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Ausgabe 01
Januar - März 2023
Nr. 171
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Der WUNDERbare Wie er sich seine
Mehr als
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2 — abenteuer philosophie
Schreiben Sie uns: redaktion@abenteuer-philosophie.com ↗
Editorial
abenteuer philosophie — 3
Inhalt Sehnsucht Frieden
PhiloSpirit PhiloSociety
12 26
Begehre unermüdlich Frieden Krieg und Gewalt
Zur spirituellen Dimension Der philosophische Ausstieg
eines verweltlichten Begriffs aus der Teufelsspirale
16 NACHDENKEN 30
Krieg und Frieden Warum gibt es Krieg …
… und warum Frieden
18 kein Zustand ist
Dem Tod so fern
Diskussion über Sterbehilfe 33 NACHDENKEN
Eine kleine Geschichte aus China
21
Lifestyle 34
Gedankenspiele über Dialog mit Sophia
empathische Egozentriker Über Schuld
22
40
Der wunderbare
Weihnachtswahnsinn
Das Schwein, die Schlange
und der Hahn in dir PhiloScience von 1914
Drei Geistesgifte und
deren Heilmittel 38
ΘHINK GREEK (8): ἉΡΜΟΝΊΑ
Harmonie und Einklang
40
Der wunderbare Weihnachts-
38
wahnsinn von 1914 Kolumne
Christoph Quarch
44
Nietzsche in Sils-Maria
Wie er sich seine
Ideen „erwanderte“
12
Begehre unermüdlich Frieden
Zur spirituellen Dimension
eines verweltlichten Begriffs
4 — abenteuer philosophie
—
HAUPTTHEMA: Besuchen Sie uns online: www.abenteuer-philosophie.at ↗
Artikel über
SEHNSUCHT
FRIEDEN: Seiten
12, 16, 26, 30, 40
50, 72 und 74
—
44
Nietzsche in Sils-Maria
Wie er sich seine
Ideen „erwanderte“
PhiloArt PhiloSophics
48 PHILOPOEM 56 LEBENSKUNST
Was mir gehört, trage ich mit mir Wieviel du ist gut für mich?
Gedanken zu Integrität
49 und Kooperation
Dreamstime: © Cienpies Design / Illustrations, QUARCH © Ulrich Mayer, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Christmas_Truce_1914_Memorial.jpg
EINBLICK: MITGEFÜHL
EINBlick in das Gemälde und wohl 60 Philosophisch REISEN
auch das Herz von Nicholas Roerich Groß und mächtig,
schicksalsträchtig
50 Steinschloss – eine der höchstgele-
Pax cultura genen und größten Burgen Europas
Kultureller Frieden – Frieden
durch Kultur 65 NACHDENKEN
Wer täglich eine Schwäche
52 in sich selbst bekämpft 70 GESUNDSEIN
Liebe Harmonie durch Gegensatz
Mehr als ein Gefühl 66 SYMBOLISCHES Willst du etwas erreichen, dann
Wie glänzt er festlich, lieb beginne mit dem Gegenteil
und mild …
Was steckt in und hinter 72 PHILOSTORY
dem Weihnachtsbaum? Der Frieden beginnt in uns
Rede von Astrid Lindgren
52 74
Liebe
Mehr als
Eine Frage noch
ein Gefühl
Stell Dir vor, es ist Frieden,
und niemand geht hin!?
2 Abo Service
3 Editorial
6 Contributors
7 Ein Gedanke
8 Good News
10 Erlesenes
68 Rätsel & Spaß
69 PhiloPraxis
75 Vorschau
76 Museum der Fragen
abenteuer philosophie — 5
Contributors Mitwirkende dieser Ausgabe
TORS
ANDREAS STOCK (DR. MED.), gebürtiger Salz- RONALD H. TUSCHL (MAG. DR. PHIL., BED MA), geboren
burger, hat als Medizinstudent in Graz die Philo- 1969 in Reutte/Tirol. Er absolvierte das Lehramtsstudium an
sophie lieben gelernt. Damals schrieb er seinen der Pädagogischen Akademie des Bundes in Tirol und 1996 das
ersten Artikel als Schilehrer über die Verbindung Studium der Politikwissenschaft mit der freien Fächerkombina-
von Schifahren und Philosophie. Heute lebt er tion Zeitgeschichte, Internationale Politik, Völkerrecht, Interna-
in Villach als Praktischer Arzt mit einem Faible tionale Entwicklung und EDV für Geisteswissenschaften an der
für Traditionelle Chinesische Medizin. Mit seiner Universität Innsbruck sowie Friedens- und Konfliktforschung in
Frau gemeinsam leitet er die Zweigstelle des Frankfurt/Main. Er war als Lehr- und Forschungsbeauftragter am
Treffpunkt Philosophie – Neue Akropolis in Villach. European University Center for Peace Studies und am Austrian
Insgesamt hat er bisher 16 Artikel für abenteuer Study Center for Peace and Conflict Resolution in Stadtschlai-
philosophie verfasst. Manche davon – wie etwa ning tätig. Er lehrte als Gastlektor an der Universität Innsbruck
der über das Bhavachakra – gibt es auch auf dem und Wien sowie an der PH Oberösterreich und an der PPH
Youtube Kanal von Abenteuer Philosophie. Augustinum in Graz. Dann wurde er mit Lehre und Forschung am
Das Rad des Lebens im Buddhismus (Bhavachakra Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung an der
/ Samsara): https://youtu.be/BZMpvk3Pv4U Karl-Franzens-Universität Graz betraut und absolvierte den
Masterlehrgang „Innovationsorientiertes Management im
Bildungsbereich“ am UniForLife an der Universität Graz. aben-
teuer philosophie lernte er im Jahr 2016 kennen und schrieb
seither 14 Artikel.
6 — abenteuer philosophie
Ein Gedanke
Im Krieg ist Beharrlichkeit gefragt und er lastet mit schwerem wicht, Last) mit der Bedeutung Wucht, Schwere und Gewalt
Gewicht auf allen Beteiligten. Krieg kommt vom althochdeut- mit hineinspielt. Was kann man nun daraus mitnehmen? Um
schen Wort kreg, was so viel wie Hartnäckigkeit, Anstrengung ein gewünschtes Ziel zu erreichen, braucht es Anstrengung und
und Beharrlichkeit bedeutet. Im Mittelhochdeutschen änderte unseren vollen Einsatz – aber bleiben wir dabei: Der wirkliche
sich die Bedeutung ein wenig: mit kriec ist ein Bemühen oder Krieg soll innerlich stattfinden, nie äußerlich.
Streben nach oder auch gegen etwas gemeint. Man kann auch Krieg auf Sanskrit heißt unter 88 anderen Wörtern auch Gavisti
davon ausgehen, dass das Griechische βρῖθος (brithos: Ge- und bedeutet: Verlangen nach mehr Kühen.
abenteuer philosophie — 7
Good News
Neuigkeiten rund um Frieden, Liebe und Krieg
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Der Hass
und wie alles gut wird …
Unter dem Titel „Der Hass. Anatomie eines elementaren
Gefühls“ befasste sich das 25. Philosophicum Lech mit
einem oft beklagten, doch schwer fassbaren Phänomen.
Namhafte Vortragende aus Geistes- und Humanwissen-
schaften, Philosophie und Psychologie sorgten für eine FRIEDE ist nicht Abwesenheit
breit gefächerte interdisziplinäre Diskussion – unter der
Leitung von Konrad Paul Liessmann. von Krieg. Friede IST EINE
Beginnend mit feindseligen Gefühlen und dem Trieb zur TUGEND, eine Geisteshal-
Tiwi-Inseln
Gegenwartskrise lösen können, ohne einen gemeinsamen
Fokus durch Kommunikation zu erzeugen.“
TEXT Ana Huber
8 — abenteuer philosophie
EIN TIPP:
Mehr zum Thema
Liebe lesen Sie in:
„Liebe – mehr als
ein Gefühl“
auf den Seiten
52 – 54
Von Liebe
und Krieg
Tamilische Geschichte(n)
aus Indien und der Welt
100 Jahre
Tutanchamun
Als Howard Carter
TEXT Martin Holub
einen Star ausgrub
Am 4. November 1922 entdeckte Howard
Die große Sonderausstellung des Landes Baden-Württemberg zeigt den Carter den Sensationsfund: das Grab des
Reichtum tamilischer Künste, kultureller Traditionen und Religionen. Pharaos Tutanchamun. Die Entdeckung gilt
Die alten Begriffe Akam und Puram in den tamilischen Gedichten, die als Meilenstein der Archäologie und als der
„innen“ und „außen“, „romantisch“ und „heroisch“ oder „Liebe be- wohl berühmteste Fund aus der altägypti-
treffend“ und „Krieg betreffend“ bedeuten können, ziehen sich wie ein schen Hochkultur.
roter Faden durch die Ausstellung. Die Dichter gelten als moralische
Autoritäten, die Gedichte repräsentieren fünf Stimmungen mit dazuge- Das Grab mit Kennziffer KV62 war spektakulär,
weil weitgehend intakt. Es war den Grab-
hörigen Landschaften.
Photo 208025540 © Jaroslav Moravcik | Dreamstime.com
abenteuer philosophie — 9
Erlesenes
Über Frieden und Schicksal
Büchertipps, die uns neue Perspektiven aufzeigen
Schon einmal etwas vom Volk der Der Autor erklärt durch kurze Geschich- Ein Buch über das Schicksal – nicht nur
Tschuktschen gehört? Sie leben in der ten, die die Schülerin Johanna erlebt, des Waisenknaben Louis Chabos. Sein
nordöstlichsten Tundra Russlands, also was das Leben ist und wie man gut Lehrer erzählt die Geschichte, dass jedes
am Ende der Welt. Die Jahresdurch- mit schwierigen Situationen umgehen Kind ein Sohn oder eine Tochter eines
schnittstemperatur beträgt -5 bis -10° C, kann. Königs sein kann. Eines Tages könnte
der wärmste Monat ist der Juli mit etwa Da man dazu stets neue Einfälle braucht, der Herold kommen, um sie/ihn nach
9° C. Das Volk der Tschuktschen hat um alles zu meistern, sind Kreativität Hause in den Palast zu führen … Louis
einen Schriftsteller hervorgebracht: Juri und Fantasie gefragt, um gewohnte Ge- lernt, aus seiner Opferrolle herauszu-
Rytchëu. Sein Buch ist die Geschichte leise verlassen zu können. Mit Fantasie kommen, aus sich und seinem Leben
eines faszinierenden Volkes, beginnend kann man sich nicht nur eine eigene etwas zu machen – und er hat Erfolg.
mit den Mythen der Vorzeit bis hinauf Welt erschaffen, in der man sich wohl- Erfolg, der aus seinem eigenen Handeln
zur Zeit des kommunistischen Russlands, fühlt, sie bringt uns auch auf jene neuen und Entscheiden kommt. Erfolg, der aus
wo traditionelle Lebensweise auf Partei- Ideen. dem Miteinander und aus gegenseitiger
politik trifft. Gleichzeitig ist es die Ge- Ob man sich über Probleme ärgert oder Unterstützung kommt. Er lernt seine
schichte des letzten Schamanen Mletkin, sie voll Optimismus anpackt, ist die Mutter kennen.
Juris Großvater, der bis nach Kalifornien eigene Entscheidung; Optimismus macht Doch die Sehnsucht, seinen Vater zu
reist, um das alte und das neue Wissen zu die Probleme nicht kleiner, aber im End- finden, lässt ihn nicht los. Er entdeckt
vereinen. effekt wächst man an ihnen. Wenn man durch „Zufall“, wer sein Vater ist, doch es
Ein Buch mit viel Humor und Tiefe. Der außerdem noch das Leben mit Humor bringt ihm kein Heil.
Leser wird bemerken, wie warm bei uns würzt, erscheinen selbst Regentage Ein fesselndes Plädoyer für das Sprich-
auch der kälteste Wintertag ist! sonnig. wort: Jeder ist seines Glückes Schmied …
Empfohlen von Renate Knoblauch Empfohlen von Ingrid Kammerer Empfohlen von Barbara Fripertinger
10 — abenteuer philosophie
—
BUCHTIPP:
Buch zum Thema
dieser Ausgabe von
abenteuer philosophie:
Sehnsucht
Mehr Büchertipps online: www.abenteuer-philosophie.com ↗
Frieden
—
Im öffentlichen Diskurs wird immer mehr „Sei du selbst die Veränderung, die du Aristoteles sah in ihm eine Tugend, das
Rücksicht genommen auf Befindlichkei- dir wünscht für die Welt.“ – Dieses Buch Christentum verdächtigt ihn als Wurzel
ten: von Gendersternchen bis zu den ver- enthält alle wichtigen Texte des großen der Sünde, für die römisch-katholische
schiedenen Facetten der political correct- Menschenrechtlers. Kirche ist er gar eine der sieben Tod-
ness. Der österreichische Philosoph Mahatma Gandhi setzte sich mit seinen sünden. Doch der Stolz hat zwei Seiten:
Robert Pfaller fragt in diesem Buch, wie Reden für ein unabhängiges Indien ein. Ein zu stark ausgeprägtes Selbstwert-
es gekommen ist, dass wir von der Politik Dies tat er mit einfachen und persön- gefühl neigt schnell zu Überheblichkeit,
wie Kinder behandelt werden. Und er lichen Worten, die bis in die heutige Zeit wenn nicht sogar zu Narzissmus. Doch
zeigt auch die Gefahren auf: zum Bei- ihre Gültigkeit haben. Die Texte und zu wenig Stolz kann dazu führen, dass
spiel die zunehmende Entsolidarisierung Gedanken Gandhis sind nicht abgeho- wir ein mangelndes Selbstbewusstsein
der Gesellschaft, wenn die persönlichen ben, sie führen nicht aus der Gesellschaft entwickeln.
Befindlichkeiten die Verbindung und das hinaus, sondern mitten in sie hinein und Henning Theißen beleuchtet in seinem
Verständnis unter den Menschen immer zeigen, wo wir Verantwortung über- Buch das Phänomen Stolz aus 360 Grad
zerbrechlicher und schwächer machen ... nehmen müssen. Gleichwohl geben sie und schafft so die erste Monografie und
Von der Empfindlichkeit zur Belast- uns Orientierung in diesen schwierigen Kulturgeschichte über den Stolz aus
barkeit, vom Egozentrismus hin zur Zeiten. Zahlreiche Menschen wurden psychologischer, religiöser und sozio-
Selbstdistanz – dieses Buch ist ein (nicht durch seine Worte inspiriert. Darunter logischer Sicht. Dabei beschäftigt er sich
unprovokatives) Plädoyer, sich als mün- u. a. Martin Luther King und Nelson auch mit der Frage: Kann Stolz auch
dige Bürger ansprechen zu lassen und Mandela. gesund sein? Kann er uns verlorenes
gleichzeitig auch wieder relevante Dinge Allein das Lesen dieser Texte bringt in Selbstvertrauen zurückgeben und wieder
in die Wege zu leiten. das Herz schon ein bisschen Frieden. zur Tugend werden?
Empfohlen von Christina Tauschitz Empfohlen von Andrea Mayer Empfohlen von Katharina Lücke
abenteuer philosophie — 11
PhiloSpirit
„Begehre
unermüdlich
Frieden!“
125033265 © Cienpies Design / Illustrations | Dreamstime.com
Zur spirituellen Dimension
eines verweltlichten Begriffs
Auf mysteriöse Weise entstand 1885 eine ebenso
mysteriöse Schrift mit dem Titel „Licht auf den
Pfad“. Eine Sammlung von spirituellen Regeln,
darunter: Begehre unermüdlich Frieden. Frieden
nicht als Abwesenheit von Krieg, sondern als
Lösung eines inneren Konflikts.
12 — abenteuer philosophie
FRIEDEN IST NICHT DIE ABWESENHEIT
VON KRIEG
Thema
dieser – ähnlich wie beim Ehrgeiz und der
Gleichgültigkeit – in eine ebenso destruk-
tive Kraft wie der Krieg selbst. Es ist der
Frieden des Superreichen, der hinter der
SPIRIT mit elektrifiziertem Stacheldraht versehe-
nen Mauer am mit Solarstrom beheiztem
TEXT Hannes Weinelt Pool nicht vom Anblick der bösen Welt
gestört werden möchte; es ist der Frieden
E
des Mittelstandes, der selbst den demo-
in innerer Konflikt zeigt sich kratischen Pflichtgang in die Wahlzelle
schon in den ersten beiden als Einkerkerung seines Lust-und-Lau-
Regeln von „Licht auf den ne-Freiheitsdranges empfindet; es ist der
Pfad“: Ertöte den Ehrgeiz! Frieden des „kleinen Mannes“, der ohne-
Aber arbeite wie jene, die ehr- hin nur durch die Erhöhung des Bierprei-
geizig sind. Und ertöte den Wunsch nach ses gestört werden kann.
Leben! Aber achte das Leben wie jene, die Doch genau dieser Friede ist für unser
es lieben. Wie lässt sich dieser Konflikt lö- individuelles Menschsein und noch mehr
sen? Genau genommen ist es ein Wider- für unser Gemeinwesen destruktiv. Und
spruch, ein Paradoxon. Wie erfülle ich das vor allem ist er Illusion. Je mehr sich der
Arbeitspensum eines Ehrgeizigen, ohne Einzelne in diese Art von Frieden flüchtet,
ehrgeizig zu sein? Jedenfalls nicht, indem umso stärker wird er unter den natürli-
ich den Ehrgeiz töte und mich in einen chen und unvermeidlichen Konflikten des
gleichgültigen und trägen Menschen ver- Lebens leiden: Alter, Krankheit und Tod.
wandle. Gleichgültigkeit wäre nur die
zweite Seite derselben Medaille, genauso
Die Lösung aber Frieden ist keine untätige und gegenüber
destruktiv, wie der Ehrgeiz es sein kann. liegt nie in den den Problemen des Menschen und der
Welt abgestumpfte Ruhe. Frieden ist nicht
Leider neigen wir immer wieder dazu,
das eine Extrem durch das andere zu er-
Extremen, die „Abwesenheit von Krieg“, wie schon
der holländische Philosoph Baruch de
setzen: Auf die Leistungssucht, der das
Vergnügen untergeordnet wurde, folg-
sondern immer Spinoza (1632-1677) angemerkt hat, son-
dern Frieden ist „eine Tugend, eine Geis-
te die Vergnügungssucht, der die Leis-
tung untergeordnet wird; auf die sexuelle
in der Mitte. teshaltung“. Und um den Erwerb einer
Tugend und einer Geisteshaltung muss
Unterdrückung folgte die sexuelle Aus-
schweifung usw. Die Lösung aber liegt nie
Und darüber. man ringen. Und für den Erhalt einer Tu-
gend und einer Geisteshaltung in der Welt
in den Extremen, sondern immer in der muss man kämpfen. Jedenfalls gegen die
Mitte. Und darüber. Den destruktiven „fünf großen Feinde des Friedens“, von
Dualismus von persönlichem Ehrgeiz und denen Francesco Petrarca (1304-1374)
von Gleichgültigkeit kann ich nur durch geschrieben hat: „Habgier, Ehrgeiz, Neid,
eine Art von „spirituellem Ehrgeiz“, von Wut und Stolz“. „Wenn diese Feinde ver-
höherer Motivation oder auch innerlicher trieben werden könnten“, schreibt Petrar-
Berufung überwinden. Was aber hat dies ca weiter, „würden wir zweifellos ewigen
alles mit dem Frieden zu tun? Frieden genießen.“
abenteuer philosophie — 13
PhiloSpirit
Der griechische Begriff für Frieden „eire-
ne“ kommt aus der Musik. Es ist das Zu-
sammenklingen der verschiedenen Töne,
das eine Harmonie ergibt. Wenn wir es in
uns schaffen, alle Töne zusammenklingen
zu lassen, dann sind wir im Einklang mit
uns selbst, im Frieden. Und der Einklang
mit sich selbst ist Voraussetzung für den
Zusammenklang mit anderen. Eirene ist
als eine der drei Horen auch der personi-
fizierte Friede. Als Tochter des Götterva-
ters Zeus und der Göttin der Gerechtig-
keit Themis zeigt sich wenig überraschend
die Verbindung von Frieden und Gerech-
tigkeit. Sehr überraschend jedoch ist die
Verbindung von Friede und Macht. Ein
weiteres Paradoxon.
