DIE ZEIT
Das neue Heft.
Jetzt gratis testen!
www.zeit.de/leo
112342_ANZ_48x35_X4_ONP26 1
PREIS DEUTSCHLAND 6,20 €
21.12.22 14:54
WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R
Zwölf
Ideen für
eine bessere
Zukunft
Es geht um Gerechtigkeit und
Titelfoto: Amy Friend für DIE ZEIT (verwendetes Foto: Getty Images)
Liebe, um Natur und Demokratie –
außergewöhnliche Forscher aus
aller Welt machen überraschende
Vorschläge WISSEN
SILVESTER
Unser aller Staat
Die Ausschreitungen haben auch einen migrantischen Hintergrund –
doch nicht nur. Die Respektlosigkeit grassiert VON MARTIN MACHOWECZ
S W
ilvesternächte sind bang. Daran
hat sich dieses Land schon ge-
wöhnt, weshalb rund um den
Jahreswechsel die immer gleichen
Brauchen-wir-Debatten geführt
werden: Brauchen wir nicht drin-
gend Böllerverbote, härtere Strafen, Kameras
in Feuerwehrautos?
Solche kleinteiligen Fragen haben allerdings
zur Folge, dass die Größe des Problems aus dem
Blick gerät. Denn was die Silvesternacht 22/23
vor allem in Berlin offenbart hat, geht über
Böller-Völlerei weit hinaus: In der Hauptstadt
wurde mit Raketen und Schreckschusspistolen
auf den Staat gezielt, und zwar im Wortsinn,
nämlich auf seine Repräsentanten aus Feuerwehr
und Polizei. Zudem auf unbeteiligte Bürgerinnen
und Bürger, sogar auf Familien mit Kindern.
Wer in den Tagen danach mit Rettungskräf-
ten sprach, kann deren Schock verstehen. Da
wurde ein Einsatzwagen, besetzt mit freiwilligen
Feuerwehrleuten, an einer Barrikade so brutal
angegriffen, dass die Lebensretter um ihr Leben
fürchteten. Da wurde ein Bus abgefackelt, in ein
Polizeiauto geschossen. Über 1700 Einsätze listet
die Berliner Feuerwehr auf, 38 Übergriffe auf ihre
Leute, von denen 15 verletzt wurden. Die Zahl
der verletzten Polizisten ist noch höher.
Einige zeigen erschreckend unerschrocken,
was sie von diesem Staat halten – nichts
Es gibt kein Problem, das man lösen könnte,
ohne es auszusprechen: In Deutschland leben
einige Menschen, die jeden Respekt vor diesem
System verloren haben, falls sie ihn je hatten.
Und die das erschreckend unerschrocken zeigen.
Es ist schon gut, wenn in Berlin gerade fast nie-
mand verschweigt, dass es in erster Linie die Vier-
tel mit hohem Migrationsanteil waren, in denen
die schlimmsten Ausschreitungen stattfanden.
Neuköllns Integrationsbeauftragte Güner Balcı
machte es klar: »Dahinter steht ein simpler
Reflex: Die sind vom Staat, und wir sind gegen
die«, sagte sie dem Spiegel. »Wir haben diese Ten-
denz in allen Großstädten, stets in abgehängten
Milieus. Es gibt Subkulturen der Gescheiterten.«
Balcı warnte, zu Recht, auch davor, Aus-
schreitungen als bloßes Migrationsproblem zu
interpretieren. In Bautzen waren es vor zwei
Jahren Gegner der Corona-Maßnahmen, die
Polizisten an Silvester angriffen. In Leipzig sind
die linksextremistischen Silvesterausschreitun-
gen von Connewitz eine jährliche Zurschaustel-
lung der Staatsverachtung. In der Silvesternacht
2022/23 wurden auch in Görlitz Polizisten bru-
tal attackiert. Die Täter waren, wie man heute so
unschön sagt, Biodeutsche.
Aber beinahe immer ist Silvester der Aus-
bruch eines Gefühls: Zu viele finden diesen Staat
schwach und wollen das zeigen. Das ist längst in
Studien gemeißeltes Wissen. Die Friedrich-
Ebert-Stiftung etwa hat erhoben, dass 53,4 Pro-
zent der Deutschen unzufrieden mit dem Funk-
tionieren der Demokratie sind. Fragt man die
Deutschen, ob sie das Gefühl haben, Politiker
kümmerten sich um die Sorgen von »Menschen
wie mir«, sagen 73,5 Prozent Nein. Ein Drittel
misstraut der Justiz.
Oft werden diese Umfragen als Mahnung
gelesen, den Rechtspopulismus einzuhegen. Aber
der Respekt bröselt eben nicht nur, wo die AfD zu
Hause ist. Deshalb ist das, was in Berlin an Silves-
ter geschah, für viele Politiker verwirrend: Kon-
servative würden gerne Law and Order fordern,
aber Böllerverbote träfen nicht nur Neuköllner
Erlebnisjugendliche, sondern auch Bernauer
CDU-Publikum. Nicht wenige Grüne hätten
gerne weniger Böller in Bautzen, aber tun sich
schwer, deren Verbot ausgerechnet mit Gelin-
gensschwierigkeiten der Berliner Integrations-
politik zu begründen. Und die Linken verbieten
zwar ganz gerne, aber nicht dem kleinen Mann.
Nur führt kein Weg daran vorbei: Der Staat
darf sich Ausschreitungen nicht gefallen lassen,
die Justiz muss die Täter finden und deutlich
machen, dass Gesetze für niemanden verhandel-
bar sind. Das kann man in aller Härte einfor-
dern, ohne zugleich zu suggerieren, dass eine
Krawallnacht das Grundgesetz ins Wanken
bringt. Gelassene Entschlossenheit ist immer
noch die stärkste Reaktion.
Vor allem aber ist ein Rechtsstaat nie stärker
als seine Menschen. Er ist auf jene angewiesen,
die solche Zustände in ihren Städten und Vier-
teln nicht wollen. Er braucht Bürger, die die Pro-
bleme nicht nur vor, sondern auch hinter ihrer
Haustüre angehen. Die die Krawalleros in ihren
Familien und Freundeskreisen zur Rede stellen.
Wer das mit gutem Grund in Görlitz fordert,
muss es jetzt auch im Berliner »Görli« tun.
Lesen Sie zu den Übergriffen auch
Politik, Seite 9, und Feuilleton, Seite 46
CHRISTINE LAMBRECHT
Die Wurschtige
Nie hat man bei dieser Verteidigungsministerin das Gefühl, es gehe
um Leben und Tod. Das tut es aber VON PETER DAUSEND
as müsste eine Verteidi-
gungsministerin jetzt tun?
Eine, die die Dramatik der
Situation verstanden und
die Dimension ihrer Auf-
gabe verinnerlicht hätte.
Die erkannt hätte, dass der Befehlsgeber eines
Eroberungskrieges auf die vermeintliche Schwä-
che des Westens ebenso setzt wie auf die tatsächli-
che Zögerlichkeit der Deutschen in allem Militä-
rischen. Die wüsste, dass sie ihren Posten so aus-
zufüllen hat, dass die Bundeswehr, die Öffent-
lichkeit, aber auch der Kriegstreiber in Moskau
erkennen: Da passiert ja was! Nun, eine solche
Verteidigungsministerin müsste jetzt gar nicht so
viel tun, weil sie das meiste längst getan hätte.
Der größte Vorwurf, den man Christine
Lambrecht machen muss, ist der einer grob fahr-
lässigen Unterlassung. Den 24. Februar 2022,
den Einmarsch russischer Truppen in die
Ukraine, hätte sie nutzen müssen, um zu
erschüttern, um aufzurütteln, um zu entrümpeln,
um umzukrempeln, um voranzugehen. Kurz, sie
hätte Putins Invasion nutzen müssen, um die
Bundeswehr von drei Jahrzehnten Kaputtsparen
auf unbedingte Abwehrbereitschaft umzuschal-
ten, schnell und konsequent. Zu einem Krisen-
gipfel mit der Rüstungsindustrie, um nur ein Bei-
spiel zu nennen, hätte nicht erst der Kanzler
Anfang Dezember, sondern sie selbst bereits im
März einladen müssen. Verschenkte Zeit.
Eine unambitionierte Ministerin kann
man sich in diesen Zeiten nicht leisten
Hebt man zehn Monate nach der Verkündung
von Zeitenwende und 100 Milliarden Euro Son-
dervermögen das Dach vom Bendlerblock, dem
Sitz des Verteidigungsministeriums, kurz hoch,
um nachzuschauen, was sich darunter verändert
hat, so stellt man fest: Ist ja noch alles da, brav
an seinem Platz. Die Regelungswut, das Über-
korrekte, der Mangel an Flexibilität, das Prinzip
der organisierten Verantwortungslosigkeit, das
Schlanklügen der Kosten wie das Schönreden der
Probleme, die bürokratische Behäbigkeit eines
DDR-Maschinenbau-Kombinats. Dass mit einem
Teil der 100 Milliarden nun neue Kampfjets,
Transporthubschrauber und Fregatten angeschafft
werden, ist nicht Ausweis eines erwachten Initiativ-
geistes seitens der Ministerin, sondern ein Akt
nachholender Lückenschließung.
N o 2 14:55
5. JANUAR 202321.12.22
112342_ANZ_48x35_X4_ONP26 2
Einfach mal
abhängen!
Von der Schlei
bis nach Madeira:
52 Reiseziele für das
neue Jahr
Entdecken, S. 56
Der Charme der
Langsamkeit
Sten Nadolny über
unsere beschleunigte
Gegenwart
Feuilleton, S. 41
Addio, Papa
Ratzinger!
Der Abschied
in Rom:
Wie beerdigt man
einen Ex-Papst?
Glauben & Zweifeln, S. 48/49
PROMINENT IGNORIERT
Um das tragische Momentum zu nutzen,
hätte Lambrecht haben müssen, was ihr am
meisten fehlt: Leidenschaft für ihre Aufgabe.
Dass die Bundeswehr »mehr oder weniger blank
dasteht«, wie der Inspekteur des Heeres ein-
räumte, kann man zwar nicht ihr vorwerfen –
die Ursachen hierfür liegen deutlich vor ihrem
Amtsantritt. Dass sie aber bis heute jede Ambi-
tion vermissen lässt, dies grundlegend zu
ändern, sehr wohl. Jeden Tag hätte sie mit Vor-
schlägen für schnellere Vergabeverfahren, mit
Plänen für den nötigen Großumbau der
Sechs Richtige
Truppe, mit Forderungen nach mehr Gerät Dass hierzulande etwas nicht
und mehr Unterstützung alle so lange traktie- stimmt, zeigt diese Meldung von
ren müssen, bis ein genervtes »Dann gebt ihr Lotto Sachsen-Anhalt: Jemand
doch ihre Panzer und Haubitzen« sie zum gewinnt eine Million und holt sie
Schweigen gebracht hätte. Tatsächlich verkör- nicht ab. Drei Jahre lang war dazu
pert Lambrecht nicht das Unbedingte, sondern Zeit; es gab offenbar Besseres zu
sein Gegenteil, das Leidenschaftsfreie. tun. Ein Schlag ins Gesicht all je-
Eine unterambitionierte Ministerin im Ver- ner, die sich sofort gemeldet hät-
teidigungsressort kann man sich nur in Zeiten ten. Sicherlich, die Zeiten sind
leisten, in denen die größte militärische Gefahr rau: keine Ziehung im Ersten
von der Blechbüchsenarmee der Augsburger Pup- mehr, keine Lotto-Fee. Aber bei
penkiste ausgeht. Aber nicht, wenn ein russischer sechs Richtigen? HBK
Autokrat die Grenzen seines Landes mit den
Grenzen der Sowjetunion gleichsetzt – und sich Kl. Fotos (v. o.): Malte Jaeger/laif;
Konrad R. Müller/Photo und Presseagentur Focus;
daranmacht, seine Fiktion mit Waffengewalt in Getty Images
machtpolitische Wirklichkeit zu verwandeln.
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
Was wird aus Lambrecht, jetzt, da nach ihrem 20079 Hamburg
grandios missglückten Silvestervideo Rücktritts- Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
forderungen ertönen? Während Nacht für Nacht DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
in der Ukraine Raketen einschlagen, sucht sich die ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
deutsche Verteidigungsministerin die Geräusch- ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
kulisse eines Feuerwerks aus, um ihre persönliche
Bilanz des Kriegsjahres 2022 via Instagram in alle ABONNENTENSERVICE:
Welt zu posten. Mangelndes Fingerspitzengefühl Tel. 040 / 42 23 70 70,
Fax 040 / 42 23 70 90,
ist das Mildeste, was einem dazu einfällt. Die E-Mail: abo@zeit.de
miserable Tonqualität ihres Videos zeugt von
einem Hang zum Schludrigen – und das, was sie PREISE IM AUSLAND:
sagt (»Mitten in Europa tobt ein Krieg. Damit DK 69,00/FIN 9,10/E 7,80/
CAN 7,90/F 7,80/NL 7,20/
verbunden waren für mich (...) viele Begegnungen A 6,50/CH 8.50/I 7,80/GR 7,80/
mit tollen Menschen«), belegt, dass sie sowohl mit B 7,20/P 7,80/L 7,20/H 3690,00
der Dramatik der Situation als auch mit der
o
N2
Dimension ihrer Aufgabe erhebliche Erkenntnis-
probleme hat. Mit ihrem bizarren Auftritt wird
Christine Lambrecht noch mehr zu einer Belas-
tung für die Bundeswehr. Was würde ein Kanzler
78. J A H RG A N G C 7451 C
jetzt tun, der seine »Zeitenwende« wirklich durch-
setzen will?
02
Beide Leitartikel finden Sie zum Hören
unter www.zeit.de/vorgelesen 4 190745 106207
 2 POLITIK
Zwischen Fundis
G
ut ein Jahr lang regiert die
FDP unter Christian Lindner
nun schon gemeinsam mit
SPD und Grünen das Land.
Eine Landtagswahl nach der
anderen ging in dieser Zeit
für die Liberalen verloren,
ihre Umfragewerte sind chronisch schlecht. Die
FDP ist zum Problembär der Ampelregierung ge-
worden. Alle reden über die Partei, nur sagt dabei
selten jemand etwas Freundliches: Die Liberalen
verhinderten echten Klimaschutz und die Einfüh-
rung einer lange überfälligen Erbschaftsteuer, aller
technischen Vernunft zum Trotz versuchten sie, die
Nutzung der Kernenergie ein weiteres Mal zu ver-
längern, und blockierten durch all diese Irrtümer
ständig das Fortkommen der Koalition.
Die FDP ist die kleinste der drei Ampelpar-
teien. Trotzdem hängt dieses neue politische Jahr
maßgeblich von ihr ab. Und damit auch das
Schicksal der Regierung.
Bislang wirkte es, als ließen sich Lindner und
seine Leute von alldem nicht aus der Ruhe brin-
gen. Doch immer deutlicher ist zu erkennen, dass
der Druck des Regierungsgeschäfts auch die FDP
verformt. Obwohl Lindner seit Jahren von einem
unteilbaren Liberalismus spricht, der keinen Wirt-
schafts-, sozialliberalen oder sonstigen Flügel
mehr kenne, treten in diesen Wochen die Kontu-
ren zweier neuer Lager innerhalb der Partei her-
vor: Man könnte die einen als Fundis und die an-
deren als Realos bezeichnen, ein Gegensatzpaar,
das man von den Grünen kennt. Ernsthaft? Die
Liberalen wandeln ausgerechnet auf den Spuren
ihres erklärten Hauptgegners? Ja, ernsthaft. Zumin-
dest gibt es Parallelen zu den notorischen Lager-
kämpfen jener Partei, der sich die FDP als am
längsten mitregierende Kleinpartei der Republik
so entschieden unverbunden fühlt. Wenn das der
Geist der Ampel ist, dann hat er Humor.
Die Fundis
Die liberalen Fundis haben keinen Verein gegrün-
det, es gibt keine wöchentlichen Fundi-Treffen, ja
kaum einer von ihnen würde sich selbst wohl
überhaupt so bezeichnen. Und doch genügt eine
einfache Frage, um einen Fundi zu erkennen: Wie
soll Ihre Partei aus dem aktuellen Schlamassel wie-
der herauskommen?
Man kann auf YouTube eine Bundestagsrede des
Abgeordneten Frank Schäffler von 2011 finden, in
der er den Staat mit einer »Räuberbande« vergleicht
Foto: Dominik Butzmann
und die Rettung griechischer Banken durch die EU
einen »kollektiven Rechtsbruch« nennt. Als er seine
Rede beendet, klatscht niemand, auch nicht seine
eigenen Fraktionskollegen. Schon damals stand
Schäffler in Fundamentalopposition zum Regierungs-
Die kürzesten Monate
30
20
10
0
April
Februar
Alkoholfreier Januar
kurs seiner Partei. Heute tut er es wieder. Nur ist er
jetzt längst nicht mehr der Einzige.
Schäfflers Abgeordnetenbüro liegt in einem Ne-
bengebäude des Reichstags, er trägt bunte Ringel-
socken in Wildleder-Slippern und beschäftigt sich
neuerdings mit der Funktionsweise von Kryptowäh-
rungen. »Die Partei blutet in der Regierungsverant-
wortung aus und sucht deshalb Geländegewinn in
der Tagespolitik«, sagt Schäffler. »So dürfen wir nicht
weitermachen.« Dass der FDP-Justizminister Marco
Buschmann das Werbeverbot für Abtreibungen ge-
kippt habe und sich für die Legalisierung von Can-
nabis starkmache, sei ja schön und gut. »Aber für
diese Dinge werden wir nicht gewählt. Man wählt
uns wegen unserer wirtschaftspolitischen Kernkom-
petenz. Wir konkurrieren mit der Union um markt-
wirtschaftlich orientierte Wählergruppen, nicht mit
den Grünen.« Schäffler versteht unter Wirtschafts-
kompetenz vor allem schmale Staatsausgaben und
einen Staat, der dem Bürger nicht zu tief in die Tasche
greift. LGBTQ-Rechte, Strafrechtsreformen, »Fort-
schrittskoalition« – alles nice to have, aber am Ende
eben doch nur Deko.
Als die FDP 2013 an der Fünfprozenthürde schei-
terte, machte sie sich in der außerparlamentarischen
Opposition auf einen langen, beschwerlichen Weg
der inhaltlichen Verbreiterung. Christian Lindner
sprach fortan über Digitalisierung, Bildungschancen
und das innovative Potenzial der Start-up-Szene, be-
vor er zu den liberalen Klassikern Bürokratieabbau
und Steuersenkungen kam. Knapp ein Viertel der
Erstwähler stimmte bei der Bundestagswahl 2021 für
die Liberalen. Geplagt von den Zumutungen des Re-
gierens in der Krise, fordern Fundis wie Schäffler nun
die Rückkehr zum Programm vergangener Tage.
Ähnlich erging es den grünen Fundis, die unter
heftigen Schmerzen dem ersten deutschen Kriegs-
einsatz im Kosovo zustimmten. Damals wurde per
Los entschieden, wer in der Bundestagsabstimmung
seinem Gewissen folgen durfte und wer der Regie-
rung zu folgen hatte. Mit Waffenlieferungen an die
Ukraine tun sich die Liberalen nicht schwer, vielleicht
auch, weil viele von ihnen sich der Rüstungsindustrie
verbunden fühlen (die Waffenschmiede Rheinmetall
liegt im Wahlkreis der Verteidigungspolitikerin
Marie-Agnes Strack-Zimmermann) – wohl aber mit
den Folgekosten des Krieges. Für sie wäre die ultima-
tive Gewissensfrage eher eine Abstimmung über die
Aussetzung der Schuldenbremse.
Wolfgang Kubicki wirkt manchmal wie ein Mann
vergangener Zeiten, dabei will er nicht zurück, son-
dern mit dem Kopf durch die Wand. »Ein Scheitern
der Regierung würde in der aktuellen Lage jeder der
drei Parteien erheblich schaden. Deshalb müssen wir
keine Angst haben, wenn wir gegenüber den anderen
konsequent auf der FDP-Position bestehen.« Die
anderen, das sind für Kubicki vor allem die Grünen:
die Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann etwa, die
Was Deutsche sehen
Was Mütter alles machen
Was Mütter alles falsch machen
Der Druck des Regierens spaltet die FDP
in zwei Lager. Wie hält Christian Lindner
die Partei zusammen? VON PAUL MIDDELHOFF
ignoriere, dass der Wirtschaft durch die Energie-
preise Milliardenschäden entstünden, und trotzdem
darauf beharre, aus der Atomkraft auszusteigen.
Kubicki zeichnet den grünen Koalitionspartner als
Ansammlung knallharter Ideologen, deren moralische
Verbohrtheit den Industriestandort Deutschland und
die Freiheit im ganz Allgemeinen gefährdet. Er sagt:
»Diese Themen müssen wir viel häufiger ansprechen.«
Allerdings wütet Kubicki in Wahrheit nur noch von
der Seitenlinie. Er ist zwar nach wie vor Mitglied im
FDP-Präsidium und Bundestagsvizepräsident. Vor
allem ist Kubicki heute aber eine Art borstiges Mas-
kottchen seiner Partei. Die wichtigen Entscheidungen
treffen mittlerweile andere.
Und so kann er ganz ungeniert reden: »Wenn wir
ehrlich sind, hat die FDP in der jetzigen Lage gegen-
über unseren Koalitionspartnern keinen Gestaltungs-,
sondern bloß einen Verhinderungsspielraum. Aber
den sollten wir auch nutzen, denn das erwarten die
Wähler von uns.« Ausgerechnet Kubicki ist es auch,
der Ähnlichkeiten mit seinen Lieblingskonkurrenten
entdeckt: »Vielleicht gibt es da im Moment wirklich
ein paar historische Parallelen zu den Grünen.« Zu
anpasserisch, zu pragmatisch – seit den frühen Acht-
zigerjahren hielten die Fundis ihren Realo-Kollegen
eine Verwässerung des Programms vor. Ähnlich ar-
gumentieren heute ihre liberalen Erben.
Den Frust darüber, zur Regierungsdisziplin ver-
dammt zu sein, spüren nicht nur Schäffler und
Kubicki. Der Bundestagsabgeordnete Max Mord-
horst beklagt die »teils miese Kommunikation«
seiner Partei in der Regierung, die ehemalige
Generalsekretärin Linda Teuteberg verdammt be-
vorzugt grüne Lieblingsprojekte wie die Nominie-
rung der Antidiskriminierungsbeauftragten Ferda
Ataman, und der Verkehrspolitiker Oliver Luksic
gerät auf Twitter regelmäßig in Wutausbrüche gegen
das »ökoritäre Denken« der Aktivisten von Fridays
for Future.
Was die Fundis eint: Keiner von ihnen gehört
zum innersten Zirkel der Macht in der FDP. Außer-
halb des Zentrums leidet man eher am Morbus
Regieriensis, dem Schmerz, der jede Partei befällt,
wenn sie sich unter den Sachzwängen der Wirklich-
keit von ihren Wunschvorstellungen verabschieden
muss. Aus Angst davor, dass die Partei diesem Leid
irgendwann erliegt, weil niemand sie mehr als libe-
rale Kraft wahrnimmt, fordern die Fundis, dass die
FDP sich so gibt, wie sie in der Öffentlichkeit längst
wahrgenommen wird: als konsequente Opposition
innerhalb der Regierung.
Die Fundis bringen ihre Partei in eine schwierige
Lage. In einer Zeit, in der der Staat die explodieren-
den Kosten der Energiekrise abfedern muss und
sogar das Bundesverfassungsgericht dem Staat die
Bekämpfung des Klimawandels vorschreibt, macht
ihr Beharren auf der liberalen Orthodoxie deutlich,
dass das FDP-Programm für die großen Fragen
Torten
der
Wahrheit
VON KATJA BERLIN
und Realos
dieser Tage keine echten Antworten enthält. Wie will
die Partei der niedrigen Staatsausgaben verhindern,
dass die untere Mittelschicht angesichts zweistelliger
Inflationsraten verarmt? Und gibt es die von den
Liberalen herbeigesehnte Technologie eigentlich
wirklich, die es möglich machen soll, dass wir genau-
so viel Auto fahren, Fleisch essen und in den Urlaub
fliegen, ohne dass das Weltklima den Point of no
Return erreicht?
Die Realos
Zu Beginn jeder Sitzungswoche des Bundestages
kommt am Montagabend der Realo-Stammtisch der
FDP zur Strategiesitzung zusammen: die Fraktions-
führung, die liberalen Minister des Ampelkabinetts,
der Regierungssprecher. Die versammelte Macht der
FDP schaut die Wirklichkeit ganz anders an als Kubi-
cki und Schäffler: Hier sind die Sonderetats zur Be-
wältigung der Energiekrise kein Verrat liberaler
Prinzipien, sondern eine pragmatische – wenn auch
schmerzhafte – Lösung, um das Land möglichst
schnell durch die Krise zu bringen. Das 49-Euro-
Ticket für den öffentlichen Nahverkehr ist hier keine
Sozen-Politik, sondern ein wichtiger Schritt auf dem
Weg zur Digitalisierung des Landes. Die Entschei-
dung, den Atomausstieg bis April 2023 aufzuschie-
ben, ist keine Niederlage, sondern ein vernünftiger
Kompromiss, der die Energiesicherheit des Landes
zumindest bis zum Frühling sicherstellt.
Die FDP mag wie der ewige Querulant wirken –
die Realos am Kabinettstisch aber agieren pragma-
tischer, als ihnen nachgesagt wird. Kein großes Re-
formvorhaben ist bislang an den Liberalen geschei-
tert; die FDP fügte sich dem Machtwort des Kanz-
lers im Atomstreit und trägt die Anhebung des
Mindestlohns mit. Im Kreise der Realos ist Habeck
nicht Habeck, sondern »Robert«, der SPD-Co-
Vorsitzende Klingbeil »der Lars«. Man sagt Sätze
wie »Erst das Land, dann die Partei« und sogar »Es
schadet nicht, die Lage mal durch die Brille der
anderen zu sehen«. Der parlamentarische Geschäfts-
führer Johannes Vogel, der Fraktionsvorsitzende
Christian Dürr, der Verkehrsminister Volker Wis-
sing – sie sind es, die in stundenlangen Nacht-
sitzungen mit den Kollegen von Grünen und SPD
verhandeln, sie alle haben im ersten Ampeljahr per-
sönliche Kontakte aufgebaut, kennen die parteiinter-
nen Denkweisen der anderen. Die FDP-Realos
machen Politik aus dem Inneren der Macht heraus.
Die Fundis bekommen die Ergebnisse präsentiert
und schimpfen dann darüber.
Natürlich sind auch die Realos nicht zufällig in
der FDP. Deshalb macht Wissing weiterhin auto-
freundliche Politik, und Justizminister Buschmann
wehrt sich nach wie vor gegen Karl Lauterbachs
Drängen Richtung Maskenpflicht. Und doch inter-
pretiert diese Gruppe die Rolle der FDP in der Re-
Was wir versuchen zu interpretieren
Bilder
Gedichte
Schreiben vom Finanzamt
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
gierung anders: Statt durch massive Konfrontation
aufzufallen, schließen die Realos Kompromisse und
hoffen darauf, so am Ende der Legislaturperiode
genug liberale Projekte in ihrem Körbchen gesammelt
zu haben, um Wähler von der FDP zu überzeugen.
Der Liberealo
Seit fast zehn Jahren ist Christian Lindner mittlerweile
Chef der FDP. Immer wieder hat er in dieser Zeit neue
Rollen ausprobiert: Er inszenierte sich als aufstreben-
der Jungunternehmer, gab den nachdenklichen In-
tellektuellen, blinkte auch schon mal Richtung
Rechtspopulismus. 50 Shades of Lindner, doch das
alles liegt jetzt hinter ihm. Heute ist Lindner Finanz-
minister, gleichzeitig führt er den Problembären FDP
durch den Berliner Regierungsbetrieb. Dass sich
unter seinem Vorsitz die Partei zu teilen beginnt, kann
auch ihm nicht verborgen bleiben.
Lindner hat darauf diese Antwort gefunden: Er
redet wie ein Fundi und regiert wie ein Realo. Beim
9-Euro-Ticket etwa finanzierte Lindner zwar die
nötigen 2,5 Milliarden Euro aus dem Bundeshaus-
halt, geißelte aber gleichzeitig die Forderungen nach
einer Weiterführung des Tickets als Ausdruck einer
grassierenden »Gratismentalität«. Ähnlich bei der
Schuldenbremse: Lindner gibt den strengen Zahl-
meister, der verhindern muss, dass Grüne und SPD
die deutsche Staatskasse plündern. Und setzt dann
einen schuldenfinanzierten Sonderetat nach dem
anderen auf. Die Liste ließe sich fortführen.
Bemerkenswert ist, dass Lindners Doppel-Stra-
tegie zumindest parteiintern bislang gut ankommt.
Den Fundis gefällt seine Dagegen-Pose. Die Rea-
los schätzen seinen Pragmatismus.
Wie Kubicki glaubt auch Lindner, dass mit der
Ampelkoalition im Bund eine neue Ära der politi-
schen Bündnisfindung angebrochen ist. Eine große
Koalition wird es so bald nicht wieder geben, für
Schwarz-Gelb reicht es bis auf Weiteres nicht, und
die Grünen, so analysiert es Lindner, haben kein
Interesse, mit einer Union unter Friedrich Merz
zusammenzugehen. Weil er sich ausrechnet, dass
bei der nächsten Wahl ohnehin nur eine neue
Ampelkoalition herauskommen kann und ohne
seine Partei nichts geht, schaut Lindner verhältnis-
mäßig entspannt auf die aktuelle Lage: Der
immerwährende Streit in der Koalition, die Fundis
in der eigenen Partei – alles in Ordnung, solange die
FDP nicht noch einmal unter fünf Prozent rutscht.
In dieser Woche kommen die Liberalen in Fellbach
bei Stuttgart zu ihrem Dreikönigstreffen zusammen.
Lindner wird als Staatsmann auftreten, der das Land
mit Weitsicht durch die Krise führt und gleichzeitig
verhindert, dass Grüne und SPD die Wirtschaft
schröpfen. Über die Widersprüche, die sich in seiner
Partei auftun, hat er bislang kein Wort verloren. Fürs
erste Jahr an der Regierung hat das gereicht.
Was Deutsche kritisch sehen
Wenn jemand zu wenig Zeit hat
Wenn jemand wohl zu viel Zeit hat
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023
Rose: links
Tulpe: rechts
Meer: links
Berge: rechts
Tomate: links
Roggen: rechts
Zwei: links
Drei: rechts
Manche Leute sehen Töne. Andere schme-
cken Farben. Ich glaube, dass man Politik
fühlen kann.
Gegenstände haben für mich eine poli-
tische Aura. Sie sind liberal oder konservativ,
links oder rechts. Die Rose ist das
Symbol vieler sozialdemokratischer Par-
teien in Europa. Unter dem Slogan
»Brot und Rosen« kämpften Textilarbei-
terinnen an der amerikanischen Ostküste
im frühen 20. Jahrhundert für menschen-
würdige Arbeitsbedingungen. Die Rose ist
ziemlich eindeutig eine linke Blume. Aber
warum ist die Tulpe rechts? Und die Zahl
Drei?
Die Tulpe ist floristisch betrachtet das
Gegenteil der Rose. Man würde nieman-
dem einen Strauß mit Tulpen und Rosen
schenken. Finde ich. Entweder Tulpe oder
Rose. Und weil die Rose links ist, ist die
Tulpe rechts. Das ist aus meiner Sicht voll-
kommen klar. Was die Drei angeht: Sie ist
rechts, weil sie mit ihren beiden geschwun-
genen Bäuchen aussieht, als würde sie jeden
Tag ein paar Schnitzel essen. Es gäbe auch
noch eine ernsthaftere Erklärung: Dreier-
beziehungen sind meistens instabil, ob in
der Politik, im Privaten oder in der Physik.
Der Bahnverlauf von drei Planeten lässt sich
unter Berücksichtigung ihrer gegenseitigen
Anziehung nicht eindeutig berechnen.
Linkssein bedeutet, an die prinzipielle Ver-
besserungsfähigkeit des Menschen zu
glauben, Rechtssein, diesen in seiner
Unvollkommenheit zu akzeptieren. Die
Drei will sich nicht verbessern lassen
und auch nichts verbessern. Sie steht ein-
fach da in der Reihe der Zahlen, und der
Zustand der Welt ist ihr egal. An-
ders als die Zwei, die es kaum er-
warten kann, dass man mit ihr
rechnet, sie ins Quadrat setzt, hal-
biert oder aufsummiert. Aus dem-
selben Grund ist Acht links und
Elf rechts.
Okay, vielleicht spinne ich. Aber
ich liege nicht komplett daneben. Das
hat Theo Délemazure herausgefun-
den. Délemazure studiert in Paris
Informatik und hat eine Website
programmiert, die Personen, Dinge
oder Zustände politisch verortet,
degaucheoudedroite.delemazure.fr
heißt sie. Man tippt einen Begriff
ein, danach färbt sich die Seite ent-
weder rot (für links) oder blau (für
rechts). Ein Schriftzug erscheint:
Rose, c’est de gauche. Eine Rose ist
links. Tulip, c’est de droite. Eine Tulpe
ist rechts. Eigentlich schreibt Déle-
mazure gerade an seiner Doktor-
arbeit. Er entwickelt mathematische
Modelle, mit denen sich die Mecha-
nismen kollektiver Entscheidungen
beschreiben lassen. Die Ergebnisse
können dann verwendet werden, um
zum Beispiel Abstimmungsregeln bei
Wahlen zu optimieren. Ernsthafte
Wissenschaft. Eines Abends aber saß
Délemazure mit einer Freundin zu-
sammen, die ihm zu erklären ver-
suchte, warum ein Heineken ein
rechtes Bier sei und Kronenbourg ein
Eine Rose ist links, klar, sie ist das Symbol vieler sozialdemokratischer Parteien in Europa. Aber was ist mit der Tulpe?
POLITIK
Rosen
sind rot,
Tulpen
sind rechts
Katzen, Tomaten, Olaf Scholz: Ein französischer
Informatikstudent lässt alles, was es gibt, von
einer künstlichen Intelligenz politisch verorten.
Warum das eine großartige Idee ist VON MARK SCHIERITZ
linkes. Da sei er auf die Idee gekommen, die Frage
einer Maschine vorzulegen.
Das ist heutzutage keine große Sache mehr,
wenn man sich ein wenig auskennt. Die Technolo-
gie ist im Internet frei verfügbar. Délemazure hat die
Software GPT-3 der Firma OpenAI verwendet.
GPT-3 ist eine künstliche Intelligenz, ein Compu-
terprogramm, das an ein Wort (oder an eine Se-
quenz von Wörtern) ein vor dem Hintergrund eines
vorgegebenen Textkanons naheliegendes weiteres
Wort reiht. So lange, bis der Befehl abgearbeitet ist.
Das mag fantasielos klingen, nach Maschine eben,
aber letztlich funktioniert so auch ein großer Teil
der menschlichen Kommunikation. Ein Dialog ist
die Wiedergabe von Wahrscheinlichkeiten auf der
Basis einer gemeinsamen Informationsgrundlage:
Auf die Wortfolge »Wie heißt der König von Eng-
land?« folgt sehr wahrscheinlich die Wortfolge
»Charles III.«, jedenfalls wenn das Gegenüber ein
bisschen die Nachrichten verfolgt hat.
Wenn man einem Computerprogramm nur genug
Datenmaterial und Rechenleistung zur Verfügung
stellt, dann kann es mit dieser Methode Kochrezepte
erstellen (»Wie backt man einen Orangenkuchen?«),
Aufsätze verfassen (»Sind Menschenrechte univer-
sell?«) oder historisches Wissen referieren (»Was ge-
schah im Jahr 753 vor Christus?«). GPT-3 wurde
praktisch mit den gesamten im Internet veröffent-
lichten Inhalten gefüttert, um Muster zu identifizie-
ren und damit die Wortsequenzen zu ergänzen. Der
Algorithmus gleicht mit seinem vorhandenen Inter-
netwissen ab, inwieweit die eingegebenen Begriffe
eher mit »rechts« oder mit »links« in Verbindung
gebracht werden können. Ob es sich dabei um die
Wortfolge »Donald Trump«, »Karl Marx« oder »Steak
mit Bohnen« handelt, spielt keine Rolle. Auch nicht,
ob die Verbindung im herkömmlichen Verständnis
Sinn ergibt.
Die Maschine sagt: Heineken ist tatsächlich rechts
und Kronenbourg tatsächlich links. Womöglich weil
es im Internet Texte gibt, in denen konservative
Menschen Heineken trinken und liberale Kronen-
bourg. Oder weil Heineken von einem Weltkonzern
gebraut wird und Kronenbourg von einem mittel-
ständischen Betrieb. Vielleicht auch aus einem ganz
anderen Grund. Wie genau GPT-3 zu seinen Ergeb-
nissen kommt, kann man nicht feststellen. Délema-
zure sagt, er habe eigentlich erwartet, dass die KI
Emmanuel Macron politisch neutral nennen würde,
rechts und links zugleich. Auch das passiert manch-
mal, allerdings selten. Die Seite färbt sich dann violett.
Allerdings weist der Algorithmus Macron hartnäckig
als rechts aus.
Dass Heineken rechts ist, hätte ich auch gesagt.
Dass Kronenbourg links ist ebenfalls. Wie überhaupt
mein politisches Gefühl erstaunlich oft mit den Er-
gebnissen der künstlichen Intelligenz übereinstimmt.
Was daran liegen kann, dass ich zu viel im Internet
unterwegs bin. So wie die künstliche Intelligenz.
Hockey: rechts
Klettern: links
Straße: links
Platz: rechts
Blau: rechts
Grün: links
Die Ursprünge der Begriffe links und rechts gehen
auf die Zeit nach der Französischen Revolution zu-
rück. In der Nationalversammlung beanspruchten
die Anhänger der Monarchie damals den Platz
rechts vom Parlamentspräsidenten. So wie Jesus
dem Apostolischen Glaubensbekenntnis zufolge
nach der Auferstehung zur Rechten Gottes sitzt. Die
Revolutionäre dagegen saßen links. Der Bundestag
hat wie viele andere Parlamente diese Sitzordnung
übernommen: Die SPD sitzt links, die CDU rechts.
Délemazure sagt, er habe auch eine deutsche Vari-
ante seiner Seite programmieren wollen. Ein Freund
habe ihm aber abgeraten. In Frankreich ist es nicht
unüblich, Sachfragen mit der eigenen politischen
Identität in Verbindung zu bringen. In Deutschland
dagegen interessierten sich die Leute nicht so sehr
dafür, ob Dinge links sind oder rechts.
Es passiert hier wirklich eher selten, dass in einer
politischen Debatte jemand sagt: Ich sehe das so und
so, weil ich links bin. Oder rechts. Rechts ist schon
fast ein Schimpfwort, beim Linkssein will sich auch
niemand erwischen lassen. Hier sagt man: Ich sehe
das so und so, weil sich diese Position eindeutig aus
den Fakten ableiten lässt.
Nicht Weltbilder sollen den Ausschlag geben,
sondern Tatsachen, das ist das Ideal der politischen
Diskussion in Deutschland. Weltbilder sind irgend-
wie verdächtig, als wären sie dumm, subjektiv, belie-
big oder einfach ideologisch. Im Vergleich zu Fak-
ten, die für sich sprechen.
Dabei sprechen die Fakten nicht. Sie müssen
zum Sprechen gebracht, also interpretiert werden,
wenn man aus ihnen politische Entscheidungen ab-
leiten möchte. Es ist ein Fakt, dass Russland die
Ukraine überfallen hat. Es ist ein Fakt, dass eine
Infektion mit dem Coronavirus den Tod zur Folge
haben kann. Es ist ein Fakt, dass Menschen mit
wenig Geld unter den steigenden Energiepreisen
leiden, weil sie einen großen Teil ihres Einkommens
für Energie ausgeben müssen.
Aber folgt daraus, dass der Westen den Freiheits-
kampf der Ukraine unterstützen muss? Dass der Staat
die Verbreitung des Coronavirus eindämmen sollte?
Dass Menschen mit niedrigem Einkommen von der
Allgemeinheit unterstützt werden müssen? Man
könnte, um beim letzten Beispiel zu bleiben, argumen-
tieren, dass die Unterstützung der Armen ein Gebot
der wirtschaftlichen Vernunft ist. Denn wer nicht um
seine Existenz fürchten muss, der kann Zeit und Res-
sourcen in eine gute Ausbildung investieren, und das
nützt vor allem in Zeiten des Fachkräftemangels am
Ende allen. Man könnte aber auch argumentieren,
dass jeder für sich selbst verantwortlich ist und ohne
Angst vor Armut sich niemand richtig anstrengt. Dann
wäre die Unterstützung der Armen mit einem Verlust
an Wohlstand verbunden.
Katze: rechts
Maus: links
Georg Friedrich Händel: rechts
Johann Sebastian Bach: links
C-Dur: rechts
D-Dur: links
Bach ist wie die Zahl Zwei: In die Zukunft gerich-
tet. Händel hat die Expressivität und Schnitzelhaf-
tigkeit der Drei. D-Dur klingt nach Revolution,
C-Dur nach Restauration. Fragen Sie nicht!
Die Sozialwissenschaftler Peter Hall und David
Soskice haben vor ein paar Jahren herausgefunden,
dass eine Wirtschaftsordnung mit wenigen Staats-
eingriffen unter rein materiellen Gesichtspunkten
genauso gut funktioniert wie eine mit vielen Staats-
eingriffen. Und wann ist jemand eigentlich arm?
Wenn er oder sie umgerechnet weniger als 2,15
Dollar am Tag zur Verfügung hat, wie es die Weltbank
festgelegt hat? Dann gäbe es in Deutschland keine
Armen. Oder wenn das Einkommen weniger als 60
Prozent des mittleren Einkommens des betrachteten
Landes beträgt? Dann wären rund 16 Prozent aller
Deutschen arm.
Egal wie viele Tatsachen man also ansammelt, wie
viel Wissenschaft eine Gesellschaft betreibt, wie viel
follow the science sie beherzigt: Es bleiben Lücken, die
mit Weltbildern gefüllt werden müssen. Die Um-
verteilung von den Reichen zu den Armen beispiels-
weise ist unter der Annahme einer prinzipiellen Ver-
besserungsfähigkeit des Menschen folgerichtig. Weil
die Armen mehr aus ihrem Leben machen können,
wenn sie mehr Geld zur Verfügung haben. Wenn der
Mensch dagegen grundsätzlich faul und bequem ist,
müssten staatliche Transferleistungen an strenge Auf-
lagen geknüpft oder gleich ganz eingestellt werden.
Ein wenig allgemeiner formuliert: Rechte glau-
ben, dass sich Freiheit und Gleichheit ausschließen,
Linke, dass sie sich ergänzen. Rechte sind der Mei-
nung, dass die Schwachen ganz gut alleine klarkom-
3
men, Linke, dass man sie schützen muss. Für
Linke ist die Geschichte eine Gerade, für
Rechte ein Kreis. Insofern ist die militärische
Unterstützung der Ukraine links. Und die
Ablehnung der Corona-Maßnahmen rechts.
Im realen Leben geht es natürlich nicht im-
mer so eindeutig zu. Der linke Ökonom
John Maynard Keynes spekulierte erfolgreich
an der Londoner Börse. Sein rechter Gegen-
spieler Friedrich August von Hayek lebte ein
eher bescheidenes Professorenleben.
Wladimir Putin: rechts
Wlodomyr Zelenskyj: links
Christian Lindner: rechts
Annalena Baerbock: links
Gerhard Schröder: rechts
Olaf Scholz: links
Illustration: Arne Bellstorf für DIE ZEIT
Es kommt in Deutsch-
land selten vor, dass
Politiker Gesetze oder
Maßnahmen weltanschaulich
begründen. Alle wollen irgend-
wie in der Mitte sein. Sogar die
AfD. Weshalb Mitte ein weitge-
hend inhaltsleerer politischer Be-
griff ist. Aber fast alle interessanten
politischen Fragen haben einen welt-
anschaulichen Kern, der über das
Faktische hinausgeht. Als Gerhard
Schröder die Sozialreformen seiner
Agenda 2010 vorstellte, erklärte er, es
gebe keine linke und rechte, sondern nur
gute und schlechte Wirtschaftspolitik. Da-
bei lief seine Wirtschaftspolitik auf die Stär-
kung der Eigenverantwortung und
die Rücknahme staatlicher Leis-
tungen hinaus. Sie war also eigent-
lich rechts. Das wollte Schröder
nur nicht sagen.
Olaf Scholz hat einen Teil dieser
Reformen wieder zurückgenommen
und neue Sozialleistungen einge-
führt. Wie die Rente mit 63. Und
einen Mindestlohn in Höhe von
zwölf Euro. Aber Scholz sagt auch
nicht, dass er links sei. Er hat einmal
in einem Interview gesagt, er sei als
junger Mensch links gewesen. Da-
mals habe er die Beseitigung der
»kapitalistischen Gesellschaftsord-
nung« gefordert. Das halte er aber
heute für falsch. Es klang, als sei das
Linkssein etwas, das im Erwachse-
nenleben nur noch unter histori-
schen Aspekten interessant ist. Wie
der erste Kuss oder die erste Liebe.
Ganz nett, aber na ja. Jetzt beginnt
der Ernst des Lebens.
Die Hartz-IV-Reformen waren
unpopulär, und Gerhard Schröder
wollte sie durch ihre Entpolitisie-
rung alternativlos erscheinen lassen.
Heute würde man wahrscheinlich
sagen: Schröder wollte eine Spal-
tung der Gesellschaft verhindern.
Das hat nicht funktioniert: Er wur-
de abgewählt, und in Deutschland
gründete sich eine neue linke Par-
tei. Die Demokratie hat beides gut
verkraftet. Vielleicht müssen sich
nicht alle immer einig sein. Dann
kann man über Weltanschauungen
offener sprechen.
Auch für den eigenen Namen
spuckt die Webseite übrigens ein
Ergebnis aus.
Mark Schieritz: links
www.zeit.de/vorgelesen
4 POLITIK 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2

Das große
Schrumpfen
In wenigen Jahrzehnten
wird die Weltbevölkerung abnehmen. Was
bedeutet das für uns – und für den Planeten?
VON SAMIHA SHAFY, PATRICK WITTE UND XIFAN YANG

Fotos: Florian Gaertner/imago (l.); Raul Ariano (r.); Ana Palacios für DIE ZEIT (u.)

Niger China
7,56 5,81
6,82 1,16

Geburtenrate
Durchschnittliche
Anzahl Kinder pro Frau
1950 2021
Ein Kind reicht, sagen
viele Mütter in China
Deutschland
(oben). Kinder sind
2,09
eine Gabe Gottes,
1,53 heißt es im Niger (links
oben). Die Rentnerin
Frankreich Herminia Samson
2,99 Martin lebt in Spanien,
1,79 Europas geburten-
ärmstem Land (links)

Südkorea Spanien
5,97 2,47
0,87 1,28

ZEIT- GRAFIK/Quelle: United Nations, Department of Economic

and Social Affairs, Population Division (2022)
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
I
n einem Werbefilm über das moderne
China wäre Gao Wenli auf den ersten
Blick eine Idealbesetzung: »Ich brau-
che meine Freiräume«, sagt die 37-Jäh-
rige. Bevor sie mit ihrer heute zweijäh-
rigen Tochter Keke schwanger wurde,
habe sie Lebenswerk von Rachel Cusk
gelesen, einen autobiografischen Essay,
in dem die britische Autorin Kinder-
kriegen als Tortur und Mutterschaft als Krieg be-
schreibt. »Meine Neugier auf das Elternsein hat
aber gesiegt«, sagt Gao. Also kam Keke auf die
Welt. Gao arbeitet als Redakteurin bei einem
Shanghaier Lifestylemagazin, ihr Mann kümmert
sich um die Finanzen eines Krankenhauses. Ein
gebildetes Mittelschichtspaar mit Eigentums-
wohnung, das Steuern zahlt, ein Kind großzieht
und keine weiteren will – noch vor wenigen Jah-
ren, als in China die Ein-Kind-Politik galt, hätten
Gao und ihr Mann aus Sicht des Staates alles rich-
tig gemacht. Heute sind sie für die kommunis-
tische Führung ein Problem.
Gestern Geburtenkontrolle, heute Geburten-
mangel: Chinas demografisches Schicksal zeigt bei-
spielhaft, wie schnell die Bevölkerungsstruktur eines
Landes aus dem Lot geraten kann. Vor 50 Jahren,
Anfang der 1970er-Jahre, brachte eine Chinesin im
Schnitt 5,8 Kinder zur Welt, heute liegt die Gebur-
tenquote mit 1,16 auf einem historischen Tiefpunkt.
Einer Schätzung der Vereinten Nationen zufolge hat
die Bevölkerungszahl in diesem Jahr erstmals abge-
nommen. Indien wird China offiziell als bevölke-
rungsreichstes Land der Welt ablösen, womöglich ist
das bereits geschehen. Die Zahl der Chinesinnen und
Chinesen im arbeitsfähigen Alter wird bis 2050 um
ein Viertel einbrechen.
Für Chinas Großmachtambitionen hat das gra-
vierende Folgen: Die Regierung wird in Zukunft
immer mehr Milliarden für Gesundheitssystem
und Altenpflege aufwenden müssen und immer
weniger Geld für Hightech und Auslandsinvesti-
tionen übrig haben. Staatschef Xi Jinping will die
»nationale Erneuerung« der Volksrepublik zur
voll entwickelten Industrienation im Turbotempo
schaffen – bevor das Land vergreist. Manche Be-
obachter glauben gar, dass er eine militärische Er-
oberung Taiwans in seiner Amtszeit erwägt, weil
die Volksbefreiungsarmee bald zu alt dafür sein
könnte. Die Uhr tickt.
Also verkündete die Regierung im Sommer
2021, dass Familien von nun an drei Kinder be-
kommen dürften. »Wir haben uns gefragt, ob das
ein Witz sein soll«, sagt Gao. In Shanghai sei schon
das Leben mit nur einem Kind kaum zu bezahlen.
Für Xi Jinping mag das ein schwacher Trost
sein, aber: Viele andere Staats- und Regierungs-
chefs haben ähnliche Sorgen. Der demografische
Wandel – die Vergreisung und Schrumpfung der
Gesellschaft – betrifft nicht nur China, sondern
auch Europa, die USA und die große Mehrheit
aller anderen Staaten der Erde. Selbst in Indien
zeichnet er sich bereits ab. Nur in Pakistan, Af-
ghanistan und in afrikanischen Ländern südlich
der Sahara wächst die Bevölkerung noch rasant.
Im 20. Jahrhundert vervierfachte sich die Welt-
bevölkerung nahezu, von 1,6 Milliarden um 1900
auf 6,1 Milliarden im Jahr 2000; 22 Jahre später
ist sie schon wieder um fast ein Drittel gewachsen.
Am 15. November 2022 wurde nach Berechnun-
gen der Vereinten Nationen der achtmilliardste
Mensch geboren. Das klingt nach viel – und ist
doch viel weniger als erwartet.
Denn allen oft panischen Debatten über die
»Bevölkerungsexplosion« zum Trotz: Die globale
Fertilitätsrate kollabiert. Brachte eine Frau 1965
noch durchschnittlich fünf Kinder zur Welt, war
die Zahl 2021 auf 2,3 gesunken. Statistisch ge-
sehen muss die Fertilitätsrate bei 2,1 liegen, damit
die Bevölkerungszahl stabil bleibt. Dieser Wert, so
schätzen die Vereinten Nationen, wird 2050 er-
reicht sein. Danach wird er weiter sinken.
So korrigieren Demografinnen und Demogra-
fen nun laufend ihre Prognosen nach unten: Die
Vereinten Nationen rechnen neuerdings mit einem
Plateau bei 10,4 Milliarden Menschen um das Jahr
2080, andere Forschungsteams sehen das Maxi-
mum schon bei 9,4 oder 9,7 Milliarden erreicht.
Einig sind sich die Fachleute darin, dass wir auf
einen Wendepunkt zusteuern, dessen historische
Bedeutung kaum zu überschätzen ist: Die Mensch-
heit wird schrumpfen.
Die große Frage ist: um wie viel? Und: Was
bedeutet das für uns alle? Ist es eine gute Nach-
richt, weil es den Planeten entlastet, Klimaschutz
und einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen
erleichtert? Oder ist es eine Tragödie, wenn Alte
und Schwache in der Überzahl sind? Sind greise
Gesellschaften naturgemäß konservativer, also
weniger dynamisch, risikofreudig, innovativ?
Sind sie, andererseits, vielleicht friedlicher? Und
was heißt es, wenn die meisten jungen Gesell-
schaften im Globalen Süden, in vielen armen
Ländern liegen?
Ein Team der ZEIT hat in drei Ländern auf
drei Kontinenten recherchiert: im afrikanischen
Niger, dem Land mit der höchsten Geburtenrate
der Welt. In Spanien, wo die Frauen noch weniger
Kinder bekommen als im übrigen Europa, wo sich
also unsere Zukunft besichtigen lässt. Und noch
einmal in China. Nicht in der Metropole Shang-
hai, sondern in einer Kleinstadt.
Xuzhou, China
Es ist der 11. November, in China zum »Single’s
Day« und »Fest der nackten Äste« ernannt. »Nackte
Äste« sind Junggesellen, die noch keine neuen
Triebe hervorgebracht haben, Männer wie Zhu
Yongding: 30, hager, aber sportlich, stolzer Besitzer
eines weißen Mercedes. Zhu steht verlegen bei einem
Dating-Event in der ostchinesischen Kleinstadt
Xuzhou, auf dem gut 50 alleinstehende Männer
und Frauen miteinander verkuppelt werden sollen.
An Tischen, mit Plastikblumen und Mandarinen
POLITIK 5
dekoriert, sollen sie sich alle fünf Minuten zu neuen diesen Regionen haben daher finanzielle Anreize, sorge, all das kann der Staat nicht leisten. In Nia- gang Lutz. Denn entscheidender als die Alters-
Paaren zusammenfinden. Der Moderator muntert die Geburtenzahlen hochzujazzen.« mey gibt es nur eine einzige staatliche Entbin- struktur sei die Frage, wie viele Menschen gut aus-
die Herren auf: »Ich weiß, chinesische Männer sind Die Konsequenzen dieses Zahlenschwindels sind dungsstation. Das Land ist auf NGOs wie Marie gebildet und erwerbstätig seien. Da gebe es in vie-
eher reserviert. Small Talk ist der Austausch von enorm: Laut Yis Berechnungen leben in China nur Stopes angewiesen. len Ländern noch Luft nach oben, insbesondere
Informationen, das Signalisieren eures Gefühls- 1,28 Milliarden Menschen, 120 Millionen weniger Jacobs’ schwarzer Hidschab reicht bis zu ihren bei den Frauen. Und wenn die Älteren von morgen
zustandes. Das habt ihr drauf!« als angenommen. Anders als öffentlich bekannt habe Sandalen, darunter leuchtet ein rot-weißes Biker- nicht nur besser ausgebildet seien, sondern auch
Gerade in Kleinstädten wie Xuzhou und auf Indien China bereits 2014 als bevölkerungsstärkstes Bandana, im Nasenflügel glänzt ein Ring. Die 42-Jäh- länger lebten und länger gesund blieben als frühere
dem Land haben Männer es bei der Partnersuche Land überholt. »Chinas Wirtschafts-, Sozial-, Außen- rige ist Muslimin, wie die meisten Menschen im Generationen, könnten sie auch länger arbeiten.
schwer. Brautpreise steigen ins Astronomische, die und Verteidigungspolitik gründet auf falschen demo- Niger. Aber im Unterschied zu so vielen Frauen ist sie Die Trägheit des demografischen Übergangs hat
Geschäfte von Kupplern und Menschenhändlern grafischen Daten. Dasselbe gilt für den Umgang der gut ausgebildet, berufstätig und hat nur drei Kinder. den Vorteil, dass wir uns vorbereiten können. Wir
mit importierten Bräuten aus Kambodscha, Viet- USA und anderer Staaten mit China«, sagt Yi. Auf dem Land dagegen verlange die Tradition, können uns um eine gute Familien- und Einwan-
nam und Myanmar florieren. 30 bis 40 Millionen Für den geopolitischen Systemwettbewerb bedeu- »dass du nach der Hochzeit schnellstens Kinder be- derungspolitik bemühen. Und von anderen lernen,
Frauen fehlen infolge der rigiden Ein-Kind- tet das: China könnte die USA zwar noch als größte kommst«, sagt Jacobs. »Kinder sind ein Geschenk wie eine alte Gesellschaft funktionieren kann.
Politik, welche die Führung 1980 einführte. Zu Wirtschaftsmacht ablösen, wird aber bis Ende des Gottes, sie bringen der Familie Respekt und Macht,
viel Nachwuchs würde die wirtschaftliche Ent- Jahrhunderts wahrscheinlich wieder von den USA sind die Altersabsicherung der Eltern.« Sie kennt die Pescueza, Spanien
wicklung des Landes behindern, glaubten die Re- überholt – weil seine Bevölkerung deutlich schneller abgelegenen Regionen nahe der Grenze zu Nigeria
gierenden zu jener Zeit. Hunderte Millionen er- schrumpft als jene in den USA, wo die Zuwanderung und zum Tschad, wo die Menschen von kargen Wenn man an einem beliebigen Tag auf den men-
zwungene Schwangerschaftsabbrüche und unend- den Rückgang verlangsamt. Hirse- und Yams-Ernten leben, Mädchen oft mit schenleeren Platz vor der Kathedrale von Coria
liches Leid für chinesische Frauen waren die Folge. »Niedrige Fertilität hat ökonomische Folgen«, 14 oder 15 Jahren verheiratet werden, ein Mann blickt, auf die dunklen Häuser, die stillen Palmen,
Und weil Eltern um jeden Preis einen Stammhalter konstatiert auch der amerikanische Wirtschaftsnobel- mehrere Ehefrauen nehmen und eine Familie schnell dann ahnt man, was mit dem Begriff »leeres Spa-
wollten, wurden jahrzehntelang weibliche Föten preisträger Paul Krugman. Deshalb helfe es, wenn auf über 20 Kinder anwachsen kann. nien« gemeint ist. Politikerinnen und Politiker
abgetrieben. Heute sind viele der sehnlich er- ein Land gezielt leistungsfähige und qualifizierte Jacobs öffnet einen blauen Koffer aus PVC, in verwenden ihn, um vor dem demografischen
wünschten Jungen dazu verdammt, ein Leben lang Menschen aus dem Ausland anlocke – wie die USA dem ihre wichtigsten Hilfsmittel liegen: Antibaby- Wandel zu warnen. Spanien hat, ähnlich wie Ita-
Single zu bleiben. oder Kanada. pillen, Spiralen, Hormonimplantate und Kondo- lien, eine der niedrigsten Geburtenraten Europas:
Gut situierte Chinesinnen dagegen wollen oft gar Das Beispiel China zeigt, dass Regierungen Be- me. Alles wird kostenlos angeboten. Mobile Teams rund 1,28 Kinder pro Frau. Das hängt auch mit
nicht heiraten, weil sie unemanzipierte Kindsmänner völkerungswachstum binnen kurzer Zeit drosseln der NGO ziehen mit solchen Koffern durch die dem traditionell konservativen Familienbild zu-
und die Frage von Eltern und Schwiegereltern fürch- können. Den Trend wieder umzukehren ist deutlich Dörfer und werben bei religiösen Anführern dafür, sammen, das immer noch viele Frauen zu einer
ten: Wann kommen endlich die Enkelkinder? schwieriger. Aber nicht ganz unmöglich, wenn Ge- dass diese in ihren Freitagspredigten auch über Ge- Entscheidung zwischen Beruf und Familie zwingt.
»Frauen sind immer schwerer zufriedenzustellen«, setzgeber Ausdauer und Geld aufbringen. »Frankreich burtenkontrolle reden. Jacobs hofft außerdem auf Coria ist ein geschichtsbewusstes Städtchen im
klagt Zhu Yongding. Als Erstes fragten potenzielle hat seit über hundert Jahren eine dezidiert geburten- Staatspräsident Mohamed Bazoum, der dem Westen des Landes, Bischofssitz seit dem Jahr
Zukünftige nach den tiaojian des Mannes. Tiaojian fördernde Politik, die auf die französische Niederlage Kampf gegen das ungebremste Bevölkerungs- 1152; etwa 12.300 Menschen leben hier. Für die
bedeutet so viel wie Konditionen, gemeint ist der von 1871 im Deutsch-Französischen Krieg zurück- wachstum höchste Priorität eingeräumt hat. Doch Bewohner des nahe gelegenen Dorfes Pescueza ist
Besitzstand. »Wohnung und Auto sind das Mindes- geht«, sagt Wolfgang Lutz, Professor für Demografie dazu müsste seine Regierung ein Wunder vollbrin- Coria der Ort, der alles hat. Eine Schule. Geschäfte.
te.« Gut für Zhu, dass er sogar zwei Immobilien vor- an der Universität Wien. Frankreich hatte im 19. gen: ein Gesundheitssystem, Schulen und Arbeits- Restaurants und Bars.
weisen kann: eine gestiftet von seinen Eltern, die Jahrhundert eine deutlich niedrigere Geburtenrate plätze schaffen. Und dennoch ist Pescueza womöglich besser
andere selbst finanziert. Einen Die Probleme, mit denen für die Zukunft gerüstet. Seit einigen Jahren be-
ordentlichen Job als Kreditberater viele afrikanische Länder zu suchen und bestaunen Politiker und Journalistin-
hat er auch. Trotzdem hatte er kämpfen haben, zeigen sich im nen aus aller Welt das Dorf mit seinen 150 Ein-
bislang wenig Glück auf dem
Heiratsmarkt. »Meine letzte
10,4 Milliarden sind das Maximum Niger in besonderer Schärfe:
eine Bevölkerung, die sich in-
wohnern. Denn Pescueza führt vor, wie man mit
einer alternden Gesellschaft umgehen kann: in-
Freundin hat erwartet, dass ich nerhalb weniger Jahrzehnte ver- dem man sie willkommen heißt.
jederzeit zur Stelle bin. Dass ich 12 3,0 vielfacht, während die natürli- »Wir wollten unsere alten Menschen nicht einfach
ihr Kleidung kaufe, Schmuck, chen Ressourcen knapper wer- versorgen«, sagt Constancio Rodríguez Martín, 58,
alles, was ihr einfiel.« Laut gewor- den. Und Regierungen, die da- »sondern sie auf jede erdenkliche Weise unterstützen,
10 2,5
den sei sie auch, manchmal sogar mit heillos überfordert sind. damit sie möglichst lange am Dorfleben teilnehmen
handgreiflich. »Ich hätte sie trotz- Wachstumsrate Es gebe eine Grundvoraus- können.« Rodríguez Martín ist Präsident der Vereini-
dem geheiratet«, sagt Zhu weh- 8 in Prozent 2,0 setzung für jeglichen Fort- gung »Freunde von Pescueza«, die sich um die Be-
mütig. »Sie war hübsch, und Ab 2022 Prognose schritt, für Gesundheit, Wohl- tagten im Dorf kümmert. »Das Ganze war Con-
Frauen haben jede Menge Aus- (jeweils mittleres Szenario) stand und Anpassung an den stancios Idee. Wir haben ihm nur bei der Umsetzung
6 1,5
wahl.« Klimawandel, sagt der Wiener geholfen«, sagt José Vicente Granado, 47, von 2007
Schon vor der Einführung Demograf Wolfgang Lutz. bis 2019 Bürgermeister. »Heute ist das ja überall die
der Ein-Kind-Politik sank die 4 1,0 »Unsere Studien zeigen, dass Philosophie: alte Menschen möglichst lange in ihrem
chinesische Fertilitätsrate in- Bevölkerung die Expansion der Bildung, ins- Zuhause wohnen zu lassen. In Pescueza haben wir
in Mrd.
nerhalb eines Jahrzehnts von 2 0,5 besondere die Alphabetisierung schon vor 15 Jahren damit angefangen.«
5,8 auf 2,7 Kinder pro Frau – der Frauen, maßgeblich dafür Das Dorf stand damals vor dem Aussterben.
infolge einer Kampagne na- sorgt, dass zuerst die Sterbe- Fast zwei Jahrzehnte lang war kein Kind mehr ge-
mens »Später, länger, weniger«. raten sinken und dann, mit ei- boren worden. Die Einwohnerzahl war seit den
Die Chinesen sollten erst ab 1950 2000 2050 2100 ner gewissen Verzögerung, auch 1960er-Jahren von rund 700 auf unter 200 ge-
Mitte 20 heiraten und Kinder ZEIT- GRAFIK/Quelle: United Nations, Department of Economic and Social Affairs,
die Geburtenraten.« schrumpft. Von sieben Bars blieb eine übrig, die
bekommen – später. Mindes- Population Division (2022) Der Niger stehe – wie auch Kirche hatte keinen Pfarrer mehr.
tens drei Jahre sollten Frauen der benachbarte Koloss Nige- Dann erwachte Pescueza wieder zum Leben. In
zwischen den Geburten warten, ria – noch ganz am Anfang des den letzten 15 Jahren sind hier 17 Kinder zur Welt
also länger. Und sie sollten »demografischen Übergangs« gekommen; das jüngste ist erst wenige Monate alt.
höchstens zwei Kinder bekommen, also weniger. als Deutschland. Es habe den Krieg gegen Preußen zu sinkenden Geburtenraten. »Und da gibt es Ohne die Idee seines Freundes, sagt José Vicente
So verlangsamte sich das exponentielle Wachstum verloren, weil die französische Armee nicht über ge- noch mögliche Kipppunkte.« Zum Beispiel könn- Granado, wäre es niemals dazu gekommen. Denn
der Bevölkerung. Die Ein-Kind-Politik habe hin- nügend junge Männer verfügt habe, so lautete damals ten sich extremistische Gruppen wie Boko Haram die Initiative von Constancio Rodríguez Martín
gegen gewirkt wie eine demografische »Crash- der Befund in Paris. Seither, sagt Lutz, der auch in durchsetzen, die Bildung verdammten. »Dann hatte Arbeitsplätze für junge Menschen geschaf-
Diät«, schreibt die chinesisch-amerikanische Auto- Shanghai lehrt, herrsche in Frankreich Konsens darü- wächst die Bevölkerung viel schneller, als die Schu- fen. Einige von ihnen ließen sich in Pescueza nie-
rin Mei Fong. Nämlich äußerst ungesund. ber, dass der Staat Geburten fördern müsse. Statt des len expandieren können«, sagt Lutz. »Und dann der und gründeten Familien.
2016 führte der Staat die Zwei-Kinder-Politik Ehegattensplittings gibt es ein Familiensplitting – je hat man einen Teufelskreislauf.« Das Dorf ist heute ganz auf die Bedürfnisse der
ein, doch die Geburtenzahlen fielen weiter. Dass mehr Kinder, desto mehr Steuervorteile. Das Er- Eigentlich sei er optimistisch, dass bessere Bil- Älteren ausgerichtet. Rutschfester Belag auf der
seit 2021 drei Kinder erlaubt sind, änderte nichts gebnis: Mit 1,79 Kindern pro Frau hat Frankreich dung die meisten Länder Afrikas in eine bessere Straße gibt jenen Halt, die nicht mehr trittsicher
daran. »Bloß weil die Regierung sagt, dass ich drei europaweit eine der höchsten Geburtenraten. Zukunft führen werde. »Aber in einigen ist es sind, an den Hauswänden sind Geländer ange-
Porsche kaufen dürfe, heißt das nicht, dass ich mir In Deutschland bemüht sich der Staat erst seit durchaus möglich, dass der Rückwärtsgang einge- bracht. Senioren können sich mit einem elektri-
einen leisten kann«, höhnten Internetnutzerinnen relativ kurzer Zeit, die Vereinbarkeit von Familie und schaltet wird.« schen Buggy herumchauffieren lassen, zum Bei-
vergangenes Jahr. Beruf durch Elterngeld, Vätermonate oder den Aus- Für den Rest der Welt stellt sich, zunehmend spiel zum »Centro de Día«, dem Tageszentrum,
Denn was in China bislang kaum existiert, ist bau von Kita-Plätzen zu verbessern. Seit der Ein- dringlich, eine andere Frage: Hört das Altern und das die »Freunde von Pescueza« im Auftrag der
staatliche Unterstützung bei der Kinderbetreuung. führung des Elterngeldes 2007 ist die Geburtenrate Schrumpfen irgendwann wieder auf? Gemeinde führen. Dort verbringt man den Tag
Gute Krippen und Kindergärten sind teuer, der be- von 1,37 auf derzeit 1,53 gestiegen. Frank Swiaczny zögert mit einer Antwort. Der mit gemeinsamen Mahlzeiten, Gymnastik, Basteln
zahlte Mutterschutz ist in der Regel auf knapp hun- Jedes Zehntel mehr ist ein kleiner Erfolg. Aber deutsche Demograf war von 2017 bis 2020 Vize- oder Rätsellösen. Wer regelmäßig kommt, zahlt
dert Tage begrenzt. Frauen mit Kinderwunsch müs- letztlich kann auch die beste Familienpolitik wenig direktor der Bevölkerungsabteilung bei den Ver- einen Beitrag von 350 Euro im Monat; den Rest
sen mit einem Karriereknick rechnen. Offiziell ist daran ändern, dass Beziehungen heute brüchig einten Nationen in New York, heute ist er am übernimmt der Staat. Rentnerinnen und Rentner,
Jobdiskriminierung zwar verboten, doch unter Xi sind. Und dass Menschen, vor allem Frauen, die Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in die vor Jahrzehnten fortgingen, kehren nun gerne
Jinping wird sie toleriert. Seit seinem Amtsantritt frei entscheiden können, manchmal schlicht kei- Wiesbaden tätig. Die Entwicklung der kommen- in die Heimat zurück. Besonders konservativ ist
2012 ist China im globalen Gendergleichheitsindex nen Kinderwunsch verspüren. den Jahrzehnte lasse sich recht zuverlässig berech- das Dorf deswegen nicht geworden: Der amtierende
von Platz 69 auf Rang 102 gefallen. Auf dem afrikanischen Kontinent sieht das nen, sagt Swiaczny, aber je weiter man in die Zu- Bürgermeister ist, wie sein Vorgänger, Sozialdemo-
Die Kommunistische Partei will der Geburten- ganz anders aus. Dort wächst die Bevölkerung in kunft blicke, desto größer werde naturgemäß der krat. Pescueza ist ein guter Ort, um alt zu werden.
krise nun mit ungewöhnlichen Ideen beikommen: vielen Ländern schneller als je zuvor. Und auch Wahrscheinlichkeitsbereich. Er wagt dennoch eine Das ist die Politik, die zählt.
Warum nicht einen arbeitslosen Mann zum Gat- dieses Wachstum ist alles andere als ein Segen. Prognose: »Die historische Erfahrung lehrt, dass Herminia Samson Martin ist eine kräftige,
ten nehmen?, schlugen Provinzkader in Nordchina sich der Rückgang der Fertilität, wenn er erst ein- 83-jährige Dame mit einer Vorliebe für Strohhüte.
den weiblichen Staatsangestellten vor. Sie stellten Niamey, Niger mal begonnen hat, in der Regel schnell fortsetzt.« Sie wohnt seit Februar im Tageszentrum, mit Voll-
Zuschläge für den Wohnungskauf und künftige Tatsächlich ist die Geburtenrate bislang so gut zeitbetreuung. »Meine Tochter war dagegen«, er-
Schulgebühren in Aussicht – und ernteten einen In der nigrischen Hauptstadt Niamey drängen wie überall, wo sie auf den kritischen Wert von 2,1 zählt sie, »aber sie lebt in Barcelona. Wer also
Shitstorm. sich Frauen zwischen Ziegenherden hindurch zum fiel, weiter gesunken. In Südkorea liegt sie mitt- kümmert sich um mich, wenn mir etwas passiert?«
In der Metropole Nanjing macht die Stadtver- »Cabinet Médical Marie Stopes«, wo Adama Jo- lerweile bei 0,87. Samson Martin teilt sich ein Zimmer mit einer
waltung Kontrollanrufe bei frisch Vermählten, um nathan Jacob auf sie wartet. Die Krankenschwes- Wolfgang Lutz’ Team hat modelliert, was ge- anderen Bewohnerin. Gemeinsam gucken sie
zu erfragen, ob Nachwuchs unterwegs ist. So be- ter hat früher im ländlichen Süden gearbeitet, wo schähe, wenn die weltweite Geburtenrate sich bis manchmal türkische Seifenopern, aber lieber geht
richtete es ein Paar auf dem Mikroblogging-Dienst Frauen im Schutz der Nacht und mit tief ins Ge- 2100 dem heutigen Wert in Europa annäherte, sie spazieren. Zu ihrem Olivenhain, den sie nach
Weibo. Der Beitrag wurde später gelöscht. sicht gezogenem Hidschab zum Gesundheitszen- rund 1,5 Kinder pro Frau, und danach konstant wie vor bewirtschaftet, zum Angeln oder zu ihrem
Eine feministische Aktivistin, die ungenannt trum schlichen, um Verhütungsmittel zu bekom- bliebe: »Dann leben 2200 noch drei bis vier Mil- Haus, um nach dem Rechten zu sehen. Zwei Eta-
bleiben will, berichtet von Krankenhäusern, die men. Am Eingang des Cabinet Médical Marie liarden Menschen auf der Erde«, sagt Lutz. gen, voll mit Fotos und Erinnerungen. Wenn ihre
Abtreibungen und Sterilisationen erschwerten: »Es Stopes sind die Angebote weithin sichtbar: Ultra- Die Hoffnung, dass dies eine Art Gesund- Tochter mit den Enkeln und Urenkeln zu Besuch
gibt noch keine offiziellen Gesetze dazu, aber der schall, Geburtsnachsorge und vor allem Familien- schrumpfung für den Planeten und sein Klima sein kommt, wohnen sie dort.
Staat experimentiert hier und da schon.« planung. könnte, teilen Fachleute nicht: »Eine schrumpfende Wie so viele in ihrer Generation hat Samson
Xi Jinping sprach es kürzlich auf einem Partei- Frauen ziehen im Niger im Durchschnitt 6,82 Bevölkerung ist nicht unbedingt eine Entlastung, Martin das Dorf Mitte der 1960er-Jahre verlassen,
tag zum ersten Mal offen aus: China müsse seine Kinder auf, so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt. wenn sie mit steigendem Ressourcenverbrauch ein- weil es keine Arbeit gab, keine Perspektive, nicht
»Bevölkerungsstrategie optimieren und ein Unter- Dass sie im Laufe ihres Lebens 12, 13 oder mehr hergeht«, sagt Swiaczny. »Konsum und Produktions- einmal fließendes Wasser. Mit ihrem Mann zog sie
stützungssystem für Geburten entwickeln«. Denn Babys gebären, ist nicht unüblich. Und dank besserer bedingungen haben einen wesentlich größeren Ein- nach Barcelona. Er arbeitete in einer Autofabrik,
die demografische Lage könnte sogar noch medizinischer Versorgung überleben mehr Neugebo- fluss als die reine Bevölkerungszahl.« Hinzu komme, sie putzte Büros, und gemeinsam zogen sie zwei
schlechter sein als offiziell dargestellt. Der chine- rene denn je – eine gute Nachricht. ergänzt Lutz, dass die Bevölkerungsgröße wie ein Kinder groß. Aber als ihr Mann 1995 krank wur-
sischstämmige Geburtenforscher Yi Fuxian von Das Problem: Im Niger leben knapp 25 Millionen Tanker sei, der sich nur langsam bewege. Doch der de, sehnte er sich nach der Heimat. Also kehrten
der amerikanischen University of Wisconsin Menschen, 2050 werden es 68 Millionen sein. Aus Ausstieg aus fossiler Energie duldet keinen Aufschub. sie zurück. »Jetzt ist er schon 20 Jahre tot«, sagt sie
schreibt in seinem 2013 veröffentlichten Bestseller eigener Kraft kann das Land derzeit aber nur fünf Wenn unser Schrumpfen aber nicht einmal das leise. Auch ihren Sohn hat sie in Pescueza begra-
Großes Land, leeres Nest, dass weite Teile der Bevöl- Millionen Menschen ernähren. Fast 70 Prozent der Weltklima retten kann – ist es dann am Ende doch ben lassen; er starb mit 49 Jahren an Krebs.
kerungsstatistik gefälscht seien. In vielen Provin- Erwachsenen können nicht lesen und schreiben. nur eine traurige Nachricht? Herminia Samson Martin sagt, sie habe ein
zen stimmten die Geburtenzahlen nicht mit den Hungersnöte und Krankheiten, verschärft durch die Die unbefriedigende Antwort lautet: Wir wis- gutes Leben gehabt. Wäre sie noch mal 20 Jahre
späteren Einschulungszahlen des Geburtsjahr- Klimakrise, sowie die Bedrohung durch islamistische sen es noch nicht. Oder positiver formuliert: Es alt, wüsste sie nicht, was sie anders machen würde.
gangs überein. Im Jahr 2000 etwa wurden laut Terrorgruppen und Schmugglerbanden gefährden liegt in unserer Hand. Natürlich hat eine alternde Wie denkt sie über die jungen Leute, die kaum
Peking 17,71 Millionen Kinder in China gebo- die jüngsten Fortschritte. Bevölkerung eine andere soziale und wirtschaft- noch Kinder bekommen? Sie stutzt, dann sprudelt
ren – Yi Fuxians Berechnungen zufolge kamen in Eine Neonröhre taucht den Untersuchungs- liche Dynamik als eine junge, wachsende. Weniger es aus ihr heraus: »Heute haben wir die Pille, Kon-
Wahrheit nur 13,79 Millionen zur Welt. »In är- raum im Cabinet Médical Marie Stopes in fahles risikofreudig dürfte sie sein, aber auch weniger ag- dome, es gibt die Option, keine Kinder zu haben.
meren Provinzen übernimmt die Zentralregierung Licht, der Gynäkologenstuhl steht auf weißen gressiv – was sich positiv auf die Zahl globaler Frauen können arbeiten und müssen sich nicht
den größten Anteil der Bildungskosten und Infra- Fliesen. Hier untersucht ein Arzt täglich bis zu 30 Konflikte auswirken könnte. Außerdem sei sie dem Mann fügen.« Ein Lächeln zieht sich über ihr
strukturinvestitionen«, sagt er. »Die Behörden in Frauen. Voruntersuchungen, Ultraschall, Nach- nicht zwangsläufig weniger produktiv, sagt Wolf- Gesicht. »Die Frau ist frei, und das ist gut so.«
6 POLITIK
K
aum hat das neue Jahr begon-
nen, wird gefeiert.
Vor 60 Jahren, am 22. Janu-
ar 1963, unterzeichneten Kon-
rad Adenauer und Charles de
Gaulle in Paris einen Vertrag,
der Geschichte machen sollte.
Der Bundeskanzler und der französische Präsident
besiegelten, im Wortlaut recht schmucklos, das
Ende einer Feindschaft, die hundert Jahre und
drei Kriege lang gewährt hatte. Vorgestern noch
war Paris von deutschen Truppen besetzt gewesen,
nun verabredete man: Städtepartnerschaften,
Schüleraustausch, Regierungskonsultationen.
Zum Jahrestag wird Olaf Scholz mit seinem
ganzen Kabinett nach Paris reisen. Auch die Abge-
ordneten des Bundestags werden aufbrechen, um
dort ihre französischen Kolleginnen und Kollegen
zu treffen. Denn mit dem Élysée-Vertrag wurde
zugleich ein politischer Mythos begründet: die
Geschichte zweier verfeindeter Nachbarn, die sich
aussöhnten, seitdem eine einzigartige Beziehung
pflegen und die politische Einigung Europas ge-
stalten. Der deutsch-französische Motor, die Ach-
se, le couple, das Paar – es gibt für diesen Mythos
viele Bilder.
Doch ausgerechnet in den vergangenen Mona-
ten haben Deutschland und Frankreich gestritten
wie schon lange nicht mehr. Egal ob es um Gas-
einkäufe, Rüstungsprojekte, die Verteidigung der
heimischen Industrie oder die Weltraumpolitik
geht – fast nie waren sich die Regierungen in Paris
und Berlin einig. Und gemeinsame Initiativen
haben sie schon gar nicht ergriffen.
Als Olaf Scholz im November nach China
reiste, hätte Emmanuel Macron ihn gern begleitet.
Nicht nur in Moskau, auch in Peking versucht
man, die EU zu schwächen und zu spalten. Macron
wollte diesen Versuchen mit einem Signal der
deutsch-französischen Geschlossenheit begegnen.
Aber Scholz lehnte ab, der Kanzler fuhr lieber
allein; in Paris war man perplex. Das Fass lief über,
als die Bundesregierung eine Initiative lancierte,
um die Luftverteidigung zu stärken (»Sky Shield«)
– mit 14 anderen europäischen Ländern, darunter
der Nato-Partner Großbritannien, aber ohne
Frankreich. Macron strich daraufhin kurzerhand
ein Treffen der französischen und der deutschen
Regierung aus dem Kalender. Das hatte es in 60
Jahren noch nicht gegeben.
Woher rührt der Streit? Und warum eskaliert
er ausgerechnet jetzt? In einer Zeit, da die Euro-
päische Union herausgefordert wird wie nie und
der Zusammenhalt wichtiger ist denn je.
Olaf Scholz und Emmanuel Macron hätten
»ihren Rhythmus noch nicht gefunden«, heißt es
im Umfeld des französischen Präsidenten. Auch
mit Angela Merkel war es häufig schwierig, aber
der Präsident und die Kanzlerin telefonierten oft
und schrieben einander fast täglich Textnachrich-
ten. Scholz hingegen sei für Macron bislang »kein
guter Gesprächspartner« gewesen, sagt Sébastien
Maillard, der Direktor des Pariser Jacques-Delors-
Instituts. Der frühere Präsident François Hollande
hat in einer kleinen Runde auf die unterschiedli-
chen Charaktere der beiden Protagonisten hinge-
wiesen: »Scholz sagt nichts, und Macron spricht
die ganze Zeit.« Das seien keine guten Vorausset-
zungen, um sich zu verständigen.
Macron und Scholz telefonieren beide noch
immer gelegentlich mit Putin
Der deutsch-französische Mythos lebt auch von
den politischen Paaren, die sich im Laufe der Jahr-
zehnte gefunden hatten: Helmut Kohl und Fran-
çois Mitterrand, Valéry Giscard d’Estaing und
Helmut Schmidt; selbst Merkel und Nicolas Sar-
kozy harmonierten eine Weile. Der Hinweis auf
die unterschiedlichen Charaktere von Macron und
Scholz greift trotzdem zu kurz. Die Ursachen für
die jüngsten Auseinandersetzungen liegen tiefer,
und dass sie nun aufbrechen, ist ohne den russi-
schen Angriff auf die Ukraine nicht zu erklären.
Dass dieser Angriff Deutschland und Frank-
reich gegeneinander aufbringt, erscheint auf den
ersten Blick paradox. In der Bewertung des Kon-
flikts selbst und im Umgang mit Russland gibt es
zwischen Scholz und Macron wenig Differenzen.
Beide haben sich in Putins Absichten getäuscht,
beide haben anfangs gezögert, als es darum ging,
Waffen an die Ukraine zu liefern. Beide sind im
vergangenen Juni gemeinsam nach Kiew gereist,
um Zweifel an ihrer Unterstützung zu zerstreuen
und der Ukraine die Tür zur EU zu öffnen. Beide
telefonieren noch immer gelegentlich mit Putin.
Trotzdem hat der Krieg Deutschland und
Frankreich auf verschiedene Weise getroffen
und in beiden Ländern unterschiedliche Reflexe
ausgelöst.
Es gibt in Frankreich genauso wie in Deutsch-
land eine große Solidarität für Geflüchtete aus der
In unserer Ausgabe vom 29. Dezember sind uns zwei
Fehler unterlaufen. Über die Verfasser des Beitrags
»Wir müssen den Krieg vom Ende her denken«
(Seite 7) muss es heißen: »Elvira Rosert ist Gastpro-
Verträgt sich das?
Im Ukraine-Krieg scheinen Deutschland und Frankreich sich einig zu sein. Doch dahinter
verbergen sich tiefe Gegensätze in der Sicherheits- und Energiepolitik VON MATTHIAS KRUPA
Ukraine. Aber es gibt viel weniger Ukrainerinnen
und Ukrainer, die dort angekommen sind.
Deutschland hat seit Beginn des Krieges mehr als
eine Million Menschen aufgenommen, in Frank-
reich sind es nur 100.000. Die Ukraine ist weiter
weg, die Geografie schafft eine größere Distanz.
Scholz hat unmittelbar nach dem russischen
Angriff eine Zeitenwende ausgerufen. Seitdem
steht in Deutschland vieles infrage, was bislang
selbstverständlich zu sein schien, von der Ausrüs-
tung der Bundeswehr bis zum Exportmodell der
Wirtschaft. Frankreichs politische Klasse hingegen
wirkt weitaus weniger erschüttert, im Gegenteil.
Macron hat seit dem Beginn seiner Amtszeit
für eine stärkere und unabhängigere EU gewor-
ben, wirtschaftlich wie militärisch. »Allein Europa
kann tatsächliche Souveränität gewährleisten, das
heißt, die Fähigkeit, in der heutigen Welt zu be-
stehen«, lautete ein Schlüsselsatz einer Rede an der
Sorbonne-Universität, mit der Macron im Herbst
2017 eine »Neubegründung« (»refondation«) der
EU forderte. Nun sehe sich der Präsident »durch
die Geschichte bestätigt«, sagt Sébastien Maillard.
Frankreich hat die europäische Einigung schon
früh als ein machtpolitisches Projekt verstanden:
als Versuch, den eigenen Einfluss in der Welt zu
behaupten. In Deutschland hingegen dominierte
lange Zeit ein idealisiertes Bild, wonach die EU
den Kontinent und das eigene Land von der Last
der Geschichte erlösen sollte.
Frankreich fällt es daher in gewisser Weise
leichter, sich den neuen Konflikten zu stellen.
fessorin für Internationale Beziehungen an der Freien
Gleichzeitig legt der Krieg in der Ukraine auch in
Paris Widersprüche offen. Macron hat mit den
Ländern Mittel- und Osteuropas lange Zeit
gefremdelt; nun wird dort, im Osten, über Euro-
pas Zukunft entschieden. In gewisser Weise wie-
derholt sich damit die historische Konstellation
von 1989: Auch damals wendete sich Europas
Geschichte Richtung Osten, und ausgerechnet
Frankreich sperrte sich anfangs gegen die deutsche
Wiedervereinigung. Ähnlich wie seinerzeit hört
man in Paris auch jetzt wieder die Sorge, Deutsch-
land könne sich von Frankreich ab- und mehr dem
Osten zuwenden.
Hinzu kommen Frankreichs Vorstellungen ei-
nes souveränen, möglichst unabhängigen Europas.
Schon de Gaulle hatte die Aussöhnung mit
Nationalgetränke im intensiven Dialog
Deutschland auch deshalb gesucht, um die Verei-
nigten Staaten auf Distanz zu halten. Macrons
wiederholtes Plädoyer für eine neue »europäische
Sicherheitsarchitektur« steht in dieser Tradition.
Noch vor Kurzem hatte er die Nato für »hirntot«
erklärt. Nun aber haben sich beide, die Nato und
die USA, als unverzichtbar für Europas Sicherheit
erwiesen – eine Erkenntnis, die in Paris nur wider-
willig zur Kenntnis genommen wird.
Deutschland fällt es leicht, die Nato als Sicher-
heitsgaranten für Europa zu akzeptieren. In Paris
hingegen weist ein hochrangiger Militär in diesen
Tagen spitz darauf hin, dass die Nato die einzige
Institution sei, die es den USA erlaube, in Europa
präsent zu sein. Macron stellt das Bündnis nicht
infrage, aber er möchte den Moment nutzen, um
Berichtigungen
Universität Berlin. Frank Sauer ist Forschungsleiter
am Metis Institut für Strategie und Vorausschau an
der Universität der Bundeswehr München.«
die europäische Verteidigungsfähigkeit – und die
französische Rüstungsindustrie – zu stärken. Des-
halb wird in Paris misstrauisch registriert, dass
Deutschland seit Scholz’ Ankündigung, die Bun-
deswehr besser ausstatten zu wollen, neue Ausrüs-
tung vor allem in den USA bestellt hat. Dazu ge-
hören unter anderem 35 Kampfflugzeuge vom
Typ F-35 und 60 schwere Transporthubschrauber.
Auch die Technologie für das geplante Luftvertei-
digungssystem Sky Shield stammt nicht aus Euro-
pa, sondern aus Israel und den Vereinigten Staaten.
Am schärfsten wird der Streit zwischen
Deutschland und Frankreich in der Energiepolitik
geführt. Deutschland und seine Industrie haben
bis vor Kurzem von billigem Gas aus Russland
profitiert. Nun kompensiert die Regierung die
Foto: Philotheus Nisch für DIE ZEIT
Ausfälle, indem sie kurzfristig Gas aus anderen
Ländern zusammenkauft. Frankreich hingegen ist
dank der heimischen Atomindustrie weniger ab-
hängig von Importen und fossilen Energieträgern,
auch wenn in den vergangenen Monaten viele
Atomkraftwerke ausfielen. Nach und nach sollen
sie in diesen Wochen wieder ans Netz gehen.
Der unterschiedliche Energiemix führt zu ei-
nem unterschiedlichen Verständnis des Energie-
markts. Dieser ist in Frankreich weitgehend zen-
tralisiert und unverändert staatsnah; gerade erst
hat der Staat das Atomunternehmen Électricité de
France (EDF) wieder zu hundert Prozent über-
nommen. Schon früh hatte die Regierung den
Strom- und Gaspreis für französische Verbrau-
cherinnen und Verbraucher gedeckelt und sich
Weiterhin ist im Hintergrund des Fotos auf Seite 12
nicht etwa, wie in der Bildunterzeile notiert, das
Kapitol in Washington zu sehen, sondern das Weiße
Haus. Wir bedauern die Versehen.
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
für ähnliche Eingriffe auf dem europäischen
Energiemarkt eingesetzt. Die Bundesregierung
hingegen hat vehement gegen einen Preisdeckel
für Gaseinkäufe in Europa gekämpft, gleichzeitig
aber ein Paket von bis zu 200 Milliarden Euro
angekündigt (»Doppelwumms«), um Verbraucher
und Industrie vor den Folgen der hohen Energie-
preise zu schützen.
In Frankreich sei so der Eindruck entstanden,
dass Deutschland unverändert seinen eigenen
nationalen Vorteil suche und nicht bereit sei, etwa
die Gaseinkäufe mit den europäischen Nachbarn
abzustimmen, sagt Marc-Antoine Eyl-Mazzega.
Der Deutschfranzose leitet die Abteilung für Ener-
giepolitik des Französischen Instituts für interna-
tionale Beziehungen (Ifri). Auch der frühere Air-
bus-Chef Louis Gallois hat unlängst mit Blick auf
die Energiepolitik scharf formuliert: »Deutschland
widersetzt sich allem, was Frankreich vorschlägt,
obwohl es selbst einen großen Teil der gegenwärti-
gen Schwierigkeiten verursacht hat.«
Die Frage nach einem europäischen Gaspreis-
deckel ist mittlerweile entschieden. 23 der 27 EU-
Länder haben kurz vor Weihnachten die Einfüh-
rung eines solchen Instruments beschlossen. Die
Bundesregierung hat sich in der abschließenden
Abstimmung enthalten, andernfalls wäre sie über-
stimmt worden. »Wir schimpfen gerne über die
›bösen Franzosen‹«, räumt ein Berliner Regierungs-
vertreter ein. »Vielleicht sollten wir uns besser fra-
gen, was wir selbst falsch gemacht haben.«
Auch der alte Streit um die Atomkraft
erscheint in neuem Licht
Der Streit um die künftige Energiepolitik in der
EU ist damit nicht entschieden. Frankreich drängt
zusammen mit anderen Ländern darauf, den euro-
päischen Strommarkt neu zu regeln, um die Preise
zu senken. Die Bundesregierung hat auch diesen
Vorstoß zunächst abgewehrt. Und auch der alte
Streit um die Atomkraft erscheint angesichts des
Krieges und des Klimawandels in neuem Licht.
Die Kernenergie ist so gut wie CO₂frei; außerdem
ist die Technologie mit Ausnahme des Urans das
importiert werden muss weitgehend unabhängig
von Dritten Trotzdem versuche die Bundesregie
rung nach wie vor in Brüssel eine mögliche För
derung der Atomenergie zu verhindern sagt der
Energieexperte EylMazzega Dass Deutschland in
der gegenwärtigen Situation demnächst drei intak
te Atomkraftwerke abschalte hielten viele Franzo
sen ohnehin für »völlig verrückt«
Deutschland habe seine Energiewende ver-
patzt, sich von Russland abhängig gemacht,
damit die EU geschwächt, ohne Rücksicht auf
seine Nachbarn den Gasmarkt leer gekauft, und
nun sei es schon wieder davon überzeugt, besser
als die anderen zu wissen, welche Energiepolitik
richtig sei – das ist, etwas zugespitzt, die französi-
sche Perspektive.
In Berlin hingegen wird süffisant darauf hinge-
wiesen, dass man den Nachbarn gerade Strom lie-
fern müsse, weil deren Kernkraftwerke nicht funk-
tionierten. Vielen Sozialdemokraten und Grünen
gilt Frankreich als verbohrte Atomnation; der
FDP wiederum fällt es schwer, in Macron einen
Liberalen zu erkennen. Sie sehen ihn als Präsiden-
ten eines hoch verschuldeten Landes, dem Ord-
nungspolitik wenig bedeutet. »Macron mag für
Frankreich ein Liberaler sein, aber er ist in erster
Linie ein Franzose«, heißt es.
Als Emmanuel Macron vor bald sechs Jahren
Präsident wurde, setzte er ganz auf Deutschland.
Er zitierte Goethe, warb um Merkel und verneigte
sich am Sarg von Helmut Kohl. Später hievte er
Ursula von der Leyen an die Spitze der EU-Kom-
mission. Schon lange hatte kein französischer Prä-
sident mehr den deutsch-französischen Mythos so
sehr beschworen wie er. Umso größer ist nun die
Enttäuschung. Schon Merkel hatte sich als hinhal-
tende Partnerin erwiesen, doch mit Scholz ist es
nicht besser geworden. Der Ampelkoalition fehl-
ten »die deutsch-französischen Reflexe«, findet
man in Paris. Tatsächlich haben weder der Kanzler
noch die führenden Ministerinnen und Minister
eine besondere Beziehung zu Frankreich.
Gefeiert wird jetzt trotzdem. Überhaupt hat in
den vergangenen Wochen eine große Betriebsam-
keit zwischen Paris und Berlin eingesetzt. Arbeits-
gruppen wurden gegründet, gemeinsame Papiere
formuliert. Beide Regierungen haben sich gegen-
seitig versichert, einander mit Strom- und Gaslie-
ferungen auszuhelfen. Macron hat Annalena Baer-
bock, Robert Habeck und Christian Lindner im
Élysée empfangen – eine ungewöhnliche Geste für
einen Präsidenten.
Beide Seiten wissen, Deutschland und Frank-
reich müssen sich verständigen, wenn Europa sich
behaupten will. Nur von einem »Paar« wolle man
künftig nicht mehr sprechen, heißt es in Paris. Die
Beziehung sei doch sehr gezwungen.
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023
Das besetzte Dorf Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier soll verschwinden. Was auf dem Spiel steht
I
n den letzten Wochen ist der dünne Ton
lauter geworden, als schleife Wind be-
harrlich über Kanten; Obertöne, kon-
stantes Mahlen: Der Schaufelradbagger
261, 220 Meter Länge, 70 Meter hoch,
7600 Tonnen Dienstmasse, 1961 in Be-
trieb genommen, fasst in den Boden. Er
treibt die Abbruchkante des Tagebaus Garzweiler
gegen Lützerath, den seit zweieinhalb Jahren be-
setzten Weiler im Rheinischen Revier. Scheinbar
mühelos drehen sich zehn Schaufeln von unten
gegen die Deckschicht, nehmen immer bis zu 2,3
Kubikmeter Boden weg, Tag und Nacht, ockergel-
ber Löss, feiner Silt, bester Ackerboden. Manchmal
trägt der Wind das Geräusch der Förderbänder aus
der Grube. Den Bagger 258, der weiter hinten
Richtung Keyenberg gräbt, hört man kaum.
Lützerath könnte schon nächste Woche Schau-
platz einer gewaltigen und sehr grundsätzlichen
Auseinandersetzung werden: Staat gegen Demons-
tranten, Politik gegen Protest-Bürger, es droht ein
wochenlanger Polizeieinsatz, bei dem um Über-
zeugungen gerungen wird, um die Durchsetzung
eines Rechtstitels, um Symbole und Zentimeter
des derzeit ziemlich schlammigen Bodens.
Durch all das schimmert als Menetekel die Er-
innerung an die aus den Fugen geratene Räumung
des Hambacher Forstes 2018, bei der sich der
ANZEIGE
Das innovative
Sprachmagazin der ZEIT
Spannende und
aktuelle Berichte aus
der Wirtschaftswelt
BUSINESS-SPOTLIGHT.DE/INFL ATION
Jetzt wird abgeräumt
Wille nach politischen Zeichen gegen eine ge-
duldigere Polizeistrategie durchsetzte. Das Ver-
waltungsgericht Köln urteilte 2021, dass der Ein-
satz rechtswidrig gewesen sei, Berufung läuft. Ein
Filmstudent fiel aus 20 Metern in den Tod.
Über Lützerath hängt der Himmel wie ein
grauer Baldachin, es regnet beharrlich, der Ort
markiert eine Bruchstelle zwischen zwei Logiken,
die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Setzen
sich hier internationale Abkommen und wissen-
schaftliche Erkenntnisse durch, oder rechtskräftige
Urteile und politische Verabredungen? Wird wei-
ter Braunkohle für eine Wirtschaft gefördert, die
auf Wachstum und einen langsamen Wandel zur
Umweltfreundlichkeit setzt – so lang zumindest,
wie der Profit garantiert ist? Oder stellt sich hier
eine Frage an den Kapitalismus?
Die RWE Power AG hat unter dem Weiler 110
Millionen Tonnen Kohle gefunden. In Höfen und
Holzbauten haben sich Menschen eingerichtet, die
glauben, dass wir mit unserer Art zu wirtschaften und
zu leben an eine Strukturgrenze kommen. Sie zitieren
wissenschaftliche Untersuchungen: Zum Beispiel
rechnete vor drei Jahren das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung aus, wie Deutschland das poli-
tische Ziel erreichen könnte, die Erderwärmung bei
etwa 1,5 Grad zu halten. Aus den Tagebauen Ham-
bach und Garzweiler dürften maximal 200 Millionen
Lernen in den
Niveaustufen A2-C1
Inflationsausgleich
POLITIK
Der Tagebau Garzweiler bei Grevenbroich
Tonnen Braunkohle gefördert werden. Kraftwerke
müssten früher stillgelegt werden. RWE will und
darf noch 280 Millionen Tonnen aus der Erde holen.
In Lützerath folgt der Konzern betriebswirt-
schaftlichen Maßgaben. Dafür will er Häuser ab-
reißen, Bäume roden, Erdreich abgraben. Er muss
das, sagen Sprecher, wenn Energiesicherheit das
Ziel ist. Das Oberverwaltungsgericht Münster be-
stätigt Ende März, dass der Abbau weitergeführt
werden darf, um laufende Kraftwerke zu beliefern.
Ersatz, die Versorgung aus dem Hambacher Forst,
sei »nicht ohne größeren Aufwand« zu realisieren.
Die Feststellung, dass eine Versorgung des
Energiemarkts mit Braunkohle gefährdet sei,
reicht, um Landwirten Flächen zu entziehen. All
das stützt sich auf Bergrecht: Bodenschätze ge-
hören nicht automatisch Grundeignern, dürfen als
bergfreie Rohstoffe von Unternehmen mit staat-
lichen Genehmigungen abgebaut werden. Interes-
sen des Gemeinwohls treten zurück. So steht es
seit 1982 in einem Bundesgesetz. Außerdem
braucht RWE Abraum, um die Grube an anderen
Stellen zu verfüllen. Den räumt Bagger 258 ab.
Eine alternative Tagebauführung verwarf RWE als
unwirtschaftlich.
Anfang Oktober steht Markus Krebber auf
einer Pressekonferenz neben NRW-Wirtschafts-
ministerin Mona Neubaur und ihrem Parteikolle-
Besondere Begriffe
werden erklärt English for your work and life!
Jetzt Business Spotlight ein Jahr lang zum Vorzugspreis
lesen und 25 € Rabatt sichern!
25!€
sichern!
VON LENNART LABERENZ
gen Robert Habeck. Krebber wirkt wie ein weiterer
Minister, ist aber Vorstandsvorsitzender von RWE.
Die drei präsentieren eine Einigung: Der Tagebau
Garzweiler bekommt neue Grenzen, fünf Dörfer
werden erhalten, der Ausstieg aus der Braunkohle-
verstromung im Rheinischen Revier wird von
2038 auf 2030 vorgezogen. Das Opfer der Verein-
barung heißt: Lützerath. Unter dem Weiler ist der
Abbau besonders einfach, unter den anderen Dör-
fern werden die Flöze dünner. Auch ohne Lütze-
rath anzutasten, könnte RWE 115 Millionen Ton-
nen aus der Erde holen.
Braunkohle hat einen deutlich schlechteren
Brennwert als Öl, Gas und Steinkohle und ist
gleichzeitig klimaschädlicher: Wer eine Tonne ver-
feuert, produziert etwa eine Tonne Kohlendioxid.
Der Abbau senkt den Grundwasserspiegel dras-
tisch, vernichtet Arten, Kohlelager jagen Fein-
staubwerte in die Höhe. Zwischen Köln, Düssel-
dorf und Aachen stehen drei Kohlekraftwerke eng
beieinander, blasen seit vielen Jahren zusammen
mehr CO₂ in die Luft als jede andere Region in
Europa. Auf einer Emissions-Liste aller Dax-Un-
ternehmen rangiert RWE seit Jahren an der Spitze.
Dagegen kampieren in Lützerath seit zweiein-
halb Jahren Menschen, halten Seminare ab, züch-
ten Salat in kollektiver Landwirtschaft, üben Klet-
tern, bauen Barrikaden: Sie wollen eine physische
+49 89 121 407 10
7
Foto: Westend61/imago
Blockade bilden, eine Chance auf 1,5 Grad Erd-
erwärmung erhalten. Viele verweisen auf das Ur-
teil des Bundesverfassungsgerichts von 2021, das
die Bundesregierung aufgefordert hat, bei der Er-
reichung der selbst gesteckten Klimaziele kräftig
nachzusteuern.
Oft gehen sie nach vorn an die Kante, schauen
lange auf Bagger 261 und das aufgerissene Loch.
Vermummte stehen dann neben Rentnern in
Funktionsjacken, Besuchern aus der Region. Das
Loch reicht bis fast an den Horizont, Ockergelb
fällt in graue Schattierungen, weiter unten graben
andere Bagger, noch höher und schwerer, in
schwarzem Grund. Ihre Bewegung verströmt et-
was Bedrückendes, Faszination, von Fatalismus
durchwebt. Die meisten kommen mit schweren
Schritten zurück, klettern über den rutschigen
Wall, Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Schweigen.
Hören Sie den Podcast
Am Ende der Woche sprechen wir über Politik.
Eine Stunde, ein Gast, ein Thema.
Diese Woche geht es um die Konfrontation
zwischen den Klimaaktivisten und dem Staat in
Lützerath. »Das Politikteil«, jetzt anhören unter
www.zeit.de/das-politikteil
8 POLITIK
»Der Dornenkranz ist die Krone des Dichters«
Als Artyom Kamardin in Moskau ein Gedicht vorliest, entscheidet die Polizei, ihn zu verhaften.
Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft, und niemand weiß, was aus ihm wird VON VALERIE SCHÖNIAN
E
r zieht sich in seinem Zimmer
an der Klimmzugstange hoch,
die an der Wand hinter ihm
hängt. Artyom Kamardin will
zeigen, wie sie funktioniert.
Es ist ein Nachmittag im
März 2022, ein Videoanruf,
um von ihm zu hören, wie der Krieg auch das
Leben in Russland verändert hat. Kamardin,
31 Jahre alt, sagt, Sport sei wichtig in diesen
Zeiten, um ruhig zu bleiben. Er lacht oft wäh-
rend des Gesprächs, redet schnell und viel, er
trinkt einen Kamillentee.
Sechs Monate später, an einem Morgen im
September, stürmt die Moskauer Polizei
Artyom Kamardins Wohnung. Nimmt ihn
mit. Nimmt auch den Glauben an das biss-
chen Rechtsstaat mit, das es in Russland noch
gab, das bisschen Hoffnung.
Bevor aber aus Artyom Kamardin ein
Angeklagter, Oppositioneller, also ein Exem-
pel geworden ist, war er einfach ein junger
Mann in Moskau. Ein Dichter, der in einer
WG lebt, jeden Tag zur Arbeit geht und sich
zurechtfinden soll in dieser Realität, in der sein
Land einen Krieg begonnen hat, den er nicht
erträgt. Und der frisch verliebt ist.
Seine Freundin ist Alexandra Popowa,
genannt beim Spitznamen Sascha, selbst Künst-
lerin. Sie malt Bilder und sitzt, zu dem Zeitpunkt
27 Jahre alt, in Haft. Die beiden waren auf dem
Weg zu einer Antikriegsdemo verhaftet worden.
Sie musste für einen Monat ins Gefängnis, weil
es schon ihre zweite Verhaftung war – ein Jahr
zuvor hatte sie bei einer Mahnwache eine Schutz-
maske getragen, auf der »Freiheit« stand. »Der
Staat sieht in ihr eine Wiederholungstäterin.« Das
schreibt Kamardin mit einem Smiley versehen
per Telegram in einer der Nachrichten, von
denen er zahlreiche schicken wird, die zu einer
Art Tagebuch für die deutsche Journalistin wer-
den. Das Protokoll seines Verschwindens, wie
sich herausstellen wird.
Artyom Kamardin versorgt seine Freundin
im Gefängnis: mit Zigaretten, Keksen, Medi-
kamenten gegen ihre Angstattacken. »Sie ist
meine Freundin, meine Gefährtin, meine
Genossin«, schreibt er.
Das ist ungefähr die Zeit, in der sein belgi-
sches Lieblingsbier aus den Regalen verschwindet,
letzte kritische Stimmen in den Medien ver-
stummen, viele seiner Freunde aus dem Land.
Wie es ihm gehe? »Ich bin wütend über meine
eigene Hilflosigkeit«, schreibt er. »Ich weiß nicht,
wie ich meiner Freundin helfen soll, meinem
Land oder meinen Freunden in der Ukraine.«
Schaut man heute auf seine Nachrichten
von damals, kann man erkennen, wie die
Zuversicht löchrig wird. An einem Tag löscht
Kamardin auf Instagram alle kritischen
Beiträge, ein Bild mit der ukrainischen Flagge.
An einem anderen Tag schickt er Bilder von
Schriftzügen, die er in den Straßen sieht. Sie
sind übermalt, aber man erkennt sie noch. Auf
einem Stromkasten steht »kein Krieg«.
Könnten meine Nachrichten ein Problem
für ihn werden? Soll man den Chat löschen?
Als er antwortet, wartet er gerade bei Gericht
auf eine Anhörung, wegen der Antikriegs-
kundgebung. Man brauche sich keine Sorgen
zu machen, die Polizei habe »kein Recht«, sein
Handy zu kontrollieren. Man müsse beharr-
lich sein.
Er klingt, als habe er – im Gegensatz zum
Großteil der westlichen Welt – den russischen
Rechtsstaat noch nicht ganz abgeschrieben.
Doch bald darauf schreibt er: »Das alles hat
ein neues, bisher unvorstellbares Niveau
erreicht. Der Staat hält sich nicht einmal an
seine alten Regeln.« Und: »Ich habe Angst,
dass sie zu mir nach Hause kommen und einen
Fall fabrizieren werden.«
Artyom Kamardin wurde politisch, weil sein
Gewissen, so formuliert er das, es ihm sagte.
Nach den gefälschten Parlamentswahlen im Jahr
2011 ging er auf die Straße, damals taten das
noch hunderttausend andere. Mittlerweile ist
Kamardin in Moskauer Oppositionskreisen als
Dichter bekannt, vor allem als Teilnehmer der
Majakowski-Lesungen. An eine Tradition von
sowjetischen Dissidenten Ende der 1950er-Jahre
anknüpfend, ruft das Kollektiv regelmäßig dazu
auf, in der Nähe des Majakowski-Denkmals in
Moskau Gedichte vorzutragen. Jeder darf kom-
men. Die Polizei steht meistens am Rand, aber
greift normalerweise nicht ein. Kamardin ist seit
neun Jahren Mitglied.
In seinen Nachrichten ist oft die Rede von
der Angst, dass die Lesungen nicht mehr statt-
finden können. Das Kollektiv unterstützt auch
politische Gefangene, seit 2014 geht es immer
wieder um den Krieg gegen die Ukraine.
Denn, schreibt Kamardin, »Kunst, die vom
Kontext und von der Realität losgelöst ist, ist
bedeutungslos«. Seine eigenen Gedichte sind
auch politisch, handeln von der Revolution,
der Krim-Annexion, der Ermordung des
Oppositionellen Boris Nemzow.
Doch seit er und seine Freundin im Früh-
jahr einmal festgenommen wurden, geht er
nicht mehr zu Demonstrationen, nicht einmal
mehr in die Stadt. Er hat Angst, verhaftet zu
werden, seinen Job zu verlieren, seine Woh-
nung. Dann könne er sich nicht mehr um
Sascha kümmern. »Wir müssen auf unsere
Kräfte aufpassen«, schreibt er. »Im Moment
müssen wir überleben und gesund bleiben.«
Seine Vorbilder, die sowjetischen Dissiden-
ten, die die Majakowski-Lesungen ins Leben
gerufen haben, hätten keine Angst vor Verfol-
gung gehabt. »Leider sind wir nicht so mutig.«
Ob Artyom Kamardin gerechnet hat mit
dem, was ihm passiert ist, lässt sich nicht sa-
gen. Sein Mitbewohner glaubt, er muss es ge-
wusst haben. Seine Freundin meint: nein.
Am letzten Sonntag im September rufen
die Dichter des Majakowski-Kollektivs wieder
zu einer Lesung auf. Thema ist die russische
Mobilisierung, die einige Tage zuvor begon-
nen hat. Sascha Popowa wurde inzwischen aus
dem Gefängnis entlassen, sie ist dabei. Es gibt
Fotos und ein Video auf YouTube von der
Lesung. Kaum zwanzig Leute. Eine Bank, auf
der zwei Menschen sitzen. Kamardin spricht
frei, leidenschaftlich, schließt manchmal die
Augen. Das Gedicht, das er vorträgt, handelt
von russischen Separatisten, die in Donezk
und Luhansk kämpfen.
»Töte mich, Freiwilliger / Dein Präsident
wird mit dir für immer zufrieden sein / Reißt
mich in Stücke / Reißt mich in den Dreck /
Der russische Frühling ist aufgeblüht.«
Am Ende des Gedichts sagt Kamardin: »Ehre
der Kiewer Rus! Neurussland – fick dich!«
Applaus. Artyom Kamardin zeigt beide Mittel-
finger und lächelt, unbeschwert. Kurz darauf
»Bitte vergesst mich nicht«, schrieb
Kamardin aus dem Gefängnis. Seine
Verlobte zeigt ein Bild von ihm
kommt die Polizei. Kamardin und Popowa
schaffen es, ein Taxi nach Hause zu erwischen.
Sie kommen erst am nächsten Tag, um ihn
zu holen. Sein Mitbewohner sieht vor dem
Haus ein Auto stehen, darin Polizisten in Uni-
form. Er steigt die fünf Stockwerke in die
Wohnung hinauf, er sagt: »Das ist das Ende.«
Die drei löschen Chatgruppen, benachrichti-
gen ihren Anwalt, stellen sich auf eine Haus-
durchsuchung ein. Kamardin macht sich eine
Gemüsepfanne vom Tag zuvor in der Mikro-
welle warm, die er nicht mehr essen wird.
Die drei beobachten durch ihr Küchen-
fenster, wie Polizisten unten in das Haus stür-
men. Sascha Popowa und Kamardin halten
sich an den Händen.
So erzählt es Sascha Popowa in einem
Videoanruf einige Wochen später. Es scheint,
als habe ihr Gesicht keine Mimik mehr.
Kamardin legt sich mit dem Gesicht nach
unten auf den Boden, Hände am Kopf. Popo-
wa öffnet die Tür.
Es gibt ein Video von diesem Moment. Der
regierungsfreundliche Telegram-Kanal »112«
hat es online gestellt: Menschen in Uniform,
auf denen »Polizei« steht, stürmen durch eine
Tür und rufen »Auf den Boden!«. Dann ein
Schnitt, man sieht Artyom Kamardin in sei-
nem Zimmer, rechts hinter ihm der Schreib-
tisch, an der Wand gegenüber die Klimmzug-
stange. Ein Polizist hält Kamardins Gesicht in
die Kamera. »Das ist er!«, schreit jemand.
Kamardin wird zu Boden gedrückt.
Was dann passiert, berichten der Mitbewoh-
ner und Sascha Popowa so: Etwa drei Stunden
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
Popowa sieht ihren Freund noch einmal
auf dem Flur der Polizeistation. Sie darf gehen,
der Mitbewohner auch. Kamardin nicht. Er
sagt, sie solle seinen Eltern sagen, dass sie sich
keine Sorgen zu machen brauchen. Und auf
seiner Arbeitsstelle Bescheid geben, dass er
morgen nicht komme. Als Popowa später in
ihre Wohnung zurückkehrt, findet sie Kamar-
dins Gemüsepfanne in der Mikrowelle.
Artyom Kamardin wird vorgeworfen, die so-
genannte Donbass-Miliz erniedrigt und zu
Gewalt aufgerufen zu haben. Er ist nach Paragraf
282 angeklagt, der oft gegen politische Gegner
eingesetzt wird. Ihm drohen laut seinem Anwalt
Leonid Solowjew sechs Jahre Gefängnis.
Zwei Tage nach der Verhaftung steht
Kamardin für eine erste Anhörung vor Ge-
richt. Seine Freunde werden nicht hineingelas-
sen, aber Journalisten sind anwesend, sie dür-
fen ihm am Ende Fragen stellen. Die Journalis-
tin Anastasia Nikolaeva schickt der ZEIT ein
Video davon. Darauf zu sehen: Kamardin, wie
er hinter einer Glaswand steht, rote Flecken
auf seinem weißen T-Shirt, ein Pflaster auf der
Augenbraue, eine Wunde an der Stirn.
Die Journalisten fragen nach der Vergewal-
tigung. Dazu will er sich nicht äußern. Dann
sagt er: »Mama, Papa, ich liebe euch, vergebt
mir, ich habe es nicht so gemeint.« Und an
Popowa gerichtet, dass sie heiraten werden:
»Ich kann es verkraften. Wir können es schaf-
fen. Mach dir keine Sorgen. Das ist jetzt
schwer für mich. Aber es wird alles gut.« Er
versucht zu lächeln.
Die Majakowski-Lesungen finden nicht
mehr statt. Kamardins Mitbewohner hat Russ-
land verlassen. Sascha Popowa hat alle ihre
kritischen Beiträge auf Instagram gelöscht, sie
malt keine Bilder mehr.
Und Kamardin ist einfach weg.
In seinen ersten Briefen an Popowa aus dem
Gefängnis schreibt er, es falle ihm schwer ein-
zuschlafen, weil seine Rippen wehtäten und
seine Gedanken so laut seien. Manchmal werde
ihm schwarz vor Augen, er habe Gedächtnis-
probleme. Er schreibt, dass er sie vermisse. »Weißt
du noch«, schreibt er Anfang Oktober, »wie ich
dich in Winternächten geweckt und nach Wärme
gefragt habe? Deine Briefe wärmen mich jetzt.«
In einem Brief an die Journalistin Anastasia
Nikolaeva schreibt Kamardin, dass er sich vor
Gericht nicht gut geschlagen habe. Aber ihn
erreichten viele Briefe, durch sie fasse er neuen
Mut. »Majakowski-Fall« – so wird in den rus-
sischen Medien über seine Verhaftung berich-
tet, das klinge cool. Als sei er ein echter Dissi-
dent. Aber politische Gefangene würden an-
fangs oft viel Unterstützung bekommen und
dann in Vergessenheit geraten. »Bitte vergesst
Foto [M]: Alexander Nemenov/AFP/Getty Images
mich nicht«, schreibt er.
Ende November sollen Popowa und der
Anwalt ihn vor Gericht wiedersehen, über den
Einspruch gegen die Untersuchungshaft soll
entschieden werden. Sie warten. Nach zwei
Stunden wird klar: Kamardin kommt nicht.
Verlegt in eine psychiatrische Klinik.
Erst am 23. Dezember, Saal 355 des Mos-
kauer Bezirksgericht Twerskoj, wird Kamardin
per Videobotschaft zu seiner eigenen Verhand-
lung zugeschaltet. Seine Mutter ist vor Ort,
Popowa, die Journalistin Anastasia Nikolaeva
und eine Handvoll anderer Journalisten. Was
auf dem Video zu sehen ist, das Nikolaeva von
der Szene aufnimmt: Kamardin an einem
Tisch, zwischen zwei anderen Häftlingen, jun-
ge Männer, der eine 22, der andere 26 Jahre
sind die Polizisten in der Wohnung, schätzungs- alt. Kamardins Kopf ist kahl rasiert, er hat ein
weise mehr als ein Dutzend. Die Männer treten Blatt Papier in der Hand, auf dem er die Frei-
und schlagen sie. Den Mitbewohner überkippen lassung der anderen beiden fordert.
sie mit Benzin, das er für sein Zippo-Feuerzeug Kamardin schaut nicht mehr erschüttert,
in seinem Zimmer lagert, und drohen ihm damit, sondern entschlossen. Er spricht schnell. Sagt,
ihn anzuzünden. Popowa schmieren sie Sekun- der Staat habe sein Gedicht nicht gemocht,
denkleber ins Gesicht, schlagen sie mit einem aber er solle wenigstens »die Jungs« gehen las-
ihrer Bücher, in dem es um Homosexualität in sen. Er selbst habe nicht vor, sich bei irgendje-
der Kirche geht, und drohen ihr damit, sie zu mandem für seine Poesie zu entschuldigen.
vergewaltigen, einer nach dem anderen. Dann bedankt er sich für die Unterstützung:
Was in Artyom Kamardins Zimmer pas- »Liebe ist stärker als Unterdrückung.« Nach
siert, können die beiden hören. drei Wochen wird er aus der Klinik zurück ins
Die Polizisten schlagen Kamardin und dro- Gefängnis gebracht, seine Untersuchungshaft
hen ihm damit, ihn zu töten. Sie beschimpfen wird bis Ende Februar verlängert.
ihn als Nazi. Sie zwingen ihn, sich auszuzie- Die Menschenrechtsorganisation Memo-
hen. Dann nötigen sie ihn, sich mit der Eisen- rial betrachtet Kamardin als politischen Gefan-
stange, an der seine Hanteln befestigt sind, genen. Amnesty International nannte die Fest-
selbst zu vergewaltigen. nahme Kamardins »selbst gemessen an der
Sascha Popowa sieht die Szene später. Denn haarsträubenden Menschenrechtsbilanz« Russ-
die Polizisten kommen in ihr Zimmer und lands erschreckend. Beide Organisationen for-
zeigen ihr Fotos und Videos, die sie mit ihrem dern die Einstellung des Verfahrens.
Handy gemacht haben. Popowa malt im Ein Gedicht des russischen Poeten Waleri
Nachhinein ein Bild davon, um zu zeigen, was Brjussow aus dem Jahr 1907 trägt den Titel An
sie gesehen hat, doch sie möchte nicht, dass den Dichter. Man kann es in etwa so übersetzen:
eine genaue Beschreibung öffentlich wird. Nur »Sei stolz wie ein Banner / scharf wie ein Schwert
so viel: Man sieht darauf einen blutenden / (...) Vielleicht ist alles im Leben nur ein Mittel
menschlichen Körper in einer Ecke, nackt, mit / für einen gelungenen Vers / (...) In den Träumen
gesenktem Kopf, eine Wunde am Kopf. des Morgens, den Abgründen des Abends / Fang
Die Polizisten herrschen Artyom Kamardin auf, was das Schicksal dir zuflüstert / und erinne-
an, er solle sich das Gesicht waschen. Kurz re dich: der Dornenkranz ist die Krone des Dich-
darauf wird die Vermieterin dazugerufen, sie ters.« Diese Verse habe Kamardin ihr aufgesagt,
soll ihn offenbar nicht so sehen. Einige der so erzählt es Sascha Popowa, bevor die Polizei die
Polizisten füllen mit ihr in der Küche Formu- Wohnung stürmte.
lare aus, die sie für so eine Hausdurchsuchung
benötigen. Als habe alles seine Ordnung. !www.zeit.de/vorgelesen
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023
A
ns östliche Ende der Neuköllner
Sonnenallee verirrt sich so
schnell kein Tourist. Seit dort
die Serie 4 Blocks gedreht wurde,
machen manche im Vorbeifah-
ren Aufnahmen und schalten
dafür einen Gang runter; zum
Aussteigen lädt die Szenerie mit den verwinkelten
grauen Betonklötzen der High-Deck-Siedlung
nicht so ein. Aber jetzt, in den Tagen nach Silvester,
kommen auch nach Anbruch der Dunkelheit noch
Schaulustige und leuchten mit Taschenlampen und
Handys das an, was für viele Bewohner hier eine
Katastrophe ist, die sie durchaus persönlich neh-
men: Unter einer Brücke steht ein bis auf das
Gerippe abgebrannter Reisebus, aus dem wie
traurige Gespenster weiße Stofffetzen wehen. Nur
drei Meter weiter oben, im pechschwarzen Beton
über der Brücke, wohnen Leute, vor allem sehr alte.
Plötzlich eilt ein Mann in rotem Shirt auf das
Gerippe zu. »Ich bin der Fahrer, ich bin der Fahrer!«,
ruft er schon von Weitem. Er will nicht nur, dass man
seinen Namen aufschreibt, Inal Ercan, und dass er 46
Jahre alt sei. Er will auch von der Silvesternacht
erzählen. Schließlich wohne er auch auf der Brücke,
im dritten Stock, es hätte ihn und seinen alten Vater
doch selbst treffen können! Er berichtet, wie er um
Mitternacht längst geschlafen habe, »ich war kaputt,
und wir feiern ja nicht«, und wie ihn sein Vater auf
einmal geschüttelt habe: »Dein Bus brennt, schnell,
alles brennt, tu was!« Vor allem soll man aufschreiben,
dass sein Arbeitgeber, die Firma Junker, »sehr, sehr,
sehr gut ist und nett«. Ercan fährt Lagerarbeiter durch
die Gegend, er will nicht sagen, woher und wohin.
Jemand anders hat dann, als der Bus in Flammen
stand, die Feuerwehr gerufen. Aber die Feuerwehr
wurde selbst beschossen – tatsächlich liegen rund um
den Bus und überall in der Siedlung Patronen aus
Schreckschusspistolen –, sodass erst gelöscht werden
konnte, als die Polizei den Rettungseinsatz schützte.
Wenn man aus der richtigen Perspektive durch das
Gerippe des Busses auf die Sonnenallee blinzelt, kann
man ein riesiges Wahlplakat der Berliner Bürgermeis-
terin Franziska Giffey sehen: »Arbeiten für Berlin«
steht drauf. In ein paar Wochen muss die Stadt erneut
zu den Wahlurnen; beim letzten Versuch, im Herbst
2021, ist praktisch alles schiefgegangen. Hier in der
High-Deck-Siedlung wollte Frau Giffey allerdings
nach Silvester nicht für Berlin arbeiten. Sie überlässt
es ihrem Parteifreund, dem Bezirksbürgermeister
Martin Hikel, die Katastrophe zu erklären. Der klingt
am Telefon ein bisschen resigniert: »Wir haben es hier
in Neukölln nun einmal mit sozialem Sprengstoff zu
tun«, sagt er. »Das gab es schon lange. Es passiert
immer wieder, und es wird auch wieder passieren.«
ANZEIGE
Süditaliens feine Vielfalt
JETZT VERSANDKOSTENFREI BESTELLEN: hawesko.de/zeit
Zusammen mit 10 Fl. im Vorteilspaket erhalten Sie 2 Gläser der Serie PURE von Zwiesel Glas, gefertigt aus TRITAN® Kristallglas, im Wert von € 19,90. Telefonische Bestellung unter 04122 50 44 55 mit
Angabe der Vorteilsnummer (wie rechts angegeben). Versandkostenfrei innerhalb Deutschlands. Max. 3 Pakete pro Kunde und nur solange der Vorrat reicht. Es handelt sich um Flaschen von 0,75
Liter Inhalt. Alkoholische Getränke werden nur an Personen ab dem vollendeten 18. Lebensjahr geliefert. Informationen zu Lieferbedingungen und Datenschutz finden Sie unter www.hawesko.de/
service/lieferkonditionen und www.hawesko.de/datenschutz. Ihr Hanseatisches Wein- und Sekt-Kontor Hawesko GmbH, Geschäftsführer: Gerd Stemmann, Alex Kim, Anschrift: Friesenweg 24, 22763
Hamburg, Handelsregistereintrag: HRB 99024 Amtsgericht Hamburg, USt-Identifikationsnr: DE 25 00 25 694.
POLITIK
Foto: Dominik Butzmann für DIE ZEIT (Berlin, 2. 1. 2023)
Der Busfahrer Inal Ercan zeigt sein Fahrzeug, das in der Silvesternacht ausbrannte. Er wohnt direkt über dem Tatort
Im falschen Film
Wer steckt hinter den Ausschreitungen in der Silvesternacht? Wie im politischen Berlin
und im Neuköllner Kiez darüber gestritten wird VON MARIAM LAU
Auf Bundesebene ist über die Silvesternacht eine das gefällt oder nicht.« Wenn man das festgestellt hat
Debatte entbrannt, die in den bekannten Schleifen (was hier keiner der Gesprächspartner bestreitet), ist
verläuft: Während der CDU-Fraktionsvize Jens man allerdings nicht viel weiter. Was tun? Der grüne
Spahn die Eskalation als Zeichen misslungener Bezirksstadtrat Jochen Biedermann findet wichtig,
Integration sieht, halten andere eine solche Zuord- dass soziale Angebote verstetigt werden. Grüne,
nung schon für blanken Rassismus. Auch in Neu- Schwarze und Sozialdemokraten liegen nicht weit aus-
kölln findet die Debatte ihr Echo.Rein zufällig einander: mehr Sozialarbeit, mehr Polizeipräsenz,
kommt am Dienstagvormittag der Bezirksstadtrat schnellere, konsequentere Strafen. Verantwortung
Falko Liecke von der CDU beim Busgerippe vorbei. trägt aktuell niemand, weder politisch noch juristisch.
Er findet in der Tradition des früheren SPD-Bezirks- Als hätte er das gehört, springt ein 13-Jähriger vor
bürgermeisters Heinz Buschkowsky, es werde zu viel dem kleinen türkischen Café im »Sonnen Center« im
darum herumgenuschelt, wer das Problem sei: Zentrum der Siedlung auf eine Sozialarbeiterin zu,
»Bestimmte Gruppen arabischer Jugendlicher, ob uns die hier bekannt ist, und ruft ihr irgendwie liebevoll
»sharmuta« entgegen, eine ziemlich krasse arabische
Beleidigung für Frauen. Stolz berichtet er, dass die
Polizei ihn in der Silvesternacht mitgenommen habe.
»Aber ich bin 13, was wollen sie machen«, sagt er und
lacht. Er und einige seiner Freunde haben auf TikTok
Videos vom brennenden Bus gepostet, mit dem trium-
phierenden Versprechen: »Das wird bald internatio-
nal!« Wer die Täter waren, war bis Redaktionsschluss
noch unklar. Bislang gab es vier Festnahmen; alle
Betreffenden sind wieder auf freiem Fuß.
Die Sozialarbeiterin möchte auf keinen Fall
ihren Namen in der Zeitung lesen und erst recht
nicht den Namen des Treffs, wo sie arbeitet. »Sonst
10 Flaschen +
2er-Set Gläser
statt € 10372nur
€ 49 90
9
fackeln die Jungs hier uns ab.« Aber wenn man sie
nach der Erfahrung in der High-Deck-Siedlung
fragt, erzählt sie begeistert von Fahrten mit den
Jugendlichen, bei denen alles schiefging. Sie liebt sie
halt, die Arschlöcher.
Angeblich soll einigen der Jugendlichen in der
Nacht doch mulmig geworden sein; sie hätten die
Alten auf der rechten Seite der Brücke nachts in
Sicherheit gebracht. Aber warum überhaupt der Irr-
sinn – nicht nur die Polizei ärgern, sondern ganze
Batterien illegalen Sprengstoffs in die aufgerissene Tür
eines Feuerwehrwagens ballern? Warum die eigene
Nachbarschaft in Gefahr bringen? Die 19-jährige
Amany Qandoul im schwarzen Hidschab sagt ohne
Zögern: »Wer religiös erzogen ist, kommt nicht auf
solche Ideen. Wo sind die Eltern? Ich glaube, die haben
alle den Film Athena auf Netflix gesehen und spielen
das nach.« Athena spielt in einer Banlieue bei Paris.
Mehrere Polizisten schlagen brutal auf einen 13-Jäh-
rigen ein, bis er tot ist – das Viertel übt Rache. »Wenn
ihr tötet, töten wir auch«, lautet ein Schlachtruf.
Die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner
Balcı ist nicht überzeugt. Die Nähe zur Al-Nur-
Moschee mit ihrer salafistischen Ausrichtung sei Teil
des Problems und die High-Deck-Siedlung nicht
annähernd im Zustand vieler Banlieues. Zwar leben
hier 50 Prozent von Transferleistungen, auf 60 Qua-
dratmetern wohnen oft sechs oder sieben Menschen,
mehrheitlich arabische, türkische oder Roma-Fami-
lien. Aber Balcı, die selbst aus einem Neuköllner
Problemviertel kommt, versetzt die oft gehörte Be-
hauptung, Armut sei die Ursache für Eskalationen wie
diese, geradezu in Rage. »Ich bin auch so aufgewach-
sen, du bist so aufgewachsen«, sagt sie zu ihrem Bank-
nachbarn im Café. »Haben wir Busse angezündet?«
Balcı glaubt, was die Siedlung niederdrücke, sei
eine fatale Kombination von Gewalt, Frauenverach-
tung und fehlendem Sinn für individuelle Verant-
wortung, wie er für autoritäre Verhältnisse typisch sei.
»Die Frauen halten hier den Laden zusammen.« Die
Beauftragte sieht allerdings auch, was viele nicht
sehen: dass die High-Deck-Siedlung eine der letzten
Enklaven in einem Mahlstrom von Gentrifizierung
ist, der Neukölln insgesamt gutgetan hat. In vielen
Gegenden, die noch vor Jahren abgeschrieben waren,
ist ausgerechnet durch den heftig bekämpften Zuzug
von Besserverdienern Hoffnung entstanden.
Im Barbershop schräg gegenüber dem Café lassen
sich junge Männer die Haare schneiden. Der letzte
Schrei sind angeblich Frisuren, wie sie die Darsteller
in Athena tragen. Auf die Frage, wie man hier so über
die Silvesternacht denke, erklärt einer, der seinen
Namen nicht nennen möchte, kurz und bündig: »Das
geht Sie nun wirklich einen Scheißdreck an. Hier gibt
es keine Verräter.« Man regele das alles unter sich.
SIE
SPAREN ÜBER
50%
Hier zum Angebot:
Vorteilsnummer
1103089

