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Ausgabe 02
April – Juni 2023
Nr. 172
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einem Dilemma
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Liebe Lesende!
Editorial
Aufgrund der rasant
steigenden Papier-
und Energiepreise,
sahen wir uns
genötigt, den Preis
des Magazins ge-
ringfügig anzuheben.
Wir danken für Ihr
Verständnis.
Von Natur aus sind wir anders als alle anderen, und dennoch
haben wir eines gemeinsam: anders sein zu wollen als alle anderen.
Aber während wir – zurecht! – körperliche Andersartigkeit immer mehr zu akzeptieren haben, wird ge-
dankliche Andersartigkeit immer weniger akzeptiert. Dürfen Mediziner nicht immer weniger Impfungen
infrage stellen oder Homöopathie befürworten? Oder welcher Wissenschaftler darf noch behaupten, dass
es in der Biologie zwei Geschlechter gebe? Würde ich Klimawandel und Russland alleine in diesem Zu-
sammenhang erwähnen, wären ich und dieses Editorial wohl schon auf verschwörungsideologischem
Glatteis.
Auf der Website der Deutschen Forschungsgemeinschaft war folgendes Statement des Kabarettisten Die-
ter Nuhr zu lesen: „Wissenschaft ist keine Heilslehre, die absolute Wahrheiten verkünde, sondern ein
Verfahren, das Fragen stelle, Fakten prüfe, Erklärungen suche – und sich bewusst sein müsse, dass die
Resultate nur so lange gälten, als sie nicht widerlegt seien.“ Wohlgemerkt war! Es wurde auf Druck in
den sozialen Netzwerken gelöscht. Nuhr verharmlose damit Corona und sei ein Klimaleugner! Zurecht
warnt die Politologin Ulrike Ackermann in ihrem 2021 erschienenen Buch „Die neue Schweigespirale“
vor dieser Art neuer Redeverbote.
Um nicht wieder einmal in der Geschichte hinter die Aufklärung in ein geistiges Mittelalter zu stürzen,
helfen die bekannten Worte des großen Aufklärers Voltaire: „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht,
aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen“, meint
PhiloSpirit PhiloSociety
12 26
AndersSEIN INTERview: Alien Girl
Ausweg aus einem Dilemma Die junge Sängerin Tygapuss – Anna
Gette – kämpft um ihre Identität
16 NACHDENKEN
Anders sein möchte jeder … 29
PhiloPOEM
18 Hundekönig
Der Zeit ein Schnippchen schlagen
Wie man sie durch Bilder tiefer 30
verstehen lernt Anders-Sein! Gentle-Sein!
Oder die Rückkehr von Idealen?
22
Dialog mit Sophia 33
12
Über die Scham Lifestyle:
AndersSein
Gemeinsam Individualist sein
Ausweg aus
einem Dilemma
PhiloScience
34
ΘHINK GREEK (9): ΛΌΓΟΣ
Die Partitur der Welt
36
34
Gaia Kolumne
Hat die Erde eine Seele? Christoph Quarch
41
24. April – Tag der Erde
42
Die vier Schlüssel
der Wirkungskraft
Ein philosophisches
36
Gaia Allround-Werkzeug
Hat die Erde
eine Seele?
48
Alles Gute zum
100. Geburtstag,
Siddhartha!
PhiloArt PhiloSophics
46 56 PhilosophischREISEN
EINBlick: Bis zur Welt der Ursachen Wie ich mein Herz in Ecuador
Gabriele Münter an der Spitze des gefunden habe
deutschen Expressionismus
62 PhilosophischREISEN
47 NACHDENKEN:
Photo 134530405 / Earth © 7xpert, Illustration 204162436 © Jrcasas, Photo 3288734 © William Casey | Dreamstime.com, QUARCH © Ulrich Mayer
48 65 NACHDENKEN
Alles Gute zum 100. Geburtstag, Mehr als andre pflegt man
Siddhartha! die zu meiden ...
52 66 SYMBOLISCHES
Der Mensch ist nur da wirklich Blühen, leben und sterben 70 GESUNDSEIN
Mensch, wo er spielt Was ein Kelch alles in sich birgt Wabi-Sabi
Ein poetopathetischer Die Freude liegt nicht in den Dingen,
Annäherungsversuch 69 LESERBRIEF sondern in uns selbst
72 PHILOSTORY
Der Verrückte
Eine Geschichte vom Anderssein
42
Die vier Schlüssel 74
der Wirkungskraft Eine Frage noch
Ein philosophisches Kommt es immer anders,
Allround-Werkzeug als man denkt?
2 Abo Service
3 Editorial
6 Contributors
7 Ein Gedanke
8 Good News
10 Erlesenes
61 PhiloPraxis
68 Rätsel & Spaß
75 Vorschau
UTOR
„Anders“ kann man auf eine indogermanische Komparativ- die Verwendung von „der Zweite“ abgelöst. „Anderthalb“ hat
bildung „an“ zurückführen, die mit „dort“ übersetzt werden früher so viel wie das „zweite Halbe“ von einem Ganzen be-
kann. deutet. Für ein Ganzes braucht es zwei Hälften; die dürfen
„Dort“ weist auf eine Entfernung hin, auf etwas, das in einer einander aber ruhig auch fremd sein; ja, das macht genau den
Distanz zu uns steht. Reiz aus, wenn wir das Yin-Yang Symbol betrachten.
„An“ bedeutet „uns entlegen“ und „ungewöhnlich“. Der, die Eine alte chinesische Redensart lehrt, dass alle Weisheit da
oder das Andere war aber nicht immer so anders, wie man heu- beginnt, wo wir dem anderen sein Anderssein verzeihen und
te meinen mag. „Ander“ wurde im Neuhochdeutschen durch – man könnte es auch weiter wagen – es uns sogar bereichert.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Giordano_Bruno.jpg https://johnpwalshblog.com/2014/10/01/god-cherishes-simplicity-saint-therese-of-lisieux-french-1873-1897/
ZAKI
Ein Projekt, das Hoffnung schenkt!
Zaki bedeutet auf Paschtu „clever, schlau“. Und das
war auch Zahir Shah. Als er 2015 als 19-Jähriger aus
Afghanistan in Tirol ankam, fand er dank seiner offenen,
freundlichen Art schnell Unterstützung von Einheimi-
Giordano
schen. Er lernte die deutsche Sprache und konnte nach
Erhalt seiner Aufenthaltsgenehmigung eine Lehre als
Raumausstatter im Stubaital antreten.
Bruno
Dankbar für all diese positiven Erfahrungen, war es ihm
ein Bedürfnis, Mädchen und Buben in seiner Heimat
zu unterstützen, ihnen Zugang zur Schulbildung zu
ermöglichen und auch sonst ihre Lebensbedingungen
zu verbessern. In Gudrun Krall und Christoph Bierwirth
fand er zwei engagierte Mitstreiter, und so erfolgte Ende
– live im Interview
2021 die Gründung des gemeinnützigen öffentlich-
Sind wir Menschen alle gleich?
rechtlichen Vereins Zaki, der in Zahirs Heimatprovinz
In jedem Menschen, in jedem Individuum betrachtet sich eine
Nangarhar tätig ist. Vor Ort sorgen die beiden Lehrer
Welt, ein Universum. Der Mensch ist das, was er sein kann; aber
Najibullah Bezar und Dawa Khan Manapal dafür, dass er ist nicht alles das, was er sein kann.
alle Vorhaben professionell umgesetzt werden.
So konnten im letzten Jahr bereits viele Ideen verwirk- Das haben Sie wunderschön ausgedrückt …
licht werden. Sogar ein Brunnen wurde gebohrt und ein Man kann aber einen Baum nicht nach der Güte seiner Blätter
Feldprojekt gestartet. einschätzen, sondern nur nach der Güte seiner Früchte.
Informationen und Spendenkonto:
https://zaki-foundation.jimdofree.com/ Sie waren mit Ihrem Leben ein unglaubliches Beispiel an Mut
und Standhaftigkeit, die eigene Wahrheit gegen eine Über-
macht zu verteidigen.
Die allgemeine Meinung ist nicht immer die wahrste. Und die
Inquisition fürchtete sich mehr, mein Urteil zu sprechen, als ich
es empfangen habe.
Giordano Bruno (Januar 1548 – 17.2.1600) war ein italienischer Naturphilosoph und
Astronom mit einem über das kopernikanische Modell hinausgehenden, modernen
Bild vom Universum, der von der römischen Inquisition wegen angeblicher Ketzerei
und Magie zum Tode verurteilt wurde.
Hefe statt
Zum NACHdenken
auf Seite 47
Rohöl
Auf dem Weg zu erneuerbaren Kunststoffen
Forscher des Austrian Centre of Industrial Biotechnology
(acib) und der BOKU Wien fanden einen Weg, mithilfe einer
optimierten Hefe das Treibhausgas CO2 als Rohstoff für die
Produktion von Bioplastik einzusetzen.
Zu einer der größten Zukunftshoffnungen bei der Entwicklung von CO2-neu-
tralen oder sogar CO2-negativen industriellen Prozessen zählt die moderne
Biotechnologie. Vor wenigen Jahren konnte eine Arbeitsgruppe rund um
Diethard Mattanovich eine CO2-produzierende, heterotrophe Hefe namens
Komagataella phaffii so modifizieren, dass sie ihre Biomasse gänzlich aus
Film:
CO2 aufbauen kann. „Nun sind wir noch einen bedeutenden Schritt wei-
tergekommen: Wir konnten Ausgangsstoffe für industrielle Produkte wie
Sara Mardini –
Bioplastik, Polymere oder Absorptionsmittel aus CO2 produzieren, indem wir
weitere Gene aus Milchsäurebakterien und Schimmelpilzen in die modifizier-
Gegen
te Hefe eingebracht haben“, erklärt Diethard Mattanovich. Diese bahnbre-
chende Arbeit wurde kürzlich in der Fachzeitschrift „The Proceedings of the den Strom
National Academy of Sciences (PNAS)“ veröffentlicht.
