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Dänemark dkr 67,95 Frankreich €  7,40 Italien €  7,80 Norwegen NOK  119,– Portugal (cont) €  7,20 Slowakei €  7,40 Spanien €  7,40 Tschechien Kc 220,- Printed in Germany

UKRAINE

Besessenen
von Bachmut

LUXUSUHREN
NANCY FAESER

Geständnis eines
»Die Menschen in

Bei den Totengräbern


Hessen kennen mich«

Warum wir immer dicker und kränker werden – und kaum anders können
DEUTSCHLAND
Nr. 6 | 4.2.2023
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HAUSMITTEILUNG

Berlin-Kreuzberg | Seite 38

Das Netteste am Kottbusser Tor ist sein Spitzname, zu-


mindest auf den ersten Blick. Der »Kotti«, ein von Hoch-
Nancy Jesse / DER SPIEGEL
häusern umringter Platz in Berlin-Kreuzberg, ist be-
rüchtigt für Drogen, Kriminalität und Dreck. SPIEGEL -
Redakteur Hannes Schrader, der seit 2011 in Berlin lebt, Berufliche
war dort meist, wenn er an der labyrinthartigen U-Bahn-
Station umsteigen musste. Ihn nervten der Müll, der Weiterbildung
Lärm, die Junkies. Zugleich ist der Kotti so dicht besie-
delt wie wenige andere Orte in der Stadt. Schrader wollte wissen, was die Menschen hier hält. Bei wann und wo
seiner Recherche stellte er fest, dass viele seit Jahrzehnten hier leben. Die meisten von ihnen
stammen aus der Türkei, der Kotti ist für sie ein Zuhause. Konflikte gibt es reichlich, aber auch
Sie wollen
Engagement und Solidarität. »Es ist gar nicht schwer, den Kotti lieben zu lernen. Man muss nur
mit denen reden, die es schon tun«, sagt Schrader.

Bachmut | Seite 74

Jeden Morgen fuhren SPIEGEL -Reporter Christoph


Reuter, Fotografin Johanna-Maria Fritz und Überset-
zer Kostiantyn Kalugin nach Bachmut hinein, mehr als
J. M. Fritz / DER SPIEGEL

eine Woche lang. Sie blieben immer nur ein paar Stun-
den. Bachmut ist eine Stadt im Donbass, die seit Mo-
naten so massiv von russischen Truppen attackiert wird
wie kaum eine andere in der Ukraine. »Graue Zone«
nennen die Ukrainer das Niemandsland zwischen ihren
Truppen und den russischen Angreifern. In Bachmut
und Umgebung ist alles graue Zone oder kann jählings dazu werden. Russische Raketen und
Geschosse schlugen immer wieder in der Nähe des SPIEGEL -Teams ein. Dass die Russen oft lange Jetzt nur
Zeit dasselbe Ziel beschießen, machte das Ausweichen zwar leichter. Doch als die Reporter weit
vor Bachmut eine Einheit trafen, die mit einem selbstfahrenden 57-Millimeter-Geschütz seit
Tagen die russischen Stellungen beschoss, war in knapp 200 Metern plötzlich ein schrilles Pfeifen
€ 990,–
zu hören, dann Stille. Ein Blindgänger. »Sie haben uns geortet, weg, weg, weg hier!«, brüllte der statt
ukrainische Kommandeur. Der Stellungskrieg sei so mörderisch, sagt Reporter Reuter, dass »das lan- € 1.290,–
ge Zögern des deutschen Bundeskanzlers bei der Lieferung von Kampfpanzern weltfremd wirkt«.

Annie Ernaux | Seite 104


Philipp Schmidt / DER SPIEGEL

Am liebsten ist Annie Ernaux allein. Seit Jahren lebt die fran- Wir feiern 5 Jahre
zösische Schriftstellerin mit ihren beiden Katzen nahe Paris,
doch fernab vom dortigen Literaturtrubel. Sich dem mondänen
SPIEGEL Akademie!
DER SPIEGEL

Leben zu entziehen gelang ihr bislang gut. Dann erhielt sie Sichern Sie sich jetzt unser
Ende vergangenen Jahres den Literaturnobelpreis, und es war Jubiläumsangebot mit dem Code
vorbei mit der Ruhe. In ihrem Haus in Cergy erzählte sie
SPIEGEL -Redakteurin Britta Sandberg und SPIEGEL -Redakteur Xaver von Cranach nun, wie
Aktion5. Erreichen Sie zeitlich
dieser Moment ihr Leben veränderte, »dieser Preis, den ich nie wollte, aber den man auch nicht flexibel und ortsunabhängig
ablehnen kann«. Zurzeit arbeitet die 82-Jährige an einem längeren Buch, mehr wollte sie nicht einen staatlich anerkannten
preisgeben. Bilder von dem Gespräch gibt es nicht. Dass das SPIEGEL -Team, anders als sonst
üblich, ohne Fotograf anreiste, hatte Ernaux zur Bedingung gemacht.
Zertifikatsabschluss zur Erwei-
terung Ihres beruflichen Profils.
»Dein SPIEGEL«
Es war eine folgenschwere Entscheidung, die der römische Kaiser Hadrian traf:
Anders als seine Vorgänger, die Rom zu einer Weltmacht aufgebaut hatten,
wollte er keine Eroberungskriege führen. Warum? Und wie konnte diese Stadt
überhaupt so mächtig werden? Darum geht es im ersten Teil der neuen Welt-
mächte-Serie im Kinder-Nachrichten-Magazin »Dein SPIEGEL «. Außerdem
im Heft: Sicherheitsexpertin Claudia Major erklärt im Kinder-Interview, warum Alle Kurse und
derzeit mehr über Waffenlieferungen als über Friedensverhandlungen diskutiert Infos unter
wird. »Dein SPIEGEL « erscheint am Dienstag.
akademie.spiegel.de
Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 3
INHALT TITEL

8 | Ernährung Warum Deutsch-


land sich dick isst – und was
die Politik jetzt dagegen tun muss
DER SPIEGEL 77. Jahrgang | Heft 6 | 4.2.2023

16 | Kann man seinen


Stoffwechsel manipulieren?

18 | Übergewicht Starkoch Tim


Raue über die Droge Zucker
und seine Obsession für Frittiertes

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel Die Politik muss


dringend eine Strategie gegen
den Lehrermangel entwickeln

20 | Deutsche beklagen lang-


same Justiz / Queere sollen
ins Grundgesetz / Die da unten:
Im siebten Himmel

24 | SPD spiegel-Gespräch

Kevin Trageser / Redux / laif


mit Innenministerin Faeser über
ihre Kandidatur in Hessen und
Pläne für die innere Sicherheit

28 | Migration Die EU will sich


gegen Flüchtlinge abschotten

31 | Bundesregierung FDP
und Grüne streiten über
Dickes D feministische Außenpolitik

32 | Gesundheitspolitik Kann
TITEL Pizza, Döner, Burger, Bratwurst – und vor allem Mengen an Zucker. Viele Karl Lauterbachs Reformpaket
Deutsche ernähren sich falsch, obwohl sie wissen, wie ungesund das ist. den Kliniken helfen?
Experten sprechen von einer Adipositas-Epidemie und warnen vor den Folgen. 35 | Kriminalität Ermittler
Gibt es einen Ausweg aus der Übergewichtskrise? | 8, 16, 18 zerschlagen Kinderpornografie-
Plattformen

36 | Berlin Wie CDU-Spitzen-


kandidat Kai Wegner den
Machtwechsel schaffen will

38 | Brennpunkt Das harte


Leben am verrufenen Kottbusser
Tor in Berlin
James Manning / empics / picture alliance

42 | Bildung Die Software


Marlena Waldthausen / DER SPIEGEL

ChatGPT kann das Lernen


Jens Har tmann / People Picture

verändern

44 | Ortstermin Zu Besuch
im Knast bei »Querdenker«
Michael Ballweg

DEBAT TE
Rishi Sunak René Benko Nancy Faeser
Großbritanniens neuer Premier Mit der Pleite von Galeria Kar- Die SPD-Frau will Ministerprä- 46 | #MeToo Was eine Journa-
könnte Erfolg haben – wäre da stadt Kaufhof platzen die Träume sidentin in Hessen werden. Was listin über das renommierte
nicht seine Partei. | 80 des Warenhausmilliardärs. | 64 hat sie vor, falls sie verliert? | 24 Medienhaus Tamedia berichtet

4 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


REPORTER 80 | Großbritannien Der
neue Premier muss gegen seine
50 | Familienalbum / Wie viele zänkische Partei anregieren
Kalorien hat die Hausgrille?

Johanna Maria Fritz / Agentur Ostkreuz / DER SPIEGEL


82 | Essay Wie gut, dass die
51 | Eine Meldung und ihre Chinesen jetzt wieder in die Welt
Geschichte  Warum ein öster­ hinauskönnen
reichischer Erfinder bei den
neuen deutschen Lottogeräten
auf Schlichtheit setzt SPORT

52 | Konsum Seit Jahren gibt es 85 | Deutschlands Teamerfolge /


einen Hype um Luxusuhren, Warum Vitamin D im Winter so
vor allem bei jungen Menschen wichtig ist

57 | Ortstermin In Wuppertal 86 | Klimawandel Skirenn­


wird das »Zootier des Jahres« läufer Julian Schütter hadert mit Letzte Dienste in Bachmut
prämiert der Ökobilanz seines Sports
In der ukrainischen Frontstadt halten ein paar Bestatter ihren Be-
trieb aufrecht: ohne Wasser und Strom, bei Minusgraden und unter
89 | Subventionen Verdacht
ständigem Beschuss der Russen. Warum bleiben sie hier? | 74
WIRTSCHAF T auf Steuerverschwendung
im Skizentrum Oberhof
58 | Banken verdienen prächtig
an der Zinspolitik der EZB /
Bahn reduziert Service für WISSEN
Vielfahrer / Betriebsräte bei VW
bekommen keine Manager- 92 | Wie Bäume Hitzetote
gehälter mehr verhindern könnten / Was
wirklich gegen Stau hilft
60 | Immobilien Die Krise am
Bau verschärft die Wohnungsnot 94 | Skandale  Treffen mit dem

Roderick Aichinger / DER SPIEGEL


Schöpfer der Crispr­Babys
63 | Analyse Deutsche werden
mit Aktien nicht warm 97 | Luftfahrt Die Ära
des Jumbojets endet – die von
64 | Handel Galeria Karstadt Boeing auch?
Kaufhof hofft vergebens auf
einen Neustart 100 | Ägyptologie Eine geheim­
nisvolle Kammer verrät manches
66 | Geopolitik Wie die EU über frühe Globalisierung Goldzahn der Zeit
auf Chinas »Neue Seidenstraße«
Omega, Rolex, Audemars Piguet: Seit Jahren boomt der Luxusuhren-
reagiert
markt, vor allem in der Generation Z. Was fasziniert junge Menschen
KULTUR in einer digitalen Welt so sehr an mechanischen Uhrwerken? | 52
69 | Künstliche Intelligenz 
Otto Waalkes ist CEO – wenn 102 | Ehrenhandtuch für Brecht /
Programme wie ChatGPT Neues Album von Prinz Pi
halluzinieren
104 | Literatur spiegel­
70 | Mobilität Niedersachsens Gespräch mit Nobelpreisträgerin
Ministerpräsident und VW­ Annie Ernaux über
Aufsichtsrat Stephan Weil fordert die Last der Prominenz
ein Tempolimit
108 | Kino Regisseurin
Sarah Polley gibt in
AUSLAND »Die Aussprache« missbrauchten
Frauen eine Stimme
72 | Schwedische Kampagne
gegen Asylbewerber / 110 | Libanon Wie sich
die zersplitterte Stadt Beirut
Bettina Pittaluga

Gegenputsch in Myanmar?
neu erfindet
74 | Ukraine Warum die letzten
Bestatter von Bachmut immer 115 | Musikkritik Jazzpianistin
noch ihrer Arbeit nachgehen Johanna Summer spielt Klassik
Annie Ernaux, berühmt wider Willen
79 | Analyse Frankreichs Prä­ Bestseller | 113 SPIEGEL-TV-Programm | 114 Ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse, ihre Abtreibung, ihre Affären –
Impressum, Leserservice | 116
sident Macron erzürnt mit seiner Nachrufe | 117 Personalien | 118
die Französin wurde mit sehr persönlichen Büchern berühmt.
geplanten Rentenreform Briefe | 120 Letze Seite | 122 Den Nobelpreis wollte sie aber eigentlich gar nicht haben. | 104

Titelillustration: Tim O’Brien für den SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 5
Deutsches Armutszeugnis
LEITARTIKEL Ausgebrannte Lehrkräfte, ein leer gefegter Arbeitsmarkt, ideenlose Bildungspolitiker:
Die Schulen laufen auf eine Katastrophe zu.

mission der Kultusministerkonferenz, ein 16-köpfiges


Expertengremium, urteilt, dass es den Grundschulen in
Deutschland aktuell nicht gelinge, »den Anspruch auf
allgemeine Bildung für alle Kinder gleichermaßen zu ge-
währleisten«. So klingen richtig heftige Ohrfeigen.
Ausgerechnet dieses Expertengremium hat jetzt emp-
fohlen, dass nicht die Politik, sondern bitte schön die
Lehrerinnen und Lehrer selbst mehr Engagement zeigen
sollen: mit zusätzlichen Unterrichtsstunden, weniger Teil-
zeitbegehren und Maßnahmen wie »Achtsamkeits-
trainings«, »eMental-Health-Angeboten« und »Kompe-
tenztrainings zur Klassen- und Gesprächsführung«. Und
ja, die Vorschläge sind ernst gemeint.
Mit anderen Worten: Die Lehrkräfte, die sich schon
mit den Coronafolgen, der stockenden Digitalisierung,
Caroline Seidel / dpa maroden Schulgebäuden, hochgradig diversen Klassen
und zunehmender Bürokratie herumschlagen, sollen jetzt
die kollektiven Fehlentscheidungen der Bildungsminis-
terien aus den vergangenen Jahrzehnten ausbaden. Und
natürlich guten Unterricht abliefern, individuell zuge-
schnitten auf das einzelne Kind – während sie gleichzeitig
Ankündigung von ie Zahlen der Kultusministerkonferenz klingen vielleicht noch den erkrankten Kollegen aus der Nachbar-
Unterrichtsausfall
D dramatisch: Rund 25 000 Lehrerinnen und Lehrer
fehlen zwischen 2021 und 2025. Hört man sich
außerhalb der Politik um, wirkt der Mangel noch haar-
klasse vertreten.
Die Bundesländer üben sich unterdessen in Kleinstaa-
terei. Brandenburg etwa möchte pädagogisches Personal
sträubender. Bis zu 70 000 Pädagoginnen und Pädagogen, in Zukunft schon mit einem Bachelor verbeamten. Die
so warnen Bildungsforscher und Wirtschaftsinstitute, entsprechenden Kräfte heißen dann zwar nur Bildungs-
würden in den kommenden drei Jahren dringend gesucht. amtsrätin oder Bildungsamtmann und nicht Lehrer, un-
Schon jetzt ist der Lehrermangel überall spürbar. terrichten sollen sie aber genauso. Bayern plant mit
Eltern, Kinder und Lehrkräfte kennen ihn nicht nur als 6000 neuen Lehrerstellen und einem Affront: Pädagogen
Zahl, sondern aus eigener, alltäglicher Anschauung. Rei- sollen in anderen Bundesländern abgeworben werden.
henweise sind zuletzt Dienst- und Stundenpläne an den Eine Idee, die Mecklenburg-Vorpommern bereits im Som-
Schulen zusammengebrochen, weil sich Lehrerinnen und mer verfolgte, als das Land urlaubendes Lehrpersonal
Lehrer krankgemeldet haben und die löchrige Personal- mit einer Werbekampagne am Strand zum dauerhaften
decke oft keinen Vertretungsunterricht möglich gemacht Wechsel an die Ostseeküste bewegen wollte.
hat. Schülerinnen und Schüler werden dann irgendwie Einigkeit herrscht allenfalls bei Maßnahmen, die erst
beschäftigt oder gleich nach Hause geschickt. in einigen Jahren wirken. So sollen die Studienplätze für
Die aktuelle Schülergeneration wird von Politik und angehende Lehrkräfte ausgebaut werden. Kurzfristig aber
Gesellschaft im Stich gelassen. Das deutsche Bildungs- hilft wohl nur die radikale Freiheit für Schulleitungen und
system rast auf eine Katastrophe zu. Regelmäßig kassieren Lehrkräfte, ihre Ressourcen so einzusetzen, wie sie es
die Kultusministerinnen und -minister Armutszeugnisse, angesichts des akuten Mangels an der jeweiligen Schule
und dennoch ändert sich wenig. Wie viele Studien, Pisa- für richtig halten. Da könnten Klassenarbeiten ersatzlos
Test-Ergebnisse oder Lernstandserhebungen müssen gestrichen, ein Selbstlerntag pro Woche (»Frei Day«) ein-
eigentlich noch erscheinen, bis die Politik über Länder- geführt oder Lehramtsstudierende in den Schulalltag
Die aktuelle grenzen hinweg wummsige Ideen zur gemeinsamen eingebunden werden. Denkbar wäre auch die – zumindest
Schüler­ Lösung der Schulkrise entwickelt? vorübergehende – Schlachtung heiliger Kühe: Hausauf-
Die Beleglage für den Qualitätsverlust deutscher Schu- gaben streichen, Noten durch ein einfaches »bestanden«
generation len ist erdrückend. Laut »Bildungstrend« des Instituts zur ersetzen.
wird von Qualitätsentwicklung im Bildungswesen schafft bundes- Klar, nach 500 Jahren Schulgeschichte, in denen Unter-
weit mehr als jedes fünfte Kind in der vierten Klasse nicht richt immer anders ablief, wäre das gewöhnungsbedürftig.
Politik und die Mindestanforderungen in Mathematik. Bei der Recht- Die Alternative aber, eine schleichende Gewöhnung an
Gesellschaft schreibung scheitert sogar knapp ein Drittel aller Kinder. Lehrermangel und Unterrichtsausfall, ist schlechter. Dann
Das Deutsche Schulbarometer der Robert-Bosch-Stiftung nämlich hätten alle Kinder, die jetzt und in den kommen-
im Stich schätzt, dass gut ein Drittel der Kinder deutliche Lern- den Jahren in die Schulen gehen, die Arschkarte gezogen.
gelassen. rückstände hat. Und die Ständige Wissenschaftliche Kom- Armin Himmelrath n

6 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


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abo.spiegel.de/plus1
TITEL

So
isst
Deutschland
Nick Ghattas

8 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


TITEL

ERNÄHRUNGZu fett, zu süß, zu viel: Wir futtern uns immer dicker.


Krankhaftes Übergewicht ist eine Epidemie, unter der die ganze Gesellschaft leidet.
Woran liegt das, und was können wir dagegen tun?

W
Speiseröhren-, Dick- und Enddarm- sowie es unseren Kindern umso schwerer, einen
Nierenkrebs – und gilt als einer der größten gesunden Stoffwechsel und ein gesundes Kör-
Risikofaktoren für Typ-2-Diabetes. pergewicht zu entwickeln.«
Spätestens wenn Menschen wegen ihrer Dabei müsste inzwischen jedes Kind wis-
Körpermasse nicht mehr arbeiten können sen, welches Essen gesund ist und welches
und chronische Krankheiten entwickeln, wird nicht. Warum schaffen wir es trotzdem nicht,
es teuer. Die Deutsche Adipositas-Gesell- uns besser zu ernähren? Warum steigt der
schaft schätzt, dass das Gewichtsproblem in Konsum von Süßwaren weiter konstant an –
Deutschland Gesundheitskosten von mehr auf 22,5 Kilogramm pro Kopf im Jahr 2021
Wenn es doch immer so leicht wäre. Michael als 60 Milliarden Euro jährlich verursacht. und prognostizierte 25,7 Kilo bis 2027? Ist
Wirtz, 51, steht in der Küche seiner Wohnung Wir verfuttern unseren Wohlstand und neh- es individuelles Versagen oder politisches?
in Winsen bei Hamburg und nimmt die Zu- men dabei immer weiter zu. Die fetten Jahre Werden wir verführt, oder sind wir zu faul?
taten fürs Abendessen aus dem Kühlschrank: sind vorbei? Leider nein, sie kommen erst Ein Team aus SPIEGEL -Redakteurinnen und
Karotten, rote Paprika, Knollensellerie und noch – aber anders als gedacht. Denn die ge- -Redakteuren besuchte Schwer- und Leicht-
Zwiebeln. Dazu zwei Dosen Tomaten. »Heu- fährliche Entwicklung hält nicht nur an, son- gewichte aller Altersklassen, traf Expertinnen
te gibt es Tomatensuppe«, sagt er, setzt sich dern hat sich laut der bundesweiten Studie und Politiker, Arme und Reiche, guckte in
an den Tisch und beginnt zu schnippeln. Bei Gesundheit in Deutschland aktuell seit 2009 Töpfe und Studien, inspizierte Kantinen und
einer Körpergröße von 1,87 Metern wiegt er weiter beschleunigt. Schulen und suchte vor allem eine Antwort
rund 115 Kilogramm. Es waren mal 160. Die einen fressen sich Wohlstandsspeck auf die Frage: Lässt sich das alles jemals wie-
Wirtz ist Mitglied im Vorstand der Adi- an, die anderen sind zu arm, um sich gut der ändern?
positasHilfe Deutschland e. V. und selbst be- zu ernähren – und werden ebenfalls dick.
troffen von dem, was auch als Fettleibigkeit Die WHO spricht von einer Adipositas-Epi- 1. Mythos deutsche Küche
bekannt ist. Er lebt in einem Dreigeneratio- demie. Vielleicht, sagt Michael Wirtz, hänge sein
nenhaushalt mit seiner Frau Stefanie, ihrer Annette Schürmann, Leiterin der Ab- Übergewicht damit zusammen, wie er auf-
23-jährigen Tochter und deren 17 Monate teilung Experimentelle Diabetologie am gewachsen sei – bei den Großeltern in der
altem Sohn Paul. »Der Pauli war der Grund, Deutschen Institut für Ernährungsforschung, Pfalz. »Das war die Kriegsgeneration«, so
warum ich wieder angefangen habe, mehr sieht sogar die Gefahr einer evolutionären Wirtz. »Die kamen aus einer Zeit des Mangels
frisches Essen zuzubereiten«, sagt Wirtz. Verstetigung der Gewichtsprobleme: »Durch und waren froh, wenn sie was Ordentliches
Denn er habe ein klares Ziel: »Wir wollen Überernährung wird die Aktivität der Gene zu sich nehmen konnten.«
Pauli das ersparen, was jeder Einzelne bei uns beeinflusst. Und das kann an die nächste Ge- Es habe selbst gemachte Dampfnudeln
in der Familie durchgemacht hat.« neration weitervererbt werden«, sagt Schür- gegeben, sämige Kartoffelsuppe, Saumagen,
Er meint den Teufelskreis des Überge- mann, die zu genetischen und epigenetischen Leberknödel, Bratwürste und »Pfälzer Leber-
wichts: falsches Essen, zu viele Kilos, Frust Veränderungen bei der Entwicklung von Adi- wurst mit so richtig Schmierung drin«. Klingt
auf der Waage, als Reaktion noch mehr Koh- positas forscht. »Das ist fatal, denn das macht nach typisch deutscher Küche: schwere Kost,
lenhydrate, noch mehr Fett, noch mehr Zu- viel Fett. Haben wir uns einfach über Gene-
cker, das Sich-selbst-Täuschen, indem man Adipositas-Betroffener Wirtz rationen falsches Essen angewöhnt?
einfach größere Hosen kauft, die Selbstzwei- Nein, sagt der Ernährungshistoriker Uwe
fel, der Selbsthass, das Mobbing, das Stigma. Spiekermann. Seit mehr als 25 Jahren forscht
Und das über Generationen. und publiziert er zur Geschichte des Essens,
Es gibt eine Veranlagung zur Fettleibigkeit, war unter anderem Geschäftsführer der Dr.
das klingt nach Ausrede, ist aber möglich. For- Rainer Wild-Stiftung für gesunde Ernährung
scherinnen und Forscher haben in Studien und stellvertretender Direktor am German
festgestellt, wie unterschiedlich der Stoff- Historical Institute in Washington. Während
wechsel bei Menschen funktioniert (siehe des Gesprächs kocht er eine Hühnersuppe.
Seite 16). Sind Übergewichtige ihrem Schick- »Biohuhn, das übliche Gemüse, aber auch
sal also ausgeliefert? Und wie lässt sich dann Convenience«, sagt er. »Ich verwende einen
erklären, dass das Problem zunimmt? gekauften Geflügelfond.«
Denn die Waage lügt nicht: Die Deutschen Die These vom traditionell ungesunden
werden seit Jahrzehnten dicker. Bei einer deutschen Essen gehe von einer falschen Prä-
Befragung des Robert Koch-Instituts gaben misse aus. »So etwas wie eine deutsche Küche
46,6 Prozent der Frauen und mehr als 60 Pro- gab es historisch gar nicht«, sagt Spiekermann.
Melina Mörsdor f / DER SPIEGEL

zent der Männer an, übergewichtig zu sein. »Das ist eine Fiktion nationaler Liberaler aus
Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Mitte des 19. Jahrhunderts, eine Kopf-
hat sich der Anteil fettleibiger Menschen seit geburt.« Nach der Reichsgründung 1871 habe
1975 mehr als verdoppelt. man einen deutschen Küchenkongress ein-
Die Ausbreitung des Übergewichts ist berufen, um sich von der französischen Haute
längst kein privates Problem mehr, sondern Cuisine abzusetzen. Vorher sei man wegen
eine ernst zu nehmende Bedrohung für die der Kleinstaaterei nicht auf diese Idee ge-
Gesellschaft. Dicke haben ein stark erhöhtes »160 Kilo! kommen.
Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zu- Statt einer deutschen Küche gebe es re-
dem steht Adipositas in Zusammenhang mit Das macht doch gional stark unterschiedliche Gewohnheiten.
einem guten Dutzend Krebsarten – darunter keiner freiwillig.« »Als Westfale ist Bayern für mich ein Aben-

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 9


TITEL

teuer und Thüringen eine Herausfor- le Menschen, eine Diät gemacht und selbst bei gewohnten Portionen –
derung«, so Spiekermann. Schwer zu- abgenommen. Doch das überschüs- bald wieder da. Der Jo-Jo-Effekt.
Was es aber gebe, sei bis heute genommen sige Gewicht sei schnell zurückge- Hinzu kommt ein psychologisches
»die heilige Dreifaltigkeit: Kartoffeln, kommen. Und mehr. Phänomen: Wer sich tage-, wochen-
Gemüse – in Deutschland eher lange Erwachsene in Über die Jahre habe sich ein Ritual oder sogar monatelang bestimmte
Deutschland mit
gekocht –, Fleisch. Dazu eine fettige Übergewicht
entwickelt. »Jeden Januar fasste ich Nahrungsmittel verbietet, dessen Ge-
Soße. Das ist eine bürgerliche Vor- oder Adipositas, Vorsätze und hielt monatelang stren- danken kreisen ständig ums Essen:
stellung des sättigenden guten Es- in Prozent* ge Regeln ein«, sagt Kiener. Mal habe Was ist erlaubt? Was nicht? Wie viel
sens« – aber nur auf den ersten Blick sie Kalorien und Punkte gezählt, mal Sport muss ich treiben, um die Kalo-
50
spezifisch deutsch. »Die Struktur von jedes Nahrungsmittel abgewogen und rien wieder zu verbrennen?
Eiweißhaltigem, Kohlenhydrathal- 40 einzelne Nahrungsbestandteile aus- Das kostet Kraft und nimmt einen
tigem, Vitaminen und Fett gibt es 30 gerechnet. Sie habe nur Low-Fat- und relevanten Teil der Hirnleistung in
unabhängig von Kulturen in unter- 20 Zero-Sugar-Produkte gekauft und Anspruch. Sobald Stress aufkommt,
schiedlichen nationalen oder regio- ständig Sport getrieben. »Meist mit werden diese Kapazitäten aber ander-
10
nalen Ausprägungen als Muster über- Erfolg, die Pfunde purzelten.« weitig benötigt. »Der Körper schaltet
all auf der Welt. Im Kern finden Sie 0 Doch jedes Jahr im späten Früh- in den Autopilotmodus und greift
diese Komponenten auch in Pasta- 2003 2021 jahr habe die Disziplin nachgelassen auf all die alten Gewohnheiten zu-
gerichten oder Sushi.« und sie sofort wieder zugenommen. rück, die vorher rational überstimmt
Dass traditionelle Gerichte und Süßwaren-Absatz Kiener zeichnet eine Wellenlinie in wurden«, sagt Ernährungspsychologe
damit das generelle Essverhalten in Deutschland, in die Luft, die unten links beginnt und Ellrott. Die Folge: Kontrollverlust,
automatisch weitergegeben würden, Kilogramm oben rechts endet. Mit 54 Jahren wog plötzlicher Heißhunger und Ess-
pro Kopf Prognose
sei obendrein ein Irrglaube. »Die 24,6 sie 146 Kilo. Renate Kiener sagt, sie attacken. »Wir haben ein sehr altes
nächste Generation kann sich ganz 21,1
22,5 habe sich dick gehungert. Belohnungssystem, das unser Über-
anders ernähren als die vorherige«, »Kurzfristige Diäten sind das leben sichern soll, und das springt
sagt Spiekermann. Schlimmste, was man machen kann«, immer dann an, wenn das Essen
Auch bei Michael Wirtz war wohl meint Thomas Ellrott, Leiter des viele Kalorien, also vor allem viele
weniger das Problem, was er in seiner Instituts für Ernährungspsychologie Kohlenhydrate und viel Fett hat«, so
Kindheit gegessen hat, als vielmehr, an der Universität Göttingen. »Sie Ellrott. Während der Essattacke ist
wie und in welchem Kontext er es tat. können einfach nicht funktionieren, der Kopf ausgeschaltet, das Gefühl
»Wenn es mir schlecht ging, gab es 2017 2021 2025 solange sie einen Anfangs- und einen regiert.
was Süßes«, sagt Wirtz. »Und wenn * Übergewicht: Body-Mass-
zeitnahen Endpunkt haben. Denn »Ich nenne es das Eh-schon-
ich was gut gemacht hab, gab’s auch Index (BMI) zwischen 25 und nach dem Ende geht es fast immer wurscht-Gefühl«, sagt Renate Kiener.
unter 30 kg /m2, Adipositas:
was Süßes.« Diese Trost- und Beloh- BMI 30 kg /m2 und mehr genauso weiter wie vor der Diät.« »Ich habe in solchen Momenten ein-
nungsmuster habe er nicht mehr aus S Quellen: Destatis; Statista Wer fastet, enthält seinem Körper fach alles in mich hineingestopft.« Sie

dem Kopf bekommen. Nährstoffe vor. Der Stoffwechsel hätte gern anders gehandelt und sei
Emotionales Essen nennt man das. fährt zurück, schaltet aber nicht di- auch während der Diätphasen immer
Und es wird zum Problem, wenn rekt auf Normalbetrieb, wenn der überzeugt gewesen, es dieses Mal
Nahrungsaufnahme und Gefühle zu Körper nach der Hungerphase aus- wirklich dauerhaft zu schaffen. Aber
eng miteinander verknüpft sind. reichend Nährstoffe bekommt. Statt- dann sei wieder der Tag gekommen,
Wenn Menschen auf Traurigkeit mit »Ich dessen füllt er zunächst seine Energie- an dem sich der Schalter umlegte.
Pralinen, auf Frust mit Bratwurst re- genieße speicher, die Fettzellen. Deren An- Den Ausweg habe sie über ein
agieren. Die dicken Deutschen, ein mein zahl bleibt bei einer Diät konstant, Coaching-Programm gefunden, er-
Volk der Enttäuschten, die sich das sie schwellen wieder an, sobald mehr zählt Kiener. Der Ansatz heißt intui-
Leben schönfuttern? Essen Energie zugeführt wird. Die mühsam tives Essen und wird mittlerweile
wieder.« heruntergehungerten Kilos sind – schon als so etwas wie eine Antidiät
2. Die Diätfalle vermarktet. Schließlich gehe es nicht
Wie Wirtz hat auch Renate Kiener, 57, um Verzicht. Verbote und feste Mahl-
fast ihr gesamtes Leben diesen Fehler zeiten gebe es nicht, Lebensmittel
gemacht. Als Kind habe sie zwei Tel- werden nicht in »gut« oder »schlecht«
ler geleert, um der Großmutter zu eingeteilt. Ziel sei es stattdessen, wie-
gefallen, erzählt sie, als Jugendliche der auf Körpersignale zu hören, also
gegessen, um Erschöpfung oder Frust bei Hunger zu essen und bei Sätti-
zu verarbeiten. Später habe ihr Essen gung damit aufzuhören.
geholfen, wenn sie zornig, traurig, Klingt logisch, ist aber für viele
euphorisch oder enttäuscht gewesen Menschen längst nicht mehr selbst-
sei. »Es gab eigentlich kein Gefühl, verständlich. »Wer sich als über-
das ich nicht mit Essen weggeschoben gewichtiger Mensch einfach so vor-
oder verstärkt habe«, sagt Kiener, nimmt, intuitiv zu essen, wird sehr
blonde Haare, 1,68 Meter groß, 100 wahrscheinlich scheitern«, sagt Er-
Kilogramm schwer. Dass daraus eine nährungspsychologe Ellrott. Man
ungesunde Gewohnheit wurde, sei brauche für eine gewisse Zeit ratio-
ihr lange nicht bewusst gewesen. nale Kontrolle und bewusste Ent-
Holger Riegel / DER SPIEGEL