14 — abenteuer philosophie
altägyptischen Original: Wo die Sprache
aufhört, übernimmt die Gewalt. Pax lässt
grüßen.
Zweitens im Unterlassen, im Nicht-Han-
deln, im Nicht-füreinander-Handeln.
Ma´at dagegen bedeutet die rechte Hand-
lung. Und recht zu handeln bringt Zu-
friedenheit. Wer sich im guten Gewissen MABEL COLLINS UND „LICHT AUF
des rechten Handelns befindet, empfindet DEN PFAD“
Frieden.
Und das dritte und schlimmste Vergehen Autorin, Medium, Theosophin, Mode-
gegen die Ma´at, gegen den Frieden, ist kolumnistin, Tierschützerin und Ge-
die Habgier. Denn die Habgier ist die liebte von Jack the Ripper. Wer war
Eigenwilligkeit, der Egoismus, der sich Mabel Collins wirklich? Jedenfalls gilt
gegen das Gemeinwohl richtet. Vor allem sie als Autorin des theosophischen
aber richtet sich die Habgier gegen einen Klassikers „Licht auf den Pfad“.
selbst, indem sie das eigene Herz beschä-
digt. Geboren am 9. September 1851 als
Minna Collins auf der Kanalinsel Gu-
ensey. 1856 zog die Familie aufs eng-
Das schlimmste Vergehen gegen lische Festland. Ihr Vater, der ihr den
Kosenamen Mabel gab, unterrichte-
den Frieden, ist die Habgier. Sie te sie zu Hause. Schwerpunkte des
Unterrichts waren Poesie, Philosophie
richtet sich gegen einen selbst, und Literatur, sodass Mabel schon mit
12 Jahren begann, kleine Erzählun-
indem sie das eigene Herz schädigt. gen und Gedichte zu verfassen. 1875
veröffentlichte sie ihren ersten Ro-
man, 1877 dann einen Bestseller, der
sie sehr bekannt machte. Insgesamt
BEGEHRE UNERMÜDLICH FRIEDEN schrieb sie 46 Bücher.
Wie uns das altägyptische Verständnis von
Ma´at zeigt, muss man immer und immer Nachdem schon eine ihrer Schriften
wieder um sie ringen. Man muss die Gra- „Das Lied von der weißen Lotus“ auf
vitationskraft, die unweigerlich nach unten rätselhafte Weise entstanden war, be-
in die Zerstückelung und ins Chaos zieht, richtet sie selbst 1904 über die Ent-
durch eine positive nach oben gerichtete stehungsgeschichte von „Licht auf
Kraft überwinden. Der bekannte deut- den Pfad“. Sie sei ihres Körpers ent-
sche Mönch Anselm Grün bezeichnet die hoben und zu einem ihr vollkommen
Dankbarkeit, die Genügsamkeit und auch fremden Ort entrückt worden, wo
Rituale, also Momente, in denen man sie sich nur unbeholfen fortbewegen
ganz in und für sich selbst ist, als solche konnte. Ihr wurde in einer ungeheuren
Kräfte. Und genau das ist das „Begehre Halle eine vor Edelsteinen funkelnde
unermüdlich Frieden“! Auch das scheint Mauer gezeigt. Bei näherem Hinsehen
ein innerer Konflikt, ein Widerspruch, ein erkannte sie, dass die Edelsteine Mus-
Paradoxon zu sein. Denn das „Unermüd- ter und Zeichen ergaben, die Worte
lich Begehren“ ist nichts Friedliches. Es und ganze Sätze bildeten. Sie soll-
ist ein zähes Ringen, ein andauernder te soviel lesen und behalten, wie ihr
Kampf, ein mühevoller Weg. Wer wirklich möglich wäre, und dies sofort, wenn
begehrt, strengt sich an, das Begehrte zu sie in ihren Körper zurückgekehrt sei,
erreichen. Und wer unermüdlich begehrt, niederschreiben. Das Ergebnis wurde
strengt sich unermüdlich an. Wenn wir als „Licht auf den Pfad“ veröffentlicht.
mehr Frieden in der Welt begehren, müs- Die Halle sollte sie später als „Halle
sen wir dafür – beginnend in uns selbst des Lernens“ bezeichnen.
– unermüdlich kämpfen. ap
abenteuer philosophie — 15
PhiloSpirit
16 — abenteuer philosophie
PHILO
NACHdenken
SPIRIT
Es gibt keinen heiligen Krieg. Kriege sind nicht unvermeidlich. Sie waren es
niemals. Unvermeidlich ist nur die
Heilig ist nur der Frieden. Tatsache, dass der Frieden unmöglich ist, wenn
Rupert Schützbach (*1933) man glaubt, dass ein Krieg unabwendbar ist.
Ernst Ferstl (*1955)
Wer mit sich selber in Frieden
lebt, kommt nicht in Bewahre zuerst Frieden und Ordnung
Versuchung, anderen den in dir, dann magst du auch Frieden und
Krieg zu erklären. Ordnung für andere bewirken.
Ernst Ferstl (*1955) Thomas von Kempen (um 1380 – 1471)
Es ist tragisch, dass wir Menschen es nicht In Frieden zu leben heißt nicht,
fertigbringen, dass endlich Frieden auf der frei von Konflikten zu sein. In
Welt herrscht. Solange Frieden und Krieg
Frieden zu leben ist die Kunst,
aber ausschließlich eine Frage des Geldes
Konflikte bewältigen zu können.
und nicht der Ethik ist, wird es auch nie
Gisela Rieger (*1968)
Frieden geben.
Stefan Wittlin (*1961)
Zivilcourage ist der höchste
Nur wo es kalt ist, kann man Orden im Kampf für den Frieden.
die Wärme lieben. Gäbe es Elmar Kupke (1942 – 2018)
keinen Krieg, dann hätten wir Gegen den Strom schwimmen heißt, den
kein Wort für Frieden. Frieden zu lieben in einer aggressiven Welt.
Peter Hohl (*1941) Delia Steinberg Guzmán (*1943)
abenteuer philosophie — 17
PhiloSpirit
W
Großen“, war Martin
Heidegger überzeugt. em gehört der Tod? ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Daher braucht es bei
Nur einem selbst von 2020, traten just bekannte Argumen-
beiden viel menschliche
Zuwendung. oder hat das gesell- te zutage: Die einen fordern die aktive
schaftliche Umfeld Sterbehilfe, weil sie sie als Teil des durch
ein Mitspracherecht? die Menschenwürde verbürgten Frei-
Wieder einmal wird um die Frage nach heitsgrundsatzes verstehen, die anderen
dem selbstbestimmten Ausscheiden aus betonen die Gefahr, dass eine Liberali-
dem Leben gerungen. In einer Orientie- sierung letztlich ökonomische Anreize
rungsdebatte im Parlament zur Novelle zum assistierten Suizid setzen könnte.
des Sterbehilfegesetzes, ausgelöst durch Während nicht wenige Ärztinnen und
18 — abenteuer philosophie
PHILO
Essay
SPIRIT
Zwei Weltbilder kollidieren offenbar mit- und Tabu als schlechte Ratgeber. Um uns
einander und bezeugen auf Metaebene, die komplexen Entscheidungsprozesse zu
dass es längst keinen Konsens darüber erleichtern, scheint es daher unerlässlich
gibt, was wir heute unter einem „guten“ zu sein, sich auch über den tiefgehenden
Tod verstehen. Schließlich wird jenseits Sinn des Todes auszutauschen. Schon die
der regelmäßig aufpoppenden Ausei- antiken Tragödien geben wichtige Hin-
nandersetzungen mit der Sterbehilfe das weise dazu. Ihre ganze Traditionslinie,
letzte Kapitel der menschlichen Existenz allen voran die sophokleischen Dramen
kaum noch öffentlich diskutiert. Wohl über den Fluch der Labdakiden, lässt sich
auch, weil es sich nicht adäquat in die als einzige Lehrstunde über das Sterben
Fortschrittslogik unserer Zeit fügen will. begreifen. Ihre Protagonisten, darunter
Optimierungs- und Fitnesswahn, Körper- Ödipus und Antigone, sind stets vom
kult und Leistungsprimat tragen dazu bei, Schicksal dazu verurteilt, einen Prozess
dass das Ausscheiden aus dem Dasein vor der Qualen zu durchlaufen. Zur ihrer he-
allem als ein Störmoment gilt. Vielmehr roischen Reifung gehört das Wachsen am
richten sich wissenschaftliche Bestrebun- inneren und äußeren Widerstand. Erst
gen auf die Verwirklichung des ewigen durch ihr Leiden können sie zu ethischer
Lebens, ohne im Grunde zu erörtern, wie Größe gelangen und ihre bevorstehende
der rein quantitative Zeitgewinn qualitativ ausweglose Katastrophe annehmen.
zu nutzen wäre. Diesem Zwecke dienend,
haben Politik und Gesellschaft immer Nicht zu unterschätzen ist in diesem Thea-
mehr Schutzschirme gegen jedwede Un- tersetting die Rolle der Zuschauerinnen
sicherheit oder Gefährdung der Existenz und Zuschauer. Sie werden zu Mit-Lei-
errichtet. denden und bauen zumindest im fik-
Nicht nur in Bezug auf die Schutzmaß- tionalen Kosmos ein Verhältnis zum Tod
nahmen durch Corona spricht der Kul- auf. Dass hierin ein Gesellschaftsmodell
turphilosoph Byung-Chul Han daher en miniature zum Ausdruck kommt, hat
jüngst auch von der „immunologischen den Philosophen Emanuel Levinas zu der
Gesellschaft“. „Der Schmerz ist der Tod Feststellung bewogen: „Der Sinn des To-
im Kleinen – der Tod der Schmerz im des nimmt seinen Anfang zwischen den
Großen“, wusste schon sein Bruder im Menschen“. In früheren Zeiten, als man
Geist, Martin Heidegger, zu sagen, der noch nicht an Altersheime dachte, wur-
konsequent die humane Existenz vom de nicht selten im Kreis der Familie
Ende her dachte. Gewiss, das Bild vom
Photo 221429247 © Megaflopp | Dreamstime.com
abenteuer philosophie — 19
PhiloSpirit
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20 — abenteuer philosophie
Gedankenspiele
Empathische Egozentriker
PHILO
Ingrid Geringer
erzählt über Kolumne
Situationen der SPIRIT
Zeit und teilt ihre
ganz persönlichen
Beobachtungen — Outside in: wenn
Lebensart auf Philo-
sophie trifft. Gedan-
TEXT Ingrid Geringer
ken aus dem Alltag
von Ingrid Geringer,
K
freie Journalistin und
ennen Sie das Gefühl, wenn Kolumnistin
eine Art neues Trend-
wort auftaucht, Sie aber
das Gegensätzliche wahr-
nehmen? Sie wissen nicht
so recht, was ich damit meine? Ich gebe
Ihnen ein Beispiel: das Wort „Empa-
thie“. „Was für ein netter Mensch, und ihrem 20-Zoll-Laptop über den gan- das Zentrum der Welt an. Ähnlich wie die
so empathisch“, vernimmt man immer zen Tisch aus, sie scheint Wichtiges zu Herrschaften im Zug. Dennoch legen wir
wieder. In der Pädagogik wird die Em- erledigen, denn ihr Gegenüber, völlig in gesellschaftlich großen Wert darauf, keine
pathie sogar als eine Art moderne „Waf- die Enge getrieben, bleibt von ihr gänz- Egoisten zu sein, die zu ihrem eigenen
fe“ eingesetzt, und im Coaching wird lich unbemerkt. Wirklich empathisch, Wohl auf Kosten anderer handeln.
das Thema stufenweise durchexerziert, denke ich, weil das Wort schon so infla- Wir wissen, dass sich das in einer Welt,
sodass man gleich mehrere Sitzungen tionär auf meiner Zungenspitze parkt. die sich mit übergeordneten Themen
dafür veranschlagt. Ganze Empathie- Vis-à-vis versucht eine Frau einen freien wie jenen des Klimaschutzes oder der
Wellen, -Methoden und -Tools spulen Platz zu ergattern, dieser aber ist, laut Ausbeutung der Natur auseinandersetzt,
sich durch Podcasts, Lifestyle-Artikel mahnendem Sitznachbarn, jemand ande- nicht sonderlich gut macht. Da fällt der
und moderne Psychologie-Magazine. rem zugeteilt. Die Frau steht ganze zwei Egozentriker, der sich als Nabel der Welt
Gefühle, Gedanken und Emotionen der Stunden im Gang des überfüllten Ab- wahrnimmt und dabei nur unfähig ist,
anderen zu verstehen, sich in sie hinein- teils, der Platz bleibt leer. Währenddessen sich in die Rolle anderer zu versetzen,
zufühlen und mitzuempfinden, scheint dürfen alle Fahrgäste einem lautstark schon weniger ins Gewicht. Aber woher
enorm wichtig. Nur im Alltag fällt das geführten Telefon-Endlosgespräch eines weiß der Egozentriker, dass er einer
Praktizieren noch etwas schwer. Neulich, Mitreisenden zuhören. Mal ernst- ist? Er kann es nicht wissen, denn das
Fotos © Natasha Stanglmayr
auf einer Zugfahrt, tritt eine Frau auf die haft: Grassiert nicht eher das Wort „Ego- Gefühl der Selbstzentriertheit bekommt
Pfote meines Hundes. Als dieser dann zentrismus“? Ich erkläre es einmal so: er meist schon in die Wiege gelegt. Von
vor Schmerz aufjault, folgt ein entnervtes Während die Voraussetzung der Empa- dort aus, lässt sich dann auch Empathie
„Passen Sie doch besser auf Ihren Hund thischen darin besteht, zwischen sich und leicht praktizieren: „Ich mach‘ mir die
auf!“ Wie jetzt? Habe ich etwa die Frau den anderen unterscheiden zu können Welt, widdewidde, wie sie mir gefällt …“
in ihren Gefühlen verletzt? Mein Blick und sich daraus die Fähigkeit entwickelt, ap
schweift nach vorne zu einer anderen sich in andere hineinzufühlen, sieht
Szene. Eine Dame breitet sich mit sich der Egozentriker von vornherein als
abenteuer philosophie — 21
PhiloSpirit
— Ein buddhistischer
Thangka mit Mara,
dem großen
Verführer, der das
Lebensrad, Bhava-
chakra genannt, in
seinen Händen hält.
Das Schwein,
die Schlange
und der
TEXT Andreas Stock Hahn in dir
Drei Geistesgifte und deren Heilmittel
22 — abenteuer philosophie
Das Rad des Lebens dreht sich für uns Boden, den sie begierig nach Essbarem
durchforsten. Inwieweit verhalten wir uns
alle: Geburt, Jugend, Alter, Tod. Wer manchmal wie Hühner – den Blick ge-
kennt sie nicht, die Zeiten, als wir uns spannt auf ein paar „Körner“ gerichtet,
kaum den Blick zu höheren oder weiteren
im siebten Himmel empfinden, und Horizonten richtend? Der Gier liegt eine
anhaftende Geisteshaltung zugrunde. Das
diejenigen, in denen wir uns wie jene kann der Schokoriegel sein, den ich jetzt
empfinden, denen das Schicksal Feuer „unbedingt brauche“, die neuesten Nach-
richten auf dem Handy oder die Zahl der
unterm Hintern macht. Im Buddhismus Likes für eines meiner Fotos. All das hat
einen Aspekt der „Dringlichkeit“, des
wird dieses Auf und Ab im Leben „um jeden Preis Haben-Müssens“. Aber
„Samsara“ oder „Bhavachakra“ genannt wer muss das haben? Ich selbst oder der
Hahn in mir?
und in farbenfrohen Bildern dargestellt. Letztendlich ist Gier auf eine Form des
Mangels zurückzuführen. Mit etwas
Was treibt dieses Rad an? Gibt es einen Achtsamkeit können wir erkennen, dass
D
werden wir nicht ganz ohne Wünsche le-
ie bunten und symbolrei- wäre beispielsweise ein Leben, das ohne ben, aber wir können bewusst auswählen,
chen Darstellungen des die spezifisch menschliche Dimension – welchen Wunsch wir uns erfüllen, ob der
Lebensrades haben mich die Vernunft – gelebt wird. gerade drängende wirklich so wichtig ist
schon immer fasziniert. Ganz außen werden die zwölf „Nidanas“ oder lediglich kurzfristige Genugtuung
Man sieht sie auf Tempel- beschrieben, die Abschnitte des „Beding- schafft …
wänden oder Thangkas (Rollbilder) und ten Entstehens“, die die Art und Weise
sie beschreiben die Essenz des Buddhis- beschreiben, wie die Seele wiedergeboren SUBTILERE FORMEN VON GIER
mus: Eine grimmige Gestalt hält ein enor- wird. In diesem Artikel geht es jedoch Gier beziehungsweise Anhaften kann sich
mes Rad, in dem sechs Welten dargestellt um das Zentrum bzw. um die Essenz: um auch in Vergangenheit oder Zukunft be-
sind, die die unterschiedlichen Phasen des den Menschen, der in der lichten Hälfte merkbar machen. In der Vergangenheit
Lebens darstellen. Die grimmige Gestalt des Rades aufsteigt und auf der dunklen als fehlende Fähigkeit, Dinge loszulassen
ist Mara, der „Verführer“ oder in einer Seite absteigt, was auf die permanente („damals war alles besser, die Studienzeit
anderen Interpretation Yama, der Gott Möglichkeit des Auf- und Abstiegs des war die beste meines Lebens, danach ging
des Todes und der Unterwelt. Oben sieht Bewusstseins hindeutet. In der Radnabe alles bergab, damals war mein Körper
man meist zwei Buddhafiguren, die Hoff- findet sich die Ursache für den Fall des noch schön ...“) und in der Zukunft als
nung auf Erlösung vermitteln, und im Bewusstseins in die trügerische Welt von Erwartung und Hoffnung auf etwas, dass
Zentrum drei rätselhafte Tiere: Schwein, Mara: die drei Geistesgifte, die das ge- uns dann zukünftig Zufriedenheit geben
Schlange und Hahn. samte Rad in Bewegung halten: soll. Die gesamte westliche Welt mit all ih-
Photo 175086862 © Vladimir Zakharov | Dreamstime.com
die Schlange als Symbol für den Hass, ren Problemen ist wie ein kollektiver Aus-
WAS HAT ES MIT DIESEN SYMBOLEN der Hahn als Symbol für die Gier, das druck von Gier, die aus einer endlichen
AUF SICH? Schwein als Symbol für Unwissenheit Welt immer mehr und mehr herausschla-
Den größten Teil des Bildes nehmen die oder Verblendung. gen will mit den Folgen der ökologischen
sechs Welten ein: die Welt der Götter, der Die Darstellungen der Buddhas in den Katastrophe. Ein weiterer Ausdruck ist
Halbgötter, der Menschen, der Tiere, der sechs Welten sowie außerhalb davon wei- das Streben nach ewigem (physischem)
Hungergeister und die Welt der Hölle. sen auf die permanente Möglichkeit der Leben, das im Transhumanismus gipfelt.
