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BeNeLux € 6,40 Finnland € 8,30 Griechenland € 7,30 Norwegen NOK 86,– Polen (ISSN00387452) ZL 33,– Slowakei € 6,80 Spanien

i € 6,80 Spanien € 6,80 Tschechien Kc 195,- Printed in


Dänemark dkr 57,95 Frankreich € 6,80 Italien € 6,80 Österreich € 6,00 Portugal (cont) € 6,80 Slowenien € 6,50 Spanien/Kanaren € 7,00 Ungarn Ft 2670,- Germany

Die Kokain-Schwemme
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War um Fahn der gege n Drog enba nden chan cenl os sind
für sein Geld
Was man jetzt tun muss
Vermögen der Deutschen auf.
Der Nullzins frisst das
arm macht
Wenn Sparen
Nr. 46 / 9.11.2019
Deutschland € 5,30
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Der

Kraftstoff verbrauch Audi SQ8 in l/100 km: innerorts 8,6; außerorts 7,3–7,2; kombiniert 7,8;
CO₂-Emissionen in g/km: kombiniert 205–204. Angaben zu Kraftstoff verbrauch und CO₂-Emissionen bei
Spannbreiten in Abhängigkeit vom verwendeten Reifen-/Rädersatz.
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meines Lebens.

Wenn das Leben auf der Überholspur spielt, ist der Audi SQ8 der passende Q.
Ein progressiver Mix aus Oberklasse-Coupé, kraftvollem Sportwagen und dynamischem SUV.

Jetzt den ganz großen Q landen: mit dem Audi SQ8.


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Das deutsche Nachrichten-Magazin


Einfachere
Hausmitteilung
Betr.: Reporter, Titel, Kokain, SPIEGEL WISSEN, »DEIN SPIEGEL«
Abläufe?
Dank digitaler Vernetzung
Mit dieser Ausgabe starten im SPIEGEL zwei neue
Rubriken. Das »Familienalbum« stellt jede Woche mit Kunden, Behörden
ein privates Foto vor, das eine besondere Geschich-
te erzählt. »Mein Fall« erinnert an Kriminalfälle,
DANIEL ETTER / DER SPIEGEL
die so spektakulär oder einzigartig waren, dass und meinem Steuerberater.
die beteiligten Polizeibeamten, Richter oder
Rechtsmediziner sie bis heute nicht vergessen ha-
ben. Sie stehen im Ressort Gesellschaft, das nun
Reporter heißt. In dieser Woche erzählt Timofey
Neshitov auf diesen Seiten die Geschichte einer
Neshitov, Milne in St Andrews Frau, die Parkinson riechen kann. Was dies mit
ihrer Ehe gemacht hat und was es für die Parkin-
son-Forschung bedeutet, erfuhr Neshitov, als er Joy Milne in Schottland besuchte.
»Sie hat eine Gabe, mit der sie lange nichts anzufangen wusste«, sagt der Redakteur.
»Bis ihr Mann seine Diagnose bekam.« Seite 58

Die Deutschen sind ein Volk von Sparern. Sie horten enorme Summen auf Sparbüchern
und Festgeldkonten. Sie sorgen mit Lebensversicherungen fürs Alter vor. Doch seit
einem Jahrzehnt wirft das Ersparte kaum noch Geld ab. Der Zorn darüber richtet sich
vor allem gegen die Europäische Zentralbank. Aber die Ursachen für die Niedrigzinsen
liegen tiefer und sind global. Ein Team von SPIEGEL-Redakteuren hat deshalb mit
Unternehmern, Bankern, Hedgefondsmanagern und Familien darüber gesprochen,
wie sie mit der verrückten neuen Finanzwelt umgehen. Martin Hesse traf in Mailand
einen Großinvestor; Tim Bartz hörte sich in der Bankenszene in Frankfurt um; Thomas
Schulz sprach den ehemaligen US-Finanzminister und Obama-Berater Larry Summers,
der von den Deutschen eine Abkehr vom Sparen fordert. »Die Hoffnung vieler Deut-
scher, dass die Zinsen bald wieder steigen, ist naiv«, sagt Schulz. Seiten 12, 18

Ende August flog Reporter Jürgen Dahlkamp nach Lissa-


bon, um sich in der europäischen Anti-Drogen-Behörde
M. L. KIM / DER SPIEGEL

die Zahlen zur neuen Kokainschwemme in Europa geben


zu lassen. Was die Statistiken auf der Straße bedeuten, sollte
Dahlkamp aber erst ein paar Tage später sehen. Wieder
war er in Lissabon, diesmal mit früheren Schulfreunden
im Szeneviertel Bairro Alto. Überall riefen ihnen Dealer
fröhlich »Cocaine« zu, als ginge es um Popcorn. Die Koks- Dahlkamp
versorgung in Lissabon ist die Folge einer Welle, die ihren
Ursprung in Südamerika hat und so viel Kokain wie nie nach Europa schwemmt, bis
in die deutsche Provinz. Warum das Geschäft boomt und wozu das hierzulande führt,
hat ein SPIEGEL-Team zusammen mit dem europäischen Journalistennetzwerk EIC
recherchiert. Seite 44

Die digitalen DATEV-Lösungen vernetzen alle Ge-


schäftspartner mit Ihrem Unternehmen. So schaffen
»Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Sie durchgängig digitale Prozesse und vereinfachen die
Plan, gehn tun sie beide nicht«, textete Bertolt Brecht in der »Dreigroschenoper«. Abläufe in Ihrem Unternehmen. Informieren Sie sich
Muss das so sein? Wie definiert man realistische Ziele und schafft, was man sich vor- im Internet oder bei Ihrem Steuerberater.
genommen hat? Die neue Ausgabe von SPIEGEL
WISSEN »Ich schaffe das! So erreichen Sie Ihre
Ziele« gibt Antworten. In »DEIN SPIEGEL« wie-
Digital-schafft-Perspektive.de
derum, dem Nachrichten-Magazin für Kinder,
können Kinder (und Eltern) im großen Naturquiz
lernen, warum sich Hamster nicht verschlucken,
wenn sie sich den Mund vollschaufeln, und wel-
che Wolkenarten es gibt. Beide Hefte erscheinen
am Dienstag.

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 5


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Inhalt
73. Jahrgang | Heft 46 | 9. November 2019

Titel Karrieren Nico Semsrott –


vom Kabarettisten zum
Finanzen Die Dauer- Politiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
minuszinsen werden zum
Fluch für Sparer und Drogen Hochreines Kokain
Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 überschwemmt Europa,
der Konsum steigt . . . . . . . . . . 44
Warum es den Deutschen
mit der D-Mark nicht besser Zeitgeschichte Zum
ginge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 70. Jubiläum der
»Frankfurter Allgemeinen«
sind die ehemaligen
Deutschland Nazis in der Redaktion
kein Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Leitartikel Huawei darf nicht
am 5G-Netz in Deutschland Justiz Ein Berliner Richter
beteiligt werden . . . . . . . . . . . . . . 8 stellt ein Vergewaltigungs-
verfahren ein – aus
Meinung Die Gegendarstellung / fragwürdigen Gründen? . . . . 56
So gesehen: Irgendwie
weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Reporter
Hamburg will zerstörte
Synagoge wiederaufbauen / Familienalbum / Wie
Interessenkonflikt bei franzö-
sischem EU-Kandidaten /
Ausweitung der Kampfzone funktioniert ein
digitaler Grabstein? . . . . . . . . . 58
Doppelmörder von Halle Die »Atomwaffen Division«, eine
hatte Hitlers »Mein Kampf« Eine Meldung und ihre
auf PC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 amerikanische Neonazi-Splittergruppe, Geschichte Wie ein Steppen-
verfolgt ihre Gegner offenbar bis adler beinahe eine russische
Rechtsextremismus Die neo- nach Deutschland – hier haben die Fanatiker Forscherin ruinierte . . . . . . . . 59
nazistische »Atomwaffen einen Ableger gegründet. Die
Division« verbreitet jetzt auch Sinne Eine britische Kranken-
in Deutschland Angst und
Sicherheitsbehörden sind alarmiert. Seite 30 schwester erkennt Parkinson
Schrecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 am Geruch – kann das
der Wissenschaft helfen, ein
Union Wie der Merkel-Rivale Mittel gegen die Krankheit
Friedrich Merz sich zu finden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
auf dem CDU-Parteitag
verzocken könnte . . . . . . . . . . . 34 Der Neurologe Günter
Höglinger über den Stand
Umbrüche Ex-Sowjet-Präsident der Parkinson-Forschung . . . 64
Michail Gorbatschow im
DANIEL ETTER / DER SPIEGEL

SPIEGEL-Gespräch über den Mein Fall Der dritte Mann 67


Fall der Berliner Mauer
und das deutsch-russische
Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Wirtschaft

AfD Bundesvorstand Andreas Kuhkälbchen kosten weniger


Kalbitz geriet schon als ein Kanarienvogel /
während seiner Bundeswehr- Die Nase Kommt neuer Audi-Chef
zeit ins Visier des früher? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Militärgeheimdienstes . . . . . . 38 Die Schottin Joy Milne hat einen außerordentlichen
Geruchssinn: Sie kann Krankheiten riechen. Erdgas Deutschland gerät
Sozialpolitik Warum sich Union beim Pipelineprojekt
und SPD im Streit um
Mit ihrer Arbeit hilft sie einem Forscherteam, Nord Stream 2 in einen
die Grundrente so verhakt das nach neuen Methoden im Kampf gegen Machtkampf zwischen den
haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Parkinson sucht. Seite 60 USA und Russland . . . . . . . . . . 70

6 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Wohnungsmarkt Berlins Wissenschaft


Bürgermeister Michael Müller
über den umstrittenen Mutterliebe macht dünn /
Mietendeckel . . . . . . . . . . . . . . . 78 Erstes Resümee der E-Scooter-
Saison / Einwurf: Selbstbetrug
Plastik Tiefkühlhersteller bei Klimabilanzen . . . . . . . . . 112
Frosta experimentiert
mit Papierverpackungen ... 80 Botanik Die Baumhäuser –
ein Architekturprofessor
erschafft Bauwerke für
Ausland die Stadt der Zukunft . . . . . . 114

Impeachment-Untersuchung Luftfahrt Autonome

CYRIL ZANNETTACCI / DER SPIEGEL


gegen Donald Trump Flugzeuge – wie gut klappt
wird öffentlich / Der eine Notlandung
philippinische Präsident mit Captain Computer? . . . 117
Rodrigo Duterte heuert
seine Erzfeindin an . . . . . . . . . 82 Geschichte Auf abenteuerliche
Weise baute ein deutscher
Migration Nach dem Leichen- Anthropologe vor
fund in Essex bangt 200 Jahren eine bizarre
eine Mutter in Vietnam Schädelsammlung auf . . . . . 118
um ihren Sohn . . . . . . . . . . . . . . 84 Bonjour Exzess
Chile Der Staat versucht, Typisch deutsch, glauben die Franzosen: In Paris Kultur
die Bürgerproteste zeigen Oda Jaune und Jonathan Meese ihre Kunst
durch Gewalt unter Kontrolle Dragqueen-Show mit Heidi
zu bringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
in einer Doppelausstellung – und reden im SPIEGEL Klum / Filmkomödie
über extreme Bilder, ihre extremen Momente »Last Christmas« / Kolumne:
Frankreich Der schwierige und die Freundschaft, die sie verbindet. Seite 132 Besser weiß ich es nicht . . . . 122
Weg der ehemaligen
Gelbwestenikone Ingrid Zeitgeist Ivan Krastev, einer
Levavasseur in die Politik 92 der wichtigsten Denker
der Gegenwart, über das
Indien Augenzeugenberichte Ende einer Ära Scheitern des Westens . . . . . 124
aus dem weitgehend
von der Außenwelt isolierten In der kommenden Woche tritt Uli Hoeneß nach Filme »The Irishman«,
Kaschmirtal . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 40 Amtsjahren beim FC Bayern ab. Er das wohl letzte große
Gangsterepos
hat angekündigt, sich künftig im Hintergrund von Martin Scorsese . . . . . . . 128
Sport
zu halten, sich nicht in die Geschäfte
einmischen zu wollen. Schafft er das? Seite 100 Hip-Hop Apache 207
Kunstschnee-Anlagen beherrscht die deutschen
in den Alpen / Magische Spotify-Charts . . . . . . . . . . . . . 130
Momente: Windsurfer ANZEIGE
Philip Köster über Malerei Gibt es deutsche
seinen WM-Sieg an Kunst? Ein SPIEGEL-
Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 50 Prozent weniger Gespräch mit Oda Jaune
Lebensmittelmüll – wie geht das? und Jonathan Meese . . . . . . 132
Fußball Nach dem Rückzug
von Uli Hoeneß Serienkritik »For All Mankind«
braucht der FC Bayern erfindet die Geschichte
einen Neuanfang . . . . . . . . . . 100 der Mondlandung neu . . . . . 139

Doping Viele saubere Sportler


haben das Vertrauen in Chapeau! Frankreich will bis 2025 rund 50 Prozent
die Welt-Anti-Doping-Agentur weniger Lebensmittel verschwenden. So müssen etwa
verloren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 größere Supermärkte unverkaufte, noch essbare Lebens-
mittel an Hilfsorganisationen verschenken. Sonst drohen
Depressionen DFB- bis zu 4.500 Euro Strafe pro Fall. Auch RaboDirect SPIEGEL-TV-Programm . . . . . . . 57
Psychologe Hans-Dieter engagiert sich: Wer bei uns Geld anlegt, hilft uns weltweit Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Hermann erzählt im Projekte zu fördern – für Ressourcenschonung und gegen Impressum, Leserservice . . . 140
SPIEGEL-Gespräch, wie Lebensmittelverschwendung. Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
er sich nach dem Tod Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 142
von Robert Enke Vorwürfe www.rabodirect.de Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
machte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 146

Titel-Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein für den SPIEGEL 7


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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Netz mit großen Löchern


Leitartikel Die Bundesregierung muss verhindern, dass sich Huawei am 5G-Netz beteiligt.

D
iese Woche veröffentlichte der IT-Branchenver- Daten. Zugleich hätte es die Macht, Funktionen zu verlang-
band Bitkom eine Umfrage unter rund tausend samen, zu verändern oder zu blockieren, etwa bei selbst-
deutschen Unternehmen. 75 Prozent gaben an, sie fahrenden Autos. China könnte Deutschland lahmlegen.
seien in den vergangenen zwei Jahren Opfer von Selbst wenn man der Regierung in Peking die Klugheit
Datendiebstahl, Spionage oder Sabotage geworden, zuvor unterstellt, die lukrative Beteiligung nicht durch solche
waren es erst 53 Prozent gewesen. Als »Hauptakteure« Aktionen zu gefährden, selbst wenn es für Huawei-Spio-
machte der Verfassungsschutz Russland, China und Iran nage keine Belege gibt, selbst wenn die Bundesregierung
aus, wobei hinter chinesischen Angriffen maßgeblich »staat- dafür sorgen würde, dass sensible Bereiche wie das
liche Organe« steckten. Mit anderen Worten: Chinas Regie- Regierungsnetz Huawei-frei blieben, muss man fragen:
rung schnüffelt so munter wie nie in Deutschland herum. Wären künftige Regierungen auch so standhaft? Wie
Nun ergibt sich ein paradoxes Bild: Einerseits bekämpft bekommt man die Wanze wieder aus dem Bett, wenn sie
die Spionageabwehr des Verfassungsschutzes im Auftrag es sich darin gemütlich gemacht hat?
der Bundesregierung das Treiben Die Bundesregierung hantiert
der Agenten aus dem Osten. Ande- bislang mit Verwaltungsakten:
rerseits erleichtert die Regierung Die Aufsichtsbehörden sollen die
denselben Agenten das Geschäft Anbieter zertifizieren, ihre Pro-
möglicherweise mit einer heiklen grammiercodes ansehen dürfen
Entscheidung: Sie will chinesische und ihnen das Versprechen ab-
Technikkonzerne wie Huawei nehmen, nicht zu spionieren. Es
erlauben, sich am Ausbau des neu- wäre trotzdem ein Sicherheitsnetz
en Mobilfunkstandards 5G in mit großen Löchern.
Deutschland zu beteiligen. Damit Zudem geht dieses Thema weit
verletzt sie eine grundsätzliche über technische Details hinaus, es
Pflicht, die ein Staat gegenüber sei- hat eine geopolitische Dimension.
nen Bürgern hat: den Schutz gegen Die Vereinigten Staaten befinden
Angriffe von außen. sich mit China im Handelskrieg
Natürlich, es gibt auch andere und drohen, die nachrichten-
Pflichten, zum Beispiel das grund- dienstliche Zusammenarbeit mit
gesetzliche Staatsziel, ein gesamt- Deutschland einzuschränken, soll-
wirtschaftliches Gleichgewicht her- te Huawei beteiligt werden. Das
VCG / IMAGO IMAGES

zustellen, wozu in der Regel Wirt- ist zwar mehr Kulisse als echte
schaftswachstum nötig ist. Dabei Drohung, aber Deutschland muss
hilft ein schneller Ausbau des 5G- sich entscheiden, auf welcher
Netzes. Es ist das zentrale Nerven- Seite es steht. Mit fast jedem zu
system der Zukunft, für künstliche können, weil die wirtschaftlichen
Intelligenz, für selbstfahrende Interessen vor den politischen
Autos oder die digitale Vernetzung von Geräten (»Internet stehen, hat lange funktioniert. Seit Trump ist es Diplomatie
of things«). von gestern.
Kein anderes Unternehmen stellt die nötige Technik so Der Fall Huawei verlangt auch eine industriepolitische
schnell und günstig bereit wie Huawei. Schließt Deutsch- Antwort. China hat sich in Deutschland in vielen Branchen
land das Unternehmen aus und setzt allein auf die europäi- eingekauft, das ist der Preis der Globalisierung. Huawei ist
schen Anbieter Nokia und Ericsson, nimmt es in Kauf, dass bereits mit seiner Technik am deutschen Mobilfunknetz
der Ausbau teurer wird und sich verzögert, womöglich um beteiligt. Für sicherheitsrelevante Bereiche muss künftig
Jahre – ein schwerer Nachteil im Kampf um die Spitze des aber gelten: Germany first, noch besser: Europe first.
technischen Fortschritts. Nach Druck aus der Union gibt es im Innenministerium
Trotzdem ist der Ausschluss Huaweis nötig. Nach dem Stimmen für eine Verschärfung der Kriterien, sodass Hua-
chinesischen Geheimdienstgesetz müssen alle IT-Unterneh- wei von 5G faktisch ausgeschlossen würde. Das Kanzler-
men ihren Staat rückhaltlos unterstützen. Wünscht die amt sollte diesem Vorschlag folgen. Und es muss alles
Regierung Informationen, haben die Unternehmen zu lie- daransetzen, dass in Europa für 6G, für die nächste Revolu-
fern. Darauf weist auch der Bundesnachrichtendienst hin. tion, ein Unternehmen entsteht, das der Konkurrenz aus
Über seine 5G-Technik hätte Huawei theoretisch die den USA und China ebenbürtig ist. Notfalls mit viel staatli-
Möglichkeit, nicht nur auf politisch und wirtschaftlich rele- chem Geld. Nicht anders ist Huawei an die Spitze gelangt.
vante Informationen zuzugreifen, sondern auch auf private Martin Knobbe

8 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Meinung So gesehen

Irgendwie weiter
Alexander Neubacher Die Gegendarstellung Wie die Regierung die GroKo
und das Land stabilisieren will
Nowabofakis vom Rhein G Angesichts des desolaten Zustands
der Großen Koalition erwägt die
Wer wissen will, was der und einer unfähigen Regierung. Und Bundesregierung ein Bündel von
vielleicht künftige SPD- über Nowabo als die rheinische Aus- Sofortmaßnahmen, das zur Beruhi-
Vorsitzende von 2010 bis gabe des griechischen Finanzministers gung der Lage beitragen und eine
2017 als NRW-Finanzmi- Yanis Varoufakis hieß es: gut, dass geordnete Weiterarbeit bis zum
nister getrieben hat, kann der in Rente geht. Ablauf der Legislaturperiode garan-
beim Verfassungsgerichts- Nun muss man zugestehen, dass tieren soll.
hof in Münster nachfragen. nicht Nowabo hauptverantwortlich für Für die Suche nach verbleibenden
Dort haben sie über Nowabo, wie sich die Politik war, sondern die damalige Gemeinsamkeiten der Regierungs-
Norbert Walter-Borjans manchmal sel- Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. parteien sowie zur Identifikation
ber nennt, eine dicke Akte. Dennoch fällt auf, dass er sich auf seine von attraktivem Führungspersonal in
Gleich sein erster Nachtragshaushalt Erfolgsgeschichte mit den Steuer-CDs Union und SPD wird eine speziell
2010 verstieß gegen die Landesverfas- konzentriert, wenn er heute über seine von Carl Zeiss Jena entwickelte
sung: zu viel Schulden. Sein Haushalt Zeit als Finanzminister spricht. Er will Hochleistungslupe zum Einsatz kom-
2011: wieder zu viel Schulden, wieder lieber der Steuer-Robin-Hood gewesen men, die dem menschlichen Auge
verfassungswidrig. Sein Haushalt 2012: sein als der Nowabofakis vom Rhein,
gerügt wegen Verletzung der verfas- wer will es ihm verdenken.
sungsmäßigen Parlamentsrechte. Seine Ich bezweifle, dass er damit bei den
Reform der Beamtenbesoldung 2014: Bürgern durchkommt. Die Jusos
teilweise verfassungswidrig wegen mögen begeistert sein, wenn Nowabo
Ungleichbehandlung. nun einen »radikalen Umbau« des
Obwohl Nowabo mehr Steuern kas- Steuersystems ankündigt und Saskia
sierte als jeder NRW-Finanzminister Esken, seine Mitstreiterin um den Par-
vor ihm, bekam er seinen Etat kaum in teivorsitz, auf Twitter schwärmt:
den Griff. Als er nach der verlorenen »Demokratischer Sozialismus bleibt für
Landtagswahl 2017 aus dem Amt uns die Vision.«
schied, hinterließ er dem Nachfolger Wer Nowabos Amtszeit in Nord- weit überlegen ist und die Entde-
einen Schuldenberg, der 60 Prozent rhein-Westfalen miterlebt hat, hält bei ckung selbst kleinster politischer
größer war als jener, den er selbst solchen Aussichten das Portemonnaie Fortschritte auf subatomarer Ebene
von seinem Vorgänger übernommen fester. ermöglicht.
hatte. Nordrhein-Westfalen galt als Der verstörenden Kakofonie des
deutsches Griechenland mit vielen An dieser Stelle schreiben Alexander Neubacher christdemokratischen Richtungs-
armen Menschen, kaputten Straßen und Markus Feldenkirchen im Wechsel. streits im Umgang mit der AfD und
der sozialdemokratischen Identitäts-
krise soll mit der Ausgabe der neues-
ten Generation von Kopfhörern
begegnet werden, mit denen Stör-
geräusche in der Umgebung nahezu
vollständig ausgeblendet werden
können.
Gegen den punktuell wahrgenom-
menen Eindruck einer wachsenden
Unzufriedenheit und tiefgreifenden
gesellschaftlichen Spaltung im Land
plant die Regierung den Einsatz
einer traditionellen Kräuterteemi-
schung aus Kamille, Johanniskraut
und Baldrian, von der täglich min-
destens fünf große Tassen einzuneh-
men sind. Zusätzlich sollen staatlich
organisierte Auslandsreisen für eine
Stimmungsaufhellung sorgen.
Kritik an den Maßnahmen begeg-
net die Regierung mit dem Verweis
auf einen erfolgreichen Testeinsatz.
Dieser laufe bereits seit Jahren: bei
der Bundeskanzlerin. Stefan Kuzmany

10 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Unser Beitrag
zum Klimaschutz.

Fleisch und Wurst aus Pflanzen


Gemeinsam die Ernährung der Zukunft gestalten. Neben Fleisch auch immer mehr aus Pflanzen.
Lecker und nachhaltig. Das ist unsere Vision bei der Rügenwalder Mühle. Deshalb setzen wir bei immer
mehr Produkten auf Erbsen, Weizen oder Soja als Proteinquelle. Das schmeckt genauso lecker
und ist gut für den Planeten, auf dem wir alle leben.

Gut fürs Klima


Der globale Nutztierbestand ist für mehr Treibhausgasemissionen verantwortlich als der gesamte
weltweite Verkehrssektor.1) 2) Mit Fleisch aus Pflanzen lassen sich enorme Mengen davon einsparen.3)

Gut für die natürlichen Ressourcen


Das rasante Wachstum der Weltbevölkerung hat zur Folge, dass die Nachfrage nach Fleisch bis 2050
im Vergleich zu heute um etwa ein Drittel steigen wird und damit auch die Zahl der benötigten Tiere.
Ackerflächen – für den Anbau von Futtermitteln – und Wasser sind aber jetzt schon knapp und
könnten erheblich nachhaltiger für pflanzliche Lebensmittel genutzt werden.

Lassen Sie uns darüber reden!


Diskutieren Sie mit uns über die Ernährung der Zukunft –
auf Facebook, Twitter oder per Mail an dialog@ruegenwalder.de

1) Steinfeld, H., P. Gerber, T. D. Wassenaar, et al. (2006): Livestock’s long shadow: environmental issues and options. Food and Agriculture Organization
of the United Nations 2) Gerber, P., H. Steinfeld, B. Henderson, et al. (2013): Tackling climate change through livestock: a global assessment of emissions
and mitigation opportunities. FAO 3) Westhoek et al (2014): „Food choices, health and environment: Effects of cutting Europe’s meat and dairy intake“
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SH E N H O N G / XI N H UA / E YE V I N E / L AI F

3,25 %

15. September 2008


Pleite der US-Investmentbank
Lehman Brothers

1. November 2011
Der Italiener Mario Draghi
löst Jean-Claude Trichet
als EZB-Präsident ab.

0,25 %

2008 2010

12 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Titel

Der normale Wahnsinn


Finanzen Seit bald einem Jahrzehnt verharren die Zinsen auf historisch
niedrigem Niveau, alte Gewissheiten gelten nichts mehr. Wer Schulden macht, ist clever.
Die Sparer sind heute die Dummen. Wie lange kann das noch gut gehen?

A
ls Sparen noch einfach schien, »Jeder, der investiert, hat von den Nied- damit auch die unerwünschten Nebenwir-
war Simon Stark 15 Jahre alt und rigzinsen profitiert. 15 Millionen Europäer kungen.
die SPD stärkste Partei im Land. haben ihren Job dank niedriger Zinsen«, Seit dem Untergang von Lehman
Seine Ferien verbrachte er mit sagt Davide Serra. »Nur für Sparer, die Brothers, dem Höhepunkt der Finanz-
dem Zählen von Schrauben, als Inventur- viel Geld in einer Bank geparkt haben, ist krise, ist ein Jahrzehnt vergangen. Nur
aushilfe im Maschinenbau. Und während die Sache schlecht.« Serra ist Chef einer eine Phase?
seine Freunde ihr Geld für Partys und Ur- Investmentfirma namens Algebris mit Sitz Die Ökonomen sprechen schon vom
laube verprassten, legte es der stille Junge in London und Mailand. Im vergangenen »New Normal«, und diese neue Normalität
aus dem mittelhessischen Breidenstein lie- Jahrzehnt haben Serras Leute, die zwölf wird bleiben, da sind sich die Experten
ber auf ein Jugendkonto bei der örtlichen Milliarden Euro managen, im Schnitt jedes einig, mindestens noch ein Jahrzehnt oder
Bank. Ein Prozent Zinsen gab es dafür, mit Jahr neun Prozent Rendite erwirtschaftet. länger, die Industriestaaten sind längst
Zuwachsgarantie: Weil Stark regelmäßig Trotzdem hat Serra im vorigen Jahr abhängig vom billigen Geld. Würde man
einzahlte, waren es im nächsten Jahr zwei einen 100 Millionen Euro schweren »Welt- es ihnen wegnehmen, wäre es wie ein kal-
Prozent, dann drei, dann vier, irgendwann untergangs-Fonds« aufgelegt, mit extra- ter, knallharter Entzug für einen Junkie,
über zehn. Geld auf eine Bank zu bringen sicheren Anlagen, falls die Wirtschaft so der erst einmal übel durchgeschüttelt wird,
und beim Vermehren zuzuschauen war richtig in die Binsen geht. Man wisse ja nie bevor es ihm wieder besser geht. Wenn
einfach, »das konnte eigentlich jeder«. in diesen Tagen, sagt Serra. In der heutigen überhaupt.
Heute ist Stark 29 Jahre alt, verheirateter Lage müsse man sich eine Strategie zurecht- Die neue Normalität wird geprägt von
Vater und das Sparen eine Qual. legen, »mit der wir auch dann Geld verdie- lauter komplizierten Begriffen, Liquiditäts-
Die Bankfiliale, zu der er am Weltspar- nen, wenn etwas gründlich schiefgeht«. falle, Schuldenüberhang, Negativzinsen,
tag früher regelmäßig seine Spardose trug, Die einen verdienen immer mehr, die an- Kapitalüberschuss. Und die erste Reaktion
gibt es nicht mehr. Sein Geld vermehrt sich deren kämpfen um jeden Euro, das klingt ist, sich erst einmal wegzuducken und zu
nur noch, weil Stark es auf gleich mehrere vertraut. Banker und Finanzprofis spielen sagen: Was hat das mit mir zu tun, lass das
Anlageformen und Konten verteilt hat. das System perfekt, die Bürger bleiben auf die Experten diskutieren. Nur prägt die
Wer heute Geld anlegen will, sagt Stark, der Strecke. Und doch ist heute alles anders. neue Finanzwelt unser Leben stärker als
müsse Zeit haben »und einen verdammt Seit bald einem Jahrzehnt stehen die Zinsen die nächste Dummheit von Trump oder
guten Plan«. in Europa und den meisten anderen Indus- der nächste Regierungswechsel. Sie be-
Der deutsche Sparer im Jahr 2019 ist trienationen nahe null, überfluten die Zen- stimmt nicht nur, wie viel Geld sich auf
ein armes Schwein. In den vergangenen tralbanken die Wirtschaft mit Geld. dem Konto sammelt, sondern auch, wel-
Monaten haben die Sparkassen Zehntau- All das sollte eigentlich nur eine Phase chen Unternehmen es gut geht, wie viel
sende Sparverträge gekündigt. Die Lebens- sein, eine Übergangszeit, solange die Welt Rente es gibt, wie viele Menschen arbeits-
versicherungen werfen kaum noch etwas eben braucht, um die Folgen der großen los sind, was die Butter kostet.
ab. Die traditionelle Altersversorge ist Finanzkrise von 2008 abzuschütteln. Es ist also dringend Zeit, sich damit zu
bedroht. Nach fast zehn Jahren extrem Krisenmanagement, Notfallplan, Aus- befassen, was diese neue Normalität ei-
niedriger Zinsen geht es für viele ernsthaft nahmesituation, das waren die Wörter, die gentlich bedeutet und ob sie, wie vor allem
um ihre Zukunft. Politiker und Finanzexperten wählten, viele Deutsche meinen, ein Albtraum ist,
Schlimme Zeiten. Oder? und es sollte heißen: Das geht vorbei, und ein Fluch des billigen Geldes.

26. Juli 2012 11. Juni 2014 16. März 2016 1. November 2019
Draghi sagt in London, er werde den Die EZB berechnet Geschäfts- Die EZB entscheidet, ihre Anleihenkäufe auf Christine Lagarde löst Draghi
Euro um jeden Preis verteidigen – banken erstmals einen Negativzins monatlich 80 Milliarden Euro auszuweiten ab und wird die erste Frau an
»whatever it takes«. von 0,1%. und den »Strafzins« auf 0,4% zu erhöhen. der Spitze der EZB.

2012 0,0 % 2014 2016 2018

Im Minus
Der Einlagenzins der EZB
wird Geschäftsbanken für
die Anlage überschüssiger
Gelder berechnet. – 0,4 %
– 0,5 %
13
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Was denn nun?


Und führt diese neue Normalität
zwangsweise zu neuen Ungerechtigkeiten?
Weil etwa die Alten längst ihre Schäfchen
im Trockenen haben, die Jungen aber sich
weder ein besseres Leben ersparen noch
ein Haus leisten können? Haben es die
Deutschen wirklich schwerer als andere,
und wenn ja, warum unternimmt die Poli-
tik nichts?
Ein SPIEGEL-Team ist diesen Fragen
über Wochen nachgegangen, in Berlin und
London, in Tokio, New York, Frankfurt
am Main und Mailand, aber auch in Mül-
heim, Dietzhölztal und Gütersloh. Am
Ende steht ein klarer Befund: Weltwirt-
schaft und Weltfinanzsystem sind dabei,
sich grundlegend zu verändern. Und die
Deutschen sind nicht vorbereitet.

Dietzhölztal, Mülheim: Die Starks


kämpfen für ihre Altersvorsorge. Die
Sparkassen schmeißen ihre Kunden raus.
Die Deutschen sparen immer mehr und
werden trotzdem nicht wohlhabender.
Zu Beginn ein Rechenexempel. Angenom-
men, ein 35-Jähriger möchte mit 65 Jahren
DIETMAR KATZ / STAATSBIBLIOTHEK ZU BERLIN / BPK

in den Ruhestand gehen und zusätzlich


zur Rente jeden Monat 500 Euro mehr
zur Verfügung haben. Wie viel muss er
sparen? Bei einem Zinssatz von 4,5 Pro-
zent hätte er dafür jeden Monat 242 Euro
zurücklegen müssen. Und wie viel wären
es bei einem heute höchstens zu erwarten-
den durchschnittlichen Zinssatz von 0,5
Prozent? 780 Euro.
Es reicht also nicht mehr, sparsam zu
sein. Es braucht Kreativität.
Werbeposter, 1939: Deutsche Spezialdisziplin Wenn Simon Stark über die Spartricks
seiner Familie spricht, erzählt er keine
Anekdoten, er hält Vorträge wie ein Steu-
Der Befund ist ambivalent. Jedem deut- schleichende Enteignung, vor allem für die erberater. Er besitzt mittlerweile mehrere
schen Sparer seien seit 2010 im Schnitt ohnehin strapazierte Mittelschicht. Seht Tagesgeldkonten und Bausparverträge,
4300 Euro Zinsen entgangen, hat eine doch, was zu Beginn der Siebzigerjahre in verteilt seine Investitionen, demnächst will
Bank ausgerechnet, und es klingt erst ein- den USA passiert ist, als der Präsident die er mit Aktien handeln. Die Familie legt
mal furchtbar. Andererseits ist die Arbeits- Preise einfrieren musste, so schnell wurde monatlich 1500 Euro beiseite; die Niedrig-
losigkeit so niedrig wie selten zuvor. Die alles immer teurer. Ganz zu schweigen von zinsen sollen ihr nicht gefährlich werden.
deutschen Banken kriseln. Andererseits der deutschen Hyperinflation der frühen Bis vor Kurzem betrieb Stark einen Rat-
kommen Start-ups und junge Unterneh- Zwanzigerjahre. geberblog für Finanztipps, auf dem Auto-
men so leicht an Geld wie nie zuvor. Die anderen dagegen fürchten: In diesen renporträt trägt er eine Fuchsmaske aus
Es gibt keine eindeutigen Antworten. Zeiten ist Inflation gar nicht mehr das Pro- Karton: »Der Sparfuchs«, mit Hemd und
Klar ist nur, dass nichts klar ist. Alte Regeln blem, sondern Deflation, also dass die Prei- Krawatte. Stark will nicht jammern, er will
gelten nicht mehr, und lange erprobte Re- se fallen, statt zu steigen. Eine hochgefähr- dagegenhalten.
zepte sind plötzlich falsch. Die Experten liche Spirale, Unternehmen produzieren Auf seinem Wohnzimmerboden rollt
sind verwirrt. Niedrige Zinsen bedeuten dann immer weniger, stellen keine Arbeits- Stark die großflächige Zeichnung seines
eigentlich: Die Wirtschaft beginnt rasant kräfte mehr ein, die Wirtschaft schrumpft, Architekten aus, er ist stolz. Die Familie
zu wachsen. Aber das passiert nicht, sie ein Teufelskreis. Schaut doch, was in Japan hat den Bau ihres Eigenheims um zwei
dümpelt nur vor sich hin. Wenn wahnsin- passiert ist, deswegen haben sie dort doch Jahre vorgezogen, demnächst bauen die
nig viel Geld im Umlauf war, stiegen frü- überhaupt angefangen mit den niedrigen Starks ein Haus im Nachbardorf, zweistö-
her die Preise immer rapide. Aber das pas- Zinsen und der Geldschwemme. ckig, mit Doppelgarage und Vordach-
siert nicht, die Inflation liegt weit unter Die einen sagen: Die Welt spart zu viel, terrasse. Auf der Suche nach der passen-
dem langjährigen Durchschnitt. hortet das Geld, deswegen fliegt alles den Finanzierung wurde die Familie vom
Trotzdem warnen die einen: Am Ende durcheinander. Die anderen sagen, genau Opfer der Niedrigzinspolitik zum Profi-
wird die Geldschwemme zwangsweise andersrum: Wir sparen nicht genug, die teur. Dreimal ließ sich Simon Stark im ver-
doch noch zu hoher Inflation führen, all Schulden sind zu hoch, das macht die Wirt- gangenen Jahr Kreditangebote zuschi-
das Ersparte also entwertet werden. Eine schaft kaputt. cken – dreimal sanken die Zinsen, die die

14 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Titel

Banken von der Familie haben wollten. Kostspielige Vorsorge sitzt in der Zentrale seiner Sparkasse,
Zuerst über zwei, dann unter zwei, dann Monatlicher Sparbetrag, um ab 65 Jahren eine einem Betonklotz mit der repräsentativen
weniger als ein Prozent sollte Stark für die Zusatzrente von 500 Euro* zu erhalten Adresse Berliner Platz 1, der zu groß aus-
375 000 Euro bezahlen, die er sich leihen Alter zu Beginn bei einer gefallen ist für die Ruhrgebietsstadt mit
will. Er habe keinen Grund, sich zu be- der Ansparphase: Nettorendite von: ihren 170 000 Einwohnern und einer
schweren. Arbeitslosenquote von 7,1 Prozent. Neun
Andererseits würde Stark sich das Haus 25 Jahre 742 0% Filialen betreibt sein Institut. Seine Mitar-
mit Doppelgarage kaum leisten können, 35 Jahre 906 beiter betreuen 76 000 Kunden.
wenn er in München, Berlin oder einer 45 Jahre 1241 Rund eine Milliarde Euro sogenannte
der anderen großen Städte leben würde, 55 Jahre 2258 Sichteinlagen muss die Sparkasse Mül-
in denen sich die Immobilienpreise im ver- heim vorhalten, um täglich flüssig zu sein.
gangenen Jahrzehnt teilweise mehr als ver- 626 0,5 % Weck hat das Geld bei der EZB und der
doppelt haben. Wenn Zweizimmerwoh- 780 Hessischen Landesbank geparkt. Bei 0,5
nungen mit 50 Quadratmetern eine halbe 1091 Prozent Negativzins kostet ihn das fünf
Million Euro kosten, dann läuft grundsätz- 2032 Millionen Euro jährlich – der Jahresüber-
lich etwas schief. Es bedeutet, dass viele schuss fiel zuletzt mit einer Million Euro
Familien bei solchen Preisen ausgeschlos- 316 2,5 % deutlich kleiner aus.
sen werden vom Immobilienkauf. Es be- 432 Einen Teil der Extrakosten holt er sich
deutet aber auch, dass die niedrigen Bau- 664 jetzt zurück: Mehr als 5000 Kunden hat
zinsen und Immobilienkredite vielerorts 1361 er die jahrzehntelang so beliebten Prä-
immer noch die gestiegenen Preise ausglei- miensparverträge gekündigt. Die funktio-
chen und den Kaufrausch befeuern. 158 4,5 %
nieren nach einem einfachen Prinzip: Kun-
Für die Erziehung ihrer acht Wochen al- den zahlen monatlich einen bestimmten
242
ten Tochter haben die Starks schon jetzt Betrag ein; nach einer Frist erhalten sie
414
eine Strategie. Sie soll einmal sparen lernen, Bonusprämien, die im Lauf der Zeit stei-
unbedingt, selbst wenn es unrentabel sein 942 gen. In der Höchststufe erreicht die Prämie
sollte. »Die niedrigen Zinsen rütteln nicht *entsprechend heutiger Kaufkraft, konstant zwei Prozent
Inflation, ohne Steuerabzug, 30 Jahre Rentenbezug Quelle: Verivox
50 Prozent dessen, was die Kunden im
an meinem Weltbild«, sagt Stark. Die tat- Jahr einzahlen. Ein Urteil des Bundes-
sächliche Vorsorge soll seine Tochter aber gerichtshofs vom Mai ermöglicht es Spar-
über ein Aktienpaket bekommen, Stark krieg, als die Ersparnisse wertlos wurden. kassen nun, Verträge zu kündigen, sobald
will es demnächst zusammenstellen, etwa »Die kulturelle Prägung wirkt offenbar die höchste Prämienstufe erreicht ist, oft-
mit Anteilen von Digitalunternehmen. stärker als derartige kurzfristige Schocks«, mals nach 15 Jahren.
Den Deutschen insgesamt ein anderes sagt Bähr. Inzwischen dürften weit mehr als 50 der
Anlageverhalten beizubringen ist aller- Heute wissen vor allem die Sparkassen bundesweit rund 380 Sparkassen die Spar-
dings alles andere als leicht. Sparen ist eine nicht, wohin mit dem ganzen Barvermö- verträge gekündigt oder das in Aussicht ge-
deutsche Spezialdisziplin. Rund zwei Bil- gen der Deutschen. Sie müssen das Geld stellt haben. Denn sie erwirtschaften we-
lionen Euro liegen weitgehend unverzinst bei der EZB parken. Und dafür Negativ- gen der niedrigen Zinsen kaum noch, was
auf deutschen Giro- oder Tagesgeldkonten zinsen zahlen. sie ihren Kunden an Prämien versprochen
herum. Es ist absurd: Der deutsche Sparer »Das können wir uns eigentlich kaum haben. In Mülheim vertreiben sie die Pro-
verwendet im Zweifel lieber all seine Ener- leisten«, sagt Martin Weck. Der Vorstands- dukte schon seit 2006 nicht mehr – zu teu-
gie darauf, sich über die ungerechte Welt chef der Sparkasse Mülheim an der Ruhr er. Auch die Stadtsparkasse München hat
und die Europäische Zentralbank aufzure-
gen, als sich mit Aktien, Fonds und ande-
ren Anlageformen auseinanderzusetzen.
Das macht keine andere Industriegesell-
schaft der Welt so. Und deswegen leidet
auch keine andere Industriegesellschaft so
sehr an der neuen Normalität wie die Deut-
schen. Die Zinsflaute trifft den deutschen
Sparer ins Herz.
Auf 582 Milliarden Euro summierten
sich die Spareinlagen der privaten Haus-
halte Mitte 2019, fast die Hälfte davon liegt
auf Sparbüchern. »Es ist nicht rational,
was die Deutschen machen«, sagt der Wirt-
schaftshistoriker Johannes Bähr.
Der Sonderweg der Deutschen hat viel
mit Geschichte zu tun. »Spare, lerne, leiste
was, dann haste, kannste, biste was« – so
trommelten Sparkassen und Volksbanken
TIM WEGNER / DER SPIEGEL

nach dem Krieg für sich und ihre Produkte.


Leitbild war die schwäbische Hausfrau –
so wie sie später Kanzlerin Merkel in der
Eurokrise idealisierte.
Paradox ist, dass gerade die Deutschen
so versessen aufs Sparen sind, trotz der
Hyperinflation nach dem Ersten Welt- Sparerfamilie Stark: Von Opfern der Niedrigzinsen zu Profiteuren

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sich zu dem Schritt entschlossen und rund Deutsche Schätze Draghi. »Die EZB fährt einen hochriskan-
28 000 Prämiensparverträge gekündigt. Geldvermögen der privaten Haushalte ten Kurs, nämlich, dass Vorsorge und Spa-
Riskieren die Sparkassen mit den Kün- in Deutschland, in Billionen Euro ren keinen Sinn haben«, kritisierte der
digungen nicht, Kunden zu verprellen? CSU-Politiker Alexander Dobrindt. Der
Bargeld und Wertpapiere**
Viele hätten sich zwar an Verbraucher- Einlagen Preis, den Europa für die Niedrigzins-
schutzzentralen gewandt, so Weck, aber 1,39 politik der EZB zahle, sei zu hoch, sagen
2,52
nur wenige ihr Konto gekündigt. »Die davon die deutschen Kritiker. Bundesbankpräsi-
Kunden zeigen Verständnis.« Dass viele Aktien dent Jens Weidmann votierte als Einziger
Sparkassenvorstände weiterhin gern eine
halbe Million Euro und mehr verdienen, 6,24 0,65 im Zentralbankrat gegen das Anleihekauf-
programm, mit dem Draghi seine Euro-
spricht er nicht an. insgesamt garantie untermauerte.
Letztlich steckten die Sparkasse und Quelle: Der deutsche Groll irritierte Draghi an-
ihre Kunden in der gleichen Klemme, sagt Deutsche Bundesbank, fangs noch, insbesondere, dass Teile der
2. Quartal 2019
Weck. »Fast niemand glaubt mehr daran, deutschen Medien ihn als typischen Italie-
dass die Zinsen noch einmal deutlich stei- Versiche- ner mit Hang zum Schuldenmachen kari-
gen werden.« rungen* kierten, traf ihn. Ausgerechnet ihn, der sei-
Es wird also Zeit für neue Wege. Die 2,33 ne Armbanduhr stets absichtlich fünf Mi-
Münchner Stadtsparkasse hat den »Welt- *inkl. sonstiger Forderungen; ** inkl. sonstiger Beteiligungen
nuten vorstellt, damit er keine Zeit vergeu-
spartag« am 30. Oktober gerade auch zum det. »Der deutscher ist, als es sich viele
»Weltanlagetag« erklärt. Und so steht an Deutsche vorstellen können«, wie Ewald
diesem Morgen um 10.30 Uhr ein einsa- die Konten der deutschen Sparer leer saugt. Nowotny sagt, viele Jahre Chef der Öster-
mer Rentner, in der Hand ein zerfleddertes Daran lässt sich schnell ablesen, wo die Li- reichischen Nationalbank und Mitglied des
Sparbuch, in der nahezu leeren Sparkas- nien verlaufen. Hier die Deutschen, dort EZB-Rats. Draghi, der sich nie am Stereo-
senfiliale und sinniert: »Was soll man auch der Rest der Welt. Wenn es um Finanz- typ des »Dolce far niente«-Italieners vieler
sparen, es bringt ja nichts mehr.« Und er politik geht, scheint das heute die Norm. Deutscher orientierte, sondern »am Mo-
sagt, was viele im Land denken: »Der Wer verstehen will, wie sich das Macht- dell eines preußischen Staatsdieners«, wie
Draghi hat uns Milliarden gekostet.« gefüge im globalen Finanzsystem verän- Nowotny sagt. Mit einem Pflichtgefühl
dert hat, muss zurückblicken auf diese acht und einer Disziplin, die wohl aus seiner
Frankfurt am Main, New York: Jahre seiner Amtszeit. An deren Ende die Zeit als Jesuitenschüler in Rom herrühre.
Die Wall Street ruiniert die Welt, aus Frage steht: Wie kann es sein, dass ausge- Draghis Ära ist nun gerade zu Ende ge-
Mario Draghi wird Graf Draghila, rechnet ein Zentralbanker mit seinem Ver- gangen, seit dem 1. November hat die EZB
die Zentralbanker machen Politik. such, den Euro zu bewahren und die wo- eine neue Präsidentin, Christine Lagarde.
möglich schlimmste Wirtschaftskrise in Doch eine geldpolitische Kehrtwende wird
Mario Draghi ist ein kühler Mann, meis- der Geschichte Europas zu verhindern, es mit ihr nicht geben. Auch deshalb gaben
tens. An diesem Sommertag im Juli 2012 zu einer der Hassfiguren deutscher Wut- sich Draghi und seine Mannschaft vor der
ist es anders, für einen Moment, auf der bürger und Finanzpolitiker gleichermaßen Amtsübergabe selbstsicher und entspannt.
Bühne in einer prächtigen Villa am Lon- wurde? Draghi selbst glaubt, im Großen und Gan-
doner Green Park, vor Hunderten Politi- Europa zu retten sei schön und gut, zen alles richtig gemacht zu haben.
kern und Wirtschaftsvertretern. Seine sagen seine Kritiker, aber Draghi habe es Das hat er auch in seinen letzten Amts-
sonst so bleichen Wangen sind ungewöhn- übertrieben. Zu viel billiges Geld, zu lange. tagen jedem deutlich gemacht, der mit ihm
lich gerötet, in einer sich langsam hoch- »Was Sie machen, ist falsch«, schrieb der darüber sprach, in der Präsidentenetage
schaukelnden Rede sagt Draghi nach sie- Präsident des Deutschen Sparkassen- und der EZB, dort oben im 40. Stock mit Blick
ben Minuten diesen Satz: »Die EZB ist be- Giroverbandes, Helmut Schleweis, vor ein über Main und Frankfurter Dom. Hatte er
reit, alles zu tun, was nötig ist, um den paar Wochen in einem offenen Brief an selbst geahnt, dass aus einem Rettungspro-
Euro zu bewahren.« Whatever it takes. gramm eine neue Ära wird, eine auf Dauer
Zentralbanken waren lange unauffällige veränderte globale Wirtschafts- und Fi-
Institutionen, im Hintergrund wirkend, nanzwelt? Zumindest nicht anfangs, direkt
Leitplanken der Wirtschaft, die auf Infla- nach der Finanzkrise.
tion achten, auf Kaufkraft, auf die Stabili- Spätestens seit 2017 aber sei Draghis
tät des Geldes. Währungshüter. Unpoli- EZB-Team klar gewesen, dass die Zinsen
tisch vor allem. auf absehbare Zeit nicht wieder deutlich
Draghi hat das geändert, beginnend mit steigen werden. Damals hatten die Zen-
diesem Satz und dem, was in den Jahren tralbanker begonnen, die Anleihekäufe zu
danach folgte: unerbittlich niedrige Zinsen, reduzieren, sie wollten den Krisenmodus
Billionen von Euro, die in die Märkte ge- verlassen. Doch dann kamen ihnen der
pumpt wurden. Eine nie gesehene Geld- Brexit, der Handelskrieg und nicht zuletzt
schwemme, die ganz Europa flutete. Mario auch die Dieselkrise dazwischen. Draghi
Draghi, Präsident der Europäischen Zen- hat der Krise der deutschen Autobauer
tralbank von 2011 bis vorvergangene Wo- eine große Bedeutung zugemessen. Wenn
che, hat sich damit, wohlwissend, zu einer Deutschland, dessen Wirtschaftskraft und
der zentralen Gestalten der Weltpolitik in Effizienz Draghi bis heute bewundert, an-
diesem Jahrzehnt gemacht. fange zu schwächeln, so seine Überlegung,
POLARIS / LAIF

Zu sagen, er polarisiere, wäre eine Un- dann leide die ganze Eurozone.
tertreibung. Das amerikanische »Time«- Glaubt auch Draghi an das »New Nor-
Magazin nannte ihn einmal »The Man mal«, die neue Normalität?
Who Would Save Europe«. Die deutsche EZB-Chef Draghi 2016 Oder gibt es einen Weg zurück zur alten
»Bild« machte ihn zu »Graf Draghila«, der Eine nie gesehene Geldschwemme Normalität mit ordentlichen Zinsen? Nein,

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Titel

KEVIN COOMBS / REUTERS


Lehman-Banker in London 2008: Was, wenn der nächste Crash kommt?

heißt es dazu aus dem Team Draghis. Da- halt nur so möglich war, denn der Staat Parlament Rechenschaft schuldig ist und
gegen sprächen zu viele Argumente, vor muss viel weniger Zinsen zahlen. Weil der deren Führung nicht gewählt wird. Doch
allem die hohen Sparquoten in nahezu al- Exportchampion stark von der Rettung die EZB hat die Macht nicht der Politik
len Teilen der Welt. So legen allein die Chi- Spaniens, Italiens, Griechenlands profitier- entrissen. Sie wurde ihr aufgedrängt. Von
nesen, die fast ein Fünftel der Weltbevöl- te. Weil der im Vergleich zur D-Mark der Politik. Seit Jahren legen die europäi-
kerung stellen, mehr als 30 Prozent ihres schwächere Eurokurs die deutsche Wirt- schen Regierungen keine klaren finanz-
verfügbaren Einkommens beiseite, auch schaft profitabler und weniger rezessions- politischen Konzepte vor, verweigern Re-
weil sie sich nicht darauf verlassen können, anfällig macht. formen, lehnen neue Wege ab, ignorieren
dass der Staat im Alter für sie da ist. Die Und so entwickelte sich in den vergan- sie die veränderten volkswirtschaftlichen
steigende Lebenserwartung sorge auch im genen Jahren der immer gleiche Schlagab- Rahmenbedingungen. Die politische Un-
Westen dafür, dass die Menschen mehr spa- tausch. Die Deutschen fordern die EZB tätigkeit hinterlässt ein Vakuum, in das die
ren müssten, um für die Rente vorzusorgen, wütend auf, endlich die Zinsen zu erhöhen, EZB notgedrungen stieß.
die sehr viel länger dauert als früher. Das damit sie wieder ordentlich sparen können. Vor knapp zwei Wochen fand die Ab-
alles seien gravierende strukturelle Verän- Die EZB-Führung andererseits bekniete schiedsfeier von Mario Draghi statt, in der
derungen, so sehen sie das in der EZB, ver- die Bundesregierung geradezu, das mit großen Aula im Erdgeschoss des EZB-Dop-
gleichbar allenfalls mit dem Klimawandel. dem Sparen zu lassen und endlich mehr pelturms, der wie ein Solitär einsam am
Der gehe ja auch nicht mehr weg. Geld auszugeben, zu investieren. Früher Nordufer des Mains emporragt. Die Bun-
Für die Deutschen ist das bitterer als für hätte der Staat nicht so sehr auf die ma- deskanzlerin hielt eine Festrede: »Lieber
andere, aber, und das machte Draghi im- kroökonomischen Risiken schauen müs- Mario Draghi, ich danke dir von Herzen.«
mer wieder deutlich, das sei nun einmal sen, sagt Philip Lane, der Chefvolkswirt
der Auftrag der EZB: die Eurozone zusam- der EZB, in der verschraubten Sprache der Boston, Washington: Larry Summers
menzuhalten, nicht Einzelinteressen zu Notenbanker. Früher, »in normalen Zei- berät erst Barack Obama und versteht
bedienen, etwa höhere Zinsen für deut- ten«. Aber heute, angesichts dauerhaft dann die Welt nicht mehr. Ein »schwarzes
sche Sparer. niedriger Inflation und geringen Wachs- Loch« bedroht die Wirtschaft.
Der Italiener glaubte, die Deutschen tums, sei das anders, »da muss die Fis-
müssten ihm zutiefst dankbar sein, dass kalpolitik handeln und ihre Spielräume Larry Summers ist ein Mann, der sich
er die Mittel der EZB voll ausschöpfte, um nutzen«. durchaus zutraut, komplizierte finanzpoli-
den Euro zu retten, von dem Deutschland Den Zentralbankern wird ihre eigene tische Dinge zu verstehen und auch erklä-
wohl mehr als alle anderen Volkswirtschaf- Machtfülle sichtlich unbehaglich. Die Ge- ren zu können. Er war Finanzminister des
ten der Eurozone profitierte. Weil die schicke Europas werden zurzeit wesentlich ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton.
schwarze Null im deutschen Bundeshaus- von einer Institution gesteuert, die keinem Er war der oberste Wirtschaftsberater von

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 17


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D-Mark-Nostalgie Mit einer eigenen Währung würde Deutschland visenmärkten intervenieren und fremde
Währungen in Massen aufkaufen müsste,
heute bei vielen ökonomischen Kennziffern schlechter abschneiden. um den Aufwertungsdruck der Mark zu
lindern.

Trügerische Hoffnung Ein unrealistisches Szenario? Keines-


wegs, genau so ergeht es der Schweiz seit
einigen Jahren, die sich mit dem Franken
nach wie vor eine eigene Währung leistet.
Wie andere Notenbanken auch senkte die
 Ökonomische Nostalgiker, die beson- Schweizerische Nationalbank die Zinsen
ders häufig in der AfD anzutreffen sind, in den Negativbereich.
empfehlen gegen die verhasste Nullzins- Anfangs kaufte sie in erheblichem Um-
politik der Europäischen Zentralbank fang Anleihen und führte für den
(EZB) ein Patentrezept: Deutschland Franken einen garantierten Höchstkurs
müsse bloß wieder eine eigene Währung gegenüber dem Euro ein. Sobald er
einführen, schon würde geldpolitische die festgelegte Marke überschritt, flutete
Normalität einkehren. Der Geldwert die Notenbank die Märkte mit heimi-
bliebe stabil, der Wechselkurs genauso scher Währung, um deren Kurs zu drücken.
und, das Wichtigste, endlich würde es Genauso hätte auch die Bundesbank
wieder Zinsen geben aufs Ersparte. Denn verfahren müssen. Die Geldschwemme
Nullzinsen, da trügt die Erinnerung die der EZB, die D-Mark-Nostalgiker stets
Währungsnationalisten nicht, gab es frü- wortreich beklagen, wäre unter der Regie
her nie, als die Bundesbank die heimische der Bundesbank also noch viel üppiger
Währung noch im Alleingang verwaltete. ausgefallen.
Trotzdem könnten die D-Mark-Patrio- Und trotzdem hätten sich viele ökono-
ten nicht ärger danebenliegen. Ihre mische Kennziffern in Deutschland
Hoffnungen auf eine ruhmreiche Wie- lichen Gefahren für die wirtschaftliche wohl längst nicht so günstig entwickelt
derbelebung der Wirtschaftswunder- Entwicklung. wie unter der Ägide des gerade verab-
währung würden enttäuscht. Geschichte Um Verwerfungen in der Wirtschaft zu schiedeten EZB-Präsidenten Mario
lässt sich nicht wiederholen. In Wirk- vermeiden und den Aufwertungsdruck Draghi.
lichkeit wäre die Bundesbank zu noch zu lindern, hätte die Bundesbank die Zin- Der im Vergleich zum Euro höhere
drastischeren Maßnahmen gezwungen als sen noch viel kräftiger senken müssen Wechselkurs der Mark hätte deutsche
derzeit die EZB, um die Wirtschaft am als unter dem gegenwärtigen Währungs- Waren und Dienstleistungen im Ausland
Laufen zu halten. regime geschehen. Die Deutschen würden teurer gemacht, dort die Nachfrage
Warum wäre das so? Die Deutschen heute also nicht über die Nullzinspolitik gedämpft und so den Export gebremst.
halten sich viel zugute auf ihre Rolle als der EZB klagen, sondern über die Nega- Als Konsequenz wäre das Wirtschafts-
Exportmaschine. Tatsächlich erwirt- tivzinspolitik der Bundesbank. wachstum deutlich schwächer ausgefallen
schaftet kaum ein anderes Land einen hö- Mehr noch: Die deutsche Notenbank als in den vergangenen Jahren. Die
heren Leistungsbilanzüberschuss. Der würde wahrscheinlich in ähnlichem Um- Deutschen wären heute weniger wohl-
pendelte in den vergangenen Jahren stets fang deutsche Anleihen kaufen wie habend.
um die Marke von sieben Prozent der derzeit die EZB, mit dem einzigen Unter- Schwächeres Wachstum bedeutet für
Jahreswirtschaftsleistung. Die Deutschen schied, dass sie zusätzlich an den De- gewöhnlich auch weniger Steuereinnah-
exportieren also viel mehr Waren und men. Die heimischen Staatsfinanzen stün-
Dienstleistungen in den Rest der Welt, als den heute demnach viel unsolider da,
sie von dort beziehen.
Unter Aufwertungsdruck wenn die Deutschen ihre Verbindlichkei-
Leitzins der Schweizerischen Nationalbank,
Das Geschäftsmodell funktioniert seit in Prozent ten gegenüber dem Fiskus noch in Mark
Jahrzehnten – und zwar unabhängig da- begleichen würden.
von, ob deutsche Unternehmen ihre Pro- 4 Weil exportorientierte Unternehmen
dukte in Mark oder Euro abrechnen. Und zum Vergleich: längst nicht so gute Geschäfte gemacht
dennoch gäbe es einen entscheidenden EZB-Leitzins hätten wie im Euroland, wäre auch
Unterschied: Wäre Deutschland bei einer die Arbeitslosigkeit weniger stark ge-
eigenen Währung geblieben, hätte die sunken.
D-Mark in den vergangenen Jahren gegen- Mehr Arbeitslose bedeuten wiederum
über den meisten anderen Währungen Dezember 2014 höhere Staatsausgaben. Kaum anzuneh-
viel stärker an Wert gewonnen, als es mit 2 Die Schweizerische men also, dass ein deutscher Finanzminis-
dem Euro der Fall war. Um deutsche Ma- Nationalbank legt ter in den vergangenen Jahren angesichts
Minuszinsen fest.
schinen, Autos oder Gummibärchen zu höherer Ausgaben und weniger Einnah-
kaufen, hätten die Kunden in aller Welt men eine schwarze Null in seinem Haus-
ihr Geld in D-Mark tauschen müssen, was halt erzielt hätte.
deren Kurs in die Höhe getrieben hätte. Die fiktive Bilanz einer eigenen Wäh-
Der Grund: Die globale Nachfrage wäre 0 0
rung sähe mithin so aus: weniger Wachs-
WESTEND61 / IMAGO IMAGES

auf eine vergleichsweise kleine Volkswirt- Quelle: Refinitiv Datastream tum, höhere Arbeitslosigkeit, Defizite in
schaft getroffen, deren Währung nur über den Staatshaushalten, noch niedrigere
begrenzte Liquidität verfügt. Als Konse- – 0,75 Zinsen. Eigentlich haben die Deutschen
quenz wäre der Wechselkurs der Mark –1 keinen Grund, sich über den Euro zu be-
durch die Decke geschossen, mit erheb- 2008 2015 klagen. Christian Reiermann

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Titel

Barack Obama und organisierte den Kampf


gegen die globale Finanzkrise. Mit 28 Jah-
ren wurde er einer der jüngsten Professoren
in der Geschichte der Harvard University,
später wurde er ihr Präsident. Er war Chef-
ökonom der Weltbank. Bill Clinton sagt,
Summers verfüge über das äußerst seltene
Talent, »wirklich die Zusammenhänge der
Welt zu verstehen und sie beeinflussen zu
können«.
Gespräche mit Summers sind nicht ganz
einfach. Zum einen weil er unglaublich
klug ist. Zum anderen weil er ungeduldig
und es gewohnt ist, immer mehr zu wissen
und immer recht zu haben.

ZUMA PRESS / IMAGO IMAGES


Also Professor Summers, bitte erklären
Sie uns: Wie sind wir an diesen Punkt ge-
kommen, an dem eigentlich unverrückba-
re Regeln der Volkswirtschaft außer Kraft
gesetzt sind? Wie kann es sein, dass es seit
bald einem Jahrzehnt keine Zinsen gibt,
wo bleibt die Inflation, warum wächst die Ökonom Summers*: »Das Verhalten der Volkswirtschaften ist sehr überraschend«
Wirtschaft trotzdem so langsam?
»Das Verhalten der Volkswirtschaften
und der Finanzmärkte ist sehr überra- einen gemeinsamen Nenner: Wir sparen des Internationalen Währungsfonds,
schend«, sagt Summers. Niemand habe zu viel. Sowohl Privathaushalte als auch meint, das Problem seien eher zu viele
sich 2009 vorstellen können, dass die Zin- Unternehmen. Summers hat eine Theorie Schulden. Nobelpreisträger Paul Krugman
sen zehn Jahre später immer noch bei null dazu, 2013 stellte er sie erstmals vor. Sie sieht eine »Liquiditätsfalle«. Das Problem
sind. Hätte man Ökonomen damals gesagt, nennt sich »säkulare Stagnation«, und sie ist nur: Niemand weiß so genau, wie wir
dass es trotzdem keine Inflation gibt: »Sie geht so: Die Reichen sammeln immer mehr aus der Sache wieder rauskommen sollen.
wären geschockt gewesen.« Geld, während die Mittelschicht zu kurz Auch Summers nicht.
Nun ließe sich sagen: Wenn schon einer kommt, wir leben länger und brauchen des- Nullzinsen und damit immer verfügba-
der führenden Experten für die globale wegen mehr Geld in einem längeren Ru- res billiges Geld seien »wie ein schwarzes
Ökonomie kalt erwischt wurde, dann brau- hestand, Globalisierung und Digitalisie- Loch«. Sobald eine Volkswirtschaft erst
chen wir uns nicht weiter zu wundern, rung verändern Industrie und Arbeits- einmal reingezogen worden sei, sei es fast
dass uns die Welt so seltsam erscheint. An- markt. Und deswegen sparen die Men- unmöglich rauszukommen. Japan und
dererseits ist das höchst verstörend: Ist die schen mehr, »weil sie noch mehr Angst ha- Europa seien schon gefangen, sagt Sum-
globalisierte, digitalisierte Wirtschaft ein- ben, dass etwas falsch laufen könnte«. Zu mers, und die USA »nach der nächsten
fach zu komplex geworden, um sie noch viel Unsicherheit. Gleichzeitig horten Un- Rezession wohl auch«.
zu verstehen, geschweige denn zu steuern? ternehmen wie Apple und Google Aber-
Rasen wir unkontrolliert neuen unvorher- milliarden von Dollar; schneller technolo- Tokio: Die Marumonos sorgen sich um
sehbaren Weltfinanzkrisen entgegen? gischer Wandel drängt zur Vorsicht, lieber ihre Kinder, die Japaner müssen immer
Inzwischen sei zumindest eins klar, sagt genügend Geld auf der Seite zu haben. länger arbeiten, und Deutschland soll
Summers: Die lange gängige Lesart, die Auf der anderen Seite müssen Unter- auf keinen Fall wie Japan werden.
Finanzkrise von 2008 allein sei schuld an nehmen oft weniger Geld aufwenden als
dieser seltsam veränderten Wirtschafts- früher, Summers hat Beispiele parat: Ein Omotesandō gehört zu den besseren Vier-
welt, stimmt nicht. Vielmehr, sagt Sum- Smartphone kann heute, was früher ein teln in Tokio, und die Marumonos gehören
mers, hätten über 30 Jahre subtile Kräfte Supercomputer für Hunderttausende Dol- zu den besser gestellten Japanern. Man
im Hintergrund gewirkt, deren Auswirkun- lar leisten musste. Dank E-Commerce merkt es schnell, wenn man sie in einem
gen kaum zu erkennen waren. Auch nicht müssen weniger Einkaufszentren gebaut kleinen Jazz-Café in der Nähe ihrer Woh-
von den besten Ökonomen. werden. In der Ökonomensprache heißt nung trifft. Masanao Marumono ist 69 und
Sicher, die Finanzkrise war ein Kataly- das: »Viele einst teure Investitionsgüter eigentlich schon seit 16 Jahren pensioniert.
sator: Für einen Moment schien es, als sind heute billig.« Die Folge: Es liegt ein- Eine typische erfolgreiche japanische Kar-
würde die Welt in einen Abgrund stürzen, fach zu viel Geld rum. Der Druck auf die riere: führender Manager in einer Bank,
das Bankensystem zusammenbrechen, die Zinsen ist enorm, die Wirtschaft wächst lange Tage, kurzer Urlaub, 60 Stunden die
Wirtschaft in sich zusammenfallen, die Fol- kaum. Woche, ein Leben für das Unternehmen
gen Massenarbeitslosigkeit, Firmenpleiten, Für Summers ist deswegen klar: »Der und dann die Pensionierung mit 53. Wenn
Verarmung. Eine zweite Depression, wie Grund für die niedrigen Zinsen ist keine er heute jung wäre, würde sein Berufsle-
1929. Eine Notbremse schien angebracht: politische Entscheidung der Zentralban- ben auch noch so ablaufen? »Kaum vor-
Die Zentralbanken senkten die Zinsen gen ken. Sie reagieren nur auf fundamental stellbar«, sagt Marumono.
null und pumpten zugleich Billionen Dol- veränderte ökonomische Bedingungen.« Das offizielle Rentenalter in Japan liegt
lar in die Märkte, damit die Verbraucher Es gibt auch andere Theorien von an- heute bei 60 Jahren. Das ist nicht mehr
konsumieren, die Unternehmen investie- deren bekannten Ökonomen, manche wi- haltbar. Nicht nur weil die Japaner immer
ren und die Banken Geld verleihen. dersprechen Summers, teils vehement. länger leben und die Geburtenrate zu nied-
Aber eigentlich begannen die Probleme Kenneth Rogoff etwa, einst Chefökonom rig ist. Der staatliche Pensionsfonds be-
schon viel früher, sie sind vielfältig und kommt Probleme, die Renten zu bezahlen.
kompliziert, doch laut Summers haben sie * Mit US-Präsident Barack Obama 2010. Vergangenes Jahr hat der japanische Ren-

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Titel

gen interessieren sie sich sehr, ob es in


Deutschland besser läuft. Auch die Maru-
monos sind klassische Sparer, ihr Geld, sa-
gen sie, liege vor allem bei Banken, »mit
Aktien ist es kompliziert«.
Die Marumonos helfen ihren Kindern,
wo es geht. »Für sie wird es fast unmöglich
sein, im Alter genauso gut abgesichert zu
sein wie wir«, sagt Masamao Marumono.
»Als ich angefangen habe zu arbeiten,
konnte ich einfach Geld zur Seite legen,
und es wurde immer mehr. Meine Kinder
müssen andere Wege finden, sich viel stär-
ker selber kümmern.« Sich nicht auf den
Staat verlassen.
KENTARO TAKAHASHI / DER SPIEGEL

Gütersloh: Der Finanzchef eines Welt-


konzerns weiß nicht, wohin mit seinem
Geld. Für Mittelständler wird es schwer.
In letzter Zeit fühlt sich Bernd Hirsch re-
gelmäßig, als wäre er im Wilden Westen.
Zu verrückt ist einfach, was die neue Zins-
welt mit Unternehmen macht. Hirsch, 49,
Ehepaar Marumono: »Meine Kinder müssen andere Wege finden« ist Finanzvorstand bei Bertelsmann, dem
größten europäischen Medienkonzern, zu
dem etwa RTL und zahlreiche Buchverla-
tenfonds, der größte der Welt, im vierten Japan steckt allerdings seit über 25 Jah- ge gehören*. Dort regierte mal der extra-
Quartal einen Verlust von 136 Milliarden ren mehr oder minder in einer Krise. Die vagante Thomas Middelhoff, der aus dem
Dollar eingefahren. Doppelt so viel wie Wirtschaft wächst kaum oder schrumpft, traditionsreichen Haus einen Star der New
das Bruttoinlandsprodukt Luxemburgs. die Löhne stagnieren, teils fielen sogar die Economy machen wollte. Doch das ist lan-
Nach langen Jahren ohne Zinsen können Preise auf breiter Front. Premierminister ge her. Heute ist der Konzern eher ein kon-
nicht nur Lebensversicherungen kaum Shinzō Abe wurde 2012 ins Amt gewählt, servatives Familienunternehmen, Milliar-
noch Ausschüttungen für neue Verträge ga- weil er ein klares Rezept gegen die Dauer- den schwer und weltweit verzweigt, aber
rantieren. Die Pensionsfonds, die ihr Geld misere versprach: niedrige Zinsen und vorsichtig geführt und finanziert.
auch anlegen müssen, sind das größere Pro- massive Anleihenkäufe. Eine Nullzinsära Seit einiger Zeit aber ist für Hirsch die
blem. als Retterin der Wirtschaft. geordnete Welt rund um Gütersloh aus
»Die Ära der Rente ab 70 wird früher Seither geht es Japan langsam besser, den Fugen geraten. Eine Grundregel für
oder später kommen«, sagt etwa Katsuhi- zwischenzeitlich legte die Wirtschaft sogar Unternehmen lautete, dass Unternehmen
de Tanaka, der Präsident des Versiche- etwas kräftiger zu. 2017 wurde Abe mit ei- Zinsen und Dividenden zahlen müssen,
rungsriesen Taiyo Life. Die japanische Re- ner Zweidrittelmehrheit wiedergewählt, um von Banken oder Anleihegläubigern
gierung denkt bereits über 75 nach. Es ist weil er den Japanern versprach, genauso und Aktionären Geld zu bekommen. Und
nicht die japanische Art, dass deswegen weiterzumachen: keine Zinsen und das Investitionen mussten eine Rendite erwirt-
nun ein Aufschrei durchs Land gehen wür- Land mit Geld überfluten, genauso wie schaften, die höher ist als diese Kosten des
de, begleitet von Demonstrationen und die EZB. Kapitals, das man dafür aufbringen muss.
Protesten. Zumal viele Japaner nach der Doch der große Aufschwung bleibt aus, Bertelsmann beispielsweise kalkuliere
ersten Pensionierung ohnehin noch eine ebenso wie grundlegende Strukturrefor- noch immer so, sagt Hirsch, als würde Ka-
zweite, manchmal dritte Karriere angehen. men. Die japanische Zentralbank macht pital acht Prozent kosten, als müsste also
Marumono hat noch lange eine Tochter- die Arbeit weitgehend allein. jede Investition auch mindestens acht Pro-
abteilung einer anderen Großbank geleitet Alles fühlt sich nach Stillstand an. Japan zent Rendite einbringen. Man sei da eben
und arbeitet heute ehrenamtlich für eine kämpft seit bald 20 Jahren mit Deflation. diszipliniert.
große Behindertenvereinigung. Wenn Waren morgen billiger sind als heu- In Wahrheit aber kostet Kapital heute
Aber die Unruhe im Land ist zu spüren. te und das Geld damit mehr wert, dann praktisch nichts mehr, viele Konzerne kön-
»Wir waren es gewohnt, uns in der Pensio- hemmt das den Konsum, die Menschen nen sich Geld zum Nulltarif leihen.
nierung gut abgesichert zu fühlen«, sagt sparen lieber, und Unternehmen investie- Das ist inzwischen vor allem bei Firmen-
Marumono. Für seine Generation sei noch ren weniger. Das kann eine Volkswirt- übernahmen deutlich zu spüren. Wenn
alles gut, aber für seine Kinder? »Vielleicht schaft auf lange Zeit ruinieren. Deswegen Geld so billig ist, kann man eben ordent-
geht alles gut, aber es sieht so aus, als wür- sagen viele Ökonomen und Wirtschafts- lich einkaufen gehen. Nur verhalten sich
de die Rentenversicherung viel teuer wer- politiker in Europa und den USA: bloß Unternehmen dann nicht anders als der
den und die Auszahlung runtergehen und nicht werden wie Japan. Wer einmal in ei- normale Konsument. Wer gerade zu viel
dann weniger Geld zum Leben da sein.« ner »deflationären Mentalität« stecke, wie Geld in der Tasche hat, kauft auch mal un-
Japan und Deutschland sind sich in vie- die Experten sagen, komme da kaum noch nötigen Quatsch. Denn bei Nullzinsen
lem ähnlich: ähnliche Geburtenrate, ähn- raus. müssen Investitionen kaum noch Gewinn
liche Wirtschaftsleistung, ähnliche Bevöl- Die Marumonos sorgen sich, ob ihre abwerfen. Unternehmen stecken also wo-
kerungsstruktur, beide Länder wurden Kinder ein ähnlich gutes Leben haben kön-
nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufge- nen wie sie selbst. Ihr Sohn lebt in Yoko- * Bertelsmann hält über seine Tochter Gruner + Jahr
baut. hama, ihre Tochter in Düsseldorf, deswe- eine Minderheitsbeteiligung am SPIEGEL-Verlag.

