DIE ZEIT
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25.10.23 17:39
WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R
Wahrheit oder Propaganda?
Titelillustration: Edmon de Haro für DIE ZEIT
Die Nachricht einer Explosion, Bilder von Tod und Zerstörung – und schon ist man drin im
Strudel der Anschuldigungen und historischen Mythen. Die Fakten zum Konflikt POLITIK
GAZA-RESOLUTION DER UN
Einsames Land
Nach dem Überfall auf Israel verweigert ein großer Teil der Welt
die Solidarität mit dem Opfer – und mit dem Westen VON JAN ROSS
D S
er Krieg um Gaza erreicht ge-
rade erst seine ganze Härte –
doch hat Israel den Kampf um
die Sympathie der Welt schon
verloren? Es sind nicht nur
propalästinensische Demons-
tranten und linke amerikanische Studenten, für
die der jüdische Staat als eigentlicher Aggressor
gilt. Die Generalversammlung der Vereinten
Nationen hat vorige Woche mit Zweidrittelmehr-
heit eine Resolution zum Gaza-Krieg verabschie-
det, die weder die Verantwortung der Terrormiliz
Hamas benennt noch das Wort »Geiseln« aus-
spricht. Stattdessen wird angesichts der zivilen
Opfer im Gazastreifen eine humanitäre Waffen-
ruhe gefordert, also faktisch das Ende der Mili-
täraktion, mit der Israel nach dem Massaker
vom 7. Oktober seine Sicherheit wiederherzu-
stellen sucht. UN-Generalsekretär Antonio
Guterres hat den Ton vorgegeben, als er erklärte,
die Terrorakte der Hamas seien »nicht in einem
Vakuum geschehen«. Im Klartext: Israel sei,
wegen seiner Politik im Umgang mit den Paläs-
tinensern, mitverantwortlich für den Massen-
mord an seinen eigenen Bürgern.
Es war ein Fehler, dass Deutschland nicht
gegen die UN-Resolution gestimmt hat
Das UN-Votum zum Gaza-Krieg sollte man aus
zwei Blickwinkeln betrachten. Zum einen ist es
eine bemerkenswerte, auch beunruhigende geo-
politische Standmitteilung, eine Nachricht über
die Entfremdung zwischen dem Westen und der
Mehrheit der Staatenwelt. Schon beim russischen
Angriffskrieg gegen die Ukraine hatte sich gezeigt,
dass viele Länder des Globalen Südens der mora-
lischen und politischen Konfrontation mit Mos-
kau auswichen, die vor allem Nordamerikanern
und Europäern unvermeidlich, sogar selbstver-
ständlich schien. Im Falle des Hamas-Terrors und
des Gaza-Konflikts hat sich der Gegensatz der
Sichtweisen noch verschärft. Während die über-
fallene Ukraine rund um den Erdball zumeist
immerhin auf vage Sympathie rechnen konnte,
ist das beim überfallenen Israel nicht der Fall; es
wird vielerorts als bösartige, kolonialistische
Macht betrachtet, der man Einfühlung verwei-
gert. Nicht auszuschließen, dass dem Westen
mehr solcher Außenseitererlebnisse bevorstehen.
Allerdings müssen sich die Öffentlichkeit und
Regierungen des Westens dieser Stimmung nicht
KRIEG IM NAHEN OSTEN
anpassen. Noch immer sind die USA die wich-
tigste auswärtige Macht im Nahen Osten, noch
immer besitzen die Europäer als Geldgeber für
die Palästinenser erheblichen Einfluss. Der Wes-
ten hat genug Kraft, der antiisraelischen Grund-
strömung zu widerstehen. Zumal die Vereinten
Nationen beim Nahostkonflikt durchaus keine
moralische Autorität genießen, sondern immer
wieder einseitige Feindseligkeit gegen Israel an
den Tag gelegt haben. In beschämender Erinne-
rung ist eine UN-Konferenz aus dem Jahr 2001,
bei der um ein Haar (hätten die USA nicht mas-
siven Gegendruck ausgeübt) der Zionismus, die
Überzeugung vom Recht des jüdischen Volkes
auf einen eigenen Staat, als Rassismus verurteilt
worden wäre. Der Globale Süden ist mitnichten
das Orakel eines authentischen Weltgewissens.
Vor diesem Hintergrund war es ein Fehler,
dass Deutschland sich beim Votum über die
Gaza-Resolution der Stimme enthalten hat; ein
Nein wäre richtig gewesen. Man muss allen Ver-
suchen entgegentreten, die Geschichte seit dem
7. Oktober umzufälschen, man darf keine Deu-
tung unwidersprochen lassen, die den Blick vom
Terrorismus der Hamas weglenkt und die israeli-
sche Gegenwehr zum eigentlichen Problem
erklärt. Dass dieses Verschieben der Schuld Zweck
der Resolution war, hat der jordanische Außen-
minister offen gesagt: Er sprach von einer »klaren
Stellungnahme gegen Israels Krieg, gegen die Tö-
tung von Palästinensern, gegen Kriegsverbrechen«.
Ebenso wie von solchen moralischen Um-
wertungsmanövern sollte man sich im Augen-
blick von Forderungen nach einem Waffenstill-
stand fernhalten. Niemand kann die Bilder der
Verwüstung, des Leids der Zivilbevölkerung im
Gazastreifen ohne Erschütterung und Mitgefühl
sehen. Es ist richtig, wie die USA es tun, von
Israel die Einhaltung des Kriegsvölkerrechts, die
Einrichtung sicherer Fluchtkorridore und die
Gewährleistung des Zugangs für humanitäre
Hilfe zu verlangen. Die Forderung nach einem
Waffenstillstand jedoch zielt darauf, Israel letzt-
lich wehrlos zu machen, sie bestreitet ihm das
Selbstverteidigungsrecht. Für die Regierung in
Jerusalem und ihre Armee ist es geboten, die
Gefahr, die ihren Bürgern von der Hamas droht,
dauerhaft zu beseitigen. Dies kann derzeit nur
mit militärischen Mitteln geschehen. Israel in der
jetzigen Lage auf eine Waffenruhe zu verpflich-
ten wäre kein Triumph der Humanität, sondern
ein Unrecht gegen das Land und seine Menschen.
»FRIDAYS FOR FUTURE«
Kopferhitzung
Greta Thunberg teilt antisemitische Texte – und die Klimabewegung
zerfällt. Ist das Progressive in der Krise? VON ELISABETH RAETHER
amstagabend in der Berliner Blase,
eine kleine Party. Es sind da: Politi-
kerinnen, Journalisten, Wissen-
schaftler, ein bekannter Podcaster,
die meisten eher links, grün, pro-
gressiv. Die Laune ist gut, es gibt
Weißwein und Pizza. Bis jemand sagt, eher im
Scherz: Eigentlich haben wir jede Debatte verlo-
ren, die in den vergangenen Jahren geführt wurde.
Und, was soll man sagen? Es stimmt. Wel-
chen Diskurs konnten die Progressiven zuletzt
gewinnen? Wann hatten sie das letzte Mal recht?
Und welches links-grüne Gesellschaftsprojekt ist
in letzter Zeit gelungen?
Es mag typisch links sein, sich beim gerings-
ten Widerstand in Selbstzweifel zu stürzen. Aber
im Moment sind Selbstzweifel angebracht. Und
eigentlich ist es genau diese Qualität, die die
Links-Progressiven in den zurückliegenden Jah-
ren viel zu oft vernachlässigt haben: die Kunst
der Einsicht und der gedanklichen Umkehr.
Das linke Angebot gerade?
Identitätspolitik und Sahra Wagenknecht
Ein Tiefpunkt waren Greta Thunbergs Aussagen
zum Krieg Israels vergangene Woche. Die Grün-
derin der Fridays-for-Future-Bewegung, Ikone
der links-grünen Jugend und auch der nicht
mehr ganz so Jungen, teilte Beiträge, in denen
ausgerechnet Israel vorgeworfen wird, in Gaza
einen »Genozid« zu begehen. Das Wort Genozid
wurde inmitten der Grauen des Zweiten Welt-
kriegs von einem polnisch-jüdischen Juristen
geprägt, der bis auf einen Bruder seine gesamte
Familie im Holocaust verlor. Es ist nicht nur
falsch, die Luftschläge und den Truppeneinsatz
Israels gegen die Hamas einen Genozid zu nen-
nen – als Genozid bezeichnet man die vorsätzli-
che Auslöschung eines Volkes und nicht eine
militärische Operation gegen Terroristen, die ihre
Mitbürger als Schutzschilde verwenden. Thun-
berg betreibt auch genau die rhetorische Schuld-
umkehr, die man sonst von deutschen Rechtsex-
tremen kennt. Spricht sie als Nächstes vom
»Schuldkult«, ein Wort, mit dem Neonazis die
Erinnerungskultur verächtlich machen?
Wie oft musste man als jemand, der grüne
Politik für grundsätzlich richtig hält, schon beto-
nen, dass eine entschiedene Klimapolitik kein
identitäres Projekt ist, sondern sachlich geboten!
Dass es wirklich um eine andere Energieform
2. NOVEMBER
113530_ANZ_48x35_X4_ONP26 2 N o 46 17:39
2023 25.10.23
Der wahre
Wert der Liebe
Paul Austers neuer
Roman über ein
unzertrennliches Paar
und den nahen Tod
Feuilleton, S. 57
Wie studieren?
Die Kosten steigen,
das Bafög hält nicht
mit. Wer kann sich ein
Studium noch leisten?
Wissen, S. 37
Ist er
nun rechts?
Ein Porträt
des Kabarettisten
Dieter Nuhr
ZEITmagazin, S. 16
PROMINENT IGNORIERT
und um Nachhaltigkeit geht und nicht um den
linken Gesellschaftsumbau. Aber wie glaubwür-
dig klingt das noch?
Thunberg galt lange als Lichtgestalt, die kühl
die Kompromisse der Gegenwart durchschaute.
Vielleicht neigt sie aber auch einfach zu genau der
moralischen Überheblichkeit, die schon immer
eine Schwäche der Linken war. Diese paarte sich
mit einer Besessenheit in ökologischen Kleinst-
fragen, was selbst für die ihr Zugewandten
manchmal schwer erträglich war. Markus Söder
unterstellte den Grünen mal, sie wollten Luftbal-
Keine Panik!
lons verbieten, was glatt gelogen war. Aber man Frankreich wird von einer Bett-
kann die Wette anbieten, ein Set Einwegbesteck wanzenplage heimgesucht. Nun
aus Holz zu essen, sollte es nie Grüne gegeben warnt das Umweltbundesamt vor
haben, die zumindest darüber nachdachten. einer Massenwanderung der milli-
Die klimapolitische Bilanz der sich selbst als meterkleinen Blutsauger nach
Fortschrittskoalition bezeichnenden Regierung Deutschland. Kammerjäger sehen
lautet bislang, dass sie es gerade so geschafft hat, jedoch keinen Grund zur Panik.
ein paar Heizungen aus dem fossilen Betrieb zu Grund: Von Loriots legendärer
nehmen – ein recht mageres Ergebnis, wenn Steinlaus, diesem »possierlichen
man berücksichtigt, dass das Vertrauen in die Tierchen«, unterscheidet sich die
Regierung seither dahin ist und Klimapolitik als Bettwanze in einem wichtigen
Thema tot. Denn tatsächlich hängen die Leute, Punkt: Sie ist sterblich. PED
Überraschung, an ihrem Wohlstand. Und
manchmal konnte der Eindruck entstehen, dass Kl. Fotos (v. o.): imago;
Victoria Jung; Getty Images [M]
ausgerechnet die konsumkompetente, weit
gereiste Elite ihnen genau dies ausreden wollte.
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
Auch in der Migrationsfrage sprechen derzeit 20079 Hamburg
die anderen, und zwar diejenigen, die schon Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
immer gewarnt haben, dass »no borders« kein DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
Konzept ist, dem eine deutsche Mehrheit zu- ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
stimmt. Zwar verlangt kaum noch jemand im ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
linken Spektrum die Abschaffung der Grenzen.
Aber es spricht auch niemand darüber, wie eine ABONNENTENSERVICE:
progressive Migrationspolitik aussehen könnte Tel. 040 / 42 23 70 70,
und wie die bisherigen Integrationsversäumnisse E-Mail: abo@zeit.de
aufgeholt werden können.
Das linke Politikangebot im Moment: blasse PREISE IM AUSLAND:
Realpolitik, identitäre Klimabewegung und, ja, DK 71,00/FIN 9,40/E 8,10/
CAN 8,20/F 8,10/NL 7,50/
da war noch was – Sahra Wagenknecht. Eine A 6,70/CH 8.80/I 8,10/GR 8,10/
Dogmatikerin, die Amerika verachtet und mit B 7,50/P 8,10/L 7,50/H 3990,00
ihrem Protektionismus die deutsche Neigung
o
N 46
zum Rückzug aus der Welt perfekt verkörpert.
Die Sehnsucht nach Fortschritt ist natürlich
nicht tot, vielleicht werden die Zeiten für progres-
sive Politik wieder besser. Träumen wird ja noch
78. J A H RG A N G C 7451 C
erlaubt sein. Vorerst sollte man sich die diskursive
und politische Niederlage aber eingestehen.
46
Beide Leitartikel finden Sie zum Hören
unter www.zeit.de/vorgelesen 4 190745 106405
2 POLITIK
I Über Leben
n kleinen Schritten, sagt der frühere
israelische Militär Jossi Kuperwasser
am Dienstagmorgen am Telefon,
habe die Bodenoffensive begonnen,
langsam, umsichtig: Nach vielen
Wochen der Vorbereitung, der Spe-
kulationen, des Wartens, bewegten
sich israelische Truppen am Abend des Frei-
tags, 27. Oktober, in den Gazastreifen hinein.
Erst nach einigen Stunden veröffentlicht
Israels Armee einige Bilder, körnig, schwarz-
weiß: gepanzerte Fahrzeuge in staubigem,
unbesiedeltem Terrain. Der »Nebel des Krie-
ges«, so Kuperwasser, der früher die For-
schungsabteilung des israelischen Militärge-
heimdienstes geleitet hat, habe sich über den
Gazastreifen gesenkt. Zeitgleich mit dem Be-
ginn der Offensive hatte Israel sämtliche
Kommunikationsverbindungen in den Gaza-
streifen gekappt – und damit jede Möglich-
keit, Augenzeugenberichte aus Gaza zu be-
kommen. Erst 24 Stunden später, am Sams-
tagabend, trat Premierminister Benjamin
Netanjahu vor die Kameras und erklärte den
Israelis und der Welt, die »zweite Phase« des
Krieges habe begonnen. Am frühen Dienstag-
nachmittag dann die Nachricht: erste, heftige
Kämpfe in Gaza-Stadt. Und später ein An-
griff auf Wohnblocks im Flüchtlingslager
Dschabalia im Norden, ein Hamas-Führer
soll getötet worden sein.
Doch das, da sind sich Militärexperten
einig, ist nur der Anfang eines Krieges, der
vermutlich lange dauern wird. Wie lange?
»Niemand weiß es«, sagt Kuperwasser. »Jede
Schätzung ist heute gleichermaßen wertlos.«
Mindestens Wochen, vielleicht Monate, viel-
leicht noch länger.
Auf 20.000 bis 40.000 Mann werden die
Kämpfer der Hamas und des mit der Hamas
verbündeten Islamischen Dschihad in Gaza
geschätzt, versteckt in den Straßen und Gassen
von Gaza-Stadt und vor allem in der »Metro«,
dem Hunderte Kilometer umfassenden Tun-
nelsystem unter dem Gazastreifen. Solche
»schwer fassbaren, eingegrabenen Kämpfer«
zu besiegen werde dauern, bestätigt ein ande-
rer israelischer Militärexperte, Azar Gat, von
der Universität Tel Aviv. »Erinnern Sie sich«,
sagt er am Telefon, »sowohl im ersten als auch
im zweiten Golfkrieg haben die USA nur we-
nige Wochen gebraucht, um die starke, regu-
läre Armee des Irak zu besiegen. Aber nach
2003 mussten sie jahrelang gegen die islamis-
tischen Kräfte in den Städten kämpfen.« Er
erinnert auch an den Kampf gegen die Terror-
organisation »Islamischer Staat«, den eine
Koalition unter Leitung der USA 2014 auf-
nahm. Es dauerte etwa fünf Jahre, bis die
Organisation entscheidend geschwächt war.
Für die 2,2 Millionen Menschen in Gaza
bedeutet das, dass sie womöglich Wochen,
Monate oder Jahre mitten im Krieg leben.
Die Versorgungssituation mit Wasser, Lebens-
mitteln, Medikamenten war in Gaza schon
vor dem Krieg extrem angespannt – seit dem
Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober ist
sie katastrophal. Der Krieg Israels gegen die
Hamas, er wird begleitet von einem diploma-
tischen Ringen um die Versorgung und den
Schutz der Zivilbevölkerung, teils hinter ver-
schlossenen Türen, teils auf offener Weltbüh-
ne. Die Menschen in Gaza lebten jahrzehnte-
lang unter israelischer Besatzung. Seit die
Hamas 2007 mit Waffengewalt an die Macht
kam, sind sie zudem ein Faustpfand der isla-
mistischen Miliz.
Die Verbindung ist schwach, ihre Stimme klingt
wie aus weiter Ferne, aber da ist sie: Suhaila
Tarasi, Direktorin des Al-Ahli-Krankenhauses
in Gaza. Sie lebt. »Glaube ich jedenfalls«, sagt
sie. Die ZEIT erreicht die Ärztin am Montag-
nachmittag. Auch sie hatte nach Beginn der is-
raelischen Offensive mehrere Tage lang keine
Telefonverbindung, und schon zuvor funktio-
nierten das Internet und das Fernsehen oft nicht.
Am Montagvormittag kann Tarasi kurz wieder
telefonieren und beschreibt die Unwirklichkeit
in Gaza: die Bombennächte. Das Dröhnen, das
Beben. Diese Nacht habe sie gar nicht schlafen
können, sagt sie. Und dieses Gefühl: nicht mehr
Teil der Welt zu sein. Abgeschnitten. Für Tarasi
ist dies auch der erste Tag in diesem Krieg, an
dem sie nicht in die Klinik gehe.
Das Al-Ahli-Krankenhaus liegt in Gaza-
Stadt. Es ist jene Klinik, in deren Innenhof es
am 17. Oktober eine starke Explosion gab. Die
Hamas behauptete, das Krankenhaus sei von
einer israelischen Rakete getroffen worden, es
habe Hunderte Tote gegeben. Vieles deutet aller-
dings darauf hin, dass es sich um ein fehlgeleite-
tes Geschoss einer palästinensischen Miliz
handelte – davon gehen westliche Geheim-
dienste aus. Sie schätzen die Zahl der Toten auf
100 bis 300. Unabhängige Experten konnten
die Tragödie bis heute nicht untersuchen. Suhai-
la Tarasi überlebte, weil sie die Klinik kurz zuvor
verlassen hatte. Man würde sie gern fragen, wie
viele Tote es ihrer Einschätzung nach gegeben
hat. Doch schon nach wenigen Minuten bricht
die Telefonverbindung wieder ab – dabei bleibt
es bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe.
Vor dem Raketeneinschlag, das konnte sie
noch erzählen, hatte bereits ein anderes Ge-
schoss das Krankenhaus getroffen. Sie erzählt
auch von mehreren Anrufen der israelischen
Armee, Aufforderungen, das Krankenhaus zu
evakuieren. Israel warnt Menschen im Gaza-
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
Titelthema
treiben die meisten Schulen, Krankenhäuser,
die Müllabfuhr, Hilfsorganisationen sind auch
der wichtigste Arbeitgeber. Die zentrale Stüt-
ze dieses Hilfsstaats ist UNRWA, das UN-
Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge. Die
UNRWA-Sprecherin, Juliette Touma, sagt der
in Gaza
ZEIT: »Wir malen hier nicht den Teufel an die
Wand. Es ist eine Tatsache: Bekommen wir
nicht in wenigen Tagen Treibstoff und Hilfs-
güter, können wir nicht mehr genug Nah-
rungsmittel bereitstellen.«
Die Hilfslieferungen nach Gaza müssen
seit Beginn des Krieges durch ein einziges
Nadelöhr: den Grenzübergang Rafah zwi-
Aus dem Küstenstreifen dringt kaum etwas nach außen. Gesprächsversuche schen Gaza und Ägypten. Genug Hilfe ist da.
mit einer Ärztin, einem Dozenten und einer UN-Mitarbeiterin Hunderte Lastwagen mit Trinkwasser, Mehl-
säcken und OP-Kits warten auf der ägypti-
schen Seite, im staubigen Grenzort Al-Arisch.
Doch in den ersten Tagen des Krieges bom-
bardierte die israelische Luftwaffe sogar das
Gebiet um den Grenzposten Rafah, um die
Lieferung zu verhindern. Nach seinem Israel-
Besuch jedoch konnte US-Präsident Joe
Biden verkünden, dass der erste Hilfskonvoi,
20 Trucks, die Sperranlage am 21. Oktober
durchquert hatte. Seither sind es im Schnitt
zwölf Laster täglich. Vor dem Krieg waren es
allerdings 500. Hilfsorganisationen sagen, es
müssten täglich mindestens 100 sein.
Ein Problem ist, dass der Grenzübergang
Rafah nicht für die Abfertigung der benötig-
ten Hilfslieferungen ausgelegt ist. Vor dem
Krieg wurden die humanitären Hilfsgüter
über einen israelischen Grenzübergang nach
Gaza gebracht, über Kerem Schalom. Man
muss sich diesen Grenzübergang südöstlich
von Gaza wie einen hochmodernen Flugha-
fen oder Hafen vorstellen. Dort kamen die
Transporter an, sie wurden noch in Israel ent-
laden und untersucht, dann wurde die Ware
in andere Laster geladen, die wiederum in
einer »Zwischenzone« zwischen den Grenz-
übergängen noch einmal gecheckt wurden,
was mithilfe moderner Scanner in wenigen
Minuten gelang. Schließlich wurden die Gü-
ter Hilfsorganisationen in Gaza übergeben,
vor allem dem UNRWA. Heute ist Kerem
Schalom dicht. Die israelische Regierung will
den Übergang nicht öffnen – zu groß ist die
Angst vor einer Infiltration durch die Hamas-
Terroristen. Einige konnten selbst nach dem
7. Oktober nach Israel eindringen.
Also werden die Waren nun über Ägypten
nach Gaza gebracht. Im etwa 40 Kilometer
entfernten israelischen Nitzana werden sie per
Hand von den Israelis überprüft: Truck für
Truck, Kiste für Kiste, Mehlbeutel für Mehl-
beutel. Zwischen einer und anderthalb Stun-
den braucht man so für jeden Laster. Dann erst
werden die Hilfsgüter nach Rafah gebracht.
Die Lage spitzt sich zu. Am vergangenen
Wochenende stürmten Tausende ein Lager
einer UN-Hilfsorganisation und stahlen
Lebensmittel. Der Direktor des UNRWA,
Thomas White, warnte Anfang der Woche im
amerikanischen Fernsehsender CNN vor
einem »Zusammenbruch der sozialen Ord-
nung«. Er sagte: »Dies ist nur die Vorstufe.«
In diplomatischen Verhandlungen wird ver-
sucht, zumindest kleine Verbesserungen bei der
Foto: Mohamed Salem/Reuters (Gaza, 17. 10. 2023)
Versorgung der Bevölkerung zu erreichen. Die
USA vermitteln zwischen Ägypten und Israel;
die direkte Kommunikation zwischen den Nach-
barstaaten sei erschwert, heißt es von ägyptischer
Seite. Deutschland hat eine Sonderbeauftragte
für humanitäre Hilfe benannt, Deike Potzel.
Auch sie spricht mit allen Seiten. Die Fort-
schritte allerdings sind schleppend. Dennoch sei
es wichtig, sich zu engagieren, sagt sie. »Am
Sonntag konnten 39 Lastwagen mit humanitä-
ren Gütern über Rafah nach Gaza fahren. Es tut
Eine palästinensische Frau in einem Krankenhaus in Chan Junis,
sich etwas, aber das kann nur ein Anfang sein.«
im Süden von Gaza, hält den toten Körper eines Kindes
Israel hat sich bewegt. Und doch gibt es rote
Linien: Kein Treibstoff nach Gaza, weil dieser
von der Hamas benötigt werde, auch wenn die
Krankenhäuser ihn brauchen. Diskutiert wird
nun über ein Geotracking der Lastwagen.
Aber kann dann die Bodenoffensive über-
streifen vor Angriffen. Doch Schwerverletzte vor dem Blackout am Telefon, und er sagt es haupt ein Erfolg werden, kann Israel seine mili-
lassen sich nicht einfach verlegen, schon gar
nicht über zerstörte Straßen, sagt Tarasi. Und Gaza im Krieg ohne Sarkasmus. Im Vergleich zum Norden
seien die Nächte im Süden ruhiger. Aber alle
tärischen Ziele erreichen? Ja, sagt der Militär-
experte Azar Gat – auch wenn es Zeit brauche.
wohin? Sie höre nun, Israel wolle Gaza-Stadt paar Stunden werde auch diese Gegend bom- Ziel sei es erstens, die Hamas militärisch zu
umzingeln, sagt Tarasi. »Ist das so?« bardiert. Die Systematik sei allerdings eine besiegen, ihre Führer zu töten, ihre Raketen-
andere. »Im Norden bombardieren sie ganze abschussanlagen zu zerstören, ebenso wie das
Beschädigung seit 17. Oktober Nachbarschaften, hier nur einzelne Häuser.« Tunnelsystem, in dem sie sich verstecken.
Beschädigung seit 7. Oktober Fast den ganzen Tag sei er mit dem Zweitens werde Israel die Hamas politisch zer-
Seit Beginn des Krieges fordert Israel die Zivil- Evakuierungszone Beschaffen von Lebensmitteln und Wasser stören. »Hamas wird Gaza nach diesem Krieg
bevölkerung im Norden des Gazastreifens auf, Grenzübergang beschäftigt. Es gebe in seinem Viertel seit nicht mehr beherrschen.« Sicher, räumt er ein,
in den Süden zu fliehen. Hunderttausende UNRWA-Flüchtlingslager Eres einigen Tagen kaum noch Brot. »Entweder der Islamismus der Hamas, die Ideologie der
sind den Appellen gefolgt. Sie schlafen in Zel- haben die Bäckereien kein Mehl, oder sie Auslöschung Israels, sei auch eine Idee, man
ten, in provisorischen Flüchtlingsunterkünf- Sderot haben kein Gas.« Gas für den Stromgenera- könne sie nicht aus den Köpfen reißen. Aber sie
ten in Schulen oder öffentlichen Gebäuden Gaza-Stadt tor, mit dem sie die Öfen betreiben. könne bedeutungslos werden, ohne Waffen,
oder unter freiem Himmel, teils sind sie bei Mittelmeer Was die Familie am Vortag des Telefonats ohne Führung, »wie der ›Islamische Staat‹ und
Verwandten untergekommen. gegessen hat, beschreibt er so: Al-Kaida«.
Dschamal und Faten sind seit Beginn die- Frühstück – Kekse.
ISRAEL
ses Krieges siebenmal geflohen. Siebenmal Mittags – Nudeln.
mussten sie innerhalb weniger Minuten die n Abends – Brote mit Marmelade.
kleinen Kinder in ihr Auto setzen, mussten e ife Gaza ist kein Land, das plötzlich in den Irgendwann am Sonntag kann auch Dschamal,
str
die großen Kinder beruhigen, ihre wichtigs-
ten Habseligkeiten in größter Eile verstauen. a za Krieg gestürzt wurde und deshalb Hilfe
braucht. In Gaza herrschen seit mehr als 16
der mit seiner Frau und den Kindern aus Gaza-
Stadt nach Süden geflohen ist, sein Handy
Er, Dozent an einer der Universitäten in
G Jahren Kriegsbedingungen, mal wird mehr, mal wieder benutzen. Einer der ersten Anrufe
ISR A E L
Gaza, 50 Jahre alt, sie ebenfalls Akademike- Chan Junis Militärische weniger gekämpft. Mit der Machtübernahme kommt von einem Nachbarn zu Hause, im
rin, 40 Jahre alt, sieben Kinder, das jüngste Sperrzone der Hamas wird der Küstenstreifen durch Israel Norden. Das Haus der Familie, für das Dscha-
vier Jahre alt. Die ZEIT hat seit den ersten Rafah abgeschottet. Die Wirtschaft ist eingebrochen, mal sein halbes Leben gespart hatte, ein drei-
Kriegstagen mit der Familie Kontakt, Dscha- Gaza abhängig geworden von internationaler stöckiger Bau mit Säulen und ausladenden
ÄG
mal hat früher für die ZEIT als Übersetzer Grenzübergang Rafah Hilfe. Schon vor diesem neuen Krieg über- Balkonen, sei vor drei Tagen von einer Rakete
YPT
gearbeitet. Ihre Zuflucht ist jetzt die Woh- lebten in Gaza der überwiegende Teil der getroffen worden und eingestürzt. Übrig
Grenzübergang Kerem Schalom 5 km
nung eines Kollegen von Dschamal, vier Bevölkerung nur dank humanitärer Hilfe. geblieben seien nur Trümmer.
EN
Zimmer, im fünften Stock eines Rohbaus. Die Hamas beherrscht Gaza politisch. Aber
»Wir haben Glück«, sagt er in der vergange- ZEIT- GRAFIK / Quelle: IDF, Corey Scher (City University of New York), Jamon Van Den Hoek
den Alltag in Gaza bestreitet ein humanitärer WOLFGANG BAUER , ALICE BOTA , LEA FREHSE,
nen Woche, vor Beginn der Bodenoffensive und (Oregon State University), Copernicus Sentinel-1, Planet Labs, OpenStreetMap-Mitwirkende Unterstützungsstaat. Hilfsorganisationen be- ANNA SAUERBREY UND SAMIHA SHAF Y
DIE ZEIT N o 46 2. November 2023
E X PLOSION DER BILDER
D
rei Wochen nach dem
Überfall auf Israel, drei
Wochen nach dem Be-
ginn des Krieges in Nah-
ost kann man manchmal
kein einziges Bild mehr
sehen, kein Bild des Leids
und des Schreckens – ist es Erschöpfung? Ist es
Selbstschutz? Jedenfalls ist es umso bemerkens-
werter, als gar nicht so klar ist, ob wir über-
haupt schon hinreichend hingeschaut und
mitgefühlt haben, seitdem die Bilder des Ter-
roranschlags der Hamas um die Welt gehen.
Fangen wir ganz handwerklich an, bei uns in
den Redaktionen, bei unserer täglichen Arbeit.
Es ist unsere Aufgabe, manchmal Privileg
und manchmal Bürde, Bilder auszuwäh-
len und einer großen Öffentlichkeit zu-
gänglich zu machen. Jedes einzelne Bild
wird dabei betrachtet, geprüft, diskutiert.
Für den Umgang mit Kriegsbildern kön-
nen wir uns normalerweise auf professio-
nelle Strukturen verlassen, auf Bildagen-
turen zum Beispiel. Aktuell gibt es in Gaza
aber nur wenige Journalisten, und es ist
nicht möglich, zusätzliche in das abge-
riegelte Kriegsgebiet zu schicken. Fotos
und Videos gibt es trotzdem massenhaft,
oft unverifiziert. Wir als Journalisten ha-
ben es also derzeit mit einer Menge von
unjournalistischen Bildern zu tun. Was
bedeutet das?
Vom Terroranschlag des 7. Oktober in
Israel gibt es zum Beispiel so gut wie keine
professionell erstellten Aufnahmen. Zu
den ersten, die kursierten, gehörte ein 12
Video, das den leblosen, fast entkleideten
Körper der Deutsch-Israelin Shani Louk
zeigt, auf der Ladefläche eines Pick-ups.
Um sie herum, halb auf ihr: Männer, die
sie bespucken, an ihren Haaren zerren,
»Allahu Akbar« brüllen. Auch Standfotos
verbreiteten sich von der Szene. Die
Hoffnung, Shani Louk könne noch
leben, umgab diese Bilder wie ein Mythos
– seit Montag gibt es die Gewissheit:
Shani Louk ist tot.
Das Video, das Shani Louk zeigte –
eine Darstellung von Gewalt, Ent-
menschlichung, Entwürdigung –, kam
direkt und ungefiltert entweder von
den Tätern selbst oder von gaffenden
Zuschauern. Es gibt auch andere
Videos von anderen Orten und ande-
ren Opfern, die direkt aus der Täterper-
spektive aufgenommen wurden: Die
Terroristen hefteten sich eigens für ihre
Mordzüge Kameras an, sogenannte 10
Bodycams. Auch die Opfer machten
Videos, vor allem mit ihren Handys.
Die Ersten, die all diese Aufnahmen
sahen, waren nicht Redakteure, son-
dern es waren einfach irgendwelche Leute am
Smartphone. All diese Videos zwingen jedem
Betrachter, jeder Betrachterin eine ganz eigene
Sichtweise auf: Wer sie anschaut, schlüpft in
die Rolle von Täter und Opfer.
Ein Video zeigt: Du sitzt mit anderen jun-
gen Leuten unter Büschen, deine Brust senkt
sich, hebt sich, atmend in Todesangst. Still
sein! Entfernte Schüsse, die näher kommen.
Ein anderes: Du bist ein Hamas-Kämpfer
und läufst in Ego-Shooter-Perspektive durch
einen Kibbuz, auf Menschenjagd. Erschießt fast
beiläufig einen Mann. Machst einen Scherz. Du
bist gut drauf. Am Ende wirst du selbst erschos-
sen. Man hört ein profanes: Uh! Blumen wiegen
sich in der Morgensonne. Ein Plastikstuhl. Das
ist das letzte Bild des Mörders.
Ich, die Betrachterin, kann sehen, was er sah,
als er tötete, und ich sehe, was er sah, als er starb.
Diese extreme Nähe, ohne jede Einordnung,
ist schwer zu ertragen. Die unzähligen Bilder
expliziter Gewalt – zerstörte, verbrannte,
gequälte Körper, Familien, Kinder – sind ein Teil
des Terrors, und sie wirken auch nach dem
Anschlag weiter. Wer sie sieht, verletzt sich ein
Stückchen weit mit, vergisst sie nicht wieder.
Am 9. Oktober verschickte der Presserat,
eine Organisation der freiwilligen Selbstkon-
trolle der Medien, eine Mitteilung an alle
Medienhäuser, darin eine Mahnung: »Bitte
gehen Sie sorgfältig mit den Bildern um, und
beachten Sie den Opferschutz.«
Eine erste, ein bisschen formalistisch wirken-
de Reaktion im Angesicht entfesselter Gewalt.
Es ist einfacher gesagt als getan. Die Presse soll
zeigen, was ist, doch ist sie auch verpflichtet,
sorgfältig zu reflektieren, ob das Zeigen eines
toten Körpers wirklich einen Nachrichtenwert
hat. Jeder Tote hat eine Würde. Nimmt man sie
➊ Ein Hamas-Terrorist filmt die Exekution eines Israelis/via IDF; ➋ Ärzte des Al-Schifa-Hospitals geben eine Presseerklärung ab, nachdem die Verletzten und Toten des Al-Ahli-Hospitals dorthin überführt worden waren, 17.10.23/via Anadolu Ajansı;
➌ Shani Louk/Privatbild ihrer Mutter Ricarda; ➍ Shani Louk wird von Hamas-Terroristen als Geisel genommen/7.10.23/via X; ➎ Hamas-Terrorist mit Kind/via bringhomenow/Tiktok; ➏ Instagrampost des IDF, 27.10.23/via Instagram;
➐ Die Geisel Jocheved Lifschitz reicht einem Hamas-Mitglied die Hand, als sie dem Roten Kreuz übergeben wird, 23.10.23/via Al-Kassam-Brigaden/AP; ➑ Verletztes Kind in Gaza/18.10.23/via Belal Mortaja/Instagram; ➒ Bodycam-Aufnahme der
Hamas/via IDF; 10 KI-generiertes Bild/via BBC-Journalist Shayan Sardarizadeh/X;
Wahrheit oder Propaganda?
Hinschauen oder wegschauen, zeigen oder nicht zeigen? Die brutalen Aufnahmen aus
dem Nahen Osten fordern Leser wie Redaktionen heraus VON MALIN SCHULZ
ihm, indem man das Bild der Leiche veröffent-
licht? Darüber wird in unserer Redaktion oft
diskutiert, auch jetzt. Jedes Bild, das wir in diesen
Tagen und auch auf dieser Seite zeigen, trägt
diese Diskussion in sich, ein Prozess, der wie der
Krieg auch erst am Anfang steht.
Im Fall der Bilder vom 7. Oktober etwa ist
nicht so einfach zu entscheiden, was unbedingt
gezeigt werden sollte und
was auf keinen Fall und
ob man sich im Zweifel
lieber fürs Zeigen ent-
scheidet, um zu doku-
mentieren, was geschah
– oder fürs Nichtzeigen,
➊ Audiomaterial nahelegen, ist wohl
11
➒ palästinensischer Kinder, die
um Opfer zu schützen. Diese Bilder
fordern die Redaktionen, auch uns,
heraus. Weil sie anders sind als alle
Bilder, die wir bislang kannten.
Also: Was dürfen wir, was müs-
sen wir veröffentlichen? Und da
viele der Videos für jeden, der da-
nach googelt, frei zugänglich sind:
Welchen Informationswert hat das
erneute Zeigen der Videos und
Bilder noch? Wie viele Bilder muss
die Öffentlichkeit gesehen haben,
um beurteilen zu können, was da ➑
wirklich geschehen ist?
Das alles sind Fragen der Abwä-
gung. Bevor man sie sich stellt, muss
man aber sicher sein, dass das Material über-
haupt echt ist. Die genaue Verifizierung von
Kriegsbildern ist eine der schwierigsten Aufga-
ben, sie braucht Zeit, denn jedes einzelne Bild
und jedes Video muss untersucht werden.
Bilder im Krieg dienen auch dazu, Gewalt
zu legitimieren. Deshalb kursieren enorm viele
Fakes auf allen Plattformen. Neue Instrumen-
te wie KI ermöglichen es, mit ein paar Klicks
falsche, täuschend echte Bildmotive herzustel-
len. Zum Beispiel gibt es da dieses Motiv, das
von einem auf die Identifizierung von Fakes
spezialisierten Journalisten der BBC als Fäl-
schung entlarvt wurde, fast eine Karikatur des
Schreckens: Ein Vater steigt mit seinen ver-
letzten Kindern über Trümmer. Es sind fünf,
so viele Kinder, wie noch Platz auf dem Bild
hatten, möchte man meinen. Dieser Fake ist
nachgewiesen, aber natürlich gibt es gerade
11 Guy Danon versteckt sich während des Angriffs auf das Musikfestival Nova, 7.10.23/via Guy Danon/CNN;
POLITIK
auch viele Bilder von echten Opfern, verbreitet
von Bürgern in Gaza. Manche stellen nun
auch diese Bilder unter Generalverdacht: Alles
gefälscht, alles inszeniert!
Am Abend des 17. Oktober schlägt eine
Rakete beim Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza
ein. Die Bilder der ersten Toten und Verletz-
ten gehen sofort um die Welt, das Urteil ist
schnell gefällt: Israelische Raketen
sind schuld, wie sofort viele Medien
unter Berufung auf die Hamas mel-
den – unter anderem die New York
Times. Dann aber stellt sich heraus:
Nicht das Krankenhaus, sondern ein
benachbarter Parkplatz ist getroffen.
Wie Untersuchungen von Bild- und
ein Blindgänger der Terrorgruppe
Islamischer Dschihad für die Explo-
sion verantwortlich.
➑ Die Direktheit der Bilder aus dem Nahen
➊ Task Forces eingerichtet haben, selbst wenn
➐
Aber wer wartet überhaupt
auf Beweise, wo doch das
Elend so sichtbar ist: Das Vi-
deo eines palästinensischen
Arztes verbreitet sich, der eine ➏
Pressekonferenz inmitten von
Dutzenden verhüllten Körpern
abhält. Die Szene ist ein-
drucksvoll, die Stimme des Arztes bricht, seine
Augen füllen sich mit Tränen. Überall in der Welt
gehen Menschen gegen Israel auf die Straße.
Am 23. Oktober, 16 Tage nach den An-
griffen der Hamas und sechs Tage nach der
Explosion beim Krankenhaus, lädt auch das
israelische Militär die Presse ein. Über hundert
Journalisten, darunter eine Reporterin von
ZEIT ONLINE, bekommen in einer Art Kino
auf einem Militärgelände in der Nähe von
Tel Aviv einen Zusammenschnitt präsentiert.
Gezeigt werden 43 Minuten Material, das
Hamas-Kämpfer mit ihren Bodycams aufge-
nommen haben. Um ihr Leid zu belegen, be-
nutzen die Opfer das Videomaterial der Täter.
Was in Tel Aviv gezeigt wird, ist schwer
erträglich, die Bilder sind so schlimm, dass
Journalistinnen aufstöhnen oder sich entsetzt
die Hand vor den Mund halten.
Die Vorführung von Schreckensbildern vor
Journalisten aus aller Welt weckt in Deutsch-
land alte Erinnerungen: daran, als schon mal
Bilder getöteter, entwürdigter Juden in einer
Bilderschau präsentiert wurden. Die Amerika-
ner führten damals der Weltöffentlichkeit –
auch Deutschen – die Schrecken aus den KZs
vor Augen.
Eines der in Tel Aviv vorgeführten Videos
zeigt, wie jemand einer am Boden liegenden,
noch lebenden Person mit einer Gartenhacke
den Kopf abtrennen will. Es mag ihm nicht
recht gelingen. Auf einem
anderen Video wirft ein Ha-
➋ mas-Kämpfer eine Granate in
einen Luftschutzbunker. Ein
Vater stirbt, beide Söhne tau-
meln aus dem Bunker, eines
der Kinder scheint ein Auge
➌ geradezu human wirken las-
➎ gibt, da sie nur als Erzählungen existieren.
verloren zu haben. »Papa,
Papa«, ruft es.
Der Terrorist nimmt
sich seelenruhig eine Cola
aus dem Kühlschrank.
Mitschnitte sind bei
der Pressevorführung
nicht erlaubt. (Allerdings lassen sich viele der
Videos, die die Journalisten verstört betrach-
ten, später mit etwas Recherche im Internet
wiederfinden.) Die Journalisten sollen die Bil-
der sehen, darüber schreiben, sie aber nicht
verbreiten. Ziemlich widersprüchlich. Viel-
leicht liegt es daran, dass die Bilder immer
noch verletzen, degradieren, demoralisieren.
Ein Reporter der Bild wird nach der Vorfüh-
rung von einer Kollegin der Welt besorgt an-
gesprochen, man kann das in einem Video auf
12
3
TikTok sehen: »Ich frage das sonst nicht vor
der Kamera, aber – bist du okay?« So trösten
sich die Journalisten erst mal selbst. Sogar die
Profis halten es kaum aus, diejenigen, die ge-
lernt haben, Distanz zu wahren.
Früher waren sie es, die die Kontrolle über
die Welt der Bilder hatten. Wer Bilder machte
und wer sie in die Welt brachte, war genau
festgelegt: wenige Magazine und das Fernse-
hen. Längst ist das Aufnehmen und Zeigen
von Fotos und Videos demokratisiert. Man
stelle sich vor, wie der 11. September 2001
ausgesehen hätte, hätte es schon iPhones gege-
ben. Trotzdem sehen nicht alle die gleichen
Bilder, im Gegenteil. Es haben sich visuelle
Parallelgesellschaften ausgebildet – und das ist
gefährlich. Durch die schier endlose Menge
der Bilder erscheint die Welt unendlich groß
und vielfältig. In Wirklichkeit aber zerfällt sie
in viele kleine Welten, man könnte sagen:
Weltansichten. Der Algorithmus, ausgelegt
auf die Vorlieben und Interessen der Nutzer,
sortiert maßgeblich den Feed.
Auf TikTok kann man sich live nach Gaza
schalten lassen und sich die Skyline anschauen.
Kracht hier gleich eine Bombe rein? Bei Tik-
Tok gibt es keine Redaktion, die einordnet.
Die Plattform, die von einer Milliarde Men-
schen genutzt wird, viele davon Kinder, wollte
nach eigenen Angaben nie politisch sein. Nun
verbreitet sie Unmengen unverifizierter
Gewaltbilder. Was könnte politischer sein?
Dort sehen hassende Menschen Bilder, die sie
noch mehr hassen lassen.
Social Media können ein düsterer Ort sein
und auch ein Tatort. Es gab mindestens vier
Fälle, in denen Hamas-Terroristen soziale
Netzwerke benutzt haben, um Videos ihrer
Taten direkt hochzuladen, teilweise auf die
Profile der Opfer, um den Angehörigen noch
mehr Schmerz zuzufügen, die Opfer und das
ganze Land zu erniedrigen.
Nun allerdings zeigt sich: Kontrollieren
lassen sich diese einmal von der Hamas in die
Welt gesetzten Bilder nicht mehr. Mittlerweile
hat die Terrororganisation begonnen, ihre
Videos wieder zu löschen. Lieber verbreitet sie
nun Szenen, die ihre Kämpfer
sen, nicht wie Monster. Ein
Video von der Hamas zeigt,
wie sich freigelassene Geiseln
und Kämpfer zum Abschied
kurz die Hand reichen.
Über die Medienstrategie der
Hamas kann man nur spekulie-
ren. Vermutlich wollte sie mit
den ursprünglich verbreiteten
Bildern auch weitere Kämpfer
➍ mobilisieren. Jetzt versprechen
andere Bilder einen größeren
Nutzen: Aufnahmen getöteter
Gesichter des menschlichen Schutzschilds.
Osten verstört. Und dieser Bilderterror wird so
schnell nicht wieder aufhören, selbst wenn
inzwischen einige Social Media-Plattformen
einige Videos gelöscht oder verpixelt wurden
und anderen Triggerwarnungen vorangestellt
wurden. Der Feed läuft weiter. Inzwischen sehen
wir Bilder der beginnenden Bodenoffensive,
komplett zerstörte Häuser, noch mehr Tote.
Es gibt in diesem Krieg, das gab es so noch
nicht, keine Schweigeminute der Bilder.
Und dann ist da noch etwas, das neu ist. Es
gibt nicht nur all die Bilder von Leid und Grau-
samkeit. Es gibt sogar Bilder, die es gar nicht
Auch sie sind überall im Netz zu finden: Es
sind Zitate und Augenzeugenberichte, verbrei-
tet in Form von Bildkacheln. Zum Beispiel ver-
breiten die Israel Defence Forces neuerdings
solche Elemente: schlichte, dunkelgrau unter-
legte Flächen mit reinem Text. Da steht dann
etwa: »Hier könnte das Bild einer leblosen
schwangeren Frau zu sehen sein« oder auch
»Wir sahen aufgeschnittene Kinder. Eine
Hand, ein Fuß«.
Diese Bilder, die es nur als Worte gibt, for-
dern unsere Vorstellungskraft heraus. Sie lassen
Bilder direkt in unseren Köpfen entstehen,
und die sind mit die schlimmsten.
Den Bildern dieses Krieges kann man
kaum entkommen. Nicht mal, wenn es gar
nichts zu sehen gibt.
Die Autorin ist Art-Direktorin der ZEIT
!www.zeit.de/vorgelesen
Instagrampost des IDF, 26.10.23/via Instagram
4 POLITIK
Foto: Oded Balilty/AP/pa/dpa
Stimmt das eigentlich?
Wir prüfen neun verbreitete Annahmen über den hundertjährigen Kampf zwischen Israelis und Palästinensern
Im Krieg lügen
alle Seiten
Fangen wir mit einem eindeutigen Fall an: Viele
Hamas-Führer lügen und treiben Propaganda. So
behauptete Politbüromitglied Musa Abu Marsuk
nach den Anschlägen vom 7. Oktober, die Hamas
befolge »alle internationalen und moralischen
Gesetze«. Und Walid Kilani, Hamas-Sprecher im
Libanon, sagte dem Spiegel: »Unsere Männer
haben nicht auf Unbewaffnete geschossen.« Die
Hamas lügt auch, wenn sie vorgibt, ihre israeli-
schen Geiseln »gut« zu behandeln.
So weit, so klar. Aber was ist mit den Zahlen
der palästinensischen Todesopfer im Gazastreifen,
die vom dortigen Gesundheitsministerium ver-
kündet werden? Ende vergangener Woche veröf-
fentlichte diese Behörde ein 212 Seiten langes
Dokument mit den Namen von 6747 angeblich
getöteten Männern, Frauen und Kindern. 281
weitere Tote seien noch nicht identifiziert. Sind
diese Angaben gelogen? Übertrieben? US-Präsi-
dent Biden sagte, er traue Zahlen aus Gaza nicht.
Weil keine andere Institution – weder die UN
noch Hilfsorganisationen oder die Israelische Armee
(IDF) – präzisere oder alternative Zahlen verbreitet,
kann man die Angaben nicht unmittelbar verifizieren
oder widerlegen. Es gibt aber Erfahrungswerte. So
weisen ABC News und das Wall Street Journal darauf
hin, dass in früheren Gaza-Kriegen die Zahlen dieser
Behörde relativ präzise waren. Beide Medien zitieren
zudem Mitarbeiter von UN und Menschenrechts-
organisationen, die sagen, die Zahlen würden ihrer
Ansicht nach verlässlich und methodisch erhoben.
Ein Problem ist, dass das Gesundheitsministe-
rium nach Geschlecht und Alter aufschlüsselt,
aber nicht nach Kämpfern oder Zivilisten. Alle
zählen als »Opfer der israelischen Aggression«. Ein
israelischer Beamter sagte der Washington Post, es
habe gewiss Tausende Tote gegeben, darunter viele
Nicht-Kombattanten, aber eben auch Tausende
Hamas-Kämpfer. Genauer wurde er nicht.
Umstritten ist auch, wie viele Tote es infolge der
Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza zu be-
Der Felsendom in Jerusalem ist ein Heiligtum des Islams. Der Tempelberg, auf dem er steht, ist ein sakraler Ort der Juden
Um keinen Konflikt ranken sich so viele Mythen, Lügen und Legenden wie um diesen.
klagen gab. US-Geheimdienste vermuten, es seien
zwischen 100 und 300 gewesen. Die Gesundheits-
behörde in Gaza spricht von 471 Getöteten.
Die Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus ist noch
aus einem anderen Grund ein Streitfall. Die Hamas
behauptete sofort nach der Explosion, Israels Armee
habe hier zugeschlagen. Israel dementierte – und
veröffentlichte Indizien dafür, dass eine abgestürzte
Rakete des Islamischen Dschihad verantwortlich
sei. Zu derselben Hypothese gelangten Untersu-
chungen durch internationale Medien und Fact-
Checker. Die Behauptung, Israel habe das Kranken-
haus bombardiert, wird trotzdem weiterverbreitet
und geglaubt, auch von arabischen Machthabern.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Aktuell steht ein anderes Krankenhaus im
Fokus: Die IDF sagt, dass sich unter dem Al-Schi-
fa-Hospital unterirdische Kommandozentralen
der Hamas befänden. Die Hamas bestreitet das.
Als Beleg präsentierte die IDF ein angeblich abge-
hörtes Telefonat sowie Verhörszenen, zu beiden
wurden aber keine überprüfbaren Informationen
geliefert. Außerdem zeigte sie Luftaufnahmen, die
nicht eindeutig sind. Als Armee eines Rechtsstaa-
tes ist die IDF glaubwürdiger als eine Terrorgrup-
pe. Aus journalistischer Sicht ist das aber noch
kein Beweis; auch Armeen von Rechtsstaaten ha-
ben schon falsche Angaben gemacht.
Vor einigen Tagen erhob Reporter Ohne Gren-
zen (RSF) schwere Vorwürfe gegen Israels Armee:
Es sei zwei Mal gezielt von Israel aus auf ein ein-
deutig gekennzeichnetes Fahrzeug von Reportern
im Südlibanon geschossen worden. Ein Journalist
war dabei ums Leben gekommen. Die IDF teilte
mit, der Fall werde überprüft. Der Fall weckt
Erinnerungen an den Tod der Journalistin Shirin
Abu Akleh. Damals hatte die IDF zunächst paläs-
tinensische Militante verantwortlich gemacht, und
erst nach eindeutigen Untersuchungen internatio-
naler Medien eingeräumt, dass einer ihrer Soldaten
mit hoher Wahrscheinlichkeit den tödlichen
Schuss abgegeben hatte.
In wieder anderen Fällen ist die Frage, ob gelo-
gen wurde oder nicht, auch eine Interpretations-
frage. Israel hat die Bevölkerung im Norden des
Titelthema
Gazastreifens aufgefordert, sich in den Süden zu
retten. Aber auch im Süden fielen israelische Bom-
ben. Die versprochene Sicherheit, sagen viele Paläs-
tinenser, sei eine Lüge gewesen. Nein, sagt die israe-
lische Regierung: Nur für eine bestimmte »safe zone«
sei Sicherheit zugesagt worden. Laut Associated
Press fielen allerdings auch dort Bomben.
Auf dem Spektrum zwischen Wahrheit und
Lüge ist, wie in jedem Krieg, alles dabei. Man
muss sehr genau hinsehen. YAS SIN MUSHARBASH
Bei diesem Konflikt geht es
im Kern um Religion
In der verbreiteten Idee, der Nahostkonflikt sei ein
Glaubenskrieg zwischen Muslimen und Juden um
ein als heilig geltendes Land, schwingen weitere
Vorstellungen mit: Der Streit sei uralt, getrieben
von archaischen Leidenschaften, ein Relikt aus
einer vormodernen, irrationalen Zeit.
Diese Sicht auf den Nahostkonflikt ist irrefüh-
rend. Natürlich spielt Religion hier eine wichtige
Rolle. Nichts mobilisiert palästinensische Proteste
so stark wie die Sorge vor Übergriffen gegen die Al-
Aksa-Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem.
Und die Hamas etwa stammt aus der Tradition der
Muslimbruderschaft, die den Islam als einzig ver-
bindliche Richtschnur für Staat und Gesellschaft
ansieht. Doch die Genese und das Zentrum des
blutigen Gegensatzes zwischen Israelis und Palästi-
nensern haben mit Glaubensfragen wenig zu tun,
und uralt ist der Konflikt auch nicht.
Die Juden nämlich, die seit dem späten 19. Jahr-
hundert aus Europa ins damals zum Osmanischen
Reich gehörige Palästina einwanderten, waren in
ihrer Mehrheit durchaus nicht religiös motiviert. Im
Gegenteil: Der Zionismus, die jüdische Nationalbe-
wegung, verstand sich als ausgesprochen säkular und
aufgeklärt und grenzte sich vom frommen Schtetl-
Leben, das viele Juden in Osteuropa geführt hatten,
entschieden ab. Der Staat Israel, wie er Visionären
wie Theodor Herzl vorschwebte und wie er 1948 von
Pragmatikern wie dem ersten Premierminister David
Ben-Gurion gegründet wurde, sollte kein jüdischer
Gottesstaat sein, sondern ein Nationalstaat für das
jüdische Volk. Viele ultraorthodoxe, streng religiöse
Juden dagegen lehnten diesen Staat bei seiner Ent-
stehung ab und halten bis heute Distanz zu ihm.
Ebenso ist auch die palästinensische Feind-
schaft gegen Israel nicht primär religiös zu verste-
hen. Lange bevor eine radikalislamische Gruppie-
rung wie die Hamas überhaupt existierte, betrieb
die »Palästinensische Befreiungsorganisation«
(PLO) unter ihrem Vorsitzenden Jassir Arafat eine
anti-israelische Terrorkampagne, mit Bombenan-
schlägen, Flugzeugentführungen und anderen
Geiselnahmen. Das war kein Glaubenskrieg, son-
dern der gewaltsame Versuch, das »zionistische
Gebilde« Israel zu beseitigen, also den jüdischen
Nationalstaat zu eliminieren.
Im Kern handelt es sich beim Nahostkonflikt
um einen Territorialstreit: um die Frage, ob und
mit welchen Grenzen auf dem Gebiet zwischen
dem Jordan und dem Mittelmeer zwei Völker, jü-
dische Israelis und Palästinenser, miteinander und
nebeneinander leben können. Die Auseinander-
setzung hat sich mit der Zeit religiös aufgeladen –
nicht nur durch die zunehmende Islamisierung
auf palästinensischer Seite, sondern auch in Israel,
wo eine Siedlerbewegung mit messianischen Un-
tertönen an Einfluss gewonnen hat. Doch seinem
Ursprung und Wesen nach ist der Nahostkonflikt
eine durchaus diesseitige Sache. JAN ROS S
Der Nahostkonflikt ist
hoffnungslos und unlösbar
Auch wenn es so aussieht, als sei der Hass nach all
den Jahrzehnten chronisch geworden, er ist kein
Naturgesetz. Auch der Urkonflikt des Nahen
Ostens lässt sich heilen. Es braucht keine Fantasie,
um sich den Weg zum Frieden vorzustellen – nur
ein intaktes Gedächtnis.
Auch in früheren Zeiten schien die Lage hoff-
nungslos, doch immer öffnete sich ein Fenster für
Diplomatie. Anfang der Siebzigerjahre sieht Ägyp-
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
tens Präsident Anwar al-Sadat sich auf göttlicher
Mission gegen Israel, nach der Schmach des
Sechstagekrieges sinnt er auf Rache. Eher würde
»in ihrer Hand Gras wachsen«, als dass der Tod-
feind nach Jerusalem käme, soll die ehemalige
israelische Ministerpräsidentin Golda Meir einmal
gesagt haben. Und doch: Im November 1977
spricht Sadat als erster arabischer Staatschef in der
Knesset und erkennt das Existenzrecht Israels an.
In Camp David verhandelt Sadat ein knap-
pes Jahr später mit dem israelischen Premier
Menachem Begin, der als rechter Hardliner gilt.
Beide brüllen sich an – und finden nach 13 Ta-
gen doch zusammen. »Meine rechte Hand wird
abfallen, bevor ich jemals zustimme, eine einzige
jüdische Siedlung aufzugeben«, verkündet Begin
während der Gespräche. Wenig später sagt er
den Rückzug vom Sinai und damit den Rück-
bau jüdischer Siedlungen zu. Oft übersehen:
Der Frieden, den Israel 1979 mit Ägypten
schließt, hält bis heute – ebenso wie der 1994
besiegelte Frieden mit Jordanien.
Ungelöst bleibt, trotz versprochener Autono-
mie, der Konflikt mit den Palästinensern. PLO-
Chef Jassir Arafat setzt auf Terror, dann auf die
Intifada. Ein Frieden mit Arafat? Undenkbar.
Israels Premier Izchak Schamir will nicht mal mit
ihm reden. Sein Credo: »Ich will die Araber ein-
fach nicht, die Juden wollen die Araber nicht.«
Es kommt anders. Der friedensbereite Izchak
Rabin gewinnt 1992 die Parlamentswahl und löst
den verhandlungsunwilligen Schamir ab. Im
Dezember 1992 treffen sich Vertreter Israels und
der PLO zu geheimen Gesprächen in Oslo. Die
Verhandlungen münden in ein Abkommen, das
Rabin und Arafat 1993 mit einem Handschlag vor
dem Weißen Haus besiegeln – genau dort, wo
einst Sadat und Begin standen.
»Land für Frieden« heißt die Formel, die den
Konflikt entschärfen soll. Israel räumt den Gaza-
streifen und große Teile des Westjordanlands, im
Gegenzug sorgt eine Palästinensische Autonomie-
behörde für Sicherheit. Das Abkommen läuft auf
einen palästinensischen Staat hinaus, Schritt für
Schritt. So die Idee.
DIE ZEIT N o 46 2. November 2023 POLITIK 5

Wahrheit oder Propaganda?

Hätte der Frieden von Dauer sein können,
hätte Rabin die Zeit gehabt, sein Abkommen
über die Ziellinie zu bringen? Vielleicht. Aber am
4. November 1995 tötet der Attentäter Jigal
Amir den Premier. Mit Rabin stirbt die Hoff-
nung auf Frieden. Es gewinnen diejenigen die
Oberhand, die auch heute das Geschehen diktie-
ren: Die Hamas und der Islamische Dschihad
überziehen Israel mit Terror, und Benjamin
Netanjahu, 1996 erstmals israelischer Minister-
präsident, forciert den Siedlungsbau. Alle weite-
ren Friedensverhandlungen bleiben ergebnislos.
Aber warum soll es keinen neuen Versuch ge-
ben? Die Geschichte des Nahen Ostens steckt
voller überraschender Wendungen. So paradox es
klingt: Der grausame Terror der Hamas und all
die Gewalt, die er auslöst, könnten am Ende der
Diplomatie eine neue Chance geben. Der Weg
zum Frieden ist oft blutgetränkt. FR ANK WERNER
Die Briten sind an
allem schuld
Nicht die allein. Fangen wir an mit dem Osma-
nischen Reich. Im 16. Jahrhundert zog es sich
von Budapest bis Bagdad und Mekka, einschließ-
lich des Landes, das heute Israel ist. Später kamen
Napoleons Armeen. Während des Ersten Welt-
kriegs stiegen London und Paris gemeinsam ein.
Sultan-Land war abgebrannt; jetzt ging es an die
Zerteilung der Beute. Bloß sieht die muslimische
Welt nicht die Osmanen als Schuldige, die Nah-
ost 400 Jahre lang kujoniert, dessen florierende
Kultur erstickt hatten. Auf der Anklagebank sit-
zen der Westen und Israel.
Ja, aber die »Balfour-Erklärung« von 1917 als
Auslöser des Übels ...? Der Kernsatz der Deklara-
tion, benannt nach dem damaligen britischen
Außenminister, lautet: London »betrachtet mit
Wohlwollen die Errichtung einer nationalen
Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina«.
Den Arabern wurde Gegenteiliges versprochen.
Britannien brauchte vorerst die Unterstützung
internationaler jüdischer Organisationen im
Kampf gegen das Deutsche Reich und dessen
osmanische Bundesgenossen.
Später gedachte London, die Juden in Palästi-
na gegen die »Große Arabische Revolte« der Drei-
ßigerjahre einzuspannen. Als Rommels Afrika-
korps im Zweiten Weltkrieg gen Kairo vorstieß,
eine neue Wende: Die Briten wollten die Araber
auf ihre Seite ziehen. Zu spät. Mohammad Amin
Al-Husseini, ihr Führer im britischen Mandats-
gebiet und ein blutrünstiger Judenhasser, paktier-
te mit Adolf Hitler, der ab 1938 Waffen lieferte.
Balfour hin oder her: Um die Araber zu rekru-
tieren, die damals noch nicht »Palästinenser«
hießen, rationierte Britannien streng die Ein-
wanderung jüdischer Flüchtlinge aus Nazi-
Europa – bloß nicht die muslimische Mehrheit
verprellen. Der Hollywood-Hit Exodus zeigt, wie
die Briten 1947 5000 Juden auf Zypern inter-
nierten. Abermals regierte das kalte Interesse. Es
tobte der Kalte Krieg; Stalin durfte nicht in den
Nahen Osten vordringen. Abermillionen Araber
wogen mehr als 600.000 Juden.
Wer hat Schuld? Die Türken, Briten und Fran-
zosen, aber letztlich die Vereinten Nationen als
Quasi-Weltregierung. 1947 beschloss eine Mehr-
heit der Mitglieder die Teilung Palästinas in einen
arabischen und einen jüdischen Staat. Israel ist
also ein Kind der UN. Danach fielen fünf arabi-
sche Armeen ein und wurden besiegt. Seitdem ist
Frieden bloß eine Pause zwischen zwei Kriegen.
Noch weiter zurück – zu den großen Impe-
rien wie Ägypten, Persien und Babylon, die um
die Vorherrschaft rangen. Dazu sagte der legen-
däre israelische Kriegsherr Mosche Dajan: »Die
Levante ist der Elefantenpfad der Geschichte.«
Seit 4000 Jahren. Anderseits hat Israel längst
Frieden mit Ägypten und Jordanien geschlossen,
nunmehr mit drei Golfstaaten. Saudi-Arabien als
Nächster. Ein Hauptziel der Hamas und des Iran
ist es, dieses Geflecht zu zerstören. JOSEF JOFFE
Israel ist eine
Kolonialmacht
»Decolonize Palestine – Dekolonisiert Palästina«
– dieser Slogan ist seit dem Terroranschlag der
Hamas auf Israel immer wieder zu hören. Dass
Israel eine Kolonialmacht sei, die die Palästinen-
ser unterdrücke, steht auf Demo-Plakaten eben-
so wie in den Texten linker Intellektueller wie der
Philosophin Judith Butler.
Den Konflikt zwischen Israel und den Palästi-
nensern als »kolonial« zu beschreiben, geht unter
anderem zurück auf den 2003 verstorbenen
derttausend jüdische Siedler nach Palästina.
Während aber Kolonialmächte wie das deutsche
Kaiserreich oder Großbritannien Besiedlung oft
als Besatzung oder Vorstufe zur Besatzung zum
Zweck der Ausbeutung von Land und Menschen
betrieben, kamen diese zionistischen Siedler
ohne mächtiges »Mutterland« im Rücken. Im
Gegenteil. Sie waren zwar oft nationalistisch
gesinnt, aber eben auch auf der Suche nach
Sicherheit vor Antisemitismus und staatlicher
Repression anderswo. Sie knüpften an eine jahr-
tausendealte jüdische Geschichte in der Region
an. Mit der zu dieser Zeit dort lebenden arabi-
schen Bevölkerung und den britischen Verwal-
tungsbehörden kam es zwar auch vor 1947 schon
zu gewaltsamen Konflikten. Die Beherrschung,
Ausbeutung oder Unterdrückung der arabischen
Bevölkerung war aber nicht das Ziel.
Für die Staatsgründung wiederum machte
zwar eine Kolonialmacht – Großbritannien –
nach heftigen Kämpfen den Weg frei. Beschlos-
sen allerdings wurde sie von den Vereinten
Nationen, die 1947 einen Teilungsplan be-
schlossen und die Gebietsteile sowohl einem
möglichen israelischen als auch einem mögli-
chen arabischen Staat zuwiesen.
Auch die Zuschreibung »postkolonialer«
Theoretiker, die israelische Gesellschaft sei
»weiß« oder »europäisch«, während die Palästi-
nenser People of Color seien, führt in die Irre.
Etwa die Hälfte der Juden, die heute in Israel le-
ben, stammt aus Familien, die aus arabischen
Ländern zugewandert sind.
Die Siedlungspolitik des modernen Israel im
Westjordanland wiederum sieht dem imperialen
europäischen Kolonialismus schon ähnlicher.
Das Westjordanland ist Teil jener Gebiete, die
die UN 1947 für einen Palästinenserstaat vorsa-
hen. Seit dem Sechstagekrieg 1967 steht es unter
israelischer Militärverwaltung. Ähnlich ist die
israelische Siedlungspolitik dort dem histori-
schen Kolonialismus insofern, als die Ansiedlung
von Personen unter anderem dem Zweck dient,
das Land zu beherrschen.
Dennoch schafft es mehr Verwirrung als
Klarheit, zwei so unterschiedlichen Phänomenen
wie der Gründungsgeschichte Israels und der is-
raelischen Besatzungspolitik im Westjordanland
das Vokabular des Kolonialismus überzustülpen.
Jene, die das tun, stehen deshalb selbst unter
Ideologieverdacht, und oft zu Recht. Israel als
Staat darzustellen, der aus kolonialem Unrecht
entstanden sei und permanent koloniales Un-
recht begehe, erlaubt es, Gewalt gegen Israel als
»Freiheitskampf« zu rechtfertigen. Eine »Deko-
lonisierung« des gesamtes Staatsgebiets Israels
kann in letzter Konsequenz nur das Ende Israels
und die Vertreibung seiner jüdischen Bevölke-
rung bedeuten. ANNA SAU ERB RE Y
Israels Geheimdienste
sind die besten der Welt
Gemessen an einer Bevölkerung von zehn Mil-
lionen Menschen bestimmt. Die drei wichtigsten
sind der Mossad (Ausland, Betonung auf »-sad«),
Aman (Militär) und Schin Bet (Inlandssicher-
heit). Die Armee hat noch die »Einheit 8200«,
die für Cyberkrieg zuständig ist.
Selten geben die Dienste mit ihren Trium-
phen an, weil dies ihre Methoden verraten könn-
te. Ein paar Ausnahmen: Ein Team hat 1960
Adolf Eichmann in Argentinien aufgespürt und
ihn nach Israel entführt, wo der Chef-»Endlöser«
hingerichtet wurde. Israel hat die Agenten Eli
Cohen in Damaskus und Wolfgang Lotz in Kairo
platziert, wo sie Kriegspläne aufdeckten.
Einen jüngeren Coup landeten die Israelis
2018 in Teheran, wo sie 100.000 Dokumente
über die geheime Atomrüstung des Iran kopier-
ten und mit befreundeten Diensten teilten. Der
Kern: Der Iran war schon viel weiter auf dem
Weg zur Bombe gewesen, als der Westen ange-
nommen hatte.
Israel hat einen einzigartigen Vorteil im
Intelligence-Geschäft. Ein Land mit hundert
Nationalitäten kann Agenten rekrutieren, die
perfekt Arabisch oder Farsi sprechen – bis runter
zum lokalen Akzent. Die können »wie Fische im
Wasser schwimmen«, um Mao zu zitieren.
Also ein Volk von Superagenten? Nicht ganz.
Vor genau 50 Jahren war Israel total unvorberei-
tet, als Syrien und Ägypten das Land im Jom-
Kippur-Krieg in eine mörderische Zange nah-
men. Israel hatte keinen Schimmer von deren
neuer Taktik. Die Angreifer dezimierten mit
modernen Sowjet-Raketen haufenweise Jets und
Panzer. Jerusalem hatte von einem ägyptischen
Diplomaten sogar das Wann der Attacke erfah-
ren. Aber Golda Meir wagte keinen Präventiv-
verzögerte Israel die Invasion, um den USA, wie es
hieß, die Stärkung ihrer Luftabwehr in Nahost zu
ermöglichen. Aufgeschoben oder aufgehoben?
Weder noch, sondern eine Mischung aus begrenz-
ten Vorstößen und langfristiger Belagerung, die
monatelang dauern kann. JOSEF JOFFE
Israel ist die einzige
Demokratie in Nahost
Ein wenig bekanntes Paradox: Nirgendwo im Na-
hen Osten haben arabische Wähler so viele demo-
kratische Rechte wie in Israel. Die etwa 2 Millionen
israelischen Bürger mit arabischen Wurzeln machen
20 Prozent der Bevölkerung aus. 2022 nahmen 53
Prozent der arabischen Wahlberechtigten an den
Wahlen zur Knesset teil. Die arabischen Parteien
erhielten mehr als eine halbe Million Stimmen.
Zum Vergleich: In Gaza und im Westjordanland
sind seit 18 Jahren keine nationalen Wahlen mehr
durchgeführt worden.
In seinen eigenen Grenzen ist Israel zweifellos
eine Demokratie, auch wenn rechtsextreme Kräfte
seit Jahren versuchen, die arabische Minderheit
auszugrenzen. Die formelle rechtliche Gleichheit
steht im Kontrast zu vielfältiger gesellschaftlicher
Benachteiligung. Seit der Staatsgründung hat es
immer arabische Abgeordnete gegeben, 2021 war
eine arabische Partei sogar kurzzeitig Teil einer
Regierungskoalition.
Die israelische Demokratie ist heute durch zwei
Tendenzen gefährdet – durch den Rückbau der
Gewaltenteilung im Gefolge der sogenannten Jus-
tizreformen und durch den Siedlungsbau im West-
jordanland. Beides hängt zusammen. Die derzeitige
Regierung Netanjahu, in der ultrarechte, national-
religiöse Siedler prominent vertreten sind, versucht
die weitgehenden Kompetenzen des Obersten
Gerichts zu beschneiden und es letztlich unter
politische Kontrolle zu bringen. Auch, weil die
Richter sich immer wieder dem Siedlungsbau und
der Vertreibung von Palästinensern entgegenstellen.
Der Versuch, die Justiz der Politik zu unterwer-
fen, hat wiederum eine demokratische Protestbe-
wegung inspiriert. Bis zum Terrorangriff der
Hamas gingen allwöchentlich Abertausende auf
die Straße. Ihr Protest war ein Zeichen, wie tief
demokratische Normen in der israelischen Zivilge-
sellschaft verankert sind.
Israel versteht sich als jüdischer und demokrati-
scher Staat zugleich, also Heimstätte für alle Juden
(ob sie nun in Israel leben oder nicht) und Staat
aller seiner Bürger (welcher Herkunft auch immer).
Die größte Herausforderung der israelischen
Demokratie ist darum die seit 56 Jahren bestehen-
de Besatzung des Westjordanlands. Die Selbstbe-
stimmung der dortigen Palästinenser wird von den
israelischen Autoritäten massiv eingeschränkt, 132
Siedlungen durchschneiden das Territorium, und
die Bevölkerung hat, anders als arabische Israelis,
keinen Einfluss auf ihr Schicksal.
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Für Menschen ab 60 Jahren besonders wichtig:
Im sechsten Jahrzehnt und ohne Aussicht auf
einen palästinensischen Staat ist die Besatzung kein
Provisorium mehr. Die permanente Herrschaft
über eine nichtjüdische Bevölkerung gefährdet
sowohl den jüdischen als auch den demokratischen
Charakter Israels. JÖRG L AU
Die Zweistaaten-
lösung ist tot
Das Ende der Zweistaatenlösung wird schon seit
dem Abkommen von Oslo 1993 oft und hartnäckig
verkündet. Die Idee, dass Palästinenser und Israelis
in zwei Staaten leben sollten, lag dem Abkommen
zwischen Palästinensern und Israelis zugrunde.
Palästinensische Extremisten und Terroristen sind
gegen einen Staat Israel überhaupt. Für israelische
und westliche Liberale ist der Doppelstaaten-
Entwurf eine Illusion und lenkt von der Dringlich-
keit ab, sowohl für Juden wie für Palästinenser
menschenwürdige Lebensverhältnisse zu schaffen.
Für die israelische Rechte und die Extremisten
in der Regierung von Benjamin Netanjahu war die
Zweistaatenlösung ein Hindernis auf dem Weg,
das Westjordanland ganz zu beherrschen. Durch
die Genehmigung immer neuer Siedlungen schu-
fen sie Fakten. Den Gazastreifen wollten sie ein-
dämmen, abschnüren und vergessen. Und für ihren
»einen Staat« wollten sie sich die Anerkennung der
arabischen Staaten holen.
Die Einstaatenstrategie Netanjahus ist jämmerlich
gescheitert. Sie konnte die Hamas nicht hindern,
Israelis massenhaft zu verstümmeln und zu ermorden.
Die Welt schaut vor allem auf die Benachteiligung
und Entrechtung von Palästinensern. Die arabischen
Regierungen, die sich Israel angenähert hatten, gehen
auf Abstand. Und selbst in den USA wächst der
Druck auf Israel, mehr für die Palästinenser zu tun.
Netanjahu und seine extremistischen Verbündeten
haben Israel mit ihrem Beherrschungswahn innerlich
geschwächt und der Hamas den Eindruck vermittelt,
es sei eine gute Gelegenheit, mörderisch zuzuschla-
gen. Der Überfall zeigt, wer durch Netanjahus Ein-
staatenlösung gefördert wird: nicht die Palästinensi-
sche Autonomiebehörde in Ramallah, sondern die
Hamas. Geplatzt ist zugleich die Hoffnung, Israelis
und Palästinenser könnten in einem Staat friedlich
und mit gleichen Rechten nebeneinander leben. Israel
als jüdischer Staat hätte in dieser Einstaatenvariante
wohl keine Zukunft. Wer behauptet, die Zweistaa-
tenlösung sei tot, füttert selbst einen Mythos.
Lange genug aber haben westliche Politiker leere
Phrasen von den zwei Staaten gedroschen. Die Idee
braucht neue Anstöße, ob als Konföderation, Doppel-
staat mit einer Außengrenze oder zwei völlig unabhän-
gige staatliche Einheiten.
Das Interesse daran dürfte nun in Israel erneut
wachsen. Mehr Sicherheit vor Islamisten und
Terroristen. Klare Trennung von jenen Palästinen-
sern, die nicht mit oder in Israel leben wollen.
Selbstverwaltung der Palästinenser. Ein Ende der
ideologischen Siedelei. Grundsätzlich gilt: Kein
Lösungsansatz ist per se unmöglich – und alles
bleibt denkbar. MICHAEL THUMANN
Die Hamas ist ein
Werkzeug des Iran
Die Außenpolitik der Islamischen Republik Iran
beruht auf zwei Prinzipien: dem Export der Revolu-
tion von 1979; und dem Ziel der Vernichtung Israels.
Weil diese Maßgaben für den Iran gefährlich werden
können, tritt ein drittes Prinzip hinzu: Abschreckung.
Die soll unter anderem durch ein Bündnis mit Terror-
gruppen und Milizen quer durch den Nahen Osten
sichergestellt werden. Diese »Achse des Widerstands«
kann offensiv wie defensiv eingesetzt werden. Vorteil
für den Iran: Nicht immer sind die eigenen Finger-
abdrücke zu erkennen, wenn etwa Huthi-Rebellen
im Jemen oder eine schiitische Miliz im Irak Raketen
Richtung Israel oder auf eine US-Basis abschießen.
Eine Abstimmung mit dem Regime in Teheran darf
man allerdings voraussetzen. Mitunter auch Befehle.
Zur »Achse des Widerstands« zählt, als einzige
große sunnitische Gruppe, die Hamas. Zwei Jahre
nach ihrer Gründung 1987 verübte die Hamas
ihren ersten Anschlag, auf zwei israelische Soldaten.
1992 deportierte Israel daraufhin 400 Palästinenser,
darunter Hamas-Kader, in den Südlibanon. Dort
wurden sie von Kämpfern der Hisbollah (ebenfalls
Achsenmitglied) und Ausbildern der iranischen
Revolutionsgarden aufgelesen und im Bombenbau
geschult: So begann die Zusammenarbeit.
Als Anfang der Neunzigerjahre eine Annähe-
rung zwischen Israel und der Palästinensischen
Befreiungsorganisation PLO begann, trieb der Iran
die Hamas gezielt an, einen Friedensschluss zu
torpedieren. Sowohl der Einsatz von Selbstmord-
attentätern (ab 1991) als auch Raketen (ab 2001)
geht auf iranischen Einfluss zurück. Aus Teherans
Sicht ein erfolgreiches Investment: Unter dem
Eindruck des Hamas-Terrors wuchsen die Zweifel
israelischer Wähler am Frieden stetig.
Ohne iranische Hilfe hätte die Hamas heute weder
so viele, noch so reichweitenstarke Raketen. Iranische
Ausbilder haben Hamas-Ausbilder geschult, die ihrer-
seits ihr Wissen weitergaben. Bis zu 70 Millionen
Dollar sollen jährlich aus Teheran an die Hamas ge-
flossen sein. Laut Wall Street Journal könnten iranische
Kader der Hamas auch geholfen haben, das Massaker
vom 7. Oktober vorzubereiten. US-Geheimdienste
und Israel halten das jedoch für unbelegt.
Als Gegenleistung für Geld, Waffen und Training
erwartet der Iran von den Achsenmitgliedern, dass
sie als Verteidigungsring fungieren: Wird der Iran
angegriffen, sollen sie zurückschlagen. Unklarer ist,
ob der Iran und die Hisbollah bereit sind, eine Aus-
weitung des Krieges zu riskieren, um der Hamas zur
Seite zu stehen. Die Hamas sieht sich als Verbündete
des Iran, auf Augenhöhe. Auch Experten glauben,
dass sie unabhängig ist. Ein Werkzeug des Iran ist sie
in Teilen trotzdem. YAS SIN MUSHARBASH

Kommen Sie
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palästinensisch-amerikanischen Wissenschaftler schlag, um die Amerikaner nicht zu vergrätzen.

Edward Said, dessen Texte zum Kanon der post- Außerdem fühlten sich die Israelis sicher, hatten
colonial studies gehören. In seinem 1979 erschie- sie doch Ägypten schon dreimal geschlagen.

der Grippe zuvor.

nenen Essay The Question of Palestine beschreibt
Said die Gründung des Staates Israel als koloniale
Landnahme und den Zionismus als eine Ideolo-
gie, die in der Tradition des rassistischen euro-
päischen Imperialismus stehe.
Heute bezieht sich die Kritik, Israel sei eine
»Kolonialmacht«, sowohl auf die Gründungs-
geschichte des Staates als auch auf die aktuelle
Siedlungspolitik. Aber wie groß sind die Ähn-
lichkeiten zur europäischen Kolonialgeschichte
wirklich?
Was die Gründung des Staates Israel betrifft,
weckt der Begriff »Kolonisierung« mehr falsche
als richtige Assoziationen. In mehreren Einwan-
derungswellen kamen seit dem späten 19. Jahr-
hundert bis zum Zweiten Weltkrieg einige Hun-
Dito am 7. Oktober, als Hamas-Terroristen
aus Gaza ausbrachen und 1400 Zivilisten morde-
ten. Wieso der Leichtsinn? Israel hat immer wie-
der in Gaza das »Gras gemäht«, wie es im Militär-
jargon heißt, immer wieder Luftschläge geführt,
um die Hamas zu schwächen. Die kleine Super-
Lassen Sie sich gegen Grippe impfen!
macht muss sich zu sicher gefühlt haben, eine
Portion Hochmut kam dazu. Hinterher sind
Spione stets schlauer, häuften sich doch seit 2022
die Anzeichen eines Angriffskrieges.
Inzwischen kennen sich die Dienste gut in
Gaza aus. Sie wissen, wo die Waffendepots lie-
gen, wo die Hamas-Führung wohnt. Seit drei
Wochen bringen die Israelis gezielt Hamas-
Kommandanten aus der Luft um und knacken
das Tunnel-Netzwerk. Auf Wunsch Amerikas
6 POLITIK
Kann ein Sozialdemokrat klima- und klassenbewusst zugleich sein? Begegnungen mit Andreas Babler, der im
nächsten Jahr Bundeskanzler von Österreich werden will VON ROBERT PAUSCH UND BERND ULRICH
Andreas Babler, 50, (rechts) ist seit Juni Vorsitzender der SPÖ und seit 2014 Bürgermeister der Kleinstadt Traiskirchen. Das Foto zeigt ihn bei einer Kundgebung in Wien
M
it linker Politik Arbeiter
beeindrucken, während
man Arbeiter:innen sagt?
Haha! Freundlich zu
Flüchtlingen sein und bei
der Wahl zum Bürger-
meister zwei Drittel der
Stimmen gewinnen? Unmöglich! Für das Klima
und gegen das Kapital? So redet doch kein Mensch!
Doch.
Jetzt will erst mal jemand ein Foto mit ihm.
Ausgerechnet hier, in dem Regierungsviertel-
Café, wo sich die Berliner Hauptstadtgewächse
zum Köpfe-Zusammenstecken treffen. Der
Mann, Typ Mittelstands-Lobbyist, Polohemd,
breite Schultern, holt sein Handy aus der Tasche.
Andreas Babler, den in Österreich alle nur Andi
nennen, lächelt in die Kamera. Dann verabschie-
det er den Mann mit einem krachenden Hand-
schlag, als hätten die beiden jahrelang gemein-
sam Fußball gespielt.
Andreas Babler ist auf seiner ersten Auslands-
reise als Chef der österreichischen Sozialdemokra-
ten. Gestern Morgen ist er angekommen, heute
Nachmittag reist er zurück. »Daheim ist ja gerade
auch einiges zu tun«, sagt er.
Vier Wochen zuvor, im Juni dieses Jahres, ist er
nach einem der irrwitzigsten Kämpfe in der jünge-
ren Geschichte der europäischen Sozialdemokratie
zum Parteichef gewählt worden. Er war der Rebell.
Der Provinzpolitiker, der das Parteiestablishment
herausforderte. Die Profis hielten seine Kandida-
tur erst für einen Witz, dann für eine Anmaßung,
nun ist er SPÖ-Chef. Wohlgemerkt: Nachdem der
Parteitag zuerst seinen Widersacher zum Sieger
gekürt hatte, dann allerdings der Zählkommission
auffiel, dass sie die Stimmen in einer Excel-Tabelle
vertauscht hatte, woraufhin die Chefin dieser
Kommission bei Babler anrief, um ihm zu sagen,
dass, nun ja, er der neue Parteichef sei.
Jedenfalls sitzt Babler jetzt, an diesem Vormit-
tag Anfang Juli, in diesem Berliner Regierungs-
viertel-Café, und noch interessanter als die Ge-
schichte, wie er Parteichef wurde, ist die Geschich-
te, die er nun als Parteichef schreiben will. Denn
der Mann, der noch vor einigen Wochen bloß
Bürgermeister der Kleinstadt Traiskirchen war, hat
einige überraschende Antworten auf grundlegende
Fragen, die progressive Kräfte längst nicht nur in
Österreich quälen, zum Beispiel: Wie können
Linke Mehrheiten gewinnen, ohne dabei wie
Rechte zu reden? Wie kommt man heraus aus dem
Gegeneinander von Klima- und Klassenpolitik?
Was kommt nach dem Kulturkampf? Und wenn
nun sozialdemokratische Parteien in Europa mit
einem Mitte-Kurs bis an die Grenzen der Selbst-
verleugnung trotzdem keine Wahlen mehr gewin-
nen, sollte es dann – Schreck, lass nach – mit
einem linken Kurs möglich sein, Genosse Olaf?!
Im nächsten Jahr wird in Österreich gewählt.
Wenn Bablers Projekt Erfolg hat, wird er Strategie-
debatten in ganz Europa beleben. Wenn er scheitert,
Huch, ein Arbeiter
wird Österreich mit einiger Wahrscheinlichkeit von
Rechtsradikalen regiert werden, nicht ausgeschlossen,
dass die FPÖ den Kanzler stellen wird. Es steht also
einiges auf dem Spiel. Was aber ist Bablers Plan?
Neulich wandte sich der österreichische Bun-
deskanzler Karl Nehammer von der konservativen
ÖVP mit einer programmatischen Ansprache an
das Volk. »Was ist eigentlich normal? Darf man
überhaupt noch normal sagen?«, fragte er im wei-
ßen Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, um dann
seine eigene Definition von Normalität zu präsen-
tieren: Normal sei es, morgens zu Arbeit zu gehen
und sich an die Regeln zu halten. Nicht normal
seien dagegen alle, die ihre Meinungen über die
anderer stellen. Normal sei es, mit dem Auto zur
Arbeit zu fahren, ohne dabei ein schlechtes Gewis-
sen zu haben. Normal sei es, Schnitzel zu essen.
Nicht normal seien Klimakleber.
Auch Andreas Babler trägt gerne weiße Hem-
den mit aufgekrempelten Ärmeln, aber seine An-
sprache funktioniert ganz anders. Er sagt: »Wir
müssen eine Politik machen, die so radikal ist wie
die Wirklichkeit.« Es brauche eine Verteilungs-
politik, die die Gerechtigkeitslücke wirklich bear-
beite, statt sie bloß zu bestaunen. Die sich keine
Illusionen darüber mache, dass sie gegen mächtige
Interessen kämpft. Radikal wie die Wirklichkeit,
das bedeutet aus Bablers Sicht allerdings auch, dass
man die Nebenfolgen der Normalität benennen
muss. Natürlich sei es normal, Schnitzel für 8,99
Euro zu essen. Aber sei das auch gut? Babler sagt:
»Natürlich müssen wir weniger Fleisch essen.«
Babler sagt das ohne jede Aufregung in der
Stimme, dabei ist das ein Satz, der in Deutschland
selbst bei Grünen auf dem Index steht. Wieso
kann sich das ausgerechnet ein Sozi leisten?
Der mächtigste Gegner, mit dem Sozialdemo-
kraten in westlichen Demokratien konfrontiert
sind, ist: der Verrat. Wenn sie ein kritisches Wort
über den Verbrennungsmotor verlieren, wenn sie
sich dazu etwa noch gendersensibel zeigen und
irgendwie flüchtlingsfreundlich argumentieren,
schallt es ihnen entgegen: Ihr habt doch keine
Ahnung von den normalen Leuten! Ihr schickt
eure Kinder auf Privatschulen, aber wollt den
Normalen erzählen, wie sie zu leben haben!
Dass dieser Vorwurf zumeist taktisch vorgebracht
wird, ist dabei nicht weiter erheblich, denn: Er hat
einen wahren Kern. Die Grünen etwa sind habituell
und kulturell seit je so weit von den unteren Schich-
ten entfernt wie Friedrich Merz von Berlin-Kreuz-
berg. Und auch sozialdemokratische Spitzenfunk-
tionäre sind heute in der Regel Lehrer, Anwälte und
Soziologen, die dann wiederum immer stärker von
(pensionierten) Lehrern, Anwälten und Soziologen
gewählt werden. Nur auf Parteitagen singen sie noch
alle gemeinsam die Arbeiterlieder.
Diesen – realen oder gefühlten – Klassenverrat
kompensieren sie schließlich kulturell. Mit Lastenrad-
Lästereien und anderen Ausfällen gegen urbane Aka-
demiker, vorzugsweise aus dem Mund eines studier-
ten Menschen mit Wohnsitz in Berlin-Mitte. Oder
Potsdam. Es ist ein geliehenes Ressentiment, das sich
vor allem aus Mutmaßungen darüber speist, was die
Leute denken, mit denen man selbst kaum noch et-
was zu tun hat.
Das schlechte Gewissen ist seit vielen Jahren
zahlendes Mitglied der Sozialdemokratie.
Bei Babler ist das anders. Im Wahlkampf erzählte
er oft die Geschichte von seiner Heimatstadt Trais-
kirchen, die einst um ein großes Werk des damaligen
Reifenherstellers Semperit gebaut wurde. Sein Vater
arbeitete dort anfangs am Band, später hat er sich zum
Abteilungsleiter hochgearbeitet, noch später verlor
die Stadt den Standortwettbewerb, die Reifen wurden
in Billiglohnländern produziert. Babler selbst brach
die Schule ab, arbeitete zuerst ungelernt als Lagerist,
schließlich als Abfüller am Fließband in einer
Mineralwasserfabrik, bevor er später Bürgermeister
von Traiskirchen wurde. Es ist schwer, einem Arbeiter
vorzuwerfen, er würde die Lebensrealität der Arbeiter
nicht verstehen. Und es klingt ein bisschen komisch,
wenn man dem Bürgermeister einer Kleinstadt
erklärt, seine Politik sei bloß etwas für Großstädter.
Die Autorität seiner Biografie führt dazu, dass
Babler anders sprechen kann, als man es von Sozial-
demokraten gewohnt ist. Das gilt beim Klima, aber
auch bei der Migration. Im Wahlkampf ging eine
zentrale Passage seiner Rede so: »Ich komm aus einer
Semperit-Stadt. Da war’s halt so in den Betrieben, dass
die Leute aus der Gastarbeitergeneration nicht ›die
Leute da draußen‹ waren. Das waren Leute, die schon
mit meinem Opa zusammen an der Werkbank
gestanden sind, mit meinem Papa in der Semperit
gearbeitet haben, Seite an Seite. Die mit mir gearbei-
tet haben (...) Das sind nicht ›die Leut’ da draußen‹,
das sind nicht ›die Ausländer‹. Das sind unsere Leut’.«
S
eine Gegner wiederum konnten sich
nicht ganz entscheiden, ob sie Babler als
Produkt einer »Wiener Twitter-Blase«
attackieren. Oder als Kleinstadtbürger-
meister, der ein so derbes Niederöster-
reichisch spreche, dass man sich dafür schämen
müsse, wie andere erklärten.
Im Café in Berlin sagt er mit Blick auf den Chef
der rechtsradikalen FPÖ: »Herbert Kickl kennt
Flüchtlinge nur aus dem Fernsehen. Ich habe eines
der größten Flüchtlingslager in ganz Europa in mei-
ner Stadt, und wir kriegen das gut hin. Der soll mir
mal was von Migration erzählen.« Bei der letzten
Wahl zum Bürgermeister im Jahr 2020 wurde Babler
mit über 70 Prozent der Stimmen gewählt, die FPÖ
dagegen kam bloß auf 9 Prozent.
Andreas Babler kann progressiver sein als viele
Sozialdemokraten, weil er proletarischer ist als die
meisten. Aber wie weit trägt ihn dieser Bonus der
Biografie?
Zweimal wurden in den vergangenen Jahren
sozialdemokratische Parteien in Westeuropa von
linken Außenseitern übernommen – und zweimal
schlug das Establishment zurück. In Deutschland
waren es Saskia Esken und Norbert Walter-Bor-
jans, die in der Urwahl um den SPD-Vorsitz Olaf
Scholz besiegten. Doch programmatisch und stra-
tegisch entpuppte sich der Linksruck als verschärf-
tes Weiter-so, weshalb schließlich Scholz bruchlos
als Kanzlerkandidat zurückkehren konnte.
In Großbritannien hieß der linke Rebell Jere-
my Corbyn. Dieser wiederum scheiterte nicht
nur an den Beharrungskräften des zentristischen
Lagers innerhalb der Labour-Partei. Der linke
Kauz scheiterte auch daran, dass er ein paar zu
linksverkauzte Vorstellungen pflegte. Zum Anti-
semitismus in der eigenen Partei, der ihm ein
bisschen egal war, dem Nahostkonflikt und der
Außenpolitik im Allgemeinen, die er aus der Per-
spektive des Anti-Imperialismus der Achtziger zu
betrachten pflegte.
Auch von Babler gibt es ein paar Aussagen, die
zumindest Zweifel erwecken. Die meisten stam-
men aus seiner Zeit als Jungsozialist, wo
bekanntermaßen auch Olaf Scholz gesagt haben
soll, er würde den Kapitalismus »hassen«. Kurz
vor dem Parteitag der SPÖ tauchte allerdings ein
erst drei Jahre altes Video auf, in dem Babler
erklärte, die EU »überhaupt nicht leiwand« zu
finden. Sie sei ein »imperialistisches Projekt mit
ein paar Sozialstandards«.
Heute sagt Babler: »Das war natürlich Schwach-
sinn. Man hört da den Bürgermeister der Stadt
Traiskirchen, der frustriert ist, weil er vor Ort aus-
baden muss, dass wir zum Beispiel noch immer
keine funktionierende Verteilung von Flüchtlin-
gen in Europa haben.«
Aber ist es wirklich damit erledigt? Babler hat
bei den Balkankriegen Ende der 1990er-Jahre bei-
spielsweise vor lauter antiimperialistischer Kritik
an den USA den mörderischen Imperialismus des
serbischen Regimes unterschätzt. Vielleicht ist es
einfach unmöglich, drei oder vier Jahrzehnte dem
sozialdemokratischen Mitte-Sog zu widerstehen,
ohne sich linker Ideologiekrücken zu bedienen.
Babler hat sich genau angesehen, wo Linke
erfolgreich waren und wo sie gescheitert sind.
Seine Wette geht so: Wenn die Sozialdemokraten
die Verteilungsfrage zum Ausgangspunkt jeder
Überlegung machen, wenn sie bereit sind, sich mit
Mächtigen anzulegen, dann können sie wieder zu
glaubhaften Repräsentanten der einfachen Leute
werden. Das erste Ziel, sagt Babler, sei dabei eine
Diskursverschiebung: »Na klar können wir jetzt
zum hundertsten Mal darüber diskutieren, ob die
Balkanroute geschlossen wird. Aber glaubst du,
dass du davon eine schlaflose Nacht weniger hast,
in der du dir Sorgen machst, dass du die Miete
nicht bezahlen kannst?«
Und tatsächlich: Als Bundeskanzler Neham-
mer sein Tischfeuerwerk des Normalismus zünde-
te, reagierte die Krone, das größte Boulevardblatt
des Landes, indem sie auf einer Seite die »wirklich
wichtigen Fragen« stellte: »Herr Bundeskanzler, ist
es noch normal, dass wir eine Inflation von über
acht Prozent haben? Dass die Regierung seit über
zwei Jahren kein Klimaschutzgesetz zustande
kriegt? Dass man in manchen Branchen 40 Stun-
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
Foto: Max Slovencik/picture alliance/dpa
den arbeitet und sich trotzdem das Leben nicht
leisten kann?« Zu Flüchtlingen, Schnitzeln und
Gendertoiletten stellte die Krone keine Frage.
Als Sozialdemokraten noch stolze Arbeiterpar-
teien waren, kreiste ihr Denken um einen Begriff:
Emanzipation. Der Begriff hatte eine materielle
Komponente, aber auch eine kulturelle. Emanzi-
pation aus unfreien Verhältnissen hieß nicht nur
mehr Geld, sondern auch mehr Bildung, mehr
Wissen, mehr Eigenständigkeit. Fördern und
fordern war, in gewisser Hinsicht, keine Erfin-
dung von Gerhard Schröder, sondern schon von
August Bebel.
A
uch Andreas Babler will die kleinen
Leute nicht ruhigstellen, sondern er-
mächtigen. Er glaubt, dass man sie
gewinnen kann, indem man sie ernst
nimmt. Indem man ihnen, wie er
sagt, »keinen Scheiß« erzählt, und Scheiß ist für
ihn zum Beispiel: den Leuten vorzugaukeln, eine
überalterte Gesellschaft sei auf Migration nicht
angewiesen. Zu verschweigen, dass die Klimakrise
nicht nur eine nationale, sondern vor allem eine
globale Verteilungsfrage ist.
Er glaubt daran, dass die Leute bereit seien,
sich zu verändern, wenn sie das Gefühl hätten,
dass es dabei gerecht zugehe. Dass man von ihnen
etwas fordern kann, wenn man zugleich etwas
gibt. Er sagt: »Der größte Fehler ist es, die Leut’
zu unterschätzen.«
So etwas wie den Babler darf es eigentlich
nicht geben, und wenn es ihn nun doch gibt,
dann darf er zumindest nicht erfolgreich sein.
Andernfalls wäre ja nicht nur Sahra Wagenknecht
infrage gestellt, sondern auch Olaf Scholz. Oder
eigentlich alle führenden Sozialdemokraten seit
Willy Brandt. Vielleicht außer Willy Brandt.
Schauen wir also noch mal nach: Wien, Mitte
September. Um Babler hat sich schon eine Wolke
der Kritik gebildet. Er hat »Heizungsinstalla-
teur:innen« gesagt. Lustig, die gibt’s doch gar
nicht! Er rede zu viel über Kinderarmut. Gibt’s
schon, aber, geh’, so häufig nun auch nicht. Er
sei zu unkonkret, er betreibe »Erbschaftsteuer-
Populismus«, er sei zu provinziell, er rede zu
schnell. Der Spruch, mit dem er bei der Wahl
zum SPÖ-Chef erfolgreich war, »Babler statt
Blaba«, wird nun gegen ihn gewendet: »Andi
Blabla«. Und so weiter, was halt so geschieht,
wenn Wien vor sich hin schmäht.
Und Herr Babler, reden Sie zu schnell? »Immerhin
halb so schnell wie früher.« Doch bei einer Frage
braucht er dann doch ein bisschen länger für die Ant-
wort, dafür fällt sie kürzer aus. Trauen Sie sich zu, die
FPÖ zu halbieren? »Ja.«
Der Durchschnitt der Umfragen, Stand heute, elf
Monate vor den Wahlen: SPÖ 24 Prozent, ÖVP 21,
FPÖ 29. Die Zeit ist knapp, die Einsätze sind hoch.
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AND THE SCIENCE BREAKTHROUGHS OF THE YEAR

WALLS Welcome to the Falling Walls Science Summit 2023. Now in its 15th edition, we are grateful
to welcome once more some of the world‘s most forward-thinking scientists and visionaries
on November 9, the anniversary of the fall of the Berlin Wall. Since 1989, this day has become

SCIENCE
a symbol of overcoming divisions and reuniting communities. Drawing inspiration from this
historic moment, the Falling Walls Science Summit will gather the international science
community, discussing the question: Which are the next walls to fall in science and society?

SUMMIT AMONG OUR 500 SPEAKERS:

ASMERET ASEFAW BERHE OKSEN LISOVYI
PRENEURS
SCIENCE

7–9 NOV
AYSE BINGÖL BENJAMIN LIST
KATHARINA BJELKA TAMMY MA 2023
NICOLA BLACKWOOD ULRIKE MALMENDIER The Global Gathering

MICHAEL BOLLE KAMILLA MARKRAM for Science &

Entrepreneurship
ALENA BUYX HENRY MARX
FORMATS ELAINE CHEW KATJA MATTHES
FABRICE COTTON JOYBRATO MUKHERJEE
7 NOV PITCHES PUMLA DINEO GQOLA STEPHEN QUAKE
8 NOV CIRCLE DEBATES & SYMPOSIA ALLISON DUETTMANN JOHAN ROCKSTRÖM PROGRAMME &
9 NOV BREAKTHROUGHS OF THE YEAR LISA ERICSSON BENOIT SCHILLINGS FREE LIVE STREAM
NICK FOWLER PETER SCHLOSSER falling-walls.com
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DIE ZEIT N o 46 2. November 2023 POLITIK 9

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Vor der Wahl hatte Tusks Partei in Warschau eine Demo organisiert – es kamen Hunderttausende

Polnische Putschängste
Eigentlich hat Donald Tusk die Mehrheit im Parlament sicher – doch in Warschau wächst die Sorge, dass die Regierung nicht abtritt VON JÖRG LAU

I
n Polen hat das liberale Bündnis der gewinnen (mehr als 230 Stimmen). Zu diesem rechnen, dass destruktives Verhalten ihr bei Neu- Der Chefredakteur der führenden liberal-konser- Den entscheidenden nächsten Zug muss nun
Opposition bewiesen, dass man selbst Zweck hat der Präsident in der vergangenen wahlen viele Wähler zutreiben würde. vativen Zeitung Rzeczpospolita, Michał Szułdrzyński, Andrzej Duda machen. Alles spricht dafür, dass er
unter unfairen Bedingungen eine Wahl Woche mit allen Fraktionen des neu gewählten Bleibt eine andere Erklärung, die in Warschau fürchtet »die polnische Version des Sturms auf das seinem politischen Lager Loyalität demonstrieren
gewinnen kann. Und doch ist zwei Wo- Sejms Gespräche geführt. die Runde macht: Es gehe vor allem darum, Zeit zu Kapitol«. Die PiS folge dem Beispiel der Trump- wird, indem er Mateusz Morawiecki den ersten
chen nach dem epochalen Sieg der Dudas Resümee nach den Sondierungsge- gewinnen, um kompromittierende Spuren aus acht Republikaner, indem sie unter ihren Anhängern die Regierungsauftrag erteilt. Scheitert die PiS dann an
Opposition alles andere als klar, ob das sprächen weckt aufseiten der Opposition Be- Jahren PiS-Herrschaft zu verwischen. Dazu passt die Botschaft verewige, sie habe die Wahl gewonnen. der Regierungsbildung und kommt es danach zur
Dreierbündnis unter Leitung von fürchtungen: Man habe nun »zwei ernsthafte Meldung der Gazeta Wyborcza, der Inlandsgeheim- Sollte Morawiecki im Sejm eine Mehrheit verfehlen, Wahl Donald Tusks als Premier, bleiben Duda
Donald Tusk nun auch die nächste Regierung bil- Kandidaten für die Funktion des Premierminis- dienst ABW habe kurz vor der Wahl »45 Aktenver- habe man eine »fertige Geschichte über einen gestoh- immer noch weitgehende Möglichkeiten, aus dem
den wird. Ein führender Abgeordneter der Regie- ters« – den Anführer der Opposition, Donald nichter vom Typ Kobra zu einem Preis von 4000 lenen Sieg«. Das Ziel sei wie in den USA die weitere Präsidialamt heraus die Politik der neuen Regierung
rungspartei PiS sagte in der vergangenen Woche Tusk, und Mateusz Morawiecki von der PiS. Die Złoty pro Stück und 10 Aktenvernichter zu einem Radikalisierung der eigenen Anhänger und eine noch zu beeinflussen. Der polnische Präsident bestimmt
im Staatsfernsehen, es sei die Pflicht des Präsiden- Vertreter des Regierungslagers hätten ihm die Preis von 5000 Złoty pro Stück« bestellt. In den stärkere gesellschaftliche Polarisierung. die Außenpolitik mit und hat umfangreiche Veto-
ten Andrzej Duda, eine Regierung Tusk zu ver- Gewissheit vermittelt, so Duda, dass »sie die Staatsbetrieben und in den Staatssendern, wo viele Die PiS, glaubt Szułdrzyński, verstehe sich nicht Macht im Gesetzgebungsprozess.
hindern – aus Gründen der nationalen Sicherheit. Mehrheit im Sejm-Sitzungssaal haben werden«. Posten mit Parteileuten besetzt wurden, vermuten als künftige Opposition (weil das bedeuten würde, die Am 13. November tagt erstmals der neue Sejm.
Solche Äußerungen befördern die Angst vor Laut amtlichem Endergebnis scheint das weit Oppositionspolitiker, laufen die Schredder seit der Niederlage anzuerkennen) – sondern wolle sich als Dann muss ein »Sejmmarschall« gewählt werden,
einem stillen Staatsstreich. Im Wahlkampf haben hergeholt: Die PiS ist mit 194 Abgeordneten zwar Wahl auf Hochtouren. »Widerstand« positionieren, gegen eine illegitime neue ein Parlamentspräsident. Die Abstimmung wird
Polens regierende Nationalkonservative die Oppo- stärkste Fraktion, hat aber keine ersichtliche Die Führung der PiS, so sehen es viele polnische Regierung, die im Dienst fremder Mächte stehe. Ob ein Testlauf für alles Kommende. Bringt die
sitionellen bereits als Volksfeinde in Diensten von Chance, auf eine absolute Mehrheit von mindestens Beobachter, habe insgeheim verstanden, dass sie die parlamentarische Demokratie den Dauerstress Opposition geschlossen ihren Kandidaten mit
Berlin und Brüssel dämonisiert. Ein ehemaliger 231 Sitzen zu kommen. Denn der einzige ideolo- abgewählt wurde. Sie leugne die Niederlage aber solcher Angriffe überstehen kann – das wird man also allen 248 Stimmen durch, dann wird es für den
Mitarbeiter des Staatsrundfunks räumte nach der gisch verwandte Partner, die »Konföderation« von und bereite eine Verschwörungserzählung für den bald nicht nur am amerikanischen, sondern auch am Präsidenten schwer, Donald Tusk den Regierungs-
Wahl ein, man habe Propaganda, »schlimmer als der äußersten Rechten, verfügt nur über 18 Sitze. Moment der Machtübernahme der Opposition vor. polnischen Beispiel studieren können. auftrag zu verweigern.
zu Sowjetzeiten«, betrieben. Mit Millionen Złoty Im Wahlkampf hat die Konföderation bereits aus-
aus dem Staatshaushalt drückte das Staatsunterneh- geschlossen, mit der PiS zu regieren. Donald Tusks ANZEIGE
men Orlen die Treibstoff- »Bürgerkoalition« (KO)
preise, um das Wohl- hingegen ist zwar nur
wollen der Wähler zu zweitstärkste Fraktion
kaufen. Schwer zu glau- Sitzverteilung im geworden, hätte aber zu-
polnischen Sejm
ben, dass nach dieser sammen mit ihren Ver-
Kampagne die Regie- bündeten vom »Dritten
) Lin ke
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18 460 Sitze 26
rungspartei kampflos ab- Weg« und von der verei-
treten wird. Nicht zuletzt, nigten »Linken« eine
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weil sie die Aufarbeitung komfortable Mehrheit

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fürchten muss. von 248 Sitzen.
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Die kommenden Wo- iS g Duda signalisiert, zu-

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chen werden zur Nerven- (B nächst nicht dem Wahl-

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probe. In keinem anderen Dr it ter We g K sieger Tusk, sondern dem
Land (mit Ausnahme Anführer der stärksten
Ungarns) ist der autoritä-
ZEIT- GRAFIK/Quelle: Polnische Wahlkommission
Fraktion den Regierungs- Die Preisverleihung findet
re Umbau von Justiz und auftrag zu erteilen – also
Medien so weit fortge- dem Noch-Premier Ma- am 16. November statt,
schritten. Anders als in Ungarn, das unter Viktor teusz Morawiecki. Konservative Experten recht-
Orbán de facto keine Demokratie mehr ist, gibt es fertigen dies als eingespielte Praxis. Die Verfassung
in Polen nun endlich die Chance, Gewaltenteilung, verpflichtet den Präsidenten dazu jedoch nicht. Er eine Aufzeichnung strahlt
Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit wiederherzu- kann frei entscheiden, wem er den Auftrag erteilt.
stellen. Ob es in Polen gelingen kann, einen teils Welchen Sinn könnte es also haben, jener das WDR Fernsehen
schon illiberalen Staat zurückzuverwandeln, ist weit Fraktion den Vorrang zu geben, die eigentlich
über das Land hinaus bedeutsam. Wie die Macht- keine Mehrheit hat?
kämpfe in Warschau ausgehen, ist auch entschei- Eine Theorie geht so: Duda will der PiS mög- um 23.30 Uhr aus.
dend für die Zukunft der EU. lichst viel Zeit verschaffen, um doch noch Abge-
53 Prozent der Wähler haben für das Verspre- ordnete von anderen Parteien abzuwerben und Vorschläge für den
chen der Oppositionsparteien gestimmt, Polen auf so das Blatt zu wenden. Der PiS-Parteiführer
den Pfad der freiheitlichen Demokratie zurück- Jarosław Kaczyński könnte in den nächsten Wo-
zuführen. Ob das gelingt, hängt jetzt vor allem an chen versuchen, Mandate aus zwei konservativen Preisträger des
einem Mann – dem Präsidenten Andrzej Duda. Er Blöcken herauszukaufen – mit attraktiven Posten
entscheidet, wer den Regierungsauftrag bekommt. im Parlament und in Ministerien. Jahres 2024 können
Duda war in Polen kaum bekannt, als die Par- Vor allem bei der rechten Konföderation und
tei ihn 2015 zum ersten Mal als Kandidaten für beim liberal-konservativen »Dritten Weg« böte die Zuschauer schicken an:
das Präsidialamt aufstellen ließ. Der farblose ehe- sich das an. Aus deren über 80 Abgeordneten
malige Gehilfe des allmächtigen PiS-Chefs müsste die PiS 37 auf ihre Seite herüberlocken.
Jarosław Kaczyński gewann knapp und erwies Premier Morawiecki verkündet, die PiS habe hanns-joachim-friedrichs-preis.de
sich als getreuer Vollstrecker der Parteilinie (ob- »nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, den
wohl seine Parteimitgliedschaft seither ruht). Dass Regierungsauftrag zu übernehmen«. Viele Abge-
er die Gesetze zum autoritären Staats- und Justiz- ordnete seien bereit, behauptet er, eine Koalition
umbau umstandslos unterschrieb, brachte ihm mit der PiS zu bilden. Der Sprecher der Partei,
den Spitznamen »der Kugelschreiber« ein. 2020 Rafał Bochenek, ergänzt, Donald Tusk lüge über
wurde Duda knapp wiedergewählt. Seine zweite die Geschlossenheit seines Bündnisses.
(und letzte) Amtszeit dauert noch bis 2025. Seit dem Wahlabend schüren PiS-Politiker den Der Preis wird alljährlich an Moderatoren, Reporter und Redakteure vergeben, die durch
Eine neue Regierung wird also mit Duda zu- Verdacht, in der Tusk-Koalition gebe es Abtrünni- ihre Arbeit gezeigt haben, dass sie kreative, kritische und unabhängige Journalisten sind.
rechtkommen müssen, und der gibt bereits einen ge. Man sei im Gespräch. Gelänge es, Tusks Block Die diesjährigen Preisträger sind die WDR-Korrespondentin Ina Ruck und der ZDF-Journalist
Vorgeschmack darauf, was das bedeuten könnte. 18 Stimmen abzuwerben, etwa unter den Abgeord- Elmer Theveßen. Den Sonderpreis erhalten die ukrainischen Journalistinnen Nataliya Gumenyuk,
Am Dienstag nach der Wahl, als das amtliche End- neten der eher konservativen Bauernpartei (Teil des Sevgil Musaieva, Olga Rudenko.
ergebnis seinem Lager die Niederlage bescheinigte, »Dritten Wegs«), dann könnte keiner der Blöcke Die Initiatoren und Juroren: Golineh Atai, Gabi Bauer, Jurek Becker (†), Manfred Bissinger, Nikolaus Bender, Klaus
ernannte Duda 76 neue politisch genehme Richter. eine Regierung formieren. Anfang des nächsten Bresser, Annette Dittert, Katrin Eigendorf, Jürgen Flimm (†), Eric Friedler, Christoph-Maria Fröhder, Petra Gerster, Carl
Ein überaus aggressiver Akt angesichts des Ver- Jahres würde es zu Neuwahlen kommen. Gierstorfer, Johannes Hano, Tina Hassel, Hanna Herbst, Maybrit Illner, Claus Kleber, Theo Koll, Gerhard Krug (†),
Stephan Lamby, Jürgen Leinemann (†), Ilse Madaus-Friedrichs (†), Sandra Maischberger, Marcel Mettelsiefen, Eva
sprechens der Opposition, die Justiz reformieren Überzeugend wirkt dieses Szenario einstwei-
Müller, Susanne Ottersbach-Flimm, Frank Plasberg, Fritz Pleitgen (†), Christina Pohl, Ariane Reimers, Claus
und entpolitisieren zu wollen. len nicht: Tusks Dreierkoalition tritt bisher Richter, Thomas Roth, Ulf-Jensen Röller, Dirk Sager (†), Isabel Schayani, Cordt Schnibben, Hermann Schreiber (†),
Duda wird nun laut Verfassung einen desi- geschlossen auf, selbst regierungsfreundliche Birgit Schwarz, Hajo Seppelt, Volker Skierka, Marietta Slomka, Katharina Trebitsch, Harry Valerien (†), Weil Verlinden,
gnierten Premier bestimmen müssen. Dieser Experten halten einen Wechsel für unwahr- Mathias Werth, Ulrich Wickert, Anne Will, Armin Wolf.
muss dann im Parlament eine absolute Mehrheit scheinlich. Und die PiS könnte kaum damit
10
M
anche Versprechen des Ge-
setzgebers sind zu schön,
um wahr zu sein. Das trifft
auch auf das sogenannte
Gesetz zur Herstellung ma-
terieller Gerechtigkeit zu.
Mit diesem Gesetz aus dem
Jahr 2021 erlaubte die damalige große Koalition die
Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nach-
teil eines Freigesprochenen. Voraussetzung: Es
müssten aufgrund neuer Tatsachen oder Beweis-
mittel dringende Gründe dafür bestehen, dass der
seinerzeit Freigesprochene jetzt wegen Mordes oder
bestimmter Straftaten gegen das Völkerrecht verur-
teilt wird. Mit dem jetzt verkündeten Urteil erklärte
das Bundesverfassungsgericht dieses Gesetz für ver-
fassungswidrig.
Schon vorher hatte die Mehrheit in der juristi-
schen Fachwelt das Gesetz für verfassungswidrig
gehalten. Weil es unmissverständlich sogar auf Frei-
sprüche anwendbar sein sollte, die vor Inkrafttreten
des Gesetzes rechtskräftig geworden waren. Es ver-
stieß also evident gegen das Rückwirkungsverbot,
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»DAS POLITIKTEIL« LIVE
MIT ANNE WILL
7. NOVEMBER 2023 · 19.00 UHR · LEIPZIG
Wer war Anne Wills herausforderndster Gast?
Was passiert nach hitzigen Debatten noch hinter
den Kulissen? Wie hat sich das Sprechen über
Politik in den vergangenen Jahren verändert? Und
wie blickt die Nachrichtenexpertin Anne Will auf die
großen Debatten unserer Zeit? Darüber spricht sie
bei der Live-Aufnahme von »Das Politikteil« mit
Tina Hildebrandt und Heinrich Wefing, DIE ZEIT.
Eine Veranstaltung von:
113526_ANZ_220x220_X4_ONP26 1
Illustration: Timo Lenzen für DIE ZEIT
Frei bleibt frei
Das Verfassungsgericht entscheidet: Wer schon einmal als Angeklagter vor dem Richter stand,
muss nach dem Urteil kein zweites Verfahren erdulden VON EROL POHLREICH
das im Grundgesetz verankert ist. Dem ist der
Zweite Senat des Verfassungsgerichts nun einstim-
mig entgegengetreten.
Neuland betrat das Bundesverfassungsgericht
vor allem deshalb, weil es erstmals klären musste, ob
Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes dem
Gesetzgeber Grenzen setzt. Nach dieser Vorschrift
darf niemand wegen derselben Tat aufgrund der
allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.
Auch wenn die Norm ihrem Wortlaut nach nur die
mehrmalige Bestrafung verbietet, bekräftigt das
Gericht mit seinem Urteil nun: Die Vorschrift steht
auch schon einer erneuten Strafverfolgung entgegen.
Nicht ein einziger Abgeordneter von SPD
oder CDU wohnte der Verkündung bei
Im Vorfeld der Reform hatten sich vereinzelte Straf-
rechtswissenschaftler, die später im Karlsruher Ver-
fahren die Bundestagsfraktionen der SPD und der
CDU/CSU vertraten, um den Nachweis bemüht, dass
Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes nur die mehr-
malige Bestrafung strikt verbiete; die Vorschrift lasse
Beginn: 19.00 Uhr | Ort: Paulinum Leipzig
Tickets und Informationen: www.zeit.de/veranstaltungen
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POLITIK
eine Wiederaufnahme nach einem Freispruch aber zu,
wenn sie der Durchsetzung der Gerechtigkeit diene.
Dass sie sich damit in Gegensatz zur vormals einhel-
ligen und wohlbegründeten Auffassung in der Wissen-
schaft und zur Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
gerichts begaben, erfuhr man aus ihren Texten nicht.
Auch ihre argumentative Gründlichkeit und Sorgfalt
waren selektiv investiert: Man braucht schon Scheu-
klappen, um ernsthaft zu behaupten, die Mütter und
Väter des Grundgesetzes hätten die mehrfache Ver-
folgung nach einem Freispruch nicht thematisiert. Es
hätte genügt, sich die damaligen Protokolle anzusehen.
Von jemandem, der sich ernsthaft für die Argumente
einer in über 70 Jahren gefestigten Gegenauffassung
interessiert, sollte das nicht zu viel verlangt sein. Auf
den Vorhalt der Verfassungsrichterin Astrid Wallraben-
stein in der mündlichen Verhandlung, die neun Stel-
len aus den Beratungen über das Grundgesetz zitierte,
aus denen sich die Eigenschaft von Artikel 103 Absatz
3 als Mehrfachverfolgungsverbot ergibt, fiel diesen
Strafrechtswissenschaftlern dann nicht viel ein. Auch
dass von den Bundestagsfraktionen der SPD und der
CDU/CSU nicht ein einziges Mitglied der Urteilsver-
ZEITvst | ! zeit_veranstaltungen
Fotos v. l. n. r.: Silke Weinsheimer,
Laurence Chaperon, Vera Tammen
Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH
& Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg
26.10.23 15:46
Gegenstand
des Streits war
ein Gesetz aus
Zeiten der
großen Koalition
kündung beiwohnte, zeigt mehr als deutlich, wie
diese Fraktionen zu ihrem rechtspolitischen Fehl-
griff im Nachhinein stehen.
Das Bundesverfassungsgericht setzt mit sei-
nem Urteil dem Gesetz und der dahinterstehen-
den populistischen Logik ein Verständnis des
Mehrfachverfolgungsverbotes entgegen, das die
Perspektive des von der Wiederaufnahme poten-
ziell Betroffenen einnimmt. In der Tat bezweckt
das Mehrfachverfolgungsverbot, den Einzelnen
einer Strafverfolgung wegen derselben Tat nur
einmal auszusetzen. Denn jedes Strafverfahren
bedeutet eine enorme Belastung. Mit der Strafe
kommt das schärfste Schwert des Staates zum
Einsatz, das bei der Freiheitsstrafe über den Frei-
heitsentzug hinaus auch soziale Stigmatisierung
bedeutet. Daneben stigmatisiert und belastet
schon das in aller Öffentlichkeit durchgeführte
Verfahren. Zudem haben die meisten des Mordes
oder einer Völkerstraftat Beschuldigten eine Un-
tersuchungshaft hinzunehmen, die oft über ein
Jahr dauert. Nicht jeder verkraftet das: Die Suizid-
rate ist bei Untersuchungsgefangenen in Deutsch-
land fünfmal so hoch wie bei Strafgefangenen.
Das Mehrfachverfolgungsverbot fand wegen
der Erfahrungen aus der NS-Zeit Eingang ins
Grundgesetz. Für die Nationalsozialisten war die
Rechtskraft ein überkommenes Hindernis, das es
im Interesse der Gerechtigkeit zu überwinden
galt. Das gipfelte darin, dass von 1943 an ein
durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenes Ver-
fahren jederzeit wieder aufgenommen werden
konnte, »wenn neue Tatsachen oder Beweismittel
beigebracht sind, die allein oder verbunden mit
den früheren geeignet sind, die Verurteilung ei-
nes Freigesprochenen oder eine wesentlich stren-
gere Ahndung oder statt der Einstellung des Ver-
fahrens die Verurteilung des Angeklagten zu be-
gründen«. Bei »sicheren Beweisen« für die Schuld
des Freigesprochenen müsse die Rechtskraft eben
weichen. Beabsichtigt war allerdings – wie bei der
Reform aus dem Jahr 2021 – nur eine maßvolle
Durchbrechung der Rechtskraft: Der Bestand
des früheren Urteils musste »für eine der Gerech-
tigkeit und der Sicherung der Allgemeinheit die-
nende Strafrechtspflege untragbar« sein. Solche
Beschränkungen änderten nichts daran, dass die
nachkriegsdeutsche Rechtswissenschaft die na-
tionalsozialistische Erosion der Rechtskraft damit
beschrieb, dass »der Freispruch des Richters dem
Freigesprochenen die Freiheit nicht mehr ver-
schaffte«. Das Mehrfachverfolgungsverbot wurde
ins Grundgesetz aufgenommen, um die Justiz in
einer Weise zu binden, die es verhindert, dass sie
für justizfremde Zwecke – etwa zur Eliminierung
des ideologischen Feindes – missbraucht werden
kann. Dabei stehen die Grundrechte des Grund-
gesetzes nicht unter dem Vorbehalt einer neuen
Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grund-
ordnung, sondern haben umgekehrt erst die
Ordnung geschaffen, unter der ein Missbrauch
nicht mehr konkret zu befürchten ist.
Die Einmaligkeit des Strafverfahrens, so das
Bundesverfassungsgericht, soll gerade jene Fälle
erfassen, in denen ein Freispruch sich im Nach-
hinein als falsch erweist. Sie soll verhindern, dass
der einzelne Mensch der prinzipiellen Unend-
lichkeit eines nur auf die Wahrheit schielenden
Strafprozesses ausgesetzt und so zum reinen Ob-
jekt der Wahrheitsermittlung degradiert wird.
Neue Tatsachen oder Beweismittel ändern nichts
an der Einmaligkeit. Eine dem Angeklagten
strukturell überlegene Staatsanwaltschaft hat
bestmöglich zu ermitteln. Bleibt die Beweislage
trotzdem unsicher, hat sie das Verfahren vorläu-
fig einzustellen, kann es bei veränderter Beweis-
lage jedoch wieder fortführen. Erhebt sie gleich-
wohl Anklage, gibt es nach einem rechtskräftigen
Freispruch grundsätzlich kein Zurück mehr.
Denn dass neue Tatsachen oder Beweismittel
oft leicht zu finden sind, begründet die Gefahr
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
der immerwährenden Strafverfolgung: Es hätte
dann schon gereicht, wenn die frühere Ehefrau
eines Freigesprochenen damals von ihrem Zeug-
nisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht und es
sich nach der Scheidung anders überlegt hätte.
Eine Höchstgrenze zulässiger Wiederaufnahmen
konnte das Gesetz folgerichtig nicht vorsehen:
Wer die Rechtskraft um der Gerechtigkeit willen
durchbrechen will, kann auch die Endgültigkeit
eines zweiten Freispruchs nicht rechtfertigen,
wenn bald wieder neue Beweismittel auftauchen.
Nur die Lebenszeit des Betroffenen hätte die
Zahl möglicher Wiederaufnahmen begrenzt –
nicht der Gesetzgeber.
Bemerkenswerterweise räumte selbst der Ver-
treter des Opfervereins Weißer Ring in der
mündlichen Verhandlung im Mai dieses Jahres
ein, dass ein Strafprozess, der wegen des grund-
sätzlich stets möglichen Auftauchens neuer Tat-
sachen oder Beweismittel potenziell niemals zu
Ende gehe, auch die Opfer oder ihre Hinterblie-
benen seelisch erheblich belaste, und dass diese
Belastung das Bedürfnis nach einer »richtigeren«
Entscheidung mit der Zeit immer mehr in den
Hintergrund treten lasse.
Mit der Zeit nimmt das
Risiko von Fehlurteilen zu
Vor allem aber ließ das nun verworfene Gesetz
schon den dringenden Verdacht bestimmter Straf-
taten genügen: Der Staat hätte realen Schaden an-
richten dürfen, ohne sicher zu sein, ob der frühere
Freispruch überhaupt zu Unrecht erfolgt war.
Denn das lässt sich nicht ohne neue Hauptver-
handlung beurteilen. Zwar existieren auch heute
einige wenige Gründe, unter denen die Wieder-
aufnahme eines Strafverfahrens zu Ungunsten
eines Freigesprochenen möglich ist – anders als
das neue Gesetz zielen sie aber nicht allein auf die
Durchsetzung einer »richtigeren« Entscheidung,
sondern auf die Wiederholung eines schwer feh-
lerbehafteten Strafverfahrens oder darauf, zu ver-
hindern, dass ein Freigesprochener die Autorität
seines Strafurteils durch das Ablegen eines glaub-
würdigen Geständnisses lächerlich macht.
Davon abgesehen lässt sich ein Verdacht ohne-
hin nur vorläufig nach Aktenlage beurteilen. Das
Fehlerrisiko ist solch vorläufigen Entscheidungen
immanent, allerdings gerade beim vollendeten
Mord besonders hoch: Während 2021 die allge-
meine Freispruchrate 1,85 Prozent betrug, lag sie
für Untersuchungsgefangene, die des vollendeten
Mordes dringend verdächtig waren, signifikant
höher: In 6,77 Prozent der Mordfälle erwies sich
die Verdachtsprognose im Nachhinein als falsch.
In den Fällen der neuen Wiederaufnahmemög-
lichkeit käme hinzu, dass sich die Beweislage mit
der Zeit typischerweise verschlechtert und damit
das Fehlurteilsrisiko zunehmen würde. Ein Staat,
der ein so hohes Fehlurteilsrisiko sehenden Auges
auf Kosten eines Freigesprochenen hinnimmt,
ohne Gewissheit über dessen Schuld haben zu
können, handelt verantwortungslos. Was hätte
dem Unschuldigen die Hoffnung geholfen, seine
Unschuld würde dann eben im neuen Verfahren
wieder festgestellt?
Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für
Strafrecht, Strafprozessrecht und Menschenrechte
an der Europa-Universität Viadrina
Frankfurt (Oder) und vertrat in diesem Verfahren
die Bundestagsfraktionen von Grünen und FDP.
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Was jetzt? ist der Nachrichtenpodcast von
ZEIT ONLINE. Von Montag bis Samstag um
6 Uhr und um 17 Uhr, am Sonntag um 6 Uhr,
besprechen wir die Themen des Tages.
Jetzt anhören unter www.zeit.de/was-jetzt
DIE ZEIT N o 46 2. November 2023
I
rgendwann vergangenen Sommer däm-
merte einer größeren Öffentlichkeit ein
ungewohnter Gedanke. Der nordrhein-
westfälische CDU-Ministerpräsident
Hendrik Wüst, 48, könnte seinem Par-
teichef Friedrich Merz doch tatsächlich
die Kanzlerkandidatur streitig machen. Er
hatte einen Meinungsbeitrag in der FAZ publiziert,
ein zweideutiges Interview gegeben und Angela
Merkel einen Staatspreis verliehen – all das war als
ein Auflehnen gegen Merz ausgelegt worden.
Aber, Hendrik wer eigentlich? Ein Mann, von
dem nicht viel mehr bekannt ist als seine Körper-
größe von 1,91 Metern und dass er Menschen gern
freundlich mit »Tachchen« begrüßt – dieser Mann
könnte das Kampfgewicht auf die Waage bringen,
einen politischen Königsmord an seinem Partei-
chef Friedrich Merz zu begehen, vielleicht sogar
Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland
zu werden?
Eine Biografie soll nun Aufschluss geben. Die
Journalisten Tobias Blasius und Moritz Küpper,
beide Veteranen der NRW-Berichterstattung, hat-
ten zuvor schon ein Porträt des glücklos aufs
Kanzleramt hinsteuernden Armin Laschet ge-
schrieben. Wüst und Laschet erscheinen in den
beiden Büchern nun wie das Freudsche Es und
das Ich der Landespolitik – der eine lebendig und
chaotisch, der andere, Wüst, kontrolliert bis zur
Unkenntlichkeit. »Bloß nicht provozieren«, »nur
Reden halten, die man schnell vergisst«, »sterile
Konsensfähigkeit« – das sind die Attribute, die
Wüst, dem »Samtigen«, hier zugeschrieben wer-
den. Man freut sich schon, wenn Wüsts Friseur
beschließt, »oben etwas mehr Natur« sei möglich
und wünschenswert.
Warum sollte man ein Buch lesen über einen
Mann ohne Eigenschaften? Weil der politische
Werdegang des Hendrik Wüst paradigmatisch ist für
eine Lernkurve, wie sie viele Unionspolitiker durch-
laufen haben. Wer sich für das Schicksal christdemo-
kratischer Volksparteien interessiert, sollte sie kennen.
Grob gesagt nimmt sie ihren Ausgang in einem nass-
forschen Wirtschaftsliberalismus (Staat weg, Steuern
weg), wie er für Angela Merkels Reformagenda des
berühmten Leipziger Parteitags 2003 typisch war,
gepaart mit einer ungnädigen Gesellschaftspolitik
(»zu viel Selbstverwirklichung!«). Als die Union mit
dieser Agenda aber fast die schon sicher geglaubten
Wahlen 2005 verloren hätte, ließ Merkel sie für im-
mer fallen – die Jung-Unionisten um Wüst, Markus
Söder, Stefan Mappus und den inzwischen verstor-
benen Philipp Mißfelder aber nicht. Im Jahr 2007
verfassten sie gemeinsam mit lautem Getöse im
Berliner Café Einstein ein konservatives Manifest,
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POLITIK 11
das nach dem Urteil eines Leitartiklers nur »mehr
oder weniger anerkannte Floskeln« enthielt. Wüsts Torten
Helden waren damals die Konservativen David
Cameron und Nicolas Sarkozy, die sich beide schnell der Wahrheit
als Totengräber einst gesunder Volksparteien ent-
puppten. Es war die Zeit, in der sich ein Idol der VON KATJA BERLIN
Jung-Unionisten aus der Politik verabschiedete: der
frühere Fraktionschef Friedrich Merz.
Von der kecken Staatsverachtung jener Jahre – Was wir brauchen, um
die immer auch der großen Koalition sowie der etwas zu glauben
ostdeutschen Kanzlerin galt – emanzipierten sich
Wenn es nicht Wenn es unserer
die meisten Beteiligten des »Einstein-Aufstands« unserer Meinung Meinung
langsam, aber sicher durch die Erschütterungen entspricht entspricht
der großen Krisen um den Euro, die Finanzmärk-
te und schließlich das Auftauchen der AfD. Bei
Wüst kam noch eine tiefe persönliche Krise hin-
zu: Als Generalsekretär unter dem früheren
CDU-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers hat
Wüst mit »Stahlhelmparolen«, einem Interview Videoaufnahmen Irgendjemand
hat das im
in der deutschnationalen Jungen Freiheit und ehr- Fotos Internet
abschneidenden Reden über die SPD-Kontra- Augenzeugenberichte
geschrieben
hentin Hannelore Kraft von sich reden gemacht.
Aussagen
Obendrein hatte er Zuschüsse kassiert, die ihm unabhängiger
nicht zustanden, und Sponsoren für 20.000 Euro Sachverständiger
Einzelgespräche mit dem Ministerpräsidenten Verschiedene
angeboten (»rent a Rüttgers«). Wüst musste internationale
Medienberichte
zurücktreten, Parteifreunde wechselten bei sei-
nem Anblick die Straßenseite, die Landtagswahl
2010 ging für die CDU schmerzhaft verloren.
Wüst überwinterte beim Verband der Zeitungs- Warum Krisen aus unserem
Foto: Maximilian Mann/laif
verleger und im CDU-Bundesvorstand, wo er sich Bewusstsein verschwinden
als »Grünen-Fresser« profilierte. Den Mangel an
Charisma, so schreiben die Autoren, mache er mit
Organisation wett, mit einem guten Telefonbuch
und geduldiger Kontaktpflege. Wie ein Krokodil
verstehe Wüst es, unauffällig im Strom dahinzu-
Wüst, 48, gilt als Kontrahent von CDU-Parteichef Merz treiben, um im Moment der Chance – die Schwä-
che des Kanzlerkandidaten Armin Laschet im Jahr Weil sie bewältigt Weil eine neue,
Unauffälliges
2021 – hervorzuschießen und zuzubeißen. Dies wurden und keine größere Krise
allerdings tut er gänzlich verwandelt. »Modernität, Rolle mehr spielen gekommen ist
Mitte und Ausgleich«, so Wüst, das sei es, was der
CDU über Jahrzehnte die Regierungsfähigkeit ge-
sichert habe. Ministerpräsident Hendrik Wüst ist Was uns E-Mails
jetzt »der mit dem Kinderwagen«, Vater der klei- gebracht haben
Krokodil
nen Pippa, der dafür sorgt, dass in jedem Interview
die morgendliche Stunde zur Sprache kommt, die
er mit ihr verbringt. Frauenquote? Kein Problem.
Nicht auszuschließen, dass der schwarz-grün
regierende Wüst seinem Parteichef Friedrich Merz
tatsächlich einmal gefährlich wird. Dazu braucht
er allerdings Risikobereitschaft – und von der war
Eine deutlich Eine deutlich
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst liebt es, bislang noch nicht viel zu sehen. schnellere günstigere
Kommunikation Kommunikation
unerwartet zuzubeißen. Was hat er noch vor? Tobias Blasius/Moritz Küpper: »Hendrik Wüst – Re: AW: Re: AW: Re: AW: Re: AW: Re:
VON MARIAM LAU Der Machtwandler«, Klartext Verlag AW: Re: AW: kurze Frage
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26.10.23 15:27
 »Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.« Helmut Schmidt

2. November 2023 DIE ZEIT N o 46 STREIT 13

Brauchen wir Regeln für die Roboter?