Siehe unter: https://scilog.fwf.ac.at/kultur-gesellschaft/15969/die-krone-wa- Fortsetzung des Netflix-
Dramas „The Swimmers“
eigenen Weg NICHT STEHEN ZU wird Sara gegen Kaution freigelassen. Aber
Sara Mardini gibt nicht auf und kämpft um
Dieses bunte Buch ist für Kinder, Wie Hannah Arendt, Adorno & Co. das Warum Dinge wegwerfen, wenn man sie
Jugendliche wie auch Erwachsene Denken revolutionierten. reparieren kann? Warum Gelder anhäu-
geschrieben. Es erklärt die unterschied- Das Café Laumer in Frankfurt/M. wurde fen, statt sie gewinnbringend mit anderen
lichen Aspekte des Weiblichen in den im Sommer 1930 zum illustren Treff- zu teilen? Wer hätte gedacht, dass kluge
verschiedenen Kulturen mit vielen punkt der Anhänger des Instituts für Mittel zur Nachhaltigkeit im Mittelalter
Bildern und eröffnet einen mannigfalti- Sozialforschung. Hier trafen sie auf den zu finden sind? Und vor allem: Lebten
gen Zugang zum Heiligen. Kreis um Karl Mannheim und Norbert die Menschen vor dem Kapitalismus
Gerade heute ist es wichtig, diese ver- Elias. Bei aller Gegensätzlichkeit in der wirklich in einem Jammertal aus Not und
schiedenen weiblichen Facetten Argumentation, eines war Konsens: In Elend? Die Historikerin Annette Kehnel
aufzuzeigen, die ihre Tiefe in den vier der Soziologie sah man die neue Königs- reist ins vermeintlich finstere Mittelalter
Elementen, der Natur, im Tierreich wie disziplin. Die tradierte, luftige Philo- und zeigt, was sich aus der Geschichte
auch in Liebe/Weisheit und Energie/ sophie wanderte ins Archiv überlieferter der Menschheit für die Zukunft jen-
Leben haben, ohne das Männliche Transzendentalität. Das Buch von Wolf- seits von Gewinnstreben, Eigennutz und
auszuschließen, sondern es vielmehr gang Martynkewicz verfolgt die Lebens- Naturzerstörung lernen lässt. Kehnel legt
miteinzubeziehen. wege der prominenten Diskutanten des wahrlich erstaunliche Erkenntnisse frei
Es sind nicht alle Details symbolisch „Kränzchens“ von ihren Anfängen über und zeigt, dass sie sogar praktikabel sind.
und philosophisch ganz korrekt, aber als das Exil bis in die junge Bundesrepublik Teilen, tauschen und nachhaltig handeln:
gesamtes Werk ist es zu empfehlen, denn und führt anschaulich vor Augen, wie die Eine Reise in unsere Vergangenheit, die
die Geschichten über Göttinnen verdie- Revolutionierung der Lebensart mit der Lust auf Veränderung macht.
nen es, erzählt zu werden. Revolutionierung des Denkens einher- Einzige Voraussetzung: Umdenken ist ein
Ein Buch, das verzaubert und bestärkt. ging. Ein wirklicher Lesegenuss! Muss!
Empfohlen von Brigitte Zettl Empfohlen von Alexander von der Decken Empfohlen von Alexander von der Decken
Empfohlen von Mathilde Wolf Empfohlen von Emilie Gatouillat Empfohlen von Barbara Fripertinger
Anders
Sein
Ausweg aus
einem Dilemma
Wer bin ich eigentlich? Bin ich einer,
der Lieder singt? Oder bin ich ein Lied,
das sich selber bringt? Der Fluss fließt,
das ist sein Geschäft, ich schwöre, ich
habe nie mit der Meute gekläfft.
TEXT Hannes Weinelt
W
er bin ich eigentlich, DAS DILEMMA MIT DEM ANDERS-SEIN
fragt André Heller in Anders sein ist heute fast ein Muss.
seinem gleichnami- Denken wir an Stars, Politiker und
gen Lied. Jedenfalls sonstige Inszenierungsjunkies. Denken
einer, der nie mit wir an Marken, an Moden, an Werbung.
der Meute gekläfft hat. Jedenfalls anders! Wer oder was nicht anders ist, geht in der
„Normal“ ist heute beinahe ein Schimpf- Masse unter. Genau deshalb träumen
wort. Wer möchte schon normal sein? wir alle davon, etwas Besonderes zu sein,
Aber sagen Sie umgekehrt jemandem, er irgendwie speziell, zumindest interessant.
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sei nicht normal ... Ein Widerspruch? Ein Und wenn wir es nicht sein können, dann
Dilemma! Wir wollen weder normal noch träumen und leben wir es beim Klatsch-
abnormal sein. Was wir „normal“ nennen, Kolumnen-Konsum. Aber wir wollen
ist ein Produkt von Verdrängung, Verleug- auch dazugehören. Wir wollen Teil sein. — „Normal“ ist heute
nung, Isolierung, Projektion, Introjektion Teil unserer Familien, der Gesellschaft, beinahe ein Schimpf-
und anderen Formen destruktiver Aktion des Klubs, Teil jener Clique oder Grup- wort. Wer möchte
gegen Erfahrung. So Ronald D. Laing, pe, die wir gut finden. Dazu unterwerfen schon normal sein?
Aber sagen Sie um-
britischer Psychiater und gleichzeitig Be- wir uns der jeweiligen Norm, denn sonst
gekehrt jemandem, er
gründer der antipsychiatrischen Bewe- drohen Ablehnung und sogar Ausschluss. sei nicht normal …
gung. Klingt ebenfalls widersprüchlich. Kindergärten, Schulen, Universitäten Ein Dilemma!
Anders sein
möchte jeder …
…, aber wehe ihm, er wird Viele lehnen das Fremde ab, weil es die
Frage nach dem eigenen Lebenssinn aufwirft.
dabei anders anders, als Andreas Bechstein (*1984), Gelegenheitsaphoristiker
noch weit ab vom Wege zur Weisheit. Alois Essigmann (1878 – 1937), Schriftsteller
NACHdenken
SPIRIT
Essay
Der SPIRIT
Zeitein
Schnippchen
schlagen
Wie man sie durch
Bilder tiefer verstehen lernt
In der europäischen Renaissance des 15. Jahrhunderts
erblühen nicht nur Kunst und Wissenschaft zu neuem
Leben, auch das antike astrologische Wissen ist wieder
omnipräsent. Der Palazzo Schifanoia in Ferrara, Italien,
wartet dabei mit einem ganz besonderen Detail auf.
TEXT Walter Krejci
N
eben dem Epizentrum Der Bilderzyklus umfasst die zwölf Mo-
Florenz war das Städtchen ständlichkeit, die natsbilder bzw. Tierkreiszeichen und füllt
https://de.wikipedia.org/wiki/Borso_d%E2%80%99Este#/media/Datei:Borso_d‘Este.jpg
https://de.wikipedia.org/wiki/Monatsbilder_im_Palazzo_Schifanoia#/media/Datei:Maestro_dagli_occhi_spalancati_-_Allegory_of_June_-_Triumph_of_Mercury_-_WGA23125.jpg
Wagen. (Element spezielle Qualität.
Luft) Darunter sieht
man neben den ÄGYPTEN: WIEGE DER ASTROLOGIE
Monatsdekanen Das abendländische Wissen über Astro-
das Sternzeichen
logie und Astronomie, den zwei untrenn-
des Juni, den Krebs.
baren Elementen eines einheitlichen
Weltverständnisses, geht auf Claudius
Ptolemäus aus dem 2. Jahrhundert in Ale-
xandrien zurück. Mit seinen beiden Wer-
ken „Almagest“ und „Tetrabiblos“ fasste
der alexandrinische Astronom-Astrologe
das antike Wissen seiner Vorgänger und
eigene Erkenntnisse zusammen. Diese
Standardwerke blieben Referenzpunkt bis
in die Neuzeit. Erst die „Kopernikanische
Wende“ des 16. Jahrhunderts löste sein
geozentrisches Weltbild ab, an dem bis
Quellen aus Ägypten und Mesopotamien einzelnen Figuren im Zeitablauf erforscht Essay
mischten. Auch außerhalb des mediter- zu haben.
ranen Kulturraumes gab es umfassende Aus dem langen Weg des Wissenstransfers SPIRIT
Betrachtungen des Himmels und seiner sollte noch der hellenistische Astrologe
Vorgänge, wie zum Beispiel die englischen Teukros (vermutlich 1. Jahrhundert) er-
Steinkreise (Stonehenge, Avebury) oder wähnt werden. In seiner „Sphaera bar-
die deutsche Himmelsscheibe von Nebra barica“ tauchen die Dekane ebenso auf
belegen. wie später bei dem Arzt, Philosophen und
Magier-Astrologen Pietro d´Abano (1250
Aus Ägypten speziell nun stammt das – 1316). Der Neuplatoniker d´Abano
Wissen über die Einteilung der 30 Tage hatte die Kenntnis von den Dekanen aus DIE PHILOSOPHIE DER ASTROLOGIE
eines Monats in drei Abschnitte von je arabischen Quellen für die westliche Welt Der Palazzo „Schifanoia“ sollte, so sein
zehn Tagen, die durch eine eigene Quali- gerettet. ursprünglicher Name, vor Langeweile
tät, einen „Dekan“, gekennzeichnet sind. Die islamischen Gelehrten hatten generell schützen. Dies gelang gut bis ins nüchter-
Unter ihnen befanden sich beispielsweise eine zentrale Funktion als Bewahrer und ne Zeitalter der Aufklärung. Unfassbar,
bekannte Gottheiten wie Isis, Nephtys, Übermittler fast verloren gegangenen an- aber wahr, entschied ein späterer Eigen-
Osiris, Seth, Horus, Hathor, der Nilgott tiken Wissens und Weisheit an das mittel- tümer, die Fresken einfach zu übermalen
Hapi und der Erdgott Geb. Eine schöne alterliche Europa, ganz speziell in Spanien und das Gebäude als Tabakfabrik und
Darstellung bietet der altägyptische Zo- und seiner damaligen Hauptstadt Toledo, sogar als Kaserne zu nutzen. Erst 1821
diak aus dem Tempel von Dendera. wo das gedeihliche Zusammenwirken von wurden sie wiederentdeckt, wodurch we-
Aby Warburgs Verdienst liegt darin, den Juden, Christen und Moslems schon im nigstens noch sieben von zwölf Abschnit-
Ursprung der Figuren von Schifanoia so- 13. Jahrhundert ebenfalls eine bemerkens- ten erhalten geblieben sind.
wie die erheblichen Veränderungen der werte geistige Renaissance ermöglichte. Die Fresken von Schifanoia und ihre Vor-
und Nachgeschichte lassen folgende phi-
losophische Erkenntnisse reifen:
—Der altägyptische
Zodiak aus dem
Tempel von Dendera.
Aus Ägypten stammt
das Wissen über die
Einteilung der 30 Tage
eines Monats in drei
Abschnitte von je zehn
Tagen, die durch eine
eigene Qualität, einen
„Dekan“, gekennzeich-
net sind.
Dialog mit
Sophia
— Niemand kann
den Wert eines
Menschen
vermindern. Das
kann man nur selbst,
indem man den
negativen Aussagen
anderer Menschen
zustimmt.
S
der Scham trennen. Wenn ich mich
ophia beginnt die Unter- oft schäme, bewerte ich mich generell
haltung: Wollen wir an unser nicht sehr positiv.
