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PREIS DEUTSCHLAND 6,20 €
DIE
WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R
Was die Zeit aus uns macht
Harald Martenstein, der bald siebzig wird, denkt an den Mut und den Hochmut seiner Jugend
zurück und fragt sich, welche Geschenke ihm das Leben wohl noch zugedacht hat ZEITMAGAZIN
Titelfoto [M]: Fred Morgan/NY Daily News Archive/Getty Images (New York, 30.12.1949)
JUGEND IN DEUTSCHLAND
Klein und allein
Deutschland missachtet das Wohl seiner Kinder. Das wird bald
bittere Konsequenzen haben. Für alle VON JOHANNA SCHOENER
K E
inder fallen in die Kategorie low
hanging fruits – mal im Business-
Sprech ausgedrückt. Tief hän-
gende Früchte, das sind Auf-
gaben, die mit überschaubarem
Aufwand große Erfolge verspre-
chen. Bezogen auf die Kinder wären das: Für-
sorge, Aufmerksamkeit und Sicherheit.
2022 gab es davon zu wenig in diesem rei-
chen Land. Darum endet das Jahr nun so: mit
Alarmrufen aus Kinderkliniken, Kitas und Schu-
len. Den Kindern fehlen Erwachsene, auf die sie
sich verlassen können. Viele kämpfen noch mit
den seelischen und schulischen Auswirkungen
der Pandemie, schon trifft der Fachkräftemangel
sie erneut besonders hart. Für ein Krankenhaus-
bett warten sie stundenlang auf dem Flur oder
legen Hunderte Kilometer zurück. In der Kita
empfängt sie nur mit Glück ein vertrauter Erzie-
her. In der Grundschule übernimmt Checker
Tobi vom Kinderfernsehen, weil keine Lehrerin
da ist. Hinter jeder Ecke ein kleiner Kollaps.
Das privat aufzufangen, muss man sich leis-
ten können. Die Realität sieht meist anders aus.
Viele Eltern sind gestresst, weil sie sich beruflich
aufreiben, die nächste Stromrechnung fürchten,
kaum Deutsch verstehen oder alleinerziehend
sind. Und die Großeltern wohnen weit weg.
Sorgearbeit heißt in diesen Tagen: Die Sorgen
arbeiten immer mit.
Angeschlagene Jugendliche sollen der
Altenrepublik Zuversicht einhauchen
Dieser Staat hat ein gestörtes Verhältnis zu sei-
nen Kindern. Gleich mehrmals wurde er zuletzt
deswegen abgewatscht. Die Menschenrechts-
kommissarin des Europarates rügte Deutschland
für seinen strikten Corona-Kurs gegenüber den
Kindern. Das Bundesverfassungsgericht betonte
ihr Recht auf schulische Bildung. Und der
Ethikrat verlangte, Kinder in gesellschaftlichen
Krisen besser zu schützen. Selbst als die Welt
noch in Ordnung zu sein schien, war schon jedes
fünfte Kind arm oder armutsgefährdet. Jedes
zehnte erkrankte psychisch. 100.000 Jugend-
liche im Jahr schafften nach der Schule nicht den
Schritt in eine Ausbildung. Wo sind da Fürsorge,
Aufmerksamkeit, Sicherheit? Warum wird nicht
investiert, obwohl es dringend nötig wäre?
These eins: Es fehlt an Interesse. Mit Bil-
dungs- und Familienpolitik macht man keine
Karriere. Wenn ein LNG-Terminal eröffnet
wird, stehen Bundeskanzler, Wirtschaftsminis-
ter, Finanzminister und Ministerpräsident ent-
schlossen im Nordseewind und landen neon-
bejackt in allen News. Dieselbe Konstellation,
abgelichtet in einem überlasteten Kindergar-
ten? Unvorstellbar.
These zwei: Die systematische Vernachlässi-
gung der Jüngeren wird als solche nicht erkannt.
Nahezu alle Einrichtungen für Kinder und
Jugendliche sind unterfinanziert. Wo es um ihre
Gesundheit, Ausbildung und ihr soziales Leben
geht, ist die Not besonders groß. Bildungs- und
Versorgungslücken hängen zusammen.
Es gibt viel zu tun, und dabei noch mehr zu
gewinnen – für alle. Die geburtenstarken Jahr-
gänge gehen nach und nach in Rente. Die Viert-
klässler, die in der Schule nicht mehr richtig
rechnen und nur stockend lesen lernen, sollen in
zehn Jahren den Babyboomern einen schönen
Lebensabend bereiten. Die psychisch angeschla-
genen Jugendlichen von heute sollen dann einer
Altenrepublik Zuversicht einhauchen. Erstaun-
lich eigentlich, dass sich nicht längst Erwachsene
aufgrund ihrer düsteren Zukunftsaussichten
irgendwo festkleben – am besten an Ministerien,
Grundschulen und Jugendämtern.
Im Moment verordnet der Bund schulische
Aufholprogramme, die Länder operieren an ihren
Kinderkliniken herum, und die Kommunen
wursteln sich bei den Kitas durch. Was fehlt, ist
eine gemeinsame Strategie, die endlich auf Prä-
vention setzt. Auf Fachleute hören, bevor es um
Leben und Tod geht. Lieber heute die frühkindli-
che Bildung verbessern als morgen Jugendliche
im Jobcenter betreuen. Jene fördern, die wir
andernfalls verlieren, anstatt allen Geld zu schen-
ken. Notdürftige Reparaturen und Symbolpolitik
helfen nicht weiter. Es braucht jetzt Antworten
auf eine der wichtigsten innenpolitischen Fragen:
Wie ermöglicht man allen Kindern ein gutes Auf-
wachsen – trotz Dauerkrise?
Übrigens: Ab Januar bekommen Eltern 31
Euro mehr Kindergeld im Monat. Das reicht
für einen Babysitter, wenn die Kita mal wieder
früher schließt. Für einen Fiebersaft auf dem
Schwarzmarkt. Oder für zwei Flaschen guten
Wein, um sich die desolate Gesamtsituation
schönzutrinken.
Beide Leitartikel finden Sie zum Hören
unter www.zeit.de/vorgelesen
ZEIT
AFGHANISTAN
Hinein, nicht hinaus
Die Taliban fürchten nicht die Isolation, sondern die Einmischung.
Wer den Frauen helfen will, muss ins Land VON WOLFGANG BAUER
s ist fast unerträglich geworden,
sich mit Afghanistan zu befassen.
Immer radikaler brechen dort die
Taliban mit den fundamentalsten
Werten. Was also jetzt tun? Am
liebsten möchte man: wegschauen.
Die Taliban ignorieren alle Absprachen, die sie
bei den Verhandlungen mit den kriegsmüden
Amerikanern gegeben haben. Sie hätten sich ver-
ändert, beteuerten damals auch deutsche Diplo-
maten. Ihre Führer hätten verstanden, dass sie ihr
Regime nicht erneut in internationale Isolation
manövrieren dürften. Sie hätten begriffen, dass
auch Frauen eine gute Ausbildung bekommen
müssten, um Afghanistan voranzubringen.
Tatsächlich begannen die Taliban verhältnis-
mäßig konziliant, als sie im August 2021 in Kabul
die Macht übernahmen. Sie duldeten in vielen
Provinzen den Schulunterricht für Mädchen. Sie
gründeten zwar ein Sittenministerium, das die
Scharia-Kleiderordnung für beide Geschlechter
überwachen sollte, tatsächlich aber griffen die
Sittenwächter kaum in den Alltag ein. Noch vor
wenigen Wochen, als ich zum letzten Mal im Land
war, sah man in den Innenstädten Kabuls und
Herats nicht wenige Frauen, die allein, von Män-
nern unbegleitet, unterwegs waren – und damit
selbstbewusst die Regeln der Taliban ignorierten.
Es gibt, so schmerzhaft es ist, vorläufig
keine Alternative zu den Taliban
Von dieser Konzilianz, wenn es denn je eine
war, ist nach den jüngsten Erlassen der Tali-
ban-Führung nicht mehr viel geblieben. Die
meisten Mädchenschulen sind mittlerweile
geschlossen. Lehrerinnen, die heimlich unter-
richten, werden von Staats wegen zu Verbre-
cherinnen. Dennoch versuchen viele, die
Taliban-Bürokratie auszutricksen, sie riskieren
ihr Leben – alles für dieses eine Ziel: Mädchen
die Welt des Wissens zu öffnen.
Vor Kurzem setzten die Taliban einen neuen
Bildungsminister ein, der noch radikaler ist als
sein Vorgänger. Schon länger war Frauen das
Studium der meisten Fächer untersagt. Nun
haben ihnen die Taliban den Universitätsbesuch
an sich verboten. Sie dürfen auch nicht länger als
Angestellte von internationalen und nationalen
Hilfsorganisationen arbeiten. Die Begründung
ist stets: Die Geschlechtertrennung, von der
Scharia gefordert, sei nicht gewährleistet.
29. DEZEMBER 2022 N o 1
Was wir feiern
werden
Ausblick auf die
wichtigsten und
schönsten Jubiläen aus
der Kultur 2023 S. 45
Ich kann
nicht mehr!
Warum Erschöpfung
ein sehr modernes
Gefühl ist
Wissen, S. 37
Wie fängt man
das Glück?
Unsere Autorin
arbeitete im Casino –
wo alle auf den ganz
großen Moment hoffen
Entdecken, S. 55
PROMINENT IGNORIERT
Was also jetzt tun? Die deutsche Außenminis-
terin Annalena Baerbock forderte eine »deutliche
Reaktion der internationalen Gemeinschaft«,
Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze die
Aussetzung der deutschen Afghanistan-Hilfen.
Aber was heißt das? Diese Hilfen sind überwie-
gend Hilfen, die Afghanen und Afghaninnen vor
Hunger und Krankheit schützen sollen. Will die
Bundesregierung die Taliban für die Entrechtung
der Frauen bestrafen, indem sie Frauen verhun-
gern lässt?
Noch immer, anderthalb Jahre nach der Macht-
Stammgast
übernahme der Taliban, fehlt der Bundesregierung Wenn der Bär Juan Carrito das
jegliches Konzept für Afghanistan. Es wird mit den Dreisternelokal Casadonna Reale
Taliban gesprochen, aber nur über den Umweg über in den Abruzzen betritt, ist das kein
die UN. Immer noch setzt die Regierung vor allem Zufall. Die Vogue lobte das Haus,
auf Isolation, was Handel und Wirtschaft vollends auch Juan ist jedes Mal zufrieden.
ruiniert, zu noch größerer Armut im Land führt Man fängt ihn, bringt ihn weg,
und zu einer weiteren Radikalisierung der Taliban. doch Juan kehrt alsbald zurück, der
Nach über einem Jahr an der Macht müssen stolze Koch hat Videos gemacht.
sie ihren Anhängern eine Leistungsbilanz bieten. »Er fürchtet die Menschen nicht,
Besonders die jungen Kämpfer beginnen zu fra- deshalb ist er gefährlich«, sagt der
gen: Wofür haben wir gekämpft, wofür wurde Bürgermeister. Aber – auf einen
gestorben? Mit der Entrechtung der Frau versu- Stammgast schießen? HBK
chen ihnen ihre Führer eine Antwort zu geben,
auch weil andere Antworten fehlen. Kleine Bilder (v. o.): Charlotte Walest/Trunk
Archive; Getty Images; YouTube/Abruzzolive
Es gibt, so schmerzhaft es ist, vorläufig keine
Alternative zu den Taliban. Niemand wünscht
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
diesem Land, seinen Männern und Frauen, 20079 Hamburg
einen neuen Krieg. Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
Was also tun? Das Land isolieren, mehr Sank- DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
tionen? Die Taliban würden sich in der Isolation ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
einrichten, so wie das Regime in Nordkorea. ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
Nein, es wäre dringend an der Zeit, unsere Ent-
wicklungshilfe umzustrukturieren. Damit wir ABONNENTENSERVICE:
wieder lernen zu helfen. Wir brauchen Akade- Tel. 040 / 42 23 70 70,
Fax 040 / 42 23 70 90,
mien, auf denen die Landessprachen unterrichtet E-Mail: abo@zeit.de
werden, auf denen Entwicklungshelfer ausgebil-
det werden, die sich auf Jahre für dieses Land ver- PREISE IM AUSLAND:
pflichten, nicht bloß auf Monate. Wir brauchen DK 69,00/FIN 9,10/E 7,80/
CAN 7,90/F 7,80/NL 7,20/
wieder deutsche Diplomaten vor Ort, so wie das A 6,50/CH 8.50/I 7,80/GR 7,80/
der ehemalige deutsche Botschafter gefordert hat. B 7,20/P 7,80/L 7,20/H 3690,00
Es wäre ein Fehler, wenn sich die Hilfsorgani-
o
N1
sationen zurückziehen würden. Es gibt viele
Möglichkeiten, diesem Land wirtschaftlich zu
helfen, ohne die Taliban direkt zu unterstützen.
Die Taliban fürchten nicht die Isolation. Sie
77. J A H RG A N G C 7451 C
fürchten die Einmischung.
01
Lesen Sie auch im ZEITmagazin die Geschichte
eines afghanischen Teppichs, gewebt von zwei
Mädchen, die nicht mehr zur Schule gehen dürfen 4 190745 106207
Die besten Vorsätze
fahren elektrisch.
Der Audi grandsphere concept*.
Future is an attitude

Mehr auf audi.de/zukunft

*Bei dem gezeigten Fahrzeug handelt es sich um ein Konzeptfahrzeug,

das nicht als Serienmodell verfügbar ist.
a
4 POLITIK
Nach dem plötzlichen Ende der Null-Covid-Politik schafft das chinesische Regime nun auch die Quarantänepflicht für Einreisende ab.
Öffnet sich
China jetzt?
Es sieht ganz danach aus. Als die Regie-
rung an diesem Montag das Ende der
Quarantänepflicht ankündigte, begann
ein Ansturm auf die Buchungsportale
für Auslandsflüge. Schließlich konnten
die Menschen das Land lange kaum ver-
lassen, auch wegen der Regeln nach der
Rückkehr: In den vergangenen Jahren
mussten sich Einreisende in Quarantäne
begeben, zeitweise für drei Wochen, zu-
letzt noch für fünf Tage. Zum 8. Januar
läuft die Maßnahme aus. Es reicht dann,
einen negativen Test vorzulegen.
Dabei rauscht das Coronavirus ge-
rade durch China. Aus deutschen Be-
trieben ist zu hören, dass bis zur Hälfte
der Belegschaft erkrankt sein soll. Und
doch scheint bei den Unternehmen vor-
sichtiger Optimismus aufzuflammen. Xi
Jinping hat dem Land seit Beginn der
Pandemie eine rücksichtslose Zero-
Covid-Ideologie aufgezwungen, doch
nun kämpft sein Propagandaapparat
darum, den plötzlichen Kurswechsel hin
zur Durchseuchung glaubhaft zu er-
klären. De facto ist »Zero Covid« seit
Anfang Dezember Vergangenheit. »Diese
rasche Kehrtwende hat uns auch über-
rascht«, heißt es aus deutschen Regie-
rungskreisen. Aber mit Einschätzungen
dazu, was diese Kehrtwende politisch
bedeuten und wie weit die Öffnung des
Landes gehen könnte, hält man sich
zurück: zu unsicher die Szenarios, zu
ungewiss, welche Folgen das Virus in
China haben wird.
Am Mittwoch vor Weihnachten
landete in Peking eine Maschine der
Lufthansa, beladen mit BioNTech-
Impfstoffen, die nun in Ultra-Tiefkühl-
geräten in der deutschen Botschaft
zwischengelagert werden. Seit Pande-
miebeginn hatten die Chinesen keinen
ausländischen mRNA-Impfstoff bei sich
zugelassen, die Mehrheit der rund
20.000 Deutschen in China dürfte
keinen Zugang zu europäischen Impf-
stoffen gehabt haben, weil Ein- und Aus-
reisen sehr schwierig waren. Bis jetzt. In
einem »Landsleutebrief« wurden die
Deutschen informiert, dass schon dieser
Tage mit den Impfungen in Peking be-
gonnen werden kann, danach in den
unterschiedlichen deutschen General-
konsulaten in China. Das Angebot gilt
bislang nur für Deutsche, nicht für
Staatsbürger anderer EU-Staaten oder
Chinesen. Im Gegenzug dürfen Chi-
nesen in Deutschland mit dem hier
nicht allgemein zugelassenen Impfstoff
CoronaVac der Firma Sinovac immuni-
siert werden. ALICE BOTA
Was über die Lage im Land bekannt ist – und was das für den Rest der Welt bedeutet
Auf dünnem Eis
Gibt es verlässliche Daten
zum Infektionsgeschehen?
Leider kaum. Ulf Dittmer, Leiter der
Virologie am Uni-Klinikum Essen, ar-
beitete bis 2020 noch gemeinsam mit
chinesischen Kollegen an Forschungs-
projekten zu HIV und Hepatitis und
bekam bis 2021 manchmal noch auf
inoffiziellen Wegen mit, wie die Corona-
Lage sich dort entwickelte. Doch seitdem
ist es schwierig. Denn die chinesischen
Virologen, vermutet Dittmer, seien an-
gehalten, die von der Regierung heraus-
gegebenen Zahlen zu verkünden. Und es
könne sein, dass ihre Videokonferenzen
überwacht werden. Laut offiziellen Zah-
len gibt es nur ein paar Tausend Infek-
tionen und Todeszahlen im einstelligen
Bereich. Aber Dittmer und andere Viro-
logen sind sich einig, dass die Realität
ganz anders aussieht. Informationen von
Bloomberg zufolge schätzt die Nationa-
le Gesundheitskommission in Peking,
dass sich täglich bis zu 37 Millionen
Menschen im Land infizieren.
China stehe epidemiologisch vor zwei
Problemen, sagt Dittmer: »Wenn eine
Omikron-Welle durch die Bevölkerung
läuft und das Gesundheitssystem über-
fordert ist, müsste es eigentlich wieder
einen Lockdown geben. Denn was will
man machen, wenn die Toten in den
Krankenhäusern auf den Gängen lie-
gen?« Die zweite Problematik sei die
geringe Impfquote bei Älteren in Kom-
bination mit der Omikron-Variante:
»Wer nicht geimpft ist und Omikron
bekommt, bildet danach wenig Immu-
nität aus. Man kann sich daher zweimal
oder mehrmals hintereinander infizie-
ren.« Nur der hybride Immunschutz aus
Impfung und Infektion sorge wirklich
für eine breite Immunität.
Allerdings lässt sich nicht sagen, wie
viel Prozent der chinesischen Bevölke-
rung an dem Virus schwer erkranken
werden. Denn die Daten, die es über
Omikron-Wellen aus den USA oder
Europa gibt, beziehen sich auf andere
Bevölkerungen: weniger Raucher als in
China, dafür mehr Übergewichtige –
und eben viele geimpfte alte Menschen.
Wäre es also besser gewesen, die har-
ten Freiheitseinschränkungen noch
länger aufrechtzuerhalten? Die Virologen
sind sich da ziemlich einig: Nein. Der
britische Wissenschaftler Paul Hunter
schrieb in einer Pressemitteilung, China
habe seiner Meinung nach die Lock-
down-Politik zu lange nach der Impf-
kampagne aufrechterhalten, sodass der
schützende Effekt der Impfungen, den
es gab, inzwischen ebenfalls verloren sei.
Dittmer sagt: »Meine chinesischen Kol-
legen haben der Regierung sicher lange
schon dazu geraten, die Restriktionen
aufzuheben. Aber es ist nicht so leicht,
Autokraten zu beraten.« ANNA MAYR
Kinder in Peking, fotografiert am 27. Dezember
Kann eine gefährliche
Mutation entstehen?
Eigentlich nahmen die meisten Virolo-
gen zu Beginn der Corona-Pandemie an,
dass das Sars-CoV-2-Virus stabiler ist als
etwa das Aids-Virus oder der Grippe-
Erreger. Es hat nämlich einen eingebau-
ten Reparaturmechanismus: Gibt es bei
der Vermehrung des Virus einen Kopier-
fehler im Erbgut, so wird dieser in vie-
len Fällen korrigiert. Diese Erfindung
der Biologie reduziert die Mutations-
geschwindigkeit von Erregern. Über-
wältigt wird dieser Mechanismus jedoch,
wenn das Virus viele Menschen gleich-
zeitig infizieren kann – wie gegenwärtig
in China. Dann beginnt eine Art Wett-
lauf der vorhandenen Virusvarianten,
mit der Folge, dass die ansteckendste
sich durchsetzt. Auch in China sind
daher gegenwärtig Omikron-Varianten
vorherrschend.
Diese Tendenz der Corona-Evolution
zu infektiöseren, aber weniger krank
machenden Varianten beobachten die
Experten seit einigen Monaten. Die
Evolution des Virus scheint in eine Art
Sackgasse geraten zu sein. »Das Virus
kann an vielen Stellen in seiner Evolution
nicht mehr ohne Weiteres zurück. Es ist
ein wenig festgefahren und optimiert
gegenwärtig nur nach«, sagte Christian
Drosten Ende November der ZEIT –
und bestätigt seine Einschätzung jetzt
noch einmal. Der Blick auf China mache
ihm dennoch Sorgen. Bei vielen Infek-
tionen in einer Bevölkerung, der mangels
vorangegangener Infektionen und wegen
des schlechten Impfschutzes gerade bei
den Älteren die Immunität fehle, sei ein
evolutionärer Sprung nicht auszuschlie-
ßen. Den, sagte Drosten, erwarte er aber
nicht in nächster Zeit.
Tatsächlich könnten die vielen
Infektionen in kurzer Zeit vor allem
die weitere Selektion auf möglichst
ansteckende, aber mildere Varianten
herbeiführen. Dann wäre die akute
Welle in China zwar die entsetzliche
Folge einer kurzsichtigen Pandemie-
Politik, aber womöglich auch der
letzte Schritt in eine endemische
Normalität. ANDREAS SENTKER
Wie schlimm wird es
für unsere Wirtschaft?
Chinesische Unternehmen sind für die
deutsche Wirtschaft ein wichtiger Liefe-
rant von Rohstoffen und Vorprodukten.
Im Jahr 2021 stammten rund zwölf
Prozent aller Importe in die Bundesrepu-
blik aus China. Nach einer Umfrage des
Münchner Ifo-Instituts sind etwa 46
Prozent aller Industrieunternehmen auf
Vorleistungen aus China angewiesen. Die
Abhängigkeit ist vor allem in der che-
misch-pharmazeutischen Industrie und
im Energiesektor hoch. Etwa 54 Prozent
aller für den Bau von Windturbinen be-
nötigten Rohstoffe werden aus China
importiert. Käme es in der chinesischen
Wirtschaft wegen zunehmender Krank-
meldungen zu weitreichenden und
dauerhaften Produktionsausfällen, würde
das also auch die deutsche Wirtschaft
hart treffen.
Im Moment wird mit diesem Szena-
rio aber nicht gerechnet. Die Weltbank
geht in einer in der vergangenen Woche
veröffentlichten Studie davon aus, dass
die Folgen der Infektionswelle in den
ersten drei Monaten des neuen Jahres zu
spüren sein werden. Dann müsse auch
mit Werksschließungen und Abferti-
gungsproblemen in den Häfen gerechnet
werden. China würde aber wie andere
Länder »mit dem Virus leben«, sodass
Einschränkungen der Produktion nicht
von Dauer wären. Die Weltbank erwar-
tet, dass die chinesische Wirtschaft im
weiteren Jahresverlauf an Fahrt gewinnt,
wenn die Welle abflaut. Auch das zeige
die Erfahrung in anderen Ländern.
In der Ampelkoalition stellt man sich
auf Lieferprobleme im Januar oder Fe-
bruar ein, die aber nicht von Dauer sein
werden. »Allzu schlimm dürfte es für die
deutsche Wirtschaft nicht kommen«, sagt
auch Jürgen Matthes, China-Experte
beim arbeitgebernahen Institut der deut-
schen Wirtschaft in Köln. Die chinesische
Regierung wolle einen erneuten konjunk-
turellen Einbruch unbedingt vermei-
den – auch wenn deshalb Menschen
krank werden oder sogar sterben. So
können (und sollen) Infizierte in zahl-
reichen Städten an ihrem Arbeitsplatz
erscheinen, wenn sie nur milde oder keine
Symptome haben. In der Millionenme-
tropole Guiyang wurden nach Berichten
der parteinahen Zeitung Global Times
Beschäftigte von Supermärkten, Liefer-
diensten, Behörden oder medizinischen
Einrichtungen angewiesen, mit angemes-
senem Schutz arbeiten zu gehen. Mit der
Regelung solle eine »bessere Balance
zwischen epidemischer Vorbeugung und
sozialer und wirtschaftlicher Entwick-
lung« hergestellt werden. MARK SCHIERITZ
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
Foto: Wang Xin/VCG/Getty Images
Kann BioNTech
China retten?
Die Antwort ist leider genauso hypo-
thetisch wie die Frage. Denn der BioN-
Tech-Impfstoff Comirnaty ist in China,
jedenfalls für Einheimische, nicht zuge-
lassen. Zunächst müsste China seine Ver-
zögerungsstrategie bei der Zulassung
ausländischer Impfstoffe vollkommen
umkehren. Auch dann wäre die Vakzine
trotz vorhandener Bestände vermutlich
nicht sofort in ausreichenden Mengen
verfügbar. Die Produktion lässt sich bei
mRNA-Impfstoffen zwar verhältnis-
mäßig schnell hochfahren, aber gegen die
akute Welle, deren erster Höhepunkt im
Januar erwartet wird, käme sie vermut-
lich zu spät. Die ersten beiden Dosen von
BioNTechs Comirnaty werden im Ab-
stand von mindestens drei, maximal
sechs Wochen verabreicht. Nach der
ersten Dosis dauert es zwölf Tage, bis ein
beginnender Immunschutz nachweisbar
ist. Als nachhaltig gilt der Infektions-
schutz, der nach zwei Impfungen leider
ziemlich rasch wieder nachlässt, erst nach
einer dritten Dosis, für die die Ständige
Impfkommission in Deutschland einen
Abstand von sechs Monaten empfiehlt.
Immerhin: Viele jüngere Menschen
in China sind geimpft. Und auch der
chinesische Sinovac-Impfstoff schützt
nach drei Dosen recht zuverlässig vor
schweren Krankheitsverläufen. Aller-
dings wurde er, anders als das BioNTech-
Präparat, nicht an die neuen Omikron-
Varianten angepasst, und gerade den
besonders gefährdeten Alten fehlt oft ein
vierter Booster.
Eine große Herausforderung be-
steht nun darin, die Akzeptanz für die
Impfungen bei den Älteren zu stei-
gern. Sie waren lange irritiert, weil
China mit Sinovac zunächst vor allem
jüngere Menschen impfte. Diese Kam-
pagne war ganz im Sinn der chinesi-
schen Industrie, die um ihre Arbeits-
kräfte fürchtete, schürte aber zugleich
das Gerücht, Sinovac sei für ältere
Menschen medizinisch ungeeignet.
Zudem werden die Alten in China
traditionell so respektvoll behandelt,
dass man ihre Entscheidung gegen
eine Impfung nur selten hinterfragt.
Die dramatischen Zahlen könnten
nun allerdings viele dazu bringen, ihre
Entscheidung gegen die Impfung zu
revidieren. ANDREAS SENTKER
Könnte Xi Jinping den Tod von
Millionen politisch überstehen?
Bedenkt man, welche Schlachten Chinas
Kommunisten bereits geschlagen haben,
aus welchen selbst verschuldeten Kata-
strophen sie am Ende siegreich hervor-
gegangen sind, kann die Antwort nur
lauten: Ja, natürlich wird Xi Jinping diese
Krise überstehen. Alles, wirklich alles
ordnet die chinesische KP ihrem
Machterhalt unter. Nur so ist zu erklä-
ren, dass sie den »Großen Sprung nach
vorn« (1958–1961) mit bis zu 45 Millio-
nen Hungertoten, die Kulturrevolution
(1966–1976) mit geschätzt 1,6 Millionen
Opfern und das Massaker am Platz des
Himmlischen Friedens 1989 mit wohl
mehr als tausend Toten überlebt hat.
Nichts hat die Entschlossenheit der
Partei, ihre Macht um jeden Preis zu
verteidigen, so gefestigt wie der Nie-
dergang der KPdSU und die Implosion
der Sowjetunion. Niemand sei damals
»Manns genug« gewesen, Michail Gor-
batschow in den Arm zu fallen, zürnte
Xi Jinping 2013 in einer Rede vor
Parteikadern. Unter Xi ist China nach
der von Deng Xiaoping eingeleiteten
Ära von Reform und Öffnung wieder
ein totalitäres Regime geworden. Alle
Macht in Staat und Partei ist auf ihn
ausgerichtet. Der Kongress der KP hat
ihn erst vor ein paar Wochen für eine
dritte Amtszeit als Generalsekretär be-
stätigt. Anders als seine Vorgänger hat
Xi keinen Nachfolger aufgebaut. Im
Führungszirkel der Partei ist er nur
noch von engen Gefolgsleuten um-
geben. Schon vor Jahren avancierte Xi
Jinping zum »Kern« der Kommunisti-
schen Partei, er wurde damit dem
Staatsgründer Mao Zedong gleichge-
stellt. Die »Xi-Jinping-Ideen zum So-
zialismus chinesischer Prägung für eine
neue Ära« fanden Aufnahme in die
Parteisatzung und in die Verfassung
der Volksrepublik.
Eine organisierte Opposition zur
Herrschaft Xis und der Partei existiert
nicht in Ansätzen. Wie auch? Das Re-
gime hat die Überwachung der Bevölke-
rung perfektioniert. Natürlich wissen
viele Chinesen, dass die Regierung lügt,
wenn sie von den Erfolgen im Kampf
gegen das Coronavirus und der Ȇber-
legenheit« der eigenen Politik spricht.
Nur wird jeder Widerspruch im Netz
von der Zensur gleich gelöscht. Eine
kritische Debatte kann so nicht entste-
hen, das System kann sich nicht fortent-
wickeln durch friedlichen politischen
Streit und den Einspruch der Bürger.
Eine falsche Politik kann nicht abgewählt
werden. Sollte sich dennoch offener
Protest regen, wird die Partei ihn nieder-
schlagen. Dafür ist der Staat gerüstet, der
noch lange auf das Kommando Xi
Jinpings hören wird. MAT THIAS NAS S
 DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022
Die Öffentlichkeit streitet über Gerechtigkeit in
einer Intensität, wie sie es lange nicht getan hat,
Bürgergeld, Gaspreis, Übergewinnsteuer. Aber
die Partei der Gerechtigkeit liegt am Boden, seit
Jahren ist sie wie gefangen in den immer gleichen
inneren Auseinandersetzungen. »Alle haben allen
alles gesagt«, so beschreibt ein Linker das Gefühl
der Vergeblichkeit, das in der Partei herrscht.
Vielen Linken-Politikern setzt das körperlich zu.
Sie haben zugenommen oder abgenommen, sie
sprechen offen darüber, wie diese Partei an ihnen
zehrt, die viele als ihr Lebenswerk betrachten.
Dies ist der Rückblick auf ein weiteres verlorenes
Jahr. Manches von dem, was hier geschildert
wird, wurde öffentlich geäußert, anderes stammt
aus persönlichen Gesprächen. Alle Schilderungen
aus internen Sitzungen basieren auf der überein-
stimmenden Darstellung mehrerer Quellen.
9. Januar: Das Jahr beginnt hoffnungsvoll. Der Sozial-
mediziner Gerhard Trabert kandidiert für die Linke
als Bundespräsident. Seine Kandidatur, obwohl aus-
sichtslos, erhält große Aufmerksamkeit. Eine Abge-
ordnete sagt: »Das war so ein Gefühl wie früher.«
28. Januar: Im aktuellen Politbarometer verbessert
sich die Linke. Sie liegt nun wieder bei 7 Prozent.
18. Februar: Auf einer Veranstaltung wirft die Bun-
destagsabgeordnete Sevim Dağdelen der Nato und
den USA »Kriegstreiberei und Kriegshetze« gegen
Russland vor. Die Warnungen vor einem An-
griff Russlands auf die Ukraine nennt sie »Lü-
genmärchen des US-Geheimdienstes«.
27. Februar: Olaf Scholz hält seine Zeiten-
wende-Rede. Sahra Wagenknecht, Sevim
Dağdelen und fünf weitere Abgeordnete
veröffentlichen eine persönliche Er-
klärung, in der sie nahelegen, dass die
Politik des Westens und der USA
maßgeblich mitverantwortlich für
den russischen Angriff auf die
Ukraine sei.
28. Februar: Gregor Gysi wirft
Wagenknecht »Emotionslosig-
keit« vor. Wagenknecht wirft
Gysi »Rufmord« vor.
11. März: Die Parteichefin
Janine Wissler und der
Fraktionsvorsitzende Dietmar
Bartsch reisen zum Wahl-
kampf ins Saarland. Als sie
eintreffen, erklärt der Frakti-
onsgeschäftsführer seinen Aus-
tritt aus der Linken. »Dieser
Haufen« habe es nicht verdient,
in den Landtag zu kommen.
17. März: Kurz vor der Wahl
im Saarland tritt Parteimitbe-
gründer Oskar Lafontaine aus
der Linken aus. Vorausgegangen
war ein Streit mit seinem ehema-
ligen Wahlkreismitarbeiter, dem er
vorwarf, interne Wahlen manipu-
liert zu haben.
24. März: Der Vorsitzende des Ältes-
tenrats der Linken, der 94-jährige Hans
Modrow, spricht von einem »Bürger-
krieg« und »faschistischen Elementen« in
der Ukraine. Es folgt ein Aufstand im Äl-
testenrat. Modrow muss zurücktreten.
27. März: Bei der Landtagswahl im Saarland
fällt die Linke von 12,9 auf 2,6 Prozent. Lafon-
taines ehemaliger Büroleiter, bei der Landtagswahl
Spitzenkandidat, macht dafür das »Komplott einer
Clique, die zum Teil hoch bezahlt wird«, verantwort-
lich. Er meint Lafontaine und dessen Verbündete.
28. März: Dietmar Bartsch appelliert an die Ge-
schlossenheit der Partei. Er sagt: »Wir haben eine
ganze Menge an politischen Angeboten.«
28. März: Bei einer Pressekonferenz mit ihrer Co-
Chefin Janine Wissler sagt die Parteivorsitzende
Susanne Hennig-Wellsow: »Der Grad von ›Schnauze
voll‹ ist bei uns beiden relativ hoch.«
Einige Abgeordnete der Linken berichten,
Sitzungswochen im Bundestag würden sie nur
noch mithilfe von Psychopharmaka überstehen.
Zu heftig seien die gegenseitigen Angriffe.
12. April: Auf Initiative der Linken beschließt die rot-
rote Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern,
dass ab dem Sommer der Ferienhort für Kinder kosten-
los sein wird.
15. April: Der Spiegel veröffentlicht einen Text über
MeToo-Fälle in der Linkspartei. Im Zentrum steht
Janine Wissler. Nachdem ihr damaliger Freund sie mit
einer seinerzeit 17-Jährigen betrogen hatte, soll sie
nichts unternommen haben, um der Frau zu helfen.
Manche in der Partei nennen Wissler »Täterschützerin«.
20. April: Wisslers Co-Chefin Susanne Hennig-Well-
sow tritt zurück. Als Grund nennt sie »eklatante Defi-
zite« im Umgang mit den MeToo-Vorwürfen. Mehrere
führende Linke unterzeichnen einen offenen Brief, in
dem sie den Rücktritt »aller beteiligten Personen, die
selbst Täter sind oder die von den Taten wussten und
diese gedeckt haben«, fordern.
Wenn man sich mit Wissler heute unterhält, dauert
Illustration: Anthony Gerace für DIE ZEIT
es nicht lange, bis sie auf das Thema zu sprechen
kommt. Man merkt, wie tief die Verletzung sitzt.
Über Jahre hat sie ihr Privatleben abgeschottet.
Nun waren die intimsten Details ihrer Ex-
Beziehung für jeden nachzulesen.
29. April: Sevim Dağdelen nennt die Ampel in
einem Gastbeitrag eine »Kriegskoalition«, Ziel sei
es, Russland zu einem »Siegfrieden« zu zwingen.
BELLA CIAO!
3. Mai: Ein Treffen mit Dietmar Bartsch in Prenz-
lauer Berg. »Zu glauben, dass eine Spaltung hilft, ist
irre! Die Linke darf sich nicht spalten lassen«, ruft er
durch das Café.
12. Mai: Die Vorsitzenden der vier regierungsbetei-
ligten Landesverbände veröffentlichen ein Posi-
tionspapier. Sie fordern, dass die Linke den selbst-
zerstörerischen Streit beende. Der Titel des Papiers:
»Lasst uns einfach gute Politik machen«.
20. Mai: Der ehemalige Bundestagsabgeordnete
und Wagenknecht-Vertraute Diether Dehm nennt
die Gegner von Sahra Wagenknecht »coronakon-
forme Kremlhasser«.
18. Juni: In einem Interview mit der Jungen Welt
sagt Sahra Wagenknecht: »Das Ende der Partei steht
im Raum.«
24./25. Juni: Parteitag der Linken in
Erfurt. Janine Wissler wird als
Vorsitzende bestätigt, Mar-
tin Schirdewan wird
neu gewählt.
Schirdewan
spricht
danach
von
einem
Signal des
Aufbruchs. Sahra
Wagenknecht ist
nicht in der Halle.
26. Juni: In einem Interview
mit der Deutschen Presse-Agentur
kommentiert Sahra Wagenknecht den Partei-
tag: »Never change a losing team.«
Wie Linken-Politiker und -Mitarbeiter im Ge-
spräch ihre eigene Partei beschreiben:
»Ein Schwarzes Loch, das dich immer weiter
reinsaugt«
»Ein Drama in tausend Akten«
»Eine permanente kollektive Selbstsabotage«
»Ein Verein von Masochisten«
»Die Linke ist ein dickes Kind, das dauernd über
seine eigenen Beine stolpert«
1. August: Die rheinland-pfälzische Landesvorsitzende
erklärt ihren Austritt aus der Linken. Ein Kreisvorsit-
zender hatte Fotos von ihr als »Wichsvorlage« bezeich-
net. Dieser wiederum wirft der Ex-Landeschefin vor,
mehrere Genossen »Arschloch« genannt zu haben.
Auch der Landesschatzmeister tritt zurück. In einer
Mail schreibt er: »Die Linke hat fertig! Hier weiter Zeit
zu verschwenden, macht keinen Sinn.«
21. August: Während in Berlin über die Gasumlage
diskutiert wird, legt die Bremer Linksfraktion einen
Entwurf für einen landesweiten Gaspreisdeckel vor.
Einige Monate später wird die Bundesregierung einen
ähnlichen Preisdeckel beschließen.
29. August: Die Linke trommelt zum »heißen Herbst«.
Gemeinsam mit Gewerkschaften und NGOs will sie
gegen die in ihren Augen unausgewogene Entlastungs-
politik der Bundesregierung protestieren. Kreisver-
bände werden mobilisiert, Demonstrationen ange-
meldet. »Plötzlich war da das Gefühl: Wir leben noch«,
sagt ein Bundestagsabgeordneter heute.
POLITIK
Bevor wir untergehen,
werden wir verrückt.
Ein Jahr mit
der Linkspartei in
51 Episoden
VON ROBERT PAUSCH
Ein Verein von Masochisten,
so nennt ein Linken-Politiker
seine Partei. Hier zu sehen
(von oben im Uhrzeigersinn):
Sahra Wagenknecht, Bodo
Ramelow, Hans Modrow,
Gregor Gysi, Oskar
Lafontaine, Katja Kipping,
Dietmar Bartsch. In der
Mitte: S. Hennig-Wellsow
und Janine Wissler
Hören Sie den Podcast
Am Ende der Woche sprechen wir über
Politik – was sie antreibt, was sie anrichtet,
was sie erreichen kann. Eine Stunde,
ein Gast, ein Thema. Und ein Geräusch.
Jeden Freitag in »Das Politikteil«.
Jetzt anhören unter
www.zeit.de/das-politikteil
2. September: Die Linke trifft sich zur Fraktions-
klausur in Potsdam. Anschließend ist von einem Auf-
bruchssignal die Rede, die Stimmung sei sehr gut
gewesen. Sahra Wagenknecht ist nicht anwesend.
8. September: Sahra Wagenknecht redet im Bundestag.
Sie spricht davon, dass die Regierung einen »beispiel-
losen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Ener-
gielieferanten vom Zaun« gebrochen habe. In Teilen der
Bundestagsfraktion herrscht Fassungslosigkeit.
10. September: Nach der Wirtschaftskrieg-Rede
sammeln drei Landtagsabgeordnete Unterschriften für
eine Petition, die den Ausschluss von Wagenknecht
aus der Linken-Bundestagsfraktion fordert.
10. September: Auf dem Parteitag der Hamburger
Linken kandidiert das Mitglied Bijan Tavassoli als
Landessprecher. Tavassoli lässt mitteilen, dass er
sich als Frau definiere und deshalb auf
dem weiblichen Listenplatz kan-
didiere. Wegen einer Coro-
na-Erkrankung könne
er nicht im Saal
sein. Ein ver-
mummter
Mann
verliest
Tavassolis
Bewerbungs-
rede. Darin belei-
digt er zahlreiche Par-
teimitglieder und lobt zu-
dem die Schönheit aller Frauen.
Als der Vermummte auf Ermahnungen
der Sitzungsleitung nicht reagiert, wird er ge-
waltsam vom Rednerpult entfernt.
14. September: Der ehemalige Bundestagsabgeordnete
Fabio De Masi erklärt seinen Austritt aus der Linken.
In der vergangenen Legislaturperiode zählte er zu den
maßgeblichen Aufklärern im Wirecard-Untersuchungs-
ausschuss. Nun sagt er: »Ich habe versucht, meinen
Beitrag zu leisten, aber ich bin damit gescheitert!«
14. September: In einem Interview mit der Deutschen
Presse-Agentur verteidigt Wagenknecht ihre Äußerun-
gen. Sie erklärt, dass sie auf ihre Rede viele positive
Reaktionen erhalten habe.
20. September, nachmittags: Im Reichstag trifft sich
die Linksfraktion zur Krisensitzung. Sahra Wagen-
knecht ist per Video zugeschaltet – aus der Maske des
Fernsehstudios von Markus Lanz.
20. September, abends: Dietmar Bartsch verkündet
einen Kompromiss. Die Linksfraktion beschließt, dass
Abgeordnete bei Reden die Linie der Fraktion ver-
treten müssen. Er warnt vor einer Spaltung der Partei.
20. September, abends: Bei Markus Lanz verteidigt
Wagenknecht ihre Äußerungen. Sie erklärt, dass sie
auf ihre Rede viele positive Reaktionen erhalten habe.
24. September: In einem Interview mit der Berliner
Zeitung verteidigt Wagenknecht ihre Äußerungen. Sie
erklärt, dass sie auf ihre Rede viele positive Reaktionen
erhalten habe.
24. September: In einem Interview mit dem Focus
verteidigt Wagenknecht ihre Äußerungen. Sie erklärt,
dass sie auf ihre Rede viele positive Reaktionen er-
halten habe.
28. September: Die linke Bremer Gesundheitssena-
torin eröffnet das erste städtische Hebammenzentrum,
5
im Problembezirk Osterholz. Zuvor wurden hier nicht
einmal die Hälfte aller Frauen und Neugeborenen von
einer Hebamme versorgt.
September: Sahra Wagenknecht hat jetzt einen Tik-
Tok-Account.
Spricht man mit Politikern von SPD und Grünen
über die Lage der Linken, hört man keine Häme,
sondern Bedauern. Es sei nicht gut, wenn es keine
linke Opposition mehr gebe, sagen selbst hochrangige
Regierungspolitiker. Schon die Ankündigung des
»heißen Herbsts« habe etwa die Verhandlungen
zum dritten Entlastungspaket spürbar beschleunigt.
6. Oktober: Die Bild meldet: 30 Prozent der Deut-
schen könnten sich vorstellen, eine »Wagenknecht-
Partei« zu wählen.
13. Oktober: Die Pressestelle der Linken teilt mit, dass
die Partei derzeit eine beispiellose Austrittswelle erlebe.
18. Oktober: Der Abgeordnete Ralph Lenkert will als
energiepolitischer Sprecher zurücktreten. Es gibt
Gerüchte, dass Wagenknecht seinen Posten über-
nehmen wolle. Auch Wagenknechts Gegner, der Ex-
Parteichef Bernd Riexinger, will für den Posten kan-
didieren. Schließlich findet Dietmar Bartsch einen
Kompromiss: Lenkert macht weiter.
20. Oktober: Bei Bild-TV sagt Sahra Wagenknecht, sie
wünsche sich, dass in Deutschland eine Partei entsteht,
die die Politik der Regierung verändern kann. Bloß:
»Es ist halt nicht so einfach, eine Partei zu gründen.«
21. Oktober: Sahra Wagenknecht nennt die
Grünen die »gefährlichste Partei, die wir ak-
tuell im Bundestag haben«. Die linke Bun-
destagsabgeordnete Kathrin Vogler nennt
Sahra Wagenknecht daraufhin »die fauls-
te Abgeordnete«.
31. Oktober: Die Bundesratspräsident-
schaft von Bodo Ramelow endet. Ein
Jahr lang war der linke Ministerprä-
sident Thüringens der vierthöchste
Mann im Staat.
November: Auf YouTube und
Facebook hat Wagenknechts
Wirtschaftskrieg-Rede mehr
Klicks, als die Linke bei der
Bundestagswahl Wähler hatte.
11. November: Bijan Tavassoli,
der Mann, der Landessprecherin
werden wollte, und Diether
Dehm haben ein Lied produ-
ziert. Der Titel: Ich bin jetzt eine
Frau, juhu (und kein transphober
Winnetou). Es sei, erläutert
Dehm, als Satire auf die Gender-
Ideologie zu verstehen.
28. November: Ein Chatproto-
koll der Hamburger Linken-Spit-
ze gelangt an die Öffentlichkeit.
Es geht darin um die Frage, wie
man mit Tavassoli umgehen solle.
Der Pressesprecher der Linksfraktion
schreibt: »Beton-Fuß und zu den
Landungsbrücken?« Dahinter setzt er
einen Smiley.
1. Dezember: In Berlin tritt ein neues
Gesetz in Kraft. Öffentliche Aufträge sollen
in Zukunft nur noch an Unternehmen ver-
geben werden, die ihre Angestellten nach Tarif
bezahlen. Die Linke hatte lange dafür gekämpft.
Bis Dezember stellen die Abgeordneten der
Linksfraktion 501 Kleine Anfragen an die Bundes-
regierung. Die Unionsfraktion, die fünfmal so
groß ist, kommt auf 270. Die Öffentlichkeit er-
fuhr aus den Anfragen der Linken in diesem Jahr
unter anderem, dass nach Angaben der Bundes-
regierung jeder fünfte Deutsche im Niedriglohn-
sektor arbeitet; dass die Zahl der Sozialwohnungen
abnimmt, obwohl die Bundesregierung das Gegen-
teil versprochen hat; dass die Bundeswehr im ver-
gangenen Jahr 75 Soldaten wegen rechtsextremer
Bestrebungen aus dem Dienst entfernte. In der
Linksfraktion sitzen Abgeordnete, deren Expertise
in anderen Fraktionen bewundert wird. Man ver-
gisst nur manchmal, dass es sie gibt.
2. Dezember: »Solidarisch aus der Krise« lautet der
Titel einer Veranstaltung der Hamburger Linksfraktion
mit Janine Wissler. Nach der Diskussion muss die
Parteichefin durch die Hintertür flüchten. Vor dem
Haupteingang wartet Bijan Tavassoli.
4. Dezember: Die Abgeordnete Żaklin Nastić postet
auf Instagram ein Foto aus dem Fitnessstudio. Darauf
trägt sie ein T-Shirt mit dem Konterfei von Sahra
Wagenknecht. #teamsahra schreibt sie dazu.
4. Dezember: Der stellvertretende Parteivorsitzende
Lorenz Gösta-Beutin nennt Sahra Wagenknecht »Lady
Voldemort«.
Die Linksfraktion im Bundestag besteht aus 39
Abgeordneten. In der Partei gab es bislang folgende
Flügel: die antikapitalistische Linke, die
sozialistische Linke, die emanzipatorische Linke,
die Bewegungslinke, die reformorientierte Linke.
In diesem Jahr haben sich drei neue Formationen
gegründet: die populäre Linke, die solidarische
Linke und die progressive Linke.
10. Dezember: Die Linken-Spitzen aus Bund und Län-
dern treffen sich in Leipzig zum Krisentreffen. Der Co-
Vorsitzende Martin Schirdewan spricht anschließend
von einem »deutlichen Signal der Geschlossenheit«.
Sahra Wagenknecht ist bei dem Treffen nicht dabei.
13. Dezember: Der stern meldet: 19 Prozent der Deut-
schen könnten sich vorstellen, eine »Wagenknecht-
Partei« zu wählen.
6 POLITIK
W
as das Besondere an Ingo
Gerhartz ist? Bevor der
junge Mann in Flecktarn
antwortet, wendet er sich
ab von dem Stehtisch
mit den Glühweingläsern
und den Christstollen-
scheiben und schaut hinüber zu dem Glatzkopf im
olivgrünen Piloten-Overall. Gerhartz steht zwei,
drei Meter entfernt und unterhält sich angeregt mit
anderen Flecktarn-Menschen. Die Uniform, die
ihn als Deutschlands ranghöchsten Luftwaffen-
Soldaten ausweist, hat der kahlköpfige Overall-
Träger gar nicht erst eingepackt zu seiner Dienst-
reise, die ihn in die Slowakei und nach Estland
führt. Zu förmlich für seinen vorweihnachtlichen
Truppenbesuch, zu aufgebrezelt für einen abend-
lichen Treff in einem Hotel in der Innenstadt von
Tallinn, bei dem er mit Soldatinnen und Soldaten
vom Taktischen Luftwaffengeschwader 71 ins Ge-
spräch kommen will. Mit den rund 140 Männern
und Frauen, die über die Feiertage nicht einfach
nach Hause fliegen können, die ihren Dienst an
der Ostflanke der Nato auch an Weihnachten leis-
ten müssen. »Wenn man sich mit ihm unterhält«,
sagt der Soldat, als er sich wieder zurückgedreht
hat, »gibt er einem das Gefühl, dass er mit dem
gleichen Wasser kocht wie man selbst. Aber man
merkt dann schnell: Sein Wasser ist ein bisschen
heißer als deins.«
Als nahbar und unprätentiös beschreiben Sol-
daten den Inspekteur der Luftwaffe, so sein offi-
zieller Titel, als einen Chef, der in ständigem
Kontakt mit der Truppe stehe und der bei der
Wahl seiner Gesprächspartner nie zuerst auf die
Schulterklappen mit den Rangabzeichen schaue.
Eine Stehtisch-Kameradin fügt noch hinzu, was
man oft hört auf dieser Reise: »Dass er selbst noch
Eurofighter fliegt, ist natürlich extrem cool.«
Gerhartz, der coole Mann im Flieger-Outfit, ist
der einzige Luftwaffenchef der 30 Nato-Staaten, der
sich noch selbst in einen Kampfjet setzt, 150.000 PS,
Spitzengeschwindigkeiten von knapp 2500 km/h.
Und da er auch im fortgeschrittenen Kampf-
pilotenalter von 57 Jahren nicht davon lassen
möchte, stellt sich zwangsläufig die Frage, ob Ger-
hartz früher vielleicht ein bisschen zu oft Top Gun
gesehen hat. Tatsächlich kennt Gerhartz einige
Kameraden, die über Top Gun zur Luftwaffe ge-
kommen sind, was wohl daran liegt, dass in dem
Blockbuster von 1986 der beste Pilot am Ende die
schönste Frau bekommt. Gerhartz selbst erinnert
mit seiner markanten Glatze und seinem leicht
spöttischen Lächeln jedoch eher an Bruce Willis
als an das Top Gun-Milchgesicht von Tom Cruise.
Auch war es bei Gerhartz nicht die heldenhafte
Fliegerei am Hollywood-Himmel, die ihn im
Cockpit eines Eurofighters landen ließ, sondern
seine Jugend in der rheinland-pfälzischen Provinz.
Bei der Luftwaffe mag vieles besser
geworden sein, aber gut ist längst nicht alles
Gerhartz wuchs in Büchel auf, jenem Ort, an dem
die letzten US-Atomwaffen auf deutschem Boden
lagern. Am Fliegerhorst Büchel sind bis heute auch
jene Tornados stationiert, die die Bomben im Ernst-
fall an ihr Ziel bringen sollen. Die Tornados hatten
es dem jungen Ingo angetan – eine hübsche Ironie,
dass nun der erwachsene Ingo die in die Jahre gekom-
menen deutschen Mehrzweckflieger durch die hyper-
modernen, in den USA gekauften F-35-Tarnkappen-
jets ersetzen soll. Es ist bloß eine von zahlreichen
Aufgaben, die die Zeitenwende Gerhartz abverlangt.
Überraschend daran ist, dass es keine echte Über-
raschung mehr wäre, wenn er sie löst.
An dieser Stelle muss man eine kleine Lesewar-
nung aussprechen. Wer sich schon auf den nächs-
ten Bericht von der Katastrophenfront Bundes-
wehr gefreut hat, auf Flugzeuge, die nicht fliegen,
auf brandneues Gerät, das – wie zuletzt die 18
Schützenpanzer vom Typ Puma – beim ersten Ein-
satz komplett ausfällt, auf eine desillusionierte
Truppe ohne warme Unterhosen, angeführt von
einer unterambitionierten Ministerin in Stöckel-
schuhen, wird enttäuscht werden. Das Beispiel
Gerhartz zeigt: geht doch!
Als der ausgebildete Strahlflugzeugführer 2018
an die Spitze der Flieger und Luftverteidiger berufen
wurde, waren nicht einmal 30 Prozent der Euro-
fighter einsatzbereit, beim Truppentransporter
A400M sah es noch übler aus, es fehlten Ersatzteile,
Inspektionen dauerten doppelt so lange wie geplant,
Jetpiloten kündigten in Gruppen, die Stimmung war
so mies wie die Presselage. Von einem »Tiefpunkt der
Luftwaffe« sprach Gerhartz selbst. Heute könnten
zwischen 75 bis 80 Prozent der Eurofighter, der er-
wünschte Zielwert, jederzeit abheben, die Inspektio-
nen dauern so lange wie vorgesehen, die Ersatzteile
sind da, die Kündigungswellen längst gebrochen.
Hinter den Kulissen stellte Gerhartz zudem die Wei-
chen für eine rasche Modernisierung der Luftwaffe:
Die Entscheidung etwa, die dringend gebrauchten
neuen Kampfjets und schweren Transporthubschrau-
ber in den USA zu kaufen, anstatt sie in Europa erst
entwickeln zu lassen, geht auch auf sein Drängen
zurück.
Bei der Luftwaffe mag zwar vieles besser geworden
sein, aber richtig gut ist noch längst nicht alles. Das
gilt vor allem für die Luftverteidigung, wie der Besuch
im slowakischen Sliač zeigt. Rund 250 Soldaten der
Flugabwehrraketengruppe 21 (FlaRak 21) sind ak-
tuell in hier im Herzen der Slowakei stationiert. Sie
sind Teil einer multinationalen Großoperation, mit
der die Nato auf den Einmarsch russischer Truppen
in die Ukraine reagiert und ihre Präsenz in Osteuro-
pa massiv erhöht hat. Der Auftrag der Deutschen in
Sliač ist die Luftverteidigung, zwei Staffeln des hoch-
modernen Flugabwehrsystems Patriot stehen hierfür
zur Verfügung, beide Kampfeinheiten werden von
Frauen geführt.
Eigentlich hätten die Soldatinnen und Soldaten
Mitte Dezember von Angehörigen der FlaRak 24
abgelöst werden sollen – doch die müssen nun von
Ingo Gerhartz, 57, fliegt noch immer selbst den Kampfjet Eurofighter
Ist das
Bruce Willis?
Nein, der Mann heißt Ingo Gerhartz und ist Inspekteur der deutschen Luftwaffe.
In der Politik ist er bestens vernetzt VON PETER DAUSEND
Januar an in Polen einen wichtigen Knotenpunkt,
über den die Ukraine mit Hilfsmitteln und Waffen
beliefert wird, vor Luftangriffen schützen. Den Frust
über die unfreiwillige Einsatzverlängerung über
Weihnachten hinweg greift Gerhartz bei seiner Be-
grüßungsansprache im Gemeinschaftszelt auf. Er
selbst sei lange Zeit in Afghanistan gewesen, erzählt
er. »Hätte man mir kurz vor der geplanten Abreise
gesagt, ich müsse länger bleiben, hätte mich das kom-
plett aus der Kurve geworfen.« Umso mehr beein-
drucke ihn die Professionalität, mit der »ihr hier in
Sliač« diese Entscheidung hingenommen habt. Ne-
ben seinem Dank hat Gerhartz aber noch eine Bitte
mitgebracht. Die Soldatinnen und Soldaten sollten
»offen, klar und ohne Scheu« benennen, was ihnen
nicht passt, wenn Besuch aus Deutschland kommt
und mit ihnen sprechen möchte. Es sei wichtig, dass
die Politik »von euch vor Ort erfährt, wo das Problem
liegt«. Für den Abend hat sich die Verteidigungs-
ministerin angekündigt.
Das Problem liegt in dem, was Soldaten
»Durchhaltefähigkeit« nennen. Unter den Spar-
maßnahmen seit dem Ende des Kalten Krieges hat
kaum ein anderer militärischer Bereich so sehr ge-
litten wie die Luftverteidigung. Von den einst 36
Patriot-Systemen sind noch zwölf übrig, von den
19.000 FlaRak-Posten gerade mal 2400. Trotzdem
flüstert manch ziviler Berater der Ministerin nun
ein, die Truppe könne beide Einsätze, in der Slo-
wakei und in Polen, dauerhaft leisten. Bei der
Foto (Ausschnitt): Monika Skolimowska/dpa
Luftwaffe sieht man das anders, die Belastung
durch die beiden Einsätze sei einfach zu groß.
Als Christine Lambrecht am Abend im Betreu-
ungszelt von Sliač erscheint, lässt die Entourage der
Ministerin den einzigen anwesenden Journalisten
– den Autor dieser Zeilen – erst mal hinauswerfen.
Geht doch! Sie wolle vertraulich mit den Soldaten sprechen.
Als sie gegangen ist, darf man wieder ins Zelt und
kann sich ungestört umhören, was die Ministerin
Fortschritte bei
der Einsatzbereitschaft denn so gesagt hat. In der Slowakei soll, wie vor-
der Eurofighter gesehen, Ende 2023 Schluss sein, in Polen bereits
in einem halben Jahr, also Mitte 2023. In der Luft-
waffe geht man davon aus, dass die Polen auf eine
Verlängerung drängen werden. Und dann wird
sich zeigen, was die Zusage der Ministerin, die
Doppelbelastung für die Soldaten auf maximal
sechs Monate zu begrenzen, wert ist.
2018 Hört man sich um im Ministerium, in der
Truppe, unter den Verteidigungsexperten des
<30 % Bundestages, wie Gerhartz die Luftwaffenwende
hinbekommen hat, so erfährt man Folgendes:
Gerhartz hat vom ersten Tag seiner Amtszeit an
2022 die Rüstungsindustrie mit Appellen ans Ehrgefühl,
>75 % hartnäckigen Forderungen und der banalen Er-
kenntnis konfrontiert, dass sie ihre Produkte kaum
an ausländische Armeen verkaufen könne, wenn
diese in der einheimischen nicht problemlos funk-
tionierten. Und das hat er so lange durchgehalten,
bis er vertragliche Nachbesserungen erreichte. Ihm
war es auch stets egal, dass der Inspekteur der Luft-
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
waffe – wie die Kollegen der anderen Teilstreit-
kräfte – seit 2012 nicht mehr für Rüstungsfragen
zuständig ist, sondern statt seiner ein beamteter
Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Ger-
hartz kommt mit dem aktuellen, Benedikt Zim-
mer, bestens zurecht, stimmt sich mit ihm ab und
steht in permanentem Austausch mit jenen Be-
amten im Beschaffungsamt der Bundeswehr, die
für Ausrüstung und Technik der Luftwaffe verant-
wortlich sind. Das verkürzte die Dienstwege in
dem berüchtigten Bürokratiemonster mit Sitz in
Koblenz – und es beschleunigte die Verfahren.
Für die aktuellen Großprojekte plant Gerhartz,
jeweils einen zuständigen Oberst aus der starren
Bundeswehr-Hierarchie auszulösen, der sich um
nichts anderes kümmert als um Fortschritte bei der
Beschaffung des Kampfjets F-35 oder des Transport-
hubschraubers CH-47F. Von Nachrichten über fi-
nanzielle Risiken beim F-35 lässt sich Gerhartz
ebenso wenig beeindrucken wie von der Meldung,
die Schweiz zahle deutlich weniger pro Kampfjet als
die Deutschen. Anders als in früheren Fällen, so heißt
es in der Luftwaffe, habe man dieses Mal nicht nur
das Gerät eingekauft, sondern auch Ersatzteile, die
Wartung und einen Simulator gleich mit. Der Clou
aber sei, dass der Hersteller Lockheed Martin eine
Einsatzfähigkeit von 75 Prozent vertraglich zuge-
sichert habe. Schafft er das nicht, wird es teuer – nicht
wie in früheren Fällen für die Bundeswehr, sondern
für den Hersteller selbst.
»Kein anderer Soldat versteht das Spiel
der Politik so gut wie Gerhartz«
Die meisten, mit denen man darüber spricht, dass
die Luftwaffe nach zehn Monaten Zeitenwende
besser dasteht als das Heer, die Marine oder die
Cyberabwehr, sehen den Hauptgrund jedoch an
anderer Stelle: Gerhartz ist bestens vernetzt im
politischen Berlin. Zwei Jahre lang, 2014 und 2015,
war er stellvertretender Pressesprecher der damali-
gen Ministerin Ursula von der Leyen, danach lei-
tete er, ebenfalls zwei Jahre lang, das Büro des Ge-
neralinspekteurs der Bundeswehr. In dieser Zeit
knüpfte er politische Kontakte, die er seitdem im-
mer weiter intensivierte. Mitglieder im Verteidi-
gungsausschuss, die wichtigen Haushaltspolitiker,
die Wehrbeauftragte, enge Vertraute von Bundes-
kanzler Olaf Scholz: Sie alle gehören längst zu den
regelmäßigen Gesprächspartnern von Gerhartz.
Einen »Macher« nennt ihn eine aus diesem Kreis.
Und ein anderer sagt: »Kein anderer Soldat ver-
steht das Spiel der Politik so gut wie Gerhartz.«
Das jüngste Beispiel hierfür ist der Raketen-
schutzschirm, den die Bundesregierung anschaffen
will. Der soll dafür sorgen, dass anfliegende ballis-
tische Flugkörper in einer Höhe jenseits der Erd-
atmosphäre abgeschossen werden können – Patriot
kann das nicht, über seine Fähigkeiten weist das
weit hinaus. Aber das israelische System Arrow 3,
das den berühmten Iron Dome bildet, kann es.
Dass dieses modernste Luftabwehrsystem der Welt
nun angeschafft werden soll, geht auch auf Ger-
hartz zurück. Zum einen, weil er die Ampelregie-
rung davon überzeugt hat, dass ein erster Teil des
Schirms rasch aufgespannt werden kann – und die
Bevölkerung dann sieht, dass man mit 100 Milliar-
den Sondervermögen Sinnvolles anzustellen ver-
mag. Und zum anderen, weil Gerhartz über beste
Drähte zum israelischen Militär verfügt.
Seine erste Auslandsreise als Inspekteur führte
ihn 2018 nach Tel Aviv, wo er sein israelisches Pen-
dant, General Amikam Norkin, kennenlernte. Aus
dem Treffen erwuchs eine dauerhafte militärische
Zusammenarbeit und eine persönliche Freund-
schaft, die letztlich auch zu Austauschprogrammen
und wechselseitigen privaten Besuchen von Piloten-
familien führte. Im August 2020 flogen Maschinen
beider Luftwaffen bei einem gemeinsamen Ge-
denkflug über das ehemalige KZ Dachau – Ger-
hartz saß dabei in einer Maschine neben Norkin.
Das sei der »emotionalste Moment« seiner Karriere
gewesen, beteuerte Gerhartz danach. Als Norkin
im vergangenen April aus dem Dienst schied, hielt
Gerhartz eine von zwei Abschiedsreden, der andere
Redner war Israels Staatspräsident Isaac Herzog.
Im Monat darauf wurden Norkin und Gerhartz als
erste Militärs überhaupt mit der Ernst-Cramer-
Medaille für ihre Verdienste um die deutsch-
israelische Aussöhnung ausgezeichnet. Wenn sich
Deutschland nun tatsächlich das israelische Arrow-
3-System zulegt, so geht das auch auf Gerhartz’
Impuls von 2018 zurück. Er ließ den hehren Wor-
ten der damaligen Kanzlerin Angela Merkel, wo-
nach das Existenzrecht Israels deutsche Staatsräson
sei, auch wirklich Taten folgen.
Zum Abschluss seiner Dienstreise trifft Ger-
hartz in der estnischen Hauptstadt Tallinn sowie
auf dem rund 60 Kilometer entfernten Militär-
flugplatz Ämari auf einige Kameraden, mit denen
er einst lernte, den sowjetischen Kampfjet Mig-29
zu fliegen. Sie nehmen heute Führungsposten bei
jenem Geschwader ein, das sich mit fünf Euro-
fightern an der verstärkten Luftraumüberwachung
im Baltikum beteiligt.
Unmittelbar bevor russische Truppen am
24. Februar in die Ukraine einmarschiert sind,
zeigten sich an der Grenze zur Nato russische
Kampfjets, die mit modernen Hyperschallraketen
bestückt waren. Die Botschaft dieser Aktion laute-
te: Mischt euch nicht ein! Die Nato reagierte da-
rauf mit ihrer eigenen show of force: 100 Kampf-
flugzeuge sind seitdem an der gesamten Ostflanke
bis nach Rumänien im Einsatz. Auch das sendet
eine Botschaft: Hier ist die rote Linie. Gerhartz
weiß, dass ein Zwischenfall entlang dieser Linie
verheerende Folgen haben könnte. Der Auftrag für
sein Geschwader kommt daher einem Balanceakt
gleich: Entschiedenheit demonstrieren – und sich
nicht provozieren lassen. Gerhartz packt das auf
seinem Besuch gleich mehrfach in die Botschaft:
»Schön cool bleiben.«
! www.zeit.de/vorgelesen
DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022 POLITIK 7

»Wir müssen
den Krieg vom
Ende her denken«
Über eine populäre Floskel, die gut klingt, aber im Konflikt mit
Russland in die Irre führt VON ELVIRA ROSERT UND FRANK SAUER

Illustration: Juanjo Gasull

D
as Jahr ist zu Ende, der
Krieg geht weiter. Wann
und wie die Kämpfe in der
Ukraine aufhören, bleibt
ungewiss. Diese Ungewiss-
heit werden auch 2023
wieder viele zum Anlass
nehmen, eine 2022 weitverbreitete Aufforderung
zu wiederholen: »Wir müssen den Krieg vom
Ende her denken.« Der Satz klingt gut, er klingt
nach strategischem und vorausschauendem Den-
ken, nach dem Erfolgsrezept, das Angela Merkel
häufig zugeschrieben wurde. Im Kontext des
Ukraine-Kriegs steht er allerdings längst als Chif-
fre für eine verengte Gedankenführung.
Hinter der Formel stecken im gegenwärtigen
Diskurs bestimmte Annahmen. Dass man gegen
Russland keine Kriege gewinnen könne, ist eine
davon. Vor allem aber, dass, »vom Ende her
gedacht«, Konzessionen gegenüber Präsident
Putin unausweichlich seien. Schließlich könnte
gen und trotz der Bedenken derer, die die »Vom
Ende her denken«-Chiffre im Munde führten.
Alles schön und gut, könnte man sagen, aber
das nukleare Risiko besteht trotzdem. Das
stimmt. Doch es spricht einiges dagegen, sich
von diesem Risiko sämtliches »Vom-Ende-her-
Denken« diktieren zu lassen.
Die Geschichte des Nuklearzeitalters legt
nahe, dass aus der Möglichkeit eines Nuklearwaf-
feneinsatzes keineswegs das eine Ende folgt.
Nuklearstaaten, darunter auch Russland, haben
sehr wohl schon Kriege verloren, ohne nuklear
eskaliert zu haben. Auch ist der Griff zur Atom-
bombe für Russland aktuell nicht das einzige ver-
bleibende Eskalationsmittel; vielmehr eskaliert
Russland fortwährend nichtnuklear: mit Desin-
formation, Sabotageakten und dem massiven
Beschuss ukrainischer Städte. Zudem zeigt eine
Rekonstruktion der nuklearen Drohungen
Putins, dass bisher auf Worte keine Taten folgten,
also keine über Routineübungen hinausgehenden
Unter prominenten »Vom-Ende-her-Denkern« ist
es Mode, sich als »Realist« – es sind in der Tat über-
wiegend Männer – zu stilisieren. Das Praktische an
der Realismus-Rhetorik ist, dass sie gegen Kritik im-
munisiert. Denn Gegenargumente sind dann auto-
matisch naives Wunschdenken. Dabei lernt jede
Studentin und jeder Student der Sozialwissenschaften
schon im Grundstudium: Realitäten bestimmen nicht
nur Handlungsmöglichkeiten, Handlungen ermög-
lichen auch – neue – Realitäten. Auch das haben die
vergangenen Monate eindrucksvoll vorgeführt.
Warum verfängt die Chiffre des »Vom-Ende-her-
Denkens« trotzdem in Deutschland? Zunächst wohl,
weil sie die Hoffnung auf ein sofortiges Ende des
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Gemeinsam für unsere Gesellschaft:
Krieges nährt, die wir selbstverständlich teilen. Hinzu
kommt die Furcht vor der nuklearen Eskalation. Aber
auch die Scheu vor innenpolitischen Kosten ist im
Spiel. In Deutschland offen auszusprechen, dass gegen-
wärtig das Militärische – also Waffenlieferungen – der
Diplomatie nicht etwa im Wege steht, sondern viel-
mehr erst die Voraussetzungen für eine diplomatische
Lösung schafft, erfordert nicht nur politischen Mut.
Gefragt sind zudem die Bereitschaft, den Bürgerinnen
und Bürgern jenseits der üblichen Krieg-und-Frieden-
Floskeln unangenehme Wahrheiten zuzumuten.
Eine noch tiefer liegende Ursache ist in der poli-
tischen Kultur zu vermuten, die die 16-jährige
Kanzlerschaft von Angela Merkel hinterlassen hat.
Ihr vermeintlich so erfolgreiches »Vom-Ende-her-
Denken« bestand nämlich in aller Regel aus
Abwarten, um sich dann mit dem »alternativlos«
eingetretenen Zustand gemein zu machen. Es ist
auch dieses zur schlechten Gewohnheit gewordene
reaktive Politikverständnis, das im Zeitenwende-
Deutschland die überfällige Mentalitätswende so
schwer macht.
Elvira Rosert arbeitet am Institut für
Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Uni
Hamburg, Frank Sauer am Metis Institut für
Strategie und Vorausschau an der Bundeswehr-
Universität München

der, würde er von der mit westlichen Waffen aus-
gestatteten Ukraine womöglich zu sehr unter
Druck gesetzt, den Krieg nuklear eskalieren.
Damit ist das eine Ende, von dem her gedacht
werden soll, definiert: Entweder gibt die Ukraine
WIR ENTLASTEN
Bewegungen im russischen Nukleararsenal.
Das alles überrascht nicht, denn für Putin ist die
Drohung viel nützlicher als die Tat. Das muss nicht
so bleiben, aber es wird daran gearbeitet, dass es so
bleibt: Die US-Regierung etwa hat mehrfach öffent-

den Kampf um ihre Unabhängigkeit endlich auf
und tritt Gebiete an Russland ab, womit ein rus-
sischer Nuklearschlag vermieden werden kann.
Oder sie führt den Kampf unter hohen Verlusten
an Menschenleben weiter – nur um letztendlich
doch eine Niederlage zu erleiden, verbunden mit
einer nuklearen Katastrophe.
DEUTSCHLAND
lich und nichtöffentlich das unmissverständliche
Signal an Putin gesandt, dass eine nukleare Eskala-
tion für Russland nicht etwa zum Sieg führen
würde, sondern zu einer Niederlage – erzwungen
von den Vereinigten Staaten und der Nato mit
diplomatischen, wirtschaftlichen und konventio-
nellen militärischen Mitteln. Zudem deutet alles

Dass Russland tatsächlich das nukleare Tabu
bricht, liegt im Bereich des Möglichen – und die
Auswirkungen wären epochal. Die Angst vor
einer Eskalation ist deshalb vernünftig; das
Kindergeld-
darauf hin, dass Russlands internationale Position
durch einen Nuklearschlag weiter Schaden erleiden
würde, bis hin zur vollständigen Isolation, auch von Energiepreispauschale
Ländern wie Indien und China. Selbst Bundes-

Erhöhung

nukleare Risiko sollte niemand ignorieren. Die
Frage allerdings, wie man politisch mit einem
solchen unknown probability, high impact-Szena-
rio umgeht, ist damit noch nicht entschieden.
Womit wir beim Hauptproblem des »Vom-
Ende-her-Denkens« wären: Es definiert ein Ende
als Dreh- und Angelpunkt der Debatte, blendet
aber aus, dass der Verlauf eines Krieges unmöglich
vorhersehbar ist. Krieg ist kein Naturereignis, son-
dern ein soziales Phänomen; sein Verlauf hängt von
vielen Faktoren ab, vom Handeln oder Nichthan-
deln von Menschen, die sich gegenseitig zu beein-
flussen versuchen, auch von den Annahmen, Über-
zeugungen und Ängsten dieser Menschen.
Deshalb beobachtet Präsident Putin die west-
lichen Haltungen zu diesem Krieg sehr genau
und versucht, sie in seinem Sinne zu manipulie-
ren. Auf dass möglichst viel, was getan oder eben
nicht getan wird, russischen Interessen dient. Die
Drohung mit der nuklearen Eskalation gehört
dabei zum Kerngeschäft.
Das Wechselspiel aus Erwartungen und
Handlungen zeigte sich schon rund um den
24. Februar. Nur wenige Fachleute hatten mit
der russischen Invasion gerechnet; die meisten
politischen Entscheidungsträgerinnen und Ent-
300
kanzler Olaf Scholz, der die Eskalation mehr als
alles andere fürchtet, gibt deswegen inzwischen an, Bis zu
gegen die Gefahr eines Nuklearwaffengebrauchs sei
fürs Erste »ein Pflock eingeschlagen«.
Präsident Putin kann sich also keinen Nutzen
von nuklearer Eskalation versprechen, muss aber
mit exorbitanten Kosten rechnen. Für das »Denken
vom Ende her« folgt daraus vor allem eines: In
Zeiten massiver Unsicherheit – wie in diesem Krieg
– kann »Vom-Ende-her-Denken« nicht als deter-
ministischer Kurzschluss auf nur ein mögliches
Gas- und €
Ende hin betrieben werden, auch nicht als pseudo-
mathematische Wahrscheinlichkeitsrechnung. 250 Euro für jedes Kind
Strompreisbremse Im September erhielten Erwerbstätige
»Vom-Ende-her-Denken« kann nur so etwas wie eine einmalige Energiepreispauschale
»Possibilistik« sein, ein systematisches Denken des Stopp für steigende von 300 Euro. Im Dezember kommt
Krieges von verschiedenen Enden her. Auch die sie für Rentnerinnen und Rentner.
Politik, die ja nicht nur denken kann, sondern auch Ab Januar 2023 steigt die Unterstüt- Energiekosten!
Studierende sowie Fachschülerinnen
handeln muss, sollte Zukunft als Raum verschie- zung für Familien: Dann beträgt das
dener Möglichkeiten verstehen, in diesem Raum und -schüler sollen 2023 mit einmalig
Kindergeld für jedes Kind 250 Euro. 200 Euro unterstützt werden.
erstrebenswerte Ziele identifizieren und auf diese Für die ersten zwei Kinder bedeutet Für Gas werden die Preise auf 12 Cent
hinarbeiten. Kurz: Politik darf Zukunft nicht nur
das die höchste Kindergeld-Erhöhung pro kWh, für Strom auf 40 Cent pro
erwarten, sie muss sie gestalten.
Welche denkbaren Enden des Krieges gegen die seit 1996. kWh gedeckelt. Das sichert die
Ukraine sind also erstrebenswert, sprich strategisch
vorteilhaft und völkerrechtlich geboten, und was
Basisversorgung mit Strom, Gas und
Fernwärme zu günstigeren Preisen. Dezember-Abschlag
können wir tun, um deren Eintritt zu befördern? Haushalte und Unternehmen werden

scheidungsträger registrierten zwar die Bedro-
hung, hielten den Einmarsch jedoch für unwahr-
scheinlich. Deshalb unterblieben robuste Präven-
tionsversuche, obwohl eine ausreichende
Bürgergeld
Anders als zum »wahrscheinlichen« oder »unver- entlastet.
meidlichen« Ausgang des Krieges lassen sich zu
dieser Frage seriöse Aussagen machen: Erstrebens-
wert ist eine Zukunft, in der eine souveräne, von

Weniger

Bewaffnung der Ukraine einen russischen Angriff
vielleicht hätte abschrecken können.
Nach Beginn der Invasion spielten dann erneut
Fehleinschätzungen eine maßgebliche Rolle – und
mehr noch die Korrektur dieser Fehleinschätzun-
gen. So wie kaum jemand den Angriffskrieg voraus-
gesehen hatte, so hatten auch nur die wenigsten mit
der Schwäche der eingesetzten russischen Streit-
kräfte gerechnet. Überraschend war auch, wie smart
und entschlossen sich die Ukraine verteidigte.
Beide Irrtümer waren folgenreich: Erst als sich
zeigte, wie widerstandsfähig und widerstandswillig
die ukrainischen Streitkräfte und die ukrainische
Bevölkerung waren, kam intensivere Unterstützung
aus dem Westen, wodurch wiederum die Erfolgs-
aussichten stiegen, die ihrerseits die westliche Unter-
stützungsbereitschaft stabilisierten.
Anders formuliert: Ein Ende des Krieges – und
übrigens eines, das von Beginn an erstrebenswert
war – wurde in dessen Verlauf sukzessive nicht nur
möglich, sondern sogar zunehmend realistisch,
durch entsprechende Handlungen und deren Fol-
502
russischer Besatzung möglichst vollständig befreite
Ukraine existiert, die sich ihrer territorialen Inte-
grität dauerhaft sicher sein kann.
Dieses deutsche und europäische Interesse haben
auch Bundeskanzler Scholz und Bundespräsident
Frank-Walter Steinmeier wiederholt formuliert. Steuern Für Haushalte, kleine
Doch im Unterschied zu Außenministerin Annalena und mittlere Unternehmen
€
Baerbock hat bislang keiner der beiden offen die
Voraussetzung hierfür benannt: Um dem Ziel näher
zu kommen, sind weitere militärische Siege des für 48 Millionen
Landes notwendig. Das bedeutet nicht zwangsläu- Der Bund übernimmt für Dezember 2022
fig, dass die ukrainischen Streitkräfte alle besetzten Wir gleichen die steuerlichen Mehr- die Gas-Abschlagszahlung und zahlt
Gebiete im Kampf befreien müssen. Es heißt aber damit einen Teil der Winter-Heizkosten.
belastungen aus, die durch die hohe
sehr wohl, mittel- bis langfristig das militärische und
territoriale Kräfteverhältnis zugunsten der Ukraine Ab Januar 2023 steigt die Grundsiche- Inflation entstehen. Von diesem
so weit zu verschieben, dass Russland die Aussichts- rung für alleinstehende Erwachsene Abbau der sogenannten „kalten
losigkeit seines Eroberungsfeldzugs erkennen muss um 53 Euro auf 502 Euro pro Monat. Progression“ profitieren ab 2023 rund
und seine Streitkräfte abzieht oder wenigstens in Zudem stärkt die Reform Qualifizie- 48 Millionen steuerpflichtige Bürgerin-
ernsthafte Verhandlungen eintritt. Das ist, holz- rung, Weiterbildung und Arbeitssuche. nen und Bürger. wir-entlasten-deutschland.de
schnittartig, unter den vielen denkbaren Enden das
erstrebenswerte, welches es, das nukleare Risiko stets
im Blick, anzusteuern gilt.
8 POLITIK 29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1

Zeitenwendeli
E
in superreiches Land, das sich zum
politischen Zwerg erklärt. Ein Land
der Trittbrettfahrer und Rosinen-
picker. Es schwört auf seine Neutrali-
tät, dabei profitiert es vom Schutz
der Nato. Und es macht Geschäfte
mit finsteren Mächten. So wie da-
mals mit Hitler. Rüstungsgüter zum Beispiel verkauft
dieses Land mit Vergnügen, nach Saudi-Arabien oder
nach Katar – aber der Ukraine verweigert es die Mu-
nition für den Gepard-Panzer. Zynisch sei das. Unso-
lidarisch. Rückständig.
So klingt es in diesen Tagen manchmal, wenn man
mit europäischen Diplomatinnen und Diplomaten über
die Schweiz spricht. Deutsche Politiker empören sich
über den kleinen Nachbarn, der sich weigert, Panzer-
munition aus eidgenössischer Fertigung für den Export
in die Ukraine freizugeben. Bundestagsabgeordnete wie
Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) oder Roderich
Kiesewetter (CDU) drohen damit, dass Deutschland
– bislang der größte Kunde der Schweizer Rüstungs-
industrie – künftig nichts mehr kaufen werde. Ähnliche
Töne sind aus Dänemark und den Niederlanden zu
hören. Ultimativ formulierte es Carlo Masala, Professor
an der Universität der Bundeswehr, via Twitter: »Wird
mal Zeit, liebe Schweizer, dass ihr Euch entscheidet, auf
welcher Seite ihr stehen wollt. Freiheit oder Genozid.«
Aber noch ist nicht alles verloren. Wer der Schweiz
grundsätzlich wohlgesinnt ist, erkennt an, dass sie die
Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland
übernommen hat – nach einigem Zaudern zwar, aber
dann ja doch. Obwohl sie bis zum Kriegsausbruch
einer der wichtigsten Handelsplätze für russische
Rohstoffe war; 75 Prozent des russischen Erdöls wur-

Foto: Getty Images (bearbeitet mit PhotoMosh)

den in der Schweiz gehandelt. Oder dass sie bislang
rund 70.000 Geflüchtete aus der Ukraine willkom-
men geheißen hat – nicht wenige für ein Land mit 8,7
Millionen Einwohnern. Dass sie sich also bewegt hat.
Zumindest ein bisschen.
Außerdem: Jenseits Europas finden es manche Län-
der gar nicht so verkehrt, dass die Schweiz neutral bleiben
will. Dass sie nie versucht hat, andere Regionen zu ko-
lonialisieren, verschafft ihr Sympathien.
Dennoch lässt es sich nicht schönreden: Die Schweiz
hat ein Problem. Man könnte es sogar noch zuspitzen,
Das Bild der Schweiz – hier die Berner Alpen –
ist seit dem 24. Februar ins Wanken geraten

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DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022 POLITIK 9

Wie neutral kann ein Land in Europa heute noch sein? Die Schweiz ringt
mit dieser Frage VON MATTHIAS DAUM UND SAMIHA SHAFY

so wie unlängst eine Überschrift in der Frankfurter
Allgemeinen: »Die Schweiz als Problem«.
Autsch. Wie anders das früher war! Wussten
Sie, dass die Schweiz die zweitälteste Demokratie
der Welt ist? Noch länger existiert nur die amerika-
nische – und die funktioniert bekanntlich nicht
Wintersport, die Wirtschaft. Sogar das Image:
doppelbödig, aber irgendwie doch charmant.
Hand aufs Herz: Wäre nicht auch Deutschland
am liebsten ein großer, neutraler Kanton? Gut im
Geschäft mit der Welt, ohne die Last einer sicher-
heitspolitischen Führungsrolle in Europa?
wende: Die Zustimmung zur Neutralität sank
zwischen Januar und Juni 2022 um gerade mal
acht Prozent, von 97 auf 89 Prozent.
Was daraus folgen soll, darüber streiten nun die
politischen Lager in der Schweiz. Dass die Regie-
rung in Bern die Sanktionen gegen Russland über-
P
olitische Erfahrung hat Rietiker nicht,
aber einen Förderer: Christoph Blo-
cher, den mittlerweile 82-jährigen
Chefideologen der Schweizer Rechten.
Blocher war es, der nach dem russi-
schen Angriff auf die Ukraine in einem Interview
Bedeutet Neutralität Gleichgültigkeit? Oder
Engagement für den Weltfrieden? Die Neutrali-
tätspolitik hat sich im Lauf der Zeit immer wieder
gewandelt, sprich: den Umständen angepasst. So
verkaufte die Schweiz im Zweiten Weltkrieg ihre
Waffen sowohl an die Alliierten als auch an Nazi-

annähernd so gut. Untrennbar verwoben mit der
Schweizer Identität ist die direkte Demokratie,
genau wie der Föderalismus und die Neutralität.
Letztere hat die Schweiz zwar nicht erfunden, aber
geschickt zu ihrem Vorteil genutzt. Noch im
19. Jahrhundert war das Land so arm, dass die
ländliche Bevölkerung kaum lesen und schreiben
konnte. Kinder bettelten auf den Straßen, die Le-
benserwartung lag bei etwa 40 Jahren. Viele
Schweizerinnen und Schweizer wanderten nach
Übersee aus, um dem Elend zu entfliehen.
Neutral war die Schweiz ursprünglich aus innerer
Not geworden. Als sich im Dreißigjährigen Krieg
nach und nach eine Art von Völkerrecht formte,
merkten die untereinander zerstrittenen Eidgenossen,
dass sie sich auf keine gemeinsame Außenpolitik ver-
ständigen konnten. Also erklärten sie sich für neutral.
Auf dem Wiener Kongress von 1814/15 wollten sie
sich den Status von den Großmächten bestätigen
lassen. Die gaben dem Betteln nach, zeigten sich aber
desinteressiert, was die Details anging. So mussten
die Schweizer ihre Neutralitätsurkunde selbst formu-
lieren. 1910 trat die Schweiz den Haager Abkommen
bei, die das Neutralitätsrecht formalisierten.
Dann kamen die beiden Weltkriege – und blieben
doch fern. Denn die europäischen Großmächte
waren zu der Überzeugung gelangt, dass ein neu-
traler Alpenstaat in ihrer aller Interesse sei. Und die
Eidgenossenschaft feilte an ihrem Erfolgsrezept: Sie
verhielt sich außenpolitisch unauffällig und handelte
gleichermaßen mit den Achsenmächten wie den
Alliierten. Auch dank ihrer Neutralität wurde sie zu
einem der reichsten Länder der Welt.
Etwas Nebulöses, Anrüchiges hatte dieser
Reichtum schon immer. Aber in Kritik aus dem
Ausland mischte sich häufig Anerkennung oder
auch blanker Neid, denn: Die Schweiz funktio-
nierte halt im Großen und Ganzen ziemlich gut.
Das Bildungssystem. Das Gesundheitswesen. Der
I
m Kalten Krieg war die Schweiz auf beiden
Seiten des Eisernen Vorhangs eine gern ge-
sehene Vermittlerin. Und auch da nutzte sie
ihre Neutralität, um gute Geschäfte zu ma-
chen – unter anderem mit Pariastaaten wie
dem Apartheid-Südafrika. Dass sich, nachdem die
Mauer gefallen und der Weltkommunismus erle-
digt war, niemand mehr für den völkerrechtlichen
Status des Kleinstaates interessierte? Egal. Neutral,
das war nun ein hübsches Verkaufsargument im
globalen Standort-Buhlen. Es klang nach Sicher-
heit, Stabilität, Pragmatismus. Nach Schweiz eben.
Jetzt aber, da in Europa ein Krieg tobt, die eben
noch hirntote Nato auferstanden ist und militärische
Fragen den politischen Alltag dominieren, wankt das
Schweizer Erfolgsmodell. Der sich abschottende
41.000-Quadratkilometer-Fleck im Herzen des Kon-
tinents wirkt auf viele Europäerinnen und Europäer
wie ein aus der Zeit gefallenes geopolitisches Unding.
Die Identitätskrise der Schweiz manifestiert sich
an 12.400 35-Millimeter-Geschossen für die Gepard-
Panzer, die das Land vor Jahren an Deutschland ver-
kauft hat. Die Deutschen empören sich, dass die
Schweizer ihnen verbieten, die Munition an die
Ukraine weiterzugeben. Die Schweizer kontern:
Deutschland könnte ja auch selbst die Regeln miss-
achten und die Munition eigenmächtig exportieren,
statt von Bern zu verlangen, das eigene Kriegsmate-
rialgesetz zu brechen.
Und dann ist da die jüngste Umfrage von Prä-
senz Schweiz, einer Einheit des Eidgenössischen
Departements für auswärtige Angelegenheiten, die
sich ums Image kümmert: In den meisten Ländern
werde die schweizerische Neutralität kritischer be-
urteilt als in früheren Erhebungen, heißt es da.
Deutlich schlechter in Deutschland.
Fragt man allerdings die Schweizerinnen und
Schweizer selbst, wünschen sie sich keine Zeiten-
nommen hat, scheint von außen naheliegend. Es
lässt sich jedoch kaum überschätzen, wie viel
Überwindung dieser Schritt die Schweizer kostete.
Denn grundsätzlich übernehmen sie nur Sanktio-
nen, die von den Vereinten Nationen beschlossen
werden. Den Vereinten Nationen übrigens ist die
Schweiz erst 2002 beigetreten – nach jahrzehnte-
langen Diskussionen darüber, ob man wirklich zur
Weltgemeinschaft gehören wolle.
Das Neutralitätsrecht verpflichtet die Schweiz
dazu, sich nicht an Kriegen zwischen anderen
Staaten zu beteiligen und keine Waffen an Kriegs-
parteien zu liefern. Das ist der harte Kern der Neu-
tralität – um den sich die Neutralitätspolitik der
Regierung wie eine geschmeidige Hülle legt, die
mal enger, mal weiter gefasst werden kann. In der
Schweizer Verfassung ist die Neutralität nur als In-
strument zur Wahrung der Sicherheit und der Un-
abhängigkeit des Landes erwähnt.
Stephan Rietiker verbringt die Festtage in New
York. Dort ist es halb fünf morgens, als er aus sei-
nem Hotel anruft. Der Arzt und Unternehmer ist
der neue Präsident von Pro Schweiz, einer rechts-
konservativen Kampfgruppe. Sie steckt hinter ei-
nem Volksbegehren, das die Neutralität in der Ver-
fassung festschreiben will. Als Selbstzweck.
Das wäre ein Bruch mit einer mehr als 200-jäh-
rigen Tradition.
Rietiker ist 66 Jahre alt, Unternehmer und Mit-
glied der rechtskonservativen Schweizerischen Volks-
partei (SVP). Er ist nicht nur Schweizer, sondern auch
Amerikaner; seine Kindheit verbrachte er in Kanada
und Maine. Als amerikanischer Staatsbürger hat er
Donald Trump zweimal gewählt. Zur Lage der
Schweiz sagt er nun: »Die Neutralität wird dämo-
nisiert und als Rosinenpickerei dargestellt.« Dabei
könnte Europa davon profitieren, wenn die Schweiz
in diesem »Stellvertreterkrieg der USA« ihre guten
Dienste anbieten würde.
mit der Neuen Zürcher Zeitung sagte: »Durch die Teil-
nahme an den Sanktionen ist die Schweiz jetzt im
Krieg.« Er versammelte 14 Gefolgsleute um sich, um
weiteres Unheil abzuwenden. Vorschläge für eine
Volksinitiative standen zur Auswahl. Als die Runde
zu einer zurückhaltend formulierten Version tendier-
te, soll Blocher mit einem Zitat des Militärstrategen
Carl von Clausewitz die Diskussion abgewürgt ha-
ben: »Wer den Rückzug plant, tritt ihn auch an.« So
erzählt es einer, der dabei war. Blocher habe sich dann
für den radikalsten Vorschlag entschieden: »Die
Schweiz ist neutral. Sie verfolgt den Grundsatz der
immerwährenden bewaffneten Neutralität.«
Würde die Blocher-Initiative angenommen,
dürfte sich die Schweiz nur noch an UN-Sanktio-
nen beteiligen, nicht mehr an jenen der EU oder
der USA. Bis die Initiative an die Urne kommt,
wird es wohl noch drei bis vier Jahre dauern. Aber
den Rechtspopulisten im Land gelingt es wieder
einmal, eine wichtige Debatte zu dominieren.
Anna-Lina Müller kämpft dafür, dass auch an-
dere Stimmen gehört werden. Die 29-jährige Poli-
tikwissenschaftlerin leitet den Thinktank foraus,
der zu einer etablierten Stimme in der Schweizer
Außenpolitik geworden ist. Seine jungen, ehren-
amtlichen Mitarbeitenden werden häufig vom
Außenministerium konsultiert. Anna-Lina Müller
saß auch in dem Gremium, das den liberalen Au-
ßenminister Ignazio Cassis beriet, wie die Schweiz
ihre Neutralität gestalten soll. Im Sommer forderte
foraus in einer Denkschrift: Die Schweiz solle sich
aktiver als bisher und gemeinsam mit gleichge-
sinnten Staaten für Frieden in der Welt engagieren.
»Wir als Schweiz haben manchmal Mühe zu
verstehen, was unsere Neutralität genau bedeutet
und was wir mit ihr anfangen wollen«, sagt Müller.
»Es ist unangenehm, neutral zu sein. Im schlech-
testen Fall verärgert man beide Seiten und gefällt
niemandem.«
Deutschland. Im Kalten Krieg war sie, wenngleich
kein Nato-Mitglied, fest in den westlichen Block
eingebunden. Ihr Nachrichtendienst jagte einhei-
mische Kommunisten. 1951 schloss sie sogar
– unter massivem Druck – ein Geheimabkommen
mit den USA, in dem sie sich dazu verpflichtete,
den Handel mit der Sowjetunion und deren Vasal-
lenstaaten einzuschränken.
»Wir hängen an unserer Neutralität«, sagt
Anna-Lina Müller, »weil wir das Gefühl haben, da-
mit gut durch die Geschichte gekommen zu sein.«
Heute legt kein anderes neutrales Land seinen
Status so streng aus wie die Schweiz. Österreich ist
zwar nicht in der Nato, aber in der Europäischen
Union. Im ebenfalls neutralen Irland landen US-
Kampfjets auf dem Flughafen Shannon. Schwe-
den gab seine Neutralität 2002 auf und will nun,
wie Finnland, der Nato beitreten.
All das wäre für die Schweiz unvorstellbar. Aber
auch sie bewegt sich im neuen Jahr ein Stückchen in
die Welt hinein. Zehn Jahre lang hat die Schweizer
Diplomatie auf diesen Moment hingearbeitet. Im
November hat das Außenministerium einen drei-
wöchigen Probelauf durchgeführt. Auf einer Presse-
konferenz im Dezember spricht der Diplomat Tho-
mas Gürber von einem Erfolg und schwärmt von der
»kollektiven Intelligenz des Systems Schweiz«, das
eine »beachtliche Qualität der Analyse« hervorbringe.
Und nun ist es so weit: Ab Januar ist die Schweiz
zwei Jahre lang nichtständiges Mitglied im UN-
Sicherheitsrat, zum ersten Mal in ihrer Geschichte.
Die Botschafterin Pascale Baeriswyl stimmt ihre
Landsleute auf stürmische Zeiten ein: »Man wird uns
angreifen, weil wir angeblich nicht mehr neutral seien.«
Transparenzhinweis: Der Autor und die Autorin
dieses Textes sind Schweizer
! www.zeit.de/vorgelesen