Kiener erzählt, wie sie mit 18 Jah- scheidungen, um durch Lernprozesse


ren ihre Ausbildung begonnen habe. ein bislang nicht zielführendes intui-
Dadurch sei es ihr nicht mehr möglich tives Essen umzuprogrammieren.
gewesen, fünfmal die Woche Sport »Jedes Kind weiß, wann es satt ist.
zu machen. Ihre Hosen seien enger Diätopfer Kiener Aber wir verlernen, dieses Gefühl
geworden. Sie habe reagiert wie vie- wahrzunehmen und darauf zu hören«,

10 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


TITEL

sagt Mareike Awe, 30, braune Augen, blonde »Systeme zu Bei der Ernährung brauche es finanzielle
Haare, schlank. Sie ist Ärztin und Ernäh- ändern Anreize. Im Marketing sei die Industrie besser
rungscoachin und hat vor acht Jahren mit als die Wissenschaft. Etwa wenn es heiße,
ihrem Partner Marc Reinbach das Programm ist unbequem.« Verbraucher wollten Zucker in Keksen und
»intueat« entwickelt, das Renate Kiener ge- Müsli. »Tatsächlich ist der Verbraucher nur
holfen hat. daran gewöhnt, weil die Industrie jahrzehnte-
»Ich genieße mein Essen heute wieder«, lang darauf hingearbeitet hat.«
sagt Kiener und legt ihr Besteck beiseite. Der Sie hat eine Reihe von Maßnahmen im
Teller ist noch halb gefüllt mit Rahmporree, MythosAd esa Kopf, die aus ihrer Sicht notwendig, aber
Kartoffeln und Seelachs, die Zeiten von »Low schwer umzusetzen seien. »Systeme zu än-
Fat« und »No Sugar« sind vorbei. Aber sie aperum rero dern ist unbequem«, sagt Forberger.
isst langsamer, konzentriert sich auf den MythosAd este Die Zahlen, Daten und Fakten zu Über-
Geschmack und hört in sich hinein, um zu gewicht seien bekannt – doch Entscheidun-
merken, wann es reicht. In drei Jahren habe gen, die helfen könnten, nicht mehrheitsfähig.
sie 46 Kilogramm abgenommen, sagt sie. Und Bürgerinnen und Bürger wollten sich nicht
wenn unangenehme Gefühle hochkommen, von einer übergriffigen Politik bevormunden
auf die sie früher mit Essen reagiert hätte? lassen. Das gelte vor allem für diejenigen, die
»Dann setze ich mich hin und schreibe sie auf, keinen Leidensdruck verspürten. Und die
das hilft mir, mich besser zu verstehen.« Industrie folge einer strikt marktwirtschaft-

Magdalena Maria Stengel / DER SPIEGEL


»Intueat«-Erfinderin Awe sagt, sie habe lichen Logik, bei der Gesundheit und Nach-
das selbst alles hinter sich, die Diäten, das haltigkeit untergeordnete Rollen spielten.
Kopfkarussell, das Übergewicht. Im Medizin- Eine ihrer Ideen: Änderungen in der Be-
studium habe sie im Neuroanatomiekurs ge- steuerung könnten eine Lenkungswirkung
lernt, wie Gewohnheiten entstehen – und wie haben. Besonders wenn die Inflation weiter
sie sich ändern lassen. Neben psycholo- steige und immer mehr Menschen zu günsti-
gischem und ernährungsphysiologischem Gesundheitsforscherin Forberger geren Produkten greifen müssten. Das seien
Wissen, das sie in ihren Kursen vermittele, aber oft gerade jene, in denen viel Zucker und
setze sie daher auf mentales Training. Das sei Fett stecke. »Die Macht der Agrar- und Le-
der Schlüssel zum Erfolg und der Weg zu den sie verspricht (»Abnehmen ohne Diät bensmittelindustrielobby ist nicht gesund«,
einem dauerhaft entspannten Essverhalten. und Jojo-Effekt«) kann sie indes ebenso we- sagt Forberger.
»Allein über Wissen und Verstand ist es ganz nig garantieren wie andere Anbieter. Denn Der Mann, der sich mit dieser mächtigen
schwierig, neue Gewohnheiten zu schaffen Übergewicht ist nicht nur ein individuelles Lobby anlegen soll, hat wenig Ahnung vom
und das Erlernte auch in emotionalen Situa- Problem. Kochen, zumindest privat. »Zu Hause schnei-
tionen beizubehalten.« de ich das Brot und backe gern«, sagt Cem
Mit Diät- und Light-Produkten werden 3. Von Menschen und Systemen Özdemir, fürs Kochen fehle ihm die Zeit. Der
Milliarden umgesetzt. Dabei ist der Abnehm- »Wenn viele Einzelpersonen ein Problem grüne Bundesminister für Ernährung und
markt so etwas wie der Antagonist des noch haben, dann kann es ein politisches Problem Landwirtschaft steht in der Schulungsküche
größeren Markts der Verführung: der Lebens- werden«, sagt Sarah Forberger vom Leibniz- der »Kantine Zukunft«, ein Berliner »Leucht-
mittelindustrie mit ihrer Werbemacht, dem Institut für Präventionsforschung in Bremen. turmprojekt«, wie er es nennt, um die Ge-
Diktat der Preise und den versteckten Zuta- Seit fast zehn Jahren forscht sie dazu, wie meinschaftsverpflegung in Deutschland zu
ten. Dick werden ist billig und leicht. Abneh- Gesundheitsmaßnahmen umgesetzt werden revolutionieren: mehr Bio, weniger Fleisch,
men schwer und teuer. können. Der Schreibtisch in ihrem Büro ist insgesamt gesünder – und das alles innerhalb
Auch die Teilnahme an Awes Programm auf Stehhöhe gefahren, rechts neben ihrer bereits bestehender Budgets. So vorsichtig,
kostet mehrere Hundert Euro, die Marketing- Tastatur liegt ein Apfel, links daneben steht wie er mit dem Messer hantiert, wählt er auch
tricks unterscheiden sich kaum von denen der ein roter Schoko-Weihnachtsmann. seine Worte. Denn es gibt da so etwas wie ein
Diätindustrie, die Awe mitunter scharf kriti- »Der größte Fehler wäre, alles einfach wei- grünes Trauma. Als die Partei einst den »Veg-
siert. »Intueat« wirbt mit »100 000 erfolg- terlaufen zu lassen wie jetzt«, sagt Forberger. gie Day« einführen wollte, brach ein Sturm
reichen Teilnehmerinnen«. Nach Angaben Wer den Einzelnen ändern will, muss sich der Entrüstung los.
der Pressestelle haben bislang tatsächlich auch an das System wagen. Allein das aktuell Um das Image von der bevormundenden
93 000 Menschen das Programm begonnen, verbreitete Lebens- und Arbeitszeitmodell Verbotspartei zu meiden, redet Özdemir lie-
95 Prozent von ihnen seien Frauen. Bis zum sei ein Problem. Gesundheit brauche Zeit, so ber erst mal über »positive Vorbilder« und
Ende halte allerdings nur etwas mehr als ein viel Zeit, wie man in einem Acht- oder Neun- »Anreize«. Und er vermeidet die Einmi-
Drittel durch. Wie es dem Rest gehe, erfasse Stunden-Arbeitstag kaum zur Verfügung schung ins Private: Die Deutschen reagieren
das Unternehmen nicht. Diejenigen, die das habe. Zumal dann nicht, wenn Bürotätigkei- empfindlich, wenn sie das Gefühl haben, man
Programm beenden, berichten von einer Ver- ten meist im Sitzen ausgeführt würden. »Einer wolle ihnen an die Currywurst. In privaten
besserung ihres allgemeinen Wohlbefindens. Alleinerziehenden mit zwei Jobs kann ich Küchen kann es sehr heiß werden für Politiker.
Im Schnitt nähmen sie in der zehnwöchigen nicht sagen: Du musst dich und deine Kinder Essen bedeutet Emotion.
Programmzeit drei bis vier Kilo ab. Man fin- gesünder ernähren, und mehr Sport müsst ihr Özdemir, könnte man sagen, nimmt den
det auch Kommentare von Teilnehmerinnen, auch machen«, so Forberger. Umweg über die Großküche, die Gemein-
die behaupten, zugenommen zu haben. Man könne die Verantwortung für gesunde schaftsverpflegung: Millionen Deutsche essen
Awes Geschäft schadet das nicht. Ihr Start- Ernährung nicht allein dem Individuum über- täglich außer Haus, von der Kita bis zum
up, mit dem sie sich 2016 in der TV-Show lassen – schon gar nicht in einer Umgebung, Kanzleramt, in der Schule oder Uni, im Knast
»Höhle der Löwen« um einen Investment- die mit Plakaten für süße Limonade auf dem oder Krankenhaus, in Betrieben und Ämtern.
Deal bewarb, hat sich zu einem Unternehmen Schulweg und Coupons für saftige Burger in All die Mensen und Kantinen seien »prima
mit 29 Festangestellten, 15 Freelancern und den Briefkästen an jeder und jedem zerrt. »Um Multiplikatoren für die nötige gesellschaft-
einem achtstelligen Jahresumsatz entwickelt. komplexe Realitäten zu ändern, muss Politik liche Transformation«, wie er es nennt. Es sei
Ihr Podcast »Wohlfühlgewicht« hat zehn Mil- einen Weg finden, auf dem sie am meisten ja »eigentlich zynisch und absurd, dass man
lionen Downloads. Den nachhaltigen Erfolg, Leute mitnehmen kann«, fordert Forberger. ausgerechnet in Krankenhäusern, wo man

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 11


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gesund werden soll, mitunter recht fragwürdig am Kicker oder an der Playstation. Sein Speck hindere es, dass die Emsteker Schüler loszie­
verpflegt wird«. ist Sorgenspeck, kein Wohlstandsspeck. Essen hen und in den umliegenden Supermärkten
Er wolle dafür sorgen, dass dort positive ist sein Trost. Und sein Eigentor. Lernt er Chips, abgepackte Schokobrötchen oder
Erfahrungen gemacht werden mit Bioproduk­ denn in der Schule, welches Essen gut für ihn zuckrige Limos kaufen.
ten und gesundem Essen. »Einfach weil es wäre? »Ach, die Schule«, sagt Connor und Das Herzstück in Sachen gesunder Ernäh­
schmeckt und guttut und nicht etwa, weil ein versenkt am Kicker noch einen Ball. rung ist jedoch die Mensa, die im vergangenen
belehrender Flyer auf dem Tisch liegt.« Wie es gehen könnte, zeigt die teilgebun­ Jahr vom »Deutschen Netzwerk für Schul­
Ob das dazu führt, dass die Menschen dene Oberschule in der niedersächsischen verpflegung« als »Bestes Schulrestaurant
abends zu Hause die Chips und Tiefkühlpiz­ 12 000­Einwohner­Gemeinde Emstek, gut Deutschlands« mit dem »Goldenen Teller«
za eintauschen gegen Obst und Grünkernbrat­ 400 Kilometer westlich von Berlin. Im Schul­ ausgezeichnet wurde.
ling? Zumindest zweifelhaft. Die Agrarlobby kiosk, den Schülerinnen und Schüler des Kurz vor dem großen Schüleransturm um
und die Lebensmittelindustrie jedenfalls dürf­ 10. Jahrgangs betreiben, gibt es zum Preis von 13.20 Uhr herrscht in der Vorzeigekantine
ten nicht begeistert sein von Özdemirs Plänen. 50 Cent Brotspieße mit Tomate und Gurke, routinierte Betriebsamkeit. Fünf Frauen in
Zudem spielt die Inflation gegen ihn, die für frisch aufgebackene Laugenbrezeln, Bananen grünen T­Shirts und mit weißen Haarhauben
Preisdruck und Verunsicherung bei Verbrau­ oder Äpfel. Süßigkeiten: Fehlanzeige. erledigen in der Küche und an den beiden
chern und Produzenten sorgt. »Natürlich kommen regelmäßig motivier­ Ausgabestationen im großen Speiseraum die
Erst als keine Kameras und Mikrofone te Schülersprecher zu mir und fragen nach letzten Handgriffe: Sie träufeln selbst gemach­
mehr um ihn herum sind, räumt der Minister Schokoriegeln im Schulkiosk oder bitten um tes Mango­Curry­Dressing über den Salat,
ein, dass er sich in diesem Kampf manchmal die Anschaffung eines Cola­Automaten«, sagt füllen hausgemachtes Müsli in große Schalen.
wie Don Quijote fühle. »Wir haben noch sehr Kerstin Bocklage, 50. Seit elf Jahren leitet sie Auf dem Speiseplan heute: Falafel­Bäll­
dicke Bretter zu bohren.« Bis Ende des Jahres die Schule mit rund 460 Kindern und Jugend­ chen mit veganem Süßkartoffel­Curry, Brok­
soll im Konsens mit allen Beteiligten eine na­ lichen. »Wenn wir darüber sprechen, kom­ koli, Zuckerschoten oder Tortelloni­Gratin,
tionale Ernährungsstrategie entstehen. men sie meist aber selbst darauf, dass wir uns jeweils mit Salat. Alternativ können die Kin­
Özdemir lässt durchblicken, dass er Ge­ damit nichts Gutes tun«, sagt Bocklage. der und Jugendlichen einen reinen Salatteller
und Verbote, trotz aller grünen Traumata, Die Schulleiterin und ihr Team sehen ihren bekommen, das hausgemachte Müsli oder
nicht grundsätzlich falsch findet. Auf die Fra­ Bildungsauftrag nicht allein in der Vermitt­ Milchreis. Auf der Bestellliste kann Mensa­
ge nach Regulierungen und Werbeverboten lung klassischen Unterrichtsstoffs, sie wollen leiterin Doris Ostmann genau sehen, welches
antwortet er mit einer Gegenfrage: »Haben den Kindern auch eine gesunde Lebensfüh­ Kind sich für welches Menü entschieden hat.
Gurtpflicht und Rauchverbot geschadet?« rung beibringen. »Auf alle Elternhäuser kön­ Neben dem Mittagsbetrieb laden Ostmann
Man kann das als Kampfansage lesen. Fakt nen wir dabei leider nicht bauen«, so Bockla­ und ihr Team Klassen ein, im Hauswirt­
sei: Der Anteil von Vegetariern stagniere bei ge. »Die Schere geht bei uns weit auseinander. schaftsraum mit ihnen zu kochen. Erst heute
acht Prozent, aber der Bioanteil wachse trotz Nicht nur, was das häusliche Lernen betrifft.« haben sie mit der 5a Karotten, Zucchini,
Krise weiter, sagt Özdemir. Nur eben eher Seit 2016 ist das Thema »Gesunde Ernäh­ Tomaten und Paprika für eine vegetarische
beim Discounter als im Bioladen. rung« fest im Schulprogramm verankert. »Wir Bolognese geschnippelt. Ostmann sagt, sie
Özdemir sorgt sich vor allem um die jün­ haben bereits an vielen Stellschrauben ge­ sei baff, wenn ein Kind Pilze und Blumenkohl
gere Generation, deren Ernährungsgewohn­ dreht«, sagt die Schulleiterin. Und auch eini­ verwechsele. »Wenn schon nicht zu Hause,
heiten jetzt geprägt werden. Die Statistiken ge klare Verbote ausgesprochen. dann sollen die Schülerinnen und Schüler
zu übergewichtigen Kindern sind beunru­ Die beliebten Energydrinks etwa sind in wenigstens in ihrer Kantine die Vielfalt von
higend. Nicht nur der durchschnittliche wohl­ der Schule untersagt. Dafür dürfen die Schü­ Nahrungsmitteln kennenlernen.«
habende Biodeutsche neigt zur Fülle, auch lerinnen und Schüler nicht nur in den Pausen, Rektorin Bocklage sagt, das Mensaangebot
Menschen mit Migrationshintergrund oder sondern jederzeit während des Unterrichts erreiche inzwischen »bis zu 95 Prozent« der
jene, die man als »bildungsferne Schichten« etwas trinken – Wasser. Nicht erlaubt: In der Schülerschaft. Sie kann sich an Zeiten erin­
klassifiziert, haben ein Gewichtsproblem. Um Mittagspause das Schulgelände zu verlassen. nern, in denen höchstens 20 Prozent in der
an diese Kinder heranzukommen, will Özde­ Zum einen sei das eine rechtliche Entschei­ Mensa aßen. »Unser Essen stammte aus einer
mir gezielt deren Vorbilder als Botschafter dung, erklärt Bocklage, zum anderen ver­ Krankenhausgroßküche im 40 Kilometer ent­
einbinden: Fußballer zum Beispiel. fernten Oldenburg. Zwei Stunden wurde es
durch den Landkreis gefahren, bevor es bei
4. Was Hänschen nicht lernt … uns ankam.« Lange warmgehaltenes Essen –
Wahrscheinlich denkt Özdemir an Jungen wie für viele der rund drei Millionen Kinder an
Connor. Der Zehnjährige hat noch nie von deutschen Ganztagsschulen ist das die wenig
Özdemir gehört, er weiß dafür aber umso schmackhafte Realität.
besser, wer Kylian Mbappé ist. Connor trägt Auch in Emstek wird nicht jeden Tag frisch
das blaue Trikot des französischen Superstars. gekocht. Zwei Anbieter liefern Tiefkühlkom­
Wenn er am Kickertisch im Berliner Kinder­ ponenten, vor Ort veredelt die Mensa­Crew
hilfswerk Arche die Bälle versenkt, zieht er dann die Menüs. In der Küche wird Gemüse
es sich immer wieder zurecht. Es spannt doch aus den Schulhochbeeten verarbeitet. Glu­
sehr, Connor wiegt 60 Kilo. Was er tun müss­ tamatfreie Gemüsebrühe, Apfelmus und
te, um Mbappé nacheifern zu können? »Der Ketchup produziert die Schülerfirma, betrie­
Speck muss weg«, sagt Connor. ben von Zehntklässlern. Die Desserts sind
Er würde gern im Verein spielen, regel­ selbst gemacht – und werden statt mit Zucker
mäßig trainieren, nur fehle dafür das Geld. mit Honig gesüßt.
Er und seine Geschwister lebten beim Vater, Neulich haben sie den Kindern einen klei­
Steffen Jänicke / DER SPIEGEL

die Mutter sei abgehauen, so erzählt er es. nen Gruß aus der Küche serviert: Mini­Steck­
Der Vater hatte einen Schlaganfall und kann rübenpizzen und einen Grünkohl­Smoothie –
sich nicht mehr so kümmern, »obwohl der beides kam gut an. »Es wäre völliger Unsinn
ein guter Koch ist«. zu behaupten, dass alle unsere Schülerinnen
Connor bekommt zu viel Mist zu essen Minister Özdemir und Schüler Gemüse lieben. Natürlich ist die
und bewegt sich zu wenig. Fußball spielt er Begeisterung am größten, wenn Burger­ oder

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Die Volkskrankheit
Fast jeder dritte Erwachsene in Deutschland ist übergewichtig,
ein Fünftel adipös. Mit wachsender Tendenz und gravierenden Folgen.

Übergewicht und Adipositas in der deutschen Bevölkerung, nach Alter, in Prozent*


weiblich Alter männlich
10 6 3–17 6 9
16 10 18–29 9 27
26 15 30–44 19 40
28 23 45–64 24 45
34 22 ab 65 20 49
Jahren
100 75 50 25 0 0 25 50 75 100

Umfassendes Risiko Herz- und Kreislauf-


Geschätzte vorzeitige Todesfälle in erkrankungen Diabetes und Nieren-
Deutschland in Zusammanhang mit erkrankungen
dem Risikofaktor Adipositas
(Auswahl), 2019, in Prozent aller Erkrankungen des
Todesfälle durch die Erkrankungen Verdauungsapparats
17 17
weiblich männlich Fast 17 Prozent der 33 33
tödlichen Herz- und
Kreislauferkrankungen
bei beiden Geschlech-
tern könnten 2019 auf 3 2
100 Prozent Adipositas zurückgehen

Weitere mit Adipositas assozi-


ierte Krankheiten betreffen das
hormonelle System und das
Skelett (z. B. Arthrose)

13 8

7 5

1 1
106.000
Todesfälle in Deutschland
insgesamt könnten 2019 auf dem
neurologische Erkran- Risikofaktor Adipositas beruhen.
kungen, z. B. Demenz Er steht damit an vierter Stelle –
Tumorkrankheiten, z. B. nach Bluthochdruck, hohem
Leberkrebs Blutzucker und Rauchen.
Chronische Atem-
wegserkrankungen
Der Geschlechterunterschied
erklärt sich u. a. dadurch, dass
63
Hoher Tribut Frauen eher ärztliche Hilfe in Milliarden Euro pro Jahr
Anspruch nehmen. könnten die gesamtgesellschaft-
Krankheitskosten in Deutschland weiblich Jahr männlich lichen Kosten für Adipositas in
aufgrund von Adipositas und Deutschland betragen, indirekte
529 2015 324
sonstiger Überernährung, nach Kosten wie Arbeitsausfälle
Geschlecht, in Millionen Euro** 653 2020 392 eingeschlossen

Geringe
39
weiblich Alter männlich Prozent
Anstrengung 34 18–29 51 der Erwachsenen
Bevölkerung in Deutschland, die in Deutschland
25 30–44 32 saßen oder
2019/20 die Empfehlungen der Weltge-
sundheitsorganisation zur Ausdaueraktivität 24 22
45–64 standen 2019/20
15 ab 65 22 vorwiegend bei
und Muskelkräftigung erfüllte, in Prozent*** der Arbeit
Jahren

* bestimmt anhand des Body-Mass-Index (BMI, Körpergewicht geteilt durch das Quadrat der Körpergröße). Bei Erwachsenen aus dem Zeitraum 2019/20, Übergewicht: BMI zwischen 25 und
unter 30 kg /m2, Adipositas: BMI 30 kg /m2 und mehr. Bei Kindern und Jugendlichen Zeitraum 2014–17, anhand durch Forschung definierter Perzentile; ** ambulant-ärztlich und nicht ärztlich,
stationär, Arzneimittel, Hilfsmittel, Rehabilitation, Pflege, Sonstiges; *** pro Woche mindestens 150 Minuten mäßig anstrengende körperliche Aktivität in der Freizeit sowie Radfahren zur
Fortbewegung und an mindestens 2 Tagen Übungen zur Muskelkräftigung;
S Quellen: RKI, Studien KiGGS Welle 2 und GEDA 2019/2020-EHIS; healthdata.org (GBD 2019); OWID; GBE; IGES

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Dönertag ist«, sagt Bocklage. »Aber nen, wo Sie begrenzte Möglichkeiten die Frage, welche Teile des Angebots
die gibt es bei uns eben nicht ständig.« Pommes haben, gesunde Lebensmittel zu kau- im Kühlschrank, in der Pfanne und
Während Eltern bundesweit laut satt fen, und gleichzeitig von lauter Junk- schließlich im Mund landen, komme
einer Studie der Deutschen Gesell- food-Läden umgeben sind, dann ha- sowohl dem Individuum als auch dem
schaft für Ernährung im Schnitt 3,50 Mädchen und ben Sie oft gar nicht wirklich eine Handel eine viel größere Bedeutung
Jungen in Deutsch-
Euro für ein Mensaessen zahlen, kos- land, die pro Woche Auswahl, auch mal andere Lebens- zu als den Produzenten.
tet das teuerste Menü in der Emsteker mehr als zwei mittel zu verzehren.« Das sieht Schienkiewitz ähnlich.
Kantine 2,90 Euro. Ein Preis, den die Portionen Fast Food* Das Problem sieht der Ernährungs- Man dürfe den Einfluss der Kaufum-
Schule nur anbieten könne, weil die essen, nach Alter, soziologe Spiekermann zumindest für gebung nicht unterschätzen, sagt sie.
in Prozent
Gemeinde zuschieße, sagt Bocklage. Deutschland nicht. »Ein durchschnitt- »Produkte werden so platziert, dass
»Gute Verpflegung steht und fällt mit 3–6 Jahre licher Supermarkt hat heute rund genau die gekauft werden, die man
dem Schulträger, der in der Regel 10 15 000 Produkte im Angebot«, sagt eigentlich gar nicht kaufen will.«
auch der Kostenträger ist. Wir haben 15 er. »In unserem Einkaufswagen lan- Agnes Streber, 60, schlank und
Riesenglück mit der Gemeinde.« det aber immer dieselbe Auswahl von energiegeladen, ist Ökotrophologin,
Als die hungrigen Kinder und Ju- 7–10 Jahre rund 50 dieser Produkte, zu denen Köchin, Familientherapeutin, Moti-
gendlichen durch die große Flügeltür 22 wir eine Bindung aufgebaut haben vationstrainerin und nebenbei aus-
an die Ausgabestationen drängen, 29 und die wir deswegen immer wieder gebildete Zauberin. Sie berät Firmen,
hat sich Schulleiterin Bocklage schon 11–13 Jahre kaufen.« Universitäten und Schulen und hilft
mit ihrem Falafel-Teller an einen 32 Warum wir welche Produkte kau- ihnen, ihre Kantinen so zu gestalten,
Tisch ganz hinten in der Ecke gesetzt. 50 fen und warum diese nicht gut für dass die Kunden im Zweifel zum Ap-
45 Minuten haben die Kinder für ihre unsere Gesundheit sind, das seien die fel greifen und nicht zum Schoko-
Mittagspause. Gegen Ende der Kan- 14–17 Jahre entscheidenden Fragen. Also ist doch riegel. »Nudging« wird dieses Prinzip
tinenzeit schaut Bocklage sich um 32 die Lebensmittelindustrie schuld an aus der Verhaltensökonomie genannt,
und freut sich, dass einige Schülerin- 61 der grassierenden Fettleibigkeit? auf Deutsch: »Anstupsen«.
nen und Schüler noch gemütlich da- * Hamburger, Döner Kebab,
»Es ist gängig, die Industrie zu kri- Vor rund 20 Jahren hat Streber das
sitzen und plaudern. »Es wäre schön, Currywurst, Bratwurst, tisieren, weil sie die Angebote macht«, Ernährungsinstitut »Kinderleicht« im
Pommes frites, Pizza
wenn wir den Kindern vermitteln sagt Spiekermann. »Aber sie folgt Münchner Stadtteil Pasing gegründet,
S Quelle: RKI, Studie KiGGS
könnten, dass Essen nicht nur Nah- einer ökonomischen Logik. Und der das Beratungen, Kurse und Camps

Welle 2 (2014–17)
rungsaufnahme ist und gesund hält, Konsument ist Teil dieser Logik.« für übergewichtige Kinder anbietet.
sondern auch Genuss.« Deswegen sei es zu einfach, nur vor- Sie öffnet schwungvoll die Tür und
So gut das in Emstek funktionieren wurfsvoll auf die Hersteller von Nah- bittet herein. »Tee oder Cappuccino?«
mag – Ernährungssoziologe Uwe rungsmitteln zu zeigen. Später wird sie verraten, dass das
Spiekermann glaubt nicht, dass sich »Wenn wir über die Lebensmittel- bereits der erste Nudge war: Es gibt
das Modell bundesweit übertragen industrie sprechen, müssen wir sehen, eine Auswahl, aber das zu bevorzu-
lässt. Zumindest nicht so weit, dass welcher Gedanke ihr historisch zu- gende Lebensmittel wird als Erstes
allein dadurch die strukturellen Pro- grunde liegt.« Ursprünglich sei es genannt. Zum Getränk serviert sie
bleme zu beheben seien. »Wenn bei der Entwicklung professioneller einen Körnerkeks. Auf einem Teller
Deutsche ein Problem haben, rufen Produktionstechniken und Vertriebs- sind Apfelschnitze und Vollkornbrot-
sie nach der Schule«, sagt Spieker- strukturen darum gegangen, Essen schnittchen mit vegetarischem Auf-
mann. »Schauen wir uns die Realität haltbar und überall verfügbar zu ma- strich drapiert.
an: Schulen scheitern schon an der chen. »Und das hat doch hervorra- »Viele greifen beim Essen zu, ohne
Ausstattung mit einfachen Laptops gend geklappt«, so Spiekermann. groß nachzudenken«, sagt Streber.
oder, noch grundlegender, der Hy- Nun sei die Industrie gewisser- »Genau da setzt Nudging an.« Man
giene in Toiletten.« maßen Opfer ihres Erfolgs geworden. müsse es den Menschen im Alltag
Außerdem habe der Bildungssek- »Sie hat im Wortsinn einen gesättig- unauffällig schmackhafter machen,
tor ein ausgeprägtes Personal- und »Der ten Markt geschaffen und musste gesunde Lebensmittel zu wählen.
Ausstattungsproblem. »Wo sollen da Speck dann sehen, wie sie diesen Markt Wenn eine Kassiererin frische Birnen
Schulküchen und entsprechend qua- erweitert, um wachsen zu können.« empfehle oder ein Servicemitarbeiter
lifizierte Kräfte herkommen?«, fragt muss Dass die Produzenten das Angebot erwähne, dass ein Gericht besonders
Spiekermann. »Sie müssen das brei- weg.« vergrößerten, sei nur folgerichtig. Für gut schmecke, habe das einen nach-
ter denken und anlegen. Schule kann weisbaren Effekt.
einen Anteil haben – vielleicht in Subtile Formen des Nudging be-
Form von Praxis- und Projektunter- gegnen uns zum Beispiel beim Ein-
richt. Für alles andere fehlt sowohl kaufen: Welche Lebensmittel stehen
das Geld als auch das Interesse. Die auf Augenhöhe und welche dort, wo
Debatte über Schule wird vor allem der Blick eher nicht hinfällt?
geführt, um andere Debatten nicht Besuch in einem Supermarkt: Stre-
führen zu müssen.« ber bleibt im Eingangsbereich stehen,
Aber welche meint er? rechts ist die Backwarentheke. »Da
läuft man zuerst an den süßen Teilen
5. Angebot, Nachfrage vorbei«, sagt sie. »Erst ganz am Ende
und Verführung der Theke kommen die Vollkornbröt-
Steffen Jänicke / DER SPIEGEL

»Es fängt schon an bei der Verfügbar- chen und schließlich das regional her-
keit«, sagt Anja Schienkiewietz. Sie gestellte Brot.« Würde man die ge-
forscht in der Abteilung Epidemio- sünderen Produkte gleich am Anfang
logie und Gesundheitsmonitoring am anbieten, dann sei die Tüte vielleicht
Robert Koch-Institut zu Übergewicht. Mbappé-Fan Connor schon voll, bevor man beim ungesun-
»Wenn Sie in einer Umgebung woh- den Gebäck ankomme, so Streber.

