübeck sprang sofort
Quelle, die aber zumindest so echt klangen, beraubender wären, wenn sie vielleicht doch darauf an, vernahm Wilkening wieder und
dass ihre Kunden dafür zahlten. stimmen würden. Was ja das Faszinierende wieder. Auch als sich längst herausgestellt
Bereits 2017 verurteilte sie das Landgericht daran war. Wer sich wirklich verschworen hatte, dass der einzige Beleg für das vermeint-
Schwerin zu knapp drei Jahren Freiheitsstra- hatte und ob überhaupt, blieb aber meist dif- liche Moskaudossier Wilkenings handschrift-
fe, weil sie einen Polizisten aus dem Landes- liche Notizen waren. Am Ende war das alles:
kriminalamt Mecklenburg-Vorpommern ge- Exklusivwissen von Wilkening. Unbelegt.
kauft hatte, der für sie seinen Dienstcomputer Wertlos. Vermutlich nur ein Märchen.
angeworfen hatte. Der Beamte musste eben-
falls in den Knast. Wilkenings Geschäftsmo- Ihrem Ansehen als Ost-Orakel schien das aber
dell funktionierte aber offenbar auch in Öster-
reich so gut, dass nun in St. Pölten gleich drei
Vieles bei ihr war Geraune, nicht zu schaden, auch nicht in den Nach-
richtendiensten. Spätestens 2001 lernte Wil-
Amtspersonen mit ihr vor Gericht stehen. nicht zu überprüfen. kening Hubert B. kennen, jenen Verfassungs-

30 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

schützer aus Österreich, der jetzt mit


ihr auf der Anklagebank sitzt. Sie soll
ihm Informationen über Russland ge­
liefert haben. Auch die Österreicher
führten Wilkening unter dem Deck­
namen »Nina«. Ab 2012 wurde da­
raus die BVT-Quelle »Bertram« – was
deshalb überraschend kam, weil Wil­
kening in der Zwischenzeit nicht nur
dem deutschen Bundesnachrichten­
dienst (BND), sondern auch dem BVT

Klaus Bodig / ullstein bild


ein Fiasko eingebrockt hatte.
Im Mai 2007 hatte Wilkening näm­

Ronald Zak / dpa


lich fast Schnappatmung beim BND
ausgelöst: Ob dem Dienst eigentlich
1 2
klar sei, dass der Leiter der BND-Ter­
rorabwehr ein polnischer Agent sei?
Dafür gebe es Beweise, in den Archi­
ven des aufgelösten polnischen Mili­
tärgeheimdienstes WSI. Diesmal hat­
te Wilkening auch Papiere zu bieten.
Einen Monat später das gleiche Spiel
in Österreich: Wilkening taucht beim
BVT auf, eine ähnliche Hochalarm­
meldung. Wieder Akten des WSI;
Hinweise, dass der amtierende Innen­
minister von Österreich eine Quelle
der Polen gewesen sein könnte.
In Deutschland übernimmt die
Bundesanwaltschaft, ermittelt gegen
den Antiterrorchef des BND. Bundes­
anwalt Wolf-Dieter Dietrich vermutet
eine Intrige von Weltformat. Er trifft
Wilkenings Quelle, einen Ex-Stasi-
Offizier, konspirativ in einem Wald­
stück. Doch schnell entpuppen sich
die vorliegenden Papiere als gefälscht.
Der Ex-Stasi-Mann, der kaum weiß,
wie er seine Familie durchbringen
»Ninas« Welt soll, hat sie mit einer polnischen Be­
kannten zusammengestückelt.
1 | Schleswig-Holsteins Entwarnung in Deutschland, Ent­
damaliger Ministerpräsident
Barschel 1987  2 | Ukrainischer warnung in Österreich. Und Grund
Oligarch Firtasch  3 | Privat­ genug, nie wieder etwas von Wilke­
ermittlerin Wilkening 2016 ning wissen zu wollen. Eigentlich.
4 | Unternehmenszentrale von Wäre da nicht das Geld, das sich mit
Novomatic im österreichischen
Gumpoldskirchen  5 | Raffinerie »Nina« verdienen ließ. Der Bundes­
Dmitrij Leltschuk

der OMV-Tochter Petrom im anwalt Dietrich ging in den Ruhe­


rumänischen Ploieşti stand, wurde Wilkenings Strafvertei­
3
diger, kam sogar mit ihr ins Geschäft.
Auch in Wien blieb ihr BVT-Mann
Hubert B. treu; auch da spielte offen­
bar das Geschäft eine Rolle.
War es bisher so, dass Hubert B. sich
von Wilkening beliefern ließ, beliefer­
te Hubert B. nämlich ab 2009 umge­
kehrt wohl auch Wilkening. Mit Infor­
mationen aus dem BVT und mit den
»Tapeten«, die er ihr am Computer
Lisi Niesner / Bloomberg / Getty Images

bastelte, gegen Bezahlung. In der An­


klage rechnen die Staatsanwälte zu­
sammen, dass Hubert B. von Wilkening
mindestens 93.500 Euro kassierte.
OMV Solutions GmbH

Arbeit gab es genug. Wilkening anti­


chambrierte, charmierte; »bin scharf
4 5 auf den Auftrag«, schrieb sie in einer
E-Mail. Und tatsächlich wirkte sie

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 31


DEUTSCHLAND

nicht nur auf Agenten ausgesprochen sein, dem Spielbankenkonzern, an


überzeugend, sondern auch auf Mana­ dem auch der Staat Österreich beteiligt
ger und Multimillionäre, obwohl die ist. Für die Staatsanwaltschaft sieht die
nur mal hätten googeln müssen, um Sache so aus, dass Wilkenings Kunde
zu sehen, welche Flops Wilkening sich Novomatic Anteile an Casino Austria
schon geleistet hatte. übernehmen wollte; nur störte der
Zu ihren Kunden gehörten etwa Konkurrent aus Tschechien. Deshalb
der Energieriese OMV, Österreichs sollte Hubert B. Informationen über
größter Industriekonzern, der wissen die Tschechen heranschaffen, aus
wollte, warum bei einer Tochter in denen Wilkening ein Dossier zusam-
Rumänien massenhaft Rohöl ver- menstellen konnte. Dieses Dossier,
schwand. Ebenso im Portfolio: der in natürlich eines, bei dem die Tschechen
Österreich bestens verfilzte Spielhal- schlecht weg­kamen, soll Hubert B. als
lenbetreiber Novomatic. Laut Ankla- angeblichen »Informantenbericht« in
ge wollte Novomatic im Kampf um seine Behörde eingeschleust haben.
Anteile am Spielbankenkonzern Ca- Von dort sollte er ins Finanzministe-
sino Austria einen tschechischen Kon- rium gehen und möglichst weit oben
kurrenten ausbooten. Oder der ukra­ landen, am besten auf dem Tisch des
inische Oligarch Dmytro Firtasch: Ministers. Damit der in größter Sorge
nach Österreich geflüchtet, aber in um das Wohl der Republik die Tsche-

Günter Prust
größter Sorge, in die USA ausgeliefert chen aus dem Rennen warf.
zu werden. »In den letzten Mona- Der Bericht landete tatsächlich
ten«, so steht es im Recherchebericht, beim Stab des Finanzministers. Am
habe sich »herausgestellt, dass es ein etwa als es um die Telefonnummern Autorin Wilkening Ende bekamen die Tschechen aber
Komplott« gegen den Mann gebe; von zwei Zielpersonen ging. Wenn er 1990 im Ex-Arbeits- nach zahllosen Wendungen doch noch
zimmer von Erich
dahinter steckten »amerikanische ein großes Schaubild erstellt hatte, Mielke: »Weiteres ihren Teil am Casinogeschäft. Hubert
und jüdische Interessen«. konnte »Nina« auch noch Änderungs- Leugnen macht B. soll aber immerhin 14.000 Euro
Oha, da war sie mal wieder, die wünsche loswerden: »Mach bitte keinen SInn« kassiert haben. Novomatic sagt dazu
angebliche Weltverschwörung. noch ein Zusatz ›Verbindungen zu auf Anfrage, man habe tatsächlich
Wilkening empfahl sich als Spezia- Strukturen der italienischen organi- über Wilkening Informationen zu
listin für Probleme, bei denen man sierten Kriminalität‹«, mailte sie einem Mitgesellschafter der Casino
sich schnell den weißen Kragen dann. Einmal erkundigte sich Hubert Austria eingeholt. Das sei in der Wirt-
schmutzig machte. Ob nun mit Angst- B. beflissen nach der gewünschten schaft üblich, man habe sich deshalb
schweiß, weil man es mit Leuten zu Größe: »Brauchst Du auch ein Plakat nichts vorzuwerfen. Novomatic habe
tun hatte, mit denen man sich besser A0, oder willst Du nur 5 Stk. A2«. auch nur Wilkening beauftragt, nicht
nicht anlegt. Oder in Regionen, in aber andere Personen, schon gar nicht
denen der Rechtsweg am Ende eine Manchmal kam Hubert B. aber nicht einen BVT-Mitarbeiter. Und was Wil-
Sackgasse ist. Meist aber beides. selbst an Informationen heran, die kening geliefert habe, sei über »all-
»Die Zielperson schuldet einer Wilkening brauchte. Angeklagt sind gemein zugängliche Medienartikel«
Institution Geld. Ziel ist es, die Ziel- neben ihm auch zwei Beschäftigte auch nicht hinausgegangen.
person an den Verhandlungstisch zu eines Finanzamts. 2015 sollen sie, Hubert B. will wegen des laufen-
bringen. Hierfür werden Argumente angestiftet vom Chefinspektor, in den Verfahrens »keine detaillierten
gebraucht …«, heißt es ominös in elektronischen Steuerakten nach Auskünfte erteilen«, bestreitet aber
einem Briefing für Wilkening. Und in einer Person für Wilkening gesucht grundsätzlich alle Vorwürfe. Auch die
einer anderen Mail, dass man den haben. Außerdem dachte Hubert B. beiden Finanzbeamten, die ihm 2015
Gegner des Kunden »so unter Druck« offenbar darüber nach, wie er Such- geholfen haben sollen, weisen die
setzen müsse, dass es zu einer Eini- aufträge, die er von »Nina« bekom- Schuld weitgehend von sich. Der eine
gung zwischen beiden komme«. Da-
für suchte man offenbar belastende
men hatte, als heiße Tipps ans BVT
ausgeben konnte. Er behauptete, die
Und fast behauptet, es habe einen dienstlichen
Grund für die Steuerabfrage gegeben,
Informationen gegen die Zielperson. Tipps seien bei ihm gelandet. Denen immer lauerte der andere, er habe sich keine großen
Vermutlich um zu zeigen, dass sie sollte seine Behörde dringend nach- irgendwo eine Gedanken darum gemacht.
ihr Geld wert war, prahlte Wilkening gehen, aus dienstlichen Gründen. Wilkening ließ eine Anfrage des
in den Berichten für die Kunden auch Besonders weit soll der BVT-Mann
große Ver- SPIEGEL unbeantwortet, ist laut An-
damit, woher sie ihr Wissen hatte. Die im Fall der Casino Austria gegangen schwörung. klage aber weitgehend geständig. So
Aufgabe, das Profil einer Zielperson wie schon im Verfahren in Schwerin.
zu erstellen, habe man »an Europä­ Auch da wollte sie den Polizisten, der
ische Sicherheitsbehörden übertra- Ermittlungen auch in der Schweiz sich von ihr bestechen ließ, nicht mit
gen« – die Polizei, ihr Freund und Die Eskapaden der Christina »Nina« Wilkening beschäfti- Lügengeschichten schützen. »Ja«,
Helfer. Oder: »Bei den Ermittlern gen die SPIEGEL-Redakteure Jürgen Dahlkamp, Jörg Diehl sagte sie, »es tut mir wahnsinnig leid,
handelt es sich jeweils um Beamte aus und Gunther Latsch schon seit Jahren. Gemeinsam mit dass ich ihn hinhängen muss … weite­
dem Polizei- und Sicherheitsappa- dem österreichischen Magazin »Profil« recherchierten sie res Leugnen macht keinen Sinn.«
rat.« Demnach saßen ihre Leute über- nun, wie Wilkening ihre Geschäfte in die Alpenrepublik Am Ende fiel selbst der begna­
all in den Behörden, in »Wien, Mün- erweiterte. Dabei muss der anstehende Prozess in Öster- deten Nachrichtenerzählerin keine
chen, Warschau, Brüssel«. reich allerdings noch nicht das Ende der Geschichte Geschichte mehr ein, um sich he­
Ihr Mann in Wien war dann meist bedeuten. Auch ein Polizist in der Schweiz wurde schon rauszureden. Nicht mal eine Welt­
Chefinspektor Hubert B. Nach Akten- wegen Bestechlichkeit verurteilt; gegen einen mutmaß­ verschwörung.
lage bearbeitete er Wilkening-Anfra- lichen Wilkening-Buddy, der allerdings jedes Fehlverhalten Jürgen Dahlkamp, Jörg Diehl,
gen üblicherweise in wenigen Tagen, bestreitet, wird in Zürich noch ermittelt. Gunther Latsch n

32 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

tisch. Die meisten Beschwerden, sagt er, han­


delten von wild abgestellten oder umgewor­
fenen Scootern. Vier Firmen haben die Stadt
mit 12.000 Mietrollern geflutet.
Packt Ulrich Nothwang einen davon bei­
seite, stellt die Stadt dem Unternehmen dafür
eine »Verwaltungsgebühr« von 74 Euro in
Rechnung, plus 10 bis 55 Euro für die Ord­
nungswidrigkeit. So richtig Wirkung zeige das
teure Umparken aber noch nicht: »Bisher
kriegen wir das einfach nicht in den Griff.«
Mitte Juni wird es vier Jahre her sein, dass
der damalige Bundesverkehrsminister An­
dreas Scheuer die Republik ins Zeitalter der
»Mikromobilität« führte. Im Eilverfahren
peitschte der CSU-Politiker eine Verordnung
für Elektrokleinstfahrzeuge mit Lenk- oder
Haltestange durch. Kalkuliert wurde mit ma­
ximal 150.000 Scootern, 80 Prozent in pri­
vater Hand, 20 Prozent in gewerblicher Nut­
zung. Scheuer pries die Roller als eine »echte
zusätzliche Alternative zum Auto«, als Bau­

Peter Jülich / DER SPIEGEL


stein der Verkehrswende. Das war eine toll­
kühne Erwartung. Knapp ein Prozent der
Deutschen, so hat es das Umfrageinstitut Ci­
vey im April ermittelt, nutzen sie einmal die
Woche bis täglich, 93 Prozent nie. Hingegen
meinen 78 Prozent, dass E-Scooter keinen
Polizist Nothwang in Frankfurt am Main: »Bisher kriegen wir das einfach nicht in den Griff«
Beitrag zur Verkehrswende leisteten. 70 Pro­
zent sehen in den motorisierten Rollern gar
»eher ein Ärgernis«.
Selbst unter umweltbewussten Grünen

Aufräumen, bitte!
oder freiheitsliebenden FDP-Anhängern ist
der Zuspruch gering, der Ärger macht sich
Luft in allen Altersgruppen, Schichten, Her­
künften: Anwohnerinnen und Anwohner, zu
Fuß Gehende und Rad Fahrende, Ordnungs­
MOBILITÄT  Wild umherliegende E-Roller, rücksichtslose Fahrer und so hüter und Politiker. »Wenn ich könnte«, sagt
der Düsseldorfer Oberbürgermeister Stephan
viele Unfälle wie nie – alle sind sich einig: So kann es mit den Scootern Keller (CDU), »würde ich die Scooter ver­
nicht weitergehen. Aber wie dann? Einige Städte testen neue Konzepte. bieten.«
In Paris ist das faktisch passiert. Die Ein­
wohnerinnen und Einwohner votierten mit

E
in paar Minuten erst ist Ulrich Noth­ 89 Prozent gegen die Scooter. Zwar nahmen
wang in der Frankfurter City auf Tour, Hassobjekt E-Scooter nur rund 100.000 Pariser an der Befragung
da zückt der uniformierte Stadtpolizist teil, doch das Plebiszit gilt. Ende August müs­
schon Maßband und Smartphone. Ein E-Rol­ »Halten Sie sogenannte E-Scooter eher für ein sen die Vermieter ihre E-Scooter einsammeln.
nützliches Zusatzangebot im öffentlichen Nah-
ler steht quer auf einem Radweg, 65 Zenti­ verkehr oder eher für ein Ärgernis?«, in Prozent In Deutschland ist so ein Bürgerentscheid
meter weit ragt er in die markierte Fahrrad­ nicht möglich. Einmal zugelassen, das wissen
piste. Nothwang schüttelt den Kopf, macht nützliches Zusatzangebot Juristen wie Keller nur zu genau, wird
ein Bild: »Das ist extrem rücksichtslos und teils/teils man die Roller nicht wieder los. Zumal das
gefährlich«, sagt er. Dann packt er den grünen unentschieden Chaos ja nicht die E-Scooter in Privatbesitz
Leihscooter, schiebt ihn aus der Gefahren­ ein Ärgernis verursachen, die zusammengeklappt in Ga­
zone und fotografiert ihn ein weiteres Mal. ragen oder Hauseingängen verschwinden,
Wenn er nicht im Außendienst unterwegs 13 16 70 sondern jene kommerziellen Gehwegparker,
ist, kümmert sich Nothwang um Beschwer­ die stunden-, zuweilen tagelang auf den
den, die im Straßenverkehrsamt von Frank­ nächsten Kunden warten – für die nächste
furt am Main eingehen. Er kann Hunderte »Leisten sogenannte E-Scooter Ihrer Meinung Fünfminutenfahrt.
Geschichten erzählen von kreuz und quer nach einen Beitrag zur Verkehrswende Was also tun? Die Frage treibt die Städte
umherliegenden Elektrorollern, auf Straßen, (Umstieg auf umweltfreundliche Mobilität)?«, ebenso um wie Experten und Expertinnen
in Prozent
auf Geh- und Radwegen, sogar auf Behinder­ aus Unfallforschung, Verkehrswissenschaft
tenparkplätzen. ja unentschieden nein und Verwaltungsrecht. Und nicht zuletzt die
Auf Streife sieht Nothwang immer wieder Strategen von Tier, Lime, Bolt oder wie die
junge Leute, die zu zweit auf einem Scooter 13 9 78 Anbieter sonst noch heißen. Einig sind sich
stehen oder in den Fußgängerzonen halsbre­ alle Beteiligten, dass es so wie bisher nicht
cherisch Passanten umkurven. Dementspre­ weitergehen kann. Vor zwei Wochen verun­
S Quelle: Civey-Umfrage vom 4. bis 6. April 2023; Befragte:
chend landen täglich Klagen über Regelbrü­ 5012; die statistische Ungenauigkeit der Umfrage liegt bei
glückte ein 59-jähriger E-Bike-Fahrer in Gel­
che oder rüde Fahrweise auf seinem Schreib­ bis zu 2,5 Prozentpunkten senkirchen tödlich, nachdem er laut Polizei

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 33


DEUTSCHLAND

mit einem auf dem Radweg liegenden E-Rol- dizinprofessor hat seit Beginn der Scooter-Ära und den Kommunen größere Entscheidungs-
ler kollidiert war. alle Verunfallten, die in der Asklepios-Klinik spielräume zubilligen.
Im Jahr 2021 gab es auf deutschen Straßen St. Georg landeten, in einer Datenbank ge- Wer Leuschner und Dedy, den vermeint-
5535 Verkehrsunfälle mit E-Scootern, bei speichert. Nach vier Jahren weiß der Chef- lichen Antipoden, länger zuhört, dem wird
denen Menschen verletzt wurden oder gar arzt, wo sich die Patienten am ehesten ver- klar, dass die Probleme von heute auf den
starben. Im vorigen Jahr stieg die Zahl um letzen: »43 Prozent trifft es an Kopf und Versäumnissen von vorgestern basieren: auf
49 Prozent auf 8260 Unfälle, dabei starben Hals.« (siehe Grafik) Inkonsequenz und Schlamperei bei der Zu-
elf Verkehrsteilnehmer. Manche Fälle gehen mit Platzwunden oder lassung.
Was die extreme Zunahme bedeutet, mag einer Gehirnerschütterung glimpflich ab. »Ein In seiner an Ideen und Ankündigungen
selbst Siegfried Brockmann nicht beurteilen. erhebliches Problem sehen wir aber bei den nicht armen Karriere als Verkehrsminister
Dem Leiter der Unfallforschung der Versiche- Schädel-Hirn-Traumata, die zu einer relevan- entdeckte Andreas Scheuer 2018 das Poten-
rer fehlt ein entscheidender Wert: wie viele ten Schädigung des Gehirns führen können«, zial der E-Scooter. Von Kalifornien aus hatten
Kilometer E-Scooter hierzulande in den Jah- warnt Hoffmann. Gedächtnisstörungen, Läh- sie sich im Jahr zuvor in den USA rasant ver-
ren 2021 und 2022 gefahren sind. Wenn mehr mungserscheinungen, ein dauerhafter Tinni- breitet. Scheuer, der sich mit lästigen Themen
Nutzer unterwegs sind, ist auch mit mehr Un- tus, viele Varianten finden sich in der Daten- wie Klimaschutz und Maut herumzuschlagen
fällen zu rechnen – doch Daten zur Fahrleis- bank der Klinik in Alsternähe. »So ein Trau- hatte, wies seinen Stab an, die Zulassung elek-
tung gibt es nicht. »Dass es bei einem neuen ma kann Einfluss auf den Rest des Lebens trischer Roller als allgemeines Verkehrsmittel
Verkehrsmittel zu Unfällen kommt, ist erst haben«, erklärt der Unfallmediziner. vorzubereiten.
mal nicht überraschend«, sagt Brockmann, Seine Empfehlung ist eindeutig. »Wenn Schon im ersten Referentenentwurf vom
»das war beim Pedelec genauso.« der Scooter ein Fortbewegungsmittel der Zu- 21. September 2018 wurde eine Schwachstel-
Immerhin legt sich der Forscher fest, dass kunft bleiben soll, brauchen wir eine Helm- le deutlich: die Frage, wo die Scooter bleiben
die privaten E-Roller kein Problem seien: pflicht«, sagt Hoffmann. sollen, wenn sie nicht durch die Gegend sau-
»Die Helmtragequote auf dem Scooter ist in Schaffen die Scooter die Wende vom Life- sen. »Die für das Parken von Fahrzeugen zur
jener Gruppe höher als bei Radfahrern.« Die style-Fortbewegungsmittel zum relevanten Anwendung kommenden Vorschriften der
öffentliche Debatte, so Brockmann, »sollte Teil eines Verkehrskonzepts? Viele Fragen Straßenverkehrs-Ordnung gelten nicht für
sich deshalb nicht auf das Verkehrsmittel an sind offen, so viele, dass sich selbst die Unter- Elektrokleinstfahrzeuge«, hieß es in dem Ent-
sich konzentrieren, sondern auf die Probleme nehmen, die schließlich in die Gewinnzone wurf. »Sie werden nicht geparkt, sondern wie
des Leihgeschäfts«. wollen, nicht gegen mehr Regeln sträuben. Fahrräder abgestellt.«
Die Statistik weist bei 18 Prozent der Scoo- Lawrence Leuschner, Gründer und Chef Natürlich war die Formulierung eine Ne-
tercrashs als Unfallursache »Fahren unter Al- des deutschen Scootervermieters Tier, setzt belkerze, die eine heikle Frage nur verschlei-
koholeinfluss« aus. Wie beim Autofahren gilt sich für einen Rechtsrahmen ein, der den erte. Auch sonst hatten die Bundesländer eine
auch beim E-Rollern die 0,5-Promille-Grenze, Wildwuchs stoppt, »für eine Zusammen- Menge Fragen: nach dem Versicherungs-
Brockmann hält das für angemessen. Nur: arbeit der Unternehmen mit den Kom­ schutz, der Haftung, dem Mindestalter der
»Die Polizei müsste es häufiger kontrollieren.« munen«. Man wolle die E-Roller nicht ver- Nutzer oder einer Helmpflicht. Nichts war
Die Reflexe mit Alkohol auszuschalten, bannen, sagt Helmut Dedy vom Deutschen überzeugend geklärt, die Konferenz der Lan-
sagt der Hamburger Unfallchirurg Michael Städtetag, »aber wir brauchen ein gutes Mit- desverkehrsminister grummelte. Scheuer
Hoffmann, sei das Fahrlässigste, was man auf einander«. Und dazu müssten Bund und brauchte aber die Länder, die Zulassung muss-
einem E-Roller veranstalten könne. Der Me- ­Länder endlich »klare Spielregeln« schaffen te vom Bundesrat abgesegnet werden.
Fünf Monate später präsentierte der Mi-
nister einen zweiten Entwurf. Jetzt war plötz-
lich von zwei Scootertypen die Rede: dem
üblichen Modell, das 20 km/h schnell fahren
kann, und einem langsameren, das »mit einer
bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von
weniger als 12 km/h nur auf Gehwegen, auf
gemeinsamen Geh- und Radwegen und in
Fußgängerzonen gefahren« werden dürfe.
E-Scooter auf Bürgersteigen, zwischen
Kinderwagen, Sehbehinderten, Alten mit
Gehhilfe? Die Skepsis unter den Landesver-
kehrsministern schlug in schroffe Ablehnung
um, wieder wurde getagt und verhandelt –
und am Ende waren alle froh, das langsame-
re Modell rausgestrichen und den Gehweg-
irrsinn verhindert zu haben.
Indes: Scheuer bekam, was er wollte. Er
ließ sich im Juni 2019 als Macher feiern, der
ein jugendliches, cooles Verkehrsmittel in die
Städte bringt, und dabei ablichten, wie er läs-
sig mit einem Scooter durch die Gänge seines
Ministeriums brauste.
Adam Berr y / Getty Images

»Der zweite Entwurf war ein typischer


Dealmaker, ein abgezockter Trick«, sagt der
Berliner Rechtsanwalt Thomas Hiby, »eine
beknackte Forderung in die Verhandlungen
einzuführen, um das eigentliche Geschäft
durchzubringen.« Hiby kennt sich im Ver-
Verbotenes Tandemfahren auf Mietroller in Berlin: Täglich Klagen über Regelbrüche waltungsrecht und speziell im Wegerecht gut

34 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

50 »Sharing Stations« hat die Stadt


schon errichtet, bald sollen es mehr
als 100 sein.
Froh ist Keller trotzdem nicht.
»Wer mit einem gewissen ästheti-
schen Empfinden durch eine städte-
baulich attraktive Stadt wie Düssel-
dorf geht, den packt das kalte Grau-
sen, wenn er diese Rollerabstellzonen
sieht.« Zumal diverse Dienststellen
mehr Beschwerden denn je aus ande-
ren Stadtteilen registrierten.
Der Oberbürgermeister würde
gern noch mehr machen, etwa das –

Masha Mitchell / aal.photo / IMAGO


verbotene – Befahren von Fußgän-
gerzonen oder Grünflächen technisch
unterbinden. Die Geschwindigkeit in
bestimmten Zonen zu drosseln ist per
GPS-Ortung kein Problem und wird
in europäischen Metropolen wie Pa-
ris und Warschau längst umgesetzt.
Auch in London gibt es »Go slow«-
aus. Im Auftrag des Berliner Blinden- E-Scooter-Abstell- seien Scooterverleiher hierzulande und »No go«-Strecken. In Deutsch-
und Sehbehindertenvereins hat er an zone in München: aktiv, so der Kommunalverband. land hält das Kraftfahrtbundesamt
Den Wildwuchs
einer Klage gegen das Land Berlin stoppen Aber bis heute habe es der Bund nicht das sogenannte Geofencing für nicht
mitgeschrieben. Auf gut 200 Seiten einmal geschafft, ein Verkehrsschild zulässig – sehr zum Bedauern des
seziert er gemeinsam mit dem Mar- einzuführen, mit dem sich die Durch- Deutschen Städtetags.
burger Anwalt Michael Richter die fahrt der E-Roller auf bestimmten Geofencing, Sharing Stations, Fuß-
Schwächen und Widersprüche im Strecken verbieten lässt – beispiels- patrouillen: Was manche Städte als
Umgang mit den Rollern. weise auf engen Radwegen. Abwehrmaßnahme verstehen, hält
Die Kernkritik der beiden Juristen: Bislang müssen die Städte häufig Tier-Chef Lawrence Leuschner schlicht
In einer Welt, in der Barrierefreiheit improvisieren. Frankfurt am Main hat- für zielführend. »Ich plädiere für eine
sogar von der Uno als hohes Gut te im Juni 2022 eine Software vorge- Regulierung«, sagt er, um einen ho-
­festgeschrieben ist, stehen plötzlich stellt, die falsch abgestellte Leihscooter hen Standard zu erreichen, und das
Tausende Hindernisse auf Gehwegen etwa in Parks oder am Mainufer er- wichtigste Thema sei das Parken. Was
herum – für Blinde mit ihrem Stock kennen und am Bildschirm markieren Düsseldorf zur Schadensbegrenzung
kaum zu ertasten. Und das in einer sollte. Zum Jahresende wurde das Sys- hat bauen lassen, gehört für Leusch-
Gesellschaft, die jedes Jahr viele tem wieder abgeschafft. Es habe sich ner zu einem schlüssigen Mobilitäts-
Millionen Euro für den barrierefrei­en nicht bewährt, sagt ein Sprecher des konzept, nämlich »an jeder Straßen-
Zugang zu Gebäuden, U-Bahnstatio- Verkehrsdezernats, die Rollerflotten ecke einen Autoparkplatz aufzuge-
nen oder Strandpromenaden ausgibt. seien »zu volatil«. Bis ein Stadtpolizist ben, um dort Scooter, Fahrräder oder
In Scheuers Verordnung heißt es, am markierten Ort angekommen sei, E-Bikes abstellen zu können«.
in Paragraf 11 Absatz 5: »Für das Ab- Spaßbremse seien die Scooter oft nicht mehr dort Leuschner sieht sich auf einer Mis-
stellen von Elektrokleinstfahrzeugen gewesen, weil jemand sie für eine wei- sion: »Die Mobilität zum Guten zu
gelten die für Fahrräder geltenden Verletzungsregionen tere Fahrt ausgeliehen habe. verändern, Alternativen schaffen, um
nach Unfällen mit
Parkvorschriften entsprechend.« Wer E-Scootern, in Prozent Bremen hat neuerdings die Vermie- Menschen davon zu überzeugen, das
indes in deutschen Rechtsnormen ter verpflichtet, Roller fortzuschaffen, Auto mal stehen zu lassen.« Experten
nach Parkvorschriften für Fahrräder wenn sie im Weg stehen. Sie müssen attestieren den E-Scootern bislang
auf Gehwegen suche, sagt Richter, »Fußpatrouillen« einsetzen, die zwi- allenfalls einen geringen Beitrag zur
»der findet keine«. Per Bundesgesetz Kopf und
schen 6 und 22 Uhr innerhalb von drei Verkehrswende. Leuschner, nach eige-
und damit bundeseinheitlich fehle 43 Stunden jeden »nicht sicher oder nicht nen Angaben Herr über 300.000 Rol-
Hals
also eine Regelung, wo und wie ordnungsgemäß« abgestellten E-Scoo- ler in 500 Städten weltweit, glaubt
E-Scooter abgestellt werden dürfen. ter umparken. In der Nacht darf es lieber eigenen Zahlen: »20 Prozent
In seiner Verbandsklage fordert der sechs Stunden dauern. der Fahrten starten oder enden an
Blinden- und Sehbehindertenverein obere Viele Maßnahmen aus Bremen fin- Knotenpunkten des öffentlichen Nah-
23
Extremitäten
den Berliner Senat deshalb auf, die den sich auch in Düsseldorfs neuem verkehrs beziehungsweise werden als
Erlaubnisse für die fünf Verleihfirmen Rumpf, Verkehrskonzept wieder. Oberbürger- Ergänzung zum ÖPNV genutzt.«
9
BWS/LWS*
zurückzunehmen. meister Stephan Keller will mit dem Auch der Anteil der ersetzten Auto-
Wie auch immer das Berliner Ver- untere Regelwerk, das seit Herbst gilt, »den fahrten steige, so liest es der Tier-Chef
24
waltungsgericht über die Klage ent- Extremitäten Schaden für meine Stadt begrenzen«, aus Kundenbefragungen.
scheiden wird, die 200 Seiten machen wie er es ausdrückt. »Wir haben ver- Nachhaltigkeit ist Leuschners Le-
deutlich, mit welch juristischem Flick- S Quelle: Asklepios Klinik schiedene Instrumente, um den An- bensthema, er will geduldig sein, auch
St. Georg; verletzte Patienten:
werk es Ordnungsbehörden und Ver- 180; bei mehrfach verletzten bietern das Geschäft ein wenig zu er- wenn es schwerfällt: »Man kann die
kehrsplaner im Umgang mit den Leih- Patienten wurde jeweils die
schwerste Verletzung zur
schweren – und die nutzen wir auch.« Welt nicht in ein paar Jahren verän-
rollern zu tun haben. Es fehle schlicht Eingruppierung in die Die schärfste Maßnahme: Im dern, wenn das Auto uns seit 100 Jah-
Verletzungsregion gewählt;
an »geeigneten rechtlichen Vorgaben«, * BWS: Brustwirbelsäule, Stadtzentrum dürfen E-Scooter aus- ren dominiert.«
bemängelt Helmut Dedy vom Deut- LWS: Lendenwirbelsäule;
von 100 abweichende Prozent:
schließlich auf reservierten Park­ Matthias Bartsch, Philipp Kollenbroich,
schen Städtetag. In rund 150 Städten rundungsbedingt flächen abgestellt werden. Rund Alfred Weinzierl  n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 35


DEUTSCHLAND

Nicht ihr Herzmuskel, sondern


meiner war plötzlich nicht mehr
ausreichend durchblutet, Zellen
starben ab, das Gewebe vernarbte.
Zudem kam es zu lebensgefährli-

Sieben Minuten
chen Rhythmusstörungen – dem so-
genannten Kammerflimmern. Statt
koordiniert Blut zu pumpen, flim-
merte der Muskel mit hoher Fre-
quenz: eine Art elektrischer Kurz-
SCHICKSALE  Beim Einkaufen sackte ich plötzlich zusammen und erlitt einen schluss. Als Folge zitterte mein
Herzinfarkt. Überlebt habe ich nur aus einem Grund. Von Katja Iken Herz nur noch, der Kreislauf kolla-
bierte. Hätte sich meine Lebens­
retterin nicht sofort neben mich

O
b meiner Lebensretterin wäh- ­gekniet und mit der Herzdruckmas-
renddessen der Schweiß sage begonnen, wäre ich binnen
­ausbrach? Ob sie Panik über- kürzester Zeit tot gewesen.
kam, ein Heulkrampf, Abscheu? Denn die Gehirnzellen beginnen
Ob ihre Hände schmerzten? Was bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand
ihr durch den Kopf geschossen sein schon nach nur drei bis fünf Minu-
mag in den sieben Minuten, in ten unwiederbringlich zu sterben.
denen sie über mir gekniet hat, Jahr für Jahr erleiden laut dem
einer wildfremden Frau? Deutschen Rat für Wiederbelebung
Sieben Minuten lang hat Mina mindestens 70.000 Menschen in
(die eigentlich anders heißt) ge- Deutschland außerhalb eines Kran-
drückt, gedrückt, gedrückt: ein kenhauses einen plötzlichen Herz-
Handballen auf dem anderen, beide tod; die Überlebensrate beträgt ge-
auf meinem Brustbein, immer wie- rade mal zehn Prozent.
der. Unentwegt, sie hat mich ein- Ich gehöre zu den »happy ten«,
fach nicht aufgegeben. Bis der Not- dank Mina und dem schnell eintref-
arzt da war, mein Herz per Defibril- fenden Notarzt. Die Rate könnte
lator mit Stromstößen traktiert viel höher sein – vorausgesetzt, es

Melina Mörsdor f / DER SPIEGEL


und wieder ordentlich zum Schla- würden sich mehr Menschen zu-
gen gezwungen hat. trauen, eine Wiederbelebung durch-
Es gehört zu meinem Beruf, viele zuführen. Doch das passiert aktuell
Fragen zu stellen. Ausgerechnet bei bei nicht einmal der Hälfte aller
meiner Lebensretterin habe ich Notfälle. 2021 lag die Laienreani-
mich das nicht getraut. Noch habe mationsquote laut deutschem Re-
ich nicht nachgefragt, wie es ihr er- animationsregister bei 42,6 Pro-
ging in den sieben Minuten und da- SPIEGEL-Redakteurin schen Friseur und Spaghetti bolo. zent. Immerhin: 2011 hatten gerade
nach. Klar, kurz nach meiner Ent- Iken Was mir – würde es ihn geben – einmal 18 Prozent der Nichtfach­
lassung aus dem Krankenhaus, nach vermutlich kurzzeitig den Preis der leute eine Wiederbelebung gewagt.
Koma und Intensivstation, Intuba- haarschönsten Herzpatientin Ham- Trotzdem steht Deutschland im
tion, Operation und Gedächtnisver- burgs eingebracht hätte. internationalen Vergleich schlecht
lust, bin ich bei ihr vorbeispaziert. Nach dem Spontankauf überteu- da. Spitzenreiter – mit einer Quote
Auf wackeligen Beinen, schweißge- erter Sneakers (an den ich mich von gut 80 Prozent – ist Norwegen:
badet, erwartungsfroh. beim besten Willen nicht erinnern ein Land, in dem Reanimation seit
Doch als ich sie dann dort stehen kann) betrat ich gegen 14.15 Uhr 1961 auf dem schulischen Lehrplan
sah, etwa Anfang zwanzig, groß, das Geschäft meiner Lebensretterin. steht.
blond, ungeschminkt, wunder- Unmittelbar darauf wurde mir

W
schön, da war ich sprachlos. Statt schwindelig, ich sackte zusammen. iederbelebung ist kinder-
mich wie eine Erwachsene zu be- Der Grund: Mein Herz, dieser leicht und lässt sich inner-
nehmen, brach ich sofort in Tränen faustgroße Supermuskel-Lebensmo- halb von fünf Minuten
aus und lehnte mich an meine Le- tor, bisher stets zu Diensten und das ­erlernen. Sie muss endlich auch
bensretterin wie ein kleines Mäd- 24 Stunden am Tag, spielte ver- hierzulande an den Schulen ver-
chen. Ein Armband hatte ich in der rückt. Ich erlitt einen Infarkt. pflichtend implementiert werden«,
Hand für die junge Frau, vom Gold- Warum ausgerechnet ich, sport- fordert Professor Bernd W. Bötti-
schmied um die Ecke. Als könnte lich, schlank und stresserprobt? Mit ger, Direktor der Klinik für Anäs-
man in Gold aufwiegen, was sie für 50 noch nicht uralt, Nichtraucherin, thesiologie und Operative Intensiv-
mich getan hat. Falsch machen Currywurst-Vermeiderin, Wenig- medizin der Uniklinik Köln sowie
Mit ihrem Mut hat Mina dafür kann man bei Trinkerin? Aus dem Stand fallen Vorstandsvorsitzender des Deut-
gesorgt, dass ich das überlebt habe,
was Mediziner als »plötzlichen
einer Herz­ mir ein Dutzend Freunde, Bekann-
te, Verwandte, Kollegen ein, die
schen Rats für Wiederbelebung.
In Dänemark hat sich die Laien-
Herztod« oder auch »Sekunden- druckmassage einem herzinfarktverdächtigeren reanimationsquote fünf Jahre nach
tod« bezeichnen: einen Herz-Kreis- nichts – außer, Lebenswandel frönen. Ein Gedan- verpflichtender Einführung des
lauf-Stillstand, der mich an einem ke, der nicht nur boshaft, sondern Wiederbelebungsunterrichts und
regnerischen Märzsamstag aus hei-
sie zu unter­ auch müßig ist. Denn: Ich bin umge- weiterer umfassender Öffentlich-
terem Himmel niederstreckte, zwi- lassen. fallen, nicht sie. keitsarbeit mehr als verdoppelt.

36 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


DEUTSCHLAND

Deutschland? Hinkt hinterher. »Wir sind Schuldirektorinnen und -direktoren im freundliche Küche, sammle kiloweise Mu-
ein Entwicklungsland in puncto Reanima- Land: Lassen Sie uns diese eine Doppel- scheln, absolviere zu »YMCA« Hula-Hoop-
tion«, sagt Böttiger. Der 64-jährige Medizi- stunde vor der zweiten großen Pause Frühsport mit rüstigen Infarktkolleginnen
ner, der auch Bundesarzt des Deutschen ­freiräumen für eine Reanimationseinheit, und -kollegen in Ballonseide. Damit mein
Roten Kreuzes ist, setzt sich seit 20 Jahren gern auch schon ab Klasse 1. Das kostet Herz im Lot bleibt, nehme ich Betablocker,
dafür ein, dass die Wiederbelebung in der nichts, rettet aber Leben. Blutdrucksenker, Medikamente gegen Blut-
Öffentlichkeit eine größere Aufmerksam- Radeln, schwimmen, lesen, schreiben, gerinnsel und das schlechte Cholesterin,
keit erfährt. Auf seine Initiative gibt es rechnen, Schuhe binden: Kinder lernen so von dem ich nie wusste, dass es zu hoch
Kampa­gnen wie »Kids Save Lives« und der schnell so viel. Einiges davon – der Verlauf war. Zehn Pillen jeden Tag.
seit 2018 weltweit stattfindende World Re- des Zweiten Punischen Kriegs, das Paa-

T
start a Heart Day. rungsverhalten des Regenwurms, die Volu- abletten gegen den tiefen Schrecken,
Auch an die Schulen trat Böttiger heran. menberechnung von Kegeln – ließe sich der mich angesichts der eigenen
Schon 2014 empfahl die Kultusministerkon- vermutlich minimal eindampfen zugunsten Sterblichkeit erfasst hat, gibt es nicht.
ferenz, dass das Wiederbelebungstraining eines kleinen Herzdruckmassage-Trainings. Ab und an lugt die Memento-mori-Fratze
deutschlandweit ab Klasse 7 mit zwei Unter- Auch im Arbeitsleben sollten lebensretten- um die Ecke und grinst mich höhnisch an.
richtsstunden eingeführt wird. Umgesetzt de Fortbildungen in den Alltag integriert Was völlig in Ordnung ist. Im erwähnten
wird die Empfehlung schleppend, am weites- werden: zu Frühlingsbeginn, vor der Som- »Zauberberg« schrieb Thomas Mann: »Der
ten ist Mecklenburg-Vorpommern. merfeier, an Nikolaus, whenever. Einfach in Mensch soll um der Güte und Liebe willen
den Terminkalender einstellen, zack, fertig. dem Tode keine Herrschaft einräumen über

D
ass der plötzliche Herztod auch im Wir setzen uns in jede noch so lahme Kon- seine Gedanken.«
Jahr 2023 wider besseres Wissen ferenz, nehmen an Workshops zu Kunden- Einverstanden, Monsieur Mann: Die
noch immer so nonchalant hinge- bindung und Diversity, Arbeitssicherheit Einsicht in die eigene Sterblichkeit sollte
nommen wird, liegt laut Böttiger vor allem und Klimaschutz teil. Doch ein Reanima- niemanden lähmen. Trotzdem schadet es
am Geld. »Niemand profitiert ökonomisch tionsseminar mit alljährlicher Auffri- nicht, den Gedanken hin und wieder zuzu-
von einer Wiederbelebung, daher interes- schungspflicht ist in den meisten Unterneh- lassen. Zumindest bei mir geht er einher
siert sich vielleicht auch die Politik nur men nicht verpflichtend. mit Demut, mit Dankbarkeit. Und jeder
­peripher dafür«, sagt er. »Das grenzt an Dabei hat niemand ein zweites Leben im Menge guter Vorsätze: konsequenter in-
unterlassene Hilfeleistung.« Die Mund-zu- Kofferraum. Ganz egal, wie groß das Auto konsequent sein, Wichtiges von Unwichti-
Mund-Beatmung ist laut Böttiger bei Er- ist. So weit die banale Erkenntnis, unver- gem unterscheiden, fünfe gerade sein las-
wachsenen gar nicht zwingend notwendig, rückbar wie die graugrüne Ostsee, die vor sen. Mich noch mehr freuen an all dem
um Leben zu retten, sie erhöhe nur unnöti- dem Fenster meiner Rehaklinik rauscht. Verrückten, Schönen, Skurrilen, das das
gerweise die Hemmschwelle. Alles, was Vor zwei Wochen bin ich hier angekom- Leben zu bieten hat.
­zunächst zu tun sei, wenn eine Person men, in diesem backsteinernen Zauberberg: Ach ja, und Mina möchte ich gern noch
­kollabiere: prüfen – rufen – drücken. Prü- eine Oase der Ruhe, weit weg vom Hams- mal treffen. Eine Karte habe ich der jungen
fen (ob die Person noch bei Bewusstsein terrad der Leistungsgesellschaft und den Frau schon geschrieben: auf der Vorder­
ist) – rufen (die 112) – und dann auf die drei Kindern. seite Bäume, die ihre kahlen Äste in die
­Mitte des Brustkorbs ­drücken, bis der Arzt Hier sitze ich nun, auf mich selbst zu- Luft strecken und dabei ein blaues Him-
kommt. Fünf bis sechs Zentimeter tief, ­ rückgeworfen, mit frisch eingebautem Defi- melherz freilassen. Kitschig, ja, aber auch
100- bis 120-mal pro Minute. brillator unter der Haut. Das streichholz- schön. Ich habe ihr meine Telefonnummer
Falsch machen kann man bei der Herz- schachtelgroße Wundergerät fängt mein geschickt und sie gefragt, ob sie Lust auf
druckmassage nichts – außer, sie zu unter- Herz mit Stromstößen ein, falls es erneut einen Kaffee hat.
lassen. Daher meine Bitte: Trauen Sie sich! davongaloppieren oder stehen bleiben soll- Ich will meiner Lebensretterin noch ein-
Frischen Sie Ihren Erste-Hilfe-Kurs auf, te. Ich habe es Mini-Mina getauft. mal richtig danken – und endlich wissen,
schauen Sie im Netz, wie das mit der Wie- Während meiner Reha lerne ich alles wie es ihr ergangen ist in den entscheiden-
derbelebung funktioniert. Und an alle über Entspannungstechniken und herz- den sieben Minuten.  n

mit
Erfolgreich in der Abschluss-
digitalen Arbeitswelt zertifikat

Weiterbilden mit E-Learning – wann und wo Sie wollen


Erfahrung, Kompetenz, Flexibilität – nutzen + Tech Business
Sie die Vorteile der SPIEGEL AKADEMIE in den + Management und Leadership
vier Themenbereichen: + Digital Media und Marketing
+ Communication und Psychology
Alle Kurse und Infos unter akademie.spiegel.de
D E B AT T E D E U T S C H E G E S C H I C H T E

Zu bunt geraten  Es ist richtig, die Erfahrungen der


Menschen in der DDR ernst zu nehmen. Aber
es ist falsch, dafür die Vergangenheit zu beschönigen.
Von Franziska Kuschel

D
ie Deutsche Demokratische Gerade in England lernt man im Alltagsrassismus und tätlichen
Republik war kein »graues Studium, ungeheuer viel zu lesen, Übergriffen, auch im selbsterklärten
Land voller hoffnungsloser bevor man mit eigenen Thesen internationalistischen Sozialismus.
Existenzen« – das will Katja Hoyer ­vo­ranprescht. Die Autorin hat statt­ Die Forschung hat dazu ein
mit ihrem Buch »Diesseits der dessen Interviews geführt, die ­facettenreiches Bild gezeichnet, das
­Mauer« über den Alltag im lang sie – immerhin – plastisch nachzu­ nicht beschönigt. Hoyer jedoch
vergangenen Realsozialismus erzählen versteht. Das liest sich gut ­verzerrt durch die selektive Auswahl
bewei­sen. Darin verspricht die 1985 und ist bisweilen packend erzählt. der Interviewpartner unter Igno­
im SED-Staat geborene, heute Hier aber beginnt bereits das rierung des Forschungsstands die
in London forschende Historikerin Problem. Hoyer möchte mit den DDR-Geschichte – fast schon mut­
einen »neuen Blick« auf die DDR. nacherzählten Erinnerungen die willig.
International wurde ihr Buch Geschichte der DDR neu schreiben Viele Erfahrungen bleiben so un­
durchaus positiv aufgenommen, der und »den Ostdeutschen« eine Stim­ gehört. Stimmen der Opposition
Verlag bewirbt es vollmundig als me geben. Das ist nicht neu: For­ oder Opfer von Repressionen kom­
»bahnbrechend«. Doch dass in schungsprojekte zur »Oral History«, men so gut wie nicht zu Wort. Die
Hoyers Buch Neues über die DDR- also zur mündlichen Geschichte, berüchtigten Jugendwerkhöfe, in
Geschichte zu erfahren sei, kann gibt es seit Jahrzehnten. Die han­ denen unangepasste Jugendliche
nur glauben, wer von der vielfäl­ delnden Personen sollen, so die schon von früher Jugend an wegge­
tigen wissenschaftlichen und media­ Idee, nicht nur ihre persönliche, sperrt wurden, bleiben unerwähnt,
len Aufarbeitung der vergangenen sondern auch »die Geschichte« aus vermutlich weil sie ein paar Grau­
Jahrzehnte überhaupt nichts mitbe­ der Erinnerung erzählen. töne in die Erzählung einer bunten
kommen hat. Doch diese Methode steht längst Alltagswelt gebracht hätten.
Die einschlägige Forschungs­ auf dem Prüfstand. Erinnerungen Stattdessen liest man häufig, was
literatur füllt inzwischen Bibliothe­ geben keineswegs wieder, wie »die Ostdeutschen« damals kol­
ken. Doch Hoyer listet im Anhang es wirklich war; sie unterliegen viel­ lektiv so dachten und fühlten. Wie
ihres immerhin knapp 600 Seiten mehr mehrfachen Überschreibun­ Hoyer zu diesen Schlüssen kommt,
umfassenden Werks beeindruckend gen, Selbstdeutungen und weben erfährt die Leserin nicht. Dabei
wenig Bücher auf. Ihre »neue Ge­ auch mal den aktuellen Stand der gibt es längst Forschungen, die Ein­
schichte der DDR« ist so denn auch Medienberichterstattung ins Ge­ stellungen und Haltungen
nicht nur enttäuschend, sondern ein dächtnis ein – zumeist unbemerkt. der DDR-Bevölkerung analytisch
veritables Ärgernis. Von den individuellen Schilde­ ­rekonstruieren.
Wie kann man angesichts der rungen der Erinnerungen Einzelner

Z
breiten Arbeit von Gedenkstätten, auf die Gesamtheit zu schließen war kann die Geschichts­
Ausstellungen und Geschichts­ ist daher mehr als gewagt – gerade schreibung nicht auf freie Um­
initiativen sowie historisch-politi­ auch angesichts des vielfach er­ fragen zurückgreifen, da diese
scher Bildung überhaupt gleich lebten biografischen Bruchs von ebenso wie Medien der staatlichen
zu Beginn des Buches ernsthaft be­ 1989/90. Das zeigt sich etwa an der Kontrolle unterworfen waren, was
haupten, die DDR werde als im Buch geschilderten Geschichte bei Hoyer ebenfalls nur schemen­
­»grauer, eintöniger, verschwom­ von Jorge aus Kuba, der als Ver­ haft aufscheint. Es hätte dennoch
mener Fleck« dargestellt? tragsarbeiter in die DDR kam. Mit Wege und Möglichkeiten gegeben,
Diese groteske Verkürzung weist seiner weitgehend gelungenen sich diesem Thema zu nähern: an­
Christine Fiedler

die Richtung, der die Autorin Integration samt Familiengründung gefangen bei den sogenannten
­konsequent folgt. Warum sollte man passt er gut in die Erzählung ­Lageberichten zu »Reaktionen der
sich auch seine einseitige Sicht einer idealisierten sozialistischen Bevölkerung«, die das Ministerium
auf die DDR unnötig durch einen Solidarität. für Staatssicherheit ermittelte, über
fundierten Forschungsstand neh­ Kuschel, 1980 in Aber Jorges Erfahrungen stehen das Institut für Meinungsforschung
Lübz ge­­­bo­ren, heute
men lassen? Die von Hoyer unter­ Meck­lenburg-Vor-
eben nicht für die Gesamtheit. Ge­ beim ZK der SED, das Zentral­ins­ti­
stellte Dominanz des westlichen pommern, ist Histo­ rade Vertragsarbeiterinnen und Ver­ tut für Jugendforschung bis zum
Blicks auf die DDR, ja eine Sieger­ ri­kerin und leitet tragsarbeiter unterlagen Kontakt­ ­Institut für Marktforschung in der
geschichtsschreibung, ist längst den Arbeitsbereich verboten, mussten Abtreibungen DDR oder auch die Ergebnisse west-
Wissenschaft in
überholt. Doch dazu müsste man der Bundesstiftung
vornehmen oder standen unter dem deutscher Forschungsprogramme
kennen, was eine junge Forscher­ zur Aufarbeitung Druck einer Zurückweisung in von Infratest München und anderen.
generation veröffentlicht. der DDR-Diktatur. die Herkunftsländer. Sie litten an Quellenkritisch gelesen, liefern

38 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


Aufsatz von Christian F. Oster­
mann, Direktor des History
and Public Policy Program am
­Wilson Center in Washington,
dient ihr als Beleg dafür.
Ostermann aber hatte in seinem
Aufsatz lediglich die Reaktion
der US-Regierung auf den Volks­
aufstand stärker als bis dahin üblich
differenziert. Seine aktuellen ein­
schlägigen Bücher, zuletzt von
2021, präsentieren neues Material,
doch sie sind nicht im Literaturver­
zeichnis zu finden. So geht es
­immerfort im Buch: Die Autorin
zieht nur zurate, was die eigene
Deutung stützt.

W
estlichen Medien hingegen
wird an verschiedenen
­Stellen geradezu Böswillig­
keit unterstellt. Etwa im Fall
der Selbstverbrennung des Pfarrers
­Oskar Brüsewitz im Jahr 1976, zu

Frank Sorge / IMAGO


­dessen Beerdigung westliche
­Medienvertreter nur angereist seien,
»um aus dem tragischen Tod
des Pfarrers politisches Kapital zu
schlagen«. Auch die Vergleiche
sie Hinweise auf Stimmungen Dass in Umfragen ein Teil der Ost-Berliner mit der Bundesrepublik sind oft
und Befindlichkeiten, die über Ein­ Ostdeutschen angibt, sich bis Straßenszene von ahistorisch und dienen eher der
1985
zelfälle hinausgehen. heute als »Bürger zweiter Klasse« Entlastung des SED-Regimes.
Alltag und Diktatur bleiben zu fühlen, wird nicht dadurch Schließlich summieren sich die
bei Hoyer streng getrennt. Partei ­besser, dass ein Buch die ost­deut­ faktischen Fehler: 1952 wurden aus
und Staat haben mit dem Leben sche Seele re­trospektiv durch den zuvor fünf Ländern nicht 13,
der Menschen in der DDR dem­ eine harmonisierende sondern 14 Bezirke gebildet. An an­
nach wenig zu tun – damit fällt sie Glückserzäh­lung streichelt. derer Stelle ist gar von 217 Bezirken
zurück in populäre Narrative der Es mangelt im öffentlichen Dis­ die Rede. Die DDR hatte 217 Kreise.
Neun­zigerjahre, die längst überholt kurs weniger daran, dass der Blick Hoyer schreibt von »Schutzhaft«
sind. auf die DDR-Geschichte und die und meint Untersuchungshaft; der
Selbstverständlich gab es einen dort lebenden Menschen einseitig Begriff »Beamter« ist für die
staatsfernen Alltag, den die Autorin ist oder gar von einem westdeut­ DDR falsch gewählt, denn in der
anhand der Geschichten der Inter­ schen Blick dominiert ist. Vielmehr DDR gab es kein Beamtentum. Am
viewten nacherzählt. Es gab Hoch­ werden differenzierte Ergebnisse 4. Dezember 1989 stürmten nicht
zeiten, Geburten, Urlaube, Kar­ der historischen Forschung öffent­ landesweit Menschen die örtlichen
rieren. Die Mehrheit der Menschen lich nicht ausreichend zur Kenntnis Stasi-Dienststellen, sondern Bürge­
musste sich spätestens nach dem genommen. rinnen und Bürger besetzten in
Mau­erbau 1961 mit der DDR ar­ran­ Hoyers Lesart des Volksauf­ ­Erfurt erstmals eine Stasi-Bezirks­
gieren und tat das auch. Vielen stands vom 17. Juni 1953, der sich verwaltung. Eine Aufzählung, die
mag das leichtgefallen sein, und demnächst zum 70. Mal jährt, ist sich fortsetzen ließe.
viele haben beruflich wie privat symptomatisch für solch eine wenig Kürzlich äußerte die Autorin in
viel geleistet. differenzierte Sicht. Hoyer zufolge einem Interview mit der »Zeit«
Über solche Selbstverständlich­ ging es den Menschen dabei einzig ernsthaft die Vermutung, dass sie in
keiten wird unter Historikerinnen um mehr soziale Gerechtigkeit – Deutschland »das Buch so nicht
und Historikern schon längst nicht Forderungen nach Freiheit und Ein­ [hätte] schreiben können«. Das klingt
mehr gestritten. Dass sie hier aber heit treten in den Hintergrund. nach Geraune von Cancel Culture,
überhaupt erwähnt werden müssen, Hervorgehoben wird dafür die Rolle Von den der Klage, man dürfe ja gar nichts
ist der Schieflage der aktuellen Ost-
West-Debatte geschuldet, die durch
des West-Berliner Radiosenders
Rias, dessen Berichterstattung die
­individuellen mehr sagen. Doch zu oft werden
Kritik und Widerspruch mit Zensur
das Buch »Diesseits der Mauer« Ausweitung des Aufstands über die Erinnerungen verwechselt. Dass ihr Buch nun
keineswegs korrigiert wird. Ins Lot ganze DDR möglich machte. Einzelner ­berechtigte Kritik erfährt, ist Be­
Doch die Autorin geht weiter:
kommt diese Debatte vielmehr
durch einen multiperspektivischen Die Deutung der SED-Führung, es
auf die standteil eines öffentlichen Dis­­kur­
ses, wie er in der DDR nicht mög­
Blick, der die Diktatur nicht ohne habe sich um einen »faschistischen ­Gesamtheit lich gewesen wäre.
Alltag und den Alltag nicht ohne Putschversuch« gehandelt, ange­ zu schließen Denn Katja Hoyer entwirft rück­
Diktatur und jenen, die sie getragen stiftet und gesteuert von westlichen blickend eine DDR, in der so
haben, erzählt. Dieser aber geht Agenten, findet sie keineswegs ist mehr ­manche gern gelebt hätten. Hätte
­verloren, wenn beides getrennt wird. ­abwegig. Ein knapp 30 Jahre alter als gewagt. es sie denn so gegeben.  n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 39


REPORTER

Köln, 1954
FAMILIENALBUM Karl-Heinz Groth, 83, aus Goosefeld

E s war der Sommer 1954. Mein


Freund Gerd und ich waren
14 Jahre alt. Wir lebten in Lunden,
einem kleinen Ort an der Westküste
und Ratingen in Richtung Köln. Morgens
aßen wir zwei Semmeln vom Bäcker,
abends meist Suppe in der Jugendher-
berge. Es regnete sehr viel, nachts hatte
Schleswig-Holsteins. Nachmittags spiel- ich Heimweh. Aber wir fuhren weiter. In
ten wir auf dem Gänsemarkt Fußball, Köln legten wir eine längere Pause ein
manchmal musste ich auch in unserer und bewunderten den Dom. So etwas
Kohlenhandlung aushelfen. Viel mehr kannte ich aus Lunden nicht. Über Wies-
kannte ich nicht. Gerd und ich beschlos- baden steuerten wir schließlich den
sen also meine Schwester mit dem Fahr- Frankfurter Hauptbahnhof an.
rad in Frankfurt am Main zu besuchen. Vereinbart war, dass wir uns am
Am letzten Schultag vor den Sommer- Bahnsteig 12 mit meiner Schwester und
ferien kündigten wir es in der Klasse an. deren Freundin treffen sollten. Wir
Gelächter von allen Seiten. »Ihr? Mit waren müde und hungrig, als hinter uns
den Rostbeulen kommt ihr nicht mal bis eine Stimme rief: »Seid ihr Gerd Jen-
Meldorf« – das war der einhellige Tenor. sen und Karl-Heinz Groth aus Lun-
Unsere Mütter machten uns Mut, sie den?« Wir drehten uns erschrocken um
hatten Vertrauen in uns. und erblickten einen Polizisten in Uni-
Am 4. Juli fuhren wir los. Nach einigen form, der von uns die Personalausweise
Kilometern auf der B 5 bekam ich Mus- verlangte. Dann begann er laut zu la-
kelkater. Das konnte ja heiter werden. chen und zeigte auf zwei junge Frauen.
»Nicht schlappmachen«, rief Gerd mir zu, Die eine war seine Frau und die andere
»wir müssen bis spätestens 18.30 Uhr die meine Schwester. Welch ein Hallo! Zu-
Jugendherberge in Rothenburgsort rück ging es ebenfalls per Rad. Nach
erreichen.« Die Aussicht, dort auch noch insgesamt drei Wochen Reise kamen
das Fußballendspiel Deutschland gegen wir völlig durchnässt und mit keinem
Ungarn im Rundfunk mithören zu kön- Pfennig in der Tasche in Lunden an.
nen, verlieh uns Flügel. Wir kamen Leider hat uns dort niemand einen
pünktlich in der Jugendherberge an und Empfang bereitet, den wir doch eigent-
erlebten die sich überschlagende Stimme lich verdient hätten. Mich hat diese
Privat

von Herbert Zimmermann noch mit: Tour für mein weiteres Leben sehr viel
»Aus, aus, aus! Aus! Das Spiel ist aus!« In selbstständiger gemacht. Ich hatte Ver-
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns
den nächsten Tagen ging es weiter auf fast Ihre Geschichte erzählen möchten? trauen in mich gefunden.
leeren Straßen über Nienburg, Minden Schreiben Sie an: familienalbum@spiegel.de Aufgezeichnet von Jonathan Stock

UNENDLICHE WEITEN der Komfort bei Weltraumreisen keiten sollten Touristen auf kei- Walter: Fliegende Unterkünfte
schon bald spürbar zunehmen. nen Fall verpassen? für Touristen wird es in spä-
»Wann kommt SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf? Walter: Wüsten wie die Sahara testens fünf Jahren geben, die
das Weltraumhotel, Walter: Das riesige »Starship« fand ich sehr beeindruckend, Nasa unterstützt deren Ent-
Herr Walter?« von Elon Musk, das in diesem
Jahr seine ersten Testflüge
Europa hingegen sah eher lang-
weilig aus.
wicklung. Sogar an aufblas-
baren Hotels wird gearbeitet.
SPIEGEL: Sie haben einen absolviert, bietet viel mehr SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, SPIEGEL: Klingt nicht sehr ver-
Reiseführer für Weltraum- Platz als alle Raumschiffe dass Weltraumflüge zu unseren trauenerweckend.
touristen geschrieben. vor ihm. In Musks Vision Lebzeiten zu massentouris- Walter: Dass die dünnen Alu-
Warum sollte ich mich mit könnte es bei Flügen zum tischen Ereignissen werden? hüllen herkömmlicher Raum-
einer stickigen Kapsel in Mond sogar Violinkonzerte Walter: Davon bin ich über- stationen sicherer seien, ist eine
den Orbit schießen lassen? geben. zeugt. Denken Sie daran, wie Illusion. Vor Asteroidenein-
Walter: Es geht um das ex- SPIEGEL: Vor genau 30 Jah- wenige Menschen sich in den schlägen schützt aufblasbarer
treme Erlebnis, das große ren kreisten Sie mit der Sechzigerjahren einen Flug über Hightechkunststoff besser. STA
Abenteuer, für das man US-Raumfähre »Columbia« den Atlantik leisten konnten!
auch Strapazen auf sich knapp zehn Tage lang um die SPIEGEL: Wie konkret sind Plä- Ulrich Walter, 69, ist ehemaliger
IMAGO

nimmt. Im Übrigen wird Erde. Welche Sehenswürdig- ne für Weltraumhotels? Wissenschaftsastronaut.

40 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


man das Gutachten wertet, für wen
oder gegen wen es spricht. Und was

Der wichtigste Osnabrücker


genau in diesem Fall ungerecht ist.
Im März also, vor ein paar Wo-
chen, begann die Berufungsverhand-
lung, fünf Prozesstage waren ange-
setzt am Landgericht, alles von vorn.
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE  Was die Villa eines Star-DJs in der Provinz Die Polizisten sagten wieder aus, die
und ein gestohlener Gucci-Mantel mit Heimatliebe zu tun haben Ex-Freundin. Anwalt van Lengerich
stellte am dritten Tag neue Beweis-
anträge, auch den, dass er nun Robin

I Er hätte über­
n Wallenhorst bei Osnabrück, Sein Anwalt fand das ungerecht und Schulz als Zeugen hören wolle. Das
zwischen zwei Industriegebieten, ging in Berufung. Gericht nahm den Antrag an und
wo die Reithalle liegt und eine Der Anwalt heißt Jan van Lenge- all hinziehen unterbrach den Prozess kurzfristig.
Wiese mit viel Löwenzahn, steht hin- rich, 45 Jahre alt, er sitzt am Samstag- können und Innerhalb von drei Wochen müsste
ter einem hohen Drahtzaun die Villa
von Star-DJ Robin Schulz. Vorn ragen
mittag in seinem Büro in der Osna-
brücker Innenstadt, Ledersessel, fei-
entschied sich es weitergehen.
Der Prozess sei »plötzlich ge-
mächtige Kiefern auf, die Wege sind nes Fischgrätparkett. Das Gespräch für ein Stück platzt«, schrieb danach die »Neue Os-
­gepflastert, Solarleuchten stecken im dauert erst vier Minuten, als er mit Erde zwischen nabrücker Zeitung«. Der Sprecher des
Rasen. An der Hausfassade hängen verschränkten Händen sagt, er halte Landgerichts erklärt am Telefon:
die Überwachungskameras, die den seinen Mandanten für unschuldig.
zwei Indus­ »Unter Berücksichtigung der Drei-Wo-
Einbruch filmten im September 2019. Die Beweisaufnahme sei »ober- trie­gebieten. chen-Frist war es nicht möglich, kurz-
Robin Schulz, der 200 Auftritte im flächlich« verlaufen, sagt er und gibt fristig Herrn Robin Schulz als Zeugen
Jahr haben soll, war damals in New ein Beispiel. Man habe an zwei Stel- zu vernehmen.« Was bedeutet, dass
York, als zwei Männer mehrere Dach- len im Haus Abdrücke von Sohlen der Prozess noch mal beginnen muss.
pfannen lösten, die Isolierung durch- gefunden. Sie gehörten zu Sneakern, Wann, ist nach wie vor unklar.
trennten und in sein Haus stiegen. Adidas Yeezy Boost 350. Der Ange- Van Lengerich, der Verteidigter,
Von nun an kann man sich das klagte habe lediglich ein Foto von sagt, jeder könne innerhalb von drei
vielleicht vorstellen wie im Film »The einem solchen Modell auf dem Han- Wochen von überallher anreisen, es
Bling Ring« von Sofia Coppola, in dy gehabt, was dem Gericht als Indiz gäbe da normalerweise keine Aus-
dem Teenager in die Hollywoodvillen gereicht habe. nahme. »So etwas kommt vor und
reicher Leute einbrechen und durch- Er lächelt über den Tisch im Sinne liegt sicher nicht an der Berühmtheit
drehen vor lauter Luxus. von: Verstehen Sie? von Robin Schulz«, sagt hingegen der
Die Männer blieben, laut Anklage, Von selbst erwähnt er zunächst Sprecher des Landgerichts.
etwa anderthalb Stunden im Haus nicht, dass vieles von dem, was in der Schulz wurde in Osnabrück gebo-
und stahlen Gegenstände im Wert Villa weggekommen war, in der Woh- ren, er kaufte als Jugendlicher seinen
von knapp 18.000 Euro, darunter nung des Beschuldigten wieder auf- ersten Plattenspieler, wohnte in einer
Parfüms für 5091,95 Euro. Der Rest tauchte, auch der Gucci-Mantel. kleinen Wohnung in der Stadt, bevor
liest sich wie aus der Inventurliste Schulz hatte damals eine Speichel- der große Erfolg kam.
eines Nobelkaufhauses: Givenchy-T- probe abgeben müssen. Trotz eines Er hätte, als er plötzlich ein Star
Shirt, 325 Euro, Louis-Vuitton-Ruck- Spezialgutachtens konnten nur Bruch­ wurde, überall hinziehen können, er
sack, 1970 Euro, Balenciaga-Hoodies, stücke seiner DNA am Stoff gefunden hatte die freie Wahl, entschied sich
Musiker Schulz
595 Euro und 895 Euro, Rimowa-X- werden, was wiederum nur sagt, dass am DJ-Pult, aber für ein Stück Erde zwischen zwei
Alex-Israel-Trolley, rund 2200 Euro, Schulz den Mantel zumindest mal ge- Screenshot von der Industriegebieten, für einen Ort mit
Dolce & Gabbana-Schuhe, 1450 Euro, tragen hat. Die Frage ist jetzt, wie Website noz.de ein bisschen mehr als 20.000 Einwoh-
Gucci-Mantel, 2980 Euro. nern, ein paar Kirchen und dem Gast-
Schulz ist mittlerweile 36 Jahre alt, hof Zur Post.
er gewann vier Echo-Musikpreise, Er besucht seine Freunde, wenn er
war für den Grammy nominiert. Er da ist. Vor zwei Jahren tauchte er auf
steht im Goldenen Buch der Stadt einer Party der Landjugend auf, trank
Osnabrück. Manche sagen, er sei der Bier und Schnaps mit den Leuten. Auf
wichtigste Osnabrücker. Und es ist der Internetseite seiner Plattenfirma
nicht so, als habe er keine Konkur- sagte Schulz mal: »Ich mag das Länd-
renz. Der Satiriker Martin Sonneborn liche, einen schönen Garten.« Er baue
stammt aus Osnabrück und auch Heinz- gern am Haus herum.
Rudolf Kunze, der Liedermacher. Er klingt nicht nach jemandem, der
Ende April und Anfang Mai hatte zu abgehoben wäre, um in Osnabrück
Robin Schulz Auftritte in Dubai in am Gericht vorbeizuschauen.
einem Luxushotel mit eigenem Anfang dieser Woche berichtete
Andia / IMAGO

Strand. In Wallenhorst hat er zur die »Neue Osnabrücker Zeitung« von


Unterhaltung einen Basketballkorb einem besonderen Auftritt des DJ-
im Garten. Stars: Nach der Krönung des Königs
Einen ersten mutmaßlichen Täter stand er mit Take That auf der Bühne
konnte die Polizei ermitteln, 31 Jahre in Windsor. Robin Schulz war der ein-
alt, einen Musiker aus der Gegend. zige Deutsche im Programm zwi-
Das Amtsgericht Osnabrück verurteil- schen Weltstars wie Katy Perry und
te ihn 2022 zu einer Bewährungs­strafe Lionel Richie.
von einem Jahr und sechs Monaten. Barbara Hardinghaus n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 41


TITEL

PUTINS
VORSCHLAGHAMMER
RUSSLAND  Die Wagner-Truppe unterstützt seit Jahren Machthaber von Mali bis Syrien, richtig bekannt geworden
ist sie aber durch ihren Kampf um die ukrainische Stadt Bachmut, wo Tausende Söldner geopfert
wurden. Ihr Anführer Jewgenij Prigoschin steht für die Verrohung des russischen Regimes und der Gesellschaft.