Man kann dies so verstehen, dass es sich Erlösung hin. Wie? Indem man in sich
um verschiedene Inkarnationen der Seele die drei Geistesgifte erkennt und trans- WAS TUN?
in Mensch- und Tierreich bis hin zu einer formiert. • Nicht jedem Impuls sofort nachgehen.
göttlichen Dimension handelt. Eine ande- Viktor Frankl appelliert an unser mensch-
re Interpretation geht davon aus, dass es DER HAHN IN DIR ODER DIE GIER liches Bewusstsein, wenn er sagt: „Zwi-
immer um das menschliche Leben geht – Hühner verbringen viel Zeit damit, nach schen Reiz und Reaktion liegt ein Raum.
selbst, wenn symbolisch Tiere oder Götter jedem Korn und Wurm zu picken. Ihr In diesem Raum liegt unsere Macht zur
dargestellt sind. Die tierische Dimension Lebensfokus ist meist ein kleiner Bereich Wahl unserer Reaktion. In unserer
abenteuer philosophie — 23
PhiloSpirit
24 — abenteuer philosophie
aller giftigen Emotionen. Lebensphasen,
in denen wir Gefangene sind unserer „Verblendung ist des Elends
eigenen Ängste, Hass- und Neidgefühle
und damit anderen, aber am meisten uns Wurzelgrund. Unwissenheit ist
selbst schaden.
Quelle aller Krankheit. Sie schlägt
3. DAS SCHWEIN IN DIR ODER DIE
VERBLENDUNG den Geist mit Blindheit und schafft
In den Lehrreden des Buddha wird die
Verblendung (Sanskrit: moha) als das die Welt des stummen Tiers.“
Grundübel angesehen, aus dem auch die
anderen Geistesgifte, Hass und Gier, ent- Aus einem Pali-Text
stehen.
In einem Pali-Text heißt es: „Verblendung
ist des Elends Wurzelgrund. Unwissenheit phin H. P. Blavatsky empfiehlt sogar sie-
ist Quelle aller Krankheit. Sie schlägt den ben Mal so lange …
Geist mit Blindheit und schafft die Welt • Die eigenen Meinungen überprüfen:
des stummen Tiers.“ Was weiß ich wirklich über die Themen
Das Tückische an der Unwissenheit ist, der Weltpolitik oder sonstigen Gesprächs-
dass sie uns meist nicht so leicht auffällt stoff und wo wiederhole ich nur andere
und nicht so störend ist wie die Gier oder Meinungen?
der Hass. Oft erkennen wir die eigene Ver- • Ein Erfahrungstagebuch: Was hat mich
blendung erst viel später … der heutige Tag gelehrt?
Was ist die Ursache von Verblendung? • Das Nachdenken über erhabene The-
Mangelndes Denken. Manche denken men der Philosophie wie die Vier Erha-
nun vielleicht: „Aber ich denke ja sowie- benen Wahrheiten, den Edlen Achtfachen
so die ganze Zeit! Mein Verstand arbeitet Pfad …
— Die Welt der Tiere
ja immerfort …“. In der östlichen Philo- ist ein Leben in
sophie werden zwei Arten des Denkens Unbewusstheit. DIE WELT DER TIERE
unterschieden: das automatische Denken Ein Leben, das den Sie ist ein Leben in Unbewusstheit. Ein
und das höhere Denken. Ersteres ist wie Instinkten folgt. Leben, das den Instinkten folgt. Ohne
ein Affe: unstet, springt von einem zum Ohne Nachdenken Nachdenken über das Leben, ohne Re-
über das Leben, ohne
anderen, kreist um die eigenen Bedürfnis- Reflexion.
flexion: immer den einfachen Weg gehen;
se oder die eigenen Ablehnungen, schwer davonlaufen, wenn man Angst hat; angrei-
zu bändigen … fen, wenn man wütend ist; schlafen, wenn
Das höhere Denken ist wie ein Elefant: man müde ist …
stabil, stark, ruhig, gelehrig (in Indien das
Symbol der Weisheit). Dieses Denken gilt Gemäß der buddhistischen Philosophie
es zu entwickeln und zu üben! haben wir unser Schicksal selbst in der
Hand. Wir entscheiden Tag für Tag, ob
Photo 175086862 © Vladimir Zakharov | Dreamstime.com
Was sind subtilere Formen davon? wir uns tiefer in die Welt von Mara hin-
Zu diesem Thema schreibt Nyanaponika: einziehen lassen, oder ob wir bewusst
Fanatismus, Dünkel, Verwirrung, Stumpf- gemäß unseren Wertevorstellungen han-
sinn, Vorurteile. Alles in allem ist es die deln. Jeder Gedanke, jede Emotion und
Welt der Meinungen: sich ein Urteil zu jede Handlung prägen uns und die Welt.
bilden, ohne tiefer nachzudenken. In jedem Moment säen wir Karma, also
handeln wir, wodurch wir Ursachen für
WIE ÜBERWINDET MAN DIE zukünftige Ereignisse setzen. ap
UNWISSENHEIT?
• Die Lektüre eines Philosophiemaga-
LITERATURHINWEIS:
zins ist schon ein guter Anfang. Doch um Nyanaponika Mahathera: Die Wurzeln von Gut
wirklich vorwärtszukommen, sollte über und Böse. Verlag Beyerlein & Steinschulte, 2008
das Gelesene mindestens so lange nach- Chögyam Trungpa: Spirituellen Materialismus
durchschneiden. Theseus Verlag, 2017
gedacht werden wie die Zeit, die man zum Dalai Lama, Desmond Tutu und Douglas Abrams:
Lesen brauchte. Die russische Philoso- Das Buch der Freude. Lotos Verlag, 2016
abenteuer philosophie — 25
PhiloSociety
Krieg und
Gewalt
26 — abenteuer philosophie
PHIL
O
Gedanken
S
OCIET
Y
TEXT Helmut Knoblauch
D
as Wort „Krieg“ (althoch- Gewalt (althochdeutsch „waltan“: stark finden und gegenüber anderen Personen,
deutsch „chreg“, mittel- sein, beherrschen) bezeichnet den Einsatz Tieren und Sachen angewandt werden.
hochdeutsch „kriec“) von physischem oder psychischem Zwang Die philosophische Kampfkunst spricht
bedeutete ursprünglich gegenüber Menschen, Tieren und Sa- andererseits vom sogenannten inneren
„Hartnäckigkeit“, „An- chen. Im soziologischen Sinn ist Gewalt Krieg, wobei dabei die Transformation
strengung“, „Streit“, „Kampf“, „bewaff- eine Quelle der Macht. Im engeren Sinn der eigenen Schwächen in Tugenden ge-
nete Auseinandersetzung“. Krieg wird wird darunter häufig eine illegitime Aus- meint ist. Grundlegende Elemente dabei
als ein organisierter und unter Einsatz übung von Zwang verstanden. Die Welt- sind Selbsterkenntnis und Selbstbeherr-
Photo 31035119 / Martial Arts © Pratik Panda | Dreamstime.com
erheblicher Mittel mit Waffen und Ge- gesundheitsorganisation definiert Gewalt schung.
walt ausgetragener Konflikt beschrieben. in dem Bericht „Gewalt und Gesund- Der Zugang zu diesem Konzept ist ein
Die Ursachen dafür sind ökonomischer, heit“ (2002) wie folgt: „Gewalt ist der rein symbolischer, indem die äußeren
politischer, ideologischer, religiöser und tatsächliche oder angedrohte absichtliche Vorkommnisse Widerspiegelungen in-
kultureller Natur. Gebrauch von physischer oder psycholo- nerer Vorgänge darstellen. Unsere Ge-
gischer Kraft oder Macht, die gegen die danken, Vorstellungen, Meinungen, Ge-
eigene oder eine andere Person, gegen fühle und Emotionen tragen wir über
eine Gruppe oder Gemeinschaft gerich- unsere Handlungen nach außen. Ändern
tet ist und die tatsächlich oder mit hoher wir zum Beispiel unsere Meinung, wird
Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, sich das ebenso in einer Änderung unserer
psychischen Schäden, Fehlentwicklung Haltung nach außen zeigen. Der „innere
— Der äußere (Zwei-) oder Deprivation führt.“ Kampf“ spiegelt die innere Auseinander-
Kampf ist eine Wider- setzung zwischen den eigenen Schwächen
spiegelung der inneren DER INNERE KRIEG und Tugenden in dem äußeren (Zwei-)
Auseinandersetzung
zwischen den eigenen
Im Allgemeinen definiert man mit die- Kampf. Jede Änderung einer Eigenschaft
Schwächen und sen beiden Begriffen Handlungen und führt zu einer dementsprechenden Wand-
Tugenden. Ereignisse, die außerhalb von uns statt- lung auf der „anderen“ Ebene.
abenteuer philosophie — 27
PhiloSociety
PHIL
O
Gedanken
S
OCIET
Y
Ein Beispiel für diese politische Ausei-
nandersetzung findet sich im Buch „Das
Mahabharata“ (Sanskrit „Die große Ge-
schichte der Bharata-Dynastie”). Dieses
Buch ist neben dem „Ramayana“ das be-
deutendste Sanskrit-Epos Indiens. Es be-
schreibt den Kampf zwischen den beiden
verfeindeten Volksstämmen der Kauravas
Gewalt ist die
und Pandavas. Die Kauravas entsprechen
symbolisch den Schwächen, die Pandavas
letzte Zuflucht
stellen die Stärken dar. Ein Textauszug
soll diesen symbolischen Zugang verdeut-
des Unfähigen.
lichen:
Isaac Asimov
Die Frage des Lehrers Bhima lautet:
„Welches ist der unsichtbare Feind? Was
gilt als unheilbare Krankheit? Wer ist eh- Der Kampfkunst-Meister Michel Eche-
renhaft und wer ist unehrenhaft?“ nique schreibt dazu, dass der Mensch
dann zur Gewalttätigkeit neigt, wenn sei-
Die Antwort des Prinzen Yudhishthira ne In-stinkte, Leidenschaften, seine Wut,
lautet: „Zorn ist der unsichtbare Feind. sein Zorn und seine Angst die Herrschaft
Gier ist eine unheilbare Krankheit. Der über sein Denken und Tun übernehmen.
ist ehrenhaft, der das Wohl aller Geschöp- Denken wir dabei an die allgegenwärtigen
fe will, und der ist unehrenhaft, der un- Action-Filme, in denen Rache, Aggres-
dankbar ist.“ sion, Hass, Gier und Leidenschaft die
hauptsächlichen Motivationen für auf-
So erkennt der Übende in der Kampf- wendig inszenierte Kämpfe darstellen.
kunst über seine mangelhaften Techniken
seine inneren Schwächen. Die Änderung Orientieren wir uns deshalb lieber an der
muss stets im Inneren beginnen, um im Aussage des Buddha im Buch „Dham-
Äußeren wirksam zu werden. Nachdem mapada“: „Besser ist es, einmal nur sich
das höchste Ziel in der Kampfkunst (er- selbst zu besiegen, als tausend Schlachten
staunlicherweise) der Frieden ist, können zu gewinnen.“
wir uns folgende Frage stellen: Kann der
erfolgreich geführte innere Krieg den äu- IN DER KAMPFKUNST UND AUCH IM
ßeren, mit Waffengewalt geführten, ver- LEBEN
hindern? In der Kampfkunst treffen in einem Zwei-
kampf zwei Kämpfer aufeinander, die sich
DIE GEWALT UND DIE EMOTIONEN freiwillig und auf den jeweils anderen ach-
Als einmal ein Freund den griechischen tend dazu entschlossen haben, ihre eigene
Philosophen Platon besuchte, wurde er Erfahrung in Bezug auf eine Verbesserung
Zeuge einer Szene, in der ein Diener eine ihrer Charaktereigenschaften zu berei-
äußerst wertvolle Vase aus Unachtsamkeit chern. Wie steht es also mit der Bezie-
umstieß. Diese zerschellte in Hunderte hung zu mir selbst? Will ich mich meinen
Stücke. Platon reagierte nicht. Nachdem Schwächen kampflos ergeben, gebe ich — Das höchste Ziel in
der Diener unter vielfachen Entschuldi- mich schon vor der Schlacht geschlagen, der philosophischen
gungen den Raum verlassen hatte, fragte weil „ich halt so bin, wie ich bin“? Oder Kampfkunst ist der
der Freund den Philosophen erstaunt, trete ich an zur ehrenvollen Auseinan- Frieden. So können wir
uns die Frage stellen:
warum er denn den Diener ob seiner Un- dersetzung gegen meine niederen Emo- Kann der erfolgreich
geschicklichkeit nicht bestraft hatte. Pla- tionen, meinen Hass, meine schlechten geführte innere Krieg
ton erwiderte darauf: „Ich habe darauf Gedanken im ehrlichen Bemühen, ein äußere Waffengewalt
nicht reagiert, weil ich zornig war.“ besserer Mensch zu werden? ap verhindern?
28 — abenteuer philosophie
Um wirklich zu wissen, wo sich
die feindlichen Truppen befinden,
musst du genau wissen,
wo sich die Feinde in dir verbergen.
Altindische Vorschrift für das Heer
Photo by SwapnIl Dwivedi on Unsplash
abenteuer philosophie — 29
PhiloSociety
Warum gibt es
Krieg …
… und warum Frieden kein
Zustand ist
Wenn wir an Krieg und Frieden denken,
so erscheint uns der Krieg aktiv und
der Frieden passiv. Frieden jedoch
braucht permanentes Engagement von
uns allen, ist Ronald Tuschl überzeugt.
Was der ersehnte Frieden von allen
verlangt, erläutert der Friedens- und
Konfliktforscher und ehemalige Lehr- und
Forschungsbeauftragter am European
University Center for Peace Studies
(EPU) und am Austrian Study Center for
Peace and Conflict Resolution (ASPR) in
Stadtschlaining im Burgenland.
30 — abenteuer philosophie
PHIL
O
Interview
INTERVIEW MIT Ronald Tuschl S
OCIET
Y
Warum gibt es Krieg?
Auf diese Frage gibt es zahlreiche Ant-
worten seitens der Kulturanthropologie,
Soziologie, Politikwissenschaft und Philo-
sophie, deren Erklärungsversuche wohl
den Rahmen sprengen. Heraklit hatte
einmal den Krieg als „Vater aller Dinge“
bezeichnet. Ganz richtig lag er damit
allerdings nicht. Obwohl sich der Krieg
wie eine Blutspur durch die Menschheits-
geschichte zieht, spielte der Frieden eine
nachhaltigere Rolle in der menschlichen
Evolution als der Krieg. Der Mensch ist
daher prinzipiell zum Frieden fähig, wie
Immanuel Kant in seiner Streitschrift
„Zum ewigen Frieden“ ausführlich er-
läutert hatte.
eingehalten oder erst geschaffen werden Berlin gefallen und der Kommunismus Frieden. Es geht
zurück auf die Sint-
müssen. in Osteuropa zusammengebrochen.
fluterzählung, als
Diese Ereignisse haben mich maßgeb- die Taube mit dem
Ist Frieden möglich? lich dazu bewegt, mich näher mit diesem Zweig zurückkehrte
Ja, prinzipiell ist Frieden möglich. Themenkomplex zu beschäftigen, und und das Ende der
Dazu ist allerdings die Verrechtlichung ich habe es bis heute nicht bereut, zumal Flut anzeigte, die
Versöhnung Gottes
der internationalen Beziehungen, die vieles, was damals noch geringschätzig
mit den Menschen.
Achtung der Menschenrechte und die belächelt wurde, heutzutage sehr ernst-
Einhaltung des Völkerrechts, die Stär- genommen wird.
kung der demokratischen Partizipation
und Meinungsfreiheit, die gerechte Ver- Heute fühlen wir uns stärker betroffen,
teilung von ökonomischen Ressourcen, einbezogen in das Kriegsgeschehen,
die Förderung der sozialen Gerechtigkeit mehr als damals beim Krieg in Jugosla-
sowie die Überwindung der national- wien, obwohl er räumlich näher war.
abenteuer philosophie — 31
PhiloSociety
Dass wir uns heute stärker betroffen der Ukraine wirklich alles aufs Spiel set-
fühlen als damals beim Krieg in Jugosla- zen sollte. Dieser schwindende Rückhalt
wien, liegt natürlich auch daran, dass der in seinem Umfeld könnte ihm auf längere
Krieg in der Ukraine auch über Social Sicht das politische Überleben kosten.
Media ausgetragen wird, was noch mehr
räumliche Nähe bewirkt. Was ist Ihr Wunsch/Appell an unsere Ronald H. Tuschl
Leser? studierte
Politikwissenschaft
Was ist die Aufgabe eines Friedens- Putin wird es darauf anlegen, dass die
mit der freien
forschers? Menschen in Europa gegen die Inflation Fächerkombination
Die Aufgabe eines Friedensforschers be- und steigenden Energiepreise im kom- Zeitgeschichte,
steht vornehmlich darin, die komplexen menden Winter auf die Straße gehen und Internationale Politik,
Ursachen von Krieg und Gewalt zu er- dadurch die Front gegen ihn zu bröckeln Völkerrecht, Interna-
tionale Entwicklung
forschen und entsprechende Alternativen beginnt. Mein Wunsch/Appell an die Le-
und EDV für Geistes-
zu entwickeln. In der Friedensforschung ser wäre daher, dass sie sich von diesem wissenschaften an
wurden bislang drei Generationen identi- taktischen Schachzug nicht beeindrucken der Universität Inns-
fiziert. Die erste Generation beschränkte lassen, zumal wir auch ohne den Krieg in bruck sowie Friedens-
sich vornehmlich auf die Überwindung der Ukraine unseren verschwenderischen und Konfliktforschung
in Frankfurt/Main.
des Krieges, die zweite befasste sich mit Lebensstil im Hinblick auf die Energie-
Er war von 1996 bis
sozialen Ungerechtigkeiten und Men- wende überdenken müssten. 2013 als Lehr- und
schenrechten, die dritte bemühte sich um Forschungsbeauf-
Rüstungskontrolle, Umweltfragen und Es gibt viele weise Sprüche, wo der tragter am European
Minderheitenschutz. Die derzeit heran- Frieden beginnt: im eigenen Haus, im University Center for
Peace Studies (EPU)
wachsende vierte Generation wird sich eigenen Herzen, mit einem Lächeln …
und am Austrian
wohl mit aktuellen Fragen wie Migration, Wo beginnt er für Sie? Study Center for
Energiesicherheit und Klimawandel be- Ich denke, dass der Frieden in erster Peace and Conflict
fassen. Linie durch eine grundlegende Bewusst- Resolution (ASPR) in
seinsänderung in Bezug auf das Demo- Stadtschlaining tätig.