14 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


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Nur ein paar Schritte weiter, noch vor der Auf dem Speiseplan:
Obst- und Gemüseabteilung, steht ein kleines Falafel-Bällchen mit Süßkartoffel-Curry
Regal mit abgepackten Muffins im Angebot.
»Das hat genau die Augenhöhe von Kindern«,
sagt Streber. »Durch die rote Farbe mit den
reduzierten Preisen wird zusätzlich die Auf-
merksamkeit auf die Süßigkeiten gelenkt.«
Das Fleischregal: laut Streber eine völlige
Katastrophe. »Da gibt es x Sorten Salami, die
einen direkt anspringen, sobald man die Tür
öffnet – und der fettärmere Schinken ist in
die oberen Reihen abgeschoben.« Ein ähn-
liches Bild zeigt sich bei den Getränken, dem
Müsli und den Milchprodukten. »Da muss
man richtig suchen, bis man den ungesüßten
Naturjoghurt findet.«
Die Verpackung spiele bei der Kaufent-
scheidung ebenfalls eine wichtige Rolle. »Bei

Magdalena Maria Stengel / DER SPIEGEL


grün denkt man sofort an gesund und nach-
haltig – das ist aber bei einem grünen Pizza-
karton nicht wirklich der Fall«, sagt Streber.
»Man sollte einführen, dass sich die gesunden
Lebensmittel optisch von den ungesunden
unterscheiden müssen, damit der Blick direkt
auf die besseren Produkte gelenkt wird.« Schüler bei Koch-Workshop in der
Oberschule Emstek
Einen Pluspunkt immerhin gibt Streber:
In der Obstabteilung habe der Supermarkt
die regionalen Produkte mit einem gelben, gig satt, außerdem zieht der verkürzte Dünn- 100 Kilogramm. »Da habe ich echt gejubelt«,
die Bioangebote mit einem grünen Schild ver- darm deutlich weniger Nährstoffe aus dem erinnert sich Wirtz. »So viel wog ich zuletzt
sehen, damit sie direkt ins Auge fallen. Essen, was die Gewichtsreduktion in der Re- mit 13 oder 14 Jahren.« Das Abnehmen ging
»Natürlich machen viele noch immer mit gel beschleunigt. weiter, Wirtz befand sich »im Honeymoon« –
den Süßigkeiten oder den fetten Fleischpro- Die Entscheidung für den chirurgischen so nennen sie in der Selbsthilfeszene die
dukten einen guten Umsatz«, sagt sie. »Aber Eingriff sei ihm nicht leichtgefallen, sagt er, Phase, in der es gut läuft. Irgendwann kam er
die müssen sie ja nicht aus dem Programm schließlich verursacht die Operation eine gro- runter auf 85 Kilogramm, Jeansgröße 28. »Ich
nehmen. Es würde schon reichen, die gesün- ße Wunde im Innern des Körpers, auch wenn hatte einen BMI von 25,8, ich war Adonis«,
deren Alternativen mehr zu betonen und da- der Eingriff selbst minimalinvasiv ist. Die sagt Wirtz. »Heute fühle ich mich eher wieder
mit die Kunden dazu zu bringen, sich für die Folgen für das Leben nach der OP sind im- wie Fred Feuerstein.«
kalorienärmere Speise zu entscheiden.« mens – auch in Bezug auf die Ernährung. Für Nicht mal die Magen-OP ist also ein Ga-
Wirtz aber war es so etwas wie die letztmög- rant für langfristigen Gewichtsverlust. »Der
6. Der rosa Elefant liche Ausfahrt in seiner Adipositas-Odyssee. Kopf wird ja nicht mit operiert.« Die ständi-
Michael Wirtz sagt, er kenne die Tricks, mit Andere Betroffene setzen auf Besserung gen Kommentare von Außenstehenden nerv-
denen er im Supermarkt verführt werde. durch Medikamente. Vor allem in den USA ten ihn am meisten, so Wirtz. Es heiße immer:
Überhaupt sei das Wissen, wie man sich rich- greifen viele, die übergewichtig sind oder »Lenk dich doch ab, versuch, die Schokolade
tig ernähren oder verhalten soll, nicht das es nicht werden wollen, zu den Präparaten zu ignorieren.« Im Grunde sei das, als würde
Problem. Es sei die Umsetzung dieses Wis- Ozempic und Wegovy, die in den sozialen man sagen: Jetzt bloß nicht an einen rosa
sens, die Menschen mit der Neigung zu Über- Medien als Wundermittel gefeiert werden – Elefanten denken!
gewicht schwerfalle. unter anderem von Elon Musk. Eine Spritze »Als ich richtig dünn war, meinten man-
»Es ist schon traurig, wenn dein ganzes pro Woche soll zu schnellen Abnehmerfolgen che: ›Du siehst aber krank aus, nun ist mal
Leben nur von der Adipositas bestimmt wird«, führen. Der enthaltende Wirkstoff Semaglu- Schluss mit Abnehmen!‹« Als Wirtz wieder
sagt Wirtz. »Und gleichzeitig merkst du: Es tid kommt eigentlich in der Diabetes-Therapie zulegte, hätten die Leute getuschelt und ge-
ist in der Gesellschaft noch gar nicht ange- zum Einsatz, reguliert die Insulinausschüt- sagt: »Der muss dringend was machen, damit
kommen, dass es eine chronische Erkrankung tung und verringert den Appetit. Doch bei zu er nicht wieder so fett wird.« Das habe ihn
ist.« Nichts, was man einfach so wieder ab- hoher Dosierung kann es zu gefährlichen frustriert. »Als ob du den Scheiß beeinflussen
streifen könnte. »Mal ehrlich, 160 Kilo! Das Nebenwirkungen wie Bauchspeicheldrüsen- kannst!«
macht doch keiner freiwillig!« entzündung kommen. Hat Wirtz einen Wunsch? »Ja. Dass mein
Weil bei ihm nichts anderes half, hat er sich Solche Probleme hat Wirtz nach seiner Enkel die Chance hat, so gesund zu bleiben,
irgendwann für eine Operation entschieden. Operation nicht, doch auch er muss weiterhin wie er ist.« Er selbst gehöre zur »Lost Gene-
»Mein Magenbypass hatte vorgestern Ge- genau darauf achten, was und wie er isst. ration«, für ihn sei das Thema durch. Aber
burtstag«, sagt er. Zwölf Jahre ist es her, dass Denn mit dem Bypass landet die volle Ladung Kinder müssten die Möglichkeit bekommen,
ein Ärzteteam seinen Magen so stark ver- Zucker direkt im Dünndarm, wird dort ver- sich gesund zu ernähren. Stattdessen würden
kleinert hat, dass nur noch rund 150 Milliliter stoffwechselt und lässt den Blutzucker in die sie mit Geschmacksverstärkern, zu viel
hineinpassen. Außerdem wurde eine künst- Höhe schießen. Genauso schnell fällt dieser Zucker und durch Werbung an ungesunde
liche Umleitung gelegt, die das Essen am dann wieder ab – und Wirtz fallen die Augen Nahrungsmittel herangeführt und gewöhnt.
Zwölffingerdarm vorbei direkt in den Dünn- zu. »Dann kannst du mich zwei Stunden lang Wirtz fordert die Politik auf zu handeln. »Re-
darm befördert. »Ein Teil meines Darms ist vergessen.« Schon ein kleiner Schokokuss gulatorisch ist ja bisher kaum etwas passiert.«
seitdem praktisch ausgeschaltet«, sagt Wirtz. könne ihn komplett lahmlegen. Markus Deggerich, Anika Freier, Heike Le Ker,
Patienten, die sich diesem irreversiblen Ein- Kurzzeitig schaffte er nach dem Eingriff Eva Lehnen, Malte Müller-Michaelis, Katherine
griff unterziehen, sind danach zum einen zü- den Uhu, die magische Grenze von unter Rydlink, Julia Stanek n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 15


TITEL

Frisches Gemüse Mediziner Hollstein mierten sie 50 Prozent mehr Nahrungs-


kalorien, als der Körper jeweils benötigt
hätte, um das Gewicht zu halten.
Die Bedingungen wurden penibel über-
wacht. Die Probanden schlugen sich unter
den Augen der Forschenden den Bauch
voll, damit sie nicht schummeln konnten.
Die Mahlzeiten bestanden zu 68 Prozent
aus Kohlenhydraten, zu 30 Prozent aus
Fett sowie zu 2 Prozent aus Proteinen.
Die Probanden lebten in den sechs Wo-
chen auf einem Krankenhausflur und tru-
gen Bewegungssensoren an Armen und
Beinen. Die Menge und der Energiegehalt
ihrer Fäkalien wurden gemessen. Regel-
mäßig wurden sie in einer Respirations-

Kaja Grope / DER SPIEGEL


kammer untersucht, darin maßen Sensoren
den Sauerstoffverbrauch sowie die Pro-
Getty Images

duktion von Kohlenstoffdioxid. Mithilfe


dieses Datenschatzes konnten die Forscher
genau nachvollziehen, wie intensiv
der Stoffwechsel jedes Einzelnen arbeitete.
Die Ergebnisse waren überraschend –
BIOLOGIE
und extrem: Ein Proband hielt seinen Ener-
gieverbrauch am Fastentag nahezu kons-
Das Stoffwechsel- tant und erhöhte ihn drastisch während der
Völlerei. Dieser verschwenderische Typ
nahm nur zwei Prozent seines Körperge-
mysterium wichts zu. Das war ihm offenbar möglich,
weil er die überschüssige Energie durch
Manche bleiben schlank, egal wie viel sie essen, erhöhte Wärmebildung (Thermogenese)
andere legen sofort zu. Forscher haben entschlüsselt, verpulverte.
woran das liegt. Kann jeder seinen Körper so Ein anderer Mann dagegen senkte sei-
nen Energieverbrauch am Fastentag und
umprogrammieren, dass das Abnehmen leichter fällt? hielt die Reduzierung während der Phase
der Überernährung offensichtlich konstant.
Das Leben ist unfair, denn viele Leute wür- Health (NIH), als sie in Phoenix, Arizona, Dieser sparsame Typ steigerte sein Körper-
den »schon schwerer, wenn sie einen Ku- 14 Männer untersuchten. Die eine Hälfte gewicht um acht Prozent. Damit hatte er
chen nur anschauen«, so spitzt es Tim Holl- gehörte zum indigenen Volk der Pima, mehr als doppelt so viel zugelegt wie die
stein zu, Arzt am Institut für Diabetologie die andere waren weiße Amerikaner. Die verschwenderische Vergleichsperson.
und klinische Stoffwechselforschung der Probanden nahmen zwei Tage lang In einer weiteren Studie hat das Team
Kieler Uniklinik. Nur woran liegt es, dass doppelt so viele Kalorien zu sich, als sie um Hollstein stark übergewichtige Frauen
einige Frauen und Männer schneller dick eigentlich benötigten, um ihr Gewicht und Männer untersucht. Sechs Wochen
werden als andere, obwohl sie nicht mehr konstant zu halten. lang bekamen sie nur die Hälfte der Nah-
Nahrung zu sich nehmen? Hollstein gehört Erstaunlicherweise reagierten die Män- rungskalorien serviert, die sie zum Ge-
zu jenen Forschenden, die erste Antworten ner vollkommen unterschiedlich auf die wichthalten benötigt hätten. Wieder schäl-
auf diese Frage gefunden haben. Mast. Einige erhöhten ihre Stoffwechsel- ten sich dabei Extreme heraus: Manche
Nach dem Gesetz der Energieerhaltung aktivität und verschwendeten einen Teil Personen verloren sogleich Gewicht; sie
dürfte es eigentlich keine Unterschiede ge- der aufgenommenen Energie, indem sie waren auch noch ein Jahr nach der Studie
ben: Zwei Menschen gleicher Körpergröße mehr Körperwärme produzierten. Der dünner als vorher. Andere dagegen nah-
und gleichen Alters, die den gleichen Über- Stoffwechsel anderer Männer dagegen men nur zögerlich ab und litten unter dem
schuss an Nahrungskalorien zu sich neh- blieb trotz der Überernährung sparsam. Jo-Jo-Effekt – zwölf Monate nach der Stu-
men und sich gleich viel körperlich bewe- Die überschüssigen Kalorien wurden nicht die waren sie sogar schwerer als zuvor.
gen, setzen die gleiche Masse Speck an – so verheizt, sondern offenbar genutzt, um
die Theorie. Doch die Realität sieht anders Fettreserven anzulegen. Und die Unter- Aus Sicht von Evolutionsbiologen müssten
aus, wie inzwischen viele Studien bestätigt schiede waren unabhängig von der ethni- alle Menschen eigentlich zu dem Typ des
haben. »Trotz optimal kontrollierter Be- schen Zugehörigkeit. sparsamen Stoffwechsels gehören, weil
dingungen – vergleichbare Energieaufnah- Gemeinsam mit einer Kollegin und vier diese Eigenschaft die meiste Zeit der
me und körperliche Aktivität – nehmen Kollegen hat Hollstein das Phänomen Menschheitsgeschichte vorteilhaft war.
einige Probanden durch Überernährung bis weiteruntersucht, und zwar in seiner Zeit »Das ist wahrscheinlich ein Schutzmecha-
zu doppelt so viel Gewicht zu wie andere«, als Forscher an einem NIH-Institut in nismus, der entstanden ist, weil wir früher
so Hollstein. Phoenix. Sieben gesunde, schlanke Män- viele Zeiten hatten, wo wir Nahrungs-
Gibt es zwei verschiedene Stoffwechsel- ner bekamen zunächst 24 Stunden lang knappheit gut überleben mussten«, sagt
typen? Einen ersten Hinweis darauf fanden nichts zu essen und wurden eingehend der Mediziner Knut Mai von der Klinik
Wissenschaftler der amerikanischen Ge- untersucht. Danach mussten sie sechs Wo- für Endokrinologie, Diabetes und Ernäh-
sundheitsbehörde National Institutes of chen lang reinhauen. Tag für Tag konsu- rungsmedizin der Berliner Charité. »Und

16 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


TITEL

da war es ein Selektionsvorteil, wenn


Flexibles Vorteilsangebot.
man den Energiebedarf in Phasen des
Mangels herunterfahren konnte. Umge- Lesen Sie den SPIEGEL,
kehrt konnten Individuen mit dem spar-
samen Stoffwechsel mehr Fettreserven solange Sie möchten.
anlegen, wenn reichlich Nahrung vor-
handen war.« Flexibel bleiben.
In Gesellschaften mit einem Überan- Kurze Laufzeit, monatlich kündbar
gebot an Schnitzeln, Schokolade, Snacks
und Drinks ist ein sparsamer Stoffwech- 25 % Rabatt.
sel jedoch ein Nachteil, weil das Risiko Die ersten 52 Ausgaben für nur € 4,20 statt € 5,60 pro
für krankhaftes Übergewicht steigt. Nach Ausgabe
Angaben des Robert Koch-Instituts ha-
ben 19 Prozent aller Erwachsenen in Kostenloser Versand.
Deutschland Adipositas und damit eine Wöchentliche Lieferung frei Haus innerhalb Deutschlands
erhöhte Gefahr für Gelenkbeschwerden, Noch mehr.
Diabetes mellitus Typ 2, Herzinfarkt und
Inklusive der Beilagen SPIEGEL Bestseller und SPIEGEL Geld
Schlaganfall.
Umso wichtiger ist die Frage: Warum
sind einige Menschen praktisch vor
Übergewicht geschützt? Anders als frü-
her vermutet, spielt die Vererbung al-
lenfalls eine kleine Rolle. Biologen such-
ten lange nach Genen für Sparsamkeit Einfach jetzt anfordern:
oder für Verschwendung – und fanden
solche nicht.
abo.spiegel.de/flexibel25
Deshalb richten die Forscher nun das
Augenmerk auf die Umwelt. Gibt es oder telefonisch unter 040 3007-2700
äußere Faktoren, die den Stoffwechsel in
eine bestimmte Richtung programmie-
(Bitte Aktionsnummer angeben: SPAZ-002)
ren? Kann man durch eine Änderung
des Lebensstils zumindest ein Stück zu
einem Verschwender werden?
»Wir vermuten, dass sich der Phäno-
25 %
sparen im
typ durch eine langfristige Ernährungs- ersten Jahr
umstellung ändern kann«, sagt Hollstein
und verweist auf eine Studie, die dem-
nächst in Phoenix beginnt: Probanden
sollen zunächst daraufhin untersucht
werden, ob sie zum sparsamen oder ver-
schwenderischen Phänotypus gehören.
Dann erhalten sie zwei Wochen lang eine
Nahrung, die genau dem individuellen
Kalorienbedarf entspricht, allerdings mit
einem Unterschied. Die eine Hälfte der
Probanden erhält eine fettreiche Diät,
die andere eine proteinarme Diät. Nach
den zwei Wochen wollen die Forscher
untersuchen, ob die jeweilige Ernäh-
rungsweise den Phänotyp beeinflusste.
Eines ist schon jetzt klar: Jeder
Mensch kann abnehmen, sofern er weni-
ger Energie aufnimmt, als sein Körper
verbraucht. Sparsame Typen müssen da-
für aber besonders viel Willenskraft und
Geduld aufbringen.
»Meiner Ansicht nach ist die wichtigs-
te Regel beim Abnehmen: Ändere dein
Leben nicht für drei Monate, sondern für
immer«, sagt der Kieler Arzt Hollstein.
»Die Ernährungsumstellung muss an-
fangs auch gar nicht so radikal sein. Die
Pfunde sollten lieber langsam purzeln,
dann werden unsere Energiesparmecha-
nismen weniger stark aktiviert.«
Jörg Blech n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 17


TITEL

SPIEGEL: Herr Raue, inzwischen müsste jedes


Kind wissen, welches Essen dick macht. Wa-
rum schaffen wir es trotzdem nicht, uns bes-
ser zu ernähren?
Raue: Das ist wirklich absurd. Deutschland
ist ein überbürokratisiertes Land. Es gibt hier
für jeden Scheiß eine Verordnung. Drogen

»Völlerei war sind verboten, der Alkohol- und Nikotin-


konsum wird reguliert, genauso wie Medi-
kamente. Nur Zucker nicht. Dabei weiß jeder,

meine Form der der sich auch nur ein bisschen mit Essen
auseinandersetzt, dass nichts so schnell und
direkt ins Blut gelangt wie Zucker.

Selbstliebe« SPIEGEL: Aber Zucker ist nicht das einzige


Problem, oder?
Raue: Seit den Siebzigerjahren hat die Masse
ÜBERGEWICHT Burger und Frittiertes als Belohnung: Sternekoch Tim Raue, an industriell verarbeiteten Lebensmitteln
zugenommen. Dass frisch gekocht wird, war
48, spricht über seine Gewichtsprobleme und fordert ein Zuckerverbot. früher Usus und wird immer mehr zur Aus-
nahme. Das ist doch Irrsinn.
SPIEGEL: Worauf führen Sie diese Entwicklung
zurück? Liegt es daran, dass unser Alltag im-
mer stressiger wird?
Raue: Das hat damit nichts zu tun. Ich betreue
die Gastronomie in drei Seniorenresidenzen.
Alle Bewohner haben gemeinsam, dass sie
mit frisch zubereitetem Essen aufgewachsen
sind. Tiefkühlkost und Fast Food gab es
während ihrer Jugend nicht. Ich dagegen bin
mit Industrielebensmitteln groß geworden.
Frisch gekochte Mahlzeiten bekam ich als
Kind höchstens alle sechs, sieben Wochen,
wenn ich bei meinen Großeltern zu Besuch
war. Und ich habe alles: Glutenunverträg-
lichkeit, Laktoseintoleranz, Histaminose.
Würden wir als Kinder ebenso von bestimm-
ten Lebensmitteln ferngehalten werden wie
von Drogen, Zigaretten und Alkohol, dann
wäre das ein großer Beitrag für die Allge-
meinheit.
SPIEGEL: Sie fordern also mehr staatliche Re-
gulierung bei Nahrungsmitteln?
Raue: Klar! Ein Staat, der für die Sicherheit
seiner Bürger verantwortlich ist, sollte es auch
für deren Gesundheit sein. Wir könnten die
Milliarden, die wir ins Gesundheitssystem
pumpen, drastisch reduzieren, wenn wir Le-
bensmittel verbieten würden, deren Zucker-
anteil fünfmal so hoch ist wie die pro Tag
maximal empfohlene Menge.
SPIEGEL: Aber es gibt doch inzwischen Nähr-
wertangaben auf allen Lebensmitteln. Warum
muss der Staat eingreifen? Liegt das nicht in
der Verantwortung jedes Einzelnen?
Raue: Es gab eine Zeit, da hatte ich wirklich
sattes Übergewicht – noch mehr als jetzt. Ich
schaffte es nicht allein, etwas zu ändern, weil
ich nicht willensstark genug war. Ich habe
daraufhin mit Weight Watchers angefangen.
SPIEGEL: Warum konnten Sie allein nichts
ändern? Sie beschäftigen sich in Ihrem Beruf
doch ständig mit Lebensmitteln.
Raue: Das Punktezählen hat mir geholfen,
meine tägliche Kalorienzufuhr zu visualisie-
ren. 34 Punkte durfte ich nicht überschreiten,
um abzunehmen. Zu der Zeit gönnte ich mir
Peter Rigaud

Spitzengastronom Raue nach Feierabend ganz selbstverständlich zwei


Burger mit Pommes und Mayo, dazu eine Fla-

18 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


TITEL

sche Gingerale, anschließend habe ich SPIEGEL: Aber woran liegt es dann, Energiekosten nicht zu vergessen.
mir noch einen Becher Eis spendiert. dass viele Menschen zu dick sind? Dagegen boomen die Fast-Food- und
Das zusammen ergibt allein 160 Punk- Essen wir einfach zu viel? die Abnehmindustrie. Wirtschaftlich
te, wenn ich mich richtig erinnere. Raue: Bei uns in Deutschland erlebe haben Sie wohl aufs falsche Pferd ge-
SPIEGEL: Aber Sie müssen doch auch ich inzwischen ein Aufbegehren setzt.
ohne Punkte gewusst haben, dass die- gegen die Überflusskultur, gegen Raue: Sie meinen, ich soll 20 Kilo ab-
se Menge Fast Food nicht gut für Sie 15 Meter lange Regale mit Fleisch- nehmen und dann die Story ver-
sein kann. ersatzprodukten, die keiner braucht. kaufen?
Raue: Ja, aber ich habe es gnadenlos Auch bei meinen Gästen im Restau- SPIEGEL: Warum nicht?
ignoriert, weil ich die Völlerei genoss. rant ist das Bewusstsein für Nah- Raue: Das hat mir das Fernsehen
Das war meine Form der Selbstliebe. rungsmittel stark gestiegen, auch schon vorgeschlagen, hat aber keinen
SPIEGEL: Unterschätzen wir die emo- wenn der allgemeine Konsum von Reiz für mich. Ich weiß, dass ich es
tionale Wirkung von Essen? Tiefkühlpizza noch nicht weniger ge- schaffen würde, mein Übergewicht
Raue: Auf jeden Fall. Ich hatte wäh- worden ist. loszuwerden, auch wenn ich keine
rend meiner Dreißiger schwere De- SPIEGEL: Vielleicht weil viele Men- Millionen dafür bekomme. Weil ich
pressionen. Es war echt schwierig, die schen etwas Positives mit Pizza ver- eigentlich immer alles schaffe, was ich
Ursache zu finden, weil es keinen er- binden? mir vornehme. Das Problem ist nur,
kennbaren Grund dafür gab. Irgend- Raue: Dann sollen sie halt einmal im dass ich das verlorene Gewicht inner-
wann hatte ich das große Glück, nach Monat eine essen, nicht öfter. Aber halb kürzester Zeit wieder drauf
Südostasien zu reisen, weg von allem ich will hier nicht den Oberlehrer mit hätte. Ich habe nämlich ein großes
Gewohnten – vor allem sechs Wo- erhobenem Zeigefinger spielen. Problem damit, mich selbst wertzu-
chen ohne Fast Food. Ich dachte zu- Wenn ich 15 Kilo weniger auf den schätzen, mir auch mal die Zeit zu
erst, es liege an Asien, dass es mir Rippen hätte, wäre das gerechtfertigt. nehmen, für mich selbst zu kochen.
besser ging. Vor ein paar Jahren war Sich gegenseitig in Watte zu packen SPIEGEL: Was würde passieren, wenn
ich durch Zufall auf einem Sympo- bringt aber auch nichts. Alle sind so Tim Raue immer nur bei Tim Raue
sium mit Ärzten und Ernährungswis- politisch korrekt geworden, man darf essen würde?
senschaftlern. Erst da wurde mir der gar nicht mehr sagen: Das solltest du Raue: Einen Monat lang habe ich es
Zusammenhang zwischen täglicher besser nicht essen. Sondern es heißt mal geschafft, mich nur von meinem
Ernährung und psychischem Wohl- jetzt immer: Man muss alle so lassen, eigenen Essen zu ernähren. Da habe
befinden klar. Danach habe ich ver- wie sie sind. Völliger Schwachsinn. ich ohne Weiteres elf Kilo verloren.
suchsweise ein Wochenende lang Wir sind als Gesellschaft ja keine SPIEGEL: Sie sagen, dass Sie das zeit-
allen Mist gegessen, den man be- wohltätige Vereinigung, sondern ein- lich nicht auf Dauer schaffen. Haben
kommen kann, wo wirklich gar nichts ander verpflichtet. Und wenn du die Sie trotzdem Strategien entwickelt,
Frisches drin ist – und zwar aus- Gesellschaft nur Geld kostest, weil du um sich gesünder zu ernähren?
schließlich. Und es ging mir sofort dich krank gefressen hast, dann hat Raue: Ich versuche, meine Lebens-
wieder schlecht. die Gesellschaft das Recht, dich zu mitteleinkäufe heute über Vernunft
SPIEGEL: Wie gehen Sie heute mit sanktionieren, finde ich. zu steuern, weil ich weiß: Wenn ich
diesem Wissen um? Sündigen Sie SPIEGEL: Sie kommen aus zerrütteten meinem Bauch folge, dann wird der
nicht mehr? Familienverhältnissen, wuchsen bei nur noch größer. Trotzdem gehe ich
Raue: Doch, selbstverständlich, sonst Ihrem gewalttätigen Vater auf, später weiterhin zu Kentucky Fried Chicken.
würde ich anders aussehen. Ich habe landeten Sie in einem Projekt für Glücklicherweise habe ich inzwischen
eine extreme Bindung an Essen. Ich schwer erziehbare Kinder und rutsch- nach vier, fünf Hähnchenflügeln die
trinke keine zuckerhaltigen Getränke ten in die Hooliganszene ab. Hat das Schnauze voll, aber die Sucht bleibt.
mehr, habe kein Problem mit Alkohol Ihr Essverhalten geprägt? SPIEGEL: Was war Ihre letzte Ernäh-
und verzichte auf Kaffee. Aber ich Raue: Ich habe in den letzten Jahren rungssünde?
habe bis heute eine gewaltige Obses- grob überschlagen eine fünfstellige Raue: Im Flughafen von Doha vor
sion für Frittiertes. Wenn ich einen Summe dafür ausgegeben, um mich dreieinhalb Wochen entdeckte ich
Fast-Food-Laden sehe, muss ich mich mit meiner Ernährung auseinander- eine Gordon-Ramsay-Pizzeria. Ich
unermesslich zusammenreißen, um zusetzen und herauszufinden, was sie habe mir eingeredet, dass ich die
einfach vorbeizugehen. Mir fällt es geprägt hat. Dabei habe ich erkannt, aus beruflichen Gründen unbedingt
überhaupt nicht schwer, zwischen dass ich auch heute in stressigen Situ- testen muss – aber mir gleichzeitig
8 Uhr morgens und 22 Uhr überhaupt ationen zu den Lebensmitteln greife, vorgenommen, nicht alle Pizzen zu
nichts zu essen. Aber nach Feier- mit denen ich mich als Kind belohnt probieren.
abend setzt bei mir der Belohnungs- hatte. Auch wenn ich weiß, dass ein SPIEGEL: Wie viele Pizzen waren es
effekt ein. veganer Karotteneintopf besser für am Ende?
SPIEGEL: Forscher sagen, es gebe mich wäre, greife ich trotzdem zum Raue: Die ich bestellt habe? Vier. Ge-
einen Zusammenhang zwischen der Burger, weil ich als Kind regelmäßig gessen habe ich aber von jeder nur
gesellschaftlichen Schicht, in der man all mein Geld zusammengekratzt ein paar Stück. Es war mir wichtig,
aufwächst, und dem Körpergewicht. habe, um damit meine Sorgen zu be- »Wenn ich keine ganze Pizza zu essen.
Raue: Da stimme ich nicht zu. In den graben. meinem SPIEGEL: Hatten Sie danach ein
Vereinigten Arabischen Emiraten, wo SPIEGEL: Sterneküche gilt als Zu- Bauch schlechtes Gewissen?
der Großteil der einheimischen Be- schussgeschäft, viele Köche auf Spit- Raue: Ja, selbstverständlich. Es hat
völkerung gebildet und wohlhabend zenniveau kochen bestenfalls kosten- folge, nicht lange gedauert, da hatte ich das
ist, sind die Menschen unfassbar über- deckend oder werden von Investoren dann wird Gefühl, einen Betonblock geschluckt
gewichtig. In kaum einem Land ist gestützt. Die Personalkosten sind der nur zu haben. Das hat mich dazu ani-
der prozentuale Anteil Diabetes- hoch, hinzu kommen exquisite Zu- miert, am nächsten Tag wieder etwas
kranker an der Gesamtbevölkerung taten, ausgewähltes Porzellan, Be- noch Gesundes zu essen.
so hoch. steck und Gläser. Die steigenden größer.« Interview: Sebastian Späth n

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DEUTSCHLAND
Daniel Karmann / picture alliance / dpa

Daniel Karmann / picture alliance / dpa


Barbie hat schon länger ein Imageproblem. Auch heute steht die blonde Puppe für einen ungesunden Schönheitskult. Seit einiger Zeit versucht das
Unternehmen Mattel deshalb, inklusiver zu werden, wie hier zu sehen bei einer Barbie im Rollstuhl, die auf der 72. Spielwarenmesse in Nürnberg
ausgestellt wird. Inzwischen gibt es Barbie mit anderen Hautfarben und auch etwas fülliger. Im vergangenen Jahr wurde erstmals eine Barbie nach
Vorbild einer Transfrau erschaffen. Das erste LGBTI-Mitglied der Barbie-Welt war das aber nicht. Die männliche Puppe Ken wurde längst als schwul
geoutet. Barbie und Ken wurden nach den Kindern der Mattel-Mitbegründern Ruth und Elliott Handler benannt. Sohn Kenneth war homosexuell.

Einsamkeit gefährdet Demokratie


EXTREMISMUS 16- bis 23-Jährige, die sich allein fühlen, sind anfälliger für Verschwörungsideologien.

ugendliche, die sich einsam fühlen, sind empfänglicher für »demokratiegefährdendes Potenzial« berge, da die Betroffenen bei
J autoritäres Gedankengut und Verschwörungsideologien als
nicht einsame. Das zeigt eine repräsentative Studie, die im
Auftrag der Denkfabrik »Das Progressive Zentrum« entstanden ist.
demokratiefeindlichen Gruppen Anschluss suchen könnten. Denn
Einsamkeit ist weit verbreitet in dem Alter: So geben 55 Prozent an,
dass ihnen manchmal oder immer Gesellschaft fehlt, 26 Prozent ha-
So geben nur 51 Prozent der einsamen 16- bis 23-Jährigen an, dass ben nicht das Gefühl, anderen Menschen nah zu sein. Jugendliche,
Demokratie die beste Staatsform sei. 46 Prozent der Einsamen stim- die finanziellen Druck verspüren, nicht mehr zu Hause wohnen oder
men der verschwörungsideologischen Behauptung zu, dass die Regie- eine Migrationsgeschichte haben, fühlen sich demnach eher einsam.
rung »oft über terroristische Anschläge Bescheid« wisse, sie aber ge- Die Forschenden fordern nun bessere Prävention, um sowohl die
schehen lasse – bei denen, die sich nicht einsam fühlen, sind es Betroffenen als auch die Demokratie zu schützen: Es brauche Frei-
15 Prozentpunkte weniger. Über ein Drittel der Einsamen finden zeitangebote, soziale Orte sowie eine Offensive in der politischen
auch, dass es einige Politiker »verdient haben, wenn die Wut gegen Bildung. Für die Studie wurden 1008 Jugendliche von 16 bis 23 Jah-
sie auch schon mal in Gewalt umschlägt«, bei den Nicht-Einsamen ist ren online befragt, Fokusgruppen und Tiefeninterviews lieferten
es ein Viertel. Die Autorinnen der Studie warnen, dass Einsamkeit ein qualitative Erkenntnisse. AKM

20 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


Queere bald im Sicherung bereits erreichter
DIE DA UNTEN
Fortschritte bei der Gleichstel-
Grundgesetz? lung. »Ich finde das längst über-
VERFASSUNG In der Union fällig und hoffe, dass wir das Im siebten Himmel
gibt es erste zustimmende Wor- in dieser Legislaturperiode hin-
te zum Vorschlag der Ampel- bekommen«, so Luczak. Bisher
koalition, »sexuelle Identität« hatte die Union eine Änderung Von Anna Clauß deutlichen Altersunterschied
ausdrücklich in Artikel 3 des abgelehnt. Ob die Fraktions- hat die »Bild«-Zeitungs-Nach-
Grundgesetzes aufzunehmen, disziplin bei der Frage aufgeho- as Bemühen um mehr richt zu ihrem Beziehungssta-
der vor Diskriminierung schüt-
zen soll. Die Bundesregierung
bräuchte neben den Stimmen
ben wird, wollte Fraktionschef
Friedrich Merz auf Nachfrage
des SPIEGEL derzeit nicht
D Gleichberechtigung in
allen Bereichen des Le-
bens ist der ewige Neujahrs-
tus außerdem nicht bestätigt.
Womöglich sind die beiden
schlicht Opfer der sensations-
der Linken weitere 36 Stimmen sagen. Zuletzt hatte die Anti- vorsatz der Politik. Alle sind lüsternen People-Presse ge-
aus der Union, um die notwen- diskriminierungsbeauftragte dafür. Koalitionsverträge und worden.
dige Zweidrittelmehrheit zu er- des Bundes, Ferda Ataman, für Wahlprogramme klingen viel- Mitleid ist dennoch fehl am
reichen. Der CDU-Abgeordnete die Verfassungsänderung ge- versprechend – bevor die Platz. Wenn man es erstre-
Jan-Marco Luczak sagte dazu, worben. Bis heute seien homo- Realität dazwischenkommt. benswert findet, dass Frauen
er sehe »diesbezüglich keine sexuelle Menschen als einzige Parität im Kabinett? Pro- alles haben können und damit
breite Ablehnungsfront in der Opfergruppe der Nationalsozia- bieren wir ein anderes Mal. nicht nur einen Doppelnamen
Union«. Es handle sich nicht um listen nicht in das Diskriminie- Irgendwann dann, wenn nicht oder die Vereinbarkeit von
reine Symbolpolitik, sondern rungsverbot des Grundgesetzes gerade der dritte Weltkrieg Kind und Karriere meint,
um die verfassungsrechtliche aufgenommen. SAH abgewendet werden muss und dann müsste dieses »Alles«
ein Mann mit Tarnjacke und natürlich auch die Schatten-
entschlossenem Blick im Pan- seiten von Ruhm, Macht und
Lieber ohne Kamera Münchner Generalstaatsanwalt zer-Turm nun mal das ist, was Prominenz umfassen. Außer-
Reinhard Röttle die Bedenken die Truppe und die besorgte dem schwingt in Titelzeilen
RECHTSPOLITIK In der Justiz der Strafverfolger. Dabei hande- Öffentlichkeit braucht.
wächst der Widerstand gegen le es sich eher um einen »zu- Immerhin gibt es zu Beginn Klischee des naiven
das Vorhaben von Bundesjustiz- sätzlichen Werkzeugkasten für des neuen Jahres auf einem
minister Marco Buschmann Strafverteidiger«. Röttle fürch- anderen Schlachtfeld emanzi-
Mäuschens an
(FDP), Gerichtsverhandlungen tet unter anderem, dass Zeugen patorischen Fortschritt zu ver- der Seite des poten-
in Strafverfahren per digitaler ihre Aussagen abschwächen melden: dem Boulevard. Eine ten Machers
Aufzeichnung zu dokumentie- oder vorfiltern, wenn die Kame- bekannte Moderatorin soll
ren. In einer aktuellen Stellung- ra mitläuft: »Es ist heute schon mit einer Berliner Bestseller- wie »Die neue ist xy Jahre
nahme lehnen die deutschen schwierig, Menschen zur Aussa- autorin zusammen sein. In- jünger« ja auch immer Be-
Generalstaatsanwälte den Refe- ge vor Gericht zu bewegen, weil teressant ist die Betonung des wunderung mit. Große Alters-
rentenentwurf aus Buschmanns sie Angst vor dem Angeklagten Altersunterschieds. Die »Bild«- unterschiede in Beziehungen
Haus einhellig ab. Dieser »löst haben oder der Situation aus- Zeitung titelte Anfang dieser wirken häufig wie eine selt-
kein Problem, sondern schafft weichen wollen.« Das Risiko, Woche: »Talk-Lady … wieder same Art der Machtdemons-
neue«, ein »Regelungsbedarf dass Mitschnitte im Internet glücklich: Ihre neue Liebe ist tration. Das Bild von Frau
ist nicht ersichtlich«, heißt es in landeten, sei erheblich, der »rie- 26 Jahre jünger«. Sollte die Schröder-Kim (52 Jahre alt),
dem Papier. »Das Gesetzesvor- sige Pool personenbezogener Nachricht stimmen, hätte es die betend am Fenster eines
haben wird falsch begründet, als Daten« zudem »anfällig für Ha- die Prominente geschafft, in Moskauer Hotels steht, wäh-
eine Arbeitshilfe für die Justiz, ckerangriffe«. Röttle: »Das einen Bereich des siebten rend ihr Mann Gerhard Schrö-
ohne dass man uns vorher ge- ist das Letzte, was wir für den Himmels vorzudringen, den der (78 Jahre alt) im Kreml
fragt hat«, so erklärt etwa der Strafprozess brauchen.« FRI bislang nur Männer in Beglei- Frieden für die Ukraine ver-
tung einer halb so alten Frau handelt, hat jedenfalls das Kli-
betreten konnten. Schauspie- schee des naiven Mäuschens
ler, Sportler oder Manager an der Seite des potenten Ma-
Nachgezählt sind dort Stammgäste. chers nicht widerlegt.
Nun könnte man sagen, Dabei sind Partnerschaften
Minderjährige Soldatinnen und Soldaten bei der Bundeswehr, dass es bestimmte Bereiche mit großem Altersunterschied
Einstellungen pro Jahr
gibt, in denen die Gleichbe- sicherlich auch auf Augen-
2128 rechtigung der Geschlechter höhe möglich. Die »Bild«-Zei-
verzichtbar wäre. Mehr Frau- tung hätte jedenfalls problem-
1773 en in Beziehung zu deutlich los auch die 30 Jahre alte Ber-
jüngeren Partnerinnen, schön liner Bestsellerautorin zur
und gut. Noch schöner wären Protagonistin ihrer Geschichte
Titelzeilen wie »Parität im machen und titeln können:
689 Parlament erreicht!«, »Der »Ihre Neue ist 26 Jahre älter!«
Gender-Pay-Gap ist Geschich- Aber für so viel emanzi-
te!« oder »Altersarmut bei patorischen Fortschritt ist das
+ 43 % Frauen geht zurück!« Das neue Jahr vermutlich noch
gegenüber
2021 weibliche Promi-Paar mit dem nicht alt genug.
2011 2017 2022