E
s wirkte wie ein schlecht gedrehter
Horrorfilm, was Jewgenij Prigo-
schin neulich seinen Landsleuten
auf die Handys schickte. Auf sei-
nem Telegram-Kanal verbreitete er
ein Video von einer nächtlichen Wiese, auf
der Leichen liegen. Mit im Bild: Prigoschin
selbst, ein massiger Mann mit Glatze, einer
Pistole im Holster und einer Taschenlampe
in der Hand, mit der er die blutüberströmten
Toten anstrahlt. »Das sind Jungs von Wagner,
die heute gestorben sind. Das Blut ist noch
frisch!«, ruft er. Die Kamera schwenkt: Man
sieht erst jetzt, dass die Toten in vier Reihen
liegen, eine Parade des Schreckens. Es sind
Dutzende, in Uniform und oft ohne Stiefel.
Dann tritt Prigoschin direkt vor die Kame-
ra und explodiert förmlich. Mit wutverzerr-
tem Gesicht schleudert er Beleidigungen
gegen die Armeeführung heraus, die ihm Mu-
nition verweigere. »Ihr werdet in der Hölle
ihre Eingeweide fressen«, ruft er. »Schoigu,
Gerassimow, wo bleibt die verf*** Muni-
tion?« Es ist ein Wutausbruch gegen Vertei-
digungsminister Sergej Schoigu und General-
stabschef Walerij Gerassimow, aber inszeniert
mit dem Gefängnisjargon und der wie aus-
gespuckten Verachtung eines Banditen, der
nachts am Stadtrand einen Rivalen heraus-
fordert. Er klingt, als wollte er auch Schoigu
und Gerassimow in Leichen verwandeln und
neben seine Jungs legen.
Russland hat in dieser Woche den Sieg über
Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg ge-
feiert, mit der üblichen Militärparade auf dem
Roten Platz, einer Rede des Präsidenten und
Marschmusik. Aber was immer der Kreml an
erhebenden Bildern erzeugen wollte, sie wer-
den überdeckt von Prigoschins nächtlicher
Leichenparade und seiner Schimpftirade, ir-
gendwo auf einer Wiese nahe Bachmut im
Donbass, wo er die Kämpfer seiner Wagner-
Truppe in den Tod schickt.
Jewgenij Prigoschin, der Petersburger Ge-
schäftsmann, gut vernetzt in Putins Umfeld
und Chef einer zwielichtigen Söldnertruppe,
die von Syrien bis Mali aktiv ist, war vor Pu-
tins Invasion der Ukraine selten zu sehen.
Nun hat ihm der Krieg eine neue Rolle und
Bühne gegeben.

42 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


TITEL

Seine Geschichte ist die des Aufstiegs eines Schmutz hervorzuholen, anstatt seine Arbeit die Familie des Verteidigungsministers be-
Mannes zu ungeahnter Macht: In Putins Dik- hinter den Kulissen zu verrichten. Er hat der schimpft, über die Konkurrenz der Söldner
tatur scheint Prigoschin einen Freibrief zu Verrohung von Putins Regime ein Gesicht von Gazprom geklagt und fantasiert, man
besitzen. Er kann Menschen die Freiheit ver- gegeben. Viele aber fragen sich: Ist dieser solle ihm gleich 200.000 Mann unterstellen,
sprechen oder sie in den Tod schicken lassen, Mann mächtig? Größenwahnsinnig? Verzwei- um ein für alle Mal in der Ukraine aufzuräu-
er kann mächtige Männer demütigen und felt? Oder alles zugleich? men. Er hat geredet und geredet und geredet.
offen seinen Feinden drohen. Und es ist die Es ist seit Monaten kaum ein Tag vergan- Eine Woche vor dem Leichenvideo gibt
Geschichte einer Truppe, die erbarmungslos gen, an dem Prigoschin sich nicht mit Audio- Prigoschin sein ausführlichstes Interview seit
kämpft und erbarmungslos geopfert wird, in nachrichten, Videos, Fotos über seinen Tele- Langem. Er zeigt sich diesmal anders: ein jo-
der längsten Schlacht dieses Kriegs, um die gram-Kanal zu Wort gemeldet hätte. Er hat vialer älterer Herr mit Lesebrille und heiterem
Stadt Bachmut. sich in einem umkämpften unterirdischen Tonfall, der etwas zu gern von seinen eigenen
Prigoschin gibt sich als treuer Bluthund Salzstock und im Cockpit eines Su-24-Bom- Verdiensten spricht. Im olivgrünen Fleece
Putins und bedroht zugleich dessen System. bers filmen lassen. Er hat ukrainischen Kriegs- Marke Beretta sitzt er in einem fensterlosen
Prigoschin macht Politik mit dem Vorschlag- gefangenen Mandarinen zum Neujahrsfest Raum, offenbar sein Stab im Donbass.
hammer, zum Schrecken der Elite und zur geschenkt und dann angekündigt, gar keine »Hier drin«, behauptet Prigoschin, hätten
Freude mancher Russen. Er ist Putins Mann Gefangenen mehr zu nehmen. Er hat sich er und seine Leute den Schlachtplan für Bach-
fürs Schmutzige, nur hat er entschieden, den im Sudan als Vermittler angeboten, er hat mut entworfen, den »Bachmuter Fleisch-
wolf«: Die Idee sei gewesen, bei der Einnah-
me Bachmuts einen großen Teil der ukraini-
schen Armee aufzureiben. Dann hätten sie
Armeegeneral Sergej Surowikin dazugeholt,
den damaligen Kommandeur der Invasions-
truppen. »Surowikin setzte sich, hörte zu,
fuhr voll darauf ab und sagte: ›Jungs, Scheiße
noch mal, ich hab die Akademie des General-
stabs ganz umsonst abgeschlossen!«
Es ist eine typische Prigoschin-Geschichte:
Was wirklich passiert und was dazuerfunden
ist, das weiß man nicht. Sie soll zeigen, dass
der Geschäftsmann, der nie über den Rang
des Gefreiten herausgekommen ist, auf Augen­
höhe mit Generälen ist. Dass der Schlachtplan
von ihm stammt. Dass das monatelange
­Anrennen gegen feindliche Stellungen kein
Fehlschlag ist, sondern Teil eines genialen
Konzepts.
Nur funktioniert der Fleischwolf nicht
mehr, weil auch seine Truppen von ihm ver-
schlungen werden – und weil man ihm kaum
Munition mehr liefere. Das ist die Klage, die
Prigoschin schon seit Langem führt.

Bachmut: Die selbst erwählte Mission


Tatsache ist: Prigoschin hat die Einnahme von
Bachmut zu seiner persönlichen Aufgabe ge-
macht. Von ihm stammt offenbar der Plan,
die Stadt anzugreifen, noch bevor die Nach-
schubwege der Ukrainer gekappt waren, und
hier eine Material- und Menschenschlacht zu
veranstalten. Wochenlang stand die Klein-
stadt im Donbass kurz vor der vollständigen
Einnahme. Zuletzt allerdings haben die
­Ukrainer wieder Gelände zurückerobert.
Das Erstaunlichste daran ist nicht, dass ein
Geschäftsmann und Chef einer privaten Söld-
nertruppe (die es nach russischem Recht nicht
geben dürfte) diesen selbstmörderischen Plan
mit dem Armeekommando zusammen aus-
geheckt haben will. Sondern dass dieser Mann
dafür auch noch in Russlands Gefängnissen
rekrutieren durfte.
Evgeny Biyatov / Sputnik / IMAGO

Einer seiner Kämpfer war Rustam, 42, mit


grauem, ausgezehrtem Gesicht und schwa-
cher, hoher Stimme. Er war im Bachmuter
Fleischwolf ein Wegwerfsoldat für wenige
WAGNER-SÖLDNER BEIM HÄUSERKAMPF IN BACHMUT (PROPAGANDAFOTO) Tage, eine winzige Spielfigur auf Prigoschins
großem Schachbrett. Er wartet jetzt in einem
Gefängnis im ukrainischen Dnipro darauf,

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 43


TITEL

Hand nicht rannten, sondern schrit-


ten, sich nicht um Deckung bemüh-
ten, sondern ungerührt geradeaus
gingen.
Der HUR-Offizier schätzt: Bis zu
70 Prozent der Angreifer starben bei
diesen Attacken.
Aber es sind in der Schlacht von
Bachmut nicht nur viele Tausend
Häftlinge verkrüppelt und getötet
worden. Gut möglich, dass auch die
ganze Wagner-Gruppe in ihrer jetzi-
gen Form auf dem ukrainischen
Schlachtfeld gerade ihren Niedergang
erlebt. Denn Prigoschins Versuch, die

Evgeny Biyatov / Sputnik / IMAGO


Armeeführung zu erpressen, ist ge-
scheitert. Lautstark hatte er den Ab-
zug seiner Truppen aus Bachmut an-
gedroht, mangels Munition. Die Mu-
nition kam nicht, Prigoschin blieb. Er
hat überreizt.

Prigoschin und Kadyrow: Zwei


dass er ausgetauscht wird. Dort er- Granatwerfer und Scharfschützen. WAGNER-KÄMPFER Vollstrecker für Putin
zählt er dem SPI EGEL seine Ge- Rustam kroch hin und her, stellte sich IN BACHMUT: Aber das ändert nichts daran, dass
Wegwerfsoldaten in
schichte. tot, wenn Drohnen über ihm flogen, der längsten Schlacht dieser Mann Putins Regime dauerhaft
Rustam, der in Wahrheit anders war eine lebende Zielscheibe im des Kriegs verändert hat – so wie vor ihm schon
heißt, trägt am linken Handgelenk Schnee, den er gegen den Durst aß. Ramsan Kadyrow, der tschetscheni-
zwei Armbänder. Das rote steht für Am zweiten Tag bekam er eine Kugel sche Machthaber.
HIV, das weiße für Hepatitis – so mar- in den rechten Arm und verlor das Mit ihm wird er oft verglichen:
kieren sie bei der Wagner-Truppe die Bewusstsein. Als er aufwachte, war Beide Männer haben die offene Bru-
Infizierten unter den angeworbenen er in Gefangenschaft. talität zu ihrem Markenzeichen ge-
Häftlingen. Er hat Aids in fortge- Nie wieder in den Krieg, sagt Rus- macht. Beide sind Putins Männer für
schrittenem Stadium, er schätzt seine tam jetzt. Aber eigentlich hatte er sich schmutzige Aufgaben. Beide sind
Lebenserwartung auf drei bis vier das schon vor zwei Jahrzehnten ge- Außenseiter in der russischen Elite.
Jahre. Seine Haftstrafe war ein Mehr- schworen, damals, als er aus dem Beide haben eine eigene Streitmacht
faches: 11,5 Jahre »verschärftes Re- Tschetschenienkrieg zurückkam. zum Ukrainefeldzug beigesteuert,
gime«, wegen Besitzes und Konsums Bis zu 10.000 Wagner-Kämpfer und gelegentlich sind sie dabei situa-
von Methadon, davon lagen noch seien derzeit in der Ukraine, sagt ein tive Bündnisse ein­gegangen.
zehn Jahre vor ihm. Als Ende Dezem- hoher Offizier des ukrainischen Mi- Doch Kadyrow hat ein offizielles
ber Wagner-Vertreter in sein Lager im litärnachrichtendienstes HUR, die Amt, ein klar umrissenes Herrschafts-
Ural kamen, war die Rechnung ein- meisten davon in und um Bachmut. gebiet. Prigoschin ist formal Ge-
fach: Sechs Monate Ukraine, und du Seit Monaten schon wird am Fleisch- schäftsmann, mehr nicht. Anderer-
bist ein freier Mann. Oder der siche- wolf gedreht. Wohnblock für Wohn- seits hat er das Zeug zum Politiker:
re Tod in Haft. block, zerstörtes Haus für zerstörtes In einem System, das öffentliche Poli-
Von den 30 Mann, die sich in Rus- Haus haben sich die Ukrainer zurück- tik und Debatte gar nicht mehr kennt,
tams Kolonie meldeten, war er offen- gezogen. Prigoschins Kampftaktik hat er sie mit seinen vulgären Sprü-
bar noch einer der fittesten. Nur neun haben sie mit Entsetzen verfolgt. chen und makabren Videos zurück-
schafften die nötigen Tests, die Liege- »Die waren wie die ›Weißen Wan- gebracht. Er verknüpft die Munitions-
stütze und Klimmzüge, sagt er. Es derer‹ aus ›Game of Thrones‹«, er- frage mit Angriffen auf die Bürokra-
habe geheißen: Wir brauchen euch zählt ein ukrainischer Soldat der tie, auf die Elite in ihren Villen (als
ohnehin nicht zum Kämpfen. Ihr wer- 113. Brigade in Bachmut – also wie wäre er nicht selbst ein Teil von ihr),
det die Verwundeten und Toten auf jene Kreaturen aus dem Eis der Fan- auf einen angeblichen »deep state«
dem Schlachtfeld einsammeln. tasywelt, die auf untoten Pferden prowestlicher Liberaler in Moskau.
Drei Wochen wurde Rustam in ohne Angst und Schmerzempfinden So etwas kommt gut an bei vielen
einem Lager in der Ukraine von Wag- in die Schlacht reiten: »Sie liefen di- Russen.
ner-Veteranen trainiert, die Front rekt in unser Feuer. War die erste Wel- Nichts zeigt das so gut wie die Ge-
muss nahe gewesen sein, er hörte le tot, kam einfach die nächste. Und schichte mit dem Vorschlaghammer.
manchmal die Geschütze, sagt er. die nächste. So ging das manchmal Im November 2022 ermordeten Wag-
»Eure Gefängnis-Sitten könnt ihr hier über einen halben Tag, eine Nacht.« ner-Söldner auf grausame Weise
aufgeben, wir sind jetzt alle eine Fa- Zwei Monate lang hätten die Russen einen Deserteur. Jewgenij Nuschin
Concord / Telegram / AFP

milie«, sagte man ihnen. so angegriffen, bis die Wagner-Häft- hatte in ukrainischer Kriegsgefangen-
In der Nacht vom 9. Februar zog linge durch reguläre russische Sol- schaft behauptet, ein Überläufer zu
er in seinen ersten und letzten Kampf- daten ersetzt worden seien. sein. Er fiel nach einem Gefangenen-
einsatz. Vom Evakuieren war plötz- Ein ukrainischer Unteroffizier austausch seiner alten Truppe in die
lich keine Rede mehr. Sie sollten eine zeigt das Video einer Wärmebild­ Hände. Sie statuierten ein Exempel
Anhöhe bei Bachmut einnehmen und kamera: Männer, die offensichtlich SÖLDNERFÜHRER und zerschmetterten vor laufender
gerieten sofort unter Beschuss durch im Gefecht mit Sturmgewehren in der PRIGOSCHIN Kamera seinen Kopf. »Prächtige Re-

44 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


TITEL

giearbeit«, lobte Prigoschin. Das In­ ist offenkundig – niemand außer Pu­ in der Ostukraine und in Syrien, im
strument war nicht zufällig gewählt: WAGNER-­ tin konnte ihm gestatten, Häftlinge in Sudan und in Mali, in den Straflagern
Schon 2017 hatten Wagner-Söldner
einen Syrer mit einem Vorschlagham­
GRUPPE Russlands Straflagern zu rekrutieren.
Aber wie lange hält diese Gunst an?
des Urals und den Cafés von Sankt
Petersburg.
mer ermordet und die Szene gefilmt. Mai 2014  Grün­ Und könnte Putin Prigoschin gar Grob gesagt ist es die Geschichte
Zwei Monate nach Nuschins öf­ dung einer selbst als Bedrohung empfinden? eines außer Kontrolle geratenen Ex­
fentlicher Ermordung ließ sich der Söldnergruppe, die »Ich glaube nicht, dass Putin sich periments. Sie beginnt mit der Idee,
prominente Dumapolitiker Sergej im ukrainischen von ihm bedroht fühlt. Aber das ist für die Ausübung von Gewalt im Aus­
Donbass ein­
Mironow grinsend mit einem hand­ gesetzt wird wie mit Kadyrow: Ungefährlich für land eine Söldnertruppe zu gründen,
signierten Vorschlaghammer ablich­ das Regime sind die beiden nur, so­ von der sich der Kreml distanzieren
ten, den ihm Prigoschin geschenkt Sept. 2015  Russ­ lange Putin noch an der Macht ist«, kann. Die Gewalt zu delegieren an
hatte. »Für S. M. Mironow von der lands Luftwaffe sagt die Politik-Analystin Tatjana Sta­ einen Outsourcing-Spezialisten, der
PMC Wagner. Bachmut – Soledar« greift in Syrien ein. nowaja. »Es ist offenkundig, dass Pri­ der russischen Armee auch schon an­
Am Boden
stand auf dem Schaft – dazu ein Smi­ kämpfen Wagner- goschin über Putin hinausdenkt.« dere Aufgaben abgenommen hat, als
ley. »Ein nützliches Instrument«, Truppen Aber womöglich ist Prigoschin Caterer und Dienstleister. Das ist so­
scherzte Mironow. schon jetzt eine Gefahr für Putins Sys­ zusagen die erste, erfolgreiche Phase
Mironow ist ein typischer Mann Nov. 2017  Sudans tem – selbst in seinen schwächsten des Experiments. Mit Prigoschins
des Systems, der sein Mäntelchen Diktator Baschir Augenblicken. Es ist offenkundig, Truppe kann der Kreml verdeckt im
besucht Putin –
nach dem Wind hängt. Die von ihm und vergibt dass seine Bachmuter Videos aus der Donbass agieren, in Syrien fehlende
geführte Parlamentspartei »Gerech­ Schürfrechte an Not geboren sind. Es sind Hilferufe Bodentruppen ersetzen, in Afrika
tes Russland – Für die Wahrheit« hat Prigoschins Firma an den Präsidenten, zu dem er keinen eine Art Billig-Imperium aufbauen.
wilde Kurswechsel hinter sich. Es sagt direkten Zugang hat. Prigoschin greift Aber mit Putins Überfall auf die
etwas über die Stimmung im Land März 2022  Einen öffentlich an, weil er seine Interessen Ukraine 2022 wird die ursprüngliche
aus, wenn so einer zum Hammer Monat nach dem nicht hinter den Kulissen lösen kann. Idee plötzlich in ihr Gegenteil ver­
Überfall auf die
greift und der Aufschrei in der Gesell­ Ukraine kämpfen Auch das ist zerstörerisch für das kehrt. Das ist die zweite Phase des
schaft ausbleibt. Prigoschins ­System. Experiments: Aus der kleinen Profi-
Manche haben Prigoschins Rolle Söldner ihr erstes »Prigoschin ist nicht wegen seines Truppe wird eine Armee aus untrai­
bereits mit den »Opritschniki« ver­ Gefecht Vorschlaghammers gefährlich für die nierten Sträflingen. Aus Verlusten, die
glichen, der blutrünstigen Sonderein­ Elite. Sondern weil er als einziger gro­ man vertuschen wollte, werden Lei­
Juni 2022  Prigo­
heit, mit der Zar Iwan der Schreck­ schin beginnt mit ßer Politiker das laut ausspricht, chen-Shows auf Telegram. Aus dem
liche seine Elite in Schach hielt. Ihr dem Rekrutieren ­worüber die Leute sonst nur unter­ Helfer der Armee wird deren schärfs­
Wahrzeichen waren ein Hundekopf von Häftlingen für einander tuscheln«, sagt die Moskau­ ter Kritiker. Das Experiment ist außer
und ein Besen, mit dem das Reich von seine Söldner­ er Politik-Expertin Marina Litwino­ Kontrolle geraten.
truppe
Verrätern gesäubert werden sollte. witsch. Die Geschichte beginnt in Peters­
Prigoschin hat den Besen durch den burg. In einem kleinen Palais aus dem
Hammer ersetzt. Wagner: Wie die Truppe wurde, 18. Jahrhundert, gleich an der Newa,
Noch ist in Moskaus Elite die Fas­ was sie ist liegt das Hauptquartier von Prigo­
zination für Prigoschin größer als die Es ist nicht einfach, im Rückblick die schin. Leutnant-Schmidt-Ufer 7, ein
Angst vor ihm. »Er läuft ja nicht mit Geschichte von Prigoschins Söldner- Firmenschild gibt es nicht. Die we­
dem Vorschlaghammer durch die Truppe zu erzählen, weil sie an so nigsten Petersburger wissen, wer hier
Straßen«, sagt ein ehemaliger hoher vielen Schauplätzen zugleich spielt: seine Büros hat – auch wenn die Ge­
Kremlbeamter. »Prigoschin ist sein gend vor Kurzem in den Schlagzeilen
Erfolg zu Kopf gestiegen, das ist ge­ war: Nur ein paar Häuser weiter wur­
fährlich für ihn selbst. Heute wird er Prigoschins Imperium de bei einem Sprengstoffanschlag der
noch gebraucht, aber morgen reißen Militärblogger Maxim Fomin alias
sie ihm den Kopf ab.« Einsatzgebiete der Wagner-Gruppe*, 2016 bis 2021 Wladlen Tatarskij getötet. Die Bom­
»Wir haben doch alle die Neunzi­ be galt in gewisser Weise auch Prigo­
ger durchgemacht, da gab es auch UKRAINE schin: Das Café, in dem Tatarskij
schlimme Banditen«, sagt ein Ge­ RUSSLAND starb, hatte Prigoschin betrieben und
schäftsmann. »Wenn die Leute Angst SYRIEN der »Cyber Front Z« vermacht, einer
haben, dann weniger vor Prigoschin LIBYEN von ihm gesponserten Trolling-Trup­
als vor dem Geheimdienst und vor MALI pe, vor der Tatarskij an jenem Abend
Putin selbst.« auftrat. Auch Tatarskij hatte über Pri­
»Prigoschin hat die Rolle des Hun­ goschins Netzwerke Geld erhalten.
des, der alle ankläfft und die Elite auf Petersburg ist die Heimat von Pri­
SUDAN
Trab hält«, sagt die Geheimdienst­ goschin, so wie es auch die Heimat
expertin Irina Borogan. »Man merkt, ZENTRALAFRIK. REP. von Wladimir Putin ist, auch wenn
dass das Putin sehr gefällt.« Sie ver­ ihre Lebenswege denkbar unter­
mutet, dass Prigoschin einen Sitz im schiedlich verliefen. Putin arbeitete
Sicherheitsrat anstrebt, an der Seite beim KGB, der Niedergang der So­
von Putins Getreuen vom Geheim­ 27 wjetunion war ein Trauma für ihn.
dienst – allein schon, um sich abzu­ Der neun Jahre jüngere Prigoschin
20
sichern. raubte währenddessen Wohnungen
Denn bisher ist Prigoschins ein­ Länder, in denen Wagner 10 aus und saß für viele Jahre im Straf­
zige Machtbasis die Gunst Putins. im Einsatz ist oder war lager, er erlebte den Niedergang als
0
Mächtige Verbündete hat er kaum, Befreiung: 1990 entlassen, stürzte er
Feinde umso mehr. Dass er Putins 2011 2013 2015 2017 2019 2021 sich in die neue Welt, verkaufte Hot
Gunst noch vor Kurzem besessen hat, S Quelle: CSIS * zumindest vorübergehend Dogs und eröffnete 1996 das erste


Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 45


TITEL

Dort hatten Prigoschins Söldner


seit 2014 nicht nur gegen die ukraini-
sche Armee gekämpft, sie waren auch
gegen prorussische Rebellen vorge-
gangen, wenn diese außer Kontrolle
gerieten. Gerüchten zufolge schaltete
die Gruppe mehrere Separatistenfüh-
rer aus. Die Söldner umstellten und
entwaffneten unter anderem das
Bataillon »Odessa«, sagt Gabidullin.
Das Verhältnis zu den lokalen Milizen
war gespannt. Das alles geschah zu-
nächst im Verborgenen.

Sergei Bobylev / TASS / picture alliance / dpa


Es war dann Putins Militärinter-
vention in Syrien, die die Wagner-
Gruppe bekannt machte. »Wagner«
hieß sie inoffiziell, nach ihrem An-
führer Dmitrij Utkin, einem ehema-
ligen Speznas-Offizier mit Hang zu
Nazisymbolen und SS-Tattoos auf
der Brust.
Anders als im Donbass wollte
Russlands Führung diesmal nicht die
Edelrestaurant der Stadt namens »Al- Zu den Menschen, die die Ur- MINISTER SCHOIGU Teilnahme am Krieg vertuschen, son-
ter Zoll«. Er lernte Putins Leibwäch- sprünge der Wagner-Truppe miterlebt BEI SIEGESPARADE: dern offizielle Verluste minimieren.
Prigoschin ist lauter,
ter Wiktor Solotow kennen und pro- haben und Prigoschins Hauptquartier die Armee sitzt Russland schickte seine Luftwaffe, um
fitierte von Putins Aufstieg. »Putins an der Newa von innen kennen, ge- am längeren Hebel Diktator Assad an der Macht zu hal-
Koch« nannten ihn die Medien, ob- hört Marat Gabidullin, ein Ex-Söld- ten, aber das Kämpfen am Boden
wohl Putin selten bei ihm zu Gast war ner mit sonnengegerbtem, nachdenk- wollte es ihm nicht abnehmen. Prigo-
und Prigoschin nicht kochte. lichem Gesicht. schins Söldner sollten lediglich ein
»Schoigus Caterer« wäre die pas- »Prigoschin glaubt, dass Gott wenig nachhelfen.
sendere Formulierung: Prigoschins selbst ihm das Recht gegeben hat, Gabidullin und seine Kameraden
Reichtum entstand durch staatliche Menschen zu führen, großes Geld zu standen damit irgendwo zwischen
Großaufträge, er belieferte ab 2012 verdienen, eine bedeutende Person Russen und Syrern: Sie kämpften mit
die riesige russische Armee mit Essen, zu sein. Und er ist 100 Prozent über- russischem Gerät, aber am Boden,
baute und betrieb ganze Garnisonen. zeugt, dass sämtliche seiner Entschei- unter Vertrag bei syrischen Geschäfts-
Parallel dazu baute er ein Medien- dungen richtig sind. Er ist maßlos«, leuten. Wenn sie erfolgreich waren,
imperium auf, mit einer Nachrichten- sagt Gabidullin per Videotelefonat wie 2016 bei der ersten Erstürmung
agentur, der Produktion billiger Filme aus seiner Wohnung in Südfrank- von Palmyra, dann hefteten sich an-
und reichlich Geld für die Meinungs- reich. Er hat Russland verlassen und dere den Sieg an die Brust. Und wenn
mache in den sozialen Medien. ein Buch über seine Zeit bei Wagner sie starben, ließ sich auch das leug-
Prigoschin war Armee-Dienstleister, geschrieben. nen. Anfang Februar 2018 geriet Ga-
eben deshalb war die Gründung einer Gabidullins Geschichte ist die bidullin mit seinen Leuten beim
Söldnerfirma, geschäftlich betrachtet, einer fortschreitenden Enttäuschung. ­Angriff auf ein Gasfeld östlich des
nur mehr eine Erweiterung seines Ser- Sein Kampfname war »Opa«. Er Euphrat in das Feuer von US-Trup-
vice-Portfolios. Mit dem Unterschied war schon Ende vierzig, als er 2015 pen. Nach geleakten Wagner-Doku-
allerdings, dass Söldnerfirmen in Russ- zur Wagner-Gruppe stieß, ein ehe- menten starben damals 80 russische
land bis heute illegal sind. Prigoschin maliger Offizier der Luftlandetrup- Söldner, Gabidullin spricht sogar von
stritt deshalb bis vor dem Überfall auf pen mit Hang zum Trunk und einer 100. Sie wurden Opfer der Distanz,
die Ukraine stets ab, der Gründer der Vorstrafe wegen Mordes. Die Nach- die sich Moskau zu Wagner bewahren
Wagner-Truppe zu sein, er leugnete frage nach irregulären Kämpfern war wollte: Die reguläre russische Armee
sogar deren Existenz. Das ist jetzt nicht gerade hoch: Nach der Euromaidan- hatte nichts getan, um das Desaster
mehr nötig: Im November eröffnete er Revolution in Kiew hatte Russland zu verhindern, obwohl sie von den
im Osten Petersburgs mit Pomp ein die Krim annektiert und einen Krieg USA gewarnt worden war. Es waren
»Wagner-Zentrum«, ein Bürohoch- in der Ostukraine angestoßen, aber ja formal nicht ihre Truppen.
haus, in dem er Räume an patriotische der Kreml wollte seine Teilnahme 2019 verließ Gabidullin die Trup-
Blogger und Drohnenbastler vergibt. vertuschen. Wo es ging, schickte er pe. »Als ich zu Wagner kam, war es
»TschWK Wagner« steht in Leucht- Freiwillige, Kosaken, Söldner, Mili- noch eine Söldnertruppe. Dann wur-
schrift an der Fassade. »TschWK« ist zen vor. de Wagner zu einer Sklavenarmee«,
die russische Abkürzung für: privates Und so heuerte Gabidullin am sagt er bitter. Er schätzt, dass sie bis
Christian Har tmann / REUTERS

Militärunternehmen. 1. April 2015 bei »Evro Polis« an, dahin auf 2500 bis 3000 Kämpfer an-
»Ich habe mir die TschWK Wagner einer Firma Prigoschins. Das Trai- gewachsen war.
ausgedacht, ich leite die TschWK ningslager der Truppe befand sich Die Wagner-Gruppe wurde durch
Wagner, ich habe die TschWK Wag- direkt neben einer Basis des Militär- den Syrieneinsatz so bekannt, dass
ner immer finanziert«, verkündete geheimdienstes GRU in Molkino. Da- ihre Verleugnung immer absurder
Prigoschin im Januar. Erst im Jahr durch war klar, dass Prigoschin in wurde. Als im Februar 2018 der liby-
2022 habe er »natürlich neue Finanz- höherem Auftrag handelte. Gabidul- EX-SÖLDNER sche Warlord Khalifa Haftar in Mos-
quellen suchen müssen.« lin wurde in den Donbass geschickt. GABIDULLIN kau Verteidigungsminister Schoigu

46 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


TITEL

traf, war auch Prigoschin im Hintergrund zu den Sturz von Diktator Baschir ebenso wie Militärintervention erfolglos beendete. Eine
sehen. Der sei bloß für das Mittagessen zu- einen weiteren Putsch 2021. Neue Militär- Uno-Mission half wenig. Staatspräsident
ständig gewesen, hieß es offiziell. abkommen wurden mit Russland unterzeich- Faustin-Archange Touadéra wendet sich
Aber die Pressefotos aus Haftars Delega- net. Zu beiden Generälen an der Spitze der schließlich an Moskau, die Russen schicken
tion belegen: Prigoschin saß bei den Verhand- Führung – General Burhan und General Dag- 2018 offiziell Ausbilder sowie leichte Waffen
lungen mit am Tisch. »Putins Koch« hatte die lo, genannt Hemeti – hatte das offizielle Mos- für die Armee.
Küche längst verlassen. Der Kreml brauchte kau gute Beziehungen. Die Ausbilder sind Wagner-Söldner, die
ihn – gerade in Afrika. Knapp drei Jahrzehn- Die Zusammenarbeit mit RSF-Anführer selbst in die Kämpfe eingreifen. Im Dezem-
te nach dem Untergang der Sowjetunion woll- Hemeti war für Prigoschin besonders inte­ ber 2020 stoppen sie einen Rebellenvor-
te Putin Russlands Rückkehr auf den afrika- ressant: Er kontrolliert die großen Goldminen marsch auf die Hauptstadt – ein Erfolg, den
nischen Kontinent demonstrieren, aber mit in Darfur und Süd-Kordofan und ist am Gold- Prigoschins Leute sogleich in einen Action-
billigeren Mitteln. Prigoschin half ihm dabei. schmuggel ins Ausland beteiligt. Prigoschins film verwandeln, der im Mai im Stadion von
Firmen belieferten Hemetis RSF-Truppen mit Bangui aufgeführt wird. Sie halten Präsident
Afrika: Wo Wagner zu Macht Waffen und beteiligten sich dafür am Gold- Touadéra im Amt, können größere Ortschaf-
und Gold kam geschäft. Das Gold wurde mit russischen Flug- ten und Hauptverkehrsstraßen zurück­
Das Land, in dem Wagners Expansion auf zeugen aus dem Land geschmuggelt. CNN erobern. Bald stellen sie die Präsidenten-
den afrikanischen Kontinent begann, war aus- hat für die Zeit von Anfang 2021 bis Mitte garde und die obersten Sicherheitsberater
gerechnet der Sudan. Von hier breiteten sie 2022 mindestens 16 solcher Flüge identifiziert. Touadéras.
sich in mehr als ein Dutzend der Länder des Auch in den Uranabbau soll Wagner invol- Sie reden beim Erlassen von Gesetzen und
Kontinents aus, oft nach dem Drehbuch: Ge- viert sein. beim Installieren oder Absetzen von Politi-
schwächter Autokrat braucht Hilfe – und zahlt Im jüngsten Machtkampf zwischen Burhan kern mit. Teilweise sind es sogar Wagner-
mit dem Zugang zu Rohstoffen. und Hemeti hat das offizielle Moskau keine Söldner, die an den Grenzen des Landes Zoll-
Und so ist es kein Zufall, dass Prigoschin Stellung bezogen. Prigoschin selbst gibt sich gebühren kassieren. Prigoschins Leute orga-
am 20. April 2023 einen offenen Brief veröf- zwar als Vermittler – soll aber Berichten zu- nisieren Kulturveranstaltungen, betreiben
fentlichte – an die beiden Konfliktparteien des folge unter anderem schultergestützte Boden- einen Radiosender. Seit 2019 wird Russisch
Sudan, die sich dort seit einigen Tagen offen Luft-Raketen an Hemetis RSF-Truppen ge- in den Schulen unterrichtet.
bekriegten: auf der einen Seite die reguläre liefert haben. Ob sich Prigoschins Söldner an Und wie im Sudan erhalten Prigoschins
Armee, auf der anderen Seite die Rapid Sup- Kampfhandlungen beteiligen, ist unklar. Pri- Firmen auch in der ZAR Zugang zu natürli-
port Forces. In dem Brief schreibt Prigoschin, goschin behauptet, seit zwei Jahren keine chen Ressourcen, Diamanten und Gold, aber
er biete sich als Vermittler an – schließlich sei Söldner mehr im Land zu haben. auch zu Tropenhölzern. Wie der SPIEGEL
er dem Land »seit Langem verbunden« und Wenn der Sudan für Prigoschin der zuletzt gemeinsam mit seinen Partnern vom
habe »mit allen gesprochen, die in der Repu- »Schlüssel zu Afrika« war, dann ist die be- Recherchenetzwerk European Investigative
blik Sudan Entscheidungen treffen«. Und da- nachbarte Zentralafrikanische Republik Collaborations sowie der Nichtregierungs-
mit hat er vermutlich nicht übertrieben. (ZAR) inzwischen der Hauptstützpunkt. Nir- organisation All Eyes on Wagner enthüllte,
Als »Schlüssel zu Afrika« hatte Diktator gendwo sonst können sich die Wagner-Leute nutzt die Söldner-Gruppe dafür ein ver-
Omar al-Baschir sein Land den Russen an- so heimisch fühlen wie hier. Hier ist ihnen schachteltes Unternehmenskonstrukt mit Fir-
gepriesen, als er im November 2017 Putin in gelungen, was Experten »state capture« nen- mennamen wie Lobaye Invest, Diamville und
dessen Schwarzmeerresidenz in Sotschi be- nen – die Unterwanderung eines ganzen Bois Rouge.
suchte. Der Kreml war an einer Rückkehr auf Staatswesens. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron
den Kontinent nach Jahrzehnten der Vernach- Russische Soft und Hard Power haben im nennt Touadéra eine »Geisel der Gruppe
lässigung interessiert, auch an einem Flotten- Land ideale Bedingungen vorgefunden: Es Wagner«, Frankreich stellt 2021 seine militä-
stützpunkt am Roten Meer. Der international herrscht seit 2012 ein Bürgerkrieg, und das rische und finanzielle Hilfe ein. Russland ist
isolierte Baschir wiederum suchte Hilfe ohne Machtvakuum vergrößerte sich, als die ehe- es gelungen, mit Prigoschins Hilfe die Ex-Ko-
lästige Auflagen. malige Kolonialmacht Frankreich 2016 eine lonialmacht aus dem Land zu treiben. Das
Nach Baschirs Treffen mit Putin unter-
zeichneten die Sudanesen einen Vertrag mit
einer Firma aus Prigoschins Firmengeflecht:
M Invest erhielt Konzessionen zum Gold-
schürfen. Prigoschin schickte Geologen, Mi-
neralogen, Ausbilder, Waffen, ließ Desinfor-
mationskampagnen anlaufen.
Der Deal Gold gegen Machterhalt schei-
terte bald: Al-Baschir wurde nach einer Pro-
testwelle am 11. April 2019 vom eigenen Mi-
litär gestürzt. Eine Woche vor dem Sturz, so
behauptete Prigoschin später, habe er selbst
in Khartum al-Baschir vor »einem apokalyp-
tischen Szenario« gewarnt, falls er nicht
»Konsequenzen ziehe«. Was mit »Konse-
quenzen« gemeint war, ist durch Leaks be-
kannt: Prigoschins Berater hatten dem Dik-
tator eine Handreichung gegeben, wie er die
Sven Simon / ullstein bild

Proteste ersticken solle – die Vorschläge reich-


ten vom Denunzieren der Opposition als
»Feinde des Islam und traditioneller Werte«
bis hin zu öffentlichen Hinrichtungen.
Die Zusammenarbeit zwischen Prigoschin
und den Herrschern in Khartum überstand MACHTHABER PUTIN, KADYROW: Mit dem Tschetschenen wird Prigoschin oft verglichen

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 47


TITEL

sondern auch über die Konkurrenz


aus dem eigenen Land: Die reguläre
russische Armee hat ihren Vorstoß
auf Kiew abbrechen müssen, im Don-
bass kommt sie nur langsam voran.
Bald darauf erhält Prigoschin den
höchsten Orden des Landes: »Held
Russlands«. Es ist eine Belohnung,
offenbar für den Sieg in Popasna. Der
entsprechende Ukas von Putin ist
zwar geheim, der Orden selbst aber

Ashley Gilber tson / The New York Times / Redux / lai


nicht. Spätestens im August zeigt Pri-
goschin sich erstmals in der Öffent-
lichkeit mit einem goldenen Stern an
seiner Brust.
Die eigentliche Auszeichnung aus
Putins Hand ist eine andere, sie hebt
Prigoschin weit über seine Konkur-
renten, ja über das ganze russische
Rechtssystem hinaus: Es ist der Frei-
brief, in Russlands Straflagern Häft-
linge zu rekrutieren. Mit seinem neu-
en Ordensstern wird Prigoschin ab
Muster wird sich oft wiederholen, be- und in der Außenwirkung. Es ist ein WAGNER-SÖLDNER dem Sommer auch durch die Gefäng-
sonders sichtbar in Mali. PR-Sieg. »Sie sind sehr gut in ›state ALS TEIL DER nisse reisen, um persönlich Häftlinge
PRÄSIDENTENGARDE
Seit Ende 2021 sind Wagner-Söld- capture‹, der Unterwanderung von IN BANGUI 2019: anzuwerben, er kennt die Welt der
ner auf Einladung der regierenden Staaten. Sie sind sehr gut darin, Auto- In der Zentralafrikani- Lager ja. Die Rekrutierung in den
Putschisten im Land, ihre Zahl wird kratie zu fördern und Russland als schen Republik ist die ­Kolonien beginnt spätestens im Juni,
auf 1000 bis 1600 geschätzt. Sie ha- Marke auf dem ganzen Kontinent zu Unterwanderung aber erst im September taucht ein
des Staates gelungen
ben hier weit weniger Einfluss auf bewerben. Sie sind nicht besonders Video aus einer Kolonie in Mordwi-
die Regierung als in der Zentralafri- erfolgreich im Kampf gegen Terroris- nien im europäischen Russland auf.
kanischen Republik. Aber sie brin- mus und Extremismus, obwohl das Man sieht Prigoschin vor Männern in
gen neue Härte und Ruchlosigkeit in eigentlich ihr Anspruch war.« schwarzer Häftlingskleidung auftre-
einen Konflikt, in dem Deutschland ten. Er stellt sich als Vertreter des
und Frankreich sich seit Jahren er- Ukraine: Wie Prigoschin eine »privaten Militärunternehmens Wag-
folglos engagierten. Im März 2022 Häftlingsarmee rekrutierte ner« vor.
töten Wagner-Söldner mit der mali- Als am 24. Februar 2022 russische »Ich nehme euch lebend mit. Aber
schen Armee mehr als 300 Men- Truppen in die Ukraine einmarschie- ich bringe nicht alle lebend zurück«,
schen in Moura, darunter viele Zivi- ren, sind Prigoschins Söldner nicht sagt er sachlich. Was er verspricht:
listen. dabei. In den sozialen Medien wim- dass niemand ins Lager zurückkom-
Auch die russischen Söldner helfen meln seine Rekrutierer Kriegsfrei- me, so oder so. Denn wer überlebe,
vorgeblich der Regierung bei der Be- willige ab. »Jungs, es ist alles wie werde begnadigt. Und wer desertiere,
kämpfung des islamistischen Terroris- immer, keine Veränderungen. Afrika werde erschossen.
mus. »Die Russen haben eine sehr ist ja nicht vom Erdboden ver- Es ist, selbst für Russland, ein bi-
weit gefasste Definition von dem, was schwunden.« zarres Projekt. Es macht Prigoschin
ein Dschihadist ist. Manchmal reichen Prigoschin selbst bleibt nur, begeis- zum Herrn über Leben und Tod,
schon über dem Knöchel endende terte Kommentare für seine Nachrich- Freiheit und Unfreiheit. Es verletzt
Hosenbeine«, sagt ein hochrangiger tenagentur Ria Fan zu schreiben. die Logik, auf der der Staat – selbst
europäischer Militär in Mali gegen- »Unsere Militärkolonnen fahren eine Diktatur wie die Putins – be-
über dem SPIEGEL . Die Sicherheits- durch die Straßen des fast schon be- ruht. Es entwertet die Strafjustiz:
lage ist derweil nicht besser gewor- freiten Charkiw, die Nazis in Kiew »Wozu noch ermitteln und verurtei-
den. Dafür können die Wagner-Söld- sind völlig umzingelt«, jubelt er am len, wenn anschließend ein Prigo-
ner einen anderen Erfolg feiern: Im 27. Februar, das »juwelierhaft ge- schin kommt und den Verurteilten
August 2022 verlässt der letzte fran- naue« Vorgehen der russischen Ar- einfach mitnimmt?«, fragt der Akti-
zösische Soldat das Land. Es ist das mee vergleicht er mit »Mikrochirur- vist Wladimir Osse­tschkin, der sich
Ende einer fast zehn Jahre währen- gie«. Nicht nur Wladimir Putin und »ICH NEHME für Häftlingsrechte einsetzt. Es ent-
den Militärintervention der ehemali- das Verteidigungsministerium, auch EUCH LEBEND wertet den Kriegsdienst: Für sein
gen Kolonialmacht.
Auch die Zukunft der Blauhelm-
Prigoschin, der heute die Armeefüh-
rung geißelt, erlag damals der Illusion
MIT. ABER Land zu kämpfen, das ist jetzt Strafe
statt Ehre. Und es beschädigt, in den
mission »Minusma« ist fraglich. Wie des schnellen Sieges. ICH BRINGE Augen alter Wagner-Söldner, auch
Großbritannien und Ägypten hat Es wird fast einen ganzen Monat NICHT ihre eigene Truppe. »Als ich das hör-
Deutschland angekündigt, seine dauern, bis seine Truppen auf dem te, war mir klar: Das wird ein Fuck-
Truppen abzuziehen. Kriegsschauplatz auftauchen. Am
ALLE LEBEND up«, erinnert sich Andrej Medwe-
Der eigentliche Erfolg der Wagner- 19. März haben sie ihr erstes Gefecht ZURÜCK«, dew, ein nach Norwegen geflohener
Gruppe in Afrika, sagt Samuel Rama- in der Nähe von Popasna im Don- SAGTE PRI- Wagner-Söldner, im Gespräch mit
ni vom britischen Thinktank Rusi, bass. Pünktlich zum 9. Mai ist der dem SPIEGEL . Er kämpft vor Bach-
liege nicht im Militärischen, sondern Ort erobert. Es ist ein Triumph der GOSCHIN DEN mut, als die ersten Häftlinge eintref-
im Durchsetzen eigener Interessen Söldner nicht nur über die Ukrainer, HÄFTLINGEN. fen. Die Missionen werden leicht-

48 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


TITEL

GEHEIMDIENSTE

HARTE BANDAGEN
Zu Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine sollte die Söldnerfirma Wagner zugunsten eines
­anderen Unternehmens ausgebootet werden. Doch Prigoschin wehrte sich erfolgreich.

In den Tagen vor dem Überfall Russlands Folglich versuchte Prigoschin offenbar, lich, gab sich nicht geschlagen. Auf eige-
auf die Ukraine hatte General ­Wladimir zurück ins Spiel zu kommen: Bereits im nes Risiko ließ er Wagner-Söldner aus
Alexejew viel zu besprechen – und er tat späten Januar 2022 meldete er sich nach Afri­ka und Syrien abziehen. Parallel dazu
es nicht nur im Verborgenen. Über sein Angaben zweier Personen mit direkter erging es den Redut-Söldnern seines Riva-
Mobiltelefon kommunizierte der Vizechef Kenntnis der Vorfälle zu einem Besuch len offenbar schlecht. Unterschiedliche
des russischen Militärgeheimdienstes in der GRU-Zentrale in Moskau an, um Quellen sprechen von bis zu 90 Prozent
GRU mit seinem Chef, mit Spezialisten bei Alexejew zu protestieren. Prigoschin Verlusten bei Kämpfen in der Ukraine.
für psychologische Kriegsführung, Gene- soll wütend aufgetaucht sein. Gegenüber Keinen Monat nach dem Beginn der
rälen des Inlandsgeheimdienstes und mos- ­Alexejew sei er laut geworden – und er ­Invasion, am 19. März, trat Prigoschins
kaufreundlichen ukrainischen Politikern. soll sogar gedroht haben: Er werde seinen Firma schließlich offiziell in den Krieg
Kein Wunder: Alexejew war bei der GRU ehemaligen Untergebenen, den zum Riva- ein. Alexejew und Prigoschin hatten nun
zuständig für die Invasion. len gereiften Karasij, umbringen. wieder Kommunikationsbedarf. Alexejew
Für einen Mann jedoch schien er keine General Alexejew soll demnach kühl rief Prigoschin an diesem Tag schon um
Zeit zu haben, das zumindest suggerieren reagiert haben. Die beiden Herren sollten 7.50 Uhr an, Prigoschin rief um 8.09 Uhr
die Verbindungsdaten seines Mobiltele- das Thema doch unter sich ausmachen. zurück. Alexejew klingelte um 9.08 Uhr
fons: Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin. Prigoschin sei in ein weiteres Büro geführt und um 10.20 Uhr durch. Die Gespräche
Am 20. Februar 2022, vier Tage vor Be- worden, in dem Karasij bereits gewartet auf diesen unverschlüsselten Kanälen dau-
ginn des Angriffskriegs, drückte er einen habe – ein überdeutliches Zeichen dafür, erten jeweils wenige Sekunden.
Anruf des mächtigen Söldnerbosses weg. wer von den beiden damals die besseren Insgesamt riefen die beiden Männer
Bis zum Tag des Angriffs ist in den Mobil- Karten hatte. einan­der in den ersten elf Wochen des
funkdaten kein Rückruf vermerkt. Der Alexejews Mobilfunkdaten hatte das Kriegs 22-mal an – also fast zweimal wö-
General kommunizierte demnach lieber russische Investigativportal »The Insider« chentlich. Prigoschin beteiligte sich nun
mit Anatolij Karasij, dem ehemaligen für eine frühere Recherche in Kooperation auch öffentlich sichtbar am Krieg, mit staat-
­Leiter für Aufklärung bei Wagner. mit dem SPIEGEL und »Le Monde« er­ licher Unterstützung: Wagner wurde schnell
Denn: Alexejew hatte nicht mit Prigo- halten und ausgewertet: Sie zeigen erst die mit Abstand wichtigste Söldnertruppe
schin große Pläne, sondern mit dem am Tag des russischen Überfalls auf die unter den russischen Invasionstruppen.
­ehemaligen Wagner-Mann Karasij. Nach Ukraine Kommunikation mit Prigoschin. Die Konkurrenz gab sich allerdings
SPIEGEL -Informationen hatte Alexejew Die beiden sprachen am Nachmittag, eine nicht geschlagen: Die Redut-Gruppe ist,
offenbar Karasij und seine Söldnerfirma Minute und 42 Sekunden. Viel hatten sie wie auch die Söldnertruppe Potok, eben-
Redut für einen Einsatz in der Ukraine sich offenbar nicht zu sagen – zumindest falls an der Front bei Bachmut aktiv –
vorgesehen. Prigoschin sollte draußen nicht auf diesem offenen Kanal. ­beide reichen aber an die Kampfkraft der
bleiben – der Profit für das mörderische Über den Inhalt des Gesprächs ist Wagner-Söldner offenbar nicht heran.
Geschäft in andere Taschen fließen. Ein nichts bekannt. Doch Prigoschin, das wur- Roman Dobrokhotov, Christo Grozev,
empfindlicher Schlag für Prigoschin, den de in den folgenden Wochen offensicht- Fidelius Schmid  n
Marktführer unter den Söldnerchefs.
Noch schlimmer für ihn: Nach Informa-
tionen westlicher Nachrichtendienste hat-
te Redut im größeren Stil Söldner rekru-
tiert, viele von ihnen Ex-Wagner-Männer.
Über die Größenordnung herrscht Un-
einigkeit. Manche Quellen sprechen von
rund 4000 Männern, manche von mehr,
andere von weniger.
Zu jenen Truppen soll nach Angaben
von Personen im Umfeld der Beteiligten
auch ein Killerkommando gehört haben,
das demnach bereits im Vorfeld des russi-
schen Angriffs verdeckt in die Nähe Kiews
gebracht wurde. Der Auftrag: den ukraini-
Press ser vice of »Concord« / REUTERS

schen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj


zu töten.
Einem Mann mit den Verbindungen
Prigoschins dürften die Kriegsvorberei-
tungen nicht entgangen sein – und vor al-
lem nicht die Rekrutierung von Söldnern
aus den eigenen Reihen. Ausgerechnet
sein Ex-Angestellter Karasij war ja augen-
scheinlich dafür verantwortlich. WAGNER-CHEF PRIGOSCHIN MIT SÖLDNERN: Er versuchte, zurück ins Spiel zu kommen

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 49


TITEL

sinniger. »Das einzelne Menschen­ »Ich könnte wieder von vorne anfan­ »SIE HABEN und Drogen steht die Todesstrafe.
leben zählte nichts mehr.« gen, Arbeit finden, ausreisen«, sagt Durchgesetzt wird das von einem
Aber für Prigoschin löst es ein Pro­ er. Er meldete sich sofort, ohne seine ANDRJUSCH- eigenen Sicherheitsdienst, der für sei­
blem: Söldnertruppen sind für einen Frau zu fragen, die Telefone gingen KA UND ne Brutalität gefürchtet ist. »Ich habe
Krieg zwischen großen, modernen
Armeen nicht gemacht. Die paar Tau­
ja ohnehin nicht. Gut drei Wochen
später war Wladislaw schon an der
ALL DIE selbst gesehen, wozu die fähig sind«,
sagt Wladislaw, aber er will nicht sa­
send Profis, die Prigoschin hat, Front, in der Nähe von Lyssytschansk. ­A NDEREN gen, was es war. Die Angst endet auch
braucht er in Afrika, er will sie nicht Es war die Hölle. Fünfmal wurde GEFANGENEN in der ukrainischen Kriegsgefangen­
in Bachmut opfern. er zum Erstürmen feindlicher Posi­ schaft nicht.
Putin wiederum will schnell die tionen geschickt, erzählt er, dazwi­ IN DEN Je länger der Krieg andauert und
Lücken in den russischen Linien fül­ schen mussten frisch eroberte Stel­ FLEISCH- je höher Prigoschins Stern steigt, des­
len, ohne der Bevölkerung Opfer ab­
zuverlangen. Er hat im März verspro­
lungen verteidigt werden, vom
Kämpfen in der zweiten Reihe war
WOLF GE- to lauter wird seine Kritik an der Ar­
meeführung. Im September zieht sich
chen, keine Wehrpflichtigen oder keine Rede mehr. SCHICKT UND die russische Armee fluchtartig aus
Reservisten einzusetzen. Der Krieg Beim ersten Sturmangriff sei ein EINFACH dem Charkiwer Gebiet zurück, im
soll weiterhin bloß eine »militärische
Spezialoperation« sein. »Entweder
Drittel der 60 Kämpfer, die vor ihm
losgezogen seien, schwer verwundet
HACK- November geordnet aus Cherson. Pri­
goschin, so sieht es zwischenzeitlich
Häftlinge oder eure Kinder – ent­ worden. »Der Rest waren Zweihun­ FLEISCH AUS aus, ist der Einzige, der Erfolge vor­
scheidet selbst«, formuliert Prigo­ derter« – russischer Armeejargon für IHNEN weisen kann. Anfang Januar gelingt
schin diese Logik an seine russischen Gefallene. Zwei Männer hätten sich es seinen Männern, Soledar einzu­
Kritiker gewandt. geweigert, weiter vorzurücken, und ­G EMACHT.« nehmen, eine Nachbarstadt von
Wie viele Häftlinge er angeworben seien nach der Rückkehr vom Kom­ ANGEHÖRIGE Bachmut.
hat, ist unklar. Wladimir Ossetschkin mandeur eigenhändig »auf null ge­ LARISSA Aber in der ausführlichen Sieges­
schätzt die Zahl auf mehrere Zehn­ setzt« worden. »Auf null setzen« meldung des russischen Verteidi­
tausend im Jahr 2022. Die höchsten heißt: erschießen. gungsministeriums drei Tage später
Schätzungen reichen bis 50.000 Wladislaw wurde eingeschlossen taucht die Wagner-Gruppe gar nicht
Mann, die über das Jahr hinweg re­ und verwundet, aber er schaffte es auf. Erst Stunden später wird zähne­
krutiert worden seien. zurück. Nach zwei Tagen im Kran­ knirschend eine »Erläuterung« nach­
Wladislaw, 26, ist einer von denen, kenhaus musste er wieder in den gereicht: Die »unmittelbare Erstür­
die von Prigoschin selbst im Straflager Kampf. Der fünfte Sturm, wieder mit mung« der Stadt sei »den Freiwilligen
angeworben wurden. Er erzählt da­ hohen Verlusten, war sein letzter. der TschWK Wagner« zu verdanken.
von in ukrainischer Kriegsgefangen­ Auch andere gefangene Wagner- Es wird drei Monate dauern, bis der
schaft, er sitzt in einem Kellerraum Kämpfer, mit denen der SPIEGEL ge­ Armeesprecher das nächste Mal das
des ukrainischen Militärnachrichten­ sprochen hat, erzählen vom selben Wort Wagner überhaupt in den Mund
dienstes HUR in Kiew. Sein Gesicht Schema: Anwerbung im Straflager, nimmt.
ist hinter einer Maske verborgen. Verlegung ins Rostower Gebiet nahe Bereits im Dezember hatten Wag­
Wladislaw saß wegen Körperver­ der ukrainischen Grenze, Ausbildung ner-Männer in einem Video General­
letzung mit schweren Folgen in der bereits in Frontnähe, im Donbass. Je­ stabschef Gerassimow eine »Schwuch­
Kolonie IK-6 in Samara, als sich das der erhält eine sechsstellige Metall­ tel« genannt, weil die nötige Munition
Lager auf hohen Besuch vorbereitete, marke mit dem Buchstaben K (für ausbleibe. Im russischen Gefängnis­
wie er erzählt. Die Handys, die die »Projekt K«) und einen Kampf­ »WAGNER-­ jargon ist das eine tödliche Beleidi­
Gefangenen heimlich benutzen konn­ namen, der vom Computer automa­ ZENTRUM« gung, und von Prigoschin wird offen­
IN PETERSBURG:
ten, funktionierten plötzlich nicht tisch zugewiesen wird. Es herrscht Büroflächen für bar eine Entschuldigung verlangt,
mehr. Aufseher mussten ihre Funk­ eiserne Disziplin: Auf Flucht, Plün­ patriotische Blogger bevor die Munitionsfrage gelöst wird.
geräte abgeben. Überwachungskame­ dern und den Konsum von Alkohol und Drohnenbastler So erzählt er es empört im Februar.
ras wurden abgebaut. »140 Millionen Russen, sagt mir: Bei
Am 27. September 2022 sei Prigo­ wem muss ich mich entschuldigen,
schin dann mit einem Hubschrauber damit meine Kämpfer nur noch halb
direkt auf dem Lagergelände gelandet so viel sterben?«
und habe eine Rede vor den rund Wo Putin selbst in dem Konflikt
1000 Häftlingen auf dem Appellplatz steht, ist oft unklar. Im Sommer setz­
gehalten, in Anwesenheit hoher Of­ te er auf Prigoschin und ließ ihn durch
fiziere der Strafvollzugsbehörde. »Er Russlands Straflager ziehen. Und
sagte: ›Ich kann jeden hier rausholen, noch im Oktober schuf er eine neue
egal welche Strafe ihr absitzt. Nach Kommandostruktur für die Invasions­
einem halben Jahr seid ihr frei. Ihr truppen und setzte mit General Sergej
werdet in zweiter Reihe kämpfen, Surowikin einen Verbündeten Prigo­
gegen Nazis.‹« Prigoschin habe aus­ schins an die Spitze.
drücklich hinzugefügt: Am liebsten Aber im Januar macht Putin seine
seien ihm für diese Aufgabe Mörder, Entscheidung rückgängig und tauscht
am besten Mehrfachmörder. Der Sold Surowikin durch Generalstabschef
sollte 200.000 bis 240.000 Rubel be­ Gerassimow aus. »Degradierung des
tragen, rund 2400 bis 2900 Euro. kompetentesten Kommandeurs, Er­
Igor Russak / REUTERS

Wladislaw hatte von Prigoschin setzung durch einen inkompetenten«,


und dessen Wagner-Truppe nie ge­ konstatierte die US-Militärexpertin
hört. Er hatte nur noch ein Jahr ab­ Daria Massicot auf Twitter.
zusitzen. Aber ihn lockte das Verspre­ »Putin hat damals entschieden,
chen, dass die Vorstrafe getilgt würde: dass Prigoschin sich in die Pläne des

50 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


TITEL

Generalstabs einordnen muss«, sagt die Poli-


tik-Analystin Tanja Stanowaja. Aber: Die
Wagner-Gruppe wird nicht aufgelöst. Es wird
sogar bekannt, dass Putins Sprecher Dmitrij
Peskow seinen Sohn bei der Wagner-Truppe
untergebracht hat – wenn auch nicht als Ka-
nonenfutter wie die Häftlinge, sondern als
Artilleristen.
Mitte Februar gerät ein Video ins Netz, auf
dem Wagner-Kämpfer ein Porträt Gerassi-
mows als Zielscheibe nutzen. Am 22. Febru-
ar veröffentlicht Prigoschin sogar ein internes
Dokument mit Munitionslisten im Internet.
Das Gerangel in der russischen Armee lässt
sich plötzlich auf Telegram nachlesen.
Noch am selben Tag findet offenbar ein
Vermittlungstreffen zwischen Putin, Vertei-
digungsminister Schoigu und Prigoschin statt.
So jedenfalls heißt es in einer Einschätzung
der US-Nachrichtendienste, die dank der
Dmitr y Serebr yakov / DER SPIEGEL

Leichtfertigkeit eines US-Soldaten auf der


Plattform Discord geleakt wurde.
Der Streit geht dennoch weiter. Prigoschin
ist zwar lauter, aber die Armee sitzt am län-
geren Hebel. Sie kann ihm den Nachschub an
Munition jederzeit abklemmen, und sie hat
ihm offenbar auch den Nachschub an Häft-
lingen weggenommen. Spätestens seit Febru- WAGNER-FRIEDHOF IN BAKINSKAJA: Plastikblumengesteck auf jedem Grab, Flagge mit Logo
ar kann Prigoschin nach eigenen Aussagen
nicht mehr in Straflagern rekrutieren. Statt- stein nachempfundene Holztafel, jeweils mit tot, ein Wagner-Kommandeur teilte ihr das
dessen rekrutiert das Verteidigungsministe- Namen, Geburts- und Todestag versehen. Da am Telefon mit. Aber wo der Leichnam ihres
rium nun selbst in den Gefängnissen. ist der verurteilte Mörder Roman Tokarew, Neffen abgeblieben war, das musste sie selbst
Für die Häftlinge heißt das: Sie fallen nicht 30, aus dem Belgoroder Gebiet. Oder Ale- herausfinden. Sie hat monatelang gesucht,
mehr unter die grausame Disziplin der Wag- xandr Gawrilow, 23, aus Rostow am Don, der bis ihr jemand ein Foto des Grabs im fernen
ner-Gruppe und ihres Sicherheitsdienstes. zu sieben Jahren wegen Drogenhandels ver- Bakinskaja schickte. Es gibt bis heute keine
Das menschenverachtende System ist geblie- urteilt worden war. Ihr Weg führte aus Russ- Sterbeurkunde. Sie hat nicht verstanden, wa-
ben. Es hat jetzt nur einen anderen Betreiber. lands Straflagern über die Ukraine am Ende rum. »Sie haben Andrjuschka und all die an-
in ein Dorf, wo niemand sie kennt und wo deren Gefangenen in den Fleischwolf ge-
Die Toten: Was von Prigoschin bleibt manche sie auch nicht haben wollen. schickt und einfach Hackfleisch aus ihnen
Was Prigoschin in Russland eines Tages hin- Der SPIEGEL hat mehr als 40 Angehörige gemacht.«
terlassen wird, das kann man im Dorf Bakin­ von in Bakinskaja begrabenen Wagner- Es ist ungewiss, wie viele Wagner-Leute
skaja sehen. An einem Sonntagmorgen leuch- Kämpfern kontaktiert, aber sehr wenige sind bereits gestorben sind; die BBC und das rus-
ten dort schon von Weitem die frischen Grä- bereit zu sprechen. Eine von ihnen ist die sische Medium »Mediazona« haben zuver-
ber von Wagner-Angehörigen, Reihe an Rei- Tante von Andrej Kargin, 22, der wegen wie- lässig die Identitäten von 3621 getöteten
he an Reihe. Auf jedem liegt ein schwarz-gelb- derholten Diebstahls in einem Straflager bei Sträflingen ermittelt – aber das ist nur ein
rotes Plastikblumengesteck im Stil des Wag- Wolgograd saß. »Er rief mich an und sagte: Bruchteil der tatsächlichen Zahl. In ganz
ner-Emblems, darauf glitzern goldene Sterne Am 30. September ziehe ich in den Krieg«, Russland und den besetzten ukrainischen Ge-
in der Morgensonne. erzählt Larissa. Sechs Wochen später war er bieten gibt es bereits sieben eigene Wagner-
Es sind von hier weniger als zehn Kilome- Friedhöfe, dazu ungezählte Wagner-Gräber
ter zum Nachbarort Molkino, wo die Wagner- auf anderen Grabstätten. Der SPIEGEL fand
Gruppe ihr Trainingszentrum betreibt. In der Kanonenfutter allein im Gebiet Krasnodar auf vier weiteren
Nähe liegt auch die eigene Kapelle. Das ist Friedhöfen frische Gräber mit Wagner-­
der Grund, warum das kleine Dorf Bakin­skaja Eigene Friedhöfe von Wagner in Russland Kränzen.
und den besetzten Gebieten in der Ukraine
einen riesigen Kriegerfriedhof bekommen Jewgenij Prigoschin hat den Friedhof in
hat: 45 Reihen zählt der SPIEGEL bei einem Bakinskaja Anfang April besucht, auch davon
Besuch Anfang April, mehr als 600 Gräber gibt es ein Video. Er trägt seine übliche Mili-
mit Wagner-Kränzen – es sind zwölfmal so RUSSLAND tärjacke, am Ärmel prangt einer seiner Lieb-
viele wie noch rund drei Monate zuvor. Und Moskau lingssprüche, ein makabrer Reim: »Fracht
es werden mehr: Auf dem zentralen Schotter- Berjosowskij 200 – wir bleiben zusammen«. Fracht 200,
weg steht ein schmutziger Lastwagen mit Mawrino Nowosibirsk das sind die Gefallenen. Prigoschin lässt sei-
Rostower Kennzeichen, vor der offenen Lade- Nikolajewka Irkutsk nen Blick zufrieden über die frischen Gräber
fläche sind vier mit rotem Tuch überzogene Bachmut schweifen, die er hinterlassen hat. »Ja, der
Zinksärge auf Ständern aufgestellt. Ein klei- Luhansk Friedhof wächst«, sagt er. »Wer kämpft, der
ner Bagger hebt nasse Erde aus, dann schlep- Bakinskaja stirbt manchmal. So ist das Leben.« Dann
pen die Arbeiter den ersten Sarg zur neuen zieht er weiter, der Krieg ruft.
UKRAINE
Grabstelle. Ein Priester ist nicht da. Alexander Chernyshev, Christian Esch, Christina
Die Gräber tragen ein schlichtes orthodo- Hebel, Andrey Kaganskikh, Fedir Petrov, Christoph
S Quellen: BBC; Ljudi Baikala; Taiga.info; MSK1.ru,
xes Kreuz oder eine einem islamischen Grab- Reuter, Alexander Sarovic, Fritz Schaap 

Stand: 11. Mai n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 51


TITEL

Roman Chop / AP / dpa


UKRAINISCHE SOLDATEN IN DER NÄHE VON BACHMUT: »Je länger die Ukraine die Offensive hinauszögert, desto besser«

GEGENSCHLAG MIT ANSAGE


MILITÄRSTRATEGIE  Seit Monaten rüsten sich die Ukrainer für eine Gegenoffensive, nun steht
sie kurz bevor. Sie brauchen einen Erfolg, denn die Soldaten kämpfen nicht
nur gegen die russische Armee, sondern auch um die öffentliche Meinung im Westen.