Heute lehrt er an der
Wie schätzen Sie die derzeitige Lage in kratieverständnis beginnt. Viele Men-
Karl-Franzens-
der Ukraine-Russland-Krise ein? schen hierzulande fühlen sich gegenüber Universität Graz
Putin steht derzeit mit dem Rücken zur Ereignissen in der Weltpolitik ohnmäch-
Wand. Er hatte nicht nur die Entschlos- tig, weil sie es selbst gewohnt sind, nur
senheit der ukrainischen Bevölkerung zur alle fünf Jahre zur Wahlurne gerufen zu
Selbstverteidigung unterschätzt, sondern werden und sich danach von der heimi-
durch die Anordnung der Teilmobil- schen Politik im Stich gelassen fühlen.
machung den weit entfernt scheinenden Dieses Verständnis von Demokratie hat
Krieg direkt in die russische Bevölkerung jedoch meines Erachtens ausgedient. In
getragen. Dies hatte zur Folge, dass seine Zukunft ginge es darum, sich selbst für
verharmlosende Propaganda maßgeb- eine gute Sache zu engagieren, diese ak-
lich entzaubert wurde. Auch die von ihm tiv mitzugestalten und auf diese Weise an
oftmals angedrohte nukleare Option der Gesellschaft und am Weltfrieden zu
schwindet angesichts der Tatsache, dass partizipieren. Frieden ist kein Zustand,
immer mehr Eliten in seinem Umfeld sondern ein fortwährender Prozess, der
ernsthafte Zweifel daran äußern, ob man permanentes Engagement verlangt und
angesichts einer drohenden Niederlage in keine Komfortzone kennt. ap
32 — abenteuer philosophie
Nachdenken PhiloPoem
abenteuer philosophie — 33
PhiloSociety
Dialog mit
Sophia
— Schuldgefühle
und die damit
verbundenen
Selbstabwertungen
sind Konsequenzen
von dem, was wir
von anderen
eingeredet oder
nonverbal vermittelt
bekommen haben.
Über Schuld
Photo by Janko Ferlič on Unsplash
O
Dialog
S
OCIET Schuldhaftigkeit des Menschen und die
Y
schändlichen Taten, die er mit seinem
freien Willen vollbringt.
W
hin hat laut den Religionen Gott den
lie jeden Dienstag- Menschen in seiner Gesamtheit er-
abend treffe ich schaffen, d. h., schuldhaftes Verhalten
mich mit Sophia im muss in seiner Vorstellungskraft gele-
Café Akropolis. Bei gen haben. Wenn sich also etwas schul-
gedimmtem Licht dig verhalten kann, muss Gott auch
und einem Glas Wein erörtern wir wie schuldig sein, denn immerhin konnte er
jede Woche philosophisch-psychologische sich das Konzept Schuld vorstellen.
Kontroversen, die uns innerlich bewegen. Tarik: Wie wir uns verhalten, hängt also Sophia: Du denkst also, dass es niemals
Diesmal habe ich beschlossen, das The- von unserer Persönlichkeit und unseren berechtigt ist, sich schuldig zu fühlen?
ma „Schuld“ einzubringen. Erfahrungen ab. Bedürfnisse motivieren
uns auch zu einem bestimmten Verhal- Tarik: Dass Schuldgefühle existieren,
Tarik: Ist es berechtigt, dass wir Men- ten. Gibt es noch andere Beweggründe, liegt auf der Hand. Jeder von uns hat
schen uns schuldig fühlen? die wichtig sind? sich schon einmal schuldig gefühlt.
Sophia: Du meinst, das ist eine Frage, Sophia: Sicherlich, wie ich mich gerade Sophia: Wenn es keinen freien Willen ge-
die tatsächlich zur Disposition steht? Wie fühle. Und meine Gefühle hängen damit ben sollte, warum gibt es dann überhaupt
würdest du denn Schuld definieren? zusammen, ob meine Bedürfnisse erfüllt Schuldgefühle?
worden sind oder nicht. Die Situation, in
Tarik: Schuld ist für mich das Gefühl, der ich zu einer Entscheidung bezüglich Tarik: Zunächst sind Schuldgefühle und
das entsteht, wenn ich gegen meine meines Verhaltens gezwungen werde, ist die damit verbundenen Selbstabwer-
moralischen Normen verstoße. Ich be- auch ein entscheidender Faktor. tungen, die wir an uns vornehmen, ein-
merke es körperlich und es führt dazu,
dass ich mich entschuldigen und eine
Wiedergutmachung leisten möchte.
Sophia: Schuld ist also berechtigt. Schau
Meistens übernehmen Kinder
doch nur, was in der Welt passiert. Da
sagst du, dass der Mensch sich nicht
die unrealistisch hohen Standards
schuldig fühlen muss? der Bezugspersonen, welche sich nie
Tarik: Ich denke, dass es eine komple-
xere Angelegenheit ist. Was führt dazu,
erreichen lassen.
dass man sich so verhält, wie man sich
verhält?
Sophia: Ich würde sagen, am ehesten die Tarik: Und wie viele dieser Motive, die fach die Konsequenz von dem, was wir
eigene Persönlichkeit. wir gerade gesammelt haben, können von anderen eingeredet oder nonverbal
wir voll und ganz beeinflussen? vermittelt bekommen haben. Und
Tarik: Die spielt dabei sicher eine große Sophia: Ich verstehe allmählich, worauf Schuldgefühle geben uns ein Gefühl
Rolle. Was würdest du denn unter Per- du hinauswillst. «Haben wir so etwas wie von Kontrolle.
sönlichkeit verstehen? einen freien Willen, oder nicht?» Sophia: Ein Gefühl von Kontrolle?
Sophia: Für mich ist die Persönlichkeit
das Ergebnis von überdauernden Einstel- Tarik: Diese Frage muss vorher ge- Tarik: Wenn ich mich nur so oder so
lungen, typischen Verhaltensweisen und klärt werden. Wenn jedes Verhalten verhalten hätte, wäre dieses oder jenes
des Temperaments. Ein Teil der Persön- verschiedenen und vielfachen Einflüs- nicht passiert. Also hätten wir in der
lichkeit ist sicher angeboren. Der Rest sen unterliegt, kann man im Grunde vergangenen Situation die Möglichkeit
formt sich durch die Erfahrungen, die wir niemanden schuldig sprechen. gehabt, alles abzuwenden, und haben
machen? Sophia: Viele Religionen betonen die in künftigen Situationen ebenfalls die
abenteuer philosophie — 35
PhiloSociety
Möglichkeit, uns anders zu verhalten. für mich, wenn Menschen generell und
Ansonsten müssten wir akzeptieren, immer die Schuld auf sich nehmen.
Tarik Hizli
dass es Situationen gibt, in denen wir Sophia: Du meinst, wenn sie ein dauer- ist Psychotherapeut
macht- und hilflos sind. Das ist für den haftes Schuldgefühl haben. mit dem Schwerpunkt
Menschen nahezu unerträglich beängs- der Traumatherapie.
tigend. Tarik: Genau! Sich ein Leben lang Er lebt und arbeitet
Sophia: Dann sich lieber schuldig fühlen? schuldig zu fühlen aufgrund von Taten, in der Schweiz.
Aufgewachsen ist er
die man in der Vergangenheit begangen mit türkischem Mig-
Tarik: Um zu überleben, musste und hat, finde ich zu viel. Das entbindet rationshintergrund in
muss der Mensch ein gewisses Maß an nicht von der Verantwortung, seine Berlin, was früh dazu
Kontrolle besitzen. Taten aufzuarbeiten, eine angemesse- geführt hat, dass er
Sophia: Brauchen wir Schuldgefühle ne Wiedergutmachung zu leisten und sich mit philosophi-
schen Fragestel-
nicht auch, damit wir überhaupt zusam- sich zukünftig konsequent anders zu lungen, vor allem
menleben können? Es gibt Verhaltens- verhalten. Dann sollte man auch auf- in Bezug auf seine
regeln, auf die wir uns gesellschaftlich hören dürfen, sich weiterhin schlecht eigene Identität,
geeinigt haben. Ohne ein Pflichtgefühl zu fühlen. auseinandergesetzt
und schlechtes Gewissen würden wir uns Sophia: Die Verhaltensänderung halte ich hat. Seit acht Jahren
arbeitet er mit kom-
nicht an diese halten und ein geordnetes auch für wichtig. Ohne diese ist jegliches plex traumatisierten
Zusammenleben wäre nicht möglich. Aufarbeiten sinnlos aus meiner Sicht. Menschen, bei denen
Und wenn man gegen diese Regeln ver- sich Schuld- und
stößt, sollte man sich doch anschließend Tarik: Zumindest finde ich diesen Weg Schamgefühle als
schuldig fühlen, oder? Sonst würde man deutlich produktiver, auch für die Ge- zentrale Themen in
der Therapie heraus-
den Verstoß laufend wiederholen. sellschaft, als sich dauerhaft schuldig kristallisiert haben.
zu fühlen, dadurch gelähmt zu sein und Vielleicht bewirken
Tarik: Ist es nicht auch wichtig, ob man nichts zu tun. Und wir haben gerade diese Texte ein Um-
an der Festlegung der Regeln beteiligt von berechtigten Schuldgefühlen ge- denken und einen
war? sprochen. Es gibt viele Menschen, die nachsichtigeren Blick
auf sich selbst sowie
Sophia: Es ist schwer, sich gesamtge- während ihres Aufwachsens fälsch- auf andere.
sellschaftlich immer deiner Präferenz licherweise vermittelt bekommen, dass
entsprechend festzulegen. sie verantwortlich für den Zustand und
an jeglichen negativen Emotionen der
Photo by Zhivko Minkov on Unsplash
36 — abenteuer philosophie
PHIL
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Tarik: Wenn die Kinder die Verantwor-
tung dort belassen würden, wo sie
Dialog
hingehört, nämlich bei den Bezugs- S
OCIET
Y
personen, dann müssten sie sich gegen
die Vorwürfe auflehnen und für sich — Manche Kinder
einstehen. Mitunter wäre dies viel fühlen sich dauer-
gefährlicher für ihr Überleben als sich haft, als würden
unterzuordnen. Meistens übernehmen sie versagen und
schuldig sein, weil
sie die unrealistisch hohen Standards
sie denken, dass
der Bezugspersonen, welche sich nie sie ihre Bezugs-
erreichen lassen. personen laufend
Sophia: Sie fühlen sich dann dauerhaft, enttäuschen.
als würden sie versagen und schuldig Tarik: „Richtig! Zu guter Letzt: Könnte
sein, weil sie denken, dass sie ihre Be- man die Befolgung von Regeln nicht
zugspersonen laufend enttäuschen. Aber aufgrund von Mitgefühl für andere ge-
niemand ist jemals immer schuld. währleisten?“
Sophia: Ich kann mir vorstellen, dass das
Tarik: So jemand wäre nicht über- Mitgefühl, das die meisten Menschen
lebensfähig. Unsere Bezugspersonen empfinden, nicht stark genug als Motiva-
hätten uns schon längst verstoßen, tion dient, um Regeln einzuhalten.
wenn wir tatsächlich jedes Mal schul-
dig wären. Oftmals beschuldigen uns Tarik: Weil die meisten Menschen nicht
andere Menschen nur, weil sie sich ihre damit aufwachsen. Stell dir vor, dass
eigenen Unzulänglichkeiten nicht ein- die Erziehung darauf ausgerichtet
gestehen können oder sich uns gegen- wäre und auch die gesellschaftliche
über überlegen fühlen wollen. Aufgrund Haltung, zum Beispiel in der Schule.
unseres schlechten Gewissens können Sophia: Möglich wäre es.
wir durch andere gesteuert werden.
Und durch starke und immer vorhan- Tarik: Verhaltensregeln und einen
dene Schuldgefühle erhöhen wir die Umgang mit Verstößen gegen diese
Wahrscheinlichkeit, dass uns schlechte bräuchte es natürlich trotzdem, aber
Dinge widerfahren, umso mehr. unter Umständen würde man wenigs-
Sophia: Wieso das? tens damit aufhören, mit dem mora-
lischen Finger auf sich oder andere
Tarik: Durch Schuld gesteuertes Ver- zu zeigen. Ob Beziehungen und eine
halten ist oft kontraproduktiv. Sie sich selbst gegenüber aufgrund nicht Gesellschaft basierend auf Mitgefühl
lässt uns unsere eigenen Bedürfnisse gelebter Wünsche und Fähigkeiten. funktionieren, muss ausprobiert wer-
unterdrücken und uns unterordnen. Sophia: Mit dieser Art von Schuld zu den, vermute ich.“
Sie verleitet uns entweder dazu, keine leben ist mindestens genauso schlimm. Sophia: Das wäre spannend.
Grenzen zu setzen oder diese nicht zu
verteidigen, sollte jemand sie über- Tarik: Aber kommen wir zur Ausgangs- Tarik: Beim nächsten Mal darfst du
schreiten. Somit sind wir anfälliger für frage zurück: „Ist es berechtigt, dass aussuchen, welches Gefühl wir be-
die Taten anderer. Dazu reduzieren die wir Menschen uns schuldig fühlen?“ sprechen.
permanenten Selbstvorwürfe die poten- Sophia: Zusammengefasst haben wir bis- Sophia überlegt kurz: Beim nächsten
zielle Lebensfreude jeder Situation. her herausgefunden, dass zunächst jeder Mal interessiert mich deine Meinung
Wie schlecht muss es sich anfühlen, einzelne die Frage des freien Willens für zum Gefühl Scham. ap
wenn man sich in zwischenmensch- sich beantworten muss.
lichen Situationen stets schuldig und Anschließend haben wir gesagt, dass
fehlerhaft fühlt? Das generelle Schuld- spezifische und vorübergehende Schuld-
gefühl hat meines Erachtens noch eine gefühle angemessen sein können, solange
zweite, vielleicht sogar noch wichtigere man eine Entschädigung leistet und sein
Komponente. Wenn man sich ständig Verhalten dementsprechend verändert.
den Wünschen anderer Menschen an- Anhaltende Schuldgefühle sollte man
passt, entwickelt man Schuldgefühle infrage stellen.
abenteuer philosophie — 37
PhiloScience
—
ΘHINK GREEK –
DENKEN LERNEN
MIT DEN ALTEN
GRIECHEN
NR. 8
—
Ἁρμονία
Harmonie und Einklang
Das Maß aller Dinge
TEXT Christoph Quarch
A
anderstehende zusammenstimmend und
m Ende des IX. Buches Ordnung. Und es war das Hauptanliegen aus dem Unstimmigen die schönste Har-
seines großen Dialogs jener ersten Denker, die als „Vorsokrati- monie“ (Fr. 8).
über den Staat legt Pla- ker“ bekannt sind, zu verstehen, was es Das klingt in sich widersprüchlich, und
ton seinem Sokrates einen auf sich hat mit dieser wunderbaren gro- so sah sich Heraklit genötigt, ein Symbol
bemerkenswerten Satz in ßen Ordnung, die sich vor ihnen entfal- für das Gemeinte anzubieten: „Sie verste-
den Mund: „Vielleicht ist für uns ja ein tete. hen nicht, wie das Unstimmige mit sich
Muster hinterlegt im Himmel, das zu be- Es war wohl Heraklit – den sie den „dunk- übereinstimmt: des Wider-Spännstigen
trachten einen Menschen dazu bringt, len Denker“ nannten –, der als Erster Einklang (harmonía) wie bei Bogen und
sich selbst auf gute Weise einzurichten.“ das Wort fand, mit dem die Philosophen Leier.“ (Fr. 51) Macht das Bild die Sache
Was mag das für ein Muster sein, fragt Griechenlands fortan benannten, was ih- klarer? Nun, Leier und Bogen verdanken
man sich da als neuzeitlicher Leser? Für nen für das gesamte Leben maßgeblich ihre Funktionalität der hohen Spannung
Foto: © Ulrich Mayer
Platons Zeitgenossen aber war die Sache und richtungsweisend schien: hármonía, einer Sehne, die zwei auseinanderstre-
klar: Der Himmel selbst mit seiner wun- Harmonie. Und er ließ es nicht dabei be-
derbaren Ordnung galt ihnen als Inbegriff wenden, dieses Wort im Zentrum seines
der Schönheit. Das große Schauspiel der Denkens zu platzieren, er lieferte zugleich
Gestirne nannten sie kósmos: schöne auch eine Formel, die erklärte, was es
38 — abenteuer philosophie
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bende Enden zusammenhält. Es ist die-
ΘhinkGreek
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se Spannung, die der Leier wunderbare
CIE
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Klänge entströmen lässt – eine Musik, die
so machtvoll ist, dass der Gott Apollon
NC
damit den Kriegsgott Ares besänftigen
und der Sänger Orpheus das Herz des
Totengottes Hades erweichen konnte. Die
Musik, die selbst der Inbegriff des Har-
monischen ist, verdankt sich einem in sich
spannungsvollen, einander widerstreben- wurde nicht müde, das Maß der Harmo- griechische Vertrauen in die große Har-
den und dabei doch stimmigen Arrange- nie auf die Politik anzuwenden, wo er es monie der Welt – als einer „verborgenen
ment – einem kósmos, dessen Ordnung in Gestalt der Gerechtigkeit als Ziel und Harmonie“, von der Heraklit meinte, sie
gar nichts anderes ist als harmonía. Maß des Handelns inthronisierte. sei „stärker als die sichtbare“ (Fr. 54).