327 junge Frauen waren 2022 unter den minderjährigen Rekruten. An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quellen: DFG-VK, Bundesregierung

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 21


CHAPPATTES WELT Streit bei der Bahn
VERKEHR Die Tarifverhandlun­
gen zwischen der Eisenbahn­
und Verkehrsgewerkschaft EVG
und dem Vorstand der Deut­
schen Bahn werden belastet
durch einen Streit über die ge­
plante Infrastrukturgesellschaft.
Die Arbeitnehmervertreter wol­
len darin neben Tochterfirmen
wie DB Netz AG und DB Sta­
tion & Service AG auch die DB
Kommunikationstechnik und
DB Sicherheit GmbH, gegebe­
nenfalls auch die für die Immo­
bilien zuständigen Gesellschaf­
ten, vereinen. »Es ist sinnvoll,
diese Einheiten mit in die Netz­
gesellschaft zu integrieren«, sagt
EVG­Vize Kristian Loroch. An­
dernfalls, so fürchtet er, könnten
diese Firmenteile unter die
Räder geraten und Fachkräfte
abwandern. »Wir müssen den
Umbau größer und nachhaltiger
denken«, fordert er und kri­
tisiert, dass die Bahn­Führung
auf eine schnelle und einfache
Lösung setze. Konzernchef
Mehr Transparenz »Insbesondere, wenn es sich da­ strengeren Transparenzstan­ Richard Lutz drängt darauf, die
bei um Finanzströme aus Nicht­ dards für die Nichtregierungs­ neue Infrastrukturgesellschaft
EUROPA Nicola Beer (FDP), EU­Ländern handelt.« Es müsse organisationen haben deren noch bis zum Sommer ins Han­
Vizepräsidentin des Europa­ ersichtlich werden, »wer mit Verbündete im Parlament bis­ delsregister einzutragen, damit
parlaments, fordert nach dem welchen Hintermännern was er­ her zurückgewiesen. Beer sieht sie Anfang 2024 den Betrieb auf­
Skandal um mutmaßlich be­ reichen will«. Im Korruptions­ darin eine Ungleichbehandlung: nehmen kann. Das neue Unter­
stechliche Abgeordnete und skandal, der Anfang Dezember »Unternehmen müssen ihre Fi­ nehmen soll gemeinwohlorien­
eine manipulierte Ausschusssit­ ins Rollen kam, spielten zwei nanzströme in Geschäftsberich­ tiert sein, und Gewinne sollen in
zung schärfere Kontrollen von NGOs nach Erkenntnissen der ten offenlegen. Ziel sollte sein, der neuen Einheit bleiben. In
Nichtregierungsorganisationen. belgischen Ermittler eine zen­ einheitliche Standards für alle den Tarifverhandlungen bietet
»Aus dem Transparenzregister trale Rolle bei der Finanzierung zu schaffen.« Wäre Katar früher die Bahn wegen der Neustruktu­
sollte künftig hervorgehen, wer mutmaßlich illegaler Praktiken als Finanzier einer der verdäch­ rierung kurze Laufzeiten an.
von wem finanziert wird – egal zugunsten Katars und Marok­ tigen NGOs bekannt gewesen, Auch das lehnt die EVG ab. Die
ob Unternehmen, NGO oder kos. Vertreter beider Länder »dann wären manche im Um­ neue Infrastrukturgesellschaft
Verband«, sagt Beer, die auch haben die Vorwürfe bislang be­ gang mit dieser NGO wohl vor­ soll den Sanierungsstau beim
Vizevorsitzende der FDP ist. stritten. Forderungen nach sichtiger gewesen«, so Beer. MBE Schienennetz beseitigen. GT

Windkraft für Laut Intel­Vorstand Keyvan Langsame Gerichte Gerichte als überlastet wahr.
Esfarjani hängt der Erfolg des Sven Rebehn, Geschäftsführer
Chipfabrik Projekts auch davon ab, ob man JUSTIZ Ein Großteil der Deut­ des Deutschen Richterbunds,
ENERGIEKRISE Das Land Sach­ »im Energiebereich noch un­ schen hält die Justiz im Land für sieht angesichts dieser Zahlen
sen­Anhalt erwägt den Bau abhängiger« werde. »Eine Chip­ zu langsam. 80 Prozent finden, die Politik in der Pflicht zum
eines Windparks für die geplan­ fabrik mit Strompreisen von Verfahren an deutschen Gerich­ Handeln: »Es ist ein Alarm­
te Intel­Chipfabrik in Magde­ 50 Cent ist definitiv nicht wett­ ten dauerten zu lange. 75 Pro­ signal, wenn so viele Menschen
burg. Solche Anlagen könnten bewerbsfähig.« Ein Windpark zent halten die Gerichte zudem die Justiz als überlastet und
den Industriepark südlich der hätte aus Sicht der Landes­ für überlastet. Das ergab eine zu langsam wahrnehmen.«
Landeshauptstadt mit eigenem regierung mehrere Vorteile. repräsentative Umfrage des Al­ Die Ampelkoalition sei daher
Strom versorgen, sagt Minister­ »Das würde nicht nur die Ver­ lensbach­Instituts mit 1042 Be­ gut beraten, die Probleme ge­
präsident Reiner Haseloff (CDU). sorgungssicherheit und günstige fragten für den jährlich erschei­ meinsam mit den Bundes­
»Wir müssen sicherstellen, Energiepreise garantieren, nenden »Roland Rechtsreport«. ländern in Angriff zu nehmen,
dass die Wettbewerbsfähigkeit sondern auch für noch mehr Im vergangenen Jahr hatten Personallücken zu schließen
und die Wertschöpfungsketten Nachhaltigkeit sorgen«, sagt sich ähnlich viele Befragte kri­ und die Digitalisierung voran­
auch unabhängig von Krisen Haseloff. Intel setze auf grünen tisch zur Justiz geäußert. Die zutreiben, so Rebehn. »Die
und Kriegen erhalten bleiben.« Strom – »und damit haben Werte liegen deutlich über de­ Bundesregierung darf sich nicht
Die Idee ist offenbar auch wir als Windkraftland hier in nen aus dem Jahr 2010, als der länger davor drücken, dieses
eine Reaktion auf jüngste Kom­ Sachsen­Anhalt ja sehr viel Report das erste Mal erschien. Versprechen des Koalitions­
mentare der Konzernleitung. Erfahrung«. MXW Damals nahmen 60 Prozent die vertrags umzusetzen.« SOG

22 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


»Sonst droht eine setzt. Das war ein strategischer
Fehler. Es ist die Aufgabe der
soziale Spaltung« Politik, dafür zu sorgen, dass
Schleswig-Holsteins Oppositions- möglichst viele Menschen nicht
führer Thomas Losse-Müller, 49 mehr mit Öl und Gas heizen
(SPD), fordert, das nicht aus- müssen. Von staatlichen Investi-
gegebene Geld für die Gaspreis- tionen würden alle profitieren.
bremse anderweitig zu nutzen. SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
Losse-Müller: Mein Ziel ist
SPIEGEL: Herr Losse-Müller, die eine kommunale Wärmewende.

Christian A. Werner / DER SPIEGEL


Gaspreise sind stark gesunken, Das Geld müsste vor allem in
die befürchtete Energiekrise ist den Ausbau von Wärmenetzen
in diesem Winter ausgeblieben. fließen. So würden Haushalte
Was folgt daraus für die deut- mit Wärme versorgt, die etwa
sche Politik? aus Wind und Sonne gewonnen
Losse-Müller: Die Bundesregie- wird. Wir brauchen auch mehr
rung hat für die Gaspreisbremse Speicher für regenerativen
bis zum April 2024 insgesamt Strom und deutlich stärkere
200 Milliarden Euro vorgese- Verteilnetze.
hen. Wir sind jetzt in der glück- SPIEGEL: Wie schnell wäre das »An Bord der nächsten
lichen Lage, dass die Hälfte der zu machen?
Summe ausreichen wird, wenn Losse-Müller: Es ist ein lang- Maschine ist ein Toter«
die Preise auf dem aktuellen fristiges Projekt. Der Anteil der
Niveau verharren. Das schafft Haushalte, die an ein Wärme-
DIE AUGENZEUGIN Maria Bartels, 55, ist Seelsorgerin
Spielraum, um nicht nur das netz angeschlossen sind, liegt
Fieber zu senken, sondern um zurzeit bei 20 Prozent. Es wäre am Flughafen Leipzig/Halle. Wenn jemand
die Krankheit zu bekämpfen. wichtig, die Zahl bis 2030 zu im Sarg aus dem Urlaub zurückkehrt, nimmt sie die
SPIEGEL: Was meinen Sie da- verdoppeln. Der Bund sollte in
mit? diesem Jahr entscheiden, die
Angehörigen in Empfang.
Losse-Müller: Die Preisbremse 100 Milliarden Euro zu investie-
hat das Ziel, Haushalte vor ren. Dafür braucht es eine »Es sterben mehr Menschen zu verhindern, dass nicht
hohen finanziellen Lasten zu rechtliche Grundlage. Das Geld im Urlaub, als man denkt. Schlimmeres passiert als das,
bewahren. Sie ändert aber muss dann vor allem an die Wenn Verwandte eine Reise was jetzt schon geschieht.
nichts an der Abhängigkeit vom Kommunen fließen, die eine unternommen haben, kommen Es gibt auch viele Abschie-
Gas. Ich plädiere dringend da- zentrale Rolle spielen. Der Aus- manchmal alle gemeinsam zu- bungen am Flughafen Leipzig/
für, die absehbar frei werdenden bau erfolgt vor Ort, nicht in rück – aber nicht alle lebend. Halle. Die begleite ich aber
100 Milliarden Euro für die Berlin. Der Flughafen bekommt dann nicht. Ich möchte nicht den
Energiewende zu nutzen. Sonst SPIEGEL: Schon jetzt sind Hand- eine Nachricht: An Bord der Eindruck erwecken, die Kir-
droht eine soziale Spaltung. werker knapp. Wer eine neue nächsten Maschine ist ein che würde die Abschiebungen
SPIEGEL: Warum? Heizung braucht, muss Monate Toter. Das Schlimmste sind die unterstützen.
Losse-Müller: Wir erleben gera- bis Jahre warten. Lässt sich Kindersärge. Flugscham wegen des gro-
de, dass sich viele wohlhabende Ihr Vorschlag da überhaupt um- Als Seelsorgerin ist es Teil ßen CO2-Ausstoßes von Flug-
Haushalte darum bemühen, von setzen? meiner Aufgaben, Menschen zeugen wird immer mehr ein
Öl und Gas loszukommen. Sie Losse-Müller: Handwerker sind in Empfang zu nehmen, die Thema. Mich kontaktieren
können es sich leisten, 100 000 auch deshalb so beschäftigt, im Ausland jemanden ver- Leute sogar von außerhalb
Euro in eine Solaranlage, eine weil wohlhabende Haushalte loren haben. Ich versuche, des Flughafens. Die sagen: Ich
Luft-Wärme-Pumpe und die sich Luft-Wärme-Pumpen ein- ihnen Trost zu schenken. Oft soll den Leuten ins Gewissen
dafür notwendige energetische bauen lassen. Wenn ich aber geht es aber erst mal um tech- reden, nicht mehr zu fliegen.
Sanierung zu investieren. Sie weiß, dass der Weg strategisch nische Sachen: Wie geht es Ich sage denen: Das ist nicht
nutzen dann den eigenen Solar- in eine andere Richtung geht, jetzt weiter? Welche Anrufe meine Aufgabe.
strom, um ihre Wohnung zu lassen sich Ressourcen anders müssen erledigt werden. Der Flughafen ist ein Zwi-
heizen. Die meisten Menschen nutzen. Wichtig ist, dass der Ich kümmere mich auch schenort. Zwischen Erde und
haben das Geld nicht. Die Weg klar ist. Deshalb gibt es um das Personal hier am Flug- Himmel, zwischen Heimat
durchschnittliche Ersparnis pro Zeitdruck. hafen. Selbst wenn nichts und Ziel. Das ist anstrengend,
Haushalt beträgt in Deutsch- SPIEGEL: Haben Sie in Berlin Schlimmes passiert wie ein ich erlebe die meisten aber als
land 15 000 Euro. Kein Förder- schon Mitstreiter gefunden? Terroranschlag, kann der besonnen. In meiner Kapelle
programm kann es leisten, diese Losse-Müller: Ich kann nur We- Flughafen für sie ein belasten- liegt ein Gebetsbuch. Morgens
immense Lücke zu schließen. ge aufzeigen. Die Bundesre- der Ort sein. Über die Kin- schaue ich mir als Erstes an,
Deshalb muss die öffentliche gierung muss entscheiden. SMS dersärge höre ich sie immer was die Passagiere hineinge-
Hand direkt investieren. wieder reden. schrieben haben. Natürlich
SPIEGEL: Wer viel spart, wird Ich bin seit 20 Jahren Pfar- stehen dort auch Sorgen. Die
bestraft. Ist das gerecht? rerin, aber erst seit Kurzem meisten aber bedanken sich –
Losse-Müller: Das Ziel Klima- Seelsorgerin am Flughafen. für das Glück zu reisen. Oder
neutralität für 2045 ist fest- Früher habe ich über die stän- dafür, fernab von zu Hause
Frank Peter / IMAGO

geschrieben. Wir werden es nur digen Kontrollen gestöhnt, einen besonderen Menschen
mit einer Wärmewende errei- heute sehe ich, wie notwendig getroffen zu haben.«
chen. Wir haben über Jahrzehn- Losse-Müller das ist. Wie schwierig es ist Aufgezeichnet von Fabian Hillebrand
te auf billiges russisches Gas ge-

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 23


DEUTSCHLAND

»Oppositionsführerin
war ich schon«

Marlena Waldthausen / DER SPIEGEL

SPIEGEL-GESPRÄCH Innenministerin Nancy Faeser über Empathie und Härte in der Politik,
die Probleme bei der Unterbringung von Geflüchteten.
Und warum sie trotz Spitzenkandidatur in Hessen in der Bundesregierung bleibt.

24 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


DEUTSCHLAND

SPIEGEL: Frau Faeser, seit Monaten wird


gerätselt, ob Sie bei der hessischen Landtags-
»Ich bin die erste Bundes- SPIEGEL: Als im vergangenen Jahr die dama-
lige Verteidigungsministerin Christine Lam-
wahl im Oktober als SPD-Spitzenkandidatin innenministerin – und brecht offen aussprach, dass Sie hessische
kandidieren. Treten Sie an?
Faeser: Ich bin die erste Frau an der Spitze
möchte die erste Minister- Ministerpräsidentin werden wollen, haben
Sie die Debatte einzufangen versucht: Die
des Bundesinnenministeriums – und ich präsidentin Hessens sein.« Fußballeuropameisterschaft 2024 in Deutsch-
möchte die erste Ministerpräsidentin in Hes- land werde Ihr Höhepunkt als Bundesminis-
sen sein. Ich werde kandidieren. terin für Inneres und Sport sein. Das war ge-
SPIEGEL: Geben Sie Ihr Amt als Bundes- schummelt, oder?
ministerin dafür auf? Faeser: Nein. Die EM 2024 wird auch als
Faeser: Ich habe in sehr schwierigen Zeiten Landesebene wechseln wollte. Das hat ihm Ministerpräsidentin eines meiner Highlights
Verantwortung für ein sehr schwieriges Amt nicht gutgetan. Er hat die Wahl verloren und sein. Das Frankfurter Waldstadion ist schließ-
übernommen. Und diese Verantwortung ge- am Ende auch den Posten im Bundeskabinett lich einer der Austragungsorte.
bietet es mir, dass ich meine Aufgaben eben- unter Angela Merkel. Fürchten Sie nicht, dass SPIEGEL: Es bleibt das Gefühl, dass dies ein
so klar und ernsthaft wie bislang erfülle. Des- es Ihnen so ergehen könnte wie einst dem lang angelegter Plan war: der Posten im Bun-
wegen bleibe ich Bundesinnenministerin. CDU-Politiker Norbert Röttgen? deskabinett als reines Sprungbrett?
SPIEGEL: Wirkt das nicht unentschieden? Sich Faeser: Herr Röttgen hat damals zuallererst Faeser: Nein. Olaf Scholz hat mich als Innen-
für das eine Amt bewerben, aber das andere gegen eine starke Sozialdemokratin verloren. politikerin kennengelernt, da war er selbst
nicht aufgeben wollen? Und auch sonst passt der Vergleich nicht: Ich Innensenator in Hamburg. In der Innenpoli-
Faeser: Ich halte es in einer Demokratie für habe mehr als mein halbes Leben lang Kom- tik ticken wir sehr ähnlich.
eine Selbstverständlichkeit, dass man aus munal- und Landespolitik in Hessen gemacht. SPIEGEL: Und zu Ihrem Amtsantritt stand
einem Amt heraus für Wahlen kandidieren Herr Röttgen ging den umgekehrten Weg aus noch nicht fest, dass Sie eigentlich Regierungs-
kann. Das machen schließlich die Minister- dem Bund ins Land. Ich habe eine geeinte chefin in Hessen werden wollen?
präsidenten auch, die sich dieses Jahr zur Partei in Hessen, die hatte Herr Röttgen in Faeser: Nein.
Wahl stellen, auch jene von CDU und CSU Nordrhein-Westfalen nicht. Er ist damals an- SPIEGEL: Welcher Moment war für Sie der
in Bayern und Hessen. getreten, um später die Bundeskanzlerin zu bislang bedeutendste in Ihrer Zeit als Innen-
SPIEGEL: Können Sie ein so forderndes Amt beerben. Sie können auch auf CDU-Politiker ministerin?
wie das der Bundesinnenministerin verant- wie Walter Wallmann oder Manfred Kanther Faeser: In der Nacht zum 24. Februar wurde
wortungsvoll ausfüllen, wenn Sie gleichzeitig schauen. Beide haben aus Bundesministerien ich von einem Anruf geweckt und informiert,
Wahlkampf in Hessen machen? heraus in Hessen kandidiert. dass Russland die Ukraine überfallen hat. Das
Faeser: Es sind jetzt nicht die Zeiten, um SPIEGEL: Eine Wahlniederlage würde Ihre hat alles verändert, auch für meine Arbeit. Ich
Wahlkampf zu machen. Wir haben einen Autorität als Innenministerin beschädigen. habe dann gleich am nächsten Tag die Präsi-
furchtbaren Krieg in Europa, die Bedrohungs- Faeser: Ich trete an, um in Hessen zu ge- denten der Sicherheitsbehörden einberufen:
lagen sind groß. Diese Einschätzung teile ich winnen. Was heißt das für uns? Was heißt das für Spio-
übrigens mit meinem Mitbewerber von der SPIEGEL: Es klingt alles danach, dass Sie in nagegefahren, für die Abwehr von Cyberan-
CDU. erster Linie eins nicht wollten: Macht ver- griffen, für die Aufnahme von Geflüchteten?
SPIEGEL: Es gibt womöglich Menschen in Hes- lieren. In der EU haben wir binnen weniger Tage die
sen, die Sie noch nicht so gut kennen. Für die Faeser: Ich habe zwei Herzensangelegenhei- historische Entscheidung getroffen, dass wir
wäre ein regulärer Wahlkampf hilfreich. ten. Das eine ist das Bundesinnenministe- die Geflüchteten aus der Ukraine schnell und
Faeser: Die Menschen in Hessen kennen mich. rium. Ich bin durch und durch Innenpoliti- unbürokratisch aufnehmen, ohne aufwendige
Ich habe 18 Jahre lang Landespolitik gemacht. kerin, ich habe zuvor 15 Jahre lang thematisch Asylverfahren. In Deutschland mussten wir
Ich war sehr viel unterwegs. Ich habe Schich- genau das in Hessen gemacht. Und ich bin dafür sorgen, dass Hunderttausende Menschen
ten im Krankenhaus gemacht, ich habe im wirklich froh und dankbar, dass mir der Kanz- verteilt werden und ein Dach über dem Kopf
Hospiz, im Tierheim, im Lebensmitteleinzel- ler die Möglichkeit gegeben hat, unserem haben. All das hat mich im ersten Jahr wahn-
handel mitgearbeitet. Einfach um einen Blick Land zu dienen und für die Sicherheit der sinnig beschäftigt.
dafür zu bekommen: Was bedeutet diese har- Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Auf der SPIEGEL: Sie haben in den vergangenen Mo-
te Arbeit jeden Tag, was brauchen die Leute anderen Seite habe ich immer gesagt: Mein naten auffällig häufig Polizistinnen und Poli-
dort? So mache ich das bis heute: hinschauen, Herz ist in Hessen. Ich bin in meiner Heimat zisten besucht und auch inhaltlich oft Forde-
zuhören, dann handeln. Ich glaube, die Bür- stark verwurzelt. rungen der Sicherheitsbehörden vertreten.
gerinnen und Bürger wissen, was ich bewir- Sind Sie zum weiblichen Otto Schily gewor-
ken kann. den?
SPIEGEL: Was machen Sie, wenn Sie verlieren? Hoffen auf den Faeser-Effekt Faeser: Nein, ich habe schon meinen eigenen
Von der Bundesministerin zurück zur regio- Stil. Die Verbindung aus Empathie und Här-
»Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag
nalen Oppositionsführerin? Landtagswahl in Hessen wäre?«, in Prozent
te habe ich immer verfolgt. Ich habe schon in
Faeser: Ich bewerbe mich bei den Hessinnen Hessen Polizistinnen und Polizisten bei
und Hessen um das Amt der Ministerprä- Umfrage Landtagswahlergebnis 2018 Nachtschichten begleitet. Einmal wurden wir
sidentin. Ich möchte gestalten, ich möchte zu einem Leichenfund gerufen, das vergisst
Verantwortung tragen. Oppositionsführerin 29 man nicht. Und wenn Sie Reden von mir von
war ich schon. Wenn die Wählerinnen und 20 20 vor zehn Jahren nachlesen, wie ich zu starken
Wähler sich anders entscheiden, werde ich Befugnissen der Sicherheitsbehörden stehe,
13
weiterhin als Bundesinnenministerin meiner dann hat sich meine Haltung nicht verändert.
Verantwortung gerecht werden. 5 4 Heute sage ich: Die Ermittlungsbehörden
SPIEGEL: Es gab schon mal einen Bundes- brauchen zumindest die IP-Adressen. Oft
minister, der nur im Fall eines Sieges auf die CDU Grüne SPD AfD FDP Linke können nur so Täter identifiziert werden, die
S Quellen: Landeswahlleiter für Hessen, Civey-Umfrage für den schwere und schwerste Straftaten begehen.
SPIEGEL vom 19. Jan. bis 2. Febr.; Befragte: 2604 in Hessen; die SPIEGEL: Ihr Koalitionspartner FDP lehnt das
Das Gespräch führten die Redakteure Martin Knobbe statistische Ungenauigkeit der Umfrage liegt bei bis zu 3,3 Pro-
und Wolf Wiedmann-Schmidt. zentpunkten; an 100 fehlende Prozent: »eine andere Partei« anlasslose Speichern von Internetadressdaten

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 25


DEUTSCHLAND

strikt ab. Können Sie da überhaupt


etwas bewegen?
Faeser: Es ist in einer Konstellation
mit drei Partnern nicht immer leicht.
Aber ich stütze mich auf den Koa­
litionsvertrag. Dort haben wir uns
darauf verständigt, dass wir ein Urteil
des Europäischen Gerichtshofs ab­
warten. Dieser hat entschieden, dass
IP­Adressen zur Bekämpfung schwe­
rer Kriminalität gespeichert werden
dürfen – und er hat darauf hinge­
wiesen, dass der Staat die Pflicht
hat, Kinder vor sexuellem Missbrauch
zu schützen. Gleiches gilt für Terror­
verfahren, wenn wir an islamistische
Anschlagspläne denken wie zuletzt
in Castrop­Rauxel. Dort war es nur
dem Zufall zu verdanken, dass die
Internetdaten des Verdächtigen noch
vorhanden waren. Einen halben Tag
später wären sie weg gewesen – und
der mutmaßliche Islamist wäre wo­
Christian Mang / SZ Photo

möglich unentdeckt geblieben. Wie


soll man das den Menschen erklären?
Das wäre unverantwortlich.
SPIEGEL: Die FDP liest an vielen Stel­
len den Koalitionsvertrag anders als
Sie, sowohl bei der Datenspeicherung
als auch beim Waffenrecht. Wie wol­ Beamte bei Silvester- dernisieren wollen. Aber natürlich SPIEGEL: Wegen des Kriegs in der
len Sie diese gegenseitige Blockade krawallen in Berlin müssen wir bei der Bundeswehr, aber Ukraine sind mehr als eine Million
auflösen? auch der inneren Sicherheit große Menschen nach Deutschland geflo­
Faeser: Ich glaube an die Kraft des Veränderungen vornehmen. Der hen. Dazu kamen im Jahr 2022 rund
Kompromisses. Die FDP will doch Kanzler hat zu Recht von einer Zei­ 220 000 Asylsuchende aus anderen
auch, dass Extremisten entwaffnet tenwende gesprochen. Staaten. Würden Sie sagen: Wir schaf­
werden. Die Frage ist, wie wir das er­ SPIEGEL: Braucht es neben den 100 fen das – ein zweites Mal?
reichen können, ohne andere vor den Milliarden Euro für die Bundeswehr Faeser: Auch nach bald einem Jahr
Kopf zu stoßen. Auch ich möchte we­ auch ein Sondervermögen für den Be­ Krieg ist die Hilfsbereitschaft der
der die Jäger noch die Sportschützen völkerungsschutz und die Cyber­ Deutschen immer noch riesig, immer
unter Generalverdacht stellen. sicherheit? noch sind viele ukrainische Geflüch­
SPIEGEL: Unser Eindruck ist, dass sich Faeser: Nach meinem Verständnis ist tete bei Privatleuten untergekommen.
bei der inneren Sicherheit FDP und im Sondervermögen für die Bundes­ Aber ja, die Situation in vielen Städ­
Grüne an vielen Stellen durchgesetzt wehr bereits ein Teil vorgesehen, um ten und Gemeinden ist schwierig, der
haben. Mehr Freiheit, weniger Über­ die Cybersicherheit weiter zu stärken. Wohnraum ist knapp. Die Bundes­
wachung, das ist der Geist des Koali­ Die Abwehrfähigkeit von Bundes­ regierung tut alles, was sie kann, um
tionsvertrags. Ihr Law­and­Order­ wehr und Sicherheitsbehörden muss den Kommunen weitere Unterkünfte
Kurs liegt da etwas quer. hier Hand in Hand gehen. zur Verfügung zu stellen. Außerdem
Faeser: Meine Aufgabe ist es, für die SPIEGEL: Sieht das der neue Verteidi­ haben wir Milliardenbeträge bereit­
Sicherheit aller Bürgerinnen und Bür­ gungsminister auch so? gestellt, um Länder und Kommunen
ger zu sorgen. Ein Beispiel: Ich habe Faeser: Ich bin mit Boris Pistorius be­ zu unterstützen.
mit dem Bundeskriminalamt eine freundet, wir kennen uns lange und SPIEGEL: Die Union hat wieder eine
Studie herausgebracht, wonach sich haben viel zusammen durchgesetzt Obergrenze ins Gespräch gebracht,
viele Frauen in Deutschland unsicher für die innere Sicherheit. Ich bin mir mehr als 200 000 Geflüchtete pro
fühlen und abends nicht mehr auf die sicher, dass wir da in eine Richtung Jahr könne man nicht aufnehmen.
Straße trauen. Das kann ich nicht hin­ laufen. Für den Bevölkerungsschutz Gibt es für Sie eine Grenze des Leist­
nehmen. Mehr Polizeipräsenz erhöht allerdings braucht es zusätzliches baren?
das Sicherheitsgefühl der Menschen, Geld. Ich habe mit den Länderinnen­ Faeser: Für mich ist diese ganze Ober­
genauso wie Videokameras an krimi­ ministern vereinbart, dass in den grenzendebatte ein Zombie aus ver­
nalitätsbelasteten Plätzen. Pragmati­ nächsten zehn Jahren zehn Milliarden gangenen Zeiten und der Lage nicht
sche Antworten sind mir an der Stel­ Euro investiert werden sollen, etwa angemessen. Ich bin froh, dass es in
le wichtiger als abstrakte Debatten. »Diese ganze um die kritische Infrastruktur zu der CDU auch moderne Kräfte gibt
SPIEGEL: Hätte man am 24. Februar Obergrenzen- schützen oder Sirenen und andere wie zum Beispiel Daniel Günther
nicht den Koalitionsvertrag zerreißen Alarmsysteme zu modernisieren. in Schleswig­Holstein. Sie können
müssen? debatte ist ein SPIEGEL: Zieht Finanzminister Chris­ doch nicht eine Debatte über Ober­
Faeser: Nein, weil der Grundsatz sich Zombie aus tian Lindner da mit? grenzen anfangen, wenn mitten in
ja nicht verändert hat, dass wir für vergangenen Faeser: Ich arbeite daran. Und ich will Europa Krieg ist. Dann spielen Sie
eine offene, tolerante, vielfältige Ge­ das klarstellen: Das müssen Bund und das Spiel der ganz Rechten, Sie ver­
sellschaft stehen und das Land mo­ Zeiten.« Länder gemeinsam stemmen. unsichern die Bevölkerung, Sie spal­