Gespräch vom letzten Mal S: Ich habe wirklich keine besonders hohe
anknüpfen? Mich interessiert Meinung von mir selbst. Ich weiß, dass es
deine Meinung zur Scham. Du Dinge gibt, die ich gut kann, aber es fällt
denkst sicher, der Mensch muss sich für
nichts schämen, oder? So leidenschaftlich,
Man kann den mir schwer, meine erniedrigenden Erfah-
rungen abzuschütteln.
wie du die Schuldfreiheit des Menschen
verteidigt hast, würde mich alles andere
Selbstwert nicht T: Meiner Meinung nach kann niemand
wundern. von der Scham deinen Wert als Menschen vermindern.
Das kannst du nur selbst, indem du
Tarik nickt. trennen. Wenn den Aussagen deiner Mitmenschen zu-
stimmst.
Sophia: Da muss ich dir dieses Mal aber
widersprechen. Ich selbst habe mich
ich mich oft S: Dann bin ich schuld? Das ist wirklich
unerhört! Es wurden meine Grenzen
schon oft geschämt und habe auch schon
viele andere gesehen, die sich geschämt
schäme, bewerte überschritten. Mehrfach. Andere haben
mich ausgenutzt, ausgelacht und bloßge-
haben. ich mich stellt. Wenn ich nicht weniger wert wäre,
warum hätte mir das sonst so oft passie-
Tarik: Wollen wir erst wieder sortieren?
Wann schämen wir uns und was könnte
generell nicht ren sollen?
wir von der von uns wahrgenommenen S: Klingt so, als hättest du Erfahrungen jemanden lustig zu machen und dafür
Normalität abweichen. damit gemacht. Zustimmung von anderen zu erhalten.
S: Und was soll uns die Scham bringen? Es ist nicht schwierig, jemanden etwas
Vielleicht, dass wir unser Verhalten än- T: Als Kind und Jugendlicher habe ich tun zu lassen, wenn man am längeren
dern und uns den anderen wieder anpas- mich oft an andere angepasst. Damit Hebel sitzt und mächtiger ist. Die
sen? habe ich mich nie gut gefühlt. Ich wahre Kunst ist es, jemanden trotz der
empfand mich als nicht authentisch eigenen Vorteile nicht abzuwerten und
T: Korrekt. Beim Aufwachsen kann ein und fühlte mich einsam, weil ich mein bescheiden zu bleiben.
Ausschluss von anderen lebensgefähr- Innerstes nie mit jemandem teilen S: Du bist doch hoffnungslos romantisch.
lich für uns werden. Deswegen fragen konnte.
wir uns, wenn wir uns schämen, was S: Das kann ich gut verstehen. Ich wurde T: Vielleicht. Ich habe in unzähligen
andere Schlechtes über uns denken früher in verschiedenen Situationen von Gesprächen herausgefunden, dass es
könnten. anderen erniedrigt. Die haben eben mein in uns einen wertvollen Kern gibt, den
S: … und haben Angst, dass sie uns ab- Anderssein abgewertet und mich vor allen niemand von außen zerstören kann.
werten, auslachen und verlassen könnten. bloßgestellt. S: Hast du dich etwa noch nie geschämt?
Dialog
SPIRIT
„die Russin“.
anderen Planeten, eben gern oder verschiedene Menschengrup-
ein bisschen wie ein
pen gegeneinander aufzuhetzen.
„Alien“.
auf der Welt. Sie haben ein Kind. Wenn wir nun
Hundekönig
über sein Grundstück marschieren,
dann zerstören wir das Glück.
Illustration 91211037 © Elinacious | Dreamstime.com
© Beat Schönegg, aus: Bist du ein Affe oder Gott – Gnomologische Gedichte
Anders-
Sein!
Gentle-
Sein!
Oder
die Rückkehr
von Idealen?
In der Geschichte
suchten Menschen
in schwierigen
Zeiten nach einem
Anders-Sein und
einer Lebenshaltung,
Adobe Stock,,melita 487404822
Höflichkeit neu
sich dementsprechend aus, dass er diesem
Ideal auch gerecht wird und näherkommt.
erfinden, muss
Es geht hier also um wirkliches Sein und
nicht bloßes Scheinen nach außen.
natürlich wirkt
Jahrhundert ein Büchlein über die Erzie-
hung eines Ritters (Libro de la Orden de
und gleichwohl
Caballeria). Zu jener Zeit war das Volk in
einigen Teilen Europas der Willkür des
verzaubert.“
Adels und der Ritterschaft hilflos ausge-
setzt. Lullus, selbst Sohn eines spanischen
Ritters, erkannte diese Ungerechtigkeit
und stellte der Ritterschaft, die man durch Martin Scherer
LITERATURHINWEIS:
Raimundus Lullus: Das Buch vom Ritterorden. Ver-
lag der Feuervogel, 2009
Aristoteles: Nikomachische Ethik
Martin Scherer: Der Gentleman: Plädoyer für eine
Lebenskunst. dtv-Verlag, 2011
O
Kolumne
S
OCIET
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Gemeinsam
Individualist sein
TEXT Ingrid Geringer
W
ussten Sie, dass in
einem guten Titel
bereits die ganze Ge-
schichte keimt? Das — Outside in: wenn
ist die alte Kunst Lebensart auf Philo-
der schreibenden Zunft. Wie eine Art sophie trifft. Gedan-
ken aus dem Alltag
Essenz enthält er die gesamte Story. Ich von Ingrid Geringer,
erzähle Ihnen das, weil ich mir ziemlich freie Journalistin und
sicher bin, dass einige von Ihnen denken Kolumnistin
werden, dass „Gemeinsam Individualist
sein“ nicht wirklich Sinn ergibt. Wie kann
man denn einen Individualisten in Kon-
text mit einer Gemeinschaft setzen, steht
doch die Wortbedeutung „gemeinsam“
für „kollektiv,“ „übereinstimmend“, Einsamkeit heißt das Phänomen und sein und dieses Lichtlein dämmert uns
„alle“ usw.? Also was denn nun: sich von das klingt irgendwie bedrückend, allmählich. Zwei Qualitäten bahnen sich
den anderen abheben oder im selben wünscht man doch jedem Menschen den Weg in unser Bewusstsein: Zum
Teich mit allen anderen schwimmen? sein Dorf. Oder anders formuliert: Wie einen kann man ohne die Gemeinschaft
groß hätte Alexander der Große sein gar kein Individualist sein und zum ande-
Mit diesen Gedanken hoffe ich, Sie neu- können ohne seine treue Gefolgschaft? ren müssen wir uns eingestehen, dass wir
gierig gemacht zu haben auf einen Trend, Was wäre ein Bänker ohne Bürger, ein bereits bei kleinen menschlichen Bedürf-
von dem ich mir vorstellen kann, dass er Arzt ohne Krankenpfleger, ein Superstar nissen auf Hilfe und Unterstützung der
für unsere Weiterentwicklung wertvoll ist. ohne Fans? Okay, denken Sie jetzt, das anderen angewiesen sind. Was folgt, sind
In der Vergangenheit wurden Wertvor- sind eben die Individualisten und alle der Wunsch nach Kollektivität und Kon-
stellungen wie Selbstverwirklichung, ich- anderen die Masse. Genau darum geht sens und die Suche nach den Gemein-
Fotos © Natasha Stanglmayr
bezogene Lebenskultur, Autonomie, sich es jedoch im Wesentlichen: Wir können schaftskernen – dieses Mal in Form einer
Meinungsbilder aneignen und danach keine Individualisten sein ohne die Ge- weitaus reiferen Individualisierung: das
leben, zum Megatrend erhoben. meinschaft. Um nur ein Beispiel zu Ich im Wir. ap
Die Individualisierung, die tatsächlich nennen: Ich muss lediglich krank werden
erst in den Wohlstandsgesellschaften und schon brauche ich meine nach-
stattfinden konnte, scheint zwar noch barschaftliche Community, ganz egal,
immer im Trend zu liegen, wirft aber ob ich König oder Individualist bin.
ihre ersten großen Schatten. Soziale Einzelkämpfer führen ein kurzes Da-
Λόγος – Sprache,
Ordnung, Sinn
Die Partitur der Welt
TEXT Christoph Quarch
D
Wenige Worte haben die europäische enken wir nur an Goethes
„Faust“, der bei dem Ver-
Geistesgeschichte so sehr geprägt such, den Prolog des Jo-
hannes-Evangeliums zu
wie das Wort lógos. Und nur wenige übersetzen, ins Straucheln
Worte haben die Übersetzer vor so kommt: „Geschrieben steht: ‚Im Anfang
war das Wort!‘ / Hier stock‘ ich schon! Wer
große Schwierigkeiten gestellt wie diese hilft mir weiter fort?“ Wo Faust „Wort“
schreibt, steht im Originaltext lógos. Und
Verbindung von fünf unscheinbaren er ahnt, dass seine Übersetzung unzuläng-
Foto: © Ulrich Mayer
O
Das ist ungünstig, denn in der grie-
ΘhinkGreek
S
chischen Philosophie ist der lógos all-
CIE
E
gegenwärtig. Schon Heraklit begann
in vorsokratischer Zeit sein berühmtes
NC
Aphorismenbuch mit den Worten „Den
wirklich seienden lógos zu verstehen,
wird den Menschen immer schwerfallen
[…], denn obgleich alles gemäß dem ló- volles und verständliches Geflecht von tet wird, als auch im Sinne des Geistes,
gos geschieht, verstehen sie ihn doch trotz Buchstaben oder Lauten beschrieben mit dem der Mensch den Sinn gewahren
aller ihrer Worte und Werke nicht.“ Und werden kann. Lógos ist zugleich der Satz, kann. Wenn Aristoteles den Menschen als
er fährt fort: „Not tut es, dem gemeinsa- aber auch ein ganzer Text, dessen Struk- „Lebewesen mit lógos“ definiert, dann
men lógos zu folgen. Doch obwohl er al- tur mithilfe der Logik ermittelbar ist. Ló- denkt er dabei nicht primär, dass sich der
len gemein ist, leben die Vielen, als hätte gos ist aber nicht nur der Text, sondern Mensch durch seine Sprache von anderen
jeder seinen eigenen lógos.“ Diese Wor- auch die Sprache, in der er geschrieben Wesen unterscheide, sondern dass er ver-
te hallen wie ein Echo durch die Zeiten: oder gesprochen ist. Denn was ist die mittelt durch Sprache und Denken an der
Platon rühmte den lógos als die Grund- Sprache anderes als ein sinnvolles und geistigen Ordnung der Welt teilhaben und
textur des Seins, Aristoteles erkannte in sinnstiftendes Wortgewebe – ein lógos? deren Sinn erschließen kann – ja, dass
ihm das Wesensmerkmal des Menschen, Aber nicht nur Sprache oder Text sind Sprache, Denken und Sinnverstehen Er-
den er zōón lógon échon nannte – ein mit lógos, sondern allem voran der in ihnen scheinungsformen dieses einen, allen ge-
lógos ausgestattetes Lebewesen –, der gro- verlautbarte Sinn, der sich dem Lesenden meinen lógos sind.