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Risikoreduzierung für Raucher Was ist Risikoreduzierung für Raucher

und warum ist sie so wichtig?
Das Konzept der Risikoreduzierung erkennt
hohen Stellenwert, den wir bei BAT Wissen-
schaft und Innovation beimessen.
Raucher zum Umstieg zu bewegen, son-
dern vor allem auch dabei, dass sie keinen
Rückfall zur Zigarette erleiden.3

ist fortschrittlich, pragmatisch

an, dass die meisten von uns bei alltäg- Wir haben uns verpflichtet, für Raucher,
lichen Handlungen wie dem Autofahren die Gesellschaft und unser Unternehmen Die von BAT entwickelten innovativen
ein gewisses Risiko eingehen und dabei eine andere Zukunft zu schaffen. Und zwar Produkte stützen sich auf belastbare,

und machbar
nach Möglichkeiten suchen – wie dem
Anlegen des Sicherheitsgurtes –, dieses
Risiko zu minimieren.
Risikoreduzierung für Raucher funktioniert
Risikoreduzierung für Raucher (englisch: Tobacco Harm Reduction) ist ein Ansatz, der darauf abzielt, die nach demselben Prinzip. Es handelt sich
negativen gesundheitlichen Folgen des Rauchens zu minimieren. Dabei werden Raucher, die sonst einfach um einen Ansatz, der die schwerwiegen-
weiter rauchen würden, zum vollständigen Umstieg auf alternative Produkte mit geringerem Risiko* ermuntert. den gesundheitlichen Folgen des Rauchens
anerkennt und zu verringern versucht.
Diese Produkte enthalten zwar Nikotin, basieren aber nicht auf dem Verbrennen von Tabak – dem Vorgang,
der die meisten der mit herkömmlichen Zigaretten verbundenen Schäden verursacht. Im Folgenden erklärt Dabei werden Raucher zum Aufhören er-
Dr. David O’Reilly, warum Risikoreduzierung ein fortschrittlicher, pragmatischer und machbarer Ansatz ist, muntert, und diejenigen, die sonst weiter
rauchen würden, werden ermutigt auf
die durch Zigaretten verursachten Schäden und Gesundheitsbelastungen zu verringern. alternative, risikoärmere* Produkte umzu-
steigen. Diese Produkte enthalten zwar
Nikotin, kommen aber ohne das schädliche
Verbrennen von Tabak aus. Denn durch
den Verbrennungsprozess entstehen
Tausende von Schadstoffen, die mit den
durch Rauchen verursachten Krankheiten
Interview mit Dr. David O’Reilly in Verbindung gebracht werden.
Director of Scientific Research, BAT In Anbetracht der Tatsache, dass mehr als
eine Milliarde Menschen trotz der schwer-
Dr. David O’Reilly wurde im Januar 2012 als Group Scientific and wiegenden Gesundheitsrisiken weiterhin
R&D Director in das Management Board von BAT berufen. Er Zigaretten rauchen, kann das Anbieten von
schloss sein Studium 1991 mit einem Ph. D. in molekularer Virolo- Alternativen wie E-Zigaretten, Tabaker-
gie am Imperial College in London ab. Diesen Forschungsbereich hitzern oder Nikotin Pouches zusammen
verfolgte er weiter, als er eine Stelle bei Advanced Technologies mit der Bereitstellung von eindeutigen
Cambridge antrat, einer Tochtergesellschaft von BAT. Informationen zu ihrem Gebrauch bereits
dazu ausreichen, viele dieser Raucher zum
In den letzten Jahren war Dr. O’Reilly eine treibende Kraft hinter der Umstieg zu bewegen. Bei BAT entwickeln
Schaffung und dem Wachstum des interdisziplinären globalen wir Produkte, die erwachsenen Rauchern
FuE-Engagements von BAT im Bereich der verbraucherorientierten, genussvolle, weniger risikoreiche* Alterna-
wissenschaftsbasierten Innovation bei Tabak- und Nikotinprodukten tiven bieten; diese Alternativen verschaffen
der nächsten Generation. Auch leitete er die Programme des einerseits die gewünschte Befriedigung,
Unternehmens zur sozialen Unternehmensverantwortung, zur kommen aber andererseits ohne die
Risikoreduzierung von Tabakprodukten und zum Dialog mit Ent- Verbrennung aus, durch die die meisten
scheidern der Gesundheitspolitik. Er ist Mitbegründer des Global Schäden verursacht werden. Unsere Pro-
Tobacco and Nicotine Forum (GTNF) und Ehrenvorsitzender dukte sind von hoher Qualität und wurden
des GTNF Advisory Board. ausgiebig getestet.
Was tut BAT in Sachen Risikoreduzierung?
Schon seit vielen Jahren suchen wir nach
Wegen, die gesundheitlichen Folgen un-
seres Geschäfts zu verringern. Wir treiben
dies auf verschiedene Weise voran. Zualler-
erst brauchen wir dafür herausragende
Produkte, die erwachsene Raucher konsu-
mieren möchten und als zufriedenstellend
empfinden.
Zweitens wird die Entwicklung unseres
risikoreduzierten Portfolios* durch For-
mit Erfolg, denn mittlerweile konsumieren
über 20 Millionen Verbraucher die Produkte
unseres risikoreduzierten Portfolios*. Eine
wirklich ermutigende Zahl – und wir wollen
mehr tun, um diesen Fortschritt noch zu
beschleunigen.
Was ist das größte Hindernis für die
Risikoreduzierung für Raucher?
Eine der größten Schwierigkeiten liegt da-
rin, Rauchern zu vermitteln, dass Produkte
wie E-Zigaretten und Tabakerhitzer risiko-
ärmer* sind als Rauchen – so ist Dampfen
laut Aussagen von Gesundheitsbehörden
wie Public Health England1 und dem UK
House of Commons Science and Techno-
logy Committee2 um bis zu 95% weniger
risikoreich. Viele Untersuchungen zeigen
jedoch, dass fälschlicherweise geglaubt
wird, die alternativen Produkte seien
genauso schädlich wie Zigaretten.
Es muss ein gesteigertes Bewusstsein
dafür geschaffen werden, was Nikotin ist
und was nicht. Nikotin an sich ist nicht
karzinogen, das heißt, es verursacht keinen
Krebs. Die allgemein anerkannten Ursachen
für die mit dem Rauchen verbundenen
Gesundheitsrisiken sind die Verbrennung
des Tabaks und das Inhalieren des Rauchs.
Um es klar zu sagen: Nikotin macht zwar
abhängig und ist nicht risikofrei, aber es
wird seit Jahrzehnten in zugelassenen
Arzneimitteln verwendet, die in den meis-
ten großen Ländern rezeptfrei erhältlich
sind.
Zur Risikoreduzierung für Raucher gehört
die Bereitstellung klarer und leicht ver-
ständlicher Informationen für erwachsene
Raucher, denn diese müssen über präzise
Informationen verfügen, um fundierte Ent-
scheidungen treffen zu können. Dadurch
erhöhen wir die Chance, die durch das
Rauchen verursachten Gesundheitsrisiken
für den Einzelnen und für die Gesellschaft
zu verringern.
Warum sind wissenschaftliche
Erkenntnisse so wichtig?
Gute Gesundheitspolitik sollte immer auf
wissenschaftlichen Erkenntnissen beru-
hen. Erkenntnissen, die Regierungen, Auf-
sichtsbehörden und Verbraucher in die
wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse,
die das Potenzial dieser Produkte zur Risi-
koreduzierung* im Vergleich zu Zigaretten
belegen. Wir investieren beträchtliche
Summen in die Forschung und arbeiten
mit einem Team von mehr als 1.500 For-
schungs- und Entwicklungsspezialisten
an der Entwicklung neuer Daten und
Produkte. Alle Informationen und Nach-
weise, seien sie positiv oder negativ,
werden von uns veröffentlicht, da wir
glauben, dass ein solcher Austausch für
den wissenschaftlichen Fortschritt und
das Verständnis von grundlegender Be-
deutung ist.
Wie haben sich alternative
Nikotinprodukte entwickelt und wie
sieht die Zukunft aus?
Ich glaube, dass die Zukunft des Nikotins
nicht von einem einzelnen Produkt ab-
hängen wird, sondern von verschiedenen
Produkten, die unterschiedliche Verbrau-
cherpräferenzen bedienen. Wir wissen,
dass der Markt für alternative Nikotin-
produkte fragmentiert ist – nicht alle
erwachsenen Verbraucher wollen ein und
dasselbe.
Die erste E-Zigarette, die 2003 auf den
Markt gebracht wurde, war ein sehr einfa-
ches Gerät. Bei BAT bieten wir heute nicht
nur eine ganze Palette an Dampfproduk-
ten an, sondern auch Tabakerhitzer und
Nikotin Pouches für den oralen Gebrauch.
Wir sind der Überzeugung, dass dies im
Vergleich zum Weiterrauchen allesamt
risikoreduzierte* Alternativen sind.
Ich bin der festen Überzeugung, dass
Risikoreduzierung für Raucher fortschritt-
lich, pragmatisch sowie machbar ist und
sich durchsetzen wird. Dieser Ansatz
unterstützt und ermuntert Raucher schon
heute zum Umsteigen, was zu weiteren
Produktinnovationen und damit zu mehr
Verbraucherzufriedenheit führen dürfte,
sodass letztlich noch mehr Menschen
dazu bewegt werden, umzusteigen. Und
diese Entwicklung kann für die öffentliche
Gesundheit und die Verwirklichung von
A Better Tomorrow™ nur von Vorteil sein.
Public Health England 2018.
1

schung auf Weltklasseniveau untermauert. Lage versetzen, zu beurteilen und zu ver- 2

Aktuell bieten wir durch unseren einzigar-
tigen Multi-Category-Ansatz eine breite
Palette an risikoreduzierten* Produkten
wie E-Zigaretten und Tabakerhitzer sowie
Nikotin Pouches für den oralen Gebrauch
an – und das in über 57 Märkten auf der
ganzen Welt. Möglich wird dies durch den
stehen, wie ein Produkt oder ein Ansatz
zum Nutzen der Gesellschaft eingesetzt
werden kann.
So hat die Forschung beispielsweise
gezeigt, dass Aromen nicht nur dabei
eine wichtige Rolle spielen, erwachsene
UK House of Commons Science and Technology Committee,
Seventh Report of Session, July 2017.
3
Forster, M., Fielbelkorn, S., Yurteri, C., Mariner, D., Liu, C.,
Wright, C., McAdam, K., Murphy, J. and Proctor, C. (2018).
Assessment of novel tobacco heating product THP1.0.
Part 3: Comprehensive chemical characterisation of harmful
and potentially harmful aerosol emissions. Regul Toxicol
Pharmacol. 93:14-33. DOI: 10.1016/j.yrtph.2017.10.006.
*Auf Basis belastbarer Erkenntnisse und der Annahme, dass
das Zigarettenrauchen vollständig aufgegeben wurde. Diese
Produkte machen abhängig und sind nicht risikofrei.

British American Tobacco (Germany) GmbH, Alsterufer 4, 20354 Hamburg

10 POLITIK 29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1

Oben: Babas, 35,

hält mit dem
Fernglas
Ausschau nach
Kundschaft in
El Alto City; Mitte:
Eine Gruppe
Schuhputzer in El
Alto City; unten:
Utensilien eines
Schuhputzers in
La Paz

Oben: Esther, 42,

und Rosita, 24,
kreuzen ihre
Bürsten – so
wünschen sich die
Schuhputzerinnen
Glück für den
anstehenden Tag;
unten: Vladimir,
25, putzt Schuhe
in La Paz

Lasst sie glänzen!

In Boliviens Großstädten verdienen Tausende ihr Geld als Schuhputzer – und
werden dafür geächtet. Der Fotograf FEDERICO ESTOL würdigt ihre Arbeit

Wenn deine Schuhe glänzen, dann hast du es geschafft, dann grenzt du dich
ab von der Armut, die weite Teile Boliviens beherrscht. In dem südamerika-
nischen Land stehen gepflegte Schuhe für eine gute Herkunft. Doch die
Menschen, die Schuhe zum Glänzen bringen, werden geächtet. Schuhputzer
gelten in der bolivianischen Gesellschaft als minderwertig, sie verrichten
eine gering geschätzte Arbeit, zu Füßen ihrer Kunden. Und so vermummen
die Schuhputzer ihre Gesichter, zum Schutz vor abschätzigen Blicken und
gesellschaftlichem Stigma. In den Städten La Paz und El Alto verdienen
Tausende Menschen so ihr Geld, manche sind noch Kinder. Federico Estol,
ein Fotograf aus Uruguay, begleitete Dutzende dieser Schuhputzer über
mehrere Jahre, mit seinen Porträts würdigt er ihre Arbeit. Shine Heroes, so
der Name seines Fotoprojekts, wurde in diesem Jahr auf verschiedenen
Festivals gezeigt, unter anderem in Frankreich, Polen und Australien. Estol
gewann damit außerdem mehrere internationale Fotografiepreise. DZ
 o2.de/netz

CAN DO IST, WENN

SICH PREIS UND LEISTUNG
EINIG SIND: SEHR GUT.
π holt sich zum dritten Mal in Folge die Note „sehr gut“ im connect Netztest.1
Und auch der Preis ist bei π laut connect Komplett-Check sehr gut.2

Telefónica Germany GmbH & Co. OHG, Georg-Brauchle-Ring 50, 80992 München, WEEE-Reg.-Nr. DE 10160685
1 connect Mobilfunk- und 5G-Netztest, Heft 01/2023: „sehr gut“ (894 Punkte) für π; insgesamt wurden vergeben: 2x „sehr gut“ (915 und 894 Punkte) und 1x „überragend“ (952 Punkte).
5G ist für geeignete Endgeräte an immer mehr Standorten verfügbar. Weitere Informationen unter o2.de/netz. 2 Laut connect Service-Test Komplett-Check Netzbetreiber 2022, Heft 2/2022
12 POLITIK 29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1

»Dieser Aufstand war ein Geschenk«

Haben die Amerikaner erkannt, dass die Gefahr für ihre Demokratie aus dem Inneren kommt? Ein Gespräch mit der Politologin Barbara Walter

Fotos: Mark Peterson/Redux/laif (S. 12); Debora Cartwright/Del Mar Photographics (S. 13)
Anhänger des abgewählten Präsidenten Trump am 6. Januar 2020 vor dem Kapitol

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Ein würdiger Ort für die festliche Preisverleihung:

Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg

v. l. n. r.: Moderatorin Julia-Niharika Sen, Hauptpreisträgerin Irina Scherbakowa, Hauptpreis-Laudator Olaf Scholz,
Jochen Brühl (Tafel Deutschland e.!V.), Sirkka Jendis (Tafel Deutschland e.!V.), Förderpreis-Laudatorin Katharina Fegebank, Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank
Eva Fischer (Tafel Deutschland e.!V.), Willi Schmid (Tafel Deutschland e.!V.) und Matthias Naß, Juryvorsitzender des sprach den Tafeln in Deutschland große Anerkennung
Marion-Dönhoff-Preises für ihre Leistungen aus

Am 4. Dezember wurde zum 20. Mal der

ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo mit Hauptpreis-
Marion-Dönhoff-Preis für internationale Hauptpreisträgerin Irina Scherbakowa und Laudator trägerin Irina Scherbakowa und Elena Zhemkova, Bundeskanzler Olaf Scholz würdigte
Verständigung und Versöhnung von der ZEIT, Olaf Scholz Geschäftsführerin von Memorial International Irina Scherbakowa in seiner Laudatio

der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius

und der Marion Dönhoff Stiftung verliehen.
Fotos: Andreas Henn für DIE ZEIT · Illustration: Anatolij Pickmann

Die Veranstaltung fand in festlichem Rahmen

am zweiten Advent im Deutschen Schauspiel-
haus Hamburg statt. Irina Scherbakowa,
Mitbegründerin der russischen Menschen-
rechtsorganisation Memorial, erhielt den
Hauptpreis. Die Tafel Deutschland e."V.
wurde mit dem Förderpreis ausgezeichnet.
Der Vorstandsvorsitzende Jochen Brühl hielt die Dankes-
Bundeskanzler Olaf Scholz und Hamburgs Lang anhaltender Applaus für die Preisträger worte stellvertretend für Tafel Deutschland e.!V.

Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank

würdigten die Preisträger in ihren Laudationes.
Eine Veranstaltung von: Medienpartner:
DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022
DIE ZEIT: Frau Walter, in Ihrem Buch beschrei-
ben Sie, wie Bürgerkriege beginnen. War der
Sturm auf das Kapitol in Washington vor zwei
Jahren so ein Moment? Dachten Sie: So könnte es
losgehen?
Barbara Walter: Ich betrachte den Aufstand vom
6. Januar 2021 als Geschenk an das amerikanische
Volk.
ZEIT: Als Geschenk?
Walter: Vor dem 6. Januar haben nur wir Experten
darüber gesprochen, dass der Extremismus in den
USA zunimmt und es immer mehr Milizen gibt.
Aber niemand hat uns zugehört, weil all das nicht
sichtbar war. Der Sturm aufs Kapitol hat uns die
harten Beweise dafür geliefert, wie dieses Ge-
schwür in unserer Gesellschaft wächst. Der Tag
hat unsere Politiker und Bürger dazu gezwungen,
diese Probleme ernst zu nehmen.
ZEIT: Wie schätzen Sie die Gefahr ein, die derzeit
von diesen Milizen ausgeht?
Walter: Sie ist heute wohl etwas geringer als am
5. Januar 2021, weil das FBI einige der Gruppen
infiltriert hat und einen viel besseren Überblick
hat, was genau dort passiert. Aber die Entwick-
lungen, die diese Gruppen stark gemacht haben,
sind nach wie vor da.
ZEIT: Welche sind das?
Walter: Vor allem zwei Risikofaktoren lassen poli-
tische Gewalt und Bürgerkriege entstehen: Die
Gefahr ist zum einen dann groß, wenn ein Land
eine sogenannte Anokratie ist, also eine schwache
Demokratie mit schwachen Institutionen, die die
Exekutive nicht zur Verantwortung ziehen. Und
zum anderen wird es gefährlich, wenn sich die
Bürger eines Landes politisch nach Hautfarbe, Re-
ligion oder ethnischer Zugehörigkeit organisieren.
Es gibt eine Reihe von undemokratischen Ent-
wicklungen, die die Demokratie in den USA ge-
schwächt haben, Versuche etwa, das Wahlrecht zu
beschränken, oder das gezielte Zuschneiden von
Wahlbezirken. Die Demokraten würden das gerne
ändern, aber sie verfügen nicht über die notwendi-
gen Mehrheiten dazu. Und die Republikaner wol-
len unsere Demokratie nicht reformieren, weil sie
kein Interesse daran haben: Die Partei stützt sich
heute zu fast 80 Prozent auf weiße und überwie-
gend evangelikale Wähler – in einem multireligiö-
sen und multiethnischen Land. Die Republikaner
sind nicht mehr repräsentativ für das heutige Ame-
rika. Sie sind eher eine ethnische Interessengruppe.
Und die können besonders gefährlich werden.
ZEIT: Besteht in den USA tatsächlich die Gefahr
eines Bürgerkrieges? Ist das nicht eine arge Über-
treibung?
Walter: Schon 2016 wurde unsere Demokratie ge-
schwächt, da waren die Präsidentschaftswahlen
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IC󰉀󰉀 󰈟󰈟C󰉀󰉀Ü󰈙󰈙ZE 󰈲󰈲󰈾󰈾󰉎󰉎H,
weil unsere Kultur-Szene wieder aufleben soll.
Philip ist Kulturvermittler und hält seinen
Corona-Schutz aktuell.
POLITIK 13
zwar frei, aber nicht wirklich fair, weil auf ver- Macht halten, als es ihrem Bevölkerungsanteil ent-
schiedenen Wegen versucht wurde, Menschen am spricht, weil sie strategisch klug die Kontrolle in
bar. Das sollte er auch sein. Aber die Unternehmen
schieben das nur vor, um Regulierung zu verhin- Torten
Wählen zu hindern, vor allem Minderheiten und vielen zentralen Positionen in den Bundesstaaten
ärmere Menschen, die eher für die Demokraten und an den Gerichten übernommen haben.
dern. Wir regulieren alle anderen Medienformen
und jede Branche, die stark negative Auswirkun- der Wahrheit
stimmen. 2016 hat zudem Russland Einfluss ge- ZEIT: Inwieweit trägt die hasserfüllte Rhetorik in gen auf die Gesellschaft hat. Ich sage: Reguliert
nommen, was wahrscheinlich zum Sieg von der Politik zur steigenden Gewaltbereitschaft bei? nicht die Inhalte, sondern die Algorithmen und VON KATJA BERLIN
Donald Trump beigetragen hat. 2020 hatten wir Walter: Sie ist ein Brandbeschleuniger. Das die Suchmaschinen, die den aufrührerischen, ex-
dann einen amtierenden Präsidenten, der eine 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Demo- tremen und hasserfüllten Informationen enorme
Wahl verloren hatte, sich aber weigerte, das Ergeb- kratisierung. Seit 2010 aber ist die Zahl der De- Reichweite verleihen. Wir als User haben keine
nis zu akzeptieren, und aktiv versuchte, es zu kip- mokratien auf der Welt rückläufig. Neu ist, dass Kontrolle über unseren Feed. Was ganz nach oben Was wir uns
pen. Sollten die Republikaner die kommenden auch die stärksten Demokratien geschwächt wer- gespült wird, ist das, was uns am längsten vor dem Ende 2022 wünschen
Präsidentschaftswahlen gewinnen, spricht viel da- den, etwa in Großbritannien oder Schweden. Das Bildschirm hält. Und das ist in der Regel etwas,
für, dass sie versuchen werden, das Wahlsystem so Vertrauen in die Demokratie sinkt. das eher negativ ist und ein Gefühl der Bedrohung
zu verändern, dass sie auch in Zukunft garantiert ZEIT: Woran liegt das? vermittelt.
gewinnen. Entweder indem sie das Wählen für be- Walter: Ich sehe da einen direkten Zusammen- ZEIT: Ein schockierendes Beispiel für politisch
stimmte Gruppen weiter erschweren oder indem hang mit der aggressiven Strategie, die Wladimir motivierte Gewalt in jüngster Zeit war der Angriff
sie die Stimmauszählung zu ihren Gunsten beein- Putin seit 2010 verfolgt. Er versucht, die Legitimi- auf den Ehemann von Nancy Pelosi, der Spreche-
flussen. Wir Amerikaner glauben gern, dass unsere tät der westlichen Demokratien zu untergraben. rin des Repräsentantenhauses. Der Täter hatte sich
Demokratie außergewöhnlich ist. Ich würde sie Er will verhindern, dass die Menschen in Russland online radikalisiert, übernahm rechtsextreme Ver-
nirgendwo einführen, weil es so viel eine liberale Demokratie attraktiv schwörungstheorien. Wie bedrohlich sind solche
Ein neues Jahr Vielleicht doch
bessere Modelle gibt. finden. Und das Internet bietet ihm, Taten?
lieber ein etwas
ZEIT: Wenn also Trump oder ein zumindest in den USA, eine völlig Walter: Die Tat ist ein Indikator dafür, dass Gewalt
älteres Jahr zurück
ihm ideologisch ähnlicher Politiker unregulierte Möglichkeit, Miss- zunehmend normalisiert wird. Trump und andere
die Präsidentschaftswahl 2024 ge- trauen, Hass und Desinformation ultrarechte republikanische Politiker propagieren
winnen würde, könnte das zwar das zu säen. Wir wissen, dass Putin bei ein Narrativ der Gewalt. Die Menschen, die das
Risiko gewalttätiger Aufstände ver- uns massiv Desinformationen über Kapitol gestürmt haben, fühlten sich nicht als Wo wir eine halbwegs aussagekräftige
ringern, würde aber gleichzeitig die Black Lives Matter sowohl in der Hochverräter, sie fühlten sich im Recht. Während Prognose für 2023 finden
Demokratie weiter untergraben? schwarzen als auch in der weißen sich Amerika von einem mehrheitlich weißen
Walter: Genau. Wenn ich über die Community verbreitet hat, um bei- Land in ein Land verwandelt, das irgendwann
Wahl 2024 nachdenke, sehe ich de noch weiter gegeneinander auf- mehrheitlich nicht weiß sein wird, ist ein Teil der
kein wirklich gutes Szenario. Wenn Barbara Walter zubringen. Er hat das auch bei The- Bevölkerung überzeugt, es sei eine patriotische
die Demokraten gewinnen, wird erforscht men wie den Impfkampagnen und Pflicht, das zu verhindern. Und einige von ihnen
die extreme Rechte behaupten, die Bürgerkriege der Geschlechteridentität getan. Al- halten dabei auch Gewalt für gerechtfertigt.
Linke habe eine weitere Wahl ge- les, was westliche Demokratien ZEIT: Was lässt sich dagegen tun?
stohlen. Wird ein Republikaner ge- schwächt, ist für Putin von Vorteil. Walter: Wir müssen die Wahlbeteiligung erhöhen.
wählt, werden sie versuchen, auf Warum wurden Demokratien fast Die jüngsten Zwischenwahlen waren eine Über-
Dauer eine Minderheitsregierung zu verankern. 100 Jahre lang gestärkt, und plötzlich kehrt sich raschung, weil die Wahlbeteiligung so hoch war. In unserem Jahreshoroskop
ZEIT: Welcher Faktor wäre entscheidend dafür, das um? Eine der Veränderungen ist, dass die meis- Es war in gewisser Weise ein Referendum über die
sollte tatsächlich noch einmal ein Bürgerkrieg in ten Menschen ihre Nachrichten online und über Demokratie, und es hat gezeigt, dass Wähler wirk- Beim Wachsgießen
den USA ausbrechen: Ideologie, Wirtschaft, Klas- soziale Medien beziehen. Zumindest ein Teil die- lich etwas bewirken können. Vielleicht ist das ein
Auf unserer Gehaltsabrechnung
se, Rasse? ser Informationen zielt darauf ab, die Demokratie erstes Anzeichen dafür, dass die Amerikaner die
Walter: Es wird immer Rasse sein. Die Amerikaner zu schwächen. Und bislang war das sehr effektiv. Bedrohung ihrer Demokratie erkannt haben und
ziehen es vor, über Klassenfragen zu sprechen. Es ZEIT: Erste Daten deuten darauf hin, dass auf bereit sind, für sie zu kämpfen.
ist aber keine Klassenfrage. Das Land hat sich Twitter mehr Hass und Hetze verbreitet werden, Moderner Wintersport
nicht mit seiner rassistischen Geschichte auseinan- seit Elon Musk die Plattform übernommen hat. Die Fragen stellte Rieke Havertz
dergesetzt. Wir haben den Rassismus tief in unse- Könnte eine Regulierung der sozialen Medien hel-
rem politischen und wirtschaftlichen System ver- fen, das Risiko eines Bürgerkriegs zu verringern? Barbara F. Walter ist Professorin für Internationale
ankert. Wenn weiße Amerikaner, die über die de- Walter: Das größte Hindernis für die Regulierung Politik an der University of California in San Diego.
mografischen und sozialen Veränderungen verär- der sozialen Medien ist, dass Geld in unserer Poli- Von 2017 bis 2021 war sie Mitglied der »Political
gert sind, feststellen, dass ihre Macht schwindet, tik eine so große Rolle spielt. Die fünf größten Instability Task Force«, eines bei der CIA an-
dann sind das historisch gesehen oft genau die Technologieunternehmen der Welt – alles ameri- gesiedelten Forschungsprojekts, das die Ursachen
Gruppen, die auch zu Gewalt greifen, um die kanische Firmen – können ihren Reichtum aggres- von Bürgerkriegen untersucht. Ihr Buch »How Civil
Macht zurückzuerobern. Eine Reihe von Wahl- siv einsetzen, um Politiker davon zu überzeugen, Wars Start« erscheint am 3. Januar 2023 auf
niederlagen der Republikaner könnte also irgend- nicht mal über Regulierungen nachzudenken. Der Deutsch unter dem Titel »Bürgerkriege: Snowboarden Bei acht Grad
wann einen Bürgerkrieg auslösen. Aber es wird erste Zusatz zur amerikanischen Verfassung, der Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen« im Nieselregen
dauern. Die Weißen werden sich viel länger an der die Meinungsfreiheit garantiert, gilt als unantast- (Hoffmann und Campe) Carven joggen gehen
Jetzt
Impfschutz
überprüfen

14
Wie gingen die Streits dieses Jahres aus?
Die ZEIT und das Meinungsforschungsinstitut Civey haben die Deutschen entscheiden lassen.
1.
Füllt Olaf Scholz
seine Rolle als
Bundeskanzler
nach einem
Jahr schon
gut aus?
Am Wochenende des 3. Advent trug
sich in der US-Metropole Minneapolis
zwar nichts Heiliges, aber immerhin
etwas Historisches zu. Die ortansässi-
gen Minnesota Vikings, eine Football-
Mannschaft der US-Profiliga NFL,
legten die größte Aufholjagd in der Ge-
schichte des American Football hin –
und verwandelten einen 0 : 33-Pausen-
rückstand gegen die Indianapolis Colts
in einen 39 : 36-Sieg. Seit 1970, dem
Gründungsjahr der NFL, gelang kei-
nem Team ein solches Comeback.
Olaf Scholz, der Quarterback der
Bundesregierung, verkörpert zwar nicht
gerade den Typus rauflustiger Wikinger
aus dem Gefrierfachstaat Minnesota,
könnte deren Leistung aber locker top-
pen – dafür muss er nur einen 22 : 69-
Rückstand in einen Sieg verwandeln.
Schließlich ist deutsche Politik ja nichts
anderes als American Football ohne
Helm, Schulterpads und Nackenschutz:
Es geht um Geländegewinne, Territorial-
verteidigung – und die bessere Form am
Endspieltag.
69 Prozent der Deutschen sind der
Meinung, Scholz habe seine Rolle als
Kanzler noch nicht gefunden. Nur
22 Prozent sind mit seiner Leistung –
neudeutsch: Performance – zufrieden,
neun Prozent der befragten Bürger
schwanken noch.
Im Kern gibt es zwei Möglichkei-
ten, wie man im Angesicht eines hoff-
nungslos erscheinenden Rückstands
agieren sollte: Man kann, wie die Vi-
kings es getan haben, eine Pause nut-
zen, um von »leidenschaftslos« auf
»leidenschaftlich« umzuschalten, eine
Trotzreaktion zu zeigen und dem
Widersacher dann das Lächeln der
Siegesgewissheit aus dem Gesicht zu
klopfen. Scholz, dem Defensivfanati-
ker, wird das in der laufenden Weih-
nachtspause kaum gelingen. Er hat
sich zu sehr in sein Selbstbild verliebt,
die Inkarnation der reinen Vernunft in
unvernünftiger Zeit zu sein hat, um
noch auf Leidenschaft und Aggressivi-
tät umschalten zu können.
Was ihm noch bleibt, hat Didier
Deschamps, der französische National-
trainer, jüngst im WM-Endspiel gegen
Argentinien vorgeführt: demonstrati-
ves Auswechseln noch vor der Halb-
zeitpause. Christine Lambrecht wäre
dann wohl der Ousmane Dembélé der
Ampel. Und irgendwie ist das ja auch
logisch: Wozu braucht man noch eine
Verteidigungsministerin, wenn man
angreifen muss? PETER DAUSEND
Ja 22 %
Unentschieden 9%
Nein 69 %
STREIT
Zehn Fragen, über die wir 2022 diskutiert haben – und die repräsentativen Antworten
Mein Duschverhalten musste ich nicht verän-
dern, weil ich eh schon immer kurz dusche.
Für diesen Text habe ich es mal gestoppt. Es
sind maximal drei Minuten dreißig mit und
zwei Minuten ohne Haarewaschen. Ich finde
es unter der Dusche langweilig. Man steht
dumm rum, wie an der Bushaltestelle.
Das Leben draußen vor der Dusche hat so
viel zu bieten! 36 Prozent der Deutschen aber
duschen jetzt kürzer, es sind vermutlich vor al-
lem die Langduscher, die von vollen zehn Mi-
nuten auf achtdreißig runtergegangen sind und
jetzt die gewonnene Lebenszeit womöglich
zum Ausräumen der halb vollen Spülmaschine
oder zur Buchung von Fernflügen nutzen. Das
bringt dann auch nichts.
Alle Zahlen basieren auf einer repräsentativen Civey-Umfrage im Auftrag der ZEIT, Erhebungszeitraum 14./15. 12. 2022, Stichprobe: 2500 Teilnehmer
Ja
Nein
Weiß nicht / keine Angabe
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
2.
Haben Sie 2022 angefangen,
kürzer zu duschen?
Wohl wegen ihres höheren Einsparpotenzials
duschen 40 Prozent der Frauen in Deutschland
kürzer, aber nur 33 Prozent der Männer. Interes-
sant sind jene sechs Prozent, die auf die Frage nach
ihrem Duschverhalten »Weiß nicht« antworten,
dies können eigentlich nur diejenigen sein, die
schon immer nie oder fast nie geduscht haben. Sie
sind die wahren Helden der Krise. Ich würde gern
mal das Porträt eines Nieduschers lesen, über die
Akzeptanzprobleme im Büro, die schwierige Part-
nerwahl. Das sind doch echte Opfer, die da fürs
Energiesparen gebracht werden.
Der Osten verweigert sich, nicht überra-
schend, weitgehend den Sparappellen aus dem
Westen, nur 26 Prozent mäßigen im Osten ihr
Duschverhalten.
36 %
6%
3.
Zeigt der Streit
um »Layla« und
Winnetou, dass
das Land 2022
achtsamer, gar
»woker« wurde?
DIE ZEIT: Frau Arndt, Sie sind Rassis-
musforscherin an der Uni Bayreuth und
Expertin für sensible Sprache. Deutsch-
land hat sehr leidenschaftlich diskutiert,
ob der Song Layla zu sexistisch für Volks-
feste ist und ob man noch Bücher über
Winnetou auf den Markt bringen kann.
Wie kamen Ihnen diese Debatten vor?
Susan Arndt: Wir sind weiter als vor ein
paar Jahren! Früher machte jemand einen
sogenannten Herrenwitz, der war dann
zehn Tage lang Thema, aber Folgen hatte
die Diskussion keine. Heute wird das Ge-
spräch etwa über Rassismus kontinuier-
lich geführt, man kann es nicht mehr
ignorieren. Mich nervt nur, dass wir zu
oft über das »Ob« streiten. Also ob wir
über Diskriminierung reden sollen. Statt
darüber zu reden, wie wir sie bekämpfen.
ZEIT: Aber wir reden ja ständig darüber.
Foto: Maurizio Di Iorio für DIE ZEIT; Grafiken: ZEIT-Grafik
Nach dem Geschmack mancher: zu oft.
Arndt: Ja, mehr Medien und Institutio-
nen geben dem Thema Raum. Aber die
Debatten sind nicht produktiv genug.
Wir fragen nicht: »Wie kann Sprache so
gestaltet werden, dass alle sich repräsen-
tiert fühlen?« Sondern: »Wieso wird in
den Fernsehnachrichten gegendert?«
ZEIT: Viele wollen eben nicht gendern.
Arndt: Das finde ich auch in Ordnung.
Ich will aber, dass jede Person, die gen-
dert, das tun kann, ohne angefeindet zu
werden. Man sollte ihr nicht gleich un-
terstellen, dass sie Zensur üben möchte.
Polarisierung ist nicht gut. Übrigens fin-
de ich andersherum auch nicht gut, wenn
Leute ausgeladen oder Songs auf einem
Volksfest verboten werden. Die Diskus-
sion über Layla führte vom Ziel weg.
ZEIT: Inwiefern?
Arndt: Klar kann man entscheiden, ein
Lied in den eigenen Räumen nicht zu
spielen. Andererseits sollte nicht der Ein-
druck entstehen, als hätten wir Sexismus
im Griff, wenn wir nur Layla nicht mehr
auflegen. Jedenfalls sollten wir die Debat-
Gibt es in Leipzig bald die Protestbewe- te nicht auf einzelne Songs oder Bücher
gung der Montagsduscher? Noch deutlich re- reduzieren. Strikte Verbote machen es
nitenter aber ist die Jugend: Nur 17 Prozent denen zu einfach, die ohnehin sagen:
der Personen unter 29 Jahren sparen. Warum »Seht ihr, diese Debatte führt zu Verbo-
bloß? Ich glaube mich zu erinnern, dass im ten.« Ich glaube mehr an die Kraft des
Leben vieler junger Menschen die Sexualität Arguments. Lasst uns darüber reden, wa-
eine große Rolle spielt, deren Schauplatz ist rum ein Song erfolgreich ist, der Frauen
bei manchen zumindest hin und wieder die auf ihren Körper und auf Sex reduziert.
Dusche. Könnte sich die Jugend dabei aus ZEIT: Hielten Sie es auch für schlecht,
staatspolitischem Verantwortungsbewusstsein dass Ravensburger ein Winnetou-Buch
nicht ein wenig beeilen? aus dem Programm nahm?
Kürzeres Duschen kann sogar junges Leben Arndt: Ja. Wir sollten über das kolonialis-
retten, dies zeigt der Film Psycho. Wenn Janet tische Weltbild hinter Winnetou reden.
Leigh in Alfred Hitchcocks Meisterwerk kürzer Aber das geht nicht, wenn wir mit Ver-
geduscht hätte, wäre ihrer Filmfigur wohl eini- boten in einer freien Gesellschaft polari-
ges erspart geblieben. HAR ALD MARTENSTEIN sieren. INTERVIEW: MARTIN MACHOWECZ
Ja 22 %
58 % Unentschieden 18 %
Nein 60 %
 »Eine Demokratie,
in der nicht gestritten wird,
ist keine.«
DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022 HELMUT SCHMIDT 15

Richtig 79 % Zustimmung 24 % Ja 18 %

Unentschieden 5% Unentschieden 9% Unentschieden 8%

Falsch 16 % Ablehnung 67 % Nein 74 %

4.
War es richtig, die letzten
drei Atommeiler bis April
2023 am Netz zu lassen?
Einfache Wette: Es werden sich keine
Aktivisten der »Letzten Generation« an
Reaktorkuppeln kleben, wenn die Rück-
bautrupps anrollen. Keine Greta Thun-
berg wird der Bundesregierung ein »How
dare you!?« entgegenschleudern. Seltsam.
Gerade diejenigen, die zu Recht auf die
Gesetze von Wissenschaft und Klima-
schutz pochen, müssten den deutschen
Atomausstieg am heftigsten attackieren.
Sicher, der Anti-Nuklear-Kurs der
Grünen fällt seit jeher auch unter die
Religionsfreiheit – aber Robert Habeck
ist in diesem Jahr der Realität so weit
entrückt, dass er im Reich der Leug-
nung wandelt: von nahen und plausi-
blen Zukunftsszenarios (»Wir haben
aktuell kein Stromproblem«). Von wis-
senschaftlichen Erkenntnissen (Kern-
kraft sei »Hochrisikotechnologie«). Von
technischen Fakten (längere Laufzeiten
brächten nicht mehr Energie). Und von
politischer Wirklichkeit (es gebe einen
»Konsens« für den Atomausstieg).
Jedenfalls bis April 2023 wollen 79
Prozent der Deutschen die drei verblie-
benen AKW weiterlaufen sehen, sie fin-
den das »Machtwort« von Kanzler Scholz
also richtig. Man muss das noch nicht als
Überwindung der deutschen Angst vorm
Atomtod deuten. Vielleicht ist die Angst
vor weiter steigenden Stromrechnungen
gerade einfach noch größer.
Ganz sicher aber hat die Debatte
schon mal den Fortschritt bewirkt, die
Kernkraft ins Maß zu anderen Risiken zu
setzen. Es gab Tschernobyl und Fukushi-
ma, ja. Aber Kohlekraft ist statistisch 800-
mal tödlicher. Eine komplett grüne
Energieversorgung wäre die beste, klar.
Aber auch wenn man die Zahl der Solar-
panels verdreifacht, liefern sie nachts
keinen Strom. Atommüll ist ein Problem.
Aber ist der Klimawandel nicht ein
böseres? Eine Frage fehlt allerdings noch:
Welches Risiko ist in Deutschland
eigentlich größer – das eines Atom-
unfalls oder das eines längeren Stromaus-
falls? Und welcher Fall würde wohl mehr
Opfer fordern? Dazu könnte das Wirt-
schaftsministerium bis zum April ja mal
eine Studie vorlegen. JOCHEN BIT TNER
5.
Inwiefern stimmen Sie der Aussage
zu, dass es mehr als zwei biologische
Geschlechter gibt?
Je kleiner die Zahl der Betroffenen, desto
größer oft das Ausmaß der öffentlichen
Erregung. Das zeigte sich 2022 wieder
beim Streit um die Frage, ob es neben
Mann und Frau weitere biologische Ge-
schlechter gibt, und wenn ja, wie viele.
Praktische Relevanz hat das Thema
kaum. Obwohl es inzwischen möglich
ist, das Geschlecht im Standesamt auf
eine dritte Option umtragen zu lassen,
machen in Deutschland im Jahr nur
wenige Hundert Menschen davon Ge-
brauch. Bei Umfragen oder Bewerbun-
gen bleibt das Ankreuzkästchen »divers«
fast immer ungenutzt. Selbst die große
Mehrheit derer, die nach medizinischen
Kategorien als intersexuell gelten, ordnet
sich dem männlichen oder weiblichen
Geschlecht zu. Dennoch fand der Ge-
schlechterstreit wieder viele Anlässe, etwa
als die Berliner Humboldt-Uni aus Angst
vor Krawall den Vortrag einer Biologie-
Doktorandin absagte und sich den Vor-
wurf des Cancelns (noch so ein Thema,
dem oft der Gegenstand fehlt) einhan-
delte. Die Bevölkerung hat beim Thema
eine recht eindeutige Meinung. »Es gibt
mehr als zwei biologische Geschlech-
ter« – diese Aussage lehnen 67 Prozent
ab, 24 Prozent stimmen zu. Ein Blick in
die Zahlen bestätigt viele Erwartungen:
So finden sich die Anhänger der Gender-
diversität eher im Westen als im Osten,
eher in Städten als in Dörfern und stärker
unter Anhängern der Grünen als der
Union. Beim Alter gibt es aber eine Über-
raschung: Unter den 18- bis 29-Jährigen
glauben am wenigsten Befragte, dass es
mehr als zwei Geschlechter gebe.
Nun könnte man spitz sagen, diese
Gruppe erinnert sich am besten an den
eigenen Biologieunterricht. Die Biologie
definiert das Geschlecht als eine von zwei
Varianten der Fortpflanzung, die sich aus
den zwei Keimzelltypen (Eizellen/Sper-
mien) ableiten. Der Mensch aber besteht
nicht nur aus Chromosomen, Hormo-
nen und Genitalien. Neben der biologi-
schen Wirklichkeit gibt es Identitäten,
Gefühle, soziale Rollen. Da ist viel mehr
möglich als ein Entweder-oder, Mann
oder Frau. MARTIN SPIEWAK
6.
Vermissen Sie die
verstorbene
Queen Elizabeth II?
Eine globale Ikone wie die Queen kann
man nur schwer persönlich vermissen,
aber sie fehlt mir schon, diese ewige
Königin. Da geht es mir in London
offenbar anders als der Mehrheit der
befragten Deutschen. Vielleicht, weil
sie mich an meine Mutter erinnerte, mit
ihrer deutschen Betondauerwelle und
ihren immer bunten Kleidern und
Hüten, als sei das Leben ein ewiger Kir-
chenbasar. »Ich muss diese Farben tra-
gen, damit ich gesehen werde«, hat sie
einmal gesagt. London ist farbloser
geworden, seit sie nicht mehr da ist.
Ihre dauerhafte optische Präsenz als
Stilikone war mehr als ein exzentrischer
Mode-Gag. Sie war lebenswichtig für
eine Königin, die zeit ihres Lebens be-
wusst sprachlos blieb, wenn es um Po-
litik ging. Die stumme Verkörperung
einer Nation. Diszipliniert, bescheiden.
Galionsfigur des alten Empire, zumin-
dest das letzte menschliche Bindeglied
zur Zeit einstiger Größe Britanniens.
Die aber existierte bereits zu Beginn
ihrer Regentschaft nur noch als nostal-
gische Erinnerung. Das alte imperiale
Königreich begann sich schon kurz
nach Elizabeths Krönung aufzulösen.
Der Tod der Queen markiert jetzt den
endgültigen Abschied von einem Phan-
tomschmerz. Und in gewisser Weise
liegt hierin auch eine Chance. Denn der
neue König, der den Übergang bislang
überraschend bruchlos gemeistert hat,
war lebenslang ein grüner Aktivist. Er
ist kein unbeschriebenes Blatt, wird
nicht – wie noch seine Mutter – als le-
bendes Beruhigungsmittel gegen die
Herausforderungen des 21. Jahrhun-
derts dienen. Im Gegenteil, er steht
dafür, dass sie gemeistert werden müs-
sen. Und das ist gut so.
Die Queen indes steht weiter als
rosa Figur in meinem Bücherregal und
winkt, wenn die Sonne auf das Solar-
feld auf ihrer Handtasche fällt. Eine
Erinnerung an eine bunte, bruchlose
Zeit, die es eigentlich nie gegeben hat.
Annette Dittert ist ARD-
Korrespondentin in London

7.
Geht die Justiz mit
den Blockaden der
»Letzten Generation«
eher zu hart oder zu
milde um?
Das Schöne am Rechtsstaat ist ja, dass er nicht nur
Schwarz oder Weiß kennt, Gut oder Böse, Härte
oder Milde, sondern unendlich viele Schattierungen
von Grau. Das gilt gerade im Umgang mit Straf-
tätern. Die Justiz differenziert, sie schaut sich den
Täter an, fragt nach seinen Motiven, bemisst die
Strafe nach der individuellen Schuld, nicht nach den
Forderungen des Boulevards. Das gelingt nicht
immer gut, auch in der Justiz sitzen Menschen, aber
es ist die beste Methode, die wir haben.
Deswegen ist Straßenblockade nicht gleich Stra-
ßenblockade, nicht jede davon muss hart bestraft
werden, es kommt, wie Juristen gern sagen, darauf
an. Darauf zum Beispiel, ob sich die Aktivisten fest-
kleben oder nicht, ob sie Rettungswege offen halten,
mit der Polizei kooperieren. Deshalb fallen die ersten
Urteile gegen die »Letztgenerationellen« gerade
unterschiedlich aus, manche Gerichte sprechen frei,
andere verhängen Geldstrafen. Irgendwann wird der
Bundesgerichtshof urteilen, schließlich das Bundes-
verfassungsgericht, das bei Sitzblockaden auch an
die Versammlungsfreiheit des Grundgesetzes denkt.
So entwickelt sich eine differenzierte Strafver-
folgung, und das ist angemessen, denn die Klima-
aktivisten sprengen ja nichts in die Luft, sie nerven
nur, meistens jedenfalls. Und das im Namen eines
Ziels, das im Grundgesetz verankert ist, Artikel 20a:
»Der Staat schützt auch in Verantwortung für die
künftigen Generationen die natürlichen Lebens-
grundlagen.« Rechtfertigt das unumstrittene Motiv
jede umstrittene Tat? Natürlich nicht. Aber es spricht
für eine gewisse Gelassenheit bei der Strafverfolgung
der Täter. Sollten die sich eines Tages radikalisieren,
worauf wenig hindeutet, kann die Justiz immer noch
hart durchgreifen. Und wem das zu liberal gedacht
ist, der kann sich ja damit trösten, dass es nicht die
Justiz braucht, um die Aktionen der »Letzten Gene-
ration« unpopulär zu machen. Das erledigen die
Aktivisten selbst. Siehe Umfrage. HEINRICH WEFING
8.
Hat die Hochzeit
von Christian
Lindner und Franca
Lehfeldt der Insel Sylt
geschadet?
Nein, ich gehöre nicht zu dem Drittel der Deut-
schen, die finden, Christian Lindners Hochzeit
habe Sylt geschadet. Ich war erst kürzlich auf der
Insel, ich kann berichten, sie lag wie eh und je
grazil hingestreckt als schlafende Schöne im kalten
Wasser der Nordsee. Aber ich gehöre zu dem noch
zu ermittelnden Anteil von Deutschen, die finden,
dass Politiker solche pompösen Hochzeiten nicht
brauchen. Vor allem nicht, wenn in der Ukraine
Krieg ist und überall sonst in Europa Krisen herr-
schen. Ich finde eher: Sylt hat Lindner geschadet.
Nennen Sie mich spießig, nennen Sie mich
kleinkariert, aber ich habe große Teile meiner
politischen Sozialisation in der Merkel-Ära erlebt.
Da gab es so was nicht. Sie flog nicht mit der Privat-
maschine herum, spazierte nicht mit nackten Füßen
über den Strand einer Südseeinsel und zeigte nicht
bei jeder Gelegenheit mit dem ausgestreckten
Zeigefinger ins Ja-wohin-eigentlich. Bei Merkel gab
es die Raute, selbst gebackenen Pflaumenkuchen,
und sie machte kein Gesicht beim Fotografieren. Sie
wusste, dass sie nicht die britische Thronfolgerin
war. Dieser Teil ihres politischen Erbes darf gern mit
dem Prädikat »wertvoll« versehen werden.
Lindners strahlende Hochzeitsbilder haben nicht
dafür gesorgt, dass die Umfragewerte der FDP nach
oben gehen. Im Gegenteil: Sie haben den sich über
das ganze Jahr hinziehenden Sinkflug der Liberalen
nicht aufhalten können, sondern dem Parteivor-
sitzenden noch eine frühsommerliche Debatte da-
rüber beschert, ob man sich in einer Kirche auch
dann trauen lassen darf, wenn man keine Kirchen-
steuer zahlt. Zu anderer Gelegenheit sprach Lindner
einmal von Gratismentalität. Aber da ging es nur
um überfüllte S-Bahnen. Fast die Hälfte der unter
40-Jährigen in unserer Umfrage übrigens meint,
Lindners Hochzeit habe Sylt tatsächlich geschadet.
Ob sie sich wirklich um das Image der Insel sorgen?
Oder doch eher um das der FDP? JANA HENSEL
9.
War es richtig,
die Maskenpflicht im
ÖPNV in den meisten
Bundesländern
beizubehalten?
In einer Pandemie ist das Timing entscheidend. Das
galt für den ersten Corona-Lockdown, der früh kam
und eine zerstörerische Welle wie in vielen Nach-
barländern verhinderte. Das galt für den Pandemie-
winter 2020/21, in dem die Politik nur zaghaft
Maßnahmen einführte, obwohl eine Mehrheit sich
schnelles Handeln wünschte – am Ende gab es Ver-
schärfungen im Monatstakt. Und das gilt auch bei
der Frage, wann man die letzten Maßnahmen, die
Isolationspflicht und vor allem die Maskenpflicht
in Bus und Bahn, kippt. Ist der Moment spätestens
jetzt gekommen, da auch Christian Drosten das
Ende der Pandemie feststellt?
Fürs Timing des Loslassens gibt es juristische
Überlegungen: Grundrechtseinschränkungen be-
dürfen einer Begründung, etwa eines Notfalls, und
es gibt guten Grund, anzuzweifeln, dass Corona
gegenwärtig noch ein Notfall ist. Entscheidend ist
aber auch: Je länger die Politik an Maßnahmen fest-
hält, obwohl die Pandemie im Alltag der meisten
keine Rolle mehr spielt, desto eher bringt sie Men-
schen gegen sich auf. Und desto eher stoßen wenig
invasive Maßnahmen wie das Masketragen auf Ab-
lehnung, werden unnötig politisch aufgeladen. Wer
Maßnahmen nicht beendet, wenn es möglich ist,
läuft Gefahr, Mittel wie die Maske für alle Zeit zu
verbrennen. Das Schutzverhalten, das wir in dieser
Pandemie eingeübt haben, gleicht Muskelarbeit.
Muskeln sind irgendwann erschöpft. Dann gönnt
man ihnen am besten Ruhe. Nur so kann man sie
wieder feste anspannen, falls es nötig wird.
In Ostasien tragen die Menschen freiwillig Mas-
ke, wenn sie kränkeln oder viele Viren zirkulieren.
Vielleicht ist es naiv, aber mancher, wie dieser Autor,
hat Hoffnung, dass wir so etwas in Zukunft auch
hier erleben – etwa während einer RSV-Welle, die
die Kinderkliniken stark überlastet. Das Tragen der
Maske wäre dann ein Ausdruck von Verantwortung.
Und natürlich wäre es freiwillig. JAKOB SIMMANK
10.
Sind Sie stolz
auf die deutsche
Unterstützung für
die Ukraine
in diesem Jahr?
Der Bundeskanzler, so viel darf man
wohl spekulieren, hätten diese Frage
mit einer Art Ja beantwortet. Auf
einer seiner letzten Reisen in diesem
Jahr konnten Journalisten jedenfalls
einen durchaus (selbst)zufriedenen
Olaf Scholz beobachten. »Sind Sie
stolz auf die deutsche Unterstützung
der Ukraine in diesem Jahr?« Scholz
würde vermutlich hamburgern: »Stolz
nicht, aber es war doch recht ordent-
lich.«
44 Prozent der Deutschen sind
nicht »stolz«. Das kann – wie immer
bei solchen Fragen – vieles heißen. Es
kann heißen, dass sie auch eher ham-
burgisch veranlagt sind. Dass sie fin-
den, Deutschland habe zu viel getan
oder aber zu wenig. Oder dass sie gar
nicht wissen, wer hier eigentlich ge-
meint ist: die Regierung? Die Bürger?
Stolz muss man vielleicht weder auf
die Deutschen noch auf ihre Regierung
sein. Aber mindestens recht ordentlich
gemacht hat es dieses Land doch in
Sachen Ukraine-Hilfe in diesem Jahr.
Fast eine Million Ukrainerinnen und
Ukrainer sind seit Kriegsbeginn nach
Deutschland geflohen. Die Geflohenen
wurden rasch in das Hartz-IV-System
aufgenommen und dürfen arbeiten.
Viele wohnen bei Privatleuten: Allein
die Plattform #UnterkunftUkraine hat
bis Ende September 48.800 Privat-
unterkünfte vermittelt.
Die deutschen Bürger sparen
auch weiterhin viel Energie. Im De-
zember könnten sie das EU-Einspar-
ziel von 15 Prozent nur knapp ver-
fehlen. Bis November aber standen
die Deutschen mit fast einem Viertel
Einsparungen besser da als der euro-
päische Durchschnitt.
Und auch die Bundesregierung hat
eine steile Lernkurve hingelegt. Wissen
Sie noch, die 5000 Helme, die
Deutschland zu Beginn des Krieges in
die Ukraine geliefert – und wie es sich
damit zum Gespött gemacht hat? Tem-
pi passati! Laut dem Ukraine Support
Tracker des Instituts für Weltwirtschaft
in Kiel ist Deutschland, Stand Ende
November, bei der Militärhilfe auf Platz
drei der Unterstützerstaaten angelangt
(hinter den USA und Großbritannien),
wenn es auch bei der Gesamthilfe ge-
messen am Bruttoinlandsprodukt nur
auf Platz 17 liegt. Die Liste der geliefer-
ten Waffen und Ausrüstungsgegen-
stände ist mittlerweile recht lang: 14
Panzerhaubitzen (gemeinsam mit den
Niederlanden), 30 Flugabwehrpanzer
vom Typ Gepard und das Luftabwehr-
system Iris-T, um nur das schwerste
Gerät zu nennen. Nicht schlecht für ein
heruntergerüstetes Land, das noch
2021 über Robert Habeck hergefallen
ist wie ausgehungerte Hyänen über ein
Kotelett, weil er es bei einem Besuch an
der Kontaktlinie im Donbass gewagt
hatte, laut über »Defensivwaffen« für
die Ukraine nachzudenken.
Vergleicht man all das mit dem Leid
und den Leistungen der Ukrainer, mag
es klein wirken, das Wort »stolz« fehl
am Platz. Messen wir uns allerdings an
uns selbst, ist das alles doch wirklich
recht ordentlich. ANNA SAUERBREY

Zu hart 18 % Ja 31 % Richtig 54 % Ja 39 %
Angemessen 10 %
Unentschieden 18 % Unentschieden 7% Unentschieden 17 %
Zu milde 71 %
Weiß nicht 1% Nein 51 % Falsch 39 % Nein 44 %
 16 INHALT 29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1

Titelthema: Was die Zeit aus uns macht

POLITIK Kommentar II In Deutschland werden Neubrandenburg

China Nach dem plötzlichen Ende der
Zero-Covid-Politik beendet das Regime
auch die Quarantänepflicht. Sechs
Fragen und Antworten zur aktuellen
Lage VON A . BOTA , A . MAYR , M . NAS S ,
M . SCHIERITZ UND A . SENTKER
ZEITNAH
Linkspartei Bevor wir untergehen,
Im Königreich werden wir verrückt. Ein Jahresrückblick
VON ROBERT PAUSCH 5
weniger Bioprodukte verkauft. Die VON PETER NEUMANN 48
Branche hat die Chance, massentauglich
zu werden, nicht genutzt Geier Sturzflug, Adam Smith
VON MARCUS ROHWET TER 25
VON ELISABETH VON THADDEN 48
Bedingungsloses Grundeinkommen
Werden Menschen faul, wenn sie regel- Amy Winehouse
4 mäßig Geld kriegen, ohne etwas leisten VON ANDREA PETKOVIĆ 49
zu müssen? Zwischenbilanz eines
Experiments von Wirtschaftsforschern Italo Svevo »Zeno Cosini«
VON DAVID GUTENSOHN UND
KOLJA RUDZIO 26
VON VOLKER WEIDERMANN 49

der Mäuse Bundeswehr Es ist nicht alles schlecht

Unternehmensberater McKinsey
arbeitete für russische Rüstungs-
Brad Pitt, Til Schweiger, Johnny Depp
VON ANTONIA BAUM 49
bei der Truppe. Das liegt auch am produzenten und gleichzeitig für das
Nach 21 Jahren in den Luftwaffeninspekteur Ingo Gerhartz Richtig Sonne
•6
deutsche Verteidigungsministerium
USA war ZEIT-Korres- VON PETER DAUSEND VON INGO MALCHER 27 VON L ARS WEISBROD 49
pondentin Heike Buchter Ukraine Warum die populäre Disney Kann der neue, alte Chef den Peggy Guggenheim
Unterhaltungskonzern wiederbeleben?
nun erstmals zu Besuch Forderung »Wir müssen den Krieg vom
Ein Besuch im berühmtesten VON HANNO R AUTERBERG 50
Ende her denken« in die Irre führt.
bei Disney. Der Konzern Ein Essay VON ELVIR A ROSERT
Freizeitpark der Welt
28 Nicolaus Sombart, Reinhart Koselleck
steckt in der Krise – wegen UND FR ANK SAUER 7
VON HEIKE BUCHTER
VON ALEX ANDER CAMMANN 50
seiner Preispolitik und weil Schweiz Wie neutral kann ein Land
Wirtschaft in einem Satz 29
Wisława Szymborska
unklar ist, welche amerika- in Zeiten der Zeitenwende bleiben? ZEIT für Geld Ist ein gehebelter ETF
besser als ein Standard-ETF? VON PETER NEUMANN 50
nischen Werte er noch
•8
VON MAT THIAS DAUM UND
VON MONA LINKE 29
verkörpern soll. Getarnt SAMIHA SHAF Y Lana Del Rey »Young and Beautiful«
50
mit Minnie-Maus-Ohren, Bolivien Schuhputzer vermummen
VON EVA SAGER

sich – aus Angst vor sozialer Ächtung.

WISSEN
mischte sich Buchter im James Turrell
Der Fotograf FEDERICO ESTOL würdigt Seuchen Von Pest bis Corona –
»Magic Kingdom« in ihre Arbeit 10 Seuchen haben die Menschheit immer
VON TOBIAS TIMM 51
Orlando unter die Besucher bedroht: Was man aus den Gemeinsam- Loriot
USA Zwei Jahre nach dem Sturm auf
• 31
keiten der Pandemien lernen kann
– und zahlte zähneknir- das Kapitol: Wie wahrscheinlich ist VON ANDREAS SENTKER
VON PETER KÜMMEL 51
Foto: privat

schend 15 Dollar für einen ein neuer Bürgerkrieg in den USA?
Hotdog WIRTSCHAFT, S. 28 Ein Gespräch mit der Politologin
Barbara F. Walter
Catherine Deneuve
Sternstunden der Menschheit (12)
Tausende Forscher suchten nach dem VON K ATJA NICODEMUS 51
12 Gottesteilchen. Die Geschichte

• 33
einer sagenhaften Teamleistung Fiat Uno
VON RUDI NOVOTNY 52
STREIT VON ANTONIA BAUM

Energie Wie der Wildwuchs der

Die Streits des Jahres Wie gingen sie
aus Sicht der Deutschen aus? Wir
haben repräsentativ nachgefragt – vom
Waschlappengebrauch bis zur Kernkraft-
nutzung
DOSSIER
Rückblick auf 2022 Das Jahr war
geprägt von Krisen und Katastrophen.
Foto: Jörg Gläscher/laif
Fotovoltaik Ackerbau und Artenschutz
gefährdet GLAUBEN & ZWEIFELN
VON CHRISTIANE GREFE 35
Stille Wie die winterliche Natur
Meine Schule des Lebens braucht auch die menschliche Seele eine
14 Der Illustrator Axel Scheffler über seine Zeit des Innehaltens. Warum das über-
ziellose Jugend und den »panic room«,
den er für sein weltberühmtes Monster lebenswichtig ist, erklären der
eingerichtet hat 36 Benediktinerpater Anselm Grün und der
Psychoanalytiker Bernd Deininger 54
Psychologie Das Jahr 2022 endet in
kollektiver Erschöpfung. Was steckt

• 37
Doch es gab durchaus auch gute hinter dieser Emotion? ENTDECKEN
Nachrichten 17 VON ANNA-LENA SCHOLZ

Infografik Eine Sekunde im Körper 44 Wie findet man das Glück? Jedenfalls
nicht, indem man es sucht. Das sah
GESCHICHTE
unsere Autorin bei ihrer Arbeit im
Popkultur Wie afroamerikanische LEO – DIE SEITE Casino ein
Verräterische Muster Bella ciao • 55
Illustration: Anthony Gerace für DIE ZEIT

GIs Funk und Hip-Hop in die FÜR KINDER VON K ATERINA KITSIKOUDI
Bundesrepublik brachten: Kleine, ganz groß Zehn Kinder
Seuchen bedrohen Menschen, seit sie sesshaft wurden. Die Linke zerstört sich selbst, Die Geschichte der legendären und Jugendliche, die die Welt 2022 Entdeckt Muskelspiele
Frankfurter Diskothek Funkadelic ein bisschen besser, gerechter und 57
Corona hat uns auf die Probe gestellt. Ergebnis: ein Verein von Masochisten, lustiger gemacht haben
VON FR ANCESCO GIAMMARCO
VON JOHANNES TESCHNER UND
Die Wissenschaft hat geliefert, aber Politik und stöhnen eigene Leute. Ein Jahr JOSHUA CL ARK DAVIS 21 VON MARIE- CHARLOT TE MA AS 43 Am Grab von … Günter Grass
Gesellschaft scheitern weiter daran, die sozialen mit der Partei in 51 Episoden VON CHRISTOF SIEMES 58
Risiken zu meistern WISSEN, SEITE 31 POLITIK, SEITE 5 VERBRECHEN FEUILLETON Das Leben ist eine Busreise Früher
Es gibt etwas zu feiern: Eine Ausgabe fuhr Igor Pigrich reiche Russen durch
Gerechtigkeit Der Richter Klaus für die wichtigsten Geburtstagskinder Europa. Dann kam der Krieg und
Przybilla war hoch angesehen in der der Kulturwelt im Jahr 2023 veränderte alles
• 59
IN DEN REGIONALAUSGABEN ZUM HÖREN Brandenburger Justiz, bevor ihn eine
Maria Callas VON ANNA-ELISA JAKOB
Intrige zu Fall brachte. Heute kämpft
ZEIT Hamburg Wie geht es tik begeistern, die Modebranche Die so gekennzeichneten VON CHRISTINE LEMKE-MAT WEY 45
Artikel finden Sie als der Pensionär mit den Schatten der
Hamburg in zehn Jahren? Unsere verändern. Was treibt sie an? 20 Wumms In Guatemala kann man einen
Autoren wagen 28 Prognosen 2 Audiodatei im »Premium- Vergangenheit Franz Kafka der aktivsten Vulkane der Welt besteigen
Alpen-Porträt Seit 30 Jahren bereich« unter VON THOMAS MELZER 22 VON MA XIM BILLER 45
»Wir sind gut darin, Krisen zu steht der Schweizer DJ Bobo auf www.zeit.de/vorgelesen VON Y VES BELLINGHAUSEN 60
überstehen« – der Erste Bürger- der Bühne. CHRISTINA PAUSACKL Conan O’Brien
ANZEIGEN IN WIRTSCHAFT Wie es wirklich ist ... die Fische
Fotos Johanna Maria Fritz

Ein afghanischer Teppich:
Da Saliha und Rahima
wegen der Taliban nicht
zur Schule gehen dürfen,
bleibt ihnen nichts anderes
übrig, als tagein, tagaus
Teppiche zu knüpfen
meister Peter Tschentscher im über ein eidgenössisches VON SOPHIE PAS SMANN 45
Gespräch 6
DIESER AUSGABE aus dem Aquadome zu retten
Phänomen 30
Bildungsangebote und Schlechte Luft Die Gasrechnungen Plinius und Greta VON B JÖRN WINDFUHR 62
ZEIT im Osten Was wird aus ZEIT Österreich Können sich Stellenmarkt sind hoch, die Außentemperaturen VON JENS JES SEN 46
den Themen, die uns 2022 Wintersportorte auf die Zeit (ab Seite 38)
niedrig – also laufen in Deutschland
beschäftigt haben? 20 Agenda Kultur: George Harrison
nach der Schneekanone vorberei-
Museen, Kunstmarkt, wieder die Kaminöfen. Die verursachen VON FLORIAN EICHEL 46 RUBRIKEN
ten und trotzdem weiter auf aber jede Menge Dreck
• 23
Jedes Jahr geben Tausende Bühnen (Seite 52),
Touristen in Seiffen im Erz- Skifahrer setzen? Im Tiroler Max Reger Leserbriefe 20
VON MARCUS ROHWET TER
gebirge viel Geld aus. Hier zählen Alpbachtal wird das versucht VON HANNAH SCHMIDT 46
die Gehälter trotzdem zu den VON JOHANNES SCHWEIKLE 20 FRÜHER Weltneuheiten Innovationen sind Die Position 38
niedrigsten in ganz Deutschland INFORMIERT! Das Hollywood Sign
Die ukrainische Schriftstellerin selten geworden in Deutschland, aber VON RONALD DÜKER 46
VON MONA BERNER 22 Die aktuellen Themen Worum geht’s? 39
Tanja Maljartschuk hat keine es gibt sie noch. Was 2022 hierzulande
der ZEIT schon am
• 47
erfunden wurde Jay-Z »99 Problems«
• 24
ZEIT Schweiz Diese Menschen Kraft mehr, um über den Krieg Mittwoch im ZEIT-Brief, 3½ Fragen 40
zu schreiben – und erzählt über VON ANTONIA BAUM
haben 2023 Großes vor: ins All dem kostenlosen VON JENS TÖNNESMANN
fliegen, Gondelbahnen über Flüsse die Hoffnungen von Flüchtlingen Newsletter Impressum 48
Kommentar I An Neujahr tritt das Gérard Depardieu, Otto Waalkes
spannen, mehr Frauen für die Poli- in Wien auf die Zeit danach 22 www.zeit.de/brief
VON IJOMA MANGOLD 48
Lieferkettengesetz in Kraft – es könnte Sachbuch-Bestenliste 52
mehr schaden als nützen Morris, der Erfinder von Lucky Luke
Die ZEIT inklusive aller Regional- und Wechselseiten finden Sie in der ZEIT-App und im E-Paper. VON KOLJA RUDZIO 25 VON JENS BALZER 48 Was mein Leben reicher macht 62

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112321_ANZ_D_5f5_V2_371x70_X4_ONP26 1 16.12.22 11:04