10
Kann
Amerikas
Demokratie
heilen?
DIE ZEIT: Fiona Hill, vor einem Jahr sagten Sie uns,
eine weitere Präsidentschaft von Donald Trump würde
das Ende der amerikanischen Demokratie bedeuten.
Stehen Sie noch hinter dieser Aussage?
Fiona Hill: Ja, das tue ich – sogar mehr noch als da-
mals, denn mittlerweile wissen wir, was am 6. Januar
2021 in Washington bei den Angriffen auf das Kapi-
tol geschah. Trump stachelte zur Gewalt auf. Er ver-
suchte, einen Staatsstreich in die Wege zu leiten. Wir
verfügen nun über all diese Beweise. Wie will man
innenpolitisch und außenpolitisch weitermachen,
wenn er vor einem derartigen Hintergrund wiederge-
wählt werden sollte?
ZEIT: Sie haben mehr als zwei Jahre lang als Russland-
Beraterin in seiner Regierung gearbeitet. War das im
Rückblick die richtige Entscheidung?
Hill: Ja – mit Blick auf die Einmischung Russlands in
die Wahlen von 2016 war es von zentraler Bedeutung,
dass wir darauf reagieren. Es war eine Krise der na-
tionalen Sicherheit, und es war mein Fachgebiet.
Yascha Mounk: Ich stimme zu, eine zweite Amtszeit
für Trump wäre viel gefährlicher, als die erste es war.
Damals, 2016, verfügte Trump über keine politische
Erfahrung, hatte nur wenige Leute, die ihm gegen-
über loyal waren, und kaum Kontrolle über die Repu-
blikanische Partei. Jetzt ist er vier Jahre lang Präsident
gewesen, kann auf eine viel größere Zahl Verbündeter
zurückgreifen und kontrolliert die Partei. Sollte er
wiedergewählt werden, wäre er viel effektiver – und
würde von Tag eins an danach streben, Amerikas un-
abhängige Institutionen, wie das FBI oder den Obers-
ten Gerichtshof, unter seine Kontrolle zu bringen.
Dennoch bin ich im Laufe der vergangenen Jahre ver-
halten optimistisch geworden. Ich wage die Prognose:
Die amerikanische Demokratie wird mit höherer
Wahrscheinlichkeit überleben als sterben.
ZEIT: Ihren Optimismus müssen Sie uns genauer er-
klären.
Mounk: Ein Grund ist die Streuung der Macht in
Amerika. Trump hat versucht, die Wahlen von 2020
Yascha Mounk, zu untergraben, aber weil es keinen einzelnen zentra-
1982 in München lisierten Wahlausschuss gibt, ist ihm das nicht gelun-
geboren, lehrt gen. Es ist sehr schwierig, die Tausenden von Organi-
Internationale sationen unter Kontrolle zu bringen, die im ganzen
Beziehungen an Land für das Auszählen der Stimmen zuständig sind.
der Johns Hop- Das unterscheidet die Vereinigten Staaten von Län-
kins University in dern wie Ungarn. Der zweite Grund ist die Stärke der
Baltimore. Er ist Zivilgesellschaft und des privaten Gelds.
Autor u.a. des Bu- ZEIT: Privates Geld?
ches »Der Zerfall Mounk: Ja. In Amerika gibt es so viel Geld, dass eine
der Demokratie«. Menge Organisationen nicht direkt vom Staat ab-
Von April 2023 an hängen, seien es nun Medien oder NGOs. Die New
gehört er dem York Times beispielsweise kann auch dann erfolg-
Herausgeberrat reich sein, wenn ihr die Bundesregierung feindselig
der ZEIT an gegenübersteht. Insofern: Ja, eine zweite Amtszeit
Trumps wäre zweifelsohne ein noch schwererer de-
mokratischer Notfall, aber es wäre verfrüht, daraus
den Schluss zu ziehen, dass demokratische Institu-
tionen einknicken würden.
ZEIT: Fiona Hill, glauben Sie, Trump hat noch eine
Chance?
Hill: Das hängt von den Vorwahlen ab. Die beginnen
Anfang 2024. Werden andere Kandidaten sie nutzen,
um Trump aus dem Rennen zu werfen? Und werden
sich dann bei einigen Leuten aus seinem Umfeld die
guten Seiten wieder bemerkbar machen? Immerhin
ist Trump jemand, der mit Schikane arbeitet, und er
hat nicht nur eine Bewegung um sich herum aufge-
baut, sondern einen Kult. Viele Menschen wissen
nicht, wie sie sich dem in den Weg stellen sollen.
Mounk: Die Vorwahlen sind für Amerikas Demokra-
tie ein großes Problem. Eine recht kleine Zahl von
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
STREIT
Vor zwei Jahren stürmte
ein Mob das Washingtoner
Kapitol. Wie tief geht der
Konflikt, der die USA spaltet –
und wird er noch schlimmer?
Die Ex-Trump-Beraterin Fiona Hill
und der Politologe Yascha Mounk
finden unterschiedliche Antworten
Amerikanern entscheidet über Mounk: Offen gesagt, ist De- rungen. Was würden Sie sagen, von welcher Seite
Fotos: Sarah Silbiger/Getty Images (o.); Maria Laura Antonelli/dpa; Rod Lamkey (r.)
die Kandidaten der jeweiligen mokratie keine gute Sache, droht der Demokratie mehr Gefahr – von innen
Parteien. Trump ist nicht etwa wenn das System – wie bei den oder von außen?
deshalb weiterhin mächtig, weil Vorwahlen – Entscheidungen in Mounk: Die größte Gefahr für den Fortbestand der
ihn die meisten Amerikaner mö- die Hände einer unrepräsentati- Demokratie in Ländern wie Deutschland oder den
gen würden – er ist weiterhin ven Minderheit legt. Ich bin ein Vereinigten Staaten kommt von innen. Aus der Ver-
mächtig, weil er über eine kleine, großer Befürworter demokratischer gangenheit – vom Zerfall des Römischen Reichs bis
aber hochmotivierte Basis verfügt, Wahlen, an denen sich 60, 80, viel- hin zum Bürgerkrieg im Libanon in den 1970er-
die verlässlich zu den Vorwahlen leicht gar 90 Prozent der Bevölkerung Jahren – wissen wir, dass viele diverse Gesellschaften
geht. Dort von nur 15 Prozent der beteiligen, denn dann spiegelt das Er- auf brutale Weise zerfallen sind. Menschen denken in
Bevölkerung unterstützt zu werden gebnis tatsächlich den Willen des Vol- Gruppen. Sie neigen dazu, Mitglieder ihrer eigenen
reicht aus, um die Republikanische Par- kes wider. Aber die Vorwahlen geben Gruppe zu bevorzugen und Außenstehende zu dis-
tei in Geiselhaft zu nehmen. eben nicht den Wunsch gewöhnlicher kriminieren. Wer »zu uns« und wer »zu denen« zählt,
Hill: Und genau aus diesem Grund kann Wähler wieder, sondern den Willen von entscheiden sie dabei oft aufgrund ethnischer oder
die Idee, Geld sei eine Garantie von freier Ideologen und Extremisten. Das ist keine religiöser Kriterien. Damit nicht genug: Wahlen, der
Meinungsäußerung, auch gefährlich sein, echte Demokratie. zentrale Mechanismus der Demokratie, vertiefen diese
Yascha. Die Höhe der Ausgaben im Wahl- Hill: Dem stimme ich zu. Würden wir darü- Herausforderung häufig noch, indem sie die Sorge
kampf ist nicht begrenzt. Das verschafft ber abstimmen, wer unser Flugzeug fliegen vieler Menschen befeuern, sie könnten aufgrund von
Trump eine gewaltige »Kriegskasse«. Ich soll, würden wir auch nicht wollen, dass 17 demografischem Wandel in die Minderheit geraten.
meine, dass man in der amerikanischen Po- potenzielle Piloten und Pilotinnen auf der All das erleichtert es den Populisten, Wahlen zu ge-
litik von einer »Kriegskasse« spricht, sagt Piste herumwandern und darauf warten, dass winnen, indem sie sich zum Sprachrohr der »wahren«
doch bereits alles. die Passagiere danach entscheiden, wem die Bevölkerung aufschwingen.
ZEIT: Bei den Zwischenwahlen in den Uniform am besten steht. Wir würden vielmehr Hill: Ich sehe eine größere, globale, internationale
USA im vergangenen November sind die wissen wollen: Kann diese Person ein Flugzeug Dimension. Wir erleben eine Phase deutlich be-
Trumpisten größtenteils gescheitert, was fliegen? Verfügt sie über die nötigen Qualifikatio- schleunigter Geschichtsschreibung. Wir erleben ei-
bei vielen Menschen offenbar für Erleich- nen und Erfahrungen? Das ist das aktuelle Pro- nen raschen demografischen Wandel. Inzwischen
terung gesorgt hat. Haben die Schwarz- blem beim amerikanischen System: Praktisch leben acht Milliarden Menschen auf dem Planeten.
maler danebengelegen? alle können sich für ein politisches Amt be- Und wir sind mit dem Klimawandel in eine Krise
Mounk: Die Demokraten haben viel besser werben. geraten. Frühere historische Phasen derart rascher
abgeschnitten, als es die Umfragen hatten er- Mounk: Trotzdem vertraue ich weiterhin Veränderungen – demografischer, technologischer,
warten lassen, das stimmt. Aber gleichzeitig auf die Wähler. Durchschnittliche Bürger wirtschaftlicher, industrieller Art – führten bei den
zeigen Umfragen, dass die Demokratische Par- verfügen über ein großes Maß an Weis- bestehenden Systemen zu der Art von Zusammen-
tei weiterhin als toxisch gilt. Die Wähler hassen heit. Sie sind imstande, Bullshit zu er- bruch, wie wir ihn heute erleben. Denken Sie nur
Trump, aber sie mögen auch Joe Biden nicht be- kennen. Letztlich wenden sie sich auch an den Aufstieg von Populismus und Autoritaris-
sonders. Sie halten diese Make-America-Great- gegen Politiker, die sie früher unterstützt mus im 20. Jahrhundert.
Again-Typen für Extremisten, aber sie finden, haben, wenn diese im Amt Mist bauen. ZEIT: Wo sehen Sie heute die Gefahren eines Zusam-
dass sich auch die Demokraten kulturell von Mich beunruhigt es nicht, wenn der Durch- menbruchs?
der gesellschaftlichen Mitte verabschiedet schnittsamerikaner entscheidet, sondern Hill: Unsere starke Besessenheit von Persönlichkeiten
haben. Es wäre verfrüht, davon auszugehen, wenn die progressivsten zehn Prozent den de- und die enormen Umwälzungen, die das Land mit
dass Trump – oder ein Ron DeSantis, der mokratischen Kandidaten und die konserva- jeder neuen Regierung durchläuft, sprechen für ein
republikanische Gouverneur von Florida tivsten zehn Prozent den republikanischen Kan- ungesundes politisches System. Der Parteitag der Fiona Hill, 1965 in
– 2024 nicht gewinnen könnte. didaten bestimmen. Auf die Art haben wir 2016 Republikanischen Partei ist wie ein Horror-Schön- England geboren,
Hill: Die wahre Frage ist: Existiert die Trump bekommen. heitswettbewerb. Auch die Demokratische Partei ist Russland-
Republikanische Partei auch abseits Hill: Die Demokraten haben viele der Themen wird sich zerfleischen in der Frage, wer für sie antre- Expertin bei der
von Trump noch als eigenständiges aus den Augen verloren, auf die sie einst fokussiert ten soll. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass eine neue Brookings Institu-
Gebilde? Und werden die Parteimit- waren. Stattdessen befassen sie sich zu sehr mit die- Garde heranwächst, und es spricht nichts dafür, dass tion in Washing-
glieder bereit sein, das Risiko einzu- ser starren Identitätspolitik, die Menschen in Grup- eventuelle Kandidaten tatsächlich das Land an die ton. Sie diente
gehen und sich auf einen Wettbewerb pen einsortiert. Biden selbst hat das getan, als er allererste Stelle stellen. unter den US-
einzulassen, den Trump in ein absolutes im Grunde sagte, man könne kein Schwarzer in ZEIT: Glauben Sie, die Kongressanhörungen zum Präsidenten
Blutbad verwandeln dürfte? Amerika sein, wenn man Trump wähle. Trump 6. Januar und die Empfehlung, Trump strafrechtlich George W. Bush,
ZEIT: Trump wirkt angeschlagen, aber ge- war 2016 erfolgreich, weil er erkannt hatte, zu verfolgen, haben sich auf die Wähler ausgewirkt? Barack Obama
rade das könnte ihn gefährlich machen. dass die traditionellen Abgrenzungen von Hill: Ich glaube, ja. Ob all das allerdings die Kandida- und Donald
Dennoch scheint es innerhalb seiner Partei links und rechts und damit viele der früher tenauswahl der Republikaner beeinflussen wird, Trump als Sicher-
die Hoffnung zu geben, er werde irgendwie wichtigen zentralen Identitäten längst ver- bleibt abzuwarten. heitsberaterin
ohne großen Kampf verschwinden. wischt sind. Mounk: Viele Menschen haben missverstanden, wo-
Hill: Die meisten Republikaner wissen inzwi- Mounk: Wenn es den Demokraten ge- rum es bei diesen Untersuchungen ging – eben nicht
schen, dass sie sich auf einen Kampf werden ein- länge, einen energischen und politisch darum, den harten Kern von Trumps Anhänger-
lassen müssen, entweder auf eine hässliche Mes- gemäßigten Kandidaten aufzustellen, schaft davon zu überzeugen, dass er ein gefährlicher
serstecherei hinter den Kulissen oder auf etwas, das würden sie 2024 problemlos gegen Demagoge ist. Es ging vielmehr darum, dafür zu
öffentlich ausgetragen wird. Aus dem Trump-Um- Trump gewinnen. Das Problem ist, sorgen, dass gewöhnliche Menschen erkennen, wel-
feld verfolgen inzwischen immer mehr Leute, wie dass sich bei Biden das Alter immer che Gefahr er darstellt. Und in dieser Hinsicht ha-
Mike Pence, ihre eigenen Ziele und äußern sich stärker bemerkbar macht und seine ben die Anhörungen spürbar Wirkung gezeigt. Auch
kritischer. Aber können sie Trump tatsächlich eventuellen Nachfolger sich viel radika- aus diesem Grund würde ich sagen: Wir sollten zwar
den Todesstoß versetzen? Er war bislang um- ler gebärden. Trump könnte also, obwohl unbedingt besorgt bleiben, was die Zukunft der
gekehrt sehr gut darin, das anderen anzutun. er unbeliebt ist, auch 2024 noch mal amerikanischen Demokratie anbelangt. Gleichzeitig
ZEIT: Es scheint paradox: Die meisten Ame- gewinnen. wäre es aber närrisch und kontraproduktiv, in Zy-
rikaner wünschen sich Mäßigung, weil der ZEIT: Yascha Mounk, Sie haben sich aus- nismus zu verfallen.
Extremismus beider Parteien sie erschöpft führlich mit den intrinsischen Herausforde-
zurücklässt. Aber das System ist offenbar rungen der liberalen Demokratie in Amerika Moderation:
darauf ausgerichtet, für das Gegenteil befasst. Fiona Hill, Ihr Schwerpunkt lag eher auf Rieke Havertz und Jörg Lau
zu sorgen. Begünstigt Demokratie die dem Wettstreit zwischen demokratischen und au-
Polarisierung? toritären Kräften, den extrinsischen Herausforde- Aus dem Englischen von Matthias Schulz
 »Eine Demokratie, in der
nicht gestritten wird, ist keine.«
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023 HELMUT SCHMIDT 11

Wir sind
keine Staatsdiener!
Seit Jahren hakt die Digitalisierung. Und jetzt erwartet die Bundesregierung auch noch, dass die Bürger ihr
bei der Grundsteuer die Arbeit abnehmen. Wie wäre es mit zivilem Ungehorsam? VON JOCHEN BITTNER

Die Bundesregierung ist großzügig: Dafür, ihr
die Arbeit abzunehmen, hat sie den Bürgerin-
nen und Bürgern eine Zusatzfrist eingeräumt.
Bis zum 31. Januar haben die Eigentümer von
36 Millionen Grundstücken in Deutschland
noch Zeit, »eine Erklärung für den Grund-
besitz« abzugeben, und zwar über ein Melde-
portal im Internet.
Es geht um die Grundsteuer, die auf ver-
alteten Werten beruht. Deswegen hat das
Bundesverfassungsgericht im Jahr 2018 die
Regierung aufgefordert, sie neu berechnen zu
lassen. Gegen ein solches Gerechtigkeits-
Update ist natürlich überhaupt nichts ein-
zuwenden, auch nicht gegen die Steuererhe-
bung an sich. Wer Griechenland während der
Finanzkrise erlebt hat, Mali an normalen
Tagen oder Afghanistan selbst an guten, sollte
froh sein, in einem Staat zu leben, der in der
Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT; kl. Fotos: Sebastian Berens für DIE ZEIT; privat (u.)
Nutzungsarten, umbauter Raum – liegen den
Katasterämtern, Baubehörden, Einwohner-
meldeämtern und Finanzbehörden ja vor. Sie
müssten sie halt mal digitalisieren. Aber an-
scheinend ist das zu anstrengend.
Der richtige Impuls an dieser Stelle ist
Reaktanz.
Es ist gerade viel von »zivilem Ungehor-
sam« die Rede, also von der Idee, Rechtspflich-
ten zu brechen, um den Staat seinerseits an
dessen Pflichten zu erinnern. Teile der Klima-
bewegung berufen sich darauf, und eine
Menge Politiker, Juristen und Journalisten
finden den Gedanken nachvollziehbar: Die
Erderwärmung, das weiß man seit Jahren, be-
droht Menschenleben und die Freiheit künfti-
ger Generationen, und da erlässt die Bundes-
regierung nicht mal ein Tempolimit? Wenn der
Staat eklatant darin versagt, das Gebotene für
wegen mangelnder politischer Energie vor sich
hin dämmert. Der Chef des Deutschen Be-
amtenbundes beklagte im November 2022
gegenüber dem Bundeskanzler, dass »der
Workflow in den Verwaltungen noch sehr
antidigital« sei. Nicht un-, nein, antidigital.
Es ist dem Staat nicht nur zumutbar, sich
zeitgemäß aufzustellen. Es ist seine Pflicht –
und zwar nicht bloß, weil sogar Finanzbeamte
Grundrechte haben und sie jetzt schon unter
Bergen von Akten und wütenden Eingaben
von Bürgern ersticken. Die Pflicht folgt aus
der ureigensten Aufgabe des Staates, nämlich
für das Wohlergehen und den Schutz der Be-
völkerung zu sorgen. Stattdessen fragte der
damalige Kanzleramtsminister im Frühjahr
2021 in einer Diskussion um effiziente Infek-
tionskettenverfolgung allen Ernstes, warum
denn eigentlich »der Staat alles anbieten«
Weile her. Und: Andere Staaten haben, freund-
lich ausdrückt, diese technikhistorische Tatsa-
che bereitwilliger anerkannt als Deutschland.
In Estland zum Beispiel, einer ehemaligen
Sowjetrepublik, ist der Internetzugang seit
dem Jahr 2000 ein Grundrecht, und bei der
Steuererklärung kommt das Finanzamt den
Bürger so weit wie möglich mit den notwen-
digen Daten entgegen, nicht umgekehrt. In
Israel können Ärzte seit über zwanzig Jahren
auf eine einheitliche Datenbank mit Patien-
teninformationen zurückgreifen, was unter
anderem die Krebsfrüherkennung verbessert
hat. In Dänemark gibt es eine App, in der jeder
Patient seine Krankengeschichte speichern
kann, weil, so die Regierung, »knowledge on
time« so wesentlich für Behandlungen sei.
Nun gut, vielleicht sollte man die Latte
nicht zu hoch legen; für den obrigkeitshörigen,
Was sich die Bundesregierung – genauer
gesagt das FDP-geführte Bundesfinanzminis-
terium – da erlaubt, ist ein interessanter Ver-
such von Leistungspflichtumkehr zwischen
Staat und Bürgern. Die ZEIT könnte das ja
auch mal probieren. Wie fänden Sie folgenden
Brief der Verlagsführung? »Liebe Leserinnen
und Leser, bitte recherchieren Sie die für die
Artikel der kommenden Ausgabe notwendigen
Fakten und reichen Sie diese bis Montag bei
uns ein. Dafür werden wir im Gegenzug eini-
gen von Ihnen den Abopreis erhöhen.« Ich bin
kein Marketingfachmann, aber ich glaube, die
Kundschaft wäre nicht amüsiert.
Um auf Habermas’ Thesen zum legitimen
Widerstand zurückzukommen: Die Repräsen-
tativverfassung versagt zweifellos vor der
Herausforderung der Digitalisierung, was die
Interessen aller Bürger beeinträchtigt. Fragt

Lage ist, sein Einkommen zu sichern.
Bloß ist in Deutschland das grundlegende
Preis-Leistungs-Verhältnis zwischen Bürger
und Staat gewaltig aus dem Lot. Derselbe
Staat, der es seit Jahren versäumt, seine Ver-
waltung anständig zu digitalisieren, der Staat,
dessen Gesundheitsämter in der Corona-Pan-
demie teilweise auf Faxgeräte zurückgreifen
mussten, der Staat auch, der es technisch nicht
hinbekommt, seinen Bürgern individuell Geld
zu überweisen, weshalb das Energiegeld reiche
Menschen unverhältnismäßig entlastet – die-
ser Staat also zwingt jetzt Millionen von Bür-
gern zu Millionen von Arbeitsstunden an
Millionen von Computern, um Daten zu-
sammentragen, die die Verwaltung längst be-
sitzt, wenn sie nur wüsste, tja!, wo.
Die allermeisten Informationen, die
Grundeigentümer jetzt zusammenklamüsern
sollen – Bodenrichtwerte, Flur- und Ge-
markungsbezeichnungen, Grundstücksgrößen,
das Bürgerwohl zu tun, und wenn keine recht-
zeitige Abhilfe über die demokratischen Ent-
scheidungswege in Sicht ist – dann sei fried-
licher Widerstand der Staatsbürger legitim.
Mit mindestens dem gleichen Recht könn-
ten die Bürger sich auf eine andere Staatsunter-
lassungssünde berufen: die selbstverschuldete
und gefährliche Rückständigkeit der deut-
schen Verwaltung. Deren erbärmlicher Zu-
stand kostet im besten Falle lediglich Zeit und
Nerven, im schlechtesten Falle aber Leben,
Gesundheit und Wohlstand der Staatsbürger.
Laut einer Studie der Barmer-Krankenkasse
vom Oktober 2022 sterben in Deutschland
jedes Jahr bis zu 70.000 Menschen an Arznei-
mittel-Wechselwirkungen, weil Ärzte und
Apotheker nicht zuverlässig wissen, welche
Medizin die Patienten schon einnehmen. Eine
elektronische Patientenakte könnte diese
Todesfälle verhindern. Aber wir leben eben in
Deutschland, wo dieses Projekt seit Jahren
müsse? Es gebe ja jetzt diese privat entwickelte
Tracing-App. Ist doch super, lautete die Bot-
schaft, wieso soll der Staat sich kümmern?
Es sei an dieser Stelle auf den berühmten
Aufsatz Ziviler Ungehorsam – Testfall für den
demokratischen Rechtsstaat von Jürgen Ha-
bermas aus dem Jahr 1983 verwiesen. In ihm
heißt es: »Wenn die Repräsentativverfassung
vor Herausforderungen versagt, die die Inte-
ressen aller Bürger berühren, muss das Volk in
Gestalt seiner Bürger, auch einzelner Bürger,
in die originären Rechte des Souveräns ein-
treten dürfen.«
Versagen ist natürlich ein großes Wort in
einem Staatswesen, das aus guten Gründen
auf die deliberative Dauerschleife setzt, auf die
ständige politische Aushandlung. Nach wel-
cher Zeitspanne, nach wie viel vergeblicher
demokratischer Müh genau versagt ein Staat?
Der Computer, so viel lässt sich sagen,
wurde im Jahr 1941 erfunden. Das ist eine
datenschutzempfindlichen Standarddeutschen
wäre zu viel Fortschrittstempo wahrscheinlich
schon wieder bedrohlich.
Aber selbst in einem Land mit deprimierend
niedriger Anspruchskultur in Hinblick auf
staatliche Effizienz gilt: Der liberale Rechtsstaat
hat minimalinvasiv zu sein. Er darf bei allem,
was er möchte, den Bürgern nicht mehr abver-
langen, als für die Zielerreichung nötig ist.
Im Falle der Grundsteuererklärung würde
sich dieses Nötige darauf beschränken, von
den Bürgern nur jene Daten zu erbitten, die
der Staat noch nicht in seinem Aktenbestand
hat, etwa solche zur aktuellen Wohnfläche in
älteren Gebäuden. Gerade Unternehmer und
Handwerker, die oft mehrere Grundstücke
registrieren müssen, haben in diesen Krisen-
zeiten weiß der Himmel Dringlicheres zu tun,
als dem Staat seinen Job abzunehmen – um
nachher im Einzelfall womöglich noch höhere
Grundsteuern zu zahlen.
sich: Wie sähe angemessener Widerstand aus?
Ein von Teilen der Politik und des Journa-
lismus mehr oder weniger anerkanntes Mittel Jochen Bittner,
ist das Ankleben auf Straßenkreuzungen. Ich 49 (und, zugege-
will das ausdrücklich nicht empfehlen. Wer ben, Grundeigen-
übergeordnete Rechtsprinzipen einfordert, tümer), ist Co-
sollte sie selbst nicht verletzen, und der Ver- Leiter des Streit-
hältnismäßigkeitsgrundsatz ist ein solches Ressorts der ZEIT
Prinzip. Es gibt ja durchaus Formen des
Rechtsbruchs, die keine wichtigen Rechte
Dritter gefährden, indem etwa Rettungswege
verstopft werden. Blockade-Mahnwachen vor
Gesundheitsämtern kommen in den Sinn.
Oder – spektakulär-symbolische Fernsehbilder
sind wichtig – ein Haufen abgekippter Com-
puterschrott vor dem Bundesfinanzministeri-
um. Oder natürlich schlicht und einfach die
Weigerung, die Grundsteuererklärung abzuge-
ben. Aber damit wir uns nicht falsch verstehen:
Ich bin natürlich kein Aktivist, ich bin Jour-
nalist. Ich denke hier nur laut nach.

Trocken ins neue Jahr?

59 %
der Deutschen halten es laut einer ZEIT-Umfrage für scheinheilig, einen
»dry January«, also einen alkoholfreien Januar, einzulegen.
Elisabeth Raether ahnt: Es geht denen, die verzichten, nicht nur um Gesundheit
Repräsentative Civey-Umfrage für die ZEIT in dieser Woche, 2500 Teilnehmer

Der grausamste aller Monate ist, wie alle wis-
sen, der Januar. Immer kratzt der Hals. Um
elf Uhr vormittags wird es schon wieder dun-
kel. Was wäre ein hilfreicher Tipp, um den
Monat gut zu überstehen? Trink einfach keinen
Alkohol! Mach einen dry January. Verzichte auf
das bisschen Spaß, das du noch hast. Sitz jeden
Abend auf der Couch mit einem Kräutertee.
Oder einem Apfelsaft. Oder geh einfach gleich
nach dem Abendessen ins Bett.
Es gibt Anfang Januar den weitverbreiteten
Wunsch, sich selbst zu bestrafen. Ja, es stimmt,
vielleicht war an den Feiertagen das eine oder
andere Glas im Nachhinein betrachtet über-
flüssig. Die Strafe scheint dennoch unange-
messen hoch: 31 Tage lang kein einziger Drink.
Es ist wie eine Woche Fernsehverbot, nur weil
man einmal mit den Schuhen auf dem Sofa
herumgesprungen ist.
Aberaberaber ist das nicht besonders ge-
sund, einen Monat lang auf Alkohol zu ver-
zichten? Natürlich! Jedoch, schockierend,
Gesundheit ist nicht alles. Und der Nutzen
einer Abstinenz scheint sowieso gering, wenn
man im Februar wieder bechert wie zuvor, weil
man seine Trinkgewohnheiten ja nicht ge-
ändert, sondern nur pausiert hat. Sollte man
tatsächlich ernsthaft zum Alkoholmissbrauch
neigen, dann, so wird einem ganzjährig geraten,
sollte man nicht am 1. Januar damit aufhören,
sondern sofort.
Aber genau wie 59 Prozent der Befragten
unserer Umfrage glaube auch ich, dass es gar
nicht unbedingt um Gesundheit geht, wenn
dir jemand ausführlich erklärt, warum der dry
January nicht nur sein, sondern auch dein Le-
ben ändern wird. Und vielleicht ist es auch gar
keine Bestrafung, sondern im Gegenteil eine
Freude. Ja, genau, eine Freude, sagen die Ja-
nuaristen, weil man wieder mehr Energie am
Morgen hat. Die Haut strahlt. Aber die eigent-
liche Freude besteht wahrscheinlich vor allem
darin, sich moralisch überlegen zu fühlen.
Der Teint strahlt, weil es einem gelungen
ist, diesem Leben in Überfluss und Völlerei ein
paar Momente der Reinheit abzutrotzen. Sollen
die anderen in ihren mit Krempel vollgestopf-
ten Wohnungen untergehen, ihre Kinder mit
Elisabeth Raether
Dinos oder wahlweise Einhörnern tapezieren, verantwortet bei
ICH habe es geschafft, mein Wohnzimmer der ZEIT die
monochrom-minimalistisch einzurichten, Seite 3 und den
Kinderkleidung ohne Muster zu kaufen (es war »Wochenmarkt«
eine lange Suche). Und ICH brauche keinen
Alkohol, um damit klarzukommen, dass die
Welt schlimm und unübersichtlich ist und ich
fast nichts dagegen tun kann. ICH schaffe es,
auf gar keinen Fall daran zu denken, wie es sich
anfühlt, wenn nach einem langen, miesen Tag
samten und weich, süß und herb der Rotwein
meine sehnsüchtige Kehle hinabgurgelt.

Online mitdiskutieren: Mehr Streit finden Sie unter zeit.de/streit

 12
Foto: Ana Palacios für DIE ZEIT
ZEITNAH
Paradies für die Alten
Dass die alternde Gesellschaft auch ihre schönen Seiten haben kann, hat ZEIT-
Redakteurin Samiha Shafy im spanischen Pescueza erlebt. Einst vom Aussterben bedroht,
hat sich das Dorf ganz auf die Bedürfnisse alter Menschen eingestellt. Deshalb genießt
auch die 83-jährige Herminia Samson Martin das Leben in der Provinz und zeigte der
Reporterin ihren Olivengarten, den sie noch selbst bewirtschaften kann POLITIK, SEITE 4
Foto: Juan Naharro Gimenez/Getty Images
Jenseits der Schüchternheit
Ihre Eltern sind Ikonen der französischen Kultur, sie
selbst stand schon mit zwölf Jahren vor der Kamera.
Nun hat die Schauspielerin Charlotte Gainsbourg
einen neuen Film gemacht und erzählt, wie sie lernte,
ihre Kunst ins Extreme zu steigern FEUILLETON, SEITE 44
IN DEN REGIONALAUSGABEN
ZEIT im Osten Von diesem Jahr
an schenkt die Bundesregierung
allen 18-Jährigen Geld für Kultur.
Wofür gibt man das aus?
30 Vorschläge, unter anderem
von Helga Schubert, Bill Kaulitz,
Foto: Marzena Skubatz
Kirsten Fuchs und
Wolfgang Thierse 16
Neuerdings besingen allerlei Pop-
musiker ihre ostdeutsche Identität.
Dabei entsteht oft interessante
Die Bestsellerautorin Juli Musik – aber manchmal auch
Zeh hat keine Angst vor Kitsch VON J ULIA LORENZ 18
Debatten: Sie kritisierte
die Corona-Maßnahmen ZEIT Schweiz Felizitas Ambauen
und sprach sich gegen ist die meistgehörte Paarthera-
Waffenlieferungen an die
peutin der Schweiz. Mit ihrem
Ukraine aus. Ein Porträt
Podcast »Beziehungskosmos« hat
sie sich eine große Fangemeinde
aufgebaut. Wie arbeitet die
Einflüsterin der Nation? 16
Die ZEIT inklusive aller Regional- und Wechselseiten finden Sie in der ZEIT-App und im E-Paper.
ANZEIGE
DAS BÖSE LIEGT SO NAH
Jetzt exklusiv im ZEIT Shop: shop.zeit.de/verbrechen-3
*zzgl. 4,95 € Versandkosten | Bestell-Nr.: 43475 | Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg
112348_ANZ_371x70_X4_ONP26 1
Titelthema: Zwölf Ideen für eine bessere Zukunft
Foto: Thomas Pirot für DIE ZEIT
In Osterfingen soll inmitten der
Rebberge ein Hotel entstehen.
Warum genau dort?
VON NOR A LEUTERT
ZEIT Österreich Die Zukunft
sah schon einmal besser aus.
Doch die vielen Krisen bieten für
Österreich auch Chancen auf
Innovation und mehr gesell-
schaftliche Kooperation
VON WALTER OSZTOVIC S
Warum ein britischer Sachbuch-
autor eine Biografie über
Joseph Roth schreibt – und was
er dabei über seine eigene
Familiengeschichte lernt
VON MARIA STERKL
INHALT
POLITIK
Parteien Wie die internen Konflikte der
FDP die Ampelkoalition belasten
VON PAUL MIDDELHOFF 2 VON KERSTIN BUND
Ideologie Eine künstliche Intelligenz
Lagern zu VON MARK SCHIERITZ • 3
sortiert Alltagsgegenstände politischen
Weltbevölkerung Warum die
Menschheit wieder kleiner wird – eine
Reise zu drei Kontinenten
VON SAMIHA SHAF Y, PATRICK WIT TE UND
XIFAN YANG 4 Riester-Vertrag besser nicht kündigt
Europa Eigentlich sollten sie zusammen
die EU voranbringen. Aber Frankreich
und Deutschland sind einander politisch
fremd geworden
VON MAT THIAS KRUPA 6 Vincent Keymer Der Vizeweltmeister
Braunkohle Bei der Räumung des
Weilers Lützerath droht ein wochen-
langer Polizeieinsatz
VON LENNART L ABERENZ
Russland Ein junger Mann sitzt in
Haft, weil er öffentlich Gedichte gegen
•8
den Krieg vorgelesen hat
VON VALERIE SCHÖNIAN
Berlin Wie kam es zu den Eskalationen
in der Silvesternacht?
VON MARIAM L AU 9 An der Charité bewegen elektro-
STREIT
Kann sich Amerikas Demokratie
erholen? Zum zweiten Jahrestag des
Kapitol-Sturms von Washington geben
die Ex-Trump-Beraterin Fiona Hill und
der Demokratieforscher Yascha Mounk
unterschiedliche Antworten 10
Ziviler Ungehorsam Die mangelnde
Digitalisierung Deutschlands gefährdet
Menschenleben und Wohlstand. Sollten
wir Bürger diesem Versagen noch
Vorschub leisten – oder ist es Zeit für
passiven Widerstand?
VON JOCHEN BIT TNER 11
Trocken ins neue Jahr?
VON ELISABETH R AETHER 11
DOSSIER
Sternstunden der Menschheit (13)
Patrice Lumumba wird erster Premier-
minister des unabhängigen Kongo.
Sieben Monate später ist er tot
VON BASTIAN BERBNER 13
GESCHICHTE
Er zieht mit Gefühl 1923 Als französische Truppen
das Ruhrgebiet besetzten: So begann
Eine Sensation: Der Deutsche das Jahr der Hyperinflation
Vincent Keymer, 18, ist Vize- VON VOLKER ULLRICH 17
weltmeister im Schnellschach.
Ein Gespräch über das Spielen VERBRECHEN
unter Druck UNTERHALTUNG, S. 26 Nazi-Verbrechen Ein bayerischer
Adliger wird auf verschlungenen Wegen
zum Erben eines von den Nazis verjagten
jüdischen Bankiers. Hat er damit auch
ZUM HÖREN Anspruch auf NS-Entschädigung?
VON MIRIAM GEBHARDT 18
Die so gekennzeichneten
Artikel finden Sie als
WIRTSCHAFT
Audiodatei im »Premium-
bereich« unter
18 Energiewende Deutschland will raus
www.zeit.de/vorgelesen
aus der Atomkraft und auch aus der
• 19
ANZEIGEN IN Kohle. Warum das ein gewagter Plan ist
VON MARC WIDMANN
DIESER AUSGABE
Inflation Eine Familie und ein
Bildungsangebote und
Stellenmarkt Unternehmer erzählen, wie sie mit den
• 20
(ab Seite 34); steigenden Preisen zurechtkommen
Agenda Kultur:
16 VON SEBASTIAN KEMPKENS
Museen, Kunstmarkt,
Womit keiner rechnet In der Krise
Bühnen (Seite 46)
verdienten Auktionshäuser gutes Geld
FRÜHER VON HEIKE BUCHTER 21
INFORMIERT!
Kommentar Mit dem Amtsantritt von
Die aktuellen Themen Lula da Silva in Brasilien kann Deutsch-
der ZEIT schon am
18 land endlich den Regenwald retten
Mittwoch im ZEIT-Brief,
VON THOMAS FISCHERMANN 21
dem kostenlosen
Newsletter Bitcoin Der Präsident von El Salvador
www.zeit.de/brief
hat die Kryptowährung als offizielles
Zahlungsmittel eingeführt – und das
Land in der Digital-Szene berühmt
gemacht VON Y VES BELLINGHAUSEN 22
Das 3. Buch
zum Podcast
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
Wohnungswirtschaft Schafft man Nachruf Vivienne Westwood ist im
durch Hochhäuser Wohnraum? Oder Alter von 81 Jahren gestorben
verschandeln sie die Stadt? In München VON JIL SANDER 40
• 23
wird darüber leidenschaftlich gestritten
Medien Warum die »Tagesschau« so ein
schlechtes Nachrichtenformat ist
Recycling Was ändert sich durch die VON ANNA MAYR 40
neue Mehrwegverordnung für
Verbraucher und Gastronomen? Darts-WM Leider wird auch dieser
VON MONA BERNER 24 gemütliche Sport immer mehr
professionalisiert VON JENS JES SEN 40
Wirtschaft in einem Satz 25
Zeitdiagnostik 40 Jahre nach seinem
ZEIT für Geld Warum man einen alten Welterfolg »Die Entdeckung der
Langsamkeit« schaut sein Verfasser auf
VON RÜDIGER JUNGBLUTH 25 das Tempo unserer Gegenwart
VON STEN NADOLNY 41
UNTERHALTUNG Kolumne Von unterwegs gesendet
VON CHRISTINE LEMKE-MAT WEY 42
im Schnellschach ist erst 18 Jahre alt. Sachbuch Roland Barthes
Ein Gespräch über das Leben zwischen »Proust. Aufsätze und Notizen«
Training und Turnieren 26 VON HANNS-JOSEF ORTHEIL 42
7 Belletristik Arno Geiger
WISSEN »Das glückliche Geheimnis«
VON EBERHARD R ATHGEB 43
Titelthema: Zwölf Ideen für eine
bessere Zukunft Mit diesen Inno- Kino Die Schauspielerin Charlotte
vationen machen wir die Welt besser – Gainsbourg im Gespräch über ihre
von der Medizin bis zur Stadtplanung Eltern, ihre ukrainischen Wurzeln und
VON RUDI NOVOTNY 27 große Regisseure 44
Gesellschaft Woher kommt die Gewalt,
• 28
magnetische Signale gelähmte Glieder die sich in der Silvesternacht
VON ULRICH SCHNABEL auf deutschen Straßen gezeigt hat?
VON HANNO R AUTERBERG 46
Eine Therapie rettet Ehen und Erotik,
indem sie Illusionen zerstört
VON ANNA MAYR 28 GLAUBEN & ZWEIFELN
Eine Millionärin aus Österreich will Benedikt XVI. Die Welt nimmt
• 29
höhere Steuern für Reiche Abschied von »Papa Ratzinger«. Wie
VON ELISABETH R AETHER beerdigt man einen Ex-Papst?
VON EVELYN FINGER 48
Mit Mini-Organen wollen Mediziner
Krankheiten besiegen Die wichtigsten deutschen Kardinäle in
VON JAN SCHWEITZER 29 Rom, der liberale Walter Kasper und der
konservative Gerhard Ludwig Müller,
Mithilfe von Datenanalysen zurück zum über den Theologenpapst 49
amerikanischen Traum
VON ROMAN PLET TER 30
KINDER-
Ein neuer Blick auf den Menschen hilft
UND JUGENDBUCH
• 30
Tieren und Pflanzen
VON PETER NEUMANN
LUCHS-Preis Januar Für den Jugend-
Was sich aus der Entwicklung der roman »Toffee« von Sarah Crossan
VON K ATRIN HÖRNLEIN 50
Menschheit lernen lässt
VON URS WILLMANN 30
Empfehlungen der LUCHS-Jury
Comic-Reportagen über Fake-News,
Erfahrungen eines Volkes aus dem
Regenwald sollen die Erde schützen Kindergedichte über Trennungen und
ein sehr nasses Bilderbuch 50
VON THOMAS FISCHERMANN 31
Ein Arbeitsplatz ändert die Macht TikTok sei dank Der US-Autor Adam
Silvera wurde mit einem Roman über
zwischen den Geschlechtern in Indien
VON ANANT AGARWAL A 31 den Tod zum weltweiten Jugendbuchstar
VON K ATHARINA KUNERT 50
Gewächse aus der Prärie sollen städtische
Betonwüsten aufblühen lassen
ENTDECKEN
VON HANNO R AUTERBERG 32
Die Entmachtung der politischen Elite 50 Jahre Ernie und Bert Ein Gespräch
mit den Hintermännern der beiden
durch Bürgerräte hilft der Demokratie
Figuren über das Geheimnis
VON SAMIHA SHAF Y 32
einer unverbrüchlichen Freundschaft 51
Nur mit staatlichen Plattformen dient
die Digitalisierung dem Menschen Entdeckt Kolumnenstressvermeidung
VON ELISABETH VON THADDEN 32 VON ANNA MAYR 53
Mit 130 über die Autobahn Ein
Infografik Raumfahrt 38
Selbstversuch unter strikter Einhaltung
• 54
des nichtexistenten Tempolimits
LEO – DIE SEITE VON CHRISTOPH FARK AS
FÜR KINDER Tielemann kommt klar Seine Frau lebt
Sonnenkraft In der Sahara kann man jetzt im Pflegeheim. Und er – wie macht
im tiefsten Winter Solarenergie erzeugen. er weiter ohne sie?
Die könnte bald auch in Europa genutzt VON LINDA TUTMANN 55
werden VON VIOL A KIEL 37
Da soll’s hingehen 52 Redakteurinnen
Abenteuer Antarktis (8) Zehn Tage und Redakteure der ZEIT über ihre
Reisewünsche für das neue Jahr 56
wird die Polarforscherin Stefanie Arndt
mit einem Zelt im Eis verbringen. Was
muss sie dafür einpacken? 37 Frag doch Ella Warum verfalle ich
bei der Partnersuche immer wieder auf
dasselbe fatale Muster? 58
FEUILLETON
Gesellschaft In unserer neuen Serie RUBRIKEN
»Dialog mit den jungen Leuten« denkt
Leserbriefe 16
Ahmad aus Griesheim über Gott, Mode
• 39
und deutsche Polizisten nach Die Position 34
VON MORITZ VON USL AR
3 ½ Fragen 35
Kulturpolitik Über Claudia Roths
lächerlichen Versuch, die Stiftung Impressum 44
Preußischer Kulturbesitz umzubenennen
VON FLORIAN ILLIES 39 Was mein Leben reicher macht 60
Das erwartet Sie:
∙ Original-Hintergrundartikel aus der ZEIT
∙ Exklusives Bild- und Zusatzmaterial
aus den Gerichtsakten
∙ Aktuelle Nachberichterstattung zu den Fällen
Exklusive ZEIT-Ausgabe, Hardcover,
256 Seiten, Lesebändchen, 29,95 €*
Eine echte Bereicherung für alle Fans
des VERBRECHEN-Podcasts!
22.12.22 11:55

Afrikas kurze Hoffnung
Am 30. Juni 1960 erlangt der Kongo die Unabhängigkeit. Patrice Lumumba, erster Premierminister des neuen Staates, wird mit einer
zwölfminütigen Rede zum politischen Star – und zur Gefahr für Länder des Westens. Sieben Monate später ist er tot VON BASTIAN BERBNER
F
rançois Lumumba ist ein Mann
von 71 Jahren, und 71 Jahre
lang hat er ein Leben geführt,
das nie ganz seines war. Zu groß
war der Schatten, den sein Vater
warf – und bis heute wirft.
Schon der Name: Lumumba.
François muss sich nur irgendwem vorstellen,
und sofort schwingt alles mit, Nationalheld,
Jahrhundertfigur, Sehnsuchtsgestalt eines gan-
zen Kontinents.
François Lumumba sitzt auf dem Sofa in
seinem Wohnzimmer und erzählt. Hinter dem
Haus wächst ein Mangobaum. Schwüle liegt über
Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen
Republik Kongo, bald wird es regnen.
Er spricht gerne über seinen Vater, doch seine
Erinnerungen sind vage, es ist lange her. Den Vor-
mittag des 30. Juni 1960 aber hat François Lu-
mumba noch vor Augen. Er sieht sich, damals
acht Jahre alt, mit seiner Mutter vor dem Radio
sitzen. Sie lauschen der knisternden Übertragung
aus dem Palast der Nation. Sein Vater war an
jenem Morgen dorthin aufgebrochen.
Unten, im Erdgeschoss des Hauses, hatten sich
Parteifreunde seines Vaters ebenfalls um ein Radio
versammelt. Genau wie die Wachsoldaten drau-
ßen im Garten. Wie Hunderttausende Menschen
in den Städten und Dörfern des ganzen Landes.
Überall: Vorfreude und Anspannung.
François sagt, er sei zu jung gewesen, um wirk-
lich zu verstehen, was los war, aber alt genug, um
zu begreifen: Etwas Großes war im Gange.
Es war der Tag, an dem der Kongo unabhän-
gig wurde.
Die Rede
Auf Videoaufnahmen aus dem Palast der Na-
tion von diesem Tag sieht man François’ Vater
auf einer Bühne sitzen. Schwarzer Anzug, wei-
ßes Hemd, schwarze Fliege, eine Brille mit
schwarzem Rand und das Oberlippen- und
Kinnbärtchen, das zu seinem Markenzeichen
wurde – der Lumumba-Bart.
Patrice Lumumba hat knapp sechs Wochen
zuvor die Wahlen gewonnen. Die ersten, die es
im Kongo je gab. Er ist 34 Jahre alt, hat vier
DOSSIER Serie: Sternstunden der Menschheit
Patrice Lumumba kommt zum Festakt der Unabhängigkeit in den Palast der Nation im damaligen Léopoldville
Kinder, François ist das älteste. Bis vor anderthalb
Jahren hat Lumumba in den Straßen der Haupt-
stadt Bier verkauft. In wenigen Minuten soll er
zum Premierminister ernannt werden.
Jahrzehntelang lang hatten die Europäer über
weite Teile Afrikas geherrscht. Nun geriet die
Herrschaft ins Wanken. 1957 hatte Ghana die
Unabhängigkeit von Großbritannien erlangt, ein
Jahr später sagte sich Guinea von Frankreich los.
Jetzt, im Jahr 1960, folgten 17 weitere Länder, an
diesem 30. Juni eines der größten und das poli-
tisch vielleicht bedeutendste – der Kongo.
Der belgische König Baudouin, 29 Jahre alt,
am Vortag aus Brüssel angereist, steht in weißer
Paradeuniform mit Säbel und allerlei Ehren-
gehänge im Palast der Nation vor einem Mikro-
fon und beginnt von einem Zettel abzulesen. Im
Saal sitzen und stehen belgische Kolonialbeamte,
die meisten recht alt, dazu Angehörige der neuen
kongolesischen Elite, die meisten ziemlich jung,
insgesamt mehrere Hundert Menschen.
»Die Unabhängigkeit des Kongo«, sagt der
König in geschliffenem Französisch, »stellt den
Höhepunkt des Werkes dar, das durch das Genie
von König Leopold II. begonnen, von ihm mit
zähem Mut unternommen und von Belgien mit
Ausdauer weiterverfolgt wurde.«
Dies war sein erster Satz, und sehr viele
Kongolesinnen und Kongolesen müssen ihn als
zynische Brutalität empfunden haben.
Leopold II., Baudouins Urgroßonkel, hatte
während seiner Regentschaft nie einen Fuß in
den Kongo gesetzt. Aus der Ferne aber hatte er
von 1885 an ein Regime der Ausbeutung er-
richtet, das selbst aus der an Gräueln reichen
Kolonialgeschichte heraussticht.
Es begann mit Elfenbein. Die Stoßzähne afri-
kanischer Elefanten ließen sich in Belgien zu viel
Geld machen, indem man daraus edle Messer-
griffe, Billardkugeln, Kämme, Klaviertasten und
Kruzifixe fertigte. Das Geschäft war deshalb so
lukrativ, weil die Beschaffung des Materials im
Kongo nahezu kostenlos war – zumindest wenn
man, wie Leopold, auf Sklaven setzte. Seine Leute
trieben Zehntausende zusammen, ketteten sie an
ihren Hälsen aneinander und peitschten sie zur
Arbeit in den Regenwald. Aus dem ganzen Land,
das größer war als Westeuropa, schleppten die
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
Menschen in gewaltigen Todesmärschen die Stoß-
zähne an die Küste und luden sie auf die Schiffe.
Dann eröffnete sich ein neues, noch besseres
Geschäft. Weltweit wurden Telegrafen- und Tele-
fonleitungen verlegt, die Isolierungen benötigten.
Autos brauchten Reifen. Fabriken und Werk-
stätten verbauten Dichtungen und Schläuche. All
das erforderte Gummi, einen Rohstoff, den es im
Kongo im Übermaß gab. Die Menschen, die
gerade noch Elfenbein tragen mussten, stiegen
jetzt in die Wipfel der Urwaldbäume und schnit-
ten Lianen an, um an die wertvolle Flüssigkeit zu
kommen. Wer seine Quote nicht erfüllte, wurde
getötet oder mit der chicotte, einer Peitsche aus
sonnengetrockneter Nildpferdhaut, ausgepeitscht,
was oft ebenfalls im Tod endete, oder er bekam
die rechte Hand abgehackt.
Experten schätzen, dass allein in den ersten
25 Jahren zehn Millionen Kongolesinnen und
Kongolesen der Kolonialherrschaft zum Opfer
fielen.
Als Patrice Lumumba am Morgen des
30. Juni 1960 den Palast der Nation betritt,
muss er vor dem Eingang an einem Standbild
vorbei, das Leopold II. darstellt. Dann an einer
Büste Leopolds vor dem Saal. Und das alles in
Sternstunden der
Menschheit
Teil 13
In Anlehnung an Stefan Zweigs
gleichnamiges berühmtes Buch
stellen wir historische Momente aus
den vergangenen hundert Jahren vor.
Der letzte Teil übernächste Woche
im Feuilleton: Der Autor Ken Kesey
fährt in seinem Bus durch die USA
Alle bisher erschienenen Folgen
der Serie finden Sie unter
www.zeit.de/sternstunden
einer Stadt, die damals noch nicht Kinshasa
heißt, sondern: Léopoldville.
Nach der Rede des Königs tritt nun ein Kon-
golese ans Rednerpult: Joseph Kasavubu. Er wird
an diesem Tag das in erster Linie repräsentative
Amt des kongolesischen Staatspräsidenten über-
nehmen. Seine eher gemäßigte Partei musste sich
bei den Wahlen dem radikaleren Lumumba ge-
schlagen geben. Am Vortag hat Kasavubu den
belgischen König am Flughafen begrüßt. An
diesem Morgen ist er mit ihm in den Saal ge-
kommen. Und jetzt hält er eine Rede, die mit
Baudouin abgestimmt ist.
Er erwähnt die Gräuel der Kolonialzeit mit
keinem Wort.
Patrice Lumumba ist an diesem Tag nicht als
Redner vorgesehen. Doch als er am Vortag den
Entwurf für die Ansprache Kasavubus las, fing er
an, selbst eine Rede zu schreiben. Noch während
dieser spricht, kritzelt er auf einem Blatt Papier
auf seinem Schoß herum und feilt an seinen
Sätzen. Dann, als Kasavubu geendet hat, bricht
Lumumba mit dem Protokoll und geht an das
Rednerpult.
»Kongolesen und Kongolesinnen«, hebt er an,
für viele Belgier ist schon das eine Provokation.
Anstatt den belgischen König zu begrüßen, spricht
Lumumba direkt seine Landsleute an. Bau-
douin II. hatte es so dargestellt, als entlasse Belgien
das Land aus freien Stücken in die Unabhängig-
keit. Lumumba aber sagt jetzt: »Kein Kongolese,
der diesen Namen verdient, wird je vergessen, dass
wir die Unabhängigkeit im Kampf gewannen.«
Applaus von den Kongolesen im Saal.
»Es war ein nobler und gerechter Kampf, ein
notwendiger auch, um der erniedrigenden Skla-
verei, in die wir gezwungen wurden, ein Ende zu
setzen.«
Die Kameras fangen den hilflosen Blick des
Königs ein.
»Unsere Wunden sind noch zu frisch und zu
schmerzhaft, um sie aus unserer Erinnerung zu
vertreiben. Wir mussten zermürbende Arbeit
erdulden für einen Lohn, der es uns nicht er-
möglichte, unseren Hunger zu stillen, uns an-
gemessen zu kleiden, in anständigen Verhält-
nissen zu wohnen oder unsere Kinder so groß-
zuziehen, wie sie es verdient haben.«
13
Foto: imago
Der König beugt sich nach links, zu Kasavubu,
offenbar nach einer Erklärung suchend. Aber
auch Kasavubu, das wird später klar werden, hat
nichts von dieser Rede gewusst.
»Wir haben Spott, Beschimpfungen und
Schläge erduldet, morgens, mittags und abends,
einfach weil wir Schwarze sind. Wir sahen, dass
es in den Städten herrliche Häuser für die Weißen
gab und baufällige Hütten für die Schwarzen, dass
Schwarze weder in Kinos gelassen wurden noch
in Restaurants oder in die Geschäfte der Europäe-
rinnen und Europäer, dass Schwarze im Rumpf
der Schiffe reisten, zu Füßen der Weißen in ihren
Luxuskabinen. Wer wird je die Massaker ver-
gessen, in denen so viele unserer Geschwister
umgekommen sind, die Zellen, in die jene ge-
worfen wurden, die sich weigerten, sich einem
Regime des Unrechts, der Unterdrückung und
Ausbeutung zu unterwerfen.«
Wieder Applaus, diesmal noch lauter, dazu
Begeisterungsschreie. Im ganzen Land hören
Menschen Lumumba reden, und viele müssen
das Gefühl gehabt haben, dass da einer der Ihren
spricht. Einer, der ihnen ihr Leben, ihr Land, ihre
Zukunft zurückgeben kann. François Lumumba
erinnert sich nicht nur an die Worte aus dem
Radio, sondern auch an Jubel auf den Straßen.
Zwölf Minuten lang spricht Lumumba. Der
König kann nicht anders, als ihm zuzuhören,
gefangen vor den Kameras. Acht Mal muss
Lumumba pausieren, weil Applaus aufbrandet.
Acht Mal muss Baudouin diesen Applaus aus-
halten, der sich gegen ihn, gegen Belgien richtet.
Am Ende seiner Rede ruft Lumumba in den
Saal: »Zusammen, meine Brüder, meine Schwes-
tern, werden wir einen neuen Kampf beginnen,
einen erhabenen Kampf, der unser Land zu
Frieden, Wohlstand und Größe führen wird.«
Und dann: »Es lebe der unabhängige und
souveräne Kongo!«
Der König, so berichten es später seine Mit-
arbeiter, will sofort abreisen, lässt sich aber um-
stimmen. Die Kongolesen in den Straßen fei-
ern Lumumba und seine Ansprache, die als
eine der großen Reden des 20. Jahrhunderts in
die Geschichte eingehen wird. Was zum einen
Fortsetzung auf S. 14
 14 DOSSIER 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2

Fortsetzung von S. 13
an den starken Sätzen liegt, die Lumumba formu-
lierte. Zum anderen aber auch an der politischen
Tragödie, die in diesem Moment ihren Anfang
nimmt – Patrice Lumumba hat mit seiner Rede
Ereignisse losgetreten, die ihn ins Zentrum der
Weltpolitik katapultieren.
Der Aufsteiger
Patrice Lumumba stammt aus einer armen Familie
aus der Provinz. Er geht auf eine katholische Mis-
sionarsschule, später arbeitet er für die Post und,
nachdem er nach Léopoldville gezogen ist, für eine
Brauerei. Was bescheiden klingen mag, ist der Beginn
eines atemlosen Aufstiegs. Lumumba ist in vielem,
was er tut, der Beste.
Nach der Arbeit besucht er an der Abendschule
Französischkurse, es dauert nicht lange, da spricht er
die Sprache besser als viele Belgier im Kongo. Er liest
wie besessen politische Literatur, bald schreibt er
Artikel für belgische Zeitungen. Mit Anfang dreißig
gilt der Mann, der tagsüber noch immer Bier ver-
kauft, als einer der führenden Denker des Kongo.
Im Dezember 1958 fliegt Lumumba nach
Ghana. Die Regierung dort hat Freiheitskämpfer
aus ganz Afrika eingeladen. Lumumba kommt als
Unbekannter und geht als Star. Er hält eine der
besten Reden und findet in Ghanas Präsident
Kwame Nkrumah einen Mentor und Freund. Die
britische Historikerin Susan Williams sieht in die-
ser Reise eine »politische und persönliche Offen-
barung«. Nach seiner Rückkehr hält Lumumba in
Als Lumumba am Unabhängigkeitstag seine Rede
im Palast der Nation hält, sitzt Mobutu in der ersten
Reihe, er trägt einen auffälligen weißen Anzug. Lu-
mumba hat ihn zu seinem Staatssekretär ernannt.
Weiter hinten, zwischen den ausländischen
Ehrengästen, sitzt Mohammad Abdel Asis Ischak,
Lumumbas Freund aus Kairo, der mittlerweile an
der ägyptischen Botschaft in Léopoldville arbeitet.
wichtig zum Beispiel für die Chemieindustrie, aus
Katanga, außerdem zehn Prozent des Kupfers. Auch
Gold, Diamanten, Zinn und Zink werden hier ge-
wonnen. Aus Katanga stammt das Uran, das die
Amerikaner für die Atombomben verwandten, die
sie auf Hiroshima und Nagasaki abwarfen.
Die Steuergelder aus Katanga finanzieren damals
mehr als die Hälfte des kongolesischen Staatshaus-
Sicherheit seines Hauses und hält spontane Kund-
gebungen in den Straßen Léopoldvilles ab. Tau-
sende kommen. Auch unter den Soldaten hat er
viele Anhänger. Deshalb ist man nach Mobutus
Putsch weder in Brüssel noch in Washington be-
ruhigt – man befürchtet, Lumumba könne an die
Macht zurückkehren und dann erst recht die Sow-
jetunion ins Land holen.
heute, ob er, Ischak, sicher sei, dass das seine Kinder
seien. Die Kinder haben schwarze Haut. Ischak ist
hellhäutig. Er antwortet, es sei nicht verboten, Kinder
mit einer schwarzen Frau zu haben.
Über Lissabon und Genf fliegt Ischak mit den
Kindern nach Kairo und eröffnet seiner Frau, dass sie
von nun an zusätzlich zu den drei eigenen noch drei
weitere Kinder hätten.
Ischaks Tochter Schams, inzwischen 70 Jahre alt,
lebt heute in einer eleganten Wohnung in einem Vor-
ort von Kairo. Ihr Bruder ist zu Besuch, gemeinsam
erzählen sie von jenem Tag, an dem ihr Vater mit drei
fremden Kindern vor der Tür stand.
Sie zeigen ein Foto, das damals entstand. Ihr Vater
sitzt lächelnd auf dem Sofa, seinen linken Arm hat
er um Juliana Lumumba gelegt, den rechten um
Patrice, der den Hund der Familie im Schoß hält,
daneben sitzt sie selbst, Schams, damals acht Jahre
alt, bisher die Jüngste. Hinter dem Sofa steht ihr äl-
tester leiblicher Bruder. François ist nicht zu sehen.
Die Kinder sind seit einem Monat in Kairo, da
kommen neue Berichte aus dem Kongo. Ihr Vater ist
aus dem Hausarrest geflohen, auch er versteckt in
einem Auto. Zusammen mit etwa einem Dutzend
Vertrauten macht er sich auf den Weg in seine
Heimatprovinz. Dort haben Lumumbas Anhänger
damit begonnen, eine Armee aufzubauen. Der
CIA-Agent Devlin besorgt Mobutu einen Such-
Hubschrauber, den dieser hinterherschickt.
Lumumbas Konvoi kommt nur langsam voran.
In manchen Dörfern zerren die Menschen Baum-
stämme auf die Straße, um ihn am Weiterfahren zu
hindern. Sie wollen ihn reden hören. Nach wenigen
Tagen wird Lumumba festgenommen, als er darauf

Foto: Ley Uwera für DIE ZEIT

Léopoldville eine Versammlung ab. Etwa zehn-
tausend Menschen jubeln ihm zu und rufen: »In-
dépendence immédiate!«, Unabhängigkeit sofort!
Zweimal reist Lumumba nach Kairo, jeweils für
mehrere Wochen. Dort hat ein ägyptischer Diplomat
in einer Villa am Nil eine Art Botschaft für afrikani-
sche Freiheitskämpfer eröffnet. Vertreter aus Malawi,
Angola, Algerien, dem Sudan und anderen Ländern
haben dort Büros und diskutieren über ihren Wider-
stand gegen die britischen, französischen, portugie-
sischen Kolonialherren. Es sind Kämpfe, die meist
mehr mit politischem Druck als mit Gewehren und
Bomben geführt werden. Ägypten hat sich unter Prä-
sident Gamal Abdel Nasser der panafrikanischen Idee
verschrieben, und Teil dieser Idee ist es, dass man die
mächtigen Europäer nur gemeinsam bezwingen
könne – und dass man dafür Anführer braucht, die
für ganz Afrika sprechen können. Kaum jemand
scheint besser geeignet als Patrice Lumumba.
In Ägypten freundet sich Lumumba mit seinem
Gastgeber an, dem ägyptischen Diplomaten, einem
feingeistigen Intellektuellen und Sprachenliebhaber
namens Mohammad Abdel Asis Ischak. Die beiden
verbringen so viel Zeit miteinander, dass Ischaks
Kinder Lumumba bald »Onkel Patrice« nennen.
Im Kongo bekommt die Partei, die Lumumba
gegründet hat, das Mouvement National Congolais
(MNC), von Woche zu Woche mehr Zulauf, aus
allen Gesellschaftsschichten und fast allen Regionen
des Landes. Während die meisten Parteien für einen
eher langsamen Abzug der Belgier eintreten oder
sogar für ihren Verbleib in Teilen der Gesellschaft,
fordert Lumumba eine schnelle Unabhängigkeit und
echte Freiheit von der Kolonialherrschaft.
Diese Position macht ihn im Kongo zum be-
liebtesten Politiker – und in Belgien zu einer Ge-
fahr. Denn die Brüsseler Regierung hat keineswegs
vor, sich komplett aus dem Land zurückzuziehen.
Dafür ist der Kongo ökonomisch zu wichtig. Sie
ist fest entschlossen, hinter der Fassade der Unab-
hängigkeit weiter die Entscheidungen zu treffen.
Mit einem Premierminister Lumumba dürfte das
schwierig werden.
Kurz bevor Belgien im Januar 1960 kongolesi-
sche Politiker nach Brüssel einlädt, um über die
Unabhängigkeit zu verhandeln, lässt die Kolonial-
regierung Lumumba verhaften, weil er angeblich
gegen Belgien gehetzt hat. Doch als in Brüssel die
Verhandlungen beginnen sollen, machen die kon-
golesischen Delegierten Lumumbas Anwesenheit
zur Bedingung. Belgien gibt nach, Kolonialbeamte
holen Lumumba aus dem Gefängnis und setzen
ihn in ein Flugzeug.
In Brüssel steigt er aus, mit bandagierten Hand-
gelenken, weil ihm in der Haft die Handschellen
in die Haut schnitten. Auf der Besucherterrasse
des Flughafens, so werden es Augenzeugen später
beschreiben, ruft ein junger Kongolese: »Es lebe
Lumumba! Es lebe das MNC!« Der Mann ist 29
Jahre alt. Er arbeitet als Journalist in Brüssel, kennt
Lumumba aber aus Léopoldville, wo sich die bei-
den angefreundet haben. Wie Lumumba stammt
der Mann aus einer einfachen Familie. Auch er hat
eine Missionarsschule besucht. Auch er hat früh
politische Literatur gelesen und dann angefangen,
für Zeitungen zu schreiben. In Léopoldville dis-
kutierte er mit Lumumba oft bis tief in die Nacht.
Jetzt, in Brüssel, begleitet er ihn vom Flughafen
zum Hotel im Stadtzentrum. Der Name des Jour-
nalisten: Joseph-Désiré Mobutu.
Fotos: Keystone, imago; ullstein (v. l.)
Die Herrschaft
Der Kongo ist jetzt ein freies Land. Lumumba ist
Premierminister, der belgische König ist abgereist, die
meisten Belgier aber sind noch immer da. Es geht
nicht ohne sie. Im ganzen Land gibt es nur 17 kon-
golesische Universitätsabsolventen. Die Ärzte in den
Kliniken, die hohen Beamten in der Verwaltung, die
Manager in Unternehmen sind größtenteils Belgier
– genau wie alle Offiziere in der Armee. Der Ober-
befehlshaber ist ein General namens Émile Janssens.
Fünf Tage nach der Unabhängigkeit, so rekon-
struieren es Historiker, tritt Janssens in der größten
Kaserne des Landes vor unzufriedene Soldaten.
Während der Feierlichkeiten haben einige von ihnen
den Auftrag bekommen, kongolesische Abgeord-
nete zu eskortieren. Diese haben von ihren neuen
hohen Gehältern luxuriöse Autos gekauft, mit denen
sie dann durch die Stadt rollten, wie früher die bel-
gischen Kolonialherren. Der Gegensatz zum Leben
der Soldaten könnte nicht größer sein. Für sie hat
sich bislang nichts geändert. Sie bekommen wenig
Geld und genauso schlechtes Essen wie vorher. Und
sie nehmen noch immer Befehle von Weißen ent-
gegen. Janssens sagt ihnen, von der Unabhängigkeit
profitierten vielleicht die Politiker und Zivilisten, aber
nicht sie, die Soldaten. Dann schreibt er an eine Tafel:
»Vor der Unabhängigkeit = nach der Unabhängig-
keit«. Am selben Tag bricht eine Meuterei los, die auf
andere Armeeeinheiten überspringt.
Die Soldaten verwüsten die Kasernen und strö-
men hinaus auf die Straßen. Manche rauben Weiße
aus, besetzen deren Häuser, vergewaltigen Frauen.
6000 Belgier fliehen über den Kongo-Fluss. Brüssel
schickt Tausende Fallschirmjäger ins Land. Sie be-
setzen Flughäfen und Verkehrsknotenpunkte.
Patrice Lumumba, der von Frieden geträumt hat,
muss nach nur einer Woche im Amt Krieg führen –
gegen die bisherige Kolonialmacht.
Er entlässt Émile Janssens und alle belgischen
Offiziere, er befördert jeden Soldaten um einen Rang.
So bringt er das Militär wieder auf seine Seite. Als
neuen Chef der Armee setzt er einen Mann ein, dem
er vertraut: seinen Freund Joseph-Désiré Mobutu.
Dann bittet Lumumba die USA um militärische
Hilfe. Sie sagen ihm ab. Er solle sich an die Vereinten
Nationen wenden. Die wiederum versprechen zwar,
Blauhelmsoldaten zu schicken, aber noch bevor
diese im Kongo eintreffen, tritt im Süden des Landes
ein Mann vor die Presse: Moïse Tschombé, der
Gouverneur der Provinz Katanga. Schon bei den
Verhandlungen in Brüssel hat sich Lumumba mit
ihm gestritten. Tschombé wollte einen föderalen,
Lumumba einen zentralistischen Kongo. Jetzt ver-
kündet Tschombé, seine Provinz sei nicht länger Teil
des Landes. Katanga sei ab sofort ein eigener Staat.
Es gibt eine Geschichte, die man sich im Kongo
seit langer Zeit erzählt. Sie geht so: Als Gott die Erde
erschuf, hat er irgendwann auch die Reichtümer ver-
François Lumumba vor
seinem Haus in Kinshasa
halts – und diese Einnahmen sind jetzt, nur elf Tage
nach der Unabhängigkeit, weg.
Kaum hat sich Tschombé vom Kongo losgesagt,
erhält seine Regierung eine Steuervorauszahlung von
1,25 Milliarden Franc von dem in Katanga aktiven
belgischen Bergbaukonzern. Tschombé lässt sich von
belgischen Politikern beraten und von belgischen
Soldaten beschützen. Der ökonomisch wichtigste Teil
des Kongo bleibt eine Art belgische Kolonie.
Lumumba steigt in eine Maschine nach Katanga,
um mit Tschombé zu verhandeln, aber der belgische
Fluglotse im Tower erteilt ihm, dem Premierminister,
keine Landeerlaubnis.
Lumumba bricht die diplomatischen Beziehun-
gen zu Belgien ab.
Dann, mit dem Rücken zur Wand, begeht er
seinen vielleicht schwersten Fehler. Die USA helfen
ihm nicht, von den Vereinten Nationen erhält er
keine ausreichende Unterstützung. Also erbittet er,
mitten im Kalten Krieg, militärische Hilfe von der
Sowjetunion.
Moskau sichert zwar Unterstützung zu, schickt
aber nur ein paar Flugzeuge mit Hilfsgütern. Gleich-
zeitig ist Lumumba durch die Hinwendung zur
Sowjetunion ein neuer Feind erwachsen: die USA.
Der amerikanische Botschafter in Belgien schreibt
nach Washington: »Unser oberstes Ziel muss es sein,
die Lumumba-Regierung, wie sie jetzt existiert, zu
zerstören. Gleichzeitig müssen wir ein anderes Pferd
finden oder schaffen, auf das wir setzen können.«
Wenige Tage zuvor, das belegen Dokumente der
US-Regierung, ist ein Amerikaner in Léopoldville
angekommen, der sich genau darum kümmern soll.
Larry Devlin ist Agent des Auslandsgeheimdienstes
CIA. Er organisiert Demonstrationen gegen Lumum-
ba. Er bringt Flugblätter in Umlauf, die den Regie-
rungschef in ein schlechtes Licht rücken. Er sorgt dafür,
dass negative Zeitungsartikel über ihn erscheinen.
Und er sucht ein anderes Pferd – und findet eines.
Da ist dieser junge Mann, so schreibt Devlin es
später in einem Buch, der ihm beim dritten persön-
lichen Treffen sagt, er brauche Geld, um seine Sol-
daten zu bezahlen. Devlin gibt es ihm. Es ist Joseph-
Désiré Mobutu.
Wenige Tage später tritt Mobutu in einem Hotel-
konferenzraum vor Journalisten und erklärt, er, der
Armeechef, entlasse die Regierung, löse das Parlament
auf und »neutralisiere« die Politiker, damit meint er
Staatspräsident Kasavubu und Premierminister Lu-
mumba. Er selbst übernehme die Macht.
Der Schritt ist mit Devlin abgestimmt. Die USA
und Belgien erkennen Mobutus neue Regierung an.
Lumumba zieht sich mit seiner Familie in seine
Residenz am Fluss zurück, beschützt von 200 Blau-
helmsoldaten aus Ghana.
Zwei Dinge sind François Lumumba aus dieser
Zeit im Gedächtnis geblieben. Einmal schickt sein
Vater ihn und seine beiden jüngeren Geschwister für
einige Tage zu einem Parteifreund, wo sie sich ver-
Der amerikanische Präsident Dwight D. Eisen-
hower sagt damals in einem Gespräch mit dem bri-
tischen Außenminister, er wünsche sich, »Lumumba
würde in einen Fluss voller Krokodile fallen«. So steht
es in einem Regierungsdokument.
Am Nachmittag des 26. September 1960 trifft der
Agent Larry Devlin in Léopoldville einen Kollegen
von der CIA. Es ist Sidney Gottlieb, ein Biochemiker.
Sein Spitzname: »Dr. Death«. Gottlieb ist in den
Kongo gekommen, um Devlin ein Päckchen mit
hochtoxischen Substanzen zu überreichen, eine davon
versteckt in einer Zahnpastatube. Gottlieb weist ihn
an, so schreibt Devlin später in einem Buch, das Gift
auf Lumumbas Zahnbürste aufzutragen oder in sein
Essen zu geben, dann sehe es aus, als sei er an einer
im Kongo verbreiteten Krankheit gestorben. Auf
Devlins Frage, wer den Befehl dazu gegeben habe,
habe Gottlieb geantwortet: »Präsident Eisenhower.«
Noch bevor Devlin die Mordpläne weiterver-
folgen kann, schickt Mobutu Anfang Oktober auf
amerikanischen und belgischen Druck hin Solda-
ten, um Lumumba festzunehmen. Die ghanai-
schen Blauhelme bilden einen Ring um dessen
Amtssitz und lassen sie nicht durch. Mobutus Ein-
heiten formen einen zweiten Ring um sie herum
und warten. Sie kappen Lumumbas Telefon-
leitung. Er und seine Familie sind nun im eigenen
Haus gefangen.
Die Flucht
Lumumba benutzt das Telefon der UN-Truppen, um
seinen ägyptischen Freund Mohammad Abdel Asis
Ischak zu sich zu rufen. Lumumba will den Diplo-
maten bitten, seine, Lumumbas, Kinder in Sicherheit
zu bringen, nach Kairo.
In der Residenz angekommen, macht Ischak ein
Foto der Kinder, rechts der neunjährige François in
kurzen Hosen, weißem Hemd und dunklem Jackett,
in der Mitte der achtjährige Patrice, einen Kopf
kleiner, im gleichen Outfit, und links, noch einen
Kopf kleiner, die fünfjährige Juliana im weißen Kleid.
Das jüngste Kind, der noch nicht einmal zwei Jahre
alte Roland, soll bei der Mutter im Kongo bleiben.
In der ägyptischen Botschaft in Léopoldville stellt
sich Ischak einen neuen Pass aus, klebt das Kinder-
foto hinein und fügt die in Ägypten verbreiteten
Namen Omar, Tarek und Fathiya hinzu. Er gibt
Lumumbas Kinder als seine eigenen aus.
Am späten Abend des 27. Oktober fährt Ischak
wieder zu Lumumba, diesmal mit einem Militärjeep
der UN, den Kofferraum voller Whiskey-Kisten und
Teppiche. Großzügig verschenkt er Flaschen an
Mobutus Soldaten.
François Lumumba erinnert sich, dass sein Vater
ihm an diesem Abend die Hand auf die Schulter
legte und sagte: »Ihr werdet jetzt nach Kairo gehen
und dort die Schule zu Ende machen. Dann kommt
ihr wieder. Merk dir das, ihr müsst wiederkommen.
wartet, mit einem Boot einen Fluss zu überqueren.
Soldaten bringen ihn nach Léopoldville, wo
Mobutu wartet. Ein Kameramann filmt. Lumumbas
Hände sind auf dem Rücken gefesselt. Er wird ge-
schlagen und an den Haaren gezogen. Ein Soldat liest
eine Rede Lumumbas vor, dann knüllt er das Papier
zusammen und versucht es Lumumba in den Mund
zu stecken. Mobutu schaut lächelnd zu.
Soldaten sperren Lumumba in ein Militär-
gefängnis, aber auch dort hat er so viele Anhänger,
dass die Insassen meutern, um ihn zu befreien.
Mobutu, die USA und Belgien sind sich einig:
Lumumba ist auch als Gefangener eine Gefahr.
Der Märtyrer
Am 17. Januar 1961 sitzt der Häftling Lumumba in
einem Flugzeug. Das Ziel: Katanga. Joseph-Désiré
Mobutu, der Herrscher des Kongo, und Moïse
Tschombé, der Regierungschef von Katanga, haben,
in Anwesenheit belgischer Offizieller, vereinbart,
Lumumba müsse eliminiert werden, nicht nur poli-
tisch, sondern »wenn möglich physisch«. Das geht
aus einem belgischen Regierungsdokument hervor.
Schon im Flugzeug wird Lumumba so heftig ge-
schlagen, dass sich der Funker, ein Belgier, aus Ekel
übergibt. In Katanga lässt Tschombé seinen Gefan-
genen in ein Haus in der Nähe des Flughafens brin-
gen, wo ihn belgische Polizisten bewachen. Auch hier
wird er schwer misshandelt. Tschombé und andere
Politiker aus Katanga prügeln auf ihn ein.
Am späten Abend fahren sie Lumumba in den
Wald. Dort wird er erschossen – nach allem, was man
weiß, von katangesischen Soldaten, die unter belgi-
schem Kommando stehen. Ein belgischer Polizei-
kommissar, der dabei ist, schreibt in seinen Taschen-
kalender: »9:43. L. tot.«
Moïse Tschombé, so wird es sein Hausmeister
später erzählen, kommt in der Nacht mit einigen
Ministern in seine Residenz. Dort stehen sie Schlange
am Waschbecken, um sich Lumumbas Blut von
Händen und Armen zu waschen.
Selbst nach Lumumbas Tod ist in Belgien die
Angst vor seiner Popularität so groß, die Furcht vor
einem möglichen Heiligenkult so überwältigend, dass
die Regierung vier Tage später einen Polizeikommis-
sar losschickt, um die notdürftig verscharrte Leiche
Lumumbas vollständig zu beseitigen. Gemeinsam
mit seinem Bruder gräbt der Mann, er heißt Gerard
Soete, die Leiche aus. Sie zerhacken und zersägen sie,
legen die Teile in ein Fass und gießen Schwefelsäure
darüber. Was übrig bleibt, verbrennen sie. Die Asche
streuen sie auf der Rückfahrt aus dem Autofenster.
Dann machen sie zwei Wochen Urlaub in Südafrika.
Später schreibt Soete: »Was wir getan haben,
würden nicht einmal Tiere tun.«
In einer ihrer frühesten Erinnerungen ist Juliana
Lumumba fünf Jahre alt. Sie ist in Kairo und hört
von der Straße draußen die Rufe einer Menschen-
menge ins Haus dringen: »Lumumba! Lumumba!
Lumumba!« Sie versteht nicht, warum diese Men-
schen ihren Namen rufen.
An jenem Tag ruft ihre ägyptische Pflegemutter
Lumumbas Kinder einzeln zu sich und überbringt
die Todesnachricht. François schreit, tobt, schlägt um
sich. Später, als er die Nachricht noch einmal im
Radio hört, schmeißt er es aus dem Fenster in den
Garten. Als das Telefon klingelt, reißt er es aus der
Wand und wirft es hinterher.
In Shanghai demonstrieren damals eine halbe

Lumumba macht Mobutu zu seinem Mitarbei-
ter während der Verhandlungen. Nach zwei Tagen
haben die Kongolesen den Belgiern ein Datum für
die Unabhängigkeit abgerungen, den 30. Juni.
Das ist in gerade mal fünf Monaten. Lumumba
hat sich durchgesetzt. Er fliegt zurück in den Kon-
go, um die Wahlen vorzubereiten, die im Mai
stattfinden sollen.
teilt. Das Gold, das Silber, die Diamanten. Er ver-
streute sie in Amerika, in Europa, in Asien. Als er aber
in den Kongo kam, war er müde, legte sich hin und
ließ alles, was an Schätzen übrig war, dort.
Es war sehr viel. Und der Großteil davon landete
in Katanga.
Anfang der Sechzigerjahre kommt nicht weniger
als die Hälfte des auf der Welt verarbeiteten Kobalts,
stecken sollen. Ein anderes Mal beobachtet er, wie
sein Vater aus seinem Büro ins Freie geht und sich
von einem seiner Wachsoldaten ein Gewehr geben
lässt. Der Mann, dessen Waffe immer das Wort ge-
wesen ist, feuert Salve um Salve über das Wasser des
Kongo. Er übt schießen.
Auch ohne Macht ist Lumumba der beliebteste
Politiker des Landes. Manchmal verlässt er die
Euer Land braucht euch. Und pass auf deine
Schwester auf.« Dann verstecken Lumumba und
Ischak die drei Kinder zwischen den Whiskey-Kisten
und breiten die Teppiche über ihnen aus. Auf dem
Weg nach draußen verteilt Ischak weitere Flaschen
– und wird durchgelassen.
Am Flughafen prüft ein dänischer UN-Soldat
Ischaks Pass. Er fragt, so erzählen es Ischaks Kinder
Million Menschen gegen den Imperialismus der USA
und Belgiens. In Belgrad zerstört ein wütender Mob
die belgische Botschaft. In Warschau flieht der bel-
gische Botschafter aus dem Gebäude. Auch in Lon-
don, Paris, New York gibt es Proteste.
In Léopoldville führt Lumumbas Witwe einen
Trauermarsch durch die Stadt an, ihren kleinen Sohn
Roland auf dem Arm tragend.

AFRIK A
Bei der Festnahme wird
Kaum aus dem
Lumumba misshandelt
Gefängnis entlassen, noch Kisangani (zweites Bild von rechts).
mit Bandagen, triumphiert
DEM. Sein ehemaliger Freund
Patrice Lumumba Katanga
REP. Joseph-Désiré Mobutu
bei Verhandlungen
KONGO Kinshasa verrät ihn und
in Brüssel
übernimmt die Macht
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023 DOSSIER 15

In der katholischen Kirche in Kairo, die Lumum-
bas Kinder jeden Sonntag besuchen, versammeln sich
afrikanische Staatsmänner, der koptische Papst und
der Imam der Azhar-Moschee. Lumumbas Freund
Abdel Asis Ischak hält die Trauerrede. Seine Tochter
Schams erinnert sich heute: »Ich sah Jesus am Kreuz
und dachte, das ist Papa Lumumba.«
In der Zeit danach bekommt die Pflegefamilie
von Lumumbas Kindern ständig Besuch. Schams
zeigt Fotos: Ahmed Ben Bella, der erste Präsident
Algeriens, küsst den jungen François Lumumba auf
die Wange. Hastings Banda, der Malawi in die Un-
abhängigkeit führte, umarmt den kleinen Patrice
Lumumba. Joshua Nkomo, späterer Vize-Präsident
von Simbabwe, neben Juliana.
Ihr Vater, ihr Name war innerhalb weniger Wo-
chen zu einem Symbol geworden: für das afrikanische
Streben nach Unabhängigkeit, aber auch für die
Gräuel des Westens. Die Universität der Völker-
freundschaft in Moskau wird in Lumumba-Univer-
sität umbenannt. Der amerikanische Bürgerrechtler
Malcolm X benennt seine Tochter nach Lumumba,
dem, wie er sagt, »großartigsten Schwarzen, der je auf
dem afrikanischen Kontinent gelebt hat«. Und ir-
gendwie findet der Name auch seinen Weg auf deut-
sche Weihnachtsmärkte, als Bezeichnung für einen
Kakao mit Rum und Sahne.
Die Heimkehr
Lumumbas Kinder verbringen ihr halbes Leben
im Exil. Der Wunsch ihres Vaters, sie sollten zu-
rückkehren, sei die ganze Zeit präsent gewesen,
erzählen François und Juliana. Nur ging das lange
Arbeit der belgischen Kolonialherren fort. Wie einst
König Leopold II. beutet er das Land aus. Im
Dschungel lässt er sich einen Palast bauen mit Ball-
saal, venezianischen Kronleuchtern, japanischen
Pagoden und einer concordetauglichen Landebahn.
Er schmückt sich mit dem größten Boxkampf aller
Zeiten, dem Rumble in the Jungle zwischen Muham-
mad Ali und George Foreman, den er genauso nach
die das eigene Volk knechten. Mobutu war keine Aus-
nahme, er war die Regel.
Ende der Neunzigerjahre, als Mobutus Herrschaft
im Kongo schwächer wird und sich seine Gegner
formieren, kehren Lumumbas erwachsene Kinder in
ihre Heimat zurück. Juliana wird unter Mobutus
Nachfolger sogar Ministerin. Sie zieht in das Haus
der Familie, das einst ihr Vater gekauft hatte. Dort
Vaters hervorrief, ist noch immer spürbar. Keiner der
Täter ist je bestraft worden. Die belgische Regierung
hat sich lediglich entschuldigt, und auch das nur
halbherzig und erst vierzig Jahre danach.
François und Juliana Lumumba haben, getrennt
voneinander, jeweils eine Art letzten Versuch unter-
nommen, für ein bisschen Gerechtigkeit zu sorgen.
François ließ einen belgischen Anwalt Klage ein-
Saal, als Lumumba seine Rede hielt, »ein Affront«,
sagt er noch heute. Er war in Katanga. Er war invol-
viert in den Schriftverkehr im Vorfeld von Lumum-
bas Ermordung. Er sagt, das sei alles lange her.
Davignon hat danach ein erfolgreiches Leben
geführt. Er wurde EU-Kommissar, Vize-Präsident
der EU-Kommission, er war mit der Tochter eines
ehemaligen belgischen Premierministers liiert und
trägt einen Adelstitel. Er gehört zur belgischen
High Society.
»Heute interessiert sich doch keiner mehr für
Lumumba«, sagt Davignon.
Fragt man Étienne Davignon nach der Anzeige
gegen ihn, grinst er. Dann zieht er an seiner Pfeife
und sagt, er mache sich da keine Sorgen.
Juliana Lumumba probierte etwas anderes. Sie sah
ein Interview mit der Tochter des ehemaligen bel-
gischen Polizeikommissars Gerard Soete, der damals
im Kongo Lumumbas Leichnam beseitigt hatte.
Während des Interviews zeigte die Tochter einen
Zahn. Dieser stamme von Lumumba, ihr Vater habe
ihn damals mitgenommen.
Im Sommer 2020 schrieb Juliana Lumumba einen
offenen Brief an den belgischen König Philippe,
Baudouins Neffen. Sie bat ihn, die sterblichen Über-
reste ihres Vaters an die Familie zurückzugeben. Im
Juni 2022 flog sie mit ihren Brüdern François und
Roland sowie einer kongolesischen Delegation nach
Brüssel. Die Maschine von Congo Airways trug den
Namen Patrice Émery Lumumba.
Der belgische Premierminister übergab ihnen
eine Schatulle, darin der Zahn, den Polizisten bei
der Hausdurchsuchung bei Soetes Tochter sicher-
gestellt hatten. Lumumbas Kinder hatten einen

Foto: Ley Uwera für DIE ZEIT

nicht. Sie studieren in Budapest und Paris, arbei-
ten in Brüssel und Genf, sie wechseln Jobs und
Länder und gründen Familien, aber eines ändert
sich nicht: Im Kongo herrscht Mobutu.
Die Welt kennt ihn als einen skrupellosen, raff-
gierigen und durchgeknallten Langzeitdiktator, der
stets eine Leopardenmütze und einen zepterartigen
Stock trägt. Angeblich, um die letzten kolonialen
Einflüsse zu vernichten, benennt Mobutu das Land
um. Aus Kongo wird Zaire. Aus Léopoldville wird
Kinshasa. Aus Joseph-Désiré Mobutu wird Mobutu
Sese Seko Kuku Ngbendu Wa Za Banga. Seine An-
hänger übersetzen das mit »Der allmächtige Krieger,
der mit Ausdauer und unbeirrbarem Willen von Sieg
zu Sieg geht und Feuer zurücklässt«. Seine Gegner
mit »Auf alle Zeit der mächtige Hahn, der keine
Henne unbestiegen lässt«.
Zum sechsten Jahrestag der Unabhängigkeit, am
30. Juni 1966, erklärt Mobutu seinen Feind, der ein-
mal sein Freund war, zum Nationalhelden. Er lässt
für Lumumba im Westen Kinshasas ein Monument
bauen, vier Betonsäulen, 210 Meter hoch, Raketen
symbolisierend.
Die vermeintliche Verehrung Lumumbas ist zy-
nische Propaganda. In Wahrheit führt Mobutu die
Kinshasa holt wie den Miss-Universe-Wettbewerb.
Mobutu besitzt mindestens zwölf Anwesen in Eu-
ropa, einige mit Säulen aus weißem Marmor und
Heliport, er verbringt die meiste Zeit auf seiner Jacht
und hortet fünf Milliarden Dollar auf Bankkonten
in der Schweiz, Belgien und den USA. Der Kongo
bleibt eines der ärmsten Länder der Welt.
Der Panafrikanismus der Fünfziger- und Sechzi-
gerjahre hatte sich erhofft, dass überall in Afrika die
Menschen das Joch des Kolonialismus abschütteln
und die neuen, unabhängigen Staaten, einander in
Freundschaft verbunden, prosperieren würden.
Stattdessen folgte dem Kolonialismus in vielen
Ländern ein neues Joch. Das der Langzeitdiktatoren,
Juliana Lumumba im Garten des Hauses,
das ihr Vater damals gekauft hat
wohnt sie noch heute. Das Wohnzimmer, in dem er
häufig Pressekonferenzen abhielt, ist jetzt vollgestellt
mit Bildern von ihm. Irgendwann, sagt Juliana Lu-
mumba, werde dieses Gebäude ein Museum werden.
François Lumumba lebt im Westen Kinshasas, nur
wenige Autominuten entfernt vom Raketenmonu-
ment, das Mobutu seinem Vater bauen ließ. Noch im
Exil übernahm er die Führung des MNC, aber bis
heute ist kaum Leben in der Partei. Auch Roland, der
keine Erinnerung an seinen Vater hat, lebt in Kin-
shasa. Patrice, ebenfalls zurückgekehrt, starb 2014 im
Alter von 61 Jahren.
Lumumbas Kinder haben heute selbst Kinder und
Enkel. Das Trauma aber, das die Ermordung ihres
reichen gegen zwölf Belgier, die seiner Meinung nach
am Mord beteiligt waren. Das war 2011, seither
schleppen sich die Ermittlungen in Brüssel dahin.
Zehn der Belgier sind inzwischen gestorben, einer ist
schwer krank. Der zwölfte sitzt an einem Tag im
November 2022 im 13. Stock eines Geschäftsturms
im Norden Brüssels. Aus seinem gläsernen Eckbüro
sieht Étienne Davignon bis hinüber zum Atomium,
wo noch bei der Weltausstellung im Jahr 1958 Men-
schen aus dem Kongo ausgestellt wurden wie Tiere
in einem Zoo.
Étienne Davignon ist heute 90 Jahre alt. Er war
27, als ihn das belgische Außenministerium als
Diplomat in den Kongo schickte. Davignon war im
Sarg mitgebracht, gefertigt aus edlem Wengeholz
aus dem kongolesischen Regenwald. Darin flogen
sie den Zahn zurück in den Kongo, wo er auf Tour
ging: in Lumumbas Geburtsdorf Onalua. Nach
Kisangani, wo er einst bei der Post arbeitete. Nach
Katanga, wo er umgebracht wurde. Zuletzt in die
Hauptstadt Kinshasa, wo sie ihm im Schatten von
Mobutus Raketenturm ein winziges Mausoleum
gebaut haben. Es besteht aus einem einzigen
Raum, vorn ein Fenster und hinten, auf dem
Dach, eine Lumumba-Statue mit zum Gruß er-
hobener rechter Hand.
Will man das Mausoleum an einem Mittwoch-
nachmittag im November besuchen, versperrt einem
ein Soldat mit Zigarette im Mund den Weg. Das
Monument sei geschlossen. Er dürfe niemanden
durchlassen, wenn es der Präsident nicht anordne –
oder man 20 Dollar für ihn habe. Vor dem Mauso-
leum liegen noch die Plastikblumen, die hier ein
halbes Jahr zuvor abgelegt wurden, als der Sarg her-
gebracht wurde. Sie sind staubig. Der Wind hat ein
Schild umgeweht. Was darauf mal stand, ist nicht
mehr zu lesen.
Für weitere zehn Dollar darf man noch ein Foto
machen, dann scheucht einen der Soldat davon.