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möglich Geld in Technologien oder Werke, Betongold schlägt alles internationalen Kapitalmarkt zu finanzie-
die kaum rentabel sind. Die Produktivität Vergleich von Geldanlageklassen seit 2008 ren«, sagt Hirsch.
sinkt, weil der Druck fehlt, innovativ und Und noch etwas kommt hinzu. Zwar
effizient zu sein. Immobilien sparen Unternehmen derzeit eine Menge
Die Entwicklung beschleunigt sich, ra- Preisentwicklung von Neubau- Zinsen, bei Bertelsmann ist das etwa ein
sant. Vor einem Jahr noch habe Bertels- Eigentumswohnungen in kreisfreien zweistelliger Millionenbetrag. Doch da-
Städten gegenüber 2008
mann für eine Anleihe mit siebenjähriger gegen steht rechnerisch eine um 500 Mil-
Laufzeit 1,25 Prozent Zinsen gezahlt, er-
+102 % lionen Euro höhere wirtschaftliche Ver-
+100
zählt Hirsch. Heute müsste man für eine schuldung. Sie komme dadurch zustande,
vergleichbare Anleihe nur noch 0,5 Pro- erklärt Hirsch, dass künftige Pensionsver-
zent zahlen. pflichtungen ebenfalls mit dem viel nied-
Der Münchner Siemens-Konzern be- rigeren, aktuellen Marktzins abgezinst
kam vor wenigen Monaten sogar Geld da- +50 werden müssten. Sie schlagen sich also
für, dass er Schulden machte. Siemens gab heute sehr viel stärker und belastender in
Unternehmensanleihen heraus, lieh sich der Bilanz nieder.
also Geld, und zwar satte 3,5 Milliarden Die Vermögensverwaltung Flossbach
Euro – und musste für einen Teil dieser Quelle: Empirica von Storch schätzt, dass Dax-Konzernen
Anleihen keine Zinsen zahlen, sondern be- 2008 2019 wie VW, Daimler oder Siemens durch die
kommt zum Beispiel für Papiere mit zwei- Niedrigzinsen rechnerisch Zusatzlasten
jähriger Laufzeit 0,315 Prozent Zinsen. Aktien durch künftige Pensionen in Milliardenhö-
Anders gesagt: Wer Siemens 1000 Euro he entstehen. Viele Konzerne haben für
gab, bekommt nur 993,70 Euro zurück.
Dax, in Punkten 13 289 die künftigen Lasten nicht ausreichend vor-
Das klingt absurd, nicht nur für Laien. gesorgt, die Niedrigzinsen lassen die Lücke
12000
»Da wird ein Grundgesetz außer Kraft nun weiter anschwellen.
gesetzt, nämlich das von Leistung und Ge-
genleistung. Ultimativ heißt das ja: Je Mailand, New York: Ein Fondsmanager
mehr man sich verschuldet, desto mehr 8067 jubelt, ein Chefökonom warnt,
Erträge erwirtschaftet man«, sagt Hirsch. und Unternehmen werden zu Zombies.
Und das könne Firmen und Finanzin-
vestoren zu einer Menge Unsinn verleiten. »Kein Land hat so von der Währungsunion
Hirsch sieht Bertelsmann im Vorteil, weil 4000 und der Geldpolitik der EZB profitiert wie
es dem Unternehmen gut geht und es or- Deutschland«, sagt Davide Serra, der In-
Quelle: Refinitiv Datastream
ganisch wächst. Anders ist das bei Firmen, vestor. Führte Deutschland statt des Euro
die nur wachsen können, indem sie andere 2008 2019 wieder die D-Mark ein, würde der Wech-
Firmen hinzukaufen. selkurs auf 1,70 oder 1,80 Dollar steigen;
Besonders anfällig für einen leichtsinni- Festgeld auf einen Schlag würde Deutschland eine
gen Umgang mit dem vielen Geld sind da- Effektivzinssätze für Einlagen privater Haushalte Billion Euro an Krediten verlieren, weil
her Finanzinvestoren, deren Geschäftsmo- mit vereinbarter Laufzeit bis 2 Jahre der verbleibende, schwächere Rest der Eu-
dell gerade darin besteht, Unternehmen 4,04 % rozone nicht mehr bezahlen könnte. Ex-
mit überwiegend geliehenem Geld zu porte brächen weg, 30 Prozent der deut-
übernehmen und die Kredite aus den Ge- schen Wirtschaftsleistung wären verloren,
winnen der Firmen abzustottern. die Staatsverschuldung stiege auf 100 Pro-
3
Diese Private-Equity-Firmen schwim- zent, rechnet Serra vor (siehe Seite 18).
men derzeit im Geld. Übernahmen durch Serra, gebürtiger Italiener, arbeitet seit
Finanzinvestoren haben sich von rund 600 2 fast einem Vierteljahrhundert in der Hoch-
Milliarden Dollar 2010 auf 1,4 Billionen finanz, erst bei der Schweizer Großbank
Dollar 2018 mehr als verdoppelt. 1 UBS, dann bei Morgan Stanley, seit 2006
Wenn die Wirtschaft schrumpft, wächst 0,21 % hat er seine eigene Firma. Wegen des Bre-
für viele der von Finanzinvestoren über- Quelle: Bundesbank xits zog er mit seiner Familie nach Mailand,
nommenen Firmen das Risiko, die ihnen 2008 2019
nahm aber gleichzeitig die britische Staats-
aufgeladenen Schulden nicht mehr bedie- bürgerschaft an. Er ist mit dem ehemaligen
nen zu können. Das erinnert an die Finanz- Staatsanleihen italienischen Regierungschef Matteo Renzi
krise. befreundet und mit Sigmar Gabriel, hält
Rendite von Bundesanleihen mit 10 Jahren Laufzeit
Ein Problem kann die Kaufwut der Fir- manche italienischen Banken für verbre-
menjäger aber schon jetzt sein. Unterneh- 4,33 % cherisch und nennt die deutsche Kritik an
men wie Bertelsmann stehen vor der Fra- der EZB »heuchlerisch«. Hinter seinem
ge, wie sie sich im Wettbewerb mit aggres- Schreibtisch hängt ein Bild, das ihn auf der
siven Konkurrenten und Finanzinvestoren 3 Spitze einer Felsnadel balancierend zeigt.
behaupten können, ohne übertriebene fi- Das vergangene Jahrzehnt war ein gutes
nanzielle Risiken einzugehen. Schwieriger 2 für Serra, für die meisten Finanzprofis. Die
noch wird es für mittelständische Firmen, Kurse von Aktien und Anleihen, die Preise
die kaum oder gar keinen Zugang zum 1 –0,32 % von Immobilien, vielen Rohstoffen, fast
billigen Geld der Kapitalmärkte haben. alles legte zu. Lange galt es als ehernes
»Langfristig werden kleinere und mittlere 0 Gesetz, dass Aktien und Anleihen nicht
Unternehmen eher zu den Verlierern die- gleichzeitig steigen. Erwarteten die Händ-
–1 Quelle: Refinitiv Datastream
ser Zinsentwicklung gehören, weil sie ler Wachstum, kauften sie Aktien und lie-
nicht die Möglichkeit haben, sich über den 2008 2019 ßen die sicheren Anleihen links liegen, in

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Titel

Krisenzeiten handelten sie umgekehrt. Auf Pump musste, bekommt noch Geld geschenkt,
Aber solche Regeln gelten nicht mehr, weil weltweite Unternehmensschulden*, wenn es neue Schulden aufnimmt.
zu viel Geld in die Finanzmärkte statt in in Billionen Dollar Schuldner profitieren übermäßig von
die Realwirtschaft fließt. Allein das in Hed- der Geldflut, das gilt nicht nur für Staaten.
gefonds verwaltete Vermögen hat sich seit 73 Welche Folgen die absurde Zinssituation
der Finanzkrise von 2008 auf gut drei Bil- für Unternehmen hat, weiß Jochen Felsen-
lionen Dollar fast verdreifacht. Das Volu- heimer, Mitgründer und Chef des Münch-
men von Indexfonds, die ein Marktbaro- ner Hedgefonds Xaia. Felsenheimer hat
meter wie den Dax oder den Dow Jones lange bei der HypoVereinsbank gearbeitet,
abbilden, hat sich auf 5,7 Billionen Dollar mit faulen Krediten kennt er sich aus. »Die
vervielfacht. 38 Zahl der Firmen, die finanziell in Bedräng-
Verloren habe fast niemand, sagt Serra. nis sind, steigt von Jahr zu Jahr«, sagt Fel-
»Außer Pensionären, Sparern, Banken und senheimer. »Diese Firmen können nur
Versicherungen«. Bedauerlich sei das, sagt 21 überleben, solange sie praktisch keine Zin-
er, und – was die Sparer angeht – unnötig. sen zahlen.«
Es sei doch leicht, etwas zu tun: investie- 1997 2007 2019 Zombiefirmen werden solche Unterneh-
ren, anlegen, mehr riskieren. Eben alles *jeweils erstes Quartal; Quelle: IIF
men in Finanzkreisen genannt, weil sie ei-
außer einfach sparen. gentlich tot und begraben sein sollten und
Das klingt simpel, vielleicht zu simpel. doch noch irgendwie umherwandeln. Die
Weil so viel Geld in den Markt geflossen nanzprodukte, die in der Finanzkrise von Bank für Internationalen Zahlungsaus-
ist, »auch in illiquide Sektoren, waren eini- 2008 zu den Brandbeschleunigern zählten, gleich – eine Art Zentralinstitut der Zen-
ge Vermögensverwalter versucht, zu viele haben in ähnlicher Form wieder Konjunk- tralbanken – definiert als Zombiefirmen
Risiken einzugehen«, sagt Mohamed El-Eri- tur. Auch andere Symptome der Überhit- alle Unternehmen, die mindestens zehn
an in der Finanzmetropole New York. Der zung erinnern an damals. »Es gibt Vermö- Jahre alt sind und die mehr für Zinsen zah-
amerikanische Ökonom, Sohn eines ägyp- gensverwalter, die jenseits ihrer eigenen len müssen, als sie Gewinn machen. Nach
tischen Diplomaten, war sechs Jahre lang Expertise nach höheren Renditen jagen, Berechnungen der EZB war vor einigen
Chef des Vermögensverwalters Pimco, der die sich als zu riskant oder sogar flüchtig Jahren etwa jedes zehnte Unternehmen in
1900 Milliarden Dollar verwaltet und über- erweisen könnten«, sagt El-Erian. sechs Kernländern der Eurozone – darun-
wiegend in Anleihen angelegt hat, der welt- Argentinien gab vor zwei Jahren eine ter Frankreich, Italien und Deutschland –
größte Investor dieser Art. Präsident Ba- 100-jährige Anleihe aus. Obwohl das Land ein Zombie. Eine erschreckende Zahl. Deut-
rack Obama machte ihn zum Leiter seines in den vergangenen 100 Jahren acht Staats- sche Reedereien und Autozulieferer zählen
Global Development Council. Seit 2014 ist pleiten durchlebte, reichte das Angebot dazu, ebenso italienische Zementfirmen
er ökonomischer Chefberater der Allianz. nicht, so heiß waren Anleger auf die ver- oder französische Supermarktketten.
El-Erian ist ein stets freundlicher und sprochenen sieben Prozent Zinsen. Schon Und oft sind sie nur schwer zu erkennen.
geduldiger Welterklärer, ein Anti-Sum- jetzt ist das Papier nicht einmal mehr die Normalerweise müssen angeschlagene Fir-
mers in mancher Hinsicht. »Das Problem Hälfte wert. »Und wenn es noch eines Be- men höhere Zinsen zahlen, um ihren Geld-
ist«, sagt El-Erian, »dass man die Gefahren weises bedarf, wie verzerrt das Finanzsys- gebern das Risiko zu vergüten. Doch die
lange nicht sieht. Es ist, als ob man eine tem ist«, sagt El-Erian, »dann die Tatsache, Geldflut ebnet die Risiken ein. Vor allem
große Sandburg baute und denkt, die ist dass selbst Griechenland zuletzt zu nega- seit die EZB selbst in großem Stil Unter-
aber stabil, bis eine einzige weitere Schip- tiven Zinsen Schulden machen konnte.« nehmensanleihen kauft, kommen selbst fi-
pe Sand sie komplett verändert.« Das Land, das noch bis 2016 mit 175 Milli- nanzschwache Firmen wie etwa die italie-
Aber es gebe Krisenindikatoren, kleine arden Euro an Hilfskrediten von IWF und nischen Konzerne Feltrinelli oder Benet-
Warnsignale, heute schon. Komplexe Fi- EU vor der Staatspleite gerettet werden ton wieder billig an Geld. Italien ist von

DIE WELT BRAUCHT


KEINE MAUERN

Coca-Cola, die Konturflasche und die dynamische Welle sind eingetragene Schutzmarken der The Coca-Cola Company.
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der Zombiefizierung besonders betroffen,


etwa zehn Prozent der Beschäftigten in
solchen untoten Firmen, die Banken des
Landes haben 173 Milliarden Euro an fau-
len Krediten in ihren Büchern.
Zombiefirmen gelten als ein Grund
für das chronisch schwache Wachstum in
Europa: Sie unterbieten gesündere Wett-
bewerber bei den Preisen, um irgendwie
im Geschäft zu bleiben, obwohl sie damit
Verluste in Kauf nehmen; sie erschweren
es innovativen Newcomern, in den Markt
zu kommen. Und sie binden Ressourcen
bei den Banken, die deshalb zu wenig in
zukunftsträchtigere Geschäfte investieren.
Unter dem Strich werden ganze Volks-
wirtschaften unproduktiver, weil Zombie-
banken und -firmen den Prozess »schöp-
ferischer Zerstörung« verhindern, den der
Ökonom Joseph Schumpeter einst als

ERIC PIERMONT / AFP


Motor des Fortschritts ausgemacht hat.

Berlin, Washington: Der Finanzminister


investiert zu wenig, muss sich gegen Popu-
listen wehren und ringt um Kontrolle. Finanzminister Scholz, Amtskollegen im Juli*: Leitbild der schwäbischen Hausfrau

Eine kleine Bühne im Zentrum von Wa-


shington, der deutsche Finanzminister ver- zusammen und hält ein Fachreferat zum er müsse es auch nicht, solange die Wirt-
sucht mit einiger Mühe, die schwarz-rote Phänomen der schwindenden Kapitaler- schaft nicht in die Krise rutsche.
Regierung in Berlin als Bündnis der Mo- träge und der tieferen Logik schwarz-roter Ein bisschen klingt das nach: alles nicht
dernisierung anzupreisen. Im Publikum: Haushaltspolitik. so schlimm, so lange die positiven Effekte
Außenpolitiker, Banker, Finanzexperten Nicht die Zentralbanken seien zuvör- überwiegen, die Arbeitslosigkeit niedrig
aus aller Welt, die Stadt ist voll mit ihnen, derst für die niedrigen Zinsen verantwort- bleibt und die Wirtschaft wenigstens ein
zur gleichen Zeit tagen IWF und Weltbank. lich, so führt er aus, sondern die Anleger bisschen wächst. Irgendwie werden sich
Eine gute halbe Stunde hat Olaf Scholz selbst. »Die Niedrigzinsen haben vor al- auch die Sparer schon anpassen.
schon über das Klimapaket der Großen lem mit der großen Menge an anlagesu- Das stimmt. Allerdings nur so lange, bis
Koalition geredet, als es plötzlich ernst chendem Kapital zu tun, das die Zinsen es knallt.
wird. Was er denn zu den niedrigen Zinsen drückt«, sagt er. »Diese Entwicklung gibt Die Weltwirtschaft tuckert zwar ganz
sage? Und was die Nullzinsära für seine es auf der ganzen Welt und nicht nur in okay vor sich hin – aber nur, weil das Gas-
Finanzpolitik bedeute? Europa.« Dagegen könne der Staat nur pedal schon bis zum Boden durchgetreten
Scholz macht eine lange Pause, er sieht wenig ausrichten, so befindet Scholz, und ist, mit Nullzinsen und riesigen Schulden-
nicht so aus, als wenn er über die Frage summen. Wenn die nächste Krise kommt,
glücklich wäre. Dann kneift er die Augen * Steven Mnuchin (USA), Bill Morneau (Kanada). und sie wird kommen, was dann? Wie soll

MEHR MENSCHEN, DIE


WOLLEN.

Zusammen eins
#30JahreMauerfall
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Titel

JAKOB man gegensteuern, wie eine Depression macht der Zentralbanken brechen: mit
verhindert werden? einer expansiven Finanzpolitik, die nied-
AUGSTEINS Den Finanzpolitikern und Zentralban-
kern fehlen gerade wesentliche Steue-
rige Zinsen und Eingriffe der Zentralbank
unnötig macht.
KULT- rungsinstrumente, genau so einen Kollaps
zu verhindern, eine Krise hinauszuzögern,
Doch kann das ein deutscher Politiker
laut sagen, dass Sparen schädlich ist in die-
einen Crash abzuschwächen. sen Zeiten? Dass ein ausgeglichener Haus-
KOLUMNEN Noch mal zurück zu Larry Summers.
Er spricht von den »zunehmend toxischen
halt ein Ideal einer anderen Zeit war, dass
es endgültig passé ist, das Leitbild der
! Nebenwirkungen« der dauernden Nied-
rigzinsen. Und dieses Gift sieht dem, das
schwäbischen Hausfrau?
Scholz ist sichtlich bemüht, sich vom all-
die große Krise von 2009 verursachte, ver- gemeinen deutschen EZB-Bashing abzuset-
dammt ähnlich. Vor allem die Blasen, die zen. Vor allem vom Satz seines Vorgängers
sich gerade in allen möglichen Anlagefor- Wolfgang Schäuble (CDU), wonach die Er-
men aufblähen. folge der AfD mit der EZB-Politik zusam-
»Die Politik muss drastisch eingreifen«, menhingen. »Die EZB hat wesentlich dazu
sagt Summers. »Sie muss investieren, dra- beigetragen, dass die Währungsunion die
matisch mehr als bisher.« In öffentliche Eurokrise überwunden hat«, sagt Scholz.
Projekte, aber auch in Altersvorsorge, so- »Es ist kompletter Unsinn, den Aufstieg des
dass die Menschen weniger Drang zum Rechtspopulismus in Deutschland auf die
Sparen verspüren. Politik der EZB zurückzuführen«, sagt er.
Er wisse schon, sagt Summers, dass die- Schließlich gebe es »den rechten Populis-
se Ratschläge gerade von den deutschen mus auch in Ländern, in denen der Euro
Politikern nicht gern gehört werden, »we- nicht die Landeswährung ist; wie in der
gen der veralteten Vorstellungen von fi- Schweiz, in Dänemark, in Schweden«.
nanzieller Stabilität«. Doch was früher Dahinter steht auch die Frage: Was pas-
richtig war, sei heute eben falsch, da ist siert nun, wenn noch jahrzehntelang Nied-
sich Summers sicher. Finanzpolitische rigzinsen anstehen und viele Bürger die
Stabilität bedeute heute soziale Instabili- Schuldigen dafür bei der EZB, bei der
tät: langsames Wachstum, Handelskonflik- EU ausmachen? Wenn die Kernnation
te, wachsende Arbeitslosigkeit in Krisen- Deutschland ernsthaft beginnt, an Europa
zeiten. Unsicherheit in der Bevölkerung. zu zweifeln, wird es gefährlich.
Mit all ihren politischen Konsequenzen. Von der alten finanzpolitischen Doktrin,
Ist Deutschland dafür gewappnet? dass Sparen immer besser sei als Ausge-
Finanziellen Spielraum, so viel ist sicher, ben, rückt Scholz behutsam ab. »Wir nut-
hat das Land. Die Bundesregierung hat zen unsere Möglichkeiten für eine expan-
mehr als hundert Milliarden Euro in den sive Finanz- und Haushaltspolitik«, sagt
304 Seiten, gebunden · € 20,00 ( D ) vergangenen zehn Jahren gespart, weil die er. »Wir investieren so viel wie schon lange
Auch als E-Book erhältlich Zinsen nach und nach unter die Nulllinie nicht mehr in die Infrastruktur.« Folgen
sanken. Aktuell zahlen die Anleger der Re- soll nun ein großes Bauprogramm. »Wenn
gierung sogar Geld dafür, ihre Wertpapiere wir es hinbekämen, jedes Jahr 300 000 bis
kaufen zu dürfen. 400 000 neue Wohnungen zu bauen, da-
Jakob Augstein gehört zu den Zugleich stieg das Steueraufkommen – runter 100 000 Sozialwohnungen, wäre das
auch dank einer durch den niedrigen Euro eine wirksame Maßnahme« – auch gegen
meistgelesenen und einflussreichsten angefeuerten Exportwirtschaft. Seit 2009, steigende Immobilienpreise und Mieten.
so zeigen die Statistiken, sind die staatlichen Es ist ein Anfang. Nicht mehr, aber auch
Journalisten der Gegenwart.
Einnahmen um mehr als 250 Milliarden nicht weniger. Und es ist eine schlichte Not-
Unter dem Motto »Im Zweifel links« Euro gestiegen, mehr als zwei Drittel eines wendigkeit. Denn Niedrigzinsen bedeuten
Jahreshaushalts. Und die Große Koalition im Verhältnis Bürger und Staat auch eine
hat er in seinen Kolumnen auf schüttete einen Großteil des Geldes wieder Machtverschiebung. Staaten sind immer
SPIEGEL ONLINE beinahe ein aus: Renten für Mütter und langjährig Ver- schon die größten Schuldner gewesen, sie
sicherte, Kita-Ausbau und Kinderzuschlag, profitieren also überproportional von nied-
Jahrzehnt lang eine Chronik Pflegeoffensive und Baukindergeld. rigen Zinsen – und sie profitieren auch auf
unserer Zeit verfasst. Für dieses Buch Das politische Kalkül dahinter war natür- Kosten der Bürger, die traditionell die
lich auch: den Bürgern in unsicheren Zeiten wichtigsten Gläubiger sind. Es wäre also
hat er seine streitbaren Texte mehr Sicherheit zu geben. Doch anders als nur recht und billig, wenn der Staat die fi-
thematisch zusammengestellt erhofft, hat das die Stimmung in der Bevöl- nanziellen Freiräume, die er gerade ge-
kerung kaum verbessert. Auch das scheint winnt, an seine Bürger zurückgibt.
und neu kommentiert. nicht mehr so zu funktionieren wie früher. Tim Bartz, Martin Hesse, Anton Rainer,
Bundesfinanzminister Scholz kennt die Michael Sauga, Thomas Schulz
Argumente von Larry Summers, er kennt
die Forderungen seiner Amtskollegen in
den USA, Frankreich, England: Gebt end- Video
Welche Geldanlage sich
lich mehr Geld aus in Deutschland! Ihr jetzt noch lohnt
müsst investieren statt sparen! Nur so gehe spiegel.de/sp462019geld
es aufwärts mit der Wirtschaft. Und nur oder in der App DER SPIEGEL
so könne man auch die vermeintliche Ohn-

www.dva.de 24 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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MACH, WAS WIRKLICH ZÄHLT.

4 J a h re n k ä m pfen wir
Seit 6 n d S ic herheit:
k ra ti e u
für Demo r B undeswehr
u n g s ta g d e
Gründ
er 1955
am 12. Novemb
rriere.de
bundeswehrka
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Deutschland
Die Banden ziehen den Kokshandel so professionell auf, als hätten sie McKinsey im Haus gehabt. ‣ S. 44

POPPERFOTO / GETTY IMAGES


Bornplatzsynagoge um 1910

Hamburg

Zerstörte Synagoge soll neu entstehen


Prächtiger Sakralbau war einst Wahrzeichen jüdischen Lebens.
 Der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) setzt sich romanischen Stil galt als Wahrzeichen des einst reichen jüdischen
für einen möglichen Wiederaufbau der von den Nazis zerstörten Lebens in Hamburg und war die größte Synagoge Norddeutsch-
Bornplatzsynagoge ein. Das wäre »ein starkes Zeichen für das lands mit Platz für 1200 Gläubige. Im Zuge der Pogrome des
jüdische Leben in Hamburg«, sagt Tschentscher. Zunächst solle 9. November 1938 wurde sie von NS-Schergen verwüstet und
es eine Machbarkeitsstudie zur Gestaltung der Synagoge und schwer beschädigt. 1939 ließ die Stadt die Synagoge abreißen,
ihrer Nutzung als künftiges jüdisches Zentrum geben. Dafür die Kosten musste die Gemeinde tragen, das Grundstück musste
stellt Tschentscher auch finanzielle Unterstützung in Aussicht: sie unter Wert verkaufen. Bis heute mahnt ein großer leerer
»Wir sprechen derzeit darüber, wie die weitere Förderung der Platz an die einstige Synagoge im Grindelviertel. Den Anstoß
jüdischen Gemeinde gestaltet wird, dabei geht es auch um den zur Debatte, sie wieder aufzubauen, gab Landesrabbiner
Neubau einer Synagoge.« Der historische Sakralbau im neo- Shlomo Bistritzky im »Hamburger Abendblatt«. AGR

Militär 80 zusätzlichen Systemen« einkaufen und de die Truppe die neuen Panzer erst suk-
diese aus nicht ausgegebenen Haushalts- zessive bis 2025 erhalten. Beim Heer
Mehr Panzer für das Heer mitteln für andere Waffen bezahlen, die fürchtet man, dass wegen der zeitgleichen
 Die Große Koalition will die Bundes- sich verzögern. Grund ist die Sorge des Modernisierung älterer »Leopard«-Model-
wehr mit 80 weiteren »Leopard«-Panzern Heers über den Panzerbestand. Zwar, so le zeitweise nur 100 Systeme verfügbar
des neuesten Typs 2 A7V aufrüsten. Mit ein internes Papier, werde die Panzerflotte sein könnten und Deutschland damit seine
den Stimmen von Union und SPD nach einem Regierungsbeschluss durch Verpflichtung bei der Nato nicht einhalten
beschloss der Verteidigungsausschuss in 95 eigentlich ausgemusterte »Leopard«- könnte, so die Vorlage von Anfang Sep-
einem Haushaltsantrag, die Bundesregie- Panzer, die nun auf den neuesten Technik- tember. Die Bundesregierung muss nun
rung solle möglichst schnell »eine Umlauf- stand aufgerüstet werden, auf 320 »Leo- entscheiden, ob sie sich den Beschluss des
reserve Kampfpanzer im Umfang von pard«-Panzer aufgestockt. Allerdings wer- Ausschusses zu eigen macht. GT, MGB

26 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Steuern Bayaz mitteilte, würden derzeit zwar


Gnadenfrist für Betrüger zwei Zertifizierungsverfahren für Sicher-
heitseinrichtungen laufen. Wann diese
 Bundesfinanzminister Olaf Scholz abgeschlossen werden könnten, sei noch
(SPD) hat die Einführung manipulations- offen.
sicherer Registrierkassen in Deutschland Der knappe Erlass aus dem Bundes-
verschoben. Vor drei Jahren hatte der finanzministerium stellt die für den Voll-
Bundestag zwar beschlossen, dass alle zug zuständigen Länderfinanzverwal-
elektronischen Kassen ab 2020 mit einer tungen allerdings vor Probleme. So sehen
zertifizierten technischen Sicherheitsein- die 2016 beschlossenen Vorschriften
richtung (TSE) ausgestattet sein müssen. ebenfalls vor, dass ab Januar zwingend
Damit soll der massenhafte Steuerbetrug ein Kassenbon ausgestellt werden muss
eingedämmt werden. Weil die entspre- und nicht gesicherte Kassen nicht mehr

PASCAL SITTLER / REA / LAIF


chende Technik aber noch nicht fertig verkauft werden dürfen. So könnte es
entwickelt ist, erließ der Minister in die- geschehen, dass Händler oder Gastrono-
ser Woche eine »Nichtbeanstandungs- men in den kommenden Monaten keine
regelung«, die bis maximal Ende Septem- neue Kasse kaufen können, wenn ihre
ber kommenden Jahres gelten soll. alte kaputt gehe, heißt es. Im Handel gibt
Demnach sollen die Finanzbeamten bei es Bedenken, ob die Nachfrist überhaupt
Prüfungen das Fehlen einer TSE nicht reicht, mehrere Hunderttausend Kassen Macron, Breton
bemängeln. Wie das Ministerium dem umzurüsten, selbst wenn die entsprechen-
Grünen-Bundestagsabgeordneten Danyal de Technik bald auf den Markt käme. MIF EU-Kommission
Kritik an Macrons neuem
Kandidaten
Tiergartenmord tität haben. So wurde Sokolovs Pass
offenbar aus der russischen Reisepass-  Frankreichs Präsidenten Emmanuel
Regierung protestiert datenbank gelöscht, sein Datensatz trägt Macron droht im Europaparlament
in Moskau im Verzeichnis nationaler Ausweispapiere auch mit seinem zweiten Vorschlag für
einen Sperrvermerk (»Person durch das den Posten des französischen EU-
 In dem Fall des in Berlin erschossenen Gesetz geschützt«), seine Adressen für Kommissars Ärger. Nachdem die Parla-
Georgiers Zelimkahn Kangoshvili hat seinen nationalen Pass als auch für seinen mentarier Sylvie Goulard als Binnen-
sich das Bundeskanzleramt eingeschaltet. Visumantrag für den Schengen-Raum marktkommissarin abgelehnt hatten,
Grund ist die Weigerung Russlands, bei waren falsch, sein Name taucht erstmals hatte er Thierry Breton nominiert, bis-
den Ermittlungen mit deutschen Behör- wenige Monate vor dem Mord in der lang Vorstandschef des französischen
den zu kooperieren. Sowohl der Verfas- Steuerdatenbank auf. Dennoch heißt es IT-Konzerns Atos. »Es ist meines Wis-
sungsschutz als auch der BND hatten ihre in deutschen Sicherheitskreisen, all dies sens das erste Mal, dass ein hochran-
russischen Partnerbehörden erfolglos sei in Russland auch durch Bestechung giger Wirtschaftsführer direkt auf den
um Mithilfe gebeten. Sie hatten keinerlei zu erlangen. Es sei kein Beweis für einen Posten des EU-Kommissars wechseln
stichhaltige Antworten erhalten. Inzwi- Mord im Auftrag eines Geheimdienstes. soll«, sagt Manon Aubry, Co-Vorsitzende
schen hat das Kanzleramt den Russen sei- Der Mangel an Kooperation aus Moskau der Fraktion der Linken und Nordi-
nen Unmut mitgeteilt. Kangoshvili war allerdings habe der deutschen Seite schen Grünen. Entsprechend groß sei
am helllichten Tag im Tiergarten erschos- nun zu denken gegeben, heißt es in die Zahl möglicher Interessenkonflikte.
sen worden. Er hatte unter anderem im Berlin. FIS, MBA, MGB Breton soll für ein stark ausgebautes
Zweiten Tschetschenien- Binnenmarktressort zuständig werden.
krieg gegen von Moskau Kritik gibt es vor allem daran, dass
unterstützte Truppen seine Aufgaben auch den digitalen Bin-
gekämpft. Später hatte nenmarkt umfassen. Beispielsweise soll
er in Georgien und Breton die Entwicklung europäischer
in der Ukraine für die Hochleistungsrechner vorantreiben; ein
Sicherheitsbehörden wichtiger Hersteller dieser Geräte
gegen Moskaus Interes- ist ausgerechnet Atos. Unterstützung
sen gearbeitet. Nach Re- erhält Aubry vom stellvertretenden
cherchen des SPIEGEL, Chef des Rechtsausschusses, Sergey
von The Dossier Center, Lagodinsky von den Grünen. Bei
Bellingcat und The Breton stelle sich die Frage, »ab wann
Insider weist vieles auf Erfahrung und Vernetzung zu einer
einen Mord im Auftrag Hypothek werden«, sagt der Parlamen-
des russischen Staates tarier. Breton muss am kommenden
hin. Als mutmaßlicher Donnerstag die Fragen der Abgeordne-
FABRIZIO BENSCH / REUTERS

Mörder sitzt der russi- ten beantworten, zuvor untersucht der


sche Staatsbürger Vadim Rechtsausschuss seine Einkommens-
Sokolov in Untersu- erklärung auf mögliche Interessenkon-
chungshaft, er bestreitet flikte. Um Schwierigkeiten zu vermei-
die Tat. Er dürfte eine den, verkaufte Breton zuletzt seine
eigens für den Mord Anteile an Atos in Höhe mehrerer Mil-
geschaffene falsche Iden- Tatort im Berliner Tiergarten lionen Euro. MP, WAS

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Pkw-Maut erbracht habe. Toll Collect sollte dem Attentäter von Halle
Teure Schummelei Pkw-Mautbetreiber Autoticket unter »Mein Kampf« auf dem PC
anderem seine Mautstellenterminals und
 Das Bundesverkehrsministerium hat Kontrollbrücken zur Verfügung stellen.  Bei der Auswertung von Festplatten
mehr Kosten für das gescheiterte CSU- Bis zum EuGH-Urteil vom 18. Juni, das des Doppelmörders Stephan Balliet
Prestigeprojekt Pkw-Maut angehäuft als das Projekt stoppte, liefen die Vorberei- sind Ermittler auf einschlägiges, natio-
bislang bekannt. Auf Anfrage des FDP- tungen dazu. Weitere, noch nicht beziffer- nalsozialistisches Propagandamaterial
Verkehrsexperten Oliver Luksic räumte te Kosten entstanden offenbar bei Subun- gestoßen. Unter anderem entdeckten
das Ressort von Andreas Scheuer (CSU) ternehmen von Toll Collect, wie interne die Fahnder Dateien mit Hitler-Bildern,
ein, dass der staatliche Lkw-Mautbetrei- Dokumente nahelegen. Die zusätzlichen Hakenkreuzen sowie ein PDF-Doku-
ber Toll Collect seit dem 1. Januar 2019 Kosten für die Pkw-Maut sind auch des- ment mit Hitlers antisemitischer Hetz-
Leistungen für die geplante Infrastruktur- halb problematisch, weil der Lkw-Maut- schrift »Mein Kampf«. Daneben fan-
abgabe in Höhe von 727 000 Euro betreiber an deren Einführung gar nicht den sich Videos mit drastischen Gewalt-
hätte mitwirken dürfen: Der Geschäfts- darstellungen und ein Mitschnitt des
zweck ließ diese Tätigkeit nicht zu. antimuslimischen Massakers von
Der Bundesrechnungshof moniert Christchurch mit 51 Toten. Der 27-jähri-
zudem Vergabeprobleme: Andere, zuvor ge Balliet hatte am 9. Oktober versucht,
ausgeschiedene Bieter seien zugunsten während des Jom-Kippur-Gottesdiens-
des Ausschreibungsgewinners benachtei- tes eine Synagoge in Halle (Saale) zu
ligt worden. So hätte der Betreiber sein stürmen, um die dort versammelten
Angebot allein durch die Mitnutzung der Gläubigen zu töten. Nachdem sein Ver-
INA FASSBENDER / AFP

Zahlstellenterminals von Toll Collect um such gescheitert war, in das Gotteshaus


360 Millionen Euro senken können. Die einzudringen, erschoss er zwei Men-
»vom Verkehrsministerium vorgenom- schen in der Umgebung und wurde
menen Änderungen waren unzulässig«, wenig später verhaftet. Vor dem Ermitt-
schreiben die Prüfer in ihrem Bericht zur lungsrichter bezeichnete er sich selbst
Scheuer Maut. GT, SVE als Versager und Antisemiten. JDL, SRÖ

Bildung Jugendstudie ist, zeige sich im Schnitt ebenfalls opti-


Nur ein Drittel erwartet mistischer als andere.
CDU berät über Deutlich weniger rosig als die eigene
Sprachtests für Kinder sozialen Aufstieg Zukunft beurteilen Jugendliche und junge
Erwachsene die Zukunft der Gesellschaft
 Die CDU steht auf ihrem Parteitag in  82 Prozent der Jugendlichen und jun- in Deutschland. Gerade einmal 3 Prozent
Leipzig vor einer bildungspolitischen gen Erwachsenen in Deutschland sehen der Befragten zeigen sich sehr zuversicht-
Grundsatzentscheidung. Der schleswig- optimistisch in die eigene Zukunft. Aber lich. Rund ein Drittel ist zumindest einge-
holsteinische Landesverband fordert, nur rund ein Drittel erwartet einen schränkt optimistisch. Mehr als die Hälfte
»verpflichtende Sprachtests« für Kinder sozialen Aufstieg. Das ist das Ergebnis der Studienteilnehmer blickt hingegen
im Vorschulalter einzuführen. Spätestens der Studie »25Next – Bildung für die »eher düster« in die Zukunft der Gesell-
ab einem Alter von vier Jahren sollen Zukunft« der Deutschen Kinder- und schaft, 9 Prozent sogar »düster«. FOK
demnach Sprachstandtests durchgeführt Jugendstiftung und des
werden. Bei besonderem Förderbedarf Sinus-Instituts. Forscher
müsse »eine verpflichtende, qualitativ hatten dafür 1102 Men-
wirksame, durchgehende Sprachförde- schen im Alter von 14 bis
rung in einer Kindertagesstätte oder Vor- 24 Jahren befragt.
schule« angeboten werden, heißt es in Auf die Frage, ob sie
dem Parteitagsantrag. Sollten sich Eltern glauben, dass es ihnen im
weigern, Fördermaßnahmen für das Vergleich zu ihren Eltern
Kind zu ermöglichen, »müssen wirksa- in Zukunft besser,
me Sanktionsmechanismen greifen«. Die schlechter oder gleich
Debatte um Sprachtests hatte zuletzt für gut gehen wird, gingen
Auseinandersetzungen gesorgt, nachdem 37 Prozent von einem
der CDU-Wirtschaftspolitiker Carsten sozialen Aufstieg aus,
Linnemann in einem Interview angedeu- sie rechneten mit einer
tet hatte, Kinder mit sehr geringen Verbesserung. 19 Pro-
Deutschkenntnissen notfalls verspätet zent gehen von einer
einzuschulen. Der maßgeblich von der Verschlechterung aus.
schleswig-holsteinischen Bildungsminis- 44 Prozent der Befragten
terin Karin Prien erarbeitete Antrag glauben, dass es ihnen
setzt nicht auf eine Verschiebung der Ein- gleich gut gehen wird.
TOBIAS HASE / DPA

schulung. Im Falle unzureichender Junge Männer seien


Deutschkenntnisse will die Nord-CDU etwas zuversichtlicher
neben dem Regelunterricht verpflichten- als junge Frauen, heißt
de Zusatzstunden sowie spezielle Sprach- es in der Studie. Wer jün-
förderklassen einführen. VME ger und höher gebildet Jugendliche in München

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Für die schönsten Augenblicke

Der neue Renault CLIO

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Scénic. Für Renault Koleos, Espace, Talisman und Talisman Grandtour: gültig für vier Leichtmetall-Winterkompletträder. Ausgeschlossen sind Renault
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sung gem. Vertragsbedingungen in Verbindung mit einer flex PLUS Finanzierung. Abb. zeigt neuen Renault Clio INTENS mit Sonderausstattung.

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Anhänger der »Atomwaffen Division« in den USA, Naziideologe Mason: »Der NSU war ziemlich cool«

Transatlantischer Hass
Rechtsextremismus Neonazis bedrohen Bundespolitiker, Bürgermeister, Aktivisten – als besonders
gefährlich gilt die US-amerikanische Gruppe »Atomwaffen Division«. Sicherheitsbehörden
haben den deutschen Ableger im Visier, doch wissen sie noch zu wenig über die Extremisten.

A
ls Donna Clark im vergangenen Gruppen in den Vereinigten Staaten, ihre Das US-amerikanische FBI hatte das
Jahr nach Deutschland über- Mitglieder werden für mehrere Morde Bundeskriminalamt (BKA) darüber infor-
siedelte, sollte es ein Neuanfang verantwortlich gemacht. In Propaganda- miert, dass Clark auch hierzulande in Ge-
werden. Weg von den Drohun- videos treten sie mit Totenkopfmasken fahr ist. Im Gespräch mit einem Polizisten
gen, der Gewalt, dem Hass. In den USA auf. habe sie erfahren, dass einer der Neonazis
war die Aktivistin ins Visier von Neonazis Doch die Ruhe weit weg von zu Hause der AWD nach Deutschland gereist war
geraten. Auf einer Demo hatten Rechts- hielt nicht lange an. An einem Donners- und ihr womöglich etwas antun wollte.
extreme sie attackiert, darunter ein tagnachmittag im November 2018 schickte Der Beamte riet Clark, ihre Adresse im
Anhänger einer Truppe mit dem irren ein deutscher Staatsschützer Clark eine Melderegister sperren zu lassen und auf
Namen »Atomwaffen Division« (AWD). Nachricht auf Englisch: »Bitte melden Sie dem Nachhauseweg keine Kopfhörer zu
Sie gilt als eine der gefährlichsten sich so schnell wie möglich.« tragen. »Bis heute«, so erzählt die Ameri-

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Deutschland

Platz zwei auf unserer Abschussliste.« Die ben gespickt mit Rechtschreibfehlern, zum
Drohungen endeten »mit freundlichen Teil enthalten sie groteske Forderungen:
Grüßen Atomwaffen Division Deutsch- dass sich die Angeschriebenen für ihre Ta-
land«. ten oder Worte öffentlich entschuldigen
Die E-Mails sind Teil einer rechtsextre- sollen. Dass die Polizei »endlich unter Kon-
men Hasswelle, die seit Monaten durchs trolle« gestellt werde. Mancher Absender
Land schwappt. »Es geht ein Sturm durch fordert auch die Überweisung von Bit-
die Szene«, berichtete Verfassungsschutz- coins.
chef Thomas Haldenwang kürzlich vor Ab- Die Hinterleute der anonym verschick-
geordneten des Bundestags. »Wir haben ten Hetze sind schwer zu ermitteln. Im
die Feindeslisten. Wir haben Morddrohun- April wurde ein Verdächtiger aus dem
gen. Wir haben Bedrohungen. Was soll ich Kreis Pinneberg verhaftet, der sich im In-
Ihnen noch alles aufzählen?« Neue An- ternet als Rechtsextremist präsentiert und
schläge seien nicht auszuschließen. Die Si- bereits längere Zeit in der Psychiatrie ver-
cherheitsbehörden hätten mehrere poten- bracht hat. Doch auch nach der Festnahme
zielle Terroristen »unter Wind«. ebbte die Flut an Drohmails nicht ab.
Nur wenige Tage nach dem Auftritt des Politik und Behörden stehen der neuen
Behördenchefs erhielt Michael Roth, SPD- deutschen Hasswelle teils ratlos gegenüber.
Staatsminister im Auswärtigen Amt, eine »Beschleunigt durch soziale Medien und
Mail, in der ihm angedroht wurde, »mit das Internet«, so eine aktuelle Polizei-
einem schönen scharfen Messer ein Kreuz analyse, sei zu befürchten, dass Hetze und
in dein Gesicht zu ritzen. So wegen Ha- die Androhung von Gewalt »als zuneh-
kenkreuz, Du verstehst schon«. Der mut- mend hinnehmbar oder gar mehrheitsfä-
maßliche Grund: Roth hatte die AfD als hig« erscheinen könnten.
»politischen Arm des Rechtsterrorismus« Innenminister Seehofer, Justizministe-
bezeichnet. rin Christine Lambrecht und Familienmi-
Längst haben ähnliche Bedrohungen nisterin Franziska Giffey (beide SPD) stell-
auch die Rathäuser erreicht. Jeder fünfte ten vor einer Woche ein Neun-Punkte-Pro-
Bürgermeister berichtet in Umfragen von gramm gegen Rechtsextremismus vor. Be-
Hassmails an ihn oder seine Mitarbeiter. treiber sozialer Netzwerke sollen künftig
Oft aber bleibt es nicht dabei: Jeder fünf- gezwungen werden, Morddrohungen und
zigste Bürgermeister sagt, er sei auch Volksverhetzung bei einer neuen Zentral-
schon körperlich angegriffen worden. stelle innerhalb des BKA anzuzeigen.
Manche überlebten die Attacken nur Schärfere Gesetze sind geplant. Ein besse-
knapp. rer Schutz für Kommunalpolitiker. Mehr
Henriette Reker lag im Koma, als sie im Polizisten und Verfassungsschützer. Mehr
Herbst 2015 die Wahl zur Kölner Ober- Geld für Rechtsextremismus-Prävention.
bürgermeisterin gewann. Ein Rechtsextre- Vieles davon ist sinnvoll, manches über-
mer hatte sie niedergestochen. Immer wie- fällig. Aber mit schnellen Erfolgen ist
der erhält Reker seither Hassschreiben, im kaum zu rechnen. Bis die Pläne umgesetzt
Sommer drohten Unbekannte in einer sind, werden Monate ins Land gehen.
Mail mit »Genickschüssen« gegen sie und Cem Özdemir bekommt nicht nur Droh-
andere, die brutalen Zeilen endeten auf mails von Rechtsextremisten, sondern
»Heil Hitler«. auch von türkischen Nationalisten und
kanerin, »schaue ich ständig über die Im Juni dann wurde der Kasseler Regie- früher von Aktivisten, die der verbotenen
Schulter, wenn ich auf der Straße unter- rungspräsident Walter Lübcke auf der Ter- kurdischen Arbeiterpartei PKK nahe-
wegs bin« – deshalb darf der echte Name rasse seines Wohnhauses erschossen. Tat- stehen. Er kritisiert die Informationspolitik
der Frau auch nicht genannt werden. Der verdächtig ist der 46-jähri- der Behörden: Von kon-
Staatsschutz bestätigt den Vorgang. ge Stephan Ernst. Es war kreten Bedrohungen ge-
rund

12700
Obwohl es bereits seit mehr als einem der mutmaßlich erste gen ihn erfahre er häufiger
Jahr Hinweise auf einen deutschen Able- Mord an einem deutschen durch Journalisten als
ger der ultraextremen Gruppe gibt, war Politiker aus rechtsextre- durch Staatsschützer. Als
die »Atomwaffen Division« lange nur men Motiven seit 1945. vor Jahren mutmaßlich
Fachleuten ein Begriff. Nun ließ Bundes- Und es war der tragische gewaltorientierte türkische Nationalisten sei-
innenminister Horst Seehofer (CSU) ver- Beweis dafür, dass Worten Rechtsextremisten ne Wohnung ausspionier-
künden, die Sicherheitsbehörden verfolg- auch Taten folgen können. zählte der ten, seien es die Nachbarn
ten das Treiben der Truppe »intensiv«. Hunderte rechtsextre- Verfassungsschutz gewesen, die sie am Ende
Anlass für die Aufmerksamkeit des Mi- mer Drohmails erreichen 2018 in Deutschland vertrieben hätten.
nisters: Die grünen Bundestagsabgeordne- seit Monaten Politiker, Ge- Informationen für Be-
ten Cem Özdemir und Claudia Roth ha- richte, Rechtsanwälte, Ak- troffene seien der erste
ben am 27. Oktober E-Mails erhalten, in tivisten und Journalisten.
Rechtsextremistische Schritt, sagt Özdemir, der
denen ihnen mit Mord gedroht wird. Die Absender der Pam- Zusammenschlüsse bei öffentlichen Veranstal-
»Auch Sie linke Türkensau haben es nun phlete nennen sich »Wehr- Beispiele: tungen Personenschutz be-
auf unsere Todesliste geschafft«, schrieb macht«, »Staatsstreich- Atomwaffen Division (AWD) kommt. Das Wichtigste
der Verfasser mit dem Namen »atom11« orchester« oder »National- Oldschool Society (OSS) aber sei ein »klares Be-
an Özdemir. In der E-Mail an dessen Par- sozialistische Offensive«. Combat 18 kenntnis des Staates, dass
teikollegin Roth stand: »Sie sind zurzeit Zum Teil sind die Schrei- Gruppe Freital der Kampf gegen den

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Damit bestätigt sich, wovor kürzlich die


europäische Polizeibehörde Europol in ei-
nem vertraulichen Papier warnte: dass ge-
waltbereite Rechtsextremisten immer stär-
ker weltweit vernetzt sind und sich gegen-
seitig anstacheln. Wegen der »zunehmend
internationalen Natur der rechtsextremen
Szene«, so schlagen die Experten vor, soll-
ten verdächtige Gruppen und Personen
auf eine EU-weite Terrorliste gesetzt wer-
den – so wie es bei Islamisten der Fall ist.
In den USA werden Anhänger der
»Atomwaffen Division« mit fünf Morden
in Verbindung gebracht. Unter den Opfern
ist der homosexuelle jüdische Student Blaze
Bernstein aus Orange County, Kalifornien.
Der mutmaßliche Mörder, der damals 20-
JAKOB HOFF / IMAGO IMAGES

jährige Samuel Woodward, verherrlichte in

EIBNER / BEC / IMAGO


einem Chat die Terrorzelle NSU, die in
Deutschland zehn Menschen ermordet hat:
»Der NSU war ziemlich cool.«
Die Verbindungen der »Atomwaffen«-
Anhänger aus den USA nach Europa ver-
Grünenpolitiker Roth, Özdemir: »Klares Bekenntnis des Staates« deutlicht auch ein Vorfall vom 28. Dezem-
ber 2018. Kaleb James Cole, der Kopf ei-
ner »Atomwaffen«-Zelle aus dem US-Bun-
Rechtsextremismus endlich höchste Prio- Fest steht, dass die »Atomwaffen Divi- desstaat Washington, reiste von London
rität hat«. Das vermisse er bislang. sion« in Deutschland aktiv ist. Wie ein In- in die Vereinigten Staaten zurück.
Seine Parteikollegin Claudia Roth sagt, sider berichtet, sollen die AWD und ein Auf seinem Handy fanden US-Grenz-
sie als Abgeordnete habe Möglichkeiten, weiterer Ableger mit dem Namen »Feuer- beamte Fotos, die ihn und einen weiteren
sich zu wehren. Vor allem denke sie an die krieg Division« hierzulande mindestens
Kommunalpolitiker oder an Menschen mit ein halbes Dutzend Mitglieder zählen.
Migrationsgeschichte, die nichts derglei- Recherchen des SPIEGEL zeigen zu- Rechter Terror
chen hätten – etwa an die Anwohner der dem, dass deutsche Sympathisanten be- Gewalttaten mit rechtem Hintergrund
Kölner Keupstraße. Vor dem Gedenken reits seit 2017 in Austausch mit ihren Ge- in Deutschland, Auswahl
zum 15. Jahrestag des Nagelbombenan- waltidolen in den USA stehen. Mitglieder Oktober 2015
schlags des »Nationalsozialistischen Unter- der Gruppe aus den Vereinigten Staaten Der Rechtsextremist Frank S. attackiert die Ober-
grunds« (NSU) waren dort in der Nähe reisten nach England, Polen, Tschechien, bürgermeisterkandidatin von Köln Henriette Reker
Drohbriefe aufgetaucht, im Namen der in die Ukraine – und die Bundesrepublik. mit einem Messer und verletzt vier weitere
»Atomwaffendivision«. »Wie sollen diese Die Ideologie des vor etwa vier Jahren Personen.
Menschen mit ihrer Angst umgehen und entstandenen Netzwerks könnte nicht ex- Juli 2016
dem Gefühl, sie wären in Deutschland nicht tremer sein. Die »Atomwaffen«-Anhänger In München erschießt David Sonboly neun
erwünscht?«, fragt Roth. »Oder die zahl- propagieren den »Rassenkrieg« und ver- Menschen aus rassistischen Gründen, bevor er
reichen Muslime, deren Moscheen bedroht herrlichen rechtsextreme Terroristen wie sich selbst tötet.
werden? Die Jüdinnen und Juden, deren den Oklahoma-Bomber Timothy McVeigh, Oktober 2016
Einrichtungen bewacht werden müssen?« den norwegischen Massenmörder Anders In Bayern tötet ein Aktivist des Reichsbürger-
Ob die Absender der Drohmails an die Breivik oder den Neuseeland-Attentäter milieus einen Polizisten und verletzt drei weitere.
zwei Grünenpolitiker tatsächlich zum Brenton Tarrant. Gewalt, Chaos, Nihilis- Die Polizisten wollten sein Haus wegen illegalen
deutschen Ableger der »Atomwaffen Di- mus – das sind die Ziele der Terrorsekte. Schusswaffenbesitzes durchsuchen.
vision« gehören, ist unklar. Es könnten Dutzende Anhänger soll es in den USA ge- November 2017
auch Trittbrettfahrer sein, die den Namen ben, manche vermuten gar bis zu 100. Angeblich aus Frustration über die lokale Flücht-
verwenden, um Angst zu verbreiten. Duk- Das Neonazinetzwerk ist in unabhän- lingspolitik greift ein Mann den Altenaer Bürger-
tus und Details der Schreiben passen nach gigen Zellen von wenigen Mann organi- meister Andreas Hollstein mit einem Messer an.
Analyse von Experten nicht zu der bishe- siert, nach dem Prinzip des »führerlosen
rigen Propaganda der Neonazis. Selbst die Widerstands«, der seit Jahrzehnten von April 2018
Schreibweise des Namens unterscheidet rechtsextremen Ideologen wie etwa dem In Sachsen foltern Neonazis den homosexuellen
sich von jener, die der deutsche AWD-Ab- US-Nazi James Mason gepredigt wird. In Christopher W. zu Tode. Das Landgericht Chemnitz
verurteilt die Täter wegen Totschlags.
leger bislang in seinen Pamphleten ver- konspirativen Chats tauschen die »Atom-
wendete. waffen«-Fans Guerilla-Handbücher und Juni 2019
Doch auch wo die internationale Nazi- Bombenbauanleitungen aus. Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke
gruppe gar nicht selbst aktiv wird, hat sie Das Schießen lernen die Neonazis in wird mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe
Wirkmacht. Sie findet Anhänger, die im »Hate Camps«, die etwa in der Wüste von erschossen. Tatverdächtig ist der Rechtsextremist
Stephan Ernst.
Sinne der Gruppe handeln. Das Prinzip Nevada stattfinden, mitunter angeleitet
funktioniert ähnlich wie beim »Islami- von Ex-Militärs. Nach SPIEGEL-Informa- Oktober 2019
schen Staat«, der sich von einer geschlos- tionen soll auch ein Deutscher in die USA Anschlag auf die Synagoge in Halle. Der Attentäter
senen Gruppe zu einer globalen Terror- gereist sein, um an einem der Hass-Lager Stephan Balliet erschießt zwei Passanten, nachdem
bewegung entwickelte. teilzunehmen. er nicht in die Synagoge eindringen konnte.

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Deutschland
»E I N E S DE R
Neonazi vor dem KZ Auschwitz zeigen –
mit den typischen Masken der »Atomwaf-
fen Division«. Er bekannte sich offen zu
tauchten im November 2018 an der Hum-
boldt-Universität in Berlin Flugblätter mit
Hakenkreuzen auf. Darunter stand die arg
BESTEN
der Gruppe: »Die Starken dominieren die
Schwachen«, erklärte er den Beamten. We-
vollmundige Aufforderung an Studenten,
sich auf den »brutalsten Bürgerkrieg der
WIRTSCHAFTS -
gen der von ihm ausgehenden Gefahr ha-
ben die US-Behörden Cole inzwischen sei-
Geschichte« vorzubereiten und sich der
»Atomwaffendivision Deutschland« anzu- BÜCHER DER
ne Schusswaffen abgenommen – insge-
samt neun Exemplare, darunter eine Ka-
laschnikow.
schließen.
Es folgten weitere Flugblattaktionen in
einem Lesesaal der Universität in Frank-
JÜNGEREN ZEIT.. «
Während die US-Bundespolizei FBI furt am Main und zuletzt Ende Mai in MANAG E R MAG A Z I N
sich mit Auskünften über die Ermittlungen Köln, kurz vor dem Jahrestag des NSU-
gegen das »Atomwaffen«-Netzwerk und Nagelbombenanschlags, bei dem 2004 in
seine Ableger zurückhält, sprechen briti- der Keupstraße 22 Menschen verletzt wor-
sche Behörden halbwegs offen über die den waren. Die Flyer lagen in einem Haus-
Bedrohung. »Es gibt ähnliche Gruppen in flur unweit des damaligen Tatorts und zeig-
Kanada, den USA, Südame- ten einen Betenden, den ein

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rika, Australien, Skandina- Vermummter mit einer Axt
vien, Osteuropa, Deutsch- enthauptet. Die Überschrift:
land«, sagte ein ranghoher »Botschaft an die Moslems
britischer Anti-Terror-Exper- in Deutschland«. Gezielte
te kürzlich. Angriffe würden »bald star-
Schon Ende 2017 war ein Straftaten 2018 ten«.
»Atomwaffen«-Anhänger gegen Politiker Bislang blieb es bei groß-
aus den USA nach Deutsch- in Deutschland spurigen Worten. Verdächti-
land gereist. In Chats prahlte davon: ge konnten die zuständigen

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er damit, an der Wewelsburg Staatsanwaltschaften bislang
gewesen zu sein, das belegt nicht ermitteln, weder in
auch ein Foto. Die einstige Köln noch in Frankfurt oder
SS-Ordensburg bei Pader- rechts motiviert in Berlin.
born tauchte später auch im
bisher einzigen Propaganda-
video des deutschen »Atom-
222
links motiviert
Nach den Anschlägen im
neuseeländischen Christ-
church, in El Paso in den
waffen«-Ablegers auf. USA und in Halle an der
Darin sind Männer mit
Totenkopfmasken zu sehen,
eine computerverzerrte
43
Gewaltdelikte
Saale haben die deutschen
Sicherheitsbehörden aber
verstanden, dass Rechts-
Stimme verkündet die Grün- Quelle: BKA extremismus eine globale 4 0 0 Seiten · Deut sch von K arlheinz Dürr
dung einer Zelle in Deutsch- Bedrohung ist. Dringend Gebunden mit S U · € 24,0 0 ( D )
land: »Wir bereiten uns auf wollen sie nun ihren interna- Auc h a l s E - B o o k e r h ä l t lic h
den langen, letzten Kampf in den Trüm- tionalen Austausch verbessern – wie im
mern vor, der bald kommen wird. Die Mes- Kampf gegen den islamistischen Terror
ser werden schon gewetzt.« nach dem 11. September 2001. Sie galt als der weibliche Steve Jobs.
Veröffentlicht wurde der Clip im Früh- Er hoffe, von ausländischen Partner-
sommer 2018. In internen Chats der US- diensten künftig »Hinweise zu bekommen Mit ihrem milliardenschweren
amerikanischen »Atomwaffen Division« über Entwicklungen vielleicht auch hier St ar t-up Ther anos wollte Eliz abeth
war jedoch mehr als ein halbes Jahr zuvor in Deutschland«, so Verfassungsschutzprä-
Holmes die Medizinindustrie
schon die Produktion eines deutschen Pro- sident Thomas Haldenwang im Bundestag.
pagandavideos angekündigt und ein Bild Er gehe allerdings nicht davon aus, dass revolutionieren : Ein einziger Tropfen
von den Aufnahmen geteilt worden – ein diese »zahlenmäßig so eine Intensität ha- sollte reichen, um B lutbilder zu
weiterer Beleg für die internationale Ver- ben werden wie beim islamistischen Ter-
netzung. rorismus«. erstellen. Doch die Technologie
Dem SPIEGEL liegt auch eine Mail vor, Sein Rechtsterrorproblem, so muss man hinter den schicken Appar aturen hat
mit der die Neonazis 2018 in Deutschland den Behördenchef wohl verstehen, wird
Anhänger rekrutieren wollten. Darin heißt Deutschland weitgehend selbst bewältigen nie funkkttionier t . Pulit zer- Preistr äger
es: »Wir wollen nicht verhehlen, dass wir müssen. John Carreyrou kam diesem giganti-
noch sehr klein sind und in der Anfangs-
phase der Formation der deutschen Atom-
Maik Baumgärtner, Jörg Diehl, Alexander schen Betrug auf die Spur und er z ählt
Epp, Roman Höfner, Martin Knobbe,
waffendivision stehen.« Man verfüge al- Sven Röbel, Wolf Wiedmann-Schmidt, in seinem mehr fach ausgezeichneten
lerdings über »beste Kontakte in die USA« Ali Winston
Bestseller die packende Geschichte
und wisse genau, was man wolle: »Unser
Schwerpunkt liegt auf Gewalt und Töten, seiner Enthüllung.
sowie auf Propaganda, die zu solcher Ge- Visual Story
Wer hinter der »Atom-
walt und solchem Töten führt.« waffen Division« steckt
Als nächsten Schritt kündigten die Neo- spiegel.de/sp462019awd
nazis eine Kampagne an, »die noch in die- oder in der App DER SPIEGEL
sem Jahr starten soll«. Und tatsächlich

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 33 www.dva.de


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Deutschland

wann und wie er reden werde, sagt Merz.

Der Wiedergänger Er habe ihr auch vorher Bescheid gesagt,


dass er auftreten wolle, das sei keine Über-
raschung für sie gewesen. »Fahren Sie es
ein bisschen runter«, lautet sein Tipp an
Union Friedrich Merz plant auf dem CDU-Parteitag einen großen die Journalisten.
Auftritt. Seine Anhänger jubeln über seine Angriffe auf die Auf dem Parteitag wird nur eine Perso-
Kanzlerin. Doch es sieht so aus, als könnte er sich mal wieder verzocken. nalfrage offiziell entschieden. Eine stell-
vertretende Parteichefin wird gewählt,
weil sich die künftige EU-Kommissions-

D er »Hoffnungsträger für unser


Land«, den der Eröffnungsredner an-
gekündigt hat, will direkt ein Miss-
verständnis ausräumen. »Wenn ich in die-
erwartet hatte. Die CDU habe eine offene
Führungsfrage, sagte der Vorsitzende der
Jungen Union, Tilman Kuban, nach der
Wahl in Thüringen. Wer auch immer mei-
präsidentin Ursula von der Leyen aus die-
sem Amt zurückzieht. Die Wahl der nie-
dersächsischen Bundestagsabgeordneten
Silvia Breher gilt als sicher.
sem Zusammenhang das ein oder andere ne, die Frage der Kanzlerkandidatur müs- Doch die Frage der Kanzlerkandidatur
kritisch sage, vorgestern, gestern und auch se jetzt geklärt werden, habe auf diesem wird in Leipzig über allem schweben. Dass
heute Abend, dann ist das keine Kritik an Bundesparteitag die Gelegenheit, konterte die Trennung von Parteivorsitz und Kanz-
Personen«, sagte Friedrich Merz vor rund Kramp-Karrenbauer. leramt schwierig ist und eine Ausnahme
800 Zuschauern im Frankfurter Palmengar- Die Delegierten erwartet in Leipzig die bleiben soll, hat Kramp-Karrenbauer klar-
ten. Man müsse sich »endlich mal wieder Wiederaufführung eines Schauspiels, das gestellt. Ihre Botschaft lautet: Wer Partei-
angewöhnen, dass eine Kritik an Sach- vor ziemlich genau einem Jahr Premiere vorsitzende ist, muss auch Kanzlerkandi-
fragen keine Personalkritik ist und eine Kri- hatte: Merz gegen Kramp-Karrenbauer, datin werden. Aber die Sache lässt sich na-
tik an Personen kein Putschversuch ist«. die alte Anti-Merkel-CDU gegen die Ver- türlich auch andersherum drehen: Wer
Merz hatte in der vergangenen Woche traute der Kanzlerin. Damals ging es um Kanzlerkandidat wird, braucht auch den
die »Untätigkeit und die mangelnde Füh- den Parteivorsitz. Kramp-Karrenbauer lag Parteivorsitz.
rung« Angela Merkels beklagt, die sich mit 35 Stimmen vorn. Die Anhänger von Merz hoffen, dass
wie ein Nebelteppich über das Land gelegt Merz kann Niederlagen nur schwer ak- der Parteitag zumindest eine Vorentschei-
hätten. Manch einer war vermutlich auf zeptieren. Er hat bis heute nicht überwun- dung in dieser Frage bringen könnte. Merz
die Idee gekommen, dass sei als Angriff den, dass er vor 17 Jahren Merkel im solle, so die Idee, eine große Rede halten,
auf die Kanzlerin gemeint gewesen. Auch Kampf um den Fraktionsvorsitz weichen die den Delegierten klarmacht, dass sie
seine Aussage, CDU-Chefin Annegret musste. Genauso wenig scheint er damit im vergangenen Jahr auf die Falsche ge-
Kramp-Karrenbauer sei »nicht die Einzi- im Reinen zu sein, dass er im vergangenen setzt haben. Die Junge Union hat für den
ge«, die Kritik verdiene, wurde – für Merz Jahr den zum Greifen nahe scheinenden Parteitag einen Antrag auf Urwahl des
offenbar überraschend – als Tadel für die Parteivorsitz nicht erobert hat. Kanzlerkandidaten angekündigt. Merz
CDU-Chefin interpretiert. Jetzt sieht er seine Chance gekommen, und seine Unterstützer glauben, dass er
Nachdem er diese Fehldeutungen also auch wenn er das öffentlich bestreitet. »Es an der Basis eine große Mehrheit hinter
richtiggestellt hatte, entwarf er auf der Ver- hat ein Ergebnis gegeben, und das Ergeb- sich hätte.
anstaltung der hessischen Mittelstands- nis steht«, sagte er in Frankfurt. Zugleich Merz findet die Idee einer Urwahl mal
union eine Art Regierungsprogramm für weiß Merz, dass seine Anhänger das Er- mehr, mal weniger gut. Auf einer Veran-
das 21. Jahrhundert. Es ging um nichts we- gebnis der Vorsitzendenwahl revidieren staltung der »Passauer Neuen Presse« sag-
niger als die »richtigen Antworten für die möchten, von der Jungen Union bis hin te er am Donnerstagabend, er sei gegen
Stabilität der Bundesrepublik Deutsch- zum konservativen Berliner Kreis. Die Fra- eine Mitgliederbefragung. In einem am sel-
land, für die Zukunft der Europäischen ge ist, ob den Rebellen das auf dem Par- ben Tag veröffentlichten Interview der Zei-
Union, für die Gleichgewichtigkeit, die Eu- teitag wirklich gelingen kann. tung zeigte er sich dagegen offen für ein
ropäische Union auf gleicher Augenhöhe Ein kurzes Gespräch mit Friedrich Merz solches Vorgehen: »Die Basis an zukünfti-
mit Amerika und China stehen zu lassen«. am Rande seines Auftritts. Er müsse noch gen Personal- und Sachentscheidungen zu
Wem er diese zutraut, musste er seinen be- mit Frau Kramp-Karrenbauer klären, beteiligen ist immer eine gute Idee.«
geisterten Zuhörern nicht erläutern. Es ist nicht ausgeschlossen, gilt aber als
Friedrich Merz ist zwei Wochen vor unwahrscheinlich, dass der Antrag der Jun-
dem CDU-Bundesparteitag wieder zurück gen Union angenommen wird. Die CSU
auf der großen politischen Bühne. Eigent- hat sich bereits gegen eine Urwahl ausge-
lich wollten die Christdemokraten auf die- sprochen. Traditionell einigen sich die Vor-
sem Parteitag über die »Zukunftsthemen sitzenden von CDU und CSU auf einen
FLORIAN GAERTNER / PHOTOTHEK.NET / IMAGO-IMAGES

Digitalisierung und Stärkung unserer So- Kandidaten. Zuletzt gab es bei der Kandi-
zialen Marktwirtschaft« diskutieren, wie datur von Franz Josef Strauß eine Abstim-
es in der Einladung heißt. Die Parteivor- mung in der Fraktion. Kramp-Karrenbau-
sitzende Annegret Kramp-Karrenbauer er und CSU-Chef Markus Söder haben
hätte sich damit gern inhaltlich profiliert. schon klargestellt, dass sie an der üblichen
Daraus wird wohl nichts. Die Debatte Praxis festhalten wollen.
wird stattfinden, aber nicht so, wie Kramp- Dass Merz nach der Kanzlerkandidatur
Karrenbauer sich das vorgestellt hat. Das strebt, daraus macht er kaum noch einen
eigentliche Zukunftsthema wird lauten: Hehl. Als ihn in Passau ein Zuhörer fragt,
Wer soll die Partei in die nächste Wahl ob er denn Kanzler werde, antwortet er:
führen? »Ich fühle mich ermutigt.«
In der CDU ist nach der verlorenen Thü-
ringenwahl eine Personaldebatte ent- CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer* * Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Sitzungssaal
brannt, die in dieser Heftigkeit niemand Wer soll die Partei führen? der Unionsfraktion.

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siert, an dem sich das Schicksal der Koali-


tion entscheiden könnte.
Der Kern des Streits ist die Frage der
sogenannten Bedürftigkeitsprüfung (siehe
Seite 40). Die CSU drängt auf eine Eini-
gung. Auch Merkel, Kramp-Karrenbauer
und Fraktionschef Ralph Brinkhaus möch-
ten das Thema aus der Welt schaffen. Al-
lerdings gibt es in Fraktion und Partei star-
ke Vorbehalte gegen jegliche Zugeständ-
nisse an die SPD.
Damit ist klar, dass es so oder so zum
Konflikt kommen wird: Einigt sich der
Koalitionsausschuss nicht, wird die Lage der
Großen Koalition immer prekärer. Es stiege
dann die Wahrscheinlichkeit, dass der SPD-
Parteitag den Austritt der Sozialdemokraten
aus der Regierung beschließen wird.
Verständigt sich die Koalition dagegen
auf eine Regelung, ist mit heftigem Wider-
stand in der Union zu rechnen. In einem
Brief an Merkel drohen der Parlaments-
kreis Mittelstand und die Junge Gruppe der
Fraktion mit Konsequenzen, falls eine
Einigung mit der SPD über den Koali-
tionsvertrag hinausgehe. »Aus unserer Sicht
darf auf eine Bedürftigkeitsprüfung nicht
verzichtet werden.« Diese Auffassung, so
heißt es drohend in dem Schreiben, »teilen
viele Mitglieder der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion, was sich in einer Abstimmung
in der Fraktion entsprechend niederschla-
gen würde«.
Die Grundrente könnte für Friedrich
Merz ein Vehikel werden, der CDU-Füh-
rung eine Abstimmungsniederlage auf
dem Parteitag zu bereiten. Der Hambur-
ger Bundestagsabgeordnete Christoph
Ploß hat bereits einen Initiativantrag für
den Parteitag angekündigt. Die Chancen,
dass es dafür eine Mehrheit gibt, stehen
nicht schlecht.
Dann wäre die gesamte Führung beschä-
DOMINIK BUTZMANN

digt: Merkel, die sich in der Fraktion für


einen baldigen Kompromiss mit der SPD
ausgesprochen hatte. Kramp-Karrenbauer,
die eine solche Einigung mittragen müsste.
Merkel-Kritiker Merz: »Ich fühle mich ermutigt« Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus, der
sich in den vergangenen Wochen als eiser-
ner Kämpfer gegen die Pläne der SPD
In der CSU-Spitze gibt es allerdings weni- ter geworden. Es ist nicht klar, ob Kramp- inszeniert hatte, um dann im letzten
ge, die Merz als geeigneten Kanzlerkandi- Karrenbauer ernsthaft erwogen hat, Moment einzuknicken. Auch CSU-Chef
daten ansehen. Seine Attacken auf Merkel sich auf den Plan einzulassen. Sie hat je- Söder, der sich für die Grundrente stark
und Kramp-Karrenbauer werden als Beleg denfalls nicht gegen die Kanzlerin ge- gemacht hat und unbedingt eine Einigung
dafür gesehen, dass er sich nicht im Griff putscht. will, wäre düpiert.
hat. Am Rande einer Veranstaltung sagte Wie aber will Merz ohne Votum der Ba- Die Frage ist nur: Was nützte es Merz?
ein hochrangiger CSU-Politiker, auf Merz sis Kanzlerkandidat werden? Es ist ausge- Ohne Verbündete in der Unionsspitze
angesprochen: »Ein Mann aus den Neun- rechnet eine Sachfrage, die ihm auf dem wäre seine politische Karriere beendet. In
zigerjahren mit Rezepten aus den Neunzi- Parteitag eine Chance bieten kann, sich in den vergangenen Wochen hat er alles ge-
gerjahren«. seiner neuen Lieblingsrolle zu inszenieren, tan, um mögliche Partner zu verprellen.
Kramp-Karrenbauers Neigung, sich als Favorit der einfachen Mitglieder, die Es ist durchaus möglich, dass Merz Treffer
auf einen Deal mit Merz einzulassen, gegen das Establishment antreten. Union gegen Merkel und Kramp-Karrenbauer
ist durch seine jüngsten Äußerungen nicht und SPD wollen am Sonntag auf einem landet und trotzdem wieder als Verlierer
gestiegen. Schon im Frühjahr drängte Koalitionsausschuss versuchen, einen eines CDU-Parteitags nach Hause fährt.
Merz sie, Angela Merkel zu stürzen und Kompromiss in der Frage der Grundrente Florian Gathmann, Ralf Neukirch,
sich selbst zur Kanzlerin wählen zu lassen. zu finden. Die Sozialdemokraten haben Lydia Rosenfelder
Er wäre in diesem Szenario Finanzminis- die Grundrente zu dem Thema hochstili-

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 35


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Deutschland

»Es war unmöglich, so


weiterzuleben wie zuvor«
SPIEGEL-Gespräch Der ehemalige Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, über den Fall
der Berliner Mauer, seinen Blick auf Deutschland und das Verhältnis Russlands zum Westen

YURIY CHICHKOV / DER SPIEGEL

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Gorbatschow war Generalsekretär des Zen- SPIEGEL: Welche Handlungsoptionen hat- SPIEGEL: Warum haben Sie zugelassen,
tralkomitees der Kommunistischen Partei ten Sie in Betracht gezogen? dass mit der DDR ein enger Verbündeter
und Staatspräsident der Sowjetunion. Er Gorbatschow: Niemand bezweifelte, dass Moskaus fällt? An anderen Orten, wie
reformierte sein Reich durch die Politik von die Deutschen das Recht hatten, über ihr etwa 1991 im Baltikum, sind Sie deutlich
Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offen- eigenes Schicksal zu verfügen. Die Inte- härter vorgegangen. Demonstrationen der
heit) und leitete das Ende des Kalten Kriegs ressen der Nachbarstaaten und der Welt- Litauer für die Unabhängigkeit des Landes
mit ein. 1990 wurde er mit dem Friedens- gemeinschaft mussten jedoch auch berück- wurden blutig niedergeschlagen.
nobelpreis geehrt. sichtigt werden. Meine Hauptaufgabe war Gorbatschow: Wir sahen in der BRD ein
Heute lebt Gorbatschow, 88, in einer es auszuschließen, dass es zu Gewalt Land, das nach dem Zusammenbruch des
Datscha in einem Vorort von Moskau. Er kommt. Wir verhandelten intensiv mit Hel- Hitler-Regimes den Weg zur Demokratie
mischt sich nach wie vor in politische De- mut Kohl, Krenz, mit den Amerikanern eingeschlagen hat. Und die Wiederver-
batten ein. Gerade ist sein neues Buch und Europas Führungsfiguren. Es musste einigung wird heute, genauso wie vor
in Deutschland erschienen*. Gorbatschow verhindert werden, dass der Wunsch der 30 Jahren, als die Erfüllung lang geheg-
empfängt den SPIEGEL im Büro seiner Deutschen nach einer Wiedervereinigung ter Wünsche der Bürger in Ost- und
Stiftung in Moskau. Er grüßt auf Deutsch. den Kalten Krieg neu belebt. Westdeutschland verstanden. Soweit ich
Wegen seines Gesundheitszustands wurde SPIEGEL: Forderten die Militärs der das aus vielen Briefen ersehen kann,
ein Teil des Interviews in seinem Büro ge- DDR oder der Botschafter der UdSSR in sind sie Russland noch immer für die
führt, der andere schriftlich. Ost-Berlin von Ihnen eine Militärinter- Unterstützung dankbar. Sie schieben
vention? mir die Schuld für das Blutvergießen in
SPIEGEL: Herr Gorbatschow, am 9. No- Gorbatschow: Wir haben mit der politi- Lettland und Litauen zu. Natürlich war
vember 1989 fiel die Berliner Mauer. Wie schen Führung der DDR kommuniziert. ich als Präsident für all das verantwortlich,
blicken Sie heute, 30 Jahre später, auf die- Direkte Kontakte zum Militär habe ich nie was dort vor sich ging. Aber wenn Sie
ses Ereignis? gepflegt. Die Aufgabe unseres Botschafters die Dokumente aus dieser Zeit studie-
Gorbatschow: Mein Blick auf die deutsche war es, uns so genau wie möglich über die ren, werden Sie feststellen, dass es mir
Einheit ist heute der gleiche wie damals. Geschehnisse im Land zu informieren und stets darum ging, Konflikte politisch zu
Die Vereinigung ist eine meiner wichtigs- keine Forderungen zu stellen. lösen.
ten Taten gewesen. Sie hat große SPIEGEL: Als Sie 1985 an die
Bedeutung im Leben vieler Men- Macht kamen, haben Sie den
schen. Ich schätze diesen Tag Ostblockstaaten signalisiert, dass
sehr. Und ich bewundere alle, die sie in der Lage sein müssten, un-
daran beteiligt waren. abhängig von Moskau zu existie-
SPIEGEL: Kam der Mauerfall für ren. Haben Sie damals schon ge-
Sie überraschend? ahnt, dass eines Tages die Mauer
Gorbatschow: Nein. Wir ver- zwischen Ost und West fallen
folgten die Ereignisse in der würde?
Deutschen Demokratischen Re- Gorbatschow: Glauben Sie wirk-
publik sehr genau. Die Forde- lich, dass die Mauer zwischen
THOMAS IMO / PHOTOTHEK.NET

rung nach Veränderung war im Ost und West unser Idealbild


Land allgegenwärtig. Anfang war? Ein Modell für die Zukunft?
Oktober 1989, während der Wir haben die Perestroika ins Le-
Feierlichkeiten anlässlich des ben gerufen, um das Land aus ei-
40. Jubiläums der DDR, sah ich, ner Sackgasse zu führen. Damit
wie die jungen Mitglieder der Staat und Wirtschaft florieren,
Regierungspartei in Kolonnen brauchten wir gute Beziehungen
marschierten, ihre Sympathien Jubelnde nach Grenzöffnung 1989: »Noch immer dankbar« nicht nur zu unseren Nachbarn,
für unsere Perestroika zum Aus- sondern zur ganzen Welt. Wir
druck brachten und skandierten: brauchten den Eisernen Vorhang
»Gorbatschow, hilf uns!« In den großen SPIEGEL: Gab es Kräfte, die nach dem nicht. Wir wollten die Mauer des Misstrau-
Städten der DDR fanden spontane De- 9. November forderten, dass die Mauer ens zwischen Ost und West beseitigen,
monstrationen statt, die mit jedem Tag wiederaufgebaut werde? überhaupt jede Mauer zwischen Staaten,
massiver wurden. Und man sah zuneh- Gorbatschow: Davon ist mir nichts be- zwischen Völkern, zwischen Menschen.
mend Transparente mit der Aufschrift kannt. Ich schließe aber nicht aus, dass SPIEGEL: Sie haben Ideen des Marxismus-
»Wir sind ein Volk!« Am 18. Oktober einige verantwortungslose Personen oder Leninismus studiert. Wie kam es, dass Sie
musste Erich Honecker seinen Posten räu- Randgruppen solch eine lächerliche Idee für das Recht der Nationen auf Selbstbe-
men, er wurde von Egon Krenz abgelöst. diskutiert haben. Wer einen historischen stimmung gekämpft haben? Warum hat
Doch die Reformen kamen zu spät. In der Prozess auf diese Weise verlangsamen will, ausgerechnet ein Marxist den Fall der Ber-
Sitzung unseres Politbüros am 3. Novem- handelt wie jemand, der sich auf ein Gleis liner Mauer zugelassen?
ber, eine Woche vor dem Mauerfall, bei legt, um einen Zug zu stoppen. Gorbatschow: Wie ich sehe, haben Sie
der Besprechung der deutschen Angele- SPIEGEL: Wurden Sie aufgefordert, die längst vergessen, was Marx, Engels oder
genheiten, sagte der Vorsitzende des Ko- Grenze zu schließen und Truppen zu Lenin geschrieben haben. Oder gar nicht
mitees für Staatssicherheit: »Morgen ge- schicken? gelesen? Hier ist ein berühmtes Zitat: »Ein
hen 500 000 in Berlin und in anderen Gorbatschow: Welche Grenze sollte ge- Volk, das andere unterdrückt, kann sich
Städten auf die Straße …« schlossen werden? Wohin sollten die Trup- nicht selbst emanzipieren.« Lenin schrieb
pen marschieren? Auf dem Gebiet der 1914 eine Abhandlung Ȇber das Selbst-
* Michail Gorbatschow: »Was jetzt auf dem Spiel
DDR befanden sich damals 380 000 sow- bestimmungsrecht der Nationen«. Dann,
steht«. Aus dem Russischen von Boris Reitschuster. jetische Soldaten. Sie folgten der Anwei- nach der Oktoberrevolution, stritt er mit
Siedler; 192 Seiten; 18 Euro. sung, sich nicht einzumischen. Stalin über dieses Thema. Die stalinisti-

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 37


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Deutschland

Wallfahrt
sche UdSSR war letztlich ein einheitlicher, lungen ist, eine moderne Sicherheitsarchi-
streng zentralisierter Staat. Auch unsere tektur zu schaffen, insbesondere in Europa.
Verbündeten, die Länder Osteuropas, stan- Infolgedessen entstanden neue Trennlinien,

nach rechts
den unter strenger Kontrolle Moskaus. und die Nato-Osterweiterung verlagerte
Während der Jahre der Perestroika haben diese Linien an die Grenze Russlands.
wir die »Doktrin der beschränkten Souve- SPIEGEL: Sind die Beziehungen zwischen
ränität« aufgegeben. Als ich den Führern Russland und dem Westen heute nicht ge-
dieser Länder sagte, dass sie in ihren Ent- nauso schlecht wie während des Kalten AfD Bundesvorstand Andreas
scheidungen unabhängig seien, glaubten Kriegs? Kalbitz geriet als Soldat
mir viele zunächst nicht. Aber wir haben Gorbatschow: Wenn man die immer glei-
den Worten Taten folgen lassen. Deshalb chen Forderungen gebetsmühlenartig wie- ins Visier des Bundeswehr-
haben wir uns auch nicht in die Wieder- derholt, kann daraus nichts Gutes entste- Geheimdienstes.
vereinigung Deutschlands eingemischt. hen. Es gibt Anzeichen, dass sowohl der
SPIEGEL: Sie haben den Deutschen die Westen als auch Russland verstehen, dass
Vereinigung geschenkt, verloren aber bald
darauf Ihren Posten. Die UdSSR zerfiel.
Wie sehen Sie das heute?
Gorbatschow: Fragen Sie mich doch
Kommunikationskanäle aktiviert werden
müssen. Die Rhetorik ändert sich langsam.
Vielleicht ist das der erste Schritt. Natür-
lich haben wir noch einen weiten Weg vor
A ndreas Kalbitz sitzt vor der blauen
Wand der Bundespressekonferenz
und ist schlecht gelaunt. Es ist der
Tag nach der Landtagswahl in Branden-
gleich, ob ich die Perestroika bereue. Nein, uns, bis Vertrauen wiederhergestellt ist. burg im September, die AfD ist zweit-
das tue ich nicht. Es war unmöglich, so Ich bin überzeugt, dass wir mit den Fragen stärkste Kraft geworden. Spitzenkandidat
weiterzuleben wie zuvor. Und ein wesent- der nuklearen Abrüstung beginnen müs- Kalbitz könnte zufrieden sein, doch ihm
licher Bestandteil der Perestroika war das sen. Ich habe kürzlich alle Atommächte passen die Fragen nicht, die man ihm stellt.
aufgefordert, eine gemeinsame Erklärung Vor der Wahl hatte es viele Berichte
gegen einen Atomkrieg abzugeben. Dem- über Kalbitz und seine Vergangenheit in
nach müssen die Verhandlungen zwischen der rechtsextremen Szene gegeben, in der
Russland und den USA wieder aufgenom- er mehr als sein halbes Leben verbrachte.
men und Konsultationen mit anderen Der AfD-Mann ist genervt: »Ich habe kei-
Atomstaaten begonnen werden. ne rechtsextreme Biografie«, sagt er. Er sei
SPIEGEL: In Europa verfolgen viele Men- lange Jahre in der Jungen Union und der
YURIY CHICHKOV / DER SPIEGEL

schen die Ereignisse in Russland mit Sorge. CSU gewesen, dann habe er zwölf Jahre
Es scheint, als hätte Moskau die Prinzipien lang Dienst als Soldat geleistet: »Ich habe
der Perestroika aufgegeben. mehr Einsatz für diese Demokratie ge-
Gorbatschow: Ich glaube nicht, dass die bracht, praktisch, als viele andere«, sagt er.
Lage so dramatisch ist, wie Sie das be- Einsatz für die Demokratie? Daran gab
schreiben. Die Menschen verstehen sehr es schon bei der Bundeswehr, wo Kalbitz
wohl, das zu schätzen, was es im Land an zwischen 1994 und 2005 Soldat auf Zeit
Gorbatschow beim SPIEGEL-Gespräch* Fortschritt gegeben hat. Jetzt stehen wir war, offensichtlich Zweifel.
»Es gab Fehler und Fehlschläge« vor einer neuen Herausforderung, der Glo- Nach Informationen des SPIEGEL war
balisierung. Fallschirmjäger Kalbitz im Visier des
SPIEGEL: Welche Haltung sollte das wie- Militärischen Abschirmdienstes (MAD).
neue außenpolitische Denken. Es umfasst dervereinigte Deutschland gegenüber Mindestens drei Gespräche führte der Ge-
sowohl universelle Werte und nukleare Russland einnehmen? heimdienst mit ihm, 2001 baten ihn auch
Abrüstung als auch Wahlfreiheit. Wir Gorbatschow: Es ist wichtig, dass die Deut- Bundeswehrleute zum Personalgespräch.
konnten den Nachbarländern, den Deut- schen, einschließlich der Politiker, die Rus- Sie thematisierten die »MAD-Erkenntnis-
schen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, die sen verstehen. Russland ging durch Auto- se über die Beteiligung an extremistischen
Rechte und Freiheiten, die wir unserem kratie, Leibeigenschaft und das repressive Bestrebungen« und packten einen MAD-
Volk einräumten, nicht verweigern. Als stalinistische Regime. Es ist eine schwierige Vermerk in Kalbitz’ Stammakte. Das be-
wir mit der Perestroika begannen, wussten Geschichte. In den Achtzigerjahren haben legen interne Bundeswehr-Unterlagen.
wir, dass wir ein Risiko eingingen. Aber wir den Weg der Reformen eingeschlagen. Demnach befragte der Geheimdienst Kal-
die gesamte Staatsführung war sich einig, Es gab Fehler und Fehlschläge. Man kann bitz zu einer nationalistischen Wallfahrt
dass Veränderungen notwendig waren. darüber streiten, wie weit wir auf dem Weg in Belgien, an der er sich beteiligt hatte.
Das Ende der Perestroika und der Zerfall zur echten Demokratie vorangeschritten Außerdem interessierten sich die Ermittler
der Sowjetunion liegen in der Verantwor- sind. Aber wir werden nicht zum totalitä- für Kalbitz’ Mitgliedschaft in einer rechts-
tung derjenigen, die den Putsch im August ren System zurückkehren. Heute müssen extremen Organisation. Deren Nachfolge-
1991 organisiert und nach dem Putsch die wir, basierend auf dem Erreichten, weiter- organisation steht heute auf der Unverein-
geschwächte Position des Präsidenten der machen. Im Geiste des Vertrags, den wir barkeitsliste der AfD.
UdSSR ausgenutzt haben. während der Wiedervereinigung Deutsch- Der 46-Jährige ist nicht irgendwer in der
SPIEGEL: Ist die Welt heute eine bessere lands unterzeichnet haben. AfD, er sitzt im Bundesvorstand, ist Lan-
als jene zur Zeit des Kalten Kriegs? SPIEGEL: Herr Gorbatschow, wir danken des- und Fraktionschef in Brandenburg
Gorbatschow: Ich verspüre keine Nostal- Ihnen für dieses Gespräch. und Strippenzieher des völkischen »Flü-
gie, wenn es um den Kalten Krieg geht. gels«, der radikalsten parteiinternen Platt-
Und wünsche niemandem, dass diese Zei- form. Dank seines dichten Netzwerks ist
ten zurückkehren. Wir müssen eingestehen, Video er neben Parteichef Alexander Gauland
Zu Besuch bei
dass es neuen Führungspersönlichkeiten Michail Gorbatschow der mächtigste Mann der AfD.
nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht ge- spiegel.de/sp462019gorbatschow
Auch deswegen haben ihm die vielen
oder in der App DER SPIEGEL Berichte über seine rechtsextremen Ver-
* Mit der Redakteurin Anna Sadovnikova in Moskau.
bindungen kaum geschadet. Wenn es eng

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rische Innenminister eine Nähe zum Rechts-


extremismus festgestellt hatte. Kalbitz sag-
te den Geheimdienstlern laut Vermerk, er
habe diese Nähe nur »als Randphänomen
wahrgenommen« und nicht gewusst, dass
JLO und »Fritz« von den Verfassungsschutz-
behörden als rechtsextremistisch eingestuft
und beobachtet wurden. Auch habe er keine
Veranstaltungen besucht, bei denen »für ihn
rechtsextremistische Tendenzen erkennbar
gewesen seien«. Er versprach, seine JLO-
Mitgliedschaft nun aufzukündigen.