Das Jahr 2022 war geprägt von Krieg, Krisen und Katastrophen. Aber es
JANUAR
Weniger abgehängte
junge Erwachsene
In Europa ist die Jugendarbeits-
losigkeit so niedrig wie seit Langem
nicht mehr. 2,5 Millionen
Menschen unter 25 Jahren sind
Anfang des Jahres arbeitslos, das
entspricht einer Quote von
14 Prozent. 2012 waren es noch
23 Prozent. Besonders in Griechen-
land, Italien und Spanien ist die
Zahl der arbeitslosen jungen
Menschen seitdem zurückgegangen.
Ein Hauptgewinn
für das Ahrtal
Als Rita Tautermann die gute
Nachricht bekommt, ist das neue
Jahr erst wenige Tage alt. Der Krieg
in der Ukraine hat noch nicht
begonnen, die Gaskrise auch nicht,
doch schon jetzt, an diesem trüben
Januartag, an dem die 64-Jährige in
einem kleinen Zimmer im Haus
ihrer Tochter in Bad Neuenahr sitzt
und ihre Mails liest, deutet nichts
darauf hin, dass 2022 ein gutes Jahr
werden könnte. Nicht für sie. Nicht
für ihre Nachbarn. Nicht für Bad
Neuenahr-Ahrweiler.
2020 ist Rita Tautermanns Mann
gestorben, kurz vor dem
35. Hochzeitstag. Anfang 2021
jedoch habe sie neuen Mut gefasst,
erzählt sie, das Leben geht ja weiter.
Sie renovierte ihre Wohnung,
kaufte einen Couchtisch, einen
Läufer für den Flur. Eine neue
Küche hätte sie auch gern gehabt,
mit einem erhöht eingebauten
Backofen, damit sie sich nicht
immer bücken muss. Aber das
konnte sie sich nicht leisten.
Tautermann besaß nie viel Geld.
Sie hat keine Ausbildung. Als die
vier Kinder noch klein waren, ging
sie putzen, abends, wenn ihr Mann
nach Hause kam. In Arztpraxen, in
der Kirche. Irgendwann fragte der
Pfarrer sie, ob sie nicht für die
Gemeinde arbeiten wolle. Seitdem
ist Tautermann Küsterin.
Im Sommer 2021 war die
Renovierung fast fertig. »Die
Tapeten fürs Schlafzimmer fehlten
noch, die hatte ich bestellt.«
Tautermann hält inne. »Einmal
wollte ich etwas für mich tun. Nur
für mich. Und dann?«
Dann kam die Flut. Tautermann
erwachte, weil der Strom ausfiel
und die Straßenlaterne vor ihrem
Fenster erlosch. Sie weckte ihre
Tochter, die gerade zu Besuch war,
da stand das Wasser schon im
Hausflur. Sie rettete den Ordner
mit den Rentenunterlagen, den
Kontoauszügen. Das Wasser
erreichte die Wohnung.
Als sie zu der Familie unterm Dach
flüchteten, waren die Fotoalben der
Kinder, die Martinslaternen, die
ihre Töchter gebastelt hatten, all
das Zeug, das nichts wert ist für
andere, aber für Eltern
unbezahlbar, schon abgesoffen.
Am nächsten Tag zog Tautermann
zu ihrer Tochter. Ein kleines
Zimmer mit Einzelbett und
Einbauschrank. Mehr war ihr nicht
geblieben. Ihr Glaube noch, sagt
sie. Der Herbst kam, der Winter.
Weihnachten, Silvester.
Und dann, im Januar 2022, diese
E-Mail. Sie haben gewonnen, steht
da. »Ich dachte: So ein Blödsinn,
bestimmt nur Werbung.«
Tautermann klickt die Nachricht
weg. Erst als die Leute von der
Lotterie anrufen, da glaubt
Illustrationen: Luca Schenardi für DIE ZEIT
sie es doch.
Die Deutsche Postcode Lotterie
wirbt mit dem Spruch: »Gewinnen
Ihre Nachbarn, gewinnen auch
Sie!« In diesem Januar gewinnt,
unter Tausenden Städten und
Gemeinden in Deutschland,
ausgerechnet Bad Neuenahr-
DOSSIER
Wir haben gute Nachrichten!
gab auch Neuigkeiten, über die man sich freuen konnte.
In diesem Dossier blicken wir auf einige davon zurück
Ahrweiler: Alle, die in dem Gebiet
mit der Postleitzahl 53474 wohnen
und sich ein Los gekauft haben,
teilen sich 700.000 Euro. Und alle,
die sogar den Postcode richtig
haben – in der Bundesrepublik hat
jede Straße einen bestimmten
Postcode –, teilen sich weitere
700.000 Euro. Also versammeln
sich eines Morgens Journalisten von
der Zeitung und vom örtlichen
Radio und ein Fernsehteam vor
einem von der Flut zerstörten
Wohnblock. Hier hatten zwei der
319 Gewinnerinnen und Gewinner
gewohnt. Eine davon: Rita
Tautermann. Da steht sie nun,
inmitten dieses vom Unglück
gezeichneten Ortes, neben dem
Fernsehmoderator Kai Pflaume und
soll einen übergroßen Scheck aus
einem Umschlag ziehen.
233.333 Euro. Nur für sie.
»Ich habe es erst geglaubt, als das
Geld auch auf meinem Konto war«,
sagt Rita Tautermann heute. Es ist
Winter, Tautermann steht vor
ihrem Wohnblock. Sie will die Post
holen und nach dem Rechten
sehen, hier wohnen kann sie noch
nicht. Tautermann lebt bis heute
bei ihrer Tochter. Aber immerhin,
das Café in Ahrweiler hat wieder
geöffnet, die Kneipe, der
Schmuckladen. Und bald wird
Tautermann in die fertig sanierte
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
Die Tiwi-Inseln sind ein tropisches Paradies vor Australien.
Im September 2022 steht fest: Es bleibt vorerst erhalten
Wohnung heimkehren. Dann, sagt
sie, wird sie sich etwas kochen, in
ihrer neuen Küche. Mit dem
Backofen, der oben eingebaut ist,
damit sie sich nicht mehr
bücken muss. Den kann sie sich
jetzt leisten.
Besserer Schutz für
Mädchen auf den Philippinen
In dem südostasiatischen Land ist
die Kinderheirat ab sofort verboten.
Bisher wurde auf den Philippinen
eines von sechs Mädchen vor dem
18. Lebensjahr zur Ehefrau.
Künftig muss etwa ein erwachsener
Mann, der ein 14-jähriges
Mädchen zur Frau nimmt, mit
einer Gefängnisstrafe von bis zu
zwölf Jahren rechnen.
Die Zubereitung von Nahrung
wird gesünder
Nach neuen Daten der
Weltgesundheitsorganisation ist der
Anteil der Menschen an der
Weltbevölkerung, die zum Kochen
auf extrem gesundheitsschädliche
Energiequellen wie Kohle, Holz,
Holzkohle, Dung und Petroleum
angewiesen sind, seit 1990 von über
50 auf 36 Prozent gefallen
Die Deutschen rauchen weniger
Das Statistische Bundesamt meldet:
Die Zigarette ist weiter auf dem
Rückzug. Demnach
wurden im vergangenen Jahr in
Deutschland 71,8 Milliarden
Stück versteuert. Was nach viel
klingt, ist so wenig wie noch nie –
Anfang der der Neunzigerjahre
war der Konsum noch doppelt
so hoch.
FEBRUAR
Erfolg im
Kampf gegen HIV
Vier Jahrzehnte sind vergangen, seit
bei fünf Patienten in Los Angeles
erstmals die Krankheit Aids
diagnostiziert wurde. In den
Folgejahren starben zunächst viele
Infizierte, inzwischen hat sich die
Lage dank antiviraler Medikamente
deutlich verbessert. Aus Aids, der
tödlichen Krankheit, wurde Aids,
die chronische Krankheit. Auf
Dauer können die Medikamente
jedoch Leber, Nieren und Herz
schädigen sowie den Stoffwechsel
stören. Der Wunsch nach echter
Heilung ist deshalb nach wie vor
groß. Für zwei HIV-infizierte
Männer erfüllte sich dieser Traum
2007 und 2019. Den Patienten war
jeweils wegen einer
Krebserkrankung fremdes
Knochenmark übertragen worden.
Auf den Spenderzellen fehlte ein
bestimmtes Rezeptoreiweiß, was die
Träger gegen das HI-Virus resistent
werden ließ. Es verschwand
aus ihrem Körper, sie benötigten
die antiviralen Medikamente
nicht mehr.
Nun vermelden Forscherinnen von
der University of California und
der Johns Hopkins University, dass
zum ersten Mal eine Frau von HIV
geheilt wurde. Die New Yorkerin
litt unter Leukämie und erhielt
stammzellreiches, fremdes
Nabelschnurblut mit der
Eiweiß-Mutation und zusätzlich
Stammzellen aus dem
Knochenmark eines Verwandten.
Als Standardtherapie gegen Aids
taugt dieses Verfahren zwar nicht,
es gilt als zu riskant für Patienten,
die gut auf ihre Medikamente
ansprechen und keine
Transplantation benötigen.
Dennoch ist die Behandlung ein
weiterer Beweis, dass eine Heilung
möglich ist.
Mehr Kinder bleiben am Leben
In der Fachzeitschrift The Lancet
erscheint ein Artikel, aus dem
hervorgeht: Weltweit ist die
Kindersterblichkeit seit 1990 um
60 Prozent gesunken. In den
Regionen »Ostasien und Pazifik«
sowie »Osteuropa und Zentralasien«
ist sie sogar um 75 Prozent
17
zurückgegangen. Dank besserer
Gesundheitsversorgung, schreiben
die Autoren, seien Millionen
Sterbefälle von Kindern unter fünf
Jahren verhindert worden.
MÄRZ
Neue Arbeitsplätze in
Sachsen-Anhalt
Am 15. März kündigt der
Chiphersteller Intel an, im
kommenden Jahr in Magdeburg
eine Chipfabrik bauen zu wollen.
Die Hauptstadt von Sachsen-
Anhalt hat 70 Standort-
Konkurrenten in Europa
ausgestochen. Allein für den Bau
der Fabrik werden 7000 Leute
gebraucht, 3000 Spezialisten
sollen später in der Chipherstellung
arbeiten. Tausende weitere Jobs
könnten bei Zulieferbetrieben im
Umland entstehen.
APRIL
Deutschland ist
so sicher wie nie
In Berlin wird die Polizeiliche
Kriminalstatistik für das Jahr 2021
vorgestellt. Wie schon in den
Jahren zuvor sank die Zahl der
registrierten Straftaten auch
diesmal, um 4,9 Prozent im
Vergleich zu 2020. Der Anteil der
Verbrechen, die aufgeklärt werden
konnten, liegt nun bei 58,7 Prozent
– ein neuer Höchststand.
Ein Frachtschiff
mit grünem Antrieb
Als die Yara Birkeland am 29. April
in Norwegen in See sticht, ist das so
etwas wie eine kleine Revolution in
der Schifffahrtsindustrie. Dabei
sieht sie gar nicht so besonders aus:
80 Meter lang, 15 Meter breit, mit
Platz für 120 Container. Das
Besondere versteckt sich in ihrem
Inneren. Denn statt eines
Dieselmotors hat die Yara Birkeland
ein 6,7-MWh-Batteriesystem (das
entspricht in etwa den Batterien von
130 marktüblichen Elektroautos)
an Bord. Sie ist das erste Container-
schiff mit vollelektrischem Antrieb.
Weite Strecken kann sie nicht
zurücklegen, es wird noch dauern,
bis Batterien von einem Kontinent
zum nächsten reichen. Die Yara
Birkeland pendelt lediglich zwischen
einer Düngemittelfabrik in der
im Inneren eines Fjords gelegenen
Stadt Porsgrunn und dem
Seehafen Brevik.
Gerade einmal zehn Seemeilen
lang ist diese Route. Doch die kurze
Strecke reicht aus, um 40.000
Fortsetzung auf S. 18
Im Ahrtal, ein halbes Jahr nach
der Flut: Ein Lottogewinn
18
Fortsetzung von S. 17
Lkw-Fahrten und 1000 Tonnen
CO₂ einzusparen. Jedes Jahr.
MAI
Stiere sollen am
Leben bleiben
Seit dem 16. Jahrhundert gibt es
sie, die Stierkämpfe Mexikos,
genannt Fiesta Brava. Und seit Jahr-
zehnten kämpfen Tierschutz-
organisationen dafür, das grausame
Ritual zu verbieten. Bisher ohne
Erfolg. Nun ordnet das
mexikanische Bundesgericht an, es
zumindest auszusetzen, nachdem
eine Tierschutzorganisation geklagt
hat. In der größten Stierkampfarena
der Welt, der Plaza de Toros
México, finden seither keine
Kämpfe mehr statt. So lange, bis
endgültig über ihre Verfassungs-
mäßigkeit entschieden ist.
JUNI
Europa wird ein
wenig liberaler
In Slowenien entscheidet das
Verfassungsgericht: Von diesem
Sommer an gilt im Land die Ehe
für alle. Gleichgeschlechtliche
Paare, so die Richter, sollen genauso
wie Hetero-Paare heiraten und
Kinder adoptieren dürfen.
Abstand zwischen Arm und Reich
in Amerika schrumpft
In den USA geht die extreme
Ungleichheit zurück. Nie in den
vergangenen zwei Jahrzehnten
besaßen die unteren 50 Prozent der
Haushalte anteilmäßig mehr
Vermögen. Das gibt die
amerikanische Notenbank bekannt.
Die Gründe dafür: die boomende
Wirtschaft und die Covid-19-
Hilfspakete. Gleichzeitig sinkt der
Anteil der amerikanischen Kinder,
die in Armut leben, kontinuierlich
weiter. Er liegt neuesten Zahlen
zufolge bei 5,2 Prozent. Im Jahr
1993 wuchs noch fast jedes dritte
Kind in den USA in Armut auf.
Wo ist Joe?
Stephan Klatte, Pressesprecher der
Polizei Oldenburg: »Die erste
Nachricht habe ich noch am Flug-
hafen gelesen, das muss so gegen
halb zwölf in der Nacht gewesen
sein. Ich war gerade aus dem
Urlaub zurück und scrollte beim
Warten auf die Koffer die Polizei-
meldungen durch. Da stand, dass
seit dem frühen Abend ein acht-
jähriger Junge vermisst wird. Meine
Kollegen baten die Bevölkerung um
Hinweise. Ich bin seit 36 Jahren
Polizeibeamter. Mir war klar: Wenn
wir nach einem vermissten Kind
fahnden, ist es ernst.«
Am 17. Juni gegen 20 Uhr wandten
sich die Eltern von Joe an die
Polizei. Der Junge hatte im Garten
und in den Straßen rund um sein
Elternhaus gespielt. Gegen 17.30
Uhr war er zuletzt von einem
Nachbarn gesehen worden. Es ist
nicht das erste Mal, dass der geistig
beeinträchtigte Junge verschwindet.
Einmal fand man ihn in einem
nahe gelegenen Autohaus, ein
anderes Mal war er in einen Bus
gestiegen. Die Oldenburger Polizei
weiß: Joe versteckt sich gern. Sie
weiß aber auch: Sonst war Joe
immer nach kurzer Zeit wieder da.
Samstag, erster Tag nach Joes
Verschwinden. In der Nacht hat die
Polizei mit einem Hubschrauber
nach ihm gesucht. Jetzt bittet sie
die Anwohner, in Garagen, Garten-
häusern und Kellern nachzu-
schauen. Die Feuerwehr ist im
Einsatz, 200 Polizeibeamte, mehr
als 100 freiwillige Helfer. Von dem
Kind keine Spur.
Stephan Klatte: »Am Samstag-
morgen ganz früh bin ich direkt ins
Büro. Ich wusste ja, jetzt brauchen
wir die Öffentlichkeit. Als ich
ankam, stand das Telefon schon
nicht mehr still. Ich gab ein kurzes
Interview über die Such-
maßnahmen. Dann noch eins.
Wenn ich da gewusst hätte, wie
viele ich noch geben würde die
nächsten Tage ...«
Sonntag, zweiter Tag nach Joes
Verschwinden. Nach dem Hinweis
eines Zeugen sucht die Bundes-
polizei den Bahnhof Oldenburg ab.
Ein anderer Zeuge will das
Kind am Bahnhof Osnabrück
gesehen haben.
Stephan Klatte: »Wir haben bei der
Suche über 200 Hinweise erhalten.
Jeder wollte den Jungen irgendwo
Im September erwischt die Raumsonde Dart wie geplant
einen Asteroiden. Ziel der Mission: Die Rettung der Erde üben
gesehen haben. Und wie bei
einer Schnitzeljagd gehen wir
dann halt jedem brauchbaren
Hinweis hinterher.«
Dienstagmittag. Bisher führten alle
Spuren ins Nichts. Der Presse-
sprecher Stephan Klatte gibt ein
Fernsehinterview, nicht weit von
Joes Wohnhaus entfernt. Die
Kameramänner platzieren ihn auf
einer Straßenkreuzung. Genau dort,
in einem Wasserkanal in zwei Meter
Tiefe, wird man später ein
Kleidungsstück von Joe finden.
Stephan Klatte: »Der Mittwoch
änderte dann alles. Ein Zeuge
meldete sich, der Joe an einer
Bushaltestelle gesehen haben wollte,
in Begleitung eines unbekannten
Mannes. Der Zeuge beschrieb den
Jungen so gut, dass wir das
Schlimmste in Betracht ziehen
mussten. Dass Joe vielleicht Opfer
einer Straftat geworden ist.«
Die Staatsanwaltschaft leitet ein
Ermittlungsverfahren ein, Verdacht
des Totschlags. Aus der
Ermittlungsgruppe wird am
Donnerstag eine Mordkommission.
Sie sichert Handydaten,
beschlagnahmt Überwachungs-
videos. Ohne Erfolg.
Stephan Klatte: »Freitag war der
Tag, an dem mir erste Zweifel
kamen, ob wir Joe lebend finden.
Bis dahin hatte ich mir immer
wieder gesagt: Wir finden den,
wir finden den lebend. Das
wollte ich glauben, alles andere
habe ich verdrängt.«
Am Samstag, acht Tage nach Joes
Verschwinden, geht um 6.22 Uhr
ein Mann mit seinem Hund
spazieren, keine 200 Meter von Joes
Elternhaus entfernt. Aus einem
Gullydeckel dringt ein Wimmern.
Der Mann wählt den Notruf.
Joe wird unter dem Gullydeckel
gefunden. Später wird klar, dass der
Junge über ein freiliegendes
Abwasserrohr in das Kanalsystem
gekrochen ist und nach
kurzer Zeit die Orientierung
verloren haben muss.
Stephan Klatte: »Um kurz nach
sieben hat mich das Klingeln
meines Handys geweckt. Ich
glaube, ich habe keine Viertel-
stunde gebraucht, bis ich
aufgestanden, angezogen und aus
dem Haus war. Das Kind lebt!,
habe ich meiner Frau zugerufen.
Gegen Mittag stand ich dann vor
den Fernsehkameras. Und auch
wenn ich sonst wirklich nicht so
nah am Wasser gebaut bin, hatte
ich Tränen in den Augen. Wenn
ich mich sonst vor die Kameras
stelle, sind es meist keine guten
Nachrichten. Manchmal verkünde
ich, dass wir einen Straftäter
ermittelt haben, das ist dann aber
auch schon alles. Aber als ich mich
an diesem Samstag vor die Kamera
gestellt und gesagt habe: ›Joe lebt‹ –
das war die beste Nachricht
meines Lebens.«
DOSSIER
JULI
In Indien geht der Hunger zurück
Im nach China bevölkerungs-
reichsten Land der Erde ist die Zahl
der unterernährten Menschen in
den vergangenen 15 Jahren um
23,5 Millionen gesunken. So steht
es in einem Anfang des Monats
veröffentlichten Bericht der
Vereinten Nationen.
Der Boom der
erneuerbaren Energien
Am 17. Juli liegt Hoch »Jürgen«
über Deutschland, mit bis zu 15
Sonnenstunden täglich und
Temperaturen von bis zu 32 Grad.
Gegen 13 Uhr ist es so weit: In
Deutschland werden erstmals mehr
als 40 Gigawatt Solarstrom ins Netz
eingespeist. Das erinnert an einen
anderen Rekord, den die Bundes-
netzagentur im Februar nach dem
Durchzug des Sturmtiefs Ylenia
verzeichnete: 47 Gigawatt
eingespeister Windstrom. Die
beiden Zahlen reihen sich ein in ein
größeres Bild. Ein »Rekord-
wachstum bei Wind und Solar«
werden Experten der Londoner
Denkfabrik Ember später in diesem
Jahr den meisten europäischen
Staaten bescheinigen: Mittlerweile
stamme etwa ein Viertel der
Elektrizität in der EU aus diesen
beiden erneuerbaren Quellen. In
19 von 27 EU-Staaten seien neue
Einspeise-Rekorde erreicht worden.
Die traurige Pointe dabei ist, dass
zu diesen Rekorden die Klimakrise
beiträgt. Der Deutsche Wetter-
dienst zählt im besonders warmen
Sommer 2022 mehr Sonnen-
stunden als in jedem anderen Jahr
seit Messbeginn.
Die eigentliche gute Nachricht sind
gar nicht die Höchstwerte an sich.
Die gute Nachricht ist die
Erwartung unter Fachleuten, dass
es so weitergeht. Für die
In Europa boomt 2022
die Solarenergie
Internationale Energieagentur passt
der angekündigte weitere Solar-
Ausbau zum Szenario, bis zur Jahr-
hundertmitte emissionsfrei zu
werden. Und schon jetzt hilft der
grüne Strom dabei, zu verhindern,
dass die Energiekosten weiter
steigen. Die Fachleute von Ember
berechnen auch dies: Wären die
Strommengen dieses Jahres statt aus
Wind und Sonne per Gaskraftwerk
erzeugt worden, so hätte der
zusätzliche Brennstoff einen
zweistelligen Milliardenbetrag
gekostet. »Wind und Sonne sparen
den Europäern bereits heute Geld«,
sagt Chris Rosslowe von Ember.
»Aber das ganze Ausmaß des
Nutzens wird sich erst im Lauf
dieses Jahrzehnts zeigen.«
Die Nashörner sind wieder da!
Es muss eine beschwerliche Reise
gewesen sein. Mehr als 60 Stunden
von Südafrika nach Mosambik. Die
gut 1600 Kilometer haben sie in
Lastwagen zurückgelegt: 19 Breit-
maulnashörner, die jetzt im Zinave-
Nationalpark ein neues Zuhause
finden. Über 40 Jahre lang hat es
kein einziges Nashorn in Mosambik
mehr gegeben, sie galten als
ausgerottet. Nun sind sie wieder
zurück und die »big five«, Löwe,
Elefant, Leopard, Büffel und
Nashorn, erstmals wieder komplett.
Anerkennung für Pflegekräfte
Fast drei Monate lang haben sie
gestreikt. Am 19. Juli erreichen die
Pflegekräfte der unterbesetzten
Uni-Kliniken in Nordrhein-
Westfalen ihr Ziel: einen
Tarifvertrag, der ihnen nicht
einfach nur mehr Geld, sondern
auch Entlastung durch zusätzliche
freie Tage sowie eine bessere
Ausbildung verspricht. Bundesweit
erstmalig wird darin zum Beispiel
eine Mindestzahl an Lehrkräften
für Azubis in der Pflege festgesetzt.
Ein Wurm, den niemand vermisst
Die Medinawurm-Krankheit ist so
gut wie ausgerottet. Ende der
Achtzigerjahre wurden weltweit
noch fast eine Million neue Fälle
dieser Krankheit gemeldet. Sie wird
durch einen mitunter mehr als
einen Meter langen tropischen
Fadenwurm ausgelöst, der sich im
menschlichen Körper einnistet. Das
führt zu extrem schmerzhaften
Wunden. Nun ist die Krankheit
dank eines Hilfsprogramms, das
unter anderem von der Welt-
gesundheitsorganisation und dem
Kinderhilfswerk der Vereinten
Nationen vorangetrieben wurde,
von der Erde verschwunden. 2021
wurden nur noch 15 Fälle bekannt.
AUGUST
Ein Rabbiner für die Polizei
In Sachsen-Anhalt wird erstmals ein
Polizeirabbiner berufen, drei Jahre
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
nach dem Anschlag auf die
Synagoge in Halle an der Saale.
Daniel Fabian heißt er, 48 Jahre alt,
in Israel geboren, aufgewachsen in
Deutschland. Er soll Polizei-
anwärtern theoretisches Wissen
über das Judentum vermitteln und
Praktisches über jüdisches Leben
erzählen. Damit sie später als
Polizeibeamte Antisemitismus
erfolgreich bekämpfen können.
Fortschritt für die
Gesundheitspolitik in den USA
Noch nie gab es in den Vereinigten
Staaten weniger Menschen ohne
Krankenversicherung. Das teilt
die amerikanische Regierung mit.
Waren es im Jahr 2010 noch
48,3 Millionen, sind es nun
26,4 Millionen.
Australien verpflichtet
sich zum Klimaschutz
Es ist ein Anfang. Ein historischer
Moment. Das Repräsentantenhaus
in Australien verabschiedet das erste
Klimagesetz in der Geschichte des
Landes. Dabei gibt es kaum einen
Staat, der die Folgen des
Klimawandels in den vergangenen
Jahren so deutlich zu spüren
bekam wie Australien. 2019 die
verheerenden Buschbrände
im Osten des Landes, 2022
Überschwemmungen im Südosten,
dazu die Massenbleiche der
Korallen im Great Barrier Reef.
In der Regierung saßen lange vor
allem Klimawandelskeptiker. Nun,
nach einem Regierungswechsel,
soll sich etwas ändern: Die
Australier wollen ihre
CO₂-Emissionen bis 2030
um 43 Prozent im Vergleich
zum Jahr 2005 senken.
Chemikalien werden
entschärft
Sie galten als unzerstörbar.
Bakterien können sie nicht essen,
Feuer kann sie nicht verbrennen,
Wasser kann sie nicht verdünnen.
PFAS, das steht für per- und
polyfluorierte Alkylverbindungen,
sind industriell hergestellte
Chemikalien, eingesetzt für
Konsumgüter wie Outdoor-
kleidung, Kochgeschirr oder
wasserfeste Wimperntusche. Das
Problem ist: Man findet diese Stoffe
mittlerweile überall, in der
Muttermilch, in der Leber von
Eisbären, im Trinkwasser – und
einige sind hochgradig gesundheits-
schädigend. Chemikerinnen und
Chemiker der Northwestern
University in den USA haben es
nun geschafft, zehn PFAS in
ungefährliche Substanzen zu
zerlegen. »Wir haben das
Unmögliche möglich gemacht«,
schreiben sie am 18. August auf der
Website der Universität. Die Studie
dazu wird wenig später im
Fachjournal Science veröffentlicht.
Problem gelöst? Fast. Denn neben
den zehn gibt es noch ungefähr
12.000 weitere PFAS. Ein Grund,
aufzugeben? Im Gegenteil. Auf der
Seite der Uni schreibt das Team:
»Ten down, 11,990 to go«.
SEPTEMBER
Eine junge Frau wird geheilt
Es gibt immer wieder Patienten
und Patientinnen, an die sich Ärzte
und Ärztinnen genau erinnern. An
die erste Patientin, die Georg Schett
mit einer völlig neuen Methode
behandelt hat, erinnert sich der
Rheumatologe besonders gut.
Die Lungen der damals 20-jährigen
Thu Thao Vu Thi funktionierten
nicht mehr richtig, ihre Nieren
waren angeschlagen, ihre Gelenke
angeschwollen. An ihre Hobbys –
Hip-Hop-Tanz, Taekwondo,
Turnen – war längst nicht mehr zu
denken. Doch dann erhielt die
junge Frau im vergangenen Jahr
am Universitätsklinikum Erlangen
eine einzige Infusion.
Innerhalb von zwei Monaten
waren die Symptome
verschwunden, und sie brauchte
keine Medikamente mehr. »Das
war wirklich etwas, was alles
getoppt hat«, sagt Schett.
Thu Thao Vu Thi litt unter
systemischem Lupus Erythematodes
(SLE), einer seltenen
Autoimmunkrankheit, bei der
die sogenannten B-Zellen
verrücktspielen. Diese bekämpfen
normalerweise Krankheitserreger.
Bei SLE jedoch wenden sie
sich gegen den eigenen Körper
und greifen das Bindegewebe an.
1954 lebte nur die Hälfte der
Patienten länger als fünf Jahre,
heute haben die meisten – dank
Medikamenten – eine normale
Lebenserwartung. Manche sind
trotzdem schlecht dran. Schon mit
40 Jahren haben sie fortgeschrittene
Arteriosklerose, epileptische Anfälle
sind möglich, das Gehirn ist
angegriffen, weitere Organe sind
geschädigt. Bei einer systemischen
SLE-Erkrankung gebe es keine
Heilung, hieß es noch vor einigen
Jahren in einem Bericht des Robert
Koch-Instituts.
Doch dann entwickelten die
Onkologen und Rheumatologen
am Uni-Klinikum Erlangen ihre
neue Behandlungsmethode, die
CAR-T-Zelltherapie. Dabei werden
Immunzellen aus dem Blut der
Patienten extrahiert und
gentechnisch so verändert, dass sie
wie scharfe Hunde über die
fehlgeleiteten B-Zellen herfallen
können. Es ist eine Art Reset, ein
Neustart des Immunsystems. Dass
der nicht nur bei Thu Thao Vu Thi
funktioniert hat, sondern danach
auch bei fünf weiteren jungen
Erwachsenen – diese Neuigkeit
publizieren die Mediziner im
September 2022 in der
Fachzeitschrift Nature Medicine.
Ob die jungen Frauen und Männer
dauerhaft geheilt sind, muss die
Zeit zeigen. Klar ist schon jetzt: Die
Forscher haben bewiesen, dass diese
Form der maßgeschneiderten
Immuntherapie bei einer
Autoimmunkrankheit erfolgreich
sein kann. Bislang kommt sie bei
der Behandlung von Krebs zum
Einsatz, vor allem von bestimmten
Formen der Leukämie. Nun geraten
weitere Krankheiten in den Fokus
der Forschung, bei denen die
B-Zellen des Immunsystems eine
Rolle spielen. Etwa die
Rheumatoide Arthritis, von der fast
ein Prozent der Weltbevölkerung
betroffen ist, die Multiple Sklerose
und der Typ-1-Diabetes. Erste
Labor- und Tierversuche mit
Mäusen verliefen in letzteren
beiden Fällen vielversprechend.
Seine erste Patientin Thu Thao Vu
Thi habe sechs Monate nach der
Infusion ihr Abitur bestanden und
studiere jetzt, erzählt Georg Schett.
»Sie lacht, ist glücklich und
gesund.«
Die Tiwi-Inseln
bleiben verschont
Manchmal gewinnt David eben
doch! Der Rohstoffkonzern Santos
wollte vor den Tiwi-Inseln, einer
kleinen Inselgruppe, die zu
Australien gehört, gerade mal rund
8000 Quadratkilometer groß, nach
Gas bohren. Ein riesiges Gasfeld
sollte erschlossen werden,
Milliardengewinne winken. Die
staatliche Genehmigung lag bereits
vor, im Sommer begann der
Konzern mit Probebohrungen.
Alles schien nach Plan zu laufen.
Nur hatte das Unternehmen
vergessen oder vergessen wollen, die
2500 Bewohnerinnen und
Bewohner der Inselgruppe
ausreichend zu informieren. Dennis
Tipakalippa, Stammesältester der
Munupi, reichte Klage ein: Vor den
Inseln schwimmen Wale und
Seekühe, an Land legen seltene
Schildkröten ihre Eier ab, und es
gibt dort die weltweit größte
Population von Eilseeschwalben.
Diese Artenvielfalt sehen
Tipakalippa und die anderen
Ureinwohner von den Bohrungen
bedroht. Nun widerruft das
australische Bundesgericht
die Umweltgenehmigung für
das Projekt – die indigene
Gruppe sei nicht angemessen
konsultiert worden.
Faire Bezahlung
für Schiedsrichterinnen
Was geht den Spielerinnen von
Atlético Madrid und Real Sociedad
San Sebastián wohl durch den
Kopf, als sie am 10. September zum
Eröffnungsspiel der Saison auf den
Platz laufen und merken, dass die
Schiedsrichterinnen fehlen? Und
dass sie auch nicht mehr auftauchen
werden? Die Schiedsrichterinnen
der Primera División de la Liga de
Fútbol Femenino, der höchsten
spanischen Frauenliga, haben
genug, endgültig. Während die
Illustrationen: Luca Schenardi für DIE ZEIT
Spielerinnen inzwischen vom
Fußball leben können, erhalten die
Schiedsrichterinnen lediglich 320
Euro pro Spiel, viel weniger als ihre
männlichen Kollegen. Also streiken
sie, eine Woche lang. Die Liga
droht ihnen mit
disziplinarischen Maßnahmen,
DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022
am Ende aber lenkt sie ein:
Die Gehälter werden angepasst.
Statt 320 Euro bekommen
die Schiedsrichterinnen nun
1666 Euro pro Spiel.
Tiefseefischerei ist
jetzt verboten
Vier Jahre lang haben sich die
Sachverständigen der 27 Mitglieds-
staaten beraten, haben mit
Wissenschaftlern, Umweltver-
bänden und der fischverarbeitenden
Industrie gesprochen. Am Ende
entscheidet die EU-Kommission:
Ein Tiefseefischerei-Verbot wird
verhängt. In 87 Gebieten mit
fragilen Ökosystemen des Nordost-
atlantiks ist die Fischerei in Tiefen
unterhalb von 400 Metern künftig
verboten. Insgesamt stehen
mehr als 16.000 Quadratkilometer
unter Schutz.
Bäm!
Am 26. September trifft elf
Millionen Kilometer von der Erde
entfernt eine Kiste von der Größe
eines Kühlschranks auf einen
Felsbrocken mit den Ausmaßen des
Kölner Doms. Die Kiste ist die
Karambolage-Sonde Dart der Nasa.
Der Brocken ist ein Asteroid
namens Dimorphos. Klar, dass die
Leute von der Nasa sich freuen: Sie
wollten erstmals zeigen, dass es
möglich ist, die Flugbahn eines
anderen Himmelskörpers zu
beeinflussen. Damit gefährliche
Asteroiden nicht zu Meteoriten
werden. Meteoriten – so heißen
kosmische Brocken, wenn sie die
Erde treffen.
Die Karambolage-Sonde Dart war
also gewissermaßen unterwegs im
Auftrag der gesamten Menschheit.
Und die nahm durchaus Anteil am
Schicksal der Sonde: Stoisch bis
zum letzten Moment schickte Dart
Schnappschüsse, die als GIF-
Animationen im Netz bestaunt
wurden. Hat der Einschlag
tatsächlich die Bahn des
– ungefährlichen – Asteroiden
verändert? Und wenn ja: wie? Im
Herbst 2024 wird Hera starten,
eine in Bremen gebaute Sonde. Sie
soll alle Auswirkungen des Bäm
exakt vermessen. Für die nächste,
größere Kiste.
OKTOBER
Der Mensch als Heizung
Glasgow, 5. Oktober. In einem
Kulturzentrum wird ein System
namens Bodyheat eingeweiht.
Dabei soll die Körperwärme von
Besucherinnen und Besuchern, die
in einem Saal tanzen und feiern,
geothermisch gespeichert werden –
und ähnlich wie Fernwärme später
zum Heizen bereitstehen. Eine
genaue Bilanz wird es erst im
nächsten Jahr geben, aber die
Erfinder sind zuversichtlich: Die
feiernden Menschen erzeugen so
viel Wärme, dass das
Veranstaltungszentrum keine
Heizenergie mehr aus anderen
Quellen beziehen muss.
Der hessische Feldhamster
und sein Fürsprecher
DIE ZEIT: Herr Reiners, Sie sind
Biologe, haben Ihre Doktorarbeit
über den Feldhamster geschrieben
und engagieren sich für seinen
Schutz. Die gute Nachricht von
Ihnen gleich vorweg: Der
Feldhamster ist wieder da! In
Hessen wurden in diesem Jahr
mehr als 1000 Baue gezählt. 2018
waren es nur 311.
In Hessen gibt es gute
Neuigkeiten vom Feldhamster
Tobias Erik Reiners: Früher gab es
allein in Deutschland Millionen
von Feldhamstern, heute sind es
keine 100.000 mehr, vielleicht
10.000 davon in Hessen, wo ich
lebe. Der Feldhamster ist vom
Aussterben bedroht. Dieses Jahr
sind es zum ersten Mal seit langer
Zeit etwas mehr. Das lässt hoffen.
ZEIT: Was machen Sie und Ihre
Mitstreiter, um den Feldhamster
zu retten?
Reiners: Zunächst schauen wir, wo
die letzten Hamster leben. Wir
suchen auf Feldern nach Hamster-
bauen. Wenn wir welche finden,
sprechen wir mit Behörden und
Landwirten und bitten sie, etwas
Getreide stehen zu lassen, damit
sich der Hamster vor seinen
Feinden verstecken kann.
Außerdem bitten wir die Bauern,
eine Blühfläche neben dem Acker
zu belassen. Weil es immer mehr
Monokultur auf den Feldern gibt,
leidet der Hamster an Minder-
ernährung, die Weibchen bringen
weniger Jungtiere zur Welt. Früher
waren es zweimal im Jahr bis zu
zwölf, heute sind es oft nur fünf.
Feldhamster brauchen auch mal
Schnecken, Regenwürmer oder
Ackerwildkräuter wie Kamille.
Und dann gibt es noch ein
Problem: Das wärmere Klima
führt dazu, dass die Ernte immer
früher eingeholt wird. Vor zehn
Jahren wurde das Getreide noch
Anfang August geerntet, jetzt wird
es schon Mitte Juli eingefahren.
Sind ja nur zwei Wochen, denkt
man. Aber für den Feldhamster ist
das viel Zeit. Er hat heute nach
dem Winterschlaf noch vier
Monate, um sich fortzupflanzen,
seine Jungtiere großzuziehen und
Futter für den Winter zu sammeln.
DOSSIER
In einem Dorf in Franken schließen sich die Menschen zusammen,
damit in ihrer Bäckerei weiter Brot gebacken wird
ZEIT: Was fehlt denn eigentlich,
wenn der Feldhamster ausstirbt?
Reiners: Ach, immer diese Frage. Er
ist ein Teil der Nahrungskette und
damit wichtig für das Ökosystem.
Ich bin ja auch Ornithologe und
sage oft: Wenn wir den Feldhamster
nicht schützen können, dann auch
nicht den Rotmilan. Der frisst ihn
nämlich. Wenn ich über Rotmilane
spreche, hat mich übrigens noch
nie jemand gefragt, warum sie
erhalten bleiben sollten.
ZEIT: Die wenigsten Menschen
wissen viel über Feldhamster. Was
ist er denn für ein Typ?
Reiners: Ziemlich gestresst. Ständig
muss er sich vor Angreifern in Acht
nehmen, schnell Futter suchen,
schnell einen Paarungspartner
finden, zackzack. Die Männchen
suchen die Weibchen in ihrem Bau
auf, und dann geht das auch
ruckzuck. Manchmal darf das
Männchen für eine Nacht
drinbleiben, aber das ist selten.
Hamster sind Einzelgänger. Und
die Saison ist kurz. Fleißig ist der
Feldhamster auch, er holt gut
und gerne eine Schubkarre
Erde aus zwei Meter Tiefe
für einen Bau. Und heimattreu.
Mehr als 400 Meter bewegt
er sich nicht fort.
ZEIT: Gestresst, fleißig, heimattreu.
Ein typischer Deutscher also?
Reiners: Wenn Sie so wollen: ja.
NOVEMBER
Hoffnung auf Frieden
Zwei Jahre war Krieg in Äthiopien.
Im November 2020 hatte
Premierminister Abiy Ahmed das
Militär in die Provinz Tigray im
Norden des Landes geschickt, um
die Rebellen der Volksbefreiungs-
front zu bekämpfen. Diese hatten
sich geweigert, Abiy Ahmed als
Regierungschef anzuerkennen. Die
Folge des Konfliktes: Tausende
Tote, Millionen Vertriebene, ein
Großteil der Menschen in Tigray
leidet an Hunger und ist auf
Nahrungsmittelhilfe angewiesen.
Doch jetzt gibt es Hoffnung für das
Land: Am 2. November 2022
unterzeichnen die beiden Konflikt-
parteien ein Friedensabkommen.
Bereits im März war eine
humanitäre Waffenruhe vereinbart
worden, um dringend benötigte
Hilfsgüter ins Land zu bringen. Im
August jedoch hatten erneut Kämp-
fe begonnen. Diesmal soll der Frie-
den von Dauer sein.
Gleichberechtigung – jetzt auch
bei Crashtests
Eva ist da! Sie ist 1,62 Meter groß
und 62 Kilogramm schwer. Ihre
Geburt war eher langwierig:
73 Jahre nachdem der erste
männliche Crashtest-Dummy für
die US-Luftwaffe gebaut wurde,
der übrigens nicht Adam hieß,
sondern Sierra Sam, hat eine
schwedische Wissenschaftlerin das
erste weibliche Modell entwickelt.
Bisher wurden bei Unfall-
simulationen lediglich kleinere und
leichtere Varianten der männlichen
Dummys benutzt. Die Folge:
Frauen haben bislang bei einem
Autounfall ein vielfach höheres
Verletzungsrisiko als Männer.
Denn sie sind nicht einfach nur
kleiner und leichter, sondern haben
einen anderen Muskelaufbau, der
Nacken ist schmaler, die
Halswirbel sind kleiner, Hüften
und Becken anders ausgeprägt. So
wie bei Eva.
Ein Dorf backt
seine Brötchen selbst
Der kleine Dorfbäcker im
unterfränkischen Wombach hat in
diesem Herbst und Winter
dieselben Probleme wie viele andere
Bäcker auch. Die Butter, die um
40 Prozent teurer geworden ist, die
Energiekosten. Aber anders als bei
den meisten Bäckern verteilen sich
die Probleme bei der Wombacher
Bäckerei auf auf 700 Menschen. In
der Backstube steht an einem
Novembermorgen der Meister,
zieht die großen Brote aus dem
Ofen, vorne im Laden hinterm
Tresen steht die Moni, verkauft
zwei Eierweck und eine
Quarktasche.
»Grüß Gott, geht’s gut?«
»Ja. Muss ja.«
Moni lächelt. »Servus, bis morgen.«
Die Bäckerei Wombach. Seit
97 Jahren gibt es sie schon. Neben
Brot kann man hier auch Nudeln,
Haferflocken, Salz und Zucker
kaufen. Dazu gibt es Heimatgefühl
gratis für alle.
Und weil die Wombacher auf ihren
Bäcker und vielleicht auch auf ihre
Moni nicht verzichten können,
haben sie die erste Bäckerei-
genossenschaft Bayerns gegründet,
nachdem der alte Besitzer kurz vor
Fasching gesagt hatte, er schaffe es
nicht mehr, die Gesundheit. Dass
der Laden schließt? Wollten sie
nicht. Dass ein Filialist einzieht,
der nicht selber backt? Wollten sie
auch nicht.
Es war Hilmar Ullrich, ein
gebürtiger Wombacher, der die Idee
hatte. 250 Leute kamen im April zur
Infoveranstaltung in die Vereins-
halle. Am selben Abend hatten sie
nicht nur einen Vorstand und einen
Aufsichtsrat, sondern auch schon
19
eine sechsstellige Summe zusammen.
Am 8. Mai war die Gründungs-
versammlung, am 20. Juni
eröffnete der erste Genossenschafts-
bäcker Bayerns.
Inzwischen haben 700 Bewohner
Anteile für je 150 Euro gekauft, in
einem Ort mit 2000 Einwohnern.
Der Wombacher Bäcker ist jetzt
wirklich ihr Bäcker. Natürlich muss
er sich noch rechnen. Alle drei
Monate treffen sich Aufsichtsrat und
Vorstand, beugen sich über die
Zahlen. Bis jetzt sieht es gut aus.
Vor Kurzem rief ein Bäckereibetrieb
aus einem Nachbarort beim
Vorstand an: Er schaffe es nicht
mehr, sagte der Meister. Die Energie-
preise seien zu hoch, er heize mit
Gas, nun stehe er vor der
Schließung. Ob sie ihm nicht
erzählen könnten, wie man das so
macht mit einer Genossenschaft.
Russland, allein
Die 20 führenden Industrie- und
Schwellenländer einigen sich auf
ihrem Gipfel in Bali auf eine
Abschlusserklärung: »Die meisten
Mitglieder verurteilten den Krieg in
der Ukraine aufs Schärfste.« Der
Aggressor Russland ist damit
international so isoliert wie noch
nie seit dem 24. Februar 2022.
Schüler sollen Glück lernen
Ein Stundenplan an einer
Braunschweiger Grundschule
könnte ab November in etwa so
aussehen. Montag: erste Stunde
Mathe, danach eine Stunde Deutsch
– und dann eine Stunde Glück.
Glück? Ja. An 16 Grundschulen in
Braunschweig wird für einige
Monate das Fach Glück unterrichtet,
als Teil eines Forschungsprojekts des
Instituts für Pädagogische
Psychologie der Technischen
Universität Braunschweig. Es soll
darum gehen, das eigene Wohl-
befinden zu verbessern und Krisen
besser zu meistern. Für eine Welt mit
weniger Depressionen und Stress,
stattdessen mehr Mitgefühl,
Wertschätzung und psychischer
Gesundheit. Praktisch sieht das dann
so aus: Die Kinder führen ein
»Glückstagebuch«, sie schreiben sich
im Unterricht gegenseitig Postkarten
mit Komplimenten oder basteln
einen »Gefühlsgarten«. Das neue
Fach wird nicht dabei helfen, die
Lücken im Rechnen und Schreiben
zu schließen, die sich – laut
mehreren in diesem Jahr
erschienenen Studien – bei vielen
Grundschulkindern auftun. Aber
dennoch: welch ein Glück!
DEZEMBER
Das Virus wird beherrschbar
Genf, 14. Dezember. Der Chef der
Weltgesundheitsorganisation gibt
sich zuversichtlich, dass die WHO
im neuen Jahr den globalen
Gesundheitsnotstand wegen
Corona aufheben kann. Die
Hoffnung sei, irgendwann 2023
sagen zu können: »Dies ist keine
Pandemie mehr.« Das Virus werde
natürlich bleiben. Aber die Welt
habe mit Medikamenten,
Impfstoffen und Verhaltensregeln
nun Werkzeuge, um mit ihm
fertigzuwerden.
Wie sehr sich die Lage in deutschen
Altenheimen gebessert hat, zeigt
eine Studie aus Frankfurt am Main,
die Anfang des Monats vorgestellt
wird: In den vier untersuchten
Heimen mussten demnach 2020
noch 24,7 Prozent der infizierten
Bewohner ins Krankenhaus, 2022
waren es nur 8,3 Prozent. Der
Anteil der Todesfälle sank von 20,4
auf 1,7 Prozent.
Pryvit! Willkommen!
Seit Februar hat Deutschland mehr
als eine Million Ukrainerinnen und
Ukrainer aufgenommen, die vor
dem Krieg geflohen sind. Die
erste repräsentative Studie zu ihrer
Lebenssituation, durchgeführt
von mehreren Forschungszentren,
ergibt nun: Drei Viertel der
Geflüchteten fühlen sich
»überwiegend« oder »voll und
ganz« willkommen in Deutschland.
Die allermeisten sind privat
untergekommen, viele haben eine
eigene Wohnung gefunden. Die
Autoren der Studie sehen, was die
Integration der Ukrainer betrifft,
ein »insgesamt ermutigendes Bild«.
NADINE AHR , HARRO ALBRECHT,
MALTE HENK , CATERINA LOBENSTEIN ,
STEFAN SCHMIT T,
WOLFGANG UCHATIUS
20
Zur Ausgabe Nr. 52
Sprachtests heißen
jetzt anders
Interview: »Kommt der Drill
zurück?« ZEIT NR. 52
Alle Jahre wieder eine Neuauflage der Debatte
um Sprach- und Leseförderung von Kinder-
garten- und Grundschulkindern. Nein, der Drill
darf nicht zurückkommen. Zur optimalen
Sprachförderung ist ein evidenzbasiertes Sprach-
feststellungsverfahren erforderlich, wie Frau
Thiel es in den Blick nimmt. Diese Verfahren
liegen seit Jahren vor. Wenn allerdings das Wort
Test auftaucht, entziehen sich Lehrer häufig
skeptisch. Diagnostische Instrumente nutzen
Kindern und Eltern. Wir protestieren auch nicht
bei der Durchführung von Hör- und Sehtests.
DR . DAGMAR SOMMERFELD, HERDECKE
Ich habe den Artikel zweimal gelesen und das
entscheidende Wort nicht gefunden: Eltern!
Warum müssen Schulen und Lehrer immer aus-
baden, was zu Hause versäumt wird? Was es
wirklich braucht, sind Erziehungsberechtigte,
die ihren Teil dazu beitragen, dass ihre Kinder
die Grundlagen für Rechnen und Sprache ver-
mittelt bekommen. Aber nein, es ist ja viel ein-
facher, sein Kind morgens am Schultor abzuge-
ben und sich darauf zu verlassen, dass die da
drinnen das schon machen werden.
WOLFGANG RICHR ATH , FRECHEN
Kann man in Zeiten zunehmend sprachgesteu-
erter digitaler Intelligenz die klassische Bildungs-
vermittlung oder gar die Fähigkeiten im Rech-
nen, Schreiben und Lesen wirklich noch zum
Maßstab schulischer Leistung machen? In we-
nigen Jahren werden ohnehin die meisten Ge-
hirnaktivitäten auf externe Festplatten ausgela-
gert sein. Aufgabe der Schule ist es dann vor-
rangig, soziale Kompetenzen zu entwickeln und
zur Plausibilitätsprüfung zu befähigen, um
Fehler der künstlichen Intelligenz oder Fake-
News zu erkennen. STEFAN SETHE, ERFURT
Glaube ohne Kirche
»Schluss mit der Angst
vor Austritten« ZEIT NR. 52
Danke für dieses Gespräch. Menschen wie Frau
Zisselsberger, Herr Thierse und Herr Mertes
stehen für ein attraktives Christsein. Ihre
Offenheit, ihr Interesse an der Meinung des
jeweils anderen, gerade auch, wenn sie von der
eigenen abweicht, ihre innere Freiheit empfinde
ich als einladend. Mit solchen Menschen werden
die Kirchen weiterleben, trotz aller abgehobenen
Kleriker. HELMUT SCHLOS SER , GÖT TINGEN
In diesem Gespräch steht ein beunruhigender
Satz von Frau Zisselsberger: Auch Ausgetretene
bleiben getauft, also Teil der Gemeinschaft.
Darin drückt sich ein unheimlicher Macht-
anspruch auch noch über Menschen aus, die
sich von der christlichen (Missbrauchs-)Ge-
meinschaft losgesagt haben. Ich werte dies als
Signal einer unverbesserlichen Intoleranz in
einem Land der gesetzlich garantierten Religi-
onsfreiheit. Ich fühle mich, im Jahr 1966 aus
der katholischen Kirche ausgetreten, durch ei-
nen solchen Satz einer führenden Funktionärin
der evangelischen Kirche persönlich bedroht
und angegriffen. HEINZ BOEMER , AIDLINGEN
BEILAGENHINWEIS
Die heutige Ausgabe enthält folgende Publikationen
in einer Teilauflage: Möbel Höffner, 12529 Schöne-
feld; Geoplan Touristik GmbH, 10777 Berlin
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LESERBRIEFE
Die Boomer sollen es richten
Mark Schieritz über die Zukunft der Rente: »Bleibt doch noch!«
Statt »Bleibt doch noch!« würde das Motto »Macht
weiter mit!« besser helfen und zum Beispiel zum
Umsteigen in Mangelberufe ermutigen. Oder zum
Einsteigen in neue Rollen. Der Vorteil: Die wich-
tigsten Ressourcen – Erfahrung, Engagement und
Motivation – bleiben erhalten. Der Lohn: Anerken-
nung und Sinngefühl. REINHARD KOINE, BAD HONNEF
»Bleibt doch noch!« – so ein Unsinn! Niemand
hatte mich vor zwei Jahren gefragt, ob ich noch
bleiben wollte, nach 20 Jahren gab es nicht ein-
mal einen warmen Händedruck. Keiner der Da-
men und Herren Firmenlenker will wirklich, dass
die Älteren bleiben, denn die sind vor allem eines:
zu teuer, zu kritisch und weniger angepasst. Die
anfallende Mehrarbeit wird einfach auf die
Schultern der anderen Mitarbeiter verlagert.
Läuft doch! Nachhaltige Qualität bei Arbeit,
Sachbearbeitung und Projektdurchführung ist
schon lange nicht mehr gefragt, der Großteil wird
einfach nur noch zusammengestümpert von den
wenigen Jüngeren, die bei völliger Ahnungslosig-
keit, aber mit sicherem Auftreten durch die täg-
lichen Probleme ihres Berufs stolpern. Und wenn
es richtig schiefzugehen droht, verfahren sie nach
dem Vorbild ihrer Chefs: Dann gehe ich woan-
dershin – nach mir die Sintflut.
DR . WOLFR AM VON HAUGWITZ, ALSFELD
Ich habe 49 Jahre gearbeitet, bin mit 64 Jahren in
Rente gegangen. Mein Mann hat 50 Jahre gear-
beitet und ist auch mit 64 in Rente gegangen.
Wer in Ihrem Verlag bringt es auf 49 beziehungs-
weise 50 Beitragsjahre? Wenn Sie schon über das
Renteneintrittsalter schreiben, dann erwarte ich
als Leser bessere Informationen.
HEIDEMARIA FREUNDORFER , PER E-MAIL
Sie betrachten den Abgang der Babyboomer aus
einer volkswirtschaftlichen Vogelperspektive, aus
Ihrem Bürostuhl heraus, auf dem Sie sicher noch
lange arbeiten können. Nur ist dies eine verengte
Sichtweise. Wenn Sie in den Alltag von Unter-
Ist ja wie in Katar hier!
Nik Afanasjew/Caterina Lobenstein: »Die Geisterfahrer«
Unmenschliche Arbeitsbedingungen mitten in
Europa, das sich Moral und Ethik auf seine Fah-
nen geschrieben hat. Aber nicht nur die Politik
versagt hier. Wir, die Konsumenten, tragen mas-
siv zu dieser Ausbeutung bei! Gier, Bequemlich-
keit und Egoismus bestimmen unser Konsumver-
halten. Geschickte und rücksichtslose Kapitalis-
ten machen sich unsere Dummheit zunutze.
Musk, Bezos und viele andere zeigen uns den
Stinkefinger, lachen uns aus, und wir finanzieren
ihr skrupelloses System trotzdem.
DR . MARTIN KRIVACEK , OFFENBERG
Ich stelle mir vor, die ZDF-Redaktion liest den
Artikel »Die Geisterfahrer« über die menschen-
verachtenden Arbeits- und Lebensbedingungen
ausländischer Lkw-Fahrer in Deutschland, dem
Ausrichter der EM im Jahre 2024. Ich stelle mir
vor, sie schickt den Sportredakteur Breyer auf
eine mehrwöchige Kreuzfahrt vom Wiesbadener
über das Kamener Kreuz und das Heumarer
Dreieck bis zum Frankfurter Kreuz, um über die-
se Ausbeutung zu berichten, inklusive eines Ge-
sprächs mit Bundesverkehrsminister Wissing. Ich
stelle mir vor, der ehemalige Nationalspieler
Hitzlsperger folgt ihm wenig später und dreht
seine Reportagen auf den Rastplätzen dieser Re-
publik, die er mit Interviews betroffener Fahrer
nehmen und nicht auf Zahlenketten schauen,
dann nehme ich, selbst Babyboomer, eine kon-
träre Botschaft wahr: Haut ab, ihr seid von ges-
tern, versteht die Digitalisierung nicht und der-
gleichen mehr. Dafür gibt es schöne Abschieds-
pakete ab Mitte 50. Wer sich nach einem solchen
Abschied über den offiziellen Arbeitsmarkt be-
wirbt, stellt schnell fest: Mit einem Alter ab Mit-
te/Ende 50 werden die Bewerbungen ungelesen
aussortiert. FR ANK SCHABEL, FR ANKFURT/M .
Wer möchte, dass Erwerbsarbeit in ein höheres
Alter hinein geleistet werden soll, der kommt um
die Frage nicht herum, warum so viele Menschen
aus dem Berufsleben fliehen, sobald sie können.
Was bietet zum Beispiel das Ehrenamt, das Er-
werbsarbeit häufig nicht bietet? In der Regel eine
deutlich geringere Arbeitszeit, vielfältige Mög-
lichkeiten, sich daneben fit und gesund zu halten,
eine an das eigene Leistungsvermögen angepasste
Tätigkeit, Wertschätzung. Es könnte sich lohnen,
in diese Richtung weiterzudenken, statt reflexhaft
zu fordern, jeder möge einfach das, was er oder sie
beruflich mit 60 tut, tunlichst genau so bis 70
weiter leisten. BIRGIT TA GRONAU, BOCHUM
Ich darf jetzt mit 63 Jahren in Rente gehen, mit
Abschlägen von einigen Prozentpunkten. Ich
habe 45 Jahre gearbeitet und denke, dass es reicht.
Vielleicht hätte ich als Teilzeitkraft weitergear-
beitet, wenn es eine Arbeit geben würde, die mir
Spaß macht. Ich war vor der Verrentung ein Jahr
arbeitslos. Auf meine Bewerbungen wurde über-
haupt nicht reagiert. Man wollte mich höchstens
als freie Mitarbeiterin mit einem Fixum, das un-
ter dem Arbeitslosengeld lag. Warum sollte ich
für weniger arbeiten als für das, was mir ohnehin
zusteht? Wenn Staat und Arbeitgeber jammern,
dass die Alten lieber frühzeitig in Rente gehen
und so die Arbeitskräfte schwinden, dann sollten
sie erst einmal die Voraussetzungen dafür schaf-
fen, dass die Alten auch noch bleiben wollen.
ANGELIK A UNGERER , BAD VILBEL
und Fahrerinnen anreichert. Ich stelle mir vor,
Herr Neuendorf fordert als Präsident des DFB,
dass an den Lkw, die Deutschlands Autobahnen
befahren, kleine regenbogenfarbige Standarten
mit Totenkopfsymbolen angebracht werden. Ich
stelle mir vor, dass Innenministerin Nancy Faeser
mit einer regenbogenfarbigen Sonnenbrille im
offenen Cabrio von Kiel nach Konstanz fährt. Ich
stelle mir vor, dass beim Bundesligarückrunden-
start die Mannschaft von Bayern München sich
beim Mannschaftsfoto vor Spielbeginn den
Mund zuhält, die von Borussia Dortmund die
Ohren und die vom HSV die Augen. Ein Traum!
DIETER DRESEN , WACHTBERG
Ich bin regelmäßiger Amazon-Nutzer und habe
schon viel Kritisches über die Arbeitsbedingun-
gen dort gehört. Ich kaufe aber viele Artikel, die
es in meiner Kleinstadt nicht im Geschäft gibt.
Daher interessiert mich, was ich zur Verbesse-
rung der Situation beitragen kann, ohne den
Online-Einkauf zu boykottieren. Ich fände es
gut, wenn Sie in solchen Artikeln nicht nur ana-
lysieren, was schiefläuft. Es wäre wunderbar,
wenn Sie kreative Ideen recherchieren, wie ein
durchschnittlicher Konsument einen zumindest
kleinen Beitrag leisten kann, um die genannten
Zustände zu verbessern. JÖRN LEIBER , PER E-MAIL
1 Monat
gratis testen
ZEIT NR. 52
Wir sollten endlich darüber reden, warum wir zu
wenige Arbeitskräfte haben: Seit 66 Jahren begüns-
tigt unser Rentenrecht Kinderlosigkeit. Alle glauben
und werden in dem Glauben bestärkt, mit den
Rentenbeiträgen sei ihre Rente gesichert; Kinder
seien nicht erforderlich. Also sparen sich viele die
Kosten und Mühen mit eigenen Kindern und lassen
sich ihre Rente von den Kindern der anderen fi-
nanzieren. Und so fehlt uns seit fast 50 Jahren ein
Drittel der Kinder, die wir für Wirtschaft, Verwal-
tung und Sozialsysteme brauchen. Dass wir diesen
Zusammenhang verdrängt haben, dürfte die Haupt-
ursache für den jetzt so akuten Fachkräftemangel
sein. DR . JÜRGEN SCHRÖDER , FOCKBEK
Endlich kommen die Boomer in der Berichterstat-
tung mal ein bisschen besser weg. So schlecht sind
deren Ausbildung und berufliche Expertise gar
nicht. Man könnte sie noch brauchen – Erfahrung
ist ein unterschätzter Wert in Unternehmen. Viele
in meinem Alter zählen aber tatsächlich nur rück-
wärts. Um danach mit stolzgeschwellter Brust zu
verbreiten, wie aktiv sie noch sind (wer kennt sie
nicht, die Handyfotos von der E-Bike-Tour im hin-
tersten Schwarzwald). Ich, 57, denke vorwärts und
kann mir dereinst eine Tätigkeit als Granfluencer
gut vorstellen. BERTHOLD HANFSTEIN , TÜBINGEN
Jetzt sollen die geburtenstarken Jahrgänge wieder
ran? Warum? Die Boomer haben die höchsten
Rentenbeiträge bezahlt, die Frührenten finanziert,
die Reichen reicher gemacht, diesen Staat aufgebaut.
Man könnte mich locken, indem man mir die Ren-
te verdreifacht und das Gehalt. Jedes zusätzliche
Arbeitsjahr muss steuerfrei bleiben und die unver-
schämt niedrige Rente auch. Allein für die weitere
Ausbeutung stehe ich persönlich nicht zur Verfü-
gung. CHRISTIAN FAHN , PER E-MAIL
Und Sie glauben, die 71 Jahre alten Boomer wür-
den Ihnen die Windräder aufstellen? Liebe junge
Generation: Lasst euch was anderes einfallen.
SVEN PREVRHAL, HAMBURG
ZEIT NR. 52
Vielen Dank an die ZEIT-Redaktion für diese
aufschlussreiche Reportage. Da fährt unsere liebe
Außenministerin Annalena Baerbock in alle mög-
lichen fernen Länder, um denen die Einhaltung
der Menschenrechte zu predigen, und bei uns im
eigenen Land werden diese so mit Füßen getreten
– es sind ja nur ausländische Fernfahrer! Wozu
haben wir eigentlich Gesetze, wenn sie für auslän-
dische Arbeitskräfte nicht angewendet werden?
WALTER PESCHEL, BREMEN
Ich kann nur hoffen, dass viele Leser dieses Dos-
siers nun dasselbe tun wie ich: Amazon mit Brie-
fen bombardieren und das Amazon-Konto lö-
schen. Drohender Umsatzverlust und Rendite-
rückgang ist die einzige Sprache, die diese Kon-
zerne zum Umsteuern bewegen kann.
Liebe ZEIT-Redaktion, bitte mehr Dossiers über
die Vergessenen und Ausgebeuteten inmitten
unserer »Wohlstandsgesellschaft«, damit niemand
die Hände in Unschuld waschen und sagen kann,
er habe es nicht gewusst.
GEORG FRICK , GROS SAITINGEN
Und wir wollen der Welt erklären, was menschen-
gerechte, faire Arbeitsbedingungen sind? Wir
sollten uns was schämen!
THOMAS HEMSING, PER E-MAIL
»WAS MICH BERÜHRT«
In der neuen W+ Kolumne »Was mich berührt« erzählt Bestseller-Autor Daniel Schreiber
von Werken, die ihn besonders bewegen – exklusiv bei WELTKUNST ONLINE.
Jetzt entdecken und Teil der neuen Kunstcommunity werden!
www.weltkunst.de/wplus
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
Weitere Leserbriefe finden Sie unter
blog.zeit.de/leserbriefe
Wer wen von der
Straße entfernen darf
»Angriff oder Verteidigung?«
ZEIT NR. 52
Zur »Notwehr« von Autofahrern gegen Klima-
aktivisten legen die Strafrechtsprofessoren
Hoven, Rostalski und Weigend eine konservati-
ve Analyse der noch konservativeren Recht-
sprechung zum Problem vor. Angesichts der
brennenden Klimakatastrophe vermisst man als
Befürworter einer »Green Criminology« krea-
tive Vorschläge zur Rechtfertigung des legitimen
Protests. Im Autoland Deutschland scheint
nicht einmal bei Wissenschaftlern Problem-
bewusstsein zu bestehen: Freie Fahrt für freie
Bürger in das Klima-Aus! Zu bedauern ist auch,
dass die liberale ZEIT nur »Autofahrerschützer«
zu Wort kommen lässt. Fazit: Graue Strafrechts-
wissenschaft ist blind, grüne Kriminologie blickt
durch, wird aber nicht gefragt.
PROF. RÜDIGER WULF, TÜBINGEN
Es ist sehr enttäuschend, dass führende Rechts-
gelehrte zwar ein über 30 Jahre altes BGH-Urteil
zitieren, um ein »Notwehr«-Recht von Auto-
fahrern zu rechtfertigen, nicht aber das aktuelle
Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Klima-
schutzgesetz: »Die zum Teil noch sehr jungen
Beschwerdeführenden sind durch die angegrif-
fenen Bestimmungen aber in ihren Freiheits-
rechten verletzt.« Die unterlassene Einbeziehung
dieses Aspektes führte in einer juristischen
Klausur wohl zu einem »mangelhaft«.
K AI SENNEWALD, PER E-MAIL
Aha, in der ZEIT gibt es jetzt Selbstjustiz-Tipps
für Autofahrer gegen Klimaaktivisten. Okay,
dann wäre es aber fair, auch Selbstjustiz-Tipps
an die junge Generation zu geben, deren Le-
bensgrundlagen bewusst und bei voller wissen-
schaftlicher Evidenz weiter zerstört werden.
DR . TORSTEN ZECH , PER E-MAIL
Ich habe mich sehr über den Artikel geärgert, in
dem erklärt wird, dass »die Entfernung« von
Klimademonstranten von Straßen Notwehr ist,
auch wenn es dabei zu Verletzungen kommt.
Ich frage mich, ob der Grundsatz »Recht muss
Unrecht nicht weichen« dann nicht auch bedeu-
tet, dass Raser auf der Autobahn ausgebremst
und sanft, aber entschlossen von der Fahrbahn
abgedrängt/entfernt werden dürfen.
MUNIA SCHWANDNER , PER E-MAIL
Und wie steht es mit dem Radfahrer, der den
Radweg benutzen will, dies aber wegen eines
dort befindlichen Fahrzeugs nicht kann? Darf
ich das Fahrzeug wegfahren, wenn der Schlüssel
steckt? Darf ich einen Abschleppdienst rufen?
Bis der kommt, ist das Fahrzeug natürlich schon
weg. Wenn ich die mir entstandenen Kosten
beim Halter des den Radweg blockierenden
Fahrzeugs geltend machen will, wird mich
dieser für verrückt erklären. Der dann erforder-
liche Rechtsstreit beim hiesigen Amtsgericht
könnte lustig werden.
DR . REINHOLD SCHMIDT, NÜRNBERG
IHRE POST
erreicht uns am schnellsten unter der
E-Mail-Adresse leserbriefe@zeit.de. Mit der
Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
Ihren Brief in der ZEIT, deren digitalen Aus-
gaben und im Leser-Blog auf www.zeit.de
unter Nennung Ihres Namens und des
Wohnortes zu veröffentlichen. Für den
Inhalt sind Sie als Einsender verantwortlich;
die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung
und redaktionelle Bearbeitung vor. Zudem
können Sie die Texte der ZEIT auf Twitter
diskutieren und uns auf Facebook folgen.
 DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022 GESCHICHTE 21

D
er Ort, der Deutschland den
Funk, Rapstars und Welthits
brachte, ist ein mittelalter-
licher Keller, nicht viel grö-
ßer als hundert Quadrat-
meter. Er heißt heute The
Cave, die Höhle. Durch ei-
nen schwarz getünchten Flur geht es 15 Stufen
hinunter in ein düsteres Ziegelgewölbe.
Über diesen Keller sprachen einst DJs in New
York; Stars wie Herbie Hancock und Prince be-
suchten ihn. Man muss schon Kerim Saka dabei-
haben, um es sich vorstellen zu können.
Saka, ein 61-jähriger Hüne mit grauen, zum
Pferdeschwanz gebundenen Haaren, läuft durch
das Gemäuer, zeigt mal hier-, mal dorthin. »Das
war die Tanzfläche, aber eigentlich tanzten die
Leute überall. Hier standen die Boxen mit spezial-
gefertigten, extralangen Bassrutschen.« Er deutet
in eine leere Ecke: »Und da war das DJ-Pult. Der
wichtigste Platz im Laden.«
Tatsächlich sind es vor allem die Meister an den
Plattentellern, die von 1983 an den Ruhm des
Funkadelic begründen. Solche Discjockeys hat das
Land noch nicht gesehen. Während sich die hiesi-
gen DJs meist damit begnügen, Lied an Lied zu
reihen, wird im Funkadelic gescratcht, gecuttet,
gemixt. Die DJs rufen ins Mikrofon, feuern die
Feiernden an, verhöhnen sie auch mal, wenn ih-
nen die Menge zu lahm vorkommt, so wie sie es
aus ihrer Heimat kennen, den USA.
Die in Deutschland stationierten afroamerika-
nischen GIs, die in ihrer Freizeit im Funkadelic
auflegen, machen den unscheinbaren Frankfurter
Tanzkeller zum Mekka einer Musik, die in der
Bundesrepublik damals oft noch summarisch
»schwarz« genannt wird, egal ob es sich um Soul,
Funk oder Hip-Hop handelt. Ohne die GIs wäre
das Funkadelic gar nicht erst entstanden. Genauer
gesagt: ohne einen etwas zerstreuten Kameraden
Zehntausend US-Soldaten stationiert – ein guter Teil US-Stars, die in Frankfurt Konzerte gaben, feierten danach gern
von ihnen Afroamerikaner. im Funkadelic: Hier, als Gast-DJ, Herbie Hancock
Die Musik, die sie lieben, kaufen sie auf den Mi-
litärbasen, wo Geschäfte amerikanische Produkte
anbieten. Auch die Platten, die Kerim Saka in der
Bahn findet, haben Dollarzeichen auf dem Etikett.
Außerhalb der Militärstützpunkte kann man hin
und wieder ein paar Importscheiben finden. So baut
sich Saka nach und nach eine Sammlung auf mit
Platten von Bands wie Parliament, Funkadelic und
The Commodores. In ihm reift der Gedanke, seine
Leidenschaft zum Beruf zu machen. Mit Geld vom
Vater und zwei Teilhabern wagt er das Experiment:
Am 15. April 1983, einem Freitag, öffnet in einer
Seitenstraße der Frankfurter Innenstadt das Funka-
delic, eine Disco allein für schwarze Musik.
Es dauert nicht lange, und die GIs entdecken
den Club für sich. Weil der Name sie neugierig
macht. Und weil sie sonst kaum irgendwo rein-
kommen. In den meisten Frankfurter Discos
scheitern Schwarze in den Achtzigerjahren an den
Türstehern. Saka, der als Sohn eines Türken und
einer Deutschen mit acht Jahren in die Bundes-
republik kam, will seinen Laden anders führen.
»Ich habe geradezu gehofft, dass die schwarzen GIs
zu uns finden«, sagt er. »Damit sie ihre Kultur mit
uns teilen.«
Und das tun sie. GIs, die schon in ihren Hei-
matstädten aufgelegt, gerappt und Breakdance
getanzt haben, bringen ihre Lieblingsplatten mit
und bieten Saka ihre Dienste an. Der lässt sie ma-
chen. Das spricht sich herum: auf den Militär-
basen, von denen nun immer mehr GIs ins Fun-
kadelic kommen, und unter den Frankfurtern, die
neugierig werden auf diesen neuen, ungewöhn-
lichen Club, in dem an Samstagabenden das
Kondenswasser von der Decke tropft und die
Bässe der Anlage Mörtel in die Getränke rieseln
lassen. Als die Beschwerden darüber zunehmen,
lässt Saka die Fugen versiegeln.

aus ihren Reihen.
An einem Frühlingstag des Jahres 1975 fährt
der 14-jährige Kerim Saka in der Frankfurter Re-
gionalbahn von der Schule nach Hause, als ein
afroamerikanischer GI in Uniform das Abteil be-
tritt und eine braune Papiertüte in der Gepäck-
ablage deponiert. Nach ein paar Stationen steigt er
aus. Als Saka bemerkt, dass die Tüte noch da ist,
fährt die Bahn bereits wieder. Er öffnet sie und
blickt auf Plattencover, wie er sie noch nie gesehen
hat. Saka hört Glamrock, etwa die britische Band
T-Rex, mag auch Pink Floyd und Genesis, wie die
meisten Jungen in seiner Klasse. Doch die Musiker,
auf die er jetzt schaut, sind alle schwarz.
Zu Hause läuft er sofort in sein Zimmer und
greift eine der Platten. Als die Nadel die Rille be-
rührt, ertönt ein Gitarrenriff, Bass und Schlagzeug
setzen ein, ein kräftiger Trompetenstoß folgt und
dann eine Stimme, die mühelos zwischen Tenor
und Falsett changiert: »Yeah, hey! / When you wish
upon a star / Dreams will take you very far ...«
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M
anche der Feiernden – gut ein
Drittel des Publikums ist schwarz,
schätzt Saka – tragen GI-Kappen,
mitunter kombiniert mit bunten
Seidenanzügen und Krawatten.
Man unterhält sich auf Deutsch, Englisch, Tür-
kisch. DJ Crazy Dee legt, nur mit einer engen
Badehose bekleidet, Electrofunk auf und rappt
dazu. Captain Rock, weißes Hemd, weiße Hose,
weiße Samthandschuhe und weiße Kapitänsmütze,
zeigt seine roboterartigen Breakdance-Bewegungen,
und die Crew Universal Movement rund um ihren
Haupttänzer Eddie Action, der lateinamerika-
nische Wurzeln hat, springt in glänzenden Trai-
ningsanzügen Salti vom Tresen der Bar. Er habe
sich bei seinem Besuch »mehr in eine Schule für
Zirkus-Artisten als in eine Diskothek« versetzt ge-
fühlt, schreibt ein Frankfurter Lokaljournalist in
den Achtzigerjahren.
Tatsächlich zieht die Funkadelic-Crew bald wie
ein Wanderzirkus durch die Region, deejayt, rappt
und breakdanct etwa auf der Jahresfeier der Tech-

Foto [M]: privat

nischen Hochschule Darmstadt. Bei einem Europa-
meisterschafts-Boxkampf von René Weller in der
Frankfurter Festhalle treten Universal Movement vor
mehr als 7000 Zuschauern auf und werden vom
Ringsprecher als »Tänzer aus der Diskothek Funka-
delitsch« angekündigt. So wird der Club allmählich

Salto vom Tresen

bekannt, in Deutschland und darüber hinaus. Gäste
aus Belgien, Frankreich, den Niederlanden kommen.
Jetzt In den USA machen die Lobpreisungen heim-
reinhören
gekehrter GIs den Keller zum Gesprächsthema. So
Illustration: Lea Dohle

kommt es, dass viele US-Stars, die in Frankfurt

Konzerte geben, danach noch im Funkadelic vorbei-
schauen. Herbie Hancock legt ein paar Platten auf,
Joe Cocker leert eine Flasche Whiskey an der Bar,
Prince lässt bei seinem Besuch noch unveröffent- Im Frankfurter Funkadelic standen afroamerikanische GIs
Wie war das noch mal?
Die großen Epochen,
lichte Songs spielen – offenbar ist ihm die Meinung
der Funkadelic-Besucher wichtig.
an den Plattentellern. Vor 40 Jahren eröffnet,
Menschen und Ideen der Weltgeschichte –
spannend und kontrovers.
Auch die deutschen Musiker Moses Pelham wurde die Diskothek zur Keimzelle des deutschen Hip-Hop
und Frank Farian kommen in der zweiten Hälfte
www.zeit.de/zg-podcast der Achtziger in Sakas Club. Der jugendliche Pel- VON JOHANNES TESCHNER UND JOSHUA CLARK DAVIS
ham, ein glühender Hip-Hop-Fan, hat Freund-
schaft geschlossen mit den beiden GIs Edwin Lo-
pez alias Eddie Action (dem Breakdancer von Uni-
versal Movement) und Durron Butler alias Turbo
B., einem Rapper. Die beiden nehmen den talen- Studio in Rosbach bei Frankfurt, um seine eigene Auch Moses Pelham und seine Freunde Edwin trollieren kann. Die beiden feiern viel, berauscht
Saka hört den Song Shining Star der Chicagoer tierten Deutschen, dessen afroamerikanischer Va- Version des Liedes zu produzieren. Lopez und Durron Butler fassen Fuß im Musik- von Drogen und vom Erfolg. Kurz nach der Gram-
Funkband Earth, Wind
110532_ANZ_71x100_X4_ONP26 1 & Fire – und will von 15:50ter einst als Musiker nach Frankfurt kam, unter
13.10.21
Zwei der drei Sänger, die er dafür engagiert, Business. 1988 bringt der 17-jährige Pelham seine my-Verleihung sagt Pilatus dem Time Magazine, er
diesem Tag an mehr von dieser Musik, die so an- ihre Fittiche. Fortan »wohnten wir praktisch im sind Afroamerikaner und ehemalige GIs. Mit ih- erste Single raus, produziert von den beiden Frank- und Morvan seien talentierter als Bob Dylan, Paul
ders ist als alles, was er bisher kannte. Funkadelic«, erinnert sich Pelham. ren »Otis-Redding-Stimmen« will er den Charak- furtern Michael Münzing und Luca Anzilotti, die McCartney und Mick Jagger.
Aber das ist nicht so einfach. Bisher haben die Der heute 51-Jährige ist eine der einflussreichs- ter des Originals in das Cover hinüberretten. Doch eigentlich aus der Technoszene rund um die Frank- Sie drängen Farian, auf dem nächsten Album
afroamerikanischen GIs in der Bundesrepublik vor ten Figuren in der Geschichte des deutschen Hip- für die Bühne, findet Farian, taugen die drei nicht. furter Diskothek Dorian Gray kommen. Sie mischen selbst singen zu dürfen. Im November 1990 schließ-
allem den Jazz populär gemacht. Unter anderem Hop, ein Mann, den andere Rapper in Interviews Sie sind zu alt, zu klein, zu dick. Als Frontmänner Hip-Hop, House und europäische Dance-Music für lich lässt der Produzent die Blase platzen, bevor ein
durch die frei empfangbaren Radioshows der U.S.- als Grund dafür nennen, dass sie mit dem Sprech- holt er sich stattdessen den Münchner Robert Pila- ein Projekt, das sie Snap! nennen und für das sie den anderer es tut, und erzählt der Presse die Wahrheit.
Army-Sender ist in den Fünfziger- und Sechziger- gesang begonnen haben; als Produzent hat er tus, Sohn eines afroamerikanischen GIs und einer Song The Power produzieren. Als Rapper wählen sie Milli Vanilli müssen den Grammy zurückgeben.
jahren eine beträchtliche deutsche Jazz-Anhänger- Künstler wie Xavier Naidoo und Sabrina Setlur Deutschen, und den Franzosen Fabrice Morvan – Turbo B. Zudem verpflichten sie das Multitalent Farian stellt die wahren Musiker unter dem Namen
schaft herangewachsen. Manche haben erste Jazz- herausgebracht. Im Konferenzraum seines Labels zwei Männer Anfang zwanzig, die zwar nicht sin- Edwin Lopez als DJ und Mitproduzenten für neue The Real Milli Vanilli auf die Bühne. Doch der
clubs gegründet. Frankfurt am Main war schon Pelham Power Productions, kurz 3P, keine fünf gen können, aber feine Gesichtszüge, trainierte Songs. Im Frühjahr 1990 steht The Power auf Platz Hype ist vorbei.
damals ein Epizentrum. Gehminuten vom ehemaligen Funkadelic ent- Körper und künstlich verlängerte Rastas haben. zwei der deutschen Single-Charts, in Österreich auf Auch die große Zeit des Funkadelic geht zu Ende.
Abgesehen vom Jazz aber herrscht in der Bun- fernt, hängen Gold- und Platin-Schallplatten an Farians Frau Milli kommt auf die Idee, dem Duo der Drei, in der Schweiz und Großbritannien auf der Nach dem Kalten Krieg verringern die Amerikaner
desrepublik noch weitgehend Ödnis, wenn es den Wänden. den Namen Milli Vanilli zu geben. Eins. Und, am wichtigsten, auch in den USA schafft ihre Präsenz deutlich. »Wir haben noch versucht,

F
um die sogenannte schwarze Musik geht. Man Damals, Mitte der Achtziger, steht er ganz am es der Song nach weit oben: auf Platz zwei. das aufzufangen«, sagt Kerim Saka, »aber die GIs
kennt Sex Machine von James Brown oder Papa Anfang – und der Kontakt zu den GIs erweist sich arian steckt die beiden in Leggings und Es ist eine goldene Zeit für die deutsche Musik- haben den Club ausgemacht.« 1996 muss das Fun-
Was a Rollin’ Stone von den Temptations, aber als Segen. Der Bombenentschärfer Butler lehrt ihn bunte Jacketts, lässt sie tanzen, sprin- industrie. Im Februar 1990 erhalten Milli Vanilli kadelic schließen. Wenig später wird daraus The
danach wird es, jenseits der Disco-Welle der das Rappen. »Einen solchen Mentor«, vermutet gen, Spagat machen, verträumt gucken als bis heute einziger deutscher Act den Grammy Cave, eine Rock-Höhle.
Siebzigerjahre, schnell dünn. In den USA halten Pelham, »hätte ich ohne die GIs in Deutschland und mit den Rastas wirbeln. Morvan in der Kategorie »Best New Artist«. Frank Farian Was denken diejenigen, die damals dabei wa-
sich Earth, Wind & Fire mit Shining Star wo- wohl kaum gefunden.« Seine neuen Fähigkeiten imitiert den Rap, Pilatus tut so, als aber leidet während der Verleihung in Los Angeles. ren, heute über den legendären Kellerclub?
chenlang in den Charts. Hierzulande weiß kaum testet er im Funkadelic bei den mittlerweile zum würde er den Refrain singen. Im August 1988 er- Von Anfang an gab es in der Branche Zweifel an »Hip-Hop, ganz einfach Hip-Hop«, sagt Moses
jemand, dass es sie gibt. Dabei bemühen sich Programm gehörenden Rap-Battles. klimmt Girl You Know It’s True Platz eins der den Gesangskünsten von Milli Vanilli. Weil Mor- Pelham. »Jeder aus der Region, der in dieser Musik
US-Labels durchaus um den deutschen Markt: Frank Farian dagegen sucht im Keller nach Er- deutschen Charts, dann der österreichischen. van in Interviews diesen starken französischen Ak- irgendwie was wollte, war da, denn das war der
Stars wie die Supremes nehmen in den Sechziger- lösung. Der erfolgreiche deutsche Pop-Produzent Auch in Großbritannien kommt das Duo gut an. zent hat. Weil bei einem MTV-Konzert das Band Ort, an dem alles passierte.«
jahren sogar Lieder auf Deutsch auf (Baby, Baby, (Boney M.) ist ausgelaugt, »wirklich platt«. Er kann Im September 1989 dann erreicht das dazugehö- hängen bleibt und Pilatus in Panik von der Bühne »Ohne das Funkadelic«, sagt Frank Farian,
wo ist unsere Liebe), um wahrgenommen zu wer- »es nicht mehr ertragen, immer die gleiche Soße rige, eilig aufgenommene Album die Spitze der flüchtet. Weil der wahre Rapper des Songs Girl You »wäre der zweite Frühling des Produzenten Frank
den. In die großen Plattenläden schaffen sie es aufzuwärmen«. Das Geld fließt zwar nach wie vor, US-Charts. Know It’s True Journalisten von dem Fake erzählt Farian nicht denkbar gewesen.«
dennoch kaum. aber musikalisch sind seine Studiosessions »ein Als Farian am späten Abend den Anruf mit der (später widerruft er seine Aussage, angeblich, weil »Das Funkadelic?« Kerim Saka grinst. »Ein
Zu den wenigen, die in Deutschland wirklich Niederschlag. Ich hatte gar keine Ideen mehr«, er- Erfolgsmeldung aus New York erhält, fährt er sofort Farian ihm Geld gezahlt hat). Riesenabenteuer.«
etwas von Funk und Soul verstehen, gehören die innert sich der 81-Jährige, der heute in Miami lebt. ins Funkadelic, lässt den DJ die Platte auflegen und Nun, mit dem Triumph und allen Scheinwerfern
afroamerikanischen GIs. Und sie sind zu Zeiten des 1988 hört er im Funkadelic den Song Girl You ins Mikrofon rufen: »We’re number one in America!« auf dem Duo, wird es noch schwerer werden, die Johannes Teschner ist freier Journalist.
Kalten Krieges nicht wenige. Allein im Rhein-Main- Know It’s True der amerikanischen Hip-Hop- Das Funkadelic hat einen Welterfolg hervorge- Legende der singenden Beaus aufrechtzuerhalten. Joshua Clark Davis ist Historiker und lehrt an der
Gebiet, dem Zentrum der US-Präsenz, sind mehrere Gruppe Numarx – und sitzt wenig später in seinem bracht. Es bleibt nicht der letzte. Zumal Farian seine Geschöpfe kaum noch kon- University of Baltimore
22
I Der rebellische
n Brandenburg sind wir uns damals nie über
den Weg gelaufen. Jetzt holt mich Klaus
Przybilla vom Bahnhof ab, im Siegener
Land, nach sieben Stunden Fahrt gen Wes-
ten. Im Herbst ist er 80 geworden. Vor 17
Jahren ließ er Potsdam und sein Richter-
leben hinter sich. Man kann durchaus sagen:
auf der Flucht. Nun schwirrt dieses Leben, womit er
wohl nicht gerechnet hat, noch immer durch seinen
Kopf. Das Buch, in dem er seine Geschichte auf-
geschrieben hat, schickte er an die ZEIT. Wir wollen
darüber reden.
Als Rebell war Klaus Przybilla 1961 aus der DDR
geflohen, als Richter kehrt er 1991 zurück. Im Osten
trifft er auf eine Heilserwartung, die ihn verstört.
Gerechtigkeit, dämpft er die Erwartungen, ist Ziel
des Rechtsstaates, nicht dessen Versprechen. 13 Jahre
später erlebt er am eigenen Leib die begrenzten Mög-
lichkeiten des Rechts, erlittenes Unrecht zu reparie-
ren. Juristisch obsiegt er am Ende auf allen Ebenen.
Doch ohne Happy End.
Den Richternamen Przybilla hatten die Medien
in den Neunzigerjahren bekannt gemacht. Er leitete
als Vorsitzender des Jugendgerichts am Landgericht
Potsdam viel beachtete Verfahren. Er prozessierte
gegen 14 Mauerschützen, DDR-Soldaten, die an der
innerdeutschen Grenze auf »Republikflüchtlinge«
geschossen hatten. Die Schuldsprüche tragen ihm
den Schimpf der Siegerjustiz ein, die Bewährungs-
strafen den der Milde. Er prozessiert gegen jugend-
liche Rohlinge, deren Opfer Ausländer, Obdachlose,
Punks, Schwache waren. Er prozessiert nach dem
Brand von Asylbewerberheimen und einer KZ-Ge-
denkstätte, aber auch gegen einen untreuen Minister.
Als Przybilla Ende der Neunziger auf die Pension zu-
steuert, ist er das Gesicht der Potsdamer Strafjustiz.
In die Wiege gelegt worden war ihm das sicher
nicht. Während des Krieges in Magdeburg geboren,
landet er mit seiner Mutter nach Vertreibung und
Flucht aus Oberschlesien in der sowjetischen Be-
satzungszone. Die Tuberkulose der Mutter bringt
ihn ins Waisenhaus. Von dort geht es ins sächsische
Oberwiesa, wo er ohne Vater und in Armut auf-
wächst. Der Jugendliche gilt als unangepasst und
aufsässig, ein Rocker mit Elvis-Tolle. Früh macht er
die Erfahrung, als Flüchtlingskind nicht dazuzuge-
hören, zumal mit diesem unaussprechlich-polnischen
Namen. Beleidigungen seiner Mutter rächt er mit
den Fäusten. Damals, sagt Przybilla, habe er erfah-
ren, dass sich vor dem im Rinnstein liegenden Geg-
ner eine Hemmschwelle aufbaut, die Fäusten und
Füßen Einhalt gebietet. Als Richter wird er später oft
jenseits von Hemmschwellen zum Einsatz kommen.
Die Verrohtheit der Gesellschaft, die er vor
Gericht antrifft, hat ihn längst angefasst
Im Frühjahr 1961, nach einem Kneipenabend, wer-
fen Przybilla und zwei Kumpel im Dunkeln Steine
auf die Häuser von SED-Parteigängern. Ein Freund
wird gefasst und verrät die anderen. Der Schulver-
weis für ihn folgt eine Woche vor Beginn der Abitur-
klausuren. Fortan soll er sich bei der Arbeiterklasse
bewähren, in der örtlichen Textilfabrik. Seine Fuß-
ballmannschaft stellt ihn nicht mehr auf. Seine
Freundin fügt sich dem von der Mutter ausgespro-
chenen Kontaktverbot. Wenig später kommt die
Einberufung zum Wehrdienst. Als Jugendrichter
wird er sich daran erinnern: Man soll junge Men-
schen für begangenes Unrecht zur Verantwortung
ziehen. Aber man soll ihnen nicht die Zukunft ver-
bauen. In der DDR sieht Przybilla für sich keine
mehr. Am 12. Juni 1961 steigt er in den Zug und
fährt nach West-Berlin. Zwei Monate später wird die
Mauer errichtet. Seine Mutter trifft er erst nach 14
Jahren wieder.
1962 holt Przybilla in Lünen (Westfalen) das Abi-
tur nach. Seine Klassenlehrerin vermittelt ihm ein
Studium am King’s College in London. Dort studiert
er allerdings nicht, sondern spielt Poker, hört in
Clubs Jazz, geht ins Kino und trinkt sehr viel engli-
sches Bier. Krank und völlig pleite, ist er nach einem
Jahr zurück in Deutschland. Das Halbwaisenstipen-
dium ermöglicht ihm nun ein Studium: ausgerech-
net Jura. 1969 besteht er das erste und 1973 das
zweite Staatsexamen. Die 68er-Revolten regen den
Rebellen, wie er sagt, »weder besonders an noch auf«.
Als er sich 1973 zum richterlichen Dienstantritt im
Amtsgericht Gelsenkirchen meldet, hat die west-
deutsche Justiz eine Lebenserfahrung gewonnen, die
für sie – formulieren wir zurückhaltend – nicht prä-
gend ist. Drei Jahre später, inzwischen Jugendrichter,
begegnen Przybilla im Verhandlungssaal die Drogen-
abhängigen der ersten Fixergeneration. Die richter-
liche Ohnmacht bringt er an der Universität Bremen
in ein wissenschaftliches Projekt zur Reform des Be-
täubungsmittelrechts ein; Therapie statt Strafe ist
dessen Ziel. Damit promoviert er auch. Als er 1983
eine Anklage gegen die Blockierer einer Bundeswehr-
kaserne – es ist die Zeit der Proteste gegen die Statio-
nierung von Atomraketen – nicht zur Hauptver-
handlung zulässt, ermittelt die Staatsanwaltschaft
gegen ihn wegen Rechtsbeugung. Das Verfahren
wird alsbald eingestellt. Nahe Münster baut Przybilla
mit eigenen Händen einen alten Hof aus. Gegenwart
und Zukunft haben das Prekäre längst verloren.
Dann fällt die Mauer.
Przybillas alte Heimat ist nun nicht mehr von der
neuen getrennt. Schon bald meldet er sich, um der
alten beim Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz zu
helfen. Doch sein Sachsen ist Partnerland von Bay-
ern, und von NRW führt der Weg nur nach Bran-
denburg. So verlässt Przybilla anno 1991 Münster
und wird Richter – am Kreisgericht Kyritz an der
Knatter. Hier erwarten ihn zunächst keine Mauer-
schützen oder Skinheads, sondern der mumifizierte
Leichnam des Ritters Christian Friedrich von Kahl-
butz, offen aufgebahrt in der Wehrkirche zu Kam-
pehl. Die Herausgabe der 1702 verschiedenen Tou-
ristenattraktion begehrt die örtliche Kirchgemeinde
von der Stadt, worauf der Bürgermeister die Ent-
VERBRECHEN
Richter
Klaus Przybilla prägte jahrelang die Brandenburger Justiz, bis er einer
Intrige zum Opfer fiel. Heute lebt er als Pensionär im Westen und kämpft
mit den Schatten seiner Erinnerungen VON THOMAS MELZER
Klaus Przybilla musste am eigenen Leib erfahren, dass die Justiz ihm keine Gerechtigkeit bringt
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führung des gruseligen Edelmanns plant, damit
jedoch an der Arbeitsverweigerung der beauf-
tragten ABM-Kräfte scheitert. Przybilla gelingt
es, die beiden Parteien zu vergleichen. So lustig
wird’s nie wieder.
Der Ruf nach Potsdam ertönt und bringt eine
Karriere, die der rebellische Richter nie im Sinn
hatte. Er wird Vorsitzender des Jugendgerichts
am Landgericht. Wie vom Fließband purzeln die
Herausforderungen auf seinen Tisch, Fall für Fall
spektakulär genug, um heute Netflix damit zu
beglücken. Die Strafen sind oft streng. Früh
schon habe er begriffen, sagt Przybilla, dass der
erzieherische Ansatz des Jugendrechts es nicht
rechtfertige, Schuld zu bagatellisieren.
So souverän Przybilla im Gerichtssaal agiert,
so dünnhäutig erscheint er im Rückblick außer-
halb davon. Nach den Freisprüchen gegen zwei
Angeklagte vom Vorwurf, die sogenannte Juden-
baracke in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen
in Brand gesetzt zu haben, prasselt Kritik aus
dem politischen Raum auf das Gericht. Am
Dienstweg vorbei lässt Przybilla den Justizminis-
ter wissen, er habe dessen Rückendeckung zur
Verteidigung der richterlichen Unabhängigkeit
112242_ANZ_71x100_X4_ONP26 1
Foto: Matthias Jung für DIE ZEIT
vermisst. »Grundsätzlich bin ich der Auffassung«,
schreibt Minister Bräutigam zurück, »dass die
FASZINATION unabhängigen Gerichte nicht außerhalb jeder
öffentlichen Kritik stehen können.« Als Przybilla
VERBRECHEN dem Präsidenten des Oberlandesgerichts vorge-
stellt wird, sagt dieser, ihm imponiere die für die
Leitung von Strafprozessen erforderliche Persön-
lichkeitsstruktur. Für Przybilla ein vergiftetes
Kompliment: Ihm sei, entgegnet er, die Auffas-
sung der Justizverwaltung bekannt, dass Zivil-
richter gute Juristen und Strafrichter Persönlich-
keiten seien. An diesem Gericht aber seien auch
die Strafrichter gute Juristen. Unterhält man sich
heute mit damaligen Beisitzern in Przybillas Ju-
gendgericht, ist viel von Arbeit die Rede, von Be-
drohungen aus dem rechtsextremen Milieu, von
NEU Polizeischutz, aber nicht von irgendwelcher Ge-
selligkeit. Przybilla ist von der Verrohtheit der
Gesellschaft, die ihm in seinen Fällen begegnet,
längst persönlich angefasst. Die mündliche Ur-
teilsbegründung nutzt er immer wieder, um im
Klartext zu sagen, was er nicht in die auf Revisi-
Jetzt gratis lesen: onssicherheit bedachten Urteilsgründe schreibt:
www.zeit.de/zv-heft Die brutale Gewalt gegen Sozialschwache, be-
gangen von emotional verelendeten Tätern,
28.11.22 13:23
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
gründe auf den Einstellungen in den Köpfen vieler
Menschen in diesem Land. Przybilla wird in Bran-
denburg längst nicht nur als juristischer Entscheider
wahrgenommen. Doch keine Fallhöhe ist größer als
die einer moralischen Instanz.
Im Jahr 1996 wird Przybilla vom Brandenburger
Justizministerium gebeten, mit seinem Prestige ein
ins Schlingern geratenes Vorzeigeprojekt zurück in
die Spur zu bringen. Der Vorsitzende eines Straffäl-
ligenhilfevereins war wegen Betruges verurteilt wor-
den, Przybilla übernahm nebenberuflich den Vorsitz
des Vereins »Neue Sozialarbeit Brandenburg«. Des-
sen Projekt »Maulwurf« organisierte gemeinnützige
Arbeit für verurteilte Straftäter. 1997 landen die Ini-
tiatoren – die Bewährungshelfer G. und R. sowie der
ehemalige Gastwirt B. – einen Coup. Nach der poli-
zeilichen Räumung sichern sie ein bis dahin besetztes
Haus für den Verein; durch die Hände der Straftäter
soll es zu einem internationalen Jugendzentrum aus-
gebaut werden. Es ist nicht irgendein Haus – als Va-
rietétheater Walhalla präsentierte es in den 1920er-
Jahren Stars wie Charlie Chaplin und Enrico Caruso.
Obwohl das Projekt vom Arbeitsamt und vom Land
Brandenburg unterstützt wird, erwirtschaftet es bis
2000 einen Fehlbetrag von 228.000 D-Mark.
Gleichwohl wird das Grundstück für 782.000
D-Mark gekauft, nunmehr soll hier ein gemeinnüt-
zig geführter Hotel- und Gaststättenbetrieb entste-
hen. Das Land steuert eine Million aus Stadterneue-
rungsmitteln bei. Den Akteuren ist längst alles über
den Kopf gewachsen, sie geraten in Streit. Anfang
2003 wird dem Projektleiter B. wegen des Verdachts
gekündigt, er habe Arbeitskräfte und Baumaterialien
auf sein eigenes Grundstück umgeleitet. Doch B.
schlägt zurück. In einem Schreiben an den General-
staatsanwalt bezichtigt er Przybilla, Betriebsprüfun-
gen verhindert, monatlich 500 D-Mark Aufwands-
entschädigung ohne Gegenleistung eingestrichen
und ein Vereinshandy privat genutzt zu haben.
Als der Druck immer größer wurde, stellte er
eine Staffelei in sein Dienstzimmer
Przybilla steckt Ende 2003 in einem Prozess ge-
gen den brandenburgischen Landwirtschaftsminister
Zimmermann – an dessen Ende, nach 26 Verhand-
lungstagen, die Verurteilung zu elf Monaten Frei-
heitsstrafe wegen Haushaltsuntreue und Subventi-
onsbetruges stehen wird –, als die Märkische Allge-
meine Zeitung erstmals in einem Artikel über die
Vorwürfe berichtet. Zimmermanns Anwalt reagiert
umgehend mit einem Befangenheitsantrag: Ein
Richter, der sich untreu verhalten habe, könne
wohl schlecht ein Strafverfahren wegen Untreue
leiten. Tatsächlich eröffnet die Staatsanwaltschaft
ein Ermittlungsverfahren. Am 6. August 2004 titelt
die Märkische Allgemeine: »Untreueverdacht gegen
Richter«. Alle Zeitungen der Region, dpa und das
RBB-Fernsehen ziehen sofort nach. Offiziell gilt
natürlich die Unschuldsvermutung. Doch nun er-
lebt auch einmal ein Richter: was heißt das schon.
Ein Politiker, der in eine solche Lage gerät, wird
– wenn er klug ist – zurücktreten, um Schaden »von
sich/der Partei/dem Amt« abzuwenden. Ein auf Le-
benszeit berufener Richter kann das nicht. Przybilla
hat weiterzuverhandeln. Die Befangenheitsanträge
nehmen zu. Przybilla wird fahrig. Sein Rotwein-
konsum steigt. Ein Packen entlastender Papiere, den
er an die Kripo geschickt hat, geht verloren. Przybilla
sieht jetzt Gespenster: Der Staatsanwalt, der in sei-
nem Verfahren ermittelt, war in der DDR Militär-
staatsanwalt. Doch die Gespenster der Vergangen-
heit waren keine Halluzinationen: Alle drei Mit-
schüler, die einst den Schuldirektor zur Verkündung
der Relegation eskortierten, wurden später haupt-
amtliche Mitarbeiter der Stasi. Die Kindheit kriegst
du nie aus den Schuhen, als Flüchtlingskind schon
gar nicht.
Eines Tages, so erzählt ein Richterkollege, lässt
Przybilla den Schreibtisch aus seinem Dienstzimmer
räumen und stellt eine Staffelei auf. Er hat schon
immer gemalt, auch beachtete Ausstellungen ge-
macht. Jetzt, so erinnert sich seine Frau, flüchtete er
aus der Realität des Ermittlungsverfahrens in seine
impressionistischen Landschaften. Ein Ermittlungs-
verfahren, in dem kaum mehr zu tun ist, als ein paar
Dokumente zu sichten und drei bis vier Zeugen zu
vernehmen. Doch die Staatsanwaltschaft lässt sich
Zeit. Als damals der Schuldirektor erschien, hatte
Przybilla immerhin wirklich eine Straftat begangen.
Jetzt ist er unschuldig – und der Rechtsstaat lässt ihn
hängen. Als auch das Malen nicht hilft, schickt ihn
sein Arzt zur Kur in die Alpen. Und schreibt ihn da-
nach krank: Burn-out.
Nach einem Jahr und drei Monaten ist die War-
terei vorbei. Die Staatsanwaltschaft stellt das Ver-
fahren sang- und klanglos ein, nach Paragraf 170
Absatz 2 Strafprozessordnung, was bedeutet: kein
strafbares Verhalten.
Von der Märkischen Allgemeinen Zeitung, die sich
in ihrer vermeintlichen Verdachtsberichterstattung
besonders damit hervorgetan hatte, ihn in die
Pfanne zu hauen, erstreitet er vor dem Landgericht
Berlin Unterlassungsverfügung und fünfstelliges
Schmerzensgeld. Sie haben diesen Richter ver-
brannt, sagt der Vorsitzende zur Urteilsverkündung.
Mit 63 Jahren lässt sich Przybilla vorzeitig pensio-
nieren, was nie sein Lebensplan war. Seiner Frau
hatte er schon lange versprochen, gemeinsam in ihre
Heimat zu ziehen.
Mit dem Mountainbike begleitet mich Klaus
Przybilla zurück zum Bahnhof, von Fuß bis Kopf
schlammbespritzt. Im Regen wirkt seine Stimmung
ganz besonders sonnig. Gestern hat er dem Bran-
denburger Kollegen eine Pilzsuppe gekocht. Man
könnte meinen, er habe seinen Frieden gefunden,
hingen da nicht, als größtes Bild in seinem Haus, die
Freitreppen vor Schloss Sanssouci.
Thomas Melzer ist Richter am Amtsgericht in
Brandenburg und Autor der ZEIT