Künstliche Intelligenz bedrohe Grundrechte und müsse deshalb reguliert werden, sagt die Europaparlamentarierin Katarina Barley.
Die neue Software werde Arbeiten übernehmen, auf die wir keine Lust haben, entgegnet der Verbandschef Daniel Abbou

ZEIT: Kommission, Parlament und EU-Staaten
Katarina Barley (SPD)
verhandeln in diesen Tagen über letzte offene
war Bundesjustiz-
Fragen bei der Gesetzgebung. Was wollen Sie
ministerin und ist jetzt
verbieten, was nicht?
als EU-Abgeordnete
Barley: Wir bewerten KI nach ihrer Wirkung.
mit zuständig
Also: Wie hoch ist das Risiko, dass eine Software
für die Brüsseler
die Grundrechte von EU-Bürgern verletzt? Es
KI-Gesetzgebung
gibt KIs, deren Wirkungen sind so grundrechts-
schädlich, dass wir sie ganz verbieten wollen.
Dann gibt es KIs, die ein hohes Risiko für die
Grundrechte darstellen, sie dürfen nur unter
strengen Anforderungen auf den Markt gebracht
werden. KIs mit geringem Risiko müssen ledig-
lich gewissen Transparenzpflichten genügen. So-
weit gar kein Risiko besteht, gibt es auch keine
Einschränkungen. Beim Schrottplatzbeispiel
würde das Ergebnis sicher lauten, es besteht kein
Risiko. Die Firma könnte einfach loslegen und
ihre Dienste überall in der EU anbieten.
ZEIT: Klingt doch gut, Herr Abbou, oder?
Abbou: Wenn alle Unternehmen die gleichen
Startbedingungen hätten, fände ich das gut, ja.
Nur, die haben sie nicht. Macht es Sie nicht
misstrauisch, Frau Barley, dass der Gründer von
OpenAI, dem großen amerikanischen KI-Ent-
wickler, jetzt nach Regulierung ruft? Ich kann
Ihnen sagen, warum er das tut. Er und andere
haben ihre KI-Programme in den USA ohne
jede Kontrolle entwickelt. Jetzt verfügen sie
über die potentesten KIs der Welt und viel
Geld. Ihr Wettbewerbsvorsprung ist enorm.
Wenn die EU jetzt mit hohen Auflagen kommt,
werden es sich die Amerikaner leisten können,
dem zu genügen – während dies die europäi-
schen Firmen ausbremsen wird. Damit ist es
fast ausgeschlossen, dass unsere Start-ups gegen-
über den US-Konzernen aufholen.
Barley: Also, nachdem die EU 2018 die Daten-
schutz-Grundverordnung erlassen hatte, saß
wenige Zeit später der Facebook-Chef Mark
Zuckerberg in meinem Berliner Ministerbüro
und sagte, er sei froh, dass es diesen hohen Stan-
dard gibt. Denn jetzt wisse er, an welche Regeln
er sich halten müsse, um nirgendwo auf der
Welt Probleme zu bekommen. Wo genau, Herr
Abbou, sehen Sie denn Nachteile für europäi-
Barley: Verbieten wollen wir das »Social Scoring«.
Dabei wird das Verhalten von Menschen durch
KI-Programme bewertet. Wer nach den dort fest-
gelegten Regeln negativ auffällt, wird gemaß-
regelt. In China verlieren Menschen dadurch
einen Teil ihrer bürgerlichen Rechte. Die staatli-
che »Punktevergabe« ist dort Alltag. Bei uns darf
es so etwas nicht geben.
ZEIT: Und was würde in die EU-Kategorie
»hochriskant« fallen?
Barley: Zum Beispiel die biometrische Gesichts-
erkennung oder der Einsatz von gewissen KI-
Systemen in der Strafverfolgung. Diese Hoch-
risiko-KI darf nur eingesetzt werden, wenn
hohe Anforderungen eingehalten werden wie
zum Beispiel Transparenzpflichten und ein
Risikomanagementsystem.
Abbou: Ich würde die Gefühlserkennung anhand
von Sprache und Gesichtsausdruck dazunehmen.
KI kann erkennen helfen, ob jemand depressiv
ist. Wenn wir dies bei einem Vorstellungsge-
spräch erlauben würden, wäre das fatal. Anderer-
seits würde die EU zu weit gehen, wenn sie KI-
Anwendungen im Personalwesen generell als
»hochriskant« einstufen würde.
Barley: Wir werden immer auf Graubereiche
stoßen. Unsere Erfahrung zeigt, dass Unterneh-
men auch hier die Grenzen testen. Es gab Fälle,
in denen KI-Programme eingesetzt wurden, die
Gehaltsvorschläge erarbeiteten. Auf der Basis der
bestehenden Daten erhielten Frauen systema-
tisch niedrigere Ergebnisse. Wollen wir das?
ZEIT: Es gibt schon ein Wort dafür: algorith-
mische Diskriminierung.
Barley: Ja. Wir wissen inzwischen, dass in die
KI-Programme teilweise Vorurteile eingearbei-
tet werden, weil die Daten, auf die die KI
zurückgreift, gelegentlich eine reale Diskrimi-
nierung in der Gesellschaft abbilden.
Abbou: Wenn ich mal etwas zu Diskriminierung
sagen darf: Mein Name ist ja nicht der aller-
deutscheste. Aber alle Diskriminierung, die ich
in meinen 53 Jahren erlebt habe, ist von Men-
schen ausgegangen. Ich sollte, überspitzt gesagt,
bei der Wohnungssuche bis in die fünfte Gene-
ration zurück nachweisen, dass ich nicht aus
helfen kann. Wenn ich entdecke, dass eine KI
mit Vorurteilen behaftet ist, dann kann ich die
KI umprogrammieren. Das geht bei Menschen
nicht. Menschen sind rassistisch, Maschinen
nicht.
Barley: Ich sehe Ihren Punkt. Aber die Entschei-
dung, ob jemand einen Kredit bekommt oder
nicht, möchte ich trotzdem nicht vollständig an
eine KI übergeben. Anders als Menschen, die
andere Menschen kennenlernen können, ver-
fügt KI nicht über soziale oder emotionale In-
telligenz.
ZEIT: Frau Barley, der britische Premier Rishi
Sunak richtet ebenfalls diese Woche einen
»Weltgipfel für KI-Sicherheit« aus. Er will sich
zwischen der Wildwest-Mentalität in den USA
und dem Bürokratismus der EU positionieren.
Beunruhigt Sie die Konkurrenz?
Barley: Großbritannien ist ein sehr kleiner
Markt. Es wird London nichts bringen, natio-
nale KI-Standards zu setzen. Dazu sind die an-
deren Player zu groß.
Abbou: Immerhin will die britische Regierung
fast eine Milliarde Pfund in ein eigenes KI-
Rechenzentrum investieren. Für Europa schla-
gen wir das seit Jahren vor – aber es passiert sehr
wenig. So verspielen wir doch unsere Zukunft!
Barley: Mehr Geld kann natürlich nie schaden.
Aber was wir vor allem brauchen, ist mehr
Innovationsgeist, auch in der Wirtschaft und
der Bildung.
ZEIT: Was passiert eigentlich, wenn ein autori-
täres Regime wie China KI in Waffensysteme
einbaut? Es ließen sich etwa Kampfdrohnen
bauen, die nur Europäer töten.
Abbou: Das ist eine Gefahr. Die traurige Welt-
geschichte zeigt: Schlechte Akteure können
Technik böse einsetzen. Aber gerade deswegen
müssen wir Europäer bei diesem Wettrennen
mitmachen. Europa darf in diesem Bereich
nicht abgehängt werden, sonst gefährden wir
unsere kontinentale Sicherheit.
Barley: Ja, das spielt eine große Rolle. Das Mili-
tär ist allerdings nicht Teil des Rechtsrahmens,
den wir jetzt gerade setzen. Es ist noch mal eine
ganz eigene Geschichte.

»Wir wissen, dass in Programme

sche Unternehmen? Auch die US-Anbieter, die einem Zelt in Nordafrika komme. Ich hatte
in der EU tätig sein wollen, müssen doch die auch unangenehme Momente bei Banken. Aber Das Gespräch moderierten
Grundrechte respektieren. ich glaube eher, dass KI uns bei diesem Problem Jochen Bittner und Götz Hamann

Vorurteile eingearbeitet werden« Abbou: Es gibt zum Beispiel eine Regelung in

DIE ZEIT: Frau Barley, die EU will die Einsatz-
möglichkeiten von künstlicher Intelligenz (KI)
bald per Gesetz begrenzen. Warum?
Katarina Barley: Künstliche Intelligenz dringt
gerade in nahezu alle Lebensbereiche ein. Es
handelt sich um sehr wirkungsvolle Computer-
programme, die Berufsbilder auf den Kopf
stellen, verdrängen und neue erschaffen werden.
Sie werden die Schulen und Universitäten ver-
wandeln, die Art, wie wir lernen. Wir erleben
eine Revolution! Diese Entwicklung können
wir nicht einfach laufen lassen. Es muss Regeln
geben, wie KI in Bereichen eingesetzt wird, in
denen es um Freiheit und Selbstbestimmung
geht. Und ich kann Ihnen sagen: Die Augen der
Welt sind auf Europa gerichtet, ob wir eine
Balance hinbekommen.
Daniel Abbou: Lassen Sie uns die Debatte bitte
entmystifizieren. Viele Leute scheinen ihre Ideen
über künstliche Intelligenz aus Hollywood-
Filmen zu haben. Ich meine nicht Sie, Frau
Barley. Aber ich denke oft: Ah, diese Vorstellung
stammt aus Terminator 2, die aus Matrix und die
aus Ex Machina. Ich sehe es so: Künstliche Intel-
ligenz ist aktuell ein Werkzeug, das wir ganz
unterschiedlich einsetzen können. Sie wird für
uns vor allem Arbeit übernehmen, auf die wir
keine Lust haben. Langweilige Routinevorgänge.
ZEIT: Woran denken Sie?
Abbou: Eine gute Freundin von mir ist Kranken-
schwester in Stuttgart. Sie muss in einer Neun-
Stunden-Schicht mindestens eine Stunde lang
Excel-Tabellen und Medikamentenlisten füllen.
Diesen Aufwand wird sie in Zukunft mithilfe
eines Chatbots, also eines Programms, das auf
Zuruf reagiert, auf vielleicht 20 Minuten be-
die Möglichkeiten von KI zu sehr ein. Sie sehen
die Innovationsfähigkeit und die technologische
Souveränität gefährdet.
Barley: Es gibt auch viele andere Äußerungen.
Diese Woche haben sich die G7, also die wich-
tigsten Industriestaaten der Welt, auf Leitlinien
für die Regulierung von KI geeinigt, in den Ver-
handlungen waren hohe Erwartungen an das KI-
Gesetz der EU ausgedrückt worden. Die EU hat
auf einem verwandten Feld schon einmal einen
Standard für die Welt gesetzt, beim Datenschutz.
Andere Regionen haben diese Verordnungen
nachgeahmt, unter anderem die USA. So kann es
jetzt wieder kommen.
Abbou: Nur, Frau Barley: KI-Firmen haben in
Europa jetzt schon schlechtere Startvorausset-
zungen als in den USA. Es gibt dort viel mehr
Wagniskapital, mit dem man mutige Ideen
finanzieren kann. Dabei hat Europa viel zu bie-
ten, gute Leute, superinnovative Unternehmen.
Ich denke zum Beispiel an das deutsche Unter-
nehmen Aleph Alpha, das versucht, eine Kon-
kurrenz zu den großen US-Anbietern aufzu-
bauen. Es handelt sich hier um ein sogenanntes
Foundation-Modell ...
ZEIT: ... so nennt man die heutigen Super-KIs.
Man kann sehr verschiedene Anwendungen
damit programmieren. Sie sind quasi das Fun-
dament für die KI-Industrie der kommenden
Jahre. Braucht die EU aus Ihrer Sicht so eine
Super-KI, weil sie sich sonst von den USA und
anderen abhängig macht?
Abbou: Genau so ist es. Oder nehmen Sie das
Start-up Ovoko aus Litauen. Die haben eine
Software für Schrottplätze entwickelt. Deren KI
kann anhand von Fotos gebrauchte Ersatzteile
dem Richtlinien-Entwurf, der sagt den Unter-
nehmen: Ihr müsst alle Risiken beschreiben, die
in den KIs stecken könnten, und ihr müsst für
diese hypothetischen Risiken ein Risikomanage- Daniel Abbou ist
ment aufbauen. Das ist aber kaum möglich, diese Geschäftsführer des
KIs sind zu vielseitig! Man kann sie in der Ver- Bundesverbands KI mit
waltung einsetzen, in der Medizin, im Journalis- rund 400 Mitgliedern
mus, in der Schule und in der Wirtschaft. Diese
Risikovorhersage bürdet kleinen europäischen
Firmen enorme Kosten auf. Riesen wie Google,
Microsoft oder Amazon ist das egal. Die schicken
ihre 200 Anwälte los nach Brüssel. Die Folge
kann sein, dass die europäischen Start-ups sich
aus High-Risk-Anwendungen heraushalten.
Barley: Ich finde den Punkt berechtigt. So ein
Risikomanagement ist herausfordernd, keine
Frage. Hier ist die Diskussion in der EU aber
auch noch nicht zu Ende, wir sind noch im Ge-
setzgebungsprozess. Ich könnte mir vorstellen,
dass der Entwurf so verändert wird, dass die Si-
tuation von Start-ups stärker Berücksichtigung
findet. Niemand wird von einem europäischen
Entwickler verlangen, dass er alle Gefahren bis in
die letzte Verästelung aufschreibt.
Abbou: Schön, das freut mich zu hören. Die Re-
gulierung muss proportional sein. Denn es gibt
noch einen anderen wichtigen Punkt: Es geht bei
KI nicht nur um Wohlstand, sondern auch um
nationale Sicherheit und europäische Souveräni-
tät. Drei Viertel aller großen Foundation-
Modelle sind heute amerikanisch. Das heißt:
Amazon weiß, was wir einkaufen. Meta kennt
unsere Vorlieben. Wenn als Nächstes europäische
Unternehmen US-entwickelte KI nutzen, dann
kommen diese US-Firmen auch noch an unsere
Wirtschaftsdaten. Und was, wenn Trump noch
einmal an die Macht kommt? Auch deswegen
brauchen wir eigene starke KI-Firmen in Europa.
Barley: Und wie erreichen wir das?
Fotos: Gene Glover für DIE ZEIT

grenzen können. Die deutsche Gesellschaft leidet
unter Fachkräftemangel, und KI ist ein Werk-
zeug, das helfen kann, ihn zu lindern.
Barley: Natürlich kann das passieren. Aber ich
sehe die Möglichkeiten nicht nur positiv. Ein
Beispiel: Ich war mal Richterin. Schon bald
werden wir in Gerichtsprozessen Fotografien als
Beweise nicht mehr verwenden können – weil
von allen Automarken aus allen Modellreihen
erkennen und zuordnen, sie kennt deren Markt-
wert und hilft, sie wieder auf den Markt zu brin-
gen. Absolut genial! Die EU muss aufpassen,
dass sie solche Entwicklungen nicht abwürgt.
Barley: Mit Verlaub, diese KI auf dem Schrott-
platz ist völlig unbedenklich und nichts, was
die EU einschränken will. Der Druck entsteht
Abbou: Das kann nicht das EU-Parlament allein
leisten, ist klar. Da müssen auch die europäischen
Investoren und Wagniskapitalgeber mehr tun.
Barley: Wir haben mit vielen Unternehmen ge-
sprochen, um deren Bedürfnisse zu berücksich-
tigen. Letztlich muss gelten: Jedes Unterneh-
men, das KI-Anwendungen in Europa verkauft
– auch amerikanische Anbieter –, muss sich an

»Alle Diskriminierung, die ich erlebt

wir nicht werden feststellen können, ob die
Fotos echt sind oder KI-generiert.
ZEIT: In einem Brandbrief haben über hundert
deutsche Manager und Konzerneigentümer ge-
klagt, die geplante EU-Regulierung schränke
durch ChatGPT und ähnliche Programme mit
Selbstlerneffekten. Da kommen wir in eine
Dimension, die Gefahren birgt, weil selbst
deren Entwickler nicht mehr wissen, was in
dem Programm eigentlich vor sich geht.
die hier geltenden Regeln halten und die
Grundrechte unserer Bürger achten.
ZEIT: Könnten Sie bitte mal ein paar konkrete
Beispiel für KI-Anwendungen nennen, die Sie
gerne verbieten würden, Frau Barley? habe, ist von Menschen ausgegangen«
 14 INHALT 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

Titelthema: Wahrheit oder Propaganda?

POLITIK
Titelthema: Wahrheit oder
Propaganda? Die israelische Armee
dringt vor, die humanitäre Lage in Gaza
verschärft sich 2 seinen Ruf verbessern und investiert in
Krieg der Bilder: Was zeigen wir, was
•3
nicht? VON MALIN SCHULZ
Was stimmt? Was ist Lüge? Wir über-
prüfen neun gängige Behauptungen zum
Nahostkonflikt 4 und Führungskräften. Heute suchen
Österreich Kann die Sozialdemokratie
klima- und klassenbewusst zugleich sein?
Porträt des neuen SPÖ-Chefs
Foto: Paulina Hildesheim für DIE ZEIT
Rudolf Augstein Vor 100 Jahren wurde
der »Spiegel«-Gründer geboren.
Sechs Erinnerungen an einen heute
undenkbaren Journalisten 24
Brasilien Das Agro-Business will
Musikstars, die vom glamourösen
• 26
Landleben singen
VON THOMAS FISCHERMANN
Arbeitsmarkt Früher waren Headhunter
vor allem auf der Jagd nach Spezialisten
Unternehmen über die Personalvermittler
auch Handwerker und Verkäuferinnen
VON HELENA OT T 28
TikTok Über den neuen Trend
»bone smashing«
VON JULIA WERTHMANN 54
Kiew-Biennale Wie ist es, im Krieg
Künstler zu sein? Beobachtungen aus der
• 55
Ukraine VON OLIVIA KORTAS
Essay Wie engagiert muss Literatur
heute sein? VON THEA DORN 56
Literatur Über das Schriftstellerpaar
Siri Hustvedt und Paul Auster sowie
• 57
Austers neuen Roman »Baumgartner«
VON VOLKER WEIDERMANN
NS-Zeit Die Nazi-Verstrickungen der

Finanzmärkte Amerikanische Staats- Funktionäre des größten deutschen

Andreas Babler
anleihen sind das Fundament der Filmverbands Spio

•6
VON ROBERT PAUSCH UND
BERND ULRICH
Polen Die Wähler haben für den
Wechsel gestimmt. Doch einer
friedlichen Machtübergabe steht noch
einiges im Weg VON JÖRG L AU
ZEITNAH Bundesverfassungsgericht
Entscheidung zur Wiederaufnahme von
globalen Geldwirtschaft. Neuerdings VON VALENTIN HERLETH 58
verhalten sich ihre Kurse ungewöhnlich.
Droht der Finanzwelt ein Beben? Theater Claus Peymann inszeniert
VON HEIKE BUCHTER 29 »Minetti« mit Manfred Zapatka in
München VON MICHAEL SK ASA 61
Wirtschaft in einem Satz 30
9 Kolumne Grand Slam
Die Coachin Reicht es, wenn meine VON ANDREA PETKOVIĆ 61
Arbeit mittelmäßig ist?
VON HANNA TIMMANN 30

Sie will gar nichts Besonderes sein

Strafverfahren VON EROL POHLREICH 10
CDU Eine neue Biografie zeichnet
den Merz-Rivalen Hendrik Wüst als
Eigentlich sollte Götz Hamann die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer schon im kühlen Strategen
Juni treffen, am letzten Drehtag der ZDF-Dokumentation über ihr dramatisches Leben. Aber VON MARIAM L AU 11
die bald 102-Jährige stürzte und brach sich einige Rippen. Nun empfing sie den ZEIT-
Reporter voll neuer Energie in ihrer Berliner Wohnung – zum Gespräch über die Ereignisse STREIT
in Nahost und ihre Lebensaufgabe: Erinnernd die Zukunft zu gestalten ENTDECKEN, S. 68/69 KI Brauchen wir strengere Regeln
für den Einsatz von künstlicher
Intelligenz? Die Europaparlamentarierin
Katarina Barley streitet mit dem Chef
des KI-Verbands Daniel Abbou 13
DOSSIER
Mahatma Gandhi In Indien versuchen
radikale Nationalisten, die Erinnerung
an die größte Ikone des Landes
zurückzudrängen. Wie erfolgreich sind
sie damit? Und woher stammt ihr Hass?
VON ANANT AGARWAL A UND
SONIA BOUIS SOU 15
Foto: Vithalbhai Jhaveri/imago
GREEN.
Künstliche Intelligenz Kann die neue
Technologie helfen, das Klima zu retten?
•
VON UWE JEAN HEUSER , SOPHIE NEUK AM
UND RICARDA RICHTER 33
Subventionen Wie man im Taxi,
am Flughafen und im Steakrestaurant
vom Staat bezuschusst wird
VON LUISA JACOB S
Rüstung Ein Gespräch mit der
Politologin Meta Crawford über CO₂-
Sparen beim Militär 36
WISSEN
Hochschule Preise und Mieten steigen,
das Bafög hält nicht mit. Wird Studieren
unbezahlbar? VON ANJA REITER
Hirnforschung Menschen können im
Schlaf einfache Aufgaben erledigen
VON REBECCA STEGMANN 38
KINDER- &
JUGENDBUCH
LUCHS-Preis November für den
Jugendroman »Nenn keine Namen« von
Astrid Sy VON MARKUS FLOHR 63
Empfehlungen der LUCHS-Jury 63
Zensur Die Autorin Laurie Halse
Anderson über ihren Kampf gegen
book bans an Schulen in den USA 63
35
GLAUBEN & ZWEIFELN
Italien Die Zwillinge Sara und Rivka
Spiccicino fühlen sich in Rom nicht
mehr sicher. Wie geht es jungen Juden
jetzt? Und was sagt der Papst?
VON EVELYN FINGER 64
37 Israel Premierminister Benjamin
Netanjahu zitiert die Heilige Schrift.
Keine gute Idee – findet der Rabbiner
Andreas Nachama 64

Wissenschaft Indigene aus dem

Foto: Zuma Press/imago

Foto: Tereza Mundilova

GESCHICHTE Amazonasgebiet drängen an ENTDECKEN

100 Jahre Hitlerputsch
Am 9. November 1923 greift Adolf
Hitler das erste Mal nach der Macht.
Der Putschversuch scheitert, sein Drang
zur Macht aber bleibt
Revolutionärin Gandhi und
VON VOLKER ULLRICH
• 39
westliche Universitäten
VON THOMAS FISCHERMANN
Superfakes Wo kommen die täuschend
echten Kopien edler Handtaschen her?
Schule Lehrer aus der Türkei geben Und wie komme ich selbst an eine ran?
muttersprachlichen Unterricht an Eine Recherche mit krimineller Energie
deutschen Schulen. Gefährdet das die VON NIKO K APPEL 65
Integration? VON ARNFRID SCHENK 41
19
Entdeckt Backmischungen
Archäologie Mietverträge auf Papyrus VON YASMINE M ’ BAREK 67

im Wald sein Mörder Frühstarterin

und Sofas aus Bronze – eine Ausstellung
VERBRECHEN
• 42
zeigt die Geschichte des Wohnens Margot Friedländer Die Holocaust-
Falsche Anschuldigung Der Musiker VON URS WILLMANN Überlebende spricht über die
Ruth Buendía vom Volk Weltweit gilt Mahatma Gandhi als Die Sängerin Olivia Rodrigo Gil Ofarim warf einem Leipziger Hotel- Verfilmung ihrer Lebensgeschichte und
Infografik Die politische Landschaft in
der Asháninka lebt im peruanischen Ikone der Toleranz. Doch in ist eines der größten Teenager-Idole mitarbeiter Antisemitismus vor – die Terroranschläge der Hamas
deutschen Städten 52
Amazonasgebiet. Wissenschaftlich Indien wächst die Bewunderung für der Welt. Mit fünf Jahren stand und steht jetzt wegen Verleumdung VON GÖTZ HAMANN 68
erforscht wird ihre Heimat bislang den Mann, der ihn tötete: Den sie zum ersten Mal auf der Bühne, vor Gericht
Reise Der berühmte Hollywood-
nur von Fremden, denen die fanatischen Nationalisten Nathuram heute singt sie vor allem von der VON ANNE HÄHNIG 20 LEO – DIE SEITE
Schriftzug in Los Angeles ist 100 Jahre
Indigenen bestenfalls als Handlanger Godse. Was folgt daraus für Suche nach dem richtigen Freund. FÜR KINDER alt geworden. Eine Wanderung
dienen. Das will sie nun ändern die größte Demokratie der Erde? Eine Begegnung in Berlin
• 70
WIRTSCHAFT Igel Jetzt im Herbst sind viele Igel hinter die Kulissen
unterwegs. Kommen die alleine klar, VON LUK AS RIETZSCHEL
WISSEN, SEITE 39 DOSSIER, SEITE 15–17 MAGAZIN, SEITE 38
Chip-Industrie Nur ein Unternehmen oder brauchen sie unsere Hilfe?
auf der Welt kann die Maschinen für die VON TOM KROLL 51 Der Ozeanograf François Sarano taucht
Produktion von hochmodernen Chips gern mit Weißen Haien. Im Interview
bauen: ASML in den Niederlanden. ermutigt er zum Nachahmen 71
IN DEN REGIONALAUSGABEN ANZEIGEN IN Porträt eines der wertvollsten Unter- FEUILLETON
DIESER AUSGABE Wie es wirklich ist ...
nehmen Europas, von dem Technologie- Gesellschaft Der weibliche Zyklus wird alte Zugwaggons zu sammeln
ZEIT im Osten Die einst fast Piet Baumgartner hat fünf so aus dem Schatten der Männer konzerne im Rest der Welt abhängig
• 21
Bildungsangebote und zur neuen Religion VON HOLGER HEMPEL 72
ausgerotteten Biber sind zurück. Studierende der Eliteuni in traten VON JOACHIM RIEDL 18 Stellenmarkt sind VON KOLJA RUDZIO VON BERIT DIES SELK ÄMPER 53
Und das sorgt für einigen Ärger, St. Gallen jahrelang mit der (ab Seite 46);
zum Beispiel in der Oberlausitz. Kamera begleitet. Ein Interview Mustafa El Nimr wollte einen Agenda Kultur: Rundfunk Berlin-Brandenburg Die Politik Wie der Hamas-Terror RUBRIKEN
Schon fordern die Ersten den zum Kinostart des Films 20 kleinen Wiener Fußballverein in Museen, Kunstmarkt, neue Intendantin des Senders, Ulrike die Kultur in Deutschland spaltet
Abschuss VON FR ANZ P. HELMS 20 die Champions League führen. Demmer, im Gespräch 22 VON THOMAS E . SCHMIDT 53 Leserbriefe 18

ZEIT Schweiz Zwei junge
Schweizer Abenteurer reisen in
den 1930er-Jahren nach
Polynesien und plündern Gräber
und Kultstätten. Ihre Beute liegt
bis heute im Basler Museum der
Kulturen. Nun soll sie zurück
nach Hiva Oa
VON MAYA BR ÄNDLI
• 40
Bühnen (Seite 60)
In St. Margrethen werden Nazi- Doch dann ging alles schief.
Womit keiner rechnet Eigentlich will Comic Der neue »Asterix« ist da Stimmt’s?
Devotionalien verkauft Eine Geschichte über Schulden, FRÜHER
20 Klagen und Wettbetrugs- die Welt weg von Benzin und Diesel. VON ELISABETH VON THADDEN 54
VON SALOME MÜLLER INFORMIERT! Die Position 46
Vorwürfe VON G. GOS SMANN 19 Jetzt werden die größten Ölkonzerne Kunst Eine Ausstellung in München
ZEIT Österreich Ein neues Die aktuellen Themen aber noch mächtiger. Warum? Worum geht’s? 47
feiert den Maler William Turner
Buch des Wirtschaftshistorikers Eva Masel hat unzählige der ZEIT schon am VON HEIKE BUCHTER 23 VON TOBIAS TIMM 54
Roman Sandgruber erzählt, wie Menschen beim Sterben begleitet. Mittwoch im ZEIT-Brief, 3½ Fragen 48
die Frauen der Rothschilds sich Kurz vor dem Tod, sagt dem kostenlosen Kommentar Übertreibt es nicht mit Mode Kim Kardashian vermarktet Impressum 72
aus dem traditionellen Rollen- die Ärztin, sei das Leben ganz Newsletter der Zinsjagd! ihren neuen Nippel-BH
18 korsett der Familie befreiten und besonders präsent 32 www.zeit.de/brief VON MARCUS ROHWET TER 23 VON ANTONIA BAUM 54 Was mein Leben reicher macht 72

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 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

DOSSIER 15

A
m 2. Oktober 2023, morgens um
sieben, als es noch nicht ganz so
heiß ist, setzt sich in der Stadt
Jalgaon im Westen Indiens ein
Gedenkmarsch in Bewegung.
Heute ist ein staatlicher Feiertag,
denn vor 154 Jahren wurde der so-
genannte Vater der Nation geboren: Mahatma Gandhi.
Kinder in Schuluniform halten Plakate mit Gandhi-
Zitaten hoch: »Gewaltlosigkeit ist der Zustand voll-
ständiger Unschuld« oder »Widme dich dem Dienst
für andere. Dann wirst du dein Selbst finden«. Er-
wachsene haben ein weißes Mützchen auf dem Kopf,
so wie es ihr Vorbild manchmal trug. Jemand hat sich
sogar komplett als Gandhi verkleidet, mit runder
Brille und einem schlichten Baumwollgewand.
Ein wenig hinter der Spitze läuft ein Mann in San-
dalen durch die staubigen Straßen, die Locken ergraut,
auf den Schläfen ein Schweißfilm. Tushar Gandhi
scheint nichts dagegen zu haben, dass der Zug eher
gemächlich vorankommt. »Meine Strategie lautet
immer: Zeit lassen. Sonst bekommen die Leute gar
nicht mit, dass wir da sind.«
Tushar Gandhi ist ein Urenkel von Mahatma Gan-
dhi. Persönlich kennengelernt hat er ihn nicht; als er
1960 geboren wurde, war der Urgroßvater schon seit
zwölf Jahren tot. Dennoch sieht sich Tushar Gandhi
dazu berufen, das Erbe des Mannes zu hüten, den er
nur Bapu nennt, Vater. Oder besser: sein Erbe zu retten.
Auf die Straße gehen für Mahatma Gandhi, Tushar
macht das gewissermaßen hauptamtlich. Einmal lief
er 387 Kilometer am Stück – exakt die Strecke des
berühmten »Salzmarsches«, mit dem Mahatma Gan-
dhi einst dagegen protestierte, dass die britischen
Kolonialherren das Monopol auf den Handel mit Salz
für sich beanspruchten. Der Salzmarsch war eines je-
ner Ereignisse, mit denen Mahatma Gandhi die Mas-
sen mobilisierte und die schließlich zur Unabhängig-
keit des Landes im August 1947 führten. Nun, fürch-
tet Tushar Gandhi, droht die Erinnerung daran zu-
rückgedrängt zu werden. Wie an vieles andere auch.
An diesem Tag ist der Weg nicht ganz so lang, ein-
mal die Mahatma Gandhi Road hoch, vorbei an einem
überwucherten Kricketfeld zum Mahatma Gandhi
Garden, einem öffentlichen Park. Anderthalb Kilo-
meter, wenn es hoch kommt. Gleich wird Tushar
Gandhi auf einer Bühne stehen und in einer Rede
daran erinnern, wofür sich sein Urgroßvater einsetzte.
Nun, kurz vor dem Eingang zum Park, sagt er, wäh-
rend er dahinschreitet: »Der Tag, an dem wir aufhö-
ren, für Bapu einzustehen, wird der Tag sein, an dem
er endgültig erledigt ist.«
Einige Hundert Kilometer entfernt, in einem grü-
nen Viertel der Metropole Pune. Für den Immobilien-
entwickler Ajinkya Godse, mit 55 ein knappes Jahr-
zehnt jünger als Tushar Gandhi, ist dieser 2. Oktober
alles andere als ein Feiertag. Von seinen Angestellten
hat er verlangt, dass sie zur Arbeit kommen. Während
überall im Land Mahatma Gandhis gedacht wird,
führt Ajinkya Godse am Sitz seiner Firma in ein Zim-
mer, das mit den Vitrinen, den Schwarz-Weiß-Fotos
und den gerahmten Dokumenten an den Wänden ein
wenig wie ein Privatmuseum wirkt. Auf einer Halb-
kugel aus Glas liegt eine frische rote Hibiskusblüte,
darunter steht eine silberne Urne. In ihr, sagt Ajinkya
Godse, befinde sich die Asche seines Großonkels
Nathuram Godse.
Ajinkya Godse hat seinen Großonkel nie kennen-
gelernt, so wenig wie Tushar Gandhi seinen Urgroß-
vater. Auch Ajinkya Godse möchte das Erbe seines
Verwandten hüten. Die Tat, für die er den Großonkel
bewundert, geschah am 30. Januar 1948: Da wurde
Mahatma Gandhi von Nathuram Godse ermordet.
»Er tat es nicht für sein Ego, er hegte keinerlei per-
sönliche Feindschaft gegen Gandhi«, sagt Ajinkya
Godse und wägt sorgsam seine Worte. »Er tat es für
die Nation.«
Es ist eine Interpretation der Geschichte, die ver-
rückt klingen mag. Mahatma Gandhi, der Mann, der
die britischen Kolonialherren in die Knie zwang, die
weltweite Ikone, das Symbol für friedlichen Wider-
stand, Selbstlosigkeit, religiöses Miteinander – er soll
ein Vaterlandsverräter sein? Und sein Mörder der
wahre Nationalheld?
Es ist aber auch eine Interpretation der Geschichte,
der immer mehr Inder anhängen. Der Raum mit der
Urne ist zu einer Pilgerstätte geworden. Da liegt das
Hemd, das Nathuram Godse am 30. Januar 1948 trug,
man erkennt darauf Flecken. »Schauen Sie, das Blut«,
sagt sein Nachfahr – Gandhis Blut. Da sind die Bücher,
die der Mörder las, als er nach der Tat im Gefängnis saß.
Da ist die Bhagavad Gita, eine der heiligen Schriften der
Hindus, die er bei sich getragen haben soll, als er, zum
Tode verurteilt, an den Galgen trat. Ajinkya Godse und
Foto [M]: Pictures From History/Universal Images Group/Getty Images

seine Frau haben das Gedenkzimmer vor zwölf Jahren

eingerichtet. »Das Einzige, was uns fehlt, ist die Waffe,
die er benutzte«, sagt die Ehefrau.
Hinweisschilder draußen an der Straße haben die
Godses nicht angebracht. »Diejenigen, die der Asche
meines Großonkels nahe sein wollen, finden auch so
den Weg«, sagt Ajinkya Godse. Er hat ein Gästebuch

Gandhi muss weg!

für die Besucher ausgelegt. Jemand hat geschrieben:
»Ich bin extra aus Hyderabad angereist. Welche Ehre,
die Überreste des wahren Patrioten Nathuram Godse
zu sehen.« Die meisten anderen Kommentare sagen
mehr oder weniger das Gleiche. Viele Menschen ha-
ben ihre Visitenkarte in das Buch gelegt, darunter
auch Staatsbedienstete.
Auf X, dem früheren Twitter, trendet an diesem
Feiertag, der an Gandhis Geburt erinnern soll, der
Hashtag #NathuramGodseAmarRahe – Lang lebe
Nathuram Godse. Hunderttausendfach verbreiten
sich Videos, die den Mörder glorifizieren und sein
Er ist eine Ikone, weltweit bewundert für seine Idee des gewaltlosen Widerstands und seine religiöse Toleranz. Opfer verächtlich machen. Besonders, so scheint es,
Doch in Mahatma Gandhis Heimat Indien wollen viele Menschen davon nichts mehr hören. Sie feiern lieber unter jenen, die neben Nathuram Godse noch einen

jemand anderen: Gandhis Mörder VON ANANT AGARWALA UND SONIA BOUISSOU Fortsetzung auf S. 16
16
Gandhi muss weg! Fortsetzung von S. 15
anderen Mann verehren wie einen Guru – Naren-
dra Modi, Indiens Premierminister.
Im Gedenkzimmer sagt Ajinkya Godse: »Ich
habe noch nie jemanden getroffen, der mir gesagt
hat, dass mein Großonkel mit dem Mord an Gan-
dhi einen Fehler beging.« Die Antwort auf die
Frage nach dem Warum, glauben er und seine
Frau, lieferte Nathuram Godse selbst. Damals
während seines Gerichtsprozesses verlas er eine Art
Manifest. Fünf Stunden lang erklärte Godse, dass
er der Retter der Hindus sei – und dass er Gandhi
töten musste, weil alles andere zur Vernichtung
seines Volkes geführt hätte. Das handschriftliche
Manuskript liegt hier im Zimmer in einer der
Vitrinen aus. Für den Großneffen und seine Frau
scheint es so etwas wie ein Evangelium zu sein, sie
kennen viele Passagen auswendig. Im Einklang
rezitieren sie auf Englisch: »Eines Tages werden
ehrliche Geschichtsschreiber meine Tat abwägen
und ihren wahren Wert erkennen.«
Dieser Tag, glauben sie, rückt nun endlich näher.
Als Mohandas Karamchand Gandhi, den bald alle
nur noch Mahatma nennen werden, Große Seele,
am 9. Januar 1915 im Hafen von Bombay, dem
heutigen Mumbai, die Gangway des britischen
Postschiffs SS Arabia hinunterläuft, betritt er seine
Heimat als Fremder. Er ist 45 Jahre alt und hat die
meiste Zeit seines bisherigen Erwachsenenlebens
in Südafrika verbracht, einer anderen britischen
Kolonie. Sein Ruf als kompromissloser Wider-
ständler gegen die Kolonialherrschaft ist ihm über
den Ozean hinweg vorausgeeilt. Eine Menschen-
menge erwartet ihn am Kai, er wird mit Blüten
und Girlanden überhäuft. So viel Hoffnung. Seine
Anhänger setzen darauf, dass dieser Mann die
Inder hinter sich versammelt, dass er den Briten
politische und wirtschaftliche Reformen abtrotzt.
Gandhi hatte als junger Mann in London Jura
studiert, er hatte gern schicke britische Anzüge
getragen. Doch als er nun wie besessen durchs
Land reist, um sich ein Bild der Lage zu machen,
verwandelt er sich nach und nach in die asketische
Figur im Lendenschurz, als die ihn die Nachwelt
später kennen wird. In den Vorkämpfer der indi-
schen Unabhängigkeit.
Die Methode seines Widerstandes hat er schon
in Südafrika entwickelt: Satyagraha. Der Begriff
meint in etwa das unbedingte Beharren auf der ei-
genen Wahrheit und den Willen, diese ohne den
Einsatz von Gewalt durchzusetzen. Auch wenn
man verprügelt, verhaftet, sogar getötet wird –
Gandhi zufolge wird satya, die Wahrheit, mit jeder
Attacke durch den Gegner bloß an Stärke gewin-
nen. Gleichzeitig wird die eigene moralische Über-
legenheit dazu führen, dass der Gegner geschwächt
wird. Sorgt, sagen wir, eine hohe Steuer auf Salz
dafür, dass sich nur noch wenige Inder Salz leisten
können, während die Briten von ihr profitieren,
und werden Zehntausende ins Gefängnis gewor-
fen, weil sie friedlich dagegen protestieren – dann
erkennen am Ende Millionen diese Ungerechtig-
keit und gehen auf die Straße. Dann entflammt
ein Volk. So wird es 1930 tatsächlich geschehen.
Gandhi ruft die Inder zu Streiks auf. Er spricht
vor riesigen Menschenmengen, er wird als spiritu-
eller Führer verehrt. Fährt er mit der Eisenbahn,
dann immer in der niedrigsten Wagenklasse, wo es
dreckig ist und überfüllt.
Es ist eine chaotische Zeit, in der sich die globale
Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg neu sortiert,
um kurz darauf wieder blutig zu implodieren.
Große politische Ideen ringen miteinander: Kom-
munismus oder Faschismus? Geht aller Wille vom
Volke aus – oder drückt man ihm besser seinen
Willen auf? Sind alle Menschen von Geburt an
gleich – oder gibt es menschliche Rassen, von
denen einige dazu berufen sind, über die anderen
zu herrschen?
Überall im britischen Empire brechen Konflikte
aus, drängen Unterdrückte auf einen eigenen Na-
tionalstaat – wobei oft unklar bleibt, wer dazuge-
hören soll und wer nicht. In Indien planen zwei
Männer die Revolution. Der eine ist Mahatma
Gandhi, der dürre Verfechter der Gerechtigkeit. Er
glaubt an Ruhe und Beharrlichkeit, und er betont
die Einheit der indischen Muslime, knapp ein
Drittel aller Einwohner, und der indischen Hin-
dus. Der andere ist ein feuriger Radikaler: Vinayak
Damodar Savarkar. Er setzt auf einen militanten
Aufstand gegen die Kolonialherrschaft, angeführt
von den Brahmanen – die soziale Elite unter den
Hindus, die oberste Kaste, für Savarkar die natür-
lichen Herrscher eines künftigen Indien.
Wie Gandhi hat Savarkar in London Jura stu-
diert. Wie Gandhi ist er charismatisch. Wie
Gandhi ein Hindu. Und wie Gandhi sitzt er in
den 1920ern in einem britischen Gefängnis –
Gandhi für eine Aktion, bei der er Hindus und
Muslime im Boykott vereinte, Savarkar für von
ihm ersonnene Mordanschläge auf britische Ko-
lonialbeamte. Doch während Gandhi, verurteilt
zu sechs Jahren, schon nach einem Drittel der
Haftzeit wieder frei ist, muss Savarkar fürchten,
im Gefängnis zu sterben. In seiner Neun-Qua-
dratmeter-Zelle auf den Andamanen, einem ab-
gelegenen tropischen Archipel, trägt er stets ein
Brett um den Hals, auf dem die Dauer seiner
V. D. Savarkar, Begründer
des Hindunationalismus
Strafe steht: 50 Jahre, zweimal lebenslänglich.
Durch die Gitterstäbe kann er den Raum des
Henkers sehen, dort baumeln drei Stricke von
einem Balken. Savarkar schreibt Gnadengesuch
um Gnadengesuch, er schwört den britischen
Kolonialherren seine Treue. Ohne Erfolg.
Dann verfasst er ein Buch.
Mit Hindutva, so der Titel, erfindet sich Savar-
kar neu. Sein Hass richtet sich nun nicht mehr
gegen die Briten, sondern gegen die indischen
Muslime. Anders als die Hindus hätten sie kein
Anrecht darauf, Indien als ihre heilige Heimat zu
betrachten. Als Savarkar dies schreibt, ist es zwar
schon tausend Jahre her, dass muslimische Eroberer
den Islam ins heutige Indien brachten. Aber die
Hindus, so Savarkar, seien eben die ursprüngliche
Zivilisation. Es ist ein Blut-und-Boden-Denken.
Der antiimperialistische Freiheitskämpfer hat sich
in einen völkischen Ideologen verwandelt.
Oben: Mahatma Gandhi im Kreis von Anhängern, Mai 1944. Unten: Ein Aufmarsch des paramilitärischen Verbands RSS
Ob es einen Zusammenhang gibt oder nicht,
lässt sich nicht rekonstruieren – jedenfalls darf
Savarkar 36 Jahre vor dem offiziellen Ende seiner
Haftstrafe in einen Hausarrest wechseln, der schließ-
lich aufgehoben wird. Und sein Sinneswandel
scheint echt zu sein. Auch in den 1930ern und
1940ern kooperiert er weiter mit den Briten. Ge-
gen seine Erzfeinde agitiert er: die Muslime und
deren Unterstützer, allen voran Mahatma Gandhi.
Ja, Gandhi wird von vielen verehrt. Aber Sa-
varkar auch. Vor allem von jungen Männern, wie
Nathuram Godse einer ist.
»Godse war ein Mensch ohne Richtung, aber er
strebte immer danach, seine Männlichkeit unter
Beweis stellen zu können«, sagt der Journalist und
Sachbuchautor Dhirendra Jha, der Kette rauchend
in seiner kleinen Erdgeschosswohnung am Stadtrand
von Delhi sitzt. Um ihn herum stapeln sich Bücher,
über das Kastenwesen der Hindus und ihre Brahma-
nen, über Gurus und Schlägertruppen. Und auch
Gandhi’s Assassin, »Gandhis Mörder«, für das Jha
jahrelang in Archiven recherchiert und mit Zeitzeu-
gen gesprochen hat. Es ist sowohl eine Biografie
Nathuram Godses wie auch ein Psychogramm der
nationalistischen Rechten in Indien.
Die Sehnsucht danach, den starken Mann zu
geben – Dhirendra Jha führt sie unter anderem auf
Erfahrungen zurück, die der spätere Mörder als
Nathuram Godse,
Gandhis Mörder
DOSSIER
Kind machte. Bevor Nathuram Godse zur Welt
kam, hatte seine Mutter drei Söhne geboren. Alle
drei waren bald gestorben. Bei Nummer vier be-
schlossen die Eltern, fromme Brahmanen, das
Schicksal auszutricksen. Sie zogen ihrem Sohn
Mädchenkleider an und ließen ihm ein Loch in die
Nase stechen, für einen Ring. Die Götter sollten
denken, er sei kein Junge.
»Dass er als mordender Hindu-Suprematist enden
würde, war nicht klar. Er schwankte zunächst zwi-
schen Gandhi und Savarkar«, sagt sein Biograf Jha.
»Er war verzweifelt auf der Suche nach jemandem,
der ihn führt.« Am Anfang Gandhi und dessen
Unabhängigkeitsbewegung. Massenproteste, Massen-
boykotts, Massenverhaftungen. Es heißt, auf den
Kundgebungen habe Nathuram Godse sogar ein
weißes Gandhi-Mützchen getragen.
Doch dann, 1929, zog die Familie um, in ein
Küstenstädtchen in der Nähe von Bombay. Es
dauerte nur drei Tage, bis Nathuram Godse den
rassistischen Ideologen Vinayak Damodar Savar-
kar besuchte, der zufällig in derselben Straße
wohnte. Ein junger Mensch ohne Richtung findet
einen, der führen will.
»Jene Zeit«, sagt der Biograf Jha, »war der Ur-
sprung all dessen, was wir heute sehen.«
Indien im Jahr 2023 – eine gefestigte säkulare
Demokratie, könnte man denken, stolz auf ihre
Vielfalt und stark darin, sie auszuhalten. Sprachen
und Kulturen, architektonische Wahrzeichen und
Rituale mischen sich. Hier der Tadsch Mahal, er-
richtet von einem muslimischen Großmogul.
Dort die Tempel für Hindugötter wie Shiva, Kali
oder Ganesha. Hier die nach einem muslimischen
Sultan benannte Stadt Ahmedabad, dort das nach
einem hinduistischen Maharadscha benannte Jai-
pur. Hier der größte Filmstar, ein Muslim, dort der
größte Kricketstar, ein Hindu.
Doch nicht nur die Demonstranten um Tus-
har Gandhi, den Urenkel, sehen all das in Gefahr.
Denn auf einmal finden Fanatiker Gehör, die die
Bevölkerung in echte und falsche Inder einteilen,
je nachdem, wie man heißt und zu wem man
betet. Städte werden umbenannt. Politiker be-
Tushar Gandhi,
der Urenkel Großneffe des Mörders
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
zeichnen Muslime pauschal als Terroristen. Inter- Kapo war. Als solcher soll man zölibatär leben und
religiöse Ehen gelten als Verrat an den eigenen sein ganzes Dasein der Sache opfern. Der junge
Leuten. Intellektuelle argumentieren für das Mann, der schon mit 13 von seinen Eltern verlobt
Konzept einer Hindu-Nation. Ihre Bücher, in worden war und mit 18 geheiratet hatte, verließ
denen sie Savarkars Denken erneuern, landen auf seine Frau – die RSS war ihm wichtiger. Sein
den Bestsellerlisten. Name: Narendra Modi.
In seiner Wohnung in Delhi arbeitet der Au- Rund um die RSS ist in all den Jahren ein ganzes
tor Direndra Jha gerade an seinem nächsten Netzwerk hindunationalistischer Organisationen
Werk. Es geht darin um die größte rechtsradikale entstanden. Studentenvereinigungen. Initiativen
Vereinigung der Welt, die Nationale Freiwilligen- zum Schutz von Kühen. Schlägertrupps. Privat-
Organisation, kurz RSS. Sie wurde Mitte der schulen. Vorbereitungsklassen für Jugendliche, die
1920er von einem Arzt gegründet, der stark unter den Aufnahmetest der Armee bestehen wollen.
Savarkars Einfluss stand. Ein offizielles Verzeich- Und dann ist da noch der politische Arm: die In-
nis ihrer Mitglieder führt sie nicht; es dürften dische Volkspartei, kurz BJP. In sie wechselte Modi
viele Millionen sein, und es werden immer mehr. in den 1980ern, mit Mitte 30, nahtlos über.
Eigentlich sprechen die Mitglieder nicht mit Heute regiert Narendra Modi Indien als Premier-
Journalisten oder anderen Außenstehenden, de- minister, und die BJP ist die erfolgreichste Partei
nen sie misstrauen, doch Jha konnte viele von des Landes. Im Parlament der Republik Indien ist
ihnen interviewen. sie mit 395 Abgeordneten vertreten, kein einziger
von ihnen ist muslimisch. Der Innenminister, der
Verteidigungsminister, der Bildungsminister und
andere wichtige Politiker in Modis Regierungs-
kabinett, sie alle entstammen der RSS oder einer
ihrer Untergruppen. Jeder, der die Organisation
durchlaufe, werde auf die gleiche Weise indoktri-
niert, sagt der Autor Dhirendra Jha. »Egal, ob er
Godse oder Modi heißt.«
Narendra Modis Aufstieg zur Macht hat im
Bundesstaat Gujarat an der Westküste Indiens
begonnen. Hier ist er ab 2001 knapp anderthalb
Jahrzehnte lang Ministerpräsident. Seine Regie-
rungszeit beginnt mit einem blutigen Ereignis:
Am 27. Februar 2002 verbrennen nach Ausein-
andersetzungen mit Muslimen 59 Menschen in
einem Zug, fast alle von ihnen Hindupilger.
Daraufhin kommt es im gesamten Bundesstaat
zu Gewaltexzessen. In einem mehrere Tage
dauernden Pogrom werden schätzungsweise
2000 Muslime von hinduistischen Mobs getötet.
Mordend, brandschatzend und vergewaltigend
ziehen die RSS-Anhänger durch die Straßen.
Der Ministerpräsident hält sich im Hinter-
grund. Er ruft zwar die indische Armee zu Hilfe,
belässt die Soldaten dann aber lange in ihren Bara-
cken. Später werden sich Hinweise darauf finden,
dass die Regierung von Gujarat und staatliche Be-
hörden die Gräueltaten unterstützt haben. Unab-
hängigen Untersuchungen zufolge haben die Täter
teilweise unter der Führung von Personen agiert,
die mit Wählerverzeichnissen und anderen offi-
ziellen Dokumenten ausgestattet waren. Das half
Fotos: Nur Photo/pa/dpa; Jayan Mitra/Dinodia/imago (u.); kl. Fotos: V. D. Savarkar; Getty Images (2); laif; Ishan Tankha (v. l.)
dabei, muslimische Wohnhäuser und Geschäfte
ausfindig zu machen.
In den Monaten nach dem Pogrom steht der
Ministerpräsident in der Kritik. In Indien, sogar in
seiner eigenen Partei, aber auch international.
Deutschland, Großbritannien und die USA ver-
hängen ein Einreiseverbot gegen ihn. Modi bietet
zunächst seinen Rücktritt an. Dann geht er in die
Offensive. Er zieht in seinem Bundesstaat die
Wahlen vor. Im Wahlkampf setzt er ganz auf anti-
muslimische Ressentiments und inszeniert sich
selbst als Beschützer der hinduistischen Mehrheit.
Er werde Medien, die über das Versagen der Be-
hörden berichtet haben, nicht länger den Ruf
Gujarats beschmutzen lassen, verspricht er.
Modi gewinnt die Wahl. Mit dem Sieg zemen-
tiert er seine Macht und weist seiner Partei den
Weg in die Zukunft. Er hat es bewiesen: Mit
einem populistischen Hindunationalismus und
Hetze gegen Minderheiten im Sinne des Ideolo-
gen und Gandhi-Gegenspielers Savarkar kann
man im 21. Jahrhundert in Indien wieder viele
Menschen begeistern.
Bedauern für die Opfer des Pogroms äußert
Modi nie, bis heute nicht. Juristische Ermittlungen
gegen ihn werden eingestellt. Wer eine Aufarbei-
tung fordert, wird beschimpft oder verfolgt.
Whistleblower, die über Modis Verbindung zum
Pogrom berichten, landen im Gefängnis. Einer
kommt unter seltsamen Umständen ums Leben.
Die RSS ist ein paramilitärischer Verband, Ein Tag im Oktober 2023 in Ahmedabad, der
irgendwo zwischen Pfadfindergruppe und Ku-Klux- größten Stadt von Gujarat. Neben einem träge vor
Klan. Auf Zehntausenden Plätzen in ganz Indien sich hin fließenden Fluss, nicht weit vom Narendra
marschieren schon Jungs im Grundschulalter, sie Modi Stadium, dem mit 132.000 Plätzen größten
tragen braune Hosen und weiße Hemden und Kricketstadion der Welt, liegt der berühmte Sabar-
schwenken Fahnen. Dhirendra Jha: »Im wöchent- mati-Aschram. Auf dem weitläufigen Gelände
lichen Ideologieunterricht wird den Freiwilligen dämpfen Tamarindenbäume die Hitze und den
beigebracht, dass sie als Hindus seit Jahrhunderten Lärm der Straße. Zwischen flachen Gebäuden eine
verfolgt und unterjocht werden« – von den Mus- Bronzestatue: Mahatma Gandhi. Die Stadt, in der
limen und deren angeblichen Verbündeten, den der Aufstieg des radikalen Hindus Modi zur Macht
toleranten Hindus in der Tradition Gandhis. Die, begann, war in den 1920ern Gandhis Heimat.
so heißt es in den Kursen, hätten den Muslimen Hier im Aschram lebte er damals mit seiner Frau,
das Schlachten von Rindern – heiligen Tieren im hier organisierte er den zivilen Widerstand seiner
Hinduismus – erlaubt und auch sonst zu viele Landsleute gegen die Kolonialherren, von hier aus
Rechte gegeben. Eine indische Beamtin, die lange brach er auf zu seinem Salzmarsch.
im Inlandsgeheimdienst tätig war, sagt später im Ein Aschram ist für Hindus in etwa das, was
Hintergrundgespräch mit der ZEIT, dass in den ein Kloster für Christen ist. Für Gandhi hatte das
Bibliotheken der RSS in der Regel auch Adolf Leben an einem solchen Ort nicht nur eine spiri-
Hitlers Mein Kampf stehe. tuelle, sondern auch eine politische Bedeutung –
Bald nach der Gründung der RSS trat ihr der der Aschram als Ort des sozialen Miteinanders,
spätere Gandhi-Mörder Nathuram Godse bei. ohne Luxus, ohne Hierarchien, ohne Unterschiede
1939 schrieb der damalige Vorsitzende der RSS zwischen den Religionen. Cedric Prakash, ein
über die Judenverfolgung in Deutschland: »Rassen- 71-jähriger Jesuitenpater und Bürgerrechtler,
stolz in seiner höchsten Form manifestiert sich hier.« kommt regelmäßig hierher. Als er jetzt über das
Dann, Ende der 1950er, im Alter von acht Jah- Gelände schlendert, über der Schulter einen Beutel
ren, wurde jemand anderes Mitglied. Offenbar aus grobem Tuch, ein Erkennungszeichen der
gefiel es diesem Jungen in der RSS, denn im Laufe Gandhianer, erzählt Prakash von der Gewalt, die
seiner Jugend arbeitete er sich hoch, bis er eine Art vor zwei Jahrzehnten seine Stadt erschütterte.
Ajinkya Godse, Narendra Modi, Indiens
Premierminister
DIE ZEIT N o 46 2. November 2023
Er sagt: »Modi hat absolut nichts dafür getan,
die Mobs zu stoppen. Im Gegenteil, er hat sie zum
Morden ermuntert. Es handelte sich um einen
Frontalangriff auf alles, wofür Gandhi steht.« Er
sei in jenen Tagen durch die Stadt gelaufen, sagt
Prakash, habe Opfer identifiziert und Angehörige
getröstet. In seinen Augen stehen Tränen. Auch er
selbst habe Freunde verloren. Seit damals habe die
religiöse Polarisierung in der Stadt massiv zuge-
nommen. Und in der Zivilgesellschaft hätten viele
Angst. »Wir sind vorsichtiger und schweigsamer.
Dieses Regime ist sehr nachtragend und rach-
süchtig.« Auch er selbst sei bereits mehrfach ver-
prügelt worden.
Wo steht Indien? Wie demokratisch ist die
»größte Demokratie der Erde«, als die Narendra
Modi sein Land feiert – genau wie Olaf Scholz
und all die anderen westlichen Politiker, die auf
der Suche nach einem Verbündeten sind? Der
Premierminister, so hört man es in Indien immer
wieder von Gesprächspartnern, schaffe ein Klima
der Straffreiheit. Indem er Gerichte und andere
staatliche Institutionen mit Gefolgsleuten besetzt.
Indem sein Machtapparat kritische Journalisten
verhaften lässt und dafür sorgt, dass Trolle und
Influencer die sozialen Netzwerke mit Propaganda
fluten. Indem er Dinge nicht sagt, Taten nicht
verurteilt, die Radikalen machen lässt.
Juni 2023: Im Bundesstaat Maharashtra binden
RSS-nahe Fanatiker einen muslimischen Mann an
einen Baum und erschlagen ihn mit Eisenstangen,
Rohren und Schuhen, weil er angeblich Rindfleisch
transportiert hatte. Seit Modi 2014 Premier-
minister wurde, ist die Zahl tödlicher Übergriffe
im Namen der Kuh stark gestiegen. Laut einer
Umfrage würde jeder dritte Hindu in Indien keinen
der etwa 200 Millionen Muslime als Nachbarn
akzeptieren.
Juli 2023: In einem Schnellzug auf dem Weg
nach Mumbai erschießt ein Wachmann mehrere
Muslime. Ein Video zeigt ihn, wie er neben einem
seiner Opfer steht und sagt: »Ich sage es euch,
wenn ihr in Hindustan leben und wählen wollt,
dann nur mit Modi.«
August 2023: Im Bundesstaat Uttar Pradesh
fordert eine Lehrerin ihre Grundschulklasse auf,
der Reihe nach einen Mitschüler zu ohrfeigen. Er
hatte das Einmaleins nicht richtig gekonnt. »Diese
muslimischen Schüler müssen geschlagen werden,
bevor sie nach Hause dürfen«, hört man die Lehre-
rin in einem Video sagen.
Oktober 2023: In Ahmedabad schlagen Akti-
visten aus dem Umfeld der RSS einen Lehrer zu-
sammen, der seine Schüler mit den Festen ver-
schiedener Religionen vertraut gemacht hat.
Im Aschram am Fluss gibt es nicht nur die
Gandhi-Statue, sondern auch ein kleines Museum.
Kahle Wände, karge Einrichtung, persönliche
Habseligkeiten: der Gehstock, mit dem Gandhi
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Drei
verschiedene
Sprachniveaus
Das Sprachlern-
magazin der ZEIT
lief, das Geschirr, von dem er aß, die berühmte
Brille. Draußen auf einer Veranda sitzt eine Frau
an einem Spinnrad – Gandhi liebte das einfache
Handwerk des Spinnens, er rief die Inder dazu auf,
ihre Kleidung selbst herzustellen. An diesem Tag
spazieren Touristengruppen und Schulklassen an
dem Ort herum, an dem er einst lebte. Manchmal
kommen jedoch auch andere Besucher, eingeladen
vom Premierminister persönlich: Xi Jinping, Ben-
jamin Netanjahu, Donald Trump, sie alle haben
schon in Gandhis Aschram gesessen und Garn
gezwirbelt. Das gibt schöne Fotos.
Es ist nicht so, dass Narendra Modi öffentlich
schlecht über Gandhi reden würde. Er erweist ihm
regelmäßig Respekt, streut Blüten für ihn aus, ver-
beugt sich an Gedenkstätten. Modis Unterstützer
werfen seinen Kritikern deshalb Panikmache vor:
Was wollt ihr denn, er ehrt ihn doch. Leute wie
der Jesuitenpater Cedric Prakash und der Urenkel
Tushar Gandhi hingegen sehen reine Heu-
chelei. Modi würde Gandhi am liebsten los-
werden, sagen sie, sagen auch die wichtigsten
Gandhi-Historiker des Landes – doch weil
der eine weltweite Ikone sei, gehe das nicht.
Also sonne sich Modi eben für die interna-
tionalen Medien in seinem Licht.
Abseits der Kameras verschwinden nach und
nach Gandhis Spuren. Im vergangenen Jahr
beschloss die Regierung, Gandhis Lieblings-
hymne Abide with Me aus den Feierlichkeiten
zum Tag der Republik zu streichen – es war die
letzte Verbindung zum »Vater der Nation«
während der Zeremonie. Einige Monate später
tilgte ein nationales Bildungsgremium aus Lehr-
büchern für weiterführende Schulen Verweise
auf den Fanatismus der Hindunationalisten, der
zum Mord an Gandhi führte.
Eine Abgeordnete der Regierungspartei
nannte nicht nur den Mörder Nathuram Godse
im indischen Parlament einen »Patrioten«, sie
ist auch angeklagt, Teil einer Terrorzelle gewesen
zu sein, die tödliche Anschläge auf Muslime
verübte. Sie darf weiter in der Fraktion sein.
Zu Gandhis Geburtstag Anfang Oktober organi-
siert die Regierung seit Modis Amtsantritt jedes Jahr
groß angelegte Reinigungsaktionen, die Inder sind
dann dazu aufgerufen, Straßen und Plätze zu säubern.
Als Logo der Kampagne dient ein Foto von Narendra
Modi neben Gandhis Brille. Auf diese Vorbildrolle
scheint Mahatma Gandhi jetzt reduziert zu sein: der
Mann, der immer so reinlich war.
Und in der Nähe von Ahmedabad hat Modi vor
einigen Jahren ein Hightech-Gandhi-Museum ein-
geweiht, sozusagen das Gegenstück zum histori-
schen Aschram. Es liegt in einem Gewerbegebiet,
zwischen einem Kongresszentrum und einem Ho-
tel. Die Ausstellung reiht ohne Kontext Episoden
aus Gandhis Leben aneinander, mit lauter Musik
und animierten Kurzfilmen. Darüber, was am
Erklärung
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DOSSIER
30. Januar 1948 geschah, erfährt man nur, »ein
Mann« habe Gandhi getötet. Mehr nicht.
Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, Indien steht vor
der Unabhängigkeit. Mahatma Gandhi hat sein
Ziel erreicht. Und doch muss er in den letzten
Jahren seines Lebens fürchten, dass die Menschen
seine Botschaft nicht verstanden haben.
Der Hass zwischen Hindus und Muslimen ex-
plodiert. Es kommt zu Massakern, organisiert von
Politikern und Scharfmachern beider Seiten, die
um ihren Einfluss in einem künftigen National-
staat kämpfen. Gandhi, weit über 70 Jahre alt,
bricht noch einmal auf, läuft zu Fuß durch die
betroffenen Regionen, hält Reden, versucht zu
beschwichtigen. Immer öfter stehen ihm nun radi-
kale Hindus skeptisch bis feindlich gegenüber.
CHINA
PA K I S TA N
Delhi N E PA L BH U TA N
I N DI E N B A N G L A
Gujarat DE S C H
Ahmedabad
Jalgaon
Mumbai
Pune
Arabisches Golf von
Meer Bengalen
Andamanen
ZEIT-GRAFIK
300 m SR I L A NK A
Die britischen Kolonialherren beschließen, den
Subkontinent zu teilen und gleich zwei Staaten in
die Unabhängigkeit zu entlassen: Indien und Pa-
kistan. Im August 1947 ist es so weit. Gandhi hält
sich von den Feiern fern. Für ihn ist der Sieg auch
eine Niederlage: Er wollte immer, dass sich Hin-
dus und Muslime in einem gemeinsamen Land
heimisch fühlen. Nun kommt es anders. Hindus
ziehen aus Pakistan nach Indien und Muslime aus
Indien nach Pakistan. Chaos, Flüchtlingstrecks,
neue Massaker. Aus Landsleuten sind endgültig
Feinde geworden, aus Nachbarn Fremde.
Im Herbst 1947 ist die Lage in Delhi besonders
schlimm. Die Stadt ist voller hinduistischer Flücht-
linge aus Pakistan. Sie rächen sich nun an den Mus-
limen, die in ihrer Heimatstadt geblieben sind, weil
sie an Gandhis Idee einer säkularen Demokratie
Praktische
Übungen im Heft
und online
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glauben wollten. Mahatma Gandhi, zu Hilfe gerufen
von der Regierung, hält Gebetsversammlungen ab,
tröstet Betroffene und fastet öffentlich, eine Art
Hungerstreik gegen das Töten.
Die RSS erhält in dieser Zeit starken Zulauf.
Nathuram Godse schreibt eine hindunationalisti-
sche Zeitung voll, agitiert gegen Gandhi – und
schmiedet im Januar 1948 mit einer Handvoll Mit-
streitern einen Plan. Sie besuchen zunächst ihren
Mentor Savarkar. Eine Untersuchungskommission
wird später zu dem Schluss kommen, Savarkar habe
ihnen das Signal gegeben, den Plan in die Tat um-
zusetzen. Die Gruppe steigt in den Zug und fährt
nach Delhi. Dort warten an einem kalten Nach-
mittag Hunderte Menschen darauf, dass Mahatma
Gandhi eine Andacht zelebriert. Nathuram Godse
drängelt sich durch die Menge, bis er vor dem alten
Mann steht, von dem er glaubt, ohne ihn könne
Savarkars Vision eines Landes nur für Hindus end-
lich wahr werden. Godse begrüßt ihn. Dann
feuert er drei Kugeln in Gandhis Oberkörper.
Als Nathuram Godse knapp zwei Jahre
später an den Galgen tritt, rezitiert er die
ersten Verse des RSS Prayer, einer Art Hymne
der Hindunationalisten.
Für immer verneige ich mich vor dir,
oh geliebtes Mutterland! Oh Mutterland
der Hindus, du hast mich in Freude
großgezogen. Möge mein Leben, oh großes
und gesegnetes Heiliges Land, in deinem
Dienst gelebt sein. Ich verneige mich vor
dir, wieder und wieder.
Diese Hymne wird auch heute noch bei den
täglichen Aufmärschen der RSS gesungen.
Tushar Gandhi, der Urenkel, sagt: »Wir
Gandhianer konnten uns lange nicht vor-
stellen, jemals an den Rand gedrängt zu wer-
den. Und als wir aufgewacht sind, war es zu spät.«
Ohne gewaltlosen Widerstand will er das Erbe
Mahatma Gandhis allerdings nicht hergeben.
Also schreibt er Beiträge in sozialen Netzwerken,
wo es oft heißt, Gandhi habe die Teilung Indiens
durch die Briten unterstützt und Hindus gehasst.
Er veröffentlicht Kommentare in Zeitungen,
sitzt in Fernsehstudios und auf Bühnen und geht
demonstrieren, so wie am Feiertag zu Gandhis
Geburtstag in der Stadt Jalgaon.
Am Abend dieses Tages ist Tushar Gandhi zu
Gast bei einer Art Sommerschule für Studierende,
dem National Gandhian Leadership Camp, organi-
siert von einer Unternehmerfamilie, die Mahatma
Gandhi verehrt. Ein Hörsaal, die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer haben gerade einen kanadischen
Dokumentarfilm über Gandhis Ermordung ange-
Die schöne Art,
Spanisch zu lernen!
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17
schaut. Nun geht das Licht wieder an, schnellen
Hände in die Höhe. Tushar Gandhi nimmt den
Ersten dran.
Wieso, fragt ein junger Mann, sei Gandhi denn
verbrannt worden wie ein Hindu und nicht bestattet?
Tushar Gandhi zögert, er scheint unsicher zu
sein, ob er die Frage richtig verstanden hat. Dann
fragt er zurück: »Wieso hätte er denn bestattet
werden sollen?«
»Na ja«, antwortet der junge Mann, »Gandhi
war doch Muslim.«
Ajinkya Godse, der Großneffe, sagt: »Es gab so viele
Gräueltaten gegen Hindus, als Gandhi lebte. Es war
nicht nötig, das Land zu teilen. Warum konnte Gan-
dhi das alles nicht stoppen? Was hat der gewaltlose
Widerstand erreicht? Absolut nichts!«
Er steht im Gedenkzimmer zu Ehren des Mör-
ders und freut sich darüber, dass die Regierung
das Land so umgestaltet, wie sein Großonkel es
sich gewünscht hätte. »Er tut viel für Hindus«,
sagt Ajinkya Godse über den Premierminister.
Zum Beispiel sei es früher unvorstellbar gewesen,
Savarkar öffentlich zu ehren. Heute sind Straßen,
Schulen und Brücken nach dem geistigen Vater
des modernen Hindunationalismus benannt. Ein-
mal besuchte Modi sogar die Gefängniszelle auf
den Andamanen, in der Savarkar einsaß. Fotos
zeigen den Premierminister auf dem Boden
kniend, mit gefalteten Händen und geneigtem
Haupt vor einem Bild jenes Mannes, der Gandhis
Mörder so sehr beeinflusst hatte.
Tushar Gandhi und Ajinkya Godse. Die beiden
Männer, Nachfahren zweier Berühmtheiten, haben
sich nie getroffen und hätten sich wohl auch nicht
viel zu sagen. Spricht man Tushar Gandhi auf die
Godses an, antwortet er: »Die sind mir egal. Das
Einzige, was die haben, ist die Aufmerksamkeit,
die sie bekommen.« Und Ajinkya Godse verliert
sich in dem Gespräch in Pune immer wieder in
Reminiszenzen an das Damals, an die Tat seines
Großonkels und die Stellung, die ihm dafür in der
Geschichte der Nation gebühre.
Die Asche, die vor ihm in der Urne liegt, möchte
Ajinkya Godse an einem Ort verstreuen, der in den
alten religiösen Texten des Hinduismus eine wich-
tige Rolle spielt und der dem Subkontinent seinen
Namen gegeben hat: im Fluss Indus. Es gibt da nur
ein Problem – der Indus fließt heute fast ausschließ-
lich durch Pakistan. Aber Pakistan, da zeigt sich
Ajinkya Godse überzeugt, werde irgendwann wieder
zu Indien gehören. »Es wird zwei bis drei Generatio-
nen dauern. Aber es wird passieren.«
Jetzt blickt er erst einmal dem nächsten 30. Ja-
nuar entgegen. An dem Tag, an dem sein Groß-
onkel Gandhi erschoss, sagt er, kommen immer
besonders viele Besucher ins Gedenkzimmer.
18
Zur Ausgabe Nr. 44
Er trotzt
allen Wettern
Mark Schieritz über
Christian Lindner ZEIT NR. 44
Christian Lindners Strategie, den Populismus
mit mehr Neoliberalismus zu bekämpfen, ist
durchaus riskant. Es ist nicht sicher, ob diese
Strategie in Deutschland funktionieren wird.
Schließlich ist Deutschland ein Land mit einer
starken sozialen Tradition. Und die Forderung
des FDP-Finanzministers nach einer kompletten
Abschaffung des Solidaritätszuschlags ist eine
Provokation für die Koalitionspartner von SPD
und Grünen. Die sind nämlich der Meinung,
dass der Solidaritätszuschlag ein wichtiges In-
strument zur Finanzierung der sozialen Siche-
rungssysteme ist. STEFAN PACHMAYR , DACHAU
Um den Abwärtstendenzen in unserem Land
entgegenzuwirken, braucht es nicht mehr Selbst-
verliebtheit und auch nicht mehr liberal-techno-
kratische Ideologie. Vielmehr fehlen starke und
uneigennützige Persönlichkeiten mit weiterem
Blickfeld als Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Solche gab es auch in der FDP; Gerhardt Baum
ist einer der wenigen Übriggebliebenen. Ansons-
ten ist die FDP heute im Wesentlichen ein Club
der Bewahrer feudaler Privilegien.
HANS-JÖRG GLASS , PER E-MAIL
Mark Schieritz startet sein Christian-Lindner-
Porträt im Stil der Drei-Wetter-Taft-Werbung.
»34 Grad, die Frisur sitzt«. Das ist nicht nur
daneben, sondern wird bei jüngeren Leserinnen
und Lesern wohl eher Fragezeichen als Erheite-
rung auslösen. Danach geht’s zügig weiter im
Ironie-Stil und mit tendenziösen Alliterationen:
»mehr für Hubraum als für Hayek«, »Arith-
metik statt Anziehung« – und fertig ist der Be-
richt. Echt jetzt? Das ist Joke statt Journalismus.
THOMAS MEICHLE, STUT TGART
Sie sind der Hammer
Julia Lorenz über die
»Rolling Stones« ZEIT NR. 44
Die Musik machenden Rock-Greise namens
Rolling Stones ziehen weiter ihre Kreise, dass
mir schier Hören und Sehen vergeht.
Mick Jagger ist bereits 80, Keith Richards
wird’s am 18. Dezember, und der Youngster
Ronnie Wood hat auch schon 76 Lenze auf
dem Buckel! Aber das Trio zeigt uns noch mal
eindrucksvoll, wo der Rock-’n’-Roll-Hammer
hängt! KL AUS P. JAWOREK , BÜCHENBACH
Während die Beatles spätestens seit Help mit
jedem neuen Album die Popmusik erneuert
haben, blieben sich die Rolling Stones stets
treu, und so bieten sie ihren Fans auch auf
ihrem neuen Album Hackney Diamonds das,
was sie seit 1963 am besten konnten: eine ge-
lungene Mischung aus Rock ’n’ Roll, Soul,
Punk, Gospel, Country und Blues. Ganz
ohne Computertechnologie, aber mit mitrei-
ßenden Riffs und erstaunlich frisch gebliebe-
nen Stimmen. NORBERT BERGER , COBURG
BEILAGENHINWEIS
Die heutige Ausgabe enthält folgende Publikationen
in einer Teilauflage: Gemeinschaftswerk der
Evangelischen Publizistik gGmbH, 60439 Frank-
furt; Picotours, 79098 Freiburg im Breisgau
sowie in der Auflage Christ & Welt: jetztWir,
60314 Frankfurt; Walbusch Walter Busch
GmbH & Co. KG, 42646 Solingen
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LESERBRIEFE
Die Blutmühle der Gewalt
Zu unserer Berichterstattung über den Krieg im Nahen Osten
Ich lebe als ältere Jüdin in München und traue
mich kaum noch in die Stadt oder in öffentliche
Verkehrsmittel, aufgrund der aufgeheizten Stim-
mung überall. Die Nachrichten sind beunruhi-
gend, wir jüdischen Bürger sind fassungslos.
Heute war es allerdings unumgänglich, einige
Wege zu erledigen. Als ich an einem Kiosk vor-
beikam, sah ich die dort aufgereihten Tages-
zeitungen und vor allem das Titelblatt der ZEIT.
Keine andere wichtige Zeitung hat so aufgemacht.
Ich kaufte mir die Ausgabe und las den Leitartikel
von Sascha Chaimowicz. Er hat in allem recht!
Ansonsten ist die Berichterstattung leider ziem-
lich bald gekippt. Diverse Aufnahmen dieses ex-
trem brutalen Massakers vom 7. Oktober 2023,
die leider nur im Netz die Runde machten, hätten
hierzulande und ausnahmsweise auf alle Titel-
blätter gehört.
Und dass jetzt besonders mitleidvoll an die be-
dürftigen Menschen in Gaza gedacht wird, weil
sie Lebensmittel und Wasser benötigen, statt in-
tensiver an das Schicksal der Geiseln zu erinnern,
die wie Tiere gehalten werden – tief unter der
Erde –, ist bezeichnend.
Unser Bundeskanzler hat sicher sein Möglichstes
getan, aber die normale deutsche Bevölkerung –
von der höre ich wenig. Unsere Politiker werden
seit Jahren nicht müde, uns jüdischen Bürgern
dieses und jenes zu versichern. Wir glauben da-
von kein Wort! Wehret den Anfängen war ges-
tern. YEHUDIT DE TOLEDO GRUBER , MÜNCHEN
Die Gleichgültigkeit großer Teile unserer Gesell-
schaft angesichts eines unvorstellbaren Massakers
an Juden durch die Hamas sind wirklich uner-
träglich. Was sind die Gründe? Liegt es an
Persönlichkeitsdefiziten, mangelnder Charakter-
oder anderer Bildung? Ein latenter Antisemitis-
mus, der vermutlich nie ganz verschwunden ist?
Hinzu kommt die Radikalität so vieler Muslime,
Intoleranz (auch gegenüber liberalen Muslimen)
und eine Unfähigkeit zum friedlichen Zusammen-
leben. Die Politiker in Deutschland müssen end-
lich die Zusammenarbeit mit den großen, aus-
landsgesteuerten Muslimverbänden reduzieren
und kleinere, liberale einbeziehen.
UTE SIEGMUND, PER E-MAIL
Ja, es gibt das dröhnende Schweigen der Muslim-
verbände, die trotz begründeter Warnungen noch
immer hofiert werden.
Wer zu den Befürwortern von Multikulti ge-
hört(e), sieht sich einem Scherbenhaufen gegen-
über, das Modell ist krachend gescheitert. Tole-
ranz hätte es nicht zum Nulltarif geben dürfen,
zumindest die Integrationswilligkeit hätte einge-
fordert werden müssen. Unverständlich vor dem
aktuellen Hintergrund ist die von der Ampel be-
triebene Turboeinbürgerung. Ob Linksgrün je zu
einer Neubewertung fähig ist?
CHRISTOPH SCHÖNBERGER , A ACHEN
Solange in diesem Konflikt immer nur die Un-
taten der Gegenseite und das Leid der eigenen
gesehen werden und beide Gegner als Reaktion
darauf nichts als Rache und Steigerung der Eska-
lationsstufen kennen, kann es keinen Frieden ge-
ben. Und Frieden über den Gräbern ist der einzig
mögliche Ausweg. WOLFR AM KIRMESS , STOLZENAU
Meines Erachtens geht es in dem Konflikt nicht
um eine religiöse Auseinandersetzung, sondern um
die Tatsache, dass jüdische Menschen seit über
100 Jahren eine Heimstatt in Palästina suchen.
Dieses Bestreben ist legitim und verdient Unter-
stützung.
Nicht legitim ist allerdings, dass man Palästinen-
ser vertreibt und dass der Staat Israel keinerlei
Anstalten macht, diesen Menschen eine Heim-
statt zu erhalten. Ich empfehle sehr zur Lektüre
Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise. In
der Hoffnung auf eine friedvolle Entwicklung im
Nahen Osten, DR . REINER DENNEBAUM , MAINZ
Wäre es nicht gerade jetzt an der Zeit, mit einer
Diskussion über eine nachhaltige politische Lö-
sung des Konflikts zu beginnen?
DR . VOLKER REIN , BONN
Als ich sah, wie schwer bewaffnete junge Männer
Jagd auf Menschen machten, die eben noch fröh-
lich miteinander feierten, dann gefesselte Frauen
johlend vor sich hertrieben, überkam mich eine
unbändige Wut. Hätte ich es gekonnt, ich hätte
die Angreifer niedergemäht.
Der israelische Verteidigungsminister sprach von
»human animals«. Verständlich – als erste Reak-
tion, unter Schock. Später versprach der Mann,
dessen Politik die Katastrophe begünstigt hatte,
den Gegner zu »vernichten«.
Da erinnerte ich mich an 9/11. Derselbe Schrei
nach Rache und Vergeltung.
Heute wissen wir: Der Teufelskreis von Gewalt
und Gegengewalt wurde keineswegs gestoppt.
Irak und Afghanistan dürfen als failed states gel-
ten, gescheiterte Staaten ohne inneren Frieden.
Das Land Israel ist durch den Überfall bis ins
Mark getroffen. Anlass genug, die Welt zu über-
raschen, indem man sich dazu durchringt, den
Vergeltungsgedanken in sich zu ersticken; über
vermittelnde Drittländer anzubieten, das Töten
einzustellen und damit alle noch lebenden Gei-
seln zu retten; die Blutmühle von Gewalt und
Gegengewalt nicht weiterzudrehen.
Naiv, vielleicht. Aber nicht weniger naiv, zu glau-
ben, man könne die Hamas ausrotten. Terroris-
ten werden nachwachsen, ehe man sich’s versieht.
WOLFGANG BUTZK AMM , A ACHEN
Das Leid auf allen Seiten in Israel und Palästina
verdient unser tiefstes Mitgefühl.
Dennoch ist es befremdlich, dass wir nur zu
schnell bereit sind, den israelischen Staat auf eine
Stufe mit einer islamistischen Diktatur zu stellen.
Wir sprechen von einer »Gewaltspirale«, wenn
wir eine militärische Antwort auf brutalsten Ter-
ror beschreiben, der gezielt die Wehrlosesten at-
tackierte. Die militärische Reaktion hingegen
geht mit Vorwarnungen an Zivilisten in den von
der Hamas als Militärstellungen missbrauchten
Gebieten einher. Dennoch parallelisieren wir im-
merzu die Aktionen der verschiedenen Akteure.
Gibt das türkische Militär in den Angriffen auf
kurdische Stellungen in Nordsyrien denn solche
Warnungen ab? Hätte das russische Militär jemals
solche Warnungen abgegeben? Wie wäre die Re-
aktion Chinas ausgefallen, hätte es einen solchen
Angriff von Uiguren gegeben?
Die Hamas hatte nie Probleme, Unmengen an
Waffen ins Land zu schaffen. Für Nahrungsmittel
und Medikamente für die eigene Zivilbevölke-
rung scheint sie sich nicht zu interessieren – oder
warum gibt es immer genug Raketen, aber nicht
genug Medikamente?
DR . KORNELIUS IMMANUEL K AMMLER-SÜCKER ,
HEIDELBERG
Frieden im Nahen Osten kann nur entstehen,
wenn der Hass überwunden wird. Ich glaube,
viele junge Israelis und Palästinenser wären dazu
bereit und würden gemeinsam an den Problemen
arbeiten wollen. Aber die erzkonservativen, anti-
demokratischen »alten« Mullahs im Iran, die im
Inneren die eigene Jugend und nach außen die
Kettenhunde der Hamas und der Hisbollah fana-
tisieren und zudem an der Atombombe basteln,
lassen das nicht zu!
Und auf unseren Straßen dürfen wir die von De-
magogen geschürten »Sympathiekundgebungen«
für extremistischen Terror und Antisemitismus
nicht zulassen.
PROF. DR . JÖRG FRIEDHELM VENZKE, SOT TRUM
ZEIT NR. 44
Wenn jemand seine Schuld abtragen will und
dazu einen anderen benutzt, indem er diesem
kritiklos alles erlaubt, alle seiner Taten rechtfer-
tigt, wie nennt man das?
Genau das tut der deutsche Staat. Was dem paläs-
tinensischen Volk seit 1948 an Unterdrückung
und Vertreibung angetan wurde und wird, das
darf alles keine Wahrheit sein? Dagegen zu pro-
testieren soll verboten sein? Wo leben wir? Sind
das keine Fragen, die in einem Lande der Freiheit,
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, der Men-
schenrechte eine objektive Beantwortung erfah-
ren dürfen?
Man kann sich nur schämen!
ROL AND WINKLER , AUE
Vorhin beim Späti in Berlin-Kreuzberg: Das Ti-
telblatt der ZEIT ist verdeckt. Der Verkäufer
fürchtet negative Reaktionen von Kunden und ist
wohl auch selbst gegen die Berichterstattung der
ZEIT. Denn beim Hinausgehen bemerkt er noch:
»Hitler wusste schon, warum er die [Juden] da-
mals ermordet hat ...« Ich bin erschüttert und
werde die ZEIT künftig woanders kaufen.
URSUL A MAHNKE, BERLIN
Ich kann diese Ungerechtigkeit nicht mehr ertra-
gen! Lassen Sie mich zunächst klar und deutlich
ausdrücken, dass ich die Hamas-Organisation zu-
tiefst verabscheue. Ihre Heuchelei ist Teil des
Problems, und die Tötung von Zivilisten ist in-
akzeptabel. Und ich habe tiefsten Respekt vor
dem Judentum und bin fasziniert von der Tora
und der hebräischen Sprache.
Doch das ändert leider nichts an der Wahrheit
und an dem fatalen Zustand in Gaza. Die Men-
schen dort haben keine Stimme. Wenigstens wir,
die hier in Freiheit und Wohlstand leben, müssen
ihnen den Raum schaffen, sich zu äußern.
Bitte schaffen Sie diesen Raum.
NADINE K AL AS , PER E-MAIL
Sascha Chaimowicz fragt, weshalb es nach dem
entsetzlichen Terroranschlag in Israel nur zu so
verhaltenen Reaktionen kommt.
Nun, in Israel regiert mit Benjamin Netanjahu
ein Regierungschef, der sich, um einem Prozess
zu entkommen, mit aller Macht an der Regierung
hält, selbst um den Preis einer Koalition mit Ul-
tranationalisten und Ultrareligiösen. Diese Koali-
tion forciert den Siedlungsbau, der mit der Ent-
eignung und der Vertreibung von Palästinensern
verbunden ist, und betreibt einen Umbau der
Justiz, der das Land immer weiter von einer De-
mokratie entfernt.
Kritik an der Regierung zu äußern ist schwierig.
Doch nur, wenn man auch Kritik üben kann,
ohne pauschal des Antisemitismus verdächtigt zu
werden, kann sich aus meiner Sicht das Verhältnis
zu Israel entspannen. CL AUDIA PLÖTNER , IDSTEIN
Lieber Herr Chaimowicz, auch ich habe ge-
schwiegen. Aber nicht aus Gleichgültigkeit, nicht
aus Ablehnung des Staates Israels oder gar aus
Sympathie für die Hamas.
Mir fällt es schlicht immer schwerer, diese Flut an
negativen Nachrichten zu ertragen, und nicht
daran zu zerbrechen. 2001 war das noch ganz
anders.
Israel ist ein tolles Land. Ich durfte es als Tourist
besuchen. Es gab keine Ressentiments, weil ich
aus dem Land der Täter kam. Die Arme waren im
Gegenteil weit geöffnet. Umso mehr bin ich be-
stürzt über dieses abscheuliche Massaker, diese
Grausamkeit. Und dann ist da noch die Bedro-
hung meiner Mitbürger jüdischen Glaubens hier
in Deutschland. Es ist unerträglich – so wie mein
Schweigen. Das Ausblenden negativer Nachrich-
ten ist aber auch keine Lösung. Ihr Artikel hat
mir das gezeigt. Vielen Dank dafür!
PETER SCHWARZ, PER E-MAIL
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2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
Weitere Leserbriefe finden Sie unter
blog.zeit.de/leserbriefe
Den Wal zum
Hering machen
Katrin Hörnlein: »Wenn Worte
wehtun« ZEIT NR. 44
Mit dem Blickwinkel eines aktivistischen Sen-
sitivity-Readers auf Kinderbücher zu schauen
passt zu unserer Cancel-Culture. Im Lektorat
mag das noch angehen, um dem Autor Feed-
back zu geben, aber der hat dann meines Er-
achtens die Entscheidungshoheit. Awareness
in allen Ehren – aber ich bin hier vollkom-
men auf der Linie des Schriftstellers Andreas
Steinhöfel, der sagt »Erst verbannen wir das
Wort, dann verbrennen wir das Buch, zuletzt
ermorden wir den Autor!«
HARRY OBELE, UHLDINGEN-MÜHLHOFEN
Was kommt als Nächstes? Ein politisch korrek-
ter Asterix-Band? Mit pazifistischen Römern,
Galliern und Piraten? Gähn! Ächz! Stöhn!
Die Verlage könnten ja auch verschiedene
Versionen anbieten: eine mit der geschönten
Heileweltfassung, eine mit der ungeschmink-
ten Wahrheit. Schlimmer finde ich, dass es
noch Eltern gibt, die ihre Kinder mit Spiel-
zeugpistolen oder -gewehren spielen lassen,
und dass der faschistische Mob im Nahen
Osten den Nachwuchs mit Antisemitismus,
auch in Schulbüchern, indoktriniert. Wo sind
da die Sensitivity-Reader?
Ein reines First-World-Problem!
THOMAS MANTHEY, PER E-MAIL
Was sollen wir etwa tun, wenn ein Kind sich
bei der Lektüre von Moby Dick erschreckt?
Sollen wir Melville aus dem Kanon der Welt-
literatur entfernen oder den Wal durch einen
Hering ersetzen? Und wenn wir schon dabei
sind, was ist denn, wenn ein Kind sich ent-
setzt über Jonas im Bauch des Wals? Kommt
dann die Bibel auf den Index?
Diese sanfte Zensur kann auch niemals ein
Ende nehmen, denn was heute noch akzepta-
bel erscheint, kann morgen schon gegen eine
Befindlichkeit verstoßen.
Eine liberale Gesellschaft lebt davon, dass der
Dissens nicht verborgen wird. Sprache steht
an der Spitze jedes Konflikts. Mit diesem
Werkzeug werden Konflikte ausgetragen und
wird Widerstand gegen andere Positionen
angemeldet und debattiert. Wenn Begriffe
aus einer Sprache entfernt werden, heißt dies,
dass die Konzepte dahinter ausgemerzt wer-
den? Es handelt sich in Wirklichkeit um
Denkverbote durch Entfernung des Denk-
baren aus dem Geist des Menschen.
REINHARD KÜCK , PER E-MAIL
Nicht nur Worte können wehtun, erst recht
die Realität.
Sie wollen Kinder von möglichst vielen Ver-
letzungen fernhalten, aber irgendwann wird
sich der beschützte Nachwuchs dem Leben
stellen müssen. Der Alltag ist voller Beleidi-
gungen und Zurücksetzungen. Besser, man
bereitet sich beizeiten vor!
DR . SIGRID NOMM , UNTERSIEMAU
IHRE POST
erreicht uns am schnellsten unter der
E-Mail-Adresse leserbriefe@zeit.de. Mit der
Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
Ihren Brief in der ZEIT, deren digitalen Aus-
gaben und im Leser-Blog auf www.zeit.de
unter Nennung Ihres Namens und des
Wohnortes zu veröffentlichen. Für den
Inhalt sind Sie als Einsender verantwortlich;
die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung
und redaktionelle Bearbeitung vor. Zudem
können Sie die Texte der ZEIT auf Twitter
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07.09.23 16:53
DIE ZEIT N o 46 2. November 2023
9. 11. 1923:
NSDAP-
Anhänger
marschieren in
die Innenstadt
Münchens, um
Hitlers
Putschversuch
zu retten
Umschwung binnen Sekunden
Wie im Rausch greift Adolf Hitler am 8. November 1923 nach der Macht – und scheitert. Aber gestoppt ist er nicht
U
m die Mittagszeit des 8. No-
vember 1923 stürmt Adolf
Hitler, der Vorsitzende der
Nationalsozialistischen Deut-
schen Arbeiterpartei (NSDAP),
bleich vor Erregung, die Reit-
peitsche in der Hand, in die
Redaktion des Parteiblatts Völkischer Beobachter.
Ohne Umschweife erklärt er dem überraschten
Chefredakteur Alfred Rosenberg und dem ebenfalls
anwesenden Verlegersohn Ernst Hanfstaengl, einem
seiner frühen Bewunderer, dass er sich zum Putsch
entschlossen habe. »Die Stunde zum Handeln ist
gekommen. Sie, Parteigenosse Rosenberg, und Sie,
Herr Hanfstaengl, (...) gehören zu meiner unmit-
telbaren Begleitung«, ruft er aus. Die beiden sollen
sich am Abend vor dem Bürgerbräukeller einfin-
den. Nach und nach wird der engere Kreis der Ver-
schwörer instruiert.
Seit Jahresbeginn hatte sich die Lage in Deutsch-
land dramatisch verschärft. Im Januar waren fran-
zösische und belgische Truppen ins Ruhrgebiet ein-
marschiert. Die Regierung rief zum passiven Wider-
stand auf. Der Verfall der deutschen Währung be-
schleunigte sich in wahnwitzigem Tempo. Ende Juli
notierte der Dollarkurs bereits mit einer Million
Reichsmark, Anfang Oktober übersprang er erstmals
die Milliardengrenze. Viele Deutsche sahen sich
durch die Hyperinflation mit einem Schlag ihrer
Ersparnisse beraubt. Not und Verzweiflung griffen
um sich. »Die Zeit ist allzu sehr aus den Fugen«,
klagte der in Dresden lehrende Romanist jüdischer
Herkunft, Victor Klemperer.
Im Herbst 1923 machten Separatisten im
Rheinland und in der Pfalz mobil. Kommunisten
in Sachsen und Thüringen bereiteten auf Geheiß
Moskaus einen Aufstand vor, einen »deutschen
Oktober«. Auch die radikale Rechte schmiedete
Umsturzpläne. Immer lauter wurde in diesen Krei-
sen der Ruf nach einem »starken Mann«, der für
Ordnung sorgen sollte.
Am weitesten gediehen waren die Pläne zur Er-
richtung einer »nationalen Diktatur« in Bayern. Hier
war es vor allem die NSDAP, der die katastrophale
wirtschaftliche Lage in die Hände spielte. Seit Januar
1923 verzeichnete sie einen starken Zulauf; die Zahl
ihrer Mitglieder erhöhte sich bis November um ein
Vielfaches, bis auf über 55.000.
Hauptattraktion war der Parteivorsitzende Hitler,
der im Juli 1921 seinen absoluten Führungsanspruch
mit brachialen Mitteln gegen alle internen Konkur-
renten durchgesetzt hatte. Mit seinen aufpeitschen-
den Reden füllte er Woche für Woche die größten
Versammlungssäle Münchens. Je rauschhafter die
Begeisterung war, die er zu entfesseln vermochte,
desto selbstsicherer wurde er, desto mehr war er da-
von überzeugt, für eine besondere historische Mis-
sion auserwählt zu sein. Hatte er sich in den ersten
Jahren seiner Karriere noch als »Trommler« gesehen,
der einem künftigen Diktator das Feld bereiten woll-
te, so gefiel er sich zunehmend selbst in der Rolle des
»Führers« und »Retters«, dazu bestimmt, Deutsch-
land aus »Schmach und Not« zu befreien.
Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch der
Nationalsozialisten machten seit dem Sommer die
Runde. Anfang September kam es auf einem »Deut-
schen Tag« in Nürnberg zum Schulterschluss zwi-
schen Hitler und Ex-General Erich Ludendorff. Mit
GESCHICHTE
ihm konnte der »Führer« der NSDAP hoffen, die
Reichswehr für seine Umsturzpläne zu gewinnen.
Mit- und Gegenspieler Hitlers in Bayern war das
sogenannte »Triumvirat«: Generalstaatskommissar
Gustav Ritter von Kahr, Generalleutnant Otto von
Lossow, Kommandeur der Reichswehr in Bayern,
und Oberst Hans von Seißer, der Chef der bayeri-
schen Landespolizei. Auch diese drei Männer strebten
eine »nationale Diktatur« an, die Initiative dazu soll-
te aber von der Reichswehrführung in Berlin aus-
gehen. Sie wussten, dass der Chef der Heeresleitung,
General Hans von Seeckt, nach dem erwarteten
Scheitern der großen Koalition unter Reichskanzler
Gustav Stresemann eine autoritäre Lösung in Form
eines »Drei-Männer-Direktoriums« plante, und
diesen Bestrebungen wollten sie sich anschließen.
Hitler aber wollte die Diktatur in München aus-
rufen und von hier aus nach dem Vorbild von Benito
Mussolinis »Marsch auf Rom« vom Oktober 1922
den Marsch auf Berlin antreten. In einer Rede im
Zirkus Krone am 30. Oktober 1923 machte er aus
seinen Absichten keinen Hehl: »Bayern hat heute
eine große Mission. (...) Wir müssen den Kampf
hinaustragen, den Stoß ins Herz hineinführen (...).
Für mich ist die deutsche Frage erst dann gelöst,
wenn die schwarz-weiß-rote Hakenkreuzfahne vom
Berliner Schloss weht.«
Während das Triumvirat auf Zeit spielte, konnte
Hitler nach seinen großsprecherischen Ankündi-
gungen nicht länger warten. Am 6. November
entschloss er sich zum Losschlagen. Ursprünglich
sollte der Coup am 11. November, dem fünften
Jahrestag des Waffenstillstands, stattfinden. Doch
dann wurde der Termin auf den 8. November vor-
verlegt, nachdem bekannt geworden war, dass
Kahr am Abend dieses Tages im Bürgerbräukeller
eine Rede halten wollte, zu der sich das gesamte
politische München einfinden würde. Die Beset-
zung des Lokals bot die einmalige Gelegenheit, die
gesamte Prominenz der Landeshauptstadt als Gei-
seln zu nehmen und gleichzeitig die Initialzün-
dung zum Putsch zu geben. Kahr, Lossow und
Seißer sollten vor vollendete Tatsachen gestellt
und zum Mitmachen gezwungen werden.
D
er Bürgerbräukeller ist bereits lange
vor Beginn der Veranstaltung um
20 Uhr bis auf den letzten Platz
gefüllt. Kurz nachdem Kahr seine
Rede begonnen hat, fährt Hitler
mit seinem Benz-Wagen vor. Bewaffnete Angehö-
rige der Sturmabteilung (SA) und des »Stoßtrupps
Hitler«, eines Vorläufers der späteren Schutzstaffel
(SS), riegeln den Bürgerbräukeller ab. Hitler, der
an diesem Abend einen dunklen Anzug trägt, wan-
dert in der Vorhalle ruhelos auf und ab.
Schließlich, gegen 20.45 Uhr, zieht er seine
Pistole und stürmt mit drei ebenfalls bewaffneten
Begleitern in den Saal. Wenige Schritte von Kahr
entfernt steigt er auf einen Stuhl und feuert, da
der Lärm im Saal sich nicht legen will, einen
Schuss gegen die Decke ab. Dann klettert er aufs
Podium und ruft in höchster Erregung: »Die na-
tionale Revolution ist ausgebrochen. Der Saal ist
von 600 Schwerbewaffneten besetzt. Niemand
darf den Saal verlassen. Wenn nicht sofort Ruhe
ist, werde ich ein Maschinengewehr auf die Gale-
rie stellen lassen. Die bayerische Regierung ist ab-
113482_ANZ_71x100_X4_ONP26 1
gesetzt. Die Reichsregierung ist abgesetzt. Eine
provisorische Regierung ist gebildet.«
Danach fordert Hitler Kahr, Lossow und Seißer
auf, mit ihm in ein Nebenzimmer zu gehen. In
knappen Worten erläutert er, wie er sich die Regie-
rung in Bayern und im Reich denkt: Kahr solle
»Landesverweser« und der ehemalige Münchner
Polizeipräsident Erich Pöhner Ministerpräsident in
Bayern werden. Er selbst werde die Reichsregierung
führen und Ludendorff das Kommando über die
Reichswehr übernehmen. Er wisse, so wirbt er, wie
schwer den Herren der Schritt falle, aber er wolle
ihnen erleichtern, »den Absprung zu finden«.
Obwohl Hitler alle Register seiner Überredungs-
kunst zieht, stößt er auf unerwarteten Widerstand.
Kahr erklärt völlig unbeeindruckt: »Sie können mich
festnehmen, können mich totschießen, Sterben oder
Nichtsterben ist bedeutungslos.« So zumindest
schildert es Kahr einige Monate später vor Gericht.
Zehn Minuten verstreichen, ohne dass Hitler irgend-
etwas erreicht hätte. Unterdessen herrscht im Saal
ein großer Tumult. Viele der gutbetuchten Münch-
ner Bürger sind schockiert über das gewalttätige
Auftreten der Nationalsozialisten und bringen ihre
Empörung lautstark zum Ausdruck.
Doch dann kehrt Hitler in den Saal zurück, und
was sich nun ereignet, das grenzt für manchen Be-
obachter an ein Wunder. Derselbe Mann, der bei
seinem Eindringen den Eindruck eines halb wahn-
sinnigen Hysterikers gemacht hat, ist plötzlich ganz
Herr der Situation. In einer kurzen Ansprache,
einem Meisterstück massenpsychologischer Bered-
samkeit, dreht er die Stimmung. Er könne sich nicht
erinnern, schrieb später der Münchner Historiker
Karl Alexander von Müller, je in seinem Leben
»einen solchen Umschwung der Massenstimmung
in wenigen Minuten, fast Sekunden erlebt zu ha-
ben«: »Es hatte etwas von einem Hokuspokus, von
einer Zauberei.«
Nachdem sich Hitler sicher ist, das Publikum
gewonnen zu haben, stellt er die suggestive Frage:
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www.zeit.de/zg-heft
Der Podcast zum Magazin:
www.zeit.de/zg-podcast
20.10.23 11:50
»Draußen sind die Herren Kahr, Lossow und Seißer;
sie ringen schwer mit dem Entschluss. Kann ich
ihnen sagen, dass Sie hinter ihnen stehen werden?«
Stürmische Zustimmung. Mit triumphaler Geste
beendet Hitler seinen Auftritt: »Der Morgen findet
entweder in Deutschland eine deutsche nationale
Regierung oder uns tot.«
Kurz danach betritt Ludendorff die Szene und
eilt ins Nebenzimmer. Mit seinem Erscheinen ver-
ändert sich die Atmosphäre schlagartig. Als Erster
gibt Lossow, vom General als alter Kriegskamerad
angesprochen, seine Zustimmung, danach fällt auch
Seißer um. Nur Kahr sträubt sich noch, schließlich
gibt aber auch er nach: »Ich bin bereit, die Geschicke
Bayerns als Statthalter der Monarchie zu überneh-
men.« Hitler gelobt in gespielter Unterwürfigkeit:
»Exzellenz, ich versichere Ihnen, dass ich ab jetzt treu
wie ein Hund hinter Ihnen stehen werde.«
Nachdem man sich scheinbar einig geworden ist,
betreten alle zusammen, vom Publikum frenetisch
gefeiert, das Podium, um den Pakt öffentlich zu
besiegeln. Hitler schüttelt jedem Einzelnen die
Hand – mit einem »Ausdruck leuchtender (...), fast
kindlicher, völlig offener Freude«, wie Karl Alexan-
der von Müller beobachtet. Kaum einem der Anwe-
senden kommt der Gedanke, dass das Triumvirat
seine Zustimmung gar nicht ernst gemeint haben,
die Verbrüderungsszene also nur ein berechnendes
Schauspiel gewesen sein könnte. Im Gegenteil,
viele teilen das Gefühl, einer historischen Stunde
beigewohnt zu haben.
Noch bevor die Versammlung auseinander-
geht, nimmt ein SA-Kommando unter Leitung
von Rudolf Heß nach einer vorbereiteten Liste
die anwesenden bayerischen Staatsminister fest.
Sie werden in die Villa des Verlegers Julius F. Leh-
mann gebracht. Die erste Hürde ist erfolgreich
genommen.
Auf die Nachricht, dass es in der Pionierkaserne
zu Schwierigkeiten gekommen ist, verlässt Hitler
den Bürgerbräukeller und übergibt Kahr, Seißer und
Lossow der Obhut Ludendorffs. Ein schwerer Feh-
ler für seine Sache, denn als er zurückkommt, muss
er feststellen, dass der General das Triumvirat hat
ziehen lassen – auf das bloße Versprechen hin, sich
weiter an ihre Zusage halten zu wollen. Kaum haben
die drei Männer das Lokal verlassen, holen sie zum
Gegenschlag aus. Reichswehr und bayerische
Landespolizei stellen sich gegen die Putschisten, und
damit ist das Unternehmen faktisch gescheitert. In
der Nacht zum 9. November, um 2.50 Uhr, wird
ein Telegramm an alle deutschen Funkstationen
durchgegeben: »Generalkommissar von Kahr,
Oberst von Seißer und General von Lossow lehnen
Hitlerputsch ab. Mit Waffengewalt erpresste Stel-
lungnahme im Bürgerbräukeller ungültig.«
Über diese Wendung der Dinge bleiben die Ver-
schwörer lange Zeit im Unklaren. Erst am frühen
Morgen wird ihnen klar, dass mit dem Triumvirat
nicht mehr zu rechnen ist. Nach stundenlangen
Beratungen beschließt man, einen Demonstrations-
zug ins Stadtzentrum zu unternehmen, um vielleicht
doch noch das Blatt zu wenden. Gegen Mittag
formiert sich der Zug, mit Hitler und Ludendorff
an der Spitze, dahinter rund 2000 Mann, feld-
marschmäßig ausgerüstet. Tausende Passanten
säumen die Straßen und jubeln den Putschisten zu.
»Die Begeisterung war unerhört«, wird Hitler später
19
Hitler 1924
nach seiner
Entlassung aus
der Haft
vor dem
Landsberger
Stadttor
Fotos: Gemini Collection/Imago; bpk
VON VOLKER ULLRICH
im Prozess aussagen, »und ich musste mir auf
diesem Marsche sagen, das Volk ist hinter uns.«
Kurz bevor der Zug den Odeonsplatz an der Feld-
herrnhalle erreicht, stößt er auf eine Postenkette der
Landespolizei. Es entspinnt sich ein Handgemenge,
dann löst sich ein Schuss – wer ihn abgegeben hat,
ist nie geklärt worden. Es folgt ein 30 Sekunden
dauerndes Feuergefecht. Am Ende sind vierzehn
Putschisten und vier Polizisten tot. Einer der ersten
Toten ist der Baltendeutsche Max Erwin von
Scheubner-Richter. Er reißt Hitler, der sich bei ihm
eingehakt hat, mit zu Boden, wobei sich dieser den
linken Arm auskugelt. Während der Zug in wilder
Panik auseinanderläuft, marschiert Ludendorff
kerzengerade durch die Reihen der Polizisten und
lässt sich widerstandslos festnehmen.
H
itler flüchtet ins Ferienhaus von
Ernst Hanfstaengl in Uffing am
Staffelsee. Hier wird er zwei Tage
später verhaftet und noch am glei-
chen Tag in die Festung Landsberg
am Lech eingeliefert. »Eine dunkle Haarsträhne
fiel in das bleiche, von Aufregungen und schlaf-
losen Nächten verfallene Gesicht, aus dem ein paar
harte Augen in die Leere starrten«, erinnerte sich
ein Gefängnisbeamter.
In München herrscht in den ersten Stunden nach
Niederschlagung des Putsches Chaos. Große Teile
der Bevölkerung ergreifen Partei für die Putschisten.
»Die Erregung gegen den ›wortbrüchigen Kahr‹ ist
allgemein«, beobachtet Hedwig Pringsheim, Thomas
Manns Schwiegermutter, »die Reichswehr, die Ord-
nung zu halten versucht, wird mit Pfeifen, Zischen,
Pfui-Rufen begrüßt, man beschimpft sie als ›Juden-
söldlinge, eidbrüchige Helfer der Judenregierung
Kahr‹ (...). Die Judenhetze ist fürchterlich.«
Noch am 9. November verbietet Kahr die
NSDAP und das Erscheinen des Völkischen Beobach-
ters; die Geschäftsstelle der Partei wird besetzt, das
Parteieigentum beschlagnahmt. Nach vier Jahren
eines scheinbar unaufhaltsamen Aufstiegs als rechts-
populistischer Politiker droht Hitler der Absturz in
die politische Bedeutungslosigkeit. »Der Münchner
Putsch markiert das sichere Ende für Hitler und
seine Anhänger«, prophezeit die New York Times.
Wäre es nach Recht und Gesetz gegangen, hät-
te Hitler für viele Jahre hinter Gitter gemusst.
Doch er und seine Mitverschwörer stehen im
Frühjahr 1924 am Volksgericht München I vor
dem Vorsitzenden Richter Georg Neithardt, der
seine Sympathien für die Angeklagten nicht ver-
steckt. Er lässt es zu, dass Hitler sich zum Herrn
des Verfahrens aufspielen und das Tribunal als
Bühne für seine Propaganda nutzen kann.
Am 1. April 1924 wird das Urteil verkündet:
Ludendorff wird freigesprochen, Hitler zur Mindest-
strafe von fünf Jahren Festungshaft verurteilt, aller-
dings mit der Aussicht, schon nach sechs Monaten
auf Bewährung freizukommen. Unter luxuriösen
Haftbedingungen schreibt er das Buch Mein Kampf
und bereitet sein politisches Comeback vor.
Bereits am 20. Dezember 1924 ist Hitler wie-
der auf freiem Fuß und kann in eine zweite politi-
sche Karriere starten, die ihn nach knapp zehn
Jahren ins Kanzleramt tragen wird – mit den be-
kannten katastrophalen Folgen für Deutschland
und die ganze Welt.
20
Vom Ankläger zum
Angeklagten
Der Musiker Gil Ofarim warf einem Hotelmitarbeiter
in Leipzig Antisemitismus vor – und steht nun
wegen Verleumdung vor Gericht
VON ANNE HÄHNIG
V
on außen muss es ausgesehen haben wie
ein merkwürdiger, geheimnisvoller, un-
glaublich aufwendiger Polizeieinsatz –
damals, am Nikolaustag 2021, in der
Lobby des Leipziger Westin-Hotels.
Ging es womöglich um einen Mord?
Gegen Nachmittag versammelte sich
hier eine Gruppe, bestehend aus Staatsanwälten, Kripo-
Beamten und Forensikern. Stundenlang blieb sie in dem
Hotel. So berichtet es heute einer, der damals dabei war.
An der Rezeption wurden die Beamten vom Hoteldirektor
persönlich betreut, unterstützt von seiner Stellvertreterin.
Aber, nein, um einen Mord ging es nicht. Herausfinden
wollte die Staatsanwaltschaft Leipzig an jenem 6. Dezember
vor zwei Jahren, ob es wirklich sein kann, dass ein Musiker
an diesem Ort antisemitisch beleidigt wurde.
Gil Ofarim, damals 39 Jahre alt, eine Art Popstar der
späten Neunzigerjahre, Sohn des verstorbenen jüdischen
Musikers Abi Ofarim, hatte diesen Vorwurf erhoben.
Neun Wochen zuvor war er selbst Gast in dem Hotel ge-
wesen. Ein Mann an der Rezeption habe ihn schlecht
behandelt, habe ihn nicht einchecken lassen. Und zwar
wegen Ofarims silberner Kette mit Davidstern. »Packen
Sie Ihren Stern ein«, habe der Rezeptionist zu ihm gesagt.
Ofarim machte seinen Vorwurf in einem millionenfach
geklickten Instagram-Video publik.
Den Fall griffen damals nicht nur deutsche Medien auf,
sondern auch CNN, New York Times, Jerusalem Post. Das
öffentliche Urteil fiel schnell, und es fiel ziemlich einhellig
aus: Ofarim das Opfer; der Rezeptionist der Täter. Dabei
konnte, wer vor Ort recherchierte, recht bald bemerken, dass
der Ablauf der Ereignisse umstritten war.
Die ZEIT berichtete schließlich über gravierende Zweifel
an Ofarims Version der Geschichte (Nr. 44/21). Zum dama-
ligen Zeitpunkt, drei Wochen nach dem Vorfall, hatte sich
kein Zeuge gefunden, der die Schilderung des Musikers stütz-
te. So steht es in einem vom Hotel beauftragten Gutachten
VERBRECHEN
Diese Bilder hat Gil Ofarim auf seinem Instagram-Account gepostet. Es sind Screenshots aus dem Video, in dem er den angeblichen antisemitischen Vorfall anprangerte
neben den Eingang des Hotels, nimmt von sich selbst ein
Handyvideo auf. Er greift dabei an seine Kette und schildert,
was sich in der Lobby zugetragen habe: »Ich stehe hier mit
meiner Kette, steht mir zu, mach ich schon mein Leben lang,
und eine Person nach der anderen wird vorgezogen, und ich
versteh nicht, warum.« Als er nach 15 Minuten des Wartens
drangekommen sei, habe er »Herrn W.« gefragt, warum alle
vorgezogen worden seien. Herr W. habe geantwortet: »Um
die Schlange zu entzerren.« Irgendjemand aus der Ecke habe
dann gerufen: »Pack deinen Stern ein!« W. wiederum habe
das wiederholt: Packen Sie Ihren Stern ein. Gegen Ende des
Videos wirkt Ofarim sichtlich bewegt, er streicht sich über
die Augen, ist für einige Augenblicke fassungslos. Am darauf-
folgenden Tag wird er die Aufnahme veröffentlichen.
Seine Managerin wird später der Polizei sagen, mit ihr
habe er das nicht abgesprochen. Sie habe zu ihm gesagt, das
der Rechtsanwaltskanzlei Pauka und Link. Mitarbeiter des sei vielleicht nicht so klug gewesen. Und sie habe ihm ein-
Hotels sowie andere Gäste hatten vielmehr berichtet, dass getrichtert: Er dürfe nichts dazudichten.
von Ofarims Kette in der Lobby nie die Rede gewesen sei. Ofarims Video wird dann binnen Stunden zigfach in den
Außerdem waren inzwischen Aufnahmen aus den Überwa- sozialen Medien geteilt. Auch Politikerinnen und Politiker
chungskameras des Hotels öffentlich geworden. Sie deuteten positionieren sich schnell. »Leipzig ist kein Einzelfall«, sagt
darauf hin, dass der Musiker seine Kette in der Lobby wo- der damalige Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD).
möglich gar nicht sichtbar trug. Karin Prien, die CDU-Bildungsministerin Schleswig-
Aber Ofarim blieb bei seinen Aussagen. Er hatte den Holsteins, empört sich darüber, dass das Hotel den Mitarbei-
Hotelmitarbeiter längst angezeigt, der Mann hatte aber auch ter nicht unverzüglich entlassen hat. Der FDP-Politiker (und
Anzeige gegen Ofarim erstattet: wegen Verleumdung. heutige Bundesjustizminister) Marco Buschmann twittert:
Was also ist die Wahrheit? Die Staatsanwaltschaft Leipzig »Das ist eine Schande!« Und sogar Sachsens Justizministerin
hat in dieser Sache so umfassend ermittelt, wie es sonst, wie Katja Meier (Grüne) – zuständig für jene Staatsanwaltschaft,
gesagt, eher in Mordfällen üblich ist. Beweismittel wurden die ihre Ermittlungen noch nicht einmal richtig begonnen
gesichert, mehr als 30 Zeugen befragt. Und außerdem wurde hat – erklärt: »Das muss Konsequenzen haben – und eine
der Vorfall in der Hotellobby Szene für Szene nachgestellt, Entschuldigung reicht da nicht aus.«
mit dem Hoteldirektor als Statist. Ein Beamter trug dafür die Dass der Rezeptionist – ein leitender Angestellter des
gleiche Kleidung, die auch Ofarim getragen hatte: Leder- Hotels – noch am selben Tag Anzeige gegen den Musiker
jacke, T-Shirt, Kette mit Davidstern. Alles, um zu erfahren, erstattet, ist in der Berichterstattung der folgenden Tage eher
ob Letztere in der Lobby zu sehen gewesen sein könnte. eine Randnotiz.
Nun, am 7. November kommender Woche, soll die In den Wochen darauf befragt die Polizei zahlreiche
Hauptverhandlung beginnen. Verantworten muss sich nicht Zeugen. Mindestens fünf können von dem Gespräch zwi-
der Hotelmitarbeiter, Ofarim hatte ihn in der Öffentlichkeit schen Ofarim und dem Rezeptionisten konkret berichten.
stets »Herr W.« genannt. W. ist stattdessen der Nebenkläger. Unter diesen fünf sind der beschuldigte Mitarbeiter selbst
Und angeklagt ist Ofarim selbst, unter anderem wegen des sowie zwei seiner Kolleginnen, außerdem zwei Gäste. Sie
Vorwurfs der falschen Verdächtigung, der Verleumdung, des schildern, in den Grundzügen übereinstimmend, dass von
Betrugs und der falschen Versicherung an Eides statt. Ofarims Kette nicht die Rede gewesen sei. Stattdessen habe
Natürlich gilt für ihn die Unschuldsvermutung, so wie der sich beschwert, als er irgendwann am Check-in-Schalter
für jeden anderen Angeklagten auch. Kommt es zu einer angekommen war. Weil andere Gäste vorgezogen worden
Verurteilung, wird sein Fall womöglich einer sein, der in seien. Der Rezeptionist habe ihm ruhig geantwortet: Die
Jura-Lehrbüchern landen könnte: als Beispiel dafür, dass es betreffenden Herren seien Stammgäste, ihr Check-in sei stets
nicht immer die Ursprungstat sein muss, die einen vor Ge- bereits vorbereitet. Ofarim sei im Laufe des Gesprächs auf-
richt bringt. Sondern das eigene Verhalten danach. Elisa brausend geworden, habe auf das Hotel geschimpft, schil-
Hoven, Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig, dern Zeugen. Und er habe gedroht, etwas in den sozialen
sagt: »Sollten sich seine Aussagen als unwahr erweisen, hätte Medien zu posten, das viral gehen werde. Daraufhin habe
Gil Ofarim mit seinem Vorgehen nach den ersten Anschul- W. ihm den Check-in-Zettel wieder weggenommen. Unter
digungen seine eigene Lage – juristisch gesehen – massiv diesen Umständen dürfe er nicht einchecken.
verschlechtert.« Gil Ofarim hat stets zurückgewiesen, dass er selbst aus-
Die Geschichte um Gil Ofarim im Westin Leipzig nimmt fällig geworden sei oder mit einem Beitrag in den sozialen
ihren Anfang am Montag, dem 4. Oktober 2021. Der Mu- Medien gedroht habe.
siker ist an diesem Tag in einer Show des MDR zu Gast, Einer von 32 befragten Zeugen erinnert sich daran, eine
Playlist of My Life. Das Zimmer im Westin hatte die Produk- Davidstern-Kette an dem Musiker gesehen zu haben. Of-
tionsfirma Constantin für ihn gebucht. Es ist abends, un- fenbar geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass sich dieser
gefähr 19.45 Uhr, als Ofarim vor dem Eingang des Hotels Zeuge irren müsse. Denn das Videogutachten der Staats-
hin und her läuft. So sieht man es auf den Kameraaufnahmen anwaltschaft – für das auch die Szene in der Lobby nachge-
von jenem Abend. Kurz zuvor hat Ofarim seine Managerin stellt wurde – kommt zu einem anderen Schluss. Ofarim
angerufen. Hat ihr aufgelöst erzählt, dass man ihn nicht habe habe seine Kette nicht sichtbar getragen, weder als er vor dem
einchecken lassen, und zwar wegen des Davidsterns. Er Hotel ankam noch als er die Lobby betrat, noch an der Re-
brauche ein anderes Hotel und wolle jetzt bei Instagram live zeption oder beim Verlassen des Hauses. Erst später, kurz
gehen, habe er ihr gesagt, so wird es die Managerin später bevor der Musiker sein Video aufnahm, sei der Davidstern
gegenüber der Polizei erklären. Das mit Instagram sei keine auf den Kamerabildern zu sehen gewesen.
gute Idee, habe sie ihm geantwortet. Es gibt mit dem Fall betraute Juristen, die sagen: Gil
Tatsächlich scheitert Ofarims Vorhaben zunächst an Ofarim hätte wohl einen Weg finden können, die Anklage
einem technischen Problem. Instagram ist an dem Abend gegen ihn zu verhindern. Denn Verleumdung setzt einen
nicht benutzbar. Aber der Musiker hockt sich dann schräg Vorsatz voraus: Man sagt über einen anderen die Unwahrheit,
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
Foto: socialmediaservice/ddp
obwohl man es eigentlich besser weiß. Wer glaubhaft machen
kann, zum Beispiel etwas missverstanden zu haben, der
landet nicht vor Gericht.
Hat Ofarim möglicherweise etwas missverstanden? Seine
späteren Äußerungen legen zumindest nicht nahe, dass er
das in Betracht zieht. Er gibt zahlreiche Interviews, schon
am ersten Tag nach seinem Video: im Sat.1-Frühstücks-
fernsehen, bei Bild Live und auch bei RTL. Seine Managerin
vergibt bisweilen Gespräche in Zehn-Minuten-Slots.
Dann hat Ofarim einen Termin im Polizeipräsidium
München. Die Beamten wollen ihn befragen, aber weisen
ihn darauf hin, dass er das Recht habe, zu schweigen. Schließ-
lich werde auch gegen ihn ermittelt. So geht es aus dem
Gesprächsprotokoll hervor. Ofarim sagt jedoch aus und
wiederholt im Wesentlichen das, was er zuvor schon über
den Vorfall erzählt hatte.
Dass er womöglich die Gefahr unterschätzt, selbst ange-
klagt zu werden, zeigt sich in der Wahl seines Anwalts. Statt
eines Strafrechtsverteidigers bringt er einen Presserechtler mit
zur Befragung. Einige Wochen später geht er zudem gegen
die Leipziger Volkszeitung vor. Er will erwirken, dass sie be-
stimmte Details ihrer Berichterstattung nicht wiederholen
darf. Wie es in solchen Fällen üblich ist, gibt Ofarim dafür
eine eidesstattliche Versicherung ab. Später wirft ihm die
Staatsanwaltschaft vor, auch darin gelogen zu haben.
Elisa Hoven, die Juristin der Uni Leipzig, sagt: Ermitt-
lungsbehörden nehmen es sehr ernst, wenn sie den Verdacht
schöpfen, jemand sage gegenüber der Polizei oder anderen
staatlichen Organen die Unwahrheit. »Das wird im Strafrecht
auch noch mal anders gewichtet als Äußerungen auf Insta-
gram oder TikTok«, erklärt Hoven.
Um herauszufinden, ob Ofarim tatsächlich gelogen hat,
wird das Gericht rund 20 Zeugen befragen. Besonders re-
levant dürfte sein, ob die Zeugen in der Lobby bei ihren
Schilderungen bleiben. Oder ob sie – zwei Jahre danach –
Erinnerungslücken offenbaren. Ob sie wirklich ausschließen
können, dass je von einer Kette die Rede war.
Zudem bleibt die Frage nach Ofarims Motiv: Warum soll
er bewusst etwas Falsches verbreitet haben? Aus den Polizei-
unterlagen ergibt sich, was die Ermittler vermuten. Sie halten
es offenbar für denkbar, dass sich der Musiker nach seinem
Rausschmiss aus dem Hotel in einer verzwickten Lage
wähnte. Plötzlich musste er seiner Managerin und den
Kollegen aus der TV-Show erklären, warum er eine andere
Unterkunft brauchte. Ein anderer mit dem Fall betrauter
Jurist führt im Gespräch mit der ZEIT noch ein anderes
Motiv ins Feld. Ofarim habe sich an dem Hotelmitarbeiter
schlicht rächen wollen. Dazu passe auch der Satz, den er zu
W. am Ende des mutmaßlichen Disputs gesagt haben soll:
»Das werden Sie noch bereuen.«
Mittlerweile wird der Musiker von einem Strafrechts-
anwalt vertreten, Alexander Stevens. Der will sich derzeit nicht
zu den Vorwürfen äußern. Aber er sagt, dass er sich angesichts
der aktuellen politischen Situation um die Sicherheit seines
Mandanten sorge. Die Gefährdungslage jüdischer Menschen
verschärfe sich jeden Tag. Und tatsächlich ist Gil Ofarim
vielfach beleidigt und auch bedroht worden. Die Staatsan-
waltschaft München hat deswegen 130 Verfahren eingeleitet.
Ob seine Karriere nachhaltig Schaden genommen hat,
lässt sich schwer sagen. Im vorigen Jahr trat er in einer RTL-
Show auf. Und die Musiksendung, für die er seinerzeit nach
Leipzig gereist war, wurde in der ARD wie geplant ausge-
strahlt. Allerdings hat zum Beispiel der MDR den Musiker
seither nicht wieder gebucht.
Im vorigen Jahr unternahm Ofarim eine Konzerttour. Er
spielte in Stuttgart vor 300 Leuten. Und auch in Torgau bei
Leipzig. Das sah sich eine Reporterin der Leipziger Volks-
zeitung an, Antonie Rietzschel. Sie befragte einige Fans, was
Ofarim offenbar mitbekam. Er habe sie, erzählt Rietzschel,
dann von der Bühne aus angesprochen. Anfangs sei das noch
sympathisch gewesen, aber irgendwann sei es unangenehm
geworden. Ofarim habe auf sie gezeigt, das Publikum auf
sie aufmerksam gemacht, sie »Liebes« genannt. Dabei kenne
sie ihn gar nicht persönlich.
Von jenen Politikern, die sich nach Ofarims Interview
schnell zu Wort meldeten, haben sich die meisten seither
nicht wieder dazu geäußert. Aber Felix Klein schon, der
Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung. Der Vorfall
solle einen darin bekräftigen, schrieb Klein bereits vor einem
Jahr, »Ereignisse zunächst genau zu untersuchen, bevor eine
Bewertung abgegeben wird«.
Hören Sie den Podcast
Kriminalfälle und was dahintersteckt,
hören Sie im Podcast Verbrechen.
Jetzt unter www.zeit.de/verbrechen