WIM VAN CAPPELLEN / REPORTERS / LAIF


Die Bundeswehr ließ Kalbitz mit seinen
Ausflüchten durchkommen, obwohl der
MAD ihn offenbar schon zum dritten Mal
angesprochen hatte: Wie Kalbitz laut Ver-
merk selbst einräumte, hatten die Geheim-
dienstler ihn bereits wegen seiner Mitglied-
schaft bei den Republikanern befragt, de-
nen Kalbitz von 1994 bis 1995 angehörte.
Der MAD habe ihm den Austritt nahege-
Nationalistisches Treffen in Belgien um 1999: »Beteiligung an extremistischen Bestrebungen« legt, berichtete Kalbitz, was er »letztend-
lich auch befolgt habe«. Die Ziele und Vor-
gehensweise der Parteimitglieder seien
wird, verteidigt Kalbitz sich damit, dass dienstlern 2001 gab Kalbitz laut Vermerk ihm auch zu rechtsextrem erschienen.
er sich lediglich habe umschauen wollen, jedoch zu, Mitglied der JLO zu sein, und Auf Anfrage lässt Kalbitz über die Kanz-
auf dem Boden des Grundgesetzes stehe das schon seit vor seiner Zeit bei der Bun- lei Höcker mitteilen, dass die »Verdachts-
und seine Vita nur »rechtsextreme Bezü- deswehr. Den genauen Zeitpunkt des Bei- momente nicht zutreffend« seien. Es sei
ge« habe. Doch bei all dem, was der MAD tritts könne er nicht angeben, auch nicht, »schlicht falsch«, dass man ihm empfohlen
über Kalbitz herausgefunden hat, wird die- warum er ein Schreiben mit JLO-Briefkopf habe, bei den Republikanern auszutreten
se Verteidigungslinie schwer zu halten sein. verfasst habe. Er habe aber Ende 2000 und er dies befolgt habe. Dem Leser sei
Im März 2001 befragte der Geheim- und Anfang 2001 zwei Veranstaltungen mitzuteilen, dass die Wallfahrt »IJzerbe-
dienst Kalbitz, weil er im August 2000 mit für sie in den Räumen der rechtsextremen devaart« nichts mit der »Schreckenszeit
seinem Auto bei der »IJzerbedevaart« war, Burschenschaft Danubia mitorganisiert, des Nationalsozialismus« zu tun habe.
einer Gedenkveranstaltung flämischer Na- als Einladender und Veranstaltungsleiter. Dann wird es abenteuerlich: Entweder
tionalisten für die Toten des Ersten Welt- Da Kalbitz 1994 bei der Bundeswehr seien die SPIEGEL-Informationen aus der
kriegs. Am Rande der Kundgebung, auf anfing, wäre er demnach damals schon Bundeswehrzeit »frei erfunden« – oder es
der Fahnen geschwenkt wurden und Ju- mindestens sieben Jahre lang Mitglied ge- sei »strafrechtlich relevant gegen Dienst-
gendliche in Uniform auftraten, trafen sich wesen. Eigentlich müsste Kalbitz also aus und Verschwiegenheitsverpflichtungen
rechtsextreme Kameradschaften. der Partei ausgeschlossen werden, sollte verstoßen« worden. Die Angaben sollen
Kalbitz bestätigte dem MAD laut Ver- er die Mitgliedschaft bei seinem Eintritt in also ausgedacht oder richtig sein – beides
merk, 2000 dort gewesen zu sein, ebenso die AfD verschwiegen haben. Damals gab scheint der Anwalt für möglich zu halten.
im Jahr zuvor. Er könne sich aber an den es die Unvereinbarkeitsliste zwar noch Der Landesvorstand der Brandenbur-
konkreten Ablauf der Veranstaltung im nicht, frühere Mitgliedschaften in extre- ger AfD antwortete bis Donnerstagabend
Jahr 2000 nicht erinnern, da er nicht die mistischen Organisationen mussten AfD- nicht, ob Kalbitz die JLO-Mitgliedschaft
gesamte Zeit anwesend gewesen sei. Am Anwärter aber schon immer angeben. bei seinem Eintritt 2013 angegeben hat.
internationalen Kameradschaftstreffen Die JLO wurde im Januar 2000 von der Für Kalbitz’ Bundeswehrlaufbahn blie-
oder an Ausschreitungen sei er nicht be- Hauptorganisation »Landsmannschaft Ost- ben die MAD-Erkenntnisse fast folgenlos.
teiligt gewesen, er sei nur »aufgrund des preußen« abgespalten, nachdem der baye- Der Geheimdienst bat nicht einmal um ei-
großen Interesses an der deutschen Ge- nen Warnhinweis im internen System. Die
schichte« dorthin gefahren. einzigen Konsequenzen: der Eintrag in Kal-
Im Sommer 2001 wurde der MAD wie- bitz’ Stammakte. Außerdem ist er nach
der vorstellig. Eine Diskette aus Bundes- SPIEGEL-Informationen für Reservistenein-
THOMAS TRUTSCHEL / PHOTOTHEK.NET / IMAGO IMAGES

wehrbestand, auf der »Kalbitz« stand, war sätze gesperrt. Doch letztlich konnte er sei-
gefunden und dem MAD übergeben wor- nen Dienst 2005 regulär beenden. Wie kann
den. Darauf befand sich unter anderem es sein, dass die Bundeswehr jemanden of-
eine Datei, die Kalbitz’ AfD-Karriere ge- fenbar weitgehend unbehelligt als Ausbilder
fährlich werden könnte: ein Schreiben von arbeiten lässt, der sich laut MAD an »extre-
ihm mit dem Briefkopf der »Jungen Lands- mistischen Bestrebungen beteiligt« hat?
mannschaft Ostpreußen« (JLO), heute Auf diese Frage hätte man gern Antwor-
»Junge Landsmannschaft Ostdeutschland«. ten vom Verteidigungsministerium. Doch
Die rechtsextreme Gruppe wurde damals der Sprecher gibt sich wortkarg: »Zu Per-
vom Verfassungsschutz beobachtet und sonalangelegenheiten geben wir grund-
galt als Vorfeldorganisation der NPD. sätzlich keine Stellungnahme ab.«
Bislang war nur bekannt, dass Kalbitz Matthias Gebauer, Ann-Katrin Müller
Texte für die JLO-Zeitung »Fritz« geschrie- Landesvorsitzender Kalbitz Mail: ann-katrin.mueller@spiegel.de
ben hatte. Im Gespräch mit den Geheim- Er könne sich nicht erinnern

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 39


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Deutschland

nen ohne Hilfe nicht über die Runden kom-

Beschämender Gang men. Daher ist eine Bedürftigkeitsprüfung


nötig: Wer die Grundsicherung beantragt,
muss Kontoauszüge, Sparbücher und sei-
nen Mietvertrag auf den Tisch legen.
Sozialpolitik Seit Monaten verhaken sich Union Die leistungsorientierte Rente aber von
und SPD im Streit um die Grundrente. Wie konnte es so einer Bedürftigkeitsprüfung abhängig zu
weit kommen? Chronik eines Desasters. machen wäre ein Systembruch. Das hat
nach fast zweijährigem Gezerre nun auch
die Bundeskanzlerin bemerkt. Am Diens-

D ie Geschichte der Grundrente be-


ginnt mit einem Unfall. Im Januar
2018 sitzt Annegret Kramp-Karren-
bauer in ihrem Dienstwagen auf dem Weg
zu ersparen. Daher schrieb auch die SPD
einen wichtigen Satz in den Koalitionsver-
trag. Er findet sich in Zeile 4259, gleich
hinter Linnemanns Einschub zur Bedürf-
tag sagte Angela Merkel in der Sitzung der
CDU/CSU-Fraktion, die Union habe keine
Antwort darauf, wie die Grundrente »nach
den Vorgaben des Koalitionsvertrages ad-
nach Berlin. Noch ist sie Ministerpräsi- tigkeit: »Die Abwicklung der Grundrente ministriert« werden könne. Linnemann
dentin des Saarlandes, sie pendelt in die erfolgt durch die Rentenversicherung.« widersprach heftig.
Hauptstadt zu den Sondierungsgesprä- Das Problem ist nur, dass beide Vorga- Tatsächlich waren die Beamten im Bun-
chen für die Große Koalition. Es ist spät ben nicht zusammenpassen. Schon wäh- desarbeitsministerium über Wochen ratlos,
in der Nacht, Kramp-Karrenbauer schläft rend der Sondierungsgespräche bat die wie sich aus den widersprüchlichen Sätzen
auf dem Rücksitz. Als ihr Fahrer in einer Rentenversicherung um Korrekturen. Sie ein Konzept basteln ließe. Im Herbst 2018
Baustelle auf einen Lkw auffährt, erwacht verfüge nicht über die Daten und das Per- berief Arbeitsminister Hubertus Heil eine
sie von ihrem eigenen Schrei, so erzählt sonal, um die Bedürftigkeit Hunderttau- Expertenrunde ein. Nach vier Monaten, in
sie das später in einem Interview. Zur Be- sender Empfänger zu prüfen. Um einen denen der Kreis sogar die Gründung neuer
handlung muss sie ins Krankenhaus. Grundrentenbescheid zu erstellen, brauch- Behörden erwogen und verworfen hatte,
In Berlin übernimmt Unionsfraktions- ten ihre Sachbearbeiter Zugriff auf Unter- empfahl er eine unbürokratische Lösung.
vize Carsten Linnemann jetzt die Verhand- lagen der Grundsicherungsämter, die aber Heute müssen Senioren, die auf die
lungen in Sachen Rente. Der Wirtschafts- Sache der Länder sind. Mit Blick auf die Grundsicherung angewiesen sind, ihre
experte ist Chef der Mittelstandsver- Verfassung könnte das heikel sein. Rente mit der Stütze vom Amt verrechnen.
einigung der CDU, er hält wenig davon, Auch inhaltlich haben beide Welten Schlimmstenfalls haben langjährige Bei-
Sozialleistungen allzu freigebig auszu- nichts miteinander zu tun. Das Rentensys- tragszahler keinen Cent mehr als jemand,
weiten. Mit der SPD-Politikerin Andrea tem sieht eine Prüfung von Vermögen der nie gearbeitet hat. Mit einem Freibe-
Nahles sucht er eine Lösung für eines der oder Partnereinkommen nicht vor. Die ge- trag könnten sie in Zukunft einen Teil ihrer
wohl heikelsten Themen: einen Renten- setzliche Alterskasse folgt einem einfachen Rente behalten. Nach Berechnungen des
aufschlag für Kleinverdiener. Prinzip: Je mehr jemand während seines Ministeriums könnten 130 000 Senioren
Schon zwei Bundesregierungen haben Berufslebens an Beiträgen eingezahlt hat, auf ein monatliches Plus von um die hun-
sich zuvor vergebens an dem Projekt ver- desto mehr bekommt er später heraus. dert Euro hoffen. Der Vorteil: Das Modell
sucht. Nahles und Linnemann wollen es Anders ist das bei der steuerfinanzierten wäre mit der Union machbar, auch Linne-
besser machen. Sie vereinbaren, dass Rent- Grundsicherung. Ihr Regelsatz von 424 mann schwebte bereits Ähnliches vor. Wer
ner zehn Prozent mehr als die Grundsi- Euro für Singles ist für alle gleich, es geht die Grundsicherung bezieht, hat seine Be-
cherung erhalten sollen, wenn sie mindes- darum, schlimmste Armut zu verhindern. dürftigkeit ja bereits bewiesen. Es wäre
tens 35 Jahre in die Rentenkasse einge- Der Staat greift nur ein, wenn die Betroffe- die einzig logische Lösung.
zahlt haben. Es ist Linnemann, der dafür
sorgt, dass sich in Zeile 4256 des Koali-
tionsvertrags eine zweite Hürde findet:
»Voraussetzung für den Bezug der Grund-
rente ist eine Bedürftigkeitsprüfung ent-
sprechend der Grundsicherung.«
Ohne diese Kostenbremse, argumen-
tiert der CDU-Politiker, könne die Union
das Projekt nicht mittragen, von dem die
SPD behauptet, es sei entscheidend für
eine Neuauflage der Großen Koalition.
Nahles und Linnemann besiegeln ihre Ver-
einbarung per Handschlag.
Fast zwei Jahre später ist von der Einig-
keit nichts geblieben. Nahles hat sich aus
der Politik zurückgezogen, Union und
SPD zerreiben sich in ihrem Regierungs-
bündnis, und die Tiefe ihres Zerwürfnisses
zeigt sich ausgerechnet am Gezerre um
SEBASTIAN GOLLNOW / DPA

die Rente. Dabei begann das Desaster mit


dem Koalitionsvertrag.
Bereits im Bundestagswahlkampf hat-
ten die Sozialdemokraten versprochen,
kleine Renten anzuheben. Für sie war es
eine Frage der Glaubwürdigkeit, Senioren
den beschämenden Gang zum Sozialamt Senioren in Stuttgart: Heil ließ es krachen

40 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Allerdings identifizierten die Experten Von nun an war klar, dass es Altersarmut Doch die Grundrente kam
einen entscheidenden Nachteil: Es handle eine schnelle Einigung nicht ge- Empfänger von Grund- bis heute nicht. Erst am Sonn-
sich um die »kleinste« Lösung. Der Begriff ben würde. Dabei hätte Kanz- sicherung nach tag könnte sich ihr Schicksal
»Grundrente« wecke bei den Bürgern eine lerin Merkel das leidige Thema Erreichen des Renten- entscheiden.
»andere Erwartungshaltung«. gern abgeräumt, auch mit Heil eintrittsalters Dann beugt sich der Koali-
Auch Sozialdemokrat Heil sah das so. beriet sie sich. Der signalisierte tionsausschuss voraussichtlich
jeweils am 559419
In der SPD war die Nervosität gestiegen. im Spätsommer Verhandlungs- Jahresende über die Kompromisslinien
Jeder lautlose Kompromiss, fürchtete die bereitschaft, nur müsse eine der Arbeitsgruppe. Am Don-
Partei, würde nur der Union nutzen. Wolle Lösung ohne das Wort »Be- Quelle: nerstag vergangener Woche
Statistisches
die SPD endlich wieder als Partei sozialer dürftigkeit« auskommen. Bundesamt hatten die Unterhändler bis
Gerechtigkeit wahrgenommen werden, so Im September beauftragte kurz nach Mitternacht getagt.
die Theorie, müsse es krachen. der Koalitionsausschuss den Sie schlugen vor, dass es keine
Und Heil ließ es krachen. Anfang Feb- Sozialminister, gemeinsam mit Bedürftigkeits-, wohl aber
ruar legte er ein Konzept vor, das mit dem Kanzleramtschef Helge Braun 257 734 eine »strenge Einkommens-
Koalitionsvertrag nur am Rande zu tun (CDU) eine neue Vorlage zu prüfung« geben solle. Vermö-
hatte. Die Grundrente blies er zur »Res- schmieden. Die Idee der Ein- gen bleiben damit außen vor,
pekt-Rente« auf. Heil sah nicht nur einen kommensprüfung entstand, genauso wie die Frage, wie
Freibetrag vor. Er plante, sehr kleine Ren- eine abgespeckte Variante. viel Geld eine Seniorin wirk-
ten sehr weit aufzustocken, wovon Teil- Heil und Braun vereinbarten, lich braucht.
zeitkräfte überproportional profitieren dass die volle Grundrente nur 2003 2018 Am Ende ging es um Se-
würden. jene Versicherten erhalten sol- mantik, und CSU-Politiker
In der »Bild am Sonntag« konnten Fri- len, deren Arbeitseinkommen Dobrindt fragte die Runde ein
seurinnen mit langem Berufsleben nach- unter einer Grenze von 1200 Euro liege. letztes Mal, ob sich nicht doch das Wort
lesen, dass der Sozialminister von der SPD Die SPD kam der Union entgegen. Doch »Bedürftigkeit« unterbringen ließe. Ver-
ihnen 447 Euro mehr Rente monatlich zu- die klagte, wie Braun nur einen Vorschlag gebens. Letztlich formulierten die Unter-
gestehen wolle. Nur die Union wusste von akzeptieren könne, der noch immer 2,8 Mil- händler einen Satz, der so vage blieb, dass
nichts, sie wertete Heils Vorstoß als feind- liarden Euro pro Jahr kosten würde. er niemandem wehtat: »Um den Bedarf
lichen Akt. Noch heute ätzt CSU-Landes- Von September an mühte sich eine Ar- für die Grundrente zielgenau festzustellen,
gruppenchef Alexander Dobrindt über die beitsgruppe von Union und SPD, aus dem findet eine Einkommensprüfung statt.«
»Hubertus-Heil-Konfettikanone«, mit der Papier einen neuen Vorschlag zu destillie- Was gemeint ist: Künftig sollen die Fi-
der Sozialdemokrat das Geld verteile. ren. Die Stimmung in der Runde war bes- nanzämter das Einkommen von Senioren
Auf die vereinbarte Bedürftigkeitsprü- ser als erwartet. Bei einem ersten Treffen automatisch an die Rentenversicherung
fung verzichtete Heil gleich ganz. Auf stellte die Union amüsiert fest, dass Vize- melden, die dann berechnet, wer An-
diese Weise sollten mehr als drei Millionen kanzler Olaf Scholz den Sozialminister ge- spruch auf die Grundrente hat.
Rentner profitieren, die Kosten schätzten legentlich mit einem strengen »Hubertus« Politisch scheint dies die einzig mög-
Experten auf rund fünf Milliarden Euro zur Ordnung rief. Die SPD wiederum be- liche Lösung zu sein, um SPD und Union
jährlich. Zu viel, empörte sich die Union merkte wohlwollend, dass Thüringens zu befrieden. Am Sonntag könnten die
und brachte die Zahnarztgattin ins Spiel: CDU-Chef und Verhandlungspartner Spitzen von Parteien und Fraktionen die-
Es dürfe nicht sein, dass gutsituierte Paare Mike Mohring vor seiner Landtagswahl ser Vorlage zustimmen, einige Abge-
profitierten, die auf Sozialleistungen nicht nur zu gern Plakate geklebt hätte mit dem ordnete halten das inzwischen für wahr-
angewiesen seien. Slogan: »Die Grundrente kommt«. scheinlich.
Doch sonderlich praktikabel wäre auch
diese Lösung nicht, im Gegenteil: Exper-
ten aus der Rentenversicherung sind be-
sorgt. Der Vorschlag, an dem Union und
SPD über Monate strickten, führt in neues
Chaos. Es dürfte mindestens zwei Jahre
dauern, einen Datenaustausch aufzubau-
en – die Grundrente soll aber schon 2021
ausgezahlt werden.
Auch Ungerechtigkeiten zeichnen sich
ab, sogar bei den Zahnarztgattinnen. Part-
nereinkommen sollen zwar auf die Grund-
rente angerechnet werden. Das Finanzamt
erkennt aber nur Verheiratete automatisch
als Paar – und auch nur dann, wenn sie
GREGOR FISCHER / PICTURE ALLIANCE / DPA

ihre Steuern gemeinsam veranlagen.


Die Kanzlerin selbst warb in der Sitzung
der Unionsfraktion am Dienstag dennoch
dafür, dem Grundrentenkompromiss zu-
zustimmen. Dabei übte sie sich im neuen
Vokabular. Immerhin solle es eine »Be-
darfsprüfung« geben, sagte sie.
Das Wort »Bedürftigkeit« verkniff sie
sich. Cornelia Schmergal
Mail: cornelia.schmergal@spiegel.de
Koalitionäre Scholz, Merkel, Seehofer 2018: Widersprüchliche Vorgaben

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Deutschland

Schluss mit lustig


Karrieren Als Kabarettist spielte Nico Semsrott einen depressiven Jugendlichen.
Jetzt macht er Politik im EU-Parlament. Ernsthaft.

N
ico Semsrott will eine Bürgerini- Sonneborn, dem ehemaligen Chefredak- gewinnen kann. »Vieles von dem, was im
tiative ins Leben rufen, was fehlt, teur der »Titanic«, wurde er für die Satire- Europaparlament geschieht, ist viel zu
ist der passende Name. Wie wäre partei »Die Partei« nach Brüssel gewählt. weit weg vom echten Leben«, sagt er, »wir
es mit »Mondays for Misery«?, Satiriker auf der Abgeordnetenbank – experimentieren, wie wir Europa an die
fragt er. Nach dem Vorbild von »Fridays kann das gut gehen? Oder nimmt da je- Leute heranbringen können.«
for Future« nun also Montag für die Misere. mand ernsthaften Politikern den Platz weg? Mitte September spricht Semsrott im
Semsrotts Mitarbeiter sind angetan. »Das Natürlich kann man den Auftritt der Spaß- Plenum über den EU-Haushalt für 2020.
passt gut zu deiner Figur«, sagt einer. politiker als überzogene Selbstdarstellung Mit »Sehr geehrter Hochadel« beginnt er
Semsrott sitzt an einem breiten Konfe- abtun, als weitere, sinnlose Komplikation seine Rede, dann tadelt er den Budgetplan
renztisch, er trägt eine dunkel umrandete in einem ohnehin schon chaotischen Parla- im Stile eines mittelalterlichen Hofnarren.
Brille und einen Kapuzenpulli, so kennt ment. Doch es geht auch um eine große Fra- 45 Prozent von knapp 50 000 abgegebe-
man ihn von der Kleinkunstbühne und aus ge: Lassen sich mit Mitteln der Satire Men- nen Stimmen auf Twitter wollten es so,
der »heute-show«. Auf den Kopf hat er schen für Europa begeistern, die die tradi- Semsrott hat seine Follower darüber ab-
sich ein grünes Geburtstagshütchen mit tionelle Politik längst nicht mehr erreicht? stimmen lassen, mit welchen Worten er
goldenem Bommel gesetzt. Auffällig ist, dass sich das Phänomen die Rede beginnen soll. Seine Kapuze hat
Auch seine Mitarbeiter tragen Hütchen, nicht auf das Europaparlament beschränkt. er dabei tief ins Gesicht gezogen.
Plastikbrillen in Form von Flamingos oder In Italien ist die Fünf-Sterne-Bewegung »Vielen Dank«, bescheidet ihn Katarina
Fellohren. Semsrotts Pressereferentin hat des Komikers Beppe Grillo an der Regie- Barley nach dem Auftritt knapp. Die Par-
die Kopfbedeckungen zu Beginn des Tref- rung beteiligt. Und in der Ukraine wählten lamentsvizepräsidentin macht nicht den
fens in einem ansonsten keimfreien Bespre- die Bürger zuletzt den Komiker Wolody- Eindruck, als sähe sie in Semsrotts Beitrag
chungsraum des Europaparlaments ver- myr Selenskyj zum Präsidenten. Auch eine Bereicherung der Debatte.
teilt. Warum schließlich soll man nur an Semsrott glaubt, dass er gerade junge Men- Ein Video der Rede stellt Semsrott ins
Kindergeburtstagen lustige Hüte tragen? schen mit seiner Art, Politik zu machen, Netz, er nennt es »Nico Semsrott und die
Eine Europäische Bürgerinitia- Finanzkammer des Schreckens«.
tive also, Semsrott will erreichen, Bei seinen Followern kommt es
dass die EU das Thema Depres- gut an. »Der einzige Politiker
sion endlich ernst nimmt, das ist mit Hirn«, kommentieren sie,
die Idee. Ein Mitarbeiter, er trägt »endlich jemand, der für uns
die pinke Brille mit den Flamin- spricht.« Über 200 000-mal wur-
gos, referiert, wie aufwendig der de der kurze Film bis heute an-
Prozess ist. Um die EU-Kommis- geklickt. Nicht schlecht für einen
sion zu zwingen, sich mit dem Parlamentsneuling, dessen Büh-
Thema zu beschäftigen, muss nenfigur so sehr ins Scheitern
Semsrott eine Million Unter- verliebt ist.
schriften in mindestens sieben Semsrotts Erfolg liegt darin
EU-Ländern sammeln. begründet, dass er sich nicht ver-
»Deine Follower sind die per- stellen muss – im Europaparla-
fekte Basis dafür«, sagt Doris ment genauso wenig wie auf der
Dialer, Semsrotts Büroleiterin. Kleinkunstbühne. Mit der Figur
Knapp 200 000 Menschen fol- des depressiven Jugendlichen
gen Semsrott auf Twitter, deut- spielte er viele Jahre sich selbst:
lich mehr als dem Präsidenten Nachdem er sein Studium ab-
des Europaparlaments. Auch bei gebrochen hatte, wusste der
Instagram dürfte es wenige Poli- ehemalige Schüler eines katho-
tiker geben, die MEP Semsrott, lischen Privatgymnasiums nichts
Mitglied des Europaparlaments mit sich anzufangen. Lange war
seit Juli 2019, zahlenmäßig ab- er bei einem Therapeuten in Be-
FRANCOIS GOUDIER / GAMMA-RAPHO / LAIF

hängen. Angela Merkel ist eine. handlung. Heute sagt er: »Die
Erst machte Semsrott, 33, aus Deckungsgleichheit zwischen
seiner Depression Satire, jetzt mir und meiner Figur hat zum
soll daraus Politik entstehen. Frü- Glück abgenommen.«
her trat er bei Poetry Slams in Zuletzt war er sogar zum ers-
Kellerklubs auf oder als »Demo- ten Mal vor neun Uhr früh im
tivationstrainer« im Fernsehen, Büro – Semsrott wertet das als
2017 bekam er den Deutschen gutes Zeichen. »Ich gehe grund-
Kleinkunstpreis. Seit Juli ist nun sätzlich negativ an die Dinge he-
das Europäische Parlament seine ran«, sagt er, »dann kann ich nur
Bühne. Gemeinsam mit Martin Satiriker Semsrott: »Sehr geehrter Hochadel« positiv überrascht werden.«

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Anders als der Einzelkämpfer Martin ihnen erst mal erklären, wofür das Europa- Abgeordnete wie Semsrott helfen, Un-
Sonneborn hat Nico Semsrott sich einer parlament überhaupt zuständig ist«, sagt er. kenntnis, aber auch Politikverdrossenheit
Fraktion angeschlossen. »Ich kam zu den Im Konferenzraum geht es um das etwas entgegenzusetzen.
Grünen, weil es so guttut, jeden Tag zu nächste Thema. »Wir wollen ein Haustier«, Ohne Erfolg sind sie dabei nicht, auch
hören, dass die Welt bald enden wird«, sagt Semsrott, im Gespräch ist ein Kanin- nach traditionellen Maßstäben. Bei der Eu-
sagte Semsrott, der Satiriker, kürzlich bei chen, Projektname Uschi. Semsrott sagt, ropawahl schaffte es »Die Partei« bei den
einem Auftritt am Rande der Fraktions- er wolle die Tierschützer von Peta mithilfe Erstwählern hinter den Grünen und der
klausur der Partei in London. Der Politiker sozialer Medien fragen, ob Kaninchenhal- Union auf Platz drei. Und in Berlin über-
Semsrott sagt, er habe das Gefühl, er tung im Büro okay sei. »Ich tippe mal auf holte sie mit 4,8 Prozent die FDP. Da es
könne in einer Fraktion politisch mehr be- Nein«, sagt er, »die Büros hier sind ja nicht bei der Europawahl in Deutschland anders
wegen. mal für Menschen artgerecht.« als bei Bundes- und Landtagswahlen der-
Sven Giegold, Sprecher der deutschen Doris, die Büroleiterin, hat Vorbehalte. zeit keine Sperrklausel gibt, reichte das,
Grünen im Europaparlament, führte mit »Was ist das Ziel der Kaninchenaktion?«, um zwei Abgeordnete nach Brüssel zu
ihm eine Art Bewerbungsgespräch. Zu- will sie wissen. »Das zieht die Leute rein«, schicken.
nächst war er skeptisch, schließlich war sagt Semsrott, schafft Aufmerksamkeit, Semsrotts Teamtreffen neigt sich dem
Semsrott genauso wie Sonneborn im Wahl- auch für seine sonstige Arbeit. »Bei zwei Ende zu, der Praktikant meldet sich, er
kampf mit dem Slogan angetreten: »Für Kaninchen möchte ich zu bedenken geben, hat die Fellohren übergestülpt. »Du könn-
Europa reicht’s«. In Brüssel finden sie so dass die sich vermehren«, sagt die Büro- test heute noch eine Rede zu Ursula von
was nicht witzig. leiterin. der Leyens Geburtstag halten«, schlägt er

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Doch Giegold änderte seine Meinung. Natürlich ist es leicht, Semsrotts Enga- vor, die künftige Kommissionschefin wur-
»Ich glaube, dass er mit seiner Idee, mit gement als Klamauk abzutun. Während de am Tag zuvor 61.
Kunst und Satire Politik zu machen, eine sich seine Kollegen mit komplizierten Än- Semsrott hat von der Leyen schon ein-
Bereicherung für das Parlament sein derungsanträgen für europäische Gesetze mal gequält, kurz vor ihrer Wahl im Juli.
kann«, sagt er heute. abplagen, diskutiert Semsrott über Büro- Da streifte er während der Debatte seine
Während Semsrotts Parteifreund Sonne- kaninchen. Schadet so einer nicht dem An- Jacke ab, sichtbar wurde ein Pulli mit den
born das Europaparlament oft als Ver- sehen des Parlaments, wie Kritiker sagen? Logos von McKinsey und KPMG – eine
sammlung von Faulenzern und Spesen- Nicht unbedingt. Das Europaparlament Anspielung auf die Berateraffäre aus von
rittern darstellt, die sich beim Lunch mit gibt Jahr für Jahr Millionen aus, um darauf der Leyens Zeit als Bundesverteidigungs-
Lobbyisten den Bauch vollhauen, will aufmerksam zu machen, dass es überhaupt ministerin. Von der Leyen lächelte milde.
Semsrott beschreiben, was in Brüssel und existiert. Doch Brüssel und Straßburg sind Dieses Mal winkt Semsrott ab, so eine
Straßburg sonst noch so geschieht. Den bei- für die meisten Bürger noch immer weiter Intervention muss vorbereitet sein, und er
ßenden Spott, mit dem sich Sonneborn entfernt als Berlin oder Landeshauptstädte hat zu viele Termine. Auch auf Kabarett-
über das Brüsseler Personal lustig macht wie Düsseldorf und München. Der neue auftritte verzichtet er derzeit, jedenfalls
(»Elmar Brocken«, »Manfred Streber«), Elan, den die Europawahlen und vor allem außerhalb des Parlaments. Er will seinen
sucht man bei Semsrott vergebens. Statt- die gestiegene Wahlbeteiligung zunächst neuen Job gut machen, das frisst Zeit.
dessen will er bald mit einer Erklärserie erwarten ließen, ist längst dahin. In einer »So ernst«, sagt er, »nehme ich die Sa-
auf YouTube starten. 60 Videos in 60 Mo- Zeit, in der die »heute-show« höhere Ein- che hier schon.«
naten, so hat er es im Wahlkampf verspro- schaltquoten hat als die ihr zugrunde lie- Milena Hassenkamp, Peter Müller
chen. »Man muss die Leute abholen und genden Nachrichtensendungen, können

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 43


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Deutschland

ZOLLFAHNDUNG HAMBURG
High End
Drogen Die Welt ist auf Koks: Narco-Syndikate überschwemmen
Europa mit hochreinem Kokain, die Fahnder
kommen nicht mehr dagegen an – auch weil die Politik sie im Stich
gelassen hat. Die Folgen? Mehr Tote.

DANIEL REINHARDT / DPA

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D
er 4. März dämmerte heran wie Wenn sich heute die Kokslinien von den nicht erreicht«, warnt Kevin Scully, obers-
einer dieser grau verschleierten Anbaufeldern in Südamerika bis in die ter Drogenjäger im Europa-Hauptquartier
Tage im Winter, die nichts vor- deutsche Provinz ziehen, wenn ein Fami- der U.S. Drug Enforcement Administra-
hatten mit Herzfelde; so still lienvater zum Kleindealer wird, wenn sich tion. Die Mengen werden »gegenüber dem
und ruhig, dass die Dorfchronik der Stoff des Jetsets am Telefon bestellen Rekordjahr 2018 noch mal hochgehen«.
hinterher nur das Übliche notiert hätte: im lässt wie eine Margherita vom Pizza- Auch in Deutschland.
Osten nichts Neues. Dann kamen sie. Die service, dann sind das die Ausläufer einer Für die Prognose braucht es keine hö-
Schneeräumer. Ein ganzer Trupp aus Berlin, Lawine, die durchs Land rollt. here Mathematik, nur simple Logik: In
der raus aufs Land gefahren war. Noch nie, sagen Ermittler, sei so viel Ko- Kolumbien, Koksland Nummer eins, sind
Gegen elf Uhr pflügte er durch Herzfel- kain auf dem Markt gewesen, in Deutsch- die Hektarzahlen der Kokafelder hochge-
de, die Hauptstraße hoch, die Rüdersdor- land, in Europa, weltweit. Schon gar nicht schossen, ebenso in Peru, Nummer zwei,
fer Straße runter. Denn obwohl die Tem- in dieser Reinheit auf der Straße, 70 Pro- und Bolivien, Nummer drei. Sagt die Uno.
peratur in der Nacht nicht unter fünf Grad zent und mehr. Nie war es einfacher, an Irgendwo muss das Zeug ja hin; da passt
gefallen war, lag ziemlich viel Neuschnee. den Stoff heranzukommen, nie wurde des- es gut, dass Angebot auf Nachfrage trifft
12,8 Gramm im zweiten Stock über dem halb so viel geschnieft wie heute. Und und die Lust auf Kokain hierzulande
Treppengeschäft. Und 214,3 Gramm in der »stark gestiegen ist«, wie Niema Movassat
Garage drüben an der Rüdersdorfer. feststellt, der drogenpolitische Sprecher
Der Schnee steckte in Klarsichtbeuteln der Linkspartei im Bundestag. Außerdem
und Plastikfläschchen, die Art von Schnee, sucht die Rendite ihresgleichen: Der Preis
um die sich nicht der Bauhof kümmerte, für das Kilogramm liegt in Südamerika bei
sondern das Landeskriminalamt Berlin. 1000 Dollar. Mit der Überfahrt nach
Koks für die Partypisten der Hauptstadt. Europa steigt er auf 25 000 Dollar, auf der
Polizisten drückten ihr Brecheisen in Straße auf 70 000. Es gibt kaum ein Ge-
eine Haustür, ließen Drogenhunde durch schäft, das sich für Kriminelle mehr lohnt.
die Garage schnüffeln, flöhten einen VW- Die ziehen den Kokshandel heute so
Bus, einen Chevrolet Camaro. Sie stießen professionell auf, als hätten sie dafür
auf Tüten mit Kokain, Feinwaagen, einen McKinsey im Haus gehabt. Zwar gehören
Schuhkarton, vollgepackt mit Geldschei- die typischen Auftragsmorde, etwa die Hin-
nen. Und an der Star-Tanke am Ortsaus- richtung eines Anwalts kürzlich in Amster-
gang räumten sie gleich noch einen dam, weiter zum Narco-Geschäft. Doch
Schneemann ab, der hier gerade so herum- das Gewerbe setzt nun auch auf Skalen-

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stand. René F., 42, Automobilkaufmann. effekte im Großeinkauf, hochgradige Ar-
Zumindest hatte er das mal gelernt. Ir- beitsteilung, Just-in-time-Lieferketten. Und
gendwann muss er wohl gedacht haben, natürlich auf Innovation, die nächste, noch
dass es mehr bringen würde, aus dem Auto raffiniertere Schmuggelmasche. Am Ende
heraus zu verkaufen, als Autos zu verkau- können sich die Kartelle auf die Macht der
fen. Er lieferte Koks, so wie Mike, sein Sohn, schieren Masse verlassen: Je größer die La-
Natalia, seine Ex-Frau, und Otto, der Sohn wine, umso weniger kommt es noch darauf
seiner neuen Freundin. Ein florierender Fa- an, was sich ihr in den Weg stellt.
milienbetrieb; Anruf genügte, schon fuhr Die Eilmeldungen, dass den Drogen-
einer den Stoff zum Käufer. »Kokstaxi« jägern schon wieder ein Riesenkoksfund
nennt sich das in der Szene. Bis zu elf Tou- geglückt ist – immer gleich in Tonnen, vier-
ren machten sie am Tag, ein halbes Jahr Quelle: Europäischer Drogenbericht 2019
einhalb im Juli in Hamburg, eineinhalb ein
lang ging das gut. Dann kam der 4. März. paar Tage später –, sind deshalb nur
Die Geschäftsaufgabe wegen Festnahme. Millionen EU-Bürger zwischen Scheinsiege der Statistik. In Wahrheit wis-
Kokain, das Schnupfpulver der Schicke- 15 und 64 Jahren konsumieren im sen die Fahnder kaum etwas über die Tä-
ria. Diesmal rieselte der Stoff in eine Ge- ter, ihre Strukturen. Was sie dagegen ziem-

FOTOS: DEDMITYAY / GETTY IMAGES / ISTOCKPHOTO; ZIVIANI / GETTY IMAGES / ISTOCKPHOTO


gend herab, die noch nie schick war. In Laufe ihres Lebens Kokain. Das lich sicher wissen: dass die Rekordmenge,
Brandenburg, Rüdersdorf bei Berlin, in sind 5,4 Prozent der Bevölkerung. die sie 2018 entdeckt haben, ein zuverläs-
den Ortsteil Herzfelde. In ein Nest mit siges Indiz für eine Rekordmenge ist, die
1750 Menschen, wo der Grillimbiss zuge- nicht gefunden wurde. Für jene 95 Pro-
macht hat und die größte Attraktion des noch nie stellte sich die Frage so drängend, zent, die ihnen, so vermutet Interpol, mal
Nachtlebens der Kondomautomat an der was Kokain mit einer Gesellschaft macht, wieder durchgegangen sind.
Hauptstraße war, »Taste 1 x kräftig durch- in der es ohnehin schon diesen Drang und Und so wächst die Sorge: bei Politikern,
drücken«. Zwang zur Selbstoptimierung gibt. Mit im- die das Drogenproblem lange aus den Au-
Für ein halbes Jahr war Herzfelde nun mer mehr Menschen, die sich perfekt füh- gen verloren hatten. Bei Fahndern, die sich
einer der Orte, aus denen das große »C« len wollen, klar, überlegen, großartig. offen zu ihrer Ohnmacht bekennen. Und
auf die Straße kam, Kokain, in der Szene Eben wie auf Koks. bei Ärzten, die wissen, wie gefährlich Ko-
auch bekannt als »Charlie«, »Puder«, Von einem »Big boom« sprechen sie in kain sein kann.
»Staub«. Der Stoff für die atemlose Groß- Lissabon, wo die Drogenbeobachtungs- Der SPIEGEL und seine Partner im eu-
stadt, ihre gestressten Manager, ihre rastlos stelle der EU sitzt; einen »dramatischen ropäischen Rechercheverbund EIC haben
kreativen Hipster. Und das durchtanzende Anstieg« seit 2016 bescheinigt auch das für diesen Report über Gründe und Folgen
Partyvolk. Bundeskriminalamt (BKA). So was habe des Booms mit Kokabauern in Kolumbien
Skurril? Eher symptomatisch. er noch nicht erlebt, staunt ein Interpol- und Konsumenten in Deutschland gespro-
Fahnder, der seit 14 Jahren dabei ist. Und chen. Akten liefern Einblicke, wie Groß-
Polizisten mit beschlagnahmtem Kokain es soll so weitergehen: »Die weltweite Ko- dealer ihr Milliardengeschäft aufziehen –
aus dem Hamburger Hafen kainschwemme hat ihren Höhepunkt noch und wie die Kleindealer ihren Ameisen-

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Deutschland

handel organisieren, mit Tütchen und me. In Berlin ist Kokain inzwischen die Kann sein, dass Lukas auch in Zukunft
Fläschchen und Kügelchen. Droge mit den meisten Toten nach Heroin: mit Kokain zurechtkommt. Vielleicht aber
Kokain zu schnupfen, so die Prognose 35 Opfer im ganzen Jahr 2018, schon 25 auch nicht. Es hängt viel an der Psyche,
von Joao Matias, Analyst der EU-Anti- bis Ende Juli 2019. ob einer abhängig wird, an der »Suchtper-
drogenbehörde, wird zunehmend den An- Und damit nun in den Bairro Alto, zum sönlichkeit«, wie Mediziner das nennen.
schein von Normalität bekommen. Die praktischen Teil. Kann also sein, dass Lukas mit 50 immer
Hemmschwelle wird sinken, der Konsum Dealer tippen sich lässig mit dem Finger noch alles im Griff hat. Kann aber auch
steigen. Wozu das hierzulande führt, wird an die Nase, stellen sich in den Strom der sein, dass er dann einfach tot umfällt.
man frühestens in ein paar Jahren wissen. Partytouristen, fragen ungeniert: »Cocaine, Infarkte zählen zu den möglichen Spät-
»Die Auswirkungen der Koksschwemme Cocaine?« Oder sie machen es wie der Di- folgen, weil Kokain anders als Marihuana
rollen erst noch auf uns zu«, warnt der cke, der den Arm um Flaneure legt, sich oder Hasch nicht beruhigt, sondern auf-
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. als »Pablo Escobar« vorstellt, so wie der putscht, den Puls zum Rasen bringt, Herz-
So viel kann er aber jetzt schon sagen: legendäre und längst tote Kartellboss, und und Hirngefäße angreift. Offiziell starben
»Kokain ist billiger, besser und damit viel »the best stuff in town« verspricht. Alles 2018 zwar nur 93 Menschen in Deutsch-
gefährlicher als früher. Wir haben in Zu- ganz entspannt, ist doch nur Kokain. Das land an Kokainkonsum – selten an einer
kunft mit mehr Toten zu rechnen.« Gramm kostet 50, 60 Euro, man kann gern Überdosis, häufiger an einem Zusammen-
probieren, schließlich verkaufen Senhor bruch des Herz-Kreislauf-Systems. Bei vie-
Escobar und die anderen »no shit«, ver- len Infarktopfern ahnt aber niemand, dass
Die Konsumenten sprochen. sich hier gerade das Koksen nach Jahren
Lissabon ist die Stadt, die alles weiß über Hier oben trifft man Lukas, 27 Jahre alt, gerächt hat.
Koks. In der Theorie und in der Praxis. Es den Namen kann man aber gleich wieder Für Experten wie den Drogenkritiker
gibt hier so eine Art Kokainlehrpfad; er vergessen, weil einer, der gerade seinen Rainer Thomasius vom Hamburger Uni-
startet unten am Fluss Tejo, bei der EU, Doktor macht, lieber nicht mit richtigem versitätskrankenhaus Eppendorf ist Ko-
dort bekommt man tagsüber die Zahlen. Namen als Schniefer auftauchen möchte. kain deshalb eine Wundertüte; für jeden
Den Schnee selbst kann man dann nach Sein erstes Mal war vor zwei Jahren, kann etwas anderes dabei herauskommen.
Büroschluss weiter oben in der Stadt kau- Freunde aus dem Studium hatten etwas Thomasius bescheinigt dem Stoff ein
fen, im Kneipenviertel Bairro Alto; jede mitgebracht. Seitdem zehn, fünfzehn Na- »hohes psychisches Abhängigkeitspoten-
Menge und an jeder Ecke. sen im Jahr, immer wenn es mit seiner Cli- zial«. Wer seinem grauen Alltag entkom-
Unten, in einem modernen Bürobau aus que etwas zu feiern gibt, einen Geburtstag, men will, in eine Welt, in der ihm alles zu
Glas und weißem Stein, sitzt die europäi- die Freundschaft, das Leben. Wenn die gelingen scheint, für den sei Kokain ein
sche Antidrogenbehörde, die versucht, Stimmung so High End sein soll, wie es der verführerisches Fluchtmittel, bestätigt sein
die Kokainwelle zu erfassen, zu erklären. perfekte Abend verdient. Jeder 0,2 oder Kollege Georg Juckel, Direktor für Psy-
3,9 Millionen Europäer, so die Statistiken, 0,3 Gramm, schnell mit dem Strohhalm chiatrie und Psychotherapie am Uniklini-
haben 2017 Kokain genommen, im vergan- oder Geldschein hochgezogen, mehr nicht. kum Bochum. Ein »schnelles Hol-mich-
genen Jahr waren es 4 Millionen. Eine »Man fühlt sich klar, weiß genau, was man hier-raus-Erlebnis«, das man immer wie-
leichte Steigerung also, nicht dramatisch, tun, was man sagen muss, alles frei heraus, der haben will.
aber der Trend hält an. man hat das Gefühl, man hat alles unter Trotzdem gelten höchstens zehn Pro-
Von den Jungen, den 15- bis 34-Jähri- Kontrolle«, beschreibt Lukas den Flash. zent als harte Kokser – jene, die mehr als
gen, die für den Kokskick besonders emp- Für ihn ist Koks »sehr kontrollierbar«, 50-mal im Jahr schnupfen. Die meisten
fänglich sind, griffen 2017 knapp über er glaubt nicht, dass er süchtig werden sind Gelegenheitskonsumenten, die im Le-
2 Prozent zu der Droge. Deutschland könnte. Ihm sei auch klar, dass der Stoff ben stehen, im Beruf, in ihren Familien.
kommt nur auf 1,2 Prozent Kokser in der ihn nicht cleverer mache, es fühle sich aber Manager, Politiker, Professoren, Kreative,
jungen Bevölkerung, deutlich weniger als so an. Gut eben. Darum: alles im Griff, al- denen man auf den ersten Blick nichts an-
Holland (4,5), Dänemark (3,9) oder Frank- les nur Spaß, einfach ein paar Megaperls merkt. Auf den zweiten auch nicht, dazu
reich (3,2). Das spricht auf den ersten Blick für den kurzen Gehirnwaschgang. Er ver- müsste man schon ihre Nasenscheidewand
dafür, dass Kokain in anderen Ländern ein stehe deshalb auch nicht, warum Kokain auf Löcher untersuchen.
größeres Problem ist. Allerdings stammt gesellschaftlich verpönter sei als Alkohol Dass sie anscheinend die Droge beherr-
die deutsche Zahl noch von 2015, vor der oder Nikotin. Wenn es um Koks gehe, wür- schen, nicht umgekehrt, liegt auch daran,
großen Welle. den die Leute geradezu »hysterisch«. dass Kokain ein teurer Problemlöser ist;

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Was die EU-Beamten europaweit alar- viele können ihn sich erst leisten, wenn
miert: die Abwasserproben. »Wasser lügt sie Geld verdienen, ab 20, 25 Jahren.
nicht«, sagt Laurent Laniel, Chefanalyst Dann, so erklärt Thomasius, sei die Per-
der Behörde. Von 38 Städten, die 2017 und sönlichkeit schon gefestigter, das Sucht-
2018 ihr Abwasser untersuchen ließen, mel- risiko niedriger. Und doch gibt es immer
deten 22 steigende Kokainrückstände, die wieder Schnupfer, die nach kurzer Zeit auf
mit dem Urin ausgeschieden werden und Koks in Wahnvorstellungen abrutschen
sich im Abwasser messen lassen. In Berlin oder sich nach ein paar Jahren nicht mehr
lagen die Werte 2018 fast doppelt so hoch konzentrieren können. Höchstens auf ei-
wie 2014; auch in Dortmund. Vor allem nes: die nächste Linie.
am Wochenende gehen sie nach oben. Es fehlte nicht viel, dann wäre auch Flo-
Ob es daran liegt, dass mehr Leute kok- Quelle: Europäischer Drogenbericht 2019
rian so weit gewesen, Student aus Berlin.
sen, wie etwa die Berliner Polizei sagt, die- Wieder einer, der in Wahrheit anders heißt.
selben Leute öfter koksen oder der Stoff Jahre ist das Durchschnittsalter beim Er fing an mit knapp 20 Jahren, landete in
viel reiner auf die Straße kommt, das wis- Erstkonsum. Zur ersten Behandlung der Berliner Klubszene, wo vor den Toi-
sen sie unten am Tejo auch nicht so genau. letten die Dealer stehen und fragen, ob
Fakt ist aber: Kein anderer Drogenkonsum kokainbedingter Probleme kommt es man aufs Klo gehen muss oder gehen will.
endet in Europa so oft in der Notaufnah- im Schnitt mit 34 Jahren. Um was zu ziehen. Drei Jahre lang war er

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Marktplatz Europa 2017 Belgien 31 Spanien 29 Preis-Leistungs-Verhältnis


Sichergestelltes Kokain, 143 Kokain-
Veränderung von Q Preis und
Q Reinheitsgrad gegenüber 2007 2017
in Tonnen Quelle: UNODC
Sonstige 8
funde
in den Ländern,
Frank-
reich 12
+28 %
Anteil in Prozent
2007 2017
80 Groß-

–5 %
britannien 4 Nieder-
lande 10

Deutschland 6 Quelle: Europäischer Drogenbericht 2019

OLIVER TJADEN / LAIF


Containerhafen Antwerpen: Geschätzt 95 Prozent kommen durch

ein ziemlich starker Kokser. Heute ist er er nur noch einmal gekokst. Aber ganz ob er mal für 15 Minuten die Luft anhalten
an einem Punkt, an dem er einsieht, dass aufhören? In seinem Philosophieseminar will, um das Weltklima zu retten.
es so nicht weitergehen kann, wenn er kokse sicherlich die Hälfte, sagt er. Auch »Natürlich muss ich hier Koka anbau-
nicht zum Ekel werden will. der Bekannte, der ein Café führt und en«, sagt er. »Ist doch das Einzige, was ge-
»Der Stoff macht mich selbstbewusst, denkt, ohne Koks nicht lang genug in der nug abwirft.« Um die Ernte in den nächs-
das steigert sich mit der Dosis, und am Küche stehen zu können. Oder die Mutter ten größeren Ort zu bringen, braucht er
Ende führe ich mich dann ziemlich selbst- einer Freundin, die in einer Castingagentur mit dem Boot sechs, sieben Stunden. Mit
herrlich auf.« Einmal saß er mit Freunden arbeitet. Oder der Bekannte seines Vaters, Kartoffeln oder Mais würde er kaum das
in einer Bar in Hamburg, am Nachbartisch Unternehmer. Sogar die junge Frau, die er Geld für den Sprit wieder herausbekom-
Engländer, die ins Gespräch kommen woll- kürzlich beim Tischtennis kennengelernt men. Die Kokspaste, die er macht, wird
ten; Florian ließ sie auflaufen, fühlte sich hat und die so unauffällig wirkt: lässt sich sogar abgeholt.
gut und mit jedem rotzigen Satz besser. regelmäßig Koks kommen. Machen die an- Sneider schaut eine kleine Böschung hi-
»Ich habe diese Arroganz sehr gern zur deren ja auch. Und alles beste Ware, ganz nab, zum Fluss. Die einzige Verbindung
Schau getragen, ich war dieser coole Typ, leicht zu bekommen. nach außen. Es gibt keinen Strom, kein Te-
der die coole Droge nimmt. Und ich be- lefon, keine Kanalisation, keinen Arzt. Und
nahm mich immer öfter auch in Momen- auch keine Polizei, keine Richter, genau
ten so, in denen ich kein Kokain genom-
Die Produzenten genommen kein Gesetz. Das alte Problem
men hatte.« Sein neuer Begleiter war nun Kolumbien, das Land, in dem die Weltrei- Kolumbiens. Viel zu viel Land für viel zu
die Ungeduld, die Kälte, mit der er auf se des Kokains startet – von den Feldern wenig Staat. Für Sneider, den Koksbauern,
andere herabschaute. »Sogar die eigenen der Provinz Putumayo in die Klubs von ist das weniger Problem als Lösung.
Freunde konnte ich manchmal kaum noch New York, Moskau, Berlin. Ein Mann mit In der Gegend haben jetzt wieder linke
ertragen, Fremde schon gar nicht.« Spitzbart und Schirmmütze, den alle nur Farc-Guerilleros die Kontrolle übernom-
Wie Lukas hielt sich auch Florian am Sneider nennen, sitzt auf der breiten Ve- men. Aber ob Farc oder Mafia, vom Koks
Anfang »für einen ziemlich reflektierten randa, die er vor ein paar Monaten gebaut leben sie alle, mehr oder weniger. Eine
Konsumenten«; dann spürte er langsam, hat. Hinter seinem Haus beginnt der Ur- Zeit lang war es weniger; die Regierung
wie sich immer mehr um Koks drehte. wald, nach vorn guckt er auf fünf Hektar kämpfte gegen die Farc und schickte nicht
Etwa bei einer Familienfeier: ein Tisch im Koka, grüne, brusthohe Sträucher. Sein nur Soldaten, sondern seit Mitte der Neun-
Garten, gutes Essen, Getränke, eine schö- Stolz, sein Geld, sein Leben. zigerjahre auch Sprühflugzeuge mit dem
ne Stimmung, »und dann habe ich mich Das Feld hat Sneider selbst gerodet; Pflanzenkiller Glyphosat. Ohne Koka kein
bei dem Gedanken erwischt, wie nett jetzt Knochenarbeit in der feuchten Hitze des Geld, ohne Geld keine Gewehre, so war
doch eine Nase Kokain wäre«. Dschungels. Deshalb kann er kaum glau- das Kalkül. Von den 163 000 Hektar im
Florian hasst diese Momente, in denen ben, dass ihn einer ernsthaft so etwas fragt: Jahr 2000 waren deshalb 2013 noch
das Kokain seinen Kopf erobert, be- Warum er nicht Kartoffeln anbaut? Oder 48 000 Hektar Anbaufläche übrig.
herrscht, nicht mehr freigibt. Er wollte die Kaffee? Mais? Reis? Irgendwas, nur nicht Dann kamen die Friedensverhandlun-
Kontrolle zurück. Seit Januar, sagt er, habe Koka. Genauso gut könnte man ihn fragen, gen, und der Frieden war gut für Männer

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 47


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Deutschland

wie Sneider. Es regnete kein Glyphosat nach Europa.« Um den ungehinderten Geld bis zum Monatsende reichte. Ein Le-
mehr, und nach den Farc-Rebellen übernah- Transport kümmern sich dann internatio- ben auf Kante genäht, wie so viele.
men sofort Drogenbanden das Kokage- nale Drogenbanden. Allerdings fragten sich die Fahnder, die
schäft. Finanziert auch von den Kartellen ihn überwachten, warum sich ihr Mann
in Mexiko mit ihrem brutalen Sinn für Ex- ohne Eigenschaften so »äußerst konspira-
pansion. 209 000 Hektar sind es heute in
Die Großdealer tiv« verhielt. Und noch etwas passte nicht
Kolumbien, schätzt ein westlicher Nachrich- Zugriff: Als das Polizeikommando am ins Bild: dass Gino R. im Januar 2015 eine
tendienst; »die Anbaufläche ist explodiert«. 5. Dezember 2018 morgens um vier mit Firma mitgegründet hatte, die aus Kolum-
Von den Feldern Kolumbiens stammen der Tür ins Haus fiel, schien Gioacchino R., bien Holzkohle importierte. Und Bretter
fast 70 Prozent des Kokains weltweit. Der genannt Gino, nicht besonders beein- aus Guyana. Rötliches Holz der Sorte Wa-
Rest kommt aus Bolivien und Peru – noch druckt. Er kannte das ja schon. »Herr R. mara, in Westeuropa kaum gefragt, prak-
zwei Namen für zu viel Land und zu wenig wirkte sehr gefasst und erklärte, aufgrund tisch unverkäuflich. Warum ließ ein Mann,
Staat. Über Bolivien schrieb im April ein seines Vorlebens mit dem Ablauf vertraut der kein Geld hatte, kein Deutsch konnte,
deutscher BKA-Ermittler in einem Bericht, zu sein«, vermerkte das Landeskriminal- keine Ahnung von Holz im Speziellen und
der eigentlich vertraulich bleiben sollte: amt hinterher. Das einschlägige Vorleben der Leitung einer Firma im Allgemeinen
»Kokainbekämpfung findet in nennens- des Gino R. aus Solingen umfasste eine hatte, so etwas in einen Seecontainer nach
wertem Ausmaß nicht mehr statt. Ein poli- Geburt in Palermo auf Sizilien, offenbar Europa packen?
tischer Wille ist nicht einmal im Ansatz zu stabile Familienbande zur kalabrischen Mit Kokain wird mehr Geld gemacht
erkennen.« Der Rest war Sarkasmus: »Die Mafia ’Ndrangheta und einen Strauß an als mit jeder anderen Droge; 300 Milliar-
Statistiken, mit denen Bolivien jeglicher Vorstrafen in Italien; Drogen, Betrug, den Euro weltweit, schätzten deutsche Ge-
Kritik von außen begegnet, sind das über- Überfälle auf Autofahrer an der Autobahn. heimdienstler. Europa ist nach Nordame-
aus geduldige Papier nicht wert, auf dem Den Hausbesuch morgens um vier ver- rika der zweitgrößte Markt; ein Viertel der
sie gedruckt sind.« dankte er seiner mutmaßlichen Rolle in Kokser lebt in Europa, vermutet die Uno.
Aus den Dschungeln der Koksländer einer Kokainbande. Da muss der Stoff also hin. Man hat ihn
geht der Stoff an die Küsten, meist in die Nicht einer von diesen Straßenbanden, schon auf Segeljachten, Schnellbooten und
Containerhäfen im Osten. »Brasilien stößt die das Zeug Gramm für Gramm verticken, Fischkuttern gefunden. Erst kürzlich düste
in schwindelerregende Höhen vor«, heißt sondern einer Großdealer-Gang, wie sie ein Privatjet mit 600 Kilo von Uruguay
es im BKA-Bericht. Brasilien ist demnach den Ermittlern selten ins Netz geht. Mit nach Nizza und weiter nach Basel – der
schon seit 2013 die Hauptdrehscheibe, um eigenen Leuten in Südamerika, eigenen Premiumversand. Im kleinen Schmuddel-
Kokain nach Europa einzuschiffen. Auf Containertransporten nach Europa. 84 schmuggel sitzen Kuriere in die Touristen-
der Zulieferroute liegt dann auch noch ein Festnahmen gab es an jenem Dezembertag klasse, haben den Stoff in Kondomen
Land, das sich erst gar keine Mühe mehr in der »Operation Pollino«, benannt nach heruntergeschluckt, tragen ihn unter der
machen muss, einen politischen Willen im einem Berg in Kalabrien; 47 Beschuldigte Perücke, sogar in Brustimplantaten.
Kampf gegen Drogen zu heucheln. Vene- allein in Deutschland. Und ausnahmsweise Der Königsweg nach Europa ist aber
zuela. Seit das Ölembargo der USA der lieferte »Pollino« mal Einblicke ins sonst seit Jahren der Seecontainer. Einer der
Wirtschaft und der korrupten Regierung so abgeschottete Großgeschäft. größten Funde aller Zeiten, 19 Tonnen im
von Volkstribun Nicolás Maduro den In der Akte der Staatsanwaltschaft sieht Juni, war auf mehrere Container verteilt,
Schmierstoff nimmt, wird Kokain als Er- die Sache so aus: Jahrelang hatte sich die ein Frachter in Philadelphia an Bord
satz immer wichtiger. Gino R. die Tarnung eines Nobodys ver- hatte. Sie sollten nach Rotterdam gehen.
»Unsere Ermittlungen haben ergeben, passt. Kam nach Deutschland, lebte bei Tausende dieser Kisten passen auf ein
dass sowohl Mitglieder der Regierung als einem Verwandten in Lüdenscheid, half Schiff, Millionen Kisten schippern über die
auch hochrangige Militärs in den Drogen- in einem Düsseldorfer Restaurant aus, ver- Weltmeere. Jede mit genug Platz, um Koks
handel verstrickt sind«, sagt ein US-Dro- diente nicht mal 1200 Euro brutto im Mo- im Straßenwert von ein paar Hundert Mil-
genjäger. Auch Europol beobachtet: »Im- nat. Später jobbte er auf dem Bau, seine lionen Dollar zu verstecken, je nachdem,
mer mehr Kokain läuft über Venezuela Freundin musste putzen gehen, damit das wie voll die Banden die Container packen
und wie stark sie die Ware später strecken.
Machten sich die Gangs früher noch die
Mühe, den Stoff in aufgeschnittene Ana-
nas zu quetschen, stecken sie ihn heute
einfach in Sporttaschen oder Kartons.
Dann knacken sie in Südamerika einen
schon beladenen Container und legen das
Kokain dazu. Komplizen in Europa fi-
schen es meist schon im Hafen wieder he-
raus. »Rip-on, Rip-off« nennen das die
Fahnder. Die Firmen, die den Container
losschickten, wissen in der Regel nichts
davon, haben mit dem Deal nichts zu tun.
Bei Gino R. und seiner Firma war das
FEDERICO RIOS / DER SPIEGEL

aber wohl anders, er steckte offenbar mit


drin. Und dass ihm die Polizei morgens
um vier die Tür einrammte, lag an Giu-
seppe T., einem Mafiaboss in Italien. Der
Mann mit dem Spitznamen »Principale«,
Chef, hatte Angst, von anderen Mafia-
paten liquidiert zu werden. Im Juli 2015
Kokainaufkäufer der Farc im kolumbianischen Dschungel: Zu viel Land, zu wenig Staat ging er zur Polizei und packte aus. Auch

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über Ginos kleine Firma in Nordrhein- Vom Kartell zum


Westfalen und das große Geschäft der
’Ndrangheta in Kolumbien. Konsumenten
Während der letzten Kokswelle be- Kokainhandelsrouten*
nach Europa und
herrschten noch Drogenbarone wie Pablo Nordamerika
Escobar oder die Ochoa-Brüder aus Kolum-
bien heraus die Lieferkette nach Nordame-
rika und Europa. Nun haben die Mafia und
andere Gangs aus Europa eigene Statthalter
in Südamerika. Vor allem Albaner sind laut
Interpol die neue Macht im Koksgeschäft.
»Die Gruppen aus Europa wollen den
Stoff direkt von den Herstellern haben; so
sparen sie beim Transport und bekommen
ein größeres Stück von der Wertschöpfungs-
kette ab«, erklärt Interpol-Fahnder Andres
Bastidas. Die Handelsvertreter sammeln
zu Hause das Geld der Mafiafamilien oder
Dealerringe ein, stellen einen Einkaufszet-
tel zusammen, besorgen in Übersee en gros
für alle. Aufgeteilt wird später in Europa.
Nach diesem Muster hatte auch der Princi-
pale schon zwei Millionen Euro für den
Kokseinkauf zusammengetragen – sein ei- KOLUMBIEN
genes Geld und das anderer Mafiagrößen.
Auf der anderen Seite stehen die Ko-
lumbianer mit hoch spezialisierten Gangs
PERU
für den Koksanbau, die Drogenlabors und
den Transport zur Küste. Auch sie haben
sich zu Genossenschaften zusammengetan.
»Das erklärt, warum Kokain heute immer BOLIVIEN
gleich tonnenweise gefunden wird«, sagt
Interpol-Mann Bastidas.
Der erste Container von Gino R. landete
im Frühjahr 2015 in Hamburg, 640 Säcke Bedeutende
Holzkohle mit dem Aufdruck »Best Quali- Herkunftsländer
ty«, geprüft vom Zoll; Ergebnis: sauber. Transitländer
Nur dass sich Gino R. offenbar gar nicht
Zielländer
dafür interessierte. Noch 2017 lagen genau
solche Säcke unverkauft vor einer Halle in Transit- und Zielländer
* nach Anzahl der Beschlagnahmungen
Hürth herum. Der nächste Container, An- Kokainhandelsrouten 2013 bis 2017; Quelle: UNODC 2019

kunft im Oktober 2015 in Antwerpen, hat-


te Holz geladen – diesmal strandete die Gino R. habe nichts damit zu tun. Doch Meistens, sagt Florian, seien die Fahrer
Fuhre in Schwalmtal. spätestens als sich im Mai 2017 am Telefon jung, vermutlich Araber oder Türken, eher
Für die Ermittler eine klare Sache: Das ein »Toto« bei ihm meldete, um zehn keine Italiener, aber man frage ja nicht.
waren die Probelieferungen, um zu sehen, »Brötchen« abzuholen, ging die Polizei da- »Die sind unheimlich höflich, wahrschein-
ob die Container durchkommen, und um von aus: Gino R. gehörte zur Bande. Sein lich auch deshalb, weil die Konkurrenz so
den Zoll einzulullen. Neue Firmen gelten Anwalt ließ eine SPIEGEL-Anfrage dazu groß ist«, glaubt Florian. Denn »es gibt
als verdächtig. Je mehr saubere Lieferun- unbeantwortet; in ein paar Wochen will unglaublich viele ›Taxen‹ in Berlin, irgend-
gen sie vorweisen können, umso kleiner die Staatsanwaltschaft ihn anklagen. ein Freund hat immer eine neue Nummer,
das Risiko, dass der nächste Container die man noch nicht ausprobiert hat«.
noch aufgemacht wird. Das hat mittlerweile auch die Berliner
Der mit dem Koks. Der traf am 6. De-
Die Kleindealer Polizei begriffen. Sie hat die Ermittlungen
zember 2015 in Rotterdam ein und wurde Einen aus der Liga der Ginos oder Giu- zu Rauschgifttaxis bei einem Fachkommis-
doch kontrolliert. Ganz hinten, auf einem seppes bekommt Florian, der Student aus sariat gebündelt. 35 Verfahren laufen, der
Stapel Bretter, lagen fünf Kartons, eine Berlin, nie zu sehen. Immer nur das Ende Chef der Berliner Drogenfahndung schätzt,
Sporttasche und ein Samsonite-Koffer. Die der Kette, die Jungs auf der Straße, die dass einige »Taxizentralen« jeden Tag
Drogenspürhunde »Rambo« und »Rocky« das »Brötchen« ausfahren. Sie liefern mit mehr als hundert Bestellungen abarbeiten.
schlugen an, ein Teströhrchen färbte sich dem »Taxi«, so heißen die Kurierdienste, Manche liefern sich untereinander sogar
blau, kein Zweifel: Kokain, 82,3 Kilo, Rein- die Bestellungen am Telefon aufnehmen Rabattschlachten. Die SMS »Hey, ich bin’s,
heitsgrad um die 80 Prozent. Eine Groß- und in der nächsten halben Stunde einen euer Toni. Ich habe wieder super tolles
lieferung sieht heute zwar anders aus, aber Wagen mit dem Koks vorbeischicken. Kur- Bier im Angebot: vier plus eins« übersetzt
die Fahnder glauben, dass die Gruppe ze Fahrt um den Block, Fahrer: »Na, mein Florian mit: Wer vier Kapseln Koks kauft,
1,2 Tonnen nach Europa holen wollte. So Großer, alles gut?«, Florian: »Ja, alles gut, bekommt die fünfte gratis. Und liefen die
steht es in der Ermittlungsakte. muss.« Übergabe, 50 Euro gegen eine Deals früher in kleinen, streng abgeschot-
Anfangs dachten die Drogenjäger in Kapsel mit 0,7 Gramm. Bis zum nächsten teten Zirkeln, sieht die EU-Antidrogen-
den Niederlanden noch, Firmengründer Mal. behörde heute eine »neue Qualität im

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 49


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IN DER SPIEGEL-APP

Kokainhandel«, weil »soziale Medien re- Wasser lügt nicht


lativ offen genutzt werden, Kokain zu be-
Kokainrückstände* im Abwasser getesteter
werben«. Auf den wild wuchernden Inter- Städte, in Milligramm je tausend Personen
netmarktplätzen im Darknet lassen sich pro Tag *Kokainabbauprodukt Benzoylecgonin; Quelle: Score
Koksverkäufer und ihr Stoff inzwischen
von Kunden bewerten wie bei Ebay. Amsterdam Niederlande
Ganz so dick wie die Konkurrenz war
das Kokstaxi aus Rüdersdorf bei Berlin 2014 716
noch nicht im Geschäft. Aber René F. und 2018 932
sein kleiner aufstrebender Familienbetrieb
hatten ja gerade erst angefangen, im Sep- Zürich Schweiz
tember 2018. Den Stoff bekamen sie, so
598
steht es in der Anklage, vermutlich von ei-
nem Mann, der zum Berliner Araber-Clan 856
der Rammos gehört. Vielleicht erklärt die
stadtbekannte Bezugsquelle, warum die Antwerpen Belgien
Polizei Familie F. schon beim ersten Deal 633
überwachte.
Vater René lebte vorher wie seine Ex- 772
Frau von Hartz IV, ihr Sohn lernte Auto- Barcelona Spanien
verkäufer. Mit Drogenhandel hatte bis da-
hin nach Aktenlage keiner etwas zu tun. 461
FOTOS: NICOLÓ LANFRANCHI / DER SPIEGEL

Dass solche Amateure es trotzdem gleich 733


mit Koks versuchen, dem teuersten Stoff,
verrät viel über die Verfügbarkeit – und Berlin
die Nachfrage. Im März war damit dann
192
aber Schluss. Der Patron bekam vier Jahre
und drei Monate, für die anderen gab es 343
Bewährung. Alle hatten gestanden.

heit der belgischen Polizei mit 40 Ermitt-


Die Ermittler lern nicht viel ändern. »Alles, was im Hafen
Schöner Erfolg für die Fahnder oder nicht? gut für die Wirtschaft ist, nutzt auch den
In Wahrheit sind die Erfolge ein Witz, und kriminellen Banden«, sagt Manolo Tersago,
Zu Hause im belgischen Antwerpen ist der Witz nur ihr Chef. Und auf die Frage, was er brauch-
zwei Sätze lang. Schon gehört? Im Hafen te, kommt die lapidare Antwort: Personal,
im Irgendwo haben sie gestern im Kokain ein paar Ba-
nanen gefunden.
»so schnell wie möglich«. Ihm fehlen Leute,
für die Suche nach dem Stoff, dem Geld,
Am Ende ihrer Odyssee hatten Augustine A. Den Kalauer hört man in Lissabon, bei den Hintermännern. Nach allem.
und Joëlle S. doppeltes Glück: Vor gut der EU, und wenn ihn schon EU-Beamte »Der Hafen wurde über Jahre hinweg
einem Jahr fischten die Seenotretter der erzählen, sagt das viel über die Lage in von den Kartellen aus Albanien und Ma-
»Aquarius« sie aus dem Mittelmeer, nach Antwerpen. Der Kampf gegen Koks in rokko infiltriert«, stöhnt ein Drogenfahn-
tagelanger Irrfahrt und EU-Streit um die Antwerpen ist verloren, heißt es überall, der. Ein vertraulicher Bericht der Antwer-
Antwerpen ist verloren. pener Polizei zeichnete schon 2017 das
Aufnahmeländer durften sie schließlich in Auch wenn einiges an Stoff über Afrika Bild einer Enklave, die der Staat weitge-
Malta von Bord. Zusammen mit anderen und Spanien kommt, gilt der belgische Ha- hend an die Drogenmafia verloren hat.
Bootsflüchtlingen aus Afrika bekamen sie fen als Kokstrichter Europas. Noch vor »Die schrecken vor nichts zurück«, be-
dadurch ganz zufällig einen enormen Rotterdam und mit weitem Abstand vor schreibt Chefermittler Tersago die Lage,
Vorteil im EU-Aufnahmeroulette: Transit in Hamburg. 51 der 150 Tonnen, die 2018 in nicht mal davor, Polizisten mit Mord zu
Rekordzeit. Was ist aus den »Aquarius«- Europa beschlagnahmt wurden, fischten drohen.
Migranten geworden? Eine Spurensuche in die Ermittler in Antwerpen heraus; in die- So weit muss es aber nicht kommen.
Deutschland, Frankreich und Luxemburg, sem Jahr waren es bis Ende Oktober schon Die Banden verdienen so viel Geld, »die
die zeigt, wie chaotisch die europäische wieder fast 42 Tonnen. In der Logik jedes können sich jeden kaufen, den sie wol-
Flüchtlingspolitik noch immer ist und wie Fahnders, der sich nicht lächerlich machen len«, so Tersago. Und das tun sie auch.
will, kann das nur eines heißen: Nirgend- 60 000 Menschen arbeiten direkt im Ha-
willkürlich der Traum vom guten Leben in
wo versuchen es die Banden so oft, und fen. Die Banden schicken Anwerber in
Europa in Erfüllung geht – oder zerplatzt. nirgendwo kommen sie so leicht durch. Cafés, in Fitnessstudios, immer auf der
Der Hafen, den die Schmuggler lieben, Suche nach Leuten aus dem Hafen, die
Sehen Sie die Visual Story im digitalen ist nach Fläche der größte der Welt. 120 helfen, das Zeug aus den Containern zu
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. Quadratkilometer, ein Moloch, maximal holen. So eine Stahlkiste für zwei Stun-
darauf getrimmt, die Container schnell ab- den an eine abgelegene Stelle zu hieven,
zufertigen, knapp sieben Millionen im Jahr. wo sie kein Ermittler vermutet, kostet
Nichts soll die Anziehungskraft von Ant- einen Containerstapler nur Minuten,
werpen auf die Weltwirtschaft mindern, bringt ihm aber nach Tersagos Schätzung
Schnelligkeit, sagen Fahnder, gehe hier 25 000 bis 75 000 Euro.
noch mehr vor Sicherheit als in anderen Der Hauptgewinn für Gangs ist ein be-
JETZT DIGITAL LESEN Häfen. Daran kann auch eine Sonderein- stochener »Selektor«, ein Zollbeamter, der

50 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Deutschland

entscheidet, ob ein gerade abgeladener heit. Und wieder das BKA: »Das würde
Container durchsucht oder durchgewinkt bedeuten, dass ungeheure Mengen Kokain
wird. Im Hafen von Rotterdam gab es mal auf den europäischen Markt gelangen müs-
einen, der mitgemacht hat, weil er für 100 sen.« Kein Fahnder, der widerspricht.
Kilo Koks, die er durchließ, 250 000 Euro Viele Ermittler haben kaum noch Hoff-
kassierte. Das war das eine. Das andere: nung, den Kampf zu gewinnen. Der Chef
»Sie wussten alles über mich, sogar, wo mei- der Hamburger Zollfahndung, René Matsch-
ne Kinder zur Schule gingen«, sagte der ke: »Wir stoßen nie auf feste Strukturen
Mann 2015 nach seiner Verhaftung. und wissen deshalb nicht, wer den Stoff
Ein geschmierter Zöllner, was könnte hereinholt. An die Bosse kommen wir
besser sein für die Syndikate? Tatsächlich meist nicht heran.« Andres Bastidas, In-
läuft es aber auch ohne nicht viel schlech- terpol: »Es ist viel schwerer geworden, die
ter. Wenn die Koksfahnder keinen Tipp großen Fische zu schnappen.« Peter Keller,
bekommen haben, wo sie suchen sollen, leitender Drogenfahnder des Zollkriminal-
verlieren sie sich in den Tiefen der Lade- amts in Köln: »Es gibt zu viel Koks im
räume. Ende September klettern im Ham- Markt, und wir finden nur die Spitze des
burger Hafen drei Beamte des Hauptzoll- Eisbergs.«
amts, Sachgebiet C, Schiffskontrollen, in Schuld an der Misere hat auch die Poli-
den Bauch eines 300-Meter-Container- tik. Die habe sich »nicht mehr so sehr« für
riesen, der am Burchardkai liegt. An einer Drogenschmuggel interessiert, heißt es aus
Bodenluke neben der Rudermaschine dem Zollkriminalamt. Das Gleiche bei
setzt einer den 30-Millimeter-Schlagboh- Europol: Drogen seien der Politik »schon
rer an, siiiit, siiit, siiiiiit, 20-mal, dann ist lange irgendwie von der Agenda gekippt«.
die Luke zum Ballasttank offen. Und fünf In Antwerpen zum Beispiel wurden Poli-
Minuten später wieder zu. Die eine Luke. zisten nach den Anschlägen in Brüssel aus
Nächste Woche
Es gibt Hunderte solcher Luken auf die- dem Hafen abgezogen, um Terroristen im SPIEGEL:
sem Schiff. Tausende Hohlräume. Dazu zu jagen. Beim Zoll in Hamburg sind
mehr als 14 000 Container, wenn der mehr als zehn Prozent der Stellen in der
Frachter voll ist. Und von solchen Riesen- Schiffskontrolle unbesetzt; die Suche nach
pötten kommen jedes Jahr ein paar Hun- Schwarzarbeitern erscheint wichtiger.
dert an. Jahresleistung des Hafens: 5,4 Mil-
lionen Container. Wenn von denen einer
auf dem Ladedeck in der zweitobersten
Also nachgehakt bei der neuen Drogen-
beauftragten der Bundesregierung, Danie-
la Ludwig (CSU). Die sieht die Probleme
S-Magazin
Reihe steht, eingeklemmt zwischen ande- vor allem in Kolumbien, weit weg. Auf Das Stilmagazin
ren, wie kommt man da überhaupt hin? Nachfragen zu Deutschland kommt nur
»Manchmal gar nicht«, sagt der Zöllner. Schweigen. SPD-Gesundheitspolitiker Lau- vom SPIEGEL
Er könnte ihn natürlich abladen lassen. terbach nimmt die Kritik immerhin an:
Wie in allen Großhäfen spucken Compu- »Den Ermittlern fehlen schlicht die Mittel.
terprogramme aus, welche Container be- Das Thema Drogen hatte nicht die Priori-
sonders verdächtig sind; es geht dann da- tät, die ihm zusteht.«
rum, ob sie aus Südamerika kommen, was Die Innenexpertin der Grünen im Bun- Themen der Ausgabe:
sie geladen haben, ob die Firma bekannt destag, Irene Mihalic, fordert deshalb
ist, die sie nach Europa holt. Der Zoll könn- mehr Geld für die Polizei, aber auch für Zeit für eine bessere Welt
te einen Container zur Röntgenanlage fah- Aufklärung und Therapie. Dagegen formu-
ren lassen, die gut 100 Stück am Tag liert der drogenpolitische Sprecher der Lin-
Eine schwedische Firma
schafft. Aber das dauert, und wenn nichts ken, Movassat, schon die Kapitulations- stellt Uhren aus recycelten
gefunden wird, wie meistens, stellt sich die erklärung: Er ist für Kokain vom Staat, Waffen her
Frage, ob das nötig war. Auch der Ham- eine regulierte Abgabe. Nur so könne man
burger Hafen will schnell sein. die Weltmacht der Narcos noch erschüt-
»Man muss in diesem Beruf auch verlie- tern, ihr Milliardengeschäft austrocknen.
Denn sie wissen,
ren können«, sagt der Zöllner. Dass sie im Das wäre die radikalste Lösung. Und was sie tun
Sommer den größten Fund aller Zeiten in die verzweifeltste. Der Kampf gegen Ko- Sechs Menschen erzählen
Deutschland machten, 4,5 Tonnen, hebt kain scheint längst verloren, auf den Fel-
natürlich die Moral. Früher haben sie dern Kolumbiens, in den Häfen Europas, vom Glück, in ihrer Arbeit
schon gefeiert, wenn sie 20 Kilo hatten. auf den Straßen von Berlin. Die Lawine einen Lebenssinn zu finden
Aber hat sich irgendetwas auf dem Markt rollt; was soll sie jetzt noch aufhalten?
getan, weil 4,5 Tonnen Koks fehlen; sind Jürgen Dahlkamp, Jörg Diehl, Gunther
die Preise gestiegen, weil das Angebot Latsch, Claas Meyer-Heuer, Juan Moreno,
knapper wurde? Nichts, absolut nichts. Jörg Schmitt, Katja Thimm, Andreas Ulrich
»Trotz der sichergestellten Rekordmen- Mail: juergen.dahlkamp@spiegel.de
gen lässt sich keinerlei Änderung des Tä-
Außerdem:
terverhaltens feststellen«, schrieb das BKA
schon im April. Das »lässt nur den Schluss Interaktiv Das gezeichnete
Bildnachweise: Kai Bublitz Interview
Eine Nacht im geheimen
zu, dass die Schmerzgrenze noch nicht er- Koks-Chat mit Inma Bermúdez
reicht wurde«. »Wir ahnen, dass der Groß- spiegel.de/sp462019kokain
teil durchkommt«, sagt auch Günther Los- oder in der App DER SPIEGEL
se, der Chef der Hamburger Kontrollein-