WIRTSCHAFT
K
Kaminofen-Besitzer müssen jetzt ganz stark
sein: Der Weihnachtsmann ist nicht durch
den Schornstein gekommen am vergangenen
Wochenende. Das ist nur ein Märchen. Der
pummelige Kerl hätte sich keinesfalls durch
ein Norm-Schornsteinrohr von 15 Zentimetern
Durchmesser zwängen können. Viele Ge-
schenke wären darin ebenfalls verkantet. Und
mal unabhängig von dem, was durch den
Schornstein hineinkommt – viel interessanter
ist, was dort herausgeht.
Wer an kalten Winterabenden durch die
Straßen spaziert, riecht den Rauch. Manchmal
hängt er wie Nebel um die im Dunkeln leuch-
tenden Straßenlaternen. Dann brennen wieder
die Feuer in den Öfen. Gerade jetzt, im Winter,
zur stillen Zeit, gelten die lodernden Flammen
vielen als Inbegriff der Gemütlichkeit. Und der
Autarkie, weil die monatlichen Abschläge für die
Gasheizung so drastisch gestiegen sind. Holz-
scheite zu verbrennen sei aber noch mehr, sagt
der Partikelforscher Professor Achim Dittler vom
Karlsruher Institut für Technologie (KIT): »Eine
Umweltverschmutzung der Extraklasse, ein
kleiner Waldbrand im Wohnzimmer.«
Seit Langem schon lobbyiert Dittler gegen
Kaminöfen, unter #holzofengate teilt er auf
Twitter aus. Er kann sich dabei auf zahlreiche
Studien stützen, die ihm recht geben: Schon
2013 kam eine vom Umweltbundesamt in
Auftrag gegebene Untersuchung zu dem Er-
gebnis, dass die Abgase von brennendem Holz
– je nach Wetterlage – »einen deutlichen Anteil
an der Feinstaubbelastung in Wohngebieten
haben können«. Auch CO₂ und zahlreiche
Schadgase entstehen beim Holzfeuer.
Deswegen werden im Bundesimmissions-
schutzgesetz auch ständig die Auflagen für den
Betrieb von Kaminöfen verschärft. Zwar ging die
Belastung der Luft mit den gesundheitsschäd-
lichen Feinstaubpartikeln, die tief in die Lunge
gelangen können, zwischen 2010 und 2020 um
ein Drittel zurück – das bestätigt auch das Um-
weltbundesamt. Doch dieser Abwärtstrend wird
wohl fürs Erste gestoppt: In diesem Winter
dürfte eher deutlich mehr als weniger Holz ver-
brannt werden, und das auch noch in oft nicht
mehr zeitgemäßen Öfen.
Dabei hält Deutschland heute schon, das
zeigt eine Untersuchung des Unternehmens
IQAir, den Feinstaub-Grenzwert der Weltge-
sundheitsorganisation nicht ein. Nun geben
auch noch sieben Prozent aller Menschen im
Land an, in diesem Winter stärker mit Holz
zu heizen als mit Gas oder Öl, das kam kürz-
lich bei einer YouGov-Umfrage heraus. Kurz:
Illustration: Studio Pong für DIE ZEIT
Die Luft über den Dächern dürfte wieder di-
cker werden.
Etwa elf Millionen Kaminöfen sind hierzu-
lande in Betrieb. Wahrscheinlich sind in den
vergangenen Monaten noch etliche hinzuge-
kommen, denn gerade in diesem Jahr war die
Nachfrage so hoch wie lange nicht. In Bau-
märkten waren Kaminöfen über Wochen aus-
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
23
Volles Rohr
Die Nachfrage nach Kaminen ist so
hoch wie nie. Es ist ja auch zu gemütlich
am Feuer. Es belastet noch nicht mal die
Gasrechnung. Aber die Luft. Und wie
VON MARCUS ROHWETTER
verkauft, im Autover- Ob die Besitzer der Öfen das alles berück-
Online-Shop kehr. sichtigen? Möglich. Falls aber nicht, könnten
von Toom et- »Verglichen mit ausgerechnet jene ihrer Mitmenschen das
wa steht noch Holzöfen sind Autos und Nachsehen haben, die sich besonders früh
heute neben vie- Lastwagen mittlerweile um Energieeffizienz und Ressourcenschonung
len Modellen: »nicht sehr sauber. Bei Verbren- Gedanken gemacht haben: die Besitzer hoch-
verfügbar«. nungsmotoren werden gedämmter Häuser mit Lüftungsanlagen.
Große Hersteller Schadgas- und Partikel- Fenster zu öffnen sollte man in Passivhäusern
wie die Firma Hark aus Emissionen heute durch unterlassen, weil dann zu viel Wärme entwei-
Duisburg bestätigen die Abgasreinigungssysteme chen würde. Doch je nachdem, wie gut die
»sprunghaft gestiegene hochwirksam gemin- Lüftungsanlagen mit Reinigungssystemen aus-
Nachfrage nach alternati- dert«, sagt Professor gestattet sind, saugen sie außer frischer Luft
ven Heizsystemen wie Ka- Dittler. womöglich auch die verdünnten Rauchgase
minen und Kaminöfen«. Warum man solche aus der Nachbarschaft mit an und pusten sie
Weil dieses hohe Kaufin- Systeme dann nicht ein- ins Gebäude.
teresse mit Lieferschwie- fach in Schornsteine instal- Dicke Luft ist also programmiert. Zu-
rigkeiten und Rohstoff- liere? Das habe mit dem Luft- mindest im Debattenbetrieb. Aber wie
Engpässen zusammen- zug zu tun, erklärt Dittler. schlimm wird es über den Dächern nun
komme, müssten Kunden In einem Auspuff herrscht wirklich? Das können wohl nur jene wissen,
»aktuell mit Wartezeiten Druck, in einem Schornstein die Deutschlands Öfen kennen. Anruf bei
von bis zu einem Jahr rech- hingegen nur ein natürlicher, einem Schornsteinfeger.
nen«. recht schwacher Zug. Deswegen Andreas Walburg ist Bezirksschornstein-
Brennholz war ebenfalls lassen sich dort oft nur sogenannte feger in Haselünne im Emsland. Nebenbei
knapp – und wurde entspre- elektrostatische Abscheider instal- engagiert er sich im Bundesverband seines
chend teuer. Das Statistische lieren. Diese aber seien »weit weni- Gewerbes, deswegen hat er einen guten Über-
Bundesamt meldete im Som- ger wirksam als geschlossene Partikel- blick über die Lage in ganz Deutschland.
mer einen Anstieg der Preise filter, wie sie heute bei Fahrzeugen »Wir verzeichnen in diesem Jahr zwischen 60
binnen Jahresfrist um mehr als längst Stand der Technik sind«, sagt und 70 Prozent mehr Anfragen als üblich, bei
80 Prozent. Viele Interessenten hät- Dittler. »Der Einbau solcher hoch- denen es um neue Kaminöfen geht«, sagt er.
ten sie wieder wegschicken müssen, wirksamen Filtersysteme zur Partikel- Die hohe Nachfrage nach wohliger Wärme
berichteten Brennholzhändler. abscheidung aus Holzofen-Rauch- aus Holz, hier spiegelt sie sich in Zahlen wi-
Die Folge: Holzkriminalität griff gasen ist technisch extrem aufwendig.« der. Alle Feuerstätten müssen vor ihrem Ein-
um sich (siehe ZEIT Nr. 43/22). Fal- Dittler misst regelmäßig die Luftquali- satz von einem Schornsteinfeger abgenom-
sche Online-Shops zogen leichtgläubi- tät in einem Wohngebiet außerhalb von men werden. So schreiben es die Gesetze der
ge Kunden ab, die sich vor einem kal- Karlsruhe. Vor allem abends treten an dieser Bundesländer vor.
ten Winter fürchteten. Es wurde sogar Stelle Spitzenwerte auf. Die Belastung mit Neben dem Brandschutz geht es dabei um
im größeren Stil Holz geklaut. Teils ver- dem besonders gefährlichen Feinstaub der Umweltvorschriften. Die Vorgaben zur Luft-
schwanden ganze Waldstücke, die illegal Partikelgröße 2,5 sei dann teilweise höher reinhaltung werden regelmäßig verschärft. Der
abgeholzt und vermutlich auch zu Kamin- als etwa am Stuttgarter Neckartor – einer nächste entscheidende Stichtag ist der 31. De-
holz verarbeitet wurden – obwohl Holz eigent- berüchtigten Kreuzung, die mal als zember 2024. Das ist zwar noch gut zwei Jahre
lich erst mehrere Jahre lagern und trocknen sollte, Smog-Zentrum der baden-württember- hin, aber dann endet die Übergangsfrist für
bevor man es verbrennt. Auf »mehrere Millionen gischen Landeshauptstadt galt. Atme alle Kaminöfen, die vor 2010 gebaut wurden.
Euro« summiere sich mittlerweile der Schaden, man diese Luft ein, sagt Dittler, »ist das Ältere Modelle, die die aktuellen Grenzwerte
gibt die Waldbesitzerlobby an, die kriminelle ist im Prinzip so, als würde man jeden nicht einhalten, müssen dann raus aus den
Banden hinter dem Holzklau vermutet. Abend für zwei bis drei Stunden zum Stuben. »Viele Interessenten scheinen diesen
Alles zusammen eine ungesunde Mischung: Passivrauchen gezwungen«. Tagsüber ist Zusammenhang nicht zu kennen«, sagt Wal-
Einerseits gibt es viel mehr Öfen. Andererseits die Belastung im Wohngebiet zwar gerin- burg. »Deswegen sollte man es sich auch gut
weiß niemand, was die von hohen Heiz- ger. Aber tagsüber sind viele Menschen überlegen, einen alten Kaminofen beispiels-
kosten geplagten Deutschen darin so alles in eben nicht daheim, sondern bei der Arbeit. weise gebraucht auf eBay zu kaufen, wo die
Rauch aufgehen lassen. Vermutlich ist es Mit seinen Messergebnissen, die der überraschend günstig angeboten werden.«
nicht nur gut durchgetrocknetes Kaminholz. Wissenschaftler durchaus polemisch auf Wahrscheinlich haben viele Menschen im
Sondern auch frisches Holz, das dann be- Twitter postet, macht er sich nicht nur Freun- zurückliegenden Sommer der Holz- und
sonders schmutzig verbrennt. Oder gar alte de. Das Agrarmagazin Land & Forst beispiels- Ofengier diesen Fehler schon gemacht. Dann
Möbel, Gartenholzreste und anderer weise wirft ihm ein »pseudowissenschaftliches haben sie sich auf der Suche nach einer Alter-
Krempel, der eigentlich in den Sperrmüll Verteufeln der Holzheizung« vor. In Wahrheit native zur Gasheizung womöglich ein günsti-
gehört. All das wird die Luft schlucken trage Dittler wohl nur einen »kleinen Nachbar- ges Gebrauchtmodell andrehen lassen, das sich
müssen. Etwas Hoffnung macht allein die schaftsstreit« aus, weil er sich vom Kaminrauch nun als Dreckschleuder erweist. Und das ih-
Tatsache, dass die Erdgasspeicher zu Be- belästigt fühle. Dass bei der Verbrennung von nen nicht mal besonders lange die Hütte wär-
ginn der Heizsaison randvoll waren und die Holz grundsätzlich mehr Schadstoffe entstehen men wird, wie der Schornsteinfeger Walburg
Preise nicht ganz so hoch wie im Sommer als bei der von Gas, bestreitet das Magazin zwar vermutet: »Schlimmstenfalls müssen wir die
vorhergesagt. Und dass es vielleicht nicht so nicht – es komme bei Kaminöfen allerdings auf vermeintlichen Schnäppchen Ende 2024 dann
eisig werden wird wie befürchtet. die individuelle Bedienung an. Etwa auf die gleich wieder stilllegen.«
Doch so oder so: Der Feinstaub aus Holzöfen Luftzufuhr, den Zeitpunkt des Nachlegens und
ist heute ein größeres Problem als der aus dem die Restfeuchte der Holzscheite. !www.zeit.de/vorgelesen
24
Innovation ist gut: Darauf können sich alle einigen. Aber nur wenigen in Deutschland ist es 2022
M
anche bedeutenden Erfin-
dungen sind so unauffällig,
dass Menschen einfach an
ihnen vorbeilaufen. So wie
an diesem Dezembertag im
C&A in Hamburg-Altona.
An einem Regal hängen
kleine bernsteinfarbene Haken, von denen bunte
Socken baumeln. Niemand interessiert sich für sie.
Auch die Verkäuferin weiß nicht wirklich Bescheid:
Die Socken, die seien irgendwie nachhaltig. Ohne
Plastik oder so.
Irgendwie nachhaltig? Die Socken?
Nein. Das Besondere ist, dass die kleinen Haken
aus einem Granulat bestehen, das Kunststoff ähnelt –
aber kompostierbar ist wie Kaffeesatz und Gurken-
schalen. Das Hamburger Start-up Traceless Materials
stellt den Plastik-Ersatz aus pflanzlichen Reststoffen
der Agrarindustrie her, daher ist er frei von giftigen
Chemikalien und lässt sich mit deutlich weniger CO₂-
Emissionen herstellen als Plastik. Die Erfinderin heißt
Anne Lamp, sie ist Ingenieurin und will der globalen
Plastikverschmutzung etwas entgegensetzen. Sie will
zum Beispiel Verpackungen durch ihr Material er-
setzen – oder eben die Milliarden von Haken, an denen
Kleidung in den Läden hängt und die oft auf der
Straße landen oder in der Müllverbrennung.
Lamp hat Jahre im Labor getüftelt, mit einer Ver-
fahrensingenieurin Traceless gegründet, ein Team auf-
gebaut, Geld eingesammelt, eine Produktionsanlage
gebaut. Und wie war es, dann selbst vor dem Socken-
regal zu stehen? »Krass«, sagt die 31-Jährige, »einfach
nur krass.« Sie habe die Menschen beobachtet, die ihre
Erfindung so achtlos in die Hand genommen hätten,
als würden Socken schon immer daran hängen. Genau
so solle es ja sein: Traceless soll so selbstverständlich
werden, wie es Plastik heute ist.
Die kompostierbaren Haken sind eine von zahl-
reichen Innovationen des Jahres 2022. Der High-Tech
Gründerfonds, der Start-ups wie Traceless finanziert,
empfiehlt sie als Weltneuheit. Die Haken sind damit
in guter, aber bisweilen auch skurriler Gesellschaft.
Das abgelaufene Jahr hat faszinierende Entwick-
lungen wie ChatGPT hervorgebracht, eine künstliche
Intelligenz, die schlaue Fragen versteht und schlaue
Antworten geben kann. Solche Sprunginnovationen
können den Alltag grundlegend verändern, Märkte
durcheinanderwirbeln, etablierte Firmen überflüssig
machen und neue Wirtschaftszweige begründen.
Aber Weltpremiere feierten eben auch eine vegane
Foie gras, selbstklebende »Nipplepads«, ein Skating-
Ski, ein Hundeparfum, eine »Sackkarre für die Hosen-
tasche«. Bier, das auf Ziegenmolke statt Malz setzt.
Eine Küchenspüle, die sich auf Tastendruck in eine
Ablagefläche verwandelt.
Oft verbergen sich hinter dem schönen Label
also Produkte, auf welche die Welt vielleicht auch
verzichten könnte. Marketingprofis heften es an
Dinge, die größer erscheinen sollen, als sie sind. In-
novativ sein oder zumindest erscheinen, das möchte
eben jeder gern. Gerade in schwierigen Zeiten wer-
den Innovationen beschworen. Im Koalitionsver-
trag von SPD, Grünen und FDP – Titel: »Mehr
Fortschritt wagen« – taucht der Begriff gleich 76-
mal auf – häufiger als »Gerechtigkeit« (15-mal),
»Nachhaltigkeit« (36-mal) und »Freiheit« (71-mal),
Abwandlungen mitgezählt.
Innovationen sind eine tolle Sache, darauf können
sich alle einigen. Es gibt nur ein Problem.
Katharina Hölzle ist Zukunftsforscherin, seit die-
sem Frühjahr leitet sie das Fraunhofer-Institut für
Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Sie erforscht,
wie Neues entsteht – und an welchen Barrieren es
scheitert. Hölzle hat den Eindruck, dass zwar das
ganze Land Innovation anpreist, »aber es ist schwierig,
Innovation zu erschaffen«.
Sie meint: Damit Neues entstehen kann, muss
viel zusammenkommen. Zunächst eine Kultur, die
Menschen animiert, nicht nur vorhandenes Wissen
aufzusaugen, sondern neue Dinge auszuprobieren.
So wie Anne Lamp, die über Jahre getüftelt hat, be-
vor ihr Plastik-Ersatz über eine Ladentheke wan-
derte. Aber aus Hölzles Sicht braucht es noch mehr:
staatliche Institutionen etwa, die Innovationen
nicht mit Regularien und Formalitäten ausbremsen
und so Neuheiten verteuern und verzögern. Es
brauche Firmen mit Führungskräften, die ihren
Mitarbeitenden Freiraum bieten, mal in Ruhe
nachzudenken. Chefs, die dafür auch mal einen
Auftrag ablehnen und die riskieren, Geld für etwas
auszugeben, das sich trotz allen Nachdenkens später
als Fehlschlag entpuppt. Hölzle sagt: »Es entsteht
nur eine Innovationskultur, wenn der Chef oder die
Chefin die auch lebt.«
Betrachtet man die Weltneuheiten des Jahres aus
dieser Perspektive, bleiben gar nicht so viele übrig.
Da ist etwa der Plastik-Ersatz von Anne Lamp, die
auch heute am liebsten im Labor stehen würde,
wenn sie nicht inzwischen so viele Gespräche mit
Kunden, Geldgebern und Journalisten führen wür-
de. Oder der Roboter eines Mittelständlers. Ein
ganz spezielles Fahrrad. Oder zwei Ideen für moder-
ne Mobilität, die sich mit Ausdauer gegen die Büro-
kratie behauptet haben.
Eine Roboterkollegin namens Ronja
Fangen wir an mit dem Mittelständler, er heißt Festo,
nennt Innovationen »für höchstmögliche Produktivi-
tät« sein »Markenzeichen« und sagt von sich, dass er
»aus Tradition innovativ« sei. 1925 in Esslingen ge-
gründet, beschäftigt er fast 21.000 Menschen weltweit
und erwirtschaftet mehr als drei Milliarden Euro
Frohes Neues
auch gelungen, wirkliche Weltneuheiten zu entwickeln VON JENS TÖNNESMANN
1
Fotos (Ausschnitte): Jewgeni Roppel für DIE ZEIT; Vay; Festo; Igus (v. o.)
Umsatz im Jahr, vor allem mit Automatisierungstech-
nik. Sieben Prozent davon steckt Festo in Forschung
und Entwicklung. In deutschen Firmen liegt der An-
teil nach Berechnungen des Stifterverbands sonst im
Schnitt bei 3,6 Prozent. Festo investiert also gezielt,
um mit viel Ausdauer neue Entwicklungen heraus-
bringen zu können, etwa 100 sind es nach Firmen-
angaben pro Jahr, die Zahl der Patente liegt bei 2600.
In diesem Jahr gehört dazu auch eine Weltneuheit,
die bald in Fabriken Einzug halten soll und an der
Festo seit Jahren arbeitet: der Festo Cobot, ein Robo-
ter, dem menschlichen Arm nachempfunden. Er funk-
tioniert, das ist das Neue, nicht mit klassischen elek-
trischen Antrieben, sondern mit pneumatischen. Das
bedeutet: Jede seiner sechs Bewegungsachsen hat zwei
Kammern. Wenn Luft in sie gepresst oder aus ihnen
abgelassen wird, bewegt sich der Arm. Okay, aber was
ist daran so revolutionär?
Die Frage geht an zwei der zahlreichen Ingenieure
bei Festo: Michael Hartmannsgruber, Vice President
Robotic, und seinen Kollegen Achim Fischer, Leiter
Robotic Application Engineering. Die beiden gehören
zu einem 70-köpfigen Team, das seit 2019 am Cobot
gearbeitet hat. Und natürlich wollen sie das erklären:
Während Roboter oft noch in Sicherheitsbereichen
werkeln, wo sie niemanden gefährden, könne ihr
Cobot mit Menschen buchstäblich eng zusammen-
arbeiten. Bei Kollisionen gebe er dank seiner Pneu-
matik sofort nach, überhaupt sei er feinfühliger als
rein elektrische Modelle. Zudem sei er leicht und
günstig, weil seine Antriebe ohne teure Sensoren und
Getriebe auskommen.
Was man dem Cobot nicht ansieht: Seine Ent-
wicklung verlief nicht immer wie geplant. Den
Prototyp tauften die Entwickler Ronja. Nur leider
sei Ronja zu klobig gewesen, sagt Hartmannsgru-
ber, ihre Bewegung noch zu umständlich, ihr De-
sign zu wenig ästhetisch. Also setzten sich die Ent-
wickler noch einmal für ein halbes Jahr daran und
schufen Bettina, eine schlankere Roboterschwester.
Als der Cobot dann von Festo im Mai auf der Han-
nover Messe der Weltöffentlichkeit vorgestellt wur-
de, schüttelte ihm sogar Olaf Scholz den Greifer.
WIRTSCHAFT
3 4
Ein Fahrrad aus Vollplastik
So ein Kanzlerbesuch am Messe-
stand ist ein guter Indikator da-
für, wo sich Innovation abspielt.
Scholz schaute auch bei Frank
Blase vorbei, der die Begegnung
»eines der großen Glücksgefühle«
seines Lebens nennt.
Blase hat 2022 eine Welt-
neuheit vorgestellt, die ihn »hib-
belig« macht, wie der 63-Jährige
sagt. Sie soll dazu beitragen,
Plastikmüll zu verringern: ein
»Vollplastikrad«, bei dem nicht
nur der Rahmen, sondern auch
Teile wie das Radlager und die
Zahnriemen aus größtenteils
recyceltem Kunststoff sind. Es
soll auch selbst recycelbar sein.
Mit dem »Abfall von gestern die
Mobilität von morgen« ermögli-
chen, so verkauft Blase das.
Die Idee kam ihm vor einigen Jahren im Urlaub in
Florida, wo Fahrräder aus Metall in der feuchten Mee-
resluft schnell Rost ansetzen. Seitdem ging sie ihm
nicht aus dem Kopf. Auch weil sein Sohn und Kinder
seiner Mitarbeiter ihm signalisiert hätten: Tu doch mal
was gegen die Plastikverschmutzung, du hast doch so
viel Glück mit Kunststoff gehabt!
Blase gehört nämlich die Firma Igus aus Köln. Den
Mittelständler gibt es seit 1964, heute beschäftigt er
weltweit 4500 Mitarbeiter und erwirtschaftet fast eine
Milliarde Euro Jahresumsatz mit Kunststoffteilen, die
er mit rund 800 Spritzgussmaschinen herstellt. Keine
Einwegbecher oder Wegwerfgeschirr, sondern Kunst-
stoffgleitlager für Prothesen zum Beispiel oder Kunst-
stoffzahnräder für Bahnweichen.
Laut seiner jüngsten Bilanz erwirtschaftete Igus
2020 einen Jahresgewinn von 100 Millionen Euro und
hat eine Eigenkapitalquote von 88 Prozent, der Firma
geht es also wunderbar. Womit man bei einer weiteren
Erklärung für das Plastikrad ist, dessen Entwicklung
bisher fünf bis sechs Millionen Euro gekostet hat, an
1 Ein Granulat, das aussieht
wie Plastik, aber kompostier-
bar ist wie Gurkenschalen:
Daraus lassen sich zum Bei-
spiel Kleiderhaken herstellen
2 Bei diesem fahrerlosen
Auto lenkt nicht der Compu-
ter, sondern ein Mensch per
Fernsteuerung
3 Ein Vollplastikrad aus re-
cyceltem Kunststoff. Sein Er-
finder will »mit dem Abfall
von gestern die Mobilität von
morgen« ermöglichen
4 Der Roboterarm Cobot
kann dank seiner speziellen
Bauart auch in engem Kon-
takt mit Menschen arbeiten
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
der acht Entwickler arbeiten und bei der Igus zudem
mit dem niederländischen Fahrrad-Start-up MTRL
kooperiert. Anders als der junge Partner kann Blases
Firma es sich leisten, herumzuexperimentieren und
auch mal Geld zu verbrennen. Neues zu entwickeln
ist für Blase deswegen ein Vergnügen. Er sagt aber
auch: »Ich weiß, dass der Erfolg von gestern nicht
unbedingt der von morgen ist.«
Selbstfahrende Bahnen und ferngelenkte Autos
Automatisierung, Mobilität, Nachhaltigkeit: Das sind
offenbar für viele Unternehmen die Themen der
Stunde. Und manche nehmen dafür jene hohen
bürokratischen und regulatorischen Hürden in Kauf,
die aus Sicht der Zukunftsforscherin Katharina Hölzle
noch zu viele Innovationen behindern.
Da ist zum Beispiel jene Weltneuheit, die seit
Mitte September durch Hamburg rollt: vier selbst-
fahrende S-Bahn-Züge. Einen »Epochenwechsel«
sieht darin der Chef der S-Bahn Hamburg, weil
nun erstmals ein selbstfahrender Zug jene Gleise
nutzt, auf denen auch von Menschen gelenkte
Züge fahren. Gab es so bisher nicht.
Überraschung bei einem Besuch im Führerstand
der Bahn mit der Nummer 474551: Huch, da sitzt ja
trotzdem noch jemand! Genau: Auch wenn die Bahn
ohne Triebfahrzeugführer könnte, fährt immer einer
mit. Er lässt nun für eine 23 Kilometer lange Strecke
zwischen den Haltestellen Bergedorf und Berliner
Tor die Schalthebel los und verschränkt die Arme.
»Das ist schon ungewohnt, man gibt die Kontrolle
aus der Hand«, sagt der Mann, »aber ich weiß ja, dass
ich jederzeit eingreifen kann.« Um die Bahn zu über-
wachen, sollen er und seine Kollegen auch künftig
mitfahren, selbst wenn der Zug ohne sie klarkäme.
Der Vorteil liegt woanders: Gesteuert von Com-
putern beschleunigt und bremst 474551 selbststän-
dig und gleichmäßig und somit effizienter, als Men-
schen es können. Und 474551 berechnet permanent,
wie pünktlich sie ist; hat sie noch Zeit, beschleunigt
sie langsamer. Das soll Energie sparen und eine en-
gere Taktung ermöglichen. 60 Millionen Euro ist das
Projekt den Betreibern, der Stadt und dem Partner
Siemens Mobility, wert. Genug, um auch Monate
des Testbetriebs zu finanzieren, die nötig sind, damit
solche Neuheiten hierzulande genehmigt werden.
2
Die Bürokratie hat lange eine andere Erfindung
gebremst, an der Thomas von der Ohe und sein Ber-
liner Start-up Vay seit 2018 arbeiten: fahrerlose Au-
tos, die von einem Telefahrer aus einer Zentrale fern-
gesteuert werden. »Im Gegensatz zum autonomen
Fahren ist bei uns ein Mensch in der Verantwor-
tung – ein Ansatz, den die Behörden vertrauenswür-
dig finden«, sagt von der Ohe. Zudem sei Telefahren
nachhaltig, weil es Autos und Parkplätze reduziere.
Investoren haben dem Start-up rund 100 Millio-
nen Euro Wagniskapital zur Verfügung gestellt. Doch
neben der technologischen Herausforderung gibt es
eine regulatorische: In den vergangenen zwei Jahren
haben von der Ohe und seine Mitstreiter bei Behör-
den vorgesprochen, Hunderte Seiten Dokumentation
formuliert, Anwälte befasst und Gutachten eingeholt,
um eine Genehmigung zu bekommen. Das habe
einen mittleren sechsstelligen Betrag gekostet.
Kurz vor Weihnachten kam sie dann noch, die
Ausnahmegenehmigung der Stadt Hamburg. Jetzt
dürfen die Autos testweise mit einem leeren Fahrersitz
über die Straßen des Stadtteils Bergedorf fahren.
Thomas von der Ohe freut das. Aber er zögert kurz,
wenn man ihn fragt, ob er Vay rückblickend lieber
anderswo als in Deutschland aufgebaut hätte. »Nein«,
sagt der 34-Jährige dann, »aber vielleicht hätte ich es
lieber gleich in mehreren Ländern parallel probiert.«
Und wer weiß: Vielleicht wäre das Land, in dem alle
innovativ sein wollen, aber noch zu wenige es wirklich
sind, 2022 um eine Weltneuheit ärmer gewesen.
! www.zeit.de/vorgelesen
DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022 WIRTSCHAFT 25

KOMMENTAR

Saisonarbeiter bei der Haselnussernte in der Türkei

Die Ausbeutung stoppen

Mit dem Lieferkettengesetz will Deutschland die Welt verbessern.
Ein Experiment mit offenem Ausgang

Haben Kinder die Bohnen für meinen Kaffee ge- kette Galeria müssen sich ab Jahresanfang recht- Das kann tatsächlich helfen, die Welt ein Stück das umzukehren. Dann gehen dort Jobs verloren, das in Kraft tritt, können noch Jahre vergehen. Bis

Foto: Chris McGrath/Getty Images

erntet? Mussten Zwangsarbeiter die Baumwolle
für mein T-Shirt pflücken? Riskierten Menschen
ihr Leben, um die Rohstoffe für mein Handy ab-
zubauen? Wer sich solche Fragen stellt, dürfte auf
diesen Tag gewartet haben: Am 1. Januar tritt das
sogenannte Lieferkettengesetz in Kraft. Es soll ver-
hindern, dass Kaffee, T-Shirts oder andere Dinge,
die wir in Deutschland kaufen, unter inakzeptab-
len Bedingungen hergestellt werden.
Ab dem Neujahrstag drohen Firmen mit mehr
als 3000 Beschäftigten in Deutschland Strafen,
wenn sie nichts dagegen unternehmen, dass bei
ihnen oder einem ihrer Lieferanten Kinder ausge-
beutet oder Zwangsarbeiter beschäftigt werden.
Oder wenn sie zulassen, dass ein Zulieferer Ge-
werkschaften behindert, unangemessen niedrige
Löhne zahlt, Menschen diskriminiert, zu wenig
Pausen gewährt, das Grundwasser verunreinigt
oder schädlichen Lärm verursacht – um nur einige
Beispiele zu nennen. Der Katalog an möglichen
Verfehlungen ist lang. Und er gilt weltweit. Fir-
men wie Adidas, Volkswagen und die Kaufhaus-
fertigen, wenn einer ihrer Lieferanten – oder der
Lieferant eines Lieferanten – Chemikalien in einen
Fluss im Kongo kippt oder Arbeiter in Vietnam zu
Hungerlöhnen beschäftigt.
Das klingt sehr weitreichend. Allerdings ver-
langt das Gesetz nur, dass sich hiesige Unterneh-
men in angemessener Weise darum kümmern,
Missstände in ihrer Lieferkette zu erkennen und
abzustellen. Die Firmen sollen Risiken beurteilen,
Hinweisen nachgehen und sich im Rahmen ihrer
Möglichkeiten um Verbesserungen bemühen. Un-
terlassen sie das, müssen sie mit Strafen rechnen.
Das Lieferkettengesetz ist Ausdruck einer schon
länger andauernden begrüßenswerten Entwick-
lung: Viele Verbraucherinnen und Verbraucher
wollen nicht mehr Konsum um jeden Preis. Sie
wollen, dass bei der Produktion Mensch und Um-
welt geschont werden. Und viele Unternehmen
versuchen längst, diesem Anspruch zu genügen,
deshalb achten sie bereits auf das, was entlang ih-
rer Lieferketten passiert. Durch das Gesetz wird
das nun zur Pflicht.
besser zu machen. Kann. Sicher ist das nicht. Es ist
leider auch möglich, dass das Gesetz zwar hilft, das
Gewissen der Konsumenten in Deutschland zu be-
ruhigen, aber zugleich Menschen in armen Ländern
schadet. Davor warnen zum Beispiel der Wissen-
schaftliche Beirat beim Bundesministerium für
Wirtschaft und Klimaschutz oder das Institut für
Weltwirtschaft in Kiel. Von dem Gesetz betroffene
Firmen könnten sich nämlich aus problematischen
Ländern zurückziehen, wenn ihnen die rechtlichen
Risiken zu groß erscheinen. Immerhin sieht das Re-
gelwerk Strafen vor, die Milliardenbeträge erreichen
können. Etwa in Form eines Anteils vom weltwei-
ten Konzernumsatz oder durch den Ausschluss von
öffentlichen Aufträgen. Der Baukonzern Strabag,
erklärte ein Manager kürzlich, ziehe sich aus diesem
Grund vom Geschäft in Afrika zurück.
Reagieren viele Unternehmen ähnlich, wäre das
fatal. Denn Untersuchungen zeigen: Wo westliche
Firmen aktiv sind, verbessern sich in der Regel die
Lebens- und Arbeitsbedingungen. Verschwinden
diese Unternehmen aus einer Region, droht sich
und der Wohlstand schrumpft. Oder es springen
Firmen in die Lücke, die sich überhaupt nicht um
die Menschenrechte oder westliche Sozial- und
Umweltstandards scheren. Die Bauprojekte von
Strabag könnten ja auch chinesische Firmen über-
nehmen.
In der Begründung des Lieferkettengesetzes
heißt es, seine Regeln sollten Unternehmen darin
bestärken, gemeinsam mit ihren Geschäftspartnern
an Verbesserungen zu arbeiten, statt Verträge auf-
zulösen und sich zurückzuziehen. Das ist das Ziel.
Ob das aber erreicht wird, ist offen. Sicher kann das
derzeit niemand vorhersagen. Denn es gibt interna-
tional bisher kaum Erfahrungen mit Vorschriften
dieser Art. Zudem hat Deutschland auch noch »das
schärfste Lieferkettengesetz der Welt« beschlossen,
wie ein SPD-Abgeordneter bei dessen Verabschie-
dung voller Stolz verkündete. Man könnte aus
diesem Grund auch skeptisch sein.
Problematisch ist außerdem, dass es sich um
einen deutschen Alleingang handelt. Über ein EU-
Lieferkettengesetz wird zwar verhandelt, aber bis
dahin gilt nur für hierzulande tätige Firmen mit
mehr als 3000 (ab 2024 dann 1000) Beschäftigten
der strenge deutsche Lieferkodex. Sind diese Fir-
men wirklich so stark, dass sie in aller Welt auf ihre
Standards pochen und zugleich im Wettbewerb
bestehen können? Schließlich müssen Unterneh-
men in Deutschland auch schon besonders hohe
Steuern, Löhne und Energiepreise bezahlen. Dazu
kommt ein nationaler CO₂-Preis und jetzt eben
das Lieferkettengesetz, das – wieder einmal – zum
Vorbild für die ganze Welt werden soll. Über-
nimmt sich Deutschland womöglich?
Das Lieferkettengesetz ist ein Experiment. Wie
es ausgeht, wird auch davon abhängen, wie eng
Behörden und Gerichte die komplizierten Regeln
auslegen. Mehr als bei jedem anderen Gesetz sollte
vom ersten Tag an genau beobachtet werden, was
es tatsächlich bewirkt. Und im Zweifelsfall müssen
die Regeln rasch angepasst und überarbeitet wer-
den. Eines reicht jedenfalls nicht: ein Lieferketten-
gesetz zu verabschieden und zu hoffen, nun werde
schon alles gut. KOLJA RUDZIO

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KOMMENTAR

Bio nur für alle

Öko-Lebensmittelhändler verlieren Umsatz.
Ein Grund: Sie haben die Chance, ihre Idee
massentauglich zu machen, nicht richtig genutzt

Zum ersten Mal in ihrer jüngeren Geschichte be-
kommt die deutsche Biobranche einen Dämpfer.
Der Umsatz mit Biolebensmitteln sei bis Ende Ok-
tober 2022 um 4,1 Prozent gesunken, verglichen mit
dem entsprechenden Zeitraum des vorangegangenen
Jahres. So zitiert die Deutsche Presseagentur einen
Marktbericht des Deutschen Bauernverbandes.
Das ist, so könnte man meinen, wenig verwun-
derlich. Schließlich waren die vergangenen Mona-
te ja mit allerhand finanziellen Zumutungen ver-
bunden – allen voran steigenden Kosten für Ener-
gie. Dass die Menschen da an anderer Stelle sparen,
beispielsweise beim Einkauf von Lebensmitteln,
war abzusehen. Doch so einfach ist das nicht. Denn
das Minus betrifft dem Bericht zufolge vor allem
den Naturkostfachhandel. In regulären Super-
märkten sei der Öko-Umsatz in etwa gleich ge-
blieben. Und die Discounter seien mit ihren Bio-
produkten sogar zu Gewinnern eines »Trends zum
Billigeinkauf« geworden.
Die Entwicklung verrät eine Menge über Mög-
lichkeiten und Grenzen von bewusstem Konsum
sowie über Handelsstrategien. Vermutlich haben
Aldi, Lidl und Co. für das Biosegment nämlich
mehr getan als jene Fachhändler, die sich auf ein
gleichermaßen anspruchsvolles wie gut betuchtes
Kundensegment konzentriert haben – das allerdings
ziemlich klein ist. Abgrenzung nach unten (dort die
Massenkundschaft, hier der wahre Bio-Kenner)
funktioniert eben nur begrenzt.
Erst vergangene Woche meldete die reine Bio-
marktkette Basic Insolvenz an – das jüngste Symp-
tom der Krise. In besseren Zeiten haben sich die
Boutiquen der Branche die Chance, Bio auf eine
viel breitere Basis zu stellen, von den Discountern
aus der Hand nehmen lassen. Stattdessen haben
sich einige in einer exklusiven Blase eingerichtet.
Man kann konventionellen Produzenten und
Händlern vorwerfen, dass sie mit einer viel zu hei-
len und oft falschen Welt werben – lächelnde Kühe,
sonnenbeschienene Fachwerkhöfe, gütig dreinbli-
ckende Almbauern. Heile-Welt-Versprechen kennt
die Biobranche allerdings auch. Mal bedienen sich
Unternehmen einer Markenwelt aus dem Märchen-
land, mal folgen sie anthroposophischen Ideen über
die kosmische Vernetzung von Kühen, mal be-
schwören sie die segensreiche Wirkung von Voll-
mondlicht auf die Qualität von Käse und Mineral-
wasser. Mehr zu tun, als das Biosiegel verlangt, ist
manchmal ein Ausdruck von Verantwortung gegen-
über Mensch und Natur – andere Male ist es pure
Esoterik.
Unbestritten ist, dass die reinen Biokriterien
keine paradiesischen Zustände garantieren. Man
denke nur an die riesigen Gewächshausanlagen im
Süden Spaniens, in denen Biogemüse mit viel
Sonne in einer wasserarmen Gegend herangezogen
wird. Mit Lastwagen wird es anschließend durch
halb Europa gekarrt. Alles nicht ideal. Aber eben
auch: Bio nach Vorschrift.
Am Ende entscheidet bei vielen Menschen der
Preis. Dass es den Discountern offenbar gelingt,
Biolebensmittel zu einem Preis anzubieten, den sich
viele Verbraucherinnen und Verbraucher auch in
der Krise noch leisten können, ist zunächst einmal
ein Fortschritt. Klar, man kann es immer besser
machen. Man muss es sogar. Aber in einer Markt-
wirtschaft, erst recht in einer Supermarktwirtschaft,
muss das Angebot bezahlbar bleiben. Die Dis- Im Handel oder digital
counter überzeugen ihre Kunden weiterhin prag- unter wiwo.de/2023
matisch und im großen Stil mit Bioware. Die an-
deren haben vielleicht die besseren Argumente.
Aber was nützt das, wenn sie einem nicht mehr
abgekauft werden? MARCUS ROHWET TER
 26
Werden Menschen faul, wenn sie Geld ohne Gegenleistung beziehen? Oder mutig und kreativ? Seit eineinhalb Jahren prüfen Forscher die Folgen eines
bedingungslosen Grundeinkommens. Jetzt ist Halbzeit. Eine Zwischenbilanz VON KOLJA RUDZIO UND DAVID GUTENSOHN
Fotos: Anna Ziegler für DIE ZEIT
Samira Korves hat eine eigene Schwimmschule
S
eit eineinhalb Jahren gibt
es in Deutschland ein be-
dingungsloses Grundein-
kommen. Zumindest für
122 Teilnehmende eines
Großversuchs. Sie erhal-
ten für die Dauer von drei
Jahren steuerfrei 1200 Euro im Monat –
ohne dafür irgendeine Gegenleistung er-
bringen oder einen besonderen Bedarf an-
melden zu müssen. Das Experiment soll
klären, was ein bedingungsloses Grund-
einkommen bewirkt: Werden seine Emp-
fänger faul und träge? Oder macht es sie
mutiger und kreativer?
Das Experiment, das jetzt seine Halb-
zeit erreicht hat, könnte auch für die hitzi-
ge Debatte um das Bürgergeld neue Ar-
gumente liefern. Denn der Gesetzentwurf
für das Bürgergeld enthielt ursprünglich
Elemente, die viele an ein Grundeinkom-
men erinnerten. Er sah etwa eine »Ver-
trauenszeit« vor, in der das Bürgergeld
nahezu bedingungslos ausgezahlt werden
sollte: Im ersten halben Jahr sollten Emp-
fängerinnen und Empfänger das Bürger-
geld selbst dann in voller Höhe erhalten,
wenn sie nichts tun, sich nicht bewerben
und jede ihnen angebotene Arbeit ableh-
nen. Auf Drängen der unionsgeführten
Länder im Bundesrat wurde das aus dem
Gesetz gestrichen. War das richtig?
Die Initiatoren des Experiments zum
Grundeinkommen haben sich zum Ziel
gesetzt, für eine ihrer Ansicht nach oft ideo-
logisch geführte Debatte wissenschaftliche
Fakten zu beschaffen. Deshalb hat sich der
Verein Mein Grundeinkommen e. V., der
schon seit einigen Jahren einzelnen Men-
schen für ein Jahr ein Grundeinkommen
zahlt, mit Wissenschaftlern des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)
und weiteren Forschern zusammengetan.
Der Verein sammelte bei 190.000 privaten
Spendern Geld für das Grundeinkommen
für 122 Testpersonen ein, die Forscher
sorgen für die wissenschaftliche Begleitung.
Sie befragen regelmäßig die per Zufall aus-
gewählten Empfänger des Grundeinkom-
mens sowie 1378 Menschen in einer Kon-
trollgruppe, die kein Geld ohne Gegenleis-
tung erhalten. In beiden Gruppen werden
auch Haarproben gesammelt, um das
Stresslevel der Menschen zu prüfen. Mit
dem Grundeinkommen, glauben manche,
gäbe es weniger Burn-out-Erkrankte.
Das Geld-für-alle-Experiment
Jetzt, zur Halbzeit des Experiments,
liegen allerdings noch keine Studienergeb-
nisse vor. Michael Bohmeyer, der Gründer
des Vereins Mein Grundeinkommen, will
auf Anfrage nicht einmal erste Eindrücke
schildern. Zu groß sei die Gefahr, dass ihre
Veröffentlichung die Teilnehmer des Ex-
periments beeinflussen und damit das
Ergebnis verfälschen könne. Über die Er-
fahrungen einzelner Grundeinkommens-
Empfänger lässt sich jedoch berichten, drei
von ihnen begleitet die ZEIT seit Beginn
des Experiments (siehe rechts).
Aber ist das Grundeinkommen über-
haupt noch eine populäre Idee? In der ak-
tuellen Debatte wurde »Grundeinkom-
men« fast zu einem politischen Kampf-
begriff. Unionspolitiker wie Friedrich Merz
erklärten, das Bürgergeld sei der Weg in ein
bedingungsloses Grundeinkommen – das
genügte, um die Sozialreform als falsch
zu brandmarken. Bundesarbeitsminister
Hubertus Heil (SPD) und andere Koaliti-
onspolitiker hielten dagegen – aber nicht
etwa, indem sie die Idee eines bedingungs-
losen oder zumindest bedingungsarmen
Grundeinkommens verteidigten. Sondern
indem sie sich vehement gegen Parallelen
zwischen beiden verwahrten.
Umfragen zeigten auch: Eine Mehr-
heit der Bevölkerung lehnte das Bürger-
geld in der von der Ampel geplanten eher
großzügigen Fassung ab. Als die Union
Ende November schließlich durchsetzte,
dass es doch mehr Sanktionen gibt, be-
grüßte das in einer Politbarometer-Um-
frage fast eine Dreiviertelmehrheit der
Befragten (74 Prozent). Das Ergebnis
passt nicht zu der Vision eines anforde-
rungslos gewährten Basiseinkommens.
»Die Bürgergeld-Debatte hat der
Grundeinkommens-Idee geschadet«, sagt
Michael Bohmeyer. »Da wurde das Thema
des faulen Arbeitslosen wieder groß ge-
macht.« Deshalb bleibe es nach den In-
terventionen von CDU und CSU nun
auch bei dem bestehenden System: »Die
Sozialverwaltung muss zwischen Bedürfti-
gen und Nichtbedürftigen unterscheiden,
das führt zur Stigmatisierung.«
Trotz dieses politischen Rückschlags
will der Verein das laufende Experiment
fortführen und demnächst sogar ausbauen.
Für eine zweite Phase des Versuchs werden
dann wieder neue Teilnehmer gesucht. Sie
sollen – anders als die bisherige Versuchs-
WIRTSCHAFT
gruppe – nicht mehr unabhängig vom
eigenen Einkommen 1200 Euro on top
erhalten. Ihr Grundeinkommen könnte
niedriger ausfallen oder gänzlich entfallen,
je nachdem wie viel Geld sie selbst ver-
dienen. Das gilt als ein eher finanzierbares
Konzept für ein Grundeinkommen. »Dazu
werden wir praktisch Staat spielen und wie
eine kleine Finanzverwaltung errechnen,
wem welches Grundeinkommen zusteht«,
sagt Bohmeyer.
Auf die Frage, wie sich so ein System
von der heute üblichen Bedürfnisprüfung
unterscheide, erklärt der Vereinschef, das
Grundeinkommen erhielten am Monats-
anfang unterschiedslos alle. Am Monats-
ende würde dann das Finanzamt prüfen,
wie viel man verdient habe. Gegebenenfalls
müsse man dann das Grundeinkommen
zurückzahlen, oder zu viel gezahltes Geld
werde mit der nächsten Überweisung ver-
rechnet. Anders als heute führe das zu
keiner Stigmatisierung, weil das Grund-
einkommen eben an alle überwiesen werde
und weil das Finanzamt im Gegensatz zum
Jobcenter niemanden bevormunde.
Aber sorgt so ein Verfahren nicht für
einen irren bürokratischen Aufwand?
»Wenn die Leute im Experiment uns die
Zustimmung erteilen, dass wir in ihrem
Konto das Einkommen auslesen dürfen,
lässt sich das vollständig automatisieren«,
entgegnet der Aktivist.
Die zweite Phase des Experiments soll
zeigen, ob das Grundeinkommen auch bei
denjenigen etwas auslöst, die nur wenig
oder gar kein Geld erhalten. Immerhin
profitierten auch sie davon, dass es das Si-
cherheitsnetz des Grundeinkommens für
sie gebe, erklärt Bohmeyer.
Eines wird der Versuch auch in der
zweiten Stufe, die 2024 starten soll, aller-
dings nicht klären können: Wie ist es,
wenn jemand von seinem selbst verdienten
Einkommen etwas abgeben muss, um das
Grundeinkommen zu finanzieren? »Wir
können niemanden verpflichten, Geld für
das Grundeinkommen einzuzahlen, wir
können nur die Auszahlungsseite steuern«,
sagt der Vereinsgründer.
Es bleibt in jedem Fall noch ein lan-
ger Weg, bis die Forschungsergebnisse zu
dem vollständigen Experiment vorliegen.
Und bis das Grundeinkommen – wo-
möglich – nicht mehr als negativ besetz-
ter Kampfbegriff erscheint.
Jaydeep Galani unterstützt seine Familie in Indien
Samira Korves, 30,
Schwimmlehrerin und
Tagesmutter in Osnabrück
und Münster
Vor einem Jahr hatte ich mir vorgenom-
men, weniger zu arbeiten. Das hat nicht
geklappt. Ich habe eine eigene Schwimm-
schule, außerdem betreue ich jetzt die
Kinder von drei Familien. Früher kam
ich etwa auf eine 60-Stunden-Woche,
aber in den vergangenen Monaten habe
ich eher 80 Stunden gearbeitet.
Ich habe zwei Schwimmbecken ange-
mietet. Eines stundenweise in Osna-
brück und seit vergangenem Sommer
eines komplett, also 24/7, in Münster,
wo ich auch wohne. Nun biete ich zu-
sammen mit meinen drei Angestellten
und drei freiberuflichen Mitarbeitern
mehr Kurse als je zuvor an. Insgesamt
bringen wir jetzt fast 300 Kindern das
Schwimmen bei. Vor allem durch das
Becken in Münster habe ich viel zu tun.
Da muss ich mich auch darum küm-
mern, dass die Filtertechnik oder die
Heizung richtig funktioniert.
Durch das Grundeinkommen fiel es
mir leichter, das neue Becken anzu-
mieten. Ich habe mir gesagt: Die 1200
Euro im Monat bekomme ich ja noch fast
zwei Jahre lang, danach kann ich die hohe
Miete bestimmt allein finanzieren. Au-
ßerdem habe ich mir im April endlich ein
eigenes Auto angeschafft, einen BMW
X1, als günstigen Vorführwagen. Und ich
habe Geld in neue Flyer und in Werbung
investiert. Bald fährt ein Bus durch
Münster, auf dem ein Kind und ich groß
abgebildet sind. Knapp 6000 Euro kostet
die Werbung für zwei Jahre.
Und nicht zu vergessen: Ich habe
1000 Euro für den Zoo in Münster ge-
spendet. Das Grundeinkommen hilft
natürlich bei solchen Ausgaben. Es
macht wohl etwas weniger als ein Viertel
meiner Einnahmen aus, aber die schwan-
ken sehr stark.
Im vergangenen Jahr habe ich mich
als Tagesmutter fortgebildet. Ein Jahr
lang bin ich jeden Monat an einem
Samstag und einem Sonntag von mor-
gens bis abends in Schulungen gewesen
und habe eine Prüfung abgelegt. Jetzt
bin ich eine voll ausgebildete Tages-
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
mutter mit der Qualifizierungsstufe 3.
Mehr Geld bringt mir das nicht ein, das
habe ich vor allem für mich getan.
An meiner kritischen Haltung zum
Grundeinkommen hat sich nichts ge-
ändert. Ich finde es gut, wenn es hilft,
Potenziale zu fördern, aber man sollte es
nicht einfach bedingungslos an alle aus-
zahlen. Manche Menschen machen es
sich dann bequem, fürchte ich. Deshalb
war ich auch bei der Diskussion um
das Bürgergeld zwischendurch entsetzt:
Das wollen die doch nicht etwa bedin-
gungslos verteilen? Das hätte ich falsch
gefunden.
Bianca Radlbeck,
25, Studentin
aus München
Das Grundeinkommen war für mich in
diesem Jahr besonders wertvoll. Für mein
WG-Zimmer in München muss ich knapp
1000 Euro im Monat zahlen. Ein Jahr zu-
vor waren es noch 860 Euro, doch wegen
der steigenden Gas- und Strompreise geht
nun fast mein ganzes Grundeinkommen
für die Miete und die Nebenkosten drauf.
Ohne das Grundeinkommen könnte
ich mir mein Zimmer nicht so einfach
leisten. Zumindest müsste ich viel mehr
arbeiten. So ist das bei vielen meiner Kom-
militoninnen und Kommilitonen. Ich
hatte, als ich 2021 nach München gezogen
bin, einen Job in der Gastronomie. Da-
durch hatte ich immer weniger Zeit zum
Lernen. Die Bar wurde dann aber verkauft,
ein neuer Besitzer hat übernommen, und
ich habe gekündigt, um mich besser auf
meine Klausuren vorbereiten zu können.
Ich will keinen Job annehmen, nur
um damit Geld zu verdienen. Ich möchte
etwas tun, das mit mir und meiner Aus-
bildung zu tun hat und das ich gerne
mache. Außerdem möchte ich genug Zeit
haben, um gut zu studieren. 2023, nach
der Prüfungsphase, will ich mir einen Job
als studentische Hilfskraft suchen oder
ein Praktikum machen. Es muss aber mit
meinem Studium, Wirtschaftsingenieur-
wesen, zu tun haben.
Mit dem bedingungslosen Grundein-
kommen wird das auch finanziell möglich
sein – noch etwa eineinhalb Jahre lang er-
halte ich das Geld, dazu unterstützen mich
meine Eltern. Ende nächsten Jahres möchte
ich dann etwas Neues wagen, ein Auslands-
semester, dafür spare ich schon jetzt etwas
von meinem Grundeinkommen. Mich
zieht es entweder nach Australien oder
Südafrika. Die letzten Monate meines
Grundeinkommens will ich mitnehmen
ins Ausland, damit ich dort erst mal ohne
finanzielle Sorgen ankommen kann.
Jaydeep Galani, 31,
Software-Entwickler in
Frankfurt am Main
Gerade habe ich wieder einen Frage-
bogen für die Studie rund um das
Grundeinkommen ausgefüllt. Es ist
Frage-bogen Nummer 4 von 7, und
weiterhin kann ich nur jedes Mal be-
stätigen, wie froh ich bin, das Grund-
einkommen zu erhalten. Nicht, weil
ich dringend darauf angewiesen wäre.
Aber es ermöglicht mir Dinge, die
sonst schwierig wären.
Vor allem hilft mir das Geld, meine
Familie in Indien zu unterstützen. Mei-
ne Eltern haben sich dort ein kleines
Haus gekauft – auf Raten. Ich trage die
Hälfte der monatlichen Kosten. Das
mache ich seit Anfang des Jahres zusätz-
lich zu dem, was ich ihnen ohnehin
schon überweise. Deshalb arbeite ich
auch weiterhin in Vollzeit. Mein Job als
Software-Entwickler macht mir Spaß,
ich kann viel im Homeoffice arbeiten
und verdiene ordentlich. Das Grundein-
kommen macht etwa 35 Prozent meiner
gesamten Einnahmen aus. Zusammen
reicht das, um meine Eltern zu unter-
stützen und mir gleichzeitig ein paar
eigene Wünsche zu erfüllen.
Im kommenden Jahr will ich in eine
größere Wohnung umziehen. Aktuell
lebe ich in einer Einzimmerwohnung,
was praktisch ist und für mich allein auch
in Ordnung. Aber etwas mehr Platz und
ein eigenes kleines Homeoffice wären
toll. Dann wäre die Arbeit auch etwas
besser von meinem Privatleben getrennt.
Außerdem will ich in den nächsten Mo-
naten reisen, am besten solange ich das
Grundeinkommen noch erhalte. Ich war
zum Beispiel bisher noch nie in Paris oder
London, obwohl Verwandte von mir in
diesen Städten leben.
 DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022
W
Wenn man in der Politik nicht weiter-
weiß, holt man sich Berater ins Haus.
Ein bekanntes Beispiel dafür ist das der
früheren Bundesverteidigungsministerin
Ursula von der Leyen (CDU). Sie grün-
dete 2014 die »Taskforce Drehflügler«,
mit deren Hilfe die Einsatzbereitschaft
der Kampfhubschrauber verbessert wer-
den sollte. Das war ein gutes Geschäft
für das weltweit tätige Unternehmen
McKinsey, das für Beratungsleistungen
an dem Projekt zwischen 2016 und 2018
stattliche 11,8 Millionen Euro verdiente.
Dieses Engagement sorgte damals für
einiges Aufsehen, es wurde im Jahr 2020
sogar Thema in einem Untersuchungs-
ausschuss des Bundestages. Was jedoch
unbehandelt blieb: McKinsey ging nicht
nur im Bundesverteidigungsministerium
ein und aus. Zur selben Zeit war das
Unternehmen auch für russische Staats-
konzerne und einen russischen Rüs-
tungsproduzenten tätig.
Dass McKinsey in Berlin bei den
Themen Drohnen und Helikopter beriet
und zugleich in Moskau für einen Staats-
konzern arbeitete, dessen Chef schon
seit 2014 auf der EU-Sanktionsliste
stand, störte damals offenbar nieman-
den. In Berlin kamen die Experten von
McKinsey regelmäßig zum Einsatz. Sie
berieten nicht nur bei der Taskforce
Drehflügler. Zwischen 2016 und 2018
waren sie darüber hinaus bei der »Aus-
wahl einer logistischen Betreuungs-
lösung« für den Transporthubschrauber
NH-90 NTH Sea Lion dabei. Mehr als
drei Millionen Euro aus dem Etat des
Foto (Ausschnitt): Imago
Verteidigungsministeriums wurden für
ihre Beratung veranschlagt. Auch bei der
Entwicklung einer europäischen Drohne
war McKinsey im Jahr 2016 involviert.
Fast 5,2 Millionen Euro umfasste das
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Smartphone. Die Verfügbarkeit und die Funktionen der My BMW App sind marktabhängig.
Vertragsvolumen mit einem Rüstungs-
dienstleister, der wiederum McKinsey
mit ins Team holte. Und dann half auch
noch eine McKinsey-Tochterfirma zwi-
schen 2017 und 2018 der bundeseige-
nen IT-Firma BWI unter anderem bei
der Entwicklung einer Vergabe- und Be-
schaffungsstrategie. Die Verträge hatten
ein Volumen von 5,5 Millionen Euro. In
Einzelfällen hatten die Berater dabei
auch »Zugang zu Betriebs- und Ge-
schäftsgeheimnissen«, heißt es aus dem
zuständigen Verteidigungsministerium.
Und das alles soll kein Problem sein?
Fragt man das mittlerweile von Christine
Lambrecht (SPD) geführte Ministerium
nach den Russland-Aktivitäten von
McKinsey, kommt als Antwort: »Dazu
liegen keine Erkenntnisse vor.«
Dabei beriet McKinsey ab 2015 den
Hubschrauberhersteller Russian Heli-
copters. Die Firma fertigt zivile Flug-
geräte – zu ihren Produkten gehört aber
auch der Militärhubschrauber Ka-52 Al-
ligator, der von der russischen Armee
gegenwärtig im Krieg gegen die Ukraine
eingesetzt wird.
Für die EU war das Grund genug, Rus-
sian Helicopters auf die Sanktionsliste zu
setzen. Im März 2022 begründete Brüssel
diese Entscheidung damit, dass Russian
Helicopters verantwortlich sei »für die
materielle oder finanzielle Unterstützung
von Handlungen, die die territoriale Un-
versehrtheit, Souveränität und Unabhän-
gigkeit der Ukraine untergraben oder be-
drohen«.
McKinsey teilt auf Anfrage mit, man
äußere sich nicht zu einzelnen Kunden-
beziehungen, aber man sei in undemo-
kratischen Ländern nicht im Verteidi-
gungsbereich tätig. Die Arbeit in Russ-
land habe keine Waffensysteme betrof-
McKinsey dem Bundesverteidigungs-
fen, so ein Sprecher.
Russian Helicopters gehört zu dem
russischen Staatskonzern Rostec, einer
bedeutenden Stütze der Wirtschaft des
Landes. Der Konzern ist an mehr als
700 Unternehmen in Russland beteiligt
und beschäftigt mehr als eine halbe
Million Menschen. Im Krieg gegen die
Ukraine sind neben den Hubschraubern
des Unternehmens auch das Panzir-
Raketensystem und Kamaz-Lastwagen
im Einsatz.
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WIRTSCHAFT
Wie eng der Konzern mit dem Kreml
verbunden ist, zeigte sich Ende Novem-
ber 2022. Bei der Feier zum 15-jährigen
Jubiläum erschien ein ganz besonderer
Ehrengast: Wladimir Putin. »Die wich-
tigste Aufgabe ist es heute, alles zu tun,
um die Bedürfnisse unserer Streitkräfte
und vor allem der Einheiten, die an der
militärischen Spezialoperation beteiligt
sind, zu erfüllen«, sagte der russische
Staatschef bei dem Festakt. Rostec-Chef
Sergej Tschemesow gilt als sein treuer
Unterstützer. Die Konzernergebnisse be-
richtet er an Putin persönlich.
Tschemesow steht schon seit der An-
Diener
nexion der Krim im Jahr 2014 auf der
EU-Sanktionsliste, er soll in seiner vor-
herigen Position als Chef des Rüstungs-
exportunternehmens Rosoboronexport
die Souveränität der Ukraine untermi-
niert haben, indem er Rüstungsbetriebe
auf der Halbinsel in die russische Indus-
zweier
trie eingegliedert habe.
Auch für Rostec war McKinsey wohl
parallel zu den Mandaten für die Bun-
deswehr tätig. 2016 etwa freute sich der
Gouverneur der zentralrussischen Re-
gion Twer, Igor Rudenja, darüber, dass
Rostec eine wirtschaftliche Entwick-
Herren
lungsstrategie für seine Gegend ausgear-
beitet habe. Insbesondere die Experten
von McKinsey seien dabei hilfreich ge-
wesen, zitiert ihn die staatliche russische
Nachrichtenagentur Tass. Auch zu dieser
Kundenbeziehung will sich McKinsey
nicht äußern.
In Russland war McKinsey nicht nur
für den Großkonzern Rostec tätig, son-
dern auch für eine ganze Reihe kreml-
naher Unternehmen, darunter die staat-
Wie das Beratungsunternehmen lich kontrollierte Sberbank, die staatliche
Wneschekonombank (VEB Bank) und
der Energiekonzern Gazprom.
ministerium half – und gleichzeitig Inzwischen ist McKinsey nicht mehr
in Russland aktiv. Nach dem Überfall
russischen Rüstungsherstellern auf die Ukraine hat sich das Unterneh-
men nach eigenen Angaben vollständig
VON INGO MALCHER aus dem Land zurückgezogen. Das Bera-
tungsgeschäft haben ehemalige russische
McKinsey-Mitarbeiter übernommen, die
nun unter dem Namen Yakov & Partners
weitermachen.
Dass McKinsey in Russland für Rüs-
tungsproduzenten und Staatskonzerne
tätig war und in Deutschland gleichzei-
27
tig für das Verteidigungsministerium, er-
öffnet dem Berliner Ministerium nach
eigenen Angaben keinerlei Handlungs-
spielräume. »Ein möglicher Interessen-
konflikt, der sich aus früheren Geschäfts-
beziehungen eines Beratungsunterneh-
mens herleiten ließe, ist rechtlich nicht
begründbar«, heißt es aus dem Ministe-
rium auf Anfrage. Zudem gebe es »keine
rechtliche Verpflichtung für Auftragneh-
mende, andere wirtschaftliche Geschäfts-
beziehungen offenzulegen«, so eine Mi-
nisteriumssprecherin.
McKinsey wiederum versichert, sich
an alle »geltenden Gesetze zur Vergabe
öffentlicher Aufträge einschließlich aller
Regeln zu Interessenkonflikten zu hal-
ten«. Außerdem würden es firmeneige-
ne Richtlinien Mitarbeitern verbieten,
»Konkurrenten in einem wettbewerbs-
sensiblen Auftrag zu unterstützen«. Hin-
weise darauf, dass geschützte Informa-
tionen weitergeleitet worden sind, gibt es
nicht.
In den USA hat die Wertpapierauf-
sicht SEC im Jahr 2021 dem McKinsey-
eigenen Pensionsfonds MIO Partners
eine Strafe in Höhe von 18 Millionen
Dollar auferlegt. Grund dafür war, dass
die Investitionen des Fonds teils auf ver-
traulichen Informationen aus dem Bera-
tungsgeschäft basierten. Und im April
2022 kam ein Ausschuss des US-Reprä-
sentantenhauses zu dem Ergebnis, dass
mehrere McKinsey-Berater sowohl für
die staatliche Arzneimittelbehörde tätig
gewesen sein sollen als auch für Pharma-
konzerne.
In Berlin, so heißt es aus dem Vertei-
digungsministerium, schaue man sich
die Berater, die ins Haus kommen, ge-
nau an, wenn sie Zugang zu sensiblen
Informationen hätten. So würden exter-
ne Berater sicherheitsüberprüft und zur
Verschwiegenheit verpflichtet.
Vielleicht ist es eine gute Idee, in Zu-
kunft noch ein bisschen genauer hinzu-
schauen.
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Zu Beginn jeder Woche sprechen wir über
Geld, Macht, Gerechtigkeit. Jeden
Montag in: »Ist das eine Blase?«
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28
Schulden, Flops, politische Feinde: Disneys Bilanz ist verheerend. Nun kommt der frühere CEO Bob Iger wieder. Kann er den Konzern retten?
A
ls Olaf auf die Bühne tritt,
bricht unter den Zuschauern
Jubel aus. Der Schneemann aus
Frozen gesellt sich zu Micky
Mouse und Minnie auf die Frei-
treppe vor Cinderellas Märchen-
burg. Durch Disney World in
Orlando, Florida, zu spazieren fühlt sich an, als sei
man in ein halbes Dutzend Disney-Filme gleichzei-
tig versetzt worden. Von Buzz Lightyear bis Pu der
Bär werden Helden der Kindheit in menschengro-
ßen Kostümen lebendig. In der Luft liegt ein zu-
ckerwattiger Geruch, aus versteckten Lautsprechern
klingen Hits aus Disney-Musicals und -Filmen.
Tausende sind an diesem Novembertag angereist,
um genau das zu erleben. Die Kinderwagendichte ist
enorm, aber es sind nicht nur Familien im Park. Er-
wachsene feiern ihre Verlobung oder ihren Hochzeits-
tag. Kaum jemand ohne Disney-Shirt oder Maus-
Ohren-Kopfschmuck, 34,99 Dollar im Souvenir-
shop. Disney World lockt Besucher in eine heile
Parallelwelt. Doch wie in einem Disney-Film ist das
glückliche Magic Kingdom, wie der Vergnügungs-
park offiziell heißt, in Gefahr – oder vielmehr der
Disney-Konzern, zu dem es gehört.
Da sind ein Schuldenberg von 48 Milliarden
Dollar und enttäuschende Geschäftsergebnisse. Im
jüngsten Quartal meldete das Unternehmen einen
Verlust von 1,5 Milliarden Dollar allein für das Strea-
minggeschäft. Der Aktienkurs hat sich seit dem All-
zeithoch von über 200 Dollar im März 2021 mehr
als halbiert, auf unter 100 Dollar pro Anteil.
Noch bitterer sind die Niederlagen an der Kino-
kasse: Firmengründer Walt Disney schuf einst mit
Schneewittchen ein neues Genre, den abendfüllenden
Zeichentrickfilm, doch zuletzt war der Konzern selbst
auf diesem Gebiet nur mäßig erfolgreich. Der Ani-
mationsfilm Strange World etwa, der im November
in die US-Kinos kam, könnte mit einem geschätzten
Verlust von 100 Millionen Dollar zu den teuersten
Flops der Firmengeschichte werden.
Der lang erwartete Kinostart von Avatar: Der Weg
des Wassers spielte auf dem wichtigen Heimatmarkt
nicht, wie von Analysten erwartet, mehr als 170
Millionen Dollar ein. Stattdessen brachte er es zu-
nächst nur auf 134 Millionen Dollar. Über die Feier-
tage holte Avatar 2 zwar auf knapp 900 Millionen
weltweit auf – doch um Gewinn zu machen, müsste
der Film, der nach Branchenschätzungen zu den teu-
ersten Produktionen aller Zeiten gehört, mindestens
zwei Milliarden Dollar einspielen und damit unter
die fünf erfolgreichsten Filme der Hollywood-
geschichte kommen. Vom Erfolg des Streifens hängt
für Disney viel ab, denn bis 2027 sind drei weitere
Avatar-Folgen geplant.
Natürlich – wir sind schließlich bei Disney – ist
überall dort, wo Ungemach droht, auch ein Böse-
wicht nicht weit, der allen Ärger zu verantworten hat.
In dieser Rolle fand sich Bob Chapek wieder, Disneys
Vorstandsvorsitzender, Ende November vom Auf-
sichtsrat entlassen.
Zum Glück gibt es bei Disney auch immer einen
rettenden Prinzen. Er heißt »Prinz Kaschmir«, so
nennen ihn Brancheninsider wegen seiner geschmei-
digen Art im Umgang mit den Egos der Stars. Der
wahre Name des Prinzen ist Bob Iger. Er soll nun den
Konzern retten. Dabei ist Prinz Kaschmir schon 71
Jahre alt und war erst Ende 2021 von seinem Posten
als Aufsichtsratschef bei Disney zurückgetreten.
Woher nimmt Disney die große Hoffnung in die-
sen Mann?
Bis Anfang 2020 hatte Iger 16 Jahre lang Disney
als CEO schrittweise zum größten globalen Enter-
tainmentkonzern ausgebaut: 2006 hatte er Pixar
erworben, das Animationsstudio des Apple-Gründers
Steve Jobs, das Erfolge wie Toy Story und Findet Nemo
kreiert hatte. 2009 hatte er für vier Milliarden Dollar
die Rechte am Superhelden-Universum von Marvel
gekauft – und den Kaufpreis durch Marvel-Filme in
nur fünf Jahren wieder eingespielt. 2012 hatte Iger
dann den Filmemacher George Lucas überzeugt,
seine Firma an Disney abzugeben. Damit gehörten
ihm auch die von Lucas erdachten Galaxien von Star
Wars und die Abenteuer von Indiana Jones.
Selbst mit dem erzkonservativen Verleger Rupert
Murdoch wurde Iger handelseinig, obwohl er vom
anderen Ende des politischen Spektrums kommt: Für
71 Milliarden Dollar erhielt Disney den Zuschlag für
Murdochs Entertainmentsparte 21st Century Fox.
Der Deal brachte weitere Hollywoodstudios und TV-
Rechte, etwa für die an den Simpsons.
Damit hatte Iger 2019 die Basis geschaffen für
den letzten Coup vor seinem – vorübergehenden –
Abgang: die Einführung von Disney+, einem eigenen
Streamingservice, der für Abonnenten Disneys Pro-
duktionen im Internet abspielt.
Igers letzte Aufgabe als Chef war es, einen Nach-
folger zu finden. Zur Überraschung vieler wählte er
Bob Chapek, den Leiter der wenig glamourösen, aber
lukrativen Disney-Sparte, zu der die Vergnügungs-
1.
2019,
Avengers: Endgame.
Weltweit eingespielt in Kinos:
2.797.732.053 Dollar
WIRTSCHAFT
Prinz Kaschmir ist zurück
parks und Kreuzfahrten gehören. Bei seinen Expan- Mit dieser Umstrukturierung brachte er Disneys
sionsplänen hatte der nüchterne Chapek dem strah- »talent« gegen sich auf. »Talent«, so heißen in Holly-
lenden Iger stets zur Seite gestanden. wood alle, von Regisseuren über Autorinnen bis hin
Doch Iger, an dessen Auto lange ein Nummern- zu Kostümbildnerinnen und Kameraleuten, die an
schild mit der Frage montiert war: »Gibt es ein Leben der Produktion von Inhalten beteiligt sind. Sie fühl-
nach Disney?«, habe den Konzern nach der Über- ten sich nun von Bürokraten bevormundet, denen
gabe an Chapek nie wirklich verlassen, sagt Roger sie sogar ihre Budgets für Partys vorlegen mussten
Entner, Hollywoodkenner und Analyst bei der und die schon mal anordneten, Spielfilme wie Scarlett
Marktforschungsfirma Recon Analytics. »Er zog als Johanssons Epos Black Widow statt exklusiv in den
Übervater im Hintergrund weiter die Fäden.« Kinos auf Disney+ anzubieten.
Fotos: Art Streiber/August; kleine Fotos: ddp (4)
Bob Iger machte Disney zum größten globalen Entertainmentkonzern. Sein Nachfolger zeigte weniger Geschick
Als Chapek im Februar 2020 übernahm, ver- Damit nicht genug, verdarb Chapek es sich
sprach er, Disney+ zum größten Streamingdienst mit den treuesten Fans: den Besuchern der Ver-
weltweit zu machen. Bis 2024 wollte er 260 Millio- gnügungsparks. Auch um die steigenden Aus-
nen Abonnenten gewinnen, rund 100 Millionen gaben für den Streamingdienst auszugleichen,
mehr als aktuell und 70 Millionen mehr als der Kon- verteuerte er die Tickets und führte ein neues
kurrent Netflix. Wie Iger sah Chapek im Streaming Buchungssystem ein, mit dem sich gegen Aufpreis
die Zukunft des Traditionskonzerns – und nicht mehr die Wartezeiten bei den Attraktionen verkürzen
in klassischen Kanälen wie Kino und Fernsehen. lassen. Wer dagegen nur das Tagesticket für 148
Bis zu diesem Strategiewechsel waren Disney und Dollar erwirbt, braucht Geduld: Im November
Netflix Partner gewesen, Disney hatte Filme und etwa betrug die Wartezeit an der beliebten Attrak-
Serien an Netflix lizenziert. Mit dem neuen Fokus tion »Pirates of the Caribbean« ohne Zusatzticket
aber wurden die Firmen bittere Rivalen. bis zu 90 Minuten. Die Kritik von Fans in den
Um den notwendigen Nachschub an Filmen, sozialen Medien war heftig. Ab 2023 kostet eine
Serien und Shows anzukurbeln, richtete Chapek eine Woche in Disney World inklusive Flug, Kost und
zentrale Stelle ein, die über die jeweiligen Budgets Logis für eine vierköpfige Familie rund 6000 Dol-
und Abspielkanäle von Projekten entscheiden sollte. lar, so Berechnungen von mousehacking.com, einer
Die größten Disney-Erfolge
2. 3.
2015, 2018,
Star Wars Ep. VII: Avengers: Infinity War:
The Force Awakens: Weltweit Weltweit eingespielt in Kinos:
eingespielt in Kinos: 2.048.359.754 Dollar
2.064.615.817 Dollar
Website zweier Disney-Fans, die Tipps für die
Parks geben.
Wer aber den Ort besuchen will, der für Cha-
peks größtes Desaster als Manager steht, fährt nach
Lake Nona, knapp 20 Autominuten vom Magic
Kingdom entfernt. Am Rande der Neubausiedlung
erstreckt sich eine Wiese. Außer einem Entwässe-
rungsteich und ein paar Rohren ist nicht viel zu se-
hen. Eigentlich hätte hier längst ein Hightech-
Disney-Campus stehen sollen, mehrere Tausend
Mitarbeiter sollten hier arbeiten. Das war zumindest
Chapeks Plan für die bislang in Kalifornien tätigen
»imagineers«, so der firmeninterne Name der Desig-
ner und Ingenieure, welche die Attraktionen in den
Parks und auf den Kreuzfahrtschiffen verantworten.
Doch wenige Monate nachdem Disney das
Grundstück im Herbst 2021 für 48 Millionen Dollar
gekauft hatte, überwarf sich Chapek mit Floridas
Gouverneur Ron DeSantis. Der Republikaner nimmt
jede Gelegenheit wahr, um sich als Vertreter konser-
vativer Werte zu profilieren. Im Frühjahr 2022 erließ
er ein Gesetz, das es Lehrern verbietet, im Unterricht
über das Thema der sexuellen Orientierung zu spre-
chen. Gegner tauften das Gesetz »Don’t Say Gay Bill«,
»Sag-nicht-schwul-Gesetz«, und warnten, es werde
zu Ausgrenzung beitragen.
2019,
The Lion King.
Weltweit eingespielt in Kinos:
1.647.733.638 Dollar
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
VON HEIKE BUCHTER
Disney, einer der größten Arbeitgeber in Florida,
äußerte sich erst nicht dazu. Erst nach öffentlichen
Protesten schwenkte Chapek um. DeSantis’ Antwort
kam prompt: Er ließ dem Konzern das Recht ent-
ziehen, Disney World und die dazugehörenden Re-
sorts als autonomes Gebiet selbst zu verwalten. Mit
diesem Recht, das Disney unter anderem erlaubte,
die Steuern für seine Anlagen selbst festzulegen,
hatte der Bundesstaat den Konzern 1967 nach Or-
lando gelockt, einer damals wirtschaftsschwachen
Gegend.
Der Umzug der imagineers nach Lake Nona ist
nun vorerst ausgesetzt. Schlimmer noch: Mit der
Kontroverse verprellte Disney gleichzeitig Konser-
vative sowie LGBTQ-Vertreter und ihre Unterstützer.
Bei der jährlichen Umfrage des Instituts Harris zur
Beliebtheit bekannter Marken stürzte Disney von
Rang 37 auf Rang 65 ab. Republikanische Abgeord-
nete drohen, das Copyright für Micky Mouse aus-
laufen zu lassen. Disney hatte die Figur erstmals 1928
als Marke schützen lassen; eigentlich wäre das Copy-
right spätestens nach 56 Jahren erloschen. Disney
schaffte es durch intensives Lobbying, eine Ausnah-
meregel durch den Kongress zu erwirken. Ohne eine
weitere Maßnahme der Abgeordneten läuft der
Markenschutz 2024 endgültig aus. Damit würde
Disney die exklusiven Rechte an seiner wichtigsten
Figur verlieren.
Der Streit zeigt, wie die gesellschaftliche und
politische Polarisierung in den USA Disney wie
vielleicht nur wenige andere Konzerne trifft. »Ohne
Übertreibung lässt sich sagen, dass Disney maßgeb-
lich beeinflusst hat, was wir als amerikanisch emp-
finden«, sagt Bethanee Bemis, Kuratorin beim Na-
tional Museum of American History, die derzeit eine
Ausstellung zu diesen Fragen vorbereitet. Disney sei
auch deshalb erfolgreich gewesen, weil es eine idea-
lisierte Version der Nation zeige, voller Optimismus
und Energie. Es ist kein Zufall, dass in allen Disney
Parks Besucher als erstes Main Street, USA, betreten:
den nostalgischen Nachbau einer amerikanischen
Kleinstadt im viktorianischen Stil.
Doch während die Disney-Version Amerikas, die
dunkle Seiten wie die Unterdrückung von Minder-
heiten einfach ignoriert, von links in die Kritik gerät,
wächst von rechts der Widerstand der Konservativen,
die in dieser Kritik einen Angriff auf ihre Überzeu-
gungen und ihren Lebensstil sehen. Für den Enter-
tainmentriesen, der zuverlässig ein Massenpublikum
bedienen will, wird der Umgang mit diesem Wider-
spruch immer schwieriger.
Das gilt nicht nur für die USA. Disneys bewähr-
tes Modell sei es, auf dem Heimatmarkt genug ein-
zuspielen, um die Kosten zu decken, sagt Analyst
Roger Entner. »Der Profit kommt dann aus dem Rest
der Welt.« Deshalb seien viele Filme und Serien auf
»glorifizierte Kindergeschichten« reduziert. Doch
selbst das schließt Kontroversen nicht aus: Weil sich
im Film Lightyear zwei Frauen küssen, wurde der Film
in 14 Ländern verboten – und brachte entsprechend
weniger ein.
Eine besondere Herausforderung für Disney ist
China, inzwischen der wichtigste Markt für Holly-
wood. Eine frühe Auseinandersetzung 1997 gewann
Peking. Damals veröffentlichte Disney im Westen,
trotz Protesten der chinesischen Regierung, Martin
Scorseses Kundun, einen Film über die Unterdrü-
ckung Tibets. In der Folge wurden Disneys Produk-
tionen in China verboten.
Der damalige Disney-Boss Michael Eisner ent-
schuldigte sich persönlich für die »Beleidigung von
Freunden«, der frühere US-Außenminister Henry
Kissinger vermittelte. Auch Eisners Nachfolger Bob
Iger ließ sich auf das Diktat der Chinesen ein: Nicht
nur begnügte sich der Konzern mit einem Anteil von
47 Prozent an dem 2016 eröffneten Disneyland
Shanghai – die Parteioberen durften auch bei der
thematischen Gestaltung der Attraktionen mitreden
und verlangten, dass dort traditionelle chinesische
Werte wie der Ahnenkult gefeiert würden.
Hinter den Kulissen gibt es nach einer Studie
des Autorenverbandes PEN bei Disney wie bei den
anderen Hollywoodstudios inzwischen eine Art
Selbstzensur, durch die für die chinesischen
Machthaber Unliebsames freiwillig gestrichen
wird. So war es offenbar auch, als 2019 die taiwa-
nesische Flagge in den Vorschauen für das Kampf-
piloten-Epos Maverick von der Bomberjacke des
Schauspielers Tom Cruise verschwand. Erst nach
öffentlichen Protesten in den USA war die Flagge
wieder zu sehen. »Disney wird es nicht beiden
recht machen können – China und den USA«,
sagt Oded Shenkar, Professor für Internationales
Management an der Ohio State University und ein
Kenner Chinas.
Dieses Dilemma wird auch Bob Iger, Disneys ge-
schmeidiger Prinz Kaschmir, nicht lösen. Einst
konnte Disney seine Interpretation von Mythen und
Märchen weltweit verkaufen. Diese Macht haben die
Herrscher des Magic Kingdom wohl eingebüßt.
4.
DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022 WIRTSCHAFT 29

Wirtschaft in einem Satz Ist eine Geldanlage in gehebelten ETF besser

als eine in Standard-ETF?,
fragt Marc Wünscher*
Warum lang, wenn es auch kurz geht? Was diese
Woche sonst noch los war

Unsicherheit: Der Chef der

Bankenaufsicht bei der EZB, Andrea
Enria, warnt vor einer neuen Finanzkrise,
ZEIT für Geld
Lieber Herr Wünscher,
Banken drohe Gefahr durch die sich Hebel verleihen uns Kräfte, die wir eigent-
lich gar nicht haben. Sie machen uns damit
eintrübende Konjunktur IT-Sicherheit: einiges leichter. Zum Beispiel, wenn sie in
Werkzeugen eingesetzt werden. Stellen Sie
Mario Greco, Chef der Zurich sich mal vor, wir müssten ohne die Hebel-
wirkung einer Zange einen Draht abknip-
sen – wir würden doch daran verzweifeln.
Versicherung, sagt voraus, dass Firmen Auch in der Finanzwelt verleihen uns
Hebel Superkräfte: Mit sogenannten ge-
hebelten Finanzprodukten müssen wir im
sich künftig nicht mehr gegen Vergleich zu nicht gehebelten relativ wenig
eigenes Kapital aufwenden, um große Wir-
über einen langen Zeitraum. Steigt der Das sieht man auch, wenn man die
Kurs eines normalen ETF in zehn Jahren
um 20 Prozent, heißt das nämlich nicht,
Renditen von gehebelten ETF oder Indi-
zes mit »normalen« Kursverläufen ver-
dass der gehebelte ETF im selben Zeit- gleicht. Ein ETF auf den S&P-500-Index,
raum um 40 Prozent zulegt. Die Kurs-
entwicklung kann sogar unter der des
der die 500 größten US-amerikanischen
Aktien abbildet, hat in den vergangenen
normalen ETF liegen.
Der Grund ist: Gehebelte ETF ver-
drei Jahren insgesamt 39 Prozent Rendite
gebracht. Mit der »2x Leveraged«-Version
doppeln die Kursentwicklung eines Index dagegen waren es 60 Prozent. Das ist sehr
jeden Tag auf Basis der Tagesentwicklung
aufs Neue. Dadurch kann sich der Kurs
viel, aber nicht das Doppelte von 39.
Genauso können auch die Verluste mit
auf lange Sicht nicht haargenau um den einem gehebelten ETF mehr als doppelt
festgelegten Faktor vervielfachen. Es
kommt zwangsläufig zu Verzerrungen.
so frustrierend sein wie bei einem norma-
len Investment: Wer etwa im Oktober

Hackerangriffe versichern können Mit kung zu erzielen. Bei einer Geldanlage in

einem zweifach gehebelten ETF zum Bei-
spiel läuft das so: Der Kurs des Index steigt
Sicherheit: Eine hohe Inflation und eine um drei Prozent, aber man macht sechs
Prozent Rendite, investiert also mit doppel-
ter, wahlweise auch mit dreifacher oder gar
abflachende Wirtschaft erschweren Luiz vielfacher Stärke. Solche Produkte erkennt
man an Zusätzen wie »2x Lev.« im Namen.
»Lev.« steht für »leverage«, also »Hebel«,
Inácio Lula da Silva den Start, wenn er am und die »2« bedeutet, dass die Kursent-
wicklung durch den Einsatz diverser Fi-
Ein Beispiel: Der Kurs einer Aktie notiert
zu Handelsbeginn bei 1000 Euro. Dann
2021 zweifach gehebelt in den MSCI
World Index investiert hat, musste bin-
fällt der Kurs um 20 Prozent, und die nen zwölf Monaten 37 Prozent Verlust
Aktie ist am Ende des Tages nur noch 800
Euro wert. Sie hat also 20 Prozent an
verschmerzen. Der normale MSCI World
ist lediglich um 6 Prozent gefallen.
Wert verloren. Wenn sie am nächsten Tag Gehebelte Finanzprodukte haben noch
wieder um 20 Prozent an Wert zulegt, tut
sie dies aber auf Basis der 800 Euro. Sie ist
einen Nachteil: Sie sind viel aufwendiger
strukturiert und dadurch teurer. Statt
dann 960 Euro wert. Um wieder auf 0,1 Prozent Jahresgebühren für einen
1000 Euro zu kommen, muss der Wert
also um mehr als 20 Prozent zulegen.
ETF landen Sie schnell mal bei 0,7 Pro-
zent. Auf lange Sicht macht sich auch das

1. Januar Präsident in Brasilien wird nanzinstrumente wie etwa Derivate ver-

doppelt wird. Leider gilt das Prinzip auch
für Verluste.
Entsichert: Der Motorsägen-Unternehmer Aber wären gelegentliche, durch den
Hebel verstärkte Verluste denn so drama-
tisch? Wenn Sie ohnehin langfristig inves-
Nikolas Stihl sieht bei der deutschen tieren möchten und das Geld 20 oder 30
Jahre im Depotkonto liegen bleiben soll?
Schließlich hat der breite Aktienmarkt bis-
Energiewende Dilettanten am Werk her noch jede Erschütterung überstanden
und geduldigen Anlegern trotz Crashs und
Abgesichert: Christian Klein von SAP ist Krisen am Ende Gewinne beschert. Wäre
Illustration: Arne Bellstorf für DIE ZEIT
Nun unterliegt jeder Kurs der sogenann-
ten Pfadabhängigkeit: Wie hoch die Ge-
samtrendite nach einem Jahr, fünf Jahren
oder zehn Jahren ausfällt, hängt immer da-
von ab, wie es in den Tagen, Monaten und
Jahren zuvor gelaufen ist. Denn durch Auf-
und-ab-Bewegungen verschiebt sich jedes
Mal die Ausgangsbasis. Auch wenn ETF
meist nur um ein oder zwei Prozent pro Tag
schwanken, sind sie von dieser Pfadabhän-
gigkeit betroffen – und ein zweifach gehebel-
ter ETF umso mehr. Schließlich verdoppelt
in der Rendite bemerkbar.
Nun will ich Ihnen das mit dem gehe-
belten ETF aber auch nicht energisch aus-
reden. Nur sollten Sie eben erstens nicht
erwarten, dass Sie in 20 Jahren mit dop-
pelt so viel Gewinn dastehen werden wie
alle anderen ETF-Anleger, und zweitens
sollten Sie sich auf zeitweilige Verluste
einstellen. Nicht dass Sie dann den Kopf
verlieren und panisch verkaufen, bevor
der Kurs sich wieder erholen kann! Wer
mit doppelter Kraft investiert, braucht

man da nicht schön doof, sich die Chance
auf doppelte Rendite entgehen zu lassen?
der einzige Chef, der einen deutschen So simpel ist es leider nicht. Denn mit
einem Leveraged ETF kassieren Sie nicht
er die Schwankungen des Index, wodurch auch doppelt starke Nerven.
sich die Ausgangsbasis jedes Mal noch deut-
licher verschiebt. Auf lange Sicht driften die
Kurse von normalem und gehebeltem Fonds
Ihre Mona Linke

zwangsläufig doppelt ab, schon gar nicht auseinander. (* Name auf Wunsch geändert)
Konzern unter den weltweit 100
wertvollsten Aktienunternehmen führt In unserer Kolumne beantworten wir jede Woche eine Geldfrage. Es schreiben im Wechsel: Die freie Autorin Mona Linke und
der langjährige ZEIT-Autor Rüdiger Jungbluth. Stellen Sie Ihre Fragen unter: www.zeit.de/geldfrage

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112317_ANZ_371x528_neu_X4_ONP26 1 27.12.22 11:19