So naheliegend war den Griechen die Ver- Gerade wenn es um die Politik geht, tun Wenn wir heute langsam begreifen, dass
gleichbarkeit harmonischer Musik und wir aber gut daran, ein mögliches und wir – um den Herausforderungen des
kosmischer Ordnung, dass ein Denker häufiges Missverständnis auszublenden: Klimawandels zu begegnen und den Er-
wie Pythagoras den kühnen Gedanken Harmonía, wie die Griechen sie dachten, kenntnissen der Wissenschaft zu genügen
fassen konnte, die Gestirne – namentlich ist niemals harmonistisch. Sie bezeichnet – systemisch und holistisch denken müs-
die Planeten – würden auf ihren Bahnen gerade nicht die Null-Spannung des ‚Piep, sen, können wir vielleicht erahnen, wie
Töne hinterlassen, die so wundervoll har- piep, piep, wir haben uns alle lieb‘. Har- aktuell der Geist der Griechen ist. Könnte
monisch zueinander passen, dass die Welt monía kann auch walten, wo Meinungen es sein, dass die Zeit gekommen ist, in der
– ja, dass das Sein im Ganzen – vollgültig oder Lebensformen hart aufeinanderpral- wir neuerlich zum Himmel blicken soll-
als eine Symphonie beschrieben werden len. Die Griechen sahen sie selbst da am ten, um Maß zunehmen an dem Maß, das
könne: als das himmlische Muster, auf Werke, wo es tragisch zugeht. Vielleicht ist allem Leben innewohnt: dem Maß der
das Platon seinen Sokrates verweisen lässt die Tragödie der schönste Ausweis für das harmonía?
und dessen Deutung er zwei andere große
Dialoge widmete: den Timaios und das X.
Buch seiner Gesetze.
abenteuer philosophie — 39
PhiloScience
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Thema
S
CIE
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NC
Der
wunderbare
Weihnachts-
wahnsinn
von 1914
TEXT Aubet Gassner
Die Euphorie hielt nicht lange an; man Pünktlich zu Weihnachten gab es auch
hatte sich das Heldentum anders vorge- ein Geschenk an alle Seiten von „ganz
stellt. Auch der Heldentod war als Idee oben“. Der Regen hörte auf, die Tempe-
viel romantischer gewesen: ein Blick zum ratur sank, leichter Frost und etwas Rau-
Himmel, ein letzter Gedanke an das Vater- reif überzogen das Land, der Boden wur-
land und an die Lieben daheim, und dann de hart. Was ich im Folgenden erzähle,
„gefallen auf dem Feld der Ehre“… Und geschah in der einen oder anderen Form
so sah das „Feld der Ehre“ zu Weihnach- auf der ganzen Länge der Westfront und
ten 1914 an der Westfront aus: Von der war mitnichten der einmalige Zwischen-
Nordsee bis zur Schweizer Grenze lagen fall, als der er später dargestellt wurde.
sich Briten, Belgier und Franzosen auf der Was man auch im Hinterkopf behalten
einen Seite und Deutsche auf der anderen muss: Fast immer ging die Initiative von
Seite in Schützengräben gegenüber. Man den deutschen Soldaten aus, vor allem
hatte sich festgefressen, beschoss einan- von den bayerischen und sächsischen Re-
der, ertrug die Schreie der Verwundeten gimentern, und am „innigsten“ waren die
und der im Niemandsland zwischen den Beziehungen zu den britischen Gegnern.
Fronten Sterbenden, machte ein paar
Meter Bodengewinn, verlor ihn wieder. EHRE SEI GOTT IN DER HÖHE UND
Zwischen den Granattrichtern ragten nur FRIEDE AUF ERDEN DEN MENSCHEN
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Christmas_Truce_1914_Memorial.jpg
abenteuer philosophie — 41
PhiloScience
https://www.wikiwand.com/de/Weihnachtsfrieden_(Erster_Weltkrieg)#Media/Datei:Christmas_Truce_memorial_ceremony_2008.jpg
sammen mit der Familie gefeiert hatte, raucht, getrunken, gelacht. Man tauschte
zu Hause, als noch kein Krieg war. Und englischen Plumpudding gegen deutsche
aus dem britischen Schützengraben ant- Hartwurst und als Souvenirs Adressen
wortete es „Silent Night, Holy Night, all und Uniformknöpfe. Die Soldaten zeig-
is calm …“ Ja, alles war calm, ruhig, denn ten einander Fotos: „Das ist meine Fami-
niemand dachte ans Schießen, auch nicht, lie, mein neugeborener Sohn, mein Haus
als sich über dem deutschen Schützengra- … Und morgen spielen wir Fußball!“ Un-
ben eine Pickelhaube erhob, und sich da- möglich, nicht Fußball zu spielen, wenn
runter ein Gesicht zeigte, und der Mund Engländer und Sachsen zusammenkom-
rief: „Merry Christmas!“ Anderswo hieß men. In England wurde das Spiel erfun-
es „Joyeux Noel!“, aber dass es immer den, in Leipzig wurde 1900 der Deutsche
„Frohe Weihnachten!“ hieß, das verstand Fußball-Bund gegründet. „Der Boden
man. Es kam zu regelrechten Sängerwett- ist voller Granattrichter.“ „Wir dribbeln
streiten „O come, all ye faithful, joyful and darum herum.“ „Wir haben keinen Fuß-
triumphant …“ von der britischen Seite. ball.“ „Eine Blechbüchse tut es auch.“
Die Deutschen fielen auf dieselbe Melo- Im Jahr 2008 setzte die UEFA, die Union
die ein mit „Herbei, o ihr Gläub’gen …“, der Europäischen Fußballverbände, dem
— Nachkommen der am und bei den Lateinern klang es „Adeste Weihnachtsfußball von 1914 ein Denk-
Weltkrieg beteiligten fideles …“ Ein Wahnsinn, ein Weihnachts- mal.
Soldaten in historischen wahnsinn. Und das war erst der Anfang.
Uniformen bei der
Der Weihnachtsfrieden von 1914 war
Einweihung des Denkmals
für den Weihnachts- „Können wir uns treffen? Wir sollten die angesichts der vorausgehenden Gräuel-
frieden von 1914. Toten begraben. Können wir rüberkom- propaganda auf allen Seiten so unwahr-
men?“ „Nein!“ „Kommt ihr zu uns?“ scheinlich, dass man froh ist, ihn durch
„Nein!“ „Können wir uns in der Mitte Fotos belegen zu können. Es gibt zahl-
treffen?“ „Ja.“ Von jeder Seite kam eine reiche Fotos, und damit meine ich nicht
kleine Abordnung, die Hände erhoben die der offiziellen Kriegsberichterstatter,
zum Zeichen, dass man unbewaffnet war, deren Aufgabe es ja war, die Kriegsmoral
misstrauisch beäugt von den schießbe- hochzuhalten. Auf englischer Seite hatte
reiten Kameraden. Zuerst rauchte man, ein Soldat mit Namen Turner eine Kame-
Rauchen beruhigt. Dann wurde aus- ra dabei, von ihm stammen die meisten
gemacht, wie und wann man die Toten, Fotos. Private Aufzeichnungen waren auf
die teilweise schon lange in diesem Nie- allen Seiten verboten und Briefe wurden
mandsland lagen, begraben wollte. Jeder zensiert, trotzdem gelangte die Nachricht
half. Wenn es einen Pfarrer oder Pries- vom Weihnachtsfrieden, den alle Beteilig-
ter gab, egal welcher Glaubensrichtung, ten ja selbst als ein Wunder erlebt hatten,
42 — abenteuer philosophie
PHIL
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Thema ternacht das Feuer wieder aufzunehmen.
S Es ist uns eine Ehre, Sie darüber zu in-
CIE
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NC
formieren.“ Zwischen dem französischen
99. Infanterieregiment und dem 20. Bay-
erischen Reserveregiment herrschte noch
bis zum 14. Januar 1915 Waffenstillstand,
durch Briefe in die Heimat. In England obwohl die Bayern von den eigenen Leu-
wurden sie relativ häufig in Zeitungen ten, den Preußen, beschossen wurden.
abgedruckt, auch wenn der Tenor dahin John William Anderson, Kommandant
ging: Wir Engländer sind eben Gentlemen einer anderen bayerischen Einheit, über-
… In Deutschland erschien die Geschich- brachte in Belgien den Gegnern persön-
te der „Schützengrabenanbiederei“, wie lich eine wertvolle Monstranz, die er in
es verächtlich hieß, selten, und in Frank- einem Kohlenkeller gefunden hatte.
reich nie. Was nicht sein durfte, war auch
nie geschehen. Pazifisten sind Außenseiter und die Nar-
wurden Vorkehrungen getroffen, dass sich ren der Nation(en). Sie gelten bestenfalls
So sahen das auch die Generäle aller solche Unbotmäßigkeiten nicht wieder- als Träumer, meistens als Feiglinge. Dabei
kriegführenden Länder, denen diese em- holten. sind sie es, die erkannt haben, dass der
pörende Nachricht erst nach ihrem opu- Frieden nicht vom Himmel fällt, sondern
lenten Weihnachtsfestessen zu Ohren PAZIFISMUS KOMMT VOM dass man ihn „machen“ muss – und die
kam, sonst wäre ihnen der Bissen wohl im LATEINISCHEN „PACEM FACERE“, notfalls bereit sind, den Kopf dafür hin-
Hals stecken geblieben. Sie reisten an die FRIEDEN MACHEN zuhalten. Denn nicht der Krieg ist der
Front, um nach dem Rechten zu sehen. Ernstfall, in dem man sich zu bewähren
Zeit genug für die Soldaten, ihren Geg- Alle Beteiligten wussten, dass der Weih- habe, sagte Bundespräsident Gustav Hei-
nern zu versichern, sie würden über die nachtsfrieden nur eine kurze Verschnauf- nemann bei seinem Amtsantritt 1969,
Köpfe schießen, wenn sie denn schießen pause war, dass es danach wieder wei- sondern der Frieden. Wir wissen heute,
müssten, und sie, die Gegner, möchten tergehen würde mit dem Schießen und dass im Ersten Weltkrieg, der später der
es bitte genauso halten. So geschah es. dem Sterben. Wieder war das Wetter der Große Krieg genannt wurde und der als
Es ist schwer, einem Soldaten nachzu- Vorbote. Am 27. Dezember stieg die Tem- die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
weisen, dass er absichtlich danebenge- peratur, es regnete, die Soldaten nutzten gilt, zum ersten Mal Giftgas, Panzer und
schossen hat. Die Offiziere an der Front, die Zeit, die Schützengräben auf Vorder- Flugzeuge eingesetzt wurden, und dass
die entweder selbst mitgemacht oder der mann zu bringen. Trotzdem trafen sich der Irrsinn noch bis 1918 dauerte, nach-
Verbrüderung tatenlos zugesehen hatten, die englischen und die sächsischen Sol- zulesen in dem unübertroffenen Anti-
wurden gerüffelt, den Soldaten wurde mit daten noch einige Tage zur Teatime, um Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“
dem Kriegsgericht gedroht, aber bis es ein Glas wärmenden Tees miteinander zu von Erich Maria Remarque. Warum nur
dazu kam, waren viele der Friedenshelden trinken. Sachsen an Engländer: „Gentle- konnte aus dem kleinen Frieden kein gro-
von 1914 schon tot. Selbstverständlich men, unser Oberst hat befohlen, ab Mit- ßer werden?
frieden, den alle Beteiligten ja selbst rikanische Version von 1930 bekam zwei Oscars,
wurde jedoch in Nazi-Deutschland – wie auch das
abenteuer philosophie — 43
PhiloScience
PHIL
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Spuren
S
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— Der Felsblock
am Ufer des Sees
von Silvaplana,
der sogenannte
Zarathustra-
stein. Bei einem
Spaziergang um
den See kam
Nietzsche der
Gedanke der
ewigen
Wiederkehr des
Gleichen.
Mit Nietzsche
in Sils-Maria
In dem kleinen Ort Sils-Maria im Oberengadin
verbrachte Friedrich Nietzsche von 1881 bis 1888, mit
Ausnahme des Jahres 1882, sieben Sommer. Man solle
keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im
Freien geboren wurde, sagte er und erwanderte sich
viele seiner Ideen. Wir begeben uns auf seine Spuren.
44 — abenteuer philosophie
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W
Vater unseres jungen Engadiners, dessen
-er im Jahre 1880 von treme Kurzsichtigkeit und Spätfolgen des Hotel Edelweiß ebenfalls „aus Zucker“
Norden kommend deutsch-französischen Krieges 1870/71, ist.
nach St. Moritz ins an dem er als Sanitäter teilgenommen Das Haus, in dem Nietzsche sieben Som-
Oberengadin woll- hatte –, musste seine Professorentätigkeit mer verbrachte, ist heute ein Museum.
te, konnte bis Chur zehn Jahre später aus gesundheitlichen Der Schulpförter (nein, kein Hausmeis-
mit der Eisenbahn fahren, dann musste Gründen wieder aufgeben. Er lebte von ter, sondern ein ehemaliger Zögling von
er in eine sechsspännige Postkutsche um- einer kleinen Pension der Universität und Schulpforta), Jugendfreund und Indolo-
steigen. Die Fahrt dauerte einen ganzen suchte von nun an, zumeist in Oberita- ge Paul Deussen, beschrieb nach einem
Tag und hat die Fahrgäste gehörig durch- lien und Südfrankreich, einen Ort, wo er Besuch bei Nietzsche dessen Zimmer:
gerüttelt. Der auf alle äußeren Einflüsse sein Leiden ertragen und kreativ arbeiten Es sei, sagt er, das „denkbar einfachste“
äußerst sensibel reagierende Nietzsche könnte. gewesen – Tisch, Stuhl, Bett, Waschtisch
wollte, kaum angekommen, so schnell
wie möglich wieder weg. Ein junger En-
gadiner, der in derselben Kutsche saß und „Ach, was liegt noch Alles verborgen
nach Sils-Maria weiterfuhr, wo sein Vater
1875 das Hotel Edelweiß gebaut hatte, in mir und will Wort und Form
lud ihn ein, doch mitzukommen. Nietz-
sche antwortete, dass er sich einen Hotel- werden! Es kann nicht still und hoch
aufenthalt nicht leisten könne. Es würde
sich schon ein Bauer finden, der ihm eine und einsam genug um mich sein,
Stube vermieten könne … Tatsächlich war
es die Familie des Gemischtwarenhänd- dass ich meine innersten
lers, die ihm ein ungeheiztes Zimmer in
ihrem Haus vermietete. Und so kam der Stimmen vernehmen kann!“
ehemalige Baseler Professor der Altphilo-
logie und jetzige staatenlose Wanderphilo-
soph nach Sils-Maria. 6000 FUSS JENSEITS VON MENSCH und Bücher. Nietzsche hatte es sich we-
UND ZEIT gen der extremen Lichtempfindlichkeit
Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde am Randulins – Schwalben – heißen auf Rä- seiner Augen grün tapezieren lassen. Der
Geburtstag des Kaisers im Jahre 1844 in toromanisch die Emigranten aus dem Philosoph Theodor W. Adorno, der in den
Röcken im heutigen Sachsen-Anhalt ge- Engadin, die in der Welt ihr Glück ver- 1960er-Jahren oft nach Sils-Maria kam,
boren. Sein Vater, den er schon in jungen suchten. So gesehen ist auch Nietzsche fasste zusammen, was den Besucher auch
Jahren verlor, war protestantischer Pfarrer ein Randulin. Während heute die Orte heute noch bewegt: „Wie würdig man …
gewesen. Nach dessen Tod zog seine Mut- St. Moritz, Sils, Maloja ausschließlich arm sein konnte. … Damals erkaufte man
ter mit ihm und ihrer Tochter Elisabeth vom Fremdenverkehr leben, mussten sie um den Preis bescheidenster Lebensfüh-
nach Naumburg. Er bekam einen Frei- sich früher mühsam mit Landwirtschaft, rung die geistige Unabhängigkeit.“ Hier
platz im Eliteinternat Schulpforta und Fischfang in den Seen, die das Tal entlang also lebte und litt Nietzsche. Und schlief
studierte danach zuerst in Bonn, dann in wie auf einer Kette aufgereiht sind, und – schlecht. Und schrieb – viel. Viele Brie-
Leipzig Philologie. Er hatte inspirierende ein bisschen Schmuggel über den Malo- fe, z. B. an Carl von Gersdorff: „Ach, was
Lehrer, wählte die strenge wissenschaftli- japass nach Italien hinein durchschlagen. liegt noch Alles verborgen in mir und
che Arbeit aber auch, um seinen ausufern- Die Unternehmungslustigsten wanderten will Wort und Form werden! Es kann gar
den Geist zu disziplinieren. Noch ohne aus. Im 18. Jahrhundert gingen sie meis- nicht still und hoch und einsam genug um
Doktorarbeit oder gar Habilitation wur- tens nach Venedig und wurden Zuckerbä- mich sein, dass ich meine innersten Stim-
de Nietzsche mit vierundzwanzig Jahren cker, also Konditoren. Von dort wurden men vernehmen kann!“
Professor an der Universität Basel. Hier sie wegen ihres großen Erfolgs wieder ver-
fand er auch seinen lebenslangen Freund trieben, zerstreuten sich dann in alle Welt
Franz Overbeck, einen Kirchenhistoriker und einige von ihnen wurden reich. Am
und Professor für evangelische Theologie. bekanntesten ist die Konditor-Dynastie
Nietzsche, der seit seinen Schultagen lei- Josty, die bis in die erste Hälfte des 20.
dend war – schwere Migräneanfälle, ex- Jahrhunderts in Berlin Konditoreien und
abenteuer philosophie — 45
PhiloScience
wo dunkelgrüner See, naher Wald, hohe
Berge, feierliche Stille ihren Zauber ge-
meinsam weben.“ Resa von Schirnhofer
— Nietzsche am lebte ab 1909 in Brixen und ist dort 1948
Silsersee, ein gestorben.
Gemälde von
Samuele Giovanoli
(Landwirt und DER EINSIEDLER VON SILS-MARIA
Maler, 1877 – 1941) Nietzsche konnte sich Menschen öffnen,
wenn er zu ihnen Vertrauen gefasst hatte,
und das schloss auch Frauen ein, wenn
sie ihn nicht gefühlsmäßig bedrängten.
Zu seinen engen Freundinnen gehörte in
Sils auch die 1855 geborene Meta von Sa-
lis, die erste Historikerin der Schweiz und
Kämpferin für das Frauenstimmrecht. Als
Gönnerin und Verehrerin von Nietzsche
kaufte sie 1897 die „Villa Silberblick“ in
Weimar für das Nietzsche-Archiv und
schrieb das erfolgreiche Buch über ihre
Begegnung mit Nietzsche „Philosoph und
Edelmensch“. Meta von Salis starb 1929
in Basel. Sie sprach von seiner „leisen
Stimme voll Weichheit und Melodie“ und
Resa von Schirnhofer rühmte seine „ex-
Nietzsche war ein geistiger Gipfelstür- quisite Sensibilität und zartfühlende aus-
mer. Im täglichen Leben musste er jedoch gesuchte Höflichkeit“. Es sei auch noch
auf den ebenen Wegen des Tals bleiben, auf seine untadelige ethische Lebenshal-
weil ihm seine „sieben Achtel Blindheit“, tung hingewiesen. Das ist nicht die einzi-
wie er es selbst nannte, die Höhenwege ge Diskrepanz zwischen Leben und Werk
versperrte. Schon 1881 kam ihm bei ei-
nem Spaziergang um den Silvaplaner See
der Gedanke der ewigen Wiederkehr des
Gleichen, ein Grundgedanke von „Also
Nietzsche war ein Götzen-
sprach Zarathustra“, dessen zweiten Teil
er 1883 in Sils zu Papier brachte. Nietz-
zertrümmerer: die morsche Kultur,
sche schrieb: „Dieser Gedanke gehört in
den August des Jahres 1881: Er ist auf ein
die verlogene Moral, ein zu einem
Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift:
6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit.“
Konzept verkommener Gottesbegriff.