26 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


DEUTSCHLAND

ten. Friedrich Merz sollte aufpassen, Warum ist davon nach einem Jahr so »Es darf SPIEGEL: Müsste die Politik nicht ehr­
wohin seine Partei steuert. wenig zu sehen? lich sein und sagen: Abschiebungen
SPIEGEL: Es gibt aber Menschen, die Faeser: Fragen Sie das mal meine Vor­ keine Eskala- sind in sehr vielen Fällen leider un­
Angst haben, dass Deutschland mit gänger. Wir haben jedenfalls bereits tionsspirale möglich? Mal fehlen Papiere, mal ver­
dieser Herausforderung nicht klar­ wichtige Gesetzesänderungen be­ weigern sich die Herkunftsländer …
kommt. Oder das Land sich zu sehr schlossen. Wir haben die Abschiebe­
bei Waffenlie- Faeser: … damit würde ich mich nie
verändert durch so viele Geflüchtete haft verlängert und die Asylverfahren ferungen nach zufriedengeben. Gerade bei Gewalt­
aus aller Welt. Was sagen Sie diesen beschleunigt. Außerdem habe ich Kiew geben.« tätern sollten wir alle Möglichkeiten
Menschen? zum 1. Februar einen Sonderbevoll­ ausloten, sie abzuschieben. Natürlich
Faeser: Natürlich müssen wir über mächtigten eingesetzt, den ehemali­ kann es auch unüberwindbare Hin­
solche Ängste sprechen – und dann gen NRW­Integrationsminister Joa­ dernisse geben, das muss man dann
schauen, was wir praktisch tun chim Stamp von der FDP. Er wird mit ehrlich sagen. In Kriegsgebiete kann
können. Was nicht in Ordnung ist, wichtigen Herkunftsstaaten Migra­ man niemanden abschieben.
muss man auch klar benennen. Wie tionsabkommen aushandeln – auch SPIEGEL: Über wen oder was haben
die Ausschreitungen an Silvester, wo damit diese ihre Staatsangehörigen Sie sich im ersten Jahr der Ampel am
ich klar gesagt habe, was Sache zurücknehmen, die nicht in Deutsch­ meisten geärgert?
ist. Man muss die Probleme anspre­ land bleiben dürfen. Faeser: Darüber, wie leichtfertig die
chen, die wir in manchen Groß­ SPIEGEL: Versprechen Sie den Bür­ Debatte über mehr Waffenlieferun­
städten haben. gern hier nicht zu viel? Ihr Vorgänger gen an die Ukraine oft geführt wird.
SPIEGEL: Was meinen Sie konkret? Horst Seehofer von der CSU hat bei Ich bin dankbar, einen Kanzler zu
Faser: Clankriminalität etwa. Hier dem Thema wenig erreicht, trotz voll­ haben, der diese Entscheidungen
muss der Staat hart durchgreifen. mundiger Ankündigungen. sorgsam abwägt und mit unseren
Aber das muss ohne rassistische Vor­ Faeser: Das Problem beschäftigt viele internationalen Partnern abstimmt.
urteile gegen Menschen mit Migra­ Staaten in der EU. Die Zahl der Rück­ Und dann im Bewusstsein der großen
tionsgeschichte geschehen, die hier führungen ist überall gering, bis auf Verantwortung entscheidet und nicht
leben wie alle anderen auch und zum wenige Ausnahmen. Spanien etwa auf den schnellen Applaus schielt.
Wohlstand unseres Landes beitragen. hat funktionierende Abkommen mit Wir reden hier über existenzielle Fra­
SPIEGEL: Was oder wer ist für Sie Staaten in Afrika. Ich glaube, das ist gen, über einen Krieg, nicht weit ent­
denn deutsch? ein wichtiger Schlüssel. Wir brauchen fernt von uns. Da hätte ich mir in der
Faeser: Deutsch ist für mich, wer in Vereinbarungen mit den Herkunfts­ öffentlichen Debatte mehr Nachdenk­
unserem Land lebt und dazu beiträgt, staaten. Dabei müssen wir diesen lichkeit gewünscht.
dass unser Land sich nach vorn ent­ Ländern aber auch etwas anbieten, SPIEGEL: Mit deutschen Panzern ster­
wickelt. etwa Einreiseerleichterungen für ben Menschen. Ohne deutsche Pan­
SPIEGEL: Kann jeder Deutscher wer­ Fachkräfte oder Studierende. zer aber auch.
den? SPIEGEL: Wie konnte jemand wie der Faeser: Es geht darum, in dieser exis­
Faeser: Nein. Nur derjenige, der mutmaßliche Messerattentäter von tenziellen Frage verantwortungsvol­
sich zur freiheitlich­demokratischen Brokstedt – ein wegen mehrfacher le Entscheidungen zu treffen. Wir
Grundordnung bekennt, zu unseren Gewalttaten vorbestrafter Palästinen­ haben Waffen in großem Umfang ge­
Werten. ser – noch in Deutschland sein? liefert und tun das weiterhin. Wir ha­
SPIEGEL: Nach Ihren Plänen sollen in Faeser: Ich frage mich auch, ob eine ben außerdem vor allem humanitär
Zukunft Ausländer schon nach fünf Abschiebung nicht möglich gewesen unglaublich viel Unterstützung ge­
Jahren den deutschen Pass bekom­ wäre. Der mutmaßliche Täter war leistet, da sind wir ganz vorn.
men können, für Ältere sollen die staatenlos, das macht eine Rückfüh­ SPIEGEL: Deutschland schickt jetzt
Sprachanforderungen gesenkt wer­ rung schwieriger. Mich wundert aber Leopard­Panzer. Was halten Sie von
den. Verramschen Sie die Staatsan­ auch, wie jemand für gefährliche Kör­ der Idee, Kampfjets nach Kiew zu
gehörigkeit, wie manche in der Union perverletzung nur gut ein Jahr Haft schicken oder deren Lieferung durch
Ihnen vorwerfen? bekommen kann und trotz psychi­ andere Staaten zu ermöglichen?
Faeser: Das ist gefährlicher Unsinn. scher Auffälligkeiten freigelassen Faeser: Gar nichts. Es darf keine Es­
Wir führen ein modernes Staatsange­ wurde. Diesen berechtigten Fragen SPD-Politikerin kalationsspirale bei Waffenlieferun­
hörigkeitsrecht ein, wie es viele euro­ muss sich auch die Justiz stellen. Faeser 2013 gen geben. Und wir müssen immer
päische Länder schon lange haben. Hand in Hand mit unserem wichtigs­
Wenn jemand zu uns kommt, die ten Partner handeln, den USA. Die
deutsche Sprache lernt und sich zu gemeinsamen sorgsamen Abwägun­
unseren Werten bekennt – dann ist gen müssen auch bei uns mehr im
das doch etwas Schönes! Nach Kana­ Fokus stehen.
da oder in die USA wandern Men­ SPIEGEL: Sie haben einen sieben­
schen traditionell ein, um Amerika­ jährigen Sohn. Wie erklären Sie dem
ner oder Kanadier zu werden. In eigentlich, was Sie den ganzen Tag
Deutschland wollte man jahrzehnte­ machen?
lang, dass Ausländer zum Arbeiten Faeser: Mein Sohn interessiert sich
kommen, aber irgendwann sollten sie sehr für die Polizei. Und dass ich die
wieder gehen. Was ist denn das für oberste Dienstherrin der Bundespoli­
eine Vorstellung? zei bin, findet er super. Für ihn sind
SPIEGEL: Die Ampel hat im Koali­ die Beamtinnen und Beamten die­
STAR-MEDIA / ddp

tionsvertrag eine »Rückführungs­ jenigen, die anderen helfen. Ich hoffe,


offensive« für abgelehnte Asylbewer­ dass er sich das lange bewahrt.
ber angekündigt, vor allem Straftäter SPIEGEL: Frau Faeser, wir danken
sollen strikter abgeschoben werden. Ihnen für dieses Gespräch. n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 27


DEUTSCHLAND

Kontinent der Zäune


MIGRATION Es kommen so viele Geflüchtete wie seit Jahren nicht mehr nach
Deutschland, Landkreise und Städte sind überfordert. Doch eine bessere Verteilung
in der EU ist nicht in Sicht. Es geht jetzt um Abschiebung – und Abschottung.

Michael Bunel / Le Pictorium / ZUMA Press /picture press


Flüchtlinge auf dem Weg von Serbien in Richtung EU

andrat Marco Scherf weiß gar nicht, wo wieder ganz oben auf die Agenda setzt«, linge (Bamf) 2022 einen Erstantrag auf Asyl,
L er anfangen soll, um die Probleme in
Miltenberg zu beschreiben. Im vergan-
genen Jahr kamen knapp 500 Menschen aus
sagt er. Dazu gehöre eine »ambitionierte
Außenpolitik«, die sich mit einer besseren
Steuerung und Begrenzung der Migration
mehr als in jedem anderen EU-Land. Das
sind rund 70 000 mehr als 2021 und mehr als
doppelt so viele wie 2020. Hinzu kommen
Syrien, Afghanistan oder Nordafrika in den befasse. die mehr als eine Million Flüchtlinge aus der
Landkreis im bayerischen Unterfranken, dazu Dass ein führender Kommunalpolitiker Ukraine.
rund 1500 Flüchtlinge aus der Ukraine. der Grünen fordert, die Zuwanderung in sei- Zwar ist die Stimmung nicht so explosiv
»Es gibt keinen Wohnraum mehr, nicht nen Landkreis zu begrenzen, zeigt, wie groß wie in den Jahren 2015 und 2016, aber das
genug Lehrkräfte, nicht genug Ärzte, keine die Überforderung mittlerweile ist. Im gan- könnte sich rasch ändern. Schon jetzt gebe
Kitaplätze«, sagt der Grünenpolitiker. »Unse- zen Land klagen Landräte und Bürgermeister es Morddrohungen gegen Mitarbeiter und
re Belastungsgrenze ist erreicht, unsere Res- darüber, dass die große Zahl von Flüchtlingen ihn persönlich, so Scherf. Fälle wie der
sourcen hier im ländlichen Raum reichen ihre Kapazitäten sprenge. Und die Situation Messerangriff im schleswig-holsteinischen
nicht einmal mehr für die Miltenberger.« Da verschärft sich weiter. Seit September ver- Brokstedt, bei dem ein staatenloser Palästi-
die meisten Flüchtlinge blieben, »müssen wir zeichne Deutschland ein besonders »erhöh- nenser in der vergangenen Woche zwei Teen-
sie integrieren, dafür brauchen wir die nöti- tes und dynamisches Zugangsgeschehen«, ager erstochen hat, verschärfen die Debatte.
gen Mittel und Unterstützung.« heißt es aus dem Bundesinnenministerium. Der Verdächtige war mehrfach wegen Ge-
Scherf hat Mitte Januar einen Brief Im vergangenen Jahr kamen so viele Asyl- walttaten vorbestraft.
an Bundeskanzler Olaf Scholz geschrieben, suchende nach Deutschland wie seit sechs Die rechte AfD liegt in Umfragen bundes-
in dem er ihn auf die »extrem prekäre Jahren nicht mehr, dem Höhepunkt der weit bei bis zu 15 Prozent, über 4 Prozent-
Situation« hinweist. »Es wird Zeit, dass die Flüchtlingskrise. 217 774 Menschen stellten punkte mehr als bei der Bundestagswahl. Bei
Bundesregierung das Thema Flüchtlinge laut Bundesamt für Migration und Flücht- der Landtagswahl in einer Woche in Berlin

28 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


DEUTSCHLAND

kann die Partei mit einem deutlichen Zu-


wachs rechnen. Auch deshalb wird die De- Zufluchtsort Europa
batte bislang verhalten geführt. Die Ampel-
parteien wollen eine neue Flüchtlingsdiskus- Asyl-Erstanträge in EU-Mitgliedstaaten, 2021 –6%
sion vermeiden, weil diese die AfD stärken 150.000 –25%
+67%
könnte. 50.000
Die Hoffnung der Bundesregierung richtet 10.000
1000 +300%
sich auf Europa. Im Koalitionsvertrag hatten +40%
die Ampelpartner eine »grundlegende Re- +1402%
form des europäischen Asylsystems« als Ziel Veränderung +81%
Deutschland
ausgegeben. Auch die Kommunen setzen auf 2021 ggü. 2020 +70% +51%
Brüssel. Der Präsident des Landkreistags, 148.175 +313%
Reinhard Sager (CDU), sagte der »Frank- +5% +45%
furter Allgemeinen Zeitung«, die Bundes- +34%
+25%
regierung müsse »viel mehr« tun, um Flücht- Rückführungen aus
Frankreich
+182%
linge in der Europäischen Union gleichmäßi- EU-Mitgliedstaaten 103.790 –56%
ger zu verteilen. »In der EU müsste geregelt + 27%
+50%
70.500 im Jahr 2021 und +51%
werden, dass Menschen, die schon Zuflucht 33.600 im ersten Halbjahr +77%
gefunden haben, nicht alle automatisch nach 2022. +112%
Deutschland weitergeleitet werden, weil hier 179.600 Aufforderungen Spanien +215%
die Sozialstandards am höchsten sind.« im ersten Halbjahr 2022, 62.050
Die Gelegenheit ergibt sich in der kom- die EU zu verlassen.
+50% – 28% –40%
menden Woche. Dann treffen sich die Staats-
Zypern
und Regierungschefs der EU in Brüssel zu Malta +88%
einem Sondergipfel, um über Migration zu –50%
reden. Das zeigt, wie dringlich das Problem S Quellen: Eurostat, EU-Kommission, Karte: OpenStreetMap
auch in anderen Staaten der Union ist. Es ist
nur fraglich, ob Berlin mit seinen Forderun- der Migrationsdebatte erklärt. In dieser Fra- men. In einem Brief an die Staats- und Re-
gen durchdringen kann. ge lässt sich zumindest vordergründig leicht gierungschefs zur Vorbereitung des Gipfels
Eine grundlegende Reform, wie die Bun- Einigkeit erzielen, weil das Problem offen- schreibt EU-Kommissionspräsidentin Ursula
desregierung sie sich wünscht, steht beim kundig ist. von der Leyen, die Migration »sollte in einem
Gipfel nicht auf der Tagesordnung. Offiziell Im Jahr 2021 wurden rund 340 500 Men- umfassenden Konzept für die Beziehungen
geht es beim sogenannten Pakt für Migration, schen aufgefordert, die EU zu verlassen. Aus- der EU zu ihren Partnerländern einen
der bis Anfang kommenden Jahres zwischen gereist ist lediglich rund ein Fünftel. Im ersten zentralen Platz einnehmen«. Wie das gesche-
Kommission, Mitgliedstaaten und Europäi- Halbjahr 2022 verließen von 179 600 aus- hen soll, darüber gehen die Meinungen aus-
schem Parlament ausgehandelt werden soll, reisepflichtigen Nicht-EU-Bürgerinnen und einander.
zwar auch darum, »die Verantwortung ge- -Bürgern knapp 19 Prozent die Union. Dass Beim Treffen der Innen- und Justizminis-
recht unter den Mitgliedstaaten zu verteilen das die Akzeptanz der Bürger für die Auf- ter der EU in der vergangenen Woche in
und bei der Bewältigung der Migrations- nahme von Flüchtlingen mindert, ist in Brüs- Stockholm zeichnete sich eine Mehrheit da-
ströme solidarisch zu handeln«. Doch die sel Konsens. Das heißt nicht, dass man sich für ab, den Druck auf die Herkunftsländer
meisten Regierungen wollen vor allem über über die Lösung einig wäre. zu erhöhen. Die EU solle alle verfügbaren
bessere Grenzsicherung und schnellere Ab- Die Abschiebungen scheitern nicht nur Hebel und Werkzeuge einsetzen, »einschließ-
schiebungen reden. am Widerstand der Migranten. Oft sind die lich Entwicklung, Handel und Visa«, heißt es
Die Bundesregierung hat es sich zum Ziel Herkunftsländer nicht bereit, ihre Staats- in dem Entwurf für die Abschlusserklärung
gesetzt, »dass andere EU-Staaten mehr bürgerinnen und Staatsbürger zurückzuneh- des Gipfels. Nicht nur Schweden, auch Län-
Verantwortung übernehmen und EU-Recht der wie Österreich oder die Niederlande be-
einhalten«. Dafür will die Koalition die Auf- fürworten diesen Ansatz. Die EU-Staaten
nahmebereitschaft in der EU fördern. Mit seien sich einig, dass dies ein wichtiges Instru-
dieser Haltung steht Berlin mittlerweile ziem- ment sei, sagte die schwedische Migrations-
lich allein da. »Außer Luxemburg und Por- ministerin Maria Malmer Stenergard.
tugal teilt niemand mehr in der EU den deut- Artikel 25a des Visakodex könne »eines
schen Ansatz«, hört man von verschiedenen der wichtigsten Instrumente sein, um die Zu-
EU-Diplomaten. sammenarbeit mit Drittstaaten im Bereich
Die Stimmung unter den 27 Mitgliedstaa- Rückkehr und Rückübernahme zu verbes-
ten hat sich in den vergangenen Jahren sern«, hieß es in einem Papier zu dem Treffen.
gedreht. Nicht nur Osteuropäer setzen auf Dies könne zum Beispiel bedeuten, dass die
Abschreckung und Abschottung. Auch in Frist zur Bearbeitung der Visumanträge aus
anderen Länder bestimmen rechtspopulisti- bestimmten Ländern verlängert wird oder
sche Parteien den Ton: in Italien, wo die post- Gebühren angehoben werden, um den Druck
faschistischen »Brüder Italiens« regieren, in auf unwillige Staaten zu erhöhen. Als Länder,
Schweden, wo die ausländerfeindlichen mit denen die Zusammenarbeit schwierig ist,
Schwedendemokraten die Regierung stützen. gelten zum Beispiel Marokko, Tunesien und
Der Gipfel wird sich daher vor allem mit Algerien.
der Frage befassen, wie die Menschen schnel- Kritiker wenden ein, dass mehr Druck das
ler abgeschoben werden können, die kein Verhältnis zu Ländern belasten werde, mit
Recht auf einen Aufenthaltsstatus in der EU denen man aus politischen Gründen eine Part-
FDP

haben. Die schwedische Ratspräsidentschaft nerschaft anstrebe. Die Kommission verweist


hat das zu einem ihrer wichtigsten Ziele in Sonderbevollmächtigter Stamp dagegen darauf, dass schon die Drohung mit

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 29


DEUTSCHLAND

Es passt gut, dass in dieser Woche


der »Sonderbevollmächtigte für Mi-
grationsabkommen« sein Amt an-
tritt. Joachim Stamp, der dem links-
liberalen Flügel der FDP zugerechnet
wird, bemüht sich darum, die Erwar-
tungen zu dämpfen.
Der FDP-Politiker nimmt für sich
in Anspruch, ein guter Kommunika-
tor zu sein, der Menschen zusam-
menführen kann. Ob ihm das im
komplizierten Koalitionsgefüge ge-
lingt, muss sich erst zeigen. Auch sein
Vorsatz, das Thema aus der Partei-
politik rauszuziehen, könnte schwie-
rig werden.
Stamp sagte im Vorfeld seiner Er-
nennung, er habe keine »Lizenz«
zum Abschieben. Selbst wenn er die
hätte, die rechtlichen Hürden sind
hoch. So darf Deutschland derzeit
nicht nach Syrien und Afghanistan

Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL


abschieben. Von dort kommt die
Hälfte der Antragsteller.
Zuständig für Abschiebeverfahren
sind die Länder. Bei denen ist der
Wille dazu nicht immer ausgeprägt.
In Berlin war im Dezember in der
rot-grün-roten Koalition ein erbitter-
einer Visumverschärfung etwas be- Bewohner einer Die Bluttat von Brokstedt hat die ter Streit über den Umgang mit ab-
wirken könne. Flüchtlingsunter- Debatte angeheizt. »Gerade bei gelehnten Asylbewerbern aus Mol-
kunft in Berlin:
Von der Leyens Vorschläge gehen Mehr Druck auf die
Gewalttätern sollten wir alle Mög- dau entbrannt. Nach Plänen der SPD
weiter. Sie plädiert dafür, dass Länder Herkunftsländer lichkeiten ausloten, sie abzuschie- sollten 600 der rund 3400 ausreise-
die Entscheidungen über die Pflicht soll Abschiebungen ben«, sagt Faeser. pflichtigen Moldauer in ihre Heimat
zur Ausreise gegenseitig anerkennen. erleichtern Wie das bei staatenlosen Tätern zurückgebracht werden.
Wer in Polen einen Ausreisebescheid besser gelingen könnte, erklärt sie Auf Druck von Grünen und Lin-
bekommen hat, dürfte dann auch in nicht. ken erklärte Innensenatorin Iris
Deutschland abgeschoben werden. Die CDU sieht eine Chance, das Spranger (SPD) schließlich, in den
Ob das rechtlich möglich ist, steht Thema Rückführungen politisch zu Wintermonaten auf Abschiebungen
dahin. Deutsche Gerichte haben ent- nutzen. »Wer keinen Anspruch auf zu verzichten – trotz der Platznot in
schieden, dass schon die Abschie- Asyl hat, muss das Land wieder ver- den Notunterkünften. Gut eine Wo-
bung nach Griechenland rechtswidrig lassen«, sagt Partei- und Fraktions- che später startete dennoch ein von
sein kann. chef Friedrich Merz. Auch der libe- mehreren Bundesländern organisier-
In der Bundesregierung stoßen die rale Flügel der Partei fordert Abschie- ter Flieger in Richtung der Haupt-
Brüsseler Vorschläge auf wenig Ge- bungen, wenn es sich um Straftäter stadt Chisinau. An Bord befanden
genliebe. Zwar sagt Bundesinnen- handelt. Die CDU-Politikerin Serap sich sieben aus Berlin abgeschobene
ministerin Nancy Faeser: »Wir brau- Güler sagte, es müsse klar sein: Moldauer, alle Mehrfachstraftäter.
chen Vereinbarungen mit den Her- »Wer hier Recht und Gesetz bricht, Die Berliner Landeschefin der Linken
kunftsstaaten.« Sie hält jedoch nichts muss damit rechnen, dass er im warf Spranger daraufhin »perfides«
davon, dies über Drohungen zu er- Zweifel, wenn unsere Gesetze das Vorgehen vor.
zwingen. »Wir müssen diesen Län- hergeben, wieder gehen muss.« Die Während Deutschland noch über
dern aber auch etwas anbieten, etwa Bundesregierung müsse auch prüfen, Abschiebungen diskutiert, dreht sich
Einreiseerleichterungen für Fachkräf- ob zum Beispiel in sichere Regionen die Debatte in der EU weiter. Öster-
te oder Studierende« (siehe Gespräch Syriens abgeschoben werden könne. reich hat die Kommission aufgefor-
Seite 24). In der Ampel hält man das für dert, den Bau von Zäunen an der
Bislang hat Berlin in dieser Hin- unmöglich. EU-Außengrenze zu finanzieren.
sicht wenig vorzuweisen. Im Koali- Ähnliches fordert der Ministerprä- Nach Angaben von Diplomaten
tionsvertrag hat die Ampel vollmun- sident aus Schleswig-Holstein, Daniel unterstützt eine Mehrheit der Mit-
dig eine »Rückführungsoffensive« Günther (CDU): »Wer sich hier da- gliedstaaten diesen Vorschlag.
angekündigt. Bisher ist davon aber Von der nebenbenimmt, muss damit rechnen, Die Kommission lehnt das bislang
wenig zu sehen. Die Zahl der Ab- »Rück­ dass er nicht bleiben darf. Wir müs- ab. Das Geld für den Zaun fehle dann
schiebungen hat sich trotz der ver- sen darüber nachdenken, die Hürden an anderen Stellen, sagte Innenkom-
mehrten Zuwanderung im vergange-
führungs­ für die Rücknahme eines Aufenthalts- missarin Ylva Johansson. Das klingt
nen Jahr nur leicht erhöht. 2022 wur- offensive« der titels – etwa bei einer schweren Straf- nicht mehr so kategorisch wie noch
den laut Bundesinnenministerium Ampel ist tat – abzusenken.« Wer zu einer vor einem Jahr.
12 945 Ausländer abgeschoben – le- Haftstrafe von einem Jahr verurteilt
diglich rund ein Viertel der »unmit- bisher wenig werde, sollte seinen Aufenthalts-
Katrin Elger, Ralf Neukirch,
Anna Reimann, Christoph Schult,
telbar Ausreisepflichtigen«. zu sehen. status verlieren. Sara Sievert, Wolf Wiedmann-Schmidt n

30 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


DEUTSCHLAND

weit stärken und gesellschaftliche schlichtet habe mit dem Vorschlag, den
Diversität fördern.« englischen Begriff zu nutzen.
Im September vergangenen Jahres Lambsdorff verweist auf die knap-
verkehrten sich die Rollen. In Iran pen Personalressourcen: »Im Bundes-
protestierten die Menschen gegen tag haben wir mit Zuwanderung, In-

Der Graf und das Kopftuchzwang und Unterdrückung.


Plötzlich war es die FDP, die ein Ende
der Atomverhandlungen mit Teheran
flation, Wahlrecht und Energiepolitik
wirklich genug zu tun, um nur einige
Themen zu nennen«, sagt der FDP-

grüne F-Wort forderte und der grünen Außenminis-


terin Annalena Baerbock Zögerlich-
keit vorwarf. FDP-Generalsekretär
Politiker. » Die Grünen haben das Aus-
wärtige Amt, die SPD das Entwick-
lungshilfeministerium. Beide Koali-
Bijan Djir-Sarai sagte, er habe bei tionspartner können aus der Regie-
BUNDESREGIERUNG Die Grünen wollen, dass Baerbocks Haltung zur Lage in Iran rung heraus frauenzentrierte Politik
»lange keine Züge der von ihr sonst machen«, so Lambsdorff. »Damit
sich die Ampel im Bundestag zur so hochgehaltenen feministischen haben wir als FDP kein Problem, im
feministischen Außenpolitik bekennt, die FDP Außenpolitik erkennen« können. Gegenteil.«
blockiert den Plan – wer setzt sich durch? Die FDP bezichtigte die Grünen, Mag sein. Doch zur Wahrheit ge-
ihre Werte im Ernstfall preiszugeben. hört auch, dass in der FDP-Fraktion
Ein Vorwurf, den die nicht auf sich manche die grünen Vorstellungen und
ie könnten kaum unterschied- sitzen lassen wollen. Sie initiierten den gemeinsamen Antrag einfach ab-
S licher sein. Der Liberale Alexan-
der Graf Lambsdorff und die
Grüne Agnieszka Brugger, beide
Hans Christian Plambeck / laif
jenen Ampelantrag, der aufzeigen
soll, wie sich das theoretisch anmu-
tende Konzept von der feministischen
lehnen. Zu links. Die Zustimmung
dieser Kritiker? Sie wäre wohl nur
nach mühsamen Gesprächen zu ge-
Vizevorsitzende ihrer Fraktion, beide Außen- und Entwicklungspolitik winnen, wenn überhaupt. Am Ende
für Außenpolitik zuständig. praktisch umsetzen lässt. Wie also könnte der peinliche Eindruck stehen,
Lambsdorff ist 56 Jahre alt, stu- eine Politik aussehen kann, die die dass sich Teile der FDP-Fraktion
dierter Historiker, gelernter Diplo- Gleichberechtigung von Frauen und einem progressiven Ansinnen wider-
mat, demnächst Botschafter in Mos- Männern ins Zentrum rückt. setzen – und die Fraktionsspitze ihren
kau. Brugger ist fast 20 Jahre jünger, Liberaler Lambsdorff Eigentlich sollte dieser Antrag zen- Laden nicht im Griff hat.
hat ihr Politikstudium nicht abge- trale Vorhaben des Außen- und des Brugger zeigt sich milde mit der
schlossen und gehört dem linken Flü- Entwicklungsministeriums flankie- FDP, spricht von einer »herzlichen
gel der Grünen an. ren. Denn Außenministerin Baerbock Einladung« zur Zusammenarbeit. Sie
Lambsdorff trägt an der linken und Entwicklungsministerin Svenja will das Projekt nicht gefährden. Ein
Hand einen Siegelring, Brugger hat Schulze (SPD) wollen im März femi- bisschen gereizt klingt sie dann aber
ein Lippenpiercing. nistische Leitlinien vorstellen. Dass doch: »Es ist schon etwas seltsam,
Zwei gegensätzliche Politiker- bis dahin der Antrag vorliegt, ist so dass die FDP nicht einmal wagt, sich
typen, die derzeit hinter den Kulissen gut wie ausgeschlossen. dazu gemeinsam mit uns an einen
um ein Herzensanliegen der Grünen Seine Befürworter bei FDP und Tisch zu setzen und zu schauen, wie
streiten: um feministische Außenpoli- Grünen zeigen auf Lambsdorff: Er ver- wir inhaltlich zusammenkommen.
tik. Achtung, Reizwort. hindere eine Einigung. Der Vizefrak- Niemand muss Angst vor feministi-
Brugger und ihre grünen Fach- tionschef wiederum ist genervt, dass scher Außenpolitik haben.«
kolleginnen wollen, dass die Ampel er von den Grünen in die konservative In der FDP heißt es, die Grünen
einen entsprechenden Antrag ins Par- Ecke gestellt wird. Er sei es doch ge- blockierten im Gegenzug einen An-
Grünen-Außen-
lament einbringt. Der soll erklären, expertin Brugger:
wesen, beteuert Lambsdorff, der in den trag der FDP zur Wasserstofftechno-
wie sich die Regierungsfraktionen »Herzliche Einladung« Koalitionsverhandlungen den Streit logie. Sieht so die grüne Rache aus?
eine geschlechtergerechte Außenpoli- zur Zusammenarbeit um die feministische Außenpolitik ge- »Ein Antrag zur erfolgreichen Be-
tik vorstellen. Bereits im vergangenen schaffung von Wasserstoff ist aus
Jahr brachte sie das Ansinnen intern unserer Sicht einfach wichtiger als ein
vor. Die SPD signalisierte Zustim- Papier zur feministischen Außenpoli-
mung, die FDP Ablehnung. tik«, sagt Fraktionsvize Lambsdorff.
Das F-Wort treibt die Ampel seit »Sehr gern arbeiten wir natürlich
ihren Anfängen um. Es waren die auch an einem Antrag zu Wasser-
Grünen um Brugger, die in den Koa- stoff«, entgegnet Brugger. Aber: »In
litionsverhandlungen darauf dräng- einer Koalition kann ein Partner nicht
ten, einen eigenen Absatz zur femi- darauf bestehen, dass nur an den ei-
nistischen Außenpolitik in den Am- genen Lieblingsanträgen gearbeitet
pelvertrag zu schreiben. wird und andere Prozesse blockiert
In der FDP reagierte man genervt, werden.«
klagte über Bruggers angeblich lange Vielleicht einigen sie sich ja doch
Vorträge. Das deutsche Wort Feminis- noch. Eine außerparlamentarische
mus klang den Liberalen zu sehr nach Gelegenheit böte Mitte Februar die
Kampfparole, nach Alice Schwarzer. traditionelle Ravensburger Fasnet.
Am Ende einigte man sich auf eine Dorthin wurde Lambsdorff von sei-
englische Formulierung: »Gemein- nem Parteifreund Benjamin Strasser
Dominik Butzmann

sam mit unseren Partnern wollen wir eingeladen. Es ist Bruggers Wahl-
im Sinne einer Feminist Foreign Poli- kreis. Der Liberale und die Grüne
cy Rechte, Ressourcen und Repräsen- haben sich zum Feiern verabredet.
tanz von Frauen und Mädchen welt- Marina Kormbaki, Christoph Schult n

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DEUTSCHLAND

Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL


Mutter mit Frühchen in Potsdam: In manchen Bereichen gehen die Fallpauschalen nicht auf

Notfall Krankenhaus
GESUNDHEITSPOLITIK Zwei Kliniken, beide in Brandenburg: Die eine erhofft sich von der »revolutionären« Reform
von Minister Karl Lauterbach mehr Geld und mehr Personal. Der anderen droht die Schließung?

enn Hans-Ulrich Schmidt durch sein Karl Lauterbach hat sich vorgenommen, so die Befürchtung, könnten es mehr werden.
W Krankenhaus schreitet, wirkt er wie
ein Museumsführer. Er zeigt die gute
Aussicht auf die Bäume, die Größe und Ein-
bis zum Sommer eine weitgehende Kranken-
hausreform vorzulegen. Sie soll die Finan-
zierung des ganzen Systems umkrempeln, für
Lauterbach will dem entgegenwirken. Er
spricht von einer »Revolution«. Doch Schmidt
und andere Leiter kleinerer Kliniken fürchten
richtung der Familienzimmer, die Tageslicht- mehr Personal sorgen, die Versorgung auf um ihre Existenz.
OPs. Begeistert ist er von den neuen Bildern dem Land sichern, Bereiche stärken, die es Nach Lauterbachs Plänen sollen die Bun-
in den Fluren, sie zeigen Röntgenaufnahmen schwer haben. Zum Beispiel die Geburtshilfe, desländer ihre Krankenhäuser in fünf Ver-
von Blumen. Im Kreißsaal bleibt er stehen, die in vielen Krankenhäusern kaum Geld ein- sorgungsstufen und 128 Leistungsgruppen
legt eine Hand andächtig auf die Gebär- bringt. einteilen. Nicht alle sollen alles machen
wanne. Rund 60 Prozent der Kliniken schrieben dürfen, manche müssen Leistungen abgeben.
Wie modern es hier aussehe, lobt er, wie nach Angaben der Deutschen Krankenhaus- Es geht um Mindestmengen, um räumliche
freundlich. Hier bekäme man doch gern gesellschaft 2022 rote Zahlen. In diesem Jahr, Distanzen zu anderen Krankenhäusern, um
sein Kind, oder? »Viele Frauen werden bei die Anzahl der Betten. Die Hoffnung: Kleine
uns von Hebammen eins zu eins betreut. Das Krankenhäuser sollen sich wie medizinische
ist nicht in jedem Krankenhaus die Regel«, Zentren um die Grundversorgung kümmern,
erklärt er. 430 Kinder machen hier jedes große Krankenhäuser die Operationen über-
Jahr ihren ersten Schrei, in diesem Kranken- »Die Kliniklandschaft nehmen, auf die sie spezialisiert sind.
haus in der brandenburgischen Stadt Forst. muss sich ändern, Mehr Geld soll es nicht geben. Lauterbach
Das alles, sagt Klinikleiter Schmidt, könnte will es nur anders verteilen. Manche Gesund-
bald verschwinden. Schuld sei niemand an- damit sie erhalten bleibt.« heitsminister aus den Ländern glauben des-
derer als der Bundesgesundheitsminister. Karl Lauterbach halb, er wolle die Krankenhauslandschaft