WIRTSCHAFT
Sieht aus wie ein großer Keks, heißt auch so: »Wafer«, englisch für Waffel, nennt man in der Industrie Scheiben aus Silizium zur Herstellung von Mikrochips
Europa ist zu abhängig von Asien? Mag sein – aber ohne die niederländische Firma ASML kann niemand
moderne Halbleiter produzieren. Zu Besuch bei einem der wertvollsten Unternehmen des Kontinents VON KOLJA RUDZIO
D
ie Firma, die zu den wert-
vollsten Unternehmen Euro-
pas gehört – höher bewertet
als Mercedes-Benz oder Air-
bus –, hat ihren Sitz in einem
Ort, den die meisten Men-
schen googeln müssen: Veld-
hoven. Das ist eine Gemeinde mit 46.415 Ein-
wohnern im Süden der Niederlande, kurz vor der
belgischen Grenze. Dort, in einem schmucklosen
Industriegebiet, baut diese Firma Maschinen, die
350 Millionen Euro pro Stück kosten (»Und wir
haben sie nur in Weiß«, wie die Kommunikations-
chefin der Firma gerne hinzufügt). Maschinen, die
kein anderes Unternehmen auf dem Planeten her-
stellen kann und ohne die sich moderne Handys,
Laptops oder die Computer für Rechenzentren
nicht produzieren lassen. Denn nur die Maschinen
dieser Firma sind in der Lage, besonders leistungs-
fähige Mikrochips zu produzieren. Ohne die Firma
ASML geht nichts.
ASML? Den meisten Menschen ist das Unterneh-
men unbekannt. Dabei ist es einer der wichtigsten
Ausrüster der Chipindustrie. Es beschäftigt weltweit
42.000 Mitarbeiter an mehr als 60 Standorten, macht
einen Jahresumsatz von mehr als 20 Milliarden Euro
und wird an der Börse mit über 224 Milliarden Euro
bewertet. Und weil es ein Monopol für bestimmte
Maschinen besitzt, ist es auch zu einem Instrument
des chip war geworden, eines Krieges um Halbleiter,
Computerchips. Im Mittelpunkt dieser Auseinander-
setzung um Macht und Wohlstand steht der Versuch
der USA, China von Technologie abzuschneiden.
Am Rand spielt auch Europa eine Rolle, das mehr
eigene Chips produzieren will. Vergangene Woche
bekräftigte der deutsche Wirtschaftsminister Robert
Habeck noch einmal, dass die unabhängige Versor-
gung mit Chips Teil seiner Industriestrategie sei.
Inmitten dieser Konfliktlinien bewegt sich ASML.
Auf der einen Seite – auf Drängen der USA hin –
erlaubt es die niederländische Regierung der Firma
nicht, ihre modernsten Geräte nach China zu ver-
kaufen. Auf der anderen Seite profitiert ASML da-
von, dass Deutschland und andere Länder den Bau
neuer Chipfabriken subventionieren. Wenn der US-
Konzern Intel sein neues Werk in Magdeburg er-
richtet, dürfte ein erheblicher Teil der Subventionen
dafür in Veldhoven landen.
Was sind das für Maschinen, die so besonders
sind? Und was sagt ihr Hersteller über die Abhän-
gigkeit von China und über die Versuche der Poli-
tik, sie zu reduzieren?
Auf dem Firmengelände von ASML muss man
sich einer langen Prozedur unterziehen, um einem
der Produkte nahe zu kommen. Der Rucksack und
das Handy müssen abgegeben werden, selbst der
Chip, Chip, hurra!
Schreibblock; nach vorgeschriebener Reihenfolge ist
Schutzkleidung anzuziehen: Haube, Kittel, Hand-
schuhe, Stulpen, Schuhe; anschließend geht es in eine
Luftschleuse. Weil ASMLs Maschinen extrem kleine
elektronische Schaltungen produzieren, Millionstel-
millimeter fein, werden sie in Reinräumen hergestellt,
in die keine Fremdkörper gelangen dürfen. Ein Haar,
das hier herabfällt, kann Schaden anrichten wie ein
Baum, der auf ein Haus stürzt.
Hinter der Luftschleuse folgt ein Labyrinth aus
Gängen und Hallen. Es geht an Schildern vorbei, auf
denen die Warnung aufleuchtet: »Hazard. Laser on«
– Gefahr, Laser an – und an Hallen voller rätselhafter
Maschinenteile, an denen sich vermummte Menschen
zu schaffen machen. Man fühlt sich wie in einer
Raumstation. Manche Teile sind mannshoch, aus
verwinkeltem Metall, umschlungen von Kabeln und
Schläuchen. Dann steht man plötzlich vor einer
fertigen Maschine. Sie ist komplett verkleidet, ein
strahlend weißer Kasten, groß wie ein Wohnzimmer,
vollgestopft mit Technik. Dieses raumfüllende Objekt
ist so etwas wie das Einsteigermodell von ASML. Es
wiegt 45 Tonnen und kostet um die 70 Millionen
Euro. Die höherwertigen Modelle sind so groß wie
ein Bus, das fortgeschrittenste kommt an die Maße
eines Ferienhauses heran. Dabei gilt die eigentümliche
Faustregel: Je größer die Geräte sind, desto kleinere
Dinge kann man mit ihnen produzieren.
Viele Mikrochips werden heute in Asien herge-
stellt. Etwa ein Fünftel der weltweiten Produktions-
kapazitäten entfällt auf Taiwan, ein weiteres Fünftel
auf China. Europas Anteil liegt bei nur etwa acht
Prozent, er soll nach den Plänen der EU bis 2030 auf
20 Prozent steigen. Hinter diesen Zahlen verbirgt
sich jedoch eine komplizierte Arbeitsteilung. Die
Welt mag von Chips aus Asien abhängig sein (wenn
auch keineswegs vollständig), aber die Chiphersteller
benötigen ihrerseits Maschinen, die häufig aus Eu-
ropa kommen (oder aus Japan). »Die Chipindustrie
ist schon seit den 1980er-Jahren global organisiert«,
sagt Hermann Rapp, Technologieexperte bei Deut-
sche Bank Research. Bei der Arbeitsteilung in dieser
Industrie spielten mehr als 20 Länder eine wichtige
Rolle. »Neben den USA, Taiwan und weiteren Län-
dern in Asien sind beispielsweise Großbritannien und
Deutschland führend beim Chipdesign«, erklärt der
Branchenkenner. Amerika, Japan und die Nieder-
lande lieferten viele Spezialchemikalien. Und Viet-
nam, Malaysia, China und Indien seien Spezialisten
dafür, halbfertige Chips mit einer Umhüllung und
mit Anschlüssen zu versehen und sie zu testen. »Im
Laufe seiner Produktion wandert ein Chip im Durch-
schnitt fünfmal um den Globus«, sagt Rapp.
Die Standorte sind nicht unbedingt das Ergebnis
politischer Entscheidungen. Dass ASML in Veld-
hoven entstanden ist, hat weniger mit einem Plan der
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
Regierung zu tun als vielmehr mit einem Mann na-
mens Frederik Philips. Der begann im Jahr 1890
zusammen mit seinem Sohn Gerard, in Eindhoven
Glühlampen herzustellen. Aus ihrer Firma entstand
der Philips-Konzern, der später elektrische Apparate
aller Art fabrizierte, vom Radio bis zum Röntgen-
gerät. 1984 gründete dieser Konzern zusammen mit
der Firma Advanced Semiconductor Materials In-
ternational (ASMI) eine Firma für Lithografiemaschi-
nen. Sie wurde in einem Schuppen neben dem
Hauptgebäude einquartiert. Später zog diese Firma,
die heute ASML heißt, ein paar Kilometer weiter
nach Veldhoven – einem Nachbarort. An diesem
Firmensitz beschäftigt die Firma inzwischen rund
17.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – deren
Arbeit so spezialisiert ist, dass sie die Frage aufwirft:
Ist der Rest der Welt vielleicht sogar abhängig von
ihrer Expertise und damit von Europa?
Mikrochips, für deren Herstellung Intel, Sam-
sung und andere Chipproduzenten die Maschinen
aus Veldhoven brauchen, sind kleine Scheiben aus
Silizium, oft nur fingernagelgroß. Auf ihnen befin-
den sich winzige elektronische Leitungen und Schal-
ter, sogenannte Transistoren. Auf dem ersten kom-
merziell produzierten Mikroprozessor, dem Intel
4004, der im Jahr 1971 auf den Markt kam, waren
2300 Transistoren untergebracht. Moderne Com-
puterchips bestehen aus mehr als 50 Milliarden Tran-
sistoren. Um eine so unvorstellbare Zahl an Bau-
elementen auf engstem Raum zusammenzufügen,
braucht es Technik, die an die Grenzen des physika-
lisch Möglichen geht. Da kommen die Maschinen
von ASML ins Spiel.
Alles hochsensibel: Chip-
Ingenieure in Schutzkleidung
Die elektronischen Strukturen auf einem Chip
werden nicht gelötet oder aufgeschraubt, sie werden
durch die Belichtung einer empfindlichen Schicht
aufgedruckt. ASMLs Geräte tun genau das, sie sind
riesige Belichtungsmaschinen. Weil diese Strukturen
erzeugen sollen, die Millionstelmillimeter klein sind,
können sie aber nicht mit normalem Licht arbeiten.
Das wäre zu ungenau. Nötig ist Licht mit besonders
kurzen Wellenlängen. Die fortgeschrittensten Ge-
räte arbeiten deshalb mit sogenanntem extrem ultra-
violettem Licht, kurz EUV.
Um dieses Licht erzeugen zu können, ist in die
ASML-Maschinen eine geradezu irrwitzige Appa-
ratur eingebaut: Ein Laser beschießt kleinste Trop-
fen aus Zinn, die in einem Vakuum an ihm vorbei-
fliegen. Zuerst verformt ein Laserimpuls das ein-
zelne Tröpfchen zu einer winzigen Scheibe, dann
lässt ein zweiter Laserblitz es praktisch explodieren.
Dabei entsteht das für die Belichtung erforderliche
EUV-Licht. Diesen Vorgang wiederholt die Ma-
schine in einem absurd hohen Takt: 50.000-mal
pro Sekunde.
Und dann muss das so erzeugte Licht, das die
unpraktische Eigenschaft hat, von fast allen Mate-
rialien verschluckt zu werden, auch noch eingefan-
gen, gebündelt und mit unvorstellbarer Präzision
durch eine Art Schnittmuster auf die Silizium-
scheiben projiziert werden. Allein das dafür nötige
optische System besteht aus 35.000 Einzelteilen
und wiegt 3,5 Tonnen.
Wo immer die großen Chipproduzenten – zu
denen neben Intel auch Samsung in Südkorea und
TSMC in Taiwan gehören – ein neues Werk errich-
ten, brauchen sie diese Geräte aus Veldhoven. Das
gilt auch für das von Intel geplante Werk in Magde-
burg. »Dafür werden wahrscheinlich Lithografie-
systeme im Wert von drei bis vier Milliarden Euro
benötigt«, schätzt Roger Dassen. Der 58-Jährige ist
Finanzvorstand bei ASML. Einen Großteil dieser
Geräte dürfte ASML liefern. »Unser Marktanteil liegt
bei über 90 Prozent«, sagt Dassen. ASML hat zwei
Konkurrenten, Nikon und Canon. Aber bisher
konnten die beiden japanischen Firmen keine Ma-
schinen bauen, die so kleine Chipstrukturen ermög-
lichen wie die EUV-Geräte von ASML. Und kleine-
re Strukturen bedeuten, dass ein Prozessor leistungs-
fähiger ist und weniger Energie verbraucht. Vor we-
nigen Tagen hat Canon verkündet, es habe nun eine
ähnliche Technik entwickelt. Ob der Konkurrent
damit ASML Marktanteile abjagen kann, ist unklar.
Was ist das Besondere an ASML, warum ist die
Firma erfolgreicher als andere? »Es ist unser Öko-
system«, sagt Dassen. »ASML ist nicht nur diese eine
Firma hier mit unseren 42.000 Mitarbeitern, es ist
ein Geflecht aus Lieferanten und Partnern, Univer-
sitäten, Forschungseinrichtungen und Wissen.«
21
Fotos: Bryan Derballa/NYT/Redux/laif
Anders als die Konkurrenten Nikon und Canon sei
ASML selbst auch kein Spezialist für Optik. »Aber
wir arbeiten mit Partnern zusammen, die auf ihrem
Gebiet führend sind, weil sie sich darauf fokussieren.«
Dazu gehörten Firmen in den Niederlanden, in Ita-
lien, Frankreich, Nordamerika, Japan und Deutsch-
land. Vor allem zwei deutsche Unternehmen, sagt
Dassen, seien wichtig: Trumpf und Zeiss.
Das Maschinenbau-Unternehmen Trumpf mit
Sitz in Ditzingen hat den Hochleistungslaser ent-
wickelt, der das EUV-Licht erzeugt. Und von einer
Tochter des Optikspezialisten Zeiss in Oberkochen
(an der ASML beteiligt ist) stammt das Spiegelsystem,
mit dem dieses Licht gebändigt wird. Die dafür ver-
wendeten Spiegel sind von unglaublicher Präzision:
Würde man sie auf die Fläche Deutschlands ver-
größern, wäre die höchste Unebenheit darauf nur
einen Zehntelmillimeter hoch. 80 Prozent aller Chips
weltweit würden mit seiner Optik hergestellt, ver-
kündet Zeiss stolz. Und die deutsche Firma ist auch
der einzige Zulieferer, der seinen Namen auf die
ASML-Maschinen schreiben darf: »Optics by ZEISS«
steht auf dem Gehäuse.
Das alles zeigt: Nicht nur Chiphersteller sind von
Lieferanten in aller Welt abhängig, auch der Her-
steller eines ihrer wichtigsten Werkzeuge ist wiederum
auf ein Netzwerk spezialisierter Firmen angewiesen.
Ein so komplexes Produkt wie ein moderner Mikro-
chip lässt sich ohne Arbeitsteilung kaum herstellen.
Ist es da wirklich ein sinnvolles Ziel, Unabhän-
gigkeit anzustreben? »Völlige Autarkie ist eine Illu-
sion«, sagt der Technologieanalyst Rapp von der
Deutschen Bank. Man könne höchstens weniger
abhängig werden. Jan-Peter Kleinhans, der sich bei
der Stiftung Neue Verantwortung, einem unab-
hängigen Thinktank in Berlin, mit der Chipindus-
trie und ihren Lieferketten beschäftigt, spricht von
einem »Trugschluss«. Subventionen für Chipfabri-
ken würden wenig daran ändern, dass man auf
Zulieferungen aus anderen Ländern angewiesen
bleibe. Auch ASML-Vorstand Dassen sieht das
Streben nach Autarkie oder »Souveränität«, wie es
heute häufig heißt, mit Sorge. »Ökosysteme sind
kompliziert«, warnt der Manager, »man braucht
Talente, man braucht Maschinen, man braucht
Rohstoffe.« Wenn ein Land oder eine Region das
alles für sich allein organisieren wolle, entstünden
kolossal hohe Kosten und weniger Innovationen.
Folgt man dieser Sicht, lautet die schlechte Nach-
richt: Das viele Geld der Steuerzahler für die Chip-
fabriken wird Deutschland und Europa nicht von
allen Abhängigkeiten befreien. Die gute Nachricht
ist aber: Für die Chips der neuesten Generation
braucht der Rest der Welt auch Europa.
! www.zeit.de/vorgelesen
22
»Das Management hat versagt«
Als neue Intendantin des RBB muss Ulrike Demmer viel kämpfen: Mit den Skandalen ihrer Vorgängerin, mit dem Vorwurf
zu großer Nähe zur Politik – und jetzt auch noch gegen mehr Einfluss der Politik auf ihren Sender. Wieso wollte sie bloß diesen Job?
DIE ZEIT: Frau Demmer, seit neun Wochen sind
Sie Intendantin des von Skandalen gebeutelten
Rundfunks Berlin Brandenburg – warum tun Sie
sich den Job an?
Ulrike Demmer: Aus Überzeugung. Wenn es den
öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht gäbe,
müsste man dieses solidarisch finanzierte, dem
Gemeinwohl dienende System erfinden. Ange-
sichts von Fake-News und künstlicher Intelligenz
brauchen wir guten Journalismus und vertrauens-
würdige Quellen mehr denn je.
ZEIT: Ja, aber noch mal zur Frage: In einer Zeit, in
der das Vertrauen in den öffentlich-rechtlichen
Rundfunk ohnehin schwindet, soll sich die ehema-
lige Führungsspitze des RBB um Ihre Vorgängerin
Patricia Schlesinger Vetternwirtschaft und Ver-
schwendung geleistet haben und hinterließ Ihnen
einen Sumpf, dessen Tiefe vielleicht nie endgültig
gemessen werden wird. Warum haben Sie sich
gerade um diesen Job beworben?
Demmer: Es ist populär, auf den öffentlich-recht-
lichen Rundfunk einzuschlagen. Aber dabei geht
etwas Wertvolles kaputt. Mir ist es ein echtes An-
liegen, dem RBB zu neuer Stärke zu verhelfen. Ich
habe das Handwerkszeug. Ich kenne den öffent-
lich-rechtlichen Rundfunk von innen und bringe
gleichzeitig den Blick von außen mit.
ZEIT: Von welchem Handwerkszeug sprechen Sie?
Demmer: Ich kenne die Medienwelt aus verschie-
denen Perspektiven. Ich habe 20 Jahre lang als
Journalistin beim Radio, beim Fernsehen und im
Printbereich gearbeitet. Für den NDR, das ZDF
und den Spiegel. Und aus der Perspektive der
stellvertretenden Regierungssprecherin wurde mir
noch einmal deutlicher, wie wichtig guter Journa-
lismus für die Demokratie ist. Bewerten müssen
meine Befähigung am Ende andere.
ZEIT: Haben sich die Öffentlich-Rechtlichen die
Kritik nicht selbst eingebrockt – gerade auch
durch die RBB-Affäre?
Demmer: Wenn die BBC in Großbritannien, der
SRF in der Schweiz und der ORF in Österreich
gleichzeitig derart unter Druck geraten, sollten wir
genauer hinsehen, wer davon profitiert, den öf-
fentlich-rechtlichen Rundfunk systematisch zu
diskreditieren. Natürlich gibt es berechtigte Kritik.
Aber es ist nicht gerechtfertigt, damit ein ganzes
System in Verruf zu bringen.
ZEIT: Ihre Vergangenheit als stellvertretende Re-
gierungssprecherin auf dem Ticket der SPD bringt
den Sender nun aber wieder an den Rand des Zu-
mutbaren. Überrascht Sie die Kritik an Ihrer gro-
ßen Nähe zur Politik?
Demmer: Ich pflege keine große Nähe zur Politik.
Mir war im Vorfeld klar, dass meine Tätigkeit als
stellvertretende Regierungssprecherin ein An-
griffspunkt sein könnte. Zumal wir in einer Welt
leben, in der alles verhetzt werden kann. Den
Posten als stellvertretende Regierungssprecherin
habe ich damals aus Neugier angenommen, aber
auch mit dem Gefühl, etwas für die Demokratie
zu tun. Dieser Job liegt inzwischen zwei Jahre zu-
rück. Ich habe kein Parteibuch, ich hatte nie
eines. Ich bin Journalistin. Dieses Selbstverständ-
nis habe ich nie abgelegt.
ZEIT: Es wirkt derzeit fast, als wollten Sie mit
Macht Ihre Unabhängigkeit beweisen. In der aktu-
ellen Debatte um den RBB-Staatsvertrag, der die
Grundsätze des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
regelt und jetzt überarbeitet werden soll, kritisieren
Sie die Landesregierungen in Berlin und Branden-
burg scharf.
Demmer: Ich kritisiere nicht die Menschen, son-
dern den Vertragsentwurf. Das tue ich, weil er in die
Unabhängigkeit unseres Senders eingreifen würde.
ZEIT: Inwiefern?
Demmer: Erst mal ist es gut, dass es einen neuen
Vertrag geben soll. Er ist die Grundlage für die
Existenz des RBB, ein Bekenntnis der Landes-
regierungen zum Sender. Ebenso finden wir beim
RBB gut, dass mehr Kontrolle und Transparenz
vorgesehen sind. Aber dass im gleichen Aufwasch
in unsere Programme und Strukturen eingegriffen
werden soll, ist problematisch.
ZEIT: Laut Vertrag soll das Programm für eine
Stunde am Tag aufgeteilt werden, in Brandenburg
würde also etwas anderes laufen als in Berlin. Das
machen Sie bereits eine halbe Stunde täglich. Was
ist schlimm an mehr Regionalität?
Demmer: Nichts. Regionalität ist uns wichtig. Nur
kostet diese Aufteilung der Sendungen rund drei
Millionen Euro im Jahr zusätzlich für das lineare
Programm. Wir müssen aber sparen und würden
lieber in die Zukunft investieren, in digitale Pro-
gramme, auch um das junge Publikum anzuspre-
chen. Außerdem sollen wir in Brandenburg an der
Havel ein Büro eröffnen. Ich habe wirklich nichts
gegen weitere Büros, aber ich würde das Geld lie-
ber in Reporter investieren, die vor Ort recherchie-
ren, als in Miete für Büroräume 50 Kilometer von
Potsdam entfernt. Dazu kommt, dass zum ersten
Mal der Rundfunkrat nicht nur das Topmanage-
ment, sondern auch zwei Verantwortliche für die
Landesprogramme wählen soll. Das ist ein Ein-
griff der Politik in unsere Unabhängigkeit.
ZEIT: Missbraucht die Politik also den RBB-
Skandal, um stärker einzugreifen?
Demmer: Ein erstes Rechtsgutachten spricht von
einschneidenden Eingriffen in die Rundfunkfrei-
heit, die uns das Grundgesetz garantiert. Der Gut-
achter hält es unter anderem für problematisch,
Ulrike Demmer war erst Journalistin, dann stellvertretende Regierungssprecherin. Seit neun Wochen steht sie an der Spitze des RBB
dass wir nicht öffentlich angehört werden, bevor
der Staatsvertrag von den Landesregierungen be-
schlossen wird. Wir hätten gerne die Gelegenheit
gehabt, unsere Bedenken und Argumente in einer
Anhörung vorzubringen. Bei jedem Brückenbau
werden Naturschützern und Betroffenen mehr
Rechte eingeräumt.
ZEIT: Der Brandenburgische SPD-Abgeordnete
Ludwig Scheetz hat erklärt, Ihr Widerstand be-
stärke ihn, den Staatsvertrag erst recht unverändert
umzusetzen.
Demmer: Im Brandenburger Landtag erwartet man
vom RBB Demut. Aber wenn Politiker von Medien
Demut verlangen, macht mich das misstrauisch.
Die Wut auf die ehemalige Spitze des Senders kann
ich verstehen, aber die Personen, die Verantwortung
trugen, sind alle weg, und journalistisch hat sich der
Sender nichts vorzuwerfen. Im Gegenteil, die Mit-
arbeiter des RBB haben gezeigt, was unabhängiger
Journalismus leisten kann, indem sie die Affäre im
Sender selbst mit aufgedeckt haben.
ZEIT: Sie haben angekündigt, notfalls gegen den
Vertrag zu klagen. Soll diese vehemente Gegen-
wehr dem Eindruck entgegenwirken, Sie seien
staatsnah?
Demmer: Hier geht es um mehr als um meinen
Ruf.
ZEIT: Sie haben einmal in einem Interview über
Ihren Wechsel vom Journalismus in die Politik ge-
sprochen. Demnach bekamen Sie eines Tages eine
SMS vom damaligen SPD-Wirtschaftsminister Sig-
mar Gabriel, zwei Wochen später fingen Sie als stell-
WIRTSCHAFT
Die Causa
RBB
Seit 2016 war Patricia Schlesinger
Intendantin des RBB. Im August
2022 wurde sie fristlos entlassen,
nachdem Vorwürfe von Vettern-
wirtschaft, Vorteilsnahme und
Verschwendung bekannt
geworden waren. Dabei ging es unter
anderem um umstrittene
Beraterverträge, um Boni, einen
hochwertigen Dienstwagen, die
teure Renovierung der Chefetage
und ein Abendessen in Schlesingers
Privatwohnung auf Senderkosten
mit angeblich falschen Rechnungen.
Schlesinger selbst weist alle
Vorwürfe zurück. Die 62-Jährige
klagt auf Zahlung eines monatlichen
Ruhegeldes von 18.384 Euro. Der
RBB dagegen lehnt sowohl eine
Abfindung als auch die Zahlung von
Ruhegeldern ab und verlangt
Schadensersatz in Höhe von knapp
270.000 Euro.
Foto: Franz Grünewald für DIE ZEIT
vertretende Regierungssprecherin an. Warum hat er
an Sie gedacht?
Demmer: Ich war Hauptstadtjournalistin und hatte
Sigmar Gabriel kurz zuvor gemeinsam mit etwa
einem Dutzend anderer Journalisten auf zwei seiner
Reisen als Wirtschaftsminister begleitet. Er brauchte
schnell eine Lösung, und es sollte eine Frau sein.
ZEIT: Und da schreibt er eine SMS, aus dem
Nichts?
Demmer: Die SMS kam für mich aus heiterem
Himmel. Am Ende sollten Sie aber Herrn Gabriel
fragen, warum er mich gefragt hat. Ich kannte ihn
vor den Reisen nicht. Wir siezen uns bis heute.
ZEIT: Der RBB muss bis Ende 2024 rund 50 Mil-
lionen Euro einsparen. Es müssen 100 Stellen ge-
strichen werden, Sendungen wie Thadeusz und die
Beobachter werden eingestellt.
Demmer: Mir blutet das Herz, wenn Programm
gestrichen wird. Aber das Geld ist und bleibt knapp,
deshalb muss sich der RBB neu erfinden. Wir ent-
wickeln jetzt das »Zielbild 2028« für einen schlan-
keren und beweglicheren Sender. Mein Ziel ist,
dass am Ende beim RBB alle wieder gut arbeiten
können und nicht permanent mit der Vergangen-
heit konfrontiert werden, für die sie nichts können.
ZEIT: Klingt ambitioniert – bloß welche Pläne
haben Sie konkret?
Demmer: Ich bin jetzt seit 62 Tagen im Amt. Das
ist eine komplexe Aufgabe, dafür nehmen wir uns
Zeit. Im vergangenen Jahr wurde der Sender aus
der akuten finanziellen Not heraus ausgepresst wie
eine Orange. Um im Bild zu bleiben: Das Wasser
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
für den Orangenbaum ist knapp. Nun müssen wir
ihn beschneiden, damit wieder neue Zweige und
Früchte wachsen können. Das betrifft alle Bereiche
des Senders und fängt bei so praktischen Fragen an
wie: In welchen Büros arbeiten wir künftig? Von
welchen Gebäuden können wir uns trennen?
ZEIT: Sie wollen Grundstücke und Gebäude in
Potsdam veräußern. Jetzt heißt es, selbst das Hoch-
haus in Berlin könnte verkauft werden.
Demmer: Es wird nichts ausgeschlossen, wir über-
prüfen alles.
ZEIT: Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass Ihre
Mitarbeiter Ihnen folgen werden? Sie haben bei
der Intendantenwahl immerhin vier Wahlgänge
benötigt. Selbst im dritten erreichten Sie nicht die
nötige Mehrheit, dabei hatte sich Ihre einzige Ge-
genkandidatin da schon zurückgezogen. Das muss
sich angefühlt haben, wie ohne Einladung zu einer
Party zu gehen.
Demmer: Dass der gesamte Prozess rund um die
Wahl nicht reibungslos laufen würde, war ange-
sichts der verfahrenen Lage absehbar. Das war nicht
schön. Aber wenn ich das nicht ausgehalten hätte,
wäre ich vermutlich die Falsche für den Job. Das,
was jetzt kommt, ist die größere Herausforderung.
ZEIT: Die Wahl war schon ein außergewöhnlicher
Vorgang.
Demmer: Einige der Wahlberechtigten wollten
überhaupt nicht, dass gewählt wird. Sie wollten
die Position neu ausschreiben, weil sie Kritik am
Bewerbungsverfahren insgesamt hatten. Darüber
wurde eine gefühlte Ewigkeit diskutiert. Und als
nach Stunden endlich gewählt wurde, ging alles
sehr schnell, Schlag auf Schlag. Das war emotional
sehr fordernd.
ZEIT: Im Zuge der Wahl war Ihr Gehalt immer
wieder ein Thema: 220.000 Euro im Jahr plus Zu-
schlag für eine private Altersvorsorge. Manche In-
tendanten bekommen fast das Doppelte. Ist Ihre
Arbeit halb so viel wert wie die von Tom Buhrow
beim WDR?
Demmer: Darum geht es mir gar nicht. Es war
klar, dass der RBB in einer finanziellen Schieflage
ist. Da muss die Intendantin zeigen, dass sie sich
im Gesamtgefüge einordnet. Es ist ein Signal. Wie
will ich denn von allen anderen erwarten, dass sie
sparen und dabei mit Kreativität und Engagement
an dem Projekt RBB arbeiten? Es ist immer noch
ein sehr gut bezahlter Job.
ZEIT: Frau Demmer, die Öffentlich-Rechtlichen
stehen stark in der Kritik. Wie wollen Sie das Ver-
trauen zurückzugewinnen?
Demmer: Das Vertrauen ist groß, viel größer, als es
in der aktuellen Debatte erscheint. Zwei Drittel
der Menschen vertrauen dem öffentlich-rechtlichen
Rundfunk an erster Stelle. Das zeigt die Statistik,
aber wir haben es gerade auch unmittelbar erlebt.
Wir sind im September durch Berlin und Bran-
denburg getourt und haben mit dem Publikum
vor Ort über unser Programm gesprochen. Der
große Zuspruch war auch für uns überraschend.
Dieses Vertrauen und diese Glaubwürdigkeit sind
unser größtes Pfund. Wir wollen beides erhalten,
mit gutem Programm.
ZEIT: Bildet der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu
wenig Perspektiven ab? Gibt es, was ja oft bemän-
gelt wird, etwa zu wenig konservative Positionen?
Demmer: Unser Journalismus soll das volle Mei-
nungsspektrum abdecken. Es ist mir ein Anliegen,
dass Mitarbeiter unterschiedlichste Hintergründe
und Perspektiven haben. Da können wir noch
besser werden. Und wir haben mit unserem Sende-
gebiet auch eine besondere Chance dazu.
ZEIT: Wie meinen Sie das?
Demmer: Diese Region ist eines der spannendsten
Sendegebiete in der ARD, weil hier viele Kontraste
so nah beieinanderliegen: Stadt und Land. Ost
und West. Jung und Alt. Berlin kann nicht ohne
Brandenburg und Brandenburg nicht ohne Berlin.
Es ist unser Auftrag, diese Spannungen und unter-
schiedlichen Lebensverhältnisse in unseren Pro-
grammen abzubilden.
ZEIT: Immer wieder entstehen Sendungen beim
RBB, die von Kritikern hoch gelobt werden. Kürz-
lich zum Beispiel Charité intensiv. Der Ruf Ihres
Senders hat trotzdem gelitten.
Demmer: Der RBB ist zum Symbol gemacht wor-
den für alles, was strukturell schiefgehen kann
beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Aber er
war nie Symbol für schlechtes Programm. Wir
haben viele tolle Sendungen, wir machen ein erst-
klassiges Radioprogramm, der Sender bekommt
gerade einen Preis nach dem anderen verliehen. Es
gibt auch Kritik, klar, aber wenn sich jemand wun-
dert, dass dieser angebliche Horrorsender gutes
Programm macht, möchte ich dagegenhalten: Der
RBB hat keinen schlechten Ruf wegen seiner Sen-
dungen, sondern das Management hat versagt.
Und noch etwas möchte ich sagen.
ZEIT: Bitte!
Demmer: Verzeihen Sie, wenn ich jetzt pathetisch
werde: Unabhängige Journalisten sind die Kana-
rienvögel im Bergwerk der Geschichte. Wenn sie
kränkeln, kränkelt die Debatte, der Meinungs- und
Willensbildungsprozess, der so wichtig ist für die
Demokratie. Deshalb werde ich den RBB vor zu
viel politischer Einflussnahme schützen. Daran
werde ich mich messen lassen.
Das Interview führten
Cathrin Gilbert und August Modersohn
DIE ZEIT N o 46 2. November 2023 WIRTSCHAFT 23

Womit keiner rechnet

Laut der Internationalen Energieagentur nähert sich

das Ölzeitalter seinem Ende. Warum kaufen
US-Ölkonzerne trotzdem für Milliarden Dollar
ihre Rivalen auf ?
Die weltweite Nachfrage nach Öl und Gas wird kommt knapp zwei Wochen nachdem der US- China ausbeutet. Erst vor vier Jahren wurden die Ukraine und der Konflikt im Nahen Osten

Illustration: Sophia M. Phildius/ZEIT-Grafik

im Jahr 2030 ihren Höhepunkt erreichen und
dann sinken. So lautet die neueste Prognose der
Internationalen Energieagentur, IEA, die dieser
Tage veröffentlicht wurde. Dann werde endgül-
tig das Zeitalter grüner Energien anbrechen.
Ein Zeitalter von Elektrofahrzeugen, die ange-
trieben werden von Solarstrom und Windener-
gie, so die Experten der Organisation, die nach
der Ölkrise der 1970er-Jahre von Industrie-
nationen gegründet wurde, um die Mitglieds-
länder in Energiefragen zu beraten. Für die
meisten Deutschen klingt das sehr stimmig, ist
das Land doch mitten in einer aufwendigen
Elektrifizierung.
In den Chefetagen der US-Ölkonzerne
glaubt man allerdings nicht an die Prognose und
den Anfang vom Ende des fossilen Brennstoff-
zeitalters. Einen Tag bevor die IEA ihren Bericht
vorlegte, verkündete der kalifornische Energie-
riese Chevron, den Rivalen Hess für 53 Milliar-
den Dollar übernehmen zu wollen. Stimmen die
Kartellbehörden zu, ist es die größte Übernahme
in der Konzerngeschichte. Die Transaktion
Branchenführer Exxon seinerseits erklärt hatte,
für 60 Milliarden Dollar den Ölkonzern Pioneer
Natural Resources erwerben zu wollen. Weitere
Übernahmen könnten folgen, sagte Exxons
Finanzchefin der Financial Times. Die Konzerne
können sich die milliardenschweren Zukäufe
leisten, nachdem sie im vergangenen Jahr Rekord-
gewinne eingefahren haben.
Hinter den Megadeals steckt der zunehmen-
de Wettbewerb darum, sich Vorkommen für die
nächsten Jahrzehnte zu sichern. Durch die Über-
nahme von Pioneer wird Exxon zum größten
Förderunternehmen im Permbecken, einem der
ergiebigsten Ölfelder der USA, das sich durch
West-Texas und Teile New Mexicos zieht. Mit
knapp 13 Millionen Barrel (Fässern) am Tag
sind die USA der größte Ölproduzent der Welt,
vor Saudi-Arabien und Russland. Mehr als fünf
Millionen Barrel täglich liefert allein das Perm.
Für Chevron wiederum sind vor allem die Vor-
kommen im südamerikanischen Guyana interes-
sant, die der bisherige Konkurrent Hess gemein-
sam mit den Partnern Exxon und CNOOC aus
Offshore-Vorkommen dort entdeckt, bis 2027
sollen täglich 1,2 Millionen Barrel gefördert
werden. Damit würde Guyana Opec-Produzen-
ten wie Libyen und Venezuela überholen. Die
neue Ölindustrie hat die Wirtschaft des kleinen
Landes förmlich explodieren lassen. Im vergan-
genen Jahr wuchs das Bruttoinlandsprodukt um
mehr als 60 Prozent.
Auch der in Großbritannien ansässige Shell-
Konzern war einmal in Guyana aktiv, verkaufte
aber seine Dependance vor zehn Jahren, weil die
Suche nach Öl damals noch unergiebig war.
Doch nicht nur mangels sprudelnder Quellen
ziehen sich die Europäer zurück, sie reduzieren
auch Projekte zur Ausbeutung neuer Gas- und
Ölfelder, weil Europa den Klimaschutz immer
weiter verschärft. Davon profitieren im Gegen-
zug US-amerikanische Ölkonzerne, zumal in ih-
rem Heimatmarkt bisher keine Auflagen zur
Dekarbonisierung gelten.
Ein weiterer Faktor bei den jüngsten Zukäu-
fen dürften die zunehmenden geopolitischen
Risiken wie der russische Überfall auf die
sein. So hat Chevron seine Offshore-Gasförde-
rung vor dem Gazastreifen auf Anweisung der
israelischen Regierung vorerst eingestellt. Diese
hatte Sicherheitsbedenken als Begründung für
den Förderstopp angeführt. Entsprechend argu-
mentieren Chevron wie auch Exxon, dass die
beiden milliardenschweren Zukäufe die Ener-
giesicherheit der USA erhöhten – gehe es doch
vor allem um Förderstätten in Heimatnähe. Ex-
xon hat bereits vor einiger Zeit begonnen, sich
von Projekten in Konfliktregionen zu verab-
schieden, wie etwa im Tschad oder im Irak.
Von den Vorhersagen der Energieexperten,
die bereits in wenigen Jahren mit einem Absin-
ken der Ölnachfrage rechnen, zeigen sich die
US-Konzerne dagegen unbeeindruckt. Von der
Financial Times nach der Prognose der Inter-
nationalen Energieagentur gefragt, erklärte
Chevron-CEO Mike Wirth, er glaube nicht,
dass sie auch nur im Entferntesten richtig sei.
Und fügte hinzu: »Wir leben in der realen Welt
und müssen Mittel bereitstellen, um den realen
Bedarf zu decken.« HEIKE BUCHTER

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KOMMENTAR

Hört auf mit der Zinsjagd!

Ständig nach den besten Renditen fürs Tagesgeld
zu suchen bringt den meisten Menschen kaum etwas.
Wer etwas erreichen will, kann das leichter haben

Zinsen sind entweder zu hoch oder zu niedrig.
Nur richtig sind sie nie. Man denke an die gar
nicht lang zurückliegende Zeit, als sie praktisch
bei null standen und die Europäische Zentral-
bank begann, sie schrittweise anzuheben. Da be-
klagten die Medien das Leid der Kreditnehmer,
die sich infolge der Zinserhöhungen keine Im-
mobilie mehr leisten könnten.
Nun, da ein gewisses Zinsniveau erreicht ist,
dreht sich das Jammerkarussell eine Runde weiter.
Jetzt sind jene Bankkunden die Dummen, deren
Tagesgeldkonten weniger abwerfen, als es anderswo
möglich wäre. Listen mit Banken und deren ak-
tuellen Guthabenzinsen finden sich derzeit in vielen
Medien und Vergleichsportalen. Subtext: Wollen
Sie sich ernsthaft von Ihrer alten Sparkasse mit
Mickerzinsen fürs Tagesgeld abspeisen lassen, wo
doch die (Ihnen mutmaßlich unbekannte) Suresse
Direkt Bank gerade 4,02 Prozent bietet?
Im Prinzip ist es richtig, wachsam zu sein. Dem
letzten Zehntelprozent beim Tagesgeld muss man
trotzdem nicht hinterherrennen. Der Wirbel darum
nützt bloß einer Minderheit, bei der es zudem nicht
wirklich drauf ankommt. Und er lenkt alle anderen
von dem ab, was wirklich etwas bringt.
Spielen wir das mal durch. Anders als beim
Tagesgeld ist es bei einem Immobilienkredit wirk-
lich wichtig, auf die Nachkommastellen beim Zins
zu achten. 300.000 Euro beispielsweise sind eine
typische Summe, die man sich für ein Eigenheim
leiht. Ein Zehntelprozent bedeuten hier 300 Euro.
Auf einem deutschen Tagesgeldkonto liegen hin-
gegen durchschnittlich bloß gut 10.000 Euro, wie
das Statistische Bundesamt bei seiner bislang letzten
Einkommensstichprobe 2018 angegeben hat.
Was solche Vermögensdaten angeht, sollte man
immer vorsichtig sein. Der Durchschnittswert sagt
nicht viel aus, weil die Vermögen im Land ungleich
verteilt sind. Beispiel: Wenn einer von drei Men-
schen zehn Millionen Euro besitzt und die beiden
anderen haben gar nichts, dann sind alle drei im
Schnitt mehrfache Millionäre.
Übertragen auf die Zinsen fürs Tagesgeld, be-
deutet das: Ein paar reichen Leuten ist es vermutlich
egal, ob sie ein Zehntelprozent mehr oder weniger
bekommen – während die Masse der Menschen viel
zu wenig Geld zurückgelegt hat, als dass das einen
nennenswerten Unterschied machen würde. Aber,
der Einfachheit halber: Rechnen wir mal, was die
großen Vergleichstabellen bei 10.000 Euro in der
Praxis bedeuten.
Die Suresse Direkt Bank von vorhin gibt es wirk-
lich, auch wenn nur wenige sie kennen dürften. Sie
beschreibt sich als »eine deutsche Marke der belgi-
schen Niederlassung von Santander Consumer
Finance (Bank nach spanischem Recht)«. Und sie
bietet Neukunden wirklich p. a. 4,02 Prozent Zin-
sen. Die Abkürzung p. a. steht für per annum, also
pro Jahr. Allerdings gilt der Zinssatz nur für sechs
Monate, danach fällt er auf 2,8 Prozent – was man
auch bei anderen Banken erhalten kann. Bei Sures-
se bekäme man nach einem halben Jahr also grob
60 Euro mehr Zinsen als anderswo. Die Summe
sinkt natürlich, wenn man weniger als 10.000 Euro
anlegen will oder kann. Und nach sechs Monaten
müssten sich Zinsjäger erneut auf die Suche nach
einer Bank machen und das Konto wechseln.
Was leichter ist: überflüssige Versicherungen
beenden, Handyverträge prüfen, Gas- und Strom-
anbieter wechseln. Das spart oft mehr, als sich mit
der Jagd auf Tagesgeldzinsen verdienen lässt. Auch
jenen, die kaum Geld zum Anlegen übrig haben.
Und davon abgesehen, muss man sich nur einmal
im Jahr darum kümmern. MARCUS ROHWET TER
24
Nie unbeteiligter
Zeuge
VOLKER LILIENTHAL
Mein Spiegel-Tag war in meiner Jugend
nicht Montag, sondern Mittwoch. Da
durfte ich die krumm gelesenen Hefte
beim Großvater abholen. Einmal nahm
ich auch an einer Schülerfahrt nach
Hamburg zum Spiegel teil, aber den
großen Meister haben wir nicht ge-
sehen. Ich erinnere mich nur noch an
Cocktailstühle in Schock-Lila.
Rudolf Augstein war ein Ausnahme-
Journalist, ein millionenschwerer Ver-
leger und hochkarätiger Publizist, ein
selten unbeteiligter Zeuge und ein Mit-
gestalter deutscher Geschichte, der
immer wieder eingreifen wollte. Aber
er war auch ein Mann mit Widersprü-
chen, ein Kind seiner Zeit. Groß ge-
worden in der NS-Zeit, als Soldat im
Krieg – hinterher musste er sich die
eigene geistige Autonomie und demo-
kratische Haltung erst erarbeiten. Wie
wir alle war er dabei nicht gefeit vor
Irrtümern, denen er als Kommentator
und Chefredakteur gelegentlich erlag.
Die Ex-Nazis, die anfangs mitschreiben
durften, die Spiegel-Storys, in denen
manchmal fabuliert wurde, damit Fak-
ten zum Lesegenuss wurden, was sie
nicht immer waren.
Auch der legendäre Artikel »Bedingt
abwehrbereit« war ein überlanger Rie-
men, eine Lesequal. Aber demokratisch
wertvoll. Denn er enthüllte 1962 die
mangelhafte Verteidigungsfähigkeit der
Bundeswehr. Bundeskanzler Konrad
Adenauer witterte »einen Abgrund von
Landesverrat« – aber beim Spiegel. Die
Bundesanwaltschaft ließ die Redaktion
durchsuchen. Mehrere Journalisten
wurden verhaftet, unter ihnen Aug-
stein. Diese Ereignisse sind als Spiegel-
Affäre in die Geschichte eingegangen.
Augstein saß 103 Tage zu Unrecht im
Gefängnis. Verteidigungsminister Franz
Josef Strauß musste am Ende zurück-
treten, weil er persönlich auf die Ver-
haftung von Conrad Ahlers, Mitautor
von »Bedingt abwehrbereit«, gedrängt
hatte. Ein Fall von Amtsmissbrauch.
Die Pressefreiheit erlebte dadurch
einen Befreiungsschlag, und die Me-
diendemokratie, hier verstanden als
ein politisches und staatliches Han-
deln unter permanenter Beobach-
tung, etablierte sich. Als Publizist
und Verleger züchtete sich Augstein
anspruchsvolle Leserinnen und Leser
heran – anspruchsvoll nicht nur ge-
genüber der Zeitschrift, sondern an-
spruchsvoll gegenüber dem eigenen
Land.
Volker Lilienthal, 64, ist Rudolf-
Augstein-Stiftungsprofessor für
Journalismus an der Universität Hamburg
Oft unerbittlich
in seinem Urteil
WOLFGANG SCHÄUBLE
Als sich das erste Mal die Wege von
Rudolf Augstein und mir kreuzten, war
ich ein politischer Neuling Anfang 30
und er längst der berühmte Journalist:
1972 zogen wir beide als Abgeordnete
in Bonn in den Deutschen Bundestag
ein. Ich kann mich an keine besondere
Begegnung erinnern – Augstein be-
wegte sich in anderen Sphären als ich.
Es hat mich dann aber auch nicht son-
derlich beeindruckt, dass Augstein, als
er nicht automatisch FDP-Fraktions-
vorsitzender wurde, schon nach weni-
gen Wochen sein Mandat wieder auf-
gab. Ich fand das etwas ungehörig.
Auch er selbst hätte das vermutlich bei
einem anderen scharf kritisiert.
Jemand wie er, der oft unerbittlich
in seinen Urteilen war, muss sich na-
türlich fragen lassen, ob er da seinen
eigenen Ansprüchen gerecht wurde.
Augsteins Lebensleistung jedenfalls
ist nicht zu bestreiten: Der Spiegel ist
ohne ihn nicht vorstellbar. Auch die
Geschichte der Pressefreiheit in der
Bundesrepublik wäre ohne ihn um
ein Kapitel ärmer. Als Kommentator
war er für viele eine Autorität, wie es
sie inzwischen kaum noch gibt – da-
für fehlt es heute schlicht an der
Reichweite einer gemeinsamen Öf-
fentlichkeit von damals.
Augsteins Verhältnis zur Union war
schwierig. Ich habe trotzdem dem
Spiegel oft Interviews gegeben – anders
als Helmut Kohl, der als Kanzler immer
gesagt hat, er lese dieses Blatt nicht. Er
hat sich aber genau berichten lassen,
was drinstand. Augsteins Magazin und
andere Hamburger Medien haben Kohl
häufig als Trottel hingestellt und »Bir-
ne« genannt. Ich fand das arrogant und
Der Wortführer
Freigeist, Demokrat – und fantasievoller Zyniker: Vor 100 Jahren wurde der
»Spiegel«-Gründer Rudolf Augstein geboren. Sechs Erinnerungen an einen heute
undenkbaren Journalismus PROTOKOLLE: GÖTZ HAMANN UND STEFAN SCHIRMER
(geboren am 5. November 1923 in Hannover, gestorben am 7. November 2002 in Hamburg)
albern. Erst infolge der Wiedervereini-
gung hat Augstein seinen Frieden mit
Kohl gemacht – und wohl auch meine
Rolle wertgeschätzt. Ein glühender An-
hänger der Einigung Europas ist er aber
leider nicht mehr geworden.
Wolfgang Schäuble, 81, (CDU) war
unter anderem Bundesminister unter
Helmut Kohl und Angela Merkel
Die Hamburger
Kumpanei
MANFRED BISSINGER
Für meinen eher rechts denkenden
Vater war Rudolf Augstein ein »Vater-
landsverräter«, für mich war er ein Vor-
bild. Wegen ihm wurde ich Journalist.
Wegen ihm ging ich 1962, während der
Spiegel-Affäre, als junger dpa-Volontär
in Hamburg zum ersten Mal demons-
trieren und skandierte in der Menge
»Freiheit für Augstein!«.
Später, als politischer Reporter beim
stern, lernte ich Augstein und die
»Hamburger Kumpanei« kennen. Dazu
muss man wissen: Es gab damals zwei
Medienblöcke, die sich heftig bekämpf-
ten – rechts der Mitte der Springer-
Verlag, die FAZ und das ZDF; links
davon die »Kumpanei« aus Augsteins
Spiegel, Henri Nannens stern und Ma-
rion Gräfin Dönhoffs ZEIT. Dazu der
WDR und der NDR.
Auch ich gehörte dazu. Unser
Treffpunkt war ein Zimmer in Cölln’s
WIRTSCHAFT
»Spiegel«-Gründer Rudolf Augstein
auf Sylt bei der Konkurrenzaufklärung (Aufnahme von 1972)
Austernstube in der Hamburger In-
nenstadt. Wir waren eine Journalis-
ten-Clique, die in ihren Blättern ger-
ne Partei ergriffen und Politik ge-
macht hat – wie es freilich auch
Springer und Co. auf der Gegenseite
taten. Augstein war der wortmäch-
tigste Überzeugungstäter von allen.
Sein berühmter Satz »Schreiben, was
ist« hatte in Wahrheit den Zusatz:
»aber so, dass es möglichst viel Wir-
kung entfaltet«.
Ein Beispiel: Als 1969 FDP-Chef
Erich Mende sich weigerte, die Oder-
Neiße-Grenze anzuerkennen, beschloss
die »Kumpanei«, ihn abzuschießen. Es
wurden die Rollen verteilt. Ich wurde
zu Walter Scheel geschickt, um ihn zu
überzeugen, dass er als Nachfolger zur
Verfügung stehen müsste. Das alles lief
ziemlich offen; es war auch viel An-
maßung im Spiel. Sosehr die politi-
schen Ziele oft richtig waren, und so-
sehr ich bis heute glaube, dass Bericht-
erstattung niemals rein objektiv sein
kann – das war grenzwertiger Journa-
lismus. Heute würde man von Aktivis-
mus sprechen. Zumindest aber waren
damals die Fronten klar, und es gab
kontroverse Positionen. Heute haben
sich die alten publizistischen Lager
längst in der Vielstimmigkeit des
Online-Zeitalters aufgelöst. Dafür gibt
es inzwischen ein anderes Problem:
Rudelbildung. Journalisten, die alle in
dieselbe Richtung laufen. Was auch
nicht gut ist.
Und die »Hamburger Kumpa-
nei«? Sie erlebte ihr Waterloo mit
einem Politiker, den sie nicht als
Kanzler verhindern und dann 16 Jahre
lang nicht aus dem Amt schreiben
konnte: Helmut Kohl. Das war die
große Ernüchterung.
Aber, auch das war Rudolf Aug-
stein: Er konnte auf rührende Art für-
sorglich sein. Als ich nach einem
Schlaganfall in der Klinik lag, rief
Rudolf täglich an und schickte zur
Kräftigung Tatar mit Kaviar. Das aß er
selber gerne. Er warnte den Chefarzt,
bei meiner Behandlung Fehler zu ma-
chen. Sonst bekäme er es mit ihm zu
tun. Die Station, auf der ich lag, war
von ihm gestiftet worden.
Manfred Bissinger, 83, war Vize-Chef-
redakteur des »sterns« und Kronprinz
des Gründers Henri Nannen. Später
gründete er die Zeitung »Die Woche«
Im tiefsten
Innern sensibel
HEIDE SOMMER
Rudolf Augstein war mein Chef, vier
Jahre habe ich als Sekretärin für ihn
gearbeitet. Seither weiß ich: Dieser
scharfzüngige, manchmal zynische
Journalist, der äußerst derbe Witze
reißen konnte und sich diebisch freute,
wenn er politischen Streit anzetteln
konnte, war im tiefsten Innern ein sehr
sensibler Mensch. Er habe seinen
Reichtum nicht verkraftet, hat sein
Freund Fritz J. Raddatz über ihn gesagt.
Zumindest hat Augstein sich über sei-
nen Erfolg mit dem Spiegel gewundert.
Mehr als einmal habe ich ihn fragen
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
Foto: Spiegel-Verlag
hören, ob bestimmte Menschen ihn
mochten oder sein Geld. Er war sich da
nicht sicher.
Augstein hat ja in den 1970er-Jah-
ren die Hälfte des Spiegel-Verlags an die
Mitarbeiter verschenkt. Er hat nach
dem Attentat auf Rudi Dutschke auch
dessen Familie finanziell unterstützt.
Seine Großzügigkeit sprach sich herum
und lockte viele Bittsteller an.
Als vor einigen Jahren die MeToo-
Debatte aufkam, rief mich eine Spiegel-
Redakteurin an, um mit mir über Aug-
stein zu reden: War auch er ein Täter?
Ich kann dazu nur sagen: Mir ist er nie
an die Wäsche gegangen. Dabei ist mir
der Chef sogar hin und wieder im
Bademantel begegnet, ganz harmlos: Da
kam er gerade von einer Massage. Die
gab es im Verlagshaus ebenso wie ein
Schwimmbad und eine Sauna. Beides
wurde später abgeschafft, genau wie der
viele Alkohol. Die Redaktion ist auch
längst kein reiner Herrenclub mehr. Wie
gut, dass heute so viele tolle Frauen im
Journalismus arbeiten!
Einmal durfte ich Augstein übrigens
zu einem Interview mit Franz Josef
Strauß ins Hamburger Hotel Atlantic
begleiten, um das Tonband zu bedie-
nen. Ihre Erzfeindschaft war legendär:
Strauß hatte Augstein 1962 vorüber-
gehend ins Gefängnis gebracht – was
ihn später sein Amt als Bundesminister
kostete. Trotz allem haben die beiden
noch miteinander reden und streiten
können, über politische Gräben hin-
weg. Ich glaube, an dieser Bereitschaft
fehlt es heute oft.
Heide Sommer, 83, war von 1970 bis
Ende 1973 Augsteins Sekretärin
Verliebt in
Sprache
FRANZISKA AUGSTEIN
Eines Morgens, es war in den Acht-
zigerjahren, traf ich meinen Vater
zum Frühstück. Als ich ging, wünsch-
te ich ihm »noch einen schönen Tag«.
Bis zu dem Moment war er gut ge-
launt gewesen. Nun wurde er etwas
barsch: »Ich habe keine schönen
Tage.« Das war keine Lebensbilanz,
sondern Sprachkritik.
Als Liebhaber der genauen Sprache
war Rudolf Augstein eifersüchtig da-
rauf bedacht, dass bewunderte Autoren
nicht auf Abwege gerieten. So erregte
er sich darüber, dass in Hans Woll-
schlägers gefeierter Übersetzung von
James Joyces Ulysses der merkwürdige
Satz vorkommt: »Er weinte Butter-
milch« (dass es im Original auch so
steht, machte die Sache nicht besser).
Goethe beging in Augsteins Augen
einen groben Fehltritt: »Des Lebens
goldner Baum« sei »grün«, ist im Faust
zu lesen. Eine Anspielung auf den gol-
denen Lebensbaum antiker Mythen,
der für Goethe ganz lebendig, also grün
war, konnte Augstein darin nicht sehen.
Einen Nachmittag lang hat ihn auch
die Frage umgetrieben, wer in dem Film
Gilda in dem Song Put the Blame on
Mame der oder die geheimnisvolle
Mame sein möge.
Letzteres würde ihm heute vielleicht
als frauenfeindlich ausgelegt werden.
Mit dem »Gendern« hätte mein Vater
sich nicht anfreunden können. Sterne
gehörten ans Himmelszelt, nicht in
einen Text. Als nachgerade irreführend,
weil beschönigend, wäre es ihm vor-
gekommen, dass heute »Sicherheits-
kräfte« sind, was früher Polizisten wa-
ren. Abgelehnt hätte er auch eine an-
dere Möglichkeit zur Vermeidung des
generischen Maskulinums, die sogar
Feministinnen und Feministen auf die
Probe stellt: Es ist nämlich schwierig,
eine Mehrheit der Bürgerinnen und
Bürger davon zu überzeugen, dass
Literatinnen und Literaten mit der
Verwendung der femininen sowie der
maskulinen Form bei Leserinnen und
Lesern gut ankommen. Die sexuelle
Zuordnung »divers« hätte Rudolf Aug-
stein für eine Beleidigung gehalten von
der Art, wie sonst Reaktionäre sie sich
ausdenken. Da hätte ihm schon besser
gefallen, wenn alle, die sich nicht ein-
deutig als Frau oder als Mann verste-
hen, sich als Mame bezeichneten.
Franziska Augstein, 59, ist Publizistin
und Tochter des »Spiegel«-Gründers
Mit Frechheit
zur Freiheit
GERHART BAUM
Ich folge Augstein in einem Abstand
von neun Jahren im Lebensalter. Das
ist nicht viel. Wir kannten den Krieg.
Ich war von Bomben bedroht. Er
hatte schlimme Kriegserfahrungen
als Soldat. Sein Spiegel hat uns in den
Jahrzehnten danach vorgelebt, dass
kämpferische Streitbarkeit, verbun-
den mit einer gewissen Respektlosig-
keit und mit dem Mut zur Grenz-
überschreitung Lebenselemente der
Freiheit sind.
Der Spiegel – das war Rudolf Aug-
stein. Aus heutiger Sicht mutet es etwas
seltsam an, dass ein einzelner Mensch
einen solchen Einfluss auf den Kurs
eines so wirkmächtigen Mediums hat-
te. Er wollte verändern. Er hatte Visio-
nen und verschrieb sich über die Jahre
unterschiedlichen Missionen. Eine Zeit
lang wollte Augstein beispielsweise die
Abkoppelung unseres Landes vom
Westen. Zum Glück kam er damit
nicht durch.
Ich selbst habe ihn später näher
kennengelernt – bis zum »Du« haben
wir es gebracht. Er unterstützte uns,
die Reformliberalen, in den späten
1960er-Jahren und engagierte sich
persönlich für unsere Ziele. Auch er-
griff er für mich Partei, als ich Ende
der 1970er als Bundesinnenminister
dafür sorgen wollte, im Kampf gegen
die linksterroristische Rote Armee
Fraktion (RAF) die Rechtsstaatlich-
keit zu wahren und – da, wo sie miss-
achtet wurde – wieder herzustellen.
Augstein trat damals öffentlich mit
mir auf, als ich von der Opposition
wütend angegriffen und mein Rück-
tritt verlangt wurde.
Wenn er noch leben würde, er würde
sich einmischen, mit Leidenschaft.
Gerhart Baum (FDP) war Bundes-
innenminister von 1978 bis 1982
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26 WIRTSCHAFT 2. November 2023

Laute Landlieder: Ana Castela, 19, landete in Brasilien gleich mehrere Nummer-eins-Hits Brasilianischer Traum: Mein Mann

»Ich will ein Kuhhirte werden!«

A
lles an diesem Oktoberabend
hat Weltstar-Dimensionen. Die
Konfettikanonen, die ohne Un-
terlass Papierschnipsel regnen
lassen. Die Feuerfontänen, die
am Rand der Bühne meterhoch
sprühen, und der tosende Ju-
bel, als der Star die Bühne betritt. Wenn man die
Augen schließt, kann man glauben, im Berliner
Olympiastadium zu stehen, und dass gleich
Beyoncé auf die Bühne tritt.
Das ist hier aber kein Beyoncé-Konzert. Erstens
sind viel mehr Menschen da, als überhaupt ins Olym-
piastadium passen: Die Veranstalter sprechen heute
von 93.000 Besuchern. Zweitens ist der Star gerade
in Cowboyhut, Bequemhose und einer goldglitzern-
den Jacke auf die Bühne gestürmt, mit schwarzen
Westernstiefeln an den Füßen. Was an diesem Ort
auch alles bestens passt.
Die Show steigt im südamerikanischen Hinter-
land, in Chapecó, einer 220.000-Einwohner-Stadt
im Süden Brasiliens. Sie ist als der Höhepunkt der
regionalen Landwarenmesse gedacht: einem bom-
bastischen Event, zu dem Hunderttausende Besu-
cherinnen und Besucher angereist sind. Chapecó
liegt im Kernland des brasilianischen Agro-Business,
in einer der fruchtbarsten Gegenden des Landes, ja
der ganzen Welt. Auf so einer Messe werden Milli-
ardendeals rings um Soja, Rinder oder Baumwolle
geschlossen.
Und der Star auf der Bühne spielt inzwischen
selber eine erstaunliche Rolle im Geschäft mit der
Großlandwirtschaft. Er nennt sich Chris no Beat,
ist 32 Jahre alt und heißt mit bürgerlichem Namen
Christian Valezi. In Chapecó kennt die Menschen-
menge seine Lieder offensichtlich auswendig:
Strophe um Strophe singt sie beim Dança da Roça
(Ackertanz) mit und bei der Chica do Galope (Das
galoppierende Mädchen) mit. Als der Mann mit
Cowboyhut über »Leute mit Cowboyhüten« rappt,
halten Hunderte ihre Kopfbedeckungen in die Luft;
als er still bleibt und den Finger auf die Lippen legt,
singen seine Fans allein das Lied weiter, in dem es
um »silencio« geht.
Wobei es aber nicht häufig um silencio geht. Bo-
denerschütternde Beats, ohrenbetäubende Anleihen
bei Hip-Hop, Dancehall und Gangster-Funk be-
stimmen hier den Stil. Tänzerinnen in kniehohen
Stiefeln und Naturleder-Tops heizen dem Publikum
ein. Chris no Beat springt auf und ab, kickt in die
Luft und hämmert mit der Faust auf seinem Brust-
korb herum. Einmal müssen Sicherheitsleute mit
Schlagstöcken in die Menge springen, um eine Prü-
gelei in Bühnennähe aufzulösen. Später tragen Sani-
täter eine ohnmächtig gewordene Teenagerin hinaus.
Die Musikrichtung, die die Menschen hier so auf-
peitscht, wird »Agro-Pop« oder manchmal auch
»Agronejo« genannt. Es ist die neueste Erfindung aus
dem Land, das der Welt schon Samba und Bossa nova
beschert hat. Aber Agro-Pop ist nicht nur ein kul-
turelles Phänomen, sondern mindestens ebenso sehr
ein wirtschaftliches: Vieles deutet darauf hin, dass
dieses Genre eigens zu Zwecken der Wirtschaftsför-
derung etabliert wurde. Dass es Agro-Pop gibt, damit
das Agro-Business noch besser läuft.
Zu Beginn der Corona-Pandemie, im Jahr 2020,
tauchten die Agro-Popper plötzlich auf. Wie aus dem
Nichts und mit Gesangstexten, die so klangen, als
seien sie direkt in der PR-Abteilung eines Bauernver-
bandes entstanden: »Respektiert die Landwirtschaft!«,
hießen ihre Songtitel, »Landwirte hören nie auf zu
arbeiten!«, »Der Acker hat gewonnen!«. Neue Stars,
die vorher niemand gekannt hatte, stürmten die
Charts und die Rankings der Streamingdienste. Rap-
musik mit Rinderthemen (»Ich will ein Kuhhirte
werden!«) landete immer wieder in den Top Ten.
Hinter alldem steckt nicht mal eine Handvoll
Produzenten, allen voran ein kleines Label mit dem
passenden Namen »Agroplay«. Es ist im südbrasilia-
nischen Londrina zu Hause, genau wie Chris no Beat.
Der Unterhaltungspresse war bald zu entnehmen,
dass Agro-Popper schon mal Gagen von umgerechnet
einigen Hunderttausend Euro erhalten und das Geld
von Agrarkooperativen, Agrarchemiekonzernen und
Landmaschinenherstellern stammt. Solche Firmen
tauchen auch als Geldgeber im Abspann der auf-
wendig produzierten Agro-Pop-Musikvideos auf.
Die nötigen Finanzmittel sind in der Branche vor-
handen: Das Agro-Business ist im Augenblick der
entscheidende Wachstumstreiber in Brasilien. Im
vergangenen Jahr trug es ein Viertel zum Brutto-
inlandsprodukt bei, dank Rekordernten zog es die
ansonsten notleidende Konjunktur nach oben. Bei
Soja, Mais und Rindfleisch war Brasilien zuletzt der
größte Agrarexporteur der Welt.
Das sind eigentlich gute Nachrichten, die aber
manchmal untergehen. Denn das brasilianische Agro-
Business hat einen schlechten Ruf – in vielen Teilen
der Welt und auch bei vielen Menschen in Brasilien
selbst. Um Chapecó herum kann man besichtigen,
woran das liegt: Da reichen gigantische gleichförmige
Felder bis an den Horizont, Monokulturen aus Mais
oder Soja, eine Katastrophe für die Biodiversität.
Brasilien verbraucht auch die meisten Pestizide auf
der Welt, darunter hochgiftige Stoffe, die anderswo
verboten sind. Im Auftrag des Agro-Business werden
Urwaldgebiete vernichtet, zum Beispiel das Amazo-
nasgebiet. Und das katholische Missionswerk für die
indigenen Völker (CIMI) stellt laufend eine bedrü-
ckende Liste gewaltsam vertriebener, bedrohter oder
ermordeter ursprünglicher Einwohner zusammen.
Es gibt auch in vielen anderen Ländern Kritik an
der industriellen Landwirtschaft, aber dort bemühen
sich die Agrarkonzerne und Großbauern wenigstens
ab und zu um eine inhaltliche Lösung: Sie reden dann
von Nachhaltigkeit, verbesserter Fruchtfolge, redu-
ziertem Biozid-Einsatz. In Brasilien setzen die Groß-
bauern überwiegend auf etwas anderes: auf politische
Rückendeckung von der Lokalpolitik bis zum Na-
tionalkongress – und auf die Pflege eines Gemein-
schaftsgefühls samt Wagenburgmentalität unter den
Leuten auf dem Land. Nach dem Motto: »Wir sind
das wahre Brasilien, wir sind der Fortschritt, und ihr
könnt entweder mit uns oder gegen uns sein.«
Zu dieser Kommunikationsstrategie gehört auch
schon länger die Popkultur. Brasilianische Agrar-
konzerne haben bereits ganze Filme und Telenovelas
über das schöne Leben in der Großlandwirtschaft
finanziert. Sie ließen Radiostationen entstehen, die
sogenannte Sertanejo-Musik spielen: ein Genre mit
leicht tanzbaren Rhythmen und schwärmerischen
Texten über das Landleben. Mit dem Agro-Pop er-
reicht die Imagepflege aber eine neue Stufe. Noch nie
haben die Manager des Agro-Business in so kurzer
Frist so viel Geld in ein Kulturphänomen gesteckt
wie in Chris no Beat und seine Kollegen.
Das sieht dann auch manchmal so aus. In einem
von Chris no Beat mitproduzierten Musikvideo
werden plötzlich Fakten aus der Wirtschaftsstatistik
eingeblendet: sektoraler Umsatz, Ernteertrag. Was
nach Staatspropaganda wie in der früheren Sowjet-
union klingt, ist hier ultrakapitalistisch gemeint. In
einem anderen Musikvideo stellt der Sänger die
Frage: »Wie viele Ferraris stehen hier auf der Weide?«
Im Bild ist eine Rinderherde zu sehen.
Diese Fixierung auf das viele Geld und das große
Business ärgert inzwischen traditionellere Künstler.
»Diese Agro-Pop-Stars singen doch von Dingen, die
sie nie erlebt haben«, sagt Jonivan Amaral, 33, ein
Musiker aus Chapecó. Er stammt von einer Farm in
der Umgebung und hat vor zehn Jahren das
Sertanejo-Duo »Johnny und Willian« mitgegründet.
Die zwei sind auch schon auf der Landwarenmesse
aufgetreten, allerdings im nachmittäglichen Vor-
programm, vor deutlich weniger Zuschauern.
Jonivan sagt, dass er nicht aus Neid schlecht auf
die Agro-Popstars schaue. Er finde bloß, dass sie ein
Stück Heimatkultur zerstörten: Die traditionelle
Musik hier im Süden sei die von einem »Typ mit der
Gitarre, der ein Leben mit der Natur ohne Luxus
lebt.« Agro-Pop ist das Gegenteil. In den Texten geht
es um Geld, Partys und Sex im Stall. Da tanzen Land-
wirte an luxuriösen Swimmingpools vorbei, und ihre
Farmen haben »Willkommen«-Schilder aus Neon-
röhren im Las-Vegas-Stil über dem Eingang. Einige
Agro-Popstars prahlen so aggressiv mit ihren Gold-
ketten und dicken SUVs, dass es anmutet wie bei den
Gangster-Rappern aus Rio de Janeiro. Amaral sagt:
»Die wollen einen Typ Landbewohner zeigen, der
viel Erfolg hat, viele Traktoren besitzt und den Leuten
sagt: Ich verdiene hier Millionen!«
Auf der Landwarenmesse in Chapecó sucht ein
Großteil des Publikums aber offensichtlich genau das:
Wohlstand mit einem Hauch von Glamour auf dem
Land. Familien besteigen haushohe Landmaschinen,
fahren funkelnde SUVs zur Probe, lassen sich mit
dem »VIP-Helikopter« des örtlichen Landwaren-
handels einmal über das Ausstellungsgelände fliegen.
Beim Rodeo werden teure Mixgetränke gereicht, auf
der Kinderkirmes stehen gleich zwei Achterbahnen
zur Auswahl. Vor den Pavillons mit den preisgekrön-
ten Zuchtrindern wird versichert, dass der Boden mit
»Bovitrat« behandelt sei, das helfe gegen Fliegen und
den Geruch von Rinderpisse.
Zwei Tage zuvor ist hier auch Jair Bolsonaro auf-
getreten, der strammrechte Expräsident, und der Jubel
war groß. Bolsonaro lässt sich bei solchen Veranstal-
tungen im ländlichen Süden gerne blicken, weil er die
umweltvernichtenden Großbauern des Landes als
verlässliche Verbündete kennt. Auch Bolsonaro agi-
tiert gerne mit »Sie gegen uns«-Diskursen. Und an der
Seite des Agro-Business steht er gegen gemeinsame
Feinde: Umweltschützer zum Beispiel oder Men-
schenrechtsvertreter, die für vertriebene Kleinbauern
kämpfen. Auf der Landwarenmesse haben einige
Verkaufsstände Bolsonaro-Fanartikel im Angebot,
Messer etwa, in deren Griff sein Konterfei graviert ist.
Am Abend, kurz nach 22 Uhr, nähert sich die
Stimmung dem Höhepunkt. Gleich tritt der größte
Star auf der Landwarenmesse auf. Roadies in schwar-
zen Jeans und T-Shirts machen die Bühne mit Laub-
bläsern vom Konfetti frei, eine noch gewaltigere
Rhythmus- und Lichtanlage wird eingeschaltet, und
Ana Castela ist da.
Die 19-Jährige aus dem ländlichen Agrarstaat
Mato Grosso do Sul wird mit einem Kreischen be-
grüßt. Natürlich hat sie einen Cowboyhut auf, ihrer
ist weiß, dazu trägt sie sternchenbestickte Jeanshose
und Jeanshemd. Chris no Beat mischt bei ihrem Auf-
tritt mit: Er hat einige ihrer Nummer-eins-Hits mit-

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des Jahres:
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 DIE ZEIT N o 46 WIRTSCHAFT 27

Foto: Alessandro Falco für DIE ZEIT

, mein Hund, mein Monstertraktor Rinder im Angebot: Szene auf der Landwarenmesse in Chapecó

Das brasilianische Agro-Business will seinen Ruf verbessern – und investiert in

Musikstars, die vom glamourösen Landleben singen VON THOMAS FISCHERMANN

produziert, jenen Stallschüttler zum Beispiel, in dem
es um die Boiadeira geht. Die große Kuhherde, die
keiner aufhalten kann, so wie auch den brasiliani-
schen Landfrauen kein Mann widersteht. »Niemals
mehr willst du unter meinem Cowboyhut weg«,
singt die Frau, die gerne davon erzählt, dass sie auf
einer Farm »jeden Handgriff« beherrscht.
Boiadeira ist auch der Titel des frisch erschienenen
Musikalbums von Ana Castela, das diese Woche zu
den Toptrends in den sozialen Medien Brasiliens ge-
hört. Es war auch, vielleicht nicht ganz zufällig, einer
der kontroversesten Begriffe der Bolsonaro-Ära.
Deren damaliger Umweltminister hatte in einer Ka-
binettssitzung dazu geraten, man solle doch einfach
mal »die rasende Rinderherde« durch den Amazonas-
wald jagen. Um endlich alles platt zu walzen.
Und wieder kennen die Leute alle Hits. »Der
Acker bin ich!«, grölen sie mit. Blumen fliegen durch
die Luft und landen auf der Bühne. Geschenkkörbe
werden über die Köpfe der Zuschauer hinweg nach
vorne zu Ana Castela auf die Bühne gereicht. Jemand
hat alle Buchstaben ihres Namens in Pink gebacken.
Als die Sängerin noch vor Mitternacht mit ihrer
Crew im Hotel ankommt, ist es immer noch nicht
vorbei. Drei Dutzend Frauen und Kinder wollen dem
Star noch mal nahekommen und haben vor dem
Haupteingang ausgeharrt. Warum sich die Fans das
antun? »Das ist doch unsere Kultur hier auf dem
Land, hier unten im Süden«, sagt eine Mutter, nach-
dem der Star gerade eilig und ohne Worte vorbei- BR ASILIEN
gerauscht ist. Dann schleift sie ihre eingeschlafene
Tochter in den Hotelaufzug und ins Bett. Es ist ein
Luxushotel, auch das gibt es mitten in dieser länd- Londrina
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28 WIRTSCHAFT
Hartes Brot
Weil der Fachkräftemangel immer dramatischer wird, schicken sogar schon kleine Firmen
und Handwerksbetriebe Headhunter auf die Suche nach Personal VON HELENA OTT
W
enn nötig, schlüpft gedreht.« Nur noch »du« und genderneu-
Denis Hundhammer trale Begriffe. Junge Leute sollten sich an-
für seinen Job auch gesprochen fühlen. »Und mir war wichtig,
schon mal in die Le- dass man klar unsere Unternehmenskultur
derhose. In der war und -werte herauslesen kann«, sagt der Re-
er für die Bäckerei cruiter. Anzeigen von Wettbewerbern seien
Rischart, die 18 Fi- häufig sehr hierarchisch formuliert, gerade
lialen in München betreibt, zuletzt auf dem die junge Generation lege viel Wert darauf,
Oktoberfest unterwegs – immer auf der Suche auf Augenhöhe behandelt zu werden. Das
nach neuen Mitarbeitern. Nach Menschen, gilt auch fürs Vorstellungsgespräch. Statt
die Lust haben, Brote zu backen, Brötchen zu die Kandidaten ins Verhör zu nehmen,
verkaufen oder im Büro zu arbeiten. Hund- führt Hundhammer sie durch den Betrieb
hammer ist Recruiter. Eingestellt hat ihn die und stellt ihnen Aufgaben, zum Beispiel ein
Bäckerei vor anderthalb Jahren mit einem fiktives Verkaufsgespräch.
klaren Ziel: Filialschließungen zu vermeiden. Dass sich die Unternehmen etwas ein-
Denn die wären unausweichlich, wenn es dem fallen lassen müssen, zeigt der Blick auf die
27-Jährigen nicht gelingt, ausreichend Perso- Zahlen: Im Frühjahr dieses Jahres waren
nal zu finden. deutschlandweit 1,75 Millionen Stellen un-
Bei Recruitern und Headhuntern denkt besetzt. Ende 2022 waren es fast zwei Mil-
man an Leute, die für große Unternehmen lionen. Ein ungewöhnlicher Rekord. Denn
Fachkräfte suchen: hoch spezialisierte Soft- früher war das Personal immer dann knapp,
wareentwickler oder talentierte Führungs- wenn die Wirtschaft brummte – jetzt ist
kräfte. Man denkt eher weniger an die klei- das auch bei niedrigen Wachstumszahlen
nen Betriebe von nebenan. Doch auch sie so. »Das hab ich vorher noch nicht erlebt«,
haben inzwischen kaum noch eine Wahl: sagt Ulrich Walwei vom Institut für Ar-
Um genug Mitarbeiter zu finden, müssen beitsmarkt und Berufsforschung (IAB).
sie Experten auf die Suche ansetzen. Zu vie- »Wir haben es nicht mehr mit einem kon-
le Stellen bleiben sonst unbesetzt. Mit Fol- junkturellen Problem, sondern mit einem
gen: Da müssen Restaurants zusätzliche Ru- strukturellen zu tun«, erklärt der Wirt-
hetage einführen, Blumengeschäfte samstags schaftswissenschaftler. Weil die Babyboo-
schon mittags zumachen. Ein Konkurrent mer in Rente gehen und weniger Berufsein-
von Rischart hat in diesem Jahr tatsächlich steiger nachkommen, werden künftig
bereits drei Filialen schließen müssen. 400.000 Arbeitskräfte pro Jahr fehlen,
Hundhammer dagegen hat erst vor fünf schätzen die Forscher.
Tagen eine weitere Stelle besetzen können, Entsprechend hart feilschen Unterneh-
erzählt er an einem Montag Ende Septem- men um die, die noch da sind. Auch Re-
ber. Eine neue Bäckereifachverkäuferin, 28 cruiter selbst sind gefragt wie nie zuvor.
Jahre alt, ausgebildet. Jackpot. Sie will von Laut dem Fachkräfteindex der Personal-
einem Mitbewerber zu Rischart wechseln. beratung Hays waren im Quartal 2023
Er habe viel umstellen müssen, als er bei mehr als dreimal so viele Recruiter-Stellen
dem Bäckereibetrieb angefangen habe, sagt ausgeschrieben wie noch im Jahr 2015.
der gelernte Bürokaufmann. Früher reichte Menschen wie Daniel Stojanovic haben
es, die Stellen auf Jobportalen und Aushän- ihr Geschäft danach ausgerichtet. An einem
gen in den Filialen zu bewerben. Die neuen Freitag im September öffnet er die Tür im
Foto: Robert Rieger (Symbolbild)
Mitarbeiter kamen von selbst. Doch das ist zweiten Stock eines Klinkerbaus in Ham-
lange vorbei. Hundhammer besucht deshalb burg. Drinnen herrscht Start-up-Atmo-
regelmäßig Schulen, Jobmessen und Ju- sphäre. Ein Bürohund beäugt Besucher im
gendzentren, um das Bäckerhandwerk und Flur, es gibt Gruppenbüros und eine Tisch-
den Betrieb vorzustellen. tennisplatte. »Kickern ist irre laut, da kann
Außerdem hat er die Stellenanzeigen sich keiner konzentrieren«, sagt Stojanovic,
überarbeitet: »Die haben wir um 180 Grad die braunen Locken trägt er in einem Dutt.
1,75 Millionen Stellen Sein Start-up bits and birds hat sich darauf
sind unbesetzt. Darunter spezialisiert, neben Leuten für Tech-Berufe
etliche im Backgewerbe auch Personaler für Unternehmen zu fin-
den. Unter seinen Kunden sind Kranken-
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betriebe.
Fenja Hanno, 22 Jahre alt, hat kurz
nach der Gründung Ende 2020 bei dem
Start-up angefangen. An diesem Freitag-
nachmittag lernt sie gerade eine neue Re-
cruiterin an. Hanno erklärt ihr die digitale
Kundenplattform. Auf einem schwarzen
Hintergrund ploppen pinke und orange
Dialogfelder auf. Sie zeigen den Fortschritt
der Aufträge. Kunden können so mitver-
folgen, wie viele Leute das Start-up für sie
WIE DER KLIMAWANDEL UNSERE
bereits angeschrieben hat. »Je nach Stelle
können das schon mal 250 oder mehr
sein«, sagt Hanno. Die Kunden sehen dabei
auch gleich, wie viele Rückmeldungen es
GESUNDHEIT BEDROHT bisher gibt.
Dabei geht es aber nicht nur darum, ir-
gendwen zu finden, sondern für jede Firma
die genau passende Person – fachlich wie
14. NOVEMBER 2023 · 19.00 UHR persönlich. Deshalb analysiert das Start-up
im Vorfeld die Firmenkultur, lässt dafür
BERLIN & LIVESTREAM von möglichst vielen aktuellen Mitarbei-
tern Fragebögen ausfüllen. Die Kandidaten
bekommen ebenfalls Fragen: Sie sollen
zum Beispiel angeben, ob sie eher team-
orientiert oder autonom arbeiten, lieber in
festen Strukturen oder frei. Auf Basis der
Antworten errechnet das Start-up einen
ZEIT FORUM GESUNDHEIT Wert. »Dieser Score zeigt, wie gut ein Kan-
didat mit dem Unternehmen matcht«, er-
klärt Hanno.
Der Klimawandel betrifft uns unmittelbar und persönlich: Mehr als ein Viertel aller Die Recruiter bei bits and birds haben
Fotos v. o. n. u.: © Micha Pawlitzki; Dominik Butzmann | Anbieter: Zeitverlag Gerd
Deutschen erfuhr durch die Hitze im Sommer 2022 gesundheitliche Probleme. ein Eigeninteresse daran, dass den Kandida-
Begünstigt der Klimawandel neuartige Krankheiten? Welche innovativen Lösungen
gibt es, um die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels zu mildern? Und
Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg
Claudia Traidl-Hoffmann
was kann jeder persönlich tun, um diese Krise einzudämmen?
Über diese und weitere Fragen diskutieren Eckart von Hirschhausen und Claudia
Traidl-Hoffmann beim ZEIT FORUM Gesundheit.
Fachkräftemangel
Immer mehr Arbeitsstellen in
Ort: Berlin & Livestream Deutschland sind unbesetzt (in Tausend)
Beginn: #19.00 Uhr | Der Eintritt ist frei
Anmeldung: www.zeit.de/forumgesundheit 2000
Folgen Sie uns: @ZEITvst | @zeit_veranstaltungen
1500
Eckart von Hirschhausen
1000
500
Eine Veranstaltungsreihe von: In Zusammenarbeit mit:
2014 15 16 17
ZEIT- GRAFIK/Quelle: Institut für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)
113528_ANZ_ZFG_3220x220_X4_ONP26 1 23.10.23 15:23
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
ten die Arbeit später gefällt, deswegen wür-
den sie das Stellenangebot möglichst realis-
tisch bewerben. »Wenn jemand innerhalb
der ersten sechs Monate kündigt, sind wir
vertraglich verpflichtet, die Stelle kostenlos
nachzubesetzen«, sagt Hanno.
Es ist ein Geschäft mit Zukunft. Selbst
Handwerksbetriebe sind inzwischen auf
Recruiter angewiesen, zu viele Positionen
sind unbesetzt. Von derzeit 250.000 offe-
nen Stellen berichtet Jörg Dittrich, Präsi-
dent des Deutschen Handwerks. Gelingt es
nicht, sie zu besetzen, seien auch große Re-
gierungsvorhaben gefährdet: die Energie-
wende etwa oder der Wohnungsbau. »Für
unsere Volkswirtschaft sind handwerkliche
Fachkräfte unverzichtbar, wenn es darum
geht, die politisch gewollten Zukunfts-
projekte in der Praxis umzusetzen«, sagt
Dittrich.
Der Job des Recruiters selbst verlangt
eine hohe Frustrationstoleranz. Recruiter
müssen auf LinkedIn und anderen Karriere-
netzwerken Tausende Profile durchscrollen
und unzählige Nachrichten mit geringer
Rücklaufquote verschicken. Einen Teil die-
ser Arbeit übernimmt bei bits and birds
schon eine KI. Das Programm spuckt aus,
welche Kandidaten zu einer Suche passen,
und wird dadurch trainiert, dass die Recrui-
ter die Auswahl immer wieder verifizieren.
Zehn Programmierer seines Unternehmens
entwickeln das System weiter.
Das Ziel ist, dass Recruiter wie Fenja
Hanno nur noch eine Nachrichtenvorlage
schreiben müssen und das Programm sie
automatisch mit angepasster Anrede an
Hunderte Nutzer gleichzeitig schickt. »Wir
haben ausgerechnet, dass die Software,
wenn mal alles funktioniert, den Recruitern
75 Prozent der Arbeit abnimmt«, sagt Da-
niel Stojanovic.
Denn erst wenn sich jemand auf die au-
tomatisierte Ansprache zurückmeldet, be-
ginnt für Fenja Hanno der »spannende
Teil«. 80 bis 90 Prozent der Kandidaten,
mit denen sie spricht, haben einen Job und
seien nicht auf der Suche. Sie müssen also
aktiv abgeworben und im persönlichen Ge-
spräch überzeugt werden.
Hier zeigt sich: Recruiter können den
Fachkräftemangel vielleicht individuell lö-
sen – aber nicht volkswirtschaftlich. Was
der eine kriegt, verliert ein anderer. Was am
Arbeitsmarkt gerade passiere, sagt Daniel
Stojanovic, das sei eine »umgekehrte Reise
nach Jerusalem, bei der am Ende viele
Stühle leer bleiben«.
Der Arbeitsmarktforscher Ulrich Walwei
vermutet in der Tätigkeit von Recruitern
trotzdem einen positiven Effekt. »Unter
Ökonomen sprechen wir dabei von Alloka-
tion«, sagt er. Hinter dem sperrigen Begriff
steckt die Annahme, dass mit höherem
Druck auf die Arbeitgeber für Arbeitneh-
mer die Chance steigt, auf für sie bessere
Stellen vorzurücken. Es sei ein volkswirt-
schaftlicher Zugewinn, wenn Personen dort
eingesetzt werden, wo sie den größten Bei-
trag leisten können. »Recruiter können da-
bei eine Schlüsselfunktion einnehmen«,
sagt Walwei. Etwa wenn sie Arbeitnehmer
dazu ermutigen, auf eine Stelle mit mehr
Verantwortung zu wechseln.
Die Intervention von Recruitern könne
schließlich sogar dazu führen, sagt Walwei,
dass sich die Arbeitsbedingungen in Betrie-
ben verbessern. Arbeitgeber mit angenehmen
Arbeitszeiten, familienfreundlichen Regeln
und einem guten Miteinander im Betrieb
könnten Recruitern bessere Vorlagen liefern,
um für sie bei Kandidaten zu werben.
Denis Hundhammer hat sein Ziel, mit
dem er seinen Job angetreten hat, bislang er-
reicht. Bei Rischart musste noch keine der
18 Filialen geschlossen werden. Stattdessen
hätten sich die Bewerbungszahlen im Ver-
gleich zum Frühjahr 2022 inzwischen mehr
als verdoppelt.
18 19 20 21 22 23
 DIE ZEIT N o 46 2. November 2023
1.
Was sind Staatsanleihen?
Staatsanleihen sind Schuldenpapiere von Staaten.
Regierungen leihen sich auf die Weise Geld am
Finanzmarkt. Wer Staatsanleihen erwirbt, gibt
dem ausgebenden Staat ein Darlehen. Im Gegen-
zug erhält der Gläubiger – das können Kleinanle-
ger, Banken, Großinvestoren oder Versicherungen
sein – über die gesamte Laufzeit jährliche Zinsen
und am Ende den geliehenen Nominalbetrag zu-
rück. Der Wert aller im Umlauf befindlichen US-
Staatsanleihen, man nennt sie Treasuries, erreicht
inzwischen ein Volumen von 26 Billionen Dollar.
Das entspricht sechsmal der jährlichen Wirt-
schaftsleistung von Deutschland.
2.
Warum sind US-Staatsanleihen
so bedeutend?
Amerikanische Staatsanleihen gelten seit je als siche-
rer Hafen für Anleger, weil niemand davon aus-
geht, dass die US-Regierung ihre Schulden nicht
zurückzahlt. Deshalb richten sich Zinsen auf
vielen Märkten der Welt nach den Renditen von
US-Staatsanleihen. Investoren nehmen die Rendi-
te von US-Anleihen – also was diese Papiere an
Ertrag für die Anleger abwerfen – praktisch als
Ausgangswert.
Wenn Investoren Unternehmen oder Staaten
Geld leihen, verlangen sie einen entsprechend hö-
heren Zins als Ausgleich dafür, dass dieser Verleih
Illustration: Delia Wilms/ZEIT-Grafik
quasi immer risikoreicher ist als eine US-Staats-
anleihe. Denn warum sollten sie jemandem Geld
leihen, wenn sie damit ein höheres Risiko einge-
hen, als wenn sie es der US-Regierung zur Verfü-
gung stellen? Daher müssen Schwellenländer wie
etwa Argentinien und Brasilien einen Risiko-
aufschlag auf US-Anleihen bezahlen, wenn sie sich
Geld pumpen. In anderen Worten: US-Staats-
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Das große Beben
Die Staatsanleihen der USA galten einmal als die sicherste Finanzanlage.
Daran zweifeln immer mehr Investoren. Droht eine neue Wirtschaftskrise? VON HEIKE BUCHTER
anleihen sind das Fundament des weltweiten Fi-
nanzsystems, nach ihnen richten sich viele andere
Märkte.
3.
Was passiert gerade am Markt
für US-Staatsanleihen ?
Investoren auf dem Markt sind in Aufruhr. Ohne-
hin ist die Nervosität an den Finanzmärkten groß.
Krieg in der Ukraine, Krieg im Nahen Osten, dazu
eine schwächelnde Wirtschaft in China und Eu-
ropa. All das versetzt die Investoren in Alarm-
bereitschaft. Zu sehen ist das an diesen Zahlen:
Anfang vergangener Woche stieg die Rendite
zehnjähriger US-Staatsanleihen über die gefährli-
che Fünf-Prozent-Marke. Gefährlich deshalb, weil
dies zum letzten Mal im Jahr 2007 geschah, nur
Monate später steckte die Welt in einer Finanz-
krise. Zum Vergleich: Im Mai betrug dieser Wert
noch 3,4 Prozent. Dazu muss man wissen, dass,
anders als etwa der Aktienmarkt, der Anleihemarkt
sich nur sehr langsam bewegt.
Hinter dieser Entwicklung steckt eine Tatsache,
die Anlass zur Sorge gibt: Immer weniger Investo-
ren stecken ihr Geld in US-Anleihen. Das hat zur
Folge, dass deren Preise sinken. Und damit die
Rendite steigt. Das hat folgenden Hintergrund:
Wurden die Staatsanleihen einmal von der Regie-
rung verkauft, können Käufer sie in ihr Depot le-
gen oder sie auf dem Sekundärmarkt verkaufen.
Der Preis für die Papiere auf diesem Markt
schwankt. Er kann über oder unter dem Ausgabe-
wert liegen. Da sich der Zinssatz nicht verändert
und immer auf Grundlage des Nennwerts der An-
leihe bezahlt wird, hat eine Anleihe eine höhere
reale Rendite, wenn man sie unterhalb des Aus-
gabepreises erwirbt.
Ein vereinfachtes Zahlenbeispiel: Wenn eine
Anleihe bei der Ausgabe 100 Dollar wert ist und
pro Jahr mit drei Prozent verzinst wird, ist der Zins
auch gleichzeitig die jährliche Rendite – in diesem
WIRTSCHAFT
Fall drei Dollar. Angenommen, der Preis für die
Anleihe sinkt dann von 100 auf 90 Dollar. Wer die
Anleihe jetzt für den niedrigeren Preis erwirbt, setzt
weniger Geld ein, erhält aber weiterhin drei Euro
Zinsen im Jahr. Fallen also die Preise für Anleihen,
steigen die Renditen für Investoren, die neu zugrei-
fen. Das passiert gerade bei den US-Staatsanleihen.
4.
Hat das Beben am US-Anleihemarkt
Folgen für Unternehmen
und Arbeitnehmer in Deutschland?
Investoren an den Finanzmärkten beschert die
höhere Rendite auch höhere Gewinne. Aber für
Unternehmen weltweit stellt diese Entwicklung
ein Problem dar. Für Unternehmen, die jetzt Geld
brauchen, etwa weil sie eine Fabrik bauen wollen,
ein neues Produkt einführen oder an etwas Neuem
forschen wollen, steigen damit die Finanzierungs-
kosten. Auch die Kosten von Hypothekendarlehen
können steigen. Bei Unternehmen, die knapp
kalkulieren oder die ohnehin schon Probleme ha-
ben, verstärken steigende Finanzierungskosten die
Probleme. Und bei soliden Unternehmen können
steigende Kosten dazu führen, dass Investitionen
zurückgefahren werden, dass weniger Arbeitsplätze
geschaffen werden, was generell zu einer Verlang-
samung der Wirtschaftsentwicklung führt.
5.
Wie konnte es so weit kommen?
Eine eindeutige Erklärung gibt es nicht. Eine
Theorie lautet, dass ausländische Notenbanken
sich neuerdings zurückhalten. Sie sind normaler-
weise die besten Kunden des US-Finanzministeri-
ums. So ist Japan mit einem Volumen von 1116
Milliarden Dollar inzwischen der größte Gläubi-
ger der USA. Bis vor Kurzem war es China, das
seinen Bestand mittlerweile auf 805 Milliarden
Dollar reduziert hat.
Ein weiterer Faktor ist, dass die US-Notenbank
Federal Reserve als Käufer von Staatsanleihen aus-
gefallen ist. Bis vor Kurzem erwarb die »Fed« US-
Anleihen aus geldpolitischen Gründen: Mit den
Anleihenkäufen wollte die US-Notenbank Kredite
verbilligen und so eine Finanzkrise während der
Pandemie vermeiden. Doch nun zwingt die Infla-
tion die Notenbanker, die Zinsen zu erhöhen –
und so hat die Fed nicht nur ihre Aufkäufe einge-
stellt, sondern begonnen, die Treasuries in ihren
Beständen auslaufen zu lassen.
6.
Haben die USA ihren Kredit verspielt?
Und dann gibt es noch eine Erklärung für das Be-
ben an den Anleihemärkten, die Experten zutiefst
erschreckt: Die USA könnten ihr Kreditlimit über-
zogen haben. Bislang gab die stetig wachsende
Nachfrage nach den Anleihen der US-Regierung
die Möglichkeit, immer mehr Geld auszugeben,
ohne zu sparen oder Steuern zu erhöhen. Während
der Pandemie legten sowohl US-Präsident Donald
Trump als auch dessen Nachfolger Joe Biden Hilfen
in Billionenhöhe auf, nie hat ein Staat mehr Geld in
so kurzer Zeit ausgegeben. Die Steuereinnahmen,
mit denen dieses Geld eigentlich zurückbezahlt
werden sollte, bleiben weit dahinter zurück.
Im abgelaufenen Fiskaljahr stieg das Haushalts-
defizit deshalb auf 1,7 Billionen Dollar, so der
Rechnungshof des Kongresses. Der Fehlbetrag in
der US-Staatskasse ist mehr als das, was Spanien
im Jahr erwirtschaftet. Entsprechend steigen die
Staatsschulden der USA. Inzwischen belaufen sie
sich auf fast 34 Billionen Dollar – damit haben
sich die US-Schulden seit der Finanzkrise im Jahr
2008 mehr als verdreifacht. Für den Anleihen-
markt bedeutet das, dass immer mehr US-Schuld-
scheine auf den Markt kommen – und dabei ist
man wieder beim Thema: Wenn ein steigendes
29
Angebot auf eine geringere Nachfrage trifft, sin-
ken die Preise der Papiere, wodurch die Renditen
steigen. Daher dürfte der wichtigste Grund sein,
der das Beben ausgelöst hat: die Sorge, dass die
USA sich zu überschulden drohen.
7.
Was passiert im schlimmsten Fall?
Die Folge von allem wäre eine weltweite Rezes-
sion. Steigen die Schulden, muss Jahr für Jahr
mehr Geld für deren Bezahlung aufgewendet wer-
den – und es bleibt weniger Geld für Infrastruktur,
Gesundheit, Bildung übrig. Im aktuellen Fiskal-
jahr wird US-Finanzministerin Janet Yellen 660
Milliarden Dollar an Nettozinszahlungen aufbrin-
gen müssen. Das entspricht elf Prozent des ge-
samten Staatsbudgets. Der wachsende Schulden-
dienst wiederum treibt die Staatsausgaben weiter
in die Höhe – was noch mehr Schulden bedeutet.
Wollte man dies durchspielen, so stünde am Ende
einer solchen Spirale die Zahlungsunfähigkeit der
USA. Das lässt sich zwar so gut wie ausschließen,
denn die führende Wirtschaftsnation der Welt
kann immer Dollar drucken und damit die Gläu-
biger befriedigen. Dies hätte allerdings Geldent-
wertung und eine noch höhere Inflation zur Folge.
Aber auch die wahrscheinlicheren Szenarien sind
immer noch gefährlich genug: Hält das Beben an und
steigen die Renditen weiter, erhöhen sich auch die
Finanzierungskosten. Dann drohen Unternehmens-
pleiten, und es sind auch Banken gefährdet, die zu
viele Risiken auf sich geladen haben. Es droht dann
im schlimmsten Fall eine Finanzkrise wie im Jahr
2008, deren Folgen bis heute zu spüren sind.
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30 WIRTSCHAFT 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

Wirtschaft in einem Satz DIE COACHIN

Warum lang, wenn es auch kurz geht?

Was diese Woche sonst noch los war
Reicht es, wenn
GELDSORGEN Die von dem Investor René Benko
meine Arbeit
begründete Signa Holding (unter anderem
Galeria Karstadt Kaufhof, Elbtower)
mittelmäßig ist?
ist in Schwierigkeiten: mehrere DIE FR AGE Liebe Frau Timmann, ich DER WEG Was ich Ihnen rate: Finden Sie
mache meine Arbeit wirk- heraus, ob die letzten 20 Pro-
Tochterfirmen haben Insolvenz angemeldet lich sehr gerne, aber in letzter Zeit beschwert
sich meine Chefin ständig, dass ich nicht
zent überhaupt notwendig sind, um Ihre Che-
fin zufriedenzustellen. Sie erwartet sicherlich
schnell genug sei. Eigentlich gehöre ich nicht hochwertige Arbeit, aber nicht, dass Sie Ihre
GELDREGEN Google hat im Jahr 2021 über zu denen, die immer besonders lange brau- Aufgabe überinterpretieren. Für eine Führungs-
chen. Allerdings tue ich mich schwer damit, kraft ist es oft am leichtesten, dem Mitarbeiter
eine Arbeit abzugeben, mit der ich nicht zu oder der Mitarbeiterin einfach nur ein Stich-
26 Milliarden Dollar gezahlt, um die hundert Prozent zufrieden bin. Manchmal
denke ich, ich sollte einfach meine Ansprüche
wort oder zwei, drei Gedanken hinzuwerfen –
ohne konkret auszuführen, wie das Projekt aus-
runterschrauben. Reicht also auch Mittelmaß? geführt werden soll. Aber auf der anderen Seite
Standard-Suchmaschine auf Smartphones Sabine W., 52, Personalerin wird das zum Problem: Wenn Sie als Mitarbei-
terin selbst interpretieren müssen, was sich Ihre

und in Webbrowsern zu sein; es ist DIE LAGE Mittelmaß bedeutet ganz sicher
nicht, dass Sie eine schlechte
Chefin inhaltlich vorstellt, ist die Gefahr groß,
dass Ihre Arbeit ausufert.
oder fehlerhafte Arbeit abliefern. Das wollen Oft sitzen Führungskräfte bei mir im Coa-
der größte Ausgabeposten des Konzerns vermutlich weder Sie noch Ihre Chefin. Das
Problem scheint mir hier ein anderes zu sein:
ching und klagen darüber, dass Ihr Team zu
langsam arbeite. Ich frage dann, wie sie die
Vielleicht haben Sie schon einmal davon ge- Aufgabe konkret gestellt haben: ob sie zum
GELDAUSGEBEN In München lebt es sich am
hört, dass man für die letzten 20 Prozent eines Beispiel darum gebeten haben, einen Projekt-
Projektes überproportional lange braucht. plan zu erstellen, oder ob sie dazugesagt ha-
Wenn Sie sich also fragen, ob man nicht auf ben, dass eine grobe Skizze reicht. Vielen fällt
teuersten (25,1 Prozent über dem deutschen diese 20 Prozent verzichten kann, sei Ihnen
gesagt: Ja, das reicht manchmal vollkommen.
dann auf, dass sie so weit gar nicht gedacht
haben. Sie haben den Mitarbeiterinnen und
Es gibt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Mitarbeitern nicht genug erklärt, wie sie die
Durchschnitt), im sächsischen
Illustration: Kim-Melina Bertram/ZEIT-Grafik

dazu neigen, sich zu verzetteln. Falls Sie dazu Aufgabe mit Inhalt füllen sollen.
gehören, sei Ihnen gesagt: Perfektionismus ist Fragen Sie also beim nächsten Mal konkret

Vogtlandkreis am günstigsten (9,5 Prozent

an sich nichts Schlechtes – und bringt oft auch nach, was sich Ihre Chefin wünscht. Sonst
brillante Ergebnisse hervor. Aber er ist nicht schreiben Sie nämlich drei Seiten, obwohl eine
immer nötig. halbe es auch getan hätte.

unter dem Durchschnitt), so

Die Psychologin Hanna Timmann coacht seit 30 Jahren Unternehmen im In- und Ausland.
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diskutiert? Und wie hat sich die Rolle der
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Am 15. November steht unser Chefredakteur
Giovanni di Lorenzo Ihnen im Theater am
Tanzbrunnen in Köln Rede und Antwort.
Außerdem mit dabei: Der Investigativ-
Reporter Yassin Musharbash und die
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grundberichten von ihren spannendsten
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nen. Denn das Einfamilienhaus, das
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seinem offenen, lichtdurchfluteten
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Künstliche Intelligenz ermöglicht die Energiewende, erleichtert die Bio-Ernte und beschleunigt den Nahverkehr.
Doch hilft das auch dem Klima? VON UWE JEAN HEUSER, SOPHIE NEUKAM UND RICARDA RICHTER
K
ünstliche Intelligenz kann zwar
keine Berge versetzen, aber sie
kann das Himmelsbild verän-
dern. So könnten Flugzeuge
dank KI bald weniger Kondens-
streifen in der Luft hinterlassen
und auf diese Weise das Klima
schonen. Die weißen Wolkenstreifen fördern die
Erwärmung der Erde nach manchen Schätzungen
genauso stark wie der CO₂-Ausstoß der Flugzeuge.
Mithilfe intelligenter Software lässt sich nun vor-
hersagen, wo die Streifen entstehen – und dann
eine andere Flugroute wählen.
»Wir haben Hunderte Stunden damit verbracht,
etwa 100.000 Kondensstreifen für die KI zu kenn-
zeichnen«, sagt Juliet Rothenberg. Sie ist die Projekt-
leiterin des Google AI Climate Team, das mittels
Satellitenbildern eine Software weiterentwickelt, die
in die Flugplanung integriert wird. Da die Tempera-
tur und die Feuchtigkeit die Bildung der Streifen
beeinflussen, verursachen nur bestimmte Routen den
Wolkenschweif, und Piloten können mithilfe der KI
entsprechende Gebiete umfliegen. Auf den ersten
Testflügen mit American Airlines konnten auf diese
Weise mehr als die Hälfte der Kondensstreifen ver-
mieden werden. In Deutschland arbeiten derzeit elf
Institutionen und Firmen an einem Projekt mit ähn-
lichem Ziel.
Geht es um künstliche Intelligenz, denkt man
zuerst an das Programm ChatGPT, das komplexe
Aufgaben in allgemein verständlicher Sprache löst.
Was den allermeisten nicht bewusst ist: Auch bei der
Lösung ökologischer Probleme erlebt die KI gerade
einen regelrechten Höhenflug. Sie kann die Dauer
von Experimenten im Labor verkürzen und etwa die
Batterieforschung vorantreiben. Mit ihr können
Klimawissenschaftlerinnen ihre Modelle schneller
durchrechnen. Sie kann auch die Menge verkaufter
Lebensmittel im Supermarkt vorhersagen und über-
schüssigen Wareneinkauf beschränken. Durch sie
braucht man von allem weniger. Weniger Zeit, we-
niger Ressourcen, oft auch weniger Geld. Die Frage
ist allerdings: Hilft das am Ende dem Klima, oder
entsteht auf diese Weise auch mehr: mehr Konsum,
mehr Profit, mehr Umweltbelastung?
Mittlerweile unterstützt KI auch die Landwirt-
schaft. Genauer gesagt: die Möhre. Denn Möhren
wachsen zu langsam, im Vergleich zum Unkraut.
Durchbricht ihr Keimling im Frühjahr gerade die
Erde, ist das Unkraut längst da. Wenn dieses dann
große Blätter bildet, bekommt das feine Grün nicht
genug Licht. »Dann wächst keine Möhre«, sagt Paul-
Heinrich Dörscher. Herbizide spritzen darf er nicht,
Für Menschen, die nach Lösungen suchen
GREEN.
Vor dem großen Sprung
Dörscher ist Bio-Landwirt. Auf seinem Hof an der
Westküste Schleswig-Holsteins ist Möhrenanbau
deshalb Handarbeit, 30.000 Stunden Jäten zwischen
Juni und August. Bisher. Jetzt soll ein intelligenter
Roboter übernehmen.
Der Westhof liegt kurz vor dem Hafenort Büsum.
Der Regen hat die Ackerböden aufgeweicht, laut
schmatzt der Lehm unter den Schritten der Gummi-
stiefel, doch die Ernte kann nicht länger warten. Zwei
junge Angestellte lenken den Möhrenroder, eine
riesige Erntemaschine, auf den Rand des Feldes.
Greifer umfassen das Möhrenkraut, vier Reihen auf
einmal, während von unten ein Spaten die Erde auf-
bricht. Die orangefarbenen Wurzeln werden aus dem
Boden gezogen und füllen die Kisten eines neben-
herfahrenden Anhängers. Eine Kiste pro Minute, 700
bis 800 am Tag.
Damit die Möhren überhaupt so groß werden
konnten, mussten sich Monate zuvor viele Menschen
bücken. Immer wieder, mit geschultem Auge und
einem Messer in der Hand. Unkraut jäten, 150
Handarbeitsstunden pro Hektar. Was, wenn die
Der Staat kann künstliche Intelligenz sogar selbst nutzen,
um seine Bürger zielgenauer in die grüne Richtung zu lotsen
rumänischen Saisonarbeiter dafür eines Tages aus-
bleiben? Bereits im Jahr 2008 wandte sich der Ge-
schäftspartner von Dörscher mit dieser Sorge an die
Fachhochschule in der Nachbarstadt Heide: ob sich
nicht eine technische Lösung finden lasse, Unkraut
von Möhren zu unterscheiden – und zu bekämpfen.
Das Ergebnis steht in einer Halle am Südrand des
Hofgeländes: ein Roboter, der mit seinen freiliegen-
den Kabeln, Kesseln und Kisten nach viel Tüftelei
aussieht. Kameras, die den Boden erfassen, Metall-
stifte, die mit Druckluft nach unten schnellen, um
Unkraut abzuschneiden. »Das ist die KI«, sagt der
Entwicklungsleiter Vitali Czymmek und deutet auf
einen kleinen schwarzen Kasten hinter einer Plastik-
scheibe, kaum größer als ein Handy und voll mit 2,5
Millionen künstlichen Neuronen, die in Millisekun-
den erkennen, was Möhre und was Unkraut ist.
Seit drei Jahren fährt der Roboter im Sommer
testweise über die Möhrenfelder. Einen Kilometer in
der Stunde jätet er aktuell, acht Reihen auf einmal.
»Das geht alles noch nicht schnell genug«, sagt der
Landwirt Paul-Heinrich Dörscher. Für den Westhof
werde der Einsatz trotzdem eine große Erleichterung
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
sein. Ab dem nächsten Frühjahr soll der Roboter die
Reihen abfahren, zweimal pro Saison. Was der Ma-
schine entgeht, sollen Arbeiter dann im dritten
Durchgang tilgen. Der Westhof will damit aber nicht
allein bleiben. Dörscher und sein Geschäftspartner
haben ein eigenes KI-Start-up gegründet. Der Robo-
ter soll in Serie gehen.
Schon jetzt reduziert KI den Gifteinsatz auf dem
Acker. BASF, Bosch und der Landmaschinenher-
steller Amazone haben eine Pflanzenspritze entwi-
ckelt, die per Bilderkennung Unkraut von Getreide
unterscheidet und Herbizide nur noch gezielt auf
einzelne Pflanzen richtet. Bis zu 70 Prozent Chemika-
lien sollen sich so einsparen lassen. Ähnlich lässt sich
dank KI mittlerweile gezielt nur dort düngen, wo es
Pflanzen wirklich brauchen. Dass bisher nur wenige
Höfe intelligente Systeme einsetzen, liegt an den für
kleine Familienbetriebe oft zu hohen Investitions-
kosten. Sie müssten sich mit anderen zusammentun.
Zu kleine Einheiten sind nicht das Problem im
Verkehr, wo es gleich um ganze Länder oder mindes-
tens Städte geht. Wie in Hamburg. Wenn die Hanse-
stadt feiert, und das tut sie oft, dann surren sie wie
dicke goldene Fliegen in großer Zahl durch die Stadt;
ihren Weg weist ihnen die KI. Die goldenen Elektro-
kleinbusse von Moia sind eine Art Sammeltaxi, das
per App gerufen wird; der eine steigt hier ein, die
Nächste dort. »Die KI hilft uns, vorherzusagen, wo
bei einer bestimmten Wetterlage, zu einer bestimm-
ten Tageszeit, bei Events oder Fußballspielen eine
hohe Nachfrage zu erwarten ist«, erklärt der Technik-
vorstand Ralf Sigmund. Darauf werden Schicht-
pläne und Routen abgestimmt.
260.000 Fährgäste fuhren im September mit
Moias durch Hamburg – eine Blaupause für ande-
re Städte? Zunächst muss die Tochterfirma von
Volkswagen noch ein Kostenproblem lösen, weil
ihr Konzept sich durch die vielen teuren Fahrer
nicht rentiert. Deshalb plant sie mit autonomem
Fahren. Die Stadt Hamburg und Moia haben da
gemeinsam mit der Bundesregierung Großes vor:
Vergangene Woche überreichte Verkehrsminister
Volker Wissing dem Projekt einen Scheck über 26
Millionen Euro. 2025 sollen die ersten autonomen
Shuttles durch Hamburg rollen. Und die Partner
träumen schon von 10.000 Fahrzeugen im Jahr
2030. Hamburg im Goldrausch.
Im Hafen der Stadt hat die KI eine ganz andere
Aufgabe zu bewältigen. Gut acht Millionen Stan-
dardcontainer wurden hier 2022 umgeschlagen. Was
heute wie ein klug durchdachtes System des Hafen-
betreibers Hamburger Hafen und Logistik AG
(HHLA) wirkt, war vor September 2020 ziemlich
chaotisch. »Bei circa 50 Prozent aller Import-Con-
tainer hatten wir bei der Entladung keinerlei Kennt-
nis, wann genau sie weitertransportiert werden«,
erklärt der HHLA-Experte Christian Greinert im
Videoanruf – sondern höchstens, ob es mit Bahn,
Lastwagen oder Schiff weitergeht. Ständig musste
man daher umstapeln. Seit drei Jahren berechnet eine
KI, wo der Container am besten steht. 750.000
Datensätze, durch die bis zu einem Viertel der Fahr-
strecken im Hafen wegfallen. Nach nur einem Jahr
hat sich die kostspielige KI schon rentiert. Die Klima-
wirkung ist da ein netter Nebeneffekt.
KI macht die Dinge effizienter. Doch Effizienz-
gewinne erzeugen fast immer auch neues Wachstum
und neuen Verbrauch von Ressourcen: »In vielen
Bereichen ist KI ein Selbstgänger, weil man dadurch
Kosten einsparen kann – und damit ist dem Klima
nicht unbedingt geholfen«, sagt die Computerfor-
scherin Lynn Kaack von der Hertie School in Berlin,
die das Netzwerk Climate Change AI mitgegründet
hat. »Dann wird einfach mehr produziert, mehr kon-
sumiert, günstiger und schneller. Und wenn wir auf
dem Pfad bleiben, auf dem wir gerade sind, ist das
keine gute Richtung.« Ersetzen die mit vielen Res-
sourcen produzierten Moias in Hamburg wirklich
nur den Autoverkehr, oder steigern sie auch die Zahl
der zurückgelegten Kilometer, weil die Menschen
nüchtern wie betrunken einfach mehr fahren? Kur-
belt der Hafen Handel und Konsum an, wenn Con-
tainer billiger umgeschlagen werden?
Der Bumerang-Effekt ist nie weit, wenn die Tech-
nik das Leben leichter macht. Das gilt besonders im
Energiesektor, der sich ohne Digitalisierung gar nicht
transformieren ließe.
Früher produzierten wenige große Kraftwerke viel
Strom, er floss durch die Netze in den letzten Winkel
der Republik. Heute produziert der letzte Winkel
33
Illustration: José Navarro
seinen Strom selbst. Solaranlagen auf Hausdächern
– allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres
wurden 600.000 neue im Land installiert – treiben
Wärmepumpen und Waschmaschinen an, laden
Handys und E-Autos. Überschüssiger Strom wird ins
Netz eingespeist.
Auf einmal kommt überall Strom her. Und er
muss überallhin. »Mit jeder neuen Anlage werden die
Herausforderungen für die Verteilnetze größer«, sagt
Victoria Ossadnik, Digitalvorständin von E.on.
Immerhin: Wie viele Anwohner einer Straße eine
Solaranlage auf ihr Dach setzen können, mussten
früher Ingenieure berechnen, heute entscheidet das
die KI automatisch und prognostiziert auch, wo
schnell neue Leitungen verlegt werden müssen. Ent-
scheidend sei der Einsatz von KI, wenn Erzeugung
und Verbrauch sich weit voneinander entfernen, sagt
Ossadnik. Also etwa an einem dunklen, windstillen
Wintertag. Dann gehe es darum, den Strom mög-
lichst effektiv zu verteilen und bei Bedarf vorher ein-
zuspeichern. »Da sehen wir einen großen Hebel,
unsere Netze bestmöglich auszulasten, sodass maxi-
mal viel grüne Energie eingespeist werden kann und
möglichst wenig fossile Energie benötigt wird.«
Welchen Klimaeffekt das wirklich hat, hängt
von zwei Dingen ab: Wie viel Strom verbraucht
die KI selbst bei ihrer Verarbeitung riesiger Daten-
mengen? Und eben: Wie viel mehr Energie wird
verbraucht, wenn sie aufgrund höherer Effizienz
billiger wird? »Rebound« nennen Forscher diesen
Effekt. Der sei sogar am Werk, wenn der Staat et-
was verbietet oder subventioniert, sagt Deutsch-
lands führender Klimaökonom Ottmar Eden-
hofer. So habe allein die Ankündigung des um-
strittenen Gesetzes zur Wärmewende dazu geführt,
dass sich die Leute dieses Jahr 800.000 Heizungen
mehr kaufen würden als sonst.
Aber der Staat kann die KI auch nutzen, um seine
Bürger zielgenauer als bisher in die grüne Richtung
zu lotsen. Ottmar Edenhofer hat da einige Vorschlä-
ge. Etwa eine intelligente City-Maut, die je nach ak-
tuellem Verkehr das Fahren billiger oder teurer macht.
Auch über eine individualisierte Unterstützung beim
Gaspreis oder bei den Kosten für die Umsetzung der
Wärmewende wird nachgedacht – je nachdem, wie
bedürftig eine Familie wirklich ist. Anders als bisher
würde der Staat seine Mittel nicht mit der Gieß-
kanne verteilen, sondern gezielt einsetzen.
Dann könnte die Politik der Wirtschaft vorma-
chen, wie das geht: mit künstlicher Intelligenz dem
Klima helfen.
! www.zeit.de/vorgelesen
 34
Kreditinstitute geben zunehmend ec- und Kreditkarten aus Holz aus.
Das Klima könnten sie anders wirksamer retten
Es gibt ja ein paar Dinge, auf die die Menschheit
wirklich wartet. Auf gigantische Filteranlagen, die
CO₂ aus der Luft saugen, zum Beispiel. Auf grünen
Wasserstoff, der überall verfügbar ist, überhaupt:
auf grünen Strom. Und es gibt Dinge, auf die nie-
mand wartet. Debit- und Kreditkarten aus Holz.
Sie haben richtig gelesen. Immer mehr Banken
bieten ihren Kunden zum Bezahlen hölzerne Ökovari-
anten an. Die GLS Bank zum Beispiel, Deutschlands
größte Nachhaltigkeitsbank. Seit Oktober bekommen
alle Neukunden des Geldhauses eine Karte aus Ahorn-
holz. Sie besteht aus mehreren Schichten Furnier, da-
mit sie so stabil ist wie eine gewöhnliche ec-Karte. Und
auch so lange hält, in der Regel vier Jahre.
So was habe die Welt noch nicht gesehen, heißt
es auf der Website der GLS. »Die erste plastikfreie
Illustration: Freya Lina Knauer/ZEIT-Grafik
Zahlkarte weltweit!« – »Fast ein Naturprodukt«.
Auch das Hamburger Start-up Tomorrow, das
seinen Kunden ein »smartes und nachhaltiges
Banking-Erlebnis« verspricht, bietet eine hölzerne
Visa-Karte an. Die Unternehmer werben mit Sätzen
wie »Außen Wood – innen good«. Wer mit Holz zahlt,
kann zugleich die Renaturierung eines Ökosystems in
Südafrika finanzieren. Anders als bei der GLS, wo der
Kartenkörper zu 90 Prozent aus Holz und zu 10 Pro-
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Der Nachweis erfolgt über die Entwertung von Herkunftsnachweisen beim Umweltbundesamt.
GREENWASHING
Auf dem Holzweg
zent aus Papier besteht, besteht der Kern der Tomor-
row-Karte aus recyceltem PVC, also Kunststoff.
Der Trend weitet sich aus: Auch immer mehr
Volksbanken wollen auf die Holz-Variante umsteigen.
Der Karten-Dienstleister DG Nexolution, der in
Deutschland Hunderte genossenschaftliche Kredit-
institute mit Bezahlkarten ausstattet, hat dafür ver-
gangenes Jahr extra Anteile an einer Schweizer Holz-
firma erworben. Eine eigens gegründete Tochterfirma
soll die Karten weltweit vertreiben.
Die »Weltneuheit im Geldbeutel«, wie die GLS sie
bezeichnet, hat aber ein entscheidendes Defizit: Die
Holzkarten bestehen auch weiterhin aus einem Chip,
einer Antenne und einem Magnetstreifen. Also aus
umweltschädlichen Rohstoffen und Metallen. Müssen
sie auch, sonst wären sie ja als Bankkarten untauglich.
»Streng genommen handelt es sich bei Ihrer Karte
um Elektronik, die Sie nicht in der Tonne entsorgen
sollten«, heißt es deshalb auch auf der Website der
GLS. Ach so! »Da die Karte einen Magnetstreifen,
Chip und Antenne hat, fällt sie unter das Elektro-
schrottgesetz.« So viel zum Naturprodukt.
Nun kann man natürlich einwenden, dass die Welt
ein globales Plastikproblem hat (stimmt) und dass
jeder Alltagsgegenstand, der nur ein bisschen nach-
GREEN.
haltiger produziert wird als zuvor, eine gute Sache im
Kampf gegen die Klimakrise ist (stimmt auch). Das
Problem ist nur: Der weltweite Plastikverbrauch wird
nicht durch den Gebrauch von Debit- und Kreditkar-
ten getrieben. Ihr Anteil an der Plastikproduktion ist
minimal. Sie gehören auch nicht zu den Produkten,
die man mal eben am Straßenrand wegwirft.
Hinzu kommt: Die Herstellung von Holzfurnier
ist energieintensiv und kann daher in der Produktion
genauso klimaschädlich sein wie Plastik.
Banken, die künftig auf vermeintliche Öko-Kar-
ten setzen wollen, könnten stattdessen bei der Kre-
ditvergabe und ihren Investitionen strengere Regeln
anlegen, so wie die GLS Bank und Tomorrow das
bereits tun.
Diesen Sommer hat die Deutsche Bank verkün-
det, ihr gesamtes Kartenangebot auf recycelte Mate-
rialien umzustellen. Der belgischen NGO FairFin
zufolge gehört sie jedoch zu den größten Geld-
gebern der Plastikindustrie.
Nicht alles ist so nachhaltig, wie es aussieht.
ZEIT-Redakteurin Hannah Knuth
berichtet in dieser Kolumne
über Fälle von Greenwashing
WARUM HABEN WIR DAS NICHT?
Kippen-Gebühr wie in Spanien
Zigarettenstummel schaden der Umwelt. In Spanien müssen
Tabakfirmen für die Entsorgung zahlen
Große Gefahren kommen manchmal winzig
klein daher. Nicht einmal zwei Zentimeter
lang sind die handelsüblichen weißen Ziga-
rettenfilter. Doch ausgerechnet die sind ein
drastisches Problem für Ökologie und Men-
schen. Vor allem, wenn man sie nach dem
Rauchen auf die Straße, unter die Parkbank
oder ins Wasser schnippt.
Bis zu 7000 verschiedene Gifte sollen in
einer Zigarette stecken. Viele davon verbleiben
in den Filtern, Stoffe wie Arsen, Blei oder Ben-
zol wurden bereits in Kippenresten nachgewie-
sen. Und natürlich das Nervengift Nikotin.
Einmal in der Natur können die Schadstoffe
das Pflanzenwachstum hemmen und in Seen,
in Flüsse, ins Meer gelangen. Tiere fressen die
Zigarettenstummel versehentlich. Und vor al-
lem: Die Filter brauchen Jahrzehnte, um sich
auf natürliche Weise zu zersetzen. Im salzigen
Meerwasser sogar Jahrhunderte.
Das Kuriose an der Sache ist: Ob die Filter
überhaupt einen Nutzen für die Gesundheit der
Raucher haben, ist nicht einmal sicher. Trotz-
dem verschmutzen laut der Weltgesundheits-
organisation (WHO) jedes Jahr zwischen
ÖKOTESTER
Fleecejacken sind Teufelszeug
Unser Kolumnist MARCUS ROHWETTER will im Waschkeller weniger
Mikroplastik freisetzen. Können spezielle Filter helfen?
In den Ozeanen schwimmen gewaltige Mengen
an Plastik. Irgendwas zwischen fünf und 13
Millionen Tonnen kommen jedes Jahr hinzu,
schätzen Meeresforschungsinstitute. Und wie
wohl jeder Mensch trage auch ich etwas dazu
bei. Wenn ich Wäsche wasche zum Beispiel.
Ganz schlimm sind Fleecejacken mit ihren syn-
thetischen Fasern. Dann entsteht Mikroplastik,
das erst in die Kanalisation und von dort wer
weiß wohin verschwindet.
Zum Glück gibt es Filter, die versprechen,
das Mikroplastik abzufangen. Einen davon
bestelle ich im Avocadostore, einem »Markt-
platz für Eco Fashion & Green Lifestyle«.
Dort gelten viele Kriterien zur Nachhaltig-
keit. Sie reichen von »CO₂-sparsam« über »res-
sourcenschonend« bis zu »made in Germany«.
Ist aber offenbar bloß nice to have. Denn mein
Filter kommt aus Ljubljana, der Hauptstadt
Sloweniens. Das erfahre ich, als ich den Link
zum Transporttracking erhalte, wo auch die
Etappe »Brnik Aerodrome« bis »Wien Flug-
hafen« erscheint. Ist mein Mikroplastikfilter
etwa mit dem Flugzeug gereist?
Selbst wenn nicht: Eine der Hauptquellen
von Mikroplastik in der Umwelt ist der Ab-
rieb von Autoreifen. Der ADAC geht von
120 Gramm je 1000 gefahrenen Kilometern
aus. Das wären, selbst bei direkter Verbin-
dung von Ljubljana zu mir nach Hamburg, in
etwa 140 Gramm Plastik. Der Lastwagen
fährt zwar nicht nur meine Bestellung aus.
Aber ich will’s nur mal sagen: Die Realität ist
meist komplizierter, als es in Online-Shops
aussieht. Man kann Gutes wollen und trotz-
dem das Falsche tun.
Der Filter kommt, wie das heute so üblich
ist, in einem Bekenntniskarton. »You’re an
ocean hero« steht darauf. Im Innern befinden
sich ein unterarmlanger Zylinder aus weißem
Kunststoff sowie drei Filterkartuschen zum
Einsetzen. Und wie vom Hersteller verspro-
Alltagstauglichkeit
Ästhetik
Schlaumeier-Potenzial
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
340.000 und 680.000 Kilogramm weggewor-
fene Kippen den Planeten.
Belastend sind die Stummel übrigens auch
finanziell. Allein in Deutschland soll das Ein-
sammeln laut einer Studie des Verbands kom-
munaler Unternehmen von 2020 den Staat etwa
225 Millionen Euro kosten.
Anders in Spanien. Dort zahlen seit An-
fang des Jahres nicht mehr nur die Städte für
die Beseitigung der Zigarettenstummel, die
Kosten werden auf die Tabakfirmen umgelegt.
Zudem müssen sie ihre Konsumenten anhal-
ten, Kippen nicht an öffentlichen Orten weg-
zuwerfen. An den meisten spanischen Strän-
den ist das Rauchen bereits verboten.
Die Regelung ist Teil der EU-weiten
Anstrengungen, Plastikmüll in der Umwelt
deutlich zu reduzieren. Auch in Irland müssen
Zigarettenhersteller einen Teil der Kosten für
die Straßenreinigung übernehmen. Wenn es
nach der Weltgesundheitsorganisation ginge,
sollten die Staaten besser gleich über ein
Verbot der Zigarettenfilter nachdenken. So
weit ist man allerdings auch in Spanien noch
nicht. L AUR A CWIERTNIA
chen, ist das Ding in zehn Minuten installiert.
Einfach an einer Seite den Abwasserschlauch
der Waschmaschine anbringen und von der
anderen einen zweiten Schlauch zum Abfluss
führen. Den Filter noch mit den beiliegenden
Klebestreifen an die Seite der Maschine kle-
ben. Easy.
Leider hält der Kleber nicht. Schon der
erste Schleudergang wirft den Filter ab, ich
muss ihn mit einem Draht an einer Schraube
in der Wand befestigen, sonst knickt der Ab-
wasserschlauch. Sieht behelfsmäßig aus. Aber
es ist ja für einen guten Zweck.
Nach zehn Wäschen – Fleecejacken inklu-
sive – wage ich einen Blick ins Innere. Weil
die Filterkartuschen recht eng sind, hole ich
einen Fuchsschwanz und säge sie auf.
Eklig! Dunkelblauer Schmodder, wie sonst
im Sieb meines Wäschetrockners. Leider
pappt er so fest in den Lamellen des Filters,
dass ich ihn nicht abschaben und wiegen
kann. Ich wüsste gern, wie viel es ist. Oder was
es ist, denn vermutlich handelt es sich nicht
nur um Mikroplastik, sondern auch um ande-
re Fasern. Außerdem soll eine Waschmaschine
ja Dreck aus der Wäsche holen: Schweiß, Kaf-
feeflecken, Soßenreste, Tierhaare.
Mein Starterpaket Mikroplastikfilter hat
inklusive Versand 68 Euro gekostet. Dafür
bekam ich drei Filterkartuschen, die ich nach
jeweils 20 Wäschen zur Reinigung nach
Ljubljana zurückschicken und neue bestellen
soll. Eine Familie mit hohem Waschdruck
dürfte demnach ganz allein einen Großteil
des Lieferverkehrs auf der Strecke Ljubljana–
Hamburg–Ljubljana erzeugen. Wie viel Mikro-
plastik das am Ende spart oder womöglich
erzeugt, kann ich nicht feststellen. Deswegen
werde ich den Filter wieder ausbauen und
künftig einen simpleren Ansatz verfolgen:
Meine Fleecejacken werde ich seltener wa-
schen – und häufiger auslüften.
DIE ZEIT N o 46 2. November 2023
Wie ich einen Tag lang richtig absahnte
D
as Tolle am Fliegen ist ja,
dass es so günstig ist. Fin-
den Sie nicht?« Ich sitze
im Flugzeug und versu-
che, mit meinem Sitz-
nachbarn ins Gespräch zu
kommen. Doch der Mann
scheint kein Interesse daran zu haben, sich mit
mir über Flugpreise zu unterhalten. Er dreht
sich weg und schaut wieder aus dem Fenster –
auch wenn es da außer den Triebwerken nicht
viel zu sehen gibt.
Fliegen, so scheint es, halten die Menschen
für eines ihrer Grundrechte. Auf Fragen dazu
reagieren sie wortkarg. Wenn sie etwas sagen,
dann, dass das Fliegen zu teuer geworden sei.
Dabei ist das Fliegen doch viel zu billig. Flug-
reisen sind die klimaschädlichste Form, sich
fortzubewegen und werden gleichzeitig künst-
lich günstig gehalten: In Deutschland, wie in
den meisten anderen Ländern der Welt, bezah-
len Airlines keine Steuern auf Kerosin oder
Flugbenzin und für internationale Flüge auch
keine Mehrwertsteuer.
Und die erlassenen Steuern auf Kerosin und
Flugpreise sind nur die Spitze des fossilen Sub-
ventions-Eisbergs. Eine Billion US-Dollar: So
viel gaben Regierungen im Jahr 2022 auf der
ganzen Welt aus, um umweltschädliche Ener-
gien zu fördern. Eine Billion, das entspricht in
etwa dem Bruttoinlandsprodukt der Niederlande.
So viel Geld für die fossile Vergangenheit, ob-
wohl die Regierungen eigentlich auf eine Zu-
kunft ohne Gas und Öl hinarbeiten.
Während meine Sitznachbarn im Airbus
A321 all das nicht zu jucken scheint, will ich
den Geldregen verstehen. Wohin fließt diese
unglaubliche Summe? Wer profitiert von ihr?
Einen Tag lang werde ich dafür so richtig schön
fossil subventioniert aus dem Vollen schöpfen,
um diesem Lifestyle und seinen Profiteuren
nachzuspüren.
Im Taxi
Mein Tag fängt früh an. Statt wie sonst mit dem
Fahrrad in die Redaktion zu fahren, fliege ich
heute in die Schweiz. Mit dem sogenannten
Rote-Augen-Flug, um sieben Uhr morgens. Am
selben Abend soll es wieder zurückgehen.
Als ich nun also im Morgengrauen auf das Taxi
warte, genieße ich mein bequemes neues Leben:
Die Straßen sind leer, die Vögel zwitschern sogar,
und der noch überschaubare Verkehr wird gleich
zügig durch die Berliner Straßen fließen. Der VW
Caddy, der mich wenig später abholt, ist ein Die-
sel. Taxis sind häufig Dieselfahrzeuge. Die, muss
man wissen, stoßen mehr CO₂ pro gefahrenem
Kilometer aus, erzeugen mehr Stickoxide und
Feinstaubpartikel als Benziner. Trotzdem gilt für
Dieselkraftstoff mit 47,04 Cent pro Liter ein nied-
rigerer Steuersatz, um genau zu sein: 18,41 Cent
pro Liter weniger als für Benzin. Dieser Anreiz
wurde einmal eingeführt, um die Wirtschaft an-
zukurbeln, da vor allem schwere Nutzfahrzeuge
und Lkw mit Diesel fahren.
Fahrer von Dieselautos müssen zwar mitt-
lerweile eine höhere Kfz-Steuer zahlen. Weil die
aber nur einmal im Jahr fällig wird, lohnt sich
ein Diesel vor allem dann, wenn man sehr viel
Strecke macht. Ein fataler Anreiz, sagen Kriti-
ker wie Andreas Burger vom Umweltbundes-
amt: »Wenn die laufenden Kosten fürs Auto-
fahren so niedrig gehalten werden, ist das eine
Verführung.«
Mein Taxifahrer erklärt mir: »Eigentlich fah-
ren Taxifahrer vor allem zwei Autos: entweder
Diesel von Mercedes, denn die müssen nicht
oft in die Werkstatt und sind günstig im Ver-
brauch. Oder seit einiger Zeit Toyota Hybrid,
denn der ist noch sparsamer.« Die Einschät-
zung meines Taxifahrers scheint zu stimmen: In
Berlin etwa sind rund 2000 Hybridtaxis regis-
triert, 2800 Dieselfahrzeuge, aber nur 34 Ben-
ziner. Dieselfahrzeuge verbrauchen ohnehin
weniger Kraftstoff, die Bezuschussung macht
sie noch einmal lohnenswerter.
Für mich selbst hält sich die Ersparnis für die
eine Fahrt in Grenzen: Von meiner Haustür zum
Flughafen sind es 23 Kilometer. Bei einem Ver-
brauch von rund sieben Litern pro 100 Kilome-
ter spare ich nur 30 Cent. Für jemanden, der
sehr viel mit dem Auto fährt, addiert sich das
aber bald zu einem beachtlichen Unterschied.
Das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft
(FÖS) kommt zu dem Schluss, dass vor allem
Wohlhabende von dem Dieselrabatt profitieren.
Weil sie in der Regel mehr fahren – und das in
größeren Autos, die wiederum oft mit Diesel
angetrieben werden.
Am Flughafen
Kaum dass ich die Eingangshalle des Flughafens
betrete, ist es vorbei mit meiner Morgenruhe.
Geschäftsleute, Reisegruppen, Junggesellinnen-
abschiede. Wenn Fliegen ein Privileg ist, dann
sind eindeutig zu viele Menschen privilegiert.
Zürich ist noch dazu eine der am häufigsten an-
geflogenen Städte in Europa, zumindest vom
BER aus. Viele Geschäftsmänner und Ge-
Der deutsche Staat fördert klimaschädliches Verhalten. Unsere Autorin LUISA JACOBS
wurde selbst zur fossilen Profiteurin – im Taxi, am Flughafen und im Steakrestaurant
schäftsfrauen reisen in die Stadt. An Gate B17
treffe ich aber erst mal, sagen wir, Ottonormal-
reisende.
»Dieses Jahr waren die Tickets wahnsinnig
teuer, ein paar Tausend Euro haben wir für alle
vier ausgegeben«, erzählt mir ein Mann. Er ist
mit zwei Kindern und seiner Frau auf dem Weg
in den Urlaub in die Schweiz, wohin sie jedes
Jahr im Sommer fliegen. Weil es in den Bergen
so angenehm kühl ist um diese Jahreszeit. Dass
ihre Tickets eigentlich noch viel teurer sein soll-
ten, kann er nicht nachvollziehen.
Ich spreche eine Frau an, die mit Kopfhörern
im Ohr und Laptop auf den Knien sehr beschäf-
tigt scheint. Ob sie häufiger nach Zürich fliege?
Ja. Die Frau studiert dort, ihr Partner und ihre
Familie leben in Berlin. Sie fliege mit schlechtem
Gewissen, aber die Bahn sei eben oft zu teuer.
Dass auf ihr Ticket (für das sie, früh gebucht,
nur knapp 100 Euro bezahlt hat) eigentlich noch
Steuern kommen müssten, wusste auch sie nicht.
Ich rechne es ihr an meinem Ticket vor.
Netto würde mein Flug nach Zürich und zurück
269 Euro kosten, mit allen anfallenden Steuern
und Abgaben zahle ich 422,41 Euro. Eigentlich
müsste der Flug jedoch noch deutlich teurer
sein. Denn alle anderen Formen der motorisier-
ten Fortbewegung werden besteuert. Wie Auto-
fahrer für Benzin oder Diesel zahlt auch die
Bahn für den Strom Energiesteuer. Nur Kerosin
und Flugbenzin sind vom Energiesteuergesetz
ausgenommen. Das kostet den deutschen Staat
im Jahr über acht Milliarden Euro, wie gleich
mehrere Schätzungen besagen.
Das Umweltbundesamt empfiehlt einen
Steuersatz von rund 65 Cent pro Liter Kerosin.
Beim Airbus A321, mit dem ich fliege, kann
man von durchschnittlich etwa 2,5 Litern Kero-
sin pro Passagier pro 100 Kilometer ausgehen.
Von Berlin nach Zürich sind es hin und zurück
in etwa 1400 Kilometer. Für meinen Kerosin-
verbrauch müssten folglich noch einmal 22,68
Euro obendrauf kommen.
Bei internationalen Flügen entfällt aber nicht
nur die Energiesteuer, sondern auch noch – hier
kommt fossiles Geschenk Nummer zwei – die
Mehrwertsteuer von 19 Prozent, die man unter
anderem für Inlandsflüge und Fernbusreisen be-
zahlt. Fürs Bahnfahren gilt seit einiger Zeit der
ermäßigte Steuersatz von sieben Prozent, aber das
ist immer noch mehr als nichts, wie beim Fliegen.
Das wären dann noch einmal 51,11 Euro: Mit
insgesamt 73,79 Euro bezuschusst die deutsche
Regierung also meinen Hin- und Rückflug.
Die Frau, die immer noch mit einem Ohr am
Kopfhörer hängt, scheint aufrichtig bestürzt. Aber
warum wird Kerosin denn nicht besteuert? Dieselbe
Frage habe ich ein paar Tage zuvor den Experten
vom Umweltbundesamt gestellt. Alle Subventio-
nen, die internationale Märkte betreffen, sind
schwer abzuschaffen, lautete die Antwort. Die Luft-
fahrtbranche argumentiert: Eine Steuer würde
Flüge nicht verhindern, sondern nur auf nicht be-
steuerte, ausländische Airlines verlagern.
Ich bin gekommen, um selbstgerechte Viel-
flieger zu konfrontieren, stattdessen finde ich
mich in der Rolle einer Aufklärerin wieder. »Ach,
echt? Der Staat subventioniert unser Ticket? Ist
ja geil.« Diesmal habe ich zwei Jugendliche an-
gesprochen, beiden ist das stark blondierte Haar
schon bis auf Augenhöhe rausgewachsen. Die
Jungs hatten von den Subventionen noch nie
gehört. Heute wollen sie auf dem Züri Fescht
einen alten Klassenkameraden treffen.
Die Bundesregierung macht offensichtlich
einen schlechten Job darin, ihre großzügigen
Steuergeschenke zu bewerben. Ein kleiner Hin-
weis auf dem Ticket würde doch helfen: »Mit
freundlicher Unterstützung Ihrer Bundesregie-
rung.« Unter den Ottonormalfliegern scheint
sich kaum einer dieser Geschenke bewusst zu
sein. Wirken tun die Subventionen offensicht-
lich trotzdem: Der Preis entscheidet.
Es ist keineswegs so, dass alle, die fliegen, sich
kein teureres Ticket leisten könnten. Einkommens-
stärkere Schichten nutzen das Flugzeug im Durch-
schnitt wesentlich häufiger. Bei einer Einführung
der Kerosinsteuer würden die reichsten zehn
Prozent im Schnitt 333 Euro pro Person und Jahr
mehr zahlen. In allen anderen Gruppen fällt der
Wert deutlich geringer aus. Mir dämmert, dass sich
die wahren Profiteure nicht am Gate und wohl
auch selten in der Economyclass aufhalten. Es sind
vor allem die Vielflieger, die in den Business-
Lounges und der ersten Klasse sitzen und mehrere
Male im Monat oder gar in der Woche reisen.
Auf dem Energiemarkt
Dann endlich Zürich: Für einen Abstecher be-
suche ich das Marriott Hotel, in dem an diesem
Tag das Innovationsforum Energie stattfindet.
Der Energiemarkt ist einer der größten Profiteure
von Subventionsgeldern weltweit, auf dem Fo-
rum soll es heute um seine Transformation ge-
hen. Die Speaker, alles Unternehmer aus dem
Energiesektor, referieren über »H₂ supply chains«
als Teil einer grünen Wasserstoffstrategie und
mehr. Ständig fallen Sätze wie: »Fossiles Gas hat
keine Zukunft.« Nur über die Zukunft der Sub-
ventionen, die noch jeden Tag in fossiles Gas
fließen, darüber spricht keiner.
GREEN. 35
Die Pause ist der Moment, um nachzuhaken.
Noch im Jahr 2018 flossen in Deutschland mehr
als eine Milliarde Euro in die Förderung von
Steinkohle, 287 Millionen wurden für »Begünsti-
gungen für die Braunkohlewirtschaft« ausgegeben.
Im vergangenen Jahr ist mit der Strom- und Gas-
preisbremse eine neue fossile Förderung dazuge-
kommen. »Klar, die Subventionen sind völlig
fehlgerichtet«, sagt ein Teilnehmer. »Deutschland
müsste jetzt in Wasserstoff investieren, nicht in
Gas«, ein anderer. Und ein dritter fasst es schließ-
lich so zusammen: »Wir hätten schon lange mit
den fossilen Subventionen aufhören müssen.« An-
ders als im Flughafen ist den Teilnehmern des
Innovationsforums im Marriott Hotel die Lage
also völlig bewusst. Einen Aufschrei lösen die Sub-
ventionen aber nicht aus. Eher Achselzucken.
Im Restaurant
Als die Konferenz vorbei ist, geht es für mich zu
Williams ButchersTable. Ein Restaurant mit vie-
len Fleischspezialitäten, das mir ein Teilnehmer
auf dem Forum empfohlen hat. In der Schweiz
wie auch in Deutschland gilt für Fleisch und andere
Tierprodukte der ermäßigte Mehrwertsteuersatz
von sieben statt 19 Prozent. Ohne dieses Ge-
schenk, das mal in der Nachkriegszeit eingeführt
wurde und heute keinen erkennbaren Zweck mehr
hat, kämen auf meine Rechnung also noch einmal
zwölf Prozent obendrauf.
Während ich mein subventioniertes Swiss Dry
Aged Filet zu genießen versuche, denke ich darü-
ber nach, dass es neben der Fleischindustrie aus-
nahmsweise die Ärmeren sind, die von der Mehr-
wertsteuersenkung profitieren. Eine Abschaffung
würde die ärmsten zehn Prozent mehr treffen, un-
ter anderem weil sie einen größeren Teil ihres Ein-
kommens für Lebensmittel ausgeben.
Das Umweltbundesamt schlägt deshalb vor:
hoch mit der Fleischsteuer, runter mit der Mehr-
wertsteuer auf umweltfreundliche Produkte wie
Foto: Getty Images (Symbolbild)
Obst und Gemüse. Dann wäre mein Salat etwas
günstiger, das Fleisch aber erheblich teurer. Wa-
rum hat das bisher noch keiner eingeführt?
Bevor ich schließlich die Heimreise antrete,
kritzele ich im Fleischrestaurant auf meine Ser-
viette noch meine Ersparnisse des Tages: insge-
samt einen guten Euro für den Diesel beim Taxi-
fahren, 74 Euro für Hin- und Rückflug, knapp
Auf Steak zahlt man in sechs Euro fürs Steak. Immerhin 81 Euro Zu-
Deutschland nur sieben Prozent schuss dafür, dass ich einen ganzen Tag lang dem
Mehrwertsteuer, auf Gemüse Klima geschadet habe. Vielen Dank auch, liebe
dagegen 19 Prozent Bundesregierung!
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 36 GREEN. 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

Die US-Amerikanerin Neta Crawford, 62, lehrt als Professorin in Großbritannien an der University of Oxford.
Seit mehr als 40 Jahren forscht sie zu Kriegen, mittlerweile auch zu deren Klimafolgen

Abrüsten fürs Klima?