Pandemien ․ Physik ․ Energie ․ Bildungsgespräch ․ Psychologie ․ Infografik: Physiologie
Am Ende der Corona-
Pandemie bleibt vor
allem ein Eindruck:
Es wurde zu wenig auf
die Menschen und ihre
soziale Situation
geschaut. Wie hier in
Göttingen, wo 2020 ein
Wohnblock nach einem
Ausbruch abgeriegelt
wurde – und es zu
Protesten kam
Von Pest bis Corona: Seuchen bedrohen die Menschen, seit sie sesshaft wurden. Was wir aus ihren Gemeinsamkeiten lernen können
W
ir sind nicht allein. Wir
waren es nie. Astrono-
mische Mengen von
Bakterien, Viren und Pil-
zen besiedeln unseren
Darm oder unsere Haut.
Nur etwa ein halbes
Prozent der DNA im gemeinsamen Ökosystem,
das der Mensch und seine Mikroben bilden, ist
menschlichen Ursprungs. Und fast die Hälfte un-
seres Erbguts zeugt allein schon durch seine Her-
kunft von historischen Begegnungen mit Viren.
Die Koexistenz von Mensch und Erregern beginnt
sofort mit dem Auftreten des Menschen. Die Mikro-
ben sind immer schon da gewesen. Und nicht immer
machen sie krank. Dass Pandemien entstehen, wie
häufig sie vorkommen, wie schwer sie verlaufen – das
ist auch und vor allem Folge menschlichen Handelns.
Die Geschichte der Seuchen gewinnt an ver-
heerender Dynamik mit der Erfindung der Land-
wirtschaft vor etwa 12.000 Jahren und der mit ihr
verbundenen Chance zur Sesshaftigkeit, mit den
ersten Großsiedlungen vor 9000 Jahren, der
Anziehungskraft der frühen Metropolen, dem
Wachstum der Weltbevölkerung, mit Handels-
wegen und Schifffahrtsrouten.
Für Historiker beginnt die Geschichte definier-
ter, namentlich bezeichneter Seuchen eigentlich
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WISSEN
Verräterische Muster
erst mit der nachchristlichen Zeitrechnung. Es
gibt die Antoninische Pest (um 170 nach Chris-
tus), die Cyprianische (um 260) und schließlich
die Justinianische (541 bis 770). Nur bei Letzterer
sind sich die Historiker heute – gestützt durch
Laboruntersuchungen – sicher: Sie wird von einem
tödlichen Bakterium ausgelöst, das eigentlich in
Nagetieren heimisch ist.
Der größte Pest-Ausbruch, der Schwarze Tod
(1346–1353), kostet mehr als ein Drittel der euro-
päischen Bevölkerung das Leben. Miasmen, faulige
Gase, machen Ärzte des Mittelalters für das Sterben
verantwortlich. Erst 1894 identifiziert der in der
Schweiz geborene Bakteriologe Alexandre Yersin den
nach ihm benannten Erreger: Yersinia pestis.
Im 19. Jahrhundert brechen nacheinander
sechs Cholera-Pandemien aus, die sich über meh-
rere Kontinente verbreiten. Auch hier gelten zu-
nächst üble Dünste als Ursache. Der britische Arzt
John Snow weist 1854 in der dritten großen Welle
nach, dass ein Ausbruch im Londoner Stadtteil
Soho auf mit Fäkalien verunreinigtes Trinkwasser
zurückzuführen ist. Das ist die Geburtsstunde der
modernen Epidemiologie. Erst 1883, am Beginn
der fünften Pandemie und mehr als 50 Jahre nach
dem Auftreten der ersten Fälle in Deutschland,
kann Robert Koch den Erreger Vibrio cholerae
dingfest machen. Die siebte und bisher am längs-
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
ten anhaltende Cholera-Pandemie – sie beginnt
1961 – ist offiziell weltweit noch immer aktiv.
Das 20. Jahrhundert wird durch gleich vier
Grippe-Pandemien geprägt, ausgelöst von Influenza-
Viren des Subtyps A. Die Spanische Grippe kostet
1918/19 weltweit 20 bis 50 Millionen Menschen das
Leben. Die Asiatische Grippe von 1957/58 fordert
wie die Hongkong-Grippe von 1968 bis 1970 bis zu
vier Millionen Todesopfer. Der jüngste globale Aus-
bruch, die sogenannte Schweinegrippe, verläuft
2009/10 mit etwa 200.000 Todesfällen deutlich
milder als erwartet. Vielleicht ist deshalb das Pande-
mie-Gedächtnis so deutlich verblasst, dass Ende 2019
das Coronavirus für viele nahezu unerwartet über die
Menschheit hereinbrach.
Neue Infektionskrankheiten stellen menschliche
Gesellschaften immer wieder vor die Herausforde-
rung, auf eine Bedrohung reagieren zu müssen, ob-
wohl ihnen fundamentales Wissen fehlt. Immer
wieder folgen auf einen Ausbruch die gleichen,
manchmal schon in der Antike verbreiteten Vorsor-
gemaßnahmen: Abstand, Hygiene, Quarantäne,
Masken. Dann kommen die Zweifel. Die Schuld-
zuweisungen. Und immer gibt es viele Fragen. Wel-
chen Charakter haben die Erreger? Woher kommen
sie? Wie werden sie übertragen? Sind zu ihrer Ein-
dämmung drakonische Maßnahmen erforderlich,
oder reichen einige gezielte Eingriffe? Wer ist eine
Gefahr, wer besonders gefährdet? Und mit zuneh-
mendem Wissen dann: Wen will, wen kann man
überhaupt schützen?
Wie eine Pandemie verläuft, hängt von der Bio-
logie des Erregers ab, aber entscheidend auch von
sozialen und ökonomischen Faktoren, von politi-
schen Systemen und von individuellem Verhalten.
Die Corona-Pandemie hat die Industriestaaten
mit ihren hoch entwickelten Wissenschafts- und
Gesundheitssystemen auf die Probe gestellt. Ergebnis:
Die Scientific Community kann ihren Wissenserwerb
– wenn auch um den Preis vorläufiger Irrtümer –
enorm beschleunigen. Politik und Gesellschaften
scheitern allerdings noch immer daran, den sozialen
Risiken einer Pandemie adäquat zu begegnen. Wo
auch immer man hinschaut: Krisen treffen jene
besonders hart, die schon zuvor in einer Krise sind.
Die mittelalterliche Pest bricht zuerst in den
ärmsten und engsten Vierteln der Städte aus, von wo
aus sie sich bald wegen ihrer hohen Infektiosität recht
unterschiedslos verbreitet. Die Cholera des 19. Jahr-
hunderts fordert ihre Opfer vor allem in den Elends-
quartieren der Metropolen. Auch die Spanische
Grippe ist opportunistisch. Sie profitiert von unsäg-
lichen hygienischen Umständen, politischem Chaos
und entsetzlichem Leid. Auf den europäischen
Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs fordert das
Virus die meisten Opfer. Die Menschen in Nord-
WERDE VERFASSUNGSSCHÜTZER*IN.
31
Foto: Michael Trammer/Süddeutsche Zeitung Photo
VON ANDREAS SENTKER
amerika, wo niemand in engen Schützengräben aus-
harren muss, sind deutlich weniger betroffen.
Eng getaktet tauchen im 20. Jahrhundert wie aus
heiterem Himmel neue Erreger auf: das Marburg-
Virus, Ebola, Lassa. So erschreckend ihr Wüten im
Körper der Infizierten ist, ihre Ausbrüche bleiben
gerade deswegen eng begrenzt: Wer sich ansteckt,
wird sehr schnell schwer krank – und damit immobil.
So stecken sich nur wenige an. Da ist das HI-Virus
von ganz anderer Art. Zunächst lange unbemerkt,
verbreitet es sich seit 1980 um die Welt. Vermutlich
36 Millionen Menschen hat die Immunschwäche
Aids bisher weltweit das Leben gekostet. Dagegen
fällt der erste Corona-Ausbruch von Sars-CoV-1 trotz
pandemischer Verbreitung von China bis nach
Kanada in den Jahren 2002 und 2003 mit 8000 Infi-
zierten und etwa 800 Toten kaum ins Gewicht.
Jüngste Bedrohung: die Affenpocken, die, um zoo-
logische Diskriminierung zu vermeiden, nach Maß-
gabe der WHO neuerdings MPox heißen. Bis zum
20. Dezember 2022 zählt das Robert Koch-Institut
3676 Fälle in Deutschland, übertragen vor allem von
Männern, die sexuelle Kontakte zu Männern haben.
Der Ausbruch, von der WHO als »gesundheitliche
Notlage mit internationaler Tragweite« deklariert,
scheint gerade zum Erliegen zu kommen.
Fortsetzung auf S. 32
Mehr Informationen unter
verfassungsschutz.de/karriere
Scannen für Jobangebote
 32 WISSEN
Pandemien
Verräterische Muster Fortsetzung von S. 31
Der Mensch und seine Seuchen
So unterschiedlich die Ausbrüche sind – ihre Die größten Pandemien und wichtige Stationen der Forschung
Schauplätze, ihr historischer Kontext, die zugrunde
liegenden Gesellschaftsstrukturen, die Dynamiken Bakterium
und Gesetzmäßigkeiten ihrer Ausbreitung –, ein
Muster ist fast immer gleich: Nahezu alle pandemi- Um 400 v. Chr.
schen Ausbrüche der Weltgeschichte, von der Cho- Hippokrates begründet die
lera als exklusiv menschlicher Erkrankung einmal Miasmenlehre, nach der
abgesehen, sind Zoonosen. Das heißt, ihre Erreger giftige Ausdünstungen
sind zuvor oft viele Jahrtausende in Tieren heimisch, krank machen
an ihre Wirte angepasst, sie machen diese kaum noch
krank. Doch irgendwann gelingt ihnen der Sprung 165–180
auf den Menschen. Selbst Viren, die heute nur noch Antoninische Pest
(vermutlich ein
unter Menschen zirkulieren wie etwa die Masern, Pockenvirus)
waren einmal in Tieren heimisch. Und noch ein ver- 7 bis 10 Mio. Tote
räterisches Muster wiederholt sich: Der Sprung auf
541–770
den Menschen erfolgt, wenn Mensch und Tier –
Justinianische Pest
freiwillig oder unfreiwillig – eng zusammenrücken.
15 bis 100 Mio. Tote
Viele Infektionskrankheiten entstehen und verbreiten
sich erst mit der Erfindung der Landwirtschaft. Die 1346–1353
Masern stammen vermutlich von Rindern. Der Pest- Schwarzer Tod
erreger ist in Nagetieren heimisch, vor allem in Ratten 100 bis 125 Mio. Tote
und Mäusen, die sich als Kulturfolger des Menschen
in den dreckigen Städten des späten Mittelalters
munter vermehren können. Lassa zirkuliert – beim Um 1400
Menschen im Jahr 1969 nachgewiesen – in Popu- Italienische Hafenstädte
lationen der Nahal-Vielzitzenmaus, ohne die Tiere führen eine Quarantäne für
ankommende Schiffe ein
krank zu machen. Mäuse bilden auch das Reservoir
des 1977 entdeckten Hanta-Virus. Und die
Influenza-Viren mischen immer wieder neu das
1854 1852–1860
Erbgut von Vogel- und Schweineviren. Neue Vari-
Der Arzt John Dritte Cholera-
anten stammen oft aus Asien, wo in ländlichen Snow begründet Pandemie
Gegenden Mensch und Tier eng zusammenleben. die moderne
Aids und Ebola haben ihren Ursprung in Affen- Epidemiologie
populationen, viele Coronaviren in Fledermäusen.
Bei Marburg-Viren gelten Flughunde als Überträger, 1863–1876
die Wirte sind noch unbekannt. Vierte Cholera-
Menschen zähmen, züchten und halten Tiere. Sie Pandemie
sind süchtig nach tierischem Eiweiß und essen, was
sie im Wald oder auf dem Weg finden. Tote Flug- 1883
hunde oder Affen gelten in vielen Gegenden Afrikas Robert Koch
noch immer als Geschenk der Götter. Auf asiatischen weist den Cholera-
wet markets werden Exoten wie Gürteltiere als Erreger im Darm
Delikatessen gehandelt. von Verstorbenen
Und die Risiken mehren sich dramatisch. In Asien nach
und Afrika errichten Nahrungsmittelkonzerne Groß-
1883–1896
farmen bisher unbekannten Ausmaßes, um den
Fünfte
wachsenden Fleisch- und Milchhunger jener zu Cholera-
stillen, deren Ahnen sich noch vor allem pflanzlich Pandemie
ernährten. Riesige Rinder- und Schweineställe ent-
stehen in unmittelbarer Nähe jener Wildtierreser-
Infografik: Anne Gerdes/ZEIT-Grafik; Quellen: akademie-rs.de, geschichtedergegenwart.ch, statista.com; Abb.: Bridgeman Images; bpk; akg (v. o.)
voirs, in denen noch Hunderte unbekannte Erreger
1889/1890 1894
schlummern. Es ist die gefährliche Erfolgsgeschichte
Russische Alexandre Yersin
des sozialen Aufstiegs und seiner Konsummuster. Grippe entdeckt den Pest-
Dazu gehört auch weltweit das Vordringen in 1 Mio. Tote Erreger Yersinia pestis
bisher unberührte Naturräume, wie etwa beim groß-
flächigen Anbau von Futtermitteln für Tiere in Europa
auf Ackerland in Südamerika, für das jahrtausendealte 1968–1970 1961 bis heute 1957/1958
Urwälder weichen müssen. Und natürlich die gewal- Hongkong- Siebte Cholera- Asiatische
tige Mobilisierung der Menschheit, die in wenigen Grippe Pandemie Grippe
Jahrzehnten technisch (Erfindung des Fliegens) und 1 Mio. jährlich 1,3 bis 1 bis 2 Mio.
ökonomisch (Erfindung des Billigtickets) globale Dis- Tote 4 Mio. Tote Tote
tanzen im Zeitraffer schrumpfen lässt und neuen 1969
Erregern den Weg zu fernen Kontinenten eröffnet – Erstes Auftreten
wie vom Markt in Wuhan in die Kantine des bayeri- des Lassa-Virus
schen Automobilzulieferers Webasto, wo die ersten
deutschen Sars-CoV-2-Infektionen auftraten. 1976
Erster Ebola-
Man könnte meinen, vor einem neuen Virus sind
Ausbruch
auf der Welt oder bei Webasto alle gleich. »Immun-
318 Infizierte,
naiv« nennen das die Infektiologen. Doch es stimmt davon 280 Todesfälle
nicht. Manchmal sind die Alten im Vorteil, weil sie
in ihrem Leben schon viele Infektionen durchge- Seit 1980
Aids
macht haben, womöglich auch solche mit einem 36 Mio. Tote
verwandten Erreger. »Kinderkrankheiten« ist ein
euphemistischer Begriff für Infektionen, gegen die 1983
Ältere qua Infektionshistorie oder Impfung gefeit Isolierung des HI-
sind, die aber alles andere als kinderleicht zu über- Virus (Barré-Sinoussi/
leben sind. Manchmal – wie etwa bei Sars-CoV-2 – Montagnier)
sind aber auch die Jungen im Vorteil, weil ihr Im-
munsystem schneller und konsequenter reagiert und 2002–2003 2009–2010 Seit Nov. 2019
vor allem ein besseres Gedächtnis hat. Sars- Schweine- Corona-
Aber immer sind jene benachteiligt, die mensch- Pandemie grippe Pandemie
lichen Kontakten nicht so leicht aus dem Weg gehen 810 Tote 18.500 Tote 6,6 Mio. Tote
können. Die in beengten Straßen, in kleinen Woh-
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29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
nungen leben, womöglich zusammen mit vielen
Angehörigen. Die ihren Job nicht ins Homeoffice
so leichtfertig wiederholen. Andere Fehler zu besei-
tigen wird jedoch noch lange dauern.
verlegen können, weil es schon vor dem Ausbruch Noch immer hält das Kopfschütteln darüber an,
gar kein »Office« gab, sondern körperliche Arbeit in dass Deutschland bei der Ausrichtung seiner Pande-
Virus >1 Mio. Tote körperlicher Nähe. Die mangels Bildung oder Sprach- mie-Politik auf Studien aus Großbritannien, Zahlen
kenntnissen von Informationen ausgeschlossen sind. aus dem Baltikum oder Krankenkassen-Daten aus
Die schon gar nicht einen beratenden Hausarzt haben Israel angewiesen war.
und manchmal keine Krankenversicherung. Noch immer – die aktuelle Debatte um Medika-
Auch global macht eine Pandemie soziale und mentenengpässe zeigt es – sind die Risiken einer rein
politische Unterschiede sichtbar, verschärft sie noch. auf Kostenminimierung fokussierten Globalisie-
Wo reicht die Wirtschaftskraft im Wettlauf um rungsstrategie nicht nachhaltig beseitigt, auch wenn
begehrte Schutzausrüstung? Wessen Gesundheits- viele Branchen jetzt anstelle von Lieferketten daran
system ist resilient genug, um eine rasch wachsende arbeiten, Liefernetze zu knüpfen.
Hungersnot und
Zahl von Schwerkranken adäquat zu betreuen? Wo Noch immer ist die Debatte nicht geführt, wie in
Seuche: Die Pest
trifft im Mittelalter wird innovativ an Impfstoffen geforscht? Wer hat den Deutschland eine wirklich unabhängige Politikbera-
in Europa auf eine besten Zugang zu Medikamenten? Und nicht zuletzt: tung aussehen soll, obwohl es gute internationale
stark geschwächte Welche ganz und gar nicht pandemiegerechten Ziele Vorbilder gibt, etwa die britische Scientific Advisory
Bevölkerung verfolgt ein politisches System? Group for Emergencies, die nicht im Krisenfall erst
Das ist vielleicht die härteste Lehre der Corona- hektisch und nach parteipolitischem Kalkül berufen
Pandemie. Eine Pandemie besiegt man nur global werden muss.
vereint, doch ihre Opfer sind auch im 21. Jahrhun- Noch immer gibt es kein Rezept gegen das
dert höchst ungleich verteilt, zwischen Hamburg- föderale Durcheinander, das nicht nur zu absurden
Wilhelmsburg und Hamburg-Winterhude, aber auch Widersprüchlichkeiten (Masken, Schließungen)
zwischen China (Xi Jinping), Deutschland (Merkel führte, sondern genau deswegen die gesamte Krisen-
und Scholz) und Brasilien (Bolsonaro). kommunikation in Misskredit brachte.
1546 1796 Es ist ja wahr – und eine gute Nachricht für die Trotz Jahrhunderten der Pandemie-Erfahrung
Girolamo Fracastoro Erster Impfstoff Welt: Nie zuvor war Wissenschaft so schnell, so ver- lernt die Menschheit noch immer zu langsam, oder
vermutet Ansteckung gegen Pocken netzt, so effektiv wie in dieser Pandemie. Tage nach sie vergisst zu schnell. Vorbereitet sein auf die nächs-
durch Berührung (Edward Jenner)
dem Ausbruch in Wuhan war das gesamte Genom te Pandemie, das bedeutet – so paradox das erschei-
des Erregers verfügbar, wenig später auch ein effizien- nen mag – auch eine Abkehr von der Naturwissen-
1817–1824
ter und spezifischer Test. Nie zuvor ließ sich die Aus- schaftsfixiertheit der aktuellen Debatte. Noch so
1826–1841
Erste Cholera-Pandemie
breitung eines Erregers über den Globus so genau viele Millionen Fördermittel für Virologen und
Zweite Cholera-
Pandemie Die frühen Epidemien kosten
verfolgen. Die Dashboards meldeten tagesaktuelle Epidemiologen werden den nächsten Sprung eines
zwischen 1 und 2,5 Mio. Infektionsraten von Sachsen bis Singapur. Nie zuvor Erregers von einer Fledermaus auf einen Menschen
Leben pro Welle haben Forscher die Evolution eines Virus so genbuch- nicht verhindern.
stabengenau in Echtzeit beobachten können. Die ANZEIGE
unerwartete Wandlungsfähigkeit von Sars-CoV-2
verlieh der Virologie eine neue Dynamik: Mit dieser
Mutationsgeschwindigkeit hatte auch der erfahrenste
Corona-Experte nicht gerechnet. Die neue WiWo-App
Tod aus dem Brunnen Superlative gelten zum Glück auch für die phar-
– die Cholera wird in makologische Reaktion. Weltrekorde bei der Ent-
den Elendsquartieren wicklung und Zulassung von Impfstoffen, bei der
durch mit Fäkalien Erprobung von Medikamenten mit Niederlagen
(Remdesivir) und kleinen Siegen (Paxlovid). Riesige
verunreinigtes
Fortschritte beim globalen Lernen aus Daten, die vor
Wasser übertragen
allem Israel, Großbritannien und die nordeuropäi-
schen und baltischen Staaten zur Verfügung stellen
konnten – dank ihres gewaltigen Vorsprungs in der
digitalen Transformation ihrer Gesundheitssysteme.
Die Weltgemeinschaft scheint fit für den for-
schungsgetriebenen Sprint. Gut gewappnet, wenn
es darum geht, den Wettlauf mit einem neuen
1894–1912 1899–1923 1918–1920
Erreger zu gewinnen. Doch wir sind miserable
Dritte Pest- Sechste Spanische
Pandemie Cholera-
Langstreckenläufer, global und national. In
Grippe
12 Mio. Tote Pandemie 27–50 Mio. Tote
Deutschland wurden in der Bekämpfung von Sars-
CoV-2 die größten Fehler gemacht, weil die Kri-
senmanager zuerst auf das Virus gestarrt und erst
1942 1933 dann nach den Menschen gesehen haben.
Alexander Fleming Entdeckung des In der aktuellen Pandemie waren natürlich zu-
entwickelt das erste Grippevirus nächst die Virologen, Epidemiologen und Modellie-
Antibiotikum: (Laidlaw, Smith rer gefragt, dann Logistiker (Masken) und Intensiv-
Penicillin und Andrewes) mediziner (Beatmung). Viel zu spät kamen jene zu Die beste Vorbereitung auf die nächste Pandemie
Wort, die Langstrecke kennen und können: Sozio- ist etwas anderes: Bildung. Bildung, die Menschen
logen, Ethiker, Pädagogen, Psychologen. Die nicht in Asien oder Afrika über Krankheitsmechanismen
auf die genetischen Unterschiede der Virusvarianten und Infektionsrisiken aufklärt. Bildung, die den Wert
und ihre Basisreproduktionszahlen blicken, sondern der natürlichen Vielfalt vermittelt und das Risiko,
auf die gravierenden sozialen Differenzen im Alltag das aus ihrer Zerstörung resultiert. Bildung, die für
Masken als Schutz:
von Menschen, die eine Pandemie hervorkehrt. Die Migranten in Europa möglichst frühzeitig verhäng-
Sie sind schon wissen, wie man so kommuniziert, dass begreifliche nisvolle Sprachbarrieren beseitigt. Bildung, die sozia-
während der Informationen auch prekäre Schichten schneller le Schwellen senkt und den Zugang zu Gesundheits-
Spanischen Grippe erreichen als der zunächst noch unbegreifliche systemen erleichtert.
zwischen 1918 und Erreger. Die Vor- und Fürsorge für jene fordern, die Gefragt, welches Virus denn das nächste sein
1920 weit verbreitet
von Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen könnte, das die Menschheit bedroht, verweisen
härter betroffen werden als andere. Die wenigstens viele Experten auf eine neue Grippevariante. Es
ahnen, was es für Alte und Kranke bedeutet, in könnte auch ganz anders kommen. Viel gefährli-
Heimen und Kliniken isoliert zu sein, womöglich cher als ein sich rasch verbreitender, schnell krank
unbegleitet zu sterben. Die aus Erfahrung ableiten machender Erreger könnte einer sein, der lange
können, was es bedeutet, wenn Schüler und Studen- unbemerkt um sich greift. Und hier setzt die hoff-
tinnen aus Klassenzimmern und Seminarräumen in nungsfrohe Botschaft der jüngeren Wissenschafts-
Februar 2020 Dezember 2020 das Kinderzimmer mit den längst kaputtgeliebten geschichte ein: Ihn möglichst frühzeitig zu ent-
Isolierung des Erste Zulassung Plüschtieren verbannt werden – sofern es solche decken – dafür dürften Virologen und Genetiker
Coronavirus eines Corona- Rückzugsräume denn überhaupt gibt. heute ausreichend gewappnet sein.
Sars-CoV-2 Impfstoffs Diese Fehler soll Deutschland, darin sind sich
(BioNTech/Pfizer) Experten und Entscheider einig, nicht so schnell und !www.zeit.de/vorgelesen
Macht die Welt mit
guten Taten besser! »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch
keinem andern zu« – das ist die goldene Regel bei
Die ZEIT LEO Weltretter-Mission richtet sich an Kinder der PETAKids. Es sind die guten Ideen, das Mitdenken
und Einfühlungsvermögen in alle Lebewesen – das
Klassen 1 bis 6, AGs oder Gruppen aus der Nachmittags- macht die Welt zu einem Ort, an dem wir auch in
betreuung, die mit einem Projekt aus dem Bereich »Bildung Zukunft noch leben können und wollen. Nie war es
für nachhaltige Entwicklung« die Welt verbessern wollen. so wichtig wie genau jetzt, dass wir an das Klima,
die Tiere und die Umwelt denken. Innovative und
Die Kinder werden Mitglied im ZEIT LEO Weltretter-Club, tierfreundliche Ideen, wie jeder Gutes tun kann,
gründen kleine Banden und erfüllen in unserem Online- diese sind wertvoll für PETAKids – und deshalb
Spiel Aufträge des Weltretter-Clubvorsitzenden und sind wir bei der ZEIT LEO Weltretter-Mission dabei!
KiKA-Moderators Eric Mayer. Sylvie Bunz
Fachleitung PETAKids
PETA Deutschland e.!V.
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 DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022 WISSEN 33

Serie: Sternstunden der Menschheit

»Es ist wirklich wahr!«

Tausende Forscher suchten nach dem sagenumwobenen Gottesteilchen. Vor zehn Jahren
endete die Jagd – in einem Tunnel tief unter der Erde VON RUDI NOVOTNY

A
us diesem Fläschchen kam ein
Teilchen Gottes. Feuerlöscher-
rot steht es auf einem Labor-
tisch, zwischen Mülleimer und
Pappkartons. Über ihm eine
Kreidetafel voller Formeln, un-
ter ihm ein metallener Zylinder.
Zehn Jahre sind vergangen, seit das Fläschchen ge-
öffnet wurde und ihm Wasserstoffatome entwi-
chen, die in den Zylinder wanderten und zu Proto-
nen wurden, bevor sie losrasten in ein System aus
Röhren, einen 27 Kilometer langen Ring unter der
Erde, wo sie aufeinanderprallten, zersplitterten. Ein
Urknall im Miniformat, beobachtet von haus-
hohen Detektoren, die registrierten: Hier blitzt et-
was auf. Das Higgs-Boson. Das Gottesteilchen.
Die Messung des Higgs-Boson im Juli 2012 ist
eine Sternstunde der Menschheit, das Ende eines der
größten Projekte, die die Wissenschaft je unternom-
men hat. Fast fünf Jahrzehnte Suche, über zehntau-
send beteiligte Forscher und mehr als drei Milliarden
Euro für jenen Tunnel, in dem das Gottesteilchen
gefunden wird, den größten Teilchenbeschleuniger
der Welt, den Large Hadron Collider (LHC).
Anderswo hätten sie dem Fläschchen einen Schrein
gebaut. Hier steht es in einem Labor herum, am Ende
eines Gewirrs aus Gängen, an deren Wänden die
Farbe abblättert und ein altes Telefon mit Wählscheibe
hängt, hinter Lagerhallen und Maschinenräumen, in
einem der vielen Gebäudewürfel auf dem Gelände
des europäischen Kernforschungszentrums (Cern),
das eigentlich eine Forschungsstadt ist. Am Rande
Genfs gelegen, mit 3500 Mitarbeitern, 18 Ge-
bäudekomplexen auf 221 Hektar, der größere
Teil in Frankreich, der kleinere in der Schweiz.
Seit den 1950ern vielfach erweitert.
Alles im Dienste der Naturwissenschaft.
So, wie sie heute praktiziert wird – groß und
kompliziert. So, wie sie sich selbst sieht –
global und an der Sache orientiert. Ein
Denkmal moderner Forschung. Das ist
das Selbstverständnis des Cern, das ist
seine Daseinsberechtigung. Die Frage ist,
ob diese Erzählung stimmt.
Kaum jemand kann sie besser beant-
worten als jener Herr, der soeben einen
Konferenzraum im Cern-Gebäude 61
betritt. »Ja, hier ist das Geld unten im
Boden verbuddelt«, sagt Rolf-Dieter
Heuer und deutet auf das graue Lino-
leum zu seinen Füßen. Heuer war von
2009 bis 2015 Generaldirektor des Cern.
Ein Teilchenphysiker aus Schwaben, der
auch so aussieht. Blaues Hemd unter
weinrotem Strickpulli, dazu Jeans und eine
Frisur, die kurz und lang zugleich ist.
Rolf-Dieter Heuer ist 74 Jahre alt. Er
wirkt jünger. Und nicht wie ein Ex-General-
direktor. Jener, ohne den das Gottesteilchen
Fotoillustration: Cern/Science Photo Library; kl. Bilder: Denis Balibouse/Associated Press/picture alliance (l.); Niels Ackermann für DIE ZEIT (r.) (2)
um das Standardmodell der modernen Physik, das
erklärt, wie sich aus zwölf Elementarteilchen und vier
Grundkräften im Universum die bekannte Welt auf-
baut. Kurz gesagt: Die Elementarteilchen setzen sich
zu Atomen zusammen und verleihen so allen Dingen
ihre Masse. Es gibt nur ein Problem. Das Standard-
modell kann nicht erklären, wie die Teilchen zu ihrer
Masse kommen. Peter Higgs löst das Problem mit
einem Aufsatz. Anderthalb Seiten, vier Formeln, eine
Revolution. Aufgrund mathematischer Überlegungen
formuliert der bis dahin völlig unbekannte Wissen-
schaftler von der Universität Edinburgh ein neues
Kraftfeld. Unsichtbar, nach dem Urknall entstanden
und das Universum durchdringend. Die Elementar-
teilchen bewegen sich durch dieses (später nach Higgs
benannte) »Higgs-Feld« wie durch Sirup und er-
halten so ihre Masse.
Nur wie überprüft man, ob ein
unsichtbares Feld existiert?
Dazu weiß der Theoreti-
ker Higgs nichts zu
sagen. Doch seine
Idee hat ande-
re Physiker
inspi-
riert:
Sie
So weit die Theorie. Ob dieses Teilchen wirklich
existiert, weiß lange Zeit niemand. Dafür wissen alle,
dass die Suche kompliziert ist. Der Physiker und
Nobelpreisträger Leon M. Lederman will ein Buch
über die Jagd nach dem Higgs-Boson mit »Das gott-
verdammte Teilchen« betiteln. Sein Verleger macht
daraus »Das Gottesteilchen«. Ein PR-Gag. Aber das
Higgs-Boson hat seinen Spitznamen weg. Und die
Publicity ist sicher. Ein Glücksfall. Aufmerksamkeit
hilft bei Geldgebern.
Es gibt noch andere Argumente. Rolf-Dieter
Heuer zählt sie auf: »Exzellente Wissenschaft, ex-
zellente Ausbildung und exzellente Chancen des
Technologietransfers.« Schließlich arbeiten am Cern
Die Geschichte des Cern ist auch eine Geschichte
des Optimismus. Sie erzählt vom Streben nach Er-
kenntnis, von einer globalen Wissenschaft, die der
gesamten Menschheit zugutekommen soll.
Für Marumi Kado ist das Cern ein Vorbild. Der
französische Physiker steht im Besucherzentrum des
Cern und ruft: »Ja! Natürlich! Hier arbeitet die Welt
an einem gemeinsamen Ziel. Mit unglaublichem
Erfolg, angetrieben von Leidenschaft und Wissen.
Ich kenne keinen vergleichbaren Ort!« Und Marumi
Kado, 52, kennt ein paar Orte. Er hat in Paris gear-
beitet, in Rom und in Berkeley, demnächst wird er
Max-Planck-Direktor in München. 1994 kam er zum
ersten Mal ans Cern, zuletzt war er stellvertretender
Sprecher des Atlas-Teams, einer der beiden Forscher-
gruppen, in denen jeweils fast 4000 Mitarbeiter
darum wetteiferten, das Gottesteilchen zu
finden. Atlas, so heißt einer der De-
tektoren, der die Zerfallspro-
dukte der Teilchen nach
dem Higgs-Boson
durchsucht. 25
Meter hoch,
40 Meter
lang und
der-
zeit
schichte von der Teamleistung bei der Higgs-Suche
klingt, als ob die Wissenschaft ihren Zauber verloren
hätte. Doch als der Schriftsteller Hans Magnus En-
zensberger Anfang der 2000er-Jahre die Teilchen-
beschleuniger des Cern besucht, erinnern sie ihn an
Kathedralen. Gewaltige Bauwerke, errichtet in jahr-
zehntelanger Arbeit, ohne einen direkten ökonomi-
schen Nutzen. Kathedralen baut man nicht per
Geistesblitz. Sondern mit vielen Gläubigen. Der
Zauber hat seine Form geändert.
Im Sommer 2011 beobachten beide Cern-Teams,
wie die statistischen Fluktuationen in ihren Daten
weniger werden. Schon in den Monaten zuvor gab es
weniger Auffälligkeiten, doch nun verschwindet eine
nach der anderen. Nur eine hält sich hartnäckig. Ein
Hinweis auf das Gottesteilchen? Die Forscher brau-
chen mehr Daten. Doch die Maschinen sollen Ende
2011 abgeschaltet werden, um sie zu warten, nur so
können sie danach mit höherer Energie betrieben
werden. Es wäre eine lange Pause. Rolf-Dieter Heuer
denkt an die Reaktion der Medien, an die Motivation
seiner jungen Mitarbeiter und an die Alternative: die
Maschinen weiterlaufen lassen, mit leicht erhöhter
Energie. Ohne Wartung. Ein Risiko. Der Generaldi-
rektor geht es ein. »Und dann fing’s an, spannend zu
werden.« Mehr Energie bedeutet mehr Kollisionen
bedeutet mehr Daten. Fünf Sigma heißt die statisti-
sche Schwelle, ab der Physiker von einer Entdeckung
sprechen. Dann liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein
Resultat falsch ist, bei eins zu zwei Millionen. Die
Ergebnisse bewegen sich auf diese Schwelle zu. Doch
bewegen sie sich schnell genug?
Im Juli 2012 findet in Melbourne die welt-
größte Konferenz der Teilchenphysiker statt.
Der Termin setzt das Cern unter Druck. Der
Generaldirektor berät sich mit den Leitern
der Experimente. »Können wir eine Ent-
deckung präsentieren? Oder nur ein neues
Ergebnis? Und wo?« Sie entscheiden sich
für ein Seminar. In Genf, wegen der Geld-
geber. Morgens, wegen der Konferenz in
Melbourne. Noch sind die fünf Sigma
nicht erreicht. Die Teams arbeiten weiter.
Am Morgen des 4. Juli 2012 betritt
Rolf-Dieter Heuer das Cern, geht zum
Hörsaal. »Was ich da sah, werde ich nie
vergessen.« Vor dem verschlossenen Saal
kampieren Wissenschaftler, warten in
einer Schlange, die sich durch die Kan-
tine zieht und bis in den Garten. »Den
Leuten, die da hinten standen, muss klar
gewesen sein, dass sie nie in den Hörsaal
kommen.« Als die Menge Heuer erblickt,
bricht Jubel aus. »Eine Stimmung wie
beim Rockkonzert.« Das Seminar beginnt.
Der Generaldirektor begrüßt die Zu-
hörer, dann präsentieren die Sprecher der
Teams ihre Ergebnisse. Zunächst für das
CMS-Team der US-Amerikaner Joe Incande-

vielleicht nicht gefunden worden wäre – was
Heuer so nie sagen würde. Er sagt: »Ich war nicht
gut genug, um mich auf ein Forschungsfeld zu kon-
zentrieren. Aber ich konnte gut mit Menschen. Und
ich mag es, das Gesamte zu sehen.« Seinen Weg in die
Teilchenphysik erklärt er mit Goethes Faust. »Klingt
blöd, aber ich wollte wissen, was die Welt zusammen-
hält.« In den Achtzigern arbeitet er zum ersten Mal
am Cern. Es wird ihm später helfen. »Ich wusste, wie
der Laden läuft und was externe Forscher brauchen.«
Rolf-Dieter Heuer klingt auch jünger, als er ist.
Eine verständliche Sprache sprechen. Gut mit
Menschen können. Den Überblick behalten. Fähig-
keiten, die es braucht, um Großprojekte zu leiten.
Vor allem, wenn sie ins Schlingern geraten.
Als Heuer im Januar 2009 sein Amt antritt, steht
es nicht gut um die Suche nach dem Gottesteilchen,
das prominenteste Projekt des Cern. Die Weltfinanz-
krise hat Spuren hinterlassen, einige der 20 Mitglieds-
länder kürzen ihre Beiträge. Außerdem ist der LHC
kaputt. Nur ein paar Wochen nachdem er eingeweiht
wurde. Eine schlecht verarbeitete Schweißnaht hat
einen Kurzschluss verursacht. Die Reparatur wird
Monate dauern. Miese Stimmung.
Heuer beruft einen Workshop mit den Mitarbei-
tern ein, ernennt neue Direktoren und redet mit
Geldgebern. Versucht ihnen zu erklären, wieso sie ein
Projekt finanzieren sollen, das keinen Nutzen zu
haben scheint. Grundlagenforschung, um ein Teil-
chen zu finden, von dem niemand weiß, ob es exis-
tiert. Das nur in der Theorie bekannt ist, und dies
auch schon sehr lange.
Genauer gesagt seit 1964. Damals hatte der Phy-
siker Peter Higgs die Eingebung seines Lebens. Es geht
la. Am Ende sagt er: »Wir haben ein neues
Teilchen (...) entdeckt, und zwar mit einer Sicher-
heit von 4,9 Sigma.« Applaus. Dann präsentiert
die Sprecherin des Atlas-Teams, Fabiola Gianotti.
Auch sie hat Folien dabei. Folien, auf denen Abbil-
dungen zu sehen sind, für die ein junger Forscher
verantwortlich war, der jetzt im Hörsaal sitzt: Maru-
mi Kado. Gianotti legt eine Folie mit dem Titel
wol- »Kombinierte Resultate« auf. Zwei Kurven sind zu
len das nicht sehen, daneben ein Wert: 5 Sigma. Applaus, Jubel.
Feld zum zu besich- Rolf-Dieter Heuer blickt ins Auditorium und sagt:
Schwingen tigen. Wegen »Als Laie würde ich sagen: Wir haben es.« Das Publi-
bringen, indem De Wartungsarbei- kum johlt. Im Hörsaal beginnt ein älterer Herr zu
f
sie es mit Energie rh
aus G en ten. Kado hätte ihn weinen: Peter Higgs. Und Marumi Kado wird klar:
beschießen. Und zwar so i n gerne gezeigt. Weil ihn »O Gott, wir haben das Higgs-Boson entdeckt! Es
hoh
eA W elt
stark, dass einzelne Teilchen tl a s e r beeindruckt, wie dort etwas ist wirklich wahr!«
herausgeschleudert werden, deren -Det i g e rs d erschaffen wurde, was Jahrzehnte Ein Jahr später erhält Peter Higgs für seine Vor-
e k to r n
Zerfallsprodukte vermessen werden i m Tu n n e n b e s chleu später zum Erfolg führte. »Alles hier ist hersage den Nobelpreis. Die Forscher des Cern
e l d e s g rö ßte n Te i l c h
können. Dafür ist allerdings sehr viel Energie eine kollektive Leistung.« Möglich nur mit werden lediglich lobend erwähnt. In Stockholm
nötig, zudem zerfallen die Teilchen extrem schnell. großen Teams, glaubt Kado. »Und das gilt meiner gilt Wissenschaft noch als das Werk einzelner Ge-
Deshalb werden in den kommenden Jahrzehnten bescheidenen Meinung nach für alle Felder der Wis- nies. »Das ist verrückt«, sagt Marumi Kado. »Wir
immer größere Teilchenbeschleuniger gebaut. Am neben fest angestellten Mitarbeitern Tausende junge senschaft. Die Fragen sind simpel, aber die Ant- hätten den Preis bekommen müssen.«
Ende der Large Hadron Collider. 27 Kilometer lang, Forscher aus aller Welt an Projekten. Nach deren worten verlangen nach komplexer Maschinerie.« »Nein«, sagt Rolf-Dieter Heuer. »Wer hätte ihn
fast vier Meter Durchmesser, gelegen in etwa 100 Beendigung tragen sie ihr Wissen in die Heimat. Mit Marumi Kado sagt, er habe nie daran gedacht, denn kriegen sollen? Es gab ja auch viele Gruppen
Meter Tiefe, ausgestattet mit 1500 lastwagengroßen dieser Botschaft reist der neue Generaldirektor durch dass sie wirklich das Higgs-Teilchen finden könnten. von auswärts.« Das sei eben moderne Wissenschaft.
Magneten, die die Protonen bei Temperaturen von Europa und empfängt Entscheider in Genf. Die »Ich war damit beschäftigt, sicherzustellen, dass alles Außerdem gehe es jetzt um die nächsten großen
minus 271 Grad auf ihrer Bahn halten, bis sie nahe- Politik soll die Wissenschaft verstehen, gerne direkt funktioniert.« Fragen: Was ist mit der dunklen Materie? Mit der
zu mit Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallen, vor Ort. »Beim Geld fällt die Unterschrift leichter, Ein Generaldirektor, der das Ziel vorgibt. Physi- dunklen Energie? Und wohin ist die Antimaterie ver-
millionenfach in einer Sekunde und so lange, bis wenn man die Menschen hier kennt«, sagt Heuer – kerinnen und Physiker, die im Maschinenraum an schwunden? Niemand weiß es. Keiner hat eine be-
unter den Trümmern das gesuchte Teilchen auf- und wisse, wie motiviert sie seien, etwa jene pakista- der Umsetzung arbeiten. Eine kollektive Leistung, friedigende Theorie. »Es braucht jetzt eine Person,
taucht. Nach seinem Beschreiber wird es Higgs- nischen Ingenieure, die in dem Tunnel der Anlage bei der jeder seine Aufgabe erfüllt, bis die Stern- die einen Geistesblitz hat«, sagt Heuer. Überlegt kurz.
Boson genannt. Bosonen sind eine bestimmte Sorte arbeiteten und kaum mehr rauswollten. stunde eintritt. Jener Moment, den man früher dem Und korrigiert sich: Es braucht ein Team.
von Elementarteilchen, man kann auch einfach Am 20. November 2009 läuft der LHC wieder. Geistesblitz eines Einzelnen zuschrieb, so wie in der
Higgs-Teilchen sagen. Trotz eines geschrumpften Budgets. Legende vom Apfel auf Newtons Kopf. Die Ge- !www.zeit.de/vorgelesen

Sternstunden der Menschheit

Peter Higgs, der Rolf-Dieter
Namensgeber
des Gottes-
Teil 12 Heuer (l.) war
Generalsekretär
teilchens, betritt In Anlehnung an Stefan Zweigs gleichnamiges berühmtes Buch stellen wir des Cern.
das Seminar, historische Momente aus den vergangenen hundert Jahren vor. Marumi Kado
bei dem dessen half als Forscher,
Entdeckung Teil 13 nächste Woche im Dossier: Lumumbas Rede zur Unabhängigkeit des Kongo das Higgs-Boson
verkündet wird zu entdecken
Alle bisher erschienenen Folgen der Serie finden Sie unter
www.zeit.de/sternstunden
34
Die Taschentherapeutin
Wie gewinnt man verlorenes
Vertrauen zurück?
Vertrauen ist eine Vorleistung – man ver-
lässt sich auf jemanden, der einen aber ent-
täuschen könnte. Wer das Vertrauen eines
anderen verletzt hat, etwa weil er fremd-
gegangen ist, schämt sich meist. Und mit
dem schlechten Gewissen kommt die Ver-
lustangst: Wendet sich meine Partnerin jetzt
von mir ab? Wie kann ich es schnell wieder-
gutmachen? Am liebsten hätten viele dann
eine Schritt-für-Schritt-Anleitung.
Die enttäuschte Person kann aber meist
selbst nicht genau sagen, was sie braucht,
um wieder vertrauen zu können. Vielleicht
an einem Tag Gespräche, am nächsten
Abstand. Das muss man respektieren. Und
signalisieren: Ich verstehe deinen Schmerz.
Eine Entschuldigung muss echt sein und
darf nicht floskelhaft daherkommen. Sätze
wie »Ich kann es nicht rückgängig machen«
stimmen zwar, vermitteln aber nicht, dass
man an sich arbeiten möchte.
Wie schnell das Vertrauen einer Person
erschüttert wird, hängt auch von deren Ur-
vertrauen ab. Ein zartes Pflänzchen wird
schon von einem Windstoß umgeblasen;
eine dicke Eiche übersteht auch stärkere
Stürme. Die Wurzeln dafür bilden sich
schon früh, wenn Kinder erleben, dass die
Bezugspersonen gut für sie sorgen. Erfährt
man später immer wieder, dass es Menschen
gibt, die für einen da sind, denen man sich
öffnen kann, festigt sich das Urvertrauen.
Diese Personen können auch Freunde,
Mitschülerinnen oder Arbeitskollegen sein.
Fehlen solche Erfahrungen, hat man es
schwer, sich auf Beziehungen einzulassen.
Was jemand von einer vertrauensvollen
Beziehung erwartet, bleibt oft unausge-
sprochen. Und es kann sich von einer
Lebensphase zur nächsten wandeln. Ich
Hier beantwortet ein Team von Psychologinnen und Ärztinnen Fragen, die Menschen
im Alltag auf der Seele liegen. Dieses Mal: Valentina Rauch, Psychotherapeutin
in der Nähe von Zürich und Expertin für Paarbeziehungen und Elternschaft
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WISSEN 29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
Aufgefallen
Die Rechner sehen was,
was du nicht siehst
empfehle deshalb: Sprechen Sie darüber,
wenn Veränderungen anstehen, zum Bei-
spiel wenn ein Kind unterwegs ist.
Wenn das Vertrauen doch verloren geht,
müssen beide Seiten sehr viel Bereitschaft
aufbringen, daran zu arbeiten. Es ist wie bei
einem Bankkonto, auf das zwei Personen
Tausende Euros einzahlen, bis sie sich sicher
fühlen. Wird das Vertrauen verletzt, stürzt
das Konto tief ins Minus. Manchmal hilft
es dann, die gemeinsame Geschichte noch
einmal durchzugehen. Mit Paaren in mei-
ner Praxis überlege ich: Wie kam es zum
Vertrauensverlust? Das kann schmerzhaft
sein, denn häufig stellt man fest, dass beide
Seiten dazu beigetragen haben.
Ich habe zum Beispiel eine Patientin, die
ihrer Partnerin nicht vertraut. Immer wenn
meine Klientin nach einem langen Tag
Abb.: Yamagata University
heimkommt, erzählt ihre Partnerin erst ein-
mal von sich selbst, statt sich nach deren
Befinden zu erkundigen. Meine Patientin
hat sogar angefangen, eine innere Strich-
liste darüber zu führen. Da habe ich gefragt:
War das früher besser, was hat sich geändert?
Darauf sagte meine Patientin, sie sei ver- Eine Herde Lamas mit ihrem Hirten zeichneten einst Menschen auf diesen Berg in Peru
schlossener geworden und ziehe sich bei
Stress eher zurück. Kein Wunder also, dass
die Partnerin seltener auf sie zukommt. Wären da keine Hilfslinien und Flächen, Intelligenz findet 2000 Jahre alte kulturelle Der Kulturanthropologe Masato Sakai
Schöner ist es natürlich, andersherum niemand würde beim Betrachten des Zeugnisse, wo zuvor kein Altertumswissen- und sein Team analysierten Luftaufnah-
zu fragen: Wie hat sich das Vertrauen steinigen Untergrunds irgendetwas ent- schaftler etwas gesehen hat. men mithilfe von KI. In den hochaufge-
zwischen uns gefestigt? Vielleicht hat der decken. Schon gar nicht zehn kamelartige Unweit der Stadt Nazca in Peru sind in lösten Bildern erkannten Sakais kluge
Partner geholfen, als man seinen Job ver- Figuren – vermutlich Lamas – und einen den vergangenen hundert Jahren zahlreiche Computer Darstellungen von Vögeln,
loren hat. Oder die Freundin hat einem Menschen. Da brauchte es schon mo- Geoglyphen entdeckt worden: meist groß- Killerwalen, katzenartigen Figuren oder
in einer Trauerzeit beigestanden. Sich da- derne Innovation, damit diese geheim- flächige Scharrbilder, die Menschen, Tiere einer zweiköpfigen, menschenfressenden
ran zu erinnern kann für die Zukunft nisvollen Geschöpfe sichtbar wurden: oder abstrakte Linienmuster zeigen. Längst Schlange.
helfen. Mit viel Geduld kommt man so künstliche Intelligenz. sind sie Teil des Unesco-Welterbes; be- Entstanden sind die Scharrbilder zwi-
aus den roten Zahlen heraus. Nachdem die KI bereits Robotikern, sonders berühmt hat sie der Ufo-Fantast schen 100 vor und 300 nach Christus.
Autobauern, Ökonomen oder Klimatolo- Erich von Däniken gemacht, indem er für Menschen entfernten schwarze Steine von
Aufgezeichnet von Mia Mertens gen zu Erkenntnissen und Fortschritten die Nazca-Linien außerirdische Urheber- der Erdoberfläche und legten die weiße,
verholfen hat und seit sie sich in vielen schaft reklamierte. sandige Schicht darunter frei. Und wenn
Gebieten der Alltagstauglichkeit nähert Noch immer tauchen neue, zuvor un- Software beim Rechnen und Interpretieren
(ZEIT Nr. 22/52), profitiert von ihr mitt- bekannte Bilder auf. 168 trug nun allein hilft, dann kommen ihre Botschaften noch
lerweile auch die Archäologie. Künstliche die japanische Universität Yamagata bei: heute an. URS WILLMANN
Füreinander
Einstehen
beGINNT MIT
DIR.
JETZT DEMOKR ATIE-LEBEN.DE
DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022 WISSEN 35

Energie

Schon wieder

Goldgräberstimmung
Der Wildwuchs der Fotovoltaik gefährdet Ackerbau und Artenschutz. Agrarforscher fordern bundesweite Regeln VON CHRISTIANE GREFE

A
b Januar 2023 wird er einen »Goldgräberstimmung« unter Investoren, Land- besitzer kann Panels errichten, nur der Gemeinderat gebaut werden sollen. Besonders im Osten bietet die schaft den Stromverbrauch steigen lassen, kommen

Illustration: Sophia Metzler/ZEIT-Grafik

Ehrentitel tragen, den Fach-
leute verleihen: »Boden des Jah-
res«. Aber warum gerade er, der
Ackerboden, diese gewöhnliche
Krume? Das mögen sich viele
fragen. Doch die Grundlage
der Landwirtschaft fordert zu Recht Aufmerksam-
keit. Ihre Fruchtbarkeit muss oft erneuert werden.
Im besten Fall wird dabei Kohlenstoff gespeichert,
was segensreich für den Klimaschutz ist. Stattdes-
sen versiegelt der Mensch durch Straßen, Siedlun-
gen und Gewerbegebiete seine wertvollen Acker-
böden. Und nun werden auch noch viele Hektare
mit Fotovoltaikanlagen bepflanzt?
Vor einem »Wildwuchs« der blau glitzernden
»Gelddruckmaschinen« warnt der Agrarwissen-
schaftler Friedhelm Taube. In seinem Bundesland
Schleswig-Holstein treibe ein Flickenteppich aus
Panels immer mehr »wertvolle landwirtschaftliche
Nutzflächen aus der Produktion«, kritisiert er; Äcker,
auf denen »im Idealfall je Hektar vier Tonnen Raps
oder neun Tonnen Weizen geerntet werden könnten«.
Der Kieler Graslandexperte findet die neue Prio-
ritätensetzung irritierend: »Gerade erst haben die
Bauernverbände wegen des Ukraine-Kriegs jeden
Quadratmeter Artenschutzfläche für den Anbau von
Lebensmitteln zurückgefordert«, sagt Taube, »und
jetzt sehen sie zu, wie auf Äckern Solarkraftwerke
wachsen?« Nicht nur er warnt vor einem neuen Ziel-
konflikt zwischen Ernährungs- und Energiewende.
Auch Klaus Müller vom Zentrum für Agrarland-
forschung (Zalf) in Brandenburg fühlt sich durch die
wirten und Gemeindevertretern an gravierende
Fehlentscheidungen der Neunzigerjahre erinnert.
Damals verdrängten Biogasanlagen, umgeben von
Maiswüsten, den Anbau von Lebensmitteln. Dies
geschah oft planlos, es gab heftigen Streit, in dem es
um fuel versus food ging, um ökologische Belastungen
und um Akzeptanzprobleme für die Energiewende.
Ähnliches befürchtet Müller, wenn nun »blaue Wüs-
ten« die Böden unkontrolliert zupflasterten.
Angetrieben wird die Bonanza durch das Ziel der
Ampelregierung, bis zum Jahr 2030 in Deutschland
215 Gigawatt Fotovoltaik (PV) zu installieren – die
eine Hälfte auf Dächern, die andere auf dem Boden.
Laut dem Bundesverband Solarwirtschaft (BSW)
könnten allein Freiflächenanlagen ein Viertel des
deutschen Strombedarfs decken. Pro Hektar bringen
sie im Vergleich mit Biogas mehr als den hundert-
fachen Ertrag. Insofern ist es gut und wichtig, wenn
Projektierer Ausschau nach geeigneten Standorten
halten. Dass der Umstieg auf erneuerbare Energien
schneller als bisher vorangetrieben werden muss,
stellen auch Taube und Müller nicht infrage.
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) legt
außerdem schon fest, wo der Sonnenstrom möglichst
unproblematisch eingefangen werden soll: an Eisen-
bahnstrecken und Autobahnen, auf Gewerbegebie-
ten, verlassenen Militärstandorten. In Landschaften
also, die eh zerschnitten sind, oder auf kargen Böden
mit geringen landwirtschaftlichen Erträgen.
Für Solaranlagen aber, die mehr als 20 Megawatt
pro Jahr produzieren können, gilt das EEG nicht. Sie
unterliegen dem Baurecht. Das heißt: Jeder Land-
muss zustimmen. Diese großen PV-Flächen schössen
nun aus dem Boden, berichtet Taube. Landwirte
wollen mit eigenen Anlagen vom Boom profitieren
oder indem sie ihr Land verpachten – in Schleswig-
Holstein, in Brandenburg oder Sachsen-Anhalt.
Denn Solarparks sind hochlukrativ. Bei Produk-
tionskosten von vier bis sechs Cent pro Kilowatt-
stunde und Strompreisen über dem Sieben- bis
Zehnfachen davon winken Millionensummen.
Energiekonzerne stehen Schlange, ebenso Investoren,
Nachhaltigkeit ist in: »Nie waren mehr Finanzmittel
am Markt, die grün angelegt werden sollen«, sagt
Klaus Müller. Einige »Freibeuter« versuchten daher,
sich möglichst schnell Flächen zu sichern, beobachtet
Thorsten Breitschuh vom Bauernverband in Sachsen-
Anhalt. Dabei, so betont er, gehöre der Boden den
Landwirten oft gar nicht selbst. Seit der Finanz- und
Nahrungspreiskrise im Jahr 2008 haben sich externe
Geschäftsleute, Banken und Lebensmittelunterneh-
men große Flächen gesichert.
Die Gewinnaussichten befeuern den Zielkonflikt
zusätzlich, eine Folge sind weiter steigende Pacht-
preise für »Solarerwartungsland«, wie Friedhelm
Taube das nennt. Vielerorts liegen sie bei 1000, 2000
Euro pro Hektar und mehr. Kleinere Erzeuger könn-
ten im Wettbewerb um Flächen mit dem Anbau von
landwirtschaftlichen Produkten nicht mehr mit-
halten, kritisiert Xenia Brand von der Arbeitsgemein-
schaft Bäuerliche Landwirtschaft (ABL). Noch mehr
Höfe gerieten ins Aus.
Solarbauern und Investoren versichern, dass auch
die großen Anlagen nur auf minderwertigen Äckern
Fotovoltaik für viele Landwirte eine Alternative, weil
trockene Jahre ihren Böden die Kraft genommen
haben. Solche Bauern tun mit PV etwas gegen den
Klimawandel, dessen Opfer sie selbst geworden sind.
Aber auch auf der kargen Krume sogenannter Grenz-
ertragsflächen, sagt Friedhelm Taube, könnten, wenn
schon kein Weizen, so doch andere Lebensmittel
wachsen, zum Beispiel Körnermais oder Luzerne.
Wo Böden ganz stillgelegt wurden, machen sich
überdies Naturschützer Sorgen, dass dort Chancen
für mehr Biodiversität wieder verspielt werden. Tro-
ckenrasenflächen etwa sind artenreich. Dort wachsen
gefährdete Krautpflanzen und Sträucher, es tummeln
sich Hummeln, Falter, Schlangen, Echsen, Vögel –
Tiere, die sonst nicht mehr viele Rückzugsorte haben.
Solarpanels nähmen ihnen Lebensraum.
Um die Nutzungskonkurrenz abzumildern, haben
Experten des Kompetenzzentrums Naturschutz und
Energiewende Vorschläge erarbeitet, ebenso das
Bundesamt für Naturschutz. Warum nicht die Solar-
parks in ihrer Größe beschränken? Mindestabstände
zwischen den Panels einhalten und die Streifen be-
pflanzen? Hecken als Sicht- und Vogelschutz?
Auch der Interessenverband der Solarwirtschaft
hat gemeinsam mit dem NABU Naturschutz-
empfehlungen formuliert. Die Dimensionen des
Konflikts spielt er aber eher herunter. Der geplante
Ausbau für die Freiflächen fordere nur etwa 70.000
Hektar – von mehr als 16 Millionen Hektar, die in
Deutschland landwirtschaftlich genutzt werden.
Doch es kursieren auch deutlich höhere Zahlen. Weil
Digitalisierung, E-Mobilität und Wasserstoffwirt-
Szenarien des Thünen-Instituts zur Erforschung
ländlicher Räume auf ein Mehrfaches.
Um Energiewende, Landwirtschaft, Arten- und
Landschaftsschutz in Einklang zu bringen, fordern
die Agrarwissenschaftler politische Vorgaben, etwa
neue Regeln im Bundesbaugesetz. Und die Landes-
regierungen, meint Taube, könnten den Ausbau der
Fotovoltaik vorrangig dorthin lenken, wo Bauern
gerade durch die Energiewende Einkommenschancen
verlieren. Zum Beispiel auf Moorböden. Die sollen
wieder vernässt werden. Wenn sie dann Solaranlagen
aufnehmen, können die Stromeinnahmen helfen, die
Verluste aus der Milchwirtschaft auszugleichen. Auch
wo Tierbestände wegen der hohen Stickstoffeinträge
verringert werden müssen, könnte die Agri-Foto-
voltaik Einkommensausfälle kompensieren.
Thorsten Breitschuh vom Bauernverband hält
es für einen großen Vorteil, dass die Kommunen
selbst entscheiden, wo sie Freiflächenanlagen zulassen
wollen. Um sie mit Sachkenntnis zu unterstützen,
schlägt der Zalf-Forscher Klaus Müller Beraterpools
in jedem Bundesland vor. Eine Lösung sieht er über-
dies darin, die solare Stromerzeugung auf gleicher
Fläche mit dem Anbau von Obst, Gemüse, auch
Getreide zu verbinden. Noch wird erforscht, wie man
die Optimierung beider Ernten jeweils hinbekäme
und wie sich diese rechnet. Agri-Fotovoltaik folgt also
einer Denkrichtung, die jetzt bei der großen ökolo-
gischen Wende überall gebraucht wird: »Das eine
tun, das andere nicht lassen«, so Friedhelm Taube. Es
geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein
Sowohl-als-auch.

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Der Ankerpunkt für eine

Transformation im Kleinen
Zur Macht von Ritualen im Alltag:
ein Plädoyer

Doch nicht nur das. Studien an der Harvard Business School zu-
folge helfen Rituale dabei, Trauer und seelische Belastungen
besser zu bewältigen.