F
ünf Minuten vor dem Gespräch Krieg seien seine Leute »natürlich auf Übungsplätzen im eigenen Land,
schickt der ukrainische Offizier müde«, sagt der Kommandeur. In den andere im Westen, in Großbritannien
einen Google-Meets-Link. Die ersten Kriegswochen halfen sie, den und Polen etwa sowie von der US-
digitale Schalte hat er kurz zuvor ein- russischen Großangriff auf die Haupt- Armee und der Bundeswehr in
gerichtet. Er meldet sich aus einem stadt Kiew abzuwehren. Im Herbst Deutschland. Mindestens zwölf neue
Quartier in Saporischschja, einer Re- wirkten sie bei der Befreiung der Brigaden will die Ukraine in den
gion im Südosten der Ukraine. Ge- Stadt Cherson mit, dem letzten gro- Kampf schicken – das wären bis zu
nauer will er es nicht sagen. ßen militärischen Erfolg der Ukrainer. 50.000 Soldaten. Sie sollen gut be-
Ende Februar wurde der Oberst- Demnächst dürften sie wieder in eine festigte russische Stellungen stürmen
leutnant an diesen Abschnitt der wichtige, den Fortgang des Kriegs und einen möglichst großen Teil der
Front beordert, gemeinsam mit der prägende Schlacht ziehen. besetzten Gebiete im Süden und Os-
Emin Oezmen / Magnum Photos

Aufklärungseinheit, die er befehligt. Seit Monaten schon bereitet die ten des Landes zurückerobern.
Seither kundschaften seine Soldaten Führung in Kiew eine groß angelegte Die Ukrainer kämpfen dabei nicht
die Linien der russischen Truppen Gegenoffensive vor. Sie hat neue nur gegen die russische Armee, son-
aus, die sich in dem Gebiet eingegra- Kampfverbände geschaffen und dern auch um die öffentliche Meinung
ben haben. schwere Waffen aus Nato-Staaten ins im Westen: Bringt die Gegenoffen­sive
Die Ukrainer lassen ihre Drohnen Land gebracht: Kampfpanzer, Ge- keine nennenswerten Erfolge, könn-
in den Himmel steigen, werten Satel- schütze, gepanzerte Fahrzeuge. Die IWAN FEDOROW,
te mittelfristig die Unterstützung in
litenbilder aus, führen Spähmissionen ukrainische Armee ließ Zehntausen- BÜRGERMEISTER VON den Partnerländern schwinden. Poli-
im Feld durch. Nach bald 15 Monaten de neue Soldaten ausbilden, manche MELITOPOL tische Machtwechsel in Nato-Staaten,

52 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


TITEL

allen voran ein Sieg Donald Trumps bei der Ob die kürzlich eingetroffenen ukraini-

UNTERWEGS
US-Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr, schen Einheiten wirklich an dieser Stelle an-
könnten gar künftige Hilfen und Waffenliefe- greifen werden, ist unklar. Die Verlegung der
rungen gefährden. Truppen könnte genauso gut eine Finte sein,
Wo und wann genau die ukrainischen
Truppen angreifen werden, weiß nur eine
die den Gegner verwirren und von einem Vor-
marsch anderswo im Land ablenken soll. INS
Handvoll Personen an der Spitze von Staat
und Armee. Dass die Gegenoffensive kurz
bevorsteht, gilt aber als sicher. Es geht wohl
Russland hält noch immer fast ein Sechstel
des ukrainischen Staatsgebiets besetzt: bei-
nahe die ganze Region Luhansk im äußersten
UNGEWISSE
um wenige Wochen, vielleicht nur um Tage. Osten des Landes, dazu weite Teile der Gebie­
An seinem Frontabschnitt seien unlängst te Donezk, Saporischschja und Cherson. Ent-
frische, im Westen ausgebildete Einheiten sprechend zahlreich sind die möglichen Stoß-
­eingetroffen, erzählt der Oberstleutnant in richtungen einer Gegenoffensive. Die ukraini-
Saporischschja. »Das war gut für die Moral sche Führung könnte ihre Truppen für einen
derjenigen, die schon seit vielen Monaten Großangriff bündeln oder immer wieder klei-
kämpfen.« Die neuen Truppen seien gut ge- nere Attacken an verschiedenen Frontabschnit-
schult und ausgerüstet, sagt er – »aber sie ten starten, womöglich über Monate hinweg.
haben noch nie gekämpft«. Echte Kampfer- Kiews Armee könnte in Saporischschja
fahrung sei durch kein noch so gutes Training ­angreifen und zugleich versuchen, in Cherson
zu ersetzen. Wie gut die Neulinge vorbereitet auf das Ostufer des Dnjepr überzusetzen.
sind, werde sich erst im Ernstfall zeigen. Möglich ist auch ein Vorstoß durch das um-
Den ukrainischen Truppen, so erzählt es kämpfte Wuhledar in Richtung Mariupol
der Offizier, stehen in dieser Gegend neben ebenso wie ein Angriff über Kupjansk und
Soldaten der regulären russischen Armee Swatowe, um wichtige Versorgungslinien der
auch Nationalgardisten und Spezialkräfte des russischen Truppen im Donbass zu kappen.
Militärgeheimdienstes GRU gegenüber. Dis- Selbst ein Gegenschlag bei Bachmut ist denk-
ziplin und Moral seien unter Letzteren besser bar, jener Kleinstadt in Donezk, die Wagner-
als bei den regulären Truppen, die sich bis- Söldner und andere russische Einheiten nach
weilen betränken und nicht auf ihre Vorge- Monaten verlustreicher Kämpfe fast vollstän-
setzten hörten. Russische Fallschirmjäger, die dig eingenommen haben.
als besonders zäh gelten und den Ukrainern Wenn es aber so etwas wie ein Nerven- 336 Seiten mit Abb. � 25,00 €
in Cherson schmerzliche Verluste zufügten, zentrum der russischen Truppenpräsenz in
Auch als E-Book erhältlich.
hat der Oberstleutnant an diesem Abschnitt der Ukraine gibt, dann ist es die Stadt Melito­
der Front nicht gesehen. »Die sind wohl alle pol im Süden der Region Saporischschja. Als
im Donbass«, sagt er. wichtiger Eisenbahnknotenpunkt gut 65 Kilo-
Im Übrigen berichtet er von gut befestig- meter hinter der Front ist sie entscheidend
ten, gestaffelten russischen Linien, die auch für die Logistik der Kremltruppen in der Süd- SPIEGEL-Reporter
auf Satellitenbildern zu sehen sind. Die Ver- ukraine. Mit einem Vorstoß bis Melitopol Christoph Reuter berichtet
teidigungsstellungen sind dreifach gesichert: würden die Ukrainer nicht nur einen Keil
durch Gräben, Minenfelder und Betonhinder- zwischen die Besatzer im Süden und jene im seit 20 Jahren aus Afghanistan.
nisse, sogenannte Drachenzähne. Osten treiben, sondern könnten mittelfristig Als die Taliban 2021 die
auch die Versorgung der 2014 annektierten Macht übernahmen, musste
Krim gefährden.
Schützenhilfe Deshalb sind die russischen Stellungen er das Land verlassen,
nördlich der Stadt besonders gut befestigt. kehrte aber kurz darauf
Ausgewählte Waffenlieferungen an die »Sie hatten viel Zeit, sich vorzubereiten«, sagt
Ukraine seit Februar 2022* zurück. Mehr noch:
Iwan Fedorow, der Bürgermeister der Stadt.
geliefert spätere Lieferung vereinbart Er war in den ersten Kriegstagen von den Er reiste in Regionen,
Besatzern gefangen genommen worden. Spä- die Landesfremden seit
Kampfpanzer 575 182 757 ter kam er bei einem Austausch frei, er hält
Jahrzehnten verschlossen
Schützenpanzer 325 340 665 sich seitdem im von Kiew kontrollierten Ge-
Truppen- biet auf. Bis heute hält er Kontakt zu den waren und blieb über
1180 380 1560
transporter Menschen in seiner besetzten Heimat. Monate. Entstanden ist ein
Artillerie 830 Die Russen hätten begonnen, Passstellen
und andere Gebäude der Besatzungsverwal-
beeindruckender Roadtrip
Monatliche Militärhilfe für die Ukraine, tung in seiner Geburtsstadt zu schließen, er- durch Geschichte und
in Mrd. Euro zählt Fedorow am Telefon. In 18 frontnahen Gegenwart des Landes,
Orten in der Region Saporischschja forderten
insgesamt 24,1 die Besatzer die Bevölkerung kürzlich zur
der die Frage aufwirft,
71,6 Mrd. Euro welche Zukunft unter den
»Evakuierung« auf, unter Verweis auf die hef-
11,6 tigen Kämpfe. Darunter ist auch die Stadt Taliban möglich ist.
Enerhodar, der Sitz des größten Atomkraft-
werks Europas. »Sie bringen die Leute nach
Berdjansk am Asowschen Meer, manche auch
Feb. 2022 Juni Okt. Jan. 2023 weiter nach Russland«, sagt Fedorow.
Zugleich gebe es Truppenbewegungen in
* Mindestangaben, weitere Waffenlieferungen möglich
S Quellen: Oryx; Ukraine Support Tracker / IfW Kiel,
die entgegengesetzte Richtung, berichtet der
Bürgermeister: »Die Besatzer bringen Panzer,
…

Stand: 24. Feb.

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 53


www.dva.de
TITEL

Artillerie und sehr viele Soldaten Fahrzeuge, weshalb sie für die Gegen- Schließlich ist da noch der Faktor
durch Melitopol an die Front.« Zwar offensive noch »ein wenig mehr Zeit« Mensch. Krieg sei immer »unorgani-
versorgten noch immer viele Einhei- brauche. siertes Chaos«, sagt Gady, der Anfang
mische in der Gegend die ukraini- Kein einzelnes Waffensystem wer- März das umkämpfte Bachmut be-
schen Geheimdienste und Spezial- de den Krieg entscheiden, sagt Gady. sucht hat. »Ein guter Kommandeur
kräfte heimlich mit Hinweisen. Sie »Es kommt darauf an, wie sie im Ver- macht daraus organisiertes Chaos.«
hätten deshalb ein genaues Bild von bund eingesetzt werden.« Artillerie- Gerade bei Angriffsoperationen sei
den feindlichen Bewegungen. Weil geschütze wie die deutsche Panzer- es wichtig, Entscheidungen an einzel-
die Russen aber viel Zeit hatten und haubitze 2000 würden auch künftig ne Kommandeure zu delegieren. Die
massive Stellungen errichtet haben, die Kämpfe dominieren. Auch die könnten schneller auf Veränderungen
hält Fedorow jeden Vorstoß Richtung neuen Panzerverbände mit Modellen reagieren und Gelegenheiten nutzen.
Melitopol für schwer. wie dem Leopard 2 spielten eine wich- Den Ukrainern ist das im ersten
Auch Verantwortliche in Kiew tige Rolle, genauso wie moderne Flug- Kriegsjahr immer wieder gelungen.
mühten sich zuletzt, die Erwartungen abwehrwaffen, die die Kampfverbän- Allerdings haben sie in den Kämpfen
an die Gegenoffensive herunterzu- de vor Flugzeugen und Marschflug- einige ihrer erfahrensten Soldaten
schrauben. Im Ausland rechneten körpern schützen müssen. und Offiziere verloren. Die geleakten
viele mit »etwas Riesigem«, sagte Papiere aus dem US-Verteidigungs-
Verteidigungsminister Oleksij Resni- ministerium enthalten Schätzungen,
kow der »Washington Post«. Er fürch- In Stellung gebracht wonach seit Kriegsbeginn bis zu
te, dass dies zu einer »emotionalen 131.000 ukrainische Soldaten ver-
Enttäuschung« führen könnte. Russische Befestigungsanlagen und ukrainische Angriffe* wundet oder getötet wurden. Dem
auf russische Militärinfrastruktur
Die Warnung des Ministers kommt, stehen laut den Dokumenten bis zu
einen Monat nachdem geheime US- Kiew russische 223.000 Verluste auf russischer Seite
Memos über Wladimir Putins Krieg Befestigungs- gegenüber. Auch die Kremltruppen
anlagen
gegen die Ukraine bekannt wurden. Charkiw haben viele ihrer besten Einheiten
Unter den Papieren findet sich auch Kupjansk verloren; zuletzt rieben sie sich bei
Swatowe
eine Einschätzung der US-Geheim- Bachmut und Wuhledar auf.
dienste: Diese trauten den Ukra­inern UKRAINE Der Generalstab in Kiew schätzt,
noch Anfang Februar nur »beschei- Bachmut dass sich etwa 300.000 russische Sol-
dene Gebietsgewinne« bei der anste- Luhansk daten im Land befinden. Darunter
Donezk
henden Gegenoffensive zu. Saporischschja seien zwischen 7000 und 10.000
Bei den Rückeroberungen in Char- Enerhodar Wuhledar Kämpfer der Söldnergruppe Wagner,
kiw und Cherson im vergangenen sagt ein hoher Offizier des ukraini-
pr

je Mariupol
Herbst spielten die Ukrainer Vorteile Cherson D n schen Militärgeheimdienstes.
Melitopol Berdjansk
aus, die sie diesmal nicht haben wer- Putins Truppen haben aus man-
russisch
den. In Cherson konnte Russland sei- Asowsches besetzte chen Fehlern der Vergangenheit ge-
ne Truppen westlich des Dnjepr nur Meer Gebiete lernt. Wichtige Versorgungszentren,
mit viel Mühe versorgen. In Charkiw ukrainische KRIM Munitionslager und Kommandostäbe
Angriffe RUSSLAND
fand die ukrainische Armee eine haben sie weit hinter die Front ver-
Schwachstelle in den feindlichen Rei- legt, außer Reichweite der präzisen
hen und nutzte sie für einen Über- 100 km Himars-Raketenwerfer der Ukrainer.
raschungsangriff. Russische Die Russen machen ihren Gegnern
Die anstehende Gegenoffensive Befestigungs- »Drachenzähne«
nicht zuletzt mit ihren Störsendern
werde ihren eigenen Charakter haben, anlagen in zu schaffen, die seit Monaten zahl-
sagt Franz-Stefan Gady, Militärexper- der Region lose ukrainische Drohnen vom Him-
Saporischschja
te am Londoner Institute for Inter­ mel holen. Sie sollen inzwischen
national Strategic Studies. Er hält ein potentielle selbst in der Lage sein, die GPS-Sig-
langsames Vorgehen, ähnlich dem in Minenfelder nale von Himars-Raketen zu stören.
Cherson, für wahrscheinlicher als einen Die Ukrainer reagieren mit eigenen
schnellen Großangriff wie in Charkiw. Innovationen. Seine Soldaten führten
Er rechnet mit »verschiedenen, schlei- nun Angriffe mit selbst gebauten Ka-
chenden Operationen« und warnt vor mikaze-Drohnen durch, berichtet der
einem übereilten Beginn: »Je länger Kommandeur eines Späherbataillons
Schützengräben
die Ukraine die Offensive hinauszögert im Donbass. Sie könnten Sprengla-
– also in den späten Mai, vielleicht An- Panzergräben dungen von bis zu zwei Kilogramm
fang Juni –, desto besser.« Die Soldaten zehn Kilometer weit tragen. Sie seien
hätten so mehr Zeit, sich mit den neu- billig, zuverlässig und würden schon
en Waffen vertraut zu machen. in Hunderten Werkstätten im Land
Die Ukrainer werden zusätzlich montiert, sagt der Offizier. Er sieht sie
auf 230 westliche Kampfpanzer, 1550 »Drachenzähne« als Ersatz für die »Switchblade«-
gepanzerte Fahrzeuge und mindes- Drohnen der USA, die sich als anfällig
tens 260 Haubitzen zurückgreifen für russische Störsender erwiesen hät-
können. Die Nato hat neun ukrai­ ten. »Auf taktischer Ebene können die
nische Brigaden trainiert und ausge- befestigte Stellungen selbst gebauten Drohnen eine erheb-
rüstet. Diese seien zwar bereit, sagt für Fahrzeuge 250 m liche Wirkung entfalten«, sagt der
Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj. Major – und schickt als Beleg ein Vi-
* seit dem 29. April, Auswahl
Die ukrainische Armee warte aber S Quellen: Brady Africk, Stand: 10. Mai; Institute for the Study of War and
deo von einem Angriff seiner Truppen
noch auf die letzten gepanzerten auf eine russische Stellung.


AEI's Critical Threats Project, Stand: 10. Mai; Planet Labs PBC, Stand: 2. Mai

54 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


TITEL

Zu Hause im
Zudem arbeiten die Ukrainer an Waffen,
die Ziele weit hinter der Front treffen können.
Ende April flogen Öltanks auf der Krim in die

eigenen Körper
Luft, wohl als Folge einer ukrainischen Droh-
nenattacke. Der Oberstleutnant an der Front
in Saporischschja kündigt für die Gegenof-
fensive weitere »Überraschungen« an: Waffen
aus der Werkstatt, die bisher noch nicht ein-
gesetzt wurden.
Hinzu kommt laut einem Bericht des US- Erfahren Sie in der neuen Ausgabe von SPIEGEL
Senders CNN eine bisher geheim gehaltene
Lieferung aus Großbritannien, die entschei-
WISSEN, was das Verhältnis zu unserem Körper
dend für die Operation werden könnte: prägt und wie wir ihn besser verstehen.
Marschflugkörper vom Typ »Storm Shadow«
mit einer Reichweite von über 250 Kilometern
sollen sich bereits in der Ukraine befinden.
Bei den von Kiew geforderten F16-Kampf-
flugzeugen tut sich hingegen seit Monaten
nichts. Die Nato-Staaten verfügen über Hun-
derte der Jets, sperren sich aber gegen eine
Lieferung. »Wir brauchen sie zum Schutz
unserer Bevölkerung und unserer Truppen«,
sagt Oleksij Danilow, Chef des ukrainischen
Sicherheitsrats. »Wir werden sie weiter for-
dern und sie auch bekommen.« Für die
Gegenoffensive müssen sich die Ukrainer
wohl mit etwa zwei Dutzend Kampfflugzeu-
gen vom Sowjettyp MiG-29 begnügen, die
Polen und die Slowakei ihnen zugesagt haben.
Die Offensive – wie groß auch immer sie
ausfällt und wie erfolgreich die Ukrainer da-
bei auch sind – werde den Krieg nicht been-
den, sagt Militärexperte Gady. Er rät davon
ab, die anstehende Operation allein daran zu
messen, wie viel Gebiet die ukrainische Ar-
mee zurückerobern kann. Wichtig sei auch,
wie sehr sie die Kremltruppen schwächen
kann, ohne selbst allzu große Verluste zu er-
leiden. Die Gegenoffensive wäre laut Gady
dann erfolgreich, wenn Kiew genug tut, um
die Unterstützung aus dem Westen auch lang-
fristig zu sichern. Denn die Ukrainer müssten
sich fortwährend ihren Partnern beweisen.
Wohl deshalb tat die Führung in Kiew zu-
letzt alles, um die Erwartungen zu dämpfen.
Er habe keine Kriterien für den Erfolg der
Gegenoffensive, sagt Sicherheitschef Danilow.
»Ich benutze das Wort Gegenoffensive gar
nicht.« Für ihn gebe es nur die vollständige
Befreiung und verschiedene Schritte auf dem
Weg dorthin. Es klingt, als habe er sich auf
einen langen Krieg eingestellt.
Dass er Grund dazu hat, zeigt eine Aus-
wertung des Center for Strategic and Inter-
national Studies, einer Denkfabrik in Wa-
shington. Demnach gilt seit 1946: Kriege, die Jetzt Oder hier
nicht im ersten Jahr enden, dauern im Schnitt
länger als ein Jahrzehnt. im Handel bestellen:
Der ukrainische Oberstleutnant in Sapo-
rischschja sieht den Verteidigungskampf gar
als Generationenaufgabe. Wichtiger als ein-
zelne Waffensysteme sei der Durchhaltewille
der Menschen im Land, sagt er. Es liege an
ihnen, sich endgültig vom Moskauer Regime
zu befreien. »Wir dürfen das nicht unseren
Kindern überlassen.«
Oliver Imhof, Alexander Sarovic
Mitarbeit: Fedir Petrov  n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 55


REPORTER

chen heulen, vor Glück. »Weil man


weiß, jetzt geht’s wenigstens ein biss-
chen voran«, sagt er.
Am Rand steht Sebastian Wage-
meyer – dunkelblauer Anzug, grüne

Rums!
Krawatte, zurückgekämmte Haare
– und spricht in Aufnahmegerätpu-
schel mit aufgedruckten Lokalradio-
frequenzen. Wagemeyer, Bürgermeis-
ter von Lüdenscheid, sagt, es sei alles
ORTSTERMIN  In Lüdenscheid versuchen Bürger und Politik, mit der nach Plan gelaufen, er fühle sich er-
maroden Talbrücke auch ihren Frust wegzusprengen. leichtert. Man glaubt ihm das, das
Chaos hat ihn, der am wenigsten für
die Beulen im Stahl der Brücke konn-

E
r sei nur gekommen, weil er »das te, viel Kraft gekostet. Händeschüt-
Dingen« endlich fallen sehen teln mit Bürgern. Einer fragt: »Und,
will, sagt er, der Rest sei egal. Er Feierabend jetzt?« Nein, sagt Wage-
steht auf einem Schotterplatz am meyer, jetzt zur Brücke, Pressekon-
Lüden­scheider Bahnhof, links und ferenz, und heute Abend noch SPD-
rechts von ihm Bierwagen, Holzbän- Jubilare für ihr sozialdemokratisches
ke, ein Wurststand, Männer mit Vo- Durchhaltevermögen ehren. Danach,
kuhila oder Funktionsjacken, Frauen sagt er, haue er sich erst mal ein paar
in High Heels oder Wanderschuhen. Pils rein. »Das kannse glauben.«
Partyprogramm, organisiert von der Als er fertig ge-o-tont hat, steigt er
Stadtmarketing GmbH. Es ist Sonn- in seinen Audi, wischt auf seinem
tag, kurz vor zwölf Uhr mittags, und ­Handy herum. »›Bridge Over Troubled
Lüdenscheid hat sich zum Public Water‹ hören wir jetzt aber nicht«, sagt
Viewing versammelt. Gleich soll nicht er, macht stattdessen Punk an, die Band
Jonah Lemm / DER SPIEGEL

weit von hier die Talbrücke Rahmede Turbostaat. Er kurvt über leere Stra-
gesprengt werden. 453 Meter lang, bis ßen, sie hatten in Lüdenscheid heute
zu 70 Meter hoch. Seit ihrer Sperrung sogar einen Gottesdienst verschoben.
am 2. Dezember 2021 Sinnbild für die Signalfarben-Security-Männer öffnen
Kaputtheit der deutschen Autobahn. ihm Straßensperrungsschranken.
Neben dem hauswandgroßen Flat- Im Tal liegen die Reste, Asphalt-
screen, auf dem gleich das Dingen brocken, davor warten Journalisten.
fallen soll, steht ein DJ, sein Name ist Auf dem Bildschirm wird Volker Liveübertragung der 1968 eröffnet, war die Brücke einst
Dirk. Dirk spielt »Wonderwall« und Wissing interviewt, der Verkehrs­ Sprengung der Anschluss ans Autobahnnetz, an
Rahmede-Brücke bei
redet gleichzeitig in ein Mikrofon. Er minister von der FDP. Er steht an der Lüdenscheid
Wirtschaftswunder-Deutschland, sie
sagt: »Das Ganze hat ein bisschen was Brücke, ist angereist aus dem soge- brachte das Leben nach Lüdenscheid.
von Silvester heute«, Maybeeee, »der nannten politischen Berlin. Er sagt: Jetzt feiert die Stadt ihren Tod.
Countdown läuft«, You’re gonna be »Ich weiß, dass die Menschen hier Minister Wissing sagt ein paar Mi-
the one that saves me, »Wir haben sehr leiden.« Jaszus schreit den Flat- nistersätze, Meilenstein für die Re-
lange darauf gewartet«, and after all, screen an: »Ja, das ist schön, dass du gion und so weiter, zügig soll eine
»heute ist es endlich so weit«, you’re das weißt!« Noch 20 Minuten. neue Brücke kommen, man werde
my Wonderwall. Noch 40 Minuten. Der Schotterplatz liegt vier Kilo- natürlich nicht weniger als alles da­
Der Mann heißt Björn Jaszus und meter entfernt von der Brücke, sie ransetzen. Der Sprengmeister tritt in
ist Lkw-Fahrer, 40-Tonner, Container werden die Sprengung hier nicht hö- Helm und Warnweste an die Mikro-
hinten drauf, darin alles, was mit Re- ren und nicht sehen, deswegen läuft fone. Die Journalisten jubeln und
cycling zu tun hat. Er trägt Leder­ die Liveübertragung des WDR. Die pfeifen. Sie mögen den Sprengmeis-
stiefel, Sonnenbrille, eine silberfar- Stadt hatte Einwohner und Touristen ter, weil er so lustig im Thüringer
bene Kette um den Hals, so dick wie gebeten, nicht direkt an der Brücke ­Dialekt spricht und weil er bei seiner
die Kette eines Fahrrads. Früher, sagt herumzugaffen. 4000, animiert der vorherigen Sprengung Nasenbluten
er, brauchte er eine Viertelstunde bis DJ mehr sich selbst als das Publikum, hatte, und das kam gut in der »Tages-
zum Kunden. Lüdenscheid-Mitte auf sind heute hier! Vorhin hatte eine schau«, wie er dastand, mit Druck-
die Bahn, Lüdenscheid-Nord runter. Band gespielt, einen Song, er hieß: verband im Gesicht. Er sagt, über den
Heute drei Stunden. Seit sie die Brü- »Brücken sprengen«. Der Refrain Applaus hinweg: »Moment mal, ich
cke dichtgemacht haben, von einem ging so: »Komm lass uns Brücken bin doch nicht AC/DC.« Erwartungs-
auf den anderen Tag, weil ihre Trag- sprengen, auf dass es Stücke regnet konformes Lachen. Bürgermeister
fähigkeit gefährdet sei, seit der A- aus Zement, in Stücke spreng, ich Wagemeyer bedankt sich für die tolle
45-Verkehr durch die Stadt umgeleitet bring das Dynamit, und du machst Zusammenarbeit. Ende der Party.
wird. Er sagt: »Man findet sich damit peng.« Noch fünf Minuten. Als Erster geht Wissing. Regen-
ab, aber schön isset nich.« Er erzählt Zehn, neun, acht. Ein paar Men- tropfen fallen vom Himmel. Eine Mit-
von den Lastwagen, die sich seit der schen zählen herunter. Der Spreng- ​»Moment mal, arbeiterin fragt: »Soll ich den Schirm
Sperrung in Lüdenscheid stauen,
Stoßstange an Stoßstange. Er erzählt
meister Michael Schneider schreit aus
den Boxen: »Drei, zwo, eins, Zün-
ich bin doch aufmachen?« Wissing schaut sich um
und sagt: »Mich stört das jetzt so
von Leuten, die er kennt, die kurz vor dung!« Peng. Die Brücke bricht zu- nicht AC/DC.« nicht.« Hinter ihm fangen Arbeiter
dem Beklopptwerden seien, wegen sammen wie ein müdes Pferd. Staub- Michael Schneider, an, den Trümmerhaufen zu sichern.
der Huperei. Noch 30 Minuten. wolke. Applaus. Jaszus muss ein biss- Sprengmeister Jonah Lemm n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 57


WIRTSCHAFT

Maximilian Schwarz / REUTERS


Bauprojekt der Zukunft: In Heidelberg entsteht ein Haus, das komplett aus einem 3-D-Drucker kommt. Nach Angaben des Bauherrn
handelt es sich um das größte seiner Art in Europa. Ein riesiger Druckkopf trägt Schicht für Schicht auf, Personal wird kaum noch benötigt.
Im Sommer soll das Gebäude fertiggestellt sein – und ein IT-Rechenzentrum beherbergen.

33 Prozent mehr Grundsteuer


IMMOBILIEN  Die Grundsteuer für Eigenheime dürfte in vielen Gemeinden teurer werden, für Gewerbeimmobilien
hingegen billiger. Die Finanzminister der Länder könnten das ändern, doch sie warten ab.

D
ie neue Grundsteuer, die ab Januar differenzieren. Eine Beispielrechnung für gen gilt. Einzig in Sachsen und im Saarland
2025 gilt, soll unter dem Strich zwar ein 20 Jahre altes Einfamilienhaus taxiert wurde das Modell mit neuen Messzahlen
»aufkommensneutral« sein, doch die jährliche Steuer, bislang 550 Euro, auf modifiziert, um für Ausgleich zu sorgen. So
es wird Gewinner und Verlierer geben. dann 830 Euro. Eigentümer dürfen die Stei- gilt etwa in Sachsen für Gewerbeimmobi-
Das trifft vor allem Eigenheimbesitzer, die gerung an Mieter weitergeben. lien eine doppelt so hohe Messzahl wie für
unter das Bundesmodell fallen. Laut einer Eine Proberechnung des Finanzministe- Wohngebäude.
internen Berechnung des Amts für Finan- riums in Nordrhein-Westfalen (NRW) kam Der NRW-Städtetag fordert: »Es muss
zen in Bielefeld, die dem SPIEGEL vorliegt, schon im September 2019 zu vergleich­ vermieden werden, dass es zu einer Lasten-
werden in der Stadt Eigentümer von Ein- baren Ergebnissen. Diese können jetzt mit verschiebung zwischen Wohn- und Ge-
und Zweifamilienhäusern durchschnittlich den Daten aus den aktuellen Grundsteuer- schäftsgrundstücken kommt.« Bisher aller-
33 Prozent mehr bezahlen müssen als bis- erklärungen valide geprüft werden. Eine dings trifft das Finanzministerium unter
her. Für Geschäftsimmobilien dagegen dürf- solche Prüfung findet gerade in vielen Kom- Marcus Optendrenk (CDU) keine Aussagen
te es im Schnitt ein Drittel billiger werden. munen und für NRW insgesamt statt. zur Verteilung der Steuerlast. Die Antwor-
Steuerbeamte der Stadt befürchten Die Steuererhöhung resultiert aus dem ten der anderen Länder, wo das Bundes­
­massive Beschwerden: Um die Einnahmen Bundesmodell der Grundsteuer, das so auch modell gilt, ähneln sich: Noch werde gerech­
der Kommunen zu sichern, müssen sie die in Berlin, Brandenburg, Bremen, Mecklen- net, oft reiche die Datenbasis nicht. Tat-
Hebesätze erhöhen, dürfen dabei aber nicht burg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sach- sächlich haben noch immer nicht alle Eigen-
zwischen verschiedenen Immobilientypen sen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thürin- tümer ihre Erklärungen abgegeben. MAMK

58 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


Strompreisdeckel Förderung bremst dem gesetz­lichen Standard sol­
len abge­federt werden. Aller­
wird teuer Bio-Schweine aus dings ist für die Zuschüsse ein
ENERGIE  Die staatlich verord­ TIERWOHL  Das Programm pauschaler Deckel vorgesehen,
nete Strompreisbremse kommt von Bundesagrarminister Cem was nun für Kritik sorgt. Da­
die Energieversorger teuer zu ­Özdemir (Grüne) zum Umbau durch würden Mehrkosten für
stehen. Nach Schätzungen des der Tierhaltung stößt bei der Bio-Schweine gegenüber der

Jochen Tack / IMAGO


Bundesverbands Neue Energie­ Bio-Lobby auf Widerstand. Standardhaltung nur zu rund
wirtschaft (BNE) bedeutet die »Mit ihrer Förderpolitik torpe­ 30 Prozent abgedeckt, in einem
administrative Abwicklung Hochspannungs- diert die Bundesregierung ihre konventionellen Frischluftstall
­dieses Mechanismus für einen leitungen eigenen Bio-Ziele«, sagt Gerald aber zu 70 Prozent, sagt Lobby­
Versorger rund 300.000 Euro Wehde, Geschäftsleiter Agrar­ ist Wehde. Allein die Futter­
Mehraufwand pro Jahr. Hoch­ e­ r­sonnen, um Belastungen für politik beim Anbauverband kosten seien bei Bio viel höher.
gerechnet auf das Bundesgebiet Verbraucherinnen und Verbrau­ Bioland. Die Regierung hatte Bioland fordert, die Deckelung
kämen jährlich etwa 300 Millio­ cher zu begrenzen. Seit Januar sich dazu verpflichtet, das Tier­ bei Öko-Schweinen ganz zu
nen Euro an Kosten zusammen, ist der Preis für private Kunden wohl zu fördern. Bauern sollen streichen. Nur ein Prozent aller
heißt es in einer noch unver­ und kleine Firmen für 80 Pro­ Zuschüsse bekommen, wenn Mastschweine in Deutschland
öffentlichten BNE-Studie. Teils zent des historischen Verbrauchs sie Schweinen mehr Frischluft steht in Ökobetrieben. »Dieses
handle es sich um einmalige auf 40 Cent gedeckelt. Für mitt­ und Auslauf bieten. Außerdem höchste Niveau wird mit der ge­
Aufwendungen. Zudem binde lere und große Unternehmen soll Biohaltung unterstützt wer­ planten Förderung nicht attrak­
der Krisenmechanismus viele liegt der Deckel bei 13 Cent für den. Mehrkosten gegenüber tiv«, kritisiert Wehde. MMQ
Ressourcen: Neben IT-Spezia­ 70 Prozent des historischen
listen müssten die Firmen Per­ Verbrauchs. Bei teureren Ein­
sonal aus dem Projektmanage­ kaufspreisen zahlt der Staat den
ment, Controlling, Portfolio­ Versorgern die Differenz zum
management und Marketing ab­ Verkaufspreis. Als Ab­sicherung
ziehen. Oft seien dies diesel­ für mögliche künftige Krisen
ben Fachkräfte, die auch für die empfiehlt der BNE eine Finanz­
Transformation des Energie­ infrastruktur, über die Verbrau­
systems zuständig seien. Die cher direkte Hilfszahlungen

imago stock / Countr ypixel / IMAGO


­Ampelkoalition hatte die Strom­ vom Bund erhalten können.
preisbremse 2022 auf dem Eingerichtet werden solle diese
­Höhepunkt der Energiekrise von der Regierung. SSU

Wartezeiten wegen ident kann der Schritt über das


Web oder eine App digital erfol­ Ferkel auf Biohof
Zinswende gen. Dafür muss das Ausweis­
DIGITALISIERUNG  Beim digi­ dokument in die Kamera gehal­
talen Identifizierungsservice ten werden, ein sogenannter Digitale Bauakte hen, ist der Zeitgewinn so groß,
der Deutschen Post, Postident, Agent gleicht dann das Bild mit dass davon Impulse für die Bau­
kommt es derzeit zu erheb­ dem des Anrufers ab. Die Post droht zu floppen wirtschaft ausgehen«, so Wal­
lichen Problemen. Kunden be­ begründet die Wartezeiten mit VERWALTUNG  In der Immobi­ berg. Gemäß Geywitz’ Plan sol­
richten von langen Wartezeiten, der Zinswende. »Im Zuge at­ lienbranche herrschen Zweifel len bis Ende 2023 bundesweit
falschen Zeitangaben und Pro­ traktiver Tagesgeldzinsangebo­ an den Plänen von Bundes­ rund 500 von 851 unteren Bau­
blemen bei der Lesbarkeit von te« sei das Anrufaufkommen bauministerin Klara Geywitz aufsichtsbehörden Bauanträge
Dokumenten. Wer etwa ein zuletzt »sprunghaft angestie­ (SPD), Genehmigungsverfahren digital entgegennehmen und die
Konto eröffnen will, muss seine gen«. Tatsächlich bieten immer durch digitale Bauanträge zu Genehmigungsschritte elektro­
Identität mithilfe eines Ausweis­ mehr Banken wieder Zinsen beschleunigen. Zwar könne eine nisch abarbeiten können. Laut
dokuments belegen. Bei Post­ über drei Prozent auf Tages­ elektronische Datenverarbei­ Andreas Schulten vom Analyse­
geldanlagen an. Die für eine tung den Workflow erheblich haus Bulwiengesa geht der Vor­
Postident-App Authentifizierung nötigen Vi­ vereinfachen, erklärt Dietmar schlag am eigentlichen Problem
deochats würden von Agenten Walberg, Geschäftsführer des vorbei: Der Gesetzgeber müsse
in »verschiedenen europäischen Kieler Beratungsinstituts Arge. stattdessen bei den überborden­
Ländern« durchgeführt, sagt Wesentlich wichtiger als die den Bauvorschriften ansetzen –
die Post. Wer statt dem Smart­ ­digitale Bauakte wäre aus Wal­ und schlicht »Auflagen reduzie­
phone ein Notebook oder einen bergs Sicht jedoch eine generel­ ren«. Wie lang der Weg zu einer
PC für die Identifizierung be­ le Beschleunigung der Entschei­ vollständigen Digitalisierung
nutzt, muss zudem damit rech­ dungen. Im Einzelfall dauere der Baubehörden ist, zeigt der
nen, dass die Authentifizierung es Monate, Antragsdetails auf Fall Mecklenburg-Vorpommern.
scheitert. Laut Post liegt das an ihre Übereinstimmung mit den Eine vom Land entwickelte
den darin verbauten Kameras, Bauvorschriften zu überprüfen. Software haben nur 10 der
die entweder wenig hochauf­ Oft sei auch erst der Stempel 16 Bundesländer übernommen.
Rüdiger Wölk / IMAGO

lösend oder mit festen Brenn­ der einen Behörde erforderlich, Und von den zwölf unteren
weiten ausgestattet seien. Man ­bevor die nächste Stelle mit der Bauaufsichtsbehörden in Meck­
empfehle daher, mobile Endge­ Bearbeitung des Antrags be­ lenburg-Vorpommern haben
räte zu verwenden. Oder gleich ginnen könne. »Erst wenn alle sich drei für ein anderes System
in eine Postfiliale zu gehen. MUM ­Beteiligten an einem Strang zie­ entschieden. HEJ, MIK

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 59


WIRTSCHAFT

1 2

AMMONIAK

ALUMINIUM

STAHL

Yulia Grigor yeva / Shutterstock; Phanuwat Nandee / mauritius images; Ruper t Oberhaeuser / ddp

1 | Aluminiumrollen  2 | Auf Basis von Ammoniak hergestellter Dünger  3 | Stahlbrammen im Duisburger Thyssenkrupp-Werk

60 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


WIRTSCHAFT

Milliarden für die Stromfresser


SUBVENTIONEN  Der hohe Strompreis treibt energieintensive Industrien wie Chemie
und Stahl aus dem Land. Wirtschaftsminister Habeck will
betroffene Fabriken mit viel Staatsgeld retten, um den Wohlstand zu sichern. Aber ist das klug?

A
luminium ist ein ganz besonderer Stoff. Großwetterlage. Erste Ökonomen warnen ventionen. In deren Genuss sollen jedoch nur
Er steckt in Autos und Batterien, in bereits vor einer Deindustrialisierung Unternehmen kommen, die besonders viel
Verpackungen, Gebäuden, Elektronik. Deutschlands und Europas. Und Carlos Ta- Strom verbrauchen, Standortgarantien ab-
Ganze Industrien hängen an dem Metall. Die vares, Chef des Autoriesen Stellantis, zu dem geben und diverse andere Auflagen erfüllen.
globale Nachfrage steigt beständig. In vielen Peugeot und Opel gehören, zeichnete vor ein Der habecksche Plan ist ziemlich teuer. Nach
Regionen der Welt wird die Produktion hoch- paar Tagen das komplette Schreckensszenario Schätzungen des Ministeriums müsste der
gefahren. Nur nicht mehr in Neuss. eines zurückgefallenen Kontinents ohne ei­ Staat 25 bis 30 Milliarden Euro pro Jahr zu-
Die Stadt am Niederrhein war noch bis vor gene Industrie, falls die Produktion immer schießen.
wenigen Jahren ein Zentrum der Aluminium- weiter nach Asien und in die USA verschwän- Von den energieintensiven Industriekon-
industrie. Zu Hochzeiten wurden im Rhein- de: »In zehn Jahren werden wir chinesische zernen wie dem Zementhersteller Heidelberg
werk jährlich 240.000 Tonnen Alu produ- und amerikanische Touristen mit Kaffee Materials kommt naturgemäß Applaus. Sie
ziert, befeuert vom Strom der nahen Kohle- ­bedienen.« sehen sich als »Grundpfeiler des Wohlstandes,
kraftwerke. Damit ist es vorbei. Im vergan- Vor allem Deutschland hat sich in den ver- der industriellen Stärke und Resilienz«. Für
genen Jahr drosselte die Betreiberfirma Spei- gangenen Jahrzehnten viel darauf zugute­ den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit sei ein
ra die Produktion auf 70.000 Tonnen. Ende gehalten, Industrie und Produktion im Land Industriestrompreis »ein zentraler Erfolgs-
2023 ist endgültig Schluss. gehalten und so seine Stellung als Export­ faktor«, wenn er Hand in Hand mit einem
Denn so wertvoll Aluminium für die In- nation behauptet zu haben. Umso alarmierter schnellen Hochlauf des Angebots an grüner
dustrie ist – so energieintensiv ist seine Her- ist nun die Politik. Energie gehe.
stellung. Kaum ein Industrieprozess benötigt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck
vergleichbar viel Strom. Und der ist für Unter- (Grüne) will das Problem beherzt angehen. »Alles andere wäre
nehmen in Deutschland erheblich teurer als Er legte am Freitag vergangener Woche das teure Augenwischerei«
in den meisten anderen Ländern auf der Welt. Konzept für einen Industriestrompreis vor. Ökonomen wie Reint Gropp warnen hin-
Eine Kilowattstunde kostete hierzulande zu- Nur noch sechs Cent pro Kilowattstunde soll gegen vor neuen Hilfspaketen. Habecks Plä-
letzt mehr als 12 Cent – fast fünfmal so viel demnach bezahlt werden müssen, finanziert ne seien »brandgefährlich«, sagt der Präsident
wie etwa in den USA. Er könne die gewaltigen werden soll das Dumping mit staatlichen Sub- des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung
Mehrkosten nicht einfach auf den Alupreis Halle (IWH). Statt sich auf staatliche Subven-
draufschlagen, klagt Geschäftsführer Volker tionen zu verlassen, müsse sich die Industrie
Backs. Die Konkurrenz der Billiganbieter aus Energiepreissorgen dauerhaft auf höhere Energiepreise einstellen:
China sei zu groß. »Alles andere wäre teure Augenwischerei.«
Das Aus ist in doppelter Hinsicht verhee- »Welche Problemfelder bedrohen derzeit den Es geht um eine wirtschaftspolitische Wei-
Betriebserfolg Ihres Unternehmens besonders
rend. Die deutsche Industrie wird noch ab- stark?« Angaben in Prozent, Auswahl chenstellung für die nächsten Jahrzehnte, um
hängiger von Importen – und sie verliert die richtige Strategie, Wohlstand und Wirt-
einen Ort, um an der Herstellung CO2-freien steigende Energiekosten schaftskraft dauerhaft zu stärken. Soll der
Aluminiums zu experimentieren. Backs sagt, 38 Staat etablierte Großindustrien mit Steuer-
seine Leute hätten gern mit daran getüftelt. Fach- und Arbeitskräftemangel milliarden stützen und riskieren, dass die
Ähnliche Probleme wie den Aluhersteller 35 Staatsschulden wachsen und der Wettbewerb
Speira plagen derzeit viele energieintensive Inflation innerhalb der Europäischen Union verzerrt
Unternehmen hierzulande. Ihr Geschäft rech- 34 wird? Oder wäre es besser, das Geld in Zu-
net sich nicht mehr, weil die Konkurrenz in kunftstechnologien zu stecken, die alten
Asien oder Amerika nur einen Bruchteil an Preisanstieg bei Rohstoffen/Vorprodukten Grundstoffbranchen dem Spiel der globalen
25
Stromkosten aufbringen muss. Das betrifft Marktkräfte zu überlassen – und damit ihren
vor allem die Produktion von Rohmaterialien Personalausfälle wegen Krankheit Exodus nach Übersee zu riskieren? Und wie
wie Stahl, Aluminium, Zement oder Glas. 24 verbindet man diese Strategie klug mit der
Etliche Betriebe rechnen gerade durch, ob Überregulierung und Bürokratie alles überlagernden Zukunftsaufgabe: dem
sie nicht besser aus Deutschland abwandern 23 klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft?
sollten, zumal ihr Strombedarf in den nächs- Unstrittig ist, dass der hohe Strompreis
Lieferkettenprobleme
ten Jahren noch massiv steigen wird, wenn zunehmend zur Last wird, für energieinten-
22
die Grundstoffindustrie, wie politisch gewollt, sive Konzerne und ihre Kunden. Und er trifft
den CO2-Ausstoß senkt und weniger fossile Einbruch der Nachfrage nicht nur unverbesserliche Stromfresser, son-
Brennstoffe einsetzt. Kombiniert mit weiteren 21 dern auch Unternehmen, die frühzeitig auf
Standortnachteilen wie Fachkräftemangel, S Quelle: Onlineumfrage von YouGov für Visable vom Klimaschutz gesetzt haben.


Inflation und einer überbordenden Bürokra- 28. März bis 3. April in Deutschland, 500 Befragte mit Ent-
scheidungsbefugnis in kleinen und mittleren Unternehmen,
Die Lech-Stahlwerke bei Augsburg sind
tie entsteht gerade eine investitionsfeindliche Mehrfachnennungen möglich schon da, wo die deutschen Stahlkonzer­-

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 61


WIRTSCHAFT

beck helfen mag: Schnelle, unkom-


plizierte Staatshilfen sind kaum zu
erwarten.
Zwar kann Habeck mit der Unter-
stützung weiter Teile der SPD rech-
nen. Neben Parteichef Lars Klingbeil
befürworten auch Niedersachsens
Ministerpräsident Stephan Weil so-
wie die SPD-Fraktion im Bundestag
die Idee. Die Genossen haben Papie-
re vorgelegt, nach denen der Strom-
preis sogar noch stärker sinkt als bei
Habeck, und in denen weitaus mehr
Branchen einbezogen wurden.
Doch ausgerechnet das prominen-
teste Parteimitglied schert aus: Olaf
Uwe Anspach / dpa

Scholz zeigt sich skeptisch. Besser


wäre es, so der Kanzler, die Kosten
ZEMENT durch den schnellen Ausbau von Öko-
strom zu senken.
Zementwerk in Finanzminister Christian Lindner
Leimen: »Grundpfeiler (FDP) ist ohnehin gegen die »extrem
ne Thyssen- des Wohlstandes, teuren Subventionen«. Er hält billi-
der industriellen
krupp und Salzgit- Niveau in Stärke und Resilienz« gere Industriestrompreise für unge-
ter noch hinwollen. Während Deutschland gedrückt, recht gegenüber Handwerksbetrieben
die Branchenriesen erst beginnen, rechnet die IG Metall vor. Die deut- und Privathaushalten und fürchtet,
ihre Hochöfen durch modernere An- sche Grundstoffindustrie – Stahl, dass der Anreiz zum Energiesparen
lagen zu ersetzen, die Stahl mit Erd- Chemie, Zement und Papier – büße verloren geht.
gas und langfristig mit grünem Was- rasant an Wettbewerbsfähigkeit ein.
serstoff herstellen sollen, produziert »Verlieren wir diese Branchen, ver- Staatliche Eingriffe in den Strom-
der Mittelständler seinen Stahl aus lieren wir bald auch andere«, sagt preis können richtig teuer werden
Schrott – mithilfe von Erdgas, vor al- Heiko Reese, Leiter des Stahlbüros Tatsächlich hat die Bundesregierung
lem aber Strom. der Gewerkschaft. Für die deutsche schon einmal versucht, die Wirtschaft
Das schont das Klima, wenn der Volkswirtschaft komme es daher vor horrenden Energiekosten zu
Strom zunehmend aus erneuerbaren günstiger, den Strompreis zumindest schützen. Und das ging gründlich
Quellen kommt. Der Haken: Das vorübergehend zu subventionieren, schief. Die Strompreisbremse, die seit
»Elektro-Stahlwerk«, wie Geschäfts- statt ganze Industriezweige ziehen Jahresbeginn gilt, begrenzt den Preis
führer Martin Kießling die Anlage zu lassen. Wird der Preisabstand we- für Industriekunden bei 13 Cent je
bezeichnet, verschlingt immer mehr gen der Energiekosten zu groß, lässt Kilowattstunde, zumindest für 70
Geld. Die Energieausgaben stiegen sich das auf Dauer auch nicht durch Prozent des Verbrauchs. Das Pro­
in den vergangenen beiden Jahren höhere Qualität und maßgeschnei- blem: Die Hilfe kommt kaum an, vie-
von 8 auf bis zu 20 Prozent der Ge- derte Lösungen für die deutsche le Betriebe haben die Entlastung gar
samtkosten. Das hat Auswirkungen Kundschaft kompensieren. »Das ist nicht erst in Anspruch genommen.
auf weite Teile der deutschen Auto- eine handfeste Bedrohung für die Standort- Die Strompreisbremse sei »ein büro-
industrie. deutsche Industrie«, sagt Lech-Stahl- nachteil kratisches Monster«, moniert Hans-
Die Lech-Stahlwerke produzieren werke-Geschäftsführer Kießling. Christoph Thomale, Fachanwalt der
Stahlteile für große Zulieferer wie Die Strompreise werden hierzu- Großhandelspreise Kanzlei Mazars.
Schaeffler und Continental. Anfangs lande dauerhaft bis zu fünfmal so für Strom, in Euro Hinzu kommt: Staatliche Eingriffe
je Megawattstunde
habe man die höheren Kosten nicht hoch liegen wie in China, Indien, den in den Strompreis können richtig teu-
weitergeben können, sagt Kießling. USA oder der Türkei, prognostiziert Italien er werden. Das zeigt das Beispiel
Erst 2022, als Strom zur Existenzfra- Alexander Becker, Chef des Stahl- 126,55 Frankreich. Während die deutsche
ge wurde, setzte das Unternehmen herstellers Georgsmarienhütte. »So Deutschland Strompreisbremse im Dezember aus-
höhere Preise durch. »Doch das Pro- sehr wir den Ansatz einer marktwirt- 122,82 laufen soll, hat Wirtschaftsminister
blem ist damit nicht gelöst«, so der schaftlichen und subventionsfreien Bruno Le Maire gerade angekündigt,
Frankreich
Manager. Im Gegenteil. Lösung unterstützen«, so wichtig sei die französische Variante bis Anfang
100,45
Die Zulieferer stehen selbst unter jetzt ein Strompreis von maximal 2025 zu verlängern. Die staatlichen
enormem Kostendruck. Sie können sechs Cent je Kilowattstunde. Spanien Hilfen für Haushalte und Firmen ha-
höhere Preise bestenfalls zum Teil Das sieht Deutschlands größter 80,04 ben die Pariser Regierung allein im
an die Autohersteller weitergeben. Aluminiumhersteller Trimet aus Mexiko laufenden Jahr knapp 50 Milliarden
Die fatale Folge: Die Zuliefererkon- ­Essen ähnlich. »Angesichts der kriti- 70,19 Euro gekostet und sich »negativ auf
zerne haben sich andere Quellen für schen Versorgungslage in vielen Be- Japan die französische Schuldenquote aus-
ihren Stahl gesucht; in Italien, Frank- reichen kommt es darauf an, die 58,64 gewirkt«, wie ihm sein Berliner Kol-
reich oder Spanien, wo der Strom- Grundstoffindustrie im Land zu hal- USA
lege Lindner kürzlich genüsslich vor-
preis für die Industrie längst subven- ten und nicht in neue Abhängigkeiten rechnete.
26,85
tioniert wird. Eine gefährliche Ket- zu geraten«, sagt Trimet-Chef Philipp Vor »gefährlichen Verzerrungen
tenreaktion. Schlüter. S Quelle: IEA; Durchschnitts- des Wettbewerbs« im europäischen


In Frankreich werde der Strom- Doch sosehr die Industriebosse preise am Spotmarkt im
Zeitraum vom 10. April bis
Binnenmarkt warnt Ottmar Eden­
preis vom Staat deutlich unter das auch warnen mögen und sosehr Ha- 10. Mai 2023 hofer, Chef des Potsdam-Instituts für

62 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


WIRTSCHAFT

Klimafolgenforschung. »Es wäre das völlig »Fehlende Arbeitsplätze sind gewissen Schutz vor globalen Krisen. »Für
falsche Signal, wenn Deutschland jetzt einen Deutschland wäre es fatal, ausgerechnet in
Subventionswettlauf starten würde.« Und im Moment nicht unser der jetzigen unsicheren geopolitischen Lage
selbst in der Industrie finden die Finanzhilfen ­Problem. Wir sollten nicht so Basisindustrien nach Übersee ziehen zu las-
nicht nur Zuspruch.
Das Ingolstädter Familienunternehmen
einen Popanz um die De- sen«, sagt der Manager. Noch habe der Zu-
lieferer seine gesamte Wertschöpfungskette
Schubert & Salzer, gegründet 1883 in Chem- industrialisierung aufbauen.« direkt vor der Haustür. Das habe während
nitz, hat sein Energierisiko schon frühzeitig Reint Gropp, Wirtschaftswissenschaftler der Pandemie und Ukrainekrise sehr gehol-
reduziert. Der Mittelständler betreibt eine fen: »Da hat sich gezeigt, wie fragil die glo-
Metallgießerei im thüringischen Bad Loben- balen Lieferketten sind.«
stein, die große Mengen an Strom frisst, pro- tors retten. Sonst wäre »das weltweit einzig- Kirchhoff setzt sich deshalb für einen ab-
duziert neben Stahlfeinguss für Maschinen- artige Netzwerk von Industrien aller Wert- gesenkten Industriestrompreis ein – obwohl
und Fahrzeugbau aber auch längst Ventile für schöpfungsstufen gefährdet, auf dem das sein Unternehmen davon vermutlich nicht
verschiedene Branchen und entwickelt Soft- deutsche Geschäftsmodell gegründet ist«, direkt profitieren würde. Die Kirchhoff-Grup-
ware für kleine und mittlere Unternehmen. warnt er. Und tatsächlich hält gerade dieses pe ist kein Großabnehmer von Strom, sie be-
Ein bayerischer Vorzeigebetrieb – der sich Netzwerk viele Unternehmen noch in nötigt ihn in erster Linie zum Schweißen und
von Habecks Strompreisinitiative benachtei- Deutschland. Pressen. Es gehe ihm vielmehr darum, »Wert-
ligt fühlt. Die Kirchhoff-Gruppe produziert seit 1785 schöpfung in Deutschland zu halten«, so
Bertram Kawlath, geschäftsführender Ge- in Deutschland und ist einer der wichtigsten Kirchhoff.
sellschafter, hat sich schon vor Jahren über Autozulieferer und Maschinenbauer der Re- Von einer rein nationalen Lösung à la Ha-
Termingeschäfte einen recht hohen, aber sta- publik. Das Familienunternehmen mit zuletzt beck hält er indes nichts, besser wäre ein euro-
bilen Strompreis bis 2024 gesichert – für rund 2,5 Milliarden Euro Umsatz ist ein Global päischer Industriestrompreis: »Wenn wir wei-
16 Cent pro Kilowattstunde. Außerdem ließ Player, betreibt Werke in China, den USA und ter gegenüber den USA und Asien bestehen
der Unternehmer sich für viel Geld beraten, Mexiko. Vor wenigen Wochen haben die Iser- wollen, müssen wir als Europäer geschlossen
um seinen Betrieb energieeffizienter aufzu- lohner ein neues Werk für Kehrmaschinen im auftreten.«
stellen. Der Dank der Bundesregierung: Schu- sächsischen Grimma eingeweiht. Ist das realistisch? Habecks Vorstoß hätte
bert & Salzer kommt nicht für eine staatliche Um solche Produktionsanlagen dauerhaft in Brüssel wohl nur dann eine Chance, wenn
Förderung infrage. im Land zu halten, benötige man Basisindus- er mit einem EU-weiten Finanztransfer an
Der Industriestrompreis komme nur we- trien wie Aluminium und Stahl vor Ort, er- ärmere Mitgliedstaaten verbunden wäre. Ein
nigen energieintensiven Konzernen zugute, klärt Beiratschef Arndt Kirchhoff. Die Nähe Zugeständnis, das auch Wettbewerbskommis-
kritisiert der Unternehmer: »Die übrigen 90 der Vorproduktelieferanten senke die Logis- sarin Margrethe Vestager ins Spiel brachte.
Prozent der deutschen Industrie bekommen tikkosten und den CO2-Ausstoß. Außerdem Von einem solchen Gemeinschaftsfonds
die Kosten für diese Subvention auf die Rech- schafften solche regionalen Netzwerke einen wollen jedoch weder Scholz noch Lindner
nung.« Er spricht von einer »Lex Großver- etwas wissen. Und so bleiben den strom­
braucher«, die Habeck anstrebe – ein Gesetz intensiven Unternehmen nur zwei Optionen:
für Stromfresser. Deutschland verlassen oder ihr Geschäfts-
Statt mit Subventionen falsche Anreize zu modell umkrempeln.
setzen, solle die Regierung die Milliarden lie- Der Aluhersteller Speira, der demnächst
ber in eine raschere Ausweitung des Strom- sein Werk in Neuss schließt, hat sich für den
angebots investieren, fordert Kawlath. Die zweiten Weg entschieden. Er wandelt sich
Ampelkoalition müsse dringend klassische immer mehr zum Verarbeiter und baut das
Standortfaktoren stärken – schnellere Ge- Recyclinggeschäft aus. »Die hohen Strom-
nehmigungsverfahren, etwa für Windräder, preise beschleunigen den Wandel«, sagt Ge-
und niedrigere Steuern. Nur so lasse sich der schäftsführer Backs.
Strompreis dauerhaft senken. Für etliche Die Weiterverarbeitung von Aluminium
Unternehmen der Stahl- oder Chemiebranche ist längst nicht so energieintensiv wie das Er-
kämen solche Maßnahmen wohl zu spät. zeugen. Das benötigte Metall stammt aus dem
Marcus Simaitis

»Aber der Großteil der deutschen Industrie hauseigenen Recycling oder aus Ländern wie
ist durch die Transformation nicht gefährdet«, Island und Kanada, die Ökostrom im Über-
sagt Kawlath. fluss haben. Auch die Einschnitte für die Be-
Die Republik steht also vor der Grundsatz- schäftigten halten sich in Grenzen: Von den
frage: Welche Industrien will sie am Standort knapp 5000 Arbeitsplätzen bei Speira bleiben
wirklich halten? Und zu welchem Preis? nach der Schließung der Hütte immerhin rund
Bleiben die Stromkosten hoch, wird sich 4700 erhalten.
ein Großteil der energieintensiven Produktion Hätte Habecks Industriepreis die Aluhüt-
kaum noch halten lassen. Wandern einzelne te gerettet? Wohl kaum. Sechs Cent pro Kilo-
Spezialbranchen wie Düngemittel- oder Am- wattstunde seien immer noch 50 Prozent
moniakproduktion ab, wäre das aus Sicht von mehr, als der Strom vor der Krise gekostet
Ökonomen verkraftbar. habe, rechnet Backs vor: Für eine energie-
»Wenn Konzerne lieber woanders produ- intensive Hütte sei das viel.
zieren wollen, dann sollen sie das tun«, sagt Eine letzte Hintertür hält der Speira-Ma-
Michael Engler t / DER SPIEGEL

IWH-Präsident Reint Gropp. »Fehlende nager sich allerdings offen. Man fahre die
Arbeitsplätze sind im Moment wirklich nicht Hütte nur so weit herunter, sagt Backs, dass
unser Problem«, fügt er hinzu. »Wir sollten sie sich »auch wieder hochfahren« lasse. Falls
nicht so einen Popanz um die Deindustriali- es sich eines Tages doch wieder lohnt.
sierung aufbauen.« Sein Düsseldorfer Kolle- Michael Brächer, Simon Hage, Martin Hesse,
ge Jens Südekum hingegen würde gern nen- Benedikt Müller-Arnold, Christian Reiermann,
nenswerte Teile des Stahl- oder Chemiesek- Manager Becker, Backs ­Michael Sauga n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT

********

[M] Lea Rossa / DER SPIEGEL; Fotos: Jesus Guerrero / AFP; Florian Gaer tner / photothek / IMAGO; Jan Huebner / IMAGO
Die SS7-Offenbarung
SPIONAGE Sicherheitslücken im Telefonnetz gefährden die Daten von Millionen
Mobilfunknutzern weltweit. Die Infrastruktur für die Angriffe der
Hacker liefert ein Basler Unternehmer mit einem bizarren Geschäftsmodell.

A
ls David G. an einem Morgen Protokoll ist eine technische Sprache, tenpartei in Basel. Wie Recherchen
im September 2020 auf sein die dafür sorgt, dass Anrufe und SMS des SPIEGEL und der Investigativ-
Handy schaut, merkt er sofort, weltweit zwischen den Mobilfunk- organisation Lighthouse Reports nun
dass etwas nicht stimmt. Unbekann- unternehmen zugestellt werden kön- offenbaren, befördert er mit seinen
te haben sich über Nacht in seinen ne. Erdacht wurde es 1975, als die Systemen auch Spionage und Über-
Telegram-Account gehackt. »Das heutige Bedrohung durch Hacking- wachung. Er soll Cyberkriminellen,
Schlimmste war, dass die Angreifer Angriffe weit weg war. Das System Überwachungsfirmen und sogar Ge-
all meine privaten Nachrichten lesen bildet bis heute die Grundlage der heimdiensten mit seinen Produkten
konnten, darunter auch laufende, ver- Mobilfunkkommunikation, auf die die Möglichkeit geboten haben, heim-
trauliche Geschäftsverhandlungen.« viele Millionen Menschen im Alltag lich ihre Opfer zu lokalisieren oder
David G. gilt in der Szene als eine Art vertrauen. So weit, so technisch. deren SMS zu lesen.
Crypto-Punk und ist einer der be- Interessant ist, wie die Hacker Finks Firma hat ihren Sitz im Bas-
kanntesten Bitcoin-Investoren Isra- ihren Angriff orchestriert haben – ler Stadtteil Neubad, einem Viertel
els. Er bittet darum, seinen richtigen und wer ihn offenbar ermöglicht hat. der urbanen Oberschicht. In einer
Namen nicht zu veröffentlichen. Die Spuren in dem Fall deuten auf ruhigen Nebenstraße mit Lastenrä-
Wer ihn gehackt hat, ist bis heute einen IT-Unternehmer namens An- dern in Fahrradparkbuchten vor bunt
unbekannt. Klar ist nur, welchen Weg dreas Fink. Öffentlich in Erscheinung angestrichenen Einfamilienhäusern
die Angreifer genommen haben. Sie getreten ist Fink in der Vergangenheit weist lediglich ein kleines Briefkas-
Firmenchef
nutzten Schwachstellen im sogenann- als Zahlungsdienstleister für Wiki- Fink
tenschild darauf hin, dass sich hier das
ten Signalling System 7 aus. Das SS7- leaks und als Lokalpolitiker der Pira- Hauptquartier von Fink Telecom Ser-

64 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


WIRTSCHAFT

vices befindet. Einem Unternehmen, das seit Und genau da kommen Anbieter wie Fink ins ist der Preis auf 15 Euro gestiegen. Seit Jahren
Jahren gravierende Schwachstellen im inter- Spiel. Seine Firma bietet diesen Zugang. Für werden über Finks Infrastruktur immer wie-
nationalen Mobilfunknetz ausnutzt. Augen- technisch unbedarfte Angreifer bietet er der verdächtige Signale verschickt. So geht
scheinlich als legaler Dienstleister, faktisch außerdem noch eine Onlineplattform, auf der es aus vertraulichen Unterlagen, Chats, Log-
jedoch als Türöffner für Hacker. zahlende Kunden ihre Zielperson via Karte Dateien und Insiderberichten hervor.
Laut Experten sind diese Schwachstellen nachverfolgen können. Zumindest auf den Andreas Fink führt die Angriffe nicht selbst
die günstigste und einfachste Methode, Men- Umkreis einer Funkzelle lassen sich Zielper- aus. Er verdient daran, den Hackern die ent-
schen gezielt aus der Ferne auszuspionieren. sonen mit SS7-Angriffen lokalisieren. scheidende Infrastruktur für ihre Attacken
Längst ist ein Markt entstanden, auf dem di- Überwachungssignale werden in Hunder- zur Verfügung zu stellen.
verse Unternehmen es ermöglichen, die Lü- ter-Paketen zum Festpreis von mehreren Tau- Zum Gespräch empfängt er an seinem
cken auszunutzen. Und immer wieder taucht send Euro pro Monat verkauft, eine einzelne ­Küchentisch in Basel-Neubad. Vor ihm steht
die Masche in den unterschiedlichsten Zu- Abfrage kostete lange 3,50 Euro, inzwischen ein neues MacBook, über das er seine SS7-
sammenhängen auf: Prinzessin Latifa wurde Dienstleistungen kontrollieren und steuern
Ziel eines SS7-Angriffs, als sie heimlich aus kann. Er erklärt ausführlich, wie die SS7-
Dubai flüchtete. Hacker nutzten die Lücke, Schutzlos im Mobilfunknetz Technik im Mobilfunknetz funktioniert. Auch
um Geld von deutschen Bankkunden zu steh- auf der Online-Erklärplattform Quora hat er
Wie Hacker SS7-Schwachstellen ausnutzen
len. Kurz nach der Invasion der Krim wurden schon Hunderte technische Fragen beantwor-
Anrufe und SMS von Ukrainern aus Russland Das SS7-Protokoll ist die tet, sogar dazu, wie ein SS7-Angriff funktio-
abgehört – ebenso wie nach Russlands Angriff technische Sprache, die dafür sorgt, niert. Wenn es um seinen moralischen Kom-
auf die Ukraine. dass Anrufe und SMS weltweit pass geht, wird er hingegen eher schmallippig.
zwischen den Mobilfunkunterneh-
Auch der mexikanische Journalist Fredid men zugestellt werden können.  Das Bild, das sich von Fink aufdrängt: tech-
Román wurde Opfer eines SS7-Angriffs. nisch genial, ethisch irgendwo zwischen un-
Román hatte die zögerliche Aufklärung der 1 Angriff aufs Mobiltelefon bedarft und skrupellos.
tödlichen Entführung von 43 Studenten in Immerhin gibt er zu, dass er in einer Art
seinem Heimatbundesstaat Guerrero an­ Angreifer Grauzone operiere. »Ich habe immer ver-
kennt Telefonnummer der
geprangert. Unterlagen, die dem SPIEGEL Zielperson, zahlt Geld an sucht, diese Technologie zum Guten einzu-
vorliegen, zeigen, dass der Journalist am SS7-Provider setzen und die ›bad guys‹ so weit wie möglich
21. August 2022 ausgespäht wurde. Einen draußenzuhalten.« In den vergangenen zehn
Tag später wurde er von Unbekannten auf $ Jahren sei er selektiver in der Auswahl seiner
offener Straße im Zentrum der Stadt Chil- Kunden geworden. Er verkaufe an Regierun-
pancingo erschossen. Als seine letzte Kolum- SS7-Provider gen und verpflichte seine Kunden, sich an
ne weniger als 24 Stunden nach seinem Tod bietet Zugang zum SS7-Netz Gesetze zu halten.
veröffentlicht wurde, stand über dem Text Gemeinsame Recherchen des SPIEGEL
eine Anmerkung der Redaktion: »Der Autor Handynetz mit und internationaler Partner wie »Tages-An-
dieses Artikels wurde feige erschossen, zwei SS7-Technik zeiger« und »Haaretz« offenbaren nun Teile
Stunden nachdem er den Text an unser Büro Mobilfunk-
von Finks Klientel. Zu seinen Kunden zählt
geschickt hatte.« unternehmen etwa das umstrittene israelische Überwa-
Die Sicherheitslücken sind seit mehr als chungsunternehmen Rayzone. Es liefert eine
zehn Jahren bekannt – und werden bis heute Smartphone-Tracking-Software an Strafver-
Angriffssignal
ausgenutzt. Allein in das Netz der Deutschen fängt SMS ab, überwacht folgungsbehörden und Geheimdienste und
Telekom werden laut Firmenkreisen monat- Standort, hört Anrufe ab soll unter anderem in Mexiko, Griechenland
lich zwischen fünf und zehn Millionen poten- oder Vietnam aktiv gewesen sein.
ziell missbräuchliche SS7-Signale gesendet. Zielperson Eine andere Gruppe von Akteuren, die
Oft sind es bloß Anwendungsfehler von Mit- bemerkt nichts vom Angriff sich für SS7-Attacken interessieren: klandes-
arbeitern anderer, unerfahrenerer Telefon- tine Digitalsöldner wie die israelische Ge-
unternehmen oder der Versuch, mit SMS-­ heimfirma Team Jorge, die praktisch jedem,
Abrechnungen zu betrügen. der bereit ist zu zahlen, anbietet, Wahlen zu
Doch in immerhin rund zwölf Prozent 2 Hack eines Telegram-Kontos manipulieren. Dafür verbreitet Team Jorge
der Fälle – also schätzungsweise bis zu eine Lügen auf sozialen Netzwerken oder hackt
Million Mal – handelt es sich um Signale, mit Angreifer sich in die privaten Konten wichtiger politi-
denen eine Zielperson überwacht werden kann durch SS7-Angriff SMS der scher Akteure, wie Recherchen von Forbid-
Zielperson abfangen
könnte. Im Netz der Deutschen Telekom den Stories enthüllten. In Team Jorges inter-
­werden diese Signale zwar geblockt, gerade in nen Systemen tauchte der Name von Finks
entwickelten Ländern gelten die Netze inzwi- Lokalisierungsplattform auf (siehe auch
schen als gut geschützt, trotzdem gelingt es SPIEGEL 8/2023). Konfrontiert mit den Re-
weder den Netzbetreibern noch den Aufsichts- cherchen, teilte er mit, sich von einem Kun-
behörden, das Problem komplett abzustellen. meldet per SMS den getrennt zu haben.
zweites Gerät im
Und die Risiken gehen weit über das Tele- Konto der Zielperson an
Nicht zuletzt scheinen auch Cyberkrimi-
fonnetz hinaus: SPIEGEL-Recherchen zeigen, nelle die Infrastruktur des Schweizers für ihre
dass SS7-Angriffe ebenfalls genutzt werden, Telegram-Server Zwecke zu missbrauchen. So gelang es Ha-
um unbemerkt private Chats in Telegram- ckern vor Jahren, mit abgefangenen SMS-
Konten mitzulesen oder Airbnb-Accounts zu Nachrichten, Geld von deutschen Bankkon-
Telegram schickt alle Chats
hacken. Selbst E-Mail-Postfächer sind an- auch an Angreifer ten umzuleiten. Die Kriminellen konnten die
greifbar. SS7-Signale bei ihrem Angriff über einen
Die Voraussetzungen für derlei Manipula- Zielperson Dienst von Andreas Fink verschicken, wie
tionen sind denkbar einfach: Die Hacker müs- Dokumente zeigen.
sen die Telefonnummer ihrer Opfer kennen Trotz all der Vorfälle gab es offenbar keine
und brauchen einen Zugang zum SS7-Netz. S Grafik Untersuchung bei den zuständigen Schweizer


Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 65


WIRTSCHAFT

Behörden gegen Fink. Im mächtigen GSMA- Unternehmen geleitet hat, hatte gegenüber Die Deutsche Telekom, Vodafone und O2
Verband hingegen nimmt man Finks Umtrie- dem SPIEGEL jedoch erklärt, er habe noch schützen sich mit einer Firewall gegen miss-
be als problematisch wahr. Nach SPIEGEL- bis in den April Signale an die Netzwerk­ bräuchliche SS7-Signale, die laut Experten
Informationen war er 2022 Thema im dorti- adressen des Schweizers weitergeschickt. Fink auch effektiv ist. Technisch versierte Angrei-
gen Sicherheitsgremium. Der Verband lässt dementiert das. fer erproben indes längst neue Einfallstore,
nun mitteilen, dass seine Aktivitäten bekannt »Wir glauben, dass Fink Telecom Services wie Aufzeichnungen von Anfragen auf Finks
seien und man »den Fall untersucht«. von Überwachungsunternehmen genutzt Server zeigen. Fink selbst bezeichnet die dor-
Fink sagt, er habe technische Schutzmaß- wird, um weltweit Telefonnutzer auszufor- tigen Anfragen als legitime SS7-Nachrichten.
nahmen eingeführt, die Missbrauch, wie etwa schen«, warnt Cathal McDaid vom Telefon- Ansonsten bleibt er dabei, nur Dienstleis-
das Abfangen von SMS, verhindern sollen. sicherheitsunternehmen ENEA AdaptiveMo- ter zu sein: »Ein Chemiker kann sein Wissen
Konkrete Vorfälle dementiert er, teils auch bile Security. Solche Attacken seien eine nutzen, um Gutes zu tun und Medizin zu ent-
mit Verweis auf seine technischen Aufzeich- ­Gefahr für jeden mit einem Handy. Es sei wickeln oder um Schlechtes zu tun und Dro-
nungen. »Ich kann aber ehrlicherweise nicht alarmierend, wie über Finks Systeme versucht gen zu entwickeln.« Er sei sich im Klaren, dass
100 Prozent ausschließen, dass das in der Ver- werde, Schutzmaßnahmen der Netzbetreiber einige seiner Angebote gefährlich missbraucht
gangenheit passiert ist.« zu umgehen, so McDaid. »Das Thema Sicher- werden könnten, und habe auch bereits Ge-
Tatsächlich wurden Brancheninsidern heit rund um SS7 wird von vielen Mobilfunk- schäfte abgelehnt. Er sei nicht perfekt, aber
­zufolge über Finks Infrastruktur noch Ende anbietern weltweit immer noch massiv unter- bloß ein kleiner Fisch – es gebe viel größere
des vergangenen Jahres SMS abgefangen. So schätzt«, sagt Thomas Tschersich, Chief Se- Firmen auf dem Markt mit weniger Skrupeln.
konnten Angreifer offenbar mit Finks Techno- curity Officer bei der Deutschen Telekom. Dann erzählt er, wie er als SS7-Anbieter
logie das Telegram-Konto eines Opfers in mehrmals in die Demokratische Republik
Südostasien hacken. Nur wenige Minuten Kongo gereist sei. Um dem Geheimdienst sei-
nachdem sie über seine Systeme ein SS7-Si- Verschlossene Welt ne Lokalisierungsfähigkeiten vorzuführen,
gnal abgeschickt hatten, erhielten sie dem- Monatelang haben Reporter des SPIEGEL habe er einen Facebook-Nutzer ausfindig
nach einen sechsstelligen Code zurück, um und der Investigativorganisation Light­ ­gemacht. Der Mann soll Falschinformationen
ein zweites Gerät im Telegram-Account des house Reports in der verschlossenen über ein angebliches Kriegsverbrechen der
Opfers zu registrieren – mit dem sie seine Welt der SS7-Dienstleister und Überwa­ Regierung verbreitet haben, das sei aus seinen
Nachrichten mitlesen konnten. chungsfirmen recherchiert. Eigentlich Posts ersichtlich gewesen. Dass er dem Re-
Gefragt nach der von den Cyberkriminel- ­hinterlassen deren Hacking-Angriffe über gime bei der Jagd nach einem Oppositionellen
len genutzten Infrastruktur, behauptet Fink, das ­Mobilfunknetz kaum Spuren. Umso geholfen haben könnte, dementiert er. »Von
dass diese längst zerstört und verkauft worden überraschter waren die Journalisten, dass Menschenrechtsverletzungen im Kongo habe
sei. Sie habe zu einer von ihm 2017 aufge­ die Attacken seit Jahren über die Infra­ ich noch nie gehört.«
lösten Firma gehört, die insolvent ging. Der struktur eines Basler IT-Unternehmens zu Crofton Black, Max Hoppenstedt,
Geschäftspartner, der die Signale an Finks laufen schienen. Marcel Rosenbach, Hakan Tanriverdi n

GREAT MOMENTS
IN SMALL SPACES Mit dem Lumin Elektrogrill kreierst
du unvergessliche Momente - egal
ob auf deinem Balkon oder deiner
Terrasse. Einfach zu reinigen und
kostengünstig im Gebrauch eröffnet
der Weber Lumin dir Geschmacks-
Grille für nur welten, die du in der Küche nicht
€pro 0,51
Session **
erreichst.

