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KN 68,56 Österreich € 7,10 Schweiz sfr 9,40 Slowenien € 7,50 Spanien / Kanaren € 8,00 Ungarn Ft 3790,–
Dänemark dkr 74,95 Frankreich € 7,70 Italien € 8,20 Norwegen NOK 125,– Portugal (cont) € 7,50 Slowakei € 7,70 Spanien € 7,70 Tschechien Kč 229,– Printed in Germany

die Fleißigen

GEN-SCHERE
Chinas Helfer

BÜRGERGELD

Erbkrankheiten
GEHEIMDIENSTE

von rechts außen

Der Staat bestraft

Neue Therapien bei

Innenansicht einer Terror-Organisation

Lässt sich die Hamas besiegen?
Nr. 51 | 16.12.2023
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Begegnen Sie Menschen
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Was werden
wir in Zukunft
HAUSMITTEILUNG

Titel Seiten 10, 20, 22

Wer ist Yahya Sinwar, das Gesicht hinter

essen?
J. Opperskalski / laif

J. Opperskalski / laif
dem Massaker in Israel vom 7. Oktober?
Was für ein Leben führte der Chefstratege
DER SPIEGEL

der Hamas, bis er über 1200 Menschen hin-

metzeln und über 240 Geiseln verschleppen
ließ? Ein Reporterteam um Titelautor Chris-
toph Reuter, mit Muriel Kalisch (r.) und Thore Schröder in Israel, Gaza-Expertin Monika Bolliger
(M.), Susanne Koelbl in Katar und Bernhard Zand in Frankreich, ging der Geschichte der Hamas
mit ihrer perfiden Struktur als Sozial- und Terrororganisation nach. Kalisch fragte sich, wieso
die Angreifer viele ihrer weiblichen Opfer brutal sexuell erniedrigten. Bolliger erzählt von der
Wut der Gaza-Bewohner, die sich durch Sinwars Terroroperation jetzt »einem Vernichtungskrieg«
durch Israel ausgesetzt fühlen. In Doha, wo Israel und die Hamas über Unterhändler verhandeln,
ergründete Koelbl, wie der Krieg enden könnte: »Die militärischen Ziele der Israelis verändern
sich ständig.«

Geheimdienste Seiten 30, 34

Über ein Jahr lang recherchierte ein Team von SPIEGEL -Redak-
teuren zum Großangriff chinesischer Geheimdienste auf den
Steffen Roth / DER SPIEGEL

Westen, bis ihnen handfeste Beweise für die Unterwanderungs-

strategie Chinas in die Hände fielen: Hunderte Chatnachrichten
zwischen einem rechtsextremen belgischen Politiker und seinem
chinesischen Führungsoffizier. Sie legen nahe, dass europäische
Rechtsaußen mit der chinesischen Stasi zusammenarbeiten. Und
sie zeigen unter anderem, dass Pekings Agenten die Öffentlich-
keit rund um den Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Peking im November 2022 manipulie-
ren wollten. Ein SPIEGEL -Team um Fidelius Schmid, Marcel Rosenbach und Wolf Wiedmann-Schmidt
beschreibt die tolldreiste Zersetzungsstrategie der Chinesen und die europäischen Helfer. »Aus-
gerechnet Rechtsaußenpolitiker lassen sich von China einspannen und bezahlen«, sagt Rosenbach.
Schmid sieht die Operation der selbst ernannten Rechtspatrioten »nahe am Landesverrat«.

Leihmütter Seite 56

Auf der Urlaubsinsel Kreta wird gegen Ex-Mitarbeiter des

Mediterranean Fertility Institute ermittelt. Die Fruchtbarkeits-
klinik lockte Paare an, die ungewollt kinderlos sind, und, so der
Vorwurf, beutete Osteuropäerinnen als Leihmütter aus. Babys
seien für bis zu 100.000 Euro vermakelt worden. SPIEGEL -
Olga Stefatou

Redakteurin Dialika Neufeld fragte sich, was nach Schließung der

Klinik aus den Schwangeren und ihren Babys wurde. In einer
Taverne traf sie eine Moldauerin, die für einen älteren Griechen
ein Kind austrägt. Zu Hause verschweigt sie ihre Leihmutterschaft. Sie hofft, dass sie trotz allem
nach der Babyübergabe im Januar die vereinbarten 9000 Euro erhält. »Sie empfindet sich aber
keineswegs als Opfer«, so Neufeld, »sie sieht die Leihmutterschaft als Ausweg aus der Armut.«

Kinderbuch Seite 108

Das Nachrichten-
Magazin für Kinder
Er hat alte Briefe, die er mitbringen wollte, nicht gefunden. Sie meint, er habe vor 35 Jahren einen
Elefanten für sie gezeichnet. Er bestreitet das. Sie frotzelt: »Herrje, streng dich doch mal an.« Er
seufzt augenzwinkernd: »Das kann ja ein lustiges Interview werden.« Als SPIEGEL -Korrespondent
Jörg Schindler Schauspielerin Emma Thompson und den Illustrator Axel
Scheffler in London traf, um über ihr gemeinsames Kinderbuch »Jims bril-
Mehr erfahren:
Illustration: Axel Scheffler

lante Weihnachten« zu plaudern, kam er sich anfangs etwas überflüssig

vor. Die Britin und der Deutsche verstanden sich auch ohne Moderator
bestens. Es sei dann doch ein amüsantes Gespräch geworden, sagt Schind-
ler: »Fast ohne Lästerei über britische Politik – eine Seltenheit hier.« Am
Ende versprach Scheffler, einen exklusiven Jim, den Hundehelden des
Buchs, für den SPIEGEL zu zeichnen. Er hat es nicht vergessen. deinspiegel.de

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 3

INHALT TITEL

10 | Nahost Aufstieg der

Hamas – Vorgeschichte,
Vorbereitung und Folgen
DER SPIEGEL 77. Jahrgang | Heft 51 | 16.12.2023
des 7. Oktober

20 | Israel Warum das Land erst

jetzt über die sexualisierte
Gewalt beim Terrorangriff spricht

22 | Islamisten Der mögliche

Strategiewechsel der Hamas in
Deutschland

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel Die Ampel­

koalition zeigt, dass sie den Ernst
der Lage erkannt hat

26 | Bundes-CDU erhebt neue

Vorwürfe gegen Hans-Georg
Maaßen / 1200 Euro Rente für
37 Jahre Arbeit / Politiker-
»Dienstreise« nach Mallorca /

Mohammed Abed / AFP

Die Gegendarstellung

30 | Geheimdienste Wie China

in Deutschland Computer
hackt und Dissidenten ausspäht

34 | Agenten Chinas Geheim­

dienst spannt Europas
Strategen des Terrors Rechtsaußen ein – Spuren führen
auch zur AfD

TITEL Am 7. Oktober haben Terroristen der Hamas die hochmodernen Grenzanlagen 40 | Regierung Rettung
zum Gazastreifen überrannt, 1200 Menschen ermordet und dem jüdischen für die Koalition oder nur
Aufschub? Die Ampel hat sich
Staat ein Trauma zugefügt. Wie die Terrororganisation entstand, wie sie ihre Macht im Haushaltsstreit in einen
ausbaute – und wie Israel sie jetzt zerstören will. | 10, 20, 22 Kompromiss gerettet

44 | CDU Schleswig­Holsteins
Ministerpräsident Daniel Günther
über die Krise der Bundes­
regierung und seine Zusammen­
arbeit mit den Grünen

46 | Terrorismus Die Wahnwelt

der »Reichsbürger«­Verschwörer

48 | Pressefreiheit Ein Frei­

burger Journalist zieht nach der
Winni Wintermeyer / DER SPIEGEL
Frederike Helwig / DER SPIEGEL

Durchsuchung seiner Wohnung

vor das Bundesverfassungs­
Sabina Bobst / Lunax

gericht

50 | Kriminalität Kinder und

Jugendliche begehen nicht
mehr Straftaten als vor Corona

Jennifer Doudna Emma Thompson Fei-Fei Li 53 | Nebengeschäfte Eine

Die Nobelpreisträgerin erklärt, Die Schauspielerin spricht mit Die Stanford-Wissenschaftlerin Beamtin aus dem Finanz­
wie Gentherapien die Medizin Zeichner Axel Scheffler über warnt vor der Dominanz der ministerium beim Superreichen­
grundlegend verändern. | 94 ihr gemeinsames Buch. | 108 Konzerne beim Thema KI. | 72 Event

4 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.

REPORTER
54 | Familienalbum / Gehören
Geschenke ins Handgepäck?
55 | Eine Meldung und ihre
Geschichte Wie ein verlorener
Ehering nach über 40 Jahren
wieder auftauchte
56 | Sehnsucht Auf Kreta
ermittelt die Polizei gegen eine
Fruchtbarkeitsklinik
61 | Homestory Warum ich
mich nicht zur Verkehrswende
zwingen lasse
WIRTSCHAF T
62 | Finanzminister Lindner
will der Post ein Steuer-
geschenk machen / Welche
Nachzahlungen drohen 2023
für Öl und Gas
64 | Gerechtigkeit Hält das
Bürgergeld Menschen wirklich
vom Arbeiten ab? Ein Report aus
den Wirrnissen des Sozialstaats
69 | Autoindustrie Tesla
soll versehentlich 1000 Gehalts­
abrechnungen an eine Ex­
Mitarbeiterin verschickt haben
70 | Immobilien In 22 Tagen
einen Altbau sanieren? Das geht!
72 | Technologie Lernende
Roboter und die Verantwortung
der Politik im Umgang mit
KI – ein SPIEGEL­ Gespräch mit
der US­Professorin Fei­Fei Li
74 | Unterhaltung Die
Spielzeugindustrie entdeckt
Erwachsene als Kunden
AUSLAND
76 | Analyse: Was Macrons
Machtverlust bedeutet / Putins
Propagandakanäle
78 | Polen Die Menschen
feiern den demokratischen
Machtwechsel
82 | Österreich Das Land ächzt
unter den politischen Skandalen
84 | Migration Wie sich die
EU zum Handlanger des libyschen
Warlords Haftar macht
Titelfotos [M]: Dawoud Abo Alkas / ZUMA Wire / IMAGO, Hani Alshaer / Anadolu Agency / picture alliance, Mohammed Abed /
AFP, Ashraf Amra / ZUMA Press / IMAGO, Ashraf Amra / Anadolu Agency / Getty Images, Mahmud Hams / AFP, Yahya Hassouna / AFP
[M] Lea Rossa / DER SPIEGEL; Fotos: P. Langrock / Zenit, L. Millis / AFP
SPORT
87 | Die beliebtesten deutschen
Sportverbände / Hall of Fame:
Uli Hoeneß’ Weihnachtsbaum
88 | Fußball Hat die Welt­
meisterschaft, die vor einem Jahr
stattfand, Katar verändert?
WISSEN
92 | Was hilft gegen Endlos-
erkältungen? / Analyse: Virgin
Galactic am Boden
Alternative für China
94 | Genome Editing SPIEGEL ­
Pekings Geheimdienste agieren im Westen immer aggressiver.
Gespräch mit Nobelpreisträgerin
Agenten-Chats belegen nun, wie das Regime versucht, Einfluss auf die
Jennifer Doudna über die
deutsche Politik zu nehmen. Welche Rolle spielt die AfD? | 30, 34
Aussicht, Volkskrankheiten mit
Eingriffen ins Erbgut zu be­
handeln
97 | Meere Vor der Küste
Floridas wollen Forscher
Korallen an den Klimawandel
Rolf von Riedmatten / imageBROKER / Getty Images
anpassen
100 | Bücher Das Wissen­
ressort empfiehlt zehn
Sachbücher des Jahres 2023
KULTUR
102 | Juergen Teller in Paris /
Ein Stall für zwei – »Chicken
Run: Operation Nugget«
Evolution unter Hochdruck
104 | Kino Simon Verhoeven
Das riesige Korallenriff vor der Küste Floridas stirbt ab. Forscher
hat in »Girl You Know It’s True«
versuchen jetzt, die Tiere im Eilverfahren an die neuen Hitzerekorde
den Skandal um Milli Vanilli
zu gewöhnen. | 97
verfilmt
108 | Literatur SPIEGEL ­
Gespräch mit Schauspielerin
Emma Thompson und
Illustrator Axel Scheffler über
ihr gemeinsames Kinderbuch
»Jims brillante Weihnachten«
Gordon Timpen / Wiedemann & Berg Film / LEONINE
112 | Klassik Joe Hisaishi
ist unter jungen Leuten ein Star,
weil er Musik für Animefilme
komponiert
115 | Streamingkritik »Salt­
burn« ist eine grelle Satire über
Klassenunterschiede
Der große Fake der Popgeschichte
SPIEGEL-TV-Programm | 17 Bestseller | 106 Das Duo Milli Vanilli hatte Ende der Achtzigerjahre enormen
Impressum, Leserservice | 116
Nachrufe | 117 Personalien | 118
Erfolg. Der Spielfilm »Girl You Know It’s True« erzählt jetzt vom
Briefe | 120 Letzte Seite | 122 rasanten Aufstieg und tragischen Absturz der Band. | 104
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 5
 Ein blasser Hoffnungsschimmer
LEITARTIKEL SPD, Grüne und FDP haben mit ihrer Einigung zum Haushalt gezeigt, dass sie auch
schwierige Kompromisse schließen können. Die nächsten Probleme aber warten bereits.
Florian Gaer tner / photothek / IMAGO
Ampelpartner ls die Ampel vor zwei Jahren startete, war sie kei-
Lindner, Habeck,
Scholz im Bundestag A ne Koalition, sondern ein Projekt. Der Kanzler
nannte es so, auch der Vizekanzler. Es klang nach
Aufbruch, Experiment, dem Ende der großkoalitionären
Bräsigkeit. Sinnbild des neuen Projekts war das Selfie der
Sondierer Christian Lindner und Volker Wissing von
der FDP, Annalena Baerbock und Robert Habeck von
den Grünen; »Spannende Zeiten« stand unter dem Post.
Innovation lag in der Luft, Fortschritt, wie es die Koalition
nannte.
Längst ist das Projekt zu einem Zweckbündnis gewor-
den, die Fortschrittskoalition zu einer Überlebensgemein-
schaft. Spannend war irgendwann nur noch die Frage, mit
welchem neuen Grad an Heimtücke die Koalitionäre auf-
einander losgehen würden. Erinnert sei an die Äußerung
des FDP-Generalsekretärs, der grüne Ampelpartner sei
ein »Sicherheitsrisiko für das Land«.
Mit ihrer nächtlichen Einigung auf die Eckpunkte zum
Haushalt 2024 ist die Ampel einen Schritt in ihre Projekt-
phase zurückgekehrt. Für die Partner ging es nicht mehr
darum, sich vor allem selbst zu profilieren (zumindest
nicht mehr ganz so sehr), ihre gegenseitigen Aversionen
auszuleben, sondern sie einte das Bewusstsein, den bis-
lang schwierigsten Kompromiss dieser Regierung finden
Alle drei zu müssen. Anderenfalls wäre das Ende des Projekts frü-
her eingetreten als geplant – was keinem der Koalitionäre
Parteien etwas gebracht hätte: Alle drei Parteien würden bei Neu-
würden bei wahlen nach den aktuellen Umfragen nicht sehr glorreich
abschneiden.
Neuwahlen Sosehr das Haushaltsurteil des Bundesverfassungs-
nicht sehr gerichts die Ampel auch schmerzte, so heilsam war es. Es
zwang das Bündnis, sich wieder auf sich selbst zu besin-
glorreich nen, auf die Frage, ob man zu dritt noch etwas erreichen
abschneiden. will – oder es lieber sein lässt. Ob es noch irgendeine
6 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Grundlage des gemeinsamen Regierens gibt, ob man auf
die heikle Frage, wie sehr viel Geld einzusparen ist, eine
gemeinsame Antwort findet.
Herausgekommen ist Kleinteiliges, Schmerzhaftes
für jeden der drei, für den einen etwas weniger als für
die anderen. Die Ministerien müssen sparen, die SPD
muss leichte Einschnitte beim Bürgergeld akzeptieren,
den Grünen fehlen Milliarden im Klima- und Transfor-
mationsfonds. Die FDP hat zugestanden, dass klima-
feindliche Subventionen gestrichen werden, wobei im
Fall des Agrardiesels der grüne Landwirtschaftsminister
nun den Bauern erklären muss, warum es für sie teurer
werden wird.
Trotz mancher Ungerechtigkeit in dem Beschluss
ist die Ampel wieder dort, wo sie der Soziologe Andreas
Reckwitz einmal verortet hat: in einem Denkraum, in
dem Interessen ganz unterschiedlicher Wählermilieus
aufeinandertreffen, in dem immer wieder um neuartige,
oft tiefgehende Kompromisse gerungen wird, mit viel
Streit, der quälend lange dauern kann. Eine »Anti-Pola-
risierungskoalition« hat Reckwitz die Ampel einmal ge-
nannt, weil sie die gesellschaftliche Polarisierung bereits
in sich trägt und im besten Falle in eine konstruktive Poli-
tik des Kompromisses verwandelt – was ihr nun weit-
gehend geräuschlos gelungen ist.
Man sollte allerdings nicht zu große Hoffnungen darauf
setzen, dass nun alles besser würde. Der Lack der Fort-
schrittskoalition ist zu zerkratzt, als dass er jemals wieder
glänzen könnte. Das fehlende Geld engt die Gestaltungs-
räume ein und macht den Verteilungskampf innerhalb
der Ampel noch härter. Den Drang, sich in dem Bündnis
auf Kosten der anderen zu profilieren, werden seine drei
Vertreter immer wieder verspüren, vor allem dann, wenn
die Umfragewerte weiter sinken.
Vor allem aber bleiben auch nach diesem Kompromiss
große Fragen ungelöst: ob der Umbau der Wirtschaft zur
Klimaneutralität mit weniger staatlichen Milliarden ge-
lingen kann, ob Unternehmen davon abgehalten werden
abzuwandern. Oder wie diejenigen unterstützt werden
können, für die die nun beschleunigte Erhöhung des CO₂-
Preises irgendwann nicht mehr tragbar ist, die eigentlich
das brauchen, was ihnen im Koalitionsvertrag versprochen
wurde: das Klimageld. Und wann kommt der Zeitpunkt,
an dem der militärische und der finanzielle Bedarf der
Ukraine so hoch ist, dass die Schuldenbremse ausgesetzt
werden muss, um ihn zu finanzieren? Nach dem Streit
also ist vor dem Streit.
Dass die Ampel noch in der Lage ist, Konflikte zu
lösen, auch grundlegende, hat sie soeben bewiesen.
Nun muss sie zeigen, dass es ihr auch bei den zukünf-
tigen Problemen gelingt. Solange die Krisen dieser
Welt andauern, sind die Menschen mehr denn je auf eine
konstruktive Politik angewiesen – und auf eine stabile
Regierung.
Martin Knobbe n
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TITEL

Das Monster
von Gaza
NAHOST Seit die islamistische Hamas vor 36 Jahren gegründet wurde,
war ein Mann die ganze Zeit dabei: Yahya Sinwar. Er brachte
angebliche Verräter mit eigenen Händen um, plante Geiselnahmen, ließ
Tunnel bauen – und gilt als Mastermind des Überfalls auf Israel
vom 7. Oktober. Wie wurde die Terrororganisation so mächtig, warum hat
Israel sie unterschätzt – und lässt sie sich besiegen?

10 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


Ibraheem Abu Mustafa / REUTERS
Hamas-Kämpfer bei Militärparade im
Gazastreifen im Juli
s muss drei oder vier Tage nach dem
E 7. Oktober sein, als der Hamas-Anfüh-
rer seine Gefangenen in einem der vie-
len Tunnel unter dem Gazastreifen besucht.
»Hallo, ich bin Yahya Sinwar«, stellt er sich
vor, er spricht flüssiges Hebräisch. »Euch wird
nichts passieren.«
Die 85-jährige Yocheved Lifshitz ist bei
dem Treffen mit Sinwar dabei; sie wird Ende
Oktober freigelassen. Sie habe, erzählt sie,
Sinwar gefragt, ob er sich nicht schäme, so
etwas ausgerechnet den Menschen anzutun,
die all die Jahre den Frieden unterstützt hät-
ten. Sie selbst hatte zusammen mit ihrem
Mann geholfen, Palästinenser aus dem Gaza-
streifen in israelische Kliniken zu bringen.
Sinwar, so sagt sie, habe nicht geantwortet.
Der Besuch bei den Geiseln dürfte ein großer
Moment im Leben des Mannes gewesen sein,
der mehr als 20 Jahre in israelischen Gefäng-
nissen verbrachte. Den die einen als Schlächter
und Psychopathen bezeichnen und den die
anderen feiern als Widerstandskämpfer.
Das Massaker vom 7. Oktober ist der blutige
Höhepunkt in Sinwars Terroristenkarriere. Die
hochmodernen Grenzanlagen zum Gazastrei-
fen einfach überrollt, die israelische Armee
überrumpelt und über Stunden nicht einsatz-
bereit, ganz Israel in Schockstarre nach einem
Angriff, wie ihn der jüdische Staat noch nicht
erlebt hat. 1200 Tote an einem Tag, erschossen,
verbrannt, geköpft. Das Grauen gefilmt und live
über soziale Medien in die Welt gesendet. Und
etwa 240 Geiseln, darunter auch viele Frauen
und Kinder, verschleppt in den Gazastreifen.
Der Überfall ist ein Wendepunkt im Kon-
flikt zwischen Israel und den Palästinensern;
ein Zeitenbruch, nach dem für die Israelis –
genauso wie für die Palästinenser – kaum
mehr etwas ist, wie es war. Das Massaker und
Israels militärische Antwort darauf haben
neue Traumata erzeugt und alte aufgerissen.
Die Israelis fühlen sich erinnert an blutige
Pogrome und den Holocaust, die Palästinen-
ser an die Nakba, das arabische Wort für Ka-
tastrophe, ihre Flucht und Vertreibung rund
um die Gründung des jüdischen Staats 1948.
Seither steht die Palästinafrage wieder im
Zentrum der Weltöffentlichkeit. Israel hat sich
von der Illusion verabschieden müssen, den
Konflikt mit den Palästinensern »managen«
zu können. Die Gespräche über eine Norma-
lisierung der Beziehungen zwischen Israel
und Saudi-Arabien liegen auf Eis. Russland
und China wittern die Chance, ihren Einfluss
in der Region geltend zu machen. Die EU
ringt mit ihrer künftigen Rolle in diesem Kon-
flikt, und die US-Regierung sieht sich mit ihrer
proisraelischen Haltung herausgefordert und
isoliert.
Und so brutal und abstoßend der Überfall
war: Die Hamas, sagt die israelische Demos-
kopin Dahlia Scheindlin, sei jetzt für viele
Palästinenser eindeutig »die Nummer eins«
im Kampf gegen Israel. Die säkulare Fatah,
die die Palästinensische Autonomiebehörde
im Westjordanland kontrolliert, sei dagegen
praktisch bedeutungslos.
TITEL
Es ist anzunehmen, dass die Terroristen
genau das erreichen wollten; neben dem ganz
konkreten Ziel, möglichst viele Geiseln zu
nehmen, um Gefangene freizupressen.
Es gibt aber noch ein weiteres Ziel, das
Sinwar vor Augen gehabt haben dürfte: die
Israelis in ihrem Sicherheitsgefühl, in ihrem
Vertrauen in Staat wie Armee zu erschüttern.
Sie zu treffen an ihrem schwächsten Punkt:
der tief sitzenden Angst vor der Auslöschung
ihres seit Jahrtausenden verfolgten Volks.
Noch am 7. Oktober beruft die israelische
Armee die ersten Reservisten ein, seitdem
führt sie einen Krieg gegen die Terroristen,
der auch die Zivilbevölkerung trifft. Bisher
hat Israels Armee etwa 18.000 Palästinenser
getötet, die Zahlen stammen von Hamas-Stel-
len, werden aber von internationalen Orga-
nisationen für realistisch gehalten. Auch mehr
als 100 israelische Soldaten wurden im Gaza-
streifen getötet. Vor allem der Norden des
Landstrichs ist in großen Teilen zerstört,
7000 Terroristen sollen laut israelischer Ar-
mee bisher getötet worden sein, darunter die
Hälfte aller Hamas-Kommandeure.
Wie konnte es so weit kommen, dass die
Terroristen zu einem solchen Überfall fähig
waren? Waren die Gräuel genau so geplant,
oder verselbstständigte sich das Morden? Wa-
rum hat die Hamas damit ihre Herrschaft über
den Gazastreifen, ja ihre Existenz riskiert? Und
lässt sich die Organisation, so wie es die israe-
lische Regierung erhofft, mit diesem Krieg zer-
stören? Oder gehen die Terroristen womöglich
langfristig sogar gestärkt daraus hervor?
Wer Antworten auf diese Fragen sucht,
kommt an Yahya Sinwar nicht vorbei. Seine
Geschichte ist tief verwoben mit dem Aufstieg
der Hamas, mit ihren vielen Wandlungen –
und mit dem furchtbaren Massaker des
7. Oktober, das er wesentlich mitgeplant hat.
DIE GRÜNDUNG
Die Geschichte der Hamas beginnt im Dezem-
ber 1987, als Ableger der ägyptischen Muslim-
bruderschaft, Zweigstelle Gaza-Stadt. Kurz
zuvor ist hier die erste Intifada ausgebrochen,
der Aufstand der Palästinenser gegen die israe-
lische Besatzung. Und nun gründet der halb
blinde und im Rollstuhl sitzende Ahmed Yassin
die Hamas, ein Akronym für »Islamische Wi-
derstandsbewegung«. Sein eifrigster Schüler
ist Yahya Sinwar, Mitte zwanzig, aufgewachsen
im Flüchtlingslager Chan Junis. Er hat da be-
reits einige Monate in israelischer Haft hinter
sich – und eine Karriere als Mörder von angeb-
lichen palästinensischen Kollaborateuren.
Zuvor hatten sich Yassin und seine Mit-
streiter nicht am bewaffneten Widerstand
beteiligt, der von säkularen Nationalisten
dominiert war. Ihr Hauptziel war es, die Ge-
sellschaft zu islamisieren. Yassin hatte von der
israelischen Militärverwaltung in den Sieb-
zigerjahren eine Lizenz für eine islamische
Vereinigung erhalten, seine Leute betreiben
Schulen, Kliniken und religiöse Zentren.
Israels Sorge galt damals den militanten
Nationalisten, in den muslimischen Frömmlern
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 11
TITEL
sah man ein Gegengewicht – und förderte sie.
»Ein enormer, dummer Fehler«, sagt später ein
israelischer Regierungsbeamter, der lange in
Gaza gearbeitet hat. Es ist der erste von vielen
Fehlern im Umgang mit den Islamisten, die
36 Jahre später zur Katastrophe führen werden.
Während Jassir Arafat, Chef der säkularen
palästinensischen Befreiungsorganisation PLO,
zu Beginn der ersten Intifada im tunesischen
Exil über Verhandlungen mit Israel und eine
Zweistaatenlösung nachdenkt und kurz darauf
das Existenzrecht Israels anerkennt, geht die
Hamas einen anderen Weg. Sie sieht den Mo-
ment für den bewaffneten Kampf gekommen.
Ihre Gründungscharta von 1988 ist durch-
drungen von antisemitischen Verschwörungs-
theorien, in ihr predigt die Hamas den Dschi-
had für Palästina und schließt jegliche Ver-
handlungen mit Israel aus.
Anders als den Terroristen vom »Islami-
schen Staat« (IS) oder von al-Qaida geht es
der Hamas um einen palästinensischen Staat,
nicht um den globalen Dschihad oder die
Gründung eines Kalifats, bewohnt von Mus-
limen aus aller Welt. Die Organisation wurde
von Geflüchteten gegründet, die von der Idee
getrieben waren, in die Orte zurückzukehren,
aus denen sie oder ihre Eltern einst geflohen
oder vertrieben worden waren. Es geht ihnen
um Land, und dieses Land ist für sie »isla-
misch«. Auch wenn sich manche Taten glei-
chen mögen: Herkunft, Ziele und Ideologie
von IS und Hamas sind verschieden.
Es dauert nicht lange, bis die Hamas Israe-
lis angreift. 1989 entführen und töten ihre
Mitglieder im Gazastreifen zwei Soldaten.
Michael Koubi, heute 78 Jahre alt, leitet
Ende der Achtzigerjahre die Ermittlungen für
Anführer Sinwar bei einer
Hamas-Veranstaltung im Mai 2021
12 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
den israelischen Inlandsgeheimdienst Schin Er nimmt das Urteil laut Koubi ungerührt auf.
Bet im Gazastreifen. Er entschließt sich zu Mehr als zwei Jahrzehnte wird Sinwar in Haft
einem radikalen Schritt: Am 9. Mai 1989 lässt verbringen.
er sämtliche Hamas-Angehörigen verhaften, »Als wir uns 1996 im Schikma-Gefängnis
darunter auch Yassin – und Sinwar. Koubi in Aschkelon begegneten, waren nur einige
trifft den damals 27-Jährigen persönlich. Hundert Hamas-Angehörige dort«, erinnert
»Sinwar sprach zunächst kein Wort«, er- sich Esmat Mansour, 48, einer von Sinwars
innert sich Koubi. Yassin habe dann erklärt, früheren Mithäftlingen. Mansour saß 20 Jahre
dass Sinwar sein wichtigster Helfer sei, Grün- wegen Mordes an einem Siedler im Gefängnis;
der und Kommandeur des Madschd, des in- inzwischen arbeitet er in Ramallah als Journa-
ternen Geheimdienstes der Hamas. Nur durch list und Übersetzer. Doch während der zweiten
Druck von Yassin habe Sinwar mit ihm, Intifada nach der Jahrtausendwende kommen
Koubi, überhaupt gesprochen. Er erzählt, immer mehr Gefangene dazu. »Hamas wurde
dass Sinwar zwölf Morde gestanden habe. zur stärksten Kraft in den Gefängnissen. Damit
Einen habe er mit einer Kufija, dem sogenann- wuchs auch Sinwars Macht.«
ten Palästinensertuch, erwürgt. Einen ande- Israels Sicherheitsdienste hätten gedacht,
ren habe er von dessen Bruder, der bei der dass sie die Hamas im Gefängnis unter Kon-
Hamas war, bei lebendigem Leib begraben trolle halten könnten, sagt der Analyst Mi-
lassen. »So war Yahya Sinwar«, sagt Koubi. chael Milshtein von der Universität Tel Aviv,
Zwischen 150 und 180 Stunden habe er ihn einst Leiter der Palästinenserabteilung des
verhört, sagt Koubi. Sinwar habe nicht ein israelischen Militärgeheimdiensts. Aber das
einziges Mal gelächelt in dieser Zeit. Er habe sei ein Fehler gewesen. »Bei der Hamas gibt
wie ein Mann ohne Emotionen gewirkt. Als es keinen Unterschied zwischen drinnen und
er Sinwar gefragt habe, warum er mit Ende draußen.« Auch Sinwars Vorbild Scheich Yas-
zwanzig noch keine Familie habe, sagte die- sin habe zehn Jahre im Gefängnis gesessen
ser: »Die Hamas ist meine Frau, mein Sohn, und sei gestärkt herausgekommen. Sinwar
meine Tochter, meine Eltern. Die Hamas ist habe während seiner Haft ständig mit Hamas-
alles für mich.« Er habe betont, dass der Tag Leuten in Gaza kommuniziert – über seine
kommen werde, an dem die Hamas-Männer Anwälte und andere Gefangene, auch per
aus dem Gefängnis herauskämen, um Israel Telefon, was eigentlich verboten ist im Ge-
zu zerstören. »Für mich war schon damals fängnis. Aber es wird geduldet, denn es ist
klar, dass die Hamas unser größter Feind ist«, eine Möglichkeit, die Gefangenen abzuhören.
sagt Koubi. Und er schiebt hinterher: »Was Sinwar, sagt sein früherer Verhörer Koubi,
wir jetzt in Gaza tun, war überfällig.« sei überaus charismatisch und intelligent ge-
wesen, er habe binnen wenigen Monaten He-
DIE GEFÄNGNISSCHULE bräisch gelernt, sich für israelische Geschich-
1989 wird Sinwar von einem israelischen Ge- te und Politik interessiert. »Er las Bücher über
richt zu viermal lebenslanger Haft verurteilt. Ben-Gurion, Begin oder Rabin, lernte sogar
ein wenig die jüdische Tora.« Dreimal sei Sin-
war in den Hungerstreik getreten, er habe
sich für eine bessere Behandlung seiner Mit-
häftlinge eingesetzt. Später wurde er zum
Anführer aller Hamas-Insassen in Israels
Gefängnissen gewählt.
Oft habe er über seine Kindheit und Ju-
gend in Chan Junis gesprochen, erinnert sich
Mithäftling Mansour: über das Leid seines
Vaters, über den Dosenfisch, von dem sie sich
ernähren mussten, über die mangelnde sani-
täre Versorgung. Er habe stets betont, dass
Israel besiegt werden müsse, damit seine Fa-
milie in ihr Dorf bei Aschkelon zurückkehren
könne. Die Nakba, die Katastrophe der Ver-
treibung, sei zentral in seinem Weltbild.
DIE JAHRE DER SELBSTMORDATTENTÄTER
Während Yahya Sinwar im Gefängnis sitzt,
verändert sich die Welt: Israels Premier
Yitzhak Rabin und PLO-Chef Jassir Arafat
geben sich in Washington 1993 die Hand und
Majdi Fathi / NurPhoto / Getty Images
vereinbaren einen Prozess, der auf die Formel
»Land gegen Frieden« hinausläuft. Die Paläs-
tinenser sollen einen eigenen Staat im West-
jordanland und im Gazastreifen bekommen,
im Gegenzug Israel anerkennen und den Ter-
ror einstellen.
Die Hamas versucht, eine solche Zweistaa-
tenlösung zu sabotieren, ermordet israelische

1 2
Lucas Barioulet / DER SPIEGEL
1 | Ex-Mithäftling Mansour in Ramallah 2 | Szene aus dem Sinwar-Interview 2006 3 | Journalist Binur 4 | Ehemaliger Sinwar-Zahnarzt Bitton
»Wenn Sinwar sprach, verstummten die anderen. Und sein Hebräisch war perfekt.«
Soldaten und Zivilisten, verübt die ersten
Bombenanschläge. Trotzdem scheint da eine
bessere Zukunft noch möglich. Mit dem Oslo-
Abkommen von 1993 sind das Ende der Be-
satzung und ein eigener Staat in greifbare
Nähe gerückt. Dank der Gelder aus Europa,
den USA und den Golfstaaten gedeiht der
Gazastreifen. Ein Flughafen entsteht, es gibt
eigene palästinensische Briefmarken und eine
internationale Telefonvorwahl für Palästina.
Doch 1995 wird Rabin von einem rechts-
radikalen Israeli erschossen – nach Monaten
der Hetze und der Mordaufrufe. Zentrale Fi-
guren dabei sind Benjamin Netanyahu und
Itamar Ben-Gvir, Letzterer ist heute Sicher-
heitsminister. Zwei Monate nach Rabins Er-
mordung wird der wichtigste Hamas-Bom-
benbauer mithilfe eines Sprengsatzes in
einem Mobiltelefon getötet. Die Hamas rächt
sich und tötet binnen weniger Tage Dutzende
Israelis bei Anschlägen – und der Hardliner
Netanyahu gewinnt die Wahl gegen Rabins
Nachfolger Shimon Peres.
Nachfolger des getöteten Bombenbauers
wird Mohammed Diab Ibrahim al-Masri, ge-
nannt Mohammed Deif. Er wurde einst wie
Sinwar in Chan Junis als Kind von Flüchtlingen
geboren, die beiden sollen Kindheitsfreunde
sein. Deif wird in den kommenden Jahren zum
Anführer der Kassam-Brigaden aufsteigen, des
bewaffneten Arms der Hamas, mindestens
sieben Tötungsversuchen Israels entkommen,
dabei einen Arm, ein Bein und ein Auge ver-
lieren – und das grausame Massaker vom
7. Oktober mit Sinwar zusammen planen. Es
gibt nur einige jahrzehntealte Fotos von ihm,
seit 30 Jahren hat er sich in der Öffentlichkeit
nicht gezeigt, angeblich schläft er jeden Tag
woanders, um von Israel nicht getötet zu wer-
den. Daher sein Name: »Deif« heißt Gast.
Auf Netanyahu folgt eine zweijährige Amts-
zeit von Ehud Barak und 2001 der Hardliner
Ariel Sharon. Es ist im Rückblick betrachtet
der Anfang vom Ende der Idee von Land gegen
Frieden. Es sind die Jahre der zweiten Intifada,
der Selbstmordanschläge der Hamas und an-
derer Terrorgruppen sowie gezielter Tötungen
durch Israel. Von 2000 bis 2004 verübt die
Hamas nach israelischen Angaben 425 Terror-
angriffe und ermordet 377 Israelis, an Bushal-
testellen, in Restaurants, in Einkaufszentren.
Sharon reagiert brutal: Mehr als 3000 Paläs-
tinenser werden in israelischen Militäropera-
tionen getötet, darunter viele Zivilisten.
WAHLEN UND EIN PUTSCH
Während der israelische Inlandsgeheimdienst
im Gazastreifen Hamas-Anführer tötet, unter
anderem Ahmed Yassin, retten israelische
Ärzte Sinwar im Gefängnis das Leben. Er hat
einen bedrohlichen Abszess im Gehirn und
wird 2004 operiert.
Der Journalist Yoram Binur besucht ihn
zwei Jahre später im Gefängnis von Beer
Scheva und führt für den israelischen
Kanal 2 ein Interview. »Wenn Sinwar sprach,
verstummten die anderen. Wenn er sich hin-
setzte, legte ihm ein Mitgefangener einen Ge-
betsteppich auf den Stuhl. Und sein Hebräisch
war perfekt«, erzählt Binur, heute 69.
Das Interview ist auch deshalb bemerkens-
wert, weil es so wirkt, als hielte Sinwar im
Gefängnis Hof. Er blickt dem wenige Zenti-
meter neben ihm sitzenden Reporter direkt
ins Gesicht: Die Israelis müssten verstehen,
dass die Hamas den Staat Israel niemals an-
TITEL
42
Jonas Opperskalski / DER SPIEGEL (3)
erkennen könne, dass aber eine lange »Hud-
na«, ein Waffenstillstand, möglich sei. Dieser
könne der Region Ruhe und Wohlstand be-
scheren, »für mindestens eine Generation«.
»Er wirkte nicht wie jemand, der gefallen will,
sondern wie jemand, der etwas anzubieten
hat«, sagt Binur 17 Jahre später.
Es läuft für die Hamas gut in diesen Jahren.
Arafat stirbt 2004 und hinterlässt eine Leer-
stelle, die sein wenig charismatischer Nach-
folger Mahmoud Abbas nicht füllen kann.
Und 2005 lässt Sharon zudem noch unilateral
die Siedlungen im Gazastreifen räumen, die
Hamas triumphiert. Im Jahr danach finden
Parlamentswahlen im Westjordanland und
im Gazastreifen statt, erstmals beteiligt sich
auch die Hamas. Sie stellt Kandidaten auf,
macht Wahlkampf.
Die Hamas erhält im Gesamtergebnis
56 Prozent der Stimmen und damit eine ab-
solute Mehrheit der Sitze im De-facto-Parla-
ment in Ramallah. Ein Votum vor allem gegen
die Ineffizienz und Korruption der Palästi-
nensischen Autonomiebehörde – und auch
Ausdruck der Enttäuschung über den fest-
steckenden Friedensprozess. Selbst manche
Christen haben die Islamisten gewählt.
Eine palästinensische Regierung, angeführt
von den Terroristen der Hamas? Das erscheint
weder Israel noch den USA und den Europä-
ern denkbar. Sie drohen mit Boykott. Die US-
Regierung drängt auf einen bewaffneten
Putsch der Fatah, die Milizen im Gazastreifen
aufrüstet, um die Hamas zum Einlenken zu
zwingen. Die Hamas kommt dem Putschver-
such zuvor und vertreibt 2007 in blutigen
Kämpfen die Fatah-Milizen. Die Autonomie-
behörde ruft ihre Angestellten in Gaza zum
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 13
TITEL
Premier Netanyahu zu Besuch bei
Soldaten im Dezember
Kein »Hamastan« und kein »Fatahstan« in Gaza.
Streik auf; die Hamas setzt daraufhin eigene
Leute ein – und festigt damit ihre Macht. Seit-
dem regiert in dem Küstenstreifen die Hamas
und im Westjordanland der zunehmend auto-
kratische und unbeliebte Mahmoud Abbas.
Wahlen gibt es nicht mehr.
DER ERSTE GEISELDEAL
In den Wirren nach der Machtübernahme
geschieht etwas, was großen Einfluss auf das
weitere Geschehen haben wird: Im Juni 2006
verschleppen Terroristen den Soldaten Gilad
Shalit. Geplant wird das Kidnapping womög-
lich im Gefängnis von Beer Scheva. Zu dem
Entführungskommando gehört auch Sinwars
jüngerer Bruder Mohammed. Er bewacht
Shalit jahrelang.
Es soll Sinwar gewesen sein, der – aus dem
Gefängnis heraus – die Idee hatte, Tunnel zu
graben und dadurch israelische Soldaten zu
entführen. Bereits 1998 soll er laut der israe-
lischen Zeitung »Yedioth Ahronoth« ange-
ordnet haben, dass die Hamas eine Röhre
gräbt, um durch sie einen israelischen Sol-
daten zu verschleppen und anschließend Ge-
fangene freizupressen. Der Tunnel wird Mo-
nate später zwar entdeckt – aber die Idee
bleibt. Während der zweiten Intifada gehören
die Tunnel bereits zum Standardarsenal, um
Soldaten anzugreifen.
Fünf Jahre wird über Gilad Shalits Frei-
lassung verhandelt, mehrmals ist ein Deal
nahe, aber Sinwar verhindert aus dem Ge-
fängnis heraus den Abschluss, weil er mit den
Bedingungen nicht einverstanden ist, erinnert
sich sein ehemaliger Zahnarzt Yuval Bitton.
Er hat Sinwar jahrelang behandelt – bevor er
2008 zu einer Geheimdienstbehörde wech-
selte. Bitton sagt, er habe vor der Freilassung
Sinwars gewarnt, aber man habe nicht auf ihn
14 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Doch die Terroristen haben kaum eigene
Gelder, die Autonomiebehörde in Ramallah
hat einen Teil ihrer Zahlungen gestoppt, die
Hamas ist weitgehend vom internationalen
Bankenverkehr abgeschnitten. Ein Teil des
Geldes für den Kampf kommt in den folgen-
den Jahren aus Iran. Westliche Schätzungen
gehen davon aus, dass das Regime in Teheran
die Hamas und andere palästinensische Ter-
rorgruppen ab den Neunzigerjahren jährlich
mit etwa 100 Millionen Dollar finanziert.
Wichtiger für die militärische Schlagkraft
der Hamas aber sind die direkten Lieferungen
von Waffen, Raketentechnologie und Muni-
Amos Ben Gershom / GPO / Polaris / ddp
tion. Zudem teilen Iran und die Terrormiliz
Hisbollah militärisches Know-how zur Her-
stellung von Drohnen und Raketen.
In den Jahren seit Israels einseitigem
Rückzug aus Gaza hat die Hamas de facto
eine Armee aufgebaut, vor dem 7. Oktober
sollen ihr 30.000 Kämpfer angehört haben,
darunter Einheiten für Cyberkrieg und
Kampftaucher. Die Reichweite der Raketen
haben sie von 40 auf 230 Kilometer gestei-
gert. Wäre da nicht das israelische Abwehr-
system Iron Dome, könnten sie jeden Ort in
Israel damit treffen. Selbst Sturmgewehre
vom Typ Kalaschnikow und die dazugehöri-
gehört. Dabei habe er Sinwar so gut gekannt ge Munition werden in Gaza produziert. Pan-
wie sonst kaum jemand. Und: »Sinwar hat zerabwehrraketen, Kamikazedrohnen und
keinem Israeli so vertraut wie mir. Keiner hat schwere Maschinengewehre gelangen wohl
so viel mit ihm verhandelt, über die Haftbe- an Bord von Fischkuttern oder durch Tunnel
dingungen wie über den Shalit-Deal.« von Ägypten nach Gaza. Trotz vier größerer
Im Oktober 2011 wird Sinwar als promi- militärischer Auseinandersetzungen mit Is-
nentester von 1027 palästinensischen Gefan- rael seit 2008 wächst das Arsenal der Hamas
genen – darunter sind auch 280 mit lebens- beständig.
langen Haftstrafen – gegen Shalit ausge-
tauscht. Tausende Menschen begrüßen ihn EINE SELTSAME ALLIANZ
mit »Allahu Akbar«-Rufen, Freudenschüssen Die US-Regierung bittet 2011 den Emir von
und einer Kundgebung in Gaza-Stadt. Katar, die Führung der Hamas, die vorher in
In den Jahren danach rekrutiert Sinwar Damaskus saß, in den Golfstaat aufzu-
Tausende neue Kämpfer für die Kassam- nehmen. Seither lebt die politische Führung
Brigaden. Bereits aus dem Gefängnis heraus der Hamas in Doha – und ein Repräsentant
hat er eine Kooperation mit Iran angeregt in Gaza. Das Ziel: Die USA wollen einen
und später iranische Ausbilder in Gaza ein- direkten Draht zu der Terrorgruppe aufbauen
gesetzt, auch eine Raketenfabrik hätten und sie dem iranischen Einfluss entziehen.
diese aufgebaut, sagt Sinwars ehemaliger Ver- Katar wird zudem zum wichtigsten Geld-
hörer Koubi. »Ich verstehe immer noch geber.
nicht, wieso meine Regierung all das zulassen Das meiste Geld sei direkt überwiesen
konnte.« worden, sagen mit den Transfers Vertraute in
Zugestimmt hat dem Schalit-Deal Netan- Katar. Den Rest bringt der katarische Emissär
yahu, der seit 2009 wieder im Amt ist – mit Mohammed Emadi einmal pro Monat persön-
einer kurzen Unterbrechung bis heute. lich in Koffern von Israel nach Gaza. Bei der
Dieser Deal ist es, der Sinwar freikommen Einreise nach Tel Aviv wird er angeblich von
und zum politischen Führer der Hamas im israelischen Geheimdienstlern empfangen,
Gazastreifen aufsteigen lässt. Er dürfte als sie fahren gemeinsam zum Grenzübergang
Vorbild für den Überfall vom 7. Oktober ge- Kerem Schalom, wo Emadi die Hamas-Leute
dient haben. Wenn Israel 1027 Gefangene für trifft.
einen einzigen Soldaten freilässt – was wäre Wie passt das zusammen? Die Terroristen
dann, wenn die Terroristen Dutzende Israelis beschießen immer wieder Israel mit ihren Ra-
verschleppten? keten, Israel bombardiert zur Vergeltung –
aber zugleich hilft Israels Premier der Hamas,
MINISTAAT GAZA an Geld zu kommen?
Die Hamas hat ab 2008 ihren eigenen Mini- Es scheint, als hielten sich in diesen Jahren
staat, mit heute etwa 2,3 Millionen Bürgerin- Netanyahu und die Hamas gegenseitig am
nen und Bürgern, aber von Israel zu Land, Leben. Netanyahu, gewählt mit dem Verspre-
Luft und See abgeriegelt und damit laut Uno chen, Sicherheit herzustellen, geht regelmäßig
weiterhin besetztes Gebiet. hart gegen die Terrorgruppe vor. Gleichzeitig

lässt er zu, dass Katar Bauprojekte finanziert,
später sogar die Gehälter der Angestellten
zahlt. Im Jahr 2019 habe die Hamas etwa
30 Millionen Dollar monatlich aus Katar er-
halten, heißt es aus Diplomatenkreisen.
»Ein effektiver Weg, eine Zweistaaten-
lösung zu verhindern, ist, Gaza und das West-
jordanland getrennt zu halten«, sagt der frü-
here israelische General Shlomo Brom, der
diese Politik bereits in der Vergangenheit
kritisiert hat, so wie viele frühere Militärs und
Geheimdienstler. »Dann kann Netanyahu al-
len Friedensgesprächen eine Absage erteilen
mit der Entschuldigung, er habe keinen Ver-
handlungspartner.«
Tatsächlich soll Netanyahu laut Medien-
berichten 2019 bei einer internen Sitzung
von Likud-Parlamentariern gesagt haben:
»Wer die Schaffung eines palästinensischen
Said Khatib / AFP
Staates verhindern will, muss die Stärkung
der Hamas unterstützen.« Öffentlich hat er
sich nie so deutlich geäußert. Anders als sein
späterer rechtsextremer Finanzminister Be-
zalel Smotrich, der 2015 in einem Interview
sagte: »Die Palästinensische Autonomiever-
waltung ist eine Belastung. Die Hamas ist
ein Gewinn.«
Die Schwächung der Palästinensischen
Autonomiebehörde ist das gemeinsame Ziel,
das die Rechten in Israel mit den Terroristen
in Gaza verbindet. Beide Seiten profitieren
zunächst davon. Die Hamas baut ihren Mini-
staat weiter auf, Netanyahu kauft sich Ruhe,
lässt weiterhin Siedlungen im Westjordanland
ausbauen und eine Zweistaatenlösung immer
unrealistischer werden.
Die Hamas kann sich in den diversen
Scharmützeln und Kriegen gegen Israel als
Verteidigerin aller Palästinenser profilieren.
Der Gazastreifen wird so über die Jahre zum
zentralen Schauplatz im israelisch-palästinen-
sischen Konflikt, zum Symbol für den paläs-
tinensischen Widerstand.
Und Netanyahu verfolgt – weil er ja auf
palästinensischer Seite niemanden zum Ver-
handeln habe – erfolgreich eine Politik, die
eine Normalisierung der Beziehungen zu ara-
bischen Staaten vorsieht, ohne die Besatzung
der Palästinensergebiete zu beenden.
Es scheint, als hätten die Hamas und Israel
einen Modus der Koexistenz gefunden.
DER AUFSTIEG
Im Februar 2017 wird Sinwar zum Chef der
Hamas im Gazastreifen gewählt, mit ihm hat
der radikale Flügel die Führung der Hamas
übernommen. Doch zumindest nach außen
hin folgt auf Sinwars Wahl zunächst eine Pha-
se relativer Mäßigung.
Wenige Monate später präsentiert Khaled
Meshaal, der scheidende Anführer der Hamas
im katarischen Exil, ein neues Grundsatz-
programm, das die Hamas-Charta von 1988
in einigen Punkten ergänzt. Zwar erkennt
auch das neue Papier das Existenzrecht Israels
nicht an, aber zum ersten Mal ist die Rede
von einem Palästinenserstaat in den Grenzen
von 1967.
Der Küstenstreifen ist zu einer Trümmerwüste geworden.
Zur Überraschung vieler spricht Sinwar
auch mit ausländischen Journalisten in einer
ungewöhnlich blumigen, persönlichen Spra-
che. »Wir Palästinenser kommen in Scharen
auf die Straße und suchen nach Kompromis-
sen«, sagt er Anfang Mai 2018. »Wenn wir
eine Möglichkeit haben, den Konflikt ohne
Zerstörung zu lösen, dann sind wir damit ein-
verstanden. Wir wollen in Frieden und Liebe
investieren.« Er habe fast die Hälfte seines
Lebens in israelischen Gefängnissen ver-
bracht. Das sei einfacher gewesen, als unter
den Bedingungen in Gaza zu leben: »Die ers-
ten Worte, die mein Sohn gesprochen hat,
waren Vater, Mutter und Drohne.«
Aber das ist nur der eine Teil von Sinwars
Botschaft. Der andere ist dunkel und bedroh-
lich. Die Menschen in Gaza seien wie »ein
sehr hungriger Tiger, der in einem Käfig ge-
halten wurde«. Das Tier, das »die Israelis zu
demütigen versucht haben, hat sich losgeris-
sen, und niemand weiß, wohin es sich bewe-
gen und was es tun wird«, sagt er im selben
Interview. Die Hamas könne nicht weiter-
machen wie bisher. »Die Lage hier ist untrag-
bar. Eine Explosion ist unvermeidbar.«
Einige Monate später veröffentlicht auch
die israelischen Zeitung »Yedioth Ahronoth«
ein Interview mit Sinwar. »Ein neuer Krieg
ist in niemandes Interesse«, sagt er. »Mit Si-
cherheit ist er nicht in unserem Interesse. Wer
will es schon mit Steinschleudern gegen eine
Nuklearmacht aufnehmen?«
Es scheint, dass Sinwar in dieser Zeit beides
tut: Einerseits baut er die militärischen Fähig-
keiten der Hamas aus. Nach der letzten mili-
tärischen Auseinandersetzung mit Israel 2021
spricht Sinwar von »mehr als 500 Kilometer«
Tunnel. Die Terroristen wenden viel Geld auf,
um Tunnel zu graben und sie später mit Beton
TITEL
Palästinenser in von Israel
zerstörten Häusern im Süden Gazas im Juli
zu verstärken. Operationsbasen, Waffen-
fabriken und Schlafquartiere liegen unter der
Erde. Häuser, Viertel, sogar Kilometer von-
einander entfernte Ortschaften werden unter-
irdisch vernetzt.
Andererseits erwägt er die Teilnahme an
Wahlen in den Autonomiegebieten, die aber
nicht zustande kommen. Außerdem verhan-
delt er mit der israelischen Regierung im Sin-
ne der Koexistenz über einen Deal, der die
langfristige Herrschaft der Hamas über Gaza
sichern würde und den Bewohnern sogar die
Möglichkeit gegeben hätte, deutlich mehr
Handel zu treiben als bisher. Doch der Deal
kommt nicht zustande.
Im Oktober 2022 trifft Nasser al-Kidwa,
heute 70, den Hamas-Führer in Gaza. Kidwa,
wie Sinwar im Gazastreifen geboren, zählt
zur politischen Elite der Palästinenser. Er
ist ein Neffe von Jassir Arafat und war zwi-
schenzeitlich Außenminister unter Präsident
Abbas. Mit dem hat er sich zerstritten, seither
lebt Kidwa in Frankreich, reist aber immer
wieder in den Nahen Osten, um zwischen
den palästinensischen Fraktionen zu ver-
mitteln.
Das Gespräch mit Sinwar dauert knapp
zwei Stunden und kreist um Kidwas Versuch
einer Wiedervereinigung zwischen dem Gaza-
streifen und dem Westjordanland. »Wir woll-
ten, dass die Hamas ihre Alleinherrschaft in
Gaza aufgibt.« Sinwar, das sei zumindest da-
mals sein Eindruck gewesen, habe dieser Idee
offen gegenübergestanden. Kidwa glaubt, dass
die Hamas-Führung in Gaza im Herbst 2022
immer noch nach einem möglichen Rückweg
in die PLO und die Autonomiebehörde sucht.
Gut zwei Monate später ist Kidwa wieder
in Gaza: »Doch damals empfing Sinwar be-
reits niemanden mehr.« Kidwa rätselt bis heu-
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 15
TITEL
te über Sinwars plötzlichen Rückzug. Ist im
abgeschotteten Führungszirkel der Hamas da
bereits die Entscheidung gefallen, den politi-
schen Weg aufzugeben? Oder war schon alles
vorher Scharade gewesen, war der Terroran-
griff längst in Planung? »Möglich«, sagt Kid-
wa, »dass auch die Gespräche vorher der Ca-
mouflage dienten.«
Doch Israels Regierende gehen offenbar
noch immer davon aus, dass Sinwar an einem
Deal interessiert ist. Und so ignorieren sie die
Warnzeichen, die es gibt.
EIN BESTIALISCHER PLAN
Bereits mehr als ein Jahr vor dem 7. Oktober
gelangen israelische Geheimdienste an einen
Angriffsplan der Hamas, Codename »Mau-
er von Jericho«, wie israelische Medien so-
wie die »New York Times« nach dem Terror-
angriff vom 7. Oktober berichten. Der Plan
sieht einen massiven Raketenangriff vor,
dazu Drohnenattacken auf Sicherheitskame-
ras und die ferngesteuerten Maschinenge-
wehre an den israelischen Grenzanlagen
rund um den Gazastreifen. Danach sollen
Kämpfer auf Motorrädern, Paraglidern und
zu Fuß an 60 Punkten nach Israel durch-
brechen.
Doch ranghohe israelische Militärs und
Geheimdienstler stufen den Plan als unrea-
listisch ein. Als Fantasie. Die Einschätzung
ändert sich nicht, obwohl Soldatinnen einer
Aufklärungseinheit, die für die Beobachtung
des Grenzzauns zuständig sind, später be-
merken, wie die Hamas täglich Drohnen auf-
steigen lässt und in Richtung des Sperrzauns
steuert. Sogar einen Armeebeobachtungs-
posten hat die Hamas nachgebaut und mit
Drohnen attackiert. Kämpfer trainieren An-
griffe auf Modelle von israelischen Merkava-
Panzern. Doch die Warnungen der Soldatin-
nen werden nicht ernst genommen.
Als etwa 3000 Terroristen am frühen Mor-
gen des 7. Oktober den Sperrzaun durchbre-
chen und über Armeeposten, Dörfer und
Kibbuzim herfallen, braucht die Armee Stun-
Krieg im Nahen Osten
Angriff palästinensischer
Terroristen am 7. Oktober 2023
Grenzübergang
Mittelmeer Gaza-Stadt
GAZASTREIFEN
Re’im
Chan Junis
Grenzzaun
ÄGYPTEN
10 km
* bis 13. Dezember 2023, teilweise unbestätigte Vorstöße; ** laut Auswertung von Satellitendaten von 5. Oktober bis 11. Dezember 2023
S Quellen: Acled; Corey Scher, CUNY Graduate Center, Jamon Van Den Hoek, Oregon State University, Satellitendaten: ASF DAAC, ESA; IDF; Institute for the Study of War, AEI’s Critical Threats Project
◆
16 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Flüchtende Festivalgäste nach dem
Angriff vom 7. Oktober
den, bis sie Einheiten in den Süden verlegt.
Erst Tage nach dem Beginn des Überfalls wer-
den die letzten Terroristen auf israelischem
Gebiet getötet. Sie haben ein Blutbad ange-
richtet – und mehr als 240 Menschen entführt.
War das Ausmaß des Überfalls so geplant
– oder wurde die Hamas davon überrascht,
dass sie zunächst auf so wenig militärische
Gegenwehr stieß? Darüber gibt es unter-
schiedliche Meinungen.
»Wahrscheinlich wollte Sinwar nur genü-
gend Geiseln, um die 7000 Gefangenen aus-
zulösen«, sagt Yuval Diskin, von 2005 bis
2011 Chef des Schin Bet. Die Freilassung aller
palästinensischen Gefangenen wäre für die
Hamas ein ungemeiner Popularitätsgewinn.
»Dass er am Ende weit über 200 Geiseln ha-
ben würde und so viele tote Zivilisten auf
israelischem Territorium, das kann er nicht
vorausgesehen haben.«
Andere Experten sind der Meinung, der
Plan sei so ausgefeilt gewesen, dass Sinwar
mit einem Massaker dieses Ausmaßes habe
rechnen können – und auch mit der harschen
Reaktion Israels.
Schaut man auf die Biografie von Sinwar
und die detaillierten Hamas-Pläne zur Er-
mordung von Zivilisten am 7. Oktober,
scheint es wahrscheinlich, dass die entfessel-
Aschkelon
Israels Vormarsch in Gaza
Kampf- und
Gewalthandlungen
israelische Bodenoperationen*
Sderot
Nahal Os
WEST-
JORDAN-
Beeri
LAND
ISRAEL
Beer
Scheva
vom israelischen
Militär eingerichtetes
Sperrgebiet
10 km
te Gewalt zum Kalkül gehört hat. So fanden
die Israelis bei getöteten Terroristen Zettel
mit Befehlen, »so viele Menschen wie mög-
lich zu töten und Geiseln zu nehmen«. Eini-
ge Terroristen waren mit Kabelbindern, mit
Panzerfäusten, Handgranaten und Brand-
sätzen ausgerüstet. Die Angreifer trugen Pro-
viant und Munition für mehrere Tage bei sich,
dazu Pläne von Angriffszielen noch wesent-
lich tiefer in Israel.
Zumindest könnte es sein, dass der Angriff
nicht mit der Hamas-Führung in Doha ab-
gestimmt war. Oder zumindest nicht in vol-
lem Umfang. Ismail Haniyyeh, der Anführer
der Hamas im Ausland, lebt seit 2019 in
REUTERS
Doha, es ist ein angenehmes Leben, weit weg
vom Elend des Gazastreifens. Bereits vor
dem Angriff auf Israel am 7. Oktober soll die
Beziehung zwischen Haniyyeh und Sinwar
angespannt gewesen sein. Die Katarer sollen
unzufrieden mit dem politischen Prozess ge-
wesen sein, der Einfluss von Haniyyeh auf
Entscheidungen in Gaza schien zu schwin-
den. Während des Terrorangriffs soll sich
Haniyyeh in Istanbul aufgehalten haben, wo
er auch einen Wohnsitz hat – und wird dort
offenbar von dem Überfall überrascht. Hoch-
rangige katarische Beamte und auch die Ame-
rikaner sind sich sicher, dass er nicht infor-
miert war.
Seit dem 7. Oktober aber ist Haniyyeh der
direkte Kontaktmann zwischen Israel, den
USA und den Anführern in Gaza, die in den
Tunneln unter der Stadt Chan Junis vermutet
werden. »Haniyyeh kann den Telefonhörer
abnehmen und hat Deif oder Sinwar in der
Leitung«, sagt ein hoher Beamter in Katar.
Über diese Verbindung wurde der Deal zur
Freilassung der 110 Geiseln verhandelt. Über
ihn wurde auch der siebentägige Waffenstill-
stand erreicht.
Derzeit laufen weitere Gespräche über
einen umfangreichen Geiseldeal – und einen
anhaltenden Waffenstillstand. Majid Ansari,
der außenpolitische Berater des katarischen
Premierministers, geht davon aus, dass die
Beit Hanun
Sderot
Gaza-S
Gaza-Stadt
Gebiete mit wahr-
scheinlich erheblicher
GAZASTREIFEN Beschädigung durch
israelische Angriffe**
Chan Junis
unis ISRAEL
PALÄST.
GEBIETE
Rafah
ÄGYPTEN ISRAEL
Kerem Schalom
 TITEL

Terrorgruppe auf einen Waffenstillstand hofft.

Auch wenn die politischen Führer der Hamas SPIEGEL TV Programm
in Doha sagten, sie kämpften »bis zum Tod«,
sei das nur Rhetorik. »Die Hamas ist nicht
suizidal, sie will überleben.«

UNTERSTÜTZUNG IM WESTJORDANLAND
Viele Palästinenser feiern, als Ende November
palästinensische Gefangene im Austausch gegen
einen Teil der israelischen Geiseln freikommen.
Auch die Bilder von der Überwindung des
Grenzzauns zum Gazastreifen am 7. Oktober
bejubeln sie – jene, die keine Hamas-Anhänger
sind. Die Massaker reden sie klein, dass es Ver-
gewaltigungen gab, wollen sie nicht wahrhaben,
tote Zivilisten seien Kollateralschäden von
Kämpfen, glauben viele.
In einer Meinungsumfrage des palästinen-

sischen Umfrageinstituts PSR gaben 90 Pro-
zent der befragten Palästinenser an, die Ha-
mas habe in Israel keine Gräueltaten verübt.
Zugleich ergab die Umfrage, dass 44 Prozent
der Menschen im Westjordanland die Hamas
unterstützen, im September waren es nur
12 Prozent. Auch im Gazastreifen stieg das
Ansehen der Hamas – allerdings nur leicht,
von 38 auf 42 Prozent. Eine überwältigende
Mehrheit ist wiederum dafür, dass Abbas zu-
rücktreten sollte.
In der Frage, ob der Hamas-Überfall auf
Israel richtig war, gehen die Meinungen zwi-
schen den Palästinensern im Westjordanland
und im Gazastreifen allerdings auseinander.
Während im Westjordanland 82 Prozent den
Angriff befürworteten, waren es im Gaza-
streifen nur 57 Prozent. Fast zwei Drittel der
Befragten erwarten, dass die Hamas auch
künftig im Gazastreifen herrschen werde.
»Nicht die Hamas hat an Popularität ge-
wonnen, sondern der bewaffnete Wider-
stand«, sagt der israelische Nahostexperte
Ofer Zalzberg vom Wiener Herbert C. Kel-
man Institute. Umfragen zeigten, dass die
Menschen nicht von der Hamas regiert wer-
den wollten. »Sie wollen Israel Schmerzen
zufügen, damit es seine Politik ändert, aber
die meisten wollen nicht in einem Scharia-
Staat leben. Sie wollen weder die repressive
Herrschaft der Hamas noch der Autono-
miebehörde. Sie wollen eine neue Art des
Regierens.«
Trotz der wachsenden Unterstützung der
Hamas ist es aber im Westjordanland bisher
zu keinem koordinierten Aufstand gegen die
israelische Besatzung gekommen.
Und es regt sich inzwischen auch Wut auf
die Hamas. »Kein Widerstand opfert sein
Volk für Parteiinteressen. Man kann nicht
1000 Menschen töten und es dann Befreiung
nennen«, schimpft ein Geflüchteter im
südlichen Gazastreifen, der anonym bleiben
will. Er sei zuerst aus dem Norden in die Stadt
Chan Junis geflüchtet, und jetzt, mit der neu-
en Offensive, habe er in der Wüste übernach-
SPIEGEL TV
Jugendamtsmitarbeiter Florian Fischer
SPIEGEL TV DEUTSCHLAND BEI NACHT –
MONTAG, 18. 12., 23.25 – 0.00 UHR, RTL SCHUFTEN STATT SCHLAFEN
DONNERSTAG, 21. 12., 20.15 – 0.20 UHR, RTL ZWEI
Der Fall Melanie – Wenn das
Amt die Kinder wegnimmt Folge 1 und 2
Eden ist zwei Tage alt, als ihn das Jugend- Sie arbeiten, wenn das Land schläft.
amt in Obhut nimmt. Seine Mutter Rund jeder zwölfte Berufstätige schiebt
Melanie hat während der Schwanger- hierzulande regelmäßig Nachtschichten,
schaft Drogen konsumiert. Auch ihr darunter Tierärzte, Imbiss- oder Bordell-
erstes Kind durfte sie nicht behalten. Eine betreiber. Über Monate hat SPIEGEL TV
zweite Chance bekommt die junge Frau sie und andere Nachtarbeiter wie Ärzte,
nur, wenn sie ihr Leben ändert. Für Mela- Polizisten und Gastronomen mit der
nie beginnt eine Zeit der Bewährung – Kamera begleitet und dabei spannende
mit Hoffnungen, Krisen und überraschen- Einblicke in eine Lebenswelt gewonnen,
den Wendungen. SPIEGEL TV hat sie die den meisten Deutschen verborgen
und den zuständigen Jugendamtsmit- bleibt.
arbeiter sechs Jahre lang begleitet.
Am Ende treffen sich beide vor Gericht.
SPIEGEL GESCHICHTE
FREITAG, 22. 12., 20.15 – 21.05 UHR, VODAFONE
SPEED COPS – POSER UND RASER
IM VISIER Karnak – Ägyptens
DONNERSTAG, 21. 12., 22.15 – 23.10 UHR, DMAX größter Tempel
Die berühmte Tempelanlage von Karnak
Folge 6 erstreckte sich über eine Fläche von
Die Polizei Offenbach verfolgt einen mehr als zwei Quadratkilometern, ihre
rasenden Audi. Bei Lüneburg weckt ein Bauzeit betrug mehr als zwei Jahr-
tiefergelegtes BMW-Cabrio das Interesse tausende. Der gigantische Komplex
der Beamten. Doch der junge Fahrer wurde im Laufe der Zeitalter von vielen
zeigt sich wenig kooperativ. In Hamburg Pharaonen erbaut, erweitert und um-
müssen die Beamten ihre Kollegen gestaltet und galt als das umfangreichs-
unterstützen, als ein Autofahrer mehrere te, größte und wichtigste religiöse
Unfälle verursacht. Zentrum des alten Ägyptens.
Benoit Poisson

ten müssen. Essen sei schwer zu finden, Was-

SPIEGEL TV

ser auch. »Wir haben nichts zu tun mit diesen

Verrückten, die sich wie der IS aufführen!«,
empört er sich. »Yahya Sinwar ist ein Psycho- Polizeibeamte bei einer Kontrolle Tempelanlage von Karnak

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 17

TITEL
Israelischer Soldat in einem Tunnel unter
dem Schifa-Krankenhaus
800 Tunnelschächte wurden entdeckt, 500 zerstört.
path, der sollte in die Therapie, anstatt sich
als Vertreter seines Volks aufzuspielen.«
DER KRIEG GEGEN DIE HAMAS
In den vergangenen zwei Monaten haben die
israelischen Streitkräfte Gaza in eine Trüm-
merwüste verwandelt, einen Großteil der
2,3 Millionen Bewohner innerhalb des Küs-
tenstreifens aus ihren Häusern vertrieben, die
humanitäre Lage ist katastrophal. Und auch
befreundete Länder wie die USA drängen,
den Krieg möglichst schnell zu beenden. Doch
ob Israel sein Kriegsziel erreichen kann, die
Hamas zu zerschlagen, ist die große Frage.
»Was heißt eigentlich Zerstörung der Ha-
mas?«, fragt einer, der in Doha mit den Ver-
handlungen vertraut ist. Wenn Sinwar und Deif
tot seien? Was, wenn diese liquidiert würden,
sich dann aber ein neuer Führer an die Spitze
setzte? Müsse die Kommandostruktur zerschla-
gen werden? Und müssten am Ende alle Hamas-
Kämpfer getötet werden? All diese Antworten
scheue die israelische Regierung bisher. Genau-
so unklar ist, wer eigentlich künftig in Gaza
regieren soll. Weder ein »Hamastan« noch ein
»Fatahstan« dürften dort nach dem Krieg ent-
stehen, beschied Netanyahu vor einigen Tagen.
Zwar wurden laut israelischen Meldungen
7000 Terroristen getötet und Kommando-
strukturen zerschlagen. Aber ist die Hamas
damit militärisch geschlagen? Und: Reicht es
überhaupt, sie militärisch zu schlagen?
Eigenen Angaben zufolge hat Israel wäh-
rend seiner Offensive bereits 800 Tunnel-
schächte entdeckt und 500 zerstört. Das rie-
sige Tunnelnetz jedoch, in dem die Hamas-
Führung wohl sich und die Geiseln verborgen
hält, wo Waffen, Lebensmittel, Trinkwasser,
Generatoren und Treibstoff gelagert werden,
ist bislang kaum angetastet.
18 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
»Die Vorstellung, dass Israel die Hamas be-
siegen oder militärisch dezimieren kann, ist
unrealistisch«, sagte der Hamas-Experte Tareq
Baconi der »New York Times«. »Die Bewegung
ist auch ein politisches Organ. Sie ist auch eine
soziale Einrichtung. Selbst wenn die Hamas
beseitigt würde, die Ideologie eines bewaffne-
ten Widerstands für die Befreiung würde sich
in einer anderen Bewegung manifestieren.«
Es könne sein, dass die Hamas nach dem
Krieg über einen längeren Zeitraum nicht in
der Lage sein werde, militärisch zu operieren,
so Baconi. »Aber wir haben in den vergange-
nen 16 Jahren gelernt, dass die Hamas lang-
fristig denkt.«
Dass die Hamas nicht nur eine Terrororga-
nisation ist, sondern auch eine gesellschaftlich
tief verwurzelte Kraft, erkennen selbst israeli-
Victor R. Caivano / AP
sche Hardliner wie der Militäranalyst Kobi
Michael an. Israels Kriegsziel sei vor allem, die
militärischen Fähigkeiten der Hamas zu zer-
stören, sagt er. Das bedeute nicht, »dass wir die
gesamte Ideologie der Hamas auseinanderneh-
men. Ideologie ist in den Köpfen und Herzen
der Menschen verwurzelt, das wäre also ein
ganz anderer Prozess, vergleichbar mit der Ent-
nazifizierung Deutschlands nach dem Zweiten
Weltkrieg. Das würde Jahrzehnte dauern.«
Bei einem Pressebriefing Anfang Dezem- Auch wirtschaftlich ist die Hamas nicht so
ber auf einer Militärbasis im Süden Israels leicht zu schwächen. Ihre Haupteinnahme-
beschreibt der Kommandeur einer Pionier- quellen liegen im Ausland. Die Millionen-
einheit den Einsatz in der Stadt Beit Hanun transfers aus Teheran dürften weiter fließen,
im Nordosten des Gazastreifens. Von hier aus vielleicht sogar steigen. Ebenso die Einnah-
hätten die Terroristen am 7. Oktober binnen men aus den 30 bis 40 Firmen, die vor allem
wenigen Stunden 350 Raketen abgeschossen. im Bausektor und im Immobiliengeschäft in
In fast jedem Haus hätten sie Waffen gefun- der Türkei, in Katar, Algerien, den Vereinig-
den, sagt der Oberstleutnant, dessen Name ten Arabischen Emiraten und im Sudan tätig
geheim bleiben soll. sein sollen. Schätzungsweise 500 Millionen
Welche Infrastruktur der Hamas sich noch Dollar jährlich soll die Terrororganisation auf
unter der Erde befinde, wisse er nicht. Der diesem Weg einnehmen.
Befehl laute, nicht in die Tunnel hinabzustei- Selbst wenn es gelinge, die Hamas militä-
gen, weil es dort fast überall Sprengfallen risch zu schlagen, werde sie im Untergrund
gebe. Letztlich habe die Armee keine wirk- und im Ausland weiter existieren, meint auch
samen technischen Mittel, um die Tunnel auf- der israelische Hamas-Experte Milshtein. Er
zuspüren. Viele unterirdische Verbindungen kommt zum gleichen Urteil: »Die Hamas lässt
seien auch nach Sprengung der Eingangs- sich nicht zerstören.«
schächte noch benutzbar. Er hat vor dem 7. Oktober vergebens ge-
Daher soll die israelische Armee jüngst be- warnt, dass die Hamas weiterhin die Zerstö-
gonnen haben, Meerwasser in die Tunnel zu rung des jüdischen Staats verfolge. Nach dem
pumpen. Es ist allerdings offenbar noch ein Test- Terrorangriff sprach er sich in der »Financial
lauf, bereits jetzt gibt es Zweifel daran, dass das Times« gegen eine Bombardierung und die
allein reichen wird, um das weit verzweigte Besetzung des Gazastreifens aus. Die öko-
Tunnelnetzwerk zu zerstören. Zumal die Folgen nomischen Kosten wären enorm, zudem sei
für Umwelt und Infrastruktur unabsehbar sind. das Machtsystem der Hamas kurzfristig kaum
zu ersetzen, weil die Autonomiebehörde zu
schwach dafür sei. »Der Gazastreifen könnte
Ashraf Amra / ZUMA Press / IMAGO
1 2 3
sich in ein Somalia oder Afghanistan vor unse-
Iranian Foreign Ministr y / AP
rer Haustür verwandeln«, schrieb Milshtein.
picture-alliance / dpa
DIE ZUKUNFT
Gemäßigte palästinensische Politiker wie der
ehemalige Ministerpräsident Salam Fayyad
und der Arafat-Neffe Nasser al-Kidwa denken
deshalb bereits intensiv über eine Nachkriegs-
ordnung nach. Für Fayyad ist eine solche Ord-
1 | Hamas-Politbürochef Haniyyeh in Katar
2 | Hamas-Anführer Sinwar im Gazastreifen
nung undenkbar, ohne die Hamas einzube-
3 | Militärchef Deif auf einem alten, undatierten ziehen. »Der erste Schritt muss eine sofortige
Foto und bedingungslose Erweiterung der PLO
 TITEL

sein«, schrieb er Ende Oktober in einem viel

beachteten Essay über einen »Friedensplan
für Gaza«. Eine solche Erweiterung müsse
»alle großen Gruppen und politischen Kräfte
einschließen, auch die Hamas«.
Al-Kidwa hält eine Zusammenarbeit mit
der Hamas ebenfalls für grundsätzlich mög-
lich, aber er macht sich keine Illusionen da-
rüber, wie kompliziert und schwierig es sein
wird. Der aktuelle Krieg könne allerdings »zu
einer anderen, militärisch und politisch ge-
schwächten Hamas führen«, vor allem wenn
sich »die öffentliche Stimmung der Palästi-
nenser gegen die Organisation wende«.
Islamistische Bewegungen spielen in fast
allen Ländern des Nahen Ostens eine zentra-
le Rolle, sei es, dass sie an der Regierung sind
wie in Iran oder in der Türkei, sei es, dass sie
von autoritären Regimen in Schach gehalten
werden wie in Ägypten oder Tunesien, sei es,
dass sie mächtige Milizen stellen wie im Li-
banon oder im Irak. Die Vorstellung, in einem
künftigen Palästinenserstaat lasse sich das
islamistische Element schlicht aus der Politik
verbannen, ist unrealistisch. Aber die Frage
ist, ob es eingebunden werden kann, ohne
eine bewaffnete Gruppe wie die Hamas, die
mit der Zerstörung Israels droht.
Sinwar soll jüngsten Meldungen zufolge
»empört« darüber sein, dass die Hamas-Füh-
rung in Doha und Abgesandte von Palästi-
nenserchef Abbas bereits über eine künftige
Zusammenarbeit der beiden Gruppen dis-
kutierten. Angeblich hat er einen Abbruch
dieser Kontakte verlangt.
Wie es weitergeht, hängt nun vor allem
von den Ereignissen der kommenden Wochen
und Monate ab. Davon, ob es einen Geisel-
deal sowie einen anhaltenden Waffenstill-
stand gibt – oder ob noch deutlich mehr Zi-
vilisten im Gazastreifen sterben. Dann könn-
te die Unterstützung für die Hamas zuneh-
men, könnten die Bilder toter Kinder aus dem
Gazastreifen eine ganze Generation neuer
Terroristen erzeugen.
Am Ende könnte die Hamas zwar militä-
risch geschwächt, aber strategisch gestärkt
aus diesem Krieg hervorgehen.
Für Yuval Bitton, den israelischen Geheim-
dienstler und einstigen Zahnarzt von Sinwar,
ist die Antwort trotzdem klar: »Hamas muss
Jetzt neu
zerstört werden!« Er habe bei jedem Ge-
spräch mit Sinwar gespürt, »dass er uns Israe- im Handel
lis hasst und umbringen will«. Sinwar habe
nur auf die Gelegenheit dafür gewartet.
Bitton hat für seine harte Haltung auch
einen persönlichen Grund. Bitton dreht sich
auf dem Küchenstuhl in seinem Haus im Kib-
buz Schoval um – und zeigt auf das Sofa, wo
das Pappschild mit dem Foto seines Neffen
Tamir steht. Am 7. Oktober wurde Tamir zu-
sammen mit seiner Großmutter Yaffa Adar
nach Gaza entführt. Die alte Frau ist inzwi-
schen freigelassen worden. Bittons Neffe nicht. Digital lesen mit
Monika Bolliger, Julia Amalia Heyer, auf manager-magazin.de/plus
Susanne Koelbl, Christoph Reuter,
Fritz Schaap, Thore Schröder, Bernhard Zand,
Mitarbeit: Michal Marmary n

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 19

TITEL
Ihre Körper als Schlachtfeld
ISRAEL Gruppenvergewaltigungen, Demütigungen, Verstümmelungen: In
Israel tragen Ermittler und Aktivisten Beweise für sexualisierte Gewalt
vom 7. Oktober zusammen. Viel spricht dafür, dass die Angriffe auf Frauen
systematisch waren.
hani Louk, 22, liegt auf der Ladefläche
S eines Pick-ups, das Gesicht nach unten.
Mehrere Männer trampeln über ihren
leblosen Körper. Einer zerrt an ihren Haaren,
ein anderer spuckt vom Straßenrand auf ihren
Kopf. Sie trägt nur Unterwäsche, wie eine
Trophäe wird sie durch die Straßen Gazas
gefahren. Am Straßenrand johlen Menschen
»Allahu akbar«, »Gott ist groß«. Das Video
von Shani Louk, die auch deutsche Staats-
bürgerin ist, geht am 7. Oktober um die Welt.
23 Tage später kommt die Nachricht, dass
sie tot ist.
Für Yael Vias Gvirsman ist das Video ein
Beweis für ein Kriegsverbrechen. Die israe-
lische Anwältin hat Anzeigen erstattet, in
Deutschland, Frankreich und beim Interna-
tionalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag
– wegen sexualisierter Gewalt gegen Shani
Louk. Es ist nicht der einzige derartige Fall,
an dem Gvirsman arbeitet. Aber, so sagt sie
es, der juristisch bislang eindeutigste.
Schon in den ersten Tagen nach dem bru-
talen Überfall hieß es, die Hamas-Kämpfer
hätten nicht nur gemordet, sondern auch ver-
gewaltigt. Zunächst waren es nur wenig kon-
krete Geschichten, es gab keine Aussagen von
Opfern, kaum Bilder. Dass Frauen möglicher-
weise gezielt angegriffen wurden, ging in den
Berichten über das Grauen unter.
Vor allem israelische Frauenrechtlerinnen
trugen das Thema in die Öffentlichkeit und
prangerten auch das Schweigen internationa-
ler Organisationen an. Inzwischen haben is-
raelische Ermittlerinnen und Ermittler mehr
als 1500 Belege für die Gräueltaten zusam-
mengetragen: Bilder, Videos, Aussagen von
Überlebenden und Helfern, die die Toten ge-
shani.louk / Instagram
Festivalbesucherin Louk
20 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
DIGAS_B2B-/tmp/divibib/digas_out/2878-sp2351
borgen oder identifiziert haben. Darunter
finden sich viele Hinweise auf Vergewaltigun-
gen, Verstümmelungen und Demütigungen
durch die Terroristen.
Unklar ist noch, ob die Hamas und die an-
deren Terroristen die Vergewaltigungen tat-
sächlich geplant hatten oder ob sie aus Hass
und im Blutrausch begangen wurden. Im Er-
gebnis ist es dasselbe: Es gab am 7. Oktober
offenbar massenhaft Vergewaltigungen.
Die Berichte sind schwer zu ertragen, und
sie wecken Befürchtungen darüber, was die
verbliebenen 17 Frauen und Kinder in Gaza
erleiden müssen.
In einem Video sieht man die junge Solda-
tin Naama Levy, die in Gaza aus einem Ha-
mas-Truck stolpert, der Schritt ihrer Jogging-
hose ist rot gefärbt. Eine Überlebende des
Nova-Musikfestivals berichtet, wie sie beob-
achtet habe, dass mehrere Männer eine Frau
vergewaltigten. Noch bevor der letzte ejaku-
liert habe, habe er der Frau in den Kopf ge-
schossen. Ersthelfer an den Orten des Mas-
sakers berichten von Leichen mit herunter-
gezogenen Hosen und Spuren von Sperma
an den Beinen. Eine Freiwillige, die auf der
Schura-Militärbasis bei der Identifikation
toter Frauen half, erzählt von gebrochenen
Beinen und Becken.
Wegen dieser Berichte ist für die Ermittler
klar: Die Hamas hat sexualisierte Gewalt als
Kriegswaffe eingesetzt.
Gvirsman arbeitet an 56 Fällen mit Opfern
des 7. Oktober. Sie vertritt Überlebende, An-
gehörige von Toten und Geiseln – und meh-
rere Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt.
Der Fall Shani Louk ist der einzige, über den
sie bislang spricht. Nachdem das Video um
die Welt gegangen war, erteilte die Familie
ihr die Erlaubnis.
Die Anwältin hat den Nachmittag in Sche-
fajim verbracht, dort leben seit der Attacke
die Bewohner des Kibbuz Kfar Asa und somit
einige ihrer Mandanten. Zeit zum Gespräch
hat sie erst um 21.30 Uhr. »Wollen wir uns
auf einen Drink treffen? Ich könnte einen ge-
brauchen«, schreibt sie.
Gvirsman hat bereits in vielen interna-
tionalen Konflikten gearbeitet, im Kongo, in
der Ukraine und im Sudan. Sie hat keinen
Zweifel daran, dass am 7. Oktober sexua-
lisierte Gewalt weitverbreitet war und als
Kriegswaffe eingesetzt wurde. Es gebe auch
Hinweise darauf, dass die sexualisierten Über-
griffe im Vorfeld geplant worden seien,
sagt Gvirsman. Aber sie formuliert vorsich-
tiger. Wo die Polizei von Beweisen spricht,
spricht Gvirsman von Indizien, die sie an
vergangene Konflikte erinnerten. Beispiels-
weise wenn ein Hamas-Kämpfer in einem
Video sagt: »Erst mache ich sie schmutzig,
dann töte ich sie.« Gvirsman erklärt: Es gehe
darum, die Frau für die Gesellschaft zu be-
schädigen. Kein neues Konzept in bewaffne-
ten Konflikten.
Urteile verschiedener internationaler Ge-
richte erfassen viele Formen der sexualisier-
ten Gewalt. Darunter: erzwungene Nacktheit,
Angriffe auf Genitalien und generell Über-
griffe auf Frauen, weil sie Frauen sind. Wenn
ein weiblicher Körper in den Straßen Gazas
als Kriegsbeute zur Schau gestellt wird, dann
ist das für Gvirsman ein eindeutiges Beispiel.
Zudem können nach dem Römischen Sta-
tut, dem Gründungsvertrag des ICC, etwa
auch Vergewaltigung und »andere Formen
sexueller Gewalt vergleichbarer Schwere«
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
Kriegsverbrechen sein. 2001 hat das Jugosla-
wien-Tribunal ein erstes solches Urteil gespro-
chen. Seit 2008 bezeichnet der Uno-Sicher-
heitsrat Vergewaltigung als Kriegswaffe.
Im Jahr 2016 urteilte das Ruanda-Tribunal
in Den Haag: Auch Akte ohne direkten Kör-
perkontakt können als sexualisierte Gewalt
gelten, also etwa erzwungene Nacktheit. Er-
zwungene Schwangerschaften können im Völ-
kerstrafrecht sogar als Genozid strafbar sein.
Zivilistinnen werden in Kriegen besonders
häufig Opfer. In vielen Gesellschaften gelten
Frauen als Hüterinnen der Familie und in die-
sem Sinne als besonders schützenswert. Wer
eine Frau attackiert, attackiert eine Gesell-
schaft als Ganzes.
Die Hamas weist den Vorwurf der sexua-
lisierten Übergriffe durch ihre Kämpfer von
sich. Vergewaltigung gilt im Islam als schwe-
res Verbrechen. Doch es muss, so hat die Ge-
schichte immer wieder gezeigt, keinen offi-
ziellen Vergewaltigungsbefehl geben, um
solche Taten anzustoßen.
Aufnahmen davon, was Menschen am
7. Oktober angetan wurde, hat Haim Otmaz-
gin zu großen Teilen auf seinem Mobiltelefon
gespeichert.
Otmazgin, 50 Jahre alt, arbeitet seit 23 Jah-
ren ehrenamtlich bei Zaka. Die jüdisch-israeli-
sche Organisation rückt nach Unfällen und
anderen Katastrophen aus, um Leichen und
Körperteile zu bergen. Otmazgin erzählt davon
in seinem Garten in einem orthodoxen Viertel
der Stadt Petach Tikwa nahe Tel Aviv. Um ihn
herum zeugen Spuren von den Chanukka-
Feierlichkeiten der vergangenen Abende.
Vier Jahre habe er nicht geraucht, sagt Ot-
mazgin, am Ende des Gesprächs wird seine
Zigarettenschachtel leer sein.
2800 Bilder hat Otmazgin am 7. Oktober
und in den darauffolgenden Tagen gemacht,
ihm sei, sagt er, gleich zu Beginn klar gewe-
sen, dass er dokumentieren müsse, was er in