Dieses für Nietzsche erschütternde Ereig-
nis fand „bei einem mächtigen pyramidal
aufgethürmten Block“, einem Felsen am des „Philosophen mit dem Hammer“, als
Ufer des Silvaplaner Sees statt. Er hat spä- den er sich selbst bezeichnete. Er hatte
ter seine Freunde gern dorthin geführt, so noch weitere soziale Kontakte, die vor-
auch Resa von Schirnhofer. Diese 1855 genannten scheinen mir aber deshalb er-
in Krems geborene Philosophin, die ihr wähnenswert, weil Nietzsches Beziehung
Studium mit Dissertation und Promotion zu Frauen, vorsichtig formuliert, proble-
1889 an der Universität Zürich abschloss, matisch war.
schrieb u. a. später in einem Essay „Vom Trotzdem umgab den „Einsiedler von
Menschen Nietzsche“: „Auch mich, wie Sils-Maria“ eine Aura der Einsamkeit,
vorher und nachher andere seiner Be- die vor allem in seinen Gedankenwelten
sucher, führte er zum wasserumspülten begründet lag. Nietzsche war ein Götzen-
Felsblock am Ufer des Sees von Silvapla- zertrümmerer: die morsche Kultur, die
na, dem Zarathustrastein, an jene wun- verlogene Moral, ein zu einem Konzept
dervolle Stelle ernster Naturschönheit, verkommener Gottesbegriff („Gott ist
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Spuren
tot“). Wer konnte oder wollte ihm da fol-
gen? Rohde in einem Brief an Overbeck: Nietzsche ist S
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„Eine unbeschreibliche Atmosphäre der
Fremdheit … umgab ihn. … Als käme ein ambivalenter NC
er aus einem Lande, wo sonst niemand
wohnt.“ Wir haben viele Fotos von Nietz- Denker, dessen
sche, aber keines gibt seine existenzielle
Einsamkeit so gut wieder wie ein Bild von melodiöse, von
Samuele Giovanoli (1877-1941), einem
Bauern und naiven Maler aus dem Fextal dichterischer
(ein Nebental des En-gadin = rätoroma-
nisch = Inn-Tal). Man sieht den Philoso- Kraft geprägte
phen, unverkennbar mit seinem mächti-
gen Schnurrbart, im Gras sitzend und an Sprache aber
einen Baum gelehnt, im Hintergrund der
Silsersee und die Berge. Das Bild hängt auch heute noch
im Hotel Seraina in Sils-Maria, dessen
Besitzer Nachfahren des Malers sind. aufrüttelt.
Nietzsches Lieblingsspaziergang führte fast immer die Sonne herauf strahlt wie
auf die Chasté, eine Halbinsel, die in den ein Hoffnungsschimmer. Wie gerne wür-
Silsersee hineinragt. Hier wollte er be- de ich ihn hier sitzen lassen, ihn, dessen
graben sein, was sich nicht ergab. (Er ist „praktisches Ziel“ es war, „Künstler,
in seinem Geburtsort Röcken begraben.) Heiliger und Philosoph in einer Person
Nur sein Gedicht „Um Mitternacht“ aus zu werden“, aber sein Leidensweg ende-
„Zarathustra“ ist in eine Felswand gehau- te nicht hier. Als sich im Sommer 1889
en. die Menschen in Sils-Maria fragten, wo
Es führt ein Rundweg um die Halbinsel, — Früher der Ge- er denn bliebe, ihr Höhlenbär (Nietzsche
die ansonsten erstaunlich wild ist: Zwi- mischtwarenladen über Nietzsche), wussten sie noch nicht,
schen Arven und Föhren ragen Felsen des Ortes, in dem dass er in Turin einen Zusammenbruch
auf, dazwischen ist der Boden mit Wild- der Philosoph in hatte, der ihn immer tiefer in die geistige
Sils-Maria
blumen bedeckt. Atemberaubende Aus- wohnte; heute das
Nacht hineinführte. Seine Schwester Eli-
blicke öffnen sich auf den See und die Nietzsche-Museum sabeth betreute (und vermarktete) ihn bis
Berge nach Süden, wo aus dem Bergell von Sils-Maria. zu seinem Tod im Jahre 1900 in Weimar.
LITERATURHINWEIS:
Walter Nigg: Friedrich Nietzsche. Diogenes Ver-
lag, Zürich, 1994
Paul Raabe: Spaziergänge durch Nietzsches Sils-
Maria. Arche Verlag Zürich, 1994
Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines
Denkens. Carl Hanser Verlag München, 2019
abenteuer philosophie — 47
PhiloPoem
© Beat Schönegg in: Bist du ein Affe oder Gott? – Gnomologische Gedichte
(Stilpon war ein griechischer Philosoph der Antike, geboren in der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. in Megara;
verstorben nach 280 v. Chr. Der lateinische Titel bedeutet: Alles meine mit mir. Anmerkung der Redaktion)
48 — abenteuer philosophie
PhiloArt PHIL
O
EINBlick
A
RT
Mitgefühl
EinBlick in das Gemälde und wohl auch
in das Herz von Nicholas Roerich
— Compassion
(Mitgefühl) von
Nicholas Roerich,
TEXT Patricia Winkler-Payer entstanden 1936 im
Stil des
E
Symbolismus
in Bild hält einen speziellen
Moment fest. Einen Augen-
blick im Fluss von Ereignis-
sen. Und wir fragen uns: Und
dann? Was war davor? Welche
Geschichte hat den Maler genau zu die-
sem Ausdruck inspiriert? Wir können Ni-
cholas Roerich, den bildgewaltigen, mit
der Seele monumentale Landschaften
und himmelstürmende Pfade suchenden
russischen Universalkünstler und spiritu-
ellen Philosophen nicht mehr fragen – das
Bild entstand 1936. So schauen wir nun
selbst, mit den Augen, mit dem Herzen …
lebenskampf. Er hat gezielt, seinen Pfeil heraus leuchten. Was mag der Jäger wohl und Kreativität, ein „Seelen-Beweger“,
abgeschossen und offensichtlich auch ge- empfinden, erkennend, dass er statt der ein essenzieller Kanal für Humanismus,
troffen. Wir folgen seinem Blick. Ebenso Beute einen „heiligen Mann“ getroffen globalen Frieden und für die Entfaltung
überrascht wie der Jäger, fangen wir die- hat? Die Ungeheuerlichkeit des Geschau- der spirituellen Entwicklung. ap
abenteuer philosophie — 49
PhiloArt
— Das Schutzzeichen
zur Kennzeichnung
von Kulturgütern
sind drei rote Punkte
in einem roten Kreis
auf weißem Grund.
Sie stellen Kunst,
Wissenschaft und
Religion dar.
50 — abenteuer philosophie
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Thema uns, dass seit den primitiven Zeitaltern
aller Fortschritt, alles Glück, alle Erleuch-
A
strebt danach, schöpferisch und aktiv zu
m 15. April 1935 wurde im arbeiten, denn seine Arbeit ist eine Quelle
Weißen Haus in Washing- der Freude. Es möchte lieben und sich in
ton der „Roerich Pakt“ der Verwirklichung der erhabenen Schön-
als erster eigenständiger heit ausbreiten. In der höchsten Wahr-
völkerrechtlicher Vertrag nehmung von Schönheit und Wissen
über den Schutz von künstlerischen und verschwinden alle konventionellen Tren-
wissenschaftlichen Einrichtungen und nungen. Das Herz spricht seine eigene
geschichtlichen Denkmälern in Friedens- Sprache; es will sich an dem erfreuen, was
und Kriegszeiten durch die Vereinig- allen gemeinsam ist, was alle erhebt und
ten Staaten und 20 lateinamerikanische was zur strahlenden Zukunft führt. Alle
Staaten unterzeichnet. 1954 wurden die
Inhalte von der Haager Konvention auf-
genommen und erweitert und sind auch
heute – zumindest auf dem Papier, wenn
„Schönheit wird die Welt retten.“
auch nicht immer in den Köpfen von mi- Fjodor Michailowitsch Dostojewski
litärischen Entscheidungsträgern – gültig.
Der Initiator, Nicholas Roerich (1874- Symbole und Tafeln der Menschheit ent-
1947), war ein russischer Maler, Schrift- halten eine Hieroglyphe, das heilige Ge-
steller, Archäologe, Wissenschaftler, Rei- bet – Frieden und Einheit.
sender und Philosoph. Er wurde mehrfach In seiner Schrift „Adamant“, „Beautiful
für den Friedens-Nobelpreis nominiert. der Religionen und für die Vorstellung, Unity“, um 1923, formuliert Roerich:
dass die schöpferischen Menschen der „Es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass
Ziel ist die rechtliche Anerkennung, dass Welt die Verantwortung tragen, die Welt in unruhigen Zeiten die Kultur vernach-
Schutz von Kulturgütern wichtiger ist als zu retten. lässigt werden kann. Im Gegenteil, das
die Nutzung oder Zerstörung für militä- Seine Botschaft an die Welt lautet: Kunst Bedürfnis nach Kultur ist in Zeiten des
rische Zwecke, und dass Schutz der Kul- und Wissen sind die Eckpfeiler der Evolu- Krieges und der menschlichen Missver-
tur immer Vorrang vor jeder militärischen tion. Kunst und Wissenschaft werden im- ständnisse besonders stark ausgeprägt. So
Notwendigkeit hat. mer gebraucht, aber in unseren Tagen des lasst uns an den zukünftigen Frieden den-
Armageddon müssen sie mit allen Kräf- ken, der durch Schöpferkraft, Arbeit und
Das Schutzzeichen zur Kennzeichnung ten unserer Herzen besonders bewacht Schönheit gestärkt wird.“
von Kulturgütern sind drei rote Punkte in werden. Das Bedürfnis nach Kultur ist in
einem roten Kreis auf weißem Grund. Sie Zeiten des Krieges und der menschlichen Und: „Es ist unsere Pflicht, für die jun-
stellen Kunst, Wissenschaft und Religion Missverständnisse besonders stark aus- ge Generation Traditionen der Kultur zu
als die drei bedeutendsten kulturellen Ak- geprägt. Ohne Kunst ist die Religion un- schaffen, denn wo Kultur ist, da ist Frie-
tivitäten der Menschheit dar. Der Kreis zugänglich, ohne Kunst ist der Geist der den … Kunst wird die ganze Menschheit
steht dabei als verbindendes Element die- Nationalität verloren. Ohne Kunst ist die vereinen und das Licht der Kunst wird
ser drei Aspekte in Vergangenheit, Gegen- Wissenschaft dunkel. Dies ist keine Uto- zahlreiche Herzen mit einer neuen Liebe
wart und Zukunft. Dieses Symbol wurde pie. In der Geschichte der Menschheit beeinflussen …“, denn „das Schöne zu
auch „Banner des Friedens“ genannt, die gibt es unzählige Beispiele dafür, dass die betrachten bedeutet, sich zu verbessern“,
auf dem Roerich-Pakt unter dem Namen Kunst das große Leuchtfeuer in Zeiten sagte Platon. ap
Pax Cultura basierende Bewegung wurde des Unglücks war.
in Analogie zu den Genfer Konventionen Schönheit und Wissen sind die Grundlage
gelegentlich als „Rotes Kreuz der Kultur“ der gesamten Kultur und sie werden die
bezeichnet. gesamte Geschichte der Menschheit ver-
Als Visionär und Idealist setzte sich Roe- ändern. Dies ist kein Traum. Wir können
rich für den Frieden und den Schutz des es durch die gesamte Geschichte bewei-
kulturellen Welterbes ein, für die Einheit sen. Die unumstößlichen Tatsachen sagen
abenteuer philosophie — 51
PhiloArt
Liebe
– mehr als ein Gefühl
Geneigte Leser,
52 — abenteuer philosophie
PHIL
O
Poetisches
A
RT
F
der Logik, als Naturgewalt, als biochemi- Zugang zur Welt. Sie ist eine Ökumene,
alls in Ihnen die Frage auf- schen Cocktail oder als eine mittelschwe- eine Doppelwirklichkeit aus Gefühl und
keimt, es gibt doch so viel re Gemütskrankheit, die durch die Ehe Erfahrungsstrecke.
Schönes und Interessantes auf mitunter geheilt werden kann. Sie merken Diese Erfahrungsstrecke besteht aus drei
unserem Erdenrund, muss es schon, damit kommen wir in der Sache atmosphärischen Dimensionen: dem Er-
denn ausgerechnet die Liebe nicht weiter. eignis, der Entwicklung und der Fähig-
sein, dieses abstrakte, sperrige und unzu- Die Liebe sagt uns nicht, wer oder was keit.
gängliche Ungetüm? Ja, es muss! sie ist. Mit ihr betreten wir ein Reich, das
hinter unserem Horizont liegt. Noch dazu DIE ERSTE DIMENSION – DIE LIEBE ALS
Gerade sind in Salzburg die letzten Jeder- sind wir, was die Aussagbarkeit von An- EREIGNIS
mann-Rufe verklungen. In diesem legen- mutungsqualitäten betrifft, sprachlich oh- Man spürt das Ereignis, wenn dir plötz-
dären Hofmannsthal‘schen Theaterstück nehin ziemlich hilflos. Versuchen Sie doch lich jemand wichtiger ist als du selbst,
schreitet der Bote von hinten an den Je- nur jemandem den Geschmack von Brot wenn alles zur Freude wird und die Gra-
dermann – also an uns alle – heran, mit nahezubringen. Unsere worteigenen Mit- vitation sich aufhebt. Die Anfangswucht,
den Worten: „Abrechnung will er mit dir tel reichen dafür nicht aus. die Erstschlagkapazität und die monu-
halten.“ Ja, Abrechnung will er mit uns mentale Kraft der Liebe sind beispiellos,
Die Summe
halten. Wir alle müssen Rechenschaft ab- mit nichts anderem zu vergleichen.
legen über uns und unser Leben.
unseres Lebens
Die französische Schriftstellerin und Phi-
Hofmannsthal schreibt uns mehr als ein- losophin Simone de Beauvoir schrieb
Haben, sondern
gen Erfolge, geschweige denn unsere Be- Es ist dieser Zustand, in dem die Welt ihre
sitz- und Reichtümer, die wir im Laufe Anstrengung verdoppelt, in Erscheinung
das Sein.
der Jahre horten, auf die es in unserem zu treten. Es ist dieser Zustand, in dem
Erdenleben wirklich ankommt. Die Sum- eine vorauseilende Seligkeit sich wie ein
me unseres Lebens ist nicht das Haben, Mantel um uns schlägt, um uns zu wär-
sondern das Sein. Es sind die Stunden, men. Es sind diese Momente, in denen
in denen wir lieben, die uns ausmachen, Wie erwähnt, die Liebe sagt uns nicht, wir, auf der Wellenspitze unseres Seins,
es sind die Stunden, in denen wir lieben, wer oder was sie ist –, doch sie führt es unsere besten Fähigkeiten und Möglich-
die uns zur besten Version unseres Selbst vor. Das Wesen der Liebe erfährt man im keiten aus uns hervorholen. Lebenskunst
werden lassen. Nach Blaise Pascal ist ein Umgang mit ihr. Sie wird durch uns ver- bedeutet daher, die Wucht, die Kraft und
Tropfen Liebe mehr als ein Ozean an Ver- körpert, indem wir selbst zum Liebesakt, die Schönheit des Anfangsereignisses zu
stand. Und Leo Tolstoi ist der Ansicht, zur Liebkosung werden. Bei Heidegger bewahren und diese ihm innewohnenden
dass sie ein Geschenk der Natur ist, um heißt es: „Ihr Seinssinn erschließt sich Erbauungskräfte ins Künftige und ins All-
den Verstand aus dem Weg zu räumen. erst im Vollzug. Sie ist kein Ding, sondern tägliche zu überführen und zu veredeln.
abenteuer philosophie — 53
PhiloArt
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DIE ZWEITE DIMENSION – DIE LIEBE DIE DRITTE DIMENSION – DIE LIEBE
ALS ENTWICKLUNG ALS FÄHIGKEIT
Diese Dimension beginnt damit, dass der Ob die Liebe groß, bedeutend und lang-
Verstand für Momente stillsteht, es für lebig ist, hängt wesentlich ab von der drit-
Augenblicke still wird und sich alle Ge- ten Dimension – der Liebe als Fähigkeit.
gensätze aufheben. Diese Dimension beginnt damit, dass
Es wächst eine schöpferische Potenz, in man sich zu zweit mehr als genug ist. Wir
der der Mensch, wie es Martin Buber erleben bisher unerkannte Fähigkeiten
so trefflich formuliert, „am Du zum Ich der Hinwendung, um jemanden in der
wird“. Es beginnt die Selbsterfahrung Tiefe zu verstehen und zu erfassen.
des eigenen Seins durch den anderen.
Der Satz wird Augustinus zugeschrieben, Wir integrieren eine alte Baumeister-
stammt aber von Aristoteles. Er offenbart, regel in unser Leben, die besagt: „Ohne
dass Liebe bedeutet: „Ich will, dass du die kleinen Steine liegen die großen nicht
bist“. fest.“ Diese kleinen Steine sind die Fähig-
Ich will, dass du bist, veranlasst uns, den keit des Blickes, der Geste und der Worte.
anderen in seinem Sein wechselseitig an-
zunehmen, zu bestärken, zu fördern, an DIE KLEINEN STEINE DER BLICKE
und mit ihm zu wachsen, um sich letztlich Bewahren Sie sich die Augen, aus denen
gegenseitig zu vervollständigen. etwas für den anderen leuchtet. In diesem
Leuchten fühlt man sich erkannt, ange-
In der Liebe ergeben eine kluge Frau und nommen und geborgen.
ein kluger Mann zwei Narren, die inei-
nander wohnen, ineinander die Ewigkeit DIE KLEINEN STEINE DER GESTEN macht unserer Worte. Lebenskunst be-
teilen wollen. Darum ist sie ein Bollwerk, Rainer Maria Rilke hat das sehr treffend deutet daher, ins Gelingen verliebt zu sein
eine Wagenburg gegen Vernunft und Ver- formuliert: „Es gibt Augenblicke, in de- und unser Leben lebendig zu gestalten.
zweckung, die verhindert, dass unser nen eine Rose wichtiger ist als ein Stück Wie wir dazu fähig sind, entscheiden die
Leben nur noch eine schale Abfolge von Brot.“ Anmut, der Charme und die noble Ele-
Nützlichkeiten und Bedürfnissen ist. Als ganz unserer Worte.