ANZEIGE

Große Klassik,
kinderleicht
Die berühmtesten Werke zum Lesen und Hören
Eröffnen Sie Kindern ab 4 Jahren einen federleichten Zugang zur
klassischen Musik: Musizierende Tiere, sprudelnde Limonaden-
brunnen, ein Nussknacker, der nachts zum Leben erwacht – diese
fröhlichen Motive machen Lust auf mehr! In der neuen ZEIT-Edition
»Große Klassik, kinderleicht« erzählen 5 fröhliche Bilderbücher die
spannenden Geschichten weltbekannter Musikstücke. Die passenden
Hörbücher enthalten atmosphärisch inszenierte Texte und die
schönsten Melodien. Begeistern auch Sie Ihr Kind für klassische Musik!
Details: 5 hochwertige Hardcoverbände mit Halbleineneinband
plus 5 CDs & MP3-Download im stabilen Schmuckschuber.

Exklusiv
bei der
ZEIT
0 7.1 1 . 2 02 2 | D r. A n d r e a B r ü c k n e r
★★★★★
Wunderschöne Bücher
Wir bekamen den schweren Schuber,
bestückt mit fünf wunderschönen Büchern,
pünktlich geliefert. Die Geschichten sind
recht unterschiedlich, aber sie sind stets
kindgemäß und gut nachvollziehbar erzählt.
Klasse ist auch, dass wir mittels der beige-
legten CDs die Musikstücke vermischt mit
den Lesungen anhören können. Ein vollends
gelungenes Geschenk!

Jetzt für 79,95!€* bestellen: shop.zeit.de/kinderklassik

*zzgl. 4,95!€ Versandkosten | Bestell-Nr.: 43512 | Illustrationen aus »Karneval der Tiere«: Maya Akiki | Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg

112235_ANZ_371x250_X4_ONP26 1 02.12.22 14:44

16
Zur Ausgabe Nr. 53
Schule macht
kaputt
Bernd Gebert:
»Lehrer, stockt auf!« ZEIT NR. 53
Herr Gebert macht eine zutreffende Beobach-
tung – in Schulen arbeiten überdurchschnittlich
viele Beschäftigte in Teilzeit –, verwechselt in
seiner Analyse aber Ursache und Wirkung.
Nicht die Teilzeitbeschäftigten sind der Grund
für den Fachkräftemangel. Sondern der Um-
stand, dass Lehrkräfte seit Jahren über dem
Limit arbeiten müssen, führt zur »Flucht« in
Teilzeit, Krankheit, Frühpensionierung! Diese
Lehrkräfte verzichten freiwillig auf Geld und
Pensionsansprüche, weil sie die Arbeit einer
Vollzeitstelle nicht mehr schaffen, ohne kaputt-
zugehen. Mit mehr Geld wird man diese Per-
sonen also nur schwer überzeugen können.
DR . JÖRN LÜTJENS , VORSITZENDER IM PERSONAL-
R AT SCHULEN BREMEN
Ich möchte Herrn Geberts »Meinung« ent-
gegenhalten: Väter, stockt auf! Wie viel Pro-
zent der KlassenlehrerInnen sind weiblich
und kümmern sich neben bildenden und er-
zieherischen Belangen der Schülerinnen und
Schüler wie gehabt zu 80 bis 100 Prozent um
eigene Kinder und den Haushalt?! Richten
Sie Ihren Aufruf doch an die männliche Leh-
rerschaft – ach nein, das sind ja alles Studien-
räte, da ist der Mangel gar nicht so eklatant,
da der Job entsprechend bezahlt wird ... Gott
sei Dank gibt es Mütter, die wenigstens mini-
mal auf sich achten und sich neben all der
unbezahlten Arbeit dennoch in Teilzeit um
die Kinder der Gesellschaft kümmern – die es
ihnen mit Altersarmut dankt!
BIBIJANA SGODDA , BEURL AUBTE (!) LEHRERIN
UND MUT TER , PER E-MAIL
Hast du Töne
Zum Interview
»Was ist gute Musik?« ZEIT NR. 53
Auf die Frage »Was ist gute Musik?« antwortet
Frau Wald-Fuhrmann: »Das kann ich nicht
sagen.« Dieser Satz zieht sich leitmotivisch
durch all ihre Aussagen. Sie irrt sich auch mit
der Behauptung, Bach sei erst im Laufe des
19. Jahrhunderts wiederentdeckt worden.
Mozarts kontrapunktische Meisterwerke ent-
standen insbesondere nach dem Studium
Bachscher Fugen. Zu erwähnen ist auch Beet-
hovens Ausspruch: »Nicht Bach, sondern Meer
sollte er heißen, wegen seines unendlichen,
unerschöpflichen Reichtums an Tonkombina-
tionen und Harmonien.« Frau Wald-Fuhr-
mann lässt sich zwar am Flügel ablichten, sagt
aber auf die Frage, welches Instrument sie
spiele: »Diese Frage dürfen Sie einer Musik-
wissenschaftlerin nicht stellen.« Da darf ich
schon die Frage stellen, wieso die ZEIT keine
kompetentere Person zu diesem Thema gefun-
den hat. HERWIG NERDINGER , HALDENWANG
Auf arrogante Interviewfragen kluge Ant-
worten. THOMAS WALTER , PER E-MAIL
BEILAGENHINWEIS
Die heutige Ausgabe enthält folgende Publika-
tionen in einer Teilauflage: Möbel Höffner,
12529 Schönefeld; Baden-Württemberg Stiftung
gGmbH, 70174 Stuttgart; Gemeinschaftswerk der
Evangelischen Publizistik gGmbH, 60439 Frank-
furt. In der Auflage Christ & Welt: Renovabis
Stiftung Renovabis e.V., 85354 Freising
ANZEIGE
5x DIE ZEIT für
nur 5"€ testen
Lesen Sie 5 Wochen lang DIE ZEIT gedruckt oder digital für nur 5,–"€,
und erfahren Sie jede Woche das Wichtigste aus Politik, Wirtschaft,
Wissenschaft und Kultur. Dieses Angebot gilt nur für kurze Zeit!
42359_ANZ_D_5f5_V2_371x80_X4_ONP26 1
LESERBRIEFE
Der heilige Hausmann
Henning Sußebach: »Josef«
Welch wunderbare Mischung aus journalisti-
schem Rechercheeifer, köstlichem Humor und
liebevoller Ironie: Vielen Dank für dies gelunge-
ne Dossier, das auf der Höhe seiner Zeit einen
Josef als Verkörperung menschlicher Glaubens-
und Deutungsfähigkeit vor dem zu raschen Ver-
gessen zu bewahren vermag.
ECKHARD HEUMANN , GÖT TINGEN
Bislang bezog ich eine kritische, weltoffene und
meist reflektierte Zeitung. Nun wird mir statt-
dessen ein kirchliches Missionsblatt zugestellt,
das mich über die bizarren Familienverhältnisse
des »Heilands« und dessen gesundheitliche Rah-
menbedingungen bei seiner Geburt aufklärt. Was
darf man als Nächstes erwarten – »War der Hei-
lige Geist transgender?« oder »Halbjungfrau Ma-
ria«? Weihnachten hin oder her, überlasst das
Predigen den Predigern und Märchenerzählern.
CHRISTOPH STELLMACHER , LINDAU
Ich schreib’s in der Sprache des Gläubigen: Zum
Hinknien schön. Vergelts Gott!
KL AUS SCHR AGE, NÜRNBERG
Bei unserem Krippenspiel vor etwa 35 Jahren hat es
sich noch modern angefühlt, Josef als fürsorglichen
Vater darzustellen, der seine nicht von ihm schwan-
gere Frau nicht verlässt und für deren Sohn sorgt.
Heute hat sich die Gesellschaft weiterentwickelt,
und es erstaunt, dass die ZEIT solches Verhalten
immer noch als erstaunlich darstellt und auf die
Titelseite bringt, als wäre es eine Ausgabe von 1985.
Zumal diese Aussage zweifach falsch ist: Josef war
definitiv nicht der Erste, der so handelte. Die Mo-
tive der Jungfrauengeburt und der Adoption kom-
men bereits in antiken Quellen vor. Zudem hat die
christliche Bibel gerade diese Aspekte, die der
Artikel betont, nicht in den Mittelpunkt gestellt,
sonst hätten die christlichen Kirchen nicht in von
ihnen dominierten Gesellschaften unehelich ge-
Hoffnung auch jenseits der Kirchenbank
Giovanni di Lorenzo: »Eine Auszeit, keine Weltflucht«
Giovanni di Lorenzos Leitartikel unterscheidet sich
wohltuend von der sonst üblichen Schwarzmalerei
in den Medien (auch in der ZEIT). »Gegen Hoff-
nungslosigkeit hilft nur neue Hoffnung«, schreibt
er. Wie wahr! Doch woher die nehmen? Dieser
Wandel ist individuell nicht zu schaffen. Doch Sie
könnten viel mehr positive Anstöße geben und
weiter der Frage nachgehen, was uns neue Hoffnung
geben kann! EDDA MUHR , GL AT TBACH
Klarheit vermittelnde, Zuversicht stiftende und
ermutigende Zeilen, die mich sehr berühren und
durch die Weihnachtstage und darüber hinaus be-
gleiten werden. HEINRICH KLIPP, HAMBURG
Wohin auf unserer »Welt« sollen wir auch fliehen?
Wir brauchen nur einen ruhigen Raum zum Nach-
denken. Selbst als alter (weißer) Mann habe ich noch
eine Vision: Alle Menschen schließen ihren Grips
zusammen. Aus den so gewonnenen Körnchen
Wahrheit formen kluge Menschen eine Weltpolitik,
die der Natur und allen Nationen gerecht wird!
DR . MED. ULRICH PIETSCH , NIDDA- ULFA
Keine Frage: Das nächste Jahr wird schwieriger
werden. Es wird zu Energieknappheiten kommen,
und auch die soziale Frage, die nach der Bismarck-
schen Sozialgesetzgebung weitgehend gelöst schien,
wird vor neuen Herausforderungen stehen. Viel-
ZEIT NR. 53
borene Kinder so diskriminieren und Mutter-Vater-
Rollen so patriarchalisch interpretieren können.
DIRK WÜTHERICH , DUS SLINGEN
Vielen Dank für die zu Herzen gehende »Bio-
grafie« des heiligen Josef. Bei Durchsicht Ihrer
Bildergalerie muss ich an jenes um 1400 zwischen
Maas und Rhein entstandene Täfelchen denken,
auf dem Josef aus seinem Strumpf mit dem Mes-
ser eine Windel für das nackte Jesuskind schneidet.
LUDWIG ENGSTLER-BAROCCO, BONN
Die angerissenen Halbwahrheiten zu Josef machen
mir bewusst, dass Zeitunglesen verlorene Zeit ist.
Wie kann man so undifferenziert schreiben, dass
»Maria nicht die erste Gottesmutter« sei und »in ihr
uralte Traditionen fortgeschrieben« würden? Genau
das Gegenteil verkündet die Christenheit gegen den
antiken Mythos! Maria ist Mutter des Herrn, nicht
als Göttin wie etwa Artemis, sondern als Mensch
ganz und gar, angefragt von Gott, nicht vergewaltigt
wie etwa durch Zeus, mit einem zustimmenden »Es
soll geschehen«. Und warum die Verächtlichma-
chung von Josef als »Hausfrau« unter den Heiligen?
Warum nicht »Hausmann«?
Ich würde Josef raten, eine Gegendarstellung zu
fordern. Aber um diese Klage zu hören, bräuchte
es eine weihnachtliche Innerlichkeit.
MICHAEL RUDOLF, AINDLING
Durch seinen WM-Boykott konnte sich Hen-
ning Sußebach zum Glück voll auf den Text über
Josef konzentrieren – herzlichen Dank dafür!
ELKE MEINERT, PER E-MAIL
Josef, der »Pflegevater unseres Herrn«, wie es in
einem Kirchenlied heißt, gilt in der katholischen
Kirche als Keuschheit in Person. Während ge-
meinhin Ehepartner erst durch den Geschlechts-
akt die Ehe vollziehen, dürfen Mann und Frau in
beiderseitigem Einvernehmen mit dem Segen der
leicht sollte der alte Zehnt wieder eingeführt werden,
der Urvater des heutigen Steuersystems. Jeder, der
kann, zahlt ein Zehntel seines verfügbaren Einkom-
mens. Damit würde per se mehr Gerechtigkeit ent-
stehen, statt einer völlig aus dem Ruder gelaufenen
Steuergesetzgebung nur noch mehr Gestaltungs-
freiheit zu geben. DR . DETLEF RILLING, SCHARBEUTZ
Letztlich wäre es sehr wünschenswert, die von Dik-
tatoren geradezu gewollte Hoffnungslosigkeit mit
einer neuen Hoffnung zu überwinden – so endet
der Artikel, leider ohne zu sagen, was neue Hoff-
nung bedeuten könnte. Offen zu sein für Neues,
Gewohnheiten zu durchbrechen, den viel be-
sprochenen Mentalitätswandel zu leisten ist nicht
ohne schmerzliche Erfahrungen und Selbstdisziplin
möglich, wenn Hoffnung zu einem neuen Umgang
mit sich selbst und zum positiven Handeln für an-
dere führen soll. Ohne diese von uns allen zu leis-
tende Arbeit verbleibt die neue Hoffnung weiterhin
auf der Kirchenbank. DR . GERO KOFLER , STUT TGART
Ein fantastisches Motto, dieses »Deutschland funk-
tioniert!«, gar nicht utopisch: Deutschland organi-
siert sich transparent und berechenbar, es plant
mindestens mittelfristig, es übt sich in Erhaltung
statt in schöpferischer Zerstörung. Dazu gehört aber
Bereitschaft zu fortwährender Evaluation und Re-
flexion. Während wir uns die Ukraine-Hilfe auf die
Kirche in einem Fall auf Sex verzichten: Wenn sie
sich für die »Josefsehe« entscheiden. Kein Sex,
auch nicht in der Ehe – der heilige Josef macht’s
möglich. WOLFGANG WENDLING, BOPPARD
Ich glaube nicht an das Weinachtsmärchen im
Lukas-Evangelium. Die Jungfrauengeburt und damit
die Bedeutung Marias steht in der jahrtausendealten
Tradition der großen Mutter; besonders ein-
prägsam in der ägyptischen Figur der Isis und ihres
Sohnes Osiris – Letzterer ebenfalls gestorben und
wiederauferstanden ... Es ist natürlich zu begrüßen,
dass einige moderne Väter sich mehr als früher um
ihre Kinder kümmern. Aber das hat nichts mit
Josef zu tun.
DR . IRMGARD OBERHOFF-LOODEN, BAD GANDERSHEIM
Habe Ihre Titelstory über Josef mit Schmunzeln
unterm Weihnachtsbaum gelesen. Frisch, unfromm,
fröhlich, frei. Geistreiches und kurzweiliges Räson-
nement über einen Mann, den es vielleicht gar nicht
gegeben hat, der rein gar nichts zum Heilsgeschehen
beigetragen hat, nicht mal seinen Samen. Und über
den wir nichts wissen. Er wäre eigentlich der Kan-
didat für den Schutzheiligen der Agnostiker.
Unter den Namensträgern haben Sie übrigens
Jupp Beuys vergessen, so hieß er in meiner Jugend
in Kleve. Dürfte in der heutigen bibelfernen Zeit
bekannter sein als der Josef des Neuen Testa-
ments. DR . GÜNTER KIRCHHAIN , LEVERKUSEN
Ich befürchtete schon, als ich das Titelblatt sah, dass
es auf eine – heutzutage selbstverständliche – iro-
nische Brechung hinausläuft, und so war es natürlich
auch. In einem säkularisierten Deutschland kann
und darf man darüber natürlich nicht ernsthaft be-
richten, und die jungen Leserinnen und Leser müs-
sen etwas zum Schmunzeln haben mit den Simpsons
und Darth Vader. Die ZEIT hat es in meinen Augen
nicht nötig, sich anzubiedern – darauf hoffe ich im
kommenden Jahr. ANNA BÜT TNER , PER E-MAIL
ZEIT NR. 53
Habenseite schreiben, dürfen wir Versäumnisse und
Schäden nach unserer jahrzehntelangen Hilfe am
Hindukusch nicht verdrängen. Und wir sollten in
der Tat jeden leidenschaftlichen Vermittlungsver-
such für Menschen in Not wagen, ohne Auszeit,
ohne Weltflucht. Fast so, als wären wir neutral.
DR . JUR . K ARL ULRICH VOS S , BURSCHEID
Giovanni di Lorenzo hat auf sehr angemessene Art
Geschehnisse des Jahres Revue passieren lassen und
auch Hoffnung zum Ausdruck gebracht. Beim
Umblättern auf Seite zwei und drei bin ich erschro-
cken – eine solch wuchtige, fast obszöne doppel-
seitige Werbung ist das Gegenteil von Angemessen-
heit und Besinnlichkeit zur Weihnachtszeit. Im
Anzeigentext werden auch noch die Worte »Stille
Nacht« missbraucht. Dass die ZEIT so eine Anzeige
an so prominenter Stelle in der Weihnachtsausgabe
platziert, lässt mich ziemlich enttäuscht zurück. Die
folgenden Seiten kommen da gar nicht mehr richtig
zur Geltung. DIETRICH HALLER , PER E-MAIL
Erst habe ich mich geärgert. Da wird im Leitartikel
von Erderwärmung, Artenschutz, Klimakrise und
Verknappung der Energie gesprochen, und dann
haut es einem die Audi-Werbung ins Gesicht. Nach
ein paar Tagen dachte ich, es ist vielleicht ganz sub-
til platziert. Lassen Sie mich in dem Glauben.
CHRISTINE UNGR ADE, WOLFENBÜT TEL
Jetzt
bestellen:
040/42"23"70"70*
zeit.de/5fuer5
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
Weitere Leserbriefe finden Sie unter
blog.zeit.de/leserbriefe
Mehr Mut zur
Fehlerkultur!
Journalisten bekennen ihre Fehler:
»Da lag ich falsch« ZEIT NR. 53
»Durch Fehler wird man klug, darum ist einer
nicht genug«, meinte Wilhelm Busch. Umso
dankbarer und achtsamer sollten wir daher jenen
Menschen zuhören, die trotz unserer inkonzi-
lianten Fehlerkultur bereit sind, ihre (sonach
gewonnene) Klugheit mit uns zu teilen. Das
Einräumen von Versehen, Irrtum oder Schwä-
che braucht Mut und ist doch ein Zeichen von
großer Kompetenz. Mehr noch, auf dem Ein-
geständnis und der Korrektur von Fehleinschät-
zungen basieren Aufklärung und Kultur.
MAT THIAS BARTSCH , LICHTENAU
Borniert und arrogant benutzt Jan Fleischhauer
die 68er-Proteste als Blaupause und Legitima-
tion, um letztlich die Dringlichkeit von Klima-
schutzmaßnahmen zu verharmlosen. Was er
verschweigt, um seine Weltsicht als Revolution
zu verkaufen und sich als Erbe der 68er zu in-
szenieren: Natürlich waren die 68er ebenfalls
von Angst und Verzweiflung getrieben und woll-
ten auch etwas beenden (vielleicht würde man
es heute »canceln« nennen?), nämlich das mil-
lionenfache Verschweigen und Leugnen der
Mitwirkung ihrer Eltern an einer der größten
Katastrophen der Menschheitsgeschichte – Welt-
krieg und Massenmord in industriellen Anlagen.
Sich dem zu stellen ist doch ein viel größeres
Verdienst als »mehr Sex und mehr Hasch«. So
unverschämt es ist, die 68er auf Letzteres zu
reduzieren, so anmaßend ist es, sich über eine
Generation lustig zu machen, die Gleichberech-
tigung ernst nimmt und eine große Katastrophe
rechtzeitig abwenden will.
ALEX ANDER HEINTZ, OBERURSEL
So angenehm diese Bekenntnisse journalistischer
Irrtümer auch sind, die Frage muss doch sein,
warum es Journalisten so schwerfällt, Fehler ein-
zugestehen. Dass sie das mit Politikern, Firmen-
chefs, Amtsleitern, Oberen der christlichen
Kirchen etc. gemein haben – geschenkt. Dies
mit der zuletzt grassierenden Cancel-Culture
zu erklären ist nicht ausreichend, da dieses
Phänomen des Nicht-irren-Könnens, wie Ihre
Beispiele zeigen, zeitlich viel weiter zurück-
reicht. Das Bitten um Entschuldigung ist
gesellschaftlich verpönt und gilt als Zeichen
von Schwäche. Es braucht mediale Vorbilder,
um eine Verzeihkultur (wieder) zu beleben.
CHRISTIAN SPRINGER , DÜS SELDORF
Ich musste an das bekannteste Zitat des rö-
mischen Philosophen Seneca denken: Errare
humanum est. Dieses »Irren ist menschlich«
erhält seinen tiefen Sinn aber erst mit dem
zweiten Teil des Ausspruchs, der eher nicht
bekannt ist: ... sed in errare perseverare diaboli-
cum (est), »aber auf Irrtümern zu bestehen ist
teuflisch«. Daher meine Hochachtung für
diese Geständnisse, die die ZEIT für mich
einmal mehr sehr lesenswert machen.
STEFFEN L ASCH , ET TLINGEN
IHRE POST
erreicht uns am schnellsten unter der
E-Mail-Adresse leserbriefe@zeit.de. Mit der
Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
Ihren Brief in der ZEIT, deren digitalen Aus-
gaben und im Leser-Blog auf www.zeit.de
unter Nennung Ihres Namens und des
Wohnortes zu veröffentlichen. Für den
Inhalt sind Sie als Einsender verantwortlich;
die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung
und redaktionelle Bearbeitung vor. Zudem
können Sie die Texte der ZEIT auf Twitter
diskutieren und uns auf Facebook folgen.
Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
*Bitte Bestellnummer angeben: 2061966 · 2061967 Stud.
2061986 Digital · 2061987 Digital Stud.
Buceriusstraße, Hamburg
14.09.22 10:30
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023
D
er Sonderkorrespondent des
Berliner Tageblatts in Essen
kann kaum fassen, was er
am frühen Nachmittag des
11. Januar 1923 beobachtet:
»Gegen 2 Uhr erfolgte der
Einmarsch der Franzosen in
die Stadt«, berichtet er. »Voran einige Radfahrer,
ihnen folgend Infanterie und anschließend einige
tausend Mann Kavallerie im Trab. Langsam ratter-
ten drei schwere Panzerautos durch die Straßen,
ihnen folgte Infanterie und Artillerie, auch Ma-
schinengewehre sah man. Den Schluß bildeten
mehrere Lastautos mit Mannschaften. Sämtliche
öffentliche Gebäude und der Bahnhof wurden
ebenso wie sämtliche Straßenkreuzungen durch
Posten mit aufgepflanztem Bajonett besetzt.«
Noch am selben Tag verhängt der Befehlshaber
der französischen Besatzungstruppen, General
Jean-Marie Degoutte, den Belagerungszustand.
Innerhalb weniger Tage besetzt das Militär auch
Gelsenkirchen, Bochum, Recklinghausen, Hattin-
gen, Dortmund und weitere Orte zwischen der
Ruhr im Süden und der Lippe im Norden. Bis
März 1923 werden zwischen 70.000 und 100.000
Soldaten stationiert. Das relativ kleine belgische
Kontingent von 8000 Mann untersteht ebenfalls
dem Oberkommando Degouttes.
Ganz überraschend kommt die spektakuläre
Aktion nicht. Bereits in den Jahren zuvor hatten
die alliierten Siegermächte mit Sanktionen ge-
droht für den Fall, dass die deutsche Regierung
ihren Reparationsverpflichtungen nicht nach-
kommt. Nachdem am 4. Januar eine Reparations-
konferenz in Paris ergebnislos zu Ende gegangen ist,
hat sich die Situation rasch zugespitzt. »Franzosen-
Einmarsch nach gescheiterter Reparations-Con-
ferenz bevorstehend«, notiert der in Dresden leh-
rende Romanist jüdischer Herkunft Victor Klem-
perer am 5. Januar in sein Tagebuch.
Seit Kriegsende belastete der Streit um die Re-
parationen die ohnehin vergifteten Beziehungen
zwischen dem besiegten Reich und den Alliierten.
Im Versailler Vertrag wurde der Anspruch auf Wie-
dergutmachung begründet mit dem Artikel 231,
der die alleinige Verantwortung des Kaiserreichs und
seiner Verbündeten für den Kriegsausbruch fest-
stellte und sie für alle Verluste und Schäden haftbar
machte. Auf einer Konferenz des Obersten Rats der
Alliierten in Paris im Januar 1921 präsentierten
Briten und Franzosen ihre Rechnung. Danach sollte
Deutschland insgesamt 226 Milliarden Goldmark
innerhalb von 42 Jahren zahlen, wobei die Jahres-
raten mit zwei Milliarden Goldmark beginnen und
nach und nach auf sechs Milliarden Goldmark an-
steigen sollten. Die Forderung sorgte in der deut-
schen Öffentlichkeit für ein böses Erwachen. Nur
»Toren« hätten glauben können, »das Schlimmste
liege schon hinter uns«, schrieb Reichspräsident
Friedrich Ebert in einem Brief.
Die Berliner Regierung wies den Pariser Zah-
lungsplan zurück; die wirtschaftliche Lage sei zu
schlecht. Ende April 1921 unterbreitete die alliierte
Reparationskommission einen neuen Vorschlag:
Statt 226 wurden nun nur noch 132 Milliarden
Goldmark gefordert. Doch erst nach einem Ulti-
matum erklärte sich die deutsche Regierung unter
dem Zentrumspolitiker Joseph Wirth zur Annahme
bereit – allerdings mit dem Hintergedanken,
gerade durch demonstrative Bekundung des guten
Willens die Unerfüllbarkeit der Forderung zu
beweisen und sie in Verhandlungen auf ein für
Deutschland akzeptables Maß zu stutzen.
S
eit Anfang 1922 verschlechterten sich
die Aussichten auf ein Entgegenkom-
men. Der neue französische Minister-
präsident Raymond Poincaré vertrat
eine harte Linie in der Reparationsfrage.
Angesichts der schwächelnden Reichsmark arg-
wöhnte er nicht zu Unrecht, dass die Regierung die
Währung bewusst verfallen ließ, um sich ihren
Reparationsverpflichtungen zu entziehen, und hielt
Ausschau nach »produktiven Pfändern«. Dabei
richtete sich sein Blick auf die reichen Kohlevor-
kommen des Ruhrgebiets. Gelänge es, sie unter
französische Kontrolle zu bringen, wäre Deutsch-
land außerdem so nachhaltig geschwächt, dass es
keine Bedrohung mehr darstellen würde.
Ende November 1922 fällt im Ministerrat in
Paris die Entscheidung, das Ruhrgebiet zu besetzen.
Poincaré benötigt nur noch einen Vorwand. Den
liefert die Reparationskommission: Am 26. Dezem-
ber stellt sie fest, dass Deutschland mit der Lieferung
von Schnittholz und Telegrafenstangen in Rückstand
geblieben ist; am 9. Januar 1923 folgt die Ver-
urteilung Deutschlands wegen zu geringer Kohle-
lieferungen. Zwei Tage später marschieren franzö-
sische und belgische Truppen ins Ruhrgebiet ein.
Die Invasion löst in der deutschen Öffentlichkeit
einen Aufschrei der Entrüstung und eine starke
Welle nationaler Solidarität aus. Manche Beobachter
fühlen sich gar an die Stimmung im August 1914
erinnert. »Die Franzosen haben durch die Ruhrbeset-
zung [...] mehr für den Zusammenschluss aller Par-
teien und Klassen getan, als es sich durch andere
Mittel hätte bewerkstelligen lassen«, bemerkt der
britische Botschafter in Berlin, Edgar Vincent
D’Abernon. »Das ganze Land scheint zu einer Ein-
heit verschmolzen.«
Charakteristisch für die antifranzösischen Emo-
tionen, die in diesen Tagen hochkochen, ist eine
Rede, die der Historiker und Kriegsfreiwillige von
1914 Gerhard Ritter – damals Privatdozent in Hei-
delberg – anlässlich der Reichsgründungsfeier am
20. Januar 1923 hält. Eigentlich, so beginnt er, sei
ja niemandem zum Feiern zumute, um dann fort-
zufahren: »Nicht feiern, handeln möchten wir
dürfen – den Säbel und das alte Kriegspistol von der
Wand reißen, den Stahlhelm aufstülpen und das
feige Diebesgesindel herauswerfen, das sich in un-
serem Hause herumtreibt.«
GESCHICHTE
Foto: bpk
Das Krisenjahr 1923 beginnt mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch
französische Truppen: Die deutsche Regierung ist mit ihren
Reparationszahlungen in Verzug – und versucht nun, den Verfall
der eigenen Währung zur Waffe zu machen VON VOLKER ULLRICH
Doch für eine militärische Antwort reichen die
Kräfte der auf 100.000 Mann reduzierten Reichswehr
nicht aus. Die Regierung unter dem parteilosen
ehemaligen Generaldirektor der Hapag, Wilhelm
Cuno, der im November 1922 Wirth als Reichs-
kanzler abgelöst hat, proklamiert stattdessen den
passiven Widerstand. Noch am Tag des Einmarsches
werden die Zechenbesitzer im Ruhrgebiet angewie-
sen, sämtliche Kohlelieferungen an Frankreich und
Belgien einzustellen. Am 13. Januar untersagt die
Regierung allen Beamten, den Anordnungen der
Besatzungsmächte Folge zu leisten. Das gilt für das
Personal der Reichsbahn ebenso wie für die Bediens-
teten von Reichspost und Telegrafenverwaltung.
Diese Strategie ist zunächst erfolgreich. In den
ersten Wochen des Ruhrkampfes sieht es so aus, als
werde Poincarés Versuch, die Kohlegruben als »pro-
duktive Pfänder« in Besitz zu nehmen, misslingen.
»Der erste Monat hat für die französische Regierung
mit einem schweren Defizit geschlossen«, schreibt
Friedrich Stampfer, der Chefredakteur des sozial-
demokratischen Vorwärts. Statt Gewinne aus der
Ruhrkohle einzufahren, habe sie »Ausgaben für
militärische Operationen in noch unbekanntem
Ausmaß bestreiten müssen«.
Offenbar hat die französische Regierung die
Heftigkeit der deutschen Gegenwehr unterschätzt.
Doch nichts liegt ihr ferner als der Gedanke an einen
Rückzug. »Entschlossen, sich die Sicherungen und
gerechten Reparationen aufgrund der Friedens-
verträge zu erzwingen, wird Frankreich durch nichts
sich von seinem Standpunkt abbringen lassen«,
erklärt Staatspräsident Alexandre Millerand am
22. Februar. Die Ruhrbesetzung ist zu einer Frage
des nationales Prestiges geworden.
Um den passiven Widerstand zu brechen, lassen
sich die Besatzer eine Reihe zum Teil drastischer
Sanktionen einfallen. Bereits am 29. Januar ruft
110532_ANZ_71x100_X4_ONP26 1
»Produktives Pfand«: Französischer Soldat
1923 auf einem beschlagnahmten Kohlezug
Kampf
um die
Kohle
General Degoutte den »verschärften Belagerungs-
zustand« aus. Jeder Sabotageversuch werde mit Waf-
fengewalt beantwortet und jede Kundgebung eben-
so rigoros unterdrückt. Unternehmer, die sich den
französischen Anordnungen widersetzen, müssen mit
harten Strafen rechnen. Beamte, die eine Zusammen-
arbeit mit den Besatzern verweigern, werden in
großer Zahl festgenommen und häufig mitsamt ihren
Familien aus dem besetzten Gebiet abgeschoben.
Besonders einschneidend wirkt sich die Er-
richtung einer Zollgrenze zwischen dem besetzten
und dem unbesetzten Gebiet aus. Ende Januar wird
ANZEIGE
Jetzt
reinhören
Illustration: Lea Dohle
Wie war das noch mal?
Die großen Epochen,
Menschen und Ideen der Weltgeschichte –
spannend und kontrovers.
www.zeit.de/zg-podcast
13.10.21 15:50
der Export von Kohle ins Reich verboten. Da sich
die Eisenbahner weigern, für die Okkupanten zu
arbeiten, übernehmen diese die Bahnen im be-
setzten Gebiet, um die auf Halde liegenden Kohle-
bestände abzutransportieren. Damit ist der anfäng-
lich so wirksame passive Widerstand an einer
wichtigen Stelle durchbrochen. Die Besatzer brin-
gen außerdem mehr und mehr Betriebe unter ihre
Kontrolle, sperren die deutschen Belegschaften aus
und werben ausländische Arbeitskräfte an, unter
ihnen polnische Bergleute.
Die Zeit arbeitet nun für Frankreich, während
sich der passive Widerstand für Deutschland als ein
Fass ohne Boden erweist. Die ausgewiesenen Be-
amten müssen unterstützt, die Löhne der Arbeiter
fortgezahlt werden. Unternehmen vor allem der
Schwerindustrie erhalten großzügige Kredite als Aus-
gleich für Produktions- und Gewinnausfälle. Gleich-
zeitig brechen die Steuereinnahmen aus dem be-
setzten Gebiet weg. Und es fehlt natürlich die Kohle
selbst, was die deutsche Regierung zu teuren
Importen aus England zwingt. Gedeckt wird der
steigende Finanzbedarf durch eine hemmungslose
Betätigung der Notenpresse. Die Verschuldung des
Reiches steigt sprunghaft an.
Mit ihr beschleunigt sich der Verfall der deut-
schen Währung. Am 5. Februar steht der Dollarkurs
bei 42.250 Mark – Anfang Januar hatte er bei gut
7000 gelegen. Durch eine Stützungsaktion der
Reichsbank gelingt es von Mitte Februar an zwar,
den Kurs noch einmal für zwei Monate zu stabilisie-
ren. Doch danach brechen alle Dämme. Ende Juli
muss für einen Dollar bereits eine Million Mark
gezahlt werden. Deutschland ist in die Phase der
Hyperinflation eingetreten. »Die Zeit ist allzu sehr
aus den Fugen«, notiert Victor Klemperer.
Im besetzten Gebiet wächst unterdessen der
Unmut der Bevölkerung, während die Besatzer mit
17
großer Härte auf Verstöße gegen ihre Anordnungen
reagieren. Der schwerste Zwischenfall ereignet sich
am 31. März, einen Tag vor Ostern, als französisches
Militär ein Blutbad unter Arbeitern der Firma Krupp
in Essen anrichtet. 13 Tote und zahlreiche Verletzte
sind zu beklagen. Bei der Beerdigung am 10. April
säumen Hunderttausende die Straßen. »Noch nie hat
deutscher Boden ein solches Trauerbegräbnis ge-
sehen«, meldet die Kölnische Zeitung. »Arbeitgeber
und Arbeitnehmer, Beamte und Angestellte, sämt-
liche politische Parteien von rechts bis links mit
schwarzweißroten Kranzschleifen und Moskauer
Farben, zogen einträchtig hinter den Toten her.«
Je rigoroser das Militär gegen die Zivilbevölke-
rung vorgeht, desto mehr sehen sich jene Kräfte er-
mutigt, die nur darauf warten, vom passiven zum
aktiven Widerstand überzugehen. Im März und
April führen Sabotagekommandos einen Kleinkrieg
im besetzten Gebiet. Sie sprengen Eisenbahngleise
und Brücken, um den Abtransport von Kohle nach
Frankreich zu unterbinden, verüben Anschläge auf
Einrichtungen der Besatzungsmacht und greifen
einzelne Angehörige der fremden Truppen an. Einer
dieser Terroristen, der ehemalige Freikorpskämpfer
Albert Leo Schlageter, wird Anfang April in Essen
verhaftet und im Mai von einem französischen
Kriegsgericht zum Tode verurteilt und erschossen.
N
icht nur die politische Rechte, von
den Deutschnationalen bis zu den
Nationalsozialisten, stilisiert Schla-
geter zu einer Ikone des Wider-
stands. In einer aufsehenerregenden
Rede feiert auch Karl Radek, der Deutschland-
experte der Kommunistischen Internationale, den
Hingerichteten als einen »Märtyrer des deutschen
Nationalismus«, der es verdiene, »von uns, Solda-
ten der Revolution, männlich ehrlich gewürdigt zu
werden«. Ein plumper Versuch, im Lager der ex-
tremen Rechten zu fischen.
Im Lauf des Frühjahrs ist deutlich geworden,
dass der passive Widerstand nicht unbegrenzt fort-
gesetzt werden kann. Immer nachdrücklicher wird
Reichskanzler Cuno aufgefordert, mit den Besat-
zungsmächten zu verhandeln. Vor allem die Ge-
werkschaften dringen darauf, die Zeit zu nutzen,
solange der Widerstand der Arbeiter noch ungebro-
chen sei. Auf der anderen Seite macht Poincaré un-
missverständlich klar, dass an Verhandlungen gar
nicht zu denken sei, bevor Deutschland nicht den
passiven Widerstand aufgebe.
Durch die galoppierende Geldentwertung sehen
sich viele Deutsche mit einem Schlage ihrer Erspar-
nisse beraubt. Gleichzeitig bleiben die Löhne immer
weiter hinter den Preissteigerungen vor allem für
Lebensmittel zurück. Die Arbeitslosigkeit nimmt
sprunghaft zu. In weiten Kreisen der Bevölkerung
herrschten »große Erregung und tiefe Bitterkeit«,
stellt der Staatssekretär in der Reichskanzlei, Eduard
Hamm, Mitte Juni fest. Eine Serie von Streiks er-
schüttert das Land. Vielerorts kommt es zu Hunger-
unruhen und Plünderungen.
Am 27. Juli greift das Berliner Zentrumsblatt
Germania in einem Leitartikel, überschrieben mit
»In höchster Not«, die Regierung frontal an. Sie sei
eine »einzige Enttäuschung«, und es sei zweifelhaft,
ob sie sich überhaupt noch zu durchgreifenden Maß-
nahmen aufraffen könne. Der Artikel schlägt wie
eine Bombe ein. Die meinungsführende liberale
Hauptstadtpresse schließt sich der Kritik an. Cunos
Position ist unhaltbar geworden. Am 12. August
reicht der Kanzler sein Abschiedsgesuch ein.
Zum Nachfolger bestellt Reichspräsident Ebert
am 13. August den Vorsitzenden der rechtsliberalen
Deutschen Volkspartei (DVP), Gustav Stresemann.
Der bildet ein Kabinett der großen Koalition aus
DVP, linksliberaler Deutscher Demokratischer
Partei (DDP), katholischem Zentrum und SPD.
»Noch niemals zuvor hat eine Regierung ihr Amt in
einem schwierigeren Augenblick übernommen als
dem gegenwärtigen«, berichtet der österreichische
Botschafter aus Berlin.
Tatsächlich sind die Probleme, vor die sich
Stresemann und sein Kabinett gestellt sehen, erdrü-
ckend. Die Hyperinflation geht von Tag zu Tag un-
gebremst weiter. Der Zustand der Reichsfinanzen
ist desaströs. Gleichzeitig machen die Extremisten
von rechts und links gegen die Republik mobil, und
im linksrheinischen Gebiet erstarken separatistische
Bewegungen. Deutschland steht im Herbst 1923
am Abgrund.
Und doch gelingt es Stresemann und seiner Koa-
lition, einen Weg aus der Krise zu finden. Am
26. September verkündet er den Abbruch des passi-
ven Widerstands – die Voraussetzung für eine außen-
politische Entspannung. Am 15. November, als der
Dollar bei 2,52 Billionen steht, wird die »Renten-
mark« eingeführt. Kurz zuvor hat ein gewisser Adolf
Hitler in München einen Putsch versucht.
Die neue Ersatzwährung erweist sich als über-
raschend stabil. Zur Jahreswende 1923/24 mehren
sich die Anzeichen, dass das Schlimmste überstanden
ist. »Eine Katerstimmung hing in der Luft, aber auch
eine gewisse Erleichterung«, erinnerte sich Sebastian
Haffner in seiner 1939 im englischen Exil verfassten
Geschichte eines Deutschen.
Es wird allerdings noch bis zur Londoner Kon-
ferenz vom Juli/August 1924 dauern, bis Frankreich
die Räumung des Ruhrgebiets binnen eines Jahres
zusagt. Ende August 1924 wird mit der Annahme
des sogenannten Dawes-Plans durch den Reichstag
zugleich eine für alle Seiten akzeptable Lösung des
Reparationsproblems gefunden. Die Nachkriegszeit
ist damit definitiv beendet, der Weg frei für eine
Rückkehr Deutschlands als gleichberechtigtes
Mitglied in die internationale Gemeinschaft. Die
Hyperinflation indes wird als traumatische Er-
fahrung noch lange fortwirken.
Volker Ullrichs Buch zum Thema, »Deutschland
1923. Das Jahr am Abgrund«, ist kürzlich
bei C. H. Beck erschienen (441 S., 28,– €)
18
Poschingers Kampf ums Recht
Ein katholischer Adliger wird auf verschlungenen Wegen zum Erben eines von den Nazis verjagten jüdischen Bankiers.
Hat er damit auch Anspruch auf Entschädigung, die diesem als NS-Opfer zustand? VON MIRIAM GEBHARDT
A
ls wir uns dem Wildgehege
nähern, dreht einer der Hir-
sche nervös seine Ohren.
Dann stürmen alle hundert
Wildtiere gleichzeitig los,
nehmen eine scharfe Kurve
und verschwinden unterhalb
des Anwesens. Wir lassen die
Hauskapelle hinter uns und gehen direkt auf die
vom Föhn herangezoomte Alpenkette zu. Am
Wegesrand, im Gebüsch versteckt, steht ein Grab-
stein. Vollrad von Poschinger bückt sich tief,
schiebt wilden Efeu beiseite und legt die Inschrift
frei. Da ist nur schwach zu lesen: Otto Jeidels, ge-
boren 1882 in Frankfurt am Main, gestorben 1947
im Schweizer Bürgenstock. Er war Mitinhaber der
Berliner Handelsgesellschaft (BHG), einer der acht
größten deutschen Banken vor dem Zweiten Welt-
krieg. Den Grabstein hat Poschinger kurzerhand
aus der Schweiz abgeholt und auf seinem Grund
im bayerischen Oberland aufgestellt. Man könnte
das als seinen Eröffnungszug verstehen. Es ist eine
lange Partie, in der es auch um viel Geld geht, aber
mehr noch um die Frage, bis wohin die Bundes-
republik bei der Entschädigung der Erben jüdischer
NS-Opfer zu gehen bereit ist.
Die Konstellation ist ungewöhnlich. Otto Jeidels
entstammte einer jüdischen Frankfurter Bankiers-
familie, Vollrad von Poschinger gehört zu einem
bayerischen Adelsgeschlecht. In den Fünfziger-
jahren adoptierte eine Schwägerin des Bankiers
ihre Nichte, die damals 31-jährige Mutter Vollrad
von Poschingers. So hat man, weil kinderlos, die
Vermögensnachfolge gefestigt – und so wurde ein
Gutsbesitzer im Münchner Oberland zum Erben
eines Mannes, an dem sich erst die Nationalsozia-
listen, dann die DDR und dann die Bundesrepu-
blik bereichert haben. Seine Mutter, erzählt er, ver-
kehrte noch in der Bankiersfamilie zu deren Berli-
ner Blütezeit, und umgekehrt kamen die Berliner
auf den oberbayerischen Gutshof zur Sommer-
frische. Zum Beweis zeigt der 70-jährige Forstwirt
und Unternehmer eingerahmte Fotos, auf denen
Otto und Gertrud Jeidels in seinem Garten posie-
ren. Dort, wo wir heute selbst gepressten Apfelsaft
trinken und den verschlungenen Weg zurück an
den Anfang eines vertrackten Erbfalls suchen.
Otto Jeidels hatte studiert und über die Zusam-
menarbeit von Banken und Industrie geforscht,
bevor er nach Auslandsaufenthalten in den USA
und Großbritannien im Jahr 1909 in die BHG
eintrat. Bald wurde er eine der wichtigsten Per-
sönlichkeiten der deutschen Wirtschaft über-
haupt. Die Bank beschäftigte Anfang der Dreißi-
gerjahre 550 Angestellte und besaß Aktiva im
Wert von 150 Millionen Reichsmark. Unter Jei-
dels’ Leitung streckte sie ihre Fühler damals schon
nach Asien aus, finanzierte deutsche Großunter-
nehmen und gab Staatsanleihen heraus. Der BHG
gehörten ganze Häuserkarrees in der Berliner Mit-
te, darunter das Filetstück, die Bankzentrale an der
Behrenstraße, dazu kamen Bau-Erschließungs-
gesellschaften, das Industriegelände Schöneberg
sowie andere Unternehmen, etwa Europas größte
Zuckerraffinerie in Tangermünde oder das Bank-
VERBRECHEN
Der Unternehmer Vollrad von Poschinger mit einem Bild seines Großonkels, des Bankiers Otto Jeidels
haus William Rosenheim. Jeidels saß in vielen
Aufsichtsräten anderer Großunternehmen.
Privat war er weniger ein Mann der Hochfinanz
denn ein Mann der Hochkultur. Er verkehrte mit
Albert Einstein und mit einer Reihe Berliner jun-
ger Künstler. Seine Villa am Wannsee, an der da-
mals legendären Adresse »Straße zum Löwen 11«,
ließ er von angesagten Architekten bauen. Das
Gelände mit Gästehaus, Park, Skulpturengarten,
Orchideenzucht, Badehaus, Stallungen und Tennis-
platz nannten die Berliner die »Schweiz«.
Gleich nach ihrer Machtübernahme im Jahr
1933 begannen die Nationalsozialisten, jüdische
Geschäftsinhaber zu bedrängen. Doch da Jeidels
mit seinen internationalen Kontakten nützlich war
für Verhandlungen über Deutschlands Auslands-
schulden, konnte er sich noch bis 1938 an der
Spitze der Bank halten. Dann jagten sie ihn in die
Flucht; nicht ohne ihn vorher zu zwingen, seine
Villa unter Wert zu verkaufen und 327.793,75
Mark »Reichsfluchtsteuer« zu zahlen. Jeidels emi-
grierte in die Schweiz, dann weiter in die USA.
Dort wurde er mit offenen Armen empfangen. Er
wurde Vizepräsident der Bank of America in San
Francisco. Er hätte wohl auch der deutschen Nach-
kriegsökonomie noch lange helfen können. Denn
er hatte trotz der Verfolgung nie aufgehört, sich für
das weitere Schicksal seiner Heimat einzusetzen,
und er verschaffte sogar schwer belasteten deut-
schen Kollegen für ihre Entnazifizierungsprozesse
einen guten Leumund. Aber er starb schon zwei
Jahre nach Kriegsende im Alter von 65 Jahren.
Die BHG florierte weiter. Sie zog nach Frank-
furt am Main um und fusionierte mit der Frank-
furter Bank zur BHF. In ihre Berliner Zentrale an
der Behrenstraße setzte sich, die Vertreibung der
Privatbankiers ausnutzend, die Staatsbank der
DDR. Das war die zweite Enteignung. Nach der
Wiedervereinigung übernahm die Kreditanstalt
für Wiederaufbau (KfW) den prestigereichen Sitz
in der Nähe des Regierungsviertels. Auch dieser
Eigentümerwechsel lief erstaunlich glatt.
Das Schicksal des monströsen Bankenpalasts
der BHG am Karree Behrenstraße 32/33, Franzö-
sische Straße 42–44 und Charlottenstraße 33 steht
im Zentrum von Poschingers Geschichte. Eigent-
lich könnte er ein komfortables Leben fern von
diesem historisch belasteten Ort führen. Er hat vor
wenigen Jahren den 64 Hektar großen Hof mit
seinen hundert Hirschen, den Hühnern, Katzen
und Hunden in einen Traumort für Tagungen und
Feiern umgewandelt. In der professionellen Gastro-
küche können Gäste kochen lernen, in einer
Videosimulation schießen üben, und als Team-
building-Maßnahme bietet sich an, einen Old-
timer-Traktor mit Anhänger rückwärts einzu-
parken. Obendrein verkaufen die Poschingers
Wildfleisch und Christbäume. Neben der Ver-
waltung dieser scheinbar glückseligen Enklave
häuft der Unternehmer und Forstwirt Aktenberge
an, um seinen Fall auszufechten.
Je länger er in seinen Unterlagen blättert, desto
kaskadenhafter wird eine Angelegenheit, die von
der Teilung Deutschlands, vom unterschiedlichen
Umgang mit dem jüdischen Erbe, von der Wie-
112242_ANZ_71x100_X4_ONP26 1
dervereinigung und inzwischen von einer neuen
Mauer belastet ist, die Sachbearbeiter und Juristen
errichtet haben. Nach Kriegsende gewährte die
Bundesrepublik unter dem Druck der Westmächte,
allen voran der USA, einem Kreis von NS-Opfern
Entschädigungen. Egal was die Deutschen davon
hielten: Die materielle Wiedergutmachung des
Verbrechens gehörte zum Selbstverständnis des
Staates. Die DDR, auf deren Gebiet die BHG lag,
versuchte dagegen, dem moralischen Gebot aus-
zuweichen. Man war der Meinung, dass der Ab-
fluss ostdeutscher Infrastruktur in die Sowjetunion
in Form von Reparationen schon Wiedergutma-
chung genug sei. Außerdem stand dem DDR-
Staat die Opfergruppe der kommunistischen
»Kämpfer gegen den Faschismus« näher als die der
Juden. Nicht zuletzt wollte die DDR aus ideologi-
schen Gründen jüdisches Privateigentum ungern
zurückgeben. Das Politbüro interpretierte die so-
genannte Arisierung, in den Worten des Histori-
kers Hans Günter Hockerts, als »Einstieg in die
Sozialisierung des Großkapitals«.
Mit dem Einigungsvertrag anerkannte die Bun-
desrepublik die Restitutionsansprüche für jüdisches
Eigentum auf dem Territorium der DDR. Dennoch
kamen die Erben der jüdischen BHG-Geschäftsinha-
ber – es gab neben Jeidels zwei weitere – nicht auto-
matisch zum Zug. Weil die KfW in die Immobilie
investierte, entging sie der Rückgabepflicht. Infrage
kam lediglich eine Entschädigung. Die Poschingers
hätten als Erbfolger Jeidels’ bis 31. Dezember 1992
ihre Ansprüche anmelden sollen. Doch das war der
Familie Poschinger damals nicht bewusst, und so ver-
strich diese Frist. In einem solchen Fall tritt als
Rechtsnachfolger für das jüdische Erbe die Jewish
Claims Conference (JCC) ein, ein Zusammenschluss
jüdischer Organisationen, der seit dem Jahr 1951
Forderungen jüdischer NS-Opfer verfechten und die
Einnahmen nicht zuletzt an mittellose Holocaust-
ANZEIGE
FASZINATION
VERBRECHEN
NEU
Jetzt gratis lesen:
www.zeit.de/zv-heft
28.11.22 13:23
überlebende verteilen soll. Ließen sich später doch
noch Erben finden, wie im Fall Otto Jeidels’, sollte
die JCC sie aus ihrem Goodwill Fund rückwirkend
berücksichtigen.
Bei unserem zweiten Treffen auf Gut Waltersteig
sitzt Poschingers Anwalt, Eberhard Seybold, dabei.
In einer mit Hirschgeweihen geschmückten Stube
wacht er über unser Gespräch, ohne sich groß ein-
zumischen. Es geht um die Schwierigkeit, an Infor-
mationen zu kommen. Die Zuständigkeiten sind
verworren. Das Bundesamt für zentrale Dienste und
offene Vermögensfragen (BADV) hat den Auftrag,
die aufgrund der NS-Ideologie bestohlenen Men-
schen zu entschädigen, wenn es sich um Vermögen
in der ehemaligen DDR gehandelt hatte. Dazu gehört
auch, zugunsten der damals Ausgeplünderten zu
recherchieren und zu entscheiden. Die JCC soll
ebenfalls von sich aus aktiv werden. Der große Pferde-
fuß dieser Konstellation ist, dass die Erben nicht ein-
bezogen, ja nicht einmal befragt werden. »Wir gelten,
wegen der verpassten Frist, rechtlich gesehen nicht
als Beteiligte des Verfahrens. Mit der schwer erträg-
lichen Folge, dass wir auf den guten Willen der In-
stitutionen angewiesen sind«, sagt Poschinger.
Das heißt, Vollrad von Poschinger und sein Bru-
der erfahren nichts automatisch: nicht, wo welches
private oder geschäftliche Vermögen des Großonkels
abgeblieben ist, nicht, ob sie daran ein Erbteil er-
warten dürfen. Sie dürfen nicht einmal eigene Infor-
mationen über ihren Großonkel einbringen, sondern
müssen tatenlos abwarten, was ihnen letztlich zuge-
sprochen wird. Klageberechtigt sind sie auch nicht.
Schon an dieser Stelle, wo es nur um seinen recht-
lichen Status geht, fühlt sich Poschinger übervorteilt.
»Wenn man uns Erben in einem behördlichen Prozess
nicht einmal als Beteiligte betrachtet, geschweige
denn anhören will, dann kann das in einem Rechts-
staat eigentlich nicht in Ordnung sein«, sagt er.
Poschinger und sein Rechtsbeistand ließen aber
nicht locker und machten weiter Druck. Im Jahr
2012 erhielten die Erben einen Bescheid über ihre
Vermögensansprüche. Dieses Schreiben bestätigte,
dass Jeidels und die beiden anderen jüdischen
Geschäftsinhaber der BHG im NS-Staat verfolgt
und dass sie durch Zwangsverkäufe ihrer Aktien
geschädigt worden waren. Ihr Anteil an dem Ver-
mögen der Bank wurde auf 5,36 Prozent beziffert.
In einem zweiten Schritt wurde dieser Anteil auf
4,4 Millionen Euro festgelegt, wobei das Grund-
vermögen der Bank ausdrücklich herausgerechnet
worden war.
Von diesem Betrag hat das BADV dann trotz-
dem noch einmal 1,5 Millionen Euro für das
Grundvermögen abgezogen. Der verbleibende
Betrag in Höhe von rund 2,8 Millionen Euro wurde
ordnungsgemäß verzinst, sodass an die JCC im
August 2020 ein Betrag von 5,6 Millionen Euro
für die Beteiligung der drei jüdischen Geschäfts-
inhaber ausbezahlt wurde. Die Erben Poschinger
erhielten 1,1 Millionen Euro.
Über diese Zahlung würde Vollrad von Poschin-
ger gern mit dem BADV und mit der JCC reden.
»Warum wurde der Grundwert in dieser Höhe fest-
gelegt, und warum wurde die Summe abgezogen und
nicht hinzugerechnet? Hochgerechnet auf 100 Pro-
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
Foto: Anna Aicher für DIE ZEIT
zent ergäben jene 5,36 Prozent am 20. Dezember
1995 für das KfW-Areal lediglich einen Verkehrswert
von 53,2 Millionen Euro. Das kann schlicht und
einfach nicht stimmen. Experten gehen von einem
x-fachen Wert aus«, sagt Poschinger.
»Die Korrespondenzen sind immer wieder ein-
geschlafen«, sagt der bayerische Unternehmer.
Neben dem tatsächlichen Wert des heutigen KfW-
Baus beschäftigt ihn der Aktienanteil seines Groß-
onkels an der Bank. Dieser wurde in seinen Augen
zu niedrig angesetzt. Die BHG hatte mit anderen,
befreundeten Banken sogenannte Poolverträge
abgeschlossen, mit deren Hilfe nach Jeidels’ Auf-
fassung die jüdischen Geschäftsinhaber damals ihr
Eigentum vor dem Zugriff der Nazis schützen
wollten. Doch in dem Bescheid heißt es, außer
einem Poolvertrag sei eine weitere Beteiligung der
jüdischen Geschäftsführer an dem Kapital frem-
der Banken nicht erkennbar. Außerdem möchte
Poschinger wissen, was aus den Beteiligungen an
anderen Unternehmen, zum Beispiel am Bank-
haus William Rosenheim oder an der Raffinerie in
Tangermünde, geworden ist. Doch Nachfragen
versanden. »Für manche Akten mussten wir
persönlich nach Berlin reisen und eigenhändig
Kopien anfertigen. Manche Informationen be-
kommen wir nur, wenn wir auf das Informations-
freiheitsgesetz pochen, wonach jeder Bundesbürger
einen Anspruch auf behördliche Information und
Akteneinsicht hat. Doch dann kommt es vor, dass
uns Sacharbeiter entgegenhalten, wir könnten die
Unterlagen nicht einsehen, weil damit ihre eigenen
Persönlichkeitsrechte verletzt würden.« Sprich, da
wird gemauert.
Am meisten ärgert Poschinger, dass noch nicht
einmal die Unternehmensstrukturen der BHG
systematisch rekonstruiert worden seien. Über die
Gründe, warum das nicht geschieht, kann er nur
spekulieren. Dazu könnten organisatorische Pro-
bleme gehören – so habe das BADV seine Akten
an verschiedenen Orten verteilt und dabei wo-
möglich längst den Überblick verloren. Aber auch
Interessenkonflikte seien im Spiel, glaubt Poschin-
ger. Womöglich stünden der JCC andere Klienten
näher als der katholische Adelige in Oberbayern.
Wie zum Beispiel die Warburg-Bank, mit der die
BHG damals kooperiert hatte und die Gegenstand
eines anderen Antragsverfahrens der JCC ist.
Poschinger glaubt, ihm entgeht einiges, nicht nur
finanziell, sondern auch an angemessenem und res-
pektvollem Umgang mit dem deutschen Unrecht.
Deshalb lässt ihn die Sache nicht ruhen. Fragt man
ihn, auf welcher Grundlage er für das doch recht weit
entfernte Erbe kämpfe, antwortet er, ohne zu zögern:
»Es geht um das Recht.« Die materielle Wiedergut-
machung kann nur ein schwacher Ersatz sein für das
Unrecht, das seinem Großonkel angetan wurde. Aber
es ist die einzige noch verbleibende Möglichkeit für
den deutschen Staat, politisch glaubwürdig mit den
Verbrechen des Nationalsozialismus umzugehen. Das
jüdische Erbe des Nichtjuden Poschinger ist zugleich
ein kollektives Erbe der Deutschen. Das macht es so
kompliziert. Vor diesem Hintergrund wirken die
Summen, um die es in diesem Entschädigungsfall
noch gehen könnte, minimal.

WIRTSCHAFT
Jetzt muss
sich das Blatt
wenden
Raus aus Atomkraft, raus aus Kohle: Unternehmer und Manager
bangen um ihre Firmen, weil die Energiewende kaum vorankommt.
Die Regierung sagt: 2030 gibt es 80 Prozent grünen Strom.
Kann das klappen? VON MARC WIDMANN
D
Der Plan, ersonnen von klugen Köpfen, klang fein,
nur kam ihm dummerweise die raue Wirklichkeit
dazwischen und sprengte ihn am 26. September
vergangenen Jahres. Mit den Nord-Stream-Pipe-
lines explodierte an jenem Tag auch das bisherige
Konzept der deutschen Energiewende. Es sah vor,
dass das Land schneller als irgendein anderes auf
der Welt aus Kern- und Kohlekraft aussteigt und
dafür viele Solar- und Windkraftwerke baut, die
sauberen und günstigen Strom erzeugen. Die da-
bei entstehenden Versorgungslücken sollte in den
nächsten Jahren russisches Pipelinegas schließen.
Eine gewaltige Menge russisches Gas.
Das kommt jetzt nicht mehr, und angesichts
des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist
auf absehbare Zeit auch nicht damit zu rechnen.
Damit ist das bisherige Konzept der Energiewende
ins Wanken geraten. Denn das verflüssigte Erdgas
aus Übersee, das Deutschland nun eilends in Tan-
kern herbeifahren lässt, ist deutlich teurer. Und die
massiv gestiegenen Energiepreise bedrohen Bran-
chen wie Chemie und Stahl, die einen Teil des in-
dustriellen Kerns der deutschen Wirtschaft bilden.
Mit den gegenwärtigen Preisen haben sie gegen die
Konkurrenz aus den USA oder China, wo Energie
viel günstiger zu haben ist, mittelfristig kaum eine
Chance.
Das führt zur Frage: War die deutsche Energie-
wende eine Schönwetteridee?
Aus den Unternehmen werden gerade die Rufe
immer drängender, die eine Wende der Wende
fordern. »Bei der Art und Weise, wie da vorgegan-
gen wird, ist Dilettantismus schon ein relativ
schwaches Wort«, schimpft der schwäbische Mo-
torsägenhersteller Nikolas Stihl. »Und es sieht nicht
so aus, als ob es in absehbarer Zeit wirklich vor-
Illustration: Lydia Sperber/ZEIT-Grafik
wärtsgeht.« Der Chef des Leverkusener Kunststoff-
konzerns Covestro und Präsident des Verbands der
Chemischen Industrie Markus Steilemann warnt
eindringlich vor einer Deindustrialisierung des
Landes: »Im Moment sind wir meilenweit von
unseren Zielen entfernt.« Und der Münchner
Ökonom Hans-Werner Sinn bilanziert: »Die grüne
Energiewende ist ein Scherbenhaufen.« Deutsch-
Wer denkt, Deutschland sei beim Ausbau grüner Kraftwerke schon weit, hat diese Grafiken noch nicht gesehen
bisher erfolgter Ausbau
Schätzung für 2022
künftig geplant,
um die deutschen
Klimaziele zu
erreichen
ZEIT- GRAFIK/Quelle: AGEE-Stat, BMWK,
Bundesnetzgentur, BDEW und Prognos AG
land müsse sich von seinen utopischen Zielen ver-
abschieden und wieder in die Atomkraft einsteigen.
Auf der anderen Seite steht ein erstaunlich
wohlgemuter grüner Wirtschaftsminister. »Dieses
Jahr hat gezeigt, dass wir wirklich vorangekom-
men sind«, lobte sich Robert Habeck vor weni-
gen Tagen für den Ökostromausbau selbst. Die
Energiewende sei auf einem guten Weg. »Wir
sind noch lange nicht durch. Aber wir haben gro-
ße Gesetze gemacht, etliche große und kleine
Stellschrauben gedreht, um Verfahren zu verein-
fachen, Bürokratie schrittweise hinter uns zu las-
sen und schneller zu werden.«
Wo steht Deutschland tatsächlich bei diesem
Jahrhundertprojekt? Sicher sagen lässt sich: Das
Land hat die vergangenen Jahre verschenkt. Wenn
es im bisherigen Tempo weitermacht, wird das
nichts mit dem Regierungsziel, dass im Jahr 2030
mindestens 80 Prozent des deutschen Stroms aus
erneuerbaren Energien kommen, vor allem aus
Wind- und Sonnenkraft. Mit der Elektrifizierung
von Autos, Heizungen und Industrieanlagen wird
der Stromverbrauch deutlich steigen, von heute
rund 500 auf geschätzt 750 Milliarden Kilowatt-
stunden im Jahr 2035. Grüne Kraftwerke lieferten
im abgelaufenen Jahr 250 Milliarden Kilowatt-
stunden, 2030 sollen es schon 480 Milliarden sein,
2035 dann bis zu 750, also dreimal so viel.
Dem gegenüber steht die triste Gegenwart.
Der Ausbau von Windrädern an Land kollabierte
seit dem Jahr 2017, von 5,3 Gigawatt neu instal-
lierter Leistung im Jahr auf zeitweise nur noch
1,1. Er kam nie mehr richtig in Schwung, auch
im abgelaufenen Jahr wurden nur etwas mehr als
500 Windräder mit einer Leistung von gut
2 Gigawatt installiert. Nötig sind dagegen bald
10 Gigawatt jährlich, um die Ziele zu erreichen.
Noch schlechter sieht es bei Windparks auf
dem Meer aus, wo der Wind eigentlich verlässlich
pfeift. Dort hat Deutschland im Jahr 2021 kein
einziges Windrad in Betrieb genommen, im ge-
rade zu Ende gegangenen Jahr waren es vernach-
lässigbare 0,3 Gigawatt. Und daran wird sich so
schnell nichts ändern. Wegen der langen Pla-
nungszeiten werden erst Ende des Jahrzehnts wie-
der große Windparks ans Netz gehen.
Auch bei der Solarenergie ging es lange bergab.
Nach dem Jahr 2012 schrumpfte der Ausbau von
7,6 auf zeitweise nur noch 1,5 Gigawatt Leistung.
Immerhin: Im abgelaufenen Jahr kamen erstmals
wieder gut 7 Gigawatt dazu. Das klingt schön, aber
die Zahl soll in den nächsten Jahren auf 22 Giga-
watt pro Jahr steigen. Das entspricht ungefähr
157.000 neu installierten Solarmodulen täglich.
Unterm Strich bleibt die bittere Erkenntnis,
dass es Deutschland in den Merkel-Jahren richtig
Leistung in
Gigawatt Windenergie auf See
(GW)
20
8,0
10
0,0 2,3 0,2 1,6
0,3
0 0
2010 2015 2020 2025 2030
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
vermasselt hat. In der heimischen Solarindustrie
gingen rund 100.000 Arbeitsplätze verloren, in der
Windbranche mehr als 50.000. Die Kanzlerin
setzte zwar den Atomausstieg durch, doch ihre
Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP), Sigmar
Gabriel (SPD) und Peter Altmaier (CDU) würgten
danach den Ausbau der erneuerbaren Energien ab.
Stattdessen gab es Bürokratie. So scheiterte
selbst der niedersächsische Umwelt- und Energie-
minister damit, eine Solaranlage auf das Dach sei-
nes Ministeriums zu setzen – der Denkmalschutz
war dagegen. Und ein Unternehmer, der südwest-
lich von Leipzig sieben alte Windräder durch neue-
re ersetzen will, musste dafür rund 80 Aktenordner
mit 70.000 Blatt Papier im Kleinbus zum zuständi-
gen Amt fahren. Sieben Jahre dauert es häufig, bis
in Deutschland ein Windrad gebaut wird.
Merkels Minister bremsten nicht nur, weil
Windräder bei Anwohnern oft verhasst sind. Son-
dern vor allem, weil der Ausbau der grünen Kraft-
werke die Stromrechnung der Deutschen immer
höher steigen ließ. Die Förderung der Anlagen
mussten die Bürger bezahlen, über die EEG-
Umlage auf den Strompreis. Erst im vergangenen
Jahr hat die neue Regierung das System geändert,
jetzt fließen die Subventionen aus Steuermitteln.
Dass es nicht funktionieren kann, wenn man
viele große Kraftwerke abschaltet und nur wenige
kleine baut, ist offensichtlich. »Das Prinzip sollte
sein: Erst mal das neue Energiesystem aufbauen
und dann abschalten, was wir haben – nicht umge-
kehrt«, sagt der Ökonom und Präsident des Mün-
chener Ifo-Instituts Clemens Fuest.
Doch die neue Regierung will weiter abschal-
ten. Mitte April sollen die letzten drei deutschen
Atommeiler vom Netz gehen (2011 gab es noch
17). Und die Grünen drängen darauf, dass in sie-
ben Jahren die letzten Kohlekraftwerke folgen.
Dafür soll es jetzt richtig losgehen mit dem Aus-
bau: Bis zum Jahr 2030 sollen grüne Kraftwerke
aufgestellt werden, die fast dreimal so viel Leistung
haben wie alle bestehenden, die in zwei Jahrzehn-
ten gebaut wurden. Die installierte Leistung der
Solaranlagen soll laut Gesetz von 66 auf 215 Giga-
watt steigen. Die der Windräder auf See von 8 auf
30 Gigawatt. Und die der Windräder an Land von
58 auf 115 Gigawatt – das wären 9000 modernste
Windräder von Siemens Gamesa, jedes mindestens
180 Meter hoch, aktueller Marktpreis: gut 55 Mil-
liarden Euro.
Aber grüne Kraftwerke allein reichen nicht, sie
sind nur die Basis der Energiewende. Es braucht
auch mehr als 12.000 Kilometer an zusätzlichen
Stromleitungen, von denen im vergangenen Jahr-
zehnt gerade mal 2000 fertig wurden. Und es
braucht ein System, um den unsteten grünen
Windenergie an Land
GW
20
10
6,0
10 1,6 3,7 1,4
2,2
2035 2010 2015 2020 2025
Strom in kalte Win-
terwochen zu retten,
wenn nur wenig Sonne
scheint und manchmal kaum
Wind weht. Die Kritiker der
Energiewende halten das für prak-
tisch unmöglich, zumindest zu bezahl-
baren Preisen. So rechnet Hans-Werner
Sinn vor, dass Batteriespeicher in der nötigen
Größe schlicht unbezahlbar wären. Auch aus
Strom produzierter Wasserstoff als Energiespeicher
sei »teuer, teuer, teuer«.
Wie das neue Energiesystem genau aussehen
und funktionieren könnte, dafür gibt es erstaun-
licherweise keinen Masterplan der Bundesregie-
rung. Die Lücke füllen stattdessen Thinktanks wie
Agora Energiewende aus Berlin, deren langjähriger
Chef Patrick Graichen jetzt im Wirtschaftsminis-
terium die Energiepolitik plant. Kürzlich haben
die Agora-Experten in einem Szenario für ein
klimaneutrales Stromsystem 2035 skizziert, wie die
Zukunft aussehen könnte: Als Sicherheitsnetz gibt
es in diesem System der Zukunft doppelt so viele
Gaskraftwerke wie heute. Sie werden nicht mehr
mit Erdgas betrieben, sondern mit grünem Wasser-
stoff, erzeugt aus grünem Strom und in großen
Mengen aus dem Ausland importiert. Dazu gibt
es in den Häusern viele Batteriespeicher, die den
Strom aus den Solaranlagen auf den Dächern
kurzzeitig speichern. Und die deutschen Verbrau-
cher sind in dieser Zukunft flexibler geworden, sie
lassen ihre Wäschetrockner und Spülmaschinen
vor allem dann laufen, wenn grüner Strom reich-
lich vorhanden und billig ist. Ihre Elektroautos
und Wärmepumpen-Heizungen ziehen die Ener-
gie nicht mehr einfach aus dem Netz, wann sie
wollen, sondern werden aus der Ferne so geregelt,
dass sie das System nicht überlasten.
Das ist ein eindrucksvoller Plan auf dem Papier,
alles ist berechnet. Die Frage ist nur, ob die Bürger
auch bereit sind zu den »erforderlichen Komfort-
einschränkungen«, wie es die Bundesnetzagentur
nennt, wenn das Elektroauto mal nicht gleich mit
voller Kraft lädt. Und vor allem, ob die schöne
neue Welt rechtzeitig fertig wird. Bislang existiert
davon nämlich nur die Vision, zumal allerorten
Bürgerinitiativen und Umweltschützer den Bau
von Trassen und Windrädern blockieren.
Woher nimmt Robert Habeck dann seinen
Optimismus?
Zum einen hat das Land gerade gezeigt, dass es
auch schnell sein kann. Der Bau der Importtermi-
nals für Flüssiggas binnen weniger Monate war
eine gewaltige Trotzreaktion, bei der Beamte plötz-
lich die Wochenenden durchgearbeitet haben und
Firmen andere Aufträge liegen ließen, um schnell
Fotovoltaik
GW
20
10 10
7,4 1,5
10
0
2030 2035 2010 2015 2020
19
fertig
zu wer-
den. Der
Macher-
stolz, den alle
Beteiligten jetzt
ausstrahlen, kann
ansteckend wirken.
Außerdem hat das
Wirtschaftsministerium
im abgelaufenen Jahr viele
Fesseln gelöst. Fast im Wo-
chentakt haben die Beamten
neue Gesetze geschrieben oder
Verordnungen geändert. Seit 1. Ja-
nuar ist der Ausbau der erneuerba-
ren Energien jetzt im ȟberragenden
öffentlichen Interesse«, was ihn in der
Verwaltung deutlich beschleunigen soll.
Wer eine Solaranlage fürs Hausdach
kauft, muss keine Steuern mehr zahlen.
Und wer ein Windrad in einem neuen Vor-
ranggebiet baut, wo bereits eine generelle
Umweltprüfung erfolgt ist, soll sich die elend
lange Einzelfallprüfung sparen können.
Viele Hindernisse bestehen aber immer
noch, juristische und ganz praktische wie der
Handwerkermangel. Das neue Jahr muss zudem
zeigen, ob die neuen Gesetze aus Berlin in den
Ämtern vor Ort auch umgesetzt werden, wo bis-
lang alle Räder stillstehen, sobald ein Sachbearbei-
ter länger krank ist. Es fehlt nicht nur an einer
»Gelingenshaltung«, wie sie die Chefin des Bundes-
verbands der Energie- und Wasserwirtschaft Kers-
tin Andreae fordert, sondern auch an 16.200 Stel-
len in Behörden und Gerichten, wie kürzlich eine
Studie der Umweltministerkonferenz errechnete.
2023 muss enorm viel auf einmal passieren,
damit die Lücke zwischen Gegenwart und erhoffter
Zukunft nicht noch größer wird. Es wird das
Schicksalsjahr der Energiewende.
!www.zeit.de/vorgelesen
22 22
18
7,2
4,9
2025 2030 2035
20 WIRTSCHAFT 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2

Serie: Leben mit der Krise

Wie kommen sie durch?

In einer neuen Serie begleiten wir eine Familie und einen Unternehmer durch das Jahr 2023:
Die Chiaramontes, die schon jetzt an jeder Ecke sparen. Und den Dachdeckermeister Lasse Kutzbach,
der nicht weiß, ob er bald noch Ziegel bekommt VON SEBASTIAN KEMPKENS
Fotos: Sofia Brandes für DIE ZEIT; Mario Heller für DIE ZEIT (r.)

Die Chiaramontes fürchten die steigenden Preise Lasse Kutzbach kämpft gegen die Unsicherheit

Die Familie Der Unternehmer

D E
er vielleicht wichtigste Raum in der Woh- tioniert. So sehr, dass während der Corona-Lockdowns s hat sich etwas verschoben. Lasse Kutzbach notwendig«. Soll heißen: Sie sind hier am Limit, was ihre
nung von Familie Chiaramonte ist eine un- Nachbarn vorbeikamen und fragten: Wir würden gerne merkte das zuletzt bei den Dachziegeln, einem Kapazitäten angeht.
scheinbare Kammer im Flur. Betritt man sie, Pfannkuchen machen, können wir uns Eier, Zucker, Milch, Baustoff, ohne den ein Dachdecker wie er, gelin- Dass Lasse Kutzbach überhaupt Chef eines Dachdecker-
steht man vor einem Schrank, hinter dem Mehl, Salz und etwas Öl leihen? Sie konnten. »Wir sind der de gesagt, aufgeschmissen ist. Denn es ist ganz betriebs wurde, passierte eher zufällig. Kutzbach ist aus-
sich ein neuer Raum auftut. Genauer: ein Supermarkt im Haus, aber einer, bei dem alles gratis ist«, einfach: Keine Ziegel, kein Dach. gebildeter Zimmermann, aus seiner Heimat Nordfriesland
Stauraum. Dutzende Flaschen Sonnenblumenöl lagern da- sagt Karima Chiaramonte. Das Problem ist: Dachziegel müssen bei der Produktion kam er 2002 für ein Architekturstudium nach Berlin. Als
rin, unzählige Pakete Mehl, Zucker, Nudeln. Dabei lebt die Familie nicht gerade im Überfluss. »Eher gebrannt werden, in über 1000 Grad Celsius heißen Öfen. Student baute er nebenher einen Dachstuhl aus, so erzählt
Man musste Karima Chiaramonte freundlich über- von der Hand in den Mund«, sagt Markus Chiaramonte. Sie Das ist ein energieintensiver Vorgang, vor allem: ein er es. Das machte er offenbar so gut, dass der Bauleiter ihn
reden, die Kammer zu öffnen. Chaotisch sei es dort, sagte leben in einer Vierzimmerwohnung in Essen-Katernberg, gasintensiver Vorgang. Und so kam es, dass kürzlich ein gefragt habe: »Ey, Alter, du hast das hier ja ganz schön im
sie – was natürlich überhaupt nicht stimmt. Jetzt steht sie einem Viertel, in dem früher viele Bergarbeiter wohnten. großer Dachziegelhersteller die steigenden Gaspreise nicht Griff – meine Keule sucht einen Nachfolger, willst du?«
davor, lacht verlegen und sagt: »Vorräte sind eben wichtig!« 880 Euro warm zahlen sie für die Miete. Mehr wäre aber mehr bezahlen konnte und die Produktion einstellte. We- Die »Keule« war der Bruder des Bauleiters: Frank Viel-
Und ihr Mann Markus Chiaramonte ergänzt: »Zumindest auch kaum drin. Die meisten Möbel, erzählen gen der daraus folgenden Ziegelknappheit stie- lechner, ein Dachdeckermeister. Kutzbach wollte eigentlich
in diesen Zeiten.« sie, haben sie geschenkt bekommen oder ge- gen Anfang Oktober plötzlich die Preise. Nicht nicht, bekam aber trotzdem einen Termin zugeschickt. Am
Willkommen in Essen, bei Familie Chiaramonte. Bei braucht gekauft. Längst bräuchten sie neue nur ein bisschen, sondern um 25 Prozent, vom nächsten Tag saß er bei Viellechner im Hof und ging die
Vater Markus, 38, einem Hünen, so freundlich und zuvor-
kommend, dass man sich gut vorstellen kann, wie er als Mit-
Stühle, nur fehlt es am Geld.
Die Chiaramontes sparen nicht nur beim Das Jahr einen auf den anderen Tag.
»Bäm«, sagt Lasse Kutzbach, »da sitzt du
Geschäftszahlen durch, die der auf die Rente zugehende
Chef auf ein kariertes Blatt geschrieben hatte. Einige Stun-
arbeiter eines Sicherheitsdienstes am Essener Hauptbahnhof Einkaufen. Sie haben sich von der Diakonie zu dann.« Und stellt eine Frage, die für einen den und mehrere Rum-Cola später hatten die beiden einen
durch schiere Präsenz für Ordnung sorgt. Bei Mutter Kari-
ma, 35, die vor sieben Jahren aus Afghanistan kam und sagt,
ihrem Stromverbrauch beraten lassen, nach-
dem sie fast 800 Euro nachzahlen mussten. Das
der hohen Dachdecker wie ihn eine sehr existenzielle ist:
»Wo kriege ich denn jetzt Ziegel her?«
Deal, ein paar Tage später stand fest: Kutzbach übernimmt.
Bald machte Kutzbach aus der Firma weit mehr als eine
sie habe erst in Deutschland die Freiheit gefunden, zu leben.
Und bei den drei Kindern, einer Tochter von 15 Jahren, mit
Ergebnis: Der zwölf Jahre alte Kühlschrank
wurde ausgetauscht und durch einen neuen,
Preise Bislang lief es hervorragend für Kutzbach
und seinen Betrieb. Kutzbach ist ein junger
Dachdeckerei: Als gelernter Zimmermann baute er die Zim-
merei-Sparte aus, als studierter Architekt begann er immer
der Karima aus Kabul kam, und den zwei gemeinsamen von der Diakonie mit 300 Euro bezuschussten Chef, 43 Jahre alt, Bart, die Haare an den Seiten größere Dachgeschossprojekte. Kutzbach experimentierte
Söhnen, fünf Jahre und ein Jahr alt. ersetzt. Und in der Küche haben sie den Boiler kurz rasiert, am Handgelenk eine Apple-Watch. mit neuen Materialien, er führte das »mobile Büro« ein, sei-
Die Chiaramontes haben sich bereit erklärt, sich von der an eine Funksteckdose mit Fernbedienung an- Serie Gut zehn Jahre ist es her, dass er den Dach- ne Mitarbeiter dürfen von überall aus arbeiten. Er installierte
ZEIT durchs kommende Jahr begleiten zu lassen. Von Zeit geschlossen, Wasser wird jetzt nur noch auf Wie kommen die deckerbetrieb Viellechner in einem Hinterhof Slack, ein Chatprogramm, mit dem das gesamte Team vir-
zu Zeit werden sie berichten, was die Krise im Allgemeinen Knopfdruck und nach Bedarf erhitzt. Menschen durch das Jahr im Süden von Berlin übernahm. Seitdem ging tuell miteinander kommuniziert, jeder kann mitlesen, sich
und die steigenden Preise im Speziellen für eine junge Fami- Es sind Investitionen, mit denen die Chiara- 2023, in dem alles teurer es für ihn wirtschaftlich nur bergauf. jederzeit einschalten. Das sei ihm wichtig, sagt er: dass alle
lie wie sie bedeuten. montes hoffen, es durch das nächste Jahr zu wird und wichtige Dinge Statt kleine Einfamilienhäuser zu bedecken, Verantwortung übernehmen können.
Schon immer hat die Familie auf Vorrat gekauft, um schaffen. Denn das sagen beide, Karima und immer schwieriger zu stiegen Kutzbachs Leute bald auf Dächer von Es wirkt, als habe Lasse Kutzbach alles getan, um sich auf
Geld zu sparen. Aber noch nie war die Kammer voller Le- Markus: Viel schiefgehen darf nicht. Sonst beschaffen sein werden? 90 Meter Länge, Projekte von 400, 600 oder die Zukunft einzustellen. Jetzt scheint die Zukunft offener
bensmittel so wichtig wie jetzt. können Kredite nicht mehr bedient und Rech- In unregelmäßigen Ab- 800 Quadratmeter Fläche wurden für den Be- denn je. Wer kann schon sagen, was für ein Jahr 2023 wird?
Markus Chiaramonte liebt seinen Job. Besonders reich wird nungen nicht bezahlt werden – oder es fehlt das ständen wird die ZEIT trieb normal. Sein Team vergrößerte Kutzbach Die Jahre vor 2020, vor der Pandemie, wirken retrospek-
man damit aber nicht, zuletzt arbeitete er als Pförtner auf einem Geld, die Kinder auf Klassenfahrt zu schicken. bei den Chiaramontes von elf auf etwa 60 Mitarbeiter, aus einer Mil- tiv für Kutzbach jedenfalls wie ein anderes Zeitalter. Nicht
Gelände der Deutschen Bahn und kam auf nur rund 1200 Die Optimistischere der beiden scheint Ka- und bei Lasse Kutzbach lion Euro Umsatz im Jahr wurden rund sechs nur wegen der Ziegelpreise. Die Preise für Holz waren früher
Euro netto. Seit Kurzem ist er an Bahnhöfen und in Zügen rima zu sein. Sie kommt aus Afghanistan, kennt vorbeischauen und aus Millionen Euro. relativ stabil, sagt Kutzbach. »Jetzt hat man das Gefühl, man
eingesetzt und kommt nun auf 2100 Euro. Markus Chiara- existenzielle Krisen. Ihr sei wichtig, sagt sie, ihrem Alltag berichten Dann kam die Krise, Russland überfiel die ist an der Börse.« So heftig schwanken die Preise, so viel wird
monte ist Alleinverdiener, Karima kümmert sich derzeit um dass die Kinder nicht zu viel mitbekämen von Ukraine, alles wurde teurer. Und plötzlich mit dem Rohstoff spekuliert. Auch bei Dämmstoffen wie
die Kinder. Mit Kindergeld und der Hilfe vom Jobcenter den Nöten der Eltern. Auf Geburtstage spart fragt sich der Unternehmer: Wird der Betrieb Steinwolle ist es wie bei den Ziegeln, die Preise wurden An-
kommen noch mal gut 1000 Euro auf das Gehalt drauf. sie lange im Voraus. Stolz zeigt sie Fotos vom weiter so wachsen können? Oder kommen fang des vergangenen Jahres um ein Viertel angehoben.
Um über die Runden zu kommen, müssen die Chiaramon- letzten großen Fest, ein Tisch mit randvoll beladenen Tel- kargere Zeiten auf ihn zu? Eine Baustelle ist ein kompliziertes Konstrukt mit un-
tes klug vorgehen, so erklärt es Karima. Wie eine Börsenspe- lern. Im Juli waren sie zum ersten Mal mit der ganzen Fami- Fachkräftemangel, Energiekrise, Inflation – was bedeu- zähligen Variablen. Fällt eine Variable aus, ist zum Beispiel
kulantin wartet sie auf fallende Preise in den Supermärkten. lie so richtig im Urlaub, zwei Wochen Türkei, mit finanziel- tet das konkret für einen Unternehmer? Darum soll es ge- Holz nicht lieferbar oder zu teuer, gerät das ganze Projekt
Ist es so weit, investiert sie gleich richtig. Öl bei Aldi für 1,79 ler Unterstützung des Bruders. Und wünscht sich die Toch- hen in dieser Serie, in der die ZEIT Lasse Kutzbach durch ins Wanken.
Euro? Da nimmt sie zehn Flaschen mit. ter neue Schuhe, kauft Karima sie – auch wenn es wehtut. das kommende Jahr begleiten wird. Kutzbach sagt: »Alles ist in Bewegung, alles im Wandel.
Es bleibe ihr gar nichts anderes übrig, sagt sie, so teuer, »Die Kinder sollen nicht das Gefühl haben, arm zu sein.« Zum ersten Treffen im Dezember 2022 empfängt Kutz- Man muss darauf vertrauen, dass man es hinkriegt, was
wie alles geworden sei. Anfang des Monats kauft sie Pam- Markus macht sich mehr Sorgen. Schon jetzt sei am bach in seinem Besprechungsraum, einer von Regalen um- anderes bleibt einem nicht übrig.«
pers, Waschmittel und Seife beim Drogeriemarkt. Statt 50 Ende des Monats das Konto meist leer oder im Minus. rahmten Ecke in der aus allen Nähten platzenden Firmen- Das also ist die Herausforderung für Lasse Kutzbach in
koste das jetzt 80 Euro. Reis, Linsen und Bohnen vom Af- Dabei habe die Krise doch gerade erst begonnen. Ob er zentrale. An der Wand hängt eine Tafel, auf der die Zu- den kommenden Monaten: den Laden zusammenhalten,
ghanen: von 60 auf 80 Euro gestiegen. Und dann der Mo- Angst vor der Zukunft habe? »Auf jeden Fall. Ich weiß ständigkeiten der Mitarbeiter eingetragen sind. Ganz unten während um den Laden herum alles wackelt.
natseinkauf bei Aldi: Statt 100 kostet der jetzt 160 Euro. manchmal gar nicht, wie wir das schaffen sollen, wenn es in ein Feld für »freie Ressourcen«. Jemand hat es durchgestri-
Inzwischen haben die Chiaramontes das Hamstern perfek- dem Tempo weitergeht.« chen und mit Edding daruntergeschrieben: »nicht mehr !www.zeit.de/vorgelesen
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023
Überall herrscht Krise. Nur Auktionshäuser feiern mit dem
Verkauf von Kunst, Schmuck und Dino-Knochen Rekorde.
Was steckt dahinter?
Für viele Menschen war 2022 ein Jahr der
Sparsamkeit. Kunstsammlern hingegen
saß das Geld so locker wie nie. Darauf
deuten zumindest die Umsätze der Auk-
tionshäuser in London, New York und
Hongkong hin. Die drei führenden –
Christie’s, Sotheby’s und Phillips – erziel-
ten zusammen fast 18 Milliarden Dollar
an Versteigerungserlösen.
Für Christie’s ist es das beste Ergebnis in
der über 250-jährigen Geschichte des Hau-
ses. Auch Sotheby’s und Phillips erreichten
Rekordmarken. Wie kann das sein, in Zeiten
wie diesen?
Mit 195 Millionen Dollar war Andy
Warhols Shot Sage Blue Marilyn – ein Porträt
der Hollywood-Ikone – das teuerste im ver-
gangenen Jahr versteigerte Werk. Verkauft
wurde es von den Erben der Schweizer
Kunsthändler Thomas und Doris Ammann.
Käufer war der New Yorker Galerist Larry
Gagosian, der mutmaßlich im Auftrag eines
anonymen Sammlers bot.
Seine Spitzenposition in diesem Jahr ver-
dankt Christie’s aber vor allem der Verstei-
gerung der Sammlung des verstorbenen
Microsoft-Mitgründers Paul Allen, zu der
Werke von Cézanne, van Gogh, Gauguin
und Klimt gehörten. Allein Les Poseuses, En-
semble (Petite version) von Georges Seurat
aus dem Nachlass des Software-Milliardärs
brachte 149 Millionen Dollar ein. Insgesamt
erzielte die Versteigerung, bei der sich online
etwa vier Millionen Teilnehmer zuschalte-
ten, rund 1,6 Milliarden Dollar.
Beim Erzrivalen Sotheby’s trugen neben
Kunst und Antiquitäten vor allem Immobi-
Schickt sie in den Wald!
Mit dem Wahlsieg von Lula da Silva in Brasilien ist es wieder möglich,
dass Deutschland sich an der Rettung des Amazonas beteiligt.
Das wäre auch klug – schon aus eigenem Interesse
Es ist so weit: Deutschland kann seinen
Beitrag leisten, um den Amazonaswald zu
retten. Lula da Silva, der frisch vereidigte
Präsident von Brasilien, bittet die Welt-
gemeinschaft um Hilfe. Seine Regierung
wolle das größte noch zusammenhängende
Regenwaldgebiet vor dem Untergang be-
wahren, aber allein fehle ihr das Geld.
Der neue Ton aus Brasília ist schon mal
ein Fortschritt: Lulas Vorgänger, der bei den
Wahlen unterlegene Jair Bolsonaro, hatte
vier Jahre lang Kettensägenpolitik betrieben.
Darüber hat man sich in Deutschland kräf-
tig mokiert. Diplomaten sandten eilige
Depechen nach Brasília, in denen sie ihre
Sorgen um das Weltklima und die Bedro-
Foto: Tristan Fewings/Getty Images
hung der Biodiversität ausdrückten.
Aber sollte die Bundesrepublik jetzt auch
Geld schicken? Genau genommen hat sie
das schon. Bundespräsident Frank-Walter
Steinmeier (SPD) und Bundesumwelt-
ministerin Steffi Lemke (Grüne) reisten am
Wochenende nach Brasilien, erst zur Amts-
einführung da Silvas und dann weiter zu
Womit keiner rechnet
lien und Luxusgüter zum Rekordergebnis
bei, darunter Uhren und Designer-Hand-
taschen. In diesem Segment sei das Angebot
nicht so beschränkt wie bei Kunst, sagte
Sotheby’s-Chef Charles Stewart dem Fi-
nanznachrichtendienst Bloomberg: »Wir
könnten vielleicht zehn van Goghs pro
Saison verkaufen, aber es gibt sie nicht.«
Also verbreiterte Sotheby’s sein Ange-
bot. Mal versteigert das Auktionshaus
Uhren von Patek Philippe, mal Sonder-
ausgaben von Nike-Sneakern. Im Som-
mer bot es in Hongkong Whisky an. Da-
mit will sich Sotheby’s eine jüngere Kund-
schaft erschließen und auch Menschen
jenseits der klassischen Milliardärskreise
ansprechen, die nicht regelmäßig sünd-
haft teure Kunstwerke kaufen und ver-
kaufen.
Der Plan ging auf – was einen Teil der
hohen Auktionserlöse erklärt. Laut Bloom-
berg legte die Luxusgütersparte bei Sotheby’s
allein im ersten Halbjahr 2022 um etwa 20
Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum
zu. Und vielleicht noch wichtiger: 49 Pro-
zent der Kunden, die um Luxusartikel bo-
ten, nahmen zum ersten Mal an einer Ver-
steigerung des Hauses teil.
Schmuck muss inzwischen noch nicht
einmal aus echten Steinen oder Edel-
metall sein, um erstaunliche Preise zu er-
zielen. Es reicht manchmal, dass die Stü-
cke von Modehäusern wie Chanel, Saint
Laurent oder Dior stammen.
Bevor im September ein Paar Ohrclips
von Chanel beim Pariser Auktionshaus Le
Brech & Associés angeboten wurde, lagen
KOMMENTAR
einem deutsch-brasilianischen Forschungs-
projekt in den Regenwald. Steinmeier kün-
digte dabei die Freigabe von 35 Millionen
Euro Hilfsgeldern für den sogenannten
Amazonienfonds an, einen milliarden-
schweren Fördertopf für den Waldschutz.
Deutschland ist da freilich nur Juniorpart-
ner, den größten Teil zahlt Norwegen.
Die Forderung nach internationaler
Hilfe beim Urwaldschutz hat eine lange –
und leider auch problematische Geschichte.
2007 hatte die Regierung von Ecuador an-
geboten, dass sie auf bestimmte Erdöl-
bohrungen im Amazonasgebiet verzichten
werde, falls die Welt ihr die Hälfte der Aus-
fälle erstatte. Die meisten Staaten lehnten
das damals als Erpressung ab, einige zahlten
aber ein bisschen, darunter auch Deutsch-
land. Die Regierung Ecuadors brach dann
bald ihr Versprechen.
Bis heute ist die Skepsis daher zu Recht
groß, wenn ein solches »Cash für Regen-
wald«-Modell angeboten wird: Solange ihr
zahlt, lassen wir die Bäume stehen. Oder wir
WIRTSCHAFT 21
Ein Werk von Francis Bacon bei Sotheby’s
ANZEIGE
die höchsten Schätzungen bei 300 Euro,
schließlich waren die Clips bloß vergoldet
und mit geschliffenem Glas und Strass ver-
ziert. Am Ende erhielt ein Bieter aus Belgien
den Zuschlag: für 5700 Euro.
Besonders oft sind bei Modeschmuck-
Auktionen derzeit Broschen zu finden.
Spätestens seit die Sängerin Lady Gaga
bei der Amtseinführung von US-Präsi-
dent Joe Biden mit einer Friedenstaube
aus Messing am Revers die Nationalhym-
Find your peace of mind.
ne vortrug, sind die lange als matronen-
haft verschrienen Schmuckstücke wieder
angesagt.
Join the smart money.
Und dann ist da noch eine etwas ku-
riose Sammelleidenschaft, die Auktions-
häuser seit Kurzem bedienen: Dinosaurier-
skelette. Bei Sotheby’s etwa kam 2022 der
Schädel eines Tyrannosaurus rex in den Mit LIQID investiere ich in
Verkauf. Es handelte sich um eines der am wenigen Klicks in die besten
besten erhaltenen Exemplare, die je ge-
funden wurden. Für sechs Millionen Dol- Private-Equity-Fonds der Welt.
lar ging der Schädel an einen anonymen
Käufer – nicht der einzige alte Knochen, Florian Heinemann,
der in den zurückliegenden Monaten ver-
steigert wurde. Founding Partner von
Den Auktionshäusern ist offenbar Project A und LIQID-Kunde
selbst nicht ganz geheuer, welch teils irr-
witzige Summen sie gerade erlösen. Bei
der Vorstellung der Rekordergebnisse
seines Unternehmens verwies Christie’s-
Chef Guillaume Cerutti jedenfalls auf die
verworrene Weltlage, den Krieg in der
Ukraine und die Proteste im Iran. Ange-
sichts von Pandemie, Inflation und Wirt-
schaftskrisen, sagte er, »tanzen wir auf
dem Vulkan«. HEIKE BUCHTER
forsten sogar auf, wie es Lula da Silva ange-
kündigt hat.
Aber es gibt noch eine andere Möglich-
keit, einen effektiven Beitrag zum Wald-
schutz zu leisten: eine massive Ausweitung
der technischen und wissenschaftlichen
Kooperationen. International kursieren dazu
in der Wissenschaft derzeit eine Menge
Ideen, die kurzfristig angestoßen und mittel-
fristig umgesetzt werden könnten. Etwa die
Entwicklung neuer Biotechnologien, um auf
der Basis der Naturvielfalt im Amazonas-
gebiet neuartige Pharmaprodukte und Werk-
stoffe zu schaffen. So etwas könnte es auf
Dauer rentabler machen, die Bäume stehen
zu lassen. Oder der Ausbau von Landwirt-
schaftstechnologien, die den enormen Flä-
chenbedarf des brasilianischen Agrobusiness
und damit den Druck auf die Regenwälder Wealth Management
senken könnte. Viel davon wird gerade in
Deutschland entwickelt. Private Markets
Daher: Worauf warten wir noch? Schi-
cken wir mehr deutsche Forscher in den
Amazonas! THOMAS FISCHERMANN
22
Der Diktator hat sich verzockt
A
n einem sonnigen Samstagvormit-
tag im Oktober schlendert Carlos
Zarmora in das Metrocentro, eine
der größten Malls von San Salva-
dor, der Hauptstadt des mittel-
amerikanischen Kleinstaates El
Salvador. Zarmora ist Automecha-
niker und bezeichnet sich selbst als Bitcoiner. Heute
will er zeigen, wie er sich die Zukunft vorstellt.
An einem Süßigkeitenstand in der Mall nimmt er
sich zwei Schokoriegel und sagt: »Mit Bitcoin bit-
te.« – »Nehmen wir nicht an«, sagt die Verkäuferin.
Zarmora legt die Riegel zurück, läuft weiter. In
einem Sportgeschäft fragt er: »Kann ich mit Bitcoin
zahlen?« – »Wir haben die App nicht«, sagt die Ver-
käuferin. In dem Laden nebenan sagen sie ihm: »Da
müsste ich mal den Chef anrufen.«
Die Zukunft, sie sollte anders aussehen. Zumin-
dest wenn es nach Zarmora ginge. Und nach dem
Gesetz. Eigentlich ist in El Salvador jeder Laden, je-
der Händler, jeder Imbiss dazu verpflichtet, Bitcoin
zu akzeptieren. Das Kryptogeld ist seit mehr als
einem Jahr die offizielle Landeswährung. Nur muss
kaum jemand etwas fürchten, wenn er sich nicht da-
ran hält. Denn als Präsident Nayib Bukele, 41, im
Sommer 2021 den Bitcoin einführte, ging es nur vor-
dergründig um die Digitalwährung. Der selbst er-
nannte Diktator ist einem Internethype gefolgt und
hat so seinen scheinbar hoffnungslosen Staat in ein
Mekka für die digitale Boheme und Glücksritter aus
aller Welt verwandelt.
Die Geschichte beginnt im Juni 2021: In Miami
soll die größte Bitcoin-Konferenz der Geschichte
stattfinden. Alle Größen der Szene kommen: der da-
malige Twitter-Chef Jack Dorsey, die Skateboard-
Legende Tony Hawk, der Chef der mittlerweile
untergegangenen Kryptobörse FTX Sam Bankman-
Fried und auch der schrille Bitcoin-Prophet und US-
Journalist Max Keiser. Bitcoin ist gerade das globale
Trendthema schlechthin.
Per Video lässt sich auch ein gewisser Nayib Bu-
kele zu den 12.000 Fans zuschalten. Der Präsident
von El Salvador ist damals kaum bekannt. Wenn
überhaupt jemand je von El Salvador gehört hat,
dann weil es seit Jahrzehnten die Rangliste der Länder
mit der höchsten Mordrate anführt. Seit dem Ende
des blutigen Bürgerkriegs in den Neunzigerjahren
terrorisieren kriminelle Banden das Land.
Aber an jenem Tag soll es nicht um das Leid der
Salvadorianer gehen, sondern um deren Zukunft.
Bukele hat eine unerhörte Ankündigung zu machen:
El Salvador werde neben dem US-Dollar als erstes
Land der Welt den Bitcoin einführen. Künftig würde
man in El Salvador seine Einkäufe, die Steuern und
die Gehälter von Angestellten in Bitcoin zahlen.
Die Bitcoin-Community jubelt, und Bukele än-
dert auf Twitter sein Profilbild: Er sitzt grinsend mit
nach hinten gegelten Haaren vor einer salvadoriani-
schen Flagge, trägt eine Blousonjacke, und aus seinen
Augen schießen blaue Laserstrahlen heraus. In der
Kryptoszene sind diese animierten Laserstrahlen ein
Erkennungszeichen: Ich habe den Durchblick. Ich
glaube an Bitcoin.
Nur ein paar Tage nach der Ankündigung
lässt Bukele das Parlament das entsprechende
Gesetz unterzeichnen. Selbst Ministern sei
nicht viel Zeit zum Lesen geblieben, heißt
es. Die Wirtschaft habe sich überrumpelt
gefühlt, erzählt ein Unternehmer.
Aber das ist auch gar nicht wichtig,
denn in El Salvador hat ohnehin allein
Bukele das Sagen. Seitdem er 2019 an
die Macht gekommen ist, regiert er
autoritär. Er hat Soldaten ins Parla-
ment geschickt, unliebsame Richter
entlassen und Oppositionelle ins Ge-
fängnis gesperrt.
Der ehemalige Betreiber einer Dis-
kothek beschreibt sich in den sozialen
Medien selbst als coolster Diktator der
Welt. Mittlerweile gehört er vor allem
unter jungen Menschen im Westen zu
den bekanntesten Staatschefs Lateinamerikas. Bukele
hat Charisma, mehr als vier Millionen Follower auf
Twitter und beherrscht den Einsatz von TikTok.
Sein Bitcoin-Coup rückt ihn und sein Land in
den Fokus der Community. Schließlich leitet Bukele
in El Salvador ein Experiment, von dem viele Krypto-
Fans schon lange träumen: Funktioniert der Bitcoin
als alltägliche Währung?
»Als ich letztes Jahr von der Ankündigung gehört
habe, war ich begeistert«, sagt Zarmora, der Auto-
mechaniker. Als er auf TikTok mitbekam, dass Prä-
sident Bukele angekündigt hatte, den Bitcoin einzu-
führen, googelte er erst einmal und las, der Bitcoin sei
die Währung der Zukunft. Davon, dass der Bitcoin
digitales Geld sei, das unabhängig von Staaten und
Banken funktioniere. Das einzig wirklich freie Geld.
Und dass sich der Kurs im vergangenen Jahr vervier-
facht hatte. Zarmora gefiel das.
Er kaufte sich für 80 Dollar Bitcoin, so erzählt er.
Er habe mit Bitcoin zu zahlen versucht, aber schnell
gemerkt, dass kaum jemand das Digitalgeld akzep-
tierte. »Ich glaube noch immer an den Bitcoin, aber
ich hatte mir das einfacher vorgestellt«, sagt er.
Zarmora geht in einen großen Supermarkt im
Obergeschoss der Mall und legt zwei Flaschen Spru-
delwasser aufs Band. »Mit Bitcoin bitte«, sagt er an
der Kasse. Die Kassiererin holt den Kollegen vom
anderen Band dazu. Der funkt den Filialleiter an.
»Und wo finde ich den Code?«, fragt er in sein Funk-
gerät. »Ah, bien«, sagt er und bittet Zarmora, hinter
die Kasse zu kommen und einen QR-Code auf dem
Computer zu scannen. Der Bildschirm auf Zarmoras
Handy zeigt einen grünen Haken an.
Wie oft wird hier per Bitcoin gezahlt? »Habe ich
schon lange nicht mehr gesehen«, sagt die Verkäufe-
rin. Als das Digitalgeld gerade eingeführt wurde, seien
noch einige Neugierige gekommen, die das aus-
probieren wollten, sagt sie, aber das habe sich gelegt.
Damals, im September 2021, beginnt in El Salva-
dor der Hype. Die Regierung gibt eine staatliche
»Wallet« heraus, eine digitale Geldbörse, in der die
Salvadorianer ihr neues Geld aufbewahren können.
Als Startguthaben werden allen Bürgern Bitcoin im
Gegenwert von 30 Dollar gutgeschrieben.
Viele laden sich die Wallet herunter und geben
das Guthaben einfach aus. Andere, wie Zarmora, ver-
suchen Bitcoin in ihren Alltag zu integrieren oder
investieren sogar in Bitcoin, dessen Kurs damals nur
eine Richtung kennt: aufwärts.
Im November schießt der Bitcoin-Kurs auf seinen
historischen Höchststand von über 50.000 Euro.
Bukele scheint zu dem Zeitpunkt schon völlig be-
rauscht von seiner Idee: Er twittert täg-
lich zum Bitcoin. Millionen
Dollar Staatsgeld soll
er in Bitcoin
investiert
WIRTSCHAFT
Der exzentrische haben. Manchmal prahlt er damit, dass er sogar dann
mit Bitcoins handle, während er auf der Toilette sitze.
Staatschef In den Wochen, in denen der Bitcoin sich auf
seinem Höchststand befindet, betritt Bukele wie ein
Nayib Bukele hat den Rockstar eine Bühne im Badeort Mizata. Feuerwerk
im Nachthimmel, Kunstnebel vor der Bühne. Im
Bitcoin zum offiziellen Publikum ein paar Hundert Bitcoiner in Ekstase.
Zahlungsmittel Bukele trägt eine weiße Baseballmütze verkehrt he-
rum und verkündet, eine Bitcoin-City bauen zu wol-
von El Salvador len. Die Stadt solle das Singapur Mittelamerikas
werden. Um das zu finanzieren, werde El Salvador
gemacht. Bitcoin-Bonds ausgeben, also Staatsanleihen auf
Grundlage des Bitcoin. Jubel brandet auf, wie Auf-
Dann verlor nahmen zeigen.
die Digitalwährung Doch dann stürzt der Bitcoin ab. Die Coins, die
Bukele auf dem Klo gekauft hat, sind heute weniger
an Wert als die Hälfte wert. Der Internationale Währungs-
fonds (IWF), mit dem Bukele über einen Notkredit
VON YVES BELLINGHAUSEN verhandelt, fordert, das Experiment zu beenden.
So gerät der Bitcoin bei vielen Salvadorianern
schnell in Verruf. Ist das Bitcoin-Experiment also ge-
scheitert?
»Ich glaube, in Wirklichkeit war es nie das Ziel der
Regierung, den Bitcoin wirklich als Währung einzu-
führen«, sagt César Sención Villalona. Villalona,
einer der renommiertesten Ökonomen des Landes,
redet sich in Rage: »Das war die schwachsinnigste
Entscheidung seit Jahrzehnten.«
Eine Digitalwährung in einem Land, das in den
meisten Regionen nur ein äußerst langsames Mobil-
funknetz hat und von dessen Bevölkerung viele gar
Bitcoiner und kein Smartphone besitzen? »Ist doch klar, dass hier
Präsident: keiner den Bitcoin benutzt«, sagt Villalona und rech-
Nayib Bukele net vor: Nur ein Viertelprozent des Geldes, das in El
Salvador kursiert, sind demnach Bitcoin – der über-
wältigende Rest noch immer US-Dollar.
»Der Bitcoin hatte vor allem zwei Effekte«, sagt
Villalona. Erstens könne man jetzt in El Salvador sehr
komfortabel Geld waschen, sagt er. Zweitens habe-
Bukele mit der Bitcoin-Einführung das Image seines
Landes mit einem Schlag verbessert.
Wohlhabende, gut ausgebildete Digitalarbeiter,
Paradiesvögel und dubiose Gestalten aus dem Rest
der Welt interessieren sich plötzlich für El Salvador.
Vor dem noblen Crowne Plaza Hotel in der
Hauptstadt San Salvador fahren BMW- und Audi-
Limousinen vor. Es steigen vor allem junge, weiße
Männer aus. Sie tragen Ray-Ban-Sonnenbrillen und
Mottoshirts mit Schriftzügen wie »Tropical Bitcoin-
Lover« oder dem Bild von Nayib Bukele mit den
blauen Laseraugen.
In El Salvador findet Mitte November vergange-
nen Jahres die Adopting Bitcoin-Konferenz
statt. Tausend Bitcoin-Fans aus al-
ler Welt – vor allem aber aus
den USA und Europa –
sind angereist.
Kurz davor ist
die Krypto-
börse FTX
kolla-
biert,
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
aber die Stimmung auf der Konferenz ist fantastisch.
Bei dem Workshop Why I Love Bitcoin erzählt ein
Amerikaner, der Bitcoin sei die größte Errungenschaft
der Menschheit. Ein Engländer mit pinker Perücke
gibt Tipps, wie man auch seine Großeltern vom Bit-
coin überzeugt. Dazu gibt es Seminare über Krypto-
grafie und Investmentstrategien.
Auf der Hauptbühne ruft eine Frau: »Bitcoin is
love«, und als sie Give Peace a Chance spielen lässt,
klatschen einige Zuschauer im Takt.
Wenig später steht der schrille Bitcoin-Prediger
Max Keiser auf der Bühne. Er tut, was er schon auf
der Konferenz in Miami getan hat: die etablierte Fi-
nanzwelt beschimpfen. Der aus den USA stammende
Journalist ist mittlerweile nach El Salvador gezogen
und zu einem Vertrauten von Präsident Bukele auf-
gestiegen. »I’m living the bitcoin dream«, grölt er.
Und tatsächlich: Auf der Konferenz trifft man viele,
die mit dem Gedanken spielen, einzuwandern.
Da ist zum Beispiel der Unternehmensberater
aus Coburg, der über die vielen »Parasiten« in
Deutschland schimpft. Der Projektmanager aus
Hannover, der nicht mehr in einem Land leben will,
dessen Währung Kriege finanziert. Und ein AfD-
Mitglied und Bundestagsmitarbeiter aus Berlin, der
sich um die Meinungsfreiheit in Deutschland sorgt.
Sie alle misstrauen dem Staat. In El Salvador glau-
ben sie den libertären Traum leben zu können, aus
dem heraus der Bitcoin geboren wurde: Leben mit
einer Währung, die niemand kontrolliert und die
überall zur Verfügung steht, wo es Internet gibt.
»Für mich bedeutet der Bitcoin ultimative Frei-
heit«, sagt Jeff Gallas. Der Berater und Unterneh-
mer aus Berlin hat die Konferenz mitorganisiert.
Auch Gallas, ein großer Mann mit freundlichen
Lachfalten, hat im vergangenen Jahr mit dem Ge-
danken gespielt, nach El Salvador zu ziehen. Er
habe mit seiner Familie ein paar Wochen in dem
Land verbracht, erzählt er, um auszuprobieren, wie
es sich anfühlen würde.
Aber dann hätten ihn die vielen Waffen im Straßen-
bild doch gestört. Im Frühjahr ist die ohnehin allgegen-
wärtige Ganggewalt dermaßen eskaliert, dass in El
Salvador mittlerweile der Ausnahmezustand herrscht.
Die Polizei darf jeden, der ihr verdächtig vorkommt,
ohne Verfahren ins Gefängnis stecken.
Ist es nicht etwas kurios, dass tausend staatskriti-
sche Libertäre gerade in so ein Land pilgern? »Ja, das
ist natürlich schon ein Widerspruch«, sagt Gallas jetzt
etwas nachdenklich, »aber im Moment haben wir
und El Salvador eben dasselbe Ziel.«
Obwohl, vielleicht hatte Nayib Bukele ein ganz
anderes Ziel als Gallas und die Bitcoiner.
Vor ein paar Jahren sahen viele Menschen in El
Salvador einfach nur eine mörderische Bananenrepu-
blik am Pazifik. Heute ist El Salvador die Bitcoin-
Nation und zur In-Destination für eine sehr spezielle
Klientel geworden.
Gerade erst hat Lonely Planet El Salvador zu ei-
nem der Top-Reiseziele für 2023 erklärt. Am Kon-
ferenzstand eines Immobilienbüros sagt die Makle-
rin, sie habe schon Hunderte Anwesen verkauft. In
dem Surfer-Dorf El Zonte (Marketingname: Bit-
coin Beach) sind die Strände voller junger Männer,
die in Bitcoin-Mottoshirts Surfstunden nehmen.
Insgesamt könnte die Einführung des Bitcoin als
Landeswährung rund eine Viertelmilliarde Dollar
gekostet haben. So hat es der IWF überschlagen.
Vielleicht war das Projekt eine Schnapsidee.
Vielleicht aber auch eine einzigartige Image-
kampagne.
Die Recherche wurde unterstützt durch ein
Stipendium der Internationalen
Journalisten-Programme (IJP),
einer gemein nützigen Organisation, die
den inter nationalen Austausch junger
Journalistinnen und
Journalisten finanziert.
Weitere Informationen zu Stipendien
finden Sie online unter
https://is.gd/Rv7vnR
Illustration: Steffen Ullmann für DIE ZEIT; Jose Cabezas/Reuters (o.)
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023 WIRTSCHAFT 23

Die Wolkenkratzer sollen 155 Meter in den Münchner Himmel ragen

Turmbau zu München

Schafft man mit Hochhäusern bezahlbaren Wohnraum, oder verschandeln sie nur das Stadtbild?
In der bayerischen Landeshauptstadt tobt ein Streit um ein geplantes Neubauprojekt VON KERSTIN BUND

M
it den Hochhäusern sei bauliche Parasiten« verschandelt werden, wie er Ein Besuch in Münchens ältestem Hochhaus, Aber schaffen die Hochhäuser auch bezahlbaren Büschl sagt, seine Rechnung gehe nur auf, wenn

Abbildung (Rendering): Herzog De Meuron

es wie mit den Pilzen,
meint Robert Branne-
kämper. »Wo mal ein
Schwammerl ist, kom-
men bald andere nach«,
sagt der Politiker, der an
einem sonnigen Novembermorgen auf dem
Areal der denkmalgeschützten Paketposthalle im
Münchner Westen steht. Er deutet mit dem Fin-
ger senkrecht nach oben. Genau hier sollen bald
zwei Wolkenkratzer in den Himmel ragen, je-
weils 155 Meter hoch.
Brannekämper saß lange für die CSU im
Münchner Stadtrat. Seit neun Jahren ist er Abge-
ordneter im Bayerischen Landtag und dort für das
Thema Denkmalschutz zuständig. Nun wollen er
und seine Mitstreiter von der Initiative Hochhaus-
stop den Bau der Türme verhindern, die ihrer Mei-
nung nach den »Dammbruch für eine Hochhaus-
stadt München« bedeuten würden.
Die Zwillingstürme nach Plänen der Baseler
Architekten Herzog & de Meuron, die auch die
Hamburger Elbphilharmonie und das Pekinger
Nationalstadion entworfen haben, wären näm-
lich die beiden höchsten Gebäude der Stadt.
»Die Hochhäuser verändern das Gesicht von
München«, davon ist Brannekämper überzeugt.
die 155 Meter hohen Zwillingstürme einmal
genannt hat. Für Brannekämper geht es um
»unsere Identität«. Nach München kämen jedes
Jahr neun Millionen Touristen. »Die kommen
doch nicht, weil es hier ausschaut wie in Dubai.«
Die Münchner begegneten Hochhäusern
schon immer mit einer gewissen Skepsis. 2004
wurde das bislang höchste Hochhaus Münchens
eingeweiht. Das Uptown im Norden der Stadt ist
146 Meter hoch. Der Alt-Oberbürgermeister
Georg Kronawitter nannte es verächtlich »Vier-
kantbolzen« und ließ die Bevölkerung die Hoch-
hausfrage in einem Bürgerentscheid klären: Die
stimmten mit knapper Mehrheit dafür, dass
kein weiteres Hochhaus die 99 Meter hohen
Türme der Frauenkirche überragen dürfe. Diese
Schwelle galt den Stadtoberen seitdem als rote
Linie. Bis jetzt.
Der Investor schwärmt von einem
»Ort zum Erleben und Mitmachen«
Der Mann, der die 99-Meter-Grenze sprengen
will, empfängt in einer Gründerzeitvilla in
München-Bogenhausen. Ralf Büschl ist Beirats-
vorsitzender der Büschl Unternehmensgruppe,
die der Deutschen Post das Areal um die Paket-
1929 erbaut, das mit seinen 45,5 Metern Höhe im
Vergleich zu den Büschl-Türmen geradezu mickrig
wirkt. Im Alten Technischen Rathaus unweit des
Marienplatzes sitzt das Referat für Stadtplanung.
Stadtbaurätin Elisabeth Merk empfängt im sechs-
ten Stock in einem weitläufigen Büro, von dem aus
man an diesem klaren Herbsttag bis zu den Alpen
sehen kann. »Vor jedem größeren Bauvorhaben
läuft es ähnlich ab«, sagt sie: »Die Mahner beklagen
den Untergang des Städtebaus, die Verfechter prei-
sen den Fortschritt.« Dann erzählt sie von den Pro-
testen, die es beim Bau des Hochhauses gab, in dem
sie gerade sitzt. Knapp hundert Jahre später gilt
Merks Amtssitz als ein architektonisches Wahrzei-
chen der Altstadt.
Die Hochhauspläne von Herzog & de Meuron
gefielen ihr persönlich gut, sagt die studierte Ar-
chitektin. Dem Stadtgebiet nahe der Bahntrasse
fehle bislang eine »architektonische landmark«.
Ebendiese könnten die Zwillingstürme im Münch-
ner Westen bilden. »Sie würden das Stadtbild op-
tisch bereichern.«
ANZEIGE
Wohnraum, Frau Merk? Die Stadtbaurätin antwor-
tet allgemein. »Hochhäuser können einen Beitrag zu
bezahlbarem Wohnraum leisten. Sie sind aber nicht
die eine Lösung.« Dass Büschl Wohnungen bauen
will, sei erst mal »ein gutes Zeichen«, sagt Merk.
Denn der aktuelle Bebauungsplan sieht für das
Grundstück gar keinen Wohnraum vor. Bislang ist
das Areal um die Posthalle als Gewerbefläche ausge-
wiesen. Wenn dort Wohnungen entstehen sollen,
wie es Büschls Planung vorsieht, muss der Stadtrat
erst noch zustimmen.
Bekomme der Investor grünes Licht, seien an die
Bebauung strenge Auflagen geknüpft, sagt Merk.
»Etwa die Hälfte der 1100 Wohnungen auf dem
neuen Areal werden geförderte oder preisgedämpfte
Mieten haben.« Das bedeutet konkret: Bei rund 550
Wohnungen liegen die Anfangsmieten zwischen
zehn und 14,50 Euro pro Quadratmeter. Das ist
immer noch viel, aber in Deutschlands teuerster
Stadt, wo ein Quadratmeter im Durchschnitt für
knapp 20 Euro vermietet wird, ist das zumindest
moderat.
die andere Hälfte der Wohnungen »frei finanziert«
sei. Das bedeutet in München: sehr teuer. Büschl sagt
nicht, was eine Wohnung im 50. Stock kosten wür-
de, aber eines ist klar: Wenn er in dem neuen Quar-
tier 550 Sozialwohnungen schaffen muss, wird er die
restlichen 550 Wohnungen umso teurer vermieten
oder verkaufen. »Das eine finanziert das andere«, sagt
Büschl. Heißt also: Sozialwohnungen gibt es nur,
wenn im Gegenzug Luxuswohnungen entstehen.
Der Politiker Robert Brannekämper sieht darin
eine gefährliche Spirale. »Je mehr Geschossfläche auf
einer bestimmten Grundfläche gebaut werden darf,
desto mehr Geld kann ein Investor aus dem Boden
ziehen«, sagt er. Das führe dazu, dass die Bodenpreise
noch mehr stiegen und die Spekulation weiter ange-
heizt werde: »Mehr bezahlbarer Wohnraum entsteht
so jedenfalls nicht.«
Gemeinsam mit den anderen Hochhausgegnern
wird er weiter Unterschriften für einen Bürgerent-
scheid sammeln. 15.000 fehlen ihnen noch.
!www.zeit.de/vorgelesen

Sie würden die zu monarchischen Zeiten ge-
wachsenen Sichtachsen zerstören, etwa die Kulisse
des Nymphenburger Schlosses verstellen, das
jährlich Hunderttausende Besucher anlockt.
Und so ist in München ein Streit entbrannt, der
Da s M a g a z i n
posthalle 2018 abgekauft hat. Büschl will dort
bis 2030 ein »modernes, urbanes Stadtquartier«
mit Büros, Wohnungen, Geschäften und Restau-
rants erschaffen. Der Investor nimmt Platz an
einem Besprechungstisch. Vor ihm stehen Cola-

jeder wachsenden Metropole droht: Muss eine Stadt
nicht zwangsläufig in die Höhe bauen? Oder schaf-
fen Hochhäuser in Wahrheit gar nicht mehr Wohn-
raum, vor allem keinen bezahlbaren, sondern ver-
schandeln vor allem das Stadtbild? Derzeit sammeln
die Gegner der Türme Unterschriften für einen
Bürgerentscheid. Kommen genug zusammen,
können die Münchner bald darüber abstimmen,
wie hoch neben der Paketposthalle überhaupt ge-
baut werden darf. Es könnte das Aus für die Zwil-
lingstürme bedeuten.
Brannekämper führt um das gewaltige Indus-
triemonument herum, das 1969 erbaut wurde
und seit 1996 unter Denkmalschutz steht. Noch
nutzt die Deutsche Post die Paketposthalle als
Briefverteilzentrum. Doch im kommenden Jahr
will sie ausziehen. Direkt neben der historischen
Halle, die aufwendig saniert werden soll, sollen
dann die beiden Wolkenkratzer mit jeweils mehr
als 50 Stockwerken entstehen.
Die Hochhausgegner schimpfen über
»städtebauliche Parasiten«
Wenn Robert Brannekämper über die Stadt
spricht, in der er geboren und aufgewachsen ist,
dann klingt es wie eine Liebeserklärung. Er
schwärmt von der Innenstadt als »prachtvollem
Ensemble aus Renaissance und Barock«, von
»historischen Sichtfenstern« und der »lieblichen
Kulisse vor den Alpen«. München verdanke seine
Schönheit einem Beschluss der Stadtgesellschaft
kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs: Die ent-
schied damals mit nur einer Stimme Mehrheit,
die weitgehend zerstörte historische Altstadt wie-
deraufzubauen. Anders als andere Städte: Frank-
für Genießer
flaschen und Gläser mit Gummibärchen, die er
während des Gesprächs hin und her schiebt, um
damit seine Pläne auf dem Tisch nachzustellen.
Die denkmalgeschützte Halle soll das Zentrum
des neuen Quartiers bilden. Im Souterrain ist ein
Konzertsaal für bis zu 3000 Besucher geplant und
außerdem eine Kunstgalerie. Auf der Ebene der
Halle soll es Platz für Konzerte, Sport, Märkte,
Freizeit und Gastronomie geben. »Ein Ort zum
Erleben, Mitmachen und Gestalten«, sagt Büschl Erleben Sie im ZEITmagazin
in druckreifer Investorensprache. Über die kon- WOCHENMARKT genussvolle
krete Nutzung sollten die Bürgerinnen und Bürger ,
entscheiden. Momente – mit den einfachen
ept en
Büschl stellt jetzt zwei Colaflaschen dicht ne- aber immer besonderen Rez
ether,
beneinander: Sie sollen die beiden Hochhäuser von Kolumnistin Elisabeth Ra
darstellen, die nach den Plänen von Herzog & de vielfältigen Reise-Tipps und
d um
spannenden Geschichten run
Meuron über zwei außen liegende, sich kreuzende
Schrägaufzüge verbunden sind. Büschl schwärmt nie ßen.
vom »architektonischen Ensemble«, bei dem die die Themen Kochen und Ge
nach innen gewölbten Türme den Schwung des
nach außen gewölbten Dachs des Posthalle auf-
griffen. Für ihn sind die Wolkenkratzer »zwei
Akupunkturnadeln, die den Stadtkörper von
Spannungen befreien und beleben«.
Auch Büschl, das mag vielleicht überraschen, Jetzt 25!%
spricht voller Zuneigung über seine Stadt: »Ich
liebe München.« Doch anders als sein Wider- sparen!
sacher Brannekämper sieht er das Stadtbild nicht 2 Ausgaben
als Monolith, den es zu bewahren gilt. Tradition für nur 14,70!€
und Moderne, Laptop und Lederhose, das habe
München doch immer schon ausgemacht. Eine
wachsende Metropole, sagt Büschl, müsse mit
der Zeit gehen, auch stadtplanerisch. Seine
Türme sieht der Investor als 155 Meter hohe
»Wahrzeichen des Fortschritts«.
Der Protest, glaubt Büschl, richte sich nur

Hier bestellen:
furt etwa setzte auf einen Neuanfang mit Neu- augenscheinlich gegen die Hochhäuser. In Wahr-
bauten und ist heute eine Hochhausstadt. heit kämpften die Gegner gegen das Wachstum

www.zeit.de/wm-25
Dann erzählt Brannekämper von seinem der Stadt. »München soll Millionendorf bleiben,
Großvater Theo, einem Schuster aus Westfalen, dabei ist es längst Weltstadt«, sagt er. Münchens

der auf der Walz in München hängen blieb und
später an der Technischen Hochschule Bauinge-
nieurwesen studierte. »Nach dem Krieg hat mein
Großvater als Bauingenieur die Trümmerstadt
wiederaufgebaut: die Frauenkirche, den Alten
Peter, die Schatzkammer der Residenz, das Na-
tionaltheater, das Maximilianeum.« Dieses ge-
wachsene Stadtbild dürfe nicht durch »städte-
040/42!23!70!70
Wahrzeichen – das Nymphenburger Schloss, das
Maximilianeum, den Königsplatz, das Olympia-
gelände –, all das gäbe es heute nicht, hätten (Ak tionsnr.: 2262686)
»Visionäre« nicht groß gedacht. »Visionen brau-
chen Macher«, sagt Büschl, und als einen Macher
sieht er auch sich selbst.
Schön, wenn jemand Träume hat, aber lin-
dern sie auch die Wohnungsnot?