51
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CUPRA AT E C A L I M I T E D E D I T I O N

UNVERWECHSELBARKEIT,
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rennsportlicher Kraftentfaltung. Ein SUV, der sich seinen eigenen Weg bahnt. Mit der
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Kupferdetails. Unverwechselbar und entschlossen, niemals der Masse zu folgen.
Eine Akrapovic-Auspuffanlage1 liefert den Klang des Rennsports. Alcantara-Sport-
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Deutschland

Braune
Die »FAZ« zeigte »ein großes Herz« für Der Verlagsmanager Viktor Muckel, Erfin-
Männer mit NS-Vergangenheit im eigenen der des Slogans »Dahinter steckt immer
Haus, urteilt Historiker Hoeres. ein kluger Kopf«, hatte schon in den Zwan-

Köpfe
Wie bei anderen Medien – etwa der »Süd- zigerjahren für Hitler getrommelt. Der
deutschen Zeitung« oder dem SPIEGEL – Londonkorrespondent Heinz Höpfl hatte
handelte es sich um eine Minderheit unter einst in der NSDAP-Zeitung »Völkischer
den Mitarbeitern. Diese wird allerdings Beobachter« über eine jüdische Weltver-
Zeitgeschichte Die »Frankfurter von den Verlagen längst nicht mehr ver- schwörung schwadroniert.
Allgemeine« feiert ihren 70. Ge- schwiegen. Umso erstaunlicher, dass die Oder eben Ehlert, geboren 1904, NSDAP-
»FAZ« ihre braunen Köpfe bei den Feiern Mitglied seit 1933.
burtstag. Die ehemaligen Nazis und Veröffentlichungen zum 70. Geburts- Während des Zweiten Weltkriegs arbei-
in der Redaktion der Gründer- tag in diesen Wochen überging. tete er in Madrid als Berichterstatter des
jahre sind dabei kein Thema. Die Zeitung löste dann eine andere De- »Eildienstes für amtliche und private Han-
batte aus, als sie die AfD-Politiker Alexan- delsnachrichten«. Insgeheim hatte er den
der Gauland und Stephan Brandner zum Auftrag, im neutralen Spanien Nazipropa-

D ie »Frankfurter Allgemeine« (»FAZ«)


legt Wert auf gediegene Sprache
und kluge Analysen. Journalistische
Enthüllungen zählen nicht zum Marken-
Jubiläumsempfang lud. Gauland verharm-
lost das »Dritte Reich«, Brandner spielt
mit antisemitischen Klischees.
In den Gründungsjahren und danach be-
ganda zu verbreiten. Als die Amerikaner
1947 von den Spaniern verlangten, ihn zu
überstellen, floh er nach Argentinien. 1950
heuerte er bei der »FAZ« an.
kern. Und so vermeldete der Südamerika- schäftigte die »FAZ« etliche überzeugte Aus seiner rechten Gesinnung machte
korrespondent Fritz Otto Ehlert in der ehemalige Nazis. Etwa den Wirtschafts- Ehlert in Buenos Aires kein Geheimnis.
Ausgabe vom 30. Mai 1960 besonders experten Hans Roeper, der es bis zum SA- Er kannte den Unternehmer und Ex-
stolz einen kleinen Scoop: Nach »schwie- Gruppenführer gebracht hatte, was dem SS-Hauptsturmführer Horst Carlos Fuld-
rigen Nachforschungen« sei es ihm gelun- Rang eines Generalleutnants entsprach. ner, der Eichmann und anderen NS-
gen, Klaus Eichmann zu sprechen, Sohn Verbrechern bei der Flucht nach Argen-
des Holocaust-Organisators Adolf Eich- tinien geholfen und sie in seiner Firma
mann. An die »FAZ«-Zentrale in Frankfurt Capri beschäftigt hatte. Auch war Ehlert
schrieb er, er sei der »erste und einzige mit Wilfred von Oven befreundet, einst
Journalist«, der Zugang zur Familie Eich- Pressereferent von Hitlers Propaganda-
mann gefunden habe. chef Joseph Goebbels und Teil des Netz-
Der Name Eichmann prangte damals werks aus Nazis in Buenos Aires, das
auf den Titelseiten vieler Zeitungen. Der Eichmann deckte.
Massenmörder war nach Kriegsende un- Ausgerechnet 1960 – im Jahr der Ver-
tergetaucht und schließlich nach Argen- haftung Eichmanns – heuerte Oven bei
tinien geflohen. Wenige Tage vor Ehlerts der »FAZ« an. Er und Ehlert teilten sich
Veröffentlichung hatte ein Kommando des ein Büro. Oven schrieb unter Pseudonym,
israelischen Geheimdienstes Mossad Eich- doch seine wahre Identität war in Frank-
mann aus Buenos Aires entführt und nach furt bekannt. Nebenher leitete er die fa-
Israel gebracht, wo ihm der Prozess ge- schistische Zeitschrift »La Plata Ruf«.
macht werden sollte. Da schien es ein pu- Als Ehlert 1973 starb, veröffentlichte
blizistischer Erfolg der »FAZ«, Eichmann Oven dort einen zweifelhaften Nachruf.
junior befragen zu können. Ehlert habe »aus seiner betont deutsch-
Doch wie hatte Ehlert den Eichmann- nationalen Einstellung nie ein Hehl ge-
Sohn so schnell gefunden? Hatte der »FAZ«-Journalist Ehlert um 1960 macht«. Ein halbes Jahr später beendete
»FAZ«-Mann etwa Adolf Eichmann ge- Nazipropaganda in Spanien die »FAZ« die Zusammenarbeit mit Oven,
kannt, der sich in Argentinien als Ricardo der 1951/52 auch für den SPIEGEL ge-
Klement ausgegeben hatte, aber um des- schrieben hatte. Die Zeiten hatten sich ge-
sen wahre Identität zahlreiche Deutsche ändert, die Toleranz für Altnazis schwand.
in Buenos Aires wussten? Intern beteuerte Je länger Oven für die »FAZ« arbeite, ur-
Ehlert, er habe den Namen Eichmann teilte Mitherausgeber Bruno Dechamps,
»zum ersten Mal in Zeitungen« gelesen, »desto gefährlicher« würde es.
aber die Zentralstelle zur Aufklärung Und der Eichmann-Scoop von Ehlert?
von NS-Verbrechen in Ludwigsburg und Als dieser seinen Artikel schrieb, gab
der hessische Generalstaatsanwalt Fritz es noch Zweifel, wo die Israelis Eichmann
Bauer nahmen den Journalisten ins Visier. erwischt hatten. Ehlert verbreitete die Ver-
Die Ermittlungen wurden allerdings ein- sion des Sohns, der Vater sei seit 1945 ver-
gestellt. misst oder tot, was sich bald als Fehlinfor-
Nun hat der Historiker Maximilian mation erwies. Vielleicht hatte Eichmann
Kutzner die Spur aufgenommen. Kutzner junior den »FAZ«-Journalisten belogen,
zählt zum Team um den Würzburger Pro- wie dieser intern behauptete. Vielleicht
fessor Peter Hoeres, das die Geschichte wollte Ehlert dem Eichmann-Sohn aber
der »FAZ« erforscht hat und dem die Zei- auch bei einem Verschleierungsversuch
tung Zugang zum Hausarchiv gewährte*. helfen.
Klären lässt sich das wohl nicht mehr.
LAIF

* Maximilian Kutzner: »Marktwirtschaft schreiben. Das Klaus Wiegrefe


Wirtschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Angeklagter Eichmann in Jerusalem 1961 Mail: klaus.wiegrefe@spiegel.de
1949 bis 1992«. Mohr Siebeck; 360 Seiten; 59 Euro. Scoop der »FAZ«

54 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Willkommen im
erneuerbaren
Zeitalter.
Wir stehen für sauberen, sicheren und bezahlbaren Strom.
Wir investieren Milliarden in Erneuerbare Energien und
Speicher. Wir haben ein klares Ziel: klimaneutral bis 2040.
Willkommen bei der neuen RWE.
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Deutschland

GEORG MORITZ / ACTION PRESS


Kriminalgericht in Berlin-Moabit, Angeklagter Özkan S.: Atteste über Panikattacken vor Verhandlungsbeginn

Schlag ins
schwieg zu den Vorwürfen. Der Fall lan- Eine Sprecherin des Amtsgerichts sagt,
dete 2017 vor dem Schöffengericht des aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen
Amtsgerichts Berlin-Tiergarten. Doch was könne sie zu dem Gutachten keine Stel-

Gesicht
danach passierte, hat das Vertrauen von lung nehmen. Grundsätzlich sei ein medi-
Hatice Yıldırım in den deutschen Rechts- zinisches Gutachten nur ein Puzzlestück
staat nachhaltig erschüttert. bei der Entscheidungsfindung des Richters.
Im Mai dieses Jahres stellte Richter Anwältin Lang vermutet, dass Bödeker
Justiz Ein Berliner Richter stellt Arnd Bödeker das Verfahren gegen Özkan »eine schnelle Erledigung« angestrebt
ein Verfahren wegen S. vorläufig ein. S. sei für längere Zeit nicht habe. Wegen des Verdachts auf Rechtsbeu-
Vergewaltigung vorläufig ein. verhandlungsfähig. Diese Begründung ist gung hat sie den Richter vor wenigen Ta-
im Einstellungsbeschluss des Gerichts gen angezeigt. War Bödeker das Verfahren
Der Angeklagte sei zu schriftlich festgehalten. schlicht zu aufwendig? Die Sprecherin des
krank – aber das stimmt nicht. So etwas gehört zum Rechtsstaat: Wenn Amtsgerichts sagt: »Ganz generell spielen
ein Angeklagter zu krank ist, gibt es keinen Zeitgründe bei der Bearbeitung eines Ver-

E s begann so schön, auf einer Tanzpar-


ty in Bielefeld. Dort lernte die damals
22-jährige Verlagsassistentin Hatice
Yıldırım* im Herbst 2013 einen charmanten
Prozess, kein Urteil, keine Strafe. Auch
nicht für mutmaßliche Vergewaltiger.
Doch dann verweigerte Richter Böde-
ker der Nebenklägeranwältin die Einsicht
fahrens keine Rolle.« Außerdem betont
sie, die Entscheidung sei nicht endgültig.
Richter Bödeker übernahm den Fall
Özkan S. zum Jahreswechsel 2018 und be-
Mann aus Berlin kennen. Er schrieb ihr in das psychiatrische Gutachten, mit Hin- raumte drei Verhandlungstage im April an.
über Facebook, sie verliebte sich. Im Som- weis auf schutzwürdige Interessen des An- Zum ersten Termin erschienen alle – bis
mer 2014 zog sie zu ihm in die Hauptstadt. geklagten. Die Juristin, Christina Lang aus auf den Angeklagten. Der ließ seinen Ver-
Doch nach wenigen Wochen habe sich Bielefeld, legte dagegen Beschwerde ein – teidiger ein am Vortag erstelltes Attest vor-
Özkan S., heute 37, von einer anderen Sei- und bekam recht. Was sie legen, er leide unter Pa-
te gezeigt, sagt Hatice Yıldırım. »Ich war dann las, macht sie bis nikattacken. Ohne ihn
für ihn sein Eigentum«, erzählt sie am Te- heute fassungslos. Denn konnte nicht verhandelt
lefon. Er sei immer wieder wütend gewor- laut der Expertise, die werden. Ein psychiatri-
den, ausgerastet, auf sie losgegangen. Er Richter Bödeker in Auf- scher Gutachter kam
habe sie geschlagen und vergewaltigt. trag gab, ist Özkan S. sehr zum Schluss, Özkan S.
Zweimal habe er ihr die Nase gebrochen. wohl verhandlungsfähig, sei für vier Wochen nicht
Schließlich alarmierten Yıldırıms besorg- wenn auch nur höchstens verhandlungsfähig.
te Eltern die Polizei. Beamte eskortierten zweimal pro Woche je- Der nächste Verhand-
WOLFGANG MROTZKOWSKI

die verängstigte junge Frau im Juni 2015 weils zwei Stunden lang. lungstermin wurde für
aus der gemeinsamen Wohnung. Danach Was zu der entschei- den 17. Oktober anbe-
fasste sich die Deutsch-Türkin ein Herz denden Frage führt: Wa- raumt: Wieder legte der
und zeigte Özkan S. an. rum ignorierte der Rich- Verteidiger von S. kurz-
Die Polizei ermittelte, die Staatsanwalt- ter das Gutachten und fristig ein Attest über Pa-
schaft Berlin erhob Anklage, Özkan S. stellte das Verfahren wo- nikattacken vor. Wieder
möglich zu rasch vorläu- Amtsrichter Bödeker konnte nicht verhandelt
* Name geändert. fig ein? Schlicht zu aufwendig? werden.

56 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Programm
Richter Bödeker beauftragte den Gut-
achter erneut. Der Arzt hielt fest, es sei
wahrscheinlich, dass Özkan S. Symptome
vortäusche. Er sei zwar psychisch krank,
einem Prozess könne er allerdings wenige
Stunden pro Woche folgen. Zu diesem
Zeitpunkt muss Richter Bödeker klar ge-
worden sein, dass das Verfahren sehr
schleppend weitergehen würde.
Die Berliner Justiz gilt als chronisch
überlastet und operiert an der Grenze ih-
rer Leistungsfähigkeit. »Insbesondere die
Strafgerichte und Staatsanwaltschaften in
Berlin arbeiten seit Jahren am Limit«, sagt
Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des
Deutschen Richterbunds. Nichts davon
darf ein Grund sein, ein möglicherweise
lästiges Verfahren auf fragwürdige Weise
erst mal vom Terminplan zu streichen. Mitglieder der »Atomwaffen Division«
Es kommt vereinzelt vor, dass Beamte
sich aus Überlastung ihrer Fälle entledigen.
In Rostock läuft zurzeit ein Prozess gegen SAMSTAG, 9. 11., 21.05 – 22.00 UHR, ARTE SPIEGEL TV
einen Amtsrichter, dem vorgeworfen wird, MONTAG, 11. 11., 23.25 – 00.00 UHR, RTL
er habe mehr als 800 Bußgeldverfahren Geheimnis Gletscher –
mit Absicht verjähren lassen. 2016 räumte Spurensuche im Eis Angriff von ganz rechts
ein Freiburger Staatsanwalt ein, er habe Zehn Prozent der Landmasse der Sie kommen aus den USA, nennen
Akten in mehreren Fällen nicht bearbeitet, Erde sind von Gletschern bedeckt. sich »Atomwaffen Division« und
weil ihm die Zeit gefehlt habe. Der Jurist In ihrem Inneren sind zahllose Relik- bedrohen jetzt auch deutsche Poli-
wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. te aus vergangenen Zeiten einge- tiker. Wer steckt dahinter?
Im Fall Özkan S. will Anwältin Lang schlossen. Durch den Klimawandel
mit einem Befangenheitsantrag gegen Bö- werden diese Objekte frei. Die Funde Doppelmoral im Intimbereich
deker erreichen, dass ein anderer Richter aus dem Eis helfen Archäologen, Ob Enthaltsamkeit vor der Ehe
das Verfahren übernimmt. Zudem hat das Leben unserer Vorfahren oder eine Hochzeit für 100 000 Dol-
Lang Dienstaufsichtsbeschwerde gegen im Alpenraum zu rekonstruieren. lar: Wenn es um Liebe und Sex
Bödeker eingereicht. Der Fall sei »ein geht, neigt die amerikanische Gesell-
Schlag ins Gesicht« für Opfer. »Ich bin mir schaft zum Extrem.
nicht sicher, ob meine Mandantin noch ein-
mal Anzeige erstatten würde.« SONNTAG, 10. 11., 22.30 – 23.25 UHR, ARTE
Selbst mit bestem Willen und großem
Ressourceneinsatz tut sich die Justiz häufig Die Hardy-Krüger-Story
schwer, mutmaßliche Vergewaltiger zu In den Fünfziger- und Sechzigerjah-
überführen. Oft steht Aussage gegen Aus- ren eroberte Hardy Krüger das deut-
sage. Der Kriminologe Christian Pfeiffer sche Kinopublikum. Schließlich
wertete Kriminal- und Verurteilungsstatis- schaffte es der Berliner Schauspieler
tiken über drei Jahre aus. Er kam zu dem bis nach Hollywood. Die Dokumen-
Ergebnis: Bundesweit wurden in nur tation zeigt das faszinierende Leben

SPIEGEL TV
7,5 Prozent aller polizeilich erfassten Fälle eines Mannes, der außergewöhn-
von Vergewaltigung und sexueller Nöti- liche Erfolge feierte, sich aber auch
gung Täter verurteilt. Am niedrigsten war von Misserfolgen nicht entmutigen Ex-Rennfahrer Rosberg
die Quote in Berlin: 3,4 Prozent. ließ. Neben Krüger selbst kommen
Hatice Yıldırım ist jetzt 28 Jahre alt, sie Freunde, Kollegen und Kolleginnen zu SPIEGEL TV WISSEN
SIEGFRIED PILZ / UNITED ARCHIVES / ROBA / IMAGO IMAGES

ist zurück in ihre westfälische Heimat ge- Wort. Ausschnitte aus Kinofilmen FREITAG, 15. 11., 20.15 – 21.00 UHR, SKY
zogen. Nachts schlafe sie höchstens eine und Fernsehsendungen erinnern an und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern
halbe Stunde am Stück. In einem normalen Krügers Karriere.
Büro könne sie nicht mehr arbeiten, weil Rosberg über Rosberg
die Angst sie überfalle, sobald fremde Men- Ende 2016, im Alter von 31 Jahren,
schen hereinkämen oder jemand dasselbe wurde Nico Rosberg Formel-1-
After Shave trage wie ihr Ex-Freund. Ihr Weltmeister. Wenig später beendete
Leben sei geprägt von ständiger Angst, ihr er überraschend seine Karriere.
Ex-Freund würde sich an ihr rächen. Sie SPIEGEL-TV-Autorin Susanne
wisse, wie sich echte Panikattacken an- Gerecke sprach mit ihm über sein
fühlten und könne nicht verstehen, dass neues Leben als Investor, über
Özkan S. ungeschoren davonkommt. »Er Kinder als Beziehungskiller und da-
kann hier alles tun, und ich sehe hilflos zu.« rüber, warum seine Mutter keines
Ansgar Siemens Schauspieler Krüger um 1955 seiner Rennen gesehen hat.
Mail: ansgar.siemens@spiegel.de

57
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Reporter
»Was Gerüche angeht, bin ich irgendwo zwischen Mensch und Hund.« ‣ S. 60

Familienalbum die Volkspolizei unseren


Kofferraum öffnet, meine
Mauerspechte, Kinderbücher durchblättert.
Dieses Foto hat mein Stiefva-
1989 ter mit seiner Leica gemacht.
Danach griff auch er nach
Laura Schneider, 34, aus Berlin: einem Hammer. Wir hatten
»Es war kurz vor meinem fünften uns einen Abschnitt mit
Geburtstag, der zweite Samstag Farbe ausgesucht, dort, wo
nach Grenzöffnung, es muss der heute der Potsdamer Platz ist.
18. November 1989 gewesen sein. Damals war dort Brachland.
Auf dem Boden lagen Eis und Die Mauer war hart, bei
Schnee. Meine Mutter und ich jedem Schlag splitterte immer
hauten auf die Mauer ein, jede mit nur ein wenig ab. Ich nahm
ihrem Hammer. Der Stein war ein Stück Mauer mit nach
kalt, das Eisen war kalt, aber ich Hause, fünf Zentimeter lang,
habe nicht gefroren. Um uns mit Farbflecken, eigenhändig
herum waren all diese Menschen, herausgehauen. Ich bewahre
auch sie mit ihren Hämmern und es bis heute in meinem
Meißeln, ich erinnere mich daran, Schmuckkästchen im Schlaf-
wie einer von ihnen rief: Mauer- zimmer auf. Wir wohnen an
spechte, wir sind die Mauerspech- der Bernauer Straße, beim
te! Es lag etwas Großes in der alten Mauerstreifen. Das Bild
Luft, Menschen lachten und ließ mein Mann groß drucken
weinten, die Mauer trennte nicht und hängte es bei uns ins
mehr, sie war jetzt ein Treffpunkt. Gästezimmer. Mein Mann ist
Das begriff ich damals natürlich Schotte, ich habe ihn vor
nicht, aber ich wusste, dass wir sieben Jahren kennengelernt.
nun unsere Oma in Hessen besu- Im vergangenen Winter
chen konnten, ohne auf der Ost- hielt er um meine Hand an.
autobahn kontrolliert zu werden. ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns An der Mauer.«
Diese Fahrten gehören zu mei- Ihre Geschichte erzählen möchten? Aufgezeichnet
nen ersten Erinnerungen: wie Schreiben Sie an: familienalbum@spiegel.de von Timofey Neshitov

Innovationen Lutz: Üblicherweise ist der Bildschirm Lutz: Verantwortlich für den Inhalt sind
dunkel, im Stand-by-Modus. Die Angehö- die Angehörigen, aber wir können gern
Brauchen wir digitale rigen können entscheiden, wer was sehen beraten.
Grabsteine, Herr Lutz? kann. Der Zugang zu den Inhalten ist SPIEGEL: Nicht alle Gemeinderäte sind
über einen QR-Code möglich, der auf glücklich darüber, dass die Digitalisierung
SPIEGEL: Herr Lutz, Sie haben einen dem Grabstein zu finden ist. Man kann nun auch die Friedhöfe verändert. Einige
Grabstein mit eingebautem Computer- die Zugriffsrechte abgestuft vergeben, nur haben sich gegen digitale Grabsteine
bildschirm entwickelt. Wie sind Sie auf an Hinterbliebene beispielsweise. ausgesprochen.
diese Idee gekommen? SPIEGEL: Bilder sind möglich, auch Lutz: Das sind kleine Gemeinden, ich
Lutz: Ich habe vor 15 Jahren einen Videos. Wie steht es mit Audio? glaube nicht, dass der Fortschritt auf-
Freund durch einen tragischen Autounfall Lutz: Auch das ist eine Option. Es zuhalten ist.
verloren. Sein Facebook-Profil hat nach befinden sich allerdings keine Boxen am SPIEGEL: Haben Sie sich schon Gedanken
seinem Tod weiter existiert. Es sind Ver- Bildschirm und auch keine Buchse. Die über Ihren Grabstein gemacht?
linkungen hinzugekommen, Kommenta- Audiodatei wird über das Smartphone Lutz: Ich habe darüber nachgedacht. Mein
re, Bilder wurden hochgeladen. Ich habe des Besuchers abgespielt. Grabstein wird auch einen Bildschirm-
mich gefragt, ob das den Angehörigen SPIEGEL: Der braucht Kopfhörer, oder? tragen. Der soll ein Foto von mir zeigen
recht gewesen ist – und auch meinem Lutz: Das wäre angebracht. und wohl auch etwas über unsere Firma.
verstorbenen Schulfreund. Das war der SPIEGEL: Manche Menschen haben einen Unser Betrieb existiert ja bereits in der
Beginn meiner Überlegungen. seltsamen Humor, selbst wenn es um den sechsten Generation. UBU
SPIEGEL: Was sieht man, wenn man auf eigenen Tod geht. Könnte es ein Problem
einen Stein mit Bildschirm stößt? mit unangebrachten Videos geben? Peter Lutz, 34, ist Steinmetz aus Tirol.

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nen jungen Steppenadler namens Min, der sich anders ver-


Eine Meldung und ihre Geschichte
hielt als sie und ihr Team erwartet hatten. Steppenadler sind
hervorragende Jäger, erzählt sie, weil sie hoch fliegen, und

Reisefreiheit selten gesehen werden. Sie gleiten lautlos dahin, um sich dann
aus dem Gegenlicht überraschend auf ihre Erdhörnchen zu
stürzen. Unauffälligkeit ist für sie überlebensnotwendig. Min,
der Steppenadler, schien es allerdings mit diesem Verhalten
Wie ein junger Vogel eine russische Forscherin zu übertreiben, weil er sogar Mobilfunkmasten auswich.
erst arm und dann weltberühmt machte Der kleine Sender auf seinem Rücken sollte eigentlich vier-
mal am Tag Mins Position übermitteln, so können die For-
scher Wanderrouten der Vögel nachvollziehen, und auf Ge-

M anchmal entdeckt Jelena Schnaider die verwesten


Schädel von jungen Füchsen bei ihrer Arbeit. Meist
ist sie dann schon tagelang durch die Steppe Sibiriens
gefahren, hat Klippen an den Rändern der Hochgebirge er-
fahren wie Strommasten oder Wilderer reagieren. Doch über
Monate hörten sie gar nichts von Min, bevor er sich überra-
schend von einer iranischen Müllkippe meldete. Er war lange
Zeit über so abgelegene Routen in Kasachstan, Usbekistan
stiegen und irgendwo in der baumlosen Einöde ein Nest aus und Turkmenistan geflogen, dass sein Signal keinen Mobil-
Knochen, Steinen, Draht oder Zweigen auf dem Boden ge- funkmast erreichen konnte. Nun sendete er Hunderte alte
funden, in dem zwei oder drei braun gesprenkelte, flauschige Nachrichten auf einmal ab. Das Problem: Iran verlangt für
Knäule sitzen. Junge Steppenadler. Dann freut sie sich. Textnachrichten nach Sibirien das 25-fache der russischen
Schnaider beruhigt die Tiere und näht ihnen vorsichtig ei- Inlandsgebühren. Allein Mins Roamingkosten verschlangen
nen Rucksack auf dem Rücken zusammen, so klein und leicht, innerhalb weniger Tage den kompletten Etat, der für alle Adler
nur ein paar Gramm schwer, dass er nicht stört beim Fliegen. des Projekts vorgesehen war. Die Forscher mussten einen Kre-
Es ist ein GPS-Sender mit Solar- dit aufnehmen. »Kameraden!«,
modul. Die Eltern, ausgewachse- schrieb Schnaider eine eilige Nach-
ne Steppenadler, haben eine Flü- richt an ihre Unterstützer, »dieses
gelspannweite von bis zu zwei Jahr ist etwas schiefgelaufen …«
Metern und so kräftige Klauen, Russische Onlinemedien be-
dass sie damit ohne Probleme richteten über den kostspieligen
einen Fuchs ergreifen können, Adler. Der »Daily Telegraph«
wenn sie nicht genügend Erd- wollte sie sprechen, die »New
hörnchen finden, die sie bevorzu- York Times« und die BBC, ame-
gen. Schnaider aber findet Adler rikanische Radiostationen riefen
vor allem wunderschön, verletz- an, und das australische Fernse-
lich und niedlich, besonders ihre hen plant eine Dokumentation.
weichen, kleinen Kopffedern. Schnell kam so viel Geld zusam-
Die Forscherin hat deutsche men, dass sie nicht nur die Tele-
Vorfahren, ist in Russland gebo- fonrechnung des kompletten Jah-
ren und arbeitet für das sibirische res zahlen konnte, sondern auch
Umweltzentrum. Sie hätte nie des darauffolgenden.
gedacht, dass sie diese Arbeit ein- Sie fragte sich, warum sich so
ELENA SCHNEIDER

mal so berühmt machen würde. viele auf einmal für ihre Steppen-
Ihre Geschichte erzählt sie via adler interessierten. Vielleicht
Skype aus der südlichen Negev- kennt jeder das Gefühl, dass
Wüste in Israel. Ihr Jahr hat sie die Telefonrechnung im Ausland
dem Rhythmus der Vögel unter- Schnaider mit Adler zu hoch ist, überlegte sie. Oder
worfen. Im Sommer ist sie in den vielleicht mögen Menschen auch
Brutgebieten der Adler, in einfach, dass Adler anders reisen
Kasachstan und Sibirien, im Win- als Menschen, dass sie frei sind,
ter folgt sie den Zugrouten in den sich nicht um Grenzen und
warmen Süden. Wenn Schnaider Von der Website N-tv.de Mobilfunkanbieter kümmern,
ein Vogel wäre, dann wäre sie kein Visum brauchen oder Reise-
sicher ein Zugvogel. warnungen lesen. Sie hofft, dass
Jeden Morgen steht sie um vier Uhr auf, um noch vor Son- die Aufmerksamkeit den Adlern hilft. Seit ein paar Jahren
nenaufgang Spezialnetze zu spannen, über mehrere Stunden werden sie auf der Roten Liste als bedrohte Tierart eingestuft,
Vögel vorsichtig einzufangen und zu beringen. Danach be- ihre Zahl geht zurück. Jedes Jahr, wenn Schnaider auf
schäftigt sie sich mit dem Einfluss von Berieselungsanlagen ihrer Reise durch Sibirien und Kasachstan die Nester der
auf Vogelhabitate und fährt schließlich noch ein wenig in die Steppenadler aufsucht, nimmt sie ein paar Federn mit, die
Wüste, um sich wiederum Vögel anzugucken. die Tiere verloren haben. Sie hofft, dass die Sammlung weiter
Am Tag des Gesprächs war sie drei Stunden lang unter- wächst.
wegs, auf der Suche nach dem Einödgimpel, den sie schließ- Einen gibt es, der von der ganzen Aufregung völlig un-
lich mit seinem Flugruf anlocken konnte. Einmal hat sie auch gerührt ist: Min. Er hat mittlerweile das westiranische Za-
das schwer aufzufindende Altai-Königshuhn im Gebirge ge- gros-Gebirge überquert, auch die Wüsten Saudi-Arabiens.
sehen und war danach so gerührt, dass sie weinen musste. Manchmal denkt Schnaider darüber nach, was Min sucht,
Es war, erzählt sie am Telefon, als hätte sie ein Einhorn gese- sagt sie. Vielleicht ist es die schönste Müllkippe der Welt,
hen. Man hat das Gefühl, Jelena Schnaider hat ein sehr mit viel Aas und saftigen Ratten. Vielleicht ist es etwas völlig
erfülltes Leben. anderes. Zurzeit hält er sich wieder an einem Ort auf, an
Im Oktober dieses Jahres aber wurde ihr Alltag von einer dem keiner der anderen Adler aus Schnaiders Projekt ist:
Nachricht unterbrochen, die sie beunruhigte. Es ging um ei- im Jemen. Jonathan Stock

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Der Geruch von Moschus


Sinne Parkinson ist bislang unheilbar. Wenn die Krankheit ausbricht, kann man nur die Symptome
lindern. Eine Krankenschwester aus Schottland leistet einen ungewöhnlichen Beitrag
zur Forschung: Sie kann Parkinson riechen. Von Timofey Neshitov und Daniel Etter (Fotos)

A
m Strand von St Andrews an der chen stören. Sie steigt in ihren weißen Der Feind heißt allem Anschein nach
Ostküste Schottlands kann man Honda Jazz und fährt vom schottischen Alpha-Synuklein: ein Eiweiß, das sich bei
gelegentlich eine einsame Frau Perth, wo sie in einem kleinen Haus mit Parkinson-Kranken aus rätselhaften Grün-
sehen, die dicht am Wasser spa- Garten lebt, nach Manchester. Die Fahrt den darauf verlegt, Schaden anzurichten.
ziert, auf dem feuchten, festen Sandstrei- dauert fünf bis sechs Stunden, und jedes Alpha-Synuklein reguliert normalerweise
fen. Sie trägt ihr Haar grau, der Nordsee- Mal, wenn Joy Milne die Drehtür zum die Ausschüttung des Botenstoffs Dopa-
wind weht es ihr um die Ohren. Die Frau Manchester Institute of Biotechnology auf- min. Ohne Dopamin könnte der Mensch
schließt die Augen und hält ihre Nase in schiebt, 131 Princess Street, fühlt sie sich wohl kaum eine Kaffeetasse halten: Die
den Wind. Die Nase zuckt und hebt sich, als Teil von etwas Großem. Signale, die das Hirn an die Hand schickt,
als würde die Frau gleich niesen. Die Schüttellähmung gibt es vermutlich würden die Hand gar nicht erreichen.
Die Frau heißt Joy Milne. Sie hat 26 Jah- seit Menschengedenken, bereits ein ägyp- Erkrankt jemand an Parkinson, beginnt
re lang als Krankenschwester gearbeitet, tischer Papyrus aus dem 12. Jahrhundert das Eiweiß offenbar ausgerechnet jene
drei Söhne großgezogen, ihren Mann ge- vor Christus beschrieb die Leiden eines Nervenzellen zu töten, die Dopamin her-
pflegt. Nun ist sie verwitwet. Sie reist viel, sabbernden Herrschers. Bis heute gibt es stellen. Das Ganze spielt sich im Mittelhirn
spaziert viel. Sie ist 69 Jahre alt. ab, in der Region mit dem Namen Sub-
Ihre Nase ist etwas gekrümmt, nicht son- stantia nigra, die schwarze Substanz. Sie
derlich groß und nicht klein, an der Na- ist dunkler als der Rest des Gehirns und
senwurzel, wo die Brille sitzt, sieht man sieht auf Hirnschnitten aus wie eine
Druckstellen, wenn Joy Milne ihre Brille schwarze Schleife um einen hellen Hut.
abnimmt, was sie tut, um aufs Meer zu bli- Parkinson frisst sich im Verborgenen vo-
cken. Joy Milne hat eine besondere Nase: ran. Bis die motorischen Symptome auf-
Sie nimmt Gerüche stärker wahr, als die treten – Verlangsamung der Bewegungen,
meisten Nasen es tun. Zittern, Muskelsteifheit –, bis ein Arzt die
Sie riecht Kaffee, bevor sie die Tür zu Diagnose stellen kann, sind 50 bis 70 Pro-
einem Café öffnet, den Duft ihrer Enkel, zent der Zellen zerstört.
bevor die Kinder sie umarmen. Anderer- Seit der britische Arzt James Parkinson
seits riecht sie im Alltag Dinge, die sie im Jahr 1817 »Eine Abhandlung über die
nicht riechen will. Abgase, Metzgereien, Schüttellähmung« veröffentlichte, haben
Parfumgeschäfte, Kabinenluft; Joy Milnes Generationen von Patienten die gleiche Er-
Nase läuft und blutet, wenn ihr die Welt fahrung gemacht: »So leicht und so
stinkt. Unangenehme Gerüche lassen sie beinahe unmerklich sind die Einbrüche die-
frieren. Sie flieht dann an die Nordsee. ser Krankheit«, schrieb Parkinson, »und
Der Fachbegriff für ihre gesteigerte so extrem langsam deren Fortschritt, dass
Riechwahrnehmung heißt Hyperosmie, Geruchsprobe in Manchester
es selten vorkommt, dass der Patient sich
von griechisch: osme, »Geruch«. Hyper- 15 000 Euro für eine E-Nase an die genaue Zeit ihres Beginns erinnert.«
osmie kommt bei Epilepsie vor, bei Psy- In Manchester geht ein Forscherteam
chosen, in der Schwangerschaft. Joy Milne der Frage nach, ob man Parkinson nicht
hat diesen Geruchssinn seit ihrer Kindheit. keine Heilung. Niemand weiß, wie genau früher erkennen kann. Pharmaunterneh-
Sie sagt über sich: »Was Gerüche an- Parkinson entsteht. men arbeiten seit Jahren an Medikamen-
geht, bin ich irgendwo zwischen Mensch Forscher warnen vor einer »Parkinson- ten, aber was bringen die besten Medika-
und Hund.« Pandemie«: Bis 2040 soll sich die Zahl der mente, wenn man sie erst einsetzen kann,
Seit einigen Jahren interessieren sich Patienten weltweit auf etwa 14 Millionen wenn die Hirnzellen schon tot sind?
Wissenschaftler für ihre Nase. verdoppeln. Die Lebenserwartung steigt Das Team in Manchester wird geleitet
Joy Milne riecht Krankheiten. Men- und mit ihr das Risiko, an Parkinson zu er- von Perdita Barran. Die Professorin trägt
schen mit Alzheimer riechen für sie nach kranken. Jeans und Sneakers und eine Sonnenbrille
Roggenbrot. Diabetes riecht nach süßem Parkinson tötet Hirnzellen. Der Kranke im Haar, sie könnte Joy Milnes Tochter
Nagellack, Krebs nach Pilzen, Tuberkulo- verliert schleichend die Kontrolle über sei- sein. Wenn Joy Milne nach Manchester
se nach feuchtem Karton. Sie hat in ihrem nen Körper, seine Bewegungen, seine Spra- kommt, übernachtet sie bei ihr zu Hause.
Leben Tausende Kranke gepflegt. che. Es ist ein langer Abschied. Barran ist Chemikerin, keine Parkinson-
Am besten kennt Joy Milne den Geruch Die letzten drei Nächte, bevor ihr Mann Forscherin, aber seit Joy Milne vor acht
von Parkinson. Ihr Mann Leslie starb da- starb, lag Joy Milne neben ihm im Dunkeln. Jahren der Fachwelt mitteilte, sie könne
ran. Dessen Mutter starb daran. Auch sie Sie redeten, so offen, sagt sie, wie noch nie Parkinson riechen, beschäftigt sich Barran
hatte Joy Milne gepflegt. in 42 Jahren Ehe. Les, so nannte sie ihn, sehr viel mit Parkinson.
Alle paar Wochen rasiert sie sich Här- entschuldigte sich bei ihr, vor allem dafür, Joy Milne sagt, sie rieche Parkinson
chen von der Oberlippe, die sie beim Rie- was die Krankheit aus ihm gemacht hatte. bereits in frühen Stadien. Barran will mit

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Witwe Milne
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ihrer Hilfe einen Früherkennungstest treten die ersten Verklumpungen auf, von
entwickeln. Das Projekt heißt NoseTo- hier breitet sich die Krankheit über den
Diagnose. Hirnstamm im gesamten Gehirn aus. Die
Gerüche bestehen aus Molekülen. Mo- für Dopamin wichtige Region Substantia
leküle lassen sich messen, erhitzen, in Röh- nigra wird erst im dritten Stadium ange-
ren beschleunigen. In Manchester versucht griffen. Diese Stufe ist kritisch.
Perdita Barran, einer Maschine beizubrin- Heiko Braak schrieb: »Wäre es möglich,
gen, das zu riechen, was Joy Milne riecht. die Parkinson-Krankheit bereits in den frü-
Was genau riecht Joy Milne? hen, vorsymptomatischen Stadien 1 und
Sie wusste das lange selbst nicht. 2 zu diagnostizieren, und gäbe es eine kau-
Leslies Körpergeruch liebte sie lange sale Therapie, könnte die anschließende
Jahre. »Ein starker, maskuliner, moschus- Zerstörung der Substantia nigra abgewen-
artiger Duft.« det werden.«
Ihr erstes, holpriges Gespräch über Kör- Bei Leslie Milne muss der Prozess mit
pergerüche hatten Joy und Leslie Milne Ende dreißig unumkehrbar geworden sein.
im Jahr 1981. Les war Anfang dreißig, ein Der fremde Geruch, für den Joy Milne kei-
erfolgreicher Anästhesist, Chefarzt an ei- ne Erklärung fand, wurde stärker, cremiger,
nem großen Krankenhaus. Eines Abends fettiger. Sie hatte aufgehört, Les darauf an-
sei er nach Hause gekommen, erinnert sich zusprechen. Les bekam Erektionsstörungen.
Joy Milne, und habe gerochen, wie Teen- Milne-Tagebucheintrag* Von da an gab es zwei Leslies, wie bei
ager, die ihre Sportklamotten zu selten wa- Les roch immer weniger nach Les Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Der eine war auf-
schen. Du solltest öfter duschen, habe sie merksam, fleißig, ein guter Vater. Der an-
ihm gesagt. Komm mal ins Bett, habe er dere launisch, unnahbar, schwach. Sein
geantwortet, Kreuzworträtsel lösen. Milne kochte ihrem Mann deshalb Gemü- Körpergeruch wurde Joy Milne immer
Joy und Les lernten sich in der Schule seeintöpfe. Er schlief unruhig, träumte von fremder. Sein schönes Dunkellila bekam
kennen, in der Küstenstadt Dundee, wo der Jagdausflügen, schoss im Schlaf auf Brom- braune Töne.
Fluss Tay in die Nordsee mündet. Sie war beerbüsche, schreckte im Bett auf, richtete Krankheiten greifen in den Stoffwechsel
16, er 17, Kapitän der Wasserballmannschaft. sein imaginäres Gewehr auf seine Frau. ein. Bereits Hippokrates und Avicenna setz-
Joy wollte eigentlich Französisch lernen in Einmal verlor sie dabei eine Zahnkrone. ten zur Diagnostik ihre Nasen ein. Bei Cho-
Paris. Wegen Les blieb sie in Dundee. Auch Schlafstörungen, das weiß sie heute, lera riecht der Kot fischig, bei Diabetes der
Dundee roch damals nach Jute. Nir- sind ein mögliches Symptom. Urin süßlich. Heute muss kein Arzt mehr
gendwo in Großbritannien wurde mehr Was im Körper eines Parkinson-Patien- an Kotproben riechen.
Jute angebaut als in Dundee. Joy Milne ten vor der Diagnose abläuft, ist bei jedem Wenn Joy Milne versucht, den Geruch
führt gern auf den Law Hill, einen grünen, anders, es hängt von der Genetik ab, von von Parkinson in Worte zu fassen, muss
170 Meter hohen Hügel in Dundee, mit der Ernährung, davon, ob und wie viel sie nachdenken: »moschusartig … talgig«.
Blick auf den Tay. »Les und ich waren öfter Sport man treibt. Moschus ist aber ein begehrter Geruch,
hier oben«, sagt sie. »Nun riecht es hier Joy Milne glaubt heute, dass vieles, was Grundnote von Parfums. Hat sie nicht den
nach Wiesenprimel.« aus ihrem Les einen anderen Les machte, Körperduft ihres Mannes vor der Krank-
an Parkinson lag. Sein Mundgeruch ab 30. heit so beschrieben? Joy Milne sagt, sie
Schließt Joy Milne die Augen, riecht sie Das Ohrenschmalz auf dem Kissen. Die werde weiter darüber nachdenken.
in Farben. Wenn sie sich eine Blume an talgige Haut auf dem Rücken, im Gesicht. Es ist nicht leicht, einen Geruch zu be-
die Nase führt, dreht sich in ihrem Kopf Seine Beschwerden, das Essen schmecke schreiben, den das Gegenüber nicht rie-
ein »Kaleidoskop«, wie sie sagt. Der Fach- fad. Damals dachten sie nicht an Parkin- chen kann. Das liegt am komplexen Ge-
begriff für dieses Überlagern von Sinnen son. Les wusch sich die Ohren, putzte sich ruchssystem des Menschen, im Gegensatz
heißt Synästhesie. Die Farbe des Geruchs die Zähne, streute immer mehr Salz auf etwa zu unserem Geschmackssinn. Der
hat dabei selten mit der Farbe des Gegen- sein Essen, immer mehr Pfeffer. Mensch schmeckt süß, bitter, salzig, sauer,
stands zu tun. Kaffee riecht für sie »aufge- Sie bekamen drei Kinder. umami (fleischig-herzhaft). Unsere Nase
wirbelt grau«, die Nordsee smaragdgrün. Nach einer Hypothese beginnt Parkin- kann etwa 400 Gerüche unterscheiden.
Auch Menschen haben Farben. Perdita son nicht im Kopf, sondern im Bauch: Al- Da in unserem Wortschatz die Adjektive
Barran in Manchester – Joy Milne nennt pha-Synuklein mutiert demnach im Darm dazu fehlen, beschreiben wir Gerüche
sie Perdi – riecht für sie grün, manchmal und wandert über Verästelungen des Va- durch Vergleiche: Etwas riecht nach Jas-
orange, fast rot, wenn Perdi lache. Les sei gusnervs in Richtung Hirn. Wie es sich min, nach Moschushirsch.
»deep purple« gewesen. Dunkellila. dann im Hirn ablagert, beschrieb der deut- Unsere Geruchsrezeptoren befinden
Sie roch ihren Les, wie andere ein Ge- sche Anatom Heiko Braak. 2003, zwölf sich in der Schleimhaut der Nasenhöhlen;
mälde betrachten oder eine Symphonie Jahre vor Leslie Milnes Tod, veröffentlich- es sind Proteinkomplexe, die jeweils für
hören. Les selbst roch nichts. Bereits mit te Braak sein Sechsstufenmodell. Er hatte nur ein Geruchsmolekül zuständig sind.
Ende zwanzig hatte er seinen Geruchssinn dafür Hunderte Gehirne seziert. Sie werden aktiv, wenn ihr Molekül durch
verloren. Nicht bei jedem, der seinen Ge- Als Erstes wird der Vagusnerv im Hirn- die Nase kommt und sich passend andockt.
ruchssinn verliert, wird später Parkinson stamm befallen, der zehnte Hirnnerv, der Geruchsmoleküle unterscheiden sich in
diagnostiziert; eine Kopfverletzung, Tumo- die meisten inneren Organe versorgt. Hier Größe und Form. Das System funktioniert
ren, eine schwere Erkältung können den nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Ein
Geruchssinn schwächen. Aber hat jemand * Tuesday 17th December. I have let it all go AGAIN. Hund hat 800 Geruchsrezeptoren.
Parkinson, kann er sich auf seine Nase IT IS STUPID. He will never think of me, care for Etwa vier Jahre vor der Diagnose be-
meist nicht mehr verlassen. Inzwischen me and I punish myself by eating. IT HAS TO gann Leslie Milnes rechte Hand zu zittern.
STOP. 1: A book / record of what I eat. 2: Times for
gilt das als ein Frühzeichen von Parkinson. Er verbarg es vor seiner Frau, indem er
drinking – phone / watch. 3: INJECTION. 4: TABLETS.
Ein weiteres Warnzeichen, von dem sie 5: HOUSEWORK. 6: IRONING. 7: EXERCISE. ALL die Hand in die Hosentasche steckte. Seine
nichts wussten, waren Verstopfungen. Joy ME THINGS. Lift yourself out of this JOY. Kollegen bemerkten das Zittern und dach-

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ten, er trinke. Als auch Joy Milne es be- Tablette oder Kapsel schluckt. Sie wird im Halluzination. Er schlug sie auf die Brust.
merkte, dachte sie, Les habe einen Hirn- Gehirn in Dopamin umgewandelt. Es gibt Auf die Arme. Schlief wieder ein. Am Mor-
tumor. Einen Tag vor seinem 45. Geburts- Präparate, die den Abbau von Dopamin gen weinte er. Joy Milne blieb zwei Tage
tag brachte sie ihn zum Arzt, der stellte die hemmen, und welche, die die Wirkung zu Hause, blaue Flecken an der Brust. Bei
Diagnose: Parkinson. von Dopamin nachahmen. der Arbeit log sie, sie habe einen Auto-
Die Milnes wussten, es geht bergab, aber Leslie Milnes Hand hörte auf zu zittern, unfall gehabt.
sie wussten endlich auch, woran sie waren. er fuhr wieder seinen Jaguar, lachte über Leslie Milne kündigte seinen Job. Er
Joy Milne begann Tagebuch zu führen. sein zweites Ich, diesen unberechenbaren verkaufte den Jaguar, besorgte sich einen
Zur Zeit von James Parkinson lebten Les, den er nun etwas besser im Griff hatte. batteriebetriebenen Buggy. Die Milnes leb-
Patienten mit motorischen Symptomen Er arbeitete fünf weitere Jahre als Anäs- ten damals in Macclesfield, südlich von
nur wenige Jahre. »Wenn der Körper thesist. Nur seinen Körpergeruch konnten Manchester. 2009 zogen sie zurück nach
schwächer wird und der Einfluss des Wil- die Pillen nicht wiederherstellen. Schottland und kauften ein Haus in Perth,
lens auf die Muskeln schwindet, wird das Les roch immer weniger nach Les. einer Stadt unweit von Dundee.
Zittern vehement«, schrieb Parkinson. Je länger man Parkinson-Medikamente An einem Nachmittag begleitete Joy
»Jetzt lässt ihn das Zittern in den seltensten nimmt, desto wahrscheinlicher sind Neben- Milne ihren Mann zu einer Veranstaltung
Momenten in Ruhe; aber sogar wenn wirkungen. Leslie Milne hatte Übelkeit, im Gemeindezentrum gegenüber der Kir-
die erschöpfte Natur eine kleine Portion Schwindel. Er wurde depressiv. Einige Pa- che. Ein Sozialarbeiter sollte vortragen,
Schlaf ergattert, wird die Bewegung derart tienten leiden unter einer Bewegungsstö- welche Leistungen Parkinson-Kranken zu-
gewaltig, dass nicht mehr nur die Bettvor- rung, bei der sich der Körper unkontrolliert stehen. Als sie ankamen, saßen im Raum
hänge geschüttelt werden, sondern sogar in alle Richtungen beugt und windet. Eini- zwei Dutzend Patienten. Jeder Einzelne
der Boden und die Fenster im Raum … ge werden spielsüchtig oder kaufsüchtig, roch nach Les.
Urin und Kot werden unfreiwillig ausge- andere erleiden Psychosen, werden auf- 30 Jahre nachdem sie ihrem Mann vor-
schieden; schließlich kündigen fortwähren- dringlich. geworfen hatte, er würde stinken, 15 Jahre
de Schläfrigkeit, mit leichtem Delirium, An seinem 50. Geburtstag erschien Les nach seiner Diagnose, verstand sie, was
und andere Anzeichen äußerster Erschöp- zur eigenen Party in einem Slip mit schot- sie die ganze Zeit gerochen hatte.
fung die ersehnte Erlösung an.« tischer Flagge darauf. Eine Hose hatte er Zu Hause erzählte sie Les von ihrer Ent-
Als Leslie Milne seine Diagnose bekam, nicht an. Er mischte sich eine Bacardi Cola deckung. »Wir müssen da wieder hin«, sag-
1994, hatten die Ärzte gelernt, mehrere und ließ sich auf den Schoß einer jüngeren te er, »wir müssen sicher sein.« Sie besuch-
Parkinson-Symptome zu kontrollieren. Kollegin nieder. ten eine weitere Veranstaltung im Gemein-
Der wichtigste Wirkstoff hieß und heißt Eines Nachts stieß er seine Frau aus dem dezentrum, fuhren zu Patiententreffs nach
Levodopa, eine Aminosäure, die man als Bett. Er starrte sie an, wie im Bann einer Inverness, Aberdeen, Fife. Joy Milne hatte

Vater Milne mit Familie 2014: »Tee wäre schön«

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Medizin In Manchester arbeiten Wissenschaftler daran, Parkinson früher das Fortschreiten von Alzheimer-Sympto-
men verlangsamen konnte. Mal sehen,
als bisher diagnostizieren zu können. Was heißt das für die Patienten? wie belastbar die Daten sind. Alzheimer
ist komplizierter als Parkinson, weil

»Nah an den Ursachen dran« zwei Proteine im Gehirn verklumpen. Bei


Parkinson haben wir es bis jetzt nur mit
einem Protein zu tun.
SPIEGEL: Joy Milne meint, die Forschung
Gehirn zusammen. Wir sind nah an den sollte sich weniger auf Alpha-Synuklein
Ursachen dran. konzentrieren. Einige Pharmaforscher in
SPIEGEL: Es gibt Parkinson-Tote, bei England interessieren sich für die Rolle
denen keine Alpha-Synuklein-Verklum- der geschädigten Mitochondrien im Ge-
pungen gefunden werden. hirn, den Kraftwerken der Zellen.
Höglinger: Das sind Ausnahmen. Es gibt Höglinger: Meine Wahrnehmung ist, dass
nicht die eine Ursache. Bei etwa zehn kaputte Mitochondrien in der Kette der
Prozent der Patienten ist es genetisch Ereignisse nicht an erster Stelle stehen.
bedingt, beim Rest spielen Umweltfakto- Erst verklumpt das Alpha-Synuklein,
ren eine Rolle, vor allem Pestizide er- dann leiden die Mitochondrien. Mit end-
MAGDALENA JOOSS / TUM

höhen das Risiko. Auch wer Hautkrebs gültiger Sicherheit kann Ihnen das nie-
hat oder ein Schädel-Hirn-Trauma, mand sagen.
scheint gefährdet zu sein. Bei den aller- SPIEGEL: Wäre es nicht wichtig, die Suche
meisten Patienten finden sich aber Alpha- nach neuen Medikamenten möglichst
Synuklein-Verklumpungen. breit aufzustellen und zum Beispiel die
SPIEGEL: Wenn es einen Früherkennungs- Rolle des Immunsystems zu erforschen?
Günter Höglinger, 48, ist Direktor der test gäbe, was könnte man tun? Höglinger: Das wird gemacht. 2020 be-
Klinik für Neurologie an der Medizinischen Höglinger: Ich vergleiche es mit der ginnt eine Studie mit einem entzündungs-
Hochschule Hannover und Präsident Lungenentzündung: Bevor Penicillin er- hemmenden Medikament, einem
der Deutschen Parkinson Gesellschaft. funden wurde, bekamen die Kranken sogenannten Myeloperoxidase-Hemmer.
Hustenmittel. Bei Parkinson heißt das SPIEGEL: Welches sind die anderen viel-
SPIEGEL: Wann haben Sie das erste Mal Hustenmittel Levodopa, es lindert versprechenden Entwicklungen?
von Joy Milne gehört? die Symptome. Wir versuchen gerade, ein Höglinger: Eine ist: die Hirnzellen dazu
Höglinger: 2017, in einem BBC-Beitrag. Penicillin für Parkinson zu entwickeln. zu bringen, das krank machende Protein
Seitdem verfolge ich mit großem Interesse, Ich sehe vielversprechende Ansätze. erst gar nicht herzustellen. Das macht
was die Kollegen in Manchester machen. Je SPIEGEL: Welche? man, indem man ein Schnipsel modifizier-
früher man Parkinson erkennt, desto höher Höglinger: Stellen Sie sich zwei Nerven- tes Erbgut in das Nervenwasser injiziert.
die Chance, eine Therapie zu entwickeln. zellen im Gehirn vor. Die Botenstoffe, mit Das hat bei einer anderen neurodegenera-
Es gab schon Versuche, Parkinson mit Blut-, denen die beiden kommunizieren, sind in tiven Krankheit geklappt. Das Präparat,
Rückenmarkflüssigkeits- oder Speichelpro- kleinen Bläschen gespeichert. Normaler- Spinraza, ist auf dem Markt. Für Parkinson
ben zu diagnostizieren. Geruch ist ein neuer weise dient Alpha-Synuklein dazu, diese haben wir leider noch kein solches Medi-
und hoffentlich richtiger Ansatz. Bläschen zu stabilisieren. Verklumpt kament.
SPIEGEL: Glauben Sie, auch elektroni- es, tötet es die eine Zelle und wandert zur SPIEGEL: In den USA wird viel mit
sche Nasen können Parkinson erkennen? Nachbarzelle weiter. Man kann versu- Stammzellen experimentiert.
Höglinger: Warum nicht, die Studien- chen, dieses Überspringen zu verhindern. Höglinger: Der Gedanke, gestorbene
ergebnisse aus Großbritannien scheinen Das tut man mit extra dafür angefertigten Hirnzellen mit Stammzellen zu ersetzen,
solide zu sein. Der Zeitpunkt ist jedenfalls Antikörpern. Da sind mehrere Pharma- scheint mir absurd. Wenn bei Ihnen
günstig, ich hoffe, dass Parkinson endlich unternehmen dran. die Badewanne überläuft, können sie ent-
geknackt wird. SPIEGEL: Wie soll das funktionieren? weder einen Lappen nehmen und den
SPIEGEL: Reden Sie mit Ihren Patienten Höglinger: Die Antikörper werden dem Boden wischen oder den Hahn zudrehen.
darüber? Patienten ins Blut gespritzt. Das Ziel ist Stammzellen sind der Lappen. Wir
Höglinger: Meine Patienten wissen, aber das Gehirn, und nicht jede Substanz sollten die Hirnzellen schützen, nicht er-
dass wir die Symptome mindestens zehn schafft es über die Blut-Hirn-Schranke, setzen. Was man mit Stammzellen
Jahre lang gut kontrollieren können. nur 0,3 Prozent der Antikörper gelangen gut tun kann, ist, Krankheitsmodelle zu
Ob es bis dahin eine krankheitsverzögern- ins Gehirn. Man hofft, dass es trotzdem simulieren.
de Behandlung geben wird, weiß nie- ausreicht. SPIEGEL: Was halten Sie von Gen-
mand, aber es hat sich so viel getan in der SPIEGEL: Das klingt ein bisschen nach der therapien?
Forschung. Die Achtziger- und Neunziger- Alzheimer-Forschung vor 20 Jahren. Man Höglinger: Der Mensch hat etwa
jahre wirken im Rückblick wie Steinzeit. hoffte damals, man könne die Krankheit 20 000 Gene, etwa 17 000 davon kann
SPIEGEL: Weil man nicht viel mehr wuss- stoppen, wenn man nur das verklumpte man inzwischen gezielt ausschalten.
te als James Parkinson 1817? Eiweißstückchen Beta-Amyloid aus dem Wir haben im Labor zwölf spannende
Höglinger: Wir kannten die Ursachen Gehirn herausbekäme. Inzwischen hat Gene gefunden: Schaltet man sie aus,
nicht. Die Parkinson-Krankheit war: sich so gut wie jede Hoffnung auf diese bleiben die Nervenzellen gesund. Nun
Zittern, Muskelsteifheit, Nervenzellver- Therapie zerschlagen. Was macht Sie müssen wir verstehen, welche Gene
lust. Heute ist Parkinson biochemisch sicher, dass es bei Parkinson anders läuft? wir bei Patienten ausschalten können,
definiert: Es hängt mit den Verklumpun- Höglinger: Die Firma Biogen hat gerade ohne dass es zu Nebenwirkungen führt.
gen des Proteins Alpha-Synuklein im verkündet, dass sie mit einem Antikörper Interview: Timofey Neshitov

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Ehemalige Krankenschwester Milne, Forscherinnen in Manchester: »Wir sollten deine Nase versichern«

keine Zweifel mehr. Aber an wen sollte sie riechen würde, fragte er. Sie bekam zwölf Chemiker beschreiben Gerüche, indem
sich wenden? T-Shirts vorgelegt. Sechs waren von Par- sie deren Moleküle benennen. Bei Parkin-
Bei einem Vortrag lernte sie Tilo Kunath kinson-Patienten getragen worden, sechs son kommt es offenbar auf vier organische
kennen, Gruppenleiter am Zentrum für Re- von gesunden Menschen. Die T-Shirts wa- Verbindungen an: Perillaaldehyd, Hippur-
generative Medizin der Universität Edin- ren in jeweils zwei Teile zerschnitten. Joy säure, Eicosan, Octadecanal. Es sind, un-
burgh. Kunaths Fachgebiet sind Stamm- Milne setzte die 24 Teile richtig zusammen. ter anderem, diese vier Verbindungen, die
zellen. Joy Milne fragte ihn: »Warum nut- Dann sollte sie sagen, welche T-Shirts nach Joy Milne riecht, wenn sie Parkinson
zen wir nicht den Geruch von Parkinson, Parkinson rochen. Es waren sieben. riecht.
um die Diagnose früher zu stellen?« Kunath Für eines der Experimente in Manchester
hörte höflich zu. Ob sie womöglich den Ver- Treffsicherheit 92 Prozent. Tilo Kunath wurden Teilnehmern Talgproben vom obe-
lust des Geruchssinns bei Patienten meine? erzählte Joy Milne von einer Bekannten ren Rücken genommen. Die Proben wurden
Joy kontaktierte keine Forscher mehr. in Manchester, der Chemikerin Perdita erhitzt, die freigesetzten Moleküle aufge-
Sie pflegte Les. Barran, die im Labor Geruchsmoleküle trennt und durch ein Rohr der Nase von Joy
Er war inzwischen dement. Vergaß sei- messe. Monate vergingen. Es meldete sich Milne zugeführt und zeitgleich mit einem
ne Medikamente. Am Ende musste er der siebte Teilnehmer, der gesunde. anderen Gerät ausgemessen. Joy Milne
19 Tabletten am Tag schlucken. Auch er hatte nun Parkinson. drückte einen Knopf, sobald sie den Parkin-
Um seinen Mangel an Dopamin auszu- Am Morgen des 2. Juni 2015 sagte Joy son-Geruch erkannte. So signalisierte sie den
gleichen, kaufte Les für 50 Pfund Schoko- Milne zu ihrem Mann: »Les, ich mache Forschern, auf welche Moleküle es ankam.
lade, setzte sich in seinen weißen Senio- uns Tee.« Les hatte eine Harnblasenent- In Zukunft soll der Parkinson-Test zwei
rensessel und hörte Dolly Parton. zündung, an diesem Tag sollte er ins Kran- Minuten dauern, so plant es das Team in
Er unterschrieb eine DNR-Anordnung, kenhaus gebracht werden. Er hatte Angst, Manchester: Der Arzt wischt dem Patien-
do not resuscitate. Nicht wiederbeleben. dass er die Operation nicht überleben wür- ten mit einem Wattestäbchen über den Rü-
Wenn Joy Milne an ihm roch, roch sie de. Er sagte: »Tee wäre schön.« cken, überträgt die Probe auf einen Papier-
nur noch Parkinson, kastanienbraun. Von der Küche aus hörte sie, wie er von streifen, schiebt diesen in einen Kasten,
Les stützte sich auf einen Stuhl und jä- seinem Ledersessel aufstand und hinfiel. eine sogenannte elektronische Nase. Sie
tete Unkraut in der Hauszufahrt. Die Söh- Sie versuchte, ihn wiederzubeleben. soll 15 000 Euro kosten.
ne kamen immer öfter zu Besuch, dabei Leslie Milne starb am Nachmittag im Joy Milne sagt, zehn Jahre vor der Dia-
die Enkelkinder. Im April 2013 machten Krankenhaus. Zu seiner Beerdigung ka- gnose roch ihr Mann anders als drei Jahre
sie ihren letzten Urlaub und reisten zu Joys men Spieler seiner Wasserballmannschaft. vor der Diagnose.
Schwester nach Dubai. Auf dem Flug Im März dieses Jahres erschien in einer Im Juli saß sie wieder mit Perdita Barran
sperrte sich Les in der Toilette ein, bekam Fachzeitschrift der American Chemical So- in Manchester und roch an Prodromalpro-
die Tür nicht mehr auf. ciety eine Studie, die nachwies, dass der ben aus einer Klinik in Innsbruck. Bei
Monate nach ihrem Besuch in Edin- Geruch von Parkinson eine eigene mole- Prodromalpatienten sind keine motori-
burgh meldete sich Tilo Kunath bei Joy kulare Signatur hat. Unter den zwölf Au- schen Symptome sichtbar, sie klagen aber
Milne. Ob sie für ihn an ein paar T-Shirts torennamen war auch der von Joy Milne. über Verstopfungen oder den Verlust des

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Geruchssinns. Kann man einer E-Nase Milne war enttäuscht vom Stand der For-
auch diese Abstufungen beibringen? schung, von Wissenschaftlern, die aus ih-
In der Mittagspause überquerten Joy rer Sicht nicht genug miteinander reden.
Milne und Perdita Barran die Straße, Mil- Sie fragte sich, warum sie das alles über-
ne stolperte, Barran stellte sich schützend haupt tat. Was bringt die sensibelste Nase,
vor sie und sagte: »Wir sollten deine Nase wenn sie umsonst riecht?
versichern.« In der Nacht bevor Les starb, hatte Joy
2022 soll der NoseToDiagnose-Test fer- Milne ihm versprochen, dass sie nicht auf-
tig sein. geben werde. Dass kein anderes Paar durch-
Im Juni reiste Joy Milne zum Welt-Par- machen muss, was sie durchgemacht hatten.
kinson-Kongress nach Kyoto. Sie saß in Vor- Nach seinem Tod verkaufte sie das
trägen über Frauen und Parkinson, hörte Haus, zog in ein kleineres, einige Straßen
Patienten zu, die über ihre Sexualität seit weiter. In ihrem Garten wachsen Rosen,
der Diagnose sprachen. Andere redeten Knoblauch, ein Fächerahorn. »Jedes Mal,
über Kaffee und Parkinson, über Rauchen wenn ich meinen Garten betrete, ist es wie
und Parkinson, sie hörte, dass Koffein und ein Trip für mich«, sagt sie.
Nikotin gegen Parkinson schützen sollen. Dort sitzt sie oft mit ihren Freundinnen,
Joy Milne stellte die Geschichte ihrer Betty und Rena. Sie lernte sie auf einer Par-
Nase vor, aber die meisten Teilnehmer Ehepaar Milne 1973 kinson-Veranstaltung kennen, als ihre Män-
kannten sie bereits. Milne spricht auf Ta- »Heute kommst du mal raus« ner noch lebten. Renas Mann starb als Ers-
gungen, ist auf Twitter, gibt der BBC In- ter. 18 Monate später beerdigten sie Les,
terviews, der »New Scientist« schreibt fünf Wochen danach Bettys Mann.
über sie. Sie ist eine Art Star der Parkin- Hautpathologie bei Parkinson. Sie war Auf der Kommode in Joy Milnes Schlaf-
son-Forschung, ohne Forscherin zu sein. nach Japan geflogen, weil sie hoffte, hier zimmer steht ihr Hochzeitsbild. Les trägt
In jedem Panel, in jeder Kaffeepause spra- zu erfahren, wie die Parkinson-Forschung einen Kilt, Joy trägt lange, dunkle Locken.
chen sie Ärzte und Patienten an: Weiter mithilfe ihrer Nase zum Durchbruch ge- Im Wohnzimmer sitzt auf dem Fenster-
so, Joy, wir hoffen auf dich! langen könnte. Am ersten Kongresstag brett Ohnezahn, der Drache aus dem Film
Auch Leslie Milne hoffte auf ein heilen- sprach ein Forscher aus Michigan über »Drachenzähmen leicht gemacht«. Den
des Medikament. Wer seine Diagnose be- neue Therapien. Joy Milne ging ans Mi- mochte Les sehr. Unter dem Fensterbrett:
reits bekommen hat, wird von einem Früh- krofon und stellte ihm eine einfache Frage: eine grüne Plastikurne.
erkennungstest nicht mehr profitieren, es »Wie bereiten Sie sich auf den Fall vor, dass »Heute kommst du mal raus«, sagt Joy
sind Menschen, die noch nicht ahnen, dass wir Parkinson früher erkennen?« Milne und holt die Urne in die Mitte des Zim-
sie erkrankt sind, für die Joy Milne eine Der Professor verstand zunächst ihre mers. Les’ weißen Sessel schenkte sie ihrem
Hoffnung sein könnte. Frage nicht. Er redete davon, wie gut Sohn David. »Ich kann da drin nicht sitzen«,
Joy Milne riecht sie immer wieder, in man die Symptome behandeln könne, ir- sagt sie, »das Ding riecht nach Parkinson.«
der Warteschlange im Supermarkt, im gendwann fiel Joy Milne ihm ins Wort. Wie riecht denn Parkinson?
Swimmingpool, an Flughäfen. Sie spricht Schließlich gab er zu: Im Moment habe Monate später, bei einem der letzten Te-
sie nie an. »Wenn man jemandem sagt: die Forschung nichts, um die Patienten zu lefonate sagte Joy Milne: »Jetzt weiß ich
Du hast Parkinson, muss der Mensch das heilen. es. Es ist doch Moschus, aber ein anderer
von einem Arzt hören, nicht von mir.« Die Krankenschwester, die immer Wun- Moschus. Wie bei Milch, wenn sie sauer
In Kyoto schrieb Joy Milne mehrere den verbunden, Fieber gemessen, Nacht- ist. Es ist immer noch Milch und gleich-
Hefte voll. Sie machte sich Notizen zur tie- töpfe geleert hatte, ist es gewohnt, Men- zeitig etwas völlig anderes.«
fen Hirnstimulation, Gentherapie, der schen zu helfen, nicht zu warten. Joy

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Mein Fall

Der dritte
Mann
40 Jahre nachdem Carmen Kampa ver-
gewaltigt und erdrosselt worden
war, nahm der Kriminalhauptkommis-
sar Kay-Christian Höchel die erste von
sehr vielen Akten in die Hand, die
sich mit dem Tod der 17-jährigen Frau befassten. Höchel war
gerade zum Mordkommissariat gewechselt, sein neuer Chef
hatte ihm vorgeschlagen, er könne sich zum Einarbeiten
mit einem der alten, ungelösten Fälle beschäftigen, einem
Cold Case.
Der Name Carmen Kampa sagte Höchel nichts. Erst als er
sich mit einem Kollegen durch die Akte arbeitete, erkannte
er, dass sein Chef ihn nicht nur gebeten hatte, einen Todesfall
aufzuklären, der fast ein halbes Jahrhundert zurücklag.
Höchel sollte außerdem einen Skandal, der die Bremer Justiz
bundesweit in die Schlagzeilen gebracht hatte, zu einem
erträglichen Ende bringen.
Carmen Kampa starb am 1. Mai 1971 gegen 23.25 Uhr an Auf dieser Brachfläche an den Bahngleisen legte
einer Böschung nahe dem Bahnhof Bremen-Oslebshausen. Hermann Richter die Leiche von Carmen Kampa ab.
Sie war auf dem Heimweg von einer Diskothek. Den Mann,
der ihr begegnete, kannte sie nicht. Möglich, dass sie keinen
Verdacht schöpfte, weil er eine Uniform trug, die der eines sei normal gewesen, wendeten sich die Ermittler anderen
Polizisten ähnelte. Ein Zeuge sah den Täter und sein Opfer Verdächtigen zu.
aus einem Zug, der gerade aus dem Bahnhof herausfuhr. Er Höchel und sein Partner stellten vieles infrage, was 40 Jah-
hörte die Frau um Hilfe rufen, er sah, wie der Mann sie zu re zuvor ermittelt worden war, auch die Aussage von R.s
Boden drückte. Schon zehn Minuten später suchten drei Frau. Sie hatte sich mittlerweile von R. getrennt. »Er hat sie
Beamte das Gebiet ab, ergebnislos. geschlagen, hat sie vergewaltigt.«
Drei Tage später wurde Carmen Kampas Leiche gefunden, Höchel irritierte besonders die Lage, in der Carmen Kampa
auf einem unbebauten Grundstück, nicht weit vom Tatort gefunden worden war. Sie war ungewöhnlich für ein Verge-
entfernt: die Bluse hochgeschoben, die Hose verrutscht. Einer waltigungsopfer. Sie lag im Gras, als wäre sie von einer Schul-
der Ersten, der sie dort liegen sah, war ihr Vater. Er arbeitete ter abgelegt worden. Als Soldat hatte Höchel gelernt, wie
beim zivilen Bevölkerungsschutz und hatte über Funk gehört, eine verletzte Person über der Schulter zu tragen ist. Höchel
dass eine junge Frau gefunden worden war. warf eine Kollegin mehrere Male von seinen Schultern auf
Fast vier Jahre dauerte es, bis der vermeintliche Täter ver- eine Turnmatte. Das Ergebnis: Carmen Kampa hatte auf der
urteilt werden konnte, ein Arbeiter namens Otto B., der an- rechten Schulter gelegen, auf der Schulter, die ein Rechtshän-
hand von Indizien schuldig gesprochen wurde. Sein Vertei- der auswählen würde. Hermann R. war Rechtshänder.
diger erreichte wegen eines Verfahrensfehlers die Aufhebung An der Leiche waren fremde Haare gefunden worden. Ein
des Urteils. Während der neuen Verhandlung wurde nachge- DNA-Vergleich mit den Haaren von R.s Schwester legte nahe,
wiesen, dass zumindest eine zweite Person, Helmut H., ein dass R. tatsächlich der Täter gewesen war. Etwa ein halbes
Dieb und Einbrecher, auch verdächtig war. Otto B. wurde Jahr nach der Wiederaufnahme der Ermittlungen präsentier-
freigesprochen. ten die Staatsanwaltschaft und die Polizei gemeinsam ihre
Gegen Helmut H. wurde keine Anklage erhoben. Die Akte Ergebnisse.
landete im Archiv. Carmen Kampas Vater starb, ohne zu wis- Für seine Tat musste sich Hermann R. nicht mehr ver-
sen, wer seine Tochter ermordet hatte. antworten. Er war acht Jahre zuvor gestorben, allein, in
Das alles las Kay-Christian Höchel, als er sich 2011, ge- seiner Wohnung. Seine Leiche wurde erst nach Tagen ge-
meinsam mit einem Kollegen, die Akte ansah. Mehr als tau- funden. Uwe Buse
send Spuren waren nach der Tat abgearbeitet worden.
Spurenakte 135 beschäftigte sich mit dem Wachmann
Hermann R., der nachts in der Nähe des Tatorts auf einem Kay-Christian Höchel, 52,
Mofa seine Runden gedreht hatte. Gegen Mitternacht ver- studierte Biologie und trat 1991 in den Polizei-
säumte er es, nicht weit vom Tatort entfernt, eine Kontroll- dienst ein. Nach elf Jahren beim Mobilen
uhr zu bedienen. Am Tatort wurde außerdem ein Stoff- Einsatzkommando kam er zur Kripo.
taschentuch gefunden, das R.s Frau wiedererkannte. Als sie, Heute ist er im Kommissariat K33 für Kapital-
nach den Sexualpraktiken ihres Mannes befragt, sagte, alles delikte zuständig.

67
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Wirtschaft
»Du kannst in der Stadt nicht machen, was du willst.« ‣ S. 78

JULIAN STRATENSCHULTE / PICTURE ALLIANCE / DPA


Schwarzbuntes Kalb

Landwirtschaft

Kälber billiger als Kanarienvögel


Bauern leiden unter niedrigen Preisen für Jungvieh.
 Viehzüchter in Deutschland sehen sich derzeit einem bei- gen Zweifel geäußert, ob derartige Transporte mit der EU-
spiellosen Preisverfall ausgesetzt. Ein schwarzbuntes Kuh- Verordnung vereinbar seien. Ostendorff hält andere Gründe
kalb war im Oktober noch 8,49 Euro wert. Der von einem für gewichtiger: Die Billigpreise seien »die traurige Begleit-
Branchendienst ermittelte Preis geht aus einer Antwort des erscheinung der industriellen Landwirtschaft«, sagt er. »Die
Landwirtschaftsministeriums an den grünen Bundestagsabge- intensive Milchproduktion führt auch dazu, dass zu viele Käl-
ordneten Friedrich Ostendorff hervor. Verantwortlich für den ber für den Markt produziert werden.« Ottmar Ilchmann von
Preisverfall seien Vermarktungsbeschränkungen aufgrund der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft hält die
der Blauzungenkrankheit, heißt es aus dem Ministerium. Preise für einen Skandal: »Da kostet ein Kalb weniger als ein
Auch Transportbeschränkungen, etwa nach Spanien, sorgten Kanarienvogel.« Die einseitige Züchtung bestimmter Rassen
zuletzt für ein Überangebot an weiblichen Kälbern, die im nur auf Milchleistung mache deren Nachwuchs für die Mast
Juni noch knapp 30 Euro kosteten. Ministerin Julia Klöckner unwirtschaftlich. »Diese dünnen Kälber gelten oft nicht mehr
(CDU) hatte in einem Brief an ihren bayerischen Amtskolle- als Tiere, sondern nur noch als Schaden.« NKL

Jugendschutz keine Altersprüfung vornehmen. Wer ihre ein Exempel statuieren. »Die Gefahr für
Adressen in Browser eingibt, ist sofort mit den Jugendschutz wird ja nicht geringer,
Medienwächter gehen harter Pornografie konfrontiert. Gleich nur weil sie aus dem Ausland kommt«,
gegen Pornoseiten vor mehrere dieser Anbieter gehören laut sagt er. Mit den Medienwächtern in
dem Web-Rankingdienst Alexa zu den Zypern hat sich Schmid bereits in Verbin-
 Die Landesanstalt für Medien in Nord- 20 meist abgerufenen Seiten hierzulande. dung gesetzt. Mitte November wollen sich
rhein-Westfalen will gegen in Deutschland Die Durchsetzung deutschen Rechts dürf- mehrere europäische Regulierungsbehör-
populäre ausländische Anbieter von te sich jedoch schwierig gestalten, weil den in Brüssel unter anderem für eine
Onlinepornografie vorgehen. Die Medien- mindestens zwei der Unternehmen in Neuregelung der E-Commerce-Richtlinie
wächter vermuten einen Verstoß gegen Zypern residieren. Tobias Schmid, Direk- starkmachen. Sie soll es den Medien-
den Staatsvertrag zum Jugendmedien- tor der Landesmedienanstalt NRW, will anstalten erleichtern, Rechtsverstöße aus-
schutz, weil die Anbieter bei den Nutzern sich davon nicht abschrecken lassen und ländischer Anbieter zu verfolgen. RAI

68 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Volkswagen chelnden Premiummarke gewähren müssten. Aktuell


tief greifende Reformen verhandeln Betriebsrat und
Aufsichtsrat will neuen umsetzen. Der Ingenieur ist Audi-Führung darüber, die

ROLAND KRIVEC / DEFODI.DE


Chef bei Audi einsetzen der Wunschkandidat des Kapazitäten der Werke in
VW-Chefs Herbert Diess. Ingolstadt und Neckarsulm
 Der Volkswagen-Konzern will in den Auch die Eigentümerfami- zu reduzieren. Eine Eini-
nächsten Wochen einen neuen Chef für lien Porsche und Piëch for- gung könnte bereits in der
die Premiumtochter Audi küren. Das dern intern schon lange, kommenden Woche erzielt
Thema solle bei der nächsten Aufsichts- Audi müsse wirtschaftlicher werden. Ob die Personalie
ratssitzung am 15. November behandelt aufgestellt werden. Das Duesmann nächsten Freitag schon offi-
werden, heißt es aus Konzernkreisen. Für Unternehmen achte zu ziell beschlossen wird, hängt
den Posten ist der frühere BMW-Vorstand stark auf die Auslastung seiner Werke in auch davon ab, ob der Konzern bis dahin
Markus Duesmann, 50, seit Längerem vor- Deutschland, statt die tatsächliche Nach- mit dem bisherigen Amtsinhaber Bram
gesehen. Er wird nach derzeitigem Stand frage in den Blick zu nehmen. Die Über- Schot einig wird. Die Optionen reichen
am 1. April 2020 an die Audi-Spitze produktion von Audi-Modellen habe zur von einem Verbleib im Vorstand bis hin
rücken. Duesmann soll bei der schwä- Folge, dass Händler oft Preisnachlässe zum Ausscheiden aus dem Konzern. SH

Handel Angebotsfrist mehrfach gestreckt, zuletzt


hatten Interessenten bis zum 24. Oktober
Mangelndes Interesse Zeit. Kaufland, ursprünglich an rund hun-

NURPHOTO / GETTY IMAGES


an Real-Filialen dert Real-Filialen interessiert, gab jedoch
kein Angebot ab. Der Handelskonzern
 Der Handelskonzern Metro droht auf Edeka hat beim Kartellamt für 87 Filialen
mehr Filialen seiner Supermarktkette eine Kaufgenehmigung beantragt. An
Real sitzen zu bleiben als erwartet. Der Globus und Rewe könnte ein Dutzend
Immobilieninvestor Redos hatte Läden gehen. Rund 40 Standorte gelten
ursprünglich mit Metro vereinbart, die als nicht rettbar und sollen geschlossen
insgesamt 277 Filialen zu übernehmen werden. Ebenfalls 40 Filialen sollen bei Flugverspätungen
und zum größten Teil an Einzelhandels- regionalen Händlern wie Bünting oder Axa stellt
ketten weiterzuverkaufen. Etwa 60 Filia- Tegut untergebracht werden. Metro teilte
len wollte Redos zunächst gemeinsam mit, das Konzept habe von Beginn an Versicherung ein
mit Metro weiterbetreiben. Mangels aus- vorgesehen, die Läden erst nach Eingang
reichender Kaufangebote aber arbeiten der Angebote aufzuteilen. Nur wenn eine  Der französische Versicherungskon-
Redos und Metro nun an einem Alterna- Lösung für alle Real-Läden steht, kann zern Axa will seine Flugverspätungsver-
tivplan. Danach würden sie vorerst Metro den Verkaufsvertrag mit Redos sicherung Fizzy einstellen. Das Beson-
100 Real-Läden behalten. Metro bliebe unterzeichnen. Vermutlich pokere Kauf- dere an dem Produkt war, dass es auf
daran mindestens drei Jahre lang mit land danach noch um Filialen, glauben Blockchain-Technologie basierte. War
24,9 Prozent beteiligt. Metro hatte die Insider. KIG ein versicherter Flug um mehr als zwei
Stunden verspätet oder wurde er ganz
gestrichen, wurde der Kunde automa-
tisch und ohne Antrag entschädigt. Die
Elektroautos stärkere Systeme gibt, so das Ergebnis Versicherungsdaten waren unveränder-
einer Studie des Karlsruher Fraunhofer- bar hinterlegt, der Abschluss erfolgte
Ein Drittel nutzt Instituts für System- und Innovations- rein digital. Die Axa sagt, Fizzy habe
gewöhnliche Steckdosen forschung (ISI). Die Wissenschaftler »seine kommerziellen Ziele nicht
haben 432 E-Auto-Besitzer danach erreicht«, der Markt sei für das Produkt
 Die Fahrer von Elektroautos nutzen befragt, wie sie ihre Autos laden. Fast noch nicht reif. Zudem habe man nicht
erstaunlich oft Haushaltssteckdosen, um 80 Prozent von ihnen verfügen über die richtigen Vertriebskanäle gefunden.
ihr Fahrzeug mit Strom zu versorgen. Ein einen festen Parkplatz auf dem eigenen Grundsätzlich glaube man aber an Ver-
Drittel kommt mit der gewöhnlichen Wohngrundstück, ihnen steht deshalb sicherungsangebote, bei denen anhand
Steckverbindung von höchstens 3,7 Kilo- regelmäßig eine Lademöglichkeit zur Ver- von Daten und Algorithmen darüber
watt aus. Die meisten sind damit auch fügung. Entsprechend laden mehr als die entschieden wird, ob, und wenn ja, zu
zufrieden, obwohl es deutlich leistungs- Hälfte der Befragten das Auto zu Hause, welchen Konditionen ein Risiko ver-
ein Viertel tut dies am Arbeitsplatz. sicherbar ist. Seit Kurzem hat auch die
21-mal im Monat hängen sie ihre Fahr- Hanse-Merkur-Tochter Berlin Direkt
zeuge an die Dose, also alle ein bis zwei Versicherung mit GetNeo ein Produkt
Tage. Kaum genutzt werden bislang für die Absicherung von Flugverspätun-
öffentliche Säulen, sie nehmen laut der gen im Sortiment. Auch dabei erfolgt
MARTIN BÄUML / IMAGO IMAGES

Studie »einen geringeren Stellenwert die Kompensation automatisch, jedoch


ein«. Deshalb sollte die Politik die bereits ab einer Verspätung von
Voraussetzungen schaffen, dass in Miets- 60 Minuten. Nach EU-Recht stehen
häusern oder Eigentümergemeinschaften Passagieren ab drei Stunden Verspä-
die Installation von Ladeeinrichtungen tung Entschädigungen zu, doch häufig
auf einfache Weise möglich sei, fordern sträuben sich die Fluglinien, das Geld
die Fraunhofer-Forscher. AJU zu bezahlen. MUM

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Wirtschaft

Neuer Kalter Krieg


Erdgas Die USA wollen das russische Pipelineprojekt Nord Stream 2 noch kurz vor der
Fertigstellung mit gezielten Sanktionen torpedieren. Deutschland gerät damit
zwischen die Fronten eines globalen Konflikts – mit hohen Risiken für die Energiesicherheit.