Von wegen Buzzword: Rituale als mentaler Anker-

Auch wenn wir sie nicht immer als das wahrnehmen, was sie
sind, begleiten sie uns als Anker der Stabilität ab Sekunde
eins: Rituale.
Natürlich haben eine Festivität im religiösen Kalender, ein
Eintrittsritual in einen neuen Lebensabschnitt oder eine Ab-
schiedszeremonie in Freude oder Trauer auf den ersten Blick
nicht viel gemein.
Trotzdem lohnt es sich, die Details hinter ritualisierten Abfol-
gen zu betrachten. Denn Rituale werden zwar unterschiedlich
in einzelnen Kulturen und Lebensbereichen ausgestaltet. Gle-
ichwohl ähneln sie sich unverkennbar in ihren wesentlichen
psychologischen Effekten. So sorgen Rituale durch die kon-
tinuierliche Wiederholung einer einheitlichen Handlung für
innere Balance, gestärktes Vertrauen und ein intensiveres
Empfinden des Moments.
punkt
In den letzten Jahren zu einem viel genutzten Buzzword avan-
ciert, sollten Rituale dennoch mitnichten als Trenderscheinung
abgetan werden.
Als mentaler Ankerpunkt im Alltag schaffen sie den Rahmen
für Momente, in denen die achtsame Verbindung zum eigenen
Empfinden aufgebaut und gestärkt wird.
Und als Gegenentwurf zu Gewohnheiten, die als Quasi-Autom-
atismus nebenbei ablaufen oder ausgelöst werden, zeichnen
sich Rituale laut Stangl, dem Lexikon für Psychologie und Päda-
gogik, nicht zuletzt dadurch aus, dass sie wiederholt durchge-
führt werden, dass der Körper bewusst involviert ist, dass die
Handlungen standardisiert sind und dass ein Anfang und ein
Ende aufweisen. Ein Ende, das durchaus mit dem Gefühl einer
Transformation verknüpft sein kann.
Auch der Auftrag von Kosmetikprodukten werde oftmals als ihren saisonalen Höhepunkt meist zum Ende eines Jahres er-
Rituale in der pflegenden Kosmetik: ein Booster der Kleinigkeit nebenher erledigt. “Warum also nicht hier den Aus- reichen. Umgeben von weihnachtlicher Besinnlichkeit und dem
besonderen Art gangspunkt für ein Ritual setzen, mit dem Geist und Körper Wissen, dass Silvester Punkt Mitternacht Vorsätze gefasst
Bei all den positiven Effekten überrascht es daher nicht, dass jeden Tag in Einklang zu den eigenen Bedürfnissen gebracht werden (sollen oder wollen), feiern viele Menschen Rituale nur
sich Rituale außerhalb ihres Ursprungs, darunter häufig spiri- werden?”, meint sie. im großen Rahmen.
tuelle oder sakrale Anlässe, mehr und mehr etablieren. So auch ”Für mich war und ist es nur konsequent, meine Überzeugun- “Dabei stärken bereits kleine Rituale das Präsenzerleben, eben
in der Welt der Kosmetik. gen auch in das Auftragen von funktionalen Kosmetikprodukten das Fühlen des Moments”, erzählt Laura Simonow. Rituale soll-
Eine Marke, die dem bewussten Erleben des Jetzt besonde- einzuflechten. Denn für mich steht fest: Rituale erschaffen ein- ten deshalb unabhängig von äußeren Anlässen ihren Platz im
re Aufmerksamkeit schenkt, ist This Place. Die funktionale en wichtigen Teil der Realität. Und mit jedem bewussten Hand- Alltag finden. “Dafür muss man keineswegs auf ein bestimmtes
Naturkosmetikmarke aus Berlin bettet den Auftrag der Pflege- griff durchläuft man letztlich eine Transformation im Kleinen – Datum oder einen bestimmten Anlass
produkte konsequent in ein Ritual von zirka zwei Minuten ein. hin zu mehr Bewusstsein, Stabilität und Achtsamkeit”, so Laura warten. Die Zauberformel lautet an dies-
Ein Zeitfenster, das es ermöglicht, bei bewusster Atmung und Simonow. er Stelle “handeln”! Und zwar bewusst.
einfachen Handgriffen die Verbundenheit mit dem Inneren re- Genau dieses Gefühl, das der kleinen Transformation, ergänze Zum Beispiel mit einem festen Blick,
gelrecht zu zelebrieren. die pflegende Wirkung von Kosmetika als Boost perfekt. der die Handbewegungen während
“Um in Ausnahmemomenten deine innere Stärke und dein Selb- Schließlich zeige sich eine entspannte, stabile Einstellung des Auftrags von Kosmetikprodukten
stvertrauen abzurufen, ist es wichtig, dass Du Dir der Komplex- stets als zusätzlicher natürlicher Glow von innen. aufmerksam verfolgt. Und mit tiefen
ität Deines körperlichen und geistigen Wohlbefindens bewusst Atemzügen, mit denen nicht nur der
bist. In diesem komplexen Zusammenspiel können selbst banal Rituale sollten nicht nur zum Jahresausklang eine Duft eines Produktes, sondern auch
wirkende Kleinigkeiten einen großen Einfluss haben”, erklärt Rolle spielen das eigene Körpergefühl besser
Wissenschaftlerin und This Place-Gründerin Laura Simonow. Bewusstsein und Achtsamkeit sind Aspekte, die in der Masse wahrgenommen wird.”
 36
DIE ZEIT: Herr Scheffler, wir sitzen in der Ham-
burger Kunsthalle, wo Sie als Kind oft waren.
Gingen Sie gern ins Museum?
Axel Scheffler: Ja, aber so richtig wuchs mein In-
teresse an Kunst erst in meinen Teenagerjahren.
Ich hängte mir Kunstposter ins Zimmer, entdeckte
die Surrealisten für mich, fand Dalí und Magritte
toll. Ich hab auch selbst versucht, surrealistisch zu
malen. Später habe ich zu politischen Themen
gezeichnet, zum Vietnamkrieg oder zum israelisch-
palästinensischen Konflikt. Was ich so aus den
Nachrichten und der Zeitung mitbekam.
ZEIT: Und wie lief es im Kunstunterricht?
Scheffler: Ich hatte Kunst als Leistungskurs und
immer Einsen und Zweien. Aber wenn ich mir
meine Bilder von damals ansehe, war das alles
ziemlich durchschnittlich. Und »richtiges« Zeichnen
habe ich nie gelernt.
ZEIT: Sie haben Millionen Bilderbücher in der
ganzen Welt verkauft und wollen sagen, Sie könn-
ten nicht gut zeichnen?
Scheffler: Genau so ist es. Es gibt Leute, die das
Handwerk genial beherrschen oder einen einzig-
artigen Strich haben. Ich kann nicht einmal ana-
tomisch korrekt zeichnen. Die Größenverhältnisse
und Perspektiven stimmen bei mir nie wirklich.
Manchmal komme ich mir ein bisschen vor wie
ein Scharlatan.
ZEIT: Jedenfalls haben Sie Erfolg damit.
Scheffler: Bilderbücher haben oft eine eigene Lo-
gik: Es ist zum Beispiel überhaupt nicht realistisch,
dass eine Schnecke auf der Schwanzflosse eines
Buckelwals um die Welt reist. Die Kinder zweifeln
das aber überhaupt nicht an, und das gibt mir
Freiheiten für die Bilder. Vor allem aber scheinen
meine Bücher die Menschen zu berühren, Große
übrigens genauso wie Kleine. Ich glaube, das ist
das Geheimnis.
ZEIT: Ursprünglich wollten Sie doch Kunstlehrer
werden?
Scheffler: Ja, aber als ich mich nach dem Abitur an
der Kunsthochschule in Hamburg für den Studien-
gang Kunstpädagogik bewarb, lehnte man mich ab.
Foto: Henning Kretschmer für DIE ZEIT; Illustration: Der Grüffelo1999 ist als Wortmarke und Logo ein registriertes Warenzeichen von Julia Donaldson und Axel Scheffler und lizensiert von Magic Light Pictures Ltd.
Denen war ich anscheinend nicht gut genug.
ZEIT: Und dann?
Scheffler: Ich schrieb mich für Kunstgeschichte an
der Hamburger Universität ein, studierte für ein
paar Jahre und fand es schrecklich: volle Hörsäle,
anonymer Studienbetrieb. Ich bin einfach kein
Akademiker. Mein Vater, ein Kaufmann, fragte
sich damals schon, was aus mir werden sollte. Ich
fand später einen Brief, den er einem Freund
geschrieben hatte, in dem stand: Axel ist als Kauf-
mann ein hoffnungsloser Fall, aber mit seiner
Kunst wird er wohl auch nie auf einen grünen
Zweig kommen.
ZEIT: Hatte sich Ihr Vater gewünscht, dass Sie in
seine Fußstapfen treten?
Scheffler: Ihm muss früh klar gewesen sein, dass
ich niemals ein guter Kaufmann werden würde.
Alles mit Zahlen ist mir bis heute ein Graus. Ich
mochte es aber, wenn er mich mit in den Ham-
burger Hafen nahm, wo damals noch die Erdnüsse
für die Fabrik ankamen. Die Waren wurden mit
Kränen aus den Schiffen geholt. Container gab es
noch nicht. Da kamen Schiffe aus vielen Ländern
an, das war ein Hauch von großer, weiter Welt.
ZEIT: Hat Sie das Fernweh, das Sie am Hafen
spürten, später nach England aufbrechen lassen?
Scheffler: Das wäre eine gute Geschichte. Aber
ehrlicherweise lebte ich bis Mitte 20 schön be-
quem im Jugendzimmer und war ziellos. Heute
denke ich, meine Eltern hätten mich vielleicht
eher rausschmeißen sollen.
ZEIT: Wer hat Ihrem Leben einen Schubs gegeben?
Scheffler: Der Zufall. Anfang der Achtzigerjahre
habe ich eine Freundin besucht, die in England an
einer Kunsthochschule studierte. Da kam mir die
Idee, dass ich ins Ausland gehen könnte. Nachdem
ich meinen Zivildienst abgeleistet hatte, packte ich
1982 meinen VW Golf, zog nach Großbritannien
und studierte Visuelle Kommunikation an der
Bath Academy of Art in Corsham. Das war mitten
auf dem Land, zwischen Schafen und Pfauen. Für
mich war die Ausbildung dort aber nicht beson-
ders gut. Ich habe jedenfalls nicht gelernt, wie man
illustriert oder zeichnet oder ein Bilderbuch macht.
Ich fühle mich bis heute mehr wie ein Autodidakt.
ZEIT: Wie kamen Sie dann zu den Kinderbüchern?
Scheffler: Ich habe nach dem Studium in London
angefangen, als Illustrator zu arbeiten. Damals
musste man noch mit einer Mappe Klinken put-
Axel Scheffler wurde 1957 in Hamburg geboren. Anfang der Achtzigerjahre ging er nach England, wo er bis heute lebt. Seit 30 Jahren arbeitet er
mit der Autorin Julia Donaldson zusammen. Ihr bekanntestes Bilderbuch, »Der Grüffelo«, hat sich weltweit mehr als 13 Millionen Mal verkauft.
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Meine Schule des Lebens
Konnten Sie schon immer gut
zeichnen, Herr Scheffler?
»Manchmal komme ich mir
vor wie ein Scharlatan«
Der Illustrator über seine ziellose Jugend, seinen anhaltenden Pessimismus und
den »panic room«, den er für sein weltberühmtes Monster eingerichtet hat
zen gehen. Zum Glück bekam ich direkt Aufträge,
illustrierte anfangs hauptsächlich für Zeitschriften
und auch ein bisschen für die Werbung. Eigentlich
wollte ich aber am liebsten Kinderbücher machen.
Ich fand, dass mein Stil dort am besten passte.
Anfang der Neunziger bot mir eine Freundin, die
bei einem Kinderbuchverlag arbeitete, ein Manu-
skript von der damals noch unbekannten Julia
Donaldson an. Mein Haus ist zu eng und zu klein
wurde unser erstes gemeinsames Buch.
ZEIT: Einige Jahre später folgte der Grüffelo. Die
Geschichte vom Monster und der Maus hat Sie zu
Stars gemacht. Wie arbeiten Sie zusammen?
Der Schöpfer des Grüffelo
MEIN BERUF? MEINE BERUFUNG!
WERDE PROF AN DER TH LÜBECK
Aus der Praxis an die Hochschule – Eine Professur an einer Hochschule
für Angewandte Wissenschaften bietet mir eine einzigartige Mischung
aus Forschung, praxisnaher Lehre und eigenständigem Management.
WISSEN
Scheffler: Gar nicht.
ZEIT: Gar nicht?
Scheffler: Julia schreibt die Texte, auf die ich kei-
nerlei Einfluss habe. Ich mache meine Zeichnun-
gen, und da redet sie mir nicht rein. Alle Kommu-
nikation läuft über die Lektorin des Verlags.
ZEIT: Sie sind seit 30 Jahren ein Duo und haben
keinen Kontakt miteinander?
Scheffler: Das schon, aber nicht, wenn es um un-
sere Bücher geht. Ich bin auch nicht von jedem
ihrer Texte restlos begeistert, manchmal muss der
Verlag mich ein wenig überzeugen. Zwei- oder
dreimal habe ich schon abgelehnt.
ZEIT: Wer von Ihnen beiden ist der Boss?
Scheffler: Unsere Arbeit ist schon fifty-fifty. Man
könnte argumentieren, dass im Bilderbuch das
Bild eine größere Rolle spielt, demnach wäre mein
Anteil wichtiger. Andererseits bin ich auf Julias
Texte angewiesen. Ich kann nicht schreiben.
ZEIT: Sie sind gerade 65 Jahre alt geworden, andere
gehen in diesem Alter in Rente. Überlegen Sie
manchmal aufzuhören?
Scheffler: Aus finanziellen Gründen müsste ich
nicht mehr arbeiten, und fürs neue Jahr hatte ich
mir fest vorgenommen, weniger zu machen. Jetzt ist
wieder alles voll: drei Ausstellungen, vier Bücher ...
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
ZEIT: Und dazu der ganze Merchandise-Zirkus
um den Grüffelo. Wer heizt den eigentlich an?
Scheffler: Das hat sich total verselbstständigt. Die
Rechte an Gummistiefeln, Koffern und Bett-
wäsche liegen bei der Trickfilmfirma. Julia und ich
werden gar nicht mehr gefragt. Wir bekommen
alle sechs Wochen eine große Kiste mit jeweils
einem Exemplar von was auch immer. Ich habe
schon einen Grüffelo-panic room im Keller einge-
richtet, aber auch der ist proppenvoll. Anderer-
seits: Der Grüffelo erlaubt es mir, mit meiner
Freundin und meiner Tochter in einem Haus in
London im teuren Stadtteil Richmond zu leben.
ZEIT: Stimmt es, dass Sie nie Kinder wollten?
Scheffler: Ja, ich bin ein pessimistischer Deutscher
und hatte nie hohe Erwartungen an die Zukunft.
Die Umweltzerstörung war schon in den Sieb-
zigern ein Thema, ich las als Jugendlicher die
Warnungen des Club of Rome. In diese trostlose
Welt wollte ich kein Kind setzen.
ZEIT: Jetzt haben Sie eine 15-jährige Tochter, die
zur Fridays-for-Future-Generation gehört. Hat das
Ihre Haltung verändert?
Scheffler: Meine Tochter ist tatsächlich sehr enga-
giert, und das finde ich ziemlich erfreulich. Aber
sie erzählt auch, dass viele ihrer Mitschüler sich
überhaupt nicht für Politik interessieren. Und wie
sehr die wenigen Aktiven Gehör finden, ist die
nächste Frage. Leider ist mein Pessimismus nicht
kleiner geworden. Meine Tochter lebt zwar sehr
privilegiert, aber das wird sie nicht vor den Aus-
wirkungen des Klimawandels schützen.
ZEIT: Gegen den Brexit und für ein geeintes Euro-
pa haben Sie lautstark gekämpft. Fällt Ihnen so
etwas schwer?
Scheffler: Sagen wir so: Als Zeichner bin ich keiner,
der gerne irgendwelche Bühnen betritt und sich
äußert. Aber man lernt es irgendwie.
ZEIT: Hilft es, ein Promi zu sein?
Scheffler: Ich sehe mich nicht als Promi, vor allem
bezweifle ich, dass man als Kinderbuchillustrator
großen Einfluss auf die Politik nehmen kann. Ich
hoffe vielmehr, dass die Bücher etwas bewirken: Es
geht in Julias Texten oft um Solidarität, darum,
Wesen in Not zu helfen, einen Stärkeren auszu-
tricksen. Das ist nicht offensichtlich politisch, ver-
mittelt aber wichtige Werte. In Großbritannien
haben fast alle lesenden Kinder die Bücher von
Julia und mir – und kommen hoffentlich auch mit
diesen Werten in Berührung.
ZEIT: Gerade wurden Sie für Ihre Arbeit mit
einem Bundesverdienstkreuz geehrt.
Scheffler: Stimmt, und eigentlich sollte mir das
der Bundespräsident in Berlin überreichen. Aber
dann ist der Flug ausgefallen, und deshalb hab ich
es mir kurz vor Weihnachten in der deutschen
Botschaft in London abgeholt.
ZEIT: Wofür haben Sie es bekommen?
Scheffler: Es ging ums Brückenbauen – dass ich
zwischen Eltern und Kindern, aber auch zwischen
Kulturen vermittle. Ein bisschen spielte wohl auch
hinein, dass ich mich gesellschaftlich engagiere,
zum Beispiel als Schirmherr der Hilfsorganisation
Three Peas, die Geflüchtete unterstützt.
ZEIT: Fühlen Sie sich als Brückenbauer?
Scheffler: Ich denke schon, dass beim Vorlesen
Brücken zwischen Eltern und Kindern gebaut
werden. Und dadurch, dass der Grüffelo und all die
anderen Bücher weltweit erscheinen, entstehen
vielleicht Brücken zwischen verschiedenen Kultu-
ren. Ich hätte selbst nicht gedacht, dass mir so ein
Orden wichtig ist. Aber wenn man ihn bekommt,
ist das schon beeindruckend. Und meinen Vater
hätte das auch gefreut.
ZEIT: Hatten Sie eigentlich mal Angst, dass Ihr
Vater mit seiner Sorge, aus Ihnen würde nichts
werden, richtigliegen könnte?
Scheffler: Dann doch nicht, ich habe nach dem
Studium ja sofort Geld verdient. Ich musste in
meinem Leben nie wirklich kämpfen.
ZEIT: Aber fleißig sein?
Scheffler: Manche Leute halten mich für fleißig, ich
würde mich so nicht bezeichnen. Meine Tochter
würde vermutlich sagen: Er sitzt da unterm Dach,
kritzelt ein bisschen rum und kriegt Geld dafür.
Das Gespräch führten Hanna Grabbe und
Katrin Hörnlein
In unserer Gesprächsreihe »Meine Schule
des Lebens« erzählen prominente Menschen
von ihrem Bildungsweg
www.werde-prof.de
 DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022
Ermüdungsphänomene kennen Gesellschaften schon lange – mitunter inspirierten sie die Kunst. Von links: »Kreuzabnahme« (Ausschnitt) von Rogier van der Weyden, 1435;
»Selbstporträt, Gähnen« von Joseph Ducreux, 1783; »Müde« von Nico Jungmann, 1904; »An der Schwelle zur Ewigkeit« von Vincent van Gogh, 1890
D
as Jahr 2022 ist vorbei –
und alle sind irgendwie
alle. In nahezu jedem Ge-
spräch ein »Bin ganz schön
fertig«, ein »Ich bin durch«.
Vielleicht ist das die nor-
male Materialermüdung
am Ende eines Jahres. Oder ist die Gesellschaft
wirklich kollektiv erschöpft – mehr als in ande-
ren Jahren?
Ursachen gäbe es genug. Pandemie, Krieg,
Klima. Fachkräftemangel, Krankenstand, Gas-
preisrechnung. Krise, Krise, Zeitenwende. Uff.
Die Zeiten haben sich schon einmal radikal
gewendet. Das 19. Jahrhundert ging zu Ende,
die Zukunft setzte ein – und erschöpfte den
modernen Menschen.
»Insbesondere sind es bestimmte Ermü-
dungsphänomene, welche als gestörtes Gemein-
gefühl, geistige und körperliche Mattigkeit, Un-
lust und Stimmungsanomalien zum Vorschein
kommen.« So steht es im Handbuch der Neuras-
thenie von 1893.
Neurasthenie, so hieß damals jener Zustand der
Nervenerschöpfung aufgrund der enormen gesell-
schaftlichen Transformation. Die Industrie rüstete
hoch – überall Maschinen, Knöpfe, neue Technik.
Die Städte explodierten – es wurde eng, laut und
dreckig. Die Frauen mischten sich ein, kämpften
für Bildung, Wahlrecht, Mitbestimmung. Die
Abb.: The Picture Art Collection/Alamy/mauritius images; Science Source/mauritius images; United Archives/ddp; The Picture Art Collection/Alamy/mauritius images (v. l. n. r.)
Massenmedien entstanden – Zeitungen, Magazine,
Radio, Film. Mediziner gingen damals davon aus,
dass die Nerven mit den vielen Neuerungen nicht
mithalten konnten und sich deswegen eine Ȇber-
bürdung« einstellte. Als zerrten »Bleigewichte der
Mühsal« am Gemüt, so formuliert es Thomas
Mann später im Zauberberg.
Eine ständige innere Unruhe: Ich müsste,
könnte, sollte – ich schaff ’s aber nicht
»Die gesamte Lebenswelt wurde um die Jahr-
hundertwende neu formatiert – so rasant, wir
würden heute durchdrehen.« Sarah Bernhardt
erzählt davon, während sie zur Bibliothek läuft.
Sie ist Historikerin an der Universität Mainz und
Erschöpfungs-Expertin; sie hat über das Thema
ihre Dissertation geschrieben. Ihre These: Die
Erschöpfung ist ein Signum der Moderne – sie
begleitet uns, in immer andere Begriffe gefasst,
seit dem Beginn der Industrialisierung. Erst war
es die Neurasthenie, in den 1950er-Jahren sprach
man von der Managerkrankheit, dann kam ir-
gendwann das Burn-out. »Das sind Chiffren, mit
denen die Gesellschaft auf Krisenlagen reagiert«,
sagt Bernhardt. Und diese Krisen änderten sich.
Weshalb auch die Erschöpfung gerade wieder
eine neue Gestalt annehme.
Die Psychologin Nicole Plinz hat eigentlich
keine Zeit für ein Gespräch, klar. In der Askle-
pios-Klinik Hamburg-Harburg sind alle Betten
belegt, gefühlt die halbe Belegschaft sei krank.
»So schlimm war es noch nie«, sagt die Thera-
peutin; sie leitet dort die Tagesklinik für Stress-
medizin. Trotzdem, ein paar Minuten nimmt sie
sich für die Frage: Was fühlen wir gerade eigent-
lich? »Ich würde es beschreiben, als drücke uns
etwas nieder. Als koste es Anstrengung, sich auf-
zurichten«, sagt Plinz. Da sei eine ständige innere
Unruhe: Ich müsste, ich könnte, ich sollte – ich
WISSEN 37
Psychologie
Irgendwie alle
Das Lebensgefühl am Ende des Jahres: Erschöpfung. Was ist das für eine Emotion –
und was verrät sie über die Gesellschaft? VON ANNA-LENA SCHOLZ
schaff ’s aber nicht. »Erschöpfung heißt: Ich kann (Beratungsunternehmen Auctority). Oder: 84 Pro- einem Nebensatz erzählt er, wie neulich mal jemand Am Morgen nach dem Zwischen-den-Türen-
nicht mehr angemessen antworten auf das, was zent der Lehrerinnen und Lehrer fühlt sich stark fluchte: ob nicht endlich mal alle aufhören können, Anruf schickt die Psychologin Nicole Plinz eine Mail
auf mich zukommt.« belastet (Robert Bosch Stiftung). darüber zu lamentieren, wie kaputt sie sind? hinterher. Ihr sei noch ein Gedanke gekommen. Sie
Zuletzt kam viel auf uns zu. Nicole Plinz Für den Soziologen Christian von Scheve liefern Können wir offenbar nicht. schreibt: »Vielleicht müssen wir aufhören, das Glück
rekapituliert. Der erste Corona-Winter: »Da derartige Umfragewerte nicht nur empirische Er- »Erschöpfungsphänomene leben seit je davon, der stabilen Jahrzehnte für normal zu halten, und
konnten wir uns noch miteinander verbinden, gebnisse über die Gefühlslage einer Gesellschaft – dass über sie gesprochen wird«, sagt Sarah Bern- dürfen nicht länger darauf warten, dass es sich wieder-
hatten Kraft zur Bewältigung.« Balkon-Applaus sondern sie präsentieren den Menschen auch ein hardt. Sie sind ein Superkleber, der die Transforma- herstellt. Sonst erschöpfen wir uns an der wieder-
für die Pflegekräfte, die Hoffnung, dass es bald »Deutungsangebot«. »Sich an eine kollektive Er- tionsgesellschaft zusammenhält. kehrenden Enttäuschung.« Krankheit, Krieg und
vorbei sei. Der zweite Corona-Winter: »Da sind schöpfung anzuschließen«, sagt von Scheve, »kann Deswegen artikuliert sich in der Gegenwarts- Angst seien Teil des menschlichen Lebens: »Aber wir
wir in die Vereinzelung gegangen. Zähne zusam- entlastend wirken. Es ist gemeinschaftsstiftend.« erschöpfung keine bloße Befindlichkeit, ist sie kein brauchen die Fähigkeit, diesen Schatten zu begrenzen.«
menbeißen, jeder kämpft sich durch.« Dann der Der Soziologe forscht an der FU Berlin zur Frage, kollektives Gejammere: Sie ist nicht nur ein Gefühl.
russische Angriffskrieg: »Da ist ein Lebensgefühl wie Gefühlszustände unsere Gesellschaft prägen. In Sondern ein politischer Zustand. ! www.zeit.de/vorgelesen
zusammengebrochen, das Gefühl, in Sicherheit
zu sein.« Und seitdem immer so weiter: Energie- ANZEIGE
krise, Inflation, Geldsorgen. Die Angst vor der
Zukunft auf einem versehrten Planeten. »Wir
spüren, dass wir zwar in die Bewältigung von
Krisen investieren«, sagt Plinz, »dass diese Bewäl-
tigung aber nicht erfolgt.«
»Sich an eine kollektive Erschöpfung
anzuschließen kann entlastend wirken«
Um 1900 waren es die vielen neuen Eindrücke,
die das Individuum sinnlich und körperlich ver-
arbeiten musste – Telefonistinnen etwa galten als
besonders gefährdet für Neurasthenie, weil die
kleinen Stromstöße der Telefonanlagen angeb-
lich ihre Nerven überreizten.
Das Burn-out wiederum, das seinen medialen
Höhepunkt in den 2010er-Jahren erreichte, ver-
engte die Erschöpfung auf einen spezifischen
Typus: den Büroarbeiter oder die Managerin.
Die Ikonografie dieser Zeit, in unzähligen Zei-
tungen und Magazinen immer neu inszeniert:
ein gebeugter Mensch am Schreibtisch. Oder:
eine Person als Streichholz, deren Kopf in Flam-
men steht. Oder: eine entleerte Batterie. Diese
Bilder präsentierten den Menschen als zerschlis-
senes Rädchen einer spätkapitalistischen Hoch-
leistungsmaschinerie.
»Gerade dreht sich der Erschöpfungsdiskurs
wieder«, sagt die Historikerin Sarah Bernhardt. Er
docke sich an die neuen Probleme an. An große,
aber diffuse Sinnfragen: Welche Folgen hat der
Krieg? Wie reagieren wir auf den Klimawandel?
Wie verändert sich die globale Ordnung?
Die aktuelle Erschöpfung betrifft alle. Unab-
hängig davon, was sie gelernt oder studiert
haben, wo sie arbeiten. Ob Krankenpfleger,
Politikerin, Wissenschaftler, Abiturient, Maler-
meisterin, Anwalt oder Arbeitslose: Es gehe nicht
mehr um bestimmte Erwerbsbiografien oder
Karrierewege, nicht mehr darum, »wie viel wir
als Individuum leisten können«, sagt Bernhardt:
»sondern darum, dass wir von den großen welt-
politischen Krisen berührt sind.«
Transformation bedeutet immer Verdichtung.
Es passiert vieles auf einmal. Gesellschaftlich,
politisch und damit auch mental.
Dabei meint der Zustand, um den es hier
geht, keine lang anhaltende, klinische Depressi-
on, auch keinen akuten psychischen oder körper-
lichen Zusammenbruch, sagt Nicole Plinz,
wenngleich die Übergänge fließend seien. In-
zwischen beschreiben auch Umfragen von Kran-
kenkassen, Stiftungen und Unternehmen den
Zustand der erschöpften Gesellschaft. Die Zah-
len sagen dann zum Beispiel: 73 Prozent der 30-
bis 40-Jährigen bezeichnen sich als erschöpft
38
STELLENMARKT
Die Position:
Wir brauchen den Globalen Süden
Die weltumspannenden Herausforderungen erfordern neue wissenschaftliche Netzwerke
Wie wichtig Wissenschaft heute ist, wie ungleich
die Ressourcen jedoch weltweit verteilt sind, ha-
ben uns die globalen Herausforderungen in den
vergangenen Jahren immer wieder vor Augen
geführt. Ob es um die Verteilung von Impfstoff
ging, um die Rolle des Globalen Südens auf der
Klimakonferenz COP 27 oder zuletzt auf der
Weltnaturschutzkonferenz COP 15: Länder des
Globalen Südens werden in der Regel nur dann
interessant, wenn sie etwas anbieten können, das
für den Norden relevant ist. Das ist zu kurzsichtig.
Probleme wie Kriege, Hunger oder Krankhei-
ten treten selten isoliert auf, sie betreffen große
Teile der Welt. Spätestens seit der Formulierung
der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung durch
die UN gehört zum Common Sense, dass Norden
und Süden globale Herausforderungen nur ge-
meinsam lösen können. Den Schlüssel dazu bilden
internationale wissenschaftliche Netzwerke. Der
Wissenschaft sollte folglich eine viel weitreichen-
dere Rolle zukommen als bisher. Damit veränderte
sich aber auch ihr Verhältnis zur Politik.
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Bei den Staatlichen Schlössern und Gärten Hessen im Geschäftsbereich
des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst
ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt die unbefristete Position der
Leitung der Zentralabteilung (m/w/d)
als ständige Vertretung der Direktorin
am Dienstort Schloss Bad Homburg zu besetzen.
Wir bieten:
• eine abwechslungsreiche und verantwortungsvolle Tätigkeit bis zur
Besoldungsgruppe A 16 HBesG (bei Erfüllung der beamtenrecht-
lichen Voraussetzungen) oder vergleichbar im Beschäftigtenverhält-
nis bis Entgeltgruppe 15
• Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten
• flexible Arbeitszeiten
• LandesTicket Hessen
• ein Arbeitsverhältnis bei einem familienfreundlichen Arbeitgeber
Die komplette Ausschreibung finden Sie unter
https://www.schloesser-hessen.de/files/misc/Ausschreibung-Z.pdf
ZEIT STELLENMARKT
Crossmedial gespielt: Ihre Ausschreibung
Jede Stellenanzeige im ZEIT STELLENMARKT finden Sie auch digital
auf jobs.zeit.de und bei academics.
An der Pädagogischen Hochschule
Weingarten ist folgende Stelle
zu besetzen:
Akad. Mitarbeiter*in im Projekt
„Lernen aus Fehlern im
Grundschulalter“
Teilzeit 75 %, Kennziffer: Psy501
Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie unter:
www.ph-weingarten.de (Die PH/Stellenausschreibungen)
Pädagogische Hochschule, Kirchplatz 2, 88250 Weingarten
The Faculty of Business Administration and Economics at
Hochschule Niederrhein University of Applied Sciences in
Mönchengladbach, North Rhine-Westphalia, Germany is
currently seeking applicants for one vacant professorship in
Sales & Marketing
Pay grade W 2 LBesO W (State Salary Regulations)
The Hochschule Niederrhein is one of the largest and top-performing universities
for applied sciences in Germany. We open up perspectives and with academic
training that is geared to the future, we ensure that our graduates are in demand
on the labour market.
www.hochschule-niederrhein-de/P-08-1_2023
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
VON DOROTHEA RÜLAND
Wissenschaft folgt anderen Regeln als Politik, setzungen ausgehen. Alle Akteure, insbesondere tät bleibt also trotz Digitalisierung eine wesent-
sie lebt vom Prinzip der Kooperation und Partizi- die des Globalen Nordens, sind hier gefordert, liche Voraussetzung jeder internationalen Zu-
pation. Sie braucht die Freiheit, die im Grund- dies von Anfang an im Blick zu haben. sammenarbeit. Beide Seiten sollten die jeweiligen
gesetz verbrieft ist: mit den Besten auf der Welt Wissenschaftsforschung kann und sollte diese Rahmenbedingungen vor Ort kennen, um die
zusammenarbeiten zu können. Oft kann Wissen- Prozesse begleiten und dabei helfen, zu erkennen, Basis für eine nachhaltige Partnerschaft, ein ge-
schaft noch agieren, wo Politik an ihre Grenzen wenn Kooperationen unausgewogen sind. Zwar meinsames Forschungszentrum oder eine gemein-
stößt. Genau dies macht sie für die Politik so in- gibt es schon viele Hochschulpartnerschaften, Zen- same Universität zu schaffen. Dies ist besonders
teressant, weil sie bei Konflikten Möglichkeiten tren, Kooperationen. Doch die müssen ausgebaut für Kooperationen mit dem Globalen Süden
der Kommunikation und Interaktion offenhält. und multilateral angelegt werden, um Heraus- wichtig, dessen Wissenschaftssysteme weltweit
Foto: Claudia Höhne
Dafür müssen allerdings die Beweggründe forderungen wie Klimawandel, Covid oder Fragen weniger bekannt und anerkannt sind.
aller Beteiligten definiert und die gemeinsamen der Energieversorgung zu bewältigen. Das kann Dabei ist es wichtig, dass Wissenschaft in den
Ziele herausgearbeitet werden. Die Bildungs- nur in Netzwerken gelingen, die sowohl Länder betroffenen Ländern nicht eingeengt und instru-
wissenschaftlerin Jane Knight von der University des Globalen Nordens als auch des Globalen Sü- mentalisiert wird. Jede Verschiebung in Richtung
of Toronto spricht auf der einen Seite von der dens umfassen. Dafür müssen die nötigen finan- Soft Power – also Machtausübung – unterminiert
Machtausübung mithilfe von Soft Power (beinhal- Dorothea Rüland ziellen Rahmenbedingungen geschaffen werden. das Vertrauen, das die Grundlage jeder Koope-
tet Wettbewerb und Dominanz). Andererseits von ist Generalsekretärin des Auch dies gehört zur globalen Verantwortung. ration bildet. Darüber sollten sich alle im Klaren
Knowledge Diplomacy (Kooperation und beid- Hamburg Institute for Erfahrungsgemäß entstehen gute Kooperatio- sein, die darauf drängen, Wissenschaftskoope-
seitigem Nutzen). Dabei wird immer deutlicher, Advanced Study nen aus persönlichen Kontakten, die bottom-up ration als politisches Druckmittel einzusetzen.
dass Kooperationen gerade auch mit Blick auf den und wissenschaftsgetrieben zustande kommen. So Dabei können wir alle nur verlieren. Wir brauchen
Globalen Süden eine stärkere Reflexion brauchen. wurde die German University in Kairo gegründet, mehr Internationalisierung, um die Beziehungen
Denn Ungleichheiten und Dominanz entstehen, um das Humboldtsche Konzept von Bildung und zwischen Ländern weltweit aufrechtzuerhalten
wenn die beiden Seiten von verschiedenen Voraus- Forschung nach Ägypten zu übertragen. Mobili- und für uns alle produktiv zu gestalten.
Nächster Halt: Zukunft
Werden Sie Teil unseres Teams!
Die Stadt Esslingen sucht zum 1. April 2023 eine
An der Hochschule Aalen ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt im Stu-
dienbereich Informatik der Fakultät Elektronik und Informatik folgende
Leitung (m/w/d) der städtischen Bücherei Stelle zu besetzen:
W3-Professur „Computer Vision
Es handelt sich um eine unbefristete Vollzeitstelle, die in Entgelt- und Machine Learning“
gruppe 13 TVöD ausgewiesen ist. Die Bewerbungsfrist endet am Unser Team sucht eine aufgeschlossene und renommierte Persönlich-
15.01.2023. Für weitere Auskünfte steht Ihnen die Kulturamts- keit, die uns mit Engagement in der praxisorientierten Lehre und an-
leiterin Frau Heyder, Tel. 0711/3512-2210, gerne zur Verfügung. gewandten Forschung verstärken will und die anstrebt die Zukunft im
Bereich Computer Vision und Machine Learning aktiv mitzugestalten.
Den vollständigen Ausschreibungstext mit allen Details finden Sie
Ihr zukünftiges Aufgabengebiet:
auf unserer Homepage www.esslingen.de/jobs. • Unsere Studierenden freuen sich über praxisnahe und didaktisch
ansprechende Vorlesungen und Übungen, insbesondere in den Be-
reichen Bildverarbeitung und Mustererkennung sowie zu den Metho-
den der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens.
KONTAKT FÜR ANZEIGENKUNDEN • Mit Ihrer anwendungsorientierten Forschung komplementieren Sie
Sie möchten Ihre Anzeige elektronisch übermitteln und die bestehenden Aktivitäten in unserem strategischen Zukunftsfeld
haben noch Fragen? Dann rufen Sie uns gerne an oder schreiben uns: Künstliche Intelligenz und leisten wesentliche Beiträge zur Computer
0931 / 6001758
Vision und zum Machine Learning.
Ihr Profil:
• Sie verfügen über ein abgeschlossenes Studium und eine Promo-
1 zeit@anzeigeneingang.de tion im Bereich Informatik, Mathematik, Physik oder einer vergleich-
Informationen zum Datenversand per Upload finden Sie unter: baren Fachrichtung.
• Sie sind teamfähig und begeistern sich für die praxisorientierte Lehre
5 www.anzeigeneingang.de und angewandte Forschung.
• Sie verfügen über ausgewiesene berufliche Expertise in den Berei-
chen Computer Vision und Machine Learning.
Sie haben Interesse? Dann freuen wir uns über Ihre aussagekräftige
Bewerbung bis zum 05.02.2023 über unser Online-Bewerbungsportal.
Mehr erfahren unter:
www.hs-aalen.de
W3-Universitätsprofessur
Strömungsmechanik
Fakultät für Maschinenwesen
Die RWTH Aachen ist eine der Exzellenzuniversitäten Deutschlands
und genießt weltweit ein hohes Ansehen in Forschung und Lehre.
Zum nächstmöglichen Zeitpunkt wird an der Fakultät für Maschinen-
wesen eine W3-Universitätsprofessur besetzt, die das Fach Strö-
mungsmechanik in Forschung und Lehre vertritt.
Der Lehrstuhl gehört zum Aerodynamischen Institut Aachen, dessen
Leitung mit der Professur verknüpft ist. Das Tätigkeitsfeld umfasst die
Entwicklung experimenteller sowie numerischer Methoden der Strö-
mungsmechanik und Aerodynamik. Neben der Forschung ist die
Durchführung von großen Lehrveranstaltungen auf diesen Gebieten
Gegenstand der Professur.
Die Technische Universität Braunschweig besetzt am Institut für Daten-
technik und Kommunikationsnetze der Fakultät für Elektrotechnik, Infor-
mationstechnik, Physik zum 01.10.2023 eine
Weitere Informationen erhalten Sie unter: W3-Universitätsprofessur (m/w/d) für
www.rwth-aachen.de/jobs/professuren „Computer Engineering“
Bewerbungsfrist ist der 29.01.2023.
Die zu berufende Person vertritt kompetent das Fachgebiet „Computer Engi-
neering.“ Sie befasst sich mit der Erforschung von Rechnerarchitekturen für
nachhaltige, effiziente, offene und sichere Informations- und Kommunikations-
systeme unter Berücksichtigung zukünftiger Entwicklungen von Quantencom-
putern, photonischen und organischen Rechnerstrukturen. Die Tätigkeitsfelder
der Professur liegen entsprechend in mehreren der folgenden Bereiche:
• Computer- und Softwarearchitekturen für nachhaltige, effiziente, offene und
sichere IKT-Systeme
• Co-Integration von Elektronik und Sensorik für kompakte vernetzte Systeme
• Zukünftige Architekturen und Methoden, z.B. Quantumcomputing, photonische
An der Fakultät Informatik, Institut für Theoretische Informatik, ist an der Professur für Automaten- oder organische Rechnerarchitekturen
theorie zum 01.04.2023 eine Stelle als • Nachhaltige sichere und resiliente Computing-Systeme (Sustainability, Safety,
Reliability, Resilience)
wiss. Mitarbeiter:in / Doktorand:in / Postdoc (m/w/d)
(bei Vorliegen der persönlichen Voraussetzungen E 13 TV-L) Die Jobchancen Weitere Jobs Kontakt und vollständige Stellenausschreibung:
https://www.tu-braunschweig.de/stellenmarkt
finden Sie auf
bis zum 30.09.2025 (Beschäftigungsdauer gem. WissZeitVG) mit dem Ziel der eigenen wiss. Weiterqualifikation
(i. d. R. Promotion/Habilitation) zu besetzen. Zur Unterstützung in der Lehre u. Forschung, hier insb. Entwicklung, gehen Ihnen Bitte senden Sie Ihre Bewerbung bis zum 20.02.2023 ausschließlich über das
nicht aus
formale Analyse und Test von Methoden zur Erklärung von logischen Inferenzen werden Bewerber:innen mit erfolg- Online-Formular der TU Braunschweig.
reichem wiss. Hochschulabschluss (Master o. Diplom) in Informatik o. einem verwandten Gebiet bzw. Promovierte
in der Informatik o. einem verwandten Gebiet (z. B. Mathematik) gesucht. Den vollständigen Ausschreibungstext
finden Sie unter: https://tu-dresden.de/stellenausschreibung/10052
DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022
Studium generale
BEOBACHTET VON JULIAN FIEBACH
Ohne Job: Mit Job:
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Die Hochschule der Medien in Stuttgart (HdM) bildet Medien-
spezialisten/-innen für Unternehmen, Organisationen und
Institutionen des öffentlichen Sektors aus. In rund 30 Bachelor-
und Masterstudiengängen bieten wir derzeit rund 5.500 Stu-
dierenden attraktive Studienmöglichkeiten. In der Fakultät
Information und Kommunikation ist im Studiengang Online-
Medien-Management folgende Professur zu besetzen:
PROFESSUR FÜR ONLINE-MEDIEN-
STUDIEREN. WISSEN. MACHEN.
MANAGEMENT, INSB. MULTIMEDIA
REDAKTION UND SOCIAL MEDIA
ab Sommersemester 2023
Besoldungsgruppe W2, Kennziffer WS222309P
Im Rahmen dieser Position werden in Forschung und Lehre in
enger Zusammenarbeit mit der Praxis folgende Lehrgebiete
vertreten:
• Multimedia-Redaktion
• Social-Media-Management
• Medienkonzeption, idealerweise auch Medienproduktion
Bewerber/innen sollten darüber hinaus in der Lage sein, auch
Fachinhalte aus den Bereichen Storytelling sowie Journalistik
zu vertreten und deutsch- sowie englischsprachige Veranstal-
tungen im Grund- und Hauptstudium in den oben genannten
Themenfeldern durchzuführen. Es wird ein abgeschlossenes
Hochschulstudium des Medienmanagements, des Online-
Journalismus, der Publizistik oder eines vergleichbaren Stu-
diengangs sowie in der Praxis erworbene Erfahrungen in den
Bereichen Medienkonzeption, -strategie und -management
erwartet. Weiterhin sollten die Bewerber/innen ausgeprägte
didaktische Fähigkeiten sowie die Bereitschaft mitbringen,
sich aktiv in die (Weiter-) Entwicklung des Studiengangs und
der Fakultät einzubringen. Zudem sollten sie einschlägige For-
schungs- und Praxisprojekte vorweisen können.
Bewerbungen geeigneter schwerbehinderter Menschen werden
vorrangig berücksichtigt.
Für inhaltliche Fragen steht Ihnen Studiendekan Prof. Dr.
Stephan Wilczek per E-Mail unter wilczek@hdm-stuttgart.de
gerne zur Verfügung.
Bitte lassen Sie uns ausschließlich über unser Online-Bewerber-
portal unter www.hdm-stuttgart.de/karriere/stellenange-
bote Ihre aussagekräftige Bewerbung bis zum 20.01.2023
zukommen. Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung!
Die Einstellungsvoraussetzungen
gemäß § 47 LHG BW finden
Sie im Internet unter:
http://www.hdm-stuttgart.de/
karriere/stellenangebote.
Geschäftsführer (m/w/d)
Die Schotstek gGmbH ist eine gemeinnützige Gesellschaft, die ein einzigartiges
Stipendiat/innen-Programm anbietet, das ausgewählte Studierende, Promo-
venden und Young Professionals mit Einwanderungsgeschichte fördert und
sie zugleich mit einem karrieredienlichen Netzwerk zusammenbringt. Das Ziel
ist, diese jungen Menschen auf ihrem Weg zu führenden Positionen in Wirtschaft,
Forschung und Gesellschaft zu begleiten. Schotstek wurde 2013 gegründet
und verdankt seinen Erfolg privatem wie unternehmerischem Engagement. Der
Name „Schotstek“ steht dabei dafür - genau wie der Seemannsknoten, der
zwei Seile miteinander verbindet – eine unvergleichliche Verbindung zu schaf-
fen und aus zwei unterschiedlichen Dingen etwas Neues zu machen. Schotstek
bietet bisher Programme in Hamburg und Berlin an.
Im Rahmen der Nachfolge für die aktuelle Stelleninhaberin, sucht Schotstek zum
nächstmöglichen Zeitpunkt eine/n neue/n
Geschäftsführer (m/w/d)
der/die Geschicke der gGmH lenkt und leitet, das Angebot für neue Stipendia-
ten ausbaut und weitere Partnerschaften gewinnt. Sie übernehmen die Gesamt-
verantwortung für die fachliche und strategische Ausrichtung der Gesellschaft
und leiten operativ das Personal-, Finanz- und Organisationsmanagement und
arbeiten mit ebenso beeindruckenden, wie ehrgeizigen jungen Menschen aus
über 20 Herkunftskulturen. Zudem vertreten Sie die Gesellschaft nach innen und
außen in allen Angelegenheiten und kümmern sich um die Pflege und Entwicklung
des Netzwerkes. Als ideale/r Kandidat/in haben Sie bereits mehrjährige Berufs-
erfahrung, gerne (aber keinesfalls zwingend) in einer leitenden Funktion in einer
Non-Profit Organisation und haben Freude an der Tatsache, dass wir in einer
Einwanderungsgesellschaft leben. Zu Ihren Qualifikationen gehören außerdem
ein abgeschlossenes Hochschulstudium, Erfahrung im Fundraising sowie ein
Grundverständnis von Wirtschaft und unternehmerisches Denken. Es erwartet
Sie eine herausfordernde, gesellschaftlich relevante Tätigkeit mit Außenwirkung
in einem motivierten Umfeld in Hamburg. Die Vergütung orientiert sich an den
Rahmenbedingungen von Non-Profit-Organisationen und entspricht der Aufgabe
und Verantwortung der Position.
Kontakt: New Chapter Executive Search GmbH, Frau Dr. Anne Wichels-Schnieber,
Frau Franziska Schmidt, fs@newchapter.io
BITTE BEACHTEN
Anzeigen- / Druckunterlagenschluss Print-Online-Stellenanzeigen:
Montag der Erscheinungswoche, 14 Uhr
Andrea.Brandhoff@zeit.de 040/32 80396
Worum geht’s ... im Wasserbau?
Das sagt die Professorin
Wasserbau ist für das Leben und finanzielle Wohlergehen
vieler Menschen entscheidend, trotzdem können nur wenige
etwas mit dem Begriff anfangen: Wir bauen am oder im
Wasser. Häfen, Deiche, Hochwasserschutzwände, Wehre
oder auch Offshore-Windenergieanlagen werden von uns
geplant und gebaut. Das Besondere am Wasserbau ist das
Planungsumfeld – die Natur, die nicht einfach in Regelwerke
zu pressen ist. Um unsere Bauten für die langen Standzeiten
von 50, 80 oder 100 Jahren standsicher zu machen, beziehen
wir bereits seit Jahren auch Klimawandelaspekte ein.
Bärbel Koppe ist Professorin für Wasserbau und
Hydromechanik an der Hochschule Wismar
An der Hochschule Niederrhein ist im Fachbereich
Wirtschaftswissenschaften am Standort Mönchengladbach zum
nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Professur zu besetzen:
Steuern und
Rechnungslegung
Bes.-Gr. W 2 LBesO W
Die Hochschule Niederrhein ist eine der größten und leistungsfähigsten
Hochschulen für angewandte Wissenschaften Deutschlands. Wir eröffnen
Perspektiven: Mit einer zukunftsfähigen akademischen Ausbildung und einer
problem- und transferorientierten Forschung schaffen wir die Grundlage dafür,
dass unsere Absolventinnen und Absolventen auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind.
www.hs-niederrhein.de/P-08-2_2023
An der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt gelangt eine
UNIVERSITÄTSPROFESSUR
für
APPLIED PSYCHOLOGY FOR THE 21st CENTURY
voraussichtlich ab 1. September 2023 zur Besetzung.
Bewerbungen werden bis 12. Februar 2023 berück-
sichtigt. Alle Details finden Sie online.
Die Universität Klagenfurt ist eine Campus-Universität
im Süden Österreichs am Schnittpunkt dreier
Kulturen. Hohe Lebensqualität, sehr gute Lehr- und
Forschungsbedingungen, Internationalität und
moderne Infrastruktur zeichnen uns aus.
jobs.aau.at
An der Hochschule Niederrhein ist im Fachbereich
Wirtschaftswissenschaften am Standort Mönchengladbach zum
nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Professur zu besetzen:
Transformation der
Arbeitswelt
Bes.-Gr. W 2 LBesO W
Die Hochschule Niederrhein ist eine der größten und leistungsfähigsten
Hochschulen für angewandte Wissenschaften Deutschlands. Wir eröffnen
Perspektiven: Mit einer zukunftsfähigen akademischen Ausbildung und einer
problem- und transferorientierten Forschung schaffen wir die Grundlage dafür,
dass unsere Absolventinnen und Absolventen auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind.
www.hs-niederrhein.de/P-08-3_2023
An der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin ist am Fachbe-
reich 1 „Wirtschaftswissenschaften“ folgende Stelle zum nächstmöglichen
Zeitpunkt zu besetzen:
eine Professorin / ein Professor (m/w/d)
für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre,
insbesondere Gender- und Diversity Management
Kennziffer: 139_P_2022
Besoldungsgruppe: W2
Bewerbungsschluss: 20.01.2023
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung mit aussagekräftigen Nachweisen -soweit
vorhanden auch Ergebnissen von Lehrevaluationen -und Zeugnissen zur Er-
füllung der Einstellungsvoraussetzungen- bis zum 20.01.2023 über unser Online-
Bewerbungsportal unter: https://karriere.hwr-berlin.de/p4dvx
Bei Rückfragen zur ausgeschriebenen Position wenden Sie sich bitte an:
berufungsverfahren@hwr-berlin.de
Das detaillierte Stellenprofil, die Anforderungen für die Berufung zur Professorin/
zum Professor sowie weitere Informationen finden Sie unter:
http://www.hwr-berlin.de/aktuelles/stellenmarkt-stipendien-wettbewerbe/
stellenangebote/
STELLENMARKT
VON CHRISTINE PRUSSKY
Das sagt die Studentin
Mich hat der Wasserbau schon im Bachelor gepackt. Bei
Spaziergängen denke ich gern darüber nach, was wohl
unsichtbar im Deich oder in den Tiefen einer Wehranlage
steckt. Ein Deich ist eben nicht nur aufgeschüttete Erde. Die
wenigsten vermuten im Erdwall eine massive Wand oder
eine Bewehrung. Und Wasserbau ist vielfältig. Die Kanal-
planung gehört beispielsweise genauso dazu wie die Renatu-
rierung. Wie Flüsse genau renaturiert werden, will ich unbe-
dingt wissen. Deshalb bleibe ich dem Wasserbau auf jeden
Fall treu.
Lara Dannmeyer studiert im ersten Mastersemester
Bauingenieurwesen an der Hochschule Wismar
Die Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart ist mit
ca. 900 Studierenden der Kunst, der Architektur, des Designs und der
Kunstwissenschaften-Restaurierung die größte Kunsthochschule des
Landes Baden-Württemberg. An der ABK Stuttgart ist in der Fachgruppe
Design in der Klasse für Industrial Design bei Prof. Aylin Langreuter /
Prof. Christophe de la Fontaine zum nächstmöglichen Zeitpunkt die
Stelle einer/eines
Akademischen Mitarbeiterin/Mitarbeiters
Teilzeit 75 %, EG 13 TV-L
zu besetzen. Diese Qualifizierungsstelle im Bereich Lehre erfolgt im
befristeten Beschäftigtenverhältnis mit einem Umfang von 75 % und für
die Dauer von drei Jahren. Sie kann unter bestimmten Voraussetzungen
um weitere drei Jahre verlängert werden.
Aufgabenbereich:
Der Aufgabenbereich umfasst die Mitwirkung bei der Vorbereitung und
Durchführung von eigenen Lehrveranstaltungen, Korrekturen, Projekt-
und Seminararbeiten im Bereich Industrial Design sowie bei Verwal-
tungsangelegenheiten innerhalb des Lehrbetriebs.
Einstellungsvoraussetzungen:
Einstellungsvoraussetzungen sind ein qualifizierter Hochschulabschluss
im Fachgebiet Industrial Design, sowie besondere Leistungen in der be-
ruflichen Praxis. Erwartet wird insbesondere ein tiefgehendes Verständnis
und Interesse für die Prozesse des Industrial Designs mit fachrichtungs-
übergreifenden Kenntnissen. Von Vorteil wäre darüber hinaus eine hand-
werkliche Berufsausbildung.
Wir bieten:
• Abwechslungsreiche und verantwortungsvolle Aufgaben
• Freundliches Betriebsklima sowie motivierte Kolleginnen und Kollegen
• Vergütung nach E13 TV-L bei Vorliegen der tarifvertraglichen Voraus-
setzungen und eine Zusatzversorgung (VBL)
• Weiterbildung und Neues lernen liegen in unserer Natur – daher fördern
wir jede/n unserer Mitarbeiter/innen gezielt und individuell
• Flexible Arbeitszeitgestaltung und Möglichkeit zum mobilen Arbeiten
• Sehr gute Anbindung an den ÖPNV und ein Jobticket
Menschen mit einer Schwerbehinderung werden bei entsprechender
Eignung bevorzugt eingestellt.
Elektronische Bewerbungen (ein Gesamt-PDF von maximal 10 MB) mit
Motivationsschreiben, Qualifizierungsvorhaben, Lebenslauf, Zeugnissen
und ausgewählten Arbeitsproben werden bis spätestens 1. Februar 2023
über unser Online-Bewerbungsportal erbeten.
Informationen unter: www.abk-stuttgart.de
Stellenausschreibung
Referenz-Nr.: 120/2022
Die Hochschule Magdeburg-Stendal ist mit ca. 5.500 Studierenden und mehr als
500 Beschäftigten eine mittelgroße Hochschule im Herzen Sachsen-Anhalts. Unsere
Standorte in Magdeburg als frühere Kaiserresidenz und heutige Landeshauptstadt
sowie in der Altmarkstadt Stendal als Hauptstadt der Backsteingotik und Geburtsstadt
Winckelmanns waren seit jeher bekannt für ihre kreative Sphäre und bieten auch heute
beste Studien-, Arbeits- und Lebensbedingungen. In einem interdisziplinären Umfeld
von ingenieur-, wirtschafts-, gesundheits- und humanwissenschaftlichen Fächern halten
wir moderne und innovative Studienangebote vor und leben eine hohe Qualitätskultur,
die im Leitbild verankert ist.
An der Hochschule Magdeburg-Stendal ist am Standort Magdeburg im Fachbereich
Soziale Arbeit, Gesundheit und Medienzum nächstmöglichen Zeitpunkt eine
:: W2-Vertretungsprofessur für
Gesundheitswissenschaften
mit dem Schwerpunkt Theorie und Methoden
der Gesundheitsförderung
Nähere Informationen zu dem Stellenangebot finden Sie auf der Internetseite der
Hochschule Magdeburg-Stendal unter:
www.h2.de
An der Hochschule Niederrhein ist im Fachbereich Wirtschafts-
wissenschaften am Standort Mönchengladbach zum nächst-
möglichen Zeitpunkt folgende Professur zu besetzen:
Sales & Marketing
Bes.-Gr. W 2 LBesO W
Die Hochschule Niederrhein ist eine der größten und leistungsfähigsten
Hochschulen für angewandte Wissenschaften Deutschlands. Wir eröffnen
Perspektiven: Mit einer zukunftsfähigen akademischen Ausbildung und einer
problem- und transferorientierten Forschung schaffen wir die Grundlage dafür,
dass unsere Absolventinnen und Absolventen auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind.
www.hs-niederrhein.de/P-08-1_2023
39
Gut zu wissen
Fach und Studium: Wasserbau wird als Teilgebiet des Bau-
ingenieurwesens gelehrt. Er umfasst alle technischen Ein-
griffe und Bauten an Seen, Bächen, Flüssen, Küsten und im
Meer. Studieren kann man Bauingenieurwesen in Vollzeit
oder dual auf Bachelor und Master an Hochschulen für
Angewandte Wissenschaften und Unis. Die Vertiefungs-
angebote der Hochschulen liefern die Details.
Tätigkeitsfelder: Ingenieur- und Planungsbüros, Baufirmen,
Hafengesellschaften und Talsperrenbetriebe benötigen Ex-
pertise im Wasserbau genauso wie Kommunen, Ministerien
und die Wissenschaft. Auch wenn Stellen speziell in der
Forschung rar sind, in der Wirtschaft und im öffentlichen
Dienst sind die Berufschancen sehr gut.
Im Fachbereich Medizintechnik und Technomathematik an
der FH Aachen ist am Campus Jülich folgende Professur
zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu besetzen
Professur „Data Science und
Statistik“
(Kennziffer: P-09-664)
Ihre Aufgaben
• selbstständige, engagierte Vertretung des Lehr- und
Forschungsgebietes der „Angewandte Mathematik und
Informatik“-Studiengänge des Fachbereichs, auch in eng-
lischer Sprache, an verschiedenen Veranstaltungsorten,
wie z. B. Stochastik, Datenanalyse, statistische Modellie-
rung, Zeitreihen und heuristische Optimierungsmethoden
• Durchführung von Grundlagenveranstaltungen der
Mathematik
• Betreuen von Seminar-, Bachelor-, Master- und koopera-
tiven Doktorarbeiten
• Forschen und Einwerben von Drittmitteln sowie Koope-
ration mit angrenzenden Bereichen
• Unterstützen des Aufbaus und der Vertiefung von (inter-
nationalen) Kooperationen zwischen der FH Aachen und
Forschungseinrichtungen, industriellen Partnern und
anderen Hochschulen
• Mitarbeit in der akademischen Selbstverwaltung
• Mitwirkung an der Weiterentwicklung der Studiengänge
und des Weiterbildungsangebots des Fachbereichs
Ihr Profil
• abgeschlossenes Hochschulstudium der Mathematik und
einschlägige Promotion
• fundierte Kenntnisse in Mathematik und Informatik, ins-
besondere in
○ Statistik mit Anwendungen in Data Science
○ Heuristischen Optimierungsmethoden
• möglichst einschlägige Erfahrung aus Dozierendentätig-
keit
• adäquate Deutsch- und Englischkenntnisse
• Erfüllung der Voraussetzungen gemäß § 36 Hochschul-
gesetz NRW
Wir bieten Ihnen
• die Möglichkeit, an einer forschungsstarken Fachhoch-
schule Ihr Lehrgebiet weiter zu entwickeln
• unmittelbare Nähe zum Forschungszentrum Jülich
• einen hohen Vernetzungsgrad mit Unternehmen und
wissenschaftlichen Einrichtungen
• hochschuldidaktische Unterstützung beim Einstieg in die
Lehre von Anfang an
• vielfältige Angebote, um die Herausforderungen bei der
Vereinbarkeit von Beruf und Ihrer persönlichen Lebens-
situation zu meistern
• eine unbefristete W2-Professur mit der Möglichkeit der
Einstellung in ein Beamtenverhältnis beim Vorliegen der
rechtlichen Voraussetzungen
Ansprechpartnerin: Prof.in Dr. Melanie Hollstein,
Tel. 0241 6009-53852
Wir haben Ihr Interesse geweckt?
Dann freuen wir uns auf Ihre Bewerbung bis zum
12. März 2023 über unser Online-Bewerbungsportal auf
der Internetseite der FH Aachen unter folgendem Link:
fhac.de/stellen. Dort erfolgt durch Sie die Eingabe Ihrer für
die Bearbeitung relevanten persönlichen Daten und das
Hochladen der erforderlichen Belege wie Nachweise von
(Hochschul-)Abschlüssen, für Lehrerfahrungen, Arbeits-
zeugnissen / Tätigkeitsnachweisen etc.
Die Bewerbung geeigneter Schwerbehinderter ist er-
wünscht. Die FH Aachen beabsichtigt, den Anteil von
Zertifikat seit 2009 Frauen in Lehre und Forschung zu erhöhen, Bewerbungen
von Frauen sind daher besonders willkommen.
Die Technische Universität Braunschweig besetzt am Institut für Hochfre-
quenztechnik der Fakultät für Elektrotechnik, Informationstechnik, Physik
zum 01.10.2023 eine
W3-Universitätsprofessur (m/w/d) für
„Photonische Systeme und Technologien“
Die zu berufende Person vertritt kompetent das Fachgebiet „Photonische
Systeme und Technologien“. Sie befasst sich mit der Erforschung innovativer
photonischer Applikationen u. a. in Bereichen der Lebenswissenschaften, der
quantenbasierten IT-Anwendungen wie auch in Bereichen der wissenschaft-
lichen Grundlagenforschung und kann entsprechende Erfolge auf mindestens
zwei der nachfolgenden Gebiete nachweisen:
• Photonische Applikationen in Biologie und Biomedizin
• Photonisch basierte Quantensensorik, Quantenkommunikation und
Quantensignalverarbeitung
• Photonische Materialien für die integrierte Photonik
• Mikrowellen- und Terahertz-Photonik auf Chipebene
Kontakt und vollständige Stellenausschreibung:
https://www.tu-braunschweig.de/stellenmarkt
Bitte senden Sie Ihre Bewerbung bis zum 20.02.2023 ausschließlich über das
Online-Formular der TU Braunschweig.
40
Die Zahl
72 %
der 20- bis 70-jährigen
Ukraine-Flüchtlinge
hierzulande haben den
Hochschulabschluss
Quelle: Inst. f. Arbeitsmarkt- u. Berufsforschung
Mannheim University of Applied Sciences
Zum Wintersemester 2023/24 oder später ist in der Fakultät für
Informatik folgende Stelle zu besetzen:
Professur „Frontendentwicklung
(Web + mobil)“
Bes.-Gr. W2 (Stellen-Nr. 829)
Ihre Aufgaben
Sie unterstützen die Fakultät für Informatik dabei, den Bereich
Frontendentwicklung zu stärken und bauen entsprechende
Kooperationen innerhalb und außerhalb der Hochschule auf.
Ihr Aufgabenspektrum erstreckt sich auf die Lehre, die
Betreuung der Studierenden sowie die anwendungsorientierte
Forschung. Sie bringen die Bereitschaft mit, Grundlagen-
themen der Informatik in der Lehre zu vertreten und sind in
der Lage, Lehrveranstaltungen in deutscher und englischer
Sprache anzubieten. Darüber hinaus unterstützen Sie uns
durch Ihre aktive Mitwirkung in der akademischen Selbst-
verwaltung.
Was wir bieten
Sie erwarten spannende, anspruchsvolle Aufgaben mit
vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten und kreativem Freiraum.
Wir sind eine teamorientierte, interdisziplinär und international
arbeitende Fakultät mit 25 Professorinnen und Professoren.
Unsere Arbeitsatmosphäre ist kollegial, wobei wir auf moderne
und ganzheitliche Lehrmethoden und ein attraktives Angebot
für unsere Studierenden mit intensiver Betreuung und
Förderung setzen.
Das bringen Sie mit
Sie haben einen Hochschulabschluss in Informatik oder einer
ähnlichen Fachrichtung. Auf dem Gebiet der Frontend-
entwicklung haben Sie mehrere Jahre in der Praxis und der
Forschung gearbeitet und beherrschen die einschlägigen
Frameworks, Methoden und Werkzeuge dieser Domäne.
Ein internationales Umfeld ist Ihnen vertraut und Sie können
sicher auf Englisch kommunizieren.
Spezielle Expertise haben Sie in einem oder mehreren der
folgenden Bereiche:
• Konzeption von Web- und mobilen Anwendungen
• Cross-Platform-Entwicklung, hybride und native Apps
• Aktuelle Technologien, Frameworks und Programmier-
sprachen im Bereich Frontendentwicklung
• Usability, UX-Design und GUI Design
Von Vorteil sind zudem Erfahrungen in
• Barrierefreiheit/Accessibility,
• nutzerzentrierter Entwicklungsmethodik.
Fachliche Rückfragen zu der ausgeschriebenen Position
beantwortet Ihnen gerne die Vorsitzende der Berufungs-
kommission Prof. Dr. Miriam Föller-Nord,
m.foeller@hs-mannheim.de.
Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie auf unserer
Homepage unter https://karriere.hs-mannheim.de/k1rhv.
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung bis 24.02.2023 über unser
Online-Bewerbungsportal.
Als einzige staatliche Fernuniversität haben wir seit über 40 Jahren Erfahrung mit
lebenslangem Lernen. Unsere Studierenden nutzen flexible Studienmöglichkeiten
auf Basis eines Blended-Learning-Studienmodells. An fünf Fakultäten erzielen
wir fachbezogene und fachübergreifende zukunftsweisende Forschungsergebnisse.
Zu unserem Selbstverständnis gehören interdisziplinäre Kooperation, die Förderung
des wissenschaftlichen Nachwuchses und die Berücksichtigung genderspezifischer
Aspekte in Forschung und Lehre.
In der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften besetzen wir ab dem
1. März 2024 die
Universitätsprofessur – W 3
für Theoretische Philosophie
Wir suchen eine Persönlichkeit, die in den Disziplinen der Theoretischen Philosophie
historisch wie systematisch möglichst breit ausgewiesen ist. Erwartet werden
systematische Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Erkenntnistheorie,
Wissenschaftstheorie und Ontologie/Metaphysik sowie eine historische Forschungs-
perspektive. Erfolg bei der Einwerbung von Drittmitteln ist erwünscht.
In der Lehre soll die Theoretische Philosophie in ihrer ganzen Breite sowohl in
historischer als auch in systematischer Hinsicht (inkl. Logik) vertreten werden.
Gefordert ist die Mitarbeit in der Lehre und in der curricularen Weiterentwicklung
innerhalb des B.A.-Studiengangs „Kulturwissenschaften mit Fachschwerpunkt
Philosophie“ und des M.A.-Studiengangs „Philosophie – Philosophie im euro-
päischen Kontext“.
Die Lehre an der FernUniversität ist eingebettet in multimediale Lehr-Lern-
Umgebungen. Erwartet wird die Beteiligung an der Entwicklung und der Durch-
führung netzgestützter Lehre im Rahmen der universitären Qualitätsstandards.
Erfahrung mit digitaler Lehre ist deshalb erwünscht.
Einstellungsvoraussetzung sind wissenschaftliche Leistungen gemäß § 36 Hoch-
schulgesetz NRW. Gesundheits- und familienorientierte Aspekte sind in unserer
Personalkultur wichtig. Wir bieten ausgezeichnete Personal- und Sachausstat-
tung sowie Unterstützung für Sie und Ihr Team durch die verschiedenen Bereiche
der Universität.
Wenn wir Ihr Interesse geweckt haben und Sie diesem Profil entsprechen,
dann freuen wir uns über Ihre Bewerbung mit den üblichen Unterlagen an
die Rektorin der FernUniversität in Hagen, 58084 Hagen oder per E-Mail an
berufungen@fernuni-hagen.de.
Auskunft erteilt: Prof. Dr. Thomas Bedorf, Tel. 02331/987-2740
E-Mail: thomas.bedorf@fernuni-hagen.de
Die Bewerbungsfrist endet am 12. Februar 2023 (Eingang an der FernUniversität
in Hagen).
Wir wollen die Anzahl der Frauen in Forschung und Lehre deutlich erhöhen
und fordern daher qualifizierte Wissenschaftlerinnen zur Bewerbung auf. Frauen
werden nach Maßgabe des Landesgleichstellungsgesetzes NRW bevorzugt
berücksichtigt.
Bewerbungen schwerbehinderter und gleichgestellter Personen sind erwünscht.
Mit Ihrer Bewerbung an die o.a. E-Mail-Adresse willigen Sie ein, dass Ihre
Bewerbungsunterlagen zum Zwecke des Berufungsverfahrens verarbeitet,
gespeichert und verwendet werden.
STELLENMARKT 29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
3½ Fragen an: Sabine Rohrmann
1.
Was brauchen Sie heute im Beruf,
was Sie im Studium nicht gelernt haben?
Zum einen die sogenannten Soft Skills, von
2.
Was hat Sie während eines akademischen
Auslandsaufenthalts besonders beeindruckt?
Als Postdoc war ich an der Johns Hopkins
3.
Lektüre muss sein. Welche?
Querbeet! Ich muss immer ausreichend
Bücher neben dem Bett liegen haben und kann
3½.
Und sonst so?
Nach zwei Jahren Zoom ist es
schön, wieder beim Konferenz-
denen oft erwartet wird, dass sie mit der
Arbeitserfahrung kommen, wenn man in eine
School of Public Health in Baltimore.
Ich war überrascht, wie unkompliziert und
an (fast) keiner Buchhandlung vorbeigehen.
Derzeit interessieren mich unter anderem:
dinner mit Kolleginnen Bier zu
trinken. Aber auf Flugreisen für
Führungsposition gelangt: ein Team leiten,
Projektplanung, Finanzen et cetera. Zum
problemlos dort die Zusammenarbeit zwischen
Epidemiologen und Ärztinnen war. Diese
Petros Markaris, Verschwörung; Mary Beard,
Zwölf Cäsaren; Eva Menasse, Dunkelblum;
30-Minuten-Vorträge kann ich
weiterhin gut verzichten.
anderen den Austausch mit anderen Disziplinen.
Wir benutzen zwar alle die gleichen Wörter,
Offenheit hat mich sehr beeindruckt.
In Deutschland gab es zu der Zeit noch
Hans Rosling, Factfulness.
diese können aber in verschiedenen Disziplinen viel mehr Berührungsängste, und die
Sabine Rohrmann, 52, ist Professorin
sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Zusammenarbeit war sehr viel stärker von für Epidemiologie und Leiterin
Das macht zwar die Arbeit spannend, Hierarchiedenken geprägt. des Krebsregisters Zürich, Zug,
doch es erfordert gegenseitiges Verständnis. Schaff hausen und Schwyz
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter ZEIT WISSEN³ unter www.zeit.de/wissendrei
Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik
W3-Professur für „Nachrichtentechnik und
Signalverarbeitung“ (m/w/d)
Befristung: Beginn:
Verbeamtung auf Lebenszeit zum nächstmöglichen Zeitpunkt
Umfang: Besoldung:
Vollzeit W 3 LBesO
Die Technische Universität Kaiserslautern und der Campus Landau der Universität Koblenz-
Landau wachsen zu der neuen Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität (RPTU) zu-
sammen. Wir suchen Sie, um den Start unserer neuen Universität im Jahr 2023 am Standort
in Kaiserslautern schon heute mitzugestalten.
Die Technische Universität Kaiserslautern (TUK) ist eine technisch-naturwissenschaftlich
ausgerichtete Forschungsuniversität mit internationaler Sichtbarkeit. In der Grundlagenfor-
schung ist sie insbesondere in sechs Sonderforschungsbereichen und Transregio-SFBs
aktiv. Wichtige Themenbereiche der anwendungsorientierten Forschung werden in enger
Kooperation mit den zehn Forschungsinstituten am Standort bearbeitet. Die TUK ist eine
Campus-Universität mit kurzen Wegen und einem partnerschaftlichen Miteinander.
Die TUK steht für die Vielfalt aller Beschäftigten. Wir begrüßen Bewerbungen von allen
Interessierten, unabhängig von deren ethnischer und sozialer Herkunft, Alter, Religion, Ge-
schlecht, Behinderung und sexueller Orientierung oder Identität. Personen mit Schwerbe-
hinderung werden bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt (bitte Nachweis hinzufügen).
Die TUK strebt in Bereichen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, eine Erhöhung des
Frauenanteils an. Bewerbungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem
Ausland sind ausdrücklich erwünscht.
Wir suchen:
Die Stelleninhaberin oder der Stelleninhaber soll das Fachgebiet in Forschung und Lehre
vertreten. Die Ausschreibung ist bewusst breit gestaltet, um auch neuste Forschungsgebiete
und übergreifende Themen mit abzudecken. Von der Bewerberin oder dem Bewerber werden
herausragende wissenschaftliche Expertise und belegte Forschungstätigkeit in beispielsweise
einem der folgenden Forschungsgebiete erwartet:
l Grundlagen und neue Technologien der Nachrichtentechnik und Signalverarbeitung
l Grundlagen und Einsatz der Hochfrequenztechnik in Nachrichtentechnik und Signalverar-
beitung
l Security- und Resilienzkonzepte in der Nachrichtentechnik (zum Beispiel Netzwerk-
security, Cybersecurity)
l Verfahren und Anwendungen der Quantenkommunikation und -sensorik
l Intelligente Verfahren der Nachrichtentechnik und Signalverarbeitung unter Nutzung von
Künstlicher Intelligenz (zum Beispiel „Computer Vision“)
l Verfahren der Nachrichtentechnik und Signalverarbeitung unter besonderer Berücksichti-
gung von Nachhaltigkeitsaspekten (zum Beispiel „Green ICT“ oder energieeffiziente
Signalverarbeitung)
Bewerberinnen oder Bewerber mit anderen Forschungsgebieten im Bereich Nachrichtentech-
nik und Signalverarbeitung werden ebenfalls zur Bewerbung aufgefordert. Alle Bewerberinnen
oder Bewerber werden gebeten, eine kurze Darstellung der Bedeutung und des Entwicklungs-
potentials ihres geplanten Forschungsschwerpunkts mit der Bewerbung einzureichen.
Gesucht wird eine in zumindest einem der oben genannten Themenfeldern durch Grundla-
genforschung oder durch nachweisbare anwendungs- bzw. industrienahe Forschung her-
vorragend ausgewiesene Persönlichkeit. Neben einer einschlägigen wissenschaftlichen
Qualifikation wird die Bereitschaft zu einer Beteiligung an Forschungskooperationen und
erhebliche Drittmitteleinwerbung erwartet.
Von den Bewerberinnen und Bewerbern werden neben entsprechender wissenschaftlicher
Qualifikation besondere didaktische Fähigkeiten und Erfahrung in der Lehre erwartet. Be-
werberinnen und Bewerber sollen in hohem Maße Interesse an innovativen Lehrformen und
der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fachgebiete des Fachbereichs
EIT, anderer Fachbereiche und außeruniversitärer Forschungsinstitute in der Region haben.
Bewerberinnen oder Bewerber müssen bereit und qualifiziert sein, Lehre im Bereich Nach-
richtentechnik und Signalverarbeitung durchzuführen.
Unser Anforderungsprofil:
Das Land Rheinland-Pfalz und die Technische Universität Kaiserslautern vertreten ein
Betreuungskonzept, bei dem eine hohe Präsenz der Lehrenden am Hochschulort erwartet
wird. Neben den allgemeinen dienstrechtlichen Voraussetzungen gelten die in § 49 des
Hochschulgesetzes Rheinland-Pfalz geregelten Einstellungsvoraussetzungen.
Ihre Bewerbung:
Wir freuen uns über Ihre aussagekräftige Bewerbung bis spätestens 28.02.2023. Bitte
reichen Sie Ihre Bewerbung über den unten stehenden Button „Online Bewerbung“ bzw.
über unser Bewerbungsportal (https://jobs.uni-kl.de) ein. Für fachliche Fragen steht Herr
Prof. Dr.-Ing. Hans D. Schotten unter der E-Mailadresse schotten@eit.uni-kl.de bzw. der
Telefonnummer 0631 205 3595 zur Verfügung. Für allgemeine Fragen steht das Dekanat
des Fachbereiches Elektrotechnik und Informationstechnik unter der E-Mailadresse An der STAATLICHEN HOCHSCHULE FÜR MUSIK UND
dekanat@eit.uni-kl.de bzw. der Telefonnummer 0631 205 2076 zur Verfügung. DARSTELLENDE KUNST MANNHEIM ist frühestens zum
Herbstsemester 2023/24 folgende Stelle zu besetzen:
Professur (w, m, d) W3 für Schlagzeug
(Nachfolge Prof. Kuhn)
Gesucht wird eine höchstqualifizierte künstlerische Persönlichkeit
mit langjähriger Praxis in Orchester- und Solospiel sowie in der
Kammermusik und mit umfangreicher pädagogischer Erfahrung,
womöglich im Hochschulbereich. Zu Ihren Aufgaben gehört u.a.
der Unterricht im Hauptfach einschließlich Orchesterstudien, in
instrumentespezifischer Methodik/Didaktik und in der Kammer-
musik.
Bei der ersten Berufung in ein Professorenamt erfolgt die Ein-
stellung zunächst für drei Jahre auf Probe. Wird das Dienst-
verhältnis nach Fristablauf fortgesetzt, findet kein neues
Berufungsverfahren statt. Die Berufung erfolgt durch den
Präsidenten der Hochschule. Die Hochschule legt besonderen
Wert auf die Bereitschaft zu interdisziplinärer Zusammenarbeit
sowie auf die engagierte Mitarbeit in der Selbstverwaltung. Der
Umfang der Lehrverpflichtung richtet sich nach der LVVO-KHS.
Vollzeitstellen sind grundsätzlich teilbar. Schwerbehinderte
Bewerber werden bei entsprechender Eignung bevorzugt
eingestellt. Frauen werden nachdrücklich zur Bewerbung
aufgefordert. Die Bewerbungsunterlagen müssen Angaben
zum künstlerischen und pädagogischen Werdegang und
Kopien der Urkunden über die Schul- und gegebenenfalls
Hochschulabschlüsse enthalten (eine Rücksendung erfolgt nicht).
Fach
hbereiich
hsgesch
häfftsffüh
hrung im Dek
kanat am Bei der Bewerbung um eine Professur ist auch die Zusendung von
zwei auswärtigen Gutachten erforderlich.
Fachbereich Sozialwesen (unbefristet, 100 %,)
Bitte senden Sie die Unterlagen bis zum 15.03.23 sowohl per Mail
Referent für Fachbereichsmarketing als auch per Post an die Staatliche Hochschule für Musik
und Darstellende Kunst Mannheim, Präsidium, N 7, 18, 68161
und Öffentlichkeitsarbeit (w/m/d) am Mannheim, praesidium@muho-mannheim.de.
Fachbereich Sozialwesen (befristet, 75 %)
Weitere Informationen finden Sie auf der Homepage der FH Münster:
www.fh-muenster.de/stellen
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Wir suchen zum nächstmöglichen
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Professor:in (W2)
für das Lehrgebiet „Pflegewissenschaft“
(Kennziffer SP-P-2202)
Bewerbungsschluss: 22. Januar 2023
Die vollständige Ausschreibung finden Sie unter:
www.hs-esslingen.de/professuren
jobs.zeit.de
DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022
Young, modern and
research-oriented:
The University of Potsdam
(UP) was founded in 1991 and
has firmly established itself in
the landscape of scholarship
and science. It has also
become an out-standing factor
in regional economics and
development. The University
is highly successful in the
acquisition of external funding,
has received multiple awards
for its teaching, and offers a
service-oriented administration.
About 21,000 students and
3,000 employees work at
three locations – Am Neuen
Palais, Griebnitzsee and Golm –
at one of Germany’s most
beautiful academic institutions.
The hiring process is subject to the requirements set forth in Section 41 subsection 1 no. 1 - 3, 4a and 4c of the Brandenburg
Higher Education Act (BbgHG). The appointment procedure is conducted in accordance with Section 40 BbgHG.
https://www.uni-potsdam.de/verwaltung/dezernat3/stellen/
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*Bitte folgende Bestellnummer angeben: 2105726 FA / 2105727 GA
STELLENMARKT
© K. Fritze
The University of Potsdam, Faculty of Economics and Social
Sciences, invites applications for the following professorship to be filled
as soon as possible:
Full Professorship (W3)
in Business Administration, especially Finance
This professorship will conduct research and offer instruction in the business area of
finance. Candidates are expected to have a track record of excellent research in finance in
accordance with internationally recognized methodological standards, as evidenced by
regular publications in recognized international and national scientific journals. Applicants
shall have excellent skills in empirical research methods and profound experience in their
application. A willingness to cooperate within the Faculty of Economics and Social Sciences is
expressly requested, as well as an active role in attracting external research funding.
An outstanding dedication to teaching is required. The professorship offers courses in the
Faculty’s relevant bachelor’s and master’s degree programs. Candidates must be able and
willing to teach in both German and English. Active participation in academic self-government
is expected.
The University of Potsdam is a member of the “Berlin Doctoral Program in Economics and
Management Science” (BSE/BDPEMS, https://bdpems.wiwi.hu-berlin.de/portal/). We expect
willingness to actively participate in this doctoral program. The Faculty of Economics and
Social Sciences has interdisciplinary and interinstitutional research facilities in the “Potsdam
Center for Quantitative Research” (PCQR, https://www.uni-potsdam.de/pcqr/) and the
“Center for Economic Policy Analysis” (CEPA, https://www.uni-potsdam.de/cepa/). There are
plans to create another focus in the field of sustainable development.
For further information, please contact Prof. Dr. Eric Kearney (kearney@uni-potsdam.de).
Please submit your application (including a research and teaching concept for this
professorship, curriculum vitae, copies of academic certificates and documents,
list of publications, list of courses taught, list of externally funded projects as well
as the three publications most relevant to this position and teaching evaluations for
the three courses taught that were most relevant to this position) via e-mail to
ausschreibungen@uni-potsdam.de (in a single PDF file) by January 31, 2023.
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Oft verschwinden diese aber auch wieder,
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ZEIT STELLENMARKT
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Wir beraten Sie gern. © K. Fritze
Young, modern and The University of Potsdam, Faculty of Science
research-oriented: invites applications for the following position
to be filled as soon as possible:
The University of Potsdam (UP)
was founded in 1991 and has
Full Professorship (W3) AI in the
firmly established itself in the
landscape of scholarship and Sciences
We are looking for an internationally recognized researcher
science. It has also become
an outstanding factor in with an outstanding track record in one or more areas
of Artificial Intelligence and Machine Learning, such
regional economics and
as: analysis of high-dimensional time series data; data
development. The University integration; computational models; visualization. A
is highly successful in the focus on applications in the natural and/or cognitive
sciences is highly desirable.
acquisition of external funding,
has received multiple awards The future chair holder is expected to cooperate with
the university’s collaborative research center Data
for its teaching, and offers a
Assimilation (www.sfb1294.de) and with our research
service-oriented administration. groups and institutes in the fields of cognitive sciences,
About 21,000 students and environmental sciences, and biodiversity research.
3,000 employees work at We expect an excellent publication record, extensive
three locations – Am Neuen experience in the acquisition and implementation of
Palais, Griebnitzsee and Golm third party-funded projects, as well as familiarity with
academic self-administration. Teaching opportunities are
– at one of Germany’s most
available at the undergraduate and graduate level.
beautiful academic institutions.
For further information, please contact Prof. Dr. Ralf
Metzler (ralf.metzler@uni-potsdam.de)
Please submit your application (including a presentation
of your research interests, curriculum vitae, copies
of academic certificates and documents, list of
publications, list of courses taught, teaching evaluations,
Die Jobchancen list of externally funded projects) via e-mail to
ausschreibungen@uni-potsdam.de (in a single PDF file)
gehen Ihnen by January 31, 2023.
nicht aus
The hiring process is subject to the requirements set forth in Section 41
of the Brandenburg Higher Education Act (BbgHG).
The appointment procedure will be conducted in accordance with Section 40 BbgHG.
Weitere Jobs
finden Sie auf
For more information:
https://www.uni-potsdam.de/verwaltung/dezernat3/stellen/
The Technical University of Munich (TUM) is setting up a new innova-
tive Center for Informatics at the TUM Campus Heilbronn. A total of 9
professorships in the fields of theoretical, practical and technical computer
science, endowed by the Dieter Schwarz Foundation, are to be estab-
lished.
The TUM herewith invites applications for the position of
Professor
in » Software Engineering «
to begin as soon as possible. The position is a W2 fixed-term position (6
years) with tenure track option to a tenured W3 position (Associate Pro-
fessor) or a tenured W3 (Associate or Full) position.
Scientific Environment
The Heilbronn region is a strong and successful high-tech region in Eu-
rope with many cooperation opportunities and a wide variety of educa-
tional institutions. The professorship belongs to the TUM School of Com-
putation, Information and Technology (CIT), Department of Computer
Science, and will be part of the TUM Campus Heilbronn, a new vibrant
center for research and teaching. With the Center for Digital Transfor-
mation and the Global Center for Family Enterprise of the TUM School of
Management, TUM Campus Heilbronn provides a multitude of possibilities
for scientific collaborations in the areas of management, engineering and
digital transformation. The new Center for Informatics complements the
TUM Campus Heilbronn with a digital profile and bridges the divide be-
tween management and digitalization. Its focus will be in information
engineering – a key component in the digital transformation of companies.
Responsibilities
The responsibilities include research and teaching as well as the promo-
tion of early-career scientists in the full spectrum of Informatics.
We seek to appoint an expert in the research area of Software Engineer-
ing with a focus on activities, artifacts, processes, tools, and data for
engineering software-intensive systems. The teaching load includes
courses in the university’s bachelor’s and master’s programs. The suc-
cessful candidate will also participate in building up and shaping the
profile of the new Center for Informatics as well as establish new study
programs at the TUM Campus Heilbronn.
Qualifications
We are looking for candidates who have demonstrated excellent
achievements in research and teaching in an internationally recognized
scientific environment, relative to the relevant career level (please see
30 %
www.tum.de/en/faculty-recruiting-faq/ for further information).
A university degree and an outstanding doctoral degree or equivalent
scientific qualification, as well as pedagogical aptitude, are prerequisites.
sparen
Substantial research experience abroad is expected.
Our Offer
Based on the best international standards and transparent performance
criteria, TUM offers a merit-based academic career path for tenure track
+ Gesc
Geschenk faculty from Assistant Professor through a permanent position as Associ-
sicherrn! ate Professor, and on to Full Professor. The regulations of the TUM
Faculty Recruitment and Career System apply. TUM provides excellent
working conditions in a lively scientific community, embedded in the
vibrant research environment of the Campus Heilbronn. The TUM envi-
ronment is multicultural, with English serving as a common interface for
scientific interaction.
The TUM Munich Dual Career Office (MDCO) provides tailored career
consulting to the partners of newly appointed professors. The MDCO
10 € Thalia-Gutschein assists the relocation and integration of new professors, their partners and
accompanying family members.
Füllfederhalter Your Application
von Cerruti TUM is an equal opportunity employer and explicitly encourages applica-
tions from women. Applications from disabled persons with essentially the
same qualifications as other candidates will be given preference.
Application documents should be submitted in accordance with TUM’s
application guidelines for professors. These guidelines and detailed infor-
mation about the TUM Faculty Recruitment and Career System are avail-
040/42 23 70 70*
able at www.tum.de/faculty-recruiting. Here you will also find TUM’s
information on collecting and processing personal data as part of the
application process.
Please send your application no later than January 31, 2023 to the Dean
of the TUM School of CIT, Prof. Dr. Hans-Joachim Bungartz, Email
address for applications: recruitment@cs.cit.tum.de.
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H I E R AU S R E I S S E N!
A B E N T E U E R
Diese zehn Spielen für den
Kinder und Artenschutz
Jugendlichen Jackson, 15 Jahre,
erfindet ein Kartenspiel
haben 2022 zu bedrohten Tieren
etwas echt Für Sammelkarten geben viele Kinder
Starkes getan – eine Menge Geld aus, das weiß der
15-jährige Jackson aus Hampshire in
und die Welt ein England sehr gut. Er hat früher selbst
Pokémon- und Fußballkarten ge-
bisschen besser, sammelt. Könnte man die Zeit und
gerechter und das Geld nicht auch anders nutzen,
zum Beispiel um Tiere zu schützen?
lustiger gemacht Das fragt Jackson sich vor einigen
Jahren. 2018 hat er die Idee zu einem
VON MARIE- Kartenspiel, bei dem Kindern auf
CHARLOTTE MAAS spaßige Art Fakten über Tiere und
ihre Lebensräume vermittelt werden
und sie außerdem lernen, wie man
diese schützen kann. In diesem Jahr
wird aus seiner Idee ein echtes Spiel.
Seine ganze Familie hilft ihm dabei:
GUCK MAL, WAS DIE KÖNNEN
Seine Mutter Emma übernimmt die
Gestaltung, sein Vater Gavin unter-
stützt bei organisatorischen Fragen,
und sein jüngerer Bruder Ellis wird
zum Testspieler ernannt. Um die
Produktion des Spiels bezahlen zu
können, sammelt Jackson im Internet
Geld. Mittlerweile kann man es über
die Website der Umweltschutzorga-
nisation WWF kaufen. Alle Ein-
nahmen gehen, das ist für Jackson
selbstverständlich, an Tierschutz-
Projekte.
Rekord über
den Wolken
Mack, 17 Jahre,
f liegt allein um die Welt
Was tut man, wenn man einen Papa
hat, der Pilot ist? Mack aus Belgien
jedenfalls verbringt schon als Kind
Hunderte von Stunden neben seinem
Vater im Cockpit eines Flugzeugs. Als
Mack 15 Jahre alt wird, macht er
seinen eigenen Flugschein. Kurz da-
rauf setzt er sich ganz allein in einen
Flieger und überquert zweimal den
Atlantik. Doch das ist Mack nicht
genug. Sein Papa scheint eine Art
Piloten-Fieber an seine Kinder wei-
tergegeben zu haben. Auch Macks
ältere Schwester Zara fliegt leiden-
schaftlich gern. Und nachdem sie
einmal die Welt umrundet hat, will
ihr kleiner Bruder das auch.
Über den Wolken, sagt Mack,
fühlt er sich unvergleichlich frei. Am
23. März startet er in sein bisher
größtes Abenteuer: Von der bulgari-
schen Hauptstadt Sofia aus fliegt er
über Italien, Griechenland, Ägypten,
den Sudan und Kenia, weiter über
Madagaskar, Indien, Thailand und
Japan, schließlich über die USA nach
Großbritannien, Belgien und die
Slowakei zurück nach Bulgarien.
Dort landet er am 24. August in
Sofia, wo seine Reise fast auf den Tag
genau fünf Monate zuvor begann. In
52 Orten auf fünf Kontinenten hat
Mack einen Zwischenstopp eingelegt
und gleich noch einen Rekord auf-
gestellt: Er ist mit 17 Jahren der
jüngste Mensch, der jemals allein um
die Welt geflogen ist.
POST VON ZEIT LEO
An diesem Freitag, pünktlich zum Jahresende, gibt es unsere
letzte LEO-Post-Ausgabe 2022. In unserem kostenlosen
Newsletter haben wir dieses Mal zwei Rezepte für dich:
Back Glitzerkekse, und schlürf Silvesterpunsch –
und komm gut ins neue Jahr!
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
Ein Lied gegen
die Angst
Amelia, 7 Jahre, singt in einem Bunker in Kiew.
Das Video geht um die Welt
Ende Februar sitzt Amelia mit ihren
Eltern und ihrem Bruder Misha zwischen
fremden Menschen in einem Schutz-
bunker unter der Erde. Immer wieder
fallen Bomben auf Kiew, die Hauptstadt
der Ukraine. Am 24. Februar hat Russ-
land das Land angegriffen. Es ist eng in
dem Schutzraum, die Menschen haben
Angst. Doch plötzlich lächeln sie. Denn
Amelia singt das Lied Let It Go aus dem
Disney-Film Frozen. Für einige wenige
Minuten erleben die Menschen etwas
Gegen
die Fieslinge
Siyavuya, 10 Jahre, schreibt
ein Buch gegen Mobbing
Hänseleien wegen der Kleidung,
gemeine Nachrichten im Klassen-
Chat, Schubsereien auf dem Schul-
hof: Viele Kinder erleben so etwas.
Mobbing sagt man dazu, wenn je-
mand ausgegrenzt und fertiggemacht
wird. Siyavuya aus Johannesburg in
Südafrika ist das zwar nie passiert,
doch sie sieht, wie Mobbing Gleich-
altrige fertigmacht. Deshalb schreibt
die Zehnjährige das Buch Enough!
Stop Bullying – auf Deutsch: »Es
reicht! Beendet Mobbing«. Mit dem
Ratgeber will Siyavuya den Opfern
Tipps geben, wie sie sich wehren
können. Doch sie schreibt auch für
die Eltern der betroffenen Kinder,
für alle, die Mobbing sehen und
nicht einschreiten. Und nicht zuletzt
sollen es auch diejenigen lesen, die
fies zu anderen sind. Kann das hel-
fen? »Man lernt ja auch zu rechnen
und weiß dann, dass eins plus eins
zwei ist«, sagt Siyavuya, »warum soll
man nicht auch lernen können, was
man gegen Mobbing tun kann?!« Am
schlimmsten sei es, zu schweigen,
findet die Schülerin. Ihre Eltern
hätten ihr beigebracht, den Mund
aufzumachen und ihre Meinung zu
sagen. »Sprecht darüber und greift
ein!«, ist Siyavuyas Botschaft. Sie
träumt davon, dass ihr Buch eines
Tages in alle Sprachen der Welt über-
setzt wird.
DER GANZE
ZEIT LEO – DAS MAGAZIN
... erscheint alle sechs Wochen.
F Ü R K I N D E R
Kunstwerk
gegen den Krieg
Andres, 11 Jahre, verkauft Bilder,
um Kindern zu helfen
Abb.: twitter (Video Screenshot); Illustrationen: Johanna Knor für DIE ZEIT
Andres aus San Diego in den USA ist
erst 11 Jahre alt und in der Kunstwelt
schon eine große Nummer. Er durfte
seine Bilder bereits bei der Kunst-
messe Art Miami zeigen und in einer
Galerie in New York ausstellen.
Sammler zahlen mehr als 100.000
Euro für seine Kunstwerke. Manche
nennen Andres den »Mini-Picasso«,
weil seine Malereien an die des
berühmten Künstlers Pablo Picasso
erinnern. Der hat vor vielen Jahren ein
großes Gemälde gegen den Krieg
gemalt, das bringt Andres in diesem
Jahr auf die Idee, auch so ein Kunst-
werk zu schaffen – gegen den Ukraine-
Krieg. Invasion of Ukraine nennt er es,
auf Deutsch: Angriff auf die Ukraine.
Das Originalgemälde hängt in einer
Galerie, doch Andres lässt 550 Drucke
anfertigen, die er signiert und für 900
Euro pro Bild verkauft. Das Geld
spendet er der Stiftung von Wladimir
Klitschko, dem Bürgermeister der
ukrainischen Hauptstadt Kiew. Der
bedankt sich persönlich bei dem jun-
gen Maler. Mit dem Geld will
Klitschko Kindern helfen, denen es
seelisch nicht gut geht.
Schönes in all dem Schrecken – und ap-
plaudieren Amelia.
Das alles kann man im Internet sehen,
denn ein paar Leute haben den Auftritt
Respekt
gefilmt. Der geht um die Welt. Im März
singt Amelia noch einmal – auf einer
erkämpft
Bühne in Polen, wohin sie Anfang März Nir, 12 Jahre, ist Autist und gewinnt
geflohen ist. Mit einem Konzert soll Geld eine Judo-Goldmedaille
für die Ukraine gesammelt werden, und
Amelia singt die Nationalhymne ihrer Nir aus Beer Sheva in Israel ist Autist.
Heimat. Menschen in 50 Ländern schau- Autisten fällt es zum Beispiel schwer,
en vor den Fernsehern zu. zu erkennen, wie es anderen Menschen
geht. Ist jemand traurig oder nach-
denklich? lacht einen jemand an oder
aus? Es ist nicht leicht, richtig zu rea-
gieren, wenn man so etwas nicht ent-
schlüsseln kann. Nir verhält oft sich
seltsam, fanden jedenfalls viele andere
Kinder und machten sich über ihn
lustig. Um sich stark zu fühlen, begann
Nir Judo zu lernen – und wurde richtig
gut. So gut, dass er in diesem Jahr zu
den Special Olympics in die Nieder-
lande reist. Das ist ein Wettbewerb, an
dem nur Sportler mit einer Behinde-
Friedenstauben rung teilnehmen dürfen. 400 Jugend-
liche aus elf Ländern kämpfen um eine
für die Ukraine Medaille – und Nir gewinnt Gold. Auf
dem Siegerfoto schaut er mit einem
Jakob, 10 Jahre, und Jasper, 13 Jahre, kleinen Lächeln in die Kamera. Nir
sammeln mit Postkarten Spenden wollte eigentlich nur lernen, sich zu
verteidigen, sagt er. Nun hat er ein
Die Geschichte der Brüder Jakob und Hobby, in dem er nicht nur besser ist
Jasper aus Kiel beginnt mit der Corona- als seine Mitschüler, sondern so gut
Pandemie. Wie viele andere Kinder in wie kaum jemand sonst. Und er hat
Deutschland können die beiden Jungen eine Mutmach-Geschichte für andere
ihre Großeltern wegen des Kontaktver- Kinder erschaffen.
bots mehrere Wochen lang nicht treffen.
Stattdessen malen sie mit Aquarellfarben
Vögel auf Karten und schicken die ihren
Omas und Opas. Kurz darauf wird da-
raus ein richtiges Unternehmen mit dem
Schutz auf
Namen »Kleine Kieler Karten«: Die
Brüder lassen ihre Vogelbilder profes-
dem Wasser
sionell drucken und verkaufen sie über Vishalini, 7 Jahre, entwickelt ein
einen Online-Shop und einige Geschäf- schwimmendes Haus
te. Jasper ist für die Organisation zu-
ständig, Jakob zeichnet nahezu täglich Für Vishalini aus Sivakasi in Indien
an neuen Motiven. Als Russland den hat das Jahr 2022 gut angefangen:
Krieg gegen die Ukraine beginnt, wollen Sie wurde nämlich vom Premier-
die Brüder helfen. Jakob malt eine Frie- minister ihres Landes im Januar mit
denstaube, und sie beschließen, alle Ein- einem Preis geehrt. Die Siebenjähri-
nahmen aus dem Verkauf dieser Karte ge hat ein drei Meter langes schwim-
an Ärzte ohne Grenzen zu spenden. Die mendes Haus erdacht, das sich bei
Organisation hilft Verwundeten und Überflutungen automatisch aufbläst
Kranken in der Ukraine. Mehrere Hun- und so die Menschen schützt. Visha-
dert Euro haben Jakob und Jasper bisher lini meldet dafür ein Patent an, nun
mit ihrer Friedenspost eingenommen. darf niemand ihre Erfindung einfach
»Wir hoffen, dass es mehr wird«, sagt nachbauen. Als der indische Pre-
Jasper. »In der Ukraine ist noch immer mierminister davon erfährt, schreibt
Krieg. Wir wollen die Menschen dort er über Vishalini auf Twitter und
weiter unterstützen.« überreicht ihr persönlich eine Aus-
KOSMOS
ABENTEUER ANTARKTIS
Die Polarforscherin Stefanie Arndt läutet das neue Jahr auf der Neumayer-
Hier kannst du die aktuelle Station ein. Wie es bei ihr aussieht, kannst du auf www.zeitleo.de
Ausgabe mit deinen Eltern anschauen. Dort kannst du auch nachlesen, was Steffi bisher erlebt hat,
kostenlos testen: und du findest viele Antworten auf Fragen von LEO-Kindern.
www.zeit.de/leogratis Was willst du wissen? Schick deine Forscherfrage an antarktis@zeit.de
43
zeichnung. Die Idee zum schwim-
menden Haus hatte die Zweitklässle-
rin vor zwei Jahren, als sie mit ihren
Eltern eine Fernsehsendung über
Naturkatastrophen sah. Bisher gibt es
nur ein Modell, das Vishalini gemein-
sam mit ihrem Papa gebaut hat. Sie
hofft, dass sie ihre Erfindung weiter-
entwickeln kann und das schwim-
mende Haus bald wirklich Menschen
schützen wird.
Der Mais-
Botschafter
Dank Tariq, 7 Jahre, sind Millionen
Menschen im Gemüse-Fieber
Pommes, Pizza, Schokolade? Alles
ganz lecker, aber längst nicht so gut
wie Mais. Das findet jedenfalls Tariq
aus New York in den USA. Mit sei-
ner Liebe für das gelbe Gemüse wird
er in diesem Jahr zu einer Internet-
Berühmtheit. Das kommt so: Ein
Journalist interviewt Tariq für eine
Instagram-Sendung, und als es um
Tariqs Lieblingsessen geht, ist der
Siebenjährige nicht mehr zu brem-
sen. Eineinhalb Minuten erzählt er
begeistert vom Mais: »Ich kann mir
nichts Schöneres vorstellen!« Das
Video ist so mitreißend, lustig und
auch ein bisschen verrückt, dass es
sich im Internet verbreitet. 27 Mil-
lionen Mal ist es inzwischen aufgeru-
fen worden – und Tariq hat nun ei-
nen neuen Spitznamen: Corn-Kid –
auf Deutsch »Mais-Junge«. Als Mais-
Junge bekommt er gleich noch einen
schrägen Job: Die Regierung des
Bundesstaates South Dakota, einer
Region in den USA, wo viel Mais
angebaut wird, ernennt Tariq zum
offiziellen Mais-Botschafter.
Eine
für alle
Rena, 17 Jahre, will, dass Kinder in
der Politik mehr mitreden
Die Anwältin der Kinder Japans – so
wird Rena aus der Stadt Osaka in ihrer
Heimat genannt. Mit 8 Jahren ent-
scheidet Rena, für die Rechte der
Kinder zu kämpfen. Mit 14 gründet
sie die Organisation Earth Guardian
Japan, mit der sie Schüler und Politi-
ker in virtuellen Treffen zusammen-
bringt. Die reden dann zum Beispiel
darüber, wie man die Umwelt besser
schützen kann. Rena will, dass Kinder
und Jugendliche ihre Meinungen und
Ideen einbringen und dass die
Erwachsenen zuhören und sie ernst
nehmen. In diesem Jahr bekommt sie
für ihre jahrelange Arbeit eine be-
sondere Belohnung: Den Internatio-
nal Children’s Peace Prize 2022, den
Internationalen Kinder-Friedenspreis.
Vor ihr haben den zum Beispiel die
Klima-Kämpferin Greta Thunberg
und Malala Yousafzai aus Pakistan
bekommen. Malala setzt sich dafür
ein, dass Mädchen zur Schule gehen
dürfen. Rena strahlt, als sie den Preis
in den Niederlanden entgegennimmt
– und sie hat einen Rat für alle mäch-
tigen Erwachsenen: »Verhaltet euch
so, dass ihr dem Kind, das ihr einmal
wart, imponieren würdet!«
44 WISSEN 29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1

Infografik: Physiologie

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Es gibt so viele Künstler
und Künstlerinnen, so
viele Lieder und Bücher,
die im kommenden Jahr
einen runden Geburtstag
haben, dass wir all jenen,
die uns besonders wichtig
sind, jetzt schon einmal
herzlich gratulieren.
Auf ein festliches 2023!
* legendäre Tonight Show, die er 2009 über-
3. 7. 1883
Franz Kafka
Es gibt eine sehr schlechte Erzählung von
Franz Kafka, ich glaube, sie soll ein Gleich-
nis sein. Sie spielt irgendwo im Orient, wo
ein paar schmierige, mitleiderweckende,
aasfressende Schakale einen Europäer darum
bitten, die stolzen Araber, die sie quälen,
umzubringen. Die Geschichte geht für die
wehrlosen Tiere, die aus der Sicht des un-
sicheren, halb assimilierten Juden Kafka
eine Menge jüdischer Züge haben, nicht
besonders gut aus. Sie heißt – als wäre die
Sache nicht deutlich genug – Schakale und
Araber. Natürlich kann den Text jeder so
lesen, wie er will, wie immer bei Kafka, und
genau das passiert auch ständig. Mal heißt
es, sie sei tiefster Ausdruck von Kafkas
jüdischem Selbstzweifel, mal warten hier
angeblich die armen Juden umsonst auf
den Messias. Und für arabische Intellektu-
elle ist sie nichts anderes als ein frühes
Dokument eines blutgierigen, kolonisato-
rischen Zionismus. Ja, es ist wie immer bei
dem deutschen Prager Juden Franz Kafka,
der besser Tschechisch konnte, als es seine
deutschen Jünger oft wahrhaben wollen,
und den manche unglaublich deprimie-
rend finden, andere umso lustiger – jeder
versteht ihn, wie es ihm passt! Dazu gehört
auch die absurde Frage, wem er gehört.
Besonders frech sind die deutschen Litera-
turwissenschaftler, für die er nichts anderes
ist als der Landsmann von Hölderlin, Hesse
und Mann. Aber viele Israelis haben auch
einen ziemlichen Knall, wenn es um ihn
geht, und verlangen schon mal das Prozess-
Manuskript aus dem Marbacher Archiv
zurück. Zurück wohin? An die Klage-
mauer, an den Dizengoff Square in Tel
Aviv? Und dann sind da noch die Tsche-
chen: Sie lieben ihn und nennen ihn
manchmal sogar František. Weil es ohne
die subversive Kafka-Konferenz des tsche-
choslowakischen Schriftstellerverbands 1963
im Schloss Liblice garantiert nie den Prager
Frühling gegeben hätte und darum auch
nie 1989 das Ende des Bolschewistenreichs,
finde ich, dass das noch am ehesten Sinn
macht. Trotzdem: Armer Kafka! Ein
Schriftsteller, den man »so« oder »so« oder
»so« verstehen kann, ist entweder ein Genie
oder ein Scharlatan. Vielleicht finden wir
in den nächsten 140 Jahren endlich raus,
was die Wahrheit ist und wem er wirklich
gehört. MA XIM BILLER
FEUILLETON
R FE I E R N
VO 2023 – ein Ausblick
Die Grenzenlosigkeit ihres Könnens und Wollens machte sie einsam: Maria Callas
Die Welt hat ihr Sellerieknollen und Radies-
chen auf die Bühne geworfen – sie blieb die
Primadonna assoluta des 20. Jahrhunderts,
Bellinis, Verdis, Puccinis erste »Götterbotin«.
Die Welt hat sie mit Juwelen, Lorbeerkränzen
und Heiligenscheinen überhäuft – sie war
immer »ein Mensch«, wie die Dichterin Inge-
borg Bachmann schrieb, »immer die Ärmste,
die Heimgesuchteste, die Traviata«. Maria
Anna Sofia Cecilia Kalogeropoulou alias Maria
Callas, geboren in New York als Kind griechi-
scher Einwanderer, gestorben in Paris mit 53
Jahren, lang vor der Zeit.
Die Callas war eine Garbo, eine Romy
Schneider, eine Bachmann des Gesangs. Die
Grenzenlosigkeit ihres Könnens und Wollens,
ihre Gier nach Ausdruck, nach Intensität, das
Timbre ihrer Stimme, das Seelen zerschnitt –
all das hat sie groß werden lassen und zur Be-
wohnerin eines Kunsthimmels, in dem es früh
einsam um sie wurde. Jeder Triumph der Sieg
einer Königin, jedes Scheitern ein Absturz. Auf
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
* schwer ist. Die Balance zwischen Selbstiro-
2. 12. 1923
Maria Callas
die Idee, dass Maria Callas ein anderes profes-
sionelles Ethos verkörperte, kam damals nie-
mand. Schon als Studentin, berichtet ihre
Gesangslehrerin Elvira de Hidalgo, sei sie ein
Muster an Willen, Intelligenz, Disziplin und
Arbeitswut gewesen: »Dabei war sie groß und
fett und trug eine Brille mit dicken Gläsern.«
Kaum feierte sie Erfolge, nahm die Callas auch
das in die Hand und notierte neben ihren
Rollen der Saison 1953/54 ihr jeweiliges
Gewicht: »Gioconda 92, Aida 87, Norma 80,
Medea 78, Lucia 75, Alceste 65, Elisabetta 64.«
Ein Parforceritt, eine Metamorphose.
Jetzt war sie fast so schön wie Jackie
Kennedy, ihre spätere Nebenbuhlerin um die
Gunst des griechischen Society-Löwen Aris-
toteles Onassis. Mit ihm stürzt Maria Callas
sich ins Jetset-Leben und wird von der Boule-
vardpresse erst recht um die halbe Welt gejagt.
Es folgen Krisen, Rückzüge von der Bühne,
nicht erst als Onassis sie fallen lässt. »Irgend-
etwas funktionierte nicht mehr. Meine
45
*
18. 4. 1963
Conan O’Brien
Zum neuen Jahr wünschen sich die Leute
ja gerne Dinge wie Gelassenheit, dabei ist
es – zumindest in Sachen Popkultur – immer
spannender, wenn man streitlustige Ent-
schiedenheit an den Tag legen kann. Ich
beispielsweise halte Conan O’Brien nicht
nur für den besten Late-Night-Moderator,
den die Vereinigten Staaten je gesehen ha-
ben, sondern auch für einen der begabtes-
ten Comedians unserer Zeit.
Kommendes Jahr wird O’Brien 60 Jah-
re alt und hat aktuell so wenig nennens-
werte Fernsehkarriere vorzuweisen, dass
man sich gar nicht darüber lustig machen
will, weil man als Fan weiß, dass er es selbst
ganz sicher schon von alleine tut. Die
nommen hat, hielt er nicht einmal ein Jahr
durch, nachdem ihn sein Vorgänger-
Moderator Jay Leno von außen in einem
etwas erbärmlichen Streit mit dem Sender
aus dem Job verjagte. Die Abfindung von
NBC war mit einem vertraglichen Verbot
verbunden, für eine gewisse Zeit im Fern-
sehen aufzutreten, O’Brien ging dann ein-
fach auf Live-Tournee durch die USA, die
er »legally prohibited from being funny on
television« nannte.
Wer sich in O’Brien verlieben will, muss
Foto: Harry Croner/Ullstein; llustrationen: Tim Lahan für DIE ZEIT
sich nur die dazugehörige Dokumentation
anschauen, in der man einem Entertainer
dabei zusehen kann, wie er »radikal ver-
letzlich« mit dem größten Karriereknick
umgeht, den man sich in seiner Branche
vorstellen kann. Anschließend tingelte er
ohne nennenswerte Quoten beim Bezahl-
sender TBS mit einer Talkshow rum, die er
2022 beendete.
O’Brien könnte sich erlauben, zynisch
zu sein, doch nichts scheint ihn in seinem
Humor weniger zu interessieren. Er ist
einer dieser seltenen Comedians, die es
geschafft haben, aus ihrem Weltschmerz
keine Menschenfeindlichkeit erwachsen zu
lassen. Er hat außerdem die Unterhaltungs-
technik perfektioniert, es so einfach aus-
sehen zu lassen, dass man als Zuschauerin
ständig vergisst, dass alles, was er tut, irre
nie, die nie selbstmitleidig wirkt, und ge-
spielter intellektueller Herablassung funk-
tioniert nur, weil sich da jemand jeden Tag
die Arbeit macht, die eigenen Schwächen
am besten zu kennen. Deswegen kann man
auch darauf vertrauen, dass er am Ende
einer jeden Show und eines jeden Podcasts
die meisten Witze auf eigene Kosten ge-
Technik oder meine Nerven. Oder mein macht hat. Die nihilistische Albernheit, für
Privatleben«, gesteht die Künstlerin 1969 im die sein Late-Night-Kollege David Letter-
französischen Fernsehen. »Was ich tat, ermü- man selbst in Europa verehrt wird, hat
dete mich zu sehr. Ich ermüdete mich für die eigentlich O’Brien erst perfektioniert, weil
Kunst.« Im Studio sitzen Männer mit Schlip- er im Gegensatz zu Letterman weder die
sen um sie herum (darunter der Regisseur Entertainment-Landschaft noch Fernsehen
Luchino Visconti) und blasen ihr Zigaretten- als solches entlarven wollte, wenn er bei-
rauch ins Gesicht. Eine letzte Fleischbeschau. spielsweise »die schnellste Menora der
Wirklich geliebt hat die Welt die Callas nie. Welt« durch seine Show schickte oder sich
Die Italiener nicht, weil sie Griechin war und brachial bei einem wine tasting in Napa
herb. Die Griechen nicht, weil sie von italie- Valley betrinkt.
nischer Oper nichts verstanden. Die Männer Er wollte einfach Quatsch machen.
nicht, weil sie zu kapriziös und zu rebellisch Quatsch, dem man vertraut, weil man weiß,
war. Und die Frauen nicht, weil sie ihnen vor- dass der Mann, der ihn mit seinem Team
machte, was alles möglich gewesen wäre in fabriziert, ein Harvard-studierter Universal-
Sachen Unabhängigkeit und Emanzipation. gelehrter ist, der in seiner Freizeit am liebs-
Die Franzosen, ja, doch, die haben sie wahr- ten Biografien ehemaliger US-Präsidenten
scheinlich gemocht. Sie sei immer und überall liest. Oder, wie er es in der letzten Folge
so schwierig gewesen wie eben nötig, hat Maria seiner quotenschwachen Bezahlshow sagte:
Callas einmal gesagt, und so richtig glaubt man »Wenn schlau und dämlich zusammen-
ihr das wohl erst jetzt, zu ihrem 100. oder kommen, dann ist das die wunderschönste
1000. Geburtstag. CHRISTINE LEMKE-MAT WEY Sache der Welt.« SOPHIE PAS SMANN
46
20
23
Zum Beispiel der Eiffelturm. Er zählt zu je-
nen Gebilden, die unbestreitbar real und
dann auch wieder nicht von dieser Welt sind.
10.100 Tonnen Stahl, 330 Meter hoch, weit-
gehend ohne praktische Funktion. Statt-
dessen ein Symbol, eine Chiffre für Paris oder
für irgendwas, das erst im Auge des Betrach-
ters entsteht. Der Philosoph Roland Barthes
erklärte es so: »Der Eiffelturm zieht Bedeu-
tung an wie der Blitzableiter den Blitz. Für
alle Bedeutungsliebhaber spielt er die verfüh-
rerische Rolle eines rein Bedeutenden, das
heißt einer Form, die die Menschen unabläs-
sig mit Bedeutung erfüllen …, ohne daß
doch diese Bedeutung jemals endgültig fest-
gelegt wäre.« Der Eiffelturm ist in der Stadt
ein unvermeidlicher Anblick. Guy de Mau-
passant fand ihn so hässlich, dass er möglichst
oft hin- und hinauffuhr, um im Turmrestau-
rant zu Mittag zu essen. »Es ist«, so rechtfer-
tigte sich der Schriftsteller, »die einzige Stelle
in Paris, von wo aus ich ihn nicht sehe.«
Zum runden Geburtstag, und zwar dem
hundertsten, gratulieren wir hier aber einer
anderen Konstruktion. Nur notdürftig zu-
sammengezimmert, aber doch wesensver-
wandt: das Hollywood Sign. Es ist so etwas
wie der Eiffelturm der amerikanischen
Westküste. Niemand, der nie in Los Angeles
war, sollte die Existenz der fünfzehn Meter
hohen Buchstaben-Gerüste leugnen, die, am
13. Juli 1923 am Hang des Mount Lee er-
richtet, auch aus großer Entfernung zu sehen
*
1923
Das Hollywood Sign
sind. Dabei steht die Buchstabenfolge
HOLLYWOOD für das Irreale an sich. In
der City of Angels löst die Traumfabrik die
Verbindung zwischen Himmel und Erde.
Was nicht heißt, dass alle Engel fliegen kön-
nen. Manche fallen nur.
So wie Peg Entwistle: Sie war ein Broadway-
sternchen, das sich auf die Suche nach dem
Glück im Westen gemacht hatte. In acht
Stücken hatte sie zuvor in New York auf der
Bühne gestanden, zuletzt im Jahr 1932 mit
Humphrey Bogart. Ob es ein Omen war, dass
dieses Stück Mad Hopes hieß, »Wahnsinnige
Hoffnungen«? In Hollywood vermasselte die
Schauspielerin jedenfalls ein Vorsprechen nach
dem anderen. Eine Rolle in Thirteen Women
sollte dann den Durchbruch bringen, nur kam
das düstere B-Movie in den Voraufführungen
so schlecht an, dass man es auf 59 Minuten
zusammenkürzte und Peg Entwistle kaum
noch darin zu sehen war. Angeblich sparte die
Verzweifelte jetzt Geld für ihre Rückreise nach
New York. Und machte sich, wie zuvor Guy
de Maupassant, dann doch auf den Weg. Denn
diesem Menetekel war wohl nur durch Flucht
nach vorn zu entrinnen. Am Abend des
16. September 1932 erklomm Peg Entwistle
eine Leiter an der Rückseite des ersten der
dreizehn Buchstaben, des H. Ein Sprung aus
15 Meter Höhe. Zwei Tage später schälte man
die Leiche der 24-Jährigen aus den Kakteen.
Thirteen Women und dreizehn Buchsta-
ben? Die Unglückszahl erklärt sich dadurch,
FEUILLETON
* *
23 n. Chr.
Plinius und Greta
Dass Greta Thunberg nächstes Jahr ihren
zwanzigsten Geburtstag hat und Plinius Se-
cundus d. Ä. seinen zweitausendsten, ist ein
arithmetischer Zufall, aber ein überraschend
sinnreicher. Die Pointe liegt nicht allein da-
rin, dass beide ihr Leben der Natur gewidmet
haben, die Klimaaktivistin ihrer Rettung, der
antike Naturhistoriker ihrer Beschreibung.
Es gibt eine viel tiefer gehende Gemeinsam-
keit, und die besteht im rationalen Umgang
mit der Natur.
So wie sich Greta immer gegen ideologi-
sche Vereinnahmung gewehrt hat und auf
Fakten und Wissenschaftlichkeit bestand, so
hat Plinius für sein 37-bändiges Mammut-
werk einer Enzyklopädie der Naturphäno-
mene alle Quellen einer kritischen Vernunft
unterworfen und von Fehldeutungen zu rei-
nigen versucht. Natürlich war es im ersten
nachchristlichen Jahrhundert nicht möglich,
das damals verfügbare Wissen frei von Le-
genden und Irrtümern zu halten, aber Plinius
hatte einen Begriff von Objektivität und
Überprüfbarkeit, war misstrauisch, wo er auf
Widersprüche stieß oder eigene Anschauung
entgegenstand – und in Militärdiensten hatte
er einen großen Teil der römischen Welt ge-
* beiden kompositorischen Beiträge Something
19. 3. 1873
Max Reger
Manche Menschen existieren im Fortissimo.
»Kellner, bringen Sie mir bitte zwei Stunden
lang Beefsteak!«, das oder etwas Ähnliches
soll Max Reger bei einem Restaurantbesuch
nach einem Konzert gesagt haben. Groß,
schwer, grimmig, charakterlich und musika-
lisch ein Riese – das umreißt den 1873 in der
Oberpfalz geborenen Komponisten gerade
genau genug. 150 wäre er am 19. März ge-
worden, und vermutlich hätten seine Zeitge-
nossen ihm das übermenschliche Alter auch
irgendwie zugetraut. Regers Angewohnheiten
jedoch – eine Maßlosigkeit sondergleichen –
bescherten ihm dann doch ein recht kurzes
Leben von nur 43 Jahren.
Wie dieser Mann, ein fürchterlicher Cho-
leriker, sich in sein Leben stürzte, in Wein,
Essen, Gesellschaft und Streit, so besessen
dass im Todesjahr der Schauspielerin hier
nicht HOLLYWOOD zu lesen war, son-
dern HOLLYWOODLAND. Was mit den
Filmstudios anfangs gar nichts zu tun hatte.
Harry Chandler hatte den Schriftzug an-
bringen lassen, um den Verkauf von
Grundstücken zu bewerben. Der Verleger
der Los Angeles Times war zugleich der
mächtigste private Grundbesitzer Ameri-
kas. Er sorgte dafür, dass sich die Wüsten-
stadt rasant in Richtung des San Fernando
Valley ausdehnte. Wie von weit her Wasser
ins ausgedorrte Land geleitet wurde, wie
durch mafiöse Eingemeindungen die zweit-
größte Stadt des Landes entstand und mit
ihr die mächtigste Filmindustrie der Welt,
das war später der Stoff für Roman Polanskis
Meisterwerk Chinatown. Ein Film, dem wir
im nächsten Jahr zum Fünfzigsten gratulie-
ren dürfen. 1949 jedenfalls war das Holly-
wood Sign als Werbebanner längst über-
flüssig. Und doch zu berühmt für einen
Abriss. Man restaurierte die verrottete
Holzkonstruktion, die letzten Buchstaben
aber wurden entfernt. Hollywood ohne
Land: So wurde es endgültig zum ortlosen
Mythos, losgelöst vom harten Boden der
historischen Tatsachen. Oder, nach Roland
Barthes, eine »Traumfunktion«, ein »leeres
Zeichen«. Wie die Leinwand des Kinos
selbst. Ihr wünschen wir zum Geburtstag
des Hollywood Sign hier auch noch ein
langes und gesundes Leben. RONALD DÜKER
3. 1. 2003
sehen. Magie und magisches Wissen sonderte
er aus, wo immer er es identifizieren konnte.
Als der Vesuv ausbrach, ließ er sich eigens
aufs Meer hinausrudern, um die Sache aus
der Nähe zu beschauen (und starb möglicher-
weise an der Rauchvergiftung).
Dieser unschwärmerische und nüchterne
Zugang verbindet ihn nicht nur oberfläch-
lich mit der Schwedin, die aus pragmatischer
Vernunft nichts gegen den vorübergehenden
Einsatz von Atomkraft hat, aber gegen alle
pseudoreligiöse Endzeiterwartung auf dem
Sinn politischer Maßnahmen besteht. Greta
geht es um die Zukunft ihrer Generation
und aller nachfolgenden, da kann man ideo-
logisch nicht zimperlich sein. Die Natur
muss gerettet werden, damit die Menschheit
gerettet werden kann, und diesen instrumen-
tellen Naturbegriff hat sie ebenfalls mit Pli-
nius gemein, der die Natur, und selbst die
merkwürdigsten Insekten, stets im Hinblick
auf menschliches Interesse durchmustert
hat. Man kann das kritisieren, auch an Greta,
es hat aber wiederum den Vorzug nüchterner
Ehrlichkeit: Denn warum sollten wir das
Überleben einer Natur wünschen, in der wir
nicht mehr vorkommen? JENS JES SEN
stürzte er sich auch in seine Musik: Er tourte
durch die Lande, gab 120 Konzerte pro Saison,
schlief teilweise in Bahnhöfen – dazwischen
und währenddessen komponierte er wie im
Rausch. Seine Musik schäumt wie kaum eine
andere: Ihr verdanken wir die wohl gigantischs-
ten Harmonien seit Johann Sebastian Bachs
Fantasie und Fuge g-Moll, BWV 542. Dabei
bewegte sich Reger schon auf poly- und
atonalen Pfaden, 25 Jahre bevor Arnold Schön-
berg erstmals seine Zwölftontechnik anwendete.
Kolossale Klänge schieben sich da wie Lawinen
durch die Zeilen, die Tonarten, die Räume, die
sie jedes Mal ausfüllen bis in die letzte staubige
Ecke – egal wie laut oder leise sie sind. Reger
hinterließ mit seinem Werk einen Beweis:
dass Musik so sehr berauschen kann wie kaum
etwas sonst. HANNAH SCHMIDT
Zu berühmt für den Abriss: das Hollywood Sign
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
*
25. 2. 1943
George Harrison
Er war die Nummer drei der Band, die keine
Rangfolge kannte. Zwischen den Übergenies
Paul McCartney und John Lennon einerseits –
die einschüchterndste Doppelspitze der Musik-
geschichte – und Ringo Starr andererseits, der in
lässiger musikalischer Beschränktheit außer
Konkurrenz trommelte, war George Harrison
als Gitarrist der Beatles zunächst nur musikali-
scher Stichwortgeber auf Jingle-Länge. Genia-
lisch ohne Frage – was wäre etwa She Loves You
ohne das verschämte kleine Riff, das sich im-
mer wieder zwischen die jugendlich gebrüllten
Strophen von Lennon/McCartney drängt –,
allerdings auf aphoristischer Kurzstrecke. Doch
der »stille Beatle«, als welcher er von den Fans
mythologisiert wurde, sollte sich behaupten.
Man nehme nur das Sitar-Intro von Nor-
wegian Wood, das sich wegen Murakamis gleich-
namigem Roman einer doppelten Unsterblich-
keit erfreut: Zwei Takte davon spielte der kon-
vertierte Hinduist Harrison auf dem indischen
Instrument – eine Premiere für die westliche
Populärmusik – und katapultierte damit sich,
seine Band und den Rest der Welt in eine neue
kulturelle Bewusstseinsstufe, die koloniale Gren-
zen überschritt. Album für Album wagte sich
Harrison so aus der Rolle des linkischen Orna-
mentalgitarristen, experimentierte mit eigenen
Songs, die mal besser, mal schlechter ankamen,
bis sein Stern dann auf Abbey Road, dem Schwa-
nengesang der Beatles, vollends aufging. Seine
und Here Comes the Sun waren ohne Zweifel die
krönenden Höhepunkte dieses Abschlussalbums.
Natürlich erschöpfen sich Harrisons Leis-
tungen nicht in seiner Beatles-Zeit. Mit All
Things Must Pass verantwortet er gleichzeitig das
erste Dreifachalbum der Rockgeschichte und das
erfolgreichste Soloprojekt eines Ex-Beatle. Sein
Charity-Konzert für Bangladesch hat 1971 den
modernen Spektakelaltruismus erfunden, und
als Geldgeber und Produzent vieler britischer
Komödien – darunter die Filme von Monty
Python – half er bei der Geburt eines anarchi-
schen Humors, der noch heute zuverlässig den
Spießer vom Freigeist zu trennen vermag. Trotz-
dem dimmt man ihn rückblickend gerne vom
strahlenden Titanen zum Underdog herunter:
Inmitten des Entfremdungsdramas von Lennon
und McCartney, das die Geschichte der Beatles
überschattet, erzählt Harrisons Selbstbehauptung
ein kleines Heldenepos. Damit hat er den Topos
des stillen Genies in der lauten Welt der Rock-
und Popmusik etabliert. Auch im kommenden
Jahr, in dem der 2001 an Krebs verstorbene
Kettenraucher achtzig geworden wäre, wird man
sich deshalb an George Harrison erinnern – und
ihn still vermissen. FLORIAN EICHEL
Foto: uig/imago; llustrationen: Tim Lahan für DIE ZEIT
DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022
Jay-Z war vor 20 Jahren noch kein Superstar,
nicht so wie heute, und ich verstand nichts von
den 99 Problemen, über die er damals auf seinem
hymnischen Track rappte, auch von der mini-
malistischen Qualität dieses Liedes begriff ich
nicht viel (nur Drums und ein simples Rockriff).
Ich fand bloß, dass es gefährlich klang, und wenn
ich das Lied hörte, dann durfte ich, ein Mädchen
damals, endlich auch auf der Seite der Gefähr-
lichen sein. Also hörte ich es ununterbrochen.
Niemand aus unserem weißen, westdeut-
schen, bürgerlichen Provinz-Milieu war gefähr-
lich, und unser Leben war es nur, wenn wir es
darauf anlegten: Man konnte auf den Landstra-
ßen zwischen Mannheim, Heidelberg, Weinheim
und dem Odenwald nachts bei einem Autounfall
nach einer Party sterben. Oder man verlor vom
vielen Kiffen den Überblick, dafür musste man
sich aber wirklich anstrengen. Entschied man sich
dafür, Marihuana zu verkaufen, konnte man er-
wischt werden. Man konnte schwanger werden
(dann allerdings hätten sich die Eltern um einen
Arzt gekümmert), jemand konnte feststellen, dass
du eine Schlampe warst, und das war vielleicht
nicht gefährlich, nein, es war schlimmer, dann
war wirklich alles zu spät.
Der Song 99 Problems des Rappers Jay-Z gilt
in verschiedener Hinsicht und bis heute als he-
rausragend guter Track, er taucht in mehreren
Listen auf, anhand derer zu ermitteln versucht
wird, welche Musik zu welcher Zeit in welchem
Genre die beste war (dem Musikmagazin Rolling
Stone zufolge ist 99 Problems der zweitbeste Song
der Nullerjahre, auf der Liste der 500 besten
Songs aller Zeiten, ebenfalls von Rolling Stone er-
stellt, erreicht das Lied Platz 172, es gilt als eines
der besten in Jay-Zs Gesamtwerk). Die berühmte
Hook »If you’re having girl problems, I feel bad for
you son / I got 99 Problems, but a bitch ain’t one«
(grob übersetzt – solche Übersetzungen aus dem
Hip-Hop-Amerikanischen ins Deutsche sind
immer furchtbar, Entschuldigung: »Wenn du
Probleme mit Frauen hast, dann tut mir das leid
für dich, Junge / Ich habe 99 Probleme, aber eine
Schlampe gehört nicht dazu«), die mitsprechen
zu können ich damals so stolz war, ist einem aus
dem Pool von bemerkenswert misogynen Rap-
texten bemerkenswert misogynen Track von Ice-T
entlehnt, und sie ergibt, bezogen auf die drei
Strophen des Lieds, jedes Mal einen anderen Sinn.
Aber die übergeordnete Nachricht geht so: Der
Erzähler des Textes mag vielleicht Ärger wegen
seiner Herkunft aus den Marcy Houses (soziales
Wohnbauprojekt in Brooklyn) haben, er mag
wissen, was es bedeutet, »with holes in your zapa-
tos«, mit löchrigen Schuhen aufzuwachsen, und
rassistische Polizisten sind für ihn genauso normal
wie Ärger und Konkurrenzkämpfe mit anderen
Rappern – der Erzähler dieser Strophen mag also
99 Probleme haben, aber er hat keine Schwierig-
keiten damit, ein Mädchen, eine Bitch, eine
Schlampe klarzumachen. Die Männlichkeit bleibt
trotz sozialer und rassistischer Diskriminierung
intakt, und darum, um dieses Am-Ende-doch-
Gewinnen, geht es in diesem Lied (und in 99
Prozent aller Rap-Texte).
Der Ich-Erzähler der drei Strophen zeigt es
also der Polizei, seinen Kritikern, allen; und genau
so ein Sieg musste auch auf musikalischer Ebene
her, denn Jay-Z sah sich damals dem Vorwurf
ausgesetzt, zu viel über Frauen und Geld zu rap-
pen (was er tat: Girls, Girls, Girls; Big Pimpin;
Excuse Me). Folgerichtig engagierte er den super-
seriösen und legendären New Yorker Produzenten
Rick Rubin, welcher zuvor, damals, in den
1980er-Jahren, legendäre Klassiker für die Beastie
Boys und Run-DMC gemacht hatte – für Jay-Z
sollte sich Rick Rubin nun etwas ebenso Zeitloses,
Brutales mit Old-School-Vibes ausdenken: ein
Scratch, ein sich wiederholendes Sample und in
der Hook nur ein Satz, ohne Gesang (man muss
tatsächlich an den Flow Ice-Ts denken, den Jay-Z
allerdings noch ein bisschen besser hinkriegt).
Beim Hören von 99 Problems sollte sofort klar
sein, dass es hier um Rap ging und sonst nichts.
Den gleichen Minimalismus, die gleiche Härte
transportiert auch das Musikvideo: ein in
Schwarz-Weiß gefilmtes Porträt des New Yorks,
aus dem Jay-Z stammt, die Backsteine der Marcy
Houses, die Brooklyn Bridge, ein Bestattungs-
unternehmen, ein offener Sarg, mugshots (Fahn-
dungsfotos) verdächtigter schwarzer Männer,
Hundekämpfe.
Schnitt zurück in die westdeutsche Provinz,
zurück zu meiner Rap-Sozialisation: Es waren
immer die Jungs, die Typen, die unter sich über
Rap fachsimpelten, und 99 Problems gut zu finden
war für mich besonders interessant und vielver-
sprechend, weil es als »seriöser Rap« galt und mit
dem Versprechen verbunden war, ernst genom-
men zu werden. Unseriös waren dagegen kom-
merziell erfolgreiche Kollaborationen mit R-’n’-B-
Sängerinnen, die tagsüber auf MTV liefen, weil
sie harmlos genug waren; unseriös waren gesun-
gene Hooks und scheinbar weibliche Einflüsse,
die den Rapper davon abhielten, ein krasser
Rapper zu sein. Am Donnerstag in der Nacht-
schicht, einem Club in Heidelberg, lief genau
Jay-Z, Jahrgang 1969 – einer der erfolgreichsten, bedeutendsten und reichsten Rapper
»Son, do you know why I’m stopping you for?«
»Cause I’m young and I’m black
and my hat’s real low?«
solche Musik, und wenn die Typen ein Mädchen
kennenlernen wollten, dann sprangen sie über
ihren »Nur seriöser Rap«-Schatten, gingen dort-
hin und tanzten zu Say My Name von Destiny’s
Child. Auf unserem dörflichen Gymnasium, das
etwa 25 Kilometer von Heidelberg entfernt war,
konnte man die Leute mit migrantischem Back-
ground an einer Hand abzählen, aber in der
Nachtschicht waren plötzlich die in der Minder-
heit, die weiße Haut hatten und Eltern mit deut-
schen Vornamen. Ich bewunderte Irsia, weil sie
ihre schwarzen Haare unter einem Bandana-Tuch
trug wie die R-’n’-B-Sängerin Aaliyah. Sie be-
FEUILLETON
*
2003
Jay-Z, »99 Problems«
herrschte auch einige dieser fantastisch arroganten
Tanzbewegungen, die Beyoncé in Bills, Bills, Bills
aufführte, und sie rauchte nicht Marlboro Lights,
sondern die roten. Doch vor allem hatte Irsia in
der Nachtschicht Jamaal kennengelernt, einen
schwarzen GI, der in den Mannheimer Barracks,
einer US-Kaserne mit Militärflughafen, stationiert
war. Seinetwegen sprach sie dieses superlässige
Kaugummi-Südstaaten-Amerikanisch, bei dem
jede zweite Silbe verschluckt wird, seinetwegen
versteckte sie sich im Kofferraum seines Chrysler
Dodge, um in die Barracks zu gelangen. Bald
kannte Irsia Rapper, von denen ich noch nie ge-
47
sie es sogar. Von den drei Strophen, aus denen es
besteht, kann man die erste und die letzte eigent-
lich vernachlässigen, wichtig und berühmt ist die
zweite. Darin beschreibt der Ich-Erzähler, wie er
im Jahr 1994 mit dem Auto unterwegs ist, um
ein Drogengeschäft abzuwickeln – als er im Rück-
spiegel plötzlich ein Polizeiauto bemerkt, das ihn
zum Stoppen auffordert. Er hat nun zwei Mög-
lichkeiten, nämlich entweder rechts ranzufahren,
oder zu flüchten. Nach kurzem Abwägen (»(...) I
got a few dollars, I can fight the case«) beschließt er
anzuhalten, und es ereignet sich dieser Dialog:
Der Polizist fragt den Ich-Erzähler, ob der wisse,
weswegen er angehalten werde. »Cause I’m young
and I’m black and my hat’s real low?«, (»Weil ich
jung und schwarz bin und mein Basecap tief
sitzt?«) fragt der Ich-Erzähler und ob er »under
arrest« sei, oder weiterraten solle. Der Polizist
kann keinen Grund nennen, und sein Rassismus
wiederum wird vom Ich-Erzähler gewissermaßen
vorausgesetzt, woran sich der Polizist aber über-
haupt nicht zu stören scheint. Im Gegenteil, er
bestätigt seine rassistischen Denkschemata:
»License and registration and step out of the car / Are
you carrying a weapon on you? I know a lot of you
are« (»Führerschein und Ausweis und raus aus
dem Auto / Hast du eine Schusswaffe bei dir?/
Ich weiß, viele von euch haben das«). Es folgt eine
rechtliche Belehrung des Polizisten durch den
Ich-Erzähler, der sich weigert, aus dem Auto aus-
zusteigen, da er gültige Papiere habe. Der Polizist
droht damit, das Auto zu durchsuchen (»look
around the car a little bit«), abermals signalisiert
der Ich-Erzähler, dass er sich in seinen Rechten
auskennt und der Polizist dafür einen Durchsu-
chungsbeschluss brauche. Jener zeigt sich über-
rascht, dass sein Gegenüber so gut informiert ist
(»You some type of lawyer or something? / Somebody
important or something?« / »Bist du ein Rechts-
anwalt oder etwas in der Richtung?«). Der Ich-
Erzähler entgegnet, dass er zwar kein Juraexamen
habe, aber genug wisse, um keine illegale Durch-
suchung zu befürchten, was der Polizist unkom-
mentiert lässt. Er verweist auf das Eintreffen der
Drogenspürhunde, dann werde sich herausstellen,
ob der Ich-Erzähler weiter so clever daherreden
werde. Die Strophe schließt mit »I got 99 pro-
blems, but a bitch ain’t one«, was – bedenkt man,
dass bitch nicht nur Schlampe, sondern auch
Hündin bedeutet – darauf hindeuten könnte,
Foto: Liam Duke/ca/ddpimages; llustrationen: Tim Lahan für DIE ZEIT
dass sich die ganze Sache am Ende zugunsten des
Ich-Erzählers dreht.
Jay-Z schildert das Aufeinandertreffen des
Polizisten und des Protagonisten als einen Tom-
und-Jerry-Mechanismus ohne Sinn. Der Ver-
dächtigte ist der Verdächtigte, weil er schwarz ist,
der Polizist verfolgt ihn, weil er Polizist ist und
eine blaue Uniform trägt. In Decoded (2010),
einem Buch, in dem Jay-Z einige seiner wichtigs-
ten Texte kommentiert, schreibt er, dass beide
nach juristischen Maßstäben im Unrecht seien
und das auch wüssten (der Ich-Erzähler, weil er
Drogen dabei hat; der Polizist, weil er einen Fah-
rer nicht wegen eines begründeten Verdachts,
sondern vor allem wegen dessen Hautfarbe, wegen
»Driving while black« stoppt), dennoch, so Jay-Z
weiter, hielten beide es für richtig, damit davon-
zukommen. Versetzt man sich in die Situation des
Protagonisten von 99 Problems – und das ge-
schieht unweigerlich, wenn man dieses Lied
hört –, dann kann man das verstehen. Jay-Z cha-
rakterisiert ihn als »slick New York kid«, dem es
durch sein Schlausein immerhin gelingt, den
Polizisten in die Schranken zu weisen, trotz asym-
metrischer Machtverhältnisse. Er triumphiert,
erlangt einen kurzen Moment der Überlegenheit
in einem endlosen Katz-und-Maus-Spiel.
In seinem Kommentar zu 99 Problems be-
merkt Jay-Z am Ende, dass er tatsächlich einmal
in einer ähnlichen Situation gewesen sei und dass
es sein Leben für immer verändert hätte, wenn
er damals mit Drogen erwischt worden wäre.
Damit bezieht er sich auch auf die US-Drogen-
politik, den sogenannten war on drugs, der in den
1970er-Jahren begann und der dazu hätte führen
können, dass Jay-Z, wäre er mit Drogen und ins-
besondere Crack erwischt worden, eine absurd
hohe Haftstrafe kassiert hätte, eine wahrschein-
lich höhere, als ein Weißer sie in einer vergleich-
baren Situation bekommen hätte.
Weiter spielt Jay-Z damit wahrscheinlich
darauf an, dass er im Gefängnis noch krimineller
geworden und nie wieder wirklich aus dem Kreis-
lauf von Drogenkriminalität und Haftstrafen
herausgekommen wäre. Das Ende dieses Ge-
hört hatte. Ich konnte nicht fassen, dass es wahr dankenspiels ist, dass Jay-Z, wenn die Polizei
war, aber eines Nachmittags durfte ich zu Irsia mit damals ihren Job zu einem in ihrem Sinne erfolg-
nach Hause kommen. Ich hatte das Gefühl, nach reichen Abschluss gebracht hätte, nicht einer der
Amerika zu fahren, wo ich nie gewesen war, wohin erfolgreichsten, bedeutendsten und reichsten
ich aber unbedingt wollte. Irsia wohnte in Wein- Rapper überhaupt hätte werden können. Nein,
heims Weststadt in einem Hochhaus, und ihre es hätte ihn so nicht gegeben und 99 Problems
Mutter war arbeiten; während der Zeit, in der ich wahrscheinlich genauso wenig – jenes Lied, das
mit Irsia befreundet war, bin ich ihr nie begegnet, mir und meinen westdeutschen Provinz-Freun-
und dem Vater begegnete ich ebenso wenig, er den vor bald 20 Jahren gegen alle Wahrschein-
kam ursprünglich aus dem Iran, aber Irsia hatte lichkeit so viel sagte (auch wenn es völlig anders
ihn das letzte Mal gesehen, als sie vier war. gemeint war). ANTONIA BAUM
Irsia liebte 99 Problems auch sehr (sie sagte, es
sei ein krasses Brett), und wahrscheinlich verstand !www.zeit.de/vorgelesen
48 FEUILLETON 29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1

* *
27. 12. 1948 22. 7. 1948
Gérard Depardieu, Otto Waalkes Morris, der Erfinder von Lucky Luke
Er ritt auf seinem treuen Pferd durch den
Wilden Westen, jagte Bankräuber und Vieh-
diebe, beschützte Witwen und Waisen und
brachte die berüchtigten Dalton-Brüder immer
wieder in den Knast, aus dem sie unermüdlich
ausbrachen. Er traf Billy the Kid, Wyatt Earp
und Abraham Lincoln, aber er ging auch mit
der großen französischen Schauspielerin Sarah
Bernhardt auf ihre erste US-Tournee. Stets trug
er dabei schwarze Weste und gelbes Hemd,
weißen Hut und rotes Halstuch.
Lucky Luke ist der bekannteste Cowboy der
Comic-Geschichte. Dabei ist sein Erfinder ein
Belgier gewesen: Maurice de Bévère wurde am
Foto: Thomas Lannaccone/Penske Media/Getty Images; Illustrationen: Tim Lahan für DIE ZEIT
* *
1. 12. 1923 4. 1. 1248
Neubrandenburg
nur auf Sigmund Freud, sondern auch auf Dass Neubrandenburg nicht in Brandenburg,
seinen zu wenig bekannten Lehrer, Otto von sondern in Mecklenburg liegt, gehört zu den
Himbeergeist. vielen Entschuldigungen, die man parat haben
Goscinny wurde auch als Szenarist von muss, wenn man aus dieser Stadt kommt.
Asterix berühmt, gezeichnet von Albert Uderzo. Denn eigentlich ist Neubrandenburg außer
Aber seinen besonderen, oft abgründigen Witz für seine Olympioniken, für das Kanu-Gold
hat Morris in Lucky Luke besser umsetzen kön- von Andreas Dittmer und das Kugelstoß-Gold
nen. Sein Stil war skizzenhaft, leicht und leben- von Astrid Kumbernuss, für nichts bekannt.
dig – anders als der der meisten anderen Also muss man Sport treiben, und wenn man
Comics der Nachkriegszeit in Europa. Hier doch einmal Kunst sehen will, fährt man am
dominierte in den 1950ern noch die strenge besten nach Hamburg, denn dort hängt eines
»ligne claire« des Tim und Struppi-Schöpfers der bedeutendsten Neubrandenburg-Bilder, das
Hergé mit ihren klaren Konturen, schatten- einer seiner bedeutendsten Fast-Söhne gemalt
und schraffurfreien Farbflächen. Hergé war hat: das Bild Das brennende Neubrandenburg

1. Dezember 1923 in Kortrijk in Flandern ge-
boren. Doch benutzte er zeit seines Schaffens
ein amerikanisch klingendes Pseudonym,
Morris. Die ersten Abenteuer mit seinem Hel-
den zeichnete er 1946 in Brüssel, dann ging er
für ein paar Jahre in die USA, um den echten
Wilden Westen zu suchen. Von dem fand er
nicht mehr viel. Dafür traf er in New York auf
René Goscinny, einen jungen französischen
Juden, der bei den jüdischen Humoristen des
Mad-Magazins gerade das Handwerk des Pa-
rodierens und Gagschreibens lernte. Die beiden
wurden zu einem perfekten Team. Morris
zeichnete, Goscinny verfasste für ihn die Sze-
narios, beide hatten ebenso viel Spaß an akri-
bisch recherchierten Historienbildern wie an
absurden Witz-Volten und natürlich an der
Psychoanalyse. In der Folge Die Daltons werden
kuriert aus dem Jahr 1975 treffen wir nicht
Perfektionist, Morris hingegen feierte die Un- von Caspar David Friedrich (um 1834). Man
genauigkeit, das Vibrieren der Bilder, stets sieht: Rauchwolken, die über dem alten Fach-
spürte man in ihnen noch den Schwung der werk aufsteigen, Sonnenstrahlen, die sich wie
ersten Entwürfe. Die École Marcinelle, die er ein Kranz um die Stadt legen. Man weiß nicht,
mitbegründete, wurde zur prägenden euro- warum Friedrich, der zwar in Greifswald auf-
päischen Comic-Schule der Sechzigerjahre und wuchs, dessen Eltern aber aus Neubranden-
der Stil zum Vorbild der Underground-Comics, burg kamen, sich nun ausgerechnet diese Stadt
mit denen die 68er dann gegen das ästhetische für das Jüngste Gericht ausgesucht hat, zumal
Establishment der Hochkultur rebellierten. Für Otto von Bismarck bekanntlich meinte, dass
sie war Lucky Luke das passende Idol: In einer die Welt in Mecklenburg immer 50 Jahre
rechtlosen Welt nahm der einsame Cowboy das später untergehe, aber immerhin ist hier end-
Gesetz in die eigene Hand und schoss schneller lich mal was los. Man darf sich in Neu-
als der eigene Schatten. Er siegte über das Un- brandenburg also auf den Weltuntergang
recht und über das Unbewusste, das ihn als freuen, der sich sicher bis zum 775. Geburts-
Doppelgänger verfolgte. Und damals, in den tag noch Zeit lassen wird, und bei der Gele-
Zeiten der Rebellion und der Freiheit, hing ihm genheit auch an die Schriftstellerin und Wahl-
noch stets eine Zigarette im Mundwinkel. neubrandenburgerin Brigitte Reimann erin-
Später musste er sie durch einen Grashalm nern, deren 50. Todestag – ganz ohne Verspä-
ersetzen. JENS BALZER tung – sich im Sommer jährt. PETER NEUMANN

Gérard Depardieu ist der sinnlich-virile Anarcho-Individualist

* *
Gérard Depardieu und Otto wurden groß in
einer Epoche, in der es in Deutschland noch
ein tonangebendes Bildungsbürgertum gab, das
Erfolg als Cyrano de Bergerac, gewissermaßen
der Wunschfilm des deutschen Bürgertums
für seine Töchter und Söhne: Da wurden
1983 5. 6. 1723
streng auf sittlichen Nährwert achtete. Holly- echte Barockverse deklamiert, und zugleich
wood war ein Synonym für kommerzielle
Massenkultur, und beim Lachen kam es darauf
war das alles ganz charmant, witzig und – sehr
wichtig – hintergründig! Also pädagogisch Geier Sturzflug, Adam Smith
an, es nicht unter seinem Niveau zu tun. wertvolle Unterhaltung.
Der Blödel-Otto, wie er in verzweifelter Natürlich war es dann Hollywood, das das

»Ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt.