Finde deinen neuen Grill auf


weber.com

Weber Lumin. *Lumin verbraucht mindestens 15% weniger Energie

Der energie-effizienteste Grill, den wir je entwickelt haben.* als unsere anderen Elektrogrills mit vergleichbarer
Größe bei einer Stunde grillen bei mittlerer Hitze.
**Eine Session mit Lumin = 15 Minuten Vorheizen bei
hoher Hitze und 45 Minuten Grillen bei mittlerer Hitze.
Basierend auf einem Strompreis von 0,40 €/kWh.
WIRTSCHAFT

genanzeige »wegen falscher Verdäch-


tigung und Verleumdung«.
Fragt man DeMarco, hat – neben
Corona und der wirtschaftlichen
Lage – Siegel einen beachtlichen An-
teil an der Pleite. Er sei »cholerisch«
und habe bei den Proben Anweisun-
gen gegeben, die im Widerspruch zu
Absprachen standen. »Kein bisschen
Frieden«, spottet DeMarco. Den Vor-

Roman Babirad / babiradpicture


wurf mangelnder PR weist er zurück:
Auf Sat.1, Sat.1 Gold, Sixx und Kabel

Stefano Laura / BILD


Eins seien TV-Spots gelaufen, in
Nordrhein-Westfalen habe es Radio-
spots gegeben und weitere Reklame.
Für mehr habe das Geld gefehlt. Mit
525.000 Euro sei »’N bisschen Frie-
den« eine Low-Budget-Produktion
gewesen. Und nicht mal diese Summe
stand vollständig zur Verfügung.

Kein bisschen Frieden


300.000 Euro wollte Siegel bei-
steuern, zahlte aber nur 195.000. Er
sagt, der Rest habe bereitgelegen,
doch seine Anwälte hätten ihm kurz
vor der Premiere geraten, es einzu-
KARRIEREN  Ein Musical von Ralph Siegel endete im finanziellen Fiasko. behalten, »weil es zu viele Unge-
Doch der ESC-Veteran gibt nicht auf. Nun will er in Füssen den Erfolg erzwingen. reimtheiten gab«. Insolvenzverwalter
Andreas Röpke will die fehlenden
105.000 Euro von Siegel einfordern,

R
alph Siegel selbst ist im Alter sechs Tagen. Nun will er ihm eine Komponist Siegel, wie er dem SPIEGEL bestätigte.
nicht bescheidener geworden, zweite Chance geben, im Festspiel- »’N bisschen Siegel sagt: »Ich hätte mich nicht
Frieden«-Premiere
sein Lebensstandard schon. haus Füssen, wo auch sein Musical 2022 in Duisburg:
überreden lassen dürfen, in nur vier
Vor gut einem Jahr zog der Schlager- »Zeppelin« läuft. Kommende Woche »Wie eine Fehlgeburt Monaten so ein Projekt hochzuziehen.«
komponist von seiner Münchner Vil- ist, wie Siegel es nennt, »Weltwieder- mit einer unfähigen Doch die Verlockung war zu groß. Sie-
la – sieben Schlafzimmer, sechs Bä- uraufführung«. Das Werk heißt künf- Hebamme« gel hatte vom eigenen Musical geträumt,
der, Pool – in eine kleinere Bleibe, für tig »Ein bisschen Frieden – Summer seit er 1964 am Broadway Barbra Strei-
deren Finanzierung er sein altes Haus of Love«. Die vielen Apostrophe im sand in »Funny Girl« sah. 2015 war es
belieh. Bis heute versucht der 77-Jäh- bisherigen Titel könnten dem Erfolg so weit, allerdings lief »Johnny Blue«
rige vergebens, die Luxusbude loszu- abträglich gewesen sein, glaubt er. nur im tschechischen Brünn. Erst mit
werden, für 14 Millionen Euro. Der Hauptschuldige aber sei Produ- »Zeppelin« hat seit 2021 auch Deutsch-
Seine Firma kam auf dem Gelände zent Wolfgang DeMarco: »Es war wie land sein Siegel-Musical. Die Premiere,
der Bavaria-Filmstudios unter. An- eine Fehlgeburt mit einer unfähigen sagt er, habe ihn so überwältigt »wie
fang Mai sitzt Siegel dort am Schreib- Hebamme«, so Siegel. Als er vor dem sonst nur die Geburt meiner Kinder«.
tisch. An der Wand zeugen Goldene Start nach Duisburg gekommen sei, Zugleich riss »Zeppelin« ein Loch
Schallplatten von seiner großen Zeit sei er entsetzt gewesen. »Das Bühnen- in seine Kasse, die Kosten waren pan-
(»Dschinghis Khan«). Die Tapete bild sah billig aus. Die Kostüme kamen demiebedingt von 1,2 auf 2,6 Millio-
zeigt eine Hecke, sie stammt vom erst fünf Tage vor der Premiere an.« nen Euro gestiegen. Um es zu stopfen,
Vormieter, dem TV-Sender Tele 5. Während ganz Duisburg plakatiert veräußerte Siegel vor einigen Mona-
Siegel isst Lachs, den er von belegten gewesen sei mit dem Kölner Musical ten sein Ferienhaus in Italien.
Brötchen pult, trinkt Red Bull und raucht »Moulin Rouge«, sei für sein Stück Hier spielt Nun geht es um sein Lebenswerk.
mehrere Marlboro Light, die er immer vor allem am Theatergebäude gewor- die Musik Wann soll er es auf die Bühne bringen,
nach drei, vier Zügen ausdrückt. Er ben worden und »medial minimal«. wenn nicht jetzt? Er zählt seine Krank-
bittet darum, laut zu sprechen, sein Was Siegel erst nach der Premiere er- Die beliebtesten heiten der vergangenen Jahre auf.
Tinnitus macht ihm zu schaffen. Eben- fahren haben will: Für den zweiten Musicalstädte Prostatakrebs, das Nervenleiden Poly-
in Deutschland,
so sein glückloses Geschäftsgebaren, Tag waren im 1500-Leute-Saal nur Angaben in Prozent
neuropathie, Probleme mit ­Ischias,
zumal das Fiasko von Duisburg. 60 Tickets verkauft worden, für den Bandscheiben und auch mit dem rech-
Im Oktober feierte dort sein Musi- dritten 80. Die Reihen wurden auf- 1. Hamburg ten Ringfinger. 13 Aufführungen sind
cal »’N bisschen Frieden – Rock ’n’ Roll gefüllt mit ukrainischen Flüchtlingen. 39 angesetzt. 500 bis 600 Zuschauer
Summer« Premiere, an die 40 Siegel- Im November ging die Produk- 2. Stuttgart müssten pro Abend kommen, damit
Songs, eingebettet in eine DDR-Flucht- tionsgesellschaft insolvent, im De- 15 es sich rentiert. Noch läuft der Vorver-
geschichte. Der Titel war inspiriert von zember zeigten 23 Darsteller und Mit- 3. Berlin kauf schlecht. Siegel hofft auf die
seinem Hit »Ein bisschen Frieden«, mit arbeiter DeMarco an wegen Ver- 8 Abendkasse.
dem die Sängerin Nicole 1982 den dachts auf Betrug; einige haben bis Vor ihm liegen vier Brillen, da­
Grand Prix gewann, wie der Eurovision heute kein Geld erhalten. Die Staats- 9. Füssen
runter zwei mit gelb getönten Glä-
Song Contest (ESC) damals hieß. anwaltschaft Duisburg stellte die Er- sern, er drückt einem eine davon in
2
Das Singspiel sollte Siegels Selbst- mittlungen am vergangenen Dienstag die Hand: »Setzen Sie die auf. Damit
Hommage werden. Doch es wurde ein, mangels hinreichenden Tatver- S Quelle: Onlinebefragung scheint immer die Sonne.«


auf Musical1 im Oktober


mangels Nachfrage abgesetzt, nach dachts. DeMarco plant nun eine Ge­ 2020, 3354 Teilnehmer Alexander Kühn, Martin U. Müller n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 67


WIRTSCHAFT

aufgenommen habe. Die Behörden beschul­


digten Capvision, Experten »mit hoher Ver­
gütung« angeheuert zu haben, um »verschie­
dene Arten sensibler Daten illegal zu be­

Rechtsfreier Raum
schaffen«, was ein »großes Risiko und eine
versteckte Gefahr für die nationale Sicher­
heit Chinas« darstelle.
Wirtschaftsleute aus dem Westen sind alar­
miert. Niemand kann gerade abschätzen, wo
CHINA  Ein neues Gesetz stellt praktisch jedes Unternehmen unter die chinesischen Empfindlichkeiten anfan­
gen – und wie man unter diesen Umständen
­ pionageverdacht. Westliche Manager sind alarmiert.
S überhaupt noch vernünftig kooperieren soll.
Sind sie der Willkür der Behörden fortan komplett ausgeliefert? Wie soll man etwa in eine Firma vor Ort ein­
steigen, wenn schon das Prüfen der Bilanz
unter dem Verdacht der Spionage steht? Wie

D
en Blick gesenkt, die Hände in Ketten gen tatsächlich auslegten, stöhnt ein hoch­ können Unternehmen das deutsche Liefer­
gelegt, so stehen sie am Mittwoch­ rangiger Manager eines Autokonzerns. kettengesetz einhalten, in dem festgelegt ist,
morgen vor der Halle auf dem Berliner Was viele Unternehmen besonders ver­ dass sie alle Zulieferer und deren Sublieferan­
Messegelände: Männer und Frauen in blau­ unsichert, ist die politische Begleitung. Ob­ ten im Blick haben müssen? »Ohne eine an­
er Häftlingskleidung. Es sind Unterstützer wohl das Gesetz noch nicht einmal in Kraft gemessene Due-Diligence-Prüfung werden
der Uiguren, jener muslimischen Minderheit, getreten ist, vergeht kaum ein Monat ohne ausländische Unternehmen nicht in neue Pro­
die in der nordwestchinesischen Region Xin­ Durchsuchungen von Beratungsfirmen, die jekte in China investieren können«, sagt Eric
jiang verfolgt, weggesperrt und umerzogen Marktforschung betreiben, Analysen erstellen Zheng, Präsident der Amerikanischen Han­
wird. oder Geschäftsberichte auswerten. delskammer in Shanghai. Sein Kollege Jörg
»Lager, Zwangsarbeit, Familientrennung: Ende März fing es an. Das Pekinger Büro Wuttke von der Europäischen Handelskam­
VW-Großaktionär Niedersachsen darf zu Ver­ der amerikanischen Mintz Group wurde in­ mer in Peking sekundiert: »Es muss dringend
brechen an Uigur*innen nicht schweigen!« spiziert, mehrere Mitarbeiter festgenommen. geklärt werden, welche Informationen sensi­
steht auf einem Plakat, das sie mitgebracht Keinen Monat später folgten Durchsuchungen bel sind und welche nicht.«
haben. In der Halle tagt die Hauptversamm­ bei der Unternehmensberatung Bain. Und Genau weiß das niemand: »Darf man noch
lung von Volkswagen, und in Xinjiang be­ wieder Verhöre. Marktforschung betreiben? Darf beispiels­
treibt der Konzern ein umstrittenes Werk. weise ein Unternehmen, das in der Gesund­
Kaum hat VW-Boss Oliver Blume im Saal Niemand kann gerade abschätzen, wie heitsbranche tätig ist, versuchen herauszu­
zur Rede angesetzt, springt eine Frau in Rich­ man noch vernünftig kooperieren soll finden, wie viel Prozent der Chinesen an
tung Bühne, sie schreit, ihr Oberkörper ist Anfang der Woche filzten Ermittler Büros in Multipler Sklerose erkranken?«, fragt Dan
nackt. Auch sie protestiert gegen die Zwangs­ Peking, Shanghai, Shenzhen und Suzhou und Harris, Rechtsanwalt aus Seattle, der mit sei­
arbeit in China, Tausende Kilometer entfernt. vernahmen Beschäftigte, wie das chinesische ner Kanzlei seit gut zwei Jahrzehnten Firmen
Der Konzern verteidigt sich, es gebe keine Fernsehen berichtete: »Einige Beratungs­ berät, die in China Geschäfte machen. »Mit
Anzeichen von Menschenrechtsverletzungen firmen und Agenturen für Nachforschungen dem neuen Gesetz sagt die chinesische Füh­
im VW-Werk, man habe alles untersucht. verfolgen einseitig schnelles Geschäftswachs­ rung im Grunde: Wir können tun, was wir
Wie gut solche Erkundigungen vor Ort tum, aber ignorieren mögliche Gefahren für wollen. Die Botschaft ist: Was in China pas­
künftig noch möglich sein werden? Zum die nationale Sicherheit.« Diesmal traf es das siert, bleibt in China.«
1. Juli tritt in China ein neues Anti-Spionage- New Yorker Unternehmen Capvision. Ein Problematisch seien nicht einmal die Ver­
Gesetz in Kraft, das nicht nur Staatsgeheim­ Sprecher des chinesischen Außenamts sprach schärfungen der einzelnen Paragrafen, meint
nisse schützen soll, sondern auch sehr vage von »normalen Strafverfolgungsmaßnahmen der Rechtswissenschaftler Moritz Rudolf. Er
definierte »nationale Interessen«. Die Para­ in Übereinstimmung mit dem Gesetz«. forscht zur internationalen Anwendung von
grafen gelten auch für alle »Dokumente, Die Polizei teilte dem staatlichen Fern­ chinesischem Recht an der Universität Yale
Daten, Materialien und Artikel, die die na­ sehsender Jiangsu Television mit, dass Cap­ und hat, genau wie Dan Harris, vergangene
tionale Sicherheit und Interessen betreffen«, vision häufig Kontakt zu »Personen mit Zu­ Woche als Experte an einer Anhörung einer
schreibt Chinas amtliche Nachrichtenagentur gang zu geheimen Informationen« sowie zu Kommission der US-Regierung teilgenom­
Xinhua. Beamten in Verteidigung und Wissenschaft men. Sehr weitreichende Sicherheitsgesetze
Bei Volkswagen gibt man sich weitgehend habe es schon zuvor gegeben. Der Unter­
unbesorgt: Man prüfe derzeit noch das schied sei nun, dass sich die »politische Lage
­Gesetz, sehe aktuell aber keine direkten ändert und diese Gesetze angewendet werden«.
­Auswirkungen auf das Geschäft. Bei vielen Vor allem viele chinesische Betriebe wer­
andere Unternehmen herrscht allerdings die den das genau beobachten, glaubt Rudolf.
nackte Panik. »Im chinesischen Rechtsverständnis ist das
»Unsere Umfragen bei deutschen Unter­ Recht immer ein politisches Werkzeug.« Und
nehmen in China zeigen, dass Rechtsun­ die Durchsuchungen bei Bain, der Mintz
sicherheiten durch vage Formulierungen in Group und Capvision sind in dieser Lesart
Gesetzen und Regularien generell eine große Signale, die Zusammenarbeit mit Ausländern
Herausforderung vor Ort darstellen«, sagt einzuschränken.
DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier. Politikwissenschaftler sprechen bei gefes­
»Das neue Spionagegesetz gliedert sich hier tigten Rechtsstaaten von der »Rule of Law« –
Stefan Boness / IPON

leider nahtlos ein. Besonders beim Daten­ letztlich entscheiden stets unabhängige
transfer über Landesgrenzen hinweg werden ­Gerichte anhand von Gesetzen. In China hin­
die bestehenden Unsicherheiten sogar noch gegen herrscht »Rule by Law« – die chinesi­
verstärkt.« Es lasse sich überhaupt nicht ab­ sche Führung steht über dem Gesetz und hat
schätzen, wie die Behörden die Bestimmun­ Protest gegen VW-Engagement in China die Macht, Verordnungen zu erlassen, wie es

68 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


WIRTSCHAFT

Mitglied der Ausschuss des Nationalen Volkskon-


chinesischen gresses verabschiedet wurde. Laut
Bewaffneten Artikel 14 können chinesische Nach-
Volkspolizei vor richtendienste »von den zuständigen
EU-Flagge
Organen, Organisationen und Bür-
gern die erforderliche Unterstüt-
zung, Hilfe und Zusammenarbeit
verlangen«.
Sind damit auch private Firmen
gemeint? Was verbirgt sich hinter der
»erforderlichen Unterstützung«?
Wie weitreichend wäre eine solche
Amtshilfe? Und gilt das Gesetz auch
außerhalb der Volksrepublik? Wird
vom umstrittenen Konzern Huawei
diese Zusammenarbeit schon längst
verlangt?
Oder das Anti-Sanktionsgesetz:
Als die amerikanische Regierung vor
gut zwei Jahren die Einfuhr von Pro-
dukten aus Xinjiang wegen mutmaß-
licher Zwangsarbeit untersagte, be-
schloss die chinesische Führung in
Windeseile ein Gesetz, das ausländi-
sche Unternehmen zwingen kann,
sich zwischen China und dem Rest
der Welt zu entscheiden. Lediglich
16 Artikel umfasst das Gesetz. Die

Kevin Frayer / Getty Images


Gefahr für ausländische Firmen ver-
birgt sich vor allem in Artikel 12.
Einzelpersonen und Institutionen,
also auch Unternehmen, müssen
rechtliche Konsequenzen fürchten,
wenn sie Sanktionen, die gegen die
ihr passt. Für jede noch so fragwürdi- Seit 2015 gilt in China ein Sicher- Volksrepublik oder chinesische Or-
ge Entscheidung lässt sich später ein heitsgesetz, das es den Behörden ge- ganisationen gerichtet sind, umset-
entsprechender Artikel im Gesetz stattet, nationale Sicherheitsüberprü- zen. In der Konsequenz bedeutet das:
finden, um Willkür den Anschein von fungen zu politischen, militärischen, Wenn eine deutsche Firma amerika-
Legalität zu verleihen. wirtschaftlichen, finanziellen, kultu- nische Sanktionen gegen einen chi-
»Die Gesetze sind so geschrieben, rellen, technologischen, nuklearen, nesischen Konzern einhält, droht ihr
dass jeder im Land jederzeit dagegen ökologischen und religiösen Themen in China ein Gerichtsverfahren.
verstößt, sodass jeder verhaftet wer- anzuordnen. Der Geltungsbereich ist Immerhin: Obwohl das Gesetz in-
den kann, wann immer die Regierung umfassend, sowohl der Cyberspace zwischen seit zwei Jahren gilt, ist
es will«, sagt Anwalt Harris. »Viel- We love China als auch der Weltraum, die Tiefen des noch kein Fall bekannt, in dem es
leicht sollten wir aufhören, diese Ozeans und die Polarregionen sind weitreichende Folgen hatte. Eine
Paragrafen Gesetze zu nennen. Es Deutsche Direkt- Teil der nationalen Sicherheitssphäre Hoffnung, die Unternehmen wie
investitionen in
sind Botschaften. Die erste Botschaft China, in Prozent des Chinas. Volkswagen offenbar auch beim Anti-
war die Ankündigung, dass dieses Wertes aller 2017 kam das Cybersicherheits­ Spionage-Gesetz haben.
Gesetz am 1. Juli in Kraft treten wird. europäischen Direkt- gesetz hinzu. Betroffen davon sind Dan Harris hält Abwarten jeden-
Die Razzien sind die zweite Bot- investitionen dort Firmen, die Hard- oder Software an falls für keine sinnvolle Strategie:
schaft.« 50 Betreiber sogenannter kritischer In­ »Wenn ich ein chinesischer Bürger
Seit Staats- und Parteichef Xi Jin- frastruktur in der Volksrepublik lie- wäre und für eine amerikanische Fir-
ping an der Spitze der Volksrepublik 40 fern. Telekommunikationsunterneh- ma arbeitete, würde ich anfangen, mir
steht, sind viele Gesetze eingeführt men etwa, Energie- und Wasserver- Sorgen zu machen, und mir einen
worden, die in Deutschland sofort 30 sorger oder Finanzkonzerne. ­anderen Job suchen«, sagt er. »Ame-
vom Verfassungsgericht gekippt wor- All diese Unternehmen dürfen nur rikanische Unternehmen, deutsche
20
den wären – auf den ersten Blick sind IT-Produkte kaufen, die eine staat­ Unternehmen, ausländische Unter-
sie Ansammlungen handwerklich 10 liche Sicherheitsüberprüfung bestan- nehmen werden eine Menge Mit-
schlechter, völlig unpräzise formulier- den haben. Außerdem sind sie ver- arbeiter verlieren, und es wird für sie
ter Paragrafen. pflichtet, den Sicherheitsbehörden viel schwieriger sein, neue einzustel-
Es fehlt an Definitionen, wer auf 2000 2010 2021 auf Anfrage Daten zur Verfügung zu len, sie werden viel mehr bezahlen
welcher Grundlage entscheidet, ob stellen. Wer Daten ohne Genehmi- müssen.«

34 Prozent
ein Verstoß vorliegt; auch wird der gung außerhalb Chinas speichert, Seine Prognose: Es werde immer
Strafrahmen kaum umrissen. Die ver- kann seine Geschäftslizenz verlieren. schwieriger für nicht chinesische Fir-
meintliche Schlampigkeit hat System: aller Direktinvestitionen
Bis heute rätseln Fachleute in men, im Wettbewerb zu bestehen.
Je schwammiger ein Paragrafenwerk Europas in China zwischen Deutschland, wie das chinesische Und womöglich ist das ja auch der
2018 und 2021 entfallen auf
formuliert ist, desto breiter lässt es VW, BMW, Daimler und BASF. Nachrichtendienstgesetz zu interpre- Sinn der Sache.
sich anwenden. S Quelle: Rhodium Group tieren ist, das 2017 vom Ständigen Christoph Giesen, Simon Hage n
‚

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 69


WIRTSCHAFT

Übrigens auch nicht beim Thema Di-


versität. Das Unternehmen wird im-
mer noch von Männern dominiert.
Etwas hat die Geschichte immerhin

»Da geht’s mir wie


ausgelöst: Sie hat die DWS in den
USA bekannt gemacht, heute gilt sie
dort als Synonym für Greenwashing.

Monica Lewinsky«
SPIEGEL: Jörg Eigendorf, ehedem
Kommunikationschef der Deutschen
Bank, ist zum Nachhaltigkeitschef
des gesamten Konzerns aufgestiegen.
Könnte das ein Neuanfang sein?
GREENWASHING  Die DWS-Whistleblowerin Desiree Fixler über Fixler: Nein, das ist ein großes Warn-
signal. Die Leute in der Bank steigen
die Verlogenheit der Finanzbranche beim Thema Nachhaltigkeit und den aufgrund persönlicher Loyalität auf
unwürdigen Umgang deutscher Firmen mit internen Hinweisgebern und nicht wegen ihrer Qualifikation
und Erfahrung. Ich hatte Eigendorf
und DWS-Aufsichtsratschef von Rohr
Fixler, 51, war erst wenige Monate Beispiel keine Aktien von Firmen 2021 in einem Brief detailliert geschil-
Nachhaltigkeitschefin der Fonds­ mehr zu kaufen, die Kohleprojekte Abgestraft dert, was falsch läuft bei der ESG-
gesellschaft DWS, einer Tochter der entwickeln. Nehmen Sie ihr das ab? Strategie, wie getrickst wird. Beide
Deutschen Bank, als der damalige Vor­ Fixler: Ich denke nicht, dass die Ver- Aktienkurs der DWS, haben meine Bedenken abgetan und
in Euro
standschef Asoka Wöhrmann sie im antwortlichen kapiert haben, was zugelassen, dass ein Problem zur
Frühjahr 2021 feuerte. Die Amerikane­ wirklich passiert ist. Der neue Chef 11. Mai 2023: ­Katastrophe für die Bank wurde.
29,92 Euro
rin hatte dem Management intern vor­ Stefan Hoops verspricht, dass die 40 ­Spätestens nach der Razzia des BKA
geworfen, die DWS weitaus »grüner« DWS sehr transparent über die Er- hätten sie zurücktreten sollen.
gebnisse der internen Untersuchung 35
dargestellt zu haben, als es der Realität SPIEGEL: Ihre Kritiker werfen Ihnen
entsprach. Den folgenden Prozess vor berichten und Dokumente veröffent- vor, Sie seien keine ESG-Expertin,
dem Arbeitsgericht verlor die Whistle­lichen wird. Aber die ESG-Erklärung 30 sondern geltungssüchtig und scharf
blowerin. Behörden in Deutschland der DWS sagt nichts darüber aus, darauf, ihre Whistleblower-Rolle zu
25
und den USA prüfen Fixlers Green­ ­welche Erkenntnisse sie gewonnen Geld zu machen.
washing-Vorwürfe dennoch. haben. Entscheidend ist, ob sie um- Rauswurf von Fixler: Ich arbeite zu 100 Prozent für
Inzwischen ist Fixler von New York setzen, was sie ankündigen. Und da Desiree Fixler Geld! Ich bin seit 1994 in der Finanz-
nach London umgezogen und berät habe ich große Zweifel, auch an dem 0 bei der DWS branche, heute helfe ich Unterneh-
Unternehmen, Aufsichtsbehörden und Kohleversprechen. Und was ist mit 2021 2022 2023
men dabei, Nachhaltigkeitsstandards
Nichtregierungsorganisationen in Investments in Öl- und Gasfirmen? festzulegen und transparent zu sein.
­Sachen ESG. Das Akronym steht für SPIEGEL: Die DWS hat 2022 über S Quelle: Refinitiv Datastream Ich arbeite mit Aufsichtsbehörden zu-
­Environmental, Social, Governance – »grüne« Fonds für 852 Millionen Dol- sammen, etwa in Großbritannien und
also Umweltschutz, Soziales und verant­
lar Aktien klimaschädlicher Konzer- Singapur, mit Non-Profit-Organisa-
wortungsvolle Unternehmensführung. ne gekauft, etwa des Pipelinebetrei- tionen, mit der Beratungsfirma De­
bers Enbridge oder von Shell. loitte. Ich bin keine Eintagsfliege.
SPIEGEL: Frau Fixler, Ihr Rauswurf Fixler: Das meinte ich. Die DWS soll- SPIEGEL: In Deutschland ermitteln die
schlug hohe Wellen. Inzwischen te sich nicht mit Erfolgen brüsten, die Finanzaufsicht Bafin, das Bundeskri-
musste Vorstandschef Asoka Wöhr- es nicht gibt, sondern wirklich etwas minalamt und die Staatsanwaltschaft
mann die DWS verlassen, Aufsichts- ändern. Und das sehe ich bisher nicht. wegen Greenwashing gegen die DWS,
ratschef Karl von Rohr geht Ende in den USA sind es die Bundespolizei
Oktober. Verspüren Sie Genugtuung? Nachhaltigkeits­ FBI, die Börsenaufsicht SEC und das
Fixler: Nein. Die DWS und die Deut- expertin Fixler Justizministerium. Wann rechnen Sie
sche Bank hätten sich entschuldigen mit Ergebnissen?
müssen. Da geht’s mir wie Monica Fixler: Ich weiß es nicht. Die Behör-
Lewinsky, die wartet bis heute auf den scheinen eine Menge zu tun zu
eine Entschuldigung von Bill Clinton. haben. Klar ist, dass die DWS und die
Immerhin fühle ich mich rehabilitiert. Deutsche Bank bereit sein sollten,
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? Wöhrmanns und von Rohrs Boni zu-
Fixler: Das BKA hat die DWS durch- rückzufordern, sollte die Untersu-
sucht, sechs Behörden in Deutschland chung ein Fehlverhalten ergeben.
und den USA ermitteln, die Börse hat SPIEGEL: Die Bafin macht unter ihrem
reagiert. Die DWS hat die Höhe ihrer neuen Präsidenten Mark Branson den
ESG-konformen Investments deutlich Eindruck, deutlich schärfer gegen Re-
nach unten korrigiert. Das alles wäre gelbrecher vorzugehen als früher.
Ossi Piispanen für manager magazin

nicht passiert, wenn an meinen Vor- Fixler: Leider kann ich einen Kultur-
würfen nichts dran wäre. wandel nicht erkennen. Um es klar
SPIEGEL: Die DWS äußert sich zu den zu sagen: Amerikanische Banker sind
konkreten Vorwürfen nicht, sagt aber, nicht besser oder schlechter als ihre
sie arbeite umfassend mit allen rele- Kollegen in Europa. Sie wissen nur,
vanten Regulatoren und Behörden dass sie im Gefängnis landen können,
zusammen. Und sie beteuert, ihre wenn sie die Regeln brechen. Das dis-
Lektion gelernt zu haben und zum zipliniert sie ungemein.

70 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


WIRTSCHAFT

SPIEGEL: Was hat der Fall DWS in der Finanz-


branche ausgelöst? SPIEGEL TV Programm
Fixler: Das war ein Gamechanger: Investoren,
Aufseher, auch Medien schauen jetzt viel ge-
nauer, was Unternehmen und Fondsanbieter
versprechen und was sie tatsächlich tun. ­Viele
CEOs sind vorsichtiger geworden.
SPIEGEL: Das mag auch daran liegen, dass sie
weniger tun, womit sich brüsten ließe.
Fixler: Der Zug ist abgefahren. Kein CEO
kann es sich noch erlauben, den Klimawandel
zu ignorieren und nichts zu tun, um das eige-
ne Unternehmen ESG-fit zu machen. Ande-
renfalls bleiben die Gewinne aus, und die
Investoren hauen ab.
SPIEGEL: Ist das wirklich so? Gerade in Ihrer
US-Heimat gibt es republikanische Gouver-
neure, allen voran Ron DeSantis in Florida,
die das Thema als woke brandmarken. Fonds-
managern, die Geld nachhaltig anlegen wol-

SPIEGEL TV
len, wird dort das Mandat entzogen, Pen-
sionsgelder von Beamten zu verwalten.
Fixler: Ja, das ist absurderweise ein politisches
»Nachtwölfe«: Putins Rocker in Berlin
Thema geworden. Aber täuschen Sie sich
nicht: Es sind vor allem diese republikanisch
regierten Südstaaten, die scharf darauf sind, SPIEGEL TV Deutschlands größte
von Joe Bidens Inflation Reduction Act zu MONTAG, 15. 5., 23.25 – 0.00 UHR, RTL Geheimnisse
profitieren. Das Anti-Woke ist hauptsächlich SONNTAG, 14. 5., 20.15 – 22.25 UHR, KABEL EINS
Masche. 400 Milliarden Dollar haben rote, Nachtwölfe, Friedensengel und
also republikanische, und blaue demokrati- andere Putin-Freunde Folge 3
sche Staaten hellgrün gemacht. Europa muss Deutschland in der Woche vorm Welcher König ist 2023 in Berlin in einen
darauf angemessen reagieren. Selenskyj-Besuch Faustkampf verwickelt? Welches
SPIEGEL: Es fehlen klare Regeln, was als nach- ­Geheimnis findet sich im Luftraum über
haltiges Investment gelten darf. In dem Wirr- Ende einer Kiez-Legende dem höchsten Berg Hessens? Die
warr aus nationalen, europäischen und glo- Das Leben und Leiden des schönen Klaus ­Rankingshow präsentiert verblüffende
balen Standards blickt niemand mehr durch. Orte, Rekorde und Geschichten. Viele
Fixler: Absolut. Die Europäer sollten die ESG- Prominente rätseln mit, um die Geheim-
Bewegung anführen. Sie geben sich Mühe, ARTE RE: nisse zu lüften. Darunter Schauspielerin
aber die Umsetzung ist ein Desaster. Europa, DONNERSTAG, 18. 5., 19.40 – 20.15 UHR, ARTE Janine Kunze und die Moderatorinnen
die USA und das Vereinigte Königreich liefern Sonja Zietlow und Panagiota Petridou.
sich ein Tauziehen um die besten Standards, Bellen, beißen, Burnout –
aber globale Unternehmen haben Mühe, da- Tierärzte unter Druck
mit fertigzuwerden. Sie brauchen klare, ver- SPIEGEL GESCHICHTE
bindliche Regeln, weil sie letztlich vor allem DONNERSTAG, 18. 5., 23.40 – 1.10 UHR,
eines wollen: Geld verdienen. Und das ist SKY/VODAFONE
völlig in Ordnung, solange sie ehrlich sind.
SPIEGEL: Sie haben in Deutschland die Er- Tomi Reichental – Leben mit
fahrung gemacht, dass Whistleblower als dem Holocaust
Nestbeschmutzer gelten. Die Bundesrepublik Als Kind wurde Tomi Reichental in das
hat es jahrelang nicht geschafft, eine EU- Konzentrationslager Bergen-Belsen
Whistleblower-Richtlinie fristgerecht umzu- gebracht und verlor im Holocaust über
setzen. Warum tun wir uns so schwer? 30 seiner Verwandten. Nach dem
SPIEGEL TV

Fixler: In New York und in London sind Krieg zog er nach Irland und sprach ein
Whistleblower viel besser geschützt. Das ist halbes Jahrhundert lang nicht über seine
seltsam, denn Deutschland ist dafür bekannt, Tiermedizinstudent Joshua Konrad
Erfahrungen. Heute erzählt er seine
dass es weitreichende Arbeitnehmerrechte bei OP-Vorbereitung Geschichte, damit das Geschehene nie-
hat. Aber am Finanzplatz Frankfurt stärken ­mals in Vergessenheit gerät.
sich Vorstände und Aufsichtsräte gegenseitig Traumberuf Tierarzt? Mitnichten. Tierme-
den Rücken, Whistleblower gelten als illoyal, diziner leiden überdurchschnittlich häufig
undankbar. Dabei sollte es der Vorstand wert- unter Depressionen und haben ein stark
schätzen, wenn Mitarbeiter auf Missstände erhöhtes Suizidrisiko. Nacht- und Wo-
2017 Curiosity Stream Inc.

aufmerksam machen. Das zeigt schließlich, chenendschichten sowie Überstunden


dass sich jemand mit seinem Arbeitgeber sind für sie keine Ausnahme. Die Arbeits-
identifiziert. In Deutschland gilt es als Güte- belastung, schlechte Bezahlung und
siegel, wenn es wenige Whistleblower-Be- dauernde Konflikte mit Tierhaltern führen
schwerden gibt. Aber das bedeutet nur, dass oft in die Krise. Drei Veterinäre suchen
Mitarbeiter Angst haben, sich zu melden. Lösungen, um ihren eigentlich erfüllen-
Interview: Tim Bartz n den Beruf weiter ausüben zu können. Holocaust-Überlebender Reichental

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 71
AUSLAND

Zohra Bensemra / REUTERS


In dem Dorf Goungour im Nachbarland Tschad sind nun auch Flüchtlinge aus dem krisengebeutelten Sudan gestrandet. Mit sich schleppen sie nur
das Nötigste: Wasserkanister, Decken, Planen und natürlich ihre kleinen Kinder. Seit am 15. April der blutige Machtkampf zwischen der regulären
Armee und paramilitärischen Milizen ausgebrochen ist, sind bereits 400.000 Menschen aus dem Land und innerhalb des Sudan geflohen. Das UN-
Flüchtlingshilfswerk UNHCR rechnet mit doppelt so vielen Vertriebenen, die in Nachbarländern Zuflucht suchen, sollten die Kämpfe anhalten.

»Lust auf das ganze Drama?«


Schweigegeldaffäre, noch fast geschlossen hinter den Ex-Präsi-
denten stellten, sind manche inzwischen verhaltener. Zumal bald
weitere Anklagen drohen: Wahlbeeinflussung, der Kapitolsturm,
die Geheimakten in Mar-a-Lago. Im Schweigegeldverfahren
ANALYSE   Nach der Verurteilung wegen Nötigung ist
könnte es zudem mitten im Vorwahlkampf 2024 zum Prozess
Donald Trump nicht länger unantastbar. kommen. Das Urteil werde Trump als »konstantes Hintergrund-
geräusch begleiten«, sagt Senator John Thune. »Die Leute müs-
Das Gericht machte kurzen Prozess. Nach nur neun Tagen Ver- sen entscheiden, ob sie Lust auf das ganze Drama haben.« In
handlung brauchten die New Yorker Geschworenen nicht mal einer CNN-Fragestunde am Tag nach dem Urteil sagte Trump
drei Stunden, um Donald Trump wegen sexueller Nötigung und darauf angesprochen: »Meine Umfragewerte wurden gerade ver-
Verleumdung zu verurteilen. Die Jury befand, dass er Mitte öffentlicht, sie sind nach oben gegangen.«
der Neunzigerjahre die Kolumnistin E. Jean Carroll sexuell atta- Die 79-jährige Carroll sagte drei Tage lang aus und überstand
ckiert und ihren Ruf beschädigt habe, als sie später darüber ein aggressives Kreuzverhör. Trump erschien nicht persönlich vor
schrieb. Da es ein Zivilverfahren war, kam Trump um eine Haft- Gericht, wurde aber in Videos gezeigt, die Carrolls Anwälte vor-
strafe herum, er muss Carroll aber fünf Millionen Dollar spielten. Belastend war dabei auch eine eidesstattliche Verneh-
Schmerzensgeld und Schadensersatz zahlen. mung, in der Trump es für normal befand, Frauen zu belästigen.
Weniger klar ist der politische Preis, den Trump zu zahlen Den Vorwurf der Vergewaltigung, den Carroll ursprünglich er­
hat. Obwohl der Spitzenkandidat der Republikaner nunmehr ein hoben hatte, wies die Jury zwar zurück, einigte sich aber auf den
gerichtlich verbriefter Sexualstraftäter ist, bleibt er trotzdem der Tatbestand der sexuellen Nötigung. Trumps Anwalt kündigte
Favorit der Partei und liegt weit vor seinem nächsten Rivalen umgehend Revision an. Das Urteil, das auch ein Sieg für die zu-
Ron DeSantis, dem Gouverneur von Florida. Doch während sich letzt desillusionierte #MeToo-Bewegung ist, hat den Mythos von
die Republikaner im April, nach der Anklage Trumps in einer Donald Trumps Unantastbarkeit jedenfalls zerstört. Marc Pitzke

74 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


Der Filz von lebte damals einen wirtschaft­
lichen Boom und trat sogar der
Bratislava Eurozone bei. Doch die Schüsse
SLOWAKEI  Aus den vorgezoge- auf Kuciak förderten eine ande-
nen Neuwahlen im September re Realität zutage: Oligarchen
könnte Ex-Premier Robert Fico wie Marián Kočner hatten Er-
als Sieger hervorgehen. Seine mittler und Staatsanwälte von
Partei Smer rangiert in Umfra- sich abhängig gemacht, die ihre
gen an der Spitze – dabei steht zwielichtigen Aktivitäten deck-
der Mann wie kaum ein anderer ten. Kočner sitzt wegen Betrugs
für die Verflechtung von Staat, bereits in Haft, ihm wird auch
Korruption und Halbwelt. Fico der Prozess wegen des Kuciak-

Ebrahim Noroozi / AP
werden Verbindungen zu mafiö- Mordes gemacht. Fico trägt
sen Kreisen nachgesagt, die 2018 mindestens politische Verant-
den Mord an dem Investigativ- wortung für die Entstehung
journalisten Ján Kuciak in Auf- ­dieser Parallelstrukturen. Doch
trag gegeben haben. Insgesamt heute, fünf Jahre später, gilt Afghanin nach Besuch einer Untergrundschule in Kabul
hatte Fico zehn Jahre lang in er vielen wieder als Garant für

»Sie sagen, Freiheit verdirbt


Bratislava regiert, das Land er- Stabilität. Die Regierungen
nach ihm hatten sich völlig zer-

den Charakter«
stritten, dabei waren sie ange-
treten, das korrupte System aus-
zukämmen. Vergangenen Sonn-
tag hatte Präsidentin Zuzana
AFGHANISTAN  Die Studentin Zarlasht aus Kabul
Čaputová eine Interimsregie-
rung eingesetzt. Um nach der berichtet über ihren Alltag unter den Taliban.
Wahl zurück an die Macht zu
gelangen, wird Fico allerdings Aus Sicherheitsgründen wurden anzuziehen. Nach dem Abitur
Ronald Zak / AP

einen Koalitionspartner brau- die Namen von Zarlasht, 21, schrieb ich mich an der Uni­
chen. Derzeit beteuern prak- und ihrer Schwester Urzala ge- versität von Kabul ein. Doch
tisch alle Parteien, sich nicht mit ändert. der einzige für Mädchen zuge-
Protest gegen Premier Fico 2018 Fico einlassen zu wollen. JPU lassene Studiengang sind
»Schon bevor die Taliban zu- ­Hebammen-Wissenschaften.
rückkamen, war es für meine Ich gehe trotzdem jeden Tag
Mehr Macht rung im Land anfeuern. In der Schwester und mich schwierig, hin, um überhaupt etwas zu
Opposition kursiert die Kanz- in Kabul allein zu leben. Wir tun.
vom Volk? lerschaft als Vorbild. Vor allem stammen aus einem Dorf der Wir dürfen nicht mehr in
ITALIEN  Für Giorgia Meloni ist ein konstruktives Misstrauens- Provinz Dschuzdschan, es liegt Parks, nicht ins Kino, und die
es »die Mutter aller Reformen«: votum wie in Deutschland kön- im Norden, nahe der turkmeni- meisten Cafés sind geschlossen.
Um das chronisch labile Regie- ne dafür sorgen, dass Regierun- schen Grenze. Dort studieren Es gibt kein soziales Leben
rungssystem Italiens endlich be- gen nicht einfach ohne Alterna- Mädchen nicht. Unsere Mutter mehr. Die meiste Zeit des Tages
ständiger zu machen, will die tive gestürzt werden. Weil die war ebenfalls dagegen. Im Dorf verbringe ich zu Hause. Die
rechtsnationale Ministerpräsi- notwendige Mehrheit für eine sagen sie, Freiheit verdirbt den Miete beträgt umgerechnet
dentin, dass die Bürgerinnen Verfassungsänderung nicht in Charakter und unverheiratete, 100 US-Dollar, Studien- und
und Bürger das Staatsoberhaupt Sicht ist, erwägt Meloni, ihr in der Stadt lebende Mädchen Schulgebühren kosten noch mal
direkt wählen sollen. Dieser Lieblingsprojekt Präsidialdemo- bringen Schande über die Fami- so viel, uns bleiben dann noch
Präsident soll zudem politisch kratie durch ein Referendum lie. Aber unser Bruder hat uns 30 Dollar. Manchmal waren wir
mit mehr Macht ausgestattet zu verwirklichen. Doch das unterstützt. so verzweifelt, dass wir daran
sein. Gerade hat Meloni Kon- Schicksal eines ihrer Vorgänger Ich war 15, als ich nach Ka- dachten, uns das Leben zu
sultationen mit der Opposition ist ein warnendes Beispiel: Als bul kam, Urzala war 13. In einer ­nehmen. Aber wenn wir jetzt
begonnen. Die stimmt nur in Matteo Renzi 2016 die Verfas- Radiosendung hatten wir von aufgeben, war alles umsonst.
einem Punkt zu: So wie bisher sung reformieren wollte, verlor der Möglichkeit für Mädchen Neben unserer Familie unter-
sollte es nicht weitergehen. Seit er die Volksabstimmung – und gehört, in Kabul die Schule stützte uns von Anfang an die
1946 waren in Italien 68 Regie- sein Regierungsamt. HOR zu besuchen und im Studenten- US-Organisation »Educate Girls
rungen und 31 Ministerpräsi- wohnheim zu wohnen. Mein Now«. Sie bezahlt afghanischen
denten im Amt. Ansonsten kri- Traum ist es, als Anwältin zu Familien monatlich 60 Dollar,
tisiert die Opposition den Vor- arbeiten. Aber so, wie jetzt die damit sie ihre Töchter in die
stoß: »Warum nicht gleich eine Lage ist, würde ich als Juristin Schule schicken.
aufgeklärte Monarchie?«, fragte niemals Arbeit finden. Unser einziges Fenster zur
Elly Schlein, Chefin der Sozial- Als die Taliban am 15. Au- Welt ist das Internet. Eine Leh-
Filippo Attili / ZUMA Press / IMAGO

demokraten. Als Kompromiss- gust 2021 zurückkehrten, rerin der Wisconsin University
vorschlag ist die Direktwahl der schlossen wir uns ein und dach- lehrt uns jetzt zweimal wö-
Ministerpräsidentin oder der ten, es gibt Krieg. Aber es kam chentlich Englisch und bereitet
Ministerpräsidenten im Ge- anders. Anfangs gingen wir uns auf ein Stipendium an einer
spräch. Doch auch hier warnen ­weiter zur Schule und glaubten, Universität in Bangladesch vor.
Melonis Gegner: Die Sehnsucht alles werde wieder gut. Wir wollen Medizin studieren.
nach einer starken Figur an der Erst allmählich begannen die Ärztinnen werden die Taliban
Spitze könne nur die Polarisie- Meloni Taliban, die Daumenschrauben ja wohl noch brauchen.« SUK

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 75


AUSLAND

Im Affärenstrudel 
Nicht nur der Ex-Regierungschef Sebastian Kurz
steht unter Verdacht, auch zahlreiche frühere
­Entscheidungsträger. Eines ist ihnen gemein: Es gilt
für sie bis auf Weiteres die Unschuldsvermutung.

Heinz-Christian Strache,
ehemaliger FPÖ-Chef und
Vizekanzler unter Kurz, und
sein Parteifreund …

… Johann Gudenus
traten nach der Veröffent-
lichung eines 2017
auf Ibiza gedrehten
Videos von ihren Ämtern
zurück.

Thomas Schmid
war ein mächtiger
Beamter und gilt dank
der bei ihm sicher­
gestellten Textnach-
richten als zentrale
Figur der Ibiza-Ermitt-
lungen.

Hans Klaus Techt / APA / picture alliance; F. Schroetter / EXPA / picture alliance; M. Gruber / EXPA / picture alliance; Georg Wilke; G. Schneider / IMAGO;
Sophie Karmasin,
ehemalige Familien-
ministerin, angeklagt
wegen schweren
Betrugs, Prozessauf-
takt im April

René Benko,
Milliardär, wegen
Bestechungsver-
dachts im Visier der
Staatsanwaltschaft

H. Fohringer / APA / picture alliance;  W. Kerschbaummayr / APA / picture alliance


Siegfried Wolf,
­ orsche-Aufsichtsrat,
P
unter Bestechungs-
verdacht

Sebastian Kurz, zuletzt bis Oktober


2021 Bundeskanzler, beschuldigt unter
anderem der Untreue und Bestechlichkeit

Dutzende weitere
Beschuldigte,
darunter frühere Minister,
Manager und Medien­
magnaten, warten auf den
Fortgang ihrer teils
seit Jahren anhängigen
Verfahren.

76 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


AUSLAND

Die Ibiza-Republik
ÖSTERREICH  Vier Jahre nach der Veröffentlichung des berühmten Videos, bei dem zwei FPÖ-Politiker sich
und große Teile der politischen Klasse des Landes kompromittierten, gibt es rund 50 Beschuldigte in
diversen Verfahren. Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz gehört dazu. Die rechtspopulistische FPÖ ist derweil
laut Umfragen wieder zur stärksten Partei aufgestiegen. Von Walter Mayr

V
or Kurzem war sein Gesicht noch thaler will sich an diesem Tag noch einmal allem Straches Aussagen waren für österrei­
wienweit plakatiert. »Freiheit für auf der Bühne würdigen lassen als furchtloser chische Strafverfolger willkommenes Futter.
Julian Hessenthaler« forderte die Vorkämpfer gegen Korruption bei einem Auf­ In den vier Jahren seit Veröffentlichung des
Antifa. Jetzt steht er leibhaftig bei tritt im Wiener Volkstheater. Nur wenige Hun­ Videos haben sie um die 30 Terabyte an Roh­
Starbucks, und keiner erkennt ihn. dert Meter Luftlinie entfernt, im Landes­ daten zu diversen Ermittlungskomplexen zu­
Die Jahre in Haft haben ihn verändert. Hes­ gericht für Strafsachen, steht derweil das erste sammengetragen – das entspricht der Spei­
senthaler kommt um 15 Kilogramm schmaler frühere Regierungsmitglied vor dem Richter. cherkapazität von 45.000 CDs.
daher als bei unserem ersten Treffen. Damals, Ist das verkehrte Welt oder späte Gerech­ Einen Teil der Verfahren leitete die Staats­
im Herbst 2018, empfing er den SPIEGEL in tigkeit für die Ibiza-Schlüsselfigur? Nicht nur anwaltschaft ein, andere stützten sich auf ano­
einer Wiener Anwaltskanzlei – und ließ ver­ das Wochenblatt »Falter« rätselt, ob Hessen­ nyme Anzeigen. Hinzu kamen Zufallsfunde
schlüsselte Sequenzen des noch unveröffent­ thaler das Zeug zum Volkshelden hat – oder der Ermittler, zumeist dank verdächtiger
lichten Ibiza-Videos vorführen. ob er eher in die Geschichte eingehen sollte Textnachrichten auf beschlagnahmten Mobil­
Am 17. Mai 2019 veröffentlichten SPIEGEL als Hauptdarsteller eines »halbseidenen Pakts telefonen. »Ich liebe meinen Kanzler«, flöte­
und »Süddeutsche Zeitung« zeitgleich Aus­ unter ein paar Haberern aus der Wiener Halb­ te da etwa ein ehrgeiziger Finanzbeamter,
schnitte des Videos. Danach bebte im politi­ welt«. Schließlich verdiente er sein Geld einst dem wiederum aus Regierungskreisen im
schen Österreich die Erde. Die Erschütterun­ als privater Ermittler und verkehrte in zwei­ Cosa-Nostra-Sound versichert wurde, er wer­
gen wirken nach bis in die Gegenwart. Was felhaften Milieus – unter zwielichtigen Infor­ de in Sachen Karriere schon auf seine Kosten
mit einem Video begann, hat sich zu einem manten, Kundschaftern, Drogenhändlern. kommen: »Du bist Familie«.
Wust an Verfahren ausgewachsen. Seit Anfang April endgültig raus aus dem Anfangs ging es bei den Ermittlungen vor
Die im Sommer 2017 unter Hessenthalers Knast, nippt er nun im Starbucks an einem allem um den Verdacht auf illegale Partei­
Regie heimlich gefilmten Bilder aus der Villa Cold Brew Coffee und erzählt. Wie lebt er spenden und um Postenschacher. Dann ka­
auf Ibiza entlarvten die Pläne führender FPÖ- damit, plötzlich in aller Munde zu sein als der men immer neue Stränge hinzu. Geriet ein
Politiker: des Parteiobmanns Heinz-Christian Mann, der Österreichs ÖVP-FPÖ-Regierung Verdächtiger ins Taumeln, riss er ihm Nahe­
Strache und seines Spezis Johann Gudenus. in die Luft sprengen half? Der dazu beitrug, stehende mit.
Beide warben um Geld und Gunst einer an­ dass Sebastian Kurz zweimal aus dem Kanz­ Mehr als vier Dutzend Beschuldigte gibt
geblichen russischen Oligarchennichte – und leramt scheiden musste? »Auf der Bühne zu es mittlerweile in den diversen Verfahren, die
redeten sich dabei um Kopf und Kragen. stehen war nie mein Ziel«, sagt Hessenthaler, mit Ibiza ihren Ausgang nahmen. Von Ex-
Strache etwa schwadronierte, dass Groß­ »und mit einem Sturz des Bundeskanzlers Kanzler Kurz und seinem damaligen Vize
konzerne und vermögende Privatleute ver­ hatte ich zu keinem Zeitpunkt gerechnet.« Strache abwärts reicht die Palette über frühe­
deckte Spenden an Parteien ablieferten; dass Das Filmmaterial von Ibiza belegte, wie re Minister bis hin zu Managern milliarden­
Journalisten »die größten Huren auf dem die 2017 noch nicht in der Regierung ange­ schwerer Konzerne und zu Medienmagnaten.
Planeten« seien, mit deren Hilfe sich auch die kommenen FPÖ-Oberen ihren politischen Es droht ein Prozessmarathon mit ungewis­
FPÖ an die Macht »pushen« ließe; und dass Allmachtsfantasien freien Lauf ließen. Vor sem Ausgang: Ermittelt wird gegen die von
man, nicht nur bei der Vergabe öffentlicher Staranwälten flankierten ehemals Mächtigen
Aufträge, künftig »über alles« reden könne. der Republik. Die Vorwürfe lauten wahlwei­
Hessenthaler, der Organisator und Fallen­ se auf Bestechung und Bestechlichkeit sowie
steller, büßte nach Bekanntwerden der Auf­ Untreue, auf Amtsmissbrauch, Falschaussage
nahmen – allerdings nicht für das Video, des­ oder illegale Absprachen.
sen Veröffentlichung nicht strafbar war. Statt­

V
dessen wurde er von einem Gericht rechts­ orwiegend Politiker der konservativen
kräftig des Kokainhandels für schuldig befun­ Kanzlerpartei ÖVP sind betroffen. Hin­
den. Ein Vorwurf, den er bis heute bestreitet. zu kommen willfährige Spitzenbeamte,
»Ich habe mit Suchtmitteln nicht meinen die Untergebene zu gesetzeswidrigen Gefäl­
Lebenswandel bestritten«, so drückt Hes­sen­ ligkeiten angehalten haben sollen. »Vergiss
thaler es vorsichtig aus. Hinter dem Schuld­ nicht«, so formulierte es einer: »Du bist die
spruch vor Gericht vermutet er den Preis, den Hure für die Reichen.«
er zahlen musste – für die Aufdeckung der FPÖ-Politiker Gudenus, Hätte am Ende vor Gericht auch nur die
Missstände, die erst dank des Ibiza-Videos Strache auf Ibiza  Gerät einer Hälfte dessen Bestand, was Ermittlerinnen
ans Licht gekommen seien. ins Taumeln, reißt er und Ermittler der Wirtschafts- und Korrup­
Am Mittwoch jährt sich die Veröffent­ tionsstaatsanwaltschaft (WKStA) für bewie­
ihm Nahestehende mit
lichung des Videos zum vierten Mal. Hessen­ sen oder beweisbar halten, es ergäbe sich das

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 77


AUSLAND

Röntgenbild eines schwerst kranken entkräften zu können. Noch fällt es Frontmänner Strache und Gudenus
Patienten: der parlamentarischen Re- schwer, sich den jungen Politpensio- auf Ibiza die Staatskrise erst ausge-

W. Kerschbaummayr / APA / picture alliance


publik Österreich samt ihres führen- när auf der Anklagebank im Großen löst, sich aber längst wieder erholt
den Personals. Schwurgerichtssaal des Wiener Lan- hat, während nun die ÖVP-Eliten als
Wer begreifen will, welche Verhee- desgerichts vorzustellen. Und doch mindestens so korrupt erscheinen.
rungen das Ibiza-Video im Establish- drohen zwei Verfahren: eines wegen Entpuppt es sich also rückblickend
ment anrichtete, der fragt am besten Falschaussage, ein weiteres wegen als Schlag ins Wasser – dieses ur-
die Haupt- und Nebendarsteller der des Verdachts auf Untreue und Be- sprünglich gegen die rechtspopulisti-
Affäre. Man trifft sie in Wiener Kanz- stechlichkeit. Schmeichelhafte, teils sche FPÖ gerichtete »zivilgesell-
leien, Kaffeehäusern und Gerichts- zugunsten von Kurz frisierte Mei- schaftlich motivierte Projekt«, wie
sälen, in Wirtshäusern und in den nungsumfragen sollen mit Steuergel- Hessenthalers Mitstreiter, der Anwalt
Lounges der feineren Hotels. dern finanziert worden sein. Straf- Ramin Mirfakhrai, die Ibiza-Aktion
Im Park Hyatt, wo auch Strache
FPÖ-Partei- rahmen: bis zu zehn Jahre Haft. Der hochtrabend nannte? Zahlt am Ende
und Gudenus verkehren, sitzt ein chef Kickl ehemalige Regierungschef bestreitet die Kanzlerpartei ÖVP die Zeche,
sichtlich tiefenentspannter Mittdrei- »Mehr Paprika sämtliche Vorwürfe. während die oppositionelle FPÖ pro-
ßiger und lässt sich erst einmal eine im Asylrecht« Mehr noch, Kurz wirft der Justiz fitiert?
Cola Zero mit Eis und Zitrone kom- via Twitter pauschal »Rufmord« vor »Im breitesten Teil« der ÖVP sei
men: Der ehemalige Bundeskanzler und prophezeit im Fernsehen: »Die man sich in einem Punkt sicher, sagt
Sebastian Kurz erzählt von seinem Gerichtsentscheidung wird zu meinen über eine morgendliche Melange im
neuen Leben als global aufgestellter Gunsten ausgehen.« Bis es so weit ist, Kaffeehaus gebeugt ein maßgeblicher
Unternehmer und davon, wie sehr bricht der Regierungschef a. D., so oft Stratege der 2019 gestürzten ersten
ihn die neuen Aufgaben reizen: »Ich wie möglich mit Lebensgefährtin und Kurz-Regierung: dass es sich beim
bin wahnsinnig begeisterungsfähig«, Sohn im Schlepptau, zu Geschäfts- Ibiza-Video »um eine in Österreich
sagt Kurz. terminen im Ausland auf. historisch einzigartige parteipoliti-
Seinen ersten Sturz als Kanzler er- Immerhin tauscht Kurz sich mit sche Aktion zum Sturz einer Regie-
zwang unmittelbar nach Veröffent- seinem Nachfolger, Kanzler Karl rung handelte, wobei die Hintermän-
lichung des Ibiza-Videos ein parla- ­Nehammer, »weiter regelmäßig aus«, ner weiterhin gedeckt werden – ins-
mentarisches Misstrauensvotum: Die sagt einer aus dem innersten ÖVP- besondere von Herrn Hessenthaler«.
Koalition mit Straches Freiheitlicher Zirkel. Gerüchte über ein »Schatten- Belege für seine These von einer
Partei zerbrach. Gut vier Monate spä- kabinett«, das der junge, einst glän- linken Verschwörung liefert der Kon-
ter triumphal wiedergewählt, regier- zende Wahlsieger um sich herum ver- servative nicht. Das passt ins Bild
te Kurz weitere zwei Jahre, diesmal sammle für eine Rückkehr an die einer zunehmend von Misstrauen,
in einer Koalition mit den Grünen. Macht, entbehrten allerdings jeder Feindseligkeit und Lagerdenken ge-
Im Oktober 2021 trat er zurück, nach- Grundlage: »Unser wichtigstes Asset prägten politischen Landschaft. Der
dem bekannt geworden war, dass er zurzeit ist Nehammer«, sagt der ÖVP- Justizfall Hessenthaler habe sein Ver-
selbst Gegenstand weiterer staats­ Insider, »wir brauchen ihn – denn die trauen in den ganzen Rechtsstaat er-
anwaltlicher Ermittlungen ist – in der Partei ist ja erst mal im Eimer.« schüttert, sagt der smarte Anwalt
sogenannten Inseraten-Affäre, auch In der Tat: Jüngsten Umfragen zu- Oliver Scherbaum, der in einer schi-
sie ein Ausläufer der im Ibiza-Video folge liegt die von Affären gebeutelte cken Wiener Kanzlei residiert: Sein
wurzelnden Verfahren. Kanzlerpartei um etwa sechs Prozent Mandant sei vermutlich nicht wegen
In seiner neuen Rolle ist Kurz hinter der souverän führenden FPÖ des »fälschlich zur Last gelegten
unter anderem als »Global Strategist« des politischen Rechtsaußen Herbert Suchtgifthandels« verurteilt worden,
für den Silicon-Valley-Milliardär und Kickl – hinter jener Partei wohl­ sondern wegen seiner Rolle als Ibiza-
Trump-Unterstützer Peter Thiel unter- gemerkt, die durch den blamablen, Drahtzieher.
wegs, aber zunehmend auch im Na- alko­holgeschwängerten Auftritt ihrer Das von den Grünen geführte ös-
hen Osten. Er spricht darüber wie terreichische Justizministerium aber
einer, der seit ewigen Zeiten dabei ist. wollte trotz eklatanter Mängel in der
Österreichs Ex-Kanzler hat sich sein Beweisführung der Ankläger, sagt
neues Leben übergestülpt wie ein fri- Scherbaum, »mit diesem Fall nichts
sches Oberhemd – alles passt, nichts zu tun haben und hat alle Anträge wie
knittert. auch unsere Gnadengesuche abge-
Mit Talkshow-Auftritten, Inter- schmettert«. Skurrile Randnotiz: Hes­
views und Facebook-Posts ist Kurz sen­thalers vom Justizwesen enttäusch-
zuletzt spürbar in die Offensive ge- ter Rechtsbeistand vertritt auch
gangen. Am neuen Firmensitz, einem Bundes­kanzler Nehammer – in einem
herrschaftlichen Altbau an der Wie- Verfahren, bei dem es um den feucht-
ner Ringstraße, bewegt sich der Ex- fröhlichen, mit Blechschaden ausge-
Kanzler zwischen moderner Kunst gangenen Umtrunk zweier Personen-
und einem Beistellwagen mit edlem schützer nach einem Treffen mit Kanz-
Tobias Steinmaurer / APA / picture alliance

Gin. Drum herum tummeln sich Ex- lergattin Katharina Nehammer geht.
perten, die ihm schnell eine due An süffigen Episoden, im engeren
­diligence liefern können, und ver- wie im übertragenen Sinn, ist in der
diente Weggefährten – darunter der österreichischen Innenpolitik tradi-
frühere Finanzminister, der Ex-Kabi- tionell kein Mangel. Während in Inns-
nettschef und weitere Vertraute. bruck gerade eine grüne Abgeordne-
Kurz sagt, er freue sich regelrecht Ibiza-Drahtzieher Hessenthaler  »Kein te unter Beschuss steht, weil sie ihr
darauf, endlich vor Gericht die »ab- Baby im Plenarsaal gestillt hat, mit
dauerhaftes Image als Sprengmeister«
surden Vorwürfe« gegen seine Person einer Bierflasche (alkoholfrei) in

78 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


AUSLAND

Griffweite, kämpft in Wien Heinz-Christian entstammt, lauscht anfangs scheinbar unge-


Strache weiter gegen seinen durch Bedeu- Comeback der FPÖ rührt dem Staatsanwalt, der ihr nackte Gier
tungsverlust bedingten Dauerkater. Die Fol- unterstellt. Später fließen Tränen, und sie ver-
gen jenes Abends mit der falschen Oligar- »Welche Partei würden Sie wählen, wenn am weigert die Aussage mit Verweis auf die
kommenden Sonntag Nationalratswahl wäre?«,
chennichte, den er rückblickend als »b’soffe- Antworten »FPÖ« und »ÖVP« in Prozent »Traumata«, die sie und ihre Familie während
ne G’schicht« bezeichnete, haben ihn neben der Ermittlungen davongetragen hätten.
dem Amt erkennbar auch Würde gekostet. FPÖ ÖVP Den theatralisch dozierenden Oberstaats-
anwalt beeindruckt das wenig. Er gibt sich

D
Veröffentlichung des Ibiza-Videos
er ehemalige Vizekanzler scheint nach jede erdenkliche Mühe, die »Millionärin«
zwei – gewonnenen – Gerichtsverfah- 40
Karmasin vorzuverurteilen: Die erdrückende
ren finanziell in Schwierigkeiten ge- 37,5 Beweislage gegen die Ex-Ministerin vergleicht
raten zu sein. Wiederholte Spendenaufrufe er mit dick eingekochter Suppe – »wenn man
30
via YouTube legen das nahe. Von einem Pri- Ergebnis der 28,4 den Löffel auslässt, bleibt er stehen«.
vatsender ließ sich Strache gar dazu überre- Nationalratswahl Das Urteil gegen Karmasin wird noch im
20 23,0
den, noch einmal in die mittlerweile legendä- Mai erwartet, ihr drohen bis zu drei Jahre
re Finca auf Ibiza zurückzukehren, in der das Haft. Auch gegen Ex-Kanzler Kurz ermittelt
10 16,2
Unglück für ihn seinen Lauf nahm. »Viele derselbe Ankläger. Er rühmt sich, dabei ge-
Gerüchte, die ich damals hier dargelegt habe«, wesen zu sein, als bei einer Hausdurchsu-
0
sagte er dabei in die Kamera, »dürften ja ge- chung die ausrangierte Festplatte eines hoch-
stimmt haben.« 2019 2020 2021 2022 2023 rangigen Beamten entdeckt wurde: quasi die
Die Staatsanwälte gehen den von Strache S Quelle: PolitPro; gewichtete wöchentliche Durchschnitts-
Goldader im Ibiza-Komplex, die Quelle Hun-
gelegten Fährten gewissenhaft nach. Bisher derttausender Textnachrichten.
ƒ

werte; jüngster Befragungszeitraum vom 30. April bis 7. Mai


allerdings wurde ein großer Teil der eingelei-

W
teten Verfahren eingestellt. Auch viele An- auf dem besten Weg nach ganz oben in Öster- ie gehen Kanzler Nehammer und sei-
zeigen erwiesen sich als nicht zielführend. Die reich und in Moskau organisatorisch verban- ne ÖVP um mit dieser Drohkulisse?
WKStA wird in den kommenden Monaten delt mit der Kremlpartei »Einiges Russland«. Rückschläge an der Wahlurne beant-
auf Schuldsprüche hoffen müssen, um sich Gudenus hatte sich als Wahlbeobachter auf wortet die Partei mit wachsender Annäherung
nicht wegen überbordenden Ermittlungseifers die besetzte Krim fliegen lassen. an die FPÖ des Demagogen Herbert Kickl.
angreifbar zu machen. Über den Fallensteller Hessenthaler, der Wie bereits in Ober- und Niederösterreich
Neben Sebastian Kurz sind unverändert ihn die politische Karriere gekostet hat, will wird künftig wohl auch im Land Salzburg eine
zahlreiche weitere Ehemalige von einer An- der gefallene Politiker heute nicht mehr reden. ÖVP-FPÖ-Koalition regieren. Im gesamten
klage bedroht: der engste Berater, der Me- Höchstens so viel: »Ich bin mir fast sicher, Norden der Republik bestimmen dann auf
dienbeauftragte, einer der Pressesprecher, dass nach mir noch viele andere auf den he- Länderebene Kickls Freiheitliche mit – eine
dazu mehrere Ex-Minister, der amtierende reingefallen sind.« Partei, die »mehr Paprika im Asylrecht« for-
Nationalratspräsident sowie die Kanzlerpar- Was auf die Öffentlichkeit demnächst noch dert und offen das Modell Ungarn unter
tei ÖVP als Ganzes; der Milliardär René Ben- zukommen könnte, deutet sich an, als an ­Viktor Orbán als Vorbild bezeichnet.
ko wie auch der Investor und Porsche-Auf- einem Dienstagmorgen im April Sophie Kar- In Linz versetzte bis zum Bekanntwerden
sichtsrat Siegfried Wolf sind wegen Beste- masin den Großen Schwurgerichtssaal im des Ibiza-Videos Heinz-Christian Strache als
chungsverdachts im Visier. Wiener Landesgericht betritt. Die ehemalige FPÖ-Chef das Bierzelt am Maifeiertag in
Auch dem Ex-Vizekanzler Strache, der an- Familienministerin ist die Erste aus dem ÖVP- Wallung. Diesmal war es an Herbert Kickl,
gibt, sich seinen Anwalt »nicht mehr leisten« Dunstkreis, die Regierungsverantwortung für Stimmung unter den 5000 Zuhörern zu
zu können, droht weiteres Ungemach. Nicht trug und der nun der Prozess gemacht wird. sorgen: Es werde bald »ein anderer Wind
zuletzt in der sogenannten Spesenaffäre: Sie Es geht dabei, unter anderem, um einen zen- wehen in diesem Land«, nichts und niemand
dreht sich um den Verdacht, der damalige tralen Strang des Ibiza-Strafakts – um die könne seine FPÖ noch stoppen, dröhnte der
FPÖ-Chef habe sein Privatleben in erhebli- Causa Umfragen. Parteiobmann. Als »Volkskanzler« nach den
chem Umfang mit Parteigeldern finanziert. Karmasin, angeklagt des schweren Betrugs, Nationalratswahlen im kommenden Jahr
Strache bestreitet die Vorwürfe. Einer seiner war vor ihrem Eintritt in die Politik als Mei- wolle er die Außengrenzen so gut es geht
ehemaligen Leibwächter aber soll im Besitz nungsforscherin tätig. An diesem Morgen hat dicht ­machen: »Bauen wir die Festung Öster-
belastenden Beweismaterials sein. sie sich zu verantworten wegen des Verdachts, reich.«
Apropos, wie geht es eigentlich Johann Ausschreibungsverfahren zum eigenen Vorteil Könnte der FPÖ-Krawallmacher tatsäch-
Gudenus? Er war der zweite FPÖ-Hauptdar- manipuliert und unrechtmäßig Überbrü- lich Kanzler werden? Oder ist vorher noch
steller auf Ibiza, berühmt geworden nicht zu- ckungsgelder kassiert zu haben. eine weitere Enthüllung Marke Ibiza zu er-
letzt durch die fast schon ikonische Filmauf- Die in elegantem Hosenanzug angetretene warten? Er habe sich, sagt der Drahtzieher
nahme, in der er mit durchgestrecktem rech- Angeklagte, die bestem Wiener Bürgertum Hessenthaler, zuletzt wieder mit Ramin Mir-
ten Arm einen Pistolenschuss simuliert. fakhrai ausgetauscht, dem Mitstreiter beim
Gegen den Mann, den Strache »Joschi« gemeinsamen Coup 2017 auf den Balearen.
ruft, wird ebenfalls bisher erfolglos ermittelt. Geheimtreffen mit Spezialbrillen Den Wiederaufstieg der Rechten fänden sie
Der frühere geschäftsführende Fraktionschef Als im Herbst 2018 das erste Geheimtreffen beide beunruhigend.
hat sich nach Veröffentlichung des Videos aus mit den Drahtziehern des Ibiza-Videos »Ich hatte nie die Hoffnung, dass Ibiza
der Politik zurückgezogen. Seit Langem kur- in Wien anstand, war SPIEGEL-Redakteur die Welt ändern wird«, aber immerhin sei
sierende Gerüchte um seinen Kokainkonsum Walter Mayr mit von der Partie: Handys eine Atempause im Kampf gegen den euro-
tat er launig als »Schnee von gestern« ab und mussten draußen bleiben, Spezialbrillen päischen Rechtspopulismus erreicht wor-
konzentriert sich seither auf sein neues Leben zum Betrachten der verschlüsselten Se- den,  tröstet sich Hessenthaler. Für künf­
als Unternehmensberater. quenzen wurden verteilt. Einem SPIEGEL-­ tige »zivilgesellschaftlich« motivierte Ope-
Bei einem Tee in der Wiener Innenstadt Titelstück im Mai 2019 folgten zahlreiche rationen von Wien aus stehe er selbst aber
wirkt Gudenus, als habe er die Gedanken an Geschichten. Nun, kurz vor dem vierten nicht mehr zur Verfügung: »Ich will mir hier
Ibiza weit hinter sich gelassen. Dabei war man Jahrestag, traf Mayr Hauptdarsteller dieser kein dauerhaftes Image als Sprengmeister
mit der FPÖ doch damals, im Sommer 2017, sehr österreichischen Affäre wieder. aufbauen.« n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 79


AUSLAND

sei eine »gefühlsmäßig verständ­


liche, aber törichte Auffassung, die
sehr ernsthafte Konsequenzen ­haben
könnte«, so Schmidt. Auch der
­damalige Bundespräsident ­Joachim

Im Eifer der Staatsräson


Gauck äußerte 2012 bei einem
Staatsbesuch in Jerusalem Vorbehal-
te gegenüber Merkels Worten: »Ich
will mir nicht jedes Szenario ausden-
ken, welches die Bundeskanzlerin in
ESSAY  75 Jahre nach der Gründung geht die größte Gefahr für Israels Sicherheit enorme Schwierigkeiten bringen
von seiner eigenen rechtsnationalistischen Regierung aus. Es ist könnte mit ihrem Satz.« Ungeachtet
dieser Bedenken darf Merkels Pos­
auch für die deutsche Politik höchste Zeit, Israel nicht mehr nur als Symbol tulat seither in kaum einem offi­
zu behandeln, ­sondern als realen Staat. Von Meron Mendel ziellen Dokument, einer Rede oder
Stellungnahme zu Israel fehlen.
Dabei beruht das Konzept der

K
ampfjets donnern über Jeru- ßen Teilen aller Fraktionen mitge- Staatsräson auf einem vordemokra-
salem hinweg. Einer davon: tragene BDS-Resolution des Deut- tischen Gedanken: Staatsräson,
der Eurofighter EagleStar 2 schen Bundestags von 2019 zeigt. am prominentesten beschrieben
W. Kumm / picture alliance / dpa

der deutschen Luftwaffe, Seite an Gibt man das Schlagwort »Isra­ durch den florentinischen Staatsden-
Seite mit israelischen Flugzeugen. el« im Dokumentations- und Infor- ker Niccolò Machiavelli, bedeutet
Als »Geschenk an das israelische mationssystem des Bundestags ein, ursprünglich, dass ein Staat seine
Volk und beeindruckendes Symbol taucht es von 1949 bis 2005 etwa (Macht-)Interessen durchsetzen darf
unserer deutsch-israelischen 70- bis 450-mal pro Legislaturperi­ und soll, selbst wenn dies die Verlet-
Freundschaft« bezeichnete der ode auf. Gleich in Merkels erster zung von Rechten einzelner Bürger
deutsche Botschafter Steffen Seibert Amtszeit wird Israel 863-mal, also beinhaltet oder den Bruch von Ge-
Mendel, Jahrgang in einem Tweet diese Demonstra- mehr als doppelt so oft in Gesetzen, setzen, da das Staatswohl wichtiger
1976, wuchs in Israel tion militärischer Stärke anlässlich Anträgen, Fragen an die Regierung sei als das Wohl des Einzelnen. Da-
auf und lebt seit
2001 in Deutschland. des 75. Nationalfeiertags am und Reden im Plenum erwähnt – in mit steht die Staatsräson eigentlich
Er ist Professor für 26. April. Nur über den besetzten ihrer letzten Amtszeit (2017 bis dem Rechtsstaat entgegen. Da das
transnationale palästinensischen Gebieten wich 2021) sogar 2138-mal. Grundgesetz die Wahrung der Men-
So­ziale Arbeit und Deutschland kurz von Israels Seite – Wenn nächstes Jahr Merkels schenwürde und die Grundrechte
Direktor der
Bildungs­stätte Anne bis zum Bruch von Völkerrecht politische Memoiren erscheinen, garantiert, war in bundespolitischem
Frank in Frankfurt reicht die zur deutschen Staatsräson werden die Leser vielleicht erfah- Zusammenhang lange nicht von
am Main. Sein neues erhobene Verpflichtung für Israels ren, ob es ein Zufall ist, dass gerade einer Staatsräson die Rede. Warum
Buch »Über Israel Sicherheit dann doch nicht. die in der israelfeindlichen DDR griff Angela Merkel wohl ausge­
reden. Eine deutsche
Debatte« (Kiepen- Als Benjamin Netanyahu im ­sozialisierte Bundeskanzlerin die rechnet auf dieses Konzept zurück,
heuer & Witsch) März zum offiziellen Besuch nach Freundschaft zu Israel mehr als je- um die Verbundenheit zu Israel zum
wurde für den Deutschland reiste, sammelten sich der ihrer Vorgänger zum Eckpfeiler Ausdruck zu bringen?
Deutschen Sach- auch vor der deutschen Botschaft in ihrer Außenpolitik gemacht hat.