PAUL LANGROCK / DER SPIEGEL

Nord-Stream-2-Anlandestation in Lubmin, Mecklenburg-Vorpommern: 294 Kilometer trennen die Pipeline von der Vollendung

70
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I
n fünf Monaten, im März 2020, will Tricks, Bluffs und jeder Menge Einschüch-
der Bauleiter Klaus Haussmann in terung. Und wie im Kalten Krieg tragen die
Rente gehen. »Nun aber wirklich«, Kontrahenten den Kampf in Deutschland
sagt er. Es ist sein dritter Anlauf. aus, der Energiedrehscheibe für Europa. Nir-
Haussmann ist 71 Jahre alt. Man sieht gendwo prallen ökonomische und geopoli-
ihm die Jahre kaum an, wenn er mit tische Interessen derart aufeinander.
Schutzhelm, Arbeitsjacke und ordentlich
Tempo ins Containerbüro stiefelt. Zweimal Amerika gegen Russland – und
hat er sich überreden lassen, aus dem dazwischen die Deutschen
Ruhestand zur Baustelle zurückzukehren. Die Amerikaner: Sie suchen neue Absatz-

PAUL LANGROCK / DER SPIEGEL


Man braucht den Ingenieur hier, in Lubmin märkte für ihr LNG (»Liquefied Natural
bei Greifswald, wo die beiden Stränge der Gas«), für verflüssigtes Erdgas, auf minus
russischen Erdgaspipeline Nord Stream 2 162 Grad Celsius heruntergekühlt, das sie
nach 1230 Kilometern die deutsche Ostsee- auch nach Europa verschiffen. Da stört ein
küste erreichen. Keiner hat so viel Erfah- Wettbewerber, der den Kontinent per
rung mit solchen Projekten wie er. Pipeline zuverlässig und günstig mit Ener-
Haussmann, gebürtiger Pfälzer, hält vor gie versorgt.
einer Landkarte inne, sie hängt an einer Bauleiter Haussmann US-Präsident Donald Trump will die
Containerwand und zeigt das deutsche »Alles ist so weit vorbereitet« Marktmacht der Russen in Europa brechen.
Gasnetz. An vielen Anlagen habe er mit- Trumps Zorn richtet sich gegen Moskaus
gewirkt, erzählt er und fährt mit dem Fin- gonnen. Schaffen die Russen den Anschluss, Hauptabnehmer Deutschland, er argumen-
ger die Leitungsrouten entlang: beim Bau oder gelingt es den Amerikanern, das Me- tiert in Logik und Diktion originalgetreu
von Kraftwerken, Verdichtern, Betriebs- gaprojekt auf den letzten Kilometern noch wie ein Kalter Krieger. »Wir beschützen
gebäuden. Jetzt will der Bauleiter seinen zu stoppen? Deutschland vor Russland, und Russland
letzten, seinen größten Job erledigen, die Die Stahlröhren, jede gut zwölf Meter bekommt Milliarden von Dollars von
Empfangsstation für Nord Stream 2. lang und 24 Tonnen schwer, ummantelt Deutschland«, schimpft er. Die Pipeline
»Alles ist so weit vorbereitet«, sagt er. mit elf Zentimeter Beton, werden an Bord mache Berlin erpressbar und die Bundes-
Das Gas könnte bald strömen – wenn da des Verlegeschiffs »Solitaire« zusammen- regierung zur »Geisel Russlands«.
nicht die Weltpolitik wäre, dieses beunru- geschweißt und auf den Ostseegrund Die Russen: Sie wollen das Geschäft mit
higende Szenario, das derzeit die Regie- abgesenkt. Rund drei Kilometer legt das Energieexporten ausbauen, es ist ihr wich-
rungen in Berlin, Kiew und Warschau, in Ungetüm, 300 Meter lang, 70000 PS stark, tigster Devisenbringer. Rund 55 Milliar-
Moskau und in Washington beschäftigt: am Tag zurück. den Kubikmeter Erdgas sollen via Nord
Der US-Senat könnte Sanktionen verhän- Die Nord-Stream-2-Gesellschafter – die Stream 2 jährlich nach Europa gelangen,
gen und damit das Milliardenprojekt noch russische Gazprom sowie fünf europäische etwa so viel, wie die Russen bereits durch
zum Scheitern bringen, wenige Monate Energiekonzerne, aus Deutschland Win- die 2011 fertiggestellte erste Nord-Stream-
vor der geplanten Fertigstellung. Der Ge- tershall und Uniper – drücken aufs Tempo. Leitung transportieren. Zusammen deckt
setzentwurf dazu ist längst formuliert. Sie wollen alle rund 200 000 Einzelstücke das einen Großteil der Kapazität, die bis-
Der Inhalt zielt ausdrücklich auf Unter- verlegt haben, bevor sie der Bannstrahl lang für den Landweg durch die Ukraine
nehmen und Mitarbeiter ab, die mithilfe aus Washington treffen könnte. zur Verfügung steht. Das ist kein Zufall.
von Spezialschiffen »Röhren in Tiefen von Der Schlagabtausch zwischen den USA Mit der Ostseeroute will Russlands Prä-
100 Fuß (rund 30 Metern) oder mehr« für und Russland erinnert an die Konstellation sident Wladimir Putin auch die Ukraine
russische Gasexporteure verlegen. Die zwischen 1945 und 1989, der Zeit des Kalten umgehen. So könnte er den Staat schwä-
Amerikaner drohen, Konten einzufrieren Krieges. Damals drohten die Großmächte chen, in dessen Ostteil die Russen seit fast
und Führungskräften die Einreise zu ver- damit, den Konflikt mit militärischer Gewalt sechs Jahren die Separatisten militärisch
weigern. Eine solche Strafe wäre fatal für zu eskalieren, SS-20-Raketen standen Per- unterstützen; und er würde Milliardensum-
Firmen, die maßgeblich von US-Aufträgen shing-II-Flugkörpern gegenüber. Diesmal men an Transitgebühren sparen, die Mos-
abhängen, etwa im Golf von Mexiko. führen Amerikaner und Russen die Aus- kau widerwillig an Kiew zahlt.
Machen die Amerikaner Ernst, werden einandersetzung subtiler, mit wirtschaft- Und die Deutschen? Bundeskanzlerin
die Eigner der Schiffe wohl keinen Mo- lichen Mitteln: Sie kämpfen um die Herr- Angela Merkel (CDU), öffentlich auf
ment zögern und die Arbeit an der Pipe- schaft im globalen Energiegeschäft – mit Distanz zu Putin, steht hinter dem Ost-
line einstellen, das haben sie bereits si-
gnalisiert. Es wäre ein Fiasko für die Rus-
sen. Weltweit gibt es nur fünf dieser Abkürzung Wyborg
Nord Stream 1 und 2
schwimmenden Verlegefabriken anzumie- in den Westen St. Petersburg
ten; Ersatz ließe sich kaum auftreiben. Das
Die wichtigsten Pipelines
Nord-Stream-2-Vorhaben wäre tot. für russische Gaslieferungen
Schon in den vergangenen Monaten hat RUSSLAND
es immer wieder gehakt. Zuletzt zögerten
die Dänen mit der Entscheidung, ob sie
Russland Greifswald
die Pipeline durch ihre Hoheitsgewässer
südöstlich von Bornholm laufen lassen sol- 45 DEUTSCHLAND
POLEN
len; erst in der vorigen Woche stimmten
die Behörden zu. Der dänische Teil ist der-
Deutschlands
UKRAINE
jenige, der noch fehlt. Sonstige Erdgasquellen
5 Anteil an den
Genau 294 Kilometer Pipeline, pro Niederlande
Importen 2017
Strang 147 Kilometer, trennen die Leitung Norwegen in Prozent 29
Quellen: DIW,
von der Vollendung, der Endspurt hat be- 21 Forbes, McKinsey

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 71


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Wirtschaft

Nordamerikas hierher; ein Schiff zu betan-


ken dauert etwa einen Tag. Bislang geht
der Rohstoff vor allem nach Indien und
Japan. »Wir würden uns sehr freuen, auch
Europa zu versorgen«, sagt Dominion-
Manager Paul Ruppert. Durch die Lage
am Atlantik sei sein Terminal dafür »gera-
dezu ideal platziert«.
Wie in Cove Point entstehen derzeit in
etlichen Häfen Amerikas LNG-Terminals.
Gas ist dank der Tankerverbindungen zu
einem global handelbaren Gut geworden
und LNG der fossile Energieträger, dessen
Umsatz am schnellsten wächst.
Im Sommer war der Weltmarkt so üp-
pig versorgt, dass die Preise auch in Euro-
pa fielen und LNG im Wettbewerb mit
dem sonst billigeren Pipelinegas gut mit-

EVAN VUCCI / AP
halten konnte. Die USA wollen dieses Ge-
schäft beherrschen und zum weltgrößten
LNG-Exporteur aufsteigen.
US-Präsident Trump*: »Wir beschützen Deutschland vor Russland« Dies ist wichtig, um zu verstehen, wa-
rum Amerika gegenüber Russland so do-
minant auftritt. Und warum Richard Burt
seeprojekt, sie hat sich sogar gegen den LNG aus Amerika, Pipelinegas aus Russ- sein Job zurzeit nicht leichtfällt.
Widerstand aus der Union dafür einge- land: Die Kanzlerin wirbt um Energie- Burt, 72, sitzt im achten Stock eines Bü-
setzt. Sie betrachtet die Pipeline nüchtern- importe jeder Herkunft. Fragt sich nur, ob rogebäudes, kaum 500 Meter vom Weißen
wirtschaftlich: als zusätzliche Möglichkeit, dem US-Präsidenten das genügt. Er würde Haus entfernt. In den Achtzigerjahren war
die Versorgungssicherheit Deutschlands die Bundesregierung am liebsten zum er US-Botschafter in Bonn, heute arbeitet
zu gewährleisten. Schwur zwingen. Dann müsste sich Mer- er als Lobbyist in Washington. Burt ist für
Erdgas dürfte, weil es emissionsärmer kel entscheiden, wo sie steht: an der Seite die Energiekonzerne im Einsatz, die hinter
als Kohle oder Erdöl verbrennt, im Ener- Russlands oder Amerikas? Nord Stream 2 stehen. »Leider hat dieses
giemix des kommenden Jahrzehnts eine Projekt in Washington nicht einen einzi-
wachsende Rolle spielen: als Brücke ins Die neue Supermacht im gen Verbündeten«, sagt er. »Man könnte
Zeitalter der erneuerbaren Energien. Russ- globalen Gasgeschäft auch sagen, es ist ein Waisenkind.«
land ist vor Norwegen und den Nieder- Cove Point, etwa anderthalb Autostunden Kritik kommt von allen Seiten, nicht
landen Deutschlands wichtigster Lieferant. von der Hauptstadt Washington entfernt: nur vom Präsidenten. Die Phalanx der
Da aber in der Region Groningen im- Hier, an der Chesapeake Bay, bekommt Pipelinegegner sitzt in beiden Häusern des
mer wieder die Erde bebt, haben die Nie- man eine Idee davon, wie sich der US-Prä- Kongresses und in beiden Parteien. Bei
derländer sich entschieden, schon ab 2022 sident die Zukunft der europäischen Gas- den Republikanern sind es die Falken, die
in ihrer wichtigsten Förderregion nahezu versorgung vorstellt. Direkt an der Küste, Russland generell als Rivalen auf der Welt-
kein Gas mehr zu produzieren; in Groß- inmitten malerischer Dörfer und Strände, bühne betrachten, den es einzuhegen gelte.
britannien beginnt eine ähnliche Debat- erhebt sich ein Industriekomplex, ein Bei den Demokraten sind es all jene Ab-
te. Die deutschen Gasvorräte wiederum, LNG-Verladeterminal. geordneten, die Putin für die Einmischung
überwiegend in Niedersachsen, gehen zur Der Zugang zur Anlage ist streng in die US-Präsidentenwahl 2016 eins aus-
Neige, sie trugen 2018 nur noch 7 Prozent bewacht. Hier können selbst Riesenschif- wischen wollen.
zur Versorgung bei. Vor zehn Jahren lag fe der Q-Max-Klasse anlegen, sie sind »Viele Leute hier in Washington sehen
der Anteil noch bei 15 Prozent. 345 Meter lang und haben ein Lade- die Sache zu schwarz-weiß«, sagt Burt.
Es drohe, warnt der Düsseldorfer Gas- vermögen von rund 266 000 Kubik- »Sie denken, Europa wird entweder mit
konzern Uniper, eine veritable Versorgungs- metern. Mit dieser Menge lassen sich russischem Gas versorgt oder mit LNG.
lücke. Mitte des kommenden Jahrzehnts mehr als 40 000 Wohnungen ein Jahr lang Dabei gibt es genug Nachfrage für beides.«
könnten europaweit 100 bis 300 Milliarden heizen. Im Senat machen die Demokratin
Kubikmeter Gas pro Jahr fehlen. Nach die- Ursprünglich war das Terminal für den Jeanne Shaheen und der Republikaner
ser Rechnung bedarf es neben den Pipelines Import von Gas aus Algerien vorgesehen. Ted Cruz gegen Nord Stream 2 mobil. Der
sogar noch weiterer Bezugsquellen. Bislang Dann brach die Fracking-Revolution los. Kreml baue »ein trojanisches Pferd«, so
gibt es an Europas Küsten 24 Terminals, Die umstrittene Fördermethode – das Ein- Shaheen, da könnten die USA nicht un-
an denen LNG entladen werden kann – in pressen von Flüssigkeiten erzeugt Risse im tätig zusehen. Ende Juli brachten sie den
Deutschland existiert noch kein einziges. Gestein, was die Ausbeute erhöht – hat Entwurf mit dem großspurigen Titel »Ge-
Uniper will eine solche Anlage in Wilhelms- die USA innerhalb weniger Jahre wieder setz zum Schutz der europäischen Ener-
haven bauen. in eine Energiesupermacht verwandelt. giesicherheit« mit 20 zu 2 Stimmen durch
Das Terminal soll 2022 in Betrieb gehen, Damit änderte sich auch die Bestim- den Außenpolitischen Ausschuss. Jetzt
gefördert vom Bund. Die Regierung will mung von Cove Point, vom Import- zum muss das Gesetz nur noch zur Abstim-
ein Zeichen guten Willens nach Washing- Exportterminal. Seit April 2018 habe man mung gestellt werden, sodass es tatsächlich
ton senden. bereits 85 Schiffe für die Ausfuhr beladen, in Kraft treten kann.
so der Betreiber Dominion Energy. Um die Sache zu beschleunigen, könnte
* Beim Besuch eines LNG-Terminals im Bundesstaat Das Gas gelangt über ein verzweigtes der Senat einen alten parlamentarischen
Louisiana am 14. Mai. Pipelinesystem aus verschiedenen Teilen Kniff anwenden. Das Sanktionsgesetz wird

72 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Unter Partnerschaftlichkeit verstehen wir,


dass man jede Mission gemeinsam zum
Erfolg führt.
Kennen Sie Michael Collins? Die wenigsten tun das. Er hat als Pilot der
Apollo-11-Kapsel Buzz Aldrin und Neil Armstrong 1969 zur ersten
Mondlandung geflogen – und wieder zurück. Für uns ist Collins eine
Inspiration. Denn als Spitzeninstitut der rund 850 Genossenschaftsbanken
in Deutschland glauben wir an den Erfolg von Partnerschaften, bei
denen jeder sich in den Dienst einer großen Sache stellt, damit das
gemeinsame Ziel sicher erreicht wird. Mehr über Partnerschaftlichkeit
erfahren Sie unter: dzbank.de/wirziel
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Wirtschaft

einfach an ein größeres Gesetz angedockt, Energiekonzerns Rosneft und übernahm Seit dem Sommer 2018 suchen Russen
in diesem Fall könnte es der Haushalt diverse Positionen bei Gazprom. und Ukrainer, vermittelt von der EU-Kom-
für die US-Streitkräfte sein. Dieser Etat Für den Kreml boxte er bereits die erste mission, nach einer Übereinkunft. Als sich
wird momentan zwischen den Parteien Nord-Stream-Pipeline durch, gegen alle im September die Kontrahenten näherka-
ausgehandelt, bis Weihnachten soll er Widerstände, vor allem Polen und die men, reiste Richard Grenell, US-Botschaf-
verabschiedet sein. Ansonsten könnte Ukraine stellten sich quer. Heute sei die ter in Berlin, umgehend nach Kiew. Schon
auch Trump selbst jederzeit Sanktionen Lage »ungleich schwieriger«, sagt er. Mit öfter hat Grenell auch deutschen Unter-
verhängen. den USA habe ein Akteur den Weltmarkt nehmen offen mit Sanktionen gedroht, um
erobert, der seine Interessen »mit brachia- den Bau der Pipeline zu verhindern.
Furcht vor den Sanktionen ler Gewalt« durchzusetzen bereit sei. Diesmal soll er der ukrainischen Regie-
Das Bedrohungsszenario ist also durchaus Warnig hat einen Plan B parat für den rung geraten haben, die Verhandlungen
real. Jedenfalls macht sich auf der anderen Fall, dass Sanktionen den Fortgang des platzen zu lassen, heißt es auf russischer
Seite des Atlantiks Matthias Warnig große Projekts stören. Die Rohre könnten zur Seite. Die USA planten, die Sanktionen
Sorgen um seine Pipeline: »Es bestehen Not auch ohne Spezialschiffe verlegt wer- zu verhängen, so seine Begründung, und
nach wie vor erhebliche Risiken, die eine den: Einige Segmente werden an Land ver- dann würde sich die Position der Ukrainer
Fertigstellung gefährden können«, sagt er. schweißt, auf See transportiert und dort deutlich verbessern. Grenell bestätigt auf
Warnig, Geschäftsführer der Nord Stream von Tauchern installiert. Warnig hat zur Anfrage, die Ukraine besucht zu haben.
AG, sitzt in einer Ecke des Bistros eines Sicherheit überall in Europa Lager einrich- Alles andere aber seien »komplett Fake
Hotels in Berlin-Mitte und frühstückt. ten lassen, in denen Rohre, Ersatzteile und News«. Er sei dort gewesen, um die US-
Marmelade tropft auf den Schuh, er wischt Betriebsmittel aufbewahrt werden, um die Kampagne zur Dekriminalisierung von
sie mit einer Serviette weg. Zurzeit ist er Verlegung fortzusetzen. Doch ein solches Homosexualität zu unterstützen. Auf Twit-
oft in der Hauptstadt, trifft Politiker, Be- Prozedere würde das Bauende um weitere ter findet sich zum fraglichen Zeitpunkt
rater, Anwälte. Sie sollen helfen, das Pro- Monate hinauszögern. Das können sich allerdings auch ein Eintrag der US-Bot-
jekt zu retten. Es bereite ihm schlaflose die Russen nicht leisten. schaft in Kiew, der Grenell gemeinsam mit
Nächte. Zum 31. Dezember läuft nach zehn Jah- einem ukrainischen Gasmanager zeigt.
Solche Bekundungen klingen unge- ren der Vertrag aus, auf dessen Grundlage Amerika betreibe ein durchsichtiges
wöhnlich aus dem Munde eines 64-jähri- Russland das Gas durch die Ukraine trans- Spiel, so sehen es die Pipelinebefürwor-
gen Mannes, der schon viel erlebt hat: als portieren darf. Mit jedem Tag, um den sich ter. Die USA bauten »massiv Druck auf«,
Stasi-Offizier und DDR-Spion, Deckname das Ostseeprojekt verzögert, verbessert sagt Rainer Seele, Chef des österreichi-
»Ökonom«, nach der Wende als Invest- sich die Verhandlungsposition der Ukrai- schen Energiekonzerns und Nord-Stream-
mentbanker in Sankt Petersburg, wo er ner. Die Russen stehen unter Zeitdruck, 2-Anteilseigners OMV, um die Pipeline zu
sich mit Wladimir Putin anfreundete. Spä- sie sind in der Pflicht, die Kunden in West- verhindern und sich so eines Konkurren-
ter wurde er Kontrolleur des russischen europa weiter zu beliefern. ten zu entledigen: »Diesem Druck dürfen

THOMAS EUGSTER / NORD STREAM 2

Pipelineverlegeschiff »Solitaire«: 70 000 PS, drei Kilometer am Tag

74 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Wirtschaft

jetzt den Betrieb der Erdölraffinerie PCK


in Schwedt.
Jeden Tag produziert die Anlage ausrei-
chend Treibstoff für rund 250 000 Autos,
60 000 Laster oder 50 Flugzeuge. Berlin,
Brandenburg und große Teile Ostdeutsch-
lands sind stark von den Erdölprodukten
aus Schwedt abhängig. Die Raffinerie wird
mehrheitlich von Rosneft kontrolliert, die-
ser Umstand stellt für einige deutsche und
amerikanische Firmen ein Problem dar.

GREG KAHN / DER SPIEGEL


Aus Angst vor Strafen drängen sie darauf,
die Zusammenarbeit zu beenden, obwohl
die Amerikaner noch gar keine Sanktio-
nen ausgesprochen haben.
So haben deutsche Banken mit Hinweis
auf die Möglichkeit solcher Konsequenzen
Nord-Stream-Lobbyist Burt bereits angekündigt, ihre Kreditlinie für
»Die Deutschen treten zu schwach auf« Rosneft in Deutschland nicht verlängern
zu können. Siemens will aus demselben
wir uns in Deutschland und Europa nicht Grund keine neuen Dienstleistungsverträ-
beugen.« ge übernehmen. PCK-Zulieferer aus den
Auch der Washingtoner Lobbyist Ri- USA bestehen darauf, für ihre Leistungen
chard Burt plädiert für eine härtere Gangart. sofort bezahlt zu werden. Die Firmen woll-
»Die Deutschen treten etwas zu schwach ten sich auf Anfrage des SPIEGEL nicht zu
auf«, findet er. Sie sollten sagen: »Wenn ihr den Vorgängen äußern.
uns die Pipeline verweigert, werden wir Daraus kann sich eine Lage entwickeln,
die LNG-Terminals nicht bauen und auch die nicht nur für PCK ein Risiko darstellt,
kein Gas aus den USA kaufen.« Burts Rat: sondern auch die Versorgung Hundert-
»Manchmal muss man Dinge hart spielen, tausender Bürger gefährdet. Die Leitstelle
oder man wird herumgeschubst.« der Raffinerie, hermetisch abgeriegelt und
vor Feuer und Angriffen geschützt, wurde
Ein Spaltkeil durch Europa von einem US-Industriekonzern mitge-
Und Europa? Die EU müht sich, eine ei- plant, gebaut, ausgestattet und gewartet.
gene Linie zu finden, wird aber de facto Das Unternehmen hat den Russen mitge-
zum Spielball unversöhnlicher Konkur- teilt, es werde seine Dienste einstellen,
renten. »Deutschland und die EU drohen sollte die US-Regierung Sanktionen ver-
zwischen Russland und den USA aufgerie- hängen.
ben zu werden«, sagt Kirsten Westphal, »Dann«, sagt Rosneft-Sprecher Burk-
Energieanalystin bei der Stiftung Wissen- hard Woelki, »ist die Raffinerie nicht mehr
schaft und Politik in Berlin. Die Ostsee- zu steuern und eine sichere Versorgung
pipeline habe einen Spaltkeil in den Kon- des Umlandes samt der Flughäfen in
tinent getrieben. Berlin unmöglich.« Die Gefahrenlage hat
Vor gut fünf Jahren herrschte noch Ei- Rosneft über den Ost-Ausschuss der deut-
nigkeit. Als Reaktion auf Moskaus Militär- schen Wirtschaft auch der Bundesregie-
intervention auf der Krim verständigten rung zur Kenntnis gebracht.
sich die EU-Mitgliedstaaten auf eine ge- An der Empfangsstation in Lubmin star-
meinsame Energiepolitik. Das Ziel: die Ab- tet derweil die letzte Bauphase. Arbeiter
hängigkeit von russischem Gas zu ver- installieren einen Metallzaun, sie befes-
ringern, alternative Quellen auszubauen, tigen Lampen an den Großventilen. Die
einen Binnenmarkt zu etablieren. beiden Ostseeröhren, die schräg aus dem
Die EU ließ LNG-Terminals errichten Boden ragen, bleiben bis zum Anschluss
und die Pipelines enger vernetzen. Von mit blauen Plastikdeckeln verstöpselt, wie
einer »Energieunion« war die Rede – bis überdimensionale Packungen Smarties.
Kanzlerin Merkel aus dieser Koalition aus- Läuft alles nach Plan, sind die Vorarbei-
scherte, für die Ostseepipeline der Russen ten in knapp vier Wochen abgeschlossen.
eintrat und damit viele Verbündete vor Dann könnte das Verlegeschiff die Lücke
den Kopf stieß. schließen.
Möglicherweise beschleunigt die Eska- Ob der Zeitplan hält und die Nord
lation des Pipelinekonflikts einen Prozess, Stream 2 dann tatsächlich mit Gas befüllt
der die Europäer wieder näher zusammen- wird? Bauleiter Haussmann gibt sich keiner
rücken lässt. Verhängen die USA tatsäch- Illusion hin. Die Eröffnungsfeier wird er
lich Sanktionen gegenüber Unternehmen, vermutlich erst als Rentner erleben.
die für russische Energiekonzerne arbei- Frank Dohmen, Alexander Jung,
ten, könnten die Konsequenzen weit über Roland Nelles
den Bau von Nord Stream 2 hinausreichen. Mail: frank.dohmen@spiegel.de
Allein die Diskussion darum stört bereits

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 75


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SUV STELVIO:
Erfahrungen von
Alfa Romeo aus dem
Rennsport sorgen für
den Sicherheitsgewinn

Fahrfreude? Ganz sicher.


Durch die Fokussierung auf mechanische Performance erzielt Alfa Romeo beim Stelvio
und der Giulia ein Höchstmaß an Schutz – auch in herausfordernden Situationen.

U
nverwechselbares Design, leis- zeitig verwindungssteife Karosserie. Hinzu
tungsstarke Motoren, hervorra- kommt ein Bündel an modernen Sicherheits- SYSTEMATISCHER SCHUTZ
gende Fahreigenschaften und systemen (siehe rechts).
Performance zählen seit jeher zum Marken- Bereits die Basisversionen von Giulia und Die Giulia und der Stelvio von Alfa Romeo
kern von Alfa Romeo. Zahlreiche Siege und Stelvio sind mit einem umfangreichen Si- verfügen in allen Modellversionen über
Rekorde des italienischen Automobilher- cherheitspaket ausgestattet. Es enthält sechs Radarsensoren und eine Kamera. Diese
stellers im Motorsport haben dafür die Basis Airbags, ein Kollisionswarnsystem mit au- liefern ständig Daten für die elektronischen
gelegt. Gleichzeitig machen die Erfahrungen tonomer Notbremsfunktion und Fußgänger- Fahrerassistenzsysteme. Dazu zählen – je
aus dem Rennsport die Modelle von Alfa erkennung, einen Spurhalteassistenten, ein nach Ausstattung – zum Beispiel:
Romeo besonders sicher – auf aktiver wie Reifendruck-Kontrollsystem sowie Licht- Autonome Notbremsfunktion: Sie greift
passiver Seite. und Regensensoren. ein, falls ein Fußgänger unerwartet vor dem
So erhielt die Limousine Giulia gleich Fahrzeug die Straße betritt.
nach Markteinführung 2016 beim Crashtest Intelligente Vernetzung Spurhalteassistent: Er warnt, wenn sich
die Höchstwertung von fünf Sternen nach Alfa Romeo verwendet außerdem als einzi- das Fahrzeug unbeabsichtigt der Begren-
dem Euro-NCAP-Verfahren. Beim „Insas- ger Hersteller serienmäßig das integrierte zungslinie zwischen zwei Fahrspuren nähert.
senschutz für Erwachsene“ erreichte sie ei- Brems system IBS. Es vernetzt die elek- Adaptive Geschwindigkeitsregelanlage:
nen Wert von 98 Prozent – das bis dahin tronischen Assistenzsysteme intelligent mit Sie hält automatisch die vom Fahrer gewählte
beste Resultat in der Geschichte dieses der mechanischen Bremskraftunterstüt- Geschwindigkeit und reagiert dabei auf
Crashtest-Verfahrens. Ein Grund für das zung. Dadurch ergeben sich kürzeste Reak- Veränderungen im vorausfahrenden Verkehr.
exzellente Ergebnis ist die leichte und gleich- tionszeiten und Bremswege. Weiteres Spezi-

Kraftstoffverbrauch (l/100 km) nach RL 80/1268/EWG für Giulia Quadrifoglio und Stelvio Quadrifoglio: kombiniert 9,8–9,2. CO 2-Emission (g/km):
kombiniert 227–214.
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GIULIA QUADRIFOGLIO:
Fünf Sterne für den
Insassenschutz

FÜR SCHWIERIGE
VERHÄLTNISSE:
Im Modus „All Weather“
reagiert der Motor sanft
auf Bewegungen des
Gaspedals

DIREKTE LENKUNG:
Sorgt für eine bessere
Fahrzeugkontrolle

fi kum: die patentierte Rad auf hängung „Alfa Chassis Domain Control“. Sie vernetzt Verteilergetriebe möglich. All dies sorgt für
„AlfaLink“. Sie kombiniert an der Vorder- alle elektronisch adaptierbaren Komponen- optimale Traktion sowie eine perfekte Ba-
achse doppelte Querlenker mit einer ten von Fahrwerk, Antriebsstrang und Motor lance und bietet besonders bei winterlichen
halb-virtuellen Lenkachse und sorgt so an miteinander. Das Sperrdifferenzial ist elek- Straßenbedingungen einen erheblichen Si-
den Rädern für einen konstanten Nachlauf, tronisch ausgelegt und kann so mit Hilfe cherheitsgewinn.
der selbst in schnell durchfahrenen Kurven einer Doppelkupplung die Kraft zwischen So gelingt es Alfa Romeo bei Giulia und
mit hohen Querkräften erhalten bleibt. Die- den Hinterrädern verteilen. Die Fahrsicher- Stelvio, die Sicherheit zu erhöhen, ohne den
ses Layout erlaubt es auch, die Lenkung ef- heit bleibt damit auch bei niedriger Haftung Fahrspaß und das Gefühl des Fahrers für das
fektiv von den Federungs- und Antriebsein- der Reifen länger erhalten. Auto zu beeinträchtigen.
flüssen abzukoppeln und sehr direkt
auszulegen. Außerdem sorgt die Kinematik Optimale Traktion
dieser Fahrwerkskonstruktion für eine gro- In puncto Sicherheit bringt sich ebenso der
ße Aufstandsfläche der Reifen. Und mehr innovative Allradantrieb „Alfa Q4“ ins Spiel.
Grip bedeutet mehr Sicherheit. Er reagiert auf unterschiedliche Fahrsitua-
Die Top-Modelle Giulia Quadrifoglio und tionen in Echtzeit. Die extrem kurzen Reak-
Stelvio Quadrifoglio verfügen serienmäßig tionszeiten sind durch die elektronische An- Mehr Informationen unter
über die intelligente zentrale Steuereinheit steuerung der Kupplungen im aktiven www.alfaromeo.de
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Wirtschaft

mehr, sondern gehe in eine andere Stadt.

»Es wird schwarze Es wird bundesweit zu mehr Regulierung


kommen. Das hat selbst die CSU eingese-
hen, mit der lange Zeit gar nichts möglich

Schafe geben« war. Inzwischen hat Bundesinnenminister


Horst Seehofer verkündet, die Mietpreis-
bremse zu verlängern. Man sieht daran, wie
in allen Parteien neu gedacht wird.
Wohnungsmarkt Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael SPIEGEL: Tatsächlich sind Sie ein Getrie-
Müller, 54 (SPD), über Gewinner und Verlierer des Mietendeckels bener. Ohne die Kampagne »Deutsche
Wohnen enteignen« gäbe es den Mieten-
deckel nicht.
Müller: Diese Kampagne hat die Diskus-
sion verstärkt, das ist richtig. Sie hat die
unterschiedlichen Positionen sehr schnell
auf den Punkt gebracht. Und, ja, der Mie-
tendeckel ist auch eine Antwort auf diese
Initiative. Die Berliner Politik hat damit
gezeigt: Es gibt andere Wege, jenseits von
Enteignungen, die den Mieterinnen und
Mietern helfen können.
SPIEGEL: Also ist der Mietendeckel vor
allem eine Verlegenheitslösung?
Müller: Nein, aber ich rede mich an dem
Instrument nicht besoffen. Der Mieten-
deckel ist nicht der Königsweg, der alle
Probleme löst. Aber er ist ein wichtiger
Baustein im Rahmen unserer Gesamtstra-
tegie: Bauen. Kaufen. Deckeln.
SPIEGEL: Ihre Wohnungspolitik ist erra-
tisch. Bevor Ihre Regierung den Mieten-
deckel beschlossen hat, kaufte die Stadt im
großen Stil Wohnungen zurück. Erst kürz-
lich knapp 6000 Wohnungen und 70 Ge-
werbeeinheiten, für 920 Millionen Euro.
Müller: Das ist doch kein Widerspruch.
PETER RIGAUD / LAIF

Ich will den Bestand an kommunalen Woh-


nungen erhöhen. Und ich habe durch ei-
nen Erwerb auch sofort Mieteinnahmen,
mit denen ich meine Kaufsumme refinan-
Stadtoberhaupt Müller: »Es ist juristisches Neuland« zieren kann.
SPIEGEL: Der Mietendeckel schadet nun
Ihrer eigenen Investition, weil er die Ein-
SPIEGEL: Herr Müller, warum sollte ein den Investitionen verlangsamt und nicht nahmen drückt.
privater Investor in Berlin noch Wohnun- in dem Umfang umgesetzt, weil übertrie- Müller: Es stimmt, in den nächsten Jahren
gen bauen? bene Renditeerwartungen die Planungen nehmen wir weniger ein als gedacht, aber
Müller: Weil wir Wohnungen brauchen. bestimmten. Aber sie werden nicht un- ein Immobilienbestand wird über einen
Und damit es da keine Zweifel gibt: Ich möglich gemacht. Und ich bin fest davon längeren Zeitraum kalkuliert, und langfris-
will privates Kapital, und ich will private überzeugt: Es wird weiter saniert und auch tig rechnet sich auch der Preis.
Investoren in meiner Stadt haben. Es geht modernisiert werden. SPIEGEL: Ihr Gesetz nutzt vor allem Gut-
gar nicht anders. Ein Privater will inves- SPIEGEL: Sie haben keine Angst, mit dem verdienern. Wer eine schöne Altbauwoh-
tieren und damit Geld verdienen. Das Mietendeckel Investoren zu vergraulen? nung hat, der kann sich freuen, weil er we-
kann ich ihm nicht übel nehmen. Er kann Müller: Warum sollte ich? Wenn sie in Ber- niger zahlen muss. Eine Krankenschwester,
mir aber nicht übel nehmen, dass ich sage: lin nicht mehr investieren wollen, wo denn die deutlich schlechter verdient und deren
Du kannst in der Stadt nicht machen, was dann? In Frankfurt am Main, München, Wohnung jetzt schon billiger ist, merkt
du willst. In dieser Stadt setzen Politik und New York gibt es die gleichen Initiativen den Unterschied vermutlich kaum. Ist das
Verwaltung Grenzen. zur Mietregulierung. Auch private Unter- fair?
SPIEGEL: Die Mieten sollen für fünf Jahre nehmen müssen erkennen, dass der Markt Müller: Wir haben knapp zwei Millionen
eingefroren werden. Das betrifft etwa nicht alles regeln darf, dass die Bürgerin- Wohnungen in unserer Stadt, und in 85 Pro-
1,5 Millionen Wohnungen, die vor 2014 nen und Bürger ungeduldiger werden und zent davon wohnen Mieterinnen und Mie-
gebaut wurden. Der höchste Preis pro Qua- erwarten, dass Politik gemeinsam mit pri- ter. Diese Menschen werden durch nicht
dratmeter wäre 9,80 Euro, Nettokaltmiete. vaten Unternehmen einen anderen, einen weiter ansteigende Mieten entlastet. Sie
Warum sollte da jemand noch sanieren? sozialeren Weg einschlägt. werden unterschiedlich stark davon profi-
Müller: Für Sanierungen und Modernisie- SPIEGEL: Das heißt? tieren. Aber sie werden profitieren.
rungen gibt es auch mit dem Mietendeckel Müller: Ein Investor kann nicht sagen: Weil SPIEGEL: Sie schaffen einen Wohnungs-
die Möglichkeit, die Miete in angemesse- die rot-rot-grüne Regierung einen Mieten- markt mit Insidern und Outsidern. Wer
nem Rahmen zu erhöhen. Vielleicht wer- deckel beschließt, mache ich hier nichts eine Wohnung hat, kommt gut weg. Wer

78 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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aber nach Berlin kommt, der hat es noch Gedeckelt Mietendeckels klagen werden. Wir werden
schwerer, eine Wohnung zu finden. Berliner Obergrenzen für den Mietpreis* schnell Klarheit haben.
Müller: Das ist mir zu einseitig. Wer in pro Quadratmeter, nach Fertigstellungsjahr SPIEGEL: Was wollen Sie denn gegen
nächster Zeit einen Mietvertrag abschließt, der Wohnung Nebenabsprachen machen, wenn beispiels-
der profitiert entweder von der Mietpreis- weise hohe Abschlagszahlungen verlangt
bremse oder von einer möglichen Absen- bis 1918 6,45 € werden oder ein Parkplatz zu überhöhten
kung bei der Wiedervermietung. Richtig 1919 bis 1949 6,27 Preisen mitvermietet wird?
ist: Wir haben zu wenig bezahlbaren Müller: Bei jedem neuen Instrument und
Wohnraum. Deshalb muss mehr und 1950 bis 1964 6,08 bei jedem neuen Gesetz gibt es schwarze
schneller gebaut werden. Schafe, die versuchen, dies mit unerlaubten
1965 bis 1972 5,95
SPIEGEL: Das ist nicht neu. Woran liegt es und unlauteren Mitteln zu umgehen. Des-
denn, dass es in Berlin so zäh geht? 1973 bis 1990 6,04 halb kommt es darauf an, die Gesetze gut
Müller: Jeder Neubau wird kritisch hinter- umzusetzen, zu kontrollieren und Verstöße
fragt, auch von den Anwohnern. Dieses ko- 1991 bis 2002 8,13 zu ahnden. Und dass Menschen, die unter
operative und partizipative Verfahren kos- 2003 bis 2013 9,80 dem Missbrauch leiden, sich dagegen weh-
tet einfach Zeit. Wir haben Umwelt- und ren und dabei unterstützt werden.
Lärmschutzstandards. Das ist ja richtig, * Nettokaltmiete inklusive aller Zuschläge für Mobiliar und
Ausstattungsgegenstände; jeweils mit Sammelheizung und Bad
SPIEGEL: Haben wir einen Paradigmen-
macht es aber nicht einfacher. Politiker aller Quelle: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen wechsel? Weniger Markt, mehr Staat?
Parteien beschließen Standards und wun- Müller: Bundesweit wurden Versorgungs-
dern sich hinterher, dass es länger dauert und unternehmen privatisiert, die von den
teurer wird. Wir brauchen mehr engagierte sen, sodass weiterhin ein Anreiz für das Kommunen nun wieder zurückgekauft
Treiber für den Neubau, die sagen: Ich will Bauen da ist. wurden. Wasser, Energie, Wohnen – alles
es, und ich setze es auch im Konflikt durch. SPIEGEL: De facto müssen selbst die Mie- Themen der Daseinsvorsorge. Stadtpla-
SPIEGEL: Also genau jene Investoren, die ter mit jahrelanger Unsicherheit leben. nung und Stadtentwicklung sind nur mög-
Sie mit Ihrem Deckel verprellen. Wenn Gerichte den Mietendeckel kassie- lich mit einer aktiven Stadt, die sich selbst
Müller: Engagierte Treiber für Neubau ren, drohen ihnen Nachzahlungen. als Bauherrin und als Gestalterin begreift.
sind nicht nur private Investoren, sondern Müller: Alle wissen, dass wir hier einen Alles andere akzeptieren die Bürgerinnen
auch Wohnungsbaugesellschaften, Genos- neuen Weg gehen. Es ist juristisches Neu- und Bürger nicht mehr.
senschaften und eine engagierte Verwal- land. Und es gibt schon jetzt Ankündigun- Interview: Andreas Wassermann,
tung. Deswegen haben wir beim Mieten- gen, dass Vermieter und Immobilien- Robin Wille
deckel den Neubau komplett ausgeschlos- besitzer unmittelbar nach Inkrafttreten des

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Wirtschaft

ersten Versuche sahen nicht danach aus: heit. Nur: War nicht auch die keimbelas-

Risiko in Die Fotos auf den Beuteln waren milchig, die


braune Farbe stach durch. »Es sah schmud-
delig aus«, so Buschmann. Nach zwei-
tete Wilke-Wurst sauber und ordentlich
verpackt? Liegt die Gefahr also eher ganz
woanders, und ist der Verzicht auf Kunst-

der Truhe jährigen Tests sind die Fotos nun scharf,


die ersten Kundenbefragungen seien viel-
versprechend. Auf das zweilagige Spezial-
stoff womöglich gar nicht so schwierig?
Das schwant auch den Nahrungsmittel-
produzenten und Einzelhändlern, von de-
Plastik Bei Nahrungsmitteln papier, das mit einem auf Pflanzenstärke nen viele allerdings bis heute selbst Gur-
galten Kunststoffverpackungen basierenden Kleber zusammengehalten ken und Bananen einschweißen. Fast jedes
wird, hat Frosta ein Patent angemeldet. Unternehmen hat inzwischen ein Projekt
lange als Hygienegarantie. Selbst Ahlers scheint sich allerdings noch zur Plastikvermeidung im Programm.
Nun zeigt ein Tiefkühlhersteller, nicht sicher: »Das Risiko in der Kühltruhe«, Bei Tiefkühlkost scheint eine Verpa-
dass es auch mit Papier geht. räumt er ein, »ist schwer zu ermessen.« ckung jedoch schwer ersetzbar, gefrorene
Denn dort wimmelt es noch immer von Paella lässt sich kaum aus einer Großbox
bunten Plastikbeuteln der Konkurrenz. abfüllen wie etwa Müsli. Dass aber die

M onatelang suchte Urban Busch-


mann das richtige Papier. Er tes-
tete Sorten, die gebleicht waren,
andere, die mit Füllstoffen versetzt waren
Fast 50 000 Tonnen Kunststoffe ver-
brauchte die Tiefkühlbranche im Jahr
2018. Aus Pappe oder Karton waren sogar
212 000 Tonnen, doch die
Hygiene leidet, wenn auf eine Kunststoff-
beschichtung verzichtet wird, scheint eine
Mär: Anfang des Jahres führte der Tiefkühl-
hersteller Agrarfrost für sei-
und zu schnell rissen. Fündig wurde er wenigsten davon kommen ne Kartoffelpuffer eine Falt-
schließlich in Polen – bei einem Zementsack- ohne Plastik aus: Entwe-
Frostiges Erbe schachtel ohne Kunststoff-
produzenten. »Die hatten die beste Ware, der ist die Pizza in der Tiefkühlverpackungsmüll privater anteil ein. Auf der Innen-
Endverbraucher in Deutschland*,
fast unbehandelt, langfasrig und extrem Schachtel noch mal ver- in tausend Tonnen seite arbeitet die Firma mit
reißfest«, sagt Buschmann, Verpackungs- packt, oder der Karton ist einer dünnen Beschichtung
entwickler beim Tiefkühlhersteller Frosta. innen mit Kunststoff be- 212 aus Pflanzenstärke. Die
Es ist das Papier, aus dem die neuen Beu- schichtet. Oft liegen Fisch- 170 *inkl. Speiseeis Haltbarkeit scheint das
Quelle: GVM
tel des Bremerhavener Unternehmens beste- filets, wie bei Iglo, sogar kaum zu beeinflussen: Bei
hen werden. 40 Millionen Portionen Bami noch in einer Schale aus Frosta etwa, deren neues
Goreng, Mexican Chicken oder Tagliatelle- Aluminium. 48
Papier unbeschichtet ist,
Wildlachs sollen ab 2020 nicht mehr in »Zubereitungsvertrauen 39 geht man von mindestens
weiße Tüten aus glänzendem Polypropylen der Verbraucher«, nennt 2005 2018 2005 2018 neun Monaten aus.
verpackt werden, sondern in braunes Sack- das Unternehmen als Papier-Pappe- Kunststoff Bliebe das Risiko mit
papier mit dem FSC-Siegel für nachhaltige Grund. Seit zwei Jahren Karton den in die Packung diffun-
Forstwirtschaft. Pro Jahr fallen in der Fabrik frickelt man bei Iglo inzwi- dierenden Mineralölrück-
dann 320 Tonnen weniger Kunststoff an. schen an einem Ersatz, der 2020 marktreif ständen, etwa aus Druckfarben – ein ent-
Frosta-Chef Felix Ahlers spricht von sein soll. scheidendes Argument der Industrie für
»der größten Innovation seit dem Frosta- Für das Recycling sind die vielen Ver- die Kunststoffinnenbeschichtungen. »Wer
Reinheitsgebot im Jahr 2003«. Damals bundstoffe Gift. Für Hygiene und Haltbar- mit wasser- statt mit lösemittelbasierten
verzichtete das Unternehmen auf Aromen, keit seien sie dagegen unerlässlich – das Farben arbeitet und mit Frischfaser- statt
Farbstoffe und Geschmacksverstärker. Al- zumindest suggeriert die Verpackungsin- Recyclingpapier, der hat diese Probleme
lerdings stiegen die Preise für die Frosta- dustrie seit Jahrzehnten. nicht«, sagt Frosta-Chef Ahlers.
Tiefkühlgerichte – und der Umsatz sackte Plastik, das vermögen auch die Bilder Zusammen mit seiner Schwester Frie-
erst einmal weg. von mit Tüten im Bauch verendeter Wale derike ist er an diesem Tag in der Bremer-
Ähnliches fürchten Ahlers’ Marketing- nicht zu ändern, steht beim Einkauf offen- havener Produktion. Felix Ahlers trägt seit
leute nun auch. Pionier durch Papier? Die bar noch immer für Sauberkeit und Sicher- einer Stunde einen der neuen Papierbeutel
mit sich herum, befüllt mit einer tief-
gekühlten Toskana-Gemüsepfanne. Das
Zeug taut auf, die ersten feuchten Flecken
zeichnen sich ab, aber der Beutel hält.
Über die Bänder laufen auch weiter Plas-
tikbeutel, denn Frosta produziert auch
Handelsmarken, gerade etwa eine Gemü-
sepfanne für Aldi. Und die sogar in Bio-
Qualität – ein Trend, den Frosta hat vor-
beiziehen lassen.
Nach der Preiserhöhung im Jahr 2003
hätte man kaum noch höher gehen können,
sagt Ahlers. Den Umsatzeinbruch damals
haben die Geschwister noch im Gedächt-
JOCHEN TACK / IMAGO IMAGES

nis. Die Umstellung auf Papier, sagt Friede-


rike Ahlers, mache die Produkte nochmals
etwas teurer als zuvor mit den Beuteln aus
Polypropylen. Wenn dieser Kunststoff ir-
gendwann aber besser recycelbar sei,
»dann können wir im Zweifel auch wieder
umschwenken«. Nils Klawitter
Tiefkühlschrank im Einzelhandel: Es sah schmuddelig aus

80 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Ausland
»Mama, ich liebe dich und Papa so sehr. Ich sterbe, weil ich nicht atmen kann.« ‣ S. 84

HERIKA MARTINEZ / AFP


Nach einem Angriff auf eine Mormonenfamilie im Norden Mexikos begutachten Angehörige ein Fahrzeug-
wrack. Es waren wohl Killer eines Drogenkartells, die am Montag das Feuer auf einen Konvoi eröffneten
und drei Frauen und sechs Kinder töteten. Mormonen aus den USA siedeln seit dem 19. Jahrhundert in
Nordmexiko. Sie waren zuletzt häufiger in Konflikte mit Drogenbanden geraten.

Analyse

Alles zugeben, nichts bereuen


Die Impeachment-Untersuchung wird öffentlich. Bringt das Donald Trump in Bedrängnis?

Ab der kommenden Woche wird der Demokrat Adam Schiff die durchdachte Plädoyers, seine Fragen höflich – doch voller
Ermittlungen des US-Kongresses zu einem Amtsenthebungsver- Fallstricke. Trump versucht, Schiff einzuschüchtern: »Zwie-
fahren gegen Donald Trump öffentlich weiterführen – und nicht lichtig« sei der Mann, »korrupt«, ein »Schwächling«, ein
wie bisher hinter verschlossenen Türen. Der 59-jährige Vorsitzen- »verlogener Dreckskerl«. Doch der Geschmähte lässt die Tira-
de des Geheimdienstausschusses rückt damit in den Mittelpunkt den an sich abtropfen.
des Prozesses, es kommt jetzt auf Adam Schiff an: Die Anhörungen Ein Amtsenthebungsverfahren kann nach hinten losgehen. Als
könnten der Anfang vom Ende Trumps sein – oder verpuffen, wie die Republikaner Bill Clinton stürzen wollten, ahnten sie nicht,
im Frühling der Bericht des Russlandermittlers Robert Mueller. dass die Wähler sie für ihre Verbissenheit abstrafen würden.
Letzteres wünschen sich die Republikaner. Es fällt ihnen ange- Schiff muss aufpassen, dass es den Demokraten nicht ähnlich
sichts der wachsenden Last der Beweise immer schwerer, Trump ergeht. Zumal ein Schuldspruch im Senat, in dem die Republika-
in der Ukraineaffäre zu verteidigen. Zuletzt war ihre Strategie ner die Mehrheit haben, bis heute unwahrscheinlich bleibt. Ab
die Flucht nach vorn: alles zugeben, nichts bereuen. Trump setzt Mittwoch können die Amerikaner im Fernsehen verfolgen, wie
darauf, dass er die Maßstäbe dessen verschieben kann, was für hochrangige Zeugen die Machenschaften des Präsidenten schil-
einen Präsidenten akzeptabel ist. dern. Noch halten die meisten Anhänger in den Umfragen
Schiff, früher Staatsanwalt in Los Angeles, scheint wie ge- erstaunlich loyal zu Trump. Die Demokraten hoffen darauf, dass
schaffen für diese Herausforderung. Seine Statements sind sich die Stimmung in den kommenden Wochen wendet. Marc Pitzke

82 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Polen versucht, über den Protest einfach hin-


Protest der Katholiken wegzugehen. Doch unter den Unzufrie-
denen sind sogar mindestens 16 Priester.
 Schweigend demonstrieren seit Okto- Sie haben einen Beschwerdebrief an
ber immer wieder Gläubige vor Kirchen den päpstlichen Nuntius geschrieben.
in Kraków, Gdańsk, Szczecin oder Darin werfen sie Erzbischof Sławoj Leszek
Poznań. »Erobern wir unsere Kirche Głódź Mobbing und Machtmissbrauch

ROMEO RANOCO / REUTERS


zurück«, nennt sich die Gruppe. vor. Auch der Geistliche und Professor
»Wir sind Katholiken«, heißt es in einer Andrzej Kobyliński springt den Unzufrie-
im Internet veröffentlichten »Bürger- denen bei. Die Kirche brauche dringend
petition«: »Wir haben genug davon, in mehr Offenheit und Reformen, sie stehe
das Gesicht einer Kirche zu blicken, die »mit dem Rücken an der Wand«. Zwar
in Polen ausschließlich Bischöfe und bekennen sich noch immer 87 Prozent
Robredo, Duterte Priester repräsentiert.« Man sei Hass- der Polen zum katholischen Glauben.
predigten gegen Nichtgläubige, Juden, Doch hat das Image von Priestern und
Philippinen Muslime und Homosexuelle satt. Die Kir- Bischöfen laut Umfragen in den vergange-
che spalte, statt zu einen. Auch versäume nen Jahren dramatisch gelitten: 42 Prozent
Die Umarmung des sie es regelmäßig, Fälle von sexuellem sind dieser Meinung. Und nur 20 Prozent
Autokraten Missbrauch durch Geistliche aufzuarbei- geben an, der Kirche noch »uneinge-
ten. Und sie lasse sich von der regierenden schränkt zu vertrauen«. Unter jungen
 Rodrigo Duterte, Präsident der Phi- nationalkonservativen Partei politisch Leuten zwischen 25 und 29 ist der Ver-
lippinen, ist berüchtigt für seine brutale einspannen. Die katholische Hierarchie trauensverlust am größten. JPU
Art, mit politischen Gegnern umzu-
springen. Mal lässt er Oppositionelle
unter fadenscheinigen Vorwürfen ein-
buchten, dann landen unliebsame Bür- Südsudan um Geld aus den reichen Ölvorkommen
germeister auf Abschusslisten im Dro- in Streit. Erschwerend kommt hinzu, dass
genkrieg. Journalisten müssen, weil sie
Zwei Männer kämpfen sie verschiedenen Volksgruppen angehö-
ihrer Arbeit nachgehen, um ihr Leben ums Öl ren: Kiir ist Dinka, Machar aber Nuer.
fürchten. Jetzt kommt eine neue Vari- Auch die Armee ist gespalten. Etliche
ante hinzu: die Umarmung. Duterte  Das jüngste Land der Welt hat prak- internationale Vermittlungsversuche sind
befördert seine aktuell schärfste Kritike- tisch noch nie Frieden erlebt: Fast die gescheitert, immer wieder flammen
rin, Vizepräsidentin Leni Robredo, zur ganzen acht Jahre seines Bestehens Kämpfe auf. Derzeit tritt Machar als
Co-Leiterin des staatlichen »Komitees herrscht im Land schon Bürgerkrieg, bis Bremser auf, er wagt sich nicht in die
gegen illegale Drogen«, nachdem sie zu 400 000 Menschen sind ums Leben Hauptstadt. Uno-Diplomaten traten in
gesagt hat, dass seine Drogenpolitik gekommen. Und so bald wird sich daran direkte Verhandlungen mit dem Warlord
»offenbar nicht funktioniere«. Es ist ein wohl nichts ändern, alte persönliche und und drängten ihn, den Friedensplan nicht
Schritt, den Oppositionelle mit höchs- ethnische Konflikte lähmen den Fort- schon wieder zum Scheitern zu bringen.
ter Skepsis betrachten. Nach seiner schritt. Ein Friedensabkommen von 2018 Aber selbst wenn sich Machar doch noch
Wahl zum Präsidenten im Jahr 2016 sieht zwar vor, dass Salva Kiir, Präsident umstimmen lässt, muss das nicht viel hei-
hatte Duterte die Philippinen zum und früherer Milizenführer, eine Regie- ßen: Obwohl er sich 2016, ebenfalls nach
»Narco-Staat« erklärt. Todesschwadro- rung der nationalen Einheit bilden soll. einem Friedensschluss, in Juba zu seinem
nen machen seitdem unerbittlich Jagd Doch er ist mit seinem designierten Vize alten Feind Kiir gesellt hatte, kam es
auf Drogensüchtige und vermeintliche und Gegner im Bürgerkrieg, Riek wenig später wieder zu Schießereien.
Dealer. Laut Polizeiangaben starben Machar, zutiefst verfeindet. Schon gleich Machar und seine Männer retteten sich
bisher mindestens 6600 Menschen in nach der Staatsgründung 2011 hatten sie zu Fuß, verfolgt von Kampfhubschrau-
Dutertes Drogenkrieg, Menschenrecht- im Namen der Versöhnung zusammen bern, in die benachbarte Demokratische
ler gehen von 27 000 Opfern aus. regieren sollen. Stattdessen gerieten sie Republik Kongo. CTI
Längst sind die Philippinen zum großen
Teil ein gesetzloses Land geworden, in
dem die meisten Tötungen im Drogen-
krieg nicht einmal mehr untersucht wer-
den. Leni Robredo wird in ihrer neuen
Rolle innerhalb von Dutertes Kabinett
nun Zugang zu offiziellen Dokumenten
des Drogenkriegs haben und auch zu
Geheimdienstmaterial. Menschenrecht-
ler hoffen, dass sie theoretisch dazu in
der Lage sein wird, Polizeioffiziere, die
tief in die Verbrechen verwickelt sind,
DIMO SILVA AURELIO / AFP

zur Rechenschaft zu ziehen. Sie sei


skeptisch, was die Motive des Präsiden-
ten betrifft, teilte Robredo mit. Aber sie
wolle die Gelegenheit ergreifen, »die
Kampagne gegen illegale Drogen zu
korrigieren«. Sie hofft offenbar, dass
Duterte sie lässt. KUK Südsudanesische Rebellenmiliz

83
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Mutter Hoang: »Wir wollten nicht, dass er geht«

Tiep ist fort


Migration Der Vietnamese Hoang Van Tiep schafft es mithilfe von Schleppern nach Europa. Seine
Eltern sind stolz. Dann wird in England ein Lkw mit 39 Toten gefunden. Von Max Polonyi

A
m 22. Oktober um 13.15 Uhr dem Tisch vor ihr liegt ein Foto von Papst Hoang Thi Ai sei tot, heißt es, gestorben
schickt Hoang Van Tiep seiner Franziskus. Hoang Thi Ai ist Erdnuss- Tausende Kilometer entfernt, in Grays,
Mutter Hoang Thi Ai eine Text- farmerin, Katholikin, 48 Jahre alt. Ihre England.
nachricht. »Ich bin auf dem Augen schimmern rot und haben dunkle Hoang Thi Ai wiegt ihren Oberkörper
Weg.« Es ist sein letztes Lebenszeichen. Ränder. Sie sagt, sie habe seit Tagen vor und zurück. Sie presst ihr Handy an
Hoang Thi Ai sitzt an einem Novem- nicht geschlafen. »Ich kann nicht. Ich kann die Brust. »Es kann nicht stimmen«, sagt
bernachmittag in der Stube ihres Hofes in auch nicht essen. Ich kann nur beten. Es sie. »Tiep muss am Leben sein.« Hoang
Dien Thinh, einem Dorf in Nordvietnam. schmerzt so.« Thi Ai starrt noch einmal auf die Nach-
Es ist der Tag vor Allerseelen, auf einer Im Dorf machen seit Tagen Gerüchte richt. Sie liest sie laut vor: »Ich bin auf
Kommode brennt eine Kerze, und auf die Runde. Der Sohn der Erdnussfarmerin dem Weg.« Sie weint.

84 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Ausland

binson abgeholt und nach Grays gefahren. die Mutter, »ein Broker«. So nennen
Robinson wurde festgenommen, ebenso die Hoangs Schleuser. Seinen richtigen
drei weitere Nordiren. Ihnen wird Men- Namen kennt die Mutter nicht. Die
schenhandel und 39-facher Totschlag vor- Hoangs verabredeten sich mit dem Broker.
geworfen. Sie trafen sich im Sommer 2017. Er ver-
Die Polizei vermutete zunächst, dass sprach, Tiep sicher nach Europa zu brin-
die Insassen chinesische Staatsangehörige gen. Wie, sagte er nicht. Die Hoangs
waren, einige führten offenbar gefälschte gaben ihm die vollständige Summe, die
chinesische Pässe mit sich. Doch wenige ihnen die Bank geliehen hatte. Alles, was
Tage nach dem Fund meldeten sich Fami- sie besaßen.
lien aus Vietnam bei der Polizei. Sie Einige Wochen später holte der Mann
vermissten ihre Kinder. Ihre Töchter und Tiep vom Hof der Eltern ab. Es war kein
Söhne. feierlicher Abschied, sagt die Mutter. Die
Eine Tochter schrieb ihrer Mutter laut Großmutter habe geweint und ihn gebeten,
»New York Times« eine Nachricht aus dem es sich noch einmal zu überlegen. Aber
Lastwagen: »Es tut mir leid, Mama und Tiep stieg zu dem Mann in das Auto. Dann
Papa. Meine Reise ins Ausland war nicht fuhren sie davon. Es war das letzte Mal,
erfolgreich. Mama, ich liebe dich und Papa dass die Hoangs ihren Sohn sahen.
so sehr. Ich sterbe, weil ich nicht atmen In dem Bezirk Hung Nguyen, wenige
kann. Ich bin aus Nghen, Can Loc, Ha Kilometer vom Dorf der Hoangs entfernt,
Tinh, Vietnam.« steht Pater Tas Phan Van Danh barfuß auf
Am Donnerstag bestätigten die vietna- der Terrasse vor seiner Kirche. Er sagt, vie-
mesischen Behörden schließlich, dass sämt- le Vietnamesen glaubten, wenn sie nach
liche Opfer aus Vietnam stammten. Europa gingen, wären sie dort Gleiche un-
Bereits einige Tage zuvor besuchten ter Gleichen. Sie glaubten, sie würden ak-
vietnamesische Beamte die Familien und zeptiert. »Aber das stimmt nicht.«
nahmen Fotos der Vermissten mit. Sie ka- Pater Tas ist das Oberhaupt der katho-
men auch zu Hoang Thi Ai. lischen Kirche in Hung Nguyen. Jeden Tag
Tiep wurde 2001 in Dien Thinh als pilgerten Hunderte Menschen aus den um-
jüngstes von den vier Kindern der Hoangs liegenden Dörfern zum Gottesdienst, sagt
geboren. Seine Mutter bewirtschaftet ein er. »Wenn die Menschen Probleme haben,
kleines Erdnussfeld vor dem Hof, sein Va- kommen sie zuerst zu mir, bevor sie zu
ter ist Fischer. den Offiziellen gehen.« In der Sozialisti-
Er sei ein besonders höflicher Junge ge- schen Republik, die Religion bestenfalls
wesen, mit dunklen, fast schwarzen Augen akzeptiert, nehmen die Priester eine be-
und pechschwarzem Haar, berichtet die sondere Rolle ein. Sie sind oft Regierungs-
Familie. Er half auf dem Hof und spielte kritiker, sprechen aus, was andere ver-
gern Fußball mit den anderen Kindern im schweigen.
Dorf. Er rauchte und trank nicht. »Die Zwei Wege führen nach Europa, heißt
Nachbarn behandelten ihn wie ihren eige- es, die VIP-Route und die Grass-Route.
nen Sohn, so ein guter Junge war er«, sagt Die VIP-Route ist ein individueller Service,
Hoang Thi Ai. bei dem die Broker den Kunden gefälschte
Im Sommer 2017, Tiep war 16 Jahre Pässe und Flugtickets ins Wunschland be-
alt und ging noch zur Schule, erkrankte sorgen. Schnell und sicher, aber sehr teuer,
sein Vater an Gicht, die Fischerei wurde viele Vietnamesen, die wegwollen, können
schwierig. »Uns ging es immer schlechter. sich das nicht leisten.
Grays liegt in der Grafschaft Essex, Ich verdiente mit den Erdnüssen nicht viel Die Grass-Route hingegen ist vergleichs-
40 Kilometer östlich von London. Rote Geld, und wir wurden arm«, erzählt die weise günstig, der Preis für eine Tour soll
Backsteinhäuser, gepflegte Gärten, briti- Mutter. zwischen 11 000 und 25 000 US-Dollar be-
sche Kleinstadtidylle. Tiep wandte sich an seine Eltern. Er sag-
In der Nacht auf Mittwoch, den 23. Ok- te: Ich werde unserer Familie helfen. Ich
tober, gegen 1.40 Uhr, fanden Sanitäter werde nach Europa gehen. Ich werde dort
hier in einem Industriegebiet am Stadt- arbeiten und mein Geld zu euch schicken.
rand 39 Leichen in dem Kühlcontainer So berichtet es seine Mutter. Freunde von
eines Lastwagens. 31 Männer und 8 Frauen. Tiep waren als Jugendliche nach Frank-
Es ist unklar, ob die Opfer in der isolierten reich und Deutschland gezogen. »Sie
Box erstickt oder ob sie darin erfroren schrieben ihm, dass man dort viel Geld
sind. Im Inneren des Containers herrsch- verdienen könne«, sagt die Mutter. »Wir
ten Temperaturen von bis zu minus wollten nicht, dass er geht. Aber er hat
25 Grad. Der Fund ist einer der größten uns überredet.«
Massentodesfälle in Großbritannien seit Die Hoangs nahmen eine Hypothek auf
dem Zweiten Weltkrieg. den Hof und ihr Land auf. Dafür lieh
Die Ermittler rekonstruierten, dass der ihnen die Bank 400 Millionen Dong, etwa
Container per Schiff in der Nacht aus Zee- 16 000 Euro. Tiep stand übers Internet
brugge in Belgien ins britische Purfleet in Kontakt mit einem Mann, seine Freun-
transportiert worden war. Dort hatte ihn de in Europa hätten ihn empfohlen. »Ein Handy mit Tieps letzter Nachricht
der nordirische Lkw-Fahrer Maurice Ro- Mann, der viele Wege kannte«, sagt »Ich bin auf dem Weg«

Fotos: Linh Pham für den SPIEGEL 85


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Ausland

fruchtbar, doch Überflutungen und Stürme


ermöglichen den Bauern meist nur eine
Ernte im Jahr. 2016 wurde bekannt, dass
eine taiwanische Stahlfabrik Chemikalien
ins Meer leitete. Eine Katastrophe, viele
Tonnen tote Fische trieben an die Strände.
Das Meer erholt sich langsam, aber seit-
dem ist auch die Fischerei kein gutes Ge-
schäft mehr.
»Wir haben viele Probleme«, sagt Pries-
ter Tas. Die Auswanderer wollten nicht
reich werden. Sie wollten lediglich der Ar-
mut entkommen. Wer Geld aus dem Wes-
ten nach Hause schickt, gilt in Vietnam als
Held.
Für die Familien lohnt sich die Investi-
tion: Im Dorf Do Thanh etwa, nicht weit
von Dien Thinh entfernt, stehen Beton-
villen mit mannshohen goldfarbenen Zäu-
nen und schwarz getönten Fenstern zwi-
schen überfluteten Äckern und Erdnuss-
feldern. Das Geld für die Häuser komme
Pater Tas beim Gottesdienst in Hung Nguyen: Der Armut entkommen aus Europa, sagt der Priester. Mindestens
drei der Opfer aus dem Lkw in Grays sol-
len aus Do Thanh stammen.
tragen. Das sagen die Hoangs und weitere »Doch dann wurde es schlimm«, sagt Die Hoangs freuten sich zunächst, als
Opferfamilien, mit denen der SPIEGEL ge- Hoang Thi Ai. Tiep ihnen mitteilte, dass er aus Frankreich
sprochen hat. Französische Zollbeamte erwischten nach England ziehen wolle. »United King-
Der Begriff »Grass« bedeutet in Viet- Tiep bei einer Razzia in einer Restaurant- dom heißt mehr Geld«, sagt seine Mutter.
nam so viel wie »billiger Dreck«. Die küche, sie nahmen ihm die Papiere ab. Das Sie hatten vereinbart, dass die Eltern ih-
Route führt meist über China nach Russ- Restaurant feuerte ihn. »Er war arbeitslos rem Sohn 15 Millionen Dong überweisen,
land, von dort nach Osteuropa und bis und konnte kein Geld mehr schicken«, etwa 600 Euro.
Deutschland oder Frankreich. Eine mo- sagt die Mutter. Tiep schlug sich durch, Die Mutter weiß nicht, wofür Tiep das
natelange Tour, Staatsgrenzen werden fand neue Arbeit, Gelegenheitsjobs als Tel- Geld brauchte, sie vermutet, für den Bro-
zu Fuß überschritten, ansonsten reist lerwäscher, dann wurde er wieder gefeuert. ker. »Ich habe nur gehofft, dass er nicht
man in Zügen, oft in Güterzügen. Und in Er lernte kein Französisch, das musste er die Grass-Route nach England nimmt«,
Lkw-Containern. Man erzählt sich, dass nicht, sagt die Mutter. Die Vietnamesen in sagt sie. »Ich dachte, bevor er die Grass-
Kühlcontainer besonders sicher seien, Paris hielten zusammen. Route nimmt, soll er lieber zurück nach
weil die Röntgengeräte der Grenzer die Ab Sommer 2018 sei er immer wieder Vietnam kommen.«
isolierten Wände nicht durchdringen bei Zollkontrollen erwischt worden, be- Am 22. Oktober dann die Nachricht:
könnten. richtet Hoang Thi Ai. »Er konnte kein »Ich bin auf dem Weg.« Hoang Thi Ai ant-
Nach seiner Abreise aus Dien Thinh Geld mehr nach Hause schicken.« Mehr wortete nicht.
meldete sich Tiep wochenlang nicht als ein Jahr ging das so, auf und ab. Im Samstag, 2. November, Allerseelen. Am
bei seinen Eltern, »wir waren in großer Herbst 2019 rief er seine Mutter an und Morgen sind die Gläubigen in Hung
Sorge um ihn«, erzählt seine Mutter. sagte: »Ich habe gehört, in England ver- Nguyen in die Kirche gepilgert, um ihrer
Sie hatten ausgemacht, so oft es geht über dient man viel besser als in Frankreich. Ich verstorbenen Angehörigen zu gedenken.
die Chat-Plattform Zalo zu kommuni- will da hin und in einem Nagelstudio ar- Manche trugen weiße Bänder um den
zieren. beiten.« Kopf, als Zeichen des Respekts vor den
Schließlich, im Frühjahr 2018, rief Die nordvietnamesischen Provinzen Toten. Auch Hoang Thi Ai war bei der
er an. »Ich bin in Paris«, habe er gesagt, so Quang Binh, Ha Thinh und Nghe An, Messe. Sie hat für Tiep gebetet. Jetzt ist
erinnert sich die Mutter. »Ich in der das Dorf der Hoangs sie wieder zu Hause.
habe es geschafft! Ich arbeite liegt, gelten als eine Am Abend zuvor habe eine Offizielle
in einem guten Restaurant.« der ärmsten Regionen des bei ihr angerufen, erzählt sie. »Es war eine
Die Menschen seien freund- CHINA Landes. Rund 300 Kilo- vietnamesische Frau von unserer Botschaft
lich zu ihm, schwärmte er, meter südlich von Hanoi in England.« Die Frau habe gesagt, dass
er sei Kellner und Teller- ist wenig von der quirligen die Botschaft ein Foto von Tiep ausgewer-
Hanoi
wäscher und würde schon Atmosphäre der Hauptstadt tet habe. Die Botschaft vermute, dass Tiep
bald das erste Geld nach Hau- LAOS zu spüren. Es gibt hier keine in dem Lastwagen war.
se schicken. »Wir waren so hippen Bars und Klubs Hoang Thi Ai ist zur Polizei gefahren,
stolz«, sagt seine Mutter. Dien Thinh wie in Hanoi, Touristen um den Beamten Haare ihres Sohnes für
So verging ein Jahr, ein verirren sich nur selten einen DNA-Abgleich zu geben. Sie will
glückliches Jahr, in dem Tiep THAILAND hierher. weiter daran glauben, dass er lebt, dass er
regelmäßig Geld schickte, Reisfelder reihen sich an- in England ist, dass er in einem Nagel-
KAMBOD-
insgesamt rund 8000 Euro. SCHA
einander, Bauern treiben studio arbeitet, dass er bald wieder Geld
Die Hoangs konnten die Wasserbüffel über die Stra- nach Hause schickt. Sie hat ihn angerufen,
Hälfte ihrer Schuld bei VIETNAM ßen, Gummi brennt in rußi- auf Zalo. Tiep ist nicht rangegangen.
der Bank damit begleichen. gen Feuern. Das Land ist

86 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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JEREMIAS GONZALEZ / DER SPIEGEL


Wasserwerfer, Protestierende (teils mit Laserpointern) in Santiago: »Wir stehen an einem Wendepunkt«

Den Bürgern aber reicht das nicht. Es

Ein Land steht auf geht ihnen um Grundsätzlicheres: um eine


Neuverhandlung ihrer Demokratie, eine
moderne Verfassung. Was sie wollen, ist
die Abschaffung eines Systems, das unter
Chile Die Rebellion gegen Präsident Piñera verschärft sich. der Herrschaft des Diktators Augusto Pi-
Sicherheitskräfte gehen immer brutaler gegen Demonstranten vor. nochet ersonnen wurde – und in ihren
Augen nach dessen Absetzung vor 29 Jah-
ren weitgehend unverändert fortbestand.