1 2
Jonas Opperskalski / DER SPIEGEL (4)
1 | Anwältin Gvirsman in Tel Aviv 2 | Ehrenamtlicher Otmazgin 3 | Otmazgins Fotoarchiv der Gräuel vom 7. Oktober 4 | Aktivistin Zohar
Wer eine Frau attackiert, attackiert eine Gesellschaft als Ganzes.
den Kibbuzim und den anderen Orten im
Süden des Landes vorfindet. Viele Tote hat
er gleich mehrfach fotografiert, um Verstüm-
melungen und Verletzungen festzuhalten –
aber auch Identifikationsmerkmale wie Tä-
towierungen.
Die Bilder der Toten auf seinem Handy
sind eine Galerie des Grauens. Erstes Foto:
Eine Frau in hochgeschobenem Rock, sie trägt
keine Unterwäsche. An ihren Oberschenkeln
klebt geronnenes Blut. Zweites Foto: Eine
blonde Frau liegt auf dem Rücken, ihre Augen
starren ins Leere. Ihr weißes Hemd ist zer-
rissen. Otmazgin sagt, auch ihr BH sei zerfetzt
gewesen, er und seine Kollegen hätten die
bloße Brust bedeckt. Drittes Foto: rot gefärb-
te Hotpants. Man habe der Frau zwischen die
Beine geschossen.
Otmazgin erzählt immer weiter. Fall um
Fall. Etwa zwei Wochen nach dem 7. Oktober
habe ihn die Polizei befragt. Nach vier Stun-
den sei er in Tränen ausgebrochen und habe
nicht mehr weitermachen können, erzählt er.
»Sie rufen immer wieder an«, sagt Otmazgin
und steckt sich eine neue Zigarette an.
Nicht nur internationale Organisationen
haben lange zu den sexualisierten Verbrechen
geschwiegen, auch in Israel wird erst seit Kur-
zem intensiv darüber gesprochen. Kritiker
behaupten, die israelische Regierung instru-
mentalisiere das Thema als Rechtfertigung
für ihr Vorgehen im Süden Gazas.
Wer in den ersten Oktoberwochen die
Schauplätze des Massakers besuchte, ahnt,
warum. In Israel herrschten Überforderung
und Chaos. Eine Woche nach dem Angriff
waren auf der Schura-Militärbasis in Ramla
Dutzende Leichen noch nicht identifiziert.
3
Einen Monat nach dem Angriff wurden im-
mer noch neue Säcke voller Körperteile ins
forensische Institut Abu Kabir in Tel Aviv
geliefert. Obwohl sich Hunderte Freiwillige
gemeldet hatten, ging die Zuordnung der Lei-
chenteile nur langsam voran. Viele Körper
waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt oder
verwest. Und es war die Identifikation der
Toten, die Priorität hatte, nicht die Dokumen-
tation der Verbrechen.
Ein Großteil der Opfer sexualisierter Über-
griffe ist mutmaßlich tot. Doch einige haben
überlebt.
Marva Zohar hat sie behandelt.
Die Hebamme und Therapeutin ist erst seit
wenigen Tagen wieder zu Hause. Die 37-Jäh-
rige wohnt im Norden Israels, umgeben von
Zitronenbäumen. Sie hat die vergangenen
zwei Monate im Süden verbracht. Zohar sagt,
sie sei selbst Überlebende sexualisierter
Gewalt. Während der Pandemie hat sie ein
feministisches Zentrum für Überlebende wie
sie gegründet, es heißt: »Amen: land where
women heal«, das Land, in dem Frauen ge-
nesen.
Am 8. Oktober kam sie am Toten Meer
an, um emotionale Hilfe zu leisten. Erst Tage
später, sagt sie, habe sie verstanden, dass
unter den Überlebenden auch Opfer sexua-
lisierter Gewalt waren. »Ich ging nach
draußen und fiel auf die Knie«, sagt sie. »Ich
fragte mich: Warum habe ich nicht daran ge-
dacht?«
Am Anfang habe sie angenommen, es gehe
um zwei oder drei Fälle. Es dauerte, bis sie
das Ausmaß verstand.
Inzwischen haben Zohar und ihr Team
viele überlebende Frauen des 7. Oktober be-
TITEL
4
treut. Medien und Strafverfolgungsbehörden
fragten an und wollten, dass Marva Zohar
ihnen berichtet, was sie erfahren hat. Immer
habe sie abgelehnt, erst jetzt, sagt sie, habe
sie das Gefühl, die Zeit sei gekommen, darü-
ber zu sprechen. Detaillierte Geschichten will
sie trotzdem nicht erzählen, um ihre Klien-
tinnen zu schützen.
Sie berichtet von einer Frau, die sich
aus dem Schutzraum gestohlen habe, wäh-
rend in ihrem Kibbuz schon gekämpft wurde.
Weil sie und ihre Kinder Pyjamas trugen,
fürchtete sie, dass man sie vergewaltigen
würde. Sie kamen davon, aber kämpfen seit-
her mit den Erinnerungen an diesen trauma-
tischen Moment. Zohar hat mit Menschen
gesprochen, die zusehen mussten, wie ihre
Mutter oder ihre Schwester vergewaltigt
wurde; mit Frauen, die selbst vergewaltigt
wurden.
Das wahre Ausmaß der Belästigungen, De-
mütigungen und Vergewaltigungen am 7. Ok-
tober werde man womöglich erst in Monaten
oder Jahren erkennen können, sagt Zohar.
Sie verstehe das Bedürfnis nach Aufklärung.
Aber die meisten Frauen seien noch nicht be-
reit, darüber zu sprechen, was ihnen wider-
fahren ist.
Dass die israelische Gesellschaft und
die internationale Gemeinschaft anerkennen,
was passiert ist, sei trotzdem wichtig für die
Frauen. Ihre Erfahrungen müssten ernst ge-
nommen werden, damit sie sie verarbeiten
können.
»Und die Zeit drängt«, sagt Zohar. In der
vergangenen Nacht wurde sie zu einer Frau
gerufen, die nicht mehr leben wollte.
Muriel Kalisch n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 21
TITEL

angesichts der vielen propalästinensischen

Demonstrationen.
Hamas-nahe Vereinigungen nähmen »ko-
ordiniert und systematisch« Einfluss auf
Anhänger in Europa, heißt es in der als Ver-
Das Ende der Waffenruhe schlusssache eingestuften Hamas-Verbotsver-
fügung des Bundesinnenministeriums: »Hier-
bei liegt auf Deutschland, aufgrund seiner
ISLAMISTEN Das Netzwerk der Hamas reicht bis nach Deutschland. großen palästinensischen Diaspora, ein be-
Bislang galt: Unterstützer hetzen, sammeln Geld. Nun wurden mutmaß- sonderer Fokus.« Es werde versucht, Nähe
und Zugehörigkeit zur Hamas bewusst zu
liche Kämpfer festgenommen. Ein Beleg für einen Strategiewechsel? verschleiern, gleichzeitig gebe es jedoch per-
sonell enge Verbindungen.
ie drei Männer standen schon länger im dos etwa 1200 Menschen im Süden Israels. Ende November fährt die Polizei zur Raz-
D Visier der Sicherheitsbehörden. Genau-
er gesagt: bereits seit dem vergangenen
Sommer und damit deutlich vor dem Angriff
In Berlin-Neukölln verteilten Israelfeinde
Baklava-Gebäck, um den Terror zu feiern.
Unter dem Druck der Ereignisse kündigte
zia auch bei einem Mediziner im Emsland
vor, der so gar nicht in das Terrorklischee der
Hamas-Kämpfer zu passen scheint. Auf der
der Hamas auf Israel. Am Donnerstag griffen der Kanzler ein sogenanntes Betätigungsver- Internetseite einer Hausarztpraxis loben Pa-
die Ermittler in Berlin zu, nahmen Abdelhamid bot für die Hamas in Deutschland an, Innen- tienten den »wundervollen« und »sehr ein-
Al A., Mohamed B. und Ibrahim El-R. fest. In ministerin Nancy Faeser (SPD) musste es eilig fühlsamen« Arzt. Ein Foto zeigt einen Mann
Rotterdam gab es eine weitere Festnahme. Die ausformulieren. Ende November folgten in einem weißen Kittel, der in die Kamera
mutmaßlichen Hamas-Kämpfer sollten offen- Razzien im Milieu der Israelhasser. Rund lächelt. Die Behörden gehen dem Verdacht
bar Waffen aus einem versteckten Erddepot 500 Polizistinnen und Polizisten durchsuch- nach, der Doktor könnte ein Hamas-Förderer
holen – und sie für Anschläge auf jüdische ten mehr als 20 Gebäude in fünf Bundeslän- sein. Der Mediziner war Vorsitzender der
Einrichtungen in Europa bereithalten. dern. Auch bei Majed Alzeer standen am Palästinensischen Gemeinschaft in Deutsch-
Dieser mutmaßlich vereitelte Terrorplan 23. November Beamte vor der Tür, auf der land (PGD), die sich ein paar Wochen vor
steht für einen möglichen Strategiewechsel. Suche nach Beweismitteln. dem Überfall auf Israel aufgelöst hat. Ver-
Denn Deutschland galt für Hamas-Leute Recherchen des SPIEGEL zeigen, dass in fassungsschützer stuften den Verein als »wich-
vor allem als Rückzugsraum, auch als Land Deutschland ein regelrechtes Netz von Ha- tigste Organisation für die Anhänger der Ha-
zum Eintreiben von Geldern für den Terror mas-Unterstützungsorganisationen entstan- mas in Deutschland« ein.
gegen Israel. Anschlagsplanungen? In den den ist. Das betrifft nicht nur Berlin, sondern Der SPIEGEL erreicht den langjährigen
vergangenen Jahren deutete nichts darauf hin. auch kleinere Städte und ländliche Regionen, Vereinschef vergangenen Montag am Telefon.
Nun sollte die Bundesrepublik womöglich zum Beispiel im Sauerland, im Emsland oder Er wolle sich nicht äußern, sagt er, die Praxis
zum Aktionsraum werden – zur Ausgangs- in Brandenburg. Die Sympathisantenszene sei voller Patienten. Nur so viel: Das mit der
basis, um Juden jetzt auch mitten in Europa applaudiert Terroristen, hetzt gegen Juden, Durchsuchung sei »unfair«. Und der Terror
anzugreifen. Dass das Netzwerk der Terror- postet in den sozialen Netzwerken Landkar- der Hamas? »Das geht mich nichts an.« Damit
organisation bis nach Deutschland reicht, war ten, auf denen Israel fehlt. Und sie treibt ist das Gespräch beendet.
jedoch stets klar. Eine zentrale Rolle spielt da- Spenden ein. Seit dem 7. Oktober sind die Nach Erkenntnissen der Behörden nahmen
bei nach Einschätzung der deutschen Sicher- Behörden besonders alarmiert, nicht allein der Arzt und der mutmaßliche Hamas-Statt-
heitsbehörden eine Person: Majed Alzeer, 61.
Das Bundesinnenministerium hält den bri-
tischen Staatsbürger für den heimlichen
»Deutschlandverantwortlichen der Hamas«.
Er soll Kontakte bis in die Führungskreise der
palästinensischen Terrortruppe unterhalten.
Sein Gebiet umfasst offenbar nicht nur die
Bundesrepublik. Der mutmaßliche Hamas-
Verbindungsmann soll laut Behördenakten
Unterstützer in ganz Europa organisieren.
2014 siedelte er demnach von London nach
Berlin über. Fotos zeigen Alzeer mit Hamas-
Exil-Chef Ismail Haniyyeh.
Bei Facebook soll Alzeer den Überfall auf
Israel am 7. Oktober als Akt palästinensischer
Selbstverteidigung dargestellt haben. Vor Jah-
ren soll er bei der inoffiziellen Gründungs-
feier eines mutmaßlichen Hamas-Unterstüt-
zungsvereins laut internen Behördendoku-
menten befunden haben, dass »Berlin eine
große Last im Kampf um Palästina trage«.
Offiziell ist Alzeer im Berliner Südosten ge-
meldet, im eher bürgerlichen Teil von Neu-
kölln. Sein Name steht offen am Briefkasten.
Lange interessierte sich kaum jemand für
AdoraPress / ddp

den mutmaßlichen Statthalter der Hamas in

Deutschland und die Anhänger der Organi-
sation, die seit 2001 auf der EU-Terrorliste
steht. Dann massakrierten Hamas-Komman- Pro-Palästina-Demonstrierende in Berlin-Neukölln im Oktober: Propagandawelle aus Gaza

22 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


halter Alzeer im April 2023 gemeinsam an
der Beerdigung eines Palästinenserfunktio-
närs in Leverkusen teil. Alzeer wollte sich bis
Redaktionsschluss zu Fragen des SPIEGEL
inhaltlich nicht äußern. In einer früheren Stel-
lungnahme, die im Netz nachzulesen ist, hat-
te er bestritten, zur Hamas zu gehören.
Das von der Bundesregierung ausgespro-
chene Betätigungsverbot gibt Staats- und Ver-
fassungsschützern nicht unbedingt mehr Be-
fugnisse zur Überwachung der Szene der
hiesigen Hamas-Freunde. Informanten an-
werben, Telefone anzapfen, Chats mitlesen,
das sei auch ohne Verbotsverfügung möglich
gewesen, heißt es in Sicherheitskreisen.
Das 77-seitige Papier aus dem Innenminis-
terium erleichtert den Behörden jedoch die
Strafverfolgung. So ist etwa die Parole »Vom
Fluss bis zum Meer«, die Israel das Existenz-
recht abspricht und die auf Demonstrationen
skandiert wurde, strafbar geworden. Polizis-
tinnen und Polizisten können nun auch besser
gegen bestimmte Hamas-Symbole bei Demos
vorgehen. Wie viele neue Erkenntnisse die
Behörden seit dem 7. Oktober erlangt haben,
ist unklar. Sie sind aber sensibilisiert.
In zwei Fast-Food-Läden in Potsdam stellt
die Polizei am 13. November Spendenbüchsen
sicher. Sie trugen Schriftzug und Bankverbin-
dung des Vereins Die Barmherzigen Hände
e. V., der sich nach eigenem Bekunden eigent-
lich aufgelöst hatte. »Eine Scheinauflösung«,
wird in Sicherheitskreisen gemutmaßt. Es gebe
jedenfalls enge Verbindungen direkt in die
Machtzentren der Hamas nach Gaza.
Am Mittwochmittag kommt in Arnsberg
im Sauerland ein Mann in Arbeitskleidung
aus einem Haus und steigt in einen weißen
Transporter. Er war bis Mitte August Vorsit-
Razzia im Berliner Hamas-Milieu im November: »Terrorgefahr so hoch wie schon lange nicht mehr«
zender bei den Barmherzigen Händen. Was
der Verein gemacht hat? »Wir sammeln Geld
für Waisenkinder an verschiedenen Orten:
Bangladesch, Syrien, Jordanien, Gambia, Li-
banon, Palästina.« Wie viel Geld der Verein
in den vergangenen sieben Jahren gesammelt
und verteilt hat, wisse er nicht. Das Geld für
die Kinder in Gaza etwa sei auf eine Bank in
Israel überwiesen worden. Dass der Verein
eine Wasserentsalzungsanlage im Gazastrei-
fen aufgestellt habe, sei richtig. Und möglich
sei auch, dass ein Vorsitzender der Hamas-
Partei das Wasserprojekt eingeweiht habe.
Das alles findet der Mann nicht bemer-
kenswert: Sie hätten ihr Projekt in Gaza ge-
feiert, »und wenn dann einer von der Hamas
kommt, was geht mich das an?« Dass sein
Verein schon im Jahr 2021 im nordrhein-west-
fälischen Verfassungsschutzbericht als »An-
laufstelle für Anhänger der Hamas« genannt
wurde, sei für ihn »Unsinn«. Der Verein habe
mit der Hamas nichts zu tun. Möglich, dass
noch irgendwo Spendendosen in Imbissbuden
herumstünden, das Vereinskonto sei jeden-
falls aufgelöst worden.
Geld soll die Hamas auch anders eintrei-
ben, zum Beispiel über Onlineaufrufe und
digitale Dienstleister, bei denen es reicht, dem
Empfänger einen Code zur Freigabe des Gel-
des mitzuteilen. Oft geht es dabei um Kleinst-
beträge. So wird es für die Behörden immer
komplizierter, Finanzströme Richtung Hamas
zu unterbrechen. »Wir müssen unsere Be-
hörden strukturell und personell bestmöglich
aufstellen, auch im internationalen Verbund«,
sagt Sebastian Hartmann, SPD-Innenexperte
im Deutschen Bundestag. »Viele Fünf-Euro-
Scheine ergeben am Ende große Summen.«
Es brauche einen internationalen Schulter-
Filip Singer / EPA-EFE
TITEL
schluss gegen die Terrorfinanzierung – unter
Einbeziehung Katars und der Türkei.
Am Rande der 30.000-Einwohner-Stadt
Fürstenwalde liegt das Islamische Zentrum
(IZF). Der Trägerverein setzte auf Expansion,
wollte am Standort ein neues Bildungszen-
trum für bis zu 600 Besucher errichten. Die
Stadt hat nach Medienberichten allerdings
beschlossen, das Grundstück kaufen zu wol-
len. Weit verbreitet ist vor Ort die Angst, das
beschauliche Fürstenwalde könnte zum Ha-
mas-Hotspot werden. Wohl keine völlig un-
begründete Sorge. Als die Hamas ihren An-
griff auf Israel gerade begonnen hatte, jubel-
te der Imam, der hier normalerweise predigt,
auf Social Media verherrlichte er schließlich
das Massaker in Israel: »Was für ein schöner
Tag das ist.« In einer Predigt soll derselbe
Vorbeter mal gesagt haben: »Oh, Gott, öffne
unsere Augen für die sehr baldige Eroberung
von Jerusalem, oh, Herr der Welten.«
Bereits im Sommer hatte der Verfassungs-
schutz das Islamische Zentrum und die Mo-
scheegemeinde als »gesichert extremistisch«
eingestuft. Es waren laut Behörden insbeson-
dere Social-Media-Posts, die zur Einstufung
als Beobachtungsfall führten. Unter anderem
ging es um Werbung für eine Spendenaktion
der Barmherzigen Hände. »Es gibt klare Be-
lege dafür, dass die Ideologie der Hamas von
Fürstenwalde aus unverändert verbreitet
wird«, sagt Brandenburgs Chefverfassungs-
schützer Jörg Müller.
Gemeinden, in denen für die Narrative der
Hamas geworben wird, dazu die Intensität,
mit der die Propagandawelle aus Gaza nach
Deutschland schwappt – bei Sicherheits-
experten ruft das Besorgnis hervor. Erhöht
sich dadurch auch die Gefahr der Radikalisie-
rung Einzelner bis hin zur Bereitschaft, hier-
zulande Anschläge zu verüben? Oder setzt
die Hamas nun gar auf Kommandoaktionen,
um eine Blutspur durch Europa zu ziehen?
Die Terrorgefahr sei »so hoch wie schon
lange nicht mehr«, hat Verfassungsschutzchef
Thomas Haldenwang kürzlich erst nachdrück-
lich gewarnt. Die jüngsten Festnahmen schei-
nen ihm recht zu geben.
Einer der Männer, Abdelhamid Al A., soll
laut Bundesanwaltschaft spätestens seit dem
Frühjahr damit beschäftigt gewesen sein, ein
Erddepot der Hamas mit Waffen ausfindig zu
machen.
Ein solches Versteck soll die Organisation
in der Vergangenheit konspirativ in Europa
angelegt haben. Ab Oktober soll er Hilfe von
drei weiteren Männern bekommen haben,
die Waffen wurden offenbar dringend ge-
braucht. Nach ersten Erkenntnissen standen
die vier in Berlin und in den Niederlanden
verhafteten Männer eng im Austausch mit
den Kassam-Brigaden – der Terrorzentrale
der Hamas.
Das gibt der Bedrohung eine neue Qua-
lität.
Rasmus Buchsteiner, Tobias Großekemper,
Hubert Gude, Roman Lehberger,
Sven Röbel, Wolf Wiedmann-Schmidt n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 23
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DEUTSCHLAND

Mar tin Meissner / AP

Viele Unternehmen überlegen in diesen Tagen, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern. Wirtschaftsverbände warnen vor einer bevorstehenden
Deindustralisierung. Wird Deutschland also bald zum riesengroßen Freizeitpark? Für die Menschen in Essen wäre das keine Drohung.
Einst war die Zeche Zollverein der wohl heißeste Ort der Stadt, in der Kokerei herrschten weit über 1000 Grad. Jetzt ist die legendäre Industrieanlage
Weltkulturerbe, und im Winter lässt sich dort wunderbar Schlittschuh laufen.

Neue Vorwürfe gegen Maaßen

CDU Die Bundespartei sieht weitere Vergehen des Ex-Verfassungsschutzchefs. Der schweigt dazu.

I m Parteiausschlussverfahren gegen Hans-Georg Maaßen er-

hebt die Bundes-CDU neue Vorwürfe gegen den früheren Ver-
fassungsschutzchef. Das Kreisparteigericht der Thüringer CDU
hatte sich in seinem Beschluss im Juli gegen einen Ausschluss von
Maaßen ausgesprochen und ihm lediglich einen Verweis erteilt.
Gegen den legte die Bundespartei Einspruch ein, der nun im kom-
menden Jahr vor dem Landesparteigericht in Thüringen verhandelt
werden soll. Maaßen hatte sich 2021 als CDU-Bundestagskandidat
in Südthüringen beworben. Von 2012 bis 2018 war er Präsident des
Bundesamts für Verfassungsschutz. In dem Beschwerdeschrift-
stück, das dem SPIEGEL vorliegt, üben die Christdemokraten
scharfe Kritik an der Entscheidung des Kreisparteigerichts und lis-
ten neue Verfehlungen Maaßens auf. »Er verstößt seit der münd-
lichen Verhandlung und seit Aussprache des Verweises laufend wei-
ter gegen Ordnung und Grundsätze der CDU«, heißt es in dem
67-seitigen Papier. Maaßen wird unter anderem vorgeworfen, sich
seit dem Urteil in weiteren Social-Media-Posts für eine Zusammen-
arbeit seiner Partei mit der AfD ausgesprochen zu haben. Der Ex-
Verfassungsschutzchef wollte sich zu den Vorwürfen auf Anfrage
nicht äußern. Er ließ über seinen Anwalt mitteilen: »Herr Dr. Maa-
ßen hält sich an parteiinterne Regelungen.« Die Parteigerichtsord-
nung sehe »eine vertrauliche Behandlung der Vorgänge durch alle
Teilnehmer vor (§ 27 S. 3 PGO)«. Weiter hieß es: »Daher äußert
sich unser Mandant nicht öffentlich über Inhalte des Verfahrens
und verweist auf die Entscheidung des Gemeinsamen Kreispartei-
gerichts der CDU Thüringen aus Oktober 2023.« BUC, FLO

26 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023

Sorge vor
»Kontrollverlust«
GLÜCKSSPIEL Der Suchtbeauf-
tragte der Bundesregierung
Burkhard Blienert kritisiert die
geplante Lockerung des Straf-
rechts. Bundesjustizminister
Marco Buschmann will einen
Paragrafen streichen, der das
Angebot von Glücksspiel ohne
behördliche Erlaubnis verbietet.
Diese Maßnahme könne »zu
einem Kontrollverlust« führen,
schreibt Blienert in einem Brief
an den FDP-Minister. Der So-
zialdemokrat hat sich in dieser
Sache auch an seine Partei-
freundin Nancy Faeser gewandt,
die Chefin des Innenressorts.
Durch eine solche Gesetzes-
änderung würde Deutschland
Bremen gegen
Steuerentlastungen
WACHSTUMSCHANCENGESETZ
Der Bremer Bürgermeister An-
dreas Bovenschulte kritisiert die
von der Bundesregierung ge-
planten Steuererleichterungen
für Unternehmen. Der Staat sei
gefordert, gezielt in die Trans-
formation der Wirtschaft zu in-
vestieren, sagt der Sozialdemo-
krat: »Das Wachstumschancen-
gesetz wird diesem Anspruch
nicht gerecht. Es sieht in weiten
Teilen eine Förderung mit der
Gießkanne vor, die Mitnahme-
effekte und hohe Steuerausfälle
in Kauf nimmt.« Deshalb werde
Bremen diesem Gesetz im Bun-
desrat in dieser Form nicht zu-
stimmen. Die Ampelkoalition
Nachgezählt
Spendeneinnahmen in Deutschland*,
in Milliarden Euro
2020
2019
3,31
3,26
u. a.
Beginn der
Corona-
pandemie
* jeweils Januar bis September
S Quelle: Deutscher Spendenrat/CPS GfK
◆
»noch attraktiver für die Orga-
nisierte Kriminalität«, warnt er.
Illegales Glücksspiel habe seit
der Pandemie in Deutschland
deutlich zugenommen und ber-
ge ein besonders hohes Sucht-
risiko. Wenn der entsprechende
Paragraf aus dem Strafgesetz-
buch gestrichen würde, wären
Glücksspielveranstaltungen nur
noch als Ordnungswidrigkeit
zu ahnden. Die Wahrscheinlich-
keit, dass Behörden unerlaubtes
Spiel entdecken könnten, wür-
de sich verringern, befürchtet
Blienert, die Ordnungsämter
würden mit den Kontrollen völ-
lig überfordert. Blienert schlägt
stattdessen vor, den Paragrafen
zu konkretisieren und etwa auf
Anbieter aus dem Ausland aus-
zuweiten. MFH
will kleine und mittelständische
Betriebe mit etwa sieben Mil-
liarden Euro pro Jahr ab 2024
entlasten. Der Bundesrat hat
den Vermittlungsausschuss zwi-
schen der Länderkammer und
dem Bundestag eingeschaltet.
Wenn die Bundesregierung an
dem Gesetz festhalten wolle,
müsse sie die Steuerminderein-
nahmen übernehmen, fordert
Bovenschulte. »Bislang sollen
Länder und Gemeinden die
größte Last des Wachstums-
chancengesetzes tragen«, kriti-
siert der Bürgermeister. Allein
für sein hoch verschuldetes
Bundesland Bremen würde das
Gesetz ein Minus von 200 Mil-
lionen Euro in den kommenden
vier Jahren bedeuten, rechnet
er vor. CTE
Um 17 Prozent sank
das Spendenaufkommen
in diesem Jahr im Vergleich
zum Vorjahreszeitraum.
2021 2022
3,77 3,79
2023
3,15
u. a. u. a. u. a.
Flutkata- Beginn des Erdbeben
strophe
im Ahrtal
Ukraine-
kriegs
in der
Türkei und
in Syrien
DIE GEGENDARSTELLUNG
Lang lebe
DJ Dosenpfand!
Von Alexander Neubacher
er Grünenpolitiker
D Jürgen Trittin, 69, hat
diese Woche angekün-
digt, sich aus der Politik zu-
rückzuziehen. Ende Dezem-
ber will er nach 25 Jahren sein
Bundestagsmandat abgeben.
Er werde ein bisschen reisen,
Clash und Talking Heads
hören, sagte er im SPIEGEL -
Interview über seine Zu-
kunftspläne. »Und dann gu-
cken wir mal.«
Seinen Eintrag in den Ge-
schichtsbüchern hat Trittin si-
cher. Die Frage ist, ob das für
ihn gut ist. Drei Großprojekte
werden auf immer mit seinem
Namen verbunden sein. Die
EEG-Umlage zur Förderung
von Ökostrom. Der Atomaus-
stieg. Das Dosenpfand. Man-
cher würde sagen: Es gibt we-
nige deutsche Politikerinnen
und Politiker, die in den letzten
25 Jahren mehr Unfug getrie-
ben haben als Jürgen Trittin.
Er selbst sieht das natürlich
anders: Er gehe in Frieden
und Dankbarkeit.
Die Ampelregierung hat
Trittins EEG-Umlage nach
22 Jahren abgeschafft. Als
Bundesumweltminister hatte
Trittin einst vorhergesagt,
dass die Umlage einen durch-
schnittlichen Haushalt nicht
mehr kosten werde als rund
einen Euro im Monat, »so
viel wie eine Kugel Eis«.
Tatsächlich lag die Belas-
tung irgendwann eher bei
einer Kugel Eis pro Tag als
pro Monat. Das Vergleichs-
portal Verivox hat ausgerech-
net, dass ein Dreipersonen-
haushalt über die Jahre insge-
samt 3583 Euro für die Trit-
tin-Umlage ausgegeben hat.
Immerhin wurden dafür
Solardächer und Windräder
gebaut. Andere Länder ha-
ben den Ausbau der Erneuer-
baren allerdings billiger hin-
An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
Alexander Neubacher im Wechsel.
bekommen. Und von den
deutschen Solarzellfabriken,
die unter Trittin eingeweiht
wurden, dürfte kaum eine
überlebt haben.
Und das Dosenpfand?
»Das Pfand dämmt die Ein-
wegflut ein, die mit zuneh-
mender Wucht Mehrweg-
systeme vom Markt drängt«,
hatte Trittin vorhergesagt.
Doch es passierte das Gegen-
teil. Wurden vor dem Dosen-
pfand noch fast zwei Drittel
aller Getränke in Mehrwegfla-
schen verkauft, war es ein
paar Jahre später nicht mal
mehr die Hälfte.
Wenige Politiker
haben in den vergan-
genen 25 Jahren
mehr Unfug getrieben.
Aber eine Sache hat
Trittin wirklich drauf.
Dabei ist es im Prinzip ge-
blieben. Sogar die Dose feiert
ein Comeback, was womög-
lich auch daran liegt, dass ihre
Umweltbilanz nicht ganz so
schlecht sein muss, wie immer
behauptet wurde.
Dafür kann Trittin für sich
in Anspruch nehmen, prak-
tisch aus dem Nichts einen
neuen Beruf geschaffen zu
haben, der krisenfester ist als
die Jobs in der Solar- oder
Windanlagenbranche: den
Pfandsammler.
Vor einigen Jahren war ich
auf einer Grünenparty, bei
der Trittin Platten auflegte, er
trug ein grünes T-Shirt mit
dem Aufdruck »DJ Dosen-
pfand«, spielte Clash und Tal-
king Heads. Die Leute, und
es waren nicht nur Grüne, ha-
ben viel getanzt.
Man muss sagen: Das mit
der Musik hat Trittin wirklich
drauf. Lang lebe DJ Dosen-
pfand!
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 27
CHAPPATTE
»Dienstreise« ins
Urlaubsparadies
POLITIKER Bundestagsvizeprä-
sident Wolfgang Kubicki (FDP)
und die CDU-Wirtschaftspoliti-
kerin Julia Klöckner haben sich
im Juni zu einer mehrtägigen
Konferenz auf Mallorca einla-
den lassen. Das zeigen Recher-
chen der Organisation Lobby-
control und des SPIEGEL . Das
»Wirtschaftsforum Neu Den-
ken« wird von der Steuerbera-
tungsfirma Plattes Group ver-
anstaltet, die auf vermögende
»Einer für alle«
funktioniert nicht
DIGITALISIERUNG Um die
schleppende Digitalisierung der
Verwaltung voranzutreiben, hat
der Bund zuletzt auf das Prin-
zip »Einer für alle« (Efa) gesetzt
und dafür 1,4 Milliarden Euro
lockergemacht. Danach sollen
die Länder jeweils Teile der
Verwaltungsleistungen digitali-
sieren und diese dann allen an-
deren zur Verfügung stellen.
Was einleuchtend klingt, funk-
tioniere in der Praxis nicht, be-
klagt der Bundesrechnungshof.
Die Efa-Investitionen drohten
zu »verpuffen«, eingeplante
EU-Mittel seien gefährdet. Ge-
28 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Klienten spezialisiert ist. Mitini-
tiatorin war die Firma der frü-
heren TV-Journalistin Sabine
Christiansen. An dem Treffen in
einem Luxushotel nahmen zahl-
reiche Manager teil. Kubicki
war zuletzt wegen eines Auf-
tritts auf einem Kreuzfahrtschiff
in die Kritik geraten. Auf Nach-
frage teilte die Plattes Group
mit, die An- und Abreise Kubi-
ckis zum Event auf Mallorca sei
»über uns gebucht und bezahlt«
worden. Übernachtet habe er
»privat«. Für Klöckner habe das
Unternehmen »die Hotelkosten
rade einmal drei Prozent der
neu entwickelten Onlineser-
vices würden flächendeckend
genutzt. »Die meisten Efa-Lö-
sungen waren nur in dem Land
verfügbar, das die Efa-Lösung
auch entwickelt hat«, so die
Prüfer. Das Bundesinnenminis-
terium habe mögliche Hinder-
nisse vorab nicht ausreichend
geprüft und stattdessen nach
dem »Versuch-und-Irrtum-An-
satz« agiert. Das Ministerium
räumt in seiner Erwiderung ein,
manches sei »verbesserungs-
würdig«. Zudem seien Länder
und Kommunen dafür zustän-
dig, Efa-Lösungen stärker
nachzunutzen, teils fehle dafür
der politische Wille. ROM
zu Sonderkonditionen« über-
nommen. Ein Honorar habe es
für beide nicht gegeben. Klöck-
ner und Kubicki erklärten, es
habe sich um genehmigte
Dienstreisen gehandelt. Kubicki
betonte, seine »gesetzlichen
Verpflichtungen in jedem Ein-
zelfall« eingehalten zu haben.
Ein Sprecher der Unionsfrak-
tion teilte mit, die Anfrage habe
Klöckner als wirtschaftspoliti-
sche Sprecherin über die Frak-
tion erreicht. Die Flugkosten
seien von dieser übernommen
worden. SVE
Migrationsabkommen
mit Georgien
ZUWANDERUNG Deutschland
und Georgien wollen bei Migra-
tion und Rückführungen enger
zusammenarbeiten. »Wir er-
möglichen die Einwanderung
von Fachkräften«, sagt Bundes-
innenministerin Nancy Faeser
(SPD), »zugleich vereinbaren
wir verbindlich, dass Menschen
ohne Bleiberecht in Deutsch-
land wieder zurückkehren.«
Anfang nächster Woche reist
Faeser zur Unterzeichnung
eines Migrationsabkommens
nach Georgien. Aktuell verhan-
delt Deutschland unter anderem
mit Moldau, Kenia, Kolumbien,
37 Jahre Arbeit für
1200 Euro Rente
ALTERSVORSORGE Durch-
schnittsverdiener müssen rech-
nerisch mehr als 27 Jahre lang
in die Rentenkasse eingezahlt
haben, um eine Altersversor-
gung zu bekommen, die höher
liegt als das Sozialhilfeniveau.
Sie müssen also insgesamt min-
destens 83.600 Euro an Beiträ-
gen bezahlt haben. Das geht aus
einer neuen Modellrechnung
des Bundessozialministeriums
hervor. Dabei wird unterstellt,
dass die Beschäftigten über ihr
Erwerbsleben hinweg genauso
viel Lohn erhalten haben wie
der Durchschnitt der Versicher-
ten. Die Grundsicherung im
Alter fällt, da sie auch die Unter-
kunftskosten berücksichtigt, je
nach Wohnort unterschiedlich
aus. Im Schnitt lag der Bedarf
Ende 2022 bei monatlich etwa
862 Euro. Wer 1200 Euro Rente
pro Monat bekommen will,
muss als Durchschnittsverdiener
also 37 Jahre und sechs Monate
lang gearbeitet und knapp
105.000 Euro an Rentenbeiträ-
gen eingezahlt haben. Für
1500 Euro Rente müsste ein
Durchschnittsverdiener knapp
47 Jahre gearbeitet und knapp
118.000 Euro in die Renten-
kasse eingezahlt haben. Tatsäch-
lich schaffen das nur die wenigs-
ten. »Lohn und Rente stehen im
Missverhältnis. Aus dem, was
die Menschen einzahlen, kommt
zu wenig raus«, so der Linken-
Bundestagsabgeordnete Sören
Pellmann. »Wir brauchen eine
große Rentenreform.« BUC
Usbekistan, Kirgisistan und Ma-
rokko über ähnliche Abkom-
men. »Menschen in Georgien
droht in aller Regel keine politi-
sche Verfolgung. Die Anerken-
nungsquote von Asylanträgen
liegt bei 0,3 Prozent«, sagt Fae-
ser. Die Vereinbarung sei »ein
weiterer Schritt zu einer wirksa-
men Begrenzung der irregulä-
ren Migration«. Nach Angaben
ihres Ressorts gab es im laufen-
den Jahr bis Ende November
8062 Asylerstanträge von Geor-
giern. Im Moment leben 7857
ausreisepflichtige Georgier in
Deutschland, 5422 davon mit
Duldung. Von Januar bis Ende
Oktober sind 1179 Georgier ab-
geschoben worden. BUC
»Einsame Jugend­ mokratische Werte und Nor­
men häufiger ablehnen und
liche lehnen eher Verschwörungstheorien
demokratische Werte anhängen.
SPIEGEL: Sie haben an der
häufiger ab« Bundesstrategie gegen Einsam­
Yvonne Wilke, 47, ist Leiterin keit mitgearbeitet. Sind Sie
des Projekts »Kompetenznetz zufrieden mit dem Ergebnis?
Einsamkeit«, das vom Bun- Wilke: Die neue Strategie ist
desministerium für Familie, eine gute Grundlage für die wei­
Senioren, Frauen und Jugend tere Arbeit, weil sie zeigt,
wo politisch gehandelt werden

Sean Gallup / Getty Images

gefördert wird und zu Einsam-
keit forscht. muss und in welche Maßnah­
men und Projekte Geld fließen
SPIEGEL: Frau Wilke, was ist sollte, auch wenn dafür nun
Einsamkeit? kein eigener Sondertopf einge­
Wilke: Wir definieren Einsam­ richtet wurde.
keit als die Diskrepanz zwi­ SPIEGEL: Es soll nun auch mehr
schen den tatsächlichen und den geforscht werden. Welche
gewünschten sozialen Bezie­ Erkenntnisse fehlen denn noch? »Ich laufe hier herum wie
hungen eines Menschen. Ein­ Wilke: Wir brauchen ein lang­
sam fühlt sich zum Beispiel, wer fristiges Monitoring, um zu wis­ ein Frosch«
sich generell mehr Kontakte sen, was Einsamkeit verstärkt
wünscht. Oder jemand, der und was es verhindert. So wis­
DER AUGENZEUGE Der Ökonom und Nachhaltigkeits­
zwar viele Kontakte hat, aber sen wir noch zu wenig über ein­
bedauert, dass diese Beziehun­ zelne Bevölkerungsgruppen wie forscher Michael Evertz, 64, ist 8862 Kilometer
gen nicht tiefer gehen. queere Menschen. Und wir von Berlin zur Klimakonferenz nach Dubai geradelt.
SPIEGEL: Wer ist besonders ge­ brauchen mehr Daten zur Wirk­
fährdet? samkeit einzelner Maßnahmen, »Ich glaube, um für die Klima­ se wunderbare Welt, in der
Wilke: Menschen, die erwerbslos um Sozialarbeiter und andere krise Aufmerksamkeit zu er­ wir leben. Ich habe hier mit
sind oder ein geringes Einkom­ Fachkräfte bei ihrer Arbeit zeugen, reichen wissenschaft­ Menschen aus der ganzen
men haben, die chronisch krank unterstützen zu können. liche Fakten nicht. Man muss Welt gesprochen, auch mit
oder körperlich beeinträchtigt SPIEGEL: Welche Länder sind emotionalisieren. Deshalb bin Regierungsvertretern. Ich
sind, und Ältere. Außerdem Al­ für Sie Vorbilder? ich zur Klimakonferenz vom hatte sogar einen Termin mit
leinerziehende und Familien mit Wilke: Alle, die für die entspre­ Brandenburger Tor in Berlin dem COP­Präsidenten, der
jungen Kindern. Während der chende Vernetzung und Infra­ aus nach Dubai mit dem mir in die Hand versprach,
Coronapandemie haben wir re­ struktur sorgen. So haben die Fahrrad gefahren. Ich bin über dass er auf unseren Planeten
gistriert, dass vor allem die Zahl Niederlande eine gemeinsame Frankreich und Österreich aufpassen werde.
einsamer Kinder und Jugend­ Plattform für Akteurinnen und den gesamten italienischen Mein Ziel war es, unter­
licher stark gestiegen ist. Akteure aus Politik, Zivilgesell­ Stiefel hinuntergeradelt, mit wegs mit so vielen Menschen
SPIEGEL: Werden wir also im­ schaft und Wirtschaft geschaf­ der Fähre nach Albanien, über wie möglich über die Klima­
mer einsamer? fen. Und Großbritannien hat Neu­Mazedonien und Grie­ krise zu sprechen. Als vollbe­
Wilke: Während der Pandemie eine eigene Einsamkeitsbeauf­ chenland bis an die Südküste packter Radfahrer ist man
gab es zwar einen starken An­ tragte eingesetzt. Hier in der Türkei. Von dort nahm ich immer noch etwas Besonderes.
stieg von 14,2 Prozent der be­ Deutschland macht es Stuttgart eine Frachtfähre in den Liba­ Da entsteht so ein mystisches
fragten Menschen im Jahr 2017 mit der Initiative »Gemeinsam non – 95 Trucker und ich. Ich Vertrauensverhältnis – mit
auf 42,3 Prozent im Jahr 2021. – ZusammenHalt finden« bei­ radelte durch Südsyrien nach wissenschaftlichen Fakten er­
Bei Kindern und Jugendlichen spielsweise sehr gut. Jordanien und von dort nach reicht man die Menschen nicht
lag die Zahl mit 48 Prozent so­ SPIEGEL: Wo können sich Ein­ Saudi­Arabien. Da ist mir auf diese Art. In Jordanien traf
gar noch höher, aber sie ist in­ same Hilfe suchen? in der Wüste in einem Sand­ ich die Prinzessin Rym Ali,
zwischen tendenziell rückläufig. Wilke: Zum Beispiel beim »Sil­ sturm mein Zelt weggeflogen, die mir sagte, wenn ich in der
SPIEGEL: Wann ist Einsamkeit bernetz« für ältere Menschen, zum Glück erst morgens arabischen Welt Probleme
gefährlich? die sich einsam fühlen. Und für beim Zusammenpacken. Ich bekäme, solle ich mich melden.
Wilke: Wenn sie über einen län­ Jugendliche beim Krisenchat war 222 Tage unterwegs, Ihre Nummer habe ich zwar
geren Zeitraum, also etwa zwei oder bei der »Nummer­gegen­ insgesamt 8862 Kilometer. nicht – so schnell kriegt man
Jahre, anhält. Bei älteren Men­ Kummer«. Gerade zur Weih­ Hier auf der Klimakonfe­ die Handynummer einer Prin­
schen wirken sich häufig schon nachtszeit gibt es auch noch spe­ renz laufe ich herum wie zessin nicht –, aber ich kann
kurze Phasen der Einsamkeit zielle Angebote, wie die Initiati­ ein Frosch in meinem grünen sie über einen Kontakt er­
aus. Chronische Einsamkeit ve »Keine(r)BleibtAllein«. SV Radlertrikot und mit dem reichen. Das beeindruckendste
wirkt sich auf die Gesundheit Fahrradhelm auf dem Kopf, Erlebnis war die Begegnung
aus. Wir beobachten mehr damit die Leute auf mich auf­ mit einem achtjährigen Jungen
Herz­Kreislauf­Erkrankungen merksam werden. Das Rad in Saudi­Arabien, der mir
und Diabetes, Demenzerkran­ darf ich leider nicht mit aufs eine Rose in die Hand drückte
kungen können sich verschlech­ Gelände nehmen. Viele, und sich für das bedankte,
Yvonne Wilke / KNA

tern, Depressionen stärker wer­ mit denen ich spreche, sind was ich tue. Das hat mich total
den, Suizidgedanken auftau­ total geflasht, dass man so weggebeamt.«
chen. Studien zeigen außerdem, viel Energie aufbringt für die­ Aufgezeichnet von Hannes Schrader
dass einsame Jugendliche de­

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 29

DEUTSCHLAND

1 2

[M] Lea Rossa / DER SPIEGEL; Fotos: Kay Niet feld / AFP, FBI (2)
3

1 | Bundeskanzler Scholz 2 | Staatspräsident Xi 3 | In den USA angeklagte chinesische Cyberhacker

»Russland ist der Sturm,

China der Klimawandel«
GEHEIMDIENSTE China hackt in Deutschland Computer von Firmen und Behörden, verbreitet Desinformation,
späht Dissidenten aus – und nimmt massiv Einfluss auf die Politik.

30 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


o anfangen? Vielleicht mit den beiden
W Pandas, Meng Meng und Jiao Qing.
So süß! Vor sechs Jahren übergab
der chinesische Staatspräsident Xi Jinping sie
dem Berliner Zoo. Die Bären seien »Bot-
schafter« der guten Beziehungen zwischen
ihren Ländern, sagte Xi zu Angela Merkel.
Die damalige Kanzlerin strahlte, »sehr sym-
pathische Diplomaten« seien die zwei Pan-
das. Hach!
Oder vielleicht noch etwas länger zurück,
ins Jahr 2014? Großer Bahnhof am Duisbur-
ger Hafen. Xi war da, neben ihm der damalige
Vizekanzler Sigmar Gabriel. Freudig warteten
sie auf einen Güterzug aus Chongqing, der
nach 10.300 Kilometern in Duisburg das Ende
der »Neuen Seidenstraße« erreichte.
»China-Stadt« nannte sich Duisburg fort-
an. Der Telekommunikationsriese Huawei
sollte die heruntergewirtschaftete Stadt im
Ruhrpott zur hochvernetzten »Smart City«
machen und den Bürgern ein »glückliches und
erfolgreiches Leben« ermöglichen, so stand
es in einer Vereinbarung mit den Chinesen.
Was für Zeiten.
So viel Hoffnung.
So viel Naivität.
Und heute?
Duisburg hat sich von den Smart-City-
Träumen verabschiedet. In Berlin will Innen-
ministerin Nancy Faeser (SPD) den Anteil
chinesischer Technik im deutschen Mobil-
funknetz drastisch verringern – aus Angst vor
möglicher Sabotage. Für die Bundesregierung
ist das kommunistisch regierte Land nun
zunehmend ein »systemischer Rivale«. Kanz-
ler Olaf Scholz (SPD) spricht von notwen-
diger Risikominimierung, Außenministerin
Annalena Baerbock (Grüne) nannte Xi kürz-
lich einen »Diktator«.
In den deutschen Geheimdiensten macht
man sich schon lange keine Illusionen mehr
über den Machthunger und die zunehmende
Feindseligkeit der Kommunistischen Partei
Chinas gegenüber dem Westen. Wladimir
Putins Krieg gegen die Ukraine mag akut die
vordringlichste Sorge für Europa sein. Auf
lange Sicht aber drohe die größte Bedrohung
aus China. »Russland ist der Sturm«, sagt Ver-
fassungsschutzchef Thomas Haldenwang,
»China ist der Klimawandel.«
Recherchen des SPIEGEL belegen nun
schwarz auf weiß, wie chinesische Spione
europäische Politiker angeworben haben (sie-
he Seite 34). Aus Hunderten Textnachrichten
eines Geheimdienstoffiziers des chinesischen
Ministeriums für Staatssicherheit mit dem
mutmaßlichen Tarnnamen Daniel Woo geht
hervor, wie das kommunistische Regime par-
lamentarische Initiativen in Belgien und
Deutschland in Auftrag gab – mit Erfolg.
Es ist ein eindrucksvoller Nachweis für
Chinas schamloses Agieren in Europa, seinen
Versuch, selbst bis in die Herzkammern der
Demokratie einzudringen, um Einfluss zu
nehmen. Die Recherchen erlauben einen sel-
tenen Blick hinter die Kulissen des mächtigen
chinesischen Geheimdienstapparats.
»Die Kommunistische Partei
nutzt die Schwächen der
demokratischen Systeme.«
Mareike Ohlberg, Chinaexpertin
Seitdem Xi 2012 die Macht in China über-
nommen hatte, baute er den ohnehin schon
üppigen Sicherheitsapparat nochmals massiv
aus. Neue Gesetze geben den Behörden nahe-
zu freie Hand bei der Überwachung.
In den Städten der Volksrepublik hängen
inzwischen Millionen Kameras. »Himmels-
netz« nennt die Propaganda diesen orwellschen
Albtraum. Alles und jeder wird ständig gefilmt,
Nachrichten im weitverbreiteten Messenger-
dienst WeChat analysiert, Demonstranten per
automatischer Gesichtserkennung identifiziert.
Bis 2049, zum 100. Geburtstag der Volks-
republik, will Xi Jinping das Land mit seinen
1,4 Milliarden Einwohnern zur Supermacht
ausgebaut haben, technisch und militärisch
ebenbürtig mit den USA, wenn nicht über-
legen. China soll seinen angestammten Platz
im Zentrum des Weltgeschehens zurücker-
obern, Xi nennt das den chinesischen Traum.
Auf dem Weg dorthin scheint fast jedes
Mittel recht.
Der Werkzeugkasten der chinesischen Ge-
heimdienste ist prall gefüllt. So beschränkt
sich die Unterdrückung von Dissidenten und
Minderheiten wie den Uiguren laut Verfas-
sungsschutz längst nicht mehr auf das eigene
Land. Auch in Deutschland lebende Regime-
Digitale Attacken
Von einem Staat ausgehende oder mit einem
Staat verbundene Cyberangriffe weltweit, 2000
bis 2023, nach Herkunftsland
China
240
Russland
158
Iran
102
Nordkorea
74
USA
45
Türkei
43
Pakistan
40
Indien
30
Syrien
27
Vereinigtes Königreich
15
sonstige Staaten
233
S Quelle: Merics, Stand: November 2023
◆
DEUTSCHLAND
kritiker stünden im Visier des chinesischen
Sicherheitsapparats. Um sie einzuschüchtern,
würden mitunter deren Angehörige zu Hau-
se gezielt unter Druck gesetzt. Das Ziel der
Kommunisten: die »Kontrolle und Steuerung
der Diaspora«.
Daneben versuchten Chinas Spione, so ana-
lysiert der Verfassungsschutz, in großem Stil
an Zukunfts-Know-how zu gelangen: Quanten-
technologie, künstliche Intelligenz, Hyper-
schalltechnik, Biotechnologie, vieles davon ist
auch militärisch nutzbar. Firmenübernahmen
in Deutschland dienten dem übergeordneten
strategischen Ziel, China im weltweiten Wett-
bewerb einen Vorteil zu verschaffen.
Chinesische Cyberangriffe richteten sich
nicht nur gegen Unternehmen, sondern zu-
nehmend auch gegen die Politik, heißt es. Aus
der Botschaft und den Konsulaten heraus
knüpften Chinas Diplomaten und Agenten
breite Kontaktnetzwerke. Aktive und ehe-
malige deutsche Politiker sollen für die Inte-
ressen des Landes eingespannt werden.
Es klingt nach einem groß angelegten An-
griff auf die Bundesrepublik. »Die Kommu-
nistische Partei Chinas«, so warnt die deut-
sche Sinologin Mareike Ohlberg vom German
Marshall Fund in Berlin, »nutzt gezielt die
Schwächen der demokratischen Systeme, um
diese zu untergraben.«
Chinas Spione und Hacker gehen geräusch-
ärmer vor als die russischen. Weniger bra-
chial, aber mindestens so wirksam. Abtrün-
nige in Großbritannien zu vergiften oder
Staatsfeinde in einem Berliner Park zu er-
schießen, wie Russlands staatliche Killer,
käme für die chinesischen Geheimdienste
kaum infrage. Auch verzichten ihre Staats-
Hacker auf Knalleffekte wie das Veröffent-
lichen kompromittierender E-Mails westlicher
Politiker im Wahlkampf, wie Putins Digital-
krieger es mehrfach taten.
Die Cyberspione der Volksrepublik drin-
gen lautlos in ihre Zielsysteme vor, nisten sich
dort über Jahre ein und saugen unauffällig
nach und nach sensible Informationen ab.
Diese langfristigen Zugänge könnten in Zu-
kunft auch für zerstörerische Zwecke einge-
setzt werden, etwa zur Sabotage kritischer In-
frastruktur, warnt die Sicherheitsexpertin
Antonia Hmaidi in einer aktuellen Studie für
Merics, die renommierteste Denkfabrik zu
China in Deutschland. In US-Stromversor-
gungsnetzen seien bereits chinesische Schlä-
fer-Schadcodes festgestellt worden.
Zu den Opfern chinesischer Cyberangriffe
gehören zahlreiche DAX-Konzerne wie BASF
und Daimler sowie nach SPIEGEL -Informa-
tionen mindestens ein deutscher Halbleiter-
hersteller.
Zuletzt erklärten rund 730 von mehr als
1000 befragten Unternehmen, sie seien im
vergangenen Jahr Opfer von Cyberattacken
geworden. 42 Prozent identifizierten mindes-
tens einen Angriff aus China. Viele der Aus-
spähziele stimmten mit den »strategischen
Zielen der chinesischen Regierung« überein,
heißt es in der Merics-Studie. Das Fazit der
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 31
DEUTSCHLAND
Denkfabrik: Die Hackerangriffe seien
»ein Risiko für Europas langfristigen
Wohlstand«.
Schon der chinesische Militärstra-
tege Sun Tzu wusste vor 2500 Jahren,
wie wichtig Spione für die »Kunst des
Krieges« sind: »Wenn du den Feind
und dich selbst kennst, brauchst du
den Ausgang von 100 Schlachten
nicht zu fürchten.« Chinas heutiger
Herrscher Xi verfügt über Heerscha-
ren an Spionen. Sein Geheimdienst-
apparat sei mit Hunderttausenden
Hauptamtlichen »nahezu sicher der
größte der Welt«, befand ein Gre-
mium des britischen Parlaments.
Dazu kommen wohl Abertausende
Auslandschinesen, Gastwissenschaft-
lerinnen, Studenten und Geschäfts-
leute, die sich im Westen als Informa-
tionszuträger verdingen – oder vom
chinesischen Sicherheitsapparat zur
Spitzelei genötigt werden.
Ein 2017 in Kraft getretenes Ge-
heimdienstgesetz räumt den chinesi-
schen Behörden das Recht ein, »von
den zuständigen Organen, Organisa-
tionen und Bürgern die erforderliche
Unterstützung, Hilfe und Zusammen-
arbeit zu verlangen«. Der Staat kann
also jeden Chinesen und jedes chine-
sische Unternehmen zur Kooperation
mit den Geheimdiensten verpflichten.
Es ist die Lizenz zum grenzenlosen
Schnüffeln.
Nun ist selbstverständlich nicht
jede Studentin und jeder Student aus
China ein Spitzel. Und doch warnt
der bayerische Verfassungsschutz vor
Naivität. Problematisch sieht das
Landesamt vor allem die Stipendien
des staatlichen China Scholarship
Council (CSC), über das bereits etwa
5000 Studierende und Doktoranden
nach Deutschland gekommen sind.
Teilnehmer müssen sich schriftlich
zur Treue gegenüber China und der
Kommunistischen Partei verpflichten,
ständig Kontakt zur Botschaft halten
und deren Anweisungen Folge leisten.
Laut Bayerns Verfassungsschutz-
chef Burkhard Körner müssen die
Stipendiaten regelmäßig Berichte ein-
reichen. Darin sollen sie nicht nur
über ihre Gastuniversitäten und ihren
Studienfortschritt berichten, so Kör-
ner: »Von ihnen kann auch verlangt
werden, Informationen über die chi-
nesische Exilgemeinde, Dissidenten
und Minderheiten wie die Uiguren zu
liefern.« Körner empfiehlt den Uni-
versitäten, bei der Zulassung von
CSC-Gaststipendiaten vorsichtig zu
sein. »Das Risiko ist real.«
In den USA gilt China schon lange
als »die größte Spionagebedrohung«.
So formulierte es bereits 2005 die Bun-
despolizei FBI. Inzwischen betreibt
32 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
1 3
1 | Außenministerin die Behörde die Website »The China
Baerbock 2 | Mit­ Threat«, alle zwölf Stunden eröffnet
arbeiter einer Cyber­
einheit in China das FBI einen neuen Spionagefall.
3 | Botschaft der In den vergangenen zwei Jahrzehn-
Volksrepublik ten stahlen chinesische Agenten in den
China in Berlin USA alles, was nicht niet- und nagel-
fest war. Das Center for Strategic and
International Studies listet 224 Fälle
zwischen 2000 und 2023 auf, die Dun-
kelziffer ist erheblich. Die Chinesen
entwendeten Informationen über den
Spaceshuttle, Saatgut von Monsanto,
E-Mails aus dem Weißen Haus, 614
Gigabyte über eine Überschall-Anti-
U-Boot-Rakete, Apple-Geschäftsge-
heimnisse zu selbstfahrenden Autos,
sensible Daten von vier Millionen
Bundesbeamten und vieles mehr.
Der Raubzug findet zunehmend
digital statt. China betreibe das um-
fassendste Hackingprogramm aller
Staaten weltweit, klagte FBI-Chef
Christopher Wray Ende Oktober bei
einem Auftritt im Silicon Valley. Der
Anlass war ungewöhnlich: Erstmals
traten Geheimdienstchefs aller »Five
Eyes«-Staaten gemeinsam vor die
Presse, aus den USA, Kanada, Groß-
britannien, Australien und Neusee-
land. Ihr Signal: Die Lage in Bezug
auf China sei ernster denn je.
Das US-Justizministerium hat in-
zwischen eine Reihe mutmaßlicher
chinesischer Hacker in Staatsdiensten
angeklagt. Beim FBI kann man sich
durch »Wanted«-Poster mit den Kon-
terfeis junger Männer und Frauen
scrollen, die im Auftrag des chinesi-
schen Ministeriums für Staatssicher-
heit oder der Volksbefreiungsarmee
Unternehmen, Behörden und For-
[M] Lea Rossa / DER SPIEGEL; Fotos: Sören Stache / dpa, Wolfgang Kumm / dpa
2
schungseinrichtungen angegriffen
haben sollen. Auch Fotos und Namen
chinesischer Beamtinnen und Beam-
ten, die das weltweite Netz mit Fake
News geflutet und Dissidenten im
Westen digital verfolgt haben sollen,
finden sich dort.
Die »Naming & Shaming«-Strategie
der USA soll abschreckend wirken –
doch bisher scheint sie nicht zu klap-
pen. Im Gegenteil: Die chinesischen
Cybergruppierungen haben sich wei-
terentwickelt und professionalisiert.
Die amerikanische IT-Sicherheits-
firma Mandiant ordnet 29 »Advanced
Persistent Threat«-Gruppierungen –
so bezeichnen Experten die gefähr-
lichsten Cyberakteure – chinesischen
Verantwortlichen zu. Auch die Me-
thoden wurden verfeinert: Jahrelang
waren chinesische Angreifer für ein-
fache Phishing-Kampagnen bekannt,
bei denen Schadsoftware auf Rech-
nern installiert wird, sobald der Nut-
zer etwa einen Link in einer E-Mail
öffnet. Heute aber nutzen chinesische
Gruppierungen unter anderem
Schwachstellen in Webservern und
betreiben einen großen Aufwand, um
ihre Spuren zu verschleiern.
Auch in Deutschland hätte man
früher bemerken können, dass China
nicht so harmlos ist wie die Panda-
bären im Berliner Zoo.
‣ 2009 flog im bayerischen Kolber-
moor ein chinesischer Industriespion
auf. Bei einer Werksbesichtigung hat-
te er mit einer Minikamera, die aus
der Hosentasche lugte, heimlich die
Innovationen eines Faserbeton-Spe-
zialisten aufgezeichnet. Firmenmit-

arbeitern fiel die Spähaktion auf, sie riefen
die Polizei. Der Chinese erhielt anderthalb
Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung.
‣ 2011 verurteilte ein Gericht in München
einen Chinesen wegen Agententätigkeit. Ein
als Mitarbeiter des Generalkonsulats getarn-
ter Geheimdienstmann hatte ihn angeworben,
den Weltkongress der Uiguren in München
auszuspähen. Dessen Funktionäre sind für
Peking Staatsfeinde. Bei klandestinen Treffs
in Cafés, U-Bahn-Stationen oder dem Nym-
phenburger Schlosspark lieferte er seinem
Führungsoffizier die erwünschten Informa-
tionen – der Verfassungsschutz ertappte sie.
‣ Die Universität Duisburg-Essen hatte 2008
einen chinesischen Gastprofessor zu Besuch,
monatelang konnte er sich deutsche Inge-
nieurskunst aneignen. Erst zehn Jahre später
fand die Uni heraus, dass der Mann General-
major der Volksbefreiungsarmee war. In sei-
ner Heimat leitete er ein Militärlabor für Ra-
ketentests und Steuerungstechnik.
‣ 2021 verurteilte ein Gericht ein deutsches
Ehepaar wegen Spionage zu Bewährungs-
strafen. Die Professorin galt als Expertin für
Südasien, er arbeitete lange für die CSU-nahe
Hanns-Seidel-Stiftung, später gründete er
eine Denkfabrik. Das Paar war bei einer
Vortragsreise in Shanghai 2010 angeworben
worden. Neun Jahre lang lieferten die beiden
dem chinesischen Geheimdienst Informatio-
nen vor oder nach Staatsbesuchen oder multi-
nationalen Konferenzen.
Doch in der öffentlichen Wahrnehmung
segelt die Spionagegefahr aus China immer
noch im Windschatten anderer Mächte. Spä-
testens seit dem Überfall auf die Ukraine im
Februar 2022 richten sich fast alle Augen auf
Russland. Der CDU-Menschenrechtspolitiker
Michael Brand aber sagt: »Das totalitäre und
aggressive China ist die größte Bedrohung des
21. Jahrhunderts.«
Wenige Exilchinesen, die den langen Arm
Pekings bis nach Deutschland spüren, sind
bereit, offen zu reden. Aus Angst, die Repres-
sion anzufachen.
Su Yutong aber redet. Über die Männer,
die in Berlin vor ihrer Tür standen und mit
ihr ins Bett wollten, nachdem jemand eine
gefälschte Annonce ins Netz gestellt hatte, in
der sie Sex anbot. Über die Polizisten, die
plötzlich bei ihrer Familie in Peking auftauch-
ten, nachdem sie in Deutschland eine Demo
gegen die Kommunistische Partei besucht
hatte. Über die Telegram-Nachrichten, in der
ihr jemand viel Geld für ihr Schweigen zu
kritischen Themen anbot und sich angeblich
als chinesischer Staatsdiener vorstellte.
Su, 47, ist Journalistin. 2010 floh sie nach
Deutschland, ihre kritischen Berichte und ihr
Engagement für Menschenrechte hatten sie
auf den Radar der Behörden gebracht. Heute
schreibt sie für das US-Medium Radio Free
Asia – und hat fast alle Spielarten der Re-
pression erlebt.
Mal seien es Morddrohungen per Handy-
nachricht, dann ominöse Hotelbuchungen in
ihrem Namen, die sie nie getätigt habe. Erst
DEUTSCHLAND
»Das Fertigmachen von dass Deutschland hier öffentlich Stopp sagt.«
Eine solche Stelle wünschen sich auch der
Dissidenten breitet sich aus Uiguren-Weltkongress, die Tibet-Initiative
wie ein Krebsgeschwür.« und der Menschenrechtsverein Freiheit für
Hongkong von der Politik.
Michael Brand, CDU-Bundestagsabgeordneter In einem Bericht listen die NGOs zehn Fäl-
le auf, in denen Aktivisten oder ihre Angehö-
rige in China unter Druck gesetzt worden
kürzlich habe ihr jemand über soziale Medien seien. Die deutschen Sicherheitsbehörden, so
geschrieben, dass er ihr »Gehirn wegballern« beklagen die Aktivisten, seien überfordert,
und ihre ganze Familie töten wolle, erzählt oft fehle es an Sprachkenntnissen und Wissen
sie dem SPIEGEL . Wer dahintersteckt, lässt über das Vorgehen Pekings. Der Titel ihres
sich nicht final nachweisen, die chinesische Papiers: »Chinas Terror in Deutschland«.
Botschaft bestreitet jede staatliche Betei- Auch CDU-Mann Brand hat schon irritie-
ligung. Aber Dimension und Ausdauer der rende Erfahrungen gemacht. Im September
Repression lassen nach Einschätzung von Ex- 2020 war er zu Gast im »heute journal« und
perten kaum Zweifel daran, dass es sich um warnte vor dem aggressiven Kurs der Kom-
eine institutionalisierte Kampagne handelt. munisten. In den Tagen danach spielte plötz-
Auch Tenzyn Zöchbauer berichtet von selt- lich sein Handy verrückt. Er meldete den Vor-
samen Vorgängen. Sie ist Geschäftsführerin gang den Sicherheitsbehörden, die ihm ge-
des Vereins Tibet-Initiative Deutschland, ihre raten hätten, das Mobiltelefon zu schreddern.
Familie floh vor Jahrzehnten nach Europa. In An Zufall will Brand nicht glauben: »Das war
Berlin hat sie vor einigen Monaten einen pro- ein Versuch, einen Abgeordneten mit einem
minenten Chinesen kennengelernt, der sich Hackerangriff einzuschüchtern.«
für das einst eigenständige Tibet einsetzt. Zu Wie dreist die Volksrepublik agiert, zeigt
seinem Schutz soll er hier Chen heißen. das Netz informeller »Übersee-Polizeistatio-
Nachdem Chen abgereist war, meldete er nen«, die China in mehr als 50 Staaten welt-
sich unerwartet per Telegram-Nachricht bei weit eingerichtet hat – auch in Deutschland.
der Aktivistin. Ob er sie um »einen kleinen Berichte einer NGO brachten 2022 das Aus-
Gefallen« bitten dürfe? Sein Account sei ein- maß ans Licht.
geschränkt worden. Sie könne ihm helfen, ihn Nach offizieller chinesischer Lesart sollen
zu entsperren, indem sie einen angehängten die Einrichtungen lediglich dazu dienen, Aus-
Link anklicke. Zöchbauer fand heraus, dass landschinesen bei bürokratischen Problemen
Chen nichts mit der Nachricht zu tun hatte. zu helfen. Der Verfassungsschutz warnt, sie
Jemand hatte sein Profil gehackt. Das An- könnten zur »Ausspähung und Beeinflussung
klicken des Links hätte dem Angreifer Zugriff der chinesischen Diaspora« genutzt werden.
auf Zöchbauers Telegram-Konto gegeben, Als Ansprechpartner solcher »Polizeista-
inklusive ihrer Kontakte zu Exiltibetern und tionen« in Deutschland wurden auf chinesi-
Regimegegnern. schen Websites eine Handvoll Geschäftsleute
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Brand genannt. Etwa der langjährige Betreiber eines
spricht von einer »breit angelegten Strategie«. Chinarestaurants in Berlin-Mitte. Wer den
Er sagt: »Das Fertigmachen von Dissidenten Mann heute anruft, bekommt eine schroffe
breitet sich aus wie ein Krebsgeschwür.« Abfuhr: »Sie stören mich, ich habe keine Zeit
Brand fordert, dass die deutschen Behörden für Sie.«
eine zentrale Anlaufstelle für derartige Fälle Der Zuständige für eine angebliche »Poli-
einrichten, samt einer Hotline, an die sich zeistation« im Münchner Umland spricht am
Betroffene wenden können. »Es wird Zeit, Telefon von einem großen Missverständnis.
Er habe lediglich in Bayern lebenden Chinesen
während der Pandemie helfen wollen, ihren
Führerschein zu verlängern, Reisen sei damals
kaum möglich gewesen. Mehr sei da nicht ge-
wesen. Und der Verdacht der Spitzelei und
Einflussnahme? »Woher soll ich die Zeit neh-
[M] Lea Rossa / DER SPIEGEL; Foto: Tibet Initiative Deutschland e.V.
men? Ich arbeite Tag und Nacht. Denken Sie,
ich mache ein Restaurant auf, um meine Gäs-
te oder Mitbürger auszuspionieren?«
Strafrechtliche Folgen hatten die Vorgänge
in Deutschland bislang keine. Anders in den
USA: Dort nahm das FBI zwei Männer fest,
die heimlich Informationen über einen chi-
nesischstämmigen Bürgerrechtler gesammelt
haben sollen. Ihre »Übersee-Polizeistation«
betrieben sie in einem Bürogebäude auf dem
East Broadway. Mitten in New York City.
Maik Baumgärtner, Cornelius Dieckmann, Georg
Fahrion, Christoph Giesen, Roman Höfner, Roman
Tibetaktivistin Zöchbauer Lehberger, Ann-Katrin Müller, Marcel Rosenbach,
Fidelius Schmid, Wolf Wiedmann-Schmidt n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 33
DEUTSCHLAND

[M] Lea Rossa / DER SPIEGEL; Fotos: Imago, Paul Langrock / laif, Tyrone Siu / Reuters
1 3

1 | AfD-Bundestagsabgeordneter Keuter 2 | Protestierende in Hongkong 2019 3 | Reichstagsgebäude in Berlin

Alternative für China

AGENTEN Interne Chats offenbaren, wie der chinesische Geheimdienst europäische Rechtsaußenparteien
einspannt – um westliche Gesellschaften zu spalten. Spuren führen auch zur AfD.

eutschland quälte sich gerade durch
D den zweiten Lockdown, als Stefan
Keuter, Bundestagsabgeordneter der
AfD, eine Kleine Anfrage an die Bundesre-
gierung richtete. Die Menschen redeten im
Frühjahr 2021 übers Impfen, über Schul-
schließungen und Kontaktbeschränkungen,
die Coronapandemie hatte das Land fest im
Griff.
Den AfD-Politiker aber trieb etwas ande-
res um – eine angebliche Flüchtlingswelle aus
Hongkong. Möglicherweise drängten gewalt-
bereite Aktivisten ins Land, schrieb er in der
Kleinen Anfrage, sie würden von dubiosen
Organisationen unterstützt.
Keuters Besorgnis war erstaunlich. Von
Januar 2016 bis Ende April 2021 hatte es nur
acht Asylanträge aus Hongkong gegeben, vier
wurden positiv beschieden. Und wenn ein
Demokratieaktivist wie Joshua Wong ein-
reiste, gab er friedlich Interviews und plausch-
te auf einer Party im Reichstagsgebäude mit
dem damaligen Außenminister Heiko Maas.
Glaubte Keuter wirklich, einem drängenden
Problem auf der Spur zu sein?
Die Antwort auf diese Frage findet sich
womöglich in Hunderten vertraulichen Chat-
nachrichten, die dem SPIEGEL vorliegen. Sie
stammen von einem chinesischen Geheim-
dienstmann, der mit einem seiner Handlanger
und Zuträger in Europa kommunizierte. Die
Nachrichten legen nahe, dass Keuter nicht
selbst auf die Idee gekommen war, die Kleine
Anfrage zu stellen – sondern mutmaßlich im
Auftrag einer fremden Macht agiert hat, für die
die Demokratiebewegung in Hongkong tat-
sächlich ein drängendes Problem war: China.
»Voriges Jahr haben wir Druck auf die
deutsche Regierung ausgeübt, um ihre Gewalt
und ihre Einwanderungsziele zu zeigen«,
schrieb ein chinesischer Agent mit Verweis
auf die Regimekritiker in einer dieser Chat-
nachrichten an seinen Helfer in Europa und
schickte einen Link zu der AfD-Anfrage mit.
Der Mitarbeiter des chinesischen Ministe-

34 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


riums für Staatssicherheit (MSS)
prahlte geradezu damit, die deutsche
Bundesregierung mit dieser Anfrage
genervt zu haben.
Die verräterischen Chats umfassen
einen jahrelangen Austausch zwi-
schen dem chinesischen MSS-Agenten
und einem bekannten Rechtsaußen-
politiker in Belgien. Die Nachrichten
aus dem Zeitraum von Juni 2019 bis
November 2022 liefern einen einzig-
artigen Einblick in die verborgene
Welt von Chinas wichtigstem Ge-
heimdienst – und dessen Operationen
in Europa. Die Chats wurden von
einer westlichen Sicherheitsbehörde
gesammelt und liegen dem SPIEGEL
vor, der sie gemeinsam mit der briti-
schen »Financial Times« und der fran-
zösischen Tageszeitung »Le Monde«
ausgewertet hat.
Aus den Chats geht hervor, dass
die Chinesen das Nachrichtenumfeld
des Besuchs von Kanzler Olaf Scholz
bei Chinas Präsident Xi Jinping im
November 2022 manipulieren woll-
ten. Sie bitten ihren europäischen
Handlanger um Schützenhilfe dabei,
den Ruf eines chinakritischen deut-
schen Wissenschaftlers zu zerstören.
Sie diskutieren Aufträge vom Kongo
über den Vatikan bis zu Störaktionen
im EU-Parlament.
Vor allem aber belegen die Nach-
richten, dass China die extrem rechten
Parteien Europas als Einfallstor sieht
und einzelne Protagonisten erfolg-
reich angeworben hat. Mehrfach spre-
chen der Geheimdienstoffizier und
sein Gegenüber von »unseren Abge-
ordneten«, mal bezogen auf das Euro-
päische Parlament, mal auf den Bun-
destag. Immer geht es dabei um Poli-
tiker vom rechten Rand.
Die Aufträge des MSS-Agenten
sind unmissverständlich. »Können
wir das hier in Flandern kopieren –
oder auf Bundesebene?«, fragt er den
belgischen Politiker mit Verweis auf
die Kleine Anfrage der AfD.
Kleine Anfragen sind ein Instru-
ment der parlamentarischen Kontrolle,
sie gehören zu den Waffen der Oppo-
sition. Ebnen ausgerechnet die angeb-
lichen Patrioten der AfD Geheim-
diensten fremder Mächte den Weg ins
deutsche Parlament? Es wäre eine
besondere Form von Landesverrat,
die schriftlich vorliegenden Chatnach-
richten untermauern diesen Verdacht.
Deutsche und internationale Nach-
richtendienste warnen seit Jahren
davor, dass feindliche Geheimdienste
demokratische Prozesse unterwan-
dern. Bislang wurden vor allem rus-
sische Operationen bekannt – wie
etwa 2019, als der SPIEGEL ein Stra-
tegiepapier aus dem Moskauer Macht-
apparat enthüllte. Darin wurde der
AfD-Mann Markus Frohnmaier als
»unter absoluter Kontrolle« der Rus-
sen eingeschätzt, was dieser bestritt.
Im Visier der Akteure waren schon
damals europäische Rechtsaußen, die
sich als anfällig entpuppten, als willige
Helfer.
Die Chats des chinesischen MSS-
Agenten legen nahe, dass China die-
se Strategie kopiert – und dafür auf
die Methoden und teilweise auch die
Ansprechpartner der Russen setzt.
Die Protagonisten in diesem Lehr-
stück aus der Schattenwelt sind ein
chinesischer Geheimagent, der sich
Daniel Woo nennt, und sein bezahlter
Zuträger, der belgische Ex-Parla-
mentarier Frank Creyelman, Politiker
des Vlaams Belang (VB), einer rechts-
extremen Partei in Belgien.
Der SPIEGEL und seine Recherche-
partner haben die Inhalte der Chats
geprüft, mit Experten und Vertretern
von Sicherheitsbehörden mehrerer
Länder gesprochen und die zahlrei-
chen darin genannten Personen aus-
führlich konfrontiert. Die Rolle Woos
und seiner Dienststelle ließen sich da-
bei unabhängig durch mehrere Quel-
len verifizieren – ebenso seine Kon-
takte ins Umfeld der AfD im Bundes-
tag. Auch Woos Beziehung zu dem
belgischen Politiker ist in Sicherheits-
kreisen mehrerer Länder bekannt.
Per Messenger erteilte der Chinese
seinem belgischen Gegenüber immer
wieder Aufträge: Mal sollte Creyel-
man ein Profil des 2019 ernannten
Präsidenten des Europäischen Rats,
Charles Michel, erstellen, ebenfalls
ein Belgier (»politische Ansichten,
Persönlichkeit, Hobbys und Sicht auf
unser Land«). Ein anderes Mal eine
geplante Pro-Taiwan-Veranstaltung
im Europäischen Parlament verhin-
dern oder stören.
Der Ton des Austausches ist freund-
lich, zuweilen herzlich. Zwischen neu-
en Spionageaufträgen geht es auch um
Themen wie das Wetter oder den Pan-
demieverlauf – und oft um Geld. Der
Chinese bietet es routinemäßig an. Es
handle sich um »eine bezahlte Mis-
sion«, schreibt er etwa, oder dass er
»Mittel« für einen neuen Auftrag
habe. Mal sind es 6000, mal 10.000
Euro. Woo nennt den eifrigen Belgier
»meinen lieben Freund« und meldet
sich mit Grüßen zu Feiertagen.
Immer wieder geht es zwischen
den beiden auch um Deutschland: um
Ansprechpartner in der AfD, um
deutsche Medien, in denen Beiträge
lanciert werden sollen – und um jene
Anfrage der AfD, die nun als Blau-
pause für eine ähnliche Aktion in Bel-
gien dienen soll.
DEUTSCHLAND
»Sicher«, schreibt Frank Creyel-
man eilfertig auf die Frage, ob er die
AfD-Aktion in seinem Heimatland
wiederholen könne. »Ich werde mit
meinem Bruder am Sonntag darüber
reden.«
Creyelman, 62, ist ein alter Fah-
rensmann der rechtsextremen flä-
mischen Separatistenpartei Vlaams
Belang (»Flämische Interessen«). Bis
2014 war er Abgeordneter des flämi-
schen Parlaments, zeitweise Vorsit-
zender des Außenausschusses. Seit
1995 ist er zudem Gemeinderat der
Stadt Mechelen und international viel
unterwegs. Er sei ein Vielreisender,
Chatauszüge I:
schreibt er beim Kurznachrichten-
Rekrutierung neuer dienst X, flankiert von einem Emoji
Quellen mit Sonnenbrille. In der europäischen
Rechten ist er gut vernetzt. Im vori-
Woo: Meine gen Herbst war er für eine Veranstal-
Idee ist es, eine tung des österreichischen Ex-Vize-
Zielperson
festzumachen, kanzlers Heinz-Christian Strache in
dann denken wir Wien als Gast angekündigt, neben der
zusammen AfD-Abgeordneten Christina Baum.
darüber nach, Creyelmans Bruder Steven, 51,
wie wir sie in
unsere Koopera­ sollte nicht nur mit der Anfrage ans
tion herein­ belgische Parlament helfen. Er sitzt
ziehen. So wie als belgischer Parlamentarier im Ver-
wir es schon teidigungs- und Gesundheitsausschuss
gemacht haben.
sowie in einer Kommission, die für die
Beschaffung von Rüstungsgütern ver-
Creyelman: antwortlich ist. Frank verspricht sei-
Klar, ich kann Dir nem chinesischen Auftraggeber in den
ein paar Leute Chats immer wieder, den Bruder für
präsentieren.
Wie machen wir die chinesischen Anliegen einzuspan-
weiter? nen. Eine allzu hohe Meinung hat er
anscheinend nicht von ihm: »Mein
Woo: Früher Bruder ist tatsächlich zu weich, aber
haben wir Dich er kann überzeugt werden. Er ist nur
gebeten, eine nicht aktiv genug«, schreibt er dem
Quelle wie chinesischen Agenten.
Martin Selmayr
anzuwerben. Die Aufträge Woos wirken wie aus
einem Handbuch der geheimdienst-
lichen Einflussmethoden, mehrfach
Creyelman: Das erklärt er seinem belgischen Kontakt-
weiß ich. Aber
ich kann nicht mann in den Chats, worauf er sich
einfach sagen, fokussieren solle – die Schmerzpunk-
hier sind ein te der Kommunistischen Partei (KP):
paar Chinesen, Neben Hongkong geht es um Tibet
die dich treffen
wollen. Es sollte und Taiwan, um die muslimische
einen Anlass Minderheit der Uiguren und die Re-
geben, vielleicht gion Xinjiang und immer wieder um
eine Konferenz Europas Nähe zu den USA, die es zu
zu einem
Thema, das sie problematisieren und möglichst zu
interessiert. stören gelte. »Das sind unsere Priori-
täten«, schreibt Woo. Oder: »Bisher
habe ich Dich um Informationsbe-
Creyelmann: schaffung gebeten, aber jetzt machen
Martin war ein
good luck shot. wir auch Aktionen wie die Anfrage
Es ist sehr im Parlament.«
schwer, an so Und manchmal werden die Auf-
hochrangige träge auch persönlich und schmutzig.
Leute heranzu­
kommen. So soll Creyelman dabei helfen, den
Ruf eines deutschen Wissenschaftlers
zu zerstören.
Woo: Ja, das war
nur ein Beispiel.
Der Mann, um den es geht, sitzt
Anfang Dezember 2023 an einem
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 35
DEUTSCHLAND
Tisch im Erdgeschoss des Paul-Löbe-
Hauses des Bundestags, er ist als Re-
ferent zu einer Menschenrechtskon-
ferenz der Grünen eingeladen.
Adrian Zenz forscht seit Jahren zu
Tibet und dem repressiven Umgang
der KP mit ethnischen Minderheiten.
Seit 2019 lebt und arbeitet er in den
USA. Gegenüber der muslimischen
Minderheit der Uiguren warf er Chi-
na demografischen Genozid vor,
durch erzwungene Sterilisation etwa.
Voriges Jahr wurde ihm ein Datensatz
über die Zustände in den Gefange-
nenlagern in Xinjiang zugespielt, den
er mit internationalen Medien teilte,
auch der SPIEGEL berichtete über die
»Xinjiang Police Files«.
Nun schaut Zenz auf den Laptop-
monitor vor sich, liest erstmals die
Passagen aus dem China-Chat, in
denen es um ihn geht.
»Ich habe den Auftrag erhalten,
den Ruf von Adrian Zenz zu attackie-
ren«, schreibt der MSS-Mann Woo an
seinen belgischen Kontakt am 15. Ja-
nuar 2021 um 14.05 Uhr. Er versuche,
»jeden seiner Skandale auszugraben«.
»Es ist ein bezahltes Projekt«, lockt
er. »Großartig«, antwortet Creyel-
man.
Zenz lacht laut auf. »Dass ich dis-
kreditiert werden sollte, habe ich na-
türlich massiv zu spüren bekommen,
das überrascht mich kein bisschen,
aber den Auftrag dafür schwarz auf
weiß zu sehen, das ist wirklich frap-
pierend«, sagt er.
Der Wissenschaftler rückt seine
Brille zurecht, sucht den Datums-
stempel im Chat. Den Zeitpunkt kann
er erklären: Kurz zuvor hatte er mit
einer Analyse Schlagzeilen gemacht,
dass Hunderttausende Uiguren in
Xinjiang dazu gezwungen werden,
per Hand Baumwolle zu pflücken.
Nur einen Tag bevor Woo bei
Creyelman um Hilfe in Sachen Zenz
bat, gab es in Peking eine Pressekon-
ferenz. Zenz wurde dort als »anti-
chinesisch« und »von US-Geheim-
diensten unterstützt« gebrandmarkt.
»Es gibt wahrscheinlich keinen ande-
ren Wissenschaftler weltweit, der der
KP aus deren eigener Sicht mehr ge-
schadet hat«, sagt Zenz.
Am 19. Januar 2021 stellte das US-
Außenministerium fest, dass die chi-
nesische Führung in Xinjiang Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit und
Genozid begehe. Sie machte Zenz’
Berichte zur Grundlage der US-Poli-
tik. Im März 2021 bezeichnete die
chinesische Botschaft in Berlin Zenz
in einem Dossier als »Drahtzieher
hinter den Lügen zu Xinjiang« und
»eingeschworenen Rassisten«. Den
Rest der Rufmordkampagne soll nun
36 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Daniel Woo erledigen. Wer aber ver-
birgt sich hinter diesem Namen?
Der SPIEGEL und seine Recher-
chepartner haben sich auf Spuren-
suche begeben. Tatsächlich bestätigen
vier westliche Nachrichtendienste,
dass sie diesen Namen kennen und
ihn dem chinesischen MSS zuordnen,
genauer gesagt dessen Regionalbüro
Chatauszüge II: (ZSSD) in der ostchinesischen Küs-
Aufträge des Agenten­ tenprovinz Zhejiang. Auch die Mai-
führers ladresse, die Woo im Chat angibt, war
westlichen Nachrichtendiensten nach
Woo: Unser
Hauptziel ist es, deren Angaben unabhängig von den
die Beziehung Chats bereits bekannt.
zwischen den Woo agiert demnach seit Jahren
USA und Europa schon im Geheimdienstgeschäft, sein
auseinanderzu­
treiben. Alles, Name fiel etwa 2015 bei einer Opera-
was das Verhält­ tion in Polen. Er und seine Kollegen im
nis zwischen ZSSD sollen zudem hinter Anwerbe-
EU und China versuchen unter deutschen Beamten,
mehrdeutig
macht und die Abgeordneten und ihren Mitarbeitern
USA stört über das Karrierenetzwerk LinkedIn
oder ihr Sorgen stehen: Chinesische Agenten versuch-
macht, ist ten, sich unter falscher Identität mit
willkommen.
einflussreichen Akteuren der deutschen
Politik zu vernetzen – um dann einen
Woo: Wir haben Schritt weiterzugehen.
einen Aktions­ So bot einer der Agenten einem
auftrag, katho­ Bundestagsabgeordneten bereits vor
lische Bischöfe Jahren mehrere Zehntausend Euro
sollten ihre
Stimme erheben für eine schriftliche Ausarbeitung an.
– inklusive Der Mitarbeiter eines Abgeordneten
der folgenden soll sogar bereits nach China gereist
Punkte: sein und gut 10.000 Euro erhalten
1. Das Corona­
virus ist der haben, bevor der Verfassungsschutz
weltweite Feind. weitere Aktivitäten durchkreuzte.
2. Politisiert Woos Dienstort liegt in einer der
das Virus nicht. reichsten Gegenden der Volksrepub-
3. Aufruf zur
gemeinsamen lik, an einer sechsspurigen Einbahn-
globalen straße von Hangzhou, der Hauptstadt
Bekämpfung der Provinz Zhejiang.
des Virus. Die MSS-Außenstelle ist in einem
Kennst Du
Bischöfe, achtgeschossigen Zweckbau mit gro-
die so etwas ßen Fensterflächen untergebracht.
tun würden? »Abteilung für Staatssicherheit der
Provinz Zhejiang«, steht auf einem
Betonquader am Tor. Sucht man im
Woo: Ich habe Internet nach der Adresse, findet man
den Auftrag
erhalten, den das Gebäude, die Inschrift am Eingang
Ruf von Adrian ist jedoch digital bearbeitet, auch das
Zenz zu rote Emblem an der Fassade ist auf
attackieren. den digitalen Bildern verschwunden.
Wenn Du Ideen
oder Möglichkei­ Es ist ein Arbeitsplatz in bester
ten hast, wäre Lage. Zum Westsee, an dessen Ufern
das besser. Staatsgründer Mao Zedong schon
gern Urlaub machte, sind es nur ein
paar Minuten mit dem Auto. Direkt
Creyelman:
Okay, ich schaue neben der Stasizentrale liegt eine
es mir an. Grundschule, gegenüber sind eine
Filiale der Industrial and Commercial
Woo: Es ist
Bank of China und ein Büro eines
ein bezahltes staatlichen Baukonzerns unterge-
Projekt. bracht. Mittags können die Agenten
in einem der vielen umliegenden Res-
taurants essen gehen: frittierte Gar-
Creyelman:
Großartig. nelen für 38 Yuan oder Schlangen-
kopffisch auf zwei Arten zubereitet,
gebraten und gedünstet, für 48 Yuan,
umgerechnet rund sechs Euro.
Warum steuert China seine Ein-
flussoperation in Europa von hier aus
und nicht aus Peking? »Ein Großteil
der Mitarbeiter der chinesischen Ge-
heimdienste sitzt in den Provinzen«,
sagt Peter Mattis, Leiter der James-
town Foundation, eines mit Unterstüt-
zung des US-Geheimdiensts CIA ge-
gründeten Thinktanks in Washington.
Mattis hat selbst für die CIA gearbei-
tet. Er ist Co-Autor eines Standard-
werks zur chinesischen Spionage.
Jede Provinz habe ein Spezialge-
biet, sagt Mattis. Woos ZSSD soll
stark auf Europa fokussiert sein.
»Zhejiang hat zwar kein Monopol,
aber eine Vormachtstellung, was
Operationen gegen Europa angeht«,
bestätigt Nigel Inkster, ein ehemaliger
Spitzenbeamter in Großbritanniens
Auslandsgeheimdienst MI6.
Allein das Regionalbüro Zhejiang
soll nach Schätzungen westlicher Ge-
heimdienste 5000 Mitarbeiter be-
schäftigen – mehr als der deutsche
Verfassungsschutz. Sie unterstehen
einer streng hierarchischen Kontrolle
und konkurrieren offenbar unterein-
ander um Gelder und Missionen.
So spricht Woo mehrfach vom
»Hauptquartier«, bei dem er sich um
einen Auftrag bewerben müsse. Ein-
mal schreibt er an Creyelman, seinen
Handlanger in Belgien: »Vielen Dank
für Deine Unterstützung und dass Du
das für uns tust. Tatsächlich bemühen
sich mehrere Einheiten bei uns um
diesen Auftrag, und wir haben die
Chance darauf bereits vertan.«
Auch den Agentenlohn des Bel-
giers muss Woo offenbar genehmigen
lassen. Wenn er zusätzliche Mittel
hat, dann lässt er es seinen Mann in
Mechelen wissen. Für einen Luxus-
trip in das chinesische Beachresort
Sanya, wo der Belgier seinen Agen-
tenführer im Zeitraum der Chats min-
destens einmal trifft, muss Creyelman
seine Buchungsdaten angeben, damit
Woo die Reise abrechnen kann. Als
der Belgier schreibt, er würde gern
für eine Woche nach Sanya kommen,
antwortet Woo ihm, so lange brauche
man eigentlich nicht. Creyelman ent-
gegnet, der Wetterbericht sei aber
gut, und außerdem sehe der Agenten-
treff dann wie eine Urlaubsreise aus.
Woo gibt sein Okay.
Um die Bezahlung unauffällig ab-
zuwickeln, will Woo ihn ab März 2022
in Digitalwährungen entlohnen: »Ich
verwende jetzt Krypto, um die Unter-
stützung zu überweisen.« Wie man
das mache, fragt Creyelman, er sei ein
»old school guy«. Es folgt eine Schritt-
für-Schritt-Anleitung für die Krypto-