32 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


DEUTSCHLAND

gesundschrumpfen. Klinikleiter Schmidt ökonomische Druck, immer mehr Patienten


fürchtet: »Wenn wir durch die Reform an Mehr Geld, weniger Kliniken zu behandeln, selbst wenn es unnötig ist, fällt
großen Krankenhäusern gemessen werden, damit weg. Die Kliniklandschaft muss sich
werden wir nicht mithalten können.« Es droht Krankenhauskosten* in Deutschland, ändern, damit sie erhalten bleibt.«
in Mrd. Euro
die Schließung. Auch wenn Schmidt Teile der Reform ab-
Die Reform lässt sich jedoch nicht auf die 109,3 lehnt, macht er in seinem Krankenhaus schon
Schließung von Krankenhäusern reduzieren. 100 länger einiges, was Lauterbach sich vorstellt.
Sie hängt mit dem Abrechnungssystem der Mit 160 Betten ist das Krankenhaus in Forst
Krankenhäuser zusammen, das Lauterbach 75 eher klein, trotzdem kommen hier eine ganze
bei der letzten großen Reform vor 20 Jahren Menge Menschen her, rund 60 000 Patienten-
mit aufgebaut hat. Damals führte die Bundes- kontakte gibt es im Jahr. Die meisten haben
regierung sogenannte Fallpauschalen ein.
50
37,4
+ 192 % Termine in den ambulanten Praxen, die sich
gegenüber 1991
Seitdem rechnen Krankenhäuser nicht mehr 25
im Krankenhaus angesiedelt haben. Arztpra-
die Anzahl der Tage ab, die ihre Patienten bei xen rechnen nach anderen Parametern ab als
ihnen verbringen, sondern feste Beträge für Krankenhäuser. Ein Termin in einer Facharzt-
bestimmte Behandlungen. Je komplizierter, praxis ist für die Krankenkasse günstiger als
desto lukrativer. 1991 2001 2011 2021 ein Besuch in der Notaufnahme.
In manchen Bereichen geht das nicht auf. * bereinigte Kosten: Gesamt-Bruttokosten abzüglich u. a. von Neben einem Gastroenterologen und Hals-
Zum Beispiel in der Geburtshilfe. Für eine Wissenschaft und Forschung, Wahlleistungen, belegärztlichen
Leistungen
Nasen-Ohren-Spezialisten gibt es in Forst eine
einfache Geburt bekommt ein Krankenhaus medizinische Fußpflege, einen Friseursalon,
wenig Geld. Kommen in einer Geburtsstation einen Sanitätsladen, ein mobiles MRT. Damit,
weniger als 500 Kinder im Jahr auf die Welt, Krankenhäuser in Deutschland sagt Schmidt, halte er das Krankenhaus am
rechnet sie sich für ein Krankenhaus oft nicht. Leben. Nach den Plänen Lauterbachs könnte
In der Folge hat sich seit 2010 die Anzahl sol- 2411 ein Krankenhaus wie das in Forst als ambu-
cher kleinen Stationen in Deutschland mehr 2000
lantes Zentrum stärker von qualifizierten
1887
als halbiert. Lauterbach muss es mit seiner Pflegekräften betrieben und auch geleitet wer-
Reform schaffen, dass Frauen ausreichend den. Dieses Modell, ohne bestimmte Opera-
Angebote finden, um innerhalb von 40 Minu- 1000
tionen, rechne sich nicht, meint dagegen
ten ein Krankenhaus mit Geburtshilfe zu er- Schmidt.
reichen. So hat es der Generalbundesaus- »Wir wünschen uns genau solche ambu-
schuss beschlossen. Zunächst soll die Geburts- – 22 % lanten Zentren als wohnortnahe Versorgung.
hilfe in Deutschland in diesem und im nächs- Große OPs finden andernorts statt«, lobt Grü-
ten Jahr jeweils 120 000 Euro pro Kranken- 1991 2001 2011 2021 nenpolitiker Armin Grau, in der Bundestags-
haus zusätzlich erhalten. Kinderstationen fraktion zuständig für Krankenhäuser. Er
bekommen 300 000 Euro. sorgt sich um etwas ganz anderes, nämlich
Viele Hebammen fürchten, dass Lauter- Krankenhauskennziffern und Patienten dass die Reform zu spät wirksam werden
bach Mindestzahlen für Geburten festlegen Veränderung gegenüber 1991, in Prozent könnte. »Wenn wir die Kliniken retten wollen,
könnte, wie es die Expertenkommission in brauchen wir mehr als eine Reform, die erst
ihrer Empfehlung andeutet. Damit könnte Patienten Bettenauslastung Betten in ein paar Jahren wirken wird«, sagt er. Der
eine Station wie in Schmidts kleinem Kran- Belegungstage Verweildauer Härtefallfonds, den die Regierung zur Klinik-
kenhaus wegfallen. Frauen müssten in das + 40
rettung wegen der Energiekrise aufgelegt hat,
nächstgrößere Krankenhaus im nahe gelege- werde zur Überbrückung nicht ausreichen.
nen Cottbus fahren. Die Hoffnung Lauter- + 20 Die Lage der Kliniken sei jetzt schon drama-
bachs wäre wohl in etwa die: Hebammen, die + 15 tisch. Sie bräuchten kurzfristig mehr Geld.
in Forst nicht mehr gebraucht werden, könn- 0 Schmidt sieht das ähnlich. Nachdem er die
ten ebenfalls wechseln. Keine schlechte Lö- mobile Kaffeebar im Eingangsbereich gezeigt
sung. Oder? − 20
− 19
hat – eine weitere Einnahmequelle des Kran-
Schmidt glaubt nicht an die Mobilität von − 27 kenhauses –, geht er in die Notaufnahme.
Pflegepersonal und Hebammen auf dem − 40 Eine Pflegekraft steht hinter dem Tresen. Sie
− 41
Land. Er macht eine andere Rechnung auf: − 49 arbeitet heute mit zwei Kolleginnen. Einen
Hohe Arbeitslosigkeit, strukturschwache − 60 Patienten müssen sie in diesem Moment nicht
Region, Krankenhäuser gehörten da zum 1991 2001 2011 2021 versorgen. Im Durchschnitt, rechnet Schmidt
Versorgungsauftrag. Macht eines dicht, fühlen vor, seien es rund 20 am Tag. Wieder so ein
sich die Menschen noch mehr vernachlässigt. Bereich, den die Reform fressen könnte, weil
Für Politiker ist es deshalb schwierig, eine Betten in der Kinderheilkunde/Pädiatrie er sich nicht rechnet. Wäre das so schlimm?
Schließung im eigenen Wahlkreis durchzu- in Deutschland, in Tausend Die Antwort auf diese Frage liegt etwa
setzen. Das wird schon lange als Argument 170 Kilometer von Forst entfernt in einer
25 25,4
gegen eine Reform vorgebracht. anderen Notaufnahme, die am Tag rund
Lauterbach will nicht schließen, sondern 20 100 Notfälle behandelt. Das Haus steht in
17,7
umwandeln, beteuert er gegenüber dem 15 Brandenburgs Landeshauptstadt Potsdam
SPIEGEL . »Viele derjenigen, die jetzt um ihr und zählt zu der größten Gruppe der Klini-
10
Krankenhaus fürchten, sollten die Reform ken, den Maximalversorgern. Auch dieses
eher als Chance denn als Bedrohung begrei- Haus wird von Schmidt geleitet, es gehört zur
fen. Mit der Reform haben Krankenhäuser,
5
– 30 % gemeinnützigen Ernst von Bergmann Gruppe.
die sonst aufgeben müssten, eine Perspektive. Gewinne müssen diese Krankenhäuser nicht
Gerade auf dem Land können diese Häuser 1995 2001 2011 2021 erzielen, wirtschaftlich arbeiten aber schon.
dann wieder gute Versorgung anbieten und Chefarzt Michael Oppert tritt in den neu-
trotzdem schwarze Zahlen schreiben. Der S Quellen: Destatis, Gesundheitsberichterstattung des Bundes en Anbau der Rettungsstelle. An den Wänden

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 33


DEUTSCHLAND

glänzt frische blaue Farbe, von einem zen- Patient. Und ob ein Patient gesund ist, findet
tralen Tresen hat man alle Zimmer im Blick, man nur durch Untersuchungen raus.
viel besser als im älteren Teil der Klinik. Lauterbachs Reform soll dafür sorgen, dass
»Tja«, sagt Oppert, »diesen Bereich können ein großer Teil der Kosten der Notaufnahme
wir zurzeit leider nicht benutzen.« Die Klinik unabhängig von den Fallpauschalen finanziert
hat gerade 100 Betten gesperrt. Zu wenig wird. Es soll feste Zahlungen dafür geben,
Personal. dass Medizintechnik und Personal bereit-
In der Notaufnahme fehlen zehn Vollzeit- stehen, auch wenn sie nicht im Einsatz sind.
pflegekräfte, in der Pädiatrie acht, auf der In- In der Notfallmedizin, der Neonatologie, Ge-
tensivstation sechs. Sie werden mit Einstel- burtshilfe und Intensivmedizin sollen Klini-

Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL


lungsprämien gelockt und dem Tarif des öffent- ken etwa 60 Prozent der Kosten über diese
lichen Dienstes. In der Notaufnahme reiche sogenannte Vorhaltefinanzierung abrechnen,
das nicht aus, findet Oppert. Ihm ist so ziemlich in den meisten anderen Bereichen bis zu
jedes Mittel recht, um die Lage zu entspannen, 40 Prozent. Ein guter Plan, findet Oppert,
dazu zählen bessere Arbeitsbedingungen, der das Krankenhaus gern mit einer Schule
mehr Freizeit, Pflegepersonaluntergrenzen, vergleicht. »In der Schule werden Tische und
die es auf anderen Stationen gibt. Stühle hingestellt. Aber da werden die Lehrer
Gegen den Personalmangel ist in Lauter- auch nicht nach den Leistungen bezahlt, die
bachs Reform bisher nichts Konkretes vor- sie erbringen, wieso soll es in einem Kranken-
gesehen. Wenn es nicht anders geht, sagt haus anders sein?« Wenn es nach ihm ginge,
Oppert, müsse die Schließung kleiner Not- sollte die Notaufnahme gar nicht nach Leis-
aufnahmen zugunsten von großen Kliniken tungen finanziert werden.
helfen. Lauterbachs Länderkollegen sind trotzdem
Im internationalen Vergleich, so rechnen skeptisch. Nordrhein-Westfalen verhandelt
Gesundheitsökonomen vor, beschäftigt die gerade die eigene Krankenhausreform, die
Bundesrepublik im Verhältnis zur Bevölke- den Plänen Lauterbachs nicht unähnlich ist.
rung viele Pflegekräfte in Krankenhäusern. Andere fürchten zu viel Bürokratie und zu

Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL


Der Schluss: weniger Krankenhäuser, weniger starke Eingriffe in die eigene Krankenhaus-
Mangel. Wenn Pflegekräfte in einem Kranken- planung. Die größte Sorge trägt der bayeri-
haus nicht mehr gebraucht werden – so geht sche Gesundheitsminister immer wieder vor:
auch die Rechnung Lauterbachs –, könnten die Schließung kleiner Krankenhäuser.
sie im anderen arbeiten. Bei einem ersten Treffen versuchte Lauter-
Für Oppert und sein Team waren die bach, die Bedenken auszuräumen. Der Mi-
letzten Wochen krass. Die RSV-Welle hat die Chefarzt Oppert, Klinikchef Schmidt nister will die Länder eng in seine Reform
Notaufnahmen überall in Deutschland stark einbinden: In Facharbeitsgruppen sollen sie
gefordert. Der Stress ist hoch, vor allem nach Drei Ärztinnen und Ärzte und drei Pflege- mit dem Bund einen Gesetzentwurf erarbei-
Corona. »Es wird einfach erwartet, dass wir kräfte sind zur Lagebesprechung zusam- ten. Er soll bis Januar 2024 in Kraft treten,
alles irgendwie schaffen«, sagt Oppert. Er mengekommen. Sie gehen die Fälle durch. heißt es im Zeitplan des Ministeriums, den
zückt sein Smartphone, öffnet die Karten- Ein Mann mit Nierenversagen geht auf Bund und Länder gerade beschlossen haben.
funktion des Geräts, fährt mit dem Finger Station, eine Frau hat sich mit Tee verbrüht Vier Themenpakete sollen die Gruppen in
darüber. »Neuruppin im Norden hat uns Pa- und soll wieder nach Hause, eine andere den nächsten Monaten bearbeiten: Kranken-
tienten geschickt, Luckenwalde im Süden hat ist umgekippt, sie wird entlassen. Eine De- hauslevel, die Anzahl der Leistungsgruppen,
Patienten geschickt, der Südosten von Berlin menzpatientin ist zum zweiten Mal da, ihr Vorhaltekosten, die Umgestaltung bestimm-
und Brandenburg ebenfalls.« Fahrtzeiten zwi- Uterus hat sich abgesenkt. Sie ist an diesem ter Krankenhäuser zu ambulanten Versor-
schen 40 und 60 Minuten. Morgen aus dem Pflegeheim eingeliefert gungszentren. Es ist ein ehrgeiziger Plan, eine
»Wir haben Patienten in katastrophalem worden und wird wahrscheinlich wieder Riesenreform, viel Arbeit. Brandenburgs Ge-
klinischem Zustand bekommen«, sagt Op- zurückdürfen. sundheitsministerin Ursula Nonnemacher
pert. »Der da mit der roten Hose«, sagt der Für das Krankenhaus sorgen alle Patienten, (Grüne) weiß noch nicht, welche der insge-
Chefarzt und zeigt auf einen Sanitäter, der die bald nach Hause gehen, für Verluste. Op- samt 54 Krankenhäuser sie wie umbauen will.
gerade einen Patienten eingeliefert hat, pert rechnet vor: »Die Patientin wird erst mal Aber sie ist froh, mitgestalten zu können.
»kommt auch wieder aus Berlin.« gynäkologisch untersucht, dann urologisch, »Viele Krankenhäuser stehen wirklich finan-
Erneut ist ein Kernproblem die Finan- es wird eine Laboranalyse gemacht, dann be- ziell mit dem Rücken zur Wand, einige sind
zierung. Genau wie in der Geburtshilfe und kommt sie eine Antibiotikatherapie. Eine auf- akut insolvenzgefährdet«, sagt sie.
der Pädiatrie geht das Fallpauschalensystem wendige, vor allem zeitintensive Behandlung. Auf der Kinderstation des Potsdamer
in der Notaufnahme nicht auf. Es gibt keine Das kostet um die 150 Euro. Im Schnitt krie- Krankenhauses zieht ein Arzt ein wackeliges
planbaren Operationen, aber viel Personal gen wir dafür 30 Euro.« Eine Nacht im Kran- Beistellbett aus einer Ecke. Er will ein ein-
muss für den Ernstfall vorhanden sein. Wer kenhaus ist besser bezahlt als ein gesunder faches Beispiel dafür geben, was er sich von
rasch entlassen wird, bringt dem Krankenhaus der Reform erhofft. Eltern schlafen auf den
kaum Geld ein. Die Klinik hat bereits ver- Liegen bei ihren Kindern. Das hilft bei der
sucht, die Lage zu verbessern. Direkt neben Genesung und nimmt den Pflegekräften eine
der Rettungsstelle befindet sich seit Ende 2022 Menge Arbeit ab. Diese Hilfe lässt sich nicht
eine Notfallpraxis. Pro Schicht werden bislang in Geld messen. Die Kosten für das Bett
etwa 15 Patienten rübergeschickt, um ambu- schon: 1600 Euro. So eines zu bekommen sei
lant versorgt zu werden. Es kommen trotzdem »Es wird einfach nicht leicht für eine Station, die für das Kran-
noch genügend Fälle bei Oppert und seinen erwartet, dass wir alles kenhaus kaum ertragreich ist. In diesem Jahr
Kollegen an. müssen alle 30 Betten ersetzt werden, sagt
Am Morgen dieses Dienstags im Januar irgendwie schaffen.« der Arzt. Er hofft auf die Hilfe Lauterbachs.
liegen sieben Patienten in der Notaufnahme. Michael Oppert Milena Hassenkamp n

34 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


DEUTSCHLAND

schreckung in der internationalen Kinder­ gestellt werden, die Auswertung ergab Spuren
pornografieszene gesorgt haben. zu Servern in den USA. Im November 2022
Der TorPedoChat war tief versteckt im nahmen die Beamten einen 22­jährigen Deut­
Darknet, dem dunklen, nur über spezielle Zu­ schen in Bonn fest, bei dem es sich um den
gänge zu erreichenden Teil des Internets. Chat­ Moderator eines Rollenspielbereichs handeln

»Habt teilnehmer sollen sich dort auch zum sexuellen


Kindesmissbrauch verabredet haben. Wer be­
sonders aktiv war und eine große Menge Ma­
soll. Ausländische Ermittler verhaften zwei
mutmaßliche Moderatoren in Großbritannien
und den amerikanischen Hauptadministrator

kranken terial teilte, qualifizierte sich den Ermittlern


zufolge für eine Einladung zu TheAnnex. An­
ders als beim TorPedoChat, wo Nachrichten,
aller drei Seiten.
Auch zahlreiche Nutzer der Plattformen
gerieten ins Visier der Ermittler. Bei einem

Spaß hier!« Fotos und Videos nur für eine gewisse Zeit
einsehbar waren, konnten Postings bei The­
Annex dauerhaft gespeichert werden.
von ihnen handelt es sich um einen Justizvoll­
zugsbeamten aus Niederbayern, der Kinder
haben soll. Anzeichen für deren Missbrauch
In diesem abgeschotteten Bereich konnten soll es aber nicht gegeben haben.
KRIMINALITÄT Bayerische Ermittler sich die Pädophilen noch sicherer fühlen. Ein anderer Nutzer, ein 62­jähriger Tierarzt
Deutsche Beamte können solche Plattformen aus Schwaben, wurde bereits im Mai 2021 fest­
zerschlagen internationale Kinder- mit ihren gewöhnlichen Ermittlungsmethoden genommen. Den Ermittlern zufolge wurden
pornografie-Plattformen und nur schwer erreichen, da sie bis auf wenige bei ihm mehr als 800 000 Aufnahmen sowie
nehmen mehrere Deutsche fest. Ausnahmen kein kinderpornografisches Ma­ Missbrauchsanleitungen gefunden. Der Mann
terial teilen dürfen. war schon 2019 einschlägig verurteilt worden.
Doch schon der für alle zugängliche Bereich Beide Nutzer gaben verdeckten Ermittlern des
s brauchte keine Registrierung und keine der Seite offenbarte die mutmaßliche Schwere BLKA Hinweise, die zu ihrer Identifizierung
E der üblichen »Keuschheitsproben«, bei
denen man eigenes kinderpornogra­
fisches Material hochlädt. Beim TorPedoChat
des Kindesmissbrauchs. Zu finden waren dort
Links zu drei zugangsbeschränkten Bereichen,
in denen Pädophile kinderpornografische
führten.
Ein Schweizer Nutzer, der unter den Na­
men »Kinderfickerberlin« und »Kindertöter«
und seinem deutschen Ableger TorPedo­ Inhalte teilen und sich über ihre Neigungen auftrat, war in seiner Heimat ebenfalls wegen
ChatDE mussten die Nutzer nur einen User­ unterhalten konnten. Im Chatroom Tot’s­R­ des Besitzes von Kinderpornografie verurteilt
namen wählen, um sich einzuloggen. Danach Us – der Name spielt mit dem englischen Wort worden und befand sich wegen Pädophilie in
konnten sie ihre pädophilen Fantasien aus­ für Kleinkinder (»toddler«) und dem bekann­ therapeutischer Behandlung. Er soll unter
leben. »Oh, was ein süßer Bubenpimmel«, ten Spielwarenladen Toys­R­Us – posteten anderem geschrieben haben: »Suche real ein
hieß es dort etwa, und: »Kinder sollten es Teilnehmer Aufnahmen von Missbrauchs­ Mädchen zum vergewaltigen 2j bis 18j«.
lieben, Sex zu haben und mit Pädos zusam­ opfern bis fünf Jahre. In Aphrodite’s Play­ Ein Kernproblem für die Ermittler ist, dass
men zu sein.« ground galt das Alter 5 bis 15. Im No­Limits­ die Darknet­Seiten häufig auf verschiedenen
Nach Angaben der Ermittler tauschten die Chat sollten auch Fotos und Videos mit den Servern in kopierter Form vorliegen. Dadurch
Nutzer monatlich rund 20 000 kinderporno­ Labels Tod, Blut, BDSM, Schmerzen oder Kot ist es der Pädophilenszene möglich, gelösch­
grafische Fotos und Videos aus. Aufnahmen, hochgeladen werden. So stand es in der Be­ te Plattformen schnell wieder neu aufzuset­
die den Missbrauch von Kindern jedes Alters schreibung, zusammen mit dem Satz: »Have zen. Doch diesmal, so Oberstaatsanwalt Go­
zeigen und deren Besitz und Verbreitung mit sick fun here!«, zu Deutsch: »Habt kranken ger, sei es den internationalen Strafverfolgern
Freiheitsstrafen geahndet werden. Die Pädo­ Spaß hier!« gelungen, reale Serverstandorte zu identi­
philen glaubten, unter sich zu sein. Und sicher. Im August 2020 gelang es dem BLKA, Ser­ fizieren – und abzuschalten: »Dass diese drei
Doch mittlerweile sind die Chatrooms verstandorte dieser verdeckt betriebenen Seiten in der bisherigen Form wieder online
nicht mehr erreichbar, ebenso wenig wie die Darknet­Plattformen zu ermitteln. Mittels gehen können, ist nach unserer Bewertung
Plattform TheAnnex. Ermittler und Ermitt­ Rechtshilfe konnten die Daten zweier Server ausgesprochen unwahrscheinlich.«
lerinnen in Deutschland, Großbritannien und in Rumänien und der Republik Moldau sicher­ Rafael Buschmann, Sara Wess n
den USA haben zahlreiche Administratoren,

[M] DER SPIEGEL; Fotos: weiXx / iStockphoto / Getty Images, Generalstaatsanwaltschaft Bamberg


Moderatoren und User festgenommen.
Für die Bamberger Generalstaatsanwalt­
schaft und das Bayerische Landeskriminalamt
(BLKA) sind die Zugriffe nach drei Jahren
Ermittlungsarbeit ein großer Erfolg. »Es han­
delte sich um sehr konspirativ aufgesetzte und
technisch gut abgesicherte Seiten mit einem
großen Nutzerkreis«, erklärt Oberstaats­
anwalt Thomas Goger vom Zentrum zur Be­
kämpfung von Kinderpornografie und sexuel­
lem Missbrauch im Internet. Die Plattformen
reihen sich ein neben mittlerweile gelöschten
Websites wie Elysium, Boystown und Tween­
FanIsland. »Sie haben bis zu ihrer Abschal­
tung eine große Rolle bei der Verbreitung von
Kinderpornografie im Darknet gespielt – auch
im deutschsprachigen Raum«, so Goger.
Die jüngsten Ermittlungen zeigen, dass die
Jagd nach den Pädokriminellen für die Straf­
verfolger nicht ansatzweise zu Ende ist. Und
dass all die Festnahmen und Razzien der ver­
gangenen Jahre offenbar nur für wenig Ab­ Auszüge aus dem TorPedoChat: Die Pädophilen fühlten sich sicher

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 35


DEUTSCHLAND

lag zuletzt die CDU vorn. Beim ersten Wahl-


versuch, im September 2021, hatte sie 18 Pro-
zent erreicht, jetzt kommt sie in den Erhe-
bungen mal auf 21, mal gar auf 25 Prozent.
Die Sehnsucht der Konservativen nach der
Macht ist groß, sie grenzt an Verzweiflung.
Seit 21 Jahren regiert die SPD die Hauptstadt,
in unterschiedlichen Koalitionen, derzeit mit
Grünen und Linken. Dass vor und nach der
Wende lange die CDU am Steuer war, hat man
schon beinahe vergessen in Berlin, die Namen
der letzten christdemokratischen Bürgermeis-
ter – Eberhard Diepgen, Richard von Weiz-
säcker – klingen wie aus dem Geschichtsbuch.
Berlin, ohnehin schwer reformresistent,
scheint seit der letzten Wahl in einer Schock-
starre zu verharren. Nichts bewegt sich, zu-
mindest nicht vorwärts. Franziska Giffey, die
doch für den Aufbruch stand, war kaum im
Amt, da kamen der Krieg und die Flüchtlinge,
die Inflation und die Energiekrise, und die
Pandemie war auch noch nicht vorbei. Dane-
ben schwärten die alten Probleme, die maro-
de Verwaltung, die lästige Enteignungsinitia-
tive, der vermaledeite Flughafen.
Als wäre das nicht alles peinlich genug, er-
klärte der Berliner Verfassungsgerichtshof im
November die verbockte Wahl für ungültig
und ordnete die Wiederholung an. Es war, als
würde der Herrgott sagen: So wird das nix,
Berlin, wir streichen 2022 und fangen noch
mal vorne an. Vielleicht ist die Stadt ja wirk-
Hannes Jung / DER SPIEGEL
Wahlkämpfer
lich erschöpft genug für einen Neustart. Viel-
Wegner vor leicht gibt es genügend Leute, die sich sagen:
seinem früheren Alle anderen können’s ja offenbar auch nicht,
Wohnhaus in warum dann nicht mal wieder CDU?
Berlin-Hakenfelde
Kai Wegner, 50, deutet im Gehen auf ein
paar Bäume am Wegesrand: »Hier liegt noch
irgendwo mein Wellensittich begraben.« Die
Kindheit in der Hochhaussiedlung schildert
der dreifache Familienvater als Paradies.
Überall Freunde, viel Grün, viel Sport. Dass

Der Stadtrandkandidat die Eltern – sie Verkäuferin, er Eisenflechter


auf dem Bau – manchmal am Ende des Mo-
nats die Rechnungen nicht mehr bezahlen
konnten, begriff er, ihr einziges Kind, erst
BERLIN CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner hat die letzte Wahl verloren, später. Die Sache mit der Mauer verstand er
noch weniger. Als kleiner Junge schmiss er
seine Partei seit mehr als 20 Jahren in der Hauptstadt nichts mehr Steine dagegen und darüber, »bis die Grenzer
zu sagen. Warum glaubt er trotzdem, dass er es diesmal schaffen kann? kamen und runterguckten«.
Die DDR dahinter war ein fernes, fremdes
Land. Wenn die Wegners im Sommer nach
chön ist es nicht hier draußen, aber es setzt, sagt Wegner, heute Spitzenkandidat der Österreich in den Urlaub fuhren, dann bra-
S ist nun mal Heimat, ihm gefällt’s. »Da CDU für das Berliner Bürgermeisteramt bei chen sie nachts auf und fuhren »möglichst
oben war mein Kinderzimmer«, sagt der Wiederholungswahl am 12. Februar, »das schnell durch den Osten durch, ohne anzu-
Kai Wegner und deutet zum dritten Stock war im Grunde mein erstes politisches Pro- halten«, so erzählt es Wegner. Frühstück habe
eines Hochhauses in Hakenfelde hinauf, an jekt«. Denn so geht doch Politik: Man will es dann in Helmstedt gegeben, hinter dem
der Grenze von Spandau, am westlichen Ende etwas, schart Gleichgesinnte zu Mehrheiten Grenzübergang, im Westen.
von Berlin. Dahinter kommt ein bisschen um sich, stellt Forderungen, setzt es durch. Es wundert nicht, dass der Stadtrandkan-
Wald und dann kam schon die Mauer, damals, Sein Gesicht sieht man hier derzeit an jeder didat Wegner im Berliner Osten kaum Wäh-
Siebziger- und Achtzigerjahre, als er hier auf- zweiten Laterne, »Kai Wegner – Damit Ber- ler und Wählerinnen zu bewegen vermag. Die
wuchs. Mehr Stadtrand geht nicht. lin funktioniert«, das ist sein Slogan, es soll Berliner CDU ist insgesamt ein West-Verein,
Ein Samstagvormittag im Januar, ein Spa- pragmatisch und zupackend klingen. Manch- die Sitze im Abgeordnetenhaus verdankt sie
ziergang durch seine Herkunft. Hier hat er mal hängt das Konterfei der Regierenden zum großen Teil Direktmandaten aus west-
Fußball gespielt, Fahrradfahren gelernt, ist Bürgermeisterin Franziska Giffey, seiner lichen Stadtbezirken. Und wenn Wegner so
gleich nebenan zur Schule gegangen. Als Hauptkonkurrentin, direkt darunter. »Alle gern betont, dass er unter den drei Spitzen-
Schulsprecher habe er sich erfolgreich für die Stimmen SPD!« heißt es bei ihr, schlicht und kandidaten – Giffey, die Grüne Bettina Ja-
Anschaffung einer Tischtennisplatte einge- anscheinend siegessicher. Aber in Umfragen rasch, er selbst – »der einzige echte Berliner«

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sei, dann heißt das in Wahrheit: der einzige Berlin, ohnehin schwer Ikone des alten West-Berlin, ein paar Dutzend
West-Berliner. Leute sind gekommen, um Wegner zuzuhö-
Hier aber, in Spandau, kennt man ihn. Es reformresistent, scheint seit ren, fast alle über 60. Dieter Hallervorden ist
sind nicht viele Leute unterwegs, aber davon der letzten Wahl in einer dabei. Eine Frau sagt, sie wolle »ihr altes Ber-
erkennen ihn fast alle. »Hallo, Herr Wegner«, lin zurück«, und man spürt, sie denkt weit
grüßt ein Passant, und eine Frau mit zwei Schockstarre zu verharren. zurück dabei, weiter jedenfalls als nur bis
Hunden ruft ihm zu: »Sie sind Kai Wegner!«, 1990. Es gibt Sekt und gebrannte Mandeln in
als würde er das selbst nicht wissen. »Ge- Bechern mit CDU-Logo. Später wird eine alte
nau!«, bestätigt Wegner und streichelt die Sängerin alte Berliner Schlager singen, zum
Tiere. Glücksmomente eines Wahlkämpfers. Dennoch: Er könnte ein sehr einsamer Beispiel diesen: Es gibt nur ein Berlin / Und
Reden mit dem kleinen Mann, das kann Sieger werden. Solange Rot-Grün-Rot in der das is’ mein Berlin / Hält uns auch keiner für
Kai Wegner, er war ja selbst einer. Als junger Hauptstadt eine Mehrheit hat, wird er nieman- normal / Das ist uns alles ganz ejal.
Mann wollte er bei der Bundeswehr Helikop- den finden für eine Zweckheirat. Zusätzlich Wegner hat hier ein Heimspiel und parliert
terpilot werden und blieb dann doch am erschwert wurde die Brautschau, als seine sich durch seine Themen. Er moniert die »or-
Boden. Er lernte Versicherungskaufmann, CDU-Fraktion nach der Silvesterkrawallnacht ganisierte Verantwortungslosigkeit« der Ver-
wurde für kurze Zeit Geschäftsleitungsmit- vom Innenausschuss die Vornamen deutscher waltung, gelobt die innere Sicherheit zu stär-
glied eines mittelständischen Bauunterneh- Tatverdächtiger erfahren wollte, wohl um ken und verspricht, mit ihm werde man in
mens. Mit 17 trat er in die Junge Union ein, nachzuzählen, ob mehr Mohammeds als Ma- Berlin auch in 20 Jahren noch Auto fahren
arbeitete sich durch den CDU-Landesver- ximilians unter ihnen waren. Von so weit dürfen. Das scheint eine große Angst im bür-
band nach oben, bis in den Bundestag und rechts ist kein Spagat nach links zu schaffen. gerlichen Berliner Milieu zu sein, dass die
zum baupolitischen Sprecher der Unionsfrak- »Wir brauchen 25 Prozent, alles drunter Grünen ihnen die Autos wegnehmen. Das
tion. Er sagt heute, er habe »nie Berufspoli- wird schwer«, sagt Wegner am Rande einer Wort »Klima« fällt keinmal an dem Abend.
tiker werden wollen«, und wurde es dann Veranstaltung. 25 Prozent, da könnten SPD, An einem Stehtisch und vor Anhängern
doch schon mit 33 Jahren. Statt Luftwaffen- Grüne und Linke nicht einfach drüber hinweg- erzählt Wegner später die Anekdote, wie er
pilot nun eben Parteisoldat. koalieren. Bei 25 Prozent wird neu gewürfelt, kürzlich mit Klaus Wowereit essen war, dem
Wahlkampftermin im Boxklub Isigym in vielleicht. Eine Deutschland-Koalition (CDU, Arm-aber-sexy-Ex-Bürgermeister von der
Schöneberg. Der Klub ist dafür bekannt, SPD, FDP) wäre aus Wegners Sicht attraktiv SPD. Dauernd seien sie erkannt worden, »wo-
schwierigen Jugendlichen aus dem Kiez Halt oder gar Jamaika (CDU, Grüne, FDP), träu- bei Wowi mehr als ich«. Und dann sei jemand
und eine Perspektive zu geben. Die Silvester- men darf man immer. an den Tisch getreten mit den Worten: »Sie
krawalle in der Hauptstadt sind erst ein paar »Keiner hat daran geglaubt, dass ich Spit- beide müssten zusammen die Stadt regieren!«
Tage her; junge Männer randalierten in Neu- zenkandidat werde, außer ich selbst.« Das Wowereit und Wegner als Königspaar für Ber-
kölln, griffen Ordnungskräfte an, ein Bus sagt Kai Wegner zu freundlichem Applaus lin, ein schönes Bild. Den Namen Wowereit
brannte, nationaler Aufschrei, Berlin schon bei einem Auftritt im Fotostudio Urbschat am benutzt Wegner auch, wenn er zu hören be-
wieder ein »failed state«. Wegner will das Ku’damm, das einen Wahlkampfabend für kommt, es mangle ihm an Ausstrahlung und
Thema besetzen, spricht vor Journalisten mit ihn organisiert hat. Das Urbschat, Familien- Prominenz für den Job: »Klaus Wowereit
einem Trainer über die Böllerschmeißer mit unternehmen seit vielen Jahrzehnten, ist eine kannte auch keiner, als der Regierender wur-
Migrationshintergrund: »Das sind Berliner de.« Damit hat er ja sogar recht. Man hat
Jungs, die müssen wir zurückgewinnen«, sagt schon ganz anderen nichts zugetraut.
er und: »Ihr macht das super hier.« Sozial- CDU vor SPD und Grünen Selbst innerhalb seiner Partei muss man
arbeit mit der Faust, das gefällt Wegner. nicht lange fragen, um Unfreundlichkeiten
Es geht für ihn bei dem Treffen auch um »Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag über Kai Wegner zu hören. Er sei noch nie
die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus
gute Fotos für die Medien, Wegner posiert wäre?«, Angaben in Prozent durch sonderlich interessante politische
mit hochgekrempelten Ärmeln und gereckten Vorschläge aufgefallen, heißt es da. Er habe
Fäusten. Als ein Fotograf ihn bittet, die ge- CDU SPD Grüne AfD Linke FDP keine Konzepte, kein Profil, spreche in Plat-
reichten Boxhandschuhe anzuziehen, lehnt titüden, er habe außer der Macht kein Ziel.
er ab, »das muss nicht sein, sonst dreht meine Zweitstimmen-Ergebnis der für ungültig Ihm fehle das Charisma. Man könne sich
Pressefrau durch«. Er spürt, das wäre zu viel, erklärten Wahl vom 26. September 2021 schlechterdings nicht vorstellen, wie Kai
zu martialisch, und erzählt dann noch, dass Wegner als Regierender Bürgermeister mit
er früher viel Kampfsport gemacht hat: »Ich einem internationalen Staatsgast durchs
konnte mal Spagat.« 21,4 22% Brandenburger Tor spaziere und dabei Kon-
Seine Gegner werfen ihm allzu große ideo- 20
21% versation mache.
18,9 19%
logische Biegsamkeit vor. Wegner geriert sich 18,0 Was ihm niemand abspricht: Fleiß. Strate-
gern als Schutzpatron der Autofahrer und gisches Geschick. Arbeitsbereitschaft bis zur
buhlt gleichzeitig um die Gunst der Grünen 14,1 Selbstausbeutung. Leidenschaft für die Stadt,
als Koalitionspartner. Er schwärmt von Berlin 13% die er sein Leben lang nicht verlassen hat.
als »einziger internationaler Metropole 10
11% Und den unbedingten Ehrgeiz, Regierender
Deutschlands« und hat früher mal mit einem 8,0 Bürgermeister zu werden.
Spruch geworben, der eher nach AfD klingt: 7,1 Wie sehr er das Amt will, zeigte sich, als
»Kai Wegner – Dynamisch. Demokratisch. 5 5% es vonseiten der Bundes-CDU im vorigen
Deutsch.« Zugegeben, das ist 20 Jahre her. Herbst nach der Entscheidung zur Wahlwie-
Ohne Verrenkungen wird es ohnehin nicht derholung offenbar Bemühungen gab, ihn
0
gehen, wenn die CDU einen Koalitionspart- Okt. Jan. Apr. Juli Okt. Jan.
auszutauschen. Führende CDU-Bundespoli-
ner finden will. Die Berliner Landesparteien 2021 2022 2023 tiker trauten ihm demnach den Erfolg nicht
sind bekanntlich alle ein Stück extremer als S Quellen: Landeswahlleiterin Berlin, Civey-Umfrage für den
zu und wollten stattdessen Jens Spahn ins
ihre Bundespendants, die SPD linker, die Grü- SPIEGEL; Befragungszeiträume: je sieben Tage, bis zum 13. Okt. Rennen schicken, den ehemaligen Gesund-
2022: je 14 Tage, jüngster Befragungszeitraum vom 26. Jan. bis
nen grüner, die Bürgerlichen kleinbürger- 2. Febr.; Stichprobengröße: mindestens 2000 Befragte in Berlin; heitsminister – so behauptete es zumindest
licher, da muss man sich strecken für Kom- die statistische Ungenauigkeit der Umfrage liegt bei bis zu 3,3
bis 3,9 Prozentpunkten; an 100 fehlende Prozent: »eine andere
die »Berliner Morgenpost«. Es wäre ein
promisse. Kai Wegner glaubt, er kann das. Partei« Signal gewesen für einen Neuanfang in der