112349_ANZ_220x220_X4_ONP26 1 02.01.23 16:18

 24
Was besagt die neue
Mehrwegpflicht?
Seit Jahresbeginn müssen alle Anbie-
ter von Speisen zum Mitnehmen wie-
derverwendbare Behälter bereitstellen.
Herkömmliche Einwegverpackungen
bleiben aber erlaubt.
Das Gesetz zur »Mehrwegange-
botspflicht« wurde im vorvergange-
nen Jahr von der damaligen Umwelt-
ministerin Svenja Schulze (SPD) auf
den Weg gebracht. Die Pandemie
hatte beinahe jedes Restaurant zum
Anbieter von Gerichten to go ge-
macht, massenhaft landeten Plastik-
verpackungen von Lieblingsspeisen in
den Mülltonnen und in der Umwelt.
Von 7,5 Milliarden Getränkebechern
und 28,8 Milliarden Lebensmittel-
verpackungen geht das Umweltminis-
terium für 2020 aus – eine riesige
Menge an unnötigem Müll.
Ziel der Neuregelung war es, so
begründete Schulze damals ihren Vor-
stoß, »dass Mehrweg to go der neue
Standard wird«. Nun ist die neue Re-
gel tatsächlich in Kraft. Sie gilt aber
zunächst nur für Verpackungen, die
Plastik enthalten. Alufolie, Papier-
tüten und Pizzakartons ohne Kunst-
stoffbeschichtung können weiterhin
ohne mehrfach verwendbare Alterna-
tive eingesetzt werden.
Wo können Kunden die neuen
Verpackungen verlangen?
In Bäckereien und Kantinen, Liefer-
diensten und Supermärkten, Kinos
und Restaurants – fast überall also
Foto: Philotheus Nisch
können Kunden ab sofort darauf be-
stehen, dass ihnen Speisen und Ge-
tränke zum Mitnehmen in einer
Mehrwegverpackung überreicht wer-
den. Einzige Voraussetzung: Die Ver-
ANZEIGE
DAS HAUS DER WOCHE
Otto’s Beste – kompromisslos gut seit 1928
EIN BEITRAG DER
OK AL HAUS GMBH
1928 von Otto Kreibaum gegründet, blickt
OKAL heute auf 95 Jahre innovativer Pio-
nierarbeit zurück. In vielen Bereich gilt das
Hausbauunternehmen mit Sitz in Simmern
als Vorreiter und ist den eigenen Prinzipien
wie dem hohen Qualitätsanspruch dabei
über die Jahrzehnte stets treu geblieben.
Dies feiert das Unternehmen mit einer
besonderen Aktionshaus-Reihe, bei der
der Haustyp »Otto’s Beste · 6« im Fokus
steht. Mit diesem Einfamilienhaus präsen-
tiert OKAL modernes Design und außer-
gewöhnliche Architektur, die Hand in Hand
mit durchdachter Raumaufteilung gehen.
So wird in diesem Wohnhauskonzept viel
SEGELREISE
Saronischer Golf
Auf diesem Törn entdecken Sie
an Bord der »RHEA« von Piräus
aus das Segelrevier im Saro-
nischen Golf und die Ostküste des
Peloponnes, eines der beliebtesten
Reviere in Griechenland.
Termin: 5.!–!12.8.2023
Preis: ab 3.600 €
© Carolin Thiersch Photography
112375_ANZ_231x38_X4_ONP26 1
Alle Tassen in den Schrank!
kaufsfläche ist mindestens 80 Qua-
dratmeter groß, und der Betrieb hat
mehr als fünf Angestellte.
Kleinere Geschäfte, Imbissbuden
oder Restaurants sind lediglich dazu
verpflichtet, vom Kunden mitgebrach-
te Gefäße zu befüllen. Größere Betrie-
be müssen das wiederum nicht tun.
Für alle aber gilt: Sie müssen Kunden
deutlich auf die Mehrwegalternative
hinweisen, zum Beispiel durch einen
Aushang in den Gasträumen.
Kosten Speisen in wieder-
verwendbaren Gefäßen mehr?
Nein, Speisen und Getränke im
Mehrweggefäß dürfen nicht teurer
sein als in einer herkömmlichen Weg-
werfverpackung. Aber es darf ein
Pfand erhoben werden, das bei der
Rückgabe vollständig erstattet werden
muss. Dazu sind die Gastronomiebe-
triebe ebenso verpflichtet wie zur Rei-
nigung der zurückgegebenen Gefäße.
Wie die Unternehmen die Vorgaben
umsetzen, ist ihnen freigestellt. Einige
dürften selbst Gefäße aus Kunststoff,
Glas oder Keramik zur Verfügung
stellen. Andere werden wohl Pool-
Systeme nutzen: Anbieter wie rebowl,
Vytal oder Relovo stellen ihnen dann
Behälter zur Verfügung und verlangen
dafür eine monatliche Nutzungspau-
schale oder eine Gebühr pro benutztem
Gefäß. Zur Nachverfolgung der Gefäße
können Apps und Kundenkarten ver-
wendet werden.
Edeka und McDonald’s haben
schon angekündigt, eigene Mehrweg-
pfandsysteme entwickeln zu wollen.
McDonald’s will sich dabei besonders
auf Getränke und Eis konzentrieren,
da die Burger in Papier verpackt wer-
den und von der neuen Regelung
nicht betroffen sind.
Platz geboten, wobei Gemütlichkeit und
Komfort nicht zu kurz kommen. Zum Leben
und Arbeiten stehen hier eine Nettogrund-
fläche von 172,45 m2 zur Verfügung, die sich
auf Ess- und Küchenbereich, Wohnzimmer,
Gäste-WC und Hauswirtschaftsraum im
Erdgeschoss verteilen und im Obergeschoss
private Rückzugsorte eröffnen. Dort war-
ten zwei große, helle Kinderzimmer mit
jeweils einem kleinen Balkon, ein geräumi-
ges Elternschlafzimmer und ein großzügiges
Badezimmer mit Badewanne auf die Bewoh-
ner. Und auch von außen erleben Bauherren
bei diesem Haustyp modernen Stil: So hebt
sich die teils verkleidete Fassade deutlich
von anderen Objekten ab und macht das
Designhaus zum echten Hingucker in jeder
Nachbarschaft.
© Wojtek Skora/iStock
WIRTSCHAFT
Getränke und Speisen zum Mitnehmen muss
es ab sofort auch in Mehrweggefäßen geben.
Fünf Fragen zur Zukunft der
To-go-Gastronomie VON MONA BERNER
Mehrfach verwendbarer
Getränkebecher
Kontakt
OKAL Haus GmbH
Argenthaler Str. 7
55469 Simmern
www.okal.de
Erleben Sie hautnah bei einem
Beratungsgespräch in einem
unserer Musterhäuser in Ihrer
Nähe das besondere OKAL-
Gefühl und erfahren Sie mehr
über unseren Jubiläumsrabatt.
SEGELREISE
Großbritannien
Eine klassische Route entlang
der Britischen Inseln – genießen
Sie grüne Küsten, lebendige
Hafenstädte und die Eleganz an
Bord eines echten Windjammers.
Termin: 10.!–!18.6.2023
Preis: ab 5.555 €
Wer kontrolliert, ob das neue
Gesetz eingehalten wird?
Für die Kontrolle der Mehrwegpflicht
sind die Behörden der Bundesländer
zuständig. Ein Verstoß gegen das Ge-
setz kann zu einem Bußgeld von bis
zu 10.000 Euro führen. Während in
Baden-Württemberg die Abfallrechts-
behörden auf Kreisebene stichproben-
artige Kontrollen durchführen sollen,
sind es in Nordrhein-Westfalen die
Umweltbehörden der Kreise. In Ber-
lin habe man dafür keine Kapazitä-
ten, sagte der Leiter eines Berliner
Ordnungsamtes der Presse.
Die Deutsche Umwelthilfe zweifelt
an der Umsetzung der neuen Regeln
und will deren Einhaltung selbst kon-
trollieren. »Wir führen eine ökologische
Marktüberwachung durch und werden
selbst stichprobenartig überprüfen, ob
sich daran gehalten wird«, sagt Barbara
Metz, die Bundesgeschäftsführerin der
Organisation. Die unklare Überwa-
chung der Mehrwegregelung ist aber
nicht ihr einziger Kritikpunkt. Für Ver-
braucher könnten sich auch Nachteile
ergeben, weil nicht alle Unternehmen
in Pool-Systemen integriert sind, was
die Rückgabe der Behälter erschwere,
Besser wäre es gewesen, sagt Metz, eine
Verpackungssteuer auf Einwegproduk-
te einzuführen.
Mit so einem Vorschlag gibt es be-
reits erste Erfahrungen. So hat die
Stadt Tübingen im vergangenen Jahr
eine Verpackungssteuer auf Einweg-
produkte eingeführt, wodurch diese
zunächst teurer wurden. Anschlie-
ßend klagte jedoch die Chefin einer
örtlichen McDonald’s-Filiale dagegen.
Der baden-württembergische Verwal-
tungsgerichtshof in Mannheim ent-
schied schließlich, dass die Steuer
nicht rechtens sei. Endgültig geklärt
IMMOBILIEN
IMMOBILIENBEWERTUNG
Die Immobilienpreise steigen wieder leicht
– trotz hoher Zinsen.
+1%
Wie hat sich der Wert
Ihrer Immobilie verändert?
+ 0,5 %
Jetzt einfach, kostenlos &
unverbindlich Wert ermitteln
Fragen? Wir beraten Sie kostenlos!
+49 30 243 011 990 | Mo-Fr von 9:00 - 20:00 Uhr
immoscout24.de/immobilienbewertung/zeit
SCHWEIZ BRANDENBURG
VERKAUF
Montreux-GLION
EFH 216 qm, 6 Zi., 4 WC's, Kamin
unverb.Traumblick auf See und Berge,
Terrain 1235 qm, Bauj.1984,
alter Baumbestand, Privatstrasse,
o.Makler, VB 2,7 Mio Str ZA 135114 DIE
ZEIT, 20079 Hamburg
KANADA
GRUNDSTÜCKE IN KANADA
direkter Blick auf die Bucht und den Atlantik,
z.B. 11.727 m², Hanglage, Süd-West Aus-
richtung, Lighthouse Road in Port Bickerton,
Nova Scotia, Sie können direkt bauen, kein
Bauzwang, provisionsfrei, direkt vom Eigen-
tümer Preis 79.000 CAD (ca. 59.000 EUR)
Web und Email: info@atlantic-touch.ca
Die Nr. 1 für
den Kunstmarkt
JETZT
2!X GRATIS
LESEN!
040/32!80-455
zeitreisen.zeit.de
PREMIUMPARTNER:
ANBIETER: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Bucerius-
straße, Hamburg in Kooperation mit: Sea Cloud Cruises GmbH
03.01.23 12:32 112371_ANZ_138x80_X4_ONP26 1
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
ist die Frage allerdings noch nicht,
denn die Stadt Tübingen hat dagegen
Rechtsmittel eingelegt.
Was bedeutet das alles für
Unternehmen und die Umwelt?
Gastronomiebetriebe müssen ein
Mehrwegsystem einführen und ihre
Kunden über die neuen Möglichkei-
ten informieren. Das sei eine »zusätz-
liche Belastung«, kritisiert der Deut-
sche Hotel- und Gaststättenverband,
und zudem »mit viel Aufwand und
Kosten verbunden«. Viele Gastrono-
men haben bis heute mit den wirt-
schaftlichen Folgen der Pandemie zu
kämpfen.
Dennoch sei die Regelung sinn-
voll, meint Marlen Gabriele Arnold,
Professorin für betriebliche Umwelt-
ökonomie an der TU Chemnitz. »Es
ist eine Chance, dass wir uns zu einer
Kreislaufwirtschaft entwickeln, in der
kaum Ressourcen verschwinden«, sagt
sie, gibt aber auch zu: »Das ganze Sys-
tem hängt von unserem Verhalten
ab.« Denn noch entscheiden die Kun-
den, ob sie Mehr- oder Einwegver-
packungen wählen und ob sie ihren
Müll anschließend in die gelbe Tonne
oder auf den Bürgersteig werfen. Zur
Frage, wie viele Einwegartikel durch
das neue Gesetz eingespart werden,
möchte das Umweltministerium kei-
ne genaue Prognose abgeben. Es teilt
lediglich mit, dass es »eine signifikante
Senkung des Verbrauchs« erwarte.
Hören Sie den Podcast
Zu Wochenbeginn sprechen wir über
Geld, Macht und Gerechtigkeit.
Jeden zweiten Montag in: »Ist das eine
Blase?« Jetzt anhören unter
www.zeit.de/podcasts
!
OSTSEE
Traumhaus Ostsee - 242 qm Wohnfläche, 130 qm
Nutzfläche, 1.700 qm Eigenland. 5 Golfplätze
und Strand in unmittelbarer Nähe. Erwerb über
Teilungsversteigerung. Gutachten: 1,7 Mio. €.
Auskunft über ZA 63054; DIE ZEIT 20095 Hamburg
Kontakt für Anzeigenkunden
040!/!32!80 454
Malte.Geers@zeit.de!!!
Jetzt bestellen:
+49!40/42!23!70!70" www.zeit.de/kua-dz
Bestell-Nr. 2108766
02.01.23 16:52
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023 WIRTSCHAFT 25

Wirtschaft in einem Satz Lohnt sich mit 56 Jahren noch ein Ausstieg
aus einem Riester-Vertrag und der Einstieg in ETFs?
Warum lang, wenn es auch kurz geht? fragt Kurt Dürer
Was diese Woche sonst noch los war

Rückwärts: Im vergangenen Jahr sei so viel

Vermögen vernichtet worden wie selten
zuvor in den vergangenen 100 Jahren, sagt
ZEIT für Geld
Sehr geehrter Herr Dürer,
Renaud de Planta, Chef der Schweizer um die Frage zu beantworten, müssten wir wis-
sen, wie sich die Aktienanlage in Ihrem Riester-
Privatbank Pictet Aufwärts: Der Spiegel Vertrag in den kommenden Jahren entwickeln
wird und welche Rendite Sie mit einem Ex-
change Traded Fund (ETF) erzielen könnten.
kennt aber bereits vier Gründe, »weshalb Aber das ist nicht das einzige Problem.
Wie Sie uns schrieben, haben Sie Ihren
Riester-Vertrag bei der DWS abgeschlossen und
2023 ein gutes Jahr für Anleger werden zahlen dort monatlich einhundert Euro ein. Die
DWS hat zwei verschiedene Riester-Typen: die
»DWS TopRente« und die »DWS RiesterRente
könnte« Abwärts: Die Financial Times Premium«. Bei beiden wird ein Teil des Geldes
in Aktienfonds angelegt, und bei beiden gibt es
sondern die der DWS selbst. Die Fondsgesell-
schaft hat im vergangenen Jahr das Neugeschäft
mit den Riester-Produkten eingestellt. Sie seien
»nicht mehr zeitgemäß«, es bleibe »kein Spiel-
raum für chancenreiche und substanzwertbasier-
te Aktienanlagen«. Weil sie ihren Kunden laut
Gesetz den Rückfluss der eingezahlten Beiträge
garantieren muss, blieb der DWS nichts anderes
übrig, als das Sparergeld zu einem großen Teil in
schlecht verzinste Anleihen zu investieren.
Sie, lieber Herr Dürer, sind davon nicht di-
rekt betroffen. Ihr Vertrag läuft weiter. Aber die
Hoffnungen in diese Art der Altersvorsorge er-
füllten sich vielfach nicht.
Die Stiftung Warentest stieß bei der DWS
ben vier Kinder. Als kinderreiche Familie ha-
ben Sie stark von den staatlichen Zulagen zu
Ihrem Sparvertrag profitieren können. Das
waren 175 Euro pro Jahr für Sie selbst sowie
185 Euro für jedes vor 2008 geborene Kind
und sogar 300 Euro für jedes jüngere Kind.
Wenn Sie Ihren Riester-Vertrag kündigen,
müssten Sie die Zulagen, die Sie in den ver-
gangenen Jahren gutgeschrieben bekommen
haben, zurückzahlen. Möglicherweise werden
Ihnen auch Steuervorteile nachträglich gestri-
chen. Da erscheint es ratsamer, den Vertrag ein-
zufrieren. Sie müssten dann keine weiteren
Beiträge zahlen, dürften die Zulagen aber be-
halten, und Sie haben weiterhin eine Kapital-

kennt diese Gründe nicht und prophezeit – wie bei allen Riester-Verträgen – eine Beitrags- oftmals auf »dürftige Wertzuwächse« im Ver- garantie bis zum Beginn der Rente.
garantie. Das heißt, am Ende der Laufzeit ist gleich zur generellen Entwicklung an den Aktien- Mit 56 Jahren sind Sie davon nicht mehr all-
Ihnen ein Kapital garantiert, das den von Ihnen märkten. Bei den schon länger laufenden Ver- zu weit entfernt. Wenn Sie Ihre Riester-Rente

zum Beispiel, dass amerikanische Aktien in im Laufe der Jahre eingezahlten Beiträgen zu-
züglich der staatlichen Zulagen entspricht. No-
minal können Sie beim Riestern kein Geld ver-
diesem Jahr zehn Prozent an Wert verlieren lieren. Aber es ist möglich, dass die Kaufkraft
der späteren Rente unterm Strich geringer ist als
das, was Sie dafür vorher bezahlt haben.
werden Vorwärts: Bei der Schweizer UBS ist Die DWS TopRente gab es in zwei Varian-
ten, die eine hatte den Beinamen Dynamik und
einen höheren Aktienanteil, die andere hieß
man da etwas wagemutiger und glaubt, dass Balance und richtete sich an eher konservative
Illustration: Arne Bellstorf für DIE ZEIT
trägen sah es besser aus als bei denen aus jüngerer
Zeit. Bei ihnen hatten die Fonds teils hohe Kurs-
gewinne erzielt, und dank dieses Puffers konnten
die Kunden dann auch im Aktienmarkt inves-
tiert bleiben. »Ein Riester-Fondssparplan, der
die ganze Zeit vollständig in Aktien investiert
war, ist auch von einem ETF-Sparplan kaum zu
toppen«, schreiben die Tester in ihrer Analyse.
Ob das bei Ihnen der Fall ist, können Sie er-
kennen, wenn Sie sich ihre jüngste Abrechnung
vor 2012 abgeschlossen haben, dürfen Sie sich
das Geld bereits nach Ihrem 60. Geburtstag
auszahlen lassen. Bei später begonnenen Ver-
trägen dürfen die Auszahlungen frühestens mit
62 Jahren beginnen. In jedem Fall erhalten Sie
das Geld dann portionsweise in Form einer le-
benslangen Rentenzahlung. Allerdings können
Sie sich mit 60 oder 62 bis zu 30 Prozent des
angesparten Kapitals als Einmalbetrag überwei-
sen lassen und es anschließend, wenn Sie wol-

Anleger. Bei der DWS RiesterRente Premium
könnte das Geld je nach Marktlage sogar kom-
es sich in diesem Jahr irgendwann wieder plett in Aktien investiert sein.
Doch mit diesen Produkten stimmte etwas
anschauen. Dort sehen Sie, ob Ihr Riester-Ver- len, in einen ETF stecken.
mögen das Garantiekapital deutlich übersteigt.
Aber selbst wenn das nicht der Fall ist, rate
ich Ihnen, dabei zu bleiben. Wie Sie uns ge-
Ihr Rüdiger Jungbluth

nicht. Das ist nicht meine eigene Einschätzung, schrieben haben, sind Sie verheiratet und ha-
lohnen könne, sein Geld in riskantere
* Name auf Wunsch geändert

Anlagen zu investieren In unserer Kolumne beantworten wir jede Woche eine Geldfrage. Es schreiben im Wechsel: Die freie Autorin Mona Linke und
der langjährige ZEIT-Autor Rüdiger Jungbluth. Stellen Sie Ihre Fragen unter: www.zeit.de/geldfrage

ANZEIGE

Wer im Eigenheim wohnt, merkt spätestens mit der Energiekrise:
Das Haus ist in die Jahre gekommen. Wärme geht verloren. Das
Energiekonzept ist veraltet. Energiekosten explodieren. Der Altbau
Die Lösung für alle, die Energie sparen wollen – bräuchte eine warme Hülle. Alternativen zur vorhandenen Energie-
gewinnung braucht es auch. Aber: Wie will man die Mehrkosten
und attraktive KfW-Fördermittel erwarten: für eine energetisch hochwertige Sanierung abdecken? Die Lösung?
Ein neu errichteter Hausanbau in Baufritz-Qualität. Der Neubau er-
gänzt die Bestandsimmobilie und nutzt dabei das bereits vorhande-
Die Architekten von Baufritz sind Experten in der Entwicklung von
Lösungen, die Privatsphäre schaffen und gewachsene Umgebungen
berücksichtigen. Dank der montagefreundlichen Elementbauweise
sind die Bauzeiten kurz, alle Teile kommen trocken und witterungs-
geschützt an der Baustelle an und werden sofort routiniert verbaut,
ohne das nachbarschaftliche Miteinander zu beeinträchtigen. Glei-
ches gilt für die geübte Sanierung der Bestandsimmobilie.

Das Anbau-Haus Bestmögliche Fördermöglichkeiten nutzen

ne Grundstück. Zugleich wird das renovierungsbedürftige Gebäude
nachhaltig aufgewertet. Es erhält eine naturgesunde Dämmung nach
aktuellstem Baufritz-Standard für Wände und Dach sowie moderne Die Zeiten waren wohl nie günstiger für eine KfW-Förderung. Mit

von Baufritz für

Wärmeschutz-Fenster. der Anbau-Lösung von Baufritz kann die Förderung sehr gezielt be-
antragt werden: ganz individuell, mit der bestmöglichen Förderung
So können Besitzer von Bestandsimmobilien mit der Aufwertung für die Sanierung des Altbaus – und für die Erstellung des ange-
des Eigenheims künftig mit einem enormen Einsparpotenzial bei den

Bestandsimmobilien
schlossenen Neubaus nach den Kriterien der Neubau-Förderung
Energiekosten rechnen – und profitieren von mehr Wohnraum. Bei QNG (KfW40-NH).
einer Vermietung refinanzieren sich Sanierung und Neubau. Das Er-
gebnis: ein harmonisches Ensemble aus Baufritz-Architektenhand, Mit dem „Qualitätssiegel Nachhaltiges Gebäude“ setzt die Regie-
bei dem Bestand und Anbau sich als gelungene Einheit präsentie- rung auf eine nachhaltige Alternative, die Bauvorhaben finanziell
ren. Versorgt werden beide Häuser, Altbestand und Neubau, künftig unterstützen kann, dem Bauherrn nachweislich Wertbeständigkeit
durch das innovative Energie-Wände-Modul von Baufritz. Das ist die bescheinigt und Klima und Umwelt schont. Die Voraussetzungen
kompakte Technikzelle, die in einem Stück auf der Baustelle angelie- sind zugegeben streng. Die gute Nachricht: Baufritz erfüllt sie alle,
fert wird und mit dem professionellen Anschluss durch die eigenen schon heute. Was die Chancen von Antragstellern angeht, die sich
Monteure direkt den Betrieb aufnimmt. für einen Baupartner entscheiden müssen: „Hier hat Baufritz den
entscheidenden Vorsprung, wenn es darum geht, die notwendigen
Mit Unabhängigkeit von labilen Energiemärk- Nachweise zu erbringen“, ist sich Stefan Schindele, Baubiologe und
BNK (QNG)-Auditor nach BiRN (Bauinstitut für Ressourceneffizien-
ten: Nie mehr frieren! tes und Nachhaltiges Bauen), sicher.
Energie sparen und unabhängig von unsicheren und überteuerten Nie mehr frieren? Bestand verbessern – und neuen Wohnraum schaf-
Lieferquellen werden, das ist Wunsch vieler Menschen, die weiterhin fen? Baufritz hat die Antwort: www.baufritz.com
zuverlässig warm wohnen wollen. Mit der klugen Investition in Zei-
ten des Klimawandels wird die Bestandsimmobilie nachhaltig auf-
gewertet, durch ein autarkes Energiekonzept und eine zeitgemäße
warme Gebäudehülle. Zugleich entsteht ein neues Niedrig-Energie-
Haus, das zusätzlichen Wohnraum schafft. Die Systembauweise mit
Holzelementen, wie Baufritz sie anbietet, ist hier der große Vorteil.
Das bestehende Gebäude lässt sich unkompliziert und in kürzester
Zeit um einen architektonisch hochwertigen Anbau erweitern, der
künftig als unabhängige zusätzliche Wohneinheit dient.

Aus Alt mach Neu

Das ist nachhaltiger Ersatz-Neubau
von Baufritz für die Energiewende.
 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2

26

UNTERHALTUNG
»Frühstück bis 10 Uhr ist schon brutal«
Vincent Keymer aus Saulheim bei Mainz
gilt seit seiner Kindheit als die große Hoffnung
des deutschen Schachs. Im Alter von fünf
Jahren lernte er die Regeln; jetzt, mit 18, ist er
Vizeweltmeister im Schnellschach geworden.
In der vergangenen Woche bezwang er sogar den
Amerikaner Fabiano Caruana und den Russen
Jan Nepomnjaschtschi, die beiden letzten
Herausforderer von Magnus Carlsen,
dem norwegischen Weltmeister aller Klassen.
Nach Keymers Rückkehr aus Kasachstan
sprachen wir am Neujahrstag per Videochat
mit dem erschöpften Profi, der das Ende seiner
Möglichkeiten noch nicht gekommen sieht.
DIE ZEIT: Vincent Keymer, Sie sind nun der zweit-
beste Spieler im Schnellschach weltweit. Konnten Sie
Ihren Erfolg schon richtig feiern?
Vincent Keymer: Ich war passend zu Silvester wieder
zu Hause. Aber ich bin schon sehr, sehr müde.
ZEIT: Wurden Sie am Flughafen in Frankfurt denn
mit Girlanden empfangen?
Keymer: Na ja, so groß ist die Schachbegeisterung in
Deutschland noch nicht. Ich hab mal Videos aus In-
dien gesehen; wenn da ein Jugendweltmeister zurück-
kommt, das ist natürlich was anderes. Aber da ist
Schach auch ein Nationalsport.
ZEIT: Was verändert sich bei Ihnen durch den Titel?
Keymer: Sicherlich gibt mir das Selbstvertrauen, ge-
gen die besten Spieler der Welt so gut gepunktet zu
haben. Aber das heißt nicht viel für die nächsten Tur-
niere. Die Konkurrenz wird ja nicht schlechter da-
durch, dass ich sie einmal geschlagen habe. Ich hatte
gar nicht damit gerechnet, dem Traum, einmal Welt-
meister zu werden, so schnell näher zu kommen.
ZEIT: Die meisten Leute denken beim Schach an et-
was Langsames. Dabei gibt es auch Schnellschach und
Blitzschach. Was ist das Besondere daran?
Keymer: Im Blitz gibt es drei Minuten für die gesamte
Partie und zwei Sekunden Zugabe für jeden Zug.
Wenn die drei Minuten um sind, hat man immer nur
zwei Sekunden, um zu ziehen. Man muss also von
Beginn an versuchen, eine solide und stabile Stellung
zu erreichen, die man auch mit zwei Sekunden Bonus
pro Zug noch gut spielen kann. Im besten Fall ge-
winnt man, bevor es knapp wird.
ZEIT: Es ist ein Schachspielen ohne Nachdenken?
Keymer: Man muss sich viel mehr auf die Intuition
verlassen.
ZEIT: Woher kommt diese Intuition?
Keymer: Die kommt hauptsächlich daher, dass man
sich einfach sehr viel mit Schach beschäftigt hat, mit
den Strukturen und Plänen, die es in verschiedenen
Stellungen gibt. Sobald ich eine Stellung sehe, deren
Struktur ich kenne, sagt mir mein Gefühl, welchen
Zug ich machen muss. Ich muss nicht anfangen, erst
mal zu überlegen, was ich erreichen will.
ZEIT: In Kasachstan spielten Sie in der zehnten Run-
de mit Schwarz gegen Magnus Carlsen, Schachwelt-
meister und inzwischen auch Weltmeister im Schnell-
schach und Blitzschach. Sie hatten keine Chance ge-
gen den Norweger. Woran lag das?
Keymer: Die Eröffnung lief nicht so, wie ich mir das
gedacht hatte. Die ersten fünf bis zehn Züge waren
sehr gut, aber dann habe ich zugelassen, dass er eine
Stellung bekommt, die er extrem gut beherrscht. Er
stand sehr solide, hatte klare Pläne. Ich stand ein biss-
Foto: Thomas Pirot für DIE ZEIT
Vincent Keymer ist der beste deutsche Schachspieler seit Jahrzehnten. ZEIT: Wie kann man überhaupt betrügen, wenn man
jemandem stundenlang gegenübersitzt?
Ein Gespräch über das richtige Gefühl für den nächsten Zug, die Angst Keymer: Die einfachste Möglichkeit wäre es, ein
Smartphone mit einer Schach-App während einer
vor dem Betrug und die Überlegenheit von Schachprogrammen Partie mit auf die Toilette zu nehmen. Das gab es
schon. Schwieriger sind andere technische Sachen.
Wenn es eine Liveübertragung der Partien im Internet
gibt, kann jemand außerhalb des Spielsaals den opti-
malen Zug ermitteln. Die Information muss dann
noch zum Spieler kommen. Wie genau das gehen
könnte, weiß ich nicht. Aber ich befürchte, wir haben
noch gar keine Vorstellung davon, welche Mittel und
Wege es da geben könnte.
ZEIT: Wurden die Spieler bei der Schnellschach-WM
kontrolliert?
Keymer: Es gab Doping- und E-Doping-Kontrollen.
ZEIT: E-Doping?
Keymer: Elektronisches Doping. Wir wurden alle,
auch die Journalisten, am Eingang des Spielsaals mit
Metalldetektoren abgetastet und mussten durch einen
Scanner wie am Flughafen laufen.
ZEIT: Nun haben wir viel über die WM gesprochen,
wie sieht denn Ihr Alltag aus? Sie haben im März
2022 Abitur gemacht, seitdem sind Sie Schachprofi.
Keymer: Ich habe im Sommer an vielen Turnieren teil-
genommen. Neben der Vorbereitung darauf kostet
mich die Organisation der Turniere und Reisen viel
Zeit. Ich versuche natürlich, auch mal eine Pause ein-
zulegen oder das aufzuarbeiten, was nicht optimal lief.
ZEIT: Trainieren Sie nur den Kopf oder auch Ihre
körperliche Fitness?
Keymer: Mit meinem Coach Peter Leko trainiere ich
schon mal acht Stunden am Tag oder sogar mehr. Da
ist dann ein körperlicher Ausgleich besonders wichtig,
also längere gemeinsame Spaziergänge oder Radfah-
ren. Je stärker ich werde, desto wichtiger ist es, an
konkreten Sachen zu arbeiten, hauptsächlich an den
Eröffnungen. Ich hatte ja im Gegensatz zu vielen an-
deren jungen Spielern jahrelang die Doppelbelastung
aus Schule und Schach. Deshalb habe ich weniger
trainiert als sie. Das hole ich jetzt nach.
ZEIT: Ist Ihr Trainer in allem noch besser als Sie?
Keymer: Sagen wir es mal so: In seiner besten Zeit war
er zehn Jahre lang absolute Weltklasse. Da war er auf
jeden Fall besser als ich. Wie das jetzt ist, weiß ich gar
nicht. Das ist aber auch nicht wichtig.
ZEIT: Werden Sie von Sponsoren unterstützt?
Keymer: Das ist im Schach leider deutlich schwieriger
als in anderen Sportarten – jedenfalls in Deutschland.
Ich habe seit Jahren die Grenke AG als Sponsor, wel-
che die Kosten für zum Beispiel Turniere und Trainer
übernimmt. Das hat es mir überhaupt erst ermög-
licht, mit Peter Leko zu trainieren. Gerade hat auch
der Deutsche Schachbund eine erhöhte Förderung
durch Kostenübernahme für mich freigegeben. Es ist
aber immer noch Luft nach oben.
ZEIT: Kann man vom Schach auf Ihrem Niveau leben?
Keymer: Es gibt Preisgelder, bei manchen Wettkämp-
fen auch Antrittsgeld.
ZEIT: Wie isst man eigentlich während einer Turnier-
partie, die vom Nachmittag bis tief in den Abend ge-
hen kann?
Keymer: Ich weiß nie, wie lange der Turniertag dauert.
Ich habe meistens kleine Sachen dabei: Nüsse, Kekse,
so was. Aber wirklich viel esse ich nicht.
ZEIT: Wie ist es mit Kaffee? Dürfen Sie sich eine
Thermoskanne mitbringen?

chen gedrängt und hatte es schwerer als er, gute Züge
zu finden. Er ist auch schneller als ich, was einen gro-
ßen Unterschied macht.
ZEIT: Magnus Carlsen wurde 2013 Weltmeister im
langsamen Schach. Da waren Sie neun Jahre alt. Und
er hat den Titel seitdem nicht mehr abgegeben. Was
macht ihn zu einem so besonderen Spieler?
Keymer: Er ist in jedem Aspekt des Schachs sehr gut.
Er beherrscht die Eröffnungen, verfügt über ein ex-
trem gutes strategisches Gespür und eine sehr gute
Intuition, und er rechnet stark. Da kommt halt alles
zusammen.
ZEIT: Gibt es Momente während des Spiels, in denen
Sie keinen Plan haben, nicht mehr weiterwissen?
Keymer: Manchmal ist es schwer, Pläne zu finden, be-
sonders wenn die Stellung extrem unklar ist. Dann
muss ich Varianten rechnen. Das hat nichts mit all-
gemeinem Wissen oder dem Wissen über Strukturen
zu tun, sondern nur mit konkreter Berechnung von
Zug zu Zug.
ZEIT: Sie sind mit 18 Jahren der beste deutsche
Schachspieler. Es fällt auf, dass viele Topspieler schon
in ganz jungen Jahren enorme Spielstärke zeigen. Wo-
ran liegt das?
Keymer: Schachspielen ist extrem anstrengend. Selbst
wenn eine Partie nur vier, fünf Stunden dauert, muss
ich mich mehrere Stunden darauf vorbereiten. Ich den-
ke, ab einem gewissen Punkt im Leben verfügt man
einfach nicht mehr über die Kraft und den Willen, das
zu tun. Sich mental immer unter Kontrolle zu haben
und es sich andererseits nicht zu sehr zu Herzen zu
nehmen, wenn man einen Fehler macht, fällt leichter,
wenn man jünger ist.
ZEIT: Aber die Erfahrung spielt doch auch eine große
Rolle?
Keymer: Auf jeden Fall. Je älter man wird, desto mehr
Situationen hat man schon am Brett erlebt. Aber
Schach hat sich verändert. Vor Jahrzehnten gab es
sehr gute 60- oder 70-jährige Spieler. Damals musste
sich jeder alles selbst erarbeiten, das dauerte. Die
Computer haben Schach extrem beschleunigt.
Spazierengehen als Ausgleich zum Kampf am Brett: Vincent Keymer am Dienstag in Saulheim
ZEIT: Können Sie uns das genauer erklären?
Keymer: Schachprogramme, wir sagen engines,
sind viel besser als Menschen. Kein Mensch der
Welt hat eine Chance gegen einen Computer.
ZEIT: Das klingt ernüchternd.
Keymer: Wenn jemand heute eine neue Eröff-
nungsidee hat, hält die nicht mehr so lange wie
früher. Da die Spitzenpartien im Netz übertragen
werden, können sich alle Spieler noch am gleichen
Tag damit beschäftigen und mithilfe von Schach-
programmen herausfinden, wie sie darauf reagie-
ren. Früher dauerte es Monate, bis die Notation
einer Partie veröffentlicht wurde und zur Verfü-
gung stand. Dann dauerte es noch, bis man das
analysiert hatte. Schach ist viel schneller geworden.
Das Netz und die Computer führen dazu, dass der
Druck immer größer wird.
ZEIT: Zuletzt machte Schach Schlagzeilen wegen
schwerer Betrugsvorwürfe. Magnus Carlsen be-
hauptete, der Amerikaner Hans Moke Niemann
habe sich in Partien Computerhilfe geholt. Beweise
blieb er schuldig. Niemann hat ihn auf 100 Mil-
lionen Dollar Schadensersatz wegen Rufschädi-
gung verklagt. Die Sache ist bisher ungeklärt. Ist
dies ein Thema, das Sie beschäftigt?
Keymer: Das Thema beschäftigt die ganze Schach-
welt. Es ist ein ernstes Problem. Unter sehr guten
Spielern kann ein winziger Hinweis während einer
Partie einen großen Unterschied bedeuten. Es gibt
Sachen, die man als Mensch am Brett nicht sieht.
Und wenn man da plötzlich einen Hinweis kriegt,
Schnellschach
Seit 1886 gibt es im Schach
die Weltmeisterschaft, ein
wochenlanges Duell zwischen
Titelträger und Herausforderer.
Zwei Stunden für 40 Züge
pro Spieler sind eine typische
Bedenkzeit. Im Laufe
der Jahrzehnte sind schnellere
Formate entstanden: Eine
Partie im Schnellschach kann
45 Minuten dauern, im
Blitzschach zehn Minuten.
Elektronische Uhren
geben je nach Turnier Zeit
hinzu, zwei Sekunden zum
Beispiel. Die WM im
Schnellschach ist kein Duell.
An ihr nehmen viele Spieler
teil. Sie werden an zwei Tagen
nach dem Schweizer System
gegeneinander gepaart. In
Almaty in Kasachstan startete
Vincent Keymer als Nummer
54 von 178 Spielern. Aus 13
Runden erzielte er 9,5 Punkte,
einen halben Punkt weniger
als der Sieger Magnus Carlsen.
ist das irrsinnig viel wert. Leider sind die Möglich-
keiten zu cheaten, wie wir sagen, noch relativ unbe-
kannt. Deshalb gibt es auch noch keine wirklichen
Gegenmaßnahmen. Es ist an der Zeit, sich zu über-
legen, was man tun könnte. Das wäre eine Aufgabe
für Verbände, Turnierveranstalter, Schachplattfor-
men und natürlich den Weltschachverband.
ZEIT: Setzen Sie sich mit der Angst ans Brett, Ihr
Gegner könnte unfaire Mittel nutzen?
Keymer: Zuallererst finde ich es gut, wenn ich selber
zeigen kann, dass ich clean bin. Und ich möchte
den Sport schützen. Ich will mir nicht vorstellen,
dass auf dem Niveau der Spitzengroßmeister viel
betrogen wird. Wir haben ja sehr viel Zeit inves-
tiert, um so gut zu werden. Aber sicher weiß ich das
natürlich nicht. Wenn man das Gefühl hat, betro-
gen zu werden, kann man sich nicht mehr konzen-
trieren und keine normale Partie mehr spielen.
ZEIT: Haben Sie jemals gegen Niemann gespielt?
Keymer: Mehrmals, aber bevor die Vorwürfe auf-
kamen. In einer Partie in Prag stand ich zwischen-
durch auf Gewinn und habe dann im Turmend-
spiel einen Fehler gemacht. Letztlich waren wir im
Turnier gleichauf und hatten einen Stichkampf,
den ich gewonnen habe.
ZEIT: Wie sehr schadet diese Diskussion dem
Schach?
Keymer: Ich weiß es nicht. Die Diskussion hat
auch etwas Positives, indem sie mehr Aufmerk-
samkeit auf dieses Thema lenkt und das Bewusst-
sein dafür schärft, dass da etwas geschehen muss.
Keymer: Klar, aber ich trinke nur Tee.
ZEIT: Stimmt es eigentlich, dass Schachspieler gene-
rell spät aufstehen?
Keymer: Also, das ist durchaus korrekt. Wenn es
Frühstück im Hotel bis zehn Uhr gibt, dann ist das
für Schachspieler schon relativ brutal, würde ich be-
haupten.
ZEIT: Das Leben ist ja doch sehr anders ... Haben Sie
Freunde außerhalb der Schachwelt?
Keymer: Ich habe viele Freundschaften auf den lan-
gen Turnierreisen geschlossen. Es gibt auch noch
Freunde aus der Schule. Die habe ich ein bisschen ans
Schach herangeführt. Ich finde es völlig okay, wenn
man Schach nur als Hobby hat. Es ist aber ein großer
Teil meines Lebens, und da hilft es anderen, wenigs-
tens in Umrissen zu verstehen, um was es geht.
ZEIT: Am 13. Januar beginnt in Wijk aan Zee an der
niederländischen Nordseeküste ein Turnier mit gro-
ßer Tradition, das Tata Steel Chess. Nie war es so stark
besetzt wie dieses Mal. In der 14-köpfigen Masters-
Gruppe treffen fünf Spieler aus den Top Ten auf den
globalen Nachwuchs. Mit welcher Einstellung fahren
Sie zu diesem Wimbledon des Schachs?
Keymer: Ich versuche, gut in das Turnier zu starten
und das Gefühl zu bekommen, irgendwie halbwegs
mitspielen zu können. Mein Ziel wäre es, mich dort
wohlzufühlen und so gut zu spielen, wie ich es eben
kann. Die Ergebnisse lassen sich überhaupt nicht vor-
hersagen. Mir geht es nicht um den Sieg, sondern
darum, mein Spiel zu verbessern.
ZEIT: Aber Erfolge bringen Ihnen Aufmerksamkeit.
Damit sich eine ganze Nation für eine Sportart inte-
ressiert, bedarf es einer Identifikationsfigur. Möchten
Sie das gerne werden?
Keymer: Natürlich finde ich es schön, Schach populä-
rer zu machen, und ich versuche das. Aber mir geht es
jetzt erst einmal darum, mein Potenzial so weit aus-
zuschöpfen, wie es möglich ist. Noch habe ich nicht
das Gefühl, dass ich besser nicht mehr werden kann.
Die Fragen stellten Cathrin Gilbert und Ulrich Stock
 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2

WISSEN T i t e l t he m a
27

Eine bessere Zukunft ist

möglich. Die Ideen sind
da, von der Medizin bis
zur Stadtplanung

F
rüher kamen die Antworten von
Experten, sogenannten Autoritäten
ihrer Fachbereiche. Zweifel an deren
Wissen wurden höchstens von anderen
Autoritäten geäußert, was dann in einen
Gelehrtenstreit mündete. Ansonsten herr-
schten sie über ihre Sachgebiete und die
dazugehörigen Fakten, die meist so
geordnet schienen wie die Welt selbst. Zu-
mindest in jenen wohlhabenden Ecken der
Welt, in denen die Bürgerinnen und Bür-
ger wussten, was die Zukunft bringt.
Dann verschwand die Mauer, das Internet
entstand, die Gewissheiten erodierten – und
das Wissen explodierte. Es begann sich aus-
zubreiten, auszufächern und exponentiell zu
wachsen. Es wurde unübersichtlich, neue
Erkenntnisse drängten plötzlich herein, sie
stammten nicht mehr bloß von Forschern
aus London, Berlin und San Francisco, son-
dern jetzt auch aus Nairobi, Shenzhen und
Bangalore. Aus Stabilität wurde Dynamik,
aus Autorität wurde Spezialistentum, und
jede Antwort warf neue Fragen auf.
Zwölf solcher Zukunftsfragen finden Sie
auf den folgenden Seiten – zusammen mit
Porträts jener Spezialisten, die an ihnen
forschen. Es sind Fragen wie »Werden
Mensch und Computer eins?«, »Woran
hängen die Chancen von Menschen?« oder
»Wie wird die Stadt lebenswert?«. Fragen,
die in den kommenden Jahrzehnten unser
aller Leben beeinflussen werden, ebenso wie
die Arbeit der Denkerinnen und Denker
dahinter. Denn ihre Forschung formuliert
nicht nur abstrakte Erkenntnisse, sondern
greift direkt in den Alltag ein. Sie will De-
Illustration: pression besiegen und Ungleichheit. Sie will
Tobias Beck/ Beziehungen verbessern und Demokratien.
ZEIT-Grafik
Sie lernt dafür auch von jenen, die chronisch
überhört wurden, etwa von indigenen
Völkern oder von indischen Frauen. Und
manchmal lernt die Forschung für das
Morgen sogar von der Steinzeit.
Wer so forscht, wagt einen neuen Blick
auf die Welt – und verändert unseren für
immer. Deshalb wollen wir Ihnen zwölf
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
hinter zwölf modernen Fragen vorstellen.
Hier im »Wissen«, in einer monothemati-
schen Ausgabe. Im Bewusstsein, dass dies
vielen weiteren spannenden Denkern unrecht
tut. Denen mag es ein Trost sein, dass dies
hier kein Kanon ist, sondern nur der Versuch,
die Unübersichtlichkeit heutiger Forschung
inspirierend abzubilden. RUDI NOVOTNY

Ideen für die Welt

von morgen
28 WISSEN 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2

Titelthema

Werden Mensch und Computer bald eins? Wie romantisch muss Liebe sein?
An der Charité bewegen sich Gelähmte dank elektromagnetischer Signale Eine Therapie rettet Ehen, indem sie Illusionen zerstört
Es ist spooky, was Surjo Soekadar da macht: In Berlin wird niemandem ein Chip führt. »Das Erstaunliche ist«, sagt Soeka- In gewisser Weise hat Esther Perel ihre aus. Denn lange Partnerschaften beruhen zwei Söhne. Ihre reichweitenstärkste Pro-

Wenn er mir ein schwarzes Kästchen an den
Kopf hält und den Regler aufdreht, beginnt
meine Hand zu zucken – als sei ich ein fern-
gesteuerter Zombie, der willenlos den
Befehlen seines Meisters folgt. Ȇber die
entsprechenden Hirnareale kann ich auch
einzelne Finger ansteuern«, sagt der Neuro-
psychiater ruhig, als sei das alles ganz
normal. Zum Glück sitzen wir nicht im
Frankenstein-Labor, sondern in einem
Versuchsraum der Berliner Charité.
An der berühmten Uniklinik ist Soeka-
dar seit 2018 erster »Professor für Klinische
Neurotechnologie« in Deutschland. Mit
etwas Pathos könnte man ihn als deutsche
Antwort auf Elon Musk bezeichnen, ge-
nauer: auf dessen Firma Neuralink, die –
wie Soekadar – an »Gehirn-Computer-
Schnittstellen« arbeitet. Neuralink will
Chips in menschliche Gehirne einpflan-
zen, um Blinde sehend und Gelähmte
gehend zu machen. Unser aller Hirnleis-
tung werde sich verändern, postulierte
Elon Musk großspurig, künftig würden
Gehirn und Computer eins.
Spricht man Soekadar darauf an, ver-
dreht er nur leicht die Augen. Dass er Musk
für irre hält, würde der 45-Jährige nie
sagen, stattdessen: »Wir zielen nicht auf
Gewinne im Massenmarkt, wir wollen
Patienten helfen.« Anders als Neuralink,
das derzeit ein Ermittlungsverfahren wegen
unsachgemäßer Tierexperimente am Hals
hat, geht Soekadar behutsam vor. »Wir
haben auch die ethische Dimension der
Neurotechnik im Blick. Und vor allem:
Wir arbeiten nichtinvasiv.«
eingepflanzt. »Was machen Sie mit einem
Implantat im Kopf, wenn die Firma, die
ihn eingebaut hat, Konkurs anmeldet?«,
fragt Soekadar. Der Nervenarzt, dessen
Vorfahren aus Indonesien und Tschechien
stammen, bevorzugt die Hirnstimulation
von außen, mittels elektrischer oder mag-
netischer Signale. Auch damit erzielt er
erstaunliche Resultate.
Surjo Soedakar,
Neurotechnologe
in Berlin
So versucht Soekadars Arbeitsgruppe
etwa, Querschnittgelähmte oder Schlag-
anfallpatienten wieder greifen zu lassen.
Denn durch elektromagnetische Signale
lassen sich nicht nur Bewegungen anregen,
sondern auch einfache Gedanken auslesen.
Denkt der Patient an eine Greifbewegung,
können die Forscher diesen Impuls in ein
Steuersignal übersetzen, das eine Roboter-
hand bewegt. Oder der Impuls mobilisiert
ein Exoskelett, das die Hand des Patienten
dar, »dass dabei verlorene Funktionen des
Nervensystems zurückkehren können.«
Bei manchen Patienten führe das Auslesen
und Zurückmelden von Hirnsignalen
dazu, dass die Nervenaktivität angeregt
wird, neue Verbindungen entstehen und
eine gelähmte Hand wieder von allein
bewegt werden kann.
Ebenso faszinierend ist Soekadars
Depressionsbehandlung. »Wir haben hier
viele therapieresistente Personen, die
suizidgefährdet sind«, sagt der Neuro-
psychiater. »Regelmäßige magnetische
Stimulation des linken Frontalhirns kann
schon nach drei Tagen die Suizidneigung
verringern.« Wie das? »Bei Depressiven
laufen die Gedanken oft immer in densel-
ben Bahnen«, sagt Soekadar. Diese »Grü-
belschleifen« ließen sich durch magneti-
sche Signale so stören, dass sich die Akti-
vität des Gehirns neu sortieren muss. An-
ders gesagt: Man zwingt das Gehirn, seine
gewohnten Denkwege (und die damit
verknüpften dunklen Emotionen) aufzuge-
ben. Statt nur schwarz zu sehen, erhalten
nun auch lichtere Gedanken eine Chance.
Könnte so etwas nicht jedem helfen?
Lassen sich künftig auf Knopfdruck
düstere Gedanken verscheuchen oder bei
Denkblockaden kreative Geistesblitze
zünden? Bestimmt werde es bald ent-
sprechende Geräte auf dem Markt geben,
sagt Soekadar und lacht. »Doch ob die
wirklich halten, was sie versprechen, ist
eine andere Frage.« ULRICH SCHNABEL
!www.zeit.de/vorgelesen
Fotos: Gordon Welters für die ZEIT (l.); Britta Pedersen/picture alliance; Illustrationen: Tobias Beck/ZEIT-Grafik
Karriere und Bekanntheit dem amerika- auf einem Gefühl von Sicherheit und duktion ist wohl der Spotify-Podcast
nischen Präsidenten Bill Clinton zu ver- Berechenbarkeit, während Verlangen sich Where Should We Begin?, auf Deutsch:
danken. Sie sah die Pressekonferenz (so hat aus Geheimnissen und Neuheit speist. »Wo sollen wir anfangen?«. Perel lädt darin
sie es in einem Interview erzählt), in der »Die Illusion monogamer Beziehungen echte Paare ein, deren Namen und Wohn-
Clinton neben seiner Frau stand und eine ist, dass wir denken, unsere Partner wür- orte man nicht erfährt, deren Stimmen
sexuelle Beziehung zu seiner 22-jährigen den uns gehören«, schrieb Perel. Heute, man jedoch hört, und hilft ihnen jeweils
Praktikantin abstritt. Perel beobachtete 16 Jahre nach Veröffentlichung dieses bei einem akuten Beziehungsproblem. Oft
danach, wie ebendiese Praktikantin von der Satzes, kommt er einem vor wie eine Bin- geht es um Untreue. Der Zuhörer ist live
amerikanischen Gesellschaft als Flittchen senweisheit. Damals aber warf man ihr in einer Therapiestunde dabei.
verurteilt wurde, als klar wurde, dass der Ihre therapeutische Herangehens-
Präsident gelogen hatte. Und sie habe sich weise wurde dabei vom Begründer der
bei alldem gewundert, wie ein so promis- strukturellen Familientherapie Salvador
kuitives Land wie die USA auf einmal so Minuchin beeinflusst, bei dem sie eine
geschockt tun konnte. Zeit lang gelernt hat. Die Grundannahme
Perel arbeitete zu dem Zeitpunkt als seines Ansatzes ist, dass das Individuum
Familientherapeutin, aber der Wider- immer Teil eines Systems ist – und dass es
spruch zwischen der Realität, in der viele nichts bringt, die Inhalte einzelner Kon-
Ehepartner fremdgehen, und der gesell- flikte zu besprechen, weil hinter den
schaftlichen Ächtung des Fremdgehens Konflikten immer etwas ganz anderes
beeindruckte sie. So sehr, dass sie sich steckt. Ein Kind, das die Schule schwänzt,
beruflich damit befassen wollte. Das war muss man nicht fragen, warum es
1998, im Jahr 2006 erschien Esther Perels Esther Perel, schwänzt – sondern eher, um wen es sich
erstes Buch, auf Englisch heißt es Mating Psychotherapeutin zu Hause kümmern will.
in Captivity. Übersetzt »Paarung in Ge- aus New York Diese Metaebene führt dazu, dass
fangenschaft«, wobei mit Gefangenschaft Perels Thesen manchmal fast anstößig
natürlich die monogame Ehe gemeint ist. unemotional daherkommen. In ihren
Perel prägte in ihrem Buch das Kon- vor, sie sei angetreten, die Ehe zu zerstö- Büchern stützt sie ihre Gedanken über
zept der erotischen Intelligenz, womit ren und Betrug salonfähig zu machen. Untreue und Affären auf Philosophen wie
die Fähigkeit gemeint ist, auch in einer Esther Perel, heute 64 Jahre alt, wurde Zygmunt Bauman oder die Historikerin
festen, monogamen Beziehung weiter- in Antwerpen in eine jüdische Familie Pamela Haag. In ihrem Podcast entknotet
hin Erotik aufkommen zu lassen. Das geboren, ihre Eltern hatten das Konzen- sie die Kindheitstraumata ihrer Patienten
klingt erst einmal nach Beate-Uhse- trationslager überlebt und zogen daraus und die daraus erwachsenen ehelichen
Katalog und weniger nach disruptiver die Lehre, so schreibt Perel, jeden Tag so Missverständnisse. Sie erklärt den Leuten,
Wissenschaft. Aber es ist ihr trotzdem intensiv wie möglich zu leben. Perel selbst warum sie tun, was sie tun – und warum
gelungen, einen ganzen Diskurs zu ver- studierte in Jerusalem und New York, wo das mit ihrem Partner oft gar nichts zu tun
ändern, mit der simplen These: Eine sie heute noch wohnt und als Paarthera- hat. Perel entzaubert also die Liebe, um
lange Partnerschaft schließt Erotik per se peutin arbeitet. Sie ist verheiratet und hat Ehen zu retten. ANNA MAYR

ANZEIGE

P hy s i k

WISSENSWERT.
ie
ur olog
Ne
n
zi
edi
e M
logi
B io l o g i e G e n eti k Ge o

TÖDLICH.
gie
äolo

Die neue ZEIT-Edition »WISSENSCHAFTS-THRILLER«

h
A rc

Lassen Sie sich von 7 packenden Thrillern fesseln, die mit den Erkennt-
nissen moderner Wissenschaft spielen. Ob Wunderheilmittel gegen
Bakterien, eine Superwaffe aus Elementarteilchen oder genmanipulierte
Neandertaler – die neue ZEIT-Edition »Wissenschafts-Thriller« verbindet
Nervenkitzel mit aktueller Forschung.
Das besondere Extra: Jeder Band enthält ein exklusives Nachwort
der ZEIT, das den Wahrheitsgehalt der Handlung analysiert.

Ihre Vorteile:
\\ Hochspannung trifft aktuelle Wissenschaft: 7 anspruchsvolle Thriller zu
verschiedenen Themengebieten, u."a. Medizin, Archäologie und Geologie
\\ Ausgewogene Mischung aus Bestseller-Autoren wie Jens Lubbadeh
und Harry Bingham sowie vielversprechenden Newcomern
\\ Hochwertige Ausstattung: 7 Hardcover mit Schutzumschlag
und Lesebändchen im Schuber für 89,95"€*

NEU
Jetzt bestellen: shop.zeit.de/thriller 7 packende Thriller
im Schuber
*!zzgl. 4,95 € Versandkosten | Bestell-Nr.: 44355
Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg

112345_ANZ_371x250_X4_ONP26 1 22.12.22 11:02

DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023 WISSEN 29

Zwölf Ideen für eine bessere Zukunft

Wozu verpflichtet Reichtum?

Eine Millionärin will höhere Steuern
Eines ist wahrscheinlich wichtig, wenn
man etwas ändern will: Man sollte frei
sein von Zynismus und von Resigna-
tion. Glauben Sie, Frau Engelhorn,
dass es noch zu Ihren Lebzeiten (sie ist
30) ein Steuersystem geben wird, das
wirklich gerecht ist? Da ruft sie fröh-
lich durch den Bildschirm: Ja! Klar!
Okay. Lassen wir uns einmal darauf
ein. Marlene Engelhorn aus Wien hat
einen Betrag in zweistelliger Millionen-
höhe geerbt – sie ist Nachfahrin des
BASF-Gründers Friedrich Engelhorn.
Das Geld ist noch nicht da, wie viel es
sein wird, weiß Marlene Engelhorn also
nicht genau. Aber eines weiß sie: Sie
will das Geld nicht. Sie will, dass
Österreich, das Land, in dem sie lebt
und steuerpflichtig ist, das Geld
bekommt. Doch sie möchte nicht ein-
fach alles ans Finanzamt überweisen
– es sei nicht so, dass es sie bedrücke,
viel Geld zu haben, sagt sie. Sie fordert
vielmehr, dass die Regierung sich über-
legt, wie hochvermögende Familien
endlich richtig Steuern zahlen.
Engelhorn ist Österreicherin und
Deutsche. In Österreich gibt es seit
einigen Jahren gar keine Erbschaft-
steuer mehr, in Deutschland ist sie in
Engelhorns Augen nicht ausreichend,
weil zu viele Ausnahmen möglich
seien, besonders für jene, die viel Geld
haben: So sind Schenkungen in hohem
Umfang steuerfrei. Ein großes Betriebs-
vermögen und beträchtlicher Immo-
bilienbesitz können weitergegeben
werden, ohne dass Steuern anfallen.
Und wie in Österreich die Erbschaft-
steuer vom Verfassungsgerichtshof aus
formalen Gründen gekippt und dann
nicht wieder eingeführt wurde, so
wurde in Deutschland die Vermögen-
steuer 1995 für verfassungswidrig
erklärt und faktisch abgeschafft.
Vor einigen Wochen, erzählt Engel-
horn, hätten Aktivisten der Gruppe
#ichbinarmutsbetroffen vor dem Kanz-
leramt protestiert. Sie bekomme ihrer-
seits leider keine 200 Millionäre dazu,
für die eigene Besteuerung zu demons-
trieren, sagt sie, aber sie nutze für ihr
Anliegen das Phänomen, dass Reiche
auf manche Menschen – vor allem auf
Journalisten – eine große Faszination
ausübten: Die Leute finden Reiche toll.
Also wird sie zu Podiumsdiskussionen
und Konferenzen eingeladen, Artikel
erscheinen über sie, so wie dieser hier.
Engelhorn hat zusammen mit schwer-
reichen Erben aus Deutschland, Öster-
reich und der Schweiz eine Bewegung
gegründet, die sich taxmenow nennt:
»Besteuert mich jetzt«. Sie bezeichnen
das, was sie tun, als Lobbyarbeit, aber
nichtöffentliche Treffen mit Politikern
lehnen sie aus Gründen der Transpa-
renz ab.
Bekommt man von Marlene
Engelhorn eine E-Mail, steht in der
Signatur, man solle sich nicht gezwun-
gen fühlen, gleich zu antworten, viel-
leicht habe man ja andere Arbeits-
zeiten. Sie ist auch im Gespräch auf-
fallend höflich, zurückhaltend, als
ahne sie, dass Geld einschüchternd
wirken kann, was sie nicht ausnutzen
will. Grenzen zu setzen und zu
respektieren scheint ihr wichtig zu
sein. So erzählt sie fast nichts Privates,
keine Details, es soll möglichst wenig
um sie selber gehen. Man kann also
(leider) kein reverses Märchen aus ihrer
Geschichte machen: plötzlich nicht
mehr Prinzessin. Aber allein schon ihr
Auftritt ist natürlich hochinteressant:
Ein Loch im Ärmel ist auf dem Bild-
schirm zu sehen, kein Make-up, nichts
glänzt, nichts glitzert – und das bei all
dem Geld ihrer Familie!
Ja, sagt sie, Mittelklasse-Bürger ver-
kleideten sich als Vermögende und die
wirklich Reichen verkleideten sich als
Mittelklasse-Bürger. »Runtercodieren«
nennt Engelhorn das. Man sage nicht:
»Wir sind reich«, sondern: »Uns geht
es gut.« Sie kann den Tonfall nach-
machen, in dem dieser Satz offenbar
gesprochen wird, die Lüge der Beschei-
denheit unbefangen vorgetragen. Aber
was man sich auch sage und was einem
die Finanzberater rieten, die man mit
dem Vermögen dazu erbe: Es ist nicht
genug, es muss mehr werden. Sei
schlau. Und dazu gehört natürlich das
Steuernsparen.
Wozu verpflichtet Reichtum?
Engelhorns Antwort, verkürzt: ihn
abzuschaffen. Allerdings sagt sie Ȇber-
reichtum«. Und was ist der Unterschied
zwischen reich und überreich? Darüber Madeleine Bunders, Organzüchterin in Hamburg
solle die Gesellschaft ja endlich disku-
tieren. Wie viel genug ist für einen
Menschen und, vor allem, ab wann
Vermögen demokratiegefährdend wird.
Aber vorstellbar ist doch schon, dass
Werden wir unsere Körper überwinden?
manche den nach oben offenen Reich-
tum als Ansporn empfinden? Dass Mit Mini-Organen wollen Mediziner Krankheiten besiegen und Medikamente besser machen
auch jene, die wenig besitzen, es gut
finden, wenn es Reiche gibt – als Was, wenn man menschliches Gewebe züchten Heisenberg-Professur der Deutschen For- Zunächst muss aber etwas Entscheiden-
Traum, als Illusion, die man zum Le- könnte, mit dem man Leberschäden heilt oder schungsgemeinschaft – eine Auszeichnung für des passieren: Man muss Organoide erst
ben braucht? Sie sagt: Aber es sei eben Herzinfarkte? Wenn man Krankheiten ganz eine junge Forscherin. Bunders arbeitet mit einmal züchten. Und das ist nicht einfach.
eine Illusion. Arbeit mache nicht reich. individuell behandeln könnte? Wenn Medika- Organoiden an der Leber, der Niere, an HI- Es braucht den richtigen Cocktail an Che-
Geld mache reich. ELISABETH RAETHER mente weniger Nebenwirkungen hätten? All Viren, an der Darmerkrankung Morbus Crohn mikalien, um aus einer isolierten Zelle in
dies könnte mit Organoiden möglich sein, und und an Infektionen mit dem Adenovirus. In Tagen oder Wochen ein dreidimensionales
!www.zeit.de/vorgelesen zwar bald, nicht erst in Jahrzehnten. Organoide dieser Auflistung klingen schon die Anwen- Organoid wachsen zu lassen, das mit einem
sind Mini-Organe, die im Labor heranreifen dungsbereiche für Organoide an – und doch Mal von ganz allein anfängt ... zu leben? Ja,
und dreidimensional aufgebaut sind. Sie ähneln ist sie nur ein kleiner Ausschnitt. so muss man es wohl ausdrücken, wenn
menschlichen Geweben und Organen sehr Winzige Herzen haben Forscher gezüchtet, man zusieht, wie die Zellen sich selbst orga-
stark. Winzig klein sind sie, gut zu erkennen Plazenta-Organoide, aber auch menschliche nisieren und dann wie eine Niere oder Leber
nur durchs Mikroskop. Die Hoffnung aber, die Mini-Gehirne wurden schon so weit entwi- funktionieren. »Die Organoide müssen
Forscher in sie setzen, ist gewaltig. ckelt, dass man sie in Ratten implantierte und happy sein«, sagt Bunders, durchs Mikro-
Madeleine Bunders weiß um diese Hoff- damit das Verhalten der Tiere änderte. Wenn skop auf die Zellansammlungen blickend,
nungen, seit Jahren forscht sie an Organoiden. heute bereits so etwas Komplexes (und ethisch die wie schwarz umrandete Blasen aussehen.
Sie muss einerseits übermäßige Erwartungen Diskussionswürdiges) funktioniert – wird man Bunders Organoide sind glücklich, sie hat
dämpfen, weil eine Wissenschaftlerin keine dann nicht bald jedes menschliche Gewebe die richtige Mixtur gefunden.
Illusionen befeuern darf. Andererseits ist sie nachzüchten können, vielleicht sogar in der Letztlich sind Organoide aber nur Mittel
selbst hingerissen, denn sie sieht ja, wie schnell richtigen Größe? zum Zweck. Denn Bunders hat eine neue Idee
es vorangeht, was alles möglich sein könnte. Organoide könnten auch bei der Entwick- im Kopf, die sie mit ihnen überprüfen will: dass
Bunders (44) kam vor sechs Jahren nach lung von Medikamenten eingesetzt werden: Immunzellen erkranktes Gewebe heilen kön-
Hamburg, um an Organoiden zu forschen. Ihr An ihnen könnte man neue Substanzen deut- nen, indem sie das Wachstum von Gewebe
Handwerk hat sie nach ihrer Ausbildung zur lich besser testen als an Tieren. Sie bestehen ja anregen. Das Immunsystem wäre demnach
Kinderärztin in den Niederlanden gelernt. Die aus menschlichem Gewebe und bieten damit nicht nur für die Abwehr von Eindringlingen
sind eine Art Heimatland der Organoid- eine Umgebung, die ziemlich exakt der ent- zuständig, sondern hätte auch regenerative Auf-
Fotos: Paula Markert für DIE ZEIT (o.); Thomas Pirot/laif; Illustrationen: Tobias Beck/ZEIT-Grafik

forschung: Hier brachte der Immunologe
Hans Clevers mit bahnbrechenden Studien die
Forschung voran, Bunders nennt ihn den
»Pionier der Organoide«. Seit Jahren wird er für
den Nobelpreis gehandelt.
In Hamburg arbeitet Bunders am Leibniz-
Institut für Virologie und am Universitäts-
klinikum Eppendorf. Gerade bekam sie eine
spricht, in der sie später einmal wirken sollen.
Und noch etwas fasziniert Forscher: die Mög-
lichkeit der zielgenauen Behandlung. »Wenn
man mit Organoiden zeigen kann, dass ein
Wirkstoff nur für die Krebszellen toxisch ist,
nicht aber für die gesunde Zelle, dann ist dies
ein wichtiger wissenschaftlicher Fortschritt für
personalisierte Therapien«, sagt Bunders.
gaben. Bunders ist überzeugt davon, und
diverse Studien bestätigten sie. »Ich hoffe, dass
wir in zehn Jahre Immunzellen dafür nutzen
können, Gewebe zu heilen.«
Sie braucht lange für diesen Satz. Die Wis-
senschaftlerin hätte ihn sich am liebsten ver-
kniffen, die begeisterte Forscherin aber konnte
ihn nicht zurückhalten. JAN SCHWEITZER

Marlene Engelhorn, Erbin aus Österreich

30
Woran hängen die Chancen
von Menschen?
Datenanalysen sollen den Amerikanischen Traum retten
Im August hat Raj Chetty seine große
ökonomische Kartierung Amerikas
wieder um ein paar Detailstudien er-
gänzt. Mit anderen Forschern veröf-
fentlichte der 43-jährige Ökonom in
Nature die Ergebnisse seiner jüngsten
Messungen: Kinder aus armen Fami-
lien haben in den USA größere Chan-
cen, der Armut zu entkommen, wenn
sie Kontakte zu finanziell bessergestell-
ten Familien haben.
Das für den ökonomischen Auf-
stieg wichtigste soziale Kapital sind
demnach Kontakte in vermögendere
Milieus. Wie soll ein Kind auch eine
Vorstellung davon entwickeln, zu
studieren, wenn es niemanden kennt,
der das selber vorhat oder dessen Eltern
es vorgelebt haben? Andere Formen
sozialen Kapitals wie Freundes-Netz-
werke sind für den Aufstieg dagegen
nicht so wichtig wie der Kontakt zu
vermögenderen Klassen.
Diese Erkenntnis basiert auf einer
Methode, die Chetty zu einem der ein-
flussreichsten Sozialwissenschaftler
seiner Generation gemacht hat: der
computergestützten Auswertung rie-
siger Datenmengen aus Behörden und
sozialen Netzwerken. Und sie wirft wie
andere seiner Ergebnisse auch politi-
sche Fragen auf, in diesem Fall: Wie
lassen sich Brücken von ärmeren zu
reicheren Familien bauen, um die
Chancen benachteiligter Kinder im
Leben zu verbessern?
Chetty erforscht an seinem Oppor-
tunity-Insights-Institut an der Harvard
University, was sozialen Aufstieg
bedingt und behindert. Dabei geht es
um kein rein amerikanisches Phäno-
men. Der Erfolg populistischer Erlö-
sungsversprechen gründet schließlich
auf der ganzen Welt darauf, dass viele
Menschen wenig Vertrauen in die
Zukunft haben. Damit will Chetty
sich nicht abfinden. Er sagt über seine
Arbeit: »Unser Ziel ist es, den Amerika-
nischen Traum wiederzubeleben.«
Von Wiederbelebung spricht Chet-
ty auch deshalb, weil seine Forschung
zeigt: Der Traum ist zerstört. Das Ver-
sprechen, wonach jeder Mensch in den
USA zu Wohlstand kommen kann,
wenn er oder sie sich nur ordentlich
anstrengt, stimmt nicht mehr. Es gibt
ganze Landstriche, in denen es kaum
ein Kind zu einem besseren Leben
bringt als seine Eltern.
Raj Chetty, Ökonom in Harvard
Der Wirtschaftsprofessor und seine
Leute beenden ihre Arbeit aber nicht
bei der Diagnose. Sie fahnden nach
Ursachen und entwickeln Modell-
projekte, um die Lage zu verbessern.
In Seattle helfen sie armen Familien,
Wohnungen in Gegenden mit besseren
Perspektiven zu finden. Chetty selbst
schätzt, dass das Lebenseinkommen
jedes betroffenen Kindes durch die
Maßnahme im Durchschnitt um
88.000 Dollar steigt. In Charlotte hat
seine Forschung inzwischen Einfluss
auf die geografische Lage von Sozial-
bauten. Statt sie in Gegenden mit
hoher Armutsquote und schlechten
Perspektiven zu errichten, entstehen sie
hier in Gegenden, in denen die öko-
nomischen Aussichten für Kinder
besser sind.
Chettys jüngste Studie zeigt aber
auch: Bloß die räumliche Trennung
von Arm und Reich zu überwinden
reicht nicht aus. Seine Analyse von 21
Milliarden (!) Freundschaften auf Face-
book kommt zum Ergebnis: Von jenen
Menschen, die dem Einkommen nach
zu den unteren zehn Prozent gehören,
haben nur zwei Prozent Verbindungen
zu Leuten aus den oberen zehn Pro-
zent. Dagegen haben die oberen zehn
Prozent selbst viel mehr Verbindungen
in die eigene, reiche Gruppe: 34 Pro-
zent ihrer Kontakte kommen aus die-
sem Milieu.
Chettys Studie enthält deshalb
Vorschläge, wie sich der Austausch
zwischen Einkommensgruppen zu-
mindest verbessern ließe, wie sie sich
leichter befreunden könnten, damit
die Ärmeren bessere Aufstiegschancen
haben: etwa durch Veränderungen in
der öffentlichen Architektur und in der
Struktur von Schulklassen.
Natürlich glauben Chetty und
seine Leute nicht, dass diese Verände-
rungen allein alles zum Besseren wen-
den. Sie weisen darauf hin, dass es
vieler Eingriffe bedarf. Es müssen sich
zudem Politiker finden, die solche
Daten ernst nehmen und in politische
Entscheidungen übersetzen.
Unabhängig davon ist Chetty ein
wichtiger Ökonom, weil er für eine
moderne Form der Wirtschaftswissen-
schaft steht: eine, die den Menschen
vor Ort brauchbare und statistisch
valide Grundlagen bereitstellt, um ihr
Leben zu verbessern. ROMAN PLET TER
WISSEN
Titelthema
Rosi Braidotti, Philosophin aus Utrecht
Können wir im Einklang
mit der Natur leben?
Ist der Mensch weniger wichtig, atmen alle auf
Wenn Rosi Braidotti »Ja« sagt,
klingt das, als umarme sie die gan-
ze Welt. Nicht nur die Menschen,
sondern auch die Tiere und Pflan-
zen. Einfach alles. »Es gibt auch
ein Leben jenseits des Menschen«,
sagt die 68-jährige Philosophin.
Wir sind im noblen Faculty
Club der Uni Utrecht verabredet,
ihrer ehemaligen Wirkungsstätte.
Aber von Ruhestand keine Spur.
Bis 2021 hat Braidotti hier gelehrt.
In die Niederlande kam sie, nach-
dem sie in den Achtzigerjahren
beim französischen Meisterdenker
Michel Foucault in Paris Examen
gemacht hatte.
Heute gilt die italienische Phi-
losophin neben ihrer amerikani-
schen Kollegin Donna Haraway als
eine der wichtigsten Vertreterinnen
des sogenannten Posthumanismus,
einer aktuellen Strömung des
Denkens, die sich nicht nur zum
Ziel gesetzt hat, den Menschen aus
seinem Weltdeutungszentrum zu
entfernen, sondern auch, nicht-
menschliche Wesen als gesellschaft-
liche Akteure anzuerkennen.
Rosi Braidotti ist kaum zu
bremsen. Überallhin verzweigen
sich ihre Gedanken. Genau wie in
ihrer Philosophie: Schon die Vor-
stellung vom Menschen als Krone
der Schöpfung ist ihr unangenehm.
Die Idee, dass die Welt von einem
Mittelpunkt aus gedacht werden
könnte, einem archimedischen
Punkt. Und deshalb soll nicht nur
der Mensch – der sich in seiner
meist westlichen, weißen und
männlichen Erscheinungsform
über Jahrhunderte immer wieder
zum Herrscher des Planeten aufge-
schwungen hat – in der posthuma-
nen Ära abtreten. Es soll überhaupt
kein Zentrum mehr geben: Alles ist
belebt. Alles bewegt sich, ist schöp-
ferisch und vital.
Rosi Braidotti hat eine Philoso-
phie des großen Ja entwickelt, in der
alles vorkommt. Das Kleine und das
Große, das Bedeutsame und das
Geringe. Pflanzen, Tiere, Kleinst-
organismen, auch Bakterien und
Viren. Braidotti stellt sich das
Lebendige wie die fadenförmigen
Verflechtungen eines Pilzes vor.
Was können wir
von der Steinzeit lernen?
Jede Entwicklung hat auch eine Alternative
Nun steht der jüngere David mit dem
Buch Anfänge allein da. David
Wengrow, 50 Jahre alt, bekannt gewor-
den als Co-Autor seines Namensvet-
ters David Graeber – Anthropologe,
Occupy-Vordenker, Bestsellerautor,
Anarchist. Mit diesem Schwergewicht
hat sich Wengrow vor mehr als zehn
Jahren auf ein intellektuelles Spiel ein-
gelassen. Er beschreibt es rückblickend
als »Ablenkung von unseren ernsteren
akademischen Pflichten«: Ein Anthro-
pologe und ein Archäologe, beide in
London lehrend, führen auf Basis
archäologischer Quellen einen Dialog.
Immer wieder diskutieren die
beiden bis in die Morgenstunden. Sie
tragen Berge an Material zusammen,
und als das Manuskript der Anfänge
endlich fertig ist, stirbt David Graeber
unerwartet, in Venedig, mit 59 Jahren.
Das Buch wird ein grandioser
Erfolg. Der überlebende David, der
Archäologe, muss daher heute allein die
radikalen Inhalte erklären. Kein leich-
tes Unterfangen, denn Anfänge hat
Und sie hat damit Erfolg: Auf der Widerspruch geerntet, weil der
vergangenen Biennale in Venedig, 700-Seiten-Wälzer im Untertitel nicht
wo man durch einen Kunstgarten weniger behauptet, als dass zwischen
mit Findlingen, kleinen Bächen und seinen Deckeln die »neue Geschichte der
Schmetterlingen streunen konnte, Menschheit« zu lesen sei.
gehörte Braidotti mit ihrer post- Die Bücher von Yuval Harari,
humanen Utopie zu den zentralen Steven Pinker oder Jared Diamond
Ideengebern. seien schlichtweg »nicht auf dem neus-
Ja zu sagen bedeutet für sie aber ten Forschungsstand«, sagt Wengrow.
nicht, in naiven Optimismus zu Der Fehler dieser hochdekorierten
verfallen. Die tragischen Momen- Menschheitsgeschichte-Autoren: »Sie
te, all das Grausame und Düstere halten am alten Mythos fest.« Dieser
der Natur, sollen nicht ausgespart besagt, dass sich die Menschheit linear,
bleiben. Braidotti selbst bezeichnet evolutionär und zwangsläufig dorthin
ihr Denken als »affirmative Ethik«. entwickelt habe, wo sie heute ist. In der
Eine Idee, die sie der Philosophie Steinzeit mit ihren egalitären Jäger-
des niederländischen Rationalisten und-Sammler-Gesellschaften nahm sie
Baruch de Spinoza aus dem Anlauf, fand über den Ackerbau zu
17. Jahrhundert entnommen hat. Staatengebilden zusammen, zur Auf-
Der lehrt in seiner Ethik, dass die klärung, zum Kapitalismus.
Materie, die Welt und die Men- Wie nach einem Masterplan ent-
schen Teil ein und derselben Sub- wickelte sich die Menschheit angeblich
stanz sind, die sich nur in unter- parallel zum Zeitstrahl, von primitiv
schiedlichen Formen ausdrückt. zu komplex. Diese Vorstellung wurde
Genau das ist auch der Ansatz zum Standardmodell der Zivilisations-
der Rosi Braidotti. Sie kann mit geschichte. Viele Gesellschaften nutz-
einer Hierarchie der Arten nichts ten sie, um Kritik von Indigenen zu
anfangen, spricht stattdessen von kontern und angeblich »primitive«
der »Erdwerdung« des Humanen, Gesellschaften zu unterdrücken.
die zu einer neuen, artenüber- Der Professor aus London ist auf
greifenden Solidarität zwischen seiner Spurensuche in der Vorgeschich-
menschlichen und nichtmenschli- te jedoch vielen Widersprüchen be-
chen Akteuren führen soll. Ein gegnet. Vor allem am Übergang von
neuer Gesellschaftsvertrag, in dem
das Verhältnis von Natur und
Mensch so gedacht wird, dass die
Übergänge fließend sind. »Wir
sind alle Nomaden«, sagt Braidotti.
Und trügen deshalb alle Verant-
wortung füreinander.
Wer glaubt, Rosi Braidotti sei
nur eine Theoretikerin, täuscht
sich. In Zukunft, erzählt sie, als wir
die Uni wieder verlassen und in
den Nieselregen an der Utrechter
Oudegracht treten, will sie mit
dem Nachhaltigkeits-Thinktank
Het Nieuwe Instituut in Rotterdam
den dortigen Hafen als soziales
Fotos: Carlos Chavarria; Lumen Photo/Visum; Udoma Janssen (v.l); Illustration: Tobias Beck/ZEIT-Grafik
Labor erkunden. Auch das ist Teil
des posthumanen Denkens: Das
Nichtmenschliche bezieht sich
nicht nur auf Tiere und Pflanzen,
sondern auch auf neue Infrastruk-
turen. Für Rosi Braidotti ist einfach
alles in Bewegung. PETER NEUMANN
!www.zeit.de/vorgelesen
David Wengrow, Archäologe in London
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
der Steinzeit zur Neuzeit. Die berühm-
te neolithische Revolution, »die gab es
nicht«. Ihm als Schüler, erzählt Wen-
grow, wurde noch beigebracht, vor
9000 Jahren hätten wildbeuterische
Vorfahren die Landwirtschaft erfun-
den, dann die Sesshaftigkeit, das Privat-
eigentum – und als logische Folge die
Verwaltung bis hin zum Gewaltmono-
pol des Staates. Und soziale Hierarchie
bis hin zur Unfreiheit.
Für Wengrow ist das alles Humbug.
Landwirtschaftlich experimentiert
wurde weltweit. Südamerikaner domes-
tizierten Wildpflanzen und nahmen
davon wieder Abstand – zurück zur
Jagd. Um die behauptete lineare Ent-
wicklung zu belegen, müsste es vor der
Ungleichheit Gleichheit gegeben ha-
ben. Doch in der Steinzeit findet
Wengrow sie nicht – stattdessen Gräber
wie von Königinnen und Königen und
Hinweise auf Tyrannei. Umgekehrt
findet sich im anatolischen Çatalhöyük,
Zentrum der neolithischen Revolution,
kein Königssitz, ja überhaupt kein Hin-
weis auf ein administratives Zentrum.
Offenbar schafften es dort 10.000
Menschen, ihre Angelegenheiten im
Kleinen zu regeln.
Viele Herrschaftsformen seien
spielerisch ausprobiert worden. In
Lateinamerika gab es früh Autoritäts-
personen – die ihre Macht aber nur
in rituellen Aufführungen ausübten.
Oder Gemeinschaften, die ein biss-
chen Königreich ausprobierten, sich
wieder auflösten und als egalitäre
Jagdgruppen weitermachten. Die
Steinzeit, sagt Wengrow, sei ein Kon-
zept aus dem 19. Jahrhundert, das
dazu diene, »unsere Vorfahren als
arm und einfach einzustufen«. Doch
heute wüssten wir, dass solche Klassi-
fizierungen nutzlos und irreführend
seien: »Sie entwerfen die menschliche
Vergangenheit als negatives Spiegel-
bild unseres Selbstbildes.«
Den größten Teil der Menschheits-
geschichte hätten wir »mit komplexen
Organisationsformen bestritten, die
uns blühen und gedeihen ließen«. In
jedem Winkel des Planeten hat
Wengrow Spuren von Freiheit, Un-
freiheit oder großer Fürsorge gefunden
– alles längst da gewesen. Versuche
und Irrtümer. Seine größte Erkenntnis
für die Zukunft: Keine Entwicklung
ist alternativlos. U RS WI LLMAN N
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023 WISSEN 31

Zwölf Ideen für eine bessere Zukunft

Wie besiegen Frauen

weltweit das Patriarchat?
Ein Arbeitsplatz ändert die Macht zwischen den Geschlechtern

Videoanruf bei Shrayana Bhattacharya,
die in ihrem ersten Buch das Kunststück
vollbringt, die Wirkmacht des Patriarchats
in Indien entlang von Frauen zu erklären,
deren einzige Gemeinsamkeit es ist, den-
selben Schauspieler anzuhimmeln.
In Desperately Seeking Shah Rukh, einer
Mischung aus Recherche, Gesellschaftsana-
lyse und autobiografischer Reflexion, knüpft
Bhattacharya über die eigene Liebe zur Bol-
lywood-Ikone Shah Rukh Khan ein Netz
über Klassen- und Kastengrenzen, von den
Frauen auf Dinnerpartys der Elite in Delhi
Fotos: Christian Gustavsson/Right Livelihood (l.); Sukruti Anah Staneley [M]; Illustration: Tobias Beck/ZEIT-Grafik
verletzlich und auf Augenhöhe. Im Alltag
verwandelt sich der Trost des Kinosaals oft in
Wut und Frust.
Bhattacharya selbst hat, wie sie sagt, die
Phase der Wut bereits hinter sich. Die koch-
te in ihr hoch, als das Gefühl einer
Geschlechterkrise, das sie schon als Kind und
Teenager verspürte, im Ökonomiestudium
mit Zahlen belegt wurde. Über die nahezu
komplette finanzielle Abhängigkeit von
Männern schwarz auf weiß zu lesen habe die
Kraft ökonomischer Handlungsfähigkeit.
Jede Frau, die sich den Erwartungen wider-
setzt, mit der Heirat ihre Ambitionen zu be-
graben, ist eine Quelle der Revolution.«
Mit etwa 80 Frauen hat Bhattacharya, die
für eine Entwicklungsbank arbeitet, während
ihrer Arbeit am Buch gesprochen. Und wäh-
rend alle in irgendeiner Form einen »Handel
mit dem Patriarchat« hätten eingehen müs-
sen, habe jede einzelne, die sich den Erwar-
tungen von Müttern, Vätern, Tanten, Nach-
barn widersetzte, die Normen in ihrer Umge-
bung verändert. Und jede einzelne Frau habe

bis zu jenen in den Slums von Ahmedabad. vor Entscheidungen gestanden, die sich die
»Ich möchte, dass die Leute wütend wer- Generation ihrer Mütter gar nicht stellen
Davi Kopenawa Yanomami, Schamane vom Amazonas den«, sagt Bhattacharya, sie sitzt in ihrer konnte. Bei Lesungen wiederum sagen ihr
Wohnung in einem Nobelviertel von Delhi, junge Inderinnen: Wenn die Männer sich
in ihrem Rücken indische Kunst. »Wir sind nicht ändern, geht es auch ohne sie.
Können wir lernen, völlig abgestumpft, weil wir es nicht anders
gewöhnt sind.« Also daran, dass die poten-
Der Kampf gegen das Patriarchat ist für
Bhattacharya im Wesentlichen ökono-

die Welt neu zu sehen?
Wissen aus dem Regenwald soll die Erde schützen
Im Mai 2019 stand ein Schamane aus
dem Amazonaswald in der Harvard
University in Boston. Davi Kopenawa
Yanomami hielt eine Rede auf einer
Klima- und Umweltschutzkonferenz.
Er trug einen Kopfschmuck aus
bunten Arafedern und eine extradicke
Winterjacke.
Yanomami spricht ein stockendes,
aber robustes Portugiesisch, und er
ist ein erstaunlich geübter Redner.
Seitdem in den 1980ern bewaffnete
Goldgräber, Holzfäller und andere
Waldzerstörer über seine Heimat
herfielen, reist Yanomami – ermutigt
von Missionaren, Forschern, Men-
schenrechtlern und Umweltschutz-
organisationen – zu Kongressen
überall in der westlichen Welt. Dort
erzählt er von der Zerstörung der
Natur durch die Raffgier des Wes-
tens, und dass diese Gier uns alle
untergehen lässt. Eine apokalyptische
Botschaft, aber meist spricht der
Schamane mit einer gewissen Kühle,
als ob er ein Geschichtenerzähler aus
der Zukunft sei.
Yanomami wurde ungefähr 1956
irgendwo zwischen Venezuela und
Brasilien geboren. Er gilt heute als
der einflussreichste Schamane und
dörfliche Anführer beim Amazonas-
volk Yanomami, das 30.000 Men-
schen umfasst. Den größten Teil sei-
nes Lebens verbringt er spärlich
bekleidet in einem Dorf namens
Watoriki. Dort gibt es keinen Tele-
fonempfang, man lebt gemeinschaft-
lich in einem traditionellen Rund-
haus und ernährt sich von Kochbana-
nen, Maniokwurzeln und Jagdfleisch.
Nach der Harvard-Ansprache
wurde für Yanomami noch ein Auf-
tritt mit dem Supermodel Gisele
Bündchen organisiert, die jetzt Kli-
maschutz-Botschafterin ist. In der
Universitätszeitung Harvard Gazette
wurde er als der »Dalai Lama aus
dem Regenwald« vorgestellt. Er
nimmt eine schwierige Rolle ein: Soll
er als Promi-Schamane herhalten, als
wandelndes Klischee, von dem man
sich ein wenig ins westliche Gewissen
reden lässt? Oder kann die postindus-
trielle Gesellschaft tatsächlich etwas
von seiner Sichtweise begreifen?
Yanomami betont, dass er kein
gebildeter Mensch im westlichen
Sinne sei. Er beziehe seine Erkennt-
nisse »aus dem Wald und vom Him-
mel und durch die Erscheinungen
der Xapiripë-Geister«. Yanomami-
Schamanen nehmen schwere Psycho-
drogen, die sie aus Baumrinden her-
stellen, und ziehen sich damit wo-
chenlang in den Wald zurück. Hin-
terher sprechen sie über den Urvater
der Ameisen oder die Geister der
Vögel oder Jagdtiere, die für sie Wie-
dergänger ihrer Vorfahren sind.
In den Erzählungen des Yanoma-
mi-Volkes wird alles zu einem my-
thischen Gesamtbild, das für west-
liche Ohren rätselhaft klingt. Die
Geschichten lassen sich auch nur
zum Teil als Metapher für ökologi-
sche Gesetze deuten. Yanomamis
Botschaft liegt teilweise in ihrer
Undurchdringlichkeit selbst: Er
sagt, dass die westlichen Menschen
eine Welt auslöschten, von der sie
keine Ahnung hätten, und dass sie
daran physisch und spirituell
zugrunde gingen. So etwas sei in
früheren, mythischen Epochen häu-
figer passiert. Noch könne man
dieses Schicksal aber verhindern.
Er, Yanomami, wolle die Natur-
erfahrungen seines Volkes teilen und
einen Dialog eröffnen: mit welchem
Blick die Menschen auf die Welt
schauen sollten und mit welchen Er-
zählungen und kulturellen Praktiken
sich eine Gesellschaft aufbauen ließe,
die weniger selbstzerstörerisch ist.
Yanomami hält nicht einmal
etwas von dem Begriff »Umwelt-
schutz«. Er begreift die Natur nicht
als etwas, das ihn umgibt, während er
selbst Wichtigeres tut. Menschen des
Regenwalds erfahren, wie untrenn-
bar die Natur mit ihnen verbunden
ist: Sie liefert ihnen die Lebensgrund-
lage und alle Geschichten. Jeden
Quadratmeter Regenwaldzerstörung
erleben sie am eigenen Leib.
»Die Träume der Weißen reichen
nicht so weit wie unsere«, sagt Yano-
mami. »Sie schlafen viel, doch sie
träumen nur von sich selbst.« Des-
halb seine Forderung: Lasst den
Lebensraum meines Volkes in Ruhe!
Aber er spricht auch eine Einladung
aus: zum gemeinsamen Träumen und
zu einem gesünderen Umgang mit
der Welt. THOMAS FISCHERMANN
zielle Supermacht Indien gegen jede Vernunft
auf die Ideen der einen Hälfte ihrer Bevölke-
misch zu gewinnen. Und man begreift
beim Lesen ihres Buches, dass das Wirt-
rung weitgehend verzichtet. Gut 60 Prozent schaftssystem nicht nur Waren und Dienst-
Shrayana Bhattacharya,
der indischen Frauen machen ausschließlich
Entwicklungsökonomin
leistungen produziert, sondern vor allem
unbezahlte Hausarbeit; und trotz der in gesellschaftliche Gefühle und Realitäten.
Siebenprozentstiefeln kletternden Wirtschaft aus Delhi Es sei ein Missverständnis, dass die intellek-
steigt der Anteil der Frauen an der Erwerbs- tuellen Eliten, die auf Bühnen über Femi-
arbeitsbevölkerung nicht etwa, sondern sinkt nismus diskutierten oder Bücher schrieben
stetig – auf aktuell knapp über ein Fünftel. Kraft, das Selbstwertgefühl als Frau auszulö- wie sie selbst, die Gesellschaft verändern
Bhattacharya hat die Frauen in ihrem schen. »Es war eine starke Empfindung von könnten. »Es sind jene Frauen, die einfach
Buch teils 15 Jahre lang begleitet und be- Enttäuschung, Einsamkeit und Kummer.« Tag für Tag zur Arbeit gehen, obwohl
schreibt ihre Versuche, sich zwischen den Der intellektuelle Zugang über die Ökono- ihnen gesagt wird, eine gute Frau habe zu
Erwartungen der Familie, des Ehemanns und mie habe ihr aber Wege aufgezeigt, den Status Hause zu bleiben.« ANANT AGARWAL A
dem eigenen Begehren nicht selbst zu ver- quo zu verändern.
lieren. Trost finden sie im Zwielicht des Heute blicke sie mit Hoffnung auf die Hören Sie den Podcast
Kinosaals bei Shah Rukh Khan, der in Indien Aussichten der etwa 660 Millionen Inde- »Woher weißt Du das?«, so heißt unser
einen ähnlichen Status genießt wie Brad Pitt rinnen – und jener vielen Hundert Millionen Wissens-Podcast. Er bietet Gespräche über
im Westen. Er verkörpert einen Typ Mann, Frauen in patriarchalen Gesellschaften an- Wissenschaft, Alltag und Gesellschaft.
den die indische Realität nicht zu bieten hat: dernorts auf der Welt. »Ich glaube an die www.zeit.de/podcasts
ANZEIGE
ANZEIGE
IMMER BESSER –
FÜR DICH
EIN HERZ, DAS KANN MAN REPARIEREN
Liebeskummer ist keine Kleinigkeit. Wie Anfang ist Abstand total wichtig. Für
man ihn bewältigt, weiß Buchautorin unser Gehirn ist Liebeskummer wie
DIE TECHNIKER IST SEIT ÜBER
und Liebeskummer-Expertin Michèle 16 JAHREN DEUTSCHLANDS BESTE KRANKENKASSE. ein Drogenentzug. Wenn ich mit der
Loetzner. KURZ: IMMER BESSER – FÜR DICH. Person weiter Kontakt habe, dann ist
MEHR DAZU, AUCH ZUM das wie eine Ersatzdroge, und abzu-
THEMA „LIEBESKUMMER“, GIBT ES HIER.
Liebeskummer kann Betroffene schließen fällt mir schwerer. Wenn
schwer treffen. Nimmt man Kinder hat und sich absprechen
unsere Gesellschaft das ernst genug? muss, ist ein Kontaktabbruch aber na-
Wir neigen dazu, Probleme psychi- Syndrom“. Dabei erleiden vor allem zugestanden, Gefühle zu haben und zu türlich kaum umsetzbar.
scher Natur zu bagatellisieren – das Frauen Symptome eines Herzinfarkts. zeigen. Dadurch verarbeiten sie Prob-
fängt schon beim Wort „Liebeskum- Die klassischen Symptome des Lie- leme oft viel schneller. Tut Liebeskummer mit zunehmender
mer“ an. Ich finde, es spricht nichts beskummers sind aber Appetitlosig- Lebenserfahrung weniger weh?
dagegen, zum Arzt oder zur Ärztin zu keit, Schlafstörungen und dass man an Was hilft denn gegen Liebeskummer? Gleiches Herz, gleicher Kummer! Der
gehen, um sich wegen Liebeskummer nichts anderes denken kann. Für mein Buch „Liebeskummer be- Liebeskummer wird nicht weniger, nur
krankschreiben zu lassen. Mit einem wältigen in 99 Tagen“ habe ich Studien weil man ihn schon einige Male erlebt
gebrochenen Bein würde ich das ja Was passiert bei Liebeskummer gesammelt und Vorschläge gemacht, hat.
ebenfalls tun. Beim Liebeskummer ist im Körper? wie man deren Erkenntnisse für sich
es eben das gebrochene Herz. Das ist Die Biochemie gerät aus dem Gleich- nutzen kann. Manchen Menschen Was sollte sich im Umgang mit
keine Kleinigkeit. gewicht. Bei Liebeskummer schüttet hilft es, sich voll in den Liebeskummer Liebeskummer ändern?
der Körper zu viele Stresshormone, reinzustürzen, andere müssen sich erst Ich wünsche mir, dass man Menschen
Was sind die Symptome etwa Adrenalin und Cortisol, und zu mal von ihren Gefühlen ablenken. Was damit ernster nimmt und dass wir alle
des gebrochenen Herzens? wenige Glückshormone wie Dopamin tatsächlich wissenschaftlich erforscht überdenken, wie wir mit den Gefühlen
Das Schlimmste, was passieren kann, und Serotonin aus. Der Liebeskummer ist: Sport hilft extrem gut bei jeder anderer Leute umgehen.
ist das sogenannte „Broken Heart geht vorbei, wenn sich der biochemi- Art von psychischer Verstimmung –
sche Haushalt wieder eingespielt hat. also auch bei Liebeskummer. Was auch Mit Sport aktiv gegen Liebeskummer:
hilft, ist Reden und Reflektieren – am TK-Fit, das Fitnessprogramm in der TK-
Gehen Frauen mit Liebeskummer besten mit professionellen Ansprech- App, bringt Dich mit neuem Schwung
anders um als Männer? partnerinnen oder -partnern. Liebes- ins Leben zurück.
Frauen leiden kürzer, dafür aber in- kummer kann einem den Boden un-
tensiver. Männer haben länger Liebes- ter den Füßen wegziehen. Da ist es Infos unter: www.dietechniker.de
kummer. Ihnen wird von klein auf bei- vollkommen in Ordnung, sich einen
gebracht, dass sie Gefühle nicht zeigen Therapieplatz zu suchen.
Foto unten: Brecheis

sollen. Deshalb fressen sie den Liebes-

Fast wie eine Krankheit: Liebeskummer
kann Menschen hart treffen, sagt Expertin
Michèle Loetzner.
kummer in sich hinein und sind oft so Ist es sinnvoll, den Kontakt komplett
lange damit belastet, dass es ihnen abzubrechen?
schwerfällt, wieder eine neue Bezie- Die Wissenschaft sagt: Ja. Das muss
hung einzugehen. Frauen wird eher nicht für immer sein. Aber gerade am
32 WISSEN 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2