[M] Lea Rossa / DER SPIEGEL; Fotos: Janette Kim / Getty Images, Imago, Chinaimages / Imago
1 national Economic Forum«.
2 3
börse Binance. Als Test lässt der Chi-
nese umgerechnet 1421 Euro anwei-
sen. »Das ist der erste Kryptoversuch
mit einer kleinen Summe, für die fol-
gende Arbeit schicke ich mehr Mittel.«
In den Chats bietet der Chinese für
einzelne Aufträge zwischen 6000 und
10.000 Euro an. Als Woo und Creyel-
man diskutieren, wie man Repräsen-
tanten des Vatikans bestechen könne,
eine Depesche im Sinne Chinas he-
rauszugeben, ruft ein Vermittler dafür
angeblich 250.000 Euro auf. »Das ist
verrückt«, schreibt Woo. »Ich dachte
eher an 25.000.«
Woo, das legen die Chats nahe,
führt neben dem Belgier weitere in-
offizielle Mitarbeiter. Er ist nicht
nur detailliert über die Umtriebe der
extrem Rechten in Europa informiert,
auch die erste politische Garde be-
schäftigt ihn.
Unvermittelt teilt Woo Creyelman
im Oktober 2022 mit, dass sowohl Bun-
deskanzler Olaf Scholz als auch Frank-
reichs Präsident Emmanuel Macron
nach China reisen würden. »Es gibt ein
Projekt, das wir diskutieren. Wir sollten
Stimmung machen, um zu verdeutli-
chen, dass die USA und UK die Ener-
gieversorgung in Europa destabilisie-
ren.« China hingegen helfe aus.
Er habe da eine Idee: ȟber unse-
re Abgeordneten vom rechten Flügel
ein Statement im Europäischen Parla-
ment verbreiten zu lassen«, etwa in
der Lesart, dass Großbritannien und
die USA in Europa nur Probleme ver-
ursachten, China die EU hingegen
unterstütze. Diese Botschaft solle
dann während des Besuchs in Medien
verbreitet werden. »Denkst Du, das
ist möglich?«
Creyelman antwortet Sekunden
später: »In Deutschland können wir
über die AfD-Leute die deutsche De-
legation auffordern, offen mit der
chinesischen Führung zu sprechen,
statt nur der US-Strategie zu folgen.«
Zwei Tage später liefert er eine wei-
tere Idee, diesmal will er den Ukraine-
krieg propagandistisch nutzen. Man
könne »unsere deutschen und franzö-
sischen Abgeordneten« bitten, China
als Verhandlungspartner zwischen
den Kriegsparteien ins Gespräch zu
bringen, so der Belgier. »Das würde
die USA anpissen.«
Wen meint Creyelman mit »unse-
ren Abgeordneten«? In den Chats
nennt er Namen. »Waldemar Herdt
ist ein ehemaliger Abgeordneter. Er
kennt jeden«, schreibt er nach China.
»Ich kenne ihn. Er ist pro China«, und
weiter: »Er könnte seine Leute im
Parlament beeinflussen.«
Herdt, 61, wurde in Kasachstan ge-
boren, studierte dort Landwirtschaft
und leitete einen großen Betrieb, be-
vor er 1993 nach Deutschland über-
siedelte, um als Futtermeister in
einem Schweinemastbetrieb zu arbei-
ten. Von 2017 bis 2021 saß Herdt für
die AfD im Deutschen Bundestag.
Aktuell ist er Beisitzer im AfD-Kreis-
verband Cloppenburg/Vechta. Auf
Anfrage sagt er, er kenne Creyelman
und Woo nicht und sei weder pro-
chinesisch noch prorussisch: »Ich bin
pro Deutschland.«
Dabei ist Herdt wegen seiner allzu
großen Nähe zu Russland bereits auf-
DEUTSCHLAND
gefallen. Stefan Keuter, der AfD-
Mann mit der Kleinen Anfrage, pflegt
ebenfalls gute Kontakte dorthin. Und
auch Frank Creyelman aus dem bel-
gischen Mechelen ist Teil dieser rech-
ten Russlandfreunde. Wie die AfD-
Leute Herdt und Keuter reiste er zu
angeblichen Wahlbeobachtermissio-
nen. 2018 nahmen die drei an einem
Wirtschaftskongress auf der annek-
tierten Krim teil, dem »Yalta Inter-
In einem Interview mit dem russi-
schen Propagandasender Sputnik stell-
te sich Creyelman als zentraler Akteur
für den neuen russlandfreundlichen
Kurs der europäischen Rechtsaußen
dar: »Ich war es, der alle rechten Par-
teien dazu gebracht hat, in Bezug auf
Russland umzuschwenken«, wird er
dort zitiert. »Wir waren die Motoren,
die Regierungen – sogar unsere Regie-
rung – ein wenig näher an Russland
gebracht haben«, prahlte er.
Offenbar hat sich die chinesische
Staatssicherheit für ihre Einflussope-
rationen an Leute herangepirscht, die
1 | Chatauszüge im ihre Offenheit für autoritäre Regime
englischen Original schon bewiesen haben. Aus ihrem
2 | Beachresort
bei Sanya auf Faible für Russland machen viele
chinesischer Insel AfD-Politiker seit Jahren kein Ge-
3 | Belgischer Politiker heimnis. Sympathien für das kommu-
Creyelman nistisch regierte China aber waren in
der Partei lange verpönt. Das hat sich
mittlerweile geändert.
Ende Juni flog Parteichefin Alice
Weidel mit einer AfD-Delegation
nach Shanghai und Peking. Weidel
lobte, die Chinesen seien »sehr gut
über unsere Arbeit in Berlin infor-
miert« gewesen, offenbar will man
den Kontakt intensivieren: »Die
nächsten Schritte sind bereits in Pla-
nung.« Die Parteichefin selbst gibt an,
Mandarin zu sprechen. Sie hat über
das chinesische Rentensystem pro-
moviert, vor ihrer Politkarriere arbei-
tete sie einige Jahre lang in China.
Im Sommer hat die AfD ihren
größten Chinafan sogar zum Spitzen-
kandidaten für die Europawahl ge-
kürt: Maximilian Krah, 46, aus Sach-
sen. Wie Weidel kommt er in den
Chats nicht namentlich vor – muss
er auch nicht: Als KP-Fanboy kann
man ihn auch so erkennen. Im ver-
gangenen Jahr besuchte Krah die
Olympischen Winterspiele in China,
wie er auf Anfrage bestätigt, während
viele westliche Politiker aus Protest
gegen die Menschenrechtslage fern-
blieben.
Krah drängt schon seit Jahren auf
einen chinafreundlichen Kurs der
AfD. Im November 2019 reiste er
nach Peking und in andere Städte,
besuchte ein Forschungszentrum des
umstrittenen Telekommunikations-
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 37
DEUTSCHLAND
konzerns Huawei und verbrachte
sechs Nächte in vornehmen Hotels.
Kurz nach der Reise setzte Krah
ein Schreiben an Mitglieder der AfD-
Bundestagsfraktion auf. Er beschwer-
te sich über deren harte Haltung
gegenüber Huawei, die Fraktion for-
derte zu dieser Zeit faktisch einen
Ausschluss chinesischer Anbieter aus
dem deutschen 5G-Mobilfunknetz.
Er habe diese Position »mit einiger
Verwunderung« zur Kenntnis genom-
men, schrieb Krah, sie sei »industrie-
politisch unvertretbar«. Sicherheits-
bedenken basierten nur auf einem
»allgemeinen Misstrauen China
gegenüber«, befand Krah, sein An-
liegen sei, die »dezidiert antichinesi-
sche Positionierung der Fraktion zeit-
nah zu relativieren«.
In einem Interview mit der rechts-
extremen Zeitschrift »Zuerst!« be-
klagte Krah später, China sei der neue
»Lieblingsfeind« des Westens. Wenn
Europa ein »unabhängiger globaler
Mitspieler sein möchte und nicht nur
Vasall der Amerikaner«, dann müsse
es »gute Beziehungen mit China an-
streben«. Berichte über Umerzie-
hungslager für Uiguren in der Region
Xinjiang, wie Adrian Zenz sie vor-
legte, bezeichnete er auf Twitter als
»Gruselgeschichten«.
Auch ein Video von Krah aus dem
Jahr 2021 könnte aus der Propagan-
daabteilung der KP stammen. Anlass
war der 70. Jahrestag der Autonomen
Region Tibet. Mittlerweile ist es von
YouTube verschwunden.
Dem SPIEGEL liegt der Film vor.
In Tibet, so schwärmt Krah darin, stün-
den Mönche unter staatlichem Schutz.
Tempel würden mit Unterstützung aus
Peking neu gebaut, in den Kindergär-
ten höre man das Lachen der Kinder.
Das Auswärtige Amt schrieb damals
in einem internen Lagebild zur Men-
schenrechtslage in China: »In Tibet
wird weiterhin gegen Anhängerinnen
und Anhänger des Dalai-Lama vor-
gegangen.« Klöster würden zerstört,
es sei zu mehreren ungeklärten Todes-
fällen im Zusammenhang mit Haft-
maßnahmen gekommen.
Im Juli 2021 diskutiert der Aus-
schuss für auswärtige Angelegenhei-
ten des Europäischen Parlaments den
Entwurf einer neuen Chinastrategie
der EU. Er sieht einen deutlich schär-
feren Kurs gegen Peking vor und for-
dert die EU-Kommission auf, »Chinas
ausländischer Finanzierung unserer
demokratischen Prozesse« entgegen-
zuwirken, genauso wie »der Strategie
der Vereinnahmung von Eliten und
der Technik der Kooptierung hoch-
rangiger Beamter und ehemaliger EU-
Politiker«. Nur wenige Abgeordnete
38 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
1
1 | Belgischer stimmen gegen den Entwurf, darunter
Präsident des AfD-Mann Krah aus Deutschland.
Europäischen Rates
Michel 2 | Teilnehmer Dessen Chinaliebe irritiert auch
des Nationalen manche in der AfD, etwa jene, die
Volkskongresses sich lieber transatlantisch orientieren
3 | Geheimdienst­ wollen. Als klar wurde, dass Krah
niederlassung in
der Provinz Zhejiang Spitzenkandidat für die Europawahl
werden wollte, begannen sie, einen
Telegram-Kanal mit Bildern, Videos
und Screenshots zu befüllen.
Es tauchten Motive auf, in denen
sein Gesicht auf das Foto eines chine-
sischen Volkspolizisten in Uniform
montiert war. Dazu Sätze, die er in
Chatgruppen geäußert haben soll.
Auf die Nachricht eines Parteikolle-
gen (»Je eher die Chinesen stärker
werden, desto besser«) soll er geant-
wortet haben: »Eben. Ordnung und
Weiterbildung ;)«. Oder: »In einer
idealen Partei würden wir selbst die
Annektion von Taiwan fordern!«
Krah sagt dazu, die erste Nachricht
sei ironisch gewesen, an die zweite
könne er sich nicht erinnern.
Der Europaabgeordnete beschäftigt
zudem einen chinesischstämmigen
Mitarbeiter, der zuletzt Nachwuchs-
politikern der AfD-Jugendorganisa-
tion Junge Alternative (JA) attraktive
Reisen nach China anbot. Die Flüge
müssten die Mitreisenden bezahlen,
schrieb er, Essen und Übernachtungen
in China würden übernommen.
Krah sagt auf Nachfrage, er habe
»keine Kontakte zu chinesischen Re-
gierungsstellen außer den offiziellen
Vertretern der chinesischen Diploma-
tie in Brüssel«. Er habe zudem »keine
Anhaltspunkte, die mich an der Lo-
yalität und Zuverlässigkeit meines
[M] Lea Rossa / DER SPIEGEL; Fotos: XinHua / dpa, DER SPIEGEL , Alexis Aubin / AFP
2
3
Mitarbeiters zweifeln lassen«. Die
Kosten seiner eigenen Chinareise
2019 habe er bis auf einen Zuschuss
von 500 Euro und zwei Essen »selber
übernommen« und gegenüber dem
Europaparlament »korrekt angege-
ben«. Bei den Olympischen Spielen
habe er »alles selber bezahlt«.
Eine wichtige Rolle für den neuen,
chinafreundlichen Kurs der Partei
spielte zudem ein Mann, der es liebte,
im Hintergrund die Fäden zu spinnen,
und auch in den Chats zwischen
Creyelman und seinem chinesischen
Auftraggeber auftaucht – nicht na-
mentlich, aber eindeutig identifizier-
bar, als »unser Freund«.
Als der MSS-Mann den Belgier
fragt, in welchen Medien er prochi-
nesische Propaganda platzieren kön-
ne, nennt dieser das Magazin »Zu-
erst!«, jenes Medium, von dem sich
auch Krah über China interviewen
ließ. Chefredakteur des stramm rech-
ten »Deutschen Nachrichtenmaga-
zins« war damals Manuel Ochsen-
reiter, ein umtriebiger Netzwerker der
Ultrarechten und Verbreiter russi-
scher Propaganda, unter anderem als
»Analyst« des russlandgesteuerten
Senders Russia Today.
Für den AfD-Bundestagsabgeord-
neten Markus Frohnmaier, den russi-
sche Quellen als »absolut unter Kon-
trolle« stehend bezeichnet hatten,
arbeitete Ochsenreiter als Berater
und zeitweise sogar als Mitarbeiter in
dessen Bundestagsbüro. Zudem ko-
operierte er eng mit einem Polen,
dem dortige Behörden bereits vor
Jahren vorwarfen, für Russland und

China zu spionieren, was dieser de-
mentierte. Auch damals soll der MSS-
Mann Woo involviert gewesen sein.
Der Pole sagt dazu heute, er könne
sich an dessen Namen nicht erinnern.
Ochsenreiter fungierte für AfD-
Leute offenbar als Mittelsmann zu
beiden Ländern, Russland und China.
Unter anderem soll er eine aktive Rol-
le im Vorfeld der Kleinen Anfrage von
Stefan Keuter gespielt haben, wie Si-
cherheitskreise dem SPIEGEL bestä-
tigten. Ochsenreiter soll demnach für
die erfolgreiche Abwicklung dieses
Projekts aus China mehrere Tausend
Euro erhalten haben.
Ochsenreiter stand offenbar nicht
nur mit dem MSS-Agenten Woo in
Kontakt, auch dessen belgischen Kon-
taktmann, Frank Creyelman, kannte
er. Man kann Ochsenreiter selbst zu
alldem nicht mehr befragen. Er starb
am 18. August 2021 mit 45 Jahren in
Moskau, Ursache soll ein Herzinfarkt
gewesen sein.
Der plötzliche Tod des wertvollen
Mittelmanns beschäftigte damals
auch Woo und Creyelman. »Schlech-
te Nachrichten. Unser Freund ist an
einem Herzinfarkt gestorben«,
schrieb Woo am 20. August 2021. Das
habe er mitbekommen, antwortete
der Belgier. »Wirklich misslich, er war
ein netter Mensch.« Man habe gerade
noch darüber gesprochen, Ochsen-
reiter und Creyelman gemeinsam
nach China einzuladen, so der chi-
nesische Agent. Es sollte wieder ins
Beachresort nach Sanya gehen, an
den Urlaubsort auf der Insel Hainan.
So verlässlich der Belgier auch lie-
ferte: China, das wird aus dem Aus-
tausch klar, ist immer auf der Suche
nach weiteren Quellen. Und auch beim
Rekrutieren neuer Kräfte sollte Creyel-
man helfen. »Meine Idee ist, eine Ziel-
person festzumachen, und dann den-
ken wir zusammen darüber nach, wie
wir sie in unsere Kooperation herein-
ziehen«, schrieb Woo. Es gebe zwei
Kategorien von Zielpersonen für eine
solche Ansprache: »1. Gute Position,
uns nicht gewogen, 2. geringere Posi-
tion, die aber auf uns hört«.
Creyelman bringt daraufhin zwei
weitere Vlaams-Belang-Abgeordnete
aus dem belgischen Parlament ins
Spiel. Und dann taucht im weiteren
Verlauf ein Name auf, der politische
Sprengkraft besitzt. »Früher haben
wir Dich gebeten, Quellen wie Martin
Selmayr anzuwerben«, schrieb Woo
im Oktober 2022.
Selmayr bekleidete mächtige Posi-
tionen innerhalb der EU-Führung:
Jahrelang war der Deutsche Kabi-
nettschef der damaligen EU-Vizeprä-
sidentin Viviane Reding, anschließend
Kabinettschef des damaligen EU-
Kommissionspräsidenten Jean-Clau-
de Juncker. Kurz fungierte er gar als
Generalsekretär. Eine Quelle in dieser
einflussreichen Position wäre aus ge-
heimdienstlicher Sicht ein Jackpot.
Und aus Brüsseler Sicht ein Skandal.
Creyelman antwortet: »Martin
was a good luck shot.« Das lässt
Raum für Interpretationen. Meint der
Belgier, Selmayr sei abgeschöpft oder
gar angeworben worden, mithin ein
»Glückstreffer«? Oder geht es um
einen Schuss ins Blaue, um einen Re-
krutierungsversuch auf gut Glück, der
aber gescheitert ist? Aus dem Chat
geht das nicht hervor.
Außer dieser Äußerung spricht
nichts dafür, dass Selmayr von den
Chinesen rekrutiert wurde. Creyel-
man schreibt im Chat weiter, es sei
»sehr schwierig, an so hochrangige
Typen heranzukommen«. Man könne
nicht einfach sagen: »Hier sind ein
paar Chinesen, die Dich treffen wol-
len«, es brauche eine glaubwürdige
Legende, etwa eine Konferenz.
Selmayr leitet heute die Vertretung
der EU-Kommission in Wien. Auf die
Frage, ob er jemals Kontakt mit Creyel-
man oder Woo gehabt habe, sagt er:
»Nein, nie, oder zumindest kann ich
mich nicht daran erinnern.« Genau
dasselbe gelte für Kontakte mit Ver-
tretern chinesischer Geheimdienste
oder deren Mittelsleuten. Eine Erklä-
rung dafür, warum ein chinesischer
Agent seinen Namen in diesem Kon-
text fallen ließ, habe er nicht. »Ich
glaube, es ist nicht meine Aufgabe,
dubiose Konversationen von dubio-
sen Leuten zu erklären.«
Es spricht viel dafür, dass Selmayrs
Darstellung zutrifft. Er gilt als die trei-
bende Kraft hinter einem Strategie-
wechsel der EU, der Peking gar nicht
gefiel. Vom Frühjahr 2019 an bezeich-
nete die EU-Kommission China offi-
ziell als »systemischen Rivalen« –
eine Formulierung, die inzwischen
auch Eingang in die Chinastrategie
der deutschen Regierung gefunden
hat. Architekt des spektakulären
Schwenks, so bestätigen es mehrere
Quellen, sei Selmayr gewesen.
Auch wenn Creyelman seinen Auf-
traggebern nicht alle Wünsche erfül-
len konnte – aus Woos Sicht war er
ein wertvoller Helfer, und womöglich
ist er das bis heute. »Du bist unser ein-
ziger Freund in Belgien«, umschmei-
chelte ihn der Chinese. Der rechts-
extreme Politiker lieferte über Jahre,
sogar die erwünschte Anfrage nach
dem Muster des AfD-Vorbilds brach-
te er über seinen Bruder erfolgreich
auf den Weg. Im Juli 2022 stellte Ste-
ven Creyelman im belgischen Parla-
DEUTSCHLAND
ment eine schriftliche Anfrage an die
Regierung. Darin hob er auf die Situ-
ation in Deutschland ab und fragte
unter anderem nach der Zahl der
Asylanträge aus Hongkong. In weiten
Teilen glich das der Kleinen Anfrage
der AfD im Jahr zuvor aufs Wort.
Der AfD-Politiker Keuter, verant-
wortlich für die AfD-Anfrage, sagt,
eine Person namens Daniel Woo sei
ihm unbekannt. Anfragen zum Thema
Hongkong gehörten zu seinem Job als
Außenpolitiker, er habe dafür kein
Geld erhalten. Er gibt allerdings zu,
den für Russland und China umtriebi-
gen Manuel Ochsenreiter gekannt zu
haben. Die frappierenden Parallelen
Chatauszüge III: zur belgischen Anfrage erklärt Keuter
Kontakt­ so: Die AfD sei gut mit Vlaams Belang
bemühungen in
Europa vernetzt. »Offensichtlich scheint die
europäische Konservative dieselben
Woo: Die Fragen zu beschäftigen«, sagt er.
Regierungschefs Die Anfrage von 2021 war aller-
von Deutschland dings nicht seine erste dubiose zu
und Frankreich
kommen hierher Hongkong. Nach dem Besuch des
zu Besuch. Aktivisten Wong in Berlin und dessen
Wir diskutieren Interviews hatte Keuter die Bundes-
gerade ein regierung gefragt, ob deutsche Me-
Projekt.
dien die Aufstandsbewegung dort
unterstützten und ob ein »Bild«-Re-
Woo: Eine porter womöglich im Auftrag deut-
meiner Ideen ist scher Nachrichtendienste so viel In-
es, über unsere
Abgeordneten
teresse an diesem Thema zeige. Auf
vom rechten die Frage, wer oder was ihn zu dieser
Flügel ein Anfrage inspiriert habe, antwortete
Statement im der AfD-Mann, er habe Wong durch
Europäischen
Parlament
Zufall am Flughafen getroffen.
verbreiten zu AfD-Fraktionschefin Alice Weidel
lassen: Seht ließ mitteilen, sie kenne keine Kleinen
her, UK und USA Anfragen im Sinne Chinas, die von
machen nur
Probleme.
Ochsenreiter oder anderen initiiert
China hilft worden seien. Geldzahlungen an die
Europa. Fraktion schließe sie aus.
Frank und Steven Creyelman re-
agierten auf wiederholte Anfragen
Creyelman: In ebenso wenig wie Daniel Woo, das
Deutschland chinesische Außenministerium oder
können wir über
die AfD­Leute die Botschaft in Berlin. Die chinesi-
die deutschen sche Vertretung in Brüssel teilte nur
Delegierten mit: »Unsere Botschaft verfügt nicht
auffordern. über die Informationen, von denen
Sie sprechen.«
Woo: Sie kom­ Frank Creyelman kündigte un-
men natürlich, längst an, aus der aktiven belgischen
um Hilfe für den Politik ausscheiden zu wollen. Er su-
Krieg und die
europäische che künftig die größere Bühne, deute-
Energiekrise zu te er in einem Interview an: »Jeder,
bekommen, der mich ein wenig kennt oder ver-
und wir wollen folgt, weiß, dass ich mich zunehmend
etwas kreieren,
das die USA für geopolitische Themen und inter-
aufregt. Hast Du nationale Politik interessiere.« Er habe
deutsche oder sich schon immer an Orte gewagt, sag-
französische te er, an die andere sich nicht trauten.
Europa­ oder
Parlamentsab­
Maik Baumgärtner, Christoph Giesen,
geordnete,
Roman Höfner, Martin Knobbe,
die eine solche
Ann­Katrin Müller, Marcel Rosenbach,
Aktion hin­
bekämen? Fidelius Schmid, Christoph Schult,
Wolf Wiedmann­Schmidt n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 39
DEUTSCHLAND

HC Plambeck / DER SPIEGEL

Ampelspitzen Habeck, Scholz, Lindner bei Pressestatement am Mittwoch, im Kanzleramt am Sonntag (u.): 200 Stunden lang den Haushalt verhandelt

Rettung – oder Aufschub

REGIERUNG Vier Wochen lang hat die Ampel um eine Lösung im Haushaltsstreit gerungen. Doch der
größte Konflikt ist nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben. Wie lange hält die Koalition?

Christophe Gateau / dpa

40 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


hristian Lindner ist sichtlich angeschla­
C gen, als er am Mittwochabend, kurz
nach halb neun, seine Rede beginnt.
Der Anlass: 75. Geburtstag der FDP. Aus­
gerechnet. Die Lage: Im Bund dürfen die Li­
beralen zwar endlich mal wieder mitregieren,
aber Lindners Truppe wirkt meist gequält in
dieser Ampelkoalition. Und quält die anderen.
Wochenlang haben die Regierungsspitzen
ihren Haushaltskompromiss ausgebrütet,
Tage und Nächte miteinander gerungen. Seit
dem frühen Mittwochmorgen steht der Etat,
endlich, und Lindner muss jetzt was Feier­
liches über seine FDP sagen.
Er ist erkältet, die Stimmer heiser. Trotzdem
hält er hier bei einer Veranstaltung der partei­
nahen Friedrich­Naumann­Stiftung eine halbe
Stunde durch. Lindner meidet in seiner Rede
die Gegenwart, hangelt sich durch die Vergan­
genheit. Und plötzlich blitzt doch das Jetzt auf.
Als er beim Jahr 1966 angelangt ist, erinnert
Lindner an den Bruch der schwarz­gelben
Koalition unter CDU­Kanzler Ludwig Erhard.
Das Problem damals wie heute: ein Haushalts­
loch. Die Union wollte Steuererhöhungen, die
FDP Kürzungen im Etat. Die Union setzte
sich nach zehn Stunden zunächst durch. In
der Folge verließ die FDP die Regierung.
Lindner erklärt, er wolle »ganz tagesaktu­
ell« sagen: Es sei besser, dass »wir durch kluge
Veränderungen bei den Ausgaben trotzdem
die Schuldenbremse einhalten, als den Gang
in die Opposition anzutreten«.
Gang in die Opposition. Lindner spricht
aus, was auf dem Spiel stand: der Fortbestand
dieser Regierung, die Existenz der Ampel­
koalition.
Vor vier Wochen hat das Haushaltsurteil des
Bundesverfassungsgerichts die Ampel er­
schüttert. Die ungleichen Partner hatten ihre
politischen Differenzen mit Geld gekittet, mit
vielen Milliarden aus Nebenhaushalten, um
die jeweiligen Kernanliegen zu bedienen: das
Soziale für die SPD, die Klimatransformation
für die Grünen, die Schuldenbremse für die
FDP. Diese Mogelpackung funktionierte – bis
das Karlsruher Gericht am 15. November den
Stecker zog.
Nun brauchte es einen neuen Haushalt
2024, neuen Kitt, um die Koalition zusam­
menzuhalten. Es begann ein zähes Ringen.
Und all das wegen 17 Milliarden Euro, die
eingespart werden mussten – angesichts des
Gesamtvolumens eine beinahe lächerliche
Summe. Allein das sagt viel über den Zustand
dieser Koalition.
SPD, Grüne und FDP – von Beginn an war
diese Koalition kompliziert, stand sie unter
enormem Druck. Immer wieder kam die Frage
auf, ob sie wohl vier Jahre durchhalten würde.
Aber nach jeder Krise, nach jeder Zuspitzung,
ging es doch irgendwie weiter.
Und diesmal? Stand die Koalition während
der Verhandlungen zum Haushalt wirklich
am Abgrund, vor dem Scheitern? Und vor
allem: Ist sie jetzt gerettet – oder ist das, was
die Koalitionäre am Mittwochmittag präsen­
tierten, nur ein Aufschub bis zum nächsten
Großkonflikt?
Die Zukunft der Ampel entschied sich in
den vergangenen vier Wochen in einem Sech­
serkreis: Neben Kanzler Olaf Scholz, Vize
Robert Habeck und Finanzminister Lindner
gehören deren Staatssekretäre Anja Hajduk
und Steffen Saebisch sowie Kanzleramtschef
Wolfgang Schmidt zu der Runde. Wann im­
mer es nötig war, wurden Beamte aus dem
Wirtschafts­ und dem Finanzministerium oder
dem Kanzleramt hinzugezogen.
Es waren schwierige Gespräche. Alle drei
Parteien hatten öffentlich rote Linien gezogen.
Die FDP wollte die Schuldenbremse nicht
aussetzen, die SPD nicht beim Sozialstaat
kürzen und die Grünen die Klimatransforma­
tion nicht gefährden.
Zwischendurch zogen sich die Partner zu
Beratungen zurück: die FDP in die Kanzler­
wohnung in der achten Etage, die Grünen in
das Büro von Schmidt. Verpflegt wurden sie
mit Snacks aus der Kanzlerküche, Käse,
Chips. Mittags gab’s auch mal Eintopf.
Insgesamt über 200 Stunden lang war man
in die Details der Haushaltspläne abgetaucht.
Erst in der Nacht auf Mittwoch gelang der
Durchbruch. Lindner verließ gegen 3.30 Uhr
das Kanzleramt, die anderen besprachen
noch das weitere Vorgehen. Um 5.07 Uhr ging
man auseinander. Im Fraktions­Chat der Grü­
nen gab Habeck wenige Minuten später ein
Zeichen: »Die Verhandlungen sind jetzt fer­
tig.« Die Regierung stehe noch.
Am Ende dieser vier Wochen liegt nun ein
Bündel an Maßnahmen vor, das keinem weh­
tun soll, aber breiten Spielraum für Interpre­
tationen lässt. Es ist die Saat für neue Kon­
flikte in nicht allzu ferner Zukunft.
Bei den Grünen ist man mittlerweile so
einiges gewohnt, was die Ergebnisse von Ver­
handlungen mit SPD und FDP angeht. Schon
mehrfach hatte die Partei das Gefühl, in der
Koalition über den Tisch gezogen zu werden.
Etwa im März, als die Grünen nach einem rund
30­stündigen Koalitionsausschuss eine Aus­
höhlung des Klimaschutzgesetzes verkraften
mussten. Im Vergleich dazu sind sie dieses Mal
noch glimpflich davongekommen.
Klar, beim Klima­ und Transformations­
fonds sieht der Plan der Ampelspitzen einige
Sparmaßnahmen vor. Bei der Solarindustrie
soll jetzt gekürzt werden, Umweltprämien
für Elektroautos werden früher als geplant
eingestellt. Diese Maßnahmen tun weh, wie
Habeck selbst eingesteht.
Die Ampel begann mit der Illusion, dass
jeder der drei Partner in diesem Bündnis sei­
ne Punkte machen und den anderen ihre Er­
folge gönnen könnte. So ungefähr hatte das
in Schleswig­Holstein funktioniert, wo Vize­
kanzler Robert Habeck mal Landesminister
in einem Jamaikabündnis gewesen war (siehe
auch Interview mit Schleswig­Holsteins Mi­
nisterpräsident Daniel Günther, Seite 44).
Aber Bundespolitik ist nicht Landespolitik.
Im Bund sind die Konflikte härter, die Gräben
tiefer. Deshalb funktionierte die Idee nie so
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ganz. Stattdessen muss man jetzt auch kleins­
te Erfolge feiern. Zum Beispiel die Grünen.
Sie verbuchen den Haushaltskompromiss
nach außen als Punkt für sich: Gelder für neue,
klimafreundliche Produktionsanlagen in der
Industrie seien erhalten geblieben. Ebenso die
Subventionen für die Halbleiterindustrie, etwa
für das Chipwerk in Magdeburg. Zudem soll
die CO₂­Abgabe auf Sprit, Heizöl und Gas auf
45 Euro pro Tonne steigen – das beschert neue
Einnahmen. Ein Nebeneffekt, der noch un­
schöne Folgen haben könnte: Heizen und Tan­
ken wird für die Bürgerinnen und Bürger teurer.
Außerdem können sich die Grünen über
den Abbau von klimaschädlichen Subventio­
nen freuen. Eine Plastiksteuer soll eingeführt,
Subventionen für Agrardiesel abgebaut und
künftig Steuern auf Kerosin für Inlandsflüge
erhoben werden.
Doch schon beim letzten Punkt gibt es Wider­
spruch. Der Kompromiss ist noch ganz frisch,
aber der Kampf um die Auslegung hat schon
begonnen. Man muss auch gönnen können?
Gilt nicht für diese Koalition.
In der FDP heißt es: Kerosinsteuer? Werde
ohnehin nicht kommen. Zunächst müsse man
prüfen, wie das mit EU­Recht zu vereinbaren
sei. Dass es die entsprechende Abgabe dann
geben werde: unwahrscheinlich.
Auch die Liberalen verbreiten daneben
eine Siegererzählung: Die Entlastungen von
15 Milliarden Euro bei der Einkommensteuer
sind geblieben. Selbst der FDP­Haushälter
Frank Schäffler, sonst ein Ampel­Dauernörg­
ler, sagt: »Die Kröten, die wir schlucken muss­
ten, führen dennoch zu einer deutlichen Ent­
lastung für Bürger und Unternehmen.« Es sei
insgesamt »ein gutes Ergebnis«.
Bei der SPD geht es zumindest intern we­
niger positiv zu. Am späten Mittwochnach­
mittag kommen die Abgeordneten im Otto­
Wels­Saal des Bundestags zu einer Sonder­
sitzung zusammen. Zu Anfang heißt es laut
Teilnehmern noch: Nach vier Wochen endlich
eine Einigung, kein Kahlschlag im Sozialstaat,
große Industrieförderungen bleiben.
Doch in der Aussprache kritisieren einige
Abgeordnete die Beschlüsse. Sie warnen vor
steigenden Kosten, die die Leute beim Tanken
oder Heizen zu spüren bekommen könnten.
Die FDP habe sich zu sehr durchgesetzt, so
die Kritik. Mal wieder.
Vor allem aber ist der entscheidende Kon­
flikt nur vertagt: der um die Schuldenbremse.
Er könnte sich in den nächsten Monaten noch
zur Sollbruchstelle dieser Koalition ent­
wickeln. Denn einerseits soll – so die Verein­
barung – die Schuldenbremse 2024 nicht
ausgesetzt werden. Andererseits gilt: Wenn
die Lage in der Ukraine sich veränderte und
mehr Hilfszahlungen nötig wären, könnte
eine Notlage erklärt werden. Es ist eine Art
Vorratsbeschluss. Wie lange wird er tragen?
Die Schuldenbremse wird dieses Bündnis
weiterhin spalten, auch nach dem vermeint­
lichen Kompromiss – das wird schon am Mitt­
wochnachmittag offensichtlich, als um 15 Uhr
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 41
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Parteichefs, Fraktionsspitzen und Verhandler In der FDP halten sie mit Macht an der
zum Koalitionsausschuss zusammenkommen. Erzählung fest, dass die Schuldenbremse für
Man trifft sich im Bankettsaal im fünften das kommende Jahr vereinbart sei. Grüne
Stock des Kanzleramts, bei Obstsalat und und SPD gehen jedoch davon aus, dass dort
Streuselkuchen. Der Termin dauert nur etwa eine Erklärung der Notlage ohnehin kommen

Volker Wissing / FDP / Instagram / dpa

eine Stunde, aber schon dort bricht der Kon- werde – vielleicht sogar schon bald.
flikt um die Schuldenbremse erneut auf. In den USA steht eine Entscheidung im
Rolf Mützenich, der SPD-Fraktionsvorsit- Kongress über weitere finanzielle Hilfen für
zende, vertritt laut Teilnehmern die Position, die Ukraine aus. Sollten die Republikaner die
dass die Schuldenbremse wegen der Ukraine Gelder blockieren, könnte das bereits reichen,
sowieso wieder ausgesetzt würde. Er begrün- um die Schuldenbremse mit Verweis auf die
det das mit benötigten Wiederaufbaugeldern. Ukraine wieder auszusetzen, heißt es bei Rot-
FDP-Chef Lindner hält später dagegen: Er Grün. Dann müsse Deutschland mehr finan-
könne gern sofort seinen ukrainischen Finanz- Selfie von grün-liberalen Partnern 2021* zielle Verantwortung übernehmen.
ministerkollegen anrufen, er habe die Num-
mer da, und ihn fragen, was der eher benötigt: er am Vortag gesagt habe, dann sei man wie- Dass SPD und Grüne sich überhaupt auf einen
Wiederaufbaugelder oder Waffen. der auseinandergegangen. Kompromiss eingelassen haben, an dessen
Ärger erregt bei den Liberalen auch ein Die Lage ist zwischenzeitlich so ernst, dass Bestehen selbst die Parteispitzen nicht zu glau-
dreiseitiges Papier, das die SPD zuvor in Um- sich der Bundespräsident einschaltet. Eigent- ben scheinen, zeigt, wie ernst man die An-
lauf gebracht hatte. Darin ist von einer wei- lich ist Robert Habeck am vergangenen Frei- drohung eines Koalitionsbruchs inzwischen
teren Ausnahme von der Schuldenbremse die tagmorgen zu einem sogenannten Routine- nimmt. Dass die FDP die Ampel doch noch
Rede. Wegen der Beseitigung der Schäden termin ins Bundespräsidialamt geladen. Aber verlässt, möchte keiner mehr ausschließen.
der Ahrtal-Flut werde »ein erneuter Über- natürlich geht es, als der Vizekanzler schließ- Immerhin soll es bei den Freien Demokraten
schreitungsbeschluss« angestrebt, heißt es in lich bei hausgebackenen Keksen, Kaffee und eine Mitgliederbefragung über den Verbleib in
dem Papier. Johannes Vogel, Erster Parlamen- Wasser im Schloss Bellevue sitzt, auch um die der Koalition geben – würde die Parteispitze
tarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Koalitionskrise. ein Votum gegen die Ampel wirklich ignorie-
moniert in der Runde, dass die SPD es als Frank-Walter Steinmeier will in dem knapp ren? Und dann ist da noch Lindner, der schon
beschlossene Sache und nicht als Prüfauftrag einstündigen Gespräch von Habeck wissen, ob einmal eine Koalition im Entstehen hat platzen
dargestellt habe. und wie die Ampel aus der Haushaltszwick- lassen, als er 2017 überraschend die Jamaika-
mühle kommen wird. Dieselbe Frage hatte der sondierungen verließ. Seitdem gilt der FDP-
Bei der Schuldenbremse zeigt sich, dass man Bundespräsident zuvor auch Scholz gestellt, Chef als unberechenbar. Als Zocker, bei dem
trotz Kompromiss in der Koalition weit aus- als dieser Ende November zum Gespräch bei man nie sicher sein kann, ob er blufft oder nicht.
einanderliegt. Für die Liberalen gehört die ihm war. Auch Steinmeier fürchtete offenbar Diese Spielermentalität kommt der FDP in der
Begrenzung neuer Schulden zur Partei-DNA. Konsequenzen, sollte sich die Ampel beim Koalition bisher zugute. Der kleinste Koalitions-
Lindner hatte frühzeitig angekündigt, nach Haushalt nicht zügig zusammenraufen. partner konnte so immer wieder Punkte gegen
den Ausnahmen der vergangenen Jahre die Um die Blockade zu durchbrechen, laden die den Widerstand der anderen durchsetzen.
Regel 2024 wieder einhalten zu wollen. SPD Verhandler die Fraktionsvorsitzenden schließ- In der Ampel strickt man inzwischen an
und Grüne üben dagegen schon lange Kritik lich ins Kanzleramt ein. Am Dienstag gegen einem Zeitplan für die Beratungen im Parla-
an dem Konstrukt. Aus ihrer Sicht sollten be- zehn Uhr treffen für die FDP Christian Dürr, ment. Mitte Januar soll sich der Haushalts-
stimmte Investitionen ausgenommen werden. für die SPD Rolf Mützenich und für die Grünen ausschuss über den Beschluss beugen, Ende
Nach geltendem Recht kann die Politik bisher Katharina Dröge und Britta Haßelmann ein. Januar und Anfang Februar sollen dann Bun-
nur Ausnahmen beschließen, wenn sie diese Alle sollen ihre Standpunkte vortragen. destag und Bundesrat beraten. Der Beschluss
mit einer Notlage begründet. Aber die Situation ist verhakt, auch das steht damit – vorerst.
In den vergangenen Jahren hatte Scholz sich Treffen bringt keine Bewegung in die Sache. Nachdem am Mittwoch die Ergebnisse der
oft über die Wünsche seiner eigenen Partei hin- Nach einer Stunde verabschieden sich die Haushaltsverhandlungen vorgestellt worden
weggesetzt. Doch dieses Mal machte sich der Fraktionsvorsitzenden wieder – Scholz, Ha- sind, ist Finanzminister Lindner nicht der ein-
Kanzler die Forderung der SPD zu eigen und beck und Lindner verhandeln weiter. Das Ge- zige Verhandler, der sich abends noch zu einer
plädierte für eine Aussetzung der Schulden- spräch soll sich ab diesem Punkt zugespitzt Veranstaltung schleppt.
bremse, so berichten es Teilnehmer und Be- haben, berichtet jemand aus dem Umfeld. Auch Kanzleramtschef Schmidt hat noch
obachter der Verhandlungen übereinstimmend. Erst in der Nacht bringt der Kanzler selbst einen Termin zu absolvieren, bei der Hertie
Hätte Scholz Lindner nun dazu gezwun- offenbar die rettende Idee ein: erst mal keine School. Schmidt hat sich in den vergangenen
gen, die Schuldenbremse erneut auszusetzen, Notlage, aber mit dem Vorbehalt, sie doch 30 Stunden einmal für eine Stunde hingelegt.
wäre das wohl das Aus für die Ampel gewesen, noch ausrufen zu können. Er sei sonst etwas agiler, witzelt er. Trotz-
heißt es in der FDP. Lindner steht unter Die Formulierung, auf die man sich in der dem wirkt er zufrieden. Haushaltsverhand-
Druck: Schon jetzt dümpelt seine Partei in Nacht einigt, trägt Scholz am nächsten Tag lungen würden sonst Monate dauern, sagt er.
Umfragen bei rund fünf Prozent. Könnte die bei seiner Regierungserklärung vor, Wort für »Wir hatten zwei Wochen.« Man habe hart
FDP womöglich zum zweiten Mal nach 2013 Wort: Sollte sich die Situation im Krieg gegen miteinander gerungen. »Aber mit einem Er-
aus dem Bundestag fliegen, wenn sie ausge- die Ukraine verschärfen, müsse man reagie- gebnis, das sich sehen lassen kann.«
rechnet ihr Kernversprechen der Schulden- ren. »Um auf eine solche Entwicklung vor- Nun soll er noch einen Vortrag darüber
bremse aufgibt? Diese Sorge gibt es in der bereitet zu sein, haben wir bereits vereinbart, halten, ob das Jahr 2024 das Antlitz der De-
Partei, deshalb wollen die Liberalen nicht dem Bundestag in einer solchen Lage einen mokratie verändern wird. Als Einstieg hat sich
wackeln. Überschreitungsbeschluss vorzuschlagen.« Schmidt einen Gag über die Verhandlungs-
Sowohl Lindner als auch Scholz standen Am Ende steht also ein Formelkompromiss. nacht zurechtgelegt. »In anderen Ländern
damit bei ihren Parteien im Wort. Auch das Und mit ihm die Frage, wie lange er trägt. würden sie es Folter nennen oder Schlafent-
zog die Verhandlungen in die Länge, die Ge- zug«, sagt er. »Wir nennen es Demokratie.«
spräche drehten sich irgendwann im Kreis, * FDP-Generalsekretär Volker Wissing, Grünenvorsit- Sophie Garbe, Florian Gathmann,
zende Annalena Baerbock, FDP-Chef Christian Lindner,
berichtet ein Insider. Jeden Tag habe man sich Grünen-Co-Vorsitzender Robert Habeck bei Koalitions- Serafin Reiber, Christoph Schult, Christian Teevs,
getroffen, jeder habe den anderen gesagt, was vorgesprächen nach der Bundestagswahl. Gerald Traufetter, Severin Weiland n

42 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023

VOGELS KLIMACHECK:
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FUHRPARK DER BRANCHE?
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und E-Bikes ist über die Hälfte der deutschen Zustellflotte emissionsfrei.
Außerdem versenden die mit GoGreen schon seit 12 Jahren unsere privaten
Pakete und seit letztem Jahr auch alle Briefe in Deutschland durch Klimaschutz-
investitionen komplett CO2-neutral. Läuft.“

GELB IST GRÜN.

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DEUTSCHLAND
»Wir haben noch Luft
nach oben«
CDU Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther, 50, macht
Druck auf die Parteivorsitzenden der Union. Angesichts der
Ampelkrise erwartet er bessere Ergebnisse in den Umfragen. Und
warnt vor Alleingängen bei der Kanzlerkandidatur.
SPIEGEL: Herr Günther, wie froh sind Sie in
diesen Tagen, dass Sie in Kiel regieren und
nicht in Berlin?
Günther: Darüber bin ich froh, seit ich 2017
mein Amt angetreten habe. Ich bin sehr gern
Ministerpräsident in Schleswig-Holstein. Da-
von abgesehen steckt die Bundesregierung in
einer existenziellen Krise. Wir haben einen
Kanzler, dem die Menschen nicht vertrauen.
Die Ampel macht keine gemeinsame Politik,
die drei Partner arbeiten sich aneinander ab.
Klar leben wir in schwierigen Zeiten, das ist
anstrengend. Aber man muss irgendwann in
einen normalen Arbeitsmodus finden. Das
hat die Ampel nie geschafft.
SPIEGEL: Wie lässt sich das erklären?
Günther: Es hat immer mit den Menschen zu
tun, die politisch Verantwortung tragen. Auch
sehr unterschiedliche Parteien können gut
zusammenarbeiten. Man muss bereit sein,
Zugeständnisse zu machen und anderen Er-
folge zu gönnen. So machen wir das in Schles-
wig-Holstein, erst in der Jamaikakoalition,
inzwischen mit Schwarz-Grün. In dieser Wo-
che haben wir einen gemeinsamen Haushalt
in einer schwierigen Lage präsentiert, aus den
Verhandlungen ist monatelang nichts nach
außen gedrungen. In Berlin dagegen wurde
der Streit um den Haushalt auf offener Büh-
ne geführt. Jeder Regierungspartner hatte
eine andere Position. Der Streit prägte das
öffentliche Bild, auch wenn man sich jetzt auf
einen Kompromiss geeinigt hat.
SPIEGEL: Als Mann der CDU, die in Berlin in
der Opposition ist, fällt Ihnen die Kritik na-
türlich leicht.
Günther: Das ist nicht der Grund. Immerhin
sind unsere grünen Partner im Land auch Teil
der Ampel. Im Bund wird einfach schlechte
Politik gemacht. Wir hatten im Oktober eine
Jahrhundertflut an der Ostsee. Der Bundes-
kanzler hat in der Ministerpräsidentenkon-
ferenz Anfang November finanzielle Hilfe
zugesagt. Innerhalb von drei Wochen sollten
die Details klar sein. Aus seinen Worten ließ
sich entnehmen, dass der Bund die Hälfte der
Kosten für die Schäden übernehmen würde,
das sind rund 125 Millionen Euro. Doch bis
heute ist nicht klar, ob und wie der Bund hilft.
44 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Transformationsfonds. Da hat das Verfas-
sungsgericht gesagt: Das geht nicht.
SPIEGEL: Das Urteil hat die Ampel der Union
zu verdanken, die hatte geklagt. War das ein
kluger Schachzug?
Günther: Verwechseln Sie bitte nicht Ursache
und Wirkung. Es ist die Aufgabe einer Opposi-
tion, die Regierung zu kontrollieren, was auch
die rechtliche Überprüfung umfasst. Das Er-
gebnis kann man nicht der Union anlasten.
Die Ampel hätte schlicht einen verfassungs-
konformen Haushalt aufstellen müssen.
SPIEGEL: In Schleswig-Holstein haben Sie mit
Notkrediten eine ähnliche Politik verfolgt.
Der Landesrechnungshof hat Sie dafür scharf
kritisiert. Wie doppelzüngig ist da Ihre Kritik?
Günther: Wir haben im Unterschied zur Bun-
desregierung unsere Verfassung beachtet.
Wegen Corona und wegen des russischen
Ich habe die Erwartung, dass die versproche- Angriffskriegs auf die Ukraine hatten wir be-
ne Unterstützung kommt. Wenn ich als Mi- sondere Krisenlagen. Dafür können Ausnah-
nisterpräsident Zusagen mache, ist es selbst- men von der Schuldenbremse gemacht wer-
verständlich, dass ich Wort halte. den. Deshalb haben wir in den vergangenen
SPIEGEL: Ihr Kollege Markus Söder, der CSU- Jahren Notkredite aufgenommen. Die Aus-
Chef, fordert wegen der Ampelkrise Neuwah- gaben, die damit bezahlt werden sollten, stan-
len. Stimmen Sie ihm zu? den aber immer in einem Zusammenhang mit
Günther: Nein. SPD, Grüne und FDP wollten der jeweiligen Notlage. Und so wird es bleiben.
2021 gemeinsam regieren, obwohl andere Der Landtag hat auch für 2023 und 2024 Not-
Bündnisse möglich gewesen wären. Jetzt er- lagen festgestellt, unter anderem wegen der
warte ich, dass sie ihrer Verantwortung ge- schweren Sturmflut an der Ostseeküste.
recht werden und für das Wohl des Landes SPIEGEL: Sie verwenden das Geld auch, um
das Beste daraus machen. Das ist mein Ver- den Batteriehersteller Northvolt zu unter-
ständnis als Demokrat. Nicht die Wählerin- stützen, der sich in Dithmarschen ansiedeln
nen und Wähler sind gefordert, die Ampel will. Was hat das mit einer Notlage zu tun?
muss endlich liefern. Günther: Wegen des russischen Angriffskriegs
SPIEGEL: Nach dem Urteil des Bundesverfas- müssen wir unabhängiger von fossilen Energie-
sungsgerichts zur Schuldenbremse fehlen der trägern werden. Das betrifft auch die Mobilität.
Bundesregierung plötzlich Milliarden. Wel- Es geht im Fall Northvolt darum, dass wir
chen Anteil hat das Urteil an der Ampelkrise? Autos mit Batterien ausstatten können, die in
Günther: Die Krise war schon vorher da. Da Deutschland gebaut werden. Ich finde, dieser
ist zu elf Baustellen vielleicht eine zwölfte Zusammenhang lässt sich gut begründen. Auch
hinzugekommen, eine desaströse allerdings. der Wissenschaftliche Dienst des Landtags hält
Dass ein Bundeshaushalt für nichtig erklärt die Argumentation für vertretbar. Der Landes-
wurde, ist schon einmalig in der Geschichte. rechnungshof mag das anders sehen.
Dabei hätte die Ampel darauf kommen kön- SPIEGEL: Im Entwurf für das neue Grundsatz-
nen, dass ihre Praxis nicht verfassungsgemäß programm bekräftigt die CDU ihr Bekenntnis
ist, Warnungen gab es. Sie hat im Koalitions- zur Schuldenbremse. Ihr Parteifreund Kai
vertrag festgelegt, 60 Milliarden Euro aus Wegner, Regierender Bürgermeister von Ber-
einem Corona-Notkredit für andere Zwecke lin, hat sich für eine Lockerung der Schulden-
umzuwidmen – nämlich für einen Klima- und bremse ausgesprochen. Was denken Sie?
Günther: Ich stehe zur Schuldenbremse. In-
sofern befürworte ich den Passus im Entwurf.
In normalen Zeiten dürfen wir nicht auf Kos-
ten künftiger Generationen leben. In Notsi-
tuationen aber wird es auch künftig die Mög-
lichkeit geben, Notkredite aufzunehmen. Die
Frank Hörmann / Sven Simon / picture alliance / dpa
strikte Auslegung des Verfassungsgerichts ist
eine Herausforderung – aufgenommene Not-
kredite müssen im selben Jahr ausgegeben
werden. Das ist aber oft nicht möglich. Neh-
men Sie das Beispiel Sturmflut an der Ostsee:
Da müssen wir auch Deiche erneuern und
zum Teil anders bauen. Die Genehmigungs-
verfahren dauern. Das geht nicht binnen we-
niger Monate. Der Wiederaufbau im Ahrtal
nach der Flut im Sommer 2021 wird noch viel
Zeit in Anspruch nehmen.
CSU-Parteichef Söder, CDU-Kollege Merz SPIEGEL: Sie wollen also doch Änderungen?
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die CDU immer stärker prägt. Wäre er der

richtige Kanzlerkandidat der Union für die
Bundestagswahl 2025?
Günther: Man sieht die Handschrift von Fried-
rich Merz, aber auch die von vielen anderen.
Das Programm ist getragen von den unter-
schiedlichen Flügeln der Partei. Bei der Kanz-
lerkandidatur haben wir einen Fahrplan, an
dem ich nicht rütteln werde: Nach der Euro-
pawahl im Juni 2024 werden wir entscheiden.
Nicht vorher.
SPIEGEL: Der Plan ist, dass sich Merz mit
CSU-Chef Söder auf einen Vorschlag verstän-
digt. Reicht das?
Günther: Wir haben alle ein großes Interesse
daran, dass wir nicht wieder in eine Situation
kommen wie 2021. Damals hat uns auch der
Streit um die Kandidatur zwischen Armin
Laschet und Markus Söder den Wahlsieg ge-
kostet. Wir brauchen eine Kandidatin oder
einen Kandidaten, die oder der von beiden
Schwesterparteien breit getragen wird. Da ist
es sehr klug, wenn alle relevanten Leute in
die Entscheidung eingebunden sind.
SPIEGEL: Also nicht nur Söder und Merz?
Günther: Nicht nur Merz und Söder. Es gibt
auch gewählte Parteigremien.
SPIEGEL: Unter welchen Umständen wäre ein
Kanzlerkandidat Daniel Günther denkbar?
Günther: Ich bin in Schleswig-Holstein bis
2027 gewählt und habe einen festen Vertrag
mit 2,9 Millionen Bürgerinnen und Bürgern.
Den Vertrag werde ich erfüllen.
SPIEGEL: Mit Friedrich Merz verharrt die
Niklas Grapatin / DER SPIEGEL

Union in Umfragen seit geraumer Zeit bei

etwa 30 Prozent. Reicht das bei der Wahl?
Günther: Mit über 30 Prozent wäre die Union
im Moment immerhin so stark wie SPD, FDP
und Grüne zusammen. Das ist schon eine gute
Grundlage. Aber natürlich sind wir uns in der
Unionspolitiker Günther: »Wir haben einen Kanzler, dem die Menschen nicht vertrauen« Union auch alle einig, dass bei dieser desas-
trösen Ampelregierung noch deutlich mehr
Günther: Wir müssen uns das jedenfalls noch unserem Land. Nehmen Sie das Thema Anti- als 30 Prozent möglich sein können. Vor al-
einmal genau anschauen, wir weichen die semitismus. Es gibt Menschen, die kommen lem müssen wir verhindern, dass sich der
Schuldenbremse aber nicht auf. Die jüngsten nach Deutschland und halten es für normal, Frust der Menschen in einer starken AfD be-
Vorgaben des Verfassungsgerichts bedeuten, gegen Juden zu hetzen. Das ist völlig inak- merkbar macht. Wir müssen mit unseren An-
dass man immer wieder Notlagen erklären zeptabel, dieses Gedankengut darf bei uns geboten überzeugen. Insofern bin ich sicher:
muss, wenn man die Kredite nicht komplett keinen Platz haben. Und auch zum Thema Wir haben noch Luft nach oben.
abrufen konnte. Das ist für die Menschen Migration steht viel Richtiges im Programm. SPIEGEL: In Berlin und Hessen hat die CDU
schwer nachvollziehbar. Die Ereignisse liegen SPIEGEL: Die CDU setzt sich für eine Dritt- jüngst nicht die Grünen als Partner gewählt,
dann ja immer länger zurück. staatenlösung ein. Demnach sollen Asylbe- sondern die SPD. Merz sieht die Grünen als
SPIEGEL: Abseits der Schuldenbremse liest werber zunächst in einem Land außerhalb Hauptgegner. Kommt Schwarz-Grün im Bund
sich das Grundsatzprogramm wie eine Ab- der EU ihre Anträge stellen. noch infrage?
kehr vom Kurs Ihrer ehemaligen Kanzlerin Günther: Wie das im Detail aussieht, wird man Günther: Auf jeden Fall sind die Grünen ein
Angela Merkel. Unter Friedrich Merz will die sehen. Das Grundsatzprogramm ist noch nicht möglicher Partner für die Union. In Schles-
Partei zurück zur Atomkraft, es soll Verbote beschlossen, es wird noch diskutiert. Wenn wig-Holstein beweisen wir, dass man in einem
geben zu gendern, der Begriff Leitkultur wird das Verfahren rechtsstaatlichen Prinzipien solchen Bündnis Klimaschutz und wirtschaft-
wiederbelebt. Stört Sie das? folgt und unsere internationalen Verpflichtun-liche Erfolge sehr gut verbinden kann. Mir
Günther: Ich lese das Programm nicht so kri- gen wahrt, halte ich das für sinnvoll – wie fällt kein Grund ein, weshalb man Schwarz-
tisch, und ich habe den Kurs von Angela Mer- beim EU-Türkei-Abkommen. Den Menschen Grün nach der Bundestagswahl ausschließen
kel immer unterstützt. Es stehen überwiegend würde in einem solchen Drittstaat gesagt, ob sollte.
Dinge darin, die ich mittrage. Ich finde auch, sie eine Chance haben, Asyl zu bekommen, SPIEGEL: Zurück zur Atomkraft wird es mit
der Begriff Leitkultur … den Grünen wohl kaum gehen.
oder nicht. Die Praxis sollte dazu führen, dass
SPIEGEL: … mit dem Merz vor mehr als 20 Jah- sich Menschen ohne Bleibechance gar nicht Günther: Ich bin Ministerpräsident eines Bun-
ren provozierte … erst auf lebensgefährlichen Fluchtrouten auf deslandes, das mehr Strom aus erneuerbaren
Günther: … der Begriff passt in unsere Zeit. den Weg zu uns machen. Energien erzeugt, als es verbraucht. Für die
Wir merken, wie wichtig es ist, dass es ge- SPIEGEL: Das Grundsatzprogramm ist offen- Atomkraft würde ich mich nicht verkämpfen.
wisse allgemein verbindliche Werte gibt in kundig ein Indiz dafür, dass Friedrich Merz Interview: Ansgar Siemens n

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 45

DEUTSCHLAND
Mutmaßlicher Rädelsführer Prinz Reuß bei Festnahme im Dezember 2022: Faible fürs Übersinnliche
»Uranus im Quadrat«
TERRORISMUS Ein Jahr nach der Verhaftung der mutmaßlichen »Reichsbürger«-
Terrorgruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß erhebt der Generalbundesanwalt
Anklage. Die Akten bieten tiefe Einblicke in eine bizarre Welt.
efangene wie Birgit Malsack-
G Winkemann hat die Justizvoll-
zugsanstalt Berlin-Lichtenberg
nicht alle Tage. Die promovierte Ju-
ristin war einst Richterin, saß für die
AfD im Bundestag und soll nicht we-
niger als den Umsturz in der Bundes-
republik Deutschland geplant haben.
Die 59-Jährige ist eine von 27 mut-
maßlichen Putschistinnen und Put-
schisten, die der Generalbundesanwalt
nun angeklagt hat. Demnach wollten
Malsack-Winkemann und ihre Mit-
streiter das demokratische System mit
Militärgewalt beseitigen und durch
eine provisorische Regierung unter
Führung des Adelssprosses Heinrich
XIII. Prinz Reuß ersetzen.
In dem bislang beispiellosen Ver-
fahren spielt Malsack-Winkemann
eine wichtige Rolle. Rund 40 Stunden
lang plauderte sie vor laufender Ka-
mera über das Innenleben der sekten-
haften Verschwörertruppe. Die Ab-
schriften ihrer Vernehmungen umfas-
sen mehr als 1000 Seiten und bieten
tiefe Einblicke in eine bizarre Welt aus
46 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Internetmythen, Hass und dem Glau-
ben an kosmische Kräfte.
So schilderte Malsack-Winkemann
den Ermittlern eine Geheimsitzung
des »Rats«, des obersten Führungs-
gremiums der Gruppe, der Mitte Juli
2022 im thüringischen Bad Lobenstein
tagte. Laut Anklage traf man sich im
Jagdschloss Waidmannsheil von Prinz
Reuß. Den 72-Jährigen hält die Bun-
desanwaltschaft für einen Rädelsfüh-
rer der Truppe.
Im Jagdschloss habe man das er-
sehnte Ende der Bundesrepublik
Deutschland diskutiert. Den Ermitt-
lungen zufolge glaubten Prinz Reuß
und seine Leute an die Existenz des
internationalen Militärgeheimbunds
»Allianz«, der ihnen ein Zeichen zum
Losschlagen senden würde. Nur
wann? Nach Aussage von Malsack-
Winkemann habe eine Mitstreiterin
im »Rat« das Wort ergriffen und er-
klärt, dass das Signal für den 1. August
zu erwarten sei. Denn an diesem Tag
stehe angeblich »Uranus genau im
Quadrat« zu Saturn.
Der Glaube, dass alles mit allem
zusammenhängt und nichts zufällig
ist, war laut Anklage ein zentrales Ele-
ment der Ideologie der Gruppe. Und
auch Prinz Reuß hatte offenbar ein
Faible fürs Übersinnliche: Im Schloss-
park entdeckten Fahnder eine begeh-
bare goldene Pyramide mit Stühlen
und Feldbett.
Der Fall wirft die Frage auf, wie
27 erwachsene Menschen, darunter
Akademiker, Ex-Offiziere und gestan-
dene Kriminalbeamte, in den Sog
einer wilden Mischung aus Esoterik,
»Reichsbürger«-Ideologie und blut-
rünstigen Schauermärchen geraten
konnten. Eine Melange, die sie offen-
bar radikalisierte – und von einem
Sturm auf den Bundestag, von »Säu-
berungen« und militärischen Stand-
gerichten fantasieren ließ.
Für die Justiz wird das Verfahren
zu einer Herausforderung. Der Gene-
Boris Roessler / dpa
ralbundesanwalt hat Anklage an drei
verschiedenen Oberlandesgerichten
zugleich erhoben, in Frankfurt am
Main, Stuttgart und München. Die
Hauptvorwürfe lauten: Bildung einer
terroristischen Vereinigung und »Vor-
bereitung eines hochverräterischen
Unternehmens« – eines Staatsstreichs.
Es ist das größte Staatsschutzver-
fahren in der jüngeren Geschichte der
Bundesrepublik. 5000 Polizisten in elf
Bundesländern waren im Einsatz, als
die Truppe vor einem Jahr zerschlagen
wurde. Inzwischen ist die Akte in dem
Terrorverfahren auf mehr als 425.000
Seiten angewachsen, die Blätter füllen
rund 850 Leitz-Ordner. Beim Kopie-
ren musste die Bundesanwaltschaft
das Bundeskriminalamt um Amtshilfe
bitten. Und: Dutzende zusätzliche An-
klagen könnten folgen – parallel wird
in dem Komplex derzeit gegen 42 wei-
tere Beschuldigte ermittelt.
Die Prozessserie gegen Prinz Reuß
und seine mutmaßlichen Mitver-
schwörer wird aber nicht nur wegen
ihres schieren Umfangs zur Heraus-
forderung. Die Richterinnen und Rich-
ter müssen sich, sollten sie die Ankla-
gen zulassen, tief in die Parallelwelt
der »Reichsbürger« und des Ver-
schwörungskults QAnon hineinbege-
ben: Sie sind mit offenkundig ge-
waltbereiten Männern und Frauen
konfrontiert, bei denen die Grenze
zwischen Wahn und Wirklichkeit bis-
425.000 weilen fließend scheint.
Laut der bis zu 700 Seiten dicken
Seiten Anklagen war ein Teil der Truppe wie
besessen von der Überzeugung, dass
umfasst die in Deutschland und der Welt ein
Akte des »Deep State« die Geschicke lenke, ein
finsteres Kartell kindermordender Eli-
Staatsschutz- ten. Sie hätten Deutschland mit gehei-
verfahrens. men Tunnelsystemen durchzogen und

»Deep Undergound Military Bases« (DUMBs)
errichtet. Dort würden Kinder gefangen ge-
halten und getötet, um ein ominöses Verjün-
gungselixier aus ihnen zu gewinnen.
So behauptete eine der Angeschuldigten,
die früher in der Querdenkerpartei »Die Basis«
aktiv war, nach der Flutkatastrophe im Som-
mer 2021 im Ahrtal seien 700 Kinderleichen
in einem Regierungsbunker entdeckt worden.
In einer Vernehmung berichtete die Frau über
satanische Rituale, bei denen Kinder angeblich
misshandelt, gebraten und verspeist worden
seien. Ein anderer Beschuldigter prahlte vor
seinen Mitstreitern damit, als Mitglied der
»Allianz« selbst in den geheimen Tunneln ge-
kämpft zu haben, um Kinder zu befreien.
Auch Prinz Reuß und sein mutmaßlicher
Co-Rädelsführer, der ehemalige Bundeswehr-
kommandeur Rüdiger von Pescatore, glaubten
den Ermittlungen zufolge an die Existenz der
DUMBs. Mal vermutete die Truppe die Ein-
gänge zu den Tunnelsystemen im Schwarzwald,
mal in der Schweiz. Dort hätten sie mithilfe
der »seherischen Fähigkeiten« von zwei Grup-
penmitgliedern lokalisiert werden können.
Schauermärchen über unterirdische Ver-
liese und Kindstötungen sind zentraler Be-
standteil des im Internet entstandenen QAnon-
Verschwörungsmythos. Sie schließen an die
mittelalterliche Gräuelpropaganda über an-
gebliche jüdische Ritualmorde an.
Antisemitismus scheint innerhalb der Grup-
pe um Prinz Reuß und Pescatore verbreitet
gewesen zu sein. In abgehörten Telefonaten
bezeichnete ein Beschuldigter den Präsidenten
der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker
Beck, als »Judenschwein«, während ein ande-
rer die Bundesrepublik einen »Judenstaat«
nannte, dessen »Zionistenpack« bald nicht
mehr da sein werde. Bei der Ex-AfD-Abge-
ordneten Malsack-Winkemann wurde ein
Pamphlet mit dem Titel »Der Sklavenhan-
del – Eine Spezialität der Juden« sichergestellt.
So tief sich die sektenähnliche Reuß-Truppe
in ihrer Verschwörungswelt verfing – harmlos
war sie offenkundig nicht, im Gegenteil. Wer
glaubt, dass die herrschenden Eliten Kinder
essen, scheint zum Äußersten bereit. In Chats
und Telefonaten ergingen sich die Beschuldig-
ten in martialischen Gewaltvorstellungen.
»Wer nicht deutsch ist, kommt weg«, sagte eine
Beschuldigte über die Zeit nach dem ersehnten
Umsturz. Über gleichgeschlechtliche Paare
urteilte ein anderer, dass »dieses Gesindel end-
lich vernichtet werden« müsse.
In ihrem Hass putschten sich die mutmaß-
lichen Verschwörer offenbar gegenseitig auf.
In einer »Einsatzbesprechung« ging es angeb-
lich um die Frage, was der Bundespräsident
nach einem Putsch zu erwarten habe. Maß-
gebliche Figuren der Gruppe sollen gesagt
haben: Das Staatsoberhaupt werde wie die
anderen »an die Wand gestellt«.
Ein anderer Verschwörer schwadronierte
davon, dass er »bis zum Tod« kämpfen werde.
Auch Prinz Reuß gab sich in abgehörten Ge-
sprächen martialisch. Als es in einem Telefonat
um die steigenden Gaspreise ging, soll er ge-
DEUTSCHLAND
tobt haben: Diese Leute müsse man »einen ler Ex-Bundeswehrmann Pescatore, für die
nach dem anderen umlegen«. Gemeint waren Anreise zum Schießtraining sollen Teilnehmer
offenbar die Regierenden in Berlin. daraus zwischen 150 und 200 Euro Spritgeld
Auf dem Handy von Peter Wörner, einem bekommen haben.
ehemaligen Soldaten des Kommandos Spezial- Die mutmaßlichen Verschwörer entwarfen
kräfte, entdeckten die Ermittler 35 Videos, die bereits Uniformen für ihre Schattenarmee, im
brisantesten stammen aus dem Bundestag. Sie September 2022 gaben sie laut Anklage eine
zeigen die Tiefgarage, die unterirdischen Kata- Großbestellung Schulterklappen und Kragen-
komben zwischen den Parlamentsgebäuden, spiegel für die verschiedenen Dienstgrade in
auch der Plenarsaal mit dem Bundesadler ist Auftrag, auch Nummernschilder für Militär-
zu sehen. Birgit Malsack-Winkemann hatte ihn fahrzeuge ließen sie schon erstellen.
und weitere Männer im Sommer 2021 ins Par- Einer aus der Truppe kaufte sich eine
lament hineingelotst. Sie saß zu der Zeit für Doppelbockflinte Mercury light und eine Win-
die AfD im Bundestag. chester, Kaliber 7,62 Millimeter. Andere hatten
Die Ankläger sind überzeugt, dass Wörner sich schon vorher eingedeckt: Insgesamt
und weitere Mitverschwörer zumindest zeit- 382 Schusswaffen sowie 148.000 Munitions-
weise ernsthaft den Plan verfolgten, bewaffnet teile stellten die Fahnder bei ihrer Großrazzia
in den Bundestag einzudringen und Politiker sicher. Bei Pescatore und in seinem Umfeld
abzuführen. Noch wenige Monate vor dem fanden sie zwei Pistolen der Marken Walther
Auffliegen der Gruppe soll Malsack-Winke- und Makarov, die in den Neunzigerjahren aus
mann ihnen Tipps gegeben haben, wann mög- einem Bundeswehrdepot verschwunden wa-
lichst viele Politiker anwesend sind. In ihren ren – zusammen mit 163 Schusswaffen.
Vernehmungen bestreitet sie Terror- und Um- Dann schien es so weit zu sein: Über einen
sturzpläne. Prinz Reuß schweigt bisher zu den Telegram-Kanal ließ die Truppe einen 48-Stun-
Vorwürfen der Bundesanwaltschaft. den-Countdown ausrufen. Der »Deep State«
Nach und nach gelang es der Truppe, neue trete in seine »absolute Endphase« ein. Ex-
Mitstreiter zu rekrutieren. Vor allem aktive und Elitesoldat Pescatore ließ wissen, er begebe
ehemalige Polizisten sowie Soldaten versuch- sich jetzt in den »Gefechtsstand«.
ten die mutmaßlichen Verschwörer offensiv für Anlass soll der Tod der britischen Königin
ihre »Neue Deutsche Armee« anzuwerben. Die gewesen sein – für die Verschwörer offenbar
Ex-Elitesoldaten Pescatore und Wörner führten das ersehnte Signal, dass die »Allianz« endlich
offenbar regelrechte Vorstellungsgespräche. losschlagen werde. In der Gedankenwelt der
Laut Anklage hielten sie die konspirativen Tref- verhinderten Putschisten hatte der mythische
fen teilweise in den Räumen einer seit Jahren Geheimbund – dem nach ihrer Vorstellung
insolventen Handwerksfirma im sächsischen auch Donald Trump und Wladimir Putin an-
Mulda ab. Der Anwalt von Peter Wörner woll- gehörten – allein in Deutschland eine Million
te sich gegenüber dem SPIEGEL nicht zu den klandestine Soldaten unter Befehl.
Vorwürfen äußern, Pescatores Verteidiger ließ Doch nach Ablauf des 48-Stunden-Count-
eine Anfrage unbeantwortet. downs passierte nichts. Je länger der vermeint-
Die Pläne der Truppe klingen größenwahn- liche Tag X des Umsturzes auf sich warten ließ,
sinnig: In ganz Deutschland wollten sie »Hei- desto mehr zerstritt sich die Truppe. Den Er-
matschutzkompanien« aufbauen, insgesamt mittlungen zufolge kam es zu einem Zerwürf-
286 Stück mit je 250 Mann. Laut sichergestell- nis zwischen Prinz Reuß und Pescatore. Es
ten »Grundsatzpapieren«, in denen die Auf- ging um Geheimhaltungsverträge, die etliche
gaben der Kompanien nach dem »Tag X« um- in der Truppe unterschreiben sollten. Darin
rissen werden, sollten sie etwa für die »Neutra- wurde möglichen Verrätern in den eigenen
lisierung von konterrevolutionären Kräften« Reihen mit standrechtlicher Erschießung ge-
aus dem linken und islamischen Milieu sorgen. droht (SPIEGEL 24/2023).
Die sogenannte Patriotenkasse der Truppe Auch der vermeintliche »Verbindungsoffi-
verwaltete nach den Erkenntnissen der Ermitt- zier« zur »Allianz« gerierte sich zunehmend
unglaubwürdig. Laut Aussage von Malsack-
Winkemann behauptete der gebürtige Pforz-
heimer plötzlich, in Wahrheit vom Sternbild
der Plejaden zu stammen. Ein anderes Mal
habe er – ziemlich betrunken – gerufen, er sei
Jesus. Pech hatten die Verschwörer zudem mit
einem Schweizer Brüderpaar. Die Zwillinge
sollen ihnen nicht nur versprochen haben, sie
im großen Stil mit Waffen zu beliefern – sie
Peter Hagen / Funke Medien Thüringen
könnten auch einen Beweis für die Tunnel-
systeme des »Deep State« beschaffen.
Mindestens 138.710 Euro flossen den Er-
mittlungen zufolge von den deutschen Ver-
schwörern an die Brüder in die Schweiz. Die
hingegen lieferten: nichts. Offenbar waren
Prinz Reuß und seine Leute Betrügern auf-
gesessen.
Pyramide im reußschen Schlosspark Sven Röbel, Wolf Wiedmann-Schmidt n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 47
DEUTSCHLAND
Link
extrem
PRESSEFREIHEIT Ein Radiosender
verlinkt auf eine verbotene Internet-
plattform. Ermittler durchsuchen
die Redaktion und die Wohnung
eines Mitarbeiters. Jetzt kommt der
Fall vors Bundesverfassungsgericht.
erade einmal 836 Zeichen hat der Ar-
G tikel auf der Website des Freiburger
Senders Radio Dreyeckland – so viel
wie eine kurze Meldung. Das Ermittlungsver-
fahren gegen eine verbotene linksextreme
Vereinigung sei eingestellt worden, heißt es
darin, es habe »keinen genügenden Anlass«
gegeben für eine Anklage. Am Ende des mit
»FK« unterzeichneten Texts ist ein Link ge-
setzt zum digitalen Archiv dieser Vereinigung,
Indymedia Linksunten heißt sie.
Dieser Link beschäftigt seit August vergan-
genen Jahres die Justiz im Südwesten – und
nun auch das Bundesverfassungsgericht. Mehr
als 2100 Seiten umfasst allein die Akte gegen
den Autor des Artikels, den Redakteur Fabian
Kienert – bisher. Ihm wird ein »Verstoß gegen
ein Vereinigungsgebot« vorgeworfen. In der
Folge waren sowohl die Redaktion als auch
die Wohnungen von Kienert und dem Ge-
schäftsführer des erklärtermaßen linken Sen-
ders durchsucht worden. Sowohl die Betrof-
fenen als auch die Staatsanwaltschaft Karls-
ruhe gingen gegen gerichtliche Beschlüsse vor,
so wurde die Akte immer dicker; die Staats-
anwaltschaft versuchte sogar, drei Richter des
Landgerichts wegen Befangenheit abzuleh-
nen – ein höchst ungewöhnlicher Vorgang.
Jetzt hat der Redakteur, unterstützt von
der »Gesellschaft für Freiheitsrechte« (GFF),
Verfassungsbeschwerde gegen die Gerichts-
beschlüsse zur Durchsuchung seiner Privat-
räume erhoben. Er sieht seine Grundrechte
verletzt – unter anderem die Presse- und
Rundfunkfreiheit, die Unverletzlichkeit der
Wohnung und sein Recht auf informationelle
Selbstbestimmung.
Am 17. Januar um kurz nach halb sieben
war Kienert von stürmischem Klingeln an
seiner Wohnungstür geweckt worden. »Ich
habe erst gedacht, dass das ein Klingelstreich
ist«, erinnert sich der Journalist. Als jemand
an der Tür rüttelte, habe er sich aber gefragt,
ob es vielleicht Einbrecher seien. »Doch dann
kam relativ schnell die Ansage: ›Kriminal-
polizei‹.« Eineinhalb Stunden lang, so Kie-
48 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
nert, durchsuchte der Trupp – eine Polizistin
und sieben Kollegen – die Wohnung. Die
Beamten fotografierten jeden Raum und fer-
tigten eine Wohnungsskizze an – obwohl es
laut Durchsuchungsbeschluss nur darum ge-
hen sollte, herauszufinden, wer den Artikel
verfasst hatte.
Die Beamten nahmen einen Laptop, zwei
Handys, fünf USB-Sticks und eine SD-Karte
mit, mit fast der ganzen redaktionellen Kom-
munikation. Zeitgleich durchsuchten andere
Beamte die Wohnung des Chefs, dem Ver-
antwortlichen im Sinne des Presserechts.
Auch bei ihm beschlagnahmten sie verschie-
dene Geräte und Speichermedien. Etwas spä-
ter begann die Durchsuchung im Radiosender.
Die immerhin wurde gestoppt, als Kienert
erklärte, dass er den Artikel verfasst hatte und
dies den Polizisten auch am Computer zeigte.
»Der Durchsuchungsbeschluss hätte es her-
gegeben, die komplette IT-Infrastruktur der
Redaktion abzutransportieren«, sagt GFF-
Jurist David Werdermann; die GFF unter-
stützt regelmäßig Klagen, wenn sie Grund-
rechte verletzt sieht. »Wenn Medien damit
rechnen müssen, strafrechtlich verfolgt und
sogar vorübergehend stillgelegt zu werden,
nur weil sie kritisch über ein Vereinsverbot
berichten, bleibt von der Pressefreiheit in dem
Punkt nicht mehr viel übrig.«
Kienert und der Geschäftsführer bekamen
ihre Geräte und Datenträger nach wenigen
Tagen wieder zurück. Deren Inhalte aber
wurden »gespiegelt«, also gespeichert. Und
die Hauptverhandlung gegen Kienert steht
noch aus.
Tatsächlich betrieb Indymedia Linksunten
eine Internetplattform, auf der auch Aufrufe
zu Straftaten und Inhalte mit verfassungs-
feindlicher Grundhaltung veröffentlicht wur-
den. Die Vereinigung und der Weiterbetrieb
ihrer Website wurden vor gut sechs Jahren
verboten, nach Krawallen am Rande des G20-
Gipfels in Hamburg. Dagegen gerichtete Kla-
gen hatten keinen Erfolg. Die Staatsanwalt-
Durchsuchung der Redaktion von Radio Dreyeckland: Urheberschaft glaubhaft eingeräumt
schaft Karlsruhe sah in dem Link eine straf-
bare Unterstützung einer verbotenen Ver-
einigung.
Gegen die Durchsuchungen wehrten sich
Kienert und die Redaktion zunächst erfolg-
reich: Diese seien nicht verhältnismäßig ge-
wesen, entschied das Landgericht Karlsruhe;
sie könnten eine einschüchternde Wirkung
auf Redaktionsmitglieder und Informanten
haben. Die gespiegelten Daten seien zu lö-
schen. Auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft
entschied aber das Oberlandesgericht (OLG)
Stuttgart, die Durchsuchung bei Kienert selbst
sei rechtmäßig gewesen.
Das Landgericht ließ auch die Anklage
gegen Kienert nicht zu, weil weder in der Ver-
öffentlichung des Textes an sich noch im Set-
zen des Links eine strafbare Handlung liege.
Und es fehle an einem hinreichenden Ver-
dacht, dass die Vereinigung überhaupt noch
existiert – denn nur, wenn es sie noch gibt,
könne man sie unterstützen. Das sah das OLG
erneut anders: Das Archiv sei im April 2020
hochgeladen worden – damit sei der Verein
weiter aktiv gewesen. Und Kienerts Artikel
habe werbenden Charakter, das lasse darauf
schließen, dass er die Vereinigung unterstütze.
Die Durchsuchung seiner Wohnung und
die Beschlagnahme der Datenträger würden
»den Quellenschutz und das Redaktions-
geheimnis aushöhlen«, macht Kienerts
Anwältin Angela Furmaniak jetzt in der Ver-
fassungsbeschwerde geltend. Das sei »unver-
hältnismäßig«, auch weil Kienert seine Ur-
heberschaft mehrfach »glaubhaft eingeräumt«
habe.
Ab April soll es zur Hauptverhandlung
gegen Kienert kommen, erklärte ein Sprecher
des Landgerichts. Aktuell seien dafür elf Ver-
handlungstage reserviert.
Der Artikel ist samt Link bis heute online.
Die für die Aufsicht über den Privatsender
zuständige Landesmedienanstalt hat die Ver-
öffentlichung nie beanstandet.
Dietmar Hipp n
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DEUTSCHLAND
Kleine Diebe
KRIMINALITÄT Die Polizei hat 2022 mehr Kinder und Jugendliche als Tatverdächtige registriert als vor Corona.
Aber sind sie wirklich krimineller geworden? Eine neue Studie kommt zu einem anderen Ergebnis.
a sitzt sie, die mutmaßliche Diebin, im
D Hinterzimmer der Douglas-Filiale in
der Innenstadt von Hannover. Vorn,
im Verkaufsraum, läuft langsam das Weih-
nachtsgeschäft an, die Beleuchtung hängt
schon. Hinten, im Kabuff des Ladendetektivs,
kommt das Geschehen auf Monitoren an, ton-
los aufgezeichnet von Dutzenden Überwa-
chungskameras. Auf einem Stuhl an der Wand
hockt die 15-Jährige, gesenkter Blick, langer
schwarzer Daunenmantel, Markenschuhe von
Balenciaga. Neben ihr ihre Schwester. »Sie
hat mich angerufen, dass sie Scheiße gebaut
hat«, sagt die 22-Jährige. Da sei sie schnell
hergekommen.
Die Polizisten Tom Holtz und Marisa Kühn
fragen erst mal, was passiert sein soll. Der De-
tektiv rattert es routiniert herunter: Er habe
per Video beobachtet, wie das Mädchen Pro-
dukte aus den Regalen genommen, aber an
der Kasse nur ein Parfüm bezahlt habe. Vor
dem Laden habe er sie gestellt. Die Strafan-
zeige hat der Mann auf einem Vordruck schon
fertig ausgefüllt, die Bilder der Überwachungs-
kameras liegen auf CD gebrannt dabei. Als
Diebesgut sind aufgelistet: ein »Super Cover-
age«-Concealer von Too Faced, ein Feuchtig-
keitsgel und ein weiterer Concealer von Huda
Beauty sowie ein Lipgloss von Kylie Jenner.
Gesamtwert: 121 Euro und 48 Cent.
Die Polizistin Kühn wendet sich dem Mäd-
chen zu. »Wir können uns auch duzen, wenn
das okay ist?« Kurzes Nicken. »Was hier ge-
schildert worden ist, ist ein Diebstahl. Du
musst dich dazu nicht äußern.« Keine Antwort.
»Sind die Eltern erreichbar?« – »Die arbei-
ten«, sagt die große Schwester. Die Polizisten
prüfen die Ausweise, notieren sich Adresse
und Telefonnummern. Dann kann das Mäd-
chen mit seiner Schwester gehen. Nach kaum
einer halben Stunde ist der Einsatz beendet.
Routine. Alltag.
46.576 des Ladendiebstahls verdächtige
Jugendliche hat die Polizei im vergangenen
Jahr registriert, deutlich mehr als 2021 (27.101).
Auch bei anderen Delikten nahmen die Zahlen
zu. Auf den ersten Blick eine besorgniserre-
gende Entwicklung. Hinzu kamen Einzelfälle,
die viel Aufmerksamkeit erregten. Die Jugend-
lichen, die zu Silvester in Berlin-Neukölln und
anderswo Einsatzkräfte mit Raketen und Böl-
lern beschossen. Die beiden noch strafunmün-
digen Mädchen, die im nordrhein-westfäli-
schen Freudenberg im März 2023 gestanden,
die zwölfjährige Luise erstochen zu haben.
50 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Während der Coronapandemie waren Doch das Zahlenwerk hat viele Tücken.
die Kriminalitätszahlen stark gefallen. Exper-
ten hatten daher für 2022 mit dem Wieder-
anstieg gerechnet. Der kam tatsächlich, aber
Manche Delikte haben 2022 gegen den Trend
abgenommen, etwa Sachbeschädigung oder
einfache Körperverletzung, gefährliche Kör-
viel stärker als erwartet: Die Zahlen schos- perverletzung hingegen hat zugenommen.
sen zum Teil über das Vor-Corona-Niveau Auskunft über die Ursachen gibt es in der PKS
hinaus. Jugendliche Tatverdächtige beim kaum. Haben die Jugendlichen verlernt, Kon-
Delikt Ladendiebstahl: plus 18,4 Prozent im flikte gewaltlos zu lösen? Hat während der
Vergleich zu 2019. Gewaltkriminalität: plus Lockdowns häusliche Gewalt zugenommen –
11,5 Prozent. Über alle Delikte lag die Stei- einer der größten Risikofaktoren, um selbst
gerung bei 6,8 Prozent. Bei den Kindern unter gewalttätig zu werden? Holt die Jugend ge-
14 Jahren stiegen die Werte noch stärker: wissermaßen nach, was während der Pande-
32,7 Prozent bei Ladendiebstählen, 27,9 Pro- miejahre nicht ging? Oder werden schlicht
zent bei Gewaltdelikten, bei allen Delikten mehr Fälle angezeigt? Alles möglich, plausibel
27,7 Prozent. »Wenn Sie so wollen, sind die vielleicht, aber bisher kaum belegt, manchmal
Zahlen der Beweis dafür, dass die Pandemie auch nur Spekulation.
unsere Kinder verändert hat«, sagte Nord- Ein Teil der Zunahmen geht schlicht auf
rhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul Gesetzesverschärfungen zurück. So fallen
(CDU) bei der Vorstellung der Polizeilichen etwa Jugendliche, die ein Nacktfoto von sich
Kriminalstatistik (PKS) des Bundeslandes im selbst verschicken, bereits unter den geän-
Februar. derten Kinderpornografie-Paragrafen. Auch
der Straftatbestand der Bedrohung wurde
erweitert.
Rückgang der Gewalt Doch nicht in allen Bereichen waren die
Erklärungen so einfach, etwa bei Gewalttaten
Jugendliche in Deutschland im Alter von 14 bis und Diebstählen. Eine neue Studie des Krimi-
unter 18 Jahren, die einer polizeilich regis-
nologischen Forschungsinstituts Niedersach-
trierten Straftat verdächtig sind, je 100.000
Jugendliche sen (KFN) liefert jetzt erste Antworten. Seit
1998 befragt das KFN Schülerinnen und Schü-
Gewaltkriminalität Sachbeschädigung
Ladendiebstahl
ler in Niedersachsen zu ihren Erfahrungen als
Täter und Opfer von Kriminalität, seit 2013
neuer Zensus
1500 systematisch alle zwei bis drei Jahre. Die Er-
gebnisse der Forscher um Leonie Dreißigacker
1.000
und Thomas Bliesener ermöglichen es nun,
die Kriminalität von Jugendlichen vor und
500
nach der Pandemie zu vergleichen. Besser zu
verstehen, was passiert ist – und was nicht.
0
Lange Zeit war die Jugendkriminalität in
2010 12 14 16 18 20 22 Deutschland rückläufig. Von 1997 bis 2016 re-
Jugendliche in Niedersachsen, die nach gistrierte die Polizei etwa im Bereich Laden-
eigener Aussage eine Staftat begangen diebstahl rund zwei Drittel weniger jugendli-
haben, in Prozent che Tatverdächtige. Bei Sachbeschädigung und
Gewalt Sachbe- Laden- Gewaltkriminalität stiegen die Zahlen bis Mit-
insgesamt* schädigung diebstahl te der Nullerjahre an, um danach ebenfalls um
2013 7,9 6,3 5,2 fast 60 Prozent zu sinken. Allerdings handelt
es sich bei den polizeilichen Zahlen nur um
2015 6,1 4,8 4 das sogenannte Hellfeld, also jene Fälle, die
2017 7,7 5,3 4,2 den Behörden bekannt werden. Das Dunkel-
feld kann je nach Delikt beträchtlich sein. So
2019 7,1 6,1 5,5
wird laut einer Studie des Bundeskriminalamts
2022 6 6,2 7,7 nur rund ein Drittel aller Körperverletzungen
und Sachbeschädigungen von den Opfern der
* ohne sexuelle Delikte Polizei gemeldet. Bei Drogenkriminalität
S Quellen: Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik;
kommt es maßgeblich darauf an, wie viel und
◆
Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, Befragte:
jeweils zwischen 8539 und 12.444 Neuntklässler wie erfolgreich die Polizei kontrolliert.