W enn Ariel Flores seine Sonnen-


brille absetzt, blickt man in ein
waches linkes Auge und auf der
anderen Seite in ein verkrustetes Loch.
Flores blickte in den Lauf der Waffe.
Dann wurde es dunkel. »Als das Projektil
einschlug, habe ich gleich gewusst: Das
war’s«, sagt er.
»Es ist ein System, das Ungleichheiten
produziert«, sagt Flores, als er am Nach-
mittag in dem engen, dunklen Wohnzim-
mer seiner Mutter im Vorort El Bosque
Am Mittwochmorgen dieser Woche sitzt Flores ist einer von mehr als 150 Chile- auf einem Sofa sitzt. Auf seiner Wunde
Flores in der Augenklinik des Salvador- nen, die bei den Protesten schwere Augen- trägt er jetzt ein dickes Pflaster. Sie haben
Krankenhauses in Santiago de Chile und verletzungen erlitten haben. Tausende an- sie gereinigt, sagt er. Die Schmerzen wer-
wartet darauf, dass er endlich aufgerufen dere, die für mehr Demokratie in Chile den langsam schwächer, aber er fragt sich,
wird, ein 21-jähriger Student in Jogging- demonstrierten, wurden von den Gummi- wie es in Zukunft weitergehen soll.
hose, der noch immer kaum begreift, was geschossen der Sicherheitskräfte getroffen – Flores studiert Businessmanagement.
mit ihm geschehen ist. an den Beinen, am Bauch. 22 Menschen Ein Jahr fehlt ihm bis zum Abschluss. Sein
Wie an den Tagen zuvor, sagt Flores, starben, etliche werden vermisst. Es ist fast Studium finanziert er durch ein Stipen-
war er auch an jenem 29. Oktober mit ein wie im Bürgerkrieg. dium, das er irgendwann zurückzahlen
paar Freunden auf der Plaza Baquedano Der Aufstand begann, nachdem die muss. Aber er ist sich nicht sicher, ob er
in Santiago, um seiner Wut auf eine kor- Regierung Mitte Oktober die Preise für mit seinem Gesicht noch einen gut bezahl-
rupte Elite Luft zu machen, die sich »einen U-Bahn-Tickets in Santiago erhöhen woll- ten Job bekommt.
Scheißdreck« darum schere, dass sich Leu- te. Seither gehen Hunderttausende Men- An einem Tisch im Raum sitzt seine
te wie er das Leben kaum noch leisten kön- schen auf die Straße. Chiles Präsident Mutter, eine rundliche Frau namens Patri-
nen. Dann flogen Steine, es brach Panik Sebastián Piñera hat zwar inzwischen cia, die nicht weiß, wohin mit ihren Ge-
aus, in Flores’ Augen brannte Tränengas. angekündigt, Spitzenverdiener höher zu fühlen. Eigentlich, sagt sie, unterstütze sie
Er sei gerannt, erzählt er, ohne genau zu besteuern. Er hat einen Mindestlohn ein- den Aufstand. Sie hat vier Kinder groß-
wissen, wohin, und als er sich umdrehte, geführt und die Grundrente um 20 Pro- gezogen. Seit 26 Jahren arbeitet sie in
stand drei Meter vor ihm ein Polizist. zent angehoben. der Verwaltung ihres Stadtbezirks an der

88 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Ausland

Rezeption. Umgerechnet 450 Euro ver- über Absprachen, die Pharmaunternehmer Ausbruch der Proteste klappert sie jeden
dient sie dort im Monat. Wenn sie bald in oder Toilettenpapierfabrikanten trafen, um Morgen die Notaufnahmen der Kranken-
Rente geht, sagt sie, bekomme sie nur noch die Preise hochzuhalten. Staatsanwälte er- häuser ab und nimmt die Fälle der Verletz-
120 Euro. »In diesem Land herrscht Barba- öffneten zahllose Korruptionsverfahren ge- ten auf. Sie hat Männer gesprochen, in de-
rei«, sagt sie. »Die Leute da draußen sind gen Politiker, aber nur wenige wurden für ren Körper bis zu 14 Projektile steckten.
müde. Sie wollen nur ein bisschen Würde.« ihre Vergehen zur Rechenschaft gezogen. Einen Medizinstudenten, dem man in den
Ariel Flores deutet auf den Kühlschrank »Heute wissen die Chilenen, dass ihr Rücken schoss, als er Erste Hilfe leistete.
und den Flachbildfernseher. »Wir haben Land von einer abgehobenen Kaste regiert Jugendliche berichteten ihr davon, nach
jetzt ein paar Sachen, die wir früher nicht wird, für die andere Gesetze gelten«, sagt ihrer Festnahme gefoltert und vergewaltigt
hatten«, sagt er, »aber im Grunde hocken González. Für viele Chilenen hatte es et- worden zu sein.
wir im selben Mist.« was Symbolisches, dass ihr Präsident, der Mehrere Hundert dieser Fälle hat Be-
Chile war auf dem Kontinent in den ver- durch den Verkauf von Kreditkarten zum cerra gemeinsam mit ihren Kollegen mitt-
gangenen Jahren wie eine Insel. Während Milliardär geworden ist, beim Ausbruch lerweile angezeigt. Sie will erreichen, dass
andere Länder in der Region immer wieder der Proteste gerade bei einem teuren Ita- die Verwundeten eine Entschädigung er-
von Unruhen erschüttert wurden, erlebte liener feierte. Piñeras Wirtschaftsminister halten. Vor allem aber geht es ihr darum,
Chile nach dem Ende der Diktatur weitge- erklärte, dass die Leute doch vor sieben dass die Repression des Staates von einem
hend friedliche Jahre. In einer stabil wach- Uhr zur Arbeit fahren sollten, dann zahl- Gericht als Verbrechen gegen die Mensch-
senden Wirtschaft fiel die Armutsrate seit ten sie den günstigen Tarif. lichkeit anerkannt wird.
1990 um fast 30 Prozentpunkte. Als Mus-
terknaben Südamerikas bezeichnete der
»Economist« das Land, das seit den Achtzi-
gerjahren als neoliberales Versuchslabor gilt.
Pinochet, der sich von einer in Chicago
ausgebildeten Ökonomengruppe beraten
ließ, hatte eine Verfassung ausarbeiten las-
sen, die den Staat so klein wie möglich
hält. Fast alles liegt in privater Hand. Wer
für seine Kinder eine gute Bildung will,
schickt sie auf private Schulen. Wer nicht
riskieren will, Ewigkeiten auf eine Opera-
tion in einem öffentlichen Krankenhaus
zu warten, schließt eine private Kranken-
versicherung ab. Die Wasserversorgung

JEREMIAS GONZALEZ / DER SPIEGEL


ist privatisiert, die Stromversorgung, die
Autobahnen sind es auch.
Für eine kleine Oberschicht, die ihren
Reichtum in den Wachstumsjahren verviel-
facht hat, gibt es keinen Grund, an diesem
Modell etwas zu ändern. Der große Rest
aber kämpft ums Überleben.
Mehr als die Hälfte aller Chilenen ver-
dient, wie Ariel Flores’ Mutter, weniger Verletzter Student Flores: »Ich wusste, das war’s«
als 500 Euro im Monat. Rentner bekom-
men im Schnitt 275 Euro von ihren priva-
ten Versicherungen ausbezahlt. Das ist ein »Was sie uns jetzt anbieten, ist Machia- »Was wir erleben, sind keine zufälligen
Problem, weil Lebensmittel, Strom oder velli pur«, sagt González. »Sie ändern et- Gewaltexzesse einzelner, überforderter
Telefongebühren oft kaum billiger sind als was, um nichts zu ändern.« Polizisten«, sagt Becerra. »Sie folgen einer
in Europa. In einem Land, in dem viele Das ist der Punkt, an dem Chile inzwi- brutalen Einschüchterungslogik, mit der
ärmere Familien bis zu ein Drittel ihres schen angekommen ist. Anders als in Ecua- der Staat schon während der Diktatur das
Lohns allein für den Transport zur Arbeit dor, wo die Regierung den Aufruhr der Volk diszipliniert hat.«
aufwenden, ist eine Fahrpreiserhöhung vergangenen Wochen beruhigen konnte, Nicht nur sie fühlte sich an die Ver-
um drei Cent keine Bagatelle. indem sie die Benzinpreise nun wieder gangenheit erinnert, als während der
Auf zahllose U-Bahn-Stationen und öf- subventioniert, geht es den Chilenen nicht mehrtägigen Ausgangssperre erstmals seit
fentliche Gebäude in Santiago haben die um eine Handvoll Dollar mehr. Sie fordern 30 Jahren wieder Panzer durch die Stra-
Demonstranten in den vergangenen Tagen einen Staat, der Verantwortung für seine ßen rollten. Die jungen Leute aber, sagt
den Satz »Chile ist aufgewacht« gesprüht. Bürger übernimmt und den Wohlstand ge- sie, fürchteten sich nicht. Sie haben nichts
»Die Menschen verstehen langsam, wie die recht verteilt. Der die Grundrechte auf Bil- zu verlieren. »Die Zeiten, in denen Täter
Dinge zusammenhängen«, sagt Mónica dung und Gesundheit nicht nur anerkennt, straffrei davonkamen und Bürger bloß
González, die als Journalistin Dutzende sondern für die Erfüllung dieser Rechte Konsumenten waren, sind vorbei«, sagt
Skandale aufgedeckt hat. Begonnen, glaubt bürgt. Sie wollen eine Verfassung, die das Becerra.
sie, habe dieser Prozess des Aufwachens Leben mehr wertschätzt als das Eigentum. Während sie in einem Café gegenüber
2011, als herauskam, welche obszönen Ge- »Wir stehen an einem Wendepunkt, der dem Salvador-Krankenhaus sitzt, leuchtet
winne die privaten Universitäten machten. unsere Geschichte in ein Davor und ein eine Nachricht auf dem Display ihres
Zehntausende Studenten gingen damals Danach teilt«, sagt die junge Menschen- Handys auf: 50 Verwundete in die Notauf-
auf die Straße. Dann enttarnten die Medien rechtsanwältin Paz Becerra. Auch Becerra nahme eingeliefert. Marian Blasberg
Rentenfonds, die gewaltige Summen in Steu- arbeitet in diesen Tagen daran, ihrem Land Mail: marian.blasberg@spiegel.de
erparadiese schleusten, oder berichteten den Geist der Diktatur auszutreiben. Seit

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Ausland

Die Kämpferin
Frankreich Die Gelbwestenbewegung wird ein Jahr alt. Eine ihrer prominenten Figuren war die
Pflegerin Ingrid Levavasseur. Nun versucht sie allein ihren Weg in die Politik. Von Britta Sandberg

A
n einem sonnigen September-
morgen steht Ingrid Levavasseur,
32, ungeduldig am Pariser Bahn-
hof Saint-Lazare und wartet seit
15 Minuten auf ein vorbestelltes Taxi. Sie
ist früh aufgestanden; ihre beiden Kinder, 9
und 13 Jahre alt, schliefen noch, als sie sich
in ihrem kleinen Heimatort in der Norman-
die auf den Weg in die Hauptstadt machte.
Wenige Tage zuvor ist Levavasseurs
Buch herausgekommen, in dem sie be-
schreibt, wie aus ihr, die die Schule nur be-
suchte, bis sie 14 Jahre alt war, eine Prota-
gonistin der Gelbwestenbewegung wurde.
Bei Amazon stand ihre Autobiografie in der
Rubrik Politik innerhalb kurzer Zeit auf den
vorderen Plätzen. Sie gibt fast täglich Inter-
views, der Tag in Paris ist durchgetaktet,
aber nun kommt das Taxi nicht. »Ich kann
nicht länger warten«, sagt Levavasseur. Sie
ruft ihren Pressesprecher an. Gemeinsam
entscheiden sie, ein Treffen mit der Staats-
sekretärin im Familienministerium um
9.30 Uhr abzusagen, um pünktlich beim
Fernsehsender LCI sein zu können.
Vor einem Jahr hatte Ingrid Levavas-
seur noch nie in ihrem Leben ein Taxi ge-
nommen. Sie war eine unbekannte Kran-
kenpflegerin, die für eine Zwölf-Stunden-
Schicht im Krankenhaus nach Abzug aller
Steuern 97 Euro bekam und sich fragte,
wie lange das so weitergehen sollte. Jetzt
hat sie einen renommierten Verlag, einen
Pressesprecher, wichtige Termine.
Vor einem Jahr ahnte auch noch nie-
mand, dass Menschen in gelben Westen
Frankreich monatelang mit landesweiten
Protesten überziehen würden. Dass sie die
Regierung herausfordern würden wie
kaum eine soziale Bewegung vor ihnen.
Am 17. November 2018 zogen die Gelb-
westen zum ersten Mal über die Champs-
Élysées; fast 300 000 Franzosen protes-
tierten an diesem Tag landesweit.
Die Wut kam aus der Provinz – aus ent-
legenen Dörfern und kleinen Orten, aus
mittelgroßen Städten. Der Anlass war die
Ankündigung einer Benzinpreiserhöhung
durch die Regierung, tatsächlich ging es
JULIEN DANIEL / DER SPIEGEL

um viel mehr. Die Wut richtete sich gegen


Paris und seine Eliten. »Es war ein Auf-
stand der Unsichtbaren«, sagt Levavasseur,
»all jener Menschen, die wie meine Mutter
seit Jahrzehnten jeden Tag zur Arbeit ge-
hen, aber so wenig verdienen, dass sie am
Ende des Monats in einen leeren Kühl-
schrank schauen.« Autorin Levavasseur: »Es war ein Aufstand der Unsichtbaren«

92
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Nach den ersten Tagen der Proteste ne Figur Eddy Bellegueule ist hochintelli- malige Kollegen, auf Nachbarn und einsti-
schwollen die Demonstrationen immer gent, wächst in der Picardie in ärmsten ge Klassenkameraden. »Ich dachte immer,
mehr an, im ganzen Land. Die Gelbwesten- Verhältnissen auf, irgendwann gelingt ihm ich bin die Einzige, der es so geht. Die
bewegung brachte die Regierung in Be- die Flucht. Scham war auf einmal weg.« Die Demons-
drängnis. Die Geschichte der Proteste ist Ingrid Levavasseur lebt noch immer tranten, die dem Aufruf zu diesem ersten
auch eine Geschichte des Scheiterns. Heu- dort, wo sie herkommt. Der Ort, in dem nationalen Aktionstag der »Gilets Jaunes«
te ist von den Gelbwesten kaum etwas sie als Kind mit ihrer Mutter beim Roten folgen, gehören der unteren Mittelschicht
übrig: Nur ein paar Hundert Menschen de- Kreuz um Lebensmittel anstand und große an oder sind Arbeiter. Kaum einer von ih-
monstrierten an den vergangenen Wochen- Angst hatte, dass Schulkameraden sie dort nen war bisher politisch aktiv.
enden in den Städten des Landes. sehen könnten, ist nicht weit weg. Ebenso Wahrscheinlich hätte nie jemand von
Levavasseur ist noch immer da. wenig die Wohnung, in der ihr Stiefvater Levavasseur erfahren, wenn dem Journa-
Sie ist jetzt vor dem großen Glasgebäu- sie misshandelte, und das Haus, in dem listen Maxime Darquier nicht ausgerech-
de an der Seine angekommen, in dem der ihr Mann sie schlug. net an der Mautstelle, an der sie nun re-
TV-Sender LCI seine Studios hat. Den ver- Mit 18 bekam sie ihr erstes Kind, vier gelmäßig demonstrierte, der Reifen ge-
schlungenen Weg zur Maske findet sie Jahre später kam das zweite. Später trenn- platzt wäre. Eigentlich wollte Darquier,
selbst, sie war im vergangenen Jahr oft te sie sich vom Vater und ernährte ihre Fa- der für den Fernsehsender France 5 arbei-
hier. Die Moderatorin fragt sie im Studio, milie allein, weil ihr Mann kaum Unterhalt tet, weiter gen Norden, um eine Gruppe
wie sie die Lage einschätzt. »Die Wut ist zahlte. Ihre Mutter, einst Fabrikarbeiterin, Gelbwesten zu porträtieren. Doch nun
noch da, die Leute leben ja in derselben unterstützte sie. Die Turnschuhe für den fällt ihm diese Frau mit den roten Haaren
Situation wie zuvor«, sagt sie, es habe sich Sportunterricht ihres Sohnes konnte sie auf. Er fragt sie, warum sie hier ist. Leva-
nicht viel geändert. »Es braucht nicht viel, sich trotzdem nicht immer leisten. vasseurs Antwort ist acht Minuten lang.
damit es wieder losgeht.«
Ob sie sich nach diesem Jahr nicht als
Gewinnerin sehe, wirft eine andere Mo-
deratorin ein, nach ihren TV-Auftritten
und dem Buch? Sie sei doch so etwas wie
der Star eines neuen sozialen Reality-Fern-
sehens? »Ich mag dieses Wort nicht: sozia-
les Reality-Fernsehen«, sagt Levavasseur
und schaut die Fragestellerin an. »Es klingt
für mich fast verächtlich.« Ihr Leben sei
keine Show, sondern Wirklichkeit – »auch
wenn man den Eindruck haben kann, dass
viele hier diese Wirklichkeit erst sehr spät
entdecken«. Kawumm.
Später, im Taxi zurück, regt sie sich im-
mer noch über die Frage auf. Ihr Presse-
sprecher ruft an, gratuliert zur gelungenen
Replik. Auf ihrem zerkratzten Handy

FRANCOIS MORI / DPA


schaut sie sich die Reaktionen in den so-
zialen Medien an. Überwiegend positiv
an diesem Tag, das ist nicht immer so.
»Machen Sie bitte weiter, Ingrid«, sagt
der Taxifahrer beim Aussteigen zu ihr. Sie
hat sich ihm nicht vorgestellt, wie viele Aktivistin Levavasseur im Januar in der Normandie: »Wir haben unsere Chance vertan«
Leute nennt er sie einfach beim Vornamen.
Wildfremde grüßen sie auf der Straße und
vertrauen ihr ihre Sorgen an. Über hun- Einen Monat vor der ersten großen De- »Das Erstaunliche war, dass man diese
dert Fernsehauftritte hat sie seit November monstration schreibt Ingrid Levavasseur Antwort in einem hätte senden können«,
2018 absolviert. Sie ist als Teil der Gelb- auf Instagram einen Kommentar an Präsi- sagt Darquier, »sie hat schon bei ihrem aller-
westenbewegung zur Stimme jener gewor- dent Emmanuel Macron und nimmt darin ersten Interview so geredet wie heute.«
den, die so lange ungehört blieben. viele Fragen vorweg, die die Gelbwesten- Einen Tag später lädt er sie zu einer Diskus-
Für Journalisten und Politiker ist sie der bewegung später stellen sollte: Ob es nor- sionsrunde auf France 5 ein.
sanfte Zugang zu einer Welt, in der die meis- mal sei, dass sie 900 Kilometer pro Monat Levavasseur fährt hin und erzählt aus
ten Leute anders reden als Levavasseur. fahre, um zur Arbeit zu kommen, und nur ihrem Leben. Es ist der Moment, der alles
Lauter, wütender, weniger differenziert. Es 1300 Euro verdiene, von denen sie Kin- verändern wird. Danach steht ihr Telefon
ist für alle einfacher, Ingrid Levavasseur derbetreuung, Benzin, Arbeitslosenversi- nicht mehr still, auf Facebook hat sie nach
in den Pariser TV-Studios zu ertragen als cherung und 700 Euro Miete zahle. der Sendung 3000 Freundschaftsanfragen.
den zornigen Leuten an den Kreisverkeh- Am 17. November des vergangenen Jah- Auf Demonstrationen wird sie von allen
ren dieser Republik zuzuhören. Auch das res geht sie zum ersten Mal in ihrem Leben erkannt; France 2 will eine Dokumenta-
erklärt ihre permanente Medienpräsenz. demonstrieren: Sie zieht sich eine gelbe tion über sie drehen. Die Linken von der
Die Kindheit, die Levavasseur in ihrem Schutzweste an, setzt eine Wollmütze auf Partei »La France insoumise« versuchen,
Buch beschreibt, erinnert in vielem an den und fährt an eine Autobahnzahlstelle an sie für sich zu gewinnen. Die französische
Romanhelden des jungen französischen der A 13 bei ihr in der Nähe. Auf Facebook Ministerin für Gleichstellung ruft an, weil
Schriftstellers Edouard Louis, der mit sei- hatte sie den Aufruf der »Gilets Jaunes« sie Levavasseur gern treffen würde.
nen autobiografischen Schilderungen aus gesehen. Als Levavasseur an der Mautstel- Sie sagt den Linken ab, aber der Minis-
dem Prekariat berühmt geworden ist. Sei- le aussteigt, trifft sie überrascht auf ehe- terin und dem Fernsehen zu. »Ich wollte

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 93


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Ausland

nicht die ewige Oppositionelle sein«, sagt hungen und wird im Internet übel be- wahlen im kommenden Frühjahr, auf einer
sie heute. »Für mich saßen auf der anderen schimpft: »Dreckige Hure« steht da. unabhängigen, demokratisch-grünen Liste
Seite keine Feinde. Die Regierenden haben Am 10. Dezember reagiert Emmanuel in der Normandie. Außerdem hat sie einen
uns verachtet, sie waren nicht da für uns, Macron und kündigt Maßnahmen in Höhe Verein gegründet, mit dem sie alleinerzie-
aber man kann und sollte mit ihnen reden.« von acht bis zehn Milliarden Euro an, da- hende Mütter und Väter unterstützen will.
Der Großteil der Bewegung aber, über runter eine Anhebung des Mindestlohns. Sie hat darüber neulich mit der zuständi-
die inzwischen ganz Frankreich redet und Die Proteste gehen trotzdem weiter und gen Staatssekretärin gesprochen.
aus der neben Ingrid Levavasseur auch an- werden immer gewalttätiger. Die extreme Es sieht zum ersten Mal so aus, als ob
dere Protagonisten hervorgehen, sieht das Rechte wie die extreme Linke versuchen, sie durch ihre Bekanntheit der Welt entrin-
anders. Der Dialog mit den Medien, mit die Bewegung zu kapern. Mitglieder des nen kann, in der sie so lange gefangen war.
dem politischen Establishment in Paris, schwarzen Blocks mischen sich unter die Im April hat sie noch mal einige Tage im
kommt für sie einem Verrat gleich. Sie wol- Demonstranten. Die Sympathiewerte der Krankenhaus gearbeitet, an ihrem ehema-
len keine offiziellen Sprecher. Die Gelb- Franzosen für die Bewegung liegen trotz- ligen Arbeitsplatz, den sie im Januar gekün-
westen werfen Levavasseur vor, die Seiten dem bis Ende des Jahres bei um die 70 Pro- digt hatte. Sie wusste nicht, ob sie das noch
gewechselt zu haben. Sie wird massiv an- zent. Vielleicht weil sich viele in den For- kann: nackte, alte Menschen waschen. Sie
gefeindet, vor allem im Netz. derungen wiedererkennen? konnte. Aber sie will es nicht mehr.
Jérôme Rodrigues ist eine andere be- »Heute denke ich, dass wir so viel hätten Am Abend vor dem Termin im Minis-
kannte Figur der Bewegung, spätestens seit bewirken können. Wir hätten uns organi- terium hat sie erfahren, dass ihre Autobio-
er am 26. Januar bei einer Demonstration sieren und zu einer gemeinsamen Linie grafie als »Politisches Buch des Jahres«
in Paris durch Polizeigewalt ein Auge ver- finden müssen«, sagt Levavasseur. »Die vorgeschlagen wurde. Ehemalige Premier-
loren hat. Er gilt als eher moderat, doch er Unterstützung, die wir aus der Bevölke- minister haben diesen Preis schon be-
kommen. Levavasseur ist euphorisch. Am
selben Tag hat sie noch einen Vorstellungs-
termin in Paris. Sie würde gern in der Kom-
munikationsabteilung einer NGO oder
eines Unternehmens arbeiten.
Doch sechs Wochen später, Ende Okto-
ber, wirkt Ingrid Levavasseur zum ersten
Mal abgekämpft und müde. Sie ist umge-
zogen nach Louviers, in den Ort, in dem
sie kandidiert. Ihr winziges Häuschen liegt
im Schatten einer großen Siedlung von
Sozialwohnungen, in der bis vor Kurzem
mit Drogen gehandelt wurde. Noch ist der
Gasherd nicht angeschlossen. Falls es im
März klappen sollte, könnte sie hier Vize-
bürgermeisterin werden. Sie würde dann
600 Euro pro Monat bekommen.
JULIEN DANIEL / DER SPIEGEL

Am Wochenende ist sie zum ersten


Mal in einem Von-Tür-zu-Tür-Wahlkampf
durch die Nachbarschaft gezogen. Am
Abend näht sie jetzt kleine Gemüsebeutel,
die ihre Liste im Wahlkampf verteilt, da-
mit die Leute weniger Plastik verwenden.
Talkshowgast Levavasseur (2. v. l.): »Viele hier entdecken die Wirklichkeit zu spät« Aus den Bewerbungen ist nichts gewor-
den. Sie hatte einzelne Vorstellungsgesprä-
che, die freundlich verliefen, aber ergeb-
sagt: »Ingrid hat sich damals irgendwie ver- rung erfuhren, war unglaublich. Wir hät- nislos blieben. Sie will nicht die ewige
laufen, sie ist vom Weg abgekommen.« Er ten Großes erreichen können. Aber wir Gelbwestenerklärerin bleiben. Sie weiß,
kann den Hass auf Levavasseur nicht nach- haben unsere Chance vertan, es wird nie jetzt müsste eigentlich der nächste Schritt
vollziehen, die Kritik aber schon: »Sie hat wieder so wie damals.« kommen. Aber welcher könnte das sein?
sich nicht der Logik der Bewegung gebeugt. Am 17. Februar wird Levavasseur auf Noch ist sie optimistisch, aber sie hat
Seit 50 Jahren gibt es diese Politik der Per- einer Gelbwestendemonstration auf den Angst, dass ihre Herkunft ihr erneut Gren-
sonalisierung. Das ist genau das, was wir Champs-Élysées massiv von Anhängern zen auferlegt. Was soll sie schicken, wenn
nicht wollten. Sie ist sehr willig auf die ihrer eigenen Bewegung bedroht und nach Abschlüssen gefragt wird – das Zeug-
Lockrufe der Medien eingegangen.« physisch angegriffen. Sie kann nur ent- nis aus ihrer Zeit bei der freiwilligen Feu-
Ende Dezember ist Levavasseur in das kommen, weil eine CRS-Polizeieinheit sie erwehr? In Frankreich ist es noch wichtiger
mondäne Pariser Stadthaus des französi- rettet. Am nächsten Tag kesseln »Gilets als in anderen Ländern, die richtigen Di-
schen Unternehmers und Millionärs Ber- Jaunes« sie nahe ihrem Heimatort ein. Am plome vorweisen zu können.
nard Tapie eingeladen. Sie schreibt in ih- Abend verspricht sie ihrem Sohn, keine Sie hat sich sogar wieder als Kranken-
rem Buch, dass sie nicht darüber hinweg- Gelbweste mehr zu sein; auf Facebook pflegerin beworben. Auch da kommen nur
kommt, dass Tapie in allen Räumen die teilt sie mit, dass sie die Bewegung verlässt. Absagen. »Ich glaube, es liegt an meinem
Lampen brennen lässt. »Wo ich zu Hause Seither schaut Ingrid Levavasseur sich Namen«, sagt sie. Sie hat schon überlegt,
doch so auf meinen Verbrauch achte.« die Dinge aus der Distanz an: das bren- ob sie auf dem Lebenslauf wieder den Na-
Eine Zeit lang überlegt sie, für die Eu- nende Bankgebäude auf den Champs-Ély- men ihres Mannes eintragen soll. Aber sie
ropawahlen zu kandidieren, aber der Hass sées am 16. März, das Abflauen der Pro- bringt es nicht über sich.
auf sie wird immer größer. Sie erhält Dro- teste. Sie kandidiert für die Kommunal-

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Ausland

TAUSEEF MUSTAFA / AFP


Einwohnerinnen, indische Sicherheitskräfte in Srinagar: »Der schwierigste Ort von allen«

Totenstille
Indien Seit drei Monaten ist das Kaschmirtal größtenteils von der Außenwelt abgeschnitten.
Bewohner berichten von staatlicher Gewalt und Terror.

D
as Erste, was den Besucher über- als 400 Menschen durch Terror und staat- vorige Woche 23 EU-Abgeordnete, von
rascht, ist, wie ruhig es ist. Man liche Gewalt starben. denen die meisten rechten Parteien ange-
sieht Menschen auf den Straßen, Es ist jetzt drei Monate her, dass Indien hörten, darunter Abgeordnete der AfD.
aber Geschäfte und Büros sind seinem Teil von Kaschmir den Sonder- Der Kaschmirkonflikt erregt weniger
geschlossen. Schulen haben zwar offiziell status entzogen hat. Vorige Woche teilte Aufmerksamkeit in Europa als die Proteste
geöffnet, doch die Klassenräume sind leer, die indische Regierung von Premier Naren- in Hongkong, dabei ist er wesentlich ge-
weil viele Jungen und Mädchen aus Angst dra Modi den einst halb autonomen Bun- fährlicher. Denn neben Indien beanspru-
zu Hause bleiben. desstaat in zwei Unionsterritorien auf, die chen auch Pakistan und China einen Teil
Auf ein Rollgitter hat jemand den Slo- künftig von Neu-Delhi regiert werden. der Region, drei Atommächte, die aus ver-
gan »We exist to resist« gesprüht: Wir le- Hunderte Politiker wurden festgenom- schiedenen Richtungen an Kaschmir zer-
ben, um uns zu widersetzen. men. Indien hat ihnen die Freiheit ange- ren. Pakistan warnte vor Konsequenzen.
Die indische Regierung betont, die Situ- boten, allerdings nur, wenn sie im Gegen- Der indische Verteidigungsminister sagte,
ation in Kaschmir sei auf dem Weg zur zug versichern, ein Jahr lang zur Abschaf- die Selbstverpflichtung, Nuklearwaffen
Normalität. Oder was eben als normal gel- fung der Autonomierechte zu schweigen. nicht zum Angriff zu nutzen, könne in Zu-
ten kann in einer Region, wo Sandsäcke Ausländern und indischen Oppositionel- kunft vielleicht überdacht werden.
und Stacheldraht den Weg versperren, wo len wird der Zutritt zu Kaschmir verwei- Wer kaum zu Wort kommt, sind die Be-
Soldaten die Passanten aus Bunkerschlit- gert. Die ersten Ausländer, die in jüngerer wohner von Jammu und Kaschmir. Nach
zen beobachten, wo vergangenes Jahr mehr Zeit in die Region reisen durften, waren einem wochenlangen, von Neu-Delhi an-

96 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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geordneten Blackout funktionieren Fest- wurden manche ausgeflogen. Sakinas mirs schlimmste Zeiten miterlebt. Ich bin
netztelefone und Handys wieder. Aber Sohn sitzt in Agra ein, einer rund 700 Ki- überrascht, wie friedlich es derzeit ist.
man kann nicht mit den Leuten chatten, lometer entfernten Stadt in Nordindien. Kaschmir gehört zu den schwierigsten Or-
ihnen keine Bilder oder Videos schicken. Zwei Gesetze räumen den Sicherheits- ten von allen. Binnen Sekunden kann sich
Das Internet bleibt abgeschaltet. kräften weitgehend freie Hand ein. Unter eine Menschenmenge zusammenrotten,
Eine Mitarbeiterin des SPIEGEL hat dem »Public Safety Act« können Personen und bevor du weißt, was passiert, rennen
mehr als ein Dutzend Menschen in Kasch- in Kaschmir zwei Jahre lang ohne Gerichts- 250 Menschen auf dich zu. Wir können den
mir getroffen. Was sie berichten, ist er- verfahren festgehalten werden. Der »Ar- Menschen hier nicht trauen. Selbst die
schreckend, manchmal widersprüchlich. med Forces (Special Powers) Act« verleiht Alten und die Jungen neigen zur Radi-
Manche fürchten den indischen Staat, an- den Truppen faktisch Immunität. Es gab kalisierung.
dere erhoffen sich Schutz. Was sie eint, ist immer wieder schwere Vorwürfe gegen die Wir geben unser Bestes, niemanden zu
die Angst vor dem, was nun kommen mag. Armee. Die Anschuldigungen reichen von verletzen. Wir setzen Schrot nur als letztes
Einer von ihnen sagt: »Wir erleben die Vergewaltigung und Folter bis hin zu Tö- Mittel ein und sind darauf trainiert, auf
Ruhe vor dem Sturm.« tungen. Aber laut der Menschenrechtsor- den Bereich unterhalb der Knie zu zielen.
ganisation Amnesty International musste Aber wenn dich ein wütender Mob umzin-
»Ich friere, selbst wenn sich kein einziges Mitglied der Sicherheits- gelt, dann schießt du irgendwann.
die Sonne scheint« kräfte vor einem Zivilgericht verantworten. Selbst diese zwei Jungs hier auf ihrem
Im Süden Kaschmirs liegt ein Dorf mit zer- Moped können eine Gefahr darstellen.
brochenen Fensterscheiben. Bewohner er- »Dann schießt du irgendwann« Sie könnten Steine werfen oder eine Gra-
zählen, Soldaten würden nachts Steine In der 90 Feet Road, einer gehobenen nate. Wie soll man da nicht wütend wer-
durchs Fenster schmeißen. Nach Sonnen- Wohnlage in Srinagar, Kaschmirs Sommer- den oder Vergeltung üben wollen? Wir
untergang würden die Bewohner aus hauptstadt, steht ein Mann in Kampf- machen unsere Arbeit, und die werfen
Angst das Licht löschen und sich im Dun- montur. Er trägt eine schusssichere Weste, Steine auf uns. Wir stehen immer zu zweit
keln in ihren Häusern verbarrikadieren. eine AK-47, einen Schlagstock und einen beieinander, um uns gegenseitig zu be-
Fast niemand im Ort ist bereit, offen Schild. Er gehört zur CRPF: der Central schützen, aber nie in Gruppen, damit wir
mit Journalisten sprechen. Es herrscht eine Reserve Police Force, einer paramilitäri- keine Ziele abgeben.«
Art Paranoia: ob der Fremde wirklich der schen Einheit, die dem Innenministerium
ist, der er vorgibt zu sein – und kein in Delhi untersteht. Mehr als eine halbe Kaschmir gehört zu den großen ungelös-
Spitzel? Million Sicherheitskräfte sollen derzeit in ten Konflikten der Gegenwart, ein kom-
Auch die Frau, die schließlich in ihr Kaschmir stationiert sein, die Region zählt plizierter Streit. Es fängt damit an, dass
Haus bittet, will ihren echten Namen nicht zu den am stärksten militarisierten Gegen- der ehemalige Bundesstaat genau genom-
preisgeben. Sie ist 44 Jahre alt, ein Schleier den der Welt. men in drei Teile zerfällt: in das mehrheit-
bedeckt ihr Haar, man soll sie Sakina nen- Kaschmirer sagen, sie würden lieber am lich hinduistische Jammu mit sechs Mil-
nen. Sie fängt mehrmals an zu weinen, als Straßenrand durch den Verkehr laufen, lionen Bewohnern sowie die buddhistisch
sie von ihrem Sohn erzählt. Ein Foto zeigt als sich auf dem Bürgersteig an den Trup- geprägte Bergregion Ladakh mit rund
einen jungen Mann von 20 Jahren mit lan- pen vorbeizudrücken. Der CRPF-Mann 300 000 Menschen. Aber wenn von
gen schwarzen Haaren und Bart. stammt aus der Nähe von Delhi. Jedes Kaschmir die Rede ist, dann ist meist – wie
Mal, wenn ein Passant vorbeigeht, span- auch in diesem Text – das Kaschmirtal ge-
»Es war in der Nacht zum 8. August. Von nen sich seine Schultern. meint, das Epizentrum des Konflikts, wo
draußen drang Lärm herein, aber wir hat- mit acht Millionen Menschen die muslimi-
ten zu viel Angst nachzusehen, was los war. »Als ich hörte, dass der Region die Autono- sche Mehrheit lebt.
Stattdessen legten wir uns schlafen, meine mie entzogen werden soll, überkam mich Hier begann 1989 der Kaschmir-Auf-
Tochter und ich in der Küche, mein Vater eine dunkle Vorahnung. Ich habe Kasch- stand. Die Demonstranten forderten die
und mein Sohn in einem Zimmer an der Unabhängigkeit von Indien, andere den
Vorderseite des Hauses. Es muss morgens Anschluss an Pakistan. Die Sicherheits-
gegen drei gewesen sein, als fünf oder zehn kräfte schossen mit Tränengas, auch mit
Soldaten an unsere Tür hämmerten. scharfer Munition. Je härter Indien vor-
Sie stürmten ins Zimmer meines Sohnes ging, desto mehr Zulauf erhielten militante
und rissen ihn aus dem Bett. Wir wollten Gruppen, auch dank Unterstützung aus
wissen, was er getan habe und wo sie ihn Pakistan, das ebenfalls einen Teil kon-
hinbrächten. Aber wir erhielten keine Ant- trolliert und Anspruch auf das gesamte
wort. Die Soldaten schlossen uns ein und Gebiet erhebt. Der pakistanische Geheim-
feuerten zwei Schüsse ab. Ein Schuss traf dienst bildete Kämpfer aus und gab ihnen
den Boden, hier gleich bei der Tür, ich kann Waffen. Insgesamt starben mehr als
Ihnen die Stelle zeigen. Seitdem mein Sohn 40 000 Menschen.
fort ist, fühle ich mich wie betäubt. Ich friere Ältere Kaschmirer erzählen, sie seien
und zittere, selbst wenn die Sonne scheint. damals überzeugt gewesen, dass ihre Pro-
Die Armee ist in mein Haus eingedrungen teste etwas bewegen würden. 30 Jahre spä-
KUMAR SUNAINA / DER SPIEGEL

und hat mein Kind mitgenommen.« ter ist von dieser Hoffnung wenig übrig.
Stattdessen wurde der Aufstand immer
Sakinas Sohn war nicht der Einzige, den brutaler und auch extremistischer. Islamis-
die Soldaten festnahmen. In den Tagen ten vertrieben die hinduistische Minder-
vor und nach dem Entzug der Autonomie heit im Tal: Von einst Hunderttausenden
ließ die Armee Männer inhaftieren, die sie Hindus leben heute noch rund 3000 dort.
für Unruhestifter hält. Laut Berichten han- Ein Extremist erklärte vor drei Jahren
delt es sich um mehr als 4000 Männer. Mutter Sakina per Video, er kämpfe für ein Kalifat. Sein
Weil die Gefängnisse vor Ort voll sind, »Ein Schuss traf den Boden« Tod löste Massenproteste mit vielen Toten

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Ausland

KUMAR SUNAINA / DER SPIEGEL (2)


Studentin Fazili, Bauer Dar: Manche fürchten den indischen Staat, andere erhoffen sich Schutz

aus – auch angeheizt durch soziale Me- zurückkehrt. Mehrere Lkw-Fahrer und weise macht sie ihren Gefühlen auf Face-
dien. Die indische Regierung argumentiert: Obsthändler starben bei Angriffen. Die book Luft, aber ohne Internet hat sie
Wenn wir nicht hart durchgreifen, sterben Extremisten warfen eine Granate auf einen wenig Kontakt nach außen. Sie schluckt
erneut Menschen. Marktplatz mit Zivilisten. Medikamente gegen eine posttraumati-
Es gibt Analysten in Delhi, die Modis sche Belastungsstörung, entstanden durch
»Indien ist ein gutes Land« Schachzug für genial halten. Weil er mit die Erfahrung von Terror und Gewalt. Im
Der Großmarkt in Drabgam liegt wie aus- der Entziehung der Autonomie die Frage Krankenhaus heißt es, Angststörungen
gestorben da. Nur ein Armeefahrzeug nach der Unabhängigkeit geklärt und da- hätten zugenommen.
parkt in der Nähe. Der Landwirt Tanveer bei gegenüber Pakistan klare Kante ge- Zabirah Fazilis Familie erlangte eine
Ahmed Dar sitzt im Schatten eines Bau- zeigt hat – und auch gegenüber China. gewisse Bekanntheit, nachdem ihr Cousin
mes. Ein paar Erntehelfer pflücken Äpfel. China kontrolliert ein Fünftel des ehe- Eisa Fazili bei einem Schusswechsel ums
Doch das meiste Obst verrottet im Gras. maligen Fürstenstaats. Als Teil der »Initia- Leben gekommen war. Tausende Men-
Erst sei nur sein Einkommen in Gefahr ge- tive Neue Seidenstraße«, Chinas milliar- schen strömten zu seiner Beerdigung.
wesen, sagt Dar, jetzt auch sein Leben. denschweren Entwicklungsprogramms, Radikale breiteten eine schwarze IS-Flag-
bauen chinesische Firmen Fernstraßen, ge über seinen Leichnam aus. Die Familie
»Wir arbeiten gegen die Zeit. Jeden Tag ver- die auch durch den von Pakistan kontrol- hatte erst übers Internet erfahren, dass
liere ich 20 Kisten Äpfel, das sind 20 000 lierten Teil Kaschmirs verlaufen. Indien sich Eisa einer radikalen Gruppe ange-
Rupien (gut 250 Euro). Wir sind nicht ein- fühlt sich von seinen beiden Nachbarn um- schlossen hatte.
mal in der Lage, die Äpfel ordentlich zu zingelt.
verpacken. Sobald die Sonne untergeht, Die andere Lesart ist, dass es Indien je- »Eisa und ich waren gleich alt. Wir standen
eilen wir nach Hause, weil es hier draußen dem, der in Kaschmir Unruhe stiften will, uns nahe. Es war ein Schock, als er auf
nicht sicher ist. Es gibt Gerüchte, dass Mili- einfacher gemacht hat. Denn auch das einmal verschwand. Es ist nicht so, dass ich
tante Vorratslager zerstören. Ich habe auch zeigt Kaschmirs Geschichte: Wann immer die Idee der Militanz ablehne. Ich glaube,
gehört, dass ein Apfelfeld mit Chemikalien Neu-Delhi glaubte, einen politischen Kon- der intellektuelle Kampf bringt nicht viel
besprüht wurde, um es zu vernichten. flikt militärisch lösen zu können, hat es im Moment. Ich habe zwei jüngere Brüder,
Die Regierung hat uns einen guten Preis neue Gewalt provoziert. und wenn die indische Armee sie angreift,
für unsere Äpfel versprochen, aber kann könnte ich verstehen, wenn sie sich radi-
sie auch für unsere Sicherheit garantieren? »Es ist eine Besatzung« kalisieren.«
Seitdem Militante Lkw-Fahrer erschossen Zabirah Fazili ist eine 24-jährige Literatur-
haben, kann ich niemanden finden, der studentin. Sie lebt mit ihrer Großfamilie Es gab in Srinagar schon immer zwei La-
meine Äpfel transportiert. Wer leidet, sind in einem Bungalow in Srinagar. Normaler- ger: eines, teils gewalttätig, das die Abspal-
die Durchschnittsbürger, die zum Nichtstun tung von Indien forderte. Und ein gemä-
verdammt sind. Warum passiert uns das? zwischen Indien, Pakistan ßigtes, dessen Anhänger sich nicht unbe-
Wir glauben, dass Indien ein gutes Land und China umstrittene dingt indisch fühlten, aber schätzten, was
ist. Ich sehe mich selbst als indisch an.« Region Kaschmir das Land ihnen ermöglichte. Die Frage ist,
wie viele von ihnen nach Monaten der
3,5 Millionen Einwohner sind auf das Ein- Kaschmirtal Gängelung weiter glauben, dass Indien
kommen aus der jährlichen Apfelernte ihr Heimatland ist.
angewiesen. Erst behinderte die Kommu- Islamabad Srinagar CHINA Vielleicht geht Modis Strategie der har-
nikationsblockade das Geschäft, nun müs- ten Hand am Ende auf. Vielleicht gelingt
sen die Landwirte militante Kämpfer PAKISTAN ihm in Kaschmir, was ihm im restlichen In-
fürchten. dien bislang kaum gelungen ist: die Wirt-
Vor ein paar Wochen tauchten Poster INDIEN schaft in Schwung zu bringen und ein Volk
an Strommasten, Häuserwänden und Mo- 200 km zu versöhnen. Wahrscheinlich ist das nicht.
scheen auf. Die Militanten drohen darauf Neu-Delhi Laura Höflinger, Sunaina Kumar
jedem mit dem Tod, der zur Normalität

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Sport
»Ich bin mal gespannt, was Uli unter Rückzug versteht. Das kann der doch gar nicht.« ‣ S. 100

Künstlich beschneite
Pistenfläche im Alpenraum
Anteil in Prozent
2017
zum Vergleich:
2004

Italien Österreich Schweiz Frankreich Deutschland

87 10 13 10
25
40 40 32
70
49

U L L ST E I N B I L D
Quellen: Destatis, Cipra

Mit dem Riesenslalom im österreichischen Sölden hat Ende sieben Jahren rund 21 000 Schneemaschinen nach Italien, Öster-
Oktober die neue Saison des alpinen Ski-Weltcups begonnen – reich, Frankreich, Deutschland und in die Schweiz. Mit dem
dem Kunstschnee sei Dank. Inzwischen verfügen etwa 90 Pro- Einsatz von Kunstschnee versuchen die Betreiber von Skigebie-
zent aller Skigebiete in den Alpen über Beschneiungsanlagen. ten in erster Linie, die Saison zu verlängern, um die Einnahmen
Allein der Marktführer Technoalpin lieferte in den vergangenen aus dem Wintertourismus zu maximieren.

Magische Momente Köster: Oha, das weiß ich gar nicht.

»Supercool«
Eigentlich nennen mich alle nur Köster.
SPIEGEL: Wie haben Sie Ihren aktuellen
Sieg auf Hawaii gefeiert?
Windsurfer Philip Köster, 25, über seinen WM-Sieg an Land Köster: Auf Hawaii werden die Bürger-
steige ziemlich früh hochgeklappt. Meine
SPIEGEL: Herr Köster, Sie SPIEGEL: Sie wurden damit zum fünften Freundin und ein paar Freunde waren da,
kommen gerade von Mal Weltmeister, und das mit gerade 25. wir haben den Sieg bei einem Abendessen
Hawaii zurück, wo Sie Wie fühlte sich das an? genossen. Ich mag es ja allgemein eher
Windsurf-Weltmeister Köster: Das war natürlich supercool. Der ruhig. Nur auf dem Wasser darf es auch
in der Königsdisziplin allerschönste Titel bleibt für mich aber mal stürmen.
Wellenreiten wurden. der erste, weil er so überraschend war, SPIEGEL: Sie sind fast täglich auf dem
Sie mussten allerdings eine damals hatte ich einfach überhaupt nicht Meer unterwegs. Was machen Sie in der
FRANK MOLTER / PICTURE ALLIANCE / DPA

Zitterpartie an Land statt auf den Wellen damit gerechnet. restlichen Zeit?
durchstehen. SPIEGEL: Sie waren damals 17 und galten Köster: Dann ist entweder das Wetter zu
Köster: Ja, denn nach dem ersten Durch- als das »Windsurf-Wunderkind«. Wie wer- schlecht, oder ich sitze im Flieger. Meine
gang war zwei Tage lang Windstille auf den Sie heute genannt? Freundin ist auch viel auf dem Wasser,
Maui. Dabei wäre ich gern noch mal ins deshalb spielt sich mein Leben hauptsäch-
Wasser gegangen. lich dort ab.
SPIEGEL: Das müssen Sie uns erklären. SPIEGEL: Sie ist Stand-up-Paddlerin,
Köster: Nachdem kein Wind mehr auf- wurde vor zwei Jahren Weltmeisterin im
kam, hat die Rennleitung entschieden, den Sprint. Im Februar werden Sie beide
Wettbewerb abzubrechen und die Ergeb- Eltern.
nisse des ersten Durchgangs zu werten. Köster: Das ist mehr wert als fünf Welt-
SPIEGEL: Da waren Sie nur auf Platz 9 meistertitel. Ich denke, dass es ein cooler
JOHN CARTER / PWAWORLDTOUR

gelandet. Wie wird man mit so einer Posi- Zeitpunkt ist, weil ich noch relativ jung
tion Weltmeister? bin und viel Energie habe.
Köster: Dieser Weltmeistertitel setzt sich SPIEGEL: Was hat man als fünfmaliger
aus vier Weltcups zusammen. Zuvor hatte Weltmeister noch für Ziele?
ich zwei dritte Plätze auf Teneriffa und Köster: Ich nehme mir schon ewig den
Sylt sowie Platz 2 in meiner Heimat Gran Triple Loop vor, den dreifachen Salto vor-
Canaria. Auf Hawaii hat Platz 9 gereicht, wärts. Ich werde es so lange versuchen,
um in der Gesamtwertung zu gewinnen. Köster Ende Oktober vor Hawaii bis ich es schaffe. MAS

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 99


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Sport

Abschied vom Häuptling


Fußball Nach 40 Jahren gibt Uli Hoeneß die Macht beim FC Bayern ab. Am Ende seiner Ära
wird deutlich: Seine Politik war zuletzt zu sehr auf den schnellen Erfolg ausgerichtet.

V
or einigen Wochen war Claudia rigen Sonntag von Trainer Niko Kovač Der Rückzug von Hoeneß ist für den
Roth zu Besuch beim FC Bayern trennte. Wieder mal muss ein neuer Fuß- FC Bayern eine Zäsur. Der Verein verliert
München. Die Vizepräsidentin balllehrer gefunden werden, der das teure seinen Häuptling, seine Identifikations-
des Bundestags wollte Uli Hoe- Münchner Fußballensemble in den Griff figur. Hoeneß ist das fleischgewordene
neß, dem scheidenden Präsidenten des Re- bekommt. Der Vorstandsvorsitzende Karl- »Mia san mia«. Ihm gelang ein ziemlicher
kordmeisters, ein Geschenk vorbeibringen, Heinz Rummenigge hat bereits angekün- Spagat: Er trieb die Kommerzialisierung
einen Fotoband, aber Hoeneß war nicht digt, dass Hoeneß bei der Suche natürlich des Klubs an allen Stellen voran, achtete
im Büro. Seine Assistentin gab der Politi- eingebunden sein werde. aber darauf, dass der Verein seine Volks-
kerin eine kleine Führung über das Ver- Roth hat in den vergangenen Monaten nähe und Volkstümlichkeit nicht verlor.
einsgelände. »Es war beeindruckend«, er- die Entwicklungen um Niko Kovač, der im- Es gibt beim FC Bayern bis heute regel-
zählt Roth, 64, »dort ist wirklich jeder Trai- merhin mit dem FC Bayern die Meister- mäßig öffentliche Trainingseinheiten, bei
ningsplatz in einem perfekten Zustand.« schaft und den Pokal gewonnen hat, genau denen die Anhänger ihren Idolen aus
Roth betont, kein Fan des FC Bayern beobachtet. Wie Rummenigge kaum eine nächster Nähe bei der Arbeit zuschauen
zu sein. Ihr Herz gehört dem FC Augsburg. Gelegenheit ausließ, den Coach öffentlich können. Jedes Jahr in der Vorweihnachts-
Aber sie versteht sich gut mit Hoeneß. Er zu kritisieren, zu düpieren. Wie dagegen zeit besuchen Spieler Fanklubs. Thomas
stammt wie sie aus Ulm. Die beiden lern- Hoeneß sich vor den Trainer stellte, ob- Müller bekam voriges Jahr bei den »Red
ten sich im Zuge der Fußballweltmeister- wohl dessen fachliche Defizite nicht zu Bulls Taubenbach« ein Schaukelpferd ge-
schaft 2006 kennen, es gab seither immer übersehen waren. schenkt, Niko Kovač musste mit den Mit-
wieder Begegnungen, gemeinsame Termi- Solidarisch habe sich der Uli verhalten, gliedern von »Rode Stean Inzell« Schuh-
ne. Manchmal rufe der CSU-Sympathisant findet Roth. Bravo. platteln und Fingerhakeln.
bei ihr im Büro in Berlin an, wenn ihm Aus Spielerkreisen in München hört Für ausländische Spieler, die zum FC
mal wieder was an der Politik der Grünen man, die Rückendeckung für Kovač sei ir- Bayern kommen, ist diese Verbundenheit
nicht passe. mit der Basis gewöhnungsbedürftig. Sie
»Uli Hoeneß hat Fehler gemacht und kennen das nicht. Fast alle Spitzenklubs
musste dafür zu Recht geradestehen. Aber Wird er zum Hecken- in Spanien, Italien oder England schotten
ich mag seine Art«, sagt Roth. Er sei nicht schützen, der alle ihre Teams ab. Als der FC Bayern im Au-
so aalglatt wie andere Managertypen. Ein gust zu einem Freundschaftsspiel gegen
Mensch mit Emotionen. Einer, der als Ver- wahnsinnig macht mit eine Amateurmannschaft antrat, fragte ein
einspräsident auch mal mit dem Kopf gegen Ratschlägen? Neuzugang einen Mitspieler, ob man hier
die Wand renne und sich »eine Delle« hole. richtig spielen müsse. Oh ja, kam als Ant-
Am kommenden Freitag wird die Ära wort zurück.
Hoeneß, 67, beim FC Bayern zu Ende ge- gendwann nur noch kontraproduktiv ge- In der Geschäftsstelle des FC Bayern
hen. Der Mann, der das Münchner Fuß- wesen. Hätte Hoeneß schon früher seine hoffen sie, dass die neue Führung die alten
ballimperium über Jahrzehnte aufgebaut schützende Hand weggezogen, wäre man Werte nicht aufgibt. »Der FC Bayern ist
und gegen jeden verteidigt hat, der ver- nicht derart tief abgestürzt. Zu viele Profis ein bayerischer Verein, der sich der Welt
suchte, daran zu rütteln, wird bei der Jah- seien schon zu lange unzufrieden gewesen öffnet. Das war immer unser Ideal. Es
reshauptversammlung in der Olympiahal- mit Kovač, weil er keine klare Strategie wäre ein Offenbarungseid, wenn wir das
le abtreten. Sein Nachfolger als Präsident für ein Offensivspiel entwickelt hatte. Weil aufgäben«, sagt ein Mitarbeiter.
soll der ehemalige Adidas-Chef Herbert die Abwehr wackelte. Weil er Spieler auf Außerdem lassen sich Bilder von der
Hainer werden. wechselnden Positionen einsetzte und sie Mannschaft in Tracht auf dem Oktoberfest
Im Verein reden die Mitarbeiter seit Mo- damit ihrer eigentlichen Stärken beraubte. vor allem in den USA und in China gut
naten darüber, wie es nach dem Rückzug Uli Hoeneß wird in Zukunft nur noch vermarkten.
des Patriarchen weitergehen soll. Wird der im Aufsichtsrat des FC Bayern sitzen. Er Der Historiker Nils Havemann, seit Jah-
Klub seine Ausnahmeposition halten kön- wird sich aus dem Zentrum der Macht ent- ren ein kritischer Beobachter des deut-
nen? Oder beginnt mit dem Abgang des fernen und sein altes Büro in der Vereins- schen Fußballs und des FC Bayern, bezwei-
Anführers der langsame Abstieg? zentrale an der Säbener Straße räumen. felt, dass der Verein ohne Hoeneß das Bild
Claudia Roth sagt: »Ich bin mal ge- Er vertraue seinem Nachfolger, den er vom traditionsbewussten Fußballgroßkon-
spannt, was Uli unter Rückzug versteht. selbst ausgesucht hat, sagt Hoeneß. Er hat zern mit Herz aufrechterhalten kann. Weil
Das kann der doch gar nicht.« angekündigt, künftig nur noch Ratgeber es kaum noch Figuren gibt, die das Ideal
Eigentlich wollte Hoeneß den FC Bay- sein zu wollen, sich nicht in die Geschäfte verkörpern. Thomas Müller ist der letzte
ern in Bestform übergeben, doch die einzumischen. Bayer in der Mannschaft. Hoeneß-Nach-
Mannschaft steckt in einer Krise. Die Aber kann er das? Schafft es der Dampf- folger Hainer, der Prototyp des CEO, prä-
Heimniederlage gegen Hoffenheim, das plauderer, sein Temperament, sein Ego zu sent, präzise, kühl, taugt eher nicht als
schwache Pokalspiel in Bochum und dann zügeln? Oder wird er zum Heckenschüt- Rampensau für die Basis und die Medien.
auch noch die 1:5-Niederlage bei Eintracht zen, der alle wahnsinnig macht mit Rat- Oliver Kahn? Die Torwartlegende soll
Frankfurt, woraufhin sich der Klub am vo- schlägen und Kommentaren? 2022 Rummenigge als Vorstandsvorsitzen-

100 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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CHRISTIAN KOLBERT / IMAGO IMAGES

Vereinspräsident Hoeneß nach einer Pressekonferenz Ende August: Nicht so aalglatt wie andere Managertypen

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der beerben. Kahn wird respektiert bei Da der FC Bayern mehr Geld einsetzen
den Fans, aber nicht geliebt. Und Hasan kann als alle anderen Profiklubs in
Salihamidžić, der Sportdirektor? Gilt in Deutschland, wurde der Abstand zur Kon-
München nur als Laufbursche der Bosse. kurrenz in den vergangenen Jahren immer
Historiker Havemann, der Bücher über größer. Zuletzt wurde der Klub siebenmal
die Geschichte des deutschen Fußballs ge- in Folge deutscher Meister.
schrieben hat, meint, dass mit Hoeneß’ Hoeneß’ Scheckbuchpolitik war sehr
Rückzug die Übermacht des FC Bayern auf den schnellen Erfolg ausgerichtet. In
zu Ende gehen könnte. »Wenn das Mar- den letzten zehn Jahren wechselte der
kante verloren geht, wird es schwierig für FC Bayern sechsmal den Cheftrainer. Un-
den Verein, an der Spitze zu bleiben.« ter ihnen war nur einer, der seine Vorstel-
Egal wie peinlich Hoeneß mitunter auf- lungen vom Fußball langfristig durchset-
getreten sei, wie unrecht er mit öffentli- zen konnte: Pep Guardiola. Der penible
chen Äußerungen gehabt habe, er habe Katalane perfektionierte beim FC Bayern

BERND FEIL / IMAGO IMAGES


dafür gesorgt, dass die Aufmerksamkeit den Ballbesitzfußball. Noch heute profi-
beim FC Bayern war. Wenn die Chefs des tiert der Klub von seiner Arbeit. Aber
Dauerrivalen Borussia Dortmund mal eine nach seinem Abgang nach nur drei Jahren
knackige These raushauen, ist das in erster verwässerten die Ansätze, lösten sich
Linie ein Thema für die Sportpresse. Wenn Strukturen unter wechselnden Trainern
Hoeneß etwas von sich gibt, redet ganz auf, die andere Vorstellungen hatten oder
Deutschland darüber – und die Sponsoren Bayern-Trainer Kovač vorigen Samstag schlicht nicht die Klasse Guardiolas.
des FC Bayern sind zufrieden, weil ihr Konsequenzen gezogen Kovač zum Beispiel. Er kam im Som-
Partner mal wieder in aller Munde ist. mer 2018 als Notlösung nach München,
Im generell eher verschlossenen Fuß- Hansi Flick übergangsweise das Team des weil die Bayern Thomas Tuchel nicht be-
ballgeschäft ist Hoeneß eine Rarität. Er FC Bayern übernehmen soll, bis ein neuer kommen hatten, der zu Paris Saint-Ger-
lässt das Publikum hin und wieder in seine Chefcoach gefunden ist. main gewechselt war. Hoeneß stellte dem
Seele blicken. Er hält dann Monologe, un- Lahm wirkt unbeeindruckt vom aktuel- Kroaten eine Topmannschaft hin. Kovač
geschützt, ungefiltert, die Sätze überschla- len Rummel um den FC Bayern. Der Welt- rackerte sich ab, versuchte aus seinen Feh-
gen sich. Früher war das, was er sagte, in- meister von 2014 spielte zwölf Jahre als lern zu lernen. Er sammelte im Schnitt pro
teressant. Zuletzt sorgten seine Vorträge Profi für den Klub. Vor mehr als zwei Jah- Spiel immerhin 2,26 Punkte – doch das ist
meist nur noch für Kopfschütteln. ren beendete er seine Karriere, er gehört reine Statistik. Auf dem Platz war kein Stil
Da war die Tirade gegen den Torwart jetzt zum Organisationsteam der Europa- zu erkennen, kein schlüssiges System.
Marc-André ter Stegen, den Konkurren- meisterschaft 2024 in Deutschland. Lahm Dann kam die Serie der schlechten Spie-
ten von Bayern-Torwart Manuel Neuer in blickt nüchtern auf die Fußballbranche. le, und nach der Frankfurt-Partie reichte
der Nationalmannschaft, oder sein Satz, Er schätzt Hoeneß. Als Spieler bekam es den Bayern-Bossen augenscheinlich. Es
gut ein Jahr nachdem er eine Haftstrafe Lahm im Herbst 2009 aber auch einmal heißt, die Trennung von Kovač sei einver-
wegen Steuerhinterziehung in Höhe von Ärger mit ihm, weil er die Spielweise des nehmlich erfolgt. Am Sonntag nach dem
28,5 Millionen Euro abgesessen hatte: FC Bayern in einem Interview mit der Spiel gegen Frankfurt traf er die Mann-
»Ich bin der einzige Deutsche, der eine »Süddeutschen Zeitung« hinterfragt hatte. schaft an der Säbener Straße. Um diese
Selbstanzeige gemacht hat und trotzdem Seine Kritik von damals deckt sich in Tei- Zeit herum saßen Rummenigge, Hoeneß
im Gefängnis war.« Und weiter: »Frei- len mit der, die Experten heute am FC Bay- und Salihamidžić zusammen und berieten,
spruch wäre völlig normal gewesen. Aber ern üben: Es fehle dem Klub eine klare wie es weitergehen sollte.
in diesem Spiel habe ich klar gegen die Philosophie. Eine Idee, wie man Fußball Irgendwann nach dem Training riefen
Medien verloren.« spielen will. Ein taktisches Grundmuster, sie Kovač an. In diesem Telefonat soll er
Es gibt unzählige Geschichten über den das schon den Nachwuchsspielern in der gesagt haben, wenn die Führung der Mei-
feinen Kerl Uli Hoeneß, seine väterliche Talentakademie beigebracht wird. nung sei, er sei die Ursache für die Krise,
Seite, sein großes Herz. Er kümmerte sich Hoeneß reagierte damals harsch auf die biete er an, die Konsequenzen zu ziehen.
um den schwer kranken Gerd Müller. Er Analyse. Alles Papperlapapp. Dem Phi- Daraufhin hätten sich die Bayern-Bosse
stattete afghanische Fußballerinnen mit lipp, raunte er, würden seine Worte noch mit ihm für den Abend verabredet. Bei
Trainingsklamotten aus. leidtun. diesem Treffen, das nicht sehr lange ge-
Aber jetzt hört man in München, dass Das Prinzip, mit dem Hoeneß die Vor- dauert haben soll, hätten die drei Männer
ihn die Zeit in Haft wohl doch verändert macht der Bayern absicherte, basierte das Rücktrittsangebot angenommen.
habe. Er sei noch impulsiver geworden, großteils auf Geld. Er kaufte die besten Auf Anfrage erklärte der FC Bayern,
seine Sprache manchmal roh. Über Mesut Spieler zusammen. Weil er und sein Part- dass er die Details des Tagesablaufs nicht
Özil, den Weltmeister von 2014, sagte ner Rummenigge selbst große Fußballer kommentiere. Die vom SPIEGEL geschil-
Hoeneß vor einem Jahr, der spiele doch waren und als Zuschauer Hunderte Partien derte Abfolge entspreche jedoch nicht den
nur »einen Dreck«. verfolgt haben, glaubten sie beurteilen zu Tatsachen.
Manche seiner langjährigen Wegbeglei- können, ob ein Profi richtig gut oder doch Jetzt arbeiten sie beim FC Bayern Mün-
ter sind froh, dass Hoeneß beiseitetritt. Er nur Mittelmaß ist. chen erst mal mit Hansi Flick als Über-
beginne sein eigenes Denkmal zu beschä- gangslösung. Ein ehemaliger Spieler des
digen. Klubs, ein langjähriger Assistent von Joa-
Am vorigen Montag, einen Tag nach- chim Löw, ein Taktikfuchs, wie es heißt.
dem sich der FC Bayern von Trainer Niko Dem Verein muss es Ihm wurde Hermann Gerland zur Seite
Kovač getrennt hat, sitzt Philipp Lahm in nun dringend gelingen, gestellt. Der Gemütsmensch aus dem
München in der Nähe der Isar in einem Ruhrgebiet war zuletzt Leiter der Talent-
Bürozimmer. Irgendwo läuft ein Radio. eine eigene Spiel- akademie des FC Bayern, ist schon seit
Es wird vermeldet, dass Assistenztrainer idee zu entwickeln. einer gefühlten Ewigkeit im Verein und

102 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Sport

ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY IMAGES


FC-Bayern-Spieler bei der Feier des Double-Siegs im Mai am Marienplatz: Hipp, hipp, hurra

immer zur Stelle, wenn Hoeneß ruft, wenn sprach nach der Partie nicht mit den war- Und es ist ja auch nicht so, dass ihn ein
Not am Mann ist. tenden Journalisten. tristes Rentnerdasein erwarten würde.
Die Fans und viele Experten finden das Er hat sich das Ende seiner Amtszeit an- Hoeneß und seine Frau Susanne wohnen
Retro-Duo an der Seitenlinie in Ordnung. ders vorgestellt. Sicherlich: Überall wird in einem großen Haus oberhalb von Bad
Hauptsache, die Abwehr ist endlich dicht ihm jetzt für sein Lebenswerk gehuldigt. Wiessee. Von ihrem Grundstück aus ha-
und Müller spielt wieder. Einige Spieler In der ARD lief eine Dokumentation über ben sie einen wunderbaren Blick über den
sollen hingegen enttäuscht sein von der ihn. Alle sind nett. Dortmunds Chef Hans- Tegernsee. Dass er sich einfach dorthin zu-
Zwischenlösung, die nicht wirklich große Joachim Watzke, mit dem sich Hoeneß oft rückzieht und die Füße hochlegt, klar,
Fortschritte verspricht. bekriegt hat, sagt dem SPIEGEL: »Wir bei- nicht vorstellbar, dafür hat er noch zu viel
In den vergangenen Tagen spielte sich de sind mit Haut und Haaren, mehr als je- Energie, einen zu ausgeprägten Gestal-
in München ein absurdes Casting ab. Jeden der andere, mit unserem Klub verbunden. tungswillen. Und es gäbe wirklich genug
Tag gab es neue Meldungen, wer als neuer Das ist eine Einheit. Es bleibt nicht aus, zu tun.
Chefcoach für den FC Bayern infrage kom- dass du da ab und zu mal übereinander Claudia Roth erzählt, Hoeneß habe sie
me. Und fast jeden Tag sagte einer der ge- stolperst. Was Uli Hoeneß in den 40 Jah- einmal eingeladen, ihn in Bad Wiessee zu
handelten Kandidaten ab. ren für den FC Bayern geleistet hat, ist besuchen. Vielleicht komme sie mal da-
Der Wunschtrainer scheint Erik ten Hag ohne Frage außergewöhnlich.« rauf zurück. Sie hätte da ein paar Ideen
von Ajax Amsterdam zu sein. Er könnte Hipp, hipp, hurra. für ihn. Im Einsatz gegen Rassismus
im nächsten Sommer in München anfan- In Wahrheit kommen die Mängel seiner und Rechtsextremismus im Fußball zähle
gen. Oder findet sich doch noch irgendwo Politik gerade zum Vorschein. Er hätte frü- jede Stimme; auch von der Bekämpfung
ein renommierter Fußballlehrer, der sofort her starke Nachfolger aufbauen müssen. der Klimakrise sei die Profibranche nicht
mit der Arbeit auf der Baustelle FC Bayern Er hat es verpasst, das sportliche Konzept ausgenommen. »Da braucht es gute Bot-
anfangen könnte? des FC Bayern zu reformieren. Er war zu- schafter.«
Am Mittwochabend schlugen die Bay- letzt kein guter Häuptling mehr. Es würde dem Uli schon nicht langwei-
ern in der Champions League Olympiakos Die neue Klubführung, die Hoeneß zu- lig werden.
Piräus 2:0. Man sah dem Team an, wie es sammengestellt hat, ist im Fußballgeschäft Andreas Meyhoff, Gerhard Pfeil,
um Ordnung bemüht war. Die Abwehr weitgehend unerfahren. Dabei muss es Christoph Winterbach
stand. Thomas Müller spielte. Aber es dem Verein nun dringend gelingen, eine
fehlte an Esprit, die talentiertesten Fuß- eigene Spielidee zu entwickeln und diese
baller, Thiago und Coutinho, saßen auf kontinuierlich zu verfolgen. Sonst büßt er Videoanalyse
Wie gut ist der
der Bank. seine Position im europäischen Spitzen- FC Bayern wirklich?
Es war ein fader Auftritt, drei Tage vor fußball ein. Um das zu verhindern, gibt es spiegel.de/sp462019bayern
dem Bundesligaspiel gegen den Dauer- nur einen Weg: Hoeneß muss die Straße oder in der App DER SPIEGEL
rivalen Borussia Dortmund. Uli Hoeneß wirklich freigeben.

104 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Sport

Letzte
cherweise russische Athleten von interna- sitzende der Wada-Athleten-Kommission.
tionalen Wettbewerben ausgeschlossen wie Momentan sei man davon weit entfernt.
2017 die Läuferin Marija Sawinowa. Doch Ein Grund: die Struktur der vermeintli-

Chance
wird die Organisation auch dieses Mal hart chen Kontrollinstanz. 50 Prozent der Sitze
durchgreifen? Vermutlich nicht. Zu verfilzt in den beiden wichtigsten Wada-Gremien
sind die Strukturen. Und das Problem wird besetzen Sportfunktionäre, das IOC stemmt
auch ihr neuer Präsident wohl kaum lösen. zudem die Hälfte des Jahresbudgets von
Doping Ein neuer Präsident Für den Usada-Chef Tygart steht fest, rund 35 Millionen Dollar. Der Anti-Do-
soll das miserable Image der wer die Schuld trägt an der Wada-Misere: ping-Kampf hängt somit am Tropf derer,
das Internationale Olympi- die Dopingfälle als Bedrohung
Welt-Anti-Doping-Agentur sche Komitee (IOC) unter Prä- der eigenen Geschäftsgrund-
aufbessern. Kann das gelingen? sident Thomas Bach – und die lage ansehen. Größer kann ein
Wada selbst. »Die Verantwort- Interessenkonflikt kaum sein.

D as mit Russland sei »alles nur noch lichen dort sind unfähig, ange- Davon können auch PR-

IREK DOROZANSKI / AFP


traurig«, sagt Travis Tygart und messene Entscheidungen zu Maßnahmen nicht ablenken.
schüttelt den Kopf. Der Chef der treffen«, beklagt Tygart. In Katowice kündigte IOC-
amerikanischen Anti-Doping-Agentur Diese Woche feiert die Präsident Bach an, zehn Mil-
(Usada) beugt sich in seinem Sessel vor Wada ihr 20-jähriges Beste- lionen Dollar zusätzlich in den
und zählt mit den Fingern seiner rechten hen, die Funktionäre kamen Anti-Doping-Kampf zu inves-
Hand auf: 2012, 2014, 2016, 2018 – vier dafür zu einer Konferenz im Funktionär Bańka tieren. Das ist viel Geld, doch
Olympische Spiele in Serie seien bereits polnischen Katowice zusam- Schmales Budget für das IOC kein Kraftakt: Al-
beschmutzt durch russisches Doping. men. Das Jubiläum fällt für lein in den Aufbau eines haus-
»Nun stehen wir kurz vor den Sommer- die Institution in die Zeit ihrer größten Kri- eigenen TV-Senders fließt das 60-Fache
spielen 2020 in Tokio«, sagt Tygart, 48, se. Nie war die Kritik an ihr so vehement dieser Summe.
»und wir reden immer noch über die Rus- und nachhaltig. »Die Sportler haben das Das schmale Wada-Budget, das nicht
sen. Unglaublich.« Vertrauen in die Wada verloren«, sagt Sä- einmal dem Jahreseinkommen des Renn-
Ein sonniger Oktobertag in Colorado, belfechter Max Hartung, Präsident des fahrers Sebastian Vettel entspricht, soll
Tygart sitzt mit hochgekrempelten Hemds- Vereins Athleten Deutschland. künftig Witold Bańka, 35, verwalten. Der
ärmeln in der Lobby eines Tagungshotels. Zu oft wurden saubere Sportler ent- Ex-Leichtathlet übernimmt ab Januar das
Er kommt gerade von einer Podiumsdiskus- täuscht: etwa als die Wada Russland 2018 Präsidentenamt. Anders als sein Vorgän-
sion, die sich vor allem um eine Frage dreh- trotz jahrelanger Betrügereien begnadigte, ger Craig Reedie, 78, ist der polnische
te: Wie entscheidet die Welt-Anti-Doping- obwohl das Land zuvor nicht alle Wieder- Sportminister kein IOC-Mitglied. »Die Zu-
Agentur (Wada) in der Russlandfrage? zulassungskriterien erfüllt hatte. kunft des Kampfes gegen Doping beginnt
Rund eine Woche zuvor war bekannt Oder wenn große Namen der Sportwelt heute«, verkündete Bańka diese Woche
geworden, dass die Russen den Kontrolleu- nach augenscheinlichen Dopingverstößen in Katowice. Seine Worte klangen nach
ren einen Datensatz übermittelt hatten, der ohne Sperre davonkamen. So wie der nach Aufbruchstimmung, in Wahrheit sind gro-
womöglich tausendfach manipuliert wurde, eigener Aussage unschuldige Tour-de- ße Reformen unmöglich, denn die bisheri-
um weitere Dopingvergehen zu verheim- France-Gewinner Christopher Froome, gen Strukturen sollen bestehen bleiben.
lichen. Russland bestreitet das. Eigentlich der auch 2018 weiter im Sattel saß, obwohl Echte Veränderungen hatten sich viele
hätten die Daten der Wada dabei helfen in seinem Urin eine unerlaubt große Men- von Linda Helleland erhofft. Die Norwe-
sollen, einen Schlussstrich zu ziehen unter ge eines Asthmamittels nachweisbar war. gerin ist Vizepräsidentin der Wada, hatte
den seit Jahren köchelnden russischen Do- Zwar sitzen auch Sportler in den ver- sich Ende 2018 für das Hauptamt ins Ge-
pingskandal. schieden Wada-Gremien, doch ihr Einfluss spräch gebracht. Ihre Forderungen: mehr
Wieder einmal ist die Wada nun gefor- ist gering. »Wir wollen die gleichen Mitspra- Unabhängigkeit und stärkere Einbindung
dert, den russischen Sport zu sanktionie- cherechte haben wie alle anderen Interes- von Athleten. Das Exekutivkomitee und
ren. Wieder einmal würden dann mögli- sengruppen«, fordert Beckie Scott, 45, Vor- das sogenannte Foundation Board der
Wada ignorierten Helleland jedoch und
entschieden sich für Bańka als Kandidaten.
Helleland hatte sich auch für einen härte-
ren Umgang in der Causa Russland ausge-
sprochen. »Da sieht man, was passiert,
wenn man in der Wada den Mund auf-
macht«, sagt US-Anti-Doping-Chef Ty-
gart, »da wird die Zielscheibe auf dem Rü-
cken gleich größer.«
Sollte sich nun herausstellen, dass Mos-
kau erneut betrogen hat, ist das für die
Wada die letzte Chance zu beweisen, dass
sie ihrer Aufgabe nachkommt. Anfang De-
STU FORSTER / GETTY IMAGES

zember soll die Entscheidung fallen.


Usada-Chef Tygart hat klare Vorstellun-
gen: »Bei einem Athleten, der in voller
Absicht betrügt, reden wir von vier Jahren
Sperre«, sagt er. »Warum sollte es einem
staatlichen Sportsystem anders ergehen?«
Thilo Neumann
Läuferin Sawinowa in London 2012: »Die Verantwortlichen sind unfähig«

106 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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CATHRIN MÜLLER / MIS


Torwart Enke am 8. November 2009, zwei Tage vor seinem Tod: »Danach war bleiernes Schweigen«

»Wir dürfen den Spitzensport


nicht verniedlichen«
SPIEGEL-Gespräch Vor zehn Jahren nahm sich Fußballnationaltorhüter Robert Enke das Leben.
Hans-Dieter Hermann, Teampsychologe der Nationalmannschaft, machte sich damals
Vorwürfe. Heute, sagt der 59-Jährige, sei die psychologische Betreuung von Spielern viel besser.

SPIEGEL: Herr Hermann, wann fangen bekannte Viruserkrankung spekuliert wur- Holzweg sei. Dass er und seine Frau wieder
Sie an, sich Sorgen um einen Spieler zu de, habe ich angefangen, mir Sorgen zu ein Kind adoptiert hätten. Er sagte: »Das
machen? machen. Da wusste ich, dass ich nachfra- Leben ist gerade ganz wunderbar.«
Hermann: Vor allem dann, wenn ich eine gen muss. Und das habe ich getan – An- SPIEGEL: Heute weiß man, dass er sich
stark negative Veränderung der Persön- fang September 2009. schützen wollte.
lichkeit oder des Verhaltens der Person SPIEGEL: Was ist damals passiert? Hermann: Ich wollte ihn damals nicht be-
über eine etwas längere Zeit wahrnehme. Hermann: Robert war aufgrund seines Ge- drängen, das hätte auch nicht geholfen. Es
SPIEGEL: Am 10. November 2009 beging sundheitszustands bei den September-Län- war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen
Nationaltorwart Robert Enke Suizid. Sie derspielen 2009 nicht im Kader. Ich hatte habe.
waren damals schon Teampsychologe der ihn aber zu uns in die Sportschule Barsing- SPIEGEL: Wie haben Sie von seinem Tod
Nationalelf, haben Sie sich Sorgen um ihn hausen in der Nähe von Hannover eingela- erfahren?
gemacht? den und ihm gesagt, dass es durchaus mög- Hermann: Wir waren in Bonn mit der Na-
Hermann: Zunächst nicht, aber als bei ihm lich sei, dass hinter einer solchen Müdigkeit tionalmannschaft und saßen abends beim
ein undefiniertes Müdigkeitssyndrom fest- auch eine Depression stecken könnte. Ich Essen. Auf einmal zeigte mir jemand auf
gestellt und in den Medien über eine un- habe ihm angeboten, ihn zu unterstützen seinem Handy eine Meldung: »Robert
und für ihn den Kontakt zu einem Psycho- Enke ist tot.« Das war gar nicht vorstellbar.
Das Gespräch führte Redakteur Jörn Meyn in therapeuten herzustellen. Robert aber hat Oliver Bierhoff hat es dann der Mannschaft
Dortmund. mir geantwortet, dass ich komplett auf dem gesagt. Danach war bleiernes Schweigen.