E
buchpreis 2023
nominiert. Tel Aviv israelische Protestierende Im Zentrum von Merkels Verständ- ine nähere Betrachtung bietet
und überreichten Angela Merkels nis der deutschen Beziehung zu dafür Erklärungen an. Merkel
früherem Sprecher Seibert ihre For- ­Israel stand die Selbstverpflichtung reagierte auf die Tatsache,
derung, den israelischen Regierungs- zur Sicherheit des Landes als Teil dass eine Verbundenheit mit Israel
chef auszuladen. Spätestens jetzt, der deutschen Staatsräson. So hatte in der ­Gesellschaft nie fest veran-
da in Jerusalem Rechtsextremisten sie es schon 2007 vor den Vereinten kert war, indem sie eine Verpflich-
mitregieren, stellt Merkels politi- Nationen verkündet, geschichts- tung zum Land praktisch staatlich
sches Erbe eine erhebliche Heraus- trächtig war jedoch ihre Rede am verordnete. Während die Bedeu-
forderung für Deutschlands Bezie- 18. März 2008 vor der Knesset in tung Israels im politischen Diskurs
hung zu Israel dar. Denn Merkels Jerusalem. In dieser Rede bezog der Bundesrepublik über die Jahre
Ära waren goldene Jahre für Israel sich Merkel auf »jede Bundesregie- wuchs, blieb das Interesse der
in der deutschen Politik. Kein rung und jeden Bundeskanzler vor ­deutschen Gesellschaft für das reale
­Bundeskanzler vor ihr war so oft in mir«, die der besonderen histori- Israel – für seine Geschichte und
Israel: achtmal und damit sogar schen Verantwortung Deutschlands Menschen – überschaubar. Als
doppelt so oft wie alle ihre Vorgän- für die Sicherheit Israels verpflichtet Deutsche in Langzeitumfragen des
ger seit Gründung der Bundesrepu- gewesen seien, um dann Israels Allensbach-Instituts seit Anfang
blik zusammen. Zwei Jahre nach ­Sicherheit zum »Teil der Staats­ der Fünfzigerjahre danach befragt
Merkels Amtsantritt starteten die räson meines Landes« zu erklären. wurden, mit welchen Ländern
regelmäßig abgehaltenen Regierungs- Dies dürften, so Merkel weiter, Deutschland möglichst eng zusam-
konsultationen, um »die einzigarti- »in der Stunde der Bewährung keine menarbeiten sollte, landete Israel
gen Beziehungen zwischen Israel leeren Worte bleiben«. fast immer auf dem letzten oder
und Deutschland politisch zu festi- Dass diese Formulierung keines- vorletzten Platz. Trotz zahlreicher
gen«. Es ist ihr ebenfalls zu verdan- falls eine Fortsetzung der Israel­ staatlich geförderter Jugendaus-
ken (oder anzulasten), dass die ma- politik aller Bundeskanzler vor Mer- tauschprojekte und Bildungsreisen
nifestierte Loyalität zu Israel zum kel war, stellte Altbundeskanzler sind nur sieben Prozent der
parteiübergreifenden Konsens wur- Helmut Schmidt klar. Für Israels ­Deutschen tatsächlich schon mal
de, wie beispielsweise die von gro- ­Sicherheit mitverantwortlich zu sein dort ­gewesen, so eine Studie der

80 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


AUSLAND

Bertelsmann Stiftung von 2022. Die Es ist falsch, Solidarität« mit Israel, während sei­ Im Eifer des Kampfs für die
Freundschaft zu Israel blieb also ein ne Parteigenossin ­Beatrix von Staatsräson vergessen deutsche
Projekt eines gehobenen politischen wenn die Storch über den importierten Juden­ Politiker zudem gerne mal, dass
und kulturellen Milieus, jenseits des Diskussion hass aus dem Nahen Osten raunte. ­Israel nicht nur ein Symbol ist.
Interesses der breiten Gesellschaft. Auch unter den Kritikern Israels Israel ist ein realer Staat, der seit
Zugleich diente Israel der deut­
über die paläs­ sind unschwer solche zu finden, die mehr als fünf Jahrzehnten die paläs­
schen Politik und Öffentlichkeit als tinensischen damit einen Umweg für antisemiti­ tinensischen Gebiete im Westjor­
Projektionsfläche. Die Unterstützung
Israels wurde zum Symbol des demo­
Positionen nur sche Ressentiments finden. Erinnert
sei an den 2003 verunglückten
danland und Ostjerusalem besetzt.
Vergessen wird auch, dass etwa
kratischen, toleranten und ­liberalen unter dem FDP-Spitzenpolitiker Jürgen Mölle­ 200.000 Palästinenser in Deutsch­
Selbstverständnisses, zum inzwi­ Aspekt Anti­ mann, der fünf Tage vor der Bun­ land leben. Dass viele von ihnen
schen wichtigsten Teil des deutschen destagswahl 2002 acht Millionen Hass gegen Israel verspüren, ist un­
Projekts der »Vergangenheitsbewäl­ semitismus Flugblätter verschicken ließ, auf angenehm, aber mit etwas Empa­
tigung«. Mit dem Fall der Mauer und verhandelt denen der israelische Premier Ariel thie verständlich. Gewiss wünschen
dem Ende des Kalten Kriegs nahm Sharon abgebildet war. Oder an den sich viele Palästinenser einen wirk­
das Beschwören der deutsch-israeli­
wird. Literaturnobelpreisträger Günter samen Boykott der israelischen
schen Freundschaft eine immer grö­ Grass, der 2012 in einem »Gedicht« ­Besatzungsmacht. Es stellt sich da­
ßere Rolle in der deutschen Außen­ von Israel als Gefahr für den Welt­ mit auch die grundsätzliche Frage,
politik ein. Sie galt nicht zuletzt auch frieden schwadronierte. wie die (deutsche) Öffentlichkeit
als Beweis der moralischen Über­ mit diesen Stimmen umgeht – so

S
legenheit der Bundesrepublik gegen­ elbst wenn es uns nicht gefällt, einseitig sie auch sein mögen. Es ist
über der antiisraelischen DDR. sind solche Formen der Instru­ falsch, wenn die Diskussion darü­
Nachdem der Feind nicht mehr auf mentalisierung von der Mei­ ber, welche der vielen palästinensi­
der anderen Seite der Berliner Mauer nungsfreiheit geschützt. Diese basa­ schen Positionen legitim und beden­
stand, wurde diese Selbstvergewisse­ le ­Erkenntnis haben alle Fraktionen kenswert sind, fast ausschließlich
rung, auf der moralisch richtigen Sei­ des Bundestags außer Acht ge­lassen, unter dem Aspekt Antisemitismus
te zu stehen, umso wichtiger. als sie 2019 für die BDS-­Resolution und der deutschen Verbundenheit
Wenn aktuell in Deutschland gestimmt haben. So rief der Bun­ zu Israel verhandelt wird.
über Israel gestritten wird, geht es destag mit Verweis auf die Staatsrä­ Fünfzehn Jahre nach Angela
weniger um Israel selbst. Vielmehr son dazu auf, keine Orga­nisationen Merkels Rede vor der Knesset kann
erleben wir, dass sowohl die Freund­ oder Personen zu fördern, die die und muss das Postulat der Staats­
schaft als auch die Feindschaft ­israelfeindliche Boykottkampagne räson kritisch hinterfragt werden.
gegenüber dem jüdischen Staat der BDS unterstützen. Seitdem urteilten Mit Blick in die Geschichte mag
moralischen Selbstvergewisserung mehrere Gerichte bis hoch zum die Selbstverpflichtung für Israels
dient. So findet man ganz vorn Bundesverwaltungsgericht gegen die Sicherheit moralisch nachvollzieh­
Deutscher Euro­
unter den Freunden Isra­els die AfD, fighter und israeli­
Umsetzung des BDS-Beschlusses bar sein. Ausgespart wurde von
die damit die Ausgrenzung von scher F-16-Kampfjet in verschiedenen Städten. Erst kürz­ Merkel und weiteren deutschen
­Migranten legitimieren will. Als im bei Flugshow über lich wurde die Entscheidung der Amtsträgern seitdem jedoch die Fra­
Mai 2021 der Konflikt zwischen Tel Aviv am 26. April Stadt Frankfurt vom Gericht kas­ ge, was Israel tun oder unterlassen
­anlässlich des
­Israel und Gaza eskalierte, verkün­ 75. Jahrestags der
siert, ein Konzert des Pink-Floyd- sollte, damit diese Garantie in Zu­
dete der damalige Parteichef Jörg Staatsgründung Gründers Roger Waters wegen des­ kunft bestehen kann. Das Verspre­
Meuthen seine »unverbrüchliche Israels sen BDS-Unterstützung abzusagen. chen wurde nicht an Bedingungen
geknüpft, etwa an das Fortbestehen
der isra­elischen Demokratie. Im
Jahr 2008 schien es vermutlich nicht
vorstellbar, dass Israels De­mokratie
so fragil ist, wie sie sich heute zeigt.
Aktuell geht die Gefahr für die
Sicherheit Israels nicht nur von den
­arabischen Nachbarländern oder
Iran aus – sondern an erster Stelle
von der eigenen ultranationalis­
tischen und religiös-fundamentalis­
tischen Regierung, in der mit
dem Minister für »nationale Sicher­
heit«, Itamar Ben-Gvir, ein vor­
bestrafter jüdischer Rechtsextremist
den Ton angibt.
Als Benjamin Netanyahu im
März nach Berlin kam, durfte in der
Ansprache von Bundeskanzler
Christian Timmig / Bundeswehr

Olaf Scholz das Bekenntnis zur deut­


schen Staatsräson natürlich nicht
fehlen. Es mag eine Ironie der Ge­
schichte sein, dass die derzeit
größte Bedrohung für Israels Sicher­
heit in diesem Moment direkt
neben dem Bundeskanzler stand. n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 81


AUSLAND

Drei Welten von Xinjiang


CHINA  Hunderttausende Uiguren hat die Staatsmacht in den vergangenen Jahren in Umerziehungslager
­ esteckt. Nun scheint sie auf eine andere Strategie der Unterdrückung zu setzen. Eine Reise in ein touristisches
g
Wunderland, in dem die uigurische Kultur vor allem Kulisse ist. Von Georg Fahrion und Gilles Sabrié (Fotos)

I
n einer ehemaligen Moschee in der Stadt Seitdem hat sich in Xinjiang einiges ver- Xiang Fei, die »duftende Konkubine«, war
Kashgar warten zwei Baby-Kamele auf ändert. Die Repression ist nicht verschwun- die einzige Uigurin im Harem von Kaiser
Kundschaft. Sie stehen in einem kleinen den. Sie sieht jetzt aber anders aus. ­Qianlong. Wegen ihres betörenden Körper-
Gehege im Innenhof, neben einem Make-up- Eine Woche lang reist ein SPIEGEL -Team geruchs hatte er sich in sie verliebt, so die
Studio und Schaufensterpuppen in bunten Ende April durch Xinjiangs Süden. Am Rand chinesische Legende. Um ihr Heimweh zu
Trachten. Die Kamele sind Staffage für einen der Wüste Taklamakan entlang geht es von lindern, baute er ihr in Peking eine Moschee
Trend, den Touristinnen aus anderen Landes- Korla über Hotan bis nach Kashgar. Im und einen Basar, den sie von ihrem Palast-
teilen Chinas lieben: Sie kostümieren sich als ­südlichen Xinjiang ist der Bevölkerungsanteil fenster aus betrachten konnte. Die uigurische
Uiguren-Prinzessinnen, um sich so ablichten der Uiguren höher als im Norden, ihre Kultur Überlieferung ist weniger romantisch: Ihr zu-
zu lassen. Das Fotostudio in der ehemaligen ist dort traditionell stark. Als die Unter­ folge widersetzte Xiang Fei sich Qianlong und
Moschee hat sich auf solche »ethnische« Rei- drückungskampagne am rabiatesten war, wurde schließlich vergiftet.
sefotografie spezialisiert. Es scheint nicht wirkte dieser Landesteil wie im Belagerungs- Letztere Version findet keine Erwähnung
schlecht zu laufen. zustand. in dem 45-minütigen Musical, das in einem
In der Volksrepublik gilt Xinjiang zuneh- Jetzt scheint es, als würden in Xinjiang drei Theater am Eingang des Parks aufgeführt
mend als attraktives Reiseziel, nach dem Ende Welten gleichzeitig existieren: ein Wunder- wird. Zwar sind ihre Freunde zunächst be-
der Null-Covid-Politik reisen die Chinesen land voll orientalistischem Kitsch, zurecht- trübt, als Xiang Fei von Gesandten aus Peking
wieder ausgiebig. Allein während der fünf gemacht für Touristen. Eine Schattenwelt abgeholt wird. Doch dann ruft einer der Dar-
Ferientage Anfang Mai verzeichnete die Re- fortgesetzter Repression, wenngleich sie steller, dass der Abschied doch ein Anlass zur
gion acht Millionen Besucher, ein Plus von schwerer zu erkennen ist als noch vor ein paar Freude sei: »Sie darf die Hauptstadt betreten
140 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeit- Jahren. Und eine Zwischenwelt, in der wohl und sich dem Kaiser nähern. Das bringt den
raum. Damit lag der Zuwachs doppelt so hoch die meisten Uiguren leben: nicht mehr der Ahnen Ruhm und wird definitiv die Einheit
wie im nationalen Durchschnitt. absolute Ausnahmezustand, und doch weit fördern!« Fröhliche Musik bricht los, die Ui-
Im Westen dagegen wird Xinjiang vor entfernt von Normalität. guren vollführen einen Freudentanz.
­allem mit der Unterdrückung der Uiguren Pädagogik nach Pekings Geschmack: eine
assoziiert. Nachdem Peking 2014 seine »Hart Wunderland Uigurin, die sich der nationalen Einheit zu-
zuschlagen«-Kampagne losgetreten hatte, Am Rande von Kashgar erhebt sich das Mau- liebe der Zentralmacht unterwirft – die sich
wurden Hunderttausende Frauen und Män- soleum von Afak Hodscha. Eine Kuppel über- im Gegenzug rührend um sie kümmert. Das
ner in Internierungslager verfrachtet, andere wölbt das Gebäude aus dem 17. Jahrhundert, Publikum im Theater applaudiert. Dann ge-
Schätzungen sprechen von mehr als einer Sonnenlicht schimmert auf den glasierten hen die Touristen hinaus in den Park, essen
Million Verschleppten. Die Xinjiang Police Ziegeln, mit denen die vier Minarette ver- Schweinswürstchen und reiten Straußenvögel
Files, geleakte Polizeiakten aus den Lagern, kleidet sind. Drum herum hat man einen weit- mit kleinen bestickten Sätteln.
die der SPIEGEL und weitere Medien 2022 läufigen Park mit Rosenrabatten angelegt. Offenkundig ist man in Kashgar bemüht, die
veröffentlichten, waren ein weiterer Beleg Pilgerfahrten an die Ruhestätte des Sufi-Meis- Anweisungen umzusetzen, die Chinas Staats-
für Vorgänge, zu denen die damalige Uno- ters sind seit Jahren untersagt, dafür kommen und Parteichef ausgegeben hat: »Wir sollten die
Menschenrechtschefin befand, sie könnten nun Reisegruppen, und das hat mit Afak Hod­ chinesische Kultur voll zur Geltung bringen,
»Verbrechen gegen die Menschlichkeit« dar- schas berühmtester Nachfahrin zu tun. um Gemeinsamkeiten zu finden, indem wir zei-
stellen. gen, was man sehen und anfassen kann«, sagte
Die Repression war am schlimmsten, nach- der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping
MONGOLEI
dem 2016 der Hardliner Chen Quanguo als im Juli 2022 bei einem Besuch in Xinjiang.
Parteisekretär in Xinjiang übernommen hat- China
Es war das erste Mal seit Beginn der Re-
te. Er war der Mann fürs Grobe, vorher hatte pressionswelle 2014, dass Xi sich dort blicken
er schon in Tibet für Friedhofsruhe gesorgt. ließ. Man konnte das als Siegestour interpre-
Doch inzwischen hat der 67-Jährige seinen KASACHSTAN
REGION tieren, als Signal, dass er der Ansicht ist, die
XINJIANG
Posten abgegeben. Bevölkerung sei nun ausreichend eingenor-
Sein Nachfolger hat ein ganz anderes KIRGISISTAN det. Auch sein neuer Statthalter äußert sich
Korla
Image: Ma Xingrui hat sich nicht im Sicher- entsprechend. »Die Menschen aller ethni-
heitsapparat einen Namen gemacht, sondern schen Gruppen folgen dem wunderbaren Plan
Kashgar
in der Raumfahrt. Der promovierte Ingenieur CHINA von Präsident Xi Jinping, eine hochwertige
verantwortete 2013 die erste erfolgreiche Lan- Karakax
Entwicklung voranzutreiben«, sagte Ma Xing-
dung einer chinesischen Sonde auf dem Hotan rui erst vor wenigen Wochen. »Die allgemei-
Mond. Zuletzt diente er in der vergleichswei- 500 km ne soziale Lage in Xinjiang ist stabil.«
se weltoffenen, gut entwickelten Küstenpro- Viele der Polizeiwachen, wie Schuhschach-
vinz Guangdong als Gouverneur. S Grafik, Karte: OpenStreetMap teln alle paar Hundert Meter an die Straßen-


82 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


AUSLAND

2 3

1 | Chinesinnen in den Nationalfarben in Hotan  2 | Familien in neu angelegtem Park in einem Neubauviertel von Kashgar 
3 | Uigurische Tänzerin vor Touristen in einem Teehaus in Kashgar

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 83


AUSLAND

1 ränder gesetzt, sind tatsächlich verlassen, ihre


Metalltüren verrammelt. An Markttoren und
den Zugängen zur Altstadt von Kashgar ste-
hen zwar noch Sicherheitsschleusen, doch die
Metalldetektoren piepen nicht, sie sind aus-
geschaltet. Gelangweilte Wachmänner be-
schäftigen sich mit ihren Handys.
Würden sie ihren Job ernster nehmen, sie
kämen wohl kaum hinterher, so groß ist das
Gewühl in der Fußgängerzone der Altstadt.
Kein Meter ohne Imbissstand. Spätnachts fin-
det in einem neu angelegten Park eine Licht-
show inklusive tanzender Wasserfontänen
statt; der Morgen beginnt damit, dass vor dem
Hotel Böller gezündet werden.
Statt den Sicherheitsleuten gehört Kashgar
nun den Touristen. Ein derart konsumierba-
res, domestiziertes – wie Peking sagen würde:
entwickeltes – Kashgar gab es nie. Die uigu-
rische Stadt von einst dagegen erlischt.

Orte im Dunkel
Massentourismus und Masseninhaftierungen
2
schließen einander wohl nicht aus. Die Hoch-
sicherheitseinrichtung liegt nordwestlich von
Hotan zwischen Sanddünen in der Wüste.
»Treue zur Partei, strikte Disziplin«, ein Zitat
aus einem Schwur der chinesischen Polizei,
steht in roten Schriftzeichen auf dem Flach-
dach. Und dann: Gebäudereihen hinter einer
hohen Mauer, davor ein Zaun, Stacheldraht,
Elektrodraht, ein Wachturm.
Könnte ein reguläres Gefängnis sein. Oder
eines der berüchtigten Internierungslager?
So oder so ist die Wahrscheinlichkeit hoch,
dass dort überproportional viele Uiguren ein-
sitzen, die nicht nach rechtsstaatlichen Prin-
zipien verurteilt wurden.
Zwar hat China schon Ende 2019 behaup-
tet, all jene, die in den offiziell als »Ausbil-
dungszentren« beschönigten Lagern festge-
halten wurden, hätten »ihren Abschluss ge-
macht«, seien also freigelassen worden. We-
niger gern spricht Peking über den Umstand,
dass sich um dieselbe Zeit die Zahl der Straf-
3 verfolgungen in Xinjiang vervielfacht hat.
Das geht aus den eigenen statistischen Ver-
öffentlichungen der obersten Staatsanwalt-
schaft der Region hervor. Eröffnete sie 2016
rund 41.000 Strafverfahren, sprang die Zahl
im Jahr darauf auf mehr als 215.000 – da hat-
te der Hardliner Chen Quanguo gerade in
Xinjiang übernommen. Insgesamt wurde zwi-
schen 2017 und 2021 rund 540.000 Menschen
hier der Prozess gemacht. Und rund 99 Pro-
zent der Gerichtsverfahren in China enden
mit einem Schuldspruch. Die Justiz untersteht
offiziell der Kommunistischen Partei.
Hunderttausende derer, die ursprünglich
willkürlich in einem Lager festgehalten wur-
den, dürften also abgeurteilt sein – aus Chinas
Sicht handelt es sich jetzt bei ihnen um ge-
wöhnliche Kriminelle.
Bloß sitzen sie nun womöglich an anderen
Orten ein. 2020 erregte eine Recherche des
Australian Strategic Policy Institute (Aspi)
1 | Mao-Statue in Kashgar  2 | Touristisches Kamelreiten, Polizeipatrouille in Kashgar weltweit Aufsehen. Die Forscher sichteten
3 | Heytgah-Moschee in Kashgar Tausende Satellitenbilder von Xinjiang bei

84 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


AUSLAND

»Die Menschen aller hier? Ihre Unbekümmertheit lässt vermuten,

­ethnischen Gruppen folgen


dass sie sich nicht vor Ärger sorgen, wenn sie
mit uns gesehen werden. ALS
dem wunderbaren Plan Einer von ihnen arbeitet in einer Fleisch-
fabrik und berichtet, dass er pro Tag 30 Scha- DEUTSCHLAND
von Präsident Xi Jinping.«
Ma Xingrui, Parteichef von Xinjiang
fe häute. Ein anderer ist Polizist und be-
schreibt seinen Job so: »Ich verhaftete die KOLONIALMACHT
bösen Jungs – Betrunkene, die Schlägereien
anfangen.« Vor allem erzählt er von seiner
WAR
bevorstehenden Hochzeit. Auf unserer Reise
sehen wir fünf oder sechs uigurische Hoch-
Nacht. Wo in abgelegenen Gebieten Licht- zeitsgesellschaften – neue Familien werden
punkte aufleuchteten, zoomten sie hinein. So gegründet, neue Anfänge gemacht.
machten sie 380 teils hochgesicherte Einrich- Die drei wollen uns auf einen Platz auf der
tungen in Xinjiang aus, von denen sie anneh- anderen Flussseite mitnehmen, wo sich noch
men, dass es sich um Lager handelt. mehr Menschen zum Tanzen treffen. Auf dem
In China akkreditierte ausländische Jour- Weg dorthin entdeckt der Fleischer einen Ge-
nalisten fuhren zu den Lagern und verifizier- tränkeautomaten und will Wasser kaufen. Wir
ten einige davon. Doch inzwischen werden schlendern weiter. Doch als er nach ein paar
viele der mutmaßlichen Lager offenbar nicht Minuten nicht wieder auftaucht, geht sein
mehr als solche genutzt. Das SPIEGEL -Team Freund ihn suchen. Auch der kommt nicht
versucht, ein halbes Dutzend verdächtige zurück. Der Polizist verschwindet plötzlich
Orte zu erreichen. Zwei davon sind definitiv ebenfalls grußlos.
in Betrieb, schwer gesichert und gut abge- In Xinjiang werden wir lückenlos von Spit-
schirmt. Ein anderer beherbergt nun eine zeln überwacht. Wir bekommen mit, dass
technische Oberschule. sie unsere Zufallsbekanntschaften befragen,
Eine weitere Anlage in Karakax bei Hotan, sobald wir außer Sicht sind. Einmal sind wir
die der deutsche Xinjiang-Rechercheur Adri­ in einem Ladengeschäft im ersten Stock auf
an Zenz 2020 beschrieb, scheint verlassen zu den Balkon getreten, als einer unserer Schat-
sein. Die Anlage wirkt abweisend, auf den ten unten auf der Straße eine Person an-
Mauerecken sind Kameras montiert, dahinter spricht, mit der wir uns eben noch unterhal-
sieht man Flutlichtmasten. Doch die Polizei- ten haben.
station auf der Zufahrtsstraße ist augenschein- Ein anderes Mal probiert eine Kellnerin 256 Seiten mit Abb., gebunden � 22,00 €
lich schon lange außer Dienst. Kein Liefer- ihr Englisch an uns aus und möchte über die
Auch als E-Book erhältlich
verkehr, nur ein einziges Auto, das in der Messenger-App WeChat Kontakte austau-
Nähe parkt. Daraus steigt ein Uigure von schen – um sie keine Stunde später wieder zu
etwa 50 Jahren, der sich als derjenige vor- löschen. Am nächsten Tag schauen wir erneut
stellt, der für die Sicherheit der Anlage zu- vorbei, die Kellnerin ist da, blickt aber mit Das Deutsche Kaiserreich war
ständig ist. versteinertem Gesicht durch uns hindurch. alles andere als eine kleine oder
Ohne Genehmigung der örtlichen Pro­ Manch ein Händler auf Kashgars Vieh-
pagandabehörde dürfe sich kein Journalist markt hat sich ein paar Wochen nicht mehr zurückhaltende Kolonialmacht:
nähern, sagt er. Unternehmenspolitik. Nein, rasiert, 2021 sah man so etwas nicht, für einen Nicht nur in Afrika sondern auch
keineswegs seien drinnen Menschen einge- Bart konnte man ins Lager kommen. Aber in China und Ozeanien waren
sperrt. Damit endet das Gespräch. So geht es nach wie vor gestattet sich keiner einen Voll-
oft, unsere Eindrücke bleiben bruchstückhaft bart, wie ihn fromme Muslime im restlichen Deutsche für Gräueltaten und
und widersprüchlich. Zentralasien oft tragen. Ausbeutung verantwortlich.
Erst Anfang Mai hat das US-Analysehaus In und um Hotan sind in den letzten Jahren Dieses SPIEGEL-Buch zeichnet
IPVM einen neuen Report veröffentlicht: Ihm Cluster von Internaten und technischen Ober-
zufolge lässt eine Polizeibehörde aus Shang- schulen hochgezogen worden, in denen Tau- den deutschen Kolonialismus von
hai ein digitales Warnsystem bauen, das sie sende junge Uiguren auf ein produktives Le- den Anfängen nach und bietet
alarmiert, sobald ein Uigure in der Stadt ein- ben in Lohnarbeit vorbereitet werden. Wei- anhand eindrücklicher
trifft. Dass die Uiguren in China weiterhin tere solcher Bildungsstätten sind im Bau.
verfolgt und beobachtet werden, ist also of- Sogar mitten in der Wüste, unweit der Hoch- Zeitzeugenberichte Einblicke
fensichtlich. sicherheitseinrichtung mit dem Polizeischwur in den Alltag der kolonialisierten
auf dem Dach. Länder. Vor allem aber zeigt es,
Zwischenwelt Diese Schulen sind weder mit Stacheldraht
In Korla schallt uigurische Musik aus einem noch mit Wachtürmen gesichert. In einer ist wie dauerhaft die Folgen des
Park, kräftiger Rhythmus, schmachtende Frau- gerade Hofpause, Kinder in Schuluniform deutschen Kolonialismus zu
enstimme. Männer breiten die Arme aus, laufen kreischend über das Gelände. spüren sind – in den ehemaligen
schnipsen mit den Fingern, drehen sich. Wie Auch seine 13-jährige Tochter besuche
überall in China üblich, haben Anwohner sich eines dieser Internate, erzählt unser uiguri- Kolonien und hierzulande.
abends versammelt, um gemeinsam zu tanzen. scher Taxifahrer. Sie lerne dort gutes Manda-
Dies ist keine Show für Touristen. Im mäßig rin. Verpflegung und Unterkunft zahle der
attraktiven Korla gibt es praktisch keine. Staat.
Drei junge Uiguren wollen sich unterhal- Nach Hause kommt sie nur am Wochen-
ten, einen Deutschen hat hier niemand er- ende. Dabei wohnt die Familie nur ein paar
wartet. Seid ihr mit dem Flugzeug nach Xin- Kilometer entfernt. Aber so erfordert es die
jiang gekommen? Schmeckt euch das Essen neue Zeit. n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 85


www.dva.de
AUSLAND

Die arabische Welt gilt als konservativ, pa-


triarchal, tiefreligiös – aber gerade viele jun-
ge Menschen orientieren sich an progressiven
Ideen. Sie können mit den traditionellen
­Medien nichts anfangen, die meist eng mit
den undemokratischen Machtapparaten ver-
bandelt sind. »Wir hatten überhaupt nicht mit
diesem Erfolg gerechnet«, sagt Azouri. Sie
sitzt zwischen bunten Kissen neben Jaber in
ihrem Wohnzimmer auf einem beigen Sofa,
neben jenem Esstisch, der inzwischen Hun-
derttausenden Fans vertraut ist, der Podcast
ist auch als Video abrufbar. Ab und zu streckt
eine graue Katze den Kopf durch die Tür.
Azouri erzählt, dass sie Jaber Anfang 2020
auf einer Demonstration kennengelernt
habe. Es war die Zeit der landesweiten Pro-
teste im Libanon, die Wirtschaft raste auf den
Abgrund zu, und die Bevölkerung dieses frag-
mentierten Landes rebellierte vereint gegen
ihre korrupten politischen Eliten. Viele lern-

Tom Nicholson / DER SPIEGEL


ten dabei erstmals Menschen aus anderen
Regionen und Stadtvierteln kennen, die klei-
nen Blasen aus Religion und Klasse, in denen
sich die meisten Libanesen voneinander ab-
grenzen, platzten – zumindest für eine Weile.
Da begegneten sich auch Azouri und Jaber,
sie maronitische Christin, geschieden, mit
Gastgeber Jaber, Azouri: »Es gab dieses drängende Bedürfnis, den Sachen auf den Grund zu gehen«
einem Sohn im Teenageralter. Er, ledig, 18 Jah-
re jünger, ist der Sohn eines Schiiten und einer
Sunnitin aus dem Südlibanon.

Die Tabubrecher
Während der Proteste wurde ein Blogger
und gemeinsamer Freund der beiden verhaf-
tet, das brachte sie zusammen. »Diese Frau
ist cool, dachte ich. Sie ist progressiv, sie denkt
voraus«, erinnert sich Jaber. Er arbeitete
LIBANON  In einem Beiruter Wohnzimmer diskutieren Médéa Azouri und damals für eine TV-Produktion in Dubai,
Azouri hatte gerade ihren Job als Radiomode­
Mouin Jaber mit ihren Gästen kontrovers über Politik, Geschichte, Religion ratorin in Beirut verloren, als mit dem Wirt-
und Sex. Ihr Podcast erreicht Hunderttausende in der arabischen Welt. schaftskollaps viele libanesische Medien ihre
Türen schließen mussten. Beide hatten den
Traum, einen Podcast zu machen.

D
as Abendessen ist vorbei, die Teller sind für die Religion sei. Da waren der Historiker Dann kam die Pandemie – und das Duo
leer, die Gäste lehnen sich zurück, Charles Hayek, der mit dem Mythos der beschloss, gemeinsam in Quarantäne zu gehen
schieben die Stühle nach hinten. Je- ­ewigen Feindschaft zwischen Muslimen und und mit dem Podcast-Experiment zu begin-
mand beginnt zu philosophieren, jemand Christen aufräumte, das schiitische Komi­ nen. Drei Jahre ist das her, inzwischen wurden
­redet sich in Rage, andere hören intensiv zu. kerduo Hussein Kaouk und Mohammad Folgen von »Sarde After Dinner« insgesamt
Im Libanon gibt es ein Wort für solche an- Dayekh, die die mächtige schiitische Hisbol- über 15 Millionen Mal gehört, von Menschen
geregten Gespräche: Sarde. lah aufs Korn nahmen, oder die Komikerin aus dem Libanon, den USA, dem Irak oder
Eine Sarde entsteht immer dann, wenn Shaden Fakih, die über ihr Coming-out als den Vereinigten Arabischen Emiraten, die
Médéa Azouri, 49, blonde Mähne, durch- Lesbe sprach. meisten zwischen 18 und 34 Jahre alt.
dringende blaue Augen, und Mouin Jaber, Azouri und Jaber haben viele bewegende
31, mit Bart, ihre Gäste empfangen. Im Bei- Reaktionen erhalten, sagen sie. Da war ein
ruter Wohnzimmer von Azouri, zwischen Hörer, der erzählte, er habe nach einer Episo-
Kerzen, Weinflaschen, Büchern und Platten- de erstmals mit einem Verwandten, der da-
covern, beginnen die Leute zu reden, und es mals ein Kämpfer war, über den libanesischen
kommt zu Tabubrüchen – die die gesamte Bürgerkrieg gesprochen. Eine Hörerin Mitte
arabische Welt erreichen. Der Podcast »Sarde zwanzig gestand, sie habe dank des Podcasts
After Dinner« fasziniert Hunderttausende erstmals mit ihrer Mutter über Sex geredet.
Zuhörerinnen und Zuhörer von Marokko bis Die beiden Podcaster stellen einfache,
Saudi-Arabien. ­unbedarfte Fragen. Auch wenn sie, typisch
Da war zum Beispiel die libanesische für die Beiruter Elite, ihr Arabisch mit fran-
­Sexologin Sandrine Atallah, die mit medi­ zösischen und englischen Wörtern mischen;
zinischer Nüchternheit über die weibliche wie viele Libanesen besuchten sie französi-
Lust aufklärte. Da war die Episode mit dem sche Schulen, lebten zeitweise im Ausland.
saudi-arabischen Journalisten und Islam­ Doch trotzdem scheint »Sarde« ein breites
forscher Hassan Almustapha, der erklärte, Publikum zu erreichen – vom Lieferdienst-
AFP

warum der Säkularismus keine Bedrohung Hafen von Beirut nach Explosion 2020 fahrer, der Azouri und Jaber eines Abends

86 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


AUSLAND

Hamburger ins Haus lieferte und ein den wir Freunde ein, sprachen über Spenden zu sammeln. Im Podcast er-
begeistertes »Ihr seid ja Sarde!« aus- Beziehungen, die Protestbewegung, zählte sie via Videocall dennoch, wie
rief, über den Zollbeamten am Flug- Popkultur. Danach gab es dieses drän- es zu dem Dreh damals gekommen
hafen, der den Daumen hob und gende Bedürfnis, den Sachen auf den war: Sie habe sich nicht getraut, Nein
grinste: »Weiter so«, bis zu einem Grund zu gehen.« zu sagen, als man sie am Set anwies,
Jemeniten in New York City, der das Und so luden Azouri und Jaber einen Hidschab anzuziehen, habe
Duo auf der Straße erkannte. einen Ökonomen ein, der ihnen das versucht, ihrem pornosüchtigen Ehe-
Beirut war einst dank seiner Me- Schneeballsystem erklärte, das hinter mann zu gefallen, von dem sie sich
dienfreiheit die Hauptstadt der ara- dem Ruin der libanesischen Wirt- bald darauf scheiden ließ. Dann ent-
bischen Presse. Nun sind viele tradi- schaft stand: Diese florierte nur dank schuldigte sie sich für den Film – nicht
tionelle Medien bankrott, andere sind dem steten Zufluss von Devisen aus bei den religiösen Autoritäten, aber
mit politischen Parteien verbandelt. dem Ausland, die mit hohen Zinsen bei den Hidschab tragenden Frauen,
Neue Medien wie dieser Podcast fül- ins Land gelockt wurden, bis der Staat die sie damit verletzt habe.
len das Vakuum. »Ihr könnt im Liba- eine Rekordverschuldung erreicht »Eine Frau wie Mia Khalifa, die
non über Sex, Politik und Religion hatte. Oder Azouri und Jaber brach- Hunderttausende Dollar für den Wie-
sprechen. Ihr habt nicht dieselben ten mit einer Historikerin den Bürger- deraufbau von Beirut sammelte, darf
Barrieren wie die anderen arabischen krieg von 1975 bis 1990 auf den Tisch, ihr geliebtes Land nicht betreten«,
Länder«, sagte der ägyptische Star- der in den Schulen tabu ist. Dessen sagt Podcaster Jaber. »Und die korrup-
komiker Bassem Youssef, als er bei nie aufgearbeitete Folgen, die mafi­öse ten Politiker lassen bei Protesten mit
»Sarde« zu Gast war. Youssef hatte Klientelwirtschaft der ehemaligen scharfer Munition auf uns schießen.
nach dem Arabischen Frühling 2011 Warlords und ihrer Günstlinge, haben Das ist absurd.«
mit seiner Fernsehshow ein Publikum das Land letztlich zerstört. Es ist eine Realität vieler Men-
von 40 Millionen erreicht, doch seit Für viele jüngere Libanesinnen schen in der Region, nicht nur im
2015 lebt er in den USA, unter dem und Libanesen wurde der »Sarde«- Libanon: Ägypten verfolgt Social-
Regime von Abdel Fattah el-Sisi ist Podcast so zu einem treuen Begleiter Media-Influencerinnen, die im Inter-
es für ihn zu gefährlich geworden. in einer schwierigen Zeit. net zu viel Haut zeigen, während das
Im Libanon gibt es nicht dieselbe Die Spaltungstaktik der Politiker, Militärregime die Wirtschaft ruiniert
brutale staatliche Repression, trotz- die Religionsgruppen gegeneinander und Häftlinge foltert. Irans Theokra-
dem wandern immer mehr Menschen ausspielen, funktioniert nicht, wenn Ex-Pornostar Khalifa, tie mordet, um den Schleierzwang für
aus. Der libanesische Staat ist seit sich die Christin Azouri und der Schi- Autoboss Ghosn, Frauen durchzusetzen, und unterdes-
Ende 2019 bankrott, mit dem Kollaps it Jaber unterhalten. »Ich kann einen Komikerin Fakih: sen wird das Land von Korruption
Applaus und böse
der Währung ist die Mittelklasse in Witz über Schiiten machen, und nie- Kommentare und Misswirtschaft zerfressen. Auch
die Armut abgerutscht, Hunderttau- mand kann etwas einwenden, weil Saudi-Arabien, das immer mehr sozi­
sende haben ihre Ersparnisse und mir ja ein Schiit gegenübersitzt und ale Freiheiten gewährt, verhaftet wei-

Vianney Le Caer / Invision / picture alliance / AP


Renten verloren. Über die Runden mit mir lacht«, sagt Azouri. Oft fällt terhin Frauen wegen feministischer
kommt eigentlich nur, wer Geld im ihnen auf, wie viele Gemeinsamkei- Tweets oder wegen Videos mit an-
Ausland verdient, Verwandte im Aus- ten sie haben. Als dieses Jahr Ostern geblichem »lesbischen Subtext«.
land hat oder wem der lokale Arbeit- und das Ramadanfest zusammenfie- Jaber und Azouri wurden für man-
geber Löhne in US-Dollar bezahlt – len, brachten sie beide das gleiche che »Sarde«-Episoden als Satanisten
die libanesische Währung ist prak- Gebäck mit: Maamoul, mit Datteln oder Beförderer von Unzucht be-
tisch wertlos. Azouri und Jaber be- oder Mandeln gefüllte Butterkekse. schimpft. Bis jetzt blieb es bei bösen
wegen sich zwischen Beirut und Du- An Azouris Esstisch verriet der frü- Kommentaren. Andere Journalisten
bai, wo sie beide Jobs in der Medien- here Autoboss Carlos Ghosn Details im Libanon sind von den Behörden
produktion haben. zu seiner spektakulären Flucht in ins Verhör genommen, bedroht oder
In Dubai, sagen die beiden, erho- einem Instrumentenkoffer aus Japan, mit Klagen drangsaliert worden.
len sie sich vom libanesischen Alltag. wo er ins Visier der Justiz geraten Denn die Medienfreiheit ist auch im
»In Beirut bist du bis 14 Uhr mit dei- war. Hamed Sinno, der offen schwule Zedernstaat fragil. Vielleicht schützt
nen Kräften am Ende«, sagt Jaber – Sänger der vielleicht be­kanntesten die beiden ihre Bekanntheit, viel-
Abd Rabbo Ammar / Abaca Press / ddp

wann geht der Strom aus, wann gibt arabischen Indieband Mashrou Leila, leicht hilft es, dass Jabers Vater eine
es heißes Wasser zum Duschen, wie sprach hier erstmals öffentlich da­ berühmte Medienpersönlichkeit in
liegt der Dollarkurs, streikt die Leh- rüber, warum sich die Band aufgelöst Dubai ist. Doch Azouri sagt: »Ich
rerin des Kindes mangels Bezahlung hatte: Zu viel Hass, zu viele Mord- denke, es ist nur eine Frage der Zeit,
schon? All das zehrt an den Nerven. drohungen, kein arabisches Land bis es uns auch trifft.«
Als wäre der Wirtschaftskollaps mehr ließ die Band auftreten. Oft, erzählen die Podcaster, spürten
nicht genug gewesen, legte im August Am meisten Furore machte »Sarde« sie, wie sehr sich das Leben in der ara-
2020 im Beiruter Hafen eine riesige aber mit der ehemaligen Pornodarstel- bischen Welt ähnele. »Im Gespräch
Explosion ganze Viertel in Trüm­mer. lerin Mia Khalifa, libanesisch-ame­ mit dem irakischen Starkomiker Ah-
Es war wohl der Höhepunkt aller Ka- rikanische Doppelbürgerin und im mad Albasheer sagten wir: ›Es gibt
tastrophen, die Libanons Politiker Libanon Persona non grata – sie war keine Familie im Libanon, von der
durch Korruption, Nachlässigkeit und weltberühmt und -berüchtigt gewor- nicht mindestens ein Mitglied ausge-
Gier angerichtet haben. Bis heute fra- den, weil sie 2014 in einem Pornofilm wandert ist.‹ Er sagte daraufhin: ›Es
gen Beiruterinnen und Beiruter einan­ Sex mit Hidschab hatte. Viele Muslime gibt keine Familie im Irak, von der
Mohamed Azakir / REUTERS

der beim ersten Treffen: Und wo warst fanden das verletzend, religiöse Auto- nicht mindestens ein Mitglied umge-
du bei der Explosion? ritäten waren erzürnt. kommen ist‹«, berichtet Azouri.
»Die Explosion hat uns alle für im- Die Podcaster luden Khalifa aber Man könne nicht vergleichen.
mer verändert«, sagt Azouri. »Und nicht deswegen ein, sondern weil Aber es gebe einen Schmerz, der alle
sie hat unseren Podcast zu dem ge- sie nach der Explosion am Beiruter verbinde.
macht, was er heute ist. Anfangs lu- Hafen ihre Bekanntheit nutzte, um Monika Bolliger  n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 87


AUSLAND

Beitritt Schwedens, angeblich weil


das Land kurdische Terroristen be-
herberge. Kılıçdaroğlu würde diese
Blockade sehr wahrscheinlich lösen.
Er würde womöglich auch das russi-

Zurück nach Europa


sche Raketenabwehrsystem S400,
das Erdoğan von Moskau gekauft hat,
nicht in Betrieb nehmen.
Insgesamt wäre die Außenpolitik
unter einem Präsidenten Kılıçdaroğlu
ANALYSE  Falls Erdoğan abgewählt wird, könnte das Land wieder näher an wohl weniger personenbezogen, we-
den Westen rücken. Doch die Politik gegenüber Russland oder niger interventionistisch. Die CHP
beteuert, zur Doktrin des Staatsgrün-
Syrien würde sich wohl auch unter einer neuen Regierung kaum ändern. ders Atatürk zurückzukehren: »Frie-
den zu Hause, Frieden in der Welt.«
Sosehr sich Erdoğan und Kılıçdaroğlu

G
eografie macht Geschichte. Das in Temperament und Stil unterschei-
gilt besonders für die Türkei. den, einiges würde wohl bleiben wie
Das Land liegt in Europa und bisher, egal wer die Türkei regiert.
in Asien, zwischen Schwarzem Meer So könnte auch Kılıçdaroğlu etwa
und Mittelmeer. Präsident Recep die Bande zum russischen Machtha-
Tayyip Erdoğan hat sich diesen Um- ber Wladimir Putin nicht einfach kap-
stand in den fast zwei Jahrzehnten pen, wie das im Westen viele hoffen.
seiner Herrschaft zunutze gemacht Die Abhängigkeit der Türkei von
wie wenige türkische Politiker vor Moskau hat sich unter Erdoğan ver-

Alexei Nikolsky / Kremlin / Sputnik / AP


ihm. Vom Ukrainekrieg über den schärft. Das Land bezieht rund ein
­Bürgerkrieg in Syrien bis hin zur Aus- Drittel seines Öls aus Russland. Tür-
einandersetzung zwischen Armenien kische Exporte nach Russland haben
und Aserbaidschan – es gibt kaum seit Beginn des Ukrainekriegs um
einen bedeutenden internationalen 113 Prozent zugenommen, wie eine
Konflikt, in dem seine Regierung Recherche der »New York Times«
nicht mitmischt. zeigt. Die russische Atomenergie­
Fast als einziger Staatschef unter- behörde Rosatom leitet im südtürki-
hält Erdoğan enge Beziehungen nach schen Mersin ein Kernkraftwerk, das
Kiew wie nach Moskau. Die Türkei flikte mit dem Westen dürften dann Machthaber künftig zehn Prozent des türkischen
ist Nato-Mitglied, kokettiert aber zu- eher noch zunehmen; es ist vorstell- Erdoğan, Putin: Energiebedarfs abdecken soll.
Auf Konfron­
gleich mit einem Beitritt zur Shang- bar, dass Erdoğan die Europäer ein tationskurs zum Kılıçdaroğlu würde als Präsident
hai-Gruppe, einem Bündnis rund um weiteres Mal in der Flüchtlingspolitik Westen vielleicht weniger Wert auf Foto­
China, und hat Truppen in Somalia, unter Druck setzt, indem er Migran- termine mit Putin legen als Erdoğan.
Libyen und Katar stationiert. ten so wie 2020 an die Grenze zu Doch im Ukrainekrieg würde auch er
Doch im gleichen Maße, in dem Griechenland karrt. sich wohl als Vermittler, nicht als ein-
Erdoğan in der Weltpolitik zu einem Kılıçdaroğlu hat versprochen, deutiger Unterstützer Kiews verste-
Riesen, mitunter einem Scheinriesen, Erdoğans Kurs zu korrigieren. In hen. Westliche Sanktionen gegen
gewachsen ist, ist er zu Hause zu einem einem Gespräch mit dem SPIEGEL Moskau würde die Türkei auch nach
Normalsterblichen geschrumpft. Bei hat er deutlich gemacht, dass er die einem Machtwechsel aller Voraus-
den Wahlen am 14. Mai muss er daher Türkei als Teil des westlichen Blocks sicht nach nicht mittragen.
um sein Amt fürchten. Der »Econo- sieht. Kılıçdaroğlu würde wohl die Auch in Syrien ist keine 180-Grad-
mist« hat die türkische Präsident- Urteile des Europäischen Gerichts- Wende der türkischen Regierung zu
schafts- und Parlamentswahl als die hofs für Menschenrechte umsetzen, erwarten. Sowohl Erdoğan als auch
»wichtigste Abstimmung des Jahres« was unter anderem die Freilassung Kılıçdaroğlu haben angekündigt, nach
bezeichnet. Das ist keine Übertrei- des Oppositionspolitikers Selahattin Jahren der Feindschaft wieder mit
bung. Eine Niederlage Erdoğans hät- Demirtaş und des Philanthropen Os- Diktator Baschar al-Assad ins Ge-
te Folgen nicht nur für die Türkei, man Kavala bedeuten und die Atmo- spräch kommen zu wollen, vor allem
sondern ebenso für Deutschland, sphäre zwischen Ankara und Brüssel um Bürgerkriegsflüchtlinge aus der
Europa, die Welt. erheblich verbessern würde. Die EU Türkei nach Syrien zurückschicken
Erdoğan hat einst für die Türkei könnte ihm entgegenkommen, indem zu können. Kılıçdaroğlu hat die Rück-
das Tor zum EU-Beitritt aufgestoßen. sie die Visumspflicht für türkische führung von Geflüchteten gar zu
In den vergangenen Jahren ist er je- Bürgerinnen und Bürger aufhebt und Unter einem der Hauptthemen in seinem
doch auf Konfrontationskurs zu Euro-
pa und den USA gegangen. Gerade
mit der Regierung in Ankara über
eine Vertiefung der Zollunion verhan-
Kılıçdaroğlu Wahlkampf gemacht.
Die Türkei könnte vor allem aber
erst warf er dem Westen vor, bei den delt. Selbst eine Wiederbelebung der wäre eine ein wichtiges Signal in die Welt sen-
Wahlen seinen Kontrahenten Kemal EU-Beitrittsgespräche, die momentan Wiederbele- den: In Ungarn, Italien, Indien haben
Kılıçdaroğlu zu unterstützen. »Ihre eingefroren sind, wäre denkbar. in den ver­gangenen Jahren Populisten
feindliche Haltung gegen Erdoğan ist Die Türkei verfügt über die zweit- bung der die Demokratie beschädigt. Ein Sieg
eine feindliche Haltung gegen meine größte Armee der Nato, zuletzt dräng­ EU-Beitritts­ Kılıçdaroğlus bei den Wahlen würde
Nation«, sagte er. te sich jedoch die Frage auf, auf wes- beweisen, dass dieser Trend umkehr-
Ein Wahlsieg könnte Erdoğan in sen Seite das Land eigentlich steht. gespräche bar ist.
seiner Haltung bestärken, die Kon- So verhindert Erdoğan den Nato-­ denkbar. Maximilian Popp n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 88


SPORT

Gender-Pay-Gap
Ausgaben von ARD und ZDF
für die Senderechte der
Fußball- Weltmeisterschaften
der Männer, in Euro

5 Mio.
2006
179 Mio.

2010 Euro bieten ARD und ZDF insgesamt für die


179 Mio. Senderechte der Frauen-Weltmeisterschaft
2023, die im Juli und August in Australien und
Neuseeland stattfinden wird. Das entspricht
2014 etwa zwei Prozent der Summe, die die Sender
210 Mio. für die Männer-WM 2022 bezahlt haben.

2018
218 Mio.

foto2press / IMAGO
2022 Fußball-Nationalspielerin Lena Oberdorf
214 Mio. beim Freundschaftsspiel Anfang April
gegen die Niederlande
S Quellen: eigene Recherche, Kicker


Am 20. Juli beginnt in Australien und Neuseeland die Fußballweltmeisterschaft der Frauen. Das deutsche Team gehört als Vize-Europameister zu
den Favoriten. ARD und ZDF haben für die Übertragungsrechte fünf Millionen Euro geboten – das entspricht ungefähr der Summe, die die Sender
für ein Länderspiel der deutschen Männer bezahlen müssen. Die Fifa fordert jedoch zehn Millionen Euro, ansonsten werde es keine Bilder von der
Veranstaltung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Deutschland geben.

GUT ZU WISSEN verpflichtet, ihre Kunden über lehrkräfte »nicht im Ansatz«


die fehlende Qualifizierung vorweisen. Ihnen fehle es an
Was muss ein Bergführer ­ih­rer Guides aufzuklären.
»De facto kann bei uns
­Routine, sie seien nicht speziell
ausgebildet im Führen von
können? jeder Hanswurst den Beruf
des ­Bergführers ausüben«,
Kunden.
Bergführerverbände vieler
klagt Michael Lentrodt, Präsi- Alpenanrainerstaaten monie-
Die Biathlon-Olympiasiegerin versierte einheimische Berg­ dent des Verbands Deutscher ren, dass Bergsportschulen aus
Laura Dahlmeier hat im steiger oder Polizeibergführer, Berg- und Skiführer, über dem Freistaat Hilfslehrkräfte
­Frühjahr die Prüfung zur Berg- die sich in der Freizeit etwas den feh­lenden Berufsschutz mit Gästegruppen sogar zu
führerin bestanden. Die dazuverdienen wollen. Wäh- für s­eine ­Mitglieder. Die Ent- Touren ins Ausland schicken
­leidenschaftliche Alpinistin rend zertifizierte Berg­führer wicklung gehe »klar auf würden. In Tirol wurde bereits
hat sich damit einen Lebens- rund 500 Euro für eine Tages- ­Kosten der Kundensicherheit«. mit einer Plakataktion in Hüt-
traum erfüllt. Doch dass die tour auf die Zugspitze ab­ Das ­Know-how eines regulären ten vor »Schwarzführern« ge-
ehemalige Leistungssportlerin rechnen, machen die Günstig- Bergfüh­rers könnten Hilfs­ warnt. Trotz der Proteste lehnt
künftig tatsächlich als Alpin- guides den Job mitunter für die man in Bayern eine Verschär-
profi arbeiten wird, ist kaum Hälfte. fung der Richtlinien ab. Es
zu erwarten. In Österreich, der Schweiz, gebe ­keine Hinweise darauf,
Für Bergführer wird es im- Italien oder Frankreich dürfen dass es wegen des Einsatzes
mer schwieriger, genug Geld nur staatlich geprüfte Berg­ von Aushilfen zu mehr Unfäl-
mit ihrem Beruf zu verdienen. führer kommerzielle Touren im len kommen würde.
Sie werden von einer wach­ Hochgebirge leiten. Die Bayeri- »Es muss wohl erst etwas
senden Billigkonkurrenz im sche Berg- und Skischulverord- Schlimmes passieren, damit
Christian Brecheis

Gebirge verdrängt. Touren­ nung hingegen erlaubt Outdoor­ die Politik sich bewegt«, sagt
anbieter setzen häufig soge- unternehmen, »in Zeiten be- Lentrodt. Er rät Kunden von
nannte Hilfslehrkräfte statt sonderen Andrangs« Aushilfen Bergsportschulen, sich vor jeder
ausgebildete Bergführer ein. einzusetzen. Die Veranstalter Tour über die Ausbildung der
Meist handelt es sich dabei um sind noch nicht einmal dazu Wanderer auf der Zugspitze Führer zu informieren. GP

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 89


SPORT

Kai Heuser
Spielerinnen von Viktoria Berlin im vergangenen September: »Es gibt nur ein Gas: Vollgas!«

Wichtigste Regel: keine Arschlöcher


FUSSBALL  Die Frauenmannschaft von Viktoria Berlin will innerhalb von fünf Jahren von der Regionalliga in die
Bundesliga aufsteigen – und nebenbei die Sportwelt besser machen. Sind die übergeschnappt?

D
er verlängerte Arm der Revolution trifft ost, rauf in die Erste Bundesliga. So schnell Frau Nummer zwei: Ariane Hingst, ehe-
sich im Mittelkreis von Platz Nummer wie möglich, spätestens in fünf Jahren. malige Nationalspielerin, DFB-Trainerin.
acht, Futbol Salou Sports Center, Kata- Ganz nebenbei wollen sie die Fußballwelt Weiß, wie man Fußball spielt.
lonien, Spanien, südwestlich von Barcelona. verändern. Sie soll bunter werden, moderner, Frau Nummer drei: Tanja Wielgoß, Mana-
Zwei Dutzend Frauen in hellblauen Trikots, menschlicher, vor allem diverser. gerin, Aufsichtsrätin. Weiß, wie das Geschäft
auf ihrer Brust das Emblem des FC Viktoria Das klingt nach Utopie, nach PR-Gedöns. läuft.
1889 Berlin. Wenn alles nach Plan läuft, wäre es aber nicht Frau Nummer vier: Felicia Mutterer, Pod-
Einige Meter weiter warten etwa 20 Jungs, weniger als eine Revolution des Frauenfuß- casterin, Journalistin. Weiß, wie man kom-
die U-15-Mannschaft des FC St. Gallen. Der balls. Für Berlin. Und für ganz Deutschland. muniziert.
heutige Gegner. Allein schon, weil hinter dem Projekt aus- Frau Nummer fünf: Lisa Währer, Marke-
Ein Morgen im Februar, zehn Grad, am schließlich Frauen stehen. Sechs Frauen, sechs tingexpertin. Weiß, wie man eine »Brand«
Horizont zögert die Sonne; bestes Fußball- Gründerinnen – sechs Menschen, die finden, aufbaut.
wetter. Umschlungene Schultern, Motivations- dass etwas schiefläuft im Frauenfußball im Frau Nummer sechs: Katharina Kurz, Ge-
parolen. »Es gibt nur ein Gas!«, ruft eine der Allgemeinen und in der Hauptstadt im Be- schäftsführerin. Weiß, wie man Ideen groß
Frauen. Und 24 Kehlen antworten: »Vollgas!« sonderen. Dass dort zu oft noch alte Männer macht.
Am Ende geht das Spiel gegen die Jungs das Sagen haben und diese alten Männer zu Diese sechs Frauen also taten sich zusam-
aus der Schweiz verloren, aber die Frauen oft zu viele falsche Entscheidungen treffen. men und übernahmen die Frauenmannschaft
von Viktoria Berlin haben ohnehin größere Frau Nummer eins: Verena Pausder, Unter- von Viktoria Berlin. Sie wilderten in ihren
Ziele. Sie sind auf einer Mission: Sie wollen nehmerin. Weiß, wie man Leute zusammen- Netzwerken und suchten Investoren und vor
nach oben. Raus aus der Regionalliga Nord- bringt. allem Investorinnen.