Steigen oder sinken die Zahlen in
der Polizeistatistik, ist damit zunächst
unklar, ob sich tatsächlich die Krimi-
nalität verändert – oder nur das An-
zeigeverhalten der Bevölkerung oder
die Ermittlungsarbeit der Polizei. Erst
die Kombination von Polizeistatistik
mit Befragungen wie jenen des KFN
vervollständigen das Bild: Die Jugend
in Deutschland ist danach über die
vergangenen 15 Jahre signifikant we-
niger gewalttätig geworden.
Markiert 2022 nun den Beginn
erneut steigender Jugendkriminalität?
»Auf Basis unserer Zahlen können
wir ein Stück weit Entwarnung ge-
ben«, sagt KFN-Direktor Thomas
Bliesener. Insbesondere im Bereich
Gewalt stiegen die Werte nicht – son-
dern sanken sogar. So gaben im Jahr
2019 6,0 Prozent der befragten Schü-
lerinnen und Schüler an, in den zwölf
Monaten vor der Befragung alleine
eine Körperverletzung begangen zu
haben. 2022, nach Corona, waren es
mit 4,8 Prozent signifikant weniger.
Bei den Delikten Raub, Erpressung
und Körperverletzung mit einer Waf-
fe gab es keine signifikanten Verände-
rungen. Der Gesamtindex Gewalt fiel
von 7,5 auf 6,4 Prozent.
Auch sonst kann laut den nieder-
sächsischen Forscherinnen und For-
schern von einem Anstieg der Ju-
gendkriminalität keine Rede sein. Bei
Fahrzeugdiebstahl, Sachbeschädi-
gung oder Graffitisprühen stagnierten
die Werte, schwarzgefahren sind 2022
signifikant weniger Jugendliche als
noch 2019, dasselbe gilt für den Ver-
kauf von Drogen. Einzige Ausnahme:
Ladendiebstahl. 7,7 Prozent gaben
an, im Jahr zuvor etwas gestohlen zu
haben. Das ist der höchste Wert seit
Beginn der systematischen Erhebung
2013 und signifikant mehr als noch
2019, als 5,5 Prozent bekannten,
Ladendiebstahl begangen zu haben.
Ein nieseliger Novemberdienstag
in Hannover. Für die Polizei bedeutet
das: keiner auf der Straße, also gibt
es auch keinen Ärger, zumindest nicht
draußen. Marisa Kühn und Tom
Holtz sind im Streifenwagen unter-
wegs, sie fahren Richtung Vahren-
heide und Sahlkamp. Hohe Mehr-
familienhäuser dominieren in diesen
Stadtteilen das Bild. Viele Sozialwoh-
nungen gibt es hier, die Arbeitslosig-
keit ist überdurchschnittlich, ebenso
der Anteil der Menschen mit Migra-
tionshintergrund. Es gibt hier Adres-
sen, da kann Holtz, seit neun Jahren
im Revier, auswendig aufsagen, wer
in welcher Wohnung wohnt. Wo noch
ein Haftbefehl offen ist. Ob man über
den Balkon flüchten kann. »Hier wird
man teilweise von Zwölfjährigen
DEUTSCHLAND
durchbeleidigt«, sagt Holtz. Es gibt
eine gewisse Solidarität gegen die
Polizei. Mit Pfiffen wird gewarnt,
wenn die Beamten kommen, Ver-
dächtige verschwinden in Wohnun-
gen, in denen sie gar nicht wohnen.
So erzählen es Holtz und Kühn.
Die Straftaten gingen oft wie Wel-
len durchs Viertel, vom selben Delikt
viele zugleich. Kürzlich hatten sie
eine Serie von Motorroller-Diebstäh-
len, jeder Roller ein Fall für die Sta-
tistik – wobei alle Gefährte wieder
auftauchten: Die Täter brachen sie
auf, schlossen die Zündung kurz und
fuhren so lange herum, bis der Tank
leer war. Nachforschungen ergaben:
ein TikTok-Trend. Im Oktober ermit-
telte die Polizei zwei Tatverdächtige,
15 und 18 Jahre alt. Seitdem ist wieder
Ruhe. Dafür brannten in der Zeit
nach Halloween Müllcontainer, die
nächste Welle.
Ist es schlimmer geworden nach
Corona? Holtz überlegt, wägt ab, sagt
dann: »Ich sehe keinen Unterschied
zur Vor-Corona-Zeit.« Das passt zu
den Ergebnissen der KFN-Studie.
Für die Studie haben die Forsche-
rinnen und Forscher 8539 Neuntkläss-
ler in Niedersachsen anonym befragt.
Die Jungen und Mädchen waren im
Polizeibeamte Kühn, Holtz in ihrem Revier
Durchschnitt rund 15 Jahre alt. »Er-
fahrungsgemäß spiegeln die Entwick-
lungen in Niedersachsen ganz gut den
Bundesschnitt wider«, sagt Bliesener.
In ihrer Umfrage erheben die Wis-
senschaftler stets auch Daten zu den
Einflussfaktoren von Kriminalität,
insbesondere Gewalt. Demnach be-
richteten 2022 rund 18,5 Prozent der
Neuntklässler von physischer Gewalt
durch die Eltern im vorangegangenen
Jahr, etwa dass ihnen »eine runter-
gehauen« wurde. Das sind ähnlich
viele wie 2019. Die Hypothese, Co-
rona könnte häusliche Gewalt beför-
dert haben, bestätigt sich zumindest
in diesen Zahlen nicht. Das deckt sich
Mutmaßlich gestohlene Kosmetika
mit einer kürzlich erschienenen Stu-
die der Universität Jena, die ebenfalls
keinen signifikanten Anstieg der
häuslichen Gewalt während der Pan-
demie gefunden hat.
Auch die Sozialkompetenzen der
Kinder scheinen nur in geringem Aus-
maß gelitten zu haben. Der Indikator
für Gewaltaffinität stieg leicht im Ver-
gleich zu 2019, die Empathie der
Jugendlichen ging leicht zurück. Beide
Rafael Heygster / DER SPIEGEL (3)
Veränderungen sind aber nicht deut-
lich genug, um größere Änderungen
des Gewaltverhaltens zu begründen.
Zu guter Letzt decken sich die posi-
tiven Befunde der KFN-Forscher auch
mit der Statistik zu sogenannten Rauf-
unfällen an Schulen. Die Lehranstal-
Ladendetektiv in einer Douglas-Filiale in Hannover ten sind verpflichtet, ernsthafte Ver-
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 51

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DEUTSCHLAND
selbst seien nicht krimineller als vor Corona –
was erklären könnte, warum die Dunkelfeld­
daten des KFN keinen Anstieg zeigen. Sozio­
logen der Universität Köln haben kürzlich
berechnet, dass die PKS­Zahlen zu einer sol­
chen zeitlichen Verschiebung passen würden.
»Das wäre dann ein einmaliger Effekt, der
sich nächstes Jahr wieder rausmendeln wür­
de«, sagt Bliesener.
An einem Freitagnachmittag sitzen in der
Jugendbutze in Hannover­Vinnhorst fünf
Mädchen und sieben Jungs, ihnen gegenüber
eine Polizistin und ein Polizist auf Klapp­
stühlen. Sozialarbeiter Julian Fiß, 23, hat die
Beamten ins Jugendzentrum eingeladen, die
Rafael Heygster / DER SPIEGEL
beiden sind in Zivil gekommen. Die Jugend­
lichen dürfen sie befragen.
Ein Mädchen meldet sich: »Wie ist es, Poli­
zistin zu sein?« Ein Junge will wissen: »Wie
ist es im Jugendknast?« Ein zweites Mädchen
fragt: »Warum hat das Jugendamt meine Cou­
Sozialarbeiter Fiß
sine weggenommen? Unsere Familie braucht
eigentlich keine Hilfe.« Jemand anderes:
letzungen durch tätliche Auseinander­ »Darf man einen Polizeieinsatz filmen, wenn
setzungen zwischen Schülern in der Schule man den sieht?« Eine weitere Teenagerin:
oder auf dem Schulweg der Gesetzlichen Un­ »Ich habe im Internet gesehen, wie Kinder
fallversicherung zu melden. Es zeigt sich: Die einen Briefkasten abfackeln. Ist das eine Straf­
Zahl der Raufunfälle pro Schüler ist 2022 im tat?« So geht das fast anderthalb Stunden
Vergleich zu 2019 um mehr als ein Viertel ge­ lang. Die Polizistin und der Polizist reden
sunken. Die Anzahl der gemeldeten Frakturen über ihre Ausbildung, über das Recht am eige­
pro Schüler ging um rund 17 Prozent zurück. nen Bild, Strafmündigkeit und darüber, wo
Wie aber passt all dies zur Polizeilichen die Grenze von Notwehr ist. Eigentlich war
Kriminalstatistik, in der die Zahlen zum Teil als Thema mal »Gewalt mit Messern« ange­
gestiegen sind? KFN­Direktor Bliesener hält dacht, aber danach fragt niemand, und so
zwei Mechanismen für denkbar. kommen Messer gar nicht vor. Hier geht es,
Erstens lebten wegen der Zuwanderung das merkt man schnell, weniger darum, wo­
2022 deutlich mehr Kinder und Jugendliche rüber gesprochen wird – sondern dass über­
in Deutschland. Von den rund eine Million haupt gesprochen wird.
Ukraineflüchtlingen ist etwa jeder Dritte Vinnhorst ist ein »vermeintlicher Brenn­
unter 18, und auch aus anderen Ländern sind punkt«, wie Sozialarbeiter Fiß sagt. Die Poli­
vermehrt Minderjährige in die Bundesrepu­ zisten und Polizistinnen würden hier als
blik gekommen. »Auch wenn diese genauso »Machthabende« auftreten, und von den Kin­
kriminell sind wie der deutsche Durchschnitt, dern vielfach auch so wahrgenommen. »Wenn
steigt allein durch die höhere Anzahl auch die einmal die Woche ein Einsatz in der Schule
absolute Zahl der Straftaten«, sagt Bliesener. ist, das macht was mit einem.« Das Treffen
Zuwanderung allein könne allerdings nur mit den Beamten in Zivil soll den Kindern die
einen Teil des Anstiegs erklären. Chance geben, ihr möglicherweise negatives
Als zweiten Faktor sieht der Forscher Bild zu hinterfragen. »Zu sehen, das sind auch
Nachholeffekte nach Corona. »Das Austesten nur Menschen, die vielleicht selbst Kinder
von Grenzen konnten Jugendliche während haben«, sagt Fiß.
der Pandemie nicht praktizieren«, vermutet Mit Gewalt haben sie in der Jugendbutze
Bliesener. »Das haben sie nach Ende der Ein­ kein Problem, erzählt Fiß, aber Frust gebe es
schränkungen gewissermaßen nachgeholt.« natürlich, vielleicht auch mehr als in anderen
Jugendliche, die ohne Coronaeinschränkun­ Stadtteilen. »Es gibt viele Familien mit vielen
gen 2020 oder 2021 straffällig geworden wä­ Kindern, da bleibt für den Einzelnen weniger
ren, tauchen demnach nun in der Statistik für
2022 auf. Die absolute Zahl der Tatverdäch­
Zeit«, sagt der Sozialarbeiter. Auch das Schul­
system passe für viele Jugendliche hier nicht,
tigen in der Polizeilichen Kriminalstatistik sei
auf diese Weise gestiegen. Die Jugendlichen
die Klassen seien zu groß, es fehle an Unter­
stützung.
In der Jugendarbeit wollen sie die negativen
Gefühle nicht kritisieren oder gar unterdrücken
– sondern in einem legitimen Rahmen thema­
tisieren. Neuerdings haben sie zum Beispiel
»Wenn einmal die Woche Boxhandschuhe angeschafft und Schutzaus­
ein Einsatz in der Schule ist, rüstung. Die Aggression, so die Idee, ist weiter­
hin da, aber sind landet im Boxsack. Und nicht
das macht was mit einem.« in der Polizeilichen Kriminalstatistik.
Julian Fiß Philipp Kollenbroich n
52 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023

Steuertipps für Superreiche
NEBENGESCHÄFTE Ausgerechnet eine Spitzenbeamtin aus dem
Finanzministerium beriet Betuchte in einem Luxushotel. Nun muss sie mit
Disziplinarmaßnahmen rechnen.
ei Minute 37 und 56 Sekunden
B hat die Dame mit dem grau me­
lierten Kurzhaarschnitt ihren
Auftritt. Verwackelte Bilder, offenbar
mit einem Handy aufgenommen. Sie
zeigen die Referatsleiterin Gerda
Hofmann aus dem Bundesfinanz­
ministerium (BMF), zuständig für
Grund­ und Erbschaftsteuer, wie sie
im Konferenzsaal eines Königsteiner
Luxushotels das erwartbar wohl­
situierte Publikum gewarnt haben
soll: Schon bald könnte sich ein
Steuerschlupfloch beim Erwerb von
Grundstücken schließen.
Es ist eine Szene aus der ZDF­
Dokumentation »Die geheime Welt
der Superreichen«. Und die hat nun
Folgen.
Denn Hofmann tritt als Gastred­
nerin bei einer Veranstaltung einer
Steuerkanzlei auf, die sich darauf
spezialisiert hat, ihre wohlhabende
Klientel durch kreative Gesetzesaus­
legung vor einem allzu kräftigen Zu­
griff des Finanzamts zu bewahren.
Laut Ankündigung spricht die Fach­
frau aus Berlin »nicht in dienstlicher
Eigenschaft«.
Doch was die Beamtin schließlich
in dem Luxushotel darbietet, scheint
nichts anderes zu sein als eine Plau­
derei aus dem Nähkästchen des Fi­
nanzministeriums.
Ganz frisch seien ihre Informatio­
nen, soll sie geprahlt haben, »das
weiß ich nämlich erst seit Dienstag«.
Aber sie könne ihre Zuhörer beruhi­
gen: Sie verfüge über »Werkzeug­
kästen«, um das Schlimmste zu ver­
hindern. Alle Betroffenen könnten
auch künftig »ruhig schlafen«.
Für die Beamtin selbst gilt das der­
zeit womöglich nicht. Denn nach Be­
kanntwerden der Szene nahm die für
personelle Angelegenheiten zustän­
dige Zentralabteilung ihres Ministe­
riums Vorermittlungen in der Ange­
legenheit auf. Mittlerweile sind sie
abgeschlossen. Die Schlussfolgerung
der Prüfer: Der Auftritt der Kollegin
sei »dienstrechtlich relevant«.
Der Grund: Beamte des Ministe­
riums müssen solche Auftritte eigent­
DEUTSCHLAND
koll ausgewiesen. Hofmanns Stimme
ist nicht zu hören.
Sollte sich bestätigen, dass die
Zitate so oder ähnlich fielen, sei zu
klären, ob die Referatsleiterin ver­
trauliche Dinge ausgeplaudert habe,
heißt es im BMF. Und ob auch Dienst­
geheimnisse darunter waren. Auf eine
schriftliche Anfrage des SPIEGEL ant­
wortete Hofmann nicht.
Ihr Fall ist brisant, aber nicht über­
raschend. Denn seit Jahrzehnten er­
regt die Steuerabteilung des BMF
immer wieder Aufsehen, weil Mit­
In der Steuer- lich anmelden und sie sich im Zweifel arbeiter mit außerdienstlichen Auf­
abteilung gilt
sie als eine
genehmigen lassen. Hofmann unter­
ließ angeblich beides. Nach SPIEGEL­
Informationen wussten die zustän­
tritten, Vorträgen oder Veröffent­
lichungen ihr Salär aufbessern. Lind­
ner und seine Vorgänger sollen die
der wenigen digen Stellen im BMF von dem Auf­ Nebentätigkeiten in den vergangenen
tritt nichts, ein Disziplinarverfahren Jahren zunehmend eingeschränkt ha­
Linken. sei deshalb unausweichlich. Die Emp­ ben, dennoch bieten sich offensicht­
fehlung der Prüfer an die Hauslei­ lich weiterhin günstige Gelegenheiten.
tung: Das BMF solle ein Disziplinar­ Als unbedenklich gelten Auftritte,
verfahren gegen Gerda Hofmann an­ wenn sich die Ministeriumsmitarbei­
strengen. ter an die Vorgaben halten. Heißt: Sie
Entscheiden wird darüber Staats­ dürfen im Wesentlichen nur über
sekretär Steffen Saebisch als Amts­ Sachverhalte sprechen, die schon ein­
chef des Finanzministeriums, ein mal veröffentlicht wurden. »Man ist
enger Vertrauter des Ressortchefs eine Art Erklär­Bär«, berichtet einer
Christian Lindner (FDP). Es bestehen mit langjähriger Erfahrung.
kaum Zweifel, dass Saebisch den Die Hinzuverdienstmöglichkeiten
Empfehlungen seiner Personaler fol­ bei Vorträgen gelten als erklecklich,
gen wird. sind aber längst nicht so lukrativ wie
Das Verfahren allerdings kann sich schriftstellerische Nebentätigkeiten.
hinziehen. So hat Hofmann nun einen Etliche Beamte verfassen Rechtskom­
Monat Zeit, um sich zu den Vorwür­ mentare zu Gesetzen aus ihrem
fen zu äußern. Die darauffolgenden Arbeitsalltag. Die Einschätzungen
Untersuchungen werden aller Erfah­ aus erster Hand sind bei Richtern,
rung nach noch einmal etliche Mona­ Anwälten und Professoren sehr be­
te in Anspruch nehmen. liebt, entsprechend gut verkaufen sich
Die Beamten aus dem Personal­ Bücher, die solche Beiträge enthalten.
referat prüfen dabei insbesondere, ob Unter Hofmanns Kollegen herrscht
Sitz des Bundes- sich ihre Kollegin überhaupt so ge­ Verwunderung über ihren Auftritt
finanzministeriums
in Berlin: Mitarbeiter
äußert hat wie zitiert. In dem Fern­ bei den Reichen und Schönen. In der
bessern seit Jahr- sehbeitrag sind ihre Aussagen als Steuerabteilung gilt sie als eine der
zehnten ihr Salär auf nachgesprochenes Gedächtnisproto­ wenigen verbliebenen Linken mit
besten Kontakten zur SPD.
Regelmäßig soll sie in internen
Vorlagen für die Wiedereinführung
der Vermögensteuer argumentiert
haben – seit den Neunzigerjahren
des vergangenen Jahrhunderts gilt
das im BMF als Frevel. Genauso wie
ihr Vorschlag für höhere Erbschaft­
steuern, dem bislang kein Finanz­
minister folgen mochte.
Völlig offen ist, wie das Verfahren
gegen Hofmann ausgehen wird. Soll­
te ein Vergehen festgestellt werden,
sieht das Disziplinarrecht eine breite
Spanne an Sanktionsmaßnahmen vor.
Das beginnt bei einem Verweis und
Paul Langrock / Zenit / laif
geht bis zu einer Disziplinarklage zur
Entfernung aus dem Dienst.
»So weit«, sagt ein Insider voraus,
»wird es in diesem Fall aber nicht
kommen.«
Christian Reiermann n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 53

REPORTER
Privat
»Tu’s nicht!«, 1968
FAMILIENALBUM Horst Stipp, 79, aus New York
ch rieche heute noch, wie dieses Polizei-
I motorrad brennt, ich stand nahe dran mit
meiner Kamera, auf dem Mittelstreifen.
Es war eine der vielen Studentendemos am
Ku’damm, ich glaube, kurz nach dem Attentat
auf Rudi Dutschke.
Den Protestzug sieht man nicht im Bild, er
kommt gleich von links. Ich habe damals Sozio-
logie an der Freien Universität studiert, in
einem Jahrgang mit Dutschke, aber ich bin nie
mit Transparenten mitgelaufen, es hat mich
eher interessiert, den Protest zu dokumentieren.
Der junge Mann, der das Motorrad anzündete,
stand direkt neben mir, er muss es ganz schnell
mit Benzin übergossen haben, ich hörte noch,
wie jemand schrie: »Tu’s nicht!«, dann war er
schon weg.
In den Seminaren diskutierten wir damals viel
über Marxismus und Kapitalismus. Ich war
gegen den Vietnamkrieg, gegen Springer, den
Schah, aber ich war etwas feige auf der Straße,
wenn die Polizei kam.
Andererseits wollte ich keinen blutigen
Umsturz in Deutschland und keine Weltrevolu-
tion. Mich zog es in die USA, wo ich jetzt auch
54 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
FLUGHÄFEN
»Gehören Geschenke
ins Handgepäck,
Herr van Bebber?«
SPIEGEL: Der Dortmunder
Flughafen wurde zum besten
Deutschlands gewählt.
Van Bebber: Genau, eine sehr
erfreuliche Überraschung!
SPIEGEL: Keiner pünktlicher
als Sie. Woran liegt das?
Van Bebber: Als kleiner Flug-
hafen haben wir kurze
Wege. Wenn es an der Ab-
fertigung hakt, lösen
wir das Problem schnell auf.
SPIEGEL: Ihr Slogan lautet:
»Näher als du denkst«. Vergisst
man Sie so oft?
Van Bebber: Das Ruhrgebiet
ist ein riesiger Ballungsraum.
Manchmal müssen wir die
Leute erinnern, dass unser Air-
port mittendrin liegt.
SPIEGEL: Von Dortmund fliegen
im Jahr so viele, wie andere
Flughäfen im Monat abfertigen.
Van Bebber: Aber von Dort-
mund aus kann man viele Ziele
in Osteuropa direkt erreichen.
Dafür nehmen viele auch eine
längere Anfahrt in Kauf.
SPIEGEL: Welche Vorteile hat
ein kleiner Flughafen?
Van Bebber: Die Leute lieben
die übersichtliche Infrastruktur.
Dort ist Check-in, hier Sicher-
heitskontrolle. Wenn Sie durch
die Kontrollen sind, laufen Sie
noch 100 Meter, und das Flug-
zeug steht vor Ihrer Nase.
seit Langem lebe. Mit einem meiner Kommili- SPIEGEL: Wollen die Leute nicht
tonen an der FU sprach ich öfter darüber,
wir halfen beide in der Uni-Bibliothek aus. Er
war beim Sozialistischen Deutschen Studen-
essen und shoppen?
Van Bebber: Die meisten Pas-
sagiere stehen ein wenig
tenbund, einer der »Revolutionäre«, vor denen unter Strom, wenn sie fliegen.
ich mich etwas minderwertig fühlte, aber ich Die Sicherheitskontrollen
fand ihn auch süß (vielleicht hätte ich ihm das stressen sie. Sie möchten ihr
auch so gesagt, aber damals waren ja auch die Gate finden. Da sind sie
meisten Revolutionäre recht homophob). froh, wenn die Komplexität
Er war glatt rasiert, Milchgesicht, ich war ganz überschaubar ist.
stolz, als er einmal keine gute Antwort hatte auf SPIEGEL: Geschenke ins Hand-
meine Frage: Kennst du Vietnam wirklich so gut, gepäck?
dass du weißt, was für eine Gesellschaftsordnung Van Bebber: Die kann man
für die am besten ist? ruhig in den Koffer packen.
Sein Name war Jan-Carl Raspe. Jahre später SPIEGEL: Haben Sie schon
sah ich seinen Steckbrief im Postamt in Bremen. mal ein Gepäckstück verloren?
Ich stand nach Briefmarken an, für meine Van Bebber: Persönlich ist
Sammlung, und da war auf einmal sein Name mir das noch nie passiert. JUP
an der Wand: ein stark gealtertes Gesicht.
Ich erkannte ihn nicht gleich. Und dann war Der Wirtschafts-
ich sehr gerührt.
Hans Juergen Landes
ingenieur Ludger
Aufgezeichnet von Timofey Neshitov van Bebber, 60, ist
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns
Geschäftsführer
Ihre Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: des Dortmund
familienalbum@spiegel.de Airport.

Schee war’s
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Wie ein verlorener Ehering so spät
auftauchte, dass er fast keine Gefühle mehr auslöste
. milie, nach ihnen ist sogar eine Straße
m April 1964 heiratete Anna Sei­
I senberger, 22 Jahre alt, Kellnerin
einer Gastwirtschaft im oberbaye­
rischen Hohenlinden, einen ihrer
Kunden. Der Bräutigam war zehn
Jahre älter als sie, ein Landwirt. Er
hieß Georg Hupfauer.
Anna Hupfauer arbeitete dann auf
dem Feld. Sie gebar drei Kinder, ihr
Mann starb nach zehn Jahren Ehe. Es
sei »schnai ganga«, sagt sie heute,
Lungenkrebs, den Ehering habe sie
aber weitergetragen – obwohl er ihr
zu groß gewesen sei.
An einem Tag im Sommer 1977,
drei Jahre nach dem Tod ihres Man­
nes, verlor Anna Hupfauer ihren Ehe­
ring. Sie sei von der Heuernte heim­
gekommen, und der Ring sei nicht
mehr da gewesen. Sie habe ihn lange
zu Hause gesucht, dann auf dem
Acker.
Irgendwann heiratete sie einen an­
deren Landwirt und zog mit ihm nach
Österreich.
Heute ist sie 81 Jahre alt und heißt
Anna Gappmair. Im November 2023
bekam Anna Gappmair einen Anruf
aus Bayern: Ein Kriminalpolizist teil­
te ihr mit, er habe ihren Ehering ge­
funden.
Sie macht eine Pause am Telefon,
als sie davon erzählt.
Was ging ihr an dem Tag durch den
Kopf? Was fühlte sie?
Sie sucht lange nach den richtigen
Worten.
Tom Gottmann, Beamter im
Münchner Polizeipräsidium, wohnt in
Forstinning, in der Nähe von Hohen­
linden. In seiner Freizeit geht er öfter
mit einem Metalldetektor durch die
Gegend. Er ist gern an der frischen Luft.
An manchen Tagen findet Gott­
mann Patronenhülsen aus dem Zweiten
Weltkrieg, an anderen Uniformknöpfe
aus den napoleonischen Kriegen, römi­
sche Münzen, Matchboxautos, Heili­
genanhänger. Die Landwirte seien
dankbar, sagt er, er nehme auch Dosen
und Kronkorken mit.
Privat
Einmal, und das sei ein wirklich
schöner Fund gewesen, sei er auf die
Erkennungsmarke eines US­Soldaten
gestoßen. Über Facebook habe er
jemanden in den USA gefunden, der
seinerseits den Sohn des Soldaten
ausfindig machen konnte. Der Soldat
selbst sei bereits in den Siebzigerjah­
ren gestorben.
Am Sonntag, dem 29. Oktober
2023, sei er seit Stunden unterwegs
gewesen, sagt Gottmann, als seine
Sonde auf einem Acker bei Hohen­
linden ein klares Signal von sich ge­
geben habe. Eines, das sie bei größe­
ren Münzen mache, oder bei Muske­
tenkugeln.
Er habe sich gebückt und einen
Ring ausgegraben. Aus Gold.
Auf der Innenseite stand eingra­
viert: »Georg 25.4.64«. Und die Pun­
ze: 585.
Ein hoher Reinheitsgrad, Schmuck
mit diesem Goldgehalt ist besonders
widerstandsfähig, er hält meist sehr
lange.
Er hätte diesen Ring als Fundsache
bei der Gemeinde abgeben können,
sagt Gottmann. Der Ring wäre dann
allerdings eingelagert und vermutlich
nach Ablauf der gesetzlichen Warte­
zeit wieder an ihn herausgegeben
worden. Die Wahrscheinlichkeit,
dass dort eine Verlustanzeige hinter­
legt gewesen sei, habe Gottmann für
extrem gering gehalten.
Tom Gottmann beschloss, die Frau
zu suchen – er war sich sicher, dass es
sich um den Ring der Braut handelte,
die zu Zeiten von Bundeskanzler
Ludwig Erhard einen Georg geheira­
tet hatte und hoffentlich noch am Le­
ben war.
Im Standesamt Hohenlinden er­
fuhr Gottmann, dass am 25. April
1964 ein Georg Hupfauer eine Anna
Seisenberger geheiratet hatte. Zu
Anna Seisenberger erhielt er keine
Auskunft, aber die Hupfauers sind in
Hohenlinden eine alteingesessene Fa­
»Nun kommt benannt, der Hupfauer Anger. Unter
mit dem Ring
ein Stück
diesem Familiennamen fand Gott­
mann eine Schwiegertochter der
Frau, die er suchte.
Ihrer Lebens­ Inzwischen hat einer von Anna
Gappmairs Söhnen den verlorenen
geschichte zu Ring nach Österreich gebracht. Tom
Ihnen zurück.« Gottmann, der Finder, legte dem Ring
einen kurzen, handgeschriebenen
Brief bei.
Er beginnt mit »Sehr geehrte Fr.
Gappmair« und endet mit »nun
kommt mit dem Ring ein Stück Ihrer
Lebensgeschichte zu Ihnen zurück«.
Anna Gappmair bewahrt den Ring
in einer Schmuckschatulle in ihrem
Schlafzimmer auf.
Seit mehr als vier Jahrzehnten
trägt sie einen anderen Ehering. Der
ist ihr nicht zu groß, und auf dem ist –
sie entschuldigt sich kurz am Telefon
und sieht zur Sicherheit nach – nichts
eingraviert.
Ihr jetziger Mann, mit dem sie kei­
ne Kinder hat – »Drei reichen!« –,
dafür eine Pension, habe nichts zu ihr
gesagt, als der Ring von Georg auf­
getaucht sei.
Gar nichts?
Gar nichts.
Und wie ging es denn ihr dabei?
Fundstelle des
Eherings in Hohen-
»Es war – wie ein Wunder«, sagt
linden, Schlagzeile Anna Gappmair schließlich. »Dass er
von schwäbische.de ihn fand, der Herr Gottmann. Aber
es ist alles so lange her.«
Zu ihrer Hochzeit seien damals, im
April 1964, an die 100 Gäste gekom­
men, sagt Anna Gappmair. Es sei auf­
regend gewesen, im Gasthaus zur
Post, »schee« sei es gewesen.
Aber alles doch so lange her.
Der Gasthof zur Post in Hohen­
linden existiert noch. Den gibt es laut
seiner Website »noch aus der Zeit, als
täglich an der Poststraße von Mün­
chen nach Mühldorf Postkutschen
fuhren«. Ein österreichischer Kaiser
habe hier Rast gemacht, ein Papst
ebenfalls. Und auch Ludwig van Beet­
hoven.
Anna Gappmair fährt immer wie­
der nach Hohenlinden. Sie sagt, sie
werde jetzt vor allem diesen Acker,
auf dem sie bei den Mäharbeiten im
Sommer 1977 ihren Ehering verlor,
mit anderen Augen sehen.
Timofey Neshitov n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 55
 Mutterland
56 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
 REPORTER

SEHNSUCHT Ungewollt kinderlose Paare zieht es zunehmend in Fruchtbarkeitskliniken nach Griechenland.

Auf Kreta ermittelt die Polizei gegen eine Klinik, über die Leihmütter augebeutet und Babys für
bis zu 100.000 Euro verkauft worden sein sollen. Eine Recherche im Urlaubsparadies, das zu einem Ort
des Verbrechens wurde. Von Dialika Neufeld und Simon Prades (Illustrationen)

Telefonat mit der Beschuldigten Patritsia R., sagen, die sie angeworben haben soll. Die altruistischen Gründen für Dritte austragen,
Untersuchungshaftanstalt Neapolis, Kreta: Jüngere hatte vor einigen Wochen eine Fehl- aus Nächstenliebe also, nicht gegen Geld. Die
geburt. Die andere stand erst am Anfang des Leihmütter dürfen nicht genetisch mit dem
SPIEGEL: Verstehen Sie, warum Sie im Ge- Leihmütterprogramms: Die Ärzte sollten ihr Baby verwandt sein, sie dürfen nicht unter
fängnis sitzen? bald einen Embryo in die Gebärmutter ein- 25 Jahre alt sein, und sie dürfen nicht bezahlt
Patritsia R.: Die denken, ich sei gefährlich. setzen. werden, sondern nur entschädigt.
Aber ich bin ein guter Mensch, eine Mutter, Doch dazu kam es nicht mehr. Die Ermitt- Die Wunscheltern müssen ein hetero-
nichts weiter. ler der Abteilung »Organisierte Kriminalität« sexuelles Paar oder weibliche Singles sein und
SPIEGEL: Was ist mit den Anschuldigungen der Polizei von Kreta entschieden, dass nach aus medizinischen Gründen unfähig, selbst
gegen Sie? zehn Monaten Observierung am 8. August Kinder zu bekommen. Gleichgeschlechtliche
Patritsia R.: Es ist nicht meine Schuld. Was der Moment für den Zugriff gekommen war. Paare und männliche Singles sind ausge-
auch immer sie im Labor gemacht haben, »Babyhandel-Ring auf Kreta zerschlagen«; schlossen.
oder was der Doktor gemacht hat – das war »Menschenhandel und illegale Adoptionen Der Kunde, der das Kind in Natalias Bauch
hinter verschlossenen Türen. Meine Aufgabe von Babys auf Kreta«; »Australische Paare bestellt hat: ein 60 Jahre alter, alleinstehender
war es, mich um die Mädchen zu kümmern. im Ungewissen nach Leihmutterskandal«: So Mann. »Ein Geschäftsmann mit viel Geld«,
Sie herzubringen. Sie aus ihren Häusern ab- stand es später in den Medien. sagt Natalia, »das hat Patritsia mir erzählt.«
zuholen und zur Klinik zu fahren. Alles war Die Polizei hatte den mutmaßlichen Kopf Die Klinik soll von ihren Kunden bis zu
legal. Ich habe alles gemacht, wie es der Dok- der Gruppe in seiner Klinik gestellt, den 100.000 Euro pro Kind verlangt haben. Leih-
tor gesagt hat. 73-jährigen Gynäkologen und Chef des mütter wie Natalia bekamen nur einen Bruch-
Mediterranean Fertility Institute Ioannis teil davon. Sie verkauften ihren Körper, den
An einem Morgen im September, genau einen Giakoumakis, den sie alle nur »den Doktor« Gewinn machten andere.
Monat nachdem die Polizei die Klinik in der nennen. Die Beamten hatten auch seinen 71 Frauen soll die Gruppe um das Medi-
Zimvrakakidon-Straße 24 stürmte, steht eines Embryologen in Handschellen abgeführt und terranean Fertility Institute laut den Ermitt-
dieser »Mädchen« im Gerichtsgebäude der dessen Assistentin mitgenommen. Festge- lern teils wiederholt als Eizellspenderinnen
Stadt Chania, im Nordwesten Kretas. Sie heißt nommen wurden außerdem zwei Frauen, die ausgebeutet haben, mitunter ohne Bezahlung.
Natalia und stammt aus Moldau, eine Frau die Polizei als »Maklerinnen« bezeichnet, 98 Frauen sollen dem Menschenhandel zum
von 39 Jahren. Natalia ist im vierten Monat eine davon Patritsia. Acht Mitarbeiterinnen Opfer gefallen und als Leihmütter benutzt
schwanger und zur Befragung bei der Staats- und Mitarbeiter insgesamt, die im großen worden sein – allein seit Dezember 2022. Ein
anwaltschaft vorgeladen. Ihr Name ist ein Stil für internationale Paare und Singles Netzwerk aus »Maklerinnen« soll sie syste-
Pseudonym, sie fürchtet, in ihrer Heimat er- Leihmütter organisiert und Babys vermakelt matisch in Rumänien, Moldau, Georgien oder
kannt zu werden. haben sollen – weit über den gesetzlich er- der Ukraine mit finanziellen Versprechen an-
Sie hat sich schwarz angezogen für diesen laubten Rahmen hinaus. Vier von ihnen sitzen gelockt und zur Befruchtung nach Griechen-
Tag, von Kopf bis Fuß. Der Babybauch wölbt derzeit in Untersuchungshaft. land gebracht haben. Auch Fälle illegaler
sich sanft über ihre Leggins. Im Gebäude Anders als in vielen anderen Ländern ist Adoptionen gehören zu den Vorwürfen.
nebenan wurde gerade ein mutmaßlicher Leihmutterschaft in Griechenland seit 2002 Interpol beteiligte sich an den Ermittlun-
Mörder vorgeführt. »Nur Menschen, die ech- erlaubt und durch ein eigenes Gesetz geregelt. gen. Die griechische Finanzaufsicht veröffent-
te Probleme haben, sind an so einem Ort«, Allerdings darf eine Frau ein Baby nur aus lichte einen Bericht über Offshore-Konten
sagt Natalia. Ihr zurzeit größtes Problem: Sie der Klinik, darauf mehr als drei Millionen
hat dieses fremde Baby im Bauch. Es sind Euro. Es ist ein Skandal, der weit über die
noch fünf Monate bis zur Übergabe. Und Urlaubsinsel Kreta hinausreicht, mit Wunsch-
Patritsia, die Frau, die alles für sie eingefädelt eltern von Großbritannien bis Australien und
hat in diesem Land, dessen Sprache sie nicht osteuropäischen Leihmüttern, in deren Er-
spricht, sitzt am anderen Ende der Insel im zählungen nicht immer ganz klar wird, wo
Gefängnis. Patritsia, die sie dem Doktor vor- ihr freier Wille endete und wo die Ausbeutung
gestellt hat, die ihr die Hormone und Medi- begann.
kamente gab. Die von sich sagt, dass sie allen Der SPIEGEL hat mit Leihmüttern gespro-
immer nur »Freude bringen« wollte, den chen, mit Ermittlern, Beschuldigten, Wunsch-
Familien und den »Mädchen«. Die Ermittler eltern und mit Anwälten in Australien. Die
dagegen sagen, sie sei eine Kriminelle. Und Untersuchungen laufen noch. Der Anwalt des
Natalia eines ihrer Opfer. Hauptbeschuldigten, des Klinikchefs Giakou-
Natalia stammt aus einem moldauischen makis, lässt eine Bitte um Stellungnahme zu
Dorf, eine Frau mit graugrünen Augen, einem den Vorwürfen unbeantwortet.
runden Gesicht und kräftigen Händen. Sie
sagt: »Seit das mit der Klinik passiert ist, ist Unterhaltung in der moldauischen Facebook-
mein Leben die Hölle. Ich will einfach, dass Gruppe »Leihmütter«, Februar 2023:
Patritsia wieder freikommt.«
Neben ihr stehen zwei weitere von Patrit- Bianca: Guten Abend! Ich suche nach einer
sias »Mädchen«, sie stammen aus Rumänien. Leihmutter für Griechenland. Ich biete Serio-
Auch sie sollten Leihmütter werden, auch sie sität, und alles ist legal. Details über privat.
wollen beim Staatsanwalt für die Frau aus- Danke!

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 57

REPORTER

Mariana: Hi, in welcher Klinik bieten Gen-Analysen und Aromatherapie. »D u musst »Erfüllen Sie sich Ihren Traum in
Sie die Leihmutterschaft in Griechen- Bereits 2020 soll es nach Kontrollen diesem Paradies«, postete »der Dok-
land an? Auffälligkeiten in der Klinik gegeben m e hr tor« auf seinem Instagram-Kanal,
Bianca: … Mediterranean Fertility haben – doch die blieben folgenlos. a r b e ite n« , dazu das Bild von einem Infinitypool
Institute auf der Insel Kreta in Chania Neben dem Eingang quillt ein ha b e d e r und Fotos von lächelnden Paaren.
Eine der besten und bekanntesten Briefkasten über. Auf ein Klingeln öff- Giakoumakis zeigte sich gern auf
Kliniken in Griechenland. net niemand. Doch man sieht, dass D oktor internationalen Medizinkongressen,
drinnen auch einen Monat nach den ge sa g t , e r in Genf, New York, Dubai, ein Typ
Mit einem solchen Chat fing es meist Festnahmen noch gearbeitet wird: Im mit kurzem, grauem Haar, Krawatte
an. Die Frau, die ihn auf der moldaui- Foyer steht ein Rollkoffer, Fenster sind
b ra uche und manchmal einer Pilotenbrille.
schen Seite gestartet hat, ist leicht zu an einem Tag geöffnet, am nächsten m e hr 14 Immobilien soll die Klinik an-
lokalisieren. Laut ihrem LinkedIn- wieder zu. Inzwischen hat die »Na- » Mä d che n«. gemietet haben, in denen osteuro-
Profil arbeitet sie an der Rezeption tionale Behörde für medizinisch päische Leihmütter untergebracht
eines Hotels in einem Touristenort unterstützte Fortpflanzung« die Kli- Patritsia R.,
Beschuldigte
wurden – von der Zeit des Embryo-
einige Kilometer außerhalb von Cha- nik übernommen und steht vor transfers bis zum Kaiserschnitt. Die
nia. Nebenberuflich ist sie, so scheint der Aufgabe, die Überbleibsel dieses Suche nach diesen Häusern führt
es, Teil jenes Netzes an Vermittlerin- Skandals abzuwickeln. Denn bis vor durch die halbe Stadt und auch über
nen, die für Nachschub an Leih- Kurzem waren hier die Lebensträume Chania hinaus, an Olivenhainen vor-
müttern sorgten. Auch Patritsia R., von vermutlich mehreren Hundert bei, an Touristenorten, in denen
die Beschuldigte, die aus Rumänien Familien in flüssigem Stickstoff Donut-Luftmatratzen verkauft wer-
stammt und seit 20 Jahren auf Kreta konserviert: Eizellen, Spermien, Em- den, Sonnenhüte und T-Shirts mit
lebt, findet man in diesen Foren. Sie bryonen, tiefgefroren bei minus der Aufschrift »I CRETE«.
schreibt dort: »Ich bin auf der Suche 196 Grad. In und um Chania sollen In einer Apartmentanlage im
nach einer Leihmutter oder bereits bis heute schwangere Leihmütter aus- Küstenort Maleme liegen mehrere
schwanger. Es werden sehr gute Be- harren, die nicht wissen, wie es weiter- Wohnungen, in denen Frauen unter-
dingungen und gutes Geld ange- geht. Die dazugehörigen Eltern ban- gebracht worden sein sollen. Patritsia
boten.« Offenbar hat sie nicht nur gen um ihre Babys. R. sagt, sie habe dieses Haus betreut.
potenzielle Leihmütter gesucht, son- Als Griechenland 2014 die Leih- Am Pool schläft eine Touristin, in der
dern auch Frauen, die bereit waren, mutterschaft auch für ausländische Auffahrt des Gebäudes parkt ein ver-
ihr eigenes Baby zu verkaufen. Staatsbürger erlaubte, eröffnete sich beultes Auto mit rumänischem Kenn-
für die Klinik ein neuer Markt: der zeichen. Wenn man klingelt, wird
Telefonat mit der Beschuldigten Pa- internationale Medizintourismus. Es hinter der Tür geflüstert, aber nie-
tritsia R., Untersuchungshaftanstalt bietet sich an. Kreta ist eine beliebte mand macht auf.
Neapolis: Urlaubsinsel, ein sicheres Reiseziel, An einem Donnerstagmorgen im
mit Stränden und gutem Essen. Dazu September sitzt die schwangere Na-
SPIEGEL: Wie viele Leihmütter haben ein Baby – das war das Angebot. talia in einer Fischtaverne am Strand,
Sie für die Klinik organisiert? Laut der Weltgesundheitsorgani- etwa 20 Kilometer außerhalb von
Patritsia R.: Als die Polizei kam, hatte sation ist weltweit einer von sechs Chania. Es sind noch keine Gäste da.
ich sieben Mädchen. Ich habe sie Menschen im zeugungsfähigen Alter Einige Touristen aus den umliegen-
hergebracht, eine Unterkunft für sie zumindest zeitweise von Unfrucht- den Ferienapartments sind auf der
gefunden, bin mit ihnen zum Super- barkeit betroffen. Bis 2031 soll sich Straße unterwegs. Nur das Rauschen
markt, zum Friseur, habe die Medika- der Leihmutterschaftsmarkt, so die des Meeres ist zu hören.
mente für sie abgeholt und sie in die Analyse einer weltweiten Unterneh- Natalia ist bereit, ihre Geschichte
Klinik gebracht. Nur zwei von ihnen mensberatung, nahezu verdoppeln. zu erzählen, nach einigem Zögern.
waren schwanger. Die anderen sind Und seit dem Krieg in der Ukraine, auf Sie wolle nicht erkannt werden, sagt
jetzt zurück nach Hause, sie sind in die bis vor Kurzem ein Großteil der sie, sie habe schon genug Probleme.
Sicherheit, bei ihren Kindern. internationalen Leihmutterschaften Sie trägt ein T-Shirt mit Mini-Maus,
SPIEGEL: Was waren das für Frauen? entfiel, hat Griechenland in diesem ihr Handy mit den Kopfhörern hat
Patritsia R.: Einem Mädchen, das sich Bereich noch einmal an Bedeutung sie vor sich abgelegt. Jeden Tag tele-
für eine Leihmutterschaft entscheidet, gewonnen. foniere sie mit ihren Kindern in Mol-
geht es nicht gut. Darum kommen sie dau, sagt sie, aber im Video dürfen
ja. Wirklich: Niemand würde das aus sie nur ihren Oberkörper sehen – »sie
Mitgefühl machen, für dich oder für wissen nichts von der Schwanger-
mich, weil du selbst keine Kinder be- schaft«, sagt sie, »sie glauben, ich
kommen kannst. Nein, sie machen arbeite in der Taverne«.
das alle nur fürs Geld. Und bis vor einem halben Jahr war
es ja auch so: Die Taverne, in der es
Das Mediterranean Fertility Institute Souvlaki gibt und gegrillten Oktopus,
liegt an einer Kreuzung im Zentrum in der zur Deko Anker hängen, gehört
von Chania, ein vanillegelbes, drei- Patritsias Mann Ioannis, einem höf-
stöckiges Gebäude mit Balkonen zur lichen Griechen. Natalia lebt also in
Vorderseite. Im ersten Stock, das der Obhut der Familie jener Frau, die
kann man auf dem Schild neben der sie nach Ansicht der Ermittler wohl
Eingangstür erkennen, saß Ioannis ausgebeutet hat.
Giakoumakis, »der Doktor«, und be- »Wieso Ausbeutung?«, fragt Nata-
riet Wunscheltern. Im zweiten Stock lia, »das war meine Entscheidung. Ich
wurden Eizellen entnommen und be- kannte die Bedingungen.« Es gebe
fruchtet, im dritten liegt ein Labor für Leute, die sagen, sie sei ein Opfer. Sie

58 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


selbst aber sehe das anders. Patritsia sei es
schließlich gewesen, die zu ihr gesagt habe:
Denk gut drüber nach, ob du das wirklich
machen willst. In griechischen Medien gab es
Berichte, wonach Leihmütter festgehalten
worden seien. Eine georgische Leihmutter, die
wieder zurück in ihrer Heimat war, erzählte
in einem Interview, dass sie sich kontrolliert
gefühlt habe. Natalia empfinde das nicht so,
sagt sie.
Patritsias Schwester sitzt mit am Tisch, und
auch ihr Mann setzt sich kurz dazu. Er ist es
auch, der das Telefonat mit seiner Frau im
Gefängnis ermöglicht hat. Patritsia sei eine
gute Frau, sagt er. In einer Ecke des Restau-
rants liegt Kinderspielzeug von ihrem zwei-
jährigen Sohn, ein Paw-Patrol-Spielteppich,
ein paar kleine Sandalen.
Telefonat mit der Beschuldigten Patritsia R.,
Untersuchungshaftanstalt Neapolis:
SPIEGEL: Wie wurden die Frauen bezahlt?
Patritsia R.: Jeden Monat bekamen sie ein
Gehalt vom Doktor. Nicht von mir. Sie be-
kamen es direkt.
SPIEGEL: Es soll Aufpasserinnen gegeben ha-
ben, die das Geld der Leihmütter verwalteten,
die für sie einkaufen gingen.
Patritsia R.: Nein. Es gab keine Regeln. Wir
sind doch keine Kannibalen, wir sind Men-
schen. Die Mädchen gingen an den Strand,
sie gingen in Restaurants, zum Shopping. Wir
waren keine Aufpasserinnen. Wir waren nur
die, die sich gekümmert haben. Sie waren frei.
Das Gericht und die Anwälte haben Videos,
die das beweisen.
Patritsia R. weint am Telefon, fast das gesam-
te Gespräch über. Sie beteuert, nicht geahnt
zu haben, dass sie etwas Illegales getan haben
könnte. Vor ein paar Jahren habe sie selbst
aus der Not heraus angefangen, in der Klinik
von Giakoumakis Eizellen zu spenden. Ir-
gendwann habe sie »der Doktor« gefragt, ob
sie nicht für ihn arbeiten wolle. Er brauchte
jemanden, der sich mit den Leihmüttern und
den Familien verständigen könne. R. spricht
neben ihrer Muttersprache Rumänisch flie-
ßend Griechisch, Englisch und etwas Italie-
nisch. Sie war perfekt.
Giakoumakis habe ständig Druck gemacht,
erzählt sie. »Du musst mehr arbeiten«, habe
er gesagt, er brauche mehr »Mädchen«, weil
es so viele Familien gebe, die Kinder wollten.
Am Telefon sagt Patritsia: »Ich sterbe hier
drinnen.« Sie meint das Gefängnis. Sie leide
darunter, nicht für ihren kleinen Sohn da sein
zu können, der autistisch sei und Therapie
brauche. Sie habe auch eine 13-jährige Toch-
ter. Man könnte an ihre Unschuld glauben,
doch da sind immer wieder Ungereimtheiten
im Gespräch. Fragt man R., wo sie festgenom-
men wurde, sagt sie: »Auf der Straße auf dem
Weg zur Klinik.« Fragt man die Ermittler,
sagen sie: Patritsia R. sei am Flughafen von
Athen festgesetzt worden. Sie soll mit einer
Rumänin auf dem Weg nach Thessaloniki
gewesen sein, um deren neun Tage altes Baby
an ein Paar zu verkaufen.
Fragt man sie, wie viel Geld die Leihmüt-
ter bekamen, sagt sie: 1000 Euro im Monat
und 20.000 nach der Geburt. Fragt man Na-
talia später, wie viel sie für das Baby bekom-
me, sagt sie: 500 Euro im Monat, bis zur
Geburt, danach noch einmal 9000 Euro.
Möglich, dass Patritsia R. das Ausmaß der
Illegalität nicht bewusst war. Und auch die
Leihmütter haben wohl meist daran geglaubt,
dass alles legal ist. Schließlich muss in Grie-
chenland jede Leihmutterschaft erst gericht-
Ihre Armu t zwa ng sie,
i hre n Körp er zu
ve rka u fen. Da s große
Ge ld ma chten a ndere.
REPORTER
lich genehmigt werden. Nur: Die Papiere, die
die Klinik den Richtern vorlegte, waren mut-
maßlich in vielen Fällen gefälscht. Laut Er-
mittlern sollen Scheinadressen und Schein-
ehen arrangiert worden sein, damit auch
Singlemänner und homosexuelle Paare an ein
Baby kommen konnten.
Auszug aus dem Vertrag einer rumänischen
Leihmutter mit einem griechischen Wunsch-
elternpaar von Februar 2023: »1. Die oben
genannten Parteien vereinbaren die Übertra-
gung der befruchteten Eizellen der (Name der
Mutter) in die Gebärmutter der (Name der
Leihmutter) … 3. Die Vereinbarung erfolgt ohne
finanzielle Gegenleistung.« Als Wohnadresse
der Leihmutter wurde die Klinikadresse ange-
geben, Zimvrakakidon-Straße 24, Chania.
Auch sie habe in der Klinik einen Vertrag
unterschrieben, sagt Natalia, »aber ich weiß
nicht, was da drinstand. Der Text war auf
Griechisch«. Sie habe auch keine Kopie be-
kommen. Alles sei über Patritsia gelaufen,
eine Sache des Vertrauens.
Was wäre, wenn sie eine Fehlgeburt hätte?
Darüber hätten sie nicht gesprochen. Ihr sei
aber klar gewesen: »Kein Baby, kein Geld.«
Was sie ihr aber erzählten: »Wenn ich etwas
tun würde, was die Schwangerschaft gefähr-
det, würden sie mich verklagen.«
Sie sei als Erntehelferin nach Griechenland
gekommen, vor einem Jahr, erzählt Natalia.
Ihr Leben in Moldau sei schwer gewesen. Sie
habe vier Kinder zu versorgen, ihr Mann sei
ein Trinker. Sie habe sich verschuldet, um
ihrer Familie ein Haus zu kaufen. Aber dort,
wo sie lebe, gebe es keine Arbeit, mit der sie
das Geld hätte zurückzahlen können. Mal
habe sie Holz gehackt für die Nachbarn, mal
in der Landwirtschaft ausgeholfen.
Auf Kreta fand sie einen Job auf einer Oli-
venplantage, dort arbeiteten einige Moldauer,
nur Männer, sagt Natalia, aber sie sei harte
Arbeit gewöhnt. Acht Stunden am Tag für
47 Euro, so viel hätte sie zu Hause niemals ver-
dienen können. Als die Olivensaison zu Ende
ging, stand sie wieder ohne Einkommen da.
Sie fing an, bei Patritsia und ihrem Mann
in der Taverne auszuhelfen, in der Küche. Sie
beobachtete Patritsia in der Zeit, diese gut
aussehende Frau mit den langen blonden
Haaren. Sie hörte ihre Gespräche am Telefon,
wie sie mit den »Mädchen« über das Leih-
mutterschaftsprogramm sprach, wie sie täg-
lich mit dem »Doktor« telefonierte. Irgend-
wann habe sie Patritsia angesprochen: »Ich
will das auch machen«, habe sie gesagt.
Patritsia fuhr sie in die Klinik, wo Giakou-
makis einen Ultraschall machte und Natalias
Blut untersuchte. Patritsia erklärte ihr, sie
müsse Medikamente nehmen. Sie wisse nicht,
was das für Medikamente waren, sagt Natalia.
Nur dass sie davon Ausschlag an den Beinen
bekommen habe.
Am 2. Mai wurde ihr der Embryo eingesetzt.
Zehn Tage später machten die Ärzte in der
Klinik einen Schwangerschaftstest: positiv.
»Ich war glücklich«, sagt sie. Sie habe die
9000 Euro vor sich gesehen und daran gedacht,
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 59
REPORTER
was sie in ihrer Heimat damit würde machen
können. Den Kredit für das Haus abbezahlen.
Die Ausbildung ihrer Tochter finanzieren.
Weiß sie, dass die Klinik bis zu 100.000 Euro
pro Baby kassiert haben soll? Natalia guckt
etwas hilflos. »Ja«, sagt sie dann. Sie habe oft
gedacht, dass 9000 Euro wenig sei für eine
Frau, die ihren Körper anbiete, die durch eine
Schwangerschaft gehe, mit all ihren Risiken.
Und was sie da beschreibt, ist nichts anderes
als Ausbeutung. Ihre Armut zwang sie, ihren
Körper in einem anderen Land zu verkaufen.
Und das große Geld machten die anderen. Am
8. August, am Morgen, stand die Polizei bei
ihr im Zimmer.
In Chania betritt eine Frau namens Elena den
Besprechungsraum einer Anwaltskanzlei, nur
ein paar Straßen vom Gericht entfernt. Elena
ist ehemalige Kundin der Klinik. Sie nimmt
Platz an dem großen Konferenztisch. Sie lebe
in Chania und arbeite in einem Minimarkt,
erzählt sie. Und sie wünsche sich ein Baby.
Sie und ihr Mann haben im Jahr 2015 ge­
heiratet. Zwei Jahre hätten sie es auf natür­
liche Weise versucht, aber es klappte nicht,
und so suchten sie sich Hilfe im Mediterra­
nean Fertility Institute. Elena sagt, sie habe
nur Gutes von der Klinik gehört.
Der zuständige Embryologe erklärte ihr
die Abläufe, er sei freundlich gewesen, habe
ihr Mut gemacht. Im August 2017 versuchten
sie es erstmals mit der künstlichen Befruch­
tung, neben der Leihmutterschaft ein weiterer
Geschäftszweig der Klinik. Giakoumakis sei
es gewesen, der ihr die Eier entnommen habe
und den Embryotransfer machte. Zumindest
glaubte sie, dass er das tat.
Beim ersten Versuch sei sie tatsächlich
schwanger geworden, aber einige Tests später
zeigte sich, dass das Baby nicht wachse. Sie
machte weiter, jahrelang, sieben Versuche,
den letzten am 11. Februar dieses Jahres. Jedes
Mal nahm sie starke Medikamente und Hor­
mone, die den Körper auf die künstliche Be­
fruchtung und den Embryotransfer vorberei­
ten sollten. Sie litt an Müdigkeit, ihre Gefühle
schwankten von einem Extrem ins nächste.
Und dann noch das Hoffen, das Bangen, die
Enttäuschungen. Und das Geld: Allein für die
Behandlung habe sie der Klinik bis heute
15.000 Euro bezahlt. Hinzu kamen 8000 Euro
für die Medikamente.
Ihre Mutter hörte in den Nachrichten von
den Festnahmen und rief sie direkt an. Wenig
später bekam sie einen Anruf von der Polizei:
Es habe Schein­Embryotransfers gegeben, sie
sei eine der Betroffenen. Die Ermittler gehen
davon aus, dass sie in vier von sieben Fällen
keinen Embryo eingesetzt bekommen habe.
Demnach hat Giakoumakis sie all die Medika­
mente nehmen lassen, hat sie anästhesiert,
aber keine befruchteten Eizellen eingesetzt.
Neben dem illegalen Leihmuttergeschäft soll
die Klinik laut Ermittlern in 400 Fällen der­
artigen Betrug begangen haben.
Kurz nach der Anhörung am Gericht er­
klärte Giakoumakis’ Anwalt, sein Mandant
60 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Ei n e georgisch e Selbst jetzt gibt es noch Leute, die nicht glau­
ben wollen, dass ihr »Doktor« offenbar ein
Leihmutter ist nach der Krimineller ist. Es gibt ein Video davon, wie er
Ge bur t m it den Zwil- in Handschellen die Stufen zum Gerichtsgebäu­
de hochgeführt wird, ein Mann mit verspiegel­
li n ge n verschwu nden. ter Sonnenbrille und einem Lächeln im Gesicht.
Am Rand stehen einige Menschen und jubeln
ihm zu. »Yiannis, wir lieben dich«, rufen sie.
Die leitenden Ermittler sagen, die Unter­
sei davon überzeugt, dass sich der Sachverhalt suchung könne noch Monate dauern. Es ist
im Laufe des Prozesses anders herausstellen ihnen wichtig zu betonen, dass sich die Er­
werde, als von den Medien dargestellt. Sein mittlungen nicht gegen die Leihmütter oder
einziges Ziel sei es gewesen, Menschen zur die Eltern richten. Dass sie ihre Babys be­
Elternschaft zu verhelfen. kommen werden, sofern die DNA­Tests nach
Elena sagt, es gehe ihr nicht ums Geld. »Ich der Geburt ihre Verwandtschaft bestätigen.
habe die fruchtbarsten Jahre meines Lebens Die tiefgefrorenen Eizellen, Spermien und
verloren. Ich bin jetzt 40.« Ihre Chancen, ein Embryonen, die noch in Giakoumakis’ Klinik
Kind zu bekommen, seien jetzt schlechter als lagerten, sind inzwischen ins Krankenhaus
je zuvor. »Ich will, dass sie bestraft werden, von Chania transferiert worden.
dass sie ihre eigenen Kinder so schnell nicht Dort, im Kreißsaal im ersten Stock, haben
wiedersehen«, sagt sie, und man spürt den seit den Festnahmen sieben Leihmütter Kin­
Schmerz in ihren Worten. der geboren, darunter mehrere Zwillinge. Bis­
Elenas Anwältin vertritt noch weitere ehe­ lang waren alle DNA­Tests in Ordnung, und
malige Patienten und Patientinnen der Klinik. die Babys konnten zu ihren Wunscheltern
Beispielsweise eine Familie, die herausfinden nach Australien oder Italien. In einem Fall
will, ob ihre Eier und Embryonen verkauft allerdings ist die georgische Leihmutter mit
und bei anderen eingesetzt worden sind. den Zwillingen, die sie Mitte August geboren
Auch über die Grenzen Griechenlands hi­ hat, verschwunden. Die Wunscheltern, ein
naus sind Anwälte mit der Klinik beschäftigt. Paar aus Italien, kämpfen nun um das Sorge­
Stephen Page aus Brisbane vertritt einige Be­ recht. Auch ein zweites italienisches Paar
troffene aus Australien. Er sagt, es gebe viele hängt seit Wochen auf Kreta fest und wartet
Wunscheltern, die noch genetisches Material darauf, mit seinem Baby ausreisen zu dürfen.
auf Kreta hätten. »Wir wissen nicht, ob und
wie wir die Eier, Spermien und Embryonen Bei Natalia aus Moldau sind es zum Zeitpunkt
aus der Klinik bekommen.« des Interviews noch fast fünf Monate bis zum
Viele Eltern, die Leihmütter beauftragt ha­ Kaiserschnitt. Sie habe Angst, dass sie mit
ben, schämen sich vermutlich. Vielleicht ahn­ dem Baby verwandt sein könne, sagt sie. Sie
ten sie, dass die Klinik in illegale Aktivitäten habe gehört, dass die Klinik statt der gespen­
verstrickt war. Und dass auch sie Teil des deten Eizellen die Eizellen der Leihmütter
Systems waren, das von der Ausbeutung verwendet habe. Und sie habe Sorge, dass ihr
profitierte. Sie haben bis zu 70.000 Euro im am Ende die 9000 Euro nicht ausbezahlt wür­
Voraus bezahlt, auf private Konten, in cash, den. »Ich habe das alles doch nur für meine
über Western Union. Ein Kinderwunsch kann Kinder gemacht«, sagt sie, »ich habe ihnen
groß werden, so groß, dass er alle Alarm­ so vieles versprochen.«
signale verdrängt. Seit der Klinikchef und Patritsia R. in U­
Haft sitzen, sei sie nicht mehr beim Arzt ge­
wesen, Medikamente nehme sie auch nicht
mehr. Sie habe keine Krankenversicherung.
Sie lebt jetzt in einer kleinen Hütte mit Well­
blechdach hinter der Taverne von Patritsia
und ihrem Mann, darin ein Bett, eine kleine
Küche, eine rote Boombox, auf der sie russi­
sche und südkoreanische Popmusik hört.
Der Vater des Babys in ihrem Bauch, der
60­jährige Geschäftsmann, habe bisher nicht
geholfen. »Ich habe nicht den Eindruck, dass
er sich sehr für sein Baby interessiert.« Neulich
am Telefon habe er versprochen, sie zum Arzt
zu bringen. Aber das habe er schon einmal ge­
sagt. Natalia sagt: »Das Kind tut mir leid.«
Vor einigen Wochen hat sie die Obhut von
Patritsias Mann verlassen und ist in eine ande­
re Unterkunft umgezogen. Der Kontakt ist
abgebrochen. Ende Januar ist der Termin für
den Kaiserschnitt. Dann wird ein DNA­Test
klären, wem das Baby in ihrem Bauch gehört.
Mitarbeit: Giorgos Konstas, Delia Marinescu,
Olga Stefatou n
 REPORTER

eine Art »rollender Uterus«, so hat

es mal der Philosoph Peter Sloterdijk
formuliert.
In der Bahn, im Speisewagen
zum Beispiel, teilt man das Leid mit
Fremden.

Langsamfahrstellen Man sieht in die Gesichter von

Mitmenschen, wenn die Durchsage
kommt, dass Bremen heute nicht er-
reicht werde wegen des oben genann-
HOMESTORY Warum ich mich nicht zur Verkehrswende zwingen lasse ten Schadens in der Oberleitung, man
halte stattdessen in Ottersberg.
Man sieht Menschen googeln, wo
ls ich neulich auf einer Rück- das ist, Ottersberg.
A reise nach Hamburg einen
Wasserrohrbruch erlebte, ver-
ursacht durch Bauarbeiten, eine Laut-
Man sieht den Anflug von Freude
in den Gesichtern, wenn es heißt, in
Ottersberg gebe es zwar viel zu kurze
sprecherdurchsage, die ICE-Passagie- Bahnsteige, aber Anschluss nach Bre-
re aufs S-Bahn-Gleis schickte und men. Man sieht die Freude erlöschen,
offensichtlich von einer KI übernom- wenn der Zug so lange vor der Ein-
men worden war, danach dann Ober- fahrt nach Ottersberg wartet, dass er
leitungen, die durch Bagger beschä- den Anschluss nach Bremen verpasst.
digt waren, weswegen wir an einem Es liegt viel Schicksalsergebenheit
Bahnsteig hielten, der nur halb so lang in Bahnfahrergesichtern, seltsam
war wie der Zug, worauf Brandalarm eigentlich.
Illustration: Thilo Rothacker / DER SPIEGEL

in einem Stellwerk folgte, weswegen Früher, wenn ich den Zug zur
für längere Zeit niemand die Signale Familie nach Süddeutschland nahm,
stellte, als ich dann wider Erwarten brauchte er, wenn es gut lief, fahrplan-
doch noch am Hamburger Haupt- mäßig fünfeinhalb Stunden. Heute
bahnhof ankam und freundlich ver- sind es acht Stunden, fahrplanmäßig,
abschiedet wurde (»würden wir uns und dann kommt dies und das dazwi-
freuen … wenn Sie bald wieder …«), schen.
überlegte ich: und wenn nicht? Allerdings kommt auch auf der A7
Wenn ich eben doch lieber mit dem dies und das dazwischen.
Auto fahre? Eine Verkehrswende, auf Manchmal ist die A7 nicht Auto-
meine Art? Gleise und Weichen, weil es jahrelang bahn, sondern: Sackgasse. Vollsper-
Ich bin das Kind einer Zeit, in der Wichtigeres gab, als in die Infrastruk- rung, ohne Vorwarnung, zum Beispiel
das Auto eine Art Familienmitglied tur zu investieren: sparen (Finanz- wegen Bauarbeiten an einer Brücke.
war, man liebte es und gab ihm Na- minister Wolfgang Schäubles schwar- Dann fahren wir entlang der U sowie-
men. Später war der Führerschein der ze Null). Oder anderswo investieren so über die Dörfer, all die Familien-
Weg in die Freiheit, und was hörten (Hartmut Mehdorns internationaler SUV, die schweren Diesel mit Dienst-
wir? Dies: »Get your motor running, Konzern Deutsche Bahn): Statt zu wagenprivileg, die Lkw und dann
head out on the highway.« PS als sanieren, riss man nach 1994 fast die auch noch die 25,25 Meter langen
Glücksversprechen. Und das: »Slow Hälfte der Weichen und Kreuzungen Gigaliner, schönen Gruß von Ver-
Train Coming.« Als hätte Bob Dylan und ein Fünftel der Gleisstrecke raus. kehrsminister Wissing, liebe Anwoh-
schon von Langsamfahrstellen ge- Dass ein trödelnder oder liegen geblie- ner. Man quält sich im Stau durch
wusst. bener Zug nicht überholt werden kleine Straßen und bildet sich ein,
Wir wurden dann doch klüger, fuh- kann: ist halt so. hinter Gardinen wütende Menschen
ren in Hamburg nicht mehr mit dem Toiletten sind auf Rastplätzen oft mit Schrotflinten zu sehen, und denkt,
Auto von Sankt Pauli in die Innen- unbrauchbar schmutzig und in Zügen jetzt könnte ich gemütlich in einem
stadt, sondern mit Fahrrad oder U- außer Betrieb. unterkühlten ICE-Wagen sitzen, ich
Bahn und auf weiteren Strecken mit Es kann kalt werden im Auto, im hätte ein Kaltgetränk vor mir, weil die
dem Zug, wenn es ging. Winter, wenn man liegen bleibt. Im Kaffeeautomaten leider ausgefallen
Es ging dann immer schlechter, Zug aber auch. sind, ich würde mich in meinen Man-
nachdem die Bahn 1994 reformiert Es ist voll auf den Straßen, wofür tel wickeln und davon träumen, dass
worden war und an die Börse sollte. man sich nicht nur, aber auch, bei der die Verzögerungen im Betriebsablauf
Zu meinen Reiseregeln heute gehört: Bahn bedanken kann. Wenn auf der und die Weichenstörungen und die
Nimm immer einen Zug früher und Autobahn die Lastwagen zweispurig Schäden in der Oberleitung irgend-
nie den letzten nachts. Und habe stehen, liegt das unter anderem da- Jetzt kommen wann ein Ende haben und mein Zug
grundsätzlich eine Zahnbürste dabei. ran: Einen eigenen Gleisanschluss irgendwann den Zielort erreicht, und
Eigentlich ist da ja nur der schlich- hatten 1994 etwa 12.000 Unterneh- auch noch niemand müsste mich hassen, ich säße
te Wunsch, einigermaßen zeitnah von men, heute sind es noch 2000. Die die Gigaliner, da und würde gemütlich die Bahn-
hier nach dort zu kommen, ohne die anderen fahren auf Asphalt. verantwortungsträger verfluchen, und
Nerven zu verlieren. Das mit den Wenn es schlimm wird, und man schönen ich denke: Ihr schafft es nicht!
Nerven ist so eine Sache. ist mit dem Auto unterwegs, kann Gruß von Ihr tut alles, um mir das Bahnfah-
Manches ist auf Schiene und Stra- man laut schreien, fluchen, singen, ren zu verleiden, aber: Ich! fahre!
ße ähnlich unangenehm. Autobahn- Musik hören (zum Beispiel »Highway Verkehrsminis- weiter! mit! der! Bahn!
brücken sind genauso kaputt wie to Hell«). So ein Wagen ist ein Kokon, ter Wissing. Barbara Supp n

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 61

WIRTSCHAFT
Post-Tower in Bonn
Koalition plant Steuerrabatt für die Post
WET TBEWERB Die Bundesregierung will dem Konzern Hunderte Millionen Euro an Umsatzsteuern erlassen,
allen Sparanstrengungen zum Trotz.
K lammen Kassen und dem jüngsten
Sparpaket zum Trotz: Die Bundes-
regierung verschafft der Deutschen
Post eine Steuererleichterung in Höhe von
Hunderten Millionen Euro. Finanzminister
Christian Lindner (FDP) und Wirtschafts-
minister Robert Habeck (Grüne) wollen den
ehemaligen Staatsmonopolisten weitgehend
von der Umsatzsteuerpflicht bei Geschäfts-
kunden befreien, im Rahmen des sogenann-
ten Postrechtsmodernisierungsgesetzes.
Dadurch drohten »Steuerausfälle für
Bund und Länder von grob geschätzten
500 Millionen Euro«, schreibt der Bundes-
verband Briefdienste (BBD), ein Zusam-
menschluss privater Konkurrenten der Post,
in einem Protestbrief an Lindner. »Das sind
in Zeiten knapper öffentlicher Kassen auch
62 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
keine Peanuts.« Lindners Fachleute haben
die Maßnahme nach SPIEGEL -Informatio-
nen durchgerechnet. Anders als üblich fin-
det sich zur Höhe der Steuerausfälle aber
keine Angabe im Gesetzentwurf. Bei der
Frage nach den Gründen verweist das Fi-
nanzministerium auf das federführende
Wirtschaftsministerium.
Die Post-Konkurrenten befürchten eine
Wettbewerbsverzerrung zugunsten des
Marktführers, an dem der Bund noch im-
mer über die Förderbank KfW beteiligt ist.
Die privaten Anbieter müssen weiterhin
19 Prozent Mehrwertsteuer bezahlen. Das
stelle eine »akute Existenzgefährdung der
verbliebenen unabhängigen Brieflogistiker«
dar, heißt es in dem Brief an Lindner. Tat-
sächlich kann die Post, wenn die Umsatz-
Oliver Berg / picture alliance / dpa
steuerpflicht für größere Geschäftsbereiche
wegfällt, die Preise senken. Tut sie dies nicht
oder nicht in vollem Umfang, verbleibt der
Steuernachlass in ihrer Kasse. Beides stärkt
ihre Position gegenüber den Herausforde-
rern. Der BBD fordert Lindner in seinem
Schreiben auf, sich für den Status quo bei
der Umsatzbesteuerung einzusetzen. »An-
derenfalls würden die positiven, den Wett-
bewerb stärkenden Elemente des Gesetzent-
wurfs ins Leere laufen, denn die Deutsche
Post erhielte einen gewaltigen Preisvor-
sprung.« Lindners und Habecks Plan ist kein
Selbstzweck. Die Minister wollen mit dem
Erlös aus dem Verkauf von Post- und Tele-
kom-Aktien das Eigenkapital der Bahn auf-
polstern. Die geplante Bevorzugung der Post
dürfte deren Börsenwert steigern. REI
 Sinkende Leerstände
IMMOBILIEN Die Wohnungs-
not in Deutschland verschärft
sich. Zuletzt sind die ohnehin
niedrigen Leerstandsquoten in
den Städten noch weiter gesun-
ken, wie eine bislang unver-
öffentlichte Studie des For-
schungsinstituts Empirica zeigt.
In Deutschland standen Ende
2022 demnach rund 554.000
Wohnungen leer, das sind
53.000 weniger als im Vorjahr.
Es ist der größte Rückgang seit
22 Jahren. Die Leerstandsquote
beträgt 2,5 Prozent. »Wenn das
so weitergeht, haben wir in den
großen Städten bald gar keinen
Leerstand mehr«, sagt Empiri-
ca-Chef Reiner Braun. Haupt-
grund für die Entwicklung ist
der massive Zuzug von ukrai-
nischen Geflüchteten. Da sich
diese gleichmäßig übers Land
verteilen, gibt es erstmals in der
22-jährigen Historie der Erhe-
bung keinen einzigen Kreis mit
ansteigendem Leerstand. »Dies
hat auch zur Folge, dass Neu-
vertragsmieten schneller denn
je steigen und die Kaufpreise
weniger stark sinken, als es der
»Die Investoren sind
verunsichert«
Edgar Walk,
51, Chefvolkswirt
bei Metzler Asset
Bankhaus Metzler
Management, über
die aktuelle Schwä-
che der chinesischen
Volkswirtschaft
SPIEGEL: China steckt in der
Deflation fest, die US-Rating-
agentur Moody’s hat den Aus-
blick für die Kreditwürdigkeit
gesenkt. Was ist da los?
Walk: Die Führung in Peking
hatte gehofft, dass die Konjunk-
tur nach dem Ende des Lock-
downs richtig anziehen wird,
doch das war nur im ersten
Quartal so. Nominal wächst
Chinas Wirtschaft kaum noch.
SPIEGEL: Wieso?
Walk: Weil die Immobilien-
branche schwächelt, die 25 Pro-
zent des Bruttoinlandsprodukts
ausmacht. Investoren und
Konsumenten sind verun-
sichert, halten sich zurück.
Auch wegen starker regulato-
rischer Eingriffe, etwa in der
Techbranche.
Teure Heizrechnung
für 2023
ENERGIE Steigende Öl- und
Gaspreise, dafür staatliche
Hilfen und befristete Steuer-
senkungen: Es ist schwer abzu-
schätzen, wie hoch die nächste
Marc-Steffen Unger
Heizkostenrechnung ausfällt.
Wohnhäuser in Frankfurt Eine Modellrechnung des Im-
am Main mobiliendienstleisters Ista für
den SPIEGEL zeigt, dass sich
steile Zinsanstieg hätte er- Haushalte, die mit Gas oder Öl
warten lassen«, sagt Braun. Bei heizen, auf spürbare Mehrkos-
den Leerständen gibt es ein gro- ten für 2023 einstellen müssen.
ßes Ost-West-Gefälle. In Ost- In einem Vierpersonenhaushalt
deutschland ohne Berlin lag mit 130 Quadratmeter Wohnflä-
die Quote mit 5,8 Prozent deut- che kommt Ista auf Kostenstei-
lich höher als im Westen mit gerungen von 867 Euro beim
1,9 Prozent. Betrachtet man die Erdgas. Und das, obwohl schon
Werte auf Stadtebene, geht die 2022 eine Nachzahlung nötig
Kluft noch weiter auseinander.
In München standen Ende 2022 Musterrechnung zur möglichen Heizkostenentwicklung inkl. Warm-
nur 0,1 Prozent der Wohnungen wasser, jährliche Mehrkosten gegenüber dem Vorjahr, in Euro
leer. In Frankfurt am Main Haushaltsgröße
verringerte sich der Leerstand 1 Person Erdgas
seit 2017 von 0,4 auf 0,2 Pro- 40 qm Wohn- Heizöl
zent. Mehr Auswahl haben fläche Fernwärme
Wohnungssuchende dagegen in
2 Personen Erdgas
Pirmasens, Frankfurt (Oder) 70 qm Heizöl
und Dessau-Roßlau: Dort be-
Fernwärme
trug die Leerstandsquote über
8 Prozent. HEJ 4 Personen Erdgas
130 qm Heizöl
Fernwärme
SPIEGEL: Auch weil Peking * Prognose; Preisannahmen für 2023: Erdgas 12 Cent/kWh, Fernwärme 9,5 Cent/kWh
(Preisbremse wirkt für 100 % des Verbrauchs), Heizöl 12,4 Cent/kWh (Durchschnittspreis aus
Unternehmer aus dem Verkehr 2022 und 2023)
zieht, um sie zu maßregeln? S Quelle: Ista; Datenbasis: 2,8 Mio. Heizkostenabrechnungen in ganz Deutschland
◆
Walk: Ich weiß es nicht. Aber
denken Sie nur daran, dass die Kirchen leiden
Regierung 2021 überraschend
unter Inflation
den Markt für private Nachhilfe
zerschlagen hat. Es gab viele STEUERN Die Finanzierung der
Anbieter, deren Geschäft boom- beiden großen Amtskirchen in
te, weil es für Chinesen lebens- Deutschland hat 2023 stark ge-
wichtig ist, auf die richtigen litten. Im Vergleich zum Vorjahr
Universitäten zu kommen. gingen die Einnahmen aus Kir-
Damit war plötzlich Schluss. chensteuern inflationsbereinigt
SPIEGEL: Was wird Peking tun? um fünf Prozent zurück. Das
Walk: Das Regime kontrolliert geht aus Berechnungen des Ins-
die Notenpresse und hängt nicht tituts der Deutschen Wirtschaft
von Auslandsinvestitionen ab, in Köln (IW) hervor, die dem
doch die große Schwäche ist der SPIEGEL vorliegen; sie basieren
private Konsum. Es gibt große auf Steuerschätzungen und
Vorbehalte in der Führung, ob Mitgliederprognosen. Demnach
es sinnvoll ist, die Binnennach- nahmen die evangelische und
frage zu stimulieren. Kritiker die katholische Kirche mit
wollen lieber in Infrastruktur voraussichtlich 13,3 Milliarden
oder Technologie investieren. Euro zwar nominal anderthalb
SPIEGEL: Was heißt das für uns? Prozent mehr ein als 2022
Walk: Die Deflation verbilligt Chi- (13,1 Milliarden Euro). Doch
nas Exportprodukte, das hilft dem durch die Teuerung hat sich die
Westen im Kampf gegen die Infla- Lage für beide verschlechtert.
tion. Nicht gut ist, dass Chinas Die katholische Kirche kam laut
Banken Industriefirmen päppeln, den Berechnungen auf 7, die
die ihre Produkte im Ausland evangelische auf 6,3 Milliarden
günstig anbieten und deutsche Euro. Daneben belastet die Al-
Firmen angreifen können. BAZ terung der Mitglieder die Kas-
war im Vergleich zum Vorjahr.
Verglichen mit 2021 ergibt sich
ein Aufschlag von insgesamt
933 Euro. Fernwärmekunden
dagegen können sich je nach
Haushaltsgröße auf Rückzah-
lungen in teils dreistelliger
Höhe freuen. Ista legt Abrech-
nungen von knapp 2,8 Millio-
nen Haushalten zugrunde und
eine Prognose aus Heizdaten
von 350.000 Haushalten. Nach
Einschätzung von Ista-Chef
Hagen Lessing spielt neben
dauerhaft höheren Preisen auch
»Sorglosigkeit« beim Heizen
eine Rolle. Sparen sei nicht
mehr ein so großes Thema wie
2022, als viele einen Gasmangel
als Folge des Ukrainekriegs
fürchteten. MAMK
2022 2023*
17 256
131 213
40 -99
34 460
237 381
76 -181
66 867
449 716
149 -345
sen. »Rentner zahlen meist we-
niger Steuern«, erklärt Tobias
Hentze, der am IW zu Staat,
Steuern und sozialer Sicherung
forscht. Die Kirchen spüren zu-
dem die Austritte. Nur dank der
gestiegenen Einkommen sieht
die Lage nicht noch verheeren-
der aus. Langfristig können
selbst weitere Lohnzuwächse
den Schwund nicht ausgleichen.
2022 sank die Mitgliederzahl
der beiden großen Kirchen in
Deutschland um 900.000 auf
40,1 Millionen. Noch können
viele Lücken durch Vermögen
geschlossen werden. »Das kann
helfen, Härten abzufedern«,
sagt Hentze. »An die Substanz
zu gehen, ist dauerhaft aber
keine Lösung.« Die Kirchen
sollten sich deshalb auf sinken-
de Steuereinnahmen einstellen.
Die Kirchensteuer wird anhand
der Einkommensteuerhöhe be-
rechnet. In Baden-Württemberg
und Bayern sind darauf acht, im
Rest des Landes neun Prozent
zusätzlich fällig. APR
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 63
WIRTSCHAFT
Mehr brutto, weniger netto
1 2
olkmar Woite steht neben der Verkaufs-
V theke seiner Fleischerei in Michendorf
bei Potsdam, in der Luft hängt warmer
Wurstduft. Woite, ein Mann mit grau melierten
Schläfen, kräftigen Händen, die Füße in weißen
Gummistiefeln, kommt gerade aus der Wurst-
küche. Vor drei Jahren feierte die Fleischerei
ihr 100. Jubiläum, inzwischen führt sein Sohn
den Familienbetrieb in der fünften Genera-
tion. Woite senior, 63, kümmert sich weiter
um die Produktion. Ursprünglich wollte er
im Sommer in den Ruhestand gehen. Doch
daraus wurde nichts. Es fehlt an Personal. Vier
Angestellte arbeiten im Verkauf, gebraucht
würden sechs. Der Partyservice der Fleische-
rei muss regelmäßig Aufträge ablehnen.
Woite hat es über die Arbeitsagentur ver-
sucht. »In den vergangenen Monaten bekam
ich 47 Arbeitsuchende angekündigt, drei Vier-
tel davon vom Fach«, erzählt er. Nur zwei
Frauen hätten sich bei ihm gemeldet: »Die
eine war dauerkrank und die andere nur be-
dingt einsetzbar.« Bewerber mit hinterlegter
Telefonnummer habe er angerufen, »aber da
ging keiner ran«. Andere habe er persönlich
angeschrieben, ebenfalls keine Reaktion. Vier
64 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Michael Engler t / DER SPIEGEL
Leute hätten sich bei ihm gemeldet, »die woll-
ten arbeiten – aber nur schwarz, neben dem
Bürgergeld«. Weil ihnen das Geld vom Staat
sonst abgezogen würde.
Erfahrungen wie die des Brandenburger
Fleischermeisters befeuern derzeit eine laute
Debatte: Lohnt sich Arbeit noch? Angetrie-
ben wird sie von CDU-Chef Friedrich Merz
und seinem Generalsekretär Carsten Linne-
mann, die es mit markigen Sprüchen in Fern-
sehstudios und auf die Seite eins der »Bild«-
Zeitung drängt: Die Ampel verletze mit dem
Bürgergeld das Lohnabstandsgebot, verhät-
schele die Faulen und verhöhne die Fleißigen,
wettern die Unionsspitzenleute seit Monaten.
Wer wolle noch malochen, solange es Geld
vom Staat ganz ohne Anstrengung gibt?
Aufregerpotenzial gibt es tatsächlich reich-
lich. Da berichten Arbeitgeber, dass ihre Leu-
te für ein Leben in der Bürgergeld-Hänge-
matte kündigen. Da sind 1,7 Millionen Ar-
beitslose im Bürgergeld – bei gleichzeitig
1,7 Millionen offenen Stellen im Land. Da
kommt eine vierköpfige Münchner Familie
auf 3333 Euro Stütze im Monat. Und dann
noch der satte Aufschlag von zwölf Prozent
Johannes Arlt / DER SPIEGEL
zum Jahreswechsel – »welcher Arbeitnehmer
hat solche Lohnsteigerungen?«, fragt Merz.
Das jüngste Haushaltsurteil des Bundes-
verfassungsgerichts, das die Ampelregierung
in Sparzwang brachte, bot dem CDU-Chef
eine perfekte Bühne: Gekürzt werden müsse
jetzt halt beim Bürgergeld, »es geht eben nicht
mehr alles«, so Merz. Stelle die CDU erst
einmal wieder den Kanzler, werde sie das
Bürgergeld sogar wieder abschaffen, eine
Arbeitspflicht einführen und unwillige jünge-
re Empfänger mit Kürzungen von 50 Prozent
oder mehr sanktionieren.
Beim Wähler kommt das an: 64 Prozent
der Befragten sind laut ARD-Deutschland-
trend für Einsparungen beim Bürgergeld. Auch
wenn die Koalition sich nun wohl darauf ver-
ständigt hat, einen kleineren Betrag aus dem
44-Milliarden-Euro-Topf zu kürzen: Die De-
batte zündet. Nicht bloß, weil sich viele Nor-
malverdiener angesichts der Inflation inzwi-
schen selbst einschränken und verzichten
müssen. Sondern auch, weil die Probleme beim
Bürgergeld unübersehbar sind. Nur: Es sind
andere, als Merz es suggeriert. Und sie lassen
sich mit einfachen Lösungen kaum beheben.