108
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Sport

SPIEGEL: Haben Sie sich gefragt, ob Sie

ANKE WAELISCHMILLER / SVEN SIMON / DDP IMAGES


betont, wie viel der Fußball Robert gege-
für Enke mehr hätten tun können? ben hat. Natürlich können auch Profifuß-
Hermann: Ja, und ich habe mich gefragt, baller bei einer entsprechenden Disposi-
warum er sich mir nicht anvertraut hat. Ich tion an Depression erkranken. Der Druck
habe mir damals Vorwürfe gemacht. An- durch hohe Erwartungen, öffentliche Leis-
dererseits war Robert nur sporadisch in tung und nachfolgende Bewertung kann
meinem direkten Umfeld. Ich habe ihn Auslöser dafür sein. Aber den allermeisten
immer nur rund um die Länderspiele ge- Sportlern geht es sehr gut. Der Leistungs-
sehen. Später hat mir sein Berater Jörg sport ist nicht gefährlich, er macht nicht
Neblung erzählt: »Wir wussten, dass Sie per se psychisch krank! Von Sportpsychia-
irgendwann eine Vermutung haben wür- tern wurde sogar die Diskussion begonnen,
den. Und wir haben uns auf Roberts ob nicht bei jeder Mannschaft ein Sport-
Wunsch hin darauf vorbereitet, wie er Sie DFB-Psychologe Hermann psychiater dabei sein müsste. Sie gehen
argumentativ davon abbringen kann.« »Wir müssen wachsam sein« also schon von einem latenten Krankheits-
SPIEGEL: Bei der Trauerfeier für Enke bild aus. Das sehe ich mit Blick auf die
sagte der damalige DFB-Präsident Theo SPIEGEL: Zeigt das letztlich nicht nur, dass Fallzahlen nicht.
Zwanziger: »Fußball ist nicht alles.« Das sich eben doch nicht wirklich viel verän- SPIEGEL: Es gibt Gegenpositionen zu Ihrer.
wurde zu einer Art Stunde null im deut- dert hat seit Enkes Tod, dass von einer ech- Enkes Psychiater Valentin Markser sagt:
schen Fußball stilisiert. Hat sich zehn Jahre ten Akzeptanz keine Rede sein kann? »Das System ist leider noch auf dem Stand
später beim Thema psychische Gesundheit Hermann: Es hat sich auf jeden Fall viel von 2009. Es scheint so, als ob es eine
im Fußball wirklich etwas verändert? getan. Man muss in der Sportpsychologie unheilvolle Allianz im Leistungssport gibt,
Hermann: Ja. Das Thema ist Teil vieler zwischen Leistungsoptimierung, Prävention die den dringend nötigen Aufbruch zur
Aus- und Fortbildungen geworden – bei und Therapie unterscheiden. Aber neh- besseren Behandlung von seelischen
Trainern, aber auch bei Sportmedizinern men wir an, Sie hätten als Normalbürger Krankheiten verhindert.« Er meint Verei-
und Physiotherapeuten. Auch dank der eine Angststörung und gingen zu einem ne, die um ihr Image fürchten, die Sportler
Initiativen der Robert-Enke-Stiftung und entsprechend ausgebildeten Therapeuten. selbst und die Öffentlichkeit, die erfolgrei-
betroffener Bundesligaprofis, die über Dann wären Sie wahrscheinlich froh, che Sportler sehen will statt kranker.
dieses Krankheitsbild berichtet und auf- wenn das nicht jeder Nachbar weiß. Das Hermann: Niemand hat ein ernsthaftes
geklärt haben. Zusätzlich wurden der gilt auch für Sportler. Wenn man eine öf- Interesse daran, irgendetwas zu verheim-
Deutsche Fußball-Bund und die Deutsche fentliche Person ist, dann gibt es gleich lichen. Und das hier postulierte Mas-
Fußball Liga aktiv, der Problematik De- Schlagzeilen. Und die bleiben, selbst wenn senphänomen des psychisch geschunde-
pression strukturell zu begegnen, indem man längst wieder gesund ist. Nicht um- nen Fußballers gibt es nicht, auch wenn
Nachwuchsleistungszentren verpflichtet sonst gibt es eine Schweigepflicht für Psy- hoher Druck zweifellos existiert. Das ist
wurden, Sportpsychologen einzusetzen. chologen und Mediziner. jedoch nicht nur im Profisport so, sondern
SPIEGEL: Andererseits gibt es diese Pflicht SPIEGEL: Es wirkt so, als machte es sich leider in allen Teilen unserer Leistungsge-
im Profifußball nicht. Laut einer Umfrage der Fußball leicht. Als erkennte er nicht an, sellschaft. Die angesehene Kölner Initiati-
beschäftigen nur sieben Profiklubs von der dass durch Druck und die große Öffentlich- ve »MentalGestärkt« weist auf der Basis
ersten bis zur dritten Liga einen festange- keit auch Schäden entstehen können. aktueller wissenschaftlicher Ergebnisse da-
stellten Sportpsychologen. Hermann: Das stimmt meines Erachtens rauf hin, dass zwischen 13 und 20 Prozent
Hermann: Aber Sie finden im Profifußball nicht, und ich möchte hier auch ein Miss- der leistungssportlichen Athletinnen und
heute kaum noch jemanden, der sagt: Die verständnis aufklären: Zwanzigers Bot- Athleten im Laufe ihrer Karriere mindes-
Spieler sollen sich nicht so haben, die be- schaft, Fußball sei nicht alles, hat bei vielen tens einmal an Depressionen unterschied-
kommen doch genug Geld. Es gibt defini- den falschen Eindruck hinterlassen, der licher Ausprägung leiden. Das sind genau
tiv eine Bereitschaft zu akzeptieren, wenn Fußball habe Robert krank gemacht. Das die gleichen Werte, die für altersgleiche
ein Spieler sagt, dass ihm alles zu viel wird, Gegenteil ist richtig. Teresa Enke, seine Nicht-Leistungssportler ermittelt wurden.
dass er nicht mehr kann. Trainer und Ma- Witwe, hat auch in diesen Tagen wieder SPIEGEL: Der ehemalige Schiedsrichter
nager reagieren viel sensibler. Babak Rafati, der selbst an einer Depres-
SPIEGEL: Ist das nicht zu wenig? sion erkrankt war und heute Mentalcoach
Hermann: Die allermeisten Vereine in Dunkle Gedanken ist, hat gesagt, »dass hinter den Kulissen
Deutschland machen es heute so, dass sie »Sind Sie mit der Erkrankung Depression ein desaströser Zustand herrscht« und dass
betroffenen Spielern Hilfe anbieten, ent- bereits in Kontakt gekommen?« das Thema weiterhin »komplett unter-
sprechend ausgebildete Therapeuten zu schätzt wird«. Sind Markser und er Alar-
suchen. Bei einem solchen Krankheitsbild misten?
ist es den Spielern lieber, wenn es jemand bislang kein Kontakt Hermann: Ich arbeite viel mit Kolleginnen
34%
von außen ist, um sicherzugehen, dass das und Kollegen im Spitzensport zusammen,
Thema außerhalb des Vereins bleibt. selbst erkrankt und wir tauschen uns regelmäßig aus.
behandle (mit Diagnose)
SPIEGEL: Warum muss sich ein betroffener bzw. berate Schwere Fälle sind sehr selten. Aber jeder
Spieler verstecken? Es wirkt, als würden
Vereine zwar gern die Topleistung ab-
Menschen mit
Depressionen 21% Betroffene ist einer zu viel. Ich sehe auch
die Gefahr, dass das Thema verdrängt
schöpfen, aber als wollten sie mit eventu- 1% wird, weil man sich nicht gern damit be-
ellen psychischen Problemen nichts zu tun schäftigt, schon gar nicht, wenn man ge-
haben. Angehörige oder sund ist. Wir müssen deshalb dranbleiben,
Hermann: Psychische Gesundheit ist heu- Bekannte erkrankt selbst erkrankt informieren und wachsam sein.
te immer noch ein sehr privates Thema. 27% (ohne Diagnose) SPIEGEL: Was konkret machen Sie für die
Spieler sind oft froh, dass nicht gleich alle 16% Nationalspieler?
im Team und im Umfeld davon etwas mit- Quelle: Deutschland-Barometer Depression 2018;
Hermann: Roberts Tod hat im Kreis der
bekommen. 5000 Befragte; Rundungsbedingte Abweichung zu 100 Prozent Nationalmannschaft eine nach wie vor

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 109


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Sport

terns. Debatten werden dort heftiger ge-


führt. Je nachdem, wie ausgiebig Spieler
dort aktiv sind, lassen sie auf Facebook,
Twitter oder Instagram mehr Nähe zu. Da-
rin liegt auch eine Gefahr. Spieler müssen
heute vielleicht noch stabiler sein, um da-
mit umgehen zu können.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass ein Fall wie der
von Robert Enke heute zu verhindern wäre?
Hermann: (überlegt lange) Ein zweiter Fall
Enke ist nicht hundertprozentig zu verhin-
dern. Es wäre vermessen, das zu behaup-
ten. Es gibt leider eine große Anzahl de-
pressiver Menschen, die zwar in Behand-
lung sind, es aber trotzdem nicht schaffen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass man
Sportlern mit einer solchen Erkrankung
helfen kann, wenn sie sich zumindest ei-
nem gewissen Kreis an Menschen öffnen

MARIA IRL
und Therapie in Anspruch nehmen.
SPIEGEL: Müsste der eigene Trainer dazu-
Torwarthandschuhe von Enke: »Die Spieler wissen, dass ich da bin« gehören?
Hermann: Ja. Ich würde einem Spieler ra-
ten, den Trainer einzuweihen und ihn um
bestehende Wachheit für dieses Thema be- sein, dass ein öffentliches Sprechen über Vertraulichkeit zu bitten. Ich kenne Sport-
gründet. Wir haben einen regen Austausch die eigene Depression Manager von einer ler, die gute, und andere, die schlechte Er-
im medizinischen Team. Alle Informatio- Verpflichtung abhalten könnte. fahrungen damit gemacht haben. Aber es
nen laufen da zusammen. Bekommt zum SPIEGEL: Aber brauchte es nicht viel mehr gibt keine echte Alternative dazu, wenn
Beispiel einer der Physiotherapeuten oder Sportler, die darüber sprechen, um genau man ein depressiver Sportler ist.
Mediziner mit, dass es einem Spieler diese Vorurteile zu entkräften und Vorbild SPIEGEL: Werden Trainer gut genug dafür
schlechter geht als sonst, werde ich ange- für andere zu sein? geschult?
sprochen. Wir fragen aber nicht jedes Mal Hermann: Natürlich wäre das der Sache Hermann: Es ist Teil der Fußballlehreraus-
bestimmte Parameter ab, um zu ermitteln, dienlich, aber sie zahlen möglicherweise bildung. Schulung ist vielleicht zu viel ge-
ob ein Spieler gefährdet ist. Die Spieler innerhalb ihrer Karriere einen Preis. Und sagt, aber sie werden sehr gut informiert.
wissen, dass ich da bin. Dass ich sie unter- sie sind genauso glaubhaft, wenn sie nach SPIEGEL: Wie steht es um die psychische
stützen kann, wenn sie psychologische Hil- der aktiven Karriere an die Öffentlichkeit Gesundheit von Trainern? Es gab den Fall
fe möchten. gehen. von Ralf Rangnick.
SPIEGEL: Es gibt Spitzensportler, die mit SPIEGEL: Kamen in der Vergangenheit Hermann: Als Trainer wird man für das
ihrer Erkrankung an die Öffentlichkeit ge- Spieler zu Ihnen, die Sie an einen Psycho- Handeln anderer, der Spieler, bewertet.
gangen sind. Im Fußball war das zuletzt therapeuten vermitteln mussten? Das ist eine fast klassische Grundvoraus-
vor der WM 2018 der englische Links- Hermann: In den vergangenen zehn Jah- setzung dafür, dass man unter hohem
verteidiger Danny Rose. Kann ein Spieler ren hatte ich drei Fälle – nicht im Rahmen Stress leiden könnte, wenn es nicht gut
seine Karriere erfolgreich fortsetzen, wenn der Nationalmannschaft, sondern es wa- läuft. Ich sehe bei Trainern daher beson-
er erkrankt ist? ren andere Profis. ders Bedarf an Unterstützung.
Hermann: Selbstverständlich. Auch wenn SPIEGEL: In der Nationalmannschaft hat- SPIEGEL: Gibt es diesen denn ausrei-
man das nicht für jeden garantieren kann, ten Sie keinen einzigen Fall? chend?
aber Spieler können geheilt werden bezie- Hermann: Nein. Hermann: Ich kenne eine Menge Trainer,
hungsweise mit medikamentöser Unter- SPIEGEL: Das heißt aber nicht, dass es kei- die außenstehende Fachkräfte nutzen und
stützung weiter erfolgreich sein. Rose ist ne Nationalspieler gab, die Probleme hat- sich mit ihnen über ihre psychischen Be-
ein gutes Beispiel dafür, er spielt ja immer ten. Per Mertesacker hat 2018 öffentlich lastungen austauschen und Strategien er-
noch für Tottenham und England. darüber gesprochen, wie sehr er unter dem arbeiten, damit umzugehen. Ich kann das
SPIEGEL: Danny Rose hat aber auch er- Druck gelitten hat. nur empfehlen. Denn gerade der Druck
zählt, wie ihm in einem Vertragsgespräch Hermann: Ja, Spieler können unter dem auf sie ist extrem.
mit einem interessierten Klub gesagt wur- Druck leiden, auch Nationalspieler. Da ist SPIEGEL: Herr Hermann, wir danken
de, dass der Verein erst einmal sehen wol- Per kein Einzelfall. Öffentliches Handeln Ihnen für dieses Gespräch.
le, ob er nicht verrückt sei. Würden Sie ist hart, wenn sie den Erwartungen nicht
einem Spieler raten, an die Öffentlichkeit genügen oder sich selbst übermäßig unter
zu gehen? Druck setzen, was individuell zu heftigen, Kreisen Ihre Gedanken darum, sich
Hermann: Nein. Ich würde ihm raten, es äußerst unangenehmen Reaktionen füh- das Leben zu nehmen? Sprechen Sie mit
nicht zu tun. Ich würde ihn aber unterstüt- ren kann. Allerdings sprechen wir hier von anderen Menschen darüber. Sofortige
zen, wenn er glauben würde, dass es ihm etwas anderem als von der Krankheit Hilfe erhalten Sie rund um die Uhr bei
guttäte, an die Öffentlichkeit zu gehen. Depression. der Telefonseelsorge unter den kosten-
SPIEGEL: Warum würden Sie es nicht emp- SPIEGEL: Welchen Einfluss hat das Thema losen Rufnummern 0800 1110111 und
fehlen? Social Media auf die psychische Gesund- 0800 1110222. Eine Übersicht weiterer
Hermann: Wir dürfen den Spitzensport heit von Spielern? Hilfsangebote gibt es auf der Website
nicht verniedlichen. Es geht dabei um die Hermann: Social Media erhöht den Druck Suizidprophylaxe.de.
Auswahl der Besten, und es kann durchaus der Öffentlichkeit im Falle eines Schei-

110 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Wissenschaft+Technik
Als Anatom konnte er einen Nachschub an frischen Köpfen in Aussicht stellen. ‣ S. 118

PAVEL MIKHEYEV / REUTERS


Affenliebe ist der umgangssprachliche Schmähbegriff für eine infantile, übertrieben emotionale Beziehung.
Zoologen ist der Terminus ein Graus, denn die Primaten sind zu ebenso tiefen wie ernsthaften Gefühls-
regungen fähig. So umarmt das zwei Monate alte Gibbonbaby Jim in einem Zoo im kasachischen Almaty
mit rührender Mimik einen Teddybären.

Gesundheit fluss auf das Gewicht der Kinder hat. Die Fußnote

192
Fettsucht mangels Frauen stammten überwiegend aus pro-
blematischen sozialen Verhältnissen; die
Zuneigung meisten von ihnen waren alleinerziehend,
bezogen Sozialhilfe und hatten während
 Die naheliegende Vermutung, dass zu der Schwangerschaft Zigaretten, Alkohol
viel mütterliche Fürsorge für das Kind und Drogen konsumiert. Das Risiko von Kilometer neue Straßen werden pro
ein erhöhtes Verfettungsrisiko mit sich Fettleibigkeit ist für Kinder aus diesem Woche in der Bundesrepublik fertigge-
bringt, kann von medizinischer Seite Milieu normalerweise deutlich erhöht. stellt. Dem stehen nur 1,3 Kilometer
nicht bestätigt werden – im Gegenteil: Unter anderem untersuchten die For- neue Bahnstrecken entgegen, die
Wissenschaftler der Uni- scher im Rahmen der wöchentlich in Betrieb genommen wer-
versität von Buffalo im Studie dann, wie liebe- den und dabei den allgemeinen Schie-
US-Bundesstaat New voll die Frauen mit ihren nenabbau nicht kompensieren können.
York haben 172 Mütter Kindern umgingen. Seit der Bahnreform 1994, kritisiert das
mit Säuglingen unter- Ergebnis: Kinder von Netzwerk Europäischer Eisenbahnen,
GETTY IMAGES

sucht und dabei fest- Müttern, die sich warm- seien 5400 Kilometer Schienenstrang
gestellt, dass die Mutter- herziger verhielten, stillgelegt worden. Das Straßennetz
liebe einen positiven Ein- nahmen weniger zu. CW wuchs derweil um 247 000 Kilometer.

112 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Verkehr vollen Verhältnis zu einem zusätzlichen Brockmann: Eines der größten Probleme,
Verkehrsnutzen stehen. die ich sehe, ist die Nutzung der Roller
»15 Euro Bußgeld SPIEGEL: Also ob die Nutzung des auf Fußgängerwegen.
schrecken keinen« E-Rollers andere Fahrten, vor allem SPIEGEL: Die ist doch verboten.
Autofahrten, ersetzen würde. Brockmann: Ja, in der Praxis fahren
Siegfried Brockmann, 60, Brockmann: Genau. Da sind Zweifel an- allerdings massenhaft Roller auf Fuß-
Leiter der Unfallforschung gebracht. Bisher sind die Roller fast nur in gängerwegen. Die Polizei ist völlig über-
der Versicherer im Gesamt- Verleihsystemen angekommen. Sie werden fordert, das zu kontrollieren, und das
verband der Deutschen Ver- von Touristen und Passanten auf inner- drohende Bußgeld von 15 Euro schreckt
sicherungswirtschaft, hatte städtischen Minidistanzen genutzt, die ohnehin keinen ab.
vor einer überstürzten man gut zu Fuß zurücklegen könnte. Erst SPIEGEL: Gehen Sie davon aus, dass die
Zulassung der E-Scooter Roller im Privatbesitz würden etwa als meisten Unfälle auf Fußgängerwegen
gewarnt. Nun kritisiert regelmäßiger Zubringer zur U-Bahn einen stattfinden?
er die wilde Nutzung der Roller auf Fuß- positiven Effekt haben, indem sie Autofahr- Brockmann: Jedenfalls viele, aber es wird
wegen und mangelnde Kontrollen. ten ersetzen. Doch ich bezweifle, dass das schwer sein, dazu verlässliche Zahlen zu
in nennenswerter Zahl passieren wird. liefern. Bei Unfällen mit Fußgängern eini-
SPIEGEL: Herr Brockmann, das Jahr der SPIEGEL: Warum? gen sich die Betroffenen oft untereinander.
Einführung des E-Scooters neigt sich Brockmann: Zum einen sind diese Roller Auch Alleinunfälle, die zahlreichen Stür-
dem Ende zu – ein schwarzes Jahr für nicht billig. Und sie sind schwer. So ein ze, sind schlecht zu erfassen. Jemand, der
die Verkehrssicherheit? Trumm in die Bahn mitzunehmen, vor sich auf die Nase gelegt hat, meldet sich
Brockmann: Das lässt sich noch nicht allem wenn kein Aufzug zur Verfügung danach normalerweise nicht bei der Poli-
sagen, weil wir bislang nur Halbjahreszah- steht, ist nicht ganz trivial. zei. Erfasst werden hier nur die sehr
len vorliegen haben. Eines lässt sich aber SPIEGEL: Sie haben früh die überhastete schweren Fälle.
schon absehen: Gerade bei schwächeren Zulassung der E-Scooter kritisiert. Wo SPIEGEL: Sie werden also nie genau wis-
Verkehrsteilnehmern wie den Radfahrern sehen Sie die größte Gefahr? sen, wie gefährlich die Roller sind?
steigt die Zahl der Getöteten wieder an. Brockmann: Doch. Mein
Mit dem vor acht Jahren gesetzten Ziel Institut wird deshalb ein
der Bundesregierung von minus 40 Pro- eigenes Forschungsprojekt
zent Verkehrstoten bis 2020 werden wir starten und das Geschehen
krachend scheitern. vor allem in den touris-
SPIEGEL: Aber doch nicht wegen des tischen Brennpunkten
E-Scooters? mit eigenen Mitarbeitern
Brockmann: Nein, dafür ist der noch zu beobachten.
neu. Und die dadurch verursachten Unfäl- SPIEGEL: Das klingt nach
le werden bislang nicht gesondert erfasst. viel Arbeit. Wann wollen

PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF


Aber ich habe früh gesagt, dass wir hier Sie brauchbare Erkennt-
ein neues Verkehrsmittel bekommen, das nisse haben?
selbstverständlich zu zusätzlichen Unfäl- Brockmann: Ich rechne
len führen wird. Das ist auch nicht unge- nicht vor Mitte 2021
wöhnlich. Die große Frage wird sein, ob mit aussagekräftigen Er-
diese zusätzlichen Unfälle in einem sinn- gebnissen. CW

Einwurf

Heucheln fürs Klima


Das neue Ökobewusstsein hat vor allem eines gefördert – die Akrobatik des Selbstbetrugs.

Das Öko-Institut, ein anerkannter Zertifizierbetrieb in Fragen Unternehmen Aida Cruises darauf hin, dass auf der Fahrt im
der Nachhaltigkeit, hat sich die Mühe gemacht, eine »verglei- Massendampfer nur knapp drei Liter Treibstoff pro Passagier
chende Klimabilanz« des Verreisens mit Kleinlastwagen zu und 100 Kilometer verfeuert werden.
errechnen. Es stellte dem Wohnmobil ein überraschend gutes Und die Flugreise zum Hafen in der Karibik? Alles halb so
Zeugnis aus. Der CIVD, Lobbyverband der Caravan- und Wohn- wild. Erstens bringt der ökosensible Fernreisende seinen eigenen
mobilindustrie, hatte die Studie vor Jahren in Auftrag gegeben Trinkbecher mit an Bord, um das Meer nicht mit Plastikmüll zu
und wirbt gern mit den Ergebnissen, gerade zu einer Zeit, da die verunzieren, das er nachher blitzsauber durchkreuzen will. Und
ganze unheile Welt sich aufmacht, die geschundene Atmosphäre zweitens war im Preis des herrlich billigen Flugtickets noch ein
zu päppeln – und sei es mit dem Wohnmobil. Eine Kreuzfahrt, grünes Entschuldungszertifikat enthalten zur Finanzierung eines
so der CIVD, sei bis zu 6,6-mal so schlimm fürs Klima wie die grünen Aufforstungsprojektes, das irgendwo armen Menschen
Reise im mobilen Eigenheim. hilft und auch flugs die halbe Tonne Kerosin kompensiert, die
Den Kreuzfahrer – wie der Wohnmobilist Vertreter einer ein in die Ferne fliegender Mensch zwischen Start und Landung
Boombranche – muss das nicht verdrießen. Ihm haben die Kom- verbraucht. Das Öko-Institut könnte diesen bizarren Ablass-
munikationsabteilungen der Reedereien schon vergleichbare handel mal gründlich durchleuchten. Fehlt nur noch der Auftrag-
Rechtfertigungsschablonen zurechtgezimmert. So weist das geber. Christian Wüst

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Wissenschaft

FERDINANDO IANNONE
»Platanenkubus« in Nagold: »Fachwerkartige Strukturen« aus Hunderten Bäumen

Lebende Häuser
Botanik Ein Münchner Architekturprofessor entwirft Bauwerke der Zukunft, in denen Weiden
und Platanen auf faszinierende Weise mit Stahl und Beton verschmelzen. Könnten
die Baum-Häuser irgendwann helfen, grünere Städte zu schaffen, die der Erderwärmung trotzen?

D
ie Brücken im indischen Bundes- rem Wurzelwerk. Jahrzehnte kann das den, wie lebende Bäume als zentrale Ele-
staat Meghalaya sehen aus, als Bauen und Wachsen dauern. mente von Bauwerken genutzt werden
stammten sie aus der Fabelwelt »Diese Brücken können mehr als 50 Me- können.
vom »Herrn der Ringe«. Ein ter lang werden«, schwärmt Ferdinand Zusammen mit seinem Team »ver-
knorriges, von Moos bedecktes Geflecht Ludwig von der Technischen Universität schmilzt« der Architekt Weiden, Platanen,
aus den Luftwurzeln des Gummibaums Fi- München. »Einige von ihnen sind Hunder- Birken oder Schwarzerlen mit Beton und
cus elastica bildet die Tragstruktur der Bau- te Jahre alt.« Der Architekt reiste jüngst Stahl zu Hybridkonstrukten aus totem und
werke. Traditionell sind die Völker der nach Meghalaya in den subtropischen lebendigem Material.
Khasi und Jaintia die Baumeister. Nordosten Indiens, um die »lebenden Brü- Häuser, Türme, Brücken sollen auf diese
An Bächen oder den Hängen kleiner Tä- cken« zu studieren. Für den Gelehrten Weise entstehen – und vielleicht sogar gan-
ler pflanzen die Bewohner Meghalayas sind die Bauwerke Inspiration und glück- ze Städte, die grüner und lebenswerter
Stecklinge des Baumes. Sobald die ersten licher Zufall zugleich. sind und gleichzeitig dem Klimawandel
Luftwurzeln aus den Gewächsen sprießen, Ludwig, 39, ist Professor für »Green besser trotzen können.
werden sie langsam zur Brücke geformt Technologies in Landscape Architecture« »Es geht nicht darum, technische Bau-
und fassen schließlich am gegenüberliegen- und Vorreiter eines neuen, innovativen stoffe durch lebende zu ersetzen, sondern
den Ufer Fuß. Immer wieder verstärken Zweiges der Architektur. »Baubotanik« darum, Gebäude und Bäume zu fusionie-
die Konstrukteure die Struktur mit weite- nennt er sein Fach. Ludwig will herausfin- ren«, erklärt Ludwig. »Für uns sind die

114 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Bäume ein Material wie Stahl oder Beton«, wird. Zusammen mit dem Stuttgarter Ar- »Wir wollten ein Haus bauen, von dem
sagt er, »ihr Wachstum ist Teil der Vision.« chitekten Daniel Schönle schuf Ludwig im wir auch nicht genau wussten, wie es aus-
Sobald seine Projekte fortgeschritten sind, baden-württembergischen Nagold einen sehen würde«, sagt Ludwig – ein kontro-
nennt er sie »erwachsen«. »Platanenkubus«. verses Projekt für die Juroren des Archi-
Spätestens seit dem 12. Jahrhundert Das würfelförmige Bauwerk hat drei tekturwettbewerbs: Städtebaulich entstehe
bringen kreative Landschaftsgärtner Bäu- eingezogene Plattformen und besteht aus eine »wohltuende, grüne Lücke«, lobten
me in dekorative Formen. Kunsthandwer- Hunderten junger Platanen, die miteinan- sie den Entwurf zwar und vergaben einen
ker lassen heute Äste zu Bänken, Frucht- der »verschweißt« wurden und seither zu dritten Preis an Schönle und Ludwig. Doch
schalen oder Zäunen wachsen. Die Bau- einem einzigen Organismus zusammen- eher wie ein »Baumhain«, ein »Nichthaus«
botaniker um Ferdinand Ludwig jedoch wachsen. wirke das Gebäude, das zwar »Neugier«
wollen mehr. Bei ihnen sind Bäume inte- »Experimentelle Bauwerke« nennt Lud- auslöse, doch auch »insbesondere den Bau-
graler Bestandteil von Architektur. wig solche bizarren Konstruktionen – und herrn und Betreiber unsicher zurücklässt«.
Vorbild sind für sie neben den lebenden so sehen sie auch aus. Doch Ludwig sieht Tatsächlich ist schwer vorstellbar, dass
Brücken Meghalayas beispielsweise die so- in seinen Baum-Häusern mehr als bloße sich Baubehörden auf lebende Häuser ein-
genannten Tanzlinden Oberfrankens, Thü- Kunstobjekte. Er verortet seine Arbeit an lassen könnten. Was etwa, wenn das Wur-
ringens oder Hessens. Traditionell gibt es der Schnittstelle zwischen Botanik, Land- zelwerk die Fundamente hochdrückt oder
dort Lindenbäume, deren Äste während schaftsarchitektur und Stadtplanung. plötzlich die Wohnzimmerscheibe birst,
des Wachstums kunstvoll umgeleitet wer- Der Architekt ist überzeugt davon, dass weil die Platane in der Fassade in die fal-
den, um etwa einen gleichmäßig geform- sich Beton und Baum zu Gebäuden for- sche Richtung wächst?
ten, lindgrünen Baldachin für Feste und men lassen, in denen es sich tatsächlich Ludwig weiß um die Unberechenbar-
Bräuche zu erschaffen. auch wohnen und arbeiten lässt. keit des Grünzeugs. »Ein Haus ist für
Ludwig hat solche Tech- die meisten Architekten erst
niken immer weiter verfeinert. mal ein Objekt, das fertig
Die Grundidee ist stets ähn- wird und an dem dann nichts
lich. Noch junge, flexible mehr getan werden muss«,
Bäume werden während des sagt er. »Wenn sich hinterher
Wachstums langsam in die noch etwas verändert, fürch-
gewünschte Form gebracht. ten die Bauherren Kontroll-
Nach einigen Jahren können verlust und bekommen wei-

ENTWURF UND VISUALISIERUNG: LUDWIG.SCHÖNLE


etwaige technische Hilfsstruk- che Knie.«
turen entfernt werden. Zuvor Doch als Architekt sieht er
eingezogene Plattformen oder die Veränderung als Chance.
ein Dach ruhen dann nur noch »Das Interessante ist ja gera-
auf den Bäumen. de, sich auch bei Gebäuden
Was so einfach klingt, ist auf Wachstum einzulassen«,
eine technische Herausforde- sagt Ludwig – zumal seine
rung. »Strangulation« (Lud- Ideen helfen könnten, einige
wig) droht beispielsweise, der drängendsten Probleme
wenn Metallhalterungen den moderner Stadtarchitektur
Saftfluss behindern. »Bypäs- zu lösen. Denn mit dem Kli-
se« aus Ästen haben die Ar- Innenansicht eines Baum-Hauses*: »Wie im Park« mawandel drohen gerade
chitekten schon angetackert, Städte in vielen Weltregionen
um das Holz am Leben zu er- zu quälerischen Hitzeinseln
halten. Damit es nicht zum »Totalversa- Wie sich der Professor so etwas vorstellt, zu werden, in denen Wasser und Kühle
gen« durch Bruch kommt, führen die haben er und Schönle in einem Wettbe- fehlen.
Baumflüsterer Langzeitversuche durch, werbsentwurf für das »Haus der Zukunft« Hinzu kommt, dass immer mehr
um die Belastbarkeit des Baummaterials in Berlin präsentiert. Sie verloren knapp: Menschen in den Ballungszentren auf klei-
zu ergründen. Das »Futurium« genannte Museum, nem Raum leben. Der Boden wird zuneh-
So prüfen sie die Fähigkeit von Weiden, das im September eröffnet wurde, ent- mend versiegelt, sodass Wasser entweder
Stahlrohre zu »überwallen«, sprich zu um- stand doch wieder als ein glänzender Glas- gar nicht oder viel zu schnell abläuft. Im-
wachsen. Große Kunst ist auch die soge- fassadenbau, an den Seiten bedeckt mit mer weniger Platz steht für Grünflächen
nannte Pflanzenaddition: Dabei verbin- 8000 rautenförmigen Gussglaselementen. bereit.
den die Experten zum Beispiel Platanen Ludwigs und Schönles Projekt dagegen Ein Fehler: Pflanzen sind lebende Kli-
zu »fachwerkartigen Strukturen«. hätte wahrhaft futuristisch ausgesehen, maanlagen. Wer an einem heißen Som-
Das Team erschafft auf diese Weise Bäu- grüner, organischer. In dem Entwurf der mertag durch einen Laubwald spaziert,
me, die mit mehreren Stämmen aus der Baubotaniker ragen mächtige Äste aus der spürt den kühlenden Effekt.
Erde wachsen, sich kreuzen, sich dann Fassade heraus, als wäre das Haus direkt »Stadtplaner fragen sich häufig, soll ich
trennen und wieder treffen, als wären sie in ein Wäldchen gebaut. Zur Stadt hin soll- an einem Ort Bäume pflanzen oder ein
miteinander verflochten. Pflege wie im te sich das Gebäude »als großer, künstlich Haus bauen?«, sagt Ludwig. »Wir sagen:
Ziergarten sei allerdings vonnöten, um die gebildeter Baum« präsentieren, erklärt Es geht doch beides gleichzeitig.« Der Bau-
Baumstrukturen in Schuss zu halten, sagt Ludwig. Sowohl der Außen- als auch der botaniker will Natur und Stadt nicht länger
Baubotaniker Ludwig – sonst drohe »Ver- Innenraum hätte von der »mikroklimati- gegeneinander ausspielen, sondern mit-
buschung«. schen Wirkung der Baumstruktur« profi- einander verbinden.
Inzwischen hat Ludwigs Forschertruppe tiert. »Stellen Sie sich eine Straße aus bau-
zahlreiche Projekte realisiert. Frühe Bau- botanischen Häusern vor«, sagt Ludwig,
ten sind ein begehbarer Metallsteg, der * Konzeptzeichnung für das »Haus der Zukunft« in »dann sind die Häuser ja auch die Bäume;
einzig von Weiden in der Luft gehalten Berlin. dann kann es selbst in einer dicht bebauten

115
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Stadt sehr viel Grün geben, das kühlt und Wand werden«, sagt Ludwig. Doch er
Schatten spendet.« wirbt für eine »Symbiose«, eine enge Ver-
»Klimaaktive Stadtquartiere« will der zahnung von Baum und Bauwerk. Natur
Baubotaniker erschaffen, mit »Baumfas- und Mensch könnten gleichermaßen da-
saden«, aus denen Äste ragen, und mit von profitieren.
Mehrfamilienhäusern, die von Baum- So wie in Indien: Die lebenden Brücken
kronen überschattet werden. »Man geht Meghalayas verbinden Dörfer, Märkte und
durch ein dicht bebautes Gebiet, fühlt sich Felder. Gleichzeitig bietet das Luftwurzel-
aber wie in einem Park«, sagt er und ver- geflecht vielen Tieren und Pflanzen eine
spricht mehr Lebensqualität und Nachhal- Heimstatt.

RODERICK AICHINGER / DER SPIEGEL


tigkeit. Zum Bewässern der hauseigenen Ohnehin ist der Gummibaum baubota-
Bäume soll zum Beispiel das Duschwasser nisch ideal. »Die Luftwurzeln sind sehr fle-
der Bewohner weiterverwendet werden. xibel und lassen sich fast frei formen«, sagt
Der Architekt schwärmt von den visio- Architekt Ludwig. »Im Prinzip können Sie
nären Hochhäusern des italienischen Ar- damit auf einem Gebäude eine Baum-
chitekten Stefano Boeri in Mailand, »Bos- krone wachsen lassen, und am Eck, 20 Me-
co Verticale« (vertikaler Wald) genannt. ter weiter, führen Sie die Wurzel herunter
Über 5000 Bäume und Sträucher wachsen zum Boden, wo das Gebilde Wasser und
auf den Terrassen und Balkonen der bei- Baubotaniker Ludwig Nährstoffe aufnehmen kann.«
den Türme und verwandeln die Fassaden Bypässe aus Ästen Solche botanischen Meisterwerke wer-
in einen wahren Dschungel. den indes nur in subtropischem Klima
Der Aufwand sei allerdings enorm, sagt bustheit, die technisch gar nicht zu errei- möglich sein, wo sich Ficus elastica
Ludwig. Zusätzlicher Beton und Stahl sei- chen ist«, sagt Ludwig. heimisch fühlt. Bäume der gemäßigten
en notwendig, damit das Gebäude nicht Wären seine Hightech-Baum-Häuser Breiten haben keine Luftwurzeln. Sie sind
unter dem enormen Gewicht der Pflanz- also tatsächlich geeignet, die Städte der deshalb weit schlechter formbar. »Bei mit-
erde auf den Balkonen zusammenbreche. Zukunft zu prägen? Auch der Baubotanik- teleuropäischen Bäumen streben alle sicht-
Zudem würden die Pflanzen zeitlebens Pionier glaubt nicht daran, dass eines baren Teile immer zum Licht«, sagt Lud-
»am Tropf der Bewässerung« hängen. Viel Tages komplette Häuser aus lebenden Bäu- wig. »Da müssen Sie sich als Baubotaniker
einfacher sähe es aus, wenn die Bäume tat- men bestehen könnten. Flächige Struktu- schon sehr anstrengen, damit der Baum
sächlich Teil des Bauwerks wären: »Der ren etwa lägen außerhalb dessen, was Bäu- nicht gegen Sie arbeitet.« Philip Bethge
im Boden wurzelnde Baum hat eine Ro- me leisten könnten. »Der Baum will keine
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Technik

Bleiben Sie
ruhig!
Luftfahrt Das autonome Flug-
zeug ist da: Fällt der Pilot
aus, bringt es seine Passagiere
trotzdem heil auf den Boden.

S eine erste Flugstunde in der zwei-


sitzigen Cessna verlief bestens – bis
der 29-jährige Australier Max Syl-
vester bemerkte, dass der Fluglehrer ne-
ben ihm ohnmächtig war.
Über Funk rief Sylvester Hilfe. Was jetzt
folgte, ist klassischer Stoff für Abenteuer-
filme. »Haben Sie schon mal ein Flugzeug
gelandet?«, fragte der Fluglotse. »Nein«,
antwortete der Novize. Piper M600/SLS, Cockpit*
Der Lotse zog einen Fluglehrer hinzu, Captain Computer mit weiblicher Stimme
beide redeten behutsam auf Sylvester ein.
Sie erklärten ihm Schritt für Schritt, was Acht Jahre lang hat Garmin bisher an
zu tun sei – und tatsächlich: Fast eine Stun- der autonomen Steuerung gearbeitet,
de später brachte Sylvester die Cessna heil mehr als hundert Experten waren daran
zu Boden. Der bewusstlose Fluglehrer beteiligt. Ein noch erweitertes System
kam in die Klinik, wo ein gutartiger Hirn- dieser Art könnte in nicht allzu ferner
tumor festgestellt wurde. Zeit eine Rolle im Flugalltag von Klein-
Ein solches Adrenalindrama, wie es sich flugzeugen spielen, später auch an Bord
Ende August nahe Perth zutrug, könnte komplexerer Fracht- oder sogar Passagier-
sich künftig vermeiden lassen – zumindest bende Flugzeit. Ganz von selbst reduziert maschinen.
an Bord teurer Edelflieger. Die für ihre Na- Captain Computer im Anflug Höhe und Denkbar wäre, dass der Rechner das
vigationsgeräte weltbekannte US-Firma Geschwindigkeit, justiert den Schubhebel, Kommando übernimmt bei Landungen in
Garmin hat ein Steuerungssystem für mo- setzt die Landeklappen, fährt das Fahr- dichtem Nebel. Möglich wäre ebenfalls,
derne einmotorige Kleinflugzeuge entwi- werk aus. Er lenkt aktiv gegen eventuelle dass sogar größere Verkehrsmaschinen
ckelt, das aus »Star Trek« stammen könn- Seitenwinde an und landet auf der Mittel- irgendwann nur noch von einem mensch-
te. Verliert der Pilot der brandneuen Piper linie der Landebahn, er bremst und ruft lichen Piloten geflogen werden, den digi-
M600/SLS (Listenpreis: drei Millionen die Rettungsdienste herbei, ehe er sich ver- talen Kopiloten liefern dann Firmen wie
Dollar) plötzlich das Bewusstsein, dann abschiedet mit den Worten: »Warten Sie, Garmin hinzu. Die Flugroboter-Technolo-
muss einer seiner Passagiere im Cockpit bis das Flugzeug und der Propeller ange- gie wird zudem bei den vielen Drohnen
ganz einfach auf eine rot umrandete Taste halten haben, bevor Sie aussteigen.« und fliegenden Taxis Einzug halten, die
namens »Emergency Autoland« drücken. Emergency Autoland markiert den Be- den urbanen Luftverkehr eines Tages revo-
Selbst einem Kind sollte dies gelingen. ginn der Ära autonomer Passagierflug- lutionieren könnten.
Mehr ist nicht zu tun. zeuge, die keinen Piloten mehr brauchen. Der Siegeszug der Computer im Cock-
Eine freundliche weibliche Computer- Hunderte Testflüge hat Garmin bereits aus- pit bringt allerdings auch Nachteile mit
stimme meldet sich sogleich zu Wort, die geführt, und laut der Firma steht die Zu- sich: Je besser die automatisierten Flug-
ein wenig an Siri auf dem iPhone erinnert: lassung durch die US-Luftaufsichtsbehör- systeme funktionieren, desto schlechter
»Emergency Autoland activated«, sagt sie. de FAA unmittelbar bevor. funktionieren die Piloten. Ihnen fehlt dann
»Bitte bleiben Sie ruhig, und greifen Sie Das System soll auch in anderen Flug- schlicht die Übung.
nicht in die Steuerung ein!« zeugen Verwendung finden, etwa im ein- In modernen Verkehrsfliegern schalten
Sekundenschnell prüft der Bordrechner motorigen Vision Jet des Herstellers Cir- die Flugzeugführer vieler Airlines den
seine Datenbank und wählt die nächstge- rus, der sechs Passagieren Platz bietet und Autopiloten Momente nach dem Start an
legene geeignete Piste für eine Notlandung schon für rund zwei Millionen Dollar zu und übernehmen die Maschine erst wieder
aus. Er konzipiert die Flugroute dorthin – haben ist. Und das ist nur der Anfang. kurz vor der Landung. Die FAA kritisiert
unter Berücksichtigung von Bergen, Bäu- Noch darf Garmin seine Autoland-Soft- dies in einem aktuellen Bericht an die in-
men, Hindernissen, Wind, Wetter und ware allein als lebensrettendes Sicherheits- ternationale Luftfahrtorganisation ICAO.
Treibstoffvorrat. Die Flugsicherung setzt merkmal für den absoluten Notfall anbie- Wenn fliegerisch entwöhnte Piloten unter-
er auch gleich ins Bild, aktuelle meteoro- ten. In Zukunft dürfte die Firma mit der wegs auf ein technisches Problem stießen,
logische Daten holt er über das Iridium- Technologie aber deutlich ehrgeizigere Zie- fehle ihnen oft die Erfahrung oder sogar
Satellitennetzwerk ein. le verfolgen. die Fähigkeit, die Kontrolle über das Flug-
»Sie müssen gar nichts tun«, beruhigt zeug zu erlangen. Marco Evers
das vollautonome Flugsystem seine Passa- * Mit rot umrandeter Taste zur Aktivierung von »Emer- Mail: marco.evers@spiegel.de
giere und informiert sie über die verblei- gency Autoland«.

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 117


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Wissenschaft

ler war, die eine Rassentheorie mittels mor-


phologischer Untersuchungen untermau-
erten, und weil er seine Schädelsammlung
als Beweis für seine Theorie heranzog.
Dennoch lässt sich der Göttinger Ge-
lehrte schwerlich mit dem Rassenwahn der
folgenden Jahrhunderte in Verbindung
bringen. Blumenbach bezog nicht nur klar
Stellung gegen die Sklaverei; er betonte
auch, dass sich die von ihm identifizierten
»Varietäten« allenfalls durch Äußerlich-
keiten unterschieden. Wie andere Forscher
seiner Zeit auch suchte Blumenbach unter
anderem nach Belegen, die eine klare
Unterscheidung des Menschen vom Tier
ermöglichen sollten. Heute gilt sein Ruf
deshalb als untadelig.
Seine Sammlung befindet sich noch im-
mer im Besitz der Universität Göttingen,
wo sie sorgsam gehegt wird. Mit seinem
Sammelsurium exotischer Objekte steht
er in einer Reihe mit Pionieren wie Ale-
xander von Humboldt.
Jetzt aber hat eine Forscherin die Schat-

AKG-IMAGES / NATIONAL LIBRARY OF MEDICINE / SPL


tenseiten des Schädelsammelns erkundet.
Die Historikerin Malin Sonja Wilckens
von der Universität Bielefeld ging dabei
einer naheliegenden Frage nach: »Wie ist
Blumenbach denn überhaupt an seine
Schädel gekommen?«
Durch Auswertung seiner umfänglichen
Korrespondenz hat Wilckens in den ver-
gangenen drei Jahren erstmals die Wege
rekonstruiert, auf denen die Fundstücke
in den Besitz des Gelehrten gelangten.
Demnach waren seine Zulieferer wenig
Naturforscher Blumenbach (zeitgenössische Illustration, 1823): Obskure Ansichten zimperlich; häufig plünderten Blumen-
bachs Boten bei Nacht und Nebel die Grä-
ber versteckt lebender Völker und Stäm-

»Nachts wühlten wir me. »Es war oft ein kolonialer Übergriff«,
urteilt Wilckens.
Viele der Ausgräber waren sich offenbar
sogar darüber im Klaren, was sie anrichte-

unter den Knochen« ten. Einer von ihnen war beispielsweise


der Naturforscher Alexander von Hum-
boldt, der am 31. Mai 1800 mit einem Be-
Geschichte Vor gut 200 Jahren baute der Anthropologe Johann gleiter in einer Höhle am Ufer des Orinoko
einen Begräbnisplatz der Atures-Indianer
Friedrich Blumenbach die damals bedeutendste Sammlung aushob und darüber in seinem Reisetage-
menschlicher Schädel auf. Nur wie kam er an seine Fundstücke? buch berichtete: »Die Nacht brach ein, in-
dem wir noch unter den Knochen wühlten.
Die Mienen unserer indianischen Führer

G ästen in seinem Göttinger Wohn-


haus zeigte er gern seine Sammlung
exotischer Kostbarkeiten, zusam-
mengetragen aus allen Winkeln der Erde.
die damals weltweit umfangreichste be-
kannte Sammlung menschlicher Schädel.
Aufgrund seiner Studien glaubte Blu-
menbach, die Spezies Mensch in fünf un-
sagten uns, dass wir diese Grabstätte ge-
nug entheiligt hätten und den Frevel end-
lich endigen sollten.«
Blumenbach hat derlei Schändungen of-
Darunter befanden sich Fossilien, Teile terschiedliche »Varietäten« einteilen zu fenkundig skrupellos in Kauf genommen.
von Meteoriten, Mammutzähne oder die können; dazu zählten Europäer, Asiaten, Der Beginn seiner aktiven Sammelwut
Rasselstacheln eines Südafrikanischen Sta- Afrikaner, Amerikaner und Australasiaten. lässt sich auf den 24. September 1784
chelschweins. Prunkstücke der Kollektion Besonders hob er dabei die von ihm defi- datieren, als er den holländischen Anato-
jedoch waren menschliche Schädel von al- nierte »Kaukasische Rasse« hervor. Die men Pieter Camper in einem Brief bat,
len Kontinenten, die der 1752 geborene Georgier bezeichnete er gar als »schönsten ihm den Schädel eines »Hottentotten« zu
Forscher in extra gezimmerten Schränken Menschenstamme«. beschaffen.
hortete. Wegen solcher obskuren Ansichten ge- Immer wieder bedrängte er Kollegen
Bis zu seinem Tod im Jahr 1840 häufte riet Blumenbach bei späteren Forscher- und ehemalige Schüler, ihm neue Fundstü-
der Anthropologe Johann Friedrich Blu- generationen unter Rassismusverdacht – cke für seine stetig wachsende Sammlung
menbach rund 240 solcher Totenköpfe an – auch weil er einer der ersten Wissenschaft- zu liefern. Einer seiner treuesten Mitstrei-

118 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Wissenschaft

ter war der englische Naturforscher Joseph durchsetzten. »Er hat alles in Kauf genom- sich in Gefahr zu bringen, um »Ihrem
Banks – der dabei allerdings gelegentlich men, um seine einzigartige Sammlung auf- Verlangen nach Schädeln von Malabaren
in Erklärungsnot geriet. zubauen«, konstatiert Historikerin Wil- und anderen achten Indianern genügen zu
»Es ist sehr schwierig, den Schädel eines ckens. Die Quellen belegten, dass seine leisten«.
gelben Karribiers oder Ureinwohners auf- Unterstützer häufig »mit großer Entschlos- Nach einer öffentlichen Hinrichtung ließ
zutreiben«, meldete der Brite am 15. Juli senheit vorgegangen« seien. Angelbeek die Leichname dreier Exeku-
1789 an seinen Auftraggeber. »Ihre Grab- So schrieb der Arzt Georg Thomas von tierter schänden, um Blumenbach »im
plätze«, klagte Banks, »sind nur schwer Asch, der es bis zum Staatsrat am russi- beygefügten Kästchen die Schädel eines
zu finden und sie zu stören wird als das schen Zarenhof gebracht hatte, 1797 an Malabaren und zweyer Malayen zuzu-
größte Verbrechen angesehen.« Am Ende Blumenbach: »Es macht mir keine geringe schiken«.
Freude, theuerster Gönner, Ihnen hiebey Woher nur rührte der Eifer von Blu-
eines Persischen Schädel zu übersenden, menbachs Handlangern, die selbst fast
»Da wir hier Französi- den mein Freund aus einer Begräbniß Ca- allesamt hochgestellte Persönlichkeiten
sche Kriegsgefangene pelle am Flusse Kur nicht weit vom Dorfe waren? Außer wissenschaftlichen Werken,
Rutbari erbeutet hatte, bey Gelegenheit die damals freilich einen hohen Wert be-
haben, so war ich so frei daß unsre Truppen selbige zerstörten.« saßen, habe der Gelehrte seinen Helfern
einen derlei beizulegen.« Der im fernen Asien umherreisende kaum eine materielle Vergütung angebo-
Zeitgenosse Johannes Roesslein machte ten, berichtet Wilckens. Ihre Erklärung:
sich im Dienste des Göttinger Professors Offenbar habe alle Förderer der blumen-
gelangte Blumenbach über Banks doch nicht minder skrupellos ans Werk: »Bey bachschen Sammlung die Überzeugung
noch in den Besitz des Schädels eines lo- meiner jetzigen sehr beschwerlichen aber geeint, »an einem großen, einzigartigen
kalen Anführers. sehr unnützen Winterreise um die Gränze Projekt beteiligt zu sein«.
Zeitgenossen applaudierten, wenn wie- hat es mir endlich geglückt, mein ergebens- Aus diesem Grund musste Blumenbach,
der einmal eines der grausigen Liebhaber- tes Versprechen zu erfüllen. Ich habe un- der selbst kaum je weiter gereist ist als
stücke seinen Weg nach Göttingen fand. vermuthet einen begrabenen und verlaße- bis nach London, offenbar nicht viel
Der ebenfalls ortsansässige Physiker Georg nen Tungusen gefunden dem ich den Kopf Mühe darauf verwenden, Unterstützer zu
Christoph Lichtenberg etwa jubelte Blu- mit eigenen Händen aus dem Schutt wo- finden. Sie drängten sich ihm geradezu
menbach angesichts eines frisch eingetrof- runter er begraben war abgenommen auf. Einer von ihnen war der frisch beru-
fenen australischen Schädels zu: »Und was habe, und den ich die Ehre habe Ihnen zu- fene Medizinprofessor Heinrich Maria
das schönste ist, jeder neue Kopf, der hinzu zusenden«, schrieb er 1794. von Leveling aus Ingolstadt, der Blumen-
kömt, giebt dem vorhergehenden einen Auch der niederländische Gouverneur bachs Schädelbeschreibungen begeistert
Werth, den er noch nicht hatte.« der indischen Malabar-Küste, Johan Ge- gelesen hatte.
Recht schnell, so hat Wilckens bei ihren rard van Angelbeek, stellte seinen Dienst Als Anatom konnte Leveling einen
Recherchen herausgefunden, war Blumen- bereitwillig in Blumenbachs Sache. Offen- Nachschub an frischen Köpfen in Aussicht
bach derart gut vernetzt, dass kaum eine bar war der Kolonialbeamte sogar willens, stellen. Allerdings trieb ihn die Frage um,
größere europäische Expedition wie hoch wohl die Transportkosten
ohne die Bestellung eines neuen To- für die heikle Fracht ausfallen wür-
tenkopfes für die Göttinger Samm- den. Zudem interessierte ihn, »ob
lung anlief. Auch der durch die Meu- Sie die Köpfe mit Haut, Fleich und
terei bekannte Dreimaster »Bounty« Knochen zu erhalten wünschten, ob
sollte den Forscher mit neuem Ge- von allen weichen Theilen, was ich
bein aus dem Südpazifik versorgen. mir eher vorstellen kann, ent-
Das Ende des berühmten Schiffes blößt?« – und auch, »ob nicht allen-
beklagte Blumenbach (»Es war ein falls die Ohren und Nasenknorpeln
Verlust für die Menschheit«) – nicht daran gelassen seyn sollten«.
ohne seine eigene Einbuße ausführ- Am 22. Februar 1797 meldete Le-
lich zu bejammern: »Es ist außer- veling schließlich Vollzug: »Da wir
dem unglücklich für mein besonde- hier auch eine Menge Französischer
res Interesse, werde ich dadurch Kriegsgefangene haben, so war ich
doch einiger wertvoller Neuzugänge so frei einen derlei beizulegen; und
beraubt, mit welchen Sie meine erfreue mich, wenn es Ihnen ange-
Sammlung bereichern wollten«, nehm seyn soll.«
schrieb er an seinen Förderer Banks. Wenn auch vergleichsweise reise-
Mitunter behinderten schlicht die faul und mit Leichen im beruflichen
Zeitläufte das Anwachsen der Schä- Alltag nicht befasst, bot sogar der
delsammlung. »Ich werde nicht all- humorbegabte Physiker Lichten-
zu bald das Vergnügen haben, ihnen berg an, die Sammlung Blumenbach
Köpfe aus der Südsee zu schicken«, mit einer exotischen Schädelvarian-
meldete Lieferant Banks 1791 an te zu bereichern.
PROF. MICHAEL SCHULTZ

Blumenbach. Der Grund: »Die Vor- »Àpropos können Sie meinen


bereitung für einen Krieg mit Spa- Kopf brauchen?«, fragte er 1793
nien bindet alle Schiffe, die sonst zu seinen Freund. »Ich bin ein Otten-
Erkundungsfahrten auslaufen«, be- wälder, die am Rhein auf der Stu-
richtete der Brite. fenleiter der Civilisation mit den
In der Regel erwartete Blumen- Saxenhäußern rangiren.«
bach aber wohl, dass sich seine Hel- Blumenbach-Schädelsammlung in Göttingen Frank Thadeusz
fer auch gegen widrige Umstände »Jeder neue Kopf giebt dem vorhergehenden einen Werth«

120 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Kultur
»Ich bin kunstdeutsch, so wie ein Japaner kunstjapanisch sein sollte.« ‣ S. 132

MARTIN EHLEBEN / PRO 7


Jones, Kaulitz, Klum, Neuwirth

Fernsehen einander antreten. Klum freut sich auf »Gloss und Glitzer
und Haare und Haarspray«. Und wohl auch darauf, nun selbst
Queen für Deutschland die queere Szene klumisch ausschlachten zu können. Das
preisgekrönte Vorbild aus den USA heißt »RuPaul’s Drag
 Heidi Klum ist wieder auf der Suche. Statt eines Top- Race«, seit mehr als zehn Jahren moderiert vom berühmten
models sucht sie nun eine Queen für Deutschland. Eine Drag- Dragperformer RuPaul. Der Unterschied ist signifikant: Klum
queen. Zusammen mit dem Sänger Bill Kaulitz von Tokio ist ein heterosexuelles Mainstreammodel, eine Moderatorin
Hotel und dem Travestiekünstler Tom Neuwirth, der als und Produzentin, die bislang andere marktgängige Models
Conchita Wurst 2014 den Eurovision Song Contest gewann, gecastet hat. In der queeren Szene stieß die Show daher schon
sitzt Klum in der Jury der neuen Castingshow »Queen of vor der Ausstrahlung auf heftige Kritik. Für die erste Folge hat
Drags« auf ProSieben (ab 14. November, 20.15 Uhr). Die Klum sich immerhin Unterstützung eingeladen: Olivia Jones,
Kostüme werden schrill sein und die Vermarktungsmöglich- Deutschlands berühmteste Dragqueen, tritt als Gastjurorin
keiten so vielseitig wie die zehn Kandidaten, die gegen- auf. Pinkwashing nennt sich das. RED

Verbrechen Opfer« apostrophiert wurde, ein fast überzusitzen, von dessen Anwalt mit Fra-
Ende der Normalität 500 Seiten starkes Buch geschrieben. gen bedrängt zu werden. Doch Miller
»Ich habe einen Namen« heißt es. Chanel zeigt, wie viel weiter die Kreise der Zer-
 In der Nacht vom 17. auf den 18. Januar Miller schildert, was sich in jener Januar- störung reichen. Der Schatten fällt über
2015 wurde Chanel Miller auf dem nacht 2015 aus ihrer Sicht zugetragen ihre Beziehung, die gerade erst begonnen
Campus der Stanford University hinter hat – und was dies für ihr Leben in den hat. Jeder Mann, dem sie auf der Straße
einem Müllcontainer vergewaltigt aufge- Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jah- begegnet, erscheint ihr wie ein Feind. Es
funden. Ihr Fall wurde weltweit bekannt, ren danach bedeutet. Sie berichtet sehr ist herausfordernd, das zu lesen und zu
weil sie einen Brief schrieb, der sich direkt intim, sehr ehrlich sich selbst gegenüber. wissen, dass Chanel Miller alles so erlebt
an den überführten Vergewaltiger Brock Als Leser erfährt man, wie umfassend hat. Ihr Buch ist der Versuch, zu etwas
Turner richtete – ein erschütternder die Zerstörung ist, die mit so einer Tat zurückzukehren, das bis Anfang Januar
Text, der auf BuzzFeed und später auch in einhergeht. Dass die nachfolgenden Unter- 2015 ihr normales Leben war. CLV
anderen Medien veröffentlicht wurde. suchungen eine Tortur bedeuten, hätte
Chanel Miller: »Ich habe einen Namen«. Aus dem
Nun hat Chanel Miller, die sich bislang man sich vorstellen können, auch dass Amerikanischen von Yasemin Dinçer, Hannes
öffentlich mit dem Pseudonym Emily Doe es einem Albtraum gleichkommt, in der Meyer und Corinna Rodewald. Ullstein; 480 Seiten;
geschützt hatte, oft aber einfach als »das Gerichtsverhandlung dem Täter gegen- 20 Euro.

122 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Pop die in Dylans »Bootleg Series« erscheint. Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht

»Ite«
Titel: »Travelin’ Thru«. Die Box schlägt
Die Schönheit des musikalische Brücken zwischen Dylan,
Scheiterns dem jüdischen Hipster aus Hibbing
im äußersten Norden, und Cash, dem An einem hellen Tag im Juli
 Zwei mächtige Stimmen Amerikas, Sohn einer Baptistenfamilie aus dieses Jahres suchte eine
geeint in Tonfall, Gestus, Haltung: Arkansas im Süden der USA. Beide kleine Gruppe aus Nach-
Ende der Sechzigerjahre nahmen Bob verehrten Elvis Presley, den König barn, die sich auf der Straße
Dylan und Johnny Cash gemeinsam des Rock ’n’ Roll, und Carl Perkins, zu ihrer eigenen Überra-
ein paar Songs auf. Die den Gott des Rocka- schung zusammenfand, eine
beiden Großmeister billy. Beide begeister- Berliner Adresse, die es nicht
ließen die Maske der ten sich für die ein- mehr gibt. Das Haus Nürnberger Stra-
Coolness fallen, sie san- fachen Geschichten von ße 35/36 wurde im Krieg zerstört
gen Duett um Duett zum Verlust und Schicksal, und bei der neuen Bebauung die Num-
stampfenden »Boom-Chi- die stilprägend waren mer nicht mehr verwendet. Die einen

EVERETT COLLECTION / BRIDGEMAN IMAGES


cka-Boom«-Rhythmus für die Countrymusik konsultierten Google Maps, andere
von Cashs Band, sie der alten Schule – für einen Stadtplan, die Teenager aus der
improvisierten Textzei- den sogenannten Blues Gruppe liefen beide Straßenseiten auf
len, sie verpassten gar des weißen Mannes. und ab und kamen atemlos mit der Mel-
hier und da einen Ein- Dylans und Cashs dung zurück, die Zeremonie sei schon
satz. Damals reichte das Duette stecken voller im Gange, gleich da hinten, wo wir los-
offenbar nicht für eine kleiner Fehler und gegangen waren.
Veröffentlichung. Dabei Blödeleien, aber eben Neun Personen umstanden in locke-
sind die Aufnahmen das macht sie aus. Sie rem Kreis einen Mann, der mit klassi-
enorm faszinierend, wie sind so schön, weil sie schem Handwerkermaterial einen Pflas-
eine neue CD-Box zeigt, Dylan, Cash 1969 nicht perfekt sind. RED terstein auslöste und einen kleinen
Betonquader mit Messingauflage in der
Lücke fixierte. Dann sprach ein Herr
mittleren Alters in englischer Sprache
Kino mächtig weihnachtet. Sie ist eine Verkäu- über Ulrike und Leon Schwarzmann.
Zuckerschock ferin, die vormittags Rentierspieluhren an Ulrike, genannt »Ite«, war die Lieb-
den Touristen bringt und abends verge- lingsschwester seiner Urgroßmutter
 Was für ein Jammer! Eifersüchtige Bli- bens für Musicalrollen vorsingt. Meistens gewesen und aus dem heutigen Polen
cke unterm Weihnachtsbaum und Män- landet sie dann im Bett einer Kneipen- um die Jahrhundertwende nach Berlin
ner mit aufwendigen Föhnfrisuren gibt es bekanntschaft, die sie wegen des misslun- gekommen; ihr Mann Leon, geboren
in »Last Christmas« nicht (Kinostart: genen Castings tröstet – bis er auftaucht in Konstantinopel, importierte Kaviar.
14. November). Die Filmromanze, zu der und ihr durch sein Engagement im Ob- »Wie mein Vater sich erinnerte, war
Emma Thompson das Drehbuch verfasst dachlosenheim und überhaupt grenzenlo- manchmal das Geld in der Familie
hat, orientiert sich nicht am berühmten se Großherzigkeit zeigt, welchen Sinn das knapp, aber es gab immer Kaviar zu
Video zum Wham-Song »Last Christ- Leben noch haben kann. Ein wenig Bre- essen.« Ihr einziges Kind starb an
mas«, sondern nur an dessen Text. Wie xit-Lamento und ein kräftig überzogener Meningitis.
sehr sie das tut, bildet immerhin eine hüb- Auftritt von Emma Thompson als kroa- Als sie den Deportationsbescheid
sche Überraschung. Der Rest ist so kal- tische Sorgenmutter von Clarke fungieren bekamen, nahmen sie sich das Leben.
kuliert wie ein Greatest-Hits-Album, das als Magenbitter zum Süßkram der Story. Auf einem Familienfoto im Garten sind
zur Adventszeit erscheint: »Game of Aber wer Unwohlsein durch Zucker- sie zu sehen, der Mann in einem aufge-
Thrones«-Star Emilia Clarke und »Crazy schock vermeiden will, für den gilt bei krempelten weißen Hemd, die Frau in
Rich Asians«-Darsteller Henry Golding diesem Film dasselbe wie bei Schmalz- einem langen Nachmittagskleid. Ulrike
geben ein ansehnliches Pärchen vor gebäck und gebrannten Mandeln: besser Schwarzmanns Bruder war Soldat im
ansehnlicher Londonkulisse ab, in der es gar nicht erst mit Naschen anfangen. HPI Ersten Weltkrieg gewesen, »sie fühlten
sich voll integriert und ziemlich patrio-
tisch. Sie hatten eine Tragödie in ihrem
Leben durch den Tod ihres Sohnes
erlebt, aber sie konnten sich nicht vor-
stellen, was für ein Schicksal auf sie
wartete«.
Der Initiator der Stolpersteine, Gun-
ter Demnig, hat auch diesen Stein
gesetzt; es war das dritte Mal, dass Mit-
glieder der Familie zu einem solchen
Anlass in Berlin zusammentrafen; sie
reisten aus Sydney, aus England und
UNIVERSAL PICTURES

Israel an. Die Nachricht vom Anschlag


in Halle erreichte die Australier,
als sie aus ihrer Synagoge kamen.

An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und


Golding, Clarke in »Last Christmas« Nils Minkmar im Wechsel.

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Demonstrant mit Captain-America-Schutzschild in Hongkong 2014: »Tragischer Optimismus«

Amerikas
Geschlechtsumwandlung
Zeitgeist Die USA wollen keine Weltpolizei mehr sein und auch
keine Fackelträger der Freiheit. Der Westen, sagt der Philosoph Ivan Krastev,
sei tot. Wir wüssten es nur noch nicht. Von Lothar Gorris

U
nd was, wenn wir uns geirrt ha- Kaczyński und Erdoğan und sich vor allem trachtet. Der Westen? Tot. Die USA? Ha-
ben? Wir, die Sieger des Kalten auf deren Pathologien und Irrationalitäten ben die Rolle als Vorreiter des liberalen
Krieges, die nichts anderes ken- konzentrieren. Und die hoffen, dass der Universalismus aufgegeben. Europa? Kei-
nen, als in Freiheit, Wohlstand Illiberalismus nur ein Irrtum ist, ein Rück- ne Missionare mehr für eine bessere Welt,
und Demokratie zu leben. Die glauben, fall vielleicht in alte Zeiten, aber bald sondern ein Kloster, das die Mauern hoch-
auf der richtigen Seite der Geschichte zu schon wird alles wieder gut. gezogen hat und aufpassen muss, dass im
stehen und dass der Weltengang nur eine Ihr irrt euch. Und ahnt es nicht einmal. Inneren nicht alles verrottet und sich die
Richtung kennt. Die nun staunend auf Das ist der Blick, mit dem der Philosoph Bewohner nicht gegenseitig die Köpfe ein-
Trump und Putin schauen, auf Orbán, und Politologe Ivan Krastev die Welt be- schlagen.

124 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Kultur

begreifen, was los ist, und kommen zu dem Krastev ging, kaum war der Kalte Krieg
Ergebnis, dass der Aufstand gegen den Vergangenheit, nach Oxford, Sir Ralf Dah-
liberalen Universalismus trotz aller Ver- rendorf war dort sein Mentor. Es war eine
rücktheiten seiner Anführer durchaus Reise in eine Welt, die er aus Büchern
seine Logik hat. Und dass wir das verste- kannte und deren Sprache er sprach. Aber
hen müssen, um in einer neuen Welt zu- es war alles anders als in den Büchern. Er
rechtzukommen, die nach anderen Prin- hatte vorher nie mit einem englischen Mut-
zipien funktioniert, als wir es dachten. tersprachler geredet und anfänglich keine
Denn das, was sich gerade vollzieht, sei Ahnung, was zum Teufel die Leute wirk-
mehr als nur eine Rückkehr angeblich lich meinten, weil er Intonationen und An-
überkommener Phänomene und Ideen, spielungen nicht begriff. Aber er hatte, das
sondern etwas grundsätzlich Neues, dem sagt er bei einem Treffen während der
man nicht gerecht werde, wenn wir die Frankfurter Buchmesse, »das Gefühl, Din-
alten Maßstäbe anlegten. ge zu wissen, die andere nicht wissen«.
Nach drei Jahren bekam er das Angebot
Ivan Krastev erinnert sich nicht mehr von Präsident Schelew, dem ehemaligen
genau daran, was er machte und wo er war Dissidenten, in Sofia als außenpolitischer
am Abend des 9. November 1989. Die Berater für die Regierung zu arbeiten. Er
Tage, Wochen und Monate des Umbruchs sprach mit seinem Vater, der wie so viele
verschwimmen. Zu viel geschah. Er weiß seiner Generation als Bauernkind vom
noch, so erzählte er es kürzlich dem öster- Dorf an die Universität gekommen war
reichischen Magazin »Profil«, dass er am und eine klassische kommunistische Kar-
Abend danach im Restaurant der Univer- riere gemacht hatte – als Chefredakteur
sität von Sofia saß, zusammen mit Freun- einer Jugendzeitung. Nach 1989 wurde er
den. Sie diskutierten mit dem Dissidenten nie mehr politisch aktiv, weil er das Gefühl
und Philosophen Schelju Schelew über hatte: Wir hatten unsere Chance, wir ha-
Bulgariens Staatschef und KP-General- ben es vermasselt. Der Vater also fragte
GUILLAUME PAYEN / NURPHOTO / REX / ACTION PRESS

sekretär Todor Schiwkow, der am selben den Sohn: Kannst du Auto fahren? Nein,
Tag zurückgetreten war. Es wurde getrun- du weißt, dass ich das nicht kann. Ich habe
ken, was sonst, wenn Unfassbares ge- keinen Führerschein. Und dann sagte der
schieht, und irgendwann wagte Schelew, Vater: Aber wieso glaubst du denn, dass
der damals 54 war, die Prognose, dass die du einen Staat führen kannst?
jungen Leute eines Tages das Ende des Krastevs Englisch ist perfekt und schnell,
Kommunismus erleben würden. Es sollte man muss sich etwas einhören, aber es hat
kein Jahr mehr dauern, und der ehemalige diesen angenehmen slawischen Klang. Er
Dissident selbst wurde Bulgariens neuer ist einer dieser Philosophen, die auch Ge-
Präsident. schichtenerzähler sind; seine Pointen, Wit-
Krastev war da 24 Jahre alt und im letz- ze, Anekdoten sind Wegweiser, während
ten Semester seines Philosophiestudiums. er von einem Gedanken zum nächsten
Er hat erlebt, wie eine Welt, wie ein Staat wandert und oft auch springt. »Paradoxer-
zusammenbrechen kann, ganz schnell und weise«, das sagt er oft und gern. Oder auch:
unvermutet. Eine Welt, die dysfunktional »Listen, this is an interesting story.«
Ivan Krastev ist Bulgare. 1965 in Luko- war und korrupt, aber in der man es sich Damit keine Missverständnisse aufkom-
vit geboren, einer Kleinstadt im Norden trotzdem hatte einrichten müssen. Plötz- men: Krastev ist ein Kind des modernen
des Landes, irgendwo zwischen Sofia und lich galt nichts mehr, was gestern galt. Was Liberalismus und ein Sieger des Kalten
der Donau. Seine Großeltern waren Bau- schon damit anfing, dass man sich überle- Krieges. Er lebt in Sofia und Wien, ist dort
ern. Es gibt Leute, die halten Krastev für gen musste, wie man einander anredet. Fellow am renommierten Institut für die
einen der größten Denker dieses Konti- Als Genosse? Auf keinen Fall. Aber was Wissenschaften vom Menschen, das Geis-
nents. Dass er einer größeren Öffentlich- stattdessen? Bürger? Herr? Doktor? teswissenschaftler aus Ost und West zu-
keit kaum bekannt ist, könnte mit seiner Das alles, sagt Krastev, sammenbringen will. Ein
Herkunft aus dem Osten Europas zu tun habe ihn geprägt: wie Denker, der seine Projekte
haben. Oder auch damit, dass er als rasch sich die Dinge än- mit Geldern westlicher Stif-
Außenseiter einen anderen, fremden dern, wie fragil alles Poli- tungen finanziert, George
Blick auf die Welt hat. Zusammen mit dem tische sei, wie schnell Men- Soros, Bosch, Mercator.
New Yorker Rechtsphilosophen Stephen schen ihre Meinung än- Krastev sagt, dass man
Holmes hat er gerade ein Buch veröffent- dern, wie oft etwas, das moralisch im Recht sei, das
MARKUS TEDESKINO / AGENTUR FOCUS

licht mit dem Titel »Das Licht, das erlosch. gestern undenkbar war, abzulehnen, wofür Orbán
Eine Abrechnung«*. Und was für eine. plötzlich allgemeingültig und Kaczyński, Erdoğan
Es ist eine Erzählung der Welt der ver- ist. Die Erfahrung des und Trump stehen. Und
gangenen 30 Jahre aus der Perspektive der totalen Zusammenbruchs dass er nicht in Gesellschaf-
anderen. Aus der Perspektive der Bösewich- hat er Kindern des Wes- ten wie der Ungarns oder
te und jener, die sie gewählt haben und un- tens und der Nachkriegs- der Türkei leben möchte.
terstützen. Krastev und Holmes wollen zeit voraus. Was ein Vor- »Ich glaube auch, dass alle
teil sein kann. Nur der diese Leute verrückt sind.
* Ivan Krastev, Stephen Holmes: »Das Licht, das
Außenseiter hat Abstand Aber der Blick auf die Per-
erlosch«. Aus dem Englischen von Karin Schuler. genug, um Dinge anders Autor Krastev sönlichkeit dieser Politiker
Ullstein; 368 Seiten; 26 Euro. zu sehen als die anderen. Ein Kind des Liberalismus verhindert, dass wir die

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Kultur

Phänomene betrachten, durch die sie an mit der Sowjetunion seine eigene nationa- simulieren, habe man beschlossen, den
die Macht kamen. Wenn etwas geschieht, le Unabhängigkeit erreicht hatte, diese amerikanischen Hegemon mit den eige-
was wir nicht erwarten, neigen wir dazu, aber sofort wieder abgab an die EU, eine nen Waffen zu schlagen, ihm die Maske
das nur als Abweichung von der Normali- supranationale Organisation, die nicht nur vom Gesicht zu reißen, indem man dessen
tät zu begreifen. Aber wir müssen versu- eingriff in die Politik dieser Länder, son- zweifelhaftes, niederträchtiges außen-
chen, sie zu verstehen, weil es diesmal dern wie ein übergeordneter Richter den politisches Gebaren kopierte. Es sei, sagen
mehr ist als eine Abweichung. Und das Fortschritt der Verwestlichung bewertete. Holmes und Krastev, eine Art Rache
vergessen wir.« Wer von Fremden beurteilt wird, ob er al- für alles. Strategisch nicht immer sinnvoll
Das Buch beginnt mit einer Anekdote, les gut und richtig macht, hat keine gute und erfolgreich, durchaus auch sich selbst
die der damalige Obama-Berater Ben Laune und fragt sich, ob diejenigen, die schadend.
Rhodes über seine Zeit im Weißen Haus über ihnen urteilen, wirklich besser sind, Auch die Einmischung Russlands in die
erzählt hat. Sie spielt im November 2016, ehrlicher, liberaler, freier, oder sich viel- amerikanischen Präsidentschaftswahlen
Trump ist gewählt und Obama auf seiner leicht doch verhalten wie Besatzer. Der 2016 erklären sich die Autoren als »höh-
letzten Auslandsreise. Im Auto auf dem Sowjetkommunismus war alternativlos, nisch-ironisches Spiegeln« amerikanischer
Weg zum Flughafen in Lima berichtet der nun hatte man den Eindruck, dass der und westlicher Verhaltensweisen. Es sei
Präsident von einem Kommentar in der westliche Liberalismus genauso alternativ- nicht darum gegangen, einen russland-
»New York Times«, der den Demokraten los war. Und das erzeugt Trotz. Zumal freundlichen Kandidaten ins Weiße Haus
vorwirft, dass sie mit ihrem hohlen, kos- viele aus den Eliten der osteuropäischen zu bringen, sondern darum, den Amerika-
mopolitischen Globalismus die Leute nicht Länder die neue Freiheit dazu nutzten, nern zu zeigen, wie sich ausländische Ein-
mehr erreichten. ihre Heimat zu verlassen. mischung anfühlt. Und auch: dass ein ar-
Der Präsident ist melancholisch ge- Die zweite Station des Buches ist Russ- rogantens demokratisches Regime zer-
stimmt, zweifelnd, die letzte Reise, die letz- land. Russland, schreiben Holmes und Kras- brechlich ist und verwundbar. Ein Versuch
ten Tage, keine Ahnung, was nun werden tev, sei ein Beispiel für die Nachahmung der Demütigung.
soll mit diesem Land. Er fragt: »Und was, durch Simulation. Quasi über Nacht war Die Verbitterung über die Amerikani-
wenn wir uns geirrt haben?« aus einer Supermacht ein Problemfall ge- sierung und Verwestlichung der Welt ist
worden, der Unterstützung brauchte und ein starkes Motiv für den Illiberalismus
Die eigentliche These von Krastev und Dankbarkeit heucheln musste. Polens und Ungarns sowie für die erratisch
Holmes klingt erst mal etwas steil und Die Sowjetunion ist einfach nur kolla- wirkende russische Angriffslust. Warum
schräg. Es ist ein Spiel, ein politisches Glas- biert, keine fremden Truppen in Moskau, aber, fragen Krastev und Holmes, ist aus-
perlenspiel, ohne Anspruch auf Vollstän- gerechnet Amerika, der Hegemon des
digkeit und, wie sie selbst zugeben, nicht Westens, das allseits kopierte Vorbild, nun
gänzlich durch Empirie belegt. Die These America first heißt: Wir selbst dem Illiberalismus verfallen?
lautet: Die Ursprünge der weltweiten anti- kümmern uns nur noch Amerika, wenn es nach Donald Trump
liberalen Revolte liegen darin, dass nach geht, soll kein Vorbild mehr sein. Es täte
1989 das Zeitalter der Nachahmung, der um uns selbst. Macht ihr gut daran, Orbáns Ungarn und Putins
Imitation begann. Der westliche Liberalis- doch, was ihr wollt! Russland nachzuahmen. Und sich von sei-
mus hatte den Kommunismus besiegt und nen westlichen Bündnispartnern zu lösen.
war, so schien es, alternativlos geworden. Folgt man Holmes und Krastev, fühlt
Und die, die besiegt wurden, wollten und kein Angriff, nichts, und trotz Partei, Mili- sich Amerika, das Vorbild der Nachah-
sollten nun das kopieren, was der Westen tär und nuklearen Arsenals war plötzlich mung, selbst als das größte Opfer dieser
ihnen vorgemacht hat. alles aus. Es fühlte sich an wie ein geheim- Nachahmung. Die Nachahmer seien zur
Diese Idee der Nachahmung beruft sich nisvoller Coup. Das Ende der Sowjetunion Bedrohung geworden, weil sie das Vorbild
auf den französischen Philosophen René ist für viele bis heute noch ein Mysterium, ersetzen, verdrängen, zerstören wollten.
Girard. Wer nachahmt, will haben, was der hinter dem dunkle Mächte stehen müssen. America first meint nicht, dass Amerika
andere besitzt, weil er seine Wünsche und Was erklären könnte, warum man in Mos- seine alte Führungsstärke wiedergewinnen
Sehnsüchte befriedigen will. Gleichzeitig kau zu Verschwörungstheorien greift, um will. America first heißt: Wir kümmern
beginnt er, an sich selbst zu zweifeln, seine sich einen Reim zu machen auf den Lauf uns jetzt nur noch um uns selbst. Weil wir
Selbstachtung leidet genauso wie seine der Welt. ausgenutzt und betrogen werden. Macht,
Selbstverwirklichung. Er ist ja nicht das Ori- Die erste Reaktion damals auf den Sieg was ihr wollt, und die Zölle erhöhen wir
ginal, sondern nur die Kopie. Nachahmung des Liberalismus: Russland tat so, als ob sowieso.
produziert also auch Rivalität, Feindselig- es von nun an das gleiche Spiel spiele. Man Eine These, die ein paar Dinge erklären
keit und Bedrohung. Je mehr Vertrauen die errichtete eine potemkinsche Fassade, die würde. Den Handelskrieg mit China bei-
Nachahmer in das Vorbild haben, desto aussah wie Demokratie, um in der schwie- spielsweise. Aber auch das geradezu ob-
weniger Vertrauen haben sie in sich selbst. rigen Übergangszeit den Druck zu vermin- sessiv angespannte Verhältnis Trumps zu
Aus Nachahmung entsteht Verbitterung. dern, mit dem der Westen politische Re- Deutschland, das aus der Sicht des Trump-
Zuerst untersuchen die beiden Autoren formen forderte, die eine Gefahr gewesen Amerika eine Erfindung Amerikas ist. Da
den Fall osteuropäischer Staaten wie Un- wären für die durch und durch korrupte hat man ein Land aufgepäppelt, und das
garn und Polen. In beiden Ländern gab es Privatisierung der Gesellschaft. Ergebnis? Deutschland heute ist als Ex-
eine liberale Elite, die die westlichen Vor- Aber seit Ende der Nullerjahre gesche- portnation einer der größten Konkurren-
bilder nachahmte, wirtschaftlich und poli- hen erstaunliche Dinge: der Einmarsch in ten der USA, obwohl es so viel kleiner ist.
tisch. Beide Staaten wurden Mitglied der Georgien, die Besetzung der Krim, die Und dann noch diese verdammten Autos.
Europäischen Union und unterwarfen sich Giftanschläge, die Intervention in Syrien. Deutschland, sagen Holmes und Kras-
den Bedingungen, die man ihnen stellte. Russland schien sich zu benehmen, als tev, sei das Land, das besonders an die
Weil dies der schnellste Weg zu Freiheit wäre ein neuer Kalter Krieg ausgebrochen. Idee vom Ende der Geschichte geglaubt
und Wohlstand zu sein schien. Krastev und Holmes aber deuten das habe. Für die Deutschen sei es sogar mehr
Das allerdings führte zu der Erkenntnis, als Wechsel der Nachahmungsstrategie: als nur eine Idee, sondern Realität. Weil
dass man zwar in der Auseinandersetzung Statt ein idealisiertes Bild des Westens zu das Ende des Kalten Krieges und die Wie-

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Basis für den amerikanischen Exzeptiona-


lismus war zerstört. Möglicherweise war
die rote Linie, mit der Obama Syrien droh-
te, die letzte Chance. »Ein Hegemon
aber«, sagt Krastev in Frankfurt, »ist kein
Hegemon mehr, wenn er Dinge androht,
sie aber nicht ausführt.«
Gut möglich, dass auch ein neuer demo-
kratischer Präsident niemals mehr Ameri-
ka zum Weltpolizisten und Freiheitsfackel-
träger machen will.
Amerika im Rückzug, Europa im Klos-
ter. Eine neue Welt entsteht, sie wird

PETE MAROVICH / NYT / REDUX / LAIF


anders sein als die bipolare Phase des Kal-
ten Krieges, anders auch als die Welt, die
der Westen danach dominierte. Die neue
Welt wird divers sein, unübersichtlich, es
wird ein Wettkampf sein um Märkte und
Ressourcen. Aber kein Kampf der Ideo-
logien. Jeder gegen jeden. Es wird kom-
pliziert.
Was aber heißt es, wenn in Hongkong
die Demonstranten auch heute noch ame-
rikanische Flaggen tragen? Ein Relikt, sagt
Krastev, des alten Universalismus, als wür-
den sie noch in einer anderen Zeit leben.
Niemals würde Trump ihnen zu Hilfe kom-
men. »Tragischer Optimismus« nennt das
Krastev. Der Konflikt mit China sei ein an-
derer, Handelskrieg, Zölle und vor allem
die Frage, wer die Hoheit behalte über die
Informationstechnologie. Eine neue Ber-
liner Mauer wird es nicht geben, aber viel-
leicht eine Firewall, die die chinesische und
JP BLACK / ZUMA PRESS / IMAGO IMAGES

die amerikanische Digitalsphäre trennt, in


SERGEI ILNITSKY / NYT / REDUX / LAIF

der die Technologie die Rolle der Ideologie


übernimmt. Auch das kann schwierig wer-
den, wenn Amerika von anderen fordert:
Ihr müsst euch entscheiden – entweder
Huawei oder Apple.
Und Europa? Plötzlich spricht Ivan
Krastev, der Philosoph aus Bulgarien, von
der deutschen EU-Kommissarin Ursula
Antiliberale Politiker Trump, Kaczyński, Putin von der Leyen und ihren Plänen, Europa
Mehr als nur eine Abweichung von der Normalität, sondern etwas Neues zum Vorreiter für Klimapolitik zu machen.
Ausgerechnet Ursula von der Leyen, wie
die Vorsteherin des Klosters, in das sich
dervereinigung ihnen die Last der Ver- wundbar gemacht. Nun kehrt Amerika Europa zurückgezogen hat.
gangenheit von den Schultern nahmen. dem Ganzen den Rücken zu. Es ist vorbei. Es sei, sagt Krastev, eine gute Idee, Kli-
Die deutsche Lehre aus der Geschichte: Trump habe, sagt Krastev, das Land einer mapolitik zum neuen Universalismus zu
Wir haben fürchterliche Dinge getan, Geschlechtsumwandlung unterzogen, eine erklären. Europa gebe sich so selbst einen
aber uns toll entwickelt, alles wird gut. neue Identität erschaffen. neuen Sinn. Zwar werde die Erderwär-
Trump hasst den Universalismus und Mo- Wenn der Anführer des liberalen Uni- mung einige Länder stärker treffen als an-
ralismus und die Selbstgerechtigkeit der versalismus nichts mehr hält vom liberalen dere, aber die Folgen würden alle spüren.
Deutschen, die immer so perfekt sein wol- Universalismus, geht die Epoche der Nach- Es gibt eine universale Notwendigkeit, et-
len. Er hasst ihn genauso, wie ihn manche ahmung und der westlichen Hegemonie was zu tun. Der Klimawandel wäre ein
Osteuropäer ablehnen. Sich um die Men- zu Ende. Nicht der Liberalismus ist tot, Grund, dass sich das liberale Europa aus
schenrechte anderer kümmern, die so aber der liberale Universalismus. Der Wes- seinem Kloster hinaustraut und mit den il-
weit weg sind? Alles nur Lügen und Heu- ten ist kein Vorbild der Nachahmung mehr. liberalen Mächten der Welt an den Tisch
chelei und auch naiv. Es geht auch anders. setzt und verhandelt. Sonst wird sich der
Trumps Botschaft an seine Wähler: Die Ob ein Zurück möglich ist? Schon Oba- Migrationsdruck auf Europa erhöhen. Die
Europäer betrügen euch, wenn sie sagen, ma hatte sich abgewendet von der Idee Grenzen zu militarisieren, Migranten mit
ihr seid Gewinner, denn in Wahrheit seid des amerikanischen Exzeptionalismus. Gewalt abzuwehren oder sie im Meer
ihr Verlierer. Anders als Europa glaubt Der Irakkrieg 2003 war der entscheidende ertrinken zu lassen, das wäre der totale
Trump nicht an die Idee vom Win-win. Es Wendepunkt: Der Angriff auf ein Land Widerspruch zur liberalen Idee Europas.
gibt immer nur Gewinner und Verlierer. mit gefälschten Argumenten, dann Guan- Es lebe der ökologische Universalismus.
Und Amerikas Naivität hat das Land ver- tanamo und Abu Ghuraib, die moralische

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Alter, weiser
Mann
Filme Regisseur Martin Scorsese
und sein Star Robert De
Niro haben »The Irishman«
gedreht – wohl das
letzte ihrer großen Mafia-Epen.