Ein Kampfjet verbrennt in einer Stunde so viel Treibstoff wie ein Auto in sieben Jahren, hat die Professorin Neta Crawford errechnet.
Ein Gespräch über die Frage, wie man CO₂ sparen und trotzdem wehrhaft bleiben kann

DIE ZEIT: Frau Crawford, die Ukraine, Mali,
Bergkarabach, die kurdischen Gebiete in Syrien,
Israel und Gaza – die Welt wird derzeit von vielen
neuen militärischen Konflikten erschüttert. Was
geht Ihnen als Kriegsforscherin durch den Kopf,
wenn Sie die Nachrichten sehen?
Neta Crawford: Ich betrachte diese Kriege aus
langfristiger Perspektive. Wir sehen, dass überall
auf der Welt die Militärausgaben steigen, viele
Länder bereiten sich auf Krieg vor. Daher bin ich
auch nicht allzu sehr überrascht, dass er ausbricht.
ZEIT: Neben all dem menschlichen Leid, das diese
Kriege verursachen, gibt es einen Aspekt, der nur
wenig beachtet wird: die Folgen für das Klima.
Macht Ihnen das Sorgen?
Crawford: Das macht mir nicht nur Sorgen, wenn
ich die Nachrichten sehe, das besorgt mich die
ganze Zeit. Seit der Industrialisierung des Militärs
erzeugen wir Menschen mit Kriegen große Mengen
Treibhausgase, die Jahrhunderte in der Atmosphäre
Fotos (v. l.): Chloé Sharrock/MYOP/laif; John Tlumacki/The Boston Globe/Getty Images
und sich erstmals auf verbindliche Treibhausgas-
Grenzen einigten. Damals hat das US-Verteidi-
gungsministerium gesagt: Wir können die Emis-
sionen nicht reduzieren, sonst schränken wir un-
sere Fähigkeit zur Verteidigung ein. Der US-
Verhandler hat daraufhin in Kyoto die anderen
UN-Staaten überzeugt, dass die Armee keine
Emissionen zählen und einsparen muss. Und das
ist bis heute so geblieben. Dass das Verteidigungs-
ministerium der größte einzelne Energieverbrau-
cher in den USA ist, liest man daher nicht unbe-
dingt in den Berichten. Und darum schenken die
Leute dem Thema auch kaum Aufmerksamkeit.
ZEIT: Es gibt noch einen anderen Grund: Über
CO₂ zu reden, wenn Menschen sterben, fühlt sich
komisch an, auch in diesem Gespräch.
Crawford: Sie haben recht. Schüsse, Bomben, Feu-
er, das ist alles viel dramatischer als ein unsichtba-
res Gas. Ich forsche seit mehr als 40 Jahren zu
Krieg und fing erst vor sieben Jahren an, den
ZEIT: Aber soll ein Land wirklich seine nationale
Sicherheit riskieren, um das Klima zu schonen?
Das klingt ein bisschen naiv.
Crawford: Sehr gute Frage: Wenn ich heute durch
eine Invasion sterbe, was interessieren mich meine
Emissionen? Zuallererst lassen Sie mich festhalten,
dass ich an das Recht auf Selbstverteidigung glaube.
Ich glaube aber auch, dass Kriege vermeidbar sind.
All die Angriffe derzeit haben mit einem Versagen
von Institutionen und der Diplomatie zu tun. Was
wir uns aber unabhängig davon immer fragen soll-
ten: Hat ein Land wirklich die effizientesten und
effektivsten Maßnahmen gewählt, um sich zu ver-
teidigen? Wir können die Emissionen dramatisch
herunterfahren und trotzdem sicher bleiben. Dafür
müssen wir nur unser Militär anders aufstellen.
ZEIT: Und wie soll das gehen?
Crawford: Die USA haben 750 Anlagen und Mi-
litärbasen in Übersee und eine Verteidigungslogis-
tik, die Treibstoff über den ganzen Planeten be-
durch den auch Russland Hunderttausende Solda-
ten und viel Kriegsmaterial verloren hat. Russland
ist also geschwächt. Trotzdem baut die Nato ihre
Ressourcen aus. Das halte ich für eine Überreaktion.
ZEIT: Darüber kann man sicher lange diskutieren.
Ein anderes Beispiel: Aserbaidschan droht aktuell
Armenien zu überfallen. Frankreich hat nun ver-
sprochen, den Armeniern Waffen zu liefern, damit
sie sich verteidigen können. Soll man ihnen in
dieser Lage sagen: Lasst das mal besser mit den
Waffen, damit nicht so viel CO₂ entsteht?
Crawford: Ich sage nicht, dass man sich nicht ver-
teidigen soll. Was ich versuche zu sagen, ist: Der
Teufel liegt im Detail. Man kann eine Armee mit
hohen oder mit niedrigen Emissionen haben. Ein
effektives oder ein ineffektives Militär. Verbraucht
eine Armee effizienter Treibstoff, ist sie auch weni-
ger verletzlich. Ein elektrifiziertes Fahrzeug bleibt
nicht plötzlich mitten in Bagdad stehen, weil ihm
das Benzin ausgeht. Und was sehr wichtig ist: Viele
träger, Zerstörer, U-Boote. Könnte man Taiwan
auch mit einer anderen Doktrin verteidigen? Ja!
Und es würde viel weniger Treibstoff brauchen.
ZEIT: Jetzt bin ich gespannt.
Crawford: Chinas Ziel ist es nicht, Taiwan zu zer-
stören. China will Taiwan besetzen und in das
eigene Land integrieren. Aber dafür muss China
Truppen schicken, die physisch die Kontrolle über
die taiwanesische Insel übernehmen. Statt China
selbst anzugreifen, kann man also auch Taiwan
helfen, uneinnehmbar zu werden. Das nennt man
deterrence by denial, also Abschreckung durch Ver-
eitelung. Dafür braucht man keine hochgerüsteten
US-Militärs, die ständig vor der Küste sitzen.
ZEIT: Der deutsche Bundeskanzler hat der Bun-
deswehr vergangenes Jahr 100 Milliarden Euro
zugesichert. Wofür sollte sie das Geld Ihrer Mei-
nung nach ausgeben?
Crawford: Sicher nicht für viele neue Waffen oder
Militärübungen. Noch mal: Die Gefahr, dass

bleiben. Wir leben heute noch mit den Emissionen
des amerikanischen Bürgerkriegs, meine Tochter
wird damit leben und – sollte ich welche bekom-
men – meine Enkel. Aber es sind leider zwei ver-
schiedene Zeitrechnungen am Werk: die planetare
Zeitrechnung und die, die kurzfristig politisch zählt.
ZEIT: Vor zwei Wochen hat ein Bündnis verschie-
dener Organisationen eine Studie mit dem Titel
Climate Crossfire herausgegeben. Das Nato-Militär,
schätzen die Studienautoren, soll allein 2021 etwa
200 Millionen Tonnen CO₂ produziert haben,
Tendenz steigend. Sie selbst haben einmal den sehr
eindrücklichen Vergleich errechnet: Ein B-52-
Kampfjet verbraucht in einer Stunde so viel
Treibstoff wie ein durchschnittlicher Autofahrer in
sieben Jahren. Wie kommt es, dass bei solchen
Zahlen kaum jemand darüber spricht?
Crawford: Das hat unter anderem mit einem wich-
tigen Moment zu tun: 1997, als die Vereinten
Nationen das Kyoto-Protokoll verhandelt haben
Emissionen des Militärs Aufmerksamkeit zu
schenken. Es gibt zwar Leute wie den Klimawis-
senschaftler Axel Michaelowa, der seit den frühen
2000ern dazu gearbeitet hat. Aber er ließ das wie-
der sein, weil er sagte: Niemand hört mir zu. Doch
das Treibhausgas ist zwar unsichtbar, aber es hat
dramatische Folgen für den Planeten, wie Feuer
und Fluten. Wir müssen uns damit beschäftigen.
ZEIT: Paradoxerweise wächst durch die Klimakrise
ja auch die Gefahr für Krieg, richtig?
Crawford: Bei der Frage, ob der Klimawandel zu
mehr Kriegen führen wird, ist die Forschung am-
bivalent. Ja, er kann Migration fördern und Kon-
flikte um Rohstoffe wie Wasser anheizen. Aber
daraus kausale Vorhersagen abzuleiten, ist schwer.
Die Ironie ist nur: Das US-Verteidigungsministe-
rium benutzt das Argument seit Jahren. Aber wenn
es wirklich glaubt, dass der Klimawandel zu Kon-
flikten führen kann, dann sollte es doch alles daran
setzen, CO₂ zu sparen. Tut es aber nicht.
wegt. Am Persischen Golf haben wir in den Acht-
zigerjahren mehrfach gekämpft und dort ein Re-
gionalkommando errichtet. Es sollte den Öl-
Transport sichern und Israel sowie andere alliierte
Staaten schützen. Aber über die Zeit haben sich
die Beziehungen mit Staaten wie Saudi-Arabien
verbessert. Das Öl wird heute weniger gebraucht,
weil sich die Welt verändert hat. Die Gefahr ist
also geringer geworden, aber das Militäraufkom-
men blieb dasselbe. Diese Strategie sollte man
überdenken. Das würde auch dem Klima helfen.
ZEIT: Aber wir sehen ja gerade in der Region die
grausamen Attacken der Hamas, mit denen kaum
einer in diesem Ausmaß gerechnet hat. Oder in
Europa den Angriff auf die Ukraine, der das Land
in seiner Existenz bedroht und auch anderen Län-
dern Sorgen macht. Ist es nicht unrealistisch, in so
einer Weltlage Abrüstung für das Klima zu fordern?
Crawford: Nehmen wir die Ukraine als Beispiel. Die
russische Aggression hat zu einem Krieg geführt,
Emissionen entstehen ja gar nicht im Krieg selbst.
Sie entstehen durch Anlagen, bei Trainings und in
der Militärindustrie. Weit weg von der Front.
ZEIT: Auch hochrangige Militärs verschiedener
Länder setzen sich heute dafür ein, ihre Armeen
klimafreundlicher zu machen. Die deutsche Bun-
deswehr hat mit der Transformation schon begon-
nen. Macht Ihnen das Hoffnung?
Crawford: Es stimmt: Kampfjets werden heute
nicht mehr so oft leer geflogen, Fahrzeuge werden
elektrifiziert. Auf größeren Militärbasen wie in
Kalifornien wird schon Erdwärme genutzt. Aber
das Problem ist: Die meisten Armeen sind nicht
bereit, ihre größere Doktrin zu überdenken und
etwa von einer aggressiven zu einer defensiven
Strategie zu kommen. Nehmen wir die US-Doktrin
für Taiwan: Im Fall eines chinesischen Überfalls
auf Taiwan würden die USA bis tief nach China
zurückschlagen. Um sich darauf vorzubereiten,
braucht man viel Militär in Ostasien, Flugzeug-
Russland Deutschland angreift, ist gering. Wir
sollten uns nicht von der Angst davor treiben las-
sen. Der Klimawandel allerdings ist zu 100 Pro-
zent Realität, schon jetzt. Vielleicht könnte man
aber einen Teil des Geldes benutzen, um heraus-
zufinden, welche Form der deterrence by denial für
Deutschland funktioniert. Wie gesagt, ich denke
nicht, ein Land soll sich nicht verteidigen können.
Aber Armeen müssen kreativer werden!
ZEIT: Nützen könnte es, die Energiesysteme zu
transformieren. Russland oder Aserbaidschan ver-
wenden schließlich das Geld aus Öl und Gas, um
Waffen zu kaufen, mit denen sie andere überfallen.
Crawford: Absolut. Abhängigkeiten reduzieren
hilft. Deutschland hat ja auch gezeigt, wie schnell
es Gas einsparen kann. Aber es geht noch schneller.
Vielleicht sollte die Regierung jetzt 100 Milliarden
Euro für die Transformation ausgeben.
Das Gespräch führte Laura Cwiertnia

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Klimaschutz oder Kulturkampf?

Am 16. November findet anlässlich des EnBW-Nachhaltigkeitsdialogs Durchstarten ab 19:00 Uhr das ZEIT für Klima Gespräch zu Gast
bei der EnBW statt. Wir haben Akteur:innen aus Politik, Wirtschaft und Medien eingeladen und wollen darüber diskutieren, wie wir so
schnell wie möglich ein resilientes und klimafreundliches Energiesystem gestalten können und konkret ins Handeln kommen. Oder anders
gefragt: Klimaschutz oder Kulturkampf? Was können Politik, Wirtschaft, Medien und Zivilgesellschaft zur Lösung beitragen?
Unter anderem mit:

zu Gast bei der EnBW

Donnerstag, 16. November 2023

Wagenhallen Stuttgart
Franziska Brantner Petra Pinzler Nico Rosberg Andreas Schell
Parlamentarische Korrespondentin in der Nachhaltigkeitsunternehmer, CEO, EnBW Energie
Staatssekretärin, Hauptstadtredaktion, Formel 1 Weltmeister Baden-Württemberg AG
studiozx.de/events/zfk2023 Bundesministerium für DIE ZEIT
Jetzt kostenfrei anmelden! Wirtschaft und Klimaschutz

Fotos: Franziska Brantner © Florian Freundt; Petra Pinzler © Moritz Küstner; Nico Rosberg © Tom Ziora; Andreas Schell © Catrin Moritz

Partner: Eine Veranstaltung von:

↗ zeitfuerx.de/klima
 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

WISSEN
Hochschule ․ Hirnforschung ․ Wissenschaft ․ Schule ․ Archäologie ․ Infografik: Wahlverhalten
37

Wird Studieren unbezahlbar?

Preise und Mieten steigen, das Bafög hält nicht mit. Nun wächst die Sorge,
dass junge Menschen sich gegen die Uni entscheiden, weil ihnen das Geld fehlt VON ANJA REITER

W
enn Studierende über ihre baren Geldes fürs Wohnen drauf. Denn die Mieten auch an den niedrig angesetzten Grenzen für das Ein- nauso wie andere Menschen beurteilt werden?« Dass

Illustration: Tobias Beck für DIE ZEIT

Lage sprechen, klingt das
in diesem Wintersemes-
ter oft so: »Unterstützung
von meinen Eltern be-
komme ich keine, das
könnten sie nicht stem-
men. Bei der Bafög-Beratung hieß es aber, meine
Eltern verdienen zu viel.« – »Um mein Studium
zu finanzieren, habe ich schon immer viel ge-
jobbt, teilweise hatte ich mehrere Jobs parallel.
Wenn die Nudeln plötzlich nicht mehr 60 Cent
kosten, sondern einen Euro, tut das auf Dauer
schon weh.« – »Meine Mutter hat gesagt, ich soll
nach Dresden gehen, weil die Mieten da billiger
sind. Das Mathematikstudium in Bonn hat aber
einen besseren Ruf.«
Es sind nur drei Stimmen aus Freiburg, Köln und
Dresden, doch Asta-Gruppen und Studierendenver-
tretungen warnen, die Lage sei ernst. Gut ein Drittel
der Studierenden gelten nach Zahlen des Statistischen
Bundesamts ohnehin als armutsgefährdet. Und nun,
sagt Matthias Anbuhl, der Vorstandsvorsitzende des
Deutschen Studierendenwerks, kommt etwas hinzu:
»Wir erleben derzeit eine toxische Mischung ver-
schiedener Entwicklungen.« Für viele Studierende
werde es gleich von zwei Seiten eng. Hier steigende
Ausgaben für Miete, Heizung, Lebensmittel. Und
dort Einnahmen, die nicht mithalten können: Die
letzte Bafög-Erhöhung ist längst von der Inflation
aufgezehrt, eine Reform lässt auf sich warten. Und
bei Studienkrediten schnellen die Zinsen nach oben.
Wie brenzlig ist das? Geht es hier um die Klage
späterer Gutverdiener über ein paar magere Jahre?
Oder entscheiden sich gar am Ende junge Men-
schen in Deutschland aus finanziellen Gründen
gegen ein Studium?
Wenn es darum geht, wie viel ein Student zum
Leben braucht, zückt das Studierendenwerk die so-
genannte Düsseldorfer Tabelle. Sie regelt eigentlich
den Unterhalt von Kindern, etwa nach Scheidungen.
An dem Zahlenwerk orientiert sich der »angemessene
Gesamtunterhaltsbedarf«, den das Studierendenwerk
veröffentlicht. Derzeit beträgt er für Studierende, die
nicht bei den Eltern wohnen, monatlich 930 Euro.
2021 waren es noch 860 Euro – schon damals hatten
ein Drittel der Studierenden weniger zur Verfügung.
»Um diese Gruppe müssen wir uns Sorgen machen«,
sagt Matthias Anbuhl.
Eines der größten Probleme: die Mieten. Das
Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissen-
schaftsforschung (DZHW) hat ermittelt, dass
Studierende im Schnitt 410 Euro für die Miete
bezahlen, jeder fünfte berichtet von einer
Warmmiete über 500 Euro. Das bedeu-
tet: Nicht selten geht die Hälf-
te des verfüg-
und die Wohnnebenkosten steigen und steigen: Die
Kaltmieten für Studentenwohnungen lagen zuletzt
um 6,2 Prozent über dem Vorjahr, die Abschläge für
Heizkosten sogar um 43 Prozent. Das ergab der kürz-
lich veröffentlichte Studentenwohnreport der MLP
Finanzberatung. Schon 2022 waren die Mieten um
5,9 Prozent nach oben gegangen. Eine studentische
Musterwohnung in Frankfurt oder München kostet
nun fast 700 Euro Warmmiete. Selbst für ein WG-
Zimmer müssen Studierende in Städten wie Bonn,
Konstanz oder Münster mittlerweile um die 450 Euro
zahlen. Zimmer in Studentenwohnheimen sind eine
günstigere Alternative – und deshalb umkämpft: Mehr
als 30.000 Studierende warten aktuell auf einen Platz.
Der Bafög-Höchstsatz enthält einen Wohn-
zuschlag von 360 Euro – der deckt nur in zwei Hoch-
schulstädten die Miete für eine studentische Muster-
wohnung: Chemnitz und Magdeburg.
Das Bafög steckt ohnehin in einer Dauerkrise.
Dabei hatte die Ampelregierung im Koalitionsvertrag
noch festgehalten, die Studienfinanzierung grund-
legend reformieren zu wollen. Sie sollte unabhängiger
vom Einkommen der Eltern werden, die Sätze und
Freibeträge sollten deutlich erhöht und künftig regel-
mäßig angepasst werden.
Stattdessen kam nur ein Reförmchen: Unter
anderem wurden die Bafög-Bedarfssätze im ver-
gangenen Jahr um 5,75 Prozent angehoben.
»Durch die Preissteigerungen bei Lebensmitteln,
Strom und Gas wird die Erhöhung bereits auf-
gefressen«, kritisiert Matthias Anbuhl vom Studie-
rendenwerk. Er hätte sich gewünscht, dass sich die
Bedarfssätze und die Grenzen für das Eltern-
einkommen künftig automatisch an Preise und
Einkommen anpassen. Der neue Satz für den
Grundbedarf liege sogar unterhalb des Existenz-
minimums: 563 Euro gibt es künftig beim Bürger-
geld, nur 452 Euro beim Bafög. »Zum Leben
reicht das Bafög oftmals kaum aus«, sagt Anbuhl.
Laut Haushaltsentwurf sollen die Bafög-Mittel
für Studierende sogar schrumpfen – von 1,8 Mil-
liarden Euro in diesem Jahr auf 1,4 Milliarden
Euro im nächsten. Die Höhe des Bafögs für die
Empfänger soll dabei unberührt bleiben. Doch
die Bundesregierung geht davon aus, dass in Zu-
kunft noch weniger Studierende Bafög bekom-
men werden. Ohnehin erhält nur noch jeder
zehnte Studierende überhaupt die staatliche För-
derung. Im Jahr 2012 war es noch fast jeder dritte.
Zuletzt hatte es einen winzigen Anstieg gegeben,
doch die Förderquote bleibt auf einem historisch
niedrigen Niveau. Als das Bafög 1971 einge-
führt wurde, bekamen 44 Prozent der
Studierenden die Unterstützung.
Dass so wenige Bafög be-
ziehen, liegt
kommen der Eltern. Den Höchstsatz erhalten Einzel-
kinder nur, wenn verheiratete Eltern unter 2415 Euro
netto verdienen.
»Das ursprüngliche Versprechen des Bafög – ein
Studium scheitert nicht am Geld – läuft zunehmend
ins Leere«, kritisiert Ulrich Müller vom Centrum für
Hochschulentwicklung (CHE). Den desolaten
Zustand des Bafög könne man nicht der aktuellen
Regierung vorwerfen, der Niedergang dauere schon
mindestens 15 Jahre. »Aber dass die Ampelregierung
jetzt nichts tut, das ist nicht zu entschuldigen.«
Etliche Studierende rutschen deshalb in eine
Lücke: Ihre Eltern verdienen zu viel, als dass ein
Bafög-Antrag unter den aktuellen Bedingungen Er-
folg haben würde – aber zu wenig, um sie über das
Kindergeld hinaus zu unterstützen. Das Studium
jedoch über Nebenjobs zu finanzieren kann zur erheb-
lichen Belastung werden. »Es ist zu befürchten, dass
Fächer wie Jura, Medizin und Pharmazie, die kaum
einen Nebenjob zulassen, noch stärker ›vererbt‹ wer-
den als ohnehin schon«, sagt Ulrich Müller.
Einen Ausweg boten bisher Studienkredite.
Doch der Zinssatz für das Darlehen der Kredit-
anstalt für Wiederaufbau ist zuletzt explodiert: Er
liegt nun bei mehr als neun Prozent – so hoch wie
noch nie, seit die Bank den Kredit 2006 einführte.
Matthias Anbuhl rät dazu, das Darlehen der staat-
lichen Förderbank mit höchster Vorsicht zu be-
trachten und sich umfassend beraten zu lassen:
»Sonst droht eine hohe Verschuldung.«
Doch auch wenn es für manche eng wird – kann
es tatsächlich sein, dass mehr als jeder dritte Student
von Armut bedroht ist, wie das Statistische Bundes-
amt meldet? »Als armutsgefährdet gilt eine Person,
wenn ihr Einkommen weniger als 60 Prozent des
mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung be-
trägt«, erklärt Christoph Butterwegge, Deutschlands
bekanntester Armutsforscher. In den vergangenen
Jahren setzte sich Butterwegge vor allem mit Kinder-
armut auseinander, hielt Vorträge, sprach in Talk-
shows, schrieb ein Buch. »Das Verrückte ist«, sagt er,
»dass Kinder gar nicht die am stärksten von Armut
betroffene Gruppe sind, sondern Heranwachsende
und junge Erwachsene.« Die Schwelle für Armuts-
gefährdung lag für Alleinlebende 2021 bei 1251 Euro,
ein großer Teil der Studierenden lebt darunter. »Die
relative Einkommensarmut ist in Deutschland unter
Studierenden weit verbreitet«, sagt Butterwegge.
Aber ist der Vergleich mit der Gesamtbevölkerung
angemessen? Müssen Studierende nicht eine gewisse
Durststrecke hinnehmen? Schließlich können die
meisten nach ihrem Abschluss mit einem guten
Einkommen rechnen. »Das finde ich offen
gesagt verharmlosend«, sagt Butterweg-
ge. »Warum sollten Studieren-
de nicht ge-
viele aus Geldnot zurück zu ihren Eltern ziehen oder
erst gar nicht ausziehen, beobachtet er mit Besorgnis.
»Volljährige haben in einer so wohlhabenden, wenn
nicht reichen Gesellschaft wie unserer das Recht,
einen eigenen Hausstand zu gründen«, so Butterweg-
ge. »Staat und Gesellschaft haben die Pflicht, diesen
jungen Menschen einen materiell abgesicherten Start
zu ermöglichen.«
Doch unabhängig davon, ob man dieser Lesart
folgt – neben der Frage, wie zumutbar einige Jahre
mit sehr wenig Geld sind, ist eine andere entschei-
dend: Hält die finanzielle Lage Menschen davon
ab, ein Studium aufzunehmen oder abzuschließen?
Schadet sie also der Bildungsgerechtigkeit, und
verhindert sie die Qualifikation von Fachkräften?
Das Deutsche Zentrum für Hochschul- und
Wissenschaftsforschung ist zurückhaltend. Grund-
sätzlich seien Geldprobleme nur ein Grund von
vielen, warum einer von vier Bachelor-Studierenden
das Studium aufgibt, erklärt die DZHW-Forscherin
Frauke Peter. Und dass die Kinder von Nichtakademi-
kern seltener an die Unis streben, habe auch mit der
Sozialisation und fehlenden Informationen zu tun.
Zur Beantwortung der Frage, ob die »toxische Mi-
schung« aus steigenden Kosten und schwächelnden
Einnahmen in Zukunft vom Studium abschrecken
könnte, fehlen Studien, so Peter. »Ich glaube, dass vor
allem die Intransparenz der Bafög-Kriterien und die
bürokratische Bewilligung junge Menschen davon
abhalten können, Bafög zu beantragen.«
So bleiben vorerst nur Hinweise. Eine Allensbach-
Umfrage im Auftrag des Reemtsma Begabtenförde-
rungswerkes kam 2019 zu dem Ergebnis, dass Geld-
sorgen für junge Menschen der häufigste Grund für
einen Verzicht aufs Studium seien. Die Universität
Maastricht befragte im Frühjahr 16.000 Studierende
in Deutschland nach den Folgen der Inflation für ihre
Situation. 60 Prozent schränkten sich demnach beim
Freizeitverhalten ein, 58 Prozent beim Lebensmittel-
einkauf, 18 Prozent gaben an, ihre Wohnsituation
verändern zu müssen. Und 7 Prozent erklärten, ihr
Studium aus Kostengründen entweder aufgeben oder
pausieren zu müssen.
Auch die gemeinnützige Organisation »Arbeiter-
kind« registriert erste Anzeichen, dass die finanziellen
Schwierigkeiten nicht folgenlos bleiben. Sie berät
junge Menschen, die als Erste in ihrer Familie eine
Hochschule besuchen. Zuletzt hätten sich vermehrt
Studierende und junge Leute, die über ein Studium
nachdenken, an die Initiative gewandt, weil sie sich
sorgen, dass das Geld im Studium nicht reichen
könnte, sagt Julia Munack von Arbeiterkind: »Wir
befürchten, dass sich immer mehr Studieren-
de mit geringen finanziellen Mitteln
kein Studium mehr leisten
können.«

Preise Mieten Bafög Studienkredite

Im Jahr 2022 lag die Inflation bei 7,9 Prozent. Die Kaltmieten für Studentenwohnungen lagen Nur noch jeder zehnte Studierende bekommt Früher eine Möglichkeit, Lücken zu stopfen –
2023 stiegen die Preise weiter, im September um zuletzt um 6,2 Prozent über dem Vorjahr, nach Wo es überhaupt die staatliche Förderung. Und sie heute so teuer wie nie: Auf mehr als
4,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, einem Plus von 5,9 Prozent 2022. Die Abschläge hält nicht mit der Inflation mit: Im Jahr 2022 9 Prozent ist der Zinssatz für das Darlehen der
nach mehr als 6 Prozent in den Sommermonaten. für Heizkosten gingen um 43 Prozent nach oben. knapp wird wurde sie um 5,75 Prozent angehoben. Kreditanstalt für Wiederaufbau gestiegen.
38 WISSEN 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

Hirnforschung

Für eine Studie sollten Probanden im Schlaf mit Stirnrunzeln oder Lächeln Antworten geben

Augen zu und los!

Im Schlaf sind Menschen nur bei sich? Von wegen: Sie können sogar einfache Aufgaben erledigen VON REBECCA STEGMANN

E
s sei wie der Versuch, mit Astronau- ber bewusst sind, dass sie träumen – luzide Träume gabe: Sie würden ihnen im Schlaf Wörter vorspie- auch die gesunden. Schliefen sie nur leicht, zeigten wie lange vermutet. Zumindest zeitweise ist eine Ver-

Foto (Ausschnitt): Zoonar/Imago (Symbolbild)

ten in einer anderen Welt zu kom-
munizieren. So beschrieb ein inter-
nationales Forschungsteam vor ein
paar Jahren seine Experimente.
Doch sie glückten: Die Wissen-
schaftler konnten Kontakt aufnehmen – und zwar
mit Schlafenden. Sie stellten Versuchspersonen
Matheaufgaben, während diese schliefen, und die
Probanden gaben tatsächlich die richtigen Ant-
worten, mit Augenbewegungen.
Lange war man davon ausgegangen, dass Schlaf
das Hirn von der Außenwelt abschottet – wie eine
Jalousie, die vor ein Fenster gezogen wird. Ist diese
Jalousie vielleicht doch nicht so dicht wie gedacht?
In ihrem Experiment hatten die Forschenden
mit Testpersonen gearbeitet, die sich häufig darü-
oder Klarträume nennen Fachleute das. Die Wis-
senschaftler hatten vermutet, dass bei solchen
Menschen die Jalousie des Schlafs durchlässiger
sein könnte. Jetzt wollten sie wissen: Geht das
auch mit ganz normalen Schläfern?
Um das herauszufinden, lud das Team um Başak
Türker vom Pariser Institut du Cerveau zum Nicker-
chen ins Schlaflabor: 22 gesunde Probanden und 27
Menschen, die an Narkolepsie litten, einer seltenen
neurologischen Krankheit, bei der die Betroffenen
dazu neigen, tagsüber plötzlich einzuschlafen. Diese
Menschen träumen außerdem häufig luzide, mit
ihnen wollten die Forschenden ihr erstes Experiment
überprüfen und verfeinern.
Bevor die Versuchsteilnehmer einschlafen durf-
ten, erklärten die Wissenschaftler ihnen ihre Auf-
len, echte und ausgedachte, »Pizza« zum Beispiel
oder »Dizta«. Je nachdem, ob die Wörter tatsäch-
lich existierten oder nicht, sollten die Probanden
dreimal lächeln oder dreimal die Stirn runzeln.
Um sicher zu sein, dass die Testpersonen während
des Versuchs schliefen, zeichneten die Forschenden
ihre Hirnaktivität und Augenbewegungen auf. Auch
ihre Mimik registrierten sie akribisch mit Elektroden.
Dann ging es los: Jeweils eine Minute lang wurden
den Schläfern in zufälliger Reihenfolge unterschied-
liche Wörter und Fantasiewörter vorgespielt, in der
Lautstärke eines leisen Gesprächs, dann folgte eine
Minute lang weißes Rauschen.
Das Ergebnis, veröffentlicht in der Fachzeit-
schrift Nature Neuroscience: In allen Schlafphasen
reagierten die Probanden auf das Gesprochene –
diese in 22 Prozent der Fälle eine Reaktion. Je tie-
fer sie in den Schlaf sanken, desto seltener ließen
sie ein Lächeln oder Stirnrunzeln erkennen. Die
Narkolepsie-Patienten dagegen reagierten wie er-
wartet deutlich häufiger, in der leichten Schlaf-
phase gar in 64 Prozent der Fälle.
Und: Die Testpersonen lagen mit ihren Reaktio-
nen meist richtig. Im leichten Schlaf erkannten
beide Gruppen in mehr als 80 Prozent der Fälle, ob
ein echtes oder ausgedachtes Wort gesprochen wor-
den war. In tieferen Schlafphasen sank die Treffer-
quote, sie lag aber im Schnitt über 70 Prozent.
Menschen können also im Schlaf verbale Reize
wahrnehmen, Entscheidungen treffen und entspre-
chend reagieren. Das Fenster zwischen Hirn und
Außenwelt ist offenbar doch nicht so fest verrammelt
bindung möglich. »Diese Momente kommen und
gehen«, sagt Başak Türker, die Erstautorin der Studie.
»Bei manchen Probanden traten sie häufig auf, bei
anderen nie.« Sie und ihr Team gehen davon aus, dass
diese hellen Momente von bestimmten Dynamiken
des Gehirns abhängen: Wenn das Hirn eine Sekunde
vor dem Abspielen eines Worts aktiver war und kom-
plexer arbeitete als sonst, reagierten die Versuchs-
teilnehmer mit größerer Wahrscheinlichkeit.
»Die Studie bringt uns dazu, unsere Definition
von Schlaf und Wachsein zu hinterfragen«, sagt
Türker. »Schlaf ist in Wirklichkeit nicht homogen.
In jeder Schlafphase können Momente auftreten,
in denen die Verbindung zur Außenwelt stärker
ist.« Wie bei einer Jalousie, durch deren Ritzen
man einen Blick nach draußen erhaschen kann.

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INNOVATION RELOADED:
12. Oktober 2023
Wie Deutschland
INNOVATION den Forschungsstandort
RELOADED: Bayer AG – Pharmaceuti
12. Oktober 2023 cals
vorantreibt oder ausbremst.
Wie Deutschland den Forschungsstandort
Bayer AG – Pharmaceuticals
vorantreibt oder ausbremst.

Die Herausforderung der Stunde:

Die
Mut,Herausforderung der Stunde:
Neugier, Technologie-
Mut, Neugier,
offenheit Technologie-
und Agilität etablieren © Kevin Fuchs
Kevin Fuchs

offenheit und Agilität etablieren

Fotos: © Fotos:

Was tun, damit der Wissenschaftsstandort Deutschland wettbewerbsfähig bleibt? Zum Austausch
Wie lässt sich Translation beschleunigen? Darüber diskutierten Im politischen Gespräch wurde mit Bundesministerin Bettina
über Rahmenbedingungen und Regularien hatten der ZEIT Verlag und die Bayer AG Mitte Oktober nach (v.l.n.r.): Ulrike Köhl, Fraunhofer Institut für Zelltherapie und Stark-Watzinger über den Innovation Hub Deutschland und
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Veranstalter:

Partner: Medienpartner: Veranstalter:

DIE ZEIT N o 46 2. November 2023 WISSEN 39

Wissenschaft Manaus

PERU
Lima
BR ASILIEN

Forscher,
Puerto
Maldonado

Südpazifik

Südatlantik

nicht Handlanger
Amazonas
Amazonas-
Regenwald
ZEIT-GRAFIK
1000 km

Indigene aus dem Amazonasgebiet drängen an westliche Universitäten. Sie fordern einen Platz
in der Welt der Wissenschaft – auch für das Denken ihrer Ahnen VON THOMAS FISCHERMANN

R
uth Buendías Reise begann
auf einem Boot, danach
saß sie zwölf Stunden lang
in einem Bus, sie nahm
einen einstündigen Inlands-
flug und stieg schließlich
in ein Taxi. Das Reisen
kann aufwendig sein, wenn man in einer
Gegend lebt, welche die Peruaner einfach
selva central nennen, den zentralen Wald, er
liegt im Amazonasgebiet ihres Landes.
Doch die 46-jährige Aktivistin und An-
führerin einer Gruppe aus dem Asháninka-
Volk ist das schon gewohnt. Bekannt wurde
sie in Peru durch ihren erbitterten Wider-
stand gegen mehrere Staudamm-Projekte.
Jetzt sitzt sie in einem bedruckten Sommer-
kleid auf dem Holzboden eines Kongress-
zentrums, eine Packung Eiswürfel auf ihren
Füßen, den Kopf in Richtung des Luft-
zugs aus einem Deckenventilator gestreckt.
»Eigentlich finde ich«, sagt sie, »dass solche
wissenschaftlichen Kongresse in unsere Hei-
matgebiete kommen sollten.«
Der Kongress ist ein Treffen von His-
torikern, Kulturwissenschaftlern, Urwald-
experten und Journalisten Ende August, im
peruanischen Flussstädtchen Puerto Maldo-
nado. Thema ist die Frühgeschichte des
Amazonaswaldes, einige Koryphäen sind an-
gereist. Carlos Castaño-Uribe spricht, ein
Forscher aus Bogotá mit schlohweißen
Haaren und aristokratischem Auftreten, der
sich »Amerikanist« und »Entdecker verlore-
ner Welten« nennt. Er hat 30 Jahre lang alte
Felsmalereien tief im Regenwald entschlüs-
dessen müssten die westlichen Wissensinsti-
tutionen so umgebaut werden, dass sie indi-
genes Wissen aufnehmen können.«
Diese Diskussion läuft gerade an vielen
Orten im Amazonasgebiet: In etlichen indi-
genen Völkern der Region ist ein neuer,
kritischer Blick auf die westliche akademi-
sche Welt herangereift – und auf ihre Prak-
tiken, die im Verdacht stehen, immer noch
den Interessen kolonialer Ausbeutung zu
dienen. Solche Kritik gibt es im Grundsatz
schon lange, aber jetzt wird sie lauter denn
je. Das hat damit zu tun, dass eine ganze
Kohorte frisch ausgebildeter Akademikerin-
nen und Akademiker aus indigenen Völkern
einen Marsch durch die Institutionen ge-
schafft hat. In den Anrainerstaaten des
Amazonas wurden Förderprogramme für
indigene Studenten aufgelegt, im kolumbia-
nischen Cauca wurde sogar eine speziell auf
sie zugeschnittene Universität eingerichtet.
Am deutlichsten aber zeigt sich der Wan-
del in Brasilien. Hier hat die Zahl der indi-
genen Studenten zwischen 2011 und 2021
um 374 Prozent zugenommen, und 8700
schlossen im Jahr 2021 ein Studium ab, be-
richten die Bildungsbehörden. Dahinter
steckt ein politisches Programm: Ab dem
Jahr 2003 waren in Brasilien Quoten für
Studenten und Doktoranden eingeführt
worden, die einen afrobrasilianischen oder
indigenen Hintergrund haben.
Einer, der die Eroberung der akademi-
schen Welt durch indigene Studenten seit
Langem begleitet, ist Carlos Augusto da
Silva. Der Archäologe unterrichtet seit Be-
Dorf in die akademische Welt geschafft
haben. Inzwischen arbeitet er mit Koryphä-
en von den berühmtesten Universitäten der
Welt zusammen.
Für diese Art der akademischen Arbeit,
das weiß er, werden sich nur wenige der
jungen Leute entscheiden. Gerade Studie-
rende mit indigenem Hintergrund verfol-
gen meist praktischere Ziele. Sie wählen
Jura, Wirtschaft oder Ingenieurwissenschaf-
ten, um den Aufstieg in die Mittelschicht
der westlichen Mehrheitsgesellschaft zu
schaffen. Andere wollen Juristen werden,
um ihr Herkunftsvolk besser gegen Land-
räuber, Bergbaufirmen und Staudamm-
Erbauer verteidigen zu können, oder Medi-
ziner, um eine Gesundheitsstation in ihrem
Dorf aufzubauen. Manche hätten ein drittes
Motiv, sagt der Archäologe: »Es gibt Studie-
rende, die wollen über die Wissenschaft ihre
eigene Herkunft entdecken. Das nennen
wir Ethnogenese.«
Da Silva hofft, dass die Welle neuer
Studenten, Forscherinnen und Professoren
auch die akademische Welt an sich verän-
dern wird. »Bis heute blicken wir indigenen
Wissenschaftler anders auf die Welt«, sagt
der Archäologe. »Wir kommen aus Kultu-
ren, in denen früher alle zusammen in einer
Kommune, in großen Rundhäusern leb-
ten.« »Wir kommen aus Denkschulen, in
denen viel auf die Zusammenhänge zwi-
schen allen Lebewesen geschaut wurde.«
Er selbst hat sich zum Beispiel einen Na-
men dadurch gemacht, dass er bei seinen
Ausgrabungen den Pfaden bestimmter
Ameisenarten folgte, die ihn zu Hohlräu-
men unter dem Waldboden und damit zu
einigen spektakulären Funden führten. Ein
ausgegrabenes Tongefäß erzähle für ihn

Fotos: Goldman Environmental Prize (o.); Bruno Kelly (2)

Der Archäologe Carlos Augusto da Silva schaffte es als einer der Ersten aus dem Dorf an die Universität
selt. Auch Quirino Olivera Núñez hält einen
Vortrag, ein Prähistoriker aus Peru, der jahr-
tausendealte Steinanlagen erforscht.
Doch das Spannendste passiert nach den
Präsentationen der Experten. Ruth Buendía
tritt auf die Bühne. Sie sagt: »Solche Vor-
träge müssten an einer Universität für Indi-
gene gehalten werden«, und dann entspinnt
sich ein reger Austausch. Die beiden Früh-
geschichtler wissen, dass die wenigen noch
überlebenden indigenen Kulturen manch-
mal der Schlüssel für ihre Forschung sind;
dass sich aus ihren Überlieferungen, Ritua-
len oder landwirtschaftlichen Praktiken auf
die Bedeutung mancher Felsmalerei oder
Felsgruppierung schließen lässt. Beide
Wissenschaftler arbeiten, wie das in ihrer
Disziplin üblich ist, mit indigenen Führern
zusammen, mit Scouts, die ihre Forschung
überhaupt möglich machen.
Buendía findet das problematisch: »Indi-
gene werden als Spurensucher und Hand-
langer eingesetzt, als Hilfskräfte, aber wir
haben selbst großes, tiefes Wissen einzubrin-
gen«, sagt sie. Inzwischen bildeten sogar
Schulen für Indigene ihre Schüler eigens dafür
aus, solche Hilfsarbeiten zu erledigen, genau-
so wie angereiste Forscher in ihren Work-
shops. »Die Bildungssysteme, die uns überge-
stülpt werden – und die dann auch noch inter-
kulturell genannt werden! –, zerstören in
Wahrheit unser altes Wissen«, sagt sie. »Statt-
ginn des Jahrtausends an der Universität
in der brasilianischen Regenwald-Metropole
Manaus am Rio Negro. »Die haben jetzt
ihre Diplome und Doktortitel und drängen
auf die Forschungsstellen und Lehrstühle.«
An einem Vormittag Ende August führt
da Silva eine Gruppe angehender Studie-
render durch seine Forschungseinrichtung,
einen zweistöckigen Betonbau auf dem aus-
ladenden Campus von Manaus, davor das
Schild »Laboratório de Arqueologia«. Die
jungen Leute stehen gerade vor der Ent-
scheidung, was sie studieren wollen, und der
Archäologe wirbt für sein Fach. Er erklärt
den 20 Jugendlichen, wie man Ausgra-
bungsstätten im Regenwald sichert und
analysiert, wie man Fundstücke unbescha-
det ins Labor transportiert, sie unter dem
Mikroskop auf Bearbeitungsspuren und
Einschlüsse untersucht. Der Professor führt
in einen Nebenraum, wo noch kistenweise
Tonscherben und andere Funde unerforscht
in durchsichtigen Plastiktüten liegen. Er
zuckt mit den Schultern: »So wenige For-
schungsmittel, so wenig Zeit.«
Da Silva ist selbst einer der Pioniere des
Wandels an brasilianischen Universitäten.
Der 66-jährige Professor, ein untersetzter
Typ mit dichten schwarzen Haaren, trägt
die Gesichtszüge seiner Vorfahren aus dem
Munduruku- und dem Apruinã-Volk. Er
war hier einer der Ersten, die es aus dem
nicht einfach eine Geschichte über prähis-
torische Menschen, sagt er – sondern über
das Leben aller Tiere, Pflanzen, des Bodens,
sämtlicher Wesen an diesem Ort. »Sie kön-
nen das natürlich eine Fundstelle nennen«,
sagt er. »Aber ich finde eine Gebärmutter
vor. Einen Ort, aus dem einmal viel Leben
hervorgegangen ist.«
Auf seinem Telefon hat da Silva ein paar
Nummern von anderen Forschern mit indi-
genem Hintergrund gespeichert, die an
Universitäten im großen Gebiet des Amazo-
naswalds arbeiten. Viele sind es nicht, er
zählt die Namen an den Fingern seiner rech-
ten Hand ab. »Wir haben immer noch ein
Problem mit der akademischen Monokul-
tur«, sagt er mit einem Seitenhieb auf die
Mehrheitskultur der Weißen, die seine ama-
zonische Heimat mit Bulldozern platt wal-
zen lässt, um Soja- und Maisplantagen da-
raus zu machen.
Die größte Vielfalt ist bisher in der an-
thropologischen Forschung entstanden. Auf
dem Feld haben sich in Brasilien zuletzt
Leute wie João Paulo Barreto Gehör ver-
schafft, ein Schamanensohn aus dem Volk
der Tukano: Er erregte 2013 einige Auf-
merksamkeit mit einer Forschungsarbeit
über ein Konzept seiner Heimatkultur, der
Wai-Mahsã, Zwitterwesen aus Fisch und
Mensch. Die Arbeiten westlicher Wissen-
schaftler zu dem Thema bezeichnete er als
viel zu stark vereinfacht, die bisherige For-
schung laufe sogar auf große Missverständ-
nisse heraus.
Seit ein paar Jahren nun bemüht sich
Barreto um ein besseres Verständnis zwi-
Die Aktivistin Ruth Buendía will die Wissenschaft in den Regenwald holen
schen westlichen und indigenen Heilprakti-
kern, er hat dafür ein Institut in der Altstadt
von Manaus eröffnet. »Ich glaube, dass ein
solcher Dialog möglich ist, aber zuerst muss
jede Seite verstehen, worauf das Wissens-
modell des Gegenübers basiert«, sagt er.
Deshalb beteiligt er sich seit 2018 auch an
der Herausgabe einer monumentalen Bü-
cherreihe, in der indigene Denksysteme
durch indigene Forscher und traditionelle
Wissensbewahrer dargestellt werden – eine
Volksgruppe nach der anderen.
Durch solche Aktionen bekommt deren
Denken in der akademischen Welt jetzt
mehr Sichtbarkeit. Indigene Fachleute tre-
ten heute regelmäßig in brasilianischen
Hörsälen auf. Veröffentlichungen indige-
ner Autoren werden Studenten zur Lektüre
empfohlen. Großzügig bemessene Stipen-
dien gehen an Forscher aus Amazonasdör-
fern – oder auch an junge Leute aus der
Stadt, die vor dem Studienbeginn ihre in-
digene Identität entdecken. Die Rhetorik
in dieser Szene ist nicht selten voller All-
gemeinplätze: dass es wichtig sei, über die
Kulturen hinweg zu lernen, und dass die
ganzheitliche Denkweise indigener Völker
den Westen endlich den nachhaltigeren
Umgang mit der Natur lehren könne.
Doch ein echter Dialog zwischen indige-
nen und westlichen Forscherinnen und
Forschern, der zu ganz praktischen Ergeb-
nissen führt – das ist noch einmal etwas
anderes. In einigen Disziplinen beginnt er
gerade erst.
Wie kompliziert das sein kann, zeigte sich
in handfesten Fächern wie der Medizin oder
Pharmazeutik. Auf diesen Feldern hatte man
sich schon vor einem Vierteljahrhundert viel
von einem westlich-indigenen Austausch ver-
sprochen – so viel, dass der brasilianische Staat
ganze Institute schuf und Forschungsserien
auflegen ließ. Aber dann wurde es doch sehr
schwierig. Bei ein paar traditionellen Heil-
pflanzen aus dem Amazonasgebiet fanden
sich zwar gut bestimmbare biomedizinische
Effekte. Aber manche indigene Heilkuren
schienen eher auf kulturellen Vorstellungen
zu beruhen, sie ließen sich jedenfalls nicht so
leicht in eine westliche Stadt verfrachten
(ZEIT Nr. 5/19).
Einen wirklichen Austausch zu schaffen
ist harte Arbeit: Elizângela Baré weiß das,
eine 39-jährige Frau, die aus dem Grenz-
gebiet zwischen Venezuela, Kolumbien und
Brasilien stammt. Vor ein paar Monaten ist
sie an der Universität in São Paulo ange-
kommen, 3500 Kilometer entfernt von ih-
rem Heimatort.
Barés Forschungsgebiet ist die öffentliche
Gesundheitsversorgung: Mit einem staatlichen
Stipendium möchte sie auswerten, wie in den
Dörfern mithilfe von traditionellen Heilme-
thoden die Covid-19-Pandemie bekämpft
wurde und was man daraus über die Zusam-
menarbeit zwischen Traditionsheilern und
dem westlichen Gesundheitssystem lernen
kann. »Wir haben umfangreiches altes Wissen
beizutragen«, sagt die Stipendiatin. »Es ist an
der Zeit, dass wir das selbst beschreiben und
nicht irgendwelche Forscher und Anthropolo-
gen von außerhalb.«
Als in Puerto Maldonado im peruanischen
Amazonaswald die Konferenz über Archäolo-
gie zu Ende geht, verstehen sich die Indigenen-
Aktivistin Ruth Buendía und die westlichen
Professoren ein wenig besser. »Ich finde es
völlig in Ordnung, wenn westliche Wissen-
schaftler kommen und ihre Forschungen bei
uns anstellen«, sagt Buendía. »Aber unsere
Leute müssen befähigt werden, selbst eine aka-
demische Laufbahn einzuschlagen und neue
Erkenntnisse für uns mitzubringen. Das würde
uns am meisten nützen!«
! www.zeit.de/vorgelesen

Der Anthropologe und Schamanensohn João Paolo Barreto erregte mit einer Forschungsarbeit Aufsehen
40
Orte der Zukunft (4/6)
Über den Dächern
das Gemüse
Foto: Simone Tramonte
Die Pariser Dachfarm Nature Urbaine beliefert Nachbarn, Restaurants und Hotels
Der französische Impressionist Gustave Caille-
botte malte sie, die Chanson-Legende Édith
Piaf besang sie: die Dächer von Paris. Aus Zink
und Schiefer gefertigt, bekrönen sie die Alt-
bauten des Zentrums, wölben sich über Gauben
und Kuppeln und verleihen der Stadt ihren
sanft melancholischen, graublauen Zauber.
Steht ihr gut, der Heimat der Philosophen von
Diderot bis Derrida – ist Grau doch nach
Goethe die Farbe aller Theorie. Man könnte es
In dieser Foto-Kolumne zeigen wir Bilder aus der Serie »Net-Zero Transition: New Ways to the Future« des italienischen Fotografen Simone Tramonte
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+02921 94838 03
daher für beinahe geistlos halten, dass die Stadt
nun Grün ins Bild tupft, wo es nur geht. Oder
man schlussfolgert: Das neue Pariser Grün zeigt,
dass zeitgemäßes Denken heute vor allem unter
dem Dach der Ökologie stattfindet. Unbe-
stritten ist: Mittlerweile kommen die für das
Denken nötigen Kalorien für mehr und mehr
Pariser von den Dächern. Das Foto zeigt die
weltweit größte Rooftop-Farm, Nature Ur-
baine, 14.000 Quadratmeter, angelegt auf
Das beste Notrufarmband
WISSEN
einem Pavillon der Messe Paris. Weil das dort
wachsende Gemüse lokal verspeist wird, be-
sticht es durch eine feine CO₂-Bilanz. Wem das
zu klein gedacht ist, der kann sich die grüne
Urbanität anders schmackhaft machen: Mit ihr
könnte der alte, fatale Gegensatz zwischen Stadt
und Land, der »den Einen zum bornierten
Stadttier, den Andern zum bornierten Landtier
macht« (Karl Marx), in Zukunft der Vergan-
genheit angehören. MA XIMILIAN PROB ST
Deutschlands
Erfahren Sie mehr unter:
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Frisch erforscht
Ein Diabetes-Mittel hilft
auch gegen Alzheimer
Pille gegen alles, Allzweckwaffe – das alt-
bekannte Diabetes-Medikament Metfor-
min löste vor einigen Jahren einen ech-
ten Hype aus. Es sollte Krebs aufhalten,
Herzleiden bekämpfen und als Abnehm-
hilfe dienen (ZEIT Nr. 43/19). Schon
lange wird vermutet, dass Metformin das
Risiko für eine Demenzerkrankung min-
dert. Nun legt eine neue Studie nahe,
dass die Hoffnung wohl begründet war.
Bereits jetzt ist Demenz eine der größ-
ten medizinischen und gesellschaftlichen
Herausforderungen. In Deutschland sind
rund 1,8 Millionen Menschen erkrankt,
und die Zahl der Betroffenen wächst
weiter. Nach aktuellen Berechnungen des
Deutschen Zentrums für Neurodegenera-
tive Erkrankungen (DZNE) könnten
schon in zehn Jahren bis zu zwei Millio-
nen Menschen über 65 Jahre an Demenz
erkrankt sein. Jede Nachricht über eine
wirksame Vorbeugung ist also hoch-
willkommen.
Nun haben Epidemiologen der Bos-
ton University in Kooperation mit kali-
fornischen Forschern und Forscherinnen
im Fachjournal JAMA Network Open
den Beweis geführt, dass Metformin tat-
sächlich segensreich für das Gehirn sein
kann. Das Team analysierte in einer Ko-
hortenstudie Zigtausende Krankenakten
des Versicherers Kaiser Permanente Nord
Kalifornien. Es ging um 29.000 vor
1955 geborene Patienten und Patientin-
nen, die ihren Altersdiabetes (Typ II) mit
Metformin in Schach hielten. 12.220
dieser Patienten mussten indes schon
frühzeitig wieder die Finger von ihren
Tabletten lassen und auf andere Medika-
mente ausweichen. Entweder waren ihre
Nieren durch den Diabetes zu stark ge-
schädigt, oder sie litten unter Nebenwir-
kungen der Therapie – so kann Metfor-
min starke Blähungen verursachen.
Durch das Absetzen der Tabletten in
einer Gruppe von Patienten hatten sich
nun auf natürliche Weise zwei Kohorten
gebildet. So ließ sich der Einfluss des
Diabetes-Mittels auf die Häufigkeit von
Demenz beobachten. Das Ergebnis: Patien-
ten, die Metformin abgesetzt hatten, er-
Stimmt’s?
Die Abscheu gegen
Koriander liegt in den Genen
Viele Menschen mögen Koriander nicht,
insbesondere das frische Kraut. Ihnen wird
übel, wenn sie nur daran denken.
Ist das genetisch bedingt? Hundert-
prozentig erblich sind nur körperliche
Eigenschaften, mit denen wir geboren
werden – etwa die Augen- oder Haarfarbe.
Verhalten oder Vorlieben gehen höchstens
auf eine Mischung aus erblichen Anlagen
und Umweltfaktoren zurück. Das gilt zum
Beispiel auch für die Fähigkeit, die Zunge
zu rollen, die fälschlicherweise oft als
Paradebeispiel für die Mendelschen Ver-
erbungsgesetze verwendet wird (Stimmt’s?,
ZEIT Nr. 1/02).
Etwa 17 Prozent der Menschen mit
europäischer Abstammung hassen Korian-
der, unter Ostasiaten sind es 21 Prozent,
unter Menschen aus dem Nahen Osten nur
drei Prozent. Die Zahlen wurden in einer
Studie in Kanada ermittelt, also nicht an-
hand von Personen, die tatsächlich in die-
sen Kulturkreisen lebten. Trotzdem kann
man vermuten, dass die Abscheu auch et-
was mit der Küche einer Region zu tun hat.
Ob eine Präferenz genetisch bedingt ist,
studiert man oft an Zwillingen. Wenn ein-
eiige Zwillinge häufiger identische Vorlie-
!www.zeit.de/vorgelesen
Diese Woche fragt Nicola Heeg aus Köln.
Und worauf suchen Sie eine Antwort? Schreiben Sie an: DIE ZEIT, Wissen-Ressort,
20079 Hamburg, oder stimmts@zeit.de. Das Archiv: www.zeit.de/stimmts
Berichtigung
Im »Stimmt’s?« der Ausgabe 44 rieten wir, die neuen blauen Kassenbons ins Altpapier
zu werfen. Sie sind tatsächlich ungiftig, aber die darin enthaltene schwarze Farbe
kann das Papier beim Recycling dunkel färben. Also doch lieber in den Restmüll damit.
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
krankten deutlich häufiger. In dieser Grup-
pe war das Demenzrisiko 21 Prozent höher
als in der Vergleichsgruppe.
Obwohl Metformin einst für Diabetes
entwickelt wurde und den überbordenden
Zuckerspiegel im Blut senken soll, hat es
offenbar noch andere Wirkungen. Einer-
seits sorgt es dafür, dass die Leber eine
überschießende Glukoseproduktion dros-
selt, andererseits senkt es den Energie-
bedarf der Zellen – die Energiekraftwerke
der Zellen, die Mitochondrien, werden
gebremst. Krebszellen mit ihrem enormen
Glukoseverbrauch werden ausgehungert
und sterben ab. Viele randomisierte Stu-
dien mit Metformin konnten keinen
Effekt auf das Krebsrisiko nachweisen. In
Molecular Cancer aber zeigten Autoren
kürzlich, dass Metformin das Wachstum
bestimmter Prostata-Karzinome erheblich
verlangsamen kann. Zudem hemmt Met-
formin Entzündungen – möglicherweise
beruht die Anti-Demenz-Wirkung auf
diesem Effekt.
Das alles kann wie Werbung für die
prophylaktische Einnahme des Medika-
ments klingen. Doch es ist eine Sache,
wenn Diabetiker ein erprobtes Medika-
ment einnehmen und sich erfreuliche
Nebenwirkungen zeigen, und eine an-
dere, wenn sich Gesunde unbekannten
Risiken aussetzen. Vor vier Jahren ergab
eine Studie zum Beispiel, dass die Mito-
chondrienbremse Metformin die positi-
ven Effekte von sportlichen Aktivitäten
aufheben kann.
Für Gesunde gibt es zudem auch andere
Möglichkeiten der Prävention vor Alz-
heimer und anderen Demenzformen. So
haben die Epidemiologen des DZNE
nicht nur zukünftige Demenzzahlen hoch-
gerechnet, sondern auch elf Lebensstil-
faktoren identifiziert, die für 38 Prozent
aller Demenzfälle verantwortlich sein
sollen. Danach sind die drei wichtigsten
Faktoren für ein erhöhtes Demenzrisiko:
niedrige Bildung, das Rauchen – und
schlechtes Hören. Schwerhörigkeit im Alter
gilt unter Experten als größter beeinfluss-
barer Risikofaktor für Demenz. Die The-
rapie: ein Hörgerät. HARRO ALBRECHT
ben haben als zweieiige, dann hat es etwas
mit den Genen zu tun. Tatsächlich legte
2012 eine Zwillingsstudie einen geneti-
schen Faktor für den Koriander-Hass nahe.
Forschende um Nicholas Eriksson von
der Firma 23andMe, die DNA von Millio-
nen Menschen gespeichert hat, befragten
daraufhin die Kunden (mittlerweile haben
76.000 teilgenommen) und schauten, ob
sich die Koriander-Hasser durch besondere
genetische Merkmale auszeichnen. Tatsäch-
lich konnten sie zwei Genvarianten iden-
tifizieren. Eine davon macht die Trägerin-
nen und Träger empfindlich für den Ge-
ruch von Aldehyden, die in dem Kraut, aber
auch in Seife enthalten sind. Allerdings
scheint der erbliche Anteil an der
Koriander-Präferenz klein zu sein, Erikssons
Team schätzt ihn auf etwa zehn Prozent.
Man kann sich an den Geschmack von
Koriander gewöhnen, das kann ich aus
eigener Erfahrung bestätigen. Sogar der
Betreiber einer Anti-Koriander-Gruppe auf
Facebook schrieb im vergangenen Jahr: »Ich
habe gelernt, Koriander zu lieben. Daher
mache ich diese Seite zu.« Dann habe ich
aufs Datum geschaut: Das Posting stamm-
te vom 1. April. CHRISTOPH DRÖS SER
 DIE ZEIT N o 46 2. November 2023
Der Lehrplan
kommt
aus Ankara
Lehrer aus der Türkei geben muttersprachlichen
Unterricht an deutschen Schulen.
Gefährdet das die Integration? VON ARNFRID SCHENK
S
elten wird ein Schulfach als so
bedrohlich wahrgenommen: Von
Indoktrination und einem Inte-
grationshindernis sprechen man-
che Politiker und Vertreter von
Lehrerverbänden. Es geht um
den türkischen Konsulatsunter-
richt an deutschen Schulen. Denn über die In-
halte dieses Fachs bestimmen die türkischen
Konsulate und damit letztlich die Regierung in
Ankara. Die Kritik daran wuchs in dem Maße, in
dem der türkische Präsident Recep Tayyip Er-
doğan einen zunehmend autokratischen Regie-
rungsstil pflegte.
Als die Türkei nun den hundersten Jahrestag
ihrer Republikgründung beging, erregte besonders
Erdoğans Äußerung Aufmerksamkeit, die Hamas
sei keine Terror-Organisation, sondern eine Gruppe
von Freiheitskämpfern. Auch wenn es beim Kon-
sulatsunterricht ausschließlich um innertürkische
Belange geht, dürfte dies die Sorge um die Aus-
richtung des Fachs vergrößern.
Der Konsulatsunterricht ist ein Dinosaurier
der deutschen Bildungspolitik. Er geht zurück auf
einen Beschluss der Kultusministerkonferenz von
1964 und eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 1977
zur »schulischen Betreuung der Kinder von Wan-
derarbeitnehmern«. Der Gedanke dahinter: Kin-
der von Gastarbeitern aus Portugal, Griechenland,
Italien oder der Türkei sollten nach der Rückkehr
in ihre Heimat sowohl ihre Muttersprache beherr-
schen als auch etwas über ihr Land wissen.
Baden-Württemberg hält als eines der letzten
Bundesländer an dieser Form des Unterrichts
fest. Im vergangenen Schuljahr haben dort fast
30.000 Schüler am Konsulatsunterricht teil-
genommen, 14.000 allein am türkischen. Die
deutschen Schulen stellen dabei den Lehrerinnen
und Lehrern aus den jeweiligen Ländern nur die
Klassenzimmer zur Verfügung – zweimal die
Woche, nachmittags.
Besonders laut war die Kritik zuletzt nach den
Präsidentschaftswahlen in der Türkei Ende Mai
geworden. Erdoğan hatte bei den türkischstäm-
migen Wählern in Deutschland mit 67 Prozent
ein deutlich besseres Ergebnis als in der Türkei
erreicht. Seine Anhänger feierten den Wahlerfolg
in vielen deutschen Städten mit türkischen
Fahnen, auch in Baden-Württemberg. Cem Öz-
demir, Bundesagrarminister und anatolischer
Schwabe, kommentierte das auf Twitter als »eine
nicht zu überhörende Absage an unsere pluralis-
tische Demokratie«.
Schon im Juni forderte die SPD-Landtagsfrak-
tion, den Konsulatsunterricht unter staatliche Auf-
sicht zu stellen, und äußerte die Sorge vor einer
direkten »Beeinflussung der Lernenden durch eine
zunehmend autoritäre Regierung«. Unterstützung
gab es von Grünen und FDP sowie von der Ge-
werkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)
Baden-Württemberg. Die Kritik entzündet sich vor
allem daran, dass über die Lehrinhalte in Ankara
entschieden wird, nicht in Stuttgart. Das türkische
Bildungsministerium entsendet seine Lehrkräfte
jeweils für fünf Jahre nach Deutschland. Das Kul-
Illustration: Freya Lina Knauer/ZEIT-Grafik
tusministerium hat lediglich Einsicht in die Lehr-
pläne. Den neuen Lehrkräften bietet es nur eine
Einführungsveranstaltung zum deutschen Schul-
system und zu den rechtlichen Grundlagen an.
Cem Özdemir hat als Schüler den Konsulats-
unterricht in Baden-Württemberg so erlebt:
»Mein Lehrer erzählte immer vom Osmanischen
Reich und von den vielen Schlachten, die ›wir‹
gewonnen hatten.« Gleichzeitig erschien das
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WISSEN 41
Schule
Der Unterricht
zeichne ein
unvollständiges
Bild der Türkei,
kritisieren Forscher
Reich auf den Landkarten, die der Lehrer zeigte, verweist man auf den Lehrkräftemangel und wieder Württemberg an einem Konzept von vorgestern hat die Hälfte aller Grundschüler eine Zuwande-
immer kleiner. »Ich hob also die Hand und frag- auf die Haushaltssituation: Eine Umstellung würde festhält. Dabei treibt sie weniger die Sorge vor rungsgeschichte. »Es hat auch etwas mit Wertschät-
te, wie das möglich sei, dass das Osmanische jährlich 79 Millionen Euro kosten. Monika Stein, Indoktrination um, sondern vielmehr die vor zung zu tun, diese potenzielle Zweisprachigkeit gut
Reich ständig Kriege gewinne, aber dennoch die Landesvorsitzende der GEW, versteht das Zögern mangelnder Qualität. zu fördern«, sagt Engin.
immer kleiner werde. Da fasste mich der Lehrer der Landesregierung nicht. »Selbst wenn die Kosten So würden die Lehrkräfte aus der Türkei meist Expertinnen wie Havva Engin oder Monika
an den Ohren und gab mir eine Kopfnuss. Die hoch sind – das sollte es uns wert sein.« mit Materialien unterrichten, die auf Einsprachig- Stein machen dabei stets dieselbe Beobachtung:
Botschaft lautete: Kritische Fragen sind nicht er- Auch Havva Engin setzt sich für eine Über- keit ausgelegt sind. Die Kinder hier seien jedoch Im Wahlkampf stehen Bildungsthemen ganz
wünscht.« Özdemir sagt auch, dass Mehrspra- führung des Konsulatsunterrichts in einen staat- zweisprachig groß geworden. Darauf seien die vorne auf der Prioritätenliste, doch im Laufe
chigkeit sowohl unsere Gesellschaft bereichere lich verantworteten Unterricht ein. Sie leitet das Lehrer und Lehrerinnen aus der Türkei zumeist der Zeit rutschen sie immer weiter nach hinten.
als auch das Leben von Kindern mit türkischem Zentrum für Migrationsforschung und Transkul- nicht vorbereitet. Deshalb plädiert Engin dafür, dass So gesehen dürfte der Konsulatsunterricht in
Migrationshintergrund. Allerdings dürfe man turelle Pädagogik an der PH Heidelberg und ist die Lehrkräfte in Deutschland ausgebildet werden, Baden-Württemberg noch länger weiterlaufen:
hierzulande nicht so naiv sein, diesen sprach- Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Kultus- die Bildungspläne hier entwickelt und auf die Kin- Die nächsten Wahlen stehen dort erst im Früh-
lichen Schatz in die Hände der türkischen Re- ministeriums. Engin fragt sich, warum Baden- der zugeschnitten werden. In Baden-Württemberg jahr 2026 an.
gierung zu legen. »Erdoğan geht es darum, seinen
ideologischen und machtpolitischen Einfluss zu ANZEIGE
stärken – dafür ist ihm jedes Mittel recht.«
Fragt man im Stuttgarter Kultusministerium
nach, heißt es, aktuell seien keine Beschwerden
von Eltern oder Schülern über eine mögliche
Indoktrination bekannt. Eine im Jahr 2017 vom
Kultusministerium durchgeführte Umfrage bei
den Schulaufsichtsbehörden habe eine hohe Sen-
sibilität der Schulverwaltung und der Schul-
leitungen im Umgang mit dem Thema ergeben.
Eine Anfrage beim Türkischen Generalkonsulat
in Stuttgart wurde nicht beantwortet.
2017 war das Jahr nach dem Putschversuch
in der Türkei. Tausende Lehrkräfte, die im Ver-
dacht standen, nicht auf Erdoğan-Linie zu sein,
wurden damals an den Schulen und Universitä-
ten des Landes entlassen. Auch in Deutschland
wurden politische Gegner bespitzelt. Der türki-
sche Konsulatsunterricht geriet bundesweit in
den Fokus und in die Kritik, ob in Berlin, Ham-
burg, Hessen oder Bremen. In Baden-Württem-
berg forderte damals die kurdischstämmige
Landtagspräsidentin Muhterem Aras, den Kon-
sulatsunterricht unter staatliche Aufsicht zu
stellen, er sei mindestens tendenziös. Einzelne
Gemeinden lehnten aus Furcht vor Indoktrina-
tion den türkischen Konsulatsunterricht an ih-
ren Schulen ab.
Konkret festmachen ließen sich die Vorwürfe
allerdings nicht. Es seien einige wenige Hinweise
auf eine mögliche Einflussnahme eingegangen,
die sich bei näherer Prüfung aber nicht erhärtet
hätten, so damals das Kultusministerium.
In Nordrhein-Westfalen untersuchte Hacı-
Halil Uslucan, wissenschaftlicher Leiter des Zen-
trums für Türkeistudien und Integrationsforschung
an der Universität Duisburg-Essen, die für den
Unterricht verwendeten türkischen Schulbücher
auf antiintegrative Effekte. Sein Fazit: Wenn etwas
Anlass zu Kritik gegeben habe, dann weniger das in
den Büchern Beschriebene, sondern eher das, was
ausgelassen wurde – die faktische Mehrsprachigkeit
der Türkei etwa und ihre multiethnische Gesell-
schaft. Die Vorstellung, es gebe die eine türkische
Kultur, negiere die Vielfalt und sei »altbacken«.
In NRW wie in den meisten anderen Bun-
desländern spielt der Konsulatsunterricht heute
nur noch eine Nebenrolle, es gibt viele her-
kunftssprachliche Angebote in staatlicher Ver-
antwortung.
In Baden-Württemberg allerdings hielt die
damalige Kultusministerin Susanne Eisenmann
(CDU) 2017 an dem Modell fest – vor allem aus
Kostengründen. Mit der Neuauflage der schwarz-
grünen Koalition sollte sich das ändern: So heißt es
in der Koalitionsvereinbarung von 2021, man
wolle den muttersprachlichen Unterricht »nach
dem Vorbild anderer Bundesländer in staatliche
Verantwortung übernehmen«. Passiert ist seit-
dem – nichts. Im Stuttgarter Kultusministerium
den Podcast
42 WISSEN 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

Archäologie

1 8
Der Keltenfürst Im Jahr 540
von Hochdorf, mietete Flavios
begraben Ammonios mit
um 530 vor diesem Vertrag
Christus, lag auf Papyrus
im Jenseits ein Zimmer,
bequem auf inklusive Anteil
dem Bronzesofa am Brunnen

2
10.000 Jahre 7

Hausrat
In diesem Unten heizen,
Einmachglas oben Speisen
aus Würzburg warm halten
warten seit 1975 konnte man mit
Birnen auf den diesem um 1880
Verzehr in Chemnitz
gegossenen
Seit der Steinzeit macht es sich der Mensch gemütlich und Aufsatzofen
wappnet sich gegen Gefahr. Eine Ausstellung in
Chemnitz zeigt, wie das Zuhause entstand VON URS WILLMANN

3 6
Die Kugelwasch- Um das Heim
maschine der zu schützen,
Marke Scando, braucht es
hergestellt in Schloss und
Berlin, leistete Schlüssel, wie
von 1925 an diesen hier aus
gute Dienste Dresden
4 5
Ein Hund, im 14. Jahrhundert als Gleich mehrere Herrscher sollen
Bauopfer vergraben – er sollte Haus sich auf diesem Nachttopf erleichtert
und Bewohnern Glück bringen haben, darunter Napoleon

W
er mehr über das Leben
erfahren will, muss in
den Gräbern nachsehen.
Ansonsten ist es schwie-
rig herauszufinden, wie
Menschen früher wohn-
ten. Pfostenlöcher, Müll-
gruben, Aschereste einer Feuerstelle – sie sind oft
das Letzte, was von prähistorischen Häusern übrig
geblieben ist. Der Lehm, die Holzbalken, das
Schilf fürs Dach, die Möbel: vermodert und ver-
schwunden. Beim Versuch, sich zusammenzurei-
men, in was für einem Ambiente früher gehaust
wurde, helfen den Archäologen daher oft die
Ruhestätten der Verstorbenen.
Im alemannischen Gräberfeld von Oberflacht in
Baden-Württemberg überdauerte dank des sauerstoff-
armen Feuchtbodens in Grab Nummer 84 Equip-
ment, das offenbar nicht nur im Diesseits gut zu
gebrauchen war: ein Doppelstuhl, ein Bett, eine
Leier, ein Leuchter, zwei Feldflaschen, Teller, Becher
und ein Kamm mit Futteral.
Im Kölner Dom wurde im 6. Jahrhundert ein
Knabe im Holzbett bestattet, es war aufwendig gebaut
mit Rundhölzern und dazwischen sanduhrförmigen,
gedrechselten Streben. Außerdem wurde ein Stuhl
mitgegeben – die Beine verkürzt, damit das Sitzmöbel
fürs Jenseits ins Grab passte. Grabfunde von der Fall-
ward unweit Cuxhaven wiederum verraten, wie sich
einst Germanen auf Schemeln um einen geschnitzten
Bergahorntisch versammelt haben könnten. Von Hie-
rarchien beim Sitzen erzählt der aus einem Erlen-
stamm gefertigte »Thron aus der Marsch«; er lag in
einem niedersächsischen Bootsgrab.
Und manchmal reduziert sich die wohnliche
Beigabe im Totenacker auf reine Darstellung: Das
Innenrelief eines Sarkophags aus den Niederlanden
(2. bis 3. Jahrhundert) zeigt eine Inneneinrichtung
mit Korbstuhl, Garderobe, Kleidertruhe, löwen-
füßigem Tisch, einer Liege und Regalen – das Grab
als Haus der Toten.
Die Utensilien für postmortales Wohnen sind seit
vergangenem Freitag im Staatlichen Museum für
Archäologie (SMAC) in Chemnitz zu sehen. Home
Sweet Home heißt die Ausstellung zur »Archäologie
des Wohnens«. Mit Hausrat aus 10.000 Jahren do-
kumentiert sie, was Menschen in ihrer langen Kultur-
geschichte für ihr Zuhause entwickelten, um sich zu
schützen, zu wärmen, um ungestört zu schlafen oder
Schätze und Vorräte zu bunkern.
Das Wohnen, sagt Sabine Wolfram, Direktorin
des SMAC, begann, »als die ersten Menschen nicht
mehr im Freien, sondern zum Schutz vor wilden
Tieren in Höhlen übernachteten«. Die Angst vor
Ungemach hat sich als wahrer Quell der Kreativität
erwiesen: Windschirme gegen die Witterung, Schloss
und Schlüssel gegen Ganoven. Und mit der Sess-
haftwerdung war ja auch die Gefahr verbunden,
Jahreszeiten mit verminderter Kalorienzufuhr nicht
zu überleben. Der Mensch half sich mit Vorratshal-
tung, grundsätzlich nicht anders, aber strukturierter
als das Eichhörnchen: Topf, Kiste, Konservendose,
Kühlschrank (in der Ausstellung zu sehen: das säch-
sische Modell DKK H 45/63, Baujahr 1957). Vor-
räte wiederum mussten vor neuen Feinden geschützt
werden. In einer Vitrine liegen Hausmausmumien –
und gleich daneben die Defensivwaffe gegen solche
Übeltäter, eine Guillotine von 1787 zur Anwendung
gegen Mus musculus.
Sogar gegen die schlechten Launen allerhöchster
Mächte musste man sich wappnen. So kam der aber-
gläubische Mensch auf die Idee, Haus, Herd und
Familie mit Bauopfern zu schützen, die in Pfosten-
löchern oder im Keller unter dem Boden platziert
wurden: Im 14. Jahrhundert vergrub ein Leipziger
Bauherr einen Hund mit Gefäß im Souterrain.
Deutlich älter noch als alle Chemnitzer Exponate
sind die frühesten Spuren, die davon zeugen, wie
unsere Ahnen einst begannen, es sich bequem zu
machen. Vielerorts haben Archäologen Spuren aus
diesen Anfängen entdeckt. Im September erst be-
richtete Nature von 476.000 Jahre alten Holzstäm-
men, die frühe Ahnen von uns im heutigen Sambia
passgenau zu einer einfachen Wohnanlage zurecht-
gezimmert hatten (ZEIT Nr. 40/23). In der südafri-
kanischen Border Cave legten Menschen vor 200.000
Jahren gezielt Pflanzen am Boden aus, darunter
Kampferblätter, die wohl Insekten davon abhielten,
die Bettruhe zu stören.
Früher schon entdeckten Forscher bei Molodova
in der Ukraine die Überreste von Häusern aus Mam-
mutknochen – vor 44.000 Jahren errichtet von
Neandertalern. Und in einer der südfranzösischen
Volp-Höhlen belegen Spuren, dass eine Sippe bereits
vor 17.000 Jahren einen ausgeprägten Ordnungssinn
aufwies: In unmittelbarer Nähe zur Feuerstelle der
Wohnküche stecken bis heute vier unscheinbare
Knochensplitter nebeneinander in einer Spalte der
Felswand, etwa 1,7 Meter über dem Boden. Die
Stummel sind ideal platziert, damit die Steinzeitler
nach ihrer Rückkehr die Leder-Couture an der
Garderobe aufhängen konnten.
Statt so weit zurück ins Paläolithikum geht’s in
der Chemnitzer Ausstellung mit bizarren Exponaten
in die Nähe der Gegenwart: Zu sehen ist ein rosen-
verzierter Nachttopf aus Porzellan, auf dem nicht
nur Napoleon, sondern auch Friedrich Wilhelm III.
von Preußen und Prinz Wilhelm Friedrich, der
spätere Kaiser Wilhelm I., nachts ihre Notdurft ver-
richtet haben sollen. Oder ein Küchenstuhl, den der
DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht, vormals
Tischler, selber gebaut haben soll.
An dieser Stelle hätten die Kuratorinnen und
Kuratoren dieser Ausstellung noch einen Schritt
weitergehen können. Denn die Sesshaftwerdung
ist zwar ein Schlüsselmoment der Menschheits-
geschichte, in dem das Wohnen zur immer kom-
plexeren und umfassenden Kultur geworden ist.
Doch hat sich ein Retrotrend jüngst massiv beschleu-
nigt: zurück auf die Straße. Wer heute einen Camper
ordert, wartet nachfragebedingt mitunter Jahre. Denn
wir haben längst begonnen, die Sesshaftigkeit wieder
hinter uns zu lassen. Der moderne Mensch wohnt
mobil. Zumindest im Urlaub.
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Home Sweet Home – Archäologie des Wohnens:
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Abb. (v. o. l.): Y. Hurni/Bernisches Historisches Museum; Berliner Papyrusdatenbank/SMB/Ägypt. Museum u. Papyrusslg.; A. Blasko/Sammlung Wagner; M. Kaiser/Industriemuseum Chemnitz (2); Landesamt für Archäologie Sachsen; Stadtgeschichtliches Museum Leipzig; A. Blasko/LfA/smac

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Abteilungsleiter Erdsystemanalyse
und Professor für für
Physik
Potsdam
Professor für
am
der Ozeane an
Klimafolgenforschung
Physik der Ozeane an

Kongress
Kongress am
am
der Universität Potsdam
„Ich bin Vertreter des optimistischen

28. September
„Ich bin Vertreter
Realismus. des Man
Das heißt: optimistischen
guckt sich

28. September
Realismus. Dasdie
schonungslos heißt:
LageMan
an, guckt sich
beschönigt
schonungslos
nichts, schaut die
sichLage an, beschönigt
die Risiken an - also
nichts,
auch dieschaut sich
Risiken, die
die Risiken
nicht das an - also
wahr-
auch die Risiken,
scheinlichste die nicht
Szenario sind,das
diewahr-
uns aber
scheinlichste
durchaus Szenario
drohen. Abersind,
mandie uns
darf aber
den
durchaus drohen.
nicht Aber mandass
darf wir
den
Gemeinsam diskutierten wir die Optimismus verlieren,
Gemeinsam diskutierten wir die
wichtigsten Klimaschutzmaßnahmen,
Optimismus
noch nicht
sehr viel verlieren,
ändern können dass
undwir
dass
noch
wir sehr viel ändern
tatsächlich können und
das Schlimmste dass
noch
wichtigsten Klimaschutzmaßnahmen,
die gerade umgesetzt werden und wir tatsächlich
vermeiden das Schlimmste noch
können.“
die
nochgerade umgesetzt
umgesetzt werden
werden und
müssen. vermeiden können.“
noch umgesetzt werden müssen.
LUBOMILA JORDANOVA
LUBOMILA
Mitbegründerin JORDANOVA
und CEO von PlanA.Earth GmbH
und Mitbegründerin
Mitbegründerin der Greentech
und CEO Alliance
von PlanA.Earth GmbH
und Mitbegründerin der Greentech Alliance
„Es ist sehr wichtig, dass wir Daten analy-
GRUSSWORT GREEN FINANCE & NEW WORK:
„Es ist sehr
sieren. wichtig,
Allerdings dass wir
können sichDaten
kleineanaly-
und
Staatsministerin
GRUSSWORT Sarah Ryglewski ERFOLGSMODELLE FÜR DIE
GREEN FINANCE & NEW ZUKUNFT
WORK:
sieren. Betriebe
große Allerdings können
bereits fürsich kleine und
die Lösungsphase
Staatsministerin Sarah Ryglewski ERFOLGSMODELLE FÜR DIE ZUKUNFT
• Jakob Berndt große Betriebe
entscheiden, bereits
ohne für diezu
alle Daten Lösungsphase
haben. Die
• Sascha Klaus
Jakob Berndt entscheiden,
letzten ohne
10 Jahre alle Daten
waren zu haben.
sehr wichtig, um Die
den
• Dr. Sigrid
Sascha Nikutta
Klaus letzten 10 Jahre waren sehrWirtschaft
wichtig, um den
SPIELEN WIR DAS CLIMATE-ENDGAME? Zusammenhang zwischen und
• Sara Weber
Dr. Sigrid Nikutta
DIE WAHRHEIT
SPIELEN ÜBER
WIR DAS DIE 3-GRAD-
CLIMATE-ENDGAME? Zusammenhang
Wissenschaft zu zwischen
verstehen,Wirtschaft und
aber ich hoffe,
• Armand Zorn
Sara Weber
ERDERWÄRMUNG UND
DIE WAHRHEIT ÜBER WELCHE
DIE 3-GRAD- Wissenschaft
dass zuin
wir bereits verstehen, aber ich hoffe,
der Lösungsphase sind.
• Armand Zorn
LÖSUNGEN ES GIBT
ERDERWÄRMUNG UND WELCHE dasshaben
Wir wir bereits
genug inüber
der Lösungsphase sind.
Daten gesprochen,
LÖSUNGEN ES GIBT Wir haben genug über Daten gesprochen,
jetzt müssen wir implementieren.“
• Annika Joeres
• Milena
Annika Glimbovski
Joeres HOW TO MAKE A REEL ON CLIMATE CHANGE. jetzt müssen wir implementieren.“
• Prof.
MilenaDr.Glimbovski
Stefan Rahmstorf WIE
HOWWIR SOCIAL
TO MAKE A MEDIA NUTZEN
REEL ON KÖNNEN,
CLIMATE CHANGE.
• Klaus Wiegandt
Prof. Dr. Stefan Rahmstorf UM
WIEAUFMERKSAMKEIT AUF
WIR SOCIAL MEDIA DEN KLIMAWANDEL
NUTZEN KÖNNEN,
• Klaus Wiegandt ZU
UM LENKEN
AUFMERKSAMKEIT AUF DEN KLIMAWANDEL
ZU LENKEN
SARAH RYGLEWSKI
• Delara Burkhardt SARAH RYGLEWSKI
Staatsministerin beim Bundeskanzler
• Fabian Grischkat
Delara Burkhardt
VON DER VISION ZUR TAT: DIE 10 KEYPOINTS Staatsministerin beim Bundeskanzler
• Magdalena Heckner
Fabian Grischkat
ZUR
VON KLIMANEUTRALITÄT
DER VISION ZUR TAT:IN UNTERNEHMEN
DIE 10 KEYPOINTS „Die Bewältigung der Klimaherausforde-
• Verena Mischitz
Magdalena Heckner
ZUR KLIMANEUTRALITÄT IN UNTERNEHMEN „Die Bewältigung
rungen der Klimaherausforde-
erfordert einen mutigen Wandel
• Katharina Beck • Verena Mischitz
rungen
in erfordert
unserem Denkeneinen
undmutigen
Handeln.Wandel
Mut, um
• Dr. Thomas
Katharina Fritz
Beck
in unserem Denken
traditionelle und Handeln.
Geschäftsmodelle Mut, um
in nach-
• Hannah Helmke
Dr. Thomas Fritz
• Lubomila Jordanova
Hannah Helmke BÄUME STATT AUTOS traditionelle
haltige Geschäftsmodelle
umzuwandeln, in nach-
mutige politische
• Dr. Christian
Lubomila Mani
Jordanova BÄUME STATT AUTOS haltige umzuwandeln,
Entscheidungen mutige
zu treffen, politische
und den Mut,
• Jan Kamensky
• Dr. Christian Mani Entscheidungen
unser zu treffen,
eigenes Verhalten zu und denEs
ändern. Mut,
ist
• Jan Kamensky
unser
an dereigenes Verhalten
Zeit, dass wir denzuWegändern. Es ist
der Nach-
an der Zeit,
haltigkeit dass wir den
beschreiten undWeg der Nach-
unseren öko-
KLIMAGERECHTIGKEIT JETZT! NOTWENDIGE haltigkeit beschreiten
logischen Fußabdruckund unseren–öko-
minimieren jede
MUT ZUR NACHHALTIGKEIT
SCHRITTE ZUR BEWÄLTIGUNG
KLIMAGERECHTIGKEIT DERWENDIGE
JETZT! NOT GLOBALEN logischen
und Fußabdruck
jeder in minimieren
seinem Alltag, – jede
aber auch wir
MUT ZUR NACHHALTIGKEIT
KLIMA HERAUSFORDERUNGEN
SCHRITTE ZUR BEWÄLTIGUNG DER GLOBALEN • PROF. DR. CORNELIA BETSCH undGesellschaft.“
als jeder in seinem Alltag, aber auch wir
KLIMAHERAUSFORDERUNGEN • MICHAEL
PROF. DR.BLOSS
CORNELIA BETSCH
• Sheena Anderson als Gesellschaft.“
• VERENA
MICHAELMISCHITZ
BLOSS
• Imeh Ituen
Sheena Anderson
• TORSTEN PERNER
VERENA MISCHITZ
• Imeh Ituen
• TORSTEN PERNER

ERNÄHRUNG DER ZUKUNFT: WIE KÖNNEN WIR

GEMEINSAM STARK
NACHHALTIG UND ZUKUNFT:
ERNÄHRUNG DER KLIMAFREUNDLICH ESSEN?
WIE KÖNNEN WIR
FÜR NACHHALTIGKEIT:
GEMEINSAM STARK
NACHHALTIG UND KLIMAFREUNDLICH ESSEN?
• Silvia Bender BLICK NACH VORNE
FÜR NACHHALTIGKEIT:
• Sophia Hoffmann
Silvia Bender BLICK NACH VORNE
• DR. KAI BENDER
• Hubertus Paetow
Sophia Hoffmann
• ANDREAS SENTKER
DR. KAI BENDER
• Hubertus Paetow
• ANDREAS SENTKER

WIE KOMMUNIZIEREN WIR BESSER ZUM

KLIMAWANDEL? DIE VERANTWORTUNG
WIE KOMMUNIZIEREN WIR BESSER ZUM VON
JOURNALIST*INNEN
KLIMAWANDEL? DIE UND MEDIEN
VERANTWORTUNG VON
JOURNALIST*INNEN UND MEDIEN
• Leonie Sontheimer
• Özden
Leonie Terli
Sontheimer
• Bernd
Özden Ulrich
Terli
• Bernd Ulrich

Auf den Bühnen in der Alten Münze moderiert haben Andreas Sentker, geschäftsführender Redakteur, Die Diskussionen haben
Petra Pinzler,
Auf den BühnenKorrespondentin in dermoderiert
in der Alten Münze Hauptstadtredaktion, Ricarda
haben Andreas Richter,
Sentker, Redakteurin im Redakteur,
geschäftsführender Ressort Green, wir
Die aufgezeichnet und sie
Diskussionen haben
Stefan Schmidt,
Petra Pinzler, Wissenschaftsjournalist
Korrespondentin (alle DIE ZEIT) sowie
in der Hauptstadtredaktion, die Redakteurin
Ricarda Celia Parbey
Richter, Redakteurin und der Green,
im Ressort sindaufgezeichnet
wir verfügbar auf:und sie

Redakteur Zacharias Zacharakis von ZEIT(alle

ONLINE. www.mut-zur-nachhaltigkeit.zeit.de
sind verfügbar auf:
Stefan Schmidt, Wissenschaftsjournalist DIE ZEIT) sowie die Redakteurin Celia Parbey und der
Redakteur Zacharias Zacharakis von ZEIT ONLINE. www.mut-zur-nachhaltigkeit.zeit.de
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IMEH ITUEN
Sozialwissenschaftlerin, Aktivistin und u.a. Teil des
‚Decolonial Think Tank for Care and Repair‘

„Es ist so wichtig, Kolonialität nicht nur in unserem

Denken und Wissen sichtbar zu machen und
zu bekämpfen, sondern auch vor allem darin,
wie wir miteinander und mit unserer Umwelt in
Verbindung treten. Wir können nicht das Klima
zerstören, ohne auch Menschen zu zerstören.
Wir können erst von wahrer Klimagerechtigkeit
sprechen, wenn diese wahnsinnig ungerechten
Beziehungen, an die wir uns so gewöhnt haben,
verändern - und das auf allen Ebenen.“

Wir brauchen 5 Fragen an in nachhaltige Technologie, in Werke, in For-

schung. Man darf darauf vertrauen, dass Nachhal-

ein neues Dr. Kai Bender, tigkeitsinnovationen eine starke Nachfrage erzeu-
gen, nicht zuletzt übrigens auch am Kapitalmarkt.

Klima-Narrativ Market Leader

von Klaus Wiegandt Vorstand & Stifter Deutschland und Was lässt Sie optimistisch sein?
Forum für Verantwortung
Österreich, Nachhaltigkeit hat einen hohen Stellenwert –
Unser derzeitiges Narrativ über die Folgen der
Erderwärmung ist viel zu harmlos, und es wiegt Oliver Wyman und das empfinde ich als sehr vorteilhaft, wenn
man nachhaltige Industrien hier ansiedeln will. In
die Weltbevölkerung in Sicherheit über deren
Deutschland hat sich ein hohes Bewusstsein dafür
Beherrschbarkeit. Denn der Weltklimarat und
ausgebildet, dass Nachhaltigkeit keine Last ist,
dementsprechend die Medien haben 20 Jahre lang
sondern ein Lösungsbaustein zur Krisenabwehr.
ausführlich im Wesentlichen nur die Folgen einer
Die lebendige Diskussion um das Nötige und Mög-
Erderwärmung von +1,5°C beschrieben. Jedoch
liche in der Gesellschaft manifestiert sich auch in
ist Stand heute zu befürchten, dass wir spätestens
Kontroversen am Kabinettstisch – und das finde
gegen Ende dieses Jahrhunderts auf eine Erwär-
ich genau richtig so, wenn es am Ende zu einer gut
mung von +3°C zusteuern. Diese Katastrophe
kommunizierten Entscheidung kommt. Wir müssen
abzuwenden, erfordert ein völlig anderes Klima-
von Ambitionen zum Handeln kommen.
Narrativ, denn die Folgen einer steigenden Erd-
erwärmung verlaufen nicht linear.

Welche Rolle spielen Verbote?

Eine „+1.5°-Welt“ scheint in der Tat für die Mensch-
heit bedrohlich, aber beherrschbar. Ein „+3°C-
Szenario“ hingegen bedroht unsere Welt, wie wir
sie kennen, hingegen existenziell. Was in diesem
Zusammenhang bisher völlig ignoriert wurde, ist
zudem die Tatsache, dass auch Gesellschaften be-
zogen auf die Erderwärmung Kipppunkte haben,
bei deren Überschreitung nach und nach alle rele-
vanten Gesellschaftssysteme kollabieren werden.
In den großen Demokratien erklären die Regierun-
gen mit Überzeugung, ihre Länder bis 2050 klima-
neutral zu machen. Da sie rund 20 Jahre eine völlig
unzureichende Klimapolitik betrieben haben, sind
die nun erforderlichen Maßnahmen gravierend.
Sie ohne eine Aufklärung der Bevölkerung über
ein mögliches „+3°-Szenario“ politisch umsetzen zu
können ist illusorisch. Denn das Maß an Bewusst-
sein über die Folgen einer steigenden Erderwär-
mung bestimmt bei der breiten Bevölkerung das
Maß an Akzeptanz für die Schritte in der Klima-
schutzpolitik.
Nur so ist für mich erklärbar, dass Politiker: innen
mehr als zwei Jahrzehnte seit 1990 die CO2-Emis-
sionen von 22 Milliarden Tonnen auf heute rund
40 Milliarden haben steigen lassen können, ohne
dafür abgewählt zu werden, da den Bürgeri:nnen
diese fatale Entwicklung nicht bewusst waren.
Umfragen zum Thema Klima zeigen jedoch auch sehr
deutlich, dass die Regierungen - neben der Aufklä-
rung - der Bevölkerung auch zusichern müssen, dass
die erforderlichen Maßnahmen in der Klimaschutz-
politik nicht zu zusätzlichen finanziellen Belastungen
für die Mehrheit führen werden. Unter dem Gesichts-
punkt der Klimagerechtigkeit müssen diese Kosten
im Wesentlichen die 1,1% der Weltbevölkerung tragen,
denen rund 46% des weltweiten Privatbesitzes ge-
hören.
Allem Anschein nach sind die Regierungen jedoch
nicht bereit, diesen unabdingbaren Aufklärungspro-
zess über das „+3°C-Szenario“ sowie die Zusicherung
keiner weiteren finanziellen Belastungen in der Be-
völkerung vorzunehmen. Schlimmer noch. Sie werden
in 10 bis 15 Jahren erklären, sie hätten alles versucht,
die Klimaneutralität bis 2050 zu sichern, aber es war
politisch nicht durchsetzbar.
Es ist zu befürchten, dass die Politik auch über das
Jahr 2023 hinaus mit der Zivilgesellschaft keinen
aufklärenden Dialog über die Bedeutung einer „+3˚
C-Welt“ suchen wird. Meine Hoffnung setzt daher
auf Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft, aus
Stiftungen sowie aus der Wirtschaft, den „Mut zur
Nachhaltigkeit“ zu haben und eine Informationskam-
pagne für die Zivilgesellschaft in Gang zu setzen.
Um ein mögliches „+3°C-Szenario“ noch abzuwen-
den, bleibt nicht mehr viel Zeit.
Daher dürfen wir nicht mehr zögern, unbequeme
Wahrheiten auszusprechen und offen die Auseinan-
dersetzung mit Andersdenkenden in der Klima-
politik anzunehmen.
Allen voran gilt das jenen Gruppierungen, die die
Forschung über die Folgen einer „+3°C-Welt“ als
„Apokalypse-Szenario“ ablehnen und darin entweder
Bemühungen der Wissenschaft sehen, zusätzliche
Forschungsgelder zu akquirieren oder Wirtschafts-
gruppierungen unterstellen, Umsätze und Profite
steigern zu wollen. Diesen Vorwürfen halte ich ein
Zitat des Ökonomen Luke Kemp entgegen: „Facing
a future of accelerating climate change while blind
to worst-case scenarios is naive risk management at
best and fatally foolish at worst“.
Was wünschen Sie sich für
den Wirtschaftsstandort
Deutschland?
Ich wünsche mir ein größeres Vertrauen der
Unternehmen in die Stärke des Standorts. Wenn
es einen Standort gibt, bei dem ich überzeugt
bin, dass sich Investitionen wirklich rechnen, dann
ist es Deutschland – besonders gilt das für Inves-
titionen in Nachhaltigkeit. Hier kann man entspre-
chende Technologien hochfahren, industrialisieren
und damit international Geld verdienen. Unser Si-
cherheitsniveau, die Abwesenheit von Korruption,
unser Gesundheits- und Sozialsystem, unsere
phänomenale duale Ausbildung, die ganz struktu-
riert Fachkräfte außerhalb der Universitäten her-
vorbringt: All diese Vorteile gelten nach wie vor.
Prominente Manager haben
zuletzt reihenweise ihre Abwan-
derungsgedanken ausgedrückt.
Wegen Lohnkostenvorteilen,
billigerer Energie, Investitions-
anreizen und weniger Bürokratie
andernorts…
Tatsache ist: Die einstige Vorreiterstellung hat
Deutschland in einigen Industrien verloren – was
auch daran liegt, dass sich einzelne Rahmenbedin-
gungen verschlechtert haben. Doch das ist kein
Grund, nun das Land zu verlassen. Da wird der
Standort zu Unrecht schlechtgeredet. Es ist falsch,
nur auf Nachteile oder Schwächen zu schau-
en. Ganz im Gegenteil ist die Basis am Standort
Deutschland eine sehr gute. Auf die muss man
jetzt aufbauen, indem man hier investiert –
Wenn man Innovation zulässt, funktionieren die
Mechanismen von Angebot und Nachfrage auch
bei Nachhaltigkeitslösungen. Ich bin – generell
gesprochen – kein Freund von Verboten, ebenso
wenig wie von Subventionen. Es ist höchste Zeit,
unsere Anstrengungen für den Klimaschutz zu
erhöhen und nachhaltige Lösungen anzuwenden.
Wir müssen mutig Konventionen hinterfragen.
Dabei hilft der Perspektivwechsel: Nachhaltigkeit
müssen wir als einen zentralen Teil der Lösung be-
greifen – und nicht als zusätzliche Belastung. Und
wir dürfen unsere Regierung nicht schlechter re-
den, als sie ist. Sie hat bewiesen, dass sie entschei-
den und mitunter in Rekordzeit Lösungen schaffen
kann. 9-Euro-Ticket, LNG-Terminals, Zeitenwende
und Sondervermögen – es ist eben nicht so, als
würde sich hier nichts drehen. Und auch das An-
setzen der Regierung bei den Heizungen ist völlig
richtig. Bauen und Wohnen ist noch vor dem Ver-
kehr der größte Hebel für Klimaschutz. Und darum
geht es: Die größten Hebel in Bewegung zu setzen.
Was wünschen Sie sich für die
Zukunft der Nachhaltigkeit?
Drei Appelle sind mir wichtig: Die Politik muss
noch entschlossener in Richtung Nachhaltigkeit
entscheiden – auch dann, wenn es unbequem
ist. Der zweite Punkt betrifft das Vertrauen der
Unternehmen: Sie finden in Deutschland unter
dem Strich beste Voraussetzungen, um technolo-
gisch-innovativ Beispiele zu setzen, wie eine klima-
neutrale Transformation gelingen kann. Drittens
habe ich einen Wunsch an die Zivilgesellschaft,
also uns alle: Wir brauchen etwas mehr Nachsicht
und Großzügigkeit. Die Diskussion wird heute
häufig mit großer Verbissenheit geführt. Bis zu
dem Punkt, wo jede Abweichung von der reinen
Nachhaltigkeitslehre sofort mit Shitstorm bestraft
wird. Wir alle müssen ambitioniert sein. Aber wäre
nicht viel mehr gewonnen, wenn jeder von uns
60 oder 70 Prozent leistet, als wenn ganz wenige
Menschen 99 Prozent leisten – und der Rest steht
wütend daneben? Wäre das nicht besser für den
Zusammenhalt in der Gesellschaft? Ich würde mich
freuen, wenn jeder irgendwo anfängt – und wir
dann alle zusammen ankommen.

INITIATIVPARTNER:

Copyright Fotos: Phil Dera für Holtzbrinck Berlin

46
STELLENMARKT
Hochschulen müssen ihre Studierenden darauf vorbereiten, die Probleme der Zukunft zu lösen
Studium prägt! Und die Lehre ist dafür mit-
verantwortlich. Beides geschieht im Jetzt und
ist dabei so wichtig für unsere Welt von mor-
gen. Klimawandel, Verschmutzung der Meere,
Ungerechtigkeit: Unser Planet und unsere Ge-
sellschaft stehen vor größten wirtschaftlichen,
sozialen und ökologischen Herausforderungen.
Foto: Andy Pöcking
Die Hochschulen mit ihrer Forschung und
Lehre sind mitsamt ihrer Bildungsverantwor-
tung mittendrin. – Aber es passiert nicht viel.
Oder viel zu wenig. Und das, was passiert,
passiert vor allem zu langsam.
Britta M. Gossel ist 2022 rief die Stiftung Innovation in der
Professorin für Social Hochschullehre zur Bewerbung für das Jahres-
Business Management, programm »Hochschullehre im Kontext von
Hochschule für nachhaltige Nachhaltigkeit« auf. Von Kiel bis Landshut
Entwicklung Eberswalde machten Studierende, Lehrende, Mitarbeitende
in der Verwaltung und Führungskräfte mit.
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2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
Die Position:
Lehrt Nachhaltigkeit!
fordern mit der dabei entstandenen Erklärung
»Hochschultransformation Jetzt!« (abzurufen
unter hochschultranformation.jetzt) eindring-
lich, dass die Hochschulen in Deutschland
Verantwortung übernehmen, insbesondere mit
Blick auf die Lehre: Bildung für nachhaltige
Entwicklung ist elementar und soll alle Studie-
renden erreichen. Hochschulen tragen die Ver-
antwortung, gesellschaftliche Transformation
wissenschaftlich, kritisch, konstruktiv und
progressiv zu unterstützen und zu gestalten.
Lehrende haben die Chance, Studierende auf
Transformationsprozesse einer nachhaltigen
Entwicklung vorzubereiten.
Wir fordern, dass Studienangebote die
Komplexität von Nachhaltigkeit angemessen
abbilden und den Beitrag der jeweiligen
Fachgebiete reflektieren. Wir fordern, dass alle
hochschulischen Bildungsangebote Nachhal-
tigkeitskompetenzen adressieren. Wir fordern,
Bei Rückfragen:
Christin Spitzner,
Head of Talent Acquisition
040/32 80-266
Zeitverlag Gerd Bucerius
GmbH & Co. KG,
Buceriusstraße, Eingang
Speersort 1, 20095 Hamburg
Direkt online bewerben:
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unter > bewerbung@eeb-sued.de
VON BRITTA M. GOSSEL UND FABIAN SCHÄFER
dass alle Hochschulangehörigen – von den Ziel der Bildung, soll sie doch Wissen vermitteln,
Studierenden über die Verwaltung bis zur Kompetenzen, Haltung und Verhalten der Welt,
Leitung – Verantwortung für den Umbau der sich selbst und anderen gegenüber. Es könnte
Lehre übernehmen. Wir fordern dies mit Vehe- kaum besser zu unserer Forderung passen!
menz und Dringlichkeit. Wahre nachhaltige Aber die Motivation zu wirklicher, echter,
Transformation ist ein Prozess, der auf einen tiefgreifender Veränderung ist gering. Refor-
Foto: Mathis Saathoff
Idealzustand einer menschlichen Zivilisation men von Curricula dauern, und überhaupt:
abzielt, in dem gleichzeitig die ökologische Lehre ist frei. Punkt. So der Duktus in deut-
Tragfähigkeit, die soziale Gerechtigkeit und schen Hochschulen. So Paragraf 4 des Hoch-
die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gewähr- schulrahmengesetzes.
leistet werden. Davon sind wir weit entfernt. Wie gut, dass es nicht nur Freiheit von Zwän-
Nun werden an den Hochschulen bereits gen gibt! Freiheit ist nach dem Nobelpreisträger
fleißig Nachhaltigkeits-AGs gegründet, Strate- Amartya Sen auch die Suche nach besseren Fabian Schäfer ist
gien geschrieben, Profile geschärft, Ringvorlesun- Chancen. Lehrende haben auch diese Freiheit, Koordinator des
gen gehalten – auch um sich zukünftig besser im ganz ohne bürokratische Hürden. Sie können Studienfelds Nachhaltige
Wettbewerb um Studierende oder Drittmittel sie nutzen, weit über Nachhaltigkeits-Buzzwords Entwicklung an der
positionieren zu können. Ja, es geschieht etwas auf Vorlesungsfolien hinaus. Lehrende haben Hochschule Darmstadt
in Forschung und Lehre. Doch die Lehre kommt Bildungsverantwortung für nachhaltige Ent-
meist erst nach der Forschung und bleibt damit wicklung. Sie müssen sie endlich wahrnehmen.
oft genug in zweiter Reihe. Dabei hat Lehre das Und zwar jetzt – nicht erst irgendwann.
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Resonanzerfahrungen machen und in eine positive, gesundheitsfördernde Wech-
selwirkung mit einem Raum treten. Mit diesem Konzept wird der biomedizinische
Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriff ergänzt.
Die Stiftung will im Rahmen ihrer Initiative interdisziplinäre Forschung anregen, wel-
che die salutogenen Einflüsse von Orten, Landschaften und ihren Umweltressourcen
auf die physische, psychische und soziale Gesundheit untersucht. Alle Forschungsfra-
Im Landesamt für Schule und Bildung ist zum nächstmöglichen gen, die Gesundheitseffekte räumlicher Erfahrung und Interaktion fokussieren, sind
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des Leiters (m/w/d) des Referates 52 FÖRDERUNG: Die Stiftung fördert eine interdisziplinär zusammengesetzte Juni-
– Zeugnisanerkennungsstelle – zu besetzen. or-Forschungsgruppe für einen Zeitraum von bis zu 3,5 Jahren mit bis zu 560.000
Euro. Die Mittel werden bereitgestellt für die Beschäftigung von Promovierenden.
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DIE ZEIT N o 46 2. November 2023 STELLENMARKT 47

Studium generale Worum geht’s ... in der Seismologie?

BEOBACHTET VON JULIAN FIEBACH VON CHRISTINE PRUSSKY

Das sagt die Professorin
Das Scheißwetter kommt Mehr als 6000 Kilometer sind es bis zum Mittelpunkt der Erde.
pünktlich auf die Minute: Wir wissen, dass der Kern innen fest und außen flüssig sowie
von einem festen Mantel umgeben ist. Wir wissen auch manches
über die Dynamik des Mantels. Aber letztlich verstehen wir
unseren Planeten nicht wirklich. Die konkrete Vorhersage von
Erdbeben ist der Heilige Gral der Seismologie. Um die Erschüt-
terungen der Erde zu messen, sind weltweit rund eine Million
Seismografen stationiert. Sie liefern uns riesige Datenmengen.
Was fehlt, sind Fachleute, die bei Beben schnell vor Ort sind.
Auch deshalb wünsche ich mir mehr Studierende für mein Fach.
Christine Thomas ist Professorin für Seismologie
Toll, diese App! und Geophysik an der Universität Münster
Das sagt die Studentin
Es war auf einer Reise durch Taiwan, als nachts die Erde
bebte. Ich lag in Taipeh in meinem Bett und wurde aus dem
Schlaf gerissen. Hilflosigkeit, Angst, Panik, aber auch Faszina-
tion – eine Achterbahn der Gefühle! Das Erdbeben dauerte
nur kurz. Aber wenn ich damals nicht erlebt hätte, wie es ist,
keinen festen Boden unter mir zu haben, würde ich heute
vielleicht Archäologie studieren. So entschied ich mich für
Geophysik. Wie ist die Erde aufgebaut? Was ist im Inneren
unseres Planeten los? Und wie können wir Erdbeben vorher-
sagen? Ich will bei der Suche nach Antworten helfen.
Hannah Zimmer studiert im sechsten Bachelorsemester
Geophysik an der Universität Münster
Gut zu wissen
Fach: Seismologie gehört als Teilgebiet der Geophysik zu den
Naturwissenschaften. Das Fach beschränkt sich nicht auf die
Erforschung von Erdbeben, es erkundet allgemein den inne-
ren Aufbau der Erde. Dazu werden seismische Wellen auf-
gezeichnet, Laufzeiten und Amplituden lassen Rückschlüsse
auf das Innere der Erde zu.
Studium und Beruf: Geophysik war bis vor wenigen Jahren
ein kleines Fach. Jetzt gibt es ein paar Professuren mehr,
doch die Studienorte lassen sich immer noch an einer Hand
abzählen. Absolventinnen und Absolventen können gut mit
großen Datenmengen umgehen; Jobs finden sie deshalb
nicht nur bei Observatorien und in der Geothermie, sondern
auch bei Banken und Versicherungen.