GERECHTIGKEIT Hält das Bürgergeld Menschen vom Arbeiten ab? Seit Wochen tobt der Streit. Dabei liegen
die Probleme im Sozialstaat ganz woanders: Er ist zu kompliziert und bestraft die Fleißigen.
3 4
Tatsächlich ist der deutsche Sozial-
staat dringend reformbedürftig. Weil
er falsche Anreize setzt und Men-
schen für ihre Arbeit bestraft. Weil
173 Leistungen – verwaltet von 29 Be-
hörden, verantwortet von sieben Bun-
desministerien, unterschiedlich um-
gesetzt in 16 Bundesländern und
400 Städten und Kreisen – einander
beeinflussen, aber aufeinander nicht
abgestimmt sind. Ein Dickicht, in dem
sich nicht nur Bürger, sondern auch
Behörden verheddern. Der Versuch,
es zu lichten, ist mühsam, die Versu-
chung deshalb groß, es bei schrillen
Forderungen zu belassen. Auch wenn
sie am Problem vorbeigehen.
Mythen beim Bürgergeld
An der Höhe des Bürgergeldes lässt
sich, anders als Union und FDP glau-
ben machen wollen, kaum sparen.
Dafür hat das Bundesverfassungsge-
richt gesorgt. Das Bürgergeld soll das
Existenzminimum von Bedürftigen
sichern. Es muss in einem transparen-
Jens Gyarmaty / DER SPIEGEL
1 | Essener Sozial­ ten und nachvollziehbaren Verfahren
dezernent Renzel ermittelt werden, so hat es das Ge-
2 | Alleinerziehende
Fuchs 3 | Fleischer­ richt verfügt – und dies mit dem
meister Woite Schutz der Menschenwürde und dem
4 | Jobcenter­Chefin Sozialstaatsprinzip begründet. Beide
Zavlaris Grundgesetzartikel können nicht ver-
ändert werden, nicht einmal mit einer
Zweidrittelmehrheit.
Alle fünf Jahre ermitteln amtliche
Statistiker, wie viel Geld der ärmste
Teil der Bevölkerung für den Lebens-
unterhalt ausgibt. Davon wird abge-
zogen, was als nicht notwendig erach-
tet wird: Schnittblumen, Tierfutter
oder Alkohol. Die Verfassungsrichter
segneten die Berechnungsmethode
2014 ab – machten aber klar, dass
niedrigere Regelsätze das Existenz-
minimum nicht sichern würden. Da-
ran hat auch die Umbenennung von
Hartz IV in Bürgergeld nichts geändert.
Dass sich an den Regelsätzen we-
nig schrauben lässt, wissen auch Merz
und Linnemann. Der Furor der Bür-
gergeldkritiker zielt deshalb vor al-
lem auf die ab Januar greifende Er-
WIRTSCHAFT
Jens Gyarmaty / DER SPIEGEL
höhung um zwölf Prozent. Allerdings
ist auch hier wenig zu holen. Die re-
gelmäßige Anpassung der Regelsätze
an Löhne und Preise geschieht statis-
tisch mit einer speziell ermittelten
Inflationsrate. Seit 2023 fließt zudem
eine Prognose über die künftige Teue-
rung in die Rechnung ein.
Zwar deutet die zuletzt schwäche-
re Inflation darauf hin, dass die Pro-
gnose für 2024 zu hoch angesetzt sein
dürfte. Der Aufschlag könnte daher
reduziert werden. Nur: Sparen ließe
sich damit kurzfristig wenig und lang-
fristig nichts. Denn falsche Prognosen
werden bei der darauffolgenden Be-
rechnung ohnehin korrigiert.
Auch geben die Zahlen nicht her,
dass der Abstand zu den Löhnen sinkt,
was Arbeit unattraktiver machen wür-
de. Seit 2015 ist der Mindestlohn um
41 Prozent gestiegen, die Regelsätze
kletterten dagegen nur um 26 Prozent.
Wenn es ein »Problem mit dem Lohn-
abstandsgebot« gibt, wie Merz be-
klagt, ist es heute kleiner als vor acht
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 65
WIRTSCHAFT

Jahren. Auch Fleischermeister Woite hält das
Bürgergeld nicht für übermäßig üppig: »Ich
weiß, dass man damit keine Sprünge machen
kann.« Für seinen Personalmangel macht er das
System dennoch mitverantwortlich: »Anschei-
nend gibt es Menschen, denen das reicht und
die sich damit zu Hause eingerichtet haben.«
Ungestört in der Hängematte?
Das Bürgergeld war nicht als bedingungsloses
Grundeinkommen gedacht, das ohne jede
Gegenleistung ausgezahlt wird, darauf pochen
nicht nur CDU-Wahlkämpfer. Auch Arbeits-
minister Hubertus Heil (SPD) wird nicht
müde, auf Pflichten der Hilfeempfänger zu
verweisen, wieder einen Job zu finden. Nur
was, wenn das nicht passiert? Braucht es mehr
Anreiz? Mehr Hilfe? Oder schlicht mehr
Druck, wie Linnemann unlängst in der »Bild«
forderte: »Jeder, der arbeiten kann und So-
zialleistungen bezieht, muss nach spätestens
sechs Monaten einen Job annehmen, ansons-
ten gemeinnützig arbeiten.«
Peter Renzel ist als Sozialdezernent in Es-
sen verantwortlich für das Jobcenter. In der Stadt
im Ruhrgebiet leben 595.000 Menschen,
89.000 erhalten Bürgergeld. Längst nicht alle
von ihnen könnten arbeiten, sagt Renzel. Vie-
le seien krank, körperlich oder psychisch.
Etwa 25.000 aber stünden dem Arbeitsmarkt
zur Verfügung, theoretisch zumindest.
Es gebe in Essen unzählige offene Stellen,
in der Gastronomie, in der Logistik, sagt Ren-
zel. Doch im Vergleich zu den Vorjahren habe
das Jobcenter 2023 rund 15 Prozent weniger
Menschen vermittelt. »Viele wollen für den
Mindestlohn nicht arbeiten gehen. Sie glau-
ben, mit dem Bürgergeld und etwas Schwarz-
arbeit obendrauf gut zurechtzukommen.«
Seine Fachkräfte im Jobcenter würden
häufig Sätze wie diesen hören: »Ich stehe
nicht morgens um 5.30 Uhr auf, wenn ich von
euch sowieso Geld bekomme.« Oder: »Ihr
könnt mir nichts. Wenn ich nicht will, muss
ich auch nicht zum Termin kommen.«
Renzel, 61, war früher Sozialarbeiter und
Leiter des Jugendamts in Essen und kennt
viele Winkel der Sozialpolitik. Er ist CDU-
Mitglied und kein Fan des Bürgergelds. An
der Höhe allerdings stört er sich nicht. Ein
Single in Essen bekommt für Wohnen und
Lebenshaltung im Monat insgesamt rund
1100 Euro. Gegen den kräftigen Aufschlag im
Januar hat Renzel nichts einzuwenden.
Was ihn ärgert, ist der Umstand, dass sei-
nen Mitarbeitern inzwischen eine Handhabe
fehlt im Umgang mit Kunden, die Termine
nicht wahrnehmen oder sich nicht bewerben.
Früher konnten die Jobcenter drastisch
kürzen, bei wiederholten Verstößen sogar die
komplette Summe verweigern. Derart harten
Sanktionen schob das Bundesverfassungs-
gericht 2019 jedoch einen Riegel vor: Seither
dürfen höchstens 30 Prozent gekappt werden.
Renzel findet, das Bürgergeldgesetz nutze
diesen Spielraum nicht aus. Die Jobcenter
dürften zwar kürzen, aber nur schrittweise.
Die vielen Ausnahmen machten es schwer,
Terminverweigerer unter Druck zu setzen.
In der Folge sei die Quote derer, die zu
Beratungsterminen erscheinen, »dramatisch
gesunken«, sagt Renzel: In diesem Jahr folg-
ten nur noch 50 Prozent der Neukunden in
Essen den Einladungen des Jobcenters. Von
den unter 25-Jährigen kommen im Schnitt
nur noch 39 Prozent. »Es ist gefährlich, dass
sich gerade die Jüngeren verweigern.«
Renzel wünscht sich eine Reform. Man
brauche die Option, schnelle und spürbare
Sanktionen auszusprechen, sonst funktionie-
re das System nicht.
Auch Andrea Nahles hielt und hält Sank-
tionen für notwendig, schon als SPD-Arbeits-
ministerin. »Das Problem liegt nicht im Ge-
setz, das bietet alle Möglichkeiten«, sagt die
heutige Chefin der Bundesagentur für Arbeit
(BA), »entscheidend ist die Umsetzung.« Die
hakte zum Start des Bürgergelds: Die Mit-
arbeiter seien zu Jahresbeginn noch davon
geprägt gewesen, dass die Koalition für das
zweite Halbjahr 2022 ein Moratorium ver-
hängt, also Strafen nahezu ausgesetzt hatte.
Inzwischen hat offenbar ein Mentalitäts-
wechsel stattgefunden. So wies die BA-Sta-
tistik zuletzt einen steilen Anstieg der Sank-
tionen aus. Im Juli verhängten die Jobcenter
30.202 neue Strafen, mehr als im Januar 2020.
Und die Koalition hat in ihrer Haushaltseini-
gung schärfere Sanktionen vereinbart. Unklar
ist noch, wie die aussehen sollen.
Die Mühen der Ebene
Dass die Strafen massenhaft Arbeitslose in
Jobs gebracht hätten, ist indes nicht erkennbar.
Das liegt auch daran, dass viele Bürgergeld-
empfänger keine einfach zu vermittelnde
Klientel sind – oder längst arbeiten. Von den
3,9 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberech-

Frustrierende Lohnbremse
Verfügbares Einkommen in Relation zum Bruttogehalt 2023, in Euro pro Monat; Musterrechnungen
Bürgergeld Alleinerziehend, Ehepaar,
Wohngeld ein Kind zwei Kinder
Kindergeld- 4000 +1652 € brutto
zuschlag
Kindergeld verfügbares +161 € real
Einkommen
Unterhalts-
vorschuss 3000
+610 € brutto
Netto-
einkommen
+14 € real
gebündelte
Transfer- 2000
leistungen
nach Reform- Der Reformvorschlag soll Stufen
vorschlag* im aktuellen System ausgleichen
1000 und zu einem konstanteren
Einkommensanstieg bei
Lohnsteigerungen führen.

* Reformvorschlag:
100 € Freibetrag
sowie eine auf 70 %
gesenkte Anrechnung
von Einkommen; 0 1000 2000 3000 0 1000 2000 3000 4000 5000
Annahme: Wohnort in Bruttogehalt Bruttogehalt
einer Region mit Miet-
stufe 3 (von 7 Miet-
stufen), das entspricht
ungefähr dem Durch- Im Gehaltsbereich von 1940 bis 2550 Ähnlich sieht es im zweiten Beispiel aus:
schnittswert für Euro (brutto) werden Steigerungen in diesem Im Gehaltsbereich zwischen 2413 und 4065 Euro – immerhin
Deutschland. Beispiel fast komplett mit Transfer- eine Steigerung um 1652 Euro – entsteht am Ende nur ein
S Quelle: Ifo-Mikro- zahlungen verrechnet, von jedem zusätzlich mageres Plus von 161 Euro, jeder zusätzlich verdiente
◆

simulationsmodell/
Maximilian Blömer/ verdienten Euro haben Betroffene schließ- Euro ist durchschnittlich somit nur rund 10 Cent wert.
Andreas Peichl lich nur rund 2 Cent mehr zur Verfügung.

66 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023

 WIRTSCHAFT

tigten sind nur 43 Prozent wirklich vestieren in die Betroffenen, sonst Menschen vom Arbeiten abhält, wird
arbeitslos, der Rest stockt auf, steckt bleiben viele dauerhaft im System.« nicht bei den Faulen fündig, sondern
in einer Ausbildung, ist krank, betreut Ausgerechnet an der Förderung für bei den Fleißigen. Bei Menschen, die
Kinder oder Pflegebedürftige. die sogenannte Eingliederung müssen von ihren Arbeitgebern geschätzt
Elena Zavlaris ist Geschäftsführe- die Jobcenter nächstes Jahr aber spa- werden, so sehr, dass diese ihnen das
rin des Jobcenters Tempelhof-Schö- ren. Zwar scheinen harte Einschnitte Gehalt erhöhen. Oder sich wünschen,

Enno Kapitza / ifo Institut

neberg in Berlin. Ein Aspekt gehe in im Bundeshaushalt abgewendet, aber dass sie mehr arbeiten.
der aktuellen Debatte völlig unter, 300 Millionen Euro werden noch für Sobald sie mehr verdienen, dürfen
sagt Zavlaris: Ihr Jobcenter habe eine höhere Löhne der Jobcenter-Beschäf- sie vom Mehrverdienst nur wenig be-
sehr unterschiedliche Kundschaft. tigten gebraucht. Bei knapp fünf Mil- halten, manchmal auch nichts – und
»Da kann man nicht einfach sagen, liarden Euro, die für Förderung vor- mitunter stehen sie sogar schlechter
das sind die Langzeitarbeitslosen.« gesehen sind, fällt das ins Gewicht. da als mit ihrem alten Gehalt.
Zu den Empfängern zählten auch Würden die Mittel noch stärker ge- Sarah Fuchs öffnet die Tür – und
Menschen, die Teilzeit oder Vollzeit kürzt, hätte manches Jobcenter gar entschuldigt sich erst mal. »Es ist
arbeiten, in Elternzeit sind, Schüler kein Geld für Eingliederung mehr, etwas unaufgeräumt hier, dazu bin
und Studenten. Die Gründe, weshalb warnt BA-Chefin Nahles: »Dann lie- ich nicht mehr gekommen.« Dabei ist
Janine Schmitz / photothek / IMAGO

sie Termine versäumen, seien so fen wir in die Mangelwirtschaft.« die lichte Dachgeschosswohnung in
unterschiedlich wie die Klientel, sagt Doch selbst wenn es gelingt, Men- einer Kleinstadt nördlich von Ham-
Zavlaris. »Wir stecken ja nicht in den schen wieder in Arbeit zu bringen: burg nicht unordentlich, sondern nur
Köpfen der Menschen.« Der deutsche Sozialstaat vollbringt bewohnt. Fuchs, braune kurze Lo-
Einfach hinnehmen wollen ihre das Kunststück, ausgerechnet jene cken um das fein geschnittene Gesicht,
Kollegen das nicht. Im Februar star- finanziell zu bestrafen, die er unter- bietet Plätzchen an, selbst gebacken.
tete ein Team die »aufsuchende Be- stützen will. Und Menschen dafür zu Nichts sieht so aus, als lebte hier
ratung«. Statt im Büro zu sitzen und belohnen, dass sie weniger arbeiten. eine Familie am Existenzminimum.
zu warten, ob jemand kommt, be- Ifo-Ökonom Peichl, Und doch ist es so. Die Bescheide be-
suchten zwei Mitarbeiter die Kunden Arbeitsminister Heil: Wer mehr arbeitet, ist der legen es, akkurat abgeheftet und sor-
173 Leistungen,
zu Hause. »Wir kündigen unsere Be- verwaltet von Dumme tiert in dem dicken Leitz-Ordner auf
suche an und geben ihnen die Mög- 29 Behörden und Der Reisedienst Nickel ist ein altein- dem Tisch. Es sind viele Bescheide,
lichkeit, sich vorher zu melden«, sagt 7 Bundesministerien gesessenes Busunternehmen in Gel- manchmal bekommt Fuchs alle paar
die Geschäftsführerin. Mit Erfolg: senkirchen, seit 1985 fährt es unter Wochen einen neuen, weil wieder
Etwa in der Hälfte der Fälle treffen anderem die Mannschaften des FC etwas nicht korrekt berechnet war
sie die zuvor Unerreichbaren an. Schalke 04 zu ihren Spielen. Etwa oder weil sich wieder etwas geändert
Mittlerweile fahren 15 Kolleginnen 210 Menschen arbeiten in Vollzeit für hat bei ihr. Es ist eben alles etwas
und Kollegen an einem Tag pro Nickel und eine Schwesterfirma, der kompliziert im Leben der 39-Jähri-
Woche zu Hausbesuchen. Da erhalte Betrieb kann auf keinen verzichten. gen, das Bürgergeld ist auch kompli-
man einen Eindruck von der Lebens- Im Frühjahr kamen zwei Fahrer ziert, und zusammen ist das oft zu
wirklichkeit: Bei einer älteren Dame auf Prokurist Holger Machnik zu: Sie kompliziert für das Jobcenter.
standen ihre Mitarbeiter vor einem würden gern ihre Arbeitszeit redu- Mit ihrem sechsjährigen Sohn und
Küchentisch voller ungeöffneter Brie- zieren, von 167 auf 120 Stunden im der neunjährigen Tochter wohnt
fe. Die Frau hatte schon seit Länge- Monat. Machnik fasste nach und er- Fuchs auf zwei Zimmern. Ihr echter
rem aufgehört, ihre Post zu öffnen, fuhr schließlich den Grund: Dank der Name soll ungenannt bleiben, nicht
aus Angst vor dem Inhalt. Erhöhung von Wohngeld und Kinder- weil sie sich schämt, sondern zum
Im vergangenen Jahr verfügten zuschlag für Familien mit kleinen Ein- Schutz der Kinder. Sie ist froh, dass
zwei von drei Arbeitslosen in der kommen hätten die Kollegen ihr Ge- sie die Wohnung überhaupt bekom-
Grundsicherung über keine Berufsaus- halt konstant halten können, trotz men hat nach der Trennung vom Va-
bildung. 89 Prozent waren »besonders geringerer Arbeitszeit. ter der Kinder im vergangenen Jahr.
förderungsbedürftig« – 46 Prozent Wenn Machnik Mitarbeiter fragt, 850 Euro warm im Monat, nicht ge-
sogar in mehrfacher Hinsicht: etwa warum sie lieber Überstunden vor sich rade günstig, aber das Jobcenter er-
Schwerbehinderte, über 55-Jährige, herschieben, als sie auszahlen zu las- kennt die Kosten in voller Höhe an.
Geringqualifizierte, Menschen mit sen, »kommt häufiger die Antwort, Mit den Regelsätzen für die Kinder
geringen Sprachkenntnissen. Zu Letz- dass sie dann Ansprüche aus dem Kin- ist das anders. Die Eltern leben das
teren gehören auch die Hunderttau- derzuschlag verlieren«. In diesem Mo- Wechselmodell, daher bekommt
senden Geflüchteten aus der Ukraine, nat zahlt das Unternehmen wie üblich Fuchs nur Geld für die Tage, an denen
die nach Ansicht von CSU-Chef Mar- Weihnachtsgeld aus. Ein besorgter die Kinder wirklich bei ihr sind. Dazu
kus Söder gar kein Recht auf Bürger- Kollege bat Machnik, »ich solle darauf noch einen Zuschlag, tagesgenau, weil
geld haben sollten. achten, dass sein Nettoeinkommen das Warmwasser elektrisch erhitzt
»Bei Langzeitarbeitslosen kommt dadurch nicht über 2200 Euro steige«. wird, nach Alter gestaffelt, für Lina
es darauf an, mit ihnen in vielen »Keiner hat Sonst gehe ihm noch Geld verloren. gibt es etwas mehr als für Finn, warum
Schritten intensiv zu arbeiten, und
zwar passgenau für den Einzelfall«,
den Über- 17 Euro bekommen Nickels Fahrer das so ist, muss man nicht verstehen.
pro Stunde. Derzeit laufen Verhand- 20 Stunden an vier Tagen in der
sagt der Ökonom Enzo Weber vom blick, nie- lungen über Lohnerhöhungen. Klar Woche arbeitet Fuchs als Arzthelferin
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufs- mand schaut sei schon, dass es einen kräftigen Auf- in einer Praxis, für 1305 Euro brutto
forschung. Sorge bereitet ihm, dass schlag geben werde, »etwa 200 bis im Monat. Übrig bleiben 1090 Euro
Menschen, die heute im Bürgergeld auf das 300 Euro im Monat«, sagt Machnik. netto. Behalten darf sie davon
sind, viel seltener herauskommen: Gesamt- Ihm ist schon bange: »Wie werden 358,50 Euro, der Rest wird mit dem
»Die Arbeitslosigkeit verfestigt sich die Kollegen dann reagieren?« Bürgergeld verrechnet. Fuchs muss
stärker als früher«, warnt Weber. system.« Es klingt verrückt: Wer danach bald eine schwierige Entscheidung
»Wir müssen noch einmal richtig in- Andreas Peichl sucht, wo der deutsche Sozialstaat treffen: Ihre Chefs hätten sie gern an

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 67

WIRTSCHAFT

30 Stunden pro Woche in der Praxis, sie be- zwei verschiedene Grundsicherungssysteme, Das zeigt das Beispiel einer Alleinerziehen-
käme dann 1958 Euro brutto und 1512 Euro die miteinander konkurrieren«, sagt Blömer. den mit einem Kind in einer Stadt der Miet-
netto. Behalten dürfte sie davon 378 Euro. Kei- »Als erstes Auffangnetz das Bürgergeld für stufe 3 – beispielsweise Rostock. Arbeitet sie,
ne 20 Euro mehr als bislang. Arbeitslose und Geringverdiener, als zweites bleibt die Mutter bis zu einem Gehalt von
Die müsste sie allein für den zusätzlichen Auffangnetz das Wohngeld und den Kinder- 860 Euro brutto im Bürgergeld – für Miete
Tag Kita-Verpflegung des Sohnes ausgeben. zuschlag für Haushalte mit einem immer noch und Lebenshaltung hätte sie 1893 Euro zur
Und hätte weniger Zeit für die Kinder, den kleinen, aber etwas höherem Einkommen.« Verfügung. Verdient sie mehr, verlässt sie das
Haushalt, Freunde und sich selbst. »Das Für das Bürgergeld ist das Arbeitsministe- Bürgergeld und hat Anspruch auf Wohngeld
macht einfach keinen Sinn«, sagt Fuchs. rium zuständig, für das Wohngeld das Bau- und Kinderzuschlag.
Ökonomen sehen das ähnlich. »Das ist ministerium, für den Kinderzuschlag das Fa- Bei einer weiteren Gehaltserhöhung um
eine Situation, die allen Beteiligten schadet«, milienministerium. Verwaltet werden sie von 1080 auf 1940 Euro steigt ihr verfügbares Ein-
sagt Andreas Peichl vom Münchner Ifo-Ins- drei verschiedenen Behörden: Jobcenter, kommen spürbar – um 476 Euro auf 2369 Euro.
titut: »Zuallererst der Mutter, die ihr Ein- Wohngeldstellen und Familienkassen. Jede Steigert sie danach ihr Gehalt abermals um
kommen nicht steigern kann und weniger der drei Leistungen hat eigene Kriterien für 610 Euro auf 2550 Euro, wächst ihr verfüg-
Rentenansprüche aufbaut. Den Kindern, weil die Berechtigung, die Höhe der Zahlungen bares Einkommen nur noch um 14 Euro.
sie ihnen weniger kaufen kann. Ihren Chefs, und den zulässigen Zuverdienst. In ihrem Oder anders ausgedrückt: Ob sie 1940 oder
die ihre Arbeitskraft offensichtlich brauchen. Zusammenspiel ergeben sich abstruse Effekte. 2550 Euro brutto verdient, spielt für ihren
Den Patienten, die länger auf einen Termin Lebensstandard keine Rolle. Der Grund: In
warten müssen. Und natürlich dem Staat: Er diesem Einkommensbereich werden Wohn-
bekommt weniger Steuern und Sozial- Schwer vermittelbar geld und Kinderzuschlag gleichzeitig mit je
abgaben und muss weiter so viel zahlen wie 45 bis 50 Cent pro Euro gekürzt.
bisher.« Erwerbsfähige im Bürgergeld Peichl und Blömer plädieren in ihrer Stu-
im Juli 2023, in Prozent
Seit Jahren erforscht Peichl das Problem, die für die Wirtschaftsweisen daher für eine
das in der Fachsprache »Transferentzugsrate« in Weiterbildung/ in ungeförderter radikale Vereinfachung: Das bisherige Bür-
heißt. Es beschreibt die Intensität, in der der Qualifizierung Erwerbstätigkeit gergeld, das Wohngeld und der Kinder-
13 11
Staat Sozialleistungen kürzt, wenn das eige- zuschlag sollten in einem neuen Bürgergeld
ne Einkommen steigt. zusammengelegt werden. Dort könnte eine
Bürgergeldempfänger dürfen einen Frei- einfache Regel gelten: Die ersten 100 Euro
betrag von 100 Euro ganz behalten, von jedem insgesamt vom Selbstverdienten darf man behalten und
arbeitslos 3,95 Mio.
Euro darüber bis zur Schwelle von 1000 Euro 43 in Schule, von jedem Euro darüber 30 Cent.
bleiben nur noch 20 bis 30 Cent. Ab dieser Studium, So wäre sichergestellt, dass es sich immer
Schwelle sind es nur noch 10 Cent von jedem Ausbildung lohnt, mehr zu arbeiten. Den Staat würde das
11
Euro – und über 1500 Euro gar nichts mehr. weniger kosten als das bisherige Modell. Und
Exakt die Zone, in die Fuchs mit ihrer Mehr- auch die von Personalnot geplagten Firmen
Sonstige*
arbeit rutschen würde. »Das Signal ist: Ihr 22
würden profitieren: Der Anreiz zur Mehr-
dürft maximal marginal arbeiten. Und je mehr arbeit sei in dem Modell so groß, haben die
ihr arbeitet, desto mehr bestrafen wir euch«, Arbeitslose im Bürgergeld mit besonderer Ifo-Ökonomen ausgerechnet, dass sie der
sagt Ökonom Peichl. Immerhin kann Fuchs Förderungsbedürftigkeit** 2022, in Prozent Arbeitsleistung von umgerechnet 32.000 neu-
exakt berechnen, wie viel Geld ihr bliebe. en Vollzeitbeschäftigten entspräche.
Wer mehrere Sozialleistungen parallel be- 46 Sarah Fuchs würde den Wirrwarr am liebs-
43 insgesamt
zieht, kann das kaum mehr. Zu komplex und 1,6 Mio. ten hinter sich lassen. Statt Bürgergeld zu be-
unvorhersehbar sind die Wechselwirkungen ziehen, würde sie gern auf das Wohngeld plus
zwischen dem Katalog an Leistungen, die der 11 Kinderzuschlag wechseln. Dann dürfte sie
Staat aus dem hehren Ansinnen geschaffen von ihrem Mehrverdienst mehr behalten. Im
hat, jedem Bürger in seiner individuellen Le- mehrfach einfach ohne vergangenen Jahr hatte sie mithilfe von On-
benssituation so gut wie möglich zu helfen. betroffen betroffen linerechnern festgestellt, dass sie dazu nicht
genug verdiente. In diesem Jahr wurden
Im Dickicht des Sozialstaats Neu verhängte Sanktionen, jedoch Wohngeld und Kinderzuschlag auf-
Vor vier Jahren, erzählt Peichl, habe er einen pro Monat*** gestockt. Reicht es jetzt? Fuchs hat sich von
Mitarbeiter gebeten, eine Übersicht zu er- 80.000 Sozialverbänden beraten lassen und das Job-
arbeiten. Das Ergebnis: eine Excel-Tabelle center gebeten zu prüfen, wie sie jeweils da-
mit 173 Einträgen, von der Hebammenhilfe stünde. Ausrechnen konnte ihr das niemand.
60.000
bis zum Bestattungsgeld, von der Betriebs- »Die haben gesagt: Das können wir nicht.
hilfe für Landwirte bis zur Beschädigtenren- Rechnen Sie selbst«, erzählt Fuchs.
te, von der Familienmitversicherung bis zum 40.000 Das hat sie getan. Eigentlich müsste es rei-
Sterbegeld für Beamte. Jede einzelne Leis- 30.202 chen. Aber ob ihre Anträge auf Wohngeld
tung fällt in die Zuständigkeit eines Bundes- und Kinderzuschlag auch so bewilligt werden
ministeriums, manche auch in die von zweien, 20.000 wie im Onlinerechner, wüsste sie erst, wenn
insgesamt sieben Häuser mischen mit. Das die Bescheide kommen.
Ergebnis: »Keiner hat den Überblick, jeder 0 Beim letzten Termin im Jobcenter, erzählt
schaut auf seine Maßnahmen, niemand auf Fuchs, habe sie ihrem Betreuer gesagt: »Ich
das Gesamtsystem«, sagt Peichl. 2007 2011 2015 2019 2023 will raus aus dem Bürgergeld.« Der habe sie
Gerade erst hat er gemeinsam mit seinem * darunter Arbeitsunfähigkeit, Erziehung/Haushalt/Pflege, mitleidig angesehen und geantwortet: »Frau
Ifo-Kollegen Maximilian Blömer eine Studie Sonderregelungen für Ältere
** Langzeitarbeitslose, schwerbehinderte Menschen, 55 Jahre Fuchs, Sie kommen hier nicht raus.« Womög-
für die Wirtschaftsweisen erstellt, die berech- Qualifizierung
oder älter, Berufsrückkehrende und/oder Personen mit geringer lich ist der Sozialstaat so komplex, dass ihn
net, welche Wechselwirkungen es zwischen *** Durchschnittswerte auf Basis der Jahressummen, nicht einmal die verstehen, die für ihn arbeiten.
verschiedenen Leistungen für Familien mit 2023: Juli; von Juli bis Dezember 2022 galten eingeschränkte
Regeln für Sanktionen. Markus Dettmer, Florian Diekmann,
wenig Einkommen gibt. »Eigentlich gibt es S Quelle: Bundesagentur für Arbeit Lukas Eberle n
◆

68 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


Model X vor Tesla-Store
Daten frei Haus
AUTOINDUSTRIE Tesla schludert erneut beim Datenschutz:
Rund 1000 Gehaltsabrechnungen landeten im
Postfach einer Ex-Mitarbeiterin. Berliner Datenschützer werten
nun einen USB-Stick voller sensibler Informationen aus.
n der Welt von Elon Musk gibt es kaum
I einen pflichtbewussteren Unternehmer
als ihn selbst. Seine Firmen befolgten
weltweit Hunderte Millionen unterschiedliche
Regeln, behauptete der schillernde Multi-
unternehmer Ende November in einem
Bühneninterview mit dem US-Journalisten
Andrew Ross Sorkin: »Tatsächlich bin ich
unglaublich gesetzestreu.«
Datenschützer in Deutschland werden die-
se Selbsteinschätzung mit Erstaunen verfolgt
haben. Denn was europäische Datenschutz-
regeln angeht, ist der Multimilliardär und Mit-
eigentümer des Autobauers Tesla, der Welt-
raumfirma SpaceX und des Kurznachrichten-
diensts X (ehemals Twitter) eher so etwas wie
ein Wiederholungstäter.
Insbesondere bei Tesla, einem Unterneh-
men, das Musk auf der Bühne als besonders
regeltreu hervorhob, treten immer wieder
gravierende Probleme auf.
Mitte Oktober erhielten die obersten
Datenschützer der Länder Berlin und Bran-
denburg nach SPIEGEL -Informationen einen
brisanten Hinweis. Eine Ex-Tesla-Mitarbei-
terin übermittelte ihnen einen USB-Stick
voller sensibler Daten: gut 1000 Gehalts-
abrechnungen von Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der Deutschlandtochter Tesla
Germany GmbH.
Betroffen sind unter anderem Beschäftigte
aus Vertrieb, Service, Personalwesen, Finan-
WIRTSCHAFT
Sozialversicherungsnummern. Schutzbedürf-
tige Informationen waren für Mitarbeitende
leicht zugänglich.
Angeblich gelobte Tesla danach intern
Besserung. Eine öffentliche Stellungnahme
lehnte der Konzern bislang jedoch ab. Nun
wächst der Druck.
Denn gleich mehrere Datenschutzbehör-
den, unter anderem an Teslas Europasitz in
den Niederlanden, haben den US-Autobauer
wegen diverser Verdachtsfälle im Visier. Kön-
Julian Stratenschulte / picture alliance / dpa
nen sie Tesla Verstöße nachweisen, drohen
saftige Bußgelder: laut europäischer Daten-
schutz-Grundverordnung bis zu vier Prozent
des globalen Umsatzes. Für das vergangene
Jahr wären das – im schlimmsten Fall – mehr
als drei Milliarden Euro.
Der jüngste Vorfall landete bei der Landes-
datenschutzbeauftragten von Brandenburg,
wohl weil sich im brandenburgischen Grün-
heide Teslas deutsches E-Auto-Werk befindet.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der so-
genannten Gigafactory sind vom jüngsten
Datenleck allerdings nicht betroffen.
Man habe im Oktober eine »Beschwerde
über den Fehlversand von Gehaltsmitteilun-
gen« erhalten, bestätigt die Brandenburger
Behörde. Da der Vorgang jedoch von der
Tesla Germany GmbH mit Sitz in Berlin zu
verantworten sei, habe man den Fall an die
Kolleginnen und Kollegen dort abgegeben.
Bei den Berliner Landesdatenschützern
wird der Stick derzeit ausgewertet. Überprüft
wird auch, wie heikel die Informationen sind:
»Bei Gehaltsabrechnungen besteht die Mög-
lichkeit, dass durch Angaben zu beispiels-
zen, Marketing sowie der Unternehmens- weise Konfession oder Behinderungsgrad
führung.
Die Dokumente enthalten Angaben zum
Monatsgehalt, die Privatadresse, Sozialver-
einer Person auch besonders sensible Daten-
kategorien betroffen sind«, so die Behörden-
vertreter. Zumindest die Konfession taucht
sicherungsnummer, Steuer-ID, Konfession, nach SPIEGEL -Informationen im Datensatz
das Geburtsdatum. Unterlagen also, die nie- in mehreren Abrechnungen auf.
mand mal eben im Kopierer liegen lässt – und Nach dem üblichen Verfahren wird Tesla
die wohl einen Verstoß gegen die Daten- dann Stellung nehmen können. Anschließend
schutz-Grundverordnung darstellen dürften, wird die Behörde über etwaige Sanktionen
die personenbezogene Daten unter besonders entscheiden.
rigiden Schutz stellt. In Brandenburg ist nach Auskunft der dor-
Die ehemalige Mitarbeiterin bekam das tigen Datenschützer für das laufende Jahr eine
Datenkonvolut offenbar unaufgefordert zu- weitere Beschwerde anhängig, bei den Berli-
geschickt, per E-Mail aus der Personalabtei- ner Kollegen sind es sogar zehn. Allerdings
lung. So schilderte sie es jedenfalls den Be- geht es in der Regel um Einzelpersonen, der
hörden: Sie habe lediglich ein paar Unterlagen neue Fall mit rund 1000 Betroffenen ist der
angefordert, die sie selbst betreffen – und gravierendste.
daraufhin den umfassenden Datensatz erhal- Tesla Deutschland ließ einen Fragenkata-
ten, als komprimierte Zip-Datei. log des SPIEGEL unbeantwortet.
War das grobe Fahrlässigkeit eines un- Wie Elon Musk auf den deutschen Daten-
achtsamen Mitarbeiters? Oder hat Tesla ein schutz blickt, ist nicht überliefert. Wie ernst
grundlegendes Problem mit Schutz und Si- er es mit der Regulierung nimmt, ließ Musk
cherheit seiner Daten? allerdings bei seinem jüngsten Bühnenauftritt
In den vergangenen Monaten wurde der durchblitzen.
E-Auto-Pionier jedenfalls immer wieder ver- Hin und wieder gebe es Gesetze, mit
haltensauffällig. Mitte des Jahres wurde ein denen er nicht einverstanden sei – Regeln,
Datenleck bekannt, das ein Informant dem die nicht dem öffentlichen Interesse dienten.
»Handelsblatt« zugetragen hatte. »Dann sehe ich es als meine Pflicht, ihnen zu
Demnach konnte zeitweise ein größerer widersprechen«, so Musk. Soll wohl heißen:
Kreis Mitarbeiter intern personenbezogene Welche Gesetze er befolgt, entscheidet nur
Daten von Kunden und Beschäftigten ab- einer – er selbst.
rufen, darunter Gehälter, Privatadressen und Simon Hage, Marcel Rosenbach n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 69
WIRTSCHAFT
Sprint auf der Baustelle
IMMOBILIEN In 22 Tagen einen Altbau sanieren? Mit einem neuen Verfahren
in Hamburg will ein Ingenieur beweisen, dass Tempo und Sorgfalt
zusammengehen. Warum das Projekt als Vorbild für die Energiewende taugt.
ls Johannes Deneke und seine
A Frau im Mai die Doppelhaus-
hälfte in Hamburg-Duvenstedt
kaufen, kommen die Sorgen. Sie fragen
sich, ob sie sich nicht übernehmen mit
dem Bau aus den Sechzigerjahren –
die Fenster sind alt, im Keller bollert
eine Ölheizung. »Wir hatten mit ener-
getischen Sanierungsprojekten kei-
nerlei Erfahrung«, sagt Deneke. Die
Stimmung im Land ist damals auch
nicht gerade motivierend: In Berlin
wird das Heizungsgesetz verhandelt,
in Talkshows hören die Denekes im-
mer wieder, Wärmepumpen funktio-
nierten in Bestandshäusern gar nicht.
Da hätte sich das Paar nicht vor-
stellen können, wenige Monate später
zu den Pionieren der Energiewende
zu gehören. Fachleute aus dem gan-
zen Land interessieren sich plötzlich
für das Häuschen, Wissenschaftler der
Universität Stuttgart nehmen die Bau-
stelle in Augenschein, der NDR dreht
eine TV-Dokumentation. Der Grund:
Die Denekes haben ihr Haus inner-
halb von 22 Arbeitstagen saniert. Das
dürfte ein neuer Rekord für solche
Umbaumaßnahmen sein. Üblicher-
weise brauchen derartige Projekte
zwischen 6 und 18 Monate.
Bei den Denekes rückten am 8. Sep-
tember die ersten Handwerker an, am
10. Oktober verließen die letzten das
Haus. In Windeseile brachten sie die
Doppelhaushälfte auf Effizienz-Stan-
dard 70. Sie dämmten die Fassade,
tauschten Fenster aus. Im Keller ins-
tallierten sie eine Wärmepumpe, auf
dem Dach eine PV-Anlage. Die kom-
plette Haustechnik wurde moderni-
siert, zwei neue Bäder und ein Gäste-
WC wurden eingebaut und das Dach
ausgebaut. Und das in gerade einmal
drei Wochen.
Wie funktioniert das? Noch dazu,
wo Handwerker so knapp sind?
Zu verdanken haben die Denekes
das dem Tüftler Ronald Meyer. Der
60-jährige Bauingenieur hat seinen
»Sanierungssprint« über Jahre kon-
zipiert, nun hat er ihn erstmals um-
gesetzt. An die Denekes geriet er eher
70 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Meyer schätzt, dass die Kosten
durch die Methode auf Dauer um 15
bis 20 Prozent sinken könnten, wenn
die Handwerker besser eingespielt
seien. Allerdings setzt das voraus,
dass die Teams auch bei künftigen
Projekten zusammenarbeiten.
Der Ansatz des Ingenieurs fällt in
eine Zeit, in der Millionen von Ge-
bäuden saniert werden müssen.
Deutschland hinkt seinen Klimazielen
beim Wohnen weit hinterher, derzeit
wird pro Jahr nur etwa ein Prozent der
Altbauten saniert. Auch, weil Bauher-
ren vor der langen Sanierung zurück-
»Das Konzept durch einen Zufall: Er fragte eine schrecken. Meyer will nun sein Kon-
hat nichts mit
stressiger
Energieberatung, ob sie nicht einen
Kunden habe, der Lust hätte, Neues
auszuprobieren.
zept in ganz Deutschland umsetzen,
er tauscht sich mit Baufirmen, Archi-
tekten und Energieberatern aus.
Akkordarbeit Das Konzept des Ingenieurs ist Bei den Denekes in Duvenstedt hat
profan und hat überraschend wenig der Ingenieur ausgerechnet, dass die
zu tun.« mit Technologie oder Digitalisierung Handwerker 1800 Arbeitsstunden für
Ronald Meyer, zu tun. Es ist die stundengenaue das Vorhaben benötigten. Das sind
Bauingenieur Koordinierung aller beteiligten Hand- 82 Stunden pro Tag, was dem Arbeits-
werker, die für Tempo sorgt. Minu- einsatz von rund zehn Handwerkern
tiös legte Meyer vorab fest, welches entspricht, die Tag für Tag gleichzeitig
Gewerk an welchem Tag um wie viel auf der Baustelle arbeiten. Bei einem
Uhr auf der Baustelle eingetaktet ist 140 Quadratmeter großen Haus kann
und welche Arbeiten zu erledigen es da schnell eng werden. »Die stan-
sind. Meyer übernahm als »Sa- den sich aber nicht gegenseitig auf
nierungscoach« die Aufsicht vor Ort, den Füßen«, versichert Meyer. Sechs
er war an allen 22 Arbeitstagen Handwerker arbeiteten in den Innen-
auf der Baustelle. »Für den Sprint räumen, weitere vier im Außen-
braucht man eine Person, bei der bereich. Für die Betriebe sei das ein
alle Fäden zusammenlaufen«, sagt lohnendes Geschäft, weil sie mehr
Meyer. Baustellen bei gleichem Ressourcen-
Weil es sich um ein Pilotprojekt einsatz bedienen könnten.
handelte, verzichtete Meyer auf sein Die schnelle Abstimmung vor Ort
Honorar. »Ich wollte erst mal de- erspart unnötigen Ärger. Als die Elek-
monstrieren, dass das Ganze gelingt«, triker Leitungen verlegen wollten,
sagt er. Bei künftigen Sprints müssten bemerkten die anwesenden Estrich-
Kunden den Sanierungscoach be- leger rechtzeitig, dass die Kabel für
zahlen. Dafür spare man Kosten für die Schüttung des Bodens zu hoch
Handwerk und Material, etwa weil gelegen hätten. Auf einer normalen
das Baugerüst nur für kurze Zeit ge- Baustelle wäre der Fehler wohl erst
braucht wird, sagt Meyer. Unter dem später aufgefallen und hätte mühsam
Strich hat die Schnellsanierung die ausgebessert werden müssen.
Hauskäufer Deneke: Denekes genauso viel gekostet, wie Der Angst von Handwerkern,
Tägliches Catering
für das Handwerker- wenn sie den herkömmlichen Weg durch das auf Effizienz getrimmte
team gegangen wären. Vorgehen noch stärker unter Zeit-
druck zu geraten, hält Meyer ent-
gegen: »Das Konzept hat nichts mit
stressiger Akkordarbeit zu tun.« Im
Gegenteil: Das Miteinander auf der
Baustelle sei angenehmer, wenn alle
genau wüssten, wann was zu tun sei.
Die Denekes und das Projektteam
trugen zum gedeihlichen Miteinander
allerdings einiges bei. Sie organisierten
ein tägliches Catering für das Team,
das in der Spitze bis zu 20 Handwerker
umfasste. Das kostete zwar 3000
Euro, sei aber ein wichtiger Motiva-
Jörg Müller / DER SPIEGEL
tionsschub gewesen. Für die Denekes
hat sich die Extra-Investition bezahlt
gemacht: Sie beziehen ihr Traumhaus
viele Monate früher als geplant.
Henning Jauernig n

Behandlungsmöglichkeiten
bei schwerer Depression
Was, wenn
die Therapie
nicht hilft?
Depressionen zählen mittlerweile zu den Volkskrank-
heiten mit weitreichenden Auswirkungen auf unsere Ge-
sellschaft. In der EU leiden etwa 40 Millionen Menschen
sogar an einer schweren Depression. Verglichen mit
anderen Krankheitsgruppen ist die Depression eine Er-
krankung, bei der die Betroffenen eine besonders hohe
Anzahl gesunder Lebensjahre an die Krankheit verlieren.
Jede vierte Frau und jeder achte Mann erkrankt mindes-
tens einmal im Leben an einer behandlungsbedürftigen
Depression.
Bei einer schweren Depression ist in vielen Fällen eine
medikamentöse Behandlung sinnvoll. Oft können psy-
chotherapeutische und weitere Maßnahmen erst greifen,
wenn sich der Zustand der Betroffenen stabilisiert hat.
Dass erste Therapieversuche nicht wie gewünscht wir-
ken, ist bei Depression leider keine Seltenheit.
Spricht eine Betroffene oder ein Betroffener trotz ausrei-
chender Dosierung und Behandlungsdauer schlecht auf
mehrere medikamentöse Behandlungen an und bessern
sich die Beschwerden nicht oder nicht zufriedenstellend,
sprechen Fachleute von einer schwer behandelbaren
oder therapieresistenten Depression (TRD).
Neuroplastizitäts-Hypothese als Forschungsansatz
Seit vielen Jahrzehnten sind die neurobiologischen Vor-
gänge bei einer Depression Gegenstand der Forschung.
Der Wirkansatz vieler klassischer Antidepressiva beruht
auf der Hypothese, dass die Menge bestimmter Boten-
stoffe (vor allem Serotonin und Noradrenalin) bei Men-
schen, die von Depressionen betroffen sind, im Ungleich-
gewicht sei (Monoamin-Hypothese). Andere Theorien
Informationen für medizinische Fachkreise
Schwere Depression erkennen und behandeln
Depressionen werden in unterschiedliche Schweregrade von leicht, mittelgradig bis schwer
eingestuft. Je nach Schweregrad einer Depression entscheidet sich, welche Therapie oder The-
rapiekombination ausgewählt werden sollte.
EM-145062
ANZEIGE
weisen darauf hin, dass auch chronische Entzündungen
und eine gestörte Darmflora depressive Symptome her-
vorrufen können.
Inzwischen mehren sich auch Hinweise auf einen Zusam-
menhang zwischen der Neuroplastizität, also der Fähig-
keit des Gehirns, sich an veränderte äußere Anforderun-
gen (z. B. chronischer Stress) oder auch Schädigungen
anzupassen, und der Entwicklung einer Depression.
Es wird davon ausgegangen, dass eine beeinträchtigte
Neuroplastizität und damit eine Rückbildung von syn-
aptischen Verbindungen zu einer Depression führen und
diese verstärken kann. Bestimmte Wachstumsfaktoren
im Gehirn (z. B. BDNF), die eine Neubildung von Synap-
sen fördern können und bei Patient:innen mit Depressi-
onen reduziert sind, scheinen damit im Zusammenhang
zu stehen.
Hilfe bei Therapieresistenz
Dank intensiver Forschung gibt es mittlerweile auch für
Erkrankte, bei denen eine Behandlung mit einem Anti-
depressivum nicht ausreichend gewirkt hat, Therapie-
optionen, mit denen eine deutliche Verbesserung der
Symptome herbeigeführt werden kann. Bei einigen kann
die akute depressive Episode komplett beendet und in
manchen Fällen kann sogar ein erneutes Auftreten einer
Depression verhindert werden. Gerade Betroffene mit
einer Therapieresistenz sollten mit ihren behandelnden
Ärzt:innen besprechen, welche der aktuellen Therapie-
optionen für sie in Frage kommen.
Mehr über die Behandlungsmöglichkeiten einer Depression
auf www.gemeinsam-gegen-depression.de
WIRTSCHAFT

Li, 47, wollte eigentlich Physikerin

werden, seit mehr als zwei Jahrzehn-
ten forscht sie nun zu künstlicher In-
telligenz (KI). Das von ihr entwickelte

»Der Staat muss massiv ImageNet-Projekt trainierte bereits

von 2009 an Algorithmen mit Daten
und trug wesentlich zur Entwicklung

in KI investieren« moderner KI-Systeme wie ChatGPT

bei. Li ist Mitgründerin des Instituts
Human-Centered Artificial Intelli-
gence an der Stanford University, wo
SPIEGEL-GESPRÄCH Die Stanford-Professorin Fei-Fei Li gilt als sie Informatik lehrt. Sie ist Mitglied
der National Artificial Intelligence
Vordenkerin auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Sie Research Resource Task Force. Das Ex-
warnt: Die Politik dürfe die Technologie – und damit die Zukunft pertengremium berät US-Präsident
der Menschheit – nicht allein den Konzernen überlassen. Joe Biden.

SPIEGEL: Frau Li, Sie gehören zu den

Pionierinnen der künstlichen Intelli-
genz. 2023 erlebte die Technologie
mit ChatGPT ihren großen Durch-
bruch. Für die meisten Menschen
schien der aus dem Nichts zu kom-
men. Hat Sie das Tempo der Entwick-
lung auch überrascht?
Li: Experten in der Techwelt haben
schon seit einiger Zeit gemerkt, dass
es auf einmal sehr schnell vorwärts-
geht. 2017 beschrieben Google-Wis-
senschaftler erstmals, was sogenann-
te LLMs (Large Language Models)
leisten können, auf denen auch
ChatGPT basiert. Damals haben wir
verstanden: KI könnte eine Techno-
logie werden, die Menschen Super-
kräfte verleiht. Sie könnte helfen, den
Krebs zu besiegen, den Klimawandel
zu bekämpfen und die Artenvielfalt
auf der Welt zu erhalten. Aber habe
ich deshalb mit dem unglaublichen
Erfolg von ChatGPT gerechnet? Ich
glaube, das hat niemand.
SPIEGEL: Im Silicon Valley wird jede
neue Entwicklung als weltbewegen-
des »next big thing« gefeiert. Ist Chat-
GPT tatsächlich ein solcher techno-
logischer Wendepunkt?
Li: Absolut. Zumindest für KI. Wo-
möglich auch für die Menschheit. Auf
jeden Fall ist es kein Hype, der vorüber-
geht. Die Fähigkeiten der Technologie
sind phänomenal. KI wird sich bald
überall finden: in jedem Unterneh-
men, in jedem Leben.
SPIEGEL: Worin besteht der Unter-
schied zu früheren KI-Modellen?
Li: Die Technologie macht KI zu einer
Massenanwendung, die nicht mehr
nur von Spezialisten genutzt werden
kann, sondern potenziell von jeder
Winni Wintermeyer / DER SPIEGEL

und jedem. Egal ob Sie als Ingenieur

eine technische Frage haben, als Schü-
ler einen Aufsatz recherchieren oder
als Reisebüromitarbeiter eine Tour
zusammenstellen: In der Regel be-

Das Gespräch führten die Redakteure Simon

Wissenschaftlerin Li: »Regulierung gehört dazu« Book und Thomas Schulz in Stanford.

72 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


kommen Sie eine vernünftige Antwort. Al-
lerdings ist die Technik noch nicht fehlerfrei.
Manchmal halluziniert sie.
SPIEGEL: So nennen es Fachleute, wenn KI-
Systeme aus Daten falsche Schlüsse ziehen,
Fakten und Fiktion vermischen und diese halb
gare Mischung als Wahrheit präsentieren.
Li: Daran müssen wir arbeiten. Aber alles in
allem hat die Technologie sehr mächtige Fä-
higkeiten.
SPIEGEL: Nicht ganz ausgereift und mächtig
klingt nach einer gefährlichen Kombination.
Li: Wir müssen beim Thema KI den Menschen
in den Mittelpunkt rücken. Das bedeutet,
nicht nur über die Technologie selbst zu spre-
chen, sondern auch über ihre ethischen und
politischen Folgen. An der Stanford Univer-
sity haben wir deshalb das Institut Human-
Centered Artificial Intelligence gegründet.
SPIEGEL: Inzwischen hat sich in der Techwelt
ein regelrechter Kulturkampf entwickelt:
Das eine Lager sieht künstliche Intelligenz
als Heilsbringer und will sie so schnell wie
möglich weiterentwickeln. Die andere Seite
betrachtet sie zunehmend als Gefahr für
die Menschheit. Warum sind selbst KI-Ex-
perten so gespalten in der Beurteilung der
Technologie?
Li: Es wird wirklich sehr, sehr laut gestritten
gerade. Auch weil die Öffentlichkeit aufge-
wacht ist und sehr genau hinschaut. Allerdings
vertritt nicht die ganze KI-Gemeinschaft, zu
der Akademiker ebenso gehören wie Inge-
nieure, Produktmanager und viele andere
Menschen, solche extremen Meinungen.
SPIEGEL: Auf welcher Seite stehen Sie?
Li: Ich gehöre weder zu denen, die auf eine
grandiose Techno-Utopie hoffen, noch zu
denen, die jetzt schon unsere Existenz ge-
fährdet sehen. Ich glaube, die Menschheit er-
findet regelmäßig neue bahnbrechende Tech-
nologien. Und jedes Werkzeug, das Menschen
erschaffen, kann nicht nur für sie, sondern
auch gegen sie verwendet werden. So ist es
auch mit KI.
SPIEGEL: Zuletzt warnten allerdings nicht
nur Verschwörungstheoretiker, sondern auch
reihenweise prominente KI-Experten wie
Googles KI-Pionier Geoffrey Hinton vor den
Gefahren für die Menschheit.
Li: Eine große Furcht ist, dass KI die Menschen
eines Tages in vielen Bereichen ersetzen
könnte. Wir sollten darauf hinarbeiten, KI so
zu entwickeln, dass sie Menschen unterstützt.
Nehmen Sie das Gesundheitswesen: KI kann
Ärzten bei der Diagnose helfen, Pharmafir-
men bei der Entwicklung neuer Medikamen-
te und Patienten bei der Genesung. Aber wir
müssen ihr die richtigen Leitplanken setzen.
Dafür trage ich als Wissenschaftlerin Verant-
wortung.
SPIEGEL: Sollte die Verantwortung nicht vor
allem bei der Politik liegen? Das EU-Parla-
ment hat sich in der vergangenen Woche auf
den AI Act verständigt, der schärfere Vor-
gaben für riskante Anwendungen vorsieht,
etwa für den Einsatz von KI in der kritischen
Infrastruktur. Die USA dagegen halten sich
WIRTSCHAFT
ren, sondern eine »Moonshot-Mentalität« an
den Tag legen, also wie beim Wettlauf zum
Mond investieren, in nationale Institute und
in Personal. Ich bin besorgt, dass Stimmen
aus dem öffentlichen Sektor bislang in der
Debatte nicht wirklich mitdiskutieren. Wenn
wir KI komplett den privaten Firmen über-
lassen, dann überlassen wir auch die Zukunft
der Menschheit den Privatkonzernen.
SPIEGEL: Sie fürchten, dass KI unter Führung
der großen Konzerne doch zur Gefahr wird?
Li: Ich bin sicher nicht wirtschaftsfeindlich,
Alex Welsh / The NewYorkTimes / Redux / laif
das möchte ich ausdrücklich betonen. Ich
habe auch nichts gegen die kommerzielle Ent-
wicklung von KI, aber wir Menschen erfinden
mächtige Werkzeuge, und nicht jeder benutzt
sie verantwortungsvoll. Manchmal geschieht
das auch nur unabsichtlich oder gedankenlos.
Etwa wenn eine medizinische KI-Anwendung
zwar der Gesundheit von Patienten dient,
aber den Datenschutz ignoriert.
Roboter in kalifornischem Forschungslabor
SPIEGEL: Und dagegen helfen staatliche In-
vestitionen?
bislang zurück, den Technologiekonzernen Li: Sie helfen zumindest, eine gewisse Ba-
hereinzureden. lance herzustellen. Es geht schließlich um
Li: Die Politik wacht gerade erst richtig auf das Gemeinwohl, um eine Therapie für
und versucht nun schnellstens herauszufin- Krebs, um neue Arten der Musik, um die
den, was vernünftige Leitlinien wären. Rettung des Klimas. Viele dieser Dinge wur-
SPIEGEL: Haben Politiker aus Ihrer Sicht ver- den in der Vergangenheit stark von staat-
standen, wie grundlegend KI Gesellschaft und lichen Investitionen getrieben. Ich will si-
Wirtschaft verändern wird? cherstellen, dass das mächtige Werkzeug KI
Li: Leider nicht ganz. Dank ChatGPT inte- richtig eingesetzt wird. Dazu müssen öffent-
ressieren sich Spitzenpolitiker in Washington liche Einrichtungen, Universitäten und Non-
oder Brüssel nun aber wenigstens sehr viel Profit-Organisationen eine weit größere Rol-
mehr für das Thema. le spielen. Teil des Problems ist schon, dass
SPIEGEL: Sie haben in den vergangenen Jah- es sich keine Universität der Welt heute leis-
ren auch US-Präsident Joe Biden beraten. ten kann, ein eigenes Modell wie ChatGPT
Was empfehlen Sie ihm? zu entwickeln.
Li: Der Staat muss massiv in KI investieren. SPIEGEL: Nicht einmal Stanford, die vielleicht
Das habe ich Präsident Biden und dem US- reichste Uni der Welt?
Kongress sehr nachdrücklich gesagt. Bislang Li: Nicht einmal wir. KI ist sehr teuer. Ein Mo-
dominieren private Unternehmen die KI-Ent- dell zu trainieren und zu entwickeln kostet
wicklung und damit auch die Diskussion. Die inzwischen Hunderte Millionen Dollar. Des-
Regierung sollte nicht nur in die Forschung, wegen plädiere ich schon länger unter ande-
in die Cloud und in Datenspeicher investie- rem für eine staatlich finanzierte Cloud.
SPIEGEL: Die würde Rechenkraft und Daten-
verarbeitungskapazitäten liefern, die für öf-
An der Grenze des Wissens fentliche Einrichtungen zu teuer sind?
Li: Ja, damit würde mehr akademische KI-
Führende Universitäten im Bereich KI, nach Forschung möglich. Derzeit gibt es ein
gewichteter Anzahl themenbezogener
Veröffentlichungen 2018 bis 2023 parteiübergreifendes Gesetzesvorhaben in
den USA, den Create AI Act, um das finan-
1. Carnegie Mellon University, USA zielle Ungleichgewicht zwischen Privatkon-
1357 zernen und öffentlichen Einrichtungen zu
2. Peking University, China bekämpfen. Ich hoffe sehr, dass es beschlos-
1353 sen wird.
3. Tsinghua University, China SPIEGEL: Der Staat sollte nicht nur investieren,
1134 sondern auch mit gesetzlichen Vorgaben in
4. Massachusetts Institute of Technology, USA
den Markt für KI eingreifen?
Li: Regulierung gehört dazu, natürlich. Schon
1017
um Vertrauen aufzubauen. So wie Pharma-
5. Stanford University, USA firmen nicht einfach behaupten dürfen: Unser
982 Medikament ist sicher. In fast allen Bereichen
… gibt es bereits staatliche Regulierungen, in
erste europäische Universität im Ranking: der Arzneimittelzulassung etwa oder in der
10. University of Oxford, Großbritannien Finanzaufsicht. Am drängendsten scheint mir,
715 dass wir diese existierende Regulierung dort
S Quelle: AIRankings; Stand: 13. Dezember anpassen, wo KI zum Einsatz kommt.
◆
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 73
WIRTSCHAFT

SPIEGEL: Andererseits besteht die Gefahr, dass Begriffen anleiten. Letztlich müssen wir eine
zu viele staatliche Vorgaben die technologi- maschinelle Intelligenz entwickeln, die die
sche Entwicklung ausbremsen. menschliche Sprache, Emotionen, Absichten
Li: Es gibt sehr viele Unternehmen, die mit ethi- und Verhaltensweisen versteht.
schen Standards und Sicherheitsvorgaben an SPIEGEL: Ist es das, was Sie antreibt: die »Ge-
KI arbeiten. Die sind auch nicht alle implodiert.
Industrienormen und ein gesetzlicher Rahmen
sind notwendig, um unserer Verantwortung
heimnisse der Intelligenz« zu entziffern, wie
Sie in Ihren gerade erschienenen Memoiren
schreiben*?
Spiele für
gerecht zu werden. Firmen brauchen auf jeden
Fall Sicherheitsmaßnahmen, wenn sie an KI
arbeiten. Universitäten übrigens auch.
Li: Ich wollte eigentlich Physikerin werden,
schon als Kind. Das war mein erstes Studium.
Abends las ich Bücher von Albert Einstein
die Großen
SPIEGEL: Wie sehen diese an der Stanford Uni- oder Erwin Schrödinger und merkte: Im Alter
versity aus? machen sich Physiker vor allem Gedanken UNTERHALTUNG Der Freizeit- und
Li: Wir haben einen Ethik-Prüfungsausschuss darüber, was das Leben und die menschliche
mit Vertretern aus verschiedenen Fakultäten Intelligenz ausmacht. Deshalb bin ich zu den Spielzeugmarkt für Erwachsene
eingerichtet, der jedes KI-Projekt begutachten Neurowissenschaften umgeschwenkt. boomt. Vor allem in Krisenzeiten
und genehmigen muss. Unternehmen sollten SPIEGEL: Als Doktorandin am California verwirklichen viele ihre Kindheits-
einen ähnlichen Prozess etablieren, in dem Institute of Technology in Pasadena befassten
möglichst viele Beteiligte ihre Einschätzung Sie sich vor allem damit, wie das Gehirn ver- träume – für Unternehmen ein
zu den Chancen und Gefahren eines neuen arbeitet, was es sieht. Sie brachten danach Milliardengeschäft.
Produkts abgeben. Im Falle einer KI-Anwen- erstmals Algorithmen bei, Bilder besser zu
dung im Gesundheitswesen würden dazu erkennen, als Menschen es können, ein we-
Patienten, Krankenhausmanager, Ärzte, Ver- sentlicher Grundstein für ChatGPT und urz nach 19 Uhr ist die Halle über
sicherungen und die zuständigen Behörden
gehören. Und natürlich Experten aus dem
jeweiligen Forschungsgebiet.
ähnliche Systeme. Ist visuelles Verständnis
der Schlüssel zur künstlichen Intelligenz?
Li: Ja, Computer Vision, also das Erkennen
K einem Parkplatz am Hamburger Stadt-
rand wieder leer. Betriebsleiter Ma-
thias Slotta macht einen letzten Rundgang
SPIEGEL: Woran forschen Sie aktuell? von Objekten und Ereignissen durch die Ma- durch den Indoorspielplatz Rabatzz. Noch
Li: In meinem Labor arbeiten wir vor allem schine, ist für mich künstliche Intelligenz. vor einer halben Stunde tobten hier Kinder.
an lernenden Robotern und an verkörperter Visuelle Wahrnehmung ist fundamental. An diesem Abend werden nur Erwachsene
künstlicher Intelligenz, also Robotern, die SPIEGEL: Können Sie das näher erklären? zu Gast sein.
sich in einer virtuellen Welt bewegen. Li: Aus evolutionärer Sicht hängen Wahrneh- So einen Abend für Große gibt es im Ra-
SPIEGEL: Was ist das Ziel? mung und Intelligenz sehr eng zusammen. batzz schon seit 17 Jahren, inzwischen steige
Li: Roboter zu entwickeln, die sich anpassen Sobald man seine Umgebung wahrnimmt, kann die Nachfrage aber rasant, erzählt Slotta. Die
können, um besser und enger mit Menschen man sich darin bewegen. Man nimmt Nah- Veranstaltung ist mit nahezu 700 Besuchern
zusammenzuarbeiten und zu interagieren. rung wahr und wird zur Nahrung. Das löste fast ausverkauft, der Eintritt kostet 15 Euro.
SPIEGEL: In der Industrieproduktion oder vor 540 Millionen Jahren ein evolutionäres Auf 3500 Quadratmetern und zwei Eta-
auch in anderen Bereichen? Wettrennen aus. Um die Umgebung besser zu gen warten ein Hochseilgarten, ein Kletter-
Li: Überall, etwa im Haushalt und in der Pfle- verstehen und sich etwa vor Jägern zu verste- labyrinth, Elektrokarts, Trampoline, eine
ge. Da ist noch viel Grundlagenforschung cken, brauchte es mehr Neuronen im Gehirn. Hüpfburg und eine Freifallrutsche. Eigens
nötig. Den derzeitigen KI-Systemen mangelt Die Intelligenz nahm zu. Deswegen liegt es für für den Erwachsenenabend aufgebaut: die
es an Flexibilität, sie verstehen Kontext oft mich so nahe, künstliche Intelligenz mit Robo- Cocktailbar.
nicht und lassen sich schwer in verständlichen tern zu verbinden – damit sie ihre Umgebung Getrieben wird der Hype durch soziale
wahrnehmen und interpretieren lernen. Medien. Slotta bekommt häufig Anfragen von
* Fei-Fei Li: »The Worlds I See: Curiosity, Exploration and SPIEGEL: Frau Li, wir danken Ihnen für dieses Influencern, die Drehorte für kurze Videos
Discovery at the Dawn of AI«. Macmillan; 336 Seiten. Gespräch. n auf Instagram oder TikTok suchen. Viele
Rabatzz-Besucher haben auf der Videoplatt-
form von dem Abend erfahren, auch Alex,
29 Jahre. Auf der zweiten Etage steht der
Sanitärtechniker aus Regensburg an einer
Maschine, die durch ein Gebläse Plastikbälle
zum Schweben bringt. Was ihn an diesem
ungewöhnlichen Hobby reizt? »Ich kann ein-
fach Kind sein und denke nicht an die Arbeit«,
sagt Alex.
Spielplatz-Events für Erwachsene werden
derzeit überrannt. Ein Anbieter aus der Lüne-
burger Heide veranstaltet zweimal im Jahr
ein Campingwochenende mit Nachtwan-
derung, Basteln und Gesichtsmalerei. Der
Werbespruch dazu: »Ein Abenteuerspielplatz
Kim Hairston / ZUMA Wire / IMAGO

für das Kind in dir«. Die Kosten: mindestens

Chloé Sharrock / MYOP / laif

299 Euro.
Dem Trend hat die Marketingindustrie
einen Namen verpasst: Sie spricht von
»Kidulting«, was sich aus den Wörtern »Kid«
und »Adult« zusammensetzt. Die Freizeit-
und Spielwarenindustrie hat die erwachsenen
KI-gestützte Krebsdiagnostik Digital gesteuerte Drohne in der Ukraine Kinder als Zielgruppe entdeckt. Die Unter-

74 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


nehmen vermuten ein Milliarden-
geschäft – mit Events und klassischem
haptischem Spielzeug.
Das Marktforschungsunternehmen
Circana schätzte den europäischen
Markt für Erwachsenenspielzeuge im
vergangenen Jahr auf 4,6 Milliarden
Euro. In Deutschland hat das Geschäft
mit Erwachsenen und größeren Kin-
dern seit 2019 im zweistelligen Pro-
zentbereich zugelegt.
Der Verkauf von Spielzeug an
jüngere Kinder hingegen stagniert seit
2019, was auch damit zusammen-
hängt, dass die Bevölkerung immer
älter wird, gerade in Deutschland. Die
Nachfragelücke schließen die Älteren.
Zu den Pionieren des Kidulting
zählt Lego. Das dänische Unterneh-
men fragt auf seiner Website offensiv:
»Sind Lego-Sets auch für Erwachse-
ne?« Eine rhetorische Frage, lautet
die Antwort doch offensichtlich: Ja.
Mit den Erwachsenen lässt sich eine
neue, zahlungskräftige Klientel er-
schließen. Die Elterngeneration neigt
dazu, für Puppen, Lego oder Sammel-
karten selbst mindestens genauso viel
Geld auszugeben wie für das Spiel-
zeug ihrer Kinder.
Thomas Panke, Besitzer des
Klemmbaustein-Geschäfts »Held der
Steine« in Frankfurt am Main, be-
treibt einen gleichnamigen YouTube-
Kanal mit mehr als 800.000 Abon-
nenten. Etwa 80 bis 90 Prozent seiner
Kundschaft seien Erwachsene, sagt
Panke: »Lego ist noch sehr klein im
Verhältnis zu den Möglichkeiten, die
das Produkt im Markt hat.« Die Zeit-
spanne, in der Kinder mit Lego spie-
len, werde nach seiner Erfahrung
immer kürzer, »daher setzen alle Her-
steller auf die Erwachsenen«.
Längst richten die Spielwarenkon-
zerne Design und Marketing gezielt
auf die Älteren aus. Lego-Sets für
Erwachsene kommen nüchterner
daher. Man kann sie im Büro, im
Hobbykeller oder im Wohnzimmer
präsentieren. Die Themen: Geschich-
te, Baudenkmäler und Technik. Es
gibt Bausätze für das Überschallflug-
zeug Concorde, für Pyramiden oder
das Kolosseum. Sie sollen Eindruck
schinden – und bestehen meist aus
deutlich mehr Bausteinen als die
üblichen Kinder-Sets.
Auch die Spielfigurenhersteller
Hasbro und Mattel setzen auf eine
reifere Kundschaft. Neben Marken
wie »Hot Wheels«, deren Spielzeug-
autos und Rampen ohnehin viele
Erwachsene sammeln, gibt es eine
eigene Produktreihe für Kidults und
Sammler. Derzeit im Angebot: Pup-
pen aus dem »Barbie«-Film. Man ver-
suche, popkulturelle Trends durch
WIRTSCHAFT
gibt es zwei Gruppen von Besuchern:
Die einen interessierten sich nur für
Wildwasser- oder Achterbahnen. Die
anderen, wie sie selbst, wollten mit
den Charakteren aus Entenhausen
interagieren. Mit ihnen posiert sie für
Fotos.
Für die Influencerin ist es eine
Flucht vor dem Alltag. »Wenn ich den
Park besuche, befinde ich mich in
einer anderen Welt, einer heilen
Welt.« Sie nennt dieses Gefühl die
»Magical Bubble«, die magische
Blase: ein Gefühl, das sie aus der
Kindheit kennt. Schon damals
schwärmte sie für Filme wie »Bambi«
oder »Der König der Löwen«. »Dann
denke ich nicht daran, was sonst in
der Welt so passiert.«
Marktforscherin Birgit Langen-
bartels vom Rheingold-Institut glaubt,
dass das Abtauchen in alternative
Isabela Pacini / DER SPIEGEL
Welten mit dem steigenden Gefühl
der Unsicherheit zu tun hat. »Die
wahrgenommene Krisenpermanenz
hat an unseren Grundfesten gerüttelt«,
sagt sie. Das Spielen könne Erwach-
senen ein Gefühl von Kontrolle zu-
rückgeben.
Besucherin auf Markenpartnerschaften aufzuneh- Schon in der Coronapandemie
dem Indoor- men und zu erschaffen, sagt eine flüchteten sich viele Menschen in
spielplatz Rabatzz Unternehmenssprecherin. nostalgische Gefühle, sagt Tim Wild-
bei Hamburg:
Abtauchen in Konkurrent Hasbro macht mittler- schut, Psychologieprofessor an der
alternative Welten weile 40 Prozent seiner Umsätze mit University of Southampton. Wenn
Erwachsenen. Menschen einsam seien, erinnerten
Auf noch höhere Quoten kommt sie sich oft an Personen, mit denen
das Medienimperium Disney. Bereits sie in der Kindheit viel Zeit verbracht
1963 sagte Firmengründer Walt Dis- haben – Brüder, Schwestern oder
ney, seine Freizeitparks lockten vier- Eltern.
mal mehr Erwachsene an als Kinder. »Die Unternehmen sind sich der
Bis heute können sich vor allem die Macht der Nostalgie sehr wohl be-
Älteren für Micky, Donald und Goo- wusst, und sie nutzen sie ständig«,
fy begeistern: In Disney World in Or- sagt Wildschut.
lando lag der Anteil der erwachsenen Tatsächlich sind Produkte, die
Besucher, die nicht in Haushalten mit Erwachsene an die eigene Kindheit
Kindern leben, schon 2018 bei über erinnern, besonders erfolgreich – wie
60 Prozent. etwa Spielzeug aus dem »Star Wars«-
Eine 31-Jährige ist auf YouTube Universum. Da darf ein Lego-Raum-
unter dem Namen Moni Mouse be- schiff des Typs »Millennium Falcon«,
kannt. Weil sie ihr Social-Media- bestehend aus über 7500 Teilen,
Dasein von ihrem Privatleben trennt, schon mal 850 Euro kosten. Auch
will sie ihren echten Namen nicht auf dem Gaming-Markt zieht der
veröffentlicht wissen. In ihren Videos Nostalgietrend, die Industrie legt alte
läuft sie mit Micky-Maus-Haarreif Konsolen wie Playstation 1, Sega
»Die Unter- durch das Disneyland in Paris – und Mega Drive oder Super Nintendo
berichtet von neuen Sammelkarten neu auf.
nehmen oder Shows. Seit 2018 besitzt sie eine In einer Untersuchung fand etwa
sind sich Dauerkarte, jeden Monat fährt sie das Rheingold-Institut heraus, dass
der Macht nach Paris. Fast 9000 Follower hat Eltern ihren Kindern häufig Dinge
sie. schenken, die sie in ihrer eigenen
der Nostalgie Mittlerweile kann Moni Mouse die Kindheit besessen haben oder gern
sehr wohl Kosten für ihr Hobby fast vollständig besessen hätten. Ein Studienteilneh-
aus Werbeeinnahmen finanzieren – mer, erzählt Marktforscherin Lang-
bewusst.« bis zu 350 Euro im Monat für Reise- enbartels, habe früher sehr gern mit
Tim Wildschut, kosten und Hotel, dazu die Jahres- Lego-Steinen gebaut. Deshalb kauft
Psychologie-
professor an der
karte für 700 Euro. er nun welche. Sein Kind darf aller-
University Was genau treibt die Erwachsenen dings nicht mitspielen.
of Southampton in die Disney-Parks? Für Moni Mouse Lukas Homrich n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 75
AUSLAND

Luis Robayo / AFP

Gelingt Argentinien unter neuer Führung endlich der Aufbruch, oder droht ein noch schlimmerer Absturz? Am Dienstag präsentiert eine ältere Dame
in Buenos Aires vor einer Boutique Kleidung. An jenem Tag hat der gerade erst gewählte ultraliberale Präsident Javier Milei ein Sparpaket
ankündigen lassen, um Argentiniens hohes Staatsdefizit zu lindern: Der Peso soll um mehr als 50 Prozent abgewertet, Steuern sollen erhöht und
Subventionen für Energie, Wasser und Nahverkehr zusammengestrichen werden. Vor dem krisengeschüttelten Land liegen harte Monate.