NIKO TAVERNISE / NETFLIX


A m Ende seines Lebens blickt Frank
Sheeran auf die vielen Menschen
zurück, die er getötet hat. Der Pfar-
rer fragt ihn, ob er Reue empfinde. Shee-
ran schüttelt den Kopf. Er habe die Fami-
lien seiner Opfer ja nicht gekannt, meis- Darsteller Joe Pesci, De Niro in »The Irishman«: Trostlose Gangster
tens jedenfalls nicht. Für Reue könne man
sich auch dann entscheiden, wenn man sie
nicht empfinde, erwidert der Pfarrer. Shee- Rollators durch ein Pflegeheim und erfasst dären Gewerkschafter Jimmy Hoffa (im
ran denkt nach: wirklich? am Ende den klapprigen Helden. Film: Al Pacino) ermordet zu haben.
Der Mafiakiller Sheeran, der hier sie- Das ist, wie vieles in »The Irishman«, Manches spricht dafür, dass Sheerans
chend im Rollstuhl sitzt, wird von Robert ein Zitat aus einem früheren Scorsese- Schilderungen großteils nicht der Wahr-
De Niro gespielt. Sheeran ist der Held Film: In »GoodFellas« durchmaß der heit entsprechen, dass er sich selbst zu
von Martin Scorseses neuem Film »The Regisseur in einer ähnlichen Einstellung einem Killer stilisierte, um seine Me-
Irishman«, ein braver Fußsoldat, der jeden einen Nachtklub. Sie wirkt wie eine Feier moiren verkaufen zu können. Doch De
Drecksjob sauber erledigt. der Lebenslust und des Triumphes, ein ge- Niro war von dem Buch begeistert.
Das dreieinhalb Stunden lange Epos fürchteter Gangster zu sein. 2008 kündigten er und Scorsese die Ver-
wurde vom Streamingdienst Netflix pro- In »The Irishman« muss sich der Mafia- filmung an. Das Projekt war allerdings ex-
duziert und kommt nun kurz ins Kino, be- killer Sheeran seinen Sarg selbst aus- trem aufwendig und technisch kompliziert.
vor es dann nur noch online zu sehen sein suchen, weil seine Kinder nichts mehr Weil viele Szenen in den Sechzigerjahren
wird. Für einige Szenen kehren der 76-jäh- mit ihm zu tun haben wollen. Er sitzt in spielen, als Sheeran in seinen Vierzigern
rige Regisseur und sein gleichaltriger Star seinem Rollstuhl und erzählt aus seinem war, entschloss sich Scorsese, seinen Star
an die Stätte ihres ersten Triumphes zu- Leben, doch kaum jemand scheint ihm zu- durch digitales Facelifting zu verjüngen.
rück: New Yorks Stadtteil Little Italy. zuhören. Ein selten trostloser Gangster. Als 2016 einer der Investoren absprang,
Hier begann die Karriere der beiden, »The Irishman« basiert auf dem 2004 stoppte das Studio Paramount das auf 100
1973 mit dem Film »Mean Streets«, der erschienenen Buch »I Heard You Paint Millionen Dollar budgetierte Projekt. Net-
den deutschen Titel »Hexenkessel« trägt. Houses«, das auf Berichten des irischstäm- flix sprang ein. Der Streamingdienst suchte
Er handelt von schäbigen kleinen Gangs- migen Mafioso Frank Sheeran beruht. Der händeringend nach Stoffen und renom-
tern, die sich durch ihr schäbiges kleines hatte unter anderem behauptet, den legen- mierten Filmemachern. Bald darauf koste-
Viertel quasselten, prügelten und schossen, te »The Irishman« 150 Millionen. Niemand
die versuchten, sich hochzubeißen in der weiß genau, wie viel Geld es am Ende war.
blutigen Nahrungskette der Mafia. Es ist Scorseses teuerster, längster und
1990, in Scorseses und De Niros Meis- traurigster Film geworden. »The Irishman«
terwerk »GoodFellas – Drei Jahrzehnte in steht für das Ende einer Ära, die von Filme-
der Mafia«, brachten es die Kinogangster machern wie Scorsese und Francis Ford
mit ungeheurer Gewalt zu ungeheurem Coppola geprägt wurde. Sie hatten Holly-
Reichtum. Ein fiebriges Epos über Männer, wood in den Sechziger- und Siebzigerjah-
die mal im Geld baden und mal im Blut, ren verändert und fühlen sich dort heute
die Koks schaufeln, als wäre es Mehl. wie Randexistenzen.
Im Jahr 1995 dann »Casino« mit Sha- Superheldenspektakel seien kein Kino,
UNITED ARCHIVES / PICTURE ALLIANCE / DPA

ron Stone. Scorseses kriminelle Helden sondern eher verfilmte Freizeitparks, taten
waren nun in Las Vegas im Glücksspiel- Scorsese und Coppola unlängst kund.
geschäft. Teure Anzüge, schöne Frauen, »The Irishman« ist Scorseses trotziger Ver-
Glamour statt Gosse. Doch gleich am such, allen zu zeigen, dass auch sein Name
Anfang des Films flog der von De Niro eine Marke ist, die noch etwas zählt.
gespielte Held in seinem Auto in die Er machte fast alles anders, als es heute
Luft – und überlebte nur mit knapper im Blockbusterkino üblich ist. Ruhe statt
Not. Tempo, mäandernde Erzählweise statt
Jetzt also »The Irishman«, ein elegischer plotgetriebener Spannungsdramaturgie,
Epilog, ein letztes Hurra, das schon auf schmutzige Morde statt heroischer Action.
den Lippen erstirbt. In der ersten Szene »Casino«-Stars Stone, De Niro 1995 Es ist rührend und traurig zugleich, ei-
bewegt sich die Kamera im Tempo eines Aus der Gosse in die Glamourwelt nen Film zu sehen, der oft wie eine Roh-

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Kultur

schnittfassung wirkt. Alles musste rein in


dieses vielleicht letzte große Werk, alles
musste erzählt werden, einmal, zweimal, Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
dreimal. Scorsese zeigt es in seinen Bildern nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
und erklärt es noch mal in Worten.
In einer Szene wirft De Niro nach einem Belletristik Sachbuch
Mord seine Pistole in einen Fluss. Der Zu-
schauer sieht sie langsam auf den Grund 1 (1) Sebastian Fitzek 1 (–) Marc Friedrich / Matthias Weik
sinken – wo schon viele andere Waffen lie- Das Geschenk Droemer; 22,99 Euro Der größte Crash aller Zeiten
gen. Ein starkes Bild, das alles sagt. Warum Eichborn; 20 Euro
muss der Off-Kommentar noch hinzu- 2 (2) Saša Stanišić
fügen, dass dieses Arsenal reichen würde, Herkunft Luchterhand; 22 Euro 2 (2) Edward Snowden
einen Bürgerkrieg zu führen? Permanent Record
Hat Scorsese das Vertrauen in seine er- 3 (3) Jussi Adler-Olsen S. Fischer; 22 Euro
Opfer 2117 dtv; 24 Euro
zählerische Meisterschaft verloren? Oder Für die einen ist er
dachte er, das Publikum sei beim Streamen ein Held, für die ande-
4 (4) Jojo Moyes Wie ein Leuchten ren ein Staatsfeind.
weniger konzentriert als im Kinosaal? Der in tiefer Nacht Hier erzählt der
Zuschauer hat bisweilen den Eindruck, der Wunderlich; 24 Euro
Whistleblower seine
Geschichte selbst.
Regisseur halte ihn für begriffsstutzig.
Aber natürlich verstellen Scorseses frü- Die Kulisse ist histo- 3 (3) Bas Kast Der Ernährungskompass
here Meisterwerke etwas den Blick auf risch, das Thema hoch- C. Bertelsmann; 20 Euro
»The Irishman«. Bei allen Schwächen ist aktuell: In den USA der
Dreißigerjahre kämpfen 4 (1) Richard David Precht
es immer noch ein ziemlich wuchtiges berittene Bibliotheka- Sei du selbst Goldmann; 24 Euro
Epos. Dem Regisseur vorzuwerfen, dass rinnen für Frauenrechte.
er vor 30 Jahren bessere Filme gedreht 5 (7) Doris Dörrie Leben, schreiben,
5 (7) Ildikó von Kürthy
habe, ist etwas ungerecht, wenn man be- atmen Diogenes; 18 Euro
Es wird Zeit Wunderlich; 20 Euro
denkt, wie gut diese Filme sind.
Vielleicht muss man sich auf »The 6 (5) Stephen Hawking Kurze Antworten
6 (5) Cecelia Ahern auf große Fragen Klett-Cotta; 20 Euro
Irishman« einlassen wie auf ein Treffen Postscript. Was ich dir noch
mit inzwischen etwas betagten Freunden, sagen möchte Fischer Krüger; 20 Euro 7 (6) Peter Wohlleben
die von den alten Zeiten reden und mit de- Das geheime Band zwischen
nen man Geduld haben sollte, weil sie viel 7 (6) Maja Lunde Mensch und Natur Ludwig; 22 Euro

erlebt und Wichtiges zu erzählen haben. Die Letzten ihrer Art btb; 22 Euro
8 (–) Harald Lesch Was hat das Universum
»The Irishman« ist vom Bewusstsein 8 (8) Eugen Ruge mit mir zu tun? C. Bertelsmann; 18 Euro
durchdrungen, dass Korruption und Verrat Metropol Rowohlt; 24 Euro
allgegenwärtig sind. Er handelt nicht nur 9 (8) Thomas Pletzinger
von der Unterwelt, sondern von Amerika 9 (12) John le Carré The Great Nowitzki
Kiepenheuer & Witsch; 26 Euro
und seinem Raubtierkapitalismus. Scorsese Federball Ullstein; 24 Euro
zeigt ein Land der unbegrenzten Mög- 10 (4) Hans-Joachim Watzke / Michael Horeni
lichkeiten, in dem jeder seines Glückes 10 (10) Delia Owens Der Gesang Echte Liebe C. Bertelsmann; 20 Euro
Schmied sein kann, wenn er bereit ist, mit der Flusskrebse Hanserblau; 22 Euro
11 (9) Max Otte
dem Hammer seine Konkurrenten zu er- 11 (9) Martin Suter Weltsystemcrash Finanzbuch; 24,99 Euro
schlagen. Die illusionslose Weltsicht eines Allmen und der Koi Diogenes; 22 Euro
alten, weisen Mannes. 12 (–) Torsten Sträter Es ist nie zu spät,
Im Lauf des Films hält Scorsese immer 12 (14) Ursula Poznanski unpünktlich zu sein Ullstein; 16 Euro
wieder das Bild an, verweilt auf einer Figur Erebos 2 Loewe; 19,95 Euro
13 (16) Thomas Gottschalk
und blendet einen Text ein, der den Zu- Herbstbunt Heyne; 20 Euro
13 (–) Sabine Ebert Schwert und Krone.
schauer informiert, wann und wo diese
Herz aus Stein Knaur; 19,99 Euro
14 (12) Klaus Brinkbäumer / Samiha Shafy
Person ermordet wurde. Wenn Sheeran
im Pflegeheim seine Pillenbox öffnet, hat Das kluge, lustige, gesunde,
14 (11) Jo Nesbø ungebremste, glückliche, sehr
man das Gefühl, dass er der einzige all die- Messer Ullstein; 24 Euro lange Leben S. Fischer; 22 Euro
ser Gangster ist, der noch lebt. Er hat ein-
fach Pech gehabt. Jetzt muss er als Gottes 15 (13) Stephen King 15 (11) Deniz Yücel
einsamster Mann sterben. Das Institut Heyne; 26 Euro Agentterrorist Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
Ganz am Ende bittet er eine Kranken-
16 (15) Rebecca Gablé 16 (14) Michelle Obama
schwester, die Tür zu seinem Zimmer Teufelskrone Lübbe; 28 Euro Becoming Goldmann; 26 Euro
nicht ganz zu schließen. Vielleicht ist das
auch die Tür, die sich Scorsese und De 17 (–) Isabel Allende 17 (17) Sascha Lobo Realitätsschock
Niro dann doch noch offen lassen. Dieser weite Weg Suhrkamp; 24 Euro Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro

Lars-Olav Beier 18 (20) Denis Scheck


18 (–) Olga Tokarczuk
Schecks Kanon Piper; 25 Euro
Unrast Kampa; 24 Euro
Video 19 (–) Jill Lepore
Ausschnitte aus 19 (18) Ulrich Tukur Diese Wahrheiten C. H. Beck; 39,95 Euro
»The Irishman« Der Ursprung der Welt S. Fischer; 22 Euro
spiegel.de/sp462019kino 20 (–) Biyon Kattilathu Der Rikscha-Fahrer,
oder in der App DER SPIEGEL 20 (16) Dror Mishani der das Glück verschenkt
Drei Diogenes; 24 Euro Gräfe und Unzer; 16,99 Euro

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 129


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Kultur

Am Anfang
Songs stehen derzeit in den Top Ten der Apache 207 sprechsingt im virilen
Spotify-Charts. Seine Videos werden auf Bariton, schraubt sich aber auch immer
YouTube millionenfach geklickt. Der 22- wieder ins effektpolierte Kopfstimmen-

war Nutella
Jährige ist im deutschen Mainstream-Hip- gejodel. Die emotionalen Höhepunkte
Hop ganz oben angekommen. seiner Songs röhrt er mit der Dramatik
Vordergründig bietet er alles, was das einer Diva ins Mikro: »Wieso tust du
Genre auszeichnet: Es geht um Autos und dir das an?«, ruft er, rhythmisch wirkungs-
Hip-Hop Apache 207 kommt aus um viel Geld, um Bitches und um die voll komprimiert, im gleichnamigen Song.
Ludwigshafen und führt Rap- eigene Mama. Erzählt im Slang, aber Er singt darin in der Rolle des unzuver-
literarisch stilisiert. Die Grammatik ist lässigen Liebhabers, der seiner Freundin
klischees ins Absurde – mit gleich eigenwillig, oft nah am Telegrammstil, davon abrät, sich weiter an ihm aufzu-
fünf Songs dominiert er Artikel fallen im Zweifelsfall weg, die reiben.
die deutschen Spotify-Charts. eine oder andere englische Phrase hat der Ganz ohne die genretypischen homo-
Rapper wörtlich ins Deutsche übernom- phoben Beleidigungen kommt er leider
men: »Ich geb kein Fick« heißt es im Hit nicht aus. Ärgerlich auch, dass in den Vi-

D eutsche Rapper geben sich immer


rätselhaftere Namen. Der Superstar
Capital Bra rollt sein Zungen-R viel-
leicht auch deshalb tsunamigleich, um dem
»200 km/h«.
Das sogenannte Migrantendeutsch ist
für den Pop ein Segen. Die Sprache von
Thomas Mann und Tocotronic geht uns
deos junge Frauen als lächerliche Staffage-
bitches rumstehen müssen. Wie mecha-
nisch hier Klischees bedient werden, wirkt
eher dümmlich und fällt damit gegenüber
Missverständnis vorzubeugen, er könnte damit ja nicht verloren, sie wird nur um der sonstigen Inszenierung ab. Dabei hat
sich nach überdimensionierten Büstenhal- eine Facette bereichert. Apache hat diesen der junge Mann aus Ludwigshafen laut Wi-
tern benannt haben. Apache 207 eröffnet Stil nicht erfunden, bespielt ihn aber mit kipedia sogar Abitur.
ein Assoziationsspektrum von Winnetou Witz: »Warum fickt ihr Kopf, Kopf? Mein Unter Vertrag genommen hat ihn
bis zum Kampfhubschrauber. Der Titel sei- Kopf platzt, Gucci-Sandalen, ich trag sie sein Kollege Bausa aus der heimlichen
nes gerade mal 22 Minuten langen Debüts nur aus Trotz, Trotz«. deutschen Hip-Hop-Hauptstadt Bietig-
hingegen lautet schlicht »Platte«. Vinyl Seine »Platte« bietet mehr als das sonst heim-Bissingen. Die südwestdeutsche
und Hochhausgetto, vereint in edler Ein- übliche akustische Viagra für Hip-Hop-Al- Provinz scheint der perfekte Melting Pot
falt und stiller Größe. phamännchen. Mal klingt der Sound wie für Hip-Hop zu sein, was wohl nicht allein
Zwei Meter misst Volkan Yaman, so Achtzigerjahre-Chartsmusik, mal wird der durch die räumliche Nähe zur Mercedes-
Apaches bürgerlicher Name. Er trägt eine Eurodance der Neunziger geplündert bis Tuningfirma AMG zu erklären ist, deren
schwarze Mähne, die prächtig im Wind hin zur Anspielung auf den gefürchteten Wagen unverzichtbares Tool für Rap-
der Prärie wehen könnte, beleuchtet vom Partyhit »Barbie Girl« in Apaches derzeit videos sind.
Licht der goldenen Stunde: Fünf seiner erfolgreichstem Song »Roller«. Entscheidender Anstoß für Apache
aber scheint ein Nussnugat-Brotaufstrich
gewesen zu sein. Im Spätsommer postete
er auf Instagram ein Foto von sich neben
einem weißen Mercedes-Cabriolet vor
einem schmutzigbraunen Häuserblock.
Dazu erzählte er, wie ihm als Kind auf
dem Heimweg vom Discounter Netto ein
Glas Nutella, das er als besonderen Luxus
stolz in den Händen trug, heruntergefal-
len und zersplittert war. Seine Mutter,
schreibt er, sei in Tränen ausgebrochen.
Damals will er sich geschworen haben,
für die Familie später einen solchen Wa-
gen zu kaufen.
Es ist leicht, diese Story als Kitsch ab-
zutun – und doch berührt sie einen. Genau
in solchen Widersprüchen liegt das Erfolgs-
geheimnis von Pop. Authentizitätsgesten
und affige Show gehen ineinander über,
eine Menge künstlerische Intelligenz fließt
in großen Quatsch, die Identitäten formen
sich immer wieder neu.
Ob man am coolsten im getunten Mer-
cedes oder, wie im Videoclip von Apache,
auf einem Motorroller durchs Leben
rauscht, ist dabei keineswegs ausgemacht.
Juliane Liebert

Video
PETER KAADEN

So klingt
Apache 207
spiegel.de/sp462019rap
oder in der App DER SPIEGEL
Rapper Apache 207: In der Rolle des unzuverlässigen Liebhabers

130 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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so individuell wie
wir – und gemacht
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Qualität, die man schmeckt.

Die 13 deutschen Weinregionen sind


geschützte Ursprungsbezeichnungen.

Rheinhessen ist eines der 13 deutschen Anbaugebiete, das die EU als


geschützte Ursprungsbezeichnung anerkannt hat. Es ist die größte
deutsche Weinregion und erstreckt sich linksrheinisch am Rheinbogen
von Worms über Mainz nach Bingen. Im trockenen Klima wachsen zu
70% weiße Rebsorten – vor allem Riesling, die Burgundersorten sowie
der Silvaner. Mehr Informationen zur geschützten Ursprungs-
bezeichnung Rheinhessen: www.rheinhessen.de/gu
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Kultur

»Exzesse in der Kunst sind


eine Dienstpflicht«
SPIEGEL-Gespräch Wenige Maler sind in den vergangenen Jahren derart in die Schlagzeilen
geraten wie Oda Jaune und Jonathan Meese. Ein Treffen in Paris – es geht
um Geld, Hitlergruß-Satire und darum, die Freiheit mit wehenden Fahnen zu verteidigen.

Das Interesse an seiner Arbeit hat Jonathan ich mehr französische Luft geatmet. Und SPIEGEL: Immendorff war über Jahre
Meese, 49, immer wieder geschickt mit Pro- früher war es die bulgarische Luft. Ich lasse schwer krank. Haben Sie in dieser Zeit zu
vokationen angefacht. Oda Jaune, 39, wur- alles in mich hineinfließen, jede Luft, keine beiden Kontakt gehalten?
de in der Öffentlichkeit zuerst als Frau des wird abgelehnt. Meese: Oda hat mich bis zum Schluss im-
skandalumwitterten, 2007 verstorbenen SPIEGEL: Was bedeutet Ihnen Paris? mer über alles informiert.
Malers Jörg Immendorff wahrgenommen. Jaune: Für mich ist Paris Freiheit, ich konn- Jaune: Aber durch die schwerste Zeit
Davon hat sie sich längst emanzipiert. In te nach schweren Jahren in Deutschland musste ich alleine durch, da konnte mir
Paris sind die Werke von Jaune und Meese hier wieder befreit arbeiten. niemand helfen. Jonathan und ich haben
nun erstmals in einer Doppelschau in der Meese: In Paris fühle ich mich liebevoll eine 18 Jahre alte Geschichte aus seltenen,
Galerie Templon zu sehen. Beide gelten in umsorgt. Zuletzt war ich vor vier Jahren aber schönen Treffen. Wir wissen, dass
Frankreich als Vertreter einer typisch deut- hier. Aber Zeit spielt in der Kunst keine man dem anderen Raum lassen muss.
schen Malerei. Die Bulgarin Jaune, die Rolle, auch nicht für Freundschaften SPIEGEL: Wie haben Sie sich in den ver-
eigentlich Michaela Danowska heißt, lebt unter Künstlern. Denn Künstlerfreund- gangenen 18 Jahren verändert?
seit mehr als zehn Jahren in der Stadt. Hier- schaften sind anders als normale Freund- Meese : Wir sind ein bisschen älter gewor-
her ist sie nach dem Tod ihres Mannes re- schaften. den, aber eigentlich wird man in der Kunst
gelrecht geflüchtet. Jonathan Meese, der SPIEGEL: Inwiefern? nie alt.
keine Flugzeuge mag und ungern reist, ist Jaune: Zwischen uns beiden gibt es eine Jaune: Bei mir ist Malen ein langsamer
nur selten in Paris, und wenn, bewegt er starke Verbindung, ein Bündnis. Und das Prozess, ich male nur etwa zwölf Bilder
sich in einem 500-Meter-Radius in der ist nicht von dieser Art Pflege abhängig, im Jahr. Das Gute ist, dass in 18 Jahren et-
Stadt: Templon bucht ihm dann ein Hotel bei der man sich fragt: Na, wie geht es dir, was zusammenkommt, auf das man zu-
gleich neben der Galerie. Auch das Vernis- welche Pläne hast du für Weihnachten? rückschauen kann.
sage-Essen mit geladenen Gästen aus der Meese: Wir sind wie Kapitäne, treffen uns SPIEGEL: Sie, Herr Meese, schaffen zwölf
Pariser Gesellschaft fand keine 50 Meter manchmal auf hoher See. Dann teilt man Bilder in einer Woche, oder?
entfernt statt. Für die Bilder von Jaune ver- Gewürze aus und fährt zurück auf seine Meese: Ja, manchmal sogar mehr. Aber
langt die Galerie bis zu 60 000 Euro, für jeweilige Insel. Man klebt nicht so aneinan- ich liebe Odas Bilder über alles, weil sie
Meeses bis zu 75 000 Euro. der. Vieles läuft übers Werk. aus einer anderen Welt kommen, weil sie
Jaune: Das stimmt. Wenn ich Jonathans ihr Ding durchzieht. Man kann das nur
SPIEGEL: Frau Jaune, Herr Meese, die Pa- Bilder ansehe, dann ist es, als spräche er staunend angucken. Man riecht das ja
riser Galerie, die Ihre neuen Werke prä- zu mir. Da öffnet sich etwas in mir, und auch. Man riecht, wo die Kunst ist, wer
sentiert, wirbt für eine »deutsche Saison«. ich muss das nicht mit ihm anschließend kompromisslos ist. Oda ist auch ein Kind
Wie deutsch fühlen Sie sich als Künstler? diskutieren. Ich bin einfach dankbar. der Zukunft, ein Weltraumbaby. Wir sind
Jaune: Wer von uns fängt an? SPIEGEL: Wofür? beide Weltraumbabys. Es ist wichtig, was
Meese: Da kann ich sofort antworten. Ich Jaune : Ihn zu haben, Jonathan und ich ge- Oda über die Freundschaft gesagt hat.
bin kunstdeutsch, ich empfinde kunst- hören derselben Generation an, wir leben Künstler, die sich lieben und schätzen, stö-
deutsch. Es gibt das politisch Deutsche, zur selben Zeit, ich kann also erleben, wie ren sich nicht. Es gibt Künstler, die wollen
das interessiert mich nicht, ich bin ideolo- er als Künstler wächst. sich an mich heranrobben. Die denken, sie
gielos. Ich bin kunstdeutsch, so wie der SPIEGEL : Wie lange kennen Sie sich brauchen einen Guru. Aber ich bin keiner.
Japaner kunstjapanisch sein sollte. schon? SPIEGEL: Wie wichtig ist Ihnen dennoch
SPIEGEL : Frau Jaune, verstehen Sie, was Jaune: 15 Jahre? Aufmerksamkeit, Anerkennung?
Jonathan Meese damit meint? Meese: Mindestens. Jaune: Ich habe nicht die Erwartung, dass
Jaune: Ich verstehe es nicht, aber es klingt Jaune: 18 Jahre? jemand meine Kunst akzeptiert, mag oder
sehr schön. Ich habe eine eigene Theorie. Meese: Würde ich auch sagen. kauft. Im Gegenteil, es überrascht mich
Ich glaube, wenn man lange genug die Luft SPIEGEL: Frau Jaune, schon Ihr verstorbe- und berührt mich dann umso mehr, wenn
eines Landes einatmet, dann dringt das in ner Mann, der Maler Jörg Immendorff, jemand zu mir kommt und mir sagt, wir
die Zellen ein. Ich habe zehn wichtige Jah- war ein Freund von Jonathan Meese. lieben dieses Bild von Ihnen, das wir ha-
re in Deutschland verbracht. Aber nun Jaune: Er hat ihn sehr geliebt. Er hat ihn ben, wir leben täglich damit.
lebe ich seit elf Jahren in Paris, also habe irgendwie für sich ausgesucht. Meese: Ein Künstler, der anfängt, Kunst
Meese: Jörg war ein sehr komplexer zu machen, weil er Anerkennung will, soll
Das Gespräch führten die Redakteurinnen Ulrike Mensch, auch ein Rabauke. Aber er war aufhören. Sofort. Die meisten jungen
Knöfel und Britta Sandberg in Paris. mein Freund. Künstler wollen aber nicht ins Atelier ge-

132 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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CYRIL ZANNETTACCI / DER SPIEGEL

Kollegen Meese, Jaune vor einem Bild der Künstlerin: »Man klebt nicht so aneinander«

133
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Kultur

hen und arbeiten. Deren Atelier ist das SPIEGEL : Frau Jaune, kannten Sie diese habe ich dir welche von meinen ge-
Flugzeug, um zum nächsten geilen Event Seite Ihres Freundes Jonathan schon? schenkt?
zu fliegen, zu angeblich wichtigen Typen. Jaune : So genau nicht, aber ich weiß aus Meese: Ich habe ein Bild von dir, eine
SPIEGEL: Welche Rolle spielt Geld für Sie eigener Erfahrung, dass so etwas zu einer Zeichnung. Ich wollte auch immer ein grö-
beide? Obsession werden kann. Die interessante ßeres Werk kaufen. Ich habe da eines im
Jaune: Geld ist etwas, das einem die Frei- Frage ist, warum man überhaupt damit an- Kopf, aber das ist wahrscheinlich längst weg.
heit gibt, wieder für eine gewisse Zeit in fängt. Das ist so ein Körper, aus dem der Kopf
Ruhe arbeiten zu können. Ich lebe in einer Meese: Das Merkwürdige bei mir ist, dass rausexplodiert, ein paar Menschen sind
Zeit, in der Kunst mittlerweile wahnsinni- ich immer wieder das Gleiche sammle. Ich noch im Vordergrund. Ich liebe das. Wirk-
ge Preise erzielt. Aber das war nie mein bin wie ein pawlowscher Hund, ich re- lich toll. Diese Stülpungen, die Oda malt.
Traum oder mein Trieb. agiere auf dieselben Reize immer gleich. SPIEGEL: Frau Jaune, Ihre Bilder zeigen
SPIEGEL: Kennen Sie die Preise Ihrer Bil- Manche Bücher muss ich ständig wieder oft Körper, die verformt und verletzt wir-
der? kaufen. ken, aus denen Organe herauszuquellen
Meese: Ansatzweise. Und ich fin- scheinen. Sind das gemalte Alb-
de es total in Ordnung, dass sie teu- träume?
er sind. Geld für Kunst auszugeben Jaune: Das ist eine Frage, die mir
ist nie pervers, Realität ist pervers, nur von Deutschen gestellt wird.
Ideologien sind pervers. Kunst ist Die Franzosen zum Beispiel sehen
unbezahlbar. anders auf meine Kunst. Nein, das
SPIEGEL: Bilder sind zum Invest- sind keine Träume, das ist die Rea-
ment geworden, Kunst ist mittler- lität. Schauen Sie mal, was da drau-
weile ein Spekulationsobjekt – al- ßen los ist. Schauen Sie, wohin es
les total normal? die Welt gebracht hat. Wie sie
Jaune: Ich verstehe manchmal brennt und explodiert. Ich schaue
nicht, warum etwas auf dem Kunst- mir die Zeit, in der wir leben, sehr
markt für gut gehalten wird und et- genau an, ich bin ein Teil von ihr
was anderes nicht. Aber das muss und nicht mit ihr einverstanden. In
ich auch nicht. Wenn jemand fin- der Kunst habe ich die Möglichkeit,
det, dass ihm ein Kunstwerk etwas sie zu verändern. Und eigentlich
wert ist, dann steht es ihm frei, da- tue ich das voller Liebe.
für so viel auszugeben, wie er will. SPIEGEL: Es verlangt dennoch eine

JAN BAUER / COURTESY JONATHAN MEESE / VG BILD-KUNST, BONN 2019


Warum sollte eine Wohnung mit gewisse Nervenstärke, sich Ihre Bil-
drei Kaminen teurer sein dürfen als der an die Wand zu hängen.
ein gutes Bild, das seinen Betrach- Jaune: Es gibt Leute, die meine
ter vielleicht zu Tränen rührt, das Gemälde nicht aushalten können.
er nie mehr vergessen wird, das Ich finde andere Dinge brutaler,
sein Leben verändern wird? zum Beispiel, dass wir auf diese
SPIEGEL: Wissen Sie, wie viel Geld Welt kommen, ohne gefragt zu wer-
Sie besitzen? den. Ich wurde nicht gefragt. Auch
Jaune: In meinen Hosentaschen, nicht, ob ich in dieser Zeit leben
auf meinem Konto? Ungefähr, ja. möchte. Wenn man sensibel ist,
SPIEGEL: Nur ungefähr? kann einem vieles sehr brutal er-
Meese: Ich will es gar nicht so scheinen, aber Sensibilität kann
genau wissen, aber meine Mutter auch eine Stärke sein.
weiß es natürlich. Ich gebe fast SPIEGEL: Herr Meese, passt Oda
mein gesamtes Geld wieder für Jaunes Kunst zu ihr? Es gibt Leute,
die Kunst aus. Ich brauche Räume Meese-Porträt des Modeschöpfers Galliano die über sie sagen, so eine schöne,
für das, was ich sammle. Es wäre »Ein Inszenierungsmonster« zarte Frau und dann diese Bilder.
sehr gut, wenn mir ganz Berlin ge- Meese: Das ist ja das Tolle, da
hören würde. muss nichts passen. Und brutal
SPIEGEL: Für was brauchen Sie diese Räu- Jaune: Wirklich, du kaufst ein bestimmtes muss man in der Kunst sein, brutaler als
me? Buch mehrmals? in der Realität, damit die Realität weiß,
Meese: Für alles. Ich sammle Kunst, ich Meese: Ja, »Moby Dick« zum Beispiel. wo der Hammer hängt. Die Kunst wird
sammle Magazine, ich sammle Bücher, ich In jeder Ausgabe und jede hundertmal. die Realität klären, die Kunst ist ein Klär-
sammle Stofftiere. Ich kaufe von allem immer Tonnen. Das werk.
SPIEGEL: Sie kaufen ernsthaft Räume für wird auch zum Teil geordnet, von Freun- SPIEGEL: Herr Meese, Sie sind das ewige
Stofftiere? den oder von meiner Mutter. Die hält das Enfant terrible, das in Performances, Büh-
Meese : Noch mehr für Bücher, aber auch natürlich kaum aus, sie ist das Gegenteil neninszenierungen und in der Malerei die
für Stofftiere. Ich zeige ihnen meine Kunst, von mir, aber sie weiß, wie man Sachen deutsche Geschichte von Wagner bis zum
ich mache Videos mit ihnen, und sie ordnet. »Dritten Reich« bearbeitet. Das Thema Ih-
werden Teil meiner Kunst. Oder ich ver- SPIEGEL: Haben Sie sich gegenseitig Wer- rer neuen Werke ist die Haute Couture.
schenke sie. ke geschenkt? Nicht mehr Parsifal, sondern Karl Lagerfeld
SPIEGEL: Sind es eher hochwertige Stoff- Jaune: Ich habe zwei von Jonathan be- scheint Ihr stiller Held zu sein. Warum?
tiere oder billige aus Polyester? kommen. Ein kleines und ein großes Por- Meese: Er hatte sich nur einer Sache ver-
Meese: Geschenkt bekomme ich eher trät, das er für mich gemalt hat. Das kleine schrieben, solche Typen habe ich immer
Letztere. Ich selbst kaufe die guten. Oft ist bei mir, das große ist weit weg, weil ich gemocht, er war ein Hermetiker. Lagerfeld
Drachen, weil meine Mutter Drachen liebt. in Paris nicht so viel Platz habe. Jonathan, hat meistens eine Narbe bei mir, ich habe

134 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Kultur

ihn so gemalt, weil er ein Kämpfer war für Meese: Ja, ich fülle die neu. Die Kunst SPIEGEL : Haben Frauen es trotzdem noch
die Kunst. macht sie erst leer und füllt sie dann neu aus. schwerer als Männer im Kunstbetrieb?
Jaune: Lagerfeld war ein Querdenker. SPIEGEL: 2013 standen Sie vor Gericht, Jaune: Was zählt, ist die Kunst, es spielt
Und er hatte keine Angst. Es gibt ja diesen weil Sie auf einer SPIEGEL-Veranstaltung keine Rolle, ob eine Frau, eine Katze oder
Gegensatz zwischen Kunst und Mode: den Hitlergruß persifliert hatten, eine Ges- ein Mann sie geschaffen hat. Ich habe
Kunst darf nie modisch sein, Kunst te, die Sie als Meese-Gruß bezeichneten. nicht das Gefühl, dass ich andere oder
soll schweben. Deshalb finde ich es toll, Auch ein Versuch, Politik zu vertreiben? weniger Privilegien als Männer genieße.
dass sich Jonathan auf dieses Thema ge- Meese: Ich wollte damals nicht vor Ge- Ich denke darüber aber nicht viel nach,
stürzt hat. richt stehen, ich wollte nicht Kunst recht- ehrlich gesagt.
SPIEGEL: Sie fassen den Modebegriff da- fertigen müssen. Wir und die Kunstfreiheit SPIEGEL: Wirklich nicht? Lange waren
bei erstaunlich weit. Der Marquis de Sade haben ja auch mit wehenden Fahnen ge- Sie für die Öffentlichkeit nur die junge
kommt genauso vor wie Coco Chanel, wonnen. Allerdings sind einige Freund- schöne Witwe des bekannten Malers Im-
Anna Wintour und Yves Saint Laurent. schaften darüber kaputtgegangen. mendorff.
Meese: De Sade war eben ein Jaune: Oh, das mit der Witwe habe
Mann der Haute Couture, ein Chef ich aber lange nicht mehr gehört,
von Staatsmode. Ebenso die fran- ich sehe und fühle mich als eigener
zösischen Revolutionäre Robes- Mensch.
pierre und Saint-Just, der schönste SPIEGEL: Oda Jaune, Sie werden
Revolutionär aller Zeiten. Und nächste Woche 40 Jahre alt. Jona-
natürlich Ludwig XIV., das erste than Meese wird im Januar 50, sind
Fashion-Victim überhaupt. das Zäsuren für Sie?
SPIEGEL: Warum würdigen Sie Jaune: Ich galt immer als jung, war
außerdem John Galliano – den ehe- die junge Malerin, deshalb freue
maligen Dior-Chefdesigner –, der ich mich darauf, 40 zu sein. End-
2011 in einem Pariser Restaurant lich! Und dann 50.
eine Frau als »dreckiges jüdisches Meese: Ich hab mir vorgenommen,
Gesicht« beschimpfte und in einem ab 50 alles persönlich zu nehmen.
Video bekannte, Hitler zu lieben? SPIEGEL: Verstehen wir nicht.
Meese: Galliano war ein Inszenie- Meese: Ich werde ab 50 gnaden-
rungsmonster, er hat einfach eine loser sein. Wenn ich Leute nicht
geile Mode gemacht, unglaubliche mag, wenn sie mir Zeit stehlen wol-
Shows, der hat in der Kunst nun len, dann werde ich sagen, aus per-
einmal alles gegeben. sönlichen Gründen möchte ich das
SPIEGEL: Kann man es sich so ein- nicht. Und ich will mehr schlafen.
BERTRAND HUET/ TUTTI / COURTESY TEMPLON, PARIS & BRUSSELS
fach machen? Das muss ich persönlich von mir
Meese: In dieser Frage wird gerade einfordern. Ich schlafe sehr schlecht
viel Schindluder getrieben. Wir müs- seit vier Jahren, ich wache jede
sen das Werk doch aber vom Men- Stunde auf, ich muss da was tun.
schen trennen. Wenn wir das nicht Jaune: Ich habe mir noch keine Ge-
mehr können, kommen wir in Teu- danken gemacht, aber ich glaube
fels Küche. Horst Tappert ist nicht nicht, dass ich etwas ändern werde.
Derrick. Ich sehe nur das Werk, das Meine Tochter ist 18, ist in eine
wird beurteilt, was ein Typ wie Gal- andere Stadt gezogen und hat ein
liano ansonsten macht, ist mir ziem- Studium angefangen, ich habe da-
lich wurst. Kunst ist Antirealität. durch noch mehr Zeit zum Malen,
SPIEGEL: In der Realität heißt es das ist eine neue Phase. Letzte
über Ihre Kunst oft, sie sei – gerade Woche habe ich täglich bis zwei
wegen Ihrer Tabubrüche – sehr Uhr nachts gearbeitet.
politisch und heikel. Jaune-Werke in Pariser Galerie Templon SPIEGEL: Werden Sie große Feste
Meese: Sie ist stärker als Politik. »Keine Träume, sondern die Realität« feiern?
Sie sagt ganz klar: Politik, hau Jaune: Ich denke, ich feiere mit mei-
ab. Wer die Realpolitik von heute ner Tochter, darauf freue ich mich.
illustrieren will, ist doch morgen schon SPIEGEL: Die zu Ihnen, Oda Jaune, blieb Meese: Ich werde an dem Tag eine Ausstel-
nur ein Illustrator der Vergangenheit, bestehen. lungseröffnung in Antwerpen haben, inso-
aber kein Künstler. Ein Künstler ist seiner Jaune : Ja. fern kann ich meinen Geburtstag mit Kunst
Zeit voraus, und wenn es nur eine Se- SPIEGEL: Muss Kunst kontrovers sein? verbinden. Sonst feiere ich immer im ganz
kunde ist. Meese: Kontrovers sind wir ja beide, auf kleinen Kreis, nur mit meiner Freundin,
Jaune: In Frankreich wird nicht erwartet, verschiedene Art und Weise. Wobei die Mutter, Familie und den engsten Freunden.
dass ein Künstler politisch ist. Natürlich Kontroverse mit Odas Bildern eine andere SPIEGEL: Wir hatten uns das etwas exzes-
ist es verständlich, dass es in Deutschland ist. Bei ihr sagen die Leute, oh, diese siver vorgestellt.
mit seiner Geschichte eine ganz andere verstümmelten Körper, das ist nicht so mei- Meese: Exzesse in der Kunst sind eine
Sehnsucht nach Haltung gibt. Ich aber fin- ne Richtung. Mir spricht man entweder Dienstpflicht, in der Realität aber nicht.
de, dass darin für die Kunst auch eine Ein- gleich die Künstlerschaft ab, weil ich an- Meine Droge ist Kunst, Exzesse lebe ich
schränkung liegen kann. geblich irre oder gefährlich bin. Oder man nur in der Kunst, meine Kunst ist Sex.
SPIEGEL: Aber Sie, Herr Meese, bedienen meint gar, dass ich der Führer von Deutsch- SPIEGEL: Frau Jaune, Herr Meese, wir
sich doch gezielt politischer Symbole der land werden sollte, wie manche in die Gäs- danken Ihnen für dieses Gespräch.
Vergangenheit. tebücher meiner Ausstellungen schreiben.

136 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Frankfurter
Allgemeine Freiheit beginnt im Kopf.
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Kultur

Die guten Verlierer


frau, die wütet, das Astronautinnenprogramm gebe den
Knochenjob der Astronautenmänner »der Lächerlichkeit
preis«.
Unter den vier angeblich extrem teuer produzierten und
manisch beworbenen Projekten, mit denen der Apple-Kon-
Serienkritik Was, wenn die Sowjets zuerst auf zern ins Streaminggeschäft einsteigt, ist »For All Mankind«
dem Mond gelandet wären? »For All Mankind« noch das originellste. In vielen Momenten entsteht der Ein-
erzählt die Geschichte der Weltraumfahrt neu. druck, dass die Autoren Spaß daran hatten, das erzamerika-
nische Genre der Weltraumheldensage auf den Kopf zu stel-
len. Im Vergleich dazu wirken die anderen Serien auf Apple

E s ist ein kleiner Schock für Amerika und ein großer Tri-
umph für die Sowjetunion, als der Kosmonaut Alexej
Leonow am 26. Juni 1969 als erster Mensch den Mond
betritt. Vor einer halben Milliarde Fernsehzuschauer weltweit
TV+ wie schon mal da gewesen: »The Morning Show« mit
Jennifer Aniston ist eine Satire aus einer Fernsehredaktion,
»See« ein Fantasy-Gruselmärchen und »Dickinson« eine un-
gelenk auf Zeitgeist getrimmte Huldigung der Dichterin Emily
verkündet er, für »den marxistisch-leninistischen Way of Dickinson.
Life« ins All geflogen zu sein. Die westlichen Fernsehreporter Immer wieder überrascht »For All Mankind« durch fiktive
reagieren frustriert: »Nichts wird mehr so sein wie früher.« weltpolitische Wendungen. So ist der demokratische US-Se-
Als ein paar Wochen später mit der »Apollo 11«-Mission nator Robert F. Kennedy hier nicht ermordet worden, son-
auch der US-amerikanische Astronaut Neil Armstrong auf dern der wichtigste Gegenspieler des Republikaners Richard
dem Mond landet, mag sein oberster Dienstherr Richard Ni- Nixon. Die kommunistischen Machthaber in Moskau demü-
xon ihm nicht gratulieren. »Der Präsident ruft nicht den Sil- tigen die USA ein ums andere Mal, indem sie immer neue
bermedaillengewinner an«, verkündet einer seiner Berater. Raketen zum Mond schicken.
»For All Mankind« ist eines der Groß-
projekte, mit denen der Apple-Konzern
auf seiner Anfang November eröffneten
Streamingplattform Apple TV+ ein Mas-
senpublikum erreichen will. In den
zehn Folgen der ersten Staffel malen
sich die Schöpfer der Serie genüsslich
aus, wie sich der Berufsstand der Welt-
raumeroberer, aber auch die Welt-
geschichte entwickelt hätte, wenn die
Sowjetunion das Wettrennen im All ge-
wonnen hätte.
Man sieht seelisch zermürbten Astro-
nauten beim Trinken, beim Rauchen und
beim Absingen des Trauerlieds »What
Becomes of the Brokenhearted« zu. Und
man sieht starke Astronautinnen die Plät-
ze der Kerle im Nasa-Trainingscamp ein-
nehmen, wo die Schülerinnen sogleich
von einem Ausbilder angebrüllt werden:
»Arbeiten, nicht flirten!«

APPLE TV+
Wolkentürme aus Nikotinschwaden
und blitzblank polierte Wählscheiben-
telefone, riesige bunte Limonadengläser Szene aus »For All Mankind«: Eine Welt, die so nie existiert hat
und extrastraffe Kleider gehören zur Aus-
stattungspracht, mit der hier der Zauber
der Sechzigerjahre beschworen wird. Zu Songs von Janis Und sogar der Vietnamkrieg findet ein vorzeitiges Ende:
Joplin und den Rolling Stones brettern elegante Sportwagen Weil der Mond oberste Priorität hat, lässt Präsident Nixon
durch die amerikanische Provinz. In hölzernen TV-Kästen seinen Außenminister Henry Kissinger gegen Ende des Jahres
flimmern Schwarz-Weiß-Bilder von demonstrierenden Hip- 1969 verkünden, man sei kurz vor dem Abschluss erfolgrei-
pies. Rotbackige Kinder spielen mit Blechflugzeugen und cher Friedensgespräche mit Nordvietnam.
stürmen ihren Eltern entgegen, wenn diese vom Tagwerk Mitunter wirkt »For All Mankind«, als wollte die Serie etliche
heimkehren. Nach dem Vorbild des Serienhits »Mad Man« Fehler der jüngeren US-amerikanischen Geschichte ungesche-
huldigt »For All Mankind« einer untergegangenen Welt, die hen machen. So dürfen die Chefs der Nasa nicht nur ihre Frau-
so grandios durchgestylt nie existiert hat. enfeindlichkeit, sondern auch ihren lang geübten Rassismus kor-
»Das hier ist kein Ort für Gefühle«, lässt der Serienerfinder rigieren, indem sie hier schon in den Sechzigern eine afroame-
Ronald D. Moore einmal einen seiner stramm soldati- rikanische Astronautin ins Trainingsprogramm aufnehmen.
schen Weltraumforscher sagen, und natürlich will »For All Und, anders als in der Realität, bekennt sich die Nasa zur
Mankind« das Gegenteil beweisen. Die Schauspielerin Nazivergangenheit ihres Mitarbeiters, des deutschen Welt-
Sarah Jones spielt eine ehemalige Pilotin, die jetzt mit raumpioniers Wernher von Braun: Eine ganze Folge lang geht
einem Astronauten (Michael Dorman) verheiratet ist, es um seine Arbeit an Hitlers V2-Raketen und den von ihm
grimmig seine Seitensprünge erduldet und zwei Mus- mitverantworteten tausendfachen Tod von Zwangsarbeitern.
terkinder großzieht – bis sie selbst als Astronautin rekru- Braun muss vor dem Kongress in Washington aussagen, und
tiert wird. Am schlimmsten angefeindet wird sie dafür Präsident Nixon befiehlt: »Ich will, dass dieser deutsche Mist-
nicht von ihrem Gatten, sondern von einer stolzen Haus- kerl verschwindet.« Wolfgang Höbel

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 139


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Marie Laforêt, 80 Geschlechter« nannte.
Die französischstämmige Geschlechtsidentität, aber
Sängerin und Schauspiele- auch Perversionen bei
rin hatte 1973 mit dem Song Männern und Frauen sowie
»Viens, viens« einen ihrer der Wandel von Sexualität
größten Hits. Das Lied über interessierten Becker ihr
ein Mädchen, das seinen Forscherinnenleben lang.
Vater anfleht, zur Familie Als im Jahr 2010 im Zusam-
zurückzukehren, hätte menhang mit dem Miss-
leicht rührselig wirken kön- brauchsskandal an der
nen. Marie Laforêt jedoch, Odenwaldschule eine
kühl und zugleich emotio- öffentliche Debatte um den
nal, machte daraus eine gro- Umgang mit Pädosexualität
ße Ballade, die zu Herzen geführt wurde, leistete
ging. Auch in ihren Kinorol- Becker kritische Beiträge.
len wirkte sie oft distan- Sie wünschte sich weniger

ISOLDE OHLBAUM / LAIF


ziert, manchmal fast ent- »Enthüllungspathos und
rückt. Schon in ihrem Kino- Tunnelblick«, mehr Kon-
debüt »Nur die Sonne war zentration auf Tendenzen
Zeuge« (1960), im Alter wie die Sexualisierung von
von 20 Jahren, bot sie auf Kindern, um sexuellen
diese Weise den männlichen Missbrauch zu verhindern,
Ernst Augustin, 92 Stars Alain Delon und Mau- sagte sie in einem Interview.
Er wäre ja fast wirklich berühmt geworden, damals, 1966, rice Ronet mühelos Paroli. Becker arbeitete unter
bei der Tagung der Gruppe 47 in Princeton. Alle lobten sei- Volkmar Sigusch am Insti-
nen Vortrag, der deutsche Schriftsteller war umschwärmt, tut für Sexualwissenschaft
die Karriere konnte jetzt wirklich losgehen. Doch dann der Universität Frankfurt.
kam Peter Handke, beschimpfte alle – und Ernst Augustin Als der Doyen der deut-
war vergessen. Darunter zu leiden fiel ihm gar nicht ein. Er schen Sexualforschung
dachte sich lieber neue Welten aus. Im schlesischen Hirsch- 2006 emeritierte, wurde
berg geboren, studierte Augustin nach dem Krieg in Ost- das Institut geschlossen,
Berlin Medizin, arbeitete eine Weile in einem Wüstenkran- Becker leitete die sexual-
kenhaus in Afghanistan, reiste durch Indien, lebte einige medizinische Ambulanz der
Zeit in Costa Rica und ließ sich schließlich in München Uniklinik allein weiter. Dort

MONDADORI / AKG-IMAGES
nieder. 1962 debütierte er mit dem Fantasieroman »Der fanden zum Beispiel Men-
Kopf«, in dem sein Protagonist Türmann sich Helden schen Hilfe, die ihr biologi-
erträumt. Mit 80 Jahren hat sich der Salsatänzer Augustin sches Geschlecht als falsch
in seinem Keller eine Disco eingerichtet. Bei einer Hirnope- empfanden und eine Opera-
ration büßte er seine Sehkraft ein. Und rächte sich dafür tion in Erwägung zogen.
am Operateur in einem Roman. Augustin war der seltene Dabei stand Becker der
Fall eines deutschen magischen Realisten. Auf den Tod sei Idee, das Geschlecht sei ein
er nicht sehr neugierig, hat er gesagt, »obwohl es wahr- Ein Vergnügen, wie lässig rein soziales Konstrukt,
scheinlich ein unglaubliches Erlebnis ist«. Ernst Augustin und lustig sie in »Der Wind- ablehnend gegenüber, Dog-
starb am 3. November in München. VW hund« (1979) eine reiche matismus war ihr fremd:
Romanautorin spielte und »Ich will, dass wir verschie-
einen coolen Kommissar den sind, in tausend Eigen-
Helmut Richter, 85 (Jean-Paul Belmondo) im schaften verschieden. Ich
Es war fast schon tragisch, dass ein einziges Gedicht sein Nu dazu brachte, ihr bei will nur keine Hierarchie.«
lebenslanges Schaffen so deutlich überstrahlt hat. Helmut einer Autopanne den Reifen Sophinette Becker starb am
Richter ist der Autor des Textes »Über sieben Brücken zu wechseln. Sie wirkte in 24. Oktober in Frankfurt
mußt du gehn«, den die DDR-Band Karat vertonte und der TV-Serien mit, war ein am Main. KS
zu einem Hit wurde, gecovert auch von Peter Maffay und gefeierter Theaterstar und
José Carreras. Die Verse waren ein Ausdruck dessen, was sang mit ihrer rauchig-
Richters Leben ausmachte: Nach Kriegsende musste er als sanften Stimme Coverver-
Elfjähriger mit seiner Mutter aus dem damaligen Sudeten- sionen von Hits wie »The
land flüchten; sie strandeten in Sachsen-Anhalt; Richter ver- Sound of Silence«. Marie
diente Geld als Landarbeiter und machte eine Lehre als Laforêt starb am 2. Novem-
Maschinenschlosser, bevor er sein Abitur nachholte und in ber im schweizerischen
Leipzig Physik studierte. Eine Zeit lang arbeitete er als Genolier. LOB
Prüfungsingenieur, doch Anfang der Sechzigerjahre ent-
deckte er die Literatur für sich, studierte am renommierten Sophinette Becker, 68
Johannes-R.-Becher-Institut. Hier lehrte Richter später, und Tabus schreckten sie nicht.
BERND HARTUNG

nach der Wende leitete er es für drei Jahre, damals hieß Die Psychoanalytikerin
es schon Deutsches Literaturinstitut Leipzig. Er schrieb Pro- Sophinette Becker promo-
sa, Reportagen, Hörspiele, doch vor allem lag ihm an der vierte mit einer Arbeit, die
Lyrik. Helmut Richter starb am 3. November in Leipzig. CLV sie »Die Unordnung der

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Personalien

Doppelte Königin
G Im Film »The Favourite« stellte sie Queen
Anne dar, die Anfang des 18. Jahrhunderts
regierte – und wurde dafür mit einem Oscar
ausgezeichnet. In der vergangenen Woche
kam die britische Schauspielerin Olivia
Colman, 45, dem Königshaus auch im ech-
ten Leben sehr nah: Sie nahm für ihre Ver-
dienste um die Schauspielerei einen Orden
entgegen, den Commander of the Most
Excellent Order of the British Empire. Prin-
zessin Anne, einzige Tochter von Königin
Elizabeth II., überreichte ihn. Von Eliza-
beth, so berichtete es Colman der BBC, sei
sie während der Dreharbeiten zur dritten
Staffel der Netflix-Serie »The Crown« gera-
dezu besessen gewesen. Die Schauspielerin
spielt darin die Queen in den Jahren 1964
bis 1977. Sie löst ihre Kollegin Claire Foy ab,
die in den ersten beiden Staffeln die Rolle
der jungen Königin innehatte. Die beiden
Schauspielerinnen sehen sich nicht sehr ähn-
lich. Foy hat blaue Augen wie die Queen,
Colman braune. Anfangs sollte Colman des-
halb blaue Kontaktlinsen tragen, doch sie
wirkte damit sehr maskenhaft. Das ist nicht

MATT HOLYOAK / BAFTA / CAMERA PRESS / LAIF


die einzige Abweichung von der Realität;
bei dem Ganzen handelt es sich schließlich
nicht um eine Dokumentation, sondern
um eine fiktive Version des royalen Lebens.
Sie sei trotzdem überzeugt, dass die Serie
die königliche Familie mit Respekt behandle,
sagte Colman der »Times«. Aus Palastkreisen
heißt es, einige Royals sähen »The Crown«
ganz gern. Ob die echte Queen die Serie
anschaut, ist allerdings nicht bezeugt. KS

Schlummern mit pro Nacht mieten können. Als


Dekor dient auch eine Aus-
Familie immer schon an schö-
nen Orten zusammenbringen
guter Regie gabe des Romans »Der Pate« wollen. Freunde kamen dazu,
von Mario Puzo, mit persön- und dann wollten alle immer
SANDRINETHESILLAT / PANORAMIC / IMAGO IMAGES

G Der amerikanische Regis- lichen Notizen Coppolas. Im länger bleiben. Er musste


seur Francis Ford Coppola, Einrichten von Hotels hat der Personal einstellen, um alle
80, hat in Paris eine Suite im Regisseur von »Apocalypse zu versorgen. »Irgendwann
eleganten Hotel Lutetia einge- Now« Erfahrung: In Belize, muss man die Leute dafür
richtet. Ein Foto seiner Toch- Guatemala, Argentinien und zahlen lassen, sonst geht man
ter Sofia schmückt das Schlaf- Italien kann man sich schon pleite.« Die persönlichen
zimmer. Dazu ließ er mehrere länger à la Coppola betten. Erinnerungsstücke hätte er
Skulpturen und Filmkameras Die Sache habe sich einfach bei sich zu Hause in Kalifor-
aus seiner privaten Sammlung so ergeben, erzählte er nien ohnehin nicht unter-
in dem Penthouse aufstellen, der französischen Zeitschrift gebracht. »Sie wären in einem
das Gäste für rund 7000 Euro »Paris Match«. Er habe seine Lager gelandet.« PE

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Kavanaugh später trotzdem


Lohn des Muts bestätigt. Vor wenigen
G Mit ihrer Aussage vor Tagen nahm Blasey Ford den
dem US-Senat verursachte »Empowerment Award«
Christine Blasey Ford, 53, einer Organisation entgegen,
im September 2018 einen die sich für die Förderung
riesigen Medienrummel, seit- von Frauen einsetzt. Sie wis-
her mied sie die Öffentlich- se, dass nicht jede Frau so
keit. Sie beschuldigte damals privilegiert wie sie sei, sagte

KARSTEN THIELKER / DER SPIEGEL


Brett Kavanaugh, Donald Blasey Ford. Ihre finanziellen
Trumps Kandidaten für die Mittel und die Hilfe von
Neubesetzung eines Richter- Freunden hätten es ihr ermög-
postens am Supreme Court, licht, sich mit ihrer Familie
der versuchten Vergewal- zu verstecken, als sie wegen
tigung während ihrer Teen- ihrer Aussage Morddrohun-
agerzeit. Vom Senat wurde gen erhielt. Crowdfunding-
Kampagnen hatten mehr als
700 000 Dollar für Sicher- Die Augenzeugin
heitsmaßnahmen mobilisiert.
Für ihren Mut, gegen jene
aufzustehen, die sie zum
Schweigen bringen wollten,
»Wir brauchen Regeln«
und ein Thema anzuspre- Zoe Friedmann, 20, studiert Medizin in Berlin. Sie
chen, das zu oft ignoriert wer- stört sich am Einfluss der Pharmaindustrie, die
de, setzte das Magazin auch an den Unis präsent ist. Von den medizinischen
»Time« die Hochschullehre-
Fakultäten fordert sie mehr Transparenz.
rin für Psychologie 2019 auf
seine Liste der »100 einfluss-
reichsten Menschen«. RED G »In meiner Fakultät liegen oft Kugelschreiber der Pharma-
firmen herum. Das ist aber noch harmlos: Zum Teil werden
auch Kosten für Lehrbücher und Kongresse übernommen.
Häufig läuft die versuchte Einflussnahme jedoch subtil ab.
den können, wenn es in Einiges an Anschauungsmaterial im Studium kommt
Zurück in den der DDR ausreichende von Unternehmen. Erst neulich hatte ein Dozent in einem
Osten Schutz- oder Notfallmaß- Seminar Ampullen von einer bestimmten Firma dabei und
nahmen gegeben hätte. benutzte statt des Wirkstoffnamens nur den Markennamen
G Die Kunsthalle Rostock In Westdeutschland studier- des Medikaments. Ich weiß dann als Studierende nicht,
war der einzige Museums- te sie Kunst, wurde an ob es die Ampullen nur von diesem Unternehmen gibt oder
neubau der DDR. Die Male- der Düsseldorfer Akademie ob der Dozent mit der Firma zusammenarbeitet.
rin Sabine Moritz, 50, eröff- Meisterschülerin bei Ger- In der Medizin gibt es einen generellen Interessenskon-
nete dort am vergangenen hard Richter, der später ihr flikt zwischen denjenigen, die heilen und helfen wollen,
Wochenende eine Ausstel- Ehemann wurde. Moritz und den Firmen, die Geld machen müssen. Bei öffentlichen
lung, die »wie eine Zeitreise« erklärt, der Ort und der Vorträgen oder Publikationen ist es üblich, dass Professoren
sei. Dem Publikum mutet sie Umstand, dass sich der Mau- darauf hinweisen, mit welchen Unternehmen sie kooperie-
mit ihren Gemälden einiges erfall zum 30. Mal jährt, ren. In der Lehre an den Unis fehlen solche Hinweise jedoch.
an deutscher Geschichte zu: hätten die Auswahl ihrer Bil- Das ist ein Problem. Viele Professoren haben Beraterverträ-
Es wird ihre Serie »Ster- der für Rostock beeinflusst, ge mit Unternehmen. Als Studierende kann ich nicht immer
bend« gezeigt, die vom Tod noch immer sei das Verhält- einschätzen, wer hinter bestimmten Aussagen steckt: Sind
eines DDR-Flüchtlings im nis zwischen Ost und West es Wissenschaftler? Oder Firmen?
Jahr 1962 an der innerdeut- schwierig, von Missverständ- Wir brauchen dafür Regeln an den Unis. Ich engagiere
schen Grenze handelt. Selt- nissen geprägt. Für sie ist mich seit zwei Jahren im Netzwerk »Universities Allied for
samerweise, sagt Moritz, es die erste größere Schau Essential Medicines«. Zusammen mit der Bundesvertretung
habe sie bei der Eröffnung im Osten des Landes. UK der Medizinstudierenden haben wir alle 38 medizinischen
keiner der Besucher auf die- Fakultäten in Deutschland angeschrieben und befragt – nur
se Gemälde angesprochen, 16 haben uns geantwortet. Daran sieht man, dass das Thema
»es war überraschend ent- nicht weit oben auf der Agenda der Universitäten steht.
spannt«. Die Künstlerin war Wir konnten nur zwei medizinische Fakultäten identifizie-
noch Schülerin, als ihre ren, an denen es Richtlinien für einen Umgang mit der
Mutter mit ihr und den bei- Pharmaindustrie gibt: die TU Dresden und die Charité in
den Brüdern 1985 aus Ost- Berlin, an der ich studiere. Das ist zu wenig.
deutschland ausreiste. Der Wir wollen außerdem, dass das Thema im Studium behan-
Vater, ein Chemiker, war delt wird. Zum Beispiel könnte es um die Marketingstrate-
DANNY GOHLKE / DPA

viele Jahre zuvor bei einer gien der Pharmaunternehmen gehen und wie man damit als
Explosion im Labor umge- Arzt professionell umgeht. Wir bekommen dafür kein Rüst-
kommen, ein Tod, der viel- zeug an die Hand. Das sollte eigentlich verpflichtend sein.«
leicht hätte verhindert wer- Aufgezeichnet von Kathrin Fromm

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»Solange man noch öffentlich die Meinung vertreten darf, dass


man seine Meinung nicht mehr sagen darf, kann es um das Recht
auf freie Meinungsäußerung gar so schlecht nicht bestellt sein.«
Eckhardt Kiwitt, Freising (Bayern)

Mitschuld an den Zuständen heit. Ich liebe den harten politischen Dis- schen Bundestages, dessen Vorsitzender
kurs, aber persönliche Beleidigungen oder ich zu diesem Zeitpunkt war, Iran. Teil der
Nr. 45/2019 Meinungsfreiheit – Über
sogar Drohungen stellen ein absolutes No- Delegation war auch Claudia Roth von
echte und gefühlte Grenzen des Sagbaren /
SPIEGEL-Gespräch mit Springer-Chef Go dar. Bündnis 90/Die Grünen.
Mathias Döpfner über Political Correctness Rainer Springer, Neumarkt (Bayern) In Iran trafen wir uns mit
in Medien und Politik Oppositionellen und be-
Die Analyse Mathias Döpfners in seinem suchten die jüdische Ge-

SVEN HOPPE / DPA


Sie schreiben, Bernd Lucke müsste der An- SPIEGEL-Gespräch greift zu kurz. Denn meinde von Teheran,
tifa und den Studenten für seine politische der Springer-Chef übersieht in seiner Ar- der wir ein Geschenk
Wiedergeburt dankbar sein. Diese Häme gumentation, dass es nicht nur eine linke, von der Münchner Israe-
ist niveaulos. Herr Lucke soll also dafür sondern auch eine rechte Political Correct- litischen Gemeinde über-
dankbar sein, dass er als »Nazischwein« ness gibt, bei der man aus ideologischen Gauweiler brachten. Dieses hatte
beschimpft, an seiner Berufsausübung als Gründen unliebsame Sachverhalte unter mir die damalige Präsi-
Professor gehindert wurde und unter Poli- den Teppich kehren möchte, die sich ins- dentin des Zentralrats der Juden in
zeischutz die Universität verlassen musste. besondere bei der AfD an der bisherigen Deutschland, Charlotte Knobloch, mitge-
Er ist demnach nicht nur selbst schuld, son- deutschen Erinnerungskultur festmachen. geben. Natürlich trafen wir uns während
dern soll den Angreifern noch dankbar Deshalb waren Aussagen wie »Mahnmal der Reise mit iranischen Parlamentariern
sein für das ungewollte Medienecho. Dann der Schande« für das Holocaust-Denkmal und dem Präsidenten des iranischen Par-
werden Sie sicherlich auch anderen Politi- in Berlin oder »Vogelschiss« für die Bedeu- laments, auf deren Einladung wir dort wa-
kern und Künstlern, die verbal attackiert tung des Nationalsozialismus für die deut- ren. Wir sprachen über die Angebote der
und beleidigt werden, nachrufen, sie soll- sche Geschichte alles andere als Zufall. deutschen Kulturpolitik, die Sprachen-
ten doch dankbar sein für die kostenlose Deshalb erfordert gerade die Bekämpfung dienste und die universitären Austausch-
PR! Aber Sie liefern damit ein passendes des Antisemitismus keine veränderte De- programme. Vor allem aber nutzten wir
Beispiel für Ihre Titelgeschichte – Grenz- battenkultur, sondern einen noch deutli- – allen voran Claudia Roth – die persön-
öffnungen gibt es auch durch Journalisten, cheren Widerspruch! lichen Gespräche auf allen Ebenen, um
die Opfer zu Tätern machen. Rasmus Helt, Hamburg uns für die Freilassung der kurz zuvor im
Hubert Düring, Münster nordiranischen Täbris inhaftierten Sprin-
ger-Journalisten Marcus Hellwig und Jens
Ihr Titel zum Allerseelenfest über Mei- Koch einzusetzen. Kurz darauf wurde den
nungsfreiheit ist mein Predigtthema gewor- beiden Journalisten der Kontakt zur deut-
den. Das Sonntagsevangelium erzählt am schen Botschaft ermöglicht – ein erster
3. November vom sozial geächteten, un- Schritt zur Freilassung im Februar des da-
MARKUS SCHOLZ / DPA

geliebten kleinen Zöllner und Betrüger Za- rauffolgenden Jahres. Der Springer-Verlag,
chäus, bei dem Jesus zu Hause einkehrt dessen Vorsitzender Herr Döpfner bereits
und durch seine skandalöse persönliche damals war, blieb dabei stets im Austausch
Zuwendung die Umkehr des Sünders be- mit uns. Damals bezeichnete er Frau Roths
wirkt. Jesus hat niemandem Redeverbot Gespräche mit dem iranischen Parlaments-
erteilt, vielmehr aß und trank er mit den Ökonom Lucke an der Uni Hamburg präsidenten und der Regierung nicht als
Verfemten, herzte und küsste sie; das erst grundlos.
führte zu einem Umdenken beim »politi- Anlässlich der Aussagen von Mathias Peter Gauweiler, ehem. MdB (CSU) und Bayerischer
schen Gegner«. In welchem Parteipro- Döpfner, die Vizepräsidentin des Deut- Staatsminister a. D., München
gramm finden wir diesen Ansatz der Mei- schen Bundestages Claudia Roth habe kei-
nungsfreiheit heute wieder? nen Grund, sich mit Vertretern der irani- Herr Döpfner sagt, er »versuche zualler-
Pater Jose Manthara, Hamburg schen Regierung zu treffen, und relativiere erst selbstkritisch zu sein«. Dabei verbrei-
dadurch den Antisemitismus, möchte ich tete er selbst in seinem Beitrag »Nie wie-
Bravo für diesen absolut ausgewogenen an Folgendes erinnern: Im Oktober 2010 der ›nie wieder‹!« in der »Welt« nicht nur
Artikel. Das ist der SPIEGEL, wie ich ihn besuchte der Unterausschuss für Auswär- noch einmal die trotz intensiver Ermittlun-
kenne: als Kämpfer für die Meinungsfrei- tige Kultur- und Bildungspolitik des Deut- gen nicht bestätigte ehrverletzende Be-
hauptung, Bakery Jatta (HSV) sei eine an-
dere (zwei Jahre ältere) Person, sondern
Aus der SPIEGEL-Redaktion brachte diese Unwahrheit sogar noch in
Das Wissen, unendliche Weiten. Wer den Mut hat, sich darin zu verlieren, Verbindung mit dem Attentat von Halle.
wird mit amüsanten und absurden Entdeckungen belohnt. Danny Krin- Ich hätte erwartet, dass Sie ihn bei einem
giel hat sich getraut und berichtet von den erstaunlichsten Zusammen- Interview zum Thema Meinungsklima
hängen. Sein SPIEGEL-ONLINE-Buch »Wie Hitler das Skateboard erfand. auch darauf ansprechen. Wobei meines Er-
In sieben Schritten durch die Weltgeschichte« erscheint in Kooperation achtens Herr Döpfner nun wirklich nicht
mit Kiepenheuer & Witsch. Es hat 320 Seiten und kostet 11 Euro. der richtige Gesprächspartner für ein ziel-

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Briefe

führendes Interview dazu ist. Er und die eigenen Handeln messen lassen. Insoweit talgisch alte Klischees bedient und damit
Medien seines Hauses tragen eine wesent- verlieren beide ihre Glaubwürdigkeit, täglich das Kontrastprogramm für viele
liche Mitschuld an den beklagten Zustän- wenn man liest, dass sie auf ihren Reisen Menschen liefert, die sich heute als Deut-
den, reagieren aber mehr als dünnhäutig zu den Regionalkonferenzen, also inner- sche zweiter Klasse und Wendeverlierer
auf jede berechtigte Kritik an ihnen. halb Deutschlands, nicht nur Mietfahrzeu- begreifen. Die Sendung »Steimles Welt«
Wilfried Meister, Köln ge, sondern sogar das Flugzeug nutzten. trägt den richtigen Titel. Es ist eben Steim-
Auf Letzteres verzichte ich inzwischen les Welt! Dass beim MDR die häufig selt-
Auch und gerade mit Fliege und nutze selbst für berufliche auswärtige samen Ansichten des Namensgebers der
Termine die Bahn. Zeit, in der sich übri- Sendung nun doch langsam zum Kabel-
Nr. 44/2019 Karl Lauterbach kämpfte mit
gens auch gut arbeiten lässt. schwelbrand in der Anstalt führen, ist kein
linken Positionen dafür, Parteivorsitzender
zu werden – eine Nahaufnahme Anne Oster, Hildesheim Wunder. Meiner Meinung nach zu spät:
Steimle ist eine Ikone in Sachsen und sein
Danke für diesen Bericht über Ihre Reise Ich schätze den Experten und Politiker Rausschmiss wird bei seinen Anhängern
mit Herrn Professor Lauterbach zu den Karl Lauterbach sehr, auch und gerade mit nur bestätigen, dass man (Steimles) Wahr-
Regionalkonferenzen. Ich habe mich beim seiner Fliege. Nicht jeder seiner Thesen heiten nicht mehr offen aussprechen darf.
Lesen köstlich amüsiert. Situationskomik kann ich zustimmen. Aber seine wissen- So schafft man Märtyrer!
im Reinformat – ich musste mehrmals laut- schaftlich fundierte Argumentation, ge- Jochen Polster, Elsterwerda (Brandenburg)
hals lachen – herrlich! paart mit rhetorischer Brillanz, finde ich
Martha Schmidt-Polex, Eggenfelden (Bayern) immer sehr gelungen. Was sich da aber so Die Überschrift trifft das Gebaren einiger
im Hintergrund der Regionalkonferenzen ARD-Anstalten. Es ist schon als grenzwer-
Ob Lauterbach Salz isst oder eine Holz- bei der SPD abspielt, erschüttert mich sehr. tig zu betrachten, dass ausgerechnet der
fliege trägt, mein Gott, das sagt nicht viel Wer soll diese SPD noch wählen? Westdeutsche Rundfunk (WDR) dem Mit-
über seine politischen Fähigkeiten. Aber Wolfgang Meßmer, Garbsen (Nieders.) teldeutschen Rundfunk (MDR) Rechtslas-
wenn er behauptet, er habe alle Studien tigkeit vorwirft. Insbesondere der WDR
Nur 53,3 Prozent der SPD-Mitglieder ha- gilt im Rheinland als links- beziehungswei-
ben sich am ersten Durchgang der Wahl se links-grün-lastig. Das geht so weit, dass
der neuen Vorsitzenden beteiligt. 46,7 Pro- er von vielen Bürgern unserer Region
zent der Genossinnen und Genossen ist scherzhaft als »Rotfunk« bezeichnet wird.
LISA WASSMANN / DER SPIEGEL

es demnach schnurzegal, wer die deutsche Hermann Abts, Elsdorf (NRW)


Sozialdemokratie zu neuen Ufern führt.
Umso höher ist es zu bewerten, dass sich »Grenzwertig« ist tatsächlich auch dieser
der von vornherein auf verlorenem Posten westdeutsch geprägte Artikel über den
kämpfende Karl Lauterbach und seine MDR. Wie konnte nach 1990 nur zugelas-
Partnerin Nina Scheer diese Ochsentour sen werden, dass es in der nun größer ge-
angetan und noch dazu vom SPIEGEL ha- wordenen Bundesrepublik auch nur eine
Kandidaten Scheer, Lauterbach ben begleiten lassen. Falls nach der Stich- einzige ostdeutsche Rundfunkanstalt gibt,
wahl Olaf Scholz und Klara Geywitz auf
zum Klimawandel gelesen (es gibt Tausen- der Siegertreppe stehen sollten, dann ist
de), oder es sei kein Problem, die SPD wie- das genau das Duo, das die Mehrheit der
der zur Kanzlerschaft zu führen, ist völlig SPD-Mitglieder als Vorsitzende verdient.
klar: Der Mann ist nicht geeignet. Ihm Uwe Tünnermann, Lemgo (NRW)
fehlt jeglicher Realitätssinn. Das hat ihm
der Beitrag von Markus Feldenkirchen So schafft man Märtyrer!
zweifelsfrei attestiert.
Nr. 44/2019 Der MDR kämpft gegen den
Dr. Joseph Kuhn, Dachau (Bayern)
Vorwurf, zu nett zu Rechten zu sein

MDR
Ich bin froh, dass ich Karl Lauterbach und Eine derartige Analyse zur politischen Ver-
Nina Scheer nicht für den Parteivorsitz ge- ortung des MDR war überfällig. Auch Kabarettist Steimle
wählt habe, obgleich ich an der fachlichen wenn die Verantwortlichen der Sendean-
Kompetenz Herrn Lauterbachs keine stalt es nicht wahrhaben wollen: Sie haben wo doch ansonsten alles, was einst ost-
Zweifel habe (die von Frau Scheer vermag mit der inhaltlichen Ausrichtung ihres Pro- deutsch (DDR) war, durch Westdeutsche
ich nicht zu beurteilen). Wer aber, wie er gramms einen leider fulminanten Beitrag überflutet wurde, um den Ossis beizubrin-
und seine Mitstreiterin, als eine ihrer we- zur Spaltung der ostdeutschen Gesell- gen, was eine westdeutsche Harke ist? Ge-
sentlichen Forderungen die nach einer »ra- schaft geleistet. Es gibt keine andere Sen- nau das ist der eigentliche Hintergrund für
dikalen Klimapolitik« stellt, muss sich am deanstalt in der ARD, die derart DDR-nos- das Polittheater, das von nord-, west- und
süddeutschen Sendeanstalten von Anfang
an gegen den MDR veranstaltet wurde.
Klarstellung Wenn man das zugrundelegt, werden wir
zu Heft 44/2019, Seite 68: »Gericht kippt Entlastung« wohl in 100 Jahren noch nicht die deutsche
Das Landgericht Frankfurt hat die Entlastung mehrerer Vorstände der Deutschen Bank Einheit vollendet haben.
sowie des Aufsichtsratsvorsitzenden Paul Achleitner durch die Aktionäre auf der Haupt- Dr. Dieter Weber, Oy-Mittelberg (Bayern)
versammlung 2019 für nichtig erklärt. Der Konzern habe unzureichend über seine Ge-
schäftsbeziehung zu dem Investor Cerberus, der Berater und zugleich Aktionär der Bank
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
ist, informiert. Wir hatten mitgeteilt, dass die Entscheidung zunächst keine konkreten (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
Folgen habe, die betroffenen Manager könnten vorerst in ihren Ämtern bleiben. Hierzu sowie digital zu veröffentlichen und unter
stellen wir klar: Dieses Verfahren hat keinen Einfluss auf den Verbleib der Manager in www.spiegel.de zu archivieren.
ihren Ämtern.

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Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der »Frankfurter Allgemeinen«: Zitate


»Ein wichtiger Sieg gelang Borussia Dort-
mund. Der BVB bezwang den Bundes- Die »Bild am Sonntag« über das
liga-Rivalen Borussia Dortmund 2:1.« SPIEGEL-Gespräch »Olaf, ich
Fit für die würd’ dir gern was sagen« mit dem
ehemaligen SPD-Vorsitzenden

digitale Martin Schulz (Nr. 45/2019):

Mit dieser Allianz hat im politischen Berlin

Aus dem »Dingolfinger Anzeiger« Zukunft niemand gerechnet! Kurz vor der Stich-
wahl um den SPD-Vorsitz bekommt Vize-
kanzler Olaf Scholz (61) Unterstützung
mit dem neuen von seinem einstigen Widersacher, Ex-
Aus dem »Tagesspiegel«: »Dabei gebe es E-Learning-Kurs Parteichef Martin Schulz (63). Er komme
nicht nur die Variante eines von »zu dem Schluss, dass ich bei allen Diffe-
Amtsinhaber Bodo Ramelow geführten Psychologie digital renzen Olaf Scholz mehr vertraue als den
rot-tot-grünen Bündnisses.« anderen Bewerbern«, sagte Schulz dem
SPIEGEL. »Und ich kann sagen, leicht fällt
Jetzt mir dieser Schritt nicht.«
2 Wochen
kostenlos Die »Frankfurter Allgemeine« zu den
SPIEGEL-Berichten »Eleganz und Härte«
testen (Nr. 44/2019) und »Sie lernt jetzt Deutsch«
Aus der »Hessischen / Niedersächsischen über Christine Lagarde, die neue
Allgemeinen« Präsidentin der Europäischen Zentralbank:

Schon am Morgen hatte Lagarde beim


Aus dem Magazin »Lemgo« der »Lippi- Fototermin an ihrem neuen Amtssitz im
schen Landes-Zeitung«: »Fortan bewegt Frankfurter Ostend die Journalisten auf
und prägt Räker mit den Zähnen seiner Deutsch mit »Guten Morgen« begrüßt.
Patienten auch gleichzeitig ein Stückweit Zuvor hatte sie in der Zeitschrift DER
die Welt kieferorthopädischer Arbeit.« SPIEGEL angekündigt, vom ersten Arbeits-
tag in Frankfurt an Deutsch lernen zu wol-
len. Sie hat bereits ausgeführt, eine ver-
ständlichere Sprache zur besseren Vermitt-
lung der Geldpolitik auch in Deutschland
Von Berliner-zeitung.de wählen zu wollen.

Der »Guardian« über das SPIEGEL-


Von Bild.de: »Und der ›Nowitzki Way‹ Gespräch mit Jean-Claude Juncker
ist nur der Anfang. Mavericks-Besitzer »Ich habe Putin geküsst – für Europa war
Mark Cuban (61) hat bereits das kein Nachteil« (Nr. 45/2019):
versprochen, dass Dirk Nowitzki auch
noch mit einer Statur geehrt wird.« In einem Abschiedsinterview mit dem
Die SPIEGEL AKADEMIE SPIEGEL äußerte Juncker sein Bedauern,
bietet: dass er den Behauptungen der Leave-
Kampagne (beim Wahlkampf um das
+ ein vielfältiges Kursangebot Brexit-Referendum) nicht widersprochen
+ individuelles, flexibles E-Learning habe … Juncker, ein gewiefter Politprofi,
der vier Jahrzehnte in der Politik war, ver-
+ persönliche und fachliche riet auch, wie er mit Donald Trump um-
Betreuung
Schild am Büfett in einem Hotel gegangen ist. Einer seiner »kleinen Tricks«
auf Yucatán (Mexiko) + Praxis-Tutorials mit sei gewesen, nur US-Handelsstatistiken zu
SPIEGEL-Experten nutzen, die der Präsident nicht in Zweifel
+ Abschlusszertifikate auf ziehen konnte.
Das »Reisejournal« der »Fuldaer Hochschulniveau
Zeitung« über die italienische Insel Elba: Die »Süddeutsche Zeitung« im
»Durch enge, mit Haarnadeln »Streiflicht« zum selben Gespräch:
gespickte Zufahrtssträßchen erreicht Alle Kurse und Infos unter
man die Refugien am Meer.« www.spiegel-akademie.de Nun hat Juncker dem SPIEGEL noch er-
zählt, dass er sogar Putin geküsst habe, ei-
nen Mann, der schon bei weit geringeren
Vergehen sehr ungehalten reagieren kann.
Zudem bekannte Juncker, er habe dies nur
zum Vorteil Europas getan; bekanntlich
ordnet er der Pflicht alle menschlichen
Aus der »Neuen Westfälischen« Empfindungen unter.

146 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019


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Der Multivan 6.1


Ikone, neuester Stand

Jetzt noch vielseitiger: Sein flexibles Raumangebot und der im Multivan Highline
serienmäßige Multifunktionstisch machen den Multivan 6.1 zu einem idealen Begleiter –
nicht nur für Ihren Berufsalltag. Dank seinen neuen Vernetzungsmöglichkeiten und
dem modernen Infotainment ist er Ihr Einstieg in die digitale Mobilität.

Abbildung zeigt Sonderausstattung gegen Mehrpreis. vwn.de/multivan6.1


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A110S
Der intensivste Sportwagen von Alpine

Alpine A110S, Benzin, 215 kW: Gesamtverbrauch (l/100 km): innerorts: 8,8; außerorts: 5,2;
kombiniert: 6,5; CO2-Emissionen kombiniert: 146 g/km. Energieeffizienzklasse: E. Alpine:
Gesamtverbrauch kombiniert (l/100 km): 6,5–6,4; CO2-Emissionen kombiniert: 146–144 g/km.
Energieeffizienzklasse: E–E (Werte nach Messverfahren VO [EG] 715/2007). Abb. zeigt A110S
mit Sonderausstattung. Die deutschen Alpine Center finden Sie auf: www.alpinecars.com/de

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