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Im Fachbereich Geschichtswissenschaft der Philosophischen Fakultät der Universität

Tübingen ist zum 01.01.2024 eine

W1-Juniorprofessur für Digitale Bildung im Bereich

Wir sind eine junge, innovative Universität mitten in
der Metropole Ruhr. Ausgezeichnet in Forschung und
Lehre denken wir in Möglichkeiten statt in Grenzen
und entwickeln Ideen mit Zukunft. Wir leben Vielfalt,
fördern Potenziale und engagieren uns für Bildungsge- Offen im Denken
rechtigkeit, die diesen Namen verdient.
An der Universität Duisburg-Essen ist in der Fakultät für Wirtschafts-
wissenschaften zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Stelle zu besetzen:
Juniorprofessur für
„Fachdidaktik ökonomischer und
wirtschaftsberuflicher Bildung“
(Bes.-Gr. W1 LBesO W – mit Tenure Track nach W 3)
Die Professur soll wirtschaftsdidaktische Frage- und Problemstellungen der
ökonomischen und wirtschaftsberuflichen Bildung in Schulen des Berufs-
feldes »Wirtschaft und Verwaltung« erforschen, die sich aus der
Digitalisierung ergeben. Dabei ist erwünscht, dass drei Facetten der
Digitalisierung auch in ihrem Zusammenhang betrachtet werden:
1. die Qualifizierung für veränderte Anforderungen in der digitalisierten
Arbeits- und Berufswelt,
2. die Digitalisierung von Lehr-Lernprozessen in der wirtschaftsberuflichen
Bildung und
3. die Möglichkeiten des kompetenzorientierten E-Assessments in der
ökonomischen Domäne.
Daneben ist die wirtschaftsdidaktische Erforschung weiterer Themen-
gebiete, die sich aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen
ergeben, wünschenswert. Es können dabei sowohl qualitative als auch
quantitative Forschungsansätze gewählt werden. Kooperationen mit dem
Interdisziplinären Zentrum für Bildungsforschung und der AG
Digitalisierung in der Lehramtsausbildung sind erwünscht. Die Professur
unterbreitet am Campus Essen wirtschaftsdidaktische Lehrangebote in den
Bachelor- und Masterstudiengängen für das Lehramt am Berufskolleg
»Wirtschaft und Verwaltung« und soll dafür digital gestützte Lehr-Lern-
formate entwickeln. Perspektivisch ist mit ihr die Verantwortung für die
Lehramtsstudiengänge der Fakultät verbunden.
Eine dreijährige Schulpraxis der Bewerberinnen und Bewerber ist erwünscht.
Erwünscht sind Publikationen in referierten Fachzeitschriften sowie
Erfahrungen bei der Durchführung von Drittmittelprojekten.
Die Lehrverpflichtung beträgt derzeit vier Lehrveranstaltungsstunden in der
ersten und fünf in der zweiten Anstellungsphase der Juniorprofessur. Die
Einstellung erfolgt bei Vorliegen der beamtenrechtlichen Voraussetzungen
im Beamtenverhältnis auf Zeit für die Dauer von drei Jahren; eine Verlän-
gerung des Beamtenverhältnisses um weitere drei Jahre ist nach positiver
Evaluation vorgesehen. Zudem ist die Stelle mit einem Tenure Track auf eine
Universitätsprofessur der Besoldungsgruppe W 3 LBesO W ausgestattet.
Die Universität Duisburg-Essen legt auf die Qualität der Lehre besonderen
Wert. Didaktische Vorstellungen zur Lehre – auch unter Berücksichtigung
des Profils der Universität Duisburg-Essen – sind darzulegen.
Die Einstellungsvoraussetzungen richten sich nach § 36 Hochschulgesetz
NRW.
Die Universität Duisburg-Essen verfolgt das Ziel, die Vielfalt ihrer Mitglieder
zu fördern (https://www.uni-due.de/diversity/). Sie strebt die Erhöhung
des Anteils der Frauen am wissenschaftlichen Personal an und fordert des-
halb einschlägig qualifizierte Frauen nachdrücklich auf, sich zu bewerben.
Bei gleicher Qualifikation werden Frauen nach Maßgabe des Landesgleich-
stellungsgesetzes bevorzugt berücksichtigt. Bewerbungen geeigneter
Schwerbehinderter und Gleichgestellter i. S. des § 2 Abs. 3 SGB IX sind
erwünscht.
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen (Lebenslauf mit Angaben zum
wissenschaftlichen und beruflichen Werdegang, Liste der wissenschaftlichen
Veröffentlichungen, Zeugniskopien, Darstellung des eigenen Forschungs-
profils und der sich daraus ergebenden Perspektiven an der Universität
Duisburg-Essen, Lehr-Lernkonzept unter Berücksichtigung des Profils der
Universität Duisburg-Essen, Angaben zur bisherigen Lehrtätigkeit, zur
Mitwirkung in der akademischen Selbstverwaltung sowie zu den einge-
worbenen Drittmitteln) sind bis zum 04.12.2023 an den Dekan
der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität
Duisburg-Essen, Herrn Univ.-Prof. Dr. Erwin Amann,
Universitätsstraße 2, 45141 Essen zu richten. Bewerbungen
sollen mit dem exakt gleichen Inhalt zusätzlich als PDF-Datei
mit dem Betreff „Bewerbung FöwB W1“ an
dekanat@wiwi-essen.uni-due.de gesendet werden.
Weitere Informationen zur Stelle, deren Einbettung in die
Universität Duisburg-Essen sowie in die Fakultät für Wirtschafts-
wissenschaften finden Sie unter: https://www.wiwi.uni-due.de/
organisation/dekanat/informationen-zu-vakanten-professuren
www.uni-due.de
Geschichte, Kultur, Gesellschaft (m/w/d)
zu besetzen.
Die Besetzung der Juniorprofessur erfolgt im Beamtenverhältnis auf Zeit, zunächst für vier
Jahre. Eine Verlängerung um weitere zwei Jahre ist nach positiver Zwischenevaluation vor-
gesehen. Die Stelle ist dem Institut für Geschichtsdidaktik und Public History zugeordnet.
Die Stelleninhaberin/der Stelleninhaber soll theoretisch und methodologisch fundierte
Forschungsbeiträge zur digitalen Bildung insbesondere im Geschichtsunterricht leisten und
dazu mit anderen Fachdidaktiken im Rahmen der Tübingen School of Education und dem
Tübingen Center for Digital Education zusammenarbeiten. Zu den Aufgaben der Professur
in der Lehre gehören geschichtsdidaktische Lehrveranstaltungen. Die Lehrverpflichtung
beträgt zunächst vier, nach positiver Zwischenevaluation sechs Semesterwochenstunden.
Die Inhaberin/der Inhaber der Juniorprofessur soll sich durch selbständige Wahrnehmung
der der Universität obliegenden Aufgaben in Forschung und Lehre für die Berufung auf eine
Professur an einer Universität oder gleichgestellten Hochschule qualifizieren. Eine erfolgte
Habilitation ist ein Ausschlussgrund für eine erfolgreiche Bewerbung.
Die konkreten Kriterien, die der Zwischen- und Endevaluation zugrunde gelegt werden,
finden sich neben dem allgemeinen Qualitätssicherungskonzept unter folgendem Link:
https://uni-tuebingen.de/de/12131.
Voraussetzung für eine Berufung sind eine herausragende Promotion in der Geschichts-
didaktik oder Geschichtswissenschaft sowie Erfahrungen in der Lehre. Bewerberinnen und
Bewerber sollen eine dreijährige Schulpraxis nachweisen. Es gelten die Einstellungsvoraus-
setzungen nach § 51 LHG.
Die Universität Tübingen setzt sich für Chancengleichheit, Diversität und Inklusion ein. Zur
Erhöhung des Anteils von Frauen in Forschung und Lehre bitten wir qualifizierte Wissen-
schaftlerinnen nachdrücklich um ihre Bewerbung. Qualifizierte internationale Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftler sind ausdrücklich aufgefordert, sich zu bewerben.
Schwerbehinderte Menschen werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt.
Bitte reichen Sie Ihre Bewerbungsunterlagen über das Berufungsportal der Universität
Tübingen unter https://berufungen.uni-tuebingen.de bis zum 07.12.2023 ein. Rückfragen
zur Ausschreibung und Fragen zum Berufungsportal richten Sie bitte an die Dekanin der
Philosophischen Fakultät der Universität, Prof. Dr. Angelika Zirker (bewerbungen@
philosophie.uni-tuebingen.de)
Die Technische Hochschule Lübeck ist eine zukunftsorientierte
Hochschule, gute Lehre und Forschung sind unser Fundament.
Hier studieren, lehren und forschen über 5.000 Studierende und
130 Professor*innen in vier Fachbereichen, unterstützt von
rund 400 Mitarbeiter*innen. Das Profil der TH Lübeck – Technik,
Ressourcen, Lebenswelten – beruht auf den fachlichen Schwer-
punkten in den Bereichen Technik, Naturwissenschaften, Architektur
und Wirtschaft. Mit unserer Expertise und unseren Erfahrungen
sind wir in digitaler Lehre, mit internationalen Studienangeboten
sowie in Forschung und Transfer außerordentlich erfolgreich und
überregional anerkannt. Hochwertige, praxisorientierte Lehre und
anwendungsorientierte Forschung bereiten unsere Studierenden
bestmöglich auf den Arbeitsmarkt vor. Wenn Sie die Technische
Hochschule Lübeck gemeinsam mit uns weiterentwickeln möchten,
kommen Sie an den Campus Lübeck, in eine Stadt mit ausge-
sprochen hoher Lebensqualität!
An der Technischen Hochschule Lübeck ist die nachfolgende
Professur zu besetzen:
n Fachbereich Bauwesen
Professur W 2
für Bauinformatik/
Digitale Methoden im Bauwesen
Kennziffer 240
Die ausgeschriebene Professur deckt folgende Schwerpunktthe-
men ab:
• Building Information Modeling (BIM)
• Bauinformatik/Ingenieurinformatik
• CAD/GIS
„Forschen und Studieren mit Perspektive“
Die Bergische Universität Wuppertal ist eine moderne, dynamische und forschungsorientierte Campusuniversität mit interdisziplinär ausgerichteten Profillinien in For-
schung und Lehre. Gemeinsam stellen sich hier mehr als 26.000 Forschende, Lehrende und Studierende den Herausforderungen in den Bereichen Gesellschaft,
Kultur, Bildung, Ökonomie, Technik, Natur und Umwelt.
Es sind zwei Professuren zu besetzen:
1.) Im Institut für Bildungsforschung in der School of Education zum 01.04.2024 eine:
W 2 – Universitätsprofessur (gem. § 36 HG NRW) für „Grundschulpädagogische Forschung“
Bes.-Gruppe: W 2 LBesG NRW
Das Institut für Bildungsforschung in der School of Education fokussiert auf empirische schulbezogene Forschung zu bildungswissenschaftlichen und sonder-
pädagogischen Fragestellungen im Kontext der verschiedenen Ebenen und Institutionen des Bildungssystems. In der Lehre verantwortet es die bildungswissenschaftlichen
Anteile aller Studiengänge mit dem Ziel Lehramt sowie die Teilstudiengänge Sonderpädagogik (Förderschwerpunkte Lernen und Emotional-soziale Entwicklung).
Gesucht wird eine Person, die empirisch zu grundschulpädagogischen Themen forscht und Bildungswissenschaften in den Studiengängen mit dem Ziel Lehramt an
Grundschulen vertritt. Dabei soll die Person aktuelle Herausforderungen der Grundschule adressieren, die auch auf den institutionellen und gesellschaftlichen Kontext
bezogen werden.
Vorausgesetzt werden
• Einschlägige empirische Forschungs- und Publikationstätigkeiten (u. a. Aufsätze in Zeitschriften mit Peer-Review-Verfahren)
• Forschungsschwerpunkte der*des Bewerberin*Bewerbers auf Handlungsfeldern der Institution Grundschule, z. B. bildungswissenschaftliche Perspektiven auf die
Gestaltung des Anfangsunterrichts oder individuelle Förderung von Schüler*innen in heterogenen Lerngruppen
• (Mitwirkung an der) Einwerbung von Drittmitteln
• Internationale Orientierung
• Ausgewiesene Erfahrungen in der Lehre auf den Gebieten der Grundschulpädagogik und/oder Grundschuldidaktik
Zukünftig erwartet wird
• Lehre in Lehramtsstudiengängen, insbesondere für das Lehramt an Grundschulen
• Kooperation in Lehre und Forschung mit anderen Arbeitsbereichen des Instituts für Bildungsforschung sowie den fachdidaktischen Arbeitsbereichen anderer Fakultäten
• Mitwirkung an der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Bachelor- und Masterstudiengänge im Rahmen der Lehrer*innenbildung
• Mitwirkung an der Entwicklung innovativer Lehr-Lern-Konzepte im Bereich der Lehrer*innenbildung
• Einwerbung von Drittmitteln
Kennziffer: P23010
2.) In der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen zum 01.04.2025 eine:
W 3 – Universitätsprofessur (gem. § 36 HG NRW) für „Multimodale Verkehrssysteme“
Bes.-Gruppe: W 3 LBesG NRW
Erwartungen:
Gesucht wird eine Persönlichkeit mit Forschungs- und Lehrerfahrung in mindestens einem der folgenden Schwerpunkte: Mobilitätsangebote, Mobilitätsdaten, Mobili-
tätsverhalten, Netzentwicklung oder Straßenverkehrsplanung. Ein*e erfolgreiche*r Bewerber*in verfügt über ein abgeschlossenes einschlägiges Hochschulstudium im
MINT-Bereich, der Geographie oder der Raumplanung, über fundierte Forschungsexpertise in mindestens einer methodischen Kompetenz und ist mit einer breiten
Palette weiterer methodischer Ansätze vertraut. Es sollen zudem vertiefte Kenntnisse im Bereich der öffentlichen Verkehrssysteme vorliegen.
Die Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen der Bergischen Universität Wuppertal folgt der gesellschaftlich geforderten Intention nach verstärkter interdisziplinärer
Ausbildung zur Förderung der Baukultur. Die Professur ist im Fachzentrum Verkehr der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen angesiedelt. Das Fachzentrum
umfasst sieben Universitäts- und drei Honorarprofessuren und hat seinenArbeitsschwerpunkt in der integrierten Erforschung und Gestaltung eines nachhaltigen Verkehrs-
systems. Die Bereitschaft zur Entwicklung der Professur in Forschung und Lehre in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen innerhalb der Fakultät und
im Fachzentrum Verkehr wird vorausgesetzt. Eine Mitarbeit des*der zukünftigen Stelleninhabers*in in der universitären Profillinie „Umwelt, Engineering und Sicherheit“
und im Profilkern „Mobility and Energy“ ist vorgesehen.
Neben einer aktiven Einwerbung von nationalen und internationalen Drittmitteln wird eine Mitwirkung an einer internationalen Ausrichtung der Forschung erwartet.
Zudem soll sich der*die zukünftige Stelleninhaber*in aktiv in die wissenschaftliche Nachwuchsförderung einbringen.
In der Lehre soll die Professur den Bereich der multimodalen Verkehrssysteme in der gesamten Breite vertreten. Zu den wahrzunehmenden Aufgaben gehören:
– Lehrangebot in den Bachelor-/Masterstudiengängen der Fakultät vor allem im Bereich der öffentlichen Verkehrssysteme.
– Mitwirkung an der Weiterentwicklung und internationalen Ausrichtung des Lehrangebots.
Kennziffer: P23014
Die vollständigen Ausschreibungstexte einschließlich der Einstellungsvoraussetzungen sind unter https://stellenausschreibungen.uni-wuppertal.de zu finden.
Angaben zu P23010 und P23014:
Die Mitarbeit in der akademischen Selbstverwaltung wird als selbstverständlich erachtet.
Die Bergische Universität betrachtet die Gleichstellung von Frauen und Männern als eine wichtige Aufgabe, an deren Umsetzung die Professur mitwirkt.
Bewerbungen (Anschreiben, Lebenslauf, Zeugniskopien, Schriftenverzeichnis und Verzeichnis der Lehrerfahrung) sind grundsätzlich nur möglich über das Online-
portal der Bergischen Universität Wuppertal: https://stellenausschreibungen.uni-wuppertal.de. Unvollständig eingereichte Bewerbungen können nicht berücksichtigt werden!
Bewerbungen von Menschen jeglichen Geschlechts sind willkommen. Frauen werden nach Maßgabe des Landesgleichstellungsgesetzes bei gleicher Qualifikation
bevorzugt berücksichtigt, sofern nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen. Die Rechte der Menschen mit Schwerbehinderungen, bei gleicher
Eignung bevorzugt berücksichtigt zu werden, bleiben unberührt.
Bewerbungsfrist: 18.12.2023
Ansprechpartner*in für Ihr Anschreiben:
zu P23010: Vorsitzende des Rats des Instituts für Bildungsforschung, Frau Prof. Dr. Kathrin Fussangel
zu P23014: Dekan der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen, Herr Univ.-Prof. Dr.-Ing. Bernd Naujoks

Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung. Das Bewerbungsende

entnehmen Sie bitte der vollständigen Ausschreibung.
Die vollständige Ausschreibung finden Sie hier:
www.th-luebeck.de

https://www.th-luebeck.de/hochschule/wir-ueber-uns/
karriere/professur/
Die Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG) sucht für das
Referat M3 „Gewässermorphologie, Sedimentdynamik und
-management“ im Rahmen des Forschungsprogramms/Projektes
„Parabola for Climate“ zum 01.01.2024, befristet bis zum 31.12.2027,
für eine 75 %-Stelle eine/einen

Wissenschaftliche Mitarbeiterin/
Wissenschaftlichen Mitarbeiter
(Uni-Diplom/Master) (m/w/d)
Fachrichtung der Natur-, Ingenieur- oder
Umweltwissenschaften, Geographie/
Geowissenschaften, Bauingenieurwesen,
Ozeanographie
Der Dienstort ist Koblenz.
An der Physikalisch-Astronomischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität
Referenzcode der Ausschreibung 20232561_9426 Jena ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine
Fühlen Sie sich angesprochen?
Dann bewerben Sie sich bitte bis zum 24.11.2023 über das Elekt- W3- oder W2-Professur mit Tenure Track auf
ronische Bewerbungsverfahren (EBV) auf der Einstiegsseite: http://
www.bav.bund.de/Einstieg-EBV
W3 für Metallische Gläser / Metastabile Metalle
Wählen Sie dort „Bewerbung mittels Referenzcode“ aus und zu besetzen.
geben Sie bitte im Verlauf Ihrer Bewerbung den Referenzcode
20232561_9426 ein. Die Benutzerdokumentation finden Sie über Den vollständigen Ausschreibungstext und die
den o. g. Link. Möglichkeit der Bewerbung finden Sie in unserem
Ausführliche Informationen zum Stellenangebot erhalten Sie unter: Berufungsportal: www.berufungsportal.uni-jena.de

http://www.bafg.de http://www.bav.bund.de
48 STELLENMARKT 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

Die Zahl 3½ Fragen an: Bertolt Meyer

8%
1. 2. 3. 3½.
Was brauchen Sie heute im Beruf, Was hat Sie während eines akademischen Lektüre muss sein. Welche? Und sonst so?
was Sie im Studium nicht gelernt haben? Auslandsaufenthaltes besonders beeindruckt? Ich versuche bei Sachbüchern über den Mache ich mir große
Fähigkeiten, um Projekte zu managen: wie man Im Jahr 2005 war ich für ein paar Monate am Tellerrand meines Fachs hinauszulesen und mag Sorgen über das Erstarken
Arbeitspakete und Meilensteine für Forschungs- Japan Advanced Institute of Science and Tech- soziologische Titel zu gesellschaftlichen des Rechtsextremismus
vorhaben definiert, Budgets veranschlagt und nology. Alle Doktorandinnen und Doktoranden Utopien: End State von James Plunkett oder in Deutschland
der 25- bis 64-Jährigen haben sich dazu mit den Kolleginnen und Kollegen meines Professors waren in einem Großraum- Head Hand Heart von Michael J. Sandel. und anderen Ländern.
und den Mitarbeitenden koordiniert. Das musste büro untergebracht, der Professor hatte sein Privat lese ich alles von Georg Klein – immer
2022 hierzulande an einer ich mir nach meinem Psychologie-Studium Büro in einer Ecke. Wir waren fünf Tage die noch unübertroffen: Libidissi.
selbst aneignen oder mir bei anderen abschauen. Woche von morgens bis abends zusammen; das Und Uwe Timm, von ihm zuletzt Ikarien und Bertolt Meyer, 46, ist
Bildungs- oder Weiterbildungs- Heutzutage gibt es an vielen Universitäten und fühlte sich nach Familie an. Diese starke Nähe Der Verrückte in den Dünen – in beiden Professor für Arbeits-,
maßnahme teilgenommen Forschungseinrichtungen aber tolle Kurse, die
solche Fähigkeiten vermitteln, auch an unserem
hat mich zu Beginn des Aufenthaltes sehr beein-
druckt. Erst später wurde mir klar, dass das auch
Werken geht es ebenfalls um Utopien.
Momentan auf meinem Nachttisch: Nacht des
Organisations- und
Wirtschaftspsychologie
Quelle: Statistisches Bundesamt Institut für Psychologie an der TU Chemnitz. viel mit Kontrolle und Hierarchie zu tun hatte. belarussischen Autors Viktor Martinowitsch. an der TU Chemnitz

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Die Hochschule für Künste Bremen bietet ein vielfältiges

Die Fachhochschule Erfurt ist eine moderne und praxisorientierte Campus-
Hochschule und zählt zu den leistungsstarken Lehr- und Forschungseinrich-
tungen in Thüringen. In der Fakultät Gebäudetechnik und Informatik, mit den
Fachrichtungen Gebäude- und Energietechnik und Angewandte Informatik, ist
ab dem Sommersemester 2024 die
Professur für Lüftungs- und Klimasystemtechnik
1 Stelle, Besoldungsgruppe W 2, Kennziffer GI7
zu besetzen. Die Stelle steht unbefristet zur Verfügung. Bei der ersten Berufung
zur Professorin oder zum Professor erfolgt die Beschäftigung in der Regel
zunächst befristet auf drei Jahre. Ausnahmen hiervon und das Verfahren zur
Umwandlung des Beamt:innenverhältnisses auf Zeit in ein Beamt:innenver-
hältnis auf Lebenszeit entnehmen Sie bitte § 86 Abs. 2 Thüringer Hochschul-
gesetz (ThürHG).
Ihre Bewerbung mit aussagefähigen Unterlagen (Lebenslauf, akademische
Urkunden, Nachweise der bisherigen beruflichen Tätigkeit, Veröffentlichungs-
liste, Lehrevaluationsergebnisse) richten Sie bitte unter Angabe der Kennziffer
GI7 bis zum 13.11.2023 schriftlich oder per E-Mail an:
Fachhochschule Erfurt, Dezernat Personal und Recht
Postfach 45 01 55, 99051 Erfurt
E-Mail: bewerbung@fh-erfurt.de
Vorstellungskosten können nicht erstattet werden. Schriftliche Bewerbungs-
unterlagen reichen Sie bitte in Kopie ein, da nach Abschluss des Verfahrens
die Unterlagen nicht berücksichtigter Bewerber:innen vernichtet werden. Bei
gewünschter Rücksendung bitten wir um Beilage eines ausreichend frankierten
Rückumschlages.
Bitte beachten Sie die Hinweise zum Datenschutz:
https://www.fh-erfurt.de/ausschreibungen/datenschutzhinweise-
stellenausschreibungen
Weitere Details zu den Stelleninhalten und -anforderungen entnehmen Sie
bitte unserer Webseite unter: https://www.fh-erfurt.de/ausschreibungen
W2-Universitätsprofessur
Didaktik der Physik und Technik
Fakultät für Mathematik, Informatik und
Naturwissenschaften
Die RWTH Aachen ist eine der Exzellenzuniversitäten Deutschlands
und genießt weltweit ein hohes Ansehen in Forschung und Lehre.
Zum nächstmöglichen Zeitpunkt wird an der Fakultät für Mathematik,
Informatik und Naturwissenschaften eine W2-Universitätsprofessur
besetzt, die das Fach Didaktik der Physik und Technik in Forschung
und Lehre vertritt.
Die Professur soll Impulse in der fachdidaktischen Forschung und
Lehre an der RWTH Aachen mit Schwerpunkt in der Fachdidaktik
Physik setzen. Sie verantwortet die fachdidaktische Lehre in den Be-
reichen Physik und Technik und soll die Durchführung des Lehramts-
studiengangs Technik für Gymnasien und Gesamtschulen fachlich
und logistisch unterstützen.
Weitere Informationen erhalten Sie unter:
www.rwth-aachen.de/jobs/professuren
Bewerbungsfrist ist der 04.12.2023.
Folgende Professuren / Stellen sind zu besetzen:
Fakultät Informatik, Institut für Theoretische Informatik, zum nächstmöglichen Zeitpunkt
Professur (W3) für Algorithmik
Sie werden das Fachgebiet „Algorithmik" in Forschung und Lehre vertreten. In der Forschung erwarten wir prägende
Beiträge zu einem oder mehreren aktuellen Forschungsgebieten der Algorithmik, z. B. Algorithmische Analyse
großer Datenmengen; Algorithm Engineering; Algorithmische Netzwerkanalyse; Algorithmische Spieltheorie;
Computational Geometry; Komplexität und Berechenbarkeit; Online-Algorithmen; Randomisierte, approximative
oder parametrisierte Algorithmen; Zeichenkettenalgorithmen. Besonderen Wert legen wir auf internationale Publi-
kationen und Kontakte sowie auf Beteiligung an Forschungsprojekten in einem oder mehreren der oben genannten
Teilgebiete. Ihre Aufgaben in der Lehre umfassen Lehrveranstaltungen in deutscher und englischer Sprache im
Widmungsgebiet der Professur im Grund- und Hauptstudium der Bachelor-, Master- und Diplomstudiengänge der
Fakultät Informatik und benachbarter Fakultäten sowie die Betreuung von Abschlussarbeiten und Promotionen.
Von besonderer Wichtigkeit ist Ihre Bereitschaft, interdisziplinäre Kooperationsbeziehungen in der vielfältigen
Technik- und Wissenschaftslandschaft Dresdens, besonders mit den DRESDEN-concept-Einrichtungen, ein-
schließlich der anderen Fakultäten der TU Dresden, insbesondere im Bereich Ingenieurwissenschaften, aufzuneh-
men. Die Mitwirkung in der akademischen Selbstverwaltung sowie in den Gremien der Fakultät Informatik und der
Technischen Universität Dresden wird erwartet.
Wir setzen eine sehr gute Lehrkompetenz sowie die Fähigkeit und Bereitschaft zur Lehre in englischer Sprache
voraus. Deutschkenntnisse sind keine Einstellungsvoraussetzung. Wir erwarten jedoch, dass Sie innerhalb von
zwei Jahren nach Stellenantritt für die Erfüllung von grundständigen Lehrtätigkeiten und administrativen Pflichten
gute deutsche Sprachkenntnisse erwerben. Sie können exzellente internationale Veröffentlichungen, internatio-
nale Kontakte sowie die erfolgreiche Betreuung von Doktorandinnen und Doktoranden nachweisen. Erfahrungen in
der Akquise und im Management von Drittmittelprojekten sollen vorhanden sein. Die Berufungsvoraussetzungen
richten sich nach § 59 des SächsHSG. Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie unter:
https://tu-dresden.de/stellenausschreibung/10841.
Fakultät Chemie und Lebensmittelchemie, zum 01.10.2024
Professur (W3) für Biochemie
Sie (m/w/d) werden das Fachgebiet Biochemie in Lehre und Forschung vollumfänglich vertreten. In der Lehre ist das
Fach Biochemie in allen Studiengängen der Fakultät Chemie und Lebensmittelchemie, insbesondere im Master-
studiengang Biochemistry, sowie in der Nebenfachausbildung assoziierter bzw. englischsprachiger Studiengänge
zu vertreten. Ihre Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung in fachübergreifenden Projekten (z. B. SFB, Graduierten-
kolleg), zur Kooperation mit den in Dresden angesiedelten außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie zur
aktiven Mitarbeit in der akademischen Selbstverwaltung ist ausdrücklich erwünscht.
Wir erwarten von Ihnen eine erfolgreiche wissenschaftliche Tätigkeit mit internationaler Sichtbarkeit im Be-
rufungsgebiet. Der Schwerpunkt Ihrer Forschung in der experimentellen Biochemie sollte idealerweise in der
Aufklärung von Biosynthesewegen des Sekundärstoffwechsels als Grundlage für eine nachhaltige Gewinnung
bioaktiver Verbindungen liegen und sich so von den übrigen an der TU Dresden vorhandenen, überwiegend
molekular-genetisch bzw. medizinisch orientierten Professuren mit biochemischer Ausrichtung abgrenzen und
diese inhaltlich ergänzen. Weiterhin erwarten wir umfangreiche Erfahrungen in der Lehre im Fach Biochemie,
besonderes didaktisches Geschick und Erfolge in der Drittmitteleinwerbung. Die Berufungsvoraussetzungen rich-
ten sich nach § 59 SächsHSG. Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie unter:
https://tu-dresden.de/stellenausschreibung/10853.
Fakultät Biologie, Professur für Didaktik der Biologie, zum nächstmöglichen Zeitpunkt, für drei Jahre,
mit Option auf Verlängerung um bis zu weitere drei Jahre (Beschäftigungsdauer gem. WissZeitVG).
wiss. Mitarbeiter:in / Postdoc (m/w/d)
(bei Vorliegen der persönlichen Voraussetzungen E 13 TV-L)
U. a. zur Lehre im Lehramtsstudium mit Schwerpunkt in der Fachdidaktik, Mitwirkung an Prüfungen, Betreuung von
Qualifikationsarbeiten sowie der Mitarbeit in Forschungsgebieten der Fachdidaktik werden Bewerber:innen mit
wiss. Hochschulabschluss, bevorzugt im Lehramt (Staatsexamen bzw. vergleichbarer Abschluss) im Fach Biologie
und mind. sehr guter Promotion im Gebiet der Biologiedidaktik (o. verwandte Fachgebiete) gesucht. Den vollstän-
digen Ausschreibungstext finden Sie unter: https://tu-dresden.de/stellenausschreibung/10852.
Zum Sommersemester 2024 ist an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf eine
Ju n i o r p r o f e s s u r f ü r s z e n i s c h e n
U n t e r r i c h t u n d I n t i m i t ä t s k o o rd i n a t i o n
W 1 ( a n a l o g ) befristet zu besetzen.
Der Stelleninhaber (m/w/d) vertritt das Fach szenischen Unterricht mit dem Schwerpunkt
Intimitätskoordination. Wir suchen eine Persönlichkeit aus dem Bereich Schauspiel und/
oder Regie mit pädagogischen Erfahrungen aufgrund vorausgegangener Lehrtätigkeiten
für die Erteilung von szenischem Unterricht. Die Lehrtätigkeit von 9 SWS kann das
gesamte Spektrum des Faches vom Grundunterricht über die szenische Arbeit und Erar-
beitung von Projekten und Inszenierungen umfassen. Umfassende Erfahrungen oder eine
Ausbildung im Bereich Intimitätskoordination werden vorausgesetzt, so dass Praktiken
der Intimitätskoordination angewendet und an der Hochschule im Bereich der darstellen-
den Kunst und darüber hinaus etabliert werden können.
Darüber hinaus erwartet die Hochschule die Bereitschaft, sich im Bereich der Selbstver-
waltung der Hochschule zu engagieren. An die Juniorprofessur ist ein Programm zur
Karriereförderung gekoppelt.
Die Einstellung erfolgt in einem auf drei Jahre befristeten privatrechtlichen Dienstverhältnis.
Die Robert Schumann Hochschule Düsseldorf fördert Frauen im Rahmen der gesetzlichen
Möglichkeiten und fordert Frauen ausdrücklich auf, sich zu bewerben. Sie versteht sich
zudem als familienfreundliche Hochschule, fördert Maßnahmen zur besseren Verein-
barkeit von Beruf und Familie und tritt für Geschlechtergerechtigkeit und personelle
Vielfalt ein. Schwerbehinderte Bewerber (m/w/d) werden bei gleicher Eignung bevorzugt
berücksichtigt.
Bitte richten Sie Ihre Bewerbung mit aussagekräftigen Unterlagen als PDF-Datei (gebün-
delt in einem Dokument) bis zum 30.11.2023 ausschließlich per E-Mail unter Angabe des
Stellentitels an den Rektor der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf unter folgender
E-Mail-Adresse: bewerbungen-lehre@rsh-duesseldorf.de
Für die Vollständigkeit der Bewerbung füllen Sie bitte den unter www.rsh-duesseldorf.
de/stellenanzeigen im Downloadbereich abrufbaren Bewerbungsbogen aus und fügen ihn
als eigene Datei der Bewerbung bei. Verzichten Sie bitte auf das Zusenden von Tonträgern
oder Medien, verweisen Sie in der Bewerbung gerne auf vorhandene Links.
Mit Ihrer Bewerbung stimmen Sie der weiteren internen Verarbeitung Ihrer Daten zu
dienstlichen Zwecken gemäß der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DS
GVO) und des Landesdatenschutzgesetzes zu.
Studienangebot in den Bereichen Musik, Kunst und Design,
das einen produktiven und integrativen Dialog zwischen
den Studiengängen ermöglicht.
Im Fachbereich Musik der Hochschule für Künste Bremen ist zum 01.04.2024
die Stelle einer Lehrkraft für besondere Aufgaben
(LfbA) (w/m/d)
für Jazz-Arrangement/-Komposition und
Ensembleleitung
Entgeltgruppe 13 TV-L
Kennziffer WP 23/15
unbefristet zu besetzen. Es handelt sich um eine 50%-Stelle mit einer
Lehrverpflichtung von derzeit 12 SWS.
Die Lehrtätigkeit umfasst den Unterricht in den Fächern Jazz-Arrangement und
Jazz-Komposition für die Studiengänge Bachelor of Music Künstlerische
Ausbildung Jazz, Bachelor of Music Künstlerisch-Pädagogische Ausbildung Jazz
sowie die Lehramtsausbildung. Darüber hinaus sind kleinere und größere
Ensembles der Jazzabteilung zu leiten.
Gesucht wird eine erfahrene Persönlichkeit mit entsprechenden künstlerischen
und pädagogischen Voraussetzungen, die beide Fächer in sämtlichen Aspekten
betreut. Einschlägige Expertise in den Bereichen Big Band/Jazzensemble,
Orchester/Instrumentation, Vocal-Arrangement, Schulpraktisches Arrangieren
sowie in Ensemble- und Big Band-Leitung sind wünschenswert.
Vorausgesetzt und bei der Bewerbung nachzuweisen sind ein abgeschlossenes
Jazz-Studium in der Studienrichtung Komposition/Arrangement und eine
mindestens einjährige Erfahrung in der Lehre an einer Musikhochschule oder an
einer vergleichbaren Institution.
Weitere Voraussetzungen:
1. herausragende künstlerische Fähigkeiten im Fach Arrangement, in der Regel
nachzuweisen durch CD-Publikationen sowie eigene Kompositionen und
Arrangements,
2. Erfahrung in der Arbeit mit spartenübergreifenden Ensembles,
3. Bereitschaft zu durchgängigem wöchentlichen Unterricht und zu regelmäßi-
ger Abnahme fachbezogener Prüfungen.
Die Hochschule für Künste Bremen strebt eine Erhöhung des Anteils von Frauen
im künstlerischen und/oder wissenschaftlichen Bereich an und fordert deshalb
Frauen ausdrücklich auf, sich zu bewerben. Schwerbehinderten Bewerber:innen
wird bei im Wesentlichen gleicher fachlicher und persönlicher Eignung der Vorrang
gegeben. Bewerbungen von Menschen mit Migrationshintergrund werden begrüßt.
Weitere Informationen entnehmen Sie bitte www.karriere.bremen.de oder der
Website der Hochschule für Künste Bremen unter https://www.hfk-bremen.de/
hochschule/stellenausschreibungen.
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen sind bis zum 30.11.2023 ausschließ-
lich in digitaler Form (ein zusammenhängendes PDF/ Maximalgröße der E-Mail: 20
MB) an folgende E-Mail-Adresse zu senden: bewerbungen@hfk-bremen.de.
An der Hochschule Niederrhein ist im Fachbereich Design am
Standort Krefeld zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende
Professur zu besetzen:
Professur
Fotografie / Erzeugung
digitaler Bildmedien
Bes.-Gr. W 2 LBesO W
Die Hochschule Niederrhein ist eine der größten und leistungsfähigsten
Hochschulen für angewandte Wissenschaften Deutschlands. Wir eröffnen
Perspektiven: Mit einer zukunftsfähigen akademischen Ausbildung und einer
problem- und transferorientierten Forschung schaffen wir die Grundlage dafür,
dass unsere Absolventinnen und Absolventen auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind.
www.hs-niederrhein.de/P-02-14-2023
W2-Professur. Kennzahl 1445
Baumanagement
Fakultät für Architektur und Bauwesen
Bewerbung bis zum 07. Dezember 2023
Einstellung voraussichtlich zum 01.09.2025
Wir sind eine der größten und forschungsstärksten Hochschulen für ange-
wandte Wissenschaften in Baden-Württemberg und stehen für Kompetenz,
Praxisorientierung und Nachhaltigkeit. Leidenschaft für exzellente Lehre
und innovative Forschung macht uns aus und spiegelt sich in sehr guten
Rankingergebnissen wider. Neben einer engen Zusammenarbeit mit regional
und überregional tätigen Unternehmen ist uns eine internationale Ausrich-
tung, das Miteinander und die Vereinbarkeit von Beruf und Lebensmodellen
ein besonderes Anliegen.
Wir suchen
Die Tätigkeit umfasst Aktivitäten in Lehre und Forschung im Bereich des
nationalen und internationalen Bau-Projektmanagements und der Projekt-
entwicklung sowie deren Umsetzung über digitale Werkzeuge und Methoden.
Es werden Kompetenz und Engagement beim Aufbau von eigenen Schwer-
punkten im Bereich der Forschung und Entwicklung vorausgesetzt, um das
Profil im Rahmen der Masterstudiengänge der Fakultät für die Studierenden
noch attraktiver zu gestalten.
Gewünscht sind darüber hinaus vertiefte Kenntnisse und praktische Erfahrun-
gen auf dem Gebiet innovativer Vertragsanbahnungs- und Vertragsmodelle.
Kenntnisse aus dem Bereich des agilen Projektmanagements sind vorteilhaft.
Darüber hinaus sollten Aspekte der Nachhaltigkeit und des Lebenszyklus-
managements (ESG) mitgedacht werden. Gesucht wird eine Persönlichkeit,
die ihre in der Forschung und in der beruflichen Praxis erworbene Kompetenz
für unsere Studierenden nutzbar machen kann.
Die Hochschule Karlsruhe ist eine der drittmittelstärksten Hochschulen für
angewandte Wissenschaften in Baden-Württemberg. Der weitere Ausbau
der angewandten Forschung ist anerkanntes Ziel der Hochschule. Wir gehen
davon aus, dass Sie sich aktiv an der angewandten Forschung beteiligen und
Drittmittel einwerben.
Darüber hinaus erwarten wir eine Beteiligung an der Grundlagenausbildung,
hier insbesondere im Bereich der Organisation, der Kosten- /Termin- und
Qualitätsplanung sowie -steuerung. Sie müssen bereit sein, auch Vorlesun-
gen in fachlich benachbarten Gebieten zu übernehmen. Die Fähigkeit, Lehr-
veranstaltungen in englischer Sprache durchzuführen wird ebenso voraus-
gesetzt wie die Bereitschaft zur Online-Lehre. Neben den Aufgaben in Lehre,
Weiterbildung, Forschung und Entwicklung wird erwartet, dass sich Pro-
fessorinnen und Professoren in den Selbstverwaltungsgremien der Fakultät
und der Hochschule engagieren.
Einstellungsvoraussetzungen
Die Einstellungsvoraussetzungen für Professorinnen und Professoren sind gere-
gelt in §§ 47, 49, 50 des Gesetzes über die Hochschulen in Baden-Württemberg
(Landeshochschulgesetz – LHG) vom 30. März 2018. Einzelheiten finden Sie
in der ausführlichen Stellenausschreibung unter: www.h-ka.de/stellenangebote*
Wir bieten
Informationen über die HKA als Arbeitgeberin finden Sie unter:
www.h-ka.de/arbeitgeberin*
Weitere Informationen
Wir freuen uns sehr über die Bewerbung qualifizierter Interessentinnen. Die
HKA strebt eine Erhöhung des Anteils von Frauen in Forschung und Lehre an. Für
nähere Informationen kontaktieren Sie bitte die Gleichstellungsbeauftragte
der Hochschule per E-Mail gleichstellung@extern-h-ka.de.
Schwerbehinderte Bewerber (m/w/d) werden bei entsprechender Eignung
Befähigung und fachlicher Leistung bevorzugt berücksichtigt. Für nähere
Informationen kontaktieren Sie bitte die Vertrauensperson der Schwerbehin-
derten unserer Hochschule per Telefon (0721/925-2374).
Weitere Informationen zur Professur und dem Berufungsverfahren an der
HKA finden Sie unter: https://www.h-ka.de/professur-an-der-hka*
Bewerbungen
Ihre Bewerbungsunterlagen senden Sie bitte unter Angabe der Kennzahl bevor-
zugt elektronisch (PDF-Format, eine Datei) an
Hochschule Karlsruhe
Personal
Postfach 2440, 76012 Karlsruhe
Telefon +49 (0)721 925-1030
pe@extern-h-ka.de
Mit Ihrer Bewerbung stimmen Sie der internen Verarbeitung Ihrer Daten zu
Zwecken der Durchführung des Bewerbungsprozesses gemäß der Euro-
päischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und des Gesetzes zum
Schutz personenbezogener Daten (Landesdatenschutzgesetz - LDSG) zu.
Besuchen Sie die Homepage der Fakultät für Architektur und Bauingenieur-
wesen unter:
www.h-ka.de/die-hochschule-karlsruhe/fakultaeten/architektur-und-
bauwesen/ueberblick*
* Aufgrund eines Cyberangriffs ist die offizielle Webseite der Hochschule
aktuell offline. Aktuelle Informationen entnehmen Sie bitte der Homepage.

Hochschule Karlsruhe Neugierig geworden?

An der Hochschule Hannover sind an der Fakultät V – Diakonie, Gesundheit und So- Moltkestraße 30 Die vollständige Stellenanzeige und
ziales zum nächstmöglichen Zeitpunkt unbefristet folgende Professuren zu besetzen: 76133 Karlsruhe Bewerbungsunterlagen finden Sie unter
Die JKU besetzt zum ehestmöglichen Zeitpunkt folgende Professur: www.h-ka.de www.h-ka.de/stellenangebote
In der Abteilung Soziale Arbeit eine
Autonome Systeme gemäß § 98 UG
W2-Professur Die Technische Hochschule Deggendorf bietet zum
Bewerbungsfristende: 20.12.2023. „Theorie und Geschichte der Sozialen Arbeit“ Sommersemester 2024 oder später die folgenden Stellen:
Kennziffer W2 14/2023
Nähere Informationen finden Sie unter www.jku.at/professuren
sowie in der Abteilung Pflege und Gesundheit eine
Professor:in (d/m/w)
JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ der BesGr. W2;
Altenberger Straße 69, 4040 Linz, Österreich W2-Professur für das Lehrgebiet „Intelligente Energiesysteme
und Stromnetze“
„Forschungsbasierte Praxis Pfarrkirchen
der Gesundheitsversorgung“
KONTAKT FÜR ANZEIGENKUNDEN
Kennziffer W2 18/2023
Nachwuchsprofessor:in (d/m/w) Engagiert. International. Lösungsorientiert.
Sie möchten Ihre Anzeige elektronisch übermitteln und Weitere Einzelheiten zur jeweiligen Professur entnehmen Sie bitte dem Bewer- der BesGr. W1 mit Tenure-Track nach W2; Eine kollegiale Atmosphäre am Campus zeichnet unsere Business School aus.
haben noch Fragen? Dann rufen Sie uns gerne an oder schreiben uns: bungsportal der Hochschule Hannover unter karriere.hs-hannover.de oder über den für das Lehrgebiet „Polymere Werkstoffe“ Werden Sie Teil unseres Teams in Lehre, Forschung und Verwaltung.
QR-Code. Technologie Campus Hutthurm Im Rahmen eines Drittmittelprojekts ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende
0931 / 6001758 Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen
bis zum 14. Dezember 2023 an die Dekanin der Fakultät V,
richten Sie bitte
Mehr Infos unter
Stelle an der Fakultät Informationsmanagement zu besetzen:

1 zeit@anzeigeneingang.de Frau Prof.in Dr. Ulrike Ernst. Die Bewerbung ist bis zum Ablauf www.th-deg.de/arbeiten-an-der-thd Nachwuchsprofessur (m/w/d) (W1)
Informationen zum Datenversand per Upload finden Sie unter:
dieser Frist online über das Bewerbungsportal möglich.
für das Gebiet Innovative Didaktik
Bei Fragen zur Bewerbung können Sie die Mitarbei-
5 www.anzeigeneingang.de tenden der Fakultät V auch per E-Mail kontaktieren:
Näheres zu den Aufgaben, dem Anforderungsprofil und
den Bewerbungsmodalitäten finden Sie unter
berufungen@hs-hannover.de
www.hnu.de/hochschule/karriere/stellenangebote.
DIE ZEIT N o 46 2. November 2023
Founded in 1991, the University of
Potsdam has firmly established itself
The University of Potsdam, Faculty of Arts, Department of Romance
Studies invites applications for the following position, to be filled by
in the scientific landscape and has October 1, 2024:
become an outstanding economic
factor and development engine for the Professorship (W2)
region. It has a high level of third-
party funding, has won several awards for Romance Literary Studies
for teaching, and has a service-oriented (French/Italian)
administration and has received several
awards for being family-friendly. Around
The successful candidate represents the field of historical and
21,000 students and 3,000 employees contemporary research on French, Francophone, and Italian literature
work at three locations - Am Neuen
and culture. In research, they should have a track record of relevant
Palais, Griebnitzsee and Golm - at one of
publications with international visibility and experience in the acquisition
the most beautifully situated academic
of third-party funding. A high level of commitment to teaching and a
institutions in Germany.
willingness to contribute to the development of new degree programs
Please submit your application, with the are expected. Furthermore, cooperation with the professorships of the
relevant documentation, via email to department, especially Cultural Semiotics, competencies in the research
ausschreibungen@uni-potsdam.de by focus of Digital Humanities, and the willingness
to actively participate in the Faculty Network
November 30, 2023. Further information
Digital Humanities as well as in research projects
is available online at:
https://www.uni-potsdam.de/en/ and collaborations of the Faculty are expected.
arbeiten-an-der-up/appointments/ Prerequisite for the fulfillment of these tasks is a
appointment-procedures/application very good command of German.
To view the full job posting, please visit:
https://www.uni-potsdam.de/en/verwaltung/division3/stellenausschreibungen
Die Hochschule Furtwangen (HFU) ist eine innovative und sich stetig
weiterentwickelnde Hochschule, die regional verankert und
international ausgerichtet ist. Unsere Schwerpunkte liegen in den
Bereichen Informatik, Technik, Wirtschaft, Medien und Gesundheit.
Wir sind eine der forschungsstärksten Hochschulen für angewandte
Wissenschaften in Baden-Württemberg mit rd. 5.000 Studierenden,
über 450 Beschäftigten und über 190 Professuren an den drei
Standorten Furtwangen, Villingen-Schwenningen und Tuttlingen
sowie dem Studienzentrum in Freiburg und dem Forschungszentrum
in Rottweil. Sie haben Freude daran, Ihr Fachwissen und Ihre
Praxiserfahrung an junge Menschen weiterzugeben? Sie arbeiten
gerne teamorientiert in einem sich dynamisch entwickelnden
Umfeld? Sie suchen Freiräume, um sich und Ihr Fachgebiet
weiterzuentwickeln?
Als größte, standortübergreifende Fakultät Mechanical and Medical
Engineering begeistern wir Sie mit modernen Laboren für Forschung
und Lehre. Wir sind innovativ, am Puls der Zeit und bieten optimale
Verzahnungen zur Industrie. Regional sind wir sehr gut verankert und
international hoch angesehen.
Der Fokus des Studiengangs Medizintechnik - Klinische Technolo-
gien liegt an der Schnittstelle zwischen Patienten, Medizin und Tech-
nik. Den Mittelpunkt des Studiums bildet die Technik- und Patienten-
nähe im klinischen Umfeld sowie im Bereich der Sportmedizinischen
Technik.
Zum nächstmöglichen Zeitpunkt ist in der Fakultät Mechanical and
Medical Engineering eine
Professur (W 2)
für
Simulation in der Medizin
zu besetzen.
Gesucht wird eine Persönlichkeit mit mindestens einem medizini-
schen Schwerpunkt, die in der Lage ist, die medizinische Professur
mit technischen Inhalten der Simulation auszufüllen und zu gestalten.
Einstellungsvoraussetzungen sind ein abgeschlossenes Hochschul-
studium sowie Promotion mit klinischem Bezug und nachgewiesener
Expertise im Bereich der Medizintechnik. Hierzu sind entsprechende
Erfahrungen, z.B. bei der Erfassung und Verarbeitung von Patienten-
daten (Monitoring) in Kombination mit digitalen Ansätzen, wie dem
Einsatz von künstlicher Intelligenz wünschenswert.
Zur Erhöhung der Sicherheit am Patienten (m/w/d) bei klinischen
Eingriffen oder Behandlungen ist das wiederholte klinisch-praktische
Training und Prüfen unter Simulationssituationen erforderlich. Unsere
Studierenden arbeiten nach erfolgreichem Abschluss in der Patien-
tenversorgung, z. B. in der Kardiotechnik / Neurologie. Somit kommt
dieser Professur auch eine wesentliche Rolle in der Vermittlung inter-
professioneller klinischer Arbeit und der Entwicklung zugehöriger
Lehr- und Prüfungsformate zu.
Interdisziplinäre Erfahrung im klinischen Umfeld, der Lehre oder For-
schung und gute didaktische Fähigkeiten für die Durchführung von
anwendungsorientierten Lehrveranstaltungen werden erwartet.
Wünschenswert sind darüber hinaus Erfahrungen bzw. Kompetenzen
in den Bereichen Organisation (Projekte, Mitarbeitende), moderne
Managementansätze, Kooperation mit internationalen Partnern
und nachgewiesene Drittmitteleinwerbung sowie ausgewiesener
Publikationstätigkeit.
Die kooperative Leitung und Weiterentwicklung des Labors für Medi-
zinische Gerätetechnik/Kardiotechnik, die Übernahme der Betreuung
von Praktika und Praxisphasen sowie von Lehrverpflichtungen insbe-
sondere im Grundstudium, die Weiterentwicklung des Fachgebiets
mit innovativen Ansätzen, Verfahren und Techniken sowie die Wahr-
nehmung von Forschungsaufgaben und der Aufbau eines studien-
gangbezogenen Forschungsschwerpunkts im Themenfeld der Pro-
fessur werden erwartet.
Sie sind in der Lage, Lehrveranstaltungen auf Deutsch und Englisch
durchzuführen, sowie Vorlesungen und/oder Praktika in fachlich be-
nachbarten Gebieten zu halten. Die Weiterentwicklung des Fachge-
biets mit innovativen Ansätzen, Verfahren und Techniken, die Mitwir-
kung bei der Zukunftsgestaltung der Fakultät und ihrer Studiengänge
wird ebenso vorausgesetzt, wie die Mitarbeit in der akademischen
Selbstverwaltung. Wünschenswert sind Impulse und Aktivitäten bei
der Etablierung neuer Lehr- und Forschungsschwerpunkte und der
Weiterentwicklung des Profils der Hochschule. Sie unterstützen uns
außerdem bei der Entwicklung von Konzepten zur Erhöhung der
Attraktivität des Studiums für Frauen.
Die Hochschule strebt eine Erhöhung ihres Frauenanteils in Lehre
und Forschung an und fordert qualifizierte Frauen deshalb ausdrück-
lich auf, sich zu bewerben. Schwerbehinderte Menschen werden bei
entsprechender Eignung bevorzugt eingestellt.
Einstellungsvoraussetzungen (§ 47 LHG) und Informationen zur
Hochschule erhalten Sie unter www.hs-furtwangen.de sowie bei
Herrn Prof. Dr. Gunter Ketterer unter gunter.ketterer@hfu.eu.
Wir freuen uns über Ihre Bewerbung an den Rektor der Hochschule,
Herrn Prof. Dr. Schofer, die Sie bitte mit den üblichen Unterlagen bis
zum 26.11.2023, unter Kennz. 2023-161-MME-P, über unser Online-
Bewerbungsportal unter www.jobs.hs-furtwangen.de einreichen.
STELLENMARKT
HOCHSCHULE FÜR ANGEWANDTE
WISSENSCHAFTEN HAMBURG
© K. Fritze
An der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg) ist zum nächst-
möglichen Zeitpunkt die Position der*des
KANZLER*IN
BES.GR. W3 MIT FUNKTIONSZULAGE
in Vollzeit für die Dauer von neun Jahren zu besetzen. Eine Wiederwahl und Wiederbestellung
sowie ein Beamtenverhältnis auf Zeit gem. § 7 Absatz 1 Nummer 5 HmbBG sind möglich.
IHRE AUFGABEN
Als Mitglied des Präsidiums leiten Sie eigenverantwortlich die Verwaltung der Hochschule und
vollziehen die Beschlüsse des Präsidiums zur Mittelbewirtschaftung nach § 100 Absatz 1
HmbHG. Sie verantworten das Budget der Hochschule und sind zuständig für die Personal-,
Finanz-, Liegenschafts- und Rechtsangelegenheiten. Sie begleiten mit Weitsicht und Umsicht den
kontinuierlichen digitalen Transformationsprozess und entwickeln moderne Verwaltungsstruk-
turen der HAW Hamburg. Zudem obliegt Ihnen der Ausbau einer zukunftsorientierten techni-
schen und auch baulichen Infrastruktur für Lehre und Forschung.
IHR PROFIL
Wir suchen eine entscheidungsstarke, innovative und überzeugende Führungspersönlichkeit mit
Gestaltungswillen und mehrjähriger Leitungserfahrung idealerweise im Hochschul- oder
Wissenschaftsbetrieb. Sie bringen ein kooperatives Führungsverständnis, Innovationsgeist und
Begeisterung für Veränderungsprozesse mit, um die HAW Hamburg gemeinsam mit relevanten
Stakeholdern strategisch weiterzuentwickeln.
WIR ÜBER UNS
KONTAKT FÜR ANZEIGENKUNDEN
Sie möchten Ihre Anzeige Nachhaltige Lösungen für die gesellschaftlichen Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft
elektronisch übermitteln und entwickeln: Das ist das Ziel der HAW Hamburg – Norddeutschlands führender Hochschule, wenn
haben noch Fragen? es um reflektierte Praxis geht. Im Mittelpunkt steht die exzellente Qualität von Studium und
Dann rufen Sie uns gerne an Lehre. Zugleich entwickelt die HAW Hamburg ihr Profil als forschende Hochschule weiter.
oder schreiben uns: Menschen aus mehr als 100 Nationen gestalten die HAW Hamburg mit.
0931 / 6001758 Ihre Vielfalt ist unsere besondere Stärke.
1 zeit@anzeigeneingang.de WIR FREUEN UNS AUF IHRE BEWERBUNG
Informationen zum Daten-
versand per Upload finden Die gesamte Ausschreibung finden Sie auf unserer Website unter:
Sie unter:
HAW Hamburg – Ausschreibung Kanzler*in
5 www.anzeigeneingang.de
HAW-HAMBURG.DE
Die Hochschule Furtwangen (HFU) ist eine innovative und sich stetig weiterentwickelnde Hochschule, die regional verankert und international ausgerichtet
ist. Unsere Schwerpunkte liegen in den Bereichen Informatik, Technik, Wirtschaft, Medien und Gesundheit. Wir sind eine der forschungstärksten
Hochschulen für angewandte Wissenschaften in Baden-Württemberg mit rund 5.000 Studierenden, über 450 Beschäftigten und über 190 Professuren
an den drei Standorten Furtwangen, Villingen-Schwenningen und Tuttlingen sowie dem Studienzentrum in Freiburg und dem Forschungszentrum in
Rottweil. Sie haben Freude daran, Ihr Fachwissen und Ihre Praxiserfahrung an junge Menschen weiterzugeben? Sie arbeiten gerne teamorientiert in
einem sich dynamisch entwickelnden Umfeld? Sie suchen Freiräume, um sich und Ihr Fachgebiet weiterzuentwickeln?
Als eine der traditionsreichsten Informatik-Fakultäten Deutschlands bietet die Fakultät Informatik ein umfangreiches Angebot an praxisnahen Studien-
gängen in den Vertiefungsrichtungen Software Engineering, Netze und IT-Sicherheit, Künstliche Intelligenz, Robotik und Autonome Systeme sowie
IT-Produktmanagement im Bachelor- und Masterbereich an. Wir bieten modernste Labore mit bester Ausstattung und viel Freiraum für Lehre und
Forschung sowie ein umfangreiches Netzwerk von regionalen und internationalen Industriepartnern. Werden Sie Teil unseres engagierten Teams!
Zum nächstmöglichen Zeitpunkt sind in der Fakultät Informatik folgende Professuren (W 2) zu besetzen:
Betriebssysteme und verteilte Anwendungen Software und Systeme Engineering
Kennziffer 2023-162-IN-P Kennziffer 2023-163-IN-P
Wir suchen eine Persönlichkeit mit einschlägigem Hochschulabschluss, Wir suchen eine Persönlichkeit mit einschlägigem Hochschulabschluss,
bevorzugt der Informatik, und guten didaktischen Fähigkeiten für die bevorzugt der Informatik, und guten didaktischen Fähigkeiten für die
anwendungsorientierte Lehre. Vertiefte Kenntnisse und praktische anwendungsorientierte Lehre. Vertiefte Kenntnisse und praktische
Erfahrungen werden in folgenden Bereichen erwartet: Erfahrungen werden in folgenden Bereichen erwartet:
• Betriebssysteme, bevorzugt für die Entwicklung intelligenter Systeme • Entwurf und Modellierung softwareintensiver Systeme
oder Robotersteuerungen • Software- und Systemtests sowie Testautomatisierung
• Konzeption und Entwicklung verteilter Anwendungen
Die Übernahme von Lehrverpflichtungen und die Betreuung von Praktika
Die Übernahme von Lehrverpflichtungen und die Betreuung von Praktika auch im Grundstudium der Informatik wird ebenso erwartet wie das
auch im Grundstudium der Informatik wird ebenso erwartet wie die Wahr- Bearbeiten von Forschungsfragen im Themenfeld der Professur.
Wünschenswert sind ferner Erfahrungen in der Akquisition von Drittmittel-
nehmung von Forschungsaufgaben im Themenfeld der Professur.
Wünschenswert sind ferner Erfahrungen in der Akquisition von Drittmittel- projekten. Sie sind bereit und in der Lage, Lehrveranstaltungen auf
projekten. Sie sind bereit und in der Lage, Lehrveranstaltungen auf Deutsch Deutsch und Englisch durchführen zu können sowie Vorlesungen und/
und Englisch durchführen zu können sowie Vorlesungen und/oder Praktika oder Praktika in fachlich benachbarten Gebieten zu halten. Die Weiter-
in fachlich benachbarten Gebieten zu halten. Die Weiterentwicklung des entwicklung des Fachgebiets mit innovativen Ansätzen, Verfahren und
Fachgebiets mit innovativen Ansätzen, Verfahren und Techniken, die Mit- Techniken, die Mitwirkung bei der Zukunftsgestaltung der Fakultät
wirkung bei der Zukunftsgestaltung der Fakultät Informatik und ihrer Informatik und ihrer Studiengänge wird ebenso vorausgesetzt wie die
Studiengänge wird ebenso vorausgesetzt wie die Mitarbeit in der aka- Mitarbeit in der akademischen Selbstverwaltung. Wünschenswert sind
demischen Selbstverwaltung. Wünschenswert sind Impulse und Impulse und Aktivitäten bei der Etablierung neuer Lehr- und Forschungs-
Aktivitäten bei der Etablierung neuer Lehr- und Forschungsschwer- schwerpunkte und der Weiterentwicklung des Profils der Hochschule.
punkte und der Weiterentwicklung des Profils der Hochschule. Sie Sie unterstützen uns außerdem bei der Entwicklung von Konzepten zur
unterstützen uns außerdem bei der Entwicklung von Konzepten zur Erhöhung der Attraktivität des Studiums für Frauen.
Erhöhung der Attraktivität des Studiums für Frauen.
Für beide Professuren gilt:
Die Hochschule strebt eine Erhöhung ihres Frauenanteils in Lehre und Forschung an und fordert qualifizierte Frauen deshalb ausdrücklich auf, sich zu
bewerben. Schwerbehinderte Menschen werden bei entsprechender Eignung bevorzugt eingestellt.
Einstellungsvoraussetzungen (§ 47 LHG) und Informationen zur Hochschule erhalten Sie unter www.hs-furtwangen.de sowie für die Kennziffer 2023-162-IN-P
bei Prof. Dr. Steffen Thiel unter steffen.thiel@hfu.eu, und für die Kennziffer 2023-163-IN-P bei Prof. Dr. Bernhard Hollunder unter bernhard.hollunder@hfu.eu.
Wir freuen uns über Ihre Bewerbung an den Rektor der Hochschule, Herrn Prof. Dr. Schofer, die Sie bitte mit den üblichen Unterlagen bis zum 30.11.2023
unter der jeweiligen Kennziffer, über unser Online-Bewerbungsportal unter www.jobs.hs-furtwangen.de einreichen.
ZEIT STELLENMARKT
Auf der Suche nach
neuen KollegInnen?
Schalten Sie schnell und unkompliziert Ihre Print-Online-Stellenanzeige: stellenmarkt@zeit.de.
Wir beraten Sie gern.
49
Die Hochschule Furtwangen (HFU) ist eine innovative und sich stetig
weiterentwickelnde Hochschule, die regional verankert und internati-
onal ausgerichtet ist. Unsere Schwerpunkte liegen in den Bereichen
Informatik, Technik, Wirtschaft, Medien und Gesundheit. Wir sind eine
der forschungsstärksten Hochschulen für angewandte Wissenschaf-
ten in Baden-Württemberg mit rd. 5.000 Studierenden, über 450
Beschäftigten und über 190 Professuren an den drei Standorten
Furtwangen, Villingen-Schwenningen und Tuttlingen sowie dem Stu-
dienzentrum in Freiburg und dem Forschungszentrum in Rottweil. Sie
haben Freude daran, Ihr Fachwissen und Ihre Praxiserfahrung an
junge Menschen weiterzugeben? Sie arbeiten gerne teamorientiert in
einem sich dynamisch entwickelnden Umfeld? Sie suchen Freiräume,
um sich und Ihr Fachgebiet weiterzuentwickeln?
Als größte, standortübergreifende Fakultät Mechanical and Medical
Engineering begeistern wir Sie mit forschungsnahen und modernen
Laborausstattungen und forschungsnahen Studiengängen wie z. B.
den Masterstudiengängen Smart Systems (SMA) und Mikromedizin-
technik (MZT), ihre Kompetenzen an allen Standorten einzubringen.
Mit dem Technologielabor für Mikro- und Nanosysteme verfügt die
HFU über eine herausragende Einrichtung, mit der im 300 m² Rein-
raum moderne Fertigungs- und Charakterisierungsgeräte der Mikro-
und Nanotechnologie zur prototypischen Realisierung von Si-basierten
Bauelementen (Halbleitertechnik) bis hin zu neuartigen Systemansätzen
beruhend insbesondere auf flexiblen Substraten (Niedertemperatur-
prozesse) möglich sind. Als NanoFab-Gerätezentrum steht ein neues
FIB-SEM zur Verfügung. Seit vielen Jahren forscht das Institut für
Mikrosystemtechnik (iMST) mit Standorten in Furtwangen und Rottweil
an neuen Mikrosystemen, zugehörigen Modellierungs- und Herstellungs-
verfahren sowie Methoden zur Charakterisierung. Das iMST ist eines
der größten Forschungsinstitute der HFU, dessen Forschungsergeb-
nisse auch international wahrgenommen werden und welches Möglich-
keiten zur wissenschaftlichen Weiterqualifizierung (Promotion) bietet.
Zum nächstmöglichen Zeitpunkt ist in der Fakultät Mechanical and
Medical Engineering eine
Professur (W 3)
für
Mikro- und Nanosysteme
zu besetzen. Es ist vorgesehen, die Professur im Rahmen von § 46
LHG als Forschungsprofessur auszugestalten.
Gesucht wird eine Persönlichkeit mit einschlägigem Hochschulab-
schluss im Ingenieurwesen oder den Naturwissenschaften mit ange-
wandtem Profil, mit Berufserfahrung sowie nachgewiesener For-
schungserfahrung in mindestens einem der folgenden Gebiete:
• flexible Sensor- und Aktorsysteme
• Bio-Sensoren (Bio-MEMS)
• innovative und zukunftsweisende Sensorik wie THz-Sensorik oder
Quantensensorik
Zu Ihren Aufgaben zählt die Übernahme und Gestaltung von profilge-
benden Modulen z.B. in den Masterstudiengängen Smart Systems
(SMA) und Mikromedizintechnik (MZT), die Stärkung des Systeman-
satzes im Studiengang SMA und die Suche nach Synergien zu wei-
teren Professuren der Fakultät. Weiter umfassen die Aufgaben auch
die Ko-Direktion des Technologielabors für Mikro- und Nanosysteme
(gemeinsam mit der W3-Professur Oberflächentechnologien in der
Mikrosystemtechnik) und konzeptionelle und strukturelle Weiterent-
wicklung des Labors.
Erwartet werden daher:
• die Mitwirkung an der Lehre, auch in Grundlagenfächern der Fakultät;
• praktische Erfahrungen zur technologischen Realisierung von
innovativen miniaturisierten Sensor- und Aktorsystemen mittels
fortschrittlicher Mikro- und Nanotechnologie, diese müssen aus
entsprechenden beruflichen Tätigkeiten nachgewiesen werden;
• Bereitschaft und Fähigkeit zur Einwerbung von Drittmitteln. Ins-
besondere muss die Fähigkeit zur Leitung von größeren Verbund-
projekten und konzeptionelle Mitwirkung in FuE-Netzwerken
passend zur Denomination belegt werden;
• besondere Forschungsimpulse in der Weiterentwicklung des iMST
mit zukunftsweisenden Forschungsthemen, die sich regionalen,
nationalen und internationalen Forschungsagenden zuordnen lassen.
Erwünscht sind weiter:
• Kenntnisse im Umfeld der genannten Gebiete wie Systemsimu-
lationsverfahren (z. B. FEM), Optik und KI.
• Bereitschaft zur Kooperation mit weiteren Lehr- und Forschungs
schwerpunkten der Hochschule, z. B.:
• Produktionstechnik, etwa non-invasive Sensorsysteme für
Prozesstechnik oder
• Medizintechnik, insbesondere implantierbare Aktor- und
Sensorsysteme, Neuroaktorik, Haptiksysteme, drahtlose
Energie- und Datenübertragung
Sie sind in der Lage, Lehrveranstaltungen auf Deutsch und Englisch
durchzuführen, sowie Vorlesungen und/oder Praktika in fachlich be-
nachbarten Gebieten zu halten. Die Weiterentwicklung des Fachge-
biets mit innovativen Ansätzen, Verfahren und Techniken, die Mitwir-
kung bei der Zukunftsgestaltung der Fakultät und ihrer Studiengänge
wird ebenso vorausgesetzt, wie die Mitarbeit in der akademischen
Selbstverwaltung. Wünschenswert sind Impulse und Aktivitäten bei
der Etablierung neuer Lehr- und Forschungsschwerpunkte und der
Weiterentwicklung des Profils der Hochschule. Sie unterstützen uns
außerdem bei der Entwicklung von Konzepten zur Erhöhung der
Attraktivität des Studiums für Frauen.
Die Hochschule strebt eine Erhöhung ihres Frauenanteils in Lehre
und Forschung an und fordert qualifizierte Frauen deshalb ausdrück-
lich auf, sich zu bewerben. Schwerbehinderte Menschen werden bei
entsprechender Eignung bevorzugt eingestellt.
Einstellungsvoraussetzungen (§ 47 LHG) und Informationen zur
Hochschule erhalten Sie unter www.hs-furtwangen.de sowie bei
Herrn Prof. Dr. Gunter Ketterer unter gunter.ketterer@hfu.eu.
Wir freuen uns über Ihre Bewerbung an den Rektor der Hochschule,
Herrn Prof. Dr. Schofer, die Sie bitte mit den üblichen Unterlagen bis
zum 26.11.2023, unter Kennz. 2023-160-MME-P, über unser Online-
Bewerbungsportal unter www.jobs.hs-furtwangen.de einreichen.
Wir suchen zum
nächstmöglichen Zeitpunkt eine:n
Professor:in (W2)
für das Lehrgebiet „Wirtschaftsinformatik,
Geschäftsprozesse, Solution Architecture“
(Kennziffer IT-P-2301)
Bewerbungsschluss: 21. November 2023
Die vollständige Ausschreibung finden Sie unter:
www.hs-esslingen.de/professuren

DAS DUALE HOCHSCHULSTUDIUM
MIT ZUKUNFT.
Die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) ist mit rund 33.000 Studierenden an neun Studienakademien und drei Campus
sowie dem Center for Advanced Studies die größte Hochschule Baden-Württembergs. Gemeinsam mit 9.000 ausgewählten Unter-
nehmen sowie sozialen und gesundheitsnahen Einrichtungen sorgt die DHBW für einen in Theorie und Praxis exzellent qualifizierten
Fach- und Führungskräftenachwuchs in den Bereichen Wirtschaft, Technik, Sozialwesen und Gesundheit.
Seit 1. Januar 2023 ist sie Teil der dualen European University EU4Dual.
Werden Sie Teil unserer Hochschulfamilie an der DHBW Mosbach, wo High Tech auf Natur trifft und wo eine gute und erfüllende
Lehre und kooperative Forschung Freude machen. Entwickeln Sie mit Ihren neuen Ideen ca. 3.200 junge Talente in 37 wirt-
schafts- und ingenieurwissenschaftlichen Studienangeboten in Theorie und Praxis bedarfsgerecht zu hoch qualifiziertem Fach-
und Führungskräftenachwuchs. Dies tun wir in Kooperation mit 1.000 Dualen Partnern aus der Region der Weltmarktführer und
überregional.
Es ist in der Fakultät Technik folgende Stelle zu besetzen:
Professur für Bauingenieurwesen und Holztechnik (m/w/d)
Stellenbeginn: nächstmöglicher Zeitpunkt Dauer:
Arbeitsort: Mosbach Vergütung:
Stellenumfang: 100 % Verfahrensnummer: 2022-MOS-T-2
Details zur Ausschreibung sowie die Möglichkeit zur Online-Bewerbung
finden Sie hier: https://www.jobs-dhbw.de/edkkc
oder einfach QR-Code scannen
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung bis zum 15.01.2024!
DAS DUALE HOCHSCHULSTUDIUM
MIT ZUKUNFT.
Die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) ist mit rund 33.000 Studierenden an neun Studienakademien und drei Campus
sowie dem Center for Advanced Studies die größte Hochschule Baden-Württembergs. Gemeinsam mit 9.000 ausgewählten Unter-
nehmen sowie sozialen und gesundheitsnahen Einrichtungen sorgt die DHBW für einen in Theorie und Praxis exzellent qualifizierten
Fach- und Führungskräftenachwuchs in den Bereichen Wirtschaft, Technik, Sozialwesen und Gesundheit.
Seit 1. Januar 2023 ist sie Teil der dualen European University EU4Dual.
Die DHBW Stuttgart gehört mit rund 8.000 Studierenden zu den größten Studieneinrichtungen in den Regionen Stuttgart und
Nordschwarzwald. Sie kooperiert eng mit ca. 2.000 ausgewählten Unternehmen und sozialen Einrichtungen. In den Bereichen
Wirtschaft, Technik, Sozialwesen und Gesundheit werden ungefähr 60 national und international anerkannte berufsintegrierte
Bachelor- und Masterprogramme, verteilt auf die Standorte Stuttgart und Horb, angeboten.
Zur Ergänzung unseres Teams im Studiengang Informatik der Fakultät Technik ist folgende Stelle zu besetzen:
Professur für Informatik (m/w/d)
Stellenbeginn: nächstmöglicher Zeitpunkt Dauer:
Arbeitsort: Stuttgart Vergütung:
Stellenumfang: 100 % Verfahrensnummer: 2023-S-T-4
Details zur Ausschreibung sowie die Möglichkeit zur Online-Bewerbung
finden Sie hier: https://www.jobs-dhbw.de/zprp1
oder einfach QR-Code scannen
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung bis zum 18.11.2023!
An der Universität der Bundeswehr München bringt das Forschungs-
institut Cyber Defence und Smart Data (CODE) Expertinnen und
Experten aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen sowie
Kompetenzen aus Wirtschaft und staatlichen Einrichtungen zusammen.
Ziel ist die gemeinsame Forschung in den Bereichen Cyber-Sicherheit,
Künstliche Intelligenz und Quantentechnologien. Die Lehre in diesen
Bereichen wird durch Angebote im Bachelor- und Masterstudiengang
Informatik sowie im Masterstudiengang Cyber-Sicherheit gefördert.
Für Forschung und Lehre stehen eine erstklassige Ausstattung, Labore,
sowie umfangreiche Rechenkapazitäten zur Verfügung. Ein dedizierter
Neubau ist in Planung und wird in den nächsten Jahren realisiert. Vor
diesem Hintergrund ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt an der Fakultät
für Informatik folgende Professur zu besetzen:
W3-Universitätsprofessur für Reverse Engineering
Gesucht wird eine Persönlichkeit mit herausragender wissenschaftlicher
Qualifikation und didaktischen Fähigkeiten. Sie bzw. er sollte in mindestens
einem aktuellen Forschungsgebiet des Reverse Engineering mit
Anwendungen in der Softwaresicherheit international hervorragend
ausgewiesen sein, in der Regel durch Beiträge in internationalen
Konferenzen und Journals ersten Ranges.
Die Professur thematisiert Methoden und Anwendungen zur Analyse
von Software, deren Design nicht oder nur partiell offengelegt ist,
um beispielsweise von Angreifern eingeschleuste Schadsoftware,
unbekannte Datenformate oder Manipulationen im Rahmen von
Software Supply Chains zu analysieren, und bezieht ggf. auch Spezifika
der ausführenden Hardware, beispielsweise Sicherheitslücken im
Design von Mikroprozessoren, mit ein. Schwerpunkte können u. a. auf
der Weiterentwicklung und dem Einsatz statischer und dynamischer
Code-Analyseverfahren, der Nutzbarmachung von Machine-Learning-
Ansätzen für diesen Einsatzzweck oder der Entwicklung von Reverse-
Engineering-erschwerenden Gegenmaßnahmen liegen.
Es ist erwünscht, dass die zukünftige Stelleninhaberin bzw. der zukünftige
Stelleninhaber sich in CODE engagiert und an gemeinsamen Initiativen
beteiligt. Erfahrung in der Einwerbung von Drittmitteln wird erwartet.
In der Lehre wird die Entwicklung anspruchsvoller Lehrveranstaltungen
im Masterstudiengang Cyber-Sicherheit erwartet. Darüber hinaus wird
die Bereitschaft vorausgesetzt, sich am Bachelor- und Masterstudiengang
Informatik zu beteiligen und in den Selbstverwaltungsgremien der
Universität mitzuarbeiten, sowie sich mit den übrigen Fakultäten
zu vernetzen. Ferner wird die Übernahme einer gleichstellungs- und
diversitätsorientierten Führungsverantwortung erwartet.
Einstellungsvoraussetzungen sind ein abgeschlossenes Hochschul-
studium, pädagogische Eignung, besondere Befähigung zu wissen-
schaftlicher Arbeit, die in der Regel durch die Qualität einer Promotion
nachgewiesen wird, und darüber hinaus zusätzliche wissenschaftliche
Leistungen (Habilitation oder Juniorprofessur nach erfolgreicher
Zwischenevaluation oder gleichwertige wissenschaftliche Leistungen,
die auch außerhalb des Hochschulbereichs erbracht sein können).
Die Universität der Bundeswehr München bietet vorrangig für Offizier-
anwärterinnen und -anwärter sowie Offizierinnen und Offiziere ein
wissenschaftliches Studium an, das im Trimestersystem zu Bachelor-
und Masterabschlüssen führt. Das Studium wird durch fächerüber-
greifende, berufsqualifizierende Anteile des integralen Begleitstudiums
studium plus ergänzt.
Die Einstellungsvoraussetzungen und die dienstrechtliche Stellung von
Professorinnen und Professoren richten sich nach dem Bundesbeamten-
gesetz. In das Beamtenverhältnis kann berufen werden, wer am Tag der
Ernennung das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.
Die Universität strebt eine Erhöhung des Anteils von Professorinnen an
und fordert deshalb ausdrücklich Wissenschaftlerinnen zur Bewerbung
auf. Schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber werden bei
gleicher Qualifikation besonders berücksichtigt.
Bitte übersenden Sie Ihre Bewerbung mit den üblichen Unterlagen
bis zum 31.12.2023 als vertrauliche Personalsache elektronisch an
berufungen.informatik@unibw.de oder postalisch an den Dekan der
Fakultät für Informatik der Universität der Bundeswehr München,
85577 Neubiberg.
Mit der Bewerbung erklären Sie sich einverstanden, dass Ihre Daten von
den mit dem Bewerbungsverfahren zuständigen Stellen verarbeitet
werden. Nähere Angaben zum Datenschutz finden Sie auf der Homepage
der UniBw München.
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Wir
In der Fakultät Elektrotechnik der Hochschule für angewandte Wissenschaften
Kempten ist zum 01.05.2024 oder später eine
Forschungs-Professur (m/w/d)
der Besoldungsgruppe W2 BayBesG, für folgendes Lehr- und Forschungs-
gebiet zu besetzen:
zeigen
Dezentrale Netze für regenerative Energien
Wir suchen eine Persönlichkeit, die ihre Fachkompetenz und beruf-liche Er-
fahrung in die Erforschung dezentraler Energienetze für regenerative Energien
(Smart Grids) und gleichermaßen in die Ausbildung von Studierenden ein-
bringen möchte. Forschungsseitig erwarten wir Ihre Unterstützung sowie den
weiteren Ausbau der bestehenden Forschungsaktivitäten und bieten hierfür die
mittelfristige Übernahme der Leitung des Instituts für Elektrische Energiesys-
teme an. Zudem vertreten Sie das ausgeschriebene Lehrgebiet sowie die
Lehre im Bereich Elektrische Maschinen und Antriebe in den Bachelor- und
Masterstudiengängen der Fakultät.
Dafür bringen Sie fundierte Kenntnisse und eine mehr jährige berufliche Pra-
xis in den Bereichen Elektroenergieversorgung, elektrische Energienetze oder
unbefristet
Kunst.
regenerative Energie n mit. Wünschenswert sind vertiefte Kenntnisse in einem
W2 oder mehreren der folgenden Gebiete:
l Elektrische Energienetze und deren Struktur
l Batteriespeicher
l Sektorenkopplung
l Netzbetriebsführung
Zur Förderung Ihrer Forschungstätigkeit ist das Lehrdeputat der Forschungs-
Professur, befristet auf zunächst fünf Jahre, um die Hälfte ermäßigt. Eine
Verlängerung der Deputatsermäßigung bei erfolgreicher Evaluation der For-
schungstätigkeit wird angestrebt; andernfalls erfolgt eine Lehrverpflichtung
über das volle Lehrdeputat.
Wir erwarten von Ihnen d ie Mitarbeit in den Grundlagenfächern der Ingenieur-
ausbildung. Sie bringen sich beim Aufbau neuer Studienangebote, auch in digi-
taler Form, und beim Technologie- und Wissenstransfer ein. Ihr Engagement in
der akademischen Selbstverwaltung und bei den Weiterbildungsangeboten der
Hochschule, auch in englischer Sprache, ist ausdrücklich erwünscht.
Es gelten die Einstellungsvoraussetzungen für Professorinnen
und Professoren (m/w/d) an Hochschulen des Freistaates
Bayern. Die vollständige Stellenausschreibung finden Sie unter:
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der Einstellungsvoraussetzungen zwingend eine Zeugnisbe-
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schen geeignet. Schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewer-
die spektakuläre Fülle künstlerischen Schaffens.
ber werden bei ansonsten im Wesentlichen gleicher Eignung,
Befähigung und fachlicher Leistung bevorzugt eingestellt. Für Kunstkenner und alle, die es werden wollen.
Die Hochschule Kempten engagiert sich für Gleichstellung,
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eine Erhöhung des Anteils von Frauen in Forschung und Sichern Sie sich eine Ausgabe gratis:
Lehre an und unterstützt Dual Career-Paare. Frauen werden
daher ausdrücklich zur Bewerbung aufgefordert.
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Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
erhalten Sie durch unseren Dual Career-Service im Verbund
der schwäbischen Hochschulen. Kontaktieren Sie uns hierzu
gerne unter: gleichstellung@hs-kempten.de
Bitte bewerben Sie sich ausschließlich über unser Bewerbungsportal. Ihr
Bewerbungsschreiben samt den üblichen Unterlagen (Anschreiben, tabella-
rischer, taggenauer Lebenslauf nach Abschluss des Hochschulstudiums, Bil-
dungsnachweise (Zeugnisse und Urkunden), Nachweis aller beruflichen oder
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selbständigen bzw. freiberuflichen Tätigkeiten nach dem Hochschulabschluss (Aktionsnr.: 2111586)
unbefristet – Arbeits- und Dienstzeugnisse, Verzeichnis besonderer wissenschaftlicher
Leistungen und Lehrtätigkeiten) richten Sie bitte an den Präsidenten der Hoch-
W2
schule Kempten. Bitte legen Sie Ihrer Bewerbung ein separates Forschungs-
exposee bei, in welchem Sie Ihre Forschungsinteressen und -erfahrungen dar-
legen. Bitte beachten Sie, dass aus Bearbeitungsgründen alle Dokumente zu
einer PDF-Datei zusammengefasst werden müssen.
Bewerbungsschluss: 17.12.2023
Für eventuelle Rückfragen wenden Sie sich bitte an die Fakultätsreferentin,
Frau Rollik-Bachem, Telefon-Nr. +49 831 2523 292.
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lebenslangem Lernen. Unsere Studierenden nutzen flexible Studienmöglich-
keiten auf Basis eines Blended-Learning-Studienmodells. An fünf Fakultäten er-
zielen wir fachbezogene und fachübergreifende zukunftsweisende Forschungs-
ergebnisse. Zu unserem Selbstverständnis gehören interdisziplinäre Kooperation,
die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und die Berücksichtigung
genderspezifischer Aspekte in Forschung und Lehre.
In der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft besetzen wir ab 1. Mai 2024 die
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Markt- und Konsumverhalten
aus Hochschule Wir suchen eine Persönlichkeit, die im Bereich der Betriebswirtschaftslehre
Wissenschaft, durch hervorragende wissenschaftliche Leistungen, vor allem durch hochrangige
Publikationen, ausgewiesen ist. Erwartet werden verhaltenswissenschaftliche
Scientific Forschungsschwerpunkte, die anschlussfähig an die Forschungsschwerpunkte der
Fakultät für Wirtschaftswissenschaft sind. Ferner werden Beiträge erwartet, die ak-
Community tuelle empirische Forschung, beispielsweise auf den Gebieten Markt- und Konsum-
psychologie, technologiegetriebenes Innovationsmanagement oder Dienstleis-
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tungsmanagement, repräsentieren. Von Vorteil wäre weiterhin ein hohes Maß
an Interdisziplinarität in Forschung und Lehre sowie die Anschlussfähigkeit zur
www.zeit.de/wissendrei Fakultät für Psychologie. Ausdrücklich erwünscht sind Nachweise über erfolgreich
eingeworbene Drittmittel.
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Wirtschaftspsychologie sowie die Mitarbeit in der Lehre und der curricularen
Weiterentwicklung aller von der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft angebotenen
Studiengänge und Studienabschnitte. Erfahrungen in der Konzeption und fach-
lichen Betreuung von Studiengängen, insbesondere im Bereich der Wirtschafts-
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Die Lehre an der FernUniversität ist eingebettet in multimediale Lehr-Lern-
Umgebungen. Erwartet wird die Beteiligung an der Entwicklung und der Durch-
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schulgesetz NRW. Gesundheits- und familienorientierte Aspekte sind in unserer
Personalkultur wichtig. Wir bieten ausgezeichnete Personal- und Sachausstattung
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Universität.
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freuen wir uns über Ihre Bewerbung mit den üblichen Unterlagen (Lebenslauf, Pu-
blikations- und Drittmittelverzeichnis, kurzes Forschungsprofil, Lehrevaluationen,
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werden nach Maßgabe des Landesgleichstellungsgesetzes NRW bevorzugt
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Mit Ihrer Bewerbung an die o. a. E-Mail-Adresse willigen Sie ein, dass Ihre
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1
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 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
H I E R AU S R E I S S E N!

51

A B E N T E U E R F Ü R K I N D E R

Piksige Besucher
Jetzt im Herbst sind viele Igel unterwegs. Kommen die alleine klar,
oder brauchen sie unsere Hilfe? VON TOM KROLL

A
us Zitrönchens Käfig
tönt ein lautes Schnau-
fen. Behutsam öffnet
Vanessa Haloui das Git-
ter und nimmt den klei-
nen Igel auf die Hand.
Dann wischt sie ihm mit
einem Tuch über den Kopf und die Schnau-
ze, um die Fliegeneier loszuwerden, die sich
in seinem Fell eingenistet haben. »Ach,
Zitrönchen«, sagt Vanessa, »du brauchst
noch ganz viel Hilfe.«
Vanessa betreibt am Stadtrand von Ham-
burg eine Wildtierstation. Sie nimmt verletzte
Tiere auf, versorgt und behandelt sie, und
wenn sie gesund sind, setzt sie sie wieder in der
Natur aus. Normalerweise klappt das gut –
doch seit einigen Wochen hat Vanessa ein
Problem: Die Station ist zu voll. Es sind viel
zu viele Igel bei ihr abgegeben worden; 157
stachelige Tiere hat sie momentan zu
versorgen.
Zitrönchen wurde von einem Mädchen
zur Wildtierstation gebracht. Der Igel war
schwer verletzt, ein Mäh-Roboter hatte ihn
überfahren und einen Teil seiner spitzen
Nase abgeschnitten. Die Finderin hat rich-
tig reagiert, als sie das Tier zu Vanessa
brachte. Die konnte dem blutenden Igel das
Leben retten. Aber verletzte Igel wie Zitrön-
chen sind gar nicht der Grund für den
Platzmangel auf der Wildtierstation. All die
gesunden Igel, die Vanessas Notfallkäfige
belegen, sind das Problem. Bitte was?
Jetzt im Herbst sind viele Igel unterwegs.
Sie sind auf Nahrungssuche, denn bevor der
Winter kommt, müssen sie sich eine dicke
Speckschicht anfressen. Wenn sie bei ihren
Spaziergängen auf einen Menschen treffen,
werden sie dabei oft gestört. »Die Menschen
sehen die Igel und denken, sie müssen sie
retten«, sagt Vanessa. Sie sammeln sie ein und
bringen sie zur Wildtierstation. Allein im
Oktober sind dort 20 Tiere abgegeben worden,
viele von ihnen sind kerngesund.
Einige stellen die Igel in einem Eimer vor
ihrer Tür ab. Oder sie stopfen sie sogar in
den Briefkasten. Wenn die Leute dann einfach
verschwinden, weiß Vanessa nicht, wo die Igel
gefunden wurden. Bei Jungtieren, die beson-
ders oft abgegeben werden, ist das ein Riesen-
problem. Denn sie müssten dringend zurück
zu ihrer Mutter. Stattdessen bleiben sie bei
Vanessa – und belegen Plätze, die schwer ver-
letzte Tiere wie Zitrönchen viel dringender
bräuchten.
Die meisten Menschen handeln aus Un-
wissenheit, sagt Vanessa. Sie glauben, dass
irgendetwas nicht in Ordnung sei, wenn die
Tiere so kurz vor Wintereinbruch noch
draußen in der Kälte unterwegs sind. Dabei
ist es überhaupt nicht ungewöhnlich, wenn
Foto: Jack Perks/ddp
Die Augen rund und klar, die Nase schwarz und feucht:
Dieser Igel sieht auf den ersten Blick gesund aus
allerdings nicht mehr so leicht wieder aus- Grundsätzlich ist es gut, wenn Menschen
wildern: »Kurz vor dem Winter finden sie die Igel im Blick behalten. Schließlich
Menschen oder an Feldern, die mit Pflan-
zengiften besprüht werden, krabbeln nicht
Lappen Zitrönchens Käfig sauber wischt.
Hat er klare und runde Augen? Eine schwar-
ze und nasse Nase? Das sind gute Zeichen!
Entscheidend ist aber seine Körperform:
»Von oben muss ein Igel so aussehen wie ein
Apfel«, sagt Vanessa. Das bedeutet: Er hat in
den vergangenen Wochen gut gefressen.
»Wenn der Igel aber von oben aussieht wie
eine längliche Birne, dann ist er abgema-
gert.« Besonders sollte man auf den Bereich
zwischen Kopf und Körper achten: Wenn
dort eine Kuhle zu sehen ist, muss der Igel
dringend zunehmen.
Ist der Igel noch klein, ist besondere Vor-
sicht geboten. Diese Tiere sollte man min-
destens 30 Minuten lang beobachten, sagt
Vanessa: Versteckt sich vielleicht irgendwo
in der Nähe seine Mutter? Nur wenn das
Tier zu dünn und ganz allein unterwegs ist,
sollte man eingreifen und es sich genauer
ansehen.
Um den Igel hochzuheben, schiebt man
ganz vorsichtig die Hand unter seinen Bauch,
denn da hat er keine Stacheln. Fühlt der Igel
sich bedroht, wird er sich jedoch zu einer
Kugel zusammenrollen. Sobald er sich wie-
der entspannt hat und sein Köpfchen heraus-
streckt, kann man es erneut versuchen.
Wenn man den Igel dann in den Händen
hält, kann man gut die Temperatur seines
Bauches fühlen: Ist er wärmer als die eigene
Hand? Dann ist alles in Ordnung. Fühlt er
sich aber kühler an, dann hat das Tier lange
nichts mehr gefressen. Hilfreich ist es außer-
dem, den Igel vorsichtig auf eine Waage zu
legen: »Ein Jungtier, das im November unter
500 Gramm wiegt, muss dringend zuneh-
men«, sagt Vanessa. Ein erwachsener Igel
sollte nicht weniger als 800 Gramm wiegen.
Um ein Tier aufzupäppeln, muss man es
nicht gleich in eine Notfallstation bringen,
wie Vanessa sie betreibt. Findet man ein Tier
im eigenen Garten, kann man ihm an einem
geschützten Ort einen Napf mit Katzen-
futter hinstellen – das lieben Igel! Wichtig
sei, dass dieses Futter kein Getreide und
keinen Zucker enthalte, sagt Vanessa, denn
sonst bekämen die Igel Karies.
Ab Mitte November brauchen Igel einen
sicheren Unterschlupf, um ihren Winter-
schlaf zu halten. Und auch hierbei kann
man den Tieren helfen: »Im Garten sollte
man einige Laubhaufen liegen lassen«, sagt
Vanessa. Damit Igel sich darin verkriechen
können. Oder man baut ihnen gleich ein
gemütliches Nest, zum Beispiel, indem man
Stroh und trockenes Laub in eine Holzkiste
legt. Nur sollte das gebaute Nest unbedingt
einen Eingang haben. Damit der Igel selbst
entscheiden kann, wann er den Unter-
schlupf betritt und wieder verlässt.
Vanessas Igel werden den Winter in den

die Tiere auch bei kühleren Temperaturen
durch das Unterholz oder den Garten
huschen.
Wurden die Igel erst von Menschen aus
der Natur entnommen, kann Vanessa sie
kein neues Revier mehr«, sagt sie. Sobald die
Temperaturen dauerhaft unter zehn Grad
fallen, brauchen die Tiere außerdem ein
Nest, wo sie ungestört ihren Winterschlaf
halten können.
nimmt die Zahl der Tiere seit Jahren ab. Das
liegt zum Beispiel daran, dass sie vor Winter-
einbruch nicht immer ausreichend Nahrung
finden. Die Tiere ernähren sich von Insek-
ten, doch in den ordentlichen Gärten der
besonders viele Larven, Schnecken und
Käfer herum. Wie also erkennt man, ob ein
Igel Hilfe braucht?
Zuerst sollte man das Tier nur beobach-
ten, sagt Vanessa, während sie mit einem
Holzhäusern ihrer Wildtierstation verbringen.
Wenn sie im April aus dem Winterschlaf auf-
wachen, wird sie die Tiere wieder in die Natur
entlassen. Nur Zitrönchen wird bleiben, er
wird sein Leben lang Vanessas Hilfe brauchen.

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52 WISSEN 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

Infografik: Wahlverhalten

Sag mir, wo du wohnst ...

o
N
... und ich sage dir, wie deine Nachbarn wählen: Die politische Landschaft in deutschen Städten
VON JAKOB BAUER, PAUL BLICKLE, CHRISTIAN ENDT, MICHAEL SCHLIEBEN, JULIUS TRÖGER UND DAVID WILL
749
SPD Union Grüne FDP AfD Linke

Grüne Kerne
Der auffälligste und beständigste Befund: Deutschlands Großstädte wählen im Kern grün. Insgesamt sind die
Grünen im aktuellen Bundestag nur die drittstärkste Kraft, doch in vielen Stadtzentren haben sie mehr Wählerinnen
und Wähler als jede andere Partei, so auch in den Millionenstädten Berlin, Hamburg, München und Köln.

Berlin Hamburg München Köln

Frankfurt am Main Düsseldorf Leipzig Dortmund Essen Bremen Hannover Bielefeld Mehr Städte
Auf ZEIT
ONLINE zeigen
wir, wie die
Menschen in
267 deutschen
Städten bei der
vergangenen
Bundestagswahl
gestimmt haben.

Münster Augsburg Wiesbaden Braunschweig Halle (Saale) Magdeburg Oldenburg Osnabrück zeit.de/
wahlmuster

Paderborn Würzburg Göttingen Trier Jena Bamberg Marburg Landau in der Pfalz Quellen
Ifo-Institut,
Infas 360, eigene
Berechnungen,
OpenStreet-
Map-
Mitwirkende

Links zu diesen
Die Stadtviertel sind jeweils in der Farbe der Partei mit den meisten Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2021 markiert – und weiteren
je größer der Stimmanteil, desto intensiver die Farbe. Eingefärbt sind nur die besiedelten Regionen; die Karten haben nicht denselben Maßstab Quellen finden
Sie unter
www.zeit.de/
wq/2023-46
Anderer Kern Gelbe Insel Klare Kante Bunte Stadt

Altenburg Stuttgart Pforzheim Dresden

Hochburg im Kern – exklusiv haben die Grü-
nen dieses Merkmal nicht, auch die SPD als
alte Stadtpartei gewinnt in einigen Zentren.
Im Osten fällt auf, dass die Stadtkerne oft von
einem blauen Ring umgeben sind. So ist die
AfD etwa in Altenburg, einem alten Residenz-
städtchen, besonders stark: eine schön sanierte
Innenstadt mit Schloss und Museen, draußen
Neubaugebiete und eingemeindete Dörfer.
Die Stadt gehört zu den politisch buntesten
des Landes. Den größten Teil dominieren die
Grünen. Der Kern ist allerdings gelb einge-
färbt: Rund um den Schlosspark ist die FDP
stärkste Kraft, nirgendwo sonst in Deutsch-
land schneidet sie so gut ab wie hier; fast jede
dritte Stimme ging an sie (31,6 Prozent).
Museen, Restaurants, Kaufhäuser prägen den
Stadtteil – und hohe Warmmieten.
Untypisch für Baden-Württemberg: Es gibt
keinen grünen Kern. Das Stadtzentrum wurde
im Krieg zerstört – dort leben heute meist
Menschen mit geringerem Einkommen in
Fünfzigerjahre-Bauten. Hier und im Norden
wählen viele SPD. Im schicken Süden sitzt
das Geld der Schmuckindustrie, die CDU ist
stärkste Kraft. Ein Sonderfall ist Haidach, wo
viele russische Spätaussiedler die AfD wählen.
Wie sonst nur in Berlin und Leipzig stellen fünf
Parteien in je mindestens einem Stadtteil die
stärkste Kraft. Südlich der Elbe dominiert die
SPD. Die AfD als zweitstärkste Partei hat Hoch- Die Kinderseite
burgen an den Rändern – etwa in Plattenbau- der ZEIT
siedlungen. Die Grünen sind in der Neustadt, finden Sie auf
die CDU ist dagegen an den Elbwiesen oder im der vorigen Seite
wohlhabenden Bühlau erfolgreich. Im Villen-
viertel Loschwitz hat die FDP eine Bastion.

FEUILLETON
AUSRUHEN IST
POLITISCH
Mit besserer Menstruationsplanung wäre das nicht passiert: »Après le bal« von Roman Casas y Carbo (1895)
Energiemanagement, Selfcare und Geschlechterkampf – wie aus dem weiblichen Zyklus
eine neue Religion wurde VON BERIT DIESSELKÄMPER
S
ollte Interesse bestehen an dem,
was die Hochleistungslebenden in
ihren Internet-Nischen an Verbes-
serungsmaßnahmen bereitstellen,
die daraufhin von Algorithmen,
von künstlicher Intelligenz oder
wem auch immer zu vermeintlich
nachahmungswürdigen Trends hochgepeitscht wer-
den – dann haben wir hier etwas hübsches Neues:
das sogenannte natürliche Energiemanagement
für Frauen oder, um es noch einmal wirklich kor-
rekt zu formulieren, für »menstruierende Men-
schen«. Die Methode nennt sich Cycle-Syncing,
und ihr zentraler Ehrgeiz besteht darin, das eigene
Leben vollständig nach dem Menstruationszyklus
auszurichten: die Arbeit, das Sozialleben, den
Sport und das Essen. Versprochen wird dabei nicht
weniger als die Heilung von Körper, Geist und
Seele, aber darunter macht es ja auch niemand
mehr. Es gibt da, will man die Betrachtung dieses
Trends ebenfalls gut hochpeitschen, etwas Meta-
physisches: eine neue »Regeliosität«, und der Zy-
klus ist ihr Heilsbringer.
Alles begann fernab von der Normalverbrauche-
rin: Cycle-Syncing wurde als Trainingsmethode für
professionelle Athletinnen entwickelt. Um ihre Er-
gebnisse zu verbessern, sollten die traditionell ver-
nachlässigten Eigenschaften des weiblichen Körpers
berücksichtigt und die Trainings an den Zyklus an-
gepasst werden. Problem nur: Wissenschaftliche Stu-
dien konnten bisher keinen eindeutigen konsistenten
Einfluss des Menstruationszyklus auf die körperliche
Leistungsfähigkeit nachweisen.
Daher beruht zyklusbasiertes Training biswei-
len größtenteils auf anekdotischer Evidenz und
dem Glauben daran, dass es funktioniert. Die
Fußballerinnen der US-amerikanischen National-
mannschaft etwa trackten ihren Zyklus und ge-
wannen 2019 die Weltmeisterschaft. Aber da
Praktiken des Hochleistungssports gern auch als
eine angemessene Herangehensweise an das mo-
derne Leben begriffen werden, entwickelten Men-
schen wie die Amerikanerin Alisa Vitti daraus
einen populären (und kapitalisierbaren) Lebens-
entwurf. 2020 veröffentlichte die Autorin und
Gesundheitsberaterin mit dem Buch In the FLO
eine detaillierte Anleitung zum Cycle-Syncing.
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
Ihre These: Der Zyklus sei ein »mächtiges Werk-
zeug«, ein »einzigartiger, wundersamer weiblicher
Vorteil«, mit dem jeder Bereich des eigenen Lebens
empowert werden könne. Um diese Kraft nicht
wie bisher unbeabsichtigt zu dämpfen, müsse man
im Einklang mit seiner »zyklischen Natur« leben,
essen und arbeiten.
Dafür wird der weibliche Zyklus in vier Phasen
unterteilt: die Menstruation; die Follikelphase, in
der die Eizelle reift; die Ovulation; und die Luteal-
phase, in der sich der Körper auf das Einnisten der
befruchteten Eizelle beziehungsweise auf die
Menstruation vorbereitet. Jede dieser Phasen habe
hormonell bedingt unterschiedliche Auswirkun-
gen auf die körperliche und geistige Leistungs-
fähigkeit, was zu entsprechenden Bedürfnissen des
Körpers führe, die wiederum von seiner Besitzerin
zu berücksichtigen seien – wobei zumindest die
Annahme, dass der Zyklus mit Veränderungen in
Energie und Stimmung einhergehe, wissenschaft-
lich belegt wäre.
Und so planen gegenwärtig auf den Social-
Media-Plattformen meist junge Frauen mit bun-
ten Stiften und beneidenswert schöner Hand-
schrift ihre monatlichen Aktivitäten anhand ihres
Zyklus: Je nachdem, wann sie sich für besonders
produktiv, sozial aktiv oder pausebedürftig halten,
werden Workouts, Verabredungen oder Gehalts-
verhandlungen terminiert. Hinzu kommt die Er-
nährung: erst Kohlenhydrate, später ein bisschen
mehr grüne Blätter. Wozu das Ganze? Es ist der
Versuch, die »biologischen Nachteile« gegenüber
Männern in einer von diesen geschaffenen Welt
auszugleichen. Denn Männer, so die Heilserzäh-
lung, wachen jeden Morgen mehr oder weniger
gleich auf und fühlen sich mehr oder weniger
gleich. Ihr hormoneller Zyklus verläuft innerhalb
von 24 Stunden, was mit den Anforderungen der
(Arbeits-)Welt korrespondiert. Der Menstruations-
zyklus von 21 bis 35 Tagen hingegen beeinflusst
die in diesem kapitalistischen System so wertvolle
Produktivität, Selbstbestimmung und Selbstver-
wirklichung. Möglicherweise braucht der Körper
ein paar Tage mehr Ruhe, in denen er produk-
tionstechnisch nicht verwertbar ist. Das gilt als
Problem, denn: Ausruhen ist politisch. Dem-
entsprechend machen die Anhängerinnen des
Cycle-Syncings ein bisschen mehr, wenn es ihnen
gut geht, um weniger tun zu können, sobald es
ihnen schlechter geht. Ein Optimierungsversuch –
und in neoliberaler Tradition eine individuelle
Lösung für ein kollektives Problem.
Das Menstruieren unterliegt seit Langem ge-
gensätzlichen Deutungsmustern – wobei es immer
auch um die Leistungsfähigkeit in der Arbeitswelt
ging. Im 19. Jahrhundert empfahlen männliche
Ärzte, dass sich (bürgerliche) Frauen während der
Menstruation eine mehrtägige Auszeit nehmen,
um gesund zu bleiben. Die amerikanische Ärztin
Mary Putnam Jacobi widerlegte 1876 eine solche
Notwendigkeit mit empirischen Studien: Es gebe,
so schreibt sie in ihrem von der Harvard University
ausgezeichneten Essay The Question of Rest for
Women during Menstruation, keinen Grund, sich
während der Menstruation auszuruhen; Frauen
würden so nur von Bildung und einer Karriere
ferngehalten werden.
Ab Mitte des 20. Jahrhunderts konnte mit der
Pille der Zyklus hormonell reguliert werden, und
die Frage nach Ruhe und Entspannung schien ab-
schließend geklärt zu sein: Der Zyklus und die
Menstruation sind beherrschbar und bestenfalls zu
ignorieren. Nur dass dann auf dem Weg zur Ge-
genwart hormonelle Verhütungsmittel aufgrund
ihrer Nebenwirkungen zum Gegenstand feminis-
tischer Kritik wurden. Die amerikanische Regis-
seurin Abby Epstein und die Talkshow-Moderato-
rin Ricki Lake fügten in ihrem Dokumentarfilm
The Business of Birth Control aus dem Jahr 2021
der historischen Erzählung, die Pille sei die (sexu-
elle) Befreiung der Frau, eine alternative Deutung
hinzu: Frauen sollten ihre Familienplanung hi-
nauszögern, um länger im kapitalistischen System
funktionierende Roboter zu sein.
Die gegenwärtige Auseinandersetzung mit dem
Menstruationszyklus ist von der Ablehnung hor-
moneller Verhütung und einer Rückkehr zum
»Natürlichen« geprägt – oft mit einem Hang zu
Esoterik und Dogmatismus. Als Teil der vom mo-
dernen Menschen betriebenen Introspektion bie-
tet die Überwachung des Zyklus Erklärungen und
alternative Methoden zur Bewältigung von allerlei
Symptomen und Erkrankungen an – auch weil
sich die medizinische Forschung eher zögerlich
53
Ohne Kompass
Warum der Hamas-Terror die
Kultur in Deutschland spaltet
J
Jede und jeder hat im eigenen Leben erfah-
ren, dass Schweigen ausgesprochen aggressiv
sein kann. So wirkt die Zugeknöpftheit eines
großen Teils des deutschen Kulturbetriebs,
der Theater, vieler Museen, mancher Litera-
ten und Künstler, angesichts der Terroratta-
cken der Hamas schlichtweg feindselig. Das
soll natürlich eine politische Positionierung
sein, aber keine offene, denn die wäre an-
greifbar. Was sich in diesen Wochen abspielt,
ist eine bizarre Form der Camouflage.
Und ja, Schweigen kann natürlich auch
wortreich ausfallen. Offene Briefe (Artists for
Palestine, Artists 4 Ceasefire) kursieren zu-
hauf, um gegen Israel zu protestieren, auch
international. In demjenigen des US-Kunst-
magazins Artforum fehlte ursprünglich jedes
Wort zum Hamas-Terror. Tage später fügte
man eine Anmerkung hinzu. Aber es war all-
zu spät: Nach Protesten der Leser musste
Chefredakteur David Velasco gehen.
Viele Möglichkeiten der vermeidenden
Abb.: Heritage Images/Ullstein (»Après le bal« Ramon Casas 1895)
Rede sind seit dem Angriff der Hamas er-
probt worden. Sie trafen sich in einem
Punkt: Der Terror durfte als solcher nicht
benannt werden. Vielmehr wurde er »einge-
rahmt«: Das gesamte Panorama zu betrach-
ten sei wichtig, hieß es, der lange Konflikt
zwischen Juden und Palästinensern wiege
schwerer als der Überfall; ein Widerstand sei
im Gange, für den besondere Maßstäbe gäl-
ten. Dieser kühle Historikerblick möchte
aber nur darüber hinwegsehen, dass es in
Wahrheit ein Massaker war und eine Zäsur.
Die neue Losung lautet also: Nichts hat
sich verändert, nur der Grad der israelischen
Gewalt. Mit kleineren Varianten ist das in
etwa auch der Tenor im propalästinensischen
Kulturmilieu Deutschlands. Und wer am
Mythos vom palästinensischen Befreiungs-
kampf festhalten wollte, hat nun den Augen-
blick verpasst, sich von den Mitteln der Ha-
mas zu distanzieren. Der eliminatorische
Terror ist jetzt unwiderruflich zum Bestand-
teil der Befreiungsmythologie geworden.
Für die mit öffentlichen Mitteln Kultur
machenden Israelhasser wird es eng. Sie
mit Frauengesundheit befasst. Unterdessen ist die schweigen daher beredt. Es ist nicht zu er-
Erzählung von Schwäche in die Logik der Acht- warten, dass sie sich offen zum Terror und
samkeit und der Selfcare übergegangen; die der zum weltpolitischen Endkampf des Anti-
Stärke wurde mit (an Männer gerichteten) Slogans kolonialismus bekennen und dazu, dass im
wie »Anything You Can Do, I Can Do Bleeding« Nahen Osten das letzte Gefecht gegen den
(Alles, was du tun kannst, kann ich blutend tun) Westen tobt und dass dafür alles gerecht-
zur Superkraft hochstilisiert. fertigt sei. Das Ressentiment verschafft sich
Im Kontext der Gleichberechtigung hat die einen verdrucksten Ausdruck, und das wirkt
Menstruation als Distinktionsmerkmal aktivisti- giftig. Die Kultur in Deutschland wird nun
sches Potenzial. Jedoch verharrt die öffentliche gespalten sein, wie die Klimabewegung.
(und künstlerische) Auseinandersetzung bisweilen Wer die Hamas klein- und die israelische
in einem Enttabuisierungsdiskurs. Anfang Okto- Verteidigung großrechnen will, sichert sich
ber wurde im Museum Europäischer Kulturen in zeitgemäß ab: Jede mögliche Gegenrede soll
Berlin Läuft. Die Ausstellung zur Menstruation er- dann schon wie der Wille zum Canceln aus-
öffnet. Was dort in den Räumen hinter einem Vor- sehen, ja, man tut, als werde man von vorn-
hang aus dünnen roten Kordeln (sind es Rück- herein in seinen Ausdruckschancen be-
holbändchen?) gezeigt wird, könnte man unter schränkt und müsse genau deswegen gehört
»Menstruieren im Wandel der Zeit« zusammen- werden. Munter publizierend beklagen
fassen. Für das leitende Motiv des Tabus und Stig- Traditionslinke, woke Antideutsche, Anti-
mas hat die Ausstellung offensichtlich ausreichend zionisten ohne Kompass und die mit dem
Material gefunden – und nebenbei werden auch ganz alten Hass im Bauch, eine staatliche
laufend neue Bücher veröffentlicht. Zuletzt etwa Redeordnung verhindere, dass propalästinen-
im Reclam Verlag das Buch Menstruation. 100 sische Ansichten öffentlich geäußert werden
Seiten der Autorin Jovana Reisinger, auf denen sie dürften. Das stimmt einfach nicht. Der Mei-
sich ebenfalls umfassend mit der Wiederholung nungspluralismus ist überhaupt nicht in Ge-
von längst abgeschafften oder widerlegten Vorur- fahr. In dieser Situation vorauseilend für sich
teilen aufhält. eine Opferrolle zu reklamieren heißt dann,
Mit Verdrängung und Tabuisierung wird die dem Andersdenkenden jenen Rassismus zu
Relevanz des Themas begründet, nur begrenzt sich unterstellen, den man in Palästina am Werk
der Aktivismus damit auf die Aufklärung, was al- sieht. Das ist Bubble-Talk. Wirkliche Opfer
lein nicht notwendigerweise zu einer Verbesserung sind die Terror-Toten, und auch die palästi-
der beklagten Verhältnisse führt. Die Kritik an nensische Zivilbevölkerung leidet, aber nicht
biologischen Gegebenheiten hat nun mal keinen jene in der deutschen Debattenzone.
verantwortlichen Adressaten (außer vielleicht In dieser Art wird es wohl weitergehen:
Gott), sodass entweder damit zu leben ist oder das Die Sympathisanten mit den Tätern wer-
System/die Gesellschaft/die Politik um Kompen- den klagen, dass sie hierzulande viel zu er-
sation gebeten werden muss. Die aktuell konkre- dulden haben. In Kultur und Kulturwissen-
teste Forderung ist wohl die nach sogenanntem schaft zieht ein Klima des Misstrauens ein.
Menstruationsurlaub auch in Deutschland (Spa- Öffentlicher Austausch funktioniert nicht
nien führte im Juni als erstes Land Europas ein als Pingpong böswilliger Unterstellungen,
solches Gesetz ein). Damit sieht es allerdings nicht jedenfalls nicht auf Dauer. Genau das ist
so gut aus, sodass man doch wieder zu den indivi- das Gift; es wird noch lange wirken. Wer
duellen Bewältigungsstrategien kommt. Also dem dachte, Kultur sei ein Raum der freien Rede
Evangelium der Ernährungs- und Lebensstilände- und der zwanglosen Bildung einer zivilisier-
rung, das in Wahrheit natürlich weniger »revolu- ten Gesellschaft, muss sich jetzt gegen das
tionär« ist als von den Gläubigen behauptet. Aber kommunikative Beschweigen zur Wehr
Hauptsache, es hilft. setzen. THOMAS E . SCHMIDT
54
MODE
Wirklich
hervorstechend
Kim Kardashians neuer
BH erklärt so einiges
Hallo und herzlich willkommen zu
einer neuen Folge von »Kim Karda-
shian als Gegenwartstext vom Feuille-
ton fehlinterpretiert«. Heute geht es
um einen BH, den Kardashians Un-
terwäsche-Firma skims herstellt. Das
Modell ist zwar ganz normal und, wie
es sich gehört, gepolstert (damit, klar,
so brachte man es uns Frauen quasi
gleich nach der Geburt bei, sich die
sogenannten Nippel bloß nicht ab-
zeichnen, wenn es kalt ist. Aus irgend-
einem Grund war es wichtig, dass alle
augenblicklich die Nerven verloren,
wenn dieser Fall eintrat, vor allem man
selbst – dagegen musste man sich
wappnen, polstern et cetera).
Allerdings befindet sich bei dem
neuen gepolsterten Kardashian-BH
dort, wo die sogenannten Nippel für
gewöhnlich sind, eine Erhöhung im
Stoff, wodurch der Eindruck ent-
steht, die Trägerin des BH habe
konstant harte Nippel. Es ist ver-
rückt, man kommt als Zuschauerin
nicht gleich mit, wenngleich man
(ich) natürlich einsieht, dass es ohne
neue Ideen zum Geldausgeben hier
nicht weitergeht, und das muss es ja.
Kim Kardashian hat die Sache aber
in einem BH-begleitenden Werbe-
spot plausibel dargelegt: Als super-
hotte Wissenschaftlerin (Brille, Zei-
gestock) aufgemacht, erklärt sie dort
an einem Neunzigerjahre-PC klim-
pernd, dass es angesichts der Klima-
Krise wichtig sei, wenigstens den
Eindruck zu vermitteln, man sei
cool (harte Nippel). Manche Tage,
so Kardashian weiter, seien hart,
aber diese Fake-Nippel seien am
Ende immer härter.
Interpretation: Kim Kardashian
vertraut der Natur nicht, nein, sie
macht es besser als die Natur. Der
Amerikanische Traum steckt ihr mit
all seinen Zumutungen naturgemäß
tief in den Knochen, aber sie hat
Wege gefunden, spielerisch damit
umzugehen und sein ewiges Leis-
tungsmantra zu überlisten (Stich-
wort: Fake it till you make it). Dabei
ist sie oft lustiger, gewitzter und be-
kloppter als Marx, Hegel und ich
zusammen. ANTONIA BAUM
Hören Sie den Podcast
Florian Illies ist begeistert von
der US-Amerikanerin, Giovanni
di Lorenzo ist nicht mit ihr warm
geworden: In der neuen Folge des
Kunst-Podcasts Augen zu geht es um
die streitbare Helen Frankenthaler.
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UNSERE WOCHE
So viel Schönes dabei
Im neuen »Asterix« lächeln die Wildschweine. Alles positiv!
Das ist schön. Verleihnix, Händler für
Fische und Krustentiere, lächelt, jetzt
bietet er »Meditative Dufttherapie« an.
Es ist überhaupt viel Schönes dabei,
nebenan lächelt auch Automatix, der
Schmied, der neuerdings »Positive
Schwingungen« im Angebot hat. »Re-
generatives Flechten« gibt’s auch. Wo
man hinsieht: Lächelnde Menschen,
mit der weißen Blüte einer Iris ge-
schmückt, beleben das gallische Dorf,
das bis vor Kurzem als Schauplatz von
entfesselten Dauer-Keilereien und
Festgelagen mit vielen gebratenen
Wildschweinen bekannt war. Jetzt aber
Eine Form der Ekstase
Alles löst sich auf im Licht, als stehe
man selbst in einem hellen Nebel.
Man verliert sich in den feinen Farb-
abstufungen auf dieser Leinwand,
vom Weiß ins Gelbliche und ins
Hellblaue. Erst dann erahnt man die
Stadtansicht, und nach dem Blick
auf das Schildchen weiß man: Vene-
dig. Die Kirche Santa Maria della
Salute. Niemand malte um 1840
annähernd so wie Joseph Mallord
William Turner.
Whiteout nennen die Piloten den
Zustand, wenn sich der Horizont in
den Wolken nicht mehr ausmachen
lässt, die Orientierung verloren geht.
Im Cockpit kann dieser Zustand Pa-
nik auslösen, beim Anblick von Tur-
ners Gemälden aber ein Gefühl der
Die besten kurzen Romane
der modernen Weltliteratur.
FEUILLETON 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
TIKTOK
Abb.: Asterix®-Obelix®-Idefix®/© 2023 Hachette Livre/Goscinny-Uderzo
Echt der
Hammer!
Wieso sich junge Männer
im Netz malträtieren
Einst soll der Wohlklang von Häm-
mern den Philosophen Pythagoras zu
seiner Musiktheorie inspiriert haben.
Langweilig: Kein Schwein hat mehr Angst Und auch mehr als zweieinhalbtau-
send Jahre später hat das vielleicht ele-
mentarste aller Heimwerkergeräte
nichts von seiner Inspirationskraft ein-
gebüßt: Seit Neuestem kommen viele
junge Männer auf die Idee, auf ihre
Wangenknochen einzuhämmern. Ist
kein Hammer zur Hand, können auch
Glasflaschen, Hanteln oder die eige-
Bis auf das Heizen VON ELISABETH VON THADDEN nen Fingerknöchel Abhilfe schaffen –
Hauptsache, es knallt. Auf TikTok
trendet der Hashtag #bonesmashing.
lächeln auch die Wildschweine. Und lange zurück wie jenes Jahr 50 v. Chr., Das Allerschönste an diesem schö- Durch die wiederholte Erschütte-
wenn sie friedlich auf ihren Wald- in dem zwar ganz Gallien von den nen 40. Band ist aber, dass man der seit rung des Kieferknochens entstehen
lichtungen grasen, dann grast noch Römern besetzt war, nicht aber das 1959 gelingenden europäischen Einheit Mikrofrakturen, deren Verheilung
friedlicher bei ihnen ein Esel, dessen kleine Dorf unserer Helden, das allen zuschauen darf, denn in der französi- – so zumindest die Theorie – schma-
Gesichtsausdruck zwischen weise und Eindringlingen Widerstand leistet. schen wie in der deutschen Ausgabe len Männerphysiognomien markan-
vollidiotisch changiert. Nur hat das Dorf jetzt, dämlicher- lauten die Durchsagen der Bahn (hier tere Kieferkonturen bescheren soll.
Wir befinden uns im 40. Band des weise, Cäsars Chef-Berater Visusversus als ein von Pferden gezogener Thalix) Man(n) beruft sich dabei auf das
Klassikers Asterix, der sich selbst unter- reingelassen, und der hat, samt Esel, mit ihren Verspätungen wegen Wild- »Wolffsche Gesetz« aus dem 19. Jahr-
dessen historisch wird, was man daran mit seiner Methode »Weiße Iris« das schweinen auf den Gleisen nun iden- hundert: Knochen zu beanspruchen
sieht, dass Fußnoten im laufenden Text positive Denken in alle Köpfe gehext. tisch. Nur ein bisschen was Besonderes fördere ihre Festigkeit und Dichte.
auf all das Schöne verweisen, was bis- Kalte Machtstrategie, hätte man früher ist im Deutschen zu finden, nämlich Würden sie hingegen vernachlässigt,
her geschah, seit dem ersten Band As- gesagt, denn er will das Dorf durch Ver- die Frage im Staupalaver, womit man verkümmerten sie. Nun ist jedoch an-
terix, der Gallier, den das unsterbliche weichlichung in die Knie zwingen: im Winter heizen soll, und der Ärger, zunehmen, dass der namensgebende
Duo Goscinny/Uderzo im Jahre 1959 achtsam, vegan, regional, feministisch. dass sich da vorn auf der Straße wohl Chirurg Julius Wolff damit die schwä-
schuf. Das liegt ja inzwischen etwa so Das wird auf Dauer nichts, klar. irgendwer festgeleimt hat. So schön. chelnden Knochen Bettlägeriger vor
Augen hatte, nicht die zarten Ge-
sichtspartien junger Männer. Auch
die notwendigste Tätigkeit kann sich,
übertrieben angewandt, in ihr Gegen-
teil verkehren. So raten, wer hätte es
KUNST gedacht, heutige Ärzte von dieser be-
hämmerten Art der Selbstoptimie-
rung dringend ab. Zumal ein Blick in
die aufwendig inszenierten Vorher-
nachher-Videos auf TikTok Zweifel
aufkommen lässt, ob überhaupt mehr
als Einbildung im Spiel ist.
Nun liegt maskuline Schönheits-
Der Maler, der sich an einen Schiffsmast binden ließ: suche ohnehin im Trend. Entgegen
dem Klischee strömen nicht nur
München feiert William Turner VON TOBIAS TIMM Frauen, sondern auch zunehmend
Männer in die überteuerten Praxen
der Schönheitschirurgie. Bemerkens-
Befreiung. Eine Form der Ekstase, Vor allem diese Bilder kannten seine über der See wie für den Rauch, der wert ist jedoch, dass die Hammer-
die das Sehen feiert. Zeitgenossen. Die abstrakt anmu- aus Schornsteinen aufstieg. Typen von TikTok lieber selbst Hand
Im unterirdischen Kunstbau des tenden Studien blieben zu Lebzeiten Erst gegen Ende seines Lebens an ihre Problemzonen legen. Es ist wohl
Münchner Lenbachhauses gibt es meist in seinem Atelier versteckt. wagte Turner, seine befreite Malerei, so: Um jeden Preis wollen sie
für diesen lustvollen Kontrollverlust Als Professor war ausgerechnet er, in der sich die Ölfarben wie in Was- verhindern, dass ihre Schönheits-
jetzt spektakulär viel Anschauungs- der im Atelier den Whiteout nach- ser aufzulösen scheinen, öffentlich zu sorgen feminin wirken. Die ostentative
material. Rund achtzig Gemälde, empfand, für die Lehre der klassi- zeigen. Viele Kritiker verspotteten Schmerztoleranz soll auch angesichts
Zeichnungen und Aquarelle wurden schen Perspektive verantwortlich. ihn prompt für Gemälde wie jenes, größter Eitelkeit noch ihre Männlich-
aus der Tate in London geliehen. Die Jahrelang hatte er die gesamte Litera- das den Betrachter in einen düsteren keit verbürgen. Aus dieser Perspektive
Kuratoren Karin Althaus und Ni- tur zum Thema studiert, seine physi- Farbstrudel hineinzieht: Snow Storm betrachtet verwundert es nicht, dass
cholas Maniu präsentieren die unge- kalischen Schaubilder wirken wie die (1842). Ein nur schemenhaft sicht- der Trend in einem Incel-Forum (die-
heure Vielfalt des Malers, hängen Kunst der russischen Konstruktivis- bares Dampfschiff schlingert durch ser Ort, an dem frustrierte Männer zu
den atmosphärisch aufgelösten Bil- ten ein Jahrhundert später. Turner dunkle Brecher, wildes Meer und Frauenhassern werden oder es vorher
dern jene stilistisch traditionelleren war nicht der Romantiker, der nur Himmel scheinen eins zu werden. schon waren) seinen Anfang nahm.
Gemälde gegenüber, mit denen sich das Althergebrachte malte, er malte Angeblich hatte sich Turner in genau Während Pythagoras also noch die
Turner zu Lebzeiten (1775 bis 1851) auch die Zukunft, die sich Bahn diesem Sturm stundenlang an einen Harmonie der Hämmer bestaunte,
seine unerhört schnelle Karriere zum brach: die Lokomotiven, die Dampf- Mast binden lassen, um die Atmo- könnten wir bald vor etlichen smashed
Professor an der Royal Academy und schiffe. Er interessierte sich genauso sphäre zu studieren. Man spürt es faces stehen: disharmonisch, aber hey,
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30.10.23 16:42
DIE ZEIT N o 46 2. November 2023
Die
Ausstellung
»The
River Wailed
Like a
Wounded
Beast« in
Kiew ist
dem Fluss
Dnipro
gewidmet
Szene aus
der
Videoarbeit
»Dedicated to
the Youth of
the World III«
(2023)
von Yarema
Malashchuk
und Roman
Khimei
Kunst macht Borschtsch
D
ie Invasion begann, und
Tanz wurde ein Tabu. Wer
kann schon tanzen, wenn
an der Front Freunde im
Schlamm liegen und die
Friedhöfe viel zu schnell
wachsen?
Im Erdgeschoss eines baufälligen Hauses in
Iwano-Frankiwsk in der Westukraine läuft auf
einem Bildschirm ein wilder Tanz in Dauer-
schleife. Junge Leute trommeln und singen. Sie
sind geschminkt und verkleidet, ziehen von Bar
zu Bar. Die Menschen im Video wirken ausgelas-
sen, aber sie trauern. Sie tanzen für einen kürzlich
verstorbenen Freund.
»Ich würde gerne wissen, was Zuschauer den-
ken, die nichts über das Entstehen des Videos
wissen«, sagt Anna Potjomkina, die den Film
aufnahm, der im Rahmen der Kiew-Biennale in
einer Galerie in Iwano-Frankiwsk zu sehen ist.
Ihr Werk inspirierte das Titelmotiv der Ausstel-
lung: Sie beschäftigt sich mit Schuld und
Schamgefühlen und trägt den Titel In der Peri-
pherie des Krieges.
Die fünfte Kiew-Biennale findet aufgrund des
russischen Angriffskrieges nur in Teilen in der
Ukraine statt. Erst Ende Mai entschied sich, dass
sie überhaupt organisiert werden würde. Die
Hauptausstellung ist in Wien zu sehen. Weitere
Ausstellungen finden in Berlin, in Warschau, in
Lublin und in Antwerpen statt sowie in den drei
Fotos: Sasha Kovalenko (o. l.); Dmytro Chepurnyi (o. r.); Yarema Malshchuk (u. l.); Taras Telishchak (u. r.)
ukrainischen Städten Kiew, Iwano-Frankiwsk
und Uschhorod.
Auch oder gerade weil sie so zerstreut ist,
räumt die Biennale ukrainischen Künstlerinnen
und Künstlern etwas Raum ein, um sich mit
Prozessen in der eigenen Gesellschaft zu beschäf-
tigen. Dafür fanden sie lange nicht die nötige
Distanz.
Die Menschen in Potjomkinas Video, aufge-
nommen im Januar, tanzen für Yura Stetsyk. Nur
wenige Tage zuvor hatten sie gehört, dass er ge-
storben war. Er war Künstler wie sie, aber kämpf-
te freiwillig an der Front. Ein Kopfschuss been-
dete sein Leben, teilte ihnen sein Kamerad mit.
Der Körper blieb auf russisch kontrolliertem
Boden liegen. Er konnte nicht geborgen werden.
Wenn ihr nicht feiern könnt, weil ihr euch
schlecht fühlt, schrieb Stetsyk mal seinen Freun-
den, wozu sitze ich dann an der Front? Vor dem
Krieg war er es, der Leute zusammenbrachte und
Partys organisierte. Und so versammelten sich
ihm zu Ehren Freunde und Familie am orthodo-
xen Weihnachtsfeiertag. Potjomkina nahm spon-
tan ihre Kamera mit. »Ich dachte, die Aufnah-
Wie ist es, ein Künstler im Krieg zu sein? Beobachtungen aus der Ukraine anlässlich
der fünften Kiew-Biennale VON OLIVIA KORTAS
men würden in einem persönlichen Archiv lan-
den«, sagt sie.
Aber auch Aljona Karawai war an dem Abend
dabei. Sie hat die Galerie Asortymentna kimnata
in Iwano-Frankiwsk gegründet und die Ausstel-
lung im Rahmen der Biennale kuratiert. Karawai
brachte es damals nicht über sich zu tanzen. Sie
entfernte sich zwischendurch von der Gruppe.
Daraufhin begann sie, sich mit den Konflikten
zu beschäftigen, die fernab der Front aufbrachen.
Sie bat Potjomkina, ihr Tanzarchiv auszuweiten.
Diese filmte fortan Tänze in Kriegszeiten, auf
Geburtstagen, auf Konzerten, auf Partys.
Während Karawai die Videos sammelte, sei
ihr aufgefallen, dass Tänze nach großen Tragö-
dien wilder waren und eher ausarteten, etwa nach
der Zerstörung des Kachowka-Staudamms. Sie
sagt, sie erinnere sich genau daran, wie sie das
erste Mal nach Beginn des Angriffskriegs tanzte:
allein, mit Kopfhörern und in völliger Dunkel-
heit. »Tanz ist etwas, das wir kaum mehr gezeigt
haben, er ist jetzt verbunden mit einem Schuld-
gefühl«, sagt sie.
In den vergangenen Monaten hat sich etwas
verändert in der Ukraine. Die Leute haben ak-
zeptiert, dass dieser Krieg lange andauern wird,
dass sie sich mit ihm arrangieren müssen und ihn
nicht mehr als Ausnahmezustand verstehen kön-
nen. Das zerreißt die Gesellschaft, teilt sie noch
stärker auf in die Kämpfenden, die Geflohenen,
die Spendenden, die Toten, die Weiterlebenden.
Schuld, Scham und Anklage füllen diese Ris-
se. Sie fließen in viele Gespräche ein und zeigen
sich im Straßenbild. Wer in der Ukraine lebt,
trifft auf viele solcher Geschichten. Etwa auf jene
des jungen Mannes, der eben noch an der Front
bei Bachmut Menschen sterben sah und Men-
schen tötete, nun zwischen tanzenden Menschen
im Kiewer Technoclub K41 stand und sich fremd
fühlte. Er habe, so erzählt es einer seiner Freunde,
auf die muskulösen Männer gezeigt und gewit-
zelt: Hier gebe es Mobilisierungspotenzial.
»Wer in Kiew ist, fühlt sich schuldig,
weil er nicht an der Front ist«
Da war die Hochzeitsfotografin, Mitte zwanzig,
die nach einem Auftrag in Warschau zurück in
die Ukraine fuhr und sich erst nach der Grenz-
kontrolle entspannen konnte. »Ich kann nichts
am Krieg ändern, aber ich fühle mich schuldig,
wenn ich nicht in der Ukraine bin«, sagte sie.
Und da ist die Fußgängerzone in Iwano-
Frankiwsk, in der die Leute Burger essen und
Kaffee trinken und dabei toten Soldaten und
FEUILLETON
Soldatinnen ins Gesicht blicken. Die Stadt hat
zwei mal zwei Meter große Porträts Gefallener
aufgestellt. Es sind so viele, dass man minuten-
lang an ihnen vorbeigeht.
Aljona Karawais Ausstellung in Iwano-Frank-
iwsk provoziert Wut auf sich selbst, ein Gefühl
der Verantwortung, des Ertapptwerdens und bie-
tet Raum, um all dies zu reflektieren. Die Aus-
stellung beginnt mit so einer Provokation: einem
Gemüsetrockner. Das Küchengerät, so groß wie
zwei Mikrowellen, steht auf einem klinisch sau-
beren Tisch und summt vor sich hin. Alle sieben
Stunden kommt eine Freiwillige, hängt das Ab-
sperrseil ab, nimmt die getrocknete Rote Bete aus
dem Gerät, füllt frische Gemüseschnipsel nach,
hängt das Absperrseil wieder dran und geht. Die
Tütensuppe, die der Trockner auf diese Weise
produziert, wird an die Front geschickt.
»Wenn Sie schlafen, wenn Sie zur Arbeit ge-
hen, wenn Sie essen, wenn Sie Sex haben, wenn
Sie Ausstellungen besuchen, die Trockner arbei-
ten weiter«, steht auf dem Schild neben dieser
Installation von Volodymyr Kuznetsov. Mit an-
deren Worten: Während Sie diesen Gemüse-
trockner betrachten, essen anderswo Soldaten
Tütensuppe und riskieren ihr Leben, was dafür
sorgt, dass Sie hier in Ruhe diesen Gemüsetrock-
ner betrachten können.
Würde so eine Ausstellung auch in Lublin
oder in Wien funktionieren? »Als wir kürzlich
nach Deutschland eingeladen wurden, um über
unsere Idee zu sprechen, haben die Deutschen es
nicht kapiert: Die Ukrainer haben Schuldgefüh-
le?«, erzählt Aljona Karawai. Die nach Deutsch-
land geflüchteten Ukrainerinnen, die ebenfalls
bei dem Treffen mit Karawai dabei gewesen seien,
hätten nur genickt, erzählt sie. Karawai sagt:
»Wer ins Ausland geflohen ist, fühlt sich schul-
dig, weil er nicht in der Ukraine ist. Wer in Kiew
ist, fühlt sich schuldig, weil er nicht an der Front
ist. Wer Soldat ist, aber im Westen an einem
Checkpoint steht, fühlt sich schuldig, weil er
nicht im Schützengraben liegt. Wer im Schüt-
zengraben liegt, fühlt sich schuldig, weil er nicht
tot ist wie sein Kamerad.«
In der EU gibt es seit Beginn der Invasion
zahlreiche Solidaritätsausstellungen. Auch Kara-
wai und Potjomkina halfen ukrainischen Künst-
lerinnen und Künstlern in den ersten Kriegs-
monaten, ihre Werke im Ausland zu zeigen.
Mittlerweile sagen Künstler in der Ukraine zwar,
dass es wichtig sei, zu vermitteln, was in ihrem
Land passiere. Zugleich warnen sie vor »Kriegs-
pornografie«. Der Anspruch an die Kiew-Bien-
nale war, sich davon abzuheben und etwas Nor-
malität zu schaffen. »Es gab die Befürchtung,
dass das Trauma zu groß ist dafür«, sagt der ös-
terreichische Hauptkurator der Kiew-Biennale,
Georg Schöllhammer, am Telefon. Es habe ihn
dann erstaunt, »wie differenziert, wie poetisch
die Künstler mit dem Krieg umgehen«.
Im ersten Kriegsjahr war in der Kunst oft der
Schock zu spüren. In den ukrainischen Kunst-
museen lässt er sich noch betrachten. Grausam
und brutal sind die Werke, die seit Beginn des
Angriffskriegs die Wände eingenommen haben,
oft dokumentarisch. Ältere Sammlungen muss-
ten Schutz vor den Luftangriffen finden und ste-
hen seither in Kellern und Schutzräumen. Im
Kiewer PinchukArtCentre ließ die Bildhauerin
Zhanna Kadyrowa Asphaltstücke aufhängen, die
Spuren von Raketeneinschlägen tragen. Im Mu-
seum der bildenden Künste in Odessa liegen grob
geschnitzte Holzfiguren in schwarzen Lachen.
In der Ukraine gibt es keine Galeriekultur
wie in Westeuropa
In den ersten Monaten schufen Künstlerinnen
und Künstler, wenn überhaupt, dann für auslän-
dische Beobachter neue Werke. »Die Leute in der
Ukraine wussten, was zur Hölle los war«, sagt der
Videokünstler Yarema Malashchuk. »Es gab keine
Notwendigkeit für Reflexion.« Wir treffen uns an
einem Nachmittag Ende Oktober in seinem
Studio im Zentrum Kiews. Seit 2013 arbeitet er
gemeinsam mit seinem Kindheitsfreund Roman
Khimei an Videoinstallationen, die sich mit der
ukrainischen Gesellschaft beschäftigen. Doch als
der Krieg begann, hatten sie nichts zu sagen. Was
sollte ihre Kunst jetzt schon helfen?
Dann fielen dem Künstlerduo im Frühjahr
2022 die in Deutschland veröffentlichten Briefe
auf, die zu Friedensverhandlungen aufforderten.
Malashchuk und Khimei waren erstaunt, sie ärger-
ten sich über die Sätze Intellektueller, in denen
von »Opfern auf beiden Seiten« die Rede war,
vom Leid, das beendet werden müsse. Sie legten
sich in den Waldlandschaften der Karpaten in
den Posen toter russischer Soldaten auf den
Boden und filmten sich dabei. »Wir wollten uns
über die deutsche Romantisierung Russlands und
toter russischer Soldaten lustig machen«, sagt
Malashchuk. Den Film nannten sie, angelehnt an
Caspar David Friedrich, The Wanderer. Er weicht
ab von dem, was das Künstlerduo bis zu Beginn
der Invasion geschaffen hatte.
»Zuvor beschäftigten wir uns mit dem Zu-
sammenhang zwischen einem Individuum und
einer Gruppe und allen Zuständen, die dazwi-
55
Aufführung
des Filmes
»So they
won’t say we
don’t
remember«
(2021)
von Yarema
Malashchuk
in der Region
Donezk
Die
Installation
»Borschtsch
für die
Streitkräfte
der Ukraine«
(2023) von
Volodymyr
Kuznetsov
schenliegen«, sagt Malashchuk. Der ausschlag-
gebende Moment sei für ihn gewesen, als er 2013
Arm in Arm mit einem alten Mann vom Dorf,
mit dem er ansonsten scheinbar wenig gemeinsam
hatte, auf dem Maidan gegen die korrupte Re-
gierung demonstriert habe. Malashchuk und
Khimei fuhren in den Osten des Landes, unter-
suchten die Bergbaugesellschaften und deren Ge-
schichte, beschäftigten sich damit, dass vieles in
der Ukraine immer wieder auf den zentralen
Knotenpunkt Kiew zulief, obwohl das Land so
groß und divers ist.
In der Ukraine gibt es keine Galeriekultur wie
in Westeuropa. Man schafft Kunst nicht, um sie
zu verkaufen, nicht, um ein Ergebnis zu erhalten,
sondern einen Prozess. Viele der Arbeiten aus
den Jahren vor der Invasion waren verbunden
mit der Rave-Kultur, neuen Gruppen und Sub-
kulturen, die sich unter dem Druck von Revolu-
tionen und einem eingefrorenen Krieg formten.
Es ging um Kiew als das neue Berlin.
Die Altbauwohnung von Yarema Malash-
chuk ist kalt, er trägt Mütze und Jacke. Er zeigt
Ausschnitte aus einem Kurzfilm, der erklären
soll, woran er bis zum Kriegsbeginn arbeitete.
Khimei und er produzierten den Film Dedicated
to the Youth of the World II im Jahr 2019. Es ist,
sagt Malashchuk, ihr bislang erfolgreichstes
Werk.
Der Film dokumentiert »Schema«, eine jähr-
lich stattfindende Party, die Kreative in der ukrai-
nischen Hauptstadt zusammenbrachte und zu
einem Ausgangspunkt und Symbol für eine neue
Rave-Kultur im Land wurde. Auf den Aufnahmen
tanzen Menschenmassen in goldenem Licht, es
könnte auch ein Kinofilm sein. Gegen Ende rau-
chen die Feiernden die letzten Zigaretten, bevor
sie nach Hause gehen. Ihre Gesichter wirken
erschöpft und bleich.
Dann öffnet Malashchuk einen zweiten Clip,
er trägt den Namen Dedicated to the Youth of the
World III. Auf den ersten Blick wirken die
Aufnahmen wie jene aus dem Jahr 2019. Die
Gruppe der tanzenden Menschen ist kleiner. Der
Film ist grobkörnig. Was eigentlich ein techni-
scher Fehler ist, wirkt gewollt. Diese Aufnahmen
stammen vom September 2023. Sie zeigen Men-
schen, die eineinhalb Jahre nach Invasionsbeginn
auf der »Schema« tanzen. Wer beide Filme sieht
und den Kontext kennt, fragt sich, ähnlich wie
bei Anna Potjomkinas Tanzvideo: Sieht man den
tanzenden Menschen den Krieg an? Sieht man,
dass Tanz nicht gleich Tanz ist?
!www.zeit.de/vorgelesen
 56 FEUILLETON 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