90 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


SPORT

Kurze Zeit später hatten sie Hun- Im Sommer 2020 las sie, dass Se- »Im Unter- diesen Weg mitzugehen. Dort fanden
derte Unterstützer, 87 Geldgeberin- rena Williams, Natalie Portman und sie Spielerinnen, die es gewohnt
nen und Geldgeber und etwa eine andere prominente Frauen ein Fuß- schied zu ­waren, manchmal belächelt und oft
Million Euro beisammen. ballteam in Los Angeles gründen Infantino ignoriert zu werden.
Die Komikerin Carolin Kebekus
wollte dabei sein, weil »alle Gründe-
wollten, den Angel City FC. Diese
Nachricht löste etwas in ihr aus. Ein
meinen wir Eine davon ist Stephanie Gerken,
31, Viktoria-Kapitänin seit acht Jah-
rinnen tolle Frauen sind«, »weil es von Frauen geführter Verein! Sie das ernst.« ren. Sie erinnert sich noch gut daran,
um faire Bezahlung und Gleichbe- dachte sich: Das brauchen wir hier Felicia Mutterer, wie es früher war. Die dummen Sprü-
rechtigung geht«, »weil das Projekt auch. Journalistin che. Und die Trikots, die von den
für viele junge Frauen den Blick auf Mutterer ist in ihrem Leben oft die Männern aussortiert worden waren
den Sport ändern kann«, »weil es einzige Frau unter Männern gewesen. und die unförmig am Körper herun­
mich immer schon triggert, wenn ge- Als Kind in der Fußballmannschaft terhingen. Und sie erinnert sich an
sagt wird, dass Frauen etwas nicht der Jungs, weil es bei ihr auf dem den Tag, als die Zukunft begann.
können«. Dorf kein Mädchenteam gab. In den Als sechs Frauen etwas von einer
Die Ski-Olympiasiegerin Maria ­Sportredaktionen, in denen sie arbei- Vision erzählten, von Wertschätzung,
Höfl-Riesch wollte dabei sein, weil tete und sich so lange über die An- von Equal Pay. Eine »süße Idee«, fand
»das eine Mega-Idee und ein profes- sichten der älteren Kollegen ärgerte, Gerken damals. Sie kannte Ariane
sionelles und konsequentes Projekt bis sie sich mit einer Podcast-Agentur Hingst aus dem Fernsehen, vom Rest
ist«, weil »das Thema Investitionen selbstständig machte. Irgendwann hatte sie noch nie gehört. Sie nahm
im Sport bislang zu männerdominiert stieß sie dann auf den Artikel über das alles nicht weiter ernst. Doch die
war«, weil »jemand vorangehen und Angel City. sechs Frauen tauchten immer wieder,
den Stein ins Rollen bringen muss«. Mutterer und ihre Kolleginnen immer häufiger auf. »Die waren zäh«,
Die Soziologin Jutta Allmendinger fragten in der Szene herum, welcher sagt Gerken.
wollte dabei sein, weil »sich dort end- Verein infrage kommen könnte. In Und auf einmal ging es um Grün-
lich der Verhältnisse im Frauenfußball Berlin verwurzelt sollte er sein, weit dung, um GmbH, um Aufsichtsrat,
angenommen wird«, »weil hier gesagt genug oben im Ligasystem. Und: Es um 50+1. Es gab Pressekonferenzen,
wird: Wir Frauen haben Ressourcen sollte kein Verein sein, dessen Name auf Hoodies und Schals wurde das
genug, um von uns aus Dinge zu in der Öffentlichkeit automatisch mit Wort »Gamechanger« gedruckt, nach
­ändern«, »weil hier Frauen über das Männerfußball in Verbindung ge- Spielen und bei Partys lagen sich
Beklagen hinausgehen und etwas in bracht würde. Spielerinnen und Promis in den Ar-
die Hand nehmen«. Alle Finger zeigten auf Viktoria men. Reporter und Kamerateams
Franziska van Almsick sitzt seit Berlin, einen Verein, der bereit war, machten in wenigen Monaten aus
vergangenem Jahr im Viktoria-Auf- jungen Frauen Medienprofis.
sichtsrat, die »Tatort«-Kommissarin Ein neuer Trainer kam, ein neuer
Ulrike Folkerts kommt, wenn mög- Prominente Unterstützerinnen Sportdirektor, es kamen neue Spiele-
lich, zu jedem Heimspiel. Außerdem Von Anfang an ging es beim Viktoria-Projekt um die Story: rinnen und passende Trikots mit zah-
dabei: Lea-Sophie Cramer, Gründerin dass die Mannschaft nicht nur erfolgreich Fußball spielt, lungskräftigen Sponsoren darauf.
des Online-Erotikversandhandels sondern man mit ihr auch eine Geschichte erzählen kann. Statt bisher 30 oder 40 Zuschauer
Amorelie, die Moderatorin Dunja wollten plötzlich Hunderte, teils Tau-
Hayali, die Choreografin Nikeata sende ihre Spiele sehen, die größten
Thomp­son, die ehemalige Justizminis­ Sportartikelhersteller der Welt zank-
terin Brigitte Zypries. Ein wilder Mix. ten sich darum, Viktoria ausstatten
Sie alle haben dazu beigetragen, zu dürfen.
dass die Spielerinnen des FC Viktoria Mitte der Hinrunde übernahm
Berlin Anfang Februar unter spa­ Viktoria die Tabellenspitze. Eine
Heinrich Jung / FUNKE Foto Ser vices

nischer Sonne und auf Rasen mit Mannschaft mit einer Mission.
Uefa-Zertifikat trainieren und nicht An einem Samstag Mitte Februar
auf einem Acker im vergraupelten nimmt diese Mission Fahrt auf.
Berlin. Dass sie unter ihren Trikots 22 Frauen marschieren auf den Fritz-
Hightech-Sensoren tragen, die alle Lesch-Sportplatz in Berlin-Adlershof,
Bewegungen aufzeichnen, Sprints, einen Rasenplatz, eingerahmt von
Geschwindigkeit, Laufstrecke, die Komikerin Kebekus Außenbezirksarchitektur. Die Heim-
den Puls messen und auswerten. Bun- tribüne ein begraster Hügel, der Aus-
desliganiveau. wärtsblock ein langes Me­tallgestänge
Das alles kostet Geld, viel Geld. auf der Gegengerade, der VIP-Be-
Allein das Trainingslager in Spanien reich ein roter Camping­pavillon.
knapp 30.000 Euro. Geld, das im 1500 Zuschauer passen rein, an
Frauenfußball häufig fehlt. ­diesem Tag ist die Arena ausverkauft.
»Das mit dem Geld«, sagt Felicia Union Berlin gegen Viktoria Ber-
Mutterer, 43, Sneakers, Tennissocken, lin, Dritter gegen Erster. Am Ende
Lueders / AAPimages / picture alliance

Berlin-Mitte-Schick, »ist ein bisschen gewinnt Viktoria nach einem Freistoß


Panama Pictures / action press

wie mit einer Badewanne ohne in der Nachspielzeit. Trainer, Spiele-


­Stöpsel: Das fließt verdammt schnell rinnen, Gründerinnen und Fans fallen
ab.« Mutterer ist nicht nur eine der sich in die Arme, »Die Nummer eins
sechs Gründerinnen, sie ist die Frau der Stadt sind wir«, singen sie.
mit der Idee. Oder wie sie selbst Ex-Schwimmerin
In der Hauptstadt ist inzwischen ein
Ex-Skirennläuferin
sagt: »Die mit der Idee, die Idee zu van Almsick Hoefl-Riesch Wettrennen ausgebrochen. Wer schafft
klauen.« es als Erster in die Bundesliga? Vikto-

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 91


SPORT

Kai Heuser

Kai Heuser
Viktoria-Spiel gegen Union Berlin, Gründerinnen*: Es geht um Gleichberechtigung, Diversität, das große Ganze

ria oder einer der beiden großen Vereine der Sechs Frauen lassen sich auf nadelgrüne den Amateuren? Was bedeutet der Denkmal-
Hauptstadt, Union und Hertha BSC? Shabby-Chic-Möbel fallen. Es gibt viel zu be- schutz des Stadions, wieso dürfen wir deswe-
Die etablierten Männervereine versuchen sprechen. Wie läuft es auf TikTok, beim Mer- gen die Duschen, die Toiletten, die Umkleiden
Versäumtes nachzuholen, gründen selbst chandise? Wie war es mit Franziska Giffey im nicht umbauen? Wer ist für den Ausschank
Frauenteams, übernehmen Frauenmann- Stadion, bekommen wir Steffi Graf mit an zuständig, wieso bieten die keine Mehrweg-
schaften kleinerer Vereine und drängen mit Bord? Was kam raus bei den Verhandlungen becher, kein veganes Essen an?
Macht und Geld nach oben. Klassische mit den Sponsoren, den Ausrüstern, was be- »Nach jedem Spiel«, sagt Mutterer, »kom-
Frauen­fußballklubs wie Turbine Potsdam sind deutet das für die Männermannschaft, werden men 15 Leute auf dich zu mit neuen Fragen,
zu Exoten geworden, manche wurden ge- die mitversorgt? und du weißt wieder, was du zu tun hast.«
schluckt, andere verschwinden in der Bedeu- Die Verhältnisse haben sich verschoben. Es ist ein ständiger Kompromiss, sie müs-
tungslosigkeit. Ein bisschen Genugtuung ist dabei. sen aufpassen, das Wesentliche im Auge zu
Oben in der Bundesliga heißt es jetzt: Die Mannschaft von Viktoria Berlin wird behalten. »Kompromisse«, sagt Mutterer,
FC Bayern München, VfL Wolfsburg, Ein- geführt wie ein Start-up. Und es wird wie in »halten eine Demokratie zusammen. Und
tracht Frankfurt, TSG Hoffenheim, Bayer 04 einem Start-up geredet. Von Business Cases, manchmal nerven sie auch ein bisschen.«
Leverkusen, SC Freiburg. von Signature Pieces, Key Takeaways, »Out Hinzu kommt: Die älteren Spielerinnen
Der Markt im Frauenfußball ist zwar noch of the Box«-Thinking, von Storytelling. haben Jobs. Kapitänin Stephanie Gerken
vergleichsweise klein, aber er wächst rasant. Vor allem darum geht es: um die Story. unterrichtet Englisch und Ethik an einer Ge-
Die Frauen-Bundesliga hat 2021/22 Einnahmen Dass die Mannschaft nicht nur gut und erfolg- samtschule, sie hat einen vierjährigen Sohn,
von rund 17 Millionen Euro generiert, 40 Pro- reich Fußball spielt, sondern man mit ihr auch demgegenüber sie manchmal ein schlechtes
zent mehr als vier Jahre zuvor, Wachstums- eine Geschichte erzählen kann. Gewissen hat, wenn sie wieder zum Training
raten, die im Männerbereich utopisch sind. Im Fall von Viktoria Berlin geht es nicht muss oder zum Spiel.
Auch die laufende Saison wird Rekorde vorrangig um eine Idee von Fußball, sondern Sollte es mit dem Aufstieg klappen, ginge
bringen. Der Zuschauerschnitt hat sich von mehr noch um eine Ideologie. Um Zusam- es seltener nach Berlin-Adlershof und häufiger
800 auf mehrere Tausend vervielfacht. 2022 menhalt, um die Anliegen queerer Menschen. nach Ingolstadt oder München. Weniger Zeit
war das Fußballspiel mit der höchsten Ein- Um Gleichberechtigung, Diversität, Nach- für alles andere, hieße das, mehr schlechtes
schaltquote kein Männerspiel, sondern das haltigkeit, um das große Ganze. Begriffe, mit Gewissen für Stephanie Gerken. Mehr Kom-
EM-Finale der Frauen zwischen Deutschland denen sich im Fußball viele gern schmücken, promisse. Sie weiß nicht, ob sie das hinbekom-
und England. Der Hype der Europameister- hoch bis zum Fifa-Präsidenten. men würde. Wenn nicht, sagt sie, wäre sie den
schaft hallt nach, mit der Weltmeisterschaft »Im Unterschied zu Gianni Infantino«, großen Weg eben nur ein Stück mitgegangen.
in Australien und Neuseeland wartet im sagt Gründerin Felicia Mutterer, »meinen wir Noch sind andere große Ligen, etwa in
­Sommer das nächste Riesenevent. das halt ernst.« England oder den USA, der Bundesliga um
Zur Wahrheit gehört aber auch: Trotz die- Drei der sechs Gründerinnen leben mit Jahre voraus; bei der Vermarktung wurde
ser Erfolge erwirtschaften die Vereine in der einer Partnerin zusammen, alle fahren E-Au­ vieles über Jahre verschlafen. Bei Viktoria
Frauen-Bundesliga bislang keine Gewinne. tos, das wirkt glaubwürdig, authentisch. Berlin immerhin sind sie aufgewacht. Dort
In der vergangenen Saison lagen die Verluste Glaubwürdigkeit und Authentizität sind soll ein Maskottchen entworfen, eine Hymne
im Schnitt bei 1,5 Millionen Euro pro Team. ­Dinge, die viele Menschen im gehobenen geschrieben, mit der Pächterin der Stadion-
Für eine Mannschaft wie Viktoria Berlin ist Männerfußball vermissen. kneipe eine Einigung zu vegetarischen Alter-
das zurzeit noch weit mehr als ein Jahresetat. Mitstreiter zu finden war immer leicht, sagt nativen zur Bratwurst gefunden werden.
Um den für die kommende Saison zu Felicia Mutterer. Aufmerksamkeit zu bekom- Vier Punkte liegen die Frauen von Viktoria
­sichern, läuft gerade eine zweite Finan­ men, Begeisterung auszulösen. in der Tabelle aktuell vor ihren Verfolgerin-
zierungsrunde an. Die Regeln für Investoren Schwieriger war das Operative, das Klein- nen. Drei Runden sind noch zu spielen, in der
sind dieselben geblieben. Grob gesagt: keine Klein, die Abhängigkeit von anderen Leuten, Relegation wartet der Hamburger SV.
Unternehmen, keine Riesenbeträge, keine Verbänden, der Stadt. Die tausend offenen Es wäre der erste große Schritt nach oben;
Arschlöcher. Und mehr Frauen als Männer. Fragen: Wer hängt die Banner auf, wieso vielleicht auch der schwerste. Zwei Partien,
Alle paar Wochen kommen die Gründe- klappt das mit der Videoleinwand nicht? Wie- Hin- und Rückspiel. Ein Fehler, eine rote Kar-
rinnen zu ihren, wie sie sagen, »Big Boss«- so ist die Musikanlage verplombt, wieso darf te, ein Gegentor zu viel – und die ganzen Sie-
Meetings zusammen, meist im Soho House die Musik bei den Profis viel lauter sein als bei ge der Saison, die 133 geschossenen Tore,
in der Berliner Innenstadt. Aus den Boxen wären umsonst gewesen. Dann müsste die
klimpert Weltmusik, Expats tippen auf Mac- * Lisa Währer, Tanja Wielgoß, Katharina Kurz, Verena Revolution eben noch mal warten.
Books herum und schlürfen Ingwertee. Pausder und Felicia Mutterer. Josef Saller  n

92 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


SPORT

Terhoeven: Die deutsch-israelischen


Beziehungen waren nach dem 29. Ok­
tober schwerer belastet als nach dem
Attentat selbst. Für die Hinterbliebe-

»Auch der GSG-9-Chef hat


nen ist das bis heute schwierig. Um
den Umgang mit ihnen wird es uns in
der Aufarbeitung auch gehen.

Zweifel formuliert«
SPIEGEL: Vor dem Jahrestag im Sep-
tember 2022 wurde vor allem um eine
finanzielle Entschädigung gestritten.
Terhoeven: Es ist leider typisch, dass
es in der öffentlichen Debatte über
TERRORISMUS  Nach gut 50 Jahren soll eine Kommission endlich den Umgang mit Hinterbliebenen
und Überlebenden terroristischer An-
das Attentat auf das israelische Olympiateam 1972 aufarbeiten. schläge meist ums Geld geht. Der Sta-
Die Historikerin Petra Terhoeven über offene Fragen und unbequeme Opfer. tus von Opfern in der Gesellschaft ist
insgesamt immer noch ambivalent,
auch wenn sich in den 50 Jahren zum
Mehr als 50 Jahre sind vergangen, seit den Terroristen kaum zwei Monate Glück vieles verbessert hat.
bei einer Geiselnahme durch paläs­ nach dem Attentat. Es gibt Gerüchte, SPIEGEL: Inwiefern?
tinensische Terroristen während der dass die Entführung einer Lufthansa- Terhoeven: Wir sind sensibler gewor-
Olympischen Spiele 1972 in München Maschine womöglich fingiert wurde, den, was die Konfrontation mit Ge-
elf Israelis und ein deutscher Polizist damit die deutsche Regierung die At- walt und der Verlust eines Angehöri-
ums Leben kamen. Die Bundesregie­ tentäter ohne Gesichtsverlust freilas- gen für die Betroffenen bedeuten.
rung hat nun eine Kommission inter­ sen konnte – wegen der Beziehungen Früher haben wir unsere Aufmerk-
national renommierter Historikerin­ zur arabischen Welt, aber auch, um samkeit sehr viel stärker auf die Täter

Privat
nen und Historiker eingesetzt, um das sich durch einen Deal vielleicht vor fokussiert. Opfern wurde oft eher
Versagen deutscher Behörden im Um­ künftigen Anschlägen auf deutschem Misstrauen entgegengebracht und ge-
Terrorismusexpertin
gang mit dem Attentat aufzuarbeiten. Boden zu schützen. Terhoeven: sagt, die sollten sich mal zusammen-
Die Terrorismusforscherin Petra Ter­ SPIEGEL: Den Vorwurf erhob die isra­ »Welche Rolle haben reißen. Inzwischen wissen wir glück-
hoeven, 54, aus Göttingen ist eine von elische Seite. die Geheimdienste licherweise mehr über psychische
ihnen. Terhoeven: Auch einige deutsche Of- gespielt?« Traumata. Gleichzeitig wird Betrof-
fizielle wie der GSG-9-Chef Ulrich fenen noch immer unterstellt, sie
SPIEGEL: Frau Terhoeven, was ist aus Wegener haben Zweifel an der Dar- wollten sich irgendwelche Vorteile
Ihrer Sicht die wichtigste Aufgabe der stellung der Bundesregierung formu- erschleichen, indem sie sich auf den
Kommission? liert. Die Gerüchte beziehen sich Opferstatus berufen. Ich glaube, dass
Terhoeven: Es gilt vor allem, dem Be- unter anderem darauf, dass in dem es auch im Fall des Olympia-Attentats
dürfnis der Hinterbliebenen nach entführten Flugzeug neben der Crew diese Ambivalenz gibt.
Aufklärung, nach historischer Wahr- nur 13 ausschließlich männliche Pas- SPIEGEL: Sie haben selbst zu politischer
heit gerecht zu werden. Die Opfer- sagiere saßen und die deutschen Ver- Gewalt und Terrorismus geforscht.
familien hatten jahrzehntelang das antwortlichen sehr schnell eingelenkt Terhoeven: Das Bedürfnis nach ehr-
Gefühl, hingehalten und belogen zu haben. Aber Beweise, dass es anders licher Information ist eines, das alle
werden – nicht zu Unrecht. Die deut- lief, als offiziell behauptet, gibt es bis Opfer miteinander verbindet, egal
schen Behörden haben ja wirklich bis jetzt nicht. Ob wir Akteneinsicht be- ob es um Linksterrorismus, rechtster-
in die Neunzigerjahre hinein ge- kommen, wird man sehen – leicht roristische oder islamistische Anschlä-
leugnet, dass es überhaupt Akten zu wird es nicht werden. ge geht. Die Leute wollen die Wahr-
dem Attentat gibt. Wir als Kommis- SPIEGEL: Die schnelle Abschiebung heit wissen und dass ihr Leid, ihr Ver-
sion möchten den Familien zusagen, führte dazu, dass die Täter nie vor Palästinensischer
lust anerkannt wird. Das ist im Fall
dass jetzt, ein halbes Jahrhundert einem Gericht zur Rechenschaft ge- Geiselnehmer von Terrorismus eben auch oft heikel.
nach dem Anschlag, nicht nur die zogen wurden. 1972 in München SPIEGEL: Warum?
staatlichen Fehler und Versäumnisse Terhoeven: Weil Terrorismus sich per
selbst aufgearbeitet werden, sondern definitionem gegen eine politische
auch deren spätere Vertuschung. Ordnung richtet. Die Menschen wer-
SPIEGEL: Vieles von diesem Versagen den ja nicht als Individuen ange­
ist im Laufe der Zeit schon ans Licht griffen, sondern stellvertretend. Der
gekommen. Auf welche Fragen wol- Staat muss dann erklären, warum er
len Sie noch Antworten finden? die Menschen nicht geschützt hat:
Terhoeven: Es wird natürlich noch ein- warum die Polizei versagt hat, warum
mal darum gehen, warum dieser An- möglicherweise Geheimdienste eine
schlag nicht verhindert worden ist. unrühmliche Rolle gespielt haben. Da
Und um die Gründe für das desaströse kollidieren die Bedürfnisse der Opfer
Scheitern des Polizeieinsatzes. Welche naturgemäß mit den Geheimhal-
Kommunikation gab es zwischen deut- tungsinteressen des Staates. Aber das
schen und israelischen Regierungsstel- macht deren Anliegen nicht weniger
Sven Simon / IMAGO

len? Welche Rolle haben die Geheim- legitim. Oft fördern sie Wahrheiten
dienste BND und Mossad gespielt? Es zutage, die für die gesamte Gesell-
bleibt auch die Frage nach der ominö- schaft wichtig sind.
sen Freipressung der drei überleben- Interview: Anne Armbrecht n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 93


WISSEN

Samiullah Popal / EPA


Ghulam Abbas, Schmied in der afghanischen Hauptstadt Kabul, bringt in seiner Werkstatt eine Mini-Energiewende auf den Weg.
In Handarbeit baut Abbas Solaranlagen zur Wassererhitzung, mit denen die Menschen im Land kochen können, ohne
dass sie für die Energie bezahlen müssen. Für viele Afghanen ist die Beschaffung von Brennstoff für die Essenszubereitung ein
großes Problem.

Bußgeld statt High-Way


hydrocannabinol (THC) pro Milliliter Blutserum reicht für einen
Rausch kaum aus, wohl aber für ein saftiges Bußgeld. Das
Schweizer Bundesamt für Gesundheit hat darauf hingewiesen,
dass erst eine THC-Konzentration von 6 bis 8 Nanogramm
ANALYSE  Trotz der geplanten Liberalisierung des
pro Milliliter (ng/ml) Blutserum etwa der Beeinträchtigung ent­
Cannabiskonsums bleiben die Regelungen für spricht, die 0,5 Promille Alkohol im Blut bewirken. Cannabis­
einen Grenzwert im Straßenverkehr wohl noch lange nutzer seien erst ab Werten von 10 ng/ml nachweislich öfter in
Unfälle verwickelt. In Deutschland schlagen Experten meist
Zeit unklar. Dabei gibt es Antworten aus der ­geringere Grenzwerte vor, aber einen Konsens, wo ein solcher
­Wissenschaft auf die Frage nach der Fahrtüchtigkeit. Wert genau liegen sollte, haben sie noch nicht gefunden.
Laut Wissing sollen sich nun weitere Fachleute mit dieser Fra­
Die Ampelkoalition will den Umgang mit Cannabis liberalisie­ ge befassen – mit zeitlich offenem Ende. Selbst wenn ein Grenz­
ren. Im Straßenverkehr aber kennt Deutschland offenbar auch wert feststünde, bliebe es kompliziert: Für Konsumierende wäre
künftig wenig Pardon für Nutzer dieser beliebtesten – noch – es schwer einzuschätzen, ab wann sie das Auto stehen lassen
­illegalen Droge. Das Verkehrsministerium von Volker Wissing müssen: Oft ist nicht bekannt, wie viel THC im konsumierten
(FDP) plant zunächst keine Anhebung des Grenzwerts, ab dem Cannabis enthalten ist, sodass der aktuelle THC-Wert schwer ab­
das Autofahren nach Cannabiskonsum mit Bußgeld oder Fahr­ zuschätzen ist. Und die für die Verkehrssicherheit relevanten
verboten belegt wird. Wissenschaftlich ist das schwer zu begrün­ Grenzwerte lassen sich weniger zuverlässig ermitteln als bei Al­
den, und es könnte selbst für Menschen teuer werden, die sich kohol; oft stimmen die Ergebnisse von Speichel- und Bluttests
im Straßenverkehr nicht verantwortungslos verhalten haben. nicht überein. Weil sich THC im Körper langsam abbaut, bleibt
Der derzeit gültige Grenzwert für Fahrerinnen und Fahrer liegt es bisweilen noch Wochen nach dem Konsum nachweisbar.
drakonisch niedrig: Ein Messwert von einem Nanogramm Tetra­ Im Gehirn spielt es dann längst keine Rolle mehr. Marco Evers

94 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


Wann kommt der dank Antikörpern gegen das Virus gewapp­ ­ eränderten Viren laufen Zulassungs­
v
net. »Alle unnötigen Hindernisse für Impf­ verfahren. Besonders interessant sind
Vogelgrippe-Impfstoff? strategien«, so das Fazit, sollten »sofort und Markerimpf­stoffe: Nach deren Gabe soll
TIERSEUCHEN  70.000 getötete Enten im für immer beseitigt werden«. es möglich sein, geimpfte von infizierten
Landkreis Schwandorf, 20.000 getötete Andere Forschende sehen diese Empfeh­ Tieren zu unterscheiden. Laut FLI werden
­Puten im Landkreis Ansbach – das ist nur lung kritisch. Auch geimpftes Geflügel kann erste Zulassungen für neue Impfstoffe
ein Teil der Bilanz des ständigen Vogel­ das Virus verbreiten – aufgrund mangeln­ durch die Europäische Arzneimittelbehörde
grippe-Ausbruchs in Deutschland. Bereits der Symptome eher unbemerkt. Weil der für diesen Herbst erwartet. ALW
beim ersten Verdachtsfall muss laut Ge­ Vogelgrippe-Erreger neuerdings ganzjährig
flügelpest-Verordnung meist der gesamte vorkommt, stellt die Impfung nach Ein­
Bestand eines Betriebs mithilfe von Gas schätzung des Friedrich-Löffler-Instituts
oder Elektroschocks getötet werden. (FLI) »eine zu überdenkende Option dar«.
Diese sogenannte Keulung soll die Ver­ Da Durchführung und Überwachung auf­
breitung von H5N1, dem Erreger der wendig und teuer wären, könnte eine Imp­
­Aviären In­fluenza, verlangsamen. fung aber nur ein Hilfsmittel sein, betonen
Was künftig ebenfalls helfen könnte: Fachleute.

Nathan Stirk / Getty Images


eine Impfung. In China nutzt man neben Noch stehen in Europa ohnehin keine
der ­gezielten Tötung bereits seit Jahren passenden zugelassenen Impfstoffe zur
eine Vakzine, deren Wirksamkeit ein Team ­Verfügung. Entsprechend bemüht suchen
um die Virologin Chen Hualan ausgewertet Forschende nach neuen Mitteln: In der
hat. Das Ergebnis: Etwa 70 Prozent der ­Entwicklung sind Vakzine auf RNA-Basis;
­geimpften Hühner waren laut der Studie für Vektorimpfstoffe mit gentechnisch

»Im echten Leben gibt es nur


Kapuze zum Bäcker. Ich hatte SPIEGEL: Als der Krebs Ende
Angst, andere mit meinem Aus­ 2020 zurückkam, lief seit weni­

null oder hundert«


sehen zu erschrecken. gen Wochen eine klinische
SPIEGEL: Haben die Therapien ­Studie zu einer neuen Therapie.
Sie traumatisiert? Welche war das?
Gössling: Die Nebenwirkungen Gössling: Das war eine Immun­
MEDIZIN  Wolfgang Gössling, 55, überstand eine
der Chemotherapie waren therapie. Ich hatte als Onkologe
schwere Krebserkrankung. Der Onkologe von der schlimm. Ich verstehe jetzt viel die Einführung der Behand­
Harvard University spricht über belastende Behand- besser, was es bedeutet, wenn lungsmethode miterlebt und Pa­
einem ständig übel ist, man nicht tienten begleitet, die dadurch
lungen und Möglichkeiten der Immuntherapie. mehr klar denken kann. Dann von Tumoren geheilt wurden,
kam eine Operation, bei der mir an denen sie wenige Jahre zu­
SPIEGEL: Herr Gössling, bei neue Therapien entwickelt die Chirurgen ein riesiges Stück vor gestorben wären. Wir wuss­
Ihrer Krebsdiagnose gingen Sie ­werden. Haut, Muskeln, Nerven, Gefäße ten durch Genanalysen meines
zunächst davon aus, dass die SPIEGEL: Wie fühlt es sich an, und Fettzellen aus dem Gesicht Tumors, dass er voller Muta­
statistische Chance zu überle­ dass Ihr Gesicht durch Opera­ entfernten und die Lücke so gut tionen war und viele Eiweiß­
ben, bei vier Prozent lag. Wo­ tionen und Bestrahlung heute wie möglich füllten und schlos­ stoffe produzierte, die mein Im­
her nahmen Sie die Hoffnung, anders aussieht als früher? sen. Die Bestrahlung danach war munsystem erkennen würde.
dass es trotzdem weitergeht? Gössling: Ich kann heute ohne der Horror. Als der Krebs nach SPIEGEL: Was passierte?
Gössling: Ich hatte unterhalb Scham vor meine Studenten vielen Jahren zurückkam und Gössling: Es geschah etwas
des rechten Auges einen sehr treten und unterrichten. Am ich dachte, alles wieder genauso schier Unglaubliches. Nach
seltenen, aber hochaggressiven Anfang war das anders. In den durchmachen zu müssen, habe einer Kombination aus Chemo-
Tumor, ein sogenanntes Angio­ Wochen und Monaten nach der ich begriffen, wie traumatisch und Immuntherapie wurde der
sarkom. Die Überlebenschance ersten Operation lief ich nur mit die Behandlungen waren. Tumor entfernt. Normalerweise
war sehr klein, aber real. Wahr­ findet man darin zerstörte
scheinlichkeiten gehören in die Krebszellen. Aber in meinem
Prozentrechnung, im echten Gewebe fand sich keine einzige
­Leben gibt es nur null oder hun­ mehr, der Krebs war weg.
dert, Tod oder Überleben. Ich SPIEGEL: Ihr Immunsystem hat­
habe mich voll und ganz auf die te den Tumor besiegt?
Chance zu überleben fokussiert. Gössling: Er war spurlos ver­
SPIEGEL: Wie wichtig ist Hoff­ schwunden und ist bis heute
nung für Krebspatienten? nicht zurückgekommen. Weil
Gössling: Sie ist für viele ent­ mein Tumor aber so selten ist,
scheidend und kann gleichzeitig gibt es dafür kaum Daten über
sehr Unterschiedliches bedeu­ die Wirkung von Immunthera­
ten. Es kann die Hoffnung sein, pien. Seit zwei Jahren bekom­
den Krebs zu besiegen. Es me ich die Medikamente alle
Rania Matar / DER SPIEGEL

gibt die Hoffnung auf ein paar sechs Wochen, wir wissen nicht,
Jahre gute Lebenszeit, auf Wo­ was passiert, wenn wir sie ab­
chen mit der Familie, auf eine setzen. Ich gehe davon aus, dass
Reise, vielleicht auch Hoffnung mein Immunsystem es geschafft
auf ein gutes Sterben. Und Gössling mit Ehefrau hat, die Krebszellen zu töten –
es kann die Hoffnung sein, dass dass ich frei von Krebs bin. HEI

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 95


KLIMAKRISE 
Der Bunkerplan
Mit sinkenden CO2-Emissionen allein wird sich der Klimawandel nicht aufhalten lassen. Längst
arbeiten Firmen daher daran, den bedrohlichsten Stoff unserer Zeit unter Tage einzulagern. Noch ist
das in Deutschland verboten, doch das Umdenken hat begonnen. Droht nun eine neue Endlagerdebatte?

D
ie Luft schmeckt nach Schwe- dert Meter weiter, zu drei Metalliglus, der Atmosphäre zu holen, bräuchte
fel, Dampfsäulen steigen auf; Klimahelfer so groß wie zwei VW-Bullis. In den es 10.000 »Mammoths«.
die erstarrte Lava am Boden Iglus pressen sie das CO2, ähnlich Die Klimakrise wird sich also nur
sieht aus wie verbrannter Grießbrei, Kapazität der CO2- einem Sodastreamer, in Wasser, das bewältigen lassen, wenn die Staaten
den ein Riese vor langer Zeit ver- Abscheidung, in sie dann unter die Erde pumpen, nein, und Firmen beide Wege beschreiten:
Mrd. Tonnen pro Jahr
schüttet hat. Wenige Hundert Meter sie schießen das Wasser hinab: bis zu CO2 einsparen und einlagern. Schon
tief kocht die Erde. Ein Ort, wie er Stand 2021 60 Liter pro Sekunde, 2000 Meter der erste Teil, die Reduktion und der
0,04
karger kaum wirken kann. Doch kein tief, hinein in den porösen Basalt. Verzicht, gestaltet sich schwierig,
Brodeln und Blubbern ist zu hören, Hier geschieht, was nach Alchimie komplette Branchen und Industrien
nur das Rattern und Dröhnen von 2050 klingt: Klimagift in Stein verwandeln. müssen umgerüstet werden, Gesell-
Ventilatoren. Aus der Lava ragen 8,5 Das Kalzium, Magnesium und Eisen schaften ihre Gewohnheiten ändern.
­Betonpfeiler in den Himmel, darauf notwendig, um aus dem Basalt verbindet sich mit Doch beim zweiten Teil, der Einlage-
thronen acht graue Container, ver- 1,5-Grad-Ziel zu dem CO2 aus dem Sprudelwasser – rung, drohen noch einmal ganz neue
gittert auf der einen, mit je zwölf erreichen* binnen zwei Jahren ist das Gas laut Konflikte: Das CO2 der Welt wird sich
­Ventilatoren bestückt auf der anderen Carbfix fast restlos gebunden. schließlich nicht in Island bunkern
Seite. »Orca«, so nennen sie die Spielt sich vor der unwirtlichen lassen. Wohin also damit?
­größte CO2-Filteranlage der Welt. entspricht dem Kulisse also eine erfreuliche Episode Deutschland könnte zur Mitte
Was sie hier herstellen auf der Hel- 1,7-Fachen der der endlosen Echtzeitserie über den des Jahrhunderts etwa ein Achtel
lisheiði-Hochebene, in dieser isländi- CO2-Emissionen der Kampf des Menschen gegen die selbst ­seiner heutigen Treibhausgasemissio-
USA im Jahr 2021
schen Einöde, ist saubere Luft. Und verursachte Klimakrise ab? Kann es nen unterirdisch entsorgen müssen.
das Kohlendioxid, das sie einfangen, * bei 80 % Emissions- doch gelingen, sich mit Erfindergeist Carbon Capture and Storage (CCS)
einsparung
dieses Klimagift mit dem Kürzel CO2, S Quellen: Irena, Global
und technischer Raffinesse statt mit heißt das Verfahren. Geologisch hat
das den Planeten aufheizt, Dürren Verzicht dem Untergang entgegenzu- Deutschland einen Standortvorteil:
‚

Carbon Atlas
verstärkt, die Ozeane versauert, die stemmen? Die Bundesanstalt für Geowissen-
Polkappen schmelzen lässt – diesen Nein, reichen werde es nicht, CO2 schaften und Rohstoffe schätzt die
Dreck lassen sie hier zu Stein werden direkt aus der Luft zu filtern und ein- gesamte Speicherkapazität an Land
und bunkern ihn ein, für Tausende, zulagern, sagt selbst der Technologie- und im Meer auf 20 bis 115 Milliarden
Zehntausende, vielleicht Hunderttau- chef von Climeworks, Carlos Härtel, Tonnen CO2. Das würde reichen, um
sende Jahre. 59, dessen Geschäft darauf beruht. die gesamten deutschen Kohlendi-
Auf der Vulkaninsel in Europas
äußerstem Norden sind die Voraus-
»Wir wollen »Das ergibt nur Sinn, wenn die Welt
fast kein CO2 mehr direkt emittiert.«
oxidemissionen aus dem Jahr 2022
30- bis 173-mal einzulagern. Doch
setzungen dafür perfekt: Ein nahe deutschen Schließlich ist es viel leichter, weniger politisch und juristisch sind die Hür-
gelegenes Geothermiekraftwerk ver- Unternehmen Dreck auszustoßen, als ihn im Nach- den hoch.
sorgt die energieintensiven CO2-Filter gang herauszufiltern. Seine Methode Lange spielte CCS in der Klima-
mit günstigem Ökostrom, und die
Kohlendioxid funktioniert zwar technisch, ist je- debatte hierzulande kaum eine Rolle.
abnehmen.«
[M] DER SPIEGEL; Mlenny / Getty Images; Mario Bonomi / Getty Images

geologischen Bedingungen zum Ein- doch extrem kostspielig. In der Wirtschaft galt das Verfahren
lagern des Kohlendioxids im Unter- Edda Sif Pind Trotzdem haben internationale vielen als zu teuer, Umweltlobby-
grund sind ideal. Aradóttir, Geldgeber rund 650 Millionen Dollar gruppen verwiesen stets auf mögliche
Zu Werke gehen hier die Mitarbei- Carbfix-Chefin in Climeworks investiert, damit Här- Gefahren, die Politik fürchtete Bür-
ter von zwei Firmen, deren Namen tel und seine Kolleginnen und Kolle- gerproteste, von der Union bis zu den
klingen wie Comicfiguren: Carbfix gen ihre Prototypen weiterentwickeln Grünen wollte nach dem 2011 gerade
und Climeworks. Carbfix ging 2020 können. Schon errichten sie neue erst befriedeten Atomstreit kaum je-
aus einem Forschungsprojekt der Uni- ­Filter: Wenige Hundert Meter von mand eine Neuauflage des Endlager-
versität von Island gemeinsam mit »Orca« entfernt soll der große Bruder streits. CCS galt als gescheitert. Erste
Christopher Lund / DER SPIEGEL

anderen Partnern hervor, Clime- der Anlage entstehen, mit 72 Kollek- Tests führten nirgendwo in der EU zu
works, 2009 in Zürich gegründet, torencontainern, »Mammoth« haben größeren oder gar kommerziellen
fand in Island alles vor, was es zur sie ihn getauft. Ab kommendem Jahr, CCS-Vorhaben.
Weiterentwicklung und Erprobung so der Plan, wird er neunmal mehr Nun wirbt selbst Robert Habeck,
der CO2-Filtertechnik braucht. CO2 absorbieren als sein Vorgänger. der grüne Bundesklimaminister, für
Das gesammelte CO2 schicken die Das Problem: Um nur ein Prozent die Technik: »Ich will das CO2 lieber
Fachleute durch Rohre, ein paar Hun- der weltweiten CO2-Emissionen aus im Boden als in der Atmosphäre ha-

96 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


WISSEN

Die Orca-Anlage auf Island kann


jährlich 4000 Tonnen CO2 aus der
Atmosphäre filtern, die anschließend
unterirdisch gespeichert werden.

1 Adsorption
Ventilatoren saugen
Luft durch einen
Filter, der Kohlen-
dioxid auffängt.
Die saubere Luft
verlässt das Gerät.
CO2-Kollektor

2 Desorption
Die Zuluftklappen
werden geschlossen
und der Filter auf
100 Grad Celsius
erhitzt. Dadurch wird
das Kohlendioxid
wieder freigesetzt
und abtransportiert.

3 Injektion
Das konzentrierte CO2
wird mit Wasser
gemischt und mehr
als 2000 Meter unter
Geothermie- die Erde gepumpt.
kraftwerk

Betriebshalle

liefert
Wärme
und Strom

Bohrloch

ISLAND
Reykjavik
Orca-Anlage und Geothermie- Mineralisierung
kraftwerk Hellisheiði Im Untergrund reagiert das CO2 mit dem
Basaltgestein und wird beispielsweise
S Quelle: Climeworks in Form von Kalk gebunden. 4
‘

ben«, sagte er beim Besuch eines Z


­ ementwerks grünen Alternativen bereitzustellen. Jetzt Emissionsvermeidung erlahmen lässt? Sind
südlich von Oslo im vergangenen Winter. Das sendet Habeck im norwegischen Schneetrei- die Speicher wirklich sicher? Was passiert,
deutsche Unternehmen Heidelberg Materials, ben die Botschaft: Nein, wir schaffen es nicht. wenn die Endlager doch leckschlagen? Und
einer der größten Zementproduzenten der Das Tempo der Energiewende reicht nicht welche Bürger sind bereit, in ihrer Nachbar-
Welt, baut hier eine Anlage, die das CO2 aus aus, um den CO2-Ausstoß schnell genug schaft eine unterirdische CO2-Deponie zu
der Produktion auffängt, um es anschließend runterzubringen – und selbst wenn, bliebe akzeptieren?
abzutransportieren. ein großer Batzen Emissionen übrig, der sich Seit elf Jahren ist die unterirdische Einla-
Spätestens seit dem Abkommen von K ­ yoto nach heutigem Stand der Technik auch durch gerung von Klimagasen in Deutschland mit
1997 galt das Prinzip Vermeiden: Irgendwie grüne Alternativen kaum vermeiden ließe. so hohen Hürden versehen, dass sie faktisch
würde es der Welt und allen voran den Deut- Eine Zäsur in 26 Jahren Klimapolitik. verboten ist. Damals war das risikoscheue
schen schon gelingen, Wirtschaft und Gesell- Deshalb muss sich die Menschheit nun Deutschland aus der CCS-Technik ausgestie-
schaft rechtzeitig vom Verbrennen fossiler Müllhalden unter Tage schaffen, mit dieser gen, bevor es überhaupt richtig losging. Dabei
Rohstoffe abzubringen, die Treibhausgas- umstrittenen, aber unvermeidbaren Technik. hofften Wirtschaft und Wissenschaft, mit der
emissionen gar nicht erst entstehen zu lassen, Doch wie ist zu verhindern, dass die Hoffnung Technik die Kohlekraftwerke weitgehend kli-
sondern Energie, Ernährung, Mobilität mit auf den Bunkerplan das Engagement bei der maneutral zu bekommen. Mehrere Energie-

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 97


WISSEN

Arnaldur Halldorsson / Bloomberg / Getty Images

Ilja C. Hendel / DER SPIEGEL


1 2

konzerne planten Projekte in Deutschland. Freifahrtschein für jedwede Verklappung. Deutschland jedes Jahr bis zu 50 Millionen
RWE wollte mit einer mehr als 500 Kilometer »Wir haben eine klare Hierarchie formuliert: Tonnen CO2 im Meer oder an Land verklappt
langen »Klimaschutz-Pipeline« Kohlendioxid Erst muss CO2 vermieden werden«, sagt die werden könnten. Das sind rund sieben Pro-
aus dem Rheinland nach Nordfriesland trans- Niedersächsin, oder es könne in einem Kreis- zent des derzeitigen CO2-Ausstoßes. Auch
portieren und dort an Land verpressen. Vat- lauf verwendet werden. »CCS sollte nur für der Weltklimarat IPCC sieht CCS als funda-
tenfall hatte Ähnliches in Ostbrandenburg die unvermeidbaren Restemissionen verwen- mental an: Bis 2100 müssten im schlimmsten
vor. Kanzlerin Angela Merkel war für die det werden.« Falle bis zu 680 Milliarden Tonnen CO2 ein-
Technik, ebenso die Landesregierungen in Die Umweltlobbygruppen sind ebenso zer- gelagert werden – das ist mehr, als der 18-fa-
den beiden Bundesländern. rissen. Den BUND treibt die Sorge, dass CCS che weltweite CO2-Ausstoß. Sollte die Tech-
Doch schnell formierte sich Widerstand, als Ersatz für Klimaschutz dienen soll. Es feh- nik doch nicht funktionieren, müsste die
in Schleswig-Holstein protestierte die »Bür- le das Geld für Wind- und Sonnenenergie, Menschheit noch viel drastischer und schnel-
gerinitiative gegen CO2-Endlager«, ein stili- Energieeffizienz und natürlichen Klimaschutz ler Emissionen einsparen als in allen bisheri-
sierter Kopf mit Gasmaske zierte das Logo. in Mooren und Wäldern, wenn man in CCS gen Klimaprogrammen angenommen.
Was, wenn das Kohlendioxid entweicht und investiere, heißt es beim Landesverband Doch nicht um Verkehr, Gebäude und
an die Oberfläche kommt? Was, wenn die Schleswig-Holstein. Der Naturschutzbund Energiewirtschaft wird es bei CCS hauptsäch-
Pipelines platzen oder das Trinkwasser durch hingegen gibt sich offen. Die Deutsche Um- lich gehen, denn mit E-Autos, neuen Heiz-
die Einlagerung versalzt? Rund 15 Monate welthilfe ist grundsätzlich dagegen, kann sich systemen und Solar- und Windenergie stehen
nach Projektstart und drei Monate vor der aber Ausnahmen vorstellen. Totale Ableh- grüne Alternativen für die fossile Realität
Landtagswahl machte der schleswig-holstei- nung kommt dagegen von Greenpeace: »CCS bereit. Es geht vor allem um die Emissionen
nische Ministerpräsident Peter Harry Cars- sollte überhaupt keine Rolle spielen im Maß- aus Branchen wie der Stahl-, Chemie- und
tensen (CDU) eine Kehrtwende: »Neue Tech- nahmenpaket gegen die Klimakrise«, sagt Zementindustrie, wo eine Umstellung weit
nologie kann man nur erproben und anwen- Geschäftsführer Martin Kaiser. komplizierter ist.
den, wenn es eine breite Akzeptanz in der Die Fundamentalopposition lässt sich je- Wie viele dieser sogenannten Restemissio-
Bevölkerung gibt.« Einem geplanten Kohlen- doch kaum mehr in Einklang bringen mit den nen übrig bleiben, ist eine politisch brisante
dioxid-Speicherungsgesetz wollte er im Bun- Szenarien der Klimaforschung, wenn die Zie- Frage. Es kommt darauf an, wie hart Einschnit-
desrat nicht zustimmen. Das war der Anfang le von Paris noch irgendwie erreicht werden te und Verbote sind, welche Branchen erhalten
vom Ende: Das verabschiedete Gesetz verbot sollen. Brigitte Knopf ist so etwas wie die Kli- und welche aufgegeben werden. »Es gibt Sze-
so viel, dass es niemand wagte, CCS in mabuchhalterin Deutschlands. Als Co-Vor- narien, die darstellen, dass bei einem radika-
Deutschland kommerziell auszuprobieren. sitzende des Klimarats der Bundesregierung len Umbau so gut wie gar keine Rest­emissionen
Erneut könnte sich in Schleswig-Holstein errechnet sie alljährlich, ob Deutschland in übrig bleiben«, sagt Oliver Geden, Leiter des
zeigen, wie groß der Widerstand gegen CO2- den zurückliegenden zwölf Monaten die Forschungsclusters Klimapolitik bei der Stif-
Lager nun, viele Jahre später, noch ist. Minis- selbst gesteckten Ziele erreicht hat. Und ob tung Wissenschaft und Politik in Berlin. Das
terpräsident Daniel Günther (CDU) hat das Land auf dem Pfad zur Klimaneutralität hieße dann aber zum Beispiel, dass es so gut
jedenfalls begonnen, den Anti-CCS-Kurs sei- im Jahr 2045 droht, vom Weg abzukommen. wie gar keine Tierhaltung mehr in Deutsch-
ner Partei aufzuweichen. Bei Markus Lanz »Im Moment sieht es nicht so aus, als könnten land gibt. »Ich halte das für höchst unrealis-
zeigte er sich im Januar offen: »Ich bin dafür, wir die Ziele erreichen«, sagt die Wissen- tisch.« Laut Geden könnten in Deutschland
die Diskussion darüber zu führen, es im eige- schaftlerin. »Schon heute überziehen einige im Jahr 2045 rund 100 Millionen Tonnen von
nen Land zu machen.« Man könne nicht nur Sektoren regelmäßig ihr CO2-Budget, seit den heutigen 746 Millionen Tonnen CO2 übrig
aufs Ausland schauen. Der Landtag in Kiel Jahren etwa die Bereiche Verkehr und Ge- bleiben. Damit Klimaneutralität erreicht wird,
holt jetzt den Rat von Experten ein, schon bäude.« Die Differenz summiere sich immer müsste man diese 100 Millionen – das ent-
bald dürfte es eine erste Befragung im Um- weiter auf, in den nächsten 8 Jahren müssen spricht ungefähr dem Jahresausstoß von
weltausschuss geben. Auch beim Koalitions- die Emissionen stärker sinken als in den ver- 50 Millionen Mittelklassewagen – der Atmo-
partner, den Grünen, können sich einige die gangenen 20 Jahren zusammen. sphäre entziehen und zumindest einen Teil
Kohlendioxidspeicherung unter bestimmten Der Thinktank Agora Energiewende geht davon dauerhaft unterirdisch einlagern.
Bedingungen zumindest vorstellen, auch bis 2045 denn auch von mehr als 60 Millionen Orangerot lodern die Flammen im Dreh-
wenn die Landespartei die Technik in ihrem Tonnen deutschen CO2-Emissionen jährlich rohrofen des Cemex-Werks in Rüdersdorf bei
Wahlprogramm strikt ablehnt. aus, die im Untergrund gespeichert werden Berlin, während sich die fünf Meter dicke und
Die SPD-Fraktion im Bundestag hat sicher- müssten – wobei unerheblich sei, ob unter 60 Meter lange, leicht geneigte Röhre langsam
heitshalber schon einmal ein Positionspapier deutschem Territorium oder im Ausland. Eine um die eigene Achse dreht. Im Ofen der nach
verabschiedet. Deren Obfrau im Energieaus- Studie des Forschungsprojekts »Ariadne« von eigenen Angaben größten deutschen Zement-
schuss, Nina Scheer, will auf keinen Fall einen Anfang des Jahres geht davon aus, dass in fabrik verwandelt sich bei knapp 1450 Grad

98 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


WISSEN

Ilja C. Hendel / DER SPIEGEL

Roland Horn / Cemex


3 4

Celsius Kalkstein zu gebranntem 1 | CO2-Filteranlage hätten die schon auf das Kürzel CCS Techniken einsetzt und verhindert,
Kalk, unentbehrlicher Rohstoff für »Orca« auf Island verschreckt reagiert. »Wir wurden eine klimaneutrale Wirtschaft aufzu­
2 | Projektmanager
die Zementherstellung. Tonnenweise des CCS-Projekts von einem Ministerium gebeten, dass bauen«, sagte er im Januar. Aber nach
Kohlendioxid wird dabei freigesetzt. »Northern Lights« wir den öffentlichen Diskurs gar nicht vielen Jahren intensiver Forschung
Weltweit werden jährlich um die Overå  3 | CO2-Tanks erst anfangen mögen, das wäre nur wisse man nun, dass man einige
vier Milliarden Tonnen Zement fa­ in Norwegen kontraproduktiv«, erzählt Decker. ­industrielle Prozesse nicht CO2-frei
4 | Cemex-Zement­
briziert, das macht rund 500 Kilo­ werk in Rüdersdorf bei »Es ist paradox: Nur wenige Kilome­ bekomme.
gramm für jede Bewohnerin und jeden Berlin ter von hier liegt ein großer unter­ Geht es nach dem grünen Minister,
Bewohner des Planeten. Kaum einen irdischer Speicher für Erdgas: Das ist muss jetzt Schluss sein mit den Be­
einzelnen Stoff produziert die Mensch­ ein brennbarer Stoff, anders als CO2 . denken. »Wir sind leider nicht mehr
heit in derartigen Massen, und kaum Aber CCS ist für viele Politiker tabu.« in einer Situation, in der wir uns wün­
einer schädigt das Klima derart stark. Die Firma will nun zweigleisig fah­ schen könnten, wie die Welt ist, son­
Für mindestens sieben Prozent des ren: Einen Teil des CO2 will sie ver­ dern wo wir Entscheidungen fällen
menschengemachten CO2-Ausstoßes werten, um synthetische Treibstoffe müssen«, sagt er.
ist die Zementproduktion verantwort­ daraus zu erzeugen, etwa für den na­ Seine Beamten haben mittlerwei­
lich. Und: »Ein großer Teil davon ist hen Hauptstadtflughafen BER. Und le einen Entwurf fertiggestellt, mit
unvermeidbar«, sagt Alexandra De­ den anderen Teil will sie in unterirdi­ dem dieser Export legalisiert werden
cker, 51, Vorständin beim Baustoffher­ schen Speichern in Norwegen oder würde. Umstritten ist in der Bundes­
steller Cemex Deutschland. Island deponieren. regierung aber noch, ob man schon
Das Rüdersdorfer Unternehmen Unternehmen wie Cemex haben jetzt in der geplanten Gesetzesnovel­
hat gelobt, seine Emissionen drastisch großes Interesse an einer klimaneu­ le eine CO2-Speicherung in Deutsch­
herunterzufahren; schon in sieben tralen Produktion mittels CCS, schei­ land ermöglichen will. In Habecks
­Jahren will es klimaneutral sein. Ein tern aber entweder an politischen Ministerium gibt es Leute, die eine
ambitioniertes Versprechen: 2,4 Mil­ Vorbehalten oder an rechtlichen Hür­ Zulassung befürworten.
lionen Tonnen Zement produziert Ce­ den. Denn auch der Export von CO2 Widerstand könnte der Minister
mex in Brandenburg, 1,2 Millionen ist bislang verboten. Robert Habeck von seinen eigenen Leuten erwarten,
Tonnen CO2 stößt die Fabrik jährlich will das nun schnell ändern. Sein Mi­ etwa der Kabinettskollegin Steffi
aus. Bis auf 800.000 Tonnen könne nisterium muss dafür das sogenannte Lemke aus dem Bundesumweltminis­
man das herunterfahren durch mehr Kohlendioxid-Speicherungsgesetz terium oder von der Basis. Es ist noch
Effizienz und alternative Brennstoffe, ändern. »Die Bedenken gegen CCS nicht so lange her, da waren die Grü­
sagt Decker. »Dann ist das Limit er­ waren immer, dass man sie bei alten nen von tiefer Skepsis durchdrungen,
reicht.« So bleiben Cemex drei Mög­ wenn es um CCS ging. Während sie
lichkeiten: das CO2 aus der Produktion energischer als die Ampelpartner
zu einem anderen Rohstoff verarbei­ SPD und FDP darauf dringen,
ten (Carbon Capture and Utilization, Endlager Deutschland schnellstmöglich erneuerbare Ener­
CCU). Es unterirdisch verklappen gien auszubauen oder den Verbren­
(CCS). Oder dichtmachen. Potenziell nutzbare Gesteins- nungsmotor zu verabschieden, brem­
formationen, um CO2 in fester DEUTSCHLAND
Bei Cemex in Rüdersdorf hätten Form unterirdisch zu speichern sen sie bei CCS.
sie das CO2 am liebsten direkt am In einem Papier der grünen Bun­
Schlot eingefangen und neben dem desarbeitsgemeinschaft Energie von
Werk gespeichert, »auf der anderen 2020 heißt es zwar, man lehne diese
Seite der Straße«, sagt Decker, in Technologien nicht grundsätzlich ab.
einer natürlichen unterirdischen La­ Aber über die Vorzüge von CCS steht
gerstätte. Technisch wäre es möglich, dort wenig, über die Nachteile eini­
behauptet die Managerin. Es gebe ges: »Bei der Einlagerung in geologi­
ausreichend Speicherraum in der schen Formationen bestehen Risi­
­Tiefe, das Geoforschungszentrum in ken«, je nach Standort zum Beispiel
Potsdam habe in einer Studie gezeigt, »Versauerung des Grundwassers oder
dass das Gelände geeignet sei. Auslösung seismischer Aktivitäten«.
Doch als die Cemex-Leute die ver­ So klingen Grüne meist bei dem
antwortlichen Politiker ansprachen, S Quelle: Carbfix Mineral Storage Atlas Thema: keine Absage, keinen entschie­


Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 99


WISSEN

denen Widerstand, aber sehr viele Zweifel.


»Man muss sehr genau definieren, welche
»Momentan kostet es müsse sich endlich mit neuartigen CO2-Ent-
nahmetechniken beschäftigen. Doch viel zu
Emissionen vermeidbar sind und welche ­mehrere Hundert Euro, lange sei nichts geschehen, man habe ver-
eigentlich auf anderem Weg wegfallen kön-
nen«, sagt Lisa Badum, die für ihre Fraktion
eine Tonne CO2 drängt, verzögert, abgewartet. Nun sei der
Druck groß, weil die Zeit knapp werde. »Es
Berichterstatterin zum Thema ist. »Nur für die aus der Luft zu filtern.« dauert bestimmt noch ein Jahrzehnt, bis tech-
wirklich unvermeidbaren Emissionen sollte Oliver Geden, Forscher nische Filteranlagen für sogenanntes Direct
man auch CCS einsetzen dürfen.« Air Capture groß genug sind, um nennens-
Außerdem fürchten sich viele Grüne vor werte Mengen einzufangen«, so Geden. Auch
der Technikeuphorie der Liberalen. Immer müssten die Kosten erheblich sinken, damit
schwingt die Sorge mit, wenn man jetzt CCS so etwas in großem Maßstab finanzierbar wer-
in großem Stil und vielleicht sogar auf deut- Das CO2 soll aus Zementwerken stammen, de. »Momentan kostet es mehrere Hundert
schem Boden zulasse, dann würden Liberale, Müllverbrennungsanlagen, Chemiewerken. Euro, eine Tonne CO2 aus der Luft zu filtern,
Konservative und Wirtschaftsvertreter ver- In einem ersten Schritt geht es um Klimagase, das ist nur für wenige Firmen bezahlbar.«
suchen, bei der Reduktion zu bremsen. Doch die direkt an Fabriken abgefangen werden, Es bezahlbar zu machen, das ist das Ziel
die Grünen werden sich kaum gegen die Tech- transportiert und dann eingelagert werden von Firmen wie Climeworks und Carbfix auf
nik sperren können. Sie wird gebraucht, das sollen. So wie es die deutsche Cemex bei Ber- Island. Carbfix-Chefin Edda Sif Pind Aradót-
kann man in den Szenarien der Klimawissen- lin vorhat. Der erste Kunde der Norweger ist tir ist überzeugt, dass ihre Technologie enor-
schaftler nachlesen – und sie wird bereits an- Heidelberg Materials, dessen Werk Minister mes Potenzial hat. Denn versteinertes Koh-
gewendet, wie ein Blick in die unmittelbare Habeck im Januar besucht hat. lendioxid biete eine Reihe Vorteile gegenüber
Nachbarschaft zeigt. Allein in der Nordsee CCS wird aber aller Wahrscheinlichkeit eingelagertem gasförmigem CO2. Es kann
arbeiten Norwegen, Dänemark, die Nieder- nach auch für einen Zeitmaschineneffekt nicht mehr ohne Weiteres in die Atmosphäre
lande, Belgien, Frankreich und Großbritannien beim Klimaschutz gebraucht, der zwar sehr aufsteigen, selbst beim unwahrscheinlichen
an eigenen CCS-Projekten. Weltweit befinden teuer ist, aber nötig werden könnte: für das Fall eines Lecks. Die öffentliche Akzeptanz
sich laut der Internatio­nalen Agentur für Erzielen »negativer Emissionen«. So nennen dürfte weitaus höher sein als bei einer direk-
­Erneuerbare Energien mindestens 24 CO2- Fachleute Verfahren, mit denen der Luft wie ten Verklappung des Gases. Und es sei ver-
Abscheide- und Speicherprojekte im kommer- beim »Orca«-Projekt auf Island CO2 entzo- gleichsweise preisgünstig, weil das CO2 nicht
ziellen Betrieb, die Hälfte davon in den USA. gen wird. Ein Teil der Klimaschuld vergan- in Lagerstätten auf hoher See geleitet werden
An einem arbeitet der norwegische Inge- gener Jahrzehnte ließe sich so ungeschehen müsse. Laut Carbfix liegt der Preis in Hellis-
nieur Sverre Overå. Der 64-Jährige will CO2 machen. Auch die Bundesregierung hat er- heiði unter 20 Euro je Tonne CO2, hier fallen
unter dem Grund der Nordsee versenken. Im- kannt, dass es ohne »technische Negativemis- allerdings auch keine Transportkosten per
merhin, der Anleger, den er dafür braucht, ist sionen« nicht geht, wie es im Koalitionsver- Schiff nach Island an.
schon fertig, er reckt sich in das Wasser des trag heißt. Demnach sollen bis 2045 alle un- Um die 100 Kilogramm Kohlendioxid
Fjords, in der Gemeinde Øygarden, hier im vermeidbaren Rest­emissionen aus der Luft passten in einen Kubikmeter Basaltgestein,
äußersten Westen Norwegens. An dem Termi- geholt werden. sagt Aradóttir. Theoretisch könnte fast ganz
nal, so erklärt es Overå, werden Tankschiffe Forscher Oliver Geden warnt, diese Men- Island eine gigantische CO2-Deponie werden,
aus ganz Europa anlegen, die das Treibhausgas gen auf die leichte Schulter zu nehmen. »Wir bis zu 2500 Milliarden Tonnen Kohlendioxid
anliefern. Die sollen alsbald mit Flüssigerdgas sollten uns schnell überlegen, wie wir das hin- ließen sich Studien zufolge dort speichern.
betrieben werden, was eine bessere Klima­ kriegen.« Das CO2 allein mit neu gepflanzten Das entspricht dem 70-fachen weltweiten
bilanz als Marinediesel hat. Von dem Terminal Bäumen oder wieder vernässten Mooren aus CO2-Ausstoß des vergangenen Jahres. Aber
gelangt das Gas in Röhren, die 110 Kilometer der Luft zu holen hält Geden für unmöglich. eben nur theoretisch, denn das CO2 müsste
raus aufs Meer führen. Dort fällt der Meeres- CO2-Fängeranlagen benötigten jedoch eine komplett aufgefangen und per Schiff angelan-
boden fast senkrecht auf über 200 Meter in völlig neue Infrastruktur. »Das sollte man det werden. Ein gigantischer Aufwand.
die Tiefe. Hier wird das Kohlendioxid in die nicht unterschätzen«, sagt Geden. Der Ex- »Wir können und wir wollen deutschen
Johansen-Formation verpresst, ein Sandstein- perte mahnte bereits vor Jahren, die Politik Unternehmen einen Teil ihres Kohlendioxids
vorkommen, zwölfmal so groß wie der Boden- abnehmen«, sagt Aradóttir. Aber Island kön-
see. 2024 will ein Konsortium, das vom nor- ne nicht im Alleingang das CO2-Problem der
wegischen Energiekonzerns Equinor angeführt Bundesrepublik lösen. Dafür sei Deutschlands
wird, mit der Endlagerung beginnen. Ausstoß viel zu groß, die Transportemissio-
Unweit des Anlegers steht ein kleines nen der vielen Schiffe wären enorm. »Es ist
schwarzes Gebäude aus Holz. Es ist das Besu- nicht der nachhaltigste Weg, Probleme anzu-
cherzentrum für Gäste aus aller Welt. Drinnen gehen, indem man immer alles auslagert«,
liegt in einer Glasvitrine ein handtellergroßer, sagt die Isländerin. Deutschland sei ein großer
beiger Klumpen: »Das ist poröser Sandstein«, Emittent und müsse Verantwortung für seine
erklärt Overå, der als Projektmanager bei dem Emissionen übernehmen.
»Northern Lights« getauften Vorhaben arbeitet. Die Carbfix-Leute haben eine Karte mit
»Dort fließt das Kohlendioxid hinein und den für CO2-Versteinerung geeigneten Ge-
­kristallisiert zu einem großen Teil aus.« Dane- bieten erstellt. Weite Teile Nord- und Ost-
ben liegt eine weitere Probe. »Das ist Schiefer, deutschlands sind dort markiert, ebenso ein
so wie man ihn hier in Norwegen auf die Dächer breiter Streifen, der sich von der Pfalz über
legt«, sagt er. Das Stückchen haben sie bei einer Mannheim bis hoch in den Raum Frankfurt
Ilja C. Hendel / DER SPIEGEL

Probebohrung draußen vor der Küste gewon- zieht. »Am besten ist es, wenn das CO2 an
nen. Zwei Schichten des Materials liegen über dem Ort gespeichert wird, wo es entsteht«,
der geplanten Lagerstätte als doppelte Siche- sagt Aradóttir. »Geologisch ist das in Deutsch-
rung für den Fall, dass das Kohlendioxid nach land an vielen Orten möglich.«
oben gedrückt wird. »In einem Großversuch Susanne Götze, Claus Hecking,
konnten wir zeigen, dass unsere Lagerstätte Philipp Kollenbroich, Jonas Schaible,
vollkommen sicher ist«, sagt Overå. CCS-Anlage in Norwegen Kurt Stukenberg, Gerald Traufetter n

100 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


WISSEN

von der Universität Mannheim. Durch Schul-


denerlasse könnten sie den dafür nötigen fi-
nanziellen Spielraum bekommen. Das ge-
wachsene Bewusstsein für Klima- und Arten-
schutz gebe hoch verschuldeten Staaten eine
neue Möglichkeit, auf die Probleme der Über-
schuldung aufmerksam zu machen.
»Noch vor zehn Jahren hätten ärmere
­Länder vielleicht keine Umschuldungen in
dieser Größenordnung bekommen, um den
Regenwald zu retten«, so Wirtschaftswis­
senschaftlerin Schultz. Und eine hohe Aus-
landsverschuldung verhindere nicht nur den
Naturschutz, sondern auch Investitionen in
Gesundheit und Bildung.
Kritisch sieht Schultz, dass sich auch Nicht-
regierungsorganisationen (NGOs) bei den
Swap-Geschäften engagieren. So beglich das
zentralamerikanische Belize mithilfe der

Getty Images
­Naturschutzorganisation The Nature Conser-
vancy rund 550 Millionen Dollar Schulden
Leguane auf Galápagos: Einzigartiges Ökosystem und muss nun im Gegenzug sein weltweit ein-
zigartiges Korallenriff schützen. »Für eine
NGO ist das nicht unbedingt das am besten
angelegte Geld«, sagt Schultz, »solche Orga-

Geld gegen Naturschutz


nisationen könnten ihre Mittel auch direkt in
Naturschutzprojekte stecken.« Das in Natur-
schutz-Tauschgeschäfte investierte Geld kom-
me schließlich auch privaten Gläubigern zu-
gute, die zuvor durch hohe Zinsen für ihre
ÖKOLOGIE  Eine Bank kauft ecuadorianische Staatsanleihen in Höhe Kredite an hoch verschuldete Länder profi-
tiert hätten.
von 1,6 Milliarden Dollar zurück – dafür verspricht das Land mehr Schutz Beim Galápagos-Deal profitiere Ecuador
der Artenvielfalt. Sind solche Deals die Rettung für bedrohte Gebiete? von der großen Bekanntheit der Inseln, sagt
die Ökonomin. »Am besten funktionieren
solche Tauschgeschäfte in Gebieten, die jeder

D
er Galápagos-Archipel ist weltberühmt und dem bolivianischen Staat zum Schutz des kennt.« Was aber nicht bedeute, dass das Geld
für seine Tierwelt. Die Inseln liegen fast Biosphärenreservats Beni. dort am nötigsten gebraucht werde. Zudem
1000 Kilometer von der Küste Ecua- Derlei Händel sollen ein Grundproblem ist Galápagos ganz ohne den Credit-Suisse-
dors entfernt im Pazifischen Ozean. Durch der Naturzerstörung abmildern: Weil globa- Deal bereits ein Vorbild für den Artenschutz.
die Abgeschiedenheit konnten sich hier zahl- le Krisen wirtschaftlich schwache Staaten Kein »debt-for-nature swap« löst indes
lose Tier- und Pflanzenarten weitgehend un- noch tiefer in finanzielle Bedrängnis bringen nach Ansicht von Ökonomin Schultz das
gestört von äußeren Einflüssen über Jahrtau- können, sehen deren Regierungen sich mit- Grundproblem: Mitverantwortlich für die Fi-
sende entwickeln. Doch die Vielfalt ist be- unter gezwungen, ihre natürlichen Ressour- nanznöte vieler Staaten des Südens seien eine
droht – zugleich ist Ecuador hoch verschuldet cen stärker auszubeuten als zuvor. Es werden ungerechte globale Steuerpolitik und fehlen-
und könnte daher versucht sein, durch mehr etwa Regenwälder abgeholzt, oder in öko- de Insolvenzregelungen auf Staatsebene. Re-
Tourismus die ökologisch sensiblen Gebiete logisch fragilen Regionen wird nach Boden- gierungen blieben auf ihren Schulden sitzen
zusätzlich zu belasten. schätzen gebohrt. und seien auf den guten Willen der Gläubiger
Ein Erlass der Schulden könnte also dop- Ein Beispiel dafür ist Sri Lanka, das vor angewiesen.
pelt helfen – der Wirtschaft wie der Natur. Kurzem seine Staatsschulden neu verhandeln Beim Naturschutz komme hinzu, dass rei-
Genau das hat die Skandalbank Credit Suisse musste. Um die Rückstände weiter bedienen che Nationen durch ihr Konsumverhalten
nun getan: Sie hat ecuadorianische Anleihen zu können, beschloss die Inselnation, im Golf genau jenen Raubbau an der Natur voran-
zurückgekauft. Die Bedingung: Die dadurch von Mannar Gas und Öl zu fördern – obwohl treiben, den sie hernach durch großzügigen
frei werdenden Gelder muss Ecuador in den Sri Lanka bereits stark unter dem Klima­ Schuldenerlass lindern wollen.
Schutz der Galápagos-Inseln investieren und wandel leidet. Wegen dieser Mitverantwortung, so Ali-
somit den Fortbestand des einzigartigen Öko- Ecuador wiederum hatte 2011 angeboten, son Schultz, sollten die Industrienationen
systems sichern. auf die Ölförderung im Yasuní-Regenwald zu Schadensersatz zum Schutz der Ökosysteme
Dieser »debt-for-nature swap« – ein verzichten – gegen Ausgleichszahlungen aus leisten – und sich für eine gerechte globale
Tausch also von Schuldenerlass gegen die dem Globalen Norden für die dadurch ent- Finanzpolitik einsetzen. Alles andere, so
Selbstverpflichtung, die Umwelt zu schüt- gangenen Einnahmen. Doch der Plan ging Schultz, sei eine postkoloniale Haltung der
zen – ist der bislang größte seiner Art. Die nicht auf – unter anderem wegen der Abwehr- reichen Nationen. »Ihr sollt für die Probleme
Idee indes ist nicht neu. haltung des damaligen deutschen Entwick- zahlen, die wir verursacht haben und unter
Bereits in den Achtzigerjahren brachte der lungshilfeministers Dirk Niebel. »Wir bezah- denen ihr jetzt leidet«, so fasst sie es zusam-
US-amerikanische Ökologe Thomas Lovejoy len doch nicht dafür, dass nichts passiert«, men. »Netterweise helfen wir euch dabei –
solche Geschäfte ins Spiel. Der erste Debt- beschied der FDP-Mann. aber nur, wenn ihr macht, was wir sagen,
for-nature-Tausch kam 1987 zustande, ein »Die meisten Länder haben ein Interesse und nur für jene Orte, die wir selbst noch
650.000-Dollar-Deal zwischen der Non-Pro- daran, Klima- und Naturschutz zu intensivie- bereisen wollen.«
fit-Organisation Conservation International ren«, sagt Finanzökonomin Alison Schultz Julia Koch n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 101


WISSEN

arten in den verschiedenen Phasen


und über die Zeit passiert.
SPIEGEL: Sie wurden auch deshalb
Schlafforscher, weil Sie den Auslöser

»Wir stehen am Beginn


der Narkolepsie suchen wollten.
Dachten Sie, dass diese Krankheit
helfen kann, das Rätsel Schlaf zu

einer neuen Ära«


­verstehen?
Mignot: Es gab drei Gründe, mich der
Narkolepsie zuzuwenden. Zum einen
mag ich es, als Forscher Fragen zu
stellen, noch mehr aber mag ich es,
HIRNFORSCHUNG  Der Neurowissenschaftler Emmanuel Mignot hat die Be­deutung Antworten darauf zu finden. Und die
Narkolepsie schien mir in diesem Sin-
der Schlaf-Wach-Zentrale im Gehirn erkundet – und damit womöglich die ne überschaubarer als die gigantische
­Schlafmedizin revolutioniert. Hier spricht er über den Sinn der Träume, Schlaf- Frage nach der Funktion des Schlafs.
mangel als Trennungsgrund und seinen schlummersüchtigen Chihuahua. Zum anderen erhoffte ich mir dabei
neue Erkenntnisse über den Schlaf als
solchen. Und schließlich gab es Pa-
Mignot, 63, französischer Psychiater lähmt, sodass er zur Ruhe kommen tienten, die litten, und niemand konn-
und Pharmakologe, war fasziniert konnte. Mit der Evolution der Hirn- te ihnen helfen.
vom Krankheitsbild der Narkolepsie, rinde – und damit unseren höchsten SPIEGEL: Wie geht es Narkoleptikern?
auch Schlummersucht genannt. Um kognitiven Funktionen – veränderte Mignot: Sie sind dauerhaft müde und
sie zu ergründen, zog es ihn ans be- sich der REM-Schlaf. Der Körper blieb erleben dauernd Situationen, in
rühmte Schlaflabor der kalifornischen gelähmt, aber die Hirnrinde wurde in denen sie halb wach sind und halb
Stanford University. Am Ende fand er Zufallsmustern angeregt, vielleicht um träumen. Sie nehmen dadurch zu.
das Molekül, das Narkoleptikern fehlt: uns kreativer zu machen. Und dann Ihre Träume sind oft so lebendig, dass
Orexin, ein Wachmacher im Gehirn. Arzt Mignot, Hund entwickelte sich der Non-REM-Schlaf, sie nach dem Aufwachen überzeugt
Dafür wurde ihm gemeinsam mit an- Watson: »Wenn damit auch die Hirnrinde sich ausru- sind, dass wirklich gerade, sagen wir,
deren Wissenschaftlern der Break- jemand einen Witz hen kann. Aber um das beweisen zu ein Einbrecher die Glastür zerschmet-
through Prize 2023 in den Lebenswis- erzählt, verlieren können, müssten wir genau wissen, tert, ins Haus gekommen und sie be-
manche Narkoleptiker
senschaften verliehen – die mit drei bei der Pointe ihren was im Hirn auf zellulärer und mole- stohlen hat. Und dann gibt es dieses
Millionen Dollar höchstdotierte For- ­Muskeltonus« kularer Ebene bei verschiedenen Tier- sehr seltsame Symptom, das nicht alle
schungsauszeichnung der Welt. von ihnen haben: Wenn sie sich freu-
en oder wenn jemand einen Witz
SPIEGEL: Herr Mignot, der Schlaf ist erzählt, verlieren sie bei der Pointe
eines der großen ungelösten Rätsel ihren Muskeltonus. Das kann so weit
der Biologie. Warum müssen wir ein gehen, dass sie zu Boden sinken, bei
Drittel unseres Lebens bewusstlos vollem Bewusstsein. Das ist fürchter-
verbringen? lich! Es hält die Patienten davon ab,
Mignot: Schlaf ist dazu da, wieder auf- ein normales Sozialleben zu führen.
zuladen, was tagsüber verbraucht SPIEGEL: Wie haben Sie es geschafft,
wurde. In der Nacht, wenn wir ohne- diesen Schlaf- oder besser Wachschal-
hin kaum sehen können, ruhen wir ter im Gehirn zu finden, für dessen
uns aus. Es ergibt Sinn, dass dann Entdeckung Sie den Breakthrough
auch der Energiebedarf sinkt, der Prize bekommen haben?
Stoffwechsel herunterfährt. So kann Mignot: Ich hatte zunächst nach Me-
der Körper sich regenerieren. dikamenten gegen Narkolepsie ge-
SPIEGEL: Wir schlafen, um Kalorien sucht, aber dann gemerkt, dass ich so
zu sparen? nicht die Ursache dieser Krankheit
Mignot: Ja, wir verbrennen im Schlaf finden würde. Daraufhin beschloss
weniger Kalorien. Nur nicht im so- ich, in narkoleptischen Hunden nach
genannten REM-Schlaf … dem verantwortlichen Gen dafür zu
SPIEGEL: … einer traumerfüllten suchen. Ich habe zehn Jahre dafür ge-
Schlafphase, benannt nach dem cha- braucht, dieses Gen zu isolieren! Da-
rakteristischen Zucken der Augäpfel: mals konnte man nicht einfach so
Rapid Eye Movement. Gene sequenzieren. Ich habe kaum
Mignot: Genau, währenddessen ist Forschungsförderung bekommen,
der Rest des Körpers gelähmt. In die- ­ältere Kollegen schauten auf mich
ser Phase verbraucht das Gehirn so- ­herab. Und ich war oft auf Reisen
gar mehr Kalorien. durch die USA, wo immer mal wieder
SPIEGEL: Das spricht gegen Ihre The- jemand einen narkoleptischen Hund
Lenny Gonzalez / DER SPIEGEL

se vom Schlaf zur Energieregulation. diagnostiziert hatte. Ich habe dann


Mignot: Nicht unbedingt. Ich glaube, Blutproben für die genetische Unter-
dass der REM-Schlaf sich in der Evo- suchung genommen.
lution aus einer Vorläuferphase ent- SPIEGEL: Sie haben selbst einen …
wickelt hat. In diesem ursprüngliche- Mignot: … ja, Watson (beugt sich hi-
ren Schlaf war der Körper auch ge- nunter und nimmt den Chihuahua auf

102 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


WISSEN

den Arm). Hier ist er! Ich nehme ihn manch-


mal mit in die Klinik. Die Narkolepsiepatien-
»Ich würde mir wünschen, länger wach sind. Da kommt die innere Uhr
ins Spiel. In der zweiten Tageshälfte steigt die
ten, speziell die Kinder, freuen sich sehr dass Schlaf wie Sport Körpertemperatur, Sie werden wacher, ob-
über ihn.
SPIEGEL: In Hunden haben Sie dann ein für
gesehen wird, als etwas wohl Ihre Schlafschuld jetzt größer ist.
SPIEGEL: Wo bleibt da jetzt das Nickerchen?
Narkolepsie verantwortliches Gen gefunden, Gesundes.« Mignot: Bevor die innere Uhr Sie wieder auf-
bei Menschen aber nicht. putscht, haben Sie in der Mitte des Tages die
Mignot: Es war das Gen für den Rezeptor Gelegenheit für einen herrlichen Schlummer.
eines Moleküls, das gerade erst entdeckt wor- Viele Tiere nutzen diese Chance auf eine
den war: Orexin. Es macht wach und redu- Menschen in einem solchen Amt leben in ­Siesta, auch viele Affen.
ziert Träume. Beim Menschen hingegen ent- einem permanenten Zustand des Schlafent- SPIEGEL: Um die Schlafschuld zu tilgen?
steht Narkolepsie als Autoimmunerkrankung. zugs. Und was viele von ihnen gut können, Mignot: Genau. Nachts passiert das Gleiche,
Das Immunsystem vernichtet nach einer ist einzuschlafen, sobald sie eine kleine Pau- nur umgekehrt: Zunächst zahlen Sie Ihre
Grippeinfektion die Zellen im Gehirn, die se haben, also zum Beispiel im Flugzeug sit- Schlafschuld ab, aber nach ein paar Stunden
Orexin produzieren. Es ist so ähnlich wie bei zen. Sie holen den Schlaf einfach nach. Aber sind Sie ausgeruht und könnten eigentlich
Typ-1-Diabetes, bei dem die Zellen zerstört das heißt nicht, dass sie in den langen Wach- aufwachen. Unterdessen senkt aber die zir-
werden, die Insulin produzieren. phasen nicht müde wären. kadiane Uhr Ihre Körpertemperatur, Sie
SPIEGEL: Haben Sie in den zehn schwierigen SPIEGEL: Laut der nationalen Schlafstiftung schlafen weiter.
Jahren daran gedacht aufzugeben? in den USA liegt die optimale Schlafdauer für SPIEGEL: Und analog zum Mittagsschlaf
Mignot: Nein, da bin ich wie ein Hund mit Teenager zwischen acht und zehn Stunden, ­könnten wir nachts eine Art Wachstündchen
einem Knochen: Wenn ich mir einmal etwas doch abends finden sie erst spät in den Schlaf. einlegen?
in den Kopf gesetzt habe, lasse ich nicht mehr Und morgens beginnt die Schule um acht Uhr. Mignot: Ja, Sie würden Ihrer Natur folgen.
davon ab. Und ich hatte ja auch Erfolg! Die Eine gute Idee? SPIEGEL: Träume entziehen sich weitgehend
Pharmaindustrie fördert Teile meiner For- Mignot: Natürlich nicht. Es besteht kein Zwei- der objektiven Wissenschaft. Und doch glaub-
schung, die Regierung einen Großteil, und fel daran, dass sich das Schlafverhalten um ten Menschen immer schon, tiefe Wahrhei­
heute gibt es Medikamente, die das Orexin die Pubertät herum verändert. Wir alle wer- ten in ihnen zu finden, Psychologen sehen
ersetzen können. den abends noch mal munterer; das ist ein darin eine Tür zur Seele, und Hirnforscher
SPIEGEL: Wirken sie wie Aufputschmittel? natürliches Phänomen der inneren Uhr. Bei erhoffen Antworten auf Fragen zum mensch-
Mignot: Nein, sie bilden eine ganz neue Klas- Heranwachsenden scheint das ausgeprägter lichen Bewusstsein. Wie schauen Sie auf
se von Wirkstoffen. Und es ist phänomenal, zu sein. Ihre Physiologie ist darauf ausgerich- Träume?
Narkoleptiker können damit vielleicht wieder tet, sehr lange aufzubleiben und sehr spät Mignot: Es stimmt schon, dass sie etwas Ma-
ein weitgehend normales Leben führen. aufzuwachen … gisches haben. In manchen Kulturen werden
SPIEGEL: Im Moment befinden sich diese Me- SPIEGEL: … wenn man sie lässt, auch gern erst Schamanen danach ausgewählt, wie intensiv
dikamente noch in klinischen Studien. Kön- gegen 13 Uhr. sie ihre Träume erleben, ob sie außersinnliche
nen sie auch Gesunde wachhalten, etwa Poli- Mignot: Ja, und eben weil das physiologisch Wahrnehmungen dabei haben. Die Beschrei-
tiker beim Verhandlungsmarathon? begründet ist, sollten wir dem Rechnung tra- bungen ähneln den Berichten von Narko­
Mignot: Absolut. Vielleicht können sie auch gen und den Schulbeginn verlegen. leptikern – man kann sich gut vorstellen,
bei Depression helfen, bei ADHS, bei allem, SPIEGEL: Auch rund 80 Prozent der Arbeit- dass solche eindrucksvollen Träume sich
was mit Gehirnzuständen zu tun hat, die mit nehmer in Deutschland leiden unter Schlaf- ­anfühlen, als öffnete sich die Tür zu einer
Wachheit und Schlaf assoziiert sind. Ich bin störungen, darunter Schlafmangel mit ähn- anderen Welt.
sicher: Wir stehen am Beginn einer neuen lichen Wirkungen wie bei einem Alkohol- SPIEGEL: Ist es sinnvoll, Träume zu deuten?
Ära. Wobei wir natürlich darauf achten müs- rausch: Wer stark übermüdet ist, verhält sich Sind sie nicht das Produkt zufällig durch­
sen, dass diese Wirkstoffe nicht missbräuch- irrational, ist leicht beeinflussbar, risikofreu- einanderfeuernder Neuronen?
lich verwendet werden – auch wenn es bislang dig, unkonzentriert. Mignot: Ich glaube, Träume spiegeln durchaus
so aussieht, dass sie nicht süchtig machen. Mignot: Ich würde mir wünschen, dass Schlaf unser Bewusstsein wider. Das Gehirn wird
SPIEGEL: Ist es für gesunde Menschen eigent- wie Sport gesehen wird: als etwas Gesundes. aktiviert, aber viel zufälliger als im Wach­
lich nach wie vor eine gute Empfehlung, acht Zumal er auch die emotionale Gesundheit zustand. Dieses zufällige Feuern aktiviert
Stunden zu schlafen? stark beeinflusst. Ich frage mich immer, wie vielleicht Dinge, die tiefer im Bewusstsein
Mignot: Jeder benötigt eine unterschiedliche viele Scheidungen sich auf Schlafmangel zu- oder in der Gehirnstruktur liegen. Und es
Menge Schlaf. Den Leuten eine pauschale rückführen lassen. spult sicher eine Menge Dinge ab, die wir im
Anweisung wie diese zu geben ist sehr gefähr- SPIEGEL: Wie meinen Sie das? Laufe des Tages erlebt haben. Wenn Sie ein
lich, denn wer keine acht Stunden braucht, Mignot: Zwei Menschen haben schlecht ge- bisschen darüber nachdenken, wird schon
aber versucht, so lange zu schlafen, dem wird schlafen, sind schlecht gelaunt und bumm, klar, welche Ängste Sie mit sich herumtragen,
es nicht gelingen, er wird nervös deswegen, dann kracht’s. was Sie beschäftigt.
verkrampft und gerät über kurz oder lang in SPIEGEL: Gibt es genauere Erkenntnisse dazu? SPIEGEL: Sie haben die Ursache der Narko-
die Schlaflosigkeit. Mignot: Leider nicht. Wäre aber interessant, lepsie gefunden, Ihr Lebensziel. Was machen
SPIEGEL: Dschingis Khan habe sogar im Sattel das zu erforschen. Sie jetzt?
auf seinem Pferd schlafen können, heißt es, SPIEGEL: Helfen kleine Nickerchen zwischen- Mignot: In Rente gehen (lacht). Nein, natürlich
Leonardo da Vinci brauchte angeblich nur durch? nicht! Ich will herausfinden, warum bei man-
anderthalb Stunden Schlaf, Napoleon vier, Mignot: Kann ich nur empfehlen! Erhöht Ihre chen Menschen die Immunreaktion bei
und Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel ver- Produktivität. ­Grippe aus dem Ruder läuft und zu Narko-
handelte einmal 35 Stunden am Stück. Ist ein SPIEGEL: Und zwar wie? lepsie führt.
geringes Schlafbedürfnis eine Eigenschaft er- Mignot: Grob gesagt, regulieren zwei Fakto- SPIEGEL: Und wovon träumen Sie?
folgreicher Menschen? ren den Schlaf: Ihr zirkadianer Rythmus, also Mignot: Eigentlich nur davon, so weiterma-
Mignot: Ich bin mir sicher, dass Merkel in die- die innere Uhr, und Ihre Schlafschuld. Mor- chen zu können. Ich bin sehr glücklich mit
sen 35 Stunden müde war. Wenn man sie da gens sind Sie ausgeruht, Sie haben null Schlaf- meinem Leben und meiner Forschung.
herausgenommen und auf einen Stuhl gesetzt schuld. Und eigentlich sollten Sie über den Interview: Rafaela von Bredow,
hätte, wäre sie in Sekunden eingeschlafen. Tag immer müder werden, weil Sie ja immer Veronika Hackenbroch n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 103


KULTUR
Giles Keyte / IMAGO

Diesel in »Fast & Furious 9«

Fahren wir ein Rennen


MOBILITÄT  Die »The Fast and the Furious«-Filme feiern Größe und Schönheit des fossilen Zeitalters.