Vernebelungskünstler gegen alle Unbill DIE KLEINEN STEINE DER WORTE
und Widrigkeiten ist die Liebe die kraft- Giacomo Casanova schrieb in seinen Me- Mitunter sind diesbezüglich Lieblosigkeit
vollste und klügste Entwicklungshelferin. moiren: „Der Weg zur Frau führt über und ein kognitiver Sensibilitätsabbau zu
Mit ihrer Hilfe können wir uns dauerhaft ihr Ohr“ und natürlich vice versa. Er beobachten. Ich komme aus einer Zeit, in
im Mit- und Füreinander für unsere bes- fügte noch hinzu: „Meine Worte konnten der das Wünschen noch geholfen hat. Ich
ten Fähigkeiten und Möglichkeiten be- schmeicheln, dass die Hände sich schä- glaube ganz fest daran. Darum ist mein
wusst entscheiden. Lebenskunst bedeutet men mussten.“ Worte sind welterschaf- innigster Wunsch für uns und für die Lie-
daher, durch gemeinsam erlebten Weit- fend und weltvermittelnd zugleich. Wie be, dass wir niemals die so wichtigen klei-
winkel, Tiefenzoom und Höhenrausch, unser Leben gelingt und wie wir unser nen Steine der Blicke, der Gesten und der
das Leben als Sonnenaufgang zu begrei- Leben erleben, entscheidet die Wirk- Worte vergessen. ap
fen.
54 — abenteuer philosophie
Die Liebe ist ein Bollwerk, eine
Wagenburg gegen Vernunft und
Verzweckung, die verhindert, dass
unser Leben nur noch eine schale
Abfolge von Nützlichkeiten und
Bedürfnissen ist.
abenteuer philosophie — 55
PhiloSophics
Wieviel du ist
gut für mich? Illustration 169322060 © Olga Bielianinova | Dreamstime.com
O
Lebenskunst
S
OP
S
TEXT Gudrun Gutdeutsch
HIC
D
ie Frage nach dem rechten
Maß bezüglich ehrenamt-
lichen Engagements und
Eigenzeit stelle ich mir
selbst immer wieder. Und
ich bin da auch in regem Austausch mit
meinen philosophischen Schülern. Des-
halb möchte ich auch mit Ihnen, meinen
Verantwortung bedeutet,
Lesern, meine Reflexionen teilen. Das
Thema ist für jeden interessant. Vor allem
eine Antwort zu geben auf
aber für Menschen, die sozial und/oder
politisch engagiert sind. Und da wir eine
die aktuelle Situation der Welt, die
multiple Krise erleben, sind viele Men-
schen ehrenamtlich aktiv.
Nöte und Sorgen der Mitmenschen.
Was alle dabei antreibt, ist die Tugend
„Verantwortungs-Bewusstsein“ zeigt
der Verantwortung. Wir wollen eine Ant-
wort geben auf die aktuelle Situation der
die mentale, „Verantwortungs-
Welt, die Nöte und Sorgen der Mitmen-
schen. So empfinden wir eine innere Ver-
Gefühl“ die Herzensdimension.
pflichtung und eine Notwendigkeit, zu
handeln. Es entsteht ein Verantwortungs-
Dieses setzt uns in Bewegung.
Bewusstsein und vor allem auch ein Ver-
antwortungs-Gefühl. Dieses setzt uns in
Bewegung. Verantwortungs-Geist oder Dieses Thema ist auch Inhalt des philo- gen und so auch Zugang zum Göttlichen
Verantwortungs-Bewusstsein weisen auf sophischen Dialogs „Alkibiades“ von Pla- gewinnen. Wenn sich die Seele der Ver-
die mentale Dimension der Verantwor- ton. Sokrates führt den machthungrigen nunft bedient, dann handelt sie typisch
tung hin. Der Begriff „Verantwortungs- aufstrebenden Draufgänger Alkibiades menschlich im besten Sinne des Wortes
Gefühl“ jedoch auf die Herzensdimen- zur Erkenntnis, dass er erst mal sich selbst und kommt dem Göttlichen am nächsten.
sion. Wenn ich diesem Gefühl nachspüre, erkennen muss, bevor er als Politiker für Und erst dann ist der Mensch für politi-
bemerke ich, dass es mich in Bewegung andere Menschen Verantwortung über- sche Tätigkeiten vorbereitet. Das erklärt
setzt. Dass ich etwas tun will. Ich habe das nimmt. Er möge erst sein Selbst kultivie- Platon ja auch in seinem Höhlengleich-
Bedürfnis, mich für soziale Gerechtigkeit, ren, bevor er sich um andere kümmert. nis: Jeder Politiker muss zuerst Philosoph
einen nachhaltigen Lebensstil und Frie- Und weiter erklärt er Alkibiades dann, sein.
den einzusetzen. dass Selbstfürsorge in erster Linie Seelen- Politisch zu handeln bedeutet für mich
Wer für die Situation der Welt und für an- kunde ist. Selbstfürsorge bedeutet also, hier, sich für das Allgemeinwohl und öf-
dere Menschen Verantwortung überneh- sich um die eigene Psyche kümmern – fentliche Belange einzusetzen. Und jeder
men will, sollte bei sich selbst anfangen. Seelsorge. „Politiker“ steht im Spannungsfeld zwi-
In unserer Philosophieschule gibt es des- Mit dem „Augengleichnis“ erzählt Sokra- schen der persönlichen und der gesell-
halb eine ethisch-moralische Ausbildung tes dem jungen Mann, wie wichtig die Be- schaftlichen Dimension. ceder Volontär
zur Selbsterkenntnis und Selbstverant- gegnung mit anderen Seelen ist, um sich ist auch für seine Integrität zuständig, da-
wortung. selbst zu erkennen. Das Auge spiegelt sich mit er handlungsfähig bleibt. Ein schönes
im Auge eines anderen Menschen, und Symbol dafür ist die Sicherheitsunterwei-
zwar in der Pupille, die der beste Teil des sung im Flugzeug: Wenn Sauerstoffmas-
Auges ist. Die Seele erkennt sich selbst, ken herunterfallen, möge man erst seine
— Es geht um wenn sie in den besten Teil der Seele eines eigene aufsetzen, bevor man anderen Mit-
die Balance von anderen blickt, und zwar in den vernunft- reisenden hilft. Sonst ist man ein hilfloser
Individuum und begabten. Dieser Seelenteil (in anderen Helfer.
Gesellschaft, Selbst- Werken erklärt Platon, dass es auch den Der Kindheitspsychologe Jesper Juul er-
und Fremdfürsorge,
mutvollen und den begehrenden Seelen- klärt, dass diese beiden Aspekte schon von
Individualität und
Gemeinschaft. teil gibt) kann Wissen und Einsicht erlan- Geburt an prägend sind. Es geht um die
abenteuer philosophie — 57
Lebenskunst
58 — abenteuer philosophie
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O
innere Stimmen (oder von anderen), die
S
HIC Praktische Tipps:
2. Gelassenheit
andere möchte ich aufbringen? Wann ist … oder innere Ruhe lässt uns in schwie-
es zu viel? Wann brenne ich aus? rigen Situationen gemäß unseren Wer-
Im Grunde geht es um die Balance zwi- ten handeln und immer wieder aus
schen dem Ich und dem Du. Dies kann dem allgemein vorherrschenden Stress
man wunderbar mit einer Waage symbo- aussteigen durch kurze Atemübungen
lisieren. Wir brauchen immer ein Gleich- der Selbstbesinnung, durch Innehalten
gewicht zwischen Hingabe und Selbstfür- und Loslassen. Gelingt mir das jedoch
sorge. gar nicht, zeigt mir meine Seele, dass
Sicher gibt es Phasen, in denen man zu- das Gleichgewicht gestört ist.
rückstecken kann und seine Bedürfnis-
se opfern kann für eine Lebensmission. 3. Courage
Dann neigt sich die Waage stark in Rich- GUDRUN Bedeutet so viel wie Beherztheit oder
tung „Kooperation“ oder „Du“ und die GUTDEUTSCH mit dem Herzen handeln. Dabei emp-
„Integrität“ oder das „Ich“ hängen mehr schreibt seit 30 Jahren finde ich Verbundenheit und Nähe mit
für „abenteuer philo-
in der Luft. Dann braucht man Zeiten für der Mitwelt und den anderen Men-
sophie“. Sie teilt ihre
sich selbst zur Reflexion und Regenera- Erfahrungen als Kurs- schen. Ich traue mir Sachen zu und
tion, um nicht auszubrennen. und Seminarleiterin im bin neugierig. Wenn mich jedoch vage
„Treffpunkt Philosophie“. Ängste plagen oder Sorgen und es mir
Oft geht man ganz auf im ehrenamtli- Da ist sie seit 35 Jah- schwerfällt, mich auf Neues einzulas-
ren aktiv und geht mit
chen Engagement. Man erlebt Befriedi- sen, brauche ich Regeneration.
ihren Philosophieschü-
gung, Dankbarkeit und Bestätigung. In lern Fragen der Lebens-
der Glücksforschung wurde nachgewie- kunst, Kommunikation Bleiben Sie im Gleichgewicht, wünscht
sen, dass Menschen, die sich für andere und Spiritualität auf Gudrun Gutdeutsch ap
oder ein öffentliches Projekt einsetzen, den Grund. Das Schrei-
ben ist ein inneres
gesünder und zufriedener sind und län-
Zwiegespräch, das dem
ger leben. Unsere Gesellschaft wäre ohne Leser gewidmet ist.
Freiwilligenarbeit nicht überlebensfähig!
Jedoch vergisst man manchmal, sich um
sich selbst zu kümmern, also Seelsorge zu
betreiben.
Das beständige Ausbalancieren ist not-
wendig und nicht einfach. Jeder Mensch
ist da anders und jede Lebensphase
abenteuer philosophie — 59
PhilosophischReisen
GROSS und
MÄCHTIG,
schicksalsträchtig
Steinschloss – eine
der höchstgelegenen und
größten Burgen Europas
Als das Nibelungenlied aufgezeichnet wurde, war die
Burg Stein schon mehr als 100 Jahre alt. Als Friedrich
Schiller 1804 sein Drama Wilhelm Tell verfasste, war aus
dem Steinschloss bereits eine Ruine geworden. Eine
Burg zum Philosophieren. TEXT und FOTOS von Martinissimo
60 — abenteuer philosophie
— Gesamtansicht des
Luegg meist genannt wird, war im Herbst Wiedergeburt, Burgen entstehen, werden
Steinschlosses mit
Blick auf das Murtal 2022 leider wegen Steinschlaggefahr und umgebaut, erweitert, erobert, zerstört, ge-
Baufälligkeit gesperrt, ist aber von Schloss plündert, renoviert und irgendwann auf-
Stein gut erkennbar. gegeben, dem Verfall preisgegeben, der
A
Ich habe das Steinschloss zu allen Jahres- Natur zur Rückeroberung überlassen.
n einem der letzten mil- zeiten besucht und war jedes Mal begeis-
den Herbsttage besuchte tert. Vielleicht sind jedoch die Jahreszei- Im Falle des Steinschlosses gab es wahr-
ich zusammen mit meinen ten des Übergangs besonders reizvoll. Im scheinlich bereits im Jahre 1100 an der
zwei Hunden das Stein- Frühling erhebt sich das Steinschloss aus Stelle des heutigen Bergfrieds einen ers-
schloss in der Steiermark. einem Meer von winzig kleinen Acker- ten befestigten fünfeckigen Wohnturm.
Groß, immer noch mächtig und letzt- stiefmütterchen, die noch verschneiten Lange davor, in der Urnenfeld- (1300 –
endlich unzerstörbar – nicht zuletzt dank Berggipfel der Umgebung grüßen win- 88 v. Chr.) und Hallstattzeit (800 – 450 v.
der vielfältigen Aktivitäten des Burgver- terlich herüber. Doch besonders ideal für Chr.) fanden am Areal, worauf sich später
eins – liegt die Ruine Steinschloss „450 den Besuch von Ruinen empfinde ich den Schloss Stein erheben sollte, Brandopfer
m über der hier 759 m hohen Sohle des Herbst. Das Absterben und das Sich-Zu- statt. Schloss Stein – ein magischer Ort
Murtales“, wie Otto Piper im zweiten rückziehen der Natur, die fallenden Blät- seit ältester Zeit. Vielleicht erspüren be-
Band seiner „Österreichische Burgen“ im ter unterstreichen das Flair der Vergäng- sonders Feinfühlige noch einen Hauch
Jahre 1903 vermerkt. Piper, ein ausgewie- lichkeit. Die Jahre vergehen im ewigen des Alten, einen Funken vergangener Ma-
sener Kenner der Wehranlagen in Öster- Kreislauf der Jahreszeiten, Geburt und gie. Vielleicht war es ebenso ein Wink
reich, bezeichnet Stein weiter als „ebenso
großartige als mehrfach interessante Rui-
ne“. Eine Aussage, der ich mich nur an- — Der südliche Rund-
turm der Kernburg auf
schließen kann. In meiner „Burgenpha-
dem Felssporn stellt
se“ erkundete ich sämtliche Ruinen und sich dem Wanderer
Burgen im Umkreis von 150 Kilometern auf den Berg groß und
von meinem Wohnort. Das Steinschloss mächtig entgegen.
wird mir dabei immer als besonders schön
und beeindruckend, atmosphärisch und
als nunmehr verstummter, aber trotzdem
sehr beredter Zeuge der Vergangenheit in
Erinnerung bleiben.
abenteuer philosophie — 61
PhilosophischReisen
des Schicksals, dass schließlich Blitz- und 1300. Im 14. und 15. Jahrhundert
schläge (ein letzter im Jahre 1810) das folgten nur kleinere Befestigungen und
stolze Schloss Stein zur Ruine machten. Modernisierungen wie im Bereich des
Eine ganze Burg als letztes Brandopfer. Eingangstores. Im 12. Jahrhundert war
das Steinschloss zunächst im Besitz der
DAS RAUNEN DER VERGANGENHEIT Herren „von Stein“ (ein Dietimarus de
Grob gesagt können im Schloss Stein vier Stein ist aus dem Jahre 1120/1130 über-
Bauphasen unterschieden werden. Das liefert), die sich in weiterer Folge auch la-
erste feste Haus, das bereits 1100 stand, tinisiert „de Saco“ (lat. saxus „Fels“) bzw.
— Übergang vom wurde im 12. Jahrhundert komplett ge- „de Lapide“ (lat. lapis „Stein“) nannten.
Torzwinger in die
schleift und im Bereich des heutigen Berg- Ursprünglich hieß das aus Oberösterreich
Vorburg
Bild darunter: Blick frieds etwas erweitert. Der größte Ausbau stammende Geschlecht jedoch wahr-
von der südlichen mit der unteren Hauptburg, der Kapelle scheinlich „von Steier“, was jedoch in
Kernburg zur und der Kernburg erfolgte zwischen 1279 „von Stein“ geändert wurde.
Katharinenkapelle
1279 wird Stein an Otto von Liechten-
stein verkauft. In die Zeit der Liechten-
steiner – unter ihnen auch der Minnesän-
ger Ulrich von Liechtenstein Anfang des
14. Jahrhunderts – fällt die erste Nennung
der Kapelle auf Schloss Stein, die der Hl.
Katharina gewidmet war. Ottos Frau war
Katharina Gräfin von Monfort, was einer-
seits die Kapellenheilige erklärt, anderer-
seits auch, dass Otto dem Pfarrer des am
Fuße des Burgbergs gelegenen Mariahof
extra ein Pferd stiftete, damit ab dem Jah-
re 1319 jeden Sonntag in der Katharinen-
kapelle die Messe gelesen werden konnte.
Im 15. Jahrhundert wechseln die Burg-
grafen in schneller Folge und die Liech-
tensteiner können Schloss Stein nicht
mehr halten. In den ersten Jahren des 16.
Jahrhunderts fällt das Steinschloss an das
Kloster St. Lambrecht, in dessen Besitz
es sich heute noch befindet. Im Laufe des
16. Jahrhunderts diente Schloss Stein den
Konventualen bzw. Äbten des Stiftes als
Sommerresidenz, in den Stiftsquellen ist
auch von „Sommerakademien“, „Rekrea-
tionsaufenthalten“ bzw. „Aderlassferien“
die Rede.
1793 wurden die Dachziegel abgenom-
men, um der damals neu eingeführten
Dachsteuer zu entgehen (schon damals
hatten Regierungen ja ausschließlich das
Wohlergehen des Volkes im Sinn), was
den Verfall der Burg – zusätzlich zu den
Blitzschlägen – beschleunigte. Für die
Wiederrichtung des Stiftes ab dem Jah-
re 1802 waren die Geldmittel allerdings
schon vorhanden. Erschreckend ist auch
zu erwähnen, dass das Steinschloss bis in
die 1960er-Jahre als Steinbruch verwen-
det und buchstäblich ausgeweidet wurde.
62 — abenteuer philosophie
— Grundriss des Stein-
schlosses mit seinen
6370 m² nach Otto
Piper, 1903
abenteuer philosophie — 63
PhilosophischReisen
— Blick aus dem
Tonnengewölbe
auf einen Torbogen
der Katharinen-
kapelle
Bild unten: Letzte
Sonnenstrahlen
in der nördlichen
Vorburg
64 — abenteuer philosophie
Nachdenken PhiloPoem
abenteuer philosophie — 65
Symbolisches
Wie glänzt
er festlich,
lieb und mild …
Ob winterliche Deko, feste
Familientradition, Nostalgie oder
Ablehnung: Was steckt in und
hinter dem Weihnachtsbaum?
TEXT Astrid Ringe
chen, vielmehr haben sich mannigfache Die Geburt Christi wurde von den Kir-
Traditionen im Laufe der Jahrhunderte chenvätern bewusst in diese Zeit der äu-
zusammengefügt, in der jede Genera- ßeren Kargheit und Dunkelheit gelegt,
tion ihre Anpassung hinzugebracht hat. um seine Bedeutung als Licht der Welt
Gemeinschaftlich geltende typische Er- und Zeichen der Hoffnung zu betonen.
kennungszeichen des Weihnachtsbaums Es ist auch die Zeit der Wintersonnen-
sind wende, die vor der Christianisierung in
- ein im Winter immergrüner Nadelbaum, Nord- und Mitteleuropa von Festen be-
S
- von Menschen aufgestellt an Orten, wo gleitet war. Jede Region hatte ihre Tradi-
ymbolisch stehen Bäume für er natürlicherweise nicht stehen würde, tionen, sei es einen Nadelbaum an der
die vertikale Achse zwischen - eine natürliche Pyramide, unten breit Decke verkehrt herum aufzuhängen, seien
Himmel und Erde. In vielen und nach oben spitz zulaufend, es Mistel- oder Stechpalmenzweige in die
Kulturen gibt es die Idee des - an den Zweigen sind Lichter und / oder Wohnstuben zu hängen oder immergrüne
Weltenbaumes, der die Ebenen angehängte „Früchte“, (Nadel-)Baumzweige mit Kerzen auf ein
der Unterwelt, der Menschenwelt und der - er markiert den Winter als besondere Gestell zu binden, aus dem sich später die
Welt der Götter trägt und diese Teile zu Zeit. Weihnachtspyramide entwickeln konnte.
Photo by Jukan Tateisi on Unsplash
66 — abenteuer philosophie
wurde, durften die Kinder diesen Baum
dann schütteln und aufsammeln und es- Einen gemeinsamen Ursprung kann
sen, was herabfiel.