Suche nach einer passenden Kategorie ge- Klischee-Potenzial Gérard Depardieus erkann-
nannt wurde, war der leibgewordene Ostfriesen- te: In Green Card spielte er den Pariser in New
witz – für seine dadaistischen Qualitäten war York, der mit Andie MacDowell eine Scheinehe
man damals noch taub. Wenn ich mir als Kind
Otto-Kassetten reinzog, hatte das immer etwas
von guilty pleasure: Ich wusste, dass diese Form
eingeht, um an eine Arbeitserlaubnis zu kom-
men. MacDowell ist dabei ganz die puritani-
sche Moralistin ohne einen Funken Lebens-
Wir steigern das Bruttosozialprodukt«
des Zeitvertreibs von den Erziehungsberech- freude, geschweige denn Sex-Appeal, die sich
tigten nicht gebilligt wurde, sondern als Unbe- für die Umwelt einsetzt und deren welten-
herrschtheit betrachtet wurde – so als würde rettende Freunde alle Vegetarier sind – eine »An Weihnachten liegen alle rum und sagen Bruttosozialprodukt brachte die deutsche modernen Ökonomie, der als Erster viel von
man heimlich zu viel Zuckerwatte verschlingen. Gesellschaft der Beherrschtheit, in die Depar- puh-uh-uh-uh / Der Abfalleimer geht schon Hitparade von Dieter Thomas Heck an ihre Produktivitätssteigerung verstand, aber min-
Doch befand sich das Bildungsbürgertum auf dieu hereinbricht als die Verkörperung sinn- nicht mehr zu«, und dazu pfeift das Saxofon Samstagabend-Verträglichkeits-Grenzen. destens ebenso viel von menschlichem Ver-
verlorenem Posten (im Übrigen seine bevor- lich-virilen Anarcho-Individualismus. einen ätzenden Abgesang auf die Arbeitswut Vierzig Jahre her, ein anderer Ton wird halten. Keiner will abhängig sein und ge-
zugte, melodramatische Position), denn die Später erfuhr Otto dann doch noch in den und Konsumgier der Post-Nachkriegs-Ge- seither vernehmbar: Arbeit soll sinnvoll sein, kränkt werden, Anerkennung braucht jeder,
Leute strömten in Massen in die Otto-Filme. Augen des deutschen Bildungsbürgertums sellschaft: Das war 1983, Neue Deutsche Konsum maßvoll, Work-Life-Balance wäre der eigene Vorteil ist nichts ohne das Wohl
Da kam Gérard Depardieu wie ein Retter seine Ehrenrettung, als sich herumsprach, dass Welle, die Band Geier Sturzflug erfand Wörter doch gut, überhaupt wäre Gutes besser als aller, und Klugheit sucht nach geregelter Ge-
in der Not. Er war das, was man damals einen kein Geringerer als der Meisterhumorist und wie »Neutronenwaffelduft« und empfahl, der moderne Steigerungswahn, das ewig rechtigkeit. Das Mitfühlen, sympathy, prägte
Charakterdarsteller nannte. Franzose zu sein Verseschmied der Neuen Frankfurter Schule, Europa zu besuchen, solange es noch steht. bloß effizient Maximierte. Hat Wirtschaft für den alten Smith das Soziale, und gern
war allein ja schon ein Gütesiegel. Er hatte mit Robert Gernhardt, seine Jokes geschrieben Denn da wurde gerade ein Kassensturz fällig: denn mit Moral und dem guten Leben gar hätte er auch eine Theorie der Literatur und
Marguerite Duras gedreht, und er spielte in hatte, während Depardieu auf seine alten Tage Die gute alte Wirtschaftswunderwelt mit ih- nichts zu tun? der Dichtkunst vorgelegt. Dem kam leider
François Truffauts Die letzte Metro die Haupt- eine ganz andere Dimension dessen, wofür Alt- ren Produktivitätssteigerungen zerplatzte am Doch, hat sie, natürlich, schrieb vor der Tod zuvor.Weswegen wir seinen Geburts-
rolle – diesem patriotischen Film über ein Ideal- europa stehen kann, auslebte, als er zum Putin- Sarkasmus von Leuten in geringelten T-Shirts. einem Vierteljahrtausend schon ein Sozial- tag feiern? Die Arbeitswut ist im Sturzflug,
frankreich aus Widerstand, Sinnlichkeit, Esprit Freund wurde und die russische Staatsbürger- Produkt reimt sich seither auf gespuckt, Sonder- philosoph, der jetzt auch Jubiläum feiert, das und die Einbildungskraft für wahren Wohl-
und Kunstnoblesse. Und dann kam Depardieus schaft annahm. IJOMA MANGOLD schicht auf zusammenbricht, und das Lied passt: Adam Smith wird 300, ein Vater der stand, sie lebe hoch! ELISABETH VON THADDEN

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Johannes Ehrmann, Juliane Frisse, Wenke Husmann, Laura Sophie Anzeigenstruktur: Peggy Ludwig (verantwortlich), Laura Gilica, Corp.), 2221 Kenmore Avenue, Ungarn HUF 3690,00
Jung, Matthias Kirsch, Wlada Kolosowa, Hannes Leitlein, Celina Plag, Carolina Guerra; Anzeigen-Preisliste Nr. 67 vom 1. Januar 2022
Jakob Pontius, Caroline Rosales, Sara Tomšić, Fiona Weber-Steinhaus, Magazine und Neue Geschäftsfelder: Sandra Kreft
Cora Wucherer. Milena Zwerenz Arbeit: Anne-Katrin Schade (Leitung), Projektreisen: Christopher Alexander
Jana Baurmann, David Gutensohn, Hannah Scherkamp, Daniel Sander, Börsenpflichtblatt: An allen acht deutschen Wertpapierbörsen ISSN: 0044-2070
DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022 FEUILLETON 49

* *
14. 9. 1983 Mai 1923
Amy Winehouse »Zeno Cosini«
Vor allem könne dieser Aron Hector Schmitz,
der sich Italo Svevo nannte, gar kein richtiges
Italienisch, meinten die wenigen Kritiker, die
damals Zeno Cosini gelesen hatten. James Joyce
sah das anders, informierte seine französischen
Freunde, und der Triumphzug dieses genialen
Romans begann. Es geht darin darum, ein Leben
lang immer wieder die letzte Zigarette zu rau-
chen und wie herrlich dann das Rauchen ist.
Und das Leben. Und es geht um den Trost, den
dieser Zeno empfängt, als er am Totenbett seines
Vaters überrascht feststellt, dass er ja einen Glau-
ben hat. Ein Leben lang hat der ihn schon ge-
tragen. Davon hatte er gar nichts gewusst. »Das
ist die wahre Religion«, schreibt Svevo. Trost und
Rauchen und das Leben feiern. So lesen wir
2023. VOLKER WEIDERMANN

*
1963
Brad Pitt,
Til Schweiger,
Johnny Depp
Man kann zu diesem Anlass unglaublich viel
oder nichts sagen. So oder so ergeben sich aus
der ganzen Sache eigentlich nur drei relevante
Feststellungen: Als man noch klein war, bei
den Eltern wohnte, nach dem Essen den Tisch
abräumen und dann Hausaufgaben machen
sollte, war es überhaupt keine Frage, dass man
wegen dieser Leute sterben musste (für Depp,
Pitt, Schweiger) – sterben, weil sie so hinrei-
ßend aussahen, aber nicht mitbekamen, wie
hinreißend man selbst war (gestylt, geschminkt
vor dem Spiegel). Sterben, weil man allein
und nicht da war, wo sie waren. Sterben, weil
es wirklich ernst war.
Nun ist es nicht mehr ernst, und daraus folgt
– erstens –, dass alles, wirklich alles sich ändert,
traurigerweise, fantastischerweise (als die drei
genannten Männer 25 waren, hatten nicht alle
eine E-Mail-Adresse, roch jeder nach CK One,
lebte Whitney Houston noch, wurde drinnen
geraucht, sogar im Flugzeug). Zweitens folgt
daraus, dass die Zeit vergeht, sie vergeht sogar
schnell (was banal ist, aber auch sehr existenziell).
Dritte Feststellung: Unter den drei demnächst
Sechzigjährigen ist Brad Pitt derjenige, der
öffentlich am wenigsten sagt, und er ist es auch,
der am besten wegkommt. ANTONIA BAUM
Foto: Jake Chessum/Trunk Archive; Illustrationen: Tim Lahan für DIE ZEIT

Ich bin in einer Bar. Eigentlich ist es ein Pub.
So einer, der sich auf Männer spezialisiert.
Der Tresen ist klebrig, es gibt zwanzig ver-
schiedene Sorten Bier und nur einen roten
und einen weißen Hauswein. Keine Wein-
gläser. Es läuft Sport auf Bildschirmen. Weil
gerade Fußball-WM ist, hat sich auch weib-
liches Publikum unter die Stammgäste
gemischt. Hey, es ist 2022, Frauen lieben
Fußball. Frankreich hat England besiegt. Die
Playlist besteht aus The Smiths, den Beatles
und Oasis. Songs, die man grob unter Rock
Was von ihr bleiben soll, sind ihre Musik und ihre Sehnsucht:
Amy Winehouse (1983 bis 2011)
»Did you get a good law-yer-eh-er?«
verorten würde. Wenn man taub ist. Eng-
lische Bands aus Trotz.
Auf einmal: ein Doo-whop-Schlagzeug-
beat, ein treibender Bass, ein Tamburin, eine
knarzende Stimme. Amy Winehouse. Ich
könnte schwören, dass die Stimmung sich
augenblicklich verändert. Die älteren Herren
an der Bar nicken zum Beat, die jüngeren in
der Nähe der schönen Mädchen summen die
Melodie, manche singen mit. Valerie.
Spätestens beim Dreiklang in der zweiten
Strophe auf die zweite Silbe von lawyer
steigen alle ein. »Did you get a good law-yer-
eh-er?« Das ist die Kraft von Amy Winehouse’
Musik. Sie funktioniert bei allen. Bei den al-
ten Rock-Männern, bei den jungen Hippen,
bei den Frauen sowieso und sogar bei den
Franzosen im Pub.
Natürlich könnte ich über Amys Alkohol-
sucht schreiben oder ihre Bulimie oder ihre
Drogensucht. Ich sollte geradezu über die
Unverschämtheit der britischen Yellow Press
schreiben und wie sie Amy kaputt gemacht
hat. Aber das ist nicht, was von ihr bleiben soll.
*
2123
Richtig Sonne
Das Helmholtz-Zentrum Berlin hat eine neue
Solarzelle entwickelt, die einen Wirkungsgrad
von 32,5 Prozent erzielt. Noch nie zuvor ließ
sich so viel einfallende Sonnenstrahlung in
Strom umwandeln. Toll! Aber da ist noch mehr
drin. Bisher nutzen wir nur einen kleinen Teil
des Sonnenlichts, das die Erde erreicht. Dazu
kommt die viele Sonne, die anderswo in unse-
rem Planetensystem ungenutzt scheint. Das ist
nicht sehr effizient. Der 2020 verstorbene
Physiker Freeman Dyson hatte einst eine theo-
retische Anlage erdacht, die alles Sonnenlicht
einfangen und nutzbar machen könnte. Viele
kleine Solarzellen-Satelliten umschließen unser
Zentralgestirn, zusammen bilden sie eine Hohl-
kugel – eine, so hat man das später genannt,
Dyson-Sphäre. Niemand geht davon aus, dass
sich so ein Konstrukt am Himmelskörper tat-
sächlich verschrauben lässt, erst recht nicht in
Was von ihr bleiben soll, sind die Musik und den nächsten hundert Jahren. Andererseits war
ihre Sehnsucht. Amys Sehnsucht danach, ge- früher auch niemand davon ausgegangen, dass
liebt zu werden, ihre Eifersucht, ihre Unsicher- man aus Sonnenlicht so viel Strom machen
heit, ihr Unvermögen, ihre Emotionen und kann; und manchmal geht alles schneller, als
Affekte zu kontrollieren. All das steckt in ihren man denkt. Bundeskanzler Olaf Scholz hat ge-
Texten und anfangs in ihren Augen, die am rade erst »das neue Deutschlandtempo« gelobt.
Ende nur noch Leere ausstrahlten. Amy Wine- Womöglich also werkelt irgendein Helmholtz-
house wäre am 14. 9. 2023 vierzig geworden. Zentrum schon bald an der Umsetzung von
Allen Schmerz, den sie am Leben empfunden Dysons Idee, und im Jahr 2123 feiern wir die
hat und an dem sie zugrunde gegangen ist, hat Geburtsstunde der ersten Dyson-Sphäre. Also
sie in ihrer Musik und ihren Texten auf der nicht wir, denn wir sind in hundert Jahren na-
Welt zurückgelassen. ANDREA PETKOVIĆ türlich alle tot. L ARS WEISBROD
50 FEUILLETON 29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1

* * * *
26. 8. 1898 10. 5. 1923 23. 4. 1923
Peggy Guggenheim Sombart, Koselleck
Das rauschende Fest zum 60. war sicher einer der
exzessivsten Momente, die das stille Wissen-
schaftskolleg im Berliner Grunewald erlebt
hatte. Monatelang hatte der Stipendiat Nicolaus
Sombart seine Feier unweit im Schlosshotel
Gehrhus geplant, inklusive Blumenmädchen aus
dem nahe gelegenen Bordell und einer Travestie-
Foto: Archiv Stefan Moses/Sammlung Fotografie/Münchner Stadtmuseum; Illustrationen: Tim Lahan für DIE ZEIT
2. 7. 1923
Wisława Szymborska
Die außergewöhnlichste Lyrik des 20. Jahr-
hunderts wurde in polnischer Sprache ge-
schrieben, so hat es der russische Dichter und
Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky
einmal gesagt. Wenn es dazu noch eines Be-
weises bedurfte, dann ist es dieser: Die pol-
nische Lyrikerin Wisława Szymborska
nur durch jenes Nichtwissen weiter gekom-
men war. In ihrem Gedicht Das Ende eines
Jahrhunderts heißt es bei Szymborska: »Wie
leben? – fragte im Brief / mich jemand, den
ich dasselbe / hab fragen wollen. / Weiter
und so wie immer, / wie oben zu sehn, es gibt
keine Fragen, / die dringlicher wären als die

show während des mehrgängigen Essens. Mit brauchte kein großes Werk, um eine Unver- naiven.« Wer solche Zeilen am Ende des ver-
dabei auch sein alter Heidelberger Studienfreund gleichliche zu sein. Szymborska brauchte nur gangenen Jahrhunderts schreibt, den muss
Reinhart Koselleck, der rätselte: »Wo hat er das drei kleine Worte, wie sie 1996 in ihrer die Poesie mehr als einmal gerettet haben.
viele Geld her? Das muss ihn doch mindestens Literatur-Nobelpreis-Rede gestand. Die Un- Alles konnte für Szymborska zum Gegen-
DM 25.000,– gekostet haben!« Dass Hubert vergleichlichkeit lag aber nicht darin, dass stand eines Gedichtes werden, das Wichtige
Burda wie so oft sein Füllhorn ausgeschüttet man sie nicht zu häufig aussprechen durfte, und das Unwichtige, das scheinbar Bedeut-
hatte, verschwieg der Jubilar an diesem Abend als wäre in ihnen ein Geheimnis verborgen. same und das Geringe, Makro- und Mikro-
und ließ es nur in seinem Journal intime durch- Im Gegenteil: Ihre Kostbarkeit bestand da- kosmos, in Krakau, der alten Königsstadt,
blicken, dem Tagebuch aus diesen Jahren. Nachts rin, dass man sie immer wieder aussprach, wo sie lebte, kam ohnehin alles zusammen:
wurde dann heftig getanzt. sie wiederholte, sie zermahlen ließ, was sich »In der Sprache der Poesie ist nichts gewöhn-
40 Jahre zuvor hätte niemand so ein Fest an Gemeinem, an Phrasen und Gewöhn- lich und nichts normal. Nicht ein einziger
prophezeit: Bevor Koselleck und Sombart um lichkeitsschutt in der Sprache abgelagert Stein und nicht eine einzige Wolke darüber.
1950 in Heidelberger Kneipennächten wein- hatte. Und diese drei Worte waren: »Ich Nicht ein einziger Tag und nicht eine einzige
selig über den Weltgeist sinnierten, waren beide weiß nicht«. Nacht. Und vor allem kein einziges Leben«.
jahrelang Soldaten gewesen, Koselleck auch in Es ist dieses produktive Unwissen, das So endete damals ihre Nobelpreisrede. Und
russischer Gefangenschaft. Zwei Überlebende Szymborska mit einer anderen berühmten gerade weil das so ist, ist auch kein Geburts-
machten ihren Weg: Koselleck wurde zum be- Landsfrau, der Chemikerin Marie Curie, tag wie der andere, schon gar nicht, wenn
deutendsten deutschen Historiker nach 1945, teilt, auch sie eine Nobelpreisträgerin, die in man 100 Jahre alt wird, eine Jahrhundert-
schaute in seiner Dissertation Kritik und Krise der Erforschung der Radioaktivität ebenfalls dichterin, nun erst recht. PETER NEUMANN
auf die wilden Geister des 18. Jahrhunderts,
erfand von Bielefeld aus die florierende Be-
griffsgeschichte, erforschte das Totengedenken.
Sombart, Sohn des Nationalökonomen Werner
Sombart, war kurz bei der Gruppe 47 dabei
und arbeitete später beim Europarat in Straß-
burg; seine Erinnerungsbücher machten Furo-
*
2013
Stets umwuselt von fünf, sechs Hunden: Peggy Guggenheim, re, wie auch seine Abrechnung mit dem Staats-
Herrscherin über Kunst und Lust rechtler Carl Schmitt, dem einstigen Mentor
seit Berliner Kindertagen, nunmehr lange ent-
zweit. Schmitt war auch für Koselleck der ent-
scheidende Anreger, man sah, las und schrieb
sich, Sombart hatte die beiden bekannt »Young and Beautiful« von Lana Del Rey
Geht es nach Peggy Guggenheim, ist die Amerikanerin, neureich, ungebildet, was konnte gemacht. Unterschiedliche Temperamente
Kunstgeschichte immer auch Sexgeschichte. Peggy Guggenheim schon wissen? Doch ihre brachten dann irgendwann Entfremdung: hier
Sie sammelte Gemälde, aber noch besessener Unerschrockenheit machte vieles wett. Ihrer der frivole europäische Freigeist Sombart, dort Das ist jetzt etwas für alle: Young and Beautiful Heute ist Lana Del Rey 37, und ihr Song
sammelte sie Männer, berühmte Männer wie New Yorker Heimat entflohen, stürzte sie sich der ironische, kunstsinnige Gelehrte Koselleck. von Lana Del Rey wird zehn Jahre alt. 2013 hat sie eingeholt. Auf Social Media schneiden
Max Ernst und Marcel Duchamp, Samuel ins Pariser Kaffeehausleben der Zwanzigerjahre, Koselleck und Sombart, das sind zwei Varian- haben Sie die tiefmelancholische Barockpop- Nutzerinnen und Nutzer Bilder von ihr auf den
Beckett und John Cage, die sie mal ehelichte, ließ sich von Man Ray fotografieren, spielte ten eines besonderen deutschen Jahrgangs. Denn Hymne mindestens einmal im Radio gehört. Refrain; zuerst ein paar Fotos von früher, dann
mal nach einer Nacht wieder entließ. Auch Tennis mit Ezra Pound, diskutierte mit James deutsche Glückskinder – das wurden eigentlich Oder als Hintergrund-Soundtrack bei einem ein paar aktuelle. Will you still love me when I’m
mit Jackson Pollock war sie im Bett, erzählte Joyce und gründete eine eigene Galerie in die anderen, die Jüngeren, die sogenannten Flak- Fan-Zusammenschnitt Ihres Lieblings-Fantasy- no longer young and beautiful? Bei den einen ist
sie später, doch es lief nicht so gut. »Er warf London, anschließend ein eigenes Museum in helfer mit ihrem legendären Jahrgang 1929, der films auf YouTube. Vielleicht waren Sie aber die Sängerin noch Mitte zwanzig, trägt glamou-
seine Unterhose aus dem Fenster.« New York. Und beide Male schrieb sie Kunst- das Land jahrzehntelang prägte: Habermas, auch wie ich 16 Jahre alt und hatten das Gefühl, röse Seidenkleider und bauchfreie weiße
Wer meint, die sexuelle Revolution habe erst geschichte. Dahrendorf und der jüngst verstorbene Enzens- zum ersten Mal so richtig gute Musik zu hören. T-Shirts, bei den anderen ist sie zehn Jahre älter,
1968 begonnen, kennt Peggy Guggenheim Sie war es, die Rothko, Motherwell, Pollock berger, Christian Meier, Walter Kempowski, Große, weltverändernde Kunst. hat etwas zugenommen und hält einen Coffee-
nicht. Sie war süchtig nach Avantgarde, so hat ihren ersten großen Auftritt ermöglichte. Die Peter Rühmkorf, Harald Juhnke und Eduard Nun, zehn Jahre später hat sich heraus- to-go-Becher in der Hand. Wie bei allen
sie es oft beschrieben, süchtig nach Surrealismus erstmals eine Ausstellung nur für Künstlerinnen Zimmermann; in der DDR Heiner Müller, Wer- gestellt: Große, weltverändernde Kunst war Frauen, die öffentlich älter werden, zu- oder
und abstrakten Expressionisten. Vor allem aber zeigte. Und die radikal neue Inszenierungs- ner Tübke oder Christa Wolf. Der Jahrgang 1923 es nicht. Aber als Teenager muss jeder durch abnehmen, nimmt man es ihr übel. Wer aus
war es eine Sucht nach dem Selbst: befreit von weisen erprobte, spielerisch, abenteuerlich, in hingegen hatte zeitlebens das Verbrechen des diese eine Phase, in der man Musik vor der aalglatten, normschönen Reihe tanzt, wird
allen bürgerlichen Masken, endlich lebendig! ihrem Wagemut bis heute ein Vorbild. Krieges und das Sterben in den Knochen und in allem hört, um den anderen zu zeigen: Ich bemerkt und bestraft.
1951 eröffnete sie in Venedig ihr berühmtes Ein Leben lang galt Peggy Guggenheim in der Seele, sie waren die, die wundersamerweise bin anders. Dafür eignete sich Young and Interessant ist das auch, weil Lana Del
Museum, das eigentlich kein Museum war. ihrer Familie als schwarzes Schaf. Erst in der noch einmal davongekommen waren. Loriot und Beautiful hervorragend. Melancholisch, ro- Rey in ihren Songs eigentlich auf ein Retro-
Hier wohnte, feierte, liebte sie, stets umwuselt Kunstwelt durfte sie sein, was sie sein wollte, Rudolf Augstein gehören dazu; der wortgewalti- mantisch, amerikanisch. Frauenbild setzt. Da geht es selten um femi-
von fünf, sechs Hunden. Als Zeichen immer- eine Exzentrikerin unter Exzentrikern. Ihr ver- ge spätere Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis Lana Del Rey mit schwarzem Lidstrich, nistisches Empowerment, sondern stattdes-
währender Vitalität stellte sie vor die Eingangs- dankt sich eines der schönsten Museen der hatte 1944 den Untergang seines U-Boots in der roten Lippen und Vintage-Flair – das zog vor sen um absolute Hingabe, verpackt in einer
stufen eine Pferdeskulptur von Marino Marini, Welt, mit einer Sammlung, die alljährlich Ostsee überlebt, 17 Mann starben dabei. Glück zehn Jahren, das zieht heute. Auf TikTok 1950er-Old-Hollywood-Ästhetik, die sich
darauf ein Reiter mit weit ausgestreckten Hunderttausende anzieht. Sie kommen, um hatten von vornherein Walter Jens und der His- gehen Ausschnitte des Songs immer noch 2013 auf der Plattform Tumblr großartig
Armen und einem ebenso weit abstehenden Marinos Reiterstandbild zu sehen (der Penis ist toriker Ernst Nolte: Beide untauglich für Hitlers viral, fast 190.000 Videos gibt es mittler- vermarkten ließ. »I’m not not a feminist«, hat
Penis. Wenn ein Kardinal vorbeischaute, heute festgeschweißt), sie erfreuen sich an Klee, Krieg, studierten sie stattdessen unter anderem weile. Die Gretchenfrage bleibt: Will you still Lana Del Rey 2020 in einem längeren Insta-
schraubte sie den Penis ab und versteckte ihn Giacometti, Max Ernst. Vor allem aber staunen in Freiburg, auch bei Martin Heidegger. So oder love me when I’m no longer young and beauti- gram-Posting erklärt und sich damit unab-
in einer Schublade, auch das hat sie oft und mit sie darüber, wie Peggy Guggenheim die Kunst so existenziell aufgeladene Lebensläufe allesamt, ful? / Will you still love me when I got nothing sichtlich wohl besser beschrieben, als sie es
einem gewissen Stolz erzählt. Guggenheim, die zu ihrem Leben machte. Und übrigens auch zu die diesen Jahrgang formten. Reinhart Koselleck but my aching soul? Wirst du mich noch lie- eigentlich wollte.
Herrscherin über Kunst und Lust. ihrem Tod. In einer Ecke des Skulpturengartens starb 2006, zwei Jahre später Nicolaus Sombart. ben, wenn ich nicht mehr jung und schön 2023 kommt nun ihr neues Album. Es ist
Wegen solcher Anekdoten wird sie von hinter dem Museum ließ sie sich begraben, Es bleibt das Staunen, was für Werke, was für bin? / Wirst du mich noch lieben, wenn ich das neunte. Zu einem Jahrzehnt Young and
manchen bis heute belächelt, abgetan als kapri- gleich neben Cappuccino, Gypsy und all ihren Leben, was für Feste aus diesen Erfahrungen her- nichts mehr habe außer meiner schmerzen- Beautiful kann man ihr jetzt schon gratulieren.
ziöse Narzisstin. Was konnte eine wie sie, anderen Hunden. HANNO R AUTERBERG vorgegangen sind. ALEX ANDER CAMMANN den Seele? Für Melancholie ist man nie zu alt. EVA SAGER

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DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022 FEUILLETON 51

* *
6. 5. 1943
James Turrell
Du starrst durch dieses große Loch in der
Decke des Museums, und der Abendhimmel
fliegt dir direkt ins Gesicht. Im nächsten
Moment saugt dich das All hinauf, dorthin,
wo die Sterne leuchten. Es ist ein Gefühl, als
reise man in einem Raumschiff mit Pano-
ramascheiben. Dabei sitzt man auf der Erde,
in einer Lichtinstallation von James Turrell.
Seine Kunst ist die Droge für all jene, die
keine Lust auf LSD haben.
In den schönsten Museen der Welt, auf
der japanischen Insel Naoshima, in den
argentinischen Anden, aber auch in Unna,
Freising und Berlin hat er Lichträume und
sogenannte Skyspaces geschaffen, in denen
wir uns verlieren können, staunen, herum-
tapsen wie im Traum. Manche Paare ermun-
tert diese Kunst sogar zum Sex. In einer
Turrell-Ausstellung in Hannover nahm das
mit dem Sex so überhand, dass zur Abschre-
ckung Kameras installiert wurden. Auch das
half nichts. Und so pflanzt sich seine Kunst
immer weiter fort.
Am 6. Mai wird James Turrell, der Groß-
meister des Lichts, 80 Jahre alt. Allerdings
sieht er schon lange wie ein altersloser Magier
12. 11. 1923
Loriot
aus, so hell leuchten seine weißen Haare und
der Vollbart. Als Sohn einer Quäkerfamilie
in Kalifornien geboren, lernte er bereits als
Teenager das Flugzeugfliegen. Er suchte da
oben die Landschaft ohne Horizont, den
Blindflug durch die Wolken. Und rekon-
struiert diese Seherfahrungen mithilfe
spezieller Lichtwellen und einiger architekto-
nischer Tricks auf der Erde.
An seinem größten Werk arbeitet er seit
1974, es soll der Petersdom im Turrell-
Universum werden: In einem erloschenen
Vulkan mitten in der Wüste Arizonas gräbt
er, ein kosmischer Maulwurf, Tunnel, baut
Höhlen und Gewölbe, von denen aus man
den Mond, die Sonne und andere Planeten
ganz neu sehen kann. Fast all seine Zeit
widmet Turrell jetzt diesem Roden Crater,
den er in den kommenden Jahren der
Öffentlichkeit zugänglich machen möchte.
Und kämpft dabei auch gegen die Lichtver-
schmutzung in Arizona. »Wir beleuchten die
Nacht vor allem aus Angst«, sagte er vor ein
paar Jahren im Gespräch. »Aber wenn alle
ihr Licht ausmachen, brauchen wir keine
Angst mehr zu haben.« TOBIAS TIMM

*
22. 10. 1943

Foto: Gerhard Westrich/laif; Illustrationen: Tim Lahan für DIE ZEIT

Catherine Deneuve
Sie ist so frei, weil sie unfassbar ist. In der
musikalischen Komödie Acht Frauen (2002)
singt Catherine Deneuve das Lied einer Frau,
die ihren Gatten betrügt, einen »Mann wie
alle anderen«. Ihr Liebhaber hingegen, der
liege ihr zu Füßen. »Er schenkt mir Autos,
Juwelen, sein Vermögen, er betet mich an,
er holt mir den Mond vom Himmel!« In
dem starbesetzten Film spielt François Ozon
mit den Leinwandpersönlichkeiten seiner
Darstellerinnen. Die glamouröse Catherine
Deneuve bekommt natürlich einen glamou-
rösen Part: eine Frau mit Marilyn-Frisur
und Leopardenmantel, die im bürgerlichen-
Schein lebt, aber ihr ganz eigenes schimmern-
des Mysterium und ihre Abgründe hat. Was
hier liebevoll überhöht wird, gilt für fast alle
Rollen dieser unergründlichen Schauspiele-
rin, die seit sechs Jahrzehnten das französi-
sche Kino zum Leuchten bringt.
Catherine Deneuve ist die sich selbst
Überraschende, der Star, der im Luxussport-
wagen mit quietschenden Reifen abbiegt,
wenn der Weg vorhersehbar wird. Mit
Jacques Demys Musical Die Regenschirme
von Cherbourg wird sie 1964 zur gefeierten
Jungschauspielerin und scheint es kaum er-
warten zu können, das Image der unterkühl-
ten blonden Schönen zu brechen: als para-
noide Männermörderin (in Roman Polan-
skis Ekel), als bürgerliche Ehefrau und maso-
chistische Prostituierte (in Luis Buñuels Belle
de Jour). In Die letzte Metro von François
Truffaut ist sie im von den Nazis besetzten
Paris zerrissen zwischen der Liebe zu ihrem
Mann, einem Theaterdirektor (Heinz Ben-
nent), und ihrem Begehren für einen jünge-
ren Schauspielerkollegen (Gérard Depar-
dieu) – und schafft es, beim Schlussapplaus
beide an die Hand zu nehmen. Sie spielt eine
bisexuelle Vampirin (Begierde) und flaniert
im Kolonialschinken Indochine im weißen
Hosenanzug als Plantagenbesitzerin durch
Vietnam. In den Filmen von André Téchiné
(Meine liebste Jahreszeit, Diebe der Nacht)
entwickelt sie in den Neunzigerjahren eine
ungeahnte Durchlässigkeit.
All diese oszillierenden Rollen, Figuren,
Bilder schwingen mit, wenn man sich heute
einen neuen Film mit Catherine Deneuve
anschaut. Ja, sie ist so frei, weil sie unfassbar
und doch immer in der Rolle ist. In dem
Film La Vérité (2019) des Japaners Hirokazu
Koreeda verkörpert sie einen egozentrischen
Kinostar, der nie Lust hatte, die Mutterrolle
auszufüllen. Eine Schauspielerin, die immer
nur spielen wollte – und weiterspielt.
Irgendwann geht Deneuve, wieder in
einen Leopardenmantel gehüllt, durch das
herbstliche Paris. Ewig könnte man ihr
dabei zusehen, wie sie ihrem Hündchen
Kastanien zukickt. K ATJA NICODEMUS
Er war ein Pionier. Er ging uns in die Peinlichkeit voraus: Vicco von Bülow alias Loriot
Loriot entstammte einer alten Offiziersfamilie,
und das verziehen manche Kritiker ihm nicht.
Sie stießen sich an etwas, was sie Aristokraten-
humor nannten: Sie warfen ihm vor, dass durch
jede seiner Figuren die Blässe, das Edel-
Täppische eines Mannes durchschimmere, der
sich mit dem Volk nicht gemein mache. Er
bleibe noch im Stolpern der Weltmann, der sich
von jenen distanziert, über die er stolpert.
Ein Charakterdarsteller, der sich nicht die
Hände schmutzig macht? So haben wir Vicco
von Bülow alias Loriot nie gesehen. Uns
erschien er wie ein Pionier: einer, der uns in die
Peinlichkeit vorausging. Einer, der den
Deutschen ihr Ungeschick gegenüber allem
Schönen, Gelungenen, Eleganten erträglich
machte, der Erste, dem sie erlaubten, dass er
ihre Umgangsformen verlachte. Denn er tat es
auf eigene Rechnung: In den Höllen der
Peinlichkeit, die er sich ausdachte, siedete er
selbst; er war sich stets der beste Darsteller.
Vor jedem Wort nahmen seine Figuren
einen Peinlichkeitsanlauf, der im Comicstrip
gern mit einem dezenten »Ähem« oder dem
Wörtchen »Räusper« wiedergegeben wird.
Durch Loriots Spiel ging immerzu der Ruck
der Selbstüberwindung. Seine Helden fürchte-
ten sich vor gesellschaftlicher Ächtung. Aber
das galt nur bis zu dem Punkt, da Angst in
Empörung umschlug und ihnen die Ächtung
egal war und die Gesellschaft gleich mit. So
gerieten sie für kostbare Momente außer sich.
Dass Dickens ein wichtiger Autor seiner
Jugend war, hat geholfen: Dickens bringt, wie
sein Landsmann Chesterton einmal sagte, sei-
nen Lesern die Botschaft nahe, dass es keine
uninteressanten Menschen auf der Welt gibt.
Bei Loriot lernt man etwas Verwandtes: Es gibt
keine unkomischen Menschen. Denn Komik
ist die Differenz zwischen dem, was ein Mensch
von sich selbst denkt, und dem, was die anderen
von ihm denken.
Loriot hat etwas Einmaliges geschafft, näm-
lich die Einführung eines Gattungsbegriffs in
die Umgangssprache, die Umbenennung von
Alltagskatastrophen in »Loriot-Situationen«.
Noch heute werden Zumutungen dadurch
erträglich, ja geradezu erhöht und sozusagen in
den großen Kanon aufgenommen, dass einer
der Beteiligten ausruft: »Das ist ja wie bei
Loriot!« Wenn aber etwas so ist wie bei Loriot,
kann es nicht vergeblich sein. Im Gelächter
über ihn ahnt man etwas Seltenes: das Gefühl
eines Zusammenhangs. Loriot ist seit elf Jahren
tot. Es ist seitdem keiner aufgetaucht, der den
Zusammenhang, das große, gute Gelächter,
wiederhergestellt hat. PETER KÜMMEL

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52 FEUILLETON 29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1

Literatur

Die Sachbuch-Bestenliste für Januar

*
1983 »Bevor es Google gab, gab es Jacob Taubes«, sagte ein Weggefährte einmal.
Jerry Z. Muller:

1
Professor der Apokalypse
A. d. Engl. v. U. Kömen;
(–)
Suhrkamp, 927 S., 58,– €
Taubes war einer der schillerndsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts:
Kosmopolit, Charismatiker, Hochstapler. Als Rabbiner überschritt er die
Grenzen zwischen Kritischer Theorie, christlicher und jüdischer Lehre. Diese

Fiat Uno fast 1000-seitige Biografie ist zugleich ein Epochenporträt. 55 Punkte

2
Andrea Wulf: Als Europa Ende des 18. Jahrhunderts mit der Ausnahme Frankreichs im
Fabelhafte Rebellen Griff absolutistischer Herrscher war, bildete sich in der Universitätsstadt Jena
A. d. Engl. v. A. Wirthensohn; eine Gruppe mit einer revolutionären Idee: Goethe, Schiller, Novalis, Schelling
(7) C. Bertelsmann, 528 S., 30,– € und Hegel glaubten an ein selbstbestimmtes Ich. Ein Buch über die Erfindung
des Individualismus und seine Ambivalenz. 42 Punkte

Foto: Shutterstock; Illustrationen: Tim Lahan für DIE ZEIT Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet – mehr als 70 Jahre

3
Jens Kersten:
Das ökologische später ist die Welt eine andere, der Klimawandel gefährdet die Lebensgrund-
Grundgesetz lagen. Der Münchner Rechtsprofessor Jens Kersten fordert eine Neuausrich-
(8) C. H. Beck, 241 S., 34,95 € tung des Verfassungstextes: Wir müssen uns nicht nur gegenüber »Gott und
den Menschen«, sondern auch gegenüber der Natur verantworten. 35 Punkte

4
Evan Osnos: Nach Jahren als Auslandskorrespondent kehrt Pulitzer-Preisträger Evan Osnos
Mein wütendes Land in die USA zurück und findet ein Land in der Krise vor. Seine Ursachen-
A. d. Engl. v. S. Gebauer; forschung reicht vom reichen Ostküsten-Örtchen seiner Kindheit über eine
(1) Suhrkamp, 635 S., 32,– € von der Opioidkrise geplagte Kleinstadt bis Chicago, das heute von Waffen-
gewalt und Rassismus zerrüttet wird. 34 Punkte
In den Fiat Uno passte eine fünfköpfige Familie
Eva Wolfangel: Während des Schlusslektorats bekam Eva Wolfangel einen Anruf. Ein Betrü-

Bei unserer Nachbarsfamilie in dem kleinen
italienischen Dorf waren abends die Fenster
offen, und das Licht war lange an. Die Kinder
durften nach dem Essen noch draußen auf der
Straße spielen, viel länger als wir, und sie hatten
5
Ein falscher Klick. ger behauptete, ihre Reisepassnummer werde für Drogengeschäfte benutzt, sie
dem Auto unterzukommen. Es gab ein biss- Hackern auf der Spur solle ihr Geld in Sicherheit bringen. Von Cyberkriminalität sind alle betrof-
chen Streit, aber am Ende fuhren sie los, der (–)
Penguin, 352 S., 18,– € fen. Wolfangel schildert diverse Fälle aus Sicht von Tätern, Ermittlern und
Vater hupte zum Abschied, und eine Hand Opfern – spannend wie ein Krimi. 27 Punkte
winkte aus dem Auto heraus, als ich ihm
nachsah. Ich hatte ein bisschen Angst um sie, Veronika Settele: Im 19. Jahrhundert waren Tiere auf den Straßen Berlins, Londons und Man-

einen gefälschten Gameboy. Die Familie be-
stand aus den Eltern, drei Kindern, zwei Kat-
zen, einem großen, grauen Hund, der immer
entzündete Augen hatte, und ich sah sie jeden
Sommer wieder. Der älteste Sohn hatte ein
BMX-Rad, er war so schön, dass ich ihn nicht
6
ich dachte, dass dieses kleine, spielzeughafte Deutsche Fleischarbeit hattans allgegenwärtig, Fleisch aber war Mangelware. Heute ist es umgekehrt:
Auto mit den dünnen Türen sie bei einem C. H. Beck, Tiere sind unsichtbar, Fleisch gibt es überall. Veronika Settele erzählt die
Unfall niemals schützen würde. Ich ging mit (–)
240 S., 18,– € Geschichte der Massentierhaltung: von den ersten künstlichen Befruchtungen
dieser Sorge zu meinem Vater, aber er mur- von Rindern bis zu den Tierrechtsdebatten der Gegenwart. 25 Punkte
melte hinter seiner Zeitung nur, dass es ein
gutes, weil sehr sparsames Auto sei. Jedenfalls Beginnend bei den Jägern und Sammlern über das Zarenreich und die

länger als ein paar Sekunden angucken konnte.
Unsere Familien waren nicht befreundet, wir
grüßten uns nur, aber manchmal, wenn der
Vater gute Laune hatte und seine Kinder durch
die Luft wirbelte, dann wirbelte er auch mich
durch die Luft. Vom Gartentor aus konnte ich
6
Orlando Figes:
kamen alle wieder von ihrem Ausflug zurück. Eine Geschichte Russlands Oktoberrevolution bis hin zu Putins Krieg zeichnet der Historiker Orlando
Einen Sommer später hörte ich meine El- A. d. Engl. v. N. Juraschitz; Figes die Geschichte Russlands nach. Wie beeinflussen Mythen, Ideologie
tern sagen, dass Adelio, so hieß der Vater der (–) Klett-Cotta, 448 S., 28,– € und Kunst den russischen Blick auf die Welt? Und wie lassen sich die aktuel-
Nachbarsfamilie, seine Arbeit in der Fabrik len Entwicklungen dadurch erklären? Ein umfassendes Panorama. 25 Punkte
verloren habe. Das Auto stand jetzt den gan-
zen Tag über auf dem Parkplatz, erst abends Andreas Höfele: Der Staatsrechtler Carl Schmitt galt als eine der umstrittensten Persönlich-

den Parkplatz sehen, der zwischen ihrem und
unserem Haus lag, dort stand ihr Fiat Uno
(klein und eckig, ein Zweitürer, 58 PS).
Der Fiat Uno wurde nur von dem Vater
gefahren, die Mutter schien die Wohnung
überhaupt nicht zu verlassen. Der Vater hatte
6
kam der Vater raus und fuhr davon. Gegen Carl Schmitt und die Literatur keiten des deutschen Geisteslebens, vor allem wegen seiner Rolle in der NS-
Ende der Ferien hatte der Fiat Uno dann Duncker & Humblot, Zeit. Weniger bekannt ist seine Liebe für die Literatur: Ob bei Shakespeare,
plötzlich weiße Türen und eine weiße Heck- 523 S., 49,90 € Flaubert oder Dada-Gründer Hugo Ball – detailliert zeigt der Philologe
(–)
klappe, die Lichter waren mit Klebstreifen Andreas Höfele, wie die Literatur Schmitts Denken geprägt hat. 25 Punkte
repariert. Meine Mutter stellte das Essen auf
den Tisch und sagte – zu laut, fand ich –, Ian Kershaw: »Große Männer« bestimmen den Lauf der Geschichte – diese These galt als

lange Haare und trug Cowboystiefel, und so
lief er mit ungeduldigen Schritten über den
Parkplatz. Er stieg ein, kurbelte das Fenster
runter, das Radio ging an, er steckte sich eine
Zigarette in den Mund, dann fauchte der
Motor, und der Vater fuhr mit zu hoher Ge-
schwindigkeit von dem Parkplatz herunter,
9
Adelio habe einen Unfall gebaut, betrunken. Der Mensch und die Macht widerlegt, nach Putins Angriffskrieg bekommt sie neue Relevanz. In zwölf
Danach sah ich die Nachbarsfamilie län- A. d. Engl. v. K.-D. Schmidt; Porträts über Lenin, Mussolini, Tito, Kohl und Co. analysiert der britische
ger nicht, weil ich zu erwachsen war, um mit DVA, 592 S., 36,– € Historiker (und Hitler-Biograf ) Ian Kershaw den Einfluss Einzelner auf das
meinen Eltern Urlaub zu machen. Ich kam (–)
Heil und Unheil des Kontinents. 24 Punkte
erst zehn Jahre später wieder, alleine, und nun
war es die Mutter der Nachbarsfamilie, die
ich über den Parkplatz marschieren, das Ra- Adrian Daub: Weiße Männer über 40 dürfen nichts mehr sagen, ohne ihren Job zu riskieren –
Cancel Culture Transfer so lautet die Erzählung der Cancel-Culture. Ist da was dran? Adrian Daub

zu seiner Schicht in der Armaturenfabrik,
sagte meine Mutter. Der Fiat Uno war
dunkelblau und am Anfang nur an der Bei-
fahrertür ein bisschen verbeult.
An einem Wochenende machte die Nach-
barsfamilie einen Ausflug, zum Meer. Sie
standen auf dem Parkplatz, alle fünf, auch die
Mutter, die dunkle Ringe unter den Augen
hatte, aber sehr nett lächelte, ja, es lächelten
wirklich alle fünf an diesem Tag. Und ich
weiß auch nicht, wie, aber sie schafften es, zu-
sammen mit dem Hund, zwei Kühltaschen,
einem Sonnenschirm, zwei Klappstühlen
und einem aufgeblasenen Schlauchboot in
10
dio anmachen, sich eine Zigarette anzünden
und davonfahren sah, immer noch in dem Edition Suhrkamp, hat Diskussionen in Internetforen ausgewertet und zeigt: Aufgebauschte
Fiat Uno mit den weißen Türen. Sie machte 371 S., 20,– € Einzelfälle führten zu einer verzerrten Wahrnehmung. Seine Strategie-Emp-
(–)
Büros sauber, erzählte mir der schöne älteste fehlung in der emotionalisierten Debatte: »Kritisches Ignorieren«. 21 Punkte
Sohn, den ich jetzt nicht mehr schön fand
(nur noch die Augen), als ich ihn einmal auf
dem Parkplatz in der Sonne traf. Der Vater Jedes Jury-Mitglied der Sachbuch-Bestenliste vergibt monatlich an vier Sachbücher je einmal 15, 10, 6 und 3 Punkte.
Die Jury:
war nicht mehr da, sagte er, aber ich fragte
René Aguigah (Deutschlandfunk Kultur), Peter Arens (ZDF), Susanne Billig (Deutschlandfunk Kultur), Ralph Bollmann (FAS),
nicht, was passiert war, obwohl der Sohn Stefan Brauburger (ZDF), Alexander Cammann (DIE ZEIT), Gregor Dotzauer (Der Tagesspiegel), Heike Faller (DIE ZEIT), Daniel Fiedler (ZDF),
wirkte, als hätte er es mir gerne erzählt. Jenny Friedrich-Freksa (Kulturaustausch), Manuel J. Hartung (ZEIT-Stiftung), Thorsten Jantschek (Deutschlandfunk Kultur), Kim Kindermann
Ehrlich gesagt glaube ich, dass die Mutter (Deutschlandfunk), Inge Kutter (DIE ZEIT), Hannah Lühmann (Die Welt), Tania Martini (taz), Susanne Mayer (DIE ZEIT), Peter Neumann (DIE ZEIT),
immer noch denselben Fiat Uno fährt, sie Catherine Newmark (Deutschlandfunk Kultur), Jutta Person (freie Literaturkritikerin), Bettina von Pfeil (ZDF), Jens-Christian Rabe (Süddeutsche Zeitung),
fährt damit jeden Tag zur Arbeit. Vielleicht Christian Rabhansl (Deutschlandfunk Kultur), Anne Reidt (ZDF), Anna Riek (ZDF), Stephan Schlak (Zeitschrift für Ideengeschichte),
hoffe ich es aber auch nur. ANTONIA BAUM Hilal Sezgin (freie Autorin), Catrin Stövesand (Deutschlandfunk), Elisabeth von Thadden (DIE ZEIT)

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dem Licht der Welt
Residenzschloss Dresden, Sophienstr./Taschenberg/Schlossstr. Mi-Mo 10-18 Uhr
bis 22.01.2023: Kupferstich-Kabinett: Der letzte Romantiker. Albert Venus und
Gespannte Ruhe. Raimund Girke. Werke auf Papier 1957—2001
Semperbau am Zwinger, Theaterplatz 1, Di-So 10 - 18 Uhr
bis 16.04.2023: Reise ins Jenseits. Ägyptische Grabkunst aus der Dresdner
Skulpturensammlung
Tel. 0351-49142000, Besuchen Sie uns auch online: www.skd.museum
Stadtmuseum Dresden, Wilsdruffer Straße 2
27.11.2022 bis 29.05.2023: Heinrich Tessenow. Architektur und Möbel
www.stmd.de, Di-Do, Sa, So 10-18, Fr 10-19, 14-18 Uhr, So geöffnet
DUISBURG
MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst
04.11.2022 bis 05.03.2023: „MARTIN ASSIG – WEIL ICH MENSCH BIN“ und
„NORBERT KRICKE – BEWEGUNG IM RAUM“ 18.11.2022 bis 31.03.2023
www.museum-kueppersmuehle.de, Tel. +49 (0)203 301948 -11,
office@museum-kueppersmuehle.de, Philosophenweg 55, 47051 Duisburg, Mi 14-
18, Do-So, Feiertag 11-18, Jeden Sonntag um 15 Uhr öffentliche Führung
DÜSSELDORF
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
Präsentation der ständigen Sammlung
bis 22.01.2023: K20 & K21: Reinhard Mucha
bis 12.02.2023: K20: Mondrian. Evolution
Tel. 0211.8381-204, K20, Grabbeplatz 5 – K21, Ständehausstr. 1, Düsseldorf, Di-Fr
10-18, Sa, So, Feiertag 11-18 Uhr, 24./25./31.12. geschlossen
EMDEN
Kunsthalle Emden
11.11.2022 bis 21.02.2023: NOLDE/ROHLFS Zwei Künstlerleben
www.kunsthalle-emden.de, Tel. 04921 975050, Di-Fr 10-17, Sa, So, Feiertag 11-17
Uhr, 23., 24., 25. und 31.12. geschlossen, jeder 1. Di/Monat 10-21 Uhr
ERLANGEN
Kunstpalais, Kulturamt der Stadt Erlangen
10.12.2022 bis 05.03.2023: Pattern Recognition. Wiedersehen mit der Städti-
schen Sammlung Erlangen
www.kunstpalais.de, Tel. 09131 862735, Marktplatz 1, Erlangen
Stadtmuseum Erlangen
bis 12.03.2023: Intervention und Spurensuche. Regine von Chossy
www.stadtmuseum-erlangen.de, Martin-Luther-Platz 9
FLENSBURG
Museumsberg Flensburg
20.11.2022 bis 23.04.2023: PARIS! Schleswig-holsteinische Künstlerinnen und
Künstler in der Welthauptstadt der Kunst
www.museumsberg.de, tägl. 10-17, Mo geschl.
FRANKFURT AM MAIN
ARCHÆOLOGISCHES
MUSEUM FRANKFURT
25.11.2022 – 10.4.2023
MITHRAS
Annäherungen an einen römischen Kult
DEUTSCHES ARCHITEKTURMUSEUM
bis 15.01.2023: Nichts Neues. Besser Bauen mit Bestand im DAM OSTEND,
Frankfurt am Main
bis 22.01.2023: Best High-Rises 2022/23 – Internationaler Hochhaus Preis das
DAM zu Gast im Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main
Liebieghaus Skulpturensammlung
bis 08.01.2023: SPLENDID WHITE. Die Elfenbein-Sammlung Reiner Winkler im
Liebieghaus
www.liebieghaus.de, Tel. 069-605098-200, Schaumainkai 71, Di, Mi 12-18, Do-So
10-18 Uhr
MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST
bis 18.06.2023: MUSEUM MMK: Rosemarie Trockel
bis 01.01.2023: TOWER MMK: Stéphane Mandelbaum
mmk.art
SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT
bis 08.01.2023: GAURI GILL. ACTS OF RESISTANCE AND REPAIR
bis 19.02.2023: CHAGALL. WELT IN AUFRUHR
www.schirn.de, Tel. 069/2998820, Römerberg, Di-So 10-19, Mi, Do-22
Städel Museum
bis 05.03.2023: GUIDO RENI. Der Göttliche
bis 22.01.2023: VOR DÜRER. Kupferstich wird Kunst
bis 23.04.2023: Michael Müller: Der geschenkte Tag. Kastor & Polydeukes
www.staedelmuseum.de, Tel. 069-605098-200, Schaumainkai 63, Di, Mi, Fr-So
10-18, Do 10-21 Uhr
FRIEDRICHSHAFEN
Zeppelin Museum Friedrichshafen
bis 16.04.2023: Fetisch Zukunft. Utopien der dritten Dimension
Tel. 07541-38010, Seestr. 22, Öffnungszeiten unter www.zeppelinmuseum.de
GELSENKIRCHEN
Musiktheater im Revier
Großes Haus: Sa 19:00 Drei Männer im Schnee!/!So 20:00 Neujahrskonzert!/!Fr
18:00 Premierenfieber: Odysseus!/!Kleines Haus: Sa 19:30 Marlene und die
Dietrich, Tel. 0209/4097200
HAGEN
Kunstquartier Hagen
bis 12.03.2023: Hanns Friedrichs - Ich mache keine Mode, ich ziehe Frauen an
bis 29.01.2023: Vasily Klyukin - Mind Space
bis 05.02.2023: Li Yongzheng - Yes, today. Art as a life practise
www.kunstquartier-hagen.de, Museumsplatz 1, 59095 Hagen
HALBERSTADT
Gleimhaus - Museum der deutschen Aufklärung
bis 30.04.2023: Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch – Leben und Werk der
ersten deutschen Berufsschriftstellerin – Ausstellung zum 300. Geburtstag
38820 Halberstadt, Domplatz 31 – Tel: 03941-68710 – www.gleimhaus.de
HALLE (SAALE)
Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)
bis 08.01.2023: BATTLE:RELOADED. Margret Eicher: Medientapisserien Friede-
mann-Bach-Platz 5, 06108 Halle (Saale), www.kunstmuseum-moritzburg.de
HAMBURG
Bucerius Kunst Forum
08.10.2022 bis 15.01.2023: DIE NEUEN BILDER DES AUGUSTUS
Macht und Medien im antiken Rom
www.buceriuskunstforum.de, Tel. 040 / 360996-0, info@buceriuskunstforum.de,
Alter Wall 12, Hamburg, tägl. 11-19, Do 11-21 Uhr, 24.12.2022 geschl.
Deichtorhallen Hamburg
bis 12.03.2023: In the Heart of Another Country. Sharjah Art Collection
bis 26.02.2023: Paul Mpagi Sepuya/Alix Marie. Fotografie.
bis 19.03.2023: In der Sammlung Falckenberg (Harburg): Dieter Roth. Material-
und Druckgraphik.
www.deichtorhallen.de, Deichtorstr. 1-2, 20095 Hamburg, Di-So 11-18 Uhr, 31.12.
geschlossen, 1.1. 13-18 Uhr geöffnet
Ernst Barlach Haus
bis 19.02.2023: GEORGES ADÉAGBO. Hommage zum 80. Geburtstag
»À l’école de Ernest Barlach, le sculpteur«
www.barlach-haus.de, Jenischpark, Hamburg
HAMBURGER KUNSTHALLE
bis 10.04.2023: Femme Fatale. Blick – Macht – Gender
bis 15.01.2023: Atmen
bis 18.02.2024: Something new, something old, something desired
bis 31.12.2023: Making History. Hans Makart und die Salonmalerei des 19. Jh.
bis 31.12.2023: Impressionismus. Deutsch-französische Begegnungen
www.hamburger-kunsthalle.de, Tel. 040/428131200, Glockengießerwall 5, 20095
Hamburg, Di-So 10-18/Do 10-21 Uhr, 31.12. geöffnet von 10 bis 15 Uhr, 1.1. geöffnet
von 12 bis 18 Uhr
Museum am Rothenbaum - Kulturen und Künste der Welt
Benin. Geraubte Geschichte bis auf Weiteres (31.12.22-16.1.23 wg. technischer In-
standhaltung geschlossen)
Blitzsymbol & Schlangentanz. Aby Warburg und die Pueblo-Kunst bis 8.1.23
UnBinding Bodies. Lotosschuhe und Korsett bis 26.2.23
Hamburg und Tirol – eine Alpenfreundschaft? ab 10.12.22 bis 31.12.23
www.markk-hamburg.de, Rothenbaumchaussee 64, Di-So 10-18, Do-21 Eintr. frei
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
bis 20.08.2023: Made in China! Porzellan
bis 12.03.2023: Who‘s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt
bis 26.02.2023: Die Sprache der Mode
bis 23.04.2023: Contemporary Craft: Young-Jae Lee
bis 05.03.2023: Sorge um den Bestand. Zehn Strategien für die Architektur
bis 26.02.2023: audio-grafisch. 16 Entwürfe und ihre Enstehung
www.mkg-hamburg.de, Steintorplatz, 20099 Hamburg, Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr
Stiftung Historische Museen Hamburg - www.shmh.de
bis 31.07.2023: Museum f. Hamburg. Gesch.: Eine Stadt wird bunt
bis 10.04.2023: Museum der Arbeit: Wie alles begann
bis 15.07.2023: Altonaer Museum: Von hier nach dort
bis 13.02.2023: Jenisch Haus: Chiffren einer Stadt
INGOLSTADT
Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt
bis 17.09.2023: STEINREICH. Das Schneidhaus der Fugger in Augsburg
www.dmm-ingolstadt.de, Anatomiestr. 18-20, Ingolstadt, Di-So 10-17 Uhr
KARLSRUHE
ZKM Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe
bis 05.02.2023: Soun-Gui Kim: Lazy Clouds
bis 05.02.2023: Marijke van Warmerdam. Then, now, and then
bis 16.04.2023: Walter Giers. Eletronic Art
bis 23.04.2023: Matter, Non-Matter, Anti-Matter.
bis 04.06.2023: ole scheeren : spaces of life
Dauerausstellung: zkm_gameplay. the next level Ausstellungen Online:
ohne Enddatum Critical Zones – Virtuelle Ausstellung
bis 30.08.2023: Spatial Affairs Worlding – A tér világlása
bis 30.09.2023: Jazmina Figueroa. Call Signs
www.zkm.de, Tel. 0721/81000, Lorenzstr. 19, Mi-Fr 10-18, Do, Sa/So 11-18 Uhr
KASSEL
Fridericianum, Kassel
09.12.2022 bis 19.02.2023: nolde/kritik/documenta: ein Projekt des documenta
archivs, der Draiflessen Collection, der Nolde Stiftung Seebüll und Mischa Ku-
ball
https://www.documenta-archiv.de, Friedrichsplatz 18, Kassel, Di-So 11-18 Uhr
Museumslandschaft Hessen Kassel - Parks, Schlösser, Museen
Dauerausstellung: Schloss Wilhelmshöhe: Gemäldegalerie Alte Meister und
Antikensammlung, Hessisches Landesmuseum, Neue Galerie: about: docu-
menta
28.10.2022 bis 05.02.2023: Der Maler als Zeichner - der Zeichner als Maler. 300
Jahre Johann Heinrich Tischbein, Schloss Wilhelmshöhe
25.11.2022 bis 26.02.2023: Reise zum Vesuv - Anfänge der Archäologie am Golf
von Neapel, Hessisches Landesmuseum
www.museum-kassel.de, Di-So, Feiertag 10-17 Uhr
KIEL
Kunsthalle zu Kiel
bis 05.03.2023: 1+1=3 Die Kunstwelten der Mary Bauermeister
26.11.2022 bis 23.04.2023: Lovis Corinth – Die Grafik
Dauerausstellung: Wildes, Wüstes, Wunderschönes. Natur im Fokus der
Sammlung
www.kunsthalle-kiel.de, Tel. 0431/8805756, info@kunsthalle-kiel.de, Düstern-
brooker Weg 1, 24105 Kiel, Di, Do-So 10-18, Mi 10-20 Uhr
KLEVE
Museum Kurhaus Kleve
bis 29.01.2023: Schatzhaus & Labor. 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve
www.museumkurhaus.de, Di-So 11-17 Uhr
KÖLN
Kölnisches Stadtmuseum
Ausstellungsort: Maritim Hotel Köln, Heumarkt 20, 50667 Köln
bis 12.02.2023: 50 JAHRE HÖHNER
Museen der Stadt Köln:
Infos zu Ausstellungen und Veranstaltungen unter:
www.museen.koeln
Museum Ludwig Köln
bis 22.01.2023: Grüne Moderne. Die neue Sicht auf Pflanzen
bis 05.02.2023: HIER & JETZT im Museum Ludwig. Antikoloniale Eingriffe
bis 12.02.2023: Wolfgang-Hahn-Preis 2022. Frank Bowling
bis 12.03.2023: Kiss kiss. In memoriam Lady Renate Gruber
bis 30.11.2024: Schultze Projects #3 - Minerva Cuevas
Heinrich-Böll-Platz, 50667 Köln, Di-So 10-18 Uhr, 1. Do im Monat 10-22 Uhr
Museum Schnütgen
bis 19.03.2023: Magie Bergkristall
Cäcilienstr. 29-33, 50667 Köln, Di-So 10-18, Do 10-20, 1. Do im Monat 10-22 Uhr
Museum für Angewandte Kunst Köln (MAKK)
bis 26.03.2023: Susanna Taras. Blumen, Flowers, Fleurs
bis 12.03.2023: Ausgewählt I. Aspekte der Historischen Sammlungen
An der Rechtschule, 50667 Köln, Di-So 10-18 Uhr, 1. Do im Monat 10-22 Uhr
Museum für Ostasiatische Kunst
bis 31.03.2023: Handelsgut Global. Exportporzellan aus China und Japan
bis 10.04.2023: HORIZONTE. Qiu Shihua | Leiko Ikemura | Kimsooja | Evelyn
Taocheng Wang | Yu Duan
Universitätsstr. 100, 50674 Köln, Di-So 11-17 Uhr, 1. Do im Monat 11-22 Uhr
NS-Dokumentationszentrum
bis 08.01.2023: Haut, Stein
Appellhofplatz 23-25, 50667 Köln, Di-Fr 10-18, Sa, So 11-18, 1. Do im Monat 10-22
Uhr
Rautenstrauch-Joest-Museum
bis 08.01.2023: I MISS YOU! Über das Vermissen, Zurückgeben und Erinnern
bis 10.04.2023: LOVE?
Cäcilienstr. 29-33, 50667 Köln, Di-So 10-18, Do 10-20, 1. Do im Monat 10-22 Uhr
Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud
bis 16.04.2023: Die Karlsruher Passion. Ganz • Schön • Heftig
bis 23.04.2023: Sensation des Sehens. Die Sammlung Nekes: Vol. 1 Barock
bis 15.01.2023: Bann und Befreiung – Vom Lesen und Schreiben. Kuratiert von
Hanns Zischler
bis 26.02.2023: Susanna. Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo
Obenmarspforten, 50667 Köln, Di-So 10-18, 1. + 3. Do im Monat 10-22 Uhr
KREFELD
Kunstmuseum Krefeld
Kaiser Wilhelm Museum, Joseph-Beuys-Platz 1, Di–Do, So 11–17, Fr–Sa 11–18
bis 26.03.2023: On Air. Der Klang des Materials in der Kunst der 1950er bis
1970er Jahre
bis 05.02.2023: Shannon Bool trifft Otto Eckmann, Sammlungssatellit #8
ab 02.04.2022: Robert Stadler, K+ Café im KWM, Sammlungssatellit #7
ab 05.06.2020: Sammlung in Bewegung - 15 Räume 15 Geschichten
Haus Lange, Wilhelmshofallee 91–97, Di–Do, So 11–17, Fr–Sa 11–18
bis 26.02.2023: Maison Sonia. Sonia Delaunay und das Atelier Simultané
Haus Esters, Wilhelmshofallee 91–97, Di–Do, So 11–17, Fr–Sa 11–18
bis 26.02.2023: Andrea Zittel. Personal Patterns
Tel. 02151 975580, Besuchen Sie uns auch online: www.kunstmuseenkrefeld.de,
am 24./25./31.12. geschlossen
KÜNZELSAU
HIRSCHWIRTSCHEUER, Museum für die Künstlerfamilie Sommer
bis 19.02.2023: Die neue Heimat im Heiligen Land
Mi - So 11 - 17 Uhr, Eintritt frei, www.kunst.wuerth.com
MUSEUM WÜRTH
Krippen
täglich 11-18 Uhr, Eintritt frei, www.kunst.wuerth.com
MUSEUM WÜRTH 2
bis Frühjahr 2023: Weitblick – Reinhold Würth und seine Kunst
täglich 11-18, Eintritt frei, www.kunst.wuerth.com
LEIPZIG
GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Sonderausstellungen:
bis 08.10.2023: DIE GUTE MODERNE. Von der Passion, Design zu sammeln
bis 26.03.2023: BESESSEN. Die geheime Kunst des Polsterns
www.grassimak.de, Tel. 0341/2229100, Johannisplatz 5-11
Oper Leipzig
Opernhaus: Sa 19:00 Opern-Gala zum Jahreswechsel!/!So 17:00 Rachmaninow
Leipziger Ballett!/!Mi 19:30 Otello!/!Musikalische Komödie: Sa 18:00 Die Herzo-
gin von Chicago, www.oper-leipzig.de
LÜNEBURG
Kunstsammlung Henning J. Claassen
50 Jahre Zeitgenössische Kunst aus 5 Kontinenten
www.kunstsammlung-henningjclaassen.de, Do-So 11-18 Uhr
MANNHEIM
Kunsthalle Mannheim www.kuma.art
bis 05.03.2023: Becoming CoBrA. Anfänge einer europäischen Kunstbewegung
bis 23.04.2023: Von der Fläche zum Raum. Bildhauerzeichnungen ab 1945
Tel. 0621/2936423, Friedrichsplatz 4, Di, Do-So/Fei 10-18, Mi-20, 1. Mi/Monat-22h
Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim
18.09.2022 bis 26.02.2023: DIE NORMANNEN | normannen-ausstellung.de
30.09.2022 bis 30.07.2023: Die Welt am Oberrhein | Fotos von Robert Häusser
rem-mannheim.de | rem.buchungen@mannheim.de, Di-So, Feiertag
TECHNOSEUM, Landesmuseum für Technik und Arbeit
17.11.2022 bis 12.11.2023: Auf Empfang!
Die Geschichte von Radio und Fernsehen
www.technoseum.de, Tel. +49 (0) 621 / 42 98 - 9, info@technoseum.de, Muse-
umsstraße 1, Mannheim, tägl. 09-17 Uhr
METTINGEN
Draiflessen Collection
bis 26.02.2023: THE FINAL BID. Michael Pinsky
www.draiflessen.com, Tel. 05452/9168-0, Georgstr. 18, Mi-So 11-17, jeder 1. Do-21
MÖNCHENGLADBACH
Museum Abteiberg
bis 06.08.2023: SAMMLUNG/ARCHIV ANDERSCH
Feldversuch #2: Brecht – Filliou
09.12.2022 bis 07.01.2024: 100 JAHRE STIFTUNG WALTER KAESBACH
EXPRESSIONISMUS AM MUSEUM ABTEIBERG
www.museum-abteiberg.de, Abteistraße 27 / Johannes-Cladders-Platz
MÜNCHEN
Antike am Königsplatz - Staatliche Antikensammlungen
09.11.2022 bis 02.04.2023: Neues Licht aus Pompeji
www.licht-pompeji.de, Königsplatz 1, 80333 München, Di, Do-So 10-17, Mi 10-20
Uhr
Jüdisches Museum München
Dauerausstellung: Stimmen_Orte_Zeiten – Juden in München
bis 05.03.2023: Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg,
Eintritt frei
bis 21.05.2023: Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen ei-
ner Idee
www.juedisches-museum-muenchen.de, Tel. 089-233-96096,
juedisches.museum@muenchen.de, St.-Jakobs-Platz 16, 80331 München, Di-So
10-18 Uhr
Kunsthalle München
26.08.2022 bis 15.01.2023: JR: Chronicles tägl. 10–20 Uhr, 24.12. geschlossen,
31.12. 10–17 Uhr, 089/22 44 12, www.kunsthalle-muc.de, Theatinerstr. 8, München
Literaturhaus München ULM
22.12.2022 bis 30.04.2023: SIMONE DE BEAUVOIR & DAS ANDERE GE-
Museum Ulm
SCHLECHT 24. & 25.12. / 31.12. & 1.1. geschlossen
literaturhaus-muenchen.de, Tel. 089-291934-0, info@literaturhaus-muenchen.de, bis 16.04.2023: Protest! gestalten - Von Otl Aicher bis heute
Salvatorplatz 1, tägl. 11-18
bis 22.01.2023: Urformen – Figürliche Eiszeitkunst Europas
Museum Villa Stuck
Sonderausstellungen: bis 15.1.23: A Big Announcement. Bernd Kuchenbeiser bis 15.01.2023: Franco Clivio - Manifolds
zeigt Bücher und Schallplatten bis 08.01.2023: Otl Aicher 100 Jahre 100 Plakate (im HfG-Archiv)
bis 19.3.2023: Dayanita Singh. Dancing with my Camera www.museumulm.de, Tel. +49(0)731-161 4330, info.museum@ulm.de, Marktplatz
Dauerausstellung: Künstlervilla und Historische Räume von Franz von Stuck
9, 89071 Ulm, Di-So, Feiertag 11-17 Uhr, 31.12.2022 geschl.
www.villastuck.de, Die-So 11-18 Uhr, 1. Freitag im Monat 11-22 Uhr
Münchner Stadtmuseum Stadthaus Ulm
bis 08.01.2023: Nachts. Clubkultur in München bis 15.01.2023: Peter Bialobrzeski: URBANE RÄUME, Eintritt frei
bis 08.01.2023: München 72. Mode, Menschen und Musik
https://stadthaus.ulm.de, Mo-Mi, Fr, Sa 10-18, Do 10-20, So, Feiertag 11-18 Uhr
bis 05.03.2023: Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg
www.muenchner-stadtmuseum.de, St.-Jakobs-Pl., T. 089/23322370, Di-So 10-18
VÖLKLINGEN
Münchner Stadtmuseum
WELTKULTURERBE VÖLKLINGER HÜTTE
bis 07.01.2024: Nachts. Clubkultur in München
bis 31.12.2022: München 72. Olympische Spurensuche CHRISTIAN BOLTANSKI – Die Zwangsarbeiter | Erinnerungen - Zwei Dauerin-
bis 12.03.2023: München 72. Mode, Menschen und Musik
stallationen
bis 05.03.2023: Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg
11.12.2022 bis 03.09.2023: JULIAN ROSEFELDT. WHEN WE ARE GONE
www.muenchner-stadtmuseum.de, St.-Jakobs-Pl., T. 089/23322370, Di-So 10-18
NS-Dokumentationszentrum München www.voelklinger-huette.org, Besucherservice/Buchungen: T. 06898/9100100
Dauerausstellung: München und der Nationalsozialismus Wechselausstellung
TO BE SEEN. queer lives 1900-1950 Max-Mannheimer-Platz 1, 80333 München, WAIBLINGEN
Tel. 089-2336700, Di-So 10-19 Uhr, Di-So 10-19 Uhr, www.nsdoku.de
Galerie Stihl Waiblingen
MÜNSTER
19.11.2022 bis 12.02.2023: Gewitzt, gewagt, gezeichnet: Der Simplicissimus Die
Kunstmuseum Pablo Picasso Münster Schau stellt die wichtigsten Kunstschaffenden der politisch-satirischen Wochen-
bis 22.01.2023: Fernande und Françoise - Erinnerungen an Picasso schrift vor, darunter u. a. Olaf Gulbransson, Eduard Thöny und Käthe Kollwitz.
Boten der Nacht - Expressive Avantgarden in Deutschland 1918-1968. Die
Sammlung Sorst www.galerie-stihl-waiblingen.de, Tel. 07151-5001.1686, galerie@waiblingen.de,
Weingärtner Vorstadt 12, 71332 Waiblingen, Di, Mi, Fr-So 11-18, Do 11-20 Uhr
NEUMARKT IN DER OBERPFALZ
Museum Lothar Fischer, www.museum-lothar-fischer.de WIESBADEN
bis 29.01.2023: Hans Hofmann – Chimbote 1950. Farben für die neue Stadt
Museum Wiesbaden
Tel. 09181/510348, Weiherstr. 7 a, Mi-Fr 14-17, Sa/So 11-17 Uhr
bis 05.02.2023: Ernst Wilhelm Nay Retrospektive
NEUWIED
www.museum-wiesbaden.de, Tel. 0611/335-2250, Friedrich-Ebert-Allee 2, 65185
Landesbühne Rheinland-Pfalz
Wiesbaden, Di, Do 10-20, Mi, Fr 10-17, Sa, So, Feiertag 10-18
Sa, Di-Fr 19:30 Die Currywurst Queen Komödie von Susanne Dassel und Werner
Hausschild, Tel. 02631/22288 WÜRZBURG
NÜRNBERG
Museum im Kulturspeicher
GERMANISCHES NATIONALMUSEUM bis 15.01.2023: KONKRET GLOBAL!
bis 01.10.2023: Das Mittelalter Die Kunst des 15. Jahrhunderts. Preview
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 54
In die Tiefe gehen
VON ANSELM GRÜN
D S
ie zwölf Nächte zwischen Weihnach-
ten und Dreikönigsfest laden dazu ein,
innezuhalten: sich zu entschleunigen,
in der Stille das vergangene Jahr zu re-
flektieren und sich auf das neue Jahr
vorzubereiten. Doch statt der Stille lieben viele an
Silvester den Lärm. Das deutsche Wort »Lärm«
kommt von Alarm, das wiederum aus dem Italieni-
schen stammt: »all arme« – »zu den Waffen«. Man
benutzt Lärm als Waffe, um Dämonen zu vertreiben.
Doch die Dämonen – unsere Zwangsgedanken,
Ängste, Grübeleien, quälenden Sorgen – lassen sich
nicht mit Lärm vertreiben. Die Mönche haben im
4. Jahrhundert einen anderen Weg gewählt. Sie sind
in die Wüste gegangen und haben sich in der Stille der
eigenen Wahrheit gestellt. Sie haben sich ihre inneren
Gedanken angeschaut, sie nach ihrem Sinn gefragt
und sie auf diese Weise verwandelt.
Heute sehnen sich viele Menschen nach Ruhe.
Doch wenn es auf einmal ganz still wird, geraten sie
in Panik. Eine Frau sagte mir, sie könne nicht in die
Stille gehen, da würde ein Vulkan in ihr hochgehen.
Andere haben Angst vor der Stille, weil sie erkennen
müssten, dass ihr Leben nicht stimmt, dass sie an sich
vorbeileben. Die Mönche zitieren gern das Wort Jesu:
»Allein die Wahrheit wird euch frei machen.« Nur
wenn ich mich der eigenen Wahrheit stelle, kann ich
die Stille aushalten. Ich kann mich aber meiner Wahr-
heit nur stellen, wenn ich mich selber nicht bewerte
und wenn ich mich so, wie ich bin, ganz und gar von
Gott angenommen weiß.
Die Stille ist für die Mönche ein Weg zur ehrlichen
Selbsterkenntnis. Stille hat für sie auch reinigende
Kraft. Die Mönche vergleichen die Stille mit dem
Wein, der stehen bleiben muss, damit das Trübe sich
setzen kann. So reinigt uns die Stille von allen Trü-
bungen, die unser Denken und Sprechen verunreini-
gen. Doch meine inneren Gedanken zum Schweigen
zu bringen ist nicht so einfach. Denn mein Kopf redet
ständig über andere Menschen, er gibt Kommentare.
Die äußere Stille wird vom inneren Lärm der Ge-
danken gestört. Daher bedeutet Stille, dass alle meine
Vorurteile verstummen, dass meine Bilder sich auf-
lösen, die ich mir von mir selber und von anderen
Menschen gemacht habe. Unsere Begegnungen wer-
den durch unsere Vorurteile getrübt. Stille bedeutet,
diese Vorurteile zum Schweigen zu bringen. Sie wer-
den trotzdem in mir aufsteigen. Das kann ich nicht
verhindern. Aber indem ich sie anschaue, lasse ich sie
los und versuche, den Menschen frei zu begegnen.
Doch Stille bedeutet für uns Mönche noch mehr:
Wir sollen durch alle Gedanken und Gefühle, durch
alle Ängste und allen Ärger, durch Sorgen und Krän-
kungen hindurch in den Grund der Seele gelangen.
Für mich heißt das konkret: Ich setze mich still hin,
ich lasse alle Gedanken und Gefühle hochkommen,
die in mir aufsteigen wollen. Ich schaue sie an, frage
nach ihrem Sinn. Aber dann lasse ich sie los und gehe
durch sie hindurch in den inneren Raum der Stille,
der auf dem Grund meiner Seele schon da ist.
Ich muss diesen Raum der Stille nicht schaffen. Er
ist schon in mir. Oft bin ich nur abgeschnitten davon,
weil sich viele Sorgen darübergelegt haben. Dieser
Raum der Stille auf dem Grund meiner Seele ist ein
heiliger Raum. Heilig ist, was der Welt entzogen ist,
was allein mir gehört, wohin der Lärm der Welt nicht
vordringen kann. Da bin ich frei von den Erwartun-
gen und Meinungen der Menschen, da bin ich heil
und ganz. Verletzende Worte treffen mich weiterhin
emotional, aber in das innere Heiligtum können sie
nicht eindringen. Dort bin ich ganz ich selbst.
Wenn ich mit meinem wahren Selbst in Berüh-
rung komme, werde ich frei von dem Druck, mich
darstellen, beweisen, rechtfertigen, etwas vorweisen
zu müssen. Dort bin ich frei von Selbstvorwürfen und
Schuldgefühlen. Dort, am Grund meiner Seele, bin
ich ohne Schuld. Eins mit mir selbst, eins mit dem
Kosmos, eins mit Gott und eins mit allen Menschen.
Diese Erfahrung der inneren Einheit ist mir gerade
heute wichtig, da unsere Gesellschaft sich immer mehr
polarisiert und spaltet. In der Tiefe bin ich eins auch mit
denen, die völlig anderer Meinung sind, auch mit denen,
die im Konflikt mit mir stehen. In der Tiefe bin ich eins
mit den Menschen in der Ukraine, aber auch mit den
Menschen in Russland. Diese spirituelle Erfahrung re-
lativiert Konflikte und weckt die Hoffnung, dass das
innere Einssein langsam ins Bewusstsein aufsteigt und
unsere Beziehungen verwandelt.
Viele sagen mir: Der innere Raum der Stille, in
dem ich ganz frei bin, ist ja eine schöne Idee – aber
wie gelange ich dorthin? Ich glaube: Die Meditation
kann helfen. In der Meditation achte ich auf den
Atem und stelle mir vor, dass ich im Ausatmen in den
Grund meiner Seele gelange, wo ich einfach nur bin.
Oder ich setze mich in eine Kirche und stelle mir vor,
dass der heilige Raum auch in mir ist.
Mir hilft mitten im Alltag, etwa wenn ich in einer
Sitzung bin, in der es hitzig zugeht, mir vorzustellen:
Ich lasse mich ganz auf die Konflikte und Probleme
ein. Aber auf dem Grund meiner Seele ist dieser
Raum der Stille, dort haben die Konflikte und Pro-
Foto: Lena Giovanazzi
bleme keinen Zutritt. Das gibt mir mitten im Trubel
eine innere Gelassenheit, Zuversicht und Hoffnung.
Diese innere Stille – gepaart mit Hoffnung und Ver-
trauen – wünsche ich allen Lesern und Leserinnen in
der stillen Zeit der Raunächte.
Anselm Grün, 77, ist Benediktinerpater in der Abtei
Münsterschwarzach. Er war Wirtschaftsleiter, berät
Führungskräfte und ist als Schriftsteller erfolgreich.
Die Auf lage seiner Bücher liegt bei weltweit 20
Millionen, auch Papst Franziskus gehört zu seinen
Fans. Zuletzt erschien »Im Wandel wachsen« (Herder)
GLAUBEN & ZWEIFELN
STILLE
Die Fotografin Lena Giovanazzi fand dieses Wintermotiv im Südschwarzwald, im Tal der Kleinen Wiese
Seit alters gelten die Tage um den Jahreswechsel als heilige und heilende Zeit.
In der Kälte des Winters soll nicht nur die Natur, sondern auch der Mensch zur
Ruhe kommen. Wie das gelingt, erklären hier zwei Experten für das Seelenleben:
der Mönch Anselm Grün und der Psychoanalytiker Bernd Deininger.
Die beiden Freunde gründeten vor dreißig Jahren in der fränkischen Abtei
Münsterschwarzach das Recollectio-Haus, ein Therapiezentrum für Priester
und Ordensleute. Gemeinsam schrieben der Katholik und der Protestant vier
Bücher, zuletzt »Verstehen statt verurteilen«. Zu Neujahr erscheint im Vier-Türme-
Verlag »Glaube und Vernunft. Über die sinnstiftende Funktion der Religion«.
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
Zu sich kommen
VON BERND DEININGER
till wird es nicht nur zum Jahreswechsel,
still kann es zu jeder Zeit sein, das hängt
immer davon ab, wie hektisch unser Leben
vorher war. Viel Arbeit, große Veränderun-
gen, Abschiede – all das kann in uns den
Wunsch nach Rückzug wecken.
Ich hatte schon als Kind das Bedürfnis, mich zurück-
zuziehen. Durch den Beruf meines Vaters, der Staats-
beamter war, musste ich oft den Wohnort wechseln und
damit auch Schule, Milieu, Freunde. Gerade in der Ent-
wicklungsphase zwischen sechs und zehn Jahren ist es
wichtig, sich einen Platz in der Gruppe zu sichern, egal
ob man eher der Außenseiter, der Mitläufer oder der
Anführer ist. Wird man aus dem Vertrauten herausgeris-
sen, weckt das Ängste. Ich habe mir damals die Stille
gesucht als einen Schutzraum, um wieder Mut zu fassen.
Stille gehört zu den fünf Grundbedürfnissen, die
jeder Mensch von Geburt an hat: Essen und Trinken,
Selbstbehauptung, sinnliches Vergnügen, Bindung,
Rückzug. Wer als Kind keinen Rückzugsort hatte, weil
er vielleicht in einer Großfamilie aufgewachsen ist, kann
später Schwierigkeiten haben, seine Autonomie zu be-
haupten. Umgekehrt haben Kinder, die in instabilen
Beziehungen aufwachsen mussten, Schwierigkeiten mit
dem Alleinsein, weil sie sich schnell einsam fühlen.
Ein Rückzug in die Stille ist nur dann stärkend,
wenn ich mich angenommen und verstanden fühle.
Unsere gegensätzlichen Bedürfnisse nach Bindung
einerseits, Freiheit andererseits gehören zusammen.
Stillwerden und Beisichsein haben etwas Regenera-
tives, sie dienen der Beschäftigung mit meinem Inneren:
meinen Ängsten, meinen Aggressionen, meinen Begehr-
lichkeiten, meinen Enttäuschungen. Um zu mir zu
kommen, hilft meist schon ein Ortswechsel. Beim
Spazierengehen oder in einer Kirche sitzend kann ich
Konflikte klären. Das entlastet und entspannt. Natürlich
kann ich mir auch positive Dinge vergegenwärtigen.
Martin Heidegger hat die Stille als einen Ort be-
schrieben, wo Verborgenes Licht wird. Das tut uns zum
Jahreswechsel besonders gut: verflossene Lebenszeit
ebenso wie Kommendes beleuchten.
Mir persönlich genügt als Rückzugsort meine klei-
ne heimische Bibliothek, wo ich mich in den Sessel
setze, Bach höre und über das Dasein nachsinne.
Oder ich fahre an einen See und schaue über das Was-
ser, das gibt mir ein Gefühl von Gleichklang und
macht mich innerlich ruhig.
Alleinsein ist nicht Verlassensein, doch viele Men-
schen fürchten die Stille. Als Psychotherapeut weiß
ich von meinen Patienten, die unter Depressionen
oder Angststörungen leiden, dass sie sich dann schutz-
los fühlen. Stillwerden ist eine psychische Leistung,
die Selbstwertgefühl voraussetzt. Die Unfähigkeit,
still zu sein, macht krank.
Gerade am Jahresende leiden Menschen nicht nur
unter Einsamkeit, sondern auch unter Rastlosigkeit.
Die rührt vor allem daher, dass wir uns von altherge-
brachten Pflichten nicht frei machen und den Erwar-
tungen anderer genügen wollen, weil wir uns sonst
nicht geliebt fühlen. Es gehört aber zum Erwachsen-
werden, sich bewusst aus Verpflichtungen zu lösen.
Dabei hilft die Frage: Was tue ich, obwohl ich es
nicht will? Meist steckt dahinter der narzisstische
Wunsch, gut sein zu wollen. Dies aber führt zu Un-
zufriedenheit, Ärger und Wut. Wer das vermeiden
will, muss sich klar werden, was er wirklich will.
Stille ist die Kehrseite der Unruhe – und wir brau-
chen beides. Stille dient der Reflexion. Stille stabili-
siert. Trotzdem ist sie kein Allheilmittel. Gestresste
Menschen glauben gern, sie müssten nur für ein paar
Tage ins Kloster gehen, dann würden sich alle
Konflikte in Luft auflösen. Das ist Unsinn. Ich selber
habe in den Achtzigerjahren buddhistische Wochen-
schweigekurse ausprobiert, doch für mich war das
nicht passend. Am Ende musste ich mir eingestehen:
Ich bin Christ, kein Buddhist – und muss meine eige-
ne Art des Rückzugs finden. Ich lernte: Eine Stunde
mit Zigarre, Rotwein und Musik hilft mir.
Der Winter als Jahreszeit und die Stille als Geschehen
sind kreativ, denn sie machen es möglich, dass etwas
wächst und sich entwickelt. Solche Ambivalenzen ken-
nen wir Therapeuten auch aus der psychischen Entwick-
lung des Menschen: unabhängig und geborgen sein
wollen, Macht ausüben und sich unterwerfen. Ähnlich
ist es mit dem Winter. Wir lieben die Kälte, weil sie die
Wärme erst spürbar macht. Heute sitzen die Leute win-
ters am Kamin, im Mittelalter legten sie sich ins Heu.
Wir brauchen, um uns lebendig zu fühlen, den Gegen-
satz zwischen Frost und Feuer, zwischen Stille und Lärm.
Mein persönlicher Rückzug in die Stille des Jahres-
wechsels beginnt immer am 23. Dezember mit einem
Anruf bei meiner ältesten Tochter, die an diesem Tag
Geburtstag hat. Ich rufe sie nachmittags an, und dann
mache ich mich auf den Weg zu einem Bauern in der
Fränkischen Schweiz, um die Weihnachtsgans abzu-
holen. Ich komme als einer der Letzten, doch erst am
nächsten Tag bereite ich die Gans nach einem Rezept
meiner Großmutter zu. Am Vorabend, zwischen 20 und
23 Uhr, gehe ich allein spazieren, im Wald oder auf einen
Berg hinauf. Dann denke ich zum Beispiel über den
Glauben nach. Auch an den folgenden Tagen nehme ich
mir Zeit. Dann schaue ich in die Luft und hänge meinen
Gedanken nach. Das brauche ich, um im neuen Jahr
wieder aktiv am Leben teilzunehmen und ein guter Ge-
sprächspartner zu sein. Ich gehe also in die Stille, um
nachher ganz bei den anderen zu sein.
Bernd Deininger, 76, ist Psychoanalytiker, Nervenarzt
und evangelischer Theologe. Er gründete die Klinik für
Psychosomatik am Krankenhaus Martha Maria in
Nürnberg. Seit Jahren betreut er auch Mitarbeiter der
Kirche sowie Missbrauchsopfer und -täter. Er schrieb
»Wie die Kirche ihre Macht missbraucht« (S. Fischer)
ENTDECKEN
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1