Gestalter, degradiert ihn zum bloßen Verwalter. Frankreich droht

Vom Gestalter zum Verwalter
ANALYSE In Frankreich wurde das Migrationsgesetz
gekippt. Was bedeutet das für Emmanuel Macron?
Es ist die wohl folgenschwerste Schlappe, die Emmanuel Macron
als französischer Präsident einstecken musste. Zugefügt hat sie
ihm eine irrwitzige Allianz, die von den radikalen Linken über
die Konservativen bis hin zu den Ultrarechten um Marine Le
Pen reichte: Anfang der Woche hat die Gruppe dafür gestimmt,
ein Einwanderungsgesetz noch vor der Plenardebatte abzuwei-
sen. Macrons Mitte-Regierung hat in der Pariser Nationalver-
sammlung zwar schon seit 2022 keine absolute Mehrheit mehr,
doch sie wurde von der Einigkeit der Opposition überrascht.
Eigentlich wollten der Präsident und sein Innenminister Gérald
Darmanin Handlungsfähigkeit beweisen. Erreicht haben sie
das Gegenteil: An einer Streitfrage, die Frankreich umtreibt wie
kaum eine zweite, offenbart sich Macrons krasser Machtver-
lust. Denn die Niederlage reicht weit über das Einwanderungs-
gesetz hinaus. Sie beraubt den Staatschef seiner Identität als
eine lange politische Lähmung, die bis zu Macrons verfassungs-
mäßigem Amtsaustritt 2027 andauern könnte.
Das Gesetz sah vor, durch eine Kombination aus repressiven
und liberalen Elementen Einwanderung zu regulieren. Nach dem
Fiasko im Parlament muss sich der Präsident aber jetzt davon
verabschieden, wichtige Vorhaben nach seiner einstigen Erfolgs-
formel des Ausgleichs von rechts und links umzusetzen. Für die
restliche Amtszeit bleiben ihm nicht viele Optionen. Er könnte
die Nationalversammlung auflösen. Das wäre riskant, da Neu-
wahlen sein Lager weiter schwächen und Le Pen stärken dürften.
Die andere, wahrscheinlichere Option ist daher jene, für die
das Debakel im Parlament gerade einen Präzedenzfall schafft:
Macron richtet sich faktisch gleich nach den Rechten – auf die
Gefahr hin, sein eigenes Lager zu spalten.
Denn der Präsident möchte das Gesetz retten. Das geht nur
noch, indem die Regierung eine schärfere Fassung des fran-
zösischen Senats weitgehend übernimmt. Das Oberhaus lehnt
etwa Papiere für Ausländer ab, die irregulär eingereist sind,
jedoch Arbeitskräftemangel beheben. Die Kammer wird
von den Konservativen dominiert. Und die fürchten nichts so
sehr wie weiteren Wählerverlust an Le Pen. Leo Klimm

76 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023

 Vučić’ schmutziger
Wahlkampf
SERBIEN Eine selbst für Lan-
desverhältnisse beispiellose
Brutalität kennzeichnet den
Wahlkampf in dem postjugosla-
wischen Staat. Eine eigens ange-
reiste Delegation des Europarats
notierte ein »nie da gewesenes
Ausmaß an Diffamierungskam-
pagnen und Attacken gegen die
Opposition und Journalisten«.
Zwar steht der seit 2012 die poli-
tische Bühne dominierende
Aleksandar Vučić als Präsident
bei den für Sonntag angesetzten
Parlaments- und Kommunal-
wahlen nicht zur Abstimmung.
Das Abschneiden seiner Fort-
schrittspartei SNS aber rief er zu
einer Art nationaler Schicksals-
frage aus: Innerhalb von 43 Ta-
gen absolvierte der einstige
Milošević-Gefolgsmann 41 Fern-
sehauftritte bei staatsnahen
Sendern. Besorgt über den Miss-
brauch staatlicher Ressourcen
im serbischen Wahlkampf äußer-
te sich unter anderem die deut-
sche Außenministerin Annalena
Baerbock. Die Gangart gegen
Präsidentensohn
unter Druck
TÜRKEI Das Wappen der soma-
lischen Botschaft in Ankara war
zeitweise von einem Protest-
plakat überklebt. Damit suchten
Unbekannte nach dem Sohn
des somalischen Präsidenten.
In ihren Augen ist Mohammed
Hassan Sheikh Mohamud ein
Mörder. Hinter dem massiven
Vorwurf steckt ein tödlicher Ver-
kehrsunfall – und die Befürch-
tung, der Unfallverursacher könn-
te ungestraft davonkommen.
Ende November erfasste
Mohamud einen Motorradkurier
in Istanbul. Der Präsidenten-
sohn war mit einem Diploma-
tenfahrzeug unterwegs, das er
Mustafa Kamaci / Anadolu Agency / Abaca / ddp
Präsidenten Erdoğan, Mohamud
Kritiker wurde drastisch ver-
schärft: Unabhängige Wahl-
beobachter berichten von physi-
scher Gewalt, gefälschten Wahl-
unterlagen und von Drohungen
bis hin zum Jobverlust für Men-
schen, die sich weigerten, im
Bekanntenkreis für das Regie-
rungslager zu werben.
Der Grund für die Nervosität
des Vučić-Lagers: Die wachsen-
de Unzufriedenheit im Wahl-
volk wegen hoher Inflation mit
gestiegenen Nahrungsmittel-
preisen sowie niedrigen Löhnen
und wegen der Duldung und
Verherrlichung von Gewalt
führte zuletzt zu massiv sinken-
den Zustimmungswerten. Pro-
testierenden Bauern warf Vučić
im Wahlkampf vor, die Regie-
rung auf »widerliche« Art er-
pressen zu wollen. Vor allem
bei den Kommunalwahlen in
Belgrad, wo ein Drittel der ser-
bischen Bevölkerung lebt, gilt
ein Sieg der Opposition als
möglich. Anders sieht die Lage
in der Provinz aus, wo die vom
Vučić-Lager kontrollierten
Medien ihre weitgehende Allein-
Privat
stellung behaupten. WMA
wohl nicht hätte nutzen dürfen.
Nach einer polizeilichen Befra-
gung konnte Mohamud ohne
Auflagen gehen. Als der Motor-
radkurier Tage später starb, war
der Somalier außer Landes.
Seither reißt die Kritik an der
türkischen Regierung nicht ab:
Oppositionspolitiker Ekrem
Imamoğlu wirft Ankara Schwä-
che vor, Motorradkuriere ver-
sammeln sich zu Protesten. Jus-
tizminister Yılmaz Tunç ver-
spricht nun Aufklärung: Gegen
die Polizisten, die den Präsiden-
tensohn haben gehen lassen, sei
eine Untersuchung eingeleitet
worden. Zudem wird Mohamud
per internationalem Haftbefehl
gesucht. Die Sorge, der Fall
könnte das gute Verhältnis zwi-
schen Somalia und der Türkei
belasten, scheint groß. Präsi-
dent Hassan Sheikh Mohamud
hat nun erklärt, er habe seinem
Sohn geraten, in die Türkei
zu reisen. Er betonte jedoch, dass
es sich um einen Unfall gehan-
delt habe und sein Sohn nicht
geflohen sei. Am Donnerstag
gab sich Justizminister Tunç zu-
versichtlich: Mohamud könne
sich somalischen Angaben zu-
folge einem Prozess stellen. ASC
Z-Installation zur Unterstützung russischer Truppen in Moskau
»Sie sind an Putin verzweifelt«
RUSSLAND Der Autor Iwan Filippow über prorussische
Kriegspropaganda auf Telegram-Kanälen
Filippow, 41, floh
von Moskau nach
Tiflis und betreibt
von dort aus seinen
Telegram-Kanal
»An der Westfront
nichts Neues«.
SPIEGEL: Herr Filippow, Sie
klicken sich täglich durch
mehrere Hundert sogenannte
Z-Kanäle auf dem Messenger-
dienst Telegram. Woher haben
die ihren Namen?
Filippow: Sie werden Z-Kanäle
genannt, nach dem Symbol Z,
das russische Soldaten zu Be-
ginn des Krieges auf ihre Panzer
malten. Hier äußern sich
Kriegsbefürworter, Monarchis-
ten, Nationalisten, Soldaten.
SPIEGEL: Was steht in den Posts?
Filippow: Da gibt es Bulletins
von der Front, Militärprosa
über den Soldatenalltag, Fotos
und Videos von Schlachten, in
denen zerstörte Ausrüstung der
Ukrainer zu sehen ist – nicht
aber der Russen.
SPIEGEL: Warum tun Sie sich
das als kritischer Russe an?
Filippow: Weil die Schilderun-
gen wichtige Zeitdokumente
sind, sie sagen viel über die
Stimmung in der russischen
Armee und im Kreml aus. Um
kriegskritischen Russen diese
Stimmung verständlich zu
machen, fasse ich die Kommen-
tare zusammen und analysiere
sie auf meinem eigenen Kanal.
SPIEGEL: Wer betreibt diese pro-
russischen Kanäle?
Vlad Karkov / ZUMA Wire / IMAGO
Filippow: Das sind Soldaten und
Freiwillige, die Hilfsgüter in die
Kampfgebiete bringen, aber
auch staatliche TV-Propagandis-
ten und sogenannte Kriegs-
reporter. Sie haben Millionen
Follower und halten enge
Verbindung zum Kreml. Macht-
haber Wladimir Putin hat einige
von ihnen sogar persönlich
empfangen.
SPIEGEL: Seit 21 Monaten wird
gekämpft, haben die Kom-
mentatoren heute ein anderes
Verhältnis zum Krieg als zu
Beginn?
Filippow: Ja. Die Anfangs-
euphorie hielt nur wenige Wo-
chen. Was folgte, war der
Schock über die Erkenntnis,
dass Russland Kiew nicht
einnehmen kann. Dann kam
der Zorn über den Rückzug.
Seit dem Tod von Wagner-
Anführer Jewgenij Prigoschin
befinden sich viele der Kriegs-
befürworter in einer tiefen
Depression. Noch immer hat
Putin ihnen nicht erklärt, wofür
ihre Kameraden sterben.
Sie sind an Putin verzweifelt –
trotzdem wagt kaum jemand
direkte Kritik.
SPIEGEL: Und wie blickt man in
diesen Kanälen auf Deutschland?
Filippow: Deutsche werden
»Nachkommen der Faschisten«
genannt, nach den Amerika-
nern sind sie das wichtigste Ziel
der Hetze. Auch Ukrainer wer-
den als »Deutsche« beschimpft,
nach dem alten Feindbild
aus dem Zweiten Weltkrieg. ALX
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 77
AUSLAND
Der große Neubeginn
POLEN Die Opposition um Donald Tusk verdankt ihren Wahlsieg denjenigen, die außerhalb des Parlaments
die Demokratie verteidigt haben. Besuch bei Polen, die stolz und erleichtert sind.
zymon Hołownia ist ein ungewohnter
S YouTube-Star. Er macht keine lustigen
Filmchen, er gibt keine Beauty-Tipps,
er nimmt sich nicht selbst beim Videospielen
auf. Stattdessen leitet der 47-Jährige die Sit-
zungen des polnischen Parlaments, des Sejm,
seit die liberal-bürgerlichen Parteien dort
die Mehrheit halten. Dem neuen Parlaments-
präsidenten schauen so viele Polen zu, dass
YouTube dem Videokanal des Sejm den so-
genannten Silver Button verliehen hat – eine
Auszeichnung für Kanäle mit mehr als
100.000 Abonnenten.
»Danke, dass ihr dabei seid«, wendet sich
Hołownia direkt an die Zuschauer – vor ihm
ein voll besetzter Plenarsaal. Gerade hat
Donald Tusk als designierter Premierminister
seine Regierungserklärung abgegeben. Es ist
der 12. Dezember, Tag zwei des Finales einer
langwierigen Machtübergabe in Warschau.
In diesen Tagen wird der YouTube-Kanal des
Sejm über vier Millionen Mal aufgerufen. Die
vielen Menschen vor ihren Bildschirmen, das
Gedränge der Presse im Sejm, die spürbare
Anspannung der Abgeordneten: Polen sieht
sich in dieser Woche selbst dabei zu, wie es
Geschichte schreibt.
Zwei Monate sind vergangen, seit die Polen
ein neues Parlament gewählt haben. Bereits
vor der Wahl am 15. Oktober sprachen Be-
obachter von der wichtigsten Entscheidung
im Land seit dem Fall des Sozialismus. Denn
die Bevölkerung stimmte nicht einfach über
die Zusammensetzung ihrer Vertretung ab,
sie entschied sich zwischen zwei politischen
Systemen. Auf der einen Seite die rechtsna-
tionale PiS-Partei, die 2015 an die Macht kam
und umgehend begann, den Staat autokra-
tisch umzubauen. Auf der anderen Seite eine
Opposition aus einem liberal-links-konserva-
tiven Zweckbündnis, das sich um den Ex-Prä-
sidenten des EU-Rats, Donald Tusk, sammel-
te und ein klares Bekenntnis zum Rechtsstaat
und zur EU abgab.
Nach der Wahl wurde klar, wie ernst die
Polen diese Entscheidung genommen hatten:
Mehr als 70 Prozent gaben ihre Stimme ab, in
den größeren Städten waren es über 80 Pro-
zent. Die Wahlbeteiligung der unter 30-Jäh-
rigen wuchs massiv: Bei der vorigen Wahl
2019 hatten 46 Prozent von ihnen abge-
stimmt, 2023 waren es 69 Prozent. Zwar wur-
de die PiS wieder die stärkste Partei, doch
nur die Opposition um Tusk kam auf genug
Parlamentssitze, um gemeinsam eine Regie-
78 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
rung zu bilden. Die Mehrheit stimmte für das
Ende der PiS. Und damit für eine Rückkehr
zur pluralistischen Demokratie.
Im polnischen Parlament lässt sich gerade
nicht nur besichtigen, wie hoch die Hürden
für diesen Machtwechsel waren. Man versteht
an diesem Ort auch, wie und durch wen er
möglich wurde.
In der ersten Reihe des Plenarsaals, seine
PiS-Fraktion im Rücken, sitzt Jarosław
Kaczyński. Tritt der Parteivorsitzende ans
Rednerpult, dann sagt er an diesem Tag mehr-
mals: »Donald Tusk ist ein deutscher Agent.«
In ihrem Selbstverständnis hat die PiS die
Wahl nicht gegen einen politischen Gegner
verloren. Sie wurde von einem Feind des Vol-
kes, so sieht die PiS die Opposition, um den
Sieg gebracht. Die Rechtsnationalen um
Kaczyński haben sich gegen eine offene Re-
bellion entschieden, das Wahlergebnis wird
nicht angefochten. Aber sie säen Zweifel, wo
sie nur können.
Als Tusk am Dienstagvormittag schließlich
seine Regierungserklärung abgibt, steht dort
nicht nur ein Politiker, dessen Parteienbünd-
nis gewonnen hat. Dort steht ein Mann, der
weiß, dass die Polen aus einer Überzeugung
heraus abgestimmt haben, die mehr mit ihren
Werten zu tun hat als mit seiner Person. »Ich
möchte mich bei denen bedanken, die im Lau-
fe der Jahre nicht daran gezweifelt haben,
dass Polen besser werden kann«, sagt Tusk,
und er meint damit nicht die Oppositions-
politiker, sondern diejenigen, die von 2015
bis 2023 unermüdlich auf die Straße gingen.
Gegen die Angriffe auf die Justiz, gegen das
Abtreibungsverbot, gegen die katholisch-na-
tionalistische Bildungspolitik.
Noch weiß niemand, wie erfolgreich die
neue Regierung in ihrem Vorhaben sein wird,
die Unabhängigkeit der Justiz und der öffent-
lichen Medien wiederherzustellen. Aber we-
nigstens in diesem ersten, besonderen Mo-
ment des Neubeginns ist klar: Hier hat nicht
Tusk allein gewonnen, hier hat sich eine Ge-
sellschaft aus eigener Kraft ihre politische
Würde zurückgeholt.
Montagabend im großen Saal des Kinos
im Kulturpalast im Zentrum von Warschau.
Das politische Fieber hat die Stadt so sehr
infiziert, dass sich die Kinobetreiber ent-
schlossen haben, die Debatten aus dem Sejm
zwei Tage lang auf der großen Leinwand zu
übertragen. Die Höhepunkte: das Scheitern
der Regierung des PiS-Premiers Mateusz
Morawiecki (Montagmittag, voller Saal, Ju-
bel), der Erfolg von Donald Tusk bei der Ver-
trauensfrage (Dienstagabend, voller Saal,
Jubel). Und zwischendrin die Parlamentsent-
scheidung, Tusk mit der Regierungsbildung
zu betrauen.
Im Kinosaal springen einige auf und um-
armen ihre Sitznachbarn, es wird geklatscht
und gelacht. Als die Parlamentarier auf der
Leinwand beginnen, die Nationalhymne zu
singen, stehen die Menschen auf und singen
mit. Gerade zeigt die Kamera noch den
strahlenden Tusk, dann ein überraschender
Schwenk zum Rednerpult. Dort steht
Kaczyński und blickt zu Tusk: »Sie sind ein
deutscher Agent, einfach ein deutscher
Agent.« Aufschrei im Kino. Schimpfwörter
mischen sich mit hysterischem Lachen. »Zum
Glück ist dieser Mann jetzt nur noch lächerlich
und nicht mehr beängstigend«, sagt eine Frau.
Vor dem Kino bleiben die Menschen ste-
hen und rauchen. Joanna Żukowska ist mit
zwei Freunden gekommen, sie ist 29 Jahre alt
und arbeitet im Marketing. »Wir wollten die-
sen wichtigen Moment nicht allein zu Hause
erleben«, sagt sie. Die Frage, ob sie wählen
gegangen sei, findet sie überraschend. »Unter
dieser Regierung war es nicht mehr möglich,
keine Position zu beziehen.« Sie verfolgen
den Machtwechsel im Kino mit, weil Politik
in Polen in diesen Tagen zum Großevent ge-
worden ist. »Und weil wir dieses Mal unsere
Regierung viel genauer im Blick behalten
werden, von Anfang an.«
Zurück im Parlament, in der Sofaecke, die
sich die Partei Lewica (Linke) gesichert hat,
die zu Tusks Regierungsbündnis gehört.
Krzysztof Śmiszek, 44, Jurist, ist seit 2019 Ab-
geordneter und, wie er sagt, »der einzige of-
fen Schwule« im Parlament. »Es hat mich
Überwindung gekostet, in die Politik zu gehen
und mich dem Hass der PiS zu stellen«, sagt
er. »Aber diese Regierung hat alles angegrif-
fen, was mir wichtig ist.« Seiner Zeit im Sejm
gingen Jahre in verschiedenen Antidiskrimi-
nierungsgruppen voraus und der Kampf für
die Gleichstellung nicht heterosexueller Men-
schen. »Viele haben die PiS gewählt, weil die
Partei ihnen soziale Sicherheit und Gerechtig-
keit versprochen hat«, sagt Śmiszek. Doch
die Regierung habe ihre Macht weniger zum
tatsächlichen Schutz der Schwachen genutzt,
sondern zur Ausgrenzung von Minderheiten.
Acht Jahre PiS haben Polen tief verändert.
Die Gesellschaft verdankt es den Rechten um
Zbyszek Kaczmarek / Forum / ddp
AUSLAND

1 2

3 4

Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL (5)

5 6

1 | Politiker Tusk (M.) 2 | Medienleute im Sejm 3 | Warschauer Kulturpalast

4 | Zuschauer bei Debattenscreening 5 | Vegetarierin Kasnowski 6 | Bewachter Chanukkaleuchter im Sejm

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 79

AUSLAND
1 2
1 | Bürgerkoalitionsabgeordneter Sterczewski 2 | Lewica-Abgeordneter Śmiszek
Kaczyński, dass ein Liberaler wie Tusk sozia-
le Fragen heute nicht mehr so einfach aus-
blenden kann. Und die Rechten sind ebenso
dafür verantwortlich, dass sich eine politische
Feindseligkeit und ein Lagerdenken im Land
eingenistet haben, die Freundschaften und
Familien zerreißen. Doch die aggressive Kul-
turkampfrhetorik der PiS hatte einen unge-
planten Nebeneffekt. Das Nachrichtenportal
»News from Poland« spricht von einem
»Backlash gegen den Backlash«: Je konser-
vativ-autoritärer die Regierung wurde, desto
liberaler wurde die Gesellschaft. In den PiS-
Jahren wurden so viele LGBT-Pride-Paraden
organisiert wie nie zuvor – mehr als 20 allein
2019. Die Zustimmungswerte für die Ehe
für alle steigen. Die Ansichten zum Abtrei-
bungsrecht haben sich deutlich liberalisiert:
2019 waren noch 53 Prozent der Polen für ein
liberales Abtreibungsgesetz. 2022 sind es
70 Prozent.
Im Januar 2016, die PiS war frisch an der
Macht, sagte der damalige Außenminister
Witold Waszczykowski, man müsse das Land
von »Krankheiten heilen«, die »nichts mit
traditionellen polnischen Werten zu tun ha-
ben«. Polen müsse davor bewahrt werden,
Teil einer »Welt aus Radfahrern und Vegeta-
riern« zu werden. Drei Jahre später, 2019,
wählt das Veganerportal »Happy Cow« War-
schau in die Top Ten der veganerfreundlichs-
ten Städte weltweit.
Ein Besuch in der vegetarischen Bar Mle-
czny auf der Jerozolimskie-Allee. Ewelina
Kasnowski hat gerade Kartoffeln und Salat
für 10 Zloty (2,30 Euro) gegessen. Sie ist vor
acht Jahren Vegetarierin geworden. Sie denkt
kurz nach, stutzt dann und lacht: »Aber das
hatte nichts mit der Regierung zu tun.« Kas-
nowski ist 29 Jahre alt und Stylistin. Sie inte-
ressiere sich nicht sonderlich für Politik, doch
in der PiS-Zeit habe sie kaum eine Demons-
tration für Frauenrechte ausgelassen. »Meinen
Freundinnen und mir hat das Abtreibungs-
80 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
verbot einfach Angst gemacht«, sagt sie. Das
Ende der PiS-Jahre nennt sie eine »riesige
Erleichterung«. Ihre Hauptmotivation, wählen
zu gehen: »Ich will mir sicher sein können,
dass Polens Zukunft in der EU liegt.« Zu Weih-
nachten wird Kasnowski zu ihrer Familie nach
Danzig fahren. Als die PiS regierte, waren die
Familienstreits heftiger geworden. »Ich liebe
meine Oma, aber man spürt, dass sie den gan-
zen Tag Regierungsfernsehen schaut. Meine
Cousine ist offen bisexuell, und meine Oma
sagt am Tisch die extremsten Dinge über les-
bische Frauen.« Die Tatsache, dass die Oma
ihrer vegetarischen Enkelin immer Speck
unter die Kartoffeln mische, sei im Vergleich
eher kein Problem.
Kasnowskis Wunsch für die Zukunft? Ein
öffentliches Fernsehen, das nicht mehr als
Propagandainstrument der Regierung funk-
tioniert. Es reicht aus, ein paar Minuten Tele-
wizja Polska zu schauen, um zu wissen, dass
es noch nicht so weit ist. Dort heißt es über
Tusks neue Regierungsmannschaft, sie stehe
für »Skandale und Peinlichkeiten«.
Dann erschüttert tatsächlich ein erster
Skandal das Parlament. An der neuen Regie-
rung liegt das nicht. Kurz vor der Vertrauens-
frage für Tusk wird im Foyer des Parlaments
das jüdische Lichterfest Chanukka gefeiert.
40 Menschen, darunter viele Kinder, hören
dem Warschauer Rabbi zu, seit 17 Jahren lädt
das Parlament die jüdische Gemeinde zur
Chanukkafeier ein. Doch in diesem Jahr
stürmt der Abgeordnete Grzegorz Braun von
der ultrarechten Konfederacja-Partei die Fei-
er mit einem Feuerlöscher. Er richtet ihn auf
die brennenden Kerzen des Leuchters und in
das Gesicht einer Frau. Die jüdischen Gäste
und die Parlamentarier stehen unter Schock.
Tusk nennt den Angriff »eine Schande«, die
Parteien verurteilen ihn, doch der Schaden
bleibt. Der Tag, der den Neuanfang des Lan-
des symbolisieren sollte, steht nun auch für
eine enthemmte antisemitische Aggression.
Jedrzej Nowicki / DER SPIEGEL (2)
Drei Stunden nach der Attacke blickt der
Abgeordnete Franciszek Sterczewski auf die
Kerzen des Chanukkaleuchters, die nun wie-
der brennen und vom Sicherheitsdienst be-
wacht werden. »Dieser Angriff zeigt uns das-
selbe wie acht Jahre PiS, es geht viel schneller,
etwas zu zerstören, als etwas Gutes aufzu-
bauen«, sagt Sterczewski. Doch je länger er
redet, desto weniger resigniert klingt er. Der
35-Jährige ist Architekt und hat im westpol-
nischen Posen eine der ausdauerndsten Pro-
testbewegungen für den Schutz des Rechts-
staats aufgebaut.
»Am wichtigsten war uns, dass sich Men-
schen wirklich begegnen«, sagt Sterczewski.
2019 wurde er als parteiloser Kandidat auf
dem letzten Listenplatz der Bürgerkoalition
überraschend in den Sejm gewählt. »Es war
für viele Menschen sehr wichtig, dass Tusk
sich heute bei den Polen bedankt hat«, sagt
Sterczewski. Vereine und Freiwillige hätten
in den vergangenen Jahren die Aufgaben
übernommen, die der Staat unter der PiS auf-
gegeben habe: politische Bildung, Verteidi-
gung der Menschenrechte und der demokra-
tischen Gewaltenteilung, Fürsorge für Mi-
granten oder Jugendliche. »Jetzt können
Jahre beginnen, in denen der Staat nicht mehr
gegen die Zivilgesellschaft arbeitet, sondern
sie unterstützt.«
Ein Mann wie der Rechtsradikale Braun
symbolisiert für Franciszek Sterczewski die
politische Brutalität, die sich in der polni-
schen Demokratie nach acht Jahren PiS aus-
gebreitet habe. »Aber wir sind nicht hilflos,
wenn wir anfangen, uns wieder klar an Ge-
setze und Regeln zu halten«, sagt Sterczew-
ski. Es sei mühsamer, eine Gemeinschaft auf-
zubauen, die zusammenhält, als eine, die
durch Hass und Ausgrenzung strukturiert
wird. Doch die Wahl habe gezeigt, dass die
Polen lieber den mühsamen Weg gehen
wollen.
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AUSLAND
Im Affärenstadl
ÖSTERREICH Ex-Kanzler Kurz vor Gericht, der Immobilienkrösus Benko
pleite, dazu ein mysteriöser Todesfall: wie eine Lawine
politischer Skandale und juristischer Verfahren das Land zu überrollen droht
as waren das für glanzvolle Abende,
W bei gebratenen Maroni und jungem
Wein im Wiener Luxushotel Park
Hyatt! Jedes Jahr Mitte November lud der
Investor René Benko zu Schmankerln nach
Tiroler Art, und Österreichs politische Elite
war dabei: vom damaligen Kanzler Sebastian
Kurz über Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer
bis zum Nationalratspräsidenten Wolfgang
Sobotka.
So ging das Jahr für Jahr, bis die Pandemie
zuschlug. Inzwischen ist nichts mehr, wie es
war: So manche Größe aus dem Park Hyatt
ist ins Zwielicht geraten, allen voran Benko
selbst.
Der Unternehmer schlittert mit seinem
Milliardenimperium Signa dieser Tage in die
Insolvenz. Die früheren Regierungschefs, der
zum millionenschweren Berater gewandelte
Sozialdemokrat Gusenbauer und Kurz von
der konservativen ÖVP, gehören zu den Gläu-
bigern. Beide waren mit Benko gut bekannt
und dank lukrativer Beratermandate auch
geschäftlich verbunden.
Kurz trat im Oktober 2021 wegen Korrup-
tionsvorwürfen zurück. Jetzt muss er sich
darüber hinaus vor Gericht verantworten,
weil ihm die Anklage Falschaussage vor einem
Parlamentarischen Untersuchungsausschuss
unterstellt.
Gegen Parlamentspräsident Sobotka prüft
die Staatsanwaltschaft seit November einen
Anfangsverdacht auf Anstiftung zum Amts-
missbrauch. Der Inhaber des zweithöchsten
Amts im Staat ist Mitglied der Kanzlerpartei
ÖVP. Er soll sich dafür eingesetzt haben, straf-
rechtliche Ermittlungen gegen Parteifreunde
zu stoppen.
Das zumindest behauptete während einer
privaten Unterhaltung Christian Pilnacek, bis
zu seiner Suspendierung 2021 mächtigster Jus-
tizbeamter der Republik. Das Gespräch wurde
von einem anwesenden FPÖ-Politiker heimlich
aufgenommen und vor wenigen Wochen an
die Öffentlichkeit gespielt – kurz nachdem Pil-
nacek unter, wie es heißt, »tragischen Umstän-
den« aus dem Leben geschieden war. Seine
Leiche fand sich nahe der Stadt Krems.
Österreich kommt seit der Ibiza-Affäre
nicht zur Ruhe: 2019 führte ein unter anderem
vom SPIEGEL veröffentlichtes Video zuerst
zum Sturz des Vizekanzlers Heinz-Christian
Strache von der rechtsnationalen Freiheit-
82 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
lichen Partei Österreichs (FPÖ). In der Folge
zerbrach die Koalition unter Führung von
Sebastian Kurz.
Knapp fünf Jahre später steckt das Land
noch immer im Affärenstrudel: Ein Ex-Kanz-
ler und frühere Minister wurden bereits vor
den Richter zitiert. Eine Lawine an weiteren
Verfahren, in denen es um Korruption und
Vetternwirtschaft gehen soll, kündigt sich an;
der lange als Tiroler Wunderknabe gefeierte
Unternehmer René Benko legt die größte Mil-
liardenpleite der nationalen Wirtschaftsge-
schichte hin; und um den Tod eines Staats-
dieners ranken sich wilde Gerüchte.
Aus den Puzzleteilen lässt sich nur schwer
ein größeres Bild zusammenfügen – wohl aber
werden Konturen einer herrschenden Klasse
sichtbar, deren Machthunger und Hybris den
gesetzlichen Rahmen zu sprengen drohen.
Lässt sich dieses Phänomen auf die Formel
»System Kurz« reduzieren? War der ehema-
lige Regierungschef treibende Kraft hinter
einem Politikverständnis, das für den Macht-
erwerb und -erhalt Rechtsbrüche zu tolerieren
schien?
Ein eleganter Herr im dunklen Anzug legt
das zumindest nahe, an diesem Montag im
Großen Schwurgerichtssaal des Wiener Lan-
desgerichts für Strafsachen: Unter Kanzler
Kurz sei nichts Wichtiges ohne dessen Wissen
entschieden worden, sagt der Karrierebeam-
te Thomas Schmid. Ehemals treuer Erfül-
lungsgehilfe des Regierungschefs, tritt Schmid
nun als Hauptbelastungszeuge gegen Kurz
auf – nicht zuletzt, um seinen eigenen Kopf
zu retten.
Die beiden Duzfreunde von einst würdigen
sich im Saal kaum eines Blickes. War Kurz
bei der Entscheidung, wer in den Aufsichtsrat
der milliardenschweren Staatsholding ÖBAG
einziehen durfte, wirklich nur »informiert«,
wie er selbst behauptete – nicht aber invol-
viert? Würde der Richter am Ende der Argu-
mentation des Zeugen Schmid folgen, also
dem Ex-Kanzler maßgeblichen Einfluss zu-
schreiben, dann drohte ein Schuldspruch wegen
Falschaussage. Der Strafrahmen: maximal
drei Jahre Haft.
Ein erstinstanzliches Urteil allerdings wird
erst für kommendes Jahr erwartet. Die An-
klage hat weitere Zeugen nominiert. Kurz
spielt derweil mit Hingabe die Rolle eines
Mannes, der sich keiner Schuld bewusst ist.
Wie einst im Kanzleramt versucht der ehe-
malige Regierungschef auch vor Gericht, den
Ton vorzugeben. Schon vor Prozessbeginn
verkündete Kurz am Montag, seine Anwälte
würden allen Ahnungslosen noch »die Augen
öffnen, mit welchen Methoden hier gearbei-
tet wird«. Die Kampfansage galt höchstwahr-
scheinlich den Anklägern von der Wirtschafts-
und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA).
Bekommt Kurz am Ende recht und folgt
danach keine weitere Anklage mehr gegen
ihn, wird die seiner Meinung nach linkslastige
Justiz wohl noch stärker unter seinen Be-
schuss geraten; gleichzeitig könnte sich der
Ex-Kanzler allen Dementis zum Trotz frisch
rehabilitiert eine Rückkehr auf die politische
Bühne offenhalten.
Das wäre vor allem für Karl Nehammer
lästig, Österreichs amtierenden Regierungs-
chef. Ehemals als Innenminister im Kabinett
Kurz tätig und berühmt-berüchtigt als »Flex«,
als rustikales Werkzeug in den Händen des
Chefs, gibt Nehammer sich neuerdings hand-
zahm.
Ein eben erst unter dem Titel »2 Jahre Bun-
deskanzleramt« veröffentlichtes Facebook-
Video zeigt den Regierungschef, wie er seine
Bayerische Gebirgsschweißhündin Fanny
streichelt, neben einem im Amtszimmer am
Ballhausplatz aufgebauten Adventskranz;
und wie er daheim, ein Trikot der österrei-
chischen Nationalmannschaft am Leib, mit
ihr kuschelt.
Im Dezember 2021 »wurde mein Herrli
Bundeskanzler von Österreich«, staunt laut
Untertitel die treuherzige Fanny. Die Zeit seit-
dem sei »mehr als herausfordernd und turbu-
lent« gewesen, fügt der Amtsinhaber selbst
hinzu. Man dürfe den Mut trotzdem nicht
verlieren: »Ich glaube an Österreich«, sagt
Nehammer. Dabei blickt er so eindringlich in
die Kamera, als stünde tatsächlich das Über-
leben der Republik auf dem Spiel.
Österreichische Politiker als Hundenar-
ren – das gab es in den vergangenen knapp
hundert Jahren immer wieder. Zuletzt ließen
die PR-Strategen von Staatspräsident Alex-
ander Van der Bellen 2022 mitteilen, des Bun-
despräsidenten »First Dog« würde, falls wahl-
berechtigt, fürs Herrchen stimmen. Dass nun
aber der amtierende Kanzler mithilfe seines
Haustiers zum Volk spricht, während zwi-
schen Gazastreifen und Donbass die Welt in
Flammen steht, setzt selbst für Österreich
neue Maßstäbe.
Ob im Kanzleramt blanke Verzweiflung
regiert angesichts der jüngsten Umfrage-
werte? Die ÖVP käme demnach nur noch auf
20 Prozent. Das entspräche einer Einbuße
von fast der Hälfte jenes Stimmenanteils, den
Sebastian Kurz 2019 noch auf sich und seine
Partei vereinigen konnte.
Mit 30 Prozent liegt derzeit der wort-
gewaltige Rechtsausleger Herbert Kickl von
der FPÖ in den Umfragen deutlich vorn. Als
ob es das Ibiza-Video nie gegeben hätte: Es
zeigt den früheren FPÖ-Chef Strache 2017
beim Treffen mit einer angeblichen russischen

Angeklagter Kurz am Montag
vor Gericht in Wien
Alex Halada / AFP
Oligarchen-Nichte, der er öffentliche Auf-
träge als Gegenleistung für Unterstützung im
Wahlkampf in Aussicht stellte.
Das hindert Kickl nicht daran, sich und die
Seinen als unbestechliche Alternative zur ver-
kommenen, in Korruption, Freunderlwirt-
schaft und Lügengestrüpp verstrickten Kanz-
lerpartei ÖVP anzupreisen. »Bei den Schwar-
zen (gemeint: die ÖVP) musst du immer das
Gegenteil von dem annehmen, was sie sa-
gen«, spottete er am Mittwoch im Parlament.
Jüngste Pointe im Affärenstadl: Den neu-
en, von der FPÖ mitbeschlossenen Unter-
suchungsausschuss zu den Verbindungen der
regierenden ÖVP ins Reich von René Benko
wird qua Amt ausgerechnet der ÖVP-Veteran
Wolfgang Sobotka leiten. Der Nationalrats-
präsident findet daran nichts Anstößiges. Die
letzten sechs gegen ihn eingeleiteten Ermitt-
lungsverfahren habe er unbeschadet über-
standen, lässt er wissen, ihm sei nichts vor-
zuwerfen.
Anders sieht das der Autor und »Falter«-
Herausgeber Armin Thurnher, der seit Jahren
tagtäglich in einem Zweizeiler den Rück-
tritt des ÖVP-Politikers fordert. Sobotka sei,
so Thurnher, eine »exemplarische Figur, die
die Misere unserer Republik perfekt aus-
drückt«.
Seine Vorstellung von gewinnbringen-
dem Zusammenspiel zwischen Politik und
Medien etwa kleidete Sobotka einem Boule-
vardjournalisten gegenüber in den schönen
Satz: »Sie kennen das G’schäft, fürs Inserat
gibt’s a Gegeng’schäft.« Weil in der Re-
gierungszeit von Sebastian Kurz gefällige
Berichterstattung im Tausch gegen mit Steu-
ergeldern finanzierte Inserate organisiert
worden sein soll, laufen derzeit diverse Er-
mittlungsverfahren.
Am Mittwoch enthüllte das Nachrichten-
magazin »Profil«, dass die WKStA nun auch
noch beantragt hat, die Immunität des Natio-
nalratspräsidenten aufzuheben: Sobotka, der
seine Unschuld beteuert, werden Interven-
tionen im Finanzministerium zugunsten einer
ÖVP-nahen Stiftung vorgeworfen. Unverän-
dert im Raum steht der Verdacht, er habe auch
versucht, Einfluss auf die Justiz zu nehmen.
Christian Pilnacek, Ex-Sektionschef im
Justizministerium, stellte die Sache drei Mo-
nate vor seinem Tod laut heimlichem Audio-
mitschnitt so dar: Der ÖVP-Politiker Sobotka
habe ihm mehrfach vorgeworfen, Ermitt-
lungsverfahren gegen Parteifreunde nicht ge-
stoppt zu haben. Mit den Worten »Das geht
nicht, und ich mache es nicht, wir leben in
einem Rechtsstaat«, wollte Pilnacek sich ge-
weigert haben.
»Da wurde mein
Herrli Bundeskanzler
von Österreich.«
Fanny, Nehammers Hündin, laut Facebook-Video
AUSLAND
Alex Halada / AFP
Dabei fühlte er, der Spitzenjurist, sich den
Konservativen durchaus nahe. Das ist doku-
mentiert in Chatnachrichten, die es ihrer Un-
verblümtheit wegen in Österreich längst zu
Kultstatus gebracht haben. O-Ton Pilnacek
im Chat: »Wer vorbereitet Gernot?« – eine
Aufforderung an Untergebene, den Ex-ÖVP-
Finanzminister Gernot Blümel im Vorfeld für
die Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft
fit zu machen.
Politik, Justiz, Medien und Großkapital auf
Du und Du, die Grenzen fließend, die Hemm-
schwellen niedrig – nicht alles an diesem Sit-
tenbild ist neu in Österreich, nicht alles ein
Alleinstellungsmerkmal ÖVP-dominierter Re-
gierungen. Doch je mehr Schmutz ans Tages-
licht kommt, desto stärker drängt sich der Ein-
druck auf, dass es dieses Mal mit Gerichts-
urteilen nicht getan sein wird. Der dramatische
Niedergang an Zustimmung für die Volkspar-
teien bezeugt ernsthafte Politikverdrossenheit.
Österreich steckt in einer systemischen Krise.
Am Rande der Trauerfeier für Christian
Pilnacek im November ergriff unter den Au-
gen des Nationalratspräsidenten Sobotka eine
Frau namens Caroline List das Wort. Sie be-
zichtigte nicht näher genannte dunkle Mäch-
te in Politik und Justiz der Schuld am Tod
Pilnaceks: »Christian hat sich nicht das Leben
genommen, es wurde ihm genommen.«
Ein schwerwiegender Vorwurf. List ist Prä-
sidentin am Landesgericht für Strafsachen in
Graz. Und: die Witwe des Verstorbenen.
Walter Mayr n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 83
AUSLAND

Die EU trainiert und finanziert die liby-

schen Küstenwächter, richtete eine Rettungs-
leitstelle ein, schickte Positionen von Flücht-
lingsbooten. Die Regierung in Tripolis sei
für die libysche Such- und Rettungszone

Europas neue Handlanger des Landes zuständig, argumentierten die

Europäer. Man schicke nur Koordinaten, für
alles, was dann folge, sei man nicht verant-
wortlich.
MIGRATION Eine Miliz des libyschen Warlords Khalifa Haftar fängt im Doch inzwischen haben sich die Routen
im Mittelmeer verändert. Seit Sommer 2022
Mittelmeer Flüchtlinge ab und schleppt sie nach Libyen. SPIEGEL- legen vermehrt Schlepperboote im Osten Li-
Recherchen zeigen, wie Frontex und maltesische Behörden ihr dabei helfen. byens ab. Und dort, in Bengasi, herrscht nicht
die von der EU anerkannte libysche Regie-
rung – sondern Khalifa Haftar, ein Warlord
uch nach Tagen auf See schien noch aber mit Angaben anderer Flüchtlinge. Der mit besten Verbindungen in den Kreml.
A alles in Ordnung, sagt Bassel Nahas.
Gemeinsam mit 100 anderen Flücht-
lingen war der Syrer im August von der liba-
Europäische Gerichtshof für Menschenrech-
te hat bereits 2012 entschieden, dass Asyl-
suchende, die auf dem Weg nach Europa sind,
Haftar stützt sich auf ein Netz von Milizen,
darunter auch die Tareq-Bin-Zeyad-Brigade,
kurz TBZ – jene Gruppe also, die Nahas im
nesischen Küste in Richtung Europa aufge- nicht nach Libyen gebracht werden dürfen, Mittelmeer gefangen genommen haben soll.
brochen. Nahas, 36, der in Wirklichkeit an- weil ihnen dort Folter und Tod drohen. Sie untersteht Saddam Haftar, dem Lieblings-
ders heißt, träumte von einem Leben in den Doch die EU kümmert das wenig. Seit Jah- sohn des Warlords. Der Menschenrechtsorga-
Niederlanden. Seine zwei Kinder und seine ren arbeitet sie mit der libyschen Küsten- nisation Amnesty International zufolge fol-
Frau wollte er später nachholen. wache zusammen, die im Westen des politisch tern und vergewaltigen seine Männer, lassen
Das Flüchtlingsschiff sei gut vorangekom- geteilten Landes patrouilliert. Dort fängt sie Menschen verschwinden, exekutieren Ge-
men, erzählt Nahas am Telefon. Die griechi- die Menschen auf dem Meer ab, bevor sie fangene. Unterstützt werden sie von russi-
schen Inseln hätten sie passiert, trotz der europäische Küsten erreichen. schen Söldnern der Gruppe Wagner, so steht
Drohne der EU-Grenzschutzagentur Frontex,
die über ihren Köpfen flog. Ihr Ziel, die ita-
lienische Küste, war nicht mehr fern.
Doch als die Gruppe am 18. August das
Gebiet erreichte, in dem Malta für Seenot-
rettungen zuständig ist, habe sich ein Schiff
mit libyscher Flagge genähert. Sie hätten den
Libyern zugerufen, dass sie Kinder und Frau-
en an Bord hätten, sagt Nahas. »Aber sie be-
schuldigten uns, Waffen und Drogen zu be-
sitzen, und eröffneten das Feuer.«
Drei Stunden lang hätten die Männer sie
auf dem Wasser verfolgt, dann die Passagiere
mit Gewalt auf ihr eigenes Schiff geschafft.
Eine Frontex-Drohne filmte die Szene nach
Angaben der Agentur aus der Luft. Nahas
sagt, er habe auf den Uniformen der Männer
die Namen ihrer Einheit erkannt: »Tareq Bin
Zeyad«.
Die Libyer hätten sie gefangen genommen
und in den Hafen von Bengasi gebracht, sagt
Nahas. Dort, in der Stadt im Osten Libyens,
habe man ihn misshandelt. »Sie schlugen uns,
bis unsere Körper von den Schlägen schwarz
wurden«, sagt Nahas. Danach hätten ihn die
Libyer ins Hafenbecken geworfen. Stunden
habe er im Wasser verbracht, das Salz habe
in seinen Wunden gebrannt.
In einem Gebäude in der Nähe des Hafens
habe man ihn später in einen orangefarbenen
Anzug gesteckt, sagt Nahas. So wie ihn Opfer
des »Islamischen Staats« vor der Exekution
trugen. Dann hätten die Männer ihn gefesselt,
an eine Wand gestellt und das Feuer eröffnet.
Als er die Schüsse hörte, sei er zusammen-
gebrochen. »Für einen Moment wusste ich
nicht, ob ich tot war oder lebendig.« Erst dann
habe er gemerkt, dass die Männer nicht auf
seinen Körper gezielt hätten.
Nahas’ Berichte über die Folter in Libyen
lassen sich kaum überprüfen. Sie decken sich

84 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


es unter anderem in einem vertraulichen
EU-Bericht. Auf eine Anfrage des SPIEGEL
antwortete die Miliz nicht.
Offiziell distanzieren sich die Europäer von
der Gruppe. TBZ sei kein »geeigneter An-
sprechpartner«, sagt ein Sprecher der EU-
Kommission. »Wir haben mit ihnen nichts
zu tun.«
Aber stimmt das wirklich? Oder arbeitet
die EU inzwischen nicht mehr nur mit der
Küstenwache im Westens Libyens zusam-
men – sondern heimlich auch mit Haftars
Schergen im Osten?
Der SPIEGEL hat monatelang im Mittel-
meerraum recherchiert, mit der Investiga-
tivorganisation Lighthouse Reports, »Le
Monde«, Al Jazeera, »Malta Today« und dem
syrischen Medium Siraj. Die Reporterinnen
und Reporter sprachen mit sieben Flüchtlin-
gen, die nach eigenen Angaben von Haftars
Miliz nach Libyen geschleppt worden waren,
sie verfolgten Positionsdaten von Schiffen und
europäischen Überwachungsflugzeugen, wer-
teten aufgezeichnete Funksprüche und ver-
trauliche Dokumente aus.
Die Recherchen zeigen, dass die Europäer
TBZ bei den sogenannten Pullbacks behilf-
AUSLAND
einem Fall wurden sie ihr offenbar geradezu
ITALIEN aufgedrängt.
Haftars Miliz erledigt offensichtlich jene
GRIECHENLAND Drecksarbeit, die die Europäer nicht über-
TÜRKEI
nehmen wollen. Seine Männer, die eher an
eine kriminelle Bande als eine herkömmliche
MALTA
Küstenwache erinnern, sind zu einer Art
Mittelmeer LIBANON Handlangern der EU geworden – und das,
obwohl sie selbst am Schleppergeschäft in
Tripolis Tobruk
Bengasi Libyen verdienen.
Wer die Männer sind, die sich Tareq Bin
LIBYEN Zeyad nennen, kann man auf TikTok und
ÄGYPTEN
Instagram beobachten. In einigen Videos
500 km
posieren sie in Gucci-Shirts und Louis-
S Karte: OpenStreetMap
Vuitton-Jacken. In anderen tragen sie Sturm-
hauben und Maschinengewehre, präsentieren
lich sind. In mindestens drei Fällen lässt sich Jeeps und Nachtsichtgeräte. Seit dem Früh-
nachweisen, dass Frontex oder maltesische jahr zeigen die Männer sich an Deck ihres
Behörden die Flüchtlingsboote entdeckten, neuen Schiffs. Mit langen Messern zerlegen
die Haftars Männer anschließend aus der sie rohes Fleisch für ein Grillfest. Stolz recken
maltesischen Such- und Rettungszone nach sie die blutigen Tierkadaver in die Höhe.
Libyen schleppten, obwohl dort laut inter- Noch vor sieben, acht Monaten habe TBZ
nationalen Übereinkommen die Europäer auf dem Wasser so gut wie nicht existiert, sagt
die Rettungsoperationen koordinieren müs- ein Politikwissenschaftler, der für einen Re-
sen. Mal gelangten die Positionsdaten der port des US-amerikanischen Thinktanks The
Flüchtlingsboote auf indirektem, mal auf Sentry in Ostlibyen recherchiert hat. Aus Si-
direktem Weg in die Hände der Miliz – in cherheitsgründen will er anonym bleiben.
TBZ gelte als flexibel, nehme immer wieder
neue Aufgaben an. In den vergangenen Jahren
wuchs die Miliz, inzwischen soll sie 6000 bis
8000 Männer umfassen.
Ihr Schiff, die »Tareq Bin Zeyad«, wurde
von einer Firma mit Sitz in Dubai registriert.
Wer die Überführung nach Libyen bezahlt
hat, ist unklar. Seit dem Frühjahr jedoch be-
obachten die Europäer ihre Aktionen: Am
25. Mai habe eine Miliz mit Verbindung zu
Haftars Armee erstmals Migranten nach Li-
byen zurückgeschleppt, heißt es in einem ver-
traulichen Bericht der EU-Mission »Irini«, die
im Mittelmeer patrouilliert. Seitdem haben
[M] Alyssa Nothaft / DER SPIEGEL; Fotos: Chiara Wettmann / Lighthouse Repor ts; @LibyanXIV / X; Lighthouse Repor ts (2)
demnach jene Milizen mehr als 1000 Men-
schen abgefangen.
Wie TBZ von den Überwachungsflügen
der Europäer profitiert, zeigte sich am 26. Juli.
Ein Frontex-Überwachungsflugzeug sichtet
an diesem Morgen ein Flüchtlingsboot im
Mittelmeer. Kurz bevor die Migranten die
maltesische Rettungszone erreichen, sendet
Frontex einen Notruf, ein »mayday relay«, an
alle Schiffe in der Umgebung – nach eigener
Darstellung, weil das Boot gefährlich überfüllt
gewesen sei. Entgegen den üblichen Abläufen
informiert die Grenzschutzagentur erst dann
die Rettungszentren in Italien, Malta und
Westlibyen.
Eigentlich wären nun die Rettungsleitstellen
für die Koordinierung des Seenotfalls zustän-
dig. Doch sie bleiben an diesem Tag stumm.
Man habe keinerlei Antwort von ihnen erhal-
ten, teilt Frontex auf Anfrage mit. Die TBZ
habe als einziges Schiff auf den Notruf reagiert.
Ein Übersetzer, der nach eigenen Angaben für
die Miliz arbeitet, erklärte der privaten See-
notrettungsorganisation Sea-Watch später, dass
Milizionäre der Gruppe
Tareq Bin Zeyad, illegaler
man die Koordinaten vom Frontex-Flugzeug
Pullback im Mittelmeer per Funk erhalten habe. Womöglich ist damit
das Mayday gemeint. Dem SPIEGEL liegt eine
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 85
AUSLAND
Aufzeichnung des Gesprächs mit der
NGO vor.
Die EU-Behörde sorgt an diesem
Tag nicht dafür, dass jemand die
Flüchtlinge in einen sicheren Hafen
bringt. Zwei Handelsschiffe, die in der
Nähe fahren, behalten ihren Kurs bei.
Eine Crew gibt an, nur Teile des Not-
rufs empfangen zu haben. Knapp sie-
ben Stunden nach dem Notruf erreicht
die »Tareq Bin Zeyad« die Flüchtlinge
und bringt sie aus der maltesischen
Rettungszone nach Libyen zurück.
Auf Anfrage betont Frontex, man
habe weder in diesem noch in ande-
ren Fällen direkt mit TBZ kommuni-
ziert. Die Menschen an Bord des
überfüllten Flüchtlingsboots seien in
Lebensgefahr gewesen, deshalb habe
man den Notruf abgesetzt. Später, be-
vor das Flugzeug das Gebiet aus
Spritmangel verließ, habe man den
Rettungsleitstellen neue Koordinaten
mitgeteilt und einen zweiten Mayday-
Ruf abgesetzt. Dieser sei ebenfalls
unbeantwortet geblieben. Für die Ko-
ordination der Rettungseinsätze sei
man grundsätzlich nicht zuständig.
Die Völkerrechtlerin Nora Markard
von der Universität Münster sieht das
in diesem Fall anders. »Die Frontex-
Beamten wissen, dass den Menschen
in Libyen Folter und andere un-
menschliche Behandlung droht«, sagt
sie. »Die Agentur hätte nach dem
Notruf sicherstellen müssen, dass
jemand anders die Rettung über-
nimmt – zum Beispiel eines der Han-
delsschiffe, die ohnehin viel schneller
vor Ort gewesen wären.«
Das Seerecht etabliere eine Kette
von Verantwortlichkeiten. Und wenn,
wie in diesem Fall, kein kompetenter
Akteur die Rettung oder die Koordi-
nation übernehme, bleibe Frontex
verantwortlich. »Was die Miliz tut, ist
eher ein Kidnapping als eine Ret-
tung«, sagt Markard. »Man muss sich
nur vorstellen, dass Piraten verkün-
den, sich um einen Seenotfall küm-
mern zu wollen. Auch das wäre nicht
in Ordnung.«
Die EU-Beamten scheinen die Ak-
tionen der Miliz nicht sonderlich zu
stören. In einem internen Briefing,
das dem SPIEGEL vorliegt, bezeich-
net Frontex das TBZ-Schiff verharm-
losend als Patrouillenboot der Küs-
tenwache. In dem Bericht dokumen-
tiert die Agentur zudem, dass sie am
16. August die Position eines Flücht-
lingsschiffs unter anderem an die Ret-
tungsleitstelle in Tripolis schickte. Die
Beamten dort leiteten die Daten of-
fenbar an Haftars Männer weiter,
nach eigenen Angaben tun sie das
regelmäßig. Zumindest wenn es um
Flüchtlingsboote geht, arbeiten die
86 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
verfeindeten Lager in Libyen offenbar
zusammen. Zwei Stunden später fing
die »Tareq Bin Zeyad« die Flüchtlin-
ge in der libyschen Rettungszone ab.
Frontex vermerkte auch das.
Juristen wie Markard kritisieren
die Weitergabe der Koordinaten nach
Tripolis seit je. Nun wird klar, dass
die libysche Rettungsleitstelle nicht
nur die eigene Küstenwache im Wes-
ten des Landes alarmiert – sondern
mit TBZ auch eine Miliz im Osten,
die offensichtlich noch brutaler vor-
geht. Auf Nachfragen zu diesem Fall
antwortete Frontex nicht.
Italien und Malta werben seit Mo-
naten um Haftars Gunst. Anfang Mai
empfing Regierungschefin Giorgia Me-
loni den Warlord in Rom, um ihn zu
überzeugen, die Abfahrten der Flücht-
lingsboote Richtung EU zu stoppen.
Italiens Innenminister sprach von
möglichen Finanzhilfen, auch von
Trainingseinheiten für Haftars Leute
war die Rede. Experten werten das
Treffen als Wendepunkt. Gut möglich,
dass es damals schon einen Deal gab.
Noch im selben Monat nahm die Crew
der »Tareq Bin Zeyad« ihre Arbeit auf.
Maltesische Offizielle geben sogar
zu, mit Haftar zu kooperieren. Man
stelle auch Überwachungsdaten zur
Verfügung, sagt ein Beamter, der sei-
nen Namen nicht veröffentlicht wis-
sen will. Ende Mai habe eine malte-
sische Delegation Haftar besucht,
anschließend sei das Militär beauf-
tragt worden, Details auszuhandeln.
Seitdem betrachten maltesische
Beamte TBZ offenbar als eine Art of-
fizielle Küstenwache Ostlibyens. Die
Crew des privaten Seenotrettungs-
schiffs »Ocean Viking« wimmelten
die Malteser in einem Fall ab, statt-
dessen brachte TBZ die Flüchtlinge
nach Libyen zurück.
In einem Funkspruch vom 2. Au-
gust, der dem SPIEGEL vorliegt, hört
man zudem, wie ein Mann mit mal-
tesischem Akzent TBZ die Koordina-
ten eines Flüchtlingsboots durchgibt,
das auf die maltesische Rettungszone
zufährt. »›Tareq Bin Zeyad‹. ›Tareq
Bin Zeyad‹. Ich habe eine Position für
Sie. Wollen Sie die Position?«, sagt
er. Vermutlich handelt es sich um den
Piloten eines maltesischen Flugzeugs,
das zu diesem Zeitpunkt in der Ge-
gend kreiste.
Die maltesischen Behörden be-
streiten den Funkspruch auf Anfrage
nicht. Wenn ein Schiff Hilfe benötige,
seien Seeleute verpflichtet, Informa-
tionen an andere Schiffe in der Ge-
Chiara Wettmann
gend zu übermitteln, teilten sie mit.
Völkerrechtlerin Markard hält den
Vorgang hingegen für einen klaren
Verstoß gegen das Seerecht. »TBZ
Flüchtlingsboot am schleppt hier offensichtlich stellver-
26. Juli: Aus der tretend für die Malteser Flüchtlinge
maltesischen
Such- und Rettungs-
nach Libyen zurück«, sagt sie.
zone nach Libyen Die EU kleidet ihre Abschottungs-
zurückgeschleppt politik gern in ein humanitäres Ge-
wand. Kommissionspräsidentin Ursu-
la von der Leyen kündigte jüngst eine
»globale Allianz« an, um Schlepper
und Schleuser stärker zu bekämpfen.
Das »unsägliche Leid« der Flüchtlin-
ge müsse enden. Insbesondere krimi-
nellen Netzwerken, die mit den Mi-
granten Geld verdienten, wolle man
das Handwerk legen.
Beginnen könnte die EU mit Haf-
tars Männern. Sie sind von den Schlep-
pern bisweilen nicht zu unterscheiden.
Kaum ein Boot verlässt den Hafen
ohne ihr Wissen. TBZ etwa organisiert
den Transport von Flüchtlingen vom
Flughafen Bengasi zu den Lagern an
der Küste, so berichten es Migranten
und libysche Insider. Nur wer dort ge-
nug bezahle, dürfe auf die Boote.
Europäische Diplomaten wissen
schon seit Monaten davon. Migra-
tionskontrolle sei für Haftar vor allem
ein Vorwand, um internationale
Unterstützung zu erhalten, heißt es
in einem Dokument des Auswärtigen
Amts, das eine EU-Sitzung zusam-
menfasst. In Wahrheit verdienten sei-
ne Milizen am Menschenhandel.
Bassel Nahas sagt, er habe das am
eigenen Leib zu spüren bekommen.
Nach 22 Tagen Folter habe TBZ ihn
einer anderen bewaffneten Gruppe
übergeben. Erst als ein Bekannter
4000 Euro Lösegeld gezahlt habe, sei
er freigekommen. Die Verhandlungen
liefen über WhatsApp, dem SPIEGEL
liegen Screenshots der Nachrichten
vor. Auf ihnen ist auch die Handy-
Esam Omran Al-Fetori / REUTERS
nummer des Erpressers zu erkennen.
Über einen Facebook-Account
führt sie zu einem von Haftars Män-
nern.
Mohammad Bassiki, Bashar Deeb, Klaas
van Dijken, Maud Jullien, Steffen Lüdke,
Mohannad al-Najjar, Jack Sapoch, Tomas
Warlord Haftar Statius, Lina Verschwele n
 Deutscher
SPORT Wellenreitverband

Siegersport Deutscher
Dart-Verband
Deutsche Sportverbände
mit dem höchsten
prozentualen Mitglieder-
zuwachs von 2019
bis 2023

Deutscher
Eishockey-Bund

Deutscher
Basketball
Bund

Deutscher
Dart-Verband

Bundesfachverband
für Kickboxen

S Quelle: DOSB
◆

Der Sport befindet sich im ständigen Wandel. Manche Sportarten werden populär und irgendwann olympisch (beispielsweise Klettern 2021 in
Tokio, Breakdance 2024 in Paris), andere Disziplinen verlieren vor allem bei jungen Menschen an Bedeutung. Die höchsten Zuwachsraten
verzeichnen in Deutschland kleinere Verbände von Trendsportarten wie Surfen und Dart. In absoluten Zahlen sieht das ein wenig anders aus:
Die meisten Mitglieder hat seit 2019 der Deutsche Fußball-Bund hinzugewonnen, gefolgt vom Alpenverein.

HALL OF FAME
Uli Hoeneß’ Weihnachtsbaum
Das Tegernseer Tal, südlich
von München im schönen
Voralpenland gelegen, ist seit
vielen Jahren die Wahlheimat
von Uli Hoeneß. Hoch über
Bad Wiessee wohnt der Ehren-
präsident des FC Bayern mit
seiner Frau Susanne in einer
Villa mit großem Garten und
einem unverbauten Blick auf
die Berge und den See.
Für Hoeneß, 71, ist das
Alpenidyll ein Kraftort. Sein
In klaren Nächten reisen
nun Fotografen an den
Tegernsee, um Bilder von der
Rekordfichte zu schießen.
Sicherlich wird es bald die
Immer zur Weihnachtszeit ersten Drohnenaufnahmen ge-
demonstriert Hoeneß, eigent- ben. Die »Süddeutsche Zei-
lich ein Schwabe, auf besonde- tung« hat recherchiert, dass die
re Weise seine Verbundenheit Beleuchtung automatisch an-
mit der Region. Dann illumi- springt, sobald es dunkel wird.
niert er eine 30 Meter hohe Hoeneß sagt, er möchte den
Fichte in seinem Garten – mit Menschen im Tal mit dem
mehr als 900 LED-Lichtern. Christbaum »in diesen schwie-
Der imposante Christbaum, rigen Zeiten« eine Freude
fünf Meter höher als das machen. Andererseits weiß
diesjährige Exemplar auf dem
Münchner Marienplatz, ist
überall im Tal zu sehen, ein
S. Beck / SZ / picture alliance / dpa
man bei ihm nie, welcher Hin-
tergedanke ihn gerade treibt.
Vielleicht will er auch jenen,
die sich mit der Größe und
Herrlichkeit des FC Bayern im-
mer noch nicht abfinden wol-
len, mit dem Weihnachtsbaum
ein wenig heimleuchten. Un-
wahrscheinlich, dass ein Klub-
chef aus Dortmund, Leverkusen
oder Stuttgart einen größeren
Baum im Garten stehen hat.
Sebastian Lechner, Vor-
sitzender des Fanklubs »Bay-
ernfreunde Tegernseer Tal«,
erzählt, dass es in der Gegend
zahlreiche Fans des TSV
1860 München gebe. Gut mög-

Stammlokal liegt nur einen
kurzen Fußmarsch von seinem
Anwesen entfernt. Vorigen
Sommer kam die Mannschaft
des FC Bayern für ein Trai-
ningslager an den Tegernsee.
Ein Freundschaftsspiel gegen
den Kreisligisten FC Rottach-
Egern endete 27:0.
leuchtendes Wahrzeichen bay- lich, dass die sich fürchter-
erischen Selbstbewusstseins; lich über den Hoeneß-Baum
selbst Manuel Neuer, der gegen- ärgern.
über am Ostufer des Sees Bislang habe sich niemand
wohnt, kann ihn gut erkennen. bei ihm beschwert, erzählte
Zwei Tage dauerte es, bis eine Hoeneß kürzlich einem Repor-
Spezialfirma die Lämpchen ter. Bis Ende Januar solle seine
mithilfe einer Hubarbeitsbühne Fichte leuchten, dann werde
angebracht hatte. Hoeneß die Lichtshow abmontiert. GP

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 87

SPORT

Stadium 974
im November 2023

Der Wüstenplanet

Jan Göbel / DER SPIEGEL

FUSSBALL Erinnert sich noch jemand an die WM in Katar? Als die Welt ein paar Wochen lang
über Menschenrechte, tote Arbeiter und eine bunte Armbinde debattierte?
Jan Göbel war damals als Reporter dort. Eine Spurensuche, ein Jahr danach.

as Stadium 974 im Hafen von Doha ist Mitte November, ein paar Tage bevor sich Gewinner
D mehr als nur ein Fußballstadion; es ist die Eröffnung der WM von Katar zum ersten
ein Symbol. Die Arena, zur WM aus Mal jährt: In der Hauptstadt regnet es so stark,
974 bunten Schiffscontainern errichtet, ist ein dass Eingänge von Metrostationen mit Sand-
Ein Abend in den ersten WM-Tagen. Der Suk
Wakif, der traditionelle Markt im älteren Teil
Dohas, ist so voll, dass die Menschen nur lang-
Hingucker, jeder kann sie sehen, der vom säcken gesichert werden, in manchen Straßen sam vorankommen. Fernsehstudios haben
Flughafen in die Stadt fährt. Direkt nach dem steht einem das Wasser bis zu den Knöcheln. ihre Bühnen aufgebaut, Händler verkaufen
Turnier sollte sie abgebaut und einem anderen Doha ist an vielen Stellen zu einer Beton- Trikots von Lionel Messi und WM-Pokale als
Land geschenkt werden. Beim Stadium 974 wüste geworden, die Abflüsse sind für die Schlüsselanhänger, und auf einem Podest sitzt
sollte alles zusammenkommen: Innovation, Wassermassen nicht ausgelegt. ein Mann mit Megafon. »Metro, this way«,
Nachhaltigkeit, Großzügigkeit. Die Katarer Der Regen kommt nicht ungelegen, derzeit ruft er und zeigt nach links, »Suk Wakif, this
wollten der Welt zeigen, dass die Fußball-WM findet hier die Internationale Gartenbauaus- way«, er zeigt nach rechts. Immer wieder än-
bei ihnen gut aufgehoben ist. stellung statt. In den WM-Wochen hatte es dert er Tempo und Rhythmus, es gibt Wech-
2022 habe ich als Reporter für den bloß ein paar Tropfen geregnet. selgesänge, die Fans rufen »Metro«, er ant-
SPIEGEL vom Turnier berichtet. Gianni In- Es ist schon dunkel, als ich auf dem High- wortet »this way«. Sein kindliches Gesicht
fantino hatte auf seiner letzten WM-Presse- way vom Flughafen in die Stadt fahre. Die lacht, die Fans lachen auch.
konferenz gesagt: »Ich werde wiederkom- erste Überraschung: Das Stadium 974 steht Der Mann auf dem Hochsitz wurde schnell
men, um nach dem Rechten zu sehen – keine noch immer. Es ist sogar in aktuellen Werbe- zur Kultfigur, »Metro, this way« zum Running
Sorge.« Dabei hatte er uns Journalisten an- kampagnen für Katars Tourismus zu sehen. Gag der WM. Ein seltener WM-Moment, der
geschaut: »Sie werden dann weg sein.« Der Hinein können Besucher nicht: Sicherheits- in keinem Drehbuch stand.
Fifa-Präsident weiß, wie kurzlebig das öffent- zäune umgeben die Arena, eine Stadionfüh- Der 23-jährige Abubakr Abbas war der
liche Interesse ist. Schnell würde etwas an- rung gibt es nicht. Mann auf dem Hochsitz. Eine Agentur in Ab-
deres kommen, das Medien und Menschen Nach Angaben der Fifa besuchten 3,4 Mil- bas’ kenianischer Heimat hatte nach Arbei-
interessiert. lionen Menschen die Spiele. Sein Verband, sag- tern für die WM gesucht. Er habe die Anfor-
Genau deshalb bin ich noch einmal nach te Infantino, habe mit der WM in Katar Rekord- derungen nicht erfüllt, erzählt Abbas, sein
Katar gereist. Ich will sehen, was von der WM einnahmen erzielt. Der Fifa-Präsident wört- Schulabschluss war zu schlecht, er habe auch
geblieben ist. Ob die Begegnung mit Fans aus lich: »Es war die beste WM der Geschichte.« kein Empfehlungsschreiben eines Arbeit-
aller Welt das Emirat verändert hat. Die Frage ist: für wen? gebers vorweisen können, denn in Mombasa

88 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


Mexikofans in Katar im
November 2022
hatte er keinen Job gefunden. Also schrieb er
sich einfach selbst eine Empfehlung, erklärte,
warum er dem Emirat helfen könne, und
reichte die Unterlagen ein.
Wenige Wochen später saß er zum ersten
Mal in seinem Leben in einem Flugzeug, in
Doha teilte man ihn für die »Crowd Control«
an der Metrostation Suk Wakif ein. Abbas
hatte keine Ahnung, was »Crowd Control«
sein sollte, aber mit dem Megafon wurde die
Sache zum Selbstläufer.
Seine »Metro, this way«-Gesänge lud er
bei TikTok hoch, bald schrieben ausländische
Zeitungen über ihn. Von seiner Popularität
wollte dann auch Katar profitieren: Bei einem
Spiel wurde Abbas als Ehrenzuschauer ein-
geladen, er durfte den Fans »Metro« zubrül-
len, die antworteten: »this way«. Von diesem
Tag an war Abbas kein gewöhnlicher Gast-
arbeiter mehr.
Drei Millionen Menschen lebten vor der
WM im Emirat, gut zehn Prozent davon ka-
tarische Staatsangehörige. Der Großteil wa-
ren Gastarbeiter aus asiatischen Ländern wie
Indien, Nepal oder Bangladesch, auch viele
Kenianer wie Abbas. Ohne die billigen
Arbeitskräfte würde in dem reichen Emirat
kaum etwas funktionieren.
Diese Menschen kommen nach Katar, weil
sie in ihrer Heimat keine Jobs finden oder ihre
Familien nicht versorgen können oder beides.
In Katar verdienen die meisten oft nur den Min-
SPORT
Adrian Macias / Agencia MexSpor t / IMAGO
destlohn von 1000 Katar-Rial (etwa 260 Euro), Ein Jahr nach der WM nehme ich Kontakt
er wurde nach der WM-Vergabe auf Drängen zu Abbas auf. Er schreibt, dass er noch immer
der Weltöffentlichkeit eingeführt. Der Arbeit- in Doha lebe, dass er inzwischen für mehrere
geber muss außerdem monatlich 129 Euro für katarische Firmen als Werbebotschafter Videos
Unterkunft und 78 Euro für Verpflegung an- gedreht habe. Auch bei der Fußball-Asienmeis-
bieten. Für die Gastarbeiter ist das oft deutlich terschaft, die im Januar unter anderem in den
mehr, als sie zu Hause je verdienen könnten. WM-Stadien in Doha beginnt, solle er auftreten.
Nach der WM wurden viele von ihnen Er sagt, er sei stolz auf das, was er erreicht habe.
nicht mehr gebraucht. Abubakr Abbas, der Ob er Zeit habe, sich zu treffen, vielleicht
»Metro Man«, durfte bleiben. Er gab der am Suk Wakif, jenem Ort, der ihn berühmt
Masse der Hunderttausenden Gastarbeiter gemacht hat? Abbas willigt ein, sagt das Tref-
in Katar, die niemand kennt, die alle aus- fen dann aber wieder ab. Er arbeite zu viel,
tauschbar sind, die kommen und gehen, ein schreibt er. Einen Tag später meldet er sich
Gesicht. krank. Er habe ein Drehbuch für einen neuen
Werbefilm zu laut gelesen und könne nicht
mehr sprechen. Am nächsten Tag schreibt er,
ein Wetterumschwung in Doha habe ihn noch
kränker gemacht, er liege im Krankenhaus.
Wieder einen Tag später postet er ein Foto,
es zeigt, wie er in einer Metrostation einen
neuen Werbefilm für Katar dreht. Ein Treffen
findet nicht statt.
Abbas ist ein Gewinner der WM, einer der
wenigen, die es von ganz unten so weit nach
oben geschafft haben, das kann man sagen,
auch ohne ihn getroffen zu haben. Seine Ge-
schichte zeigt noch etwas anderes: Wenn
Mar tin Meissner / AP
Journalisten aus westlichen Ländern, vor al-
lem aus Deutschland, Fragen in Katar stellen,
können Antworten kurz ausfallen.
Offenbar haben Katarer wenig Interesse
Weltmeister Messi im Dezember 2022 daran, mit deutschen Journalisten über die
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 89
SPORT
WM zu sprechen. Nirgendwo sonst auf der
Welt sei Katar vor der WM so kritisiert wor-
den wie in den deutschen Medien, heißt es.
Keine andere Nation habe sich so wenig Mühe
gegeben, die Dinge differenziert zu betrach-
ten. »Von Deutschland ist man hier regelrecht
enttäuscht«, sagt ein Experte, der Kontakte
zur Herrscherfamilie hat.
Respekt
Am Donnerstagabend, vier Tage vor dem
Jahrestag des WM-Beginns, spielt Katar in
der WM-Qualifikation für die Endrunde 2026
gegen Afghanistan. Die Tickets kosten zwi-
schen 2,50 und 13 Euro, freie Platzwahl. Ich
passiere beinahe als Erster die Sicherheits-
schleuse, im Stadion ist etwa eine Stunde vor
dem Anpfiff wenig los.
Bassam Ibrahim fällt auf, weil er eine Tril-
lerpfeife im Mund hat, um den Hals trägt er
eine Akkreditierung des katarischen Fußball-
verbands.
Beim Spiel gegen Afghanistan sind gut
19.000 Zuschauer im Stadion, fast alles Schul-
kinder. Ibrahim ist für die Stimmung zustän-
dig. Er steht in der achten Reihe in Block 20.
Ein Pfiff, und alle achten auf ihn: Kreist er
seine Arme, sollen die Zuschauer ihre Katar-
fähnchen wild durch die Luft wedeln,
schwenkt er nach links, sollen auch die Fah-
nen nach links gehen. Wippt Ibrahim auf und
ab, sollen alle aufspringen.
Bassam Ibrahim, 47 Jahre alt, kommt aus
dem Libanon. Eigentlich sei er Kickboxer, er-
zählt er. Vor etwa 15 Jahren sei er nach Katar
gekommen, weil viele seiner Freunde schon
in dem Emirat gewesen seien und geschwärmt
hätten. Es sei ein sicheres Land, friedlich, man
könne sich im Sport verwirklichen, weil die
Herrscherfamilie Sport liebe.
Ibrahim hat früher für die katarische Ar-
mee als Fitnesscoach gearbeitet, war Sport-
lehrer, heute ist er Personal Coach. Bei der
WM war er Teamchef für das Fan-Erlebnis
im Al-Bait-Stadion und dort Zeuge des deut-
schen Ausscheidens in der Vorrunde.
Man wüsste gern, was er von den deut-
schen Protesten während der WM hält. DFB-
Torwart Manuel Neuer und andere euro-
päische Mannschaftskapitäne hatten sich
verabredet, während der Spiele eine bunte
Kapitänsbinde zu tragen, so wollten sie sich
für die Rechte der Homosexuellen im Emirat
einsetzen.
Die Aktion wurde zur Posse. Frankreichs
Kapitän Hugo Lloris lehnte die »One Love«-
Binde von Beginn an ab. »So wie wir oft
wollen, dass sich Fremde an unsere Regeln
halten und unsere Kultur respektieren, wer-
de ich dasselbe machen, wenn ich nach Katar
gehe.«
Als die Fifa die Binde verbot und mit Sank-
tionen drohte, verzichteten alle Teams auf
die Aktion. Die deutschen Spieler hielten sich
stattdessen beim Mannschaftsfoto vor dem
Spiel gegen Japan die Hand vor den Mund.
Wir wurden zum Schweigen gezwungen, so
könnte man die Geste interpretieren, bei der
90 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Abubakar Abbas / Instagram
WM-Helfer Abbas in Doha (Instagram-Bild)
Bassam Ibrahim / Instagram
Stimmungsmacher Ibrahim
eine Werbeagentur beraten haben soll, die
auch SPD-Kampagnen betreut hat.
In Katar wurden die Deutschen daraufhin
verspottet. Im Stadion waren auf der Tribüne
Männer in den landestypischen weißen Ge-
wändern zu sehen, die sich den Mund zuhiel-
ten und Plakate mit dem Konterfei von Mesut
Özil zeigten. Der deutsche Nationalspieler
war nach der WM 2018 aus der DFB-Auswahl
zurückgetreten und hatte der Verbandsspitze
Rassismus vorgeworfen.
Befremden löste der Auftritt der deutschen
Innenministerin Nancy Faeser aus, die bei
einem Spiel der deutschen Mannschaft neben
Infantino saß und die bunte »One Love«-Bin-
de trug. In den Stadien war das Regenbogen-
motiv unerwünscht, die Sicherheitskräfte gin-
gen dagegen vor. Zu Hause bereitete sich die
SPD-Politikerin auf den Wahlkampf vor, sie
wollte hessische Ministerpräsidentin werden.
Viele Katarer empfanden diesen Auftritt
als respektlos. Deutsche Unternehmen wie
die Deutsche Bahn oder Hochtief verdienten
an WM-Projekten zusammen mehrere Mil-
liarden Euro. Wenige Monate vor der WM
war Wirtschaftsminister Robert Habeck nach
Katar geflogen, um Flüssiggas einzukaufen.
Auf einem Foto ist Habeck zu sehen, wie er
sich vor dem katarischen Handelsminister
verbeugt. Habeck sagte später, er habe das
Thema Menschenrechte angesprochen, ein
katarischer Minister dementierte dies.
Ibrahim will über all das nicht reden, auch
er wird das Gespräch höflich zu Ende bringen,
sobald er erfährt, dass er mit einem deutschen
Journalisten spricht. In der Halbzeitpause
wendet er sich den Schulkindern zu. Er gibt
Autogramme, auf ihre Fähnchen und Katar-
schals schreibt er: »Respect!«
Es ist leicht, von Deutschland aus eine kla-
re Haltung zu Katar zu haben. Vor Ort ist es
nicht immer leicht, diese Klarheit zu bewah-
ren. Wofür steht das alles? Für eine Welt,
die eben kein universelles Verständnis von
Respekt hat? Für eine Welt, die nur dann Mo-
ral einfordert, wenn es nicht ums Geld geht?
Für Scheinheiligkeit? In der Bundesrepublik
steht Homosexualität erst seit 1994 nicht mehr
unter Strafe. Als sich 2017 eine Mehrheit im
Bundestag für die »Ehe für alle« aussprach,
stimmten 226 Abgeordnete dagegen, darunter
die damalige Kanzlerin Angela Merkel.
Die WM hätte auch eine Gelegenheit zur
Selbstbefragung sein können. Wie soll sich
die Welt verändern und in welchem Tempo,
wenn es gar kein gemeinsames Ziel gibt?
Akzeptanz ist nichts, was sich verordnen
ließe. Entscheidend ist der Dialog. Ob
Deutschland mit Katar zur Gesetzeslage über
Homosexualität im Kontakt geblieben ist?
Zwei Anfragen an die deutsche Botschaft in
Doha bleiben unbeantwortet.
Verantwortung
Katar habe keinerlei Fußballtradition, wurde
anfangs kritisiert. Kann eine WM daran etwas
ändern?
Besuch also bei einem Pokalspiel zwi-
schen zwei Profiklubs, ein Jahr nach der WM.
Beim Anpfiff sind 60 Zuschauer im Stadion,
das Platz hätte für 12.000. Dazu kommen
9 Greenkeeper, 25 Ordner, 8 Kameraleute,
2 Fotografen, 13 Foodtrucks, mindestens
4 Katzen und ein Star: Unter den Zuschauern
ist Ex-Nationalspieler Julian Draxler, der bei
einem katarischen Verein sein Geld verdient
und aktuell verletzt ist.
Bei der Kritik ging es auch um mögliche
Bestechung bei der WM-Vergabe, aber wel-
ches Großereignis im Sport wurde eigentlich
nicht gekauft? Viel spricht dafür, dass auch
Deutschland Funktionäre bestochen hat, um
genug Stimmen für die Ausrichtung der WM
2006 zu bekommen.
Der zentrale Kritikpunkt vor der WM war
allerdings der mangelnde Schutz von Men-
schenleben. Organisationen wie Amnesty
International beklagten, dass Löhne für WM-
Jobs nicht rechtzeitig oder gar nicht gezahlt
wurden, sie forderten, dass die Fifa und Katar
die Verantwortung für die toten Gastarbeiter
auf den WM-Baustellen übernehmen müss-
ten.
Inzwischen weiß man, dass die WM mit
all der Infrastruktur 200 Milliarden US-Dol-
lar verschlungen hat. Das Turnier wurde in
acht Stadien gespielt, sieben davon nagel-
neu, es gab drei Metrolinien und riesige Bahn-
höfe, in denen man sich verlaufen und in
denen man sich nicht verlaufen konnte, weil
Volunteers wie Abubakr Abbas da waren:
»This way!«

Nicht bekannt ist, wie viele Menschen­
leben sie wirklich gekostet hat. Die Inter­
nationale Arbeitsorganisation (ILO), die Fifa
und Katar sprechen von 3 Toten auf Bau­
stellen, weitere 37 Arbeiter seien außerhalb
der Baustellen gestorben, also nicht arbeits­
bedingt. Die ILO hat eine Zweigstelle in Doha,
die von Katar finanziert wird.
Aber: Ist ein toter Arbeiter nur dann ein
toter Arbeiter, wenn er auf der Baustelle
stirbt? So sehen es ILO, Fifa und Katar.
Oder muss man auch jene mitzählen, die
nach der Arbeit im Schlaf an Herzversagen
sterben?
Der »Guardian« berichtete 2021 von etwa
6500 toten Gastarbeitern seit der Vergabe an
Katar im Jahr 2010. Ein Problem an dem Be­
richt war, dass der »Guardian« die Jobs der
verstorbenen Gastarbeiter im Emirat nicht
kannte; der Bezug zur WM ließ sich nicht
zweifelsfrei herstellen.
Mit einem Fonds sollten Fifa und Katar
jene Familien entschädigen, deren Angehö­
rige bei Arbeiten für die WM zu Schaden ge­
kommen waren. 440 Millionen Euro forder­
ten Menschenrechtsorganisationen und Fan­
verbände. Konkrete Zusagen für den Kom­
pensationsfonds gibt es bis heute nicht. In
einer Stellungnahme teilte die Fifa lediglich
mit, dass eine Kommission an dem Thema
arbeite. Wann die Prüfung abgeschlossen ist,
ließ sie offen.
Die Fifa schrieb zudem: »Man sollte nicht
das Gesamtbild aus den Augen verlieren:
Internationale Experten und Gewerkschafts­
vertreter haben wiederholt anerkannt, dass
es im Bereich der Arbeitsrechte große Fort­
schritte gegeben hat.«
In einem Bericht über das WM­Erbe be­
stätigt dies auch Amnesty International. Der
eingeführte Hitzeschutz werde konsequenter
eingehalten, er verbietet es, im Sommer in
der Mittagssonne draußen auf Baustellen zu
arbeiten. Gastarbeiter können heute den
Arbeitgeber leichter wechseln oder das Land
wieder verlassen. Es gibt auch Kritik: Der
Mindestlohn wurde seit 2021 nicht mehr er­
höht, es habe nach der WM erneut Fälle von
Lohndiebstahl gegeben.
Wenn man mit Gastarbeitern spricht, hört
man kritische Worte, aber eben nicht nur. Sie
sagen auch, dass sie stolz auf das seien, was
sie gebaut haben, was sie erreicht haben. Sie
sind stolz darauf, dass die Welt ihre WM ge­
sehen hat.
Gegenwart
Besuch in Asian Town. Hier gibt es keinen
Metroanschluss, mit dem Auto geht es über
vierspurige Highways vor die Tore Dohas,
vorbei an Industrieanlagen und Hochhäusern.
Von der Wüste ist kaum noch etwas zu sehen,
überall Beton.
In Asian Town leben die Gastarbeiter in
Sammelunterkünften. Die meisten dieser
Arbeiterdörfer liegen am Stadtrand, manche
von ihnen sind neu, einige haben sogar
eine Sportanlage, über andere gibt es Klagen:
»Für Katar waren es riesige
Schritte, für uns im Westen
oft nur sehr kleine.«
Dietmar Schäfers, Gewerkschafter
zu beengt, schlechte hygienische Zustände,
keine Trinkwasserversorgung. Busse fahren
die Männer zu ihrer Arbeit. Sicherheits­
tore, Überwachungskameras, Ordner, Wohn­
blocks hinter Zäunen. Vor den Sperrtoren
steht ein Einkaufszentrum, es gibt Super­
märkte, Friseurläden, katarische SIM­Karten.
In einem Kunden­WC wäscht sich ein Mann
die Füße.
Einige Verkäufer sprechen mich an, alle
stellen dieselbe Frage: »Soll ich Sie zurück in
die Stadt fahren, Sir?«
Neben der Mall steht das größte Cricket­
stadion des Landes, es ist 11.30 Uhr, in Indien
beginnt gerade das Endspiel der Cricket­WM,
fast 100.000 Fans sind dort im Stadion. Es
ist eines der größten Sportereignisse der Welt.
Eigentlich könnte das Finale auch in Katar
ein Fest werden, denn aus Indien kommen
besonders viele Gastarbeiter, einige von ih­
nen spielen in Katar in einer Cricketliga.
Vor einem Jahr wurde das Cricketstadion
in Asian Town als Anlage für Public Viewing
genutzt, Gastarbeiter konnten dort die WM­
Spiele auf Großbildschirmen verfolgen. Nun,
am Tag des Cricketendspiels, steht ein Fern­
seher auf der Anlage, der Bildschirm bleibt
schwarz.
Nur drei Menschen sind zu sehen. Einer
von ihnen ist Mizanur Rahman aus Bangla­
desch, der offenbar eine Art Hausmeister ist
und das Tor aufschließt.
Public Viewing zum Cricketfinale – bei der
Idee muss er lachen. »Die Leute haben gar
keine Zeit dafür, sie müssen arbeiten.« Aber
er freue sich, dass jemand aus Deutschland
SPORT
gekommen ist. Dann zeigt er auf kaputte Sitz­
schalen und auf Treppenaufgänge, die Risse
im Beton bekommen haben. »Wir brauchen
Baumaterialien«, sagt Mizanur Rahman.
»Kann Deutschland sie liefern?«
Zukunft
Es ist der 20. November, vor einem Jahr hat
die WM begonnen. In Doha gibt es an diesem
Tag keine große Feier, die an die WM erinnert,
gleichzeitig erinnert alles an sie: die acht Sta­
dien, die viel zu groß für den Ligaalltag sind;
die überdimensionierten Metrostationen an
den Arenen, die bei meinem Besuch fast men­
schenleer sind; die vielen Hotels, die für die
WM gebaut wurden und nur noch zu gut der
Hälfte ausgelastet sind.
Dietmar Schäfers ist Vizepräsident der
globalen Gewerkschaftsföderation Bau­ und
Holzarbeiter Internationale. Die Baustellen
der Katar­WM hat er mehrmals besucht.
Ein Jahr nach der WM sagt er immer noch,
dass Katar »ein Leuchtturm« in der Golf­
region sei. »Vieles hat sich bei den Arbeits­
bedingungen verbessert. Für Katar waren es
riesige Schritte, für uns im Westen oft nur
sehr kleine.«
Er sagt, dass sich katarische Behörden
immer wieder mit Vertretern der westlichen
Welt getroffen und sich deren Verbesserungs­
vorschläge angehört hätten. Auch nach der
WM gebe es regelmäßige Treffen mit der
katarischen Seite.
Offenbar ist das keine Selbstverständlich­
keit. Über Saudi­Arabien, den so gut wie fest­
stehenden WM­Gastgeber 2034, sagt Schä­
fers: »Dort bekommen wir einfach keinen
Fuß in die Tür.«
Bei der Abreise fahre ich auf dem Weg zum
Flughafen noch einmal am Stadium 974 vor­
bei. Was daraus wird? Die Fifa sagt, das
katarische WM­Komitee müsse diese Frage
beantworten. Nicht ganz einfach, wie sich
herausstellt. Die Website des Komitees ist
nicht mehr erreichbar. n
Leo Rooster / action press
Fifa-Präsident Infantino,
Innenministerin Faeser im
November 2022
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 91
WISSEN
Dieses Bild trägt den Titel »Marslandschaft«, aber es zeigt keine außerirdischen Existenzen, sondern das verborgene Leben auf diesem Planeten.
Die Künstlerin Irina Petrova Adamatzky aus dem englischen Bristol fand diese mikroskopisch kleinen Schleimpilze (die in Wahrheit keine Pilze
sind, sondern einzellige Wesen zwischen dem Tier- und Pilzreich) auf einem unscheinbaren Herbstblatt. Für das Bild wurde sie jetzt mit dem Haupt-
preis eines Fotowettbewerbs der Royal Society ausgezeichnet.
Der Anfang vom Ende?
ANALYSE Richard Branson braucht ein neues
Raumschiff. Dafür zahlen will er nicht.
Es klingt unerhört, aber vieles deutet darauf hin: Richard Bran-
son gibt auf. Fast 20 Jahre lang hat der britische Milliardär ver-
sucht, mit seiner Firma Virgin Galactic den Weltraumtourismus
zu einem Megageschäft zu machen. Stars wie Tom Hanks, Lady
Gaga, Leonardo DiCaprio oder Angelina Jolie haben bei ihm
vorab Tickets gebucht für einen Trip in die Schwerelosigkeit –
doch ob aus diesen Träumen etwas wird, steht dahin. Denn
Branson fehlt das passende Raumschiff.
Das bisherige – »Unity« – hat zwar ihn selbst 2021 ins All be-
fördert und im Juni 2023 auch die ersten zahlenden Passagiere.
Aber für einen profitablen Flugbetrieb hat sich das Vehikel als zu
klein und zu fragil erwiesen. Höchstens vier Passagiere passen
hinein, und auf jeden Flug folgen wochenlange Reparaturen und
Wartungsarbeiten. Virgin Galactic will »Unity« daher nach zwei
bis drei weiteren Flügen 2024 stilllegen und schon ab 2026 durch
92 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Irina Petrova Adamatzky / The Royal Society
eine ganze Flotte neuer, robuster Raumschiffe ersetzen. Sie
sollen je sechs Passagieren Platz bieten und zweimal pro Woche
in den Weltraum starten. Die Entwicklung dieser Gefährte wird
allerdings viel Geld kosten – und Branson selbst, das hat er kürz-
lich fast kleinlaut der »Financial Times« gesagt, wird keines
zuschießen. Die Firma habe noch fast eine Milliarde Dollar auf
der Bank, das müsse reichen.
Selbst wenn es der Firma gelänge, in aller Eile einen besseren
Nachfolger für »Unity« hervorzuzaubern, so bleibt ungewiss,
ob sie damit im Wettbewerb bestehen könnte. Branson hat vor fast
20 Jahren die Grundsatzentscheidung getroffen, seine Raumschif-
fe von zwei Piloten fliegen zu lassen. Die Konkurrenz von SpaceX
und Blue Origin ist um mindestens eine Technikgeneration vor-
aus. Beide Firmen kommen bei ihren Vehikeln dank Computern
ohne Menschen im Cockpit aus, was einen Kostenvorteil bedeutet
und vielleicht auch für mehr Sicherheit sorgt. Branson weiß das –
und hat wohl schon die Konsequenzen gezogen: 2021 brachte er
Virgin Galactic an die Börse. Einen kurzen Höhenflug der Aktien
nutzte er, um Kasse zu machen, die meisten seiner Anteile hat
er längst verkauft und dabei mindestens 1,4 Milliarden Dollar ein-
genommen. Mit dem Geld stützte Branson nicht zuletzt den Rest
seines Firmenimperiums während der Pandemie. Marco Evers
 Die tödlichste Brücke der
Welt wird entschärft
SUIZIDPR ÄVENTION Wohl keine wird
mehr fotografiert, kaum eine andere zieht
so viele Touristen an. Die Golden Gate
Bridge von San Francisco ist vielleicht die
schönste Brücke der Welt, doch ihr haftet
auch ein dunkler Rekord an: Sie ist so töd­
lich wie sonst keine. Seit der Eröffnung
im Jahr 1937 sind mindestens 1600, wahr­
scheinlich mehr als 2000 zumeist junge
Menschen von diesem Bauwerk aus in den
Pazifik gesprungen. Der gut 70 Meter
tiefe Sturz endete in rund 98 Prozent der
Fälle tödlich.
Wenig hält hier Menschen in einer psy­
chischen Ausnahmesituation von einer Im­
pulstat ab, denn das Brückengeländer ist
antwortlichen in San Francisco aber scheu­ Schon vor Jahrzehnten hat der kalifor­
ten lange die Kosten und vor allem den Ein­ nische Psychologe Richard Seiden belegt,
griff in die Ästhetik des Wahrzeichens. dass die meisten Menschen, die am Sprung
Nun ist es so weit. Wohl bis Jahresende von der Brücke gehindert werden, sich in
wird eine dezente, aber effektive Barriere der Folge nicht auf andere Weise das Leben
fertiggestellt sein. Sie besteht aus einem nehmen. Das Upgrade der Golden Gate
sechs Meter breiten Netz aus Stahl, das sich Bridge hat mindestens 217 Millionen Dollar
sechs Meter unter dem Fußgängerweg auf gekostet, viel mehr als geplant. ME
der ganzen Länge der Brücke von 2,7 Kilo­
metern entspannt. Das Netz ist nicht weich
und elastisch, im Gegenteil: Es ist extrahart.
Wer hier hineinspringt, der wird sich sehr
wehtun – so sehr, dass er vielleicht ganz
von dem Suizidvorhaben ablässt. Die ab­
schreckende Barriere zeigt offenbar bereits
Wirkung. Zwischen 2011 und 2020 warfen
sich pro Jahr etwa 34 Menschen von der
Brücke. Als die ersten Teile des Netzes im
vergangenen Jahr installiert waren, sank

GGBHTD / dpa
kaum höher als 1,20 Meter. Seit vielen Jah­ die Zahl auf 22. Bis Ende Oktober dieses Golden Gate Bridge
ren fordern daher trauernde Angehörige, Jahres, mit zunehmendem Baufortschritt an mit Sprungbarriere
dass die Brücke nachgerüstet wird. Die Ver­ der Barriere, waren es 13.