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DEUTSCHLAND

Berliner CDU, wie er schon lange gefordert


wird, weg vom biederen West-Berliner Klein-
gartenverein hin zu einer modernen Groß-
stadtpartei. Aber Kai Wegner dachte gar nicht
ans Verzichten: »Wir haben einen Spitzen-
kandidaten«, sagte er im Oktober über diese
Gerüchte. »Ich bin der Spitzenkandidat.«
Warum tut er sich das alles an? Die
80-Stunden-Wochen im Wahlkampf. Der
Zwang zum Dauerlächeln, die ewige Selbst-
vermarktung. All die Neujahrsempfänge bei
Kreisverbänden. Die beißenden Gefechte
jeden Tag mit politischen Gegnern. Die ewi-
gen Gespräche mit Journalisten. Er hatte doch
seit 2005 ein schönes warmes Bundestags-
mandat, das er 2021 für einen Sitz im Berliner
Abgeordnetenhaus aufgab.
Zur Erklärung erzählt Wegner beim Spa-
ziergang, wie ihm einmal vor ein paar Jahren
plötzlich die gute Laune abhandenkam. Er
sei schon immer ein Gute-Laune-Mensch ge-
wesen, verlässlich glücklich von morgens bis
abends, »ich finde diese Welt und das Leben
einfach schön«. Aber dann war das plötzlich
weg. Wochenlang. Und seine Partnerin habe
gefragt: Kai, was ist los mit dir?
Da sei es aus ihm herausgebrochen. Es är-
gere ihn so sehr. Er lese in den Medien jeden
Tag von der SPD in Berlin, auch von den Grü-
nen, von den Linken, sogar von der AfD und
der FDP. »Aber ich lese nie was von meiner
CDU.« Das sei der Zeitpunkt gewesen, als er
sich entschlossen habe, der Bundespolitik den
Rücken zu kehren, um seine Berliner CDU
wieder hoch- und ins Gespräch zu bringen.
Er ging zurück in die Lokalarena, wurde Lan-
desvorsitzender, Spitzenkandidat für die
Wahl 2021, die jetzt wiederholt wird. Und die
gute Laune war zurück.
Sogar seine politischen Feinde bestätigen
das: Privat sei Kai Wegner ein netter Kerl,
warmherzig, authentisch, freundlich, super
zum Plaudern. Als »totalen Gefühlsmen-
schen« bezeichnet ihn seine Pressefrau. Und
eine Mitarbeiterin von ihm beschreibt, wie
Wegner zum Hauptbahnhof Berlin ging, als
Im vertikalen Dorf
dort die ukrainischen Flüchtlinge zu Tausen-
den ankamen, vor allem Frauen und Kinder. BRENNPUNKT Am Kottbusser Tor scheint es leicht, Berlin zu verachten:
Wegner, in der Menge stehend, seien bald die
Tränen übers Gesicht gelaufen, sagt die Mit- Dreck, Drogen, das volle Schreckensprogramm. Aber viele Menschen
arbeiterin: »Ich habe ihn dann gefragt, ob wir leben hier, teils seit Jahrzehnten. Was hält sie? Von Hannes Schrader
mal an die frische Luft gehen wollen.«
Sentimental ist er auch. Er trägt eine Uhr,
die ihm seine Mutter zum Einzug in den Bun- m besten, man fängt mit der Scheiße einem leichter macht, diese Stadt zu verach-
destag schenkte, 2005, die aber schon viele
Jahre unrettbar kaputt ist und deren Zeiger auf
kurz nach halb zehn stehen. Die Mutter ver-
A an, so sind sie es hier am Kotti ja ge-
wohnt. Auf dem schlammgrünen Krei-
sel des Kottbusser Tors steht seit Kurzem ein
ten. Das Kottbusser Tor liegt im Zentrum
Kreuzbergs, den Platz umringen Hochhäuser,
in der Mitte ist ein Autokreisel, durch den
starb kurz darauf, »viel zu früh«, sagt Wegner, Klo, mit drei Kabinen. Es hat fünf Jahre ge- Protzkarossenmotoren dröhnen. Auf den
wie vor ihr schon der Vater. Außerdem besitzt dauert, bis es hier stand, und kostet jährlich Bürgersteigen verrosten die Fahrräder, und
Wegner bis heute ein Kuscheltier – so erzählt mehr als 50 000 Euro. Als es eröffnet wurde, hier kreuzen sich die U-Bahnen: Die U8 fährt
er es vor seinem Kindheitshochhaus –, das er schrieb die grüne Bezirksbürgermeisterin: von Nord nach Süd, U1 und U3 fahren von
zu seiner Geburt geschenkt bekam. Es heißt »Bääm. Da ist das Ding.« West nach Ost. Vom Kreisel gehen acht Stra-
Moppi, »der ist genauso alt wie ich«. Wenige Wochen danach öffnet man die ßen ab, der Ort scheint vor allem dafür ge-
Man versteht: Wenn Wegner etwas liebt, Tür zum Klo und wird begrüßt von Toiletten- macht zu sein, um von ihm wegzukommen.
dann trennt er sich nicht mehr davon. Die papiergirlanden und einem Rest Kot, der nicht So wurde der Kotti deutschlandweit eine
Uhr. Das Plüschtier. Die Stadt Berlin. Der dort ist, wo er hingehört. scheinbar perfekte, dreckige Pointe für diese
Wunsch nach Macht. Womit wir gleich beim Thema wären. Es Stadt, in der angeblich nichts funktioniert, so
Guido Mingels n gibt vielleicht keinen Ort in Berlin, der es wird er regelmäßig ausgestrahlt in bundes-

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DEUTSCHLAND

fangen, sollte man das tun und sich isst einen gemischten Grillteller mit
dann nach oben arbeiten, Stockwerk Lammfleisch.
für Stockwerk. Also: zwei Rolltrep- Sind Sie glücklich hier?
pen runter, bis in den U-Bahnhof. »Ja«, sagt sie, ohne zu zögern. »In
Zweites Untergeschoss: Hier rau- Berlin ist jede Ecke wunderschön.«
chen die Heroinabhängigen und Die Straße: Wenn Steffen Bonnin
schreien herum, während Kreuzberg über den Kotti schlendert, hat er die-
in die U-Bahn steigt. Ein Kiosk ist der sen Polizistengang drauf: leicht nach
einzige Laden hier, ein junger Mann hinten gebeugt, die Beine voraus; wie
sitzt darin. »Sorry, what do you einer, der weiß, dass ihm so schnell
want?«, fragt er. Er ruft seinen Chef keiner dumm kommt. Er ist in Kreuz-
an, Hakan. Wenn man den später berg geboren und seit 40 Jahren Poli-
selbst anruft und erklärt, zum Kott- zist. Bonnin leitet die Brennpunkt-
busser Tor zu recherchieren, antwor- streife, 15 Beamte, die regelmäßig
tet er: »Okay. Und was wollen Sie durch den Kiez gehen. »Ich kenne die
jetzt? Meinen Laden kaufen?« Steine hier«, sagt er. Wie ist es also
Erstes Untergeschoss: Die Blumen- hier am Kotti, Herr Bonnin?
verkäuferin sitzt auf einer umgedreh- Die Kriminalität, sagt er, komme
ten Plastikkiste, sie trägt eine grüne größtenteils durch den Drogenkon-
Schürze. Vor ihr steht ein Eimer mit sum am Platz. »Das sind die Ärmsten
weißen Rosen, von denen sie die der Armen, die hier Straftaten bege-
welken Blätter abzupft. Sie bietet hen.« Meist seien es Heroin- oder
eine weitere umgedrehte Kiste zum Medikamentenabhängige, die Geld
Sitzen an. brauchen, um Stoff zu bekommen,
Darf ich fragen, wie Sie heißen? und deshalb mal eine Handtasche
»Iğde. Ida, Gustav, Dora, Emil«, klauen. »Oder sie ticken selbst, um
sagt Yadigar Iğde, so schnell, dass Geld für Stoff zusammenzubekom-
man noch mal nachfragen muss. Den men.« Auch zu Revierkonflikten
Vornamen buchstabiert sie auch di- unter Dealern komme es immer
rekt, Ypsilon, Anton, Dora, Ida, Gus- wieder.
tav, Anton, Richard. Sie ist das ge- Die Drogenszene, sagt Bonnin,
wohnt, wenn ein Deutscher nach habe sich hier angesiedelt, weil die
ihrem Namen fragt. Architektur so viele versteckte Ecken
Nancy Jesse / DER SPIEGEL

Seit 1969 sei sie hier, sie kam noch und verwinkelte Flure biete; perfekt,
als Kind. Am Kotti ging sie zur Schu- um sich ungestört einen Schuss zu
le, erzählt sie, ihr Vater arbeitete bei setzen. Die U-Bahn-Etagen mit
Siemens, ungelernt. In der Türkei sei knapp einem Dutzend Ausgängen
er Bauer gewesen. »Er säte mit der böten Dealern ausreichend Flucht-
Hand«, sagt sie und unterbricht ihre wege, und man komme eben schnell
deutsche Wohnzimmer. Meistens geht Gebäudekomplex Arbeit, um anzudeuten, wie ihr Vater hin und wieder weg. »Für die Drogen-
es um Drogen, Dreck, Kriminalität, »Neues Kreuzberger das Saatgut in die Erde streute. abhängigen, die Obdachlosen und die
was Fernsehsessel-Deutschland eben Zentrum«: Sie schloss die Schule ab, putzte Trinker ist das hier ihr Wohnzimmer.
295 Wohnungen,
so Angst macht, sodass Bielefelder elf Stockwerke am Ku’damm im Krankenhaus Ope- Die kriegen Sie hier nicht weg, und
Eltern ihre Kinder, die in Berlin studie- rationssäle. Dann erfuhr sie von das wollen wir auch gar nicht.«
ren, verunsichert anrufen und sie fra- Freunden, dass die ihren Blumen- Als Polizist gehe es einerseits
gen: Aber da hältst du dich fern, oder? laden hier aufgeben wollten. Sie über- darum, Straftaten zu beobachten und
Auf der Nordseite des Kotti er- nahm ihn, 1982, gemeinsam mit zu verfolgen – vor allem um den Dro-
streckt sich ein riesiger Gebäuderie- ihrem Mann. Sie hatten keine Ahnung genhandel einzudämmen. Durch, wie
gel, der über eine der Straßen ver- von Blumen. »Wir haben in anderen er sagt, »Beharrlichkeit und Präsenz«.
läuft, gebaut in den Siebzigerjahren. Blumenläden geschaut, wie die das Das mache den Kotti unattraktiver
295 Wohnungen sind drin, elf Stock- machen: Wie sie die Fenster dekorie- für Kriminelle. Andererseits, sagt er,
werke, »Neues Kreuzberger Zen- ren, wie sie Sträuße binden.« wolle er ansprechbar sein für Bürge-
trum« heißt er. Direkt über der Stra- Die Beziehung zerbrach, seit 1998 rinnen und Bürger. Bonnin schlendert
ße, im ersten Stock, entsteht nun eine betreibt sie den Laden allein. An der an den Spätis und Dönerläden vorbei,
Polizeiwache. Sie sollte eigentlich Tür steht, dass sie um sechs öffne, grüßt die Männer, die das Fleisch vom
250 000 Euro kosten, nun werden es aber das schaffe sie zurzeit nicht, weil Spieß schneiden, und die jungen Frau-
3,5 Millionen, womit am Kotti mal sie meistens morgens noch zum Groß- en in den Büros. Ein Rentnerehepaar
wieder alle Vorurteile über Berlin be- »Das ist markt müsse, Blumen kaufen. Um mit Stadtplan fragt ihn nach dem Weg.
stätigt wären. ein Stück fünf Uhr stehe sie auf, um acht öffne Seit einigen Jahren gehen die
So weit also die Lage. Nur: Ob- Identität. sie den Laden, bis 19 Uhr. Montag bis Straftaten hier laut Polizei zurück –
wohl alles so schlimm zu sein scheint, Samstag. Sie ist jetzt 65. »Das ganze aber es bleibe einer der Orte mit der
leben und arbeiten viele Menschen Hier komme Leben ist hier weggegangen.« höchsten Dichte an Straftaten in Ber-
hier, zum Teil seit Jahrzehnten, der ich her, Yadigar Iğde wohnt um die Ecke, lin, sagt Bonnin. Was für ihn aber
Ort ist so dicht besiedelt wie kaum zusammen mit ihrer Mutter. Hier am nicht heißt, dass der Kotti seinen
ein anderer in Berlin. Was hält sie
hier gehöre Kotti, sagt sie, bekomme sie alles, was schlechten Ruf verdient hätte. »Es ist
hier? ich hin.« sie zum Kochen brauche. Und wenn vieles besser geworden«, sagt er. Die
Wenn einem ein Ort schon die Steffen Bonnin, sie sich etwas gönnen möchte, geht Stadtreinigung komme seit einiger
Möglichkeit gibt, ganz unten anzu- Polizist sie hoch, in eines der Restaurants, und Zeit noch häufiger, um den Müll

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 39


DEUTSCHLAND

schneller zu entfernen. Drogenabhän- 2. Stock: Ein Mann mit adrett fri-


gige können sich in einem Gesund- siertem ergrauendem Haar reißt die
heitszentrum am Platz sicher einen Tür auf, er trägt eine weite Hose und
Schuss setzen, auch das habe geholfen. hat dunkle Augen.
Zugleich höre er immer wieder Wie finden Sie es, hier zu leben?
von Anwohnern, die hier aufgewach- »Scheiße!«
sen seien, aber ihre Kinder nicht am Ah, und warum?
Kotti großziehen wollten. Aus Angst, »Einfach scheiße! Scheiße! Schei-
sie allein auf die Straße zu lassen. ße! Scheiße!«, ruft er. »Das muss rei-
»Das geht natürlich nicht, und das chen.« Dann schließt er die Tür.
müssen wir ändern.« Den Flur kommt ein kleiner, alter
Bonnins Stimme ist warm, wenn Mann runtergependelt, er schaut
er über den Kotti spricht. Er klingt freundlich überrascht, spricht kaum
mehr nach Sozialpädagoge als nach Deutsch. »70 Jahre«, sagt er, so lange
Polizist. An keinem Ort arbeite er lie- lebe er schon hier. Er komme aus der

Nancy Jesse / DER SPIEGEL


ber, sagt er. »Das ist ein Stück Identi- Türkei.
tät. Hier komme ich her, hier gehöre Eine junge Frau huscht vorbei,
ich hin.« dreht sich um und sagt: »Ach, hallo!«
Im 1. Stock des Hochhauses »Neues Sein Blick hellt sich nachbarschaftlich
Kreuzberger Zentrum« liegt, neben auf.
vielen Bars und Klubs, das Café Kotti, »Hallo!«
es gehört Ercan Yaşaroğlu. Er lebt seit Cafébetreiber Yaşaroğlu »Wie geht’s?«, fragt sie ihn.
1982 hier, ist ein alter Linker und sieht Er deutet auf den Himmel: »Kalt!«
auch genau so aus: graue Matte, Zi- »Ja, stimmt!«, sagt sie und lächelt.
garette in der Hand, dazu dieser Sie schließt ihre Wohnungstür. Da
scharfe Blick, der alles strukturell be- verschwindet auch der Herr hinter
trachtet. seiner Tür.
Ercan Yaşaroğlu sitzt zwischen kal- 3. Stock: Viele, bei denen man hier
tem Zigarettenrauch auf einer der nachmittags klingelt, haben die Türen
vielen Plüschcouches und nennt sich doppelt verschlossen. Man hört die
selbst »Kottianer«. Er sagt: »Der Kot- Schlüsselbunde schlackern, wenn die
ti ist für mich ein transkultureller Türen geöffnet werden, oft nur einen
Raum. Ein Labor.« Hier treffe eine Spaltbreit. Mit einem Journalisten
alternative Spaßgesellschaft auf sprechen? Lieber nicht.
migrantische Strukturen. »Durch die 4. Stock: Ein Mann Ende dreißig
Migration ist ein Raum geschaffen im Unterhemd öffnet, er hängt am
worden, in dem sich zum Beispiel Handy, bittet sofort in die Wohnung
Lesben und Schwule ungestört be- und legt auf. Der größte Einrichtungs-
Nancy Jesse / DER SPIEGEL

wegen können. Das haben wir alle gegenstand im Wohnzimmer ist ein
gemeinsam geschafft.« Der Kotti, sagt voll behängter Wäscheständer. Er
Yaşaroğlu, sei ein Ort, an dem Tole- wohne mit seiner Tochter hier, seit
ranz von allen gelebt werde. zwei Monaten. Warum er hierherge-
Im Café Kotti sitzen obdachlose zogen ist? »Weil ich sonst nichts ge-
Frauen neben jungen Studierenden, funden habe.« Als man rausgeht, hört
die bei selbst gedrehten Zigaretten Hauseingang man den Mann hinter der Tür wieder
VWL pauken. Am Wochenende fei- telefonieren, er lacht schallend und
ern hier Touristinnen neben alten ruft ungläubig ins Telefon: »Ein Jour-
türkischen Herren, die eine Tasse Tee nalist!«
trinken. 5. Stock: Ein sehr alter Mann öff-
Die Polizeiwache soll direkt net, barfuß. Er trägt einen langen Bart
nebenan entstehen. Der Gedanke und eine weite Stoffhose, sein Gesicht
mache ihm manchmal Angst, sagt ist müde und eingefallen, die Haut
Yaşaroğlu. Er fürchte, dass es zu um seine Augen ist fast schwarz. Er
aufgeräumt werde, dass die großen versteht kein Wort Deutsch, er lächelt
Marken den Kotti entdecken, Adidas milde.
und Nike, »dass wir werden wie die Hinauf in den 6. Stock: Die Stufen
Hackeschen Höfe« in Berlin-Mitte: der Treppenhäuser sind sauber ge-
eine Touristenattraktion, in der hand- wischt. Nur der Geruch bleibt in der
gemachter Schmuck und Ampel- Nase hängen: eine Mischung aus Be-
männchen-Tand verkauft werden, ton und Bratfett.
aber kaum echtes Leben stattfinde. 7. Stock: Auch hier sind die meisten
Nancy Jesse / DER SPIEGEL

Wegen der Wache müsse er nun Klingelschilder mit der Hand ge-
die Schirme von der Terrasse räumen, schrieben, eilig mit Kuli geschrieben,
weil das ein Fluchtweg sei. »Das hat mit Tesafilm ans Schild geklebt.
vorher nie jemanden interessiert.« 8. Stock: Ein Mann öffnet, weißer
Neben seinem Café fährt ein Auf- Pulli, karierte Filzpuschen. Ismael ist
zug in die höhergelegenen Etagen des 48, fährt Taxi und kommt gerade von
Hauses. Blumenladenbesitzerin Iğde der Schicht. Er lebe hier seit 1998,

40 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


DEUTSCHLAND

sagt er, in ihrer alten Wohnung hätten meint das im übertragenen Sinn, weil
sie noch mit Kohle heizen müssen. alles so nah ist: Supermarkt, Friseur,
»Hier war alles super.« Aber dann Restaurants, Drogerie. Aber wahr-
kamen die Klubs, erzählt er. Seitdem, scheinlich würde sich auch niemand
und das soll man auf jeden Fall schrei- daran stören, wenn Wolfgang Moser
ben, »wird es jeden Tag schlimmer«, tatsächlich in Unterhose einkaufen
vor allem weil die Leute in die Haus- würde, weil es den Leuten hier aufrich-
eingänge pinkeln. tig egal ist, ob er eine Hose trägt, so-
Und die Wache, die jetzt kommen lange er ihnen nicht vor die Tür pinkelt.
soll? Das werde nichts ändern, sagt »Dieses Haus ist ein vertikales
er. »Für die Leute, die auf die Straße Dorf«, sagt er. »Und der Aufzug ist
pissen, ist das Urlaub. Die kommen der Marktplatz.« Dort lerne man sich
aus Stuttgart und München, da kön- kennen. »Aber wenn Sie wissen wol-
nen die das nicht machen. Aber hier len, wie es hier wirklich ist, müssen
in Berlin ist Party.« Sie mit Herrn Aktürk sprechen.« Der

Nancy Jesse / DER SPIEGEL


Auf die journalistisch überhöhen- wohnt direkt nebenan.
de Frage, was ihm der Kotti bedeute, Fürs Gespräch trifft man Celalettin
atmet er laut aus: »Pfuuuuuh. Das Kott- Aktürk im Erdgeschoss in seinem
busser Tor? Hat keine Bedeutung.« Büro. Seit 42 Jahren lebt er am Kotti.
Warum gehen Sie nicht weg von Die grauen Haare sind kurz, mit einer
hier, nach Charlottenburg etwa? eleganten Kappe und einer nacht-
»Charlottenburg? Ne, das ist nicht Außenansicht blauen Jacke sitzt er auf einem
mein Ding. Hier hat man alles! Mor- Schreibtischstuhl, weit zurückgelehnt.
gens, mittags, nachts, vor oder nach Er ist ein Mann, der fast nichts sagt,
der Schicht kann ich hier problemlos wenn man ihm eine Frage stellt, aber
was essen gehen.« zu erzählen beginnt, wenn man
9. Stock: Ein gewisser Mehmet hat schweigt.
sein Revier markiert, den Stadtteil Er kam 1974 nach Berlin, erzählt
Kreuzberg 36: »MEMO DER SUL- er. Da war er 13. Sein Vater sei Zim-
TAN VON 36!!!« steht an die Wand mermann gewesen. »Er hat dieses
des Treppenhauses gekritzelt. Land mit aufgebaut«, sagt er. Celalet-
10. Stock: Im Treppenhaus sitzt ein tin Aktürk lernte Deutsch, machte
Teenagerpärchen, er mit Baseball- seinen Realschulabschluss, ging auf
kappe, sie blondiert und stark ge- die Fachoberschule. »Da habe ich ein
schminkt. bisschen Buchhaltung gelernt.«
Wohnt ihr hier? Er habe jahrelang bei Kaiser’s hier
»Ne, sie ist meine Freundin. Wir unten die Warenannahme geleitet,
müssen nur kurz was klären.« zehn, zwölf Mann unter sich gehabt.
Nancy Jesse / DER SPIEGEL

11. Stock: Aus dem Aufzug tritt ein Ende der Neunzigerjahre übernahm
Mann im groben Wollpulli, ein grün- er einen Dönerladen im Erdgeschoss.
weiß gestreiftes Hemd darunter und »Ich habe nie Vater Staat um Geld ge-
eine Brille mit Goldrand auf der Nase. beten.« Er zeigt auf seine offene Hand
»Ich wohne erst seit zweieinhalb Jah- und tippt mit zwei Fingern hinein.
ren hier, reicht dir das?«, fragt er mit Er schweigt lange. Fast 50 Jahre
starkem bayerischen Akzent. Das Imbissbesitzer Aktürk lebt er nun in Deutschland. »Es tut
reicht. Sein Name ist Wolfgang Mo- manchmal weh«, sagt er unvermittelt.
ser. Er ist 57 Jahre alt, seit 30 Jahren »Wenn ich aus dem Urlaub in der Tür-
in Berlin. kei komme, und die Menschen fragen:
Warum sind Sie nach Berlin ge- Ach, warst du in der Heimatstadt?«
kommen? Geschichten wie diese hört man
»Warum kommt man nach Berlin? immer wieder hier am Kotti. Die
Weil man die Schnauze voll hat vom Menschen zogen her, weil sie hier
langweiligen Bayern«, sagt Wolfgang eine Wohnung bekamen. Und weil
Moser und schaut einen über seine hier jemand lebte, der dieselbe Spra-
Brille hinweg an, mit einem Blick, der che sprach. Es sind Menschen, die
sagt: Wennst vastehst, wos I moan? etwas aus sich machten oder auch
Seine Wohnungstür liegt auf einem nicht, die einander halfen, sich ver-
der Hausflure, die nach außen offen liebten, Kinder bekamen, die sie zur
sind, der Wind weht kalt. »Schau dir Schule schickten und hier aufzogen.
das mal an!«, ruft er und breitet die Aktürks Sohn wohnt in der Wohnung
Arme aus. Man kann von hier aus den neben ihm.
Nancy Jesse / DER SPIEGEL

Berliner Dom sehen, den Fernseh- »In Kreuzberg bin ich jung gewe-
turm und den Turm des Roten Rat- sen, und ich bin hier alt geworden«,
hauses. »Das war eine meiner Traum- sagt Celalettin Aktürk. »Auf dem
lagen.« Er bittet in die Wohnung. Ku’damm fühle ich mich fremd.«
Der Kotti, sagt er, sei wie eine Was ist der Kotti für Sie, Herr
Stadt in der Stadt. »Ich könnte hier Aktürk?
in Unterhose einkaufen gehen.« Er Durchgang »Meine Heimat.« n

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DEUTSCHLAND

Ein Mittwochabend im Januar. Die Inter-


net-Fortbildungsplattform »Fobizz« hat zum
ChatGPT-Online-Seminar eingeladen. Tim
Kantereit, Lehrer für Mathematik und Leh-
rerausbilder in Bremen, will interessierten

»Eine Renaissance Kolleginnen und Kollegen zeigen, wie sich


das Programm im Unterricht kreativ einset-
zen lässt und sie entlasten kann. Doch die

des Mündlichen« Konferenzsoftware bricht zusammen, für die


mehr als 700 Interessierten reicht die Kapa-
zität zunächst nicht. Erst nach einer tech-
nischen Erweiterung kann Kantereit sein
BILDUNG Die Software ChatGPT versetzt Schulen und Hochschulen Credo loswerden: »ChatGPT hilft einem beim
Denken.«
in Aufruhr: Auf Knopfdruck produziert sie klug klingende Texte. Was sind Die Software könne, richtig angewendet,
schriftliche Ausarbeitungen jetzt noch wert? helfen, Unterrichtsreihen oder Projektideen
zu entwickeln, etwa ein Rollenspiel über die
Weimarer Zeit. Mit ihr ließen sich einzelne
ars Netzel, 22, steckt mitten in der Klau- Bot ist nutzerorientiert, höflich, nie ungehal- Schüler fördern und auch automatisierter
L surenphase. Für seine mündlichen Prü-
fungen in Physik lernt der angehende
Lehrer unter anderem, indem er den Chatbot
ten, manchmal redundant – und er neigt zur
Selbstüberschätzung. Noch schleichen sich
Fehler ein, zu denen er sich reumütig bekennt,
Mailkontakt zur ganzen Klasse halten.
»ChatGPT ist wie ein E-Bike fürs Gehirn«,
zitiert Kantereit den OpenAI-Chef Sam Alt-
ChatGPT bittet, lange Texte für ihn zusam- wenn man ihn darauf hinweist. Manche Quel- man: Man komme damit sehr schnell sehr
menzufassen. Für das Seminar »Digitale Bil- lenangaben erfindet ChatGPT einfach, vom weit. Es gebe aber auch, ergänzt der Bremer
dung« musste er vor Kurzem eine Präsenta- Autor über den Verlag bis zum Titel. Noch Lehrer den Gedanken, ein Problem: »Man
tion erstellen: Wie kann man ChatGPT im hält sich Anbieter OpenAI mit Details zu dem lernt Fahrradfahren nicht auf dem E-Bike.«
Unterricht einsetzen? Welche didaktisch-ethi- Nachfolgemodell GPT-4 bedeckt. Aber schon Mit anderen Worten: Lernen und Unterrich-
schen Herausforderungen ergeben sich? jetzt deutet sich an, dass ChatGPT merklich ten mit der KI erfordern Vorwissen und Er-
Um zu zeigen, wie ChatGPT funktioniert, zuverlässiger wird. fahrungen, bei den Lehrkräften genauso wie
hat er sich die Antworten generieren lassen Für Bildungseinrichtungen stellen sich bei den Schülerinnen und Schülern.
und dann im Wortlaut in seine Präsentation drängende Fragen: Wer setzt sich an Was auffällt: Während des Onlineseminars
eingebaut. Noch ist Netzel nicht sicher, ob er Gedichtanalysen oder Berechnungen, wenn spielt die Frage nach Betrugsmöglichkeiten
mithilfe der künstlichen Intelligenz (KI) künf- die KI Lösungen für Hausaufgaben oder nur am Rande eine Rolle.
tig bessere Noten schreibt. »Schneller bin ich Essays in Sekundenschnelle ausspuckt? Und Die Sorge, dass findige Schülerinnen und
aber auf jeden Fall.« was sollen Schüler und Studierende künftig Schüler ihre Hausaufgaben vom Chatbot er-
Netzel studiert an der Universität Potsdam lernen? ledigen lassen, gebe es natürlich, sagt Susan-
Sport und Physik für die Sekundarstufe II. »Mir fällt keine Frage ein, die ein Schüler ne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen
Physikaufgaben für den Schulunterricht, sagt oder eine Schülerin schriftlich besser beant- Philologenverbands. Sie habe jedoch den Ein-
Netzel, könne die KI noch gut beantworten. worten könnte als ChatGPT«, sagt Lehramts- druck, dass das Thema in der Berichterstat-
Soll sie Formeln herleiten, etwa zu Festkör- student Netzel. Er hätte gern klare Antwor- tung eine viel größere Rolle spiele als im All-
perphysik, komme sie an ihre Grenzen. ten, wie er als Lehrer damit umgehen soll. tag der Schulen.
Seit Ende November 2022, als ChatGPT Doch diese Antworten gibt es bisher nicht. »Wir sollten solchen technischen Entwick-
veröffentlicht wurde, lassen sich viele kluge – Seine Professorin im Fach »Digitale Bildung« lungen nicht mit Verboten begegnen, sondern
oder klug klingende – Texte deutlich einfa- sei bislang die Einzige, die ChatGPT über- schauen, welche Kompetenzen wir benötigen,
cher erstellen. »Ich bin davon überzeugt, dass haupt angesprochen habe. um mit den neuen Herausforderungen umzu-
KI-Sprachmodelle wie ChatGPT ein wichtiger Bundesbildungsministerin Bettina Stark- gehen«, sagte Lin-Klitzing. Die Bereitschaft
technologischer Meilenstein sind«, sagt In- Watzinger (FDP) hat immerhin schon darauf der Lehrkräfte sei auf jeden Fall vorhanden –
formatikprofessorin Enkelejda Kasneci, die hingewiesen, dass man die Lehrerausbildung anders als in New York, wo der größte US-
an der Technischen Universität München den anpassen müsse: Lehrkräfte bräuchten mehr Schulbezirk den Zugang zu ChatGPT auf
Lehrstuhl »Human-Centered Technologies digitale Kompetenzen im Umgang mit KI- allen schulischen Rechnern und Geräten ge-
for Learning« leitet. »Sie haben das Potenzial, Modellen wie ChatGPT, sagte sie im »ARD- sperrt hat. Es sei wichtig, sagte Lin-Klitzing,
die Art und Weise zu revolutionieren, wie wir Morgenmagazin«. alle Beteiligten dafür zu sensibilisieren, dass
lernen und lehren.« der Chatbot dazu verführen könne, sich auf
Die Software des Entwicklers OpenAI gibt SPIEGEL schnelle, oberflächliche, letztlich ungeprüfte
sprachlich geschliffene und immer öfter auch Antworten zu verlassen.
faktisch korrekte Antworten auf Fragen. ChatGPT, bist du schuld, »Man muss sich die Grenzen solcher KIs
ChatGPT wurde auf einem Textkorpus trai- dass es bald keine Haus- bewusst machen, denn davon gibt es genü-
niert, das große Teile des öffentlichen Internets gend«, sagt Informatikprofessorin Enkelejda
bis September 2021 umfasst. Der Bot kann aufgaben mehr gibt? Kasneci. Zusammen mit mehr als 20 Wissen-
Inhalte reproduzieren und zusammenfassen, Bitte antworte sehr kurz. schaftlern und Wissenschaftlerinnen hat sie
erklären, reimen, programmieren, argumen- ein Paper veröffentlicht, das sich mit den
tieren, analysieren, zitieren. Das Programm Potenzialen und Risiken von ChatGPT an
hat den US-amerikanischen Medizinertest ChatGPT Schulen und Hochschulen beschäftigt. Als
USMLE ebenso bestanden wie die Prüfungen Herausforderungen sehen sie etwa Daten-
für den MBA-Kurs an der renommierten
Nein, ich bin nicht verant- schutz- und Sicherheitslücken, ungeregelte
Wharton Business School in Pennsylvania. wortlich für die Abschaffung Urheberrechte, falsche Informationen – und
Müsste man ChatGPT menschliche Eigen- von Hausaufgaben. dass sich alle Beteiligten zu sehr auf solche
schaften zuweisen, dann vielleicht diese: Der Modelle verlassen.