ße Arzt Hippokrates feierte den lógos als (oder Hörenden) erschließt, was daran
wichtiges Therapeutikum, und die Stoiker verständlich ist. Was wir sprechend oder Nun verstehen wir, warum Heraklit
waren davon überzeugt, dass ein gött- lesend verstehen, ist nichts Materielles, meinte, der allen gemeine lógos sei maß-
licher lógos die Welt durchwalte und in sondern etwas Geistiges. Deshalb muss geblich für ein gutes und stimmiges Men-
eine stimmige Ordnung füge. Immer geht es nicht verwundern, dass lógos auch mit schenleben: weil ein Leben im Einklang
es dabei um den lógos, immer gilt er als „Geist“ wiedergegeben wird – und zwar mit dem lógos ein Leben im Einklang mit
Garant und Grund der Sinnhaftigkeit der sowohl im Sinne des Geistes, der als sinn- der Seinsordnung der lebendigen Natur
Welt, die die Griechen schöne Ordnung – gebende Kraft in allem Sinnvollen vermu- ist. Nun verstehen wir, warum die Stoiker
kósmos – nannten. den lógos für eine Gottheit hielten und
Aber was verbirgt sich hinter diesem warum sie glaubten, dass der Mensch
Wort? Eine Spur weist das Verb, von dem kraft seiner Teilhabe am lógos ein gutes
es hergeleitet ist: légein. Légein heißt und göttliches Leben führen könne. Und
ursprünglich „sammeln“, „aufheben“, wir verstehen auch, warum Sokrates und
„zusammentragen“. Légein heißt auch Platon meinten, die Ausbildung des lógos
„lesen“, aber nicht primär im Sinne der sei für den einzelnen Menschen ebenso
Lektüre, sondern eher im Sinne der Wein- wie für ein Gemeinwesen die wichtigste
lese, die immer zugleich eine Auslese ist. Aufgabe, weil nur die Aktivierung des in
Und damit kommen wir dem Geheimnis uns waltenden lógos das individuelle und
des lógos näher: In ihm ist etwas Auserle- kollektive Leben so in Einklang bringt,
senes versammelt, er ist die Einheit einer dass das Leben zu seiner Schönheit erblü-
Vielfalt, die nicht willkürlich und zufällig hen kann.
versammelt, sondern zu einer sinnvollen Komm zu unserer ersten Lógos heißt auch Partitur: die sinn-
Ordnung gefügt ist. Lógos ist deshalb zu- Sommerakademie – es geht um unser stiftende Ordnung einer schönen Musik.
gleich das Erlesene als auch das Lesbare. aller Lebensraum: EUROPA Vielleicht ist das die schönste Überset-
Er ist eine sinnvolle und deshalb auch zung dieses sperrigen Begriffs. Zumin-
verständliche Textur. Wenn etwas lógos Gemeinsam entwickeln wir Visionen dest kommt sie dem griechischen Geist
hat, dann wird ihm unterstellt, dass ihm für ein begeisterndes Europa. Bist am nächsten: Denn die Teilhabe am lógos
ein verständlicher Sinn innewohnt; wenn Du unter 30 Jahre alt, dann bewerbe dieser Welt, die Fähigkeit, ihren auserlese-
jemand lógos hat, dann geht man davon Dich für eine gesponserte Teilnahme. nen Sinn zu lesen und ins eigene Leben
aus, dass er den Sinn – den lógos – dessen Alles weitere unter: zu übersetzen, erlaubt es uns, zur großen
verstehen und erschließen kann, was ihm www.akademie-3.org. Melodie des Lebens einen schönen Tanz
in der Welt begegnet. zu tanzen. Und hat Hermann Hesse nicht
Damit öffnet sich ein weites Feld von Wir freuen uns auf euch – recht, wenn er sagt: „Mittanzen im Rei-
Bedeutungen: Lógos ist durchaus das Christoph Quarch und die Akademie 3. gen der Welt, das ist unsere Teilhabe am
Wort, sofern ein jedes Wort als ein sinn- Glück“? ap
Gaia
J
ames Lovelock brachte Ende der den atmosphärischen Kohlenstoff im Hu- gefährten am Schumacher-College Ste-
1970er-Jahre mit seiner Gaia- mus und in fossilen Lagern gebunden ha- phan Harding ist klar, dass die Erde ein
Theorie eine vollkommen neue ben, den größten Teil allerdings als Kal- Lebewesen ist. Die Erde und das Leben
Sicht auf die Erde. Bis dahin ziumkarbonat in Gesteinsmassen. als Maschine zu betrachten, war aus Sicht
betrachtete die mechanistische Unser Körper passt seine Temperatur des Ökologen eine Zeit lang ein nützliches
Wissenschaft die Erde als einen großen nicht der Außentemperatur an, sondern Modell, um Zusammenhänge zu erfor-
Gesteinsklumpen. Auf dessen Oberfläche hat ein inneres Wissen, dass 37 °C die schen und zu verstehen. Aber es ist keine
entwickelt sich eine für diesen massiven richtige Temperatur ist, und balanciert geeignete Leit-Metapher, um als Mensch
Steinblock relativ unbedeutende dünne diese permanent über Schwitzen oder auf der Erde zu leben und zu überleben.
Schicht an Lebewesen, die sich den hier Heizen aus. Ebenso weiß auch die Erde, Dafür ist es notwendig, wissenschaftliches
herrschenden Bedingungen anpasst. Lo- welche Zusammensetzung für die Atmo- Wissen mit Werten, Sinn und Bedeutung
velock stellte diese Sicht auf den Kopf. sphäre und die Gewässer genau richtig ist, zu verbinden und damit eine Ökosophie,
und balanciert diese aus. CO2 wird aus also eine ökologische Weisheitslehre zu
DIE ERDE FUNKTIONIERT WIE EIN der Luft genommen z. B. über die Foto- entwickeln.
LEBEWESEN
Lovelock erkannte, dass die Biosphäre
zahlreiche Organismen im Meer, die im mer mehr auskühlen. Deshalb wird CO2 Lebens im 16. Jahrhundert. Er behaupte-
Verlauf von Hunderten Millionen Jahren auch wieder freigesetzt durch Brände und te, dass einzig der Mensch eine Seele in
über Vulkanausbrüche. Mit solchen und Form seines Geistes hat. Der Natur sowie
vielen anderen Mechanismen balanciert Tieren und Pflanzen sprach er die Seele
die Erde ihre Temperatur aus, denn ohne ab. Seinen Studenten sagte er bei Tier-
— Die Erde scheint durch Leben hätten wir auf der Erde durch- experimenten, dass das gequälte Schreien
komplexe Interaktionen
wie ein harmonisch
schnittliche Temperaturen von 240 – 340 nicht bedeutet, dass diese leiden, sondern
komponiertes Lebens- °C. dass dieses mit dem Quietschen einer Ma-
system zu handeln, das schine vergleichbar sei. Mit Galilei und
seine Umgebung perfekt DIE ERDE IST EIN LEBEWESEN Newton trat dieses naturwissenschaftliche
ausbalanciert: die Während Lovelock sich noch scheute, die Weltbild seinen Siegeszug an. Francis Ba-
Atmosphäre und die Meere
ebenso wie die
Erde ein Lebewesen zu nennen, gehen con forderte, die Natur auf die Folterbank
Zusammensetzung der andere Wissenschaftler heute weiter. Für zu spannen und ihr ihre Geheimnisse zu
Boden- und Lovelocks Freund und langjährigen Weg- entreißen. Noch heute betrachten wir
Gesteinsschichten.
https://worldmags.net abenteuer philosophie — 37
PhiloScience
westliche Menschen die Natur, Pflan- 150 Arten aussterben. Dieser Verlust an
zen, Tiere als Ressourcen, die wir nach Lebensvielfalt ist bedrohlich, weil wir seit
Belieben nutzen oder ausbeuten. Unser Lovelock wissen, dass eine große Vielfalt
Verhältnis zur Natur ist geprägt durch die Fähigkeit zum Ausbalancieren eines
Kampf und Unterwerfung, denn Darwin Ökosystems steigert. Je geringer die Viel-
hat mit seiner Evolutionstheorie erklärt, falt hingegen ist, umso mehr verringern
dass in der Natur nur die Stärksten über- Ökosysteme bzw. auch die Erde als Gan-
leben und sich durchsetzen. zes diese Fähigkeit.
Dabei vergessen wir: Sollten wir die Na- WAS BRAUCHEN WIR FÜR DIE WENDE?
tur besiegen, gehören wir selbst zu den Wer diese Zusammenhänge akzeptiert,
Besiegten. Derzeit verbrauchen wir pro weiß auch, dass wir die globale ökolo-
Jahr beinahe doppelt so viele Ressourcen, gische Krise nicht allein dadurch lösen Unser Körper
wie die Erde regeneriert. In nur 50 Jah- werden, dass wir E-Autos fahren und von
ren hat sich die Zahl der Wirbeltiere um fossilen auf regenerative Energien um- passt seine
etwa 60 % reduziert, die Zahl der Süß- steigen. Um die Ausbeutung der Natur
wassertiere um 83 %. Nicht besser steht zu beenden, fordern Stephan Harding Temperatur nicht
es um Insekten, Singvögel und unzählige und andere Wissenschaftler eine Lebens-
andere Arten, von denen jeden Tag etwa philosophie, mit der wir die Erde und je- dem Außen an,
des Lebewesen als beseelt wahrnehmen.
Der Begründer der Tiefenökologie, Arne sondern hat ein
Næss, sprach davon, dass jedes Lebewe-
sen einen intrinsischen Wert hat und nicht inneres Wissen,
auf den Wert reduziert werden darf, den
wir ihm als Ressource beimessen. dass 37 °C
SICH VON DER NATUR BERÜHREN die richtige
LASSEN UND SIE LIEBEVOLL
BERÜHREN Temperatur ist,
Andreas Weber fordert eine „erotische“
Ökologie. Wie können wir uns von der und balanciert
Natur wieder berühren lassen und lernen,
Heribert Holzinger
ist Autor, Vortragen-
sie liebevoll zu berühren? Das mechanisti- diese permanent
sche Weltbild und die seit der Aufklärung
der und Seminarleiter
im Bereich der prak- einseitig betonte Rationalität und Logik über Schwitzen
haben unsere Sinneswahrnehmungen,
oder Heizen aus.
tischen Philosophie,
der Lebenskompe- das Bewusstsein unserer Gefühle sowie
tenzförderung und unsere Empathie verkümmern lassen.
der Prävention. In den
2000er-Jahren war er
Die einseitige Wissenschaft lehrte uns, Ebenso weiß auch
alles rational und objektiv zu betrachten:
die Erde, welche
Mitinitiator von GEA
- Aktive Ökologie – in Dabei stören Empfindungen, Gefühle
Österreich. „Wie Ste- und subjektive oder gar subtile Wahrneh-
phan Harding denke
ich, dass wir die
mungen oder Intuitionen. Die Natur wird Zusammensetzung
hauptsächlich in Laboren und mit quan-
ökologische Krise nur
lösen können, wenn titativen Methoden untersucht und den für die
Kindern in Klassenzimmern mit sterilen
Atmosphäre und
wir lernen, alles als
beseelt wahrzuneh- Schulbüchern oder Filmen nahegebracht.
men und Dankbarkeit
gegenüber unserer
Mutter Erde ent-
Welche anderen sinnlichen Erfahrungen die Gewässer
und Gefühle ermöglicht uns hingegen ein
genau richtig ist,
wickeln.“
Waldspaziergang, die aufmerksame Be-
trachtung einer Blumenwiese oder einer
einzelnen Blume, das Lauschen der Stim- und balanciert
men der Vögel vor dem Sonnenaufgang
oder im nächtlichen Sternenhimmel zu diese aus.