Titelthema: Zwölf Ideen für eine bessere Zukunft

Wie wird die Stadt Ändert das Digitale

lebenswert?
Gewächse aus der Prärie sollen
Betonwüsten blühen lassen
Oben im kleinen Gärtnerhaus winkt ein
Feigenbaum herein, Cassian Schmidt muss
nur sein Bürofenster öffnen, schon kann er
die Früchte ernten. Auch einen Kakibaum
hat er im Garten, und sogar Bananen sind
dieses Jahr gewachsen, grün und stumme-
lig – aber Bananen! Und das hier in Wein-
heim, südlich von Frankfurt. Schmidt
kann es selbst kaum fassen. »Das hatten wir
noch nie.«
Nie in den fast 25 Jahren, die er den
Hermannshof nun leitet, einen öffentlichen
Park, wie es ihn in Europa kein zweites Mal
gibt. Selbst die Engländer, Großmeister des
Gärtnerns, schauen herüber und wundern
sich, wie ungewöhnlich und überraschend
dieser Deutsche auf Stauden und Gehölze
blickt, wie verwegen er seine Beete anlegt.
Und wie er dafür kämpft, Städte wieder
lebendig zu machen, auf duftend blühende
Weise. Städte, in denen die Pflanzen dem
Klimawandel trotzen und die Bürger ihren
öffentlichen Raum neu entdecken sollen.
»Viele Kommunen sparen ja als Erstes
am Grün«, sagt Schmidt, gelernter Gärtner
und Landschaftsarchitekt. »Und sie wun-
dern sich dann, dass es im Sommer zu heiß
wird und die Menschen nicht mehr schla-
fen können.« Seit den 1980er-Jahren haben
immer mehr Gemeinden ihre Gartenämter
abgeschafft und die verbliebenen Fachleute
den Bauhöfen zugeordnet. »Da sitzen sie
jetzt zusammen mit der Müllabfuhr«, sagt
Schmidt augenrollend. Die Beete verdor-
ren, Kreisel verkrauten, aus Grünflächen
wird Asphaltwüste.
Dabei wäre es nicht schwer, das zu
ändern. Man muss nur das Schöne ökolo-
gisch denken und das Ökologische schön.
Wie so etwas aussehen kann, hat
Schmidt lange erprobt, in Weinheim und
anderswo. Welche Stauden überstehen den
Saharasommer und die Wolkenbrüche?
Wie muss man sie pflanzen, damit der
Stadtraum gekühlt und der Feinstaub gefil-
tert wird, obendrein das Ganze verlockend
aussieht, zudem pflegearm ist und bezahl-
bar? Eigentlich eine gärtnerische Unmög-
lichkeit, doch Schmidt, ein Gärtner der
Zuversicht, sieht es gelassen. »Stress ist ja
gut«, sagt er lakonisch. Gut für die Arten-
vielfalt, gut fürs Stadtgrün.
Wo der Erdboden trocken ist und mager,
wird es für manche Pflanzen auch einfacher.
Sie wachsen langsamer, bedrängen einander
weniger. Müssen deshalb seltener geschnitten
werden. Und sie wurzeln tiefer, man braucht
sie nicht eigens zu wässern. Zugleich wird die
Artenvielfalt deutlich größer. Es hört sich
paradox an, doch das Stadtgrün und die In-
sektenwelt können vom Klimawandel profi-
tieren. Wichtig nur: Es müssen die richtigen
Pflanzen sein. Wolfsmilchgewächse, Schein-
sonnenhüte, Eisenkraut, Gewächse, die mit
der Prärie fertigwerden und deshalb auch die
Prärie deutscher Städte überleben.
Ebenso wichtig: Fachkräfte. »Rasenmähen
kann jeder, brummbrumm einmal drüber.«
Bei Stauden aber gebe es keine Einheitshöhe.
»Das ist lebendig, dynamisch, da braucht es
Leute, die ein Auge haben.« Aber solche Leute
sind rar. Was tun?
Hélène Landemore, Politikwissenschaftlerin in Yale
Wie lässt sich die Demokratie beleben?
Eine französische Professorin plant die Entmachtung der politischen Elite durch Bürgerräte
Sie seien die »Crème de la Crème« Frankreichs, könnte – und wurde so eine der einflussreichs-
auserwählt, das Land und die Wirtschaft zu ten Demokratietheoretikerinnen der Gegen-
steuern. Diese Botschaft hörten Hélène Lande- wart. Dabei hatte sie erst Philosophie studiert,
more und ihre Kommilitonen an den Pariser weil sie nach Antworten auf die Frage suchte:
Eliteuniversitäten immer wieder. Und es Wie treffe ich die richtige Entscheidung? »Es
stimmt ja: Wer die École Normale Supérieure war etwas Persönliches«, erzählt sie, »meine
oder – wie etwa Emmanuel Macron – die Eltern waren Atheisten, ich bin ohne morali-
Sciences Po besucht, wird traditionell Spitzen- sche Orientierung aufgewachsen.« Sie las Nietz-
politiker, Unternehmenschefin oder Intellek- sche und David Hume, beschäftigte sich mit
tueller. Hélène Landemore, 46, passte zunächst Entscheidungstheorie und stellte fest, dass eine
ins Bild: Sie studierte an beiden Hochschulen, andere Frage sie noch mehr umtrieb: Wie ent-
ging in die USA, promovierte in Harvard und scheidet eine Gruppe, was das Beste für sie ist?
wurde mit Anfang dreißig Professorin in Yale, Wie findet man gemeinsam einen Weg, der
wo sie seither Politikwissenschaften lehrt. Nun moralisch und klug für die Menschen ist?
aber will sie, dass die politische Elite entmach- »Diese Frage führte mich zur Demokratie«,
tet wird. Was ist da passiert? erzählt Landemore. Doch je mehr sie las und
den Kapitalismus?
Durch eigene Plattformen kann
der Staat den Menschen dienen
Das ist Szenario eins: Wenn wir Pech haben,
sagt Staab, wird der Kapitalismus undemo-
kratisch, dann konzentriert sich die Macht
in einer digitalen Technokratie, wo alles
funktioniert, aber ohne politisch Mitwir-
kende. Längst beherrschen einige Konzerne
die Märkte, die ursprünglich Orte der Frei-
heit und der Anarchie sein sollten, und auch
in der öffentlichen Verwaltung klappt nichts
mehr ohne Giganten wie Microsoft – wenn
etwas klappt. Aber die Demokratie ist nicht
schnell und der Staat mit seinem alten
Beamtenapparat nicht handlungsfähig
genug für die übermenschlichen Nöte, in
denen wir stecken: Pandemie, Klimakrise,
Krieg. Die Sehnsucht nach Technokratie sei
unter den Erschöpften heute schon groß,
sagt Philipp Staab. Er will nicht, dass wir
Pech haben. Szenario eins wäre nicht gut.
Staab will etwas anderes.
Der Soziologe erzählt in wahren Begriffs-
Wasserfällen von seinen Ideen, biegt aber
zuverlässig unterwegs ins Praktische ab. Kein
Wunder, sein Thema ist praktisch, er sitzt mit
Headset am Bildschirm, die Familie ist seit
Monaten zu Hause, in einer Kaskade aus
Corona und anderen Infektionen. Die
Erziehungsinstitutionen schaffen ihren Job
nicht mehr, wegen Ansteckungsgefahr finden
Begegnungen mit Staab daher digital statt –
bis er mit dem Kinderdienst dran ist, damit
seine Frau arbeiten gehen kann. Was kolla-
biert, ist die Grundversorgung: Ob Energie,
Gesundheit, Bildung – der neoliberal ausge-
blutete Staat ist entkräftet, sagt Staab, alles
muss man irgendwie selber machen, das geht
aber nicht. Und auch das alte Märchen vom
Individuum, das frei handelt, verfängt nicht
mehr: Die Studenten könnten mit der Baby-
boomer-Soziologie nichts anfangen. Wer sich
mit dem brillanten Examen einer Spitzenuni-
versität keine Miete in Berlin leisten kann,
glaubt das moderne Freiheitsversprechen
nicht mehr. Gesellschaftsdiagnostik ist auch
eine Generationenfrage.
Und so entwirft der 39-jährige Philipp
Staab, seit 2019 Professor an der Humboldt-
Universität, nun Szenario zwei, das besser sein
soll: Es kommt darauf an, Digitalität und
Grundversorgung zusammenzudenken. Eine
gute demokratische Gesellschaft müsse den
digitalen Kapitalismus in den Dienst des
Klimaschutzes stellen. Der europäische Staat
solle sich daran erinnern, dass er über die
Macht verfügt, durch funktionierende Grund-
güter die Selbsterhaltung der Gesellschaft zu
Bürger werden zufällig ausgewählt und bilden sichern, Wohnen, Energie, Krankenhaus,
Gruppen von jeweils 150 bis 1000 Menschen, Schule, Katastrophenschutz. Postfossil – und
die ein exaktes Abbild der Bevölkerung sind: unter Einsatz digitaler Plattformen. Die bieten
nicht besonders charismatisch und redege- eine Versorgungssicherheit wie durch Amazon,
wandt, sondern divers, auch schüchtern, arm mithilfe von Daten, Daten, Daten, aber jetzt
und ungebildet. Diese zusammengewürfelten nicht zur Maximierung privater Gewinne,
Bürgerräte übernehmen für eine befristete Zeit sondern zugunsten des Gemeinwohls. Daten-
das Regieren, unterstützt von Fachleuten und banken, die medizinisches Personal für den
Beamten. Bei weitreichenden Entscheidungen Krisenfall führen. Algorithmen, die Reparier-
kann ein Referendum durchgeführt werden. barkeit oder Recyclingfähigkeit als oberste
Die Bürgerräte träfen bessere Entscheidun- Qualitätskriterien von Produkten ranken. Eine
gen als Berufspolitiker, argumentiert Lande- kuratierte städtische Mobilität, die das Auto
more, weil sie alle Erfahrungen und Perspek- wirklich ersetzt.
tiven in der Gesellschaft abbildeten. Außerdem Nur wenn er in Infrastrukturen investiert,
seien sie weniger anfällig für Korruption. kann der Staat sich heute legitimieren, denn
Ist das die Lösung für die Vertrauenskrise der letzte Dürresommer wird zum Normalfall,
Fotos (v. l.): Luca Ponti/Alamy/Mauritius Images; Stephanie Füssenich für DIE ZEIT; Felix Noak; Illustrationen: Tobias Beck/ZEIT-Grafik

Schmidt erzählt von Piet Oudolf, dem
berühmten Gartenarchitekten, der in Südkorea
gerade einen riesigen Staudenpark anlegt. »300
Volunteers haben sich da auf Anhieb gemeldet,
die verstehen nichts von Pflanzen, aber sie
wollen es lernen.« Und so, sagt Schmidt, kann
städtische Gemeinschaft entstehen, da sind
Menschen, die man schult, und dann lassen sie
kollektiv etwas gedeihen – lebendig, für alle
sichtbar, urbane Naturkultur.
Auch bei uns drängt es die Leute ins
Grün. »Bloß die Politik braucht noch ein
Weilchen«, sagt Schmidt. Dann aber wird es
losgehen mit der Präriesierung der Städte.
Schmidts Ideen liegen parat. Sie müssen nur
wachsen. HANNO R AUTERBERG
An einem Dezembermorgen sitzt Lande-
more in ihrem Elternhaus in der Normandie,
eine elegante Frau in Rot mit langem, dunkel-
blondem Haar. Sie lächelt in die Kamera ihres
Rechners und sagt: »Die Demokratie, die wir
haben, war von Anfang an beschädigt.« Und:
»Ich sehe keinen Grund, warum wir Politiker
brauchen.« Landemore findet, was wir heut-
zutage unter Demokratie verstünden, sei
undemokratisch, eine Fehlkonstruktion aus
dem 18. Jahrhundert. Und tatsächlich ist mehr
als die Hälfte der Deutschen unzufrieden da-
mit, wie die Demokratie funktioniert. In ande-
ren Ländern ist das Misstrauen noch größer.
Landemore hat jahrelang darüber nachge-
dacht, wie man die Demokratie reparieren
lernte, desto größer wurden ihre Zweifel.
Die westliche Philosophie, sagt sie, glaube
seit Platon, dass Menschen mehrheitlich irra-
tional, apathisch und ignorant seien. Deshalb
hielten wir es für unvermeidlich, dass eine
gewählte Elite – Berufspolitiker – Entschei-
dungen treffe. Doch diese seien eine Min-
derheit mit eigenem Kalkül und beschränktem
Blickwinkel. »Narzissten und Psychopathen
sind da überrepräsentiert«, sagt sie, »aber selbst
gute Politiker genießen das Rampenlicht zu
sehr. Und die Macht korrumpiert sie.«
Deshalb will Landemore alle Macht dem
Volk geben. Sie nennt ihre Vision open demo-
cracy, offene Demokratie. Es gibt darin weder
Wahlen noch Politiker. Bürgerinnen und
der Demokratie? Und wer soll das neue System und die nächste Pandemie kommt sicher. Die
einführen – die Politiker, die sich damit selbst Gesellschaften müssen anpassungsfähig wer-
abschaffen? Landemore lächelt fein und erzählt den. Aufräumen lernen.
von einem Experiment, das sie als Expertin Nun könnte man meinen, hier sei ein
begleitet: ein Bürgerrat, von der französischen Linker oder Rechter mit Fantasien vom gro-
Regierung beauftragt, Vorschläge für ein Gesetz ßen Entlastungsstaat unterwegs. Totalitär ent-
zur Sterbehilfe zu erarbeiten. Ähnliche Initia- politisieren! Aber das wäre ein Irrtum. Denn
tiven gab es in den letzten Jahren auch schon Staab stellt sich eine Gesellschaft vor, die nicht
in Island, Finnland, Belgien, Irland und bloß entlastet werden, sondern mitwirken
Deutschland – mit gemischtem Erfolg, auch will. Das kann sie erst, wenn die Grundver-
weil die Politik oft die Umsetzung verweigerte. sorgung gesichert ist. Staabs Modellbeispiel:
Aber die Versuche mehrten sich, sagt Lande- das Technische Hilfswerk massiv erweitern,
more, weil die Menschen danach verlangten. indem man Ehrenamtliche dort steuerlich
Sie hofft, dass eine Bewegung entsteht: »Ich radikal entlastet. »Krisendruck erzeugt Hand-
kann nicht voraussagen, wie schnell der Wandel lungsfähigkeit«, das ist so ein Staab-Satz wider
kommt. Aber er kommt.« SAMIHA SHAF Y die Ohnmacht. ELISABETH VON THADDEN

Cassian Schmidt, Philipp Staab,

Landschaftsarchitekt Soziologe
aus Weinheim aus Berlin
ANZEIGE
Hauptstadt Summit
House of Pharma
& Healthcare
»Die Natur ist unser Kapital,
das wir vermehren müssen!«
Dass der berühmteste Corona-
Impfstoff der Welt, entwickelt vom
Mainzer Unternehmen Biontech,
das Renommee Deutschlands als
Schauplatz von Forschungs- und
Innovationskraft gestärkt hat, ist
unbestritten. Ob aber die gesund-
heitspolitischen Weichen so ge-
stellt sind, dass dieser Stand-
ort international konkurrenzfähig
bleibt, zählte zu den kontroversen
Fragen beim Hauptstadt-Gipfel des
House of Pharma & Healthcare.
Ende November lud das Netzwerk,
an dem das Land Hessen, Hoch-
schulen und zahlreiche Unter-
nehmen beteiligt sind, gemeinsam
mit dem ZEIT-Verlag 17 Gäste aus
Industrie, Wissenschaft und Politik
zur Hauptstadt-Ausgabe einer der
führenden Pharmakonferenzen.
Über 100 Besucher*innen aus ganz
Deutschland waren angereist, um
sich in der hessischen Landesver-
tretung in Berlin einen Tag lang
über die zentralen Themen der
Branche auszutauschen.
In Hinblick auf die Grundsatz-
frage nach der Zukunftsfähigkeit
des deutschen bzw. europäischen
Marktes befürchtete Olaf Weppner
von AbbVie Deutschland einen
»massiven Einschnitt« für die Inno-
Plädoyer für ein fächerübergreifendes Denken:
Jochen Maas, Geschäftsführer Forschung
und Entwicklung von Sanofi Deutschland.
vationskraft der Pharmaindustrie
– und bezog sich auf das jüngst
beschlossene GKV-Finanzstabili-
sierungsgesetz. Diese neue Ver-
ordnung schränke die Branche bei
der Bewertung von Innovationen
in großem Maße ein und bringe ein
austariertes System ins Stocken,
mahnte der Vice President und
General Manager Commercial Ger-
many. Was geschieht, wenn Inves-
titionen nicht angemessen rück-
vergütet würden, habe sich bereits
im Umgang mit den Generika er-
wiesen. »Jetzt müssen wir fest-
Wo stehen wir bei Antibiotikaresistenzen, Zoonosen und der Pandemieprävention? Fragen rund um den »One Health«-
Ansatz stellte ZEIT-Redakteur Jan Schweitzer seinen Gästen (v."li."n."r): Holger Bartz (Janssen-Cilag GmbH), Andreas Mulch
(Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt/Main), und Jochen Maas (Sanofi Deutschland).
In Zusammenarbeit mit: Veranstalter:
stellen, dass Deutschland als Ab-
satzmarkt möglicherweise nicht
mehr attraktiv ist und wir im inter-
nationalen Wettbewerb depriori-
siert werden«, meinte der Ge-
schäftsführer von AbbVie. Denn
um Versorgung dauerhaft sicher-
stellen und dafür sorgen zu kön-
nen, dass sowohl generische als
auch innovative Präparate zur
Verfügung stehen, müsse die Un-
abhängigkeit gewahrt bleiben.
Seine Kritik: Dass im generischen
Bereich ein Großteil der aktiven
pharmazeutischen Wirkstoffe (APIs)
heute außerhalb Europas produ-
ziert wird, habe man bewusst in
Kauf genommen. Im Bereich inno-
vativer Medikamente dagegen
würden die Substanzen überwie-
gend hierzulande oder in den USA
hergestellt: »Da haben wir bewusst
multiple Partnerschaften aufge-
setzt, die es gestatten, im Fall von
Engpässen alternative Lieferketten
zu nutzen.«
In der klinischen Forschung ist
Deutschland von Platz zwei
auf Platz sechs abgerutscht.
Dass beim Thema Fachkräfte der
deutsche Arbeitsmarkt »noch« zu
den großen Stärken des Standorts
zähle, sei kein Garant für die Zu-
kunft, so Weppner. Und: Die lang-
jährige Absichtserklärung, den bio-
pharmazeutischen Bereich aus-
bauen zu wollen, um darin weltweit
führend zu werden, passe mit den
politischen Entscheidungen der
letzten Zeit, die das Gegenteil be-
wirkt hätten, nicht zusammen. »Das
Ergebnis: In der klinischen For-
schung ist Deutschland von Platz
zwei, auf dem wir vor sechs Jah-
ren standen, auf Platz sechs abge-
rutscht.« Sollten die »systemischen
Probleme« nicht bald gelöst wer-
den, drohe innerhalb der nächsten
Dekade ein Exodus, warnte Wepp-
ner. »Die Technologie aus Europa
wird abwandern und damit auch
die Wertschöpfung sowie die
Fähigkeit, Gesundheitsleistungen
zubezahlen.«AlsweiteresStrukturpro-
blem komme die Überregulierung
hinzu. »Was hat sich getan, seit
wir darüber sprechen? So gut wie
nichts. Wir müssen 17 Datenschutz-
verordnungen beachten und sind
bei vielen Themen sehr viel lang-
samer als die internationale Kon-
kurrenz. Und dieser Abstand wächst
kontinuierlich.«
Dass auch die Bundesregierung
ein großes Interesse am Austausch
von Gesundheitsdaten hat, betonte
Thomas Müller, Abteilungsleiter
mit freundlicher Unterstützung:
29. November 2022
Hessische Landesvertretung
Berlin
Arzneimittel, Medizinprodukte und
Biotechnologie vom Bundesminis-
terium für Gesundheit. Allerdings
kämpfe man dabei gegen gesell-
schaftliche Widerstände, die un-
ter anderem auf Mentalitätsunter-
schiede in Europa zurückgingen.
So sei zum Beispiel in skandinavi-
schen Ländern die Akzeptanz für
die Digitalisierung des Gesundheits-
wesens deutlich stärker ausgeprägt.
»Es gehört Vertrauen dazu, dass
der Staat mit den Gesundheitsdaten
etwas Sinnvolles macht, und daran
fehlt es hierzulande.« Als Replik
auf die Kritik Weppners am GKV-
Finanzstabilisierungsgesetz zeigte
sich der Politiker überzeugt, dass
Deutschland auch weiterhin als
Innovationsstandort attraktiv bleibe.
Abteilungsleiter im BMG
Thomas Müller: »Das Prinzip:
Der Günstigste takes it all ist
unproduktiv.«
Und wie kam es zu dem Gesetz?
Die Bundesregierung sei »unisono«
der Auffassung, dass zwischen dem
generischen und dem patentge-
schützten Markt eine »Disbalance«
besteht, sodass man erstmals seit
Inkrafttreten des Gesetzes zur Neu-
Was tun, wenn Menschen zwar für Smartphones und Autos hohe Summen zu zahlen bereit
sind, nicht aber für Arzneimittel? Thomas Müller (Abteilungsleiter Arzneimittel, Medizin-
produkte, Biotechnologie) vom BMG (re.), im Gespräch mit Daniel Erk (freier ZEIT-Journalist).
ordnung des Arzneimittelmarktes
(AMNOG) im Jahr 2011 die Preis-
bildung für die Patent-Arzneimittel
neu angepasst habe. »Die Idee
dieser AMNOG-Strukturreform war,
die großen, starken Innovationen
weiter zu stärken, sprich: die Preise
oben offenzuhalten – und die klei-
nen Innovationen, die das AMNOG-
System identifiziert, mit einem
Preisanker zu versehen – dem einer
patentgeschützten Vergleichsthera-
pie.« In einem zweiten Schritt werde
man die Bedingungen für die Ge-
nerika – »Stichwort: Lieferengpass-
Heilsbringer und Abschöpfer? Über den Ruf der Pharmabranche in der Pandemie diskutierten: Klaus Cichutek (Präsident
des Paul-Ehrlich-Instituts), Susanne Herold (Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM)), Georg Kippels (Mitglied im
Unterausschuss Globale Gesundheit CDU/CSU-Bundestagsfraktion), Daniel Kalanovic (Medical Director, Pfizer Deutschland).
Wie steht es um HERA? Wolfgang Philipp (Mi. li.), stellvertr. Leiter der neuen europäischen Behörde für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheit-
lichen Notlagen, debattierte mit (v."l."n."r.) Andreas Horchler (Journalist) Simone Kardinahl (IDT Biologika) und Olaf Weppner (AbbVie Deutschland).
gesetz« – anpassen. »Man muss das
große Bild sehen: AMNOG und die
Rabattverträge sind der Ersatz für
einen Markt, der sich nicht selbst
reguliert und ungesunde Extreme
ausgebildet hat.« Müllers Argument:
Auf der einen Seite beobachte man
bei den Patent-Neueinführungen,
die in Deutschland unmittelbar
nach Zulassung vergütet werden,
dass der Preis sehr stark nach oben
schießt. Auf der anderen Seite gebe
es für 80 Prozent der Verordnungen
im Generika-Bereich mit Fest- und
Rabattverträgen zwar sehr mäch-
tige Preis-Instrumente, aber auch
ungewollte Nebenwirkungen: Das
Prinzip »Der Günstigste takes it
all« sei langfristig kontraproduktiv,
versicherte Müller. Und was die
Preisdebatte betrifft, stehe ohne-
hin eine grenzüberschreitende
Konsensbildung aus, ergänzte der
Politiker: »Wenn wir als Gesell-
schaft für das neueste iPhone oder
den Tesla hohe Kosten auf uns
nehmen, aber nicht bereit sind,
für Arzneimittel bestimme Aus-
gaben zu zahlen, müssen wir diese
Diskussion auch in der EU führen.
Denn dann werden wir tatsächlich
abhängig von Importen aus ande-
ren Ländern.«
Einigkeit auf dem Podium gab es
in Hinblick auf die Zielsetzung des
»One Health«-Ansatzes, demzufolge
die Gesundheit von Mensch, Tier
und Umwelt eng verzahnt ist. Für
Jochen Maas, Geschäftsführer For-
schung und Entwicklung von Sanofi
Deutschland, ist damit der Appell
verbunden, auf allen Entscheidungs-
ebenen ein fächerübergreifendes
Denken zu implementieren. So
könne man nicht mehr über Human-
und Tiermedizin sprechen, ohne
Aspekte der Biodiversität, der Klima-
und Migrationsforschung und der
Lieferkettenlogik zu thematisieren.
Neue Imperative ergäben sich zu-
dem angesichts der rasant wach-
senden Erdbevölkerung und des
Klimawandels: Unter anderem, weil
die weltweit steigenden Tempera-
turen zu einer Vervielfachung von
Infektionserregern geführt haben,
könne es sich auch die Pharma-
branche nicht länger leisten, die
Erforschung von Infektionserkran-
kungen zu vernachlässigen. In die-
sem Kontext berichtete der Biologe
und Tiermediziner, dass in Hessen
bereits Schmetterlingsmücken, die
das Dengue-Fieber übertragen, auf-
getaucht sind und in der Freiburger
Gegend Anophelesmücken, deren
Stiche Malaria hervorrufen können.
»Die Natur ist kein Girokonto«,
lautete das Plädoyer von
Holger Bartz (Janssen-Cilag).
Parallel zu den Migrationsbewe-
gungen nehmen nicht zuletzt die
Tuberkulose-Resistenzen zu, was
die Entwicklung von Antiinfektiva
umso wichtiger macht: Neuerungen
auf diesem Gebiet sowie deren Ver-
marktung seien aus zahlreichen
Gründen »alles andere als trivial«,
erklärte Holger Bartz, Head of Me-
dical and Scientific Affairs bei der
Janssen-Cilag GmbH. Umso wich-
Netzwerkpartner:
#HSHOP22
Fotos: © Johannes Walther
tiger sei es, andere Wege einzu-
schlagen und Antibiotikaresistenzen
künftig nicht allein mit Antibiotika
zu behandeln. »Wie andere Unter-
nehmen verfolgen auch wir phagen-
getriebene Ansätze, die auf Viren
basieren, die die Bakterien ab-
töten.« Derzeit erforsche man die
sogenannten Bakterienfresser, die
in anderen Teilen der Welt bereits
therapeutisch eingesetzt werden,
um sie auf westeuropäische Stan-
dards zu bringen.
Ebenso neu wie diese Therapie-
form war für viele im Publikum auch
die Information, dass mit einer Erd-
Corona-Impfstoffentwicklung in zehn Monaten:
Sierk Poetting (BioNTech) sprach über Erfolgs-
strategien des Biotechnologieunternehmens.
erwärmung von bis zu zwei Grad die
Wahrscheinlichkeit um den Faktor
vier steigt, dass Viren Arten-
schranken überschreiten. Das wie-
derum erhöhe das Risiko neuer
Pandemien um ein Vielfaches, stellte
Jochen Maas von Sanofi Deutsch-
land klar: »Nach jüngsten Schätzun-
gen existieren weltweit um die
80.000 Fledermaus-Viren. Demnach
stehen uns 79.000 Pandemien mög-
licherweise noch bevor.« Diesem
Gefahrenpotenzial könne man nur
mit grundlegenden Verhaltens-
änderungen begegnen; ein Resü-
mee, für das Andreas Mulch, Direktor
am Senckenberg Forschungsinstitut
und Naturmuseum Frankfurt a."M.,
ein einprägsames Bild fand: Um die
fundamentalen Veränderungen mit-
gestalten zu können, sei es un-
abdingbar, die Natur nicht »als Giro-
konto« zu missbrauchen, aus dem
man sich bedienen kann, weil es im
Zweifel wieder aufgefüllt wird. »Wir
müssen uns alle bewusst werden:
Die Natur ist unser Kapital, von dem
wir leben und das wir vermehren
müssen, um deren Leistungen weiter
in Anspruch nehmen zu können!«
Die 12. Jahrestagung House of
Pharma & Healthcare findet am
11. und 12. September 2023 im
Casino-Gebäude der Goethe-
Universität in Frankfurt statt.
ein Event von:
 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2 34

STELLENMARKT
Die Position:
Wer Mathe lehren will, muss von Praktikern lernen!
Die Lehrerausbildung in Mathematik hat immer weniger mit dem Unterrichtsalltag zu tun. Missglückte Schulstunden sind die Folge VON JENS WEITENDORF

Als ich in den Siebzigerjahren Mathematik
studierte, entstand an den Universitäten gerade
eine neue Disziplin: die Didaktik. Getragen
wurde diese zunächst von Fachmathematikern.
Inzwischen hat sich Mathematikdidaktik als
eigenständige Wissenschaft etabliert mit Kar-
rierepfaden, Fachgesellschaften und Zeitschrif-
ten wie dem Journal für Mathematik-Didaktik.
Doch schaut man sich die Veröffentlichungen
der letzten Jahre an, finden sich dort immer
Die Folgen werden eine Ausbildungsstufe Eine Antwort ist die Ausbildung der Aus- kreisen. Eines der beiden Gremien befasst sich
weiter deutlich: bei den Referendarinnen und bilder, also die Karrierewege in den Fachdidak- mit der Einführung digitaler Medien. Gerade
Referendaren. Wenn diesen Mathestunden miss- tiken – und da sind meine Beobachtungen zur für die Digitalisierung des Mathematikunter-
glücken, liegt es oft daran, dass nicht gelingt, was Mathematik wahrscheinlich auf andere Fächer richts wäre es erforderlich, ein Konzept für die
Fachleute »didaktische Reduktion« nennen. Die übertragbar. Praxis zu erarbeiten. Und zu Beginn trafen hier
angehenden Lehrkräfte schaffen es teilweise nicht, Eigentlich müssen Didaktiker, bevor sie an auch schulische Lehrkräfte auf Experten aus
den Stoff für die Unterrichtsstunde zu struktu- die Universität kommen, selbst Lehramt stu- der Fortbildung und Didaktikerinnen und
rieren und ein mathematisches Problem so zu diert und Unterrichtserfahrung gesammelt Didaktiker aus der Hochschule. Inzwischen
vereinfachen, dass es schülergerecht ist. Ich habe haben. Das ist jedoch zunehmend seltener der fehlen jedoch die Praktiker. Ein Grund ist, dass
Referendarinnen und Referendare deshalb hin- Fall. So kann heute in Didaktik promovieren, bei den Veranstaltungen Promovierende ihre

seltener direkte Bezüge zur Schulpraxis. Gro-
ßen Raum in den Beiträgen nehmen dagegen
theoretische Fragen ein, wie das Forschungs-
design, also die Methoden, mit denen die For-
schung zu ihren Befunden kommt.
Eine ähnliche Praxisferne beobachte ich
schon bei den Studierenden. Zum Beispiel zi-
tieren Masterstudierende in den Hausarbeiten,
die sie zum Ende eines Seminars abzugeben
haben, sauber aus der Literatur. Wenn sie da-
gegen konkretisieren sollen, was das Thema mit
dem Unterricht zu tun hat, haben sie Probleme.
sichtlich ihrer didaktischen Ausbildung befragt.
Tatsächlich waren die Themen ihrer Seminare oft
speziell. Sie ähnelten eher den Inhalten von
Dissertationen und hatten mit praktischem
Unterrichten wenig zu tun.
Schon vor 120 Jahren hat der Göttinger
Mathematiker und Wissenschaftsorganisator
Felix Klein beschrieben, wie schwer es ist, die
Universitätsmathematik für den Schulunter-
richt verdaubar zu machen. Aber genau das ist
die Aufgabe der Didaktik. Warum gelingt ihr
das immer weniger?
Foto: privat
Jens Weitendorf hat fast
40 Jahre lang an Gymnasien
unterrichtet. Zudem promovierte
er in Mathematikdidaktik,
bildete Referendare aus und war
Lehrbeauftragter an
verschiedenen Universitäten
wer lediglich sein Erstes Staatsexamen gemacht
hat. Unterrichtspraxis ist dann oft nur rudi-
mentär vorhanden. Aber selbst wenn ein Refe-
rendariat absolviert wurde, ist fraglich, inwie-
weit die Erfahrungen ausreichen, um künftige
Unterrichtende gut auf ihre Aufgaben in der
Schule vorzubereiten. Denn häufig leiten Pro-
movierende die Seminare für die Studierenden.
Diese Beobachtungen werden von einer Er-
fahrung gestützt, die ich in der Gesellschaft der
Didaktik der Mathematik mache. Dort bin ich
seit rund 25 Jahren Mitglied in zwei Arbeits-
Forschungsvorhaben vorstellen dürfen. Aus
wissenschaftlicher Sicht mag das zu begrüßen
sein. Impulse für den Schulunterricht ergeben
sich daraus meist nicht, weil die Themen zu
speziell sind oder zu selten auf die Umsetzung
im Schulalltag eingehen.
Angesichts dieser Entwicklungen ist offen-
sichtlich, dass sich die Didaktik der Lehrer-
ausbildung nicht weiter verwissenschaftlichen
darf. Sie sollte stattdessen stärker auf die tag-
täglichen Herausforderungen von Lehrkräften
im Unterricht eingehen.

ANZEIGE

Stellenangebot
Kreativität. Können. der Landeshauptstadt Stuttgart

Kommunikation. Konzepte.
Wir suchen für das Bürgermeisteramt Wir sind eine von der Bundesrepublik Deutschland errichtete gemeinnützige Stiftung privaten Rechts und fördern aus Mitteln der Bundes-
regierung den internationalen Austausch von Wissenschaftler*innen. Dem Netzwerk der Stiftung gehören inzwischen über 30.000 Wissen-
baldmöglichst eine*n schaftler*innen aus 140 Ländern an, von denen bereits 59 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Bleibender Sitz der Hauptgeschäfts-
stelle ist Bonn.
Pressesprecher*in (m/w/d)
Auch im neuen Jahr unterstützen wir Sie dabei, Ihr Potenzial zu entfalten! Für das Referat Physik, Ingenieurwissenschaften, Mathematik der Auswahlabteilung suchen wir zum 1. April 2023 einen

Mit uns finden Sie passgenau für jede Stelle die richtigen Köpfe, glänzen
als Employer Brand und überzeugen crossmedial.
Wir bieten eine Stelle (Voll-/Teilzeit, unbefristet)
der Entgeltgruppe 13 TVöD.
Referenten (m/w/d)
Aufgabengebiet:
Kennzahl: BMA/0090/2022
• Erstellen von Einschätzungen der Geschäftsstelle („Votieren“)
Wir danken unseren Kunden für die Zusammenarbeit Bewerbungsfrist: 26.01.2023 • Fächergruppenleitung im Bereich Physik
und wünschen ein glückliches und gesundes Jahr 2023! Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung! • Programmmanagement für das Georg Forster-Forschungspreisprogramm
• Koordination der Pflege der institutionellen Adressen in Deutschland
Ihre Dr. Schmidt & Partner Group
Den vollständigen Ausschreibungstext sowie Einzelheiten zum Weitere Informationen zu den Arbeitsbedingungen und zum Bewerbungsverfahren können Sie unserer Internetseite entnehmen. Die Stelle
Bewerbungsverfahren finden Sie unter ist unbefristet zu besetzen.
Wir fördern die Gleichstellung und begrüßen daher alle Bewerbungen, unabhängig von ethnischer, kultureller oder sozialer Herkunft, Alter,
www.stuttgart.de/stellenangebote Religion, Weltanschauung, Behinderung oder sexueller Identität.
Fühlen Sie sich angesprochen? Dann bewerben Sie sich bitte mit den üblichen Unterlagen (Bewerbungsanschreiben, Darstellung des
schulischen und beruflichen Werdegangs, Schulabschlusszeugnisse, Arbeitszeugnisse, Nachweise beruflicher Qualifikationen) bis zum
29. Januar 2023 über unser Online-System:
https://www.humboldt-foundation.de/karriere
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an die Alexander von Zertifiziert nach
ISO 9001 und ISO 14001
Humboldt-Stiftung, Personalreferat, Claudia Büsgen, Registrier-Nr. 1145 und 1229

Telefon 0228 833-522.

Die Jobchancen gehen Exzellenz verbindet – be part of a worldwide network.

www.humboldt-foundation.de

Ihnen nicht aus

Stark im Stellenmarkt
Weitere Jobs finden

www.drsp-group.com

DAS DUALE HOCHSCHULSTUDIUM

MIT ZUKUNFT.

Die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) ist mit 16 akkreditierte Studiengänge der Fakultäten Wirtschaft und
rund 34.000 Studierenden an 12 Standorten und 9.000 ko- Sozialwesen führen nach drei Jahren zu den Abschlüssen
operierenden Unternehmen sowie sozialen Einrichtungen die Bachelor of Arts bzw. Bachelor of Science mit 210 ECTS-Punkten.
größte Hochschule des Landes. Berufsintegrierende und berufsbegleitende Masterstudien-
Zwischen Schwarzwald und Bodensee liegt die DHBW Villingen- gänge gehören ebenso zum Angebot.
Im Studiengang Sozialmanagement ist zum 1. Oktober 2023 folgende Die Evangelische Akademie Hofgeismar sucht zum 1. April 2023 Schwenningen mit 2.500 Studierenden.
Stelle in Vollzeit zu besetzen:
eine*n Studienleiter*in (m/w/d) DIE DHBW VILLINGEN-SCHWENNINGEN SUCHT ZUM NÄCHSTMÖGLICHEN ZEITPUNKT EINE*N:
Professur für Sozialmanagement (W2) für das Ressort Nachhaltigkeit & Politische Ökologie
Die Jobchancen
Die ausführliche Stellenausschreibung finden Sie unter:
www.hs-nordhausen.de/karriere/stellenangebote
Die Vergütung erfolgt nach Entgeltgruppe 13 TV-L. Die Stelle ist auf fünf
Jahre befristet. Eine Verlängerung ist möglich. Dienstsitz ist Hofgeismar. gehen Ihnen Akademische*n Mitarbeiter*in
(m/w/d), Teilzeit 50 %, unbefristet
Die vollständige Stellenausschreibung mit Anforderungsprofil kann über
Ihre Bewerbung senden Sie vorzugsweise per E-Mail die Homepage https://www.akademie-hofgeismar.de/aktuell/index.php nicht aus
unter 223732-20 bis 21. Februar 2023 (Posteingang) an: abgerufen werden.
Hochschule Nordhausen – Der Präsident Kennziffer VS-01-2023
Bewerbungsschluss 31. Januar 2023.
Postfach 10 07 10, 99727 Nordhausen Weitere Jobs
E-Mail: bewerbung@hs-nordhausen.de Das Beschäftigungsverhältnis richtet sich nach dem Tarifvertrag der Länder (TV-L).
finden Sie auf
Bewerbungsschluss ist der 28.01.2023.
www.hs-nordhausen.de Den ausführlichen Ausschreibungstext finden Sie unter: www.dhbw-vs.de/stellenangebote

ZEIT STELLENMARKT
An der Fachhochschule Potsdam sind im Fachbereich Design zum Sommersemester
2024 die

Professur (W3)
»Designtheorie und Designforschung«
Kennziffer 01/2023
Auf der Suche nach neuen KollegInnen?
in Vollzeit mit einem Umfang von 18 Semesterwochenstunden Lehre und zum Winter- An der Theologischen Hochschule Elstal ist zum Schalten Sie schnell und unkompliziert Ihre Print-Online-Stellenanzeige: stellenmarkt@zeit.de.
semester 2023/24 die Wintersemester 2023/24 zu besetzen: Wir beraten Sie gern.
Professur (W2) »Redaktionelle Gestaltung« 50%-Professur für Altes Testament
Kennziffer 02/2023
in Vollzeit mit einem Umfang von 18 Semesterwochenstunden Lehre zu besetzen. Die Bewerbungsfrist endet am 15. Januar 2023.
Die ausführlichen Ausschreibungstexte finden Sie auf unserer Homepage unter:
www.fh-potsdam.de/hochschule-karriere/karriere/stellenangebote-fh-potsdam Weitere Informationen: www.th-elstal.de
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023 STELLENMARKT 35

Die Zahl 3½ Fragen an: Andreas Dengel

19 % 1.
Was brauchen Sie heute im Beruf,
was Sie im Studium nicht gelernt haben?
Improvisation. Im Lehramtsstudium lernt man
2.
Was hat Sie während eines akademischen
Auslandsaufenthaltes besonders beeindruckt?
Die Herzlichkeit mancher Menschen am
3.
Lektüre muss sein. Welche?
Discovering Statistics Using IBM SPSS Statistics
von Andy Field. Das ist auch immer meine
3½.
Und sonst so?
Ich möchte mehr lesen!
In meinem Forschungsfeld
betrug der Frauenanteil meist, wie die Dinge im Idealfall funktionieren.
Heute habe ich oft das Gefühl, dass der größte
anderen Ende der Welt. Zu Beginn meiner Pro-
motion hat mich mein damaliger Doktorvater
Antwort auf die Frage, bei welchem Buch ich
zuletzt geweint habe. Warum? Durch die
»Lernen mit Virtual
Reality« bekomme ich vie-
im Jahr 2021 bei Teil meines Berufslebens aus Sonderfällen und
Behelfslösungen besteht. Die Fähigkeit,
Tim Bell zu sich nach Christchurch, Neusee-
land, eingeladen. Ich habe dort einige Wochen
Lektüre bekam ich einen umfassenden Einblick
in die quantitative Forschungsmethodik. Aber
les nicht mit, weil ich auf
eigene Projekte fixiert bin.
den Promotionen in immer wieder umzudenken, neue Wege zu
finden und alte Muster aufzubrechen, kann für
bei seiner Familie gewohnt, sogar mit ihr
Weihnachten gefeiert. Tim hatte mich zuvor
das war fast Nebensache, weil ich während des
Lesens immer wieder Tränen lachen durfte.
Ingenieurwissenschaften den Erfolg im Berufsleben gar nicht genug
betont werden. Gefördert werden kann diese
kein einziges Mal gesprochen, geschweige denn
gesehen – wir hatten einander nur geschrieben.
Witzig, informativ und fachlich anspruchsvoll
in einem. Welches Buch schafft das schon?
Andreas Dengel, 29, ist
Professor für Didaktik der
Fähigkeit übrigens schon von klein auf, unter Diese Offenheit erstaunt mich immer noch. Informatik an der Goethe-
Quelle: Statistisches Bundesamt anderem durch guten Informatikunterricht. Genauso ist es mit den Pinguinen dort. Universität Frankfurt a. M.

ANZEIGE Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter ZEIT WISSEN³ unter www.zeit.de/wissendrei

Hamburg University of Technology (TUHH) invites applications for the following position
in the School of Electrical Engineering, Computer Science and Mathematics:

PROFESSORSHIP (W3)
Der Deutsche Akademische Austauschdienst e. V. (DAAD) ist die weltweit größte Förder-
IN THE FIELD OF organisation für die grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit und den inter-
nationalen Austausch von Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

NETWORKED CYPER-PHYSICAL SYSTEMS

Seine Mitglieder sind die deutschen Hochschulen und ihre Studierendenschaften.

Ref. No. P2304
TUHH is looking for applicants to represent Networked Cyber-Physical Systems (CPS)
in research and teaching. Qualified applicants are expected to have an excellent inter-
national track record in fundamental research as well as a strong interest in interdiscipli-
nary collaborations with engineering working groups at TUHH. We particularly welcome
applications from scientists with a research focus preferably but not necessarily limited
to one or more of the following topics:
•
•
Distributed systems and distributed algorithms for networked CPS
Edge and fog computing for CPS
• Networked CPS for smart systems, the Internet of Things, and other application
For the full job posting with information areas
on teaching, gender equality, hiring • Real-time, time-sensitive and/or resilient networks and protocols for
requirements, and a link to CPS communication
the application portal, please visit • Novel aspects such as network technology integrating sensing and
tuhh.de/faculty-recruiting energy-efficiency aspects
• Cross-layer management of networked CPS
The deadline for applications
is 9 February 2023. As the head of the future Institute of Networked CPS, the successful candidate is expected
to offer courses in Computer Science, Computer Science in Engineering, Data Science,
and Information and Communication Systems both at the undergraduate and graduate
level, and to engage in the further development of the curricula offered by TUHH. Specif-
ically, basic courses on computer and communication networks and distributed systems
will fall under the responsibility of the institute. Courses are taught in English and German;
for non-German speakers, a willingness to learn German is expected.
TUHH.DE This professorship is due to commence in the winter term 2023/2024.
An der Universitätsmedizin Greifswald, rechtsfähige Teilkörperschaft der Universität Greifswald,
ist eine
An der Katholischen Hochschule Mainz, Hochschule für Soziale Arbeit und W2-Professur für Physiologie (m/w/d)
Sozialwissenschaften, Praktische Theologie sowie Gesundheit und Pflege, am Institut für Physiologie zu besetzen. Die Professur ist zunächst befristet auf 5 Jahre mit
Catholic University of Applied Sciences Mainz, ist zum 01. September 2023 im Tenure Track.
Fachbereich Praktische Theologie folgende Stelle (m/w/d) zu besetzen:
Gesucht wird ein*e international ausgewiesene*r Wissenschaftler*in in einer frühen Karriere-
Professur für phase, der*die das Fach Physiologie in Forschung und Lehre vollumfänglich vertritt.
Zu den Dienstaufgaben gehören die Beteiligung an der Organisation und Lehre im Fach
Exegese und Theologie der Bibel Physiologie für Studierende der Humanmedizin und Zahnmedizin sowie die Beteiligung an
der Lehre für Studierende naturwissenschaftlicher Fächer, insbesondere der Pharmazie und
Die Anstellung erfolgt im Angestelltenverhältnis, die Vergütung in Anlehnung an Humanbiologie. Der*Die Stelleninhaber*in soll die Forschungsinteressen der bestehenden
Bes.-Gruppe W2 LBesG Rheinland-Pfalz. Arbeitsgruppen des Instituts für Physiologie komplementieren und die Forschungsschwerpunkte
der Universitätsmedizin und Universität Greifswald verstärken (Community Medicine, Molekulare
Nähere Informationen unter: https://www.kh-mz.de/stellenangebote .
Medizin, Individualisierte Medizin, Infektion und Entzündung). Die Vernetzung mit den Zentren
Ihre Bewerbung mit aussagekräftigen Unterlagen richten Sie bitte an den der Gesundheitsforschung (DZHK, DZNE, DZKJ) und dem Helmholtz-Institut für One Health
Rektor der Katholischen Hochschule Mainz, Herrn Prof. Dr. Ulrich Papenkort, (HIOH) ist ebenfalls erwünscht.
Saarstr. 3, 55122 Mainz. Ihre Bewerbung senden Sie bitte als eine einzelne
Das ausführliche Stellenangebot finden Sie unter https://berufung-umg.med.uni-greifswald.de
pdf-Datei (max. 28 MB) an rektorat@kh-mz.de bis zum 09.02.2023.
(Offene Professuren). Wir möchten darauf hinweisen, dass die Bewerbung webbasiert erbeten
wird. Für Fragen und weitere Informationen stehen wir Ihnen unter
dekanat@med.uni-greifswald.de gern zur Verfügung.
Die Ausschreibung endet am 17.02.2023
BITTE BEACHTEN Universitätsmedizin Greifswald – KdöR –
Wissenschaftlicher Vorstand/Dekan
Anzeigen- / Druckunterlagenschluss Print-Online-Stellenanzeigen: Fleischmannstraße 8, 17475 Greifswald
Die aus Mitteln des Auswärtigen Amtes und mit einem KMK-Fonds für studentische Zwecke
finanzierte Fondation de l’Allemagne – Maison Heinrich Heine (MHH) in Paris ist der
Geschäftsstelle des DAAD in Bonn angegliedert. Die 1956 eröffnete MHH hat als deutsches Haus
in der Cité internationale universitaire de Paris einen Doppelcharakter als Wohnheim für 104
deutsche und ausländische Studierende und Nachwuchswissenschaftler sowie als Veranstalter
eines umfangreichen Kulturprogramms mit großer Ausstrahlung.
Zum 1. August 2023 ist die Stelle der
Direktorin bzw. des Direktors
der Fondation de l’Allemagne –
Maison Heinrich Heine
neu zu besetzen.
Aufgaben:
Die MHH ist eine Stiftung nach französischem Recht und wird von einem deutsch-französischen
Verwaltungsrat unter Vorsitz des deutschen Botschafters in Paris verwaltet. Das Haus bietet ein
breites Programm mit jährlich mehr als 150 Veranstaltungen in Form von Podiumsdiskussionen,
Kolloquien und Seminaren, Lesungen, Filmvorführungen und Konzerten, das in der Pariser
Region und darüber hinaus ein hohes Ansehen genießt.
Als Direktorin / Direktor sind Sie für die Konzeption und Durchführung des Kultur- und Veran-
staltungsprogramms zuständig und tragen die Verantwortung für das administrative Manage-
ment (Personal, Budget, interne Organisation sowie Bauunterhalt). Darüber hinaus obliegen
Ihnen die pädagogische Leitung des Hauses, die Auswahl und Betreuung der Studierenden, die
Arbeit der Gremien der MHH sowie die Vertretung des Hauses in den Gremien der Cité inter-
nationale universitaire de Paris.
Für diese verantwortungsvolle Position wird eine Persönlichkeit mit außerordentlicher fach-
licher Qualifikation und persönlicher Ausstrahlungskraft gesucht.
Voraussetzungen:
• Abgeschlossenes Hochschulstudium mit Promotion
• Exzellente Kenntnisse der französischen Sprache sowie gute Englischkenntnisse
• Mehrjährige Verwaltungserfahrung und -verantwortung
• Mehrjährige Erfahrung im Kulturbereich und im Veranstaltungsmanagement
• Sehr gute Kenntnisse der Gegenwartskultur Deutschlands und Frankreichs
• Ausgeprägte soziale und kommunikative Kompetenz und überzeugendes Auftreten
• Möglichst mehrjährige Auslandserfahrung
Die Direktorin / Der Direktor wird vom Verwaltungsrat der Fondation de l’Allemagne – Maison
Heinrich Heine gewählt und für eine Dauer von zwei Jahren mit einer Verlängerungsmöglichkeit
für drei weitere Jahre ernannt und bei Vorliegen der dafür notwendigen Voraussetzungen vom
DAAD entsandt. Die Vergütung richtet sich in diesem Fall nach EG 14 TVöD mit entsprechender
Auslandszulage. Eine Dienstwohnung im Haus wird gestellt. Es besteht Residenzpflicht.
Der DAAD fördert die Gleichstellung und begrüßt ausdrücklich Bewerbungen unabhängig von
ethnischer, kultureller oder sozialer Herkunft, Alter, Religion, Weltanschauung, Behinderung
oder sexueller Identität der Kandidatinnen und Kandidaten. Ihre schriftliche Bewerbung
(Motivationsschreiben und CV in deutscher und französischer Sprache) richten Sie bitte in
elektronischer Form bis zum 31. Januar 2023 an karriere@daad.de.
Die IU Internationale Hochschule ist Deutschlands größte Hochschule. Als dynamisch
wachsende, akkreditierte, private Hochschule sind wir mit über 100.000 Studierenden
und 3.000 Mitarbeitenden an mehr als 40 Standorten bundesweit vertreten.
Für unser Duales Studium an unseren deutschlandweiten Standorten suchen wir
in Voll- oder Teilzeit für das kommende Sommersemester
PROFESSOREN (M/W/D)
in den folgenden Fachbereichen:
Business Intelligence
Maschinenbau
Medieninformatik
Für unser Fernstudium (Online-Lehre) suchen wir in den Fachbereichen:
Die Universität Hohenheim ist eine innovative und forschungsstarke Campus-
universität im Süden Stuttgarts, die mit ihrer agrar- und naturwissenschaftlichen
sowie wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Ausrichtung ein einzigartiges
Forschungs- und Lehrprofil aufweist. Mit ihren rund 9000 Studierenden und ca.
2000 Mitarbeitenden gehört die Universität Hohenheim als familienfreundlich
zertifizierte Universität zu den attraktivsten Arbeitgebern der Region.
An der Universität Hohenheim ist zum 1. April 2024 die Stelle
DER REKTORIN /
DES REKTORS (m/w/d)
(Besoldungsgruppe W3)
zu besetzen.
Die Rektorin/der Rektor vertritt die Universität nach innen und außen.
Die Universität Hohenheim sucht für diese verantwortungsvolle Position
eine gestaltungsfreudige und hochschulpolitisch erfahrene Persönlichkeit
mit einschlägiger Leitungserfahrung. Es wird erwartet, dass die Rektorin/
der Rektor sich durch strategisches und innovatives Handeln auszeich-
net, sehr gute kommunikative und integrative Fähigkeiten aufweist, über
fundierte und auch internationale Kenntnisse und Erfahrungen aus dem
Hochschulbereich sowie Managementkenntnisse verfügt. Ein hohes Maß
an analytischem Denken, Verhandlungsgeschick, Führungskompetenz, In-
novationsfähigkeit sowie Kooperations- und Vernetzungsbereitschaft nach
innen und außen sind erforderlich für die Wahrnehmung der Aufgabe, das
Profil der Universität weiter zu schärfen und ihre nationale und interna-
tionale Sichtbarkeit zu erhöhen.
Zur Rektorin/zum Rektor kann bestellt werden, wer der Hochschule haupt-
beruflich als Professorin/Professor angehört oder wer eine abgeschlosse-
ne Hochschulausbildung besitzt und aufgrund einer mehrjährigen leitenden
beruflichen Tätigkeit, insbesondere in Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Ver-
waltung oder Rechtspflege erwarten lässt, dass sie oder er den Aufgaben
des Amtes gerecht werden kann. Stellung, Aufgaben und Befugnisse erge-
ben sich aus § 17 Landeshochschulgesetz Baden-Württemberg.
Die Rektorin/der Rektor ist Beamtin/Beamter auf Zeit (soweit nicht durch
Vertrag ein befristetes Dienstverhältnis begründet wird). Die Amtszeit be-
trägt sechs bis acht Jahre, die endgültige Entscheidung darüber trifft der
Universitätsrat. Wiederwahl ist möglich. Der Amtsinhaber bewirbt sich er-
neut.
Die Besoldung richtet sich grundsätzlich nach der Besoldungsgruppe W3.
Die vorgesehenen Leistungszulagen entsprechen der herausgehobenen
Stellung des Amtes.
Die Universität Hohenheim strebt eine Erhöhung des Frauenanteils in
Führungspositionen an. Frauen werden ausdrücklich um ihre Bewerbung
gebeten. Schwerbehinderte werden bei gleicher Eignung bevorzugt be-
rücksichtigt.
Bitte richten Sie Ihre Bewerbung an die Vorsitzende des Universitätsrats
der Universität Hohenheim, Frau Dr. Susanne Herre (persönlich), Ge-
schäftsstelle des Universitätsrats, Schloss Hohenheim 1, 70593 Stuttgart.
Gerne nehmen wir Ihre Bewerbung bis zum 15.02.2023 über das
Onlineportal der Universität Hohenheim www.uni-hohenheim.de/
stellenangebote entgegen.
www.uni-hohenheim.de

Montag der Erscheinungswoche, 14 Uhr Business & IT

Andrea.Brandhoff@zeit.de
Business Intelligence
040/32 80396 Cyber Security
Außerdem suchen wir
DOZENTEN (M/W/D) auf Honorarbasis in Voll- oder Teilzeit
in den folgenden Fachbereichen:
Wirtschaftsmathematik TALENTE TECHNIK ZUKUNFT
Statistik
Wir freuen uns auf Ihre Online-Bewerbung unter
Am Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften sind zum www.iu-careers.com.
nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Professuren (m/w/d) zu
besetzen: Die Technische Hochschule Mittelhessen gehört mit über 18.000
Studierenden zu den größten Hochschulen für angewandte Wissen-
Sozialpädagogik mit Schwerpunkt schaften in Deutschland.

Rassismusforschung Die neu geschaffene Abteilung Bau & Facility Management des Alfred-
Wegener-Instituts sucht zum nächstmöglichen Zeitpunkt die
Zur Verstärkung unseres Kollegiums ist am Campus Gießen im
Fachbereich Maschinenbau und Energietechnik (ME) zum nächst-
(Bes. Gr. W2) möglichen Zeitpunkt folgende Stelle zu besetzen:
KONTAKT FÜR ANZEIGENKUNDEN Leitung (m/w/d) - Planen, Bauen und Betreiben
Sportwissenschaft mit Schwerpunkt von Gebäuden für die Forschung
Sie möchten Ihre Anzeige elektronisch übermitteln und W2-PROFESSUR
haben noch Fragen? Dann rufen Sie uns gerne an oder schreiben uns: Sport und Gesellschaft Die Stelle ist unbefristet und wird in Vollzeit ausgeschrieben. Die Tätig- mit dem Fachgebiet

0931 / 6001758
keit eignet sich auch für eine Beschäftigung in Teilzeit. Die Vergütung KONSTRUKTION UND SIMULATION
(Bes. Gr. W2) ist abhängig von Ihrer Qualifikation sowie den Ihnen übertragenen Auf- Bewerbungsende: 05. Februar 2023
gaben bis Entgeltgruppe 15 möglich und richtet sich nach dem Tarifvertrag Ref. Nr. B 22-004
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen richten Sie bitte bis für den öffentlichen Dienst des Bundes (TVöD-Bund). Der Dienstort ist
zum 08.02.2023 in elektronischer Form (in einer PDF-Datei) Bremerhaven. Detaillierte Informationen zu der zu besetzenden Professur – ins-
1 zeit@anzeigeneingang.de und unter gesonderter Beifügung des Vordrucks „Bewerbungsprofil“ besondere die sich aus den §§ 67 und 68 HHG ergebenden Ein-
Bewerben können Sie sich bis zum 20. Januar 2023 stellungsvoraussetzungen des Landes Hessen – entnehmen Sie
Informationen zum Datenversand per Upload finden Sie unter: an den Dekan des Fachbereichs Erziehungs- und Kulturwissen- ausschließlich online. bitte unserer Homepage unter: karriere.thm.de
5 www.anzeigeneingang.de schaften der Universität Osnabrück, Herrn Prof. Dr. Christian Referenznummer: 22/189/G/Dir-u
Reintjes, unter der folgenden E-Mail-Adresse: dekanat-fb-03@ Eine detaillierte Stellenbeschreibung finden
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist uns ein
uni-osnabrueck.de. Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung. Anliegen. Im Rahmen des audits „familiengerechte
Sie über diesen QR-Code: Hochschule“ arbeiten wir an der Weiterentwicklung
Weitere Informationen finden Sie unter: entsprechender Strukturen.
www.uni-osnabrueck.de/stellenangebote
DAS DUALE HOCHSCHULSTUDIUM
MIT ZUKUNFT.
Die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) ist mit rund 34.000 Studierenden an
9 Studienakademien und 3 Campus sowie dem Center for Advanced Studies die größte
Hochschule Baden-Württembergs. Gemeinsam mit 9.000 ausgewählten Unternehmen
sowie sozialen und gesundheitsnahen Einrichtungen sorgt die DHBW für einen in Theorie
und Praxis exzellent qualifizierten Fach- und Führungskräftenachwuchs in den Bereichen
Wirtschaft, Technik, Sozialwesen und Gesundheit.
Als einer von 9 Standorten der DHBW hat die Duale Hochschule Heidenheim ihren Sitz
im Gebäude Marienstraße 20 nahe dem Bahnhof Heidenheim an der Brenz. Die land-
schaftlich sehr schön gelegene Region Ostwürttemberg liegt zentral zwischen den Bal-
lungszentren Süddeutschlands und dem Alpenvorland an A7 und A8. Für die derzeit ca.
160 Beschäftigten, 900 Lehrbeauftragten und rund 2.400 Studierenden bietet die DHBW
Heidenheim attraktive Arbeits- und Studienbedingungen. Seit Juni 2012 ist sie zudem mit
dem Zertifikat der familiengerechten Hochschule ausgezeichnet.
An der DHBW Heidenheim sind folgende unbefristete Stellen zu besetzen:
Fakultät Wirtschaft
Professur für Wirtschaftsinformatik (W2) (m/w/d)
Kennziffer: 2022-HDH-W-2
Beginn: zum nächstmöglichen Zeitpunkt
Ihre Aufgaben:
Eine der Herausforderungen an Absolvent*innen des Studiengangs Wirtschaftsinforma-
tik wird in den nächsten Jahren die Unterstützung von Unternehmen und Institutionen
bei der digitalen Transformation sein. Neben der Beurteilung von Business Cases gehö-
ren hierzu auch Kompetenzen und Fähigkeiten in den folgenden Themengebieten:
• Entwicklung verteilter Systeme (Architektur, Konzeption, Programmierung,
Sicherheitsaspekte)
• Entwicklung von Unternehmens-IT-Lösungen
• Künstliche Intelligenz, Machine Learning, Deep Learning (Konzepte, Implemen-
tierung, Anwendung)
• Big Data Analytics (Grundlagen aus Mathematik, Statistik und Operations
Research, Implementierung, Anwendungskonzepte)
Weitere Informationen zum Studiengang Wirtschaftsinformatik der DHBW Heidenheim
und den Studieninhalten finden Sie unter:
https://www.heidenheim.dhbw.de/studienangebot/bachelor/wirtschaft/
wirtschaftsinformatik
Ansprechpersonen dieses Verfahrens sind:
Dekan: Prof. Dr. Marcus Hoffmann (marcus.hoffmann@dhbw-heidenheim.de)
Gleichstellungsbeauftragte: Prof. Dr. Andrea Helmer-Denzel
(andrea.helmer-denzel@dhbw-heidenheim.de)
Ihr Profil:
Der*Die Bewerber*in sollte in mindestens einem der unter Aufgaben genannten Themen-
gebieten einen Schwerpunkt haben.
Professur für Allgemeine Betriebswirtschafts-
lehre (W2) (m/w/d)
Kennziffer: 123578
Beginn: zum nächstmöglichen Zeitpunkt
Ihre Aufgaben:
Lehrveranstaltungen sollen schwerpunktmäßig in den nachstehenden Bereichen abge-
deckt werden:
• Allgemeine Betriebswirtschaftslehre,
• Spedition, Transport, Logistik oder
• Produktion, Qualitätsmanagement/Six Sigma, Operations Research
Die Bereitschaft zur Übernahme englischsprachiger Veranstaltungen wird erwartet.
Weitere Informationen zum Studiengang BWL – Spedition, Transport und Logistik der
DHBW Heidenheim und den Studieninhalten finden Sie unter:
https://www.heidenheim.dhbw.de/studienangebot/bachelor/wirtschaft/
bwl-spedition-transport-logistik
Ansprechpersonen dieses Verfahrens sind:
Dekan: Prof. Dr. Marcus Hoffmann (marcus.hoffmann@dhbw-heidenheim.de)
Gleichstellungsbeauftragte: Prof. Dr. Andrea Helmer-Denzel
(andrea.helmer-denzel@dhbw-heidenheim.de)
Ihr Profil:
Gesucht wird eine teamorientiert agierende Persönlichkeit, welche mit überdurchschnitt-
lichem Engagement tatkräftig an der inhaltlichen und qualitativen Weiterentwicklung
des Studienganges BWL – Spedition, Transport und Logistik mitwirkt. Einschlägige be-
rufliche Erfahrungen im Logistikumfeld sowie eine ausgeprägte Affinität zu logistischen
Fragestellungen sind vorteilhaft.
Fakultät Technik
Professur für Wirtschaftsingenieurwesen (W2)
(m/w/d)
Kennziffer: 5/102
Beginn: 01.10.2024
Ihre Aufgaben:
Der Schwerpunkt der Professur liegt auf vernetzten (digitalen) Systemen. Sie
möchten gerne grundlagenorientierte oder auch fachspezifische Module in lebendiger
Form jungen Menschen nahebringen? Der Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen sieht
sich als ingenieurwissenschaftlicher Schnittstellen-Studiengang mit expliziter Ausrich-
tung in Digitalisierung, Wirtschaftswissenschaften und Management, gepaart mit über-
greifender Nachhaltigkeit.
Sie wollen diesen Studiengang in Lehre, angewandter Forschung und ihren Laborein-
richtungen in den Bereichen moderner Digitalisierungsanwendungen, der Mikroprozes-
sortechnik (embedded systems), der Vernetzung in der Fertigung oder im Bereich der
automobiltechnischen Systeme, auch in Kooperation mit unseren ausländischen Part-
nerhochschulen weiterentwickeln?
Dann bewerben Sie sich bei uns, denn wir suchen eine fachlich geeignete, sozial kom-
petente und engagierte Person mit der Bereitschaft, sich in der Fakultät Technik fachlich
und organisatorisch einzubringen und im Team Verantwortung zu übernehmen. Dabei
wäre auch die Übernahme von Managementfunktionen in der Administration unseres
3-kursigen-Studienganges gewünscht. Hier wird auch eine engagierte Kontaktpflege zu
unseren zahlreichen Ausbildungs-Partnerunternehmen erwartet.
Weitere Informationen zum Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen der DHBW
Heidenheim und den Studieninhalten finden Sie unter:
https://www.heidenheim.dhbw.de/studienangebot/bachelor/technik/
wirtschaftsingenieurwesen
Ansprechpersonen dieses Verfahrens sind:
Dekan: Prof. Dr. Andreas Mahr (andreas.mahr@dhbw-heidenheim.de)
Studiengangsleiter: Prof. Dr. Gerrit Nandi (gerrit.nandi@dhbw-heidenheim.de)
Gleichstellungsbeauftragte: Prof. Dr. Andrea Helmer-Denzel
(andrea.helmer-denzel@dhbw-heidenheim.de)
Ihr Profil:
Wenn Sie ein Informatikstudium, ein natur- oder ingenieurwissenschaftliches Hochschul-
studium absolviert und in diesem Fachgebiet auch promoviert haben, dann suchen wir
Sie als teamfähige Persönlichkeit mit Berufserfahrung. Dabei werden Expert*innen im
Bereich der Elektrotechnik, Informationstechnik (Mikroprozessortechnik) oder verwand-
ten Feldern (z. B. Automobiltechnik/Assistenzsysteme/Elektromobilität) bevorzugt.
Einstellungsvoraussetzungen für alle Stellen:
Vorausgesetzt werden gemäß § 47 LHG ein abgeschlossenes Hochschulstudium, be-
sondere wissenschaftliche Befähigung (in der Regel Promotion), pädagogische Eignung
sowie mindestens fünf Jahre berufspraktische Erfahrung, davon mindestens drei Jahre
außerhalb des Hochschulbereichs. Der*Die Bewerber*in muss zudem bereit sein, an der
wissenschaftlichen Entwicklung, insbesondere durch Forschung und wissenschaftliche
Weiterbildung, teilzuhaben. Erwartet wird ein besonderes Maß an Engagement, Koope-
rationsbereitschaft mit den beteiligten Unternehmen und Einrichtungen sowie die Be-
reitschaft zur Gremienarbeit.
Die Einstellung erfolgt bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen im Beamten-
verhältnis auf Probe, andernfalls im unbefristeten Angestelltenverhältnis. Die Übernah-
me in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit als Professor*in (W2) ist in der Regel nach
dreijähriger Bewährung im Beamtenverhältnis auf Probe möglich.
Die DHBW lebt den Mehrwert von Gleichstellung und Diversity und legt großen Wert auf
die Vielfalt ihrer Mitglieder. Die DHBW strebt eine Erhöhung des Anteils von Frauen in
Lehre und Forschung an, daher sind Bewerbungen von Frauen besonders erwünscht.
Menschen mit Schwerbehinderung und diesen gleichgestellte Personen werden bei
gleicher fachlicher Eignung vorrangig berücksichtigt. Die Grundsätze des AGG werden
beachtet.
Bitte senden Sie Ihre Bewerbung bis 31.01.2023 an die Personalverwaltung der
DHBW Heidenheim, Postfach 11 30, 89501 Heidenheim (alternativ per E-Mail als
PDF an: personal@dhbw-heidenheim.de). Bitte beachten Sie, dass Gefährdungen der
Vertraulichkeit und der unbefugte Zugriff Dritter bei einer Kommunikation per unver-
schlüsselter E-Mail nicht ausgeschlossen werden können.
Informationen zum Datenschutz im Bewerbungsverfahren finden Sie unter:
https://www.dhbw.de/datenschutz
Jetzt testen:
Mit rund 8.000 Beschäftigten in den unterschiedlichsten Berufsgruppen ist die
Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz einer der größten
Arbeitgeber in Rheinland-Pfalz. Wir betreuen über 300.000 Patient_innen jährlich -
und sind gleichzeitig eine bedeutende Forschungs- und Ausbildungsstätte. Als
ZEIT LEO
Maximalversorger bieten wir Interessierten vielfältige Möglichkeiten, sich fachlich
und persönlich weiter zu entwickeln.
Wir suchen zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine
Universitätsprofessor_in (m/w/d) für
Diagnostische und Interventionelle
Radiologie
plus Geschenk
Nachfolge Univ.-Prof. Dr. Christoph Düber
(analog Bes.-Gr. W3 LBesG)
Gesucht wird eine international ausgewiesene Persönlichkeit, die das Gebiet
der Diagnostischen und Interventionellen Radiologie in Forschung, Lehre und
Krankenversorgung in seiner Gesamtheit vertritt. Mit der Position ist die Leitung der
Klinik und Poliklinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie verbunden.
Die Klinik und Poliklinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie ist Teil
des zukünftigen Bildgebungszentrums. Die zukünftige Stelleninhaber_in soll die
strategische Weiterentwicklung des Zentrums integrativ und mit eigenen Impulsen
vorantreiben. Daher wird eine kooperative, teamorientierte und gestaltende
Arbeitsweise sowie ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit erwartet. Die außer-
fachlichen Kompetenzen der in die engere Wahl genommenen Kandidat_innen Das Magazin für alle Mädchen und Jungen zwischen
werden im Zuge des Auswahlverfahrens individuell evaluiert; nähere Informationen
ergehen mit der Einladung zum Hearing.
Die zukünftige Stelleninhaber_in bringt sich aktiv in bestehende Forschungs-
7 und 13 Jahren. ZEIT LEO nimmt Ihre Kinder
schwerpunkte und Profilbereiche der Universitätsmedizin ein (Immuntherapie
und Personalisierte Medizin, Onkologie, Kardiovaskuläre Medizin, Neuro- mit auf Abenteuerreise – unterhält, taucht in ihre
wissenschaften). Im Besonderen betrifft dies die kardiovaskuläre und die
hepatobiliäre Radiologie sowie die Bildbearbeitung inkl. KI-Anwendungen.
Erwünscht ist eine Zusammenarbeit mit außeruniversitären Instituten wie
Lebenswelt ein und ermuntert sie zum Lesen.
dem Institut für Molekulare Biologie (IMB) und/oder der Translationalen
Onkologie (TRON gGmbH). Wünschenswert sind Anknüpfungspunkte und eigene
Beiträge im Bereich der Alternsforschung. Von der zukünftigen Stelleninhaber_in
wird die Bereitschaft erwartet, die bestehenden digitalen Bildverarbeitungssysteme
Sichern Sie sich jetzt 3 Ausgaben für nur 12 €.
fächerübergreifend weiterzuentwickeln und die systemische Verknüpfung von
radiologischen Bilddaten mit Informationen aus der Molekulargenetik, der Labor-
medizin und der Klinik voranzutreiben, um künftig individualisierte Behandlungs-
Sie sparen 15 % gegenüber dem Einzelkauf und
strategien weiterentwickeln zu können. Exzellenz im ausgeschriebenen Fachgebiet
ist durch hochrangige Publikationen sowie kompetitive Drittmitteleinwerbung
erhalten ein Geschenk Ihrer Wahl.
nachzuweisen.
In der Versorgung ambulanter und stationärer Patient_innen spielt die Klinik und
Poliklinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie mit einem breiten
Spektrum bildgebender Verfahren für die gesamte Universitätsmedizin eine
zentrale Rolle. Einen besonderen Schwerpunkt der Klinik stellt die Behandlung
von Lebertumoren dar. Sofern die zukünftige Stelleninhaber_in keine ausgewiesene
Interventionalist_in ist, wird vorausgesetzt, dass diese auch den interventionell-
radiologischen Bereich professionell organisiert. Erwartet wird zudem ein
Bekenntnis zur Weiterentwicklung der interdisziplinären Zusammenarbeit im
Rahmen bestehender und zukünftiger (Profil-)Zentren. Die Anerkennung als
oder
Fachärzt_in für Radiologie ist Einstellungsvoraussetzung.
Weiterhin setzt die Professur sowohl eine umfassende Beteiligung an der
studentischen Lehre als auch die Bereitschaft voraus, wissenschaftliche
Nachwuchsförderung sowie ärztliche und hochschulische Weiterbildung
(auch anderer Fachgebiete) zu gewährleisten. Daher sind nachweisbare
Lehrkompetenz und die Habilitation oder alternative Leistungen gemäß § 49
Abs. 1 Nr. 4 a) in Verbindung mit § 49 Abs. 2 Hochschulgesetz gefordert.
Vorausgesetzt werden zudem Kompetenz und Bereitschaft zur Entwicklung
neuer, auch digitaler und fächerübergreifender modularer Lehrformate.
Alle übrigen Einstellungsvoraussetzungen ergeben sich aus § 49 Hochschulgesetz
des Landes Rheinland-Pfalz.
Grundsätzlich ist eine Einstellung in ein privatrechtliches Dienstverhältnis zur Spiel »Pocket
Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vorgesehen.
Quiz Pferde«
Bei erfolgreichen Bewerbungen von Personen, die sich bereits in einem
Beamtenverhältnis auf Lebenszeit befinden, ist eine Fortsetzung des Beamten- Buch »365 unglaublich
verhältnisses gemäß § 20 Abs. 2 Universitätsmedizingesetz möglich. Das Land
Rheinland-Pfalz, die Johannes Gutenberg-Universität Mainz und die Universitäts-
geniale Sachen machen – Zeit
medizin vertreten ein Konzept der intensiven Betreuung der Studierenden und
erwarten eine hohe Präsenz der Lehrenden an der Universität. Da mit der
für eine Bildschirmpause!«
Professur sowohl Tätigkeiten in der Krankenversorgung als auch in der Lehre
deutschsprachiger Studiengänge verbunden sind, werden die hierfür erforderlichen
Kenntnisse der deutschen Sprache vorausgesetzt. Die Universitätsmedizin der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz ist bestrebt, den Anteil der Frauen am
wissenschaftlichen Leitungspersonal zu erhöhen und bittet daher insbesondere
Wissenschaftlerinnen, sich zu bewerben. Schwerbehinderte werden bei ent-
sprechender Eignung bevorzugt berücksichtigt. Zudem ist die Universitätsmedizin
Mainz Mitglied im Dual-Career-Netzwerk Metropolregion Rhein-Main und unter-
stützt Partner_innen neu einzustellender Spitzenkräfte bei ihrer Stellensuche.
Bewerbungen sind mit den üblichen Unterlagen (Anschreiben, Lebenslauf,
Zeugnisse, Urkunden, Forschungskonzept) einschließlich des Nachweises der
bisherigen Lehrtätigkeit (inkl. Lehrkonzept, Lehrzertifikate, ggf. Lehrevaluationen),
Drittmitteleinwerbungen und Publikationen bis zum 06.02.2023 ausschließlich per
E-Mail und nach Möglichkeit in einer Datei (PDF) zu richten an den
Wissenschaftlichen Vorstand der Universitätsmedizin
der Johannes Gutenberg-Universität Mainz,
Herrn Univ.-Prof. Dr. U. Förstermann,
E-Mail: bewerbung.um@uni-mainz.de, Telefon: 06131/39-29288.
Ihrer Bewerbung fügen Sie bitte ferner das ausgefüllte Formblatt zu Forschung
und Lehre bei, das auf der Homepage als Download zur Verfügung steht oder
im Ressort Forschung und Lehre angefordert werden kann.
http://www.um-mainz.de/rfl/ueber-uns/aktuellestermine/stellenausschreibungen
Die Hochschule Schmalkalden in Südthüringen ist eine renommierte
und moderne Campus-Hochschule mit familiärer Atmosphäre – 2.500
Studierende in den Fakultäten Elektrotechnik, Informatik, Maschinenbau,
Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftsrecht profitieren hier von
mehr als 100 Jahren Erfahrung und Tradition sowie von einem Netzwerk
mit über 200 Partnerhochschulen weltweit.
An der Fakultät Elektrotechnik ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende
Professur zu besetzen:
“Elektronische Schaltungen“
(W2 / Kennziffer SE 6)
Ausführliche Informationen zur Professur, zu den Einstellungsvoraus-
setzungen gemäß § 84 ThürHG, zum Datenschutz, zur Gleichstellung
sowie Hinweise für Schwerbehinderte finden Sie unter:
www.hs-schmalkalden.de/Stellenangebote
Ihre aussagefähige Bewerbung richten Sie bitte unter Angabe der Kenn-
ziffer bis zum 15.02.2023 per E-Mail an personal@hs-schmalkalden.de
oder schriftlich an folgende Adresse:
Hochschule Schmalkalden – University of Applied Sciences
Der Präsident | Blechhammer 4-9 | 98574 Schmalkalden
www.hs-schmalkalden.de
Nur 12
2€
3 x ZEIT LEO
L
+ Gesche enk
An der Hochschule Hannover ist an der Fakultät IV - Wirtschaft und Informatik,
Abteilung Informatik zum nächstmöglichen Zeitpunkt dauerhaft eine
W2-Professur
Angewandte Informatik,
insbesondere Virtual Reality,
Game-Entwicklung und HCI
Jetzt bestellen:
– Kennziffer W2 10/2022 –
zu besetzen.
www.zeit.de/leo-lesen
Weitere Einzelheiten zur jeweiligen Professur entnehmen Sie bitte dem Bewer-
bungsportal der Hochschule Hannover unter https://karriere.hs-hannover.de oder
über den QR-Code.
040/42 23 70 70*
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen richten Sie bitte bis zum 02.02.2023
an den Dekan der Fakultät IV – Wirtschaft und Informatik, Herrn Prof. Dr. Michael
Bienert. Die Bewerbung ist bis zum Ablauf dieser Frist online über das Bewerbungs-
portal möglich.
Für Fragen können Sie den Dekan der Fakultät IV auch per E-Mail kontaktieren: *Bitte Bestellnummer 2060886 angeben
f4-dekan@hs-hannover.de
 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
H I E R AU S R E I S S E N!
A B E N T E U E R
1,3 Millionen
... Menschen in Marokko werden
derzeit mit Strom aus dem
Wüsten-Kraftwerk versorgt
Foto [M]: Japhotos/Alamy/mauritius images; ZEIT-Grafik: Sophia M. Phildius; Illustrationen: Johanna Knor (u.)
Hunderttausende gewölbte bewegliche Spiegel stehen in langen Reihen im Kraftwerk Noor in Marokko
Spieglein, Spieglein auf dem Sand
Mit der Wüstensonne der Sahara lässt sich auch im Winter sehr viel Strom erzeugen. Nun gibt es Pläne, diese Energie nach Europa zu bringen
D
er Winter in Deutschland kann Ein paar Tausend Kilometer südlich, mitten in
sehr dunkel sein: Die Sonne geht der Wüste Sahara, ist das anders. Dort scheint die
morgens spät auf und schon Sonne auch jetzt – und zwar viele Stunden jeden
nachmittags unter, an manchen Tag. Und mit ihrer Kraft wird viel Strom erzeugt.
Tagen dringt sie gar nicht durch Im Süden von Marokko, in der Nähe der Stadt
die dicken, grauen Wolken. Eigentlich eine Ouarzazate, steht eines der größten Solarkraft-
gute Zeit, um es sich zu Hause gemütlich zu werke der Welt. Es heißt Noor – das ist Arabisch
machen – mit Kuchen und Tee, einem lustigen und bedeutet »Licht«.
Buch oder ein paar Videos. Doch für den Was- Seit bald sieben Jahren wird in Noor Strom
serkocher und den Backofen, die Nachttisch- produziert, inzwischen so viel, dass damit 1,3 Mil-
lampe und das Handy braucht man Strom. Und lionen Menschen in Marokko versorgt werden. Das
weil in Deutschland mehr als die Hälfte des Besondere an dem Kraftwerk ist die Art, wie die
Stroms aus sogenannten fossilen Quellen Sonnenenergie erzeugt wird. Auf einem Teil des
kommt, ist unsere winterliche Gemütlichkeit Geländes stehen Hunderttausende gewölbte Spie-
fürs Klima nicht so gut. gel in langen Reihen. Sie sind beweglich, sodass sie
Wenn Kohle oder Gas verbrannt werden, um sich immer bestmöglich zur Sonne ausrichten las-
Strom zu erzeugen, gelangen CO₂ und andere Treib- sen. In ihrer Mitte bündeln die Spiegel das Licht
hausgase in die Atmosphäre. Die sorgen dafür, dass und erzeugen Wärme. Wärme ist Energie – und die
sich der Planet immer weiter erwärmt. Deutschland wird über eine Flüssigkeit ins Kraftwerk transpor-
und viele andere Staaten wollen deshalb mehr so- tiert. Dort sorgt die Wärme dafür, dass Wasser ver-
genannte erneuerbare Energien nutzen, zum Beispiel dampft. Der Dampf treibt eine Maschine an, die
die Kraft der Sonne. Aber wie soll das gehen, wenn Strom erzeugt. So ähnlich wie ein Dynamo am
die Sonne im Winter bei uns so wenig scheint? Fahrrad, nur viel, viel größer.
A BE N T EU E R A N TAR K T I S
100 Tage ist die Polarforscherin Stefanie Arndt in
der Antarktis, hier berichtet sie regelmäßig von
ihrer Arbeit. Auf www.zeitleo.de
FOLGE 8 kannst du alle bisherigen Folgen sowie viele
Antworten auf Fragen von Kindern nachlesen.
Du hast auch eine Frage an Steffi? Dann schreib
Eisspalten- an antarktis@zeit.de
Training und
Mit dem neuen Jahr rückt mein bisher größtes
Expeditions-Abenteuer näher. In wenigen Tagen
werde ich mit meinem Kollegen Martin zu einem
Pullerflaschen besonderen Einsatz aufbrechen: Etwa zehn Tage
lang werden wir von der Neumayer-Station aus
rund 400 Kilometer Richtung Südpol fahren.
Schlafen werden wir in einem Zelt auf dem Eis.
Alles, was wir brauchen, packen wir in ein Ballon-
reifenauto mit Anhänger und auf ein Schneemobil.
Bisher habe ich nur zweimal eine einzelne
Nacht auf dem Eis gezeltet, Martin hat das noch
nie getan. Das wird also für uns beide eine auf-
regende Reise. Dort draußen werden wir ganz
auf uns gestellt sein. Einmal am Tag melden wir
F Ü R K I N D E R
Das Kraftwerk Noor
De u t s c h l a n d
Ma ro kko
Zum Kraftwerk gehört auch ein Turm, der mit
speziellen Salzen gefüllt ist. Die können wahnsinnig
heiß werden, 560 Grad Celsius. Zum Vergleich:
Wasser verdampft schon bei 100 Grad. Mit den
Salzen kann man also mehr Wärmeenergie sam-
meln. Um die Salze zu erhitzen, lenken Spiegel, die
um den Turm herumstehen, das Sonnenlicht auf
die Turmspitze. Wieder wird eine Maschine ange-
trieben, wieder entsteht Strom.
Mit dem Sonnenlicht Flüssigkeiten oder Salze
zu erhitzen hat einen großen Vorteil: Man kann
die Energie über Stunden in großen Tanks lagern
und speichern. Und damit lässt sich auch dann
noch Strom erzeugen, wenn die Sonne längst
untergegangen ist. Die Solarplatten, die man oft
in Deutschland auf Dächern oder Feldern sieht,
arbeiten anders. Hier gibt es nur dann Energie,
wenn die Sonne scheint.
Doch nicht nur die Technik des Wüstenkraft-
werks ist gut, es gibt auch kaum einen Ort auf der
Welt, wo die Kraft der Sonnenstrahlen so stark ist
wie in der Sahara. Außerdem sind weite Teile dieser
riesigen Wüste unbewohnt. Man bekommt also
uns per Satellit bei der Station, um zu berichten,
wie es uns geht, und um den neuen Wetterbericht
zu bekommen.
In den vergangenen Tagen haben wir einige
spezielle Dinge trainiert. Unser Weg Richtung
Südpol führt bergauf, etwa 1500 Meter in die
Höhe. In diesem Gebiet gibt es hier und da Spalten
im Eis, die gefährlich werden können. Jedenfalls
sollte man wissen, wie man da wieder heraus-
kommt. Dafür packen wir Sicherheitsgurte und
lange Seile ein, und mit denen haben wir auch
schon geübt – sich allein aus einer Eisspalte zu
befreien genauso wie dem anderen zu helfen. Ich
hoffe, wir fallen erst gar nicht irgendwo hinein,
aber wenn doch, dann fühle ich mich jetzt zu-
mindest gut vorbereitet.
Und dann haben wir noch eine andere verrück-
te Sache gemacht: Wir haben uns mit dem riesigen
Auto absichtlich im Schnee festgefahren. Dieses
große Ballonreifenfahrzeug nehmen wir mit, weil
man damit gut auf Schnee und Eis fahren kann.
Und wenn es so stark stürmt, dass wir nicht im Zelt
37
3800 Kilometer
... lang muss ein Unterwasserkabel
sein, durch das Strom aus der
afrikanischen Wüste bis nach
Großbritannien fließen soll
VON VIOLA KIEL
keine Probleme mit Nachbarn, die sich über das Meeresgrund zu verbuddeln. Es sollen ja keine
Blitzen der Sonnenspiegel beschweren könnten. Fischerboote mit ihren Netzen hängen bleiben.
Marokko ist nicht das einzige Land, das aus der Wenn alles nach Plan läuft, dann könnte in sie-
Wüstensonne Strom gewinnt. Auch in Ägypten, in ben Jahren jeder vierte Haushalt in Großbritannien
Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen mit dem Strom aus der Wüste versorgt werden –
Emiraten gibt es solche Kraftwerke. Noch nutzen ohne dass dabei gefährliche Treibhausgase entstehen.
die Staaten diesen Strom vor allem für sich selbst. Tatsächlich liefert die Sonne sogar so viel
Doch wenn mehr und mehr Solarkraftwerke immer Energie, dass man damit die ganze Welt versor-
größere Mengen an Strom liefern, könnte man die gen könnte. Doch dafür muss man es schaffen,
Energie auch ins Ausland verkaufen. Vorausgesetzt, ausreichend viele ihrer Strahlen einzufangen und
man findet einen Weg, sie zu transportieren. in Strom zu verwandeln. Das geht nicht nur in
Wie das gehen könnte, darüber denken Fach- der Wüste, aber dort geht es – sogar im Januar –
leute aus vielen Ländern im Moment nach. besonders gut.
Großbritannien und Marokko arbeiten schon
gemeinsam an einer konkreten Idee: Sie versu- »Komm mit in die Wüste«,
chen, den Strom vom afrikanischen Kontinent heißt es auch in der neuen
auf die Britischen Inseln zu bringen – mit einem ZEIT LEO-Ausgabe. Lern ein
Unterwasserkabel. Mädchen kennen, das in der
3800 Kilometer weit soll der Strom dann an Sahara lebt, und gerate beim
Portugal, Spanien und Frankreich vorbei nach Eng- großen Tierquiz ins Schwitzen!
land fließen. Ein weiter Weg, und der wird teuer: Hier kannst du das
20 Milliarden Euro wird es vermutlich kosten, Kindermagazin kostenlos
dieses Kabel zu verlegen und vor den Küsten im testen: www.zeit.de/leogratis
schlafen können, werden wir darin übernachten. wäsche anbehalte. Wenn ich abends in meinen
Allerdings bleibt man mit diesem Super-Auto auch Schlafsack krieche, ziehe ich die dicken Schichten
gern mal stecken. Und weil wir ja mitten in der darüber aus. Wechselkleidung nehme ich nur mit,
Antarktis keine Pannenhilfe und keinen Abschlepp- falls etwas nass werden sollte. Auch das Essen wird
dienst rufen können, mussten Martin und ich schlicht, ein bisschen so wie beim Camping. Wir
üben, das Auto zu zweit wieder freizubekommen. nehmen viel Müsli und Milchpulver mit fürs
Beim Training hat es geklappt. Mal sehen, ob wir
es da draußen im Eis noch mal schaffen müssen.
Frühstück und als Mittagessen. Abends machen
wir uns auf einem Gaskocher Tütensuppe mit
Wir werden jedenfalls oft anhalten und wie- Reis oder Nudeln. Und natürlich packen wir
der losfahren müssen. Denn unser Auftrag ist, reichlich Schokolade ein.
etwa alle 500 Meter die Schneehöhe zu messen. Am ungemütlichsten wird es, wenn wir mal
Vor uns haben Kollegen Stangen in den Schnee
gesteckt und gemessen, wie weit sie heraus-
aufs Klo müssen. In der Antarktis dürfen wir
nichts zurücklassen, die Natur soll so unberührt
gucken. Regelmäßig fahren nun Forscher wie wie möglich bleiben. Wenn man nur Pipi muss,
wir von Stange zu Stange und schauen, wie viel kommt das in »Pullerflaschen«. Fürs große Ge-
von denen noch zu sehen ist. So wissen wir, wie schäft haben wir einen Eimer mit einer Tüte. Die
viel Schnee dazugekommen ist. Einige Stangen vollen Tüten und Pullerflaschen nehmen wir
werden gar nicht mehr zu sehen sein, da stecken wieder mit zur Station, wo sie in großen Contai-
wir neue in den Schnee. nern landen, die irgendwann zurück nach
Das Leben auf dem Eis wird sehr einfach. Ich Deutschland gehen. Aber jetzt drückt mir erst mal
rechne damit, dass ich mich die zehn Tage gar die Daumen für mein Eis-Abenteuer!
nicht umziehe, sondern immer meine Wollunter- EURE POL ARFORSCHERIN STEFFI
38 WISSEN 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2

Infografik: Raumfahrt

o
Vier Premieren
Diese privaten, bemenschten Missionen sollen im neuen Jahr Geschichte schreiben
N
1

März: Polaris Dawn

2

April: Starliner-Testflug
3

Mai: Axiom Mission 2

4

Oktober: Axiom Mission 3

706
SpaceX (USA) Boeing (USA) Axiom Space (USA) Axiom Space (USA)
Private Mission zur entferntesten Erster Flug der Raumkapsel An Bord dieses kommerziellen Ein weiterer kommerzieller Flug
Erdumlaufbahn, die je mit Men- Starliner mit Menschen an Flugs zur ISS sollen zwei des US-Anbieters mit einer
schen an Bord erreicht wurde. Bord. Künftig soll sie Astro- Passagiere aus Saudi-Arabien Crew-Dragon-Kapsel zur ISS –
Ebenso geplant: Der erste kom- nautinnen und Astronauten sein, darunter die erste mit dabei sein könnte der erste
merzielle Weltraum-Spaziergang zur ISS und zurückbringen arabische Frau im Weltall Astronaut aus der Türkei

22./23. 12.

3./4. 1. Quadrantiden
14./1

ollmond*
22. 12.

27. 12. Vollmond

d*
5. 12

mon
Ursiden
13.

7. 1. Mini-V
.

S
Gem

Neu
onnenw
12

per-
. Ne

inide

. Su
umo

ende

d*
n

on
21. 1
27.

nd

l lm
11.

-Vo
Vo

ber
17

Janua

ini
./1

m
l lm

.M
z r
8.

De
on
11

2
*
d
.L

5.
13 nd
eo

.1 mo *Mondjargon
ni

1. eu
de

N N
n

eu er-
m Black Moon:
up
on
r
D
Fe S
be
d . 3. Neumond
28. br 20
.2 in einer
10.
Par
tiel
28
. 10
.V m Jahreszeit mit
4 Neumonden

ua
ve

in D le M ollm
eut ond ond
No

r
sch fins Blue Moon:
la n
d si ternis, 2. Vollmond
cht nd
bar Mond- und Neu- und Sternschnuppenschauer ol lmo innerhalb eines
21./2 Sonnenfinsternis Vollmond (beste Sichtbarkeit) 7. 3. V Monats
2. 10
. Or
ionid Minimond und
14. 1 en
0. Ne Supermond:
umon
14. 10. d besonders
R ingfö erdferner bzw.
r

Mä r z
Sonnen r mige

Astro-Jahr
he
t-Gleic
e

finster c h erdnaher Neu-

n a
Oktob

D. nic i s, i ag-N
ht sich n 1 20. 3. T oder Vollmond
tbar 4 (der Größen-
C umond
8./9. 10. D
raconiden 21. 3. Ne unterschied
beträgt 14 %)

29. 9. Vollmond 2023 verheißt viele Missionen und Menschen im Weltall –

6. 4. Vollmond
eine Auswahl interessanter Termine und Ereignisse am Himmel Achtung: Die
iche Angaben zu den
ber

-Nacht-Gle VON MATTHIAS SCHÜTTE (INFOGRAFIK) UND STEFAN SCHMITT (RECHERCHE) 20. 4. T Starts sind als
April

. Ta g
23. 9 A ot
2 Sonnen ale unverbindliche
m

finstern und frühest-

in Deu is,
tsc
e

nicht si hland
mögliche
t

d chtbar
umon
Termine zu
Sep

. Ne verstehen
15. 9 20. 4
Raketen-Erstflüge 22./
23.
. Ne
4. L
umo
nd
Rund zwei Dutzend neue Raketentypen sollen 2023 erstmals fliegen, darunter yrid
en
die der Start-ups Rocket Factory Augsburg und der Münchner Isar Aerospace. 5. 5
Quellen
Wie unsicher jede Planung ist, zeigt Elon Musks Riesenrakete Starship. Deren . Vol
* lmo Alle Angaben zu
nd erster Orbitalflug war für 2022 angekündigt – nun wird er für 2023 erwartet. Auch 5. 5 nd
l l mo die europäische Ariane 6 hätte 2022 starten sollen, jetzt könnte es 2024 werden 3 tei . Ha astronomischen
o
er-V 6./ lwei lbsc Himmelsereig-
M
t

p
us

7. 5 se
/Su in hatte nissen stammen
on*
a

g i .E D n-
o ta-
Aq eutsc Mon von der Website
eM
u
Blu ua hla dfi timeanddate.de
A riid nd nst
8.
31. B en sic ern
htb is,
d*

ar Informationen
19
on

.5

zu den einzelnen
m

.B
eu

Missionen und
n

lac
i-N

ide

Juni Projekten
kM
in

Juli
rse
M

kommen von
Pe

oo
8.

n*
8.

den betreffenden
ond
.

4. 6
16

3.

Raumfahrt-
./1

ollm

.
12

agenturen und
Vol
er-V

21. 6. S

Firmen (Esa,
ond

18. 6.

lmo
3. 7. Vollmond

Nasa, Isro,
Sup

Neum

nd

CNSA sowie
Neum
.

on
1. 8

Axiom und
nenwen
17. 7.