S
eit einer Weile und endgültig seit den
Pogromen der Hamas gegen die israeli-
sche Bevölkerung frage ich mich: Wozu
(noch) Literatur? Was vermag die Kunst
der Worte, wenn die Welt von einem
Fieber nach dem anderen geschüttelt
wird und Menschen immer häufiger
Scharlatanen zulaufen, die außer Irrationalität, Autori-
tarismus, Ressentiment und Gewalt nichts anzubieten
haben? Wozu Lyrik, Drama, Prosa, wenn die Feinde der
freiheitlichen Welt die Waffen aus den Arsenalen holen
und mit größter Brutalität einsetzen? Welche ihrer vie-
len Stimmen soll die Literatur erheben, wenn Waffen,
nein: nicht sprechen, sondern töten und zerstören,
wenn die Hoffnung, Freiheit lasse sich allein mit Wor-
ten verteidigen, ins Reich der Träumerei gehört?
In Zeiten der Erschütterung empfiehlt es sich, einige
Schritte zurückzutreten. Also denke ich an mich als jun-
ge Leserin und erkenne, dass Bücher mir zuallererst
Fluchthelfer aus der Wirklichkeit waren. Brennstoff, um
meine Fantasie zu befeuern. Wenn meine Eltern mir aus
Hermann Altenburgers Ein Krokodil verlässt den Nil vor-
lasen, wurde ich zu jenem kleinen, grünen Krokodil, das
seinen Großeltern davonläuft, um Abenteuer zu erleben:
selige Kinderzeit, in der Fantasie und Wirklichkeit noch
nicht in zwei Sphären zerfallen sind. Als ich süchtig wur-
de nach Pippi Langstrumpf, konnte ich es kaum erwarten,
endlich lesen zu lernen, um mit meinen besten Freunden,
den Büchern, allein zu sein.
Mit der Pubertät erwachte meine Liebe zum franzö-
sischen Existenzialismus, zu Jean-Paul Sartre und Albert
Camus, später auch zu Samuel Beckett. Ich inhalierte die
Sätze dieser Autoren wie andere ihren Joint: »L’enfer, c’est
les autres.« – »Die Hölle, das sind die anderen.« Oder
Camus’ Wendung von der »tendre indifférence du monde«,
von der »zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt«, bei der
sein mordender »Fremder«, kurz bevor er hingerichtet
wird, doch noch transzendentales Obdach zu finden
hofft. Wenn ich meine alte zweisprachige Ausgabe von
Flötentöne aufschlage, amüsiert mich die Mädchenschrift,
in der meine Versuche notiert sind, aus Becketts tänzeri-
schem, hyperpräzisem und deshalb kaum zu übersetzen-
dem Vierzeiler »en face / le pire / jusqu’à ce / qu’il fasse rire«
ein deutsches Reimgedicht zu machen. (Den Vorschlag
Karl Krolows »bis zum äußersten gehn / dann wird lachen
entstehn« muss, wenn ich die Bleistiftstriche richtig
deute, mein früheres Selbst vehement abgelehnt haben.
Ob der formal konsequenteste meiner »Jugend übersetzt«-
Versuche: »über / schmerzen / lieber / scherzen«, tatsäch-
lich besser ist, mag offenbleiben.)
rettenden Chirurgen, ja, ich fürchte, noch nicht mal zum
gemütsstabilisierenden Psychotherapeuten. Er ähnelt eher
dem Palliativarzt, der weiß, dass sein Patient verloren ist
und gerade deshalb, um seine Würde zu wahren, Zu-
wendung, Ablenkung und lindernde Mittel braucht.
Weit komplizierter ist das Verhältnis der Literatur zum
malum morale, zum Übel des Bösen – und damit bin ich
in der unmittelbaren Gegenwart angelangt. So offensicht-
lich es ist, dass die Literatur nichts beizutragen hat zur
realen Bekämpfung physischer Leiden oder gar des Todes
und also ihre Humanität darin besteht, auch und gerade
im technologiebesessenen 21. Jahrhundert die Anwältin
des Memento mori zu bleiben, so unklar ist, wie die Li-
teratur zum Bösen beziehungsweise zur Bekämpfung des
Bösen steht – stehen soll. Wenn es weder Gott noch die
Natur, sondern die Menschen selbst sind, die das Böse in
die Welt bringen, sollte die Menschenkunst der Worte
dann nicht imstande sein, etwas gegen das Böse auszurich-
ten? Soll die Literatur sich auch auf diesem Feld damit
begnügen, das malum zu beklagen oder diesem mit Stoi-
zismus, Spott und ironischem Witz zu begegnen? Soll der
Literat nicht vielmehr die Feder spitzen, die Tasten
klackern lassen und den Kampf gegen das Böse entschie-
den aufnehmen?
Mit dieser Frage sind wir mitten in jenem Streit, der
die Brüder Heinrich und Thomas Mann vor etwas mehr
als hundert Jahren für eine Weile bitter entzweit hat.
Heinrich plädierte rigoros für eine Literatur, in der sich
der »Widerspruch gegen die herrschende Welt«, konkret
gegen den deutschen Nationalismus und Militarismus,
widerspiegelte oder die zumindest ihr Mitleiden mit den
Opfern dieser Welt ausdrückte. Für grundverwerflich hielt
er jegliche vermeintlich unpolitische, ästhetizistische
»Schönseligkeit«, vor allem dann, wenn sie in Verbund
mit der Feier des Irrationalen auftrat – also jene welt- und
literaturanschauliche Haltung, die sein Bruder Thomas
während des Ersten Weltkriegs nicht minder rigoros ver-
trat. Dieser hatte sich in seinen Betrachtungen eines
Unpolitischen in der Tat nicht lumpen lassen und dort
den »Zivilisationsliteraten«, den »Wahrheitsphilister« mit
seiner »Glücks-Philanthropie« wortreich beschimpft.
Thomas Mann bestand darauf, dass der Künstler kein
Politiker sei, das heißt kein »Pedant«, kein »Prinzipieller«,
kein »Gefestigter«, kein »Tugendhafter [...], der jeder
geistigen Vagabondage valet gesagt hat, der nicht nach
rechts noch links blickt, sondern unverwandt den Weg,
den schmalen Weg der Tugend und des Fortschritts im
Auge behält«. Vielmehr solle der Künstler »bis zum letz-
ten Hauch ein Abenteurer des Gefühls und des Geistes«
bleiben, »zur Abwegigkeit und zum Abgrunde geneigt,

L
iteratur war für mich also vieles, bloß nicht
»engagiert«. Keine Weltverbesserungslyrik
oder Erziehungsprosa. Brechts Lehrstücke
waren mir ein Graus. Aber auch bei Lessing
und seinem Nathan der Weise winkte die
Schülerin des Frankfurter Lessing-Gymnasiums gäh-
nend ab. Die magische Kraft von Literatur lag für
mich darin, dass sie der Welt den Rücken kehrt, um
mich in ihrem eigentümlichen Nebenreich lebendigere,
wildere, intensivere Erfahrungen machen zu lassen, als
der beschränkte Alltag sie hergab.
Am Existenzialismus faszinierte mich in den 1980er-
Jahren weniger, dass er ein Humanismus sei, wie Sartre
meinte. Es war meine pubertär-pessimistische Grund-
stimmung, die Welt als Hölle und Zumutung zu betrach-
dem Gefährlich-Schädlichen offen«.
Dem besonnenen und letztlich eben doch bürgerlich
gemäßigten Thomas gelang es, sich aus dem brodelnden
Sumpf, in den er sich mit seinem, wie er selbst es nennt,
»Gedankendienst mit der Waffe« hineingeschrieben
hatte, selbst wieder herauszuziehen. Nach der deutschen
Niederlage und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs
kehrte er als Schriftsteller, als Künstler, zur abgebrochenen
Arbeit an seinem Roman Der Zauberberg zurück. Dort
machte er sich daran, jeglichen »Gedankendienst mit der
Waffe« ironisch zu unterlaufen. Seinen durch Leben wie
Weltanschauungen schlingernden Helden Hans Castorp
lässt er mutmaßen, dass »zwischen rednerischem Huma-
nismus und analphabetischer Barbarei das gelegen sein
müsse, was man als das Menschliche oder Humane ver-
söhnlich ansprechen durfte«.

ten, die in den Texten des Ekels, der flirrenden Kälte und
der Umarmung des Sinnlosen Heimat, ja: Trost fand.
Um der Redlichkeit willen muss ich mir eine unbe-
queme Frage stellen: Handelt es sich bei dieser frühen
literarischen Prägung um ein Zeichen von Wohlstands-
verwahrlosung? Literatur als Weltschmerztränke, Welt-
fluchthelferin für eine, deren behütete westdeutsche
Foto: Matteo Placucci
A
ls public intellectual wiederum schlug
Thomas Mann sich ebenso eindeutig wie
mutig – wenn letztlich auch erfolglos –
auf die Seite von Menschenrechten und
Demokratie, Vernunft und Zivilität. Der
ironische Ästhet, der seine Literatur weiterhin ein Bio-

Matteo Placucci fotografierte
diese Handgranaten im
ukrainischen Nowoworonzowka
Mittelschichtswelt, von außen betrachtet, wenig Anlass
für Schmerz und Fluchtimpulse bot?
Ganz so streng muss ich nicht sein, hoffe ich. Zwar
war ich in den 1990ern eine begeisterte Leserin von Bret
Easton Ellis, bewunderte die Gnadenlosigkeit, mit der
dieser Autor erzählt, wie unter den auf Hochglanz polier-
ten Oberflächen jenes zumindest für die westliche Welt
so leichtsinnig-leichtfüßigen Jahrzehnts im günstigsten
Fall das große Nichts schlummert, im schlimmsten Fall
ein elaborierter Sadismus seine Ekstasen feiert.
Die Werke des französischen Existenzialismus, in
top für in jeder Hinsicht ungefestigte »Sorgenkinder
des Lebens« sein ließ, war sich nicht zu fein, im realen,
verzweifelten Kampf um die Weimarer Republik als
einer jener »überartikulierten Erzieher« aufzutreten,
deren tendenziell tragische Lächerlichkeit er im Zau-
berberg entlarvt hatte.
Übrigens: Auch die französischen Existenzialisten, aus
deren literarischen Werken einem durchaus auch Nihi-
lismus entgegenweht, waren mitnichten Nihilisten, als es
um den Faschismus ging: Die Autoren von Der Fremde,
Der Ekel und Endspiel waren allesamt im französischen

Wie engagiert
denen ich mich so beheimatet gefühlt habe, scheinen mir
jedoch mitnichten dem Ennui entsprungen. In ihnen
spiegelt sich die fundamentale Menschheitsverzweiflung
von Zeitgenossen, die zwei Weltkriege erleben mussten.
Vor Glaubenssätzen, was Literatur zu sein habe, sollte
man sich hüten. Dennoch will eine Mutmaßung, zu-
mindest als Frage, hinaus: Ist nicht alle Literatur, die
diesen Namen verdient, aus Schmerz geboren? Ob aus
Widerstand gegen die deutschen Besatzer.
Auf der Höhe dieser Ambivalenz sollten auch wir uns
heute bewegen. Wieder einmal scheint das malum morale
die Welt von verschiedensten Seiten gleichzeitig befallen
zu haben. Selbst der versponnenste oder ironisch ab-
gebrühteste Literat möge erkennen, dass es Zeit ist, so
klar und leidenschaftlich für Menschenrechte und De-
mokratie, für Vernunft und Zivilität Partei zu ergreifen

muss Literatur
dem Schmerz nun Texte verrückt überbordender Lebens-
lust – wie im Falle Pippi Langstrumpf – oder Werke der
Kälte, Distanz und Ironie geboren werden wie im Falle
der Existenzialisten, ist mir und ist wohl auch in einem
tieferen Sinne egal.
Wichtig hingegen scheint mir die Frage, aus welchem
Schmerz heraus Literatur geboren wird. Ich möchte eine
wie Thomas Mann und die Existenzialisten im vergan-
genen Jahrhundert.
Dies bedeutet aber nicht, dass wir die Literatur selbst
moralisch aufladen sollten. Der Kampf um Menschlichkeit,
um das Humane muss in der gesellschaftlichen Welt aus-
getragen werden. Irrationalität, Ressentiment und Hass
lassen sich nicht mit »Sensitivity-Lektoraten« bekämpfen.

heute sein?
Vermutung wagen: Werke, die das Zeug zum Klassiker
haben, dürften dem Schmerz über das malum metaphy-
sicum, über die Endlich- und damit letztlich Nichtigkeit
alles Irdischen entspringen. »Man geht und weint, weil
man geboren ist«, heißt es in der Oper Palestrina von
Hans Pfitzner lapidar.
Einem so großen Dichter wie Andreas Gryphius ist
es gelungen, das Weinen über das malum metaphysi-
cum mit dem Weinen über das malum physicum, über
die Übel in der Welt engzuführen.
Angesichts von Terror und Krieg sollten Lyrik, Prosa, »Was sind wir Menschen doch? ein Wohnhauß grim-
mer Schmertzen
Drama besonders politisch sein, fordern manche. Für mich waren Ein Ball des falschen Glücks / ein Irrlicht diser Zeit.
Bücher immer Weltfluchthelfer – und werden es bleiben Ein Schauplatz herber Angst / besetzt mit scharffem
Leid /
VON THEA DORN Ein bald verschmeltzter Schnee und abgebrannte
Kertzen.«
Anders als der Technologe und der Sozialingenieur
weiß der Schriftsteller, auch der der Gegenwart, dass allen
fabelhaften Therapiemöglichkeiten und Gerechtigkeits-
bemühungen der Spätmoderne zum Trotz dem malum
physicum letztlich ebenso wenig beizukommen ist wie
dem malum metaphysicum. Die Welt ist nicht zu retten,
und gerade deshalb braucht sie die Literatur. Medizinisch
ausgedrückt: Der Schriftsteller taugt nicht zum lebens-
Nichts wird real besser, wenn wir heute als beleidigend
empfundene Wörter aus Werken der Vergangenheit tilgen
oder in Romanen der Gegenwart Professoren vergangener
Zeiten vorsichtshalber von »Studierenden« reden lassen.
Bisweilen drängt sich mir der Verdacht auf, dass es Ausdruck
objektiver Verzagtheit, ja hilfloses Symbolhandeln ist, wenn
angesichts einer bedrohlicher und roher gewordenen Welt
mit Eifer daran gearbeitet wird, wenigstens die Künste zum
sensibilitätsgerechten »safe space« umzubauen.
Geben wir der Sphäre des Politischen, was des Politi-
schen ist, und lassen wir dem eigentümlichen Nebenreich
der Literatur, was der Literatur ist. Streiten wir für eine
bessere, friedlichere, zivilere Welt, und bewahren wir uns
die Literatur als einen Raum, in dem die Trauer, der Zorn
und das Gelächter über die Unrettbarkeit der Welt ihren
Platz haben. Niemand sagt, dass dies einfach ist. Immer
wieder wird es zu Kollisionen kommen zwischen dem
Homo politicus und dem Homo poeticus, nicht zuletzt
in jedem von uns selbst. Aber wenigstens wir Literatur-
menschen sollten in finsteren Zeiten den Verlockungen
der Vereinfachung widerstehen.
Dieser Beitrag basiert auf der Dankesrede
zum Julius-Campe-Preis, der Thea Dorn
vor Kurzem verliehen wurde
DIE ZEIT N o 46 2. November 2023
Die Legende von Paul und Siri
Der Schriftsteller Paul Auster ist an Krebs erkrankt. Nun hat er einen Roman geschrieben,
in dem der Tod ein unzertrennliches Paar trennt VON VOLKER WEIDERMANN
V
or fast einem Jahr ist sie mit
ihm in dieses furchteinflößende,
fremde Land gezogen, das sie in
ihren Instagram-Posts Cancer-
land nennt, »Krebsland«, Land
der Krankheit, aus dem man zu-
rückkehrt, eines Tages, gesund,
verändert, geheilt, als »ganz der Alte« oder als
»neuer Mensch« – oder in dem man verschwindet
für immer.
Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hust-
vedt hat die Krebserkrankung ihres Mannes, des
Schriftstellers Paul Auster, öffentlich gemacht. Sie
möchte, dass die Welt weiß, wie es um ihren Mann
steht. Aber auch, wie es um sie beide steht, jetzt,
wo das gemeinsame Leben zu Ende gehen könnte.
Denn die beiden sind seit Langem das vielleicht
berühmteste öffentliche Intellektuellenpaar der
Welt. Hustvedt/Auster, so eigenständig ihre Werke,
so selbstbewusst ihre jeweils eigenen öffentlichen
Auftritte sind – sie sind ein Team. Man spricht
nie lange über einen von beiden, ohne den ande-
ren, die andere zu erwähnen. Sie sind eins und
doppelt zugleich, wie es Goethe einst in seinem
Ginkgo-Gedicht beschrieb.
In Baumgartner, seinem neuen, kurzen Roman,
der in der kommenden Woche erscheint, spielt Paul
Auster das Thema der symbiotischen Liebe nach dem
Tod eines der Liebenden traumhaft und träumerisch
und traurig ein vielleicht letztes Mal literarisch durch.
Wir kommen später darauf zu sprechen. Zunächst
begeben wir uns in die Geschichte dieser öffentlichen
Paarschaft, um beinahe vierzig Jahre zurück.
Klar, dass es vor allem für Siri Hustvedt von Be-
ginn ihres Schreibens und öffentlichen Wirkens an
ungleich schwerer gewesen ist, auf die Eigenständig-
keit ihres Werkes hinzuweisen. Paul Auster war mit
seinem ersten Roman Stadt aus Glas seit 1985 ein
internationaler Erfolgsautor. Und er hatte darin seine
Frau, in der für ihn typischen Art des Spiegelkabi-
netts, voller Stolz seiner Leserschaft präsentiert: als
der unglückliche Detektiv Quinn, der unter dem
Namen Paul Auster einen unlösbaren Fall übernom-
men hat, dem womöglich wahren Paul Auster und
dessen Frau begegnet. Und als dann Quinn, der schon
beinahe wirklich zu Paul Auster geworden wäre (es
ist Literatur, es ist möglich!), entsetzt vor so viel Glück
und Herrlichkeit aus diesem Auster-Leben flieht. Siri
heißt die Frau im Roman, hat norwegische Wurzeln
– alles wie in der Wirklichkeit –, und Quinn ist
schockverliebt: »Sie war eine große, schlanke Blon-
dine, strahlend schön, von einer Energie und einem
Glück, die alles um sie her unsichtbar zu machen
schienen. Es war zu viel für Quinn.«
FEUILLETON 57
Foto: Jesper Damsgaard Lund (New York, März 2022)
Siri Hustvedt und Paul Auster leben seit
42 Jahren zusammen
Für das weitere öffentliche Leben Siri Hustvedts ßig Jahre sind eine lange Zeit und eine Ehe bekommt seinem Gang in die Tiefen der Erinnerung, einer Er-
hätte es sicher geholfen, wenn Paul Auster ihrer li- etwas Eingefleischtes, beinahe Inzestuöses, mit einer innerung auch an die Familiengeschichte Paul Aus-
terarischen Wiedergängerin, als er sie der lesenden komplexen Rhythmik von Gefühlen, Gesprächen ters, die bis in die Ukraine zurückreicht, wo Austers
Welt vorstellte, neben Schönheit, Energie und Glück und Assoziationen. Es war so weit gekommen, dass Großvater auf die Welt kam. Zugleich verliert Sy
auch noch Intellekt mitgegeben hätte. So musste Siri wir in unseren Köpfen gleichzeitig dasselbe dachten, langsam sein Kurzzeitgedächtnis, beginnende De-
Hustvedt vom Beginn ihres Schreibens an um die wenn wir bei einer Dinnerparty eine Geschichte oder menz, »der erste Schritt auf dem langen Weg bergab
Wahrnehmung als eigenständig denkende und schrei- Anekdote hörten; es ging nur noch darum, wer von ans Ende der Welt«, heißt es im Roman.
bende Autorin kämpfen. Als sie mit ihrem ersten uns den Gedanken zuerst laut aussprechen würde. Sy schreibt Briefe an seine tote Frau mit obszönen
Roman Die unsichtbare Frau 1993 in Deutschland Auch unsere Erinnerungen hatten sich allmählich Witzen, die sie sich, in seiner Erinnerung, gern er-
auf Lesereise ging, begegnete sie immer wieder Jour- vermischt.« Boris, der so viele Züge Paul Austers trägt, zählten, schickt sie ab und holt sie am nächsten Tag
nalisten, die ihr ins Gesicht sagten: »Ich glaube, Ihr hat diese Verdopplung schon einmal weitergedacht: freudig aus dem Briefkasten. Ob er sich dann an den
Mann hat es geschrieben.« Oder: »Jeder weiß, dass »Wenn wir noch hundert Jahre zusammenlebten, Witzen schon wieder erfreut, wissen wir nicht. Ein-
Sie Psychoanalyse von Paul Auster gelernt haben.« würden wir ein und dieselbe Person werden.« mal sitzt er an ihrem Schreibtisch, ein rotes Telefon
Das zieht sich durch ihr ganzes Leben. Noch im Jahr Und jetzt hat Paul Auster Baumgartner geschrie- steht da, längst abgemeldet, natürlich. Aber es klin-
2017 wurde Siri Hustvedt in Chile von einem Jour- ben, einen Roman, in dem einer von beiden zurück- gelt. Ja, Anna ist dran, wer sonst. Sie ruft von drüben
nalisten gefragt: »Die Kenntnisse in Neurowissen- bleibt. Es ist die Geschichte von Sy und Anna, er ein an, jenseits unserer Welt, »sie spricht zu ihm mit
schaft haben Sie von Ihrem Ehemann?« emeritierter Phänomenologe aus Princeton, derselben volltönenden Stimme, die sie im Leben
Hustvedt kontert in ihrer Erinnerung sie Übersetzerin und Dichterin. Anna ist hatte, sagt Liebling zu ihm und mein geliebter
kühl: »Mr. Auster hat noch nie im Leben vor zehn Jahren gestorben, verschluckt vom Mann«, sie erzählt, wie es dort ist, wo sie jetzt lebt.
einen neurowissenschaftlichen Artikel ge- Meer, von einer Monsterwelle vor Cape Und was ihn dort erwartet. »Baumgartner sagt nichts.
lesen.« Cod. Er war am Strand zurückgeblieben, Er möchte reden, möchte ihr hundert Dinge sagen
Auch in ihren literarischen Werken hat eher so der ängstliche Typ, hatte sie noch und hundert Fragen stellen, aber er scheint nicht die
Siri Hustvedt das Gleichgewicht in der gewarnt vor diesem letzten Gang ins Meer. Kraft zu haben, den Mund aufzumachen und zu
Schreib-Ehe zurechtgerückt. In ihrem ge- Aber sie hatte gelacht und hatte sich von sprechen. Egal, sagt er sich. Der Anruf kann jeden
nialen Roman Der Sommer ohne Männer ihm nichts sagen lassen. Natürlich nicht, Augenblick abbrechen, wozu also reden, wenn er
(2011) lässt sie aus dem Werk von Boris, nie hatte sie sich von ihm etwas sagen lassen, doch nur weiter Annas Stimme hören will, bis die
dem untreuen Ehemann der Erzählerin, die sie war ein ganz und gar eigenständiger Zeit abgelaufen ist und sie wieder in der Dunkelheit
intellektuelle Luft entweichen: Dessen Paul Auster: Mensch. verschwindet?«
Kunst, sein Werk »mit Zitaten des leuch- Baumgartner. Eigenständig, das hieß auch: Sie hat Mithilfe des Schreibens etwas wahr zu machen,
tenden Merleau-Ponty und des dunkleren A. d. Engl. sich nicht von ihm getrennt, sie ist in was zuvor nicht sichtbar wahr gewesen ist, etwas
Edmund Husserl zu bereichern«, wurde v. W. Schmitz; dieser Ehe geblieben. Das war das Ge- scheinbar Unwahrscheinliches mithilfe seiner Erfin-
»freundlicherweise zur Verfügung gestellt Rowohlt Verlag, heimnis ihrer langen Dauer, weiß Sy. dungs-, seiner Schreibkraft so plausibel zu machen,
von SEINER FRAU, die ihn Schritt für Hamburg 2023; Aber er hält den Schmerz nicht aus. Er ist dass es für uns alle wahr wird: Das ist die Paul-Auster-
Schritt durch die Philosophie führte, wenn 208 S., 22,– €, jetzt ein halbierter Mensch, ein Stumpf, Kunst von Anfang an gewesen. Indem er es auf-
nötig bis zu Hegel, Kant und Hume«. als E-Book ein Überbleibsel. Am Anfang wie schreibt, gewinnt es einen Wahrheitswert. Baumgart-
Wer die beiden je bei einem ihrer ge- 19,99 € betäubt, lebt er weiter mit ihr, als wäre ner ist ein sehr tröstliches Buch. Für die, die dableiben,
meinsamen öffentlichen Auftritte gese- nichts geschehen. Redet mit ihr, macht und für die, die gehen müssen. Paul Auster ist jetzt 76
hen hat, wird nicht einen Moment zwei- seine alten Witze, hört ihr Lachen, auch Jahre alt. Siri Hustvedt ist 68, und sie schreibt in ihrem
feln, wer die intellektuelle Wortführerin in dieser die Gespräche kann er eine ganze Weile mit ihr Instagram-Post: »Ich habe zweiundvierzig dieser
Paarschaft ist. Wann immer das Gespräch auf weiterführen, als führte er noch dieses Leben zu Jahre mit ihm gelebt.« Über Baumgartner schreibt sie:
Neurowissenschaft, Genetik, Philosophie kommt zweit. »Anna, hör dir das an, sagte er auf dem Weg »Es ist ein zartes, wundersames kleines Buch.«
und der Interviewer erwartungsvoll seinen Blick ins Wohnzimmer. Du wirst dir vor Lachen in die Siri Hustvedt hat dort auch geschrieben, wie
auf Auster richtet, winkt er lachend ab: »Ihr The- Hose machen. Sie muss im Wohnzimmer sein, gut es sei, zu zweit nach Cancerland zu gehen. »Mit
ma, nicht meins.« Und staunend sieht man ihn in dachte er, denn die Schreibmaschine ist stumm.« jemandem zu leben, der Krebs hat und mit Che-
einem tiefen Ledersessel in der legendären New Das fehlt ihm besonders: das Klappern. Manch- motherapie bombardiert wird, ist ein Abenteuer
Yorker Buchhandlung »The Strand« seine Frau mal setzt er sich selbst an ihren Schreibtisch und von Nähe und Trennung. Man muss nah genug
neben ihm interviewen, fast ehrfurchtsvoll. Auster klappert. Schreibt für sie, schreibt für sich. Er ent- sein, um die nervtötenden Behandlungen fast so
liest die ziemlich konventionellen Fragen von ei- deckt ein frühes, unveröffentlichtes, langes Gedicht zu spüren, als wären sie die eigenen, und weit ge-
nem Zettel ab. Er simuliert die Rolle des Inter- von ihr, beschließt, es endlich herauszugeben, findet nug weg, um eine echte Hilfe zu sein. Zu viel Em-
viewers etwas unbeholfen. Wie soll das auch gehen so viele Spuren gelebten Lebens darin, verliert sich pathie kann einen Menschen nutzlos machen! Auf
– nach all den gemeinsamen Jahrzehnten. Es ist ja immer tiefer in der Vergangenheit. Paul Auster ist in diesem Drahtseil zu laufen ist nicht immer leicht.
fast, als würde man sich selbst interviewen. diesem Buch noch einmal dieser traumsichere Wand- Aber es ist der wahre Wert der Liebe.«
Siri Hustvedt hat das unglaublich schön in dem ler zwischen den Gewissheiten und Ungewissheiten
Roman Der Sommer ohne Männer beschrieben: »Drei- des Lebens. Wir begleiten diesen Sy Baumgartner in !www.zeit.de/vorgelesen
58 FEUILLETON 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

Der blinde Fleck

W
ie viele andere Kulturbereiche
richtete sich auch die deut-
sche Filmbranche lange Zeit
in der Vorstellung eines Bru-
feiert 100. Geburtstag – doch die Nazi-Verstrickungen seiner Funktionäre
ches nach 1945 ein – was sich
nach und nach als Wunschdenken erweist. Der
bekannteste Fall der Kinowelt betrifft den ers-
ten Berlinale-Leiter und vormaligen SA-Mann
Alfred Bauer (ZEIT 6/2020). Auch dem Grün-
dungsintendanten des ZDF, Karl Holzamer,
und dem langjährigen ARD-Programmdirektor
Hans Abich (ZEIT 46/2021) wurden natio-
nalsozialistische Verstrickungen nachgewiesen
oder noch entscheidender: deren Vertuschung.
Weitere Beispiele gibt es in der Filmwirtschaft.
Bei einem Festakt am 15. November in
Berlin wird nun die größte und einflussreichste
Organisation der deutschen Kinobranche ihr
hundertjähriges Jubiläum feiern: die Spitzen-
organisation der Filmwirtschaft, kurz Spio. In
den Medien präsent ist sie alljährlich als Aus-
richterin des Deutschen Filmballs, bei dem
sich der bayerische Ministerpräsident Markus
Söder mit der hiesigen Filmprominenz auf
dem roten Teppich vor dem Münchner Luxus-
hotel Bayerischer Hof ablichten lässt. 17 Be-
rufsverbände aus verschiedenen Filmgewerken,
insgesamt 14.000 Firmen, versammeln sich
der deutschen
Kinowelt
ten Weltkriegs war auch er in besetzten Gebie-
Die Spio, der größte und einflussreichste Verband des deutschen Films, ten tätig: Nur 45 Kilometer von Auschwitz ent-
fernt betrieb er ab 1941 ein Betonwerk bei Za-
wiercie. Vermutlich über diese Tätigkeiten kam
und Ehrenpreisträger wurden bisher nicht aufgearbeitet er an eine zentrale Position: Abteilungsleiter für
Bedarfsdeckung im Rüstungslieferungsamt des
VON VALENTIN HERLETH Reichsministeriums für Rüstung und Kriegs-
produktion. Damit war er mitverantwortlich
für einen Teil der vom Rüstungsministerium
aufgeführten sieben Millionen Zwangsarbeite-
rinnen und Zwangsarbeiter.
Laut einer Akte im Bundesarchiv schreibt
der »Sicherheitsdienst des Reichsführers SS«
am 21. Januar 1942 in einem Bericht über
Grüter: »In seiner fachlichen Eigenschaft wird
er als verschlagen, durchtrieben und gerissen
bezeichnet und von ihm gesagt, er meistere die
schwierigsten Fälle und gehe über Leichen.« In
einem »Personal- und Befähigungsnachweis«
von 1938 lobt ihn der Landesgerichtspräsident
von Liegnitz: »Er ist ein alter Kämpfer der Be-
wegung und steht fest hinter der Regierung der
nationalen Erhebung.«
Die seit 1961 verliehene Ehrenmedaille der
Spio wurde höchstwahrscheinlich von Ernst
Erich Strassl miterfunden. Von 1960 bis 1966
war er zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit
des Verbandes – und zuvor in den Fünfziger-

Foto: Dänische Königliche Bibliothek Kopenhagen

unter dem Dach der Spio, sie ist eine Art Über-
Institution des deutschen Kinos. Als Inte-
ressenvertretung und Lobbyorganisation der
Branche äußert sie sich zu juristischen, wirt-
schaftlichen und filmpolitischen Fragen, zu
Gesetzesvorhaben. Sie ist Gründerin und Trä-
gerin der filmwirtschaftlichen Selbstkontrolle,
zuständig unter anderem für die Altersfreiga-
ben der Filme (FSK). Ihre Vertreter sitzen in
Räten und Kuratorien von filmkulturellen In-
stitutionen, etwa im Deutschen Filmmuseum
in Frankfurt am Main oder bei der Murnau-
Stiftung – die einen großen Teil der vor 1945
entstandenen deutschen Filme verwaltet.
Seit seiner Neugründung 1950 in Wiesbaden
versteht sich der seit 1923 existierende Verband
als demokratische Vertretung der deutschen
Filmwirtschaft. Bekannt ist die Rolle der Spio
bei der Gründung der Reichsfilmkammer – der
zentralen Nazi-Organisation für die Gleich-
schaltung der Filmindustrie. Doch wie steht es
um die persönlichen Verstrickungen der Funk-
tionäre und Ehrenpreisträger während der NS-
Zeit? Geforscht wurde dazu bisher kaum.
Noch 2002 verlieh man die Ehrenmedaille
der Spio an die von Hitler geschätzte Regisseurin
Leni Riefenstahl. Begründung des damaligen
Spio-Präsidenten Steffen Kuchenreuther: »Jen-
seits aller politischen Problematik hat die Regis-
seurin Leni Riefenstahl vor allem mit ihren Do-
kumentarfilmen Triumph des Willens und Olym-
pia Filmgeschichte geschrieben.« Der Gang ins
Bundesarchiv zeigt: Es gibt mindestens drei Fälle
von Spio-Funktionären mit NS-Vergangenheit.
Zwei von ihnen stehen auf der Liste der Ehren-
medaillen auf der Website des Verbandes.
Da wäre zum Beispiel Horst von Hartlieb.
1988 wurde ihm auch das große Bundes-
1961 bekommt die Schauspielerin Asta Nielsen die Ehrenmedaille
der Spio verliehen – von Ernst Erich Strassl, der 1949
wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden war
verdienstkreuz verliehen. Als Jurist war er an nenlager in Ägypten wurde er 1947 entlassen und
der Gründung der Freiwilligen Selbstkontrolle arbeitete schon im April 1948 wieder in der deut-
beteiligt. Immer wieder war er Ansprechpart- schen Filmwirtschaft.
ner der Politik für Filmrechtsfragen sowie Au- Wie tief sein demokratisches Engagement
tor des in mehreren Auflagen erschienenen ging, bleibt zu klären. 1957 setzte sich von
Handbuchs des Film-, Fernseh- und Videorechts. Hartlieb als Rechtsanwalt dafür ein, die FSK-
Nicht bekannt ist bisher, wie eng von Hartliebs Altersbeschränkung des während der napoleo-
Biografie mit dem Nationalsozialismus verbunden nischen Kriege spielenden NS-Films Ritt zwi-
war. Ab 1938 arbeitete er bei der Produktions- schen den Fronten (Kameraden) von 16 auf 12
firma Ufa, die seit 1933 Joseph Goebbels’ Propa- Jahre herabzusetzen. Seine Argumentation:
gandamaschine unterstellt war, sowohl in der Der Einzelne müsse, wenn es für die Erhaltung
Produktion als auch in der Rechtsabteilung. Zu- der Gemeinschaft erforderlich sei, persönlich
letzt war er zuständig für den Filmverleih im von Opfer bringen, vor allem wenn er einem Beruf
Deutschland besetzten Belgien. Laut eigenen angehöre, der – wie der Soldatenberuf – aus-
Angaben war er von 1943 bis 1945 Leutnant bei drücklich solche Opfer verlange. Und weiter:
der Wehrmacht. Aus einem britischen Gefange- »Patriotisches Verhalten im Rahmen des ge-
jahren langjähriger Redaktionsleiter der Film-
branchenzeitschrift Der neue Film. Später ar-
beitete er in der Filmabteilung von BASF und
war bis in die Achtzigerjahre als Prüfer bei der
Freiwilligen Selbstkontrolle tätig.
Strassl trat 1933 der NSDAP bei und verfasste
später in Propagandakompanien Texte für Zeitun-
gen wie Wacht am Kanal, Die Wacht im Südosten
oder den Lappland-Kurier. Außerdem hatte er das
Amt des »Kulturdirektors« der Stadt Solingen inne.
Dort nahm er an den Novemberpogromen 1938
teil. Ihm wurde nachgewiesen, bei der Verwüstung
und Brandlegung in einem Haus dabei gewesen
zu sein. Für diese Tat verurteilte ihn das Landge-
richt Wuppertal in der britischen Besatzungszone
1949 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit
zu einem Jahr Gefängnis, wogegen er erfolglos
Revision einlegte. Ein Auszug aus dem Urteil:
»Sein Leugnen in der Hauptverhandlung beweist,
dass er die Verwerflichkeit seines Handelns in
keiner Weise eingesehen und bereut hat.«
Auf eine Anfrage des Autors, ob zu NS-
schichtlichen Preussentums kann weder als fal- Kontinuitäten von Spio-Funktionären bisher
scher Nationalismus oder gar Militarismus cha- recherchiert worden sei, wollte sich der Verband
rakterisiert werden, sondern ist eine durchaus zum jetzigen Zeitpukt nicht äußern.
legitime Verhaltensweise.« Schon jetzt ist klar, dass die großen film-
Auch der Produzent Alexander Grüter steht kulturellen Institutionen – von der Berlinale über
auf der Liste der Spio-Ehrenmedaillen. 1949 den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis zur
gründete er, unter anderem mit dem Unterneh- Spio – in weiten Teilen über sich selbst hinweg-
mer und ehemaligen SS-Mann Rudolf Oetker, geschaut haben. Dieser sich als immer größer
eine Produktionsfirma. Lange gehörte er zum erweisende blinde Fleck ist eine Herausforderung,
Präsidium der Spio, bevor er später zeitweise Prä- nicht nur für die deutsche Filmwissenschaft.
sident bei der Filmförderungsanstalt wurde, der Noch 1993 erzählte Horst von Hartlieb in
bis heute wichtigsten deutschen Förderinstitution. einem Interview stolz, dass ein Sofa aus der
Als gelernter Anwalt trat Grüter 1932 der Reichsfilmkammer nach dem Krieg der Spio in
NSDAP und der SA bei. 1939 übernahm er als Wiesbaden überlassen worden sei. Seitdem sei
Generaldirektor die Grosshartmannsdorfer es restauriert worden und heute »der beliebteste
Kalk- und Zementfabrik. Während des Zwei- Sitzplatz im Raum«.

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Handwerk: geht durch

Hand und Herz
Mathe, Physik oder Deutsch – Schüler:innen verlieren im Schulalltag oft den nachzuholen. Handwerk ist hier Zum Beispiel wird die Lochgröße
Blick für das echte Leben. Das sinnstiftende Handwerk kann das ändern. besonders wichtig, so Pohl: »Wir für den Vogel berechnet und das
wollen unseren Jugendlichen zei- Holz ausgewählt. »Es ist wichtig,
Bau dir die Welt, wie sie dir gefällt. den ganzen Vormittag für ihre gen, dass sie trotz schulischer Miss- das echte Leben an der Schule zu
Das brachte uns bereits Pippi Lang- Klassen geblockt und das Projekt erfolge etwas bewegen können vermitteln«, so Seidel. Mit Aktionen
strumpf bei. Doch wie können wir mit dem Thema Nachhaltigkeit und stolz auf sich sein können.« wie dem DIY-Tag profitieren
unsere Kinder in einer digitalen Welt verknüpft. »Wir haben die Kinder » Wir haben unseren DIY-Tag Hammer und Säge machen also Schüler:innen nicht nur von neuen
für das Handwerk begeistern? Und gefragt, worauf sie am meisten in einer Holzwerkstatt selbstbewusst – und vermitteln handwerklichen Fähigkeiten,
wie zeigen wir ihnen, was mit den » Jugendliche müssen nach Lust haben, was sie bauen wollen«, umgesetzt. Das hat einigen zudem einen Sinn. »Es ist schön zu sondern auch von erhöhtem
eigenen Händen alles bewirkt den letzten Jahren wieder erzählt Seidel. Abstimmungssieger Schüler:innen auch Inspiration sehen, wie die Kinder aus sich her- Selbstbewusstsein. Das praktische
werden kann? Viele Schulen haben das soziale Miteinander waren Nistkästen für Vögel. Auch für den späteren Beruf auskommen und das Ergebnis ihrer Handwerk geht sowohl durch die
hierfür den ersten bundesweiten lernen. Deshalb war das Marleen Pohl von der Volkshoch- geschenkt. Sie konnten sich Arbeit sehen. Denn in der Schule Hand als auch durchs Herz.
DIY-Tag genutzt: Am 20. September Projekt auch sehr wichtig für schule im Landkreis Cham hat er- danach vorstellen, das später
wurde an insgesamt 1.100 Schulen die Gruppenbildung. « folgreich teilgenommen. Sie hilft jeden Tag zu machen. « sehen sie häufig keinen Zweck
mehr«, so Seidel. Durch das Hand-
deutschlandweit gewerkelt. Kata Kata Seidel, Lehrerin an der Unteren jungen Erwachsenen zwischen 15 Marleen Pohl, Lehrerin an der werk kommen belegte Schulfächer
Seidel und ihr Kollege hatten gleich Luisenschule, Oberschule Chemnitz und 25 Jahren, ihren Schulabschluss Volkshochschule im Landkreis Cham auch im echten Leben zum Einsatz.
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www.kunstforum-hermann-stenner.de, Tel. 0521 800660-0,
info@kunstforum-hermann-stenner.de, Obernstraße 48, Bielefeld, Mi-Fr 14-18, Sa,
So, Feiertag 11-18
BONN
Bundeskunsthalle, www.bundeskunsthalle.de
bis 07.01.2024: BUNDESPREIS FÜR KUNSTSTUDIERENDE
bis 28.01.2024: ALLES AUF EINMAL: DIE POSTMODERNE, 1967-1992
LVR-Landes Museum Bonn
Neupräsentation der Sammlung: WELT IM WANDEL.
Das Rheinland vom Mittelalter bis Morgen
www.landesmuseum-bonn.lvr.de, Colmantstr. 14-16, 53115 Bonn, Di - So 11-18 Uhr
BREMEN
Kunsthalle Bremen
bis 18.02.2024: Geburtstagsgäste. Monet bis van Gogh
DARMSTADT
Hessisches Landesmuseum Darmstadt, www.hlmd.de
bis 07.01.2024: Into the Space Age! Visionen & Design
Tel. 06151/3601200, Friedensplatz 1, Di, Do, Fr 10-18, Sa, So, Fei. 10-17, Mi-20 Uhr
DORTMUND
Dortmunder U - Zentrum für Kunst und Kreativität
bis 18.02.2024: Expressionismus hier und jetzt! Die Sammlung Horn zu Gast in
Dortmund
03.11.2023 bis 14.01.2024: Kulturelle Teilhabe und Heterogenität – Tasten und
Sehen im Dialog, Eintritt frei
bis 28.01.2024: Emerging Artists V, Eintritt frei
bis 28.01.2024: Was ist Kunst, IRWIN?, Eintritt frei
bis 29.12.2024: Kunst —> Leben —> Kunst Das Museum Ostwall gestern, heute,
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nie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund, Di, Mi 11-18, Do, Fr 11-20, Sa, So, Feiertag
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ÖSTERREICH
Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim
bis 26.05.2024: Kinderträume. Spielen - Lernen - Leben um 1900
bis 28.07.2024: Rom lebt! Mit dem Handy in die Römerzeit (Kinder & Familien)
bis 04.02.2024: La vie des blocs / ZEPHYR - Raum für Fotografie WIEN
Dauerausstellung: Ägypten - Land der Unsterblichkeit
www.rem-mannheim.de | rem.buchungen@mannheim.de, Di-So, Feiertag
TECHNOSEUM, Landesmuseum für Technik und Arbeit
17.11.2022 bis 12.11.2023: Auf Empfang!
Die Geschichte von Radio und Fernsehen
www.technoseum.de, Tel. +49 (0) 621 / 42 98 - 9, info@technoseum.de, Muse-
umsstraße 1, Mannheim, tägl. 09-17 Uhr
METTINGEN
Draiflessen Collection
15.10.2023 bis 25.02.2024: FÄDEN. Material – Mythen – Symbole
www.draiflessen.com, Tel. 05452/9168-0, Georgstr. 18, Mi-So 11-17, jeder 1. Do-21
MÖNCHENGLADBACH
Museum Abteiberg
bis 07.01.2024: 100 JAHRE STIFTUNG WALTER KAESBACH
EXPRESSIONISMUS AM MUSEUM ABTEIBERG Auktionswoche
19.10.2023 bis 06.10.2024: SAMMLUNG/ARCHIV ANDERSCH
Feldversuch #3: Fine – Knowles 28. November – 1. Dezember
bis 28. Januar 2024
www.museum-abteiberg.de, Abteistr. 27 / Johannes-Cladders-Platz, Mönchen-
gladbach MODERNE UND
DIX, GROSZ, BARLACH, KLEE
MÜNCHEN ZEITGENÖSSISCHE KUNST
Kunsthalle München, 15.9.2023–4.2.2024:
Illustre Gäste aus der Sammlung Niescher Mythos Spanien. Ignacio Zuloaga tägl. 10–20h, 20.9., 18.10., 15.11., 17.1. 10–22h, JUWELEN, UHREN
24.12. geschl., 31.12. 10–17h, Theatinerstr. 8, München, www.kunsthalle-muc.de
Hamburg, www.barlach-haus.de Münchner Stadtmuseum
bis 07.01.2024: Nachts. Clubkultur in München
bis 07.01.2024: (K)ein Puppenheim. Alte Rollenspiele und neue Menschenbilder
HAMBURGER KUNSTHALLE Vorbesichtigung ausgewählter Highlights
bis 07.01.2024: München Displaced. Heimatlos nach 1945
bis 25.02.2024: HERAUSRAGEND! Das Relief von Rodin bis Taeuber-Arp
www.muenchner-stadtmuseum.de, St.-Jakobs-Pl., T. 089/23322370, Di-So 10-18 der Contemporary Week
bis 12.11.2023: WALID RAAD. Cotton Under My Feet: The Hamburg Chapter
bis 18.02.2024: Something new, something old, something desired 6. – 7. November 2023, 10 – 17 Uhr
bis 31.12.2023: Impressionismus. Deutsch-französische Begegnungen
Dorotheum Hamburg
www.hamburger-kunsthalle.de, Tel. 040/428131200, Glockengießerwall 5, 20095
Hamburg, Di-So 10-18/Do 10-21 Uhr Maria-Louisen-Straße 9
Museum am Rothenbaum - Kulturen und Künste der Welt Dr. Katharina zu Sayn-Wittgenstein
bis 31.12.2023: Hamburg und Tirol. Eine Alpenfreundschaft
Hey Hamburg, kennst Du Duala Manga Bell? bis Januar 2024 040-879 63 14 70
Benin. Geraubte Geschichte bis auf Weiteres www.dorotheum.com
bis 24.02.2024: Das Land spricht. Sámi Horizonte (Das Land spricht – MARKK
(markk-hamburg.de))
www.markk-hamburg.de, Rothenbaumchaussee 64, Di-So 10-18, Do-21 Eintr. frei
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
bis 06.07.2025: I.M POSSIBLE. Alles ist erlaubt!
bis 28.04.2024: Das Ornament. Vorbildlich schön
bis 07.01.2024: Linda Fregni Nagler. Blickinszenierung Isa Genzken (geb. 1948)
bis 07.01.2024: Sesamstraße. 50 Jahre Wer, Wie, Was! Julia - Weltempfänger, 1990
Beton, Antenne, 33,5 x 28,5 x 7 cm (Beton)
Weitere Ausstellungen auf www.mkg-hamburg.de, Steintorplatz, 20099 Ham-
119 x 28,5 x 7 cm (mit Antenne)
burg, Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr
Schätzwert € 80.000 – 90.000
Stiftung Historische Museen Hamburg - www.shmh.de MÜNSTER Auktion 29. November 2023
bis 07.01.2024: Museum f. Hamburg. Gesch.: Eine Stadt wird bunt
LWL-Museum für Kunst und Kultur
bis 07.01.2024: Museum f. Hamburg. Gesch.: Hamburg 1923
bis 15.07.2024: Altonaer Museum: Glauben und glauben lassen bis 10.03.2024: Konrad-von-Soest-Preis 2023 Esra Ersen: A Possible History
bis 12.02.2024: Jenisch Haus: Elbwärts 10.11. bis 14.04.2024: Nudes Eine Kooperation mit Tate, London
Leopold Museum
www.lwl-museum-kunst-kultur.de, Tel. Tel. 0251/5907-201, Domplatz 10, Di-So 10-
KARLSRUHE 18 Uhr, 2. Freitag im Monat 10-22 Uhr Dauerausstellung: WIEN 1900. Aufbruch in die Moderne
06.10.2023 bis 25.02.2024: Max Oppenheimer. Expressionist der ersten Stunde
Badisches Landesmuseum - Schloss Karlsruhe MURNAU A. STAFFELSEE
17.06.2023 bis 25.02.2024: Die 80er - Sie sind wieder da! Erlebnisausstellung 20.10.2023 bis 18.02.2024: Gabriele Münter. Retrospektive
Schloßmuseum Murnau leopoldmuseum.org, Museumsplatz 1, 1070 Wien, Mo, Mi-So, Feiertag 10-18 Uhr
www.landesmuseum.de, Tel. 0721/926-6514, Di-So, Feiertag 10-18 Uhr
ab 01.07.2023: DER BLAUE REITER - EINE HOMMAGE.
ZKM Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe
Die KK-Stiftung Murnau im Schloßmuseum Murnau
bis 07.04.2023: Mack im ZKM
www.schlossmuseum-murnau.de, Tel. +498841476207, SCHWEIZ
bis 07.01.2024: Renaissance 3.0. Ein Basislager für neue Allianzen von Kunst
schlossmuseum@murnau.de, Schloßhof 2-5, 82418 Murnau a. Staffelsee, Di-Fr 10-
und Wissenschaft im 21. Jahrhundert
17, Sa, So 10-18 Uhr
bis 07.01.2024: Ulrike Rosenbach. heute ist morgen
bis 26.11.2023: Driving the Human. Sieben Prototypen für ökosoziale Erneue- NEUMARKT IN DER OBERPFALZ ZÜRICH
rung
Museum Lothar Fischer, www.museum-lothar-fischer.de Literaturmuseum Strauhof
Dauerausstellungen: DA@ZKM – Ein neuer Blick auf die Sammlung bis 28.01.2024: Ernst Barlach – Rätselwesen Mensch. Das Ernst Barlach Haus zu
07.10.2023 bis 07.01.2024: Enfants Terribles – Unheimliche Kindergeschichten
und zkm_gameplay. the next level Ausstellungen Online: Gast Tel. 09181/510348, Weiherstr. 7 a, Mi-Fr 14-17, Sa/So 11-17 Uhr
strauhof.ch, Augustinergasse 9, 8001 Zürich, Di, Mi, Fr 12-18, Do 12-22, Sa, So 11-17
fortlaufend bMEDIA – Virtuelle Plattform der Ausstellung »BioMedien«
NÜRNBERG
fortlaufend Critical Zones – Virtuelle Ausstellung
fortlaufend Iconoclash as a Digital Experience GERMANISCHES NATIONALMUSEUM
Das Programm
www.zkm.de, Tel. 0721/81000, Lorenzstr. 19, Mi-Fr 10-18, Do, Sa/So 11-18 Uhr bis 10.12.2023: Das Mittelalter. Die Kunst des 15. Jahrhunderts.
bis 17.03.2024: Neue Sonderausstellung: Meisterwerke aus Glas
für alle ZEIT-
KASSEL
NEU: BEHAIM-GLOBUS im GNM ist jetzt UNESCO-WELTERBE
Fridericianum Tel. 0911-13310, Kartäusergasse 1, Di-So 10-18, Mi-20.30 Uhr, Mo geschl.
15.07.2023 bis 14.01.2024: Tauba Auerbach: TIDE
www.fridericianum.org, Tel. T +49 561 70727-20, info@fridericianum.org, Fried-
Kunstvilla im KunstKulturQuartier
11.07. bis 05.11.2023: Vive la France! Zum Einfluss Frankreichs
Abonnentinnen
richsplatz 18, 34117 Kassel, Di, Mi, Fr-So, Feiertag 11-18, Do 11-20 Uhr 09.09. bis 05.11.2023: Udo Kaller - Eine Stiftung
GRIMMWELT Kassel Kostenlos anmelden unter:
kunstvilla.org, Di, Do-So 11-18, Mi 11-20 Uhr
14.04.24: AKTE RUMPELSTILZCHEN Eine Spurensuche in Märchen und Recht, www.freunde.zeit.de
Weinbergstr. 21, T 0561/5986190, www.grimmwelt.de, Di-So 10-18, Fr 10-20 Uhr OSNABRÜCK
Hessen Kassel Heritage, Museen-Schlösser-Parks Kunsthalle Osnabrück, kunsthalle.osnabrueck.de
10 Jahre Welterbe Bergpark Wilhelmshöhe: Herkules, Schloss Wilhelmshöhe bis 25.02.2024: Einzelausstellung von Aram Bartholl: Freunde
mit Gemäldegalerie Alte Meister; Neue Galerie: about: documenta
20.10.2023 bis 28.01.2024: Fritz Winter. documenta-Künstler der ersten Stun-
„Ihr Paket ist abholbereit“
Museumsquartier Osnabrück
© Andreas Henn | Anbieter:
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, der ZEIT
de, Neue Galerie, Schöne Aussicht 1, 34117 Kassel bis 07.01.2024: #nichtmüdewerden Felix Nussbaum und künstlerischer Wider- Buceriusstraße, Hamburg Das Programm für AbonnentInnen
www.heritage-kassel.de, Di-So, Feiertag 10-17 Uhr stand heute www.museumsquartier-osnabrueck.de Di-Fr 11-18, Sa+So 10-18 Uhr
DIE ZEIT N o 46
Foto: Monika Rittershaus; Illustration: Joni Majer für DIE ZEIT (r.)
Der Schauspieler als Schauspieler: Manfred Zapatka mimt in
Viva Zapatka!
Viva Rappelkopf,
viva Denkartist!
Peymann exhumiert Thomas Bernhards »Minetti«
Also jetzt so was, ist denn das die Möglichkeit! Eine
derartige Theatervorstellung – auferstanden ist sie,
welche lange schlief, auferstanden aus Gewölben tief,
nämlich aus dem Stuttgarter Theater vor einem
halben Jahrhundert, als Claus Peymann daselbst
Intendant war und für die Zahnsanierung von Ulrike
Meinhof warb (was ihm den Posten und die Zu-
schauer ihr aufregendes Theater kostete). Peymann
hat ja unter anderem 21 Stücke von Thomas Bern-
hard inszeniert, davon 15-mal die Uraufführung,
manches Mal mit dem Schauspielgiganten Bernhard
Minetti, was schließlich im Drama Minetti gipfelte,
gespielt von Minetti in Stuttgart, 1976. Da war
Minetti 71, jetzt ist er tot, auch Bernhard ist tot, aber
Peymann lebt wieselflink, grad 86 ist er. Sein Regie-
buch existiert auch. Und wir hätten da noch Manfred
Zapatka, erst 81, einen großen Mimen aller Katego-
rien. Also!
Die schwarze Gardine saust im Münchner Resi-
denztheater zur Seite, und wir blicken in ein ver-
sifftes Hotelfoyer mit abgewetztem Perser, einem
Großraumaufzug in der Rückwand, rechts die über-
hohe Rezeptionstheke und links vor der dunklen
Wand ein rotes Plüschsofa. Darauf, ein Champa-
gnerglas schwenkend und schleudernd, ein Diwan-
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Di. 7. Nov. 2023 - 20 Uhr
Die Jury
tagt live!
Zuhören auf Bayern 2
püppchen ganz in knallroter Samtseide (Barbara
Melzl, zum Entzücken gar), schwer angetüdelt: Sie
wartet auf Silvester und, wenn’s möglich wär, auf
einen Herrn.
Wumms, da öffnet sich links ein bühnenhoher
Türflügel, Schneegestöber bläst über die Bühne, es
blitzen Reklamelichter in der Spiegeltür, der Haus-
diener schleppt einen Kabinenkoffer herein und,
Simsalabim, ein schwarzer Gast betritt das Foyer mit
Schlabberhose, kaftanlangem Paletot und grandiosem
Borsalino: ein Golem, ein rächender Django?
Minetti ist’s, ein Schauspieler.
Und von nun an wird schwadroniert und bra-
marbasiert, gejammert und geprahlt, hören wir 90
2. November 2023 FEUILLETON 61
GRAND SLAM
Der Sport braucht
uns nicht
Das Spiel mehr geliebt haben als den Sieg –
David Beckhams Idee vom Ruhestand VON ANDREA PETKOVIĆ
Aufhören zu arbeiten sei wie sterben, soll der verurteilt (sind sie aber sehr wohl), sollte ich nug liebt, dass es dann nie zu Ende geht oder dass
Maler Claude Monet gesagt haben, to retire is to noch einmal daran erinnern, dass Sterben hier es einen zurücklieben muss. Aber das ist ein
die. So jedenfalls berichtet es Nicholas Delbanco eine Metapher ist: Ein Teil des Ichs, der Identität, Trugschluss. Denn der Sport, das Leben, die
in seinem Buch Lastingness: The Art of Old Age. stirbt ab, wird beerdigt, unter die Erde gebracht. Welt braucht uns nicht.
Ja, so kann es sich manchmal anfühlen. Im Eng- Asche zu Asche, Staub zu Staub, symbolisch. Das hört sich jetzt deprimierend an, aber das
lischen ist das Verb to retire eines dieser Wörter, Meiner Erfahrung nach gibt es zwei Arten von ist es gar nicht. Es kann ganz im Gegenteil be-
die einen neuen Lebensabschnitt gleichzeitig fest- Sportlern. Die einen, die es kaum erwarten kön- freiend wirken. Etwas zu tun um der Sache wil-
stellen und heraufbeschwören. Sobald man es in nen, den Schläger an den Nagel zu hängen – end- len, um des Prozesses willen, kann das Ergebnis,
den USA verwendet, gratulieren einem alle au- lich Freiheit, endlich essen, was man will, schla- Sieg oder Niederlage, transzendieren. Es kann
genblicklich enthusiastisch, als hätte man nur auf fen, wann man will, sich gehen lassen, dick wer- einen einzelnen Moment größer machen, als er
München den großen Bernhard Minetti diesen einen Moment hingelebt. Als hätte man den, gemütlich werden, faul werden. Auf der objektiv betrachtet ist. Wenn das Ziel nicht das
nun Großes geschaffen, unabhängig davon, was anderen Seite gibt es diejenigen, die nicht loslas- Resultat am Ende ist, sondern nur, das im Rah-
davor gewesen sein mag, als würde, was danach sen können, die ihre geschundenen Körper im- men seiner Möglichkeiten Bestmögliche zu ver-
kommt, nur noch Schönes verheißen. Im Deut- mer noch über die nächste Grenze treiben wol- suchen, verwandelt es den kleinen Moment in
schen gibt es dieses Wort nicht. Ich kann mich len. Die, die an allem, was sie anfassen, Kratz- einen subjektiv gefühlten großen. Denn jeder
zurückziehen – aber von was? Vom gesellschaftli- spuren hinterlassen. Es kann einer Abhängigkeit Moment ist so eine Spiegelung der eigenen Wer-
chen Leben? Ich kann zurücktreten – aber das gleichkommen. Die Euphorie des Triumphs, die te. In einem solchen Augenblick hat man das
funktioniert eigentlich nur, wenn man ein öffent- Hormonausschüttung, der Applaus des Publi- Gefühl, über die Zeit bestimmen zu können, sie
liches Amt innehat. Deswegen sagt man wohl kums, der, wenn er nur laut genug ist, sich wie dehnen, anhalten zu können, sie aufblasen zu
eher »in Rente gehen«, und das klingt ziemlich ein einzigartiges blechernes Geräusch anhört – un- können wie einen Kaugummi und sie erst zer-
bieder. Das kann ich nicht akzeptieren; ich sage wiederbringlich, nicht kopierbar –, der das Ge- platzen zu lassen, wenn man das möchte. Und in
es trotzdem mindestens einmal am Tag, seit ich fühl der Leere danach nicht löscht, aber mildert, diesem subjektiv gefühlten großen Moment,
mit dem Tennisspielen aufgehört habe.
Vielleicht kommt es darauf an, was man aus
der »Rente« macht. Die jeweiligen Bezeichnun-
gen wären egal, wenn man die »Rente« gut ge-
immerhin etwas mildert ...
Wenn man bis zum Renteneintritt einen
Kindskopf behält, wie die meisten Sportlerinnen,
wird man am Tag danach an den Schultern ge-
zwischen den Parametern, die einen Moment
abstecken, kann man sich vorgaukeln, dass es
genügt zu lieben. Und dass man als Mensch
nicht verlangen muss, zurückgeliebt zu werden.
staltet bekäme. Schwer fällt der Abschied von packt und zum Erwachsenwerden zurechtge- In der großartigen David-Beckham-Dokumen-
VON MICHAEL SKASA einem Job, an den man die eigene Identität kop- schüttelt, bis die Ohren klingeln. Eine der Lek- tation, die gerade auf Netflix läuft, sagt Beck-
pelt, nicht so sehr von einem, den man abarbeitet tionen, die man als Leistungssportlerin lernen ham einen Satz, der alles zusammenfasst: »I loved
wie eine To-do-Liste. Über Leistungssportler sagt muss, besteht darin, dass die Angelegenheit, die this game more than anyone«, ich liebte dieses
Minuten Monologe aus dem Leben eines Mi- man, sie sterben zweimal: Zum ersten Mal wenn einem so lange die wichtigste im Leben war, sich Spiel mehr als alle anderen. Und es stimmt, er
men, drehen wir uns mit Thomas Bernhard sie aufhören, Tennis zu spielen, Marathons zu ihrerseits einen Dreck um dich schert. Es ist dem hat das Spiel mehr geliebt als alle anderen. Was
im Kreis, wie das Menschen so machen, wenn laufen oder gegen Fußbälle zu treten. Und das Tennissport egal, ob du da bist oder nicht, ob du er nur vergessen hat zu erwähnen: dass wir ande-
ihr Elend sie eingesponnen und zum ständi- zweite Mal, nun ja, dann richtig. Bevor man aufhörst oder weitermachst, ob du gewinnst oder ren das Spiel genauso mehr geliebt haben als alle
gen Wiederholen des Entsetzlichen verurteilt Leistungssportlerinnen jetzt als allzu dramatisch verlierst. Man meint, wenn man etwas stark ge- anderen.
hat.
Das ist Glanz und Elend der Bernhard-Tech- An dieser Stelle erscheinen im Wechsel vier Kolumnen. Lesen Sie nächstes Mal
nik, die menschlichen Lächerlichkeiten Pirouet- »Von unterwegs gesendet« von Christine Lemke-Matwey
ten drehen zu lassen: für uns zum Lachen oder
zum Verrücktwerden. Ein Porträt des Künstlers ANZEIGE
als alter Mann, Minetti, der von sich sagt, dass er
ehedem Intendant in Lübeck war. Aber weil er
sich der klassischen Literatur verweigert hat, www.klett-cotta.de
wurde er entlassen, zog sich nach Dinkelsbühl
zurück, wo er 30 Jahre lang »Kraut eingewintert
und Zwiebelzöpfe geflochten« hat; »welche An-
strengung, in Dinkelsbühl, in der Dachkammer
meiner Schwester, Künstler sein«. Nun also
wartet er im Hotelfoyer zu Ostende auf den
Intendanten von Flensburg, der ihn als Lear Das Meisterwerk des
engagieren will. Für das einzig gültige klassische
Stück, seine Traumrolle! Der belgische Maler
James Ensor hat ihm einst sogar eine Lear-Maske
angefertigt, die er stets im Riesenkoffer mit sich
Weltbestsellerautors
Simon Sebag Montefiore
führt. Aber klar, wir ahnen es längst, der Inten-
dant wird ihn versetzen. »Wir Künstler sind tot.
Das Schneiden einer Grimasse ist zurückgeblie-
ben. Nichts sonst.«
Doch, da ist noch Manfred Zapatka, der Wun-
dermann, der Wiedergänger Minettis. Betritt die
Bühne wie ein Clochard, mit schlabbernden
Schwarzklamotten, das »Unterhosenband« (was
immer das ist) lose um den Fuß, eine Taschenuhr
an langer Kette, den Borsalino alsbald quer auf
dem flachshaarigen Schädel: Napoleon auf dem
Rückzug. Für Bernhard Minetti ist Zapatka etwas
zu gedrungen, als Clown Charlie Rivel wäre er
denkbar. Aber dann, wie Zapatka spricht und
1504 Seiten, geb. mit SU, 49,– € (D), ISBN 978-3-608-98354-8
fuchtelt und stiert, sich suhlt in Vokalen und sich
aalt in Wichtigkeit, wie er verzweifelt die Flachs-
haare rauft und auffährt in Empörung – das ist
Bernhard Minetti, der »Geisteskopf« als Rappel-
kopf und Denkartist.
Eine Totenbeschwörung, scheint es, eine
Revitalisierung der Stuttgarter Vorstellung von
einst ist es und ein skurriles Seniorentreffen im
Münchner Marstall: Da amüsiert sich unter den
Zuschauern Peter Iden (85, ehedem Kritiker der
Förderer: Frankfurter Rundschau), man freut sich über das
uralte Bühnenbild von Achim Freyer, 89, da
lächelt sanft der geistesfrische Günter Rohrbach,
95, und auch der Autor dieses Textes, 81,
applaudiert, wenngleich skeptisch, den kräfte-
zehrenden Tiraden Manfred Zapatkas. Skep-
tisch, weil mit der Bewunderung doch auch die
© Marcus Leoni
Frage hochsteigt, ob hier nicht Uropas Theater
exhumiert wird.
Aber dann schubst am Schluss der Peymann
den Zapatka an die Rampe und der Zapatka den
Peymann, und die beiden freuen sich wie Schul-
buben, und die hinreißende Sufftrine Barbara
Melzl in rotem Seidensamt schwenkt ihren
Schampuskelch – und man seufzt: ein dolles Stück
Gruftieschauspiel, wunderbar. Aber jetzt lasst den
Zapatka endlich den Lear spielen! Gern ohne
Ensor-Maske.
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DIE ZEIT N o 46 2. November 2023 KINDER- & JUGENDBUCH 63

DIE LUCHS-JURY EMPFIEHLT

AUSSERDEM

Kinderbuch:
Warten auf die Mats und Ricci könnten gegensätzlicher
Deportation: kaum sein: Mats fällt das Sprechen schwer,
Ein Foto aus der doch ausgerechnet gegenüber Ricci findet sie
jüdischen Worte. Die Neue in der Klasse sagt gerade-
Kinderkrippe in heraus, was sie denkt, und eckt damit bei den
Amsterdam, die anderen an. Dass Ricci ihre große Klappe wie
Vorbild für diesen einen Schutzschild einsetzt, findet Mats erst
Roman war nach und nach heraus – und dann ist Ricci
eines Tages verschwunden ... Angststörung,
Vernachlässigung, Armut: Anne Becker er-
zählt von einer besonderen Freundschaft und
Abb.: Joods/Historisch Museum Amsterdam Privatsammlung

zwei Außenseiterinnen, die sich durchkämp-

fen. Klug konstruiert in Vor- und Rückblen-
den und mit einem Hoffnungsschimmer.
Anne Becker: Luftmaschentage.
Beltz & Gelberg 2023; ab 11 Jahren

Vergiss, wer du bist Sachbuch:

Nachdem dieses Duo sich schon sehr lebens-
nah mit der Sexualaufklärung, dem Sexleben
der Tiere und dem menschlichen Körper
befasst hat, geht es diesmal um das, was nach
Was können Einzelne gegen barbarisches Unrecht tun? Die Historikerin Astrid Sy erzählt die wahre Geschichte einer Gruppe junger dem Leben kommt: Sterben, beerdigen,
niederländischer Widerständler, die im Zweiten Weltkrieg jüdische Kinder versteckt – und rettet VON MARKUS FLOHR trauern – Katharina von der Gathen

J
beackert ein breites Themenspektrum, und
man lernt viel, das Lektorat hätte aber noch
uli 1942, die Niederlande sind von den in die Hände fiel. Mehr als zehn Jahre hat sie Archiv sich kurz die Welten der jüdischen Schwestern und historische Vorbilder, für einige hat die Autorin sich einmal ordentlich durchbürsten und Dopp-
Deutschen besetzt. Die Studentin Kaat für Archiv durchstöbert und mit vielen Zeitzeugen der Widerständler. Doch für eine Annäherung ist jedoch literarische Freiheiten genommen. lungen herausnehmen können. Sensationell
wird Zeugin, wie die Menschen im gesprochen, bis ihre Erzählung Form annahm. keine Zeit. Die Kinder müssen schnell fortgebracht Die Wucht der historischen Authentizität und sind wie immer die Illustrationen von Anke
Judenviertel von Amsterdam gejagt Verantwortlich für die Krippe war damals ein werden, zu niederländischen Familien, bei denen sie der Sog des Geschehens machen Sys Roman so Kuhl, die gekonnt zwischen Sachlichkeit,
werden. Ihnen droht die Deportation. sogenannter Judenrat, der auch die »Transporte« unter neuem Namen untertauchen. lesenswert. Zum Beispiel wenn die Autorin Humor und Empathie balancieren.
Die Nazi-Polizisten wüten, eine ver- organisieren musste, wie die Deportationen in die Während die Studierenden mit dem Fahrrad, dem schonungslos detailliert schildert, wie brutal die Katharina von der Gathen/Anke Kuhl (Ill.):
zweifelte Frau bittet Kaat auf offener Konzentrations- und Vernichtungslager beschöni- Zug, der Kutsche und zu Fuß durchs Land reisen – deutschen Besatzer mit den Juden umgehen. Radieschen von unten.
Straße, ihren Säugling zu nehmen. »Als hätte sie gend hießen. Dieser Judenrat war zeitweise ist diese Fluchten im Stile Wenn sie die Angst heraufbeschwört, die um sich Klett Kinderbuch 2023; ab 8 Jahren
bei aller Panik inmitten des Chaos einen klaren ein Gremium, das die deutschen eines Thrillers geschildert –, müs- greift, als die ersten Menschen deportiert werden.
Kopf behalten und gewusst, was sie tun musste: Besatzer der jüdischen Bevölkerung LUCHS NR. 442 sen die Schwestern in der Krippe Oder wenn sie die unmenschlichen seelischen
alles daransetzen, um ihr Baby zu retten. Es war aufzwangen und dessen Handeln jeden Tag Entscheidungen treffen, Konflikte aufzeigt, in die Amsterdams Juden
der Frau nicht gelungen, Kaat hatte es gesehen, durchaus ambivalent war – auch im die ihr Gewissen schwer belasten: durch den Rassenwahn der Nationalsozialisten
aber nichts getan.« Das Kleinkind und die Mutter Roman: Der Rat wird einerseits Sie versuchen Eltern, die auf die geraten. Spätestens als die Deutschen ahnen, dass
werden mitgenommen. zum Erfüllungsgehilfen beim Völ- »Transporte« sollen, zu überreden, ein geheimes Netzwerk ihre Pläne durchkreuzt,
Das ist ein Schlüsselmoment des Jugendromans kermord an Europas Juden; es zumindest ihre Kinder zurückzulas- und die Angst vor einer Deportation auch die
Nenn keine Namen der niederländischen Historike- gelingt ihm andererseits aber auch, sen. Wenn Hitlers Statthalter in der Schwestern der Krippe ergreift, entwickelt die
rin und Fernsehmoderatorin Astrid Sy, denn ihrer das Leben einzelner Jüdinnen und Krippe auftauchen und die Heraus- Geschichte eine Spannung, der man sich kaum
Heldin Kaat, die eigentlich Katherina heißt und Juden zu schützen oder zu retten. gabe einzelner Kinder fordern, ge- entziehen kann. Wird das Netzwerk entdeckt?
aus einer wohlhabenden protestantischen Familie Seine Mitarbeiter manipulieren horchen die Schwestern; auch um Oder endet der Krieg noch rechtzeitig?
stammt, stellen sich nun die Fragen, die der gesamten Listen, leiten Gelder um, warnen Jeden Monat vergeben die andere zu schützen. Rosies Freun- Neben den starken Frauenfiguren und der
Erzählung eingeschrieben sind: Welche Grausam- und verstecken Menschen oder ZEIT und Radio Bremen din Judith verfolgt das bis in ihre vielköpfigen Widerstandsgruppe werden die Krip-
keiten muss eine Mutter fürchten, die ihr eigenes ermöglichen die Flucht. den LUCHS-Preis für Träume: »Wir retten einige Kinder penkinder auf den 400 Seiten fast ein wenig Graphic Novel:
Kind einer Fremden anvertrauen will? Wohin brin- Vor diesem Hintergrund zieht Kinder- und Jugendliteratur. auf Kosten all der anderen. Das ist unsichtbar. Vielleicht ist das Absicht. Es seien ein-
gen die Deutschen all die Menschen, alle Juden der Astrid Sy eine Doppelerzählung Aus den zwölf eine schmutzige Arbeit, und ich fach zu viele, sagt Kaat einmal, als dass sie sich ihre Ost-Berlin in den Achtzigerjahren: Mos Kin-
Stadt, die Männer, die Frauen, die Kinder, die Alten? auf. Mit der Story von Kaat und Monatspreisträgern wird der hasse sie, aber ich tue sie dennoch.« Gesichter noch in Erinnerung rufen könnte. Die derwelt endet an der Mauer, doch dann ist
Und kann man dagegen etwas tun? ihrer widerständigen Studenten- Jahres-LUCHS gekürt. Getragen wird die Handlung Angst in den Augen der Kleinen prägt sich der diese Mauer eines Tages weg, die Welt wird
Kaat jedenfalls wird Teil einer Gruppe von Stu- gruppe verwebt sie einen zweiten Mehr unter www.zeit.de/luchs auch von zwei zarten Liebes- jungen Frau aber tief ein. Die verzweifelte Hoff- größer – und Mo zum Ossi. Sie kommt auf
dierenden, die während des Zweiten Weltkriegs jü- berührenden Handlungsstrang – und www.radiobremen.de/luchs geschichten: der von Rosie und nung, dass jemand ihnen sagt, alles werde gut und eine neue Schule, beginnt sich für ihre Her-
dische Kinder vor der Deportation retten und unter den des Kampfes der Kinder- ihrem Freund Ben, der für den bald seien die Eltern wieder da. All das, was Kaat kunft zu schämen, sucht Halt und strebt nach
falschen Namen bei Pflegeeltern im ganzen Land schwestern in der Krippe für ihre Judenrat arbeitet, und der von den Kindern eben nicht sagen kann. »›Still sein Autonomie. Sandra Rummler, selbst ein
verstecken. Die Kleinen sind in einer Krippe im Schützlinge. Eine Handvoll junger Kaat und ihrem Kampfgenossen jetzt‹, waren ihre Worte gewesen. ›Ab jetzt nicht DDR-Kind und Wende-Teenager, erzählt in
Zentrum von Amsterdam untergebracht. Sie werden Frauen um die Schwester Rosie, allesamt in ähn- Theun. So wird Nenn keine Namen mit jeder mehr deinen Namen sagen. Oder den deiner dieser Graphic Novel von arbeitslosen Eltern,
hier betreut, während die Eltern in einem ehemaligen lichem Alter wie die Studierenden, fassen zusammen Seite zunehmend auch zu einer Geschichte vom Eltern. Nenn keine Namen. Vergiss, wer du bist.‹« S-Bahn-Surfen, Drogen und neuen Freund-
Theater auf der anderen Straßenseite auf ihre De- mit der Leiterin der Krippe den Entschluss, von ihrem Erwachsenwerden, von zwei jungen Frauen, die Damit du überlebst. schaften. Und sie übersetzt die Wachstums-
portation warten müssen. Dieser historische Rahmen Haus aus eine Rettungsaktion zu organisieren. Wenn kämpfen und lieben, hoffen und bangen und das schmerzen des Zusammenwachsens in
ist wahr: Die Idee zum Roman kam Astrid Sy durch die Deutschen gerade nicht hinsehen oder im Schutz eigene Leben riskieren, um das anderer zu retten. Astrid Sy: Nenn keine Namen. stimmungsgeladene Bilder. Es hätten ruhig
einen Bericht über ebendiese Amsterdamer Krippe, der Nacht schmuggeln die Schwestern Kinder aus Es ist wichtig zu betonen: Diese Rettungsaktio- Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf; noch 100 Seiten mehr sein dürfen!
der ihr bei einem Studienaufenthalt in der israelischen dem Gebäude und übergeben sie an Kaat und ihre nen hat es gegeben, die Geschichten sind historisch Gerstenberg 2023; 500 S., 24,– €; Sandra Rummler: Seid be(f )reit.
Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem Mitstreiter. In diesen hastigen Momenten berühren verbürgt. Auch die Charaktere sind angelehnt an ab 15 Jahren Avant 2023; ab 14 Jahren

»Zensur ist vernichtend«

Immer mehr Bücher etwa zu sexueller Orientierung, Religion oder Diversität werden in US-Schulen verboten. Die Autorin Laurie Halse Anderson spricht über ihren Kampf gegen »book bans«

Die US-amerikanische Autorin Laurie Halse Anderson
ist die aktuelle Preisträgerin des Astrid Lindgren
Memorial Award, der mit rund 430.000 Euro
höchstdotierten Kinderliteratur-Auszeichnung der Welt.
Nun spendet Anderson knapp ein Viertel des Preisgeldes
an PEN America für den Kampf gegen »book bans«.
DIE ZEIT: Frau Anderson, Sie sind 1961 geboren,
hatten Sie in Ihrer Kindheit oder Jugend mit book
bans zu tun?
Laurie Halse Anderson: Als ich in der zehnten
Klasse war, hatten wir einen Kurs über Gesund-
heit und den menschlichen Körper. Damals sorgte
eine Gruppe von Eltern dafür, dass die Seiten über
Sex aus unseren Schulbüchern entfernt wurden.
Wir nahmen das aber einfach hin. Was Zensur
bedeutet, verstand ich erst später.
ZEIT: Wodurch?
Anderson: In der Highschool lasen wir 1984 von
George Orwell. Damals erfuhr ich, dass dieser
Roman an einigen Schulen verboten war. Ich hörte
zum ersten Mal von book bans und dachte: Es gibt
ernsthaft Menschen, die versuchen, Gedanken und
Ideen zu unterdrücken? Das hat mich schockiert.
ZEIT: Später haben Sie als Autorin selbst Erfah-
rung mit Zensur gemacht.
Anderson: Schon mein erster Roman Speak wurde
seit dem Erscheinen im Jahr 1999 angefochten.
ZEIT: Von wem?
Anderson: Bis vor drei Jahren war es typischerweise
so: Eltern hörten, dass es in meinem Buch um Ver-
gewaltigung und Sex geht, und wollten nicht, dass
ihr Kind das liest. Sie konnten das von der Schule
fordern, mussten dafür aber ihrerseits den gesamten
Roman lesen und dann vor einem Komitee das Für
und Wider des Textes diskutieren. Viele zogen ihre
Klage zurück, sobald sie sich intensiver mit dem
Buch beschäftigten.
ZEIT: Was hat sich seit 2020 verändert?
Anderson: Während Trumps Präsidentschaft hat
sich dieses Land gespalten. Menschen äußern ihren
Hass gegen Homosexuelle, Schwarze oder Muslime
plötzlich öffentlich ohne Konsequenzen. Und
durch eine Gruppe, die sich Moms for Liberty
nennt, wurde das book banning professionalisiert.
Hinter diesen vermeintlich besorgten Müttern ste-
hen rechte Gruppen, die über viel Geld verfügen.
Gemeinsam organisieren sie book bans im großen
Stil und sorgen dafür, dass Bücher zu Tausenden
aus Schulen und Stadtbibliotheken verschwinden.
Gleichzeitig haben Politiker begonnen, die Bil-
dungsgesetze in den Bundesstaaten zu ändern. Leh-
rer können sich strafbar machen, wenn sie über
Homosexualität oder die Geschichte der Sklaverei
sprechen. Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem
Land so etwas erleben würde.
ZEIT: Wie soll Ihre Spende an PEN America helfen?
Anderson: PEN America sammelt Daten aus dem
ganzen Land, sorgt für Öffentlichkeit und zieht
gegen Zensur vor Gericht.
ZEIT: Was ist in Ihren Augen so gefährlich daran,
wenn Kinder und Jugendliche bestimmte Bücher
nicht lesen können?
Anderson: Unsere Verfassung garantiert Meinungs-
freiheit. Bücher zu verbannen verstößt gegen dieses
Grundrecht. Rechtsextreme, die Angst vor einer
multikulturellen und diversen Gesellschaft haben,
zerstören unsere Demokratie. Denn es geht oft
nicht einmal um die Bücher, es reicht schon, dass
der Autor schwarz, trans oder kein Christ ist.
ZEIT: Haben Sie jemals persönlich mit einem
book banner gesprochen?
Anderson: Mit Menschen, die sagen, ich würde Por-
nos schreiben, oder mich gar pädophil nennen, kann
ich nicht reden. Mit besorgten Eltern habe ich mich
immer auseinandergesetzt. Ich schreibe über sexuelle
Gewalt, weil es Kinder schützen kann. Damit sie wis-
sen, dass ihnen Unrecht geschieht und sie niemals
schuld sind. Ich weiß ja, worüber ich rede.
ZEIT: Sie wurden als Teenager vergewaltigt. Was
bedeutet die jüngste Zensur für Sie ganz persönlich?
Anderson: Zensur ist vernichtend. Ich fühle mich wie
ausgeweidet, kämpfe mit einer Depression, bin wie-
der in therapeutischer Behandlung. Aber wir dürfen
nicht klein beigeben und all die Lehrer, Bibliothekare
und vor allem die jungen Leute alleinlassen. Und es
gibt Hoffnung: In Illinois und New Jersey wurden
inzwischen Gesetze gegen book banning erlassen.
Das Gespräch führte Katrin Hörnlein
 64
W
enn du zu viel über die
Grausamkeit nach-
denkst, frisst sie dich
auf. Denn der Hass der
anderen ist wie ein
Gift, das sich in deiner Seele und deinem
Körper ausbreitet. Diese Erfahrung, sa-
gen die beiden jungen Frauen, haben sie
selber gemacht, und deshalb wollen sie an
diesem warmen Herbstmorgen in Rom,
in ihrer Lieblingsbäckerei mit der langen
Glastheke voller kleiner Kuchen, zuerst
darüber reden: dass man sich als Jude
jetzt nicht zu sehr mit dem Judenhass be-
schäftigen darf.
Sara und Rivka Spizzichino sind 43
Jahre alt, Zwillinge, und die Großnichten
von Italiens wohl bekanntester Zeitzeu-
gin. Nach ihr sind in Rom eine Brücke,
eine Straße und eine Schule benannt.
Settimia Spizzichino war 21 als sie mit
etwa 1200 anderen Juden der Stadt nach
Auschwitz deportiert wurde. Als einzige
Frau schaffte sie es zurück. Aber anders
als andere Überlebende schwieg sie nicht,
sondern erzählte vom Horror im Lager
und von dem, was nach Kriegsende selbst
ihre Verwandten anzweifelten, die in
Rom überlebt hatten.
Dass in Auschwitz auch Babys vergast
wurden, glaubte ihr anfangs niemand.
Settimia hatte es selbst nicht geglaubt, als
sie im Lager sah, wie eine ihrer Schwestern
mit ihrem Kleinkind weggebracht wurde
– und eine Mitgefangene ihr verriet, wohin.
Settimia brüllte die Frau an. Das konnte
nicht sein, dass sie in Dantes Hölle gelandet
war! Die Großnichten Spizzichino kennen
die Geschichte genau, haben sie schon als
Kinder gehört. Sie zeigen alte Fotos ihrer
ermordeten Großtanten, deren feine Ge-
sichtszüge sie geerbt haben, und deren
Schicksal sich in diesen Tagen beängstigend
mit der Gegenwart verknüpft.
Sara und Rivka bangen seit dem 7.
Oktober um ihre Freunde in Israel, die
jetzt Geiseln der Hamas sind: eine Mut-
ter, ein Vater, zwei kleine Töchter. Außer-
dem kursieren wieder die Zweifel an den
Gräueln gegen die Juden. Besonders
schlimm sei gewesen, wie im Internet
über vierzig enthauptete und verbrannte
Kinder debattiert wurde, die von der
israelischen Armee gefunden wurden –
eine Woche währte der Streit im Netz,
welche Todesart schlimmer sei.
Sara sagt am Tisch im Café: Je länger
du dir das anschaust und anhörst, desto
mehr vergiftest du dich. Rivka sagt: Des-
halb schalten wir ab! – Aber wie? Sara, die
bildende Künstlerin ist, malt dann, liest
und gärtnert. Rivka, die Fotografin, spielt
Geige und häkelt. Gemeinsam geben sie
Zeichenunterricht. Wenn die beiden da-
von erzählen, blühen sie auf. Ihr Rat: Lass
dich nicht aufsaugen von düsteren Ge-
fühlen! Triff Menschen, die dich lieben!
Schau dir eine Landschaft an! Füttere
deine Seele mit schönen Dingen!
Sie geben aber zu: Settimias Lebens-
thema, die Shoah, sei, seit die Tante nicht
mehr lebt, immer mehr zu ihrem eigenen
Thema geworden.
Fotos: Rivka Spizzichino (o.); Ilaria Magliocchetti Lombi für DIE ZEIT (l.); Hans Lucas/Vatican Media/action press (r.)
In diesem Herbst ist das unvermeid-
lich. Denn vor genau achtzig Jahren fand
die erste und größte Deportation römi-
scher Juden durch die deutschen Besatzer
statt: unter den Augen von Papst Pius
XII., ohne seinen Protest. Deshalb gibt es
seit einigen Jahren immer im Oktober
einen Gedenkmarsch vom Petersplatz
zum nahen Militärkolleg, wo die verhaf-
teten Juden eingepfercht waren. Das sind
nur 1000 Schritte. Wie kurz der Weg zu
den Opfern gewesen wäre, dass will der
Verein Ricordiamo Insieme (»Gemein-
sam gedenken«) zeigen. Deutsche Katho-
liken haben ihn zusammen mit den Spiz-
zichinos, mit italienischen Überlebenden
und Nachfahren gegründet.
Deshalb halten Sara und Rivka in die-
sen Tagen mehrere Reden, zeigen eine
Videoinstallation: Sara hat die Namen
der Ermordeten auf Zettel schreiben und
die Zettel zerreißen lassen. Im Film, der
rückwärts läuft, setzen sich die Namen
wieder zusammen. Sie zeigt den Film
auch vor dem alten Haus ihrer Familie im
jüdischen Viertel Roms. Rivka plant,
dort ihre jüngste Nichte zu fotografieren.
Israels Premierminister hat den Tanach, die hebräische Bibel, zitiert. Das war keine gute Idee – findet der Rabbiner ANDREAS NACHAMA
Das Volk Amalek ist der Bibel zufolge ein
altes Nomadenvolk, das im Süden Palästinas
lebte. Die Amalekiter gelten als Urfeinde
Israels, weil sie die Israeliten überfielen beim
Auszug aus Ägypten. Im Verlauf der bibli-
schen Geschichte kommt es immer wieder
zu Kämpfen: Amalek gegen Israel. Israel
gegen Amalek.
In der jüdischen Tradition hat sich der
Begriff Amalek verselbstständigt und ist
zum Synonym für die Feinde Israels gewor-
den: Bist du mir unfreundlich gesinnt, bist
GLAUBEN & ZWEIFELN
»Wir fühlen uns
alleingelassen«
Sara und Rivka Spizzichino stammen aus einer Familie römischer Juden.
Wie geht es ihnen jetzt? Und was sagt der Papst zum Judenhass? VON EVELYN FINGER
Wer Sara und Rivka trifft, der merkt,
sie sind es gewohnt, über die Shoah zu
sprechen, über ihre ererbten Traumata.
Aber man merkt auch, Routine ist das für
sie nicht. Rivka sagt: »Dieses Jahr haben
wir beim Reden über die Vergangenheit
zum ersten Mal geweint.«
Warum? Das wissen sie selber nicht ge-
nau. Es fühle sich an, als habe die Vergan-
genheit eben erst statt gefunden. Das liegt
natürlich an dem grausamen 7. Oktober in
Israel, vor allem aber an den Reaktionen in
Rom. An der Professorin, die gleich nach
dem Massaker an den Juden eine palästi-
nensische Flagge postete. An den Studenten
der Universität Sapienza, die an die Tür des
Rektorats trommelten und israelfeindliche
Parolen riefen. An den Freunden, die nicht
anriefen, um zu fragen, wie es den beiden
jetzt gehe. Die sagen: »Wir fühlen uns
alleingelassen.« Und: »Wir haben Angst.«
Um diese Angst nachzuvollziehen, muss
man nur mit einem Rabbiner durch die
Stadt gehen. Rabbi Ron Li-Paz setzt seine
Kippa erst vorm Tor zum Vatikan auf, in
Sichtweite der Schweizergarde. Dort kann
man noch gefahrlos Kippa tragen. Im übri-
gen Rom ist es nicht mehr sicher, als Jude
erkennbar zu sein – sagt die Polizei.
Rabbi Ron Li-Paz ist Amerikaner und
Vize-Präsident des kalifornischen Zentrums
Vorsicht mit Zitaten aus der Heiligen Schrift!
du ein Amalek. Nun hat der israelische
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu
sich in einer Rede über die Hamas auf das
5. Buch Mose bezogen und zitiert: »Erinne-
re Dich an das, was dir Amalek angetan hat!«
Was Netanjahu nicht sagt, was aber im Buch
Samuel steht: Gott gebietet den Israeliten,
die Amalekiter auszurotten. »Verschone sie
nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder
und Säuglinge, Rinder und Schafe ...«
Deshalb ist nun die Empörung über
seine Rede groß. Dies könnte die Spannun-
Die Zwillinge Spizzichino: Sara ist bildende Künstlerin, Rivka Fotografin
für interreligiöse Verständigung. Er unter-
stützt Ricordiamo Insieme und erzählt aus
den USA, dass Black Lives Matter direkt
nach dem Terroranschlag auf Israel das Bild
eines Paragliders postete, dazu den Slogan
«Free Palestine«. Dass in Detroit die Vor-
steherin einer Synagoge erstochen wurde.
Dass Rabbiner künftig eine Waffe tragen
sollen. Rabbi Li-Paz sagt, er sei Optimist,
doch das erschrecke ihn.
Am letzten Sonntag im Oktober be-
sucht er die Messe im Petersdom. Drau-
ßen die Sonne, drinnen Blumen und
Kerzen. Die Bischöfe in vollem Ornat.
Alles ist noch feierlicher als sonst, weil an
diesem Tag die vom Papst einberufene
Weltsynode endet. Der Rabbiner war mal
Gedenkmarsch für die Deportierten
gen zwischen Juden und Muslimen noch
verschärfen. Mit dem Bibelzitat wollte der
innenpolitisch unter Druck stehende
Netanjahu wohl seinen Feldzug gegen die
Terroristen rechtfertigen. Doch es hätte
nicht der Bibel bedurft, um zu sagen, dass
der Terror der Hamas gestoppt werden und
im heutigen Staat Israel wieder Sicherheit
herrschen muss.
Es gibt übrigens noch weitere Bücher des
Tanach, in dem ein Amalekiter vorkommt,
so das Buch Ester. Dort wird vom geplanten
Opernsänger, er lobt den päpstlichen
Chor, den prächtigen Dom – und lässt
sich nicht anmerken, dass auch er Familie
in Israel hat. Einen Cousin haben die
Terroristen am 7. Oktober, dem schwar-
zen Schabbat, angeschossen.
Und was sagt der Papst zum sabato
nero? Bislang nichts. Jedenfalls nicht di-
rekt. Deshalb fragt der Rabbi nach der
Messe, als die Kurienkardinäle aus dem
Seiteneingang des Petersdoms strömen
(Außenminister Gallagher, Kardinal-
staatssekretär Parolin, Ukraine-Unter-
händler Zuppi, Ökumenechef Koch), ei-
nen von ihnen höflich: ob es möglich sei,
mit dem Papst über die Angst der Juden
zu sprechen?
Friedensgebet mit Papst Franziskus
Pogrom gegen die Juden erzählt. Doch
wichtiger ist, die Stelle im 5. Buch Mose
weiter zu lesen. Dort werden die Juden auf-
gefordert, den Übeltäter Amalek aus ihrem
Gedächtnis zu löschen, damit ihr Leben
und Handeln nicht länger von der Bedro-
hung bestimmt wird. Liest man Netanjahu
in diesem Kontext, muss man sein Zitat
anders verstehen. »Erinnere Dich an das,
was dir Amalek angetan hat« ist dann eine
Aufforderung, der Opfer zu gedenken und
die Erinnerung an die Täter zu tilgen.
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
Das ist der Moment, in dem mehrere
Geistliche peinlich berührt die Stirn runzeln
oder mitleidig lächeln. Einige wissen wohl:
Papst Franziskus hat zwar im Beisein von
Kardinalstaatssekretär Parolin mit Raphael
Schutz, dem israelischen Botschafter beim
Heiligen Stuhl, gesprochen, will aber von
der langen Liste jüdischer Bittsteller vorerst
niemanden mehr empfangen. Keine An-
gehörigen der Geiseln, keine Überlebenden
des Massakers – obwohl die bei Italiens Prä-
sident Mattarella waren. Warum nicht?
Weil, heißt es vertraulichst aus der Kurie,
dies im Krieg zwischen der Hamas und Israel
als Parteinahme missverstanden würde.
Es gibt aber Vatikandiplomaten, die
finden das falsch. Auch das Schweigen eines
Papstes werde politisch interpretiert. Auch
Nichtstun könne Sünde sein. Ein Friedens-
gebet für die Kriegsopfer, wie vergangenen
Freitag im Petersdom, genüge nicht.
Wer wüsste das besser als die Juden
Roms. Unweit des Petersdoms wurde
neulich erst ein Büro des World Jewish
Congress eröffnet. Sie hatten ihr eigenes
Catering mit, das sagt wohl alles. Zuge-
gen waren die jüdischen Chefs Ronald
Lauder und Maram Stern, als hochrangi-
ge Gäste Parolin, Botschafter Schutz und
der emeritierte Kurienkardinal Walter
Kasper, 90. Dann ein Vertreter der deut-
Man kann Netanjahu kritisieren, aber
man sollte es mit der Auslegung des Zitates
nicht übertreiben. Denn nicht Krieg ist die
Kernbotschaft der Heiligen Schriften von
Judentum, Christentum und Islam. Sie ver-
heißen uns, neben der Nächstenliebe,
himmlischen Frieden. Werden wir ihn auf
Erden noch herstellen?
Dass Kriegsparteien und insbesondere
Terroristen sich bei bewussten Rechtsbrü-
chen auf Gott berufen, dass sie versuchen,
ihre Morde zu legitimieren, ist nicht neu.
schen Botschaft und einer vom Ökume-
nesekretariat, der neue Rektor des deut-
schen Collegs Campo Santo, wo während
der faschistischen Zeit unter anderem
Juden versteckt wurden. Ein ziemlich
kleiner Kreis. Wo waren andere christli-
che Truppenteile, die Friedensdiploma-
ten der Kirche?
Das fragte man sich im Oktober in
Rom noch bei anderen Gelegenheiten.
Der Gedenkmarsch der Friedensgemein-
schaft Sant Egidio war zwar wie immer
eine große Sache, aber Unterstützer aus
der Kirchenhierarchie sah man dort
kaum. Eine prominente Konferenz zu
Papst Pius XII. brachte zwar Juden und
Christen zusammen, aber auf die Frage
nach einer Erklärung zur Lage in Nahost
herrschte peinliches Schweigen.
Ähnlich die Weltsynode im Vatikan.
464 Katholiken aller Kontinente waren da,
um über Kirchenreformen zu beraten,
Kardinäle wie Gracious aus Indien, Barreto
aus Peru, neue Köpfe aus Afrika und Asien,
viele Laien – und erstmals Frauen mit
Stimmrecht. Weil der Papst vier Wochen
anberaumt hatte für die Synode, und weil
sie an runden Tischen mit rotierender Be-
setzung tagte, unterblieben die übliche
Scharmützel. Stattdessen sah man täglich
gut gelaunte Teilnehmer in den Vatikan
pilgern. Der Augsburger Bischof Bertram
Meier lobte spöttisch: Sonst lebe man gern
von freundlichen Lügen, weil einem zur
Wahrheit die Liebe fehle. Diesmal nicht!
Nur zum Krieg in Nahost fiel den
Synodalen nichts ein. Von all den Bischö-
fen kam allein der Deutsche Georg Bät-
zing mit seinem Sprecher zum Gedenken
auf den Petersplatz. War anderen die
akute Gefahr in Nahost nicht klar? Oder
egal? Dagegen hätte geholfen, mal den
israelischen Botschafter Schutz zu besu-
chen, die schwer bewachten Checkpoints
zu passieren und ihn nach seiner betagten
Mutter zu fragen, die mit Anne Frank im
selben Kindergarten war. Wie muss es
heute sein, die Shoah überlebt zu haben?
Bei Ricordiamo Insieme stellen sie
diese Frage ganz offen, organisierten dazu
gleich fünf Veranstaltungen im Oktober.
Die deutschen Gründer Friederike und
Tobias Wallbrecher (sie Lehrerin, er Arzt)
verursachten sogar einen heilsamen klei-
nen Skandal, indem sie katholischen
Schülern erklärten, wie mörderisch
christlicher Antisemitismus sein kann –
und dass auch Jesus die Shoah nicht über-
lebt hätte. Wer das sagt, riskiert in Rom
noch, dass man ihm das Mikrofon ent-
reißt. Friederike Wallbrecher hat mittler-
weile an die siebzig Zeitzeugenberichte
protokolliert. Und sie hatte die Idee, im
Militärkolleg 280 Gedenktäfelchen mit
den Namen deportierter jüdischer Kinder
Roms auszulegen. So konnten die Nach-
fahren ihre bambini aus den 1940ern
finden und für sie eine Kerze anzünden.
Eines der Kinder, das damals dem Tod
entging, ist Nando Tagliacozzo, heute 82.
Sein Glück war, dass die Wohnung der
Eltern nicht auf der Liste der Deutschen
stand. Seine Schwester dagegen hatte das
Pech, gerade nebenan zu Besuch zu sein.
Der Tag dieser Razzia, der 16. Oktober
1943, war übrigens auch ein Samstag,
auch ein schwarzer Schabbat. Nun, nach
dem sabato nero vom 7. Oktober, sagt
Tagliacozzo, er erwarte von den Deut-
schen, dass sie Israel beistehen, den anti-
semitischen Terror zu bekämpfen.
Die Israelis wiederum erwarten vom
Papst: dass er Angehörige der Geiseln
empfängt und Israels Recht auf Selbstver-
teidigung verteidigt, dass er öffentlich
sagt, dass Israel seit Wochen unter Rake-
tenbeschuss steht. Und dass er die Chef-
rabbiner des Landes anruft.
Die Geschwister Spizzichino haben
einen einfachen Wunsch. Sie finden: Es
würde schon genügen, Israel zu verteidi-
gen, denn die meisten Israelis verteidigten
die Palästinenser. Den Schwestern geht es
nicht um Politik, sondern um etwas Per-
sönliches: den Mut zu einem glücklichen
Leben, den Mut, zu lieben und zu ver-
trauen. Sara sagt: »Ich leide unter Angst-
attacken. Aber ich sage mir: Sei authen-
tisch und zeige deine Angst. Es ist nicht
deine Schuld, dass du jetzt Angst hast.«
In Deutschland stiftete Friedrich Wilhelm
III. einst ein Abzeichen für seine Armee, auf
dem stand: »Mit Gott für König und Vater-
land«. Die Terroristen der Hamas nun be-
rufen sich laut auf Gott (Allahu Akbar).
Statt dies allen Muslimen anzukreiden,
sollten wir darauf bestehen, dass das Land
der drei abrahamitischen Religionen keinen
heiligen Krieg braucht, sondern Frieden.
Andreas Nachama, 71, ist Rabbiner, leitete
die Stiftung »Topografie des Terrors«
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

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Oder
andersrum?

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Foto: Alexandra Polina für DIE ZEIT

Luxustaschen sind das ultimative Statussymbol. Jetzt bedrohen nahezu perfekte Fälschungen die Modebranche. Auf der Jagd nach den Superfakes VON NIKO KAPPEL
66
»Aber ist das nicht alles sehr illegal?«, fragte ich.
»Hochgradig, mein Lieber«, sagte die Lehrerin
E
Es begann damit, dass ich auf TikTok
immer mehr Frauen sah, die stolz erklärten,
dass sie für ihre Designertasche nur 50 Euro
ausgegeben hätten. Unter diesen Videos
stand das Hashtag #superfake. Gefälschte
Handtaschen, bis hin zur letzten Naht und
Prägung originalgetreu nachproduziert,
einfach über das Internet zu kriegen. Für
ein Zehntel des Originalpreises.
Das war einigermaßen verwirrend. Bis-
her hatte ich diese Art von Handtasche als
untrügliches Erkennungsmerkmal von ech-
tem Reichtum verstanden. Wer wie Lady
Gaga oder Christine Lagarde den Gegen-
wert eines Carports lässig an der Elle bau-
meln ließ, was konnte sich so jemand nicht
leisten? Für die wohl bekannteste dieser
Handtaschen, die in den Achtzigern für
Jane Birkin entworfene Birkin-Bag von
Hermès, hieß es, müsse man sogar mehrere
Jahre auf Wartelisten verbringen.
Wenn ich dagegen an Mode-Fakes
dachte, fiel mir vor allem ein Urlaub mit
meinen Eltern ein, Kroatien 2005. Damals
kaufte ich mir ein Trikot von Arsenal Lon-
don. Thierry Henry, der französische
Stürmergott, Rückennummer 14. Das
Nike-Logo fehlte, und nach drei
Waschmaschinengängen löste sich die
14 auf dem Rücken auf. Meine Mutter
war sauer, weil sie die weißen Plastik-
brösel aus der Trommel pulen musste.
Später, in der sechsten Klasse, brachte
uns eine Freundin gefälschte Ed-Hardy-
Shirts aus Tschechien mit. Wieder war
die Waschmaschine der Endgegner:
Das Shirt lief ein, die Glitzersteinchen
auf dem Totenkopflogo lösten sich.
Gefälschte Luxusmode, war lange
mein Eindruck, erkennt man an den
etwas zu großen Markenschriftzügen auf
den Jogginghosen von Teenagern. Ein
wenig erinnerte das an den Rotmilan,
von dem ich einmal gelesen hatte. Er
schmückte sein Nest mit buntem Plastik-
müll, um seine Artgenossen zu beein-
drucken. Nice try. Aber das hier war
anders. Offenbar ging es nicht darum,
wertlosen Schrott aufzutragen, um cool
zu sein. Was wertlos war und was nicht,
ließ sich nicht mehr zweifelsfrei unter-
scheiden. Lag der Wert hier also nur noch
darin, dass ein Unternehmen tatsächlich
Tausende Dollar für eine solche Hand-
tasche eingenommen hatte? Und was war das
für eine Welt, in der diese Superfakes zirku-
lierten? Wer schmückte sich mit perfekt
getarntem Schrott?
Der Markt für gefälschte Handtaschen,
stellte ich fest, wächst seit Jahren. Amazon hat
deswegen eine Initiative gegen Fälscher
gegründet, der amerikanische Handelsver-
band AAFA beschwert sich, dass Fakes den
Markt fluten. Die International AntiCounter-
feit Coalition, die unter anderem Personal
in Häfen schult, veröffentlichte auf ihrer
Website ein Aufklärungsquiz mit Superfake-
Taschen. Es gibt Gerüchte, dass Luxus-
marken gezielt Superfakes jagen und sie in
ihren Kellern schreddern lassen – wenn sie die
gefälschten Exemplare denn erwischen.
Kam man da wirklich einfach so ran, ohne
dass es der Zoll, die Polizei oder eines dieser
börsennotierten Unternehmen merkten?
Ich rief Leon an, dessen Namen ich hier
lieber geändert habe. Er ist der Sohn einer
Kollegin. 19 Jahre alt. Und, wie mir seine
Mutter erzählte, im Besitz der einen oder
anderen superfake bag. Seine erste gefälschte
Foto: Alexandra Polina für DIE ZEIT
Tasche sei eine Goyard gewesen, sagte er
mir. Niemand habe die damals gehabt, das
sei ihm wichtig bei Designerpieces. Indivi-
dualität. Und Präsenz auf Social Media.
»Prahlen ist geil«, sagte Leon. Nur sei das
mit seinem Taschengeld kaum möglich.
»Aber es gibt Möglichkeiten«, sagte
Leon.
ENTDECKEN 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
»Welche?«, fragte ich. sie tatsächlich bei mir eintreffen, würde ich Ich klickte auf den Link. Rote Fahrrad-
Tasche original oder gefälscht war, schickte
»Facebook«, sagte Leon. sie Louis Vuitton übergeben. lenker-Abdeckungen à zehn Dollar. 25 da-
der Zoll die Tasche zu der Stelle, die sich
Er gab mir einen Kontakt. Eine Freun- Auf TikTok musste ich nicht lange damit am besten auskennt: zu MCM. von landeten in meinem Warenkorb. Dann
din seiner Eltern sei da ziemlich findig. Die suchen, um Menschen zu finden, die sagten, schrieb ich der Verkäuferin eine Facebook-
5000 Euro Strafe hätte die Lehrerin
solle ich anrufen. sie hätten für ihre Keepall 200 statt 2100 zahlen müssen. Sie hielt das Geld alsNachricht mit dem Code. Sie antwortete
Warum, fragte ich mich, ist es jungen Euro ausgegeben. Hier bekannte man sich Reserve auf dem Konto und informiertemit einem Link zu einem chinesischen
Menschen heute egal, dass sie Fakes tragen? frei von Skrupeln zu seinen Fakes. PayPal-Account. Ich bezahlte.
sich, was es bedeuten würde, vorbestraft zu
So egal, dass sie, wie die Frauen auf TikTok, »It’s not about the bag. It’s about the aura sein. Acht Wochen später kam ein Brief Und natürlich kam ich genau jetzt ins
damit sogar angeben? Wie beschämt wäre of being a person who carries that kind of vom Zoll. MCM hatte die Tasche über- Schwitzen. Würde bald der Zoll bei mir vor
ich gewesen, wenn damals in der bag«, so hatte es die Journalistin Amy X. der Tür stehen?
prüft. Das Ergebnis: Sie sei echt. So gut war
Ed-Hardy-Ära auf dem Schulhof jemand Wang, die sich für die New York Times mit die Fälschung. Die nächsten Tage: Keine Nachricht von
die Fälschung erkannt und benannt hätte. Luxustaschen beschäftigt, in einem Video der Dealerin. Sooft ich auch nachfragte.
Während meiner Recherche sollte ich
In der Financial Times schrieb die auf TikTok beschrieben: Nicht die Tasche noch öfter hören, was ein Grund für die Am dritten Tag ein Video. Wohl um mich
Autorin Annachiara Biondi dazu im April sei entscheidend, sondern die Aura, die sie täuschende Echtheit der Taschen sei: Die
zu beruhigen, weil ich mit meiner nervösen
den Text »Warum junge Käufer cool mit verleihe. Verleiht auch ein Fake eine Aura? Hersteller von Superfakes, sagte auch die
Fragerei so nervte. Es war 2:47 Minuten lang,
Fälschungen sind«. Biondi erklärte den Ich schrieb eine E-Mail an Barbara Lehrerin, arbeiteten mit Originalteilen.
die Dealerin trug darin schwarze Hand-
Trend mit verschiedenen Faktoren, höhe- Vinken, eine berühmte Modetheoretikerin. Die würden etwa in Hongkong nachts aus
schuhe, ihr Gesicht sah man nicht, der Tisch
ren Lebenshaltungskosten zum Beispiel, »Warum tragen wir Luxustaschen?«, fragte den Firmen geklaut und dann an die vor ihr war hell erleuchtet. Sie testete alle
ein bisschen wie bei Leon. Aber auch, und ich. Sie schrieb zurück: »Die Handtasche Taschenfälscher verkauft. Ich konnte diese
Reißverschlüsse, zeigte alle Logos und Schnal-
da stutzte ich: mit »frugal flexing«, so un- ist das Statussymbol schlechthin, das Logo Theorie nicht überprüfen, aber zumindest
len und strich behutsam über das Leder.
gefähr: Sparsamkeitsangeberei. Junge Men- steht für die Welt von Luxus und Gla- wollte ich einen tieferen Einblick in eine
Frauen wie meine Dealerin, das hat Amy
schen seien immer noch interessiert an mour.« Um dieses Eintrittstor in die Welt der Luxusmarken bekommen. Also fuhr Wang für die New York Times recherchiert,
klassischen Statussymbolen, aber nicht be- der Reichen geht es bei den Superfakes. Mit ich in die Schweiz zu einer Freundin, die
verkauften teils mehr als 30 solcher Taschen
reit, dafür hohe Summen hinzulegen. Sie nichts kann man sich so einfach als Reicher bei einer großen Modemarke arbeitet. am Tag. Eine erzählte ihr, sie verdiene 4300
seien stolz darauf, eine günstige Alternative verkleiden wie mit einer 200-Euro-Tasche, Einer Marke, die seit Jahrzehnten gegen
Dollar monatlich damit. Wang erfuhr auch
zu finden. die aussieht, als koste sie das Zehnfache. Fälschungen vorgeht. einen Grund, warum die Fälscherbanden so
»Wollen Sie mich in einer Minute noch Während ich auf den Bildschirm starrte, Wir tranken Latte macchiato auf ihrem
schwer zu stoppen sind. Anders als noch vor
mal anrufen?«, sagte die Frau am anderen die Lehrerin am Telefon, stellte ich mir vor, Balkon in Luzern und blickten auf deneinigen Jahren würden sie sich blockweise
Ende der Leitung, deren Nummer Leon ich würde diese Tasche tragen. Oder diese. Vierwaldstättersee und die Alpen, während
organisieren: die Finanzen, die Entwürfe,
mir gegeben hatte. »Ich bin gerade bei »Sehen Sie die Louis Vuitton Body Bag da meine Freundin mir Tipps gab, woran man
die Herstellung, alles streng getrennt. Kä-
einem superschweren Candy Crush-Level oben?«, fragte die Lehrerin. »Für 250 Dol- eine Fälschung im Zweifel vielleicht doch
men die Ermittler einem Block auf die
und habe mir einen Booster gekauft.« lar.« Eine kleine Bauchtasche. »An der zeige erkenne. »Louis Vuitton macht die Taschen
Schliche, sei er schnell ersetzt.
Wenig später hatte sie Zeit. »Haben Sie ich Ihnen, wie das funktioniert.« aus einem Lederstück«, erklärte sie mir. Bei
Einen Tag später erhielt ich von meiner
Facebook?«, fragte die Frau. Sie lud mich in Bei der Tasche stand ein Link zu AliEx- einer echten Louis-Bag müsse das Logo auf
Taschendealerin eine Nummer. Es war ein
eine Gruppe ein, nennen wir sie hier mal: press, der chinesischen Version von eBay. der einen Seite verkehrt herum sein, weil
Code zur Sendungsverfolgung.
»AE Super Fancy Fashion Buy Group«. »Klicken Sie, Herr Kappel«, sagte die der Print ja durchlaufe. Genau das würden
14. 7. – Sent to Guangzhou, Guangdong
Die Frau am Telefon soll im Folgenden Lehrerin, und ich hatte den Eindruck, dass viele Fälscher falsch machen. Außerdem
international sorting center
einfach »die Lehrerin« heißen, denn ihr das Ganze Spaß machte. müssten sich die Schnallen schwer anfüh-15. 7. – Received by Airline
natürlich möchte sie, die sich in Kreisen Ich klickte. AliExpress baute sich auf. len. Beim Original seien die aus Messing.
25. 7. – Arrived in Germany
bewegt, in denen Leute Originale tragen, Aber da war keine Tasche. Ich landete auf Dann fragte ich, wie sie in ihrer Firma
26. 7. – Nicht-EU-Sendung – Vorprü-
nicht als jemand in der ZEIT stehen, der einer Verkaufsseite für Kindersocken. In mit Fälschungen umgehen. »Unten im Kel-
fung zur Einfuhr
auf zwielichtigen Seiten Gucci-Fakes Rot. Das Paar für 2,50 Dollar. ler gibt ein riesiges Archiv mit Uhren, 28. 7. – Out for delivery
1. 8. – Der Empfänger wurde
benachrichtigt. Die Sendung liegt zur
Abholung in der zuständigen Filiale
der Deutschen Post.
Die Beschläge waren alle einzeln
mit Plastikfolie eingepackt. So ver-
klebt, dass ich die Folie mit den Zäh-
nen abreißen musste. War das normal?
Das Muster war auf der einen Seite auf
dem Kopf, also richtig herum. Der
Tasche lagen sehr viele Riemen bei und
sogar ein kleines Schloss mit der Auf-
schrift »LV«. Ich fuhr mit meinem
Finger über die Nähte. Jede einzelne
suchte ich ab. Da war kein Fehler.
Ich schrieb der Modefreundin aus
der Schweiz.
»Holy guacamoly!«
Ich stellte mich vor den Spiegel. Es
mag lächerlich klingen, aber die Tasche
gefiel mir außerordentlich gut.
Erst auf dem Weg ins KaDeWe, in der
U8, Berlins härtester, durch Neukölln
und Kreuzberg verlaufender U-Bahn,
kippte meine Stimmung. Die Leute
schauten mir hinterher, aber es waren
keine anerkennenden Blicke. Eher ein
Die Louis-Vuitton-Tasche Keepall 45, hier das gefälschte Exemplar. Auflösung von Seite 65: Unten links das Original, oben rechts der Fake abfälliges Glotzen. Oder bildete ich mir
das nur ein? Als ein Sitzplatz frei wurde,
shoppt. Sie sei, das betonte sie, ja nicht »Da sind Kindersocken«, sagte ich. »Ja«, Taschen, Schuhen«, sagte sie. »Wenn Fakes schob ich die Tasche hinter meine Waden.
Gen Z. freute sich die Lehrerin. »Ist das nicht toll?« auffallen, dann gehen die runter, und wir Im KaDeWe ging es besser. Im Erdgeschoss
»Die ›AE Super Fancy Fashion Buy »Sie müssen jetzt so viele Kindersocken checken sie gegen. Jeder Artikel wird min- betrat ich den Louis-Vuitton-Laden. Die Ver-
Group‹ ist wie das Alsterhaus«, sagte die bestellen, wie Ihre Tasche kostet«, sagte die destens zehn Jahre archiviert.« Manche Mar- käuferin war sehr freundlich. Aber als ich
Lehrerin. Das Alsterhaus ist ein Nobelkauf- Lehrerin. Ich schaute wieder in den Face- ken, auch die meiner Freundin, beschäftigen meine Frage stellte, fror ihr Gesicht ein.
haus in der Hamburger Innenstadt. »Hier book-Post. 250 Dollar für die Tasche. 2,50 sogar Fake-Jäger, die Social Media nach »Sieht die echt aus?«
gibt es alles. Hier können Sie kaufen, kau- Dollar für ein Paar Babysocken. Machte Superfakes durchsuchen und die Verkäufer »Das Headoffice hat gesagt, wir dürfen
fen, kaufen.« Sie selbst bestelle dort wie 100 Paar Socken. verklagen. Gerne hätte ich darüber mit dazu keine Auskunft mehr geben.«
eine Weltmeisterin. »Jetzt müssen Sie dem Verkäufer einen jemandem von Hermès, Louis Vuitton oder Moment, also wird das öfter gefragt?
Ich scrollte. verschlüsselten Code schicken, der im Gucci gesprochen. Aber leider antwortete Jeden Tag würden Leute mit Superfakes
Louis Vuitton Bumbag, 270 Dollar. Facebook-Post zu Ihrer Tasche steht«, sagte mir dort niemand auf meine E-Mails. kommen und sie bei ihr testen, sagte die
Originalpreis, googelte ich: 2030 Dollar. die Lehrerin. »So weiß der Fälscher Be- Nur Chanel teilte mit, sie würden eng Verkäuferin. Und die Fälschungen seien
Yves Saint Laurent Large Loulou, 395 scheid, dass Sie nicht die Babysocken wol- mit Zoll und Polizei zusammenarbeiten, mittlerweile so gut, dass sie das hier im Store
Dollar. Originalpreis 3450 Dollar. len, sondern diese schicke, schicke Tasche.« um Fälscher zu stoppen. Allein im Jahr unmöglich erkennen könne. Die Taschen
Chanel Flap Bag, 490 Dollar. Original- Dieses Mal bestellte ich noch nicht, ich 2022 habe die Firma in den 85 Ländern, in sehen echt aus. Der einzige Unterschied:
preis 10.200 Dollar. wollte das Prinzip erst mal verstehen. Und denen sie aktiv ist, mehr als 5,6 Millionen Die, die an den Fakes verdienen, hatten
Die Bilder waren classy ausgeleuchtet, das war also der Trick. Versteckte Trans- gefälschte Produkte beschlagnahmen lassen. niemals die Idee zu einer perfekten Tasche.
wie die Originale. Auch wenn mir klar war, aktionen über AliExpress. 400.000 Beiträge mit Fälschungen auf Sie haben nicht experimentiert, um ein
dass ich mich hier im Zwielicht bewegte, »Aber ist das nicht alles sehr illegal?«, Social Media habe sie löschen lassen, dazu neues Design zu entwickeln, sie beschäfti-
ich spürte doch eine gewisse Faszination. fragte ich zugegebenermaßen etwas schein- 1900 Websites. gen keine sehr freundlichen Verkäuferinnen
Besonders eine Tasche war mir ins Auge heilig die Lehrerin. Während es in Luzern anfing zu regnen, in Stores. Sie haben einfach nur geklaut.
gefallen. Man sieht sie häufig an Stars auf »Hochgradig, mein Lieber«, sagte sie. hatte meine Freundin noch einen letzten Die Reaktion der Verkäuferin ging mir
Instagram: die Louis Vuitton Keepall 45. »Hochgradig illegal.« Tipp für mich. Wenn ich wissen wolle, wie nicht mehr aus dem Kopf. Plötzlich schämte
Der Sänger Pharrell Williams trug sie, Einmal sei sie fast erwischt worden. Vor gut meine Superfake ist, müsse ich ins Epi- ich mich. Wie ein ertappter Kleinbetrüger
David Beckham auch, ebenso die Models ein paar Jahren habe sie sich über »AE Super zentrum der Neureichen gehen. Ins setzte ich mich zu Hause an meinen Com-
Bella Hadid und Paris Hilton. Es ist eine Fancy Fashion Buy Group« eine Tasche der KaDeWe. Das Kaufhaus des Westens. »Die puter und begann die Mail an Louis Vuitton.
Reisetasche aus Leder, mit Tragriemen. Luxusmarke MCM bestellt. Sie habe mona- Verkäuferinnen dort erkennen Fakes.« Ich schrieb, dass ich mich gerne selbst anzeigen
Simpel, aber zeitlos und ikonisch. telang gewartet. Irgendwann sei statt der Zurück auf meiner Couch in Berlin würde. Ich hätte eine ihrer Taschen gefälscht
Ich besprach mich mit der Redaktion Tasche ein Brief vom Zoll in ihrem Brief- scrollte ich durch die Facebook-Gruppe. im Internet erstanden und würde sie nun
und wir beschlossen, herauszufinden, wie kasten gewesen. Das Paket aus China war Vorbei an Gucci-Pantoffeln und Prada- gerne abgeben. Aber bei Louis Vuitton wollte
das System funktioniert, wie die Tasche bei einer Stichprobe geöffnet worden. Nun Geldbörsen. Dann sah ich sie. Die Louis sich niemand mit mir treffen, auf mein
zum Kunden kommt. Zum Test würde ich wurde die Lehrerin beschuldigt, gefälschte Vuitton Keepall. In Schwarz. Der Preis: Angebot erhielt ich keine Reaktion. Meine
versuchen, eine Tasche zu bestellen. Sollte Ware bestellt zu haben. Zur Prüfung, ob die 250 Dollar. Tasche wollten sie offenbar nicht haben.
 ENTDECKEN 67

RICHTIG GUTE LEUTE

Yasmine M’Barek
entdeckt: Backmischungen
Wie unsere Autorin endlich einen Weg fand,
Unmengen von Teig in ihr Leben zu integrieren

M
ein Guilty Pleasure
sind Backwaren. Ich
vertrage kein Glu-
ten. Jetzt haben alle
kurz Mitleid, denn
ich bin zusätzlich arabisch soziali-
siert, und somit bleibt mir meine
eigentlich vorbestimmte größte
Lebensfreude vorenthalten: Teig in
jeder Form.
Ja, natürlich gibt es viele gluten-
freie Bäckereien. Aber die Sachen
sind entweder hart, trocken, zu
mittlerweile dazu. Nun finde ich
mich selbst natürlich manchmal
auch ein bisschen nervig. Ich habe
aber einen Trumpf in der Tasche,
den ich nun benennen will: Back-
mischungen aus dem Biosuper-
markt.
Meinen Traum, eine perfekte
Ehefrau zu sein, und der damit
verbundene Traum der Allgegen-
wärtigkeit von Teigwaren, die ich
natürlich selbst zubereite, hatte ich
bereits ad acta gelegt. Aber dann
halben Stundenlohn, dafür ernähre
ich mich sonst wenig dekadent.
Backmischungen machen mich
zur wifey, zur perfekten patriarchalen
Ehefrau, vor allem und umso mehr,
da ich schamlos lüge, wenn jemand
fragt, ob das Gebackene selbst
gemacht ist. Ich hole den Kuchen
schon derart stolz aus dem Ofen, dass
sich die Frage verbietet. Und allein
die Endorphine, wenn ich den
kleinen, prallen Aluminiumbeutel
aufreiße, mir die erste Kakao-Duft-

Foto: Bastian Thiery für DIE ZEIT

säuerlich oder schmecken einfach
nur nach Mais. Jegliches glutenfreies
Gebäck wird mit Mais angereichert
und dann mit vielen Euros Aufschlag
verschachert. Und das, obwohl es
kaum noch Mineralstoffe hat.
Kapitalismus merzt die margina-
lisierten Esser aus, das ist die Lehre.
Wer hat das überhaupt erlaubt?
Mais ist ekelhaft, bläht auf und lässt
jedes Weckchen nach Discounter
schmecken. Dann hätte ich doch
viel lieber ein echtes, weiches, fluffi-
ges, Magen-Darm-Probleme verur-
sachendes Milchbrötchen, von dem
man sicherlich weitere gesundheit-
liche Probleme bekommt, über die
wir nur noch nichts wissen.
Mir sind Lebensmittelunver-
träglichkeiten und Menschen, die
mit ebensolchen in gentrifizierten
Stadtteilen wohnen, unglaublich
unsympathisch, aber ich gehöre
kam die Wende: Seit drei Monaten
backe ich wöchentlich Kuchen,
Brote, Ciabatta oder kleine Muf-
fins. Im Schnitt dauert mein Ein-
satz fünf Minuten. Ich brauche
Eier, Butter und Milch. Ich habe in
gute pastellfarbene Silikonformen
investiert, und mein Leben wurde
dadurch nachhaltig aufgewertet.
Manchmal höre ich die Stimme
meiner Mutter, die diese Fertig-
produkte verurteilt, aber sie kennt
das schon, sie litt auch in meiner
Kindheit. Während alle Gäste
beherzt Tabouna (tunesisches Brot)
benutzten, um ihre Eintöpfe zu
genießen, konnte ihre eigene
Tochter nur mit der metallischen
Kälte des Löffels vorgehen.
Jetzt habe ich also Ciabatta in
meinem Leben, das nach Mehl und
nicht nach Mais schmeckt. Es kos-
tet mich zwar immer noch einen
wolke entgegenkommt und ich weiß,
das Bild auf der Schachtel wird gleich
zum Anfassen sein! Denn es sieht
fast immer so aus wie auf der Ver-
packung, hier ist die Welt noch in
Ordnung, hier wird der Konsument
noch nicht betrogen.
Woher die Inhaltsstoffe kommen
und ob das gesund ist, fragen Sie?
Meine Antwort lautet: Mir ist es egal.
Und noch egaler ist es mir, ob ich es In dieser Woche freuen wir uns über: Andreas Murkudis
ohne Backmischungshilfe auch hin-
bekommen würde (natürlich nicht). Ich war etwa elf Jahre alt, lebte in der DDR und hatte immer wohl er weder Italienisch noch Englisch spricht. Er lebt allein in
Während ich so in der Küche denselben Albtraum: Mitten in der Nacht wachte ich auf und seinem Haus in Griechenland und tanzt dort bei lauter Musik so
stehe, frage ich mich manchmal, ob dachte, dass ich sterbe. Dass das Leben vorbei ist. Dabei hatte ich lange, bis die Polizei kommt. Als er mich zu Silvester in Berlin
Judas wohl eine Glutenunverträg- als Kind gar keine Idee von der Endlichkeit der Welt und von der besuchte, feierte er bis drei Uhr nachts mit anderen Griechen und
lichkeit hatte und Jesus ihm einen Zeit. Bis heute beschäftigt mich dieser Traum, und ich habe auch kam dann verschwitzt mit dem Nachtbus nach Hause.
Laib aus Brotbackmischung hätte mit meinem Vater darüber gesprochen. Er meinte, wir beide Er hängt am Leben. Mir geht es genauso. Und er hat be-
reichen sollen, dann hätte sich der seien eben sehr lebenshungrig und hätten Angst vor dem Ende. stimmt recht: Mich treibt um, dass ich vieles nicht mehr sehen
Verräterlohn der Hohepriester gar Mein Vater ist 92 und tut alles, um nicht zu sterben: Morgens werde, Orte nicht mehr werde besuchen können. Ich bin 40
nicht gelohnt. Ich würde mich je- macht er seine Übungen und isst rohen Knoblauch. Nach sechs Jahre lang nicht beim Arzt gewesen, vom Zahnarzt abgesehen,
denfalls jederzeit von einer Tüte Uhr abends isst er nichts mehr. Und er kostet das Leben voll aus, weil ich Angst hatte vor einer schlimmen Diagnose. Vor ein paar
Pulver bestechen lassen. ist zum Beispiel vor zwei Jahren allein nach Neapel geflogen, ob- Monaten habe ich es schließlich gewagt – und ich bin gesund.