38 — abenteuer philosophie https://worldmags.net
PHIL
O
Essay
S
CIE
E
NC
— Aus Sicht der Gaia-
Theorie sind wir so
etwas wie Körperzellen
im Lebewesen Erde –
ähnlich diesen Fischen:
Wir haben einen ge-
wissen Grad an Auto-
nomie, aber unterliegen
auch Naturgesetzen, in
die wir uns harmonisch
einfügen sollten.
ANIMISMUS klärungssystem ist. Die andinen Kulturen Teil in uns und mit uns zusammenleben.
Genau diese Herangehensweise finden Südamerikas verehrten und verehren die
wir in den antiken und indigenen Kultu- Seele der Erde als Pacha Mama und er- INNERE UND ÄUSSERE NATUR IM
ren aller Zeiten. Die mechanistische Wis- reichten, dass der von der UNO vor etwa EINKLANG GANZHEITLICH ENTFALTEN
senschaft bezeichnete dies abwertend als 50 Jahren ausgerufene „Welttag der Erde“ Platon und viele andere Philosophen mei-
Animismus und erklärte scheinbar objek- im Jahr 2009 in „Welttag von Mutter nen mit ihm, dass auch unsere Psyche ein
tiv und rational, dass diese „primitiven“ Erde“ umbenannt wurde. Macht es für Teil der Psyche der Welt (psyché toû kós-
Menschen sich vor der Natur fürchteten unser Empfinden, unsere Seele nicht ei- mou oder anima mundi) ist, während un-
und sich darum einredeten, dass sie be- nen großen Unterschied, ob wir die Erde ser Geist ein Teil des himmlischen Geistes
seelt sei. Aber rationale Philosophen wie als Rohstofflager oder als unsere Mutter ist, ein Kind von Uranos. Goethe, Schiller
Platon sprachen ebenso von der Ani- betrachten? und die Romantiker sprachen in diesem
Sei dabei! Wir laden dich ein, bei unseren Aktivitäten in Österreich, Deutschland und
der Schweiz mitzumachen!
Foto: rob-mulally-oacHEtIlXsA-unsplash
vier Die
Schlüssel der
Wirkungskraft
P
roduktivität ist eines der gro- genden als Eigenschaften der Seele und
ßen Schlüsselwörter in unse- als solche ermöglichen sie uns, „seelische
ren modernen kapitalistischen Meisterleistungen“ zu vollbringen.
Industrieländern: Wie holen In der Naturphilosophie gliedert man den
wir aus den Ressourcen (Zeit, Menschen in einen materiellen und einen
Geld, Rohstoffe etc.) möglichst viel Ge- geistigen Teil, wobei wir den materiellen
winn heraus? Diesen scheinbar materialis- Teil als seine „Persönlichkeit“ bezeich-
tischen Gedanken können wir mit etwas nen können. Dementsprechend bezieht
„Großzügigkeit“ in eine interessante Le- sich die Wirkungskraft natürlich auf diese
bensfrage umwandeln: Wie lebe ich mein Persönlichkeit: Ist sie gut „in Form“, so Dr. Matthias Szalay
Leben so, dass ich am Sterbebett sagen ermöglicht sie, dass die Impulse der un- Arzt und Philosoph.
Ich frage mich schon
kann „Es war ein schönes Leben, das sich sterblichen Seele sich ungehindert in der seit Jahren, wie ich
lohnte, gelebt zu werden – ich kann zufrie- Welt verwirklichen können. Diese Persön- das kostbare Gut
den gehen.“? lichkeit wird traditionellerweise in vier Zeit = Leben ent-
Ebenen gegliedert: sprechend würdigen
Dazu müssen wir jedoch den Begriff 1. die im strengeren Sinne materielle kann und bin über
die Entdeckung der
Produktivität durch Wirkungskraft erset- Ebene, philosophischen
zen – auch Effektivität genannt. Letztere 2. die energetische oder vitale Ebene, Wirkungskraft sehr
darf man nicht mit Effizienz gleichsetzen, 3. die emotionale oder gefühlsmäßige dankbar.
wie uns der amerikanische „Leadership- Ebene,
Papst“ Stephen Covey zeitlebens lehrte: 4. die mentale Ebene oder Ebene des Ver-
Effizienz bedeutet, „die Dinge richtig zu standes.
machen“, – also zum Beispiel durch den
Einsatz des Zehn-Finger-Systems diesen
zufrieden gehen.“?
bei helfen kann, die richtigen Dinge in un-
serem Leben zu tun, um ein für uns und
unsere Mitwelt erfülltes Leben zu leben.
In der Naturphilosophie wird Erfüllung DIE TUGEND DER MATERIELLEN EBENE: vielmehr ein Naturgesetz ist. Aus der
unter anderem darin gesehen, die jedem ORDNUNG Naturbeobachtung hat die Philosophin
Menschen innewohnenden Potenziale zur Werfen wir einen Blick in die Natur, so Delia Steinberg-Guzmán folgende Defini-
Entfaltung zu bringen. „Mensch, erken- fällt bei genauerer Betrachtung sofort auf, tion abgeleitet: Jedes Ding hat einen ihm
ne dich selbst“ und „Werde, der du bist“ dass sie ein harmonisches Zusammenspiel entsprechenden Platz und befindet sich
waren zwei Sprüche aus den griechischen einer großen Vielfalt von Lebewesen zeigt, auch dort. Mit dieser Definition können
Mysterien, die auch über zwei Jahrtausen- wo nichts „zufällig“ geschieht. Eine Pflan- wir sofort ans Werk gehen: Wenn wir zum
de später nichts an ihrer Gültigkeit einge- ze wächst dort, wo sie wächst, aus zahlrei- Beispiel in unserer Wohnung Ordnung
büßt haben. chen Gründen: Klima, Bodenbeschaffen- machen wollen, können wir uns bei jedem
Doch wie erreichen wir dieses hohe Ziel? heit, Schädlingsbedrohung, Lichtangebot Gegenstand fragen, ob er einen Platz in
Um eine „metaphysische“ (über das ma- und viele Faktoren mehr. Auch Tiere le- unserer Wohnung hat (oder haben soll),
terielle Sein hinausgehende) Arbeit zu ben immer genau dort, wo es aufgrund und ihn dann entsprechend positionieren.
verrichten, brauchen wir auch metaphy- ihrer eigenen und der sie umgebenden Nicht selten werden wir überrascht sein,
sische Werkzeuge: Diese werden im Allge- Natur möglich ist. Wir erkennen auf diese dass manche Gegenstände bloß darum
meinen „Tugenden“ genannt. Schon die Weise, dass Ordnung kein vom Menschen ständig von einem Ort zum nächsten wan-
griechischen Philosophen definierten Tu- erfundenes Konzept darstellt, sondern dern, weil sie gar keinen eigenen Platz
platzieren.
tal beschäftigt haben, sehr erholsam sein,
sich beim Sport oder Handwerk körper-
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abenteuer philosophie — 45
PhiloArt PHIL
O
EINBlick
A
RT
D
ie am 19. Februar 1877 in Zu ihrem 80. Geburtstag im Jahr 1957
Berlin geborene Gabriele, stiftet sie der Stadt München alle in ihrem
genannt „Ella“, entdeckt Besitz befindlichen Bilder: darunter auch
im Alter von zehn Jahren 90 Ölgemälde von Kandinsky. Diese welt-
ihre Leidenschaft für die weit bedeutendste Bildersammlung der
Malerei. „Blauen Reiter“ ist im Münchner Len-
So beginnt sie ihr Zeichenstudium an bachhaus ausgestellt. Gabriele Münter
einer privaten Schule in Düsseldorf, das stirbt am 19. Mai 1962 in München.
copyright: https://www.flickr.com/photos/mazanto/45247209051
durch den Tod ihrer Eltern unterbrochen
— Mitternachtssonne,
wird. Mit ihrer Schwester und ihrem Skiz- 1925 von Gabriele Münter,
„Ich habe einen großen Sprung gemacht
zenblock reist sie auf den Spuren ihrer München – vom Naturabmalen – mehr oder weni-
Eltern durch Amerika. 1901 kommt sie ger impressionistisch – zum Fühlen des
nach München, das damals als Schmelz- Es folgen fruchtbare künstlerische Jahre Inhaltes, zum Abstrahieren – zum Geben
tiegel der Moderne galt. Hier versammeln mit Kandinsky und seinen Malerfreunden des Extraktes.“ Äußere Eindrücke und
sich junge Maler, Dichter und Denker, Alexej Jawlensky und Marianne Werefkin. innere Erlebnisse werden miteinander
um neue Wege in der Kunst zu beschrei- 1909 gelingt Münter der Durchbruch zu verbunden, die naturgetreue Darstellung
ten, unter anderem Wassily Kandinsky ihrer eigenen Malweise: „Wer aufmerk- der Wirklichkeit erscheint überflüssig, was
aus Russland. sam meine Gemälde betrachtet, findet dargestellt wird, liegt außerhalb der be-
Er gründet hier seine Kunstschule „Pha- in ihnen den Zeichner.“ Sie verwendet grenzten Form. Das kann in beide Rich-
lanx“. Auch Frauen können am Unter- leuchtende Farben, wenig gegenständli- tungen gehen: zum äußersten Subjektivis-
richt teilnehmen, und so wird Münter che Details, Einfachheit und eine Abgren- mus als auch zum „Kratzen“ an der Welt
1902 zunächst seine Schülerin, später sei- zung der Formen durch dunkle Umriss- der Ursachen … ap
ne Geliebte und schließlich seine Lebens- linien.
gefährtin: „Es war eine große Zeit der 1911 findet die erste Ausstellung des
künstlerischen Erneuerung, als ich nach „Blauen Reiters“ in der Galerie Thann-
München kam.“ hauser statt. „Der Blaue Reiter“ ist die
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abenteuer philosophie
PhiloArt
PHIL
O
Kommentar
A
RT
Alles Gute
zum 100.
Geburtstag,
Siddhartha!
Im Jahr 1922 erschien „Siddhartha“, ein Buch,
das Hermann Hesse weltberühmt gemacht hat.