SpaceX) sowie
ond

von AP, Reuters

und SpaceNews
de

Links zu diesen
und weiteren
Quellen finden
Neue Forschungsmissionen Sie unter
www.zeit.de/
Drei gelten fernen Himmelskörpern, eine bringt ein neues Teleskop in die Erdumlaufbahn wq/2023-02

A B C D

April: Jupiter Icy Moons Juni: Chandrayaan-3 Oktober: Psyche Dezember: Xuntian
Explorer Esa (Europa) Isro (Indien) Nasa (USA) CNSA (Volksrepublik China)
Die Sonde mit dem lustigen Die indische Raumfahrtagentur Die Mission ist nach ihrem Das Weltraumteleskop soll zehn Die Kinderseite
Akronym Juice (Saft) soll schickt eine Landesonde mit Ziel, dem Asteroiden 16 Psyche, Jahre lang vom Erdorbit aus der ZEIT
nach achtjähriger Reise den Rover zur Mondoberfläche. Ein benannt. An ihm soll der den Himmel erkunden. Es kann finden Sie auf
Gasplaneten Jupiter und erster Versuch endete im Jahr Ursprung metallischer an die chinesische Raumstation der vorigen Seite
seine Eismonde erkunden 2019 mit einem Absturz Planetenkerne erforscht werden Tiangong andocken

FEUILLETON
I
m Stadtteil Griesheim in Frankfurt
am Main lief er auf der anderen
Straßenseite, ich hatte den Stunt
gemacht und die Fahrbahn über-
quert und ihn angesprochen – er
trug einen weinrot schimmernden
Rock und quer über der Flieger-
jacke eine Damenhandtasche mit einem
»Donald Duck und seine drei Neffen«-
Motivdruck (wie ich später erfuhr, ein
Originalstück von Gucci). Meine Fragen
waren: Darf man Sie oder dich mal kurz
hier anquatschen? Wohin geht’s? Was trägst
du da bitte für einen absolut herrlich aus-
sehenden Kittelrock – wie nennt man den,
kann man den irgendwo kaufen? Können
wir uns verabreden und noch mal in Ruhe
unterhalten, über den Rock und die an-
deren wichtigen Dinge, die sich hier un-
mittelbar anschließen – seinen Blick auf
den Putin-Krieg, die Frage, ob es zwei oder
doch ganz viele Geschlechter auf dieser
Welt gibt, Liebe, Sex, Geld, Gerechtigkeit,
Depression, die Notwendigkeit, dass im
neuen Jahr doch einiges besser wird?
Erste Antworten, noch auf der Straße,
an der, wie sich auch schnell herausstellte,
auch seine Moschee lag, er kam gerade
vom Freitagsgebet: »Das ist eine Jalabiya.«
Er buchstabiert: »J-A-L-A-B-I-Y-A.« Ein
Herrenkleid, Herrenkaftan, ein Kleidungs-
stück aus dem sogenannten arabischen
Kulturraum. Das sei, so erklärte der Junge
im dunkelroten Rock auf der Straße, das
maximal praktische Kleidungsstück: »Im
Sommer ziehst du Badehose und T-Shirt
drunter, im Winter eine Jeans. Wenn deine
Jeans Löcher hat, Jalabiya drüber – und
beten.« Er, Ahmad, 21, so ließ sich weiter
feststellen, kam in Deutschland auf die
Welt, seine Eltern waren ein Jahr vor seiner
Geburt aus Afghanistan gekommen. Er sei
mit marokkanischen Jungs aufgewachsen,
man könne ihn zwecks weiterer Gespräche
gerne über Insta kontaktieren. Ahmad sprach
das herrliche Meine-Eltern-kommen-nicht-
aus-Deutschland-Deutsch mit viel »sch« und
weggelassenen Artikeln, das nach Straße,
Stress mit der Polizei und in Neukölln spie-
lenden Netflix-Serien klingt.
Vier Wochen später, an einem Abend im
Dezember, treffen wir uns in einem Café
seiner Wahl: Frankfurt Innenstadt, Nähe
Konstablerwache. Blauer Hoodie. Der Kaf-
tan. Fake-Gucci-Kappe. Er soll natürlich
bestellen, was er möchte. Strahlender Ah-
mad: »Das will man hören.« Niemals Alko-
hol. Also einen Käsekuchen und einen hei-
ßen Kakao, bitte. Er habe extra noch mal
Der Mensch
das Kleidungsstück angezogen, das er bei
unserem ersten Treffen getragen habe. Ist
sein Rock aus Seide? »Ich glaube, Seide darf
man als Muslim nicht anziehen.« In Ah-
mads hübschem Gesicht über der Kakao-
tasse taucht jetzt ein Anflug von Geniert-
sein auf – den Muslim, der keine Seide tra-
gen darf, findet er offenbar selber komisch:
»Oder ich verwechsele das gerade.«
Er hebt den rechten Zeigefinger. Hilfe, ist
das nicht das IS-Zeichen? »Der ausgestreckte
rechte Zeigefinger bedeutet: Es gibt nur einen
Allah. Das ist also nicht IS, sondern Islam.«
Der IS, so Ahmad, verkörpere auch den Islam,
natürlich aber in einer ganz falschen Hinsicht
(da ist der ängstliche kleine deutsche Reporter
jetzt aber froh, dass diese Korrektur noch
kam). Zweiter Nachsatz: »Messi hebt ja auch
zwei Finger in die Luft, wenn er jubelt. Und
dazu wird nichts gesagt.«
Sicher nicht einfach, aber kann er in
drei, vier Sätzen umreißen, wer er ist? »Sie
wissen doch schon alles«, sagt Ahmad. Und
lustig, für diesen Moment siezt er einen.
Sein Vater war so alt wie er heute, als er
nach Deutschland kam. Drei Geschwister.
Seine Mutter starb vor vier Jahren an Krebs,
er sei der Liebling seiner Mutter gewesen,
ein Muttersöhnchen. Er sei damals schwach
gewesen und nicht so nah bei Allah: »Man
hat viel geraucht, hat nicht so fokussiert ge-
lebt.« Nein, nein, der politische Islam habe
ihn nie interessiert. Dann plötzlich sehr
heftig und laut: »Man muss da durch.
Meine Mutter will ja nicht, dass ich weine
oder heule. Oder mein Leben schlecht er-
lebe. Deshalb: immer aufstehen, weißt du,
geradeaus weiterlaufen.« Okay.
Ist Deutschland sehr gut oder eben doch
schlechter als, sagen wir, England oder
Russland? Es fließt nur so aus ihm heraus:
»Deutschland kann gut Kartoffelbrei. Das
könnt ihr wirklich gut.« Nein, ernsthaft:
Deutschland sei maximal super. Er habe
von seinem Vater gelernt, wie gut die De-
mokratie sei, deshalb sei er, Ahmad, Demo-
kratieunterstützer. »Hier gibt es die AOK-
Versicherung. Das Arbeitsamt sucht mir
eine Ausbildung. Als Flüchtling könnte ich
Hartz IV beantragen oder anderes Geld. Es
gibt sehr viele Möglichkeiten, wenn man sie
richtig nutzt.« Zuletzt habe er in einem
Backshop an der Hauptwache gearbeitet.
Und jetzt? Düstere Stimme: »Nichts.«
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
DIALOG MIT DEN JUNGEN LEUTEN
Arbeitslosengeld? »Nein, das wäre mir pein-
lich, das gehört sich nicht.« Er hat sich bei
einem Hotel beworben, sehr bald, gleich zu
Neujahr, möchte er dort anfangen.
Wird er oft für einen Flüchtling gehal-
ten? So, wie er angezogen sei, mit Flieger-
jacke und teuren Turnschuhen, werde er
natürlich viel kontrolliert. Er setzt sich den
Zeigefinger auf die Brust: »Bombenleger.
Mann ist Afghane.« Viele Polizisten – aus
seinem Mund hat der Satz Kraft – seien
auch höflich und freundlich. Er sage sich
immer: »Lächeln! Lächeln! Wenn du mich
nicht leiden kannst, bin ich doppelt freund-
lich. Dann lächele ich dich an.«
Jetzt möchte Ahmad – in Ordnung, muss
man akzeptieren – über Religion reden: »Egal
ob du Christ oder Muslim bist: Ich habe ge-
lernt, dass die Religion dir einen Sinn im
Leben gibt.« Ja? Ist das so? Er guckt sehr er-
staunt. Er spricht den Interviewer jetzt, was
– Entschuldigung – wirklich berührend ist,
mit Vornamen an: »Moritz, es macht ja sonst
keinen Sinn: Schule, Arbeiten, Wohnen, Hei-
raten, Kindermachen, wozu? Du bist ein
Mensch, kein Hamster. Die Religion gibt
deinem Leben Sinn. Okay, ich weiß nicht, wie
es bei den Christen ist.«
Er schildert weiter seine Lebenspraxis als
junger Moslem in Europa, und, wie ange-
nehm, aus seinem Mund klingt es nicht
nach Fernseh-Talkshow. Was für ein Luxus,
hier von Ahmad, dem Rockträger aus Gries-
heim, Auskunft zu den großen Fragen zu
bekommen. Deprimiert ihn Putins Krieg?
Ist ihm, äääh, so etwas wie das doofe Klima
wichtig? Wie sieht er das, gibt es eher zwei
oder 15 Geschlechter?
Fotos: Lottermann and Fuentes für DIE ZEIT (o.); Moritz von Uslar Er dirigiert hier lässig über die Kakao-
tasse hinweg, wirkt jetzt sehr selbstbewusst:
»Allah hat Adam und Eva, nicht Adam und
Adam und Eva erschaffen. Einen Mann
und eine Frau. Ein Mann kann nur mit
einer Frau ein Kind zeugen. Das kann nie-
mand ändern.« Frauen möge er übrigens
lieber, wenn sie nicht komplett verschleiert
seien. Aber: »Ich finde Frauen mit Kopf-
tuch attraktiver als ohne Kopftuch.« Sexyer,
geheimnisvoller. »Genau.« Er schildert jetzt
seinen Standpunkt, dass Frauen in Deutsch-
land zu viel von sich zeigten und zu viel
angeguckt würden.
Die Beschneidung von Frauen- und
Schwulenrechten, im Iran oder in Afgha-
nistan, ist sie nicht absolut grauenhaft? Er
Ahmad, 21, aus Frankfurt-Griesheim
spricht nun demonstrativ ruhig und zuge-
wandt, in der Rolle des Lehrers, der seinem
Grundschüler das Einmaleins aufsagt: »Im
Islam ist Schwulsein ja nicht verboten. In
unseren Augen ist Schwulsein ein Test, ob
du auf Allah oder auf deine Sinne hörst.
Du darfst auf Männer stehen, aber du
darfst dem nicht nachgehen.«
Und ja, natürlich bedrücke ihn Putins
Krieg. Auf Besuch in Afghanistan habe er
ist kein
Bombenanschläge erlebt. Er spricht jetzt
wieder laut und hart – als müsse er einer
Polizeistreife erklären, dass er von Geburt an
Inhaber eines deutschen Passes ist: »Wenn
man einem Land hilft, dann kann man auch
anderen Ländern helfen, die schon seit Jahren
im Krieg leben, Palästina zum Beispiel.«
Hamster
Am Cafétisch stellt sich nun eine vier oder
fünf Sekunden währende Generalpause ein.
Alles zu, alles offen – je nachdem, wie man es
sehen möchte. Vielleicht doch wieder bisschen
über Fashion und anderen Unsinn reden.
Seine Gucci-Handtasche sei »eine Zehn von
zehn. Nicht viele Worte nötig. Kannst du
überall tragen, auch bei Hochzeiten.« Wenn
Ahmad erzählt, was er über Mode, Gott und er Spaß haben wolle, dann miete er sich mit
seinen Freunden ein Auto, einen Golf 7R oder
deutsche Polizisten denkt VON MORITZ VON USLAR einen Mercedes GLC, und blase mal kurz
nach Paris: Kakao trinken auf dem Eiffelturm.
Ahmad fällt nun ein, dass wir Deutschen doch
selber eine typisch deutsche, traditionsreiche
Mode hätten. Lederhosen, Dirndl? Genau.
Ein Dirndl, so der Interviewer, sei aber ein
recht freizügiges Kleidungsstück, es betone die
Figur der Frau. »Na gut, ich würde meiner
Frau natürlich sagen, dass sie ihr Dirndl nur
zu Hause tragen darf.«
Draußen, in den Minusgraden, zieht er
sich eine Nike-Maske über Nase und Mund.
Das Gespräch mit Ahmad fand vor Weih-
nachten statt, noch hat kein Silvester-
Mob – was zu den am schwersten zu be-
greifenden Nachrichten des auslaufenden
Jahres gehören wird – Feuerwehr und Sani-
täter angegriffen. Tatsächlich, die Boys in
den schicken neuen Polizei-Westen gucken,
die haben Ahmad schon auf dem Schirm.
Und die beiden da draußen in der Frank-
furter Fußgängerzone, der Mann im Rock
und der Interviewer, verabschieden sich so
Folge 1 der Serie flüchtig, wie sie sich kennengelernt haben –
etwas zwischen Händeschütteln und Ab-
Dialog mit den jungen Leuten klatschen, das irgendwie danebengeht. Klei-
ne Scham, weil man sich so unheimlich viel
gesagt hat. Ihr jungen Leute: Ist das gut,
dass man mal miteinander redet.
Unser Reporter Moritz von Uslar zieht durch Deutschland und spricht mit
Menschen auf der Straße. Die Serie erscheint in unregelmäßiger Folge ! www.zeit.de/vorgelesen
39
Vergangenheit
minus Preußen
Über den naiven Versuch,
die deutsche Geschichte
zu optimieren
T
Traditionell kümmert sich Berlin nicht um die
Tradition. Ja, die Gegenwartsbesessenheit ist
auf rührende Weise in der DNA dieser selt-
samen Stadt verankert. Nun scheint aber eine
Mutation stattgefunden zu haben – es reicht
nicht mehr, allein die Vergangenheit zu igno-
rieren, sie soll jetzt optimiert werden. Ziel ist
eine besenreine deutsche Geschichte. Am
meisten Dreck macht dabei aus Sicht der
grünen Kulturstaatsministerin Claudia Roth
das leidige Preußen. Sie will den wichtigsten
Museumsverbund Deutschlands, die Stiftung
Preußischer Kulturbesitz, umbenennen. Es
brauche einen »weltläufigeren« Namen, so
Roth, »der in die Zukunft weist«. Der Präsi-
dent der Stiftung, Hermann Parzinger, unter-
stützt den Vorstoß, so wie er immer die Vor-
stöße seiner Dienstherren unterstützt hat.
Konsequent wäre eigentlich das Gegenteil:
Preußen, könnte man es noch befragen,
müsste sich längst verbitten, im Namen einer
Institution genannt zu werden, die in Selbst-
lähmung erstarrt ist und allem Hohn spottet,
was die großen preußischen Museumsdirek-
toren von Gustav Friedrich Waagen über Wil-
helm von Bode bis zu Hugo von Tschudi und
ihre Beamten vorlebten: also Effizienz, Ge-
staltungswille und internationale Strahlkraft.
Der Name ist wirklich das kleinste Problem
dieser großen Stiftung. Auf tragische Weise
erinnert diese lächerliche Konzentration auf
die Fassade und das Verdrängen der inneren
Strukturdefizite an die Situation im rekon-
struierten Berliner Stadtschloss, das sich Hum-
boldt Forum nennt, damit sich keiner vor der
Rückkehr der preußischen Monarchie fürch-
ten muss. Dummerweise hatte man mit der
Fassade auch die christliche Inschrift auf der
Kuppel rekonstruiert – die soll nun von zeit-
genössischer Kunst »temporär überblendet
werden«. Genau so reagierten die Päpste der
Gegenreformation auf die für sie anstößige
Nacktheit der Renaissancemalerei – und ließen
die unkeuschen Stellen mit Tüchern über-
malen. Bilderstürme sind ein Zeichen der
Selbsterhöhung, sie fegen langfristig nie die
Bilder, sondern nur die Stürmer hinweg.
Nach der Umbenennung der »Stiftung
Preußischer Kulturbesitz« in »Bundesagentur
für kulturelle Weltläufigkeit« muss sich Clau-
dia Roth dann wohl auch um einen neuen
Namen für den preußischen »Pour le Mérite«-
Orden kümmern, der mehr in die Zukunft
weist – »Pour le Mérite«-Mitglied Hermann
Parzinger wird ihr sicher auch darin sofort bei-
pflichten. Danach muss sie an die skandalöse
»Siegessäule« ran, die ihr im Kanzleramtsbüro
über den Tiergarten entgegenleuchtet und
vom preußischen Triumph über die Franzosen
erzählt – aber, wenn sie zuhören möchte, auch
von der Komplexität der Geschichte.
Nur Diktaturen sind eigentlich so naiv und
selbstberauscht, dass sie glauben, die Vergan-
genheit nachträglich begradigen zu können.
Ein sinnloses Unterfangen, denn über kurz
oder lang brechen alle historischen Sollbruch-
stellen wieder auf, Europas Geschichte seit
1989 erzählt von nichts anderem. Die ehema-
lige Managerin der Band Ton Steine Scherben,
deren Name auf den Troja-Ausgräber Schlie-
mann zurückgeht, und der Archäologe Her-
mann Parzinger sollten eigentlich wissen, dass
jede Gegenwart nur auf dem unübersicht-
lichen Scherbenhaufen errichtet wird, den die
Geschichte uns hinterlässt. Der Versuch, die
Vergangenheit aus einem eigenen moralischen
Überlegenheitsgefühl heraus zu optimieren, ist
ein antiaufklärerischer Größenwahn, der sich
nur als Demut tarnt. FLORIAN ILLIES
40
MEDIEN
Hä,
warum?
Die »Tagesschau« ist eine sehr schlechte Sendung,
deshalb muss sie viel länger dauern
Zu Beginn dieses Textes erheben wir
uns zum obligatorischen Rundfunk-
Unser: Die öffentlich-rechtlichen Pro-
gramme sind wichtig / Es gibt dort
viele gute Sendungen / Unser tägliches
Deutschlandfunk-Interview gib uns
heute / ARD.
Aber die Tagesschau. Die wichtigste
Nachrichtensendung des Landes, sagt
man. Die Nachrichtensendung, die
man sehen sollte, als informierte Bür-
gerin. Die Tagesschau ist als Format
gescheitert. Sie passt nicht mehr in die
Welt, über die sie informieren will.
Zappen wir durch die zurücklie-
genden Sendungen. Am 1. Januar
zeigte die Tagesschau einen Beitrag über
das Bürgergeld. Darin kam der Satz
vor, das Gesetz würde »Weiterbildun-
gen stärken«. Hä? Vier namenlose
Leute, die in einer nicht benannten
Stadt von einem Kamerateam auf der
Straße angetroffen wurden, sagten ihre
sogenannte Meinung. Sie wiederhol-
ten sachlich Falsches (»Arbeiten lohnt
sich nicht mehr«) oder Allgemein-
plätze (»ist wie Hartz IV«). Keins dieser
Missverständnisse wurde aufgeklärt.
Danach liefen ein Beitrag über Ski-
springen und ein Wetterbericht, 20
Grad im Südwesten. Tja!
Am 2. Januar kam ein Beitrag über
den Stopp der Öllieferungen aus Russ-
land. Die Öl-Raffinerie in Schwedt
war im Bild. Ein Typ mit Helm: »Wir
sind vorbereitet.« Eine Stimme aus
dem Off sagt, dass der Standort bald
auch Wasserstoff produzieren wolle,
aber jetzt gehe das noch nicht. Ist halt
so. Die Bundesinnenministerin will
die Silvesterböller-Täter mit der gan-
zen Härte des Rechtsstaates bestrafen.
Die Verteidigungsministerin wird für
ein Video kritisiert, in dem »das
Gesagte teilweise untergeht«, das
Hören Sie
Wir sprechen über Phänomene, die unsere Zeit ausmachen:
Im Feuilleton-Podcast Die sogenannte Gegenwart.
Jetzt anhören unter www.zeit.de/die-sogenannte-gegenwart
ANZEIGE
UNSERE WOCHE
Video wird weder gezeigt, noch wird
daraus zitiert.
Basta-Journalismus. Nichts hat mit
nichts zu tun. Jeder Satz ist eine Infor-
mation, und keine Information bedarf
einer Erklärung. Als Kind denkt man,
es sei einfach ultrakompliziert, die
Tagesschau zu verstehen. Aber wenn
man sie schließlich versteht, dann ist
sie nicht wirklich informativ. Wer
mehr wissen will, muss länger wach
bleiben, bis zu den Tagesthemen, bis zu
Anne Will oder einer Reportage.
In ihrer aktuellen Form, sieben Tage
die Woche, fünfzehn Minuten, gibt es
die Tagesschau seit 1961. 1961! Die
Welt ist doch deutlich größer geworden
seitdem. Voller. Enger. Zusammen-
hängender. Erforschter. Es gibt mehr
Menschen, mehr Parteien, mehr The-
men. Das Internet hat vielen das Be-
dürfnis nach permanent verfügbarer
Komplexität beigebracht, nach Hinter-
grundinformationen und vollständigen
Erklärungen. Der Nachrichtenjourna-
lismus hingegen hat sich nicht weiter-
entwickelt. Er ist stecken geblieben im
»A sagt, B sagt«-Modus und hat maxi-
mal noch ein »C sagt« oder eine Stra-
ßenumfrage hinzugefügt. Es ist total
logisch, dass so viele Leute sich nicht
richtig informiert fühlen und sich
auf YouTube von Fake-News ködern
lassen – die tun wenigstens so, als wür-
den sie Zusammenhänge erklären.
Wenn man etwas schlecht fin-
det, fordert man oft dessen Ab-
schaffung (zum Beispiel bei Minis-
terinnen). Die Tagesschau aber kann
nur besser werden, wenn sie sich
verlängert. In Frankreich dauert das
20-Uhr-Journal 40 Minuten. Es
wäre wohl verkraftbar, wenn Tatort
und Barfuß durch Australien etwas
später begännen. ANNA MAYR
den Podcast
Ein Besuch bei sich selbst
die unser Leben prägen. Oft verschwinden diese aber auch wieder,
und was bleibt, ist die Erinnerung an sie. Gehen Sie mit ZEIT WISSEN auf
Gedankenreise und entdecken Sie sich und Ihre Vergangenheit neu!
Sichern Sie sich jetzt alle drei Teile der Serie »Das bin ich auch« für nur
16,50"€. Sie sparen über 30!% und erhalten ein Geschenk Ihrer Wahl.
FEUILLETON
NACHRUF
Vivienne Westwood
(* 8. 4. 1941, † 29. 12. 2022)
»Sie gehörte zu
unserer Riege«
Eine große Modeschöpferin, die Energie, Engagement
und Unternehmergeist verband VON JIL SANDER
Vivienne Westwood war eine ferne
Weggefährtin für mich. Wir haben
uns in denselben Jahren selbststän-
dig gemacht, sie in London, ich in
Hamburg. Welche Hindernisse eine
Frau dabei vor 50 Jahren zu über-
winden hatte, kann man sich gar
nicht mehr vorstellen. Ich habe den
Kampfgeist immer bewundert, mit
dem sie sich als Unternehmerin be-
hauptet hat. Sie gehörte zu unserer
Riege. Auch ihr humanitäres En-
gagement und ihr Interesse für die
Umwelt haben mich beeindruckt.
Im Modedesign war sie das Gegen-
projekt zu meiner Aussage, aber in der
Motivation habe ich mich ihr ver-
wandt gefühlt. In den Siebzigerjahren
war London modisch für uns alle in-
spirierend. Vor Viviennes Geschäft an
der King’s Road saßen die Punks, die
so wunderbare Sachen trugen und so
fantasievoll ausgestattet waren, dass
man sich gleich dazusetzen wollte. Es
war eine Zeit, in der wir wie sie Au-
thentizität gesucht haben. Ich habe nur
eine andere Richtung eingeschlagen
Im Laufe der Jahre begegnen wir vielen Menschen und Orten,
Jetzt Vorteilspreis sichern:
www.zeit.de/zw-besuch"
*Bitte folgende Bestellnummer angeben: 2105726 FA /2105727 GA
DARTS-WM
Ende der
Gemütlichkeit
Warum leider alles in der
Moderne professioneller wird
Alles professionalisiert sich, das ist Glanz
und Elend der Moderne, und nirgends
ließ sich das besser bemerken als bei der
gerade zu Ende gegangenen Darts-WM,
die seit 1994 von der Professional Darts
Corporation und unter lebhafter Betei-
ligung des Fernsehsenders Sky Sports
ausgerichtet wird. Was ehedem eine preis-
werte Möglichkeit war, Sendeplätze zu
Fotos (v. l.): Thorsten Jander/NDR (Auschnitt); Mauritius Images
füllen, hat ein Millionenpublikum gefun-
den, das auch hierzulande sein verblüf-
fendes Expertenwissen auf Twitter teilt,
und was einst mit Bierdunst und Bier-
bäuchen in Kneipen einherging, steht
inzwischen unter Beobachtung von
Wissenschaftlern und bohrend nachfra-
genden Journalisten. »Darts-Forschung
ist sehr mühsame Arbeit«, hat erst kürz-
lich der britische Darts-Soziologe Patrick
Chaplin betont. Der Darts-Sport hat
inzwischen auch seine eigenen medizi-
nischen Syndrome entwickelt, darunter
Yips (unwillkürliche Bewegungen der
Hand – wie bei Golf und Tennis) und
Dartitis (eine eigentümliche Hemmung,
den Pfeil loszulassen). Für die Befiede-
rung wurde eine mathematische Be-
messungsgrundlage etabliert, der soge-
nannte VAX (Vossberg Aero Index), es
gibt Trainingspläne, Meditationsübun-
gen, Kataloge mit Fragen nach der rich-
tigen inneren Einstellung. Und nachdem
es einmal so weit war, konnte es nicht
ausbleiben, dass auch der Schritt von den
mentalen Voraussetzungen zu den kör-
perlichen getan wurde – mit anderen
Worten, dass Bierbauch, Körpergewicht
und kneipentypischer Lebensstil zu hin-
terfragen waren. Ja, der Fitnessgedanke
hat den Darts-Sport spätestens bei dieser
WM erreicht und wird ihn wohl endgül-
und bin dafür eingetreten, dass Frauen tig aus seiner angestammten, proletarisch
als sie selbst wahrgenommen werden, entspannten und unvernünftig gemütli-
nicht als rückständigen Traditionen chen Kumpelwelt vertreiben.JENS JESSEN
verhaftetes Phantasma.
Ich bin Vivienne nur einmal per-
sönlich begegnet, das war in New York,
wo sie und Donatella Versace gemein- NETFLIX
sam mit mir den Fashion Legend
Award des amerikanischen Modever-
bands in Empfang nahmen. Vivienne
und Donatella haben lange Dankes-
Murder, Mystery
reden gehalten. Ich war als Letzte dran
und wurde immer nervöser, weil ich
und Milliardäre
mir keine Rede zurechtgelegt hatte. In
der Laudatio auf mich war viel von
Warum das Internet den
»purity« die Rede, und als mir dann der Film »Glass Onion« liebt
Preis überreicht wurde, fiel mir nur ein
Satz ein: »I thank you in my purest way.« Daniel Craig als queerer Meisterdetektiv,
Es macht mich traurig, dass Vi- Hugh Grant als sein Lover und Haus-
vienne Westwood uns verlassen hat. mann, Edward Norton als wahnsinniger
Ihr Weggang erinnert mich daran, dass Tech-Milliardär, der die Menschheit fast
die Zeit kostbar ist und man sie nutzen in die Apokalypse führt: willkommen bei
muss. Aber ich spüre immer noch die Glass Onion, dem Film, der zunächst im
Energie, die sie, Donatella und mich Kino floppte – und dann schon kurz
ein Leben lang beseelt hat, uns drei nach Streaming-Veröffentlichung rund
Preisträgerinnen, die in ihrer Arbeit so 35 Millionen Zuschauende auf die
konträr waren. Couch lockte. Und noch eine Woche
30#%
sparen
+ Geschenk
sichern!
Füllfederhalter
von Cerruti
040/42#23#70#70*
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
später reden auf Social Media alle über
die Netflix-Produktion des Regisseurs
Rian Johnson.
Twitter liebt Daniel Craig, der sich
hier neu erfindet, jetzt, wo James Bond
tot ist. Er ist Benoit Blanc – ein Detektiv,
der ganz in der Tradition von Hercule
Poirot steht und trotzdem kein Mann
von gestern ist, kein Macho, der die
Miene auch unter Schmerzen kaum ver-
zieht. Ein woker Sherlock Holmes, der
im stylishen kurzen Zweiteiler mit Hals-
tuch seinen bisher schwierigsten Fall lö-
sen muss: Der Milliardär Miles Bron hat
auf eine einsame Insel geladen zu einem
Murder-Mystery-Wochenende, bei dem
bald ein echter Toter auf dem teuren
Teppich liegt. Das Spektakel ist eine
Momentaufnahme pandemischer Zei-
ten, der Film spielt im Mai 2020 (»Kön-
nen wir uns umarmen? Ich würde dich
so gerne umarmen!«); und er ist ein
Feuerwerk popkultureller Referenzen,
die nun seit einer Woche auf Twitter auf-
gespürt, durchgekaut und als Memes
wieder ausgespuckt werden. Für so was
liebe ich das Internet. Man freut sich
über Blancs funky Softness und über das
Gegenwartspersonal, das den Kreis der
Verdächtigen bildet: ein It-Girl, dem das
Handy weggenommen wird, um sie vor
der »Cancel-Culture« zu schützen; ein
misogyner Muskel-YouTuber und Waf-
fennarr; eine korrupte Politikerin. Am
Ende geht sogar – Achtung, Spoiler – die
Mona Lisa in Flammen auf. Welcher
Film könnte uns besser auf 2023 ein-
stimmen? MARIE SER AH EBCINOGLU
SKI ALPIN
Na, sofort
eigentlich
Olympiasieger Matthias
Mayer tritt zurück
Der ORF-Reporter hatte freundlich und
geduldig am Fuße der Piste gewartet mit
seinem roten Mikrofon, in Routine ge-
hüllt: Wie war die Besichtigung der
Strecke? Wie geht’s? Alles klar? Und Mat-
thias Mayer, dreifacher Olympiasieger
aus Österreich, antwortete freundlich: Es
gehe ihm gut, er sei topfit, die Strecke sei
super. Aber er höre jetzt übrigens auf. »Es
reicht einfach.« Danke an alle, und er sei
gespannt, wie es nun weitergehe. Der
konsternierte Reporter spricht von »Pau-
kenschlag« und fragt, wann der denn
geplant sei, dieser Rücktritt? Am Ende
der Saison? »Na, sofort eigentlich«, sagt
Mayer. »Es reicht mir.« Spät am Abend
hat man ihn mit einer Tüte in der Hand
das Mannschaftshotel verlassen sehen.
Ja, kann man denn einfach so aus
seinem Leben spazieren? Nach all dem
Training? Dem Sich-selbst-Bezwingen?
Dem ganzen langen Weg zu Ruhm,
Erfolg? Will man dann nicht wenigstens
einen letzten Applaus? Einen letzten
Sieg? Tränen? Manche sagen: Es war nur
ein Trick. Und er plane noch was. Er
wirkte aber einfach: wie ein zufriedener
Mensch. VOLKER WEIDERMANN
10"€ Thalia-Gutschein
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023
I
m Frühjahr 1980 begann ich ein Buch
über einen britischen Arktisforscher zu
schreiben, der eine befahrbare Passage
durch das Inselgewirr im Norden Kana-
das gesucht hatte, aber schließlich mit
seinen Männern im Eis stecken geblieben
und 1847 gestorben war. Das Leben und
Schicksal dieses Verschollenen hatte mich schon
als Schüler beschäftigt, er war meine wichtigste
Entdeckung im »Großen Meyer« gewesen, und –
er gehörte mir allein! Niemand im Dorf oder in
der Schule wusste von ihm. Was ich mir damals
erträumte: eine allerletzte Expedition zu leiten, die
nach den Schiffswracks von Erebus und Terror und
den Gräbern Sir John Franklins und seiner Mann-
schaft suchte. Ich übte schon mal, indem ich mit
dem Paddelboot über die Chieminger Bucht zum
Delta der Tiroler Ache fuhr und dort »forschte«.
Etwas über Franklin zu schreiben, plante ich nicht.
Schreiben, das taten meine Eltern, und dass
Schriftsteller kaum in der Lage sind, Expeditionen
auszurüsten, war mir früh klar. Mein Ziel war,
Wirtschaft zu studieren und alles Nötige über
Geld zu lernen, damit ich genug davon für ein
arktisfähiges Schiff zusammenkriegte. Als Erwach-
sener gab ich das auf und studierte Geschichte.
Aber es hielt sich die Idee, über diesen vom Pech
verfolgten, indes unermüdlich zuversichtlichen
Seemann wenigstens eine Doktorarbeit zu verfas-
sen. Der Professor schüttelte den Kopf und lachte.
Ohne Spott, eher dankbar: Es war das Jahr 1968,
und viel zu lachen hatten Professoren da nicht.
Als angehender Lehrer entdeckte ich für mich
doch noch das Schreiben, zunächst als Tagebuch-
schreiben während einer absichtlich ziellosen
Ferienreise kreuz und quer auf dem Schienennetz.
Sie entsprang purem Freiheitsbedürfnis. Nach Jah-
ren der Systemkritik und der theoretisierenden
Abgehobenheit war bei vielen eine Art Heimweh
nach unmittelbarer Wahrnehmung entstanden,
»Erfahrungshunger« nannte das Michael Rutschky.
Vieles bekam durch dieses neue Bedürfnis nach
Beobachtung und Staunen frischen Schwung.
Ich gewann meine Balance als Individuum vor
allem durch das genaue Aufschreiben dessen wieder,
was ich sah und dachte, bald aber auch durch das
Erfinden von Dingen, die weder zu sehen noch
ernstlich zu denken waren. Besonders Letzteres
wurde zur Grundlage einer gut gelaunten neuen
Subjektivität und – des Schreibens! Denn dieser
Beruf schien mir inzwischen doch denkbar. Ich war
jetzt auch bereit, der Welt etwas über John Franklin
zu erzählen. Doch ganz unabweislich stellte sich die
Frage: Was war denn an meinem Freund aus der
Vergangenheit für Leser interessant? Da gab es nur
eine Marinekarriere voller Schlachten und Expedi-
tionen, aber nichts von exemplarischer Bedeutung.
Ich suchte wenigstens nach einer unverwechselbaren
Eigenschaft. Und da ich mich selbst oft im Leben
als langsam erfahren hatte – das tut ohnehin jeder,
der eine ungewohnte Tätigkeit aufnimmt –, be-
schloss ich, Franklin als einen Langsamen darzustel-
len, extrem langsam über seine historisch verbürgte
Bedächtigkeit hinaus. Eine medizinische Begrün-
dung konstruierte ich nicht. Franklins Handicap
sollte ein unverstellt literarisches bleiben.
Ende 1982 war ich fertig. Ich hatte in das Buch,
obwohl es aus einer Zeit vor anderthalb Jahrhun-
derten erzählte, viel von mir selbst und von der
Gesellschaft hineingepackt, in der ich lebte. Auch
die Erfahrungen von 1968 grüßten noch einmal
herüber, in einem Kapitel namens »Der eigene
Kopf und die fremden Ideen«.
Das Buch erschien 1983 und hatte Erfolg, zu-
nächst langsam, aber im Lauf der Monate und Jahre
nahm er Fahrt auf. Man fragte mich, wo ich den
Grund dafür sähe. Ich entgegnete patzig, das Buch
sei womöglich gut geschrieben. Erfolg ist etwas, von
dem die Erfolgreichen regelmäßig glauben, sie hätten
ihn sich eben erarbeitet. Aber manchmal ist er auch
ein Rätsel – nicht einmal das Wort Wunder lässt sich
immer vermeiden. Die Arbeit ist Voraussetzung, aber
sie garantiert ihn nicht.
In den Achtzigerjahren war ich mit dem Zeitgeist
ziemlich einverstanden. Dieser war pazifistisch, und
ich war es auch. Ich wusste und wollte, dass es ohne
Waffen geht. Das weiß ich heute noch, Voraussetzung
ist nur, dass es auch alle anderen wissen und wollen.
Aber daran glaubten wir eben. Das Problem sahen wir
im Vorhandensein von Waffen, die beim geringsten
Missverständnis Fürchterliches anrichten konnten.
Was ein Ding zur Waffe macht, das ist eine so
hohe Annäherungsgeschwindigkeit, dass das Op-
fer nicht ausweichen kann. Langsame Bewegun-
gen erscheinen friedlicher und sind es meist auch.
Wer unwandelbar langsam ist wie John Franklin,
der kann im Leben nur friedlich vorankommen.
Und klar ist nicht nur ihm: Frieden ist das Beste
auch für alle Schnellerkönner. Damit passte der
Roman in die Landschaft, ohne dass ich zuvor
darüber groß nachgedacht hätte. Während des
Schreibens aber, als ich meine Hausaufgaben
machte, um Johns geistige Selbstbehauptung
gegen die schnelleren Leute zu entwickeln, wurde
mir erst klar, dass das Thema mehr hergab. »Lang-
samkeit« konnte für die Zeit stehen, die man für
Nachdenken und Beobachtung, für das Vorberei-
ten wichtiger Entscheidungen, für jegliches kreative
Tun braucht, auch für den glücklichen oder sogar
rettenden Fund am Wegesrand, wenn man das
Auge und die Zeit für scheinbar Nebensächliches
hat. Vieles (aber nicht alles) im Umgang mit Men-
schen und Dingen ist notwendig langsam. Ge-
rechtigkeit, Forschung, Kursbestimmung, Quali-
tät, Bauen, Kunst, Zärtlichkeit und vieles Mensch-
liche mehr, sie vertragen kein eiliges Hopphopp.
FEUILLETON
Gerechtigkeit, Kursbestimmung und Zärtlichkeit gehen schlecht unter Zeitdruck
Die Wiederentdeckung
der Langsamkeit
Sein Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit« machte
STEN NADOLNY weltberühmt. 40 Jahre später schaut der Schriftsteller
auf unsere beschleunigte Gegenwart
Ich liebe mein Buch nach wie vor und bin froh, Einzelne in seiner wachen Zeit zu bewältigen hat,
dass ich es so geschrieben habe, wie es ist. Denn dann dürfte der Satz (meistens) stimmen. Man sollte
weil ich damals eigentlich nur erzählen wollte, wie aber der Ordnung halber unterscheiden zwischen
John Franklin zu seinem individuellen Zeitbedarf diesem gefühlten Schnellerwerden einerseits – also
steht und sich mit diesem auch in schwierigen dem steigenden Druck auf den Menschen von
Situationen zu behaupten weiß, ist kein Essay und außen – und der Frage nach dem Wie und Wo
kein Lehrbuch für das richtige Leben entstanden, vernünftiger Langsamkeit, sozusagen nach ihrem
sondern ein Roman. Revier. Ein Hastiger macht seine Flüchtigkeitsfehler
Da ich nun gebeten worden bin, mitzuteilen, wie unabhängig davon, ob er zur Hast gezwungen wurde
ich heute das Buch und die inzwischen eingetretenen oder ob er von sich aus dazu neigt. Fest steht: Je mehr
Veränderungen in Sachen Geschwindigkeit beurtei- einer außer Acht lässt, desto schneller kann er
le, will ich das versuchen. Gewiss könnte man ein »Fertig!« rufen, und desto größer ist die Wahrschein-
ganzes Buch darüber schreiben, aber das habe ich lichkeit, dass das Ergebnis nichts taugt.
nicht mehr vor – vielleicht tun es andere. Ich sage zunächst etwas über die Gesellschaft, in
Dass das selbstbestimmte Individuum, dieses ehr- der ich lebe, und selbstverständlich tue ich es laienhaft.
würdige Geschöpf der Aufklärung, immer weniger Ihre Wirtschaftsweise ist, kein Zweifel, kapitalistisch.
Zeit für sich hat, wird oft mit dem Satz ausgedrückt: Sie folgt einer uralten unternehmerischen Regel, die
»Die Welt wird immer schneller!« Nehmen wir die mit der Verfassung, also der Festsetzung, wie wir mit-
»Welt« als die Summe der Anforderungen, die der einander leben und umgehen wollen, nicht unbedingt
Foto: Nicolas Polli
harmoniert. Die Regel lautet: Sieh zu, dass du so viel
Profit machst wie möglich, bevor andere aufwachen,
das Gleiche produzieren und deinen Profit schmälern.
Der »tendenzielle Fall der Profitrate« drängt also zur
Schnelligkeit und dazu, ihr viel, sehr viel zu opfern.
So recht gemütlich klingt das schon mal nicht, jeden-
falls nicht für abhängig Beschäftigte. Längst haben
zwar Gewerkschaften und Staat dafür gesorgt, dass es
zu keinen Exzessen der (auch arbeitszeitlichen) Total-
ausbeutung mehr kommt, aber ein Faktum bleibt:
Wer schneller arbeitet, ist willkommen, der Lang-
samere und Gründlichere kann sich sehr unbeliebt
machen. Kommerzialisiertes Denken neigt nun zur
Expansion und erfasst nicht nur Firmen, die etwas
verkaufen, sondern auch Institutionen, die profitfrei
dem Allgemeinwohl dienen sollen: Selbst das, was in
Universitäten geschieht, Forschung und Lehre, soll
sich heute möglichst rechnen. Das hängt zunächst gar
nicht logisch mit einer Profitrate zusammen, sondern
41
mit einem etwas kurzsichtig gewordenen Hausvater
Staat, der alle Kosten vermeiden muss, die seine Wäh-
ler nicht verstehen könnten. Sein scheinbar elegan-
tester Weg, das Problem außer Sicht zu schaffen, heißt
Privatisierung. Das Ergebnis ist so oder so: Tempo-
steigerung, wachsende Überforderung der Mitarbei-
ter. Es genügt ein Blick auf Paketboten, Lieferdienste,
aber auch auf das Geschehen in Krankenhäusern und
Altersheimen. Zum Kapitalismus selbst noch: Nie-
mand kann ihn abschaffen. Einige wollen es, aber um
ihn durch was zu ersetzen? Danke, vielen Dank!
Gewiss, er ist das alte Raubtier, aber man konn-
te doch hoffen, er sei eingehegt und greife nicht
die Wurzeln des Lebens an. Es gibt ihn doch, den
Feierabend, den Sonntag, den Urlaub, vor allem
gibt es die Privatsphäre, in der jeder über »schnell«
oder »langsam« selbst entscheiden kann. Die ge-
zähmte Bestie kann viel, wir brauchen sie! Die Ge-
schwindigkeit der Innovationen ist ja keineswegs
von Nachteil für unser Wohlergehen. Doch leider
neigt dieses Wirtschaftssystem dazu, auch Quatsch
zu produzieren, wenn sich ein Bedürfnis danach
wecken lässt. Und einiges ist dem Kapitalismus
fremd: für Menschen zu sorgen, die kein Geld ha-
ben. Denen hilft, so hoffen wir, der Staat. Und
dass ich es nicht vergesse: Menschen helfen sich
gegenseitig. Sie tun es tatsächlich.
Das entscheidend Neue, das seit dem für mich so
wichtigen »Entdeckungs«-Jahr 1983 aufgetaucht ist,
sind natürlich die Computer. Die Digitalisierung,
der riesige Zuwachs an Kommunikationstechnik.
Auch das alles kann man nicht etwa rückgängig
machen, und ich sehe keinen, der es für nötig oder
möglich hält. Die Smartphones für jedermann, die
unglaublichen Rechenleistungen – es handelt sich
um einen faszinierenden technischen Fortschritt, von
dem vor 40 Jahren kein normaler Mensch auch nur
eine blasse Ahnung hatte.
Für die Frage der Zeitsouveränität des Individu-
ums (also auch für seine Entscheidung, langsam zu
sein, wo das mehr Freude oder mehr Erfolg verspricht)
hat diese Entwicklung große Bedeutung: Diese
Technologie bringt Informationen (und Aufforde-
rungen zur Reaktion) nicht nur ins Haus wie vor
hundert Jahren Radio und Fernsprecher, sondern
sozusagen an den Körper, wo immer der sich gerade
befindet. Wir müssen uns all diese Wundergeräte
nicht zulegen, tun es aber früher oder später, weil wir
sonst Nachteile befürchten müssen, und nur wenige
nehmen die in Kauf. Auf all den vielen Informations-
kanälen könnte ja jederzeit etwas Wichtiges ange-
kommen sein, daher »checken« wir sie immer fleißi-
ger, das allein schon kostet Zeit. Und öfter sind wir
in regelrechter Verzweiflung, weil die nervöse und
anfällige Computertechnik sich aus rätselhaften
Gründen wieder mal verweigert und wir viel Zeit (und
den Spezialisten) brauchen, bis alles wieder läuft.
»Information«, das ist auch Werbung. Was sich
da im Internet und in den Mailkonten tut, lässt
mich belustigt an die Klagen der 68er über »Kon-
sumterror« zurückdenken. Neuerdings ist kaum
noch eine Information, die man sucht, ohne einen
Haufen Werbung zu haben, nach dem man nicht
gesucht hat, und gelegentlich muss man sogar
dafür ein Abo abschließen, aus dem schwer wieder
herauszukommen ist. Information, das sind ferner
auch Phishing-Mails, Ausforschungs- und Betrugs-
versuche. Wir lernen, am Telefon bei der Abwehr
eines ungebetenen Werbeanrufs das Wort »Ja« zu
vermeiden, weil es als Zustimmungsbeweis fungie-
ren könnte. Persönliche Daten müssen wir immer
wieder mal preisgeben, wenn wir die Vorteile des
Internets nutzen wollen. Auch diese Daten bedeu-
ten für irgendwelche Verwerter Profit. Ich muss
mit den Beispielen nicht fortfahren. Das Raubtier
hat sich gewandelt: Den hungrigen Tiger konnte
man noch durch eine massive Tür davon abhalten,
ins Haus vorzudringen. Seit er sich per Digitalisie-
rungszauber in einen Korb voller Giftschlangen
verwandelt hat, schafft er es durch Ritzen und
Spalten leicht zu uns hinein und beschäftigt uns
allzu oft und lange mit der Abwehr.
Ich denke aber, es ist nicht nur die Wirtschafts-
weise und es sind auch nicht nur die jeweils neuen
Technologien, die so viele Menschen über eine
schneller werdende Welt klagen lassen. Auch vor
über hundert Jahren gab es dieses Gefühl, und zu
John Franklins Zeiten ebenfalls. Denn es gehört
eben auch zur allgemeinen Psychologie des Älter-
werdens, die zu studieren ich jetzt reichlich Ge-
legenheit habe. In der Klage »Die Welt wird immer
schneller« kann sich auch etwas ausdrücken, was
jeder Mensch irgendwann erlebt – vielleicht als
Kind schon, vor allem aber in den späten Jahren:
das Gefühl, ihr nicht gewachsen zu sein, zurück-
zubleiben. Wilhelm Busch hat sich zu dieser Frage
eine Spur kürzer geäußert: »So ist nun mal die Zeit
allhie’ – erst trägt sie dich, dann trägst du sie.«
Ich liebe es, Dinge zu reparieren. Das Kleben einer
in 17 Scherben zersprungenen Vase ist völlig unwirt-
schaftlich, kostet mich fast einen Tag und ist schon
deshalb ein seltsames Unterfangen, weil die Vase nie
von irgendwem besonders geliebt wurde. Während
ich daran arbeite, vergesse ich alles andere. Es gibt
nur diese Scherben und Bruchkanten, es gibt die
Konzentration auf die Reihenfolge des Klebens und,
ja, auch Eile, weil der Klebstoff schnell fest wird. Ich
bin während dieses Tuns außerhalb meiner selbst und
zugleich ganz bei mir. Wenn die Vase fertig ist, bin
ich erschöpft, gleichzeitig aber im Kopf ausgeruht
und besser gerüstet für die Aufgaben, die schon lange
drängen. Warum ich das erzähle? Ich bin Erzähler.
Sten Nadolny, 1942 geboren, ist Schriftsteller.
Zuletzt erschien von ihm der Roman
»Das Glück des Zauberers« (2017)
42
VON UNTERWEGS GESENDET
Vieles könnte so
einfach sein
Süß, der Kleine: Warum Namen wirklich alles andere als
Schall und Rauch sind VON CHRISTINE LEMKE-MATWEY
Der jüngste Mensch, den Frau Holz und Fräu-
lein Schlüter persönlich kennen, ist anderthalb
Jahre alt und trägt einen so exklusiven mythi-
schen Vornamen, dass dieser hier besser nicht
genannt werden soll. Aus Gründen des Persön-
lichkeitsschutzes, mit dem man nicht früh genug
beginnen kann, aber auch um die Wahrheit in
dieser Kolumne nicht über die Dichtung trium-
phieren zu lassen. Dann ist nämlich ganz schnell
gar nichts mehr lustig, dann verschmelzen Frau
Holz und Fräulein Schlüter, die beiden Seelen in
meiner Brust, zu einem mittelmäßigen Kolumnen-
Ich, mittelalt, unkündbar, kinderlos und mittel-
weiß, und die blonde Frau Lambrecht bleibt
Verteidigungsministerin. Ernsthaft kann das im
politischen Berlin niemand wollen.
Schön allerdings ist auch nicht, was unlängst
in der Kita unseres jüngsten Freundes geschah.
Zum wiederholten Male wurde er von einem
wenig älteren Knaben gehauen, einfach so, ohne
Grund, und statt sich zu entschuldigen, erkun-
digte sich dessen Mutter bei der an diesem
Nachmittag babysittenden Fräulein Schlüter da-
nach, wie das unschuldig wimmernde Opfer
eigentlich heiße. Kaum hatte sie es erfahren, rief
sie aus: »Ein so großer Name für eine so kleine
Gestalt!« Die Szene spielte auf dem Land, nähere
Details sind der Redaktion bekannt – und auch
dass die kindliche Schlägertype ihrerseits nach
einem Erzengel benannt war. Leider wusste
Fräulein Schlüter zu Hause nicht mehr, nach
welchem, Raguel, Remiel? Zadkiel?
»Nie hörst du richtig zu!«, schimpfte Frau
Holz, die sich über Geschichten, die man ihr er-
zählte, fast noch mehr aufregen konnte als über
Selbsterlebtes. »Es macht doch wirklich einen
Unterschied, ob das Balg als Raguel Rühr-
schneck ins Leben geht, als Engel der Gerechtig-
keit, oder als Remiel Rührschneck, als heiliger
Wächter des Herrn!« Fräulein Schlüter, die gerade
versuchte, ihrem Helden der griechischen My-
thologie die Windeln zu wechseln, musste an
den aufgebahrten Papst denken und murmelte,
dass Raguel bei einer sich so ankündigenden
Biografie wohl kaum infrage komme. »Warum
heißt es ›No jokes on names‹?«, ereiferte sich Frau
Holz weiter. »Was denkst du?«
Zwischen den Schwestern erhob sich eine
Kunstpause kathedralischen Ausmaßes. Sie ge-
nossen den Moment, irgendwann fuhr Frau
Holz fort: »Weil man an Rührschneck oder
Brühschwein nichts ändern kann und weil nicht
große Namen für kleine Gestalten das Problem
An dieser Stelle erscheinen
im Wechsel vier Kolumnen. Lesen Sie nächstes Mal
»Über den Linden« von Maxim Biller
ANZEIGE
sind, sondern kleine Namen für große Gestalten!
Wie soll eine Christine jemals unserer maroden
Panzer Herr werden, ein Robert die Aporien der
Weltwirtschaft lösen und eine Ampel aus Sas-
kias, Larsens, Ricardas, Omids und Christians
im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit erwir-
ken, um in Deutschland ein Wahlrecht ab 18
Monaten zu etablieren?« Frau Holzens Augen
blitzten, und auch die Windel saß.
Für sein zartes Alter verfügte der Winzling
bereits über eine respektable Bibliothek. Darun-
ter Klassiker wie Goethes Faust, aber auch viel-
sagende neuere Titel wie Das Neinhorn oder Das
kleine Ich bin ich, alles mindestens dreisprachig,
versteht sich. Seine absolute Hitliste aber führ-
ten sogenannte Soft-Touch-Soundbücher an, in
denen sich alles Polyglotte insofern erledigt, als
das kleine Fingerchen bloß auf gut markierte
Knöpfchen drücken muss – und schon macht es
Muh oder Mäh, Ratterknatter und Zischzong.
Der nicht unbeträchtliche bellizistische Anteil
der Geräusche irritierte Fräulein Schlüter, zumal
sie den Anderthalbjährigen dabei beobachtete,
wie er den Knöpfchen zunehmend mit Gerät zu
Leibe rückte, um die Intensität der Effekte zu
steigern. Nun, die alten Griechen waren kein
sonderlich friedfertiges Volk. Und an allem ist
sowieso nur Wladimir Putin schuld.
Während Frau Holz mit dem Kleinen also
hingebungsvoll ratterte und knatterte, zischte
und zongte und ihn nebenbei im fachgerechten
Gebrauch von Messer, Schere, Feuer und Licht
unterwies, plagte sich Fräulein Schlüter an ihrem
Rechner mit dem neuesten Update eines virtuel-
len Sicherheitstrainings. Darin ging es um Elias
und Nele, zwei jugendliche Büroangestellte, die
im Umgang mit Cyberkriminellen unverständ-
licherweise so ziemlich alles falsch machten. Was
ihre Firma an den Rand des Ruins trieb.
Die Cyberkriminellen sahen wie Coronaviren
auf Altmännerbeinchen aus, oder sie trugen un-
ter fiesen schwarzen Hoodies fiese schwarze Son-
nenbrillen und Bärte. Beides fand der Baby-
Grieche so interessant, dass er von So klingt die
Welt und von Frau Holz abließ und mit seinen
klebrigen Händchen begeistert auf die Tastatur
patschte. Sofort machte es »Pling!«, die Hoodies
fuhren keuchend zur Hölle – und Fräulein
Schlüter hatte ihre Datenschutzlektion bestan-
den. »Weißt du«, sagte sie zu ihrer Schwester, als
der Kleine schlief, »ein bisschen schade ist es
schon, dass wir keine Kinder haben. Die Welt
wäre so viel leichter zu verstehen.«
FEUILLETON
In lebenslanger Proust-Hypnose: Roland Barthes, Mitbegründer des
Poststrukturalismus, 1975 in seinem Arbeitszimmer
Roland Barthes hat hinreißende Notizen über Marcel Proust hinterlassen. Wir entdecken
seine womöglich größte Passion VON HANNS-JOSEF ORTHEIL
Die Überwältigung setzt unauffällig und langsam
ein – als 17-jähriger Schüler liest Roland Barthes
zum ersten Mal in dem großen Romanzyklus der
Recherche von Marcel Proust. Er nimmt etwas Irri-
tierendes daran wahr und hält erstaunt fest, dass
Proust eine Art Prosadichter sei. Einerseits gebe es
eine einfache, prosaische Handlung, andererseits
werde sie so lange analysiert, bis sämtliche sie berüh-
renden Empfindungen angeklungen seien. Das
gewaltige Erzählwerk wird mit den Jahren zu einem
Köder, den er mal heftiger, mal lässiger durchstreift,
als müsste er ihn verarbeiten, um ihn im Rahmen
einer festlichen Mahlzeit endgültig zu verzehren.
Er nähert sich diesem Projekt auf Schleich- und
Umwegen, liest Proust-Biografien und schreibt
erste, kurze Essays, die scheinbare Seitenthemen
behandeln. Schließlich wird er zum eifrigen Lehrer,
der Unterrichtsmaterial zu einer Proust-Vorlesung
zusammenstellt. Längst gärt Prousts Werk aber der-
art in ihm, dass er es von seinem eigenen Schreiben
nicht mehr fernhalten kann. Seine Proust-Hypnose
besteht aus der enormen Macht, die von der Re-
cherche ausgeht, sie greift ihn an und zwingt ihn, sich
endlich zu Proust und zu jener Libido zu bekennen,
die in ihm so sehr nach Proust verlangt.
Entschlossen greift er die Fäden auf, indem er
einer Einladung des Hörfunksenders France Culture
folgt. An der Seite eines Begleiters geht er jene Stra-
ßen ab, in denen Proust gelebt, gewohnt und gearbei-
tet hat. Sie befinden sich vor allem auf dem rechten
Seineufer, in den Bezirken der mondänen Aristokra-
tie. Barthes hingegen wohnt seit Jahrzehnten auf der
Rive Gauche, zusammen mit der Mutter in einem
unauffälligen Haus nahe der Kirche Saint-Sulpice.
Ein Mensch, eine Stadt ist der Harmlosigkeit vor-
täuschende Titel der Hörfunkreihe. Barthes’ Mono-
loge führen in die aufgeladenen Zentren seiner
Emphase, nichts entgeht ihm; kein Balkon, keine
Gaslaterne, die er nicht als Zeugen seiner Proust-
Fantasien aufruft und deutet. Längst hat er begon-
nen, seine Einfälle und Lektüren auf jenen immer
1 Monat
gratis testen
Auf der Suche
nach dem
großen Roman
gleichen Karteikarten aus Bristolkarton zu vermer-
ken, von denen es schließlich allein dreitausend zu
Proust geben wird. Ihr Fließen und ihre Seitenarme
bilden das Gegenwerk zur Recherche, das im
Geheimen entsteht und erst in eigens dafür insze-
nierten Ritualen in die Öffentlichkeit entlassen wird.
Dazu bedarf es eines Schlags, der die Befreiung
von der Hypnose einleitet. Nach dem Tod der Mut-
ter führt er ein isoliertes, nächtliches Pariser Leben,
von dem er immer wieder allein in das früher gemein-
same Wohnhaus zurückkehrt. Dort überlässt er sich
seiner Trauer, die er mit der Hilfe jener Fotografien
gestaltet, auf denen die Gestalt der Mutter noch wie
von ferne erfahrbar erscheint. Der Griff zu den Foto-
grafien – er übersetzt den Griff Prousts in ein
Kästchen, in dem sich die Fotografien der Vorbilder
seiner Romangestalten befanden.
Von da an glaubt Barthes, den Schlüssel zu Proust
gefunden zu haben. Nicht einen banalen, indem
Freunde und Bekannte Prousts zu Vorbildern seiner
Gestalten degradiert werden, sondern jenen intimen,
der Proust mit der Fotografie verbindet. Es ist die
emphatische Erregung eines »So ist es gewesen!«, die
eine Fotografie erhellen und zum Motivgeflecht einer
erzählten Erinnerung machen kann. Darüber hinaus
erkennt Barthes eine entscheidende Parallele: Proust
hat die Arbeiten an der Recherche nach dem Tod
seiner Mutter begonnen, erst mit diesem einschnei-
denden Ereignis kommt das Erzählen »in Gang«.
Dieser Schlüssel fordert von Barthes das Letzt-
mögliche: ein Buch zu schreiben, das mit seinem
bisherigen essayistischen Schreiben bricht und sich
in ein erzählendes verwandelt. Die helle Kammer ist
der bezeichnende Titel dieses Essays, den er einen
»Versuch über die Fotografie« nennt und in dem er
anhand von Fotografien seiner Mutter die Erstauf-
stellung eines möglichen Romans entwirft.
Eine ungefähre Dramaturgie ist damit gefunden,
Roland Barthes aber besinnt sich noch einmal und
weicht vor dem endgültigen Schritt zum Roman in
eine breit angelegte Vorlesung aus. Die Vorbereitung
»WAS MICH
BERÜHRT«
In der neuen W+ Kolumne »Was mich berührt«
erzählt Bestseller-Autor Daniel Schreiber
von Werken, die ihn besonders bewegen –
exklusiv bei WELTKUNST ONLINE.
Jetzt entdecken und Teil der neuen
Kunstcommunity werden!
www.weltkunst.de/wplus
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
Foto: Graeme Baker/Action Press; Illustration: Rachel Levit für DIE ZEIT (l.)
des Romans ist ihr Titel, in ihr bündelt er sein ganzes
Wissen um jene Kräfte, die zum »kreativen Schaffen«
gehören. Barthes hat sie ein großes Rätsel genannt
und eigens hervorgehoben, dass es »die einzig rele-
vanten für den, der schreiben will«, seien.
Er will jetzt »den« Roman schreiben, vorher aber
geht es noch darum, die ganze Stufenleiter der Lö-
sung des Rätsels aufwendig zu zelebrieren. All seine
Fantasien über das Schreiben erstehen in der Vor-
lesung noch einmal auf, vom Geschenk der Inspira-
tion über die Kraft des Begehrens und die Wollust
der Abschweifung bis hin zu der Idee des Buches,
den letzten Zweifeln und der Idee des Lebens als
Werk, die er mit dem Blick auf Proust jahrzehntelang
in all ihren dramaturgischen Kniffen studiert hat. Als
er wenig später nach einem Unfall stirbt, weiß die
Öffentlichkeit von diesen prägenden Linien seines
Lebens nur wenig, kaum vierzig Seiten hat er bis
dahin über Proust preisgegeben.
Erst im Nachhinein erfahren wir von all diesen
Zusammenhängen, durch die Aufsätze und Notizen,
die der Herausgeber Bernard Comment nun in
einem wunderbaren Buch gesammelt hat, das die
Proust-Faszination von Roland Barthes selbst wieder
zu einer Entstehungsgeschichte großer Literatur der
Moderne macht. Wir tauchen ein, wir sezieren mit
ihm, wir leiden und folgen ihm bis zum Letzten.
Auf einer der zweihundert in diesem Band abge-
druckten Karteikarten befindet sich eine unschein-
bare Offenbarung: »Proust erinnert sich an einen
Moment in den letzten Tagen vor dem Tod seiner
Mutter, als sie vergeblich versucht hatte, ihm etwas
zu sagen. (Mam: ›Mein R, mein R ...‹)«
Roland Barthes: Proust. Aufsätze und Notizen;
hrsg. v. Bernard Comment; aus dem Französischen
von Horst Brühmann und Bernd Schwibs; Suhrkamp
Verlag, Berlin 2022; 343 S., 28,– €
Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil veröffentlichte
u. a. »Die Pariser Abende des Roland Barthes«
 DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023 FEUILLETON 43

Literatur

MENSCHENKENNTNIS
AUS ALTPAPIER
Arno Geiger erzählt in seinem neuen Buch, wie er durch das Durchforsten
von Müllcontainern zum Literaten wurde VON EBERHARD RATHGEB

A
ngetrieben von einem Zufalls- men privaten Umlauf von Gefühlen und Ge- können, dass sie alle Karten auf den Tisch legen Jetzt liegt das Geheimnis offen. Ein Schriftsteller Steckt im
fund, machte sich eines Tages danken schöpfte, ungekünstelte Wendungen sollten, die sie in der Hand haben, wird es ihnen hat sein Handwerk nicht nur bei der Lektüre der Weggeworfenen
der junge Arno Geiger auf menschlicher Unmittelbarkeit. vielleicht so ergehen wie Arno Geiger, als er sich Werke von berühmten Kollegen wie Gustave Flau- nicht immer
den Weg, die Altpapierton- Davon erzählt er in diesem Buch. Und da er daranmachte, dieses menschenfreundliche Buch zu bert oder Philip Roth gelernt, sondern von den auch ein wenig
nen in Wien abzuklappern. ein junger Mann war, erzählt er von seinen schreiben. Es wartet nicht mit abseitigen Enthül- normalen Leuten, aus dem, was sie schrieben. Das Poesie?
Er suchte Bücher, die er lesen Beziehungen zu Frauen. Und da er ein Sohn ist, lungen auf, nur mit einem freimütigen Bekenntnis, ist eine tiefe Neigung zum Leben hin, die sich nicht
wollte, Gedrucktes, das er auf erzählt er von seinen Eltern und vom Pendeln dass er die Menschen, ihr mittelmäßiges, ungeheu- in einer ambitionierten Kunstproduktion verliert.
dem Flohmarkt verkaufen könnte. Ein Schloss zwischen der Stadt, wo er wohnt, und dem Land, erliches Los in ihren entsorgten Briefen und Tage- Nicht umsonst erzählt Arno Geiger wie nebenbei,
schnappte zu, das Sammeln hatte ihn gepackt. wo er herkommt. Und da er ein Schriftsteller ist, büchern gefunden hat. Wer sollte diese Geschichte dass er im Garten schuftet, mit der Sense mäht und
Von nun an drehte er seine Runden regelmäßig. erzählt er von der Literatur und vom Betrieb. nicht gerne lesen. Körbe von Himbeeren pflückt.
Er öffnete einen Deckel nach dem anderen. Das alles macht er so großartig beiläufig, warm- Die Haltung, der Stil, der Inhalt, das alles Arbeitseifer, Ausdauer, das Glück des Finders und
Wenn das Glück neben ihm stand und ihm gut herzig und klug, so entschlossen, gekonnt und stimmt, ist ein Dreiklang, ohne jede Attitüde, Küns- Leidenschaft kamen zusammen, um Schätze, die in den
wollte, sah er ins Herz eines Menschen, er fand frei, dass die Lektüre ein echter menschlicher telei, durchströmt von einem reflektierten Gefühl. Altpapierbehältern traurig und verloren ihrem Ende
Handgeschriebenes, Privates, Notizen, Briefe Gewinn ist. Es gibt nur wenige Bücher, an deren Hier schlägt ein empfindsames Herz, das nach Mit- entgegensahen, zu bergen und zu studieren. Vielleicht
und Tagebücher. Erschöpft und zufrieden fuhr Ende man denkt, es wäre schön, mit dem Autor teilung drängt. Kein Satz fällt, der aus einem Mono- ließe es sich so sagen, dass dieses schöne Buch von
er mit der Beute nach Hause zurück und befreundet zu sein. Dies ist so eins. log stammt. Es gibt hier nur dialogische Sätze, die einem Schriftsteller handelt, der die Menschen in ihren
schlang Brote in sich hinein. Nirgendwo anders Als Arno Geiger bekennt, dass er sich jetzt auf ein Gegenüber gerichtet und auf Verständigung privaten Schriftzeugnissen entdeckte, um ihnen darauf
als in diesen Texten wäre ihm ein eindringliche- nicht mehr so häufig wie früher auf sein Fahrrad aus sind, auch wenn das ganze Leben eine einzige sein öffentliches Werk zu widmen, auf dass sie bleiben,
rer, freierer Blick in das Menschenlos gewährt schwingt, um die Morgenrunden anzutreten, große Unordnung ist, wie die Liebe. was sie waren, unwiederbringliche normale Existenzen.
worden. Jetzt hätte er innerlich Luftsprünge macht der Leser große Augen und mag ihnen
machen können. kaum trauen. Ob er etwa vorhat, das Schreiben ANZEIGE
Diese Funde, wahre Goldstücke, hatten gra- aufzugeben, das ihm doch so gut gelang, dass an
vierende Folgen, für ihn, für sein Schreiben. ein Aufgeben nicht zu denken wäre? Ganz sicher
Dank ihrer kam er den Menschen näher, ohne ist eine gewisse seelische Größe und Stabilität
sich mit ihnen unmittelbar im Alltag herum- vonnöten, eine lang erprobte Ehrlichkeit sich
schlagen zu müssen, er lernte das normale Leben selbst gegenüber und eine unverstellte Einsicht
kennen, von dem seine erfolgreichen Romane in die eigenen künstlerischen Prozesse, um mit
handeln würden. Berge davon las er weg, er dem Abfassen von Romanen, gerade wenn ih- 2 5 J A H R E M U S I K . K U LT U R . L E B E N | D A S M A G A Z I N 25 EURO

reaktivierte, reanimierte den privaten Wortabfall nen schon von ferne der mögliche Erfolg winkt,
einer Stadt und gewann aus den fremden Ver- zum richtigen Zeitpunkt aufhören zu können.
gangenheiten seine eigene Zukunft. Der junge Doch wird man sofort einräumen, dass die vie-
Student Arno Geiger, der in seiner Bude an den len Stunden, die der Altpapiersammler Arno
ersten literarischen Versuchen saß, wurde schließ- Geiger einst auf dem Fahrrad verbrachte, nicht
lich ein mit zahlreichen Preisen ausge- nur von der Hoffnung erfüllt waren,
zeichneter österreichischer Schriftsteller, einen großen Fund zu machen. Sie
der Es geht uns gut schrieb und Alles über waren eine Art memorierende Medi-
Sally, Der alte König in seinem Exil und tation, eine innerliche Einstimmung
Unter der Drachenwand. auf das Erzählen, auf eine Geschichte,
Was für ein seltsamer Zufall, was für die noch zu schreiben wäre, ganz so,
ein riesiges Glück. Und das alles, weil er als gehe er an eine Quelle, nicht um
sich auf einen etwas krummen Weg das lebensspendende Wasser zu schöp- 2
0
neben den üblichen Schneisen des strik- fen, sondern nur um das Plätschern 2
ten Fortkommens und der Dauer- und Rauschen zu hören. Das reicht ja 3

verwertung begab. Er drängte sich hinein mitunter schon.

in die Schattenzonen der gesichtslosen Arno Geiger: Auf keinen Fall möchte man
Außenseiter und herumstreunenden Das glückliche behaupten, dass in diesem Buch ein
Sammler und stöberte stur und emsig in Geheimnis. Autor sein Betriebsgeheimnis gelüftet
aller Früh in den Altpapiercontainern Hanser Verlag, und damit das System seines Schaf-
nach den Winken des Schicksals, denen München fens zum Erliegen gebracht hätte, wie CATE
die Lebensläufe folgen. 2023; 240 S., es bei barocken Gedankengebäuden BLANCHETT
Darin liegt das glückliche Geheimnis 25,– €, passieren kann, wo das Brimborium im deutschen Exklusiv-Interview
über ihren neuen Film
Arno Geigers, von dem sein neues Buch als E-Book der Wörter zusammenfällt, sobald der
Das glückliche Geheimnis handelt: dass er 18,99 € eine tragende Gedanke zum Vor-
ein bekannter Schriftsteller ist, aber eben schein gekommen ist. So ist es hier PETER SLOTERDIJK // Gesellschaft und Musik
ANNE-SOPHIE MUTTER // Empathie und Leidenschaft
auch ein unbekannter Sammler. Er ver- nicht. Doch die Ahnung, dass mit SASHA WALTZ // Kreativität und Ästhetik
brachte seine Stunden nicht nur, wie es sich für diesem Buch eine Weiche gestellt sein könnte,
seinen Beruf gehört, am Schreibtisch, grübelte dass eine neue Etappe beginnt, beschleicht den
und tippte, sondern arbeitete sich im Schatten Leser, der durch die zurückliegenden Seiten
der morgendlichen Dämmerung, als begäbe er ganz hellhörig wurde für die unverhofften
sich auf unlautere Abwege, mit dem Fahrrad Windstöße, die ein Leben vor sich hertreiben

OPULENT. SINNLICH. KLUG.

durch die Straßen Wiens und graste die Alt- und schließlich verwehen. Es liest sich wie eine
papiercontainer systematisch ab, auf der Suche Ankündigung bei aufziehendem Abendschein,
nach privaten Dokumenten, aus denen er er- in dem ein Autor mit einem bewundernswert
fährt, wie es den Leuten ergeht, was sie umtreibt, klaren, offenen Blick für sich selbst redet, einer,
wie sie mit Glück und Unglück fertigwerden und der weiß, dass es ein Leben neben der Literatur EIN LUXURIÖSES COFFEETABLE-MAGAZIN. PRINT IN SEINER SCHÖNSTEN FORM.
wie sie sich auszudrücken verstehen. Einfache gibt und dass man sich hier wie dort ohne
Worte zu finden ist leicht, und es ist schwer. Empathie und Erfahrungen, ohne Liebe und FREUEN SIE SICH AUF 212 SEITEN MUSIK, THEATER, KUNST, ARCHITEKTUR,
Dieses Doppelleben zwischen Schriftsteller- Austausch nicht zurechtfindet. DESIGN, REISE, KULINARIK UND GESELLSCHAFT.
beruf und Außenseitertum, Schreiben und Sam- Man hängt dieser Geschichte noch lange
meln, Roman und Dokument wird den Grund- nach, und man wünscht ihr, weil sie einen MIT: ANDRIS NELSONS // HANNA SCHYGULLA // CLAUDIA ROTH //
stock seiner Poetik abgeben. Sogar nach den ers- berührt und angeregt hat, viele Leser. Auch sie
ten großen Erfolgen führte er es weiter. Er konnte haben ihre Geheimnisse, große und kleine, und
DIGITALE KUNST // PAULA BOSCH // ROBERT SCHNEIDER //
Foto: Kathrin Tschirner

nicht anders. sie sind sich ihrer mehr oder weniger bewusst.
Seine Geschichten hatten jetzt ein echtes Sie führen ein Doppelleben, über das sie schwei-
Fundament, sie beruhten auf einer Menschen- gen oder kaum ein Wort verlieren. Dabei ist es
Jetzt im Buch- und Zeitschriftenhandel
kenntnis auch aus Altpapier. Ein Gespür, ein Ge- alles, was sie haben, ihre ganze Existenz. Irgend- oder direkt bestellen: crescendo.de/shop, Telefon +49-(0)89-74 15 09 60
hör schärfte sich für Worte, die er aus dem inti- wann, wenn sie sich nicht mehr davor drücken
44 FEUILLETON DIE ZEIT N o 2

Jane Birkin, Serge Gainsbourg und Beim Dreh eines Videos für ihr Charlotte Gainsbourg bei einem
ihre kleine Charlotte 1971 Album »Charlotte Forever« (1986) Konzert in Belgien im Jahr 2010

»Ich war die ewige junge Frau«

Die Schauspielerin Charlotte Gainsbourg wuchs als Tochter zweier Ikonen auf. Ein Gespräch über
ihre Eltern, ihre jüdisch-ukrainischen Wurzeln und ihren neuen Film »Passagiere der Nacht«

DIE ZEIT: Charlotte Gainsbourg, Ihr neuer Film
Passagiere der Nacht spielt in den Achtzigerjahren.
Sie sind Jahrgang 1971. Wie haben Sie das Jahr-
zehnt in Erinnerung?
Charlotte Gainsbourg: Meine Jugend. Die Besuche
bei meinem Vater. Meine Eltern hatten sich ge-
trennt, ich erlebte die Wochenenden bei ihm als
Einzelkind, als verwöhntes Mädchen. Der erste
Walkman, ich fühlte mich unabhängig, jung, frei.
Und was waren wir schlecht angezogen! Karotten-
jeans.
ZEIT: Der Film erfasst sehr sinnlich die Textur, die
Atmosphäre, das Lebensgefühl jener Jahre ...
Gainsbourg: Er ist keine historische, eher eine mi-
nimalistische Rekonstruktion. Das Budget war
knapp. Wir hatten kaum Statisten und mussten
improvisieren, etwa um die ausgelassene Stimmung
nach dem Wahlsieg von François Mitterrand auf
der Straße zu drehen. Die Achtzigerjahre werden
nicht ausgestellt, ich selbst fühlte mich nie ver-
kleidet. Die Kostümbildnerin war sehr feinfühlig,
sie besorgte nicht den hippen Vintage-Stil der
Achtziger. Meine Figur trägt Kleider mit einem
Restchen Siebzigerjahre.
ZEIT: Was haben Sie vom Wahlsieg Mitterrands
1981 mitbekommen?
Gainsbourg: Meine Mutter war politisch aktiv und
sehr erleichtert, dass die Linke an die Regierung
kam. Auch ich habe dieses Jahrzehnt als eine Zeit
der Erneuerung empfunden, voller Hoffnung, ob-
wohl auch der Schatten von Aids darüberlag. Vor-
her wirkte Frankreich auf mich wie ein Land der
alten Menschen. Dank Mitterrand schien es plötz-
lich ein Land der Jüngeren zu werden. Auch meine
Filmfigur ist sehr froh über den Wahlausgang, aber
sie hat ihren Alltag, ihre Sorgen, sie ist keine politi-
sche Frau ihrer Zeit.
ZEIT: Sie spielen Elisabeth, Mitte vierzig, die gerade
von ihrem Mann verlassen wurde. Was ist das für
eine Frau, die sich nun allein mit ihren halb-
wüchsigen Kindern durchschlägt?
Gainsbourg: Elisabeth gehört zur Generation zwi-
schen meinem Vater und meiner Mutter. Mein
Vater Serge Gainsbourg wurde 1928 geboren, meine
Mutter Jane Birkin 1946. Man hätte also sagen
können, dass ich meine Mutter in den Achtziger-
jahren spiele. Aber Elisabeth ist keine moderne
Frau wie sie. Sie hat nie gearbeitet, nie gelernt, sich
zu emanzipieren, und als der gesellschaftliche Auf-
bruch der Sechzigerjahre stattfand, war sie schon
Hausfrau und Mutter. Es war nicht leicht für diese
Zwischengeneration.
ZEIT: Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich vor
allem von den Traumata und den Schwächen Ihrer
Filmheldinnen angezogen fühlen, mehr als von
ihren Stärken.
Gainsbourg: Das gehört zur Essenz unseres
Menschseins. Warum sind wir so berührt von
einem weinenden Gérard Depardieu? Weil wir
einen Panzer sehen, der in sich zusammenfällt.
Schönheit bedeutet, von der Fragilität eines ande-
ren Menschen überrascht zu werden. Natürlich
fühle ich mich eher der Verletzlichkeit meiner Figu-
ren nahe, ihrer Ungeschicklichkeit.
ZEIT: Wie würden Sie die Verletzlichkeit von
Elisabeth umschreiben?
Gainsbourg: Sie berührt mich. Zunächst ist sie völ-
lig gelähmt, unfähig, depressiv, schlaflos. Sie wurde
von ihrem Mann für eine Jüngere verlassen. Aber
sie wird ihr Leben langsam in die Hand nehmen.
Mir gefällt ihre Schüchternheit, ihr Bedürfnis, die
Dinge hinzukriegen, was ihr aber nicht so ganz ge-
lingt. Perfekte Helden und Heldinnen hingegen
sind komplett uninteressant. Der eifersüchtige, ver-
unsicherte, kiffende Tom Cruise aus Eyes Wide Shut
ist viel interessanter als der Tom Cruise aus Top
Gun: Maverick.
ZEIT: Aber Ihre Filmfigur überrascht immer wie-
der. Sie gibt einer jungen obdachlosen Frau Unter-
schlupf. Liegt darin auch eine Utopie?
Gainsbourg: Für mich ist es ein Ausdruck ihrer
Unschuld. Sie ist naiver als ihre fast erwachsenen
Kinder, weniger politisch. Während der Dreharbei-
ten habe ich mich gefragt: Warum nimmt Elisabeth
dieses drogensüchtige Mädchen auf? Vielleicht,
weil sie einen Anteil Verrücktheit spürt, den sie
selbst nicht hat? Aber es bleibt auch ein Geheimnis.
ZEIT: Passagiere der Nacht hat überhaupt eine ge-
heimnisvolle, somnambule Stimmung. Der Film
scheint in einem Transitraum zu spielen ...
Gainsbourg: Er ist die Erkundung von Paris durch
eine Schlaflose. Ich mag es, bei Nacht zu drehen.
Nachts ist man allein. Die Stadt schläft. Und ich
muss kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich
spät aufstehe. Ich hatte schlaflose Eltern, aber sie
waren schlaflos, weil sie die Nacht durchgemacht
haben. Meine Heldin ist schlaflos, weil sie nicht
schlafen kann.
ZEIT: Passenderweise findet Elisabeth einen Job bei
einer Nachtsendung im berühmten kreisförmigen
Gebäude, dem Maison de la Radio. Mit Emmanuele
Béart als Moderatorin!
Gainsbourg: Ich fand diesen Ort immer hässlich.
Für mich ist er verbunden mit einem Gefühl des
Unbehagens, der Nervosität. Als junge Schauspiele-
rin war es für mich ein Albtraum, dort Interviews
geben zu müssen. Dieses Gebäude stand für meine
Unsicherheit. Während des Drehs entdeckte ich das
Radiohaus neu. Und auch das Viertel am gegen-
überliegenden Seineufer, die Hochhaustürme des
Quartier de Beaugrenelle, in dem meine Heldin
wohnt. Im Paris meiner Kindheit existierte dieser
Stadtteil für mich nicht. Ich bin im 7., 6. und 16. Ar-
rondissement aufgewachsen.
ZEIT: Alles schickere Viertel ...
Gainsbourg: Wir gehörten zu einem sehr snobis-
tischen Paris, ich bin in einem bürgerlichen Milieu
groß geworden. Im Quartier de Beaugrenelle sind
wir höchstens mal ins Hotel Nikko gegangen, weil
es da einen sehr guten Japaner gab.
ZEIT: In Passagiere der Nacht spielen Sie die Mutter
zweier fast erwachsener Kinder, aber vom Habitus
her wirken Sie viel jünger.
Gainsbourg: Sie meinen eine Kindlichkeit und Ju-
gendlichkeit der Ausstrahlung? Eine juvenile
Energie?
ZEIT: Genau.
Gainsbourg: Ich war nie Frau.
ZEIT: Wie meinen Sie das?
Gainsbourg: Ich hatte nie eine Phase, die man als
Frausein im klassischen Sinne bezeichnen kann. Ich
wurde vom Kind zur jungen Frau, und dann, so
scheint es mir jedenfalls, wurde ich direkt zur Vier-
zig-, Fünfzigjährigen. Ich hatte nie diese weibliche
Ausstrahlung in Bezug auf Körperlichkeit, Charme,
Sexualität, feminine Verführungskraft. Klar, ich
wusste mit meinem Charme zu spielen, aber es war
nicht der Charme einer Frau.
ZEIT: Warum, denken Sie, war oder ist das so?
Gainsbourg: Das Merkwürdige ist doch, dass ich
in meinen ersten Rollen eher rundliche Formen
hatte. Als ich 1988 mit Claude Miller Die kleine
Diebin oder auch 1991 mit Bertrand Blier Merci la
vie drehte, war ich überhaupt nicht jungenhaft.
Gut, ich war nicht üppig, ich hatte keine großen
Brüste, aber ich war rund und hatte schöne For-
men. Und dann starb mein Vater. Meine Mutter
sagte, ich hätte mich nach seinem Tod verwandelt.
Ich ließ mir die Haare kurz schneiden und verlor
plötzlich jede feminine Form. Meine Mutter be-
hauptet, ich hätte sogar den Mantel meines Vaters
angezogen und gesagt: »Jetzt bin ich er.« Ich
durchlief eine eklatante physische Verwandlung.
Bis heute habe ich eine eher androgyne, jungen-
hafte Körperlichkeit.
ZEIT: Sie waren 19 Jahre alt, als Serge Gainsbourg
starb.
Gainsbourg: Ich wurde anorektisch und hatte auch
andere Probleme, die offensichtlich mit dieser tiefen
Trauer verbunden waren, mit dem Gefühl einer
Lücke. Es war sein Tod, der mich auf den Platz der
jungen Frau verwies. Ich war die ewige junge Frau.
Außerdem litt ich unter enormen Komplexen wegen
meiner Mutter. Sie war so unglaublich schön. Sie
war nicht einfach nur eine schöne Frau: Sie war eine
unfassbar schöne Frau.
ZEIT: Wie lebt man als Jane Birkins Tochter mit
dem öffentlichen Bild der Mutter?
Gainsbourg: Sie ist eine Frau, die in den erotischen
Träumen aller Franzosen und Französinnen vorkam.
Die Leute erwähnen es mir gegenüber immer wie-
der. Jane Birkin gehört zu einem Referenzsystem
weiblicher Schönheit. Es gibt den Typ Catherine
Deneuve, es gibt den Typ Jane Birkin. Das betrifft
den Charme, die Schönheit, die Physis, die Statur,
die Sexualität. Und dadurch wird die Hürde für die
Entwicklung eines jungen Mädchens ziemlich hoch.
Meine Mutter hat mir das nie vermittelt, im Gegen-
teil, sie hat uns Töchtern immer gesagt, wie schön
wir seien und dass sie uns viel interessanter finde als
sich selbst. Sie hat versucht, was sie konnte, um uns
da herauszuhelfen. Aber ich war zu sehr mit Kom-
plexen behaftet. Die Nase meiner Großmutter, das
Gesicht von meinem Vater. Auch wenn man sich
immer wieder sagt, dass es nicht nur um das Äußere
geht, dass es noch anderes im Leben gibt – ich habe
nun mal einen Beruf gewählt, in dem das Aussehen
ziemlich zählt.
ZEIT: Und haben Sie durch die Schauspielerei Ihre
Komplexe überwunden?
Gainsbourg: Ich habe meine Schüchternheit über-
wunden.
ZEIT: Wie konnten Sie als Schüchterne überhaupt
so extreme Rollen annehmen wie in den Filmen
von Lars von Trier? In Antichrist spielen Sie eine
Frau, die sich nach dem Tod ihres Kindes in eine

Wirtschaft: Charlotte Parnack/Roman Pletter (verantwortlich),

Thomas Fischermann, Hannah Knuth, Dr. Ingo Malcher, Ann-Kathrin
Nezik, Marcus Rohwetter, Dr. Kolja Rudzio, Marc Widmann
Green: Dr. Uwe J. Heuser (verantwortlich), Laura Cwiertnia,
Ricarda Richter
Gründungsverleger:
Gerd Bucerius (1906–1995) Unterhaltung: Cathrin Gilbert (verantwortlich)
Wissen: Simon Kerbusk/Andreas Sentker (verantwortlich),
Herausgeberrat: Rudi Novotny/Jeannette Otto/Johanna Schoener (stellv.),
Prof. Jutta Allmendinger, Dr. Nicola Leibinger- Kammüller, Anant Agarwala, Dr. Harro Albrecht, Dr. Ulrich Bahnsen, Hanna
Zanny Minton Beddoes, Florian Illies, Grabbe, Fritz Habekuß, Stefanie Kara, Maximilian Probst, Yannick
Dr. Josef Joffe Ramsel, Arnfrid Schenk, Stefan Schmitt (Wissenschaftskorrespon-
Ehemalige Herausgeber: dent), Ulrich Schnabel, Dr. Anna-Lena Scholz, Jan Schweitzer,
Dr. Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002) Martin Spiewak, Urs Willmann
Helmut Schmidt (1918–2015) Bildungspolitischer Korrespondent: Thomas Kerstan
Junge Leser: Katrin Hörnlein (verantwortlich), Josefa Raschendorfer
Vorsitzender der Chefredaktionen des Feuilleton: Christine Lemke-Matwey/Volker Weidermann
(verantwortlich), Dr. Hanno Rauterberg (stellv.), Alexander
Zeitverlags und Chefredakteur:
Cammann, Peter Kümmel, Ijoma Mangold (Kulturpolitischer
Giovanni di Lorenzo Korrespondent), Dr. Peter Neumann, Katja Nicodemus, Nina Pauer,
Stellvertretende Chefredakteure: Iris Radisch, Dr. Thomas E. Schmidt (Kulturkorrespondent Berlin),
Moritz Müller-Wirth (Managing Editor), Dr. Adam Soboczynski (Literatur; verantwortlich),
Sabine Rückert, Holger Stark, Bernd Ulrich Dr. Elisabeth von Thadden (Sinn & Verstand), Lars Weisbrod
Mitglieder der Chefredaktion:
Kulturreporter: Moritz von Uslar (Autor)
Malin Schulz, Tanja Stelzer,
Glauben & Zweifeln: Evelyn Finger (verantwortlich)
Jochen Wegner
Entdecken: Johannes Gernert/Britta Stuff (verantwortlich),
Chef/-in vom Dienst: Sebastian Kempkens (stellv.), Michael Allmaier, Karin Ceballos
Dorothée Stöbener (verantwortlich), Betancur, Stefanie Flamm, Francesco Giammarco, Elke Michel,
Mark Spörrle (besondere Aufgaben), Imke Kromer Florentin Schumacher, Merten Worthmann;
Besondere Aufgaben: Jutta Hoffritz
Investigative Recherche/Daten:
Chefreporter: Dr. Stefan Willeke
Textchef: Dr. Christof Siemes Leitung: Holger Stark (Print)/Karsten Polke-Majewski (Online),
Stellv. Leitung: Astrid Geisler (O)/Yassin Musharbash (P),
Geschäftsführende Redakteure: Patrik Schwarz,
Kai Biermann (O), Anne Kunze (P), Christina Schmidt (P),
Andreas Sentker
Tom Sundermann (O/Störungsmelder), Sascha Venohr (O),
Internationaler Korrespondent: Matthias Naß Fritz Zimmermann (P); Autor: Christian Fuchs
Redakteure für besondere Aufgaben:
Verbrechen: Stephan Lebert (Reporter), Daniel Müller
Hanns-Bruno Kammertöns, Iris Mainka ZEITmagazin:
Redaktionsleiter Digitale Ausgaben: Götz Hamann Editorial Director: Christoph Amend; Chefredakteur: Sascha
Parlamentarischer Korrespondent: Matthias Geis Chaimowicz; Stellv. Chefredaktion: Anna Kemper, Tillmann Prüfer,
Politik Hamburg/Berlin: Tina Hildebrandt/Dr. Heinrich Wefing Emilia Smechowski; Creative Director: Mirko Borsche; Art Director:
(verantwortlich), Mark Schieritz (stellv.), Elisabeth Raether Jasmin Müller-Stoy; Textchefinnen: Christine Meffert, Annabel Wahba;
(Seite 3), Andrea Böhm, Alice Bota, Peter Dausend, Jörg Lau, Style Director: Claire Beermann; Redaktion: Amelie Apel,
Mariam Lau, Anna Mayr, Paul Middelhoff, Robert Pausch, Anita Blasberg, Jörg Burger, Johannes Dudziak, Friederike Milbradt,
Petra Pinzler, Jan Roß, Dr. Anna Sauerbrey (Außenpolitik), Lena Niethammer, Khuê Pham, Ilka Piepgras, Jürgen von Rutenberg;
Samiha Shafy, Merlind Theile Redaktionelle Koordination: Margit Stoffels;
Hauptstadtredaktion: Schöneberger Straße 21 A, 10963 Berlin, Gestaltung: Nina Bengtson, Mirko Merkel, Gianna Pfeifer;
Tel.: 030/59 00 48-0, Fax: 030/59 00 00 40 Bildredaktion: Milena Carstens (verantwortlich), Nora Hollstein;
Streit: Dr. Jochen Bittner/Martin Machowecz (verantwortlich), Redaktion ZEITmagazin: Schöneberger Straße 21 A, 10963 Berlin,
Tel.: 030/59 00 48-0, Fax: 030/59 00 00 39; E-Mail: zeitmagazin@zeit.de
Stefan Schirmer (Korrespondent)
Dossier: Malte Henk/Wolfgang Uchatius (verantwortlich), Die ZEIT-App: Götz Hamann (Redaktionsleitung),
Nadine Ahr, Moritz Aisslinger, Bastian Berbner, Kerstin Silke Weber (stellv.); Art-Direktion: Sören Dammann, Haika Hinze,
Kohlenberg, Caterina Lobenstein, Tanja Stelzer (Autorin) Jasmin Müller-Stoy Betreiber: ZEIT Online GmbH
Leserbriefe: Dr. Christof Siemes (verantwortlich), Verantwortlicher Redakteur Reportage: Henning Sußebach
Jutta Hoffritz Reporter: Wolfgang Bauer, Christiane Grefe, Ulrich Stock,
Geschichte: Christian Staas (verantwortlich) Henning Sußebach
Autoren: Antonia Baum, Georg Blume, Kerstin Bund, Christoph
Dieckmann, Christoph Drösser, Ronald Düker, Heike Faller, Ulrich
Greiner, Jana Hensel, Dr. Gunter Hofmann, Jens Jessen, Rüdiger
Jungbluth, Dr. Navid Kermani, Alard von Kittlitz, Angela Köckritz,
Dr. Wolfgang Lechner, Ursula März, Dr. Susanne Mayer, Anna von
Münchhausen, Gero von Randow, Roberto Saviano, Christian
Schmidt-Häuer, Jana Simon, Björn Stephan, Matthias Stolz, Burkhard
Straßmann, Tobias Timm, Jens Tönnesmann, Dr. Volker Ullrich
Art-Direktion: Haika Hinze/Malin Schulz (verantwortlich),
Jan Kny/Jan Lichte (stellv.); Berater der Art-Direktion: Mirko Borsche
Gestaltung: Julika Altmann, Katrin Baron, Mirko Bosse, Martin
Burgdorff, Mechthild Fortmann, Sina Giesecke, Annett Osterwold,
Beate Pietrek, Lydia Sperber, Jan-Peter Thiemann, Delia Wilms
Infografik: Nora Coenenberg, Anne Gerdes, Matthias Holz,
Jelka Lerche, Matthias Schütte
Bildredaktion: Amélie Schneider (verantwortlich), Lara Huck/Jutta
Schein (stellv.), Melanie Böge, Norman Hoppenheit, Anja Martens,
Navina Reus, Vera Tammen, Edith Wagner
Dokumentation: Mirjam Zimmer (verantwortlich), Davina Domanski,
Dorothee Schöndorf, Corinna Slotty, Dr. Kerstin Wilhelms
Korrektorat: Thomas Worthmann (verantwortlich), Oliver Voß (stellv.),
Volker Hummel, Christoph Kirchner, Katharina Kowarczyk, Anke
Latza, Irina Mamula, Maren Preiß, Karen Schmidt, Matthias Sommer
Frankfurter Redaktion: Eschersheimer Landstraße 50,
60322 Frankfurt a. M., E-Mail: buero-frankfurt@zeit.de
Christ & Welt/ZEIT:CREDO GmbH: Georg Löwisch (Chefredak-
teur), Merle Schmalenbach (Stellv. Chefred.), Raoul Löbbert (Chef-
korrespondent), Andreas Öhler, Christina Rietz, Kilian Trotier
(Koordinator ZEIT Sinn – Wofür leben wir?); Schöneberger Str. 21 A,
10963 Berlin; E-Mail: redaktion@christundwelt.de
Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser, Patrik Schwarz
Chefredakteur Länderausgaben: Patrik Schwarz
ZEIT:Hamburg: Maria Rossbauer/Florian Zinnecker (verantwort-
lich), Viola Diem, Frank Drieschner, Annika Lasarzik (Newsletter
Elbvertiefung), Oskar Piegsa
ZEIT im Osten/Korrespondentenbüro Leipzig: Anne Hähnig
(Büroleitung, verantwortlich), August Modersohn (stellv.),
Martin Nejezchleba; Naumburger Straße 48, 04229 Leipzig,
Tel.: 0341/492 76 13-10, E-Mail: anne.haehnig@zeit.de
ZEIT:Österreich/ZEIT International GmbH: Florian Gasser
(Büroleitung), Christina Pausackl (stellv.);
E-Mail: florian.gasser@zeit.de; Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser
ZEIT:Schweiz: Matthias Daum (Büroleitung), Sarah Jäggi (stellv.),
Salome Müller; Hirschengraben 34, CH-8001 Zürich, Tel.: 0041-
79/361 53 10, E-Mail: matthias.daum@zeit.de
Europa-Redaktion: Ulrich Ladurner, Residence Palace,
Rue de la Loi 155, 1040 Brüssel, Tel.: 0032-2/230 30 82,
Fax: 0032-2/230 64 98, E-Mail: ulrich.ladurner@zeit.de
Pariser Redaktion: Matthias Krupa, 48 bis, Rue d’Auteuil,
75016 Paris, E-Mail: matthias.krupa@zeit.de
Moskauer Redaktion: Michael Thumann,
Kutusowskij-Prospekt 13, Kw. 5, Moskau 121248,
Tel.: 007-495/680 03 85, E-Mail: zeit-moskau@zeit.de
Mittelost-Redaktion: Lea Frehse, Rue Liban, Gemayzeh,
Beirut, E-Mail: lea.frehse@zeit.de
Pekinger Redaktion: Xifan Yang, Guangming Plaza 1501,
Liangmaqiao Rd 42, Chaoyang, Beijing,
ZEIT Campus Online: Amna Franzke (verantw. Online), Martina Kix
(verantw. Print), Laura Binder, Berit Dießelkämper, Christoph Farkas ZEIT-LESERSERVICE
E-Mail: xifan.yang@zeit.de (P), Katharina Meyer zu Eppendorf (P), Nina Piatscheck (P), Cathrin
Washingtoner Redaktion: Amrai Coen, Schmiegel (P), Theresa Tröndle (P) ze.tt: Tessa Högele (verantw.),
Washington, DC 20009, Tel.: 001-202/617 68 77, Philipp Kienzl, Elif Kücük (Editorial Design), Celia Parbey, Alisa Schellen- Leserbriefe
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg
E-Mail: amrai.coen@zeit.de berg Green: Luisa Jacobs (verantw.), Ruth Fend, Viola Kiel, Manuel
New Yorker Redaktion: Heike Buchter, 32 Broadway, Stark Sport: Christian Spiller (Leitung), Tammo Blomberg, Steffen Fax: 040/32 80-404; E-Mail: leserbriefe@zeit.de
Suite 1211, New York, NY 10004, Tel.: 001-212/269 34 38, Dobbert, Oliver Fritsch, Nico Horn, Fabian Scheler Video: Max Boenke
E-Mail: hbuchter@newyorkgermanpress.com (Leitung), Dilan Gropengiesser (stellv.), Thilo Adam, Poliana Baumgar-
ZEIT ONLINE GmbH ten, Claudia Bracholdt, Nicolas Grone, René Wiesenthal, Sven Wolters
Chefredakteur: Jochen Wegner Daten und Visuali sierung: Julius Tröger (Leitung), Paul Blickle, Annick Artikelabfrage aus Suite 106, Buffalo,
Stellv. Chef redaktion: Markus Horeld, Sebastian Horn, Leonie Seifert Ehmann, Christian Endt (Senior Data Journalist), Julian Stahnke, Benja dem Archiv NY 14207-1306
Mitglied der Chefredaktion: Monika Pilath Zehr Design: Christian Bart (Lead Designer), Adele Ogiermann Fax: 040/32 80-404; Periodicals postage is paid at
Redaktionsleitung: Dr. Sasan Abdi-Herrle, Rieke Havertz, Formatentwicklung: Mark Heywinkel, Magdalena Beyer SEO und Abo- E-Mail: archiv@zeit.de Buffalo, NY 14205.
Monika Pilath, Till Schwarze, Michael Stürzenhofecker steuerung: Jana Lavrov (Leitung), Laura Oelker (verantw. SEO), Celine Postmaster:
Geschäftsführende Redakteurin: Laura Weinert Fink, Julia Grass (verantw. Abosteuerung), Kim Paulsen, Marlon Abonnement Send address changes to:
Nachrichtenredaktion: Monika Pilath (Leitung), Sybille Klormann Schröder, Ayleen Wolters, Katharina Wulff Formate Z+: Silke Janovsky DIE ZEIT € 306,80 DIE ZEIT, Data Media,
(stellv.); Chef/in vom Dienst: Fabian Albrecht, Katharina Benninghoff, Social Media: Jana Trietsch (Leitung), Janis Dietz, Tobias Dorfer, (52 Ausgaben); P.O. Box 155, Buffalo,
Angelika Finkenwirth, Karin Geil, Dr. Rita Lauter, Katrin Scheib, Johannes Carly Laurence, Mona Wetzel Community: Julia Meyer (verantw.), für Studenten € 197,60 NY 14205-0155.
Süßmann, Claudia Thaler, Ulrike Tschirner; Isabelle Daniel, Lisa-Marie Tülay Karakus, Ann-Kristin Tlusty (inkl. ZEIT Campus); Toll-free: 1-877-776 58 35
Eckardt, Alexander Eydlin, Sarah Grahn, Alena Kammer, Anna-Lena Bildredaktion: Tina Ahrens/Andreas Prost (Leitung), Caroline Scharff Lieferung frei Haus; E-Mail: service@roltek.com
Schlitt, Jona Spreter, Konstantin Zimmermann (stellv.), Leonie Baumeister, Norbert Bayer, Sabine Bergmann, Felix Digitales Abo € 5,60
Red. f. bes. Aufgaben: Philip Faigle Textchefin: Meike Dülffer pro Ausgabe; Abonnement Kanada
Burchardt, Robert Günther, Alexander Hoepfner, Reinhold Hügerich, Sunrise News,
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: Marcus Gatzke/Ileana Grabitz Prisca Kranz, Nina Lüth, Jakob Weber; Bildred. für bes. Aufgaben: Digitales Abo für
47 Silver Shadow Path,
(Leitung), Marlies Uken (stellv.), Frida Thurm (verantw. Gesellschaft), Michael Pfister Entwicklungs redaktion: Holger Wiebe (Leitung), ZEIT-Abonnenten
Almut Siefert (verantw. Ausland), Christian Bangel, Dr. Hannah Bethke, Toronto ON M9C 4Y2
Thomas Strothjohann (stellv.), Simon Berresheim, Matthias Lücke, € 0,70 pro Ausgabe
Manuel Bogner, Lisa Caspari, Simone Gaul, Sören Götz, Tina Groll, Jan Tel.: +1647-219 52 05
Rose Tremlett, Leonie Wismeth Schriftlicher Bestellservice:
Guldner, Rieke Havertz (Intern. Korrespondentin), Jurik Caspar Iser, E-Mail: sunriseorders@bell.net
Data Scientists: Dr. Andreas Loos (Senior Data Analyst), Elena Erdmann DIE ZEIT, 20080 Hamburg
Lenz Jacobsen (Demokratie), Carsten Luther, Nina Monecke, Ferdinand
Otto, Steffen Richter, Johanna Roth, Parvin Sadigh, Dr. Michael Schlie- Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser, Christian Röpke, Enrique Tarragona
Abonnentenservice: Einzelverkaufspreis
ben, Katharina Schuler, Tilman Steffen, Anja Stehle, Christian Vooren, Verlag und Redaktion: Tel.: 040/42 23 70 70
Zacharias Zacharakis (Unternehmen) Kultur: Dirk Peitz (Leitung), Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Helmut-Schmidt-Haus, Deutschland:
Fax: 040/42 23 70 90 € 6,20
Judith Liere (stellv.), Maja Beckers, Daniel Gerhardt (Film), David Hugen- Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg E-Mail: abo@zeit.de
dick (Literatur), Julia Lorenz, Nils Markwardt, Johannes Schneider, Telefon: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11,
Carolin Ströbele (TV/Medien) Wissen: Sven Stockrahm (Leitung), Linda E-Mail: DieZeit@zeit.de; ZEIT Online GmbH: www.zeit.de
Abonnement für Ausland:
Fischer (stellv.), Elena Erdmann (Verantw. Forschungsdaten), Robert © Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Hamburg Österreich, Schweiz und Belgien € 7,20;
Gast, Dr. Maria Mast, Dr. Claudia Vallentin; Chefreporterin Wissen: Dagny
Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser restliches Ausland Dänemark DKR 69,00;
Lüdemann Digital: Lisa Hegemann (Leitung), Meike Laaff, Jakob von Marketing und Vertrieb: Nils von der Kall DIE ZEIT Leserservice Finnland € 9,10;
Lindern, Henrik Oerding, Pauline Schinkels, Eva Wolfangel Gesundheit:
Unternehmenskommunikation und Veranstaltungen: 20080 Hamburg Frankreich € 7,80;
Dr. Jakob Simmank/Claudia Wüstenhagen (Leitung), Ingo Arzt, Corinna Deutschland Griechenland € 7,80;
Schöps, Dr. Florian Schumann Silvie Rundel
Herstellung/Schlussgrafik: Torsten Bastian (verantwortlich), Tim Tel.: +49-40/42 23 70 70 Großbritannien GBP 9,50;
Ressort Investigative Recherche/Daten: siehe Printressorts Italien € 7,80;
Andersson, Patrick Baden, Stefanie Fricke, Bastian Kamp, Jan Menssen, Fax: +49-40/42 23 70 90
Ressort X: Philip Faigle (Leitung), Johannes Böhme, Philipp Daum, Luxemburg € 7,20;
Yasmine M’Barek, Annabelle Seubert, Luisa Thomé, Vanessa Vu Oliver Nagel, Tim Paulsen, Frank Siemienski, Pascal Struckmann; E-Mail: abo@zeit.de
Bildbearbeitung: Andrea Drewes, Hanno Hammacher, Martin Hinz Niederlande € 7,20;
Podcasts: Ole Pflüger (Leitung), Mounia Meiborg (stellv.), Jannis Abonnement USA
Österreich € 6,50;
Carmesin, Moses Fendel, Simone Gaul, Constanze Kainz, Elise Land- Druck: Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG, DIE ZEIT (USPS No. 00014259)
scheck, Dr. Rita Lauter, Pia Rauschenberger, Fabian Scheler Portugal € 7,80;
Kurhessenstr. 4–6, 64546 Mörfelden-Walldorf
ZEITmagazin Online, Wochenmarkt, Entdecken, Familie, Sinn: Carmen
is published weekly Schweiz CHF 8,50;
Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder by Zeitverlag; Slowenien € 7,80;
Böker (Leitung), Carla Baum/Alexander Krex (stellv.), Katrin Blum,
übernimmt der Verlag keine Haftung. K.O.P.: Data Media (A division Spanien € 7,80;
Johannes Ehrmann, Juliane Frisse, Wenke Husmann, Laura Sophie
Anzeigenleitung: Áki Hardarson of Cover-All Computer Services Kanarische Inseln € 7,90;
Jung, Matthias Kirsch, Wlada Kolosowa, Hannes Leitlein, Celina Plag,
Anzeigenstruktur: Peggy Ludwig (verantwortlich), Laura Gilica, Corp.), 2221 Kenmore Avenue, Ungarn HUF 3690,00
Jakob Pontius, Caroline Rosales, Sara Tomšić, Fiona Weber-Steinhaus,
Cora Wucherer, Milena Zwerenz Arbeit: Anne-Katrin Schade (Leitung), Carolina Guerra; Anzeigen-Preisliste Nr. 68 vom 1. Januar 2023
Jana Baurmann, David Gutensohn, Daniel Sander, Hannah Scherkamp, Magazine und Neue Geschäftsfelder: Sandra Kreft
Rebekka Wiese Wochenende: Maris Hubschmid (Leitung), Viktoria Mo- Projektreisen: Christopher Alexander
rasch, Friederike Oertel, Michael Schock, Lars Spannagel Börsenpflichtblatt: An allen acht deutschen Wertpapierbörsen ISSN: 0044-2070
5. Januar 2023 FEUILLETON
In Mikhaël Hers’ Film »Passagiere der Nacht« spielt Gainsbourg eine Mutter, die sich im
Paris der Achtziger jahre einer jungen Obdachlosen (Noée Abita, rechts) annimmt
Hexe verwandelt, in Nymphomaniac erzählen Sie
Ihre Lebensgeschichte als Sexbesessene.
Gainsbourg: Ich habe durch die Schauspielerei
einen weiten Weg zurückgelegt. Zu Beginn war
ich krankhaft schüchtern. Es gab Interviews, bei
denen ich so in mir gefangen war, dass ich nicht
sprechen und niemanden ansehen konnte. Ich
war völlig in meiner Welt. Am Anfang war ich
nach dem Drehen oft wütend auf mich, weil ich
nicht imstande war, über das hinauszugehen, was
Fotos (v. l.): Hulton Deutsch/Getty Images; Christophe D. Yvoire/ Getty Images; Gie Knaeps/Getty Images; Heiko Laschitzki/Contour/Getty Images; Eksystent Filmverleih
der Regisseur oder die Regisseurin von mir wollte.
ZEIT: Könnten Sie das näher erklären?
Gainsbourg: Wenn ein Regisseur drei Takes drehte
und zufrieden war, ich aber wusste, dass ich es
noch besser konnte, dann traute ich mich nicht,
noch einen weiteren Take zu fordern. Das führte
zu einer enormen Frustration. Ich hatte nicht den
Mut, die Szenen weiterzutreiben. Gleichzeitig er-
lebte ich immer wieder Schauspieler, die völlig an-
ders waren, so frei. Mit Sean Penn drehte ich
21 Gramm von Alejandro Gonzáles Iñárritu. Er
war von seiner Filmfigur ganz und gar erfüllt, fast
wie ein Tier davon besessen. Völlig in der Arbeit,
aber dabei kein bisschen prätentiös. Er war im
Orbit seiner Figur.
ZEIT: Wann haben Sie sich als Schauspielerin
verändert?
Gainsbourg: Vor den Dreharbeiten von Lars von
Triers Antichrist lasen wir mit Willem Dafoe das
Drehbuch. Lars provozierte mich, um zu sehen,
ob ich empfindlich oder hysterisch reagiere. Er
muss sich gefragt haben, ob ich überhaupt im-
stande bin, diesen Film zu machen. Bei den
Dreharbeiten ließ er mich dann die gleiche Szene
in allen erdenklichen Stimmungen und Tonlagen
spielen: weinend, hysterisch, bösartig, traurig,
alle Gefühle im Extrem. Danach fragte ich ihn,
was wir da tun. Es fühle sich alles so beliebig an.
Lars von Trier sagte: »So arbeite ich, du musst mir
vertrauen. Am Ende bin ich es, der den Film zu-
sammensetzt. Ich nehme ein bisschen hiervon,
ein bisschen davon. Ich werde dich nicht fallen
lassen, ich werde dich aber auch nicht loslassen,
bis ich von dir bekommen habe, was ich will.« Da
fühlte ich mich an die Hand genommen. Plötz-
lich war alles möglich.
ZEIT: Lars von Trier hat die Schauspielerin Char-
lotte Gainsbourg von ihrer Schüchternheit erlöst?
Gainsbourg: Das französische Kino infantilisiert
seine Schauspielerinnen und Schauspieler. Man
wird verhätschelt von den Assistenten, von den
Assistentinnen der Assistenten, den Regisseuren,
dem Friseur, der Maske. Wohingegen die ameri-
kanischen Regisseure eher sagen: »Du wirst dafür
bezahlt, zu spielen, also spiel. Du musst den
Braten schon selber zubereiten, erwarte von mir
keine Vorgaben, und los geht’s.« Amerikanische
Charlotte Schauspieler werden wie Erwachsene behandelt.
Sie erschaffen die Welt ihrer Figuren selbst. Aber
Gainsbourg das war nicht Ihre Frage.
ZEIT: Egal.
Gainsbourg: Mit Lars von Trier gab es auf einmal
keine Schüchternheit mehr. Ich war zu allem be-
wurde 1971 in London reit. Was auch immer, angezogen spielen, nackt
geboren. spielen. Er hatte mich gefragt, ob es Dinge gebe,
Ihre Mutter ist die mir unangenehm seien. Ich zeige nicht gerne
die Sängerin und meine Brüste, und ich will auch nicht, dass die Ka-
Schauspielerin Jane Birkin, mera mir zwischen die Beine fährt. Hingegen habe
ihr Vater der Chansonnier ich überhaupt kein Problem, meinen Hintern zu
Serge Gainsbourg. zeigen. Also ließ Lars mich in einem Hemdchen
Schon als Zwölfjährige herumlaufen, während ich unten herum nackt
stand sie vor der Kamera. war. Nur drei Einstellungen von Antichrist wurden
Sie drehte unter anderem mit von einer Pornodarstellerin gedoubelt.
Todd Haynes, Wim Wenders, ZEIT: In Antichrist gibt es eine Szene, in der Sie
Alejandro Gonzáles Iñárritu, Willem Dafoe einen Holzscheit in die Genitalien
Lars von Trier. rammen. Man meint, Ihnen die Lust am Extre-
In ihrem neuen Film men anzusehen.
»Passagiere der Nacht« Gainsbourg: Oh ja. Ich brauche die Hysterie auf
von Mikhaël Hers spielt sie der Leinwand. Im wirklichen Leben bin ich eher
eine Frau, die im Paris der ruhig, spreche nicht laut, bin eher sanft. Aber es
Achtzigerjahre ihr Leben gibt da ein tiefes Bedürfnis, mich in Gewalt-
neu zusammensetzen muss. szenen auszuagieren. Das wurde mir schon früh
klar.
ZEIT: Mit welchem Film?
Gainsbourg: Als ich mit Claude Miller Die kleine
Diebin drehte, war ich 16 Jahre alt. Es gibt eine
Szene, in der ich mich mit einem Mädchen
prügele und ihr eine Gabel in die Hand ramme.
In einer anderen Szene werde ich von Polizisten
abgeführt und schlage um mich. Diese Szenen
haben in mir ein solches Vergnügen ausgelöst!
Das ging so weit, dass ich meinen Körper völlig
vergessen konnte. Denn lange Zeit war mein
Kopf vom Körper wie abgetrennt. Mein Kopf
konnte entspannt sein, während mein Körper
verspannt und ungelenk war. So als gehöre er
nicht zu mir. Die Gewaltszenen konnten diese
Trennung auflösen, denn sie sind stärker als
Worte, so viel stärker als das, was sich im Kopf
abspielt.
ZEIT: Das Kino als Katharsis, als die Verwand-
lung von etwas Traumatischem?
Gainsbourg: Ich habe etwas aus meinen Schmer-
zen gemacht, das ist wahr. Und ich benutze die
Kunst dafür. Kino und Musik. Als Sängerin
brachte ich ein Album heraus, in dem ich die Ver-
zweiflung über den Tod meiner Schwester aus-
drücken konnte. Umgekehrt bediene ich mich
auch der Extreme in der Kunst, um mit meinem
Schmerz umzugehen. So ein Satz kommt mir
jetzt, in den Zeiten des Krieges, nicht so leicht
über die Lippen. Aber das Bewusstsein dieses
»Seine eigene
Trauer hat mir
mein Vater nie
offenbart«
Krieges kann auch nicht bedeuten, uns zu ver-
wehren, vom eigenen Schmerz zu sprechen.
ZEIT: Ihr Vater stammte aus einer Familie ukrai-
nischer Juden ...
Gainsbourg: Erst kürzlich wurde mir klar, dass
wir aus der Ukraine kommen. Als meine Groß-
eltern flohen, gehörte ihre Heimatstadt Charkiw
zu Russland. Diese »neue« Identität meiner Fami-
lie hat mich sehr bewegt. Ich sehe die Gesichter
der Ukrainerinnen, die sich durchschlagen, deren
Männer im Krieg sind. Ich sehe sie und denke,
dass ich von dort komme.
ZEIT: Inwiefern hat die Herkunft Ihrer Familie
Sie geprägt? Serge Gainsbourg musste als Kind in
Frankreich den Judenstern tragen und sich vor
den Nazis verstecken.
Gainsbourg: Mein Vater war zu Beginn des Krie-
ges elf Jahre alt. Er, meine Tanten und meine
Großmutter, die ich ja auch noch kennengelernt
habe, haben über ihre Traumatisierungen während
des Zweiten Weltkriegs nie mit mir gesprochen.
Was ich weiß, ist, dass niemand von ihnen im
Konzentrationslager war, es wurden auch keine
nahen Verwandten ermordet. In unserer jüdischen
Familienerzählung gibt es also keine tätowierten
Nummern auf dem Arm, keine Ermordungen.
Meine Großeltern sind 1917 vor den Bolschewiki
aus dem damaligen Zarenreich geflohen, ich glau-
be, da war der ältere Bruder meines Vaters schon
auf der Welt. Sie haben alles hinter sich gelassen.
Während des Krieges wollte sich meine Tante der
Résistance anschließen, aber meine Großmutter
verbot es ihr. Mein Vater wiederum musste sich in
einem katholischen Pensionat verstecken. Über
diese Zeit redeten sie so, als hätten sie ein großes
Abenteuer erlebt. Natürlich waren sie traumati-
siert, aber sie sprachen immer auf defensive Weise
45
vom Zweiten Weltkrieg, vom Ausmaß der Ver-
nichtung hatten sie angeblich nicht gewusst. Die
Kollaboration und ihre Verdrängung, das enorme
Unbehagen angesichts dessen, was viele Franzosen
in jener Zeit angerichtet haben – über all das
sprach mein Vater nicht mit mir. Leider.
ZEIT: Wie haben Sie Ihren Vater erlebt, als er
noch mit Ihrer Mutter zusammen war?
Gainsbourg: Sie waren glücklich miteinander.
Verrückt glücklich. Die andere Seite war der Al-
koholismus meines Vaters. Er war schwerer Alko-
holiker, was für mich schrecklich war. Es war
enorm traurig, zu sehen, wie er sich zerstörte. Aber
seine eigene Trauer hat mir mein Vater nie offen-
bart. Und doch, jetzt, da ich darüber spreche, er-
innere ich mich daran, wie es war, als er seine
Mutter verlor. Damals war ich 13 Jahre alt. Es war
ein unvorstellbares Drama. Er hörte nicht mehr
auf zu weinen. Tag und Nacht legte er dieselbe
Platte auf: Pavane für eine verstorbene Prinzessin von
Maurice Ravel. Es gab da ein Sich-gehen-Lassen im
Schmerz, ein Sich-dem-Unglück-Ergeben, das ich
von ihm geerbt habe. Da bin ich mir sicher.
ZEIT: Welche Rolle spielte für Ihren Vater das
Judentum?
Gainsbourg: Ich würde sagen, dass Serge Gains-
bourg nicht religiös war, sondern ein jüdischer
Sentimentalist. Wir gingen in Paris oft in ein
Restaurant namens Goldenberg in der Rue des
Rosiers im Marais. Wir aßen gehackte Leber
und andere Gerichte, die früher seine Mutter
gekocht hatte. Es gab einen Violinisten, und
mein Vater bat ihn, A Yiddishe Mame zu spielen,
und er weinte. Es war eine Inszenierung, aber
eine wunderschöne. Es hatte einen verrückten
Charme, diesen älteren Mann, meinen Vater, zu
sehen, der weinte und sich dabei ganz dem
Weinen hingab.
ZEIT: Und welche Rolle spielte das Judentum
überhaupt in Ihrer Kindheit?
Gainsbourg: Wir waren eher antireligiös, die jü-
dischen Feste und Riten spielten bei uns keine
Rolle. Mein Vater behauptete immer, er sei be-
schnitten geboren worden, wie der Messias! (sie
lacht) Die Haltung war eher so: Wir sind Juden,
weil wir von den Nazis verfolgt wurden und nicht
weil wir den Talmud lesen. Einmal, als ich als
Teenager eine religiöse Phase hatte, war er irri-
tiert, trotzdem schenkte er mir eine Halskette mit
Davidstern. Gegen Ende seines Lebens ließ er
sich selbst ein solches Armband anfertigen. Als er
starb, gab ich ihm meine Halskette mit ins Grab
und nahm sein Armband an mich. So wurde ich
ebenfalls zur nicht religiösen jüdischen Sentimen-
talistin. Im selben Jahr lernte ich meinen Mann
Yvan (den Schauspieler und Regisseur Yvan Attal,
Anm. d. Red.) kennen, der aus einer sephardischen
Familie aus Algerien stammt. Da erlebte ich dann
das Judentum über das Essen, Yvans Mutter ist
eine fantastische Köchin. Aber mit Gott oder mit
Glauben hat das nichts zu tun. Übrigens habe ich
meinem Mann vor ein paar Tagen einen Heirats-
antrag gemacht. Ich hätte gerne, dass uns ein
weiblicher Rabbi traut.
ZEIT: Und, hat er Ja gesagt?
Gainsbourg: Wir leben seit 32 Jahren zusammen
und haben nie geheiratet. Kürzlich dachte ich,
dass wir es tun sollten. Zunächst schien er irri-
tiert. Aber ich glaube, er hat meinen Antrag an-
genommen.
ZEIT: 2021 haben Sie Ihren Dokumentarfilm
über Ihre Mutter Jane Birkin in Cannes vorge-
stellt: Jane by Charlotte. In einer Szene sieht man
Sie beide im Haus Ihres Vaters Serge Gainsbourg.
Seine Möbel und Gegenstände sind alle noch da,
so als könnte er gleich zur Tür hereinkommen.
Gainsbourg: Das Haus wird bald als Museum er-
öffnet. Dieses Projekt trage ich seit dem Tod mei-
nes Vaters vor 32 Jahren mit mir herum, aber seit
ein paar Jahren ist es viel konkreter geworden.
Die Arbeiten sind in vollem Gange. Es wird sehr
schmerzhaft sein, loszulassen, denn dieses Haus
wird plötzlich der ganzen Welt gehören.
Das Gespräch führte
Katja Nicodemus
46
Kein anderer Begriff ist so hoffnungslos
ausgeleiert, ausgebleicht, ausgereizt wie
der der Freiheit. Das jedenfalls behaup-
tet eine Initiative namens Floskelwolke,
die alljährlich die dümmsten der dum-
men Worte ermittelt. Gerade erst hat sie
unserer egomanen Gegenwart beschei-
nigt, sie habe den Freiheitsbegriff ent-
würdigt und verraten. Es gehe nur noch
um freies Herumrasen auf Autobahnen,
freies Herumreisen auf Kreuzfahrtschiffen,
um freies Herumgrillen, Herumshoppen,
Herumböllern. Um eine verwahrloste,
enthemmte Freiheit. Um die Freiheits-
gefühle der Verantwortungslosen.
Die jüngste Silvesternacht, ihre Ge-
waltgier, scheint die Diagnose aufs Gräss-
lichste zu belegen. Zumal die Enthemmt-
heit ja längst alltäglich geworden ist und
erschreckend viele Milieus erfasst. Seit
Jahren häufen sich die Klagen der
Rettungskräfte, der Polizisten, Notärzte
und Sanitäter, dass sie bei ihrer Arbeit
bespuckt und angepöbelt, nicht selten
sogar geschlagen werden. Viele sprechen
von einer zunehmenden Verrohung. Da-
von, dass zahlreiche Zeitgenossen nur
noch an sich selbst denken und sich
selbst spüren wollen – und alle anderen
ihnen egal sind, die Helfer genauso wie
jene, denen dringend geholfen werden
muss. Gefühlskälte ist dafür nicht das
richtige Wort. Gefühlsfrost trifft es eher.
In Neumarkt geht ein Mann mit einer
Machete auf zwei Sanitäterinnen los. In
Wiesbaden muss ein Rettungswagen eine
Tiefgarage zuparken, anschließend sind
am rechten Vorderrad einige Radmuttern
abgeschraubt, andere gelockert worden.
In Karlsruhe setzt sich eine Frau hinters
Steuer eines Rettungswagens und will
ihn wegfahren, damit sie mit ihrem Auto
daran vorbeikommt; sie gibt an, in Eile
zu sein. In Berlin wollen Feuerwehrleute
einem Drogenkranken zu Hilfe kommen
und werden von Nachbarn bespuckt,
ANZEIGE
BACKNANG
Galerie der Stadt Backnang
09.12.2022 bis 26.02.2023: Brigitte Waldach - Welten
Tel. 07191/894477, Petrus-Jacobi-Weg 1, Di-Fr 16-19, Sa 11-18, So 14-18 Uhr,
06.01.23 geöffnet 14-18 Uhr
Graphik-Kabinett Backnang, Riecker-Raum
bis 12.03.2023: Hintergründig 3: Mit allen Wassern
Tel. 07191/894477, Petrus-Jacobi-Weg 5, Di-Fr 17-19, Sa/So/6.1. 14-19 Uhr
BAYREUTH
Es nehmet aber und gibt Gedächtnis die See (Hölderlin)
Kartographische Linienwerke von Susanne Kessler
11. Januar bis 24. Februar 2023
Ausstellungshalle im Neuen Rathaus | Luitpoldplatz 13 | 95444 Bayreuth
GERMAN POP –
NORDDEUTSCHE REALISTEN
30. Oktober 2022 bis 26. Februar 2023
Altes Barockrathaus | Maximilianstraße 33 | 95444 Bayreuth
BERLIN
C/O Berlin
17.09.2022 bis 18.01.2023: Queerness in Photography
www.co-berlin.org, Tel. 0302844416, info@co-berlin.org, Hardenbergstraße 22-
24, 10623 Berlin, Berlin, tägl. 11-20 Uhr
Deutsches Historisches Museum
bis 15.01.2023: Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789
bis 24.11.2024: Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können.
www.dhm.de, Hinter dem Gießhaus 3, 10117 Berlin, Mo-Mi, Fr-So 10-18, Do 10-20
Humboldt Forum
bis 08.01.2023: Vinyago - Tanz jenseits kolonialer Biografien Installation, Ein-
tritt frei
Dauerausstellung: Ausstellung des Museums für Asiatische Kunst und des Eth-
nologischen Museums Neupräsentation der Sammlungen, Eintritt frei
Dauerausstellung: Berlin Global Berlin Ausstellung, Tickets online
Dauerausstellung: Nach der Natur Ausstellung im Humboldt Labor, Eintritt frei
Dauerausstellung: Geschichte des Ortes Schlosskeller – Videopanorama – Skulp-
turensaal, Eintritt frei
humboldtforum.org, Schloßplatz, 10178 Berlin, Mo, Mi-So 10:30-18:30 Uhr
PalaisPopulaire
bis 13.02.2023: Deutsche Bank `Artist of the year 2022`: LuYang DOKU Experi-
ence Center
bis 27.02.2023: ESCRIBIR TODOS SUS NOMBRES. Spanische Künstlerinnen
1960 bis heute
www.db-palaispopulaire.de, palais.populaire@db.com
Tel. 030-202093-0, Unter den Linden 5, 10117 Berlin, Mi-So 11-18 Uhr, Do 11-21 Uhr
STAATSOPER UNTER DEN LINDEN
STAATSOPER: Sa 19:30 LA BOHÈME!/!So 16:00, Fr 19:30 SCHWANENSEE BAL-
LETT!/!Mo 19:00 STAATSKAPELLE BERLIN ABONNEMENTKONZERT III!/!Do
19:30 MADAMA BUTTERFLY!/!APOLLOSAAL: Di 20:00 LIEDRECITAL NATALIA
SKRYCKA!/!Mi 20:00 KAMMERKONZERT IV!/!PHILHARMONIE: Di 20:00 STAATS-
KAPELLE BERLIN ABONNEMENTKONZERT III, www.staatsoper-berlin.de, Tel.
030 20 35 45 55, tickets@staatsoper-berlin.de, 10117 Berlin, Unter den Linden 7
BIELEFELD
Kunstforum Hermann Stenner
02.10.2022 bis 26.02.2023: Alexander Camaro: Die Welt des Scheins
www.kunstforum-hermann-stenner.de, Tel. 0521 800660-0,
info@kunstforum-hermann-stenner.de, Obernstr. 48, Bielefeld, Mi-Fr 14-18, Sa, So,
Feiertag 11-18
getreten und geschlagen – in einem ganz
normalen Wohngebiet.
All das sind Fälle der letzten Jahre,
viele weitere haben die Rettungsdienste
dokumentiert. Oft sind es jüngere, in
großen Städten lebende Männer, die sich
hartleibig über das Leid der anderen hin-
wegsetzen. Oft sind sie betrunken, nicht
selten migrantisch geprägt, wie sich ver-
einzelten Studien entnehmen lässt. Doch
gibt es ebenso die anderen: die stock-
nüchternen, älteren oder weiblichen
Wie verdreht ist das denn? Tag für Tag werden Notärzte und Sanitäter bespuckt,
beleidigt, geschlagen. Eine Mutmaßung über die Motive VON HANNO RAUTERBERG
Durchschnittsdeutschen, die sich der
Verrohung hingeben, auch davon zeugen
die Berichte der Rettungsleute. Es sind
Menschen, die jegliche Rücksichtnahme
vergessen. Und die nicht nur Helfer und
dringend hilfsbedürftige Menschen be-
drohen, sondern in einem abstrakten
Sinn auch die Grundlage des gesellschaft-
lichen Zusammenhalts.
Vor allem das macht jetzt viele so fas-
sungslos. Es ist die überschießende Gewalt,
aber eben auch das, was sie im Kern bedeu-
tet: einen Anschlag auf die Vernunft.
So zerstritten und atomisiert das
Gemeinwesen auch sein mag, galt doch
www.kunstmuseum-bayreuth.de
2.11.2022 –31.7.2023
BIETIGHEIM-BISSINGEN
FEUILLETON
lange die unausgesprochene Überein-
kunft: dass man einem Verletzten hilft
oder Hilfe herbeiruft. Manche nennen
es Nächstenliebe, andere Solidargemein-
schaft.
Aus den Dauerattacken auf Notärzte
und Sanitäter spricht, dass sich viele von
dieser Vernunft abwenden, sich der Ge-
meinschaft nicht länger zugehörig fühlen
und enttäuscht sind. Paradoxerweise at-
tackieren sie deshalb, was sie eigentlich
schützt. Vielleicht leiden manche auch
«tiehierF»
unter dem, was man Notneid nennen
könnte. Unter dem Gefühl, in Wahrheit
seien nicht die anderen, sondern sie selbst
die eigentlich Hilfsbedürftigen und
müssten versorgt werden. Nicht weil sie
bluten oder ihr Herz unruhig rast, son-
dern weil sie sich immerzu bedrängt se-
hen, überlastet, hilflos vereinsamt. So je-
denfalls ließe sich der entgrenzte Selbst-
Überschuss deuten: als Krise des er-
schöpften Individuums. Als seelische
Bedürftigkeit, die derart groß ist, dass die
Not der anderen kaum mehr zählt.
Das wäre eine psychologisierende Er-
klärung, die man schon deshalb nicht
teilen muss, weil sie die Täter wie Opfer
aussehen lässt, Opfer ihrer Ratlosigkeit
und der Wut, die sie einzig noch aufrecht
hält. Naheliegend ist es, die Attacken
auch als gesellschaftliches Symptom zu
verstehen, die Einzelfälle als Einzelfälle,
in denen sich gleichwohl eine allgemei-
nere Erfahrung ausdrückt. Zum Beispiel
die Erfahrung, dass die Vernunft selbst
lange schon unvernünftig geworden ist.
Wenn in diesen Wochen das Dorf
Lützerath geräumt wird, um dort Kohle
abzubauen, obwohl alle wissen, dass so
der Klimakollaps noch näher rückt. Oder
wenn die chronisch überhitzte, ausge-
dörrte Stadt Frankfurt ihren Fechenhei-
mer Wald demnächst roden lassen will,
weil die Autobahnlobby es so will. Dann
empfinden das viele als hochgradig
widersinnig. Und wenn ausgerechnet die
Arbeit mit Menschen, die klein sind oder
alt und gebrechlich, die also den Schutz
der Solidargemeinschaft brauchen, wei-
terhin miserabel entlohnt wird, ist das
nicht ganz und gar unvernünftig?
So gesehen lassen sich Anschläge auf die
Vernunft ebenso gut als Anschläge auf den
07. 01 . bis 13 . 01 . 2 02 3
AUSSTELLUNG
Städtische Galerie, http://galerie.bietigheim-bissingen.de
bis 26.02.2023: „Avantgarde in den Niederlanden – Die expressionistische
Künstlergruppe »De Ploeg«“
Hauptstr. 60-64, T. 07142/74483, Di-Fr 14-18, Do-20,Sa/So/Feier 11-18
BOCHUM
Situation Kunst / Museum unter Tage
bis 10.04.2023: Adolf Luther - Licht. Werk und Sammlung
www.situation-kunst.de, Mi-Fr 14-18, Sa, So, Feiertag 12-18 Uhr
BONN
Bundeskunsthalle, www.bundeskunsthalle.de
bis 05.02.2023: DIE OPER IST TOT – ES LEBE DIE OPER!
bis 10.04.2023: ERNSTHAFT? ALBERNHEIT UND ENTHUSIASMUS IN DER
KUNST
bis 02.04.2023: DIE LETZTEN IHRER ART. SELTENE HANDWERKE UND BERUFE
IM WANDEL
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
gesellschaftlichen Widersinn begreifen. So Rettungsauftrag nach dem anderen ab-
berichten es jedenfalls viele der bespuckten, solviert. Eben waren es die Banken, dann
verunglimpften, verletzten Notärzte und war es das Virus, jetzt sind es Klima und
Sanitäter: Die Aggression habe nicht ihnen Krieg: Immer geht es allein um die Ab-
gegolten, nicht ihrer Person. Vielmehr sei wendung des Schlimmsten.
es ihre Uniform, die angegriffen werde, und Von der Verheißung auf ein besseres,
mit der Uniform die Idee einer gesamt- unbeschwertes, vor allem aber freies
gesellschaftlichen Autorität. Morgen, für das die Moderne so lange
Hier zeigt sich ein Zorn auf alles, was stand, ist nichts mehr übrig. Stabile Sei-
gefestigt ist und institutionalisiert. Kei- tenlage, die Verwaltung der Nöte, Sach-
ne Systemkritik, nein, denn Systemkri- zwangpolitik, damit soll sich die Gegen-
tik müsste ja artikuliert sein. Auch keine wart begnügen. Der Horizont hat sich
geschlossen. Und viele leiden unter die-
sem Gefühl der Ausweglosigkeit, manche
rutschen in die Depression, andere
verletzen sich selbst, wie die autoaggressi-
ven Ritzer. Einige verletzen auch das
Gemeinwesen oder zumindest jene, die
sie für die Repräsentanten dieses Ge-
meinwesens halten.
Das alles sind Mutmaßungen, schon
richtig. Doch dass mit der Freiheit etwas
nicht mehr stimmt, mit dem Freiheits-
begriff, aber auch mit dem Freiheitsemp-
finden, liegt offen zutage. Und dass Men-
schen, die sich von Zwängen umzingelt
sehen, zu zwanghaften Handlungen nei-
gen, ist allbekannt. Nicht wenige entwi-
ckeln sich zu Egomanen, man könnte sa-
gen: Sie privatisieren den politischen
Freiheitsbegriff und führen symbolische
Massenwut, wie man sie für den zurück- Kämpfe um Tempolimit, Gendersprache,
liegenden Herbst befürchtet hatte, die Veggie-Days, weil die große gesellschaft-
sich aber nicht blicken ließ. Vielmehr ist liche Freiheitsverheißung unter Gleichen
es ein Ersatzhandeln der Einzelnen, un- nicht mehr zu haben ist. Die Gegenwart
geplant, unorganisiert, aus dem Affekt wird irre an sich selbst, weil sich alles so
heraus. schön freiheitlich gibt, so entgrenzt, das
Auch Lehrer oder Schaffner erzählen Netz macht es möglich. Und doch steht
von vermehrter Gewalt, davon, dass sie die Freiheit der Einzelnen stets im Schat-
beleidigt und bedroht werden. Doch ten einer übergroßen Unfreiheit. Nichts
nicht zufällig trifft es die Feuerwehrleute zeigen die Virus-, Banken-, Klimakrisen
und Sanitäter besonders heftig. Sie ver- deutlicher als das: Alle hängen von allen
körpern auf sinnbildliche Weise eine ab, es schrumpfen die Räume, in denen
Moderne, die vor allem mit ihrer eigenen freiheitliche Teilhabe spürbar wirksam
Einhegung beschäftigt ist: eine Feuer- werden kann. Und wo es an solcher Frei-
wehr- und Notarztmoderne, die einen heit fehlt, wächst die Gewalt.
KUNSTMUSEUM BONN
ab 08.05.2022: Raum für phantasievolle Aktionen Neupräsentation Sammlung
bis 22.01.2023: Max Ernst und die Natur als Erfindung
bis 08.01.2023: Ausgezeichnet #6 Benjamin Houlihan
Stipendiat:innen der Stiftung Kunstfonds
www.kunstmuseum-bonn.de, Tel. 0228/776260, H.-K.-Allee 2, Di-So 11-18, Mi-21
Museum August Macke Haus
HIGHLIGHT
bis 29.05.2023: Evarist Adam Weber. Wiederentdeckt
www.august-macke-haus.de, Hochstadenring 36, Fr-So, Feiertag 11-17, Do 11-19
BOTTROP
Josef Albers Museum Quadrat Bottrop
bis 26.02.2023: Josef Albers. Huldigung an das Quadrat 1950 bis 1976
quadrat.bottrop.de, Tel. 02041/372030, Anni-Albers-Platz 1, 46236 Bottrop, Di-Sa
11-17, So 10-17 Uhr
BREMEN
Gerhard-Marcks-Haus
bis 29.01.2023: Die Firma Arp. Firmenkosmos und Atelierpraxis
www.marcks.de, Tel. 0421/989752-0, Am Wall 208, Di-So 10-18, Do-21 Uhr
Kunsthalle Bremen
bis 02.04.2023: Sunset. Ein Hoch auf die sinkende Sonne
bis 26.03.2023: Die Sammlung Osmers. Von Archipenko bis Zero
bis 30.04.2023: Wer war Milli? Eine Intervention von Natasha A. Kelly
DARMSTADT
Hessisches Landesmuseum Darmstadt
bis 08.01.2023: Walter Schels. Fotografien
bis 15.01.2023: Remember Venice! Bernardo Bellotto zeichnet
www.hlmd.de, Friedensplatz 1, Di, Do, Fr 10-18, Sa, So, Feiert. 10-17, Mi 10-20 Uhr
DORTMUND
Dortmunder U - Zentrum für Kunst und Kreativität
bis 08.01.2023: Klare Kante! BBK Landeskunstausstellung NRW, Eintritt frei
bis 15.01.2023: 50 Jahre Informatik an der TU Dortmund, Eintritt frei
bis 15.01.2023: Neun Sonnen, Eintritt frei
bis 15.01.2023: Body & Soul Denken, Fühlen, Zähneputzen, Eintritt frei
bis 29.01.2023: Fiona Banner aka The Vanity Press: Pranayama Typhoon Soft
Parts Wing Flap Fin, Eintritt frei
www.dortmunder-u.de, Tel. +49 (0) 231.50-24723, info@dortmunder-u.de, Leo-
nie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund, Di, Mi 11-18, Do, Fr 11-20, Sa, So, Feiertag
11-18 Uhr
Konzerthaus Dortmund
Mi 20:00 Cuarteto Casals Auszüge aus Bachs »Die Kunst der Fuge«!/!Fr 20:00
Ulrich Tukur & Die Rhythmus Boys Rhythmus in Dosen – Das Jubiläumspro-
gramm, www.konzerthaus-dortmund.de, Tel. +49 231 – 22 696 200
DRESDEN
STAATLICHE KUNSTSAMMLUNGEN DRESDEN
Residenzschloss Dresden, Sophienstr./Taschenberg/Schlossstr. Mi-Mo 10-18 Uhr
bis 22.01.2023: Kupferstich-Kabinett: Der letzte Romantiker. Albert Venus und
Gespannte Ruhe. Raimund Girke. Werke auf Papier 1957—2001
bis 03.02.2023: Kupferstich-Kabinett: Zeitgefühle (Öffnungszeiten siehe
www.skd.museum )
Jägerhof, Köpckestr. 1, Di-So 10-18 Uhr
bis 08.01.2023: Museum für Sächsische Volkskunst: Von Spinnen, Engeln und
dem Licht der Welt
Albertinum, Georg-Treu-Platz/Brühlsche Terrasse, Di-So 10 - 18 Uhr
bis 15.01.2023: Zwischen Weltflucht und Moderne. Oskar Zwintscher in der
Kunst um 1900
Tel. 0351-49142000, Besuchen Sie uns auch online: www.skd.museum
DUISBURG
MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst
04.11.2022 bis 05.03.2023: „MARTIN ASSIG – WEIL ICH MENSCH BIN“ und
„NORBERT KRICKE – BEWEGUNG IM RAUM“ 18.11.2022 bis 31.03.2023
www.museum-kueppersmuehle.de, Tel. +49 (0)203 301948 -11,
office@museum-kueppersmuehle.de, Philosophenweg 55, 47051 Duisburg, Mi 14-
18, Do-So, Feiertag 11-18, Jeden Sonntag um 15 Uhr öffentliche Führung
DÜSSELDORF
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
Präsentation der ständigen Sammlung
bis 22.01.2023: K21: Reinhard Mucha. Ein Anfangsverdacht
bis 12.02.2023: K20: Mondrian. Evolution
bis 07.05.2023: K20: Reinhard Mucha. Ein Anfangsverdacht
Tel. 0211.8381-204, K20, Grabbeplatz 5 – K21, Ständehausstr. 1, Düsseldorf, Di-Fr
10-18, Sa, So, Feiertag 11-18 Uhr, 24./25./31.12. geschlossen
EMDEN ROSTOCK