»Man muss bringen ständig neue Erreger
mit nach Hause, vor denen sich
die Warnzeichen Eltern kaum schützen können.
kennen« SPIEGEL: Welche Rolle spielt ein
zu schwaches Immunsystem bei
Florian Steiner, 45, Dauererkältungen?
Hausarzt aus Steiner: Es gibt Risikopatienten
Tarmstedt in Nieder- mit einem unterdrückten oder
sachsen, über schwachen Immunsystem, die
Privat
dass sie bei mir auch mal anfan­ Sport treiben und vor allem Ge­
gen zu weinen und sagen, sie duld haben. Leider gibt es keine
könnten nicht mehr. Dass diese ursächlich wirksame Therapie
Menschen für Infektionen anfäl­ gegen Erkältungen, das eigene,
lig sind und oft lange mit ihnen großartige Immunsystem muss
zu kämpfen haben, wundert und wird damit fertig werden.
mich nicht. Diese Erschöpfung Die gute Nachricht ist: Wenn
hat wirklich zugenommen in man ein oder zwei Winter von
den vergangenen Jahren. Die ewigen Erkältungen gequält

Dauererkältungen
SPIEGEL: Herr Steiner, manche
Menschen werden ihren
Schnupfen und Husten in den
Wintermonaten wochenlang
nicht mehr los. Kennen Sie
diese ewigen Erkältungen aus
Ihrer Praxis?
Steiner: Ja, natürlich, ich habe
jedes Jahr Patienten, die über
Wochen hinweg krank sind.
SPIEGEL: Woran liegt das?
Steiner: Oft handelt es sich wohl
nicht um eine einzelne Infek­
tion, stattdessen löst ein Infekt
den anderen ab. Während das
Immunsystem den einen Erreger
unter Kontrolle bekommt, ist
schon das nächste Virus auf dem
Vormarsch. Trockene und von
einer Infektion gereizte Schleim­
häute sind besonders anfällig
für weitere Infektionen, und in
den kalten Monaten zirkulieren
sehr viele Erkältungsviren. Man
kann sich überall anstecken.
SPIEGEL: Würde es helfen,
besonders aufpassen müssen –
etwa alte Menschen, Diabetiker
oder Krebspatienten, die eine
Chemotherapie bekommen.
SPIEGEL: Und wer sind die
anderen Patientinnen und Pa­
tienten?
Steiner: Dauererkältungen
können eigentlich jeden treffen.
Eine Gruppe fällt mir aller­
dings besonders auf: Patienten,
so zwischen 20 und 50 Jahre
alt, mit starker Erschöpfung.
Eigentlich sind sie Leistungs­
träger, aber sie sind so fertig,
Pandemie, die finanzielle Unsi­ wurde, heißt das nicht, dass es
cherheit, die viele belastet, die immer so weitergeht.
unsichere Weltlage, der Druck SPIEGEL: Wann muss man
auf der Arbeit, der Stress zu mit einer Dauererkältung zum
Hause, all das macht die Men­ Arzt gehen?
schen fertig und, denke ich, Steiner: Nicht jeder Infekt,
auch kränker. der lange dauert, ist gefährlich.
SPIEGEL: Was raten Sie jeman­ Aber man muss die Warnzei­
dem, der von einer Dauer­ chen kennen, die darauf hindeu­
erkältung betroffen ist, um wie­ ten, dass sich zusätzlich zum
der fit zu werden? Virusinfekt auch Bakterien an­
Steiner: Es ist wichtig, ausrei­ gesiedelt haben und sich viel­
chend zu schlafen und viel leicht eine Lungenentzündung
zu trinken. Außerdem sollte entwickelt. Dann sollte man auf
man keinen anstrengenden jeden Fall schnell einen Arzt
aufsuchen, denn dann braucht
man eine gründliche Untersu­
chung und gegebenenfalls ein
wirksames Antibiotikum.
SPIEGEL: Was sind diese Warn­
zeichen?
Steiner: Wenn man plötzlich
Fieber, vor allem hohes Fieber,
bekommt. Wenn man Luftnot
hat oder schnell außer Atem ge­
rät, vielleicht sogar schon beim
Sprechen immer wieder pausie­
ren muss. Aber auch, wenn
Nikish Hiraman / Getty Images

konsequent eine FFP2­Maske man sich während eines Infekts

zu tragen? plötzlich einfach nur sehr viel
Steiner: Wahrscheinlich könnte kränker fühlt als vorher, ist das
man das Risiko, sich immer wie­ kein gutes Zeichen. Alte Men­
der anzustecken, damit etwas schen und Risikopatienten soll­
reduzieren. Aber insbesondere ten deutlich früher zum Arzt
Kita­ und Grundschulkinder gehen als andere. VH

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 93

WISSEN

Doudna, 59, interessierte sich ur-

sprünglich für das Immunsystem be-
stimmter Bakterien. Dabei stieß die
Biochemikerin auf einen Mechanis-
mus, der die Biotechnologie grund-

»Vollständige Heilung legend veränderte: Die Mikroben ver-

fügen über Genscheren – molekulare
Schneidwerkzeuge, mit denen sie Vi-

ist möglich« ren zerstückeln können. Sie beruhen

auf sogenannten Crispr-Abschnitten
aus sich wiederholenden Bestand-
teilen des Genoms und lassen sich ins
SPIEGEL-GESPRÄCH Nobelpreisträgerin Jennifer Doudna über die erste Erbgut anderer Lebewesen einschleu-
sen. Dort können sie es etwa gezielt
zugelassene Crispr-Gentherapie und die Aussichten, künftig Volkskrankheiten verändern. Mit diesem Genome Edi-
wie Alzheimer und Krebs mit Eingriffen ins Erbgut zu behandeln ting, so die Vision, lassen sich unter
anderem zahllose Krankheiten heilen
oder verhindern. Für ihre Entdeckung
erhielten Doudna und ihre Kollegin
Emmanuelle Charpentier 2020 den
Nobelpreis für Chemie. Doudna
forscht an der University of California
in Berkeley und am von ihr gegrün-
deten Innovative Genomics Institute.

SPIEGEL: Professorin Doudna, in den

vergangenen Wochen wurde in Groß-
britannien und den USA die erste
Gentherapie zugelassen, die mittels
der Genschere Crispr/Cas9 gezielt
das Erbgut verändert. Die Therapie
soll bei Bluterkrankungen helfen. Sie
haben das sogenannte Genome Edi-
ting gemeinsam mit Ihrer Kollegin
Emmanuelle Charpentier erst 2012
entwickelt. Hatten Sie erwartet, dass
die Technologie so schnell beim Men-
schen eingesetzt werden würde?
Doudna: Es ist absolut erstaunlich,
dass kaum mehr als zehn Jahre ver-
gangen sind, seit wir das erste Mal
Crispr als Instrument zum Eingriff in
Gene vorgestellt haben. Damit es so
schnell gehen konnte, musste vieles
perfekt ineinandergreifen: technolo-
gischer Fortschritt, wissenschaftlicher
Forscherdrang, viel Geld von Unter-
nehmen. Trotzdem ist es wahnsinnig
aufregend, einfach fantastisch.
SPIEGEL: Die zugelassene Therapie
zielt bisher auf zwei Bluterkrankun-
gen, Sichelzellanämie und Beta-Tha-
lassämie. Wegen eines fehlerhaften
Gens kann der Organismus der betrof-
fenen Patienten den Blutfarbstoff
Hämoglobin nicht richtig herstellen;
sie leiden oft unter starken Schmerzen.
Mit Crispr kann der Fehler im Erbgut
korrigiert werden. Warum hat sich die
Forschung für die erste Crispr-Anwen-
dung auf diese vergleichsweise seltenen
Winni Wintermeyer / Redux / laif

Erkrankungen konzentriert?
Doudna: Die Sichelzellerkrankung ist
ein Paradefall: Wir wissen bereits viel
über diese Erkrankung, und sie geht auf

Forscherin Doudna Das Gespräch führten die Redakteurin Julia

Koch und der Redakteur Thomas Schulz.

94 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


nur eine einzelne Mutation in einem Gen zu-
rück. Es gibt viele Patienten, die bereit waren,
sich auf diese neue Technologie einzulassen.
SPIEGEL: Die ersten Patientinnen und Patien-
ten berichteten nach der Behandlung, dass
sie ein normales Leben ohne Schmerzen und
ständige Bluttransfusionen führen können.
Doudna: Das berührt mich sehr. Ich glaube,
alle Wissenschaftler wünschen sich, dass ihre
Arbeit etwas in der Welt bewegen und sie
besser machen kann. Deswegen war es ein
ganz besonderer Moment für mich, mit einer
der Patientinnen zu sprechen.
SPIEGEL: Haben Sie sich persönlich getroffen?
Doudna: Ich habe per Videotelefonat mit
Victoria Gray gesprochen, der ersten Ameri-
kanerin, die mit der Crispr-Therapie behan-
delt wurde. Sie ein wenig kennenzulernen,
ihre Lebensgeschichte zu hören und zu er-
fahren, wie es ihr durch die Behandlung nun
besser geht: Das war schon toll.
SPIEGEL: Würden Sie sich selbst oder Fami-
lienangehörige jetzt schon mit einer Gen-
therapie behandeln lassen?
Doudna: Das würde ich! Inzwischen gibt es
einige klinische Studien mit Crispr-Therapie,
und die Technologie scheint sicher zu sein.
Aber ich muss den Patientinnen und Patienten
höchsten Respekt zollen, die sich freiwillig
für diese ersten Studien gemeldet haben.
Dazu gehört schon eine gehörige Portion Mut.
Dank diesen Menschen kann es nun weiter-
gehen, und ich kann mir gut vorstellen, dass
Gentherapien künftig eine Standardbehand-
lung für bestimmte Erkrankungen werden.
SPIEGEL: Aktuell laufen mehr als 80 klinische
Studien. Von Aids bis Krebs und Herzerkran-
kungen sollen alle möglichen Leiden mit
Crispr therapiert werden. Längst nicht alle
Studien haben Aussicht auf Erfolg. Welche
Anwendungen halten Sie in naher Zukunft
für vielversprechend?
Doudna: Es gibt eine weit fortgeschrittene Stu-
die, die auf eine Lebererkrankung zielt.
SPIEGEL: Sie wird von Intellia Therapeutics
durchgeführt, einem Biotechunternehmen,
das Sie mitgegründet haben.
Doudna: Richtig, ich war an diesem For-
schungsprojekt aber nicht selbst beteiligt, das
geht allein auf das Konto der Intellia-Wissen-
schaftler. Es ist ein außergewöhnlicher An-
satz, denn er wird in vivo durchgeführt.
SPIEGEL: Also direkt im Menschen.
Doudna: Genau, die Crispr-Moleküle werden
den Patienten injiziert und finden dann ihren
Weg in die kranken Leberzellen, wo sie die
genetischen Fehler reparieren.
SPIEGEL: Bei der auf Crispr beruhenden The-
rapie der Sichelzellerkrankung werden den
Patienten Stammzellen entnommen, im La-
bor verändert und dann zurück in die Patien-
ten gespritzt. Das funktioniert offenbar gut
und vor allem genau.
Doudna: Aber es ist zeitaufwendig, kosten-
intensiv und für die Patienten belastender.
Das Crispr-Medikament direkt in den mensch-
lichen Körper zu transportieren ist die Zu-
kunft, denke ich.
SPIEGEL: Die Behandlungskosten mit der neu-
en Crispr-Therapie sind immens: im Fall der
Sichelzellerkrankung etwa eine Million Dol-
lar pro Patient. Wie kann sichergestellt wer-
den, dass diese neue Genmedizin, wenn sie
wirklich so revolutionär ist, allen Menschen
zugutekommen kann?
Doudna: Das ist eine große Herausforderung
und einer der Schwerpunkte meiner Arbeit.
Wir müssen die Kosten von Crispr als Thera-
pie und als Anwendung auch in anderen Be-
reichen senken. Dafür müssen wir mit Regu-
lierungsbehörden, Non-Profit-Organisationen
und Interessenvertretern für bestimmte
Krankheiten zusammenarbeiten, um zu klä-
ren, wohin sich die Technologie entwickelt
und wie es günstiger gehen kann. Aber es
wird sicher einige Zeit dauern, bis Crispr breit
verfügbar ist. Vielleicht sogar Jahrzehnte.
SPIEGEL: Derzeit zielen die meisten Ideen da-
rauf, mit Crispr beschädigte Gene zu reparie-
ren. Manche Forscher sehen jedoch das
eigentliche Potenzial der Genschere darin,
vorbeugend in das Erbgut einzugreifen, um
Präzise Schnitte im Erbgut
Genome Editing mit der Genschere Crispr/Cas9
1 Erbgut soll gezielt an einer bestimmten
Stelle manipuliert werden.
künstliche
Gensequenz
Genschere
Protein Cas9
2 Dafür wird die entsprechende
Gensequenz künstlich hergestellt
und mit einer Genschere, zum Beispiel
dem Protein Cas9, verbunden.
3 Die künstliche Gensequenz führt
die Genschere an die richtige Stelle.
Dort schneidet diese die DNA.
Ziel-DNA
eingebrachte
DNA-Bausteine
4 Zelleigene Reparatursysteme versuchen,
den Schnitt zu reparieren. Dafür können
gezielt eingebrachte Bausteine
verwendet werden.
mit eingebrachten
S Grafik Bausteinen reparierte Sequenz
◆
WISSEN
Krankheiten gar nicht erst entstehen zu las-
sen. Sehen Sie das auch so?
Doudna: Auf jeden Fall ist es ein sehr vielver-
sprechender Gedanke. Zum Beispiel gibt es
ein Gen, das Menschen für zu hohe Choles-
terinwerte anfällig macht. Diese wiederum
begünstigen die Entstehung von Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen. Ein Unternehmen in Bos-
ton arbeitet nun daran, das Gen auszuschalten
und Crispr damit als Präventivmedizin für
Herzerkrankungen einzusetzen.
SPIEGEL: Stehen wir also bereits an der
Schwelle zum Zeitalter des Genome Editing,
in dem Eingriffe ins menschliche Erbgut Rou-
tine sind?
Doudna: Ich würde sagen, das Zeitalter hat
schon begonnen. Wir sind allerdings noch
ganz am Anfang und haben gerade einmal
einen flüchtigen Eindruck davon bekommen,
was mit dieser Technologie möglich sein wird.
SPIEGEL: Aber ist die Gesellschaft auch bereit
dafür?
Doudna: Zunehmend. Wir müssen die An-
wendung weiter testen und beweisen, dass sie
sicher und effektiv funktioniert. Wenn das
der Fall ist, werden mehr und mehr Menschen
bereit sein, Genome Editing zur Behandlung
von Krankheiten zu nutzen. Beim präventi-
ven Einsatz liegt die Latte dagegen höher, weil
klar sein muss, dass der Nutzen das Risiko
übersteigt.
SPIEGEL: Gegen zu hohe Cholesterinwerte
zum Beispiel gibt es wirksame und lange er-
probte Mittel. Man muss sie nur dauerhaft
einnehmen.
Doudna: Genau dadurch zeichnet sich diese
beginnende neue Ära aus: Statt andauernd
Medikamente zu schlucken, um Krankheiten
zu bekämpfen, wird es immer mehr Einmal-
therapien geben. Das verändert grundsätz-
lich, wie wir über Medizin denken. Auch voll-
ständige Heilung wie bei der Sichelzellanämie
ist möglich.
SPIEGEL: Aber wenn wir unsere eigene Bio-
logie verändern können, geht es an den Kern
dessen, was unsere Menschlichkeit ausmacht.
Doudna: Sie haben völlig recht. Und darüber
denke ich auch viel nach. Diese Technologie
erlaubt uns, den Code zu manipulieren, der
bestimmt, wer und was wir sind. Das ist eine
fundamentale Erkenntnis, und sie bedeutet,
dass wir eine außergewöhnliche Verantwor-
tung haben, vorsichtig mit einer so mächtigen
Technologie umzugehen.
SPIEGEL: Gibt es denkbare Anwendungen, die
Sie nervös machen?
Doudna: Wir müssen sicher äußerst vorsichtig
sein, wenn es um sogenannte Crispr-Babys
geht: also Kinder, die mit Genomveränderun-
gen geboren werden, weil schon im Embryo-
nalstadium ihr Erbgut verändert wurde. Das
hat profunde Auswirkungen auf das Leben,
denn die genetischen Veränderungen sind
dann vererbbar und werden an künftige Ge-
nerationen weitergegeben, also in der mensch-
lichen Biologie verankert.
SPIEGEL: Solche Veränderungen der mensch-
lichen Keimbahn sind bislang ein großes
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 95
WISSEN
Biochemikerin Doudna im Labor: »Das verändert grundsätzlich, wie wir über Medizin denken«
Tabu. In China wurden im Jahr 2018 Zwil-
lingsmädchen geboren, die mittels einer Ge-
nomveränderung immun gegen Aids werden
sollen. Die Manipulation sollte die Bildung
eines bestimmten Eiweißstoffs hemmen, der
als Einfallstor für HIV gilt. Der verantwort-
liche Forscher kam ins Gefängnis.
Doudna: Er hatte die Embryonen heimlich mit
Crispr verändert. Ich empfand das zum da-
maligen Zeitpunkt als zutiefst unethisch. Die-
se Technologie muss transparent und mit gro-
ßer Sorgfalt eingesetzt werden. Irgendwann
ist die Zeit dann vielleicht reif für diese Art
von Genomveränderung.
SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, dass sich
auch die ethischen Maßstäbe dem Fortschritt
anpassen sollen, wenn sich die Technologie
weiterentwickelt?
Doudna: Ja. Wenn die Methode absolut sicher
ist, könnte ich mir auch vorstellen, dass es in
Zukunft Fälle gibt, bei denen eine Anwen-
dung von Crispr in menschlichen Embryonen
angemessen sein könnte. An diesem Punkt
sind wir aber noch nicht. Wir müssen konti-
nuierlich schauen, wo wir stehen: Wenn wir
es können, sollten wir es auch tun? Was sind
die Chancen, was die Risiken?
SPIEGEL: Sollten bestimmte Zivilisations-
krankheiten aus dem Erbgut herausoperiert
werden? Das könnte schon bald möglich sein,
aber die Nebenwirkungen solch fundamen-
taler Eingriffe in die menschliche Biologie
könnten erst viel später klar werden.
Doudna: Zumindest lohnt es sich, darüber
nachzudenken. Viele Familien leben mit
einem erblichen Risiko für Alzheimer und
andere neurodegenerative Erkrankungen, für
die wir nicht mal in der Nähe einer Heilung
sind. Wenn wir auf genetischer Ebene ver-
hindern könnten, dass so eine Krankheit ent-
steht, sollten wir das in Betracht ziehen.
SPIEGEL: Der Fortschritt scheint sich nicht nur
in der Gentechnik, sondern in vielen Berei-
chen gleichzeitig extrem zu beschleunigen,
etwa auch bei der künstlichen Intelligenz.
96 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
tieren könnten zum Beispiel die durch Land-
wirtschaft entstehenden Treibhausgase redu-
ziert werden.
SPIEGEL: Rinder produzieren große Mengen
von Methan, das wesentlich den Klimawandel
treibt. Aber was hat das mit Crispr zu tun?
Doudna: Wir erforschen Mikrobenverbände,
sogenannte Mikrobiome, die im menschlichen
Darm vorkommen – oder im Pansen von Kü-
hen. Dort sind sie auch für die Methanpro-
Anastasiia Sapon / The New York Times / Redux / laif
duktion verantwortlich. Wenn das Mikrobiom
von Kühen so manipuliert würde, dass sie
deutlich weniger Methan ausstoßen, hätte das
einen dramatischen Effekt auf das Klima.
SPIEGEL: Hätte die genetisch gedrosselte Me-
thanproduktion auch andere Auswirkungen
auf die Kühe?
Doudna: Es sieht nicht so aus. Manche Unter-
suchungen liefern sogar Hinweise darauf, dass
die Umwandlung von Futter in Muskelmasse
bei den Tieren effektiver funktioniert.
SPIEGEL: Dennoch: Das Mikrobiom ist ein
sehr kompliziertes System. Lässt sich über-
Dreht sich die Welt nur für uns Normalbürger haupt abschätzen, welche Auswirkungen die
immer schneller, oder schwirrt Ihnen da selbst genetische Manipulation von einzelnen Mi-
als Spitzenforscherin manchmal der Kopf? kroben auf das große Ganze hat?
Doudna: Ich bin seit Jahrzehnten Wissen- Doudna: Zu den Stärken der Crispr-Techno-
schaftlerin, aber auch mir kommt es so vor, logie zählt, dass sie so präzise ist. Wir können
als erlebten wir gerade einen ganz besonderen zielgenau ein Gen in einem Organismus ver-
Moment: Diese außergewöhnliche Über- ändern, ohne dass die anderen beeinflusst
schneidung von Entdeckungen und Techno- werden. Die Ernährung oder Medikamente
logie macht das Tempo der Wissenschaft viel, wie Antibiotika verändern das Mikrobiom
viel schneller, als ich es je zuvor erlebt habe. auch, aber auf eine sehr unspezifische Weise.
SPIEGEL: Für viele Menschen trägt die schnel- Mit Crispr können wir die Ergebnisse punkt-
le, ständige Veränderung dazu bei, sich über- genauer Veränderungen genau sehen.
fordert und überwältigt zu fühlen. Manche SPIEGEL: Hat sich Ihr Leben seit dem Nobel-
finden Eingriffe ins Erbgut auch grundsätzlich preis 2020 sehr verändert?
gefährlich. Was sagen Sie denen? Doudna: Eigentlich nicht. Mein Leben hatte
Doudna: Dafür habe ich kein Patentrezept, sich bereits vorher sehr verändert, also über
außer möglichst viel zu diskutieren. Ich ver- die gesamten vergangenen zehn Jahre. Das
suche generell, den Menschen keine Vorträge Interesse an Crispr ist auch außerhalb der
zu halten, sondern in einen Dialog zu treten. wissenschaftlichen Welt enorm gewachsen.
SPIEGEL: Crispr ist ein so mächtiges Instru- Das ist toll, liegt aber nicht nur am Nobelpreis.
ment, weil es in jedem Erbgut eingesetzt wer- Vielmehr laufen jetzt so viele Versuche mit
den kann, auch bei Tieren und Pflanzen. For- der Technologie, es gibt so viele neue Ergeb-
scher haben bereits gesündere Tomaten und nisse, viele Firmen investieren in diesen Be-
Grünkohl mit weniger Bitterstoffen entwi- reich. Und viele junge Wissenschaftlerinnen
ckelt. Wird Crispr die Landwirtschaft noch und Wissenschaftler aus anderen Disziplinen
stärker verändern als die Medizin? interessieren sich nun für Genome Editing.
Doudna: Global gesehen wird in näherer Zu- SPIEGEL: Sie sind eine der wenigen Frauen,
kunft wohl der Einsatz in der Landwirtschaft die jemals den Chemienobelpreis bekommen
deutlicher zu spüren sein als in der Medizin. haben. Ist es wichtig für Sie, Vorbild zu sein,
Crispr kann dabei helfen, mehr nährstoffrei- gerade für junge Wissenschaftlerinnen?
che Nahrungsmittel zu produzieren, und das Doudna: Ich habe in meiner wissenschaft-
unter den veränderten Bedingungen der Um- lichen Laufbahn immer das gemacht, was
welt. Es gibt zum Beispiel ein Projekt zu tro- mich interessiert. Und es ist sehr aufregend,
ckenresistentem Reis. Da ist es schon gelun- was dabei herausgekommen ist. Das hat
gen, mit sehr viel weniger Bewässerung die- wenig damit zu tun, dass ich eine Frau bin.
selben Mengen Reis derselben Qualität zu Aber natürlich ist es auch ein wichtiges
produzieren. Gentechnik hat das Potenzial, Signal an junge Frauen und Mädchen: Es ist
zur Lösung einiger der größten Probleme der möglich, in der Wissenschaft sehr erfolgreich
Menschheit beizutragen. In meinem Institut zu sein. Übrigens: In den vergangenen Jahren
forschen wir daran, wie Crispr den Klima- haben zwei weitere Forscherinnen den Che-
wandel stoppen kann. mienobelpreis erhalten: Frances Arnold 2018
SPIEGEL: Und wie soll das möglich sein? und Carolyn Bertozzi 2022. Und das ist
Doudna: Klimawandel, Pflanzenkrankheiten großartig.
und Hunger sind eng miteinander verwobene SPIEGEL: Professorin Doudna, wir danken
Probleme. Mit Genome Editing bei Nutz- Ihnen für dieses Gespräch. n
 WISSEN

Aufzucht statt Untergang

MEERE Vor der Küste Floridas liegt ein riesiges Korallenriff, das abstirbt. Forscher versuchen
nun, es im Eilverfahren an den Klimawandel anzupassen. Kann das gelingen?

Intaktes Korallenriff Ausgebleichtes Korallenriff

Koralle Korallen sind Tiere. Viele aus- Stark steigende Wassertem-

dieser kleinen, weichen Polypen gebleichte peraturen sind für diese Zweck-
Polyp bilden ein Skelett aus Kalk Koralle gemeinschaft problematisch.
und können so ein riesiges Riff
aufbauen. Die lebenswichtigen Einzeller
werden bei zu großer Hitze von
Ihren Farbenreichtum verdanken der Koralle abgestoßen.
Tentakel Korallen winzigen Einzellern, Dadurch verliert sie ihre Farbig-
Mund sogenannten Zooxanthellen, keit und bleicht aus.
mit denen sie in Symbiose leben.
Solange der Hitzestress für die
Die Einzeller betreiben Foto- Koralle anhält, können sich
synthese. Sie nutzen Sonnen- Zooxanthellen nicht wieder
Skelett licht, um Kohlendioxid in ansiedeln. Dauert dieser
Zucker umzuwandeln. Diesen Zustand zu lange an, stirbt die
benötigen die Korallen als abgestoßene Koralle ab.
Zooxanthellen Energiequelle. Zooxanthellen

S Quelle: NOAA Fotos: [M] Michael Patrick O'Neill / Alamy / mauritius images; Jason Gulley / The New York Times / Redux / laif
◆

ie Sonne steht hoch, das Meer ist rau,
D Kapitän Ron hält mit seinem Katama-
ran »Fury« Kurs auf den Leuchtturm
von Sand Key. Etwa sechs Seemeilen vor der
Insel Key West an der Südspitze Floridas wird
er seinen elf Passagieren zeigen, was das
Florida Reef noch zu bieten hat. Es ist Mitte
Oktober, und das Wasser, rund 80 Seemeilen
nördlich von Kuba, ist noch immer warm wie
in einer Badewanne.
Die Touristen stülpen Schnorchelmasken
über das Gesicht, schnallen Rettungswesten
um und nehmen die Tauchflossen in die Hand.
Sie werden gleich silbrige Barrakudas, bunte
Papageifische und riesige Schwärme von
Blauen Doktorfischen sehen. Der Weg zu den
Fischschwärmen führt aber auch durch Wüs-
ten aus toten, ausgeblichenen Korallen.
Am Sand Key, wo das Riff an manchen
Stellen nicht einmal einen Meter unter der
Wasseroberfläche liegt, kann der Kapitän von
seinem Katamaran aus sehen, an welchen
Stellen die Korallen ausgeblichen, fast weiß
sind. Vom Bug aus zeigt er den Touristen,
wohin sie schnorcheln sollen, um möglichst
viel von der farbigen, lebenden Unterwasser-
welt zu Gesicht zu bekommen. Er sagt: »In
30 Jahren als Kapitän auf Key West habe ich
noch nie so viele weiße Flecken gesehen.«
Bevor er seine Passagiere ins Wasser lässt, hat
er noch einen dringenden Wunsch: »Bitte
fasst dort unten nichts an, macht nichts
kaputt. Behandelt das Riff, als wärt ihr im
Museum.«
Schon im August warnte die US-Wetter-
und Meeresbehörde (NOAA), die Situation
sei ernst, die Korallen seien nie zuvor einer
derartigen Belastung ausgesetzt gewesen.
Dem Riff vor der Küste Floridas geht es »sehr
schlecht«, urteilt auch der Meeresbiologe
Jason Spadaro, Chef des Programms zur
Wiederherstellung von Korallenriffen am
Mote Marine Laboratory auf Summerland
Key. Nur noch knapp zwei Prozent seien
mit lebenden Korallen bedeckt. »Es ist prak-
tisch tot.«
Das Florida Reef ist mit fast 300 Kilometer
Länge das drittgrößte Barriereriff der Welt.
Es verläuft vom Süden Miamis bis in den Golf
von Mexiko und bildet so eine Art Schutzwall
gegen Flutwellen aus dem offenen Meer. Wie
die meisten anderen Korallenriffe befindet es
sich nur wenige Meter unter der Meeresober-
fläche, wo im kristallklaren Wasser extremer
Nährstoffmangel herrscht.
Korallen sind Tiere: kleine, weiche Poly-
pen, die um ihren Körper ein Skelett aus Kal-
ziumkarbonat aufbauen, das die Basis für ein
Riff bildet. In ihren kleinen Höhlen leben die
Korallen in Symbiose mit winzigen Ein-
zellern, sogenannten Zooxanthellen. Diese
Organismen verwandeln mithilfe von Sonnen-
licht Kohlendioxid in Zucker und liefern den
Korallen damit notwendige Nahrung. Ein ge-
sundes Riff, wie es das Florida Reef vor rund
100 Jahren war, besteht bis zu 70 Prozent aus

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 97

WISSEN
Mitarbeiterinnen auf Summerland Key: Zerteilen von Korallen mit der Kreissäge
lebenden Korallen. Der Rest ist zerbrochenes
Kalkgestein, auf dem sich etwa Schwämme,
Muscheln, Rotalgen – oder neue Korallen-
kolonien ansiedeln können.
Wird das Wasser jedoch zu warm, funktio-
niert diese marine Zweckgemeinschaft nicht
mehr. Die Koralle stößt die lebenswichtigen
Mitbewohner ab und bleicht aus. Siedeln sich
nicht bald neue Zooxanthellen an, stirbt sie
ab. Am besten gedeihen Korallen bei Tempe-
raturen zwischen 23 und 29 Grad Celsius, sie
können auch Hitzewellen eine Zeit lang aus-
halten. Doch in diesem Jahr wurden in Flori-
da bereits Anfang Juli beängstigende Werte
erreicht, Ende Juli lag die Wassertemperatur
stellenweise bei über 38 Grad Celsius.
Auf dem Katamaran »Fury« sind die Tou-
risten vom Schnorcheln zurückgekehrt, sie
ziehen langärmlige T-Shirts über und bedie-
nen sich mit Cola und Bier aus einer Eiskiste
an Deck. Kapitän Ron hat ihnen dieses Mal
noch perfekte Stellen zum Schnorcheln zeigen
können. Ob das in den nächsten Jahren noch
gelingen kann, ist zweifelhaft.
Schon vor der Hitzewelle in diesem Som-
mer hatte das Riff riesige Probleme. Laut
NOAA ist der gesunde Korallenbewuchs
in den Florida Keys seit Ende der Siebziger-
jahre um 90 Prozent zurückgegangen. »Von
selbst«, sagt der Meeresbiologe Jason Spa-
daro, »wird sich das Florida Reef nicht mehr
erholen können.« Wäre es ein Mensch, wür-
de es bereits auf der Intensivstation an der
Herz-Lungen-Maschine hängen. Nicht nur
die fehlende Nahrung, auch chemische
Schadstoffe und Hormone aus Medikamen-
ten würden verhindern, dass gesunde Koral-
len nachwachsen. Bis vor Kurzem noch
hätten viele Häuser an der Küste Floridas
98 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Lena Perkins / DER SPIEGEL
eine eigene Kläranlage gehabt, die direkt ins
Wasser führte.
Korallenriffe sind mehr als ein Naturspek-
takel. Auch wenn sie weltweit in den Ozeanen
weniger als ein Prozent der Fläche aus-
machen, beherbergen sie fast ein Viertel aller
Meerestiere. Weil die Riffe Sturmwellen ab-
bremsen, schützen sie außerdem so wie in
Florida viele Küsten vor Überflutung. Und
ähnlich wie die Schnorchler bei Kapitän Ron
bestaunen jedes Jahr Millionen Touristen
die Schönheit der Tierwelt. Die amerikani-
sche Meeres- und Wetterbehörde schätzt den
monetären Gegenwert, den die Riffe den USA
bieten, auf 3,4 Milliarden Dollar pro Jahr.
Spadaros Plan ist es, das Riff vor Florida
wieder aufzubauen, ähnlich einem Wald, der
aufgeforstet wird. Er und sein Team arbeiten
dafür mit neuesten Erkenntnissen aus
Ökologie und Genforschung, aber auch mit
Kreissägen und anderen Utensilien aus dem
Baumarkt.
Der Meeresbiologe führt durch das Mote
Marine Laboratory auf Summerland Key,
rund eine halbe Stunde östlich von Key West.
Es liegt in einer Bucht, in der Nachbarschaft
ragen die privaten Bootsstege mondäner
Ferienhäuser ins Wasser. Das Labor ist eine
»Von selbst wird sich
das Florida Reef
nicht mehr erholen können.
Es ist praktisch tot.«
Jason Spadaro, Biologe
gemeinnützige Forschungseinrichtung, die
1955 gegründet wurde.
Im Außenbereich, mit Blick aufs Meer,
schimmern rund 20 offene Wassertanks in der
Sonne. Darin aufgereiht liegen auf weißen
Paletten Dutzende walnussgroße Korallen-
stücke. Spadaros Kolleginnen und Kollegen
haben sie hier in den Laboren gezüchtet, jetzt
sollen die Tiere wachsen, bevor sie später im
Meer ausgesetzt werden.
Die Forscher haben bereits rund 216.000
neue Korallen ins Meer verpflanzt. Weltweit
arbeiten viele Wissenschaftler an ähnlichen
Projekten. Eines der größten verantwortet
die Great Barrier Reef Foundation in Austra-
lien, die bis 2030 jährlich zehn Millionen
neue, hitzetolerante Korallen aussetzen lassen
will. Doch die Riffe wiederzubeleben ist
kompliziert.
Erstens müssen die Naturschützer dabei
tauchen. Zweitens braucht es für ein gesundes
Riff eine riesige Menge unterschiedlichster
Korallenarten, so vielfältig wie die Pflanzen
in einem tropischen Regenwald. Und drittens
vermehren sich Korallen nur auf sehr um-
ständliche Art und Weise.
Sie können sich einerseits ungeschlechtlich
fortpflanzen. Dabei teilen sie sich und wach-
sen an anderer Stelle weiter – das ist die ein-
fache Variante. Oder sie vermehren sich ge-
schlechtlich. Dabei bilden die Korallen Sper-
mien und Eizellen, die sie ins Wasser abgeben.
Das geschieht allerdings selten, oft nur einmal
im Jahr. Doch nur wenn die Korallen sich
auf diese Weise vermehren, können neue
Genotypen entstehen – also Organismen mit
neu zusammengesetztem Erbgut. Vor allem
dann kann sich eine Art so weiterentwickeln,
dass sie sich möglichst optimal an die Umwelt
anpasst.
Das Problem: Im Meer vor Florida kommt
es kaum mehr dazu. Korallen können sich
nicht fortbewegen, und der Abstand zwischen
den noch lebenden Exemplaren ist mittler-
weile oft so groß, dass männliche und weib-
liche Geschlechtszellen nicht zusammen-
finden.
Da die Menschheit den Korallen keine Zeit
gegeben hat, widerstandsfähigere Gene zu
entwickeln, müssen Wissenschaftler wie Spa-
daro die Tiere nun dazu anhalten. Evolution
im Eilverfahren.
Über der Aufzuchtstation liegen die Labor-
räume, dort versucht Spadaros Team, mit-
hilfe der mendelschen Vererbungslehre mög-
lichst widerstandsfähige Korallen zu züchten.
»Es ist heute komplexer als bei den glatten,
grünen, schrumpeligen oder gelben Erbsen,
mit denen sich Gregor Mendel beschäftigt
hat«, sagt der Meeresbiologe. »Aber das Prin-
zip ist das gleiche.«
Man wolle Korallengenotypen finden, die
krankheitsresistenter und hitzetoleranter sind
als bisher und außerdem die allmähliche
Übersäuerung der Ozeane besser überstehen
können. »Dann pflanzt man sie im Riff aus,
und innerhalb von ein bis zehn Jahren begin-
nen sie damit, sich zu vermehren und geben

die Gene weiter.« Der Plan erfordert
Geduld.
»Korallen pflanzen sich normaler-
weise nur einmal im Jahr fort: Bei
Vollmond im August, normalerweise
mitten in der Nacht«, erklärt Celia
Leto, die erforscht, wie die Reproduk-
tion der Korallen funktioniert. Das
Labor hat in einem Testfeld im Meer
eine Art Baumschule für Korallen er-
richten lassen, dort lassen die Wissen-
schaftler Exemplare wachsen, von
denen sie sich gute Eigenschaften zum
Kreuzen versprechen. »Wir halten
jeden Genotyp genau fest«, sagt Leto.
Alle Eizellen und Samenzellen wer-
den analysiert und vermerkt, damit
die Forscher die Korallen kontrolliert
züchten können.
In den Wochen vor dem Ablaichen
suchen die Wissenschaftler bei ihren
Tauchgängen im Innern der Korallen-
zweige nach sogenannten Babybün-
deln: Zellpaketen, die sowohl Eier als
auch Spermien enthalten. Kurz bevor
der Vollmond einsetzt, bringen die
Forscher die trächtigen Tiere ins La-
bor. Dort werden sie in Wasserbecken
gesetzt, die wie im Meer von Sonnen-
und Mondlicht beschienen werden. Es
ist dieser Rhythmus von Tag und
Nacht, der den Korallen das Start-
signal gibt, sich zu vermehren. In der
Regel, sagt Leto, würden sie »ziemlich
genau zwischen 21.30 Uhr und Mitter-
nacht« zu laichen beginnen.
Fünf bis sieben Tage später haben
sich Larven entwickelt. Die Forscher
Lena Perkins / DER SPIEGEL
locken sie mit einer Alge auf kleine
Keramikpfropfen, die im Wassertank
liegen. Dort lassen sich die Tiere
nieder und wachsen. »Schließlich
setzen wir erwachsene Korallen, die
mit ihnen verwandt sind, in den-
selben Tank«, erklärt Leto. Diese
Korallen geben nach und nach ihre
Algen ins Wasser ab, die ins Gewebe
der Korallenbabys eindringen, um
eine symbiotische Beziehung auf-
zubauen.
Dass solche Laborkorallen auch in
freier Wildbahn überleben, hat das
Team im Jahr 2020 bewiesen. Die
Forscher gehörten zu den Ersten, die
zeigen konnten, dass sich im Labor
gezüchtete Steinkorallen nach dem
Aussetzen im Meer weiter fortpflan-
zen. Sind sie einmal gezüchtet, lassen
sie sich zudem auch im Labortank
weiter vermehren. Spadaro zeigt
auf die Kreissäge, mit der seine Kol-
legen kleine Stücke von walnuss-
großen Korallen abfräsen. Aus einem
solchen Korallenstück ließen sich
10 bis 20 Mikrofragmente gewinnen,
sagt der Meeresbiologe.
Diese kleinen Fragmente werden
auf Pfropfen geklebt und nach Geno-
typ geordnet in die Tanks zum Wach-
sen ausgesetzt. »8 bis 10 Monate spä-
ter sind sie so groß, dass sie erneut
geteilt werden können.« Etwa 90 Pro-
Aufzuchtstation, zent der so vermehrten Korallen ste-
Wissenschaftler
Spadaro: Laichen
cken Taucher in das bestehende Riff.
zwischen 21.30 Uhr Rund 10 Prozent halten die Wissen-
und Mitternacht schaftler zurück, um sie wiederum
Lena Perkins / DER SPIEGEL
WISSEN
zu zerteilen. »Das ist viel Biomasse«,
sagt Spadaro.
Allerdings wird nur eine Vielzahl
von Korallenarten die Riffe retten
können. »Korallenriffe sind wie tro-
pische Regenwälder: Systeme mit
einer besonders großen Artenviel-
falt«, sagt der Biologe. Eine Super-
koralle allein helfe da nicht weiter.
Sein Team und er planen, bis zu
30 Prozent des Florida-Key-Riffs wie-
derherzustellen. Dafür muss sich das
Labor in den nächsten Jahren in einen
großen Betrieb verwandeln. Spadaro
ist zuversichtlich, das Ziel mithilfe
von Spenden und Fördergeldern zu
erreichen.
Es gäbe eine Menge Unkenrufe,
sagt er. Doch im Labor wüssten alle,
dass sie auf einer Fülle von Erkennt-
nissen aufbauen könnten. Für das
Team im Mote Marine Laboratory
gilt es jetzt herauszufinden, was die
Widerstandskraft von Korallen aus-
macht – und wie sie sich in zukünftige
Generationen hineinzüchten lässt.
Der zurückliegende heiße Sommer
mit seiner monatelangen Hitze
sei gleichzeitig der beste und der
schlimmste Test für die Widerstands-
fähigkeit des Systems gewesen, meint
Spadaro. »Theoretisch«, sagt er, »hät-
te alles tot sein müssen.« Doch das
sei nicht geschehen. Einige Korallen
erholten sich gerade. »Wir dürfen
wirklich Hoffnung haben, dass das
Riff bestehen bleibt.«
Kerstin Kullmann n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 99
WISSEN
Von Astronauten und Exorzisten
BÜCHER Noch kein Geschenk? Das Wissenressort empfiehlt zehn Titel aus diesem Jahr – unter anderem über
die Untermieter von Ameisen, einen polynesischen Seefahrer und die Totenschau von Kaiserin Elisabeth.
In Windeseile verbreiteten sich
1 Ende des 18. Jahrhunderts in
Frankreich die Freiheitsbäume.
Jedes Dorf, jede Stadt wollte als Er­
innerung an die Revolution möglichst
prachtvolle Exemplare pflanzen.
Doch mit Beginn der Restauration,
der Rückkehr zur alten Ordnung, fäll­
ten Monarchisten die meisten dieser
lebenden Freiheitssymbole.
In seinem Buch »Die Welt der
Pflanzen« setzt der Biologe Stefano
Mancuso Gewächsen ein Denkmal,
die mit Weltereignissen verbunden
sind. Anders als Tiere und Menschen,
die lediglich 0,3 Prozent zur Biomas­
se beitrügen, seien es bei Pflanzen
85 Prozent, schreibt der italienische
Forscher. Es bleibe daher nicht aus,
dass sie auf die eine oder andere Wei­
se bleibende Zeugnisse von Geschich­
te seien, auch zukünftig.
Überraschenderweise fordert der
Pflanzenfreund im Kampf gegen den
Klimawandel jedoch keine Auffors­
tungen in menschenleeren Gegenden,
sondern hat die Vision, Städte und
deren Straßenränder, Hausdächer
und Fassaden fast vollständig mit
Pflanzen zu bedecken. Und zwar
nicht nur um den Klimawandel auf­
zuhalten, sondern weil sich Pflanzen
zudem günstig auf unsere Verfassung
auswirkten, Geselligkeit förderten
und sogar die Kriminali tätsrate
senkten.
Olaf Stampf
Stefano Mancuso: »Die Welt
der Pflanzen … und wie sie
Geschichte machen«. Klett-Cotta;
192 Seiten; 25 Euro.
Filme, in denen Exorzisten
2 Menschen durch Weihwasser
und Dauergebete von Dämo­
nen befreien, driften oft ins Lächer­
liche ab. Wer sich dem kirchenge­
schichtlich wichtigen Thema seriös
nähern will, sollte besser zu einem
Buch greifen: Fernanda Alfieris Werk
»Veronica und der Teufel« erzählt
einen wahren Fall und ist das Ergeb­
nis eines Zufallsfundes. Die italie­
nische Historikerin fand bei Archiv­
100 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
recherchen einen zerfledderten
Papierumschlag mit 300 eng beschrie­
benen Blättern über die Geschichte
einer jungen Römerin.
Der Vater hatte seine Tochter 1834
bei der Kirche gemeldet, weil sie ver­
meintlich vom Teufel besessen sei: Sie
brabbelte unverständlich vor sich hin,
machte Kopfstand in ihrem Bett, läs­
1
terte über Gott. Veronica geriet da­
raufhin an zwei Jesuiten und andere
vermeintliche Experten, die ihr unter
anderem heiße Bäder und die Peit­
sche verordneten.
Das alles liest man mit Bewunde­
rung für Alfieris Rechercheleistung –
und mit einer Abscheu vor der aus­
schließlich von Männern betriebenen
Abwehrschlacht gegen das angeblich
Böse, das von Veronica Besitz ergriffen
hatte.
2
Guido Kleinhubbert
Fernanda Alfieri: »Veronica
und der Teufel«. wbg Theiss;
368 Seiten; 34 Euro.
Roland Sedivy hat einen Ruck­
3 sack, auf dem steht: »Ich turne
bis zur Urne«. Auch sonst pflegt
der 60­Jährige aus Wien einen un­
gezwungenen Umgang mit dem Tod,
3
wahrscheinlich liegt das an seinem
Beruf: Er ist Pathologe.
In seinem Buch »Totenschau« wid­
met er sich Fällen aus seiner eigenen
Praxis, aber auch spektakulären Lei­
chenschauen der Geschichte – etwa
der von Kaiserin Elisabeth, bekannt
als Sissi. Besonders spannend ist das
Kapitel über Scheintote.
Zum Menschsein gehört die Angst,
versehentlich lebendig begraben zu
4
werden, und manchmal ist sie berech­
tigt. So beschreibt Sedivy das Schick­
sal von Anne Greene, die im Jahr
1650 20 Minuten lang am Galgen
baumelte, ehe man sie in einen Sarg
bettete. Zu ihrem Glück bemerkte ein
Arzt den Atemhauch der vermeint­
lichen Leiche und begann eine eigen­
willige, aber erfolgreiche Therapie
mit Aderlass und festen Bandagen um
den ganzen Körper ähnlich wie bei
5 einer Mumie. Sedivys Buch ist ein
Sammelsurium solcher Geschich­
ten – über den Tod, aber zudem über
das Wunder des Lebens.
Julia Köppe
Roland Sedivy: »Totenschau«.
S. Hirzel; 220 Seiten; 24 Euro.
»Cosmic Kiss« sticht aus der
4 Vielzahl der Bücher über
Raumfahrt heraus – auch des­
halb, weil der deutsche Esa­Astronaut
Matthias Maurer seine Eindrücke be­
sonders vielfältig und authentisch
schildert.
Er verbrachte 175 Tage an Bord der
Raumstation ISS und hat in diesen
sechs Monaten mehr erlebt als viele
seiner Kolleginnen und Kollegen: Als
nach einem russischen Waffentest
eine Schrottwolke durchs All raste,
musste er sich in ein angedocktes
Raumschiff flüchten. Außerdem sah
er, gemeinsam mit den russischen
Kollegen an Bord, aus 400 Kilometer
Höhe die Lichter in der Ukraine
ausgehen, als Moskaus Truppen vor­
stießen.
Maurer beschreibt Besuche von
Weltraumtouristen, wissenschaftliche
Experimente, einen Ausstieg ins All,
aber auch seine zwischenzeitlichen
Zweifel an dem Einsatz. Er würde
trotzdem bald gern wieder fliegen,
am liebsten auf den Mond, der dem­
nächst eins der Ziele im bemannten
Raumfahrtprojekt »Artemis« der
Nasa ist.
Christoph Seidler
Matthias Maurer mit Sarah
Conrad: »Cosmic Kiss.
Sechs Monate auf der ISS«.
Droemer HC; 432 Seiten; 24 Euro.
Mit 45 Jahren erhielt der Krebs­
5 arzt Wolfram Gössling eine
niederschmetternde Diagnose:
Ein seltener, äußerst gefährlicher
Tumor bedrohte sein Leben. Zwar
habe er in seinem Beruf schon vorher
täglich mit der Krankheit zu tun ge­
habt, schreibt der Mediziner in sei­
nem autobiografischen Buch »Am
Leben bleiben«. Dass es ihn selbst

einmal treffen könnte, habe er aber
kurioserweise nie in Betracht gezo­
gen. Schonungslos erzählt der Onko­
loge, wie ihn seine Erkrankung als
Mensch und als Arzt veränderte; wie
er zu einem Egoisten wurde, der aus­
schließlich daran gedacht habe, den
Tag zu überstehen.
»Am Leben bleiben« ist nicht nur
für angehende Ärztinnen und Ärzte
eine lohnende Lektüre. Das Buch bie­
tet einen Einblick in die Ängste und
Nöte eines Patienten – und zeigt
gleichzeitig, wie es einem Menschen
gelungen ist, nicht die Hoffnung zu
verlieren. Wer mit einer nieder­
schmetternden Diagnose konfrontiert
ist, als Betroffener, als Freund oder in
der Familie, findet Rat und Halt.
Martin Schlak
Wolfram Gössling: »Am Leben
bleiben«. Rowohlt Polaris;
240 Seiten; 20 Euro.
Die Werke des Malers Albrecht
6 Dürer dürften zu den bekann­
testen der deutschen Kultur­
geschichte zählen: sein Feldhase etwa,
seine apokalyptischen Reiter oder das
»Selbstbildnis im Pelzrock«, auf dem
er sich inszeniert wie Jesus Christus.
Doch der Nürnberger Künstler mit 8
dem großen Ego hinterließ nicht nur
Bilder und Grafiken, sondern auch
Tagebücher, Briefe und Abhandlun­
gen über Mathematik und andere
Disziplinen.
Auf Grundlage dieses kultur­
wissenschaftlichen Schatzes hat der
Heidelberger Historiker Romedio
Schmitz­Esser das Buch »Um 1500«
geschrieben: Ausgehend von 50 Wer­
ken Dürers, entfaltet Schmitz­Esser 9
das Panorama einer ganzen Epoche.
So steht der Hase am Anfang eines
Kapitels über den damaligen Um­
gang mit Tieren, ein Bild von Dürers
Mutter Barbara dient als Ausgangs­
punkt für das Thema Familie. Und
immer schreibt der Historiker so ver­
ständlich und fesselnd, dass man
sich keinen besseren Einstieg in die
oft befremdliche Welt des Spätmit­
telalters am Übergang zur Neuzeit
vorstellen kann. 10
Guido Kleinhubbert
Romedio Schmitz-Esser:
»Um 1500«. wbg Theiss;
504 Seiten; 44 Euro.
Wer gern staunt über wunder­
7 same ökologische Zusammen­
hänge, dem sei Bert Hölldoblers
und Christina Kwapichs neue Mono­
grafie über Ameisen empfohlen. Akri­
bisch haben der große deutsche Nes­
tor der Ameisenforschung und seine
Kollegin zusammengetragen, was sich
in Ameisenstaaten alles tut.
Dass diese emsigen Insekten zu
den erfolgreichsten Geschöpfen der
Natur gehören, ist weithin bekannt.
Nur wenige aber wissen, dass in ihren
Nestern auch viele andere Glieder­
füßer wimmeln. So haben die Auto­
ren etwa beobachtet, wie sich Käfer
6
von Ameisen füttern lassen. Sie er­
zählen von Spinnen, die sich, reitend
auf fliegenden Königinnen, durch die
Luft tragen lassen. Sie schildern, wie
Raubwanzen Ameisenkadaver als
Passierschein nutzen, um die Wächter
am Nesteingang zu narren. Und sie
beschreiben, wie Fliegen im Sturzflug
den ins Nest heimkehrenden Arbei­
terinnen ihre Beute entreißen. Wem
7 dies nicht wunderlich genug er­
scheint, der wird in den Texten und
auf den Fotos des Buches auch noch
auf weitaus Erstaunlicheres stoßen.
Johann Grolle
Bert Hölldobler und Christina
Kwapich: »Die Gäste der
Ameisen«. Springer; 588 Seiten;
69,99 Euro.
Man vergesse Adam und die
8
Rippe: Am Anfang war das
Weib. Eier legende Geschöpfe
standen am Beginn alles tierischen
Lebens, erst danach entwickelte sich,
gleichsam als Helferlein für die Evo­
lution der irdischen Fauna, das Männ­
chen. So berichtet es Lucy Cooke,
Zoologin und Dokumentarfilmerin,
in ihrem Buch »Bitch«.
Mit Witz und manchmal einem
Quäntchen Zorn zertrümmert Cooke
die darwinschen Mythen vom keu­
schen, passiven Weib und dem testos­
terongeschwängerten Alphamann,
die lange die Wissenschaft dominiert
haben.
»Weibliche Tiere sind genauso pro­
misk, kompetitiv, aggressiv, dominant
und dynamisch wie männliche«, re­
sümiert Cooke. In »Bitch« geht es um
Lust, Balz und Kindsmord, um den
Wert des Herumvögelns mit vielen
Gespielen und den Brutpflegeschalter
im Gehirn von Mama und Papa.
Cooke erzählt von Rädertierchen, die
sich klonen (nie Sex), vom Liebesspiel
der Rotrückenspinne (mörderischer
Sex) und vom friedlichen Matriarchat
»Weibliche unserer nächsten Verwandten, der
Bonobo­Affen.
Tiere sind Sie hätten immerzu Sex mit allen
genauso
dominant wie
und bewiesen auch dadurch, so Cooke,
dass Patriarchat und Gewalt nicht
zwangsläufig in der DNA des Men­
männliche.« schen festgeschrieben seien.
Lucy Cooke Rafaela von Bredow
WISSEN
Lucy Cooke: »Bitch. Ein revolu-
tionärer Blick auf Sex, Evolution
und die Macht des Weiblichen
im Tierreich«. Malik; 432 Seiten;
22 Euro.
James Cook gehört zu den be­
9 rühmten Entdeckerpersön­
lichkeiten, Tupaia hingegen
kennt kaum jemand. Zu Unrecht,
wie der Historiker Frank Vorpahl
mit seinem Buch »Aufbruch im Licht
der Sterne« beweist. Ohne die Hilfe
des polynesischen Navigators wäre
Cook wohl schon von seiner ersten
Weltumseglung nicht lebend zurück­
gekehrt.
Tupaia half Cook, sein Schiff durch
Korallenriffe zu manövrieren, vermit­
telte bei der Ankunft in Neuseeland
zwischen den ungestümen Briten
und den kriegerischen Maori – und
verhinderte so möglicherweise ein
Gemetzel.
Tupaia hatte eigene Interessen, er
habe sich, so Vorpahl, mit Cook auf die
Reise begeben, um ferne Winkel der
polynesischen Inselwelt zu erkunden.
Mit anderen Worten: Tupaia war nicht
nur als Cooks Gehilfe unterwegs – son­
dern Cook auch als Tupaias.
Johann Grolle
Frank Vorpahl: »Aufbruch im
Licht der Sterne«. Galiani-Berlin;
256 Seiten; 26 Euro.
Bekannt wurde der US­
10 amerikanische Onkologe
Mukherjee mit einem pa­
ckend erzählten Buch über die Er­
forschung von Krebs, nun hebt er in
einem über 600 Seiten starken Werk
die kleinste Einheit des Lebens auf
den Thron der Biologie.
»Das Lied der Zelle« widmet sich
wegweisenden Forschern und Experi­
menten der Zellbiologie: Mukherjee
beginnt im 17. Jahrhundert mit den
Experimenten des Holländers Anto­
nie van Leeuwenhoek, der durch ein
Mikroskop auf ein Wimmelbild von
Bakterienzellen in einem Wassertrop­
fen blickte – und wagt auch einen
Blick in die Zukunft.
Je besser wir die kleinsten Teile
des Körpers verstünden, desto mehr
Möglichkeiten eröffneten sich von
der Fortpflanzungsmedizin bis zur
Heilung von Krankheiten, schreibt
Mukherjee. Die Zellbiologie, das wird
nach der Lektüre klar, hat eine höchst
spannende Zeit vor sich.
Martin Schlak
Siddhartha Mukherjee:
»Das Lied der Zelle«. Ullstein;
672 Seiten; 32,99 Euro.
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 101
 KULTUR
Rebecca Handler / Getty Images
Oje, Tannenbaum!
DEBAT TENDie Auseinandersetzungen rund ums Weihnachtsfest gleichen einander wie ein Nadelbaum
dem anderen. Wie geht eine liberale Gesellschaft damit um, wenn man sich dem Ritual verweigert?
it der sogenannten Leitkultur ist
M es wie mit dem Weihnachtsbaum:
Alle Jahre wieder wird sie auf-
gestellt und geschmückt. Immer wieder lädt
sie zum Streit ein. Und nach ein paar Wo-
chen landet sie dann formlos auf der Straße.
Nun ist es wieder so weit: Auf den Straßen
werden Bäume verkauft, und im Entwurf
zum Grundsatzprogramm der CDU taucht,
mal wieder, das L-Wort auf.
Tatsächlich ist der Weihnachtsbaum
Teil dessen, was unter Leitkultur diskutiert
wird: Teil der Tradition, der gesellschaft-
lichen Übereinkunft, der sozialen Marotten.
Schade nur, dass Konservative selten ernst-
haft darüber sprechen. Wer die sogenannte
Leitkultur bemüht, nutzt den Begriff, um
die eigene Gruppe zu markieren und ande-
102 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
re auszuschließen. Etwa Menschen, die
keinen Weihnachtsbaum aufstellen.
2004 erschien der Film »Verrückte Weih-
nachten«, ein Hollywoodfilm mit Jamie Lee
Curtis. Darin versucht ein Paar, das Weih-
nachtsfest zu boykottieren, geplant ist eine
Kreuzfahrt. Doch die Weigerung, sich
einen Weihnachtsbaum zuzulegen, wirkt
auf ihre Umgebung wie eine schwere Be-
drohung des kulturellen Zusammenhalts,
bald herrscht unter den Nachbarn Krieg.
Es ist eine Komödie, doch das Drehbuch
trifft einen wahren Kern: was, wenn man
bei einem sozialen Ritual nicht mitmachen
will? Das Paar schadet niemandem, ver-
stößt gegen kein Gesetz. Es will bloß das
Weihnachtstheater nicht mitspielen. Wie
geht eine liberale Gesellschaft damit um?
Diese Frage bringt die Leitkulturdebatte
zu einem natürlichen Ende. Tatsächlich
dürfen alle in einer liberalen Gesellschaft
tun, was sie wollen, solange sie damit
keinem Dritten schaden. Niemand ist ge-
zwungen, einen Baum aufzustellen, nur
weil alle anderen das schon immer so ge-
macht haben. Man darf Weihnachtsbäume
sogar mit Farbe besprühen, wie es die
Letzte Generation vor wenigen Tagen getan
hat. Das ist vielleicht Sachbeschädigung,
aber kein Angriff auf die Leitkultur.
Wie der Weihnachtsbaum ist die Leit-
kultur ein Angebot zur Identifikation, nicht
mehr. Vor allem ist sie nichts, was eine Be-
hörde als Entscheidungshilfe nutzen sollte,
wer Bürger dieses Landes sein kann und
wer nicht. Tobias Rapp
Ode an das Leben ein Schwarz­Weiß­Bild mit dem nackten
Teller am Grab seines Vaters. Der Unfalltote
FOTOGR AFIE Was für ein größenwahnsinni­ war sein Vater, der Suizid begangen hatte.
ges Projekt: 10.000 Quadratmeter für die Stellenweise wirkt die Pariser Retrospektive
Einzelausstellung eines einzigen Fotografen. wie ein spätes Geschenk an ihn – und
Trotzdem verwirklichten Fotograf Juergen wie eine trotzige Ode an das Leben. Die be­
Teller und der damalige Grand­Palais­ rühmten Porträts von Kate Moss, Kurt
Direktor Chris Dercon ihren Plan. In Paris Cobain und Iggy Popp sind dabei; auch die
soll nun im Grand Palais Éphémère die sogenannten Go­Sees, unverstellte, teilweise
bisher größte Teller­Retrospektive gezeigt sehr lustige Probeaufnahmen von Models.
werden soll: »Juergen Teller, i need to live« Dazu Tellers Notizen und mehrere Videos.
(bis 9. Januar 2024). Gemeinsam mit Kura­ Für die Vorauswahl brauchte Kurator Weski
tor Thomas Weski gab Teller bei Londoner Monate. Er traf sie gemeinsam mit Teller
Architekten ein Holzkreuz mit vier Meter und dessen Frau Dovile. Nach Sichtung des
hohen Wänden in Auftrag. Es steht nun in Gesamtwerks habe ihn überrascht, wie frei
der Mitte des offenen Raumes. An ihm hän­ der Deutsche habe arbeiten können, trotz
gen 800 Arbeiten des 59­jährigen Künstlers, der kommerziellen Auftraggeber aus der
aufgeteilt in Werkgruppen und chronolo­ Modebranche, sagt Weski. »Genauso wie es
gisch angeordnet. Und sie hängen dort er­ ihm immer wieder gelang, visuelle Brüche
staunlich gut. Die Ausstellung beginnt auto­ in einer Welt der Perfektion zu formulie­
Juergen Teller

biografisch: Zu sehen sind ein Foto von ren.« Ganz klein, anrührend und lebensbe­
Teller als Baby (»My Father’s Picture of jahend endet die monumentale Werkschau –
Me«), ein Zeitungsausschnitt zu einem Un­ mit Bildern der in diesem Jahr geborenen
fall mit tödlichem Ausgang und schließlich Teller-Selbstporträt, 2017 Tochter von Teller und seiner Frau. BSA

Schrullig und
grandios
LITER ATUR Reisen zwei Enter­
tainerinnen aus Wien und Ber­
lin nach Iowa, USA. Stefanie
Sargnagel hat dort einen Lehr­
auftrag am Grinnell College,
Christiane Rösinger kommt mit.
Mit großer Neugier beobachtet
Das ist ein bisschen arrogant,
aber aus ihrer Sicht angemes­
sen – Frauen haben es im
Gegensatz zu Männern ja eh
immer schwerer. So kann sie
zum Beispiel das Reden über
andere, inklusive Lästern,
positiv deuten: »Tratsch ist die
Essenz von Gemeinschaft, er
reguliert das Miteinander im
Ein Stall für zwei
STREAMING Man muss wohl
ein Huhn aus Knetmasse sein,
um 23 Jahre ohne sichtbaren
Alterungsprozess zu überste­
hen. Ginger und Rocky jeden­
falls, die Helden aus »Chicken
Run: Operation Nugget«, sehen
so wunderbar glatt geknetet aus

Domitizia Salusest / Net flix

die Autorin Sargnagel das
Leben in dem Kaff Grinnell, in
dem es außer dem College und
ein paar Diners nicht viel gibt.
So staunend, wie sie schreibt,
macht es sogar Spaß, sich mit
ihr über Fast Food zu ekeln,
obwohl das nicht allzu über­
raschend ist. Es gibt in »Iowa«
keinen Spannungsbogen oder
überhaupt einen klaren Erzähl­
strang – es ist ein Erfahrungs­
bericht, der von Humor und
Beobachtung lebt. Sargnagel
will uns nichts Bestimmtes sa­
gen, scheint es. Angesichts der
vielen Texte mit Botschaft,
die es gibt, ist das geradezu ent­
spannend. Auch für sie selbst,
wie sie schreibt: »Möchte ich
etwas bewegen? Und wenn ja,
wohin? Möchte ich Diskussio­
nen anregen oder abwürgen? In
Wirklichkeit will ich schon eher
eine ruhige Kugel schieben.«
Und natürlich steckt in ihrem
Humor dennoch eine Haltung –
eine feministisch­punkige. Sarg­
nagel feiert Rösinger und sich
selbst, auch Schrullen und
Macken legt sie sich und ihrer
Freundin als Grandiosität aus.
Verband, wird aber als traditio­
nell weibliche Praxis gegenüber
überflüssigen Männerhobbys
wie Fischen oder Schach abge­
wertet. Sinnbefreite Tierquäle­
rei wird eher verklärt als die
Schönheit der tratschenden
Frau, das Nervensystem der Ge­
sellschaft.« Und beide sind ja
auch tatsächlich wer: Rösinger
eine Größe der Berliner Kultur­
szene, die Ende der Achtziger­
jahre Jahre die Band Lassie
Singers gründete, von der so
hübsche Lieder wie »Die
Pärchenlüge« stammen. Und
Sargnagel hat sich im vergange­
nen Jahrzehnt mit ihren Witzen
im Netz, in Büchern und auf der
Bühne über Wien hinaus eine
Fangemeinde geschaffen. Die
beiden nach
Iowa zu be­
gleiten, muss
einfach witzig
sein. Und
so ist es. BÖ
Stefanie
Sargnagel:
»Iowa«. Rowohlt
Hundert Augen;
304 Seiten;
22 Euro.
wie im Vorgänger aus dem Jahr
2000. Der hieß »Chicken Run:
Hennen rennen« und war einer
der größten Erfolge von Aard­
man Animations, dem Studio,
das mit Knetstars wie »Wallace
& Gromit« und »Shaun das
Schaf« berühmt wurde. »Chi­
cken Run« drehte sich um einen
Hühnerhaufen, der aus einer
Farm ausbrechen wollte, weil
die Verarbeitung zur Pastete
drohte. Der neue Film schließt
nahtlos an den Vorgänger an,
nur dass die Hühner nun in eine
Farm einbrechen wollen, in die
es die Tochter von Ginger und
Rocky verschlagen hat. Im wah­
ren Leben vergehen 23 Jahre
natürlich nicht spurlos, diese
Tatsache kann die Fortsetzung
dann doch nicht vergessen ma­
chen. Mel Gibson, der zuletzt
den Hahn Rocky sprach, hat sei­
ne Karriere in der Zwischenzeit
so nachhaltig zugrunde gerich­
tet, dass er für die Rolle diesmal
gar nicht erst angefragt wurde.
»Chicken Run: Operation
Nugget« läuft auch nicht mehr
im Kino (zumindest nicht in
Deutschland), sondern bei Net­
Szene aus »Chicken Run 2«
flix. Und die Kritik an über­
mäßigem Hühnerfleischkon­
sum, im ersten Teil noch unter
ferner liefen, stellt die neue Pro­
duktion ins Zentrum. Diesmal
sorgt ein verrückter Wissen­
schaftler mit Psychotricks für
eine gesteigerte Fleischproduk­
tion, für die die Hühner sogar
freiwillig ins Messer rennen.
Was aber das Slapstick­Niveau
angeht, so hat sich doch er­
staunlich wenig verändert. Wie
immer bei Aardman treten sehr
britische Protagonisten aus
Knete (und in diesem Fall mit
überraschend vielen Zähnen im
Schnabel) gegen überwältigen­
de Maschinen an, die die Zu­
kunft versprechen und Zerstö­
rung bringen. Aardman knetet
tapfer weiter gegen den Fort­
schrittswahn an, selten war ein
fruchtloses Unterfangen un­
terhaltsamer anzuschauen. KAE

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 103

KU LT U R

2 3

Joe Alblas (u. li.) und Gordon Timpen(4) / Wiedemann & Berg Film / LEONINE Studios

4 5

Szenen aus »Girl You Know It’s True«: 1, 3, 4 | Schauspieler Njie, Ben Ali als Popduo Milli Vanilli 2 | Darstellerin Bella Dayne
als Ingrid »Milli« Segieth 5 | Schauspieler Schweighöfer als Produzent Farian

104 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


Girl You Know It’s Fake
KINOEnde der Achtzigerjahre wurden Milli Vanilli aus dem Nichts zu Megastars. Dann stellte
sich heraus: Das Popduo sang nicht selbst. Der deutsche Regisseur
Simon Verhoeven hat den Skandal nun verfilmt. Und den Musikern ihre Würde zurückgegeben.
as Koks muss in die Nase, und zwar
D sofort. Eben noch hat Schauspieler
Tijan Njie mit seinem Messer Obst ge-
schnippelt, nun beugt er sich damit über einen
Tisch und zieht feine Lines aus weißem Pul-
ver. »Erstaunlich, wie gut du das kannst«,
lacht Regisseur Simon Verhoeven.
Njie senkt seinen Oberkörper, zieht tief
ein – und bekommt eine Niesattacke. Er hus-
tet, flucht und springt wie ein Derwisch durch
den Raum. »Scheiße«, ruft er. Er hatte ver-
gessen, dass er nur so tun sollte, als würde er
sich das Pulver reinziehen. Jetzt ist seine Nase
voll – allerdings nur mit Kreide.
Es ist Ende Oktober 2022, in einer Villa
bei Kapstadt dreht Verhoeven Szenen seines
Films »Girl You Know It’s True«. Eigentlich
sollen die Aufnahmen Los Angeles zeigen,
dort spielt ein Teil der Geschichte, aber die
USA waren als Drehort zu teuer. Kreide statt
Koks, Südafrika statt Kalifornien – so tun, als
ob. Davon handelt auch sein Film.
Er erzählt von Milli Vanilli, jenem Popduo,
dessen Mitglieder in den späten Achtziger-
jahren innerhalb kürzester Zeit zu Megastars
wurden und wenig später einen der größten
Skandale der Popgeschichte auslösten. Denn
Milli Vanilli waren nicht, wofür man sie hielt.
Bei ihren Hits, darunter »Baby Don’t Forget
My Number«, »Girl You Know It’s True« und
»Blame It on the Rain« hatten andere Sänger
vor dem Mikro gestanden. Das Duo selbst,
der Franzose Fabrice Morvan und der Münch-
ner Robert Pilatus, den Njie im Film spielt,
bewegte bei Liveauftritten nur die Lippen –
und tanzte dazu furios.
Zunächst hatte die Masche Erfolg: Mit Mit-
te zwanzig waren Milli Vanilli bereits umju-
belte Idole, füllten Hallen und ließen mit ihren
Performances die Fans kreischen. In Jugend-
zimmern hingen Poster ihrer hübschen Ge-
sichter. »Es gab Zeiten, da wollte Whitney
Houston ein Foto mit ihnen«, sagt Regisseur
Verhoeven. »Und Paul McCartney klopfte an
ihre Garderobe.«
Dann kam die Grammy-Verleihung im Fe-
bruar 1990, bei der Milli Vanilli als »Best New
Artist« ausgezeichnet wurden. Dort wird
eigentlich live gesungen – stattdessen beweg-
ten sie, mal wieder, nur ihre Lippen. Wenige
Monate später war der Spuk zu Ende, so
schnell, wie er begonnen hatte. Sie gaben
ihren Grammy zurück und leisteten öffentlich
Abbitte. Die Band zerbrach. Und die jungen
Stars waren plötzlich keine mehr.
Was von dem Skandal bleibt, ist eine Rei-
he erstaunlich heutig wirkender Fragen. Wie
werden Stars gemacht? Worin besteht eigent-
lich ihre Leistung? Woraus wird ihr Image
gebaut, und wer trägt die Verantwortung,
wenn es zerbricht?
»Ruhm ist wie Wasser«, sagt der Milli-
Vanilli-Star Morvan, heute 57, im Videoge-
spräch. Normalerweise erhitze man die Flüs-
sigkeit, bis sie koche, später werde sie lau-
warm, dann kalt. »Bei uns war es im Nu heiß
und dann plötzlich gefroren.« Aufstieg bis
ganz nach oben und dann ein freier Fall ins
Nichts, alles in knapp zwei Jahren, das muss
man erst mal verkraften als junger Mann.
Morvan, der im Film von dem Franzosen
Elan Ben Ali gespielt wird, wirkt aufgeräumt.
Er trägt Dreadlocks, die zum Markenzeichen
von Milli Vanilli wurden. Er habe vier Kinder
und mache eigene Musik, erzählt er. Und sei
glücklich, »als Mensch und als Künstler«.
Zu Zeiten von Milli Vanilli war das anders.
Er habe immer versucht, das Maximum in
seine Performance zu stecken, sagt er. »Ich
dachte, wenn ich den Fans alles gebe, was in
meinen Kräften steht, ist es okay, mehr kann
ich nicht tun.« Wenn er dann in der Gardero-
be in den Spiegel schaute, seien jedoch die
Zweifel gekommen. »Ich fragte mich: Wie
kommen wir hier nur raus? Wir steckten in
einem Labyrinth und hatten keine Ahnung,
wo der Ausgang ist. Wir waren verloren.«
Morvan war im Alter von 18 Jahren von
Paris nach Deutschland gekommen. Sein
späterer Partner, Robert Pilatus, Sohn eines
GI und einer deutschen Mutter, war als Heim-
kind von einem Münchner Ehepaar adoptiert
worden. Die beiden lernten sich im legendä-
ren Münchner Klub P1 kennen. Als Schwarze
und Tänzer sorgten sie mit ihren Moves für
Aufsehen.
»Ich war noch Teenager«, erinnert sich
Regisseur Verhoeven, »und sah sie auf den
Wäre es möglich gewesen,
den Tänzern das
Singen beizubringen?
KU LT U R
Boxen tanzen. Es war spektakulär, man konn-
te den Blick kaum von ihnen abwenden.«
Aber die beiden Tänzer wollten mehr, sie
wollten singen. Und trafen auf Frank Farian.
Der Musikproduzent hatte früh seine Lie-
be zu Schwarzer Musik entdeckt. Nach ersten
Erfolgen in der Schlagerszene entwickelte er
deshalb ein neues Konzept, heute würde man
es wohl schlicht kulturelle Aneignung, nein,
eine komplette kulturelle Übernahme nen-
nen. Mitte der Siebzigerjahre stellte Farian
aus schwarzen Sängerinnen und dem Front-
man Bobby Farrell die Band – oder besser:
das musikalische Projekt – Boney M. zusam-
men. Die dunkle, männliche Stimme, die den
Sound von »Daddy Cool« prägte, war Farians
eigene. Farrell sang nie. Er tanzte und be-
wegte die Lippen wie später Milli Vanilli.
»Frank hatte diesen großen Traum, Schwar-
ze Musik zu machen«, erinnert sich Morvan
und intoniert mit dunkler Stimme einen Song
von Boney M.: »Ma, Ma, Ma, Ma – Ma Ba-
ker.« Mit Milli Vanilli wollte Farian die USA
erobern, mit einer neuen Band und einem
Coversong der Gruppe Numarx. »Aber Frank
war nun mal weiß.« Und seine Sänger, so
glaubte er, nicht telegen genug für MTV.
Farian suchte also nach zwei Performern,
die in dem Video zu dem Song tanzen und zu
Playback die Lippen bewegen sollten. Er
nahm Pilatus und Morvan unter Vertrag, Mil-
li Vanilli war geboren, die Lüge lernte tanzen.
Hätte es zu diesem Zeitpunkt noch anders
kommen können? Wäre es möglich gewesen,
den Tänzern das Singen beizubringen, sie
auch musikalisch zu Superstars zu machen?
Morvan sagt, er und Pilatus hätten die Songs
selbst singen können. Es hätte etwas mehr
Zeit gebraucht, aber sie hätten es geschafft.
»Wir wollten singen, aber Frank ließ uns
nicht.« Farian habe den schnellen Erfolg ge-
sucht. Die Befindlichkeiten seiner Künstler
hätten ihn eher wenig interessiert.
»Der Robert konnte bestimmt nicht toll
singen, aber das, was für Milli Vanilli nötig
gewesen wäre, hätte er locker geschafft«, be-
hauptet Carmen Pilatus, die Adoptivschwes-
ter des Musikers. Er selbst lebt nicht mehr,
der Erfolg und der Absturz von Milli Vanilli
trieben ihn zu Alkohol und Drogen und
schließlich in den Tod.
Farian behauptet, Pilatus und Morvan hät-
ten keineswegs das nötige stimmliche Niveau
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 105
KU LT U R

gehabt. Auf eine Anfrage des SPI EGEL

schreibt er: »Im Studio habe ich beide gesang-
lich getestet. Sie konnten gar nicht singen!!!
Fabrice hatte einen starken französischen Ak-
BELLETRISTIK SACHBUCH zent und Robert einen sehr starken bayeri-
schen Akzent – die Stimmen waren auf keinen
Nun wird aus der Tinten- Fall brauchbar.«
Eine Vorausschau auf
welt-Saga doch noch die politische Weltord- Jeder, der an dem Projekt Milli Vanilli be-
eine Tetralogie. Mit nung des 21. Jahrhun- teiligt war, hat seine Sicht der Dinge, seine
gewohnt bildgewaltiger, derts: Wo verlaufen
märchenhafter Erzähl- künftig die Konflikt-
eigene Wahrheit. So gut wie alle machen sich
kunst ist der Kinder- linien, wo manifestie- gegenseitig Vorwürfe, auch heute noch. Mor-
buchautorin eine fulmi- ren sich Gefahren – van sagt, Farian sei ihm wie ein »emotionaler
nante Rückkehr und welche Chancen
gelungen. | Platz 5 gibt es? | Platz 6
Rambo« vorgekommen. Carmen Pilatus fin-
det, der Produzent habe die beiden »verkauft,
statt sie zu beschützen«. Farian entgegnet,
1 (2) Sebastian Fitzek 1 (1) Florian Illies Morvan und vor allem Pilatus hätten zu »Grö-
Die Einladung Droemer; 24 Euro Zauber der Stille S. Fischer; 25 Euro
ßenwahn« geneigt.
2 (1) Rebecca Yarros 2 (2) Axel Hacke Über die Heiterkeit in schwie- Verhoeven, der die komplizierte Geschich-
Iron Flame – Flammengeküsst dtv; 32 Euro rigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns te in seinem Film neu erzählt, will sich gar
der Ernst des Lebens sein sollte Dumont; 20 Euro nicht entscheiden, welche dieser Sichtweisen
3 (3) Nele Neuhaus die richtige ist. Für ihn ist Farian nicht der
Monster Ullstein; 24,99 Euro 3 (3) Giovanni di Lorenzo Vom Leben und Bösewicht, sondern eher ein »sozial unbehol-
anderen Zumutungen Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro fener Maniac«. Pilatus und Morvan sieht der
4 (–) Marah Woolf
4 Ewald Frie Regisseur keineswegs als reine Helden. »Ich
WiccaCreed – Rache & Feuer Nova MD; 24 Euro (4)
Ein Hof und elf Geschwister C. H. Beck; 23 Euro weiß, was ihr denkt«, lässt er Pilatus im Film
5 (5) Cornelia Funke Tintenwelt 4 – sagen. »Ihr denkt, wir sind Lügner, Betrüger,
Die Farbe der Rache Dressler; 23 Euro 5 (5) Sabine Kuegler Ich schwimme nicht mehr Sexsüchtige, Junkies, Gauner, Marionetten …
da, wo die Krokodile sind Westend; 24 Euro und haben die ganze Welt betrogen. Und
6 (6) Daniel Kehlmann wisst ihr was: Ihr habt recht – aber es gibt
Lichtspiel Rowohlt; 26 Euro 6 (7) Herfried Münkler
Welt in Aufruhr Rowohlt Berlin; 30 Euro
noch eine andere Seite der Geschichte.«
Immer wieder durchbricht Verhoeven die
7 (8) Bonnie Garmus
7 Monika Gruber / Andreas Hock vierte Wand und lässt seine Schauspieler di-
Eine Frage der Chemie Piper; 26 Euro
(14)
Willkommen im falschen Film Piper; 22 Euro rekt in die Kamera sprechen. Nur diese »mul-
8 (7) Ken Follett tiperspektivische Erzählweise« könne dem
Die Waffen des Lichts Lübbe; 36 Euro
8 (10) Reinhold Beckmann Fall Milli Vanilli gerecht werden, glaubt Qui-
Aenne und ihre Brüder Propyläen; 26 Euro
rin Berg, der den Film zusammen mit seinem
9 (11) Dirk Rossmann / Ralf Hoppe Partner Max Wiedemann produzierte. Seit
Das dritte Herz des Oktopus Lübbe; 20 Euro
9 (6) Britney Spears
The Woman in Me Penguin; 25 Euro rund acht Jahren arbeitet Berg an dem Pro-
jekt, er hat Verhoeven überzeugt, das Dreh-
10 (4) Michael Hjorth / Hans Rosenfeldt
Die Schuld, die man trägt Wunderlich; 25 Euro
10 (8) Philip Banse / Ulf Buermeyer buch zu schreiben und Regie zu führen.
Baustellen der Nation Ullstein; 22,99 Euro Im Oktober 2022 dreht der Regisseur in
11 (9) Klaus-Peter Wolf Kapstadt eine Szene, in der die Sichtweise
11 (13) Guido Maria Kretschmer von Pilatus und Morvan mit der von Farian
Der Weihnachtsmannkiller Fischer; 15 Euro
19 521 Schritte Heyne; 20 Euro
kollidiert. Von einer weitläufigen Terrasse aus
12 (15) Robert Seethaler 12 (9) Dirk Oschmann Der Osten – telefonieren die zwei mit ihrem Produzenten
Das Café ohne Namen Claassen; 24 Euro
eine westdeutsche Erfindung Ullstein; 19,99 Euro in Deutschland, gespielt von Matthias
Schweighöfer. Milli Vanilli eröffnen Farian,
13 (10) Christopher Paolini 13 (11) Brianna Wiest 101 Essays, die dein Leben
Murtagh – Eine dunkle Bedrohung cbj; 26 Euro
dass sie in Zukunft selbst singen wollen. Im-
verändern werden Piper; 22 Euro mer wieder wechseln sich die beiden am Tele-
14 (–) Ildikó von Kürthy 14 (16) Gregor Gysi / Hans-Dieter Schütt Auf eine fonhörer ab, es ist beinahe ein tänzerisches
Eine halbe Ewigkeit Wunderlich; 23 Euro Currywurst mit Gregor Gysi Aufbau; 22 Euro
Duett. Schweighöfer, dessen Szenen bereits
im Vorfeld gedreht wurden, brüllt zurück: Er
15 (13) Tonio Schachinger 15 (12) Daniel Schreiber sei ihr Produzent und habe hier das Sagen!
Echtzeitalter Rowohlt; 24 Euro Die Zeit der Verluste Hanser Berlin; 22 Euro Produzent Berg erzählt, wie kompliziert
16 (14) Marc-Uwe Kling / Luise Kling / Johanna Kling und langwierig es war, Farian davon zu über-
16 (17) Christopher Clark zeugen, die Musiknutzungsrechte für den
Der Spurenfinder Ullstein; 19,99 Euro Frühling der Revolution DVA; 48 Euro
Film einzuräumen, ohne ihm dafür ein Mit-
17 (20) Rebecca Yarros 17 (19) Walter Isaacson spracherecht am Drehbuch zu gewähren.
Fourth Wing – Flammengeküsst dtv; 24 Euro Elon Musk C. Bertelsmann; 38 Euro »Natürlich hat er eine ziemlich genaue Vor-
stellung, wie er wahrgenommen werden
18 (17) Walter Moers Die Insel der 18 (–) Gabriele von Arnim möchte. Wir müssen jedoch aus Filmemacher-
Tausend Leuchttürme Penguin; 42 Euro Der Trost der Schönheit Rowohlt; 22 Euro Sicht an die Geschichte rangehen, wir brau-
19 (12) Mona Kasten chen die Freiheit, einen eigenen, auch kriti-
19 (15) David Goggins
Fallen Princess Lyx; 20 Euro Can’t Hurt Me Riva; 22 Euro
schen Blick zu entwickeln.«
Der 45-Jährige zählt mit seinem Partner
20 (19) Caroline Wahl 20 (18) Natan Sznaider / Navid Kermani Wiedemann zu Deutschlands erfolgreichsten
22 Bahnen Dumont; 22 Euro Israel Hanser; 10 Euro Produzenten. Der erste große Film der bei-
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller den, Florian Henckel von Donnersmarcks

106 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


»Das Leben der Anderen«, gewann
2007 einen Oscar, da waren sie noch
keine 30. Die zwei haben fast alle von
Verhoevens Filmen produziert, auch
die enorm erfolgreiche Komödie
»Willkommen bei den Hartmanns«.
Lange Zeit war offen, ob Farian
nicht eher auf eine Hollywoodver-
filmung des Stoffs setzen würde. Jeff
Nathanson, Drehbuchautor von Ste-
ven Spielbergs Komödie »Catch Me
If You Can« sollte ein Skript schrei-
ben, »Rush Hour«-Regisseur Brett
Ratner Regie führen. Die Frage, wa-
rum sich Farian am Ende doch für
deutsche Filmemacher entschied, be-
antwortet der heute 82-Jährige auf
Nachfrage nicht. Einer der Gründe
für seine Entscheidung könnte gewe-
sen sein, dass sie sein künstlerisches
Konzept ernst nehmen wollten.
In Verhoevens Films gibt es eine
amüsante Szene, in der Schweighöfer
als Farian mal wieder direkt zum
Publikum in die Kamera spricht, um
die Mitarbeiter des Projekts Milli Va-
nilli vorzustellen: die echten Sänger
John Davis und Brad Howell, die Mu-
siker, einige Techniker. Großartige
Leute seien dies, sagt er. Und dann
fragt er: »Doch hättet ihr sie jemals
auf MTV sehen wollen? Hätte MTV
ihre Videos gezeigt? Hättet ihr unse-
re T-Shirts gekauft? Unsere Namen
geschrien?«
Farian war ausgebildeter Koch,
und so ähnlich wie ans Kochen ging
er wohl auch an seine Musik heran.
Für ihn bestand ein guter Song aus
vielen verschiedenen Zutaten, die zu-
sammenpassen mussten. Sein Credo:
Die Leute hören mit den Augen. In
einigen Künsten ist dieses doppelte
Spiel völlig normal, zum Beispiel
beim Film: Im Musical werden Schau-
spieler von Tänzern gedoubelt, im
Actionfilm von Stuntmen, am Ende
soll alles eine Einheit ergeben. Nie-
mand macht Daniel Craig einen Vor-
wurf, wenn er nicht selbst mit einem
Motorrad auf das Dach eines fahren-
den Zuges springt. Allerdings ver-
sucht auch kein Filmproduzent, den
Einsatz von Stuntmen zu leugnen.
Hätte Milli Vanilli auch funktioniert,
wenn Farian von Anfang an die
Wahrheit gesagt hätte?
Die Entzauberung der Band be-
gann am 21. Juli 1989 in Bristol, Con-
necticut, wenige Monate nach der
Grammy-Verleihung. Pilatus und
Morvan traten in einem Freizeitpark
vor Tausenden Fans auf. Als die bei-
den »Girl You Know It’s True« per-
formten, blieb plötzlich das Playback
hängen, ausgerechnet vor dem Wort
»true«. War das Zufall? Schicksal?
Böse Absicht? Ein Drehbuchautor
KU LT U R
hätte wohl gesagt: Das kauft uns das
Publikum niemals ab.
Der Skandal blieb zunächst aus,
die beiden setzten ihre Tournee fort,
ein paar Monate lang durfte die Lüge
weiterleben. Doch die Gerüchte um
sie nahmen zu, im November 1990
enthüllte Farian, dass die beiden nie
Schnatmeyer / picture-alliance / dpa
selbst gesungen hatten. Sie gaben
ihren Grammy zurück und wurden
mit öffentlicher Häme überschüttet.
Die Fans hätten ihn und Pilatus
weiterhin geliebt, doch die Medien
seien über sie hergefallen, sagt Mor-
van. Sie hätten als Sündenböcke her-
1 halten müssen »für das, was Frank
und das Label zu verantworten hat-
ten. Das Label hat mit uns sehr viel
Geld verdient, Frank produzierte wei-
terhin, doch wir kamen auf die
schwarze Liste«. Es sei eine einzig-
artige Hexenjagd gewesen, findet
auch Verhoeven.
In seinem Film erzählt er die Saga
um Milli Vanilli temporeich, oft sehr
lustig und am Ende tief berührend.
Der Regisseur lässt sein Publikum an
der Lebenslust seiner Helden teilha-
ben, nimmt es zugleich mit in die Ab-
gründe. Und gibt ihnen zu einem ge-
AP / ullstein bild
wissen Grad ihre Würde zurück.
In einer kalten Nacht, in der Winde
2
von den Bergen über Kapstadt fegen,
dreht Verhoeven an einer Autobahn-
brücke eine Szene, die einen Tiefpunkt
der Geschichte zeigt. Pilatus schleppt
sich betrunken durch die Straßen von
Los Angeles, vorbei an Obdachlosen
und Prostituierten – ein trauriges Bild.
Pilatus kam mit dem Ende der
Band nicht klar, sein Drogenkonsum
nahm überhand, er geriet mehrmals
mit dem Gesetz in Konflikt. Farian
schreibt, dass er ihn gegen Zahlung
einer Kaution aus dem Gefängnis und
zurück nach Deutschland holte. Fühl-
te er sich schuldig, wollte er seinen
ehemaligen Schützling noch vor sich
selbst retten? Er habe »Unsummen
für die vielen Drogenkliniken erst in
den USA und zuletzt in Deutschland
bezahlt«, schreibt Farian in seiner
Mail. Geholfen hat es nicht.
Am 3. April 1998 findet Ingrid
»Milli« Segieth, Farians langjährige
Vertraute und Weggefährtin, Pilatus
tot in seinem Hotelzimmer. Am
nächsten Tag sollte er zu einer weite-
ren Therapie nach Sri Lanka fliegen,
ein Soloprojekt mit ihm sei bereits in
Horst Galuschka / IMAGO
Planung gewesen, schreibt Farian.
Verhoeven zeigt den Tod von Pi-
latus nicht. Er richtet den Blick auf
den Walkman seines Helden, der im-
3
mer langsamer läuft, bis er zum Still-
1 | Produzent Farian (M.) mit echten Milli-Vanilli-Sängern
stand kommt. Zu Ende ist es erst,
Howell, Davis 1990 2 | Musiker Pilatus, Morvan wenn die Musik nicht mehr spielt.
nach der Grammy-Verleihung 1990 3 | Bei Auftritt im Jahr 1988 Lars-Olav Beier n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 107
KU LT U R

Frederike Helwig / DER SPIEGEL

Oscarpreisträgerin Thompson, Grüffelo-Zeichner Scheffler: »Kindern Müll vorzusetzen ist, wie schlechtes Essen aufzutischen«

»Darf ich künftig keinen Pinguin mehr

zeichnen, weil ich selbst keiner bin?«
SPIEGEL-GESPRÄCH Die britische Schauspielerin Emma Thompson und den deutschen Illustrator
Axel Scheffler verbindet eine jahrzehntelange künstlerische Freundschaft. Hier reden sie über Weihnachten,
Hamlet auf dem Klo und einen ganz besonderen Hund.