Trotzdem wird es heute einerseits oft als Lektüre für
Jugendliche betrachtet, die noch ihren Weg suchen,
und andererseits als Buddhismus light vor exotischer
Kulisse. Es steckt aber so viel mehr darin …
stillt. Dann läuft das Gerücht durch die war aufsässig, lief davon, musste von der
Lande, dass einer das Rad der leidhaften Schule genommen werden, drohte mehr-
— Siddhartha trifft
Wiedergeburten zum Stehen gebracht mals, sich umzubringen, wollte „Dich-
den Buddha. Ja, sagt
und Frieden gefunden habe. Siddhartha Siddhartha, dieser ist ter werden oder gar nichts“, und wurde
und Govinda machen sich auf den Weg wahrlich ein Erleuchteter, schließlich sogar in ein psychiatrisches
und treffen den Buddha. Ja, sagt Govinda, aber er hat seine Institut gesteckt, um wieder „Vernunft
dieser hat den Weg gefunden, ich will bei Erkenntnis nicht durch anzunehmen“. Er absolvierte in Tübin-
die Lehre eines anderen
ihm bleiben und von ihm lernen. Ja, sagt gen eine Buchhandelslehre und lebte
gefunden – und geht
auch Siddhartha, dieser ist wahrlich ein weiter. danach in Basel. Dort erschien sein ers-
Erleuchteter, aber er hat seine Erkenntnis ter Roman „Peter Camenzind“, der ihn
nicht durch die Lehre eines anderen ge- berühmt machte und sich gut verkaufte.
funden – und geht weiter. Siddhartha ver- Hesse heiratete Mia Bernoulli und bekam
lässt den Buddha und seinen Freund Go- drei Söhne. Er hatte etwas erreicht. War er
vinda – und ihr Autor weiß nicht weiter. glücklich? Nein. Er fühlte sich in einer
https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Hesse#/media/Datei:Gaienhofen_Hermann-Hesse-Haus_-_Hesse_Portr%C3%A4t_1905_crop.jpg
reichen Kaufmanns Kamaswami (Sans-
krit kama = das Verlangen). Er führt ein
Leben im Luxus, das aber immer mehr
zum Lebensüberdruss wird. Wieder ein-
mal ist Aufbruch angesagt. Bei seinem
ziellosen Umherschweifen kommt er an
einen Fluss und bittet den Fährmann
Mensch,
wo er spielt
Ein poetopathetischer Annäherungsversuch TEXT Manfred Schwarzbraun
52 — abenteuer philosophiehttps://worldmags.net
— Spielen bringt Lachen, spiele, Schauspiele, Kinderspiele, Glücks- spielende Menschen sind. Mitspieler in
heitere gelassene spiele, Olympische Spiele, Kampfspiele, einem großen Lebensspiel, das wir mehr
Verzweiflung, lustvoll
Festspiele … Wir sehen den virtuos sein oder weniger gelingend versuchen, voller
vergnügliches Tun. Nie
sind Menschen einander Instrument spielenden Künstler, die Integrität zu spielen, um eine Ursehn-
näher, fühlen einander Schönheit, die mit unserem Herzen spielt, sucht des Menschen zu verwirklichen:
verbundener, als beim die Philosophen und Dichter, die für uns die nach einer freien, unbehinderten und
gemeinsamen Spiel. aufs Schönste und Klügste die Klaviatur beschwingten Harmonie zwischen Leib,
unserer Gedanken und Gefühle bespielen. Geist und Seele.
I
Wir sehen das selig, in völliger Selbstver- Auch wenn wir es schaffen, ansatzwei-
n dem österreichischen Kultfilm gessenheit spielende Kind, den Fußball- se den vielfältigen Erscheinungsformen
„Der Bockerer“ heißt es des öfteren: spieler, der mit einem einzigen Schuss des Spieles habhaft zu werden und uns
„Ihr Blatt, Herr Rosenblatt!“. Wir Zigtausende zu einem ekstatischen Kol- mitunter der Balsam der Glückseligkeit,
haben unser letztes Blatt schon vor lektivkörper fusioniert, den Genius, dem der uns im Spiel ereilt, bewusst wird, so
über zehn Jahren gespielt. Ich denke alles spielend von der Hand geht. Wir be- wissen wir doch über sein Wesen, seine
oft daran. Ich denke sehr gerne daran. Sie obachten den „Homo ludens“, den spie- Wirkmacht und seine nicht hoch genug
fehlen mir, diese mehrstündigen Woche- lenden Menschen, der Kultur entstehen zu veranlagende Bedeutung sehr wenig.
nendwattmarathons (Watten, ein Karten- lässt, indem er durch das Spiel seine feins- Der Versuch der Bestimmung des Unbe-
spiel, das hauptsächlich im deutschspra- ten und humansten Möglichkeiten zeigt stimmbaren ist zum Scheitern verurteilt.
chigen Süden gespielt wird) mit meiner und entfaltet. Und wir erkennen die, wie Das Spiel sagt uns einfach nicht, wer oder
Großmutter und meinen Eltern. es Max Reinhardt so schön pathetisch for- was es ist. Nein, diesen Gefallen tut es uns
nicht. Doch es führt es vor. Es zeigt sich
und seine Wunder, wenn wir den Mut ha-
muss man mit Wundern rechnen.“ rakter im Umgang mit ihm. Dieser Cha-
rakter verleitet einen Genius wie Fried-
rich Schiller zu der so unglaublichen, wie
Hannah Arendt
wahrhaftigen Aussage, dass der Mensch
nur da spielt, wo er Mensch im vollen Sin-
Ich vermisse das Lachen, die heiter ge- mulierte, glänzenden Augen von Erwach- ne des Wortes ist, und er nur da wirklich
lassene Verzweiflung, das lustvoll vergnüg- senen, die ihre Kindheit in die Tasche ge- Mensch ist, wo er spielt.
liche Tun. Nie waren wir einander näher, steckt haben und sich damit heimlich auf
fühlten einander verbundener, nie waren und davon gemacht haben.
wir mehr Familie.
Was ist es, was so verbindet und erhebt, „Es war ein Spiel!
so in die Tiefe unseres Seins ein- und vor- Was sollt´es anderes sein?
dringt? Was ist nicht Spiel, was wir auf Erden trei-
Wer ist dieser Impresario unserer Freude, ben,
unseres Staunens? Es ist längst überfällig, Und schien es noch so groß und tief zu
sich mit der vielleicht intensivsten und sein.
ID 133580601, Copyright Ernest Akayeu, Dreamstime.com
lehrreichsten, aber sicherlich schönsten Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.“
Form der Weltauseinandersetzung und (Arthur Schnitzler)
Menschwerdung zu beschäftigen: dem
Spiel. Das Spiel ist uns Menschen von der Evo-
Bei Gottfried Benn heißt es: „Worte, Wor- lution in die Wiege gelegt. Und auch auf
te – Substantive. Sie brauchen nur ihre dem Weg zur Bahre lässt sich nicht viel
Schwingen zu öffnen und Jahrtausende Gescheiteres tun, als zu spielen. Spiel
entfallen ihrem Flug.“ und Leben bilden eine Einheit, magisch
ineinander verwoben. Die Spiele nehmen
Wie verhält es sich erst beim Spiel, die- die kräftige Farbe der Wirklichkeit an, die
sem Polymechanos – diesem Universal- Wirklichkeit bekommt einen Firnis vom — Die Spiele nehmen
geist und -könner, der sich so schwer schillernden Zauber des fantastischen die Farbe der
Wirklichkeit an, die
verorten und einhegen lässt, was entfällt Spiels.
Wirklichkeit bekommt
alles seinem jahrtausendelangen Flug? Schlussendlich können wir uns der Ge- einen Zauber des
Wir finden Liebesspiele, Gesellschafts- wissheit nicht entziehen, dass wir alle fantastischen Spiels.
das sind die fünf Finger unserer unseren Mitspielern den heiligen Ernst
des Spiels zu spüren bekommen, sind bei-
Wie ich
mein Herz
in Ecuador Photo 243969010 © Andrei Potorochin | Dreamstime.com
gefunden habe
Geplant war ein neues Leben: ein Jahr lang eine
ökologische Community im Norden Ecuadors zu
unterstützen. … Doch dann kam alles anders.
O
Reisen
S
OP
S
HIC
S
umak Kawsay ist ein Que- in der Welt etablieren will: auf 44 Hektar leben verstehe und wie wir mit der Natur
chua-Begriff der indigenen fruchtbarem Land, mit einem Fluss, Ka- umgehen sollten. Let‘s go!
Andenbevölkerung, der so viel kaopflanzen, Mangobäumen, fernab vom Im Weg stand mir mein anhaltender Zwei-
wie „gutes Leben“ oder auch Getöse und Gehetze der Städte. Ein fried- fel, das Richtige zu tun. Zu guter Letzt die
„Leben in Fülle“ bedeutet. In voller Ort, an dem purer Pioniergeist ge- Probe, Covid-bedingt zehn Tage in der
Ecuador versteht man darunter, in Ein- fragt ist. Eine kleine Holzhütte für die ers- leeren Wohnung festzusitzen und auf den
klang mit der Natur zu leben, sie zu re- ten Community-Mitglieder gibt es schon, Abflug zu warten.
spektieren, das Gleichgewicht zu halten, sogar mit richtigen Toiletten. Wasser
nur so viel ihr zu entnehmen, wie man kommt vom Himmel, das man in großen Dann konnte es endlich losgehen: 21. Fe-
braucht und wie Mutter Erde es verträgt, Behältern sammelt. Strom kommt noch bruar, Flughafen München. Ich verlasse
sowie jedes Lebewesen mit Würde zu be- vom Nachbarn. Ziel ist allerdings, autark den Winter in Deutschland mit einem
handeln. Aber auch den sozialen Umgang zu leben; das zu essen, was der eigene Per- großen Rucksack, einer Reisetasche und
miteinander, respektvoll gegenüber jedem makultur-Garten hergibt und durch den meiner Gitarre. 17 Stunden später die
Individuum zu sein, eine Gemeinschaft biologischen Anbau der Edelkakaosorte Ankunft in Quito, herbstliches Wetter auf
als Einheit zu bilden, zu helfen und für- Arriba Nacional (des ursprünglichsten 2700 m Höhe. Ab ins Taxi, dann in den
einander da zu sein. und reinsten Kakao) sowie Workshops Reisebus, der mich in sieben Stunden
und Retreats, die Gemeinschaft zu finan- über eine abenteuerliche Bergstraße der
Unter dem Initiator und damaligen Prä- zieren. Die Vision: einen Ort der Künste Anden hinunter auf Meereshöhe an die
sidenten der verfassungsgebenden Ver- im weitesten Sinn zu erschaffen, an dem Küste nach Esmeraldas bringt. Hier hat
sammlung Alberto Acosta wurde das bis zu 100 Menschen von ganz jung bis es 28 Grad, es ist subtropisch feucht. Ein
Sumak Kawsay, auch als „Buen Vivir“ be- ganz alt in Harmonie und Einklang, dem Taxi bringt mich zu meiner ersten Unter-
titelt, sogar als Staatsziel 2008 in der Ver- Sumak Kawsay, leben können. kunft am Strand. Erst mal ankommen.
fassung Ecuadors verankert. Als ich von diesem Projekt Mitte 2021 ge- Hallo Pazifik!