AUSSTELLUNG
Kunsthalle Emden Kunsthalle Rostock
bis 21.02.2023: NOLDE/ROHLFS Zwei Künstlerleben
www.kunsthalle-emden.de, Tel. 04921 975050, Di-Fr 10-17, Sa, So, Feiertag 11-17, 11.12.2022 bis 19.02.2023: Unter blauen Himmeln - Wolfgang Mattheuer & Mar-
jeder 1. Di/Monat 10-21 Uhr, 20.2. (Rosenmontag) und 21.2. geöffnet kus Matthias Krüger
ERLANGEN ALBERNHEIT www.kunsthallerostock.de, Tel. 0381/3817000, kunsthalle@rostock.de, Hamburger

HIGHLIGHT
Straße 40, 18069 Rostock, Di-So 11-18 Uhr
Stadtmuseum Erlangen
bis 12.03.2023: Intervention und Spurensuche. Regine von Chossy
UND ENTHUSIASMUS
SAARBRÜCKEN
www.stadtmuseum-erlangen.de, Martin-Luther-Platz 9 IN DER KUNST
FLENSBURG Saarlandmuseum - Alte Sammlung

RNSTH
Museumsberg Flensburg bis 29.01.2023: Zu Tisch! Die Kunst des guten Geschmacks.
20.11.2022 bis 23.04.2023: PARIS! Schleswig-holsteinische Künstlerinnen und www.altesammlung.de, Schlossplatz 16, T.0681.9964-234, Di-So 10-18, Mi-20
Künstler in der Welthauptstadt der Kunst Saarlandmuseum - Moderne Galerie
www.museumsberg.de, tägl. 10-17, Mo geschl.

E
bis 26.02.2023: Fabienne Verdier – Im Auge des Kosmos
FRANKFURT AM MAIN
bis 19.03.2023: Face à Face – Mudam Luxembourg/Moderne Galerie. Zwei
Sammlungen im Dialog

AF
ARCHÆOLOGISCHES www.modernegalerie.org, Bismarckstr. 11-15, T.0681.9964-234, Di-So 10-18, Mi-20

MUSEUM FRANKFURT SIEGEN

Museum für Gegenwartskunst Siegen

T
18.11.2022 bis 26.02.2023: Odor. Immaterielle Skulpturen
11.03.2022 bis 26.02.2023: Florence Jung. MGKWalls und Sam
25.11.2022 – 10.4.2023
11.03.2022 bis 29.01.2023: Gemischtes Doppel:

MITHRAS
Die Sammlung Lambrecht-Schadeberg

RI
21.10.2022 bis 19.03.2023: Studiolo: Francis Bacon. Im Spiegel der Fotografie
www.mgksiegen.de, Tel. (0271) 405 77 10, Unteres Schloss 1, 57072 Siegen

Y
Annäherungen an einen römischen Kult SINDELFINGEN

SL
SCHAUWERK Sindelfingen
DEUTSCHES ARCHITEKTURMUSEUM
bis 12.02.2023: BEN WILLIKENS. Raum und Gedächtnis
bis 15.01.2023: Nichts Neues. Besser Bauen mit Bestand im DAM OSTEND,
U
I

Illustration: Adrien Rovero

Frankfurt am Main bis 08.10.2023: CHIHARU SHIOTA. Silent Word
bis 22.01.2023: Best High-Rises 2022/23 – Internationaler Hochhaus Preis das
DAM zu Gast im Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main
C U L O www.schauwerk-sindelfingen.de, Mi-So 11-18 Uhr

MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST

Y STUTTGART

OU RS

!
bis 18.06.2023: Museum MMK: Rosemarie Trockel
mmk.art tri-bühne
Städel Museum Sa 19:00 Snowden 3.3!/!Di-Fr 36. Filmwinter, Tel. 0711/2364610
bis 05.03.2023: GUIDO RENI. Der Göttliche
bis 22.01.2023: VOR DÜRER. Kupferstich wird Kunst ULM
bis 23.04.2023: Michael Müller: Der geschenkte Tag. Kastor & Polydeukes
www.staedelmuseum.de, Tel. 069-605098-200, Schaumainkai 63, Di, Mi, Fr-So Museum Ulm
10-18, Do 10-21 Uhr
ART, bis 16.04.2023: Protest! gestalten - Von Otl Aicher bis heute
bis 22.01.2023: Urformen – Figürliche Eiszeitkunst Europas
FRIEDRICHSHAFEN
Zeppelin Museum Friedrichshafen
BIS 10. APRIL 2023 IN BONN AWKWARDNESS bis 15.01.2023: Franco Clivio - Manifolds
bis 16.04.2023: Fetisch Zukunft. Utopien der dritten Dimension WWW.BUNDESKUNSTHALLE.DE AND ENTHUSIASM bis 08.01.2023: LETZTE TAGE! Otl Aicher 100 Jahre 100 Plakate (HfG-Archiv)
Tel. 07541-38010, Seestr. 22, Öffnungszeiten unter www.zeppelinmuseum.de
www.museumulm.de, Tel. +49(0)731-161 4330, info.museum@ulm.de, Marktplatz
GELSENKIRCHEN 9, 89071 Ulm, Di-So, Feiertag 11-17 Uhr
Musiktheater im Revier Stadthaus Ulm
Großes Haus: Sa 19:30 Das schlaue Füchslein (19.00 Einführung)!/!So 18:00, Do
bis 15.01.2023: Peter Bialobrzeski: Urbane Räume, Eintritt frei
19:30 Die verkaufte Braut (So 17.30, Do 19.00 Einführung)!/!Mo 19:30 Neu- KIEL MÜNCHEN
jahrskonzert!/!Kleines Haus: Sa, So 16:00 Der kleine Prinz, Tel. 0209/4097200 stadthaus.ulm.de, Mo-Mi, Fr, Sa 10-18, Do 10-20, So, Feiertag 11-18
Kunsthalle zu Kiel Antike am Königsplatz - Staatliche Antikensammlungen kunsthalle weishaupt
HAGEN bis 05.03.2023: 1+1=3 Die Kunstwelten der Mary Bauermeister 09.11.2022 bis 02.04.2023: Neues Licht aus Pompeji
Kunstquartier Hagen 26.11.2022 bis 23.04.2023: Lovis Corinth – Die Grafik bis 18.06.2023: Reine Formsache. Konstruktiv-konkrete Kunst aus der Sammlung
www.licht-pompeji.de, Königsplatz 1, 80333 München, Di, Do-So 10-17, Mi 10-20
bis 05.02.2023: Li Yongzheng - Yes, today. Art as a life practise. Dauerausstellung: Wildes, Wüstes, Wunderschönes. Natur im Fokus der Uhr www.kunsthalle-weishaupt.de, Tel. 0731 161 4360, Di-So 11-17 Uhr
bis 15.01.2023: Edward Bekkerman - Labyrinths of love Sammlung Jüdisches Museum München
bis 12.03.2023: Hanns Friedrichs - Ich mache keine Mode, ich ziehe Frauen an www.kunsthalle-kiel.de, Tel. 0431/8805756, info@kunsthalle-kiel.de, Düstern- Dauerausstellung: Stimmen_Orte_Zeiten – Juden in München WIESBADEN
www.kunstquartier-hagen.de, Museumsplatz 1, 59095 Hagen brooker Weg 1, 24105 Kiel, Di, Do-So 10-18, Mi 10-20 Uhr bis 05.03.2023: Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg,
Museum Wiesbaden
HALBERSTADT KLEVE Eintritt frei
bis 21.05.2023: Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen ei- bis 05.02.2023: Ernst Wilhelm Nay Retrospektive
Gleimhaus - Museum der deutschen Aufklärung Museum Kurhaus Kleve
ner Idee www.museum-wiesbaden.de, Tel. 0611/335-2250, Friedrich-Ebert-Allee 2, 65185
bis 30.04.2023: Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch – Leben und Werk der bis 29.01.2023: Schatzhaus & Labor. 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve
www.juedisches-museum-muenchen.de, Tel. 089-233-96096, Wiesbaden, Di, Do 11-19, Mi, Fr 11-17, Sa, So, Feiertag 11-18
ersten deutschen Berufsschriftstellerin – Ausstellung zum 300. Geburtstag www.museumkurhaus.de, Di-So 11-17 Uhr
juedisches.museum@muenchen.de, St.-Jakobs-Platz 16, 80331 München, Di-So
38820 Halberstadt, Domplatz 31 – Tel: 03941-68710 – www.gleimhaus.de KÖLN 10-18 Uhr WÜRZBURG
HALLE (SAALE) Kölnisches Stadtmuseum Kunsthalle München
Ausstellungsort: Maritim Hotel Köln, Heumarkt 20, 50667 Köln 26.08.2022 bis 15.01.2023: JR: Chronicles tägl. 10–20 Uhr, 089/22 44 12, Museum im Kulturspeicher
Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)
bis 12.02.2023: 50 JAHRE HÖHNER www.kunsthalle-muc.de, Theatinerstr. 8, München bis 15.01.2023: KONKRET GLOBAL!
bis 08.01.2023: BATTLE:RELOADED. Margret Eicher: Medientapisserien Friede-
Museen der Stadt Köln: Literaturhaus München
mann-Bach-Platz 5, 06108 Halle (Saale), www.kunstmuseum-moritzburg.de bis 19.03.2023: Die Errettung des Bösen. Mögliche und unmögliche Bilder. Eine
Infos zu Ausstellungen und Veranstaltungen unter: 22.12.2022 bis 30.04.2023: SIMONE DE BEAUVOIR & DAS ANDERE GE-
HAMBURG www.museen.koeln SCHLECHT Ausstellung von Michael Müller

Deichtorhallen Hamburg
bis 12.03.2023: In the Heart of Another Country. Sharjah Art Collection
bis 26.02.2023: Paul Mpagi Sepuya/Alix Marie. Fotografie.
bis 19.03.2023: In der Sammlung Falckenberg (Harburg): Dieter Roth. Material-
und Druckgraphik.
www.deichtorhallen.de, Deichtorstr. 1-2, 20095 Hamburg, Di-So, 11-18 Uhr, jeden 1.
Do im Monat 11-21 Uhr
Ernst Barlach Haus
bis 19.02.2023: GEORGES ADÉAGBO. Hommage zum 80. Geburtstag
»À l’école de Ernest Barlach, le sculpteur«
www.barlach-haus.de, Jenischpark, Hamburg
HAMBURGER KUNSTHALLE
bis 10.04.2023: Femme Fatale. Blick – Macht – Gender
bis 15.01.2023: Atmen
bis 18.02.2024: Something new, something old, something desired
bis 31.12.2023: Making History. Hans Makart und die Salonmalerei des 19. Jh.
bis 31.12.2023: Impressionismus. Deutsch-französische Begegnungen
www.hamburger-kunsthalle.de, Tel. 040/428131200, Glockengießerwall 5, 20095
Hamburg, Di-So 10-18/Do 10-21 Uhr
Museum am Rothenbaum - Kulturen und Künste der Welt
Benin. Geraubte Geschichte bis auf Weiteres (31.12.22-16.1.23 wg. technischer In-
standhaltung geschlossen)
Blitzsymbol & Schlangentanz. Aby Warburg und die Pueblo-Kunst bis 8.1.23
UnBinding Bodies. Lotosschuhe und Korsett bis 26.2.23
Hamburg und Tirol – eine Alpenfreundschaft? ab 10.12.22 bis 31.12.23
www.markk-hamburg.de, Rothenbaumchaussee 64, Di-So 10-18, Do-21 Eintr. frei
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
bis 20.08.2023: Made in China! Porzellan
bis 12.03.2023: Who‘s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt
bis 26.02.2023: Die Sprache der Mode
bis 23.04.2023: Contemporary Craft: Young-Jae Lee
bis 05.03.2023: Sorge um den Bestand. Zehn Strategien für die Architektur
bis 26.02.2023: audio-grafisch. 16 Entwürfe und ihre Enstehung
www.mkg-hamburg.de, Steintorplatz, 20099 Hamburg, Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr
HANNOVER
Museum August Kestner
06.11.2022 bis 26.03.2023: G.L.F. Laves - Ein Hofarchitekt entwirft Möbel
www.museum-august-kestner.de
KAISERSLAUTERN
Do., 19. Januar, 20 Uhr: Nabil Shehata, Kontrabass, und
Stipendiaten der Villa Musica RLP spielen Werke von Schubert,
Labor und Schulhoff. Tickets von 10,50 - 26,50 €
Fruchthalle Kaiserslautern, Tel. 0631 365-2316, www.fruchthalle.de
KARLSRUHE
ZKM Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe
bis 05.02.2023: Soun-Gui Kim: Lazy Clouds
bis 05.02.2023: Marijke van Warmerdam. Then, now, and then
bis 16.04.2023: Walter Giers. Eletronic Art
bis 23.04.2023: Matter, Non-Matter, Anti-Matter.
bis 04.06.2023: ole scheeren : spaces of life
bis 15.01.2023: Sehen sie uns?
Dauerausstellung: zkm_gameplay. the next level Ausstellungen Online:
fortlaufend Critical Zones – Virtuelle Ausstellung
bis 30.08.2023: Spatial Affairs Worlding – A tér világlása
bis 30.09.2023: Jazmina Figueroa. Call Signs
www.zkm.de, Tel. 0721/81000, Lorenzstr. 19, Mi-Fr 10-18, Do, Sa/So 11-18 Uhr
KASSEL
Fridericianum, Kassel
09.12.2022 bis 19.02.2023: nolde/kritik/documenta: ein Projekt des documenta
archivs, der Draiflessen Collection, der Nolde Stiftung Seebüll und Mischa Ku-
ball
https://www.documenta-archiv.de, Friedrichsplatz 18, Kassel, Di-So 11-18 Uhr
Der Maler
als Zeichner –
der Zeichner
als Maler
300 Jahre
Johann Heinrich Tischbein
kassel 28.10.22 bis 05.02.23
schloss wilhelmshöhe
mhk• www.museum-kassel.de
Museumslandschaft Hessen Kassel - Parks, Schlösser, Museen
Dauerausstellung: Schloss Wilhelmshöhe: Gemäldegalerie Alte Meister und
Antikensammlung, Hessisches Landesmuseum, Neue Galerie: about: docu-
menta
28.10.2022 bis 05.02.2023: Der Maler als Zeichner - der Zeichner als Maler. 300
Jahre Johann Heinrich Tischbein, Schloss Wilhelmshöhe
25.11.2022 bis 26.02.2023: Reise zum Vesuv - Anfänge der Archäologie am Golf
von Neapel, Hessisches Landesmuseum
www.museum-kassel.de, Di-So, Feiertag 10-17 Uhr
Museum Ludwig Köln
bis 22.01.2023: Grüne Moderne. Die neue Sicht auf Pflanzen
bis 05.02.2023: HIER & JETZT im Museum Ludwig. Antikoloniale Eingriffe
bis 12.02.2023: Wolfgang-Hahn-Preis 2022. Frank Bowling
bis 12.03.2023: Kiss kiss. In memoriam Lady Renate Gruber
bis 30.11.2024: Schultze Projects #3 - Minerva Cuevas
Heinrich-Böll-Platz, 50667 Köln, Di-So 10-18 Uhr, 1. Do im Monat 10-22 Uhr
Museum Schnütgen
bis 19.03.2023: Magie Bergkristall
Cäcilienstr. 29-33, 50667 Köln, Di-So 10-18, Do 10-20, 1. Do im Monat 10-22 Uhr
Museum für Angewandte Kunst Köln (MAKK)
bis 26.03.2023: Susanna Taras. Blumen, Flowers, Fleurs
bis 12.03.2023: Ausgewählt I. Aspekte der Historischen Sammlungen
An der Rechtschule, 50667 Köln, Di-So 10-18 Uhr, 1. Do im Monat 10-22 Uhr
Museum für Ostasiatische Kunst
bis 31.03.2023: Handelsgut Global. Exportporzellan aus China und Japan
bis 10.04.2023: HORIZONTE. Qiu Shihua | Leiko Ikemura | Kimsooja | Evelyn
Taocheng Wang | Yu Duan
Universitätsstr. 100, 50674 Köln, Di-So 11-17 Uhr, 1. Do im Monat 11-22 Uhr
NS-Dokumentationszentrum
bis 08.01.2023: Haut, Stein
Appellhofplatz 23-25, 50667 Köln, Di-Fr 10-18, Sa, So 11-18, 1. Do im Monat 10-22
Uhr
Rautenstrauch-Joest-Museum
bis 08.01.2023: I MISS YOU! Über das Vermissen, Zurückgeben und Erinnern
bis 10.04.2023: LOVE?
Cäcilienstr. 29-33, 50667 Köln, Di-So 10-18, Do 10-20, 1. Do im Monat 10-22 Uhr
Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud
bis 16.04.2023: Die Karlsruher Passion. Ganz • Schön • Heftig
bis 23.04.2023: Sensation des Sehens. Die Sammlung Nekes: Vol. 1 Barock
bis 15.01.2023: Bann und Befreiung – Vom Lesen und Schreiben. Kuratiert von
Hanns Zischler
bis 26.02.2023: Susanna. Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo
Obenmarspforten, 50667 Köln, Di-So 10-18, 1. + 3. Do im Monat 10-22 Uhr
KREFELD
Kunstmuseum Krefeld
Kaiser Wilhelm Museum, Joseph-Beuys-Platz 1, Di–Do, So 11–17, Fr–Sa 11–18
bis 26.03.2023: On Air. Der Klang des Materials in der Kunst der 1950er bis
1970er Jahre
bis 05.02.2023: Shannon Bool trifft Otto Eckmann, Sammlungssatellit #8
ab 02.04.2022: Robert Stadler, K+ Café im KWM, Sammlungssatellit #7
ab 05.06.2020: Sammlung in Bewegung - 15 Räume 15 Geschichten
Haus Lange, Wilhelmshofallee 91–97, Di–Do, So 11–17, Fr–Sa 11–18
bis 26.02.2023: Maison Sonia. Sonia Delaunay und das Atelier Simultané
Haus Esters, Wilhelmshofallee 91–97, Di–Do, So 11–17, Fr–Sa 11–18
bis 26.02.2023: Andrea Zittel. Personal Patterns
Tel. 02151 975580, Besuchen Sie uns auch online: www.kunstmuseenkrefeld.de,
am 24./25./31.12. geschlossen
LEIPZIG
GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Sonderausstellungen:
bis 26.03.2023: BESESSEN. Die geheime Kunst des Polsterns
bis 08.10.2023: DIE GUTE MODERNE. Von der Passion, Design zu sammeln
www.grassimak.de, Tel. 0341/2229100, Johannisplatz 5-11
Oper Leipzig
Opernhaus: Sa 10:00 In mir singt ein Lied Mitsingkonzert für Menschen mit De-
menzerkrankung (Konzertfoyer)!/!Sa 19:00 Rachmaninow Leipziger Ballett!/!So
11:00 Premieren-Matinée Zu Wolfgang Amadeus Mozarts „Don Giovanni“ (Par-
kettfoyer)!/!So 17:00, Fr 19:30 Otello!/!Mi 18:30 Kostprobe Zu Wolfgang Ama-
deus Mozarts „Don Giovanni“ (Konzertfoyer)!/!Musikalische Komödie: Sa 19:00,
So 15:00 Die Straßensängerin!/!So 12:00 Hausführung Musikalische Komö-
die!/!Fr 19:30 Carmen, www.oper-leipzig.de
LÜNEBURG
Kunstsammlung Henning J. Claassen
50 Jahre Zeitgenössische Kunst aus 5 Kontinenten
www.kunstsammlung-henningjclaassen.de, Do-So 11-18 Uhr
MANNHEIM
Kunsthalle Mannheim www.kuma.art
bis 05.03.2023: Becoming CoBrA. Anfänge einer europäischen Kunstbewegung
bis 23.04.2023: Von der Fläche zum Raum. Bildhauerzeichnungen ab 1945
Tel. 0621/2936423, Friedrichsplatz 4, Di, Do-So/Fei 10-18, Mi-20, 1. Mi/Monat-22h
Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim
18.09.2022 bis 26.02.2023: DIE NORMANNEN | normannen-ausstellung.de
rem-mannheim.de | rem.buchungen@mannheim.de, Di-So, Feiertag
TECHNOSEUM, Landesmuseum für Technik und Arbeit
17.11.2022 bis 12.11.2023: Auf Empfang!
Die Geschichte von Radio und Fernsehen
www.technoseum.de, Tel. +49 (0) 621 / 42 98 - 9, info@technoseum.de, Muse-
umsstraße 1, Mannheim, tägl. 09-17 Uhr
METTINGEN
Draiflessen Collection
bis 26.02.2023: THE FINAL BID. Michael Pinsky
www.draiflessen.com, Tel. 05452/9168-0, Georgstr. 18, Mi-So 11-17, jeder 1. Do-21
MÖNCHENGLADBACH
Museum Abteiberg
bis 06.08.2023: SAMMLUNG/ARCHIV ANDERSCH
Feldversuch #2: Brecht – Filliou
09.12.2022 bis 07.01.2024: 100 JAHRE STIFTUNG WALTER KAESBACH
EXPRESSIONISMUS AM MUSEUM ABTEIBERG
www.museum-abteiberg.de, Abteistraße 27 / Johannes-Cladders-Platz
literaturhaus-muenchen.de, Tel. 089-291934-0, info@literaturhaus-muenchen.de, www.kulturspeicher.de, Tel. 0931/32225-0, Fax -18,
Salvatorplatz 1, tägl. 11-18 museum.kulturspeicher@stadt.wuerzburg.de, Oskar-Laredo-Platz 1, 97080 Würz-
Museum Villa Stuck
Sonderausstellungen: bis 15.1.23: A Big Announcement. Bernd Kuchenbeiser burg, Di 13-18, Mi 11-18, Do 11-19 Uhr, Fr-So 11-18 Uhr
zeigt Bücher und Schallplatten
bis 19.3.2023: Dayanita Singh. Dancing with my Camera
ÖSTERREICH
Dauerausstellung: Künstlervilla und Historische Räume von Franz von Stuck
www.villastuck.de, Die-So 11-18 Uhr, 1. Freitag im Monat 11-22 Uhr
Münchner Stadtmuseum
WIEN
bis 07.01.2024: Nachts. Clubkultur in München
bis 12.03.2023: München 72. Mode, Menschen und Musik
Leopold Museum
bis 05.03.2023: Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg
Dauerausstellung: WIEN 1900. Aufbruch in die Moderne
www.muenchner-stadtmuseum.de, St.-Jakobs-Pl., T. 089/23322370, Di-So 10-18
bis 06.02.2023: HAGENBUND. Von der gemäßigten zur radikalen Moderne
NEUMARKT IN DER OBERPFALZ
bis 26.02.2023: TILLA DURIEUX. Eine Jahrhundertzeugin und ihre Rollen
Museum Lothar Fischer, www.museum-lothar-fischer.de
leopoldmuseum.org, Museumsplatz 1, 1070 Wien, Mo, Mi-So, Feiertag 10-18 Uhr
bis 29.01.2023: Hans Hofmann – Chimbote 1950. Farben für die neue Stadt
Tel. 09181/510348, Weiherstr. 7 a, Mi-Fr 14-17, Sa/So 11-17 Uhr mumok- Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien
bis 26.02.2023: Das Tier in Dir. Kreaturen in (und außerhalb) der mumok
NEUWIED
Sammlung
Landesbühne Rheinland-Pfalz
So 19:30 Die Currywurst Queen Komödie von Susanne Dassel und Werner Haus- bis 05.02.2023: Emília Rigová. Nane Oda Lavutaris / Who Will Play for Me?
schild!/!Do, Fr 19:30 Werther (Do Premiere) Klassiker von Johann Wolfgang von bis 29.01.2023: Changes
Goethe, Tel. 02631/22288
bis 10.04.2023: mixed up with others before we even begin
NÜRNBERG www.mumok.at, Tel. 43-1/52500, Museumsplatz 1, 1070 Wien, Di-So 10-18 Uhr
Kunstvilla im KunstKulturQuartier
03.12.2022 bis 11.06.2023: Naturstoff / Kunststoff.
kunstvilla.org, Tel. 0911 231-15893, Blumenstr. 17, Di, Do-So 11-18, Mi 11-20 Uhr SCHWEIZ
OLDENBURG
ZÜRICH
oldenburg-tourismus.de
Museum Strauhof
bis 08.01.2023: Climate Fiction Die Klimakrise in die Literatur der Gegenwart
bis 08.01.2023: Carl Seelig – Drei Briefwechsel Mit Hermann Hesse, Robert Wal-
ser, Erika Burkart
www.strauhof.ch, Augustinergasse 9, 8001 Zürich, Di, Mi, Fr 12-18, Do 12-22, Sa, So
11-17, 25.12.2022 geschl.
UMFASSEND
INFORMIERT
www.zeit.de/kulturanzeigen
• Die Agenda/Kultur in der ZEIT hilft Ihnen beim Planen Ihres
Kulturprogramms.
• Der Kultur-Newsletter der ZEIT ONLINE Redaktion hält Sie
mit den spannendsten Neuigkeiten aus der Kulturszene
auf dem Laufenden.
Jubiläumsauftakt 100 Jahre
Landesmuseum Kunst & Kultur Oldenburg
Ausstellung „Wundern & Staunen“
25.02.–18.06.2023 | Augusteum
Lichtinstallation „Time Drifts Oldenburg“ von Philipp Geist
24.–25.02.2023 | 19–21.30 Uhr | Schlossplatz
Künstlergespräch mit Philipp Geist
25.02.2023 | 16.30–17.30 Uhr | Schloss
Mehr zum Jubiläumsprogramm unter
oldenburg-tourismus.de/100-jahre-landesmuseum
OSNABRÜCK
Museumsquartier Osnabrück
Dauerausstellungen: Sammlung Felix Nussbaum / Stadtgeschichte Osnabrück
www.museumsquartier-osnabrueck.de
REGENSBURG
Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg
bis 29.01.2023: Wachsen und Vergehen. Sieglinde Bottesch - Bernard Schultze
www.kunstforum.net, Tel. 0941297140, Di-So 10-17, Do 10-20 Uhr
48 GLAUBEN & ZWEIFELN
Foto: Konrad R. Müller/Photo und Presseagentur Focus; Zeitleiste: dpa (4); Agentur Bridgeman; ullstein Bild; Getty Images; Stefano Spaziani; kl. Fotos S. 49 (v. l.): Guglielmo Mangiapane/Reuters (2); Francesco Pistilli/KNA; Valeria Scrilatti
Am frühen Montagmorgen, noch vor Sonnenauf-
gang, holten ihn die Sediari pontifici zu Hause im
Kloster in den Vatikanischen Gärten ab, um sei-
nen Leichnam hinunter in den Petersdom zu
transportieren. Die Sediari sind heute päpstliche
Kammerdiener, früher jedoch hatten sie die Auf-
gabe, den Papstthron auf ihren Schultern zu tra-
gen, die Sedia gestatoria. Das war zu einer Zeit, als
Päpste noch unangefochten über den Gläubigen
thronten – und auf gar keinen Fall zurücktraten.
Ältere Vatikankenner erinnern sich noch, wie
es in Rom war, als man gern zu den Päpsten auf-
schaute. In den letzten Tagen aber schimpften sie
heftig über die Sediari: Die haben nämlich den
toten Joseph Ratzinger am Montag mit einem
Lieferwagen vom Kloster abtransportiert, anstatt
ihn eigenhändig hinunter in die Basilika zu tragen.
War ihnen der leichte Greisenkörper wirklich
zu schwer? Oder wollte der Vatikan am Ende doch
klarmachen, dass dies kein Leichenzug für einen
echten Papst ist? Dass also »Papa Ratzinger« (wie
ihn die Römer liebevoll nennen) oder »papa emeri-
to« (wie sie im Vatikan sagen) nur ein ehemaliger
Heiliger Vater ist und nicht die vollen Ehrenbezeu-
gungen verdient?
Momentan verdächtigen manche getreue Freun-
de Ratzingers in Rom, die noch in der Trauerphase
des Zornes feststecken, bei allem, was seltsam läuft
an diesem ungewöhnlichen Abschied, sogleich Papst
Franziskus, der wolle seinen Vorgänger herabsetzen.
Dieser Verdacht gegenüber dem Argentinier, der
selbst mittlerweile im Rollstuhl sitzt und schon oft
von seiner eigenen Abdankung gesprochen hat, ist
unsinnig. Tatsächlich hat Bergoglio mit seinen Knie-
und Hüftschmerzen und einem künstlichen Darm-
ausgang wohl andere Sorgen, als dem verstorbenen
deutschen Ex-Papst letzte Ehren zu neiden. Doch
viele Katholiken haben sich so daran gewöhnt, die
beiden Päpste als Gegensatzpaar zu sehen, dass sie
auch jetzt noch Arges fürchten.
Wahr ist: Am vergangenen Samstag, an Silvester,
ist Joseph Ratzinger verstorben – und hätte es am
Montag danach eine Leichenprozession zu Fuß ge-
geben, in der römischen Morgendämmerung, wäre
Joseph Ratzinger mit 65 Jahren als Kardinal in der Glaubenskongregation in Rom das wunderbar gewesen. Denn einen schöneren Weg
als den vom Monastero Mater Ecclesiae hinunter in
den Petersdom gibt es in Rom nicht.
Das kann jeder bestätigen, der in den letzten zehn
Jahren seit dem Rücktritt von Benedikt XVI. bei ihm
Adio, Papa
oder seinem Sekretär Georg Gänswein zu Besuch war.
Trat man nachher aus dem Kloster hoch oben in den
Vatikanischen Gärten, hielt man gleich wieder inne.
Ach, dieser Blick! Als stünde man über der Kuppel
des Petersdoms.
Die schmale Straße vor dem Monastero führt in
Serpentinen bergab, durch die grünen Hügel hinter
dem Petersdom, vorbei am Palazzo del Governa-
Ratzinger!
torato, dem Regierungssitz des Vatikanstaates, und
weiter zum südlichen Seiteneingang von Sankt Peter.
Zu Fuß braucht man für den Weg zehn Minuten,
aber wer ein Herz hat, ging ihn stets möglichst lang-
sam. Die Gendarmen in ihren Wachhäuschen am
Wegesrand behelligten einen nicht. Es genügte, wenn
man ihnen freundlich zunickte, sie wussten, von wem
man kam, von oben.
Wer wird künftig dort wohnen? Wo bleibt der
Papstsekretär Georg Gänswein? Und wird das Papst-
Er war das Gesicht der Kirchenkrise, doch dann fasste er den Mut zu sein nun einfacher für Franziskus, oder werden wir
das ungleiche Paar der Päpste noch vermissen? So
einem Jahrtausendschritt – und dankte ab. Jetzt nimmt Rom Abschied lauteten seit der Todesnachricht die aufgeregten
Fragen der Vatikanjournalisten. Der Heilige Stuhl
von Benedikt XVI. Doch wie beerdigt man einen Ex-Papst? hatte zwar gleich den Termin der Beisetzung bekannt-
Und tritt Franziskus nun auch bald zurück? VON EVELYN FINGER gegeben, doch wie die Feier am Donnerstag ablaufen
würde, blieb tagelang unklar, und so gab es wieder
wilde Spekulationen.
Die erste und wichtigste Frage lautete: Würde der
Tote aufgebahrt werden in Rot (die traditionelle
Abschiedsfarbe für Päpste) oder Violett (die Bischofs-
farbe) oder Weiß (die gewohnte Farbe des papa
Vom Bub in Bayern zum Papst in Rom
TEXTE: STEFAN SCHIRMER
1927 1933 1943 1951 1959 1963
Am 16. April, Karsamstag, Mit 16 Jahren ist er Flak- Erster Höhepunkt seiner Vom Hörsaal in die
wird Joseph Ratzinger helfer in München, mit 17 Karriere als brillanter Seelsorge: Papst Paul VI.
im oberbayerischen wird er Ende 1944 zur Theologe: ein Lehrstuhl in ernennt Ratzinger zum
Marktl am Inn geboren. Wehrmacht eingezogen. Bonn. Es folgen die Erzbischof von München
Sein Vater ist Gendarm, Sein Berufswunsch steht Stationen Münster, und Freising, wenig später
die Mutter Köchin fest: Er will Priester werden Tübingen und Regensburg auch zum Kardinal
Joseph als Erstklässler. In Freising wird Ratzinger Beim Zweiten Vatikani-
Über die Kindheit in mit seinem Bruder Georg schen Konzil macht der
seiner tiefkatholischen (l.) zum Priester geweiht, junge Professor als Berater
Familie wird er später oft schlägt dann aber eine des Kölner Kardinals Frings
liebevoll sprechen akademische Laufbahn ein in Rom von sich reden
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
emerito)? Zweitens: Würde er seine roten Schuhe
tragen, die einst selbstverständlich zum Papstgewand
gehörten, aber in Ratzingers Amtszeit gern als reak-
tionär interpretiert wurden und für dauernde Stiche-
leien von links sorgten? Drittens: Würde er im Sarg
aufgebahrt werden oder auf einem Katafalk?
Noch ehe Benedikt starb, wurde schon diskutiert,
ob er nach neun Tagen beerdigt würde wie im Amt
verstorbene Päpste. Alle fragten sich, wie wohl die
»schlichte« Liturgie aussehen würde, die Benedikt
selbst sich für seine Totenmesse gewünscht haben
soll. Stündlich belagerten die Vatikanisti den Vatikan-
sprecher Matteo Bruni und hofften auf einen Leak
des Gottesdienstablaufs. Doch ausnahmsweise funk-
tionierte die Geheimhaltung, bis der Pressesaal des
Heiligen Stuhls am Dienstagnachmittag den Ablauf
veröffentlichte. Am Eingang zum Petersplatz wuchs
derweil eine Tribüne für die Medien empor, so groß
wie für eine Papstwahl.
Benedikt XVI. war schon seit zehn Jahren kein
Papst mehr, aber momentan spürt man in Rom noch
einmal das nie Dagewesene seines Rücktritts, das
diesen Menschen zu einer herausragenden Persönlich-
keit macht. Am Montag nach Neujahr um sieben
Uhr wurde er im Petersdom feierlich aufgebahrt,
wurde mit Weihwasser, Weihrauch und Gebeten
begrüßt. Zuvor schon kursierten Fotos von seiner
privaten Aufbahrung im Monastero. Man sah mit
Befriedigung, sein Gewand ist rot. Am Dienstag
dann, kurz vor Redaktionsschluss der ZEIT, wurde
endlich das Handbuch für die Totenmesse publik.
Auf dem Deckblatt steht: »für den emeritierten
Pontifex«, »geleitet vom Heiligen Vater Franziskus«.
Beider Namen sind in Rot und gleich groß gedruckt.
Die beschriebene Liturgie wird am Donnerstag, dem
Erscheinungstag der gedruckten ZEIT, schon fast
wieder vorbei sein. Doch auch die Tage vorher waren
ein Erlebnis.
Schon diese ungewöhnliche Stimmung auf dem
Petersplatz: friedlich, erwartungsvoll, heiter.
Andächtig, aber nicht wie an den Trauertagen für
frühere Päpste. Es war, als verlangsame der Tod dieses
95-Jährigen, der einst Oberhirte von über einer Mil-
liarde Menschen war, die Zeit. Kein Gedränge und
auch keine stockenden Warteschlangen. Ein stetiger
lockerer Abschiedszug höchst unterschiedlicher
Leute bewegte sich über den Platz. Alte, Kinder und
junge Paare. Ordensschwestern in Blau, Priester und
Patriarchen in Schwarz. Europäer, Asiaten, Afrikaner,
Amerikaner. Mittendrin stand noch der Weihnachts-
baum, davor die überdimensionale Krippe.
Natürlich ist die Kirchenkrise, deren Gesicht
Joseph Ratzinger als Kardinal und als Papst immer
wieder war, mit seinem Tod nicht zu Ende. Aber an
diesen Abschiedstagen war sie in Rom einmal nicht
spürbar. Stattdessen dominierte der Respekt vor
einem Papst, der nicht Papst werden wollte, der von
Anfang an das Amt fürchtete, aber am Ende
Geschichte schrieb, indem er etwas vollkommen
Unvorhergesehenes tat.
Viele auf dem Petersplatz, die ihn noch einmal
sehen wollen, wissen kaum etwas über seine Vita. Sie
kennen die wichtigsten Enzykliken nicht, auch nicht
die Pannen seines Pontifikats und den Skandal Vati-
Leaks um die gestohlenen päpstlichen Geheimdoku-
mente, der sich im Jahr vor Ratzingers Rücktritt
ereignete. Manche der Wartenden sagen, sie wollten
eigentlich nur den Jahreswechsel in Rom feiern. Doch
alle wissen, dass der deutsche Papst den Mut fasste zu
einem Jahrtausendschritt.
In den Bars um den Petersplatz erzählt man sich
beim Espresso von den neuen Büchern, die seine
Abdankung endlich schlüssig erklären wollen. Von
dem Papstsekretär Georg Gänswein zum Beispiel
kommt auf Italienisch »Nichts als die Wahrheit«. Und
doch dürfte ein Geheimnis bleiben: Wie war es nur
möglich, dass ein Verteidiger des Glaubens, der aus
Angst um seine Kirche zum Traditionalisten wurde,
am Ende etwas extrem Mutiges, ja Revolutionäres tat?
Vielleicht wollen die vielen Zehntausenden diesen
toten Papst auch deshalb noch einmal sehen, weil er
ein Rätsel bleiben wird. Spürbar ist jetzt in Rom, dass
mit Benedikt eine Epoche zu Ende geht, nämlich die
Zeit der selbstverständlichen Frömmigkeit und die
Zeit der großen Illusionen des westlichen Christen-
tums über sich selbst.
Die Kirchenkrise aber wird noch lange währen.
Ein Jahr ist es nun her, dass eine große Missbrauchs-
studie über Ratzingers ehemaliges Bistum München
und Freising erschien. Danach wurde der ehemalige
Papst angeklagt, einen Mehrfachtäter geschützt zu
haben, also ein Vertuscher zu sein. Soeben hat das
Landgericht Traunstein angekündigt, die Klage gegen
ihn sei mit seinem Tod nicht vom Tisch, sondern
werde vererbt. Erbe ist wohl der Heilige Stuhl. Schon
1977 1982
»Panzerkardinal«: Unter
Johannes Paul II. wird
Ratzinger zum Präfekten
der mächtigen Glaubens-
kongregation in Rom
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023 49

Fans und Gegner haben ihn verkannt

kursiert im Netz ein Cartoon: Ein Grüppchen Beide wurden nach ihrer Heiligsprechung umge-
Bischöfe und Papst Franziskus stehen im Petersdom. bettet in die Basilika. Für Benedikt XVI. wird es eine
»Was machen wir zum Benedikt-Abschied?« – »Der einfache Grabplatte geben. Sein dreifacher Sarg be-
Chor der Missbrauchs-Opfer möchte Highway to steht innen und außen aus Holz, dazwischen eine
Hell singen.« Schicht Zinn. Aber das sind im Moment noch Details Der deutsche Kardinal WALTER KASPER gilt als einer der wichtigsten Unterstützer von Papst Franziskus
Man kann das pietätlos finden, doch die Krise für Vatikanisten, später vielleicht auch für Touristen.
lässt sich im Gegensatz zu früher nicht mehr weg- Jetzt, beim Abschied, nehmen Benedikts Besucher in Rom. Er erinnert sich an Joseph Ratzinger, den er als jungen Professor kennenlernte

W
beten und wegargumentieren. Früher, das war die einfach die Atmosphäre des Domes in sich auf, etwas
Zeit, als Kardinal Ratzinger in Rom im Geheimen von seiner Ewigkeit und all den Gebeten, die hier enn ich über mein Verhältnis sehen und sogar im selben Haus wohnen würden, Aspekte stark zu machen. Wir haben das Heute
versuchte, den Kindesmissbrauch einzudämmen. schon gesprochen wurden. Über einer marmornen zu Joseph Ratzinger/Papst lag vollends jenseits unserer Fantasie. unterschiedlich bestimmt und das Heutigwerden
Er entließ Hunderte Priestertäter aus ihrem Todespforte, die von Engeln bewacht wird, steht zu Benedikt XVI. schreibe, dann Meine Berufung an die Universität Münster unterschiedlich angepackt. Ihn jedoch nur nach den
Dienst, schuf neue Gesetze gegen Missbrauch, tat lesen: »Glücklich sind die Verstorbenen, die in Gott muss ich über weit mehr als 1964 verdanke ich seiner aktiven Förderung. Bei Kategorien konservativ oder progressiv zu beurtei-
mehr in der Sache als jeder Papst zuvor, und doch gestorben sind.« Sehr gut möglich, dass der Glaube die Hälfte meines Lebens der zurückgezogenen Lebensweise Joseph Ratzin- len ist falsch. Seine Entfremdung von den Erneue-
tat er nicht genug. Sein Fehler war, dass er sich zu an die Verheißungen diese Kirchenkrise überdauert. schreiben. Wir kannten uns sechs Jahrzehnte, in gers blieben unsere persönlichen Kontakte aller- rern hing meiner Meinung nach mit dem Wechsel
lange weniger um die Opfer sorgte als um seine Wenn man wieder hinaustritt ins Helle, auf denen ich ihm als Professor, Bischof, Kardinal dings selten und eher kühl. Auch später gehörte vom Katheter des Professors auf die Cathedra des
Kirche. So bezahlte der Vatikan teure Anwälte für den Petersplatz, kann man beobachten, wie groß und Papst begegnete – und immer wieder mit ich nie zum engeren Ratzinger-Kreis. Bischofs und des Papstes zusammen.
Täter, doch kam nicht auf die Idee, die Opfer das Bedürfnis ist, etwas über den Toten zu erfah- ihm zusammenarbeitete. Diese Erfahrungen Für uns beide war jedoch klar, dass jede Seine Wahl zum Papst leitete eine neue Phase
könnten einen Rechtsbeistand dringender brau- ren. Überall stehen Vatikanisten und erklären vor gehören zu den spannendsten meines Lebens. Theologie in der Spannung steht zwischen dem in unserem Verhältnis ein. Es ist keine alltägli-
chen. Noch Papst Johannes Paul II. wollte die Ver- Mikrofonen und Kameras, was hier geschieht. Wie es sich für rechtschaffene Theologen ge- Festhalten am Ursprung und dem Heutigwer- che Erfahrung, einem ehemaligen Kollegen als
brechen nicht einmal wahrhaben. Mitten auf dem Platz spricht auch der deutsche hört, haben wir gestritten, auch öffentlich. Wer den des Evangeliums. Das Evangelium ist im- Papst wiederzubegegnen. Im ersten Augenblick
Doch als der Pole 2005 starb, sah es in Rom ganz Bestsellerautor Andreas Englisch live vor seiner das als Gegnerschaft deutet, hat von Theologie mer dasselbe und muss doch immer hatte ich Schwierigkeiten, wie ich
anders aus als jetzt. Die altgedienten Vatikanisten Handykamera, es ist eine Schalte des österreichi- wenig oder nichts verstanden. Wie jede Wissen- neu bezeugt werden. Benedikt XVI. anreden sollte. Doch
erinnern sich noch, dass der Petersdom sogar nachts schen Fernsehens. Moderator: »Herr Englisch, schaft lebt sie vom Disput, und einen Denker Joseph Ratzinger war alles andere bei der ersten privaten Begegnung
geöffnet war und einfach alle den toten Wojtyła ver- was ist das Besondere dieser Beisetzung?« Eng- ehrt man, indem man denkt. als ein fundamentalistischer Konser- regelte er das von sich aus; es blieb,
abschieden wollten, sie übernachteten in Schlafsäcken lisch: »Es ist ohne Beispiel, dass ein Papst einen Ich habe in meinem Leben insgesamt sieben vativer, ein Ewiggestriger oder gar der wenn wir allein waren, beim vertrau-
auf der Piazza San Pietro, und ein Lichtermeer aus anderen Papst bestattet. Dass Benedikt XVI. aber Päpste kennengelernt. Sie waren alle sehr ver- Panzerkardinal, als den man ihn später ten Du.
Kerzen erstreckte sich bis hinunter zur Engelsburg. in der Peterskirche aufgebahrt wurde, bedeutet, schieden und somit echt katholisch. Die Einheit karikierte. Sowohl die erzkonservative Ich selbst war mittlerweile Ku-
Natürlich gibt es Deutsche in Rom, die so etwas dass er mit allen Ehren verabschiedet wird.« in der Vielfalt der katholischen Kirche zeigt sich Projektion mancher Fans wie das Zerr- rienkardinal und für die ökumeni-
für ihren Papa Ratzinger jetzt schmerzlich vermissen: Moderator: »Was bleibt von ihm in Erinnerung?« auch in der Einheit und Vielfalt ihrer Päpste. bild, das seine Gegner entwarfen, sche Einheit der Kirchen wie für das
dass man in den Hotels hinter den Kolonnaden nicht Englisch: »Ganz einfach, die epochale Entschei- Loyalität aber sind wir jedem Papst schuldig. werden ihm nicht gerecht. Kam man religiöse Verhältnis zum Judentum
aus dem Haus treten konnte vor lauter Papstfans. dung zum Rücktritt.« Noch lebhaft erinnere ich mich an meine erste mit ihm ins Gespräch, erwies er sich als Kardinal Kasper, zuständig. Benedikt war der Theolo-
Dass alle knieten und beteten. Jetzt kniet auf dem Tatsächlich hat er das Amt des Papstes entzau- Begegnung mit Joseph Ratzinger. Es war in der freundlicher, mit mildem Humor be- 89, stammt aus gen-Papst und hat als solcher ein rei-
Platz fast keiner. Zwar kommen am Tag der Toten- bert, es ist nun nicht mehr nur von Gott gegeben, Aufbruchsstimmung des Zweiten Vatikanischen gabter, differenzierter Denker. dem Allgäu ches Erbe hinterlassen. Doch Praxis
messe auch Bundespräsi- und man kann in Zu- Konzils im Sommer 1963. Der junge Professor Beim Abschied aus Münster 1966 und Macht waren nicht seine Stärke.
dent Frank-Walter Stein- kunft einen Papst auf- Ratzinger, der als Peritus, also Berater, teilnahm, hörte ich ihn erstmals besorgt über die Mehrfach konnte ich die Wogen
meier, die Kardinäle Marx fordern, zurückzutreten. galt als aufsteigender Stern am theologischen Him- nachkonziliare Entwicklung sprechen. Er sagte etwas glätten, wenn es vor allem mit den Juden
und Woelki, der Bischof Aber das Amt ist auch mel. Ich war sechs Jahre jünger und Habilitand. über das Programm des aggiornamento, es sei ihm zu Missverständnissen kam.
Bätzing, dazu Staatsober- menschlicher geworden. Ratzinger besuchte Stuttgart und erklärte in einem in den konziliaren Debatten immer mehr bewusst Sein mutiger, großmütiger und demütiger
häupter anderer Länder Englisch sagt: »Das ist Vortrag: Die Kirche und ihre Lehre seien kein toter, geworden, dass sich im Neuen Testament auch Amtsverzicht eröffnete ein neues Kapitel der Papst-
– doch es sind nicht annä- vielleicht das Vermächt- sondern ein lebendiger Organismus, der sich ver- Worte wie »bewahren«, »feststehen« und »erinnern« geschichte. Danach wurden unsere Begegnungen
hernd so viele wie zum nis dieses Papstes.« ändert. Es gab einen kleinen Disput, in der Pause fänden. Er war besorgt, die kirchliche Erneuerung seltener. Doch viele Gespräche bleiben mir eine
Begräbnis früherer Päpste. Dann spricht er über lernten wir uns kennen. Ratzinger träumte wohl könne aus dem Ruder laufen, aus Erneuerung wertvolle Erinnerung an einen ehemaligen Kolle-
War es früher also besser? dessen Art zu glauben, kaum davon, dass er drei Jahre später in Tübingen könne Neuerung werden und in seichten Gewäs- gen, der Papst wurde und ein bedeutender Denker
Wer jetzt den Peters- über seine Fehler und Professor der Dogmatik sein würde, und ich sern versanden. Damit waren die Weichen für blieb, der sich nicht leicht in kirchenpolitische
dom betritt, glaubt das seine Verdienste, über träumte nicht davon, dass ich ihm sieben Jahre seinen weiteren Weg gestellt. Schablonen pressen lässt. Wer das versucht, wird
nicht. Sehr still und sehr sein Verhältnis zu Fran- später in Tübingen auf dem Lehrstuhl nachfolgen Joseph Ratzinger beurteilte die Neuzeit eher ihm nicht gerecht und hat noch viel von der Weite
golden und noch größer ziskus und die Zukunft würde. Dass wir uns als Kardinäle in Rom wieder- kritisch, während ich versuchte, ihre positiven seines Denkens zu lernen.
als sonst wirkt die Basili- Gänsweins, über die
ka. Ein schmaler Gang Widersprüche seines
führt in der Mitte des Kir- Charakters und darüber,

Er schrieb mit Verstand und Herz

chenschiffs bis zu dem warum die Leute ihn
berühmten Altar mit dem zum Abschied dennoch
riesigen Baldachin. ehren. Das Interview
Ganz vorn liegt Joseph endet mit einer schwie-
Ratzinger. Langsam, aber rigen Frage zur Summe Der deutsche Kardinal GERHARD LUDWIG MÜLLER war einer der mächtigsten Männer der
nicht furchtsam nähern von Ratzingers Theolo-
sich ihm die Menschen. gie, Englisch antwortet Kurie. Er würdigt den Papst, der ihn zum Präfekten der Glaubenskongregation erhob

I
Nicht viele bekreuzigen bündig: »Wer glaubt, ist
sich, manche beten kurz, nie allein.« n die Geschichte der Päpste wird er als senschaftlichen Erkenntnisse der Theologie mit Benedikt XVI. war ein Gelehrter, dem es um
aber jeder hält inne. Man Das könnte so stim- einer der bedeutendsten Theologen auf der lebendigen Gestalt des Glaubens. Indem er die Wahrheit und den Sinn menschlicher Existenz
sieht den Toten gut. Der aufgebahrte Leichnam Joseph men. Altgediente Vati- dem Stuhl Petri eingehen – vergleichbar auf dem Zusammenhang von Glaube und Ver- ging. Auch darum habe ich ein Institut ins Leben
Doch er sieht kaum mehr Ratzingers und wartende Gläubige auf kanisten wie Englisch mit Benedikt XIV. (1740–1758) und Leo nunft bestand, wurde er zu einem Kirchenvater in gerufen, das die Gesamtausgabe seiner Schriften
aus wie er selbst, sondern dem Petersplatz oder der hervorragend dem Großen (440–461). Seine wichtigs- der Moderne. verantwortet – und bin gern seinem Auftrag
mit seiner Mitra und Deutsch sprechende ten Lehrer waren der heilige Augustinus und der Benedikt XVI. vermittelte Theologie so, dass gefolgt, deren Herausgeber zu sein. Das Institut
dem im Tod immer Marco Ansaldo von der heilige Bonaventura, deren Denken sich nicht Gottes Vision vom Menschen zum Leuchten Papst Benedikt XVI. in Regensburg ist heute das
strenger werdenden Gesicht bereits wie einer der Zeitung La Repubblica sind jetzt heiß begehrt als der Wahrheit bemächtigen wollte, sondern dem kam. Das lag auch an seinem Gespür für Spra- Zentrum zur Erforschung des Werkes von Joseph
Päpste von dereinst. Erklärer. Einig sind sich in Rom jedenfalls alle, Geheimnis der Liebe Gottes öffnen. che. Komplexe Sachverhalte wurden bei ihm Ratzinger. Hier entstehen seine Gesammelten
Das muss für die, die ihn sehr gut kannten, hart dass Papst Franziskus auch zurücktreten wird. Dies vor allem habe ich von Joseph Ratzinger nicht verkompliziert, sondern auf ihre innere Schriften in 16 Bänden, das sind etwa 25.000
sein. Für seinen einstigen Sekretär Joseph Clemens, Nicht sofort, aber bald. gelernt: Theologe sein heißt die Größe der mensch- Einfachheit zurückgeführt. Er schrieb mit dem Seiten. Er war froh, dass die Reihe zu seinen Leb-
der es noch rechtzeitig aus Deutschland nach Rom Und was passiert nun am Donnerstagvormittag lichen Berufung im Lichte Gottes verstehen. Per- Verstand und mit dem Herzen. zeiten so weit gedieh, dass sie mit
zurückschaffte, aber nicht mehr ans Sterbebett. Oder bei der Totenmesse? Dann soll der Sarg des Joseph sönlich erlebte ich den berühmten Professor Seine akademische Laufbahn hatte wenigen weiteren Bänden abgeschlos-
für Georg Gänswein, der ebenfalls rasch aus Ratzinger auf dem Petersplatz stehen, wo der deut- Ratzinger zum ersten Mal, als ich noch Student der den Professor Joseph Ratzinger nach sen sein wird.
Deutschland zurückgerufen worden sein soll und sche Papst unzählige Male betete. Papst Franziskus Theologie war, bei seinem Vortrag in der Katho- Freising, Bonn, Münster, Tübingen Und wie war es, ihn als Papst in
schon einmal bei einem Vortrag über den schwächer bittet gleich zu Beginn, dass Gott »seinen Diener lischen Akademie in München Ende der Sechziger- und zuletzt nach Regensburg geführt. Rom zu erleben? Er berief mich 2012
werdenden papa emerito in Tränen ausbrach. Auch Benedikt, den er gerufen hat, um die Kirche zu jahre. Ich sah ihn jedoch nur von ferne, weil die Ich selbst konnte ihn, als er Glaubens- zum Präfekten der Glaubenskongrega-
die langjährige Haushälterin und Vertraute Ingrid führen, als seinen Vikar auf der Erde, an der ewi- Aula so überfüllt war, dass seine Rede auf die präfekt in Rom war, ich aber Bischof tion – und da gerade keine andere
Stampa will sich verabschieden. Und der Maler gen Glorie teilhaben« lässt. Franziskus selbst wird Straße hinaus übertragen wurde. Sein Thema war von Regensburg, anlässlich regelmäßi- Dienstwohnung frei war, bot er mir
Michael Triegel, dessen Porträt des deutschen Paps- predigen und den Sarg mit Weihwasser segnen. hochaktuell: die Taufe als persönliche Glaubens- ger Besuche bei seinem Bruder begrü- seine Kardinalswohnung an, die er
tes in der deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl Danach werden die sterblichen Überreste durch entscheidung in einer säkularisierten Gesellschaft. ßen. Einmal vertrat der Kardinal Rat- nicht mehr brauchte. Dort lebe ich bis
hängt, kommt. das Tor des Todes an der linken Seite des Peters- Ja, er wusste um die Herausforderungen der zinger mich sogar beim Jahresschluss- Kardinal Müller, heute. Es war bewegend, ihm in seinem
Unterdessen sorgen Hunderte Sanpietrini, die doms in die Kirche zurückgetragen bis in die Gegenwart. Er sah, dass die Frage nach Gott gottesdienst mit Messe und Predigt, als 75, stammt aus päpstlichen Lehramt zuzuarbeiten,
Ordner des Petersdoms, in ihren besten Uniformen Grotte der Päpste. vielen heute bedeutungslos, ja geradezu peinlich ich wegen des Blinddarms ins Kran- Mainz denn er tat Dienst, ohne sich selbst zu
dafür, dass kein Besucher die Totenruhe stört. Zu Die Messe wird auf Latein zelebriert, in der Spra- erscheint. Uns Jüngeren machte er klar: Es geht kenhaus musste. erhöhen. Er wusste, dass das Ziel des
beiden Seiten des Toten sitzen betend Vatikanmit- che der Weltkirche. Gesungen wird Zum Paradies nicht um das Überleben der Kirche als Institu- In Regensburg erlebte ich ihn Christen nicht private Seligkeit ist,
arbeiter. Die normalen Besucher gehen langsam den mögen Engel dich geleiten. Außerdem will sich Fran- tion, sondern um ihren Dienst am Menschen, dann auch als neuen Papst – und seine Regens- sondern das Ganze: »Er glaubt an Christus, und er
Weg durch den Dom zurück, vorbei an riesigen ziskus an die Muttergottes wenden, sie möge Joseph an seinem Heil und seiner Beziehung zu Gott – burger Vorlesung von 2006 zunächst als Stern- glaubt an die Zukunft der Welt, nicht bloß an seine
Engeln, grüßenden Aposteln und steinernen Päps- Ratzinger im Paradies aufnehmen. Er benutzt ein dem Ursprung und Ziel unseres Seins. stunde deutscher Universitätsgeschichte. Die Zukunft. Er weiß, dass diese Zukunft mehr ist, als
ten. Benedikt XV., kniend. Johannes XXIII. im kleines, uraltes Bild der Maria, das bereits im Jahr 593 Joseph Ratzinger lehrte: Mit einer kosmetischen akademischen Hörer vor Ort schienen von an- er selbst erschaffen kann.« So endet seine Einführung
gläsernen Sarkophag. durch Rom getragen wurde, um das Ende der Pest Modernisierung der Kirche ist es nicht getan. Erst stößiger Kritik am Islam nichts mitzubekom- in das Christentum.
Zwischendurch hört man aus den Katakomben von Gott zu erbitten. Während der schlimmsten wenn ihre Botschaft ankommt, dann wird auch die men – erst drei Tage später wurde daraus ein Jetzt, im Moment des Abschiedes von ihm,
das durchdringende Geräusch, wenn eine Marmor- Phase der Pandemie im März 2020 ließ Franziskus Kirche wieder interessant. Davon handelte schon Skandal gemacht, der bis in die islamischen trösten mich seine Worte über das ewige Leben,
platte aufgesägt wird. Offenbar bereitet man das Grab das Bild in den Vatikan bringen. Am Ende der Toten- seine Einführung in das Christentum von 1968, und Länder hineinreichte. Dennoch nahmen Islam- das für ihn keine Utopie, sondern Gewissheit war:
vor. Joseph Ratzinger selbst hat sich die Grabstelle messe wird er beten: »Heilige Jungfrau Maria, bitte davon handelte Jahrzehnte später seine Trilogie gelehrte seine entscheidende These positiv auf: »Es gibt eine Erlösung der Welt – das ist die Zuver-
nicht weit vom Petrusgrab gewünscht, wo einst Gott für unseren Papa emeritus Benedikt, dass sich Jesus von Nazareth. Dieser Papst war kein hölzerner dass der Gottesglaube mit Gewalt im Namen sicht, die den Christen trägt und die es auch heute
Johannes XXIII. und dann Johannes Paul II. lagen. Christus ihm von Angesicht zu Angesicht zeige.« Fachtheologe. Seine Schriften verbinden die wis- Gottes unvereinbar ist. noch lohnend macht, Christ zu sein.«

2005 2005 2006 2006 2010 2013 2022 2022

Ratzinger zelebriert die Ein Vortrag des Papstes in Es werden immer mehr Ein Missbrauchsgutachten
Totenmesse für Johannes Regensburg löst in vielen Fälle von Missbrauch hält Ratzinger Fehler in
Paul II. Am 19. April Ländern wütende Proteste durch katholische Priester seiner Zeit als Münchner
geht der 78-Jährige aus von Muslimen aus. Bei bekannt. 2012 erschüttert Erzbischof vor. Es gibt
dem Konklave als einem Türkeibesuch kann zudem die »Vatileaks«- Zweifel an seiner Aussage,
Benedikt XVI. hervor er die Wogen glätten Affäre die Kirche er habe von nichts gewusst

Die Begeisterung über den Benedikt im ehemaligen Überraschend kündigt Mit seinem Sekretär Georg
Pontifex ist anfänglich KZ Auschwitz. 2009 wird Benedikt zum 28. Februar Gänswein lebte der frühere
riesig. Beim Weltjugendtag zum Eklat, dass er einen seinen Rücktritt als Papst Papst seit 2013 im Vatikan-
in Köln feiern ihn mehr als Bischof rehabilitiert, der an. Als sein Nachfolger kloster Mater Ecclesiae, wo
eine Million Teilnehmer den Holocaust leugnet wird Franziskus gewählt er am 31. Dezember stirbt
50 KINDER- & JUGENDBUCH 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2

Im Niemandsland des Lebens

DIE LUCHS-JURY EMPFIEHLT
AUSSERDEM

Ein Mädchen, das vergessen will und eine alte Dame, die versucht, sich zu erinnern: Sarah Crossan
erzählt in freien Versen von zwei Frauen, die im Verlorensein vereint sind VON KATRIN HÖRNLEIN

A
llison ist eine Meisterin In freien Versen erzählt Sarah Crossan die
der Tarnung: Wann im- Geschichte dieser beiden Frauen, eine Erzähl-
mer der Sturm durchs form, in der die Autorin es zur Meisterschaft Comic-Sachbuch:
Haus fegt, versteckt sie gebracht hat. Jugendlichen erklärt die ausge-
danach Blutergüsse und bildete Lehrerin bei Lesungen gern, dass Vers- Die Erde ist eine Scheibe, der Klimawandel
Schrammen unter Roll- romane ihnen bestimmt gefallen würden, weil eine Erfindung, und die Weltherrschaft
kragen und fälscht Ent- sie viel weniger lesen müssten. Tatsächlich haben seit Jahrhunderten die Illuminaten:
schuldigungen für den Sportunterricht, bis stehen auf den rund 350 Seiten oft nur weni- Die französische Journalistin Doan Bui hat
die Blessuren verblasst sind. Die 15-Jährige ge, locker gesetzte Zeilen – das sollte selbst sich für ihre Recherchen tief in unterschied-
hat viel Übung im Vortäuschen von Dingen: leseferne Teenager nicht verschrecken. Cros- liche Verschwörungsmilieus begeben. Leslie
»Ich weiß zum Beispiel sehr gut, wie Glück- san muss umso intensiver arbeiten, um ihre Plée hat Buis Berichte in Comic-Reportagen
lichsein von außen aussieht.« Doch dieses Erzählung derart zu verdichten. Jedes Wort, verwandelt. Ein unterhaltsam-erschrecken-
Mal kann selbst Allison nichts mehr kaschie- jeder Satz ist mit Bedacht gewählt – von Beate der Ausflug ins Reich der Fake-News und
ren: Mit dem heißen Bügeleisen hat ihr Vater Schäfer glänzend ins Deutsche übertragen –, zugleich das beste Gegenmittel, um diese
ihr ins Gesicht geschlagen. Das Mädchen, am und gerade durch diese Reduktion entfalten und ihre Anhänger zu enttarnen.
Boden liegend, blickt auf vertrocknete Nu- die Verse eine immense Wucht. Doan Bui/Leslie Plée (Ill.): Glauben Sie an die
delreste unter dem Herd und denkt: »So viel Eindrucksvoll verwebt Crossan die Lebens- Wahrheit? Carlsen 2022; ab 14 Jahren
verborgener Schmutz.« linien der beiden Frauen. Wie zwei Gestran-
Sie kann nichts mehr verbergen, wird fortan dete in einem Niemandsland richten Marla
mit dem flammenden roten Mal auf der Wange und Allison-Toffee sich miteinander in dem
ein für alle sichtbar gezeichnetes Kind sein. alten Haus ein, ohne dass es jemand mitbe-
Viele werden Allison darauf ansprechen: »Was kommt. Zwei Frauen, die beide jeden Halt
ist denn mit deinem Gesicht passiert?« Die Ant- verloren haben; wie Spiegelbilder zeichnet
Illustration: Jet Purdie (Gestaltung: Stefanie Schelleis unter Verwendung eines Designs von John Candell)/Carl Hanser Verlag

wort bleibt sie lange schuldig. Und auch die Crossan sie, während keine der beiden sich
Leserinnen und Leser dieses so erschütternden selbst im Spiegel zu sehen vermag: Marla, in
wie berührenden Versromans erfahren erst kurz ihrem Empfinden wieder ein Teenager, schreit,
vor Schluss, wie genau es zu dieser Wunde kam. als ihr das Gesicht einer alten Frau entgegen-
Dass der Vater gewalttätig ist, wird früh klar. blickt, und Allison sieht nicht mehr sich,
Denn die Geschichte beginnt mit Allisons sondern nur noch die Narbe, in die sich das
Flucht. Nach Jahren der Übergriffe und Belei- flammende Bügeleisen-Mal verwandelt hat.
digungen, die nach und nach in Rückblenden Klug hat Crossan diese Erzählung kom- Gedichte:
ausgebreitet werden, reißt sie aus und macht poniert, jongliert mit den Zeitebenen, ver-
sich auf den Weg zu Kelly-Anne, der Ex-Freun- flicht Marlas Erinnerungen mit Allisons und Ein ganzes Buch über Trennungen? Und das
din des Vaters. Die hat sich wenige Wochen den gemeinsamen Erlebnissen. Gnadenlos auch noch in Gedichtform? Wer soll das denn
zuvor davongemacht und ihre Ziehtochter an- schildert sie die Folgen familiärer Gewalt: wie bitte lesen (wollen)? Alle! Denn Bette Westera
gefleht, mitzukommen. Doch Allison war zu gerade Kinder in solchen Abhängigkeiten ge- richtet in ihren Gedichten den Blick auf die
sehr verstrickt in die vergiftete Vater-Tochter- fangen sind, aber genauso, wie die hilfsbe- Kinder, die in dem ganzen Zusammen-aus-
Beziehung; war, wie so viele Kinder, die zu dürftigen Alten in Einsamkeit verkümmern. einander-Wirrwarr oft nur Statisten sind. Ver-
Hause Gewalt erfahren, fest davon überzeugt, Allison beschert Marla letzte lichte Momente letzt, verzweifelt, verloren stehen sie inmitten
all das Schreckliche zu verdienen, nicht lieb und voller Lebensfreude: Gemeinsam sammeln sie von Streitereien oder Schweigen und machen
liebenswert genug zu sein. Ihre Mutter starb bei Kastanien und bauen Sandburgen; sie rupfen sich so ihre eigenen Gedanken – mal wütend,
der Geburt, seither ist das Mädchen dem Vater Unkraut im Garten, tanzen Swing im Wohn- mal lakonisch, mal tief betrübt. Das ist
schutzlos ausgeliefert: »Die eigenen Eltern kann zimmer und betrinken sich mit Gin Tonic. Die bedrückend, humorvoll und dank der Bilder
keiner einfach so verlassen.« junge wiegt die alte Frau, wenn diese wimmernd von Sylvia Weve sogar schön.
Doch nach dem Bügeleisen-Vorfall haut aus Albträumen hochschreckt, wird zur Mutter, Bette Westera/Sylvia Weve (Ill.): Auseinander.
Allison ab, schlägt sich in ein Küstenörtchen in die sie selbst nie hatte. Umgekehrt schenkt Susanna Rieder 2022; ab 8 Jahren
Cornwall durch, wo sie Kelly-Anne vermutet. Marla Allison trotz aller Verwirrtheit ein Gefühl
Die aber ist inzwischen in Schottland, mehr als von Sicherheit und das Wissen: Du bist schön
tausend Kilometer entfernt. Als am Strand auch und gut und genau richtig, wie du bist.
noch Allisons Rucksack mitsamt ihrem Handy Monatelang begleitet Allison die alte Marla
gestohlen wird, ist jede Verbindung zu ihrem aus dem Leben. Während auf die der unaus-
früheren Leben gekappt. Das Mädchen, das weichliche Abschied wartet, findet die 15-Jäh-
jahrelang versucht hat, unsichtbar zu sein, be- »Ich bin nicht lebensmüde, aber an manchen Tagen wäre ich rige langsam wieder zurück in die Welt – und
ginnt vollends zu verschwinden. lieber nicht mehr da«, denkt die 15-jährige Allison wird gefunden: von ihrer »Beinahe-Mum« Kelly-
Oder sich zu verwandeln. Denn die viel- Anne. Nichts wird einfach gut, da bleibt Sarah
fach ausgezeichnete irisch-britische Autorin Crossan ehrlich gegenüber ihren Figuren und
Sarah Crossan erzählt nicht nur Allisons Ge- Lesern. Zu viel ist geschehen. Zu viele sichtbare
schichte, sondern auch die von Marla, einer und unsichtbare Narben tragen die Frauen mit
dementen alten Dame, die gerade auf andere sich. Doch Hoffnung gibt es: Ȇber Mittag wird
Art aus dem Leben verschwindet. Von ihrem LUCHS NR. 432 es regnen. / Später wird es wieder schön sein. /
tyrannischen Sohn in ihr Haus gesperrt, stol- Das wird es ganz sicher.« Bilderbuch:
pert Marla durch die Tage und ihre Erinne- Mit diesen Zeilen beendet Crossan ihren auf-
rungen. Mal glaubt sie, ein Teenager zu sein, wühlenden Roman, dem sie ein bemerkens- Ein Problem ist es anfangs nicht, nur etwas
mal erinnert sie sich, dass sie Enkel hat. Mal wertes Zitat vorangestellt hat: »Deine Worte nass an den Füßen. Doch das Wasser in der
setzt sie mit dem Toaster fast die Küche in vergessen sie vielleicht, doch was du sie hast Stadt, die von Tieren bevölkert ist, steigt
Brand, dann versucht sie sich mit einem brüs- fühlen lassen, wird ihnen für immer im Ge- immer höher und höher. Als von den
ken »Denkst du, ich bin plemplem?« zu be- dächtnis bleiben.« Dass eine Schriftstellerin Giraffen nur noch der Kopf herausschaut,
haupten. einen Satz auswählt, der die Bedeutungslosigkeit sind die Kleinsten längst auf Tauchgang.
Als Allison, auf der Suche nach einem Un- von Worten und somit der eigenen Arbeit Das Bilderbuchdebüt der Spanierin Mariajo
terschlupf, durch eins der Fenster in das ver- Jeden Monat vergeben die ZEIT postuliert, mag kokett erscheinen. Über Toffee Ilustrajo besticht mit grandiosen Illustratio-
lassen wirkende Haus blickt, glaubt Marla ihre und Radio Bremen den LUCHS-Preis für müsste man sagen: Ja, was Crossan die Lese- nen, schön ist auch der beiläufige Ton. Inhalt-
lang vermisste Kindheitsfreundin Toffee vor Kinder- und Jugendliteratur. rinnen und Leser fühlen lässt, vergisst man nicht lich darf die Künstlerin sich ruhig noch stei-
sich zu haben – und fleht sie an, zu bleiben. Aus den zwölf Monatspreisträgern wird der so schnell. Ihre Worte allerdings genauso wenig. gern: Die Lösung im Kampf gegen die Fluten
Aus Allison wird Toffee: »Ich bin nicht, wer Jahres-LUCHS gekürt. Mehr dazu im Internet: ist selbst für ein Bilderbuch sehr simpel. Und
ich zu sein vorgebe. / Marla ist nicht, wer sie www.zeit.de/luchs und Sarah Crossan: Toffee. was danach alles so anders ist, wie Ilustrajo
zu sein glaubt. / Ich bin ein junger Mensch, www.radiobremen.de/luchs Aus dem Englischen von Beate Schäfer; behauptet, würde man gern deutlicher sehen.
der vergessen will. / Marla ist ein alter Mensch, Hanser; 352 S., 19,– €; ab 14 Jahren. Mariajo Ilustrajo: Nur ein bisschen Wasser.
der sich zu erinnern versucht.« Das Buch erscheint am 23. Januar Beltz & Gelberg 2022; ab 4 Jahren

Countdown für den letzten Tag

Ein Anruf, der den eigenen Tod ankündigt: Mit dieser Idee bringt der US-Autor Adam Silvera Millionen Jugendliche zum Lesen und Weinen VON KATHARINA KUNERT

Stellen Sie sich vor, es gäbe einen Telefondienst, der Mit dieser Maximalsteigerung des Carpe-diem- Nachrichten lande.« Am Ende steht es fünf zu vier vera ist inzwischen selbst in seine Todesboten-Welt finden können. Gleichzeitig beschreibt Silvera die
Ihnen bei Anbruch Ihres Todestages mitteilt, dass Sinnspruchs scheint Silvera einen Nerv bei jugend- für die Nichtanmelder. zurückgekehrt: Im November erschien zum fünf- Angst, sich in einer konservativen Familie zu outen,
Sie innerhalb der nächsten 24 Stunden sterben wer- lichen Leserinnen und Lesern in der ganzen Welt In den Kommentaren unter dem Video tauschen jährigen Jubiläum von Am Ende sterben wir sowieso oder wie es ist, als schwules Paar in bestimmten Gegen-
den. Würden Sie sich anmelden? Wann und warum getroffen zu haben: Monatelang führte der Roman sich etliche Nutzer darüber aus, warum oder warum das Prequel Der Erste, der am Ende stirbt. Darin er- den nicht Händchen halten zu können. Mit seinen
Ihr Leben endet, bleibt ein Rätsel, aber Sie wüssten, die New York Times-Bestsellerliste an, in Deutschland sie nicht über ihren Todestag informiert werden zählt Silvera vom Start des Todesboten-Dienstes. Romanen verarbeite er eigene traumatische Erfahrun-
dass Sie nicht mehr viel Zeit haben, um sich zu ver- belegte er Platz drei der meistverkauften Jugend- wollen. So geht es seit Monaten. Das Internet ist Wieder schickt er zwei Jungen durch die Straßen gen – offen queer zu sein habe sich für ihn, der in der
abschieden und noch das ein oder andere in Ord- bücher im Jahr 2021. Allerdings kam dieser Erfolg ein Raketenantrieb für Silvera geworden. Tausende New Yorks, Orion und Valentino heißen sie. Und South Bronx aufgewachsen ist, zum Beispiel nie sicher
nung zu bringen: mit der Ex-Freundin versöhnen, zeitverzögert. Denn Silveras Roman erschien schon Jugendliche teilen dort ihre meist tränenreichen wieder entspinnt sich eine Romanze. angefühlt: »Durch die Bücher konnte ich mir vorstellen,
Finanzen regeln, noch einmal den Lieblings-But- 2017 in den USA, im Jahr darauf auch in Deutsch- Reaktionen auf das Buch und beschreiben, wie sie Die Idee für seinen Todesboten entstammt Sil- wie mein Leben hätte aussehen können, wenn ich mich
terkuchen mit der Enkelin backen. land. Zu einem internationalen Bestseller wurde er trotz des Titels hofften, dass Rufus und Mateo über- veras eigener Familiengeschichte. Während der An- als Teenager geoutet hätte.«
Einen solchen »Todesboten«-Benachrichti- erst 2021; Plattformen wie Instagram und TikTok leben. »Sie hätten es fast geschafft«, schreibt ein in schläge vom 11. September war seine Mutter nicht Einen Dienst wie den Todesboten könnte es nie
gungsdienst hat der US-amerikanische Autor haben dem Todesboten – Ironie des Schicksals – ein die Kamera schluchzender Junge neben sein Video. weit von den Zwillingstürmen entfernt – und über- geben, auch die besten Programmierer sind nicht Herr
Adam Silvera für seinen Jugendroman Am Ende zweites Leben geschenkt. Andere komponieren Stücke auf dem Klavier und lebte. Doch wenige Monate später starb sein Onkel über Leben und Tod. Andere Roman-Erfindungen
sterben wir sowieso erdacht. Die Jungen Mateo Für seinen eigenen Instagram-Account hat Sil- schneiden Filmvorschauen. Die Rechte sind natür- bei einem Flugzeugabsturz. »Meine Angst, Angehö- wären durchaus eine Bereicherung für die Realität: eine
und Rufus bekommen an einem 5. September vera eine Umfrage auf den Straßen New York lich längst verkauft. rige zu verlieren, war die Grundidee für den Todes- Dating-Plattform für Menschen, die ihren letzten Tag
kurz nach Mitternacht den gefürchteten Anruf. Citys gemacht, dem Ort, an dem seine Geschichte Was bleibt von mir übrig, wenn ich gehe? Dass boten«, sagte Silvera kürzlich in einem Time-Inter- erleben, oder die »Letzte Freunde«-App, dank der Tod-
Aus unterschiedlichen Gründen beschließen sie, spielt. Ein Mädchen sagt: »Ich würde mich nie- diese urmenschliche Frage Jugendliche gerade wäh- view. Auch anderes fußt auf Erlebnissen des Autors. geweihte nicht einsam sterben müssen. Vielleicht sind
an ihrem letzten Tag einen neuen Freund zu fin- mals für den Todesboten anmelden. Mein letzter rend der Pandemie umtrieb und sein Roman in der So sind die vier Hauptcharaktere alle junge Latein- auch solche Tech-Ideen gegen Vereinsamung Grund für
den, lassen sich über eine App matchen und ver- Tag soll kein Countdown sein.« Ein junger Mann Zeit viral ging, ist für den Autor wenig überraschend. amerikaner und schwul oder bisexuell. Ihre Liebes- den Erfolg bei den jungen Lesern. Ob Silveras Roman-
suchen, gemeinsam ein ganzes Leben in einen ein- sagt: »Ich wäre dabei! Dann könnte ich noch mal Corona habe uns alle gezwungen, innezuhalten und geschichten blühen allerdings so zart auf, dass welt Dystopie oder Utopie ist, bleibt ihnen überlassen.
zigen Tag zu quetschen. etwas so Verrücktes machen, dass ich damit in den zu überlegen, was im Leben am meisten zähle. Sil- Jugendliche jeder Orientierung sich in ihnen wieder- Der Autor hat derweil den dritten Teil angekündigt.
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2

E N T D E C K E N

Willst du mit mir gehen?

Montage: DZ (verw. Foto: © 2023, Sesame Workshop. All rights reserved)

Seit über 50 Jahren sind Ernie und Bert unzertrennlich. Ein Gespräch über das Geheimnis
einer gelungenen Freundschaft – mit den Männern hinter den beiden Puppen VON CHARLOTTE PARNACK
52
»In Wahrheit kann Ernie wahrscheinlich ohne Bert gar nicht schlafen«
Ernie und Bert, das ist eine der ganz großen
Freundschaftsgeschichten der Gegenwart. Egal
wie sehr die Welt bebt, diese beiden bringt
nichts auseinander, wie bei Winnetou und Old
Shatterhand, wie bei Dick und Doof, wie bei
Wladimir Putin und Gerhard Schröder.
Halten wir also schon mal fest: Man muss kein
guter Charakter sein, um ein guter Freund zu
sein. Aber was braucht es dann? In dieser
Woche wird die deutsche »Sesamstraße« 50
Jahre alt, am 8. Januar 1973 wurde in
Deutschland die erste von NDR und Sesame
Workshop produzierte Folge ausgestrahlt. So
lange sind Ernie und Bert schon unzertrenn-
lich, selbst wenn der eine dem anderen die
Haare zur Glatze frisiert oder Chaos in seiner
Büroklammern-Sammlung stiftet. Wie geht
das? Wir haben die Puppenspieler Martin Paas
(Ernie) und Carsten Haffke (Bert), beide 55
Jahre alt, eingeladen. Sie spielen die beiden seit
16 Jahren, spielen bedeutet: sie zum Leben zu
erwecken, sie sich bewegen und sprechen zu
lassen. Das haben die beiden so verinnerlicht,
dass sie im Gespräch immer wieder in Ernies
und in Berts Stimme verfallen. Es ist,
natürlich: ein Gespräch über Freundschaft.
DIE ZEIT: Ernie und Bert sind jetzt ein halbes
Jahrhundert befreundet. Stört es Sie eigent-
lich, dass Ernie immer zuerst genannt wird?
Carsten Haffke (Bert): Nö. In den USA sagt
man Bert and Ernie.
ZEIT: Das klingt schief.
Martin Paas (Ernie): Wie Struppi und Tim.
Nanni und Hanni.
ZEIT: Da stimmt nichts mehr.
Paas: Es gibt bei allen Paaren, mit denen man
etwas verbindet, eine Reihenfolge. Sie und
wir kennen uns nicht, also ist es für Sie egal,
ob Sie sagen: »Heute interviewe ich Martin
und Carsten«, oder: »Heute interviewe ich
Carsten und Martin.« Wären wir Ihnen näher,
gäbe es einen Rhythmus.
ZEIT: Ja, man sagt über Freunde: »Wir sind
mit Martin und Gina verabredet. Kristina
und Marc kommen auch.« Man würde es nie
umdrehen.
Paas: »Ernie und Bert«, das ist wie eine
Melodie.
ZEIT: In der Regel nennt man denjenigen
zuerst, den man länger kennt. Oder besser. Ist
Ernie der Nahbarere der beiden?
Haffke: Das projizieren wir alles nur in die
Puppen rein, insofern: Es kommt darauf an,
wen Sie fragen.
ZEIT: Na ja. Ernie ist derjenige, der immer
strahlt. Der Typ, den jeder aus der Schule
kennt: Vergisst sein Pausenbrot, und alle
anderen füttern ihn durch, weil er so sympa-
thisch ist. Bert dagegen: der spießige Tauben-
liebhaber.
Haffke: Das klingt aber sehr nach Langweiler-
Shaming.
ZEIT: Bert sortiert auch gerne seine Büro-
klammern.
Haffke: Die Figuren der Sesamstraße sind
Stereotype. Sie erzeugen Illusionen: Wir sehen
in ihnen, was wir in ihnen sehen wollen. Sie
gucken uns ja auch nicht wirklich an – wir
Fotos: © 2023, Sesame Workshop, all rights reserved; Henning Kretschmer für DIE ZEIT (u.)
gucken sie an und denken nur: Die gucken
uns an. Deshalb lässt sich alles Mögliche in sie
hineinlesen: Der ist nahbar, der ist stoisch, der
ist cholerisch, der ist dieses, der ist jenes.
ZEIT: Sie sollen ein Paar sein.
Paas: Ach, Unsinn.
ZEIT: Dass sie kein Paar sind, haben die
Sesamstraßen-Erfinder mehrfach klargestellt.
Trotzdem kommt das Gerücht nicht zur
Ruhe. Weil vielleicht doch ein Funken Wahr-
heit drin ist?
Paas: Für mich stellt sich die Frage nicht. Auf
mich wirken Ernie und Bert wie Kumpels.
ZEIT: Die beiden wohnen zusammen. Sie
teilen ein Schlafzimmer. Sie latschen, ohne
zu klopfen, ins Bad, wenn der andere in der
Wanne sitzt. Sie bringen einander zur
Weißglut, aber kommen nie auf den Ge-
danken, den anderen zu verlassen. Selbst
enge Freunde halten in der Regel mehr Ab-
stand, oder?
Haffke: Die Sesamstraße ist eine Sendung für
Vorschulkinder. Man sollte die Puppen nicht
mit Erwachsenenaugen sehen.
Ein bisschen scheint es, als würden Haffke und
Paas ihre Sesamstraßenhaftigkeit auch im
echten Leben nicht los: Martin Paas, der Ernie-
Spieler, hat selbst bei schweren Fragen noch
etwas Leichtes, Lächelndes, er kippelt, er
imitiert das piepsende Sauerstoff-Messgerät auf
dem Fensterbrett, er springt von einer Stimm-
lage in die nächste. Carsten Haffke, der Bert-
Spieler, von tiefem, freundlichem Ernst, schaut
häufiger auf die Uhr, nicht so viel Gekasper,
wenn’s geht, und bitte: Eine Puppe ist eine
Puppe, sie wird niemals fühlen wie ein Mensch.
Ein Hund fühlt ja auch niemals wie eine Katze.
ZEIT: Wir können uns aber schon darauf
einigen, dass Ernie und Bert keine typische
Männerfreundschaft verbindet, oder?
Paas: Was soll das denn sein?
ZEIT: Ich bin kein Mann. Sagen Sie es mir.
Paas: Männerfreundschaft, das klingt wie ein
Til-Schweiger-Film.
Haffke: Die Freundschaft der beiden macht
doch Folgendes aus: Was dem einen passiert,
passiert dem anderen auch. Man steht Dinge
gemeinsam durch und akzeptiert die Ticks
des anderen. Deshalb macht Bert auch mit,
wenn Ernie eine blöde Idee hat: Bert will
schlafen, Ernie tanzt um ihn herum, bis es
Bert doch mitreißt, und am Ende singt Bert
mitten in der Nacht ein Lied, während Ernie
längst wieder im Bett liegt.
Paas: Freundschaft bedeutet, schwach sein zu
können ohne Angst, dass das ausgenutzt wird.
Stark zu sein für den anderen, wenn der dich
gerade braucht. Es ist völlig wurscht, ob sich
das auf Männer oder Frauen bezieht. Ich war
mein Leben lang mit mehr Frauen als
Männern befreundet.
ZEIT: Funktioniert das?
Paas: Für mich ja.
ZEIT: Kommt in Männer-Frauen-Freund-
schaften nicht leicht mal die Liebe in die
Quere?
Paas: Vor Kurzem habe ich im Radio ein
Interview mit der in Russland geborenen
Schriftstellerin Lena Gorelik gehört. Sie schil-
derte ihre Verwunderung darüber, wie viele
Begrifflichkeiten die deutsche Sprache für
alle Nuancen von Zuneigung habe. Im
Russischen sage man, auch wenn man nur
befreundet sei: »Ich liebe dich!« Das erscheint
mir nicht doof. Wenn man viel für jemanden
empfindet und sagt: »Ich habe mich sofort in
dich verliebt«, spannt das einen schönen Bo-
gen über ein Gefühl, das man eigentlich nicht
konkretisieren muss.
ZEIT: Freundschaft und Liebe sind doch ganz
verschiedene Sportarten!
Haffke: Tja. Es gibt so viele verschiedene For-
men von Liebe.
ZEIT: Freundschaft beginnt nicht, wie die
Liebe, mit einem elektrisierenden Moment.
Sie wird selten als Offenbarung empfunden.
Sie folgt weniger Regeln und Ritualen, es gibt
keine Brautwerbung, keine Hochzeit, keine
Monogamie. Freundschaft ist viel weniger
theatralisch. Sie spielt mehr im Hintergrund
unseres Lebens.
Paas: Natürlich lieben sich Freunde auf eine
Art, das ist ja logisch. Man geht in einer
Freundschaft zusammen durchs Leben.
ZEIT: Ich würde sagen: Viele Freunde fangen
irgendwann an, sich zu lieben, viele Liebes-
paare hören irgendwann damit auf.
Haffke: Ernie und Bert mögen sich auch nicht
immer.
ZEIT: Sie streiten sich ständig!
Haffke: Das sind eher Meinungsverschieden-
heiten.
ZEIT: Wo ist da jetzt der Unterschied?
Paas: Ein Streit braucht zwei Parteien. Aber
Ernie ist nicht streitlustig.
ZEIT: Bert wird oft cholerisch und schreit
rum.
Haffke: Bert regt sich mehr über die Situation
auf als über seinen Freund. Er verliert die
Carsten Haffke (Bert) und Martin Paas (Ernie)
ENTDECKEN
E
Fassung darüber, dass er sich so sehr seine
Ruhe wünscht und Ernie das so sehr ignoriert.
Paas: Ich habe eine andere Theorie: Ernie
nimmt Bert seine schlechte Laune nicht ab. Er
glaubt nicht, dass das alles ist, was in Bert
steckt: nur schlafen, lesen, aufräumen. Wenn
Ernie ihn zu etwas anstiftet, zeigt sich ja auch,
dass in ihm ein Vulkan tobt. Da ist nicht nur
Berts cholerische Kraft. Bert stellt auch fest:
Oh ja, es ist lustig, auf einem Bein im Kreis zu
hüpfen. Ich glaube, Ernie beruhigt sich nur
selbst, dass sein Freund doch kein elender
Langweiler ist.
Paas und Haffke leihen Ernie und Bert ihre
Stimme, ihre Hände, ihre Gefühle, sie schreiben
sogar die Mehrzahl der Sketche – aber wer sind
Ernie und Bert wirklich? Da müssen ihre
Spieler selbst raten, ein wenig tasten, als hätten
die Puppen ihren eigenen Charakter. Ganz
selten komme es bei Dreharbeiten vor, dass er
oder Haffke mitten in einer Szene vom Skript
abweiche, erzählt Paas.
ZEIT: Warum ärgert Ernie Bert so gerne?
Haffke: Das tut er nicht, Ernie ist niemals
gemein. Er hat einfach seine eigenen Ideen.
Wenn er vorhat, mitten in der Nacht Schlag-
zeug zu spielen, denkt er nicht über die
Konsequenzen nach. Mit seiner unfassbaren
Naivität sagt er ganz selbstverständlich: Jetzt
machen wir mal dies oder das.
Paas: Eltern kennen das. Die sind ihren Kin-
dern ja auch selten lange böse.
ZEIT: Eltern sind Berts.
Haffke: Da muss ich als Vater widersprechen.
Kinder können auch unglaublich spießig
sein. Ernie und Bert stecken in jedem von
uns, beide Teile.
ZEIT: Aber je älter wir werden, desto mehr
neigen wir zur Verbertung.
Paas: Wer zur Simplifizierung neigt, der kann
das so sagen.
ZEIT: Lässt sich die ganze Welt in Ernies und
Berts einteilen?
Haffke: Die Welt ist komplexer.
ZEIT: Sind wir uns zumindest darin einig,
dass Streit zu einer Freundschaft dazugehört?
Haffke: Ich finde nicht, dass Konflikte per se
wichtig für eine Freundschaft sind. Wichtig
ist, sie zu lösen, wenn sie auftreten.
ZEIT: Sie wollen mir doch nicht sagen, dass
Ernie und Bert in 50 Jahren nicht eine einzige
heftige Auseinandersetzung hatten? Die be-
rühmte Funkstille?
Haffke: Nein. Ernie und Bert sind nie beleidigt.
Die gehen permanent mit der Situation um.
ZEIT: Jede lange Freundschaft hat ihr
Geheimnis. Das von Ernie und Bert ist, dass
sie es immer schaffen, sich zu verzeihen?
Paas: Die beiden verbindet grenzenloses Ver-
trauen. Ernie weiß: Er kann Bert nachts
wecken, wenn er etwas loswerden muss. In
Wahrheit kann er wahrscheinlich ohne Bert
gar nicht schlafen. Es gibt eine Szene, da
kommt Ernie immer wieder ins Schlafzimmer,
obwohl er eigentlich woanders übernachten
will – aber das schafft er nicht. Das Vertrauen
funktioniert von zwei Seiten: Bert lässt sich
von Ernie wach rütteln. Ernie wiederum kann
sich bei Bert fallen lassen. Er weiß, er stößt
damit nicht auf Liebe, aber er wird auch nicht
abgestraft. Dieser sichere Rahmen: Das ist
Freundschaft.
Wir wollen es ja gar nicht verschweigen: Als die
»Sesamstraße« nach Deutschland kam – in den
USA lief die amerikanische Produktion bereits
seit 1969 –, waren nicht alle begeistert. Im BR
durfte sie nicht gezeigt werden, und dann gab
es da noch diesen Zeitungsartikel über die
Sendung: »Sie macht denkträge, fördert schöpfe-
rische Anlagen nicht, erzieht zu mechanischem
Auswendiglernen und damit zu einer unkriti-
schen Haltung«, konnte man da lesen, so geht’s
ja nun wirklich nicht: »›Sesamstraße‹ täuscht
eine falsche Realität vor.« Der Artikel stammt
aus einem ZEITmagazin aus dem März 1973.
Bald nach dem Start war die »Sesamstraße« die
meistgesehene Kindersendung in Deutschland.
Die beliebtesten Figuren: Ernie und Bert.
ZEIT: Kann man sich des anderen in einer
Freundschaft auch zu sicher sein?
Paas: Natürlich.
Haffke: Was passiert denn dann?
Paas: Dass man die Achtsamkeit hinter sich
lässt.
ZEIT: Ernie glänzt doch eh permanent auf
Berts Kosten.
Haffke: Nein. Im Grunde ist Bert für mich
die lustigere Figur, weil er die ganze Gefühls-
achterbahn durchmacht: Am Anfang ist er
zufrieden, dann stört Ernie ihn, dann ist er
argwöhnisch, genervt, verständnislos, wü-
tend – er schreitet innerhalb eines Spots den
ganzen emotionalen Bogen ab. Zum Schluss
wird er oft ohnmächtig, das hat Comedy-
Potenzial. Deshalb würde ich sagen: Ernie ist
nicht auf Berts Kosten lustig – die beiden
sind nur lustig, weil sie sich ergänzen.
ZEIT: Wie ungleich können Freundschaften
sein, ohne dass die Schieflage zu groß wird?
Paas: Schwer zu sagen. Wer bestimmt, ab
wann es eine Schieflage gibt?
ZEIT: Das gibt es doch in jeder Freundschaft:
dass der eine phasenweise mehr trägt, der an-
dere weniger.
Paas: Es hängt ja immer davon ab, wie viel
man selbst aushalten kann.
ZEIT: Was kann Bert, was Ernie nicht kann,
und umgekehrt?
Paas: Ernie hat das Vermögen, Bert zu be-
geistern. Für Dinge, von denen Bert nicht
mal wusste, dass es sie gibt oder dass er Spaß
daran hat.
Haffke: Bert hat auch seine Fantasiewelt, aber
die ist skurriler. Er spielt zum Beispiel gerne
mit seiner Lieblingstaube Dame. Er liebt es,
seine Kronkorken zu sortieren. Ordnung ist
für Bert eine Leidenschaft.
ZEIT: Die Ernies dieser Welt werden geliebt,
die Berts werden gebraucht?
Paas: Man kann es auch umdrehen: Wenn alle
wären wie Ernie, das wäre viel zu anstrengend,
das würde auch keiner lieben. Zwei Ernies
würden einander in den Wahnsinn treiben.
Haffke: Und zwei Berts würden sich zu Tode
langweilen. Freunde müssen auch unter-
schiedlich sein, das zeigen wir mit den Cha-
rakteren der Sesamstraße.
ZEIT: Sind Ernie und Bert manchmal
eifersüchtig?
Haffke: Seltsamerweise nicht.
Die Szene der Fernseh-Puppenspieler in
Deutschland ist klein, es gibt, schätzt Martin
Paas, nur gut zwei Handvoll von ihnen.
Puppenspieler, das ist ein Vollzeitjob, in Paas’
Steuererklärung steht das sogar so, auch wenn
er und viele Kollegen noch weitere Aufträge
annehmen, als Autor etwa oder als Synchron-
sprecher. Und weitere Rollen: Haffke spielt in
der »Sesamstraße« zum Beispiel noch »Pferd«
und »Krümelmonster« und ein Erdmännchen
der Serie »Jan und Henry«. Martin Paas ist
noch das »Sesamstraßen«-Schaf »Wolle« und
die Muppet-Figur Mr. Johnson, dazu der
Hund Moppi aus der Kindersendung »Pitti-
platsch«. Und dann gibt es ständig aktuelle
Projekte. Im Frühling etwa wurde Paas für den
Werbespot eines Supermarktes engagiert, er lieh
seine Stimme tanzenden Birnen, Auberginen
und sogar einer Stange Porree.
Paas: Als Ernie-Spieler bin ich schon ein biss-
chen neidisch auf Bert: Er hat diese tolle
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
Augenbraue! Man kann sie über eine Art
Schlüsselring im Kopf, in den man den Finger
steckt, heben und senken. Puppen haben
sonst eigentlich keine Mimik.
ZEIT: Kermit schon, der kann das Gesicht
zerknautschen.
Paas: Okay. Er ist weich. Aber Ernie hat einen
harten Kopf, der immer von einem Ohr zum
anderen grinst. Damit musst du alle Emotio-
nen spielen, selbst tiefe Traurigkeit. Bert kann
seine Stimmungswechsel viel leichter aus-
drücken.
ZEIT: Dafür leidet der Bert-Spieler darunter,
dass er schlechter greifen kann als Ernie, oder?
Haffke: Ich empfinde eigentlich mehr Spaß
beim Spielen als Leid. Aber es stimmt: Bert
hat Stabhände, die sind ausgestopft, man
führt sie mit Stäben.
ZEIT: Das müssten Sie bitte kurz erklären.
Haffke: Bert ist eine »Klappmaulpuppe mit
Stabhänden« – wie übrigens auch Kermit: Da
steckt der Puppenspieler seine Rechte in den
Kopf, bewegt diesen und den Mund, während
er mit der Linken zwei Stäbe lenkt, die an den
Händen der Puppe angebracht sind. Ernie
dagegen ist eine »Klappmaulpuppe mit leben-
den Händen«: Da bewegt der Hauptspieler
mit seiner Rechten Kopf und Mund der
Puppe, während seine Linke in der linken
Hand der Puppe steckt.
Paas: Deshalb braucht man für Ernie immer
eine zweite Person, die Ernies rechte Hand ist.
ZEIT: Es gibt also am Sesamstraßen-Set eine
Person, die von sich sagen kann: Ich spiele
ausschließlich Ernies rechten Arm.
Paas: Richtig. Eine Armspielerin, unsere
Kollegin Charlie Kaiser.
ZEIT: Ernie ist eindeutig besser ausgestattet.
Führt das zu Eifersucht?
Haffke: Na ja, so toll kann Ernie auch wieder
nicht greifen. Der Stoff ist ein Fleece, total
rutschig. Und immerhin, Bert hat Drähte in
den Händen, die kann man so zurechtbiegen,
dass er Dinge halten kann. Wir behelfen uns
auch mit doppelseitigem Klebeband oder
Klettverschlüssen. Das Arbeiten mit Puppen
ist wie ein permanenter Special Effect, da
muss man viel vorbereiten und tricksen.
ZEIT: Sind Sie beide, Carsten und Martin
oder Martin und Carsten, befreundet?
Paas: Wir kennen uns seit Anfang der Neun-
zigerjahre und waren uns phasenweise sehr
nah. Wir hatten ein gemeinsames Schreib-
büro in Köln, 2006 sind wir Ernie und Bert
geworden. Irgendwann hat sich die Beziehung
gelockert, auch wenn wir uns immer noch
sehr mögen. In Freundschaften gibt es Dyna-
miken.
Haffke: Da haben sich persönliche Umstände
geändert. Ich bin Vater geworden, Martin hat
es der Liebe wegen von Köln nach Hamburg
verschlagen.
ZEIT: Ernie und Bert hatten solche Wende-
punkte nie im Leben.
Haffke: Die sind ja auch Puppen.
ZEIT: Jaja, schon klar. Die beiden leben seit
50 Jahren an der gleichen Adresse, Sesam-
straße Nr. 123 ...
Haffke: ... sie werden nicht älter. Sie sind ja
eben keine Menschen.
ZEIT: Ach.
Haffke: Das sind Monster. Oder halt Ernie
und Bert.
ZEIT: Ernie und Bert sind keine Monster?
Haffke: Nein! Monster in der Sesamstraße
haben Fell.
ZEIT: Okay, was ich sagen will: Ihre enge Bin-
dung ging durch äußere Umstände auseinan-
der. Ernie und Bert haben dagegen perfekte
Bedingungen für eine lange Beziehung: Sie
sind nie umgezogen, sie haben keine Familie
gegründet, es gibt keinen Dritten im Bunde.
Dazu kommt: Nach 50 Jahren kann einen
nicht mehr viel erschüttern.
Haffke: Das klingt nach Resignation.
ZEIT: Eher nach Zukunft. Da ist so viel
zwischen Ernie und Bert, und es wird immer
mehr.
Paas: Vielleicht ist das so. Freundschaft ist
umso unzerstörbarer, je älter sie ist.
 ENTDECKEN 53

RICHTIG GUTE LEUTE

Anna Mayr entdeckt:

Kolumnenstressvermeidung
Neujahrsvorsätze – eigentlich eine gute Idee. Aber besser nicht die Familie miteinbeziehen

E
ine Umfrage, die ich auf ein Poster hängt, darauf eine Eis- Ich: »Na ja, je nachdem, wie das
einer Instagram-Kachel ge- bärenmutter und ihr Junges. Layout ...«
sehen habe, ergab, dass 67 Ich: »Soll ich wegen dieses Posters Weiterer Bruder: »Schreib doch
Prozent der Deutschen im über Eisbären schreiben?« über Kolumnen.«
neuen Jahr Stress abbauen Bruder: »Hä, nein! Ich bin da ein- Ich: »Und was ist die These zum
oder vermeiden wollen. Fast genauso fach so drauf gekommen.« Thema Kolumnen?«
viele Deutsche wollen im neuen Jahr Anderer Bruder: »Du könntest Weiterer Bruder: »Kolumnen sind
mehr Zeit mit ihrer Familie ver- darüber schreiben, dass Menschen doof, weil die 4000 Zeichen lang sein
bringen. Als Kolumnistin trage ich da sich immer anpassen. Nach zwei müssen. Wer soll sich das alles durch-
– meiner Ansicht nach – die Verant- Semestern BWL-Studium sehen alle lesen?«
wortung, mit gutem Beispiel voran- aus wie BWL-Studenten. Warum?« Das hat mich doch getroffen.
zugehen. Deshalb habe ich zwei Neu- Bruder: »Du darfst einfach schrei- Denn ich hatte immer gedacht,
jahrsvorsätze mit einer Klappe geschla- ben, was du willst?« Kolumnenlesen sei eine angenehme
gen und eine zufällige Auswahl von Ich: »Ja, cool, oder? Zum Beispiel Art der Zerstreuung. Kolumnen-

Foto: Lena Giovanazzi für DIE ZEIT

Mitgliedern meiner Familie gefragt, vor ein paar Wochen habe ich ...« schreiben macht außerdem umso
worüber ich eine Kolumne schreiben Anderer Bruder: »Menschen su- mehr Freude, je mehr Platz man hat.
soll, um mir selbst die Mühe des Nach- chen oft Sachen, die in ihrer Hand Je kürzer der Text, desto schwieriger
denkens zu sparen. Es war so: sind. Zum Beispiel habe ich neulich ist es, ihn zu formulieren. Nun ja.
Ich: »Habt ihr eine Idee, worüber meine Maske gesucht, aber ich hatte Da ich noch in Feiertagsstim-
ich meine nächste Kolumne schrei- sie auf.« mung bin, gebe ich mir Mühe, hier
ben soll?« Ich: »Mhm ...« ausnahmsweise nach rund 3000 Zei-
Mein Bruder: »Was ist eine Ko- Bruder: »Ich habe neulich im chen aufzuhören. Die gewonnene
lumne?« Internet gelesen, dass es einen Unter- Lesezeit könnten Sie für eine Medita-
Mein anderer Bruder: »Hast du schied zwischen fett- und feuchtigkeits- tion nutzen, um Stress abzubauen –
schon über Eisbären geschrieben?«
Ich: »Eine Kolumne ist ein kurzer,
spendender Hautcreme gibt. Oft, wenn
man denkt, die Haut braucht Feuchtig-
oder dafür, sich mal wieder bei Ihrer
Familie zu melden. Passen Sie nur gut
In dieser Woche freuen wir uns über: Asifa Akhtar
witziger Text. Wobei, er muss nicht keit, braucht sie eigentlich Fett.« auf, welche Fragen Sie stellen.
mal witzig sein. Einfach 4000 Zeichen Ich schicke ihm einen Link zu Hier, Ihre gewonnene Zeit: Mein Kalender ist bis Juli vollgeplant, ich bin beinahe jede Woche gefunden habe, bei der ich nicht an meine Arbeit denke. Zumba
über etwas, das einem gerade einfällt. meiner Lieblingshautcreme. Ein wei- in einer anderen Stadt, gerade war ich sogar innerhalb einer Woche hat für mich gleich mehrere Vorteile: Erstens, ich muss einer
Was gibt es denn über Eisbären zu terer Bruder betritt den Raum. in München, Göttingen, Heidelberg, Berlin und Freiburg. Ich habe Anführerin folgen, mein eigener Handlungsspielraum ist gering.
sagen?« Ich: »Worüber soll ich meine früher oft in meinen digitalen Jahresplaner geschaut und mich Zweitens, der Raum ist voll von weiteren Tanzenden, deren Per-
Bruder: »Ob sie süß sind. Und Kolumne schreiben?« gegruselt, weil ich nicht wusste, wie ich das dauerhaft durchhalten formance ich nicht stören will. Mir bleibt also nichts übrig, als
was sie so toll macht. Faszinierende Weiterer Bruder: »Was ist eine soll. Jetzt lebe ich von Woche zu Woche, das klappt besser. Schritt zu halten. Und drittens knallt die Musik rein, spült den
Sachen über Eisbären.« Kolumne?« Meine Woche wird von einem Ritual abgeschlossen, das ich seit Kopf aus, und ich fühle mich erfrischt und glücklich.
Ich: »Wie kommst du da drauf?« Bruder: »Ein kurzer Text.« einiger Zeit streng einhalte: Wenn ich samstags und sonntags in Niemand im Kurs weiß, was ich mache. Wenn sie mich manch-
In diesem Moment sehe ich, dass Anderer Bruder: »4000 Zeichen meiner Heimatstadt Freiburg bin, besuche ich den Zumba-Kurs. mal sogar zweimal pro Woche sehen, denken sie vielleicht: Ach,
links neben uns an der Zimmerwand lang.« Warum Zumba? Nun, weil ich sonst eigentlich keine Beschäftigung Asifa ist schon wieder hier – die muss aber viel Zeit haben.