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68 ENTDECKEN 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

Margot Friedländer wird bald 102 Jahre alt.

Das Herz will nicht mehr so, und im Sommer
sind ein paar Rippen gebrochen, sie ist beim
Wäscheaufhängen gestürzt, ihre Knochen heilen
noch immer. Jetzt setzt sich Friedländer in
ihrer kleinen Wohnung in einer Berliner
Seniorenresidenz aufs Sofa, um sie herum
Erinnerungen an ihr Leben: Bücher aus ihren
Jahren in New York, Bilder von Freunden,
von ihrem verstorbenen Mann, Stapel von
Unterlagen auf allen Tischen und Stühlen.
Mittendrin liegt ihre getigerte Katze.
Wenn man bedenke, wie alt sie sei, gehe es ihr
ganz gut, sagt sie. Nur gerade könne sie wegen
ihres Sturzes nicht so viel machen. »Sehen Sie.
Sogar mein Kostüm musste ich umarbeiten, so
viel Gewicht habe ich verloren.«
Friedländer war schon immer klein, keine
1,60. Nun ist sie auch noch schmal. Aber sie
hat nicht vor zu verschwinden. Als eine der
letzten Holocaust-Überlebenden ist das, was
sie zu erzählen hat, gerade aktueller denn je.
Dreimal treffen wir sie für dieses Gespräch.
Das letzte Treffen findet Mitte Oktober statt,
zwei Wochen nach den Morden der Hamas.

DIE ZEIT: Frau Friedländer, als Sie gehört

haben, dass mehr als 1400 Juden von der Ha-
mas in Israel ermordet worden sind, was waren
Ihre ersten Gedanken?
Margot Friedländer: Ich konnte es nicht glau-
ben, dass so etwas nach dem Holocaust noch
einmal geschieht. Diese Bitterkeit, die darin
zum Ausdruck kommt. Dieser Hass. Ich fürch-
te, hier sehen wir, wie schnell Menschen beein-
flusst werden können. For right or wrong. Und
das ist, was ich immer predige. Seid vorsichtig.
Wenn ihr Menschen seid, dann macht ihr so
etwas nicht. Menschen würden das nicht tun.
ZEIT: Wie haben Sie von den Terroranschlä-
gen erfahren?
Friedländer: Das geschieht doch heute binnen
Minuten. Ich hatte Besuch, und mein Besuch
bekam eine Nachricht von ihrem Vater, kurz
nachdem es passiert war. Auch die Grausam-
keit hat sich sehr schnell herumgesprochen.
ZEIT: Der Schriftsteller und jüdische Intellek-
tuelle Maxim Biller schrieb in der ZEIT, das
sei ein Pogrom gewesen. Der israelische Mi-
nisterpräsident sagt, die Hamas-Terroristen
seien die neuen Nazis.
Friedländer: Wir brauchen andere Begriffe. Es
ist nicht dasselbe.
ZEIT: Vielleicht ist es der Versuch, den absolu-
ten Vernichtungswillen zu beschreiben, der in
den Morden zum Ausdruck kam.
Friedländer: Sicher. Und trotzdem leben wir in
anderen Zeiten.
ZEIT: Welche Empfindungen haben die Er-
eignisse bei Ihnen wachgerufen?
Friedländer: Der Holocaust und meine Erleb-
nisse sind mir immer präsent. Ich werde die
Sache nicht los, als ob es gestern wäre. Und
natürlich sehe ich nach diesen Morden die
Bilder von damals wieder vor mir.
ZEIT: Wie denken Sie angesichts dessen über
die manchmal gewalttätigen Demonstranten in
Berlin, die sich mit den Palästinensern oder
auch mit der Hamas solidarisieren?
Friedländer: Ich versuche es zu ignorieren.
ZEIT: Gelingt das?
Friedländer: Natürlich nicht. Es ist einfach
traurig. Und bestürzend. Die Hamas ist
schlecht zu den Palästinensern in Gaza. Sie res-
pektieren ihre eigenen Leute nicht. Denn sie
nehmen die als Schutz für sich. Das ist doch
nicht menschlich. Und es ist feige.
ZEIT: Nach diesen Wochen müssen wir fest-
halten: Viele arabischstämmige Deutsche ver-
dammen den Terror. Aber zugleich haben wir
auf den Straßen arabischstämmige Antisemi-
ten gesehen. Wir stellen fest, dass wir viele
Flüchtlinge aufgenommen haben, die antise-
mitische Einstellungen haben.
Friedländer: Haben wir das verdient? Nein. Ist
es richtig, dass wir nicht stärker darauf reagie-
ren? Ich weiß es nicht. Vielleicht sind wir zu
freundlich.
ZEIT: Was ist aus Ihrer Sicht das Mindeste?
Friedländer: Ich sage immer: Ihr braucht an-
Fotos: Paulina Hildesheim für DIE ZEIT

dere Menschen nicht zu lieben. Aber Respekt

vor anderen ist unverzichtbar.

Margot Friedländers Mutter wurde in

Auschwitz ermordet. Ihr Bruder. Verwandte.
Viele Freunde. Friedländer selbst tauchte
1943 im Alter von 21 Jahren unter, ließ sich
die Nase operieren, färbte sich die Haare und
hängte sich ein Kreuz um den Hals, um sich
äußerlich so weit wie möglich zu »arisieren«. Margot Friedländer in ihrer Wohnung in Berlin zwischen Erinnerungen an ihr altes New Yorker Leben
Trotzdem wurde sie am Ende entdeckt und im
Frühjahr 1944 ins Konzentrationslager

»I H R H E L F T M I R,
Theresienstadt gesteckt. Nach dem Kriegsende
kam sie frei und wanderte in die USA aus. In
New York arbeitete sie als Änderungsschneiderin
und in einem Reisebüro. Gelegentlich mischen
sich noch englische Wörter in ihre Antworten.
Als eine von ganz wenigen kehrte Friedländer

IN DE M IH R
dann, da war sie schon 88 Jahre alt, nach
Berlin zurück, zunächst für ein paar Tage,
um schließlich zu entscheiden: Ich bleibe. Ich
gehe zurück nach Deutschland. Das war im
Jahr 2010. Seither gilt sie vielen als lebender
Beweis dafür, dass die deutsche Erinnerungs-

M I R Z U H Ö R T«
politik der vergangenen Jahrzehnte etwas er-
reicht hat. Wenn Überlebende wie sie zurück
ins Land der Täter ziehen.

ZEIT: Haben Sie den Eindruck, dass sich das

jüdische Leben in Deutschland nun für eine
Weile zurückzieht? Dass Juden vorsichtiger
sein werden? Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer wird 102 Jahre alt.
Friedländer: Ich fürchte, nicht nur für eine
Weile. Es gibt weiterhin Menschen, die in Nun wurde ihr Lebensgeschichte verfilmt. Wohl nie wirkte sie so aktuell wie in diesen Wochen
DIE ZEIT N o 46 2. November 2023 ENTDECKEN 69

uns keine normalen Menschen, sondern
ein Zerrbild sehen. Mir ist das unver-
ständlich. Sehen Sie, wenn wir auf die
Welt kommen, ob wir nun von einer jü-
»ICH E R ZÄ H L E
ZEIT: Über das Buch kamen also die ersten
Einladungen in Schulen zustande?
Friedländer: So ist es gewesen.
ZEIT: Haben sich eigentlich über die

dischen Mutter in Israel geboren werden
oder von einer Japanerin in Tokio, beide
haben ihr Kind neun Monate lang ge-
nährt. Den heranwachsenden Kindern
war es egal, ob die Mutter koscher geges-
sen hat oder nicht. Am Ende kommt ein
Mensch auf die Welt. Ein miracle mit zwei
Armen und Beinen, ganz egal, welcher
Kultur oder Religion die Mutter angehört
hat. Wir sind alle gleich.
ZEIT: Viele Juden in der Welt hatten das
Gefühl: »Wenn es dort, wo wir leben, ein-
mal gefährlich werden sollte, dann haben
wir einen sicheren Ort, an den wir gehen
können, anders als in den Jahrhunderten
zuvor: Wir können nach Israel auswan-
dern.« Haben Sie diese Vorstellung geteilt?
Und ist sie nun zerstört?
Friedländer: Ich sehe das etwas anders. Ich
NIE VIEL
Jahre die Fragen in den Schulen verändert?
Hat sich das Wissen um den Holocaust
verändert?
Friedländer: Diejenigen, mit denen ich zu
tun habe, verabscheuen das, was war.
ZEIT: Begegnet Ihnen in den Schulklassen
inzwischen gelegentlich auch ein neuer
Antisemitismus?
VO M L AG E R ,
Friedländer: Dieses Phänomen existiert.
Aber mir gegenüber wird so etwas nicht
direkt geäußert.
ZEIT: Wann, glauben Sie, könnten Sie sa-
DA S KÖ N N E N
gen: Ich war erfolgreich?
Friedländer: Ich sehe auf die Dankesschrei-
ben, die ich bekommen habe. Ich habe viele
SIE ÜBER ALL
N AC H L E S E N .
Schülerinnen und Schüler kennengelernt,
die sich mit meinem Standpunkt ernsthaft
auseinandergesetzt haben. So versuche ich
die nachkommende Generation noch ein

ICH SPR ECH E

bin Deutsche und Jüdin. Ich finde es gut, wenig zu schmieden, wie ich es möchte.
wenn wir integriert sind, wo wir geboren Wenn ich in einer Schulklasse bin und zum
wurden. Insofern ist für mich persönlich Ende komme, mein Buch zuschlage, dann
die Möglichkeit nicht so entscheidend, sage ich immer: Ihr werdet euch wundern,

dass es Israel als sicheren Ort gibt. Ich lebe
in Berlin. Hier habe ich meine Freunde.
Aber das ist meine persönliche, sehr einfa-
che Sicht der Dinge.
DA R Ü B E R , WA S
dass ich zurückgekommen bin. Ich bin zu-
rückgekommen, um euch die Hand zu rei-
chen. Damit ihr die Zeitzeugen sein könnt,
die wir nicht mehr lange sein können.

ZEIT: Sie haben nie Angst?
Friedländer: Doch. Ich habe gelegentlich
Angst. Ich möchte mich auch aus der poli-
tischen Debatte raushalten, nicht so expo-
nieren. Ich habe etwas angefangen bei mei-
ner Rückkehr nach Deutschland mit mei-
nen Lesungen und Diskussionen mit jun-
gen Leuten. Und das möchte ich fortsetzen.
Friedländer sprach in Schulen über ihre
Flucht vor den Nazis und ihre Gefangen-
schaft im Konzentrationslager, und aus ersten
Terminen wurden Hunderte, alle mit
Kugelschreiber oder Bleistift in Kalendern
festgehalten. Die Kalender füllen bei ihr
eine ganze Schublade.
ZEIT: Wann haben Sie das bisher letzte
Mal eine Schule besucht?
Friedländer: Noch im Frühjahr. Es waren
200 Schüler da. Two hundred.
ZEIT: Wieso setzen Sie sich nicht zur
Ruhe?
Friedländer: Ich tue das für euch.
ZEIT: Es ist so viel gesagt, geschrieben und
gesendet worden über den Holocaust. Wie
begegnen Sie den Schülerinnen und Schü-
lern heute?
Friedländer: Ich erzähle nie viel vom Lager,
das können sie überall nachlesen. Ich spre-
che darüber, was menschlich ist. Und was
ich hoffe. Deshalb erzähle ich von meinem
normalen Leben als Jugendliche, bis alles
geplatzt ist. Wir hatten damals keine Chan-
ce. Und genau das ist es, was ich den Kin-
dern heute sage: Was war, war. Das können
wir nicht ändern. Aber es darf nie wieder
passieren. Ich möchte, dass ihr vernünftig
seid. Ich möchte, dass ihr Menschen seid,
die andere Menschen respektieren. Des-
halb versuche ich nicht, weiterzugeben,
was wir erlebt haben, sondern die Gefühle
der Menschen von damals den Schülern
näherzubringen. Ich sage, mein Bruder war
17, brillant, ein außergewöhnlicher Schü-
ler. Er hatte nicht die Chancen, die ihr
habt. Schmeißt es nicht weg.
ZEIT: Sind Sie denn gar nicht bitter?
Friedländer: Ich käme nicht weiter, wenn
ich bitter wäre. Ich hasse auch nicht. Es
liegt daran, glaube ich, dass mir Deutsche
geholfen haben, mich versteckt haben, et-
Und ohne sie? Was bleibt, wenn die Täter
fast alle tot sind, die Mitläufer – und auch
die Opfer? Wer erreicht die Schüler dann
noch, insbesondere die Kinder von Ein-
wanderern, die keinen familiären Bezug zum
Holocaust haben, aber als Deutsche genauso
empfindlich auf Antisemitismus reagieren
sollen wie die Nachfahren der Täter?
Friedländer weist auf eine prall gefüllte
Tüte, die im Durchgang zum nächsten
Zimmer steht. Sie ist voller Danksagungen.
Auf der Sofalehne und einem Sessel sind
mehrere Dutzend Stofftiere aufgereiht,
Geschenke von Schülerinnen und Schülern.
Einige von ihnen sollen im kommenden
Jahr im Haus der Geschichte in Bonn aus-
gestellt werden, als Teil einer Ausstellung
über die Erinnerung an den Holocaust.
ZEIT: Sind Sie in den vergangenen Jahren
eigentlich auch führenden AfD-Politikern
begegnet?
Friedländer: Ich bin zu mehreren Empfän-
gen des Bundespräsidenten eingeladen ge-
wesen, wo auch der Co-Parteichef Tino
Chrupalla von der AfD war. Aber er ist
noch nicht auf mich zugekommen.
ZEIT: Lassen Sie an sich ran, wie groß die
AfD geworden ist?
Friedländer: Das weiß ich und verfolge es.
Was suchen diese AfD-Wähler? Es geht ih-
nen zu gut!
ZEIT: Eine wichtige Strömung in der AfD
ist aber nicht nur unzufrieden, sondern of-
fen rechtsradikal.
Friedländer: Ich hätte nicht gedacht, dass
so etwas wieder möglich sein wird. Sehen
Sie: Für mich ist auch heute noch unvor-
stellbar, wie es möglich war, dass zwölf
Menschen dagesessen und etwas beschlos-
sen haben – und wie viele andere diesen
Plan dann ausgeführt haben.
ZEIT: Sie meinen die Wannsee-Konferenz
im Jahr 1942 und deren Beschluss zur Ver-
nichtung der Juden in Europa?
Friedländer: Genau. Wenn man sich mal
überlegt, in welchem Maße das gemacht
wurde. Nicht Hunderte wurden ermordet.
Nicht Tausende. Sondern Millionen. Und
es sind ja nicht nur sechs Millionen Juden
ermordet worden.
M E N S C H L IC H I S T«
rauf kommt es an: dass er die Tiefe der
Gefühle zeigen kann. Ich denke an den
Moment, in dem meine Mutter und
mein Bruder in Auschwitz getrennt
wurden.
Sie nimmt ein zerlesenes Exemplar ihrer
Autobiografie, das nur noch vom Ein-
band zusammengehalten wird. Es ist
voller bunter Klebezettel, auf den Seiten
sind Sätze und Passagen für den Vortrag
angestrichen. Dann liest sie mit brüchiger
Stimme die ersten Seiten. Wie oft hat sie
diese Stelle wohl gelesen, tausendmal?
Friedländer braucht nur wenige Sätze,
bis sie sich wieder auf den Text, auf den
damaligen Moment eingelassen hat:
»Wie unvorstellbar muss der Schmerz
meines Bruders und meiner Mutter
gewesen sein, als sie wenige Minuten
nach Ankunft in Auschwitz auseinander-
gerissen wurden. Gab es noch eine letzte
Umarmung, einen letzten Blick aus der
Ferne? Wie viel Zeit blieb meiner
Mutter? Haben sie gewusst, dass sie
einander nicht wiedersehen? Dass das
Opfer der Mutter, mit ihrem Sohn zu
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gehen, umsonst gewesen war?« Sie klappt
das Buch wieder zu.
Friedländer: Stellen Sie sich das einmal
vor. Dazu die Ungewissheit für meine
Mutter, was aus mir geworden ist. Ich
bin doch auch ihr Kind gewesen. Diese
Gedanken verlassen mich nie.
ZEIT: Ihre Mutter hinterließ Ihnen eine
Handtasche, eine Kette und ließ Ihnen
über eine Nachbarin einen Satz aus-
richten: »Versuche, dein Leben zu
machen.« Es wurde später der Titel Ih-
res Buches.
Friedländer: Mein Schuldgefühl, über-
lebt zu haben, ist immer bei mir.
Margot Friedländer holt eine Urkunde
von ihrem Schreibtisch. Es ist die
Gründungsurkunde ihrer Stiftung.
Sie wurde am 2. Juli 2023 in Berlin
eingetragen. Chefin ist die ehemalige
Kulturstaatsministerin Monika Grütters,
im Vorstand sitzen außerdem Joachim
Gauck, der ehemalige Bundespräsident,
und Mathias Döpfner, Vorstandsvor-
sitzender des Springer-Verlags. Monika
Ihre Mutter starb im KZ, von ihr ist diese Kette
Grütters will Veranstaltungen organisieren,
neue Formate schaffen, Videomaterial,
Tonaufnahmen über Friedländer
sammeln. Sie sagt: »Alles, was wir uns
erarbeitet haben über 70 Jahre an
politischer Kultur, Haltung, Erinnerung,
das ist in einer Weise unter Druck, wie
ich es mir vor zehn Jahren nicht hätte
vorstellen können.«
Die Erinnerung an den Holocaust und
der Umgang damit sind seit dem
Zweiten Weltkrieg ein entscheidender
Charakter- und Wesenstest für die
deutsche Gesellschaft. Es gilt ihn, aus
Grütters’ Sicht, neu zu bestehen – unter
schlechteren Voraussetzungen.
Friedländer: Ich bin glücklich, dass
Menschen meine Arbeit weiterführen
wollen, wenn ich nicht mehr da bin. Die
Stiftung soll sich im Übrigen nicht nur
an Schülerinnen und Schüler wenden,
sondern auch an deren Eltern. Ich habe
kürzlich wieder eine Lesung vor Erwach-
senen gemacht. Wie wenig die gewusst
haben! Schon, dass viele umgekommen
sind. Aber keinerlei details!
ZEIT: Was wollen Sie mit der Stiftung
erreichen?
Friedländer: Wenn ich nicht mehr da
bin, müsst ihr versuchen, ein Gefühl
dafür zu erzeugen, was uns Überlebende
bewegt hat, was die Opfer von damals
gefühlt haben müssen. Es ist nicht mit
den Fakten getan. Die nächste Genera-
tion muss ein Gefühl dafür bekommen.
Das ist es doch nur. Nur das. Ich kann
es nicht erzwingen. Ich hoffe, dass die
nachfolgende Generation andere Men-
schen respektiert. Denn genau das ist
damals nicht geschehen – und genau
das ist gerade in Israel wieder nicht ge-
schehen. Aber wir sind alle gleich. Wir
kommen auf dieselbe Weise auf die
Welt. So war es immer, und so wird es
immer sein.
Das Gespräch führte Götz Hamann
Das ZDF zeigt das Dokudrama »Ich bin!
Margot Friedländer« des Regisseurs Ray-
mond Ley am 7. November um 20.15 Uhr.
In der Mediathek ist es schon ab dem
Nachmittag des 2. November zu sehen
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was getan haben, was sie ihren Kopf hätte
kosten können. Das war etwas. Zugleich ist
wahr: Ich habe alles verloren. Die geliebte
Mutter. Den Bruder. (Sie ringt kurz um
Never change
Friedländer hat einiges versucht, um ihre
Geschichte für die nachkommenden
Generationen zu bewahren. Sie fing mit ih-

Fassung.) Aber was hilft es mir, wenn ich
verzweifle. Ich kann die Leute nicht mehr
greifen, die das getan haben, genauso we-
nig diejenigen, die weggeguckt haben und
die ich mindestens genauso schlimm finde.
Nur, wie könnte ich ein ganzes Volk
verurteilen?
ZEIT: Sehr viele Holocaust-Überlebende
wollten – oder konnten – nicht darüber
sprechen, was ihnen widerfahren ist. Sie
tun es. Wie kam es dazu?
Friedländer: Nach dem Tod meines Man-
nes Ende der 1990er-Jahre, ich lebte da-
mals noch in New York, habe ich an meh-
reren memory writing-Kursen teilgenom-
men. Nach ein paar Stunden dachte ich: Es
war schön, was die anderen Damen als
Autobiografien geschrieben hatten, aber
banal. Es war banal, gemessen an dem, was
wir erlebt hatten. Also habe ich meine erste
Geschichte geschrieben. Aber das ging nur
in der Nacht. Ich kann die Tiefe der Ge-
fühle nur nachts finden. Am Tage sind sie
verschwommen. Da ist so viel Lärm. Und
so ist schließlich mein Buch Versuche, dein
Leben zu machen entstanden, das 2008 er-
schienen ist.
ZEIT: Sie nehmen die Leser darin mit in
Ihre Kindheit, Sie erzählen vom Untertau-
chen und von der Haft im Konzentrations-
lager – und blicken beeindruckend ruhig,
ohne anzuklagen, auf das Leid, das Ihnen
widerfahren ist, und auf die Täter. Was hat
das Schreiben Ihnen gegeben?
Friedländer: Dadurch, dass ich es kann,
habe ich es nicht auf dem Herzen. Und ihr
helft mir, indem ihr mir zuhört.
a running syst
rem Buch an, das inzwischen die 14. Auflage
erreicht hat. Später wurde sie von der
Filmhochschule Babelsberg interviewt, die
aus den Aufnahmen ein Hologramm von ihr
erschaffen wollte, das auch in 100 Jahren
noch auf Fragen antworten kann. Und
jetzt hat Marc Lepetit mit seiner Produktions-
firma ufa Documentary ihr Leben verfilmt.
Am 5. November wird Margot Friedländer
Erleben Sie handelsblatt.com im neuen Design.
102 Jahre alt. Am 7. November läuft der
Film im ZDF.
ZEIT: Ich bin! Margot Friedländer mischt
filmische und dokumentarische Szenen. Es • Noch besser über alles im Bilde –
ist der Versuch, so viel Wahrheit wie mög- mit der neuen Startseite.
lich mit so viel Kino wie möglich zu ver-
binden: Iris Berben spielt mit, Charly Hüb- • Noch schneller auf den Punkt –
ner, Herbert Knaupp sowie Axel Prahl, und mit der neuen Seitennavigation.
Julia Anna Grob verkörpert Ihr junges
• Noch individueller –
Ich. Kommt dieser Film angesichts der Er- mit dem optimierten Meine-News-Service.
eignisse in Israel und Gaza gerade richtig?
Friedländer: I don’t know. Ich bin doch
nichts Besonderes. Jetzt testen:
ZEIT: Wie hat der Regisseur Raymond Ley
handelsblatt.com/relaunch
sich mit Ihnen auf diesen Film vorbereitet?
Friedländer: Ich habe ihm mindestens
neun Interviews gegeben.
ZEIT: Der Regisseur hat Sie gelöchert und
genervt?
Friedländer: (Sie nickt, lacht – und seufzt.)
Aber wie der Film über meine Zeit im Un-
tergrund erzählt, das ist gut. Es wird einige
Menschen ein bisschen aufrütteln, hoffe ich. Hinweis: Möchten Sie auch nach Ende der Laufzeit des Vorteilsangebotes bestens informiert sein,
ZEIT: Wie so viele Autoren hofften Sie, der brauchen Sie nichts weiter zu tun. Sie erhalten das digitale Handelsblatt für zzt. ab 29,99 Euro pro Monat
(Inland inkl. MwSt.). Die Bestellung ist monatlich kündbar.
Film würde sich enger an das Buch halten?
Friedländer: Der Film hat es geschafft,
Bilder zu erzeugen, so wie es war. Und da-
70
Zum 100. Geburtstag des berühmtesten Schriftzugs der Welt wandert der Autor LUKAS RIETZSCHEL hoch hinaus hinter die Kulissen
D
ie berühmteste Filmstadt
Deutschlands liegt ganz im
Osten der Republik, un-
mittelbar an der polnischen
Grenze, und heißt Görlitz.
Starke These, ich weiß. Aber
ich bleibe dabei, denn als Görlitzer Bürger
kenne ich mich aus. Kate Winslet war schon
hier für Dreharbeiten zu Der Vorleser, Jackie
Chan für In 80 Tagen um die Welt, Wes Ander-
son drehte Teile des Grand Budapest Hotel
in der Stadt, Quentin Tarantino Teile von
Inglourious Basterds. Von Bill Murray gibt es
ein Video, wie er auf Deutsch in der Fuß-
gängerzone eine Bratwurst mit scharfem Senf
zu bestellen versucht. Es scheitert ein bisschen
an der Kommunikation, aber sonst tut Görlitz
eigentlich alles für die Stars. Ganze Straßen-
züge werden bisweilen wochenlang gesperrt,
Bahnverbindungen umgeleitet und große
Sichtschutzzäune vor Häusern hochgezogen,
damit die Stars sich nicht belästigt fühlen.
Zwar gibt es keine Filmstudios, und all die
internationalen Stars verlassen die Stadt eher
früher als später, dennoch vermarktet sich
Görlitz seit 2013 unter dem Namen »Görli-
wood«. Kurzzeitig wurde sogar darüber nach-
gedacht, den Schriftzug, ganz dem Original
folgend, an den höchsten Berg im Görlitzer
Stadtgebiet zu montieren, aber die Pläne liegen
momentan auf Eis.
Dabei wäre 2023 ein gutes Jahr gewesen, um
den Schriftzug anzubringen, denn das »Holly-
wood Sign« feiert gerade seinen einhundertsten
Geburtstag. Leider wurde dieser perfekte Anlass
für eine Görlitzer Parallelaktion verpasst. Statt-
dessen, immerhin, konnte ich selbst die Zeit für
eine Audienz nutzen, einen Geburtstagsbesuch
beim Original, als Vertreter der ostdeutschen
Dependance sozusagen.
Ich bin als Schriftsteller eine Weile zu Gast
in der Villa Aurora, Lion Feuchtwangers ehe-
maligem Wohnhaus in Los Angeles’ Stadtteil
Pacific Palisades. Der Himmel ist trübe, als ich
mich mit dem Auto aufmache Richtung Holly-
wood. In den letzten Tagen hat es viel geregnet,
einige Highways sind wegen Erdrutschgefahr
noch immer gesperrt. Der Smog über der Stadt
ist jedoch wetterunabhängig. Ich komme nur
mäßig voran, irgendwo vor mir muss sich eine
Hügelkette wie ein Band im Norden an die
Stadt schmiegen, und dort, eigentlich für alle
sichtbar, müsste es dann stehen: »Hollywood«.
Seit 1923 überragt der wohl berühmteste
Schriftzug der Welt die Stadt und war in
seiner Geschichte mal baufällig, mal beleuch-
tet, mal strahlend weiß, mal abgewandelt zu
»Holywood« anlässlich eines Papstbesuches. Die
Hater würden sagen, dass es sich nur um einen
Schriftzug handelt, und sie hätten ja nicht mal
unrecht. Nach dieser Logik ist der Eiffelturm
aber auch nur ein Turm und das Kolosseum nur
eine Arena. Aber es schwingt ja immer etwas
Ein unspektakulärer Hügel, darauf ein paar Buchstaben. Und in unseren Köpfen eine ganze Traumfabrik
mit bei diesen Orten, meistens Größe und
Pracht. Im Falle des Hollywood Sign ist es
natürlich der Glanz der Filmindustrie und aller
durch sie geschaffenen Stars und Sternchen.
Wenn es in Görlitz heißt, Hollywood sei zu
Gast, wird die ganze Stadt auf links gedreht. So
einen Aufwand betreibt man für, Entschuldi-
gung, Jan Josef Liefers eher nicht.
Im Stop-and-go nähere ich mich so lang-
sam jener Gegend, von der aus ich – laut
Empfehlungen aus dem Internet – die Buch-
staben am besten sollte sehen können. Eine
Palmenallee erstreckt sich vor mir, in den
Vorgärten flacher Häuser blühen Zitronen-
bäume, als auf einmal eine Schlange von
Menschen fast die Fahrbahn blockiert. Sie
sind auf dem Mittelstreifen aufgereiht, über-
wiegend junge Frauen, die sich von Freun-
dinnen, Partnern oder gar kleinen Kamera-
Teams fotografieren lassen. Sie haben Arm
und Zeigefinger ausgestreckt. Und tatsäch-
lich, da steht es, weißer Schriftzug auf
grünem Hügel: Hollywood. Die Autofahrer
hupen genervt und rufen aus ihren Fenstern,
aber so richtig aggressiv wird niemand, dem
Massentourismus begegnet man vor allem
mit Resignation.
Ich umfahre die Influencerinnen und
Poser im Slalom, denn ich will noch näher
ans Sign heran. Auf dem North Beachwood
Drive passiere ich zwei Türmchen, die eine
Art Tor darstellen, gerade hoch genug, dass
sie nicht in die Stromleitungen ragen. Daran
sind Banner mit der Aufschrift »1923 – 2023
Hollywoodland« befestigt. »Hollywoodland«
– das ist neu für mich. Im Beachwood Cafe
(rose water latte für sieben Dollar) erfahre ich
von einer Frau, die meinem Gespräch mit
der Bedienung gelauscht hat und mich da-
raufhin anspricht, dass nicht nur das Sign,
sondern das ganze dazugehörige Stadtviertel
hundertjähriges Bestehen feiert.
Hollywoodland, das war vor hundert Jahren
noch Stadtrand. Eine karge Gegend, in der
Pumas lebten, weit entfernt vom Pazifikstrand.
Erste große Filmstudios hatten sich hier ange-
siedelt, da sie günstig Land kaufen konnten und
das Wetter nicht so wechselhaft war wie an der
Küste. Wohnen hingegen wollte hier niemand.
Eine Maklerfirma bastelte daher aus alten Tele-
fonmasten und Holzplatten ein Schild, das für
den Standort werben sollte. Mehr als zwanzig
Jahre lang stand da also »Hollywoodland«, be-
vor die Handelskammer beschloss, das »Land«
zu streichen und den bis dahin sehr provisori-
schen Schriftzug zu sanieren. Die Filmstudios
hatten in dieser Zeit Weltruhm erlangt. Wollte
jemand mitmischen, junge Nachwuchsschau-
spielerinnen oder aufstrebende Drehbuchauto-
ren, frisch in der Stadt auf der Suche nach einer
kleinen Portion dieses Ruhmes, zog es sie zum
Hollywood Sign wie Motten zum Licht. Der
Schriftzug stand längst nicht mehr für ein
REISE
Immobilienprojekt, sondern für den Traum
vom großen Kino – auf der Leinwand und
vielleicht sogar im eigenen Leben.
Nun könnte man meinen, das alles sei
Vergangenheit, Nostalgie, schöne alte Film-
welt. Wer heute berühmt werden möchte,
muss schließlich kein Drehbuch mehr schrei-
ben oder lesen. Es reicht doch, sich TikTok
herunterzuladen. Das Internet als neue
Traumfabrik. Und wer seine Stars sehen
möchte, der folgt ihnen bei Instagram. Den-
noch stehen da Menschen an einer Palmen-
allee Schlange, um ein Foto mit dem
Hollywood-Schriftzug zu machen. Dennoch
ist der Walk of Fame voller Fans auf der
Suche nach bekannten Namen. Dennoch
sind die Busse ausgebucht, die zu den Villen
der Filmstars fahren (50 Dollar das Ticket).
Ein wenig ist es wie bei Ikarus. Da möchte
einer der Sonne nahe kommen, berauscht von
ihrer Wärme und Pracht. Das Hollywood Sign
scheint eine ähnliche Sogwirkung auszuüben,
nach wie vor. Auch ich möchte immer noch
näher heran. Obwohl ich eigentlich wieder um-
drehen könnte, die Buchstaben werden ja nicht
schöner, je näher ich ihnen komme.
Die Anwohner, die ich nach einer Route
frage, betonen immer wieder, es handele sich
hier um eine Wohngegend. Mit dem Auto
käme ich nicht weiter, höchstens zu Fuß, dann
auch nur in eine ungefähre Nähe, außerdem
müsste ich dafür das Auto stehen lassen, aber
Parkplätze gebe es nicht. Pech gehabt.
Dass ich mich wie ein Eindringling fühle,
wird noch dadurch verstärkt, dass mir im
nächstgelegenen Café eine Hundewiese als
geeignetster Fotospot empfohlen wird. Näher,
wird mir versichert, würde ich dem Schriftzug
nicht kommen. Eine Hundewiese also. Dabei
habe ich mir den Aufstieg so romantisch vor-
gestellt, ein Trampelpfad auf dem Bergrücken,
Los Angeles zu meinen Füßen, der Ozean am
Horizont, die Sonne, die im richtigen Moment
durch die Wolkendecke bricht. Filmreif eben.
Die Hundewiese, offiziell Lake Hollywood
Park genannt, ist an den Rändern ausgefranst.
Gras wächst keines mehr, der Boden ist platt
getreten, weil viele Besucher nur kurz am Stra-
ßenrand parken, schnell auf die Wiese laufen,
um dort ein Foto zu machen, und anschließend
zurück ins Auto steigen. Hunde sehe ich keine.
Zwei Männer stehen ein wenig entfernt von
mir mitten auf der Wiese, die Hände in den
Taschen. Sie fallen mir auf, weil sie keine Fotos
machen. Ich frage sie, ob sie nicht auch wegen
der seltsamen Anziehungskraft des Schildes hier
seien. Yuval, blondierte Haare, erzählt, dass er
zehn Jahre lang in L.A. gelebt habe, mittlerweile
nach New York gezogen sei und nun seinem
Freund Alex, schwarzer Pferdeschwanz, die
Stadt zeige. Am besten, sagt er, gehe das von den
Hügeln des Hollywood Sign aus, der Ausblick
sei atemberaubend. Die beiden wollen einen
Schleichweg nehmen und laden mich ein
mitzukommen.
Zum ersten Mal seit längerer Zeit lasse ich
das Auto stehen und laufe. In L.A. vergisst man
schnell, dass man Beine hat. Yuval ist kein
großer Fan der Stadt, das merke ich gleich. Er
schimpft auf den Verkehr und auf die groteske
Menge an Geld, die hier hemmungslos zur
Schau gestellt werde. Ich frage ihn, ob New
York da so viel besser sei. Er lacht. Eigentlich
nicht, nein. Geld ziehe Menschen an, sagt er,
Erfolg ziehe Menschen an. Los Angeles lebt von
diesem Mythos und Hollywood besonders.
W
ir gehen noch auf einer
Straße entlang, die sich
immer steiler um Fels-
formationen herumwin-
det. Die Abstände zwi-
schen den einzelnen
Häusern werden größer, die Flächen hier
lassen sich nicht mehr mühelos bebauen.
Ohne Vorwarnung endet die Straße an einem
Grundstück, auf dem zwei bungalowartige
Häuser stehen, davor ein etwa vier Meter
hoher Zaun und ein rostiges Schild, das vor
einem Hund warnt.
Zu meinem und Alex’ Erstaunen geht
Yuval auf ein Tor im Zaun zu und drückt es
einfach auf. Was in Deutschland als Leichtsinn
abgetan werden könnte, grenzt in den USA an
Lebensmüdigkeit. In den Vorgärten stehen oft
kleine rote Schilder mit der Aufschrift »Armed
Response«. So auch an diesem Zaun, rostig an
die Maschen gezwirbelt.
Wer unaufgefordert ein Grundstück betritt,
kann erschossen werden. Dieses Grundstück
hier, versichert mir Yuval, sei jedoch öffentlicher
Grund. Die Schilder und den Zaun hätten
die Anwohner installiert, um ihre Ruhe vor
Touristen zu haben. Sollten wir den Wunsch
der Anwohner nach Abgeschiedenheit dann
nicht besser respektieren? Yuval winkt ab. Also
laufen wir durch das Tor und an den Bungalows
vorbei auf eine schmale asphaltierte Piste.
Die führt weiter den Berg hinauf und wird
angeblich nur von der Feuerwehr und jener
Firma genutzt, die den Sendemast neben dem
Hollywood Sign unterhält. Es ist ruhig, bis auf
die Flugzeuge, die über der Wolkendecke sinken
und die Stadt anfliegen. Der Asphalt liegt teil-
weise abgeblättert da, wie schwarze Eisschollen,
Teile der Straße scheinen durch starke Regen-
fälle weggespült worden und die Hänge hinab-
gerutscht zu sein. Der Straßenrand aber steht
in voller Wildblumenblüte. Orangerote Kissen
wilden Mohns und gelber Kamille überziehen
die Hügel. Stellenweise riecht es wie im Tee-
laden. Ein Durcheinander süßester Düfte. Als
ich das erste Mal Steinbecks Früchte des Zorns
las, stellte ich mir die Hügel Kaliforniens, die
die Geflüchteten auf ihrem Weg nach Westen
herbeisehnten, so vor. Gelobtes Land.
2. November 2023 DIE ZEIT N o 46
Foto: imago
Beinahe eine halbe Stunde folgen wir den
Serpentinen, der berühmte Schriftzug ist in
dieser Zeit nicht zu sehen. Stattdessen kommt
zu unserer Rechten das berühmte Griffith Ob-
servatory in den Blick, das zuletzt in La La Land
einen großen Auftritt hatte. Links wiederum,
kaum zu erkennen, schlängelt sich der Mulhol-
land Drive über die Hügel, bekannt aus dem
gleichnamigen David-Lynch-Film. Ich kenne
keine Stadt, die sich derart selbst in Szene setzt
und dadurch wie wahrscheinlich kein anderer
Ort zu einem Bestandteil des kulturellen Ge-
dächtnisses der Menschheit geworden ist. Seit
ich angekommen bin, sehe ich wie ein Traum-
wandler auf L.A. und frage mich, ob ich schon
einmal hier gewesen bin, in einem früheren
Leben vielleicht, weil mir Straßenzüge und
Ladenlokale so mysteriös bekannt erscheinen,
zunächst nicht realisierend, dass ich sie aus
Filmen und Serien kenne.
Eine Gruppe Feuerwehrmänner in gelber
Kluft läuft an uns vorbei den Hügel hinauf,
Sauerstoffflaschen, Spitzhacken, volle Montur,
trotzdem grüßen sie freundlich das übliche
»How are you doing?«. L.A.s Häuser erscheinen
mittlerweile ganz klein, schnurgerade Straßen-
achsen durchziehen die gesamte Stadt, die Film-
studios mit ihren fabrikartigen Hallen liegen zu
unseren Füßen. Der Smog hat das Meer ver-
schluckt, aber Yuval versichert mir, dass man
den Ozean von hier aus sehen könne, zuletzt
während der Corona-Pandemie.
Und dann, nach einer letzten Linkskurve,
hinter einem Maschendrahtzaun, ist es plötzlich
wieder zu sehen, nun aber groß und mächtig
und von hinten: das Hollywood Sign. Zu
erkennen sind vor allem Metallstreben, die
die strahlend weißen Buchstaben halten, ein
massives Gerüst aus dicken Stangen und jede
Menge Rabennester dazwischen.
Den halben Tag habe ich darauf verwendet,
dem Schriftzug so nahe wie möglich zu kom-
men. Und streng genommen sehe ich ihn gar
nicht, ich sehe nicht das, was ich von Fotos oder
aus Filmen kenne, sondern die Rückseite. Aber,
und auch das wird mir in diesem Moment be-
wusst: Ich befinde mich nun da, wohin andere
ihre Kameras und Handys richten. Da unten,
irgendwo auf dem Mittelstreifen einer Straße
und auf einer Hundewiese ohne Hunde, stehen
gerade Leute, um aus einiger Entfernung ein
Foto zu machen, auf dem ich zu sehen bin.
Klitzeklein zwischen riesigen Buchstaben.
Geltungssucht würde ich mir nicht attestie-
ren, auf einer Bühne zu stehen bereitet mir eher
Unbehagen. Aber vielleicht verstehe ich nun
ein bisschen mehr, warum es Menschen nach
L.A. und zum Hollywood Sign zieht. Einmal
im Rampenlicht stehen, im Fokus der Kamera-
linsen. Ikarus wollte der Sonne nicht näher
kommen. Er wollte selbst die Sonne sein.
! www.zeit.de/vorgelesen
DIE ZEIT N o 46 2. November 2023 REISE 71

»Schulter an Flosse«
DIE ZEIT: Herr Sarano, der deutsche auf Haie. Der Tauchsport und das Surfen
Titel Ihres Buchs lautet: Wie man mit haben sie bekannter gemacht. Sie wurden
Haien schwimmt. Warum können Sie jedoch als Monster geächtet. Auch die
diese Erfahrung empfehlen? Medien trugen dazu bei. Selbst die frühen
François Sarano: Weil Haie schön und Dokumentarfilme haben das Image mit
interessant sind – und Symbole einer un- spektakulären Szenen jagender Haie mit-
gezähmten Tierwelt. Mit ihnen zu tauchen unter negativ gefärbt. Dabei dauert es
gibt einem das Gefühl, an etwas Ursprüng- meist Wochen, so eine Szene zu filmen.
lichem und Unberührtem teilzuhaben. Denn Haie jagen kaum. Ein zwei Meter
ZEIT: Wohin sollte ich reisen, um mit langer Hai benötigt nur 250 Gramm Fisch
Haien zu schwimmen? pro Tag. Dafür muss er nicht viel tun.
Sarano: Welche Art möchten Sie denn ZEIT: Und was tun Haie den ganzen Tag?
sehen? Es gibt über 500 verschiedene Haie! Sarano: Sie schlafen! Dabei liegen sie auf
Der größte ist der Walhai, bis zu 18 Meter dem Grund. Oder sie schwimmen fried-
lang. Er ist ein Wanderer, schwimmt in lich zwischen anderen Fischen.
warmen, tropischen und subtropischen ZEIT: Dieses Jahr gab es mehrere Hai-
Gewässern von Küste zu Küste und legt oft Angriffe auf Menschen, manche endeten
Tausende Kilometer zurück. Ein Zwerg- tödlich. Wie erklären Sie solche Ereignisse?
Laternenhai kommt auf nur 18 Zenti- Sarano: Man unterscheidet zwischen von

Foto: Pascal Kobeh/Galatée Films/Folio Verlag

meter. Er lebt in der karibischen Tiefsee.
ZEIT: Welchen Hai würden Sie als
Ozeanograf und Profitaucher empfehlen?
Sarano: Den Weißen Hai: Mit diesen gro-
ßen Tieren zu schwimmen ist unglaublich
friedlich. Gute Spots dafür sind die Insel
Guadalupe, die zu Mexiko gehört, oder
die Küste vor der südafrikanischen Stadt
Gansbaai. Dort ist das Wasser nicht allzu
kalt, was Haie mögen. Und man muss
kein Profitaucher sein, um sie zu treffen:
Sie schwimmen auf 20 bis 30 Meter Tiefe,
sind also auch schon mit einer Open-
Water-Diver-Zertifizierung zu sehen.
ZEIT: Beim Weißen Hai denkt man eher
an Gefahr als an etwas Friedliches ...
Sarano: Ich bin unzählige Male mit
Weißen Haien getaucht, und nie ist etwas
passiert. Die größte Herausforderung ist,
sie nicht zu verscheuchen. Generell wird es
immer schwieriger, Haie zu treffen. Ihre
Zahl nimmt über alle Arten hinweg be-
denklich ab. Als ich vor 40 Jahren als Ex-
peditionsleiter auf dem Forschungsschiff
Calypso unterwegs war, näherten sich uns
bei jedem Tauchgang viele und sehr große
Haie. Heute muss man oft lange warten,
um einen einzigen beobachten zu können.
ZEIT: Woran liegt das?
Sarano: Zum einen pflanzen sie sich nur
langsam fort. Bedroht sind sie aber durch
die Fischerei: Einerseits wird auf Haie we-
gen ihrer Flossen Jagd gemacht, weil diese
Der Ozeanograf François Sarano taucht gern mit Haien und hat darüber ein Buch geschrieben.
Ein Gespräch über die besten Reiseziele fürs Hai-Watching – und über mögliche Gefahren
in manchen Regionen als Delikatesse gel-
ten. Andererseits landen Haie als Beifang
in Fischernetzen und verenden.
ZEIT: Sie schreiben, jeder Hai habe eine
eigene Persönlichkeit. Wie äußert sich die?
Sarano: Jede Spezies hat ihre Eigenheiten,
und jedes Individuum ist geprägt von
dem, was es erlebt hat. Ich habe daher
Exemplare getroffen, die neugierig oder
schüchtern waren – oder fähig, sich etwas
zu merken und zu lernen. Aber nur wenige
Haie haben den Mut, auf einen Menschen
zuzuschwimmen, der gerade taucht.
François Sarano während eines Tauchgangs Auge in Auge mit einem Weißen Hai
ZEIT: Einer dieser Persönlichkeiten haben
Sie Ihr Buch gewidmet: Lady Mystery.
Wer ist die geheimnisvolle Dame?
Sarano: Ein gewaltiger Weißer Hai, dem
ich 2006 während der Dreharbeiten des
Dokumentarfilms Unsere Ozeane in den
Gewässern vor Mexiko begegnet bin. Ein
Weibchen, fünf Meter lang, eine Tonne
Eleganz, das dem Protagonisten des Films
Der weiße Hai von Steven Spielberg aus-
gesprochen ähnlich sah. Sie wusste wohl,
dass sie groß war und nichts zu befürch-
ten hatte, denn sie kam selbstbewusst
in meine Richtung. Für eine Minute
schwammen wir Schulter an Flosse, so
eng, dass ich sie hätte berühren können
– aber ich hütete mich! Ein unglaublicher
Moment, der mein Verhältnis zu diesen
Tieren für immer veränderte. Fünf Jahre
später kehrte ich an diesen Ort zurück.
Wieder kam ein Weißer Hai direkt auf
mich zu. Ich brauchte ein paar Minuten,
bis ich das Tier erkannte: Es war Lady
Mystery! Noch einmal ließ sie mich an
ihrer Seite schwimmen. Dann ver-
schwand sie im Blau.
Menschen provozierten Angriffen und
nicht provozierten. Die provozierten lagen
2022 bei 32. Die nicht provozierten liegen
seit fast 30 Jahren bei etwa 80 pro Jahr,
weltweit. Solche Zahlen reichen nicht aus
für eine wissenschaftliche Auswertung,
auch weil die Hai-Arten variieren. Die
Betroffenen erleiden jedenfalls meist nur
leichte Verletzungen. Etwa zehn Vorfälle
– auch die Zahl bleibt konstant – gehen
tödlich aus. Aber durch Quallen sterben
jährlich fünfmal so viele Menschen.
ZEIT: Haben Sie einen Rat, wie ich mich
beim Baden richtig verhalte?
Sarano: Sie sollten nicht schwimmen oder
surfen, wenn das Wasser trüb und unruhig
ist sowie nach starken Regenfällen oder
abends. Und schlagen Sie nicht mit den
Händen auf die Wasseroberfläche – etwa
kraulend oder beim Hinauspaddeln mit
ZEIT: Der Meeresforscher Jacques-Yves dem Surfbrett! So was erregt die Aufmerk-
Cousteau, auf dessen Schiff Sie als Berater samkeit von Haien. Sehr selten wird einer
mitfuhren, sagte: »Für uns Taucher ist der es dann doch wagen, Sie zu beißen.
Hai ein tödlicher Gegner.« Sie aber haben ZEIT: Gibt es Kulturen, in denen der Hai
drei Begriffe für Begegnungen mit Haien: mehr Wertschätzung erfährt als in unserer?
Frieden, Ruhe und Gelassenheit. Woher Sarano: Die Vorfahren der Polynesier be-
kommt das Bild vom gefährlichen Hai? siedelten die Pazifikinseln, indem sie mit
Sarano: Das entstand erst Anfang des Kanus den Ozean überquerten. Die Gott-
20. Jahrhunderts. Davor spielten Haie in heiten in ihrer Mythologie sind Meeres-
der westlichen Kultur fast keine Rolle; die tiere – darunter Haie. Die wachen über
Erzählungen handelten von Land-Raub- Seeleute und retten sogar Schiffbrüchige.
tieren wie Wölfen oder Bären. Als die aus-
gerottet waren, richtete sich das Interesse Das Gespräch führte Jessica Braun

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FERIENDOMIZILE FRANKREICH
SPANIEN & PORTUGAL
Flüssiges Gold an REISEKATALOGE
Spaniens Sonnenseite Bestellen, buchen, los!
Im Oktober beginnt die Oli-
venernte. Der weltweite Spit-
MARONEN STATT SANGRIA
1

zenreiter ist Spanien: allein im

Jahr 2021 lag die Erntemenge
bei 8,3 Millionen Tonnen; fast
viermal so viel wie Italien auf KLASSISCHE URLAUBSORTE NEU ERLEBEN KATALOG NUMMER
© iStockphoto

dem zweiten Platz. Im bergigen

Gelände ist dabei die Verwen-
Der Herbst punktet bei der Urlaubsplanung 44-02 FLUSSKREUZFAHRTEN
nicht nur mit niedrigeren Preisen, sondern auch IN ASIEN
dung von Maschinen oftmals
Geoplan
Mekong · Halong-Bucht · Roter Fluss · Chao Phraya
River Kwai · Brahmaputra · Ganges

mit einem authentischeren kulturellen Erlebnis.

schwierig, weshalb auch heute FLUSSKREUZFAHRTEN IN ASIEN
Die Touristen haben die Straßen freigemacht
teilweise noch von Hand ge- gleichzeitig wohl auch eine der Reisen Sie auf komfortablen Bou�que-Flusskreuzfahrt-

und die Einheimischen sind zurückgekehrt –

erntet wird. Wenn die Früchte
zu Olivenöl weiterverarbeitet
werden sollen, muss es danach
sehr schnell gehen – schon vier
Stunden nach dem Pflücken
können erste Qualitätsverluste
entstehen. Um einen Liter qua-
litatives Olivenöl herzustellen,
werden 8 – 10 Kilogramm Oli-
schiffen auf dem Mekong, dem River Kwai und Chao
Phraya und auf dem Brahmaputra und Ganges.
schönsten. An all ihren faszinie-
und mit ihnen traditionelle Feste wie das Ess-
renden Orten – den pfannku-
kastanienfest »La Castañada« in Spanien, die
chenartig geschichteten Felsen
Ankunft des Beaujolais in Frankreich oder das
des Torcal de Antequera, der
Musikfestival von Sintra in Portugal.
alten Brücke über Rondas
Schlucht, dem Aussichtspunkt
Mirador de la Lola über Grana-
da – sind die Olivenhaine Teil
der atemberaubenden Aussich-
© iStockphoto

ven benötigt, die idealerweise ten. Weinproben waren gestern KATALOG NUMMER
sechs bis acht Monate reifen – bei einem Urlaub in Andalu-
sollten. sien darf man sich eine authen- 44-08
Spaniens exportstärkste Re- tische Olivenölverköstigung
CRD Touristik
2023/2024

gion ist Andalusien – und nicht entgehen lassen.

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 72 ENTDECKEN 2. November 2023 DIE ZEIT N o 46

Was mein
Du siehst aus, Leben reicher
WIE ES WIRKLICH IST wie ich mich fühle macht

Commander Skyring ist ein australischer Helmkakadu. Während der Aufnahmen hielt er erstaunlich still und gab, seinem Namen zum Trotz, das Kommando bereitwillig an die Fotografin ab. Foto: Leila Jeffreys
... alte Züge zu sammeln Als ich zum Hausbriefkasten ging, kam gerade
ein Nachbar mit seinen zwei kleinen Hunden des

I
Weges. Einer der beiden kläffte furchtbar und
ch hatte schon immer eine Neigung für nos- hätte mich fast ins Bein gebissen. Nachdem der
talgische Dinge. Seit meinem achten Lebens- Nachbar ihn einigermaßen beruhigt hatte,
jahr sammle ich alte Radios und Grammo- näherte er sich noch mal mit dem Hund und
fone, mittlerweile habe ich 500 Stück. Aber sagte beschwichtigend: »Siehste, der tut nix.«
2009 erreichte meine Leidenschaft ein neues Mit »der« muss er mich gemeint haben, denn er
Niveau. Damals habe ich in meiner Heimatstadt sprach zu seinem Hund.
Gadebusch einen ehemaligen Bahnhof gekauft, Christoph Müller-Luckwald,
der zu verfallen drohte. Ich beschloss, ihn wieder Bingen, Rheinland-Pfalz
herzurichten. 20 Monate hat die Restaurierung
gedauert. Neu hinzu kam ein Restaurant. Und An einem nebligen Herbstmorgen auf einer Bank
weil ich die Vorstellung mochte, dass die Gäste sitzen und die Stille des Waldes genießen. Eine
bei Bedarf auch hier übernachten können, über- Stille, die es so nur in der freien Natur gibt.
legte ich, ob man anbauen sollte. Durch Zufall Rudi Schmidt, Leipzig
kam ich in dieser Zeit mit einem Mann in
Kontakt, der einen alten Salonschlafwagen aus Die prall gefüllte Tiefkühltruhe, in der wir allerlei
dem Regierungszug der DDR zu verkaufen hatte, aus unserer erstaunlich produktiven kleinen
Baujahr 1969. In ihm waren zahlreiche Politiker Gartenparzelle eingelagert haben: Schwarzkohl,
zu Staatsterminen gereist, unter anderem Walter Grünkohl, Bohnen, Möhren, Dill und Petersilie.
Ulbricht und Willi Stoph. Ich schlug zu, denn ich Der Winter kann kommen!
fand die Idee genial, Leute in diesem historisch Benedikt Krämer, Münster
wertvollen Stück übernachten zu lassen.
Der Schlafwagen ist ein wahnsinniges Teil: In Dresden grenzt der größte Park der Stadt an den
24 Meter lang, 58 Tonnen schwer und mit vielen Zoo und der wiederum ans Stadion. Während eines
raffinierten technischen Details ausgestattet. Hät- Spazierganges im Park beobachtete ich, wie ein
ten Sie gedacht, dass es damals bereits ein Telefon Pfau zooseitig auf einem Dach hin und her lief, um
in jeder Kabine gab und eine Klimaanlage? Weil sich dann in einer darüberliegenden Baumkrone
mich das Thema so interessiert, habe ich mittler- Richtung Grundstücksgrenze davonzumachen.
weile einen zweiten Schlafwagen gekauft, einen aus Ich sorgte mich, dass er ausbüxen könnte, und rief
dem legendären Orient-Express, Baujahr 1949. Ein schließlich im Zoo an. Der Mann am Telefon jedoch
edles Prachtstück, wie man es aus dem berühmten nahm die Nachricht gelassen: »Der findet immer
Hercule-Poirot-Film kennt. Mit Echtholzfurnier wieder zurück. Einmal wurde er sogar schon im
an den Wänden, kleinen Heizungen in jedem Stadion gesichtet.«
Abteil, der Boden mit rotem Teppich ausgelegt. Romy Stein, Dresden
Auch die Anlieferung der Züge war spektakulär.
Der DDR-Schlafwagen kam als Schwertransport In der Badewanne mit meinem knapp zweijährigen
über die Straße, in Begleitung der Polizei. Für die Sohn, der mit seinen kleinen Händchen meinen
Ankunft des Orient-Express-Waggons wurde in immer noch viel zu weichen Bauch betastet.
der Nacht für mehrere Stunden die Bahnstrecke Eingerahmt von einem gluckernden Lachen,
gesperrt, dann musste er mit zwei großen Kränen sprudelt eines seiner ersten Wörter aus ihm raus:
heruntergehoben werden. Ein wahnsinniger Auf- »Bauch.« Er sagt es rein und voller Freude – völlig
wand – und teuer dazu. ohne Abwertung. Ich möchte es ihm gleichtun!
Ein wenig von den Ausgaben kommt durch Lieber weicher Bauch: danke, für dieses duftige
die Vermietung an Übernachtungsgäste wieder Bündel Glück, dem du neun Monate ein Zuhause
rein, aber nur ein Bruchteil. Allein die Anmietung gegeben hast.
der Kräne kostete mehrere Tausend Euro. Den Nathalie John, Bad Oldesloe
Preis der Schlafwagen selbst verrate ich nicht. Folge 386
Mir sind sie es in jedem Fall wert. Sie lassen mein Nach fast 27 Jahren im Gefängnis, ohne Bäume,
Bastlerherz höher schlagen. Im Laufe der letzten Blätter und Sterne: nun der sternenübersäte
Jahrzehnte habe ich jede Menge Schalter und Himmel über mir, das Rauschen der Blätter um
Steckdosen in meiner Garage gesammelt – ich als mich herum und das Fallen der Eicheln.
Ossi konnte nämlich noch nie etwas wegwerfen. ZEITSPRUNG WORTSCHATZ All die Menschen, die Freunde, die Begegnungen.
Was für ein Glück, denn jetzt kommen sie endlich Die Gerüche.
zum Einsatz. Leben!
Manchmal melden sich Eisenbahnfans, die
sagen: Hier hast du den falschen Farbton benutzt,
Pazifismus Kajöttchen Thomas Meyer-Falk, Freiburg

da die falsche Schraube. Die halten mich für einen Nachts um halb zwölf auf der stillen Palliativ-
Dilettanten. Vielleicht haben sie sogar recht. Sobald es im Herbst Zeit wurde, die station. Meine Schwester schläft erschöpft neben
Aber dann bin ich ein glücklicher Dilettant. Äpfel in hölzernen Obstkisten in den meiner sterbenden Mutter. Neben dem Sprudel-
Keller zu bringen, begannen meine automaten liegt die ZEIT. Mein Leben wird
Eltern vorzurechnen, wie viele dieser gerade um so vieles ärmer, denke ich, während
ich diese letzte Seite lese, doch die Menschen, die
Kajöttchen in diesem Jahr wohl mit mich dabei begleiten, machen es reicher.
den köstlichen Früchten zu füllen Julia Eckstein, Bovenden, Niedersachsen
Illustration: Eva Revolver für DIE ZEIT; kl. Fotos: privat

sein würden. Irgendwann habe ich

Holger Hempel, 52, ist Elektromonteur festgestellt, dass niemand außer meiner
und leitet eine Firma in Gadebusch, 1981 sprühte ich (Künstler und Kommunikationsdesigner) diese Parole, Familie den Begriff zu kennen scheint. Machen Sie mit!
Mecklenburg-Vorpommern die ich irgendwo als Graffito gesehen hatte, an die Wand eines alten Oder vielleicht doch? Bisher blieb Schreiben Sie uns, was Ihr Leben reicher macht,
Hamburger Bunkers. Es war der Entwurf für ein pazifistisches Plakat, teilen Sie Ihre »Wortschätze« und »Zeitsprünge« mit uns.
Aufgezeichnet von Marie-Charlotte Maas jegliche Recherche ergebnislos, nicht
das über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt werden sollte. Beiträge bitte an leser@zeit.de oder an
einmal meine Eltern wissen, woher Redaktion DIE ZEIT, »Z-Leserseite«, 20079 Hamburg
Heute würde mein Plakat anders aussehen. Ich habe in der Zwischenzeit
eine Familie gegründet und würde mich im Falle eines Angriffs aktiv
sie das Wort kennen. Dennoch haben
wehren. Vielleicht die Flucht ergreifen. Alles tun, um sie zu schützen. mein Mann und ich es gerne in unseren
Wenn Sie in unserer Rubrik »Wie es wirklich ist« Die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung und redaktionelle Bearbeitung
berichten möchten, Das Recht auf Selbstverteidigung halte ich für selbstverständlich. herbstlichen Wortschatz aufgenommen. Ihrer Beiträge vor. Mit der Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
Ihren Beitrag in der ZEIT, in der ZEIT-App, in sozialen Netzwerken oder
melden Sie sich bei uns: wirklich@zeit.de Johannes Hartmann, Hamburg Birgit Rumpf, Oelde, Nordrhein-Westfalen in einem ZEIT-der-Leser-Sammelwerk zu veröffentlichen

Gründungsverleger:
Gerd Bucerius (1906–1995)
Herausgeberrat:
Prof. Jutta Allmendinger, Dr. Nicola Leibinger-Kammüller, Green: Dr. Uwe J. Heuser (verantwortlich), Laura Cwiertnia,
Zanny Minton Beddoes, Florian Illies,
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Ehemalige Herausgeber:
Dr. Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002)
Helmut Schmidt (1918–2015)
Vorsitzender der Chefredaktionen des
Zeitverlags und Chefredakteur:
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Martin Machowecz, Moritz Müller-Wirth (Managing Editor), (verantwortlich), Dr. Hanno Rauterberg (stellv.),
Sabine Rückert, Holger Stark, Bernd Ulrich
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Politik Hamburg/Berlin: Tina Hildebrandt/Dr. Heinrich Wefing Editorial Director: Christoph Amend; Chefredaktion: Sascha
(verantwortlich), Mark Schieritz (stellv.), Elisabeth Raether
(Seite 3), Dr. Jochen Bittner, Andrea Böhm, Alice Bota,
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(Korrespondent), Samiha Shafy, Merlind Theile
Hauptstadtredaktion: Schöneberger Straße 21 A, 10963 Berlin, Jürgen von Rutenberg; Redaktionelle Koordination: Margit Stoffels;
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Bildungspolitischer Korrespondent: Thomas Kerstan
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Kulturreporter: Moritz von Uslar
Glauben & Zweifeln: Evelyn Finger (verantwortlich)
Entdecken: Johannes Gernert/Britta Stuff (verantwortlich),
Sebastian Kempkens (stellv.), Michael Allmaier, Karin Ceballos
Betancur, Stefanie Flamm, Francesco Giammarco, Elke Michel,
Florentin Schumacher, Merten Worthmann;
Besondere Aufgaben: Jutta Hoffritz
Investigative Recherche/Daten:
Leitung: Holger Stark (Print)/Karsten Polke-Majewski (Online),
Stellv. Leitung: Astrid Geisler (O)/Yassin Musharbash (P),
Kai Biermann (O), Christina Schmidt (P), Tom Sundermann
(O/Störungsmelder), Sascha Venohr (O), Fritz Zimmermann (P);
Autor: Christian Fuchs
Verbrechen: Stephan Lebert (Reporter), Daniel Müller
ZEITmagazin:
Chaimowicz/Emilia Smechowski; Stellv. Chefredaktion: Anna Kemper,
Tillmann Prüfer; Creative Director: Mirko Borsche; Art Director: Jasmin
Müller-Stoy; Textchefinnen: Christine Meffert, Annabel Wahba;
Style Director: Claire Beermann; Redaktion: Amelie Apel,
Jörg Burger, Johannes Dudziak, Alard von Kittlitz,
Friederike Milbradt, Lena Niethammer, Khuê Pham, Ilka Piepgras,
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Bildredaktion: Milena Carstens (verantwortlich), Nora Hollstein;
Redaktion ZEITmagazin: Schöneberger Straße 21 A, 10963 Berlin,
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Die ZEIT-App: Götz Hamann (Redaktionsleitung),
Silke Weber (stellv.); Art-Direktion: Sören Dammann, Haika Hinze,
Jasmin Müller-Stoy Betreiber: ZEIT Online GmbH
Verantwortlicher Redakteur Reportage: Henning Sußebach
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Christian Schmidt-Häuer, Jana Simon, Matthias Stolz, Burkhard
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Jan Kny/Jan Lichte (stellv.);
Berater der Art-Direktion: Mirko Borsche
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Burgdorff, Mechthild Fortmann, Sina Giesecke, Annett Osterwold,
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Infografik: Nora Coenenberg, Anne Gerdes, Matthias Holz,
Jelka Lerche, Matthias Schütte
Bildredaktion: Amélie Schneider (verantwortlich), Lara Huck/
Jutta Schein (stellv.), Melanie Böge, Dorothea Fiedler, Norman
Hoppenheit, Anja Martens, Navina Reus, Vera Tammen, Edith Wagner
Dokumentation: Mirjam Zimmer (verantwortlich), Davina Domanski,
Bernd Musa, Dorothee Schöndorf, Corinna Slotty
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Latza, Irina Mamula, Maren Preiß, Karen Schmidt, Matthias Sommer
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Telefon: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11, Belgien € 7,50;
Vooren (Reporter), Zacharias Zacharakis (Unternehmen) Kultur: Dirk restliches Ausland
E-Mail: DieZeit@zeit.de; ZEIT Online GmbH: www.zeit.de
Peitz (Leitung), Judith Liere (stellv.), Nils Markwardt (stellv.), Maja Be- DIE ZEIT Leserservice Dänemark DKR 71,00;
© Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Hamburg
ckers, Daniel Gerhardt (Film), David Hugendick (Kulturkorrespondent), Finnland € 9,40;
Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser 20080 Hamburg
Julia Lorenz, Johannes Schneider, Carolin Ströbele (TV/Medien) Wissen: Frankreich € 8,10;
Sven Stockrahm (Leitung, Hrsg. Gesundheit u. Digital), Linda Fischer Marketing und Vertrieb: Nils von der Kall Deutschland
Tel.: +49-40/42 23 70 70 Griechenland € 8,10;
(stellv.), Elena Erdmann (verantw. Forschungsdaten), Robert Gast, Viola Unternehmenskommunikation und Veranstaltungen: Großbritannien GBP 10,30;
Kiel, Jens Lubbadeh, Dr. Maria Mast, Dr. Claudia Vallentin; Chefreporterin E-Mail: abo@zeit.de
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Wissen: Dagny Lüdemann Digital: Lisa Hegemann (Leitung), Meike Laaff, Herstellung/Schlussgrafik: Torsten Bastian (verantwortlich), Tim Luxemburg € 7,50;
Jakob von Lindern, Henrik Oerding, Pauline Schinkels, Eva Wolfangel Abonnement USA
Andersson, Patrick Baden, Stefanie Fricke, Bastian Kamp, Jan Menssen, DIE ZEIT (USPS No. 00014259) Niederlande € 7,50;
Gesundheit: Dr. Jakob Simmank/Claudia Wüstenhagen (Leitung), Ingo Oliver Nagel, Tim Paulsen, Frank Siemienski, Pascal Struckmann;
is published weekly Österreich € 6,70;
Arzt, Tom Kattwinkel, Corinna Schöps, Dr. Florian Schumann Investigative Bildbearbeitung: Andrea Drewes, Hanno Hammacher, Martin Hinz
by Zeitverlag; Portugal € 8,10;
Recherche/Daten: siehe Printressorts Sport: Christian Spiller (Leitung), Druck: Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG,
K.O.P.: Data Media (A division Schweiz CHF 8,80;
Steffen Dobbert, Oliver Fritsch, Nico Horn, Fabian Scheler Kurhessenstr. 4–6, 64546 Mörfelden-Walldorf
of Cover-All Computer Services Slowenien € 8,10;
Ressort X: Philip Faigle (Leitung), Luisa Thomé (stellv.), Johannes Böh- Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder
Corp.), 2221 Kenmore Avenue, Spanien € 8,10;
me, Philipp Daum, Yasmine M’Barek, Annabelle Seubert, Vanessa Vu übernimmt der Verlag keine Haftung.
Podcasts: Ole Pflüger (Leitung), Mounia Meiborg (stellv.), Constanze Suite 106, Buffalo, Kanarische Inseln € 8,20;
Kainz (stellv.), Jannis Carmesin, Moses Fendel, Simone Gaul, Hannah Anzeigenleitung: Lars Niemann NY 14207-1306 Ungarn HUF 3990,00
Grünewald, Elise Landschek, Dr. Rita Lauter, Pia Rauschenberger, Anzeigenstruktur: Peggy Ludwig (verantwortlich), Laura Gilica,
Fabian Scheler Carolina Guerra; Anzeigen-Preisliste Nr. 68 vom 1. Januar 2023
Magazine und Neue Geschäftsfelder: Sandra Kreft
ZEITmagazin Online, Wochenmarkt, Entdecken, Familie, Sinn: Carmen
Böker (Leitung), Carla Baum/Alexander Krex (stellv.), Niklas Bessen- Projektreisen: Christopher Alexander
bach, Johannes Ehrmann, Juliane Frisse, Wenke Husmann, Laura So- Börsenpflichtblatt: An allen acht deutschen Wertpapierbörsen ISSN: 0044-2070
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HARALD MARTENSTEIN
Über finanzielle Unabhängigkeit
Es ist gar nicht so lange her, dass ich bei einem
Abendessen den Begriff »Fuck-you-Money«
hörte. Es handelt sich dabei um die Summe
Geld, die jemand braucht, um finanziell un-
abhängig zu sein. »Unabhängigkeit« bedeu-
tet, dass die Grundbedürfnisse und einige
Extras befriedigt werden könnten, ohne dass
man arbeitet oder von jemandes Wohlwollen
abhängig ist, etwa einem Arbeitgeber, den
Eltern, einem Partner oder Erblasser. Man
könnte zu jeder Firma zum Abschied »Fuck
you« sagen, falls diese schlechte Laune macht
oder einen gar rauswirft. Wer mag, darf auch
eine höflichere Formulierung wählen.
Das Vorhandensein von Fuck-you-Money
bedeutet nicht etwa ein Ja zur Faulheit, zu
schlechtem Benehmen oder zu grenzenlosem
Hedonismus, sondern lediglich die Freiheit,
ohne finanziellen Druck jederzeit das zu tun,
zu lassen oder zu sagen, was man möchte. Im
Grunde kommt so ein Leben der Idee des
Kommunismus bei Karl Marx recht nahe.
Interessanterweise hat Fuck-­you-­Money nicht
zwangsläufig mit Reichtum zu tun. Ein Mil­
liar­där, dessen Geld größtenteils in Firmen
steckt, der Kredite und andere Verpflichtun-
gen bedienen muss und gleichzeitig einen
kostspieligen Lebensstil pflegt, an den er oder
sie nun mal gewöhnt ist, kann aus so einem
Gespinst nicht von heute auf morgen ausstei-
gen. Bei einem bescheidenen Lebensstil aber
könnten sogar Sozialleistungen ausreichen,
kombiniert mit im Kopfkissen versteckten
Ersparnissen und ein paar Stunden Schwarz-
arbeit, die Spaß macht.
Im Alter wird es für viele einfacher, weil die
Zahl der noch zu finanzierenden Jahre klei-
ner ist. Rentner müssen oft dazuverdienen.
Eine Beamtenpension, die Ruhestandsbezüge
eines Professors oder die bei Festangestellten
im öffentlich-rechtlichen Rundfunk übli-
che Altersversorgung besitzen dagegen beste
Fuck-you-Qualität. Es schadet dann nicht
mehr, wenn man wegen eines unbedachten
Tweets oder einer Jahrzehnte zurückliegen-
den Dummheit zur Unperson erklärt wird, so
was kann schnell passieren. Ich rechne mir re-
gelmäßig aus, ob’s reicht. Inzwischen könnte­
ich mit den Reserven recht lange ungefähr
so weiterleben wie bisher, ab 90 geht man eh
seltener zum Essen ins Restaurant.
Beim oben erwähnten Abendessensgespräch
hörte ich dann auch noch die Ansicht, dass
die Gesellschaft wieder duldsamer gewor-
den sei. Dies hänge paradoxerweise damit
zusammen, dass es in den letzten Jahren so
Illustration Martin Fengel
10
viele Shit­stürme gegeben hat. Die meisten
Leute ­seien es leid und würden zum Beispiel
bei einem Spiegel-Titel, auf dem wieder mal
jemand als Unhold angeprangert wird, nur
noch mit den Schultern zucken. Außerdem
denken inzwischen viele, ich zum Beispiel, sie
selbst könnten die Nächsten sein, und emp-
finden eher Solidarität als die vom Medium
erwünschte Abscheu. Nach zu viel Kaffee
macht Koffein ja auch nicht mehr munter.
Bei etlichen Personen, die in den letzten zwei,
drei Jahren abgeschossen werden sollten,
habe dieses Projekt deshalb nicht mehr funk-
tioniert, vor zehn Jahren hätte es vielleicht
noch geklappt. Teils waren die angepranger-
ten Verfehlungen echt, teils auch übertrieben,
teils unbeweisbar, und fast allesamt erwiesen
sie sich als juristisch unerheblich.
Der Gedanke, dass Leute wegen eines zwar
nach Ansicht mancher Mitbürger abzuleh-
Zu hören unter www.zeit.de/audio
nenden, aber durchaus legalen Verhaltens in
ihren Berufen nicht mehr tragbar ­seien, hat
etwas Gruseliges. Wegen des nachlassenden
Drucks, hieß es beim Abendessen, brauche
man womöglich nicht mehr so viel Fuck-
you-Money und könne deshalb jetzt doch
ein teures E-Auto kaufen. Weniger Shitstürme
sind also praktizierter Klimaschutz.
WOCHENMARKT 12 WÄHL DIE WALNUSS

Georgisches Rindfleisch mit Walnüssen

Zutaten für 2 bis 3 Personen: 450 g Rinderbrust (in ungefähr 2 cm große Stücke geschnitten), Salz, 3 EL Sonnenblumenöl,
2 mittelgroße Zwiebeln (in Streifen geschnitten), 2 Lorbeerblätter, 1 Prise gemahlene Nelken;
für die Paste: 200 g geschälte Walnüsse, 1 TL Chiliflocken, 1 TL Koriander (gemahlen), 1 TL Bockshornkleesamen,
½ TL Kurkuma (gemahlen); 200 g Mini-Tomaten

Die Walnuss ist die Kartoffel der Georgier.
Die Georgier glauben, dass mit Walnuss alles
besser schmeckt. Sie haben nicht unrecht.
Dieses geschmorte Rindfleisch zum Beispiel
wird zum Schluss mit einer Walnusspaste ver-
feinert und bekommt auf diese Weise etwas
geradezu Geheimnisvolles. So cremig, satt,
aber eben nicht sahnig. Könnte man even-
tuell Kartoffeln als Beilage dazu essen?
Das Fleisch gut salzen. In einem Topf mit
schwerem Boden das Sonnenblumenöl er-
hitzen. Fleisch darin circa 6 Minuten lang
Von Elisabeth Raether
a­nbraten, bis es Farbe annimmt. Dann aus
dem Topf nehmen und beiseitestellen.
Hitze etwas herunterschalten. In dem ver-
bliebenen Öl die Zwiebeln ungefähr 8 Mi-
nuten lang anbraten. Dabei oft rühren.
Dann das Fleisch wieder in den Topf geben,
Lorbeer und Nelken hinzufügen. Heißes
Wasser in den Topf geben, sodass das Fleisch
knapp bedeckt ist. Bei mittlerer Hitze und
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schmoren. Ab und zu umrühren.
Währenddessen Walnüsse in eine hohe Schüs-
sel geben, Chili, Koriander, Bockshornklee-
samen, Kurkuma und etwas Salz hinzufügen,
ebenso ½ Tasse warmes Wasser, mit dem Pü-
rierstab zu einer Paste verarbeiten.
Wenn das Fleisch zart ist, die Tomaten da-
zugeben. Noch mal 15 Minuten schmoren
lassen. Dann die Walnusspaste hinzufügen
und weitere 10 Minuten köcheln lassen.
Eventuell noch mal salzen.
Foto Silvio Knezevic
TAGEBUCH AUS KIEW 14 AN DER FRONT

Ich bin an der Front, in der Nähe von Wer­ trinken. Sie führen Drohnenflüge aus, um rennen Mäuse umher. Sie kriechen in die
bowe im Süden der Ukraine. Das Bild zeigt potenzielle Ziele für Mörser, also Gra­nat­ Taschen, springen von der Decke runter und
ukrainische Soldaten, die sich zwischen ih­ werfer, zu identifizieren. Der Lärm der Ar­ fressen alles, was essbar ist.
ren Einsätzen ausruhen und einen Kaffee tilleriekämpfe ist ohrenbetäubend. Überall Aber niemand kümmert sich darum.

Der Illustrator Sergiy Maidukov, 43, ist in Donezk geboren und aufgewachsen, seit 2006 wohnt er in Kiew.
Für uns zeichnet er, wie er sein Land derzeit sieht und erlebt
 GENAU SEIN
HUMOR

Er hat die Grünen mitgegründet, heute ist er für

Konservative der einzig vernünftige Komiker. Einige Monate
mit Dieter Nuhr
Dieter Nuhr auf dem Blauen See in seinem Heimatort Ratingen
Von MARTIN MACHOWECZ
»Wenn ich einen Klempner brauche, ist mir wurscht,
ob sie einen schwulen oder einen heterosexuellen
Klempner schicken. Ein pünktlicher Klempner, darüber
würde ich mich freuen! Von mir aus können die
mir eine radikalfeministische, lesbische Klempnerfrau
schicken – solange sie mir nicht den Hahn aus der
Wand reißt und stattdessen einen Schlitz reinmacht.«
Dieter Nuhr, in seinem Programm
Es ist schon Nacht im lauen Frühsommer 2023, als auf der Terrasse
eines Berliner Restaurants die Kabarettisten Dieter Nuhr und Mi-
chael Mittermeier anfangen, sich zu streiten. Nuhrs aktuelle Sen-
dung ist gerade abgedreht, Mittermeier, ein bekennend Grünen-
naher bayerischer Comedian, hatte einen Gastauftritt. Nun gibt es
Essen und Getränke fürs ganze Team, sehr guten Weißwein. Alles
könnte harmonisch sein, die Show ist fertig, aber: Nuhr und Mit-
termeier kriegen sich über Cancel-Culture in die Haare.
Mittermeier: »Diejenigen, die behaupten, dass man ja gar nichts
mehr sagen dürfe, verstehe ich nicht. Man darf alles sagen. Man
kann nur nicht erwarten, dass es keine Gegenreaktionen und
­Widerworte gibt.«
Nuhr: »So kann man nur reden, wenn man die Konsequenzen noch
nie tragen musste.«
Mittermeier: »Ach was.«
Nuhr: »Wer mal die vermeintlich Falschen kritisiert, muss mit Fol-
gen rechnen, die eben nicht ohne Weiteres auszuhalten sind. Es
gibt Leute, die werden mundtot gemacht. Das reicht bis zur Ver-
nichtung von Existenzen!«
Mittermeier: »Ich toure seit vier Jahrzehnten durchs Land. Ich habe
immer alles sagen können, auch heftige Shit­storms erlebt, aber ich
bin noch da!«
Dieter Nuhr ist, unumstritten, einer der bekanntesten deutschen
Comedians, Kabarettisten, Fernsehshow-Gastgeber. Seine Auftritte
in großen Hallen sind fast immer ausverkauft. Seine Sendung Nuhr
im Ersten, in der er und wechselnde von ihm geladene Künstler auf-
treten, erreicht spätabends im Schnitt zwei Millionen Zuschauer.
Nuhr wird von enorm vielen Menschen geliebt. Kann dieser Mann
wirklich der Ansicht sein, die Meinungsfreiheit sei bedroht?
Für die ARD ist er eine Art Aushängeschild, ein Name, den man
voller Stolz anführt, wenn es heißt, es gehe nur noch links-grün zu
im Öffentlich-Rechtlichen. »Wir haben doch Dieter Nuhr!«
Für manche seiner Fans ist Nuhr der letzte Aufrechte, einer, der
Witze erzählt, die andere sich schon lang nicht mehr zu erzählen
trauen. Stimme der Vernunft. Gegen Woke­ness, gegen politische
Korrektheit. Gegen das Gendern. Der einzige lustige Konservative
in diesem Land (er selbst bestreitet vehement, konservativ zu sein).
Für andere seiner Fans ist er auch einfach nur lustig. Doch für wie-
der andere, die eher nicht zu seinen Fans zählen, ist Dieter Nuhr
ein anstößiger Mann.
Der Kabarettist Volker Pispers nannte Dieter Nuhr einmal den »hu-
moristischen Arm der Pegida-Bewegung«. Christine Prayon, die re-
gelmäßig in der heute-show des ZDF zu sehen war, verwendete diesel-
be Formulierung und erklärte, sie werde niemals in seiner Sendung
auftreten, auch wegen seiner Witze über den Islam. Ein Medienredak-
teur des Tagesspiegels holte im Frühjahr zu einem besonderen Schlag
Fotos VICTORIA JUNG
aus: Nuhr mache »rechte Comedy«. Im Text über eine Sendung
des Kabarettisten Jan Böhmermann, die sich wiederum auf ziem-
lich derbe Weise mit Dieter Nuhr aus­ein­an­der­ge­setzt hatte, war zu
lesen, dass Nuhr zu jenen Comedians gehöre, die »mit rassistischem,
­sexistischem Gedankengut und Vokabular um sich schmeißen, um
die Wut auf Cancel-Culture und alles ­Woke anzufeuern«. Deutlich
»rechtsdrehend« sei das. Die ARD müsse das Gespräch mit Nuhr
suchen, »denn der überzieht, der verletzt, der frisst über die Hecke«.
Irgendwann leitet der Text sinngemäß her, dass Böhmermann das
Konzentrat des Nuhrschen Programms darbiete, »das Banale wird
böse«, so steht es da im Tagesspiegel über Dieter Nuhr.
Mit »das Banale wird böse« wären wir dann, in der Rezension einer
TV-Sendung, binnen weniger Sätze bei einem Zitat von Hannah
Arendt angekommen, die mit der Formulierung »Banalität des
Bösen« einst Adolf Eichmann erklärte, einen der Haupt­orga­nisa­
to­ren des Holocausts. »Sehen Sie«, sagt Dieter Nuhr, wenn man
ihn fragt, wieso er glaube, dass es Cancel-Culture in Deutschland
gebe, ­»Texte wie diese meine ich.« Er könne das vielleicht aushal-
ten. »Aber viele andere halten es nicht aus.«
Hat Dieter Nuhr also vielleicht recht, wenn er mit Michael Mitter-
meier darüber streitet, ob man in Deutschland noch alles sagen darf?
Oder ist es abwegig, wenn ein deutscher Kabarettist mit einer der
besten Einschaltquoten das Gefühl hat, ihm werde übel mitgespielt?
Das ZEITmagazin hat Dieter Nuhr einige Monate lang begleitet.
Bei Auftritten in Deutschland und der Schweiz, bei Produktio-
nen für seine TV-Show, bei Terminen in seinem Job als bildender
Künstler, der er auch noch ist.
»Joe Biden beendete seine Rede mit den Worten:
›May God save the planet.‹ Das fand ich als Konzept
dünn. Sich auf Gott zu verlassen hat doch noch
nie funktioniert. Gott hat die große Pest nicht verhindert,
den Dreißigjährigen Krieg nicht und auch nicht die
Erfindung der Leggins in Größe 56!«
Dieter Nuhr, in seinem Programm
Man kann nicht behaupten, dass Emsdetten einer jener Orte wäre,
die der liebe Gott besonders reizend gestaltet hat. Man kann sich
auch die EMS-Halle Emsdetten gar nicht falsch vorstellen. Außen
Neunzigerjahre-Klobigkeit, drinnen zarter Wurst- und Biergeruch.
In den Gängen hinter der Tribüne, dort, wo sich sonst Hallenhand-
baller und Schiedsrichter umziehen, sitzt in einem fensterlosen
Raum, neben einer Assiette vom China-Imbiss, der Künstler.
Dieter Nuhr sieht an diesem Sonnabend im April fantastisch erholt
aus. Braun gebrannt, er war kürzlich noch in Spanien. Sandfarbene
Nike-­Snea­ker, eine Art Cargohose mit aufgenähten Taschen. Als
wäre er ein Tourist auf Safari. Gleich wird er hier auf die Bühne
treten, vor 2000 Leuten – ausverkauft, wie fast immer.
Er fragt, noch ehe man selbst fragen kann: Wie geht es Ihnen? Gut,
sagt man. Und ihm? Er strahlt. Hervorragend. Nuhr, das muss man
an dieser Stelle vielleicht einmal zu Protokoll geben, ist praktisch
immer, wenn man ihn trifft, gut gelaunt. Höflich. Fast ein bisschen
leise. Nie zynisch. Ein, ja wirklich, angenehmer Mensch.
Der fensterlose Raum, der hier Backstage genannt wird, dagegen:
nicht so angenehm. Marmortischplatte, alte Ledercouch. Ein

b­ isschen wie ein Bunker, den man bei Möbel Höffner eingerichtet
hat, aber 1992. Ein Vorteil vielleicht, dass man einen Atomschlag
draußen eine ganze Weile lang nicht mitbekäme. Ihn, Nuhr, stören
diese Back­stage-­Räume nicht, er kennt sie, sie sind überall gleich,
in Emsdetten, in Oldenburg, in Bremerhaven. Witze unter die
Leute zu bringen ist nicht immer glamouröse Arbeit.
Hier in den Katakomben können Sie es doch zugeben, lieber Dieter
Nuhr, ganz unter uns: Ist das wahnsinnig anstrengend, gleich raus-
zugehen? Den Lustigen zu geben?
Er muss gar nicht nachdenken, er sagt sofort Nein. »Abends diese
2000 Menschen vor sich zu haben, die lachen und klatschen – das
ist, um ehrlich zu sein, eine sehr angenehme Form der Selbstbestä-
tigung«, sagt Nuhr. »Während der Pandemie dachte ich, das würde
ich nie wieder erleben. Jetzt zu sehen, dass da Tausende sitzen, sich
freuen, auf mich warten, ist das Größte.« Sonst, sagt er, würde er
es auch nicht immer noch machen, mit jetzt 63 Jahren (er sieht ja
aber eher aus wie 53).
Darüber redet man mit ihm, ein paar Minuten lang. Und merkt gar
nicht, wie von diesem Thema das Gespräch sehr schnell hinüber-
gleitet zur großen Politik. Zum Zustand der Welt, angefangen mit
dem Zustand deutscher Städte wie Emsdetten und Gelsenkirchen
(Teile Gelsenkirchens könne man mit dem Globalen Süden ver-
wechseln, sagt Nuhr) über den katastrophalen Zustand der Berliner
Regierung (es sind die letzten Tage von Franziska Giffey als Bürger-
meisterin), bis zum Zustand der Bahn, mit der man faktisch nicht
mehr von West nach Ost komme. Und, klar: zu seinem grund-
sätzlichen Verzweifeln an den Grünen.
Das ist natürlich lustig, denn Nuhrs Programm baut darauf auf, die
Republik am Rande des Abgrunds zu sehen. Kaputte Bahn, miss-
ratene Energiewende, grüne Weltverbesserungsversuche. Genau
das sind seine Themen. Und wenn man bislang dachte, das sei ein-
fach seine Masche, dann steht diese Erkenntnis schon nach dem
ersten Back­stage-­Be­such: Das, was er auf der Bühne erzählt, sieht
er auch wirklich so. Er täuscht keine politische Haltung vor. Der
Nuhr hinter der Bühne ist der Nuhr auf der Bühne.
Hat er ein Vor-dem-Auftritt-Ritual? »Ich geh noch mal pinkeln
und prüfe danach, ob die Hose zu ist«, sagt Nuhr.
Ein paar Minuten später, der Künstler tritt ins Licht. Emsdetten
liegt ihm sofort zu Füßen.
Wenn er sagt: Wer sich in Deutschland noch über gutes Wetter
freue, gelte im Grunde schon als Klimaleugner!
Wenn er fragt, was eigentlich – rein logisch – mit der »Letzten Ge-
neration« passiere, wenn ihr erstes Mitglied schwanger werde.
Wenn er sich darüber lustig macht, dass man sogar die Rüstungs-
industrie ins Ausland abwandern lasse (»Wenn man im Kriegs-
fall beim Feind bestellt, kommt es eben oft zu Lieferschwierig-
keiten!«).
Oder wenn er – jetzt sehr ernst – erst darauf hinweist, dass in der
ARD einmal Mütter als »entbindende Personen« bezeichnet wur-
den, und dann fragt, was man eigentlich für ein Mensch sei, wenn
man Kindern die Mutter wegnehme.
Immer tobt der Saal.
Nuhr kann minutenlang über den verheerenden Zustand der deut-
schen Armee, der Ampelkoalition, der Wirtschaft sprechen, ohne
das unbedingt mit Pointen versehen zu müssen.
19
»Ich bin Komiker und Leitartikler«, sagt er, an einem anderen Tag,
bei anderer Gelegenheit. »Ich glaube, früher sagte man Erzähler
dazu. Das ist doch alte Tradition: Ein Erzähler reist durchs Land,
kommt in die Stadt und berichtet, was er gesehen hat.«
Durchs Land reisen, oh ja. Jedes Wochenende, fast immer am Frei-
tag, Samstag und Sonntag steht er in irgendeiner deutschen Mittel-
stadt und spielt seine Show. Abgesehen von einer Sommerpause
ist er ständig unterwegs. Seine Freunde und Verwandten wüssten
schon, sagt er, dass er zu Geburtstagspartys entweder gar nicht oder
erst gegen Mitternacht komme. Vorher ist immer Auftritt.
Eine Stunde vor Beginn, ungefähr, kommt er an (lieber mit dem
Auto, der Bahn vertraut er ja nicht), schaut noch mal auf seine
Texte, überlegt sich vielleicht einen aktuellen, gerne auch lokal
­angepassten Einstieg. Dann geht er auf die Bühne, wo schon sein
iPad auf einen Ständer montiert ist, damit er zwischendurch hin
und wieder einen Blick auf den Text werfen kann.
Nach der Zugabe, noch mit dem Schlussapplaus, spurtet er aus
dem Hinterausgang der Halle und ist der Erste, der vom Parkplatz
fährt. Keine Autogrammsessions, keine Bäder in der Menge nach
dem Auftritt.
Nach Emsdetten, nach der Show, Dieter Nuhr ist schon längst
durch den Hinterausgang weg, eine kurze Publikumsbefragung.
Die Leute, die hier zu Gast waren: kompletter deutscher Durch-
schnitt. Alle Generationen, vom Teenager bis zur Oma. Manche
mit Leggings in Größe 56. Auch die sagen, wenn man sie fragt: Sie
mögen an Nuhr das Unkorrekte, das Ehrliche, das Unverfälschte.
Benedict und Lucas, zwei junge Herren von der Uni Münster, glü-
hende Begeisterung in den Augen: Hier gebe es mal keinen Hang
zum Moralismus! Auch an der Hochschule sei der Meinungskor-
ridor so eng geworden. Nuhr spreche die Dinge noch aus! Und
superlustig sei er auch.
»Leslie Kern, Direktorin der Frauen- und Geschlechter-
studien an der Mount Allison University in Kanada,
hat festgestellt, ich zitiere, dass Hochhäuser Zeichen
toxischer männlicher Macht sind, weil sie nichts
anderes sind als Penisse, die in den Himmel ejakulieren.
Hochhäuser seien Symbole gelebter Gender-Ungleich-
heit. Nun war mir das bis dahin nicht aufgefallen,
aber dann habe ich drüber nachgedacht. Und es ist in
der Tat so, dass ich kein einziges Haus kenne, das
mich an eine Vagina erinnern würde. Eine Tiefgarage
vielleicht, ein bisschen!«
Dieter Nuhr, in seinem Programm
Dieter Nuhr lebt in Ratingen, nicht weit von Düsseldorf, der Stadt,
in der er aufgewachsen ist. Ein Dienstag also in Düsseldorf, Ein-
kaufsstraße, ein Eiscafé. Zwischen Rentnerinnen und Familien mit
Kindern trifft man Nuhr zum Spaghettieis. Zum Reden.
Es ist, an diesem Tag, nicht lange her, dass Jan Böhmermann sich
intensiv mit ihm, sagen wir, aus­ein­an­der­ge­setzt hat. Nuhr will nicht
so gern öffentlich darüber sprechen, schon weil er Böhmermann
nicht diesen Gefallen tun möchte. Er findet, das wäre zu viel der
Ehre – sich öffentlich zu ärgern. Aber man kann schon sagen, dass
er es furchterregend fand, was Böhmermann, immerhin Comedy-

Kollege vom ZDF, gemacht hat: Er hat Nuhrs Sendung komplett
kopiert. Einen Schauspieler engagiert, der Nuhrs Gesten auf der
Bühne nachgeahmt hat, seine sehr markante Sprechweise, dieses
leicht Gepresste, dazwischen gerne ein knurrendes »nech«. Auf der
Bühne wirkt Nuhr viel strenger als jetzt im Eiscafé. Der Schauspie-
ler, muss man sagen, hat diese Strenge ganz gut kopiert. Er sprach
ein wenig wie Nuhr und sah auch ein bisschen so aus. Böhmer-
mann ließ das Studio von Nuhr im Ersten nach­bauen, bis ins De-
tail, er ließ darin Schauspieler auftreten, die regelmäßige Gäste von
Nuhr parodierten, zum Beispiel die Kabarettistin Lisa Eckhart, eine
Frau aus Österreich, deren Masche es ist, auszuprobieren, wie weit
man mit der ein oder anderen Geschmacklosigkeit kommen kann.
Eckhart macht auch Witze über Juden, die Jüdische ­Allgemeine kri-
tisierte sie für anti­semi­ti­sche Pointen.
Böhmermanns Sendung diente dem Zweck, das kann man wohl
so zusammenfassen, Nuhr als irgendwie rechts zu brandmarken,
zugleich als völlig unlustig. Böhmermann soll sogar echte Nuhr-
Witze verwendet und neu arrangiert haben, so stand es in manchen
Zeitungen – Nuhr sagt, er habe kurz reingeschaut und nichts in der
Sendung entdeckt, was er jemals so gesagt habe.
Am Ende der Böhmermann-Parodie trat eine Punkband auf, die
sang: »Bist du Anti-Antifa, bist du Fa«. Das konnte man als Zu-
schauer so verstehen: Nuhr positioniert sich gegen die Antifa, also
ist er Faschist.
Hat Sie das verletzt, Herr Nuhr?
Kurze Gesprächspause im Düsseldorfer Eiscafé. »Ich fand es
schmerzhaft, was nach der Sendung passiert ist.« Was? »Vor allem
die Berichterstattung. Große Zeitungen, die die Position von Herrn
Böhmermann übernehmen, ohne sie zu hinterfragen.« Er erzählt
wieder vom »Banalität des Bösen«-Vergleich im Tagesspiegel. »Ich
hätte das von einem ehemals bürgerlichen Journalismus nicht er-
wartet.« Wieso sagt er »ehemals«? »Na ja, ist das denn bürgerlich?
Mich in die Nähe von Nazis zu rücken? Wir haben es im Journalis-
mus immer öfter mit Aktivisten zu tun als mit Journalisten.«
Wo steht er denn politisch? Diese Frage lässt sich so leicht gar nicht
beantworten.
Dieter Nuhr sieht sich nicht als Konservativen, schon gar nicht
als Rechten. Er war sogar, Lebenspointe, Gründungsmitglied der
­Grünen. In Düsseldorf, Ende der Siebzigerjahre, Nuhr war gerade
18, 19 Jahre alt. Überall fanden diese Gründungsversammlungen
statt, sagt er, »auf einer davon war ich. In so einem Zelt. Joseph
Beuys kam rein, riesiger Jubel, daran erinnere ich mich.«
Wieso ging er damals hin? Weil er erstens davon überzeugt gewesen
sei, dass die Menschheit diese grünen Weltenretter brauche, sagt
Nuhr. »Weil ich an die Ökologie glaubte, an den Schutz der Um-
welt und Natur.« Und zweitens? Vielleicht, sagt Nuhr, auch aus
Rebellion. Er kommt aus einem Beamtenhaushalt, sein Vater war
Regierungsdirektor, »dieses Absetzen von den Generationen vorher,
dieses phänotypisch und kulturell ganz andere, das war etwas, das
mir wichtig war, das mir an den Grünen gefiel«.
Nuhr ist 1960 geboren. Seine Lehrer, sagt er, hätten teilweise noch
in der NS-Zeit unterrichtet. »In meiner Jugend gab es noch Nazis
in Führungspositionen, Schwulsein war verboten, und mit meiner
Freundin bekam ich kein Hotelzimmer, weil wir nicht verheiratet
waren. Man lief mit langen Haaren über die Straße und musste sich
20
hinterherrufen lassen: ›So was kam früher ins KZ!‹ Daraus wollte
ich ausbrechen, daraus wollten wir alle ausbrechen, deshalb lande-
ten wir bei den Grünen.«
Irgendwann müssen Sie dann ja aber angefangen haben, sich von
den Grünen zu entfremden, Herr Nuhr, wann sind Sie da ausgetre-
ten? Sie hätten ihn schon früh rausgeworfen, sagt er, weil er nie
Mitgliedsbeiträge gezahlt habe.
Nuhr: »Ich glaube, dass sich die Grünen von mir entfernt haben
und nicht andersherum. Ich glaube, dass die öffentliche Verwen-
dung von Begriffen sich stärker verändert hat, als ich mich ver-
ändert habe. So, wie ich damals war, bin ich noch heute.«
In seiner Logik ist es so: Die Grünen seien moralischer geworden.
Vieles von dem, was heute »rechts« sei, sei es früher nicht gewesen.
Er halte es mit Noam Chomsky, dem amerikanischen Linguisten.
»Chomsky sagt, dass die Begriffe so besetzt wurden, dass sie nicht
mehr diskutabel sind.« Er, Nuhr, sei zum Beispiel absolut über-
zeugt davon, dass es den Klimawandel gebe und man das Klima
schützen müsse. »Aber dass jegliche Aus­ein­an­der­set­zung mit den
klimapolitischen Maßnahmen, die unsere Regierung plant, schon
als rechts diffamiert wird – dass es rechts sein soll, wenn man fragt,
wo Millionen Wärmepumpen und der Strom dafür herkommen
sollen, wenn wir am Ende auch das Kabarett, das diese Fragen stellt,
als rechts brandmarken, dann zerstören wir die demokratische
­Gesellschaft in ihren Grundfesten.«
Und das lasse er sich nicht bieten. Das Recht, das zu kritisieren,
nehme er sich heraus.
Will er wirklich behaupten, die Grünen seien früher nicht mora-
lisch gewesen und er habe sich nicht verändert? Na gut, sagt er:
»Natürlich halte ich jetzt vieles von dem, was ich zu Gründerzeiten
der Grünen gedacht habe, für völlig naiv.« Heute sei ihm klar, dass
es gesellschaftlichen Wohlstand brauche, um im Winter heizen zu
können – und dass es nicht ohne Umweltauswirkungen möglich sei,
ein 80-Millionen-Volk im Wohlstand zu halten. Damals habe er ge-
dacht, dem Umweltschutz könne man praktisch alles unterordnen.
»In unseren Behörden gilt derjenige als IT-Experte,
der weiß, wo der Lichtschalter liegt.«
Dieter Nuhr, in seinem Programm
Dieter Nuhr wollte eigentlich immer Künstler werden, Kunst ist
bis heute seine Leidenschaft, er fertigt großformatige Bilder, die
auf selbst aufgenommenen Landschaftsfotos basieren, die er wiede-
rum am iPad bearbeitet, auf Leinwände druckt und manchmal von
Hand weitergestaltet. Er verkauft diese wuchtigen Bilder sehr teuer,
sie gehen teilweise für deutlich fünfstellige Summen an Sammler
und Privatleute. Einmal steht man in seiner Düsseldorfer Galerie,
wo seine neuesten Werke hängen, es ist der Tag vor der Vernissage,
und Dieter Nuhr sagt: »Das hier bin eigentlich ich.« Ganz davon
leben könne man aber auch nicht. Nuhr wäre, das erzählt er ein-
mal, vielleicht ausschließlich bildender Künstler, wenn das ähnlich
einträglich wäre wie der Humor. Aber er reist ständig um die Welt,
macht lange Abenteuerurlaube, besitzt ein Ferienhaus im Süden:
nicht der Lebensstil, den man sich als Maler leisten kann.
Doch wenn man im Internet www.nuhr.de eingibt, landet man
beim Komiker Dieter Nuhr. Geht man auf www.dieter-nuhr.de,
Nuhr fährt übrigens Elektroauto, war eine Zeit lang Vegetarier und hat Solarpanels auf dem Dach 21

kommt man auf die Seite des Künstlers. Vielleicht sagt das auch
schon alles.
Weil Nuhr schon als junger Mann nicht glaubte, von seinen Bildern
leben zu können, studierte er Kunst und Geschichte auf Lehramt,
merkte jedoch, dass es auch nicht seine größte Leidenschaft war.
Eine Leidenschaft aber, das waren Auftritte als Komiker, er fing erst
in kleinen Buden damit an, tourte gemeinsam mit Freunden, mit
mäßigem Erfolg. Anfang der Neunziger trat er dann schon allein
auf, seine heutige Frau Jutta riss damals die Karten ab und ver-
suchte, Laufkundschaft zu überreden, sich die Auftritte anzusehen.
Dann, 1994, wurde Nuhr zu RTL Samstag Nacht eingeladen, der
Comedysendung der Neunzigerjahre. Die Redaktion sei immer auf
der Suche nach neuen Gesichtern gewesen, habe sich in der Klein-
kunstszene umgeschaut, man sei zufällig auf ihn gestoßen, sagt
Nuhr. Eine Art Lebensglück.
RTL Samstag Nacht! Millionenquote. Plötzlich seien seine Auftritte
größer gewesen. Nicht mehr nur fünf, zehn, 15 Leute. Sondern ver-
lässlich 100 Zuschauer in Geislingen an der Steige, 100 Zuschauer
in Esslingen, »plötzlich sah das schon aus wie ein Theaterabend«.
Er wurde in weitere Sendungen eingeladen, 7 Tage, 7 Köpfe zum
­Beispiel. 2011 übertrug ihm die ARD die Moderation des Satire
Gipfels, den vorher Mathias Richling präsentiert hatte, ein eher
klassischer Kabarettist sozialdemokratischer Prägung. Seit 2014
heißt die Sendung Nuhr im Ersten. Eine frühere SPD-Humor-
Show, die zum Kabarett für Konservative geworden ist.
Nuhr findet, er sei immer schon politisch gewesen. »Schon mein
erstes Soloprogramm war eines über meine alternative, grüne Ver-
gangenheit. Ich hab mich lustig gemacht darüber. Über die Klei-
dung, die wir getragen haben. Über die Art, wie wir gedacht haben.
Das hat damals schon alle in der Szene aufgeregt.« Schon immer sei
ihm von Kollegen vorgeworfen worden, dass er politisch »indiffe-
rent« sei. Was nichts anderes bedeutet habe als: nicht links genug,
nicht deutlich genug auf der richtigen Seite.
Seither sei die ganze Welt politischer geworden, aufgeladener, die
Themen ­seien heute relevanter als früher. Kein Mensch spreche
mehr über Hosenfarben. »Ich weiß nicht, wann ich mich zum letz-
ten Mal mit jemandem an der Kasse übers Wetter unterhalten habe.
Es gibt keine banalen Gespräche mehr. Alles ist sofort groß.«
Und weil die Gesellschaft heute so hysterisiert sei, bekämen alle
immer gleich Schnappatmung, wenn einer darüber Witze mache.
Früher habe er auch schon über den Klimawandel geredet, sagt
Nuhr, da sei das halt eines von vielen Themen gewesen.
Aber vielleicht ist heute die Lage ernster?
Klar, sagt er. »Auch, weil wir Deutschen alles noch mal doppelt auf-
laden. In Spanien bauen sich die Leute Solarzellen aufs Dach, weil
sie denken, das wird am Ende billiger, das amortisiert sich in zehn
Jahren. Niemand in Spanien denkt: Ich mach das jetzt, weil ich die
Welt retten will. Die Deutschen denken das.«
Nuhr fährt übrigens Elektroauto. Er hat sogar mal versucht, als
Vegetarier zu leben. Zu Hause hat er Solarpanels auf dem Dach.
Wenn man Dieter Nuhr trifft, hat man im Übrigen nie das Gefühl,
dass er sich verstellt. Manchmal sagt er, fast ängstlich: Ob man d
­ iese
oder jene Äußerung jetzt gegen ihn verwende? Ob es eigentlich ein
Fehler sei, dem Reporter jetzt alle Türen zu öffnen?
Auf der Bühne ist er dann wieder ganz schön direkt.
22
»Dass sich ausgerechnet Ricarda Lang traut, das Volk
in Ernährungsfragen erzieherisch lenken zu wollen –
das macht mir persönlich Angst. Weil, die Politik wird für
uns Komiker immer mehr zur echten Konkurrenz.«
Dieter Nuhr bei »Nuhr im Ersten«
Es gab viele Shitstorms in Dieter Nuhrs Leben. Dieser war einer der
lautesten. Als Ricarda Lang, Bundesvorsitzende der Grünen, sich
für ein Werbeverbot für Süßigkeiten und Fast Food einsetzte, be-
schloss Dieter Nuhr, einen Gag darüber zu machen. Die Versuchs-
anordnung: Ricarda Lang ist übergewichtig, wie kann sie sich für
ein Zucker-Werbeverbot aussprechen, großes Lachen. Vor seinem
Auftritt in Bremerhaven, kurz nach Ausstrahlung der Sendung mit
dem Scherz darüber, titelte die Nordsee-Zeitung: »Heftige Kritik im
Netz – umstrittener Dieter Nuhr tritt heute in Bremerhaven auf«.
Und darunter: »Ist er Rassist, Sexist, Nazi oder Querdenker, wie
seine Kritiker sagen?«
»Ich habe lange überlegt, ob ich das machen kann«, sagt Dieter
Nuhr über den Ricarda-Lang-Witz. »Ich mache mich nie über Per-
sonen lustig, immer nur über Inhalte. Ich sage von mir aufrichtig:
Ich mache keine Scherze, die Menschen als Personen verletzen.«
Aber Ricarda Lang? »Ich hätte niemals einen Witz gemacht einfach
nur deshalb, weil Ricarda Lang dick ist«, sagt Nuhr. »Aber die Ab-
surdität, dass jemand Vorschriften zur Ernährung machen möchte,
der so offensichtlich selbst mit dem Thema Ernährung Schwierig-
keiten hat, finde ich paternalistisch.«
Also würde er den Witz wieder machen? Ja, sagt Nuhr.
Aber, Einwand 1: Nicht jeder übergewichtige Mensch kann etwas
für sein Übergewicht.
Einwand 2: Man muss doch auch kein Nichtraucher sein, um ein
Rauchverbot in Bars durchzusetzen.
Und Einwand 3: Immer schlecht, sich als Mann über die Figur
einer Frau auszulassen.
Nuhr: »Es gäbe so viele Menschen, die sich zu dem Thema ä­ ußern
könnten, die nicht Ricarda Lang sind! Ich bin immer dann zur
Stelle, wenn doppelte Maßstäbe angelegt werden. Wenn Dinge
­widersprüchlich sind. Hätte ich über das Gewicht von konser-
vativen Männern wie Helmut Kohl oder Peter Altmaier Witze
­gemacht, hätte es übrigens keinen interessiert.«
Das habe er, Nuhr, allerdings auch noch nie gemacht.
Die Leute, die Dieter Nuhrs Tour begleiten, die Mitarbeiter seiner
Produktionsfirma, die Tontechniker, sind seit zehn, 20, 30 Jahren
an seiner Seite. Der Mann, der den Großteil seiner Shows veranstal-
tet, hat das schon in den Neunzigern für ihn gemacht. Seine Frau,
die schon damals die Karten für ihn abriss, liest heute alle seine
Texte. Alles eine Art Familienunternehmung.
Sagen diese Leute, sagt seine Frau manchmal: Dieter, fahr eine Spur
runter? Mach mal langsam? Lass diesen ­Joke?
»Meine Frau ist ein superwichtiges Korrektiv«, sagt Nuhr. »Sie ist
die erste Dramaturgin meiner Programme. Sie streicht gerne was
raus, wenn sie sagt, Dieter, das hat keinen Sinn, das müsstest du
länger erklären, damit es funktioniert. Das macht nur Ärger, und
keiner versteht’s.«
Streicht er das dann auch, wenn sie es sagt?
Oft, sagt Nuhr.
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»Wenn Menschen AfD wählen, weil sie mit der Regierung
unzufrieden sind, dann erinnert mich das so ein
bisschen an Schweine, die mit ihrem Bauern unzufrieden
sind und sagen: Ich wähle nicht mehr den Bauern,
ich wähle jetzt den Metzger!«
Dieter Nuhr, in seinem Programm
Es stimmt, man kann das nicht anders sagen – es gibt in Dieter Nuhrs
Programmen keine Witze, die ernsthaft als politisch radikal gelten
könnten. Man kann sie appetitlich oder unappetitlich finden, lustig
oder unlustig. Er legt zum Beispiel keinen Wert darauf, innovativ zu
sein, er schaut nicht die Sendungen der amerikanischen Late-­Night-­
Komi­ker, die witzemäßig als besonders fortschrittlich gelten, er kennt
diese Leute praktisch gar nicht. Was seinen Humor von dem der
meisten anderen unterscheidet, ist schon: Er kritisiert eher aus dem
rechten als aus dem linken Bereich der Mitte. Ganz vertraulich sagt
eine hohe ARD-Funktionärin – bloß nicht zu weit aus der Deckung
wagen –, sie verstehe überhaupt nicht, wieso es schon Anstoß errege,
wenn ein einziger Kabarettist mal von der anderen Seite komme.
Nuhr selbst definiert seinen Humor so: Er wolle die Differenz zwi-
schen Anspruch und Wirklichkeit sichtbar machen. Sich allzu oft
mit der AfD zu befassen, das halte er für weitgehend nutzlos. An
diese Partei habe man ja keinen Anspruch. Witze über die Grünen
­seien wunderbar, weil die Anspruch an sich selbst hätten – und
noch mehr Anspruch an andere. Was überhaupt immer vergessen
werde, das sei, wie vehement er die AfD aus dem Saal spiele.
Nuhr macht sich immer wieder brutal lustig über die AfD. Der
Scherz mit dem Schwein und dem Metzger gehörte fest zum Re-
pertoire der vergangenen Spielzeit. In fast jeder Show bat er zudem
einmal alle Corona-Ungeimpften im Publikum, die Hand zu heben
– die taten das dann in aller Regel euphorisch. Nuhr sagte ihnen
dann: Das könne er nicht verstehen, er sei geimpft, er habe ja nicht
sterben wollen.
Nuhr führt die Ungeimpften vorm Rest des Publikums regelrecht vor.
»Ich habe eine Menge Leute im Publikum, die es ganz gut finden,
dass nicht so berechenbar ist, was bei mir rauskommt«, sagt Nuhr.
Er habe sehr oft das Gefühl, dass er etwas nicht verstehe – ihn stö-
re aber, dass andere behaupten, sie verstünden es ganz genau. Die
Gesellschaft, so sieht Nuhr das, habe ihre Fähigkeit verloren, unauf-
lösbare Wertegegensätze anzuerkennen, Dilemmata zu akzeptieren.
Immer wollten alle auf der richtigen Seite stehen.
»Die Dinge fangen doch dann an, interessant zu werden, wenn es
keine gute Lösung für ein Problem gibt.« Er meint zum Beispiel die
Migrationsdebatte. »Wenn wir sagen, wir lassen jeden, der zu uns
kommen möchte, rein – ist das völlig verständlich. Ich kann diesen
Wunsch hundertprozentig nachvollziehen. Ich habe ihn auch.« ­Zu­
gleich sei es ja offensichtlich, dass man diejenigen, die zu uns k­ ämen,
auch unterstützen müsse. »Aber wenn man das zu Ende denkt, heißt
das: Unser So­zial­staat könnte überfordert werden, vielleicht holen
wir uns Bürgerkriege nach Europa, und vielleicht gehen Werte, die
wir uns über Jahrhunderte erarbeitet haben, kaputt – wenn zu viele
Menschen auf einmal kommen, die diese Werte nicht teilen.«
Aber Dogmatiker auf beiden Seiten verstünden nicht, dass Men-
schen in der Abwägung zu anderen Schlüssen kommen könnten
als man selbst. Statt moralische Dilemmata zu diskutieren, werde
24
die Debatte über diese Dilemmata tabuisiert. »Am Ende heißt es:
Entweder man ist human. Oder man ist rechts.«
Darüber mache er Witze. Das sei sein Konzept.
Fragt man Harald Schmidt, den Altmeister des deutschen Late-­
Night-­Humors, nach Nuhr, sagt der: »Ich mag Dieter Nuhr sehr.
Und zwar aus einem Grund: Ich teile die Menschheit ein in die
Kategorien ›war ein super Gast‹ oder ›war kein super Gast‹.« Dieter
Nuhr: Supergast in Harald Schmidts Sendungen. »Der Gast hat zu
liefern. Und Dieter Nuhr liefert ab. Es war immer eine tolle Sache,
wenn Dieter Nuhr kommt. Der verdoppelt die Quote.« Er verstehe
nicht, warum man sich jetzt so auf Nuhr einschieße.
Man kann in Dieter Nuhrs Programmen eine gewisse Vorliebe für
Penisse, Vaginas, Gendersternchen und den ganzen Wahnsinn der
Debatte drumherum nicht übersehen. Weshalb man ihn natürlich
fragen muss, ob er sein Geld nicht auch mit dem Kulturkampf ver-
dient, mit dem Anti-­Woken.
Nuhr widerspricht dann nicht; er sagt, das liege daran, dass in die-
sem Thema so viel Spaß verborgen sei. In offiziellen Briefen werde
durchgegendert, normale Menschen dagegen genderten überhaupt
nicht. »In dieser Diskrepanz steckt enorme Komik«, sagt Nuhr,
»und deswegen mache ich gerne Witze darüber.«
Man fragt ihn jetzt einfach noch mal an einem weiteren Abend
nach Aufzeichnung einer weiteren Nuhr-TV-Show: Ist er vielleicht,
im Grunde seines Herzens, doch einfach ein Konservativer?
Nuhr verschluckt sich fast an seinem Weißwein und sagt, er finde
das, wirklich, nachdrücklich, eine ungute Frage.
»Die Frage ist doch, was das heißen soll: konservativ. Ich kann es Ihnen
sagen.« Ja? »Die Gegner wollen damit gerne verschiedene schlechte
Bedeutungen verbinden. Du bist konservativ, also in der Zeit stecken
geblieben, gestrig, überholt. Ich bin weltoffen, ich bin für sexuelle
Freiheit, ich bin antikollektivistisch, ich bin Individualist.«
Nuhr findet, dass die Grenze da draußen nicht zwischen Rechts
und Links verläuft, sondern zwischen Kollektivisten und Indivi-
dualisten, zwischen am Kollektiv orien­tier­ten und freiheitlich den-
kenden Menschen, und Letztere – wie er – ­seien derzeit stark unter
Beschuss. Der Weg von der AfD zur Linkspartei sei auch deshalb
so kurz, weil beide für das Weltbild stünden, sich einem Kollektiv
zugehörig zu fühlen, einem Volk, einer Klasse, einer Gemeinschaft,
die das Lebensglück sicherten. Jemand wie er, Nuhr, könne nicht
weiter von einem Kollektivisten wie Björn Höcke von der AfD ent-
fernt sein. Der trete nicht für individuelle Freiheit ein, sondern für
völkische Gemeinschaft, »der Typ ist also das krasse Gegenteil von
mir. Wie manche darauf kommen, dass ich mit meinen individua-
listischen Inhalten in diese kollektivistische Ecke gehören könnte,
ist mir ein völliges Rätsel.«
Er wirkt jetzt richtiggehend aufgebracht. Bleibt ganz ruhig, spricht
ganz leise, aber ihn bewegt das. Merklich.
»Ich erlebe jede Menge Hass. Mit Kritik kann ich sehr gut leben.«
Über kritische Rezensionen, und die kämen oft vor, ärgere er sich
nicht. »Aber mit Hass und mit Diffamierungen umgehen, das ist
schwierig. Das Allerwichtigste, was ich gelernt habe, ist, dass ein
stabiles Umfeld hilft. Und: Aus dieser inneren Wut, die sich daraus
ergibt, mit Hass konfrontiert zu sein – aus dieser Verletztheit –,
darf man nicht selbst Radikalisierung entwickeln.« Dass einem das
nicht passiere, sei aber gar nicht so leicht.