E ines der großen Versprechen der


­Moderne ist es, sich frei überallhin
­bewegen zu können – und zwar
am liebsten mit dem Auto. Dass das seine
bündete des Autos ist – in der Kunstform
der Autoverfolgungsjagd fanden die beiden
zusammen. Das Kino hat zahllose »Car
Chases« hervorgebracht, die klügsten dürf­
Erinnerung daran, wie verwandt das Auto­
fahren dem Traum vom Fliegen ist.
Dass der Kampf gegen den Klimawandel
nur global geführt werden kann, ist eine
problematischen Seiten hat, weiß heute ten sich in »Tokyo Drift« finden, dem drit­ Weisheit, die so ­ausgeleiert wie wahr ist.
fast jeder, all das war Teil des fossilen Zeit­ ten Teil von »The Fast and the Furious«, als Was darüber leicht in Vergessenheit gerät:
alters, dessen Auswirkungen die Lebens­ es ums Driften geht, die Kunst des gekonn­ Die Autoverfolgungsjagd ist eben auch
bedingungen auf der Erde verändern. Was ten Schleuderns und der Freiheit, die im eine ­globale Fantasie. »The Fast and the
aber nichts an der Kraft dieses Verspre­ kontrollierten Kontrollverlust liegt. Und die Furious« mag als ­kalifornisches Auto­
chens ändert, alle Grenzen zu überwinden irrsten in Teil fünf, als die Helden einen Tre­ schrauberdrama begonnen ­haben. Längst
und dabei schneller zu sein, als die Natur sor klauen, indem sie ihn mit ihren Muscle ist das Personal aber ein Abbild der Welt­
es eigentlich erlaubt. Kein Kunstwerk hat Cars an ­Ketten aus einem Gebäude reißen – familie: schwarz, asiatisch, weiß, latein­
das je so schön eingefangen wie »The Fast und ihn dann mit rasender Geschwindigkeit amerikanisch. »Fahren wir ein Rennen« ist
and the ­Furious«, eine der erfolgreichsten durch die Straßen Rio de Janeiros ziehen, der Satz, mit dem Dom Toretto alias Vin
Film­reihen der Welt. Kommende Woche verfolgt von Dutzenden Polizeiautos. Im Diesel noch in ­jeder Folge versucht hat, alle
kommt der zehnte Teil in die Kinos. neunten Teil rasen sie quer durch ein Minen­ Probleme zu lösen. Der Tag, an dem
Auch weil das Kino seit der Erfindung feld und schließlich ins Weltall. Das ist »Fahren wir kein Rennen« an seine Stelle
der bewegten Kamera der natürliche Ver­ ­großes Spektakelkino – und filmgewordene tritt, dürfte auf sich warten lassen. RAP

104 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


Im Kopf eines Killers dungen, der Showdown im
­Coachella Valley ist fast schon
LITER ATUR  Der britisch-­ ­psychedelisch überdreht. Ein
kanadische Schriftsteller John großer Spaß ist es auch, den
Brown­low reanimiert ein ­Anspielungen auf diverse Vor-
Genre, das seit Jahren im künst- bilder in dem Buch nachzu­
lerischen Koma liegt: den spüren – von Filmklassikern wie
­Actionthriller. Der Held seines »Point Blank« über die Thriller
Debütromans hat keinen Clint Eastwoods bis zur »John
­Namen, sondern nur eine Zahl: Wick«-Reihe. Denn Brownlows
­Seventeen. Wie der andere Geschichte spielt nicht in
­große Nummernträger der Lite- ­un­serer Realität, auch wenn die
Leonine Filmverleih

ratur- und Filmgeschichte ist ­geopolitischen Verwerfungen,


auch er mit der Lizenz zum Tö- die den Roman grundieren,
ten ausgestattet. Und von dieser der Wirklichkeit abgeschaut
Vollmacht macht Seventeen sein mögen. Sie findet statt
Canet, Lellouche, Chen in »Asterix & Obelix im Reich der Mitte«
ausgiebig Gebrauch. Er ist ein in der Welt des Kinos und der
Auftragsmörder, der von Regie- Literatur. Brownlow weiß
Gallischer Auslands- nicht auf einem zuvor erschie- rungen dafür bezahlt wird, ­zudem, dass Handlung und
nenen ­Comicband. Wie ge- ­unliebsame Menschen aus dem ­Figuren nicht nur der Kitt für
einsatz in China wohnt werden römische Solda­ Weg zu räumen. Kühn, kühl, eine Abfolge von Schlägereien,
KINO  Asterix müht sich, Vege- ten, Piraten und andere Schur- unfehlbar. Man kann Seventeen Schießereien und Explosionen
tarier zu werden, und er ist ken per Kinnhaken senkrecht in als Anti-James-Bond sehen – sein ­dürfen. Er baut seine
­derart verliebt in eine Prinzes- den Himmel befördert. Als oder auch als zeitgenössische, ­Geschichte sorgfältig, seine Fi-
sin, dass er rote Backen über ­Zenturio tritt wieselflink der desillusionierte Version des guren ge­winnen immer mehr
dem blonden Schnauzbart be- Fußballheld ­Zlatan Ibrahimović ­Geheimagenten 007. Seventeen Tiefe und ­Ambivalenz. Mit
kommt. Das sind die nicht allzu auf. Im Wesentlichen aber er- tötet nicht für Queen and Coun- Schwung, Witz und einer guten
erheblichen Sensationen in zählt der Film davon, wie die try, sondern für den schnöden Portion Zynismus erzählt er
dem Kinospaß »Asterix & Obelix gallischen Helden die Sitten und Mammon. Brownlow wirft aber aus der Ichperspektive Seven-
im Reich der Mitte«. Es ist die Schönheit Chinas bestau- nicht nur den Patriotismus teens. Sein vielleicht größtes
die erste Asterix-Verfilmung mit nen. Angeblich hoffen die Ma- über Bord, sondern dimmt auch Kunststück ist es, den Leser gar
realen Darstellern, in der cher auf ein großes Publikum in die Misogynie der Bond-Reihe nicht dazu kommen zu lassen,
nicht – wie in vier Filmen zu- chinesischen Kinos. Entspre- deutlich. Dieser bisexuelle Kil- diese Distanzlosigkeit zu hinter-
vor – Gérard Depardieu den chend zahm und frei von An- ler würde vielleicht sogar gen- fragen: Wir sind im Kopf eines
Obelix spielt, sondern der in spielungen auf aktuelle Konflikte dern – wenn er denn die Muße Killers gefan-
dieser Rolle gleichfalls einiger- ­werden der Zauber des Landes dazu hätte. Denn zur Ruhe gen – und
maßen ulkige Gilles Lellouche. und die Widerstandskraft der kommt Seventeen selten auf ­genießen je-
Asterix wird von Guillaume Machthaber in Peking gefeiert. den atemlosen 400 Seiten. den Augen-
­Canet ­verkörpert, der auch Regie Die stolzesten Kämpferinnen Im Zentrum des Romans steht blick. RED
führt. Anders als die Vor­ auf chinesischer Seite dürfen ein blutiges Duell: Seventeen John Brownlow:
gängerfilme beruht die Komödie, übrigens vom Zaubertrank pro- bekommt den Auftrag, seinen »Seventeen«.
in der sich die Prinzessin Fu bieren – ohne dass sich Asterix Vorgänger Sixteen umzubrin- Aus dem
Yi (Julie Chen) ausgerechnet in und Obelix vor einem Nach- gen. Die zunächst vertraut Englischen von
Stefan Lux.
Gallien Hilfe für ihre von Put- brauversuch oder einem Patent- ­wirkende Geschichte verblüfft Rororo; 400
schisten bedrohte Mutter holt, klau fürchten. HÖB ­dabei mit immer irreren Wen- Seiten; 13 Euro.

Bürgerlich beleidigt verstörende Wucht ihrer Musik noch stei- Ihre Videos sind grobkörnig und zeigen etwa
gert. Auf ihrem Doppel-Debütalbum »Du torkelnde Freaks vor dem Berliner Klub
POP  Mal ehrlich, die abendländische wirst sehen / Grauer Star« attackieren sie Berghain, im zugehörigen Song erregt sich
­ ultur ist doch am Ende, oder? Damals,
K bürgerliche Bigotterie bis zur Schmerzgrenze. ein Vater am Telefon: »Sohnemann! Lässt
Anfang der Neunzigerjahre, war die du dich etwa anscheißen?« Im Clip zu »RTL«
Welt noch in Ordnung, da war deutscher ist ein Typ mit Schweinemaske zu sehen,
Rap nett und freundlich, Party-Mucke. der auf dem Klo sitzt und Kot aus selbigem
Aber heute? Dieses Gangster-Getue? Da frisst. Im Text wird der Milieutourismus der
muss man sich ständig wie ein Opfer Oberschicht entlarvt: »Geil, endlich wieder
fühlen, »weil wir scheißreiche Akademiker- Dschungelcamp / Mein Freundeskreis ist aka-
kinder sind«. So bürgerlich beleidigt zetert demisch und auch gut belesen / Aber ab
das Postpunk-Duo Augn in seinem Song und an muss man sich mal fühlen wie einer
»Deutschrap ist tot« und findet neue, pro­ von den normalen Menschen.« In »Vater-
vokante Dreiklänge für den alten Fanta- tag« wird die allgegenwärtige Reizfrage
Vier-Hit »MfG«: »BMW, AfD, zur Kirche »Was darf man eigentlich noch?« krakeelt.
gehen« oder »Gute Message, CDU, mal Der musikalische Gestus von Augn ist so
was erben«. Noch ist unklar, ob sich ernst- brutal wie die Lyrik: stumpfe Drumbeats,
haft frustrierte Mitglieder der Jungen dazu aggressiver Bass. Die Augen der
Union hinter der neuen Band verbergen – anony­men Popterroristen sind auf die Ver-
oder doch eher linke Satiriker. Die Musiker Augn spießerungstendenz einer Gesellschaft ge-
AUGN

tarnen sich mit Strumpfmasken, was die richtet, die vor der Moderne kapituliert. BOR

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 105


KU LT U R

Freundlich
geht die Welt
zugrunde
LITERATUR  In seinem neuen Roman »Blue Skies« erzählt der
US-Schriftsteller T. C. Boyle, wie die Klimakatastrophe das Leben einer
ganz normalen Familie verändert. Er selbst hat wenig Hoffnung für
­unseren Planeten – aber lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen.

J
e länger man mit T. C. Boyle über Tiere hatten. Die Detektivserie, wenn Boyle regel-
spricht, Hunde, Katzen, Erdhörnchen mäßig die Samen und Triebe invasiver Pflan-
oder Zecken, desto mehr erinnert er zen aufsammelt und entsorgt. Der Katastro-
an Doctor Snuggles. Wie die niederländisch-­ phenfilm, wenn er bei einem Waldbrand mal
britische Zeichentrickfigur ist T. C. Boyle ein wieder mit dem Wasserschlauch auf dem
»Freund von allem, was lebt«. Wie Doctor Dach steht. Und der Liebesfilm, als die aus-
Snuggles ist auch T. C. Boyle ein unermüd­ gebliebenen Schmetterlinge neulich dann
licher Erfinder, wenn auch von Geschichten. doch zurückgekehrt sind: »Ein kleinerer
Und wie Snuggles wohnt Boyle in einer Natur, Schwarm an Monarchfaltern als üblich, aber
die er als beseelt empfindet – und die ihn be- immerhin ein Schwarm«, wie er erleichtert
seelt. Der US-Schriftsteller ist nur nicht ganz feststellt.
so optimistisch wie sein fiktiver Vetter. Für sein nach eigener Zählung »inzwischen
Boyle, 74, lebt in seinem eigenen Wäldchen 31. Buch« brauchte der Schriftsteller im Grun-
in Montecito bei Santa Barbara, Kalifornien. de also kaum das Haus zu verlassen. »Blue
»Morgens dreht meine Frau die Heizung auf. Skies« vereint, was nicht nur Boyle selbst er-
Dann drehe ich sie wieder runter, setze mich lebt hat – sondern der Menschheit bevorsteht.
im Anorak an den Schreibtisch und arbeite. Hier endet die Zivilisation nicht mit einem
Schau dir das an!«, sagt er und dreht die Knall. Sie fällt einfach in sich zusammen wie
­Kamera so, dass man aus den deckenhohen ein löchriger Heißluftballon, und wir alle sit-
Joel Sar tore

Fenstern nur noch Bäume sieht, wilde Wiese, zen in der Gondel.
kaum Rasen. Der Form, die sich dafür anbieten würde,
Allein auf diesem Grundstück, nicht größer hat er sich geschickt verweigert. »Blue Skies«
als anderthalb Hektar, ereignen sich alle mög- ist keine herkömmliche Dystopie, vielmehr makrise auf eine Hochzeit aus? Was hat es
lichen Geschichten aus allen nur denkbaren eine Familiengeschichte im Stil von Jonathan mit Krankheiten auf sich, die von Zecken
Genres. Der Horrorfilm, als Ratten sich im Franzen. Boyle erzählt von gewöhnlichen übertragen werden? Welche Folgen hat das
denkmalgeschützten Holzhaus eingenistet Leuten, deren gewöhnliches Leben ganz bei- Aussterben von Fluginsekten auf die Nah-
läufig apokalyptische Züge annimmt. Oder, rungsketten und die Weltbevölkerung?«
wie Annie Proulx urteilte: »Ein schwarzer Cat, die Tochter, ist ein wenig hohl und
Pfeil unvorstellbaren Grauens schießt mitten von sozialen Netzwerken besessen. Aus einer
durch den Roman.« Laune heraus kauft sie sich eine Würgeschlan-
Denn das Personal dieses Romans dieselt ge – als lebendiges Schmuckstück, das sie sich
keineswegs mit Scheuklappen in den Unter- um den Hals legen kann. Ihr Bruder Cooper
gang oder wartet im Luxusbunker auf das ist Entomologe, tief besorgt über das Arten-
Ende. Es ist eine gutwillige Familie, die sich sterben und dessen Folgen für Mensch und
Britta Pedersen / picture alliance / dpa

mit verschärften Umständen zu arrangieren Tier: »Der Planet stirbt, siehst du das nicht?«,
sucht: »Ein Teil lebt in Kalifornien und hat fragt er seine Mutter Ottilie. Die ist eine ein-
dort mit Trockenheit und Waldbränden zu sichtige Frau, will alles richtig machen. Und
tun. Der andere Teil lebt in Florida und ist hat sich artig einen Brutapparat für Grillen
vom steigenden Meeresspiegel bedroht«, angeschafft, um künftig nur noch Insekten zu
schildert Boyle: »Und wie wirkt sich die Kli- verzehren.
Aber schon eine einfache Party zum Ruhe-
T. C. Boyle: »Blue Skies«. Aus dem Englischen von Dirk stand ihres Gatten stellt Ottilie vor Probleme:
Autor Boyle van Gunsteren. Hanser; 400 Seiten; 28 Euro. »Veranstaltete man überhaupt noch Abend-

106 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


KU LT U R

gesellschaften? Wozu eigentlich? Die sen wurden scheinbar regelmä­ßige Überwinternde mal habe er untersuchen wollen, wie
eine Hälfte der Welt stand unter Was­ großflächige Stromausfälle, was Monarchfalter in sich die Folgen der Erderwärmung
Mexiko: Vor 30
ser, die andere war ausgedörrt, und ­wiederum Lebensmittel verderben Jahren »wie Konfetti«
auf eine normale US-Familie auswirk­
es gab eine Missernte nach der ande­ ließ und dafür sorgte, dass der Kühl­ eingeflogen ten. Und wie sich das wohl anfühlt,
ren. Menschen hungerten, sogar hier schrank sich nie auf die eingestellte wenn sich winzige Widrigkeiten zur
in Kalifornien. Überall waren Flücht­ Temperatur hinunterkühlen konnte, Katastrophe aufschaukeln.
linge. Der Wein schmeckte nach weswegen man öfter zum Supermarkt Den Einwand, an Schauplätzen
Asche.« Im Supermarkt gibt es dafür fahren und Treibstoff verbrennen wie Kalifornien und Florida ein ten­
Sake, das neue Trendgetränk, »aller­ musste und somit den ganzen Kreis­ denziell elitäres Milieu schildern zu
dings erwähnte niemand, wie intensiv lauf in Gang hielt.« können, lässt er nicht gelten. Er hätte
Reis bewässert werden musste«. In gewisser Weise, räumt Boyle auch über den Mittleren Westen
Und doch wird geliebt und gestrit­ ein, habe er ein solches Buch bereits schreiben können, wo er fünf Jahre
ten, geboren und gestorben. Auch 2000 veröffentlicht: »Ein Freund der lang gelebt hat. Die Gegend habe
wird viel getrunken in diesem Buch. Erde«, sein einziger Science-Fiction- »Wir sind »das fürchterlichste Wetter, das man
Aus Durst wegen der Hitze. Aber Roman, spielt im Jahr 2025 und ver­ sich überhaupt vorstellen kann. Sehr
auch, um mit Alkohol die düsteren handelt die gleichen Themen. »Der
als Spezies heiß im Sommer und sehr kalt im
Entwicklungen ein wenig aufzuhel­ Verlust der Wälder und der Biodiver­ er­ledigt, Winter, aber ohne die Gnade von
len. Gegen die Hitzewellen hilft die sität, Klimakrise, die sozialen und meiner Schnee. Nur starker Wind, der Dreck
Klimatechnik, was aber den Ener­gie­ politischen Folgen dieser Entwick­ über gefrorene Hundehaufen weht«.
verbrauch erhöht. Es gibt kein Ent­ lung – das alles hat uns viel schneller Meinung Seine Einstellung zur Natur ist so
rinnen: »Aus gelegentlichen Eng­päs­ erreicht, als ich damals dachte.« Dies­ nach.« ambivalent wie die Haltung zu seiner

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 107


KU LT U R

Heimat. Er liebt beides, gibt sich aber keinen »Die Literatur hat mir das lassen sich ein, identifizieren sich mit den Fi-
Illusionen hin. Die Gegenkultur, der er als guren. Sobald ich eine Meinung forciere, wird
Sohn alkoholsüchtiger Eltern und ehemaliger Leben gerettet.« es Propaganda – und hört auf, Kunst zu sein.«
Junkie entstammt, war oft Gegenstand seiner Tatsächlich ist »Blue Skies« kein Leitarti-
Literatur. Er gilt als Rockstar der zeitgenös- kel auf 400 Seiten, kein grünes Thesenpapier,
sischen US-Literatur, was auch am Aussehen keine Relevanzliteratur. Dazu ist Boyle zu
liegen könnte. Chucks an den Füßen, Toten- Wobei er die Bedeutung seiner Worte clever. Er winkt nicht mit dem Zaunpfahl. Er
kopfring am Finger, Mütze auf dem drahtigen durchaus auf die politische Waage legt. Was lehnt lässig dagegen und fragt, was dieses selt-
Haar. So stellt man sich eher den gealterten wir heute verharmlosend »Klimawandel« same Ding wohl sein könnte. Ein Zaunpfahl?
Bassisten einer Band auf Abschiedstournee nennen, das sei 2000 noch die »Erderwär- Deshalb ist dieses Buch kein Ökothriller
vor, nicht Schriftsteller. mung« gewesen. Bisweilen sei auch im Eng- im klassischen Sinne, weder Krimi um dunk-
»Die Literatur hat mir das Leben gerettet«, lischen schon von »Klimakrise« die Rede: le Machenschaften noch große Oper wie »Der
sagt Boyle, »die Literatur und die Natur.« Er »Wir nennen es aber noch nicht beim Namen, Schwarm« von Frank Schätzing. Es steht am
sei bei jeder Gelegenheit oben in den Bergen Klimakatastrophe, weil das zu abschreckend Ende einer Entwicklung, die mit »Moby-
zum Wandern und »jeden Tag unten am sein könnte für jene, die diese Botschaft am Dick« (1851) von Herman Melville begonnen
Strand, allein, einfach als Geschöpf unter Ge- dringendsten hören sollten.« hat. Bei Melville war der Wal noch Metapher,
schöpfen«, das sich an der bloßen Existenz Aus seinem Pessimismus macht er keinen der Raubbau an der Natur eine Ahnung. Bei
der Welt erfreut. Es könnte sein, dass er ein Hehl: »Wir sind als Spezies erledigt, meiner Boyle ist alles Tatsache und Gewissheit.
verkappter Hippie ist. Meinung nach. Was kann der Einzelne tun? Daraus bezieht »Blue Skies« seine Span-
Im Gespräch umgibt ihn die allürenfreie Das scheint mir doch etwas hoffnungslos. nung. Und eine Dringlichkeit, die Boyle auch
Nonchalance des gealterten, aller Geldsorgen Aber allein die Tatsache, in eine Gesellschaft in den Aktionen der »Letzten Generation«
enthobenen Edelpunks. Aufhebens macht er wie der unseren hineingeboren zu sein, zer- erkennt. »Ökoterroristen«, wie er die Akti-
weder um seine Arbeit noch um sich selbst. stört die Erde. Einfach weil wir da sind. Weil visten ganz unbeschwert nennt, seien auch
Seine Biografie kann er in zwei Sätzen zu- wir essen, was wir essen. Energie verbrau- schon in »Ein Freund der Erde« vorgekom-
sammenfassen: »Aufgewachsen bin ich in chen. Auto fahren. Heizen.« men: »Sie arbeiteten aber im Untergrund, wo
New York und war nie westlicher als der Hud- Tiefen Eindruck hat auf ihn die »Krefelder sie gewisse Projekte sabotierten. Ich nannte
son River, bis ich nach Iowa auf die Universi- Studie« gemacht, in der ehrenamtliche Mit- es nicht Sabotage, sondern Ecotage.« Er sym-
tät ging. Ich lebte fünfeinhalb Jahre im Mitt- arbeiter des Entomologischen Vereins Krefeld pathisiert damit, sich auf der Straße festzu-
leren Westen, bevor meine Frau und ich nach in einer Langzeituntersuchung von 1989 bis kleben oder Kunstwerke zu beschmieren: »Im
Kalifornien zogen, weil mir dort eine Univer­ 2016 einen Rückgang der flugfähigen Insekten Grunde braucht es aber Katastrophen, um
sität einen Job gab. Das ist meine ganze um bis zu 82 Prozent nachgewiesen haben. uns weltweit zum Umdenken zu bewegen.
­Lebensgeschichte.« Einem solchen Forscher ist die Figur des Coo- Das wird aber auch nicht passieren, weil uns
Seinen speziellen Status als Außenseiter per nachempfunden, und ein solches Ergebnis einfach die Zeit davonläuft.«
der Branche aber hat er sich hart erarbeitet. kann Boyle in seinem eigenen Wäldchen be- Seine Liebe zu allem, was lebt, möchte
»Disziplin ist alles«, sagt er über das Schrei- obachten. Vor 30 Jahren seien die Monarch- Doctor Snuggles alias T. C. Boyle im Gespräch
ben. Nicht das Talent, nicht die Vision, nicht falter noch »wie Konfetti« zur Überwinterung dann doch noch einschränken. Zecken, sagt
die Mission. Disziplin. Mit dieser eher bürger- eingeflogen: »Und dann waren die Massen er, hätten seine Sympathie verspielt: »Früher
lichen Tugend schrieb er in »Grün ist die Hoff- bis auf ein paar vereinzelte Exemplare plötz- habe ich immer gesagt, die sind wie wir, die
nung« (1984) über Hippies, die Cannabis an- lich verschwunden.« wollen auch nur leben und sich fortpflanzen.
bauen, in »Drop City« (2003) über eine ro- Als Professor für Literatur an der Univer- Leider übertragen sie dabei immer mehr und
mantische Kommune, die es ins harte Alaska sity of Southern California ist er inzwischen immer gefährlichere Krankheiten, wie ich am
verschlängt. »Die Terranauten« (2016) war emeritiert. »Gott sei Dank«, wie er sagt. Nun eigenen Leib habe feststellen müssen.«
vom Experiment der »Biosphäre 2« inspiriert, habe er mehr Zeit für seine Recherchen, sagt Im Roman spielt denn auch ein Zeckenbiss
dem wissenschaftlichen Versuch, ein autarkes er, etwa mit Biologen bei der Feldforschung: eine Rolle. Er betrifft Cooper, den engagierten
Ökosystem zu schaffen. »Sie haben mir gesagt, wie frustrierend es für Entomologen, und nimmt die denkbar fatals-
Gern näherte er sich in seinen Fiktionen sie als Wissenschaftler ist, dass niemand ihre te Wendung. Aber auch dieser Mensch tut,
auch den Biografien berühmter Charaktere, Warnungen zur Kenntnis nimmt. Wenn ich was wir Menschen eben so tun. Er arrangiert
die allesamt Unverstandene waren. So be- einen Roman schreibe, ist das anders. Weil sich notgedrungen mit den Folgen. Und ist so
schäftigte er sich mit dem Sexualforscher Kunst in der Lage ist, die Menschen auf emo- eine mechanische Prothese nicht ein Wunder-
­Alfred Kinsey (»Dr. Sex«), dem Arzt und tionaler Ebene zu berühren. Sie verkündet werk der Technik?
Frühstücksflockenerfinder John Harvey Kel- nichts, hat aber interaktive Qualitäten. Leser Seine Erzählung lässt Boyle wider Erwar-
logg (»Willkommen in Wellville«), dem LSD- ten auf einer leisen, aber hoffnungsvollen
Propheten Timothy Leary (»Das Licht«) oder Note enden. Es fühlt sich nicht an wie Schum-
dem Architekten seines Hauses in Montecito, melei. Aber doch so, als hätte man diesen
Frank Lloyd Wright (»Die Frauen«). Lichtblick nicht verdient.
Politisch steht Boyle insofern links, als er Auch diese Wendung ist von der Wirklich-
mit den Demokraten sympathisiert und die keit in seinem Wäldchen inspiriert. Die Mo-
kapitalistische Ausbeutung begrenzter Res- narchfalter sind wieder zurückgekehrt. Und
Gilles Mingasson / Le Figaro Magazine / laif

sourcen als Problem erkennt. Die System- T. C. Boyle will, dass das so bleibt: »Deshalb
frage stellt sich im Roman aber an keiner ein- habe ich Wolfsmilch gepflanzt. Schmetter-
zigen Stelle: »Was würde das bringen? Wen linge lieben diese Staude!« Vielleicht, sagt er,
würde das überzeugen? Ich kann über die hätten wir als Spezies den Tiefpunkt schon
Lage nur meditieren, keine Lösungen anbie- erreicht, vielleicht gehe es nun wieder auf-
ten. Das ist auch nicht meine Aufgabe als wärts. Einerseits. Andererseits ist »der Le-
Künstler. Meine Aufgabe ist es, ein Szenario benszyklus eines einzelnen Menschen so un-
zu entwerfen. Welche Schlüsse eine Leserin glaublich kurz. Was kann er schon tun?«.
oder ein Leser daraus zieht, bleibt ihr oder Stauden pflanzen, immerhin das.
ihm überlassen.« Boyles Haus im kalifornischen Montecito Arno Frank n

108 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


KU LT U R

Als das kaputte Klavier im Auto


verstaut ist, sagt er, dass er immer stolz
darauf gewesen sei, dass sich die An-
tilopen Gang ein sehr nettes Pu­blikum
erspielt habe. Einmal sei ein schwules

»Ab 300 kommen die Idioten«


Paar zu ihm gekommen und habe sich
dafür bedankt, dass es zum ersten Mal
auf ein Rapkonzert gehen könne, ohne
sich unwohl zu fühlen. »Aber ab 300
Menschen«, sagt Danger Dan, »da
ORTSTERMIN  Der Musiker Danger Dan braucht ein neues Klavier und muss man sich nichts vormachen. Ab
300 kommen auch die Idioten.«
kommt ins Grübeln. War er etwa glücklicher, bevor er als Liedermacher die Auf einem Konzert in Jena habe er
großen Bühnen gefüllt hat? die Linkenpolitikerin Katharina König-
Preuss getroffen. Die habe ihm leicht
verärgert gesagt, der FDP-Stadtrat sei

D
anger Dans Stage-Piano ist ka- auch da gewesen. Plötzlich saßen Men-
putt. Was auch kein Wunder schen in Anzügen neben Punkern mit
ist. »Ich habe das Klavier ja Kutten. Beamte sangen Zeilen mit, in
manchmal mit Stiefeln gespielt«, sagt denen Danger Dan als letztes Mittel
er. Einmal riss während eines Kon- zur Militanz aufrief. Die Säle wurden
zerts eine Taste ab, und er schnitt sich immer größer. Menschen machten sich
damit einen Finger auf. Auf die Tas- auf ­seinen Konzerten Heiratsanträge.
tatur spritzte Blut, es sah aus wie ein »Eigentlich ja schön«, sagt Danger Dan
Schlachtfeld. Als er das Klavier da- seufzend, »wäre die Ehe doch bloß
nach reparieren lassen wollte, klebte nicht so eine konservative, veraltete
bei der Rückgabe ein Zettel dran: Idee von Liebe.« Er ist jetzt ins Grü-
»This is no dancefloor«. beln gekommen. »An meinem Beispiel

Steffen Jänicke / DER SPIEGEL


Danger Dan lacht. Es amüsiert ihn, kann man eigentlich ganz gut die Kri-
aus einem Klavierkonzert einen blu- tik an der Kulturin­dustrie von Hork-
tigen Dancefloor gemacht zu haben. heimer und Adorno erklären«, meint
Danger Dan, der mit bürgerlichem er. Liefert er womöglich nur eine gut
Namen Daniel Pongratz heißt, wurde konsumierbare Rebellion für die Mas-
1983 in Aachen als einer von vier sen? »Auf jeden Fall war es nie mein
Söhnen geboren. Sein Album »Das Ziel, mit subversiven Nachrichten in
ist alles von der Kunstfreiheit ge- berg nicht vollgelabert und im Regio Sänger Danger Dan den Mainstream vorzudringen.«
deckt« erschien im Frühjahr vor zwei nach Magdeburg nicht verprügelt.« mit kaputtem Angekommen bei Schreiner Flo im
E-Piano in Berlin
Jahren, inmitten der Coronapande- Er sitzt mit einem Becher Kaffee Osten der Stadt, wuchtet Danger Dan
mie. Es hatte die Magie, die nur we- in einem schwarzen Car­ sharing- sein kaputtes Klavier aus dem Kombi.
nige Alben erreichen. Kombi auf dem Beifahrersitz. Er Flo arbeitet in einer modernen Meister-
Mit Zeilen wie »Faschisten hören selbst hat keinen Führerschein – we- Eder-Werkstatt. Es riecht nach Holz,
niemals auf, Faschisten zu sein« sang gen einer Netzhauterkrankung. Je- an den Wänden hängen Skateboard-
er gegen die AfD und den Rechts­ mand aus seinem Team fährt uns des- plakate. Danger Dan sagt, das Beste
extremismus an. Die Texte waren halb durch die Stadt, um das kaputte am sogenannten Erfolg sei eigentlich,
emotional, scharf, politisch und be- Klavier abzuholen. Weil das neue dass er endlich mal einen Freund auch
rührend zugleich. Das Album lotete Klavier noch nicht da ist, bringt er das anständig bezahlen könne.
die Kunstfreiheit aus und katapultier- alte zum Schreiner, der die Maße neh- Fragt man Danger Dan, ob er
te Daniel Pongratz, einen bis dahin men muss für eine Verkleidung, die glücklicher gewesen sei, bevor er die
kleinen antifaschistischen Rapper, sich Danger Dan wünscht. großen Hallen füllte, sagt er, dass wis-
auf die großen Bühnen und in den Das kaputte Piano lagert in einem se er noch nicht. Er habe nicht aus-
Mainstream. Fortan galt er als mo- blauen Container außerhalb der reichend Zeit gehabt, um sich darüber
derner Liedermacher in der Preisklas- Stadt, in dem seine Band Antilopen Gedanken zu machen. Er wolle aber
se von Helge Schneider und Rainald Gang ihren Musikkram und Merchan- nach den letzten Livekonzerten, die
Grebe. Zwei Jahre später hat er nahe- dise aufbewahrt. Es ist leicht zu fin- bald um seinen 40. Geburtstag an-
zu in allen großen Konzertsälen den. Danger Dan hat schwarz-­weiße stehen, Bilanz ziehen und sich fragen,
Deutschlands ausverkaufte Veran­ Dazzle-Camouflage-Folie draufge- wie es weitergehen werde. »Natürlich
staltungen gespielt. Im Konzerthaus klebt. Mit diesem Muster wurden im weiß ich, dass sich das nicht wieder-
Berlin, der Kölner Philharmonie, der Ersten Weltkrieg Kriegsschiffe ge- holen lassen wird«, sagt er. Vielleicht
Elbphilharmonie.
An diesem sonnigen Morgen in
tarnt. Aber die Klavierbeine, wo sind
die verdammten Beine? Danger Dan
»Es war nie träume er auch deshalb manchmal
von einem Tretbootverleih.
Berlin trägt der Musiker nicht seine sucht. Er findet Bein eins, zwei und mein Ziel, mit Und Politik? Er schüttelt den Kopf.
»Arbeitskleidung«, wie er die burgun- drei. Bevor er das vierte findet, angelt subversiven Auf keinen Fall. Letztens habe ihn erst
derfarbene Bomberjacke nennt, die er einen schwarzen Jutebeutel zwi- eine Bundestagsabgeordnete gefragt,
er während seiner Konzerte und auch schen allerlei Kram heraus. »Ach«, Nachrichten in ob er nicht mal mit ihr ein Bier im Bun-
zum SPIEGEL -Fototermin anzieht. sagt Danger Dan, »hier ist also mein den Main- destag trinken wolle. »Aber Bier im
»Es ist gut, wenn mich in meinem All- Sportzeug.« Mit ein paar Freunden Bundestag«, antwortet Danger Dan,
tag nicht jeder gleich erkennt«, sagt trainiert er im Park ab und an Kick- stream vorzu- »trinke ich erst nach der Revolution.«
Danger Dan. »So werde ich in Kreuz- boxen. dringen.« Nora Gantenbrink  n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 109


KU LT U R

e­ inmal ­ejakulieren müsste. Daher die prallen


Hoden.
»Beau Is Afraid« spielt in einer irren Welt
und ist nicht leicht greifbar. Zu einem Viertel
besteht der Film aus Szenen wie der mit den
Hoden, in denen das Unterdrückte bildhaft
ausbuchstabiert wird. Der arbeitslose Beau
(gespielt von Oscarpreisträger Joaquin Phoe­
nix) fürchtet nicht nur das Urteil seiner Mut­
ter, einer berühmten Unternehmerin, über
sein verpfuschtes Leben. Am Ende einer fan­
tastisch-verrückten Reise landet er wirklich
vor einem Jüngsten Gericht, dem die Mutter
vorsteht und vor dem keine Verteidigung
­jemals eine Chance hätte.
Zugleich sind giftige Spinnen, eine expe­
rimentelle Theatergruppe, die ausschließlich
im Wald lebt, sowie ein nackter Messermör­
der nur einige der Unwägbarkeiten, mit denen
sich Beau herumschlagen muss. Denn seine
Geschichte beginnt in einer fiktiven postapo­
kalyptischen Großstadt, in der er lebt, und
führt ihn auf dem Weg zur Mutter aus einer
Vorhölle in die nächste. Zu mindestens drei
Vierteln besteht »Beau is Afraid« also auch
aus irrem Quatsch – und das macht den Film
in seiner unwahrscheinlichen Summe zu so
einem Spaß.
Der Mann, der sich »Beau Is Afraid« aus­
gedacht hat, ist Ari Aster. 36 Jahre alt, eher
klein, zierlich, rötlicher Bart, eckige Brille.

Victor Llorente / The New York Times / Redux / laif


Am Tag zuvor ist der gebürtige New Yorker
nach Berlin gekommen. Nun machen ihn im
Interview der Jetlag und sein eigener Film zu
schaffen. Denn wie über ein Werk sprechen,
das keine versteckten, sondern nur sehr offen­
sichtliche Themen hat? Der Film sei »wie
ein jüdischer ›Herr der Ringe‹, dabei fährt
Beau doch nur zu seiner Mutter«, hat Aster
vor Veröffentlichung des Films als griffigen
Soundbite herausgegeben. Im persönlichen
Gespräch versucht er es noch einmal anders:
Filmemacher Aster: Ein Exzess von Ideen, der nicht eingehegt wurde
»Es geht letztlich um die Angst, sein Leben
nicht in vollen Zügen auszukosten.«
Bei Beau entsteht diese Angst vor allem aus

Meister der
seiner unterdrückten Sexualität heraus. Seine
Mutter (Pattie LuPone) hat ihm schon als klei­
ner Junge eingetrichtert, dass die Ejakulation

Schreckensbilder
den Tod bringe. Sein Vater sei deswegen im
Akt der Zeugung gestorben – und habe den
tödlichen Defekt an ihn vererbt. Mit Ende vier­
zig hat Beau daher noch nie einen Orgasmus
erlebt. Joaquin Phoenix spielt diesen arm­
KARRIEREN  Der Regisseur Ari Aster hat sich als Horrorspezialist seligen Nichtsnutz wie gewohnt: intensiv,
­entgrenzt, völlig uneitel. Beaus Haupthaar ist
etabliert – und als Zugpferd eines neuen amerikanischen merklich ausgedünnt, dafür trägt er einiges an
Independentkinos. Ausgerechnet der Psychotrip »Beau Is Afraid« Gewicht um die Hüften mit sich herum.
zeigt ihn nun von seiner spaßigen Seite. Schon Asters Abschlusskurzfilm von 2011
am American Film Institute (AFI) sorgte für
Aufsehen. In »The Strange Thing About the

I
n seinem neuen Film »Beau Is Afraid«, und nebenbei auch noch einen Samenstau Johnsons« erwischt ein Vater seinen Teenager­
der gerade in den deutschen Kinos ge­ loszuwerden, kann als freudianischer Ge­ sohn beim Masturbieren. Der Vater versucht,
startet ist, zeigt Ari Aster kurz vor neralverdacht gelten. In »Beau Is Afraid« die Sache locker zu nehmen – bis er entdeckt,
Schluss die Hoden seines Titelhelden. Sie gibt es nichts zu verdächtigen oder zu dass er das Objekt der Begierde seines Sohns
sehen haarig, eher grau und wirklich schmerz­ ­vermuten: In der Psychotrip-Horrorko­ ist. Es kommt dann alles noch viel schlimmer.
haft geschwollen aus. Dass ein Großteil der mödie geht es buchstäblich um einen mit­ Am AFI, so hat es Aster mal erzählt, sei
Werke männlicher Künstler davon motiviert telal­ten Mann, d
­ essen Leben von seiner die Ausbildung sehr auf die Bedürfnisse der
ist, sich aus dem Bann der Mutter zu lösen ­Mutter ­dominiert wird und der dringend Industrie ausgerichtet gewesen. Man sei für

110 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


KU LT U R

Hollywood ausgebildet worden und bleibt das opulente Blumengeflecht Es geht um die Für jedem Film gibt es zur Veröffent-
habe brave, oscarkompatible Filme in Erinnerung, das auf dem Kopf von lichung ein sorgfältig gestaltetes Fan-
gezeigt bekommen. Sein Impuls für Florence Pugh wie ein Dornenkranz Angst, sein zine, später dann eine aufwendige
die Abschlussarbeit sei daher gewe- lastet. Leben nicht in DVD- oder BluRay-»Collector’s Edi-
sen: »Was ist das Schlimmste, das ich
am AFI produzieren könnte?«
Bei »Beau« sind es vielleicht sogar
zu viele Bilder, die sich ins Gedächt-
vollen Zügen tion«. Die Würstchenfinger aus einem
der vielen bizarren Neben-Universen
Vielleicht schreckte der Uni-Film nis zu drängeln versuchen. Allein im auszukosten. von »Everything Everywhere All at
einige von der Zusammenarbeit mit ersten Teil des Films, der in der post- Once« sind im Shop als Latexhand-
Aster ab – aber wahrscheinlich be- apokalyptischen Metropole spielt, in schuhe für 36 Dollar zu haben, das
reitete er auch die richtigen Leute der Beau seiner jämmerlichen Exis- gravierte Schwert aus David Lowerys
darauf vor, was sie bei einem Dreh tenz nachgeht, fährt Aster Pano­ Fantasy-Epos »The Green Knight«
mit ihm erwartet: extrem elaborierte ramen voller verstörender Details für 450 Dollar ist hingegen ausver-
Sets, perfide Drehbuchvolten, alles auf. Leichen liegen unbeachtet auf kauft.
zusammengeführt in einer nichts we- der Straße, Autos scheinen dafür In diese Marketingwelt passen
niger als Perfektion fordernden Regie. auf Höhe des zweiten Stocks in Häu- ­Asters Filme perfekt hinein: Zur
Als Visitenkarte für die Stars, die As- ser gecrasht zu sein. Auf Graffitis ­Bewerbung von »Beau Is Afraid« hat
ter schließlich für seinen Debütfilm steht »Hail Satan. Shoot Dope. Kill A24 Journalistinnen und Journalis-
»Hereditary – Das Vermächtnis« ge- Children. Fuck the Pope«, derweil ten vermeintlich altes Werbematerial
winnen konnte, funktionierte »The sticht ein nackter Mann wahllos Men- zugeschickt. Die Produkte des fikti-
Strange Thing About the Johnsons« schen auf der Straße nieder. ven Pharmakonglomerats MW, das
jedenfalls bestens. Toni Collette und »Zur Produktionsvorbereitung Beaus Mutter Mona Wassermann
Gabriel Byrne spielten in dem Hor- bringe ich ein paar Zeichnungen mit«, geleitet hat, werden darauf angeprie-
rorfilm über einen blutigen Kult, der sagt Aster vage. Er muss sich bitten sen. Dazu ist ein Baseballcap mit
sich einer trauernden Familie be- lassen, dann zeigt er auf dem Handy MW-­Logo beigelegt. »Solange es
mächtigt, mit. »Hereditary« wurde ein Beispiel für so eine Skizze. Es ist dem Film dient, finde ich nichts
2018 ein Überraschungserfolg, bei eines der vielen schrecklichen Poster, ­dabei«, sagt Aster. Am nächsten Tag
einem Budget von 10 Millionen Dol- die in der Stadt hängen und vom Welt- vermeldet A24, dass jetzt auch der
lar spielte der Film weltweit mehr als untergang künden, in eleganten Stri- graue Satinpyjama, den Beau am
80 Millionen ein. chen von Aster persönlich entworfen. ­Anfang des Films trägt, im Shop ver-
Bereits ein Jahr später folgte »Mid- Für Asters Ruhm dürfte auch ent- fügbar sei.
sommar« über ein junges Paar, das scheidend sein, dass er Teil einer Einen Werbeschub kann der Film
während eines Schwedenurlaubs in ziemlich einflussreichen Gruppe ist: gut gebrauchen. Mit seiner Karriere
ein folkloristisches Ritual mit mörde- Er gehört zur A24-Familie. Die New im Schnelldurchlauf ist Aster schon
rischem Ausgang verstrickt wird. Der Yorker Produktionsfirma ist seit eini- mit dem dritten Film in einer heiklen
Film spielte knapp 50 Millionen Dol- gen Jahren die angesagteste über- Schaffensphase angelangt, wie sie
lar ein, machte Hauptdarstellerin Flo- haupt in der Branche. 2012 gegrün- eher für Veteranen wie Martin Scor-
rence Pugh zum Star. Als »eigen – im det, steht A24 für smartes, stilbewuss- sese typisch ist: »Beau Is Afraid« ist
Sinne von verrücktem Genie« hat tes Independentkino, das zudem ein Exzess an Ideen, der von seiner
Pugh Aster bezeichnet. junges Publikum in die Kinos bringt. Produktionsfirma nicht eingehegt
Wie den besten Horrorregisseuren Barry Jenkins und Greta Gerwig ha- worden ist, sondern sich im Gegenteil
gelingt es Aster, den Schrecken seiner ben für die Oscaranerkennung ge- über drei Stunden Laufzeit ausbreiten
Filme in unvergessliche Bilder zu des- sorgt, Horrorspezialisten wie Aster darf. In den USA kam das nicht
tillieren. In »Hereditary« ist es das oder Robert Eggers (»The Witch«) für gut an. Nach der anfänglichen Neu-
ungewöhnliche Gesicht von Kinder- das Geld. Vorläufiger Höhepunkt der gier, was der Horrorshootingstar als
darstellerin Milly Shapiro, die als Erfolgsgeschichte: Mit der durchge- Nächstes produziert, und einem ent-
ein vom Teufel besessenes Kind er- drehten Tragikomödie »Everything sprechend starken Start in den US-
scheint – bis sie sich bei einer Auto- Everywhere All at Once« räumte A24 Kinos wandte sich das Publikum ver-
fahrt aus dem Fenster lehnt und ihr bei den diesjährigen Oscars sieben wirrt ab. So hat »Beau Is Afraid«
»Midsommar«-Star
ohne jedes übernatürliche Einwirken Preise inklusive »Bester Film« ab. Pugh 2019, »Beau«-­
Aster sein bisher schlechtes Einspiel-
von einem Telefonmast der Kopf ab- Zur Geschäftsstrategie von A24 Darsteller Phoenix: ergebnis beschert.
geschlagen wird. Von »Midsommar« gehört ein ausgeklügeltes Marketing. Unvergessliche Bilder Zurück zu vergleichsweise klassi-
schem Horror, wie ihn »Hereditary«
noch bot, ist für Aster trotzdem keine
Option; der nächste Film soll wohl
ein Western werden. »Bei jedem Film
komme ich meinem Ideal vom Filme-
machen näher und entferne mich zu-
gleich davon«, sagt Aster. Vielleicht
ist das eine Variation der Angst, sein
Leben nicht in vollen Zügen auszu-
kosten: nie einen Film vollenden zu
können, bei dem alles stimmt. Beau
CapitalPictures / action press

treibt seine Angst an den Rand des


Verderbens. Aster, so scheint es, treibt
sie nur dazu an, immer weiter Filme
Takashi Seida

zu machen. Hoffentlich wird sie ihm


noch lange nicht genommen.
Hannah Pilarczyk  n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 111


KU LT U R

des Bundes könnte man Mittel zurückfordern,


wenn gegen Regeln des Arbeitsschutzes und
der Arbeitszeiten in einer Weise verstoßen
wird, wie das in Ihrem Artikel beschrieben

»Es ist bitter«


wurde. Das könnte den Druck erhöhen, diese
nicht zu ignorieren.
SPIEGEL: Ein erster Schritt, um Machtmiss-
brauch in der Kulturbranche zu stoppen, war
die Gründung der Vertrauensstelle Themis
MISSSTÄNDE  Machtmissbrauch in der Filmindustrie dürfe vor fünf Jahren. Viel verändert hat sich da-
durch nicht. Gibt es Überlegungen, die The-
nicht toleriert werden, sagt Kulturstaatsministerin mis anders aufzustellen?
Claudia Roth, 67. Sie kritisiert das Schweigen der Verantwortlichen – Roth: Die Themis-Mitarbeiterinnen haben in
und der deutschen Filmprominenz. den vergangenen Jahren mehr als 2000 Bera­
tungsgespräche zu sexueller Belästigung oder
sogar Vergewaltigungen in der Kulturbranche
SPIEGEL: Frau Roth, der SPIEGEL hat öffent- lichen Sanktionen können wir anwenden, falls geführt. Das zeigt, wie wichtig ihre Arbeit ist.
lich gemacht, dass am Set von Til Schweigers zum Beispiel Arbeitszeitregelungen oder Si- Nun wollen wir die Vertrauensstelle mit zu-
Film »Manta Manta – Zwoter Teil« ein Klima cherheitsstandards ignoriert werden? Außer- sätzlichen Mitteln aus meinem Haus stärken
der Angst geherrscht haben soll. Nun hat dem wollen wir die Rahmenbedingungen und ausbauen. Wichtig ist, dass Betroffene
Constantin Film eine Aufklärung der Vor­fälle verbessern, indem wir weniger Filme fördern, nicht alleingelassen werden. Dass ihnen die
angekündigt. Ist der Fall damit für Sie abge- dafür Filmprojekte aber finanziell besser aus- psychologische und juristische Beratung auch
schlossen? statten. Das kann auch etwas Druck nehmen. hilft, gegebenenfalls gegen Täter und Arbeit-
Roth: Nein. Es ist gut, dass Constantin Film Wobei Druck keine Entschuldigung für ka- geber vorzugehen. Um das zu gewährleisten,
nun offen gesagt hat: Ja, es gab Fehlverhalten tastrophale Arbeitsbedingungen sein darf. wollen wir die Arbeit der Themis auch eva-
am Set von Til Schweiger. Nun ist es nötig, SPIEGEL: Sie planen auch einen Verhaltens- luieren und schauen, wo wir sie gegebenen-
das weiter transparent aufzuarbeiten. Es muss kodex, an den sich die Branche halten soll. falls verbessern können.
auf den Tisch kommen, was bei diesen Dreh- Roth: Für die Reform der Filmförderung wer- SPIEGEL: Die Schauspielerin Nora Tschirner
arbeiten geschehen ist. den wir uns Beispiele wie den Code of Ethics sagte in einem Instagram-Video, die Zustände
SPIEGEL: Viele Filmschaffende haben dem des Österreichischen Filminstituts ansehen. in der Filmbranche seien ein »absolut offenes
SPIEGEL unter anderem von Überlastung und Dort ist es Pflicht, dass bei geförderten Filmen Geheimnis«. Warum reagiert die Politik erst
Beschimpfungen am Set berichtet. Hat es Sie gute Arbeitsbedingungen eingehalten wer- jetzt?
erschreckt, dass die Mitarbeiter scheinbar den. Für die Kulturbranche insgesamt ent- Roth: Mir waren solche Missstände in der Film-
keinen anderen Weg sahen, als mit der Presse wickeln wir gemeinsam mit dem Kulturrat branche bislang in diesem Ausmaß nicht be-
zu sprechen? einen Code of Conduct, der sexuelle Belästi- kannt. Viele Betroffene haben ja offenbar
Roth: Ja. Es gab laut Constantin Film eine gung und Gewalt verhindern soll. jahrelang geschwiegen, um nicht als Nestbe-
externe Vertrauensperson, an die sich die SPIEGEL: Manche Produktionsfirmen haben ja schmutzer zu gelten. Aber in Wahrheit sind
Menschen hätten wenden können. Aber das bereits einen Code of Conduct. Das Problem nicht diejenigen, die ihre Stimme gegen Miss-
haben sie offenbar nicht getan, vielleicht weil ist, dass er in der Praxis oft nicht eingehalten stände erheben, Nestbeschmutzer, sondern
sie Angst hatten, dann nicht mehr beschäftigt wird. die, die Verantwortung tragen und von Proble­
zu werden. Wenn das der Fall war, muss man Roth: Das ist in der Tat ein Problem, dem wir men wissen – aber nichts unternehmen.
sagen: Da stimmt etwas nicht. Es darf nicht nachgehen müssen. Mit einem verpflichten- SPIEGEL: Tschirner ist eine der wenigen, die
sein, dass Menschen, die Missstände anspre- den Verhaltenskodex bei der Filmförderung nun öffentlich über die Probleme in der Bran-
chen, fürchten müssen, deshalb keine Jobs che sprechen. Die meisten Schauspieler, aber
mehr zu bekommen. auch Regisseure und Produzentinnen hüllen
SPIEGEL: Wie kann man das ändern? sich in Schweigen.
Roth: Wir brauchen offenkundig einen Kultur- Roth: Es ist bitter, dass bislang nur so wenige
wandel. Es gibt gesetzliche Regelungen zum bereit sind, offen darüber zu reden, wo es in
Arbeitsschutz, zu Arbeitszeiten und zu der der Branche Schwierigkeiten gibt. Chapeau
Verantwortung des Arbeitgebers. Sie müssen vor denen, die es tun!
eingehalten werden. Das gilt auch für die SPIEGEL: Martin Moszkowicz, der Chef von
Filmbranche – bei aller Flexibilität und dem Constantin Film, hatte Tschirner zunächst
kreativen Spielraum, der für diesen Bereich ­indirekt Scheinheiligkeit vorgeworfen. Sie
wichtig ist. Das Arbeitsumfeld sollte angst- hätte sich in den Jahren ihrer Zusammen-
und diskriminierungsfrei sowie solidarisch arbeit nie über die Arbeitsbedingungen be-
sein. Dann können sich künstlerische Poten- schwert. Inzwischen hat Moszkowicz ein-
ziale noch besser entfalten. Es gibt genug Pro- gelenkt.
duktionen, die zeigen, dass das geht. Roth: Ich fand Frau Tschirners Beitrag wichtig
SPIEGEL: Sie haben auch ins Spiel gebracht, und richtig. Es ist kein gutes Zeichen, dass
Filmförderung künftig daran zu knüpfen, selbst Menschen, die so bekannt sind, dass
dass arbeitsrechtliche Standards eingehalten sie eigentlich nichts zu verlieren hätten, sich
Steffen Jänicke / DER SPIEGEL

werden. offenkundig nicht trauen, sich mit den Be-


Roth: Wir sind gerade dabei, die Filmförde- troffenen zu solidarisieren. Und das ausge-
rung zu reformieren. Ich will mir ansehen: rechnet in einer Branche, die als besonders
Wie können wir es bei geförderten Filmen progressiv gilt. Wir sollten die aktuelle De-
und Serien zur Pflicht machen, dass auf ein batte dazu nutzen, einen Kulturwandel voran-
menschenwürdiges Arbeitsumfeld geachtet zubringen. Dafür werde ich mich einsetzen.
wird? Und welche zusätzlichen förderrecht- Politikerin Roth Interview: Maike Backhaus, Alexandra Rojkov n

112 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


KU LT U R

klar: Der Schauplatz dieser »Nora«


ist ein Haus, das aussieht, als wäre es
mit dem Dach voran in den Bühnen-
boden gerammt worden.
Die meisten der Schauspielerinnen
und Schauspieler klettern an den
­Simsen und Balken der Fassade des
­Gebäudes entlang, am eifrigsten die
Nora-Darstellerin Bach, die wie eine
Yoga-Supermutti in einer anliegenden
Sporthose auftritt. Man lebt hier in
einer Ruine, tut aber so, als wären das
Haus und die Welt im Lot. Hin und
wieder turnen die Heldin und andere
Mitspieler in eines der beiden Erd-
geschosszimmer hinauf.
Dort wartet Noras unsportlicher
Gatte Torvald, gespielt von dem
brummbärigen Schauspieler Edmund

Armin Smailovic / Kammerspiele München


Telgenkämper, der seine Ehefrau mit
Fremdschäm-Kosenamen ruft. Er
nennt sie »süße kleine Lerche« oder
»mein Eichhörnchen« und entlarvt
sich auch sonst konsequent als netter
Trottel. »Wir haben es bis heute ge-
schafft, ein paar Monate halten wir
auch noch durch«, sagt er. Nora ge-
steht ihrer überraschend auftauchen-
Nora-Darstellerin Bach, Mitspieler in München: Allein unter Geisterbahnfiguren den Jugendfreundin: »Es ist einfach
schön, Geld zu haben und sich keine
Sorgen machen zu müssen.«
Einen »Thriller« nennt die Regis-
seurin ihre »Nora«-Aufführung. Es
gehe darin um die Angst vor dem

Im Horrorhaus
­Abrutschen, sagt sie, um weibliche
Wut und um ein spätbürgerliches
Klassendenken, »das immer noch in
unseren Köpfen sitzt«. Brucker, Jahr-
gang 1974, stammt aus Stuttgart und
SCHAUSPIEL  Felicitas Brucker hat Ibsens »Nora« ein Update verpasst, lässt sie lebt seit acht Jahren in Paris. Sie hat
lange im Wiener Schauspielhaus und
tobsüchtig gegen die Männermacht rebellieren – und ist mit dieser danach unter anderem im Berliner
clever-komischen Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Maxim-Gorki-Theater, in München
und in Frankfurt am Main gearbeitet.
Mit »Nora« ist sie zum ersten Mal

S
eit fast anderthalb Jahrhunder- Jahr 1879 geht es um die Selbstbe- zum Berliner Theatertreffen eingela-
ten ist sie eine der bedeutends- freiung einer Frau aus einem spießigen, den, das am Freitag dieser Woche be-
ten Frauenfiguren der Theater- durch den Lauf der Zeit erstaunlich gann und alljährlich zehn herausra-
welt, aber so hat die von Henrik Ibsen wenig veränderten Musterfamilien- gende Aufführungen aus Deutschland,
erfundene Nora Helmer noch nie ge- idyll. In dem kümmert sich die Frau Österreich und der Schweiz zeigt.
sprochen. »Fickt das Patriarchat!«, vor allem um die Aufzucht der Kinder. Regisseurin Brucker: In der Auswahl für das diesjährige
»Damit man nicht
brüllt die Schauspielerin Katharina Der von Aufstiegsehrgeiz und Karrie- wieder im gleichen Theatertreffen ist Bruckers Arbeit ein
Bach als Nora-Darstellerin auf der refibel-Prinzipien ge­triebene Mann falschen Leben besonders spektakulärer Streich, an
Bühne der Münchner Kammerspiele. soll demnächst Bankdirektor werden. landet, müsste sich dem fast nur Frauen beteiligt sind,
Sie ist auf einen Stuhl geklettert, reckt Noch aber ist das Geld knapp, und so viel mehr ­ändern unter anderem die Autorinnen Sivan
als nur die Heldin
beide Arme in die Höhe und zürnt man lebt in einer Immobilie, die man selbst« Ben Yishai, Gerhild Steinbuch und
darüber, dass sie rüde unterbrochen sich eigentlich nicht leisten kann. Ivna Žic sowie die Bühnenbildnerin
wurde von dem Mann, der ihren Gat- Die Regisseurin hat sich zu Ibsens Viva Schudt. Vielleicht ist es der cle-
ten spielt. »Ich finde es unglaublich, Stück ein paar Zusatztexte und lusti- verste Winkelzug der Inszenierung,
dass sich nach über einem Jahrhun- ge Straffungen schreiben lassen, wie dass sie gerade keine feministisch auf-
dert Feminismus toxische, privilegier- das heute im deutschsprachigen Thea- trumpfende, plötzlich mit Souverä­
te Machomänner immer noch erlau- ter ein bisschen Mode ist – und sie nität beschenkte Heldin präsentiert,
ben, sich genau so aufzuführen!« präsentiert das Emanzipationsdrama sondern eher eine Tobsüchtige, die
Es ist eine mitreißende, amüsante in einem Horrorhaus. Erst sieht das von ihren eigenen Zornesausbrüchen
und klug aktualisierte Version von Publikum nur die Abbildung einer überrascht und überfordert ist.
Birgit Hupfeld

­Ibsens Stück »Nora«, die der Regis- stolzen, von Schneeflocken umweh- Ständig knattert Gewitterlärm
seurin Felicitas Brucker in München ten Villa auf dem Theatervorhang, durch diese Inszenierung, auf der
gelungen ist. Wie im Original aus dem doch als der zur Seite gleitet, wird Hausfassade erscheinen Videoprojek-