Hier entdecken jede Woche im Wechsel: Francesco Giammarco, Asifa Akhtar, 51, ist Molekularbiologin. Sie ist Direktorin der Abteilung für Chromatinregulierung am Max-Planck-Institut
Alard von Kittlitz und Anna Mayr für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg und Vizepräsidentin der Max-Planck-Gesellschaft. Protokoll: Gabriel Proedl

ANZEIGE

www.zeitreisen.zeit.de

Kunst- &
Architektur-

Siena
Reisen
© S.Borisov/Shutterstock, Tiago Fernandez/iStock, elxeneize/iStock, l’arki/Shutterstock, Sylvia
Wittgenstein | a-tour travel GmbH, Donnerstraße 5, 22763 Hamburg; Poppe Reisen GmbH & Co.
KG, Wilhelm-Theodor-Römheld-Straße 14, 55130 Mainz | Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius

Gesamtkunstwerk der Gotik

Siena hat sein mittelalterliches Gesicht bis heute bewahrt.
Charakteristisch sind die gotischen Bauwerke aus dem 13.
und 14. Jahrhundert, als die Stadt sich zu einem kulturellen
Zentrum entwickelte – und zu einer der wichtigsten Kunst-
städte Europas. Künstler wie Duccio Buoninsegna, Simone
Martini und Ambrogio Lorenzetti arbeiteten hier. Auf einem
Ausflug besichtigen Sie San Gimignano, die Stadt der Türme,
mit ihren Kunstschätzen. Bevor es nach Siena geht, genießen
Sie einen Tag in der Renaissance-Metropole Florenz.
GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg

Termin: 29.8. – 3.9.2023

Preis: ab 1.590!€

040/32!80-455
zeitreisen.zeit.de/kunst-siena

IN KOOPERATION MIT:

ARCHITEKTURREISE KUNSTREISE ARCHITEKTURREISE KUNSTREISE

Lissabon Berlin und Potsdam Venedig New York

Erkunden Sie Marksteine neuer Erkunden Sie das Museum Barberini, Erleben Sie die Architektur-Biennale in Mit der beeindruckenden Kunstmesse
portugiesischer Baukunst, zeitgenössi- die Alte Nationalgalerie und Venedig, und erfahren Sie mehr über Armory Show, Galerien, Empfängen
sche Architektur und junge Formen- Gegenwartskunst in aktuellen Galerien die architektonischen Besonderheiten und Atelierbesuchen bringen wir Sie
sprache in der Stadt, die sich zur auf einer abwechslungsreichen der Stadt, bedeutende Architekten und mitten hinein in die vibrierende New
Architektur-Metropole entwickelt. Kunstreise in und um Berlin. Tendenzen der modernen Baukunst. Yorker Kunstszene!
Termine: 12.!–!16.4. | 27.9.!–!1.10.2023 Termin: 3.!–!7.5.2023 Termine: 22.!–!26.5. | 9.!–!13.10.2023 Termin: 5.!–!10.9.2023
Preis: ab 1.395 € Preis: ab 1.170 € Preis: ab 1.780 € Preis: ab 3.490 €
54
Trau keinem über 130
Wie wäre das Fahren mit Tempolimit? Unser Autor ist einmal längs durch Deutschland geschlichen, um das herauszufinden
W
eil die Debatte,
die wir hier am
liebsten überho-
len wollen, schon
recht alt ist, las-
sen Sie mich eben
einen Witz er-
zählen, bevor wir mit unserem grauen
Škoda Fabia, 110 PS, Spitzengeschwin-
digkeit 205 km/h, auf die A 7 biegen.
Also. Sagt der Raser: Tempolimit 130?
Von mir aus, gut, aber was ist dann
außerhalb geschlossener Ortschaften?
Ja, auf den nächsten gut 1000 Kilo-
metern wird es um ein Tempolimit gehen,
das einerseits noch in weiter Ferne scheint,
obwohl es andererseits sogar Christian
Lindner schon für längere AKW-Lauf-
zeiten in Kauf genommen hätte (behaup-
tete er zumindest). Klimaaktivisten haben
Umfragen zufolge eine knappe Mehrheit
der ADAC-Mitglieder auf ihrer Seite
(wenn auch nicht für ihre geforderten 100
Stundenkilometer, sondern für 130).
Der Versuch ist nun folgender: Wir
fahren mit einem Mietauto längs durch
Deutschland. Einmal von Flensburg bis
Garmisch so tun, als gäbe es bereits ein
ANZEIGE
Druckgrafik, limitiert
auf 999 Exemplare,
ungerahmt, 28 x 20 cm,
handnummeriert
Frohes Neues,
Herr Wondrak!
Aufgrund des großen Erfolgs: Nachauflage von Janoschs Wondrak-
Kolumnen aus dem ZEITmagazin – mit neuer, limitierter Druckgrafik
Jetzt exklusiv bei der ZEIT. 129,– €*:
*zzgl. 4,95 € Versandkosten | Nur solange der Vorrat reicht. | Bestell-Nr. 43491 | Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg
112328_ANZ_220x220_X4_ONP26 1
Tempolimit. Eisern mit 130 nach Süden,
lichthupende Lamborghinis an der Stoß-
stange dürfen kein Beschleunigungsgrund
sein. Ich habe mir eine Strecke ausgesucht
mit Autobahnabschnitten, auf denen laut
den Daten des Navigationsdienstleisters
TomTom besonders geheizt wird. Die A 19
Richtung Pritzwalk, die A 71 Richtung
Schweinfurt, die A 95 Richtung Garmisch.
Ich, also jemand, der sich höchstens mal
im Sommer Opas Auto leiht, um zelten zu
fahren, will wissen, was die Menschen mit
der Freiheit anfangen. Und wie ich selbst
mit einer Beschränkung klarkomme.
A 7, um die Hüttener Berge
Friedlicher kann eine Autobahn nicht
sein. Ein schleichendes Fahrschulauto,
sedierende Ortsnamen auf den Schil-
dern: Friedrichstadt, Schlei. Die Auto-
vermietungs-Frau in Flensburg hatte mich
schon eingestimmt. »Die Leute brettern
doch erst ab Hamburg, wir haben hier gar
keine Porsches oder so was in der Flotte.«
Es gibt zwei gängige Definitionen da-
von, was ein Raser ist. Ein Raser ist jemand,
der übermäßig schnell fährt. Oder jemand,
der übermäßig behämmert fährt, sich nicht
Halbleinenband im
Schmuckschuber,
384 Seiten, 23 x 23 cm
ENTDECKEN
dem Verkehr, der Straße oder dem Wetter
anpasst. So oder so, hier auf der A 7 gibt es
an diesem Vormittag keine Raser.
Pause bei den Hüttener Bergen. Kurze
Frage an das Unternehmensberater-Paar,
das mit Solero und Latte macchiato zu
seinem weißen Porsche Taycan GTS
schlendert. Angst vorm Tempolimit? »Klar,
das wäre ärgerlich«, sagt er. »Wozu hat man
schöne Autos, wenn man sie nicht aus-
fahren darf?« Es müssten ja nur gemäßigte
170, 180 sein, vom Termin in Düsseldorf
oder vom Urlaub auf Sylt zurück nach
Hamburg. Überhaupt: Es brauche statt
Verboten smarte Lösungen. Tempolimits
zu Stoßzeiten, so was. »Wenn die Straßen
frei sind und ich sicher fahre: warum nicht
auch schneller?« Seine Frau nickt.
Die klassische Antwort auf diese rhe-
torische Frage lautet: weil langsamer fah-
ren besser fürs Klima ist. Das Umwelt-
bundesamt hat ausgerechnet: Ein Tempo-
limit von 130 Stundenkilometern könnte
im Jahr die Treibhausgas-Emissionen um
1,9 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente
mindern. Relativ wenig, sagen die Tempo-
limit-Gegner. Absurd, zu sagen, fast zwei
Millionen leicht gesparte Tonnen wären
Streng
limitiert – nur
999
Exemplare
shop.zeit.de/wondrak
VON CHRISTOPH FARKAS
wenig, sagen die Tempolimit-Gegner- der Ältere schulterzuckend. »Wer Feuer
Gegner. machen will, macht auch mit Limit Feuer.«
Mich überzeugt das Klima-Argument, Und die heftigsten Sachen kämen doch eher,
aber ich muss auch nicht jede Woche mit weil jemand einpenne oder mit einem Auge
einem Auto, das ich nicht habe, nach am Telefon sei. Dem Jüngeren ist es auch
Düsseldorf oder Kassel oder Erfurt fahren. wurscht: »Ich hab das Gefühl, das regelt
Dann wäre ich froh, wenn die Fahrt einfach gerade eh der Spritpreis.«
so schnell wie möglich erledigt ist. Wobei, 377 von knapp 1800 Unfällen auf nord-
auch da kann man diskutieren: Ist man ostdeutschen Autobahnen seit Januar 2020
denn wirklich so viel schneller? Die Frage hingen mit zu hohem Tempo zusammen. Mir
packen wir für später ins Handschuhfach. kommt das eher wenig vor. 600 sind Wild-
unfälle. Die Zahlen heißen aber auch: Etwa
A 19, hinter Kuchelmiß jeden zweiten Tag gibt es einen Tempo-
Es ist halb drei, ich fahre unter bleichem Unfall. Und die sind oft verheerend, manch-
ostdeutschem Himmel durch anhaltende mal so sehr, dass man kaum am Wrack er-
Ereignislosigkeit. In der DDR war das kennen kann, was das mal für ein Auto war.
Tempolimit 100 Kilometer pro Stunde. Auch wenn nur sechs Prozent aller Unfälle
Heute zieht mal ein weißer Audi, mal ein mit Personenschaden auf Autobahnen statt-
polnischer Peugeot zügiger vorbei. Aber finden und zwölf Prozent der Unfälle mit
keine Lichthupen, nicht mal vom BMW, Todesfolge: Spricht das dagegen, Autobahnen
der wie teleportiert im Rückspiegel auf- noch sicherer zu machen?
taucht. Nur Bremsspuren in die Leit- Ich gebe zu: Es fällt mir auch leicht, ein
planken hinein erzählen davon, dass es hier Urteil zu fällen – schnell fahren gibt mir gar
auch andere Tage gibt, andere Fahrer. nichts. Bei Gokartrennen bin ich immer
An der Park- und Rastanlage Kiether Letzter oder Vorletzter geworden. Wenn je-
Berg West rauchen zwei Sanitäter vor ih- mand fordern würde, Europäern zu verbieten,
rem Wagen. Wünscht man sich in ihrem in Ecuador einen 5000er zu erklettern
Job das Tempolimit? »Keine Ahnung«, sagt (schlechte Klimabilanz plus Unfallgefahr), was
ich gerne mache, würde ich das nicht wollen.
Andererseits gefährde ich beim Klettern auch
nur mich selbst. Einerseits, andererseits – gibt
es nicht immer irgendein andererseits, wenn
man auf etwas nicht verzichten will?
A 2, vor Magdeburg
Die Sonne ist längst untergegangen, ich biege
auf die A 2. Auf der Strecke Richtung
Magdeburg ist der tschechische Multimillio-
när Radim Passer Anfang des Jahres mit
seinem Škoda 417 Stundenkilometer gefah-
ren. Kleiner Spaß, es war ein Bugatti Chiron.
Das weiß man, weil Passer ein Video davon
hochgeladen hat, das bis heute 16,5 Millionen
Mal geklickt wurde. Wie immer zu solchen
Anlässen wurde diskutiert, ob das witzig oder
hirnrissig oder kriminell war. Ich frage mich:
Warum mietet man sich als Reicher nicht den
Nürburgring für so was? Gehört das Risiko,
einen anderen zu verletzen, zum Spaß dazu?
Unter seinen Clip schrieb Passer: »We
made this video for you to feel the excitement in
Exklusive the Chiron, but also to consider a relationship
Nachauflage with Jesus, who brings true love, joy and hope.«
mit neuer Mir fehlt also der Glaube, zum Beispiel
Druckgrafik
der, dass das irgendeinen Sinn ergibt.
Hinter einer Ausfahrt überholt mich – end-
lich! – ein roter Hyundai auf der rechten
Spur, Kennzeichen Kreis Oberhavel. Kurz
danach kacheln ein weißer und ein schwarzer
BMW vorbei wie zwei sich jagende Wind-
hunde.
A 71, auf dem Leubinger Fürstenhügel
Ich kenne Menschen, die das Leben auf der
Autobahn entspannend finden. Je länger die
Fahrt, desto meditativer. Für mich ist Auto-
bahn eine trostlose Mischung aus Langeweile
und latenter Anspannung. Radiosender
wechseln, Tankstand im Auge haben, Abfahrt
nicht verpassen, immer wieder den Rück-
spiegel checken, ob da nicht doch ein Irrer
kommt. Eigentlich wäre es schön, wenigstens
nicht aufs Tempo achten zu müssen. Aber
auch da gibt es ja immer wieder Regieanwei-
sungen: 120, 100 bei Nebel, jetzt wieder freie
Fahrt, aber im Tunnel bitte 80. Vielleicht
wäre das mit Tempolimit einfacher, aber ver-
schwinden würden die Schilder davon kaum.
Dort, wo »die Zukunft Tradition hat«, in
Thüringen auf der A 71, lande ich mit leerem
Tank an der prächtigsten Raststätte, die ich
Illustration: Rob en Robin
je gesehen habe: der Tank- und Rastanlage
Leubinger Fürstenhügel. Gegenüber liegt ein
frühbronzezeitliches Grab, drinnen riecht es
wie in einer teuren Saunalandschaft. Helles
Holz, große Fenster, eine Clique von Auto-
bahnarbeitern beim Morgenkäffchen.
02.01.23 17:46
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
Ein paar Fragen an das nach Cobra 11
aussehende Autobahnstreifenduo in der
Kaffeepause: Wer sind hier die Raser? Vor
allem Männer in den mittleren Jahren, sagt
die Polizistin, Vertreter, Chefs, Firmen-
wagenfahrer. »Alle, die den Sprit nicht selber
zahlen müssen oder es sich leisten können,
den zu verheizen.« Seltener gebe es die Jung-
männer in geleasten Sportwagen, die zu
zwanzigst Rennen fahren. Eine Frau? Ganz
selten.
Im Thüringer Wald gibt nur ein Apo-
thekentransporter (»Eilige Arzneimittel!«)
richtig Gas, ansonsten: Freiheit als Freiheit
zu schleichen. Verständlich, es ist eine Strecke
wie ein Waldbad, die smaragdgrünen Fichten,
die dünnen Birken. Erst nach 20 Minuten
merke ich, dass ich nur noch 90 fahre.
Hinter Erlangen fängt es an zu schütten.
Dann kommt Nürnberg, die A 9, Schilder-
wälder, die pechschwarze Donau, einfädeln
und ausfädeln auf drei und mehr Spuren.
Mit letzter Kraft staune ich über das Wunder,
wie so viele Menschen in Autos gleichzeitig
nicht durchdrehen. Ein motorisiertes Ballett.
Mit einem Aalhändler und einem Panzer-
transporter fahre ich in München ein.
A 95 nach Garmisch-Partenkirchen
In der Morgendämmerung schlängele ich
mich am nächsten Tag aus der Stadt. Die
A 95 sieht unschuldig aus, die Schlagzeilen
klingen seit Jahren anders: »Ausländische
Reisebüros preisen A 95 als Raser-Mekka an«,
»Supersportwagen mit 600 PS gestoppt«,
»Die A 95 – Bayerns legale Rennstrecke«.
Doch wir befinden uns außerhalb der
Saison, ich überhole selbst Porsches und
Teslas. Ungewöhnlich ist das nicht: Eine
Studie des Instituts der deutschen Wirt-
schaft zeigte 2021, dass auch auf Strecken
ohne Limit 77 Prozent der Autofahrer
langsamer als 130 fahren. Braucht man
dann überhaupt ein Tempolimit? Läuft
doch auch so.
Am Parkplatz Mühlweiler pinkelt ein
Trucker ins Grüne und erzählt danach, das
Problem seien nicht die Raser. »Die machen
mir nichts, ich bin ja stärker.« Sondern all die
Schleicher, die seinen 40-Tonner immer
wieder ausbremsen, die chaotisch fahrenden
Rentner, die besser mal zur Verkehrstauglich-
keitsprüfung müssten. Braucht es vielleicht
statt Tempolimitdebatten bei Maischberger
regelmäßige Nachschulungen für alle?
Die Skisprungschanze von Garmisch ist
schon zu sehen, und ich überlege auf den
letzten Kilometern, was eigentlich fehlen
würde mit einem Tempolimit. Sicher das
VZ 282, das schönste deutsche Verkehrs-
schild. Fünf diagonale schwarze Balken auf
weißem Rund, das »Ende sämtlicher strecken-
bezogener Geschwindigkeitsbeschränkungen
und Überholverbote«. Ich will gar nicht
schneller fahren, seit ich überschlagen habe,
wie wenig Zeit man damit spart. Die A 95 ist
67 Kilometer lang. Bei freier Straße würde ich
dafür mit 130 etwa 31 Minuten brauchen.
Mit 160 wäre man etwa sechs Minuten
schneller. Zwei Songs mehr im Hitradio.
Alle, die das Tempolimit fürchten, kön-
nen sich darauf verlassen, dass es auch
künftig viel zu wenig Polizei für rund
13.200 Autobahnkilometer gibt. Und sehr
gute Blitzer-Warn-Apps. Und vergleichs-
weise günstige Strafen, ich meine, haben
Sie schon mal Post von der Kantonspolizei
Zürich bekommen?
Schlussworte von einem Jaguarfahrer an
der Eni-Tankstelle in Garmisch-Partenkir-
chen. Aufgestellter Kragen, Goldkettchen,
ein US-Lobbyist, der vor Jahrzehnten nach
Deutschland kam und gerade volltankt.
»Ich liebe eure Autobahnen, und im Ernst:
Das Tempolimit kriegt ihr eh nie hin.«
!www.zeit.de/vorgelesen
DIE ZEIT N o 2 5. Januar 2023
Wilfried Tielemanns Frau lebt in einem Heim. Er selbst ist noch fit und muss ohne sie klarkommen. Eine Liebesgeschichte
V
or Kurzem hat er ihre
Kleider durchgesehen.
Das Sommerkleid mit
den Blumen, die Strick-
kleider für den Winter,
ihre Blazer und Hosen.
Eine ganze Schrankhälfte
voller Stoff gewordener Erinnerungen.
Ein Kleid hat er vorne über einem Bügel
an die Stange gehängt. Blau, mit weißen
Längsstreifen. Ihr Lieblingskleid, sie habe
es rauf und runter getragen, sagt Tiele-
mann. Er sagt, er wolle bald alles weg-
geben, nur dieses wolle er behalten. Sie
soll es bei ihrer Beerdigung tragen.
Wilfried Tielemann ist ein großer
Mann, 82 Jahre alt. Vor dem Besuch hatte
er am Telefon gesagt: Ich putze aber nicht
extra für Sie. Dann ist es in seiner
Wohnung in Hannover-Ahlem, im
Norden der Stadt, doch so sauber, als
sei noch am Morgen gewischt worden.
Früher, sagt er, sei es seine Frau gewe-
sen, die ständig geputzt habe, alle paar
Tage Staubwischen, einmal die Woche
Saugen. Warum machst du das so oft,
habe er sie gefragt. Heute weiß er,
warum. Er weiß überhaupt jetzt viel
mehr als früher.
Am Kühlschrank pinnt ein Foto –
vier Jahre ist es alt. Da ist er runder,
und er hält seine Frau im Arm. Sie
sehen ein bisschen aus wie ein rüsti-
ges Paar aus einem Reisekatalog:
Heidi und Wilfried Tielemann, da-
mals 77 und 78 Jahre alt. Sie stehen
an einer Reling, hinter ihnen das
Meer, der Himmel ist blau.
Inzwischen ist Herbst 2022,
durch die Fenster sieht man Rosen,
noch von ihr gepflanzt, ein Stück
Wiese. Herr Tielemann lebt in einer
Wohnung im Souterrain, ein rotes
Klinkerhaus aus den Siebzigerjahren,
mit kleinen Fenstern. Vier Zimmer,
Küche, Bad.
Er lässt sich jetzt auf einem Stuhl
am Esstisch nieder, wie sich nur alte
Menschen setzen, vorsichtig, als
könne jeden Moment jemand den
Sitz wegziehen. Herr Tielemann war
Maschinenschlosser, seit 27 Jahren
ist er Rentner, seit drei Jahren ist seine
Frau in einem Pflegeheim, Pflege-
stufe 5. Die höchste Stufe. Sie kann
nicht mehr selbst essen, kann nicht
mehr aufstehen.
Dort, wo früher ihr Teller stand,
liegen nun drei Ordner, randvoll mit
Papieren. Rechnungen, Arztberich-
ten, Briefen der Krankenkasse. Ihr
Leben in drei grauen Aktenordnern,
Pflege 20, Pflege 21, Pflege 22.
Es habe vor fünf Jahren be-
gonnen, da habe das Herz seiner
Frau das erste Mal Probleme ge-
macht. Vorhofflimmern. Die Ärzte
verschlossen das sogenannte Vorhof-
ohr mit einem Schirmchen, damit
sich dort kein Blut sammeln, gerin-
nen und in der Folge einen Schlag-
anfall auslösen kann. 2018 dann der
Herzschrittmacher.
Am Morgen des 30. September
2019 schließlich machte ihr Herz er-
neut nicht mehr mit, das Schirmchen
vor dem Vorhofohr war verrutscht.
Blut hatte sich im Vorhof gesammelt,
und Heidis Herz war zu schwach, um
es richtig durch die Adern zu pum-
pen. Das Gerinnsel, das sich bildete,
unterbrach die Blut- und Sauerstoff-
versorgung ihres Gehirns. Mir ist so
schwindelig, habe sie zu ihm rüberge-
rufen, als er gerade in der Küche das Ge-
schirr vom Frühstückstisch abräumte.
Und weg war sie. So erzählt er es.
Tielemann wählte 112. Ein Kranken-
wagen nahm seine Frau mit. Eine Woche
lang war sie bewusstlos, es kam zu einer
Hirnblutung. Die Ärzte operierten sie
mehr als drei Stunden lang. Die halbe
Hirnschale wurde ihr abgenommen.
Später wollten sie sie wieder einsetzen,
dann hieß es: Das Risiko einer erneuten
Operation sei zu groß.
Auf seinem Handy hat Herr Tiele-
mann die Stationen festgehalten. Seine
Frau auf der Intensivstation, im Koma.
Mit einem weißen Knäuel Mull im
Mund, damit sie nicht auf die Sonde
beißt, der halbe Kopf rasiert.
Vier Wochen Krankenhaus. Dann
Reha.
Wie Loslassen geht? Tielemann hat seine eigene Theorie: Akzeptanz. Er hat alle Akten gelesen.
Er weiß, es wird nicht mehr gut werden. Nun sagt er sich: »Mein eigenes Leben geht weiter«
Einfach weitermachen
Am 19. Dezember, sie war noch in der
Rehaklinik, erhielt Herr Tielemann einen
Brief von Heidis Krankenkasse. Dort stand
etwas von der Einstufung in den Pflegegrad,
von Potenzial, auf das es ankomme, von
Selbstständigkeit und Fähigkeit zur Teilhabe.
Da habe er begriffen, dass Heidi in Zukunft
nicht mehr dieselbe sein würde. Und dass
das gemeinsame Leben vorüber war.
Heidis neues Zuhause von da an:
Zimmer 207 im Pflegewohnstift Hanno-
ver-Davenstedt, zweiter Stock, rechts den
Flur runter. Zehn Minuten zu Fuß von
der Wohnung entfernt. Die Wände sind
weiß, keine Fotos. »Bringt ja nichts«, sagt
Herr Tielemann.
Am Anfang habe er gedacht, dass er
Heidi vielleicht zu Hause pflegen könnte.
Immer dienstags spielt Herr Tielemann Badminton. Und sonst? Montags Faszientraining, donnerstags erst Gymnastik, dann Linedance
»Wie wollen Sie das denn machen?«, habe
der Arzt ihn gefragt. »Ihre Frau braucht
rund um die Uhr drei Leute. Wo sollen
die denn alle schlafen?«
Mitte Januar wurde sie begutachtet:
(...) Frau Tielemann liegt in Seitenlage im
Bett, sie ist somnolent und kann nicht er-
weckt werden, kurzfristig werden die Augen
bewegt und geöffnet, fixiert wird nicht.
(...) Es bestehen Beeinträchtigungen:
- der Orientierung (...)
- der Gedächtnisleistung (...)
- der Wahrnehmung und des Denkens (...)
Kennengelernt haben sie sich 1959 in
der Tanzschule. Dort tanzten sie Rumba,
Walzer, Cha-Cha-Cha. Erst mit anderen,
dann nur noch zusammen. Ihr blonder
Zopf, hoch am Kopf zusammengebunden,
habe ihm gefallen. »War ja damals modern«,
ENTDECKEN
sagt er. Herr Tielemann war 19 Jahre alt und
machte gerade seine Ausbildung zum
Maschinenschlosser, Heidi war ein Jahr
jünger und stand kurz vor dem Abitur.
Am 19. Mai 1964 heirateten sie im
Standesamt in Hannover, am 15. August
kirchlich. Am 1. Mai 1965 wurde ihre
Tochter geboren. Später besuchte Tiele-
mann die Techniker-Schule, seine Frau
arbeitete als Beamtin beim Steueramt.
»Wir sind beide rationale Menschen«,
sagt er. »Keine großen Liebesschwüre, das
brauchten wir nicht.« Sie schliefen jahre-
lang in getrennten Schlafzimmern, weil
ihm das Schlafen schwerer fiel als ihr. Sie
wollte ihn nicht stören, bei seinem Ringen
mit dem Schlaf. Aber jeden Morgen
weckten sie sich gegenseitig. War für
Wilfried Tielemann die Nacht vorbei,
ging er zu seiner Frau hinüber und legte
sich zu ihr. War sie früher wach, kam sie
zu ihm ins Bett.
Und sonst? Sie waren gerne unterwegs,
im Camper, Atlantikküste. Die letzte Sta-
tion immer: Soulac-sur-Mer. »Einmal sogar
nackt in den Wellen«, sagt Herr Tielemann.
Sie ließen sich früher pensionieren, 17-mal
Kreuzfahrt auf der Aida. 1994 kam der
erste Enkel, 1998 der zweite.
»Wir hatten schon ein tolles Leben«,
sagt Herr Tielemann.
Jetzt plant er ihre Beerdigung, eigent-
lich schon seit 2021. Damals hatte sich
ein Geschwür an der Darmwand gebildet
und war geplatzt. Drei Blutkonserven
bekam sie später im Krankenhaus.
Sie konnte vorher schon nicht mehr
alleine essen, nicht mehr so viele Worte
sprechen, aber die Pfleger konnten sie
noch in einen Rollstuhl wuchten. Tiele-
mann konnte sie spazieren fahren. Und
wenn er mit ihr sprach, sagte sie immer-
hin: »Ja, ja.« Oder manchmal auch: »Das
weiß ich.« Danach konnte sie nur noch
liegen. Und sie verstummte, schlief im-
mer mehr. Teile von ihr waren weg.
Noch während seine Frau um ihr Le-
ben kämpfte, sagt Herr Tielemann, sei er
zu einem Beerdigungsinstitut gegangen,
habe mit dem Pastor gesprochen, habe
einen Friedhof ausgesucht. Von da an,
sagt er, sei es ihm immer besser gegangen.
Er lebe jetzt auch ein gutes Leben, sagt er.
Jeden Tag besucht er sie, von 13 bis 15
Uhr. Wenn sie schläft, geht er etwas frü-
her, manchmal bleibt er etwas länger. Er
nimmt eine Nagelfeile aus einem Etui im
Nachtschränkchen. Er setzt sich auf ihre
Bettkante, er löst ihre verkrampften Fin-
ger, jeden einzeln, und feilt ihre Nägel.
Dann kämmt er sie.
Er hat ein Pulsoximeter gekauft. Er
klemmt es an ihren Zeigefinger und misst
den Sauerstoff im Blut. Er zupft an dem
Schlauch, der die Nahrung transportiert,
und kontrolliert, ob sie gleichmäßig in den
Körper sickert, durch die Bauchdecke
Richtung Magen.
1000 Milliliter Kürbis-Karotte, 1500
Kalorien am Tag.
Er stellt das Radio an.
Backstreet Boys – I Want It That Way,
Ben E. King – Stand By Me,
Reinhard Mey – Über den Wolken.
Es sei nicht so, dass sie gar nicht
kommunizieren könne. Manchmal hält
er zum Spaß seinen Zeigefinger in ihren
Mund – und zieht ihn erst wieder weg,
55
VON LINDA TUTMANN
wenn ihre Zähne seinen Finger fast be- Heute herrscht Klarheit. Wenn er
rühren, wenn sie ihren Mund wieder heute nach Heidi gefragt wird, sagt Tiele-
schließt. Ihr Blick aber geht ins Leere. mann: »Sie schläft viel.«
»Du Räuber«, sagt Tielemann dann. Oder: »Man kann nichts machen.«
Manchmal drücke sie seine Hand. Oder: »Jetzt ist es so.«
Seine Frau und doch nicht seine Frau. Herr Tielemann hat sich vor gut
Er spricht mit ihr: einem Jahr eine Uhr gekauft, die vibriert,
»Gestern Abend war ich beim Bad- wenn ihn jemand anruft, so kann er
minton, hatte ich dir ja erzählt. War gut. sicher sein, dass das Heim ihn erreicht,
Sind jetzt auch ein paar Jüngere dabei, wenn was ist. Die Uhr hat ihm Freiheit
macht dann noch mal mehr Spaß.« gegeben.
»Jonas war bei der Betriebsfeier, muss Montags geht er nun zum Faszien-
so zugelangt haben, wollte noch am Tag training, von 17 bis 18 Uhr, dienstags ist
danach nicht fahren. Ein Freund hat ihn Badminton von 15 bis 16 Uhr, mitt-
nach Hause gebracht.« wochs besucht er am Abend Helga und
»Liebe Grüße von Janik, ruft mich Helmut, alte Freunde, donnerstags macht
jeden Abend an um 18 Uhr, wenn er er Gymnastik von 18.30 bis 19.30 Uhr
nach Hause von der Arbeit fährt.« und um 20 Uhr seit Neuestem auch noch
Linedance.
Beim Tanzen habe sich Heidi
immer beschwert, weil er immer
mehr Zeit als sie gebraucht habe,
um die Schritte zu lernen. Beim
Linedance tanzt man ohne Partner.
Mal hintereinander, mal nebenein-
ander. Wenn sich jemand mal in die
falsche Richtung dreht, kein Pro-
blem. »Macht einfach Spaß«, sagt
Herr Tielemann.
Sein Essen holt er sich aus einer
Kochwerkstatt, fünf Minuten von
seiner Wohnung entfernt. Er kennt
den Koch mittlerweile persönlich,
manchmal komme er extra für ihn
aus der Küche raus und gebe ihm die
Hand. Zwei Tupperboxen hat er
dabei, eine für das Hauptgericht und
eine für den Nachtisch.
Er putzt einmal die Woche. Das
gehe eigentlich ganz gut, wenn man
mal drin sei, sagt er.
Am schwersten: Staubwischen.
Auch mit dem Grübeln, sagt Herr
Tielemann, sei es mit der Zeit besser
geworden. »Ich sage: Gehirn, hör
mit dem Mist auf, das bringt nichts.
Das hilft. Irre, oder?«
Seine Frau mochte keine klassi-
schen Konzerte. Tielemann liebt sie.
Vor gut zwei Monaten war er das
erste Mal seit über drei Jahren wieder
bei einem klassischen Konzert, mit
Hannelore, einer Freundin vom
Tanzen.
Neulich rief ihn sein Enkel an, ob
er Lust habe auf einen Ausflug nach
Wolfsburg? Dort spiele die Frauen-
fußballmannschaft. Er setzte sich
einfach in den Zug. Ganz alleine.
»Das habe ich mir gegönnt«, sagt
Tielemann. Es war das erste Mal seit
Langem, dass er Hannover ohne seine
Frau verlassen hat.
Er hat nun wieder ein Ich.
Was ihm am Wir fehlt? Tiele-
mann sagt: Die Berührungen. Das
Kuscheln am Morgen. Das gemein-
same Reisen.
Und wie dann Loslassen geht?
Tielemann hat seine eigene Theorie:
Foto: Roman Pawlowski für DIE ZEIT
Akzeptanz. Er hat alle Akten gelesen,
alle Arztberichte und mit Medizi-
nern gesprochen. Er weiß, es wird
nicht mehr gut werden. Und den-
noch oder gerade deswegen sagt er
sich: Mein eigenes Leben geht wei-
ter. »Sorg für dich«, sage auch seine
Tochter zu ihm. »Du musst fit blei-
ben und für Mama da sein.«
Inzwischen ist das vierte Weih-
nachtsfest ohne sie vorüber. An Hei-
ligabend hat er das erste Mal mit der
Familie des neuen Partners seiner
Er weiß nicht, was noch bei ihr an- Tochter gefeiert. 14 Erwachsene und zwei
kommt, was sie versteht, wo sie gerade ist. Babys. Am zweiten Weihnachtstag war er
»Wer weiß das schon«, sagt er. beim Ex-Mann seiner Tochter zum Kaffee
Als es ihr besser ging, sei da immer noch eingeladen, und abends kamen seine
Hoffnung gewesen. Das war schlimm, sagt Enkel zu Besuch. Sie hätten Döner ge-
Herr Tielemann. gessen und Rummy gespielt. »War richtig
Er habe immer überlegt: Wie bekomme schön«, sagt er. Am Mittag war er wie
ich sie noch mal fit? Er habe sie manch- immer bei seiner Frau.
mal für ein paar Stunden nach Hause Früher, sagt er, hätten sie manchmal
geholt. Er ließ den Weg durch den Garten darüber gesprochen, wie sie beerdigt
bis zu ihrer Terrasse pflastern. werden wollten. Auf keinen Fall ver-
Er besorgte über eBay Kleinanzeigen brennen, habe Heidi gesagt. Will ja
einen sogenannten Motomed, eine Art keinen heißen Arsch bekommen. Und
Fitnessgerät für Menschen wie Heidi Tiele- sie wolle vor ihm gehen. Dann kann ich
mann, damit sie ihre Beinmuskulatur im mir eine Freundin suchen, hatte Tiele-
Rollstuhl trainieren konnte. Während Co- mann geantwortet. Mach das mal, habe
rona, als das Heim für Besucher geschlossen sie erwidert und gelacht.
wurde, kaufte er ein iPad. Die Pfleger im Herr Tielemann sagt: »Das war Heidi.
Heim setzten seine Frau jeden Tag um die Immer großzügig, nie neidisch oder eifer-
Mittagszeit in ihren Rollstuhl und vor den süchtig.« Ob er Angst vor ihrem Tod hat?
Bildschirm, wenn Tielemann sie anrief. »Nein.« Und vor seinem? Er sagt: »Nein.«
 56
DA W I L L I C H H I N !
Mit einem melancholischen Esel auf den Ararat oder im Land Rover nach Schottland, »The Crown« hinterher:
Redakteurinnen und Redakteure von ZEIT und ZEIT ONLINE erzählen von ihren Reisesehnsüchten für das anbrechende Jahr
1 you too«. Der Anblick hat mich fast zum Weinen
Den Bulli packen. Endlich losfahren. Drei Über-
nachtungen später ankommen auf Quiberon.
Die Halbinsel in der südlichen Bretagne ist ein
bisschen wie Sylt, aber weiter weg. Den Bulli
parken. Die Fahrräder abladen. Vorbei an weiß-
grauen Häusern zum Meer radeln und dann
kilometerweit die felsige Küste entlang: links
Weite und Wellen, rechts Weite und Dünen.
Atmen. Abends Galette essen und Cidre trinken.
Länger bleiben als drei Tage. IRIS MAINKA
2
In Timmendorf am Strand hat alles angefangen.
Einmal rund um die Ostsee – zu Fuß. Bis Stock-
holm und in die andere Richtung bis ins pommer-
sche Kołobrzeg habe ich es schon geschafft. Von
dort werde ich – immer nah am Wassersaum –
weitergehen: über Stolberg in die polnische Sahara,
zu den riesigen Wanderdünen von Łeba, dem Ort,
der dem feinen Sand in der Geschichte schon ein-
mal weichen musste. Zwölf Meter wandert er jedes
Jahr, und die alte Kirche von Łeba hat er schon
unter sich begraben. Ich wandere bis auf die schmale
kaschubische Landzunge Hela. Kaschubisch! Das
Wort allein löst schönstes Fernweh aus. Und vom
Hafen an der Zungenspitze setzen Fähren nach Dan-
zig über. Macht 270 Kilometer, sagt die Wander-
App, zehn Tagesetappen. Und etwas mehr als ein
Hundertstel der insgesamt rund 22.000 Küstenkilo-
meter rund um die Ostsee. HELLA KEMPER
3 der Süden, der im Osten gerne etwas Extremisti-
Im Juni nach Kärnten. Und wenn ich im letzten
Dorf des Mölltals ankomme, in Heiligenblut,
dann wartet er da auf mich, es sei denn, er verbirgt
sich gerade hinter Wolken: der Großglockner. Fast
Fotos [M]: Vitor Marigo/Shutterstock; Mara Brandl/imago (S. 59)
4000 Meter hoch, die Spitze in einem fast perfekten
Dreieck zulaufend. Wobei, natürlich wartet der
größte Berg Österreichs nicht auf mich. Der Groß-
glockner wartet auf niemanden. Er ist sich selbst
genug. Und wenn ich endlich da bin, ihn sehe,
wenn ich von der Frühstücksterrasse aus auf seine
kahlen Flanken schaue, dann brauche ich auch
nichts mehr sonst. FRITZ HABEKUSS
4
Vor zwei Jahren, zu Zeiten der coronabedingten
Reisebeschränkungen, sah ich in der Fußgänger-
zone ein Werbeplakat mit dem Empire State
Building und dem Slogan: »New York City misses
Dünen und Lagunen im Wechsel – die Lençóis Maranhenses im Nordosten von Brasilien
gebracht, weil New York mich oft dem Weinen
nahebringt, vor Glück, wenn ich mal dort bin,
vor Sehnsucht, wenn ich nicht dort bin. Ange-
sichts dessen frage ich mich: Warum wollen
Menschen in anderen Städten wohnen, wenn es
doch New York gibt? JUDITH LIERE
5 schaft in Weiß und Blau, halb Wüste, halb See, es
Ein Freund sagte mal über das Zittauer Gebirge:
Nichts dort sei besonders, nichts atemberaubend
oder gar weltberühmt. Aber alles, wirklich alles
an dieser gemütlichen, sanft geschwungenen sand-
steinigen Hügelwelt an der Grenze zwischen
Deutschland, Polen und Tschechien ist irgendwie
schön normal. 2022 bin ich aus Sachsen wegge-
zogen, und wenn ich an Heimat denke, denke ich
an einen Sommertag auf dem Waldweg im
Zittauer Gebirge. Falls ich es 2023 nicht schaffen
sollte, mindestens einmal da zu sein, wird das kein
Jahr gewesen sein, das zählt. MARTIN MACHOWECZ
6 43 meist leichteren Touren durch Kärnten, Slo-
Ich war noch nie in Odessa, dabei will ich da schon
so lange hin, eigentlich schon immer. Zuerst war
es nur dieser klangvolle Name, der Sehnsucht weck-
te, dann die gigantische Potemkin-Treppe, die auf
eine sehr erhabene Architektur schließen ließ,
schließlich die Idee, dass in dieser Stadt heute alles
zusammenkommt, was ich am Schwarzen Meer so
mag. Eine komplexe Geschichte, eine ruinöse
Schönheit, die sich für keinen herausputzt, und ja,
sches hat: zu heiß, zu laut. Am Rand der von den
Ukrainern verminten Sandstrände wurde eine Ein-
wohnerin gefragt, was sie glaube, wann ihre Stadt
wieder Touristen empfangen könne. Ihre Antwort
lautete: Kommenden Sommer. Sollte sie richtig-
liegen, bin ich dabei. STEFANIE FLAMM
7 der öffentlichen Onsen-Bäder steigen. Durch den
Ich will zurück nach Norwegen, auf den Olavs-
weg. Letztes Jahr stand ich zwischen Dovre und
Oppdal und hatte ein Gefühl, als wäre nichts
zwischen mir und der Welt, als wären wir ein und
dasselbe. Ein Pilgerweg, Mondlandschaft, Kälte,
Weite, kein Druck, der Kopf war leer, ich war
einfach da und habe gesehen, gehört, gefroren
und geatmet. Inzwischen weiß ich auch: ein
15-Kilo-Rucksack ist zu schwer für mich, und
Wasserfilter werden überbewertet. SARA TOMŠIĆ
REISE
8 Ennstal, genau dort, wo die Enns in der Schlucht
Im Norden von Brasilien liegen die Lençóis
Maranhenses, die Bettlaken von Maranhāo, ich
kenne sie nur von Bildern und aus Filmen. Schein-
bar endlos geschwungene Dünen, kilometerweit
landeinwärts, und in ihren Senken kleine Lagu-
nen – eine einzigartig minimalistische Traumland-
gibt sogar zwei Oasen. So unwirklich sieht das aus,
dass ich es endlich einmal wirklich sehen will. Ein
paar Tage lang durch den feinen, gleißenden Sand
streifen, immer wieder kurz eintauchen in die
Pools dazwischen und abends am Rande des gro-
ßen kleinen Wellentheaters ein oder zwei dieser
brasilianisch-brutal heruntergekühlten Biere trin-
ken. Das wäre was. MERTEN WORTHMANN
9 gewesen – und war fassungslos: Wie konnte ich je
Wandern beschreiben viele als Weg zu sich selbst,
aber fototapetenschöne Landschaften helfen sehr
beim Ankommen: Der Alpe-Adria-Trail führt in
wenien und Friaul-Julisch Venetien. Man kommt
am Großglockner vorbei, am poolblauen Faaker
See – und bei der schönsten Etappe hoch über dem
Meer hat man Prosecco im Blick, ein kleines Dorf
oben in der Karstlandschaft, und das Schloss Duino
im Rücken, das Rilke zu seinen Duineser Elegien
inspirierte. CARMEN BÖKER
10
In einem Tal im Norden der japanischen Insel
Honshu wurde im Winter des Jahres 1963 ein
Schneeaffenweibchen beim Baden gesehen. Später
baute man den Tieren, inzwischen eine welt-
bekannte Attraktion, ein eigenes Becken. Ich will
den Affen dabei zusehen, wie sie in der vereisten
Landschaft stundenlang in den 40 Grad heißen
Thermalquellen baden. Danach selbst in eines
verschneiten Wald gehen. Ein Haiku schreiben.
Bei einem Kaiseki-Menü mit Sake-Begleitung
darüber nachdenken, warum es nicht so einfach
ist, ein Haiku zu schreiben. KATJA NICODEMUS
11
Ich freue mich schon auf den ersten Morgen, wenn
ich in der Küche stehe und durch die rot gerahmten
Fenster über den Schnee auf den Buchstein schaue:
für mich der schönste Blick überhaupt. Das Haus
gehört meiner Tante, es liegt in der Steiermark, im
des engen Gesäuses zu einem wilden Fluss gedrängt
wird. Die Berge, die steil über dem Gesäuse auf-
ragen, sind im Sommer tolle Wander- und Kletter-
ziele, im Winter aber nur Skitourengängern zugäng-
lich. Doch das gemütliche Skigebiet der Wurzeralm
ist nicht weit, und nichts ist dort schöner als die
Talabfahrt, durch eine Tannen-Märchenlandschaft,
mit Blick bis zum Dachsteinmassiv. ANNA KEMPER
12
Das wird jetzt alles andere als ein Geheimtipp. Ich
war zwanzig Jahre lang nicht in Italien, wegen der
bescheuerten Astrid-Lindgren-Idee, dass Kinder
sich im Sommer bei 17 Grad in rot gestrichenen
skandinavischen Holzhütten am wohlsten fühlen.
Dann bin ich vor Kurzem endlich wieder mal da
auf den Gedanken kommen, woandershin zu rei-
sen? Gibt es ein vollkommeneres, ein schöneres
Land auf Erden als Italien? Nein, gibt es nicht.
Werde ich je wieder woandershin fahren? Nein, auf
keinen Fall. Albert Camus, der fast immer mit
allem recht hat, ging es auch so: »Wenn ich alt bin«,
schrieb er, »möchte ich die Gunst erfahren, auf
diese Straße nach Siena zurückzukehren, der nichts
auf der Welt gleichkommt, um dort im Graben zu
sterben, von der Güte jener unbekannten Italiener
umgeben, die ich liebe.« Die Straße muss ich noch
finden. IRIS RADISCH
13
Georgetown liegt an einer der spektakulärsten
Küsten der USA auf einer bewaldeten Insel in
Maine. Es gibt kleine sandige Buchten, Felsen, von
denen man ins Wasser springen kann, verwun-
schene Häuser auf tellergroßen Miniinseln und
dramatische Sonnenuntergänge. Um 17 Uhr treffen
sich die wenigen Bewohner am Strand, am zweiten
Urlaubstag sitzt man mittendrin, trinkt Bier und
versteht Amerika. Dann fährt man mit einem der
Bötchen und seinen Besitzern raus, noch mehr Bier
im Korb, überprüft die Hummer-Fallen, ankert in
einer Bucht, springt ins Wasser und ist einfach
glücklich. KERSTIN KOHLENBERG
14
Vanille und rosa Pfeffer – wäre Nizza eine Eissorte,
schmeckte sie vermutlich so cremig süß und ein
wenig exotisch wie meine Lieblingssorte von
Fenocchio, der weltbesten Eisdiele im Schatten der
Place Rossetti mitten in der Altstadt. Natürlich bin
5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
auch ich vor Jahren das erste Mal in die Stadt ge-
kommen wegen der vielen Künstler, die an der Côte
d’Azur gelebt haben. Und wegen des Strands, der
sich fast beiläufig unterhalb der berühmten Ufer-
promenade erstreckt. Inzwischen liege ich lieber
im zentralen Park der Promenade du Paillon und
genieße das französische Wimmelbild: Der Park
dient anscheinend allen Niçois als Garten, sie
hüpfen durch die Wasserspiele und picknicken auf
den weiten Rasenflächen. Ein Hauch von Maghreb
für den Gast aus dem Norden. WENKE HUSMANN
15
2023 möchte ich mit der Seilbahn auf den Feuer-
kogel im Salzkammergut fahren. In den Kabinen
und auf den Seilen der Bahn wurden einst irr-
witzige Aufnahmen für den Film Agenten sterben
einsam mit Richard Burton und Clint Eastwood
gedreht. Vom Feuerkogel kann man zu vier ver-
schiedenen Seen absteigen. Zum Attersee und zum
Traunsee, die kennt man. Ich möchte aber zu den
kleineren, höher gelegenen Langbathseen, dem
Vorderen und dem Hinteren. Das sind zwei tief-
klare, die Kalkhänge des Höllengebirges spiegelnde
Seen, und wenn man in ihnen schwimmt, ist es, als
durchmesse man eine riesige helle Wanne, deren
Rand den Himmel berührt. PETER KÜMMEL
16
Wer im Urlaub auf Mallorca lieber für sich
bleibt, ist in der Finca Es Rafal Podent falsch.
Man muss sich diesen Ort im Osten der Insel
wie ein Miniatur-Dorf vorstellen, in dem jeder
jeden kennt, jedenfalls nach kürzester Zeit. Eine
Handvoll Häuser, eine Plaça, ein Grillplatz, ein
Pool. Die Kinder fühlen sich in allen Häusern
daheim (deshalb lieber mehr Eis einkaufen), vor
allem aber sind sie im Pool. Die Erwachsenen
liegen drum herum, lesen, dösen, reden. Auf-
reger des Tages ist, wenn Juan, der Dorfbesitzer,
die Kinder in der Baggerschaufel übers Gelände
fährt. Das war’s dann aber schon, mehr Adrena-
lin gibt’s heute nicht. DOROTHÉE STÖBENER
17
Wie soll ich sagen? Ich bin alt, unbeweglich und
bequem geworden. Zuletzt hielt ich meine Ansicht
für weise: warum in die Ferne schweifen, wenn man
doch immer gern zurückkehrt an die einst lieb
gewonnenen Orte zwischen Bretagne und Tos-
kana?! Dann war ich im vergangenen Sommer in
Mexiko und weiß seitdem aufs Neue: Es geht beim
 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2
Reisen auch um das Erlebnis der Fremde, um die
Alteritätserfahrung – und dafür muss man raus aus
Europa. Deshalb soll es kommenden Sommer nach
Indien gehen, an einen Ort, an dem alles so anders
ist, dass ich mich herrlich fremd und überfordert
fühlen werde. IJOMA MANGOLD
18
Ich will wallfahren nach Doorn. Dorthin, wo sich
die Abendsonne über die deutsche Monarchie senk-
te. Im Huis Doorn, heute ein Museum, wartete
Kaiser Wilhelm II. nach der Ausrufung der Repu-
blik noch 23 Jahre lang darauf, dass seine Unter-
tanen endlich vernünftig werden und ihn heim ins
Reich holen, vergeblich. Noch sein Leichnam liegt
im niederländischen Exil. Einmal die üppig be-
hängten Wände sehen, zwischen denen die Wut-
ausbrüche des Regenten verhallten! Einmal da
stehen, wo er gestanden hat, der Blick auf die Welt
verstellt von Brokat und Nippes! Heute, wo Prinzen
putschen und selbst Staatsdiener vom Reich träu-
men, stelle ich mir eine Reise nach Doorn als heil-
sam vor. Gibt es ein besseres Gegengift für die auto-
ritäre Versuchung, als das traurige Ende des letzten
Kaisers zu beschauen? OSKAR PIEGSA
19
Unbedingt zum Karlsfelder See. Ein Baggersee
vor den Toren von München. 980 Meter lang,
10 Meter tief, auf der Karte sieht er fast aus wie
ein Fisch mit platter Schnauze. Dort habe ich
vor dem Abitur fast jeden Sommer verbracht,
mit Schwimmen, Lesen, Radfahren, Reden,
Fußball, Tischtennis. Alles total unspektakulär,
ich weiß, aber irgendwie würde ich das alles
gerne mal wieder machen. So wie früher, als die
Welt noch in Ordnung schien. MARK SPÖRRLE
20
Im Grunde kenne ich es schon, das Herzland der
USA. Die staubigen Highways voll bärtiger
Trucker und helmloser Biker. Die Diners, in
denen Serviererinnen mit hochgestecktem Haar
mir immerfort Kaffee nachgießen. Die Motels,
hinter deren Leuchtreklame stets eine Über-
raschung wartet. Ich war bloß nie dort, weil mir
bisher der Führerschein fehlte. Jetzt habe ich ihn
gemacht, im reiferen Mannesalter. Und werde
damit durch Arizona, New Mexico und Texas
fahren – nur um sicherzugehen, dass alles dort
genau so ist wie im Kino. MICHAEL ALLMAIER
21
Erholung auf Madeira. Vernünftigerweise nur
so: die Letzte am Frühstücksbuffet sein und die
Einzige am Hotelpool. Dort zerlaufen, kurz ein-
nicken und vom Sandstrand auf der Nachbarinsel
Porto Santo träumen, zu der die Fähre so früh am
Morgen ablegt. Sich gelegentlich im Wasser ver-
senken, bis am Nachmittag die Rentner von ih-
ren Tageswanderungen zurückkehren. Daraufhin
Hinweis der Redaktion: Bei unseren Recherchen nutzen wir gelegentlich die Unterstützung von Fremdenverkehrsämtern,Tourismusagenturen, Veranstaltern, Fluglinien oder Hotelunternehmen. Dies hat keinen Einfluss auf den Inhalt der Berichterstattung.
eine sanfte Regung verspüren und in den Markt-
hallen der Hauptstadt Funchal Mango, Passions-
frucht und Blumensamen kaufen, um sie zu
Hause nie einzupflanzen. BERIT DIESSELKÄMPER
22
Ich träume davon, im Tian-Shan-Gebirge von
Kirgisistan zu wandern, 7400 Meter hoch sind die
Berge gleich hinter der Hauptstadt Bischkek. Im
Frühjahr ziehen viele Kirgisen mit ihren Tieren in
die Berge, dort verbringen sie den Sommer. Manche
Familien haben eine Gästejurte für Touristen dabei.
Ich will im Issyk-Kul-See baden, dem zweitgrößten
Hochgebirgssee der Welt, ich will auf Pferden
reiten und aus Flüssen trinken – und warum nicht
auch mal Stutenmilch, ein traditionelles Getränk
in Zentralasien. VIKTORIA MORASCH
23
Als typische Post-Covid-Konsumentin habe ich
mich beim Bingen der zweiten Staffel von The
White Lotus in den Drehort verliebt. Und zwar in
das Luxushotel San Domenico Palace im sizilia-
nischen Taormina mit Blick auf den Ätna, hinweg
über die Reste des griechischen Amphitheaters bis
zum türkisblauen Ionischen Meer. Ich möchte
mich in diesem romantischen Ort mit seinen ho-
hen Säulenhallen und einem in den Berg gefassten
Pool verstecken und den Rest der Welt vergessen.
Wenn das nicht klappt, werde ich mit meinen vier
Kindern und meinem Freund den Sommer im
Garten verbringen. Fliegen soll man sowieso nicht
mehr. Und wofür gibt es diese Architektur-porno-
grafischen Fernsehserien sonst. CAROLINE ROSALES
24
Seit wir einmal mit dem Autozug von Verona
nach Hamburg gefahren sind, fragen unsere Kin-
der vor jeder Zugreise kritisch, ob es denn eine
mit dem Tagzug sei, so nennen sie den ICE, denn
viel aufregender war natürlich dieser Nachtzug,
ihre ultimative Zugreferenz. In diesem Jahr pla-
nen wir ihn endlich wieder zu nehmen. Man
muss dafür im Internet anstehen. Sobald neue
Plätze freigeschaltet sind, sind sie oft auch schon
wieder ausgebucht. Aber im Rattern der Schienen
schon das Rauschen des Meeres zu hören, das ist
es wert. JOHANNES GERNERT
25
Ein Moloch, na klar. Vor allem aber ist Mexico
City eine Stadt des Lichts. Niemand hat das besser
verstanden als der Architekt Luis Barragán, geboren
1902, gestorben 1988. 1980 ist er mit dem
Pritzker-Preis ausgezeichnet worden, dem Nobel-
preis der Architektur. Sein Wohnhaus ist heute
Unesco-Welterbe. In den 1950ern hat er für die
Nonnen der Capuchinas Sacramentarias del
Purísimo Corazón de Maria eine Kapelle gebaut.
Wie er dort seine Architektur mit dem Licht der
Stadt verbindet, das im Laufe des Tages die Wände
der Kapelle in unterschiedlichen Farben zum
Leuchten bringt, lässt einen zum Glauben finden
– zumindest zum Glauben an große Architektur.
Eine Nonne führt die Besucherinnen und Besucher
durch die Räume, fotografieren darf man nicht,
und vielleicht tritt man danach auch deshalb beseelt
aus dem Gebäude, weil man beim Betreten das
Smartphone abgeben musste. CHRISTOPH AMEND
26
Gern heißt es, nach den Gorges du Verdon seien
die Gorges de la Nesque die zweitschönste
Schlucht in der Provence. Für mich sind sie aber
die schönste, ein Ort, für den das Wort
»Panoramastraße« erfunden wurde. Das wirklich
Außergewöhnliche an dieser Straße, die durch die
zum Heulen schöne Schlucht führt, ist, dass es
noch eine zweite Straße gibt, weiter oben gelegen.
Die obere, die D 1, ist eine Schnellstraße. Auf der
Panoramastrecke, der D 942, braucht man dreimal
so lang oder noch länger, weil man ständig an-
halten und staunen muss. Da alle Hektiker und
Lastwagen die andere Straße benutzen, gehört die
D 942 den Radfahrern und all jenen, denen es egal
ist, wann sie ankommen. TANJA STELZER
27
Der Weg zum Glück führt den Pacific Coast
Highway entlang, Los Angeles stadtauswärts.
Gleich schon ist man in Malibu, am besten öffnet
man spätestens jetzt das Verdeck des Cabrios.
Vorbei am Malibu Pier, vorbei am berühmten El
Matador Beach, wo die Touristen hängen blei-
ben. Direkt dahinter liegt das Glück: La Piedra
Beach, ein Stück Strand, so ruhig und verlassen,
dass man es in dieser Stadt kaum glauben kann.
Aus herumliegenden Palmblättern kann man
sich, fast Robinson-Crusoe-haft, einen Sonnen-
schutz basteln und abwarten, ob Delfine vorbei-
schwimmen, als sei man in einem traumhaft
kitschigen Film gelandet. SEBASTIAN KEMPKENS
28
Ich habe mein Herz ans Herz des Südtiroler
Rosengartens verloren. Es schlägt dort, wo die
Vajolet-Türme in den Himmel der Dolomiten
ragen, bizarre Felsnadeln, gespickt mit Kletter-
routen. Eine der legendärsten: die Delago-Kante,
benannt nach ihrem Erstbegeher, dem österreichi-
schen Alpinisten Hermann Delago. Da klettert
man ein Stück rittlings auf der schmalen Fels-
kante, links geht es 800 Meter in die Tiefe, rechts
200 Meter. Warum ich das unbedingt machen
möchte? Weil die Tour ein Alpinklassiker ist. Und
wegen des Weißbiers danach, vor der Gartlhütte,
mit Blick nach oben. CHRISTINE LEMKE-MATWEY
29
Die Kita hat zu? Fahren Sie nach Tel Aviv. Bringen
Sie Ihr Kind auf einen der unzähligen Spielplätze,
jemand wird sich kümmern. Sie werden sich im
Szene-Lokal Port Said noch nicht gesetzt haben, da
wird Ihr Kind schon ein Stück gerösteten Blumen-
kohl vom Nachbartisch im Mund haben. Und
wenn Sie nicht Stopp sagen, wird ihm ein Gast am
Mezizim Beach, dem erholsamsten Strandabschnitt
der Stadt, Flügel anziehen und das Schwimmen
beibringen. SASCHA CHAIMOWICZ
30
Eine Region, die für ihre Butter bekannt ist, kann
nur ein guter Ort sein. Kerry in Irland ist so einer.
Die Wiesen sind so grün, dass man wirklich mal
saftig schreiben darf, das Land ist weit und der
Himmel blau. Die Küstenstraßen sind mindestens
so schön wie die in Kalifornien. Tagelang kann man
durch die Gegend fahren, ab und zu stoppt man in
Dörfern, wo jeder jeden kennt und alle einen
begrüßen. Man trinkt ein Pint im Pub, kauft ein
Soda Bread für die Fahrt – natürlich mit Butter –,
und weiter geht’s. LAURA SOPHIA JUNG
31
Sie waren schon mal in Hội An essen? Kann gut
sein, denn viele vietnamesische Restaurants sind
nach der Hafenstadt am Südchinesischen Meer
benannt. Und das hat seinen Grund: Hội An ist,
wie Venedig oder Paris, ein magischer Ort. Mor-
gens spaziere ich über die Japanische Brücke, die
seit 1595 das chinesische und das japanische Stadt-
viertel verbindet, und abends fahre ich mit einem
Holzboot über den Fluss Thu Bồn und schaue auf
ein Meer von Laternen. Essen kann man in Hội An
natürlich auch ganz fabelhaft: vor allem Bánh mì,
belegtes Baguette, zum Beispiel bei Bánh Mì
Phượng, dem winzigen Imbiss, bei dem bereits der
US-amerikanische Starkoch Anthony Bourdain
gegessen hat. Ich bestelle »Thập cẩm«, »mit allem«,
mit Gemüse, Fleisch und Ei. MARTINA KIX
32
Sagen wir es, wie es ist: Urlaub mit kleinen Kin-
dern kann grässlich sein. Sosehr man hofft, ihnen
werde ein bisschen Abwechslung auch gefallen:
Die meisten, sagen wir, Zweijährigen mögen es
nicht, wenn ihr Alltag durcheinandergerät. Also
braucht es ein Hotel, in dem es auch die Er-
wachsenen gut auf Dauer aushalten. Eines, von
dem aus der Blick auf die Berge von Osttirol so
schön ist, dass man meint, sich direkt in der
Natur zu befinden, obwohl man bloß mit dem
Kinderbuch auf einem Hotelbett liegt. Eines,
REISE
das sich auf Kinder als Gäste eingestellt hat, ohne
den Eltern das Gefühl zu geben, sie hätten sich
aus Versehen in einer Art Übernachtungs-Kita
einquartiert. Und vor allem eines, in dem das Es-
sen fantastisch ist. Eines also wie das Almfamily-
hotel Scherer in Obertilliach. ANNE HÄHNIG
33
Jerewan, ach, es zieht mich in Gedanken dorthin,
wann immer ich diesen Namen höre. Die Stadt
existiert bisher nur in meiner Vorstellung, in alt-
modischen, knallromantischen Bildern: zu starker
Mokka auf der Straße, Pfirsichgeruch, armenischer
Cognac, filterlose Zigaretten, endlose Schachpar-
tien mit Greisen in tadellosen Hemden. Dann hoch
zum Ararat mit nur einem melancholischen Esel
als Begleitung, bekanntlich die beste Gesellschaft,
und man hätte sich ja auch einiges zu sagen. Viel-
leicht, vielleicht ja dieses Jahr. DAVID HUGENDICK
34
Sechs Monate in Kalifornien arbeiten, das wird
mein 2023. Ich freue mich auf einen Besuch im
Muir Woods National Monument bei San Fran-
cisco, wo die mächtigen Mammutbäume stehen,
die mit ihren Kronen winzige Dunsttröpfchen aus
dem Küstennebel abfangen und sie über ihre
Rinde auf den Boden leiten, um die eigenen Wur-
zeln mit Wasser zu versorgen. Einige sind mehr als
1000 Jahre alt und haben in ihrem Leben so viel
gesehen, dass alle Probleme genauso klein werden
wie ich mit meiner Handykamera. TOBIAS DORFER
35
Eigentlich wollten wir schon im vergangenen
Sommer bis an die französische Atlantikküste. Wir
hatten Opas alten Opel, das Zelt im Kofferraum
und vier Wochen Zeit. Wir träumten von Rot-
weinnächten in Bordeaux, von pinienduftenden
Campingplätzen hinter Traumstranddünen. Bis
Avignon lief alles nach Plan, dann versackten wir
an schattigen Flussufern in der Provence und Ok-
zitanien. Die Klimaanlage des Opels kämpfte mit
der Hitze, unsere Strecken wurden immer kürzer,
die kühlen Flüsschen immer hübscher. Der Gar-
don! Der Herault! Die Ardèche! Wozu an den At-
lantik, an überlaufenen Stränden verbrennen? 2023
gibt es einen zweiten Bordeaux-Versuch. Dann mit
dem Zug, damit wir nicht ständig aussteigen und
hängen bleiben. CHRISTOPH FARKAS
36
Kann man den Zauber eines ersten Dates wieder-
holen? Nicht, wenn man so umgehauen wurde wie
ich letzten Sommer vom Hallstättersee: ein düs-
terer Typ, beinaheschwarz und lang und schmal,
gehüllt in ein Gewand aus dramatischen Bergen.
Ich hatte nicht gewusst, dass man Gewässergefühle
entwickeln kann. Starrte ihn an, schockverliebt,
zwei Wochen lang. Ja, ich habe auch Hallstatt be-
sichtigt, samt Salzbergwerk. Bin in die Therme im
nahen Bad Ischl gesprungen. Doch alles nur kurz –
der See, der See! So gerne würde ich ihn wieder-
sehen. Aber! Zweite Dates sind nicht dasselbe. Und
eine Langzeitbeziehung wird das nicht, er in
Ins kirgisische »Himmelsgebirge« Tian Shan – zum Wandern, Reiten, Baden
Österreich, ich in Hamburg. Deshalb – gebe ich
ihn für Sie frei. ELKE MICHEL
37
Am schönsten sind Reisen, wenn sie scheinbar kein
Ende kennen, immer weitergehen. Also: mit dem
Nachtzug von Hamburg nach Wien. Über Buda-
pest und Belgrad weiter nach Sofia. Wieder ein
Nachtzug, nach Istanbul. Die Schwarzmeerküste
entlang bis Georgien, nach all dem Städte-Trubel
in den einsamen Kaukasus. Zum Berg Kasbek. An
dessen Felsen die Götter den Prometheus schmie-
deten, zur Strafe dafür, dass er ihnen das Feuer ent-
wendet hatte. Jenes Feuer, mit dem wir so dämlich
umgegangen sind, dass es nun den zarten Schutz
unserer Atmosphäre zerstört. Zur Strafe dürfen wir
nicht mehr gedankenlos in jedes Flugzeug steigen.
Harmlos im Vergleich zu dem, was Prometheus
durchgemacht hat. MAXIMILIAN PROBST
38
Die Schlei. Klingt nach trägem Bach, ist aber ein
Meeresarm der Ostsee mit Buchten und Stränden.
Ideal für das schönste Mittel zur Fortbewegung:
das Kajak. Haddebyer Noor, Fleckeby, Osterbyer
Au, Missunde – schon beim Lesen der Namen auf
der Wasserkarte steigt die Ruhe in den Kopf. Im
Kajak ist alles Nötige verstaut: Schlafsack, Zelt,
Kocher, ein paar Klamotten. Rund 40 Kilometer
sind es von Schleswig bis zur Ostsee. Und dann
entlang der Küste immer weiter. ANDREA BÖHM
39
Meine Schwester kann sich nicht entscheiden,
wo genau sie im Herbst ihren Geburtstag feiern
will, nur dass es in Jordanien sein soll, ist sicher.
Aber wo? In der Wüste von Wadi Rum, wo man
ein paar Beduinenzelte im Mars-mäßig roten
Sand mieten und den Sonnenunter- und den
Sonnenaufgang genießen könnte? In einem Fe-
rienhaus nahe dem Toten Meer, im grünen Jor-
dantal zwischen Bananenplantagen und Mango-
bäumen? Ich habe noch eine weitere Idee:
Warum mietet sie nicht dieses herrlich herunter-
gekommene Café am Jordan-Ufer südlich von
Pella, das sich über drei Stockwerke an den Berg
schmiegt? YASSIN MUSHARBASH
40
Warum nach Schottland reisen oder nach Norwe-
gen oder irgendwohin, wenn es doch auch Helgo-
land gibt? Ein Gefühl von Nordatlantik auf we-
nigen Quadratkilometern Buntsandstein. Auf der
einzigen Hochsee-Insel Deutschlands gibt es über-
haupt alles: schroffe Klippen, tropisch grüne Wiesen
und Badestrände. Hatte mal einen üblen Ruf als
Butterfahrtziel und Schnapsinsel. Vergessen Sie alle
Klischees. Ein magisches Eiland. Am langweiligsten
darauf: die Robben. Wälzen sich und kugeln sich
nur. Am spannendsten: die Winde. Sie spielen jeden
Tag eine andere Symphonie. Eine Insel der Him-
melsmusik. Lauschen Sie ihr. WOLFGANG BAUER
41
Ich will in der Stille stehen, umgeben von weißer
Unendlichkeit und über mir der Himmel. Seit
Jahren träume ich davon. Ich war oft in Lateiname-
rika, aber nie habe ich es an den Ort geschafft, der
mich fasziniert, seit ich ihn zum ersten Mal auf
Bildern gesehen habe: die Salar de Uyuni, Boliviens
Salzwüste. Gegen all das Chaos, den Irrsinn der
vergangenen Monate. KARIN CEBALLOS BETANCUR
42
Durch Mitteleuropa fahren. Im Auto! Als wären
es die Achtzigerjahre! Mit den Kindern, immer
nur kurze Strecken, zwei Stunden oder so, ganz
langsam, Deutschland, Italien, Schweiz, Frank-
reich. Mir kommt das vor wie ein gewaltiges
Unternehmen, und wegen der allgemeinen Lage
auch wie ein ziemlicher Luxus. Aber auf dieses
gemeinsame Unterwegs-Sein als Modus – wie ich
es in meiner eigenen Kindheit kannte – freue ich
mich immens. ALARD VON KITTLITZ
43
Triest gehört zu den unterschätztesten Orten Eu-
ropas. Hier gibt es den besten Kaffee in einer Stadt
direkt am Meer. Der Prosecco stammt von hier,
vielleicht wird deshalb auf der Piazza Unità den
ganzen Tag Aperitif getrunken. Im Rücken schlum-
mert der Karst, er lässt sich mit einer Zahnradbahn
erobern. Sie verbindet auch die drei verschiedenen
Ebenen der Stadt. Und jede Etage kann mit min-
destens einem Schloss aufwarten. Das prächtigste
ruht unten, das strahlend weiße Castello Miramare,
mit den Fundamenten im Meer. MELANIE BÖGE
44
Ich möchte endlich wieder auf die Ostsee. Wo-
hin genau, das ist zweitrangig, weil tatsächlich
der Weg das Ziel ist, und der Weg ist eben die
See. Seit Jahren segeln wir zusammen, ein paar
Freunde, für eine Sommerwoche, in wechseln-
der Besetzung. Wir schaffen es nicht jedes Jahr
(Kinder, Familie, Jobs!). Aber jetzt wollen wir
wieder. Vielleicht ab Kiel, vielleicht ab Flens-
burg, Hauptsache, Ostsee. STEFAN SCHMITT
45
Namen wie aus Tausendundeiner Nacht: Tizi
n’Tichka, Aït Benhaddou, Ouarzazate. Ein schnee-
57
bedeckter Viertausender, der palmengesäumte
Oasen überragt. Wüste und Atlantik. Berberdörfer
und Karawanenstationen. Sogar zum »Tal des
Paradieses« führt die Rennradtour, die mir im Kopf
herumspukt, seit der Hamburger November los-
geekelt hat. In Marokko ist es im November
20 Grad warm, und die Straßen sind bis hinauf zu
den Pässen des Hohen Atlas bestens befahrbar.
Nichts wie hin, bevor ich für die Höhenmeter im
Paradies zu alt bin. CHRISTOF SIEMES
46
Der Winter in Nordamerika ist gewaltig. Die
neuesten Schneesturmbilder aus den Nachrichten
warnen uns ja, dass wir ihn fürchten sollen, nicht
ersehnen. Dennoch geht meine ganze Reisesehn-
sucht in das verschneite Dunton Hot Springs: eine
Handvoll Blockhütten inmitten der Gipfel von
Colorado. Einst ein Silberminendorf, dann ein
Geisterdorf, heute der schönste beheizbare Wald-
winkel der Rocky Mountains. 30 Grad unter null
fühlen sich hier gemütlich an. Und wenn der Sturm
sich legt, fährt man Schlittschuh auf der Wiese,
badet in einer heißen Quelle, isst ein Steak im
Saloon. Der Himmel ist dann eisblau und man
selber unsterblich. EVELYN FINGER
47
Ich arbeite zu viel, um noch Zeit für eine ernst-
hafte Reiseplanung zu haben, also kopiere ich ein-
fach die Urlaube meiner Freunde mit ähnlichem
Budget. Als Nächstes den einer Freundin auf der
kroatischen Insel Brač. Weiße Kiesstrände, 2700
jährliche Sonnenstunden. Und dieses traumhafte
Apartment, von dem meine Freundin Bilder ge-
postet hat: Naturstein-Minimalismus, bodentiefe
Fenster, Thonet-Stühle, beige und braun. Dazu ein
kleiner Pool, zwei Holzliegen, der Ausblick aufs
Meer. Sonst nichts. Es sieht nach Stille aus. Nach
Rotwein. Außerdem schrieb meine Freundin noch:
»The type of architecture I would fuck.« Wenn das
kein Qualitätsversprechen ist. LUISA THOMÉ
48
Ich will zurück nach Naxos, auf die Insel, auf
der ich jedes Jahr zur Ruhe kam – bis die Pande-
mie begann. Auf der Fähre süßen Frappé trinken
und nach Delfinen Ausschau halten, in den
Sonnenuntergang schauen, die Familie ganz fest
umarmen – und ihr das neueste Familienmit-
glied vorstellen, das dann vermutlich seinen
Namen schon selbst sagen kann. Denn dieses
Mal ist es keine Katze. ALICE BOTA
49
Feuerland. Was für ein Name. Ich sehe Bilder, auf
denen keine Menschen sind. Fjorde, Gletscher, ge-
waltige Natur. Ich sehe mich mit einem Schlauch-
boot über Eisschollen fahren. Neuerdings frage ich
mich vor einer Reise immer: Muss das jetzt sein,
oder pack ich das auch noch mit 60? Man muss ja
kluge Entscheidungen treffen. Bei Patagonien habe
ich sofort die Sorge, dass vieles nicht mehr so sein
wird, wie es auf den Bildern aussieht, wenn ich
einmal 60 bin. HANNAH KNUTH
50
Schottland ist das einzige Reiseziel, welches für
dieses Jahr infrage kommt. Aus einem sehr ein-
fachen Grund: Man kann nicht zwei Shutdown-
Jahre hindurch mehrere Staffeln von The Crown
gucken, ohne das Bedürfnis zu bekommen, nach
Aberdeenshire zu fahren, wo Balmoral, das Lieb-
lingsschloss der nun verstorbenen Königin, liegt.
Die Pandemie hat uns gezwungen, das Spazieren-
gehen lieben zu lernen. Warum also die neuen
Kompetenzen nicht dort einsetzen, wo es sich
lohnt. Nebenbei kann man auch endlich die ganzen
klassischen Outdoor-Klamotten, die man in Ham-
burg nur zur Distinktion trägt, endlich mal unter
Realbedingungen testen. Aber wo um Himmels
willen bekomme ich so schnell einen Land Rover
Defender her? FRANCESCO GIAMMARCO
51
Thomas Mann nannte sie eine der »unwahrschein-
lichsten Städte«, und wohin sonst sollte man reisen,
um diesen unwahrscheinlichen Zeiten, in denen
wir leben, zu entkommen? Man darf in Venedig
alles sein: traurig und trotzig, man darf sich
erleuchtet fühlen und verloren. Und dann abends
vor der Basilica San Marco mit ihren goldenen
Mosaiken stehen, die jedes Mal zu glühen anfan-
gen, sobald die Sonne ihr Abendlicht darauf wirft.
Ich kenne keinen Ort, an dem nicht alle Geschich-
ten schon erzählt worden wären. Hier klingen sie
immer wieder neu. PETER NEUMANN
52
Nach Jahren, in denen ich alle Nasa-, Esa- und
sonstigen Weltraum-Neuigkeiten weitgehend igno-
riert hatte, hat mich die Nachricht vom Start der
ersten bemannten Mondrakete seit den Apollo-
Missionen auf Anhieb fasziniert. Bisher ist es nur
ein Pilotprojekt ohne Pilotin. Aber es wird schon
eine bemannte Raumstation auf Mutter Mond
geplant. Natürlich qualifiziert mich nichts, bei
diesem Traumausflug dabei zu sein. Ebenso wenig
beherrsche ich eine der Wissenschaften, die man
dort oben sicher praktizieren soll. Mich lockt allein
das Urlaubspotenzial: Ich würde Tag und Nacht
von innen am Bullauge der Mondstation kleben,
hinausschauen in die Unendlichkeit und manch-
mal andächtig seufzen, wenn in der Ferne die Erde
zu erkennen ist. Der Mond ist einfach eines dieser
Reiseziele, deren Zauber man durch Aktivität nur
schmälern kann. PATRIK SCHWARZ
 ENTDECKEN 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2

Liebe Ella,
mein Problem ist, dass ich mich immer
in unpassende Männer verliebe. Es sind
ausschließlich Männer, die – auf irgend-
eine Weise – nicht frei sind. Entweder sie
sind verheiratet, oder sie haben eine enge
Beziehung zu ihrer Mutter, oder sie leben
für die Arbeit und sind somit auch »be-
setzt«. Oder aber es handelt sich um
Singles mit Bindungsängsten, die sich nur
etwas »Lockeres« vorstellen können.
Ich bin mittlerweile überzeugt, dass
ich auf ein inneres Muster reagiere: Im
Grunde gefallen mir Männer, die sich
nicht für mich interessieren. Womöglich
hat das auch mit meiner Kindheit zu tun.
Mein Vater war emotional abwesend, hat
sehr viel gearbeitet und auch viel von der
würde, hätten wir eine echte Chance, mit
dem Erlös den Welthunger zu besiegen.
Womit ich in keiner Weise Dein Problem
kleinreden will. Es ärgert mich nur maß-
los, dass mir dieses Muster schon so viele
Frauen und so gut wie keine Männer ge-
schildert haben. Ich selbst nehme mich
da gar nicht aus. Been there, done that, den
ganzen fiesen selbstverletzenden Rotz.
Der meist unbewusste Versuch,
schmerzhafte Beziehungsarrangements
im Laufe des Lebens zu reinszenieren, in
der stillen Hoffnung darauf, ihnen beim
erneuten Durchleben eine glücklichere
Wendung zu geben, ist so weit verbreitet,
dass es womöglich sogar einen psycho-
logischen Fachbegriff dafür gibt. Und
hätte ich mein Studium beendet, wäre er
Gefühl, dieser Schmerz ist Dir wenigstens
vertraut.
Ich bin sicher, dass Du tatsächlich
über all die Qualitäten verfügst, die Du
aufgezählt hast. Wahrscheinlich kannst
Du sogar noch mehr. Krass wütend sein
zum Beispiel. Auf Deine Eltern, wegen
all dem, was sie Dir vorenthalten haben –
selbst wenn es nicht aus böser Absicht
war, sondern sie bloß nicht anders konn-
ten. Schade für sie. Aber noch viel mehr
schade für Dich, weil Du es ausbaden
musstest, verdammt. Bis heute.
Das mit dem Wut-Nachholen ist
leichter, wenn man sich dafür Unter-
stützung sucht. Du brauchst einen Raum,
in dem Du all das, was Du nie empfinden
durftest, überhaupt erst einmal spüren

Illustration: Sergio Membrillas für DIE ZEIT

Arbeit erzählt. Ich war immer eher seine
Zuhörerin, als dass er sich für mich und
mein Leben interessiert hätte. Auch meine
Mutter war krankheitsbedingt nicht wirk-
lich emotional präsent.
Der Umstand, dass ich Single bin, ruft
in meinem Umfeld immer wieder Er-
staunen hervor: Ich sehe gut aus, bin
sportlich, ziemlich humorvoll, kulturell
interessiert; ich klammere auch nicht. Ich
kann gut alleine leben, aber ich würde mir
eine Partnerschaft sehr wünschen.
mir vielleicht auch geläufig. Egal. Dass
Dein Handeln etwas mit Deiner Kindheit
zu tun haben könnte, hast Du ja selbst
schon diagnostiziert.
Auffallend finde ich, dass Deine Mail
zwar kurz ist, Du es aber nicht versäumst,
darauf hinzuweisen, dass bei Dir eigent-
lich alles total super ist und Du auch allein
eins a klarkommst. Und wahrscheinlich
war das früher auch schon so: dass Deine
Eltern Dich zwar emotional wahlweise
vernachlässigt oder parentifiziert, Dich
kannst. Das wird wehtun. Vielleicht wirst
Du auch eine Weile Deine Eltern nicht
sehen wollen. Aber ich glaube, es wird Dir
auf lange Sicht dabei helfen, ein gesünde-
res Selbstwertgefühl zu entwickeln. Und
Typen, die sich nicht für Dich interessie-
ren, uninteressante Typen sein zu lassen.
Und mit dem Inhalt der Dose, in
die jede Frau einen Euro wirft, der je-
mals vorgeworfen wurde, zu sehr zu
klammern, chartern wir dann eine Ra-
kete und fliegen zusammen zum Mars.

Wie werde ich mein schmerzhaftes

Womöglich bemerke ich zu mir also offen gesagt brutal hängen gelassen Ahoi.
passende Männer ja gar nicht oder ver- haben und gleichzeitig von Dir verlangt Deine Ella
halte mich ihnen gegenüber abweisend? wurde, Dich darüber doch bitte nicht zu

Muster bei der Partnersuche los?

Es ist wie verhext. Wie kann es mir ge-
lingen, mein inneres Muster abzulegen
und jemanden zu finden, der sich wirk-
lich für mich interessiert?
Eine Geprägte
Sie haben ein Problem und würden gern darüber sprechen – aber es hat Liebe Geprägte,
mal wieder keiner Zeit? Dann fragen Sie ELLA! wenn jede Frau, die beinahe zwanghaft
Interesse an Männern hat, die sich nicht
für sie interessieren, einen Euro in eine
Wieder-in-jemanden-verknallt-der-sich-
nicht-für-mich-interessiert-Dose stecken
beschweren. Und den Schmerz, der da-
durch entstanden ist, hast Du dann gegen
Dich selbst gerichtet. Du hast gelernt, mit
einem Lächeln verweint durchs Bild zu
steppen.
Und jetzt wünschst Du Dir zwar einen
Partner, der für Dich da ist, der Dich sieht
und unterstützt, aber Du stellst die Wei-
chen immer wieder so, dass am Ende
dabei herauskommt, es nicht besser ver-
dient zu haben. Sisyphus in love. Und es
tut zwar immer wieder weh, aber dieses
Schreiben Sie uns!
Sie haben Mist gebaut? Sie wären gern
anders, aber wissen nicht, wie? Ella lässt
sich was für Sie einfallen. Ella ist eine
ZEIT-Redakteurin mit abgebrochenem
Psychologiestudium und vielen Stunden
Tresentherapie-Erfahrung.
Schreiben Sie ihr offen und angstfrei
unter einem Pseudonym Ihrer Wahl per
Mail an: fragmichmal@zeit.de
oder über Instagram unter @zeit_ella

ANZEIGE EIN SPEZIAL DES ZEITVERLAGS

URLAUB IN DEN BERGEN

Drei Zinnen in den
Dolomiten
Bizarre Berge und spektakuläre
Felsformationen - so präsen–
tieren sich die Dolomiten, ein
Gebirgszug in den südlichen
Kalkalpen, der vor mehr als
200 Millionen Jahren entstan-
den ist.
Nicht umsonst sind die Do-
lomiten, benannt nach dem
französischen Geologen Déo-
dat de Dolomieu, seit 2009
Teil des UNESCO-Welterbes.
Die einzigartige Flora und Fau-
SPASS BEIM ENTSPANNEN
IM FINNISCHEN WINTER
HIGHLIGHT
Wintertage im Ferienhaus in
Skaten im Schlossgarten Finnland tun nicht nur gut,
sie machen auch Spaß: Beim
Schlittschuh laufen oder E-Tret-
schlitten fahren auf der Kilo-
meter langen Eisbahn über
den Saimaa-See. Und danach
in die Sauna – wahlweise in
die eigene, in die urige Rauch- Feelgood Reisen GmbH
sauna oder in die Winter- Hauptstr. 86, 23879 Mölln
Tel. (04542) 82 95 10
Sauna aus Eisblöcken! feelgoodreisen.de/winterreisen
Sie anspruchsvolle Felstürme
erklimmen oder zu den histo- SYLT
rischen Kriegsstellungen der

SYLT
na trägt maßgeblich zur mo- Dolomitenfront aufsteigen.
numentalen Schönheit der Wer es lieber gemütlich an-
Berge bei. gehen lässt, genießt an idyll-
ZU JEDER JAHRESZEIT
Das Wahrzeichen der Dolo- schen Plätzen wie der Hoch-
miten und das Symbol für die ebene Plätzwiese den Anzeigen: lachschulz.de
Schönheit der einzigartigen beeindruckenden Blick auf die
Naturlandschaft der Dolomi- umliegende Bergwelt. Am
ten sind die Drei Zinnen im Fuße so mancher Bergforma-
Hochpustertal. Bergbegeister- tion schimmern herrliche Berg-
te, Skifahrer und Langläufer seen, wie der berühmte Pragser
finden hier ein wahres Paradies. Wildsee oder der malerische
Mit Kletterausrüstung können Toblacher See.
HOTEL ROTH am Strande
gegenüber Freizeitbad „Sylter Welle“ (*Eintritt inkl.) u. d. Syltness Center. Komfort-Zimmer
und App. zum gr. Teil mit Loggia u. Seeblick, großer Tagungsbereich, Hotelrestaurant,
umfangreiches Frühstücksbüffet, Bierstube, Bistro-Café, Tiefgarage, Sauna und Massagen.
FRANKREICH z. Zt. 7 Ü/F p. P. € 693,–* oder 7 Ü/HP p. P. € 798,–* (kein EZ-Zuschlag)
Nicht nur im Winter präsentiert sich die Zugspitz Region als vielseitiges Urlaubsziel 1 Zi. App. (1–2 P.) ab € 80,– / Tag, 2 Zi. App. (2–4 P.) ab € 147,– / Tag
Attraktive Neben- und Außersaisonpreise
Hotel Roth, Inh. Hayo Feikes, Strandstr. 31, 25980 Sylt / Westerland
Tel. 04651/92 30, Fax 50 95, info@hotel-roth.de, www.hotel-roth.de
Südwest-Frankreich/Dordogne Provence FH bei St. Rémy
www.landhaeuser-perigord.de www.provence-ferienhaus.fr An das Massiv des höchsten deutschen König Ludwig II. reichen vom Kloster
zentrale Lage, Tel. 02504/2367
Restauriertes Berges, der 2962 Meter hohen Zug- Ettal bis in den Schlossgarten von
Natursteinhaus,
18. Jh., frei stehend, spitze, grenzt eine der schönsten Alpen- Linderhof. Zu jeder Jahreszeit ist die 5
in ruhiger BAYERN landschaften. Zu jeder Jahreszeit Zugspitz Region auch ein Paradies für
traumhafter
wechselt sie ihre Farben, ohne an Fas- Wanderer mit oder ohne Schneeschuhe: ANGEBOTE.ZEIT.DE/
Hanglage.
Privater Pool. Urlaub an besonderen Orten zination zu verlieren: von felsgrau bis Knapp 400 Kilometer Winterwander- URLAUBSKOMPASS
www.URLAUBimDENKMAL.com saftig grün, über goldbraun bis schnee- wege führen vorbei an gefrorenen Moo-
Das etwas andere Urlaubsportal
Provence, Naturpark Ventoux
weiß. Mit 22 teils weltbekannten Orten ren, weißen Gipfeln und vereisten ENTDECKEN SIE
www.ucastan.de wie Oberammergau, Garmisch oder Wasserfällen. Spektakulär ist die Rodel-
Schönes 3*-Natur-
Oberallgäu
www.rebstock-allgaeu.de Mittenwald ist die Region nicht nur ein bahn am Hörnle mit ihren abenteuer- R E I S E - I N S P I R AT I O N E N
steinhaus, 2 Per-
sonen, ruhig, traum- Naturjuwel, sondern auch eine Kultur- lichen 4,5 Kilometern Rodelspaß unter
Haus Rebstock Zugticket mit Skipass
hafter Blick, Dorf Komfort-FeWos landschaft, die mit Kunst, Historie und Die Zugspitz Region ist ein schneebedeckten Bäumen und durch
fußläufig, deutsche
Gastgeber vor Ort.
bis 4 Personen, Brauchtum überrascht. Und eine Arena Zusammenschluss verschiedener verschneite Winterwiesen. Hütten und
Sonthofen-Altstädten, touristischer Ziele und eine der
Tel. 0033/490656194 Wintervergnügen. für Aktivurlauber: Ski- und Snowboard- beliebtesten ländlichen Urlaubs- Gasthöfe bieten den Aktivurlaubern
Tel. 08321/83788 fans finden hier das höchste Skigebiet landschaften in Bayern. Sie ist überall bayerische Spezialitäten und
gut erreichbar über das Auto-
und die längste Abfahrt Deutschlands, heißen Glühwein zum Aufwärmen. Wer
ITALIEN bahnnetz im Süden Bayerns, vom
das schönste Familienskigebiet am Münchener Hauptbahnhof gibt es es ruhiger liebt, lernt die Landschaft am
auch ein Ticket nach Garmisch
KURT TUCHOLSKY Kolbensattel und Skitourenmöglich- inklusive Tagesskipass. besten in einer Kutschenfahrt kennen.
Castellabate - Cilento Nationalpark
»Trudle durch die Welt. keiten aller Schwierigkeitsgrade. Wer Besonders romantisch ist es, unter wär-
Sie ist so schön; www.zugspitz-region.de
www.azzurro-reisen.de das Gleiten beim Langlauf liebt, hat menden Decken durch den knirschen-
Ausgesucht schöne gib dich ihr hin,
Ferienwohnungen, sie wird sich dir geben.« 650 Loipenkilometer zur Auswahl. den Schnee gefahren zu werden – wie
Häuser und Hotels Rund 50 Kilometer auf den Spuren von einst König Ludwig!
am Meer.
Individueller Service.
 ANZEIGE
SCENTORIE.
Duftkerze »TIME OUT«
100!% reines Rapswachs aus der EU |
Gefäßgröße 10,5!x!7,5!cm (H!x!B)
39,90!€* | Bestell-Nr. 41611

DIE ZEIT
ZEIT-Edition »Große Klassik, kinderleicht«
Die berühmtesten Werke zum Lesen und Hören
79,95 €* | Bestell-Nr. 43512

NEU

Louis Poulsen
Leuchte »Panthella MINI«
Designklassiker von Verner Panton |
Maße 25!x!33,5!x!25!cm (L!x!B!x!H)
420,00!€* | Bestell-Nr. 41140

Røros Tweed O My Bag Kähler

Lammwolldecke »KVAM« Ledertasche »Harvey« Vase »Omaggio«
Aus 100 % feiner Lammwolle | Aus nachhaltig gefertigtem Leder | mit Reißverschluss- Aus Keramik | in Handarbeit
Maße 135!x!200!cm (B!x!L) fach | Maße 40,5!x!8!x!29,5!cm (B!x!T!x!H) hergestellt | Ø 16!cm, Höhe 20!cm
219,00!€* | Bestell-Nr. 44179 349,00!€* | Bestell-Nr. 44219 54,95!€* | Bestell-Nr. 33640

Zeit für neue Ideen

Erlesene Produkte, exklusive Sondereditionen
und besondere Ideen für einen frischen Start ins neue Jahr!

Fritz Hansen Dr. Jaglas

ZEIT-Sonderedition »Kaiser Idell« »Herber Hibiskus«
Exklusiv in der Farbe Midnight Blue | Alkoholfreier Aperitif |
Höhe 42,5!cm, Ø 28,5!cm, im Geschenkkarton |
Breite Fuß 19,4!cm | 500 ml (51,90!€ / 1 l)
Gewicht 3,8 kg 25,95!€* | Bestell-Nr. 44451
697,00!€* | Bestell-Nr. 43560

EXKLUSIV
FÜR
DIE ZEIT

Martin Schwartz
Puzzle »Barcelona« NEU
1.000 Teile | inklusive Liste der Gebäude |
Maße 50!x!70!cm (B!x!H)
35,00!€* | Bestell-Nr. 43340

HOCK Design NEUE

Sitzball »VLUV« FARBE
Mit abnehmbarer Hülle und
praktischem Griff | griffiger Carl Hansen
DIE ZEIT Polyesterstoff | Ø 60–65!cm, Wishbone Chair »CH 24«
ZEIT-Edition »Wissenschafts-Thriller« belastbar bis 120 kg Designklassiker in neuer Farbe | Buche, Papiergarn |
7 packende Thriller aus der Welt der Wissenschaft 119,90!€* | Bestell-Nr. Maße 76!x!51!x!55!cm (H!x!T!x!L), Sitzhöhe 45!cm
89,95 €* | Bestell-Nr. 44355 Anthrazit: 32670 | Petrol: 32671 574,00!€* | Bestell-Nr. Farbe Slate: 44447

w w w. s h o p . z e i t .d e 0 4 0/3 2 "8 0 -1 01
*Zzgl. Versandkosten | Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg; Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser
60 ENTDECKEN 5. Januar 2023 DIE ZEIT N o 2

Was mein
Du siehst aus, Leben reicher
WIE ES WIRKLICH IST
wie ich mich fühle macht

Darcey ist erst eine Woche vor diesem Foto frisch ins Leben gestartet. Das Laufentenjunge lebt in Essex, isst sehr gerne Mehlwürmer und badet, solange es noch geht, im Waschbecken. Foto: Gerrard Gethings
... süchtig nach Ein Wagen der Berliner Stadtreinigung blockiert
die Straße. Es dauert, denn überall liegen ausge-
Nasenspray zu sein musterte Weihnachtsbäume und warten darauf,
der orangenen Baumfressmaschine ins Maul ge-
worfen zu werden. So fahre ich dem Wagen eine

W
ganze Weile hinterher, eingehüllt in eine Wolke
enn ich das Haus verlasse, habe ich intensiven Tannenduftes – und merke, dass selbst
immer welches dabei. Vergesse ich diese trockenen, dem Schredder überlassenen
es, suche ich eine Apotheke. Wenn es Baumleichen noch etwas vom Zauber der Weih-
geht, immer eine andere. Ich hätte nacht in sich tragen.
gern zweimal Nasenspray von AL für Erwachsene, Marc Kurepkat, Berlin
sage ich. Mehr als zwei Flaschen würde auffallen.
Der Apotheker dann: Denken Sie daran, nicht Wenn das Töchterchen nach überstandenem
länger als sieben Tage! Ich weiß, sage ich. Wenn er Tumor von der Ärztin nach ihren Hobbys gefragt
fragt, warum zwei Flaschen, sage ich: Die andere wird und Minuten später drei Erwachsene den
ist für meinen Partner; wir sind beide krank. Oder: Zumba-Tanz-Instruktionen der Sechsjährigen
Ich kaufe für eine alte Frau ein, die ihre Hausapo- folgen. Dank an das professionelle und liebevolle
theke auffüllt. Ich kaufe immer die gleiche Marke. Team der Uni-Klinik Dresden!
Deren Fläschchen kann man nämlich aufschrau- Elke Kasper, Bautzen
ben und so die letzten Tropfen zusammenkippen,
um nichts zu vergeuden. Bei einem Spaziergang im Park begegnet mir ein
Es hat vor vier Jahren angefangen. Ich hatte eine Herr mit einem Labrador an der Leine. Voller
Grippe und Keuchhusten, beides gleichzeitig, drei Bewunderung schaue ich auf den Hund und
Monate lang. Die ganze Zeit über habe ich Nasen- sage: »Bist du aber ein hübscher Kerl!« Antwort
spray genommen, es hat mir ja geholfen. Als es mir des Herrchens: »Danke, das hat mir schon lange
wieder besser ging und ich damit aufhören wollte, keiner mehr gesagt!«
konnte ich nicht. Ich bin zum Arzt gegangen des- Uschi Cordier, Ludwigshafen
halb, erst zu einem, dann zu einem anderen. Sie
haben mir beide ein Spray mit Kortison verschrie- Ich erzähle einer Verwandten von dieser Spalte in
ben, das nicht half. Dann operieren, hieß es. Meine der ZEIT und von einem Eintrag, der ihr, wie ich
Nasenscheidewand sei ein bisschen schief veranlagt, meine, auch gefallen hätte, worauf sie wortlos ins
vielleicht bekäme ich deshalb schlecht Luft. Aber Nachbarzimmer geht und mir beim Zurückkom-
ich hatte vor der schlimmen Grippe nie Probleme men einen »Was mein Leben reicher macht«-
gehabt. So einen Eingriff wollte ich nicht. Das legt Kalender in die Hand drückt. Wir haben wohl
sich von allein wieder, dachte ich. Hat es aber nicht. tatsächlich den gleichen Geschmack!
Das Fläschchen steht immer am selben Platz, Grit Knoth, Dresden
rechts auf meinem Nachttisch, damit ich weiß, wo
ich zugreifen muss, auch im Dunkeln. Nachts Im Pendlerzug, auf dem Weg nach Hause. Plötz-
werde ich meistens dreimal davon wach, dass ich lich an einem der Bahnhöfe unterwegs ein uner-
keine Luft bekomme. Oder weil ich träume, dass wartet langer Aufenthalt. Wie wir erfahren, steht
ich auf der Straße laufe und ersticke. Ich ringe nach auf der Strecke ein defekter ICE, keiner kommt
Luft und schaffe es nicht. In dem Moment, in dem daran vorbei, und niemand weiß, ob und wann
ich sterbe, werde ich wach. es weitergeht.
Ich sprühe bestimmt zehnmal pro Tag zwei Ein Blick auf mein Handy zeigt, dass es nur ein
Stöße in jedes Nasenloch. Einer hilft nicht mehr. paar Hundert Meter bis zum örtlichen Kino sind
Nach zehn Minuten geht die Nase wieder auf. und, dass dort bald ein Film beginnt, den ich
Herrlich! Inzwischen schließt sich meine Nase aber schon lange sehen will. Kurz entschlossen steige
immer schneller. Ich bin oft außer Atem, kann nicht ich aus.
mehr gut riechen. Irgendwann rächt sich der Kör- Folge 343 Nach dem Film (der sich wirklich als fantastisch
per, wenn man sich das Zeug ständig reinballert. entpuppt) kehre ich zum Bahnhof zurück. Die
Immer wieder sage ich mir: Nächste Woche Strecke ist noch immer gesperrt, doch nach zehn
probiere ich die Ein-Loch-Methode, ein Tipp aus Minuten sammelt uns ein Bus des Schienen-
einem Forum. Man besprüht nur ein Loch und ersatzverkehrs ein. Alles richtig gemacht!
entwöhnt so das andere. Aber die Angst zu ersticken ZEITSPRUNG WORTSCHATZ Florian Grobbel, Bamberg
ist bei mir zu groß.
Einmal war ich an der Ostsee, Tagesausflug, Als Studenten haben wir uns kennengelernt, im
hatte mein Fläschchen vergessen und fand keine
Apotheke. Das war die Hölle auf Erden. Ich konnte
Vogelbeeren Opticker ersten Semester. 60 Jahre ist das her. Und nun ist
mein Mann vor einiger Zeit gestorben. Ein Foto
nicht atmen, alles war trocken, mein Mund dann seines Grabsteins klebte ich in meinen Taschen-
auch, weil ich nur durch ihn atmen konnte. Als ich kürzlich Papier- und kalender. Aber dann fanden sich immer mehr
Manchmal wünschte ich, das Spray wäre verschrei- Verpackungsreste im Laub Fotos: übrig gebliebene, nicht ins Album einge-
bungspflichtig. Ich habe es total unterschätzt. liegen sah, schoss mir spontan klebte oder von teilnahmsvollen Freunden und
Verwandten geschickte. So habe ich nun einen
der Begriff Opticker durch Vorrat, der für viele Kalender reichen wird: Mein
den Kopf. Für Menschen aus Mann wird immer bei mir sein!
dem Süden Deutschlands Heide M. Bössler, Darmstadt
Illustration: Eva Revolver für DIE ZEIT; kl. Fotos: privat

muss man diesen Ausdruck

Chantal Völzke, 37, erklären: Ein Opticker ist
Machen Sie mit!
lebt in Berlin. Sie braucht etwa ein nicht etwa ein Augenfachmann,
Schreiben Sie uns, was Ihr Leben reicher macht,
Fläschchen Nasenspray pro Woche Nicht umsonst werden Ebereschen auch »Vogelbeeren« genannt: sondern einer, der die Aufgabe teilen Sie Ihre »Wortschätze« und »Zeitsprünge« mit uns.
Die Wacholderdrosseln, die aus dem Norden Europas zum Überwintern hat, solchen Unrat mithilfe Beiträge bitte an leser@zeit.de oder an
Aufgezeichnet von Stella Schalamon zu uns kommen, haben über Nacht alle Früchte abgeerntet. Alljährlich
eines langen, spitzen Stocks Redaktion DIE ZEIT, »Z-Leserseite«, 20079 Hamburg
rund um den Jahreswechsel beobachte ich dieses Schauspiel vor meinem
Fenster – und frage mich, wo die Vögel wohl Quartier nehmen, nachdem
aufzupicken, auf Plattdeutsch
Wenn Sie in unserer Rubrik »Wie es wirklich ist«
sie ihren Appetit gestillt haben ... opticken. Die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung und redaktionelle Bearbeitung
Ihrer Beiträge vor. Mit der Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
berichten möchten,
Ihren Beitrag in der ZEIT, in der ZEIT-App, in sozialen Netzwerken oder
melden Sie sich bei uns: wirklich@zeit.de Juliane Duvigneau, Gröbenzell, Bayern Annegret Benz, Hamburg in einem ZEIT-der-Leser-Sammelwerk zu veröffentlichen

ANZEIGE

Die schönsten
Kunstreisen 2023
Lassen Sie sich inspirieren vom neuen WELTKUNST-Spezial »Reisen zur Kunst«. Jetzt
Entdecken Sie außergewöhnliche Sehnsuchtsorte, spannende Reiseziele und die gratis
Kunsthighlights 2023. Lesen Sie 2 Ausgaben für nur 16,60 €, und Sie erhalten das
Spezial gratis dazu!
sichern!
www.zeit.de/wk-kunstreisen
+49-40/42 23 70 70
Bestell-Nr.: 2108786

112372_ANZ_371x132_X4_ONP26 1 02.01.23 17:07