Wie findet
man das
Glück?
Foto: imago

Vielleicht, indem man es gar nicht so sehr sucht, sagt KATERINA KITSIKOUDI . Sie muss es wissen: Sie hat im Casino gearbeitet
56
Mein griechischer Landsmann fluchte, weil nur ein Blackjack-Tisch
geöffnet war – und den bespielte ich. Er hielt mich für eine Hexe
M
Mit meiner Familie gehen wir im Januar immer ins
Casino und spielen für Glück im neuen Jahr. Das ist
quasi die Fortsetzung der griechischen Neujahrs-
kuchentradition: Bei der wird in einem salzigen Ge-
bäck (perfekt für den Kater am 1. Januar) eine Münze
versteckt. Der Kuchen wird dann unter den Familien-
mitgliedern aufgeteilt, wobei Jesus, das Haus und das
Geschäft auch ein Stück abbekommen können. Der-
jenige, der das Stück mit der Münze erwischt, hat an-
geblich das ganze Jahr über Glück. Es macht Spaß, sie
zu bekommen, aber wenn nicht, ist es auch kein Welt-
untergang; man freut sich für den Gewinner und hilft
dem eigenen Glück selbst auf die Sprünge. Bei mei-
nem ersten Besuch im Casino war ich gerade 18 ge-
worden, ich trug ein kleines Schwarzes, und mein
Vater gab mir einen Fünfziger zum Verspielen. Ich
verdoppelte das Geld beim Roulette.
Nach ein paar weiteren Besuchen begann ich mich
für die Croupiers zu interessieren. Da ich die Kunst des
Bierzapfens durch jahrelange Erfahrung in der Gastro-
nomie bereits einwandfrei beherrschte, bewarb ich mich
in einem Casino, um eine von diesen aufrecht stehenden
Menschen zu werden. Damals wusste ich noch nicht,
dass nur die wenigsten Spieler die Regel meines Vaters
befolgen: Man soll nur das Geld zum Spielen verwen-
den, dessen Verlust einem nicht wehtun würde.
Ich war damals 26 Jahre alt und studierte Kultur-
wissenschaften. Während der Semesterferien absol-
vierte ich eine sechswöchige Ausbildung zur Blackjack-
Dealerin. Das ist das Einstiegsspiel für Croupiers, dann
folgt Poker, die Königsklasse für Casinoangestellte ist
Roulette. Jeden Abend übte ich Handbewegungen wie
das Mischen von Karten und das Austeilen von Jetons.
Eine Runde Blackjack soll nicht länger als 60 Sekunden
dauern, denn das Casino verdient an jedem Spiel. Crou-
piers müssen die Anzahl an Jetons in einem Stapel
erfühlen können und diese gemäß einer Choreografie
ausbreiten und wieder zusammenlegen, um den Spielern
zu zeigen, dass der Gewinn korrekt ausgezahlt wird.
Außerdem wird schnelles Kopfrechnen mit einer Stopp-
uhr trainiert. Nach bestandener Ausbildung verbrachte
ich ein halbes Jahr lang jeden Freitagabend für elf Euro
noch was die Stunde im Casino.
Peter Sloterdijk schrieb in Weltfremdheit über
Methoden, sich von der Welt zu entfernen: Kloster,
Arbeit, Drogen. Der Mensch sei nicht in der Welt wie
der Stift im Etui, sondern wie der Pfeil ins Blaue. Im
Kommen ist das Gehen schon inbegriffen. Wir sind
gefangen zwischen Weltsucht und Weltflucht. Im
Casino kann man der Welt entfliehen. Es hat kirchliche
Qualitäten. Politik, Religion und Herkunft sind egal.
Weder eine Begleitung noch kommunikative Qualitäten
sind erforderlich. Die Welt bleibt draußen, drinnen ist
es warm und gedämpft, die Abläufe folgen einem
Regelwerk, für die Aufregung sorgt der Zufall.
Jeder kann rein, solange er die mittlerweile vieler-
orts verweichlichten Kleidervorschriften einhält. Nur
die Jogginghose hat Hausverbot. Ein paar Leute
machen sich noch fein fürs Casino, meine Mutter und
ich tragen Cocktailkleider, weil wir finden: Wenn
man schon die Weltflucht an so einem Ort sucht,
sollte man mit seinem Auftreten dem der Croupiers
und den Räumlichkeiten entsprechen.
Ich war beim Arbeiten oft die Jüngste am Tisch.
Die meisten Croupiers sind Männer mittleren Alters.
Wir alle trugen einen schwarzen Hosenanzug und
waren mit der Rolle verschmolzen.
An jedem Tisch steht ein Croupier. Zwischen zwei
Tischen wacht außerdem noch ein erfahrener Crou-
pier als Kontrollinstanz, um Rechenfehler zu vermei-
den. Einer der dienstältesten Croupiers ist Saalchef.
Theoretisch kann man dem erfahrenen Croupier
hinter sich sagen, wenn man angefeindet wird oder
etwas zu eskalieren droht, damit Sicherheitskräfte ge-
rufen werden. Praktisch ist die Reaktion meist: Reiß
dich zusammen, das gehört zum Beruf.
Herr von A. stand so aufrecht hinter mir, dass ich
mir vorstellte, in seiner Gegenwart könne nichts
umfallen, selbst wenn die Welt in Flammen aufginge.
Wegen dieses Mannes gewöhnte ich mir aufrechtes
Stehen an, man fühlt sich tatsächlich souveräner. Und
wenn ich eine Oma wäre (er stand kurz vor dem Renten-
eintritt), hätte ich ihn wahrscheinlich gedatet.
Am ersten Abend saßen vor mir ein halbes Dut-
zend Stammkunden. Der Herr mit dem Ferrari-T-
Shirt war jeden Abend da und verspielte dabei 200
bis 300 Euro. Er wusste, dass ich neu war, und sagte,
ich solle nicht so aufgeregt sein. Der Opa an der
Foto: Shutterstock
Casinobar lächelte mir aufmunternd zu. Er hatte sein
gesamtes Vermögen verspielt – samt seiner Familie
und sonstigen sozialen Kontakten –, durfte aber trotz
Sperrung noch zum Cappuccino-Trinken kommen.
ENTDECKEN
Das Ziel beim Blackjack ist es, mit den eigenen
Karten möglichst nah an die Zahl 21 heranzukommen,
ohne diese zu überschreiten, was man »überkaufen«
nennt. Gespielt wird gegen den Croupier – besser gesagt:
das Casino. Der Croupier gewinnt kein Geld, wenn die
Spieler verlieren. Er bekommt nur seinen Stundenlohn
und Trinkgeld. Es ist also besser für ihn, wenn die Spie-
ler gewinnen, weil sie dann mehr geben und bessere
Laune haben. Man fiebert mit ihnen mit. Um zu gewin-
nen, müssen sie einen höheren Wert als der Croupier
erreichen. Wenn jemand einen Zehner gesetzt hat, ge-
winnt er in dem Fall einen zusätzlichen Zehner von der
Bank. Trifft er die 21 exakt, bekommt er das 1,5-Fache
ausgezahlt. Wer sich überkauft, verliert seinen Einsatz.
Zunächst erhält jeder zwei Karten, dann werden die
Spieler gefragt, ob sie eine dritte oder sogar vierte möch-
ten. Der Croupier muss weitere Karten ziehen, bis er bei
17 angelangt ist, dann behält er sein Blatt.
Bei allen im Casino angebotenen Spielen gewinnt
statistisch gesehen immer die Bank. Die Automaten sind
am schlimmsten, deswegen werden sie »einarmige Ban-
diten« genannt. Beim Blackjack ist der Hausvorteil am
kleinsten. Die besten Blackjack-Strategien kann man
im Internet nachlesen. Es geht um Wahrscheinlich-
keiten. Bei einer 19 sollte man offensichtlich keine
weitere Karte ziehen, schließlich ist die Gefahr des Über-
kaufens exorbitant. Die Spieler wissen von der Existenz
dieser Tabellen und spielen meist trotzdem nach Gefühl.
Und Wahrscheinlichkeiten sind eben nur Wahrschein-
lichkeiten. Man kann zwar sagen, was statistisch gesehen
der beste Zug wäre, aber niemand weiß, welche Karte
der Dealer als nächste zieht.
Früher konnte man beim Blackjack zählen, welche
Karten noch im Deck sind. Das wird in Filmen wie 21
und The Card Counter gezeigt. Heute ist Zählen nicht
möglich, da nicht nur mit einem, sondern mit sechs
Kartendecks gespielt wird, die eine Maschine kon-
tinuierlich mischt.
Ich merkte immer erst bei der Ablösung durch
einen Kollegen, dass meine 45 Minuten vorbei wa-
ren. Man gerät in einen Flow-Zustand, weil bei all
den Zahlen und Handbewegungen keine Zeit bleibt,
um über etwas fernab des Tisches nachzudenken.
Im Pausenraum lag statt des königlich roten Teppichs
blaue Auslegware. Die Jacketts wurden aufgeknöpft, alle
nutzten ihre 15 Minuten zum Rauchen. Der Kollege,
mit dem ich die Ausbildung gemacht hatte, fragte, wie
es gelaufen sei. Wir sprachen über Gäste, weil wir noch
aufgeregt waren und jedes Mal hofften, keinen Fehler zu
machen. Die wenigen Croupièren solidarisierten sich,
schließlich bekamen sie mehr Kommentare ab als ein
Sechzigjähriger. Den älteren Kollegen entwich, wenn wir
die jüngsten Beschimpfungen besprachen, höchstens ein
Kopfschütteln. Sie schauten stoisch Fußball.
Am Tisch wurde ich von den Spielern freudig
empfangen, wenn es bei meinem Kollegen zu Ver-
lusten gekommen war. Der Croupier ist nur ein ver-
längerter Arm der Maschine, aus der er die Karten
zieht, aber die Spieler sind abergläubisch. Sie merken
sich, ob sie bei uns gewonnen oder verloren haben.
Der stattliche Opa breitete die Arme aus und be-
grüßte mich mit »Glücksfee«. »Siehst du die dicke Frau
dahinten?« Ich betrachtete die normalgewichtige Frau
und nickte. »Das geht gar nicht – wenn sie ein häss-
liches Gesicht hat, kann man wenigstens eine Tüte
drüberziehen«, erklärte er mir. Zwei Jünglinge, deren
teure Uhren wahrscheinlich von Papas Geld stamm-
ten, redeten – wie könnte es in dieser Umgebung (96
Prozent Männer) anders sein – über Frauen. Die vor-
geblich dicke Frau mit der blonden Ausgehlocke setzte
sich zu uns an den Tisch, und ich kam in den Genuss
einer amerikanischen Kundin. Sie gewann in kürzester
Zeit ein paar Tausender, verlor sie wieder, nannte mich
aber trotzdem durchgehend Honey. Währenddessen
landeten ein paar Hunderter im Tronc, unserer Trink-
geldbox, allerdings wird das Trinkgeld unter allen
Croupiers aufgeteilt. In einer edlen Bar hat man also
mehr von einem üppigen Trinkgeld.
Die Amerikanerin litt an der abgerissenen Glücks-
strähne. Ein bisschen Gier macht Spaß, zum Beispiel
noch ein Stück vom Kuchen zu nehmen; zu viel macht
unfrei und bedürftig. Das ist das Merkwürdige am
Leben: Man muss noch etwas wollen, sonst wäre man
bereit für den Tod. Gleichzeitig macht es frei, sich erfüllt
zu fühlen. Es braucht die Gewissheit, dass genug vom
Kuchen da ist, damit man ihn den anderen gönnen
kann. Es grüßt das Matthäus-Evangelium: Wer hat, dem
wird gegeben. Da jeder mal Glück hat, kann man es
selbst nicht immer haben. Ich denke inzwischen: Wenn
du Glück hattest, sei dankbar, aber geh.
Er war blond, blauäugig und zugekokst, in seinem
Stierblick lag Trauer. Er schaute durch mich hindurch.
Seine geballte Faust lag auf dem Tisch, auf seinem
Gesicht ein glänzender Schweißfilm. Ich wollte ihm
sagen, dass er aufhören soll, dass er das Glück hier
nicht finden wird, aber weder war ich dazu befugt,
noch kann man einen Junkie mit geladener Spritze
vor dem Abdrücken bewahren. Er spielte mit Hun-
dertern und hatte in den letzten 15 Minuten 3000
Euro an meinem Tisch verloren. Davon hätte ich drei
Monate leben können.
Er litt am Überreizen. Die Leute denken beim
Blackjack zu viel an die magische 21 und überkaufen
sich, dabei haben sie auch mit einer 15 oder 16 Ge-
winnchancen, schließlich kann sich der Croupier
auch überkaufen. Ich schlug ihm vor, mit Zehnern zu
spielen. Mein Vorgesetzter warf mir einen bösen
Blick zu. Der Spieler haute mit der Faust auf den
Tisch. Ich habe im Casino weder Tränen noch eine
Schlägerei erlebt, aber damals fürchtete ich einen
Angriff. Es war das einzige Mal, dass er den Blick auf
mich richtete. Ich konnte nichts für ihn tun.
Ich habe oft darüber nachgedacht, meinen Kunden
einen Theaterbesuch oder ein Essen mit mir anzubieten.
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
Ich würde weniger verlangen, als sie an einem Abend
verspielen, und mehr verdienen als am Blackjack-Tisch.
Vielleicht sind sie einsam, dachte ich, aber sie suchen
keine Begleitung. Manche suchen den Halt in den
geregelten Abläufen, andere den Kick.
Wenn die Restaurants schlossen, gehörte das
Casino dem Südosten. Wir waren unter uns. Männer
aus der Mittelmeerregion und Frauen aus Asien mit
Tigerprint-Oberteilen und rotem Lippenstift bevöl-
kerten die Tische. Frauen sind die besseren Kunden,
zumindest bildete ich mir das ein. Ab und zu hatten
wir Junggesellinnenabschiede, gute Kundschaft, die
interessiert nach den Spielregeln fragt und nicht mehr
Geld verspielt, als für sie gut ist.
Frauen sind auch die besseren, also besonneneren
Spieler. Sie wissen, wo ihre Grenzen liegen. Wenn
Männer mit ihren Frauen kommen, fungieren diese
als Wächterinnen.
Von Weitem sah ich eine bekannte Gestalt. Mein
griechischer Landsmann fluchte, weil nur ein Blackjack-
Tisch geöffnet war – und den bespielte ich. Er hielt mich
für eine Hexe. In der Vergangenheit wollte er mich schon
in Stücke zerschneiden. Nun sprach er mit seinem Be-
gleiter darüber, dass er unbedingt 250 Euro gewinnen
müsse, um Schulden zu begleichen. Er wusste nicht,
dass ich ihn verstehen konnte, und ich sagte nichts. Er
hatte Pech. Strategie hin oder her, beim Glücksspiel er-
scheinen manchmal Runde für Runde schlechte Karten.
Als ich es nicht mehr aushielt, als Hure und so
weiter bezeichnet zu werden, sagte ich leise auf Grie-
chisch: »Ich verstehe Sie.« Ich hoffte auf Mitgefühl
oder eine Entschuldigung, aber es wurde noch schlim-
mer. Ich informierte den Saalchef, der nur nickte. Er
verstand nicht, was der Mann mit den ungewaschenen
Haaren sagte, und er hatte sich daran gewöhnt, alles
an sich abprallen zu lassen. Ein Teil von mir hoffte,
dass der Gast gewinnt, damit er mich in Ruhe lässt,
ein anderer Teil wünschte ihm den Verlust.
Ich bin zu empathisch für diesen Beruf. Ich ertrage
es, »Hexe« genannt zu werden, aber bei zerstückelten
Körperteilen hört es auf. Der beste Weg, um im Casino
Geld zu verdienen, ist, dort zu arbeiten, sagt man unter
Croupiers. Ich liebte es, am Spieltisch die Zeit zu ver-
gessen, das Klackern der Jetons zu hören, mit meinen
Kunden mitzufiebern. Aber ich fühlte mich verantwort-
lich. In der Gastronomie bringt man Menschen das, was
sie bestellen. Als Croupière ist man der Wahrscheinlich-
keit ausgesetzt und bringt regelmäßig Unglück. Mir ist
bis heute nicht klar, ob der Saalchef oder eine Verwal-
tungsperson für Sperrungen verantwortlich ist, aber sie
nehmen ihren Job nicht ernst. Menschen, die ins Casino
kommen, um verlorenes Spielgeld wiederzugewinnen,
haben offensichtlich ein Problem. Ein Glas Crémant zu
trinken mag stilvoll aussehen, doch wenn man morgens
um sieben an die Supermarkttür hämmert, um mehr zu
bekommen, ist es vorbei mit dem Stil. Das nennt sich
dann Sucht. Der Staat verdient mit seiner Spielbanken-
abgabe auch an diesen Süchtigen. Für uns Croupiers
sind sie ein Test unserer Contenance. Ein Gewinn sind
jene, die zum Vergnügen spielen.
Das Casino hat am Wochenende bis um vier Uhr
morgens geöffnet. Wenn es voll und rauschhaft war,
herrschte bis zur letzten Runde Partystimmung. An
ruhigen Abenden blieben eher verbissene, traurige
Gestalten bis zum Schluss, in der Hoffnung, das Blatt
noch wenden zu können. Mein Kollege und ich
gingen nach Feierabend oft gemeinsam zum Bahnhof,
wo er Bedürftigen Zigaretten gab.
Das Casino ist kein Ort des Glücks oder Unglücks.
Es ist ein Ort des Vielfühlens. Die Teilnahme kostet,
und auf den Rausch folgt das Runterkommen. Man
muss bereit sein für die Rechnung. Und man darf
eben nicht süchtig werden.
Mein Opa war sehr oft in dieser Kirche, genauso
wie eine verstorbene Liebe und meine beste Freun-
din, die heute ihren Doktor macht, ihre Schulzeit
jedoch lieber im Casino verbrachte. Wenn ich diese
Menschen vermisse, wenn ich überfordert bin, setze
ich mich kurz rein. Ich spiele konservativ, aber ich
spüre ihre Gegenwart und lasse den Lärm der Welt an
mir vorbeiziehen. Für diese Recherche war ich noch
mal im Casino, habe einen Zwanziger eingesetzt und
bin mit 40 Euro Plus rausgegangen. Ich hatte Glück,
und dann ging ich nach Hause.
In meiner Familie denken wir, dass man sein Glück
selbst in der Hand hat und dafür arbeiten muss. Von
nichts kommt nichts. Und man sollte genießen. Lie-
ber ein Glas Cognac trinken als eine Flasche Wodka.
Wenn man es als seltenen Genuss betrachtet, klappt es
auch mit dem Casino. Allerdings wäre das Geschäft
nur mit solchen Kunden nicht lukrativ.
Mit dem Glück ist es wie mit Gott: Es ist beflü-
gelnd, wenn man daran glaubt, aber Glauben reicht
nicht aus. Die Welt schuldet dir gar nichts, Darling,
aber sie meint es gut mit dir. Jemand, der das Glück
schätzt, weiß, dass man auch mal verlieren muss.
Dann gewinnen eben die anderen. Und wenn man
sich erfüllt fühlt, ist das ganz erträglich.
Das Casino und ich führen eine pragmatische
Fernbeziehung. Wir vermissen einander nicht, aber
wenn wir uns sehen, freuen wir uns. Gespielt wird
überall, und zum Dealen braucht man keine großen
Sprachkenntnisse. Wer weiß, vielleicht lande ich
mal brotlos in Taschkent, und dann arbeite ich als
Croupière.
! www.zeit.de/vorgelesen

Francesco Giammarco
entdeckt: Muskelspiele
YouTube-Stars wie der »Leberkönig« predigen: Wer stark sein will,
muss rohes Fleisch essen. Aber glauben sie auch selbst daran?
K
ennen Sie die Krankheit Or-
thorexie? Eigentlich gibt es
die gar nicht offiziell, der Be-
griff wird verwendet, um ein
sehr zeitgemäßes Phänomen
zu beschreiben: Menschen, die sich so
intensiv mit »gesunder« Ernährung be-
schäftigen, dass es sie körperlich und psy-
chisch beeinträchtigt. Was als gesund gilt,
definiert dabei jeder selbst. Es gibt etwa
Leute, die es klug finden, fast ausschließ-
lich Fleisch zu essen. Man nennt das die
carnivore diet, und diese Ernährungsweise
produziert unterhaltsame Dramen.
Zu ihren bekanntesten Vertretern ge-
hört der kanadische Psychologe Jordan
Peterson. Als er im Spiegel vor einigen
Jahren porträtiert wurde, erzählte er, dass
eine Rindfleisch-Diät ihn von Depres-
sion, Schuppenflechte und Zahnfleisch-
bluten befreit habe. Das passte gut zu
seinem Image als konservativer Denker,
der dem verweichlichten veganen Zeit-
geist etwas entgegensetzt. Spannend wur-
de es, als 2020 herauskam, dass Peterson
acht Tage in Moskau im Koma lag. Wie
sich herausstellte, hatte ein Arzt ihm
schon vor Jahren wegen »Angstzuständen
und einer schlimmen Autoimmunreak-
tion auf Nahrung« Benzodiazepine ver-
schrieben, ein angstlösendes Medikament
mit hohem Suchtpotenzial. Der (unbe-
stätigte) Verdacht liegt nahe, dass die
Fleischdiät seine Probleme nicht wirklich
gelöst hatte und Peterson sich – weil
Abhängigkeit nicht zu seinem Selbstbild
passte – in ein künstliches Koma ver-
setzen ließ, um schnell von der Droge
wegzukommen. Was irre klingt, aber an-
scheinend möglich ist.
Fairerweise muss ich dazusagen, dass
Peterson eher ein Fleisch-Jünger ist und
weniger ein Fleisch-Apostel. Diese Rolle
fällt dem Liver King zu, einem Fitness-
Influencer (1,7 Millionen Follower), der
2022 zu einem Internet-Phänomen wur-
de. Was erstens daran liegt, dass er ein
bisonbärtiger Muskelberg ist, der wirk-
lich immer und überall oben ohne rum-
läuft. Und zweitens daran, dass er in
seinen Videos rohe Organe isst. Das und
sein »Vorfahren-Lebensstil« sind nach
eigener Aussage der Grund für seine
Stärke und seinen Erfolg. Wer das auch
will, aber keine Lust auf rohe Leber hat,
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RICHTIG GUTE LEUTE
entsprechenden Nahrungsergänzungs-
mittel kaufen. Ein Glück. Beschämender-
weise kam unlängst raus, dass der Liver
King mit Steroiden vollgestopft ist, gibt
er einem geleakten Einnahme-Plan zu-
folge jeden Monat Tausende Euro dafür
aus. Dabei hatte er immer behauptet,
natty, also natürlich zu sein. In einem
Foto: Anne-Sophie Stolz für DIE ZEIT
Entschuldigungs-Video erklärte er, es
habe sich um eine noble lie gehandelt,
eine ehrenvolle Lüge: Es gebe so viele
depressive und suizidale junge Männer
auf der Welt, denen habe er ein positives
Lebensmodell anbieten wollen.
Unfassbar geschockt von den betrüge-
rischen Machenschaften des Liver King
war auch sein »bester Freund« und Ge-
schäftspartner, ein Mann namens Paul
Saladino, im Netz bekannt als »Carnivore
MD«. MD steht für doctor of medicine. In dieser Woche freuen wir uns über: Monika Schönauer
Saladino lebt am Strand in Costa Rica,
wo er vor allem trainiert und surft. Sein In meiner Küche steht ein iPad mit permanenter Liveschalte nach virtuellen Führung meine neue Wohnung. Die gemeinsame Zeit am
medizinischer Rat: viel Fleisch und bloß München. Es ist ein Fenster, das mir den Blick in die Küche eines befreun- Bildschirm war so schön und vertraut, dass wir uns eine Dauerleitung
kein Gemüse. deten Ehepaars öffnet. Als Wissenschaftlerin und Neuropsychologin bin wünschten – und auf die Idee mit den alten Tablets mit einer sicheren
Regelmäßig filmt sich MD dabei, wie ich oft umgezogen – nach meinem Studium in München ging es zum Videoverbindung kamen. Seit zwei Jahren winken wir uns morgens beim
er Dinge in die Kamera hält, die er für Promovieren nach Tübingen, für den Postdoc nach Princeton, dann zum Kaffeekochen zu. Ich freue mich über die alltäglichen Treffen mit meinen
ungesund erklärt. Zufälligerweise immer Forschen an die Uni in Freiburg. digitalen Mitbewohnern. Dabei bin ich eigentlich gerne für mich – ich
solche, die als gesund gelten: »Grünkohl Während des Lockdowns fühlte ich mich einsam – ich videotelefonierte genieße meine Privatsphäre, Türen halte ich gerne geschlossen. Aber das
ist Bullshit«, sagt er, »Nüsse sind Bull- also jeden Abend mit zwei Freunden, zeigte ihnen anfangs bei einer Tablet schalte ich nur aus, wenn ich länger nicht zu Hause bin.
shit.« Rein evolutionär, erklärt er, würden
Pflanzen nicht gegessen werden wollen. Monika Schönauer, 34, ist Professorin für Neuropsychologie in Freiburg. Protokoll: Stefanie Witterauf
Weil sie aber weder fliehen noch kämp-
fen könnten, enthielten sie Giftstoffe.
Besser sei Fleisch, oder – Sie haben es er-
raten – die Tabletten, die man bei ihm
kaufen kann. Falls Sie auch das ein biss-
chen irre finden: Das MD in Saladinos B en i Bi schof den kt nach
Titel steht für Facharzt der Psychiatrie.
Es ist einfach so: Solange es Menschen
gibt, die unter einer zwanghaften Be-
schäftigung mit »gesundem« Essen lei-
den, gibt es natürlich auch welche, die
davon profitieren wollen. Ich muss dabei
immer an den Wilden Westen denken:
Da gab es sogenannte snake oil salesmen –
Quacksalber, die von Stadt zu Stadt
fuhren und Leuten nutzlose Mittelchen
andrehten.
Das amerikanische Freiheitsverspre-
chen umfasste immer auch die Freiheit,
Leute übers Ohr zu hauen. Wer sich
dabei erwischen ließ, wurde allerdings
brutal geteert und gefedert. Der kernige
»Vorfahren-Lebensstil«, wahrscheinlich ist
er wirklich nicht so gesund, wie die mo-
dernen Fleisch-Apostel behaupten.
Beni Bischof, 45, ist der Philosoph unter den Zeichnern. Er lebt in St. Gallen
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 58
A M GR A B VON
Natürlich war er auch nervig
und selbstverliebt. Aber von
seiner Kunst des Piesackens
können die meisten
»public intellectuals«
immer noch viel lernen
VON CHRISTOF SIEMES
GÜNTER GRASS
O
ch nö, nicht der
schon wieder! Hat
er nicht sechs Jahr-
zehnte lang die
Bundesrepublik und
den Rest der Welt
genug vollgetextet?
Fast 11.000 Seiten dick ist die jüngste Ge-
samtausgabe seiner Werke, dazu kommen
Bild- und Tonaufnahmen, die ein Archiv
in Bremen füllen. Als er 1957, damals noch
ein völlig unbekannter Lyriker, erstmals im
Kreis der Gruppe 47 vorlesen sollte, riet
ihm deren Gründer Hans Werner Richter:
»Aber laut und deutlich!« Daran hat er sich
in allen Lebenslagen gehalten. Und davon
müssen sich das Land, dessen Leserinnen
und Leser erst einmal erholen. Selbst der
Redakteur dieser Serie wollte den alten
Knurrhahn eigentlich nicht dabeihaben.
Ich habe ihn bequatscht, doch ans Grab
von Günter Grass zu dürfen – um mal zu
hören, ob er uns noch was zu sagen hätte.
Ich schreibe also auf Bewährung.
Den Weg weist mir die »Tour de
Grass«. Die Fahrrad-App ist eine der digi-
talen Schnickschnackereien, mit denen
das Günter-Grass-Haus in Lübeck ver-
sucht, seinen Museumsgegenstand fit zu
halten. Finanziert wurde sie vom Bundes-
landwirtschaftsministerium und vom
örtlichen Tourismusverband – offenbar
trauen die der Marke GG zu, zumindest
noch Urlaub in der Provinz promoten zu
können. (Was macht es da schon, dass
Illustration: Jan Robert Dünnweller für DIE ZEIT
Grass weder Fahrrad fahren konnte noch
je ein Mobiltelefon benutzt hat?)
Nach gut 20 Kilometern entlang des
Elbe-Lübeck-Kanals vom Museum aus
Richtung Süden bin ich am Ziel: Behlen-
dorf, ein Häuserhaufen mit Badesee, in dem
auch Grass gern schwamm. Ende der Acht-
zigerjahre war er hergezogen, Simulation
einer Art Rückkehr in die Heimat, die durch
deutsche (und damit auch seine) Schuld
verloren ging: Das Lauenburgische erinnerte
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ihn an seine Herzensgegend, die polnische
Kaschubei, Lübecks Backstein an die Ge-
burtsstadt Danzig. Anderthalb Kilometer
von seinem letzten Wohnhaus entfernt liegt
er nun; den Platz am Nordrand des Dorf-
friedhofs hat er noch selbst bestimmt. Auch
der Grabstein, ausgesucht von seiner Frau,
stammt von hier, ein Findling aus der sanft
gewellten Endmoränenlandschaft, die Sil-
houette ähnlich bucklig wie der späte Grass.
Inzwischen liegen sie beide darunter (Ute
starb im vergangenen Frühjahr), in selbst
designten Särgen. Dass das Ehepaar darin
noch zu Lebzeiten ein Probeliegen veranstal-
tet hätte, ist vielleicht nur eine von Grass
selbst gestreute Legende.
Durchaus ernst meinte er seine Regie-
anweisung für die eigene Beerdigung, er-
lassen 18 Jahre vor seinem Tod in Gestalt des
Gedichts Wegzehrung: Mit einem Sack
Nüsse und neuesten Zähnen wollte er be-
graben sein – »Wenn es dann kracht, / wo
ich liege, / kann vermutet werden: / Er ist
das, / immer noch er.« Ein Augenzeuge der
Trauerfeier versichert, die Nüsse seien wie
gewünscht am Platz, also mache ich den
Soundcheck. Unter meinen Schuhen
knirscht der Schnee, in den froststarren He-
cken zaghaftes Zirpen, ein Specht pocht. Auf
dem Grab ein paar vom Reif gezuckerte
Walnussschalen. Aber kein Krachen, nir-
gends. Selbst von der Blechtrommel kommt
kein Ton. Volker Schlöndorff, der Regisseur
der Romanverfilmung, hatte bei der Beerdi-
gung eine ins Grab geworfen. Zum Unmut
der Trauergäste übrigens; ein Foto davon ließ
die Witwe des Toten gerichtlich verbieten.
Sogar nach seiner eigenen lyrischen
Logik ist Günter Grass also ein bisschen
weg vom Fenster. Zwar vermeldet sein
Verlag vage »total solide« Taschenbuch-
verkäufe, die erkennen ließen, dass er
noch Schullektüre sei. Und das Museum
verzeichnet bei den Besucherzahlen ein
Rekordjahr. Aber seine diebische Vor-
freude, auch posthum Quälgeist der
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ENTDECKEN
Deutschen sein zu können, hat ihn wohl
getrogen. Warum auch sollte es ihm besser
ergehen als seinen Nobelpreiskollegen?
Der andere Lübecker etwa, Thomas
Mann, wurde schon zu Lebzeiten als
Klassiker mumifiziert. Und Grass’ Freund
Heinrich Böll erlebte erst mehr als 30
Jahre nach seinem Tod ein pflichtschuldi-
ges Comeback rund um seinen 100. Ge-
burtstag. Der sehr deutsche Drang zum
Denkmalsturz spielt wohl eine Rolle: Je
höher einer steigt und je voller er den
Mund nimmt, desto lieber sieht man ihn
irren, fallen, verstummen. Aber vielleicht
kann es nicht anders sein in einem Land,
das einmal völlig besinnungslos falschen
Helden hinterhergelaufen ist.
Natürlich hat sich Grass auch verrannt:
das lange Schweigen über seine SS-Mit-
gliedschaft, zuletzt das unselige Gedicht
über die Atommacht Israel. In seinem Haus
haben wir darüber und über vieles andere
immer wieder gestritten. Ich fahre zur Villa
am Waldrand überm Kanal – auch in Im-
mobiliengeschäften war der Kolonialwaren-
händlerssohn G. mindestens so clever wie
bei der Selbstvermarktung. Als Martin
Walser den Freund und Konkurrenten einst
für ein Doppelinterview mit der ZEIT hier
besuchte, machte er aus seinem glühenden
Neid keinen Hehl: »Mensch, Günter, sogar
deine eigene Showtreppe hast du hier!« Nun
führen die Stufen hinab ins Eisweiß des
weitläufigen Gartens. Weitere Verwendung
dieses Weltliteraturwinkels: ungewiss.
Zehn Tage vor seinem Tod am 13. April
2015 gab Grass mir hier sein letztes Inter-
view. Wir saßen im Nebengebäude, das
Bibliothek, Arbeitszimmer und Bildhauer-
atelier war. Und wie immer war mir ein
wenig bange vor dem rituellen Vorspiel,
jener Mischung aus Neugier und Inquisi-
tion, mit der er mich, an der Pfeife suckelnd,
über die ZEIT ausforschte: warum wir sei-
nen Werkstattbericht Sechs Jahrzehnte nicht
besprochen hätten oder wieso dieser eine
Einzigartige Orte
und ihre Gastgeber
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Herausgeber (Name ist der Redaktion be-
kannt) immer noch seinen Unsinn ver-
breiten dürfe. Erst dann kamen die eigent-
lichen Themen zur Sprache – schon vor
sieben Jahren war das unter anderem der
Krieg in der Ukraine. »Es gehört eben auch
die Erinnerung dazu, dass der Westen nach
dem Zusammenbruch des Warschauer
Paktes versagt hat«, dozierte Grass. »Man
hätte die Nato ebenfalls auflösen und ein
neues Sicherheitsbündnis schmieden müs-
sen. Das ist nicht geschehen, weshalb sich
Russland mehr und mehr eingezwängt sieht
– ob zu Recht oder zu Unrecht, ist eine an-
dere Frage. Das muss man im Kopf haben,
ohne gleich als Putin-Versteher dazustehen.«
Natürlich war all das mitunter vorher-
sehbar, nervig, selbstverliebt. Aber als ich
jetzt auf den steinernen Tisch zwischen
Haus und Atelier schaue, an dem die letzten
Fotos entstanden, denke ich: Hatte er nicht
oft die richtigen Dinge am Wickel? Dass
sich der Bundestag im Würgegriff der
Lobbyisten befinde, hatte er schon im alten
Jahrtausend beklagt – die Einführung des
längst überfälligen Lobbyregisters erlebte er
nicht mehr, die kam erst Anfang dieses
Jahres. Die Machenschaften der Treuhand-
anstalt hielt er von Anfang an für das Un-
glück der Wiedervereinigung; dazu musste
er nicht die Akten aus dem Inneren der Aus-
verkaufsbehörde kennen, die jüngst veröf-
fentlicht wurden. Doch allzu gern wurde
und wird seine Hellsichtigkeit als bloße
narzisstische Rechthaberei denunziert –
wohl auch, weil sein ewiger Klagesound
irgendwann monoton wurde. Lob und An-
erkennung für bereits Erreichtes waren
seine Sache nicht; der selbst ernannte Sisy-
phos sah immer nur neue Probleme, die es
zu wälzen galt. Dabei standen und stehen
ihm seine Landsleute in Sachen Selbstgefäl-
ligkeit in Wahrheit in nichts nach, deshalb
auch die verlässlichen Abwehrreflexe gegen
all seine Interventionen: Sie fühlen sich
ertappt. Von seiner Kunst des Piesackens
shop.zeit.de/hotels
29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1
können jedenfalls die meisten public intellec-
tuals von heute immer noch viel lernen.
Grass’ literarischer Stil, sein kaschubisch-
magischer Realismus, in dem es von alt-
klugen Zwergen, Quallenchören und be-
redten Mehlwürmern wimmelt, ist aus der
Mode. Zu üppig für den gegenwärtigen
Geschmack, wie die Rezepte, die der
Hobbykoch Grass so gern in seine Manu-
skripte einstreute. Heute, da schon beinahe
jeder Journalistenschüler einen Literatur-
agenten beschäftigt, ist Magerkost gefragt:
weniger Fantasie, weniger Handwerk. Im
Zeitalter der Identitätspolitik gilt nur das
Selbsterlebte als zulässig und kunstfähig; es
wird dem Fetisch des Authentischen ge-
huldigt, den Selbstmikroskopierungen à la
Knausgård oder Filmen nach »wahren Be-
gebenheiten« sowie True-Crime-Formaten
aller Art. Grass gilt nun vornehmlich als Fall
für die Literaturwissenschaft.
Dabei wäre er heute glatt instagramable,
nicht nur auf seiner privaten Showtreppe.
Wo heute die Aktivisten von Fridays for
Future demonstrieren – an den Abbruch-
kanten des Braunkohletagebaus –, saß er
schon Ende der Achtziger und fertigte in
der Lausitz Skizzen der Höllenlöcher.
Deutschlands Oberförster Peter Wohlleben
sieht sich in der Nachfolge des Waldläufers
Grass, der mit Rucksack und Zeichenkohle
in die Fichtenplantagen stapfte, um Mate-
rial für sein Baumrequiem Totes Holz zu
sammeln. Und auch ein Roman wie Die
Rättin, in dem sich die Menschheit durch
Umweltzerstörung und Atombomben zu-
grunde gerichtet hat, wird nun, da Flüsse
austrocknen und russische Raketen um
ukrainische AKWs pfeifen, ganz anders
wahrgenommen als beim Erscheinen 1986.
Damals wurde die Apokalypse verrissen,
heute erscheint ihr Autor als früher Protago-
nist der Eco-Fiction. Selbst das Stigma, ein
prototypischer Vertreter des mansplaining
und der Spezies »alter weißer Mann« zu
sein, haftet nicht mehr ganz so fest: Für den
Günter Grass (1927–2015):
»Wenn es dann kracht,
wo ich liege«...
Butt, seine epische Variation des Märchens
vom Fischer und seiner Frau, verlieh ihm
die Zeitschrift Emma 1977 noch den Titel
»Pascha des Monats«. Nun schreibt eine fe-
ministische Buchhändlerin in der ZEIT:
»Dass er die Geschicke der Welt lieber in
den Händen von Frauen statt Männern
gesehen hätte, überrascht mich bis heute.«
In der Behlendorfer Friedhofsruhe ver-
stehe ich noch etwas anderes besser. Im
Unterschied zu heute, da sich jeder Tiefkühl-
pizzabäcker als Weltretter aufspielt, war
Grass nie nur ein Maulheld. Er, der Ein-
Mann-Weltkonzern, nutzte Ruhm und
Reichtum dazu, hinter den Kulissen und
ohne jedes Getön das zu vollbringen, was
man wohl gute Werke nennen kann. Er för-
derte Slum-Kinder in Kalkutta, die Kultur
des Romavolks und rief Stiftungen und
Preise ins Leben für Künstlerinnen und
Künstler verschiedener Sparten. Wie bei
seinem bewunderten Vorbild Fontane,
dessen Herr von Ribbeck mit seinem Birn-
baum als Toter weiterhin Segen spendet,
geht auch all die Grass’sche Saat nun weiter-
hin auf. Besonders stolz war er auf einen
Deal, den er mit der Stadt Berlin schloss: Er
schenkte ihr sein früheres Wohnhaus im
Dorf Wevelsfleth an der Elbe, die von ihm
tipptopp sanierte Vogtei von 1698 – unter
der Bedingung, dass der Senat Schriftstellern
in dem Fachwerkhaus ein Aufenthaltsstipen-
dium gewährt. Das machen die Berliner brav
seit fast 40 Jahren, wie auch anders: Würden
sie ihren Teil der Abmachung nicht einhal-
ten, fiele das Haus an Grass’ Erben zurück.
So lebt er in aller Stille auch jenseits
seiner Bücher fort. Nach der üblichen Arith-
metik der Erinnerungsindustrie wird es
spätestens 2027 auch wieder ein bisschen
krachen – dann ist hundertster Geburtstag.
In unserer Serie »Am Grab von ...«, die
in loser Folge erscheint, statten wir
den Großen und manchmal Vergessenen
der Vergangenheit einen Besuch ab
DIE ZEIT N o 1 29. Dezember 2022
Igor Pigrich zeigt ihnen die Welt
Er fuhr wohlhabende Russen durch Europa. Jetzt sitzen viele Ukrainerinnen in seinem Bus. Und er fängt wieder von vorn an
D
ie Bustour nach Amsterdam
kostet in Igor Pigrichs Reise-
büro 59 Euro, und im Grunde
ist sie auch eine Tour durch
sein Leben. Was weniger an
Amsterdam liegt, eher am
Reiseleiter Pigrich selbst, dem,
einmal in Amsterdam angekommen, an jeder Ecke
eine Geschichte aus seiner Vergangenheit einfällt,
die er dann auch gleich zum Besten geben muss.
Pigrich steht also vor dem Rembrandthaus, wie
immer ganz in Gelb: gelbe Kappe, gelbe Daunen-
jacke, gelber Schirm, in der Hand eine Plastik-
Sonnenblume. Und wie er da so steht, erinnert er
sich, dass er zu Hause in Hannover vor 21 Jahren
jeden seiner künftigen Nachbarn um schriftliche
Erlaubnis bitten musste, bevor er in seine Woh-
nung einziehen durfte. Bis heute spekuliert er,
warum: Weil in dem Haus vor ihm kein Ausländer
lebte? Weil seine Freundin schwanger war?
Vor der Nationaloper wiederum fällt ihm ein,
dass er hier mal einen ehemaligen Schüler aus
Moskau getroffen hat. Der war nun Striptease-
tänzer und lud ihn ein zu seiner Show. Pigrich be-
richtet vom begeisterten Publikum im Rotlicht-
viertel, von Geldscheinen in Boxershorts und dem
verschwitzten Gesicht des Schülers, der sagte, nun
habe er seinem alten Lehrer aus der Sowjetunion
gezeigt, dass aus ihm noch was geworden sei.
Es ist eine anekdotenreiche Fahrt im heute nicht
ganz ausverkauften Reisebus des ehemaligen Mos-
kauer Geschichtslehrer Igor Pigrich, der 1989 aus der
Sowjetunion in den Westen aufbrach, um schließlich
in Hannover sein kleines Reiseimperium aufzubauen.
Vor Frens Haringhandel empfiehlt Pigrich seiner
Reisegruppe den Hering im Brot, der ihn, natürlich,
an eine osteuropäische Spezialität erinnert. Der He-
ring schmecke fast wie Salo, ukrainischer Schweine-
speck, den auch die russische Küche liebt. Die
Gruppe stellt sich freudig tuschelnd an; den Speck
kennen sie alle, die russischsprachigen Deutschen
und die ukrainischen Flüchtlinge, die Pigrich, mitt-
lerweile auch schon 63 Jahre alt, heute auf einer
Neun-Stunden-Tour durch Amsterdam scheucht.
Um 7.19 Uhr ist Pigrich in den Bus gestiegen,
ganz schön genervt, weil ihn der Anruf eines Fahr-
gasts geweckt hatte. Jedes Mal passiere das, sagt
Pigrich, irgendwer habe immer noch eine Frage,
wenigstens verschlafen habe er so noch nie, seit
dreißig Jahren nicht. Er wohnt in der Nähe seines
Reisebüros, der kurze Weg zur Arbeit ist ihm wich-
tig. Hat er auch zu seiner Freundin gesagt, als sie
sich vor 22 Jahren beim Tanzen kennenlernten:
Die Arbeit bleibe seine Nummer eins. Nun arbei-
ten sie gemeinsam bei »CliP Reisen«, beantworten
Anrufe, füllen Excel-Tabellen aus, planen russisch-
sprachige Busreisen durch Europa.
In den Tagen vor der Fahrt saß Pigrich an der
Statistik für dieses Jahr. Sie erinnere ihn auf eine
seltsame Art an die Jahre 1994/95, sagt er. Vierzig
von sechzig Reisen gingen bisher nach Paris oder nach
Amsterdam. Das sind die günstigsten Touren,
Die Sonnenblume weist den Weg durch Amsterdam: Pigrich ist ein friedliebender Mensch, aber mit Sicherheit kein diplomatischer
Europa-Quickies: Disneyland, Eiffelturm, Madame
Tussauds. Schnell ein Foto und wieder zurück. Pigrich
kann das alles eigentlich gar nicht mehr sehen.
Seine Abneigung hat weniger mit Amsterdam
oder Paris zu tun, sondern vor allem mit dem
Gefühl, als sei er selbst zurück auf Los gefallen.
Diese Reisen erinnern ihn an die Neunziger, als er
Flyer in den Wohnheimen russischer Spätaussiedler
verteilte und begann, die Sehnsüchte ehemaliger
Sowjetbürger nach dem Westen zu stillen.
Irgendwann buchten seine Reisen nicht nur
russischsprachige Deutsche, sondern immer häufi-
ger deren Freunde und Verwandte aus Russland
und der Ukraine, wenn sie in Deutschland zu Be-
such waren. Italien, Schweden oder Côte d’Azur
hießen die Ziele jetzt. Nicht nur die Ansprüche
seiner Kunden stiegen, sondern auch Pigrichs Ein-
nahmen. Bessere Hotels, bessere Restaurants. Das
Reisebüro eröffnete sogar eine Dependance in
Hamburg, in der heute Pigrichs Tochter arbeitet.
Nachdem die Russen 2014 die Krim besetzten,
wurden die Buchungen aus dem Ausland weniger.
Seit dem 24. Februar 2022 bleiben sie aus. Pigrich ist
wieder angewiesen auf seine alte Klientel, die russisch-
sprachigen Deutschen. Der Großteil seiner Kunden
sind aber nun Geflüchtete aus der Ukraine. Pigrich
hat sein Programm angepasst: ein bisschen günstiger,
ein bisschen weniger Zeit zum Shoppen, die Nacht
im Bus statt im Hotel. Früher aßen sie mittags in
Amsterdam bei Haesje Claes in der Innenstadt, einem
ordentlichen Restaurant, heute eben am Heringstand.
Dieser Abstieg frustriert ihn. Manchmal, sagt er, fühlt
er sich klein und hilflos »wie eine Ameise, wie früher«.
Pigrich hat sich vor Sitzreihe eins gestellt, den
linken Arm um die Lehne geschwungen, das Mikro
am stoppelbärtigen Kinn. Um seinen Hals hängt ein
Ausweis mit Foto, auf dem sein Haar noch schwarz
und dicht war. Er präsentiert auf Russisch seinen ganz
eigenen Ritt durch die europäische Geschichte,
schwenkt von Napoleon zu rechtsextremen Protes-
tierenden in Sachsen und dann wieder zu Johannes
Gutenberg. Sehr unbeliebt sei der gewesen, so »wie
es wahre Genies nun mal sind«. Hannover bis
Amsterdam, 377 Kilometer, und Pigrich wird ab jetzt
nicht mehr aufhören zu reden.
Als eine Frau in Reihe drei zu telefonieren be-
ginnt, stockt er kurz. Nimmt das Mikro runter,
sagt auf Deutsch und mehr zu sich selbst: »Das ist
normal. Logischer Egoismus.« Er redet weiter auf
Russisch, versucht es zumindest, immer wieder
zucken seine Augen in Richtung Reihe drei. Bis er
es nicht mehr aushält, schnauft und fragt, ob sie
irgendwann vor Amsterdam noch vorhabe, das
Telefonieren wieder einzustellen. Jaja, sagt die junge
Frau, sie habe nur schnell Glückwünsche ent-
gegengenommen. Sie habe heute Geburtstag.
Früher saßen in seinem Bus viele Männer, heute
sind es vor allem junge Frauen, manche mit Kindern.
Manche bekommen die Reise geschenkt, von
Freunden oder Verwandten, um sich einen Tag lang
abzulenken. Für viele ist es der erste Ausflug seit
Langem.
ENTDECKEN
Zum Zeitvertreib verteilt Pigrich gelbe Kugel-
schreiber und Lehrbücher: Deutsch mit Artikeln.
Zettel mit einem Quiz auf Russisch, mit Fragen
wie: »Was hat Peter Michailow mit Amsterdam zu
tun?« Das muss man erst mal wissen, dass unter
diesem Decknamen einst Zar Peter der Große auf
einer Werft in Amsterdam arbeitete, um das west-
europäische Leben kennenzulernen.
10.32 Uhr. Pigrich ist dazu übergegangen, kleine
Schnapsflaschen an seine 34 Reisenden zu ver-
teilen. »In Deutschland sagt man: Spaßmacher.«
Der Bus hat die Niederlande erreicht. Auf den
Feldern neben der Autobahn steht eine Reihe
niederländischer Flaggen am Straßenrand, in Rot-
Weiß-Blau. Pigrich raunt in sein Mikro: »Keine
Sorge, das sind keine russischen Flaggen.«
Igor Pigrich ist aufgewachsen im Moskau der
Siebzigerjahre, und dort, erzählt er seinen Reisen-
den nun, sei »Kosmopolit« ein Schimpfwort gewe-
sen. Er allerdings wollte einer werden: alle Sprachen
sprechen, überall zuhause sein.
In Moskau lebte er als Lehrer von umgerechnet
drei D-Mark im Monat. In Deutschland waren
seine Diplome nichts mehr wert, er fing an, Lkw zu
fahren und Pommes zu frittieren. Bis er mit den
Stadtführungen begann und 1994 eines der ersten
russischen Reisebüros in Deutschland gründete.
Die russische Sprache ist ihm geblieben, er spricht
sie zu Hause, auf seinen Reisen sowieso. Seine Frau
ist aus Kiew, seine Eltern hatten ukrainische Wurzeln.
An Deutschland mag Pigrich, dass man Eheverträge
schließt und Reisen zur Kultur gehört. Nur hat er
hier das Gefühl, er werde nie erwachsen. »Ich fühle
mich in Deutschland wie ein Zehnjähriger«, sagt er.
Selten macht er Dinge, die nichts mit dem Reise-
büro zu tun haben. Manchmal geht er mit seiner
Freundin inlineskaten, an guten Tagen 13 Kilo-
meter. Gestern waren sie im Schwimmbad, vor
einigen Wochen im Urlaub in Süditalien. Doch wie
froh er war, als er wieder in Hannover saß, das Fest-
netztelefon vor sich, den Rechner mit den Excel-
Tabellen, den Stapel selbst gedruckter Kataloge auf
Russisch in Griffweite.
Auf seiner ersten Fahrt nach Amsterdam 1994
verbarg Pigrich noch unsicher einen Stadtplan in
seiner Hand; verlaufen hat er sich trotzdem und
seine Reisegruppe mit ihm. Heute fühlt er sich
souverän. Diese Stadt, sagt er, gebe ihm immer
wieder das Gefühl, als sei die Welt doch grenzenlos.
VON ANNA-ELISA JAKOB
Er rennt nun beinahe, die Gruppe hinterher.
Frauen mit Kinderwagen brettern über Zebra-
streifen und rote Ampeln, aus Sorge, dass er sie
abhängt. Im Ohr die Kopfhörer des Audioguides,
aus denen unaufhörlich Pigrichs Stimme zu seiner
kleinen Schicksalsgemeinschaft spricht.
Da sind die zwei jungen Mütter mit ihren Kin-
dern aus der Ukraine oder der Mann aus Bremerha-
ven, der diese Tour schon ein paarmal gebucht hat.
Da ist auch Valentina aus Kiew, 64 Jahre alt. Sie er-
zählt, dass sie in Russland geboren sei, als junge Frau
in Afghanistan als Krankenschwester gedient und
vor dem GAU in Tschernobyl gearbeitet habe. Sie
sei danach in Frührente gegangen, um dann doch
wieder zu arbeiten. Reisen konnte Valentina bislang
nie. Und jetzt ist sie hier in Amsterdam, läuft vorbei
an den Wachsfiguren bei Madame Tussauds, foto-
grafiert sich neben George Clooney und den Cham-
pagnerflaschen, neben Elvis und Schauspielerinnen
wie Jennifer Aniston, die sie schon mal gesehen hat,
aber deren Namen sie nicht kennt. Sieht selig auf die
Stadt bei einer Bootsfahrt über den Kanal, macht
wieder ein Foto nach dem anderen und sagt, nach
Afghanistan, Tschernobyl, der Flucht nach Deutsch-
land, vielleicht müsse sie jetzt einfach leben. Nach
Hause kann sie nicht, in ihre Heimat Russland auch
nicht. Wunderschön, dieses Amsterdam, sagt sie.
Oder Elmira, die mit ihrer fünfjährigen Tochter
Anna unterwegs ist. Elmira ist 37 Jahre alt, doch
sie sieht aus wie zwanzig; sie lebt in Hannover, hat
das Reisebüro bei einem Spaziergang entdeckt und
spontan gebucht. Viel zu viel habe sie mitgenom-
men, den Kinderwagen, die Tasche. Sie reise nicht
oft, nie eigentlich. In Deutschland lebt sie seit
vier Jahren, aber die Sprache ist ihr noch fremd.
Bei Pigrich werde sie bald eine zweite Tour buchen.
»Historisches aus Hannover« vermutlich, weil sie
ja noch gar nichts weiß über ihre Stadt.
Igor Pigrich ist ein friedliebender Mensch, aber
mit Sicherheit kein diplomatischer. Ihm gegenüber
trauten sich Geflüchtete auch zu fluchen, sagt er.
Kann aber auch vorkommen, dass sie nicht mehr mit
ihm sprechen. Wie die junge Frau, die gerade sagte,
die Ukraine werde siegen. Er würde sich das ja wün-
schen, hat er geantwortet. Er glaube nur nicht daran.
Abends gibt es eine Pause, ein bisschen Pigrich-
freie Zeit bis 20.30 Uhr. Weil es so kalt ist, sucht er
selbst Wärme und läuft einfach mal in ein Kauf-
haus, vermutlich das teuerste der Stadt. Vorbei an
Gucci, Hermès, Versace, in seiner gelben Reiseleiter-
montur, fasst die Kleider an, fragt: So was soll
Tausende Euro kosten?
Über sein Outfit macht Pigrich selbst manch-
mal Witze, er sei eben ein »treuer FDP-Wähler«.
Wobei das, wie man nun in diesem Nobelkaufhaus
erfährt, gar kein Witz ist. Er mag die Idee der FDP,
die er so versteht, dass die Fleißigen belohnt wer-
den. Alles andere, findet er, sei Populismus.
Man muss bei Pigrich oft ein paarmal nachfragen,
bis man zu verstehen glaubt, wie er das wirklich meint.
Von Sozialhilfe spricht er viel, er klingt dann äußerst
skeptisch. Wenn man schon in Deutschland sei, dann
59
Foto: Aliona Kardash für DIE ZEIT
könne man doch arbeiten, wie er. Er erzählt, wie er
selbst einst Sozialhilfe bekam. Dass er als Hospitant
in der Waldorfschule Hannover Hefte und Stifte
klaute und sie an seine alte Schule in Moskau schickte.
Furchtbar fand er sein Leben, zwei Jahre lang ver-
längerte er immer wieder sein Rückfahrtticket nach
Russland. Bis er als jüdischer Kontingentflüchtling
am 3. März 1991 zum Deutschen wurde, drei Jahre
später zum Reiseleiter. »Sobald ich etwas Eigenes
hatte, war alles in Ordnung«, sagt er.
Als im Februar immer mehr Menschen aus der
Ukraine nach Hannover flohen, fuhr er sie mit
seinem Auto vom Bahnhof zu ihren Unterkünften.
Er bot seine Stadttouren kostenlos an. Hunderte
Leute führte er durch Hamburg, Bremen, Celle,
Lüneburg. Bei seiner Abneigung gegen staatliche
Unterstützung geht es Pigrich offenbar nicht um
Geld, sondern um Sinn und Würde für ein neues
Leben. Und all das, so hat er es wohl erfahren, findet
man hierzulande nur durch Arbeit. Insofern kann er
zufrieden sein, er arbeitet ja jeden Tag.
Im Jahr 2015 saß er mit seinen Kindern vor dem
Fernseher. Da fragte sein Sohn, damals ein Teenager,
was diese Menschen hier wollten, dass sie hier doch
nichts verloren hätten. Pigrich eröffnete ihm, er sei
selbst Nachkomme eines Flüchtlings. Erzählte ihm
zum ersten Mal, wie er als Jude vor Armut und Gewalt
aus Russland floh. Und schickte ihn für mehrere
Monate ins Ausland. Denn, so sieht er das: »Wer reist,
der kann zumindest nicht komplett rassistisch sein.«
Als seine Gruppe in Amsterdam wieder zu-
sammengefunden hat, führt Pigrich sie durchs
Rotlichtviertel. Valentina aus Kiew tanzt auf der
Stelle, singt: »Nightlife, Nightlife.« Elmira und
Anna sind zwischenzeitlich verloren gegangen.
Um 21.48 Uhr sitzen auch sie wieder im Bus.
Pigrich hat durchgezählt: alle da. Die Rückfahrt
kann beginnen. Bald schlafen die meisten, doch er
liest laut die Antworten aus dem russischen Quiz
vor, im Lichte seiner Handylampe.
Noch vor Kurzem hatte Pigrich sich nicht vor-
stellen können, dass am Ende nur acht Euro Trink-
geld für den Busfahrer zusammenkommen und
niemand einen Kaffee kauft. Dass sieben Leute aus
dem Bus keinen seiner Ausflüge buchen – der
Stadtrundgang mit ihm kostet 15 Euro extra. Er er-
innert sich an seine Mutter, die in Deutschland jede
Mark, jeden Euro in Rubel umrechnete. »Nicht alle
Flüchtlinge sind arm«, sagt Pigrich. Nur, manche
Dinge werden weniger selbstverständlich.
Im Bus erzählt Pigrich seiner schlafenden Reise-
gruppe nun von der ersten Zeitung, die er in Berlin
gekauft hat. »Die Schlagzeile gefiel mir gut: ›Wo man
leben kann, kann man gut leben‹.« Er habe seitdem
etwas gelernt: »Wenn du deine Unzufriedenheit mit
dir herumträgt, wirst du nirgends glücklich werden.«
Um kurz nach vier am nächsten Morgen ist der
Bus wieder in Hannover. Pigrich steigt aus und läuft
über den Zebrastreifen nach Hause. Nur seine Plas-
tik-Sonnenblume lässt ein wenig den Kopf hängen.
! www.zeit.de/vorgelesen
60 REISE 29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1

W U M M S

Foto: Antonio Busiello/Getty Images

Der Volcán de Fuego, zu Deutsch Feuervulkan, mag nur wenig erfindungsreich getauft sein – der Name hält allerdings, was er verspricht

Im Süden Guatemalas kann man einen der aktivsten Vulkane der Welt besteigen. Zittert unterwegs der Berg – oder sind es die eigenen Knie? VON YVES BELLINGHAUSEN

A
m Horizont sehe ich eine dem Nachbarvulkan, und, ach ja, bitte unter- Aber gut, jetzt müssen wir dann auch weiter Gruppe bleibt im Basislager, der Rest möchte und der Vulkan spuckt Feuer. Den ersten Aus-

knallrote Wolke in den Nacht-
himmel steigen. Sie scheint
für einen kurzen Moment in
der Luft zu stehen, dann zer-
fällt sie langsam in Tausende
rote Lichtpunkte, die stumm
zu Boden stürzen. Die Punkte verglimmen, der
Horizont wird wieder schwarz.
»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«, raunzt
mich Eric an. Ich sitze mit ein paar Freunden in
einer Rooftop-Bar in Antigua Guatemala – einer
hübschen guatemaltekischen Kleinstadt mit ko-
lonialen Prachtbauten und viel Kopfsteinpflaster.
Eric hat sich gerade einen Probiermeter mittel-
amerikanischer Craft-Biere bestellt und erzählt
irgendwas von Nuss-Aromen, während ich an ihm
vorbeistarre: auf diesen Berg am Horizont.
Gegen den Nachthimmel kann ich gerade
noch dessen Silhouette erkennen. Alle paar
Minuten schießt der Berg eine rote Wolke in
die Luft. Schon Wochen vor unserer Reise hatte
Eric mir von diesem Vulkan erzählt: Der Vol-
cán de Fuego (deutsch: Feuervulkan), 25 Kilo-
meter südwestlich von Antigua, ist einer der
aktivsten Vulkane der Welt. Angeblich bricht
der alle Viertelstunde aus, hat Eric gesagt. Im
Internet sah ich Videos von spektakulären Ex-
plosionen, aber ich glaubte nicht so richtig an
deren Wirklichkeit.
Eric hat sich den ersten Viertelmeter Craft-
Bier reingestellt – ja doch, ich höre zu, Honig-
Bouquet –, da beginnt der Horizont tatsächlich
wieder rot zu leuchten. Ich schaue auf mein
Handy: genau elf Minuten seit dem letzten
Ausbruch. Das hier ist eine planetare Natur-
gewalt mit beeindruckender Taktung. Kann
man da auch näher ran, bei allem Respekt?
Momentan, habe ich das Gefühl, ist mein
Sicherheitsabstand deutlich zu groß für die
Anziehungskraft, die der Berg auf mich ausübt.
Tatsächlich gibt es in Antigua einige Anbie-
ter, die zweitägige Touren zum Volcán de Fuego
anbieten. Die Touren sind alle ziemlich ähn-
lich: zwei Tage Wandern, Matratzenlager auf
schreib noch diese Erklärungen, dass du dir
bewusst bist, dich in Lebensgefahr zu begeben.
Ich unterschreibe beim billigsten Anbieter, dem
Tropicana Hostel, und zahle umgerechnet rund
65 Euro inklusive Verpflegung.
Das Tropicana ist ein Partyhostel in der Alt-
stadt, von hier aus geht es am nächsten Morgen
los. Ich komme mir in Jeans und Sneakern
schlecht ausgerüstet vor, aber andere stehen
auch nicht besser da. Die meisten der etwa 25
weiteren Vulkan-Touristen in meiner Gruppe
tragen die gängige Lateinamerika-Backpacker-
Uniform: Lama-Pullis, Fußballtrikots und von
Rappern designte Adidas-Schuhe. Ein Eng-
länder fragt, ob er in Sandalen den Vulkan
hochwandern kann, und es wird nicht ganz
klar, ob das ein Scherz ist.
Wir fahren mit zwei Minibussen für eine
halbe Stunde aus der Stadt heraus und gehen
dann auf einem engen Pfad zwischen Mais-
und Kaffeefeldern bergan. Wir befinden uns
am Fuß des Acatenango-Vulkans. Der Acate-
nango (3975 Meter) ist der schlafende Nachbar
des spuckenden Volcán de Fuego und überragt
ihn mit seinen 3975 Metern sogar um gut
200 Meter. Auf dem Acatenango steht das
Basislager, in dem wir die Nacht verbringen
werden – nah genug, um die Ausbrüche des
Volcán de Fuego gut beobachten zu können,
aber weit genug entfernt, um nachts nicht von
einem schweren Ausbruch überrascht zu werden.
Beim letzten großen Ausbruch im Jahr
2018 starben Hunderte Menschen. Der Vul-
kan sei völlig unberechenbar, sagt unser Guide,
die Eruptionen könnten jederzeit eskalieren,
wir spielten hier sehr buchstäblich mit dem
Feuer. Das scheint mir nach ein wenig Internet-
recherche dann doch etwas übertrieben – aber
diese verwegene Killer-Vulkan-Folklore gehört
ja auch ein bisschen zur Show und bringt uns
in die richtige Stimmung: »Fuckin hell«, wis-
pert der Engländer anerkennend dem lad an
seiner Seite zu, der gerade ein Panoramabild
der umliegenden Maisfelder aufnimmt.
zum Killer-Vulkan: Wir lassen die Maisfelder
hinter uns und laufen durch dichten Wald, immer
weiter in Serpentinen nach oben, vorbei an Bam-
bussträuchern, an Eukalyptusbäumen und Pinien.
Der Engländer, der sich schon nach einer
Stunde als wirklich talentierter Gruppen-
Clown herausgestellt hat, will sich in einem
hohlen, mit Lianen bewachsenen Baum eine
Zigarette anzünden. »Great hotbox!« Aber das
geht unserem Guide dann doch ein bisschen zu
weit, und er bittet den Engländer, grundsätz-
lich nicht in hohlen Bäumen zu rauchen.
Je höher wir kommen, desto kahler wird es:
Aus den mächtigen Tropenbäumen werden erst
dürre Nadelbäume, dann Sträucher. Schließlich
laufen wir durch eine Mondlandschaft. Hier
und da wächst auf dem grauen Vulkangestein
noch ein einsamer Strauch Zweizahn.
Es ist nebelig und beginnt zu nieseln: Die
Ausläufer eines Hurrikans ziehen über Guate-
mala hinweg. Wir hören es donnern, aber es ist
ein seltsames Donnern, sonderbar langgezogen
und leicht röchelnd.
Plötzlich steigt hinter der Bergkuppe eine
pilzförmige Wolke in die Luft. Da wird uns
klar: Das Donnern kam nicht von dem Ge-
witter. Das ist der Volcán de Fuego.
Nach fünf Stunden erreichen wir das Basis-
lager: zwei Bretterbuden mit Matratzen und
eine Feuerstelle mit Blick hinüber zum Vulkan.
Die Guides kochen für alle eine Instant-Nudel-
suppe auf. Noch sehen wir den Volcán de Fuego
nur rauchen, denn die rote Lava kann man erst
in der Dunkelheit erkennen.
Hier oben teilt sich die Gruppe. Diejenigen,
die von den bisher bewältigten Höhenmetern
(mehr als 1000) schon erschöpft sind, legen
sich in die Bretterbuden und dösen. Wer noch
Kraft hat, kann weitere vier Stunden wandern,
bis zu 100 Meter nah an die Lava heran. Kostet
dann noch mal umgerechnet 30 Euro, aber das
wussten wir vorher.
Aus dem Nieselregen ist mittlerweile ein
echtes Unwetter geworden. Etwa die Hälfte der
lieber noch näher ran an den Feuerberg, durch
das Unwetter hindurch. Irgendjemand fragt
mich, ob das nicht gefährlich sei, aber ich kenne
mich mit Alpinismus nicht aus, und außerdem
will ich jetzt endlich Lava sehen. Also krame
ich sofort mein Portemonnaie heraus und
drücke den Guides das Geld in die Hand.
Wir verlassen das Basislager und steigen für
etwa eine Stunde den Acatenango auf der anderen
Seite wieder hinab. Der Regen wird stärker, meine
Jeans ist mittlerweile so nass, als hätte ich mich
damit in die Badewanne gelegt. Wir laufen in
ein Tal voller abgestorbener Nadelbäume. Als es
dunkel wird, schalten wir unsere Stirnlampen an.
Auf der anderen Seite des Tals erhebt sich
der Volcán de Fuego. Während wir ihn hoch-
steigen, können wir die Ausbrüche nicht sehen,
denn der Krater verbirgt sich hinter der Berg-
kuppe. Aber wir können den Vulkan spüren.
Sein Grollen wird immer lauter, der Boden
bebt ganz leicht, oder vielleicht sind es auch
nur meine Knie, die zittern.
Um uns herum leuchten die Blitze des
Unwetters so hell, dass es in den Augen wehtut.
Ab und zu lässt der Vulkan den Horizont rot
aufleuchten. Ich habe das Gefühl, über eine
fremde Erde zu wandern.
Nach zwei Stunden erreichen wir ein Pla-
teau. Vor uns zieht sich ein Bergkamm ein paar
Kilometer den Volcán de Fuego hinauf.
Der Berg beginnt zu dröhnen und zu rau-
schen wie ein startendes Flugzeug. Dann knallt
es plötzlich so laut, dass ich vor Schreck meine
Wanderstöcke fallen lasse. Einen Moment spä-
ter wird es still, und rote Lavabrocken schießen
aus dem Krater. Schließlich zerreißt ein Trom-
meln die Stille: Tausende Lavaklumpen schla-
gen ein paar Hundert Meter vor uns auf dem
Bergkamm ein. Sie verlöschen und rollen den
Vulkan hinunter in die Dunkelheit.
Wir stehen im strömenden Regen. Hier
oben ist es so kalt, dass ich meine Hände nicht
mehr spüre. Ab und zu zuckt ein Blitz hinter
dem Vulkan hervor. Dann donnert es erneut,
Hinweis der Redaktion: Bei unseren Recherchen nutzen wir gelegentlich die Unterstützung von Fremdenverkehrsämtern,Tourismusagenturen, Veranstaltern, Fluglinien oder Hotelunternehmen. Dies hat keinen Einfluss auf den Inhalt der Berichterstattung.
bruch haben wir noch alle gefilmt – und dabei
gemerkt, dass man dieses Spektakel eh nicht
festhalten kann. Darum geben wir uns jetzt alle
einfach ehrfürchtig dem planetaren Feuerwerk
hin. Keiner spricht, auch der Engländer nicht.
So stehen wir vielleicht eine Dreiviertel-
stunde lang da, sehen zwei große und ein paar
kleinere Explosionen, bevor wir zurück ins
Basislager wandern und schlafen gehen.
In der Bretterbude riecht es nach Füßen und
nasser Kleidung. Meine Matratze ist vielleicht
60 Zentimeter breit, links spüre ich einen nie-
derländischen Ellbogen, rechts ein neuseelän-
disches Knie. Den Vulkan höre ich in der Ferne
immer noch grummeln. Ich schlafe schnell ein
und träume vom Mittelpunkt der Erde.
Plötzlich wieder ein Knall – als würde neben
uns eine Bombe einschlagen. Dann schreiende
Männerstimmen. Auch ich schreie. Ich fahre von
meiner Matratze hoch und öffne die Tür unserer
Bretterbude: Über dem Volcán de Fuego steigt
wieder langsam eine von diesen pilzförmigen
Wolken in den Himmel, wie man sie von Fotos
einer Atomexplosion kennt. Von unten leuchtet
der Vulkan sie rot an. Alle paar Stunden bricht der
Vulkan so heftig aus, dass man es auch Kilometer
entfernt noch in der Magengrube spürt.
Das Gewitter ist vorübergezogen, die Sicht
auf den Vulkan ist klar. Es ist vier Uhr mor-
gens, an der Feuerstelle sitzen zwei Spanier, die
stumm auf den Vulkan starren.
Ich setze mich in meiner nassen Jeans dazu und
schwafle irgendwas von Elementarkräften des
Universums, dass wir es uns im Alltag ja gar nicht
klarmachten, dass wir alle eigentlich auf einem
Meer aus Feuer leben. Aber die beiden Spanier
scheinen mir überhaupt nicht zuzuhören. Sie
murmeln nur abwesend »puta madre« vor sich hin,
wenn die Erde wieder Feuer spuckt.
Also halte ich meinen Mund, wir rauchen
schweigend ein paar Zigaretten, während wir auf
den nächsten Ausbruch warten. Als es hell wird
und das Sonnenlicht die Lava überstrahlt, gehen
wir schlafen. Meine Hose ist immer noch nass.

U N TE RW EGS IN GUATE M A L A

Antigua Guatemala Casa Santo Domingo Lago de Atitlán

Vormittags die pompöse Kolonialarchitektur bestaunen, nachmittags
durch kühle Arkadengänge streifen, ins Jademuseum gehen und sich
nachts in Antiguas wildes Nachtleben stürzen. Im 16. Jahrhundert war
Antigua die Hauptstadt von Spaniens Kolonien in Mittelamerika,
so bedeutend wie Mexiko-Stadt in Nord- und Lima in Südamerika.
Heute ist Antigua vergleichsweise klein – aber seit 1979 Weltkulturerbe.
Das ehemalige Kloster Casa Santo Domingo ist eines der
luxuriösesten Hotels von Antigua, mit Pool, mehreren großen
Gärten voller Tropenpflanzen und einigen Papageien in Käfigen.
Wer selbstbewusst genug an der Rezeption vorbeispaziert, kann
sich auch als Nicht-Gast in einen der Gärten setzen, um einen
Kaffee zu trinken und das Gratis-WLAN zu nutzen.
Rund 50 Kilometer westlich von Antigua liegt der Atitlán-See. Man
kann sich an seinen Ufern für ein paar Tage in den verschlafenen
Dörfern Panajachel oder San Pedro einmieten, eine Kanutour über den
See machen oder – na klar – einen Vulkan besteigen. Der Lago de
Atitlán ist von drei großen Vulkanen umgeben. Der See selbst liegt im
Krater eines Supervulkans, der vor Zehntausenden Jahren explodiert ist.
ANZEIGE
Gemeinsame Akti–
vitäten verbinden
Zeit mit der Familie ist kostbar.
Leider bleibt im Alltag nicht
viel davon übrig. Es ist nicht
immer einfach, die wenige Zeit,
die zwischen Arbeitsstress und
Hausarbeit füreinander bleibt,
zu nutzen. Eine Auszeit oder
ein gemeinsamer Ausflug bietet
der Familie die Möglichkeit,
aus dem Alltag auszubrechen
und gemeinsam Zeit zu ver-
bringen.
Zu einem gelungenen Ur-
laub gehört eine gute Mischung
aus Aktivitäten und Entspan-
nung, denn letztere lässt den
Alltag auch nach Wochen viel
angenehmer erscheinen und
sorgt für ein harmonisches Fa-
milienleben. Das konkrete Rei-
seziel oder die Art der Unter-
kunft ist für die meisten Kinder
zweitrangig. Ob All-Inclusive
in einem fernen Land, Cam-
ping an der Ostsee, Reiten auf
Lässiger Luxus,
der sich gut anfühlt.
Knallig-gemütlich. Großherzig-
detailverliebt. Lässig-glitzernd.
Und definitely, seriously funky!
Im neuen nordicwave hotel THE
FLAMINGO am Timmendor-
fer Strand, vereinen sich in ge-
nialer Lage nur 50 m vom Sand-
strand entfernt, norddeutsche
Gelassenheit und unbeschwerter
Miami Beach Lifestyle unan-
gestrengt. In Laufnähe zum
Dorfkern findet man hier einen
schillernden Hauch von Som-
mer 365 Tage im Jahr. Authen-
tisch und open-minded. Kom-
promisslos erstklassig. Hand-
verlesen bis ins kleinste Detail.
Das THE FLAMINGO ist
ein szeniges und herzliches Ur-
laubsdomizil mit fabelhaften
Hinguckern, hochwertigem
Design und rund 50 Zimmern
und Suiten in inspirierender
Wohlfühlatmosphäre. Ein schö-
ner Spa mit Pool, Sauna und
Fitness-Zone bietet herrlich
relaxte Rückzugsorte.
JOHANN WOLFGANG
VON GOETHE
»Bleibe nicht am Boden heften, Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kräften, überall sind sie zu Haus;
wo wir uns der Sonne freuen, sind wir jede Sorge los;
dass wir uns in ihr zerstreuen, darum ist die Welt so groß.
Hamburg
Elbphilharmonie und 50 Jahre John Neumeier
Im Juni begrüßen wir Sie zu zwei Höhepunkten des Kultursom-
mers: Feiern Sie mit uns das große Finale der Jubiläumssaison
von John Neumeier. Unglaubliche 50 Jahre ist der Choreograf
Ballettchef der Hamburger Kompanie. Im Rahmen der traditio-
nellen Ballett-Tage erleben Sie gleich zwei seiner schönsten
Kreationen: die beiden märchenhaften Tschaikowsky-Ballette
»Der Nussknacker« und »Dornröschen«. Außerdem hören Sie
Mahlers 3. Sinfonie im Großen Saal der Elbphilharmonie.
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Preis: ab 2.370!€
040/32!80-455
zeitreisen.zeit.de/elbphi-balletttage
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Familie sind auch Ausflüge im Piraten-
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 62 ENTDECKEN 29. Dezember 2022 DIE ZEIT N o 1

Was mein
Du siehst aus, Leben reicher
WIE ES WIRKLICH IST wie ich mich fühle macht

Diese Königspython heißt Banana, lebt in Mittelfranken und rollt sich, wenn sie sich bedroht fühlt, zu einer Kugel zusammen – weswegen man ihre Schlangenart auch Ballpython nennt. Foto: Jeanette Hutfluss
... Fische aus dem Seit Jahren verwende ich einen Taschenkalender für
tagebuchähnliche Aufzeichnungen. Dieses Jahr war
Aquadome zu retten ich spät dran mit dem Kalenderkauf, weshalb meine
Hoffnung auf ein brauchbares Exemplar gedämpft

V
war, als ich mich am Silvester-Vormittag auf den
or Jahren war ich mal mit meiner Tochter Weg ins Papiergeschäft machte. Und als ich mich
im Aquadome. Sehr beeindruckend, dem beinahe leer geräumten Regal näherte, eilte
dieser riesige Tank mit all den Fischen überdies von der anderen Seite eine Frau heran, die
darin. Als wir am frühen Morgen des sich gleich zwei Exemplare schnappte. Ich sah die
16. Dezember zum Aquadome gerufen wurden, Frau an. Sie sah mich an. Sie überlegte kurz, sah
konnte ich nicht glauben, dass das Ding wirklich mich wieder an – und drückte mir einen der beiden
geplatzt war. Das war ein schlimmer Anblick. Kalender in die Hand. Ich öffnete ihn, und siehe da,
Ich arbeite als Einsatzleiter der Höhenrettung es war der mir vertraute, ja lieb gewordene Kalender!
bei der Berliner Feuerwehr. Wir kommen, wenn Werner Schelling, Bregenz, Österreich
Menschen oder Tiere aus der Höhe oder der Tiefe
gerettet werden müssen. Die Höhenrettung ist im Seit Tagen die Mahlzeiten auf dem Sofa einzu-
Moment nicht jeden Tag im Einsatz, weil wir in nehmen, weil der Küchentisch von einem neuen
Berlin als Feuerwehr gerade oft im Rettungsdienst Spiel belegt wird.
aushelfen. Die Fische hatten Glück, dass wir an Bettina Röser, Würselen
diesem Tag da waren.
Mein Trupp kannte das Hotel mit dem Aqua- Über die Feiertage waren meine Enkelkinder
dome seit einer Übung vor drei Jahren. Damals (vier und zwei Jahre) zu Besuch. Jetzt bin ich
wurde das Aquarium restauriert; darum war kein wieder für mich. Doch als die Wintersonne raus-
Wasser drin. Wir simulierten, dass am Boden je- kommt, macht sie wie durch Zauberei kleine
mand einen Unfall hatte, und seilten uns vom Patschhändchen auf allen Glasscheiben sichtbar.
Deckel 14 Meter in die Tiefe ab. Jetzt, als der Aqua- Fenster geputzt wird bis auf Weiteres nicht!
dome platzte, half uns diese Erfahrung. Wir durften Sylvia Tradowsky,
wieder jemanden retten. Diesmal waren es Fische. Freudenstadt, Baden-Württemberg
Wir sind hoch in die siebte Etage des Hotels.
Überall lagen Trümmer und tote Fische. Über dem Eine Aufgabe fertigzustellen, die man immer vor
Aquarium gibt es einen Einstieg für Taucher. Die sich hergeschoben hat.
Tür mussten wir aufbrechen; sie hatte sich verformt. Jenna Näter, Magdeburg
Wir seilten uns wieder ab, genau wie bei der Übung.
Am Boden sahen wir, dass dort noch Wasser stand. Ohne Vorsätze ins neue Jahr zu starten, und
Hier, in dieser Pfütze, schwammen die wenigen der diesen einen dann auch gleich einzulösen!
1500 Fische, die überlebt hatten. Riggi Schwarz, Büchenbach, Bayern
Mit Keschern fingen wir sie. Das war schwer,
die sind flink. Ein Mitarbeiter des Aquadomes half Mein Sohn feiert seinen 16. Geburtstag. Gegen halb
uns dabei. Von Fischen habe ich wenig Ahnung. eins versuche ich, das Ende einzuläuten, und komme
Die Clownsfische und die Doktorfische erkannte dabei mit einer jungen Dame ins Gespräch. Ihr
ich aus dem Kinderfilm, ansonsten waren das halt Gesicht glüht, sie sprudelt vor Geschichten, und
exotische Fische mit vielen Streifen. Wir packten ihre Energie steckt mich an. Als ich sie frage, wie sie
sie in Putzeimer. Am Ende hatten wir zwölf Eimer die Pandemie erlebt habe, sagt sie, ohne lange nach-
voll mit Fischen. Wie viele wir als Feuerwehr zudenken: »Ich war zwei Jahre tot im Kopf, so war
gerettet haben, weiß ich nicht genau. Es müssen das.« Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich daran
schon ein paar Dutzend gewesen sein. Die Eimer denke, dass diese Jahre normalerweise zu den auf-
wurden in den Zoo gebracht, wo die Fische regendsten des Lebens gehören. Doch sie ruft nur
hoffentlich ein neues Zuhause finden. gut gelaunt: »Danke, dass wir hier feiern durften!«,
In der Höhenrettung passiert allerlei. Einmal Folge 342 und schwingt sich auf ihr Rad.
mussten wir einen nackten Mann retten, der sich in Ich bewundere alle 16-Jährigen!
einem Schornstein versteckt hatte. Keine Ahnung, Bettina Knaupe, Hamburg
wovor er weggelaufen war, wahrscheinlich vor sich
selbst. Er kletterte in den Schornstein eines Hauses, Eigentlich war ich zum Hauptbahnhof gegangen,
das abgerissen werden sollte. Leider kam er nicht ZEITSPRUNG WORTSCHATZ um mir das Feuerwerk anzusehen. Wenn man’s
mehr raus. Mit einem Seil schafften wir es dann, ihn laut mag, ist man da richtig.
zu befreien. Im Grunde wie bei den Fischen. Doch plötzlich lag mir dieser Vogel vor den Füßen.
Berlin hat an diesem Tag Glück im Unglück
gehabt. Als ich in den Trümmern stand und die
Silvesterliebe sauberes Ziffernblatt Er lebte noch, konnte sich aber offenbar nicht
bewegen. Schock! Das Feuerwerk war grandios.
riesigen Scherben des geborstenen Acrylglases sah, Grandioser noch war aber das Herzklopfen in
musste ich daran denken, was passiert wäre, wenn Kennen Sie die Situation, wenn meinen Händen. Ich steckte den Vogel unter
das Aquarium nur zwei Stunden später geplatzt man Gäste erwartet? Dann räumt meinen Mantel, wollte ihn nicht allein sterben
wäre. Dann hätten wir keine lebendigen Fische man auf, putzt und bringt alles in lassen in all dem Lärm. Dann, um halb eins, als
geborgen, sondern wahrscheinlich tote Menschen. Ordnung, damit man sich nicht die Knallerei nachließ, hab ich den Mantel ein
Stück weit aufgemacht.
zu schämen braucht. Natürlich Und der Vogel flog davon. Einfach so.
läuft einem dabei jedes Mal die Roberta Henning, Freiburg
Illustration: Eva Revolver für DIE ZEIT; kl. Fotos: privat

Zeit davon, weshalb meine lebens-

erfahrene Freundin bei solchen
Gelegenheiten zu sagen pflegt: Machen Sie mit!
Björn Windfuhr, 47,
arbeitet bei der Berliner Feuerwehr »Hauptsache, das Ziffernblatt ist Schreiben Sie uns, was Ihr Leben reicher macht,
teilen Sie Ihre »Wortschätze« und »Zeitsprünge« mit uns.
sauber.« Will heißen, dass schon
Beiträge bitte an leser@zeit.de oder an
Aufgezeichnet von Niko Kappel Wir haben uns 1972 auf einer Party im Schwarzwald kennengelernt. viel gewonnen ist, wenn im Redaktion DIE ZEIT, »Z-Leserseite«, 20079 Hamburg
Ich war damals noch Schülerin in Münster, er kam als Student aus Eingangsbereich alles stimmt,
Wenn Sie in unserer Rubrik »Wie es wirklich ist«
Würzburg dazu – und keiner von uns beiden hätte geahnt, dass aus dieser damit die Gäste einen guten
Die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung und redaktionelle Bearbeitung
berichten möchten,
durchfeierten Silvesternacht 50 gemeinsame Jahre werden. ersten Eindruck bekommen. Ihrer Beiträge vor. Mit der Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
Ihren Beitrag in der ZEIT, in der ZEIT-App, in sozialen Netzwerken oder
melden Sie sich bei uns: wirklich@zeit.de Bettina Zeiß, Stuttgart Gabriele Meinberger, Hausen, Bayern in einem ZEIT-der-Leser-Sammelwerk zu veröffentlichen

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