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 113


KU LT U R

tionen von dunklen Wolken, Sturmregen und


surrealistischen Traumbildern. Die Kinder
der Familie Helmer sind drei in bunte Kapu-
zenjacken vermummte Zombies, die manch-
BELLETRISTIK SACHBUCH mal rückblickend vom Unglück ihrer Alten
raunen. Der Rechtsanwalt Krogstad, der die
Der Schriftsteller Der britische Historiker Heldin wegen einer gefälschten Unterschrift
betätigt sich als eine beleuchtet die Entwicklung erpresst, wird von Thomas Schmauser als
Art antiker Baron Europas von 1945 bis heute, großartig jämmerlicher Fiesling gespielt, in
Münchhausen. Sein indem er seine eigene
Pompeji ist ein Spiegel ­Geschichte und die seines dem jede Lebensglut erloschen ist. Noras ein-
der Gesellschaft der Vaters erzählt, der einst als ziger Vertrauter und Verehrer, der Arzt Dok-
Gegenwart, inklusive Soldat bei der Landung tor Rank (Vincent Redetzki), leidet an einer
Querdenkerei und der Alliierten in der Norman-
Intrigen. | Platz 18 die dabei war. | Platz 16 tödlichen Krankheit und ist vor lauter Gier
nach Lust halb irre. Ihre Jugendfreundin
(Svetlana Belesova) ist pleite und von Sozial-
1 (2) Robert Seethaler 1 (1) Dirk Oschmann Der Osten – eine neid zerfressen. Nora muss hier allein unter
Das Café ohne Namen Claassen; 24 Euro westdeutsche Erfindung Ullstein; 19,99 Euro
lauter Geisterbahnfiguren bestehen.
2 (1) Benjamin von Stuckrad-Barre 2 (2) Yael Adler In einem Moment der maximalen Ver-
Noch wach? Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro Genial vital! Droemer; 20 Euro zweiflung greift sich die Schauspielerin Bach
ein Mikrofon und singt mit tiefer, betrübter
3 (4) Martin Suter 3 (3) Brianna Wiest 101 Essays, die dein Stimme einen berühmten Abba-Song, in des-
Melody Diogenes; 26 Euro Leben verändern werden Piper; 22 Euro sen Kehrreim es heißt: »So when you’re near
me, darling / can’t you hear me, S. O. S.«
4 (5) Martin Walker 4 (4) Bas Kast Im Original bei Henrik Ibsen erkennt die
Troubadour Diogenes; 26 Euro Kompass für die Seele C. Bertelsmann; 24 Euro
Heldin allmählich die Hohlheit ihres Ehe-
5 (3) John Irving 5 (6) Ewald Frie Ein Hof und manns und der Männer überhaupt, Brucker
Der letzte Sessellift Diogenes; 36 Euro elf Geschwister C. H. Beck; 23 Euro dagegen verweigert ihr eine Läuterung. »Nora
geht bei uns keinen Weg aus der Unmündig-
6 (6) Dora Heldt Liebe oder Eierlikör – 6 (–) Silke Müller keit in die Erkenntnis«, sagt die Regisseurin.
Fast eine Romanze dtv; 15 Euro Wir verlieren unsere Kinder! Droemer; 20 Euro Die Heldin spiele ständig Rollen, und sie­
wisse das auch. Was würde ihr eine Flucht vor
7 (8) Bonnie Garmus 7 (17) Prinz Harry
Mann und Kindern bringen? »Damit man
Eine Frage der Chemie Piper; 24 Euro Reserve Penguin; 26 Euro
nicht wieder im gleichen falschen ­Leben lan-
8 (9) Renate Bergmann 8 (5) Kurt Krömer Du darfst nicht alles glauben, det, müsste sich so viel mehr ­ändern als nur
Das ist ja wohl die Krönung! Ullstein; 11,99 Euro was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro die Heldin selbst«, sagt Brucker.
In München zeigt Brucker ihre »Nora« nicht
9 (7) Ewald Arenz 9 (–) Joachim Gauck / Helga Hirsch bloß als Einzelaufführung, sondern mitunter
Die Liebe an miesen Tagen DuMont; 24 Euro Erschütterungen Siedler; 24 Euro auch als Double Feature zusammen mit ihrer
Dramatisierung des autobiografischen, von
10 (–) Helga Schubert 10 (–) Katja Hoyer
Der heutige Tag dtv; 24 Euro Diesseits der Mauer Hoffmann und Campe; 28 Euro
einer Frauen-Selbstbefreiung im 20. Jahrhun-
dert berichtenden Édouard-Louis-Buchs »Die
11 (13) Maja Lunde 11 (9) Dorothee Röhrig »Du wirst Freiheit einer Frau«. Um zu unterstreichen,
Der Traum von einem Baum btb; 24 Euro noch an mich denken« dtv; 24 Euro wie zementiert die Klassen- und Geschlechter-
verhältnisse über die Jahre geblieben sind. Um
12 (10) Jochen Gutsch / Maxim Leo 12 (8) Brianna Wiest When You’re Ready, echte Veränderung zu bewirken, sagt die Regis­
Frankie Penguin; 22 Euro This Is How You Heal Piper; 22 Euro seurin, müsste der weibliche Einzelmensch
womöglich erst mal den Mut fassen, »alles ka-
13 (16) Trude Teige Als Großmutter 13 (–) Gabriel Zuchtriegel Vom Zauber
im Regen tanzte S. Fischer; 22 Euro des Untergangs Propyläen; 29 Euro
puttgehen zu lassen und sich neu zu erfinden«.
Ibsen ließ seine Heldin Mann und Kinder
14 (12) Simon Urban / Juli Zeh 14 (11) Rick Rubin verlassen, was bei der ersten Aufführung in
Zwischen Welten Luchterhand; 24 Euro kreativ – Die Kunst zu sein O. W. Barth; 24 Euro Deutschland noch derart skandalös war, dass
der Schluss geändert werden musste – beim
15 (14) Jojo Moyes 15 (10) Elke Heidenreich Anblick ihrer Kinder entschied sich Nora da-
Mein Leben in deinem Wunderlich; 25 Euro Ihr glücklichen Augen Hanser; 26 Euro mals doch zum Bleiben. Der Regisseur Tho-
mas Ostermeier ließ im Jahr 2002 in der Ber-
16 (17) Marc Elsberg 16 (7) Timothy Garton Ash
­°C – Celsius Blanvalet; 26 Euro Europa Hanser; 34 Euro
liner Schaubühne seine Nora-Darstellerin
Anne Tismer im Finale der Aufführung ihren
17 (–) Cassandra Clare 17 (14) Ulrike Herrmann Das Ende Ehemann über den Haufen ballern.
Chain of Thorns Goldmann; 22 Euro des Kapitalismus Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro Felicitas Brucker sagt, weiblicher Aufruhr
sei bis heute mit einem Tabu belastet. Das
18 (18) Eugen Ruge Pompeji oder 18 (–) Torsten Sträter Du kannst alles lassen, Ende ihrer »Nora«-Version spielt mit zwei
Die fünf Reden des Jowna dtv; 25 Euro du musst es nur wollen Ullstein; 19,99 Euro
Schlussvarianten. In einer jagt Bachs Nora
19 (–) Julia Schoch Das Liebespaar 19 (13) Franz Bayern Zuschauer ihr Haus in die Luft. Sie kehrt durch die Tat
des Jahrhunderts dtv; 22 Euro in der ersten Reihe C. H. Beck; 28 Euro
einen Satz um, mit dem eine der Männer­
figuren im Stück ihr zuvor gedroht hat: »Wenn
20 (–) Anthony McCarten 20 (15) Frank Willmann ich hier zugrunde gehe, dann leisten Sie mir
Going Zero Diogenes; 25 Euro Der Pate von Neuruppin Tropen; 20 Euro Gesellschaft.«
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller Wolfgang Höbel n

114 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


KU LT U R

dem es seit meiner Kindheit Ruß und


Züge und Bomben gab«, sagt Cel­
mins. Sie malte den Pazifik in Grau­
tönen, in einer Zeit, in der in Kalifor­
nien ­bunte Flower-Power Hochkon­

Grau in Grau
junktur hatte und David Hockney die
Umgebung in gleißenden Farben
leuchten ließ. Celmins malte ihre
Meeresbilder nach Fotovorlagen,
Richter ebenso. Sie zeigen Wasser­
AUSSTELLUNGSKRITIK  Was eint den Kunststar Gerhard Richter und die weniger landschaften so nüchtern unroman­
bekannte US-Malerin Vija Celmins? Die Liebe zu einer nichtssagenden Farbe. tisch, dass es fast wehtut. Es geht
beiden um Licht, Strukturen, Ober­
flächen, »ohne innere Beteiligung«,

G
rau hat es schwer. Vielleicht ist so Richter.
es die geschmähteste Farbe von Dann sind da die Bilder von ba­
allen. Gleichgültig. Unentschie­ nalen Gegenständen, stumme Zeu­
den. Trist und trostlos. Wetter, Stim­ gen des täglichen Lebens in feinen
mung, Haare, nichts mag man in Grautexturen. Richters unheimliche,
Grau. Der Philosoph Peter Sloterdijk verwischte Stühle und Vorhänge
findet den Ton geradezu widerwärtig: ­gehören zu seinen bekanntesten Wer­
»Das Tendenzlose, das Irrelevante, ken. Celmins malte zu dieser Zeit
das Amorphe, das Nichtssagende, das Lampen, Herdplatten und Heizstrah­
Bedeckte, das Nebelhafte, das Mono­ ler. Beide wollten abbilden, was sie
tone, das Zweifelhafte« – Sloterdijk umgab, unbelastet von Theorien oder
fallen in seiner Farbenlehre noch mehr Deutungsansprüchen. Der Griff zu
Assoziationen ein, sie sind allesamt Grautönen mag auch damit zu tun
abwertend. haben, dass beide Künstler mit Foto­
Vielleicht hat sich Gerhard Richter vorlagen ar­beiteten, und die waren
gerade deshalb für Grau interessiert, in den Sechzigerjahren des vergan­
weil es so verpönt ist. Keinem ande­ genen Jahrhunderts eben schwarz-
ren Thema hat sich der deutsche Ma­ weiß.
ler mit solcher Intensität gewidmet. Vija Celmins und Gerhard Richter
Er malte graue Vorhänge und Stühle, verbindet außerdem der Schrecken

Gerhard Richter
graue Porträts, graue Farbpaletten, des Zweiten Weltkriegs. Celmins wur­
graue Landschaften. Es sei ihm de 1938 geboren und floh 1944 mit
»manchmal die wichtigste Farbe«, ihrer Familie von Riga ins zerstörte
denn mit ihr ließen sich Bilder malen, Deutschland, vier Jahre später zog
die keine Meinung haben, so Richter. Jetzt steht dem Star eine Künst­ Richter-Werk sie in die USA. Gerhard Richter, 1932
Grau verweigert für ihn die Aussage. lerin gegenüber, deren Namen in »Seestück geboren, verfolgte im Februar 1945
(See-See)«, 1970
Richter will sich seit etwa 60 Jahren Deutschland nur wenige kennen dürf­ die Bombenangriffe auf seine Heimat­
ungern auf Deutungen festlegen. Das ten: Vija Celmins, 84, gebürtige Let­ stadt Dresden. Beide malen später
Nebelhafte ist eines seiner Marken­ tin, in den USA lebend. Selbst Ger­ Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe, Ex­
zeichen. hard Richter kannte vor dieser Schau plosionen, nehmen den dramatischen
In der Kunsthalle Hamburg hängt wenig von ihr, war Celmins höchstens Vorlagen aber mit ihrem dezenten
nun ein Grauschleier, um die 60 mo­ irgendwo einmal begegnet. Selten Grau die Wucht. Richter projiziert
nochrome Werke sind zu sehen, trotz­ wurde sie in Europa gezeigt, einmal dafür Fotos auf Leinwand, zeichnet
dem hat das einen ganz eigenen Reiz. widmete ihr das Museum Ludwig in sie mit Kohle nach, verwischt das Ent­
Die Ausstellung »Double Vision« Köln eine Einzelausstellung. standene mit Ölfarbe, so kommen
strahlt die Ruhe der Reduktion aus: Nun hängen Superstar und Under­ seine Fliegerstaffeln wie aus einem
schwarze Fliesen, weiße Wände, dog nebeneinander. Richter sei damit Nebel. Celmins Militaria-Gemälde
graue Kunst. Grau ist eben auch die sofort einverstanden gewesen. Cel­ bleiben realistischer.
Farbe vornehmer Zurückhaltung. Al­ mins aber habe befürchtet, dass ihre Die Grau-Schau ist eine feinsinni­
les bleibt kühl im Hintergrund, nichts Werke angesichts des großen Be­ ge, nachdenkliche Ausstellung, die
drängt sich auf. kanntheitsgrads von Richter unter­ sich auch Gedanken über ein Sehen
Etwa die Hälfte der Werke stammt gehen würden, sagt die Kuratorin macht, das mehr ist als reines Be­
von Gerhard Richter, 91. Er ist unge­ Brigitte Kölle. Doch die Schau zer­ trachten. Ohnehin sei immer nur der
heuer produktiv, es gibt mehr als 4000 streut alle Bedenken. Hier begegnen Schein darstellbar, meint Gerhard
Gemälde von ihm. Die Werke zählen sich zwei Künstler auf Augenhöhe. Richter, Realität sei nicht fassbar. »Ich
zu den teuersten aller lebenden Künst­ Vielleicht wusste Vija Celmins selbst kann über Wirklichkeit nichts Deut­
ler, am 18. Mai soll eines seiner Haupt­ nicht von den erstaunlichen Paralle­ »Ich komme licheres sagen als mein Verhältnis zur
werke in New York versteigert wer­
den, »4096 Farben« wird auf zwischen
len zu Gerhard Richter, um die es in
»Double Vision« geht.
aus einem Wirklichkeit, und das hat dann was
zu tun mit Unschärfe, Unsicherheit,
18 und 25 Millionen Dollar geschätzt. Zum einen hat sie ebenfalls ein grauen Land. Flüchtigkeit, Teilweisigkeit oder was
Ein Kinofilm über Richter wurde für Faible für die Antifarbe Grau. »Ich Nicht aus immer.«
einen Oscar nominiert. Unzählige Ein­ komme aus einem grauen Land, Was wirklich ist, bleibt wohl im
zelschauen beleuchteten in den ver­ ­Lettland. Ich bin nicht aus Kalifor­ Kalifornien.« Nebel – also im Grau.
gangenen Jahrzehnten sein Werk. nien. Ich komme von einem Ort, an Vija Celmins Carola Padtberg  n

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 115


INTERNE T www.spiegel.de
T WIT TER @derspiegel
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) · Mail spiegel@spiegel.de FACEBOOK facebook.com/derspiegel

Impressum INVESTIGATION Roman Höfner, Roman Lehberger, REDAKTIONSVERTRE TUNGEN Service


Nicola Naber. Reporter: Rafael Buschmann. DEUTSCHL AND
Koordination SPIEGEL TV : Thomas Heise BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin, Leserbriefe
HER AUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002)
Tel. 030 886688-100 SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg,
STR ATEGIE & OPER ATIONS Philipp Löwe,
CHEFREDAKTION Steffen Klusmann ( V. i. S. d. P.), Johanna Röhr, Anne Seith DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966,
Dr. Melanie Amann, Thorsten Dörting, Clemens Höges 01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0 Mail: leserbriefe@spiegel.de
REDAKTIONELLE ENT WICKLUNG Friederike DÜSSELDORF Markus Böhm, Lukas Eberle, Tobias
Freiburg, Jonas Mielke, Franca Quecke, Maximilian Rau
Vorschläge für die Rubrik »Hohlspiegel« nehmen wir auch
LEITENDE REDAKTEURE Strategie & Operations: Großekemper, Torsten Kleinz, Benedikt Müller-Arnold,
Susanne Amann. Blattmacher: Judith Horchert, Juliane gern per Mail entgegen: hohlspiegel@spiegel.de
Miriam Olbrisch. Autorin: Katja Thimm. Jägerhofstraße
von Mittelstaedt, Oliver Trenkamp. Nachrichtenchef: MEINUNG & DEBAT TE Anna Clauß, Lothar Gorris,
19-20, 40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01 Hinweise für Informanten
Stefan Weigel. Managing Editors: Birger Menke, Alexander Neubacher
FR ANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Tim Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und Informa-
Dr. Susanne Weingarten. Creative Department: Bente NACHRICHTEN Henrik Bahlmann, Malte Göbel, Bartz, Fellnerstraße 7-9, 60322 Frankfurt am Main,
Kirschstein. Redaktionelle Entwicklung: Matthias Streitz. tionen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen folgende
Sabrina Knoll, Florian Pütz, Sven Scharf Tel. 069 9712680
Investigation: Jörg Diehl Wege zur Verfügung: Post: DER SPIEGEL , c/o Investigativ,
K ARLSRUHE Dietmar Hipp, Stephanienstraße 30, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg; Telefon: 040 3007-0,
LEBEN Leitung: Frauke Lüpke-Narberhaus, Malte
CHEFS VOM DIENST Print: Anke Jensen, Jörn 76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737
Müller-Michaelis, Nike Laurenz (stellv.). Redaktion: Stichwort »Investigativ«; Mail (Kontakt über Website):
Sucher. Online: Patricia Dreyer, Anselm Waldermann; Julian Aé, Irene Berres, Antje Blinda (Teamleitung LEIPZIG Peter Maxwill, Postfach 310315,
Melanie Ahlemeier, Lisa Erdmann, Kevin Hagen, 04162 Leipzig www.spiegel.de/investigativ. Unter dieser Adresse finden Sie auch
Reise), Franziska Bulban, Markus Deggerich, Maren
Björn Hengst, Olaf Kanter, Nicolai Kwasniewski, Keller, Heike Klovert, Dr. Heike Le Ker, Eva Lehnen,
eine Anleitung, wie Sie Ihre Informationen oder Dokumente
MÜNCHEN Jan Friedmann
Jonas Leppin, Florian Merkel, Charlene Optensteinen, Marthe Ruddat, Katherine Rydlink, Sandra Schulz, Julia (Koordination Nachrichten), Martin Hesse, Rosental 10, durch eine PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten
Dr. Dominik Peters, Dr. Jens Radü, Daniel Raecke, Stanek, Nina Weber. 80331 München, Tel. 089 45459510 können. Der dazugehörende Fingerprint lautet:
Martin Wolf Autoren: Jule Lutteroth, Marianne Wellershoff 6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC
BADEN-WÜRT TEMBERG Christine Keck
AUTOREN/REPORTER DER CHEFREDAKTION JOB & K ARRIERE/START Leitung: Helene Endres, REDAKTIONSVERTRE TUNGEN/ Ombudsstelle
Susanne Beyer, Ullrich Fichtner, Thomas Schulz Sophia Schirmer (Leitung Start). Redaktion: Benjamin KORRESPONDENTENBÜROS AUSL AND
Der SPIEGEL hat für Hinweise zu möglichen Unregelmäßig-
Ansari, Tanya Falenczyk, Helene Flachsenberg, Florian BANGALORE Laura Höflinger
Gontek, Katharina Hölter, Maren Hoffmann, Markus
keiten in der Berichterstattung eine Anlaufstelle eingerichtet:
HAUPTSTADTBÜRO Dirk Kurbjuweit BANGKOK Maria Stöhr
Leitung: Dr. Melanie Amann, Sebastian Fischer, ­ Sutera, Verena Töpper ombudsstelle@spiegel.de. Sollten Sie als Hinweisgeber
Martin Knobbe, Christoph Hickmann (stellv.), Wolf BRÜSSEL Markus Becker (Büroleitung), Ralf dem SPIEGEL gegenüber anonym bleiben wollen, schreiben
Wiedmann-Schmidt (Teamleitung Innere Sicherheit). GESCHICHTE Leitung: Jochen Leffers, Dr. Eva-Maria Neukirch (Reporter Europapolitik), Michael Sauga Sie bitte an den Rechtsanwalt Tilmann Kruse unter
Redaktion: Maik Baumgärtner, Sophie Garbe, Florian Schnurr. Redaktion: Dr. Felix Bohr, Solveig Grothe, (Autor), Rue Le Titien 28, 1000 Brüssel,
Christoph Gunkel, Dr. Katja Iken, Dr. Danny Kringiel, Tel. +32 2 2306108, rv.bruessel@spiegel.de hinweisgeber-spiegel@bmz-recht.de
Gathmann, Milena Hassenkamp, Marina Kormbaki,
Timo Lehmann, Ann-Katrin Müller, Serafin Reiber, Frank Patalong, Martin Pfaffenzeller, Frank Thadeusz K APSTADT Fritz Schaap (frei), P. O. Box 15107, Redaktioneller Leserservice
Anna Reimann, Sven Röbel, Jonas Schaible, Christoph Vlaeberg 8018, Cape Town, South Africa Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966
DEIN SPIEGEL Leitung: Bettina Stiebel, Alexandra
Schult, Sara Sievert, Christian Teevs, ­Severin Weiland. Klaußner (stellv.). Redaktion: Antonia Bauer, Claudia LONDON Jörg Schindler Mail: leserservice@spiegel.de
Autoren, Reporter: Sven Becker, Markus Feldenkirchen, Beckschebe, Pelle Kohrs, Marco Wedig LOS ANGELES Philipp Wittrock
Matthias Gebauer, Konstantin von Hammerstein, Veit Nachdrucke in Medien aller Art
Medick, Fidelius Schmid. Politik Hamburg: Benjamin MEXIKO-STADT Jens Glüsing (frei),
SCHLUSSREDAKTION Christian Albrecht, Gartred Lizenzen für Texte, Fotos, Grafiken oder Videos
Schulz (Nachrichtenchef); Marc Röhlig Tel. +52 55 56630526
Alfeis, Gesine Block, Regine Brandt, Lutz Diedrichs, Kontakt, Beratung: www.gruppe.spiegel.de/syndication
Ursula Junger, Birte Kaiser, Dörte Karsten, Sylke Kruse, MOSK AU Christina Hebel, ­Glasowskij Pereulok
DEUTSCHL AND/PANOR AMA Leitung: Anke Dürr, Stefan Moos, Sandra Pietsch, Fred Schlotterbeck, Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, Tel. +7 495 3637623 und Bestellung: syndication@spiegel.de,
Cordula Meyer, Hendrik Ternieden, Janko Tietz, Sebastian Schulin, Sandra Waege NAIROBI Heiner Hoffmann, Tel. +254 111 341478 Tel.: 040 3007-3540 für Deutschland, Österreich, Schweiz.
Dr. Markus Verbeet. Redaktion: Birte Bredow, Lisa
NEW YORK Marc Pitzke, Bernhard Zand Für alle anderen Länder: The New York Times Licensing,
Duhm, Katrin Elger, Silke Fokken, Maik Großekathöfer, PRODUKTION & TEXTPRODUCING Leitung: Simone Daley, Mail: simonedaley@nytimes.com,
Hubert Gude, Kristin Haug, Armin Himmelrath, Philipp Angela Ölscher, Petra Thormann; Kathrin Beyer, PARIS Britta Sandberg, 4, Rue Goethe, 75116 Paris
Christoph Brüggemeier, Sonja Friedmann, Linda
Telefon: +44 20 7061 3507, ISSN 0038-7452
Kollenbroich, Annette Langer, Katrin Langhans, PEKING Georg Fahrion, Christoph Giesen
Gunther Latsch, Benjamin Maack, Peter Maxwill, Grimmecke, Britta Romberg, Gesche Sager, Stefan
Schütt, Martina Treumann, Holger Uhlig, Valérie
ROM Frank Hornig, DER SPIEGEL , c/o Stampa Nachbestellungen SPIEGEL -Ausgaben der letzten Jahre
Christopher Piltz, Alexander Preker, Ansgar Siemens, Estera, Via dell’Umiltà 83/C, 00187 Rom
Swantje Unterberg, Sara Wess, Jens Witte, Jean-Pierre Wagner, Katrin Zabel sowie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE
Ziegler. Autoren, Reporter: ­Jürgen Dahlkamp, Julia SAN FR ANCISCO Alexander Demling und SPIEGEL WISSEN sind unter amazon.de/spiegel
Jüttner, Alfred Weinzierl, Dr. Klaus Wiegrefe. BILDREDAKTION Leitung: Jose Blanco, Mascha SAO PAULO Nicola Abé innerhalb Deutschlands nachbestellbar.
Berlin: Juliane Löffler, Hannes Schrader. Zuder, Mareile Mack (stellv.); Claudia Apel, Nicolas
SYDNEY Anna-Lena Abbott, Johannes Korge
Reporter: Guido Mingels Baldauf, Tinka Dietz, Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn,
Philine Gebhardt (Teamleitung), Niklas Hausser, Signe TEL AVIV P. O. Box 8387, Tel Aviv-Jaffa 6803466,
Israel www.spiegel-antiquariat.de, Telefon: 0228 9296984
WIRTSCHAF T/NE TZWELT Leitung: Markus Brauck, Heldt, Gillian Henn, Daniel Hofmann, Andrea Huss,
Yasmin El-Sharif, Judith Horchert (Netzwelt), Isabell Rosa Kaiser, Jan Kappelmann, Matthias Krug, Theresa WARSCHAU Tel. +48 22 6179295, Abonnement für Blinde Audioversion:
Hülsen, Stefan Kaiser, Cornelia Schmergal. Redaktion: Lettner, Nasser Manouchehri, Parvin Nazemi, Nicole rv.warschau@spiegel.de
Neumann, Daniel Nide, Inka Recke, Jens Ressing, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V., Telefon: 06421 606265;
Benjamin Bidder, Michael Brächer, Florian Diekmann, WASHINGTON Roland Nelles, René Pfister, elektronische Version: Frankfurter Stiftung für Blinde,
Kristina Gnirke, Simon Hage, Dr. Claus Hecking, Franziska Schade, Oliver Schmitt, Ireneus Schubial, 1202 National Press Building, Washington, D. C. 20045,
Henning Jauernig, Dr. Matthias Kaufmann, Katharina Erik Seemann, ­Maxim Sergienko, Anke Wellnitz, Lena Tel. +1 202 3475222 Telefon: 069 9551240
Koerth, Matthias Kremp, Alexander Kühn, Maria Wöhler, Lennart Woock
Mail: foto@spiegel.de WIEN Walter Mayr Abonnementspreise
Marquart, Martin U. Müller, Anton Rainer, Stefan
Schultz. SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tel. +1 917 3998184 STÄNDIGE FREIE AUTOREN Marian Blasberg, Inland: 52 Ausgaben € 306,80, Studenten Inland: 52 Ausgaben
Berlin: Patrick Beuth, Simon Book, Markus Dettmer, Ann-Dorit Boy, Christo Buschek, Giorgos Christides, € 202,80, Auslandspreise unter www.spiegel.de/auslandsabo,
L AYOUT Leitung: Dagmar Nothjung, Ann-Kristin Köhn Arno Frank, Christo Grozev, Oliver Das Gupta, Jochen-
Max Hoppenstedt, Michael Kröger. Autoren, Reporter: (stellv.); Michael Abke, Lisa Debacher, Lynn Dohrmann, Mengenpreise unter abo.spiegel.de/mengenpreise
David Böcking, Christian Reiermann, Marcel Martin Gutsch, Leo Klimm, Jonah Lemm, Jasmin
Bettina Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Linna Grage, Fabian Lörchner, Juan Moreno, Max Polonyi, Wiebke Ramm,
Rosenbach, Gerald Traufetter (Chefkorrespondent) Greve, Louise Jessen, Jens Kuppi, Annika Loebel, Anja Rützel, Josef Saller, Ron Ulrich, Ines Zöttl
Abonnentenservice Persönlich erreichbar
Kamila Ramezani, Barbara Rödiger, Marco Stede Mo.–Fr. 8.00–19.00 Uhr, Sa. 10.00–18.00 Uhr
AUSL AND Leitung: Mathieu von Rohr, Britta DOKUMENTATION Leitung: Cordelia Freiwald,
SPIEGEL -Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg
Kollenbroich (stellv.), Katrin Kuntz (stellv.), Julia TITELBILD Teamleitung: Johannes ­Unselt; Kurt Jansson; Zahra Akhgar, Nikolai Antoniadis,
Prosinger (stellv.), Özlem Topçu (stellv.). Redaktion: Dr. Susmita Arp, Verena Barchfeld, Lars Böhm, Eva Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070
Suze Barrett, Alexandra Grünig, Pia Pritzel,
Mohannad Alnajjar, Monika Bolliger, Alexander Marcus Wiechmann Bräth, Viola ­Broecker, Dr. Heiko Buschke, Almut Mail: aboservice@spiegel.de
Chernyshev, Francesco Collini, Fiona Ehlers, Lena Cieschinger, ­Johannes Eltzschig, Klaus Falkenberg,
Greiner (Teamleitung Globale Gesellschaft), Muriel DIGITALES DESIGN Elsa Hundertmark Catrin Fandja, Dr. Matthias Fett, Janine Große, Imko
Kalisch, Steffen Lüdke, Katharina Graça Peters, Jan Haan, Thorsten Hapke, Dr. Dorothee Heincke, Susanne
Petter, Jan Puhl, Alexandra Rojkov, Anna-Sophie GR AFIK & INTER ACTIVE Leitung: Ferdinand Heitker, Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt
Schneider, Lina Verschwele. Autoren, Reporter: Kuchlmayr, Dr. Matthias Stahl (stellv.); Cornelia Hunger, Stefanie Jockers, Tobias Kaiser, Renate Abonnementsbestellung
Christian Esch, Susanne Koelbl, Nadia Pantel, Baumermann, Christian Eisenberg, Alexander Epp, Kemper-Gussek, Ulrich Klötzer, Anna Köster, Ines
Maximilian Popp, Christoph Reuter, Thore Schröder. Guido Grigat, Max Heber, Frank Kalinowski, Köster, Mara Küpper, Peter Lakemeier, Julia Lange, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
Berlin: Julia Amalia Heyer, Alexander Sarovic Anna-Lena Kornfeld, Chris Kurt, Niklas Marienhagen, Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
Gernot Matzke, Lina Moreno, Klaas Neumann, Dawood Dr. Andreas Meyhoff, Marvin Milatz, Cornelia
Ohdah, Bernhard Riedmann, Lea Rossa, Alexander Moormann, Tobias Mulot, Claudia Niesen, Dr. Gerret oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
WISSEN Leitung: Michail Hengstenberg, Kurt
Stukenberg, Alina Schadwinkel (stellv.). Redaktion: Trempler von Nordheim, Sandra Öfner, Ulrike Preuß, Axel
Dr. Philip Bethge, Marco Evers, Johann Grolle, Rentsch, Thomas Riedel, Sara Maria Ringer, Friederike Ich bestelle den SPIEGEL
KORREKTOR AT Sebastian Hofer
Dr. Veronika Hackenbroch, Arvid Haitsch, Lukas Kissel, Röhreke, Andrea Sauerbier, Marko Scharlow, Mirjam i für € 5,90 pro gedruckte Ausgabe
Guido Kleinhubbert, Julia Koch, Julia Köppe, Julia Schlossarek, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario
DATENJOURNALISMUS Leitung: Marcel Pauly, i für € 0,70 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
Merlot, Jörg Römer, Nils-Viktor Sorge (Teamleitung Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Anna Schwarz, Ulla
Patrick Stotz; Holger Dambeck, Lisa Goldschmidtböing,
Mobilität). Autoren, Reporter: Rafaela von Bredow, Achim Tack, Christoph Winterbach
Siegenthaler, Meike Stapf, Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia E-Paper beträgt € 0,69) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe.
Christoph Seidler, Olaf Stampf. Stodte, Rainer Szimm, Dr. Marc Theodor, Andrea Tholl,
Berlin: Susanne Götze, Kerstin Kullmann, Hilmar SOCIAL MEDIA & LESERDIALOG Leitung: Ayla Nina Ulrich, Louisa Uzuner, Peter Wahle, Dr. Charlotte Der Bezug ist monatlich kündbar.
Schmundt. Autor: Jörg Blech Kiran, Angela Gruber. Redaktion: Philipp Dreyer, Ariane Weichert, Peter Wetter, Karl-Henning Windelbandt, Alle Preise inkl. MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur
Fries (Teamleitung Community), Maria Herbst, Luisa Anika Zeller, Malte Zeller
in Deutschland.
KULTUR Leitung: Stefan Kuzmany, Eva Thöne, Laura Höppner, Aleksandra Janevska, Charlotte Klein, NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa,
Backes (stellv.). Redaktion: Felix Bayer, Tobias Becker, Sebastian Maas, Petra Maier (Teamleitung Google Los Angeles Times/Washington Post, New York Times, Bitte liefern Sie den SPIEGEL an:
Christian Buß, Xaver von Cranach, Nora Gantenbrink, Web Stories), Annina Metz, Robert Schlösser, Lara Reuters, sid
Oliver Kaever, Ulrike Knöfel, Carola Padtberg, Jurek Schulschenk, Kim Staudt, Katharina Zingerle SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN
Skrobala, Katharina Stegelmann. Autoren, R ­ eporter: GMBH & CO. KG
Sebastian Hammelehle, Wolfgang Höbel. SEO Teamleitung: Insa Winter; Alexandra Knape,
Bastian Midasch, Heiko Stammel, Hanna Zobel Anzeigen: Hannes Engler Name, Vorname des neuen Abonnenten
Berlin: Lars-Olav Beier, Frauke Böger, Elisa von Hof,
Philipp Oehmke, Hannah Pilarczyk, Tobias Rapp, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 77 vom 1. Januar 2022
Martin Reichert. Autoren, Reporter: Andreas Borcholte, VIDEO Leitung: Anne Martin, Benjamin Braden Mediaunterlagen und Tarife: www.spiegel.media
Enrico Ippolito (stellv.), Leonie Voss (stellv.). Redaktion: Sven Christian,
Dennis Deuermeier, Benjamin Eckert, Manuel Genolet, Vertrieb: Torben Sieb Straße, Hausnummer oder Postfach
Birgit Großekathöfer, Janita Hämäläinen, Martin Herstellung: Silke Kassuba
REPORTER Leitung: Özlem Gezer, Christoph
Jäschke, Heike Janssen, Marco Kasang, Carolin
Scheuermann, Felix Dachsel (stellv.). Redaktion: Barbara
Katschak (Teamleitung Talk), Eckhard Klein, Andreas
Hardinghaus, Timofey Neshitov, Dialika Neufeld, PLZ, Ort
Landberg, Jonathan Miske, Fabian ­Pieper, Rachelle
Jonathan Stock, Antje Windmann. Autoren, Reporter:
Pouplier, Christian Weber
Marc Hujer, Frauke Hunfeld, Alexander Osang,
Alexander Smoltczyk, ­Barbara Supp CHEFS VOM DIENST BEWEGTBILD Dirk Schulze,
Martin Sümening Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
SPORT Leitung: Hauke Goos, Udo Ludwig, Lukas
Rilke, Jörn Meyn (stellv.). Redaktion: Peter Ahrens, AUDIO Leitung: Ole Reißmann, Olaf Heuser (Chef
Anne Armbrecht, Matthias Fiedler, Michael vom Dienst), Jannis Schakarian (Chef vom Dienst). Ich zahle nach Erhalt der Rechnung. Hinweise zu AGB,
Fröhlingsdorf, Jan Göbel, Nina Golombek, Benjamin Redaktion: Ronja Bachofer, Jelena Berner, Philipp Datenschutz und Widerrufsrecht finde ich unter
Knaack, Marcus Krämer, Danial Montazeri, Thilo Fackler, Lenne Kaffka, Marius Mestermann, Sandra GESCHÄF TSFÜHRUNG Thomas Hass www.spiegel.de/agb
Neumann, Gerhard Pfeil Sperber, Regina Steffens, Yasmin Yüksel (Vorsitzender), Stefan Ottlitz

USA: DER SPIEGEL (USPS no 01544520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Known Office of Publication: Data Media (A division of Cover-All Computer Services Corp.), 2221 Kenmore Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten
Avenue, Suite 106, Buffalo, NY 14207-1306. Periodicals postage is paid at Buffalo, NY 14205, Postmaster: Send address changes to DER SPIEGEL, Data Media, P.O. Box 155, Buffalo. NY 14205- SP-IMPR, SD-IMPR (Upgrade)
0155, e-mail: service@roltek.com, toll free: +1-877-776-5835; Kanada: SUNRISE NEWS, 47 Silver Shadow Path, Toronto, ON, M9C 4Y2, Tel +1 647-219-5205, e-mail: sunriseorders@bell.net

116 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Menahem Pressler, 99
NACHRUFE Musik war seine Rettung, sein
bei den Berliner Philharmo­
nikern. Menahem Pressler starb
Lebenszweck und -elixier. am 6. Mai in London. KS
­Menahem Pressler, lange der
wohl älteste aktive Pianist, Kemal Derviş, 74
brauchte das Klavierspiel wie Er galt als Retter der türkischen
die Luft zum Atmen. Mit seinen Wirtschaft und einer der wich-
Eltern und seinem Bruder muss- tigsten Ökonomen seiner Gene-
te er als 15-Jähriger vor der ration. Die Stationen seiner
­Judenverfolgung der Nazis aus Karriere zeugen davon: Wirt-
Magdeburg nach Palästina schaftsminister, Vizepräsident
­fliehen. Schwer traumatisiert der Weltbank, Chef des Uno-
verlor er dramatisch an Ge- Entwicklungsprogramms. Kemal
wicht, die Ärzte konnten ihm Derviş, 1949 in Istanbul als
nicht helfen, erzählte er dem Sohn eines türkischen Vaters
SPIEGEL 2008: »Was mich am und einer deutschen Mutter
Ende geheilt hat, war die Mu- ­geboren, studierte unter ande-
sik, das Spielen, das Lernen und rem an der London School of
Franziska Krug / Getty Images

am meisten das Empfinden.«


Sein Talent, seine Disziplin und
eine gute Portion Glück, wie er
selbst sagte, verhalfen ihm zu
einer sensationellen Karriere als
Musiker. Pressler nahm 1946
an einem Debussy-Wettbewerb

Chris Maluszynski / Agentur Focus


Grace Bumbry, 86 in San Francisco teil, gewann,
Sie war ein Weltstar der Opernbühne, und ihr Aufstieg begann setzte seine Karriere in den
in Bayreuth. Dort sang die in St. Louis geborene US-Amerikanerin USA fort und gründete 1955 das
Grace Bumbry 1961 als erste schwarze Sängerin die Venus im ­Beaux Arts Trio mit, das über
»Tannhäuser« und kümmerte sich nicht um die rassistischen An- 50 Jahre lang – mit wechseln-
würfe, denen sie ausgesetzt war. Das sei für sie nichts Neues ge­ den Violinisten und Cellisten –
wesen, sagte sie später. Mit 17 Jahren gewann sie bei einem Radio­ Tausende Konzerte in aller Welt
wettbewerb ein Studium am St. Louis Institute of Music. Und gab und als das bedeutendste
­wurde wegen ihrer Hautfarbe abgewiesen, damals herrschte in Mis- Ensemble seiner Art galt. Eine Economics und in Princeton.
souri noch strikte Rassentrennung. In Bayreuth habe sie sich also der ersten von Hunderten Auf- Lange Zeit verbrachte er in Wa-
einen Schutzmantel übergezogen, sagte sie, und ihren Job gemacht. nahmen ­bestand in den Klavier- shington. Doch als die türkische
Es wurde ein sensationeller, ein umjubelter Auftritt. Grace Bumbry trios von Maurice Ravel und Wirtschaft 2001 in einer schwe-
nahm das Publikum mit ihrer leidenschaftlichen Bühnenpräsenz Gabriel ­Fauré; zum Repertoire ren Krise steckte, folgte er dem
genauso ein wie mit der warmen Stimmfarbe ihres Mezzosoprans. gehörten alle großen Stücke aus Ruf des türkischen Minister­
Sie sang auf allen großen europäischen Bühnen, zu ihren Parade- präsidenten Bülent Ecevit. Als
rollen zählten die Titelrolle in »Carmen« und die Lady Macbeth. Wirtschaftsminister trug er we-
Später wechselte Bumbry ins Sopranfach und begeisterte als Salome sentlich dazu bei, dass das Land
in Richard Strauss’ gleichnamiger Oper. Sie war eine charismati- nicht kollabierte. Derviş leitete
sche Erscheinung, zu der ihr mondäner Lebensstil gut passte. Grace ein Umschuldungsprogramm,
Bumbry starb am 7. Mai in ihrer Wahlheimat Wien. KAE schloss überschuldete Banken
und sicherte der Türkei Milliar-
den-Hilfskredite beim Interna-
Rita Lee, 75 tionalen Währungsfonds und
»Unterm Strich waren wir allen anderen um Licht- bei der Weltbank. 2002 wuchs
Oliver Schmauch / laif

jahre voraus«, sagte die brasilianische Musikerin die türkische Wirtschaft um


Rita Lee 2001 der »New York Times«. Zu jener 6,4 Prozent. Von den Reformen,
Leo La Valle / dpa

Zeit hatten Stars wie Beck den enormen Einfluss die er anschob, profitierte auch
von Lees Band Os Mutantes auf die westliche Recep Tayyip Erdoğan, als er
Popmusik wiederentdeckt. Die Gruppe war 1966 2003 erstmals Ministerpräsident
in Lees Heimatstadt São Paulo gegründet worden. wurde. Kurze Zeit saß Derviş
Nirvana-Sänger Kurt Cobain und Charles III. gehörten zu ihren Klassik und Romantik. Moder- im türkischen Parlament, ehe er
Fans. Die 1947 als Rita Lee Jones de Carvalho geborene Tochter nes spiele er vor allem, um die 2005 zur Uno wechselte. Von
eines Nachfahren von US-Einwanderern und einer Brasilianerin alte Musik noch besser zu ver- 2009 bis 2017 war er Vizepräsi-
galt als brasilianische »Königin des Rock«. Os Mutantes wurden stehen, sagte Pressler später. dent der US-Denkfabrik Broo-
auch dank Lee zu einem Aushängeschild der Tropicália-Bewegung, Im Jahr 2008 löste sich das Trio kings, zwischenzeitlich unter-
die sich ab Ende der Sechzigerjahre mit subversiver Musik gegen auf, Pressler, ein leidenschaft­ richtete er an der Columbia
die Militärdiktatur wandte. Traditionelle brasilianische Musik wurde licher Lehrer, der viele Jahre Universität in New York. Einer
elektrisch verstärkt und mit psychedelischem Rock verquickt. eine Professur an einer Musik- seiner Lebensträume ging
1972 verließ Lee die Band und widmete sich ihrer Solokarriere. Als hochschule in Indiana innehat- nicht in Erfüllung: die Mitglied-
die Sängerin mit den knallrot gefärbten Haaren 2021 eine Lun­ te, machte als Solist weiter. Da schaft seines Heimatlands
genkrebs-Diagnose erhielt, gab sie ihrem Tumor den Spitznamen war er 85 Jahre alt. Er fühle sich ­Türkei in der EU. Kemal Derviş,
»Jair«, eine spöttische Anspielung auf Brasiliens damaligen Prä­ »jung, sehr jung«, sagte er da- der an Parkinson litt, starb
sidenten Jair Bolsonaro. Rita Lee starb am 8. Mai in São Paulo. BOR mals. Mit 90 hatte er sein Debüt am 8. Mai in Washington. POP

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 117


PERSONALIEN

Klare Ansagen
helfen
Die Aktivistin, TV- und Radio-
moderatorin Jameela Jamil, 37,
die auch als Schauspielerin
von sich reden macht, hat eine
neue Lektion in Sachen Selbst-
bestimmung gelernt. In einem
Podcast erzählte sie, dass sie ein
Casting für die vierte Staffel
der Erfolgsserie »You« abgelehnt
habe, weil ihr die Rolle zu
sexy erschien: »Ich mache keine
­Sexszenen«, sagte sie im Ge-
spräch mit Penn Badgley, der die
Hauptrolle in »You« spielt,
einen besessenen Stalker und
Mörder. Das hatte sie den
­Machern der Serie offenbar nicht
gesagt – im Gegensatz zu
­Badgley, der für die vierte Staf-
fel zu viel Körpereinsatz vor
der Kamera verweigerte: um die
Treue in seiner Ehe zu ehren,
wie er im Februar enthüllte. So
erfuhr Jamil davon erst, nach-
dem sie das Angebot fürs Cas-
ting ausgeschlagen hatte. Jetzt
sagte sie: »Ich wusste nicht,
dass das eine Grenze ist, die wir
(als Schauspieler) setzen kön-
nen.« Sie bedauere nun, dass sie

Jon Kopaloff / Getty Images


hingeschmissen hat. Der Grund,
warum Jamil Sexszenen ab-
lehnt, liege in einem Kindheits-
trauma und dem Bedürfnis,
sich nicht zum Objekt degradie-
ren zu lassen. KS

Vorsorglicher Vater Goldblum vor Charme, von Angewohnheit hatte er auch,


­Ermattung angesichts der späten sein Vater sagte ihm damals, das
Man könnte ihn mit gutem Vaterschaft keine Spur. Bei der würde einen schlechten Ein-
­Gewissen einen Spätzünder Erziehung seiner Söhne orien- druck machen, wenn er mal ein
nennen: Jeff Goldblum, 70, tiere er sich an seinem Eltern- Bewerbungsgespräch führen
US-amerikanischer Schauspie- haus, wo er schon früh mit Mu- müsse, so Goldblum. Genau das
Mark Von Holden / picture alliance

ler und Musiker, wurde mit sik und anderen Künsten in habe er jetzt seinem Sohn mit-
62 Jahren zum ersten Mal Vater, ­Berührung kam. Er gibt seinen geteilt, »ohne ihn neurotisch
drei Jahre später erschien sein Jungs Klavierunterricht – und machen zu wollen«, versichert
erstes Jazzalbum. Gerade veröf- zukunftsorientierte Tipps fürs er. Bis so ein Termin ansteht,
fentlichte er die EP: »Plays Well Leben. Sein jüngerer Sohn dürfte es noch ein bisschen dau-
with Others«. In einem Inter- habe begonnen, Fingernägel zu ern. Der Junge ist gerade sechs
view mit der »Times« sprühte ­kauen, erzählt Goldblum. Die Jahre alt geworden. KS

118 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


Von der Assistentin Zwei Männer, der Träume« von 1989 mit
­Kevin Costner in der Haupt­
zur Hauptperson ein Team rolle: Affleck und ­Damon sind
Eine Woche nach der Krönungs­ Die Hollywoodstars Matt zwei von 3000 Statisten in
zeremonie in London und dem ­Damon, 52, und Ben Affleck, 50, einer Massenszene bei einem
Informationsstrom über Kut­ bedauern im Rückblick auf ihr Baseballspiel. Affleck erklärt,
schen, Kritik und Kates Outfits Berufsleben eine Sache: dass sie dass sie irgendwann dachten,
sind alle ein bisschen erschöpft. zu wenig zusammenge­arbeitet sie sollten nicht zu häufig mit­
Doch die Frage muss erlaubt haben. Die beiden Stars und einander arbeiten, um die eige­
sein: Was bleibt von diesem his­ Oscarpreisträger kennen sich ne Unabhängigkeit zu wahren.
torischen Tag? Der König, die seit ihrer Kindheit, sie besuch­ Doch inzwischen hätten sie ent­
Königin – und Penny Mordaunt, ten zusammen die Schule, schieden, sich davon freizuma­
50, Präsidentin des britischen schrieben gemeinsam das preis­ chen: »Komm, scheiß drauf.«
Unterhauses und bis dahin gekrönte Drehbuch von »Good Ihre gemeinsamen Projekte sei­
international eher unbekannte Will Hunting« und traten immer en einfach schön. Damon sagt,
Tory-Politikerin, wie es aus­ wieder zusammen in Filmen auf, im Rückblick auf die vergange­

Victoria Jones / dpa


sieht. Sie war die erste Frau in zuletzt spielte ­Damon unter der nen 20 Jahre seien beide zum
der Geschichte Englands, die Regie von Affleck in »Air – Der gleichen Schluss gekommen:
als Schwertträgerin bei einer große Wurf«. In einem Video »Wir hätten viel mehr zusam­
Krönung tätig wurde, und man für »Vanity Fair« ließen die bei­ menarbeiten sollen.« Die zwei
muss sagen, sie tat es mit Gran­ den ihre Kar­riere anhand der erwecken den Eindruck, ihr
dezza. Eine Journalistin urteilte Premierministers in Wettbüros gemeinsamen Projekte Revue Versäumnis in Zukunft wieder­
auf Social Media, Mordaunts an zweiter Stelle geführt. Natür­ passieren, angefangen bei »Feld gutmachen zu wollen. KS
Schwert sei für die Krönung das lich konnte das alles nicht ohne
gewesen, was Pippas Po für die Vorbereitung gelingen. Zum
Hochzeit von William und Kate einen machte Mordaunt Liege­
gewesen war. Damals schaute stütze, um, ohne zu wackeln,
die Welt verzückt auf die Rück­ das Schwert gefühlt stundenlang
seite der jüngeren Schwester zu halten. Im Laufe der Fernseh­
der heutigen Princess of Wales. übertragung von Westminster
Über Parteigrenzen hinweg er­ Abbey hätten die Zuschauer den
hielt Mordaunt Zuspruch. Eine Eindruck gewinnen können,
Labour-Kollegin befand begeis­ die Dame in Blau mit der Waffe

Stephane Cardinale / Corbis / Getty Images


tert, sie sehe fantastisch aus sei die Hauptperson der Ver­
und habe allen die Show gestoh­ anstaltung, so häufig war sie im
len. Ihr wird nun eine glänzende Bild. Zum anderen hatte die
politische Karriere vorher­ einst als »sexiest MP« (Mitglied
gesagt, höchste Ämter scheinen des Parlaments) gekürte Kon­
möglich. Zweimal hat sie sich servative sich schon in der älte­
vergebens als Parteivorsitzende ren Vergangenheit im öffent­
zur Wahl gestellt, jetzt wird lichen Auftritt geübt: als Assis­
ihr Name für eine Nachfolge des tentin eines TV-Zauberers. KS

Ohne Reue Covid auf der Intensivstation


lag: Die Tory-Politik sei schuld
Die Vertreterin Großbritanniens am Tod von Hunderten. Sie be­
beim Eurovision Songcontest dauere ihren Tweet nicht, sagte
(ESC) in Liverpool wartet da­ sie jetzt der »Sunday Times«,
rauf, einen deutschen Pass zu denn sie habe sich damals so ge­
­bekommen. Mae Muller, 25, in fühlt. Viele der Leute, die ein
London geborene Popsängerin, Problem mit ihren Aussagen
hat Anspruch auf die deutsche hatten, kämen aus Großbritan­
Staatsbürgerschaft, weil ihr jü­ nien, ­sagte Muller. Vor allem die
discher Großvater einst vor den hätten erklärt, beim ESC nicht
Nazis geflohen war. Zwei Tan­ für Muller stimmen zu wollen.
ten, vier Brüder und ihr Vater »Na ja, ihr könnt mich sowieso
haben ebenfalls einen Antrag nicht wählen«, sagt die Sän-
gestellt, erzählte Muller der gerin cool. Sie habe eine große
»Sunday Times«: »Das bedeu­ ­Anhängerschaft unter jungen
tet, dass wir in Spanien leben ­Frauen, für die sei es wichtig
können.« Dass sie mit der Poli­ zu ­wissen, dass sie eine Stimme
tik in ihrer Heimat nicht immer ­haben können. Der deutsche
zufrieden ist, hat Muller in Ausweis wird Muller das Arbei­
Adam Vaughan / EPA

der Vergangenheit deutlich ge­ ten in der EU erleichtern; seit


macht. In einem Tweet schrieb dem Brexit sind die bürokra­
sie, dass sie Boris Johnson nicht tischen Anforderungen für bri­
bemitleidet habe, als der mit tische Künstler enorm. KS

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 119


BRIEFE wollten zur Ehre Gottes beitragen
und erlebten Ekel. Abscheuliche-
res ist kaum vorstellbar.
Günter Wanders, Rheinfelden
(Bad.-Württ.)

Die Argumentation wird immer


und immer wieder sein, dass man
Auch nach der Ära Erdoğan wird ist. Ich würde meinen, dass dort das Vertrauen in den Glauben
die Türkei weder das eine noch ein paar Dutzend Gutachter mehr und die Institution Kirche nicht
das andere erleben. Keinen Auf- als Verena Graichen arbeiten. durch Einzeltäter diskreditieren
bruch, aber auch kein Chaos. Sie Auch ist Herr Kellner vermutlich lassen kann. Das Ganze – die Kir-
wird auch nicht Mitglied der EU, schon länger mit Verena Graichen che – ist wichtiger als der einzel-
noch tritt sie aus der Nato aus. verheiratet, als er Staatssekretär ne Täter und letztlich auch das
Sie wird keine »lupenreine De- ist. Ich würde mir wünschen, dass einzelne Opfer. Nur, dass es sich
mokratie« werden, genauso we- Sie, bevor Sie derartige Meinun- eben ganz offenbar nicht um Ein-
nig verwandelt sie sich in eine gen veröffentlichen, recherchie- zeltaten handelt, sondern dass die
ebensolche Diktatur. Es sind ren, zum Beispiel: Auf wie vielen katholische Kirche vorgegangen
komplexe Mischungen zwischen vom Wirtschaftsministerium seit ist wie eine Organisation aus dem
Orient und Okzident, zwischen Habeck vergebenen Gutachten Bereich der Organisierten Krimi-
Konstantinopel und Istanbul, ist denn Verena Graichen tatsäch- nalität. Insofern zieht der Mafia-
zwischen westlichem Lebensstil lich meinungsbildende Autorin? Vergleich sehr gut.
und osmanischen Traditionen. Wann haben Verena Graichen Irina Bruns, Seedorf (Schl.-Holst.)
Die Türkei bleibt ein Solitär der und Michael Kellner geheiratet?
besonderen Art. Gibt es denn einen Zusammen- Abgrundtief beschämend ist der
Raffaele Ferdinando Schacher, hang zwischen Ihrem behaupte- Umgang mit Missbrauch, der in
In Schieflage Rorschach (Schweiz) ten familiären Klüngel, der über der Kriminalisierung von Opfern
Verwandschaftsverhältnisse hin- kulminiert und dem Machterhalt
Nr. 19/2023  Titel: Der Unbesiegbare ausgeht, und Ihrer Meinung? eines Systems mit Grundsätzen
Der Mut der Grünen Matthias Heindorf, Allschwil (Schweiz) aus vordemokratischen Zeiten
Der Schlüsselsatz in dem sehr dient. Mit Papst und Weltkirche
nachdenkenswerten Artikel lau- Nr. 18/2023  Leitartikel: Zukunftsmodell als schwerem Betonklotz am Bein
Große Koalition
tet für mich: »Eine Generation, Betonklotz Kirche bleibt die freiwillige Demokra­
die er nicht kennt und nicht ver- Ich verstehe das Grünen-Bashing tisierung kirchlicher Strukturen
steht.« Nur – diese junge türki- nicht. Herr Hickmann gibt ja Nr. 18/2023  Wie Betroffene auf die vielen in der Teilkirche Deutschlands
Missbrauchsfälle im Erzbistum Freiburg
sche Generation wird vermutlich selbst zu, dass er die Pläne der blicken / Gastbeitrag: Betroffenenvertreter frommer Wunsch. Weg mit dem
nicht nur die Wahl entscheiden, Grünen wie den Veggie-Day oder Matthias Katsch über die katholische Selbstbestimmungsrecht, gleiches
sondern auch die türkische Zu- den Heizungstausch für berech- Kirche und die Mafia Recht für alle! Das gefährdet
kunft wesentlich bestimmen. tigt hält, stört sich aber an ihrer nicht das Überleben christlichen
Dieter Obst, Wiesbaden Umsetzung, weil die Grünen die Robert Zollitsch hat diese Schand- Glaubens, sondern ermöglicht es.
Leute nicht mitnehmen. Ihm taten mit seinem Verhalten ak- Susanne Kneißle, Bad Buchau
Alle Parameter eines gut funktio- scheint also erfolgreiche Politik zeptiert und das Leben dieser (Bad.-Württ.)
nierenden Staates sind durch nur möglich zu sein, wenn vorher Kinder und Jugendlichen zer-
Erdoğans Politik in Schieflage ge- die Umfragewerte studiert wer- stört. Was für eine Schande für
raten. So fallen die hohe Staats- den, um ja keine Wähler zu ver- die Kirche. Wenn Herr Zollitsch Es tut nicht mal so
verschuldung, eine immense In- graulen. Die Konsequenz ist noch Rest-Anstand hat, sollte er
flationsrate, eine sinkende Wert- Wohlfühlpolitik à la Merkel oder sich erstens bei diesen Jugend­ Nr. 18/2023  SPIEGEL-Gespräch mit dem
Forscher Eric Schulz über die Frage, ob
entwicklung der türkischen Lira, Populismus à la Söder. Wir brau- lichen öffentlich in Radio und Chatbots Angst empfinden
eine relativ hohe Arbeitslosen- chen Politiker, die bereit sind, sich Fernsehen entschuldigen und
quote und ein Nichtvorhanden- gegen die Mehrheit zu stellen, zweitens aus der heiligen Kirche Die Folgerungen von Herrn
sein von Pressefreiheit in seine denn die ist meist träge und will austreten. Schulz lassen nur den Schluss zu,
Verantwortung. Und hätte er nichts Neues. Heute ist das Neue Dr. Vinod Talgeri, Bietigheim-Bissingen dass er nicht weiß oder ausblen-
2017 nicht auf die Unterstützung das Unangenehme, das Opfer (Bad.-Württ.) det, wie KI funktioniert. Wenn
seiner in Deutschland lebenden verlangt – das den Wählern klar- ein Chatbot auf Worte in Fragen
Landsleute zählen können, wäre zumachen erfordert Mut. Auf der Vielen Dank für den Artikel, aber mit Wendungen reagiert, die
es nicht zu dem von ihm ange- politischen Bühne scheinen mir auch vielen Dank an Bischof Bur- wir mit Angst in Verbindung brin-
strebten Präsidialsystem gekom- die Grünen den meisten Mut zu ger in Freiburg, der die Studie gen, hängt das allein an deren
men. Diese Wahl machte ihn zum haben. nicht nur zugelassen, sondern statistischem Zusammenhang im
Alleinherrscher, zum Autokraten Dr. Klaus Steinvorth, Norderstedt auch unterstützt hat. Für das Lernmaterial, mit dem er trainiert
der Türkei. Alle ihm missliebigen (Schl.-Holst.) Gegenteil wurde in Köln viel worden ist. Dass ein solcher Zu-
Personen wurden ohne Angabe Geld ausgegeben. Aber ein As- sammenhang auch zwischen
von Gründen weggesperrt. Es Ich würde mich ärgern, wenn die pekt kommt zu kurz: Die Opfer Angst und Rassismus besteht, ist
bleibt nur zu hoffen, dass dieser Meinung in diesem Leitartikel sind meist Messdiener gewesen, nur zu bekannt und ebenfalls dort
geopolitisch so wichtige Staat der dem Konsens in der Redaktion Kinder, die, angetan von der Wür- eingeflossen. Einem Rechenpro-
Nato durch die Abwahl Erdoğans entspricht. Ein Trauzeuge ist kein de der liturgischen Handlungen, gramm Emotionen zuzuschreiben
zu demokratischen Strukturen Verwandter. Und das Öko-Insti- den feierlichen Gewändern und ist absurd. Es tut nicht einmal so.
zurückkehren kann. tut existiert schon sehr viel länger, dem Hauch des göttlichen Glan- Es sieht allenfalls so aus.
Horst Winkler, Herne (NRW) als Herr Graichen Staatssekretär zes, Teilhabe gesucht haben. Sie Dr. Michael Zaoralek, Stuttgart

120 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023


Ich bin empört über Ist den 24 Prozent der Können Sie mir bitte Methoden
das Titelblatt mit Befragten nicht auf- erklären, wie sich hinterfragen
Herrn Erdoğan. Diese gefallen, dass Frau Fraktionszwang, so Nr. 18/2023  Mitarbeiter erheben

Präsenz spielt ihm Wagenknecht, die für bitter nötig er in der Vorwürfe gegen den Regisseur
Til Schweiger – er bestreitet diese
bei den kommenden den Russland-Ukraine- Realität auch sein
Wahlen nur in die Konflikt diplomatische mag, mit dem Grund- Nachdem ich diesen sehr ausge-
Hände. Lösungen ­fordert, gesetz vereinbaren wogenen Artikel gelesen hatte,
musste ich tief durchatmen. Was
Christel Giblin, München noch nie preisgege- lässt? Dort heißt es für unerträgliche Zustände für die
ben hat, wie sie sich nämlich: Abgeordnete Crew, was für ein menschlicher
so eine Lösung vor- sind an Weisungen Absturz, Til Schweiger. Wer Frau-
en »Fotze« nennt, ist raus! Er soll-
stellt, mit der beide und Aufträge nicht te nirgendwo mehr eingeladen
Seiten einverstanden gebunden und nur werden und keinen weiteren Cent
sein könnten? ihrem Gewissen Fördergeld bekommen, bis dieser
Regine Ulbrich, Buchholz i. d. unterworfen. Mann nachhaltig geläutert ist. Til,
was ist aus dir geworden? Und
Nordheide (Nieders.)
Sebastian Kinski, Mainz dass Constantin Film die Zustän-
de leugnet, ist eine Riesensauerei.
Nr. 18/2023  Ein Streit bei den
Danke für diesen Bericht, Maike
Nr. 19/2023  Titel: Der Nr. 18/2023  Wagenknecht Hamburger Grünen brachte Backhaus und Alexandra Rojkov.
Unbesiegbare treibt Parteigründung voran die Landesregierung fast zu Fall Martina Titze, Bremen

Bravo, zwei Frauen hatten wieder


Teil der Identität wiegende Folgen. So hat Kommu- wir diese Zeitung nur noch ein- einmal den Mut, diesen Artikel
nalpolitik, wo es um den kleinen mal pro Woche. Die überregio­ für den SPIEGEL zu schreiben.
Nr. 18/2023  In Thüringen will die Funke Etat einer Dorfgemeinde gehen nale Tageszeitung haben wir ab- Leider ist Til Schweiger ein sehr
Mediengruppe erstmals eine Tages­
zeitung nur noch digital verkaufen kann, gegenüber Schockmeldun- bestellt, weil sie praktisch keinen guter und erfolgreicher Schau-
gen aus dem Polizeibericht digital Bezug zur Region hatte und weil spieler und Regisseur, und keiner
In Ihrem Beitrag über das Experi- keine Chance, wahrgenommen die überregionalen Inhalte auch wagt es, ihm zu widersprechen,
ment der Funke Mediengruppe zu werden. Denn die Aufmerk- anderswo verfügbar sind, zum weil sie finanziell von ihm abhän-
kommt ein Aspekt zu kurz, und samkeitsskala wird online justiert Beispiel im SPIEGEL . gig sind. »Gib einem Menschen
zwar der, dass Printjournalismus durch die Maßgabe »quick and Johannes Zauner, Laaber (Bayern) Macht, und du weißt, welchen
ein völlig anderer ist als Online- dirty«, schnell und schmutzig. Charakter er hat.«
journalismus. Bezogen auf lokale Damit können kommunale Struk- Auch in unserer Region läuft die Irmela Christen, Berlin
Tageszeitungen hat das schwer- turen nur selten dienen. Redak- Ausdünnung der Medienland-
teur:innen, die weiterhin Wert schaft. Die örtliche Tageszeitung Vielleicht wäre es grundsätzlich
auf Berichterstattung im Vereins- wurde von einem Konzern über- mal an der Zeit, die teilweise
KORREKTUREN oder Verbandswesen legen, wer- nommen, der sich immer mehr mehr als rüden Methoden von
Zu »Rettung aus Oxford« in Heft den daher von auf Zahlen fixier- ausbreitet. Lokale Berichte liest Produktionsfirmen und Regisseu-
17/2023, Seite 76: Die tansanische ten Köpfen in den Chefetagen als man immer weniger. Über örtli- ren zu hinterfragen, da sie doch
Metropole Daressalam ist heute altbacken und lästig empfunden. che Kulturveranstaltungen gibt zum größten Teil aus Steuergel-
nur noch Regierungssitz, Haupt- Wenn aber Entscheidungen in es nur noch Ankündigungen, kei- dern und Rundfunkgebühren fi-
stadt des ostafrikanischen Landes Politik, Wirtschaft und Verwal- ne Rezensionen. Die gibt es nur nanziert werden. Til Schweiger
ist seit 1974 offiziell die Stadt Do- tung auf unterer Ebene in Er­ aus der neuen und fernen ist da kein Einzelfall in der Kunst,
doma. mangelung medialer Beachtung »Hauptstadt«. Die Zuordnung Mitarbeiter zu schikanieren und
Zu »Fremde Eltern« in Heft zunehmend unkontrolliert und der Seiten zu festen Regionen am Set zu erniedrigen. Und die
17/2023, Seite 44: Gabriele Go- unkommentiert bleiben, nagt das wurde abgeschafft. Homestorys Produktionsfirmen lassen es
denir besuchte zu DDR-Zeiten im an den Grundfesten unserer De- ersetzen Berichte über das Ge- durchgehen, nur um das Projekt
Alter von etwa fünf Jahren ein mokratie. schehen vor Ort. Das alles trotz durchzuziehen. Mitarbeiter sind
Wochenheim. Dort war sie wo- Jürgen Paxmann, Süpplingen (Nieders.) massiver Kritik der noch verblie- sozusagen lästiges und kostenin-
chenweise ohne Kontakt zu ihrer benen Leser. Da verliert eine Re- tensives notwendiges Übel, auf-
Familie untergebracht. Sie erleb- Wir wohnen in einer 5000-Ein- gion einen Teil ihrer Identität, die grund vieler Freelancer-Verträge
te diese Trennung ihrer eigenen wohner-Gemeinde, die nächste hier noch ein hohes Gut ist, und teilweise hart an der Grenze der
Erzählung zufolge als Schock. Im Großstadt ist 25 Kilometer ent- geht im Brei der Einheitsberichte Ausbeutung. Das wäre doch mal
Text heißt es, sie habe eine Wo- fernt. Wir haben die regionale auf. Auch ein Stück Presse- und eine Aufgabe für unsere Kultur-
chenkrippe besucht, in die Kin- Tageszeitung abbestellt, weil sie Meinungsvielfalt ist wieder da- staatsminister:innen nachzuboh-
der bereits ab einem Alter von im Regionalteil voller Fehler war: hin. Am Ende wird sicher auch ren und nicht nur bei den schein-
sechs Wochen gegeben wurden. Unvollständige, zu späte oder fal- meine Tageszeitung eingestellt, heiligen Preisverleihungen Lob-
Obwohl Frau Godenir bereits äl- sche Angaben bei Veranstaltun- es kommt die überregionale Zei- hudeleien von sich zu geben.
ter war, als sie von ihrer Familie gen in der Region, kaum Infor- tung und vielleicht ein oder zwei Name und Wohnort der Redaktion
getrennt wurde, empfand sie es mationen mit regionalem Bezug, Seiten aus der Region. Dabei hat- bekannt
gleichermaßen als traumatisch. die meisten Informationen in te die Politik angekündigt, die
Die Unterscheidung wurde des- Auswahl und Inhalt mit einer Lebensverhältnisse im ländlichen Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
halb während der Recherche überdeutlichen konservativen bis Raum zu stärken. gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
nicht klar. rechten Tendenz. Deshalb kaufen Anneus Buisman, Esens (Nieders.) unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 20 / 13.5.2023 DER SPIEGEL 121


L E TZ T E S E I T E

Die Kühle einer Mentholzigarette HOHLSPIEGEL

Werbung in einem Schaufenster in Leer:


Hans Friderichs gelang vor 50 Jahren eine steile Karriere
ZEITREISE 
zum Bundeswirtschaftsminister. Der SPIEGEL tat
sich schwer, ein Profil des FDP-Politikers zu entdecken.
Nr. 20/1973  »Was wir machen,
ist mörderisch«

Vom Staatssekretär für


Landwirtschaft und Wein­
bau in Rheinland-Pfalz Von kicker.de:
stieg Hans Friderichs im
Dezember 1972 zum bis »Auch der 1. FC Nürnberg gewann zwar
dato jüngsten Bundeswirt­ jüngst (2:0 gegen Fortuna Düsseldorf),

dpa / ullstein bild


schaftsminister auf – doch selbst hohe libe­ ­bekleckerte sich in der laufenden Spielzeit
rale Parteifreunde grübelten, wie man sei­ aber nicht mit Rum.«
Widersacher Friderichs, Schmidt 1974
nen Namen richtig schreibt. »Profil ist nicht
seine Schokoladenseite«, beschrieb der Aus den Retoureninformationen einer Kleidungsmarke:
SPIEGEL -Porträtist das Dilemma, »beson­ Banklehrling«, doch die Aufsichtsräte hiel­
dere Kennzeichen: keine«. Der Mann von ten ihm sogar weiter die Treue, als 1983
der Mosel verströme »die Kühle einer Men­ wegen des Verdachts der Bestechlichkeit
tholzigarette, die noch nicht richtig brennt«. gegen ihn ermittelt wurde: Allzu entgegen­
Mit Finanzminister Helmut Schmidt, kommend schien er dem Milliardär Fried­ Aus dem »Magazin« des »Kölner Stadt-Anzeigers«:
Leitwolf im Kabinett, arrangierte sich Fri­ rich Karl Flick eine Steuerbefreiung für sei­
derichs zunächst, bevor er sich zu dessen ne Aktienverkäufe verschafft zu haben – »Die Haustiere haben jüngsten Forschun­
Widerpart stilisierte. »Aufdringlich frech« von einer »klebrigen Enge« schrieb der gen zufolge aber nur dann einen mess­
gebärde sich »Friderichs der Große«, so ein SPIEGEL . In diesem Punkt wurde Friderichs baren  Effekt aufs Immunsystem, wenn sie
Ohrenzeuge, und nerve vor allem mit be­ freigesprochen, dafür kostete ihn die schon vor der Geburt im Haushalt sind.«
harrlichem Drängen auf Steuergeschenke Verurteilung wegen Steuerhinterziehung
für die Industrie. am Ende den Job. Von der Website des Schleswig-Holsteinischen
Die konservative Note kam offenbar bei In der Titelgeschichte beschäftigte sich Zeitungsverlags, shz.de:
der Dresdner Bank gut an, die Friderichs der SPIEGEL mit dem Rücktritt des CDU-
1978 zu ihrem Chef berief. Anfangs spottete Vorsitzenden Rainer Barzel als Fraktions­
die Branche über »Deutschlands teuersten chef. Rainer Lübbert

Schwipp und
ist im professionellen Umgang die Höflich­
Aus dem »Kölner Stadt-Anzeiger«:
keitsform »Sie« angezeigt, während beim in­

Schwager
formellen Umtrunk mit einem Vertreter der »Derzeit nehme die Bahn pro Monat
Solarindustrie, der mit der Cousine zweiten drei neue ICE in Betrieb, darunter 14 der
Grades des Schwagers des Geschäftsträgers modernsten Generation des ICE 3.«
eines ökologischen Investmentfonds verhei­
SO GESEHEN  Klarstellung des
ratet ist, auch das »Du« gestattet wäre, so­
Bundeswirtschaftsministers fern damit keine klar zu benennenden beruf­
Aus dem SPIEGEL:

lichen Vorteile verbunden sind.


Zur Vermeidung künftiger Missverständnis­ Eheleute können sich gegenseitig künftig
se über die vorschriftsmäßige Vorgehenswei­ nicht mehr befördern, es sei denn, die Zer­
se bei der Besetzung und Ausübung von rüttung der Ehe kann von mindestens drei
Spitzenpositionen ergeht folgende Klarstel­ nicht (mehr) verwandten Ministerialbeam­
lung des Bundeswirtschaftsministers an die ten eidesstattlich versichert werden. Ausge­
Führungsebene des Hauses: Der Schwager nommen hiervon ist die Eingruppierung von
ist der Bruder der Ehefrau oder aber der Partnern einer sogenannten wilden Ehe, de­
Aus dem »Hamburger Abendblatt«:
Mann der Schwester. Der Schwippschwager ren beamtenrechtliche Unbedenklichkeit im
wiederum ist der Ehemann der Schwägerin Einzelfall vom Minister persönlich zu geneh­ »Gab es 2021 lediglich 351 Elektroautos, die
oder aber der Schwager des Bruders oder migen wäre. im Bezirk Harburg zugelassen waren, sind es
der Schwester, wobei die Schwipp­ Im Sonderfall einer Zufallsbekanntschaft 2022 bereits 396 – eine Steigerung um
schwägerin die Gattin des zweier zwar verschwägerter, aber aufgrund 99 Prozent, also nahezu eine Verdoppelung.«
Schwagers ist, oder eben die zurückliegender Familienstreitigkeiten
Schwägerin der Schwester noch nie sozial miteinander agiert habenden, Anzeige eines Reiseveranstalters in der Wochenzeitung
oder des Bruders. gleichwohl sachkompetenten Personen »Wir in Steinfurt«:
Begegnen sich solche bleibt die Beförderung in dauerhafter Schwe­
etwa auf einer be, bis die entfremdeten Parteien einer
turnusgemäß an­ ­Familienaufstellung zugestimmt haben. Das
gesetzten Tagung Nähere regelt ein zu beschließendes Gebäu­
der Energiewirtschaft, deenergiegesetz. Stefan Kuzmany

122 DER SPIEGEL Nr. 20 / 13.5.2023

Das könnte Ihnen auch gefallen