Glaubt er, dass man durch Hass, durch harte Attacken, selbst in
eine Radikalisierung getrieben werden kann?
Ja, sagt Nuhr. Die AfD werde ja auch stärker mit jedem Mal, dass
ihre Wähler attackiert werden.
Aber er sei auch professioneller geworden im Umgang mit alldem.
Wenn so ein Volker Pispers – der Kabarettist vom Beginn dieses
Textes – sage, er, Nuhr, sei der kabarettistische Arm der Pegida,
»dann hatte ich vor zehn Jahren noch mehr Angst«, sagt Nuhr.
»Jetzt machen sie dich fertig, dachte ich. Heute weiß ich: Das wer-
den sie nicht schaffen.«
Wenn man Dieter Nuhr nicht schimpfen hören will über die Miss-
stände des Landes, die Probleme mit der Bahn, die Schwierigkeiten
mit der Regierung, dann kann man mit ihm in die Schweiz fahren.
Ein Treffen in Zürich, am Flughafen. Von hier aus soll es mit dem
Zug nach Bern gehen, zum Auftritt vor Schweizer Publikum.
Der Zug kommt natürlich auf die Sekunde pünktlich, das Ticket
ist tadellos per App bestellbar, es gibt einen freien Tisch im Bord-
restaurant, der Zug fährt an Bergen und Kühen vorbei. Logisch:
Der Kaffee, den Dieter Nuhr bestellt, schmeckt ihm so gut, als hät-
te ihn der beste Kaffee-Koch des Landes kredenzt.
Schweiz bombastisch, Deutschland mies. Bisschen klischeehaft,
oder? Leuchtet ihm sofort ein. »Aber es ist schon auch so, dass
dieses Land hier einfach funktioniert und unseres nicht so.«
­Später, am Abend in Bern, wird man erleben, dass Nuhrs Humor-
BEI UNS findest DU, WAS DU SUCHST.
© Alamy Stock Foto / Michael Abid
WEILWIRHAMBURGSIND.DE
2.11.23  N0 46
Methode, die deutschen Missstände hemmungslos breitzutreten,
logischerweise in der Schweiz fast noch besser ankommt als in
Emsdetten oder Oldenburg. Der Saal in dieser wunderschönen,
bürgerlichen, reichen Stadt Bern wird förmlich vor Lust und
­Lachen explodieren. Endlich sagt mal einer, wie schlecht es bei
den Deutschen läuft!
Vorher aber, jetzt, hier, bei dem vorzüglichen Kaffee in der Bahn,
spricht man anlässlich der von ihm beobachteten Schweizer
Großartigkeit noch einmal über die Art des Diskurses drüben in
Deutschland. Die Diskussionskultur, die er so schlimm findet.
»Unsere demokratische Gesellschaft ist gefährdet«, sagt Nuhr.
­»Unsere ökonomische Lage ist von rasantem Abstieg geprägt, unser
Wohlstand damit auch.«
Aber er kann das doch alles sagen und aussprechen, oder?
»Ja, das kann ich«, sagt Nuhr. »Ich sage auch nicht, dass ich brutal
gecancelt werde. Ich habe meine Sendung. Ich halte große Stücke
auf die ARD, die diese Sendung immer unterstützt hat. Es gibt
überhaupt viele Menschen, die mich unterstützen. Aber nur weil ich
nicht gecancelt werde, heißt das nicht, dass es das nicht täglich gibt.«
Er stelle sich ja auch vor andere, er kämpfe für das Recht, alles sagen
zu dürfen, sagt Nuhr. Das sei vielleicht seine Mission.
Und an der arbeitet er jetzt auch in der Schweiz. Fragt man die
­Zuschauer in Bern, sagen die: Bloß gut, dass es den Nuhr gebe. In
der Schweiz gehe es auch schon los mit dem Canceln!
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WELTBEWEGEND
Deutschlands Kampf gegen die Klimakrise produziert
höchst widersprüchliche Bilder. Eine Bestands­aufnahme des
Fotografen Ingmar Björn Nolting
Das Thyssenkrupp-Stahlwerk in Duisburg im Mai 2023.
Mit einem Ausstoß von 7,9 Millionen Tonnen Kohlenstoff-
dioxid pro Jahr ist es der größte Treibhausgas-Emittent
der deutschen Industrie. Der Industriesektor ist nach der
Energieerzeugung der zweitgrößte Verursacher von Treib-
hausgas-Emissionen

Vorige Doppelseite: Der Vergnügungspark Wunderland

Kalkar in Nordrhein-Westfalen im Mai 2023. Hinten ist der
Kühlturm des ehemaligen Kernkraftwerks Kalkar zu sehen,
das nie in Betrieb ging. Deutschland ist aus der Kern­
energie ausgestiegen, die Suche nach einem Endlager für
Atommüll wird allerdings noch Jahre dauern
 29

Lilli und Franz, Mitglieder der »Letzten Generation«, wäh-

rend einer Aktion vor dem Prada-Geschäft am Kurfürsten-
damm in Berlin im April 2023. Die Aktivisten besprühten
die Schaufenster von mehreren Luxusläden mit oranger
Farbe. Als Grund nannten sie die soziale Ungerechtigkeit,
die durch diese Geschäfte repräsentiert werde
 30

Armin Laschet und Angela Merkel vor einer Videoprojektion

der Zugspitze bei der Abschlusskundgebung des CDU-
Wahlkampfes in München im September 2021. Am Ende
ihrer Amtszeit räumte Merkel Versäumnisse beim Klima-
schutz ein. Während ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft sei
diesbezüglich nicht genug passiert, sagte sie
Ein Solarpark nahe dem brandenburgischen Feldheim im
Februar 2023. Feldheim ist das erste Dorf in Deutschland,
das sich vollständig selbst mit Energie versorgt – mithilfe
von Fotovoltaik, Windenergie, Biogas, Biomasse, einem
Regelkraftwerk und einem Nahwärmenetz. Überschüssige
Energie wird in das öffentliche Netz eingespeist
Kinder betrachten im Oktober 2023 die Nachbildung eines
Karbonwaldes durch Augmented Reality im Museum am
Schölerberg in Osnabrück. Die Ausstellung zeigt, wie Kohle
vor mehr als 300 Millionen Jahren entstand und warum die
Verbrennung fossiler Ressourcen für den Klimawandel und
das Artensterben verantwortlich ist

Vorige Doppelseite: Lützerath im Januar 2023. Einer von

vielen Umweltaktivisten wehrt sich gegen die Räumung
des Dorfes und gegen den Energiekonzern RWE, der
Millio­
nen Tonnen Braunkohle abbauen will, die unter
Lütze­rath liegen. Der nordrhein-westfälische Ort wurde zu
einem Symbol im Kampf gegen die Klimakrise
 35

Ein im August 2023 durch ein Gewitter zerstörtes Hopfen-

feld im mittelfränkischen Mosbach. Nach einer Saison mit
Extremwetter verzeichnete Deutschland den größten Rück-
gang der Hopfenernte seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Re-
gion will nun Bewässerungssysteme einsetzen und experi-
mentiert mit widerstandsfähigeren Hopfensorten
 36

Zwei Männer bei einem Waldbrand auf einem ehemaligen

Truppenübungsplatz nahe dem brandenburgischen Jüter-
bog im Juni 2023. Weil das Gelände mit Munition kontami-
niert ist und die Feuer­wehr daher das Feuer nicht direkt
bekämpfen konnte, entschied sie sich für ein kontrolliertes
Abbrennenlassen der betroffenen Waldflächen 2.11.23  N0 46
ALL-AMERICAN GIRL
 Olivia Rodrigo ist eins der größten Teenager-
Idole der Welt. Eine Begegnung mit der Sängerin in Berlin

Olivia Rodrigo, 20, im Berliner Schinkel Pavillon:

Mit fünf stand sie zum ersten Mal auf der Bühne
Von AMELIE APEL
Olivia Rodrigo ist zehn Minuten zu früh. Als sie mit ihrer
Entourage aus Manager, Visagistin, Hairstylist und Plat-
tenfirma-Vertretern die Kunstgalerie Schinkel Pavillon in
Berlin betritt, stoße ich fast mit ihr zusammen. Rodrigo
übersieht man leicht, sie ist gerade mal 1,65 Meter groß.
Als sie so unvermittelt vor mir steht, braune Haare bis zur
Hüfte, schwarzer Eye­liner und roter Lippenstift, bin ich
verwirrt: Seit wann kommen Popstars zu früh?
Rodrigo achtet auf die Uhrzeit, denn sie ist ein Profi, da-
bei ist sie erst 20 Jahre alt. Ihre Karriere begann vor zehn
Jahren, heute ist sie eine der bekanntesten Teen-Pop-Sän-
gerinnen der USA. Die New York ­Times bezeichnete sie als
»die vielversprechendste neue Stimme ihrer Generation«,
die amerikanische V ­ ogue gab ihr den Titel »absoluter Pop-
star der Gen Z«. Als wir uns Mitte August treffen, wartet
die Welt – oder zumindest ganz Amerika – auf ihr neues
Album Guts. Einen Monat später wird es in 14 Ländern
die Charts anführen, auch in Deutschland.
Schon Rodrigos erstes Album Sour, das 2021 erschien,
hatte einige Rekorde gebrochen. Allein ihr Debütsong
Drivers License wurde binnen eines Tages über 11,5 Mil-
lionen Mal gestreamt – ein Rekord für einen Nicht-Weih-
nachtssong – und stieg in den Billboard-Charts sofort auf
Platz eins ein. Mit dem darauffolgenden Album gewann
sie drei Grammy Awards, darunter auch der als bester
neuer Künstler.
Es wird also viel erwartet von ihrer neuen Veröffent-
lichung, daher ist Rodrigo auf Werbetour in Berlin. Der
Besuch im Schinkel Pavillon soll ihr die Gelegenheit ge-
ben, während ihres nicht einmal 48-stündigen Aufenthalts
auch etwas von der Stadt zu sehen. Ein bisschen Freizeit
sozusagen. Am Vortag hat sie in London den Brit Billion
Award bekommen, der Künstler und Künstlerinnen aus-
zeichnet, die in Großbritannien eine Mil­liar­de Streams
knacken. Sie ist die Jüngste, die das je geschafft hat.
Hier im Schinkel Pavillon begegnet mir eine zurück­
haltende junge Frau, die sich offenkundig für die Kunst
des New Yorker Mode-Designers ­Shayne Oliver interes-
siert. Oder zumindest verdammt gut darin ist, so tun zu
können, als sei sie interessiert.
In der Kunstgalerie, einem achteckigen Bau in Berlin-­Mitte
mit zwei Ebenen, wird Olivers Ausstellung Mall of Ano-
nymous gezeigt. Das Thema sind monsterhafte Einkaufs-
zentren. Man schreitet durch zwei große Metall­bögen, die
auf die Warensicherungssysteme an den Eingängen von
Kaufhäusern anspielen. In der Mitte des unteren Raums
drehen sich eine Umkleidekabine und eine schwarz glän-
zende Statue auf einem Podest.
Shayne Oliver gibt Olivia Rodrigo eine persönliche Füh-
rung. Der Designer trägt ein weites schwarzes T-Shirt,
eine schwarze Lackhose und bunte Stilettoabsatz-Schuhe;
in kurzen Sätzen erklärt er, dass Gentrifizierung keinen
Raum für neue, kreative I­deen lasse und die glänzende
Statue eine Hommage an seine Mutter sei. Rodrigo hört
ihm aufmerksam zu, folgt dem Künstler durch die Räume.
Fotos TEREZA MUNDILOVÁ
Wenn man es nicht besser wüsste, würde man annehmen,
die prominente Person hier sei S­ hayne Oliver, bewundert
von Olivia Rodrigo. Selbst als es eine kurze Pause im
­Programm gibt und sie einen Moment für sich allein hat,
nutzt sie ihn, um eine der Videoinstallationen genauer zu
betrachten. Fast so, als sei sie nur ein Mädchen, das sich
rein zufällig hierhin verlaufen hat.
Dabei ist nichts, rein gar nichts zufällig im Leben von
Olivia Rodrigo. Auch wenn wohl niemand mit einem
derartigen Erfolg rechnen konnte, war ihr Debütalbum
keines, das aus dem Nichts kam. Als es erschien, war Ro-
drigo bereits bekannt aus mehreren D ­ isney-Kinderserien
und hatte neun Millionen Follower auf Instagram.
Ein Talent, aufgebaut von der größten Entertainment-­
Maschine der USA. So wie vor ihr schon M ­ iley ­Cyrus
und Ariana ­Grande.
Olivia Rodrigo wird 2003 in Murrieta geboren, einer
Stadt, 120 Kilometer von Los Angeles entfernt. Ihre Kind-
heit ist geprägt von Gesangsunterricht, Talentwettbewer-
ben und langen Autofahrten in die Millionenstadt, wo sie
zu Castings für Filmrollen geht. Mit fünf Jahren steht sie
zum ersten Mal auf einer Bühne, bei einer Spendenaktion
in einem Casino. Ihr erstes Vorsprechen absolviert sie mit
sechs. Der Teen ­Vogue sagte sie einmal, sie schätze, in ih-
rem Leben zu 300 Castings gegangen zu sein. Ihre Eltern
– der Vater ist Therapeut, die Mutter Lehrerin – erzählten
der V ­ ogue, dieser Ehrgeiz sei ganz aus ihr selbst gekom-
men, sie hätten ihr gesagt, sie könne jederzeit aufhören.
Doch Olivia Rodrigo wollte nicht.
Mit elf Jahren werden die unzähligen Bewerbungen end-
lich belohnt – mit einer ersten Rolle in einem ­Kinderfilm.
Ein Jahr später wird sie eine der H ­ auptdarstellerinnen
in der Walt-Disney-Produktion Bizaardvark, einer
Comedy-Kinderserie über zwei Freundinnen, die mit
­
­lustigen ­Videos im Internet bekannt werden. Mit dem Be-
treten des Disney-Kosmos geht sie nicht mehr zur Schule,
sondern wird zu Hause oder am Filmset unterrichtet.
»Ich arbeite, seit ich zwölf Jahre alt bin«, erzählt sie bei
unserem Treffen. »Das ist eine sehr interessante Art auf-
zuwachsen.« Schnell fügt sie hinzu, dass sie sehr dankbar
sei für alles, was sie dadurch erleben durfte. Deshalb habe
sie aber die Möglichkeit, eine normale Kindheit zu erleben,
aufgeben müssen. Dazu komme der Druck, den ein All-
tag am Set und ein steigender Bekanntheitsgrad mit sich
bringen. »Ich wuchs damit auf, immer die Jüngste im Raum
zu sein, um mich herum nur 40-jährige Kameraleute und
Produzenten«, erzählt sie nüchtern. Es sei komisch, in dieser
Industrie als Kind ein Kind zu spielen, sich am Set aber wie
eine kleine Erwachsene verhalten zu müssen.
In der Doku Showbiz Kids aus dem Jahr 2020 erklärt der
Regisseur und ehemalige Kinderschauspieler Alex Winter,
dass jedes Jahr über 20.000 Kinderdarsteller für Rollen in
Hollywood vorsprechen. 95 Prozent von ihnen bekämen
keinen einzigen Job. Dass eine Olivia Rodrigo zu Hun-
derten dieser Castings geht, bevor sie für ihren ersten Job

gebucht wird, verrät viel über ihre Willensstärke. Mara
Wilson, 36, bekannt als Mathilda aus dem gleichnamigen
Film von 1996, stand mit fünf Jahren das erste Mal am Set
für eine Hollywood-Produktion, für den Film Mrs. Doubt­
fire. In einem Interview erzählte sie: »Die Leute erwarten,
dass Kinderstars verwöhnte Gören sind, aber meiner Er-
fahrung nach werden Kinder, die sich schlecht benehmen,
nicht gecastet.« Die Kinder, die am erfolgreichsten sind,
­seien people pleaser, also Kinder, die immer alles richtig
machen wollen. »Zeit ist Geld. Da ist kein Platz für ein
Kind, das Fehler macht«, so Wilson.
Olivia Rodrigo wird nach Bizaardvark für High School Mu­
sical: Das Musical: Die Serie gecastet, eine Mockumentary
über die ursprünglichen High School Musical-Filme. Darin
spielt sie von 2019 bis 2022 die Hauptrolle der Schülerin
Nini. Die Serie ist, wie die Filme auch, gespickt mit Mu-
sical-Elementen. Rodrigo singt in allen Folgen, auch ihren
ersten selbst geschriebenen Song präsentiert sie dort, All I
Want. Danach bekommt sie Angebote von verschiedenen
Plattenfirmen. Es ist der Start ihrer Musikkarriere.
»Ich wuchs damit auf, immer die
Jüngste im Raum zu sein, um mich
herum nur 40-jährige Kameraleute und
Produzenten«
Im Berliner Schinkel Pavillon führen wir das Interview
in einer Nische hinter der Rezeption. Als ich ihr gegen-
übersitze, überrascht mich ihre ruhige Ausstrahlung. Auf
TikTok läuft Rodrigo wild zappelnd über eine Wiese, auf
Instagram hüpft sie zum Taylor-Swift-Song You Belong
With Me (Taylor’s Version) auf dem Bett. Doch nun kon-
zentriert sie sich ganz auf mich, schaut mich mit ihren
schwarz umrahmten Augen an. Sie spricht mit sanfter
Stimme, gestikuliert mit feinen Bewegungen und lehnt
sich dabei entspannt zurück. Beim Beantworten der Fra-
gen wirkt sie routiniert, manchmal gibt sie sich überrascht
und lächelt. Einmal sagt sie: »Oh my God, that is such a
good question«, »was für eine gute Frage«, ein anderes Mal
lobt sie meine Handschrift. Sie möchte, dass sich in ihrer
Umgebung alle wohlfühlen – erst ­Shayne Oliver und nun
ich. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen dem trainier-
ten Weltstar und der sympathischen, zugänglichen Olivia;
zwei Personen, die mir gleichzeitig gegenübersitzen.
Noch klarer zeigt sich dieser Widerspruch, als ich ihr er-
zähle, dass mich ihr neuer Song L ­ ove Is Embarrassing in
41
seinem Tempo und Ton an Lieder der kanadischen Pop-
sängerin Avril Lavigne erinnert, und sie daraufhin über-
rascht sagt: »Oh, really?« Dabei sollte so ein Vergleich
nicht allzu überraschend sein. In früheren Interviews hat
sie festgehalten, dass Lavigne eines ihrer großen Vorbilder
ist. Und eine perfekte Anekdote hat Rodrigo auch parat:
»Meine Mutter erzählt, dass das Musikvideo zu Avrils
Song I’m With You im Krankenhaus in Dauerschleife lief,
als ich geboren wurde. Vielleicht ist ihre Musik damals in
meine Zellen eingedrungen.« Sie lächelt. Ein breites, von
roten, vollen Lippen umrahmtes Hollywood-Lächeln.
Wenn sie an diesem Tag Komplimente bekommt, sagt sie
Dinge wie »That means so much to me!« oder »Thank you
for saying that, appreciate it« – »Das bedeutet mir wirk-
lich viel! Vielen Dank, dass Sie das sagen, ich weiß das zu
schätzen.« Sie kichert dann vergnügt. Alles ist cool oder
awe­some. Ihr Lachen ist so perfekt lang und so perfekt
laut, dass man nicht weiß, ob es aufgesetzt, auf den Ton
antrainiert oder einfach so perfekt ist. Man fragt sich, ob
sie selbst es weiß.
Rodrigos große Rolle ist das All-American Girl, das
amerikanische Stereotyp für brave, vorhersehbare Mäd-
chen. Die Videos ihrer Songs spielen zumeist in ame-
rikanischen Leichtbauhäusern zwischen frisch gemähten
Rasenflächen in der weißen, aufgeräumten Vorstadt, auf
Teenie-Partys und in Turnhallen mit tanzenden Cheer-
leadern. Während Billie Eilish weite T-Shirts trägt und
in ihren düsteren Songs über Klimawandel und jugend-
lichen Suizid singt, verkörpert Rodrigo den hyperfemini-
nen Popstar. Selbst wenn sie »what the fuck« oder ­»fame
­fucker« singt, klingt es bei ihr, als sei es nicht böse ge-
meint. Ihr Styling spiegelt das wider: Fast immer trägt sie
kurze Röcke, bei unserer Begegnung in Berlin ist es ein
grauer mit passendem engem Oberteil, kombiniert mit
silberfarbenen Ballerinas. Ihre Lieblingsfarbe Lila taucht
in ihren Outfits und auf den Albumcovern auf. Sie hat
eine eigene Kreativdirektorin und zwei Stylistinnen, die
sich in jedem Moment darum kümmern, dass Rodrigo
nicht von ihrem I­mage abweicht: vom Merchandising-
Artikel bis zum Social-Media-Auftritt. Rodrigo postet
selbst, aber welche Bilder andere Me­dien von ihr posten
dürfen, wird stets besprochen.
Zum Beispiel heute: Ein Videomitschnitt des Vor­abends
wird Rodrigo zur Prüfung vorgelegt. Alles okay, nur die
letzte Sequenz sollte weggeschnitten werden, weil über-
flüssig und unvorteilhaft, lautet das Urteil.
Selbst das gesellschaftliche und politische En­gage­ment ist
bei ihr so austariert, dass sie nicht aneckt – zumindest un-
ter Progressiven: Sie hat mit Präsident Joe ­Biden im Wei-
ßen Haus posiert, um fürs Impfen zu werben. Fast radikal
war, dass sie voriges Jahr beim Glastonbury Festival ­Lily
Allen auf die Bühne holte, um mit ihr deren Song Fuck
You zu performen und ihn dem amerikanischen Su­preme
Court zu widmen, nachdem dieser das Recht auf Abtrei-
bung gekippt hatte. Dieselbe Olivia erzählt in Interviews

allerdings auch gern, wie sehr sie sich darauf freue, eines
Tages Mutter zu werden, und dass sie deshalb so schnell
wie möglich einen Mann fürs Leben finden wolle.
Olivia Rodrigo hat für jeden etwas zu bieten. Jeder, der
danach sucht, kann sich mit einer Facette des Popstars
identifizieren. Sie macht Musik für Jugendliche, die sich
in den sozialen Medien dem Druck unterwerfen, perfekt
auszusehen, Gefühle und Probleme offen zu kommuni-
zieren und nebenbei die Klimakrise aufhalten zu wollen.
Und für alle, die Herzschmerz haben. In Brutal singt sie:
»And I’m so sick of 17 / ­Where’s my ­fucking teen­age dream?
/ If some­one tells me one ­more ­time / ›Enjoy your youth‹ I’m
gonna cry« – »Und ich habe es so satt, 17 zu sein / Wo
ist mein verdammter Teenager-Traum? / Wenn mir noch
einmal jemand sagt / »Genieße deine Jugend«, werde ich
weinen«. Die Welt, die sie in ihrem Song besingt, strotzt
geradezu vor Normalität. Sie könnte jede 20-Jährige sein
und ­demonstriert das bei jeder Gelegenheit.
In Berlin hat sie auf dem Weg zu unserem Interview aus
dem Auto ein TikTok-Video für ihre 17 Millionen Follo-
wer gepostet. Sie spielt ein Spiel, bei dem sie Songtexte mit
einer Kopfbewegung in der richtigen Reihenfolge auswäh-
len muss. Am Ende zieht sie eine Grimasse und streckt die
Zunge raus. Ein Video, wie es zu Tausenden die Plattform
überflutet. Sie könnte jede 20-Jährige sein, nur das Lied,
um das es geht, ist ihr eigenes: Bad Idea Right? heißt ihre
neue Single. In einem Interview mit der ­Vogue sagte sie
zu Beginn des Jahres, dass im Vergleich zum 20-Jahre-alt-
Werden alles andere winzig wirke. In ihrem Fall sind das
drei Grammys, ein Nummer-eins-Album, 35 Millionen
Instagram-Follower und 40 Mil­liar­den Streams.
Olivia Rodrigo produziert den am raffiniertesten konstru-
ierten Teen-Pop, den es derzeit auf dem Musikmarkt gibt.
Das Genre funktioniert heute noch wie schon vor zwei
Jahrzehnten, als Britney Spears T ­ oxic sang: ein hoher Iden-
tifikationsfaktor, viel Herzschmerz und noch mehr Wut.
Daher befinden sich unter Rodrigos größten Fans nicht
nur Teenager, sondern auch viele Menschen ab 35. Die
Jungen lässt sie mit einem Album wie Guts ihre eigene
Wut spüren, die Älteren erinnert es daran, wie sich diese
Wut damals anfühlte. Und sie sorgt dafür, dass beide Ziel-
gruppen sich gemeint fühlen.
Waren Rodrigos größte Inspirationsquellen Fiona Apple
und Avril Lavigne noch Künstlerinnen, deren Lieder die
Eltern leise drehten, um ihre Kinder vor der Entgleisung
zu bewahren, kommt Rodrigos Musik möglichst eingän-
gig daher. Während Fiona Apple davon singt, »empfindli-
che Jungs zu brechen«, ist alles, was Rodrigo will, »­ Liebe,
die hält, und ein guter Junge«. Avril Lavigne schreibt
Songs für individualistische Außenseiter. R ­ odrigos Lie-
der sind dazu gemacht, von möglichst vielen gemocht
und verstanden zu werden. Und sie sind so komponiert,
dass sie sowohl in schnipseligen Social-Media-Videos
funktionieren als auch im Ganzen im Radio. Bad Idea
Right? kann stundenlang laufen, ohne dass man dieses
Sie singt von der ganz normalen Jugend eines Teenager-Mädchens. Dabei war Rodrigos Jugend alles außer normal
43
Songs überdrüssig wird. Hinzu kommt, dass ihre Lieder
viele Genres ver­ einen, zum Beispiel Indie-Pop, Pop-
Rock, Post-Punk und Singer-Songwriter, also Musikstile,
die sich stark auf die Texte fokussieren.
David Metzer, Professor für Musikgeschichte an der
University of British Columbia, nennt Rodrigos Debüt-
Single Drivers License 2021 eine Powerballade, die im
Laufe der Strophen immer mehr eskaliert. Mal sind Ro-
drigos Melodien sanft plänkelnd wie bei 1 Step Forward,
3 Steps Back – einem Wiegenlied für alle schlaflosen
Herzschmerznächte. Dann trifft in Good 4 U ein durch-
dringender Bass auf ein schrilles »Haaa«, als sei man
beim Betreten eines dunklen Raumes auf ein Schloss-
gespenst gestoßen. Ihre Lieder inszeniert sie wie Thea-
terstücke; mal hört man Rodrigo abschätzig lachen, mal
baut sie Motorengeräusche oder ein Türklopfen ein. Im
Englischen sagt man dazu word painting. Wenn der Text
aufbrausender wird, nimmt auch die Melodie an Fahrt
auf. Ihre Lead-Single des neuen Albums Vam­pire be-
ginnt als deprimierende Ballade mit 67 Beats per minute
»Ich würde gerne glauben, dass
ich dieselbe bin; dass die Version, die
ich öffentlich präsentiere, nah an der
ist, die ich als Individuum bin«
und wird in der zweiten Strophe doppelt so schnell (138
BPM), als sie enthüllt, dass ein Junge nur den Ruhm aus
ihr saugen will.
Und dann gibt es noch die Single Brutal, die mit thea-
tralischen Geigen beginnt und endet, aber in den zwei
Minuten dazwischen wie eine Rock-Hymne im Stil von
Alanis Morissette klingt. Egal welchen Musikgeschmack
man hat, bei Olivia Rodrigo wird man nicht enttäuscht.
Den höchsten Umsatz machen in der Musikindustrie die
Künstler und Künstlerinnen, die massentauglich sind.
Und wenn alle Teenager ihren Schmerz so wunderbar
­monetarisieren könnten wie Olivia Rodrigo, wäre dies
eine Welt voller Jungmillionäre.
Wie hart muss Olivia, die Teenagerin, gearbeitet haben,
um Olivia, die Künstlerin, hervorzubringen? Und dabei
so zu tun, als habe sich gar nichts geändert, als sei das
alles ganz alltäglich. Dass Rodrigo kein Spielzeug des
Disney-Konzerns sein will, der sie sechs Jahre lang auf-
gebaut hat, hat dieser schon zu spüren bekommen. Denn
Disney verdient nichts an Rodrigos Songs. Damit macht

sie es anders als die meisten singenden Disney-Stars vor
ihr. Auch Demi Lovato, M ­ iley ­Cyrus und Bella Th
­ orne
waren Serienstars, aus denen später Popstars wurden. Sie
alle unterschrieben zunächst bei Hollywood Records,
dem hauseigenen Musiklabel der Walt Disney Compa-
ny. Rodrigo dagegen entschied sich für Geffen Records,
ein Sub-Label der Universal Music Group, bei dem auch
Elton John und K ­ ylie Minogue unter Vertrag sind. Die
Firma sieht sie nicht nur als Produkt, sondern als Künst-
lerin und unterstützt ihr Songwriting. Rodrigo schreibt
ihre Lieder selbst, weshalb sie sich außerdem die Rechte
an allen ihren Songs sicherte. Das ist etwas, was Taylor
Swift damals verpasste, als sie mit 14 Jahren ihren ersten
Plattenvertrag unterschrieb.
Aus der High School Musical-Serie zog sich Rodrigo ab
2021 zurück, in der dritten Staffel hat sie nur noch Gast-
auftritte. Der Disney-Konzern musste sich zuletzt damit
begnügen, weiter über die Künstlerin berichten zu ­dürfen.
Dafür erschien im März vergangenen Jahres Driving ­Home
2 U (A Sour Film), ein Dokumentarfilm, der ­Rodrigo bei
»Man muss einen gesunden Ab-
stand zu dieser Welt haben. Ich liebe
meinen Job, aber nach einer Show vor
10.000 Leuten liegt man allein im Bett«
der Produktion ihres ersten Albums und dessen Erfolgs-
welle begleitet, auf Disney+, dem Streamingdienst des
Unternehmens.
Olivia Rodrigo überlässt nichts dem Zufall. Als im Schin-
kel Pavillon Fotos gemacht werden und die Fotografin
­anmerkt, es wäre doch schön, wenn Rodrigos Haare etwas
fliegen würden, holt der Haarstylist der Sängerin ein arm-
langes grünes Gerät hervor und sagt, für solche Fälle habe
er immer einen kleinen Laubbläser dabei. Auch der Wind,
der um sie gemacht wird, ist geplant.
Es ist alles so perfekt, dass ich mich frage: Gibt es eine pri-
vate Olivia Rodrigo hinter dem Bühnencharakter? Denn
tatsächlich besingt sie ja Sachen, die jedes Teenager-
Mädchen durchlebt hat – bis auf sie selbst. Sie, die keine
Highschool besucht hat, sondern mit eiserner Disziplin
am Filmset stand. Sie, die heute zwischen ihrer V ­ illa in
Los Angeles und ihrer Wohnung in New York pendelt.
Sie, die alles hat außer Normalität. Das reflektiert sie
durchaus: »Mein Leben ist seltsam. Es ist nicht gerade die
durchschnittliche Erfahrung eines Teenagers. Aber wenn
44
ich meine Gefühle beim Songschreiben auf ihre konzen-
trierte Form reduziere, erschaffe ich eine Allgemeingül-
tigkeit.« Dann betont sie: »Ich werde immer das Gleiche
fühlen wie andere in meinem Alter. Das U ­ mfeld ist nur
ein bisschen anders.«
Aber wer ist die private Olivia?, frage ich sie. Da müsse
ich ihre Freunde fragen, nur die könnten das beantworten.
»Ich würde gern glauben, dass ich dieselbe bin; dass die
Version, die ich öffentlich präsentiere, nah an der ist, die
ich als Individuum bin«, antwortet sie vergnügt, und man
kann gar nicht anders, als es zu glauben. Zumindest zu
glauben, dass sie es glaubt.
Wenn sie kein Privatleben hätte, hätte sie nichts mehr,
worüber sie schreiben könne, erklärt Rodrigo. Aber
schon an diesem Tag in Berlin zeigt sich, wie es um ihre
Privatsphäre bestellt ist. Ursprünglich sollte der Vor-
mittag dazu genutzt werden, dass die Künstlerin Berlin
sehen kann, vielleicht in Vintage-Läden stöbern geht.
Was eine 20-Jährige, die nach Berlin kommt, eben so
machen möchte. Doch an Rodrigo zerren viele Kräfte:
Da ist das amerikanische Management, das sie zu ihrer
Sicherheit vor der Öffentlichkeit abschirmt, die amerika-
nische Plattenfirma, die das neue Album bewerben will,
das deutsche Team der Plattenfirma, das sie willkommen
heißen will. Also spricht sie für Radiosender kurze Inter-
view-Snippets ein und geht zu einem Treffen mit 50 ihrer
größten deutschen Fans.
In der Kunstgalerie steht sie die meiste Zeit mit ver-
schränkten Beinen da und wirkt dadurch noch zierlicher
als ohnehin schon. Einmal zuppelt sie sich ihren kurzen
Rock zurecht. Allerdings nicht nach unten, sondern nach
oben – kalkuliert sexy, denke ich. Sie ist ein zielstrebiger
Power-­Mensch mit starker Arbeitsethik, ihre Rolle ist aber
die des verletzlichen Teenagermädchens. Bei unserem In-
terview erklärt sie: »Ich schreibe Songs, die mehr preis-
geben, als ich meinen engsten Freunden erzählen würde.«
Ich frage, warum es ihr so wichtig sei, als normal wahr-
genommen zu werden. »Man muss einen gesunden Ab-
stand zu dieser Welt haben«, sagt sie. »Ich liebe meinen
Job, aber auch nach einer Show vor 10.000 Leuten liegt
man allein in seinem Bett.« Sie habe immer gewusst, wer
sie im wahren Leben ist. »So, wie wir hier gerade zusam-
mensitzen und sprechen, das ist das wahre Leben«, erklärt
sie und schaut mich bedächtig an.
Das wahre Leben – das hier? Wie sitzen in einem Inter-
viewtermin, der künstlichsten Gesprächssituation, die es
geben kann. Hinter dem Vorhang lauschen ihr PR-Team
und ihr Manager, der sie nun auch schon zum Gehen
­ermahnt. Sie will normal sein, aber ihre Lebensrealität lässt
das gar nicht zu.
Und da hat sie sich auch schon verabschiedet und ist
weitergezogen. Mich zurücklassend im wahren Leben,
­
während ich realisiere, dass Olivia Rodrigo, der Pop-
star, der fähig ist, jeden Menschen auf eine eigene Art zu
­berühren, genau das auch heute wieder geschafft hat.
2.11.23  N0 46
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Von Oskar Paul

46
FRISS ODER STIRB
gesponsert von ALDI

Survivalthriller mit Kapitalismuskritik

Der Aldi-Azubi Flori (Frederick Lau) hat einen anstrengenden

Tag: Ein schwerer Wintersturm zieht über dem Bergischen
Land auf, und halb Gummersbach will sich noch mit (preis-
günstigen) Vor­
räten eindecken. Während Flori Paletten
stapelt und Pfandautomaten leert, bricht der Sturm los,
und Kunden und Mitarbeiter werden im Aldi eingeschneit.
Die Filialleiterin Dietra Roth (Nina Hoss) versucht mithilfe
von Flori und Co., die Lage unter Kontrolle zu bringen:
Die Mitarbeiter sammeln Lebensmittel und Wolldecken (Aldi-­
Winter-Aktionswoche) und verkaufen sie an die gestrandeten
Kunden. Floris Kollegin Nele (Nina Chuba) findet das
nicht richtig und schlägt vor, die Lebensmittel gratis zu
verteilen – doch Frau Roth wittert gute Umsätze. Nachts
soll Flori Wache halten, aber er schläft erschöpft ein. Am
nächsten Morgen – der Sturm tobt noch immer – sind Nuss­
beißer, Bio-Räucherlachs und Weißweincuvée verschwunden.
Frau Roth verdächtigt Nele und lässt sie mit Kabelbindern
an Kasse 4 fesseln. Flori, von Neles Unschuld überzeugt,
macht sich in der zum Lager umfunktionierten Filiale
auf die Suche nach den wahren Schuldigen. Da entdeckt er
den unheimlichen Punker Dose (Lars Eidinger), der sonst
vor der Filiale schnorrt und der es sich jetzt hinter den
Pfandautomaten gemütlich gemacht hat. Dose weigert sich,
Frau Roth Gehorsam zu leisten, und stachelt die gestrandeten
Kunden gegen die Filialleiterin auf (Dose: »Der Scheiß-­
Aldi-Slogan ist doch ›Gutes für alle‹«). Als Frau Roth Dose
mit einem Keramik-Küchenmesser (ab 50 Treuepunkten für
4,99 Euro) bedroht und im Sturm aussetzen möchte, muss sich
Flori für eine Seite entscheiden ...

47
BIRKS – SO WIRD EIN SCHUH DRAUS
gesponsert von BIRKENSTOCK

Drama, inspiriert von wahren Begebenheiten

Von Rückenschmerzen geplagt, fliegt die Deutschamerikanerin

Margot Fraser (Jella Haase) 1966 auf Kur nach München.
Patienten, Pfleger und Ärzte der Kuranstalt tragen seltsame
Sandalen. Als auch Fraser in die Schuhe schlüpft, sind ihre
Rückenschmerzen wie weggeblasen. Sie ist sofort begeistert,
so begeistert, dass sie Karl Birkenstock (Frederick Lau)
im Firmensitz auf der Burg Ockenfels besucht. »Ich will deine
Birks in Amerika verkaufen«, sagt sie ihm. Karl Birkenstock,
ein Visionär, der in den Birkenstocks schon immer mehr
als orthopädische Schuhe sah, erteilt ihr die Verkaufslizenz.
Doch zurück in den USA läuft das Geschäft schleppend
an. Niemand will die seltsamen Schuhe aus Germany kaufen.
Da begegnet Fraser im Sommer 1967 dem Sänger Bobby Henderson
(Matthias Schweighöfer mit langen blonden Haaren und
Blümchenhemd), der gerade vor dem wichtigsten Auftritt seiner
Karriere steht: Er soll seinen Song »Flower Power Every­
where (From the Gold Coast to the USA)« auf dem Monterey Pop
Festival spielen. Doch sein Auftritt droht zu platzen:
Nicht nur will der hinterhältige Republikaner ­
Ronald Grump
(Lars Eidinger) das Hippiefestival absagen lassen, nein,
Henderson wird auch noch von starken Rückenschmerzen
geplagt. Weder Schmerzmittel noch Cannabis können dem Sänger
helfen. Als die Polizei das Festivalgelände räumen will,
zwängt Fraser Hendersons Füße in ein Paar Birkenstocks.
Können die Schuhe den Summer of ­
Love retten?

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BERNIE – DER LETZTE GIBT GAS
gesponsert von VW

Animationsfilm in 4-D (im Kinosaal riecht es nach Abgas und Motor­

öl)

Das kleine Auto Bernie (Stimme: Albrecht Schuch) kommt auf

das VW-Internat für junge Autos. Aber Bernie ist anders
als seine Mitschüler: Er brummt, er stinkt, er dampft, wenn
er über die Straße flitzt. Bernie ist ein Verbrenner –
der einzige auf dem Internat. Seine E-Mitschüler, angeführt
vom VW-Bus Bull-E (Stimme: Benno Fürmann), mobben ihn.
Bernie probiert in einer düsteren Garage, ohne Brummen und
Gestank zu fahren. Doch sobald er die Ab­
gase unterdrückt,
schwillt er an und droht zu explodieren. Am Tag des großen
Abschlussrennens wird er Letzter. Bull-E gewinnt das
Rennen, aber nur weil er seinen Akku so manipuliert hat,
dass der mehr ­
Power hat. Im Ziel angekommen, versagt
der überhitzte Akku, und Bull-E fängt ­
Feuer. Seine Mitschüler
können ihn nicht in die Krankenwerkstatt fahren – ihre
Energie ist nach dem Rennen auch aufgebraucht. Nur Bernie
hat noch Sprit im Tank ...

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EINE EHE AUF DER WERKBANK
gesponsert von HAGEBAUMARKT

Erotikkomödie mit Horrorelementen

Das Ehepaar Marlene (Nora Tschirner) und Ole (Elyas M’Barek)

ist frustriert: Ihr Liebesleben ist so langweilig
geworden – ihr Leben dreht sich nur noch um den Eigenheim-
Bau und die pubertierenden Kinder (Ole: »Die Pubertiere«).
Ihre Paartherapeutin (Katharina Thalbach) rät zu mehr
Experimentierfreude. Zögerlich lassen sie sich darauf ein:
Sie installieren Apps, gehen in Sex­
shops und besuchen
sogar eine Swinger-Party. Doch als sie dort ihren schmierigen
Baustellenleiter Jochen (Lars Eidinger) treffen, wollen
sie schon aufgeben. Ein letzter Versuch muss her (Ole: »Was
ist mit SM??« Marlene: »Immer noch besser als Scheidung«).
Nachdem sie Gefallen an Peitschen, Fesseln und Käfigen
finden, beschließen sie, einen SM-Keller ins neue Haus zu
bauen. Heimlich natürlich. Im Hage­
bau­
markt decken sie
sich (in schwarzen Hoodies und mit schwarzen Sonnenbrillen)
mit Materialien ein und fangen an zu werkeln. Doch Jochen
stellt ihnen seit der Swinger-Party nach. Und dann kommen
auch noch Marlenes Eltern unangekündigt zu Besuch ...

2.11.23  N° 46
ANZEIGE

Womit wohl der Weihnachtsmann

unterschreiben würde?
Jede Nachricht, mit der Hand geschrieben, hat
besonderen Wert in dieser Zeit! Ganz besonders,
wenn das Werkzeug dafür so exklusiv und von feiner
Handwerkskunst ist wie die Schreibgeräte des
Schweizer Familienunternehmens Caran d´Ache.

Bis zu 50 Arbeitsstunden und 35 Arbeitsschritte stecken in

den verschiedenen Metiers der Manufaktur für ein einzelnes
Gerät: Vom Rohling über das Polieren, Guillochieren, Lackie-
ren und Gravieren findet sich alles wieder in der altüberliefer-
ten Tradition. Das Ergebnis dieser Handwerkskunst zeigt sich
beispielhaft in der Kollektion »Léman«. Diese hat ihren Namen
vom Lac Léman, dem Genfer See, wo das Schweizer Famili-
enunternehmen Caran d´Ache seit über 100 Jahren exzellen-
te Zeichen- und Schreibgeräte in feinster Handarbeit herstellt.

Perfekt in Form gebracht offenbart sich diese Exzellenz und

Raffinesse im »Léman Carmin Rouge« mit seinem feurig roten
Transparentlack und einer Cubrik-Guillochierung, deren feine
Struktur an den Blick durch ein Kaleidoskop erinnert. So treffen
wunderbarerweise künstlerische Kreativität und alte Schweizer
Handwerksqualität zusammen. In der Léman Kollektion ist für
jede und jeden das passende Modell dabei: Léman bietet eine
exzellente Auswahl an Füllfederhaltern wie auch Kugelschrei-
bern in einzigartigen Designs und Ausführungen. Dem Weih-
nachtsmann würde es gefallen. Da kann man sicher sein!

Schweizer Savoir-Faire seit 1915

Caran d‘Ache ist ein Schweizer Familienunternehmen. Seit mehr als 100 Jahren hält das Haus die Kunst des Schreibens und Zeichnens
respektvoll aufrecht. Caran d‘Ache entwickelt und produziert all seine Produkte in seinen Genfer Werkstätten. Die Schreibgeräte
von Maison Caran d’Ache zeichnen sich durch besondere Sorgfalt, Hingabe und feinste Handwerkskunst aus. Sie sind das Ergebnis
jahrhundertelanger Erfahrung, die von Generation zu Generation, von Handwerker zu Handwerker weitergegeben wird. Die Mitar-
beitenden des Maison überzeugen mit ihrer Präzision, technischen Finesse und umfassender Kenntnis der verschiedenen Materialien.
Sie beherrschen die Kunst des Polierens, des Guillochierens, der Lackierung und der Gravur. Jedes Stück der Haute Écriture, das die
Caran d‘Ache Werkstätten in Genf verlässt, wird von Hand veredelt, zusammengesetzt und getestet.
52
 53

WOMIT
HABEN WIR
DAS
VERDIENT?
Die einen haben alles, viele fast nichts: Warum wir über die Einkommens-
unterschiede in Deutschland noch mal gründlich nachdenken sollten
Von ALARD VON KITTLITZ
Vor einigen Jahren reiste ich nach Zürich,
um dort Remo Largo zu interviewen, den
inzwischen leider verstorbenen Schweizer
Kinderexperten. Ich hatte mich mit Largo
über sein Leben und über seine Vorstellun-
gen von gelungener Pädagogik unterhalten
wollen, unser Gespräch kreiste dann aber
fast den ganzen Tag um jene Frage, die
er selbst als die zentrale seines Forscher-
lebens identifiziert hatte: Was macht die
Menschen verschieden? Largo, ein freund-
licher Mann mit weichem Blick, war über
die vielen Jahre seiner eingehenden Be-
schäftigung mit unserer Spezies zu einem
harten Schluss gelangt: Er meinte, dass wir
ziemlich determinierte Wesen ­seien, maß-
geblich von unseren Genen und den Um-
ständen unserer Geburt dazu bestimmt, als
sehr spezifische Personen durch diese Welt
zu wandeln (oder zu stolpern). Er glaub-
te nicht ernsthaft an Leistung, höchstens
glaubte er, dass Menschen unterschiedliche
Neigungen und Gaben haben, für die sie
wenig können, und dass es Aufgabe der
Gesellschaft ist, ihnen ein dazu passendes
Leben zu ermöglichen.
Die Begegnung mit Largo war, wenn ich
zurückblicke, ganz sicher nicht meine
­erste Begegnung mit der Idee des Deter-
minismus. Trotzdem fällt sie mir eigent-
lich immer ein, wenn ich darüber nach-
denke, wie unterschiedlich die Umstände
der Menschen in Deutschland sind. Mich
beschäftigt dann etwa, dass Joshua Kim-
mich als Fußballspieler am Tag etwa
50.000 Euro verdient, also ungefähr das
Jahresgehalt einer Sozialarbeiterin. Solche
Ungleichheit lässt sich, wenn überhaupt,
doch nur dann aushalten, wenn sie in ir-
gendeiner Weise gekoppelt ist an die Idee
von Verdienst: Du hast etwas geleistet,
du hast dir etwas erarbeitet, du hast be-
sonders toll gekämpft, deswegen kriegst
du besonders viel Geld. Verdienst beruht
auf der Idee, dass die eigene Lage die
Folge ist von Entscheidungen und Hand-
lungen, für die man selbst verantwortlich
ist. Aber was bleibt davon übrig, wenn
man den Determinismus ernst nimmt?
Wie rechtfertigt man solche Unterschiede,
wenn man, wie Largo, zu dem Schluss ge-
langt ist, dass unsere Lebenswirklichkeiten
maßgeblich die Konsequenz der eigenen
genetischen und sozialen Gewordenheit
sind? Wie erst rechtfertigt man sie, wenn
Illustrationen ADAM HIGTON
man noch nicht einmal an den freien Willen glaubt, wenn man
also, wie das manche Hirnforscher und Hard­core-­Deter­mi­nis­ten
tun, Leute wie Wolf Singer oder Gerhard Roth, überzeugt ist, dass
wir für keinen einzigen unserer Gedanken und keine einzige Ent-
scheidung unseres Lebens verantwortlich sind?
Ich bin mir nicht sicher, wie viel Wert ich auf die Ungleichheit in
Deutschland lege, aber in der Hoffnung, an ihr wenigstens nicht
komplett verzweifeln zu müssen, rief ich kürzlich Holm Tetens
an, Professor emeritus für Wissenschaftstheorie und Logik an der
Freien Universität Berlin. Darf man, wollte ich von ihm wissen,
von Freiheit sprechen, ohne zu erröten, und also auch von Verant-
wortung, von Leistung und Verdienst?
Seine Meinung dazu interessierte mich aus verschiedenen Gründen
besonders. Zum einen hatte er sich mit solchen Fragen jahrelang
befasst – mit Geist, Gehirn, Selbst und freiem Willen. Und dann
kannte ich ihn, weil ich, als ich noch an der FU Philosophie studier-
te, jedes Semester seine Seminare besucht hatte, und zwar vor allem
deswegen, weil ich seine Schonungslosigkeit im Denken so bewun-
derte. Er würde also, dachte ich, als ich mich bei ihm m­ eldete, sicher
nichts schönzureden versuchen. Und schließlich ging es mir um ein
Erlebnis, das mir wohl vor allem deswegen so nahe geblieben ist,
weil es mich damals erschreckte. Tetens, erinnere ich mich, kam ei-
nes Tages in den Seminarraum und wirkte nachgerade verzweifelt.
Ich weiß nicht, womit genau er sich zuvor befasst hatte, aber er­
sagte, gewissermaßen zur Begrüßung, so etwas wie: »Die Neurowis-
senschaften werden unser gesamtes Weltbild komplett auf den Kopf
stellen, da wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Da können wir
uns warm anziehen.« Es kann sein, dass er das ganz anders meinte,
als ich es damals für mich selbst übersetzte, aber ich dachte so etwas
wie: Tetens sagt, die Hard­core-­Deter­mi­ni­sten haben recht. Wir sind
nicht frei. Nichts ist verdient, nichts ist gerecht.
Am Telefon antwortete Tetens dann allerdings etwas anders, als ich
das erwartet hatte. Zunächst einmal sei eine Gesellschaft, in der wir
ein­an­der als komplett determiniert, als »Automaten« erleben, ja un-
erträglich und eigentlich auch unvorstellbar. »Wenn jemand sagt,
dass wir alle gehirndeterminiert sind«, fuhr er fort, »muss er das aber
auch belegen. Schon damit aber – mit der Forderung nach guten
Argumenten – rücken wir von der Determiniertheit ab.« Für Tetens,
begriff ich, während wir uns unterhielten, bestand Freiheit in erster
Linie in einer Art Praxis des Nachdenkens. Ganz unabhängig davon
also, inwiefern ich meine Entscheidungen frei getroffen habe, bin
ich doch dazu in der Lage, sie rückblickend zu betrachten; ganz so
vielleicht, wie wir einen geschriebenen Satz erst bedenken können,
wenn er be­endet ist – um ihn dann möglicherweise auch überarbei-
ten zu können, oder in der Zukunft besser zu formulieren, aus guten
Gründen, die wir erwogen haben. »Wir sind«, sagte Tetens, »min-
destens in Grenzen lernfähig. Wir sind dazu in der Lage, unseren
Einsichten und unserem Nachdenken in unserem Handeln Rech-
nung zu tragen. Und wenn Sie und ich uns hier die Frage stellen:
›Bin ich das selbst, der handelt?‹, dann haben wir schon in dieser
Frage jene Selbstdistanz gewonnen, die der Beginn der Freiheits-
praxis ist.« Und dann sagte er etwas, woran ich mich noch aus seinen
Vorlesungen erinnerte, zwei Sätze zum Mitschreiben: »Freiheit als
Praxis ist die Unterbrechung selbstvergessener Routinen zugunsten
eines Erstaunens über das eigene Verhalten und ein Fragen nach des-

sen Gründen. Wer so denkt, verhält sich
als ein vernünftiges, als ein freies Wesen.«
Laut Bundesbank besitzen die reichsten zehn
Mein Onkel, ein Psychoanalytiker, sagte
mir einmal, die Frage, ob wir frei ­seien
Prozent der Bevölkerung 50 Prozent des gesamten
oder nicht, sei letztlich doch unerheblich.
»Wir erleben uns als frei, und diesem Er­
Nettovermögens in Deutschland. Die unteren
leben müssen wir Rechnung tragen.« Es ist
vielleicht ja auch wirklich egal, ob Men­
50 Prozent besitzen gerade einmal 0,6 Prozent
schen wie Singer sich die Freiheit aus der
Warte der Neurowissenschaften denken
können oder nicht. Wir alle, ihn einge­
schlossen, haben nun einmal dieses Wort
in unserem Repertoire, und ein Erleben,
das dessen Verwendung nahelegt. Und
Tetens, mein Sherpa in diesen klirrenden
Gefilden kalten Nachdenkens über unser
Dasein, war offenbar auch dazu bereit, an
die Möglichkeit von Verdienst zu glauben,
weil er der Auffassung war, dass wir über
unser Handeln nachdenken können, es
verändern, es letztlich also auch uns selbst
verantwortlich zuschreiben können.
Am Ende, dachte ich, kann man es viel­
leicht ja sogar so formulieren: Weil wir
uns als frei erleben, müssen wir nachden­
ken über Verdienst.
Und Tetens war auch noch keineswegs fer­
tig. Vielmehr nahm er nun, wo wir uns das
Weiterredendürfen über die Frage, wer was
verdient, sozusagen erarbeitet hatten, erst
Fahrt auf. »Die Einkommens- und Ver­
mögensverteilung in unserer Gesellschaft«,
sagte er, »ist ja als nicht anders als skan­
dalös zu bezeichnen. Die Beiträge der Ein­
zelnen zur Gesellschaft unterscheiden sich
nicht so gravierend von­ein­an­der, dass diese
gewaltigen Unterschiede gerechtfertigt
werden könnten. Ich glaube, dass kluge
Reiche auch wissen, dass sie ein unglaub­
liches Glück gehabt haben, ein unverdien­
tes Glück.« Das Glück der vorteilhaften
Geburt, das Glück der günstigen Veranla­
gung, das Glück des guten Geschäfts. Das
Glück, in einer Gesellschaft zu leben, die
ihren Beiträgen großen Wert beimisst.
Um die Sache mit Joshua Kimmich und
der Sozialarbeiterin hier auch noch einmal
kurz etwas allgemeiner zu charakterisieren
oder um Tetens’ Auffassung eines Skandals
besser greifbar zu machen: Laut Bundes­
bank besitzen die reichsten zehn Prozent
der Bundesbevölkerung 50 Prozent des ge­
samten Nettovermögens des Landes. Die
unteren 50 Prozent besitzen gerade ein­
mal 0,6 Prozent. Wer zur unteren Hälfte
55
zählt, besitzt also so gut wie nichts, weder Geld noch Aktien oder
gar Immobilien. Das Vermögen in Deutschland ist ungleicher ver­
teilt als irgendwo sonst im Euro-Raum. Laut einer im vergangenen
Jahr publizierten Studie des Bundesarbeitsministeriums gehören
dem obersten Prozent der Bevölkerung satte 35 Prozent des Wohl­
stands in diesem Land. 100 Menschen, eine Torte, die zu verteilen
ist: Einer kriegt ein Drittel der Torte, 50 kriegen einen Krümel.
Stefan Quandt bezog als BMW-Erbe 2021 eine tägliche Dividende
von etwa 2 Millionen Euro. Das Vierzigfache von Joshua Kimmichs
Gehalt (und das Vierzehntausendfache des Tagesgehalts der Sozial­
arbeiterin, die in unserem Beispiel mit 50.000 Euro im Jahr auch
nicht zu den Schlechtestbezahlten ihrer Zunft gehört).
Für den Anthropologen David Graeber bestand das Bedrückende
an solchen Zahlen in der Tatsache, dass Besitz in unserer Gesell­
schaft so unmittelbar verbunden ist mit Freiheit – jenem hohen
Gut, das verfassungsgemäß jedem Bürger dieses Landes zusteht.
Wenn wir, so Graeber, über eine Gesellschaft von Jägern und Samm­
lern wie etwa den San im südlichen Afrika behaupten, dass dort alle
gleich ­seien, so meinen wir damit ja nicht, dass deren Mitglieder sich
nicht in vielerlei Hinsicht von­ein­an­der unterscheiden würden, son­
dern wir meinen, dass dort alle mehr oder minder gleich frei sind,
dass es keine absurden Hierarchien und Befehlsgewalten gibt. In
unserer Gesellschaft ist das anders. Bei uns ist es so: Wer reich ist,
kann tun und lassen, was er will. Er kann leben, wo er mag, reisen,
wohin es ihm gefällt, arbeiten, was ihm zupasskommt, er kann sich
nach Gusto kleiden, ernähren, verheiraten, scheiden lassen und so
weiter. Reichtum ist begehrenswert, weil er Freiheit bedeutet, auch
die Freiheit, nachzudenken. Armut bedeutet das Gegenteil. Der arme
Deutsche ist de jure gleich frei wie der reiche Deutsche, de facto ist
er ungleich gebundener. Armut betrifft, das sei hier auch noch kurz
gesagt, ­Frauen und Minderheiten in ungleich höherem Maß. Sie sind
in diesem Sinn in unserer Welt objektiv unfreier.
Tetens betonte, dass er nicht wisse, wie dem Problem der unerklärli­
chen Unfreiheit beizukommen sei, er habe da keine Lösung. Versu­
che, von oben herab zu bestimmen, wie das Vermögen verteilt wird,
­seien aus seiner Sicht historisch gescheitert und nicht sehr vielver­
sprechend. Das ändere aber nichts daran, dass die U ­ ngleichheiten
»schwindelerregend« ­seien. Er erinnerte an die längst verdrängten
Lektionen aus der »Systemrelevanz« zu Hochzeiten der Pandemie,
daran, wie wir uns für kurze Zeit alle frömmelnd einig waren da­
rin, dass Pflegekräfte und Krankenhausbelegschaften für das, was
sie beitragen, viel zu wenig bekämen. »Die Frage, die gestellt wer­
den muss«, sagte er, »ist die, ob die funktionale Arbeitsteilung der
Gesellschaft rechtfertigt, dass Menschen in höchst unterschiedli­
cher Weise Verfügungsgewalt über das arbeitsteilig Produzierte
besitzen.« Alles, was wir als Gesellschaft produzieren, produzieren

wir in ­Arbeitsteilung – kein Fußballspiel
mehr für Joshua Kimmich ohne funk-
Herkunft, Erziehung und Bildung haben einen
tionierende Müllabfuhr. Aber Kimmich
kriegt ein Hundertfaches vom letztlich
gewaltigen Einfluss darauf, wie wir uns später im
gemeinschaftlich erwirtschafteten Profit.
Was rechtfertigt das?
Leben schlagen werden – das ist längst erwiesen,
Die Fragen, über die wir hier gerade sprä-
chen, sagte Tetens, könnten übrigens nur
aber wie gehen wir damit um?
erörtert werden von Menschen, die ein
Stück weit freigestellt ­seien von der un-
mittelbaren Not, für den eigenen Unter-
halt zu sorgen. »Erst kommt das Fressen,
dann die Moral«, zitierte ich hochgebil-
det Brecht, und Tetens stimmte zu, sagte
aber eben auch, dass aus dem Privileg des
Wohlstands in der Tat – und wie von sehr
vielen Reichen ja immer wieder gerne und
mehr oder weniger heuchlerisch gesagt –
Verantwortung erwachse.
Aber was für eine Verantwortung ist das,
fragte ich mich, nachdem Tetens und ich
unser Gespräch be­endet hatten. Die Ver-
antwortung, Kunst zu sammeln und ein
Museum zu gründen? Die Verantwortung,
eine historische Villa denkmalschutz-
gerecht durchzusanieren? Die Verant-
wortung, Geld an die Wohlfahrt zu stif-
ten? Ist es nicht, dachte ich, letztlich eine
politische Verantwortung, gewachsen aus
der Einsicht, dass diese Gesellschaft fun-
damental verbesserungswürdig ist? Sollte
ein Mensch, der die Verantwortung errun-
gen hat, nicht mehr an das Fressen den-
ken zu müssen, nicht vielleicht sogar an
der Untergrabung jener Bedingungen ar-
beiten, die ihm diese Verantwortung über-
haupt auferlegt haben – um ganz frei sein
zu können: frei von der scheußlichen Not,
die schwindelerregenden Privilegien stän-
dig rechtfertigen oder leugnen zu müssen?
Vielleicht wie jene so selbstlos wirkende
Bewegung von Ultrareichen, die unter
dem Slogan »Tax me now« darauf hinwir-
ken wollen, dass auf horrendes Vermögen
horrende Steuersätze erhoben werden?
Um mich nicht gänzlich meinen wohl-
feilen Urteilen hinzugeben, die ja, ich
mag nicht lügen, auch komplett anders
ausfallen könnten, wenn ich selbst Flügel-
stürmer, CEO oder BMW-Erbe wäre, bat
ich noch um eine Audienz bei Professor
Karl-Heinz Paqué, Volkswirt und Vorsit-
zender der Friedrich-Naumann-Stiftung
für die Freiheit – laut Economist »intellek-
tueller Geschäftsführer« der FDP. Lustig:
Kinder aus wohlhabendem Elternhaus können oft auch eine bessere Schule besuchen
56
Am Ende der Unterhaltung mit Paqué war mein Eindruck, dass der
in fast jeder Hinsicht genau der gleichen Auffassung war wie Holm
Tetens. Mit dem großen Unterschied, dass er sich damit weitaus
­gemütlicher arrangiert zu haben schien. Zur Grundfrage nach un-
serer Freiheit sagte er etwa: »Selbst wenn die These vom Determi-
nismus stimmen sollte, woran ich zweifle, müssen wir unser L ­ eben
organisieren und den einzelnen Menschen zur Verantwortung
­ziehen. Für eine humane Gesellschaft, die nicht anarchisch und
brutal sein soll, müssen wir annehmen, dass es so etwas wie Selbst-
verantwortung gibt und einen freien Willen.«
Paqué plädierte, ganz im Sinne des Liberalismus, wie ich ihn im-
mer schon kenne, für die Idee eines ­»level playing field«, einer Ge-
sellschaft also, die für »Chancengerechtigkeit« sorgt. Alle sollten
möglichst vergleichbare Startbedingungen bekommen, aber was
die ­einzelnen Mitglieder der Gesellschaft dann aus diesen Bedin-
gungen machen, bleibt ihnen selbst überlassen. »Die Menschen
sind verschieden«, sagte Paqué in seinem Büro nahe der Berliner
Friedrichstraße. »Daraus darf man keinem einen Vorwurf machen,
weder dem Reichen noch dem Armen. Der Staat muss die Frage
stellen: Wie gehen wir damit um? Und unsere Antwort lautet eben:
Chancengerechtigkeit. Der Begriff hat weitreichende Konsequen-
zen.« Paqué bekannte in diesem Zusammenhang etwa, dass freie
Trägerschulen nicht seine Sympathie hätten, dass es in einer Welt
nach seinem Geschmack also bloß staatliche Schulen gäbe: sodass
also nicht Kinder aus wohlhabendem Elternhaus eine bessere Schu-
le besuchen können als Kinder aus ärmeren Verhältnissen, »denn
dies führt zu einer segmentierten Gesellschaft«. Als Liberaler, sagte
er dann, würde er aber auch nicht für ein Verbot privater Bildungs-
einrichtungen plädieren wollen.
Mit etwas Abstand amüsiert mich das. Paqué leugnete nicht, was
die Soziologen längst umfangreich gemessen und belegt haben,
dass also Herkunft, Erziehung und Bildung einen gewaltigen Ein-
fluss haben darauf, wie wir uns später im Leben schlagen werden
– sodass die Professorentochter es weit leichter haben wird, selbst
Professorin zu werden, als das etwa für die Tochter einer Regal­
einräumerin der Fall ist. Paqué war auch der Auffassung, dass man
segmentierenden Tendenzen prinzipiell entgegenarbeiten sollte.
­
Aber halt irgendwie nicht zu doll.
Genau wie Tetens sagte Paqué, dass aus seiner Sicht im Grunde
alle Arbeitenden systemrelevant s­eien, vom Würstchenbudenver-
käufer bis zur Vorstandsvorsitzenden. »Und natürlich ist es denk-
bar«, sagte Paqué auch, »dass der Geldverdienst der Obersten nicht
mehr verhältnismäßig ist. Aber das liberale Prinzip lautet, dass der
Verdienst nicht vom Staat bestimmt werden darf. Er muss sich
aus der Nachfrage und dem Angebot in der Gesellschaft ergeben.«
Natürlich ist es denkbar, dachte ich böse, dass wir es mit einem

Skandal zu tun haben. Aber der Staat
sollte hier keinesfalls intervenieren! Der
Markt regelt das schon. Alles klar.
Wobei Paqué halt auch nicht so skanda-
lisiert wirkte. Superreiche etwa schienen
ihm ein eher marginales Problem zu sein:
»Die kann man sozusagen an der Hand ab-
zählen.« Die Ungleichheit in Deutschland
beschrieb er als nicht allzu gravierend oder
zumindest als nicht übler als in den übri-
gen westlichen Gesellschaften auch. »Ich
warne davor, die Ungleichheit als das ent-
scheidende Phänomen der Gesellschaft an-
zusehen«, sagte er und zitierte den die Un-
gleichheit einer Gesellschaft bemessenden
Gini-Koeffizienten, der seit den Wende­
jahren in Deutschland kaum gestiegen sei,
oder den »Spread« im Gehalt zwischen
gelernten und ungelernten Arbeitskräften,
der nicht sehr groß ausfalle. Okay.
Einige Wochen nach unserem Gespräch,
als ich nachts wach lag und – was soll man
machen – über diesen Text nachdachte, fiel
mir auf einmal ein, dass Paqués vielleicht
interessantester Satz eigentlich auf einem
Nebenpfad unserer Unterhaltung gefallen
war, als es um seine Biografie gegangen
war und darum, dass die Privatwirtschaft
ein paarmal mit Jobangeboten bei ihm
angeklopft habe, er aber dennoch stets
lieber Professor geblieben sei. »Ich finde es
überhaupt nicht ungerecht«, hatte Paqué
mir dazu gesagt, »dass ein Bankökonom
fünfmal so viel verdient wie ich. Der hat
ja auch die Freiheit nicht. Die Freiheit der
Forschung ist mir verdammt viel wert.«
Und hatte er da nicht etwas Schönes, ja
nachgerade Erbauliches geäußert? Ver-
dienst, Verdienst, die ganze Zeit geht es
in diesem Text ums schnöde Geld, um
Besitz, ganz so, als sei das die einzige Ka-
tegorie, die uns im Leben interessieren
kann. Aber was ist denn mit der Freude
an einer sinnerfüllten Arbeit, die manch
Geringverdiener empfinden mag, sagen
wir beschäftigt in einer Rehaklinik? Hat
diese Freude keinen Wert? Was ist mit
dem Glück, Kinder an die Quellen des
Wissens heranzuführen, das eine Lehrerin
erleben kann? Kriegen solche Menschen
nicht möglicherweise etwas, das der Part-
nerin in einer Großkanzlei trotz Eck-
büro im 13. OG entgehen mag, weil sie
bis spät nach Mitternacht noch irgend-
welche Vertragsparagrafen im Merger
58
z­weier Beton­konzerne durchputzen muss? Die Glücksforschung,
um auch diesen alten Gassenhauer der Weltweisheit noch mal zu
trällern, hat ja herausgefunden und belegt, dass Geld nicht glück-
lich macht beziehungsweise nur bis zu einem gewissen Punkt, bis
zum Nachlassen der Ängste, die akuter Geldmangel produziert.
Danach bringt ein höheres Gehalt keinen messbaren Mehrwert
mehr an Freude am Dasein.
Man kann diese Erkenntnis aber eben leider auch umdrehen. Wenn
man nicht genug Geld hat, macht das unglücklich. Wenn man
nicht so viel verdient, wie man verdienen sollte, wenn man also
etwa kein Professorengehalt bezieht, das es einem erlaubt, auf das
Bankökonomengehalt zu verzichten, dann übersieht man vor lauter
Geldsorgen vielleicht sogar, wie toll man es im eigenen Beruf in
anderer Hinsicht hat. Man braucht eine bestimmte Menge Geld,
um sich die Einsicht leisten zu können, dass Geld nicht alles ist.
Wie schade: denn Geld ist ja nicht alles!
Hierin liegt natürlich ein gewaltiges moralisches Problem.
Der Mensch, wir postulieren das als Gesellschaft, ist frei. Frei in
dem Sinne, dass er Verantwortung für sein Schicksal trägt: Er kann
seine Lage in gewisser Hinsicht verdienen. Manchen aber teilt der
Markt so wenig zu, dass sie unglücklich bis krank werden, und
anderen so viel, dass es für ihr Wohlbefinden schon lange, lange
keinen Unterschied mehr macht, ob sie nun 30.000 Euro mehr
oder weniger verdienen pro Monat. Manche macht der Markt frei
im Graeberschen Sinne, frei wie einen Jäger, dass er tun und lassen
kann, was ihm gefällt, extrem frei, die meisten aber macht er nur
ein klitzekleines bisschen frei oder fängt sie gar ein in der Not, in
ungeliebter Weise Geld verdienen zu müssen.
Holm Tetens wusste nicht, wie man diesem moralischen, politi-
schen und ästhetischen Problem wirklich beikommen könnte,
Karl-Heinz Paqué schien das Problem nicht problematisch genug,
und auch mir fällt natürlich keine Lösung ein, oder ich wüsste
jedenfalls überhaupt nicht zu sagen, welcher der vielen Ansätze
der beste wäre: Erbschaftsteuer, Reichensteuer, Abschaffung der
Deckelung bei der Kapitalertragsteuer, freies Grundeinkommen
und so weiter.
Allerdings scheint mir das kein Grund, das Nachdenken darüber
aufzugeben. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass die Einkom-
mensverteilung in Deutschland es einer zunehmenden Zahl von
Menschen erschwert, an den Versprechungen bürgerlichen Lebens
zu partizipieren – an gesichertem Wohnraum etwa, oder einer
­anständigen Rente, oder dem Zugang zu vernünftiger Bildung. All
das lässt sich in Zahlen belegen. Stefan Quandt muss zwei Wochen
sparen, um sich von den Dividenden eine Villa mit Wasserzugang
am Starnberger See zu kaufen; ein Gärtner auf dem Anwesen kann
sein Leben lang sparen und wird sich immer noch keine anständige
Wohnung in der Nähe kaufen können.
Nicht in Zahlen belegen lässt sich mein Gefühl, dass diese Ent-
wicklung viel ursächlicher ist für das zunehmende Zerbröseln der
gesellschaftlichen Mitte, als es in den Umfragen zutage tritt. Mein
Gefühl ist, dass der Zusammenhalt und der Frieden in diesem Land
auch von einem hinlänglichen Gefühl der Teilhabe abhängig sind.
Einer kriegt ein Drittel von der Torte? Fünfzig kriegen nur einen
Krümel? Was, diese Frage stellen sich manche vielleicht, bringt mir
so eine Ordnung? Die Mehrheit hat Besseres verdient.
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ES GEHE EIN LICHT AUF

Von ANAÏS KALUZA und TILLMANN PRÜFER

Die diesjährige ZEITmagazin-Uhren-Schatzsuche führt uns an Orte,

wo Menschen sich Dinge haben einfallen lassen, die heute
nicht mehr wegzudenken sind. Wenn Sie beim Rätseln richtigliegen,
können Sie eine Uhr gewinnen

In Deutschland beklagt man sich darüber, dass das Land im Müßig­
gang dahindämmere, nichts mehr funktioniere und alles immer nur
schlechter werde. Es fehlen allem Anschein nach die Innovatoren.
Dabei ist doch so viel hier losgegangen. Es gab einmal den Beruf
des Erfinders, der alle möglichen Sachen erdenken und zum Laufen
bringen konnte. Mit unserer diesjährigen Uhren-Schatzsuche wol­
len wir einmal zurück in dieses Land reisen, in dem alles Mögliche
neu erdacht wurde. Manches davon ist uns heute so selbstverständ­
lich, dass wir uns das Leben ohne gar nicht mehr vorstellen kön­
nen. An manchen dieser Orte, wo große Dinge entwickelt wurden,
steht heute noch eine Fabrik, an manchen ein kleines Museum, an
anderen nicht einmal eine Gedenktafel.
Wenn Sie jeweils das Bild betrachten und den Rätseltext lesen,
können Sie erschließen, um welchen Ort es sich handelt. Und viel­
leicht gibt es dort eine Uhr für Sie zu gewinnen. In den Jahren
vor der Pandemie hatten wir dazu aufgerufen, den gefundenen Ort
aufzusuchen. Wie schon in den vergangenen Jahren möchten wir
das auch dieses Jahr nicht tun. Bitte bleiben Sie also zu Hause,
wenn Sie einen Ort erkannt haben, und schicken Sie uns seinen
Namen sowie die Lage (PLZ, Gemeinde bzw. Landkreis) entweder
per E-Mail an schatzsuche@zeit.de oder per Post an ZEITmagazin,
Stichwort Schatzsuche, Schöneberger Straße 21A, 10963 Berlin.
Bitte entscheiden Sie sich für einen Ort, Mehrfacheinsendungen
werden nicht berücksichtigt. Einsendeschluss ist Montag, der 6. No­
vember. Bei Briefen gilt der Poststempel. Mitarbeiter des Zeitverlags
sind von der Teilnahme ausgeschlossen. Unter den Einsendern, die
den Ort mit der Gewinner-Uhr (also möglichst die genaue gesuchte
Adresse) herausgefunden haben, wird ausgelost. Nur die Gewinnerin
oder den Gewinner werden wir benachrichtigen. Und wir hoffen
darauf, dass Sie den einen oder anderen Ort, den wir vorstellen, in
nächster Zeit mal besuchen. Vielleicht kommen Sie dabei ja selbst
auf eine Idee, die die Menschheit weiterbringt.
 62

Wer sich schon einmal über einen Ikea-Schrank beim Aufbau geärgert hat, der ärgert sich indirekt auch über unseren findigen Erfinder. Er
hat darüber nachgedacht, was man mit Holzspänen und Leim alles anstellen kann. Der Vater des Erfinders war Möbelschreiner, in dessen
Werkstatt der Sohn viel herumexperimentiert hat. Sein Name ist das Gegenteil von Höllensenker, die Adresse in der gesuchten Stadt das
Gegenteil von Frieden.  Van Cleef & Arpels Sweet Alhambra
 63

Nicht jede Erfindung ist eine Ingenieursleistung, manchmal muss man auch einfach nur gut zuhören und es dann zu Papier bringen. Das
haben zwei Bibliothekare im 19. Jahrhundert getan und damit für jede Menge Träume und Albträume gesorgt. Die meiste Zeit haben sie dabei
in dieser Stadt gelebt. Das Haus, in dem sie einmal gewohnt haben sollen, steht an einem Platz, der nach den beiden benannt ist. Wenn sie
nicht gestorben wären, würden sie dort heute noch leben. Wo denn?  Sinn 356 Flieger Klassik Jubiläum
 64

Zwischen Schießberg und Bruckersberg entdeckte eine an Kinderlähmung leidende Schneiderin in einem Journal das Schnittmuster für
ein besonders schönes Nadelkissen aus Filz. Ihre Neffen spielten mit jenen Nadelkissen allerdings so gerne, dass daraus ein ganzes Ge-
schäftsmodell entstand. Wenig später lieferte die Schneiderin schon an Harrods in London. Wir suchen die Adresse des Hauses, in dem
jenes Nadelkissen entstand.  Blancpain x Swatch Bioceramic Scuba Fifty Fathoms Collection Atlantic Ocean
 65

Diese Erfindung ermöglicht uns besondere Einblicke, sie zeigt unser Innerstes. Allerdings blicken wir mit ihr meist sorgenvoll in uns hinein.
Oft ist etwas kaputt, und allzu oft soll man auch nicht gucken – ist ja nicht gesund. Aber davon wusste der gute Mann noch nichts, als er
1895 an einem Uni-Institut seine Entdeckung machte. Er ahnte wohl auch nicht, dass sein Name auf immer damit verbunden sein würde.
Heute steht dort ein kleines Museum.  Bulgari Serpenti Tubogas Infinity
Heute erinnert nur eine profane Infotafel an den Ort, wo die Erfin-
dung gemacht wurde, die wie kaum eine andere das Land geprägt
hat – und die eine große Industrie geschaffen hat. Als die Frau des
Erfinders allerdings mit seiner Schöpfung einen Ausflug unter-
nahm, hielt sie an einer Apotheke und kaufte einige Liter Ligroin.
Heute würde sie dafür mehr als elf Euro pro Liter hinblättern müs-
sen. Gut, dass man nicht mehr in Apotheken tanken muss. Den
Laden gibt es heute noch. Wo?  Cartier Tank Française
Es geht um Entflammung durch einen Funken, durch die Kraft,
die aus Explosionen kommt und die Welt vorantreibt. Das alles
begann damit, dass jemand in der gesuchten Stadt im Jahr 1886
eine »Werkstätte für Feinmechanik und Elektrotechnik« eröffnete.
In jener Werkstätte wurde 15 Jahre später das Wunderding ent-
wickelt. Zuvor hatte man solcherlei nur auf Torten gesehen. Die
Straße des Betriebs ist nach einem roten Heiligenbild benannt. Wo
war das Start-up?  TAG Heuer Carrera Chronosprint
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 68

Um das Heißgetränk so zu genießen, steht man in Third-Wave-Läden andächtig vor etwas, das aussieht wie ein Experiment aus dem Chemie-
unterricht, nur dass man das Ergebnis diesmal trinken soll. Diese Erfindung hat auch mit etwas zu tun, das wir aus Schulheften kennen: Lösch-
papier. Während die meisten es wegwerfen, hatte eine Hausfrau damit eine geniale Idee. An der gesuchten Wohnadresse produzierte sie ihre
Erfindung jahrelang. Heute ist dort der Sportplatz einer Schule, an der die Kinder ihr Löschpapier wohl auch wegwerfen.  Tiffany HardWear
 69

Heute residiert an der Adresse eine Firma, die Steuererklärungssoftware vertreibt, in der Nachbarschaft eine Behörde, die noch neugieriger
ist als das Finanzamt. Keine Gedenktafel weist darauf hin, dass hier einmal etwas sehr Heißes entwickelt wurde, oder, wenn man es so
möchte, etwas sehr Cooles. Das ist 100 Jahre her. Eigentlich kaum zu glauben, dass etwas so Erfolgreiches aus der Stadt kommt, in der sonst
doch nichts funktioniert.  A. Lange & Söhne 1815 Rattrapante Ewiger Kalender
 70

Es waren nur etwa 25 Meter, aber es waren die ersten 25 Meter, die ein Mensch auf diese Art zurückgelegt hat. Seine Reise ging von einer Düne
aus. Wie aufregend muss das gewesen sein? Und wie gelangweilt sitzen wir heute in Schaumstoffsesseln, reisen mühelos 2000 Kilometer und
ärgern uns, wenn wir eine halbe Stunde warten müssen? Auf den Sommer 1891 hatte man die ganze bisherige Menschheitsgeschichte warten
müssen. Wo genau war der Sandhügel, an dessen Stelle heute ein Denkmal steht?  Jaeger-LeCoultre Reverso Tribute Small Seconds
Die beste Anschaffung seines Lebens war eine Dusche. Denn da-
runter kamen ihm die meisten I­deen für seine Erfindungen. Über
1000 davon meldete er zum Patent an. Er erfand Spielzeug, das
man essen kann, oder ein Synchronblitzgerät. Legendär war sein
Baukasten, mit dem man praktisch alles bauen kann. Seine bekann-
teste Erfindung ist jedoch ein kleines Plastikröhrchen, das für Halt
sorgt. In dem Ort, wo sich die Dusche befand, wird es noch heute
produziert. Wo genau?  Carl F. Bucherer Patravi ScubaTec Verde
Die meisten Menschen sind wenig begeistert, wenn sie ein Wespen-
nest entdecken, aber einem Weber kam Mitte des 19. Jahrhunderts
bei der Betrachtung solch eines Gebildes eine Idee: Er erkannte,
dass die Insekten ihre Nester auf eine besondere Art und Weise
bauten – und konstruierte eine Maschine, um es ihnen nachzuma-
chen. Damit sorgte er für sehr viel Presse. In dem Ort, in dem der
Weber wirkte, hat man ihm einen Brunnen gewidmet. Wo ist der?
Nomos Glashütte Orion neomatik 175 Years Watchmaking Glashütte
 72

Die Frage, wie sich Musik überallhin mitnehmen lässt, hat eine Forschergruppe an einem Ort beschäftigt, der selbst eigentlich nur in einem
Song, den Max Goldt einmal gesungen hat, vorkommt. Aber ohne ihre Erfindung könnten Millionen Menschen keine Lieder auf Spotify
hören. Das ganze moderne Musikgeschäft wäre nicht denkbar. Selten haben so viele so wenigen so viel zu verdanken. Das Ganze sind nur zwei
Buchstaben und eine Zahl. Wo ist die Universität, in der dies entwickelt wurde?  Patek Philippe Ref. 4962
 73

Ein Sack Zucker, ein Kupferkessel, ein Herd und eine Walze. Das war alles, womit unser Erfinder 1920 in seiner Waschküche herumexpe-
rimentierte. Was dabei herauskam, ist noch heute das Schönste, was aus Schweineknochen werden kann. Er war übrigens Bonbonkocher!
Bonbonkocher – warum gibt es diesen Beruf nicht mehr? Brauchen wir irgendetwas dringender als Bonbonkocher? Heute befindet sich am
Ort der Waschküche eine Straßenkreuzung. Welche nur?  Wempe Iron Walker Automatik
Gesucht ist der blumige Name einer Straße, in der vermutlich im
Winter 1907 ein großes Zerwürfnis begann, das fortan für jede
Menge Missgunst zwischen Menschen sorgte. Angefangen hatte al-
les damit, dass ein Vater etwas gegen die Langeweile seiner drei Söh-
ne machen wollte. Tragischerweise spielt auch England sowie der
Krieg mit England dabei eine Rolle. Nächstes Jahr ist die Weltmeis-
terschaft, das Endspiel ist in Berlin.  Seiko Presage Craftsmanship
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Ein Korbmacher hatte die gute Idee, für eine an Rheuma erkrankte
Dame eine Sitzgelegenheit zu entwerfen. Bald stellte sich heraus,
dass sich das Möbel auch sehr gut für Menschen eignet, die keine
Gebrechen haben. Mitunter ist das Ding die einzige Möglichkeit,
wie man einen Tag an einem zugigen deutschen Strand überstehen
kann. Am Mittelmeer hätte so was niemand erfunden. Heute gibt es
eine Gedenktafel nahe dem Leuchtturm, wo die Dinger zum ersten
Mal vermietet wurden.  Rolex Oyster Perpetual 36 Celebration
 76

Wenn sich alle Probleme der Welt, die uns gerade Kopfschmerzen bereiten, so schnell und zischend auflösen ließen wie diese Erfindung,
wäre es schön. Allerdings wird dem Chemiker, der maßgeblich daran beteiligt war, auch die Erfindung des Heroins zugeschrieben. Womit
er wohl genauso viele Probleme geschaffen wie gelöst hat. Der Hersteller des Wunderstoffes unterhält noch heute an jenem Standort ein
Werk. Wo steht es?  Oris ProPilot X Kermit
 77

Es gibt einen Fußballverein, der spielt stabil in der Landesliga. Aber bekannter als der Verein mit dem poetischen Namen ist eine Erfindung,
die ihn dreimal in Folge die Meisterschaft gewinnen ließ. Der Sportliche Leiter des Vereins war gelernter Schuhmacher und bastelte in seiner
Waschküche für seine Spieler Schuhwerk, mit dem sie sehr flink unterwegs waren. Leider war der Erfinder kein sehr versierter Geschäftsmann,
deswegen blieb sein Wirkungskreis regional beschränkt. Wo residiert der Verein?  Omega Speedmaster Super Racing
Wir suchen eine mittlerweile sehr bekannte Adresse. Allerdings ist
es äußerst unwahrscheinlich, dass hier einmal das gefördert wurde,
worauf der Name hinweist. Auf eine Anfrage wurde nur mitgeteilt,
dass hier vielleicht einmal ein besonders ertragreiches Ackerstück
gewesen sein könnte. Unbekannt, ob man hier tatsächlich auch
mal nach Metall gegraben hat. Unstrittig allerdings, dass dort heute
die Firma residiert, die wohl eine der wichtigsten Erfindungen seit
2019 gemacht hat.  Montblanc 1858 Iced Sea Automatic Date
Ein Unfall, den das Kind des Tüftlers mit Glück überlebte, stand
am Anfang dieser Erfindung, ohne die eine Kindheit heute kaum
mehr denkbar wäre. Obwohl seine Erfindung vor allem aus Luft be-
steht, brauchte der Mann noch einmal Glück und musste im Lotto
gewinnen, bevor sein Produkt marktreif war. Das erste Mal konn-
te er damit in einem Schwimmbad unweit eines großen Friedhofs
re­üssie­ren. In einer Stadt, in der nicht die Currywurst erfunden­
wurde. Wo genau?  Audemars Piguet Royal Oak weiße Keramik
2.11.23  N0 46
 Ich ruf’ da
jetzt mal an.
In Zeiten, in denen man über
die wirklich wichtigen Dinge
nachdenkt: Wir informieren Sie
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 80

BIN ICH ZU VIEL?

Unsere Autorin Laura Binder, 29, testet immer wieder mit Selfies, wie sie aussieht. Sonst taucht sie ungern auf Fotos auf
 81

Ich lüge oft. Wenn Freunde schwimmen

gehen, muss ich leider arbeiten. Wenn
Klamotten, Sitze,
alle in diese Bar wollen mit den schmalen
Stühlen, dann bin ich leider nicht fit. Und
Situationen: Ich passe
wenn mich jemand fragt, ob ich beim
Shoppen was gefunden hätte, hat mir lei-
in vieles nicht
der nichts gefallen. Es gibt viele »leider«
in meinem Leben, und jedes steht für eine
rein. Statistisch geht
Wahrheit, die ich nicht aussprechen kann:
Ich traue mich nicht, im Badeanzug rum-
es jedem vierten
zulaufen. Ich habe Angst, dass ich nicht in Deutschen so.
den Stuhl passe. Ich schäme mich, dass es
nichts in meiner Größe gibt. Doch ich fühle mich
Ich bin 29 Jahre alt, 172 Zentimeter groß
und 112 Kilo schwer. Ich bin adipös – mit meinem
fettleibig, wie jeder vierte Erwachsene in
Deutschland. Übergewicht hat sogar die Übergewicht allein
Hälfte unserer Gesellschaft. Wir stünden
vor einer Art Epidemie, sagt die Welt-
gesundheitsorganisation.
Trotzdem fühlt es sich so an, als wäre ich
mit meinem Fett allein, und es gibt keinen
Tag, an dem mich das nicht belastet. Die
Last hängt nicht nur an meinen Armen
und Beinen. Sie erdrückt mich innerlich,
wenn ich in den Spiegel schaue. Sie schlägt
mir aus den Blicken der anderen entgegen,
wenn ich einen Raum betrete. Sie drängt
mich an den Rand, oft gerade dann, wenn
ich gar nicht damit rechne.
Aber dennoch spreche ich nie darüber.
Weil ich mich schäme. Weil ich nieman-
den runterziehen will. Und auch weil
viele heute erwarten, dass man zur Ak-
tivistin wird und sagt: Ich bin dick, na
und! Doch das kann ich nicht sagen. Es
wäre wieder gelogen.
Ich habe lange darüber nachgedacht, wa-
rum ich gerade jetzt meine Scham über-
winden und über mein Gewicht schreiben
will. Ich glaube, es hat mit einem Moment
vor ein paar Monaten zu tun, ich räumte
mein Handy auf und ging die Fotos der
vergangenen Jahre durch – Feiern, Tref-
fen, Schul- und Uni-Abschlüsse –, Ver-
wandte, Kollegen, Freunde lachten mir
entgegen. Nur einen Menschen suchte ich
vergeblich: mich. Ich bin eigentlich nur
auf Fotos, die ich selbst gemacht habe, vor
dem Spiegel, um zu testen, wie ich aussehe
(sie illustrieren diesen Artikel).
Als mir das klar wurde, spürte ich wieder
diesen altbekannten riesigen Klumpen in
mir. Aber diesmal drückte ich ihn nicht
gleich weg, sondern ließ den Gedanken
meine Schutzschicht durchbrechen: Das
ist Reue! Reue, mich immer zu verste-
cken, zu lügen, zu schweigen, unsichtbar
zu sein. Mich selbst zu verleugnen und
mein Leben nicht zu leben. So möchte ich
nicht weitermachen: Ich will mich endlich
zeigen und besser verstehen, wer ich bin.
Auch deshalb schreibe ich diesen Text.
Ich kann nicht sagen, warum ich immer
dicker wurde. Richtig schlank war ich nie.
Ich wuchs in einer Kleinstadt in Ostwest-
falen auf, wo hinter jeder Gardine jemand
am Fenster stand. Meine Familie war
­zugezogen, mein Vater arbeitete als Arzt
mit meiner Mutter zusammen in seiner
Praxis. Sie kochten gesund, den Süßigkei-
tenschrank plünderte ich heimlich, bevor
ich zum Fußballtraining fuhr.
In der Grundschule nannten mich die Leh-
rer noch »kräftig«, am Gymnasium sagten
Mitschüler schon, ich sei »fett und häss-
lich«. An einen Morgen erinnere ich mich
besonders gut: Auf dem Weg zur Schule
lief hinter mir eine Gruppe Jungs, einer
sagte: »Der Arsch ist echt riesig.« Alle lach-
ten. Am Abend sortierte ich meinen Klei-
derschrank. Jedes Oberteil, das nicht bis
weit über die Hüfte reichte, stopfte ich in
Plastiksäcke für die Kleiderspende.
Eines Abends kam meine Mutter in mein
Zimmer, als ich schon im Bett lag. Sie
spürte wohl, dass es mir nicht gut ging,
und las mir aus einem Kinderbuch vor: Es
handelte von Puppen, die gegenseitig ihr
Aussehen mit Stickern bewerteten. Doch
an einer Puppe blieb kein Sticker haften,
weil ihr die Meinung der anderen egal war.
Danach fragte meine Mutter mich, ob ich
glücklich sei. Ich sagte: »Ich mag mich, wie
ich bin.« Es war am Anfang meiner Puber-
tät, der Zeit, in der ich zu lügen begann.
Meine Schenkel wurden immer dicker,
meine Arme schlaffer, mein Po größer. Ich
hörte auf, bestimmte Dinge zu tun, und
akzeptierte das still, um nicht noch mehr
aufzufallen. Ich trug nur noch Oberteile
in Größe L und Hosen in XL. Ich hörte
auf, ins Freibad zu gehen. Ich mied Ganz-
körperspiegel, ich stellte mich bei Fotos
immer in die letzte Reihe und zog mich
bei Übernachtungen auf der Toilette um.
Meine zwei Geschwister sind sportlich,
meine Freundinnen waren fast alle dünn.
Ich tat, als würde ich zu ihnen gehören, ver-
steckte meine Unsicherheit hinter ­Witzen

Von LAURA BINDER


und einer forschen Art. Ich lernte, wie ich
meinen Kopf halten muss, damit er dünner
aussieht: seitlich kippen, leicht das Kinn
anheben, die Lippen zusammenpressen.
Ich bildete mir ein, verstecken zu können,
dass ich dick bin – und unglücklich.
Natürlich kämpfte ich gegen das Fett.
Doch wenn sich nicht schnell genug etwas
tat, gab ich beschämt wieder auf. Einmal
kniete ich abends mit meiner Zahnbürste
vor der Toilette. Ich warf sie nach dem
ersten Würgen in den Müll.
Ich wuchs in einer Zeit auf, in der dicke
Menschen nicht auf Zeitschriften-Cover
kamen und auch in keine Werbekam-
pagne. Zum Einschlafen hörte ich Die
drei ???, und der korpulente Justus Jonas
bekam in fast jeder Folge mit auf den Weg,
er solle mehr Sport machen. Als Teenager
schaute ich Filme, in denen dicke F ­ rauen
immer die waren, die niemand wollte. In
Zeitschriften las ich von Problemzonen, an
jeder Ecke wurde eine Diät beworben, und
Heidi Klum schickte dünne Mädchen nach
Hause, sie sollten erst wiederkommen,
wenn sie noch dünner wären.
Ich lernte, dass ich nicht begehrenswert
bin. Schwach. Und selbst schuld.
Gegen Ende der Schulzeit machten alle
einen Tanzkurs. Ich weigerte mich mit-
zumachen. Ich war mir sicher, dass mich
kein Junge fragen würde, ob ich mit ihm
zum Abschlussball ginge. Ob das wirk-
lich so gewesen wäre? Meine Realität war
immer verschwommen: Ich hatte Ver-
­ gezeigt und gesagt: »Ach, das macht dick?
ehrer, erste Freunde und knutschte auf
Partys. Aber war trotzdem der Meinung,
dass mich niemand lieben könne.
Als ich fürs Studium nach Hamburg
zog, sprachen alle an der Uni über ihre
­Dates. Ich hatte kaum welche, in meinem
Tinder-­Profil lud ich nur Fotos von mei-
nem Gesicht hoch. Wenn ich einen Match
hatte, schrieb ich erst wochenlang, bevor
ich mich zu einem Treffen überwand. Ich
wollte sichergehen, dass mich der andere
für meine Art mag, dass die meinen Kör-
per vielleicht aufwiegen würde.
Wenn ich mir heute, mit vielen Kilos mehr,
Fotos von mir aus dieser Zeit angucke, wür-
de ich mein jüngeres Ich gern ohrfeigen.
Mittlerweile bin ich seit Jahren in einer
Beziehung, wir wohnen zusammen, haben
zwei Katzen. Wenn wir morgens zusammen
aufwachen, sagt er mir, wie schön ich sei.
82
Für die einen bin Aber in mir ändert sich nichts. Wenn ich
vorm Spiegel stehe und über mich selbst
ich faul, weil ich keine schreckliche Dinge sage, sehe ich in seinem
Blick, dass etwas in ihm zerbricht. Einmal
Diät schaffe, fragte er: »Warum hasst du dich so sehr?«
Damals konnte ich nichts dazu sagen, viel-
für die anderen feige, leicht gibt dieser Text eine Antwort.
Als wir vor einigen Jahren Urlaub mach-
weil ich nicht zu ten, traute ich mich trotz der Hitze nicht
in den Hotelpool. Schließlich fanden wir
meinem Gewicht stehe eine menschenleere Bucht. Wie lange war
es her, dass ich nicht nur mit den Füßen
im Meer war? Wir schwammen, lagen am
Strand, hörten Musik. Ich war glücklich,
einfach ich sein zu können. Bis drei Jungs
an den Strand kamen und Selfies machten.
Sie sprachen Deutsch. »Schieb, schieb den
Wal ...«, sagte einer und schaute grinsend
zu uns herüber. Mein Freund schlief in
der Sonne, ich blickte angestrengt in mein
Buch. Den Rest des Urlaubs ging ich nur
noch in einer langen Bluse an den Strand.
Auch im Alltag überlege ich morgens lan-
ge, was ich anziehe, um wenig Aufsehen zu
erregen. Seit Jahren trage ich keine kurzen
Hosen mehr, keine Tops, niemals bauch-
frei, nichts Enges, keinen großen Aus-
schnitt, jeder Rock geht übers Knie.
Seit Jahren war ich auch nicht mehr bei
der Frauenärztin. Bei Routineuntersu-
chungen bekam ich jedes Mal ungefragt
eine Broschüre zur Ernährungsberatung
in die Hand gedrückt. Gern hätte ich auf
den triefenden Burger auf der Broschüre
Unfassbar!«
Es sind nicht nur Menschen, die Dicke
diskriminieren, sondern auch viele Din-
ge. Meinen 25. Geburtstag wollte ich mit
meinem Freund im Freizeitpark feiern. Ich
freute mich wie ein Kind: Wir standen ewig
für die große Holzachterbahn Colossos an.
Als ich mich endlich in den Wagen setzte,
war ich richtig aufgeregt. Ich drückte den
Bügel runter, doch der Sicherheitsgurt war
zu kurz. Er ging nicht zu. Mein Freund
saß woanders, ich wurde panisch. Als ein
Kontrolleur den offenen Gurt sah, zeigte er
auf den Ausgang und sagte: »Dann raus.«
Ich kletterte aus dem Wagen und ging der
wartenden Masse entgegen. Ich senkte den
Kopf und unterdrückte die Tränen.
In einer Gesellschaft, die immer dicker
wird, wachsen die Gegenstände einfach
nicht mit. Fahrstühle rechnen weiter mit
 WA H R E

SEKT
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SEIT 1838

Geldermann steht seit 1838 für deutsch-französische

Handwerkskunst. Unsere erlesenen Cuvées reifen
in traditioneller Flaschengärung und erhalten so
ihren charaktervollen Geschmack.

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 84

80 Kilogramm pro Person, Kleidung hört

bei vielen Marken schon bei L auf, Plus
Ich habe endlich
­Size wird gesondert geführt, Stühle sind
auf 45 Zentimeter Breite normiert. Als ich
begriffen, dass
mir ­einen Heimtrainer, ein Fahrrad, kaufen
wollte, fand ich in meiner Preisklasse nur
ich Teil des Problems
ein Modell mit einer Zulassung für über
100 Kilogramm. Einen Stuhl zu kaufen,
bin, wenn ich
der mich trägt, war ähnlich kompliziert. schweige und so tue,
Irgendwann habe ich begonnen, mich vor
solchen Situationen zu schützen. Bevor ich als sei alles okay
ein Restaurant auswähle, schaue ich mir
im Internet die Bestuhlung an und ver-
suche abzuschätzen, ob ich da reinpasse.
Wenn im Aufzug schon drei Leute sind,
warte ich lieber auf den nächsten. Sind im
Bus nicht zwei Sitze ne­ben­ein­an­der frei,
ziehe ich es vor zu stehen, statt jemanden
einzuengen. Wenn ich den Zug oder das
Flugzeug nehme, klappe ich die Armleh-
nen hoch. Manche Sitznachbarn knallen
sie einfach wieder runter, dann habe ich
am Ende der Reise oft blaue F ­ lecken an
den Oberschenkeln.
All das sagt mir immer und immer wie-
der: Ich bin zu viel. Ich bin nicht richtig,
wie ich bin.
Dann öffne ich Social Media und sehe
Vorbilder, die mir früher gefehlt haben.
­Frauen, die aus­sehen wie ich, die selbst-
bewusst ihre Outfits vorführen und Zu-
spruch bekommen. Ich sehe Menschen,
die sich fat activists nennen, die gegen
Diskriminierung kämpfen und Akzeptanz
predigen. Sie sagen, dass mentale Gesund-
heit mindestens genauso wichtig sei wie
körperliche, dass der Nutzen vieler Diäten
heutzutage widerlegt und Übergewicht
eben komplex sei. Auf Instagram zeigen
sie mir, dass ich alles tun kann: Achterbahn
fahren, ­Pole­dance tanzen, nackt baden.
Während die Zahl auf meiner Waage im-
mer weiter in die Höhe kletterte, hat sich
auch etwas um mich herum verändert.
Dicke Menschen tauchten in Filmen und
in der Werbung auf. Ein Curvy-­Model ge-
wann zum ersten Mal bei Germany’s Next
Topmodel, Ashley Graham und ­ Paloma
­Elsässer blickten mir vom Cover der ­Vogue
entgegen. Selbstliebe-Ratgeber werden
Best­­seller, body positivity an jeder Ecke.
Ich kann das auch alles nachvollziehen – in
meinem Kopf. Fühlen kann ich es nicht.
Trotzdem bin ich jedem Menschen dank-
bar, der nicht dem sogenannten I­ deal ent-
spricht und sich öffentlich zeigt. Mehr
Leute wie mich in den Medien zu sehen
hat mich verändert. Ohne sie würde ich
diesen Text gar nicht schreiben können.
Doch ich kann nicht sagen, ich liebe mich,
wie ich bin – das wäre wieder gelogen und
nicht nur, weil ich weiß, dass jedes Kilo
weniger meiner Gesundheit helfen würde.
In der Debatte um body positivity habe ich
meine Perspektive immer vermisst. Jeman-
den, der sich selbst nicht mag und das Ge-
fühl hat, sowohl beim Abnehmen als auch
bei der Selbstliebe zu versagen. Für die ei-
nen bin ich faul, weil ich keine Diät schaffe.
Für die anderen bin ich feige, weil ich mei-
nen Körper nicht so akzeptiere, wie er ist.
Wie komme ich da raus?
Vor einigen Wochen flog ich nach Buda­
pest. Ich hatte einen Mittelplatz, und als
ich mich anschnallen wollte, ging der
Gurt nicht zu. Ich überlegte erst, ihn unter
meinem Pulli zu verstecken. Doch dann
hob ich einfach den Arm. Eine Stewardess
kam, lächelte freundlich und holte mir
diskret eine Gurterweiterung. Meine Sitz-
nachbarn blickten nicht mal auf. Dieser
Moment war anders als das, was ich sonst
kannte: Ich schämte mich nicht.
Da habe ich endlich begriffen, dass ich
Teil des Problems bin, wenn ich schweige
und so tue, als sei alles okay. Damit ver-
hindere ich nicht nur, dass Dinge ein-
facher werden. Und wenn ich mich hinter
meinen Lügen verstecke, werde ich zudem
unsichtbar für alle, die sich auch alleine
fühlen. Die sich vielleicht auch nicht lie-
ben können, wie sie sind.
Übergewicht, so die Forschung, bestimmt
die Identität stärker als das Alter oder das
Geschlecht. Und oft machen sich dicke
Menschen selbst am meisten fertig. Sie
glauben, sie hätten es verdient, diskrimi-
niert und gedemütigt zu werden.
Viel zu lange habe ich mich gegen meine
Wahrheit gewehrt: Ich bin fett, und ich
würde gerne Gewicht verlieren, mich än-
dern. Aber auf dem Weg dorthin möchte
ich mich mögen – und dafür wäre es hilf-
reich, wenn wir uns alle ändern würden,
verständnisvoller mit­ein­an­der umgingen
und das Narrativ, dass Dicke Versager
sind, nicht weitertragen. Uns gegenseitig
mehr so akzeptieren, wie wir sind.
Das mit der Selbstliebe wird dann b­e­
stimmt auch leichter.

2.11.23  N0 46
 M ÜNC HE N • AM STE RDAM • A NTW ERP EN





M ache d iesen Herbs t z um b es t en a l l er Ze i t en mi t M R M A R VI S . B e su c h e e i n e n e u e St ad t o d e r e n t d e cke d i e N at u r. Zi e h D i c h

w ar m an und g enieße di e bu n t e Ja h re s z e it i n un se re n H o se n , J ean s, H e m d e n u n d St r i c ko b e r t e i l e n. E r h äl t l i c h i n D ei n en
L iebling sfa rben. Sh oppe j e t z t a u f m rm a rv i s . de
STIL Scheint so schön: Glitzersakko von Emporio Armani

Von Tillmann Prüfer Foto Peter Langer

DAS BLITZT
Für Männer ist es nicht einfach, sich modern
zu kleiden. Wer sich zurückhaltend anzieht, also
vielleicht alles in Schwarz, Grau und Dunkel-
blau hält, der sieht sich schnell dem Vorwurf
ausgesetzt, er wage nichts. Wer jedoch einmal
etwas wagt und beispielsweise ein glitzerndes
Sakko trägt, der muss sich weit Schlimmeres an-
hören. Denn wer glitzert, der gilt als geckenhaft,
vielleicht sogar übergeschnappt, auf jeden Fall
unseriös. Ganz besonders betrifft dies das Busi-
ness-Umfeld. Man kann heute mit Turnschuhen
und Kapuzenpullover einen Mil­liar­den­kon­zern
führen und das den Leuten als cool und irgend-
wie locker verkaufen. Man kann das aber nicht in
einem mit Pailletten besetzten silbernen Hemd
tun, wie es in der Kollektion von Gucci für den
kommenden Frühling offeriert wird. Würde ein
Topmanager eine Bilanzpressekonferenz in schil-
lerndem Jackett betreten, würde er sich dem
Verdacht aussetzen, dass er von irgendetwas ab-
lenken will. Der nachlässig gekleidete Mann hin-
gegen, der so herumläuft, als hätte er morgens
eher zufällig etwas aus dem Wäschekorb gezogen,
erscheint uns glaubhafter und seriöser als der auf-
fallend gekleidete Mann.
Diese Erkenntnis ist reichlich deprimierend.
­Warum ist das bloß so? Offenbar nehmen wir an,
dass der Mann, der sich nicht besonders um sein
Äußeres schert, sich stattdessen umso mehr um
alles andere kümmert. Dass also der ungepflegte
Mann, dem es völlig egal ist, wie er auf andere
wirkt, die Zeit, die er sonst vor seinem Kleider-
schrank verbringen würde, ganz wichtigen ande-
ren Dingen widmet: allerlei Innovationen, den
Zahlen seines Unternehmens oder auch seiner
Familie, vielleicht seinem Hund. Und weil er mit
alldem voll ausgelastet ist, hat er eben keine Zeit
für Äußerlichkeiten.
Interessanterweise passieren solche Übertragun-
gen vor allem bei Mode. In anderen Bereichen
würde man nicht unbedingt davon ausgehen,
dass Desinteresse jemanden zu einem besseren
Menschen macht. Wir würden nicht glauben,
Foto NEW TENDENCY
dass ein Politiker besonders gut für sein Amt ge-
eignet ist, weil er keine Zeit damit verschwendet,
Bücher zu lesen. Man würde nicht vermuten, dass
ein Manager, der überhaupt keine Zeit mit seinen
Kindern verbringt, dann sicher umso besser ma-
nagt. Nur bei der Kleidung belohnen wir Nach-
lässigkeit mit Vertrauen.
Aufgezeichnet von ELENA LYNCH
Dabei wäre es doch viel wahrscheinlicher, dass
ein CEO, der eine mit Bedacht ausgewählte
schillernde Jacke trägt, auch mit großer Sorgfalt
über die Cor­ po­rate Identity seines Unterneh-
mens wacht. In den aktuellen Kollektionen, etwa
bei Etro oder Emporio Armani, gibt es etliche
Glitzersakkos. Es fehlen jetzt nur noch die ­Män­
ner, die sie mal ausprobieren.
OHNE STROM 87
Mirko
Borsche,
Creative
Director
des ZEIT­-
magazins,
testet
jede Woche
einen neuen
Alltags­
gegenstand
HOCKER
AYO STOOL
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TENDENCY
Material:
Eichenholz;
Maße:
35 x 35,5 x
45 cm;
Preis: 480 Euro
Zu Hause habe ich einen runden Esstisch aus Edelstahl von den
italienischen Designern NM3. Die Ecken der dazugehörigen Ho-
cker sind etwas spitz, sodass sie einem beim Sitzen in die Ober-
schenkel stechen. Das ist schmerzhaft, suboptimal und alles an-
dere als das, was eine Sitzgelegenheit eigentlich bieten sollte. Und
dann wiegen die Hocker auch noch je zehn Kilogramm. Na ja.
Das passiert mir manchmal: Ich verliebe mich in etwas, weil mir
das Stück gut gefällt, ahne aber, dass es sich eigentlich eher für
eine Ausstellung als für den Alltag eignet. Und dann denke ich
bei jedem Frühstück und Abendessen: Mist, ich muss mich auf
diesen Hocker setzen. Auch wenn das Ar­range­ment von Tisch und
Hockern absolut großartig aussieht, suchte ich nun also nach einer
neuen Sitzgelegenheit.
Vielleicht die Holzhocker aus dem Büro? Die Ayo Stools vom Ber-
liner Studio New Tendency würden gut zu meinem Tisch zu Hause
passen, weil deren Design so brachial ist: Die Sitzfläche der Hocker
ähnelt, von oben betrachtet, einem breiten Fahrradsattel. An drei
Stellen sind Beine angebracht. Diese stehen als kleine Quadrate von
der Sitzfläche ab, sodass man aufpassen muss, wie man sich hinsetzt,
weil einem sonst wieder etwas Eckiges in die Oberschenkel sticht.
Hat man sich aber erst mal richtig auf dem Hocker ausgerichtet,
sitzt man ge­erdet und aufrecht. Überhaupt halten Hocker mich
dazu an, aufzustehen und mich zu strecken, wenn mein Rücken
müde ist. Bei einem Stuhl mit Lehne würde ich irgendwann in mich
zusammensacken, meine Wirbel gekrümmt statt schön auf­ein­an­
der­ge­sta­pelt. Daher kommen Stühle mit Lehnen für mich nicht in-
frage. Zumal der Tisch, versteckt in einem Wald aus Lehnen, nicht
mehr zur Geltung käme. Ich bin ein großer Hockerfan.
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Hamburg
 LEXIKON DER LIEBE
»Mit ihm fühlte sich alles erwachsen an«
Mel*, 28: »Ich war gerade 16 geworden und nahm einen
Schülerjob in der Schokoladenfabrik an: Ich verpackte­ sehr unerfahren und jung.
Gelee-Bonbons und Pralinen, faltete Pappschachteln und
klebte Etiketten darauf. Einer aus der Gruppe von uns Jün-
geren in der Fabrik war Mark. Er war drei Jahre älter als ich
und trug zum Arbeiten stets einen Skater-Kapuzenpullover.
Mit ihm war es lustig und irgendwie aufregend. Einmal
*Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt
schütteten wir heimlich statt einer Sorte Pralinen unter-
schiedliche Mischungen auf das Fließband. Das war das
Geheimnis, das uns zusammenschweißte.
Nach einiger Zeit verabredeten wir uns als Gruppe in einer
Leipziger Bar. Ich trank einen Cocktail, Mark und ich­ ich meine Beziehung mit Mark. Ich hatte mich in Frankreich
kicherten und flirteten, mein Herz flatterte. Danach trafen
wir uns regelmäßig und küssten uns zum ersten Mal.­ tierte meine Entscheidung mit viel Verständnis. Die süße­
Meine erste Liebe. Wir verreisten zusammen, schliefen
miteinander und lernten unsere Familien kennen. Meine
Oma nannte ihn den ›Schokoladenprinzen‹. Mit ihm fühlte
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Wenn Sie uns etwas über die
Liebe erzählen wollen, schreiben
Sie uns an liebe@zeit.de
sich alles erwachsen an, doch eigentlich waren wir noch
Später, als ich während meines Studiums für ein Jahr nach
Frankreich ging, entdeckte ich eine völlig andere Welt. Ich
wollte dieses Abenteuer so frei wie möglich erleben und war
neugierig darauf, Franzosen zu daten. Mark und ich ­öffneten
unsere Beziehung, verloren damit aber auch den Draht­
zueinander. Mit ihm verband ich mein altes Leben, die­
Gewohnheit und auch Langeweile. In dieses Leben wollte
ich nicht mehr zurück.
Am Tag nach meiner Rückkehr nach Deutschland beendete
verliebt und wollte einen Schlussstrich ziehen. Mark akzep-
Erinnerung an unsere erste Beziehung bleibt, und wenn wir
uns heute treffen, ist da noch immer diese alte Leichtigkeit.«
Aufgezeichnet von Cynthia Cornelius
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6
einfachen, aber
5
n Rei se-Tipps und
4
3
a b c d e f g h
Im November 2022 gab es in Ebersberg die Ausstellung Schach
und Musik, wovon ein herrlicher Katalog kündet. Darin berich-
tet der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel García Már-
quez in der spanischen Zeitung El País 1981 tief beeindruckt
vom österreichischen Pianisten Paul Badura-Skoda. Dieser hatte
nach einem Konzert in Bogotá in der Nacht zuvor drei Stunden
geübt, vier Stunden Fernsehaufnahmen hinter sich gebracht
und bei einem üppigen Mahl mit vielen Weinen kräftig zuge-
langt. Nun war ihm nach einem Schachpartner. Man fand B ­ oris
de Greiff, einen der besten Spieler Kolumbiens, der ihn um
19 Uhr im Hotelzimmer bei der Analyse einer kurz zuvor ge-
spielten Partie des Kandidatenwettkampfs Viktor Kortschnoi
gegen Robert Hübner in Meran überraschte. Boris de Greiff:
»Dieses Zimmer ähnelte mehr dem eines Schachspielers als ei-
nes Musikers. Da war keine einzige Partitur, stattdessen Schach-
bücher und ausgeschnittene Schachspalten der Londoner ­Times
und der New York ­Times.« Die Schlacht über vier Partien ­dauerte
sechs Stunden, um drei Uhr morgens begannen sie die Partien
Jetzt 25 % zu analysieren. García Márquez endet seinen Bericht so: »Allen
Zeugen dieser Nacht blieb der Eindruck, dass Badura-Skoda,
sparen! einer der außergewöhnlichen Pianisten unserer Zeit, in Wirk-
2 Ausgaben lichkeit ein Schachspieler ist, der nur Klavier spielt, um leben zu
für nur 16,50 € können.« Mit welcher petite combinaison glich Kortschnoi als
Weißer am Zug seine Auftaktniederlage aus?
Lösung aus Nr. 45: Mit welchem Königsangriff kam Schwarz am Zug in
entscheidenden Vorteil? Nach 1...Sh4! 2.f3 (2.Kf1 Dxg2+ verliert auch) Dg6
entschied die Doppeldrohung gegen g2 und f3. Nach 3.Td2 (auch 3.g3 Sxf3+
4.Kf2 Se5! war hoffnungslos) Sxf3+ 4.Kf2 Sxd2 5.Lxd2 Df5+ gab Weiß auf
Impressum EDITORIAL DIRECTOR Christine Meffert, Annabel Wahba
Christoph Amend CHEFREDAKTION BILDCHEFIN Milena Carstens
Sascha ­Chaimowicz, Emilia BERATER (BILD) Andreas Wellnitz
Smechowski STELLVERTRETENDE STYLE DIRECTOR Claire
CHEFREDAKTION Anna Kemper, Beermann REDAKTIONELLE
Tillmann Prüfer CREATIVE DIRECTOR KOORDINATION Margit Stoffels
Mirko Borsche ART DIRECTOR REDAKTION Amelie Apel, Jörg
Jasmin Müller-Stoy TEXTCHEFINNEN Burger, Johannes Dudziak, Alard
 LEBENSGESCHICHTE SCRABBLE SPIELE

Reichtum schenkt ein sorgenfreies Leben. Aber macht er auch

auto­ma­tisch glücklich? Die oft gestellte Frage würde jene Frau, die
mit 18 ein Vermögen erbte, heute vielleicht mit »Jein« beantwor­
ten. Denn einerseits hat sie, wie sie in ihrer Autobiografie schrieb,
als »befreite Frau« viel gewagt und »alles gelebt« – andererseits aber
blieb ihr eine dauerhaft glückliche Beziehung verwehrt. Vermutlich
verliebte sie sich in die Falschen, die sich mehr für ihr Geld als für
sie als Menschen interessierten, so wurde es zumindest von Zeit­
genossen überliefert. Sie selbst bezeichnete sich später freimütig als
Nymphomanin, was nahelegt, dass sie allein bestimmte, mit wem
und wann eine Affäre begann oder endete. Hingegen interpretier­
ten (Küchen-)Psychologen ihre Suche nach Anerkennung und Lie­
be als den unbewussten Versuch, den frühen Verlust des Vaters – er
starb auf hoher See – zu kompensieren. Ungeachtet ihres unsteten
Privatlebens, dem sie den Ruf als »schwarzes Schaf« in der betuch­
ten Verwandtschaft verdankte, engagierte sie sich zielstrebig als
­Förderin von Kultur und Avant­garde und setzte damit bewusst eine
familiäre Tradition fort. In einer Zeit ständiger Bedrohung durch
Gewalt und Tod gelang es ihr, jenen Besitz, der ihr am Herzen lag,
vor der Zerstörung zu retten und für die Welt zu bewahren. Ihr
Vermächtnis kann man bis heute in einer viel besuchten Stadt im
Süden bewundern, in der sie ihr letztes Lebensdrittel verbrachte Doppelter Wortwert
und auch begraben liegt. Wer war’s? Doppelter Buchstabenwert
Lösung Nr. 45: Sven Plöger, geboren 1967 in Bonn, ist der wohl bekannteste Dreifacher Wortwert
Diplom-Meteorologe in Deutschland. Seit 1999 tritt er als Wetterexperte auf, unter Dreifacher Buchstabenwert
anderem in den »Tagesthemen«. Er schreibt Sachbücher zum Klimawandel wie
»Die Alpen und wie sie unser Wetter beeinflussen«. Als überarbeitete und ergänzte
Neufassung seines Bestsellers erschien gerade »Zieht euch warm an, es wird noch
heißer!«. Plöger ist auch als Vortragsredner, Moderator und Dokumentarfilmer tätig
Es gelten nur Wörter, die im Duden, »Die deutsche Rechtschreibung«, 28. Auflage,
verzeichnet sind, sowie deren Beugungsformen. Die Regeln finden Sie im Internet
unter www.scrabble-info.de

SUDOKU Letzte Woche berichtete ich vom jüngsten Scrabble-Turnier und

von der Erkenntnis, dass (fast) jeder (fast) jeden schlagen kann.
Diese Erfahrung teilte auf schmerzhafte Weise auch Ben Berger,
3 1 8 7
der als Ranglistendritter und somit als Favorit an den Start gegan­
7 6 9 8 4 gen war. Bis zur fünften Runde lief es erwartungsgemäß, der Frei­
burger war als Einziger noch ungeschlagen. Doch vier Durchgänge
1 2
später fand sich der dreifache Deutsche Meister auf Platz 14 wie­
2 8 1 der – nach vier Niederlagen in Folge. Berger nahm es mit Humor
Lösung aus Nr. 44 (»So kann’s gehen!«) und beendete den Wettkampf, nachdem er alle
1 5
9 3 8 2 6 1 5 7 4 weiteren Begegnungen gewonnen hatte, immerhin noch als Vierter.
9 5 4 7 2 1 3 4 5 9 8 6 Nachzureichen ist der Name des Gewinners. Erstmals konnte der
6 4 5 7 8 9 3 2 1
Hamburger Christoph Farkas ein offizielles Turnier für sich ent­
2 7 8 9 2 6 1 3 4 5 7
1 7 3 9 5 4 2 6 8 scheiden. Der hier abgebildeten Situation sah ich mich neulich in
5 3 4 9 1 5
2
6
1
4
9
8
4
2
7
7
6
1
8
9
3
3
5
einer privaten Partie mit Annelise Grabbe ausgesetzt. Die Buch­
4 8 7 5 3 2 6 1 9 staben auf dem Bänkchen ließen vermuten, dass ein Bingo möglich
9 8 6 2 3 5 6 1 9 8 7 4 2
sei. Ich brauchte allerdings recht lange, um die Lösung zu finden.
In jeder Zeile, jeder Spalte und jedem mit stärkeren Linien gekenn­zeichneten Lösung aus Nr. 45: Der Zug, den der Deutsche Meister Alexander Dings übersah,
3 × 3-Kasten müssen alle Zah­­len von 1 bis 9 stehen. lautete GRÖBERES und war auf J8–J15 anzulegen. Dank der in Querrichtung
Nächste Woche an dieser Stelle: die Logelei und die Auflösung aus Nr. 45 entstehenden Begriffe ZUG, AIR und YAKS kamen insgesamt 93 P. zusammen

von Kittlitz, Friederike Milbradt, Lena
Niethammer, Khuê Pha.m, Ilka Piepgras,
Jürgen von Ruten­berg; Mitarbeit: Klaus
Stock­hausen (Contri­­buting Fashion
Director) GESTALTUNG Nina Bengtson,
Mirko Merkel, Gianna Pfeifer; Mitarbeit:
Anna Berge, Leon Lothschütz, Jana
Schnell BILD­REDAKTION Nora Hollstein
AUTOR(INN)EN Heike Faller,
Dmitrij Kapitelman, Harald Martenstein,
Jana Simon, Matthias Stolz
KORREKTORAT Thomas Worthmann
(verantw.) DOKUMEN­TATION ­
Mirjam Zimmer (verantw.) ­
HERSTELLUNG Torsten Bastian
(verantw.), Oliver Nagel, Frank
Siemienski DRUCK Mohn Media
Mohndruck GmbH REPRO
Twentyfour Seven Creative Media
Services GmbH ANZEIGEN­
PREISE ZEITmagazin-­Preisliste Nr. 17
vom 1. 1. 2023 ANSCHRIFT
VERLAG Zeitverlag Gerd Bucerius
GmbH & Co. KG, Bucerius­straße,
Eingang ­Speersort 1, 20095 Hamburg;
Tel.: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11;
E-Mail: DieZeit@zeit.de ANSCHRIFT
REDAKTION ZEITmagazin,
Schöneberger Str. 21 A, 10963 Berlin;
Tel.: 030/59 00 48-0, Fax:
030/59 00 00 39; E-Mail: zeitmagazin@
zeit.de, www.zeitmagazin.de
UM DIE ECKE GEDACHT NR. 2718 SPIELE

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14 15 16 17

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20 21 22 23 24

25 26 27 28 29 30

31 32 33 34

35 36 37

Kreuzworträtsel ECKSTEIN
38 39 40 41

42 43

Scrabble SEBASTIAN HERZOG

waagerecht 6 Für den Träger ein – meist
schräger – Bedeutungsträger 10 Wie manch
Bube vor der Herzdame macht’s manch
Früchtchen zur Reifezeit 14 Ausstellungs-
esstisch? Führt Informatives im Schilde
16 Teil-Weise 18 Denken ist eine große ...,
bei der uns, wenn wir uns hineinbegeben,
erlernt bisweilen 39 Die stadtliche ­Hälfte
vom Nichtspieler im Orchester 40 Eine
Form der Speicherung des 4 senkrechts
42 Folgt gemeinhin dem letzten Feierabend
43 Herr über ... zu sein ist köstlich, von
­ihnen beherrscht zu werden, noch köstlicher
(O. Wilde)
woods Schuss im Dunkeln 11 Volksmunds
Erfahrung: Lesen und ... macht klug 12 In
Märchenkönigs Namen: war einmal Kaisers
Aufenthalt wider Willen 13 Guter Tipp für
den Vielbesitzer – werden statt Möbeln aus
dem Möbelhaus getragen typischerweise
15 Chillers Hauptinteresse, und zwar nicht

unablässig etwas geschenkt wird (August
Pauly) 19 Eins der vorrangigsten Stamm-
tischthemen 20 Ein recht spätes Stich-
wort in der Enzyklopädie der Entomologie
21 Verkehrsüblicher Beitrag zum Platz-
da-Konzert? 23 Erzeugt, wie’s heißt, den
Geruch der ewigen Zugehörigkeit 25 Um-
fasst Blätter, aber keine 2 senkrecht 26 Wird
hautsächlich wegen seiner Weißheit ange-
sprochen 29 Steht für fachumfachgerechte
Aufgeräumtheit 31 Credo im Hausmeister-
Krause-Haushalt: Alles für den – und seinen
Club! 33 Gelegenheiten der Bestenermitt-
lung 35 Berüchtigt für Bisschen mit Folgen
36 Sprichwörtlich: ... verdirbt den Genuss
senkrecht 1 Am Waschtag eine Hilfe,
am Einkaufstag ein beliebter Preiszusatz
2 Durchs 40 waagerecht hat man’s darauf
3 Weiter zu reisen wäre vom Weißen zum­
Gelben als vom Schwarzen zum Roten
4 Spielt die Rolle des Pingpongballs beim
6 senkrecht 5 Nicht der Wind, sondern
das ... bestimmt die Richtung (Sprichwort)
6 Wenn viele beisammen sind, ... sie, zwei re-
den, der Einsame denkt (Peter Sirius) 7 Ge-
bäudefabrikation im Pizza-Stil? Nahe-Null-
Marke auf der Exotik-Skala 8 Auch als man
noch keine Unboxing-Videos drehte: Das
bescherte öfter mal inhaltliche Überraschun-
gen 9 Hat das Rad auch nicht neu erfunden,
Sudoku ZWEISTEIN
bei den Gardinen 16 Pflegen stolz zu sein
auf die Abseits-vom-Rande-Lage 17 Das
lässt Gesetze beginnen, Schulden enden
22 Mancher ist so ... und erfinderisch, dass
er ein ... hat und daraus Ertrag 24 Bei der
Lebensgeschichte FRAUKE DÖHRING
geht viel Holz den Bach runter 27 Nicht so
richtig Gute-Laune-Musik 28 So wirken we-
der Holzhammer noch Zaunpfahl 29 Werft-
seits vorgesehen wider unfreiwilliges Von-
Bord-Gehen 30 Zentrale Note im Lobgesang
32 Gegend des Tageslicht-Wiedersehens für
Eurotunnel-Nutzer 34 Der Ursprung der fran-
zösischen Straßenmusik 37 ­Stadtbekanntes
Beispiel für reichlich viel Expansion 41 Der
monarchische Nachname, der den Namens-
Schach HELMUT PFLEGER

38 Heim-Aufgabe häufig, s­chulfachgemäß tut aber so 10 Hieß aber Maria bei Holly- gebern für Saurier-Hoheit in den Sinn kam

Lösung von Nr. 2717: Waagerecht 7 VIELFAELTIG 12 Tenor FRITZ Wunderlich 15 AENDERN 16 »Vor-Gefallen« und VORGEFALLEN 19 Berliner und US-amerikanischer
SENATOR 20 EIGENTOR 21 STAU 23 GELASSENHEIT 26 Wärme pumpen und WAERMEPUMPEN 29 PERLEN 31 LIKE 33 SAMUEL L. Clemens 34 FELGE in Gip-felge-spräch,
Ap-felge-schmack 36 GARAGE 37 LILI in Lili-e 38 GRAL 39 LEEDS 40 Topmodel TONI Garrn 41 SEEREISEN 42 NETZ 43 DOSENSUPPEN – Senkrecht 1 EINSTEIGEN
2 PLENUM 3 KANTE 4 FLORA 5 OFFEN 6 Kaffee-FILTER 7 Vers + Alien = VERSALIEN 8 E + D = EDE 9 FRAGESATZ 10 TRE = drei (ital.), in Tre-sor 11 GEGEN-wind ist Gegen-
teil von Rückenwind 13 (he-)RAN 14 ZERTEILEN 16 VOLUMEN mit Länge, Breite, Höhe 17 Adolphe Adam, »GISELLE« 18 LOI = Gesetz, roi = König (franz.) 22 ARKADEN
24 SPEISEN 25 HELGE Schneider 27 PAGODE 28 MULIS 29 PETRUS 30 LEASEN mit Raten 32 ERST in V-erst-and 34 FIES 35 GRIP in Grip-s
 Juli ist 10 Jahre alt.
Ihr Vater Tillmann
Prüfer schreibt hier im
wöchentlichen
Wechsel über sie und
seine anderen drei
Töchter im Alter von 23,
18 und 16 Jahren
»Ich hab doch gar nichts gemacht!«
Illustration ALINE ZALKO Zu hören unter www.zeit.de/audio
PRÜFERS TÖCHTER
Manchmal streiten Juli und ich. Das heißt, eigentlich streite
ich, und Juli hat nichts gemacht. Juli versteht auch nicht, wa-
rum ich mich so aufrege. Eigentlich könnte alles völlig okay
sein. Die Welt wäre chillig und entspannt. Aber der Vater
regt sich auf. Obwohl Juli nichts gemacht hat. Ich aber habe
schlechte Laune und lasse die an meiner Tochter aus. Und
tatsächlich rege ich mich öfters auf, weil sie nichts macht.
Ein Klassiker des Nichtsmachens ist das Kein-Zimmer-­
Aufräumen, gefolgt vom Nicht-den-Tisch-Abräumen, über-
haupt das Nicht-das-machen-was-Papa-doch-gerade-ganz-
deutlich-gesagt-hat. Ich weiß nicht, woher Juli die Ruhe hat,
einen doch sehr deutlich formulierten Vaterwillen einfach
zu ignorieren. Juli ist dann ein kindgewordenes Bürgeramt,
bei dem man irgendwelche Eingaben machen kann, aber nie
etwas zurückbekommt. Es ist halt irgendwo im Prozess hän-
gen geblieben, in irgendeiner Ablage. Und so eine Ablage hat
auch Juli in ihrem Kopf für meine Anregungen.
Es ist ja auch nicht so, dass Juli sich weigern würde. Viel-
mehr ist es eine Frage der Priorisierung. Sie möchte andere
Sachen zuerst machen. Zum Beispiel sich einen Bananen-
Shake machen. Oder chillen. Juli behandelt mich dann,
als gäbe es keine Faulheit ihrerseits, sondern allenfalls aus­
einandergehende Auffassungen von Dringlichkeiten. Wo-
bei Juli immer anführen würde, dass sie ja grundsätzlich
auch meine Auffassungen von Prioritäten akzeptiert. Ich
habe demnach ein Toleranzproblem, sie hat kein Problem
und sagt: »Ich hab doch gar nichts gemacht!«
Ich würde gerne wie ein Demokrat argumentieren, aber
ich merke, dass ich mich in eine Art Attila verwandle oder
vielleicht eher in den Grinch. Ich zetere und werde laut.
Das macht es nicht besser, denn Juli ist auch nicht schlecht
darin, laut zu werden. Sie wird dann laut, weil ich mich mal
wieder grundlos aufrege. Einfach herummeckere, weil ich
vielleicht einen schlechten Tag habe. Während sie ja nichts
anderes machen wollte, als sich gerade ein bisschen aus-
zuruhen, bevor sie nach einem anstrengenden Tag gleich
wieder anstrengende Sachen machen muss. Ich behaupte
dann, dass ich überhaupt keine schlechte Laune hätte, dass
ich, im Gegenteil, allerbeste Laune hätte – aber natürlich
habe ich längst keine gute Laune mehr.
Juli ist dazu eine Meisterin im Whataboutism. Sie verweist
ständig auf Nebenschauplätze. »Hast du dich etwa noch nie
ausruhen müssen?«, fährt sie mich an. Ich will aber nicht
mit ihr über das Ausruhen an sich diskutieren, sondern
über das Erledigen von kleinen Sachen, die anstehen. Dann
schimpfe ich, dass das ja eine Unverschämtheit sei, welchen
Ton sie hier anschlage, dass ich es niemals gewagt hätte, so
einen Ton meinem eigenen Vater gegenüber anzuschlagen.
Und dass sie sich eigentlich entschuldigen solle für so eine
Anmaßung. »Entschuldigung«, zischt Juli dann. Und sagt:
»Jetzt musst du dich auch entschuldigen.« – »Ich hab aber
gar nichts gemacht, für das ich mich entschuldigen müsste!«,
antworte ich. »Na und? Ich habe mich ja auch entschuldigt,
obwohl ich nichts gemacht habe – dann kannst du dich ja
wohl auch entschuldigen, obwohl du nichts gemacht hast!«
– »Entschuldigung«, knurre ich und traue mich gar nicht
anzusprechen, dass sie die Bananenschalen vom Bananen-
Shake auch noch nicht weggeräumt hat.
Was ich gern früher gewusst hätte 94

Von Gabrielle Zevin

Wenn eine Person online ein

Arsch ist, ist sie wahrscheinlich auch
im echten Leben ein Arsch.

Mit weißen Wänden, bunten

Teppichen und ganz viel Kunst
machst du nichts verkehrt.

Aufwendige Skin-Care-Routinen
verursachen genauso viele Probleme,
wie sie lösen.

Freunde, die dich nie etwas über dich

fragen, sind keine Freunde.

Spar dir deine Beschwerden für das,

was verändert werden kann.

Du musst dich nicht rechtfertigen.

Wenn du lernst, ein Gericht gut
zu kochen, werden die Leute denken,
dass du gut kochen kannst.
Du kannst es zwar versuchen, aber
eine Erfahrung, die nicht deine eigene
ist, wirst du nie wirklich verstehen.
Die Menschen denken nicht annähernd
so viel an dich, wie du glaubst.
Je entspannter du bist, desto besser
läuft es.
Alte Menschen sind nicht so anders
als du. Junge Menschen auch nicht.
Sag großzügig Danke.
Sag Ja – und meine es so.
Sag Nein – und meine es so.
Es ist gut, Fotos zu machen, aber du
musst nicht immer Fotos machen.
Illustration ROBERT RADZIEJEWSKI (Foto Hans Canosa)

Es gibt keinen perfekten Conditioner.
Wenn eine Freundin ein Baby
bekommt, besuch es, auch wenn
du Babys nicht magst.
Es gibt drei Kämpfe, die du
nicht führen solltest, weil der Gegner
einfach zu mächtig ist: 1. Gegen
deinen Körper. 2. Gegen deine Haare.
3. Gegen die Zeit.
Online-Bewertungen sind
Geschichten, die genauso viel über
ihre Verfasser erzählen wie
über das, was bewertet wurde.
Wenn du verzeihen kannst, tu es.

Hier verraten jede Woche Prominente, was sie erst spät begriffen haben. Gabrielle Zevin, 46, ist eine ­US-amerikanische
Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Sie veröffentlichte mehrere internationale Bestseller. Zuletzt erschien ihr
Roman »Morgen, morgen und wieder morgen« (Eichborn Verlag)
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