Nach diesem Prinzip entsteht in der Pro- hört habe, war ich fasziniert. Ja, genau so Am nächsten Tag, 44 Stunden nach mei-
vinz Esmeraldas im Nordwesten Ecuadors soll die Welt der Zukunft aussehen, das ist nem Start in München, war ich schon auf
eine Gemeinschaft, die diese Grundsätze genau das, was ich unter Gemeinschafts- dem Durga‘s Tiger Land, meinem neu-
— Vilcabamba, das
Tal der Hundertjäh-
rigen, liegt auf 1600
Metern Seehöhe.
Der Name bedeutet:
„Heiliges Tal“.
en (tropischen) Zuhause für das nächs- doch gekratzt. Wohl zu früh ein Bad im
te Jahr. Fluss genommen, denn ein widerspens-
Oder die nächsten sechs Wochen. Ich hat- tiges Bakterium hat zwei Tage nach mei-
te mir mehr abverlangt, als ich verkraften nem Geburtstag den Weg in meinen Or-
konnte. Das abgelegene Grundstück ist ganismus gefunden. Das Ergebnis waren
wunderschön, ich nahm ein erfrischendes sieben Tage mit 39,7 Grad Fieber, Eis-
Bad im Fluss und ließ mich dort einfach würfelbäder von meinen liebevoll sorgen-
treiben. Die Idee war, mit sechs anderen den Gemeinschaftsbewohnern Lisa und
O
Reisen
natürlichen Thermalquellen, alten Ritual- seltenen Überreste einer alten Inka-Stät- S
OP
S
HIC
orten der Inka und entlang der Straße der te. Bevor es nach Westen zur Küste geht,
Vulkane in Richtung Süden. Die Vulkane genieße ich die natürliche Schönheit von
– von ihnen gibt es viele hier (55 Stück, Vilcabamba, die mit 365 Tagen Früh-
davon 18 aktiv) – sind für die Andenbe- lingswetter viele Europäer zum Auswan-
wohner weibliche oder männliche Gott- dern anlockt. Hier sollen die glücklichs-
heiten (Apu – Berggott der Kichwa). Ei- ten Menschen Ecuadors leben. Beflügelt
ner der Protagonisten dieser Legenden ist durch die Thermalquellen erhielt der Ort
der Chimborazo, dessen Gipfel mit 6268 auch den Namen „Tal der Langlebigen“.
m nicht nur der höchste Vulkan des Lan-
des, sondern auch der Ort ist, an dem die El Guabo ist Bananenhauptstadt, was ich — Riesenschildkröte
Erde der Sonne am nächsten ist. Der Le- eindeutig bezeugen kann. Der Gaumen und Leguan auf
Galapagos. Der
gende nach verliebte sich der Chimborazo lässt sich mit Chifles (Bananenchips) und Name dieser
in die schöne Tunguragua (5023 m), aller- frittierten oder gegrillten Kochbananen Inseln leitet sich von
dings musste er zunächst deren Geliebten verwöhnen. Wer noch nicht genug von „Wulstsattel“ ab und
Cotopaxi (5897m) aus dem Weg räumen. Bananen hat, für den gibt es im Anschluss bezieht sich auf den
Die Liebe hielt allerdings nicht lange, noch gefrorene Banane am Stück, mit Sattel im Nackenbe-
reich des Panzers der
denn als Chimborazo dahinterkam, dass Schokolade überzogen. Ich fahre weiter Riesenschildkröten.
Tunguragua ihn mit dem damals noch
größeren Capac Urcu (5319 m) betrogen
hatte, entbrannte ein epischer Kampf zwi-
schen beiden Vulkanen, infolgedessen der
damals angeblich noch über 7500 Meter
hohe Capac Urcu besiegt wurde und in
sich zusammenstürzte.
Ecuadors Berglandschaften sind haupt-
sächlich von der indigenen Bevölkerung
besiedelt, die noch die wunderschönen,
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Reise in
die Anderswelt
Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kultwagen_von_Strettweg_02.jpg
O
Reisen bel, es ist nicht dunkel, jedoch auch nicht
hell – irgendetwas dazwischen. Ein Be-
S rührungspunkt, eine Berührungslinie, ich
OP
S
TEXT Mathilde Wolf
HIC mag es nicht exakt benennen.
Ich öffne mein Herz, denn gleich werde
ich dem heiligen Geheimnis begegnen,
M
dem Mysterium des Lebens, des Todes
useum des Schlosses und der Wiedergeburt. Der Wagen fährt
Eggenberg in Graz: Ich hin und her, passiert immer wieder die
stehe vor der beleuchte- Grenze, er zeigt die Zyklizität des Lebens.
ten Vitrine. So klein ist Leben und Tod sind eins. Es gibt nicht das
der Wagen mit seinen eine ohne das andere. Deshalb hat auch
knapp 46 cm Höhe – viel kleiner als ich der Wagen beide Richtungen – er fährt
ihn mir vorgestellt habe. Dennoch spüre gleichzeitig nach vor und zurück.
ich eine magische Anziehungskraft. Die-
ser Bronzewagen aus der Hallstattzeit, Vorne am Wagen – wie auch symmetrisch
gefunden nebst anderen Grabbeigaben in hinten – steht ein kleiner Hirsch mit ge-
einem Fürstengrab im Jahre 1851 in der waltigem Geweih. Die göttlichen Zwillin-
Nähe von Judenburg in der Obersteier- ge stehen links und rechts von ihm, das
mark, fasziniert mich.
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PhilosophischReisen
Welche Gefahren drohen hier? ihm eine neue Geburt zu ermöglichen,
die umso wunderbarer ist, als sie in einer
Neid und Macht, Ängste und Zweifel. im Samen ist das Ganze verborgen, der
ganze Baum, die ganze Ähre, der gesamte
Ich habe Vertrauen, denn die zwei Mensch. Potenz, Wirklichkeit in Latenz,
bis sich eine der unendlichen Möglichkei-
– die Dualität des Lebens, das Männ- Gehören vielleicht auch Samen in das
liche und das Weibliche, die Fruchtbarkeit Opferbecken?
in ihrer Verbindung, für die Menschheit „Komm endlich, wir gehen weiter!“ Je-
gleich wie auch für die Nahrung, denke mand berührt meine Schulter. „Ja, …
ich mir. Der ganze Wagen erscheint mir ich komme schon!“, mühsam ringen sich
als eine Vereinigung der Gegensätze. Der diese Worte über meine Lippen. Ich bin
Hirsch ist derjenige, der über die Grenzen wieder zurück, zurückgerissen aus einer
der Welt führt und sie damit verbindet, er anderen Welt. Es ist die Anderswelt, die
kennt die geheimen Pfade. Das Einzige, andere Welt, die andere Seite, die keine
was nicht dual angelegt ist, ist die große Zeit und keinen Raum kennt, nur das
Göttin. Sie überragt die Größe der rest- Sein. Schade, ich wäre noch gerne ein we-
lichen Figuren mindestens um das Dop- nig dortgeblieben. ap
pelte. Sie stellt die Einheit dar, das Eine
Leben, das sich jenseits der kleinen Zy- LITERATURHINWEIS:
klen von Leben und Tod in die Ewigkeit Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen,
Band 1, Herder, 1978
erstreckt. Das Eine Leben, das Dauer und
Bewegung ist, das Eine Sein. Aus der Erde
geboren, kehrt der Mensch nach seinem
Tod wieder zu seiner Mutter zurück …
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Symbolisches
Blühen, leben
und sterben
Was ein Kelch alles in sich birgt
TEXT Astrid Ringe
E
und Wein segnete und mit seinen Jüngern
tymologisch hat das Wort teilte. Der Kelch ist verbunden mit dem
Kelch eine Verbindung zum Wein und dem Blut und wird zum Sym-
lateinischen Calix, was so- bol der Liebe. Der Kelch, der durch den
wohl Kelch oder Becher als Stiel erhöht steht, stellt im übertragenen
auch Schüssel oder Becken Sinn auch die Möglichkeit eines erhöhten
bedeutet. In der Botanik wird Calix für Bewusstseins dar, zumal wenn der Kelch
den Blütenkelch oder die umhüllenden aus kostbaren Materialien gearbeitet und
Kelchblätter verwendet. Daraus ergibt mit heiligen Symbolen und eingravierten
sich, dass ein Kelch, im Gegensatz zum Ornamenten geschmückt ist. Beim Trank Photo 4825046 / Cup © Dmitry Knorre | Dreamstime.com
Becher, als ein oben offenes Gefäß auf aus dem Kelch geht es weniger um die
einem Stiel und einem Fuß betrachtet Flüssigkeit als um die Teilnahme an einer
werden kann. Nach dem Vorbild der Blü- heiligen – heilbringenden – heilenden
te, die durch ihren Kelch den kostbaren Handlung. Die spirituellen Gefühle und
Nektar schützt und nur zu bestimmten Gedanken erhalten rituelle Nahrung aus
Zeiten zugänglich macht, betrachten die einer geistigen, himmlischen oder göttli-
Menschen den Kelch, der aufwendiger chen Dimension. Die Idee eines heiligen
herzustellen ist als ein Becher, als Gefäß Trankes, der zu höherem geistigen Be-
für besondere Anlässe. Wenn die grie- wusstsein führt oder Unsterblichkeit ver-
chischen Götter im Olymp Nektar und leiht, findet sich in vielen Kulturen, bei-
Ambrosia trinken oder den Helden der spielsweise beim vedischen Soma, dem
Trank der Unsterblichkeit gereicht wird, aus einer heiligen Pflanze gewonnenen
drücken viele Künstler dies durch einen Trank der Unsterblichkeit. Wenn in Zere-
kostbar gearbeiteten Kelch aus. monien des tantrischen Buddhismus ein
Der Gewinner eines Jahresabos von Abenteuer Philosophie ist Herr Edgard H. aus B.
Herzliche Gratulation!
Wer wollte der König sein, wäre er nicht schon König gewesen?
Guten Tag,
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Ausgab e 04
Oktobe r - Dezemb
THINK GREEK:
Eine Kolumne
gekauft und sofort durchgelesen. von C. Quarch
WEM
TRAU, SCHAU,
TRAU, SCHA
U,
WEM!
Ich bin dankbar dafür, dass Sie das Thema
Treue und Vertrauen aufgegriffen haben, da Treue und Ver
die vergessen trauen –
ich zurzeit in einer Vertrauenskrise stecke, die e Kraft
geworden!