Um den Wert der Erlösung durch die Ge- man nicht ausfindig machen,
burt des Heilands zu betonen, wurde in
manchen Regionen im 17. Jahrhundert vielmehr haben sich mannigfache
das Volk vor Weihnachten an den Sün-
denfall erinnert. Man befestigte Äpfel an Traditionen im Laufe der
einer Tanne, um das Pflücken der verbote-
nen Äpfel durch Adam und Eva szenisch Jahrhunderte zusammengefügt,
darzustellen. Johann Wolfgang Goethe
beschreibt 1774 in seinem Werk „Die in der jede Generation ihre
Leiden des jungen Werther“ ein Weih-
nachtsfest mit einem Weihnachtsbaum, Anpassung hinzugebracht hat.
der mit Wachslichtern, Zuckerwerk und
Äpfeln herausgeputzt ist und die Kinder HOFFNUNG UND VERGÄNGLICHKEIT
in „paradiesische Entzückung versetzte“. Während die grünen Zweige Hoffnung,
Friedrich Schiller schreibt 1789 in einem Treue und Beständigkeit ausdrücken, wie
Brief, dass man ihm „hoffentlich einen er- verarbeiteten ihre eigenen erlebten Weih- es im Lied „O Tannenbaum“ besungen
leuchteten Baum im Zimmer aufrichten“ nachtstraditionen zu neuen Liedern und wird, ist der Weihnachtsbaum selbst sehr
werde. Viele der heute noch verbreiteten Gedichten. Für Menschen, die mit den kurzlebig. Nach den Festtagen, wo er in
Weihnachtslieder und Gedichte wurden kirchlichen Regeln nicht mehr viel anfan- voller Lichterpracht erstrahlt und im Mit-
im 19. Jahrhundert komponiert und fan- gen können, wird der Weihnachtsbaum telpunkt steht, ist es für ihn vorbei. Er
den durch Schulbücher weite Verbrei- zum zentralen Element des Familienfes- hat gleichsam sein Leben für eine heili-
tung. Dadurch festigten sich Familien- tes. Im Lied „Am Weihnachtsbaum die ge Sache geopfert und darauf verzichtet,
traditionen und das gemeinsame Singen Lichter brennen“ steht das Zusammen- ein großer Baum unter vielen im Wald
durch Jung und Alt in der bürgerlichen kommen der Generationen im Vorder- zu werden. Manche Weihnachtsgedichte
Gesellschaft. Dichter und Schriftsteller grund. ziehen hier Parallelen zum Leben Jesu,
der sich ebenfalls geopfert hat. Andere
DER BAUM UND DIE TUGENDEN Gedichte ziehen einen Vergleich zur Tu-
Im schlanken Wuchs der Tanne lässt sich gend der Bescheidenheit, wenn die klei-
der aufrechte Stamm als zielstrebige Aus- ne unscheinbare Tanne als Christbaum
richtung nach oben deuten. Er ist das auserwählt wird, um eine strahlende
Vorbild für einen Menschen, der mit auf- Aufgabe zu erfüllen. Heute ist der Weih-
richtiger Haltung Charakterstärke zeigt. nachtsbaum zum Konsumobjekt gewor-
„Denn an der Frucht erkennt man den den, Baumschmuck folgt oberflächlichen
Baum“ heißt es in der Bibel bei Matthä- Moden oder man versucht den Baum mit
us 12,33. Das hat zwar nichts direkt mit Wurzelwerk im Topf zu halten, was selten
Weihnachten zu tun, ist aber die Über- gelingt. Der einzelne Tannenbaum kann
leitung zum Christbaum. Wie man im nur einmal im Leben Weihnachtsbaum
ASTRID RINGE Äußeren die edelsten und besten Lichter, sein, doch die Idee des Weihnachtsbaums
Ich liebe seit über 20 Früchte und Geschenke an die Zweige kann unabhängig von Konfession oder
Jahren das vergleichen-
de Studium von Weis-
des Weihnachtsbaumes hängt und mit Religion Jahr für Jahr aufs Neue inspirie-
heitslehren aus Ost und Großzügigkeit verschenkt, so stellte sich ren. ap
West und die reiche das Bürgertum im 19. Jahrhundert den
Vielfalt der Symbole idealen, wohltätigen Christen vor, der an
und Mythologien. Mit seinem inneren Christbaum die Tugen-
meinem Artikel möchte
ich die Leser ermuntern,
den entwickelt und reifen lässt. Durch
das eigene Denken zu den Christbaum hat der Mensch eine
erweitern, um selbst Verbindung zum Glück des Paradieses.
tieferliegende Zusam- Im Weihnachtslied „Der Christbaum ist
menhänge zu erspüren. der schönste Baum“ als auch in der zwei-
ten Strophe von Johannes Brahms‘ „Wie-
genlied“ wird auf dieses glückliche Para-
dies durch den Christbaum angespielt.
abenteuer philosophie — 67
Rätsel & Spaß
Das Friedens-Rätsel
In unserem Friedens-Rätsel fragen wir Sie diesmal nach dem Namen eines berühmten Friedens-
nobelpreisträgers. Die Buchstaben in den markierten Kästchen ergeben den Namen von oben nach
unten gelesen. (Umlaute sind zwei Buchstaben.)
• Ich bin krank. Habe meine Symptome gegoogelt. Es gibt drei Mög-
lichkeiten: Pest, Borkenkäfer oder die Zylinderkopfdichtung.
• Ins Kinderzimmer zu gehen ist wie ein Besuch im Möbelhaus: Du willst kurz
reinschauen, kommst raus mit Gläsern, Tellern, Handtüchern und Kleinkram.
• Ein Jugendlicher geht am Strand spazieren und stolpert über eine Flasche. Er
hebt sie auf und befreit einen Flaschengeist. Er hat einen Wunsch frei. „Ich
wünsche mir Frieden in der Welt!“ – „Ich bin nur ein kleiner Flaschengeist!
Das ist zu schwierig.“ „Dann wünsche ich mir, dass ich durchs Abi komme.“
– „Okay, wie war das mit dem Weltfrieden?“
68 — abenteuer philosophie
PhiloPraxis
abenteuer philosophie — 69
GesundSein
Harmonie durch
Gegensatz
— Das Yin-Yang-
Symbol steht für
den Gegensatz, der
Bewegung und damit
Leben schafft. Yang
ist Aktivität, Hitze
und Bewegung, Yin
ist Ruhe, Kälte und
Passivität.
O
Gesund!
S
OP
S
und nicht immer wohltemperiert zu le-
ben. Es heißt, Konflikte anzusprechen,
HIC
anstatt immer gleicher Meinung zu sein.
Fasten und feiern, Anstrengung und Ent-
TEXT Renate Knoblauch
spannung, aufnehmen und loslassen, Er-
P
folge und Scheitern. Körper und Psyche
aracelsus war ein kluger Mann. sind für Belastungen gemacht, sie wollen
Er war nicht nur ein überra- gefordert werden, aber nicht in andauern-
gender Arzt seiner Zeit (1492 der Eintönigkeit. Ständige Erreichbarkeit
– 1541), sondern auch Philo- durch das Handy, immer gleiche Belas-
soph. Wie seine berühmten tung des Fußgewölbes durch ebenen As-
griechischen Philosophie-Kollegen Tha- phaltboden, jeden Tag satt essen bis zum
les von Milet, Anaximander oder Heraklit, Anschlag, … immer das Gleiche ermüdet.
ist er der Naturphilosophie zuzurechnen, Wo bleibt die Herausforderung? Einmal
jenem Zweig der klassischen Philosophie, wieder richtig frieren, den Hunger spü-
die ihre Erkenntnisse aus dem Studium ren, streiten, dass die Fetzen fliegen …,
der Naturgesetze schlussfolgert. Die Na-
tur ist nicht wild und chaotisch, sie ist
aber alles im Rahmen der großen Har-
monie. Nach dem Frieren ist alles woh-
Der Gegensatz
geordnet und folgt strengen Gesetzmä-
ßigkeiten. Paracelsus zum Beispiel konn-
lig warm und gut durchblutet, nach dem
Fasten schmeckt jede Kartoffel wie der
schafft Bewegung
te anhand der sogenannten Signatur von
Heilpflanzen – Farbe, Form, Anzahl von
süßeste Kuchen und der Streit möge zu
einer größeren Erkenntnis geführt haben.
und damit Leben.
Blättern, Geschmack etc. – deren Wir-
kung bestimmen. Den Gegensatz leben, heißt aber vor al- seren Ort zu machen. Echte Spiritualität
lem, Geist und Körper in Einklang zu bedeutet nicht, tatenlos in der Höhle zu
Laut Paracelsus ist Gesundheit Harmo- bringen: als Mensch den höchsten Sinn meditieren, sondern Fußspuren in der
nie: zwischen Geist und Körper, Vernunft zu suchen, der vorstellbar ist, das Dauer- Welt zu hinterlassen.
und Gefühl, Einatmen und Ausatmen, hafte und Unvergängliche hinter den Din-
Aufnahme und Ausscheidung. gen aufspüren, um dann hier und jetzt in Harmonie bedeutet nicht öden Gleich-
Das dazugehörige Grundgesetz der Na- der Welt zu leben und sie zu einem bes- klang, sondern Zusammenklang von Ge-
tur lautet „Harmonie durch Gegensatz“. gensätzlichem. Wie die unterschiedlichen
Dem alten China gelang es, diese komple- Musikinstrumente des Orchesters, die
xe Wahrheit einfach darzustellen mit dem eine Symphonie spielen, so ist auch jeder
Yin-Yang-Symbol. Mensch wie ein Instrument im Orchester
Es ist der Gegensatz, der Bewegung und der Menschheitsfamilie, das die schönste
damit Leben schafft.Yang steht für Aktivi- Musik darbieten könnte.
tät, Hitze und Bewegung, Yin für Ruhe, „Es ist nicht unsere Aufgabe, einander
Kälte und Passivität. Was ist Hitze? Wenn näher zu kommen, so wenig wie Son-
das Thermometer 35 Grad im Schatten ne und Mond zueinanderkommen oder
Illustration 7956293 © Okeen | Dreamstime.com
zeigt? Wie nennen wir dann die Tempera- Meer und Land. Wir zwei sind Sonne und
turen, die auf der Sonne herrschen? Alles Mond, sind Meer und Land. Unser Ziel
ist relativ. Und so zeigt der kleine weiße ist nicht, ineinander überzugehen, son-
Punkt im schwarzen Feld an, dass es auch RENATE KNOBLAUCH dern einander zu erkennen und einer im
dort heiß und kalt gibt. Wenn einmal das Ärztin aus Leidenschaft anderen das sehen und ehren lernen, was
weiße und dann wieder das schwarze Feld mit besonderer Liebe er ist: des anderen Gegenstück und Er-
überwiegt, beginnt sich das Rad des Le- zu Paracelsus und zur gänzung.“ (Hermann Hesse)
Chinesischen Medizin
bens zu drehen. Es dreht sich nur des-
halb, weil es den Gegensatz gibt: Tag und In diesem Sinne wünsche ich mir eine
Nacht, Sommer und Winter, Stille und neue Wissenschaft, die nicht nur eine
Klang, Leben und Tod. Meinung zulässt, sondern durch lebhaf-
Den Gegensatz zu leben ist nicht bequem. ten, respektvollen Austausch gemeinsam
Es bedeutet Hitze und Kälte zu spüren nach der Wahrheit strebt. ap
abenteuer philosophie — 71
PhiloStory
— Wir alle wollen Frieden.
Dabei müssen wir von
Grund auf beginnen: bei
den Kindern.
Der Frieden
beginnt in uns!
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72 — abenteuer philosophie
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Liebe Freunde!
S
Über den Frieden zu sprechen, heißt ja, über etwas zu owohl in der äußeren Welt als
sprechen, das es nicht gibt. Wahren Frieden gibt es nicht auch im Inneren eines jeden
Lebewesens gibt es die Pole
auf unserer Erde und hat es auch nie gegeben, es sei denn Krieg und Frieden. Der Hirn-
als Ziel, das wir offenbar nicht zu erreichen vermögen. forscher Gerald Hüther hat
Solange der Mensch auf dieser Erde lebt, hat er sich der herausgefunden, dass das menschliche
Gewalt und dem Krieg verschrieben, und der uns vergönnte Gehirn nach einem Zustand von Kohä-
zerbrechliche Friede ist ständig bedroht. Gerade heute lebt renz strebt. Kohärenz bedeutet in diesem
Zusammenhang ein harmonisches Mit-
die ganze Welt in der Furcht vor einem neuen Krieg, der uns einander-Schwingen aller Anteile des Ge-
alle vernichten wird. Angesichts dieser Bedrohung setzen hirns. Wenn das geschieht, dann passt al-
sich mehr Menschen denn je zuvor für Frieden und les und ist miteinander in Einklang. Doch
Abrüstung ein – das ist wahr, das könnte eine Hoffnung sein. diese innere Harmonie ist störanfällig. Sie
kann durch die eigenen Gedanken und
die damit einhergehenden Wünsche zu-
Doch Hoffnung hegen fällt so schwer. Die Politiker versam- nichte gemacht und genauso durch äuße-
meln sich in großer Zahl zu immer neuen Gipfelgesprächen, re Bedingungen gehemmt werden. Einer
und sie alle sprechen so eindringlich für Abrüstung, aber nur Störung des Einklangs folgen letztendlich
für die Abrüstung, die die anderen vornehmen sollen. Dein immer wieder Lern- und Wachstumspro-
Land soll abrüsten, nicht meines! Keiner will den Anfang zesse, denn um den inneren Frieden, den
Einklang und das Gleichgewicht wieder-
machen. Keiner wagt es anzufangen, weil jeder sich fürchtet herzustellen, benötigt der Mensch neue
und so geringes Vertrauen in den Friedenswillen des anderen Strategien.
setzt. Und während eine Abrüstungskonferenz die andere Indem jeder Einzelne einen inneren
ablöst, findet die irrsinnigste Aufrüstung in der Geschichte Kampf mit sich austrägt – einen Kampf
der Menschheit statt. Kein Wunder, dass alle Angst haben, gegen seine Instinkte, Leidenschaften
und Gefühle wie Angst, Wut, Zorn etc.,
gleichgültig, ob wir einer Großmacht angehören oder in kurzum eine Transformation der eigenen
einem kleinen neutralen Land leben. Wir alle wissen, dass ein Schwächen in Tugenden – und diesen
neuer Weltkrieg keinen von uns verschonen wird, und ob ich Kampf gewinnt, erreicht er seinen inne-
unter einem neutralen oder nicht-neutralen Trümmerhaufen ren Frieden. Dieser Sieg über sich selbst
begraben liege, das dürfte kaum einen Unterschied machen. ist wiederum die Basis für den äußeren
Frieden. Der Friede ist somit das Ergeb-
nis von Kampf und weniger ein harmoni-
Müssen wir uns nach diesen Jahrtausenden ständiger Kriege scher Urzustand.
nicht fragen, ob der Mensch nicht vielleicht schon in seiner Einen beständigen inneren Frieden je-
Anlage fehlerhaft ist? Und sind wir unserer Aggressionen doch aufrechterhalten zu können, ist illu-
wegen zum Untergang verurteilt? Wir alle wollen ja den sorisch. Der dem Frieden entgegengesetz-
te Pol, der Konflikt beziehungsweise die
Frieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, uns zu ändern, Auseinandersetzung mit dem Selbst, mit
ehe es zu spät ist? Könnten wir es nicht vielleicht lernen, den Mitmenschen und der Umwelt, wird
auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine immer wieder für inneren Aufruhr und die
ganz neue Art Mensch zu werden? Wie aber sollte das damit verbundenen Lernprozesse sorgen.
geschehen, und wo sollte man anfangen?
Glückliche Menschen tragen Zuversicht
in sich, den Zustand des inneren Frie-
Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den dens immer wieder erreichen zu können.
Kindern.
„Denn der Frieden beginnt in uns.“ (Da-
Auszug aus der Festrede von Astrid Lindgren lai Lama) ap
abenteuer philosophie — 73
Eine Frage noch
Sometime they‘ll give a war and nobody will come.
(Irgendwann werden sie einen Krieg ausrufen,
aber niemand wird hingehen.)
aus The People, Yes: Gedicht von Carl Sandburg (1878 – 1967)
Damit richten wir uns zu guter Letzt an Sie, nicht wirklich entkommen kann. Auch das
liebe Leserinnen und Leser. Die Frage möge ist wahr.
Ihnen Gelegenheit bieten, die Freude am „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht
eigenen Denken zu erleben. hin – und dann kommt der Krieg zu Euch“,
ist gar nicht von Brecht, das sei hier um
Sollten Sie zusätzliche Anstöße zur der Gerechtigkeit und des Friedens willen
Inspiration brauchen, lesen Sie bitte weiter: notiert.
Das vorangestellte Zitat stammt von Carl Aber bei uns soll es jetzt darum gehen:
Sandburg. Ein kleines Mädchen sieht zum Stellen wir uns vor, es gibt Frieden, aber wir
ersten Mal in ihrem Leben Soldaten, die in gehen nicht hin! Wir haben keinen Anteil
den Krieg ziehen. Und sie beschwört die daran, wären damit nicht einverstanden!
Formel: Irgendwann wird die Zeit kommen Wir hätten dadurch vielleicht einen kleinen
und die Menschen werden nicht mehr der persönlichen Nachteil. Wir empfänden
Kriegspropaganda glauben. So könnte es als ungerecht! Wollten vielleicht sogar
Frieden entstehen. Rache, Bestrafung. Unsere Gedanken und
Bertold Brecht schrieb in der Koloman Emotionen würden den Frieden nicht
Wallisch Kantate nur: „Wer zu Hause bleibt, zulassen. Aggressionen und/oder Ängste
wenn der Kampf beginnt, und läßt andere stellen sich entgegen. Dann kann es auch
kämpfen für seine Sache, der muß sich vor- keinen Frieden geben.
sehen: Denn wer den Kampf nicht geteilt Ist es vielleicht wirklich so, dass Frieden nur
hat, der wird teilen die Niederlage. Nicht aus der Zufriedenheit entsteht? Im Großen
einmal Kampf vermeidet, wer den Kampf wie im Kleinen? Spiegeln sich unser Zorn,
Fotos Blinde Frau
Fotos Blinde Frau
vermeiden will, denn er wird kämpfen für unsere Ängste, die zahllosen Hasspostings
die Sache des Feindes ...“ Hier geht es um im großen Krieg wider? Sind wir bereit
die Beteiligung am Arbeiterkampf für mehr für den Frieden? Was können wir tun, um
Gerechtigkeit. Es ist eine klare Aussage, dass zufriedener zu sein? Was, um gemeinsam
man sich Konflikten stellen muss und ihnen Frieden zu schaffen? ap
74 — abenteuer philosophie
Vorschau
Die näch
Nr. 172: Ausgabe
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erschein
Anders-Sein 30.3.202
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3
— LEBEN Warum wir anders sein wollen, aber
dafür viel Mut brauchen
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