Thompson und Scheffler an einem Ort treffen
zu wollen gehört zu den anspruchsvollen Auf-
gaben in einem Journalistenleben. Beide woh-
nen in London. Aber die zweifache Oscarpreis-
trägerin, Drehbuchautorin und Produzentin
Thompson, 64, dreht pausenlos Filme. Und
Scheffler, 66, einer der erfolgreichsten Kinder-
buchillustratoren und mit Julia Donaldson
unter anderem Erfinder der Figuren Grüffelo,
Stick Man, Schnetts und Schmoos, reist an-
dauernd von Ausstellungseröffnung zu Messe.
Als der Termin endlich steht, lädt Thompson
erst zu sich nach Hampstead und dann, weil
dort Handwerker sind, kurzfristig in die Woh-
nung ihres Schauspielkollegen Derek Jacobi,
der ein paar Häuser weiter wohnt, aber im
Urlaub ist. »Das ist so eine Art Künstlerkolonie
hier oder ein Altenheim, je nachdem«, sagt
Thompson. Gerade erst habe sie bei Imelda
Staunton, Queen-Darstellerin in »The Crown«,
die Wäsche reingeholt. Sie kommt gleich ins
Plaudern, während Scheffler sich auf die feine
Hamburger – oder britische? – Art zurückhält.
Als es um ihr Buch »Jims brillante Weihnach-
ten« und die Arbeit für Kinder geht, wird die
Unterhaltung lebhaft*.
SPIEGEL: Frau Thompson, Herr Scheffler, wie
kam es überhaupt zu Ihrer Zusammenarbeit?
Thompson: Ich erinnere mich kaum noch.
Wann haben wir …
Scheffler: Ich glaube, du hast mich Ende der
Achtzigerjahre angeschrieben und um zwei
Zeichnungen gebeten: einen Hamlet für dei-
nen damaligen Partner Kenneth Branagh und
etwas für deine Schwester.
* Emma Thompson, Axel Scheffler: »Jims brillante
Weihnachten«. Beltz; 80 Seiten; 17 Euro.
Das Gespräch führte der Redakteur Jörg Schindler.

108 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023


Thompson: Ach richtig, ich hatte da­
mals Zeichnungen von dir in der Zeit­
schrift »Good Housekeeping« ge­
sehen, Menschen und Tiere, die mich
sofort angesprochen haben. Ich habe
immer noch den Briefumschlag, in
dem du die Bilder geschickt hast:
darauf Hamlet, der auf einem Toten­
schädel hockt. Hängt gerahmt zu
Hause an meiner Klowand.
Scheffler: Und ich habe immer noch
deine Briefe. Ich wollte sie eigentlich
mitbringen, konnte sie aber einfach
nicht finden. In einem davon hast du
mich dafür getadelt, zu wenig Geld
zu verlangen.
Thompson: Wirklich?
Scheffler: 100 Pfund seien nicht ge­
nug, meintest du.
SPIEGEL: 100 Pfund pro Zeichnung?
Scheffler: Nee, für beide. Das war da­
mals viel Geld. Und ich stand noch
am Anfang meiner Karriere.
SPIEGEL: Dann wurden Sie Brief­
freunde?
Scheffler: Nicht direkt Brieffreunde,
aber wir blieben in Kontakt. Und
Emma bat mich immer mal wieder
um Zeichnungen, für Visitenkarten,
Briefköpfe.
Thompson: Mein geliebtes Schwein.
SPIEGEL: Ein Schwein als Briefkopf?
Thompson: Yep.
SPIEGEL: Warum?
Thompson: Weil es mein Spitzname
ist.
SPIEGEL: Ihr Spitzname ist Schwein?
Thompson: Mein Spitzname ist
Schwein, seit ich Mitte der Neunziger­
jahre nach Taiwan flog, um dort PR
für den Film »Sinn und Sinnlichkeit«
zu machen. Damals war gerade »Ein
Schweinchen namens Babe« raus­
gekommen, einer meiner Lieblings­
filme, und in Taiwan gab’s kleine
Plüsch­Babes. Mit zweien flog ich
nach Hause. Mein Mann Greg hat ge­
fragt: »Was ist das?« Und ich: »Zwei
Babes.« Von da an war ich Two Pigs
Thompson. Das wurde später abge­
kürzt zu Pigs, dann Pig, dann P. Hör
ich heute nur noch selten, aber hat
gut 20 Jahre lang gehalten.
SPIEGEL: Jetzt hat ein Hund, Jim, Sie
beide endlich zusammengebracht.
Wären Sie so nett, ihn unseren Lese­
rinnen und Lesern vorzustellen?
Scheffler: Er ist zuerst dir zugelaufen.
Thompson: Das stimmt. Ein Kinder­
buchverlag schrieb mich an und frag­
te, ob ich ein Buch über die erste ge­
druckte Weihnachtskarte schreiben
will. Und ich dachte: Will ich das? Ist
das nicht etwas fad? Aber sie haben
mir Infos über den Mann geschickt,
der nicht nur die Weihnachtskarte er­
funden, sondern später auch das Vic­
toria and Albert Museum in London
KU LT U R
geleitet hat. Er hieß Henry Cole – und Aufrichtigkeit. Wollten Sie Kinder
hatte einen Hund namens Jim. Da daran erinnern, dass es das alles tat­
dachte ich: Jetzt wird eine Geschich­ sächlich gibt?
te draus, aus der Hundeperspektive. Thompson: Nein, ich will niemanden
Von da an hat Jim praktisch übernom­ belehren. Das ist einfach aus mir raus­
men, er ist ein wirklich netter Kerl. gekommen, ich bin ein sehr altmodi­
SPIEGEL: »Jim« ist eine Weihnachts­ scher Mensch.
geschichte. Ein Thema, mit dem Sie SPIEGEL: Herr Scheffler, was reizt Sie
sich bestens auskennen. Der Weih­ daran, für Kinder zu arbeiten?
nachtsfilm »Tatsächlich … Liebe«, den Scheffler: Na ja, für Erwachsene gibt’s
viele alljährlich zum Fest sehen, ver­ als Illustrator einfach weniger zu tun.
folgt Sie bis heute, Frau Thompson, Im Ernst: Es gibt für mich nichts, was
außerdem schmeißen Sie immer eine bereichernder wäre. Bei den Lesun­
Weihnachtsfeier für Flüchtlinge. Sie, gen von mir und meiner Co­Autorin
Herr Scheffler, haben eine Weih­ Julia Donaldson ist der Empfang
nachtskarte für den damaligen briti­ eigentlich immer überwältigend. Mir
schen Schatzkanzler Gordon Brown schwirrt manchmal der Kopf, wenn
gestaltet und Weihnachtsbriefmarken ich daran denke, dass unsere Ge­
für die Royal Mail. Nervt Sie all der schichten Eltern und Kinder zusam­
Festkram nicht manchmal? menbringen. Das ist magisch.
Thompson: Ich liebe Weihnachten, Thompson: Bei meiner Arbeit mit
aber manchmal denke ich, wenn es Kindern habe ich mir sehr viel von
nur alle zwei Jahre stattfände, wär’s meinem Vater abgeschaut. Der hat in
auch nicht schlecht. den Sechzigerjahren eine Sendung für
Scheffler: Dem schließe ich mich an. die BBC gemacht, »The Magic Round­
Ein Kind zu haben macht bei dem about«, das Zauberkarussell. Das wa­
Thema viel aus. Aber unsere Tochter ren putzige, manchmal ein wenig
ist jetzt 15, vielleicht nimmt die Be­ surreale Fünf­Minuten­Clips in Stop­
deutung von Weihnachten bald ab. Motion­Technik …
Thompson: Unsere letzten beiden SPIEGEL: Ein bisschen ähnlich dem
Weihnachten waren der Wahnsinn, deutschen »Sandmännchen«.
und unsere Kinder sind 24 und 36. Thompson: Und mein Vater, der den
Szene aus »Jims Scheffler: Danke, sehr tröstlich. Erzähler gab, sagte immer: »Ich
brillante Weihnach- SPIEGEL: »Jims brillante Weihnach­ schreibe für Menschen.« Ich denke,
ten«: »Manchmal ten« ist eine sehr altmodische Ge­ dasselbe gilt für Axels Zeichnungen.
denke ich, alle
zwei Jahre Weih­
schichte. Es geht um Postkarten, Mo­ Er macht sie nicht für Kinder, sondern
nachten wär auch nokel, gedruckte Bücher, Freund­ für Menschen. Kleine Menschen.
nicht schlecht« schaft unter Ungleichen, Anstand und Scheffler: Und große. Erwachsene
mögen unsere Geschichten auch sehr.
Aber Kinder sind eine besondere
Leserschaft, weil sie sich vorurteilsfrei
in Bücher stürzen. Sie wissen und
sagen, wenn eine Geschichte gut ist –
für sie selbst jedenfalls.
Thompson: Hast du mit Kindern über
»Jim« gesprochen? Mögen sie ihn?
Scheffler: Keine Ahnung.
Thompson: Ich auch nicht. Wie schreck­
lich! Könnte ein echter Scoop für den
SPIEGEL werden: »Weder Scheffler
noch Thompson war bewusst, dass
›Jim‹ sich nur 15­mal verkauft hat und
eher auf Ablehnung stößt.«
Emma Thompson / Axel Scheffler »Jims brillante Weihnachten«, 2023
SPIEGEL: In Deutschland wird viel
mehr als in Großbritannien zwischen
»seriöser« Literatur und Kinderkram
unterschieden.
Scheffler: Das stimmt. Viele unter­
schätzen, dass es sich bei Kinder­
büchern um eine eigene Kunstform
handelt. Die Briten haben dagegen
eine lange Kinderbuchtradition. Ge­
hen Sie nur mal auf die Kinderbuch­
messe in Bologna, da belegen briti­
sche Verlage – anders als die deut­
schen – ganze Hallen.
SPIEGEL: Leben Sie deshalb seit
40 Jahren in Großbritannien?
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 109
KU LT U R
Scheffler: Nein. Ich bin zum Studieren aus
Hamburg hierhergekommen. Und danach war
London schlicht der beste Ort, um als Illus-
trator anzufangen.
SPIEGEL: Auf der Leinwand gibt es bisweilen
eine ähnliche Diskrepanz. Im aufwendig
produzierten Kinderfilm »Matilda – Das
Musical« spielen etliche britische Stars mit,
Sie selbst sind als schreckliche Rektorin
Knüppelkuh kaum wiederzuerkennen, Frau
Thompson.
Thompson: Wobei ich das Schrecklichsein erst
lernen musste. Der Regisseur jedenfalls mein-
te irgendwann, ich solle aufhören, ständig alle
Kinder am Set zu umarmen. Die sollten
schließlich Angst vor mir haben.
SPIEGEL: »Matilda« war dann bei den dies-
jährigen British Academy Film Awards als
bester britischer Film nominiert.
Thompson: Grundsätzlich gilt: Wenn du mit
Kindern arbeitest, musst du das Allerbeste
aus dir rausholen und sie jederzeit ernst neh-
men. Ihnen Müll vorzusetzen ist, wie schlech-
tes Essen aufzutischen. Sie müssen in die Lage
versetzt werden, sich selbst ein Urteil zu bil-
den. Das geht aber nur, wenn sie mit guten
Geschichten und guten Bildern groß werden.
SPIEGEL: Kinder und Tiere gelten oft als In-
begriff der Unschuld. Stehlen Sie sich mit
Ihrer Arbeit bisweilen aus einer verrückt ge-
wordenen Welt davon, Herr Scheffler?
Scheffler: Ein bisschen Eskapismus ist wohl
dabei, schließlich haben Bilderbücher fast
immer ein Happy End. Es gibt darin zwar
Schurken, aber die gewinnen nie. Kinder
können zwar viel mehr ertragen, als viele
denken. Aber sie brauchen ein versöhnliches
Ende, und davon gibt’s in unserer Welt ja nicht
so viele.
Thompson: Stimmt. Ich arbeite gerade an
einer Musicalversion von »Eine zauberhafte
Nanny«, in der eine größere Szene in einer
Leichenhalle spielen wird, mit einem Chor
singender Skelette. Man kann Kindern so et-
was auf jeden Fall zumuten, darf sie nur nicht
mit mulmigen Gefühlen zurücklassen, weil
ihnen womöglich noch die Fähigkeit zur
Selbstbesänftigung abgeht.
SPIEGEL: Sie haben sich beide schon häufiger
politisch engagiert, zum Beispiel gegen den
Brexit. Ihre blaue Eule, Herr Scheffler, war
ein Symbol der Pro-EU-Bewegung.
Scheffler: Ja, aber manchmal habe ich nur
gemacht, worum ich gebeten wurde. Einige
Male habe ich allerdings auch selbst die Ini-
tiative ergriffen, wie bei dem Buch »Zeichnen
für ein Europa«. Die Idee habe ich über den
Ärmelkanal getragen, um mit anderen Illus-
tratoren zu zeigen, was wir vom Brexit halten.
Ich war zornig und enttäuscht und traurig
über die idiotische Entscheidung, die EU zu
verlassen. Ich bin es immer noch.
SPIEGEL: Frau Thompson, Sie haben im Zuge
der Brexit-Debatte England als ȟberzucker-
te, verelendete, graue alte Insel« bezeichnet.
Autsch!
Thompson: Nun, das Zitat ist vom Boulevard-
blatt »Sun« missverstanden worden. Ich war
110 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
zu der Zeit in Berlin. Und als gute alte, selbst- rückblickend ungeschehen machen wollen,
ironische Britin, die ich nun mal bin, sagte wird herzlich wenig Literatur übrig bleiben.
ich: »Warum würde irgendwer je England Nehmen wir George Eliot, eine meiner Lieb-
verlassen wollen? Schauen Sie sich unser klei- lingsautorinnen. Niemand könnte künftig
nes wolkenverhangenes Archipel an, wo alle mehr ihren Roman »Daniel Deronda« lesen,
immer jammern und Kuchen essen.« Das war weil darin Antisemitismus vorkommt. Das
ein Scherz. Unsere gehässige Presse hat be- darf man nicht rechtfertigen, aber man muss
vorzugt, das zu ignorieren. verstehen, dass die Zeiten damals so waren.
SPIEGEL: Aber ein Brexit-Fan sind Sie nicht Scheffler: Sollen wir ernsthaft den Schrift-
gerade. steller James Baldwin oder den Bürgerrecht-
Thompson: Wie kann man so irre sein, ein ler Martin Luther King zensieren, die sich
Land von seinen engsten Nachbarn abzu- selbst »Negros« nannten? Die Haltung muss
spalten? Inzwischen sieht ja jeder, dass es ein sich ändern, nicht die Wörter.
Desaster war. Nur redet keiner darüber. SPIEGEL: Sind Sie schon einmal gecancelt, also
SPIEGEL: Immerhin ist das Kronensymbol auf für politische Ansichten abgestraft worden?
Biergläsern zurück, und Maßeinheiten wie Thompson: Keine Ahnung. Ich treibe mich
Zoll und Unze sollen auch wiederkommen. nicht auf digitalen Plattformen rum.
Thompson: Ja, dafür muss man natürlich Scheffler: Ich noch nicht. Wobei: Eine deut-
außerordentlich dankbar sein. sche Akademikerin hat den Grüffelo vor
SPIEGEL: Auch Kinderliteratur ist nicht mehr geraumer Zeit mal als rassistisch bezeichnet.
vor politischen Grabenkämpfen gefeit. Ver- Auf die Idee ist in den vergangenen fast
lage durchkämmen Klassiker intensiv nach 25 Jahren nirgendwo sonst jemand gekommen.
anstößigen Inhalten. Die Bücher des »Matil- Thompson: Es ist der Grüffelo, verdammt
da«-Autors Roald Dahl wurden überarbeitet, noch mal – ein Fabelwesen!
Wörter wie hässlich, verrückt, Mutter und Scheffler: Wenn man nur genau genug guckt,
Vater wurden ersetzt. wird man in meinen Büchern sicher noch
Scheffler: Das ist komplett übergeschnappt. andere Dinge entdecken, die irgendjemand
Wenn man dick oder schwarz nicht mehr anstößig findet.
schreiben darf, würgt man Kreativität ab. Vie- SPIEGEL: Sie gehören beide zur Weltspitze auf
le denken neuerdings ja auch, dass nur noch Ihrem Gebiet, was Sie gern mit kleiner Geste
Schwarze Gedichte von Schwarzen überset- von sich weisen. Aber unter uns: Berühmt zu
zen sollten. Wo führt das hin? Wenn man das sein hat schon auch Vorzüge, oder?
weiterspinnt, ist es das Ende von Literatur, Thompson: Es ist eine Nebenwirkung, und
die auch davon lebt, dass Autoren sich in an- egal wie ätzend und giftig man sie finden mag,
dere Menschen hineinversetzen – oder in man muss sich möglichst anständig und wür-
Tiere. Darf ich künftig keinen Pinguin mehr devoll damit auseinandersetzen. Und dabei
zeichnen, weil ich selbst kein Pinguin bin? gilt: nie unverschämt oder gemein sein.
Das wäre ein Problem, denn ich fürchte, Bil- Scheffler: Bei unseren zwei gemeinsamen öf-
derbücher über alte weiße Männer wie mich fentlichen Auftritten zu »Jim« konnte man
sind nicht besonders attraktiv für Vierjährige. das gut beobachten. Du bist auf die Leute
Thompson: Wir reden hier schlicht und ein- eingegangen, hast sie ernst genommen. Das
fach über Zensur. Wir müssen Bücher aus der war beeindruckend.
Zeit heraus verstehen, in der sie entstanden Thompson: Während du pausenlos exklusive
sind. Wenn wir stattdessen jedes Unrecht kleine Jims für jedermann gezeichnet hast.
Was natürlich deine Ausrede war, mit nieman-
dem reden zu müssen. Also habe ich das gan-
ze Blabla übernommen. Am Ende wäre ich
am liebsten in einem Bad aus Bloody Mary
versunken.
SPIEGEL: Das heißt, Frau Thompson, Sie sind
in diesem Doppelakt eigentlich die Deutsche,
Emma Thompson / Axel Scheffler »Jims brillante Weihnachten«, 2023
die direkt und forsch mit allen plaudert, wäh-
rend Herr Scheffler es auf die britische Art
macht: mit stillem Understatement.
Thompson: Wobei das natürlich Mummen-
schanz ist. In Wahrheit ist er längst nicht so
zurückhaltend, wie er wirkt.
Scheffler: Wahrscheinlich lebe ich schon zu
lange in diesem Land. Ich bin wirklich froh,
wenn mich auf der Straße niemand erkennt.
SPIEGEL: Sie können sich hinter Ihren Krea-
turen verstecken, während Sie, Frau Thomp-
son, praktisch immer im Rampenlicht stehen.
Würden Sie tauschen wollen?
Thompson: Nein.
Scheffler: Nein.
Buchillustration mit Hund Jim, Prinz Albert, SPIEGEL: Frau Thompson, Herr Scheffler, wir
Königin Viktoria danken Ihnen für dieses Gespräch. n
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KU LT U R
Der
Animaestro
KLASSIKDieser Mann dirigiert traditionsreiche Orchester – und ist ein Star
bei der Jugend: Joe Hisaishi, 73, zählt zu den erfolgreichsten Komponisten der
Gegenwart. Denn er schreibt Musik für japanische Trickfilme.
ie Londoner U-Bahn ist über-
D füllt, Dutzende quetschen sich
in die Wagen, in Wembley leert
sich der Zug, die Menschen strömen
nach draußen und gehen auf in noch
größeren Massen. Auf einem ver-
stopften Weg gehen sie langsam zur
Wembley-Arena, wo bald das Kon-
zert beginnt, auf das sie gewartet ha-
ben, schon seit mehr als zwei Jahren.
Wegen Corona wurde die Tour mehr-
fach verschoben, jetzt zieht sich eine
Warteschlange über den Vorplatz der
Arena. Es regnet, die Menschen ha-
ben Schirme aufgespannt, sie sind
112 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
jung, und sie sind hergekommen, um
ein Orchester zu hören. Klassische
Musik eigentlich.
Nur dass der Komponist, der diese
Musik geschrieben hat, lebt und seine
Werke selbst dirigiert. Joe Hisaishi
heißt er, ein 73-jähriger Japaner, der
seit den Achtzigerjahren die Sound-
tracks für die Animefilme von Studio
Ghibli komponiert. Studio Ghibli ist
die große Arthouse-Marke im Anime.
Sein Mitbegründer, der Drehbuch-
autor und Regisseur Hayao Miyazaki,
gilt als der Poet unter den japanischen
Trickfilmern. Für »Chihiros Reise ins
Zauberland« wurde er 2003 mit dem
Oscar ausgezeichnet. Doch seine
Werke sind undenkbar ohne die Mu-
sik von Joe Hisaishi.
Filmmusik ist neben der Musik für
Computerspiele das Genre, in dem
die Klassik weiterlebt. Hier sind sin-
fonisch anmutende Kompositionen
gefragt. Sie werden von einem Publi-
kum geliebt, das sich sonst für die
traditionelle klassische Musik nicht
allzu sehr interessieren dürfte. Ein
Publikum, wie es an diesem Abend
zu Joe Hisaishi gekommen ist, größ-
tenteils zwischen 20 und 30 Jahren
alt, sehr viele Frauen.
Gleich am Eingang der Arena ist
ein Merchandise-Stand aufgebaut,
hier gibt es Joe Hisaishis neues Album
»A Symphonic Celebration« zu kau-
fen. Auch Tassen mit Animebildern,
vor allem aber viele Plüschtiere.
Optisch wirken sie billig, ihr Preis
jedoch ist hoch: eine kleine schwarze
Katze für 33 Pfund, ein noch klei-
neres weißes Wesen, eine Mischung
aus Schneeflocke und Gespenst, für
23 Pfund.
Die Fans von Studio Ghibli mögen
an dieser Stelle empört sein über die
despektierliche Beschreibung ihrer
Lieblinge, sie erkennen schließlich
jede Filmszene, die drinnen im Saal
während des Konzerts über der Büh-
ne projiziert wird, und jubeln. Die
Wembley-Arena fasst 12.500 Men-
schen, am nächsten Abend tritt Hi-
saishi noch einmal auf, auch der
zweite Abend ist ausverkauft.
Nick Rutter / Universal Music Group
Hisaishi lässt sich an den beiden
Abenden vom 50-köpfigen BBC Con-
cert Orchestra begleiten. Dazu ein
großer Chor, der Crouch End Festival
Chorus, dessen Sängerinnen und Sän-
ger in ihrer kargen Spiritualität den
Eindruck erwecken, dass sie sonst
anglikanische Kantaten zum Lob
Gottes aufführten. Auch zwei Perso-
nen, die Sopran singen, sind dabei,
Grace Davidson und Ella Taylor.
Im Anzug, mit Einstecktuch, aber
ohne Fliege, kommt Hisaishi ziemlich
schwungvoll auf die Bühne gelaufen,
schüttelt dem ersten Violinisten die
Hand, verbeugt sich und fängt an zu
dirigieren. Mit einem Paukenwirbel
beginnt »The Legend of the Wind«,
ein Stück aus dem Film »Nausicaä aus
dem Tal der Winde«, mit dem 1984
die gemeinsame Karriere des Studio-
Ghibli-Gründers Miyazaki und des
Komponisten Hisaishi begann.
Zu fast allen Stücken, die Hisaishi
in London spielt, werden Filmaus-
schnitte auf eine große Leinwand
Musiker Hisaishi:
Er arbeitet so ähnlich
über der Bühne projiziert. Man sieht
wie Bach, hört die junge Hexe Kiki aus »Kikis kleiner
aber lieber Beethoven Lieferservice« auf ihrem Besen über
 KU LT U R

die Häuser einer idealtypisch alteuropäi-
schen Stadt fliegen und ein Schwein, das es in
»Porco Rosso« im Italien der Zwanzigerjahre
als Pilot mit Mussolinis Truppen aufnimmt.
Die Ästhetik dieser Filme wirkt kindlich,
doch die Geschichten, die sie erzählen, sind
in ihrer Komplexität für kleine Zuschauerin-
nen und Zuschauer nicht unbedingt zu er-
fassen: Ein antifaschistisches Schwein, was
soll das sein?
So steht Studio Ghibli für eine Popkultur,
die infantil wirkt und doch altersweise ist.
Eine hybride Form, die vielleicht gar nicht so
schlecht in eine Zeit passt, in der junge Men-
schen mit absolutem Ernst die Dinge zu ver-
stehen glauben und dabei doch mit großer
Naivität oder Unwissen die Probleme der
Welt mit einem Posting auf TikTok kommen-
tieren. Und natürlich lassen sich auch Auf-
nahmen von Hisaishis Konzert hervorragend
posten, die Pause im Konzert wird vom
Publikum vor allem dafür genutzt, sehr aus-
führlich für Selfies zu posieren.
Doch der Erfolg von Joe Hisaishi spricht
dafür, dass seine Kompositionen für das
Trickfilmpublikum mehr sind als bloße Be-
gleitmusik. In Deutschland kam sein Album
»A Symphonic Celebration«, das er mit
dem Royal Philharmonic Orchestra einge-
spielt hat, in diesem Jahr auf Platz sechs der
Charts. Wie John Williams, der unter ande-
rem die Musik für die »Star Wars«-Filme
komponiert hat und dessen Kompositionen
Seine Stücke sind
in der Regel nicht länger
als Popsongs.
mittlerweile von Anne-Sophie Mutter, dem
Inbegriff der alten Klassikkultur, eingespielt
werden, steht Hisaishi für einen sich wan-
delnden Markt.
Das Bildungsbürgertum stirbt aus, die
unzähligen Klassik-CDs aber, die es seinen
Nachkommen hinterlassen hat, sind mehr
oder weniger unverwüstlich. Sie dürften noch
über Jahre dafür sorgen, dass die Nachfrage
nach den klassischen Werken der großen
Komponisten marginal bleibt – wenn nicht
gerade ein Social-Media-kompatibler Star wie
Igor Levit auf dem Klavierhocker sitzt.
Warum eine neue Aufnahme von Mozarts
Sonaten kaufen, wenn man schon drei auf CD
geerbt hat? Dass eine junge Generation über
Computerspiele und Trickfilme sinfonisch an-
mutende Musik neu entdeckt hat, ist ein un-
verhoffter Glücksfall für ein Traditionslabel
wie die Deutsche Grammophon, bei dem
Hisaishi unter Vertrag ist.
Hisaishis »A Sinfonic Celebration« dürfte
für die allermeisten der jungen Hörer das ers-
te Werk mit dem markanten gelben Logo der
Firma sein. Anders als die Werke vergangener
Tage entspricht seine Musik auch formal den
Hörgewohnheiten von heute: Seine Stücke
sind in der Regel nicht länger als Popsongs,
und wenn, wie auch beim Londoner Konzert,
jemand singt, ist dieser Gesang eingängig,
unkompliziert und ziemlich gefühlvoll, ganz
ohne die allzu ernste Verschraubtheit so man-
chen Kunstliedes früherer Zeit.
Nach dem Konzert hat die Plattenfirma
eine After-Show-Party angekündigt. Ein paar
Medienleute, das Team des Labels, warten in
den Katakomben der Wembley-Arena auf
Hisaishi. Jemand öffnet verlegen ein Bier.
Nach ein paar Minuten kommt Hisaishi
herein, begleitet von Ella Taylor, eine der Per-
sonen, die beim Konzert auf der Bühne stand.
Es heißt, die beiden seien ein Paar.
Hisaishi schüttelt Hände und nimmt Gra-
tulationen entgegen. Taylor steht daneben
und macht nichts. Hisaishi strahlt in die Run-
de. Dann ziehen die beiden sich zurück. Es
ist der kurze Auftritt eines Mannes, der seine
Präsenz einzuschätzen weiß und sie dosiert
einsetzt.
Einige Tage nach dem Konzert in London
ist Hisaishi in Wien. Im Konzerthaus, einem
der traditionellen Orte für klassische Musik
in der Stadt, wird er mit einem österreichi-
schen Orchester eine neue Komposition ein-
spielen, ein Konzert für Viola. Außerdem soll
er ein paar Interviews geben. Die Plattenfirma
hatte im Vorfeld darum gebeten, im Gespräch

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SÜDSUDAN: Achok Issac ist erleichtert nach

der Geburt ihres Babys. Unsere Hebamme
Martha A. Jacob ist an ihrer Seite.
© Oliver Barth / msf
KU LT U R
mit ihm Fragen zu seiner Arbeit für
Studio Ghibli zu vermeiden.
Das ist ein bisschen irritierend,
weiß Hisaishi denn nicht mehr, dass
er sich vor wenigen Tagen in London
vor 25.000 Konzertbesuchern als
Filmmusikkomponist zu erkennen
gegeben hat? Seine beiden Rollen,
hier Showman, da Komponist, hat er
offenbar sauber getrennt.
Hisaishi betritt den Raum, geklei-
det im legeren Schwarz der Künstler
seiner Generation, begleitet wird er
von einem Assistenten, auch er in
einem dunklen T-Shirt. Er sieht
eigentlich fast wie Hisaishi aus.
Schließlich kommt eine Übersetzerin
dazu, verbeugt sich und überreicht
ihre Karte. Anders als der Assistent,
der auf einem Stuhl im Raumhinter-
grund Platz nimmt, setzt sie sich zu
Hisaishi an den Tisch.
Hisaishi möchte die Antworten auf
Japanisch geben, auch wenn er Eng-
lisch spricht. Er lächelt aufmerksam.
Er wirkt konzentriert. Und das gera-
de, obwohl der nun ablaufende Pro-
zess, Frage auf Deutsch, Übersetzung
ins Japanische, Antwort auf Japa-
nisch, Übersetzung ins Deutsche, viel
Zeit in Anspruch nimmt. Es hat etwas
von einer sehr förmlichen Zeremonie,
wenig von einem spontanen Ge-
spräch. Das Konzert in London aber
ist tatsächlich weit weg in diesem Mo-
ment. Man könnte fast glauben, es
habe nie stattgefunden. Hier sitzt der
Komponist, allein mit sich und seiner
Musik.
114 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
Geboren wurde Joe Hisaishi 1950
in der japanischen Stadt Nakano.
Als Kind lernte er, Violine zu spielen.
Hisaishis bürgerlicher Name ist Ma-
moro Fujisawa. Den Künstlernamen
Joe Hisaishi gab er sich, um dem US-
amerikanischen Jazzmusiker und
Produzenten Quincy Jones seine Re-
verenz zu erweisen. Die japanischen
Schriftzeichen für beide Namen ent-
sprechen sich.
Doch die erste Frage nach seiner
Kindheit und seinem Werdegang
beantwortet Hisaishi im Interview
lächelnd, auf eine ganz eigene, still
resolute Art: »Das ist lange her.«
Es kann nur dem Unverständnis,
der mangelnden kulturellen Sensibi-
lität des deutschen Interviewers ge-
schuldet sein, dass der an dieser Stel-
le nachsetzt. Doch Hisaishis Antwort
steht schon im Raum, mächtig und
erhaben und von unverrückbarer
Schönheit wie der Berg Fuji auf Ho-
kusais Drucken. »Das ist lange her.«
Eine endgültige Wahrheit, nicht durch
Fragen ins Wanken zu bringen.
Im Laufe des Gesprächs gelingt
es schließlich, zumindest bis in die
Achtzigerjahre vorzudringen. Das
war die Zeit, als Hisaishi nach seinem
Studium an der Musikhochschule To-
kio zum ersten Mal in Wien war. In
dieser Zeit komponierte er Minimal
Music, geschult am Vorbild der US-
amerikanischen Komponisten Terry
Riley und Philip Glass. Mit Riley ist
Hisaishi heute befreundet. Seine
Tochter, so erzählt er von sich aus, sei
gerade in New York, um mit Riley zu
arbeiten.
Von der Minimal Music und ihren
reduzierten Klangmustern kommend,
hat Hisaishi sich einen Arbeitsstil an-
geeignet, der klarem Denken folgt.
Musik, das wiederholt er immer wie-
der im Gespräch, ist für ihn Logik. Er
macht nicht den Eindruck, als ob er
allzu viel Zeit darauf verschwendet,
auf Inspiration zu warten.
Sein Arbeitstag ist durchstruktu-
riert, Komponieren ist Arbeit und
Musik fast schon Mathematik. So
ähnlich war das bei Johann Sebastian
Bach zwar auch – aber Hisaishi hört
selbst lieber Beethoven. Dass Beet-
hoven einst in Wien gelebt hat, das
findet Hisaishi nun, 40 Jahre nach
seinem ersten Besuch in Wien, doch
Lloyd Winters / Universal Music Group
gar nicht so schlecht.
Die japanische Popkultur hat sich
die Faszination für das alte Europa
bewahrt. Und auch die damit verbun-
denen ästhetischen Traditionen, zu
denen die klassische Musik gehört.
Haruki Murakami hat einen ganzen
Roman geschrieben, der auf Franz
Liszts Komposition »Années de Pè-
Konzert mit Hisaishi- lerinage« beruht. In Europa hingegen
Soundtracks in hat sich die Generation der heute viel
London: Der Markt
wandelt sich geschmähten Boomer nach dem
Zweiten Weltkrieg lieber an den USA
orientiert. Sie hat Rock ’n’ Roll gehört
statt der Orchestermusik von Bach
oder Beethoven, die sie altbacken
fand, wenn nicht sogar reaktionär.
In Japan hat die alteuropäische
Ästhetik ausgerechnet in einem
Genre überdauert, das von den Kin-
dern der Boomer besonders geschätzt
wird, dem Anime. Und mit den
Animefilmen von Studio Ghibli hat
auch die Orchestermusik überdauert,
die in den Kompositionen von Joe
Hisaishi immer ein bisschen mehr die
tänzerische Leichtigkeit der Wiener
Vorbilder hat als das wuchtige Don-
nern von Soundtrack-Komponisten
wie Hans Zimmer, die in den USA
tätig sind.
Neben der Musik von Ludwig van
Beethoven bedeutet Hisaishi vor al-
lem die Musik des französischen
Komponisten Claude Debussy viel.
In Los Angeles, in der Hollywood
Bowl, hat er mit einem Orchester De-
bussys Werk »La Mer« aufgeführt,
vor 17.000 Menschen. Eigentlich
waren sie gekommen, um Hisaishis
Soundtracks zu hören. Am Ende be-
jubelten sie auch Debussy.
Darum gehe es ihm, sagt Hisaishi,
dem jungen Publikum die Liebe zur
klassischen Musik weiterzugeben. Er
schaut auf, an der Übersetzerin vor-
bei. Sein Lächeln wirkt gelöst.
Sebastian Hammelehle n

Lustobjekt mit Agenda
STREAMINGKRITIK Viel Sex, viel Geld und keinerlei moralische Gewissheiten:
Der Film »Saltburn« über zwei Freunde aus unterschiedlichen sozialen Klassen
ist die Provokation der Saison.
leine Tour durch das Anwesen
K Saltburn gefällig? Dann los: die
rote Treppe hoch, den Korri-
dor mit dem Sekretär von Heinrich
VII. entlang, grüner Salon, blauer
Salon, dann das Schlafzimmer des
Königs. »An dem Bett klebt übrigens
noch die Wichse von Heinrich VIII.«
Felix (Jacob Elordi), der Sohn der
Saltburn-Eigentümer, führt seinen
Kommilitonen Oliver (Barry Keo-
ghan) durchs Anwesen. Sie kennen
sich aus Oxford, wo sie zwar auf das-
selbe College gehen, sich aber die
längste Zeit in unterschiedlichen Wel-
ten bewegt haben. Der schöne, große
Felix stammt aus einer altehrwürdi-
gen, reichen Familie, der kleine, ver-
druckste Oliver aus schwierigen Ver-
hältnissen. Sein Vater ist kriminell,
seine Mutter drogensüchtig. Erst ein
Stipendium hat ihm den Besuch der
Eliteuni ermöglicht. Dort erkennt
man Menschen, die sich im Leben
anstrengen müssen, sofort: Ihnen
fehlt eine gewisse Lässigkeit, die mit
Reichtum einhergeht. Deshalb schnei-
det man sie, wann immer es geht.
Aber als Felix einen Radunfall hat
und Oliver ihm aus der Patsche hilft,
nähern sich die zwei so unterschied-
lichen jungen Männer an. Fortan fei-
ern sie die Nächte durch. Als Oliver
eine Hiobsbotschaft von seiner Fami-
lie erhält, ist für Felix klar, dass Oliver
den Sommer über nicht nach Hause
fahren kann, sondern mit ihm kom-
men muss: nach Saltburn.
Nach dem fiktiven Landsitz hat die
britische Drehbuchautorin und Re-
gisseurin Emerald Fennell (»Promi-
sing Young Woman«) ihren zweiten
Spielfilm benannt. Das passt gut, weil
der Hauptteil der Handlung auf dem
herrschaftlichen Anwesen irgendwo
in England spielt. Es passt aber noch
besser, weil der Film selbst ziemlich
genau wie Saltburn ist: grotesk präch-
tig (in seiner Ausstattung), unver-
schämt raumgreifend (in seiner Län-
ge) und moralisch zweifelhaft (in sei-
ner Aussage).
In den USA, wo »Saltburn« re-
gulär in die Kinos kam, hat er schon
erboste Kritiken und Social-Media-
Postings provoziert. Ihn als den kon-
troversesten Film des Kinoherbsts zu
bezeichnen wäre nicht übertrieben.
»Saltburn« sei »die Art von Peinlich-
keit, die man 75 Minuten aushalten
kann. Aber nicht 127«, schrieb etwa
die »New York Times«.
In Deutschland ist »Saltburn« ab
dem 22. Dezember nur auf Amazon
Prime Video verfügbar. Das ist scha-
de, weil die Bildgestaltung von Oscar-
gewinner Linus Sandgren bombas-
tisch ist. Dazu gehören Aufnahmen
von den Weiten des Parks von Salt-
burn, aber auch Kamerafahrten ent-
lang des Oberkörpers von Jacob Elor-
di. Der Star aus der HBO-Skandal-
serie »Euphoria« hat das Gesicht und
vor allem den Kiefer eines klassischen
Hollywood-Idols, dazu den Körper
eines »Men’s Health«-Models. Sein
Felix ist das offensichtliche Lust-
objekt von »Saltburn«: Wie die Ober-
schichtmädchen von Oxford scheint
auch Oliver mehr als nur Freund-
schaft von ihm zu wollen.
Das entscheidende Lustobjekt ist
allerdings Oliver selbst, von Barry
Keoghan mit sich stetig steigernder
Intensität grandios gespielt. Erst kann
er nur den reichen Felix für sich ein-
KU LT U R
nehmen, doch sobald er auf Saltburn
angekommen ist, schafft er es, auch
den Rest der Familie für sich zu ge-
winnen. Mit den Codes der Upper-
class weiß er nämlich besser zu spie-
len, als es zunächst schien: Oliver ist
ein Aufsteiger mit Agenda.
Dadurch ähnelt er weniger dem
erotischen Hausgast aus Pier Paolo
Pasolinis »Teorema«, der nach und
nach die gesamte Familie verführt,
als vielmehr Tom Ripley, dem talen-
tierten Hochstapler aus Patricia High-
smiths Büchern. Beide Vorbilder
scheint Regisseurin Fennell genau
studiert zu haben, um deren Nuancen
anschließend mit lautesten Provoka-
tionen zu übertönen: In »Saltburn«
wird Menstruationsblut geleckt und
Badewasser mit Ejakulat getrunken.
Die weitaus größere Provokation ist
aber die moralische Uneindeutigkeit,
die sich Fennell erlaubt.
In »Promising Young Woman« war
sie schon so frei, grelle Sittenkomödie
und düstere Rachefantasie zu ver-
mengen. Die von Carey Mulligan ge-
spielte Cassie sühnte darin den Suizid
einer Freundin, die eine Vergewalti-
gung nicht verkraftet hatte. In Bars
Amazon Prime
spielte Cassie das betrunkene Mäd-
chen, das Männer gern retten und
nach Hause bringen – nur um sich
dann umso ungehemmter an ihr zu
Schauspieler vergehen. Sobald das passierte, gab
Keoghan sich Cassie als stocknüchtern zu er-
kennen und verpasste den Männern
den Schock ihres Lebens.
2021 fügte sich das wahnsinnig gut
in den durch #MeToo sensibilisierten
Zeitgeist ein und brachte Fennell den
Oscar für das beste Originaldrehbuch
ein. Im Gegensatz zu den neuen ge-
sellschaftlichen Übereinkünften in
Bezug auf Machtmissbrauch und se-
xuelle Übergriffe sind die Oben-und-
unten-Konstellationen des Klassen-
kampfs aber schon lang vom Kino
und noch länger von der Literatur
untersucht worden.
Fennell wählt deshalb einen Weg,
der sehr bewusst fernab aller mora-
lischen Gewissheiten führt. Das Pro-
blem: Die Provokationen gehen im-
mer wieder auf Kosten der Psycho-
logie. Auf stimmige Figurenzeichnung
hat Fennell offensichtlich weniger
Arbeit verwandt als auf originelle
In »Saltburn« Verteilung von Körperflüssigkeiten.
Am Ende kommt sie an einem Punkt
wird Mens­ an, der subversiver ist, als er zunächst
truationsblut scheint. Dann steht wieder eine Füh-
rung durch Saltburn an – nur diesmal
geleckt und unter völlig veränderten Vorzeichen.
Badewasser Der Weg dorthin ist mitunter anstren-
gend, die letzte Tour sollte man sich
mit Ejakulat dennoch nicht entgehen lassen.
getrunken. Hannah Pilarczyk n
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 115
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116 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
 Vera Molnár, 99 Ryan O’Neal, 82
NACHRUFE Neues zu entdecken reizte Der US-Schauspieler hatte
die Grande Dame der Compu- in Fernsehserien wie »Peyton
terkunst augenscheinlich ein Place« mitgewirkt, bevor er
Leben lang. Die als Vera Gács in 1970 mit dem Melodram »Love
Budapest geborene Künstlerin Story« den Durchbruch schaff-
begann während des Zweiten te – in der Rolle eines Studen-
Weltkriegs an der Ungarischen ten, der die große Liebe findet
Akademie der Bildenden Küns- und sie durch eine tödliche
te zu studieren. In Paris, wo Krankheit wieder verliert. Ryan
sie bald François Molnár heira- O’Neal erhielt eine Oscarnomi-
tete, setzte sie ihre Auseinan- nierung und zählte einige Jahre
dersetzung mit abstrakter, geo- lang zu Hollywoods größten
metrisch-konstruktiver Malerei Stars. Er übernahm Haupt-
fort. Dabei spielte das Quadrat rollen in Komödien wie Peter
von Anfang an eine Hauptrolle. Bogdanovichs »Is’ was, Doc?«
Vera Molnár arbeitete nach (1972) oder Stanley Kubricks
der »méthode imaginaire«: In- Historienepos »Barry Lyndon«
nerhalb einer quadratischen (1975) und schien in viele Genres
Fläche setzte sie nach eigenen zu passen. So brillierte er auch
Regeln (imaginäre) Punkte und in dem Thriller »Driver« (1978)

teutopress / IMAGO
variierte das Ganze dann mit als wortkarger Held. Einer sei-
minimalen Abweichungen, um ner schönsten Filme in dieser
Überlagerungen, Bewegungen, Zeit war das Roadmovie »Paper
Leerräume zu erschaffen. Gern Moon« (1973), das während
spielte sie auch mit Farben. der Depression in den Dreißiger-
Dieter Stolte, 89 Das Komplexe im Simplen und jahren spielt. Die Rolle eines
Einmal mischte er sich sogar in die Wetterkarte ein. Auf sein Be- umgekehrt, die Spannung jungen Mädchens, das der von
treiben nahm das ZDF dort 1999 Saarbrücken auf, der neue saar- zwischen Ordnung und Unord- O’Neal verkörperte Trickbe-
ländische Ministerpräsident hatte ihn darum gebeten. Dieter Stolte, nung, das waren ihre Themen. trüger zu Verwandten bringen
bereits ein erfahrener Intendant, tat dem SPD-Politiker den Ge- 1968 entdeckte Molnár den soll, übernahm Tatum O’Neal,
fallen, im Wissen, dass die Bundesländer für den Sender finanziell Computer als Werkzeug und
haften und dafür gehegt werden wollen. Stolte war vier Jahrzehnte Assistenten für sich. Damals
beim ZDF, die Hälfte davon an dessen Spitze. Geboren in Köln, nahmen Rechner noch ganze
wuchs er in Berlin und der DDR auf, 1953 floh die Familie in den Räume ein. Molnár lernte die
Westen. Er studierte Philosophie in Mainz, unter anderem bei Programmiersprache Fortran
Karl Holzamer. Der wurde 1962 Gründungsintendant des ZDF, holte und schaffte es, im Forschungs-
Stolte als Referenten und machte ihn zum Leiter der Programm- labor eines Computerherstellers

Paramount Pictures / akg-images

planung. Nach einem Intermezzo als Fernsehdirektor des Süd- experimentieren zu dürfen:
westfunks und einer erfolglosen Kandidatur für die WDR-Intendanz »Damals hatten die Männer alle
kehrte Stolte 1976 als Programmdirektor zum ZDF zurück und das Gefühl, ich wäre ein wenig
wurde fünf Jahre später Intendant. Er brachte die Kultursender Arte verrückt«, sagte sie später. Die
und 3sat mit auf den Weg, stritt mit Medienmogul Leo Kirch um international gefeierte Künst-
Fußball-Übertragungsrechte und fädelte eine umstrittene Koopera- lerin hatte zuletzt für eine Aus-
tion vom ZDF mit T-Online ein. Nach seiner ZDF-Zeit war er als stellung in Paris den Kupferstich
Herausgeber für den Medienkonzern Axel Springer tätig. Dieter »Melencolia« (1514) von
Stolte starb am 10. Dezember in Berlin. AKÜ Albrecht Dürer mithilfe künst- die Tochter des Stars – und ge-
licher Intelligenz neu inter- wann mit zehn Jahren als eine
pretiert. Das Centre Pompidou der jüngsten Darstellerinnen
Peter-Michael Kolbe, 70 wird ihr im kommenden Fe- jemals einen Oscar. Wie sie spä-
Er hat den Rudersport geprägt und ihn über Jahre dominiert, fünf- bruar eine große Retrospektive ter berichtete, hatte sie zu ihrem
mal wurde er Weltmeister im Einer. Dennoch denken die meisten widmen. Vera Molnár starb am Vater ein sehr schwieriges Ver-
Menschen, wenn sie seinen Namen hören, an Olympische Spiele – 7. Dezember in Paris. KS hältnis. In den Achtziger- und
und die Niederlagen, die Peter-Michael Kolbe erlitten hat. In Mont- Neunzigerjahren lief es weniger
real 1976 ging er als Topfavorit ins Rennen, um kurz vor Schluss gut für den Schauspieler, nach
völlig kraftlos mitansehen zu müssen, wie der Finne Pertti Karppinen einigen Flops hatten seine
an ihm vorbeizog. Ein Einbruch, den sich Kolbe nur damit erklären Filme und Rollen nicht mehr
konnte, dass er im Vorfeld eine Spritze mit einem vermeintlichen das gleiche Format wie zuvor.
Vitaminpräparat bekam, dessen Wirkung er nicht vertrug. Die Ärzte Für Schlagzeilen sorgte dafür
Catherine Panchout / Sygma / Getty Images

wiesen einen Zusammenhang zwischen Injektion und Leistungs- seine turbulente Beziehung
abfall zurück. Acht Jahre später trat Kolbe in Los Angeles noch mit der Schauspielerin Far-
einmal an, wieder siegte Karppinen. Und als 1988 der Finne seinen rah Fawcett. 2006 übernahm
Zenit überschritten hatte, war DDR-Ruderer Thomas Lange O’Neal einen Part in der TV-
zur Stelle und schnappte sich die Goldmedaille. Ein Jahr später be- Serie »Bones – Die Knochen-
endete Kolbe seine Karriere. Dreimal Olympiazweiter: Das kann jägerin«, die es auf fast 250
man als Tragik bezeichnen – oder als Ausweis seiner Klasse. Peter- Folgen brachte und bis 2017 lief.
Michael Kolbe, der an Demenz erkrankt war, starb am 8. Dezember Ryan O’Neal starb am 8. De-
in Lübeck. AHA zember in Santa Monica. LOB

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 117

 PERSONALIEN

Plötzlich
Prinzessin
Die Wahrscheinlichkeit ging ge-
gen null: Die Britin Meg Bellamy,
21, eine bis vor Kurzem völlig
Unbekannte, darf im letzten
Teil der Erfolgsserie »The Crown«
die Rolle der Kate Middleton
übernehmen. Unter Tausenden
Bewerberinnen wurde sie aus-
gewählt, dabei hat sie noch
nie professionellen Schauspiel-
unterricht bekommen, ge-
schweige denn ein Engagement
vorzuweisen. Sie hatte bei
Schulaufführungen mitgewirkt,
sich vergebens bei Schauspiel-
schulen beworben und, verklei-
det als roter Klemmbaustein, in
Legoland gejobbt. Dann sah
sie den Aufruf der Produktions-
firma, bewarb sich mit einem
Video und wurde zum Casting
eingeladen. Der Castingdirektor
sagte der »Sunday Times« er
habe praktisch auf der Stelle ge-
wusst, dass Bellamy die Richti-
ge sei. Als er sie im Zusammen-
spiel mit Ed McVey erlebt habe,

Stefano Galluzzi / Sunday Times / News Licensing / ddp

er mimt den jungen Prinzen
William, sei die Sache entschie-
den gewesen. »Keiner von uns
hatte zuvor professionell ge-
schauspielert«, sagte Bellamy
der »Sunday Times« – »also
saßen wir von Anfang an im
selben Boot.« Die Verantwor-
tung, eine echte, lebende Per-
son zu spielen, nimmt sie ernst:
»Ich hoffe, ich bin ihr gerecht
geworden.« KS

Glück zurück
Mit 66 Jahren, behauptet Udo
Jürgens, fange das Leben an.
Wenn die Weisheit stimmt, ist
der Schauspieler Brad Pitt ganz
Rudy Carezzevoli / Getty Images
wohl ein Ende der juristischen
Auseinandersetzungen an. Und
auch andere persönliche Pro-
bleme habe der Hollywoodstar
erfolgreich in Angriff genom-
men. So jedenfalls sagte es eine
Managerin bei einer Schmuck-
firma. Seit über einem Jahr
kursieren Liebesgerüchte und
entsprechende Paparazzifotos.
Bevor er de Ramon getroffen
hatte, sei Pitt gar nicht bewusst

schön früh dran. Nächste Wo-
che wird er 60, und es wirkt, als
hätte sein Leben eine Wende
genommen – zum Guten. Nach
jahrelangem Scheidungs- und
Sorgerechtsstreit mit Ex-Frau
Angelina Jolie, 48, bahnt sich
anonyme Quelle der »Intouch
Weekly«. Der ungenannte Infor-
mant fasst zusammen: »Er ist
wieder glücklich.« Dazu trägt
offenbar wesentlich eine fast
drei Jahrzehnte jüngere Frau
namens Inés de Ramon bei,
gewesen, wie einsam er war,
zitiert »Intouch« die anonyme
Quelle. Nun plane er eine fette
Geburtstagsparty mit vielen
berühmten Gästen – und freue
sich darauf. Mit 60 ist noch lan-
ge nicht Schluss. KS

118 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023

 Träumen mit Falten gehabt habe, es nicht zu tun.
Darauf sei sie nicht stolz. In
Ihre unretouchierten Fotos Rossellinis Fall trifft das Gegen-
haben eine eigentümliche teil zu: »Ich habe nicht den Mut
Dynamik entfacht. Es begann gehabt, es zu tun. Und ich bin
mit zwei Titelbildern: Isabella auch nicht stolz darauf.« Der
Rossellini, 71, Schauspielerin, gesellschaftliche Wandel mache
zeigte sich im Oktober auf dem es Frauen heute leichter, zu
Cover der italienischen »Vogue« ihrem Alter zu stehen, glaubt
und im November auf dem der Rossellini. Ein Beispiel dafür
»Elle« in Frankreich. Titel: sei ihre eigene Karriere. Mit

Cindy Ord / WireImage / Getty Images

»Aimer ses rides« (»Seine Fal- 40 Jahren habe die Kosmetik-
ten lieben«). Rossellini hatte marke Lancôme sie für zu alt
darauf bestanden, dass die erklärt, um Werbung zu ma-
Fotos nicht nachbearbeitet wer- chen. Begründung: Ältere Frau-
den. Sie habe keine Lust, »auf en könnten Kunden nicht mehr
jung zu machen«, erklärt die zum Träumen bringen. Das
Tochter des Regisseurs Roberto habe sich als falsch erwiesen.
Rossellini und der Schauspiele- Mit über 60 Jahren engagierte
rin Ingrid Bergman in Inter- Lancôme sie wieder als Foto-
views. Ihre Kollegin Jane Fonda modell. Nach den Titelbildern
habe einmal gesagt, sie habe ließ Rossellini sich jetzt für die
sich für Schönheitschirurgie ent- Zeitung »Libération« porträ-
schieden, weil sie nicht den Mut tieren. Legt man die drei Fotos
nebeneinander, fällt auf, dass
ihre Gesichtsfältchen immer
besser zu sehen sind. Man kön-
ne von einem Extrem ins an-
dere fallen, scherzte ihr Bruder
und brachte Rossellini damit
zum Lachen: Statt Falten zu
glätten, würde man sie neuer-
dings hinzufügen. Mit ihren un-
retouchierten Bildern habe sie
offensichtlich eine Art Wettbe-
werb unter Fotografen losgetre-
Romy Alizée / Libération
Echt rührend
Oscarpreisträgerin Emma Stone,
35, ist nah am Wasser gebaut.
Während eines Interviews mit
der »New York Times« über die
Dreharbeiten zu »Poor Things«
kamen der Schauspielerin
mehrfach die Tränen. Der Film
erzählt die märchenhaft-exzen-
trische Geschichte einer Frau,
die sich das Leben nimmt und
von einem verrückten Wissen-
schaftler reanimiert wird, indem
er ihr das Gehirn ihres ungebo-
renen Kindes einpflanzt. Ge-
diesem letzten Drehtag sehr viel
geweint habe, aus Erschöpfung,
aber auch, weil sie das Projekt
so geliebt habe und bedauerte,
dass es vorbei war. Die Film-
figur Bella »ist wahrscheinlich
die Rolle meines Lebens«, sagte
die Schauspielerin. Dass sie
auch im Gespräch mit der »New
York Times« heulte, war Stone
offenbar peinlich, sie entschul-
digte sich für ihren Gefühls-
ausbruch: »Das ist so dumm,
es ist seltsam!« Im Film zu wei-
nen, in einer Rolle, gehört zum
Handwerkszeug einer Schau-

ten, postete sie dazu auf Insta-
gram: »Wer zeigt mich mit den
meisten Falten?« Ihr Kommen-
tar zum Foto in »Libération«:
»Das bin ich, in zehn Jahren!« PE
dreht wurde dabei nicht chrono-
logisch – der Todessprung von
einer Brücke, der am Anfang
des Films steht, kam zuletzt.
Stone erzählte nun, dass sie an
spielerin. Kommen die Tränen
im Interview, fragt man sich un-
willkürlich: Sind die echt oder
gespielt? Egal, rührend sind sie
allemal. KS

»1970, Baby!« managerin eines queeres Film- turstaatsministerin Claudia Roth Amerikanerin hatte kaum je-
festivals – und ihre Karriere be- bei Tuttles Vorstellung in Berlin mand auf dem Zettel. Die
Zu ihren Lieblingsfilmen zählt gann Tuttle als Gitarristin einer deshalb über beide Ohren. Mit sechsköpfige Findungskommis-
der Bergman-Klassiker »Perso- Indie-Rockband. Klingt in der ihrer Berufung gelang Roth auf sion, zu der auch Regisseur
na«, aber auch der Schwarzen- Tat cool, vielleicht strahlte Kul- jeden Fall ein echter Coup, die Edward Berger gehörte, über-
egger-Hit »Terminator«: Mit der zeugte Tuttle mit ihren klaren
US-Amerikanerin Tricia Tuttle, Vorstellungen zu den künstleri-
wahrscheinlich 53, übernimmt schen Perspektiven der Berli-
eine echte Überraschungskandi- nale. Bei dem Termin glänzte sie
datin ab April 2024 die Leitung zunächst einmal mit lockeren
der Berlinale. »Cool« soll die Statements: Berlin, so Tuttle,
Neue sein, womit sie dem der- sei verspielt und sperrig, begeis-
zeitigen, scheuen künstlerischen tere sich für Kunst und Ideen,
Leiter Carlo Chatrian, 52, und sei intelligent und vielfältig.
seinem onkelhaften Vorgänger Die Frage einer Journalistin
Dieter Kosslick, 75, einiges nach ihrem Alter parierte sie
Sebastian Gollnow / picture alliance / dpa

voraus hätte. Tuttle lebt schon lässig: »1970, Baby!« Und

lange in England, wo sie seit Tuttle scheint kein Problem mit
2018 das London Film Festival Selbstironie zu haben. Zu ihren
betreute. Dem bescherte sie Sprachfähigkeiten sagte sie auf
einen Zuschauerzuwachs, unter Englisch: »Ich verspreche, dass
anderem durch den Ausbau des ich in einem Jahr so gut Deutsch
digitalen Zugangs zu Festival- spreche, dass Sie sich über
filmen. Davor war sie für das meinen Akzent lustig machen
British Film Institute Programm- können.« KAE

Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 119


BRIEFE
Krempelt die
Ausbildung um!
Nr. 50/2023 Titel: Warum wir wieder
rechnen lernen müssen
Wenn Sie schon auf dem Titel-
blatt auf die simple Regel »Punkt-
vor Strichrechnung« hinweisen
wollen, sollten Sie auch in der
Titelblattgleichung den Multipli-
kationspunkt verwenden.
Gerald Hecken-Meißner,
St. Augustin-Buisdorf (NRW)
Die Formulierung der Regel
»Punktrechnung vor Strichrech-
nung« stammt aus alter Zeit. Zum
Beispiel in meiner Grundschul-
zeit 1949 schrieb man das Multi-
plizieren mit einem Punkt und
das Dividieren mit zwei Punkten.
Heute sieht man, wie auch auf
Ihrem Titel, keine Punkte und
daher auch keine »Punktrech-
nung«, sondern nur »Strichrech-
nungen«. Die Formulierung der
Regel ist also an die überholte
Schreibweise angelehnt und für
heutige Kinder keine Hilfe. Die
gültige mathematische Lösung
muss auch mathematisch formu-
liert werden.
Heidi Dunker, St. Ingbert (Saarl.)
Die 9. Klasse eines Flensburger
Gymnasiums hatte im letzten
Schuljahr abwechselnd eine und
zwei Stunden Mathe die Woche.
Macht im Durchschnitt andert-
halb Stunden pro Woche – Leh-
rerfehlzeiten nicht mit einbezo-
120 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
gen. Soll ich mich da noch über
die Ergebnisse der Pisa-Studie
wundern?
Michael Lobsien, Meyn (Schl.-Holst.)
Als Industrienation sind wir auf
die bestmögliche Förderung der
intellektuellen Fähigkeiten unse-
rer Kinder angewiesen. Es darf
nicht sein, dass deren Bildungs-
chancen ganz wesentlich von der
sozialen Herkunft abhängen. Wir
können es uns nicht leisten, der
Bildung unserer Kinder nicht bei
allen politischen Entscheidungen
die Priorität einzuräumen. Das
beginnt nicht erst in der Grund-
schule. Die Ursache des Schulver-
sagens liegt oft auch in einer un-
zureichenden innerfamiliären
Förderung der frühkindlichen
Entwicklung von Grundkompe-
tenzen wie Kommunikation, So-
zialverhalten, Motorik oder Ko-
gnition. Die Coronapandemie ist
nur eine Ursache für das misera-
ble Abschneiden. Auch die un-
zureichenden Sprachkenntnisse
vieler Kinder spielen eine nicht
unwesentliche Rolle. Die Kinder-
tageseinrichtungen sind oft über-
fordert und erhalten nicht die
notwendige Unterstützung für
die frühe Sprachförderung.
Dr. med. Wolfram Hartmann, Deutsches
Kinderbulletin, Kreuztal (NRW)
Erstaunt hat mich, dass Ihr Be-
richt in keiner Weise die Aus-
bildung der Mathematiklehrer
beleuchtet hat. Während des
Lehramtsstudiums wird höhere
Mathematik gepaukt, es geht dort
um die reine Mathematik und
nicht darum, wie man Schülerin-
nen und Schüler motiviert, sich
mit ihr zu beschäftigen. Wer die-
ses anspruchsvolle Studium ab-
solviert hat, steht dann vor dem
Problem, dass er Mathematik auf
niedrigem Niveau »rüberbrin-
gen« soll, was sie oder er gar nicht
gelernt hat. Dies führt häufig zu
unzureichendem, wenig motivie-
rendem Mathematikunterricht.
Andererseits finden sich bei Quer-
oder Seiteneinsteigern häufig »ge-
borene« Lehrkräfte. Da helfen
auch die 1000 Projekte nichts, die
sich die Bildungsministerien oder
Unternehmen einfallen lassen!
Mein Vorschlag: Bündelt das Geld
für die diversen Projekte, und
krempelt die Ausbildung endlich
um, sodass am Ende Mathema-
tiklehrer und -lehrerinnen mit
soliden Fachkenntnissen, aber
hervorragenden Methodenkom-
petenzen die Klassen für Mathe-
matik begeistern können.
Brigitte Glismann, ehemalige Leiterin einer
berufsbildenden Schule, Ludwigshafen
Im negativen Sinn
atemberaubend
Nr. 49/2023 Leitartikel: Um die Rettung
des Weltklimas steht es besser, als viele
befürchten
Der Text bringt die Fragen rund
um die Klimakrise auf den Punkt.
Glücklicherweise ist die grüne
Energierevolution »in vollem
Gange, und sie ist unumkehrbar«.
Fernab von dem kleinlichen Streit
um die Schuldenbremse gibt es
hierzulande ein enormes Innova-
tionspotenzial, um die grüne
Energierevolution voranzubrin-
gen. Denn offensichtlich haben
andere Länder wie China und die
USA die Zeichen der Zeit erkannt
und scheuen keine Kosten, um
hier Marktführer zu werden.
Wenn dies nicht verstanden und
politisch massiv unterstützt wird,
braucht man sich über die Folgen
nicht zu wundern. Dies wäre
eigentlich eine originäre Aufgabe
der Ampelkoalition und Stoff für
eine Regierungserklärung, dies-
mal mit einem richtigen Wumms
für Bundeskanzler Olaf Scholz.
Denn viel Zeit bleibt nicht mehr.
Dieter Obst, Wiesbaden
Ich schlage vor, diesen hoffnungs-
vollen Beitrag dem Klimaforscher
Hans Joachim Schellnhuber zu-
kommen zu lassen. Schellnhuber
hat nämlich jüngst in einem
SPIEGEL-Gespräch unter Verweis
auf die in diesem Jahr registrier-
ten Temperatur-»Anomalien«
von einem möglichen »Übergang
in eine neue Phase der Klima-
krise« gesprochen und von einem
denkbaren »Bruch mit der Holo-
zän-Welt, die unsere Zivilisation
in den letzten 12.000 Jahren erst
ermöglicht hat«. Richten Sie
Herrn Prof. Schellnhuber aus, er
könne sich beruhigen: Alles wird
gut. »Wieder einmal leitet der
menschliche Erfindungsgeist eine
neue Epoche ein.« Hohoho!
Erwin Bixler, Rodalben (Rhld.-Pf.)
So toll ist die Lage des Weltklimas
nun auch wieder nicht, wie im
ersten Teil des Leitartikels be-
schrieben. Und die Projektionen
sind allenfalls im negativen Sinn
atemberaubend. Da helfen auch
keine mit Konjunktiven zusam-
mengebastelten Vergleiche. Die
Realität zeigt: Es sieht nicht be-
sonders gut aus! Da geht fast die
am Ende des Artikels geäußerte
Kritik an der zögerlichen Klima-
politik der Regierung und am all-
gemeinen »Lästern der Populis-
ten« unter. Deutschland hat den
Wandel schon länger verschlafen,
und es wäre an der Zeit, in die
neue, harte Realität zurückzu-
kehren, anstatt zum Beispiel im-
mer noch auf den Autobahnen
herumzurasen.
Günther Baumann, Paris (Frankreich)
Authentisch berichtet
Nr. 49/2023 Unterwegs mit den Jungs
aus der Neuköllner High-Deck-Siedlung,
einem der bekanntesten Brennpunkte
Berlins
Nach dem Lesen habe ich den
Text zwei Tage sacken lassen.
Wie will man diese desaströse Zu-
standsbeschreibung auch irgend-
wie einordnen? Die Einordnung
geschah wohl am ehesten zwei
Tage später, als die Ergebnisse der
Pisa-Studie publiziert wurden.
Ratlos bleibe ich dennoch zurück.
Tobias Kollenberg, Dülmen (NRW)
Die Reportage von Özlem Gezer
liest sich wie ein Protokoll des
vielfältigen Versagens von Poli-
tik, von Behörden, von Eltern,
von Migranten, die sich von dem
Staat, in dem sie leben, der sie
ernährt, abwenden. Die eine
Konfliktpartei kann sich nicht, die
andere will sich nicht an der Lö-
sung der Probleme beteiligen.
Der Bericht aus dem kindlich-
jugendlichen Migrantenmilieu
wirkt authentisch, weil er das Stil-
mittel der »Geheimsprache« ver-
wendet. Die Gespräche der Ju-
gendlichen drehen sich immer um
Macht-, Gewalt-, Geld- und Sex-

Schon sehr merkwür­
dig, dass Jennifer
Morgan im Interview
häufig China und die
Golfstaaten als Um­
weltsünder erwähnt,
aber ihr Heimatland
USA, den zweit­
größten Verschmut­
zer, nicht einmal.
Dr. Ralph Detzel, Ehingen
(Bad.-Württ.)
Nr. 49/2023 Die deutsche
Klima-Sonderbeauftragte
Jennifer Morgan über
die Knackpunkte der Uno-
Konferenz in Dubai
fantasien. Den Jugendlichen ist
langweilig. Sie wollen Action und
Spaß, und die bestehen aus Ran-
dale mit dem Staat. Vom Arbeiten
oder von der Schule ist kaum die
Rede. Ihre Informationen bezie-
hen sie aus den verseuchten sozia-
len Netzwerken. Sie sind stolz auf
ihre Untaten. Soll mit dem Bericht
Verständnis für das permanente
Fehlverhalten erzeugt werden?
Generation Corona – geboren und
verloren? Der Ausflug der »Gang«
nach Polen wirkt wie ein Probe-
lauf für den Silvestereinkauf. Er
deutet an, was Berlin in der kom-
menden Silvesternacht zu erwar-
ten hat: Feuerwerkskörper-Ran-
dale gegen die verhassten Staats-
vertreter – die Polizei, die Feuer-
wehr und die Sanitäter.
Günter Knop, Hüttenberg (Hessen)
Der Schaden ist
riesig
Nr. 49/2023 Das späte Geständnis von
Sänger Gil Ofarim
Gil Ofarim hat nach dem Motto
»Antisemitismusvorwürfe gehen
in Deutschland ja immer viral«
seine Reichweite auf Social Media
missbraucht und nicht nur das
Leipziger Hotel The Westin und
dessen Angestellte diffamiert,
sondern das ganze Land; das alles
für ein paar Klicks mehr. Erst bei
erdrückender Beweislast hat er
Dank und großes Lob
für diese hervor­
ragende Ausgabe,
besonders die Artikel
über Migration,
Neukölln und Um­
welt/Kohlekraftwerk.
Sehr gut recherchiert
und im Ton kon­
struktiv und nicht
überlegen­zynisch
wie früher so oft.
Wolfgang Gaede, Brüssel
(Belgien)
Nr. 49/2023 Unterwegs mit
den Jungs aus der Neuköllner
High-Deck-Siedlung, einem der
bekanntesten Brennpunkte
Berlins
nun mit wenigen Sätzen seinen
Hals aus der Schlinge gezogen;
das ist bis zum Schluss reinster
Opportunismus, meinen Respekt
hat er dafür nicht, denn der Scha-
den ist riesig.
Dirk Paulukat, Bad Camberg (Hessen)
Ende gut, alles gut? Auf jeden Fall
hat Herr Ofarim mit seiner däm-
lichen und verantwortungslosen
Aktion allen Judenhassern aus
der rechtsextremen und islamis-
tischen Ecke einen ausgesproche-
nen Leckerbissen serviert.
Wulfhard Bäumlein, Bad Vilbel (Hessen)
Das Verhalten von Herrn Ofarim
ist erbärmlich; ebenso erbärmlich
ist es, dieses antisemitisch zu
missbrauchen. Als Deutscher
christlichen Glaubens bin ich
auch nicht verantwortlich für Ver-
brechen eines jeden Deutschen
und eines jeden Christen.
Gernot Hilge, Münster
Abrechnung mit dem
Steinkohlenbergbau
Nr. 49/2023 Von Kohle zu Wind –
die schwierige Verwandlung der Bergbau­
stadt Ibbenbüren
Mit großem Interesse habe ich
Ihre Ausführungen gelesen. Sie
führen an einer Stelle an, dass bei
der Zeche Preußag in Ibbenbüren
Anthrazitkohle gefördert wurde.
Dieses Interview
habe ich mit Freude
gelesen. Weil Herr
Boehm sich sehr
differenziert äußert
und weil er eine
Perspektive eröffnet,
die auch meine Hoff­
nung ist: dass eines
Tages Juden und
Palästinenser
als gleichberechtigte
Staatsbürger in
einem Staat Israel
leben werden.
Helga Nitsche, Obertshausen
(Hessen)
Nr. 49/2023 SPIEGEL-Gespräch
mit dem deutschisraelischen
Philosophen Omri Boehm über
den Israel-Gaza-Krieg und
die düstere Zukunft der Region
Da diese Besonderheit die Giftig-
keit dort noch besser verdeut-
licht, erlaube ich mir, kurz darauf
hinzuweisen. Die Anthrazitkohle
hat einen hohen Heizwert und
war deshalb sehr beliebt. Trotz-
dem musste in direkter Nachbar-
schaft der Zeche ein Kraftwerk
gebaut werden, um eine Verwen-
dung der dort geförderten Kohle
zu sichern. Die Nutzung dieser
Kohle machte aber eine Entsti-
ckung des Rauchgases erforder-
lich, die bei üblichen Steinkohle-
kraftwerken nicht erforderlich ist.
Deshalb auch wohl der von Ihnen
erwähnte besonders hohe Kamin,
der die noch verbliebenen Gifte
in großer Höhe verteilte.
Karl Ganteführer, Dortmund
Im Gegensatz zu allen anderen
Ländern, in denen der Bergbau
ausgelaufen ist, kümmert sich die
RAG verantwortungsvoll um
die Bergbaufolgen. Wir sichern
den Altbergbau, regulieren Berg-
schäden, entwickeln die ehema-
ligen Bergbauflächen und schaf-
fen so Arbeitsplätze. Für das Gru-
benwasser hat die RAG – im
Gegensatz zu allen anderen Berg-
bauländern – Konzepte entwi-
ckelt, um Menschen und Umwelt
zu schützen. Dies alles wird in
dem Artikel nur am Rande oder
gar nicht erwähnt. Stattdessen
eine einseitige Abrechnung mit
150 Jahren Steinkohlenbergbau
– fünf Jahre nach Auslauf. Es fehlt
der optimistische Blick nach vor-
ne. Der Autor fragt, ob der ge-
waltige Transformationsprozess
in Ibbenbüren gelingen kann. Er
gelingt! Weil in Ibbenbüren alle
Beteiligten das wollen und an
einem Strang ziehen. Von Apo-
kalypse keine Spur.
Christof Beike, Stellv. Unternehmens­
bereichsleiter und Pressesprecher RAG
Aktiengesellschaft, Essen
Alte Freundschaften
Nr. 49/2023 Dirigent Justus Frantz und
seine fragwürdige Nähe zu Russland
»Wenn Sie einen begnadeten Pia-
nisten von 20 Jahren hören, dann
vergessen sie alles andere.« Das
ist Justus Frantz, wie er leibt und
lebt. Aber es war nicht nur die
musikalische Jugend, die er för-
derte. Nie werde ich vergessen,
dass er in Neuwied die Therapie-
räume der Jugendpsychiatrie mit
einem Benefizkonzert unter-
stützte. Und das zu einer Zeit, in
der jeder Schritt zu einer huma-
nen Psychiatrie eine Revolution
war. Da könnten die Veranstalter
der Schleswig-Holstein-Festspie-
le noch viel von ihm lernen. Aus
diesem Grund erlebe ich Ihren
Artikel als sehr einseitig. Vor
allem besorgt mich, dass die Bun-
desrepublik in einen Dogmatis-
mus verfallen könnte, der im Wi-
derspruch zu ihren Werten steht.
Ursula Lemke, Köln
Unabhängig von der ungewohn-
ten Häme und Tendenziösität des
Artikels: Professor Justus Frantz
ist bereits seit mindestens 1989
mit dem Dirigenten Walerij Ger-
gijew bekannt oder befreundet.
Eine Schallplatte der beiden mit
der Deutsch-Sowjetischen Jungen
Philharmonie wurde bereits am
11. Juni 1989 aufgenommen, also
noch vor der Wende in Osteuro-
pa. Da war Gorbatschow noch
Generalsekretär, und die Sowjet-
union feierte Glasnost und Pere-
strojka. Dass Professor Frantz an
alten Freundschaften festhält, un-
abhängig von den gerade walten-
den politischen Strömungen, ge-
hört zur Lebenswirklichkeit und
ist völlig normal und sogar be-
grüßenswert.
Henrik Garten, Berlin
Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
unter SPIEGEL.de zu archivieren.
Nr. 51 / 16.12.2023 DER SPIEGEL 121
L E TZ T E S E I T E
Vom Bahn-Depot ins Kunst-Depot
ZEITREISE U-Bahn-Mitarbeiter fluchten über Graffiti, als New Yorker
Jugendliche ihre Namen vor 50 Jahren ins Stadtbild
schrieben. Aber Galerien entdeckten rasch den Reiz der urbanen Kunst.
Nr. 51/1973 »So knüppeldick wars
noch nie«
Ab dem Sommer 1970
tauchte der Schriftzug
»Taki 183« immer öfter
auf New Yorks Mauern
und U-Bahnen auf. Als
man noch spekulierte,
ob sich dahinter ein Politkommando oder
ein Verrückter verbarg, outete die »New
York Times« den Schöpfer: Dimitrios,
ein griechischstämmiger Jugendlicher, hatte
getan, was alle seine Kumpels taten, nur
intensiver. »Erstmals wurde ein Graffiti-
Künstler aus der Anonymität katapultiert«,
erklärte der SPIEGEL seine Bedeutung
1973.
Das Graffiti-Sprayen entwickelte sich zur
Massenbewegung. Vorwiegend Teenager
aus den Ghettos der Stadt verewigten sich
mit ihren »Tags«, deren Zahlen für die
Straßen standen, aus denen die »Writer«
kamen. Die Außenwände der Subway-Züge
waren ihre bevorzugte Arbeitsfläche –
die waren wunderbar glatt und hatten den
Vorteil, dass die Werke in der ganzen
Stadt zu sehen waren. Eine täglich »rollen-
de Super- und Sondershow von Graffiti-
Der Besucher
SO GESEHEN Die erstaunliche
Reise des Friedrich Merz
Der Entwurf des neuen CDU-Grundsatz-
programms markiert einen epochalen
wissenschaftlichen Durchbruch: Es beweist
die praktische Möglichkeit, in die Zukunft
zu reisen. Eine in der Zeitschrift »Nature«
veröffentlichte physikalisch-politische Ana-
lyse kommt zu dem Schluss, dass es sich
bei dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz
höchstwahrscheinlich um den ersten Zeit-
reisenden der Menschheitsgeschichte han-
delt. Nur so, erklären die Wissenschaftler,
ließe sich etwa die erneute Forderung einer
deutschen »Leitkultur« im CDU-
Programmentwurf erklären.
Die »Leitkultur«-Debatte,
erläutern die Forscher, sei
bereits mehrfach geführt
und abgeschlossen
worden, sogar
ihr Urheber, der
verstorbene CDU-
Politiker Jörg Schön-
122 DER SPIEGEL Nr. 51 / 16.12.2023
HOHLSPIEGEL
Von kleinanzeigen.de:
Aus der »WAZ«:
»Offiziell ist die Strecke kein Unfall-
Graffiti auf einer New Yorker schwerpunkt. Das soll sich aber
U-Bahn 1972 ändern mit entsprechenden Maßnahmen.«
Smith Collection / Gado / Getty Images
Schild an einer Landstraße bei Wadern (Saarl.):
Wandmalereien« fuhr also aus »Brooklyn
über Harlem in die Bronx spazieren«.
Bald tauchten die ersten Graffiti in den
Galerien auf. Die Künstler brauchten nun
nicht mehr nachts in die Bahndepots einzu-
brechen. »Früher war ich im U-Bahndepot«,
amüsierte sich ein Sprayer, »jetzt arbeite ich Von SPIEGEL.de:
im Kunstdepot.« Nur die Subway-Gesell- »Es wird immer weniger Fleisch gegessen.
schaft war wenig begeistert: »Wenn das Kunst 2022 sind nach Angaben des Bundes-
ist, dann zur Hölle mit der Kunst«, fluchte der informationszentrums Landwirtschaft
Chef ihrer Anti-Graffiti-Abteilung. rund 4,2 Kilogramm weniger
In der Titelgeschichte beschrieb der als im Vorjahr verzehrt worden.«
SPIEGEL die Auswirkungen der Energie-
krise auf die bundesdeutsche Wirtschaft – Aus der »Pforzheimer Zeitung«:
die Zahl der Arbeitslosen und Kurzarbeiter
stieg rasant. Rainer Lübbert
bohm, habe bereits 2006 erklärt, diesen Informationen zum Weihnachtsmarkt des
Begriff vermeiden zu wollen. Gewerbevereins Arheilgen (Hessen)
in der Wochenzeitung »Arheilger Post«:
Nach Einsteins Relativitätstheorie kann
in die Zukunft reisen, wer mit einem fast »Neben kalten und natürlich warmen
lichtschnellen Raumschiff die Erde verlässt. Getränken gibt es außerdem:
Für den Raumfahrer vergeht die Zeit lang- Waffen, Popcorn und Kinderpunsch.«
samer als für die Menschen, die auf der
Erde verbleiben. Er kehrt als Besucher aus Aus der »Kornwestheimer Zeitung«:
der Vergangenheit zurück. Die Parallelen »Auf der Gemarkung gebe es
sind augenfällig: Merz war Anfang der Nul- elf Vorrangflächen für
lerjahre aus der öffentlichen Wahrnehmung Offenlandbrüter wie Feldhasen.«
verschwunden und nach etwa 15 Jahren
überraschend wieder aufgetaucht. Seine
Von klinikum-bochum.de:
mutmaßlich sagenhaften Reichtümer könn-
ten dem begeisterten Privatpiloten zwi-
schenzeitlich den Erwerb eines Raumschiffs
ermöglicht haben.
»Es ist keine andere Erklärung denkbar«,
heißt es nun in »Nature«, »zumal der Zeit-
reisende Merz erkennbar über keinerlei
Kenntnisse der gesellschaftlichen Entwick-
lungen während seiner Abwesenheit ver- Hinweis zu einem Kinderspielzeug auf amazon.de:
fügt.« Mit großer Anstrengung sei es zwar
durchaus möglich, zur Gegenwart aufzu-
schließen – Merz wolle sich jedoch offen-
kundig umgehend auf die Rückreise begeben
und das ganze Land mitnehmen. »Reisen
in die Vergangenheit aber«, so die Forscher,
»sind unmöglich.« Stefan Kuzmany
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