Wabi-Sabi
O
Gesund!
S
OP
S
HIC
TEXT Renate Knoblauch
„A
lles Leben ist Schmerz“,
lautet die Erste Erhabene
Wahrheit, die der Buddha
verkündet hat, und meint
teilen.
Die japanische Philosophie hat diese Idee
in ein ästhetisches Konzept verpackt: Wa-
bi-Sabi.
Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes denes oder silbernes Puder enthält. Der
Wabi ist, sich einsam und elend fühlen, „Makel“ soll nicht unsichtbar gemacht
und Sabi heißt so viel wie alt, gereift sein. werden, sondern wird in etwas Kostbares
Bei Wabi-Sabi kommt ein völlig neuer verwandelt.
Aspekt dazu: nicht das Perfekte, absolut Warum mit unseren körperlichen und see-
Reine, Makellose berührt uns am meis- lischen Narben nicht genauso verfahren?
ten. Das alte Gesicht voller Runzeln, je- Sie sind Zeichen eines gelebten Lebens.
doch mit strahlenden Augen der Jugend, Wir haben Schwierigkeiten mehr oder we-
ist schön. Die windgebeutelte Kiefer, niger gut gemeistert – wir sind hier. Wir
krumm gewachsen, die am steilen Felsen sind gereift. Wir stehen nicht mehr ganz
steht, weckt das Gefühl der Erhabenheit. gerade, wir sind allerdings auch nicht ge-
brochen. Wir haben schlimme psychische
In den Wäldern drüben, Verletzungen erlebt, aber wir haben das
tief unter der Last des Schnees, Lachen nicht verlernt. Die Schale, die zer-
ist letzte Nacht brochen war, wird wieder geklebt – sie ist
ein Pflaumenzweig erblüht. schöner als je zuvor und sie kann wieder
(Altes japanisches Gedicht) Früchte fassen.
Verbergen wir darum nicht unsere kör-
Die äußere Form ist vergänglich, sie ist perlichen oder psychischen Mängel. Es ist
in ständigem Wandel begriffen und sie ist nicht notwendig, den Bauch einzuziehen
nicht perfekt. oder die Falten durch Facelifting zu glät-
Photo 194807694 / Cup © Marco Montalti | Dreamstime.com
Die westliche Welt hat einen gewissen ten. Wir dürfen unsere Tränen und Ängste
Hang zum Perfektionismus entwickelt, zeigen, wenn wir auch unser Glück und
der Stress verursacht. Wer Anna Netrebko unseren Mut miteinander teilen.
im Fernsehen gesehen hat, möchte nicht
mehr selbst singen. Wer einen Compu- Schönheit bedeutet nicht Perfektion. Das
RENATE KNOBLAUCH
ter bedienen kann, will nicht mehr selbst kann sogar sehr steril wirken. Schönheit
Ärztin aus Leidenschaft
zeichnen. Von den Fotomodellen wollen mit besonderer Liebe ist Authentizität. Sabi bedeutet nicht nur
wir gar nicht reden. Alle müssen jung, zu Paracelsus und zur alt, sondern auch Gelassenheit und Ruhe,
schön, gescheit, reich, dynamisch und Chinesischen Medizin die dem Alter eigen ist. Wabi-Sabi bedeu-
gut drauf sein. Für Alter und Krankheit, tet, wirklich zu erkennen, dass die Freude
Schwäche und Verletzungen ist kein Platz. in uns liegt. In den einfachen Dingen des
Lebens liegt Schönheit und Freude. Wa-
Hier kommt die Technik des Kintsugi ins rum brauchen wir diese Freude? Damit
Spiel. Es ist eine Handwerkstechnik, bei wir daraus die Kraft schöpfen, die Dinge
der zerbrochene Keramik wieder zusam- schließlich auch im Außen schön und gut
mengeklebt wird mit einem Lack, der gol- zu machen. ap
O
Story
S
OP
S
HIC
Der Verrückte
Eine Geschichte vom AndersSein KOMMENTIERT VON Ingrid Kammerer
D
er Mensch liebt im All- ziales Wesen. Er möchte dazugehören, Teil
gemeinen die Vielfalt, die der Gesellschaft sein, andererseits strebt
Buntheit, die Exotik, kurz: er nach Selbstverwirklichung und An-
die Andersartigkeit – sei es erkennung für das, was er leistet. Durch
ein farbenprächtiges Blu- das Anderssein kann er Vorbild sein, aber
menparadies oder exotische Tiere, Spei- auch Dinge sein lassen, loslassen. Die
sen, Textilien … Beim Anderssein des bunte Vielfalt der Welt macht die Erfor-
Menschen treten schon eher Vorbehalte schung des Andersseins spannend und
Es passierte so: Eines Ta- auf, obwohl Diversität heute als Merkmal abwechslungsreich. Oft besitzen wir nur
für Modernität und Zukunftsfähigkeit gilt. wenige historische Quellen, die uns von
ges wachte ich aus einem Sobald man sich mit dem „Anderssein“ den Erlebnissen der „Anderen“ berichten.
tiefen Traum auf und ent- beschäftigt, muss man ein Bewusstsein für Es sind lediglich Briefe oder Tagebücher,
deckte, dass man mir alle Begriffe wie „normal“ und „anders“ oder in denen Aussagen über erfahrene Unge-
„abweichend“ schaffen. Gleichheit und rechtigkeit, Schmerz und Leid, aber auch
meine Masken gestohlen Verschiedenheit waren und sind heute über Selbstbehauptung, Stolz und Zufrie-
hatte; Masken, die ich in noch große Triebkräfte in der Geschich- denheit mit dem „Anderssein“ nachzu-
anderen Leben geformt te. Stets bedeutete jedoch das „Anders- lesen sind. Sie zeigen uns vor allem, dass
und benutzt hatte. sein“ auch etwas anderes: Einmal wurde das Recht, anders, originell, eigentümlich
man dafür ausgestoßen, das andere Mal und trotzdem gleichberechtigt zu sein,
Ich rannte ohne Maske bewundert, wenn man aus freien Stücken überall auf Erden weiterentwickelt wer-
durch die überfüllten gegen den Strom schwamm. Doch wer den muss.
Straßen und schrie: „Diebe, definierte, was jeweils als „normal“ oder Vielleicht ist es manchmal sogar gut, ver-
„konform“ und was als „anders“ oder rückt zu sein.
Diebe, verdammte Diebe!” „fremd“ zu gelten hatte?
Viele lachten über mich „Anders“ jedenfalls war und ist ein Indi- „Dem anderen sein Anderssein verzeihen,
und einige liefen aus Angst viduum niemals an und für sich, „anders“ das ist der Anfang der Weisheit.“
wurde und wird ein Mensch erst gemacht. Aus China ap
vor mir weg. Die Kriterien reichen von Körper, Ge-
Als ich am Marktplatz an- schlecht, Sexualität über Herkunft, wirt-
kam, schrie ein Junge vom
Dach eines Hauses: „Das
schaftliche und gesellschaftliche Stellung
bis hin zum selbst gewählten Lebenswan-
Der Mensch liebt
ist ein Verrückter.”
del. Gemeinsamkeit generiert Einheit,
Zusammengehörigkeit, Sinn und Identi-
im Allgemeinen
Ich richtete meinen Blick
nach oben und zum ers-
tät.
Immer jedoch gibt es auch eine Wert-
die Vielfalt, die
ten Mal küsste die Sonne
schätzung des Andersseins, denn obwohl
Eremiten sich seit der Antike von allem
Buntheit, die
mein nacktes Gesicht,
meine Seele füllte sich mit
Weltlichen zurückzogen, werden sie we-
gen ihrer Weisheit geschätzt. Oder Klöster
Exotik, kurz: die
Andersartigkeit.
Photo 37142656 © Edwardgerges | Dreamstime.com
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Eine Frage noch
„Aber hier, wie überhaupt, kommt es anders, als man glaubt.“
Aus dem Gedicht „Plisch und Plum“ von Willhelm Busch (1832 – 1908)
Kommt es immer
anders, als man denkt?
TEXT Katharina Lücke
Damit richten wir uns zu guter Letzt an vorhergesehenes passieren kann. Wissen
Sie, liebe Leserinnen und Leser. Die Frage Sie, was das ist? Das ist der Tod.“
möge Ihnen Gelegenheit bieten, die Freude Interessant finde ich die Abwandlung: Es
am eigenen Denken zu erleben. kommt immer anders, wenn man denkt.
Sollten Sie zusätzliche Anstöße zur Inspira- Auch dies hat wohl seine Berechtigung:
tion brauchen, lesen Sie bitte weiter: Denn manchmal handeln wir, ohne
In dieser kleinen Frage, die fast schon ein vorher zu denken, vorschnell und im-
Sprichwort geworden ist, steckt viel mehr, pulsiv. Diese Idee haben schon die alten
als man denkt. Griechen unter anderem mit ihren zwei
Will es vielleicht darauf hinweisen, dass mythologischen Figuren des Promētheús
wir in unserer Kleinheit des Denkens die (deutsch „der Vorausdenkende“, „der
unglaubliche Vielfalt des Lebens und seiner Vorbedenker“) und seines Bruders
Ausdrucksformen niemals erfassen können? Epimētheús (deutsch „der danach Den-
Oder will es nur scherzhaft daran erinnern, kende“) umrissen.
dass Irren menschlich ist? Vielleicht steckt Vielleicht hängt die Sache auch mit einem
aber auch der Wunsch dahinter, das Leben „richtigen“ und einem „falschen“ Den-
nach den eigenen Vorstellungen und Er- ken – oder besser formuliert „zielführen-
wartungen zu gestalten, – vielleicht sogar zu den“ und „nicht zielführenden“ Denken
zwingen? Suchen wir nicht die Planbarkeit zusammen. Wenn wir glauben, wir seien
des Lebens und wollen alles kontrollieren? klein, schwach und können nichts, kann
Wir versichern uns, damit nur ja nichts sich das sehr wohl in der Realität verwirk-
passiert ... lichen. Und im Gegenzug wirkt es meist
Ich stelle auch ein Zitat des Neurologen sehr positiv und erstaunlich unmittelbar,
Gerald Hüther zur Diskussion: „Das Leben wenn wir uns groß, stark und attraktiv
ist nicht kontrollierbar. Wir folgen einem fühlen und denken.
Fotos Blinde Frau
Fotos Blinde Frau
Wahn, wenn wir glauben, wir könnten alles Insofern kann dieses Sprichwort eine Er-
kontrollieren und beherrschen. … Stellen mutigung sein, unsere inneren Potenziale
Sie sich eine Zukunft vor, wo wir alles kon- zu entfalten, ganz nach dem Motto: „Du
trollieren und beherrschen und die Zukunft kannst stärker sein, als du glaubst.“
vorhersehen können, in der gar nichts Un- – Was denken Sie? ap
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