42 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


DEUTSCHLAND

SPIEGEL ken und Seminarskripten gefüttert, Die einzige Bedingung: Sie müssen
Tutoren überprüfen innerhalb von die verwendeten Hilfsmittel transpa-
ChatGPT, wie lässt 24 Stunden alle neuen Antworten. Zu rent angeben. Mit ihren Studierenden
sich verhindern, Beginn jedes Seminars kann man mit hat sie sich auch beraten, ob die üb-
»Syntea« zudem ein Quiz absolvie- lichen Hausarbeiten als Prüfungsform
dass du von ren. Die KI soll dann feststellen kön- überhaupt noch sinnvoll sind. Die
Schülern und nen, welche Studierenden schon so Mehrheit war dafür, erst einmal an
viel wissen, dass sie ein Kapitel über- solchen Formaten festzuhalten.
Studierenden springen können, und wer noch Nach- Weßels wundert das nicht: »Stu-
zum Betrügen ein- holbedarf hat. dierende und Lehrende haben Angst,
gesetzt wirst? Seit Dezember können alle etwa sich auf neue Systeme umzustellen,
150 englischsprachigen Studiengänge und Studierende wollen natürlich
»Syntea« nutzen, demnächst auch die in Seminaren erfolgreich sein. Das
ChatGPT deutschsprachigen. Laut der Hoch- alte Spiel beherrschen alle Beteilig-
schule erhält die KI etwa 100 Fragen ten, sowohl die Lehrenden als auch
Verwendung von am Tag, die Zahl steige stetig. Ob es die Lernenden – das neue noch
Anti-Cheat-Systemen, hilft, um in den Prüfungen besser ab- nicht.«
zuschneiden, kann die IU noch nicht In der Lehre hätten viele Hoch-
Überwachung der sagen. Sven Schütt, CEO der Hoch- schulen der Digitalisierung und mo-
Aktivitäten und päda- schule, ist sich trotzdem sicher: »Die dernen didaktischen Ansätzen längst
Kompetenzen, die junge Menschen mehr Raum geben müssen, sagt
gogische Maßnahmen, in der Zukunft lernen müssen, ver- Weßels. »KI-Sprachmodelle wie
um das Verständnis ändern sich durch solche KIs. Das ChatGPT zwingen uns zur stärkeren
heißt nicht, dass sie weniger Arbeit Selbstreflexion und unseren Kurs an-
der Konsequenzen von haben – sondern dass es mehr Mög- zupassen.« Und was passiert, wenn
Betrug zu fördern. lichkeiten gibt.« Unis nicht mitziehen und KI-Modelle
Prüfungsleistungen wie Klausuren wie ChatGPT verbieten? »Dann sind
»Sowohl Lernende als auch oder Hausarbeiten seien »Krücken sie für Studierende nicht mehr glaub-
Lehrende müssen begreifen: Das im Bildungsbereich« und werden würdig«, sagt Weßels. »Ich kann doch
sind Automatisierungstools, keine Schütt zufolge bald wegfallen. »Bis- keine Professorin für Wirtschafts-
menschlichen Intelligenzen«, sagt lang mussten Universitäten Wissen in informatik sein, wenn ich quasi ana-
Kasneci. Kritisches Denken, Kreati- Form von Prüfungen oder Hausarbei- loge Techniken praktiziere, die der
vität, Lernen lernen könnten KI- ten abfragen, weil es zu ressourcen- Entwicklung hinterherhinken.«
Sprachmodelle wie ChatGPT nie er- intensiv ist, Studierende in ihrem Als Bremsklötze der Digitalisie-
setzen – gerade deshalb müsse man Lernprozess ständig zu begleiten«, rung, so die Professorin, würden
solche Kompetenzen mit einem kla- sagt Schütt. Hochschulen ihrem Bildungsan-
ren pädagogischen Konzept beson- Künftig könnten KIs Studierende spruch nicht gerecht.
ders fördern, sagt die Professorin. beobachten und ihnen Feedback ge-
Der Forschergruppe ist es wichtig, ben: Was kann ich schon, was nicht? SPIEGEL
ein differenzierteres Bild von der KI Was muss ich noch lernen?
zu zeichnen – auch um die Angst da- Auch der baden-württembergische
ChatGPT, wie sollen
vor zu nehmen: »Gehen wir diese Gymnasiallehrer und Blogger Bob Prüfungen in Schulen
Herausforderungen verantwortungs- Blume hält schriftliche Arbeiten, die
bewusst an, können wir Lernende nicht unter direkter Aufsicht entste-
und Universitäten
frühzeitig an solche Anwendungen hen, für überholt: »Wir erleben eine künftig aussehen?
heranführen – davon profitieren Renaissance des Mündlichen.« Im
alle«, sagt Kasneci. Fachgespräch lasse sich dann doch
ChatGPT
Wo ChatGPT und Co. künftig be- schnell erkennen, ob eine Schülerin
Astrid Ecker t / TUM

sonders helfen können: das Lernen oder ein Schüler ein Thema wirklich Digitalisierung, indivi-
zu individualisieren. Das zeigt der durchdrungen habe.
hauseigene Chatbot der privaten So gesehen, sagt Blume, sei Chat- dualisierte Prüfungen,
Internationalen Hochschule (IU).
Informatikerin
GPT »eine Art computergesteuerte stärkere Fokussierung
Weil viele der inzwischen mehr als Assistenz, die nur so gut wie der jewei-
100 000 Studierenden berufstätig
Kasneci
lige Nutzer ist«. Und er weist auf einen
auf praktische Anwen-
sind und nachts lernen, hat die IU den anderen Aspekt hin: »Der Chatbot hat dung und Fähigkeiten,
Lernbuddy »Syntea« entwickeln las- ein Potenzial, das viele technische
sen: einen Avatar mit dem Gesicht Neuerungen in der Schule mitbringen:
Integration von neuen
Maurizio Gambarini / picture alliance / dpa

einer jungen Frau mit blonden langen Die Guten können damit noch besser Technologien.
Haaren, die Fragen zu Kursinhalten werden, die Schlechten schlechter.«
beantworten kann. Doris Weßels, Professorin für
Klickt man auf einen Knopf in der Wirtschaftsinformatik an der Fach- SPIEGEL
App der Hochschule, nudelt sie auf hochschule Kiel, forscht und arbeitet Danke!
Englisch noch etwas mechanisch seit Jahren daran, wie man KI-
ihren Einstieg herunter: »Hallo, ich Sprachmodelle wie ChatGPT in die
bin Syntea. Ich bin deine persönliche Lehre einbinden kann. In Weßels Se- ChatGPT
Lernassistentin.« minaren dürfen alle Studierenden KIs Gerne geschehen!
»Syntea« wurde zusätzlich mit Verbandsvorsitzende nutzen, auch für Prüfungsleistungen
Wissen aus hauseigenen Datenban- Lin-Klitzing wie Hausarbeiten. Armin Himmelrath, Franca Quecke n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 43


DEUTSCHLAND

ohne Computer den Überblick be-


halten?
In einer Stofftasche hat er einige
Unterlagen in den Besucherraum
gebracht, auf einem der Ordner ist
ein roter Aufkleber, ein Herz mit der

Allein in Stammheim Inschrift »Freiheit«. Es leuchtet


im Neonlicht, die Lüftungsanlage
brummt. Ballweg rutscht ganz nah
heran an die Trennglasscheibe. Er
ORTSTERMIN Michael Ballweg, Gründer der »Querdenken«-Bewegung, sieht sich hockt bald zwei Stunden auf dem
als Freiheitskämpfer – und ist seit Monaten wegen Betrugsvorwürfen in Haft. kleinen Tisch im karg möblierten
Raum, ignoriert den Stuhl, so sei die
Akustik am besten – und redet.
er Mann, der früher vor Zehn- Über seinen Steuerberater, auf den
D tausenden Protestierenden
sprach, sitzt allein in seiner
Zelle. Er kann die Menschen, die vor
er nicht hätte hören sollen. Über den
Fehler der deutschen Regierung, die
Ukraine mit Waffen zu unterstützen.
den Gefängnismauern lautstark seine Über die Zukunft, die großen Frie-
Freiheit fordern, nicht sehen, aber densdemonstrationen, die er, wieder
hören. Seit sieben Monaten ist er in- in Freiheit, anführen werde. Nein, die
haftiert. Wann sein Prozess beginnt, Proteste hätten sich nicht überlebt,
weiß keiner. Wie lange er noch sitzen sie seien relevanter denn je.
muss, lässt sich nicht sagen. Und Ballwegs Stimme hat nichts von
was dann aus Michael Ballweg, dem der Radikalität mancher »Querden-
»Querdenken«-Gründer, geworden ker«, sie ist sanft, monoton. Dem Jus-
sein wird, ist erst recht unklar. tizvollzugsbeamten auf dem Stuhl
So manche fürchten: der erste Mär- neben dem Gefangenen fallen bei-
tyrer einer Bewegung, die längst vom nahe die Augen zu.

Arnulf Hettrich / IMAGO


Verfassungsschutz beobachtet wird. Er erwarte einen Freispruch, sagt
Ballweg wirkt klein hinter der Ballweg. Seine Anwälte – er hat gleich
Trennscheibe im Besucherraum in neun, die meisten arbeiten zurzeit
Stuttgart-Stammheim. Er versinkt in ohne Vergütung – argumentieren,
seinem schwarzen Kapuzenshirt, der dass die Zuwendungen seiner Unter-
Bart ist stoppelig. Ein paar Kilo hat stützer Schenkungen gewesen seien,
er verloren, seit er Ende Juni 2022 Er wollte auf Weltreise gehen. Doch Demonstrant folglich frei verfügbar. Auch der Trans-
verhaftet wurde. falsch gedacht. Erst sei ihm die Pande- Ballweg in Stuttgart fer von 88 985 Euro auf ein Konto in
im April 2021
Der Ober-»Querdenker«, dessen mie in die Quere gekommen, dann die Litauen und der Tausch in Krypto-
Bewegung mit Rechtspopulisten, Eso- Justiz, sagt er. Statt Karibik also Knast. währung könnten erklärt werden. Wo
terikern und Reichsbürgern verbun- Es stimme, dass er sein Wohn- und sonst hätte jemand, dessen Bankkon-
den ist, soll 640 000 Euro Spenden Geschäftshaus im Stuttgarter Stadt- ten alle gekündigt worden seien, bitte
veruntreut haben. Die Staatsanwalt- teil Freiberg verkauft und seine Mö- schön sein Geld deponieren sollen?
schaft Stuttgart wirft ihm versuchten bel in einem Container in Hamburg Für seine Anhänger ist Michael
gewerbsmäßigen Betrug und Geld- eingelagert habe. Auch die Scheidung Ballweg ein politischer Gefangener.
wäsche vor. Wegen Fluchtgefahr darf sei vollzogen, er habe eine neue Seine Regierungskritik habe ihn
er nicht raus, gleich drei Instanzen Partnerin, die in Bremen lebe und in den Knast gebracht, sein Wider-
sind sich da einig. Wer reinwill zu ihn zumindest zeitweise begleiten stand gegen die Coronapolitik; von
ihm, muss durch acht Türen und eine wollte. Aber Fluchtgefahr? Nein, das Betrug wollen sie nichts wissen. Zu
Körperkontrolle. sei unbegründet, auszuwandern wäre Solidaritätsprotesten versammeln
Zur Begrüßung drückt Ballweg ihm nicht in den Sinn gekommen, sich oft Hunderte vor den Toren des
seinen Zeigefinger gegen die Trenn- einen Zweitwohnsitz in Costa Rica Gefängnisses.
scheibe. Das dicke Glas bräuchte es oder sonst wo gebe es nicht, auch Auch zu Ballwegs 48. Geburtstag
nicht, wenn Ballweg bereit wäre, keinen Antrag auf eine Aufenthalts- im November sind sie gekommen,
eine Maske zu tragen. Doch Ballweg, genehmigung, solche Berichte seien sogar an Heiligabend mit Laternen
ungeimpft, hält nicht viel von Co- Unsinn. und Keksen. An Demonstrations-
ronaschutzmaßnahmen, auch nicht Allein mit seinen Briefen, so will tagen ist das Wohngebiet zugeparkt,
im Gefängnis. Er hat eine Einzel- es Ballweg. Er könnte in einem an- es wird laut, Trillerpfeifen und Trom-
zelle erbeten und bekommen, er- deren Bereich des Gefängnisses täg- meln ertönen. Das freut Ballweg.
zählt er. Morgens meditiere er, nach lich eineinhalb Stunden mit anderen Neulich hätten die Protestierenden
dem Hofgang fange er an zu lesen. Gefangenen zusammen sein, darauf siebenmal das Gefängnis umrundet,
Hunderte Briefe kommen jede Wo- verzichtet er. Auf einen Fernseher Vor den Toren erzählt er, so wie einst die Israeliten
che für ihn an, er erhält jeden einzel- auch. »Wenn ich schon eine Auszeit des Gefängnis- angeblich um Jericho zogen und die
nen, eine Sonderregelung. »Mir geht mache, dann ohne«, sagt Ballweg Mauern der Stadt zum Einsturz
es gut«, sagt er, »ich hätte nur nicht und arbeitet sich in der Unter- ses versam- brachten. Eine Befreiungsaktion nach
erwartet, dass die Sache so lange suchungshaft akribisch durch die meln sich oft Bibelvorlage, mehr symbolisch. »Die
dauert.« Gerichtsunterlagen. 40 000 Seiten Gefängnismauern stehen noch«, sagt
Ballweg, IT-Unternehmer mit eige- seien es, jede Menge Excel-Tabellen Hunderte Michael Ballweg bedauernd.
ner Softwarefirma, hatte anderes vor: und Kontoauszüge. Wie solle er nur aus Solidarität. Christine Keck n

44 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


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Ich auch In einem Gastbeitrag berichtet die Journalistin


Anuschka Roshani aus ihrer Sicht über die Zeit bei einem
Schweizer Medienhaus. Es geht um Sexismus, Machtmissbrauch
und ein Unternehmen, das anscheinend zu wenig dagegen tut.
ach zwei Stunden kam ich testen Publikationen der Schweiz schlichen: Ich sei mit dem Pfarrer
N aus dem Dunkel des Kinos
und rieb mir die Augen: Ich
glaubte wieder an die Kraft des
mit einer urbanen, progressiven
Leserschaft. Zwei meiner Kollegen
wurden 2020 für die »Magglingen-
der Zürcher Fraumünster-Kirche im
Bett gewesen, den ich für eine Re-
cherche getroffen hatte. In einer
Journalismus. Und weil mir dieser Protokolle« preisgekrönt, die jahre- SMS sprach mich Canonica als
Glaube so plötzlich zurückgekom- lange Erniedrigungen im Leistungs- »Pfarrermätresse« an.
men zu sein schien, staunte ich auch sportzentrum des Schweizerischen Das war nicht alles. Hinter mei-
über mich – dass es für meine Rück- Turnverbands aufdeckten. nem Rücken nannte er mich vor
besinnung auf die Wirksamkeit Als Finn Canonica 2007 »Maga- einer Kollegin »die Ungefickte«.
journalistischer Mittel ausgerechnet zin«-Chefredakteur wurde, begann Sagte coram publico zu mir, mein
einen Schubser aus Hollywood er ein Regime des Mobbings. Ich Mann habe »einen kleinen Schwanz«.
brauchte. war nicht die Einzige, er nahm auch Brüstete sich in meinem Beisein
Der Spielfilm »She Said« erin- Männer ins Visier. Eine Kollegin vor Kollegen mit einem scheinbaren
nerte mich daran, dass die Recher- entließ er ohne Vorwarnung. Als ihr Exklusivwissen über mein Liebes-
che der »New York Times«-Repor- das Mutterblatt des »Magazins«, leben: dass ich zu Beginn meiner
terinnen Jodi Kantor und Megan der »Tages-Anzeiger«, direkt da- »Magazin«-Zeit öfter die Männer
Twohey zu den sexuellen Übergrif- nach eine Reporterstelle anbot, soll gewechselt hätte. In der Redaktion
fen Harvey Weinsteins 2017 eine Canonica gesagt haben, man unter- tat man trotzdem so, als wäre Ca-
weltweite Bewegung ausgelöst hat- grabe seine Autorität, würde man nonica einfach nur ziemlich verquer.
te: #MeToo. sie dort anstellen. Sie trat die Stelle Als hätte er einen Spleen, mit
Ich trat mit der Überzeugung ins nicht an. Canonicas erklärtes Füh- dem man sich halt arrangieren
Freie, dass Missbrauch und Gering- rungsprinzip: Er teilte die Redak- müsse.
schätzung von Frauen auch in unse- tion in einen »inner circle« und In den jährlichen Mitarbeiterge-
ren hochmodernen Gesellschaften einen »outer circle«. Wer zum sprächen bat ich Canonica wieder-
System hat. inneren Kreis gehörte, was sich holt, sachlich mit mir umzugehen.
Inzwischen sitzt Weinstein als allerdings jederzeit ändern konnte, Das änderte nichts; immer wieder
verurteilter Straftäter im Gefängnis; genoss Privilegien, bekam Zeit und drohte er mir mit Kündigung oder
es zeigte sich, dass die Filmindustrie Platz für Artikel, wurde von Aufga- monierte, ich hätte ihn als Boss
seine Komplizin war. Dort war es ben freigehalten, musste aber auch, noch nie gelobt. Als ich meine
ein offenes Geheimnis, dass er sich egal ob sie oder er es wollte, Details Verwunderung darüber ausdrückte,
an Schauspielerinnen und Mitarbei- aus Canonicas Sexleben erfahren. herrschte er mich an, er wolle mei-
terinnen vergriff, manche vergewal- 15. Dez. 2015, 11:16 Er mutmaßte über die sexuelle ne Liebe gar nicht – wenn er Liebe
tigte. Über Jahrzehnte konnte er Orientierung oder Neigungen von wolle, gehe er zu einer »Nutte«.
Finn: Ich bin
sich, unterstützt von einer Anwalts- vermutlich zu Mitarbeitern. Äußerte sich verächt- Einmal schrieb er mir nach der Ver-
Armada, darauf verlassen, gedeckt dumm aber ich lich über jeden, der nicht im Raum öffentlichung eines von mir verant-
zu werden – man bagatellisierte krieg nicht raus war. Bezeichnete unliebsame The- worteten Sonderhefts: »Obwohl du
seine Taten, tat sie als den unerfreu- per google, in men als »schwul«. Benutzte in Sit- eine Frau bist, hast du brilliert.«
welchen Verlag
lichen Spleen eines mächtigen Man- Elena Ferrantes zungen fast touretteartig das Wort Doch er verhöhnte mich nicht
nes ab. Sogar wenn eine der Frauen Neapel Tetralogie »ficken«. Erzählte Intimitäten, etwa, nur als Frau, sondern auch meine
den Mut fasste, die Tortur zu mel- 2016 dt dass zwei Redakteure ihre Kinder Herkunft. Verwendete ich ein deut-
den, winkte man ab. Machte sie erscheinen wird. nur durch künstliche Befruchtung sches, in der Schweiz unübliches
Kann die
mundtot und überließ sie ihrem Verlegersgattin bekommen hätten. Wer wie ich in Wort wie »Kekse« statt »Guetzli«,
Schicksal. und Pfarrer­ den äußeren Kreis aussortiert war, zeichnete er mir Hakenkreuze an
Ich sah mir »She Said« an, nach- mätresse wurde von ihm wochenlang über- den Rand meiner Manuskripte.
dem ich selbst Opfer eines Macht- weiterhelfen? gangen: Er antwortete auf keine Nachdem wir in einer Konferenz
missbrauchs geworden war. Vor Mail, rief nie zurück – oft erhielt ich über Rassismus geredet hatten, sag-
20 Jahren hatte ich als Redakteurin 9. Mai 2017, 12:49 nicht mal eine Information, wenn te er zu mir: »Ihr Deutschen hättet
beim Zürcher Blatt »Das Magazin« ich sie dringend brauchte. die doch eh alle gleich vergast.«
Finn: Super Heft.
angefangen, der Samstagsbeilage ! Vielen lieben Im Wesentlichen aber entwürdig- Das alles war natürlich absurd,
der Deutschschweizer Tageszeitun- Dank ! Obwohl te er mich mittels verbaler Herab- zumal ich Halbperserin bin, also im
gen, die Tamedia herausgibt. Seit du eine Frau bist setzungen. So unterstellte er mir in »Dritten Reich« kaum als »arisch«
seiner Gründung 1970 gilt »Das hast du brilliert! einer Konferenz, ich hätte mir jour- gegolten hätte. Aber anscheinend
Lg
Magazin« als eine der renommier- nalistische Leistungen mit Sex er- reichte ihm mein Hochdeutsch, das

46 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


Roshani, geboren nonica kündigten. 2014 berichtete ein Bran-
1966 in Berlin, ist chenblatt über das »unerträgliche Klima der
Verhaltensbiologin Angst« unter Canonica.
und Journalistin.
Von 2002 bis 2022
o miserabel Canonicas Leumund in
arbeitete sie als
Redakteurin des
Schweizer
»Magazins«. Sie
S Medienkreisen auch war, kein Betrof-
fener wagte sich aus der Anonymität.
Wohl aus Angst. Die Tamedia AG, ein Toch-
lebt in Zürich.
terunternehmen der börsennotierten TX
Group AG, ist mit mehr als 20 Publikationen
und 1800 Mitarbeitenden der größte priva-
te Arbeitgeber im Schweizer Journalismus.
Nach der Kündigungswelle stellte
Canonica eine neue Redaktion zusammen.
Wegen Sparvorgaben ersetzte er nicht alle
Gegangenen. Ich war die Einzige, die übrig
war aus dem alten Team; manchmal behan-
delte er mich nun wie jemanden aus dem
»inner circle«. Aber ich blieb reserviert.
Versuchte bloß, meinen Job gut zu machen.
Zwar schrieb ein Branchenmagazin 2017,
dass sich in der Redaktion »die Atmosphäre
zum Guten« entwickelt habe. Das Mobbing
mir gegenüber aber ging weiter: Ohne
Anlass nutzte Canonica auch den neuen
Redaktionsalltag für meine Diskreditierung;
machte gern schlüpfrige Bemerkungen, wie
beim Weihnachtsessen 2019, als er, zu
einem journalistischen Selbstversuch von
mir, grinsend bemerkte, dass LSD sicher
geil mache. Einem Reporter sagte er – ich
war in Hörweite –, dieser dürfe mir nichts
glauben, ich würde generell »Bullshit« von
Joël Hunn / DER SPIEGEL
mir geben. Und auch die Geschichte mit
dem Pfarrer geschah erst in dieser Zeit.
Das neue Redaktionsteam tat, als wäre
nichts. Dabei hatten zwei meiner Kollegen
über mich gesagt, dass mich Canonica
»mobbe« beziehungsweise er aggressiv mit
in den Ohren von Schweizern schnell nach garantiert nicht jemanden wie mich. Seine mir umgehe.
Befehlston klingt, um aus mir einen Nazi zu Bemerkung machte mir meine Ohnmacht Tatsächlich hat Tamedia ein Problem mit
machen. bewusst; bis dahin hatte ich mir eingeredet, ihrer Unternehmenskultur. Zum Internatio-
ich würde den Schikanen dank einer seeli- nalen Frauentag im März 2021 beklagten
ielleicht wollte er sich aufwerten, in- schen »Imprägnierung« trotzen können. 78 Mitarbeiterinnen in einem Brief an Ge-
V dem er mich abwertete. Ich kann mir
sein Vergnügen nicht erklären, muss
und will es nicht. Wahrscheinlich hatte ich
Als letzte Selbstbestimmtheit hielt ich mir
zugute, dass er mir die Freude am eigent-
lichen Tun, an Geschichten, nie verderben
schäftsleitung und Chefredaktion ein män-
nerdominiertes, frauendiskriminierendes
Betriebsklima: Der Umgangston sei harsch,
lediglich das Pech, dass er mein Frausein könnte; ich würde mich nicht vertreiben Frauen würden durch männliche Vorgesetz-
und Anderssein zur Befriedigung seiner lassen. te und Kollegen sexistisch beleidigt – sei-
Machtgelüste nutzte. Er zielte auf jene Teile Wann immer ich mich zur Wehr setzte, tenlang waren Belege aufgelistet, Kommen-
meiner Identität, an denen ich sowieso gab er mir zu verstehen, dass ich nieman- tare wie »Du bist hübsch, du bringst es si-
nichts hätte ändern können. den im Verlag fände, der mir Gehör schen- cher noch zu was« oder »Bei dir im Hinter-
Rund 14 Jahre lang versuchte ich, Cano- ken würde. Er sitze bombenfest im Sattel grund schreit ein Kind, habe ich das mit dir
nica, der heute 57 ist, zu entkommen: Eine und genieße sogar das große Wohlwollen gezeugt?«. Hinzu kämen schlechtere Auf-
Weile probierte ich es mit Gerhard Polts des Verlegers Pietro Supino. stiegschancen und ein Gender-Pay-Gap.
Devise »Nicht mal ignorieren!«. Ging in die Er behielt recht. Ich formulierte meine Solche Erlebnisse seien struktureller Natur,
innere Emigration und lud mein Elend Situation seit 2010 mehrfach gegenüber daher habe bereits eine Reihe von Frauen
abends zu Hause ab. Vergebens. Ich musste verschiedenen Stellen im Haus, aber selbst das Unternehmen verlassen.
einsehen, dass ich mir so nach sechs Lun- auf eine Kündigungswelle im »Magazin« Auch ich unterschrieb den »Frauenbrief«.
genentzündungen nur eine weitere einhan- folgte keine Reaktion der Unternehmens- Nach der Veröffentlichung gab man sich bei
delte. Geriet ich an meine Grenze, nahm spitze. Bis 2015 waren fünf meiner Mit- Tamedia tief betroffen. Marco Boselli, einer
ich mir ein Sabbatical. redakteure gegangen; einer ging nach einer der damaligen Geschäftsführer, sagte zu uns
Irgendwann sagte mir ein Kollege, Cano- Eskalation mit Canonica. Drei meiner Kol- Unterzeichnerinnen, im Haus herrsche
nica mobbe mich seit Jahren. Er erwähnte legen – alle angesehene Autorinnen und gegenüber einem derartigen Führungs-
es beiläufig, so, als ob das allen in der Re- Autoren – hatten die Nase derart voll, dass verhalten »null Toleranz«, die sexistischen
daktion sonnenklar wäre. Ich erschrak. Bei sie den Beruf wechselten. Mindestens eine Sprüche empfinde er als »komplettes No-
dem Ausdruck »Mobbing« hatte ich stets Kollegin und ein Kollege erklärten der Per- Go«. Arthur Rutishauser, Chefredakteur
eine verhuschte Gestalt vor mir gesehen, sonalabteilung damals, dass sie wegen Ca- von Tamedia, versprach damals gegenüber

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 47


D E B AT T E # M E TO O

dem SPIEGEL: »Jegliche Art von Be- Umso ungläubiger war ich, dass
lästigung und Diskriminierung wird man bei Tamedia, 20 Monate nach
bei uns nicht toleriert. Wir werden meinem ersten Gespräch mit Ge-
den konkreten Vorwürfen nachge- schäftsführer Boselli, immer noch
hen und diese sorgfältig prüfen.« jegliche Transparenz hinsichtlich
Ich kaufte der Geschäftsleitung der Vorwürfe gegen Canonica ver-
ihre Zerknirschtheit ab und bat missen ließ, man mich stattdessen
Marco Boselli kurz darauf um ein mit Ausflüchten abspeiste: Die Sa-
vertrauliches Gespräch. Er antwor- che sei »komplex«, und man sei
tete mir umgehend: Er ahne schon, »befangen«, sagte mir die Zuständi-
worum es gehe. Als ich ihm und der ge aus der Personalabteilung.
zuständigen Personalverantwortli- Ich kam ihrer Bitte nach, Belege
chen meinen Fall mit zig Beispielen für Canonicas Fehlverhalten raus-
zur Kenntnis brachte, sagte er als zusuchen; außerdem bat sie mich,
Erstes: »Ich habe gehört, dass Finn Kollegen, auch ehemalige, dazu zu
ruppig sein kann. Als Chef hat er bewegen, ebenfalls Meldung über

Fabian Biasio / Agentur Focus


sicher Luft nach oben.« Das klang die Hotline zu machen. Abends
nicht sonderlich empathisch. sammelte ich Beweismaterial, ohne
je zu erfahren, was damit geschah.
ei einer formellen Beschwer- So entstand bei mir der Eindruck,
B de wegen des Verdachts auf
sexuelle Belästigung oder
Mobbing sieht das Reglement von
dass die Tamedia-Führung meinen
Fall, allen Lippenbekenntnissen
zum Trotz, aussitzen wollte.
Tamedia vor, dass Beschuldigte »Magazin«- keiten zu hören. Ein hoch respek- Man ließ mich vollkommen al-
»unverzüglich informiert« und die Chefredakteur tierter Autor sagte mir mal auf dem lein in dieser Lage. Ich musste an
Canonica 2013
Abklärungen schnell abgeschlossen Flur: Wann immer er mich sehe, einem Tisch mit Canonica sitzen,
werden sollen – »nach Möglichkeit wolle er seine Hände in meinen nachdem er schon über meine Vor-
innerhalb von 14 Tagen«. In der Tat Schoß legen. Doch falls mich meine würfe informiert war. Vom Stand
vergab die Geschäftsleitung nach Erinnerung nicht trügt, vermochten der Untersuchung erfuhr ich nichts.
dem »Frauenbrief« ein externes diese Schlüpfrigkeiten mein Inners- Längst wissen auch der Verwal-
Mandat an Christine Lüders, die tes nie anzufechten. Vermutlich, weil tungsrat und der Verleger Pietro
frühere Leiterin der Antidiskrimi- sie nicht systematisch wie später Supino von den Vorfällen.
nierungsstelle unter Angela Merkel, durch Canonica erfolgten und sie Rutishauser, Canonicas Vorge-
und rief dazu auf, ihr Vorfälle nicht von Vorgesetzten kamen. Mich setzter, laut ihm sein enger Studien-
ebenso wie Hinweise auf eine traf nicht mal das Getuschel, ich hät- freund, tat, als wäre ich das Pro-
»Buddy-Kultur« zu melden. Doch te mich hochgeschlafen und meine blem. Mein Arbeitgeber behandelt
Informationen über den Ausgang, Stücke stammten in Wahrheit aus mich, als wäre ich eine Störung des
die den Mitarbeitern angekündigt der Feder eines Kollegen. Damals Betriebsfriedens. Und als wäre es
wurden, werden ihnen bis heute waren Frauen im Journalismus noch ein privater Zwist zwischen mir und
vorenthalten. nicht so präsent wie heute. Canonica.
Nicht mal Canonicas Affäre mit Und ich akzeptierte damals still,
einer Untergebenen und den damit dass Männer in den Fünfzigern er »Tages-Anzeiger« positio-
verbundenen Machtmissbrauch
fand das Unternehmen als Vorwurf
erheblich genug: Erst bevorzugte
glaubten, sich bei einer jungen
Kollegin so aufführen zu müssen.
Selbst als man mir Jahre danach er-
D niert sich linksliberal; die re-
gelmäßigen, moralisch into-
nierten Breitseiten gegen andere
Canonica seine Geliebte, ohne da- zählte, man habe mich im SPIEGEL Firmen, weil dort ein sexistisches
raus einen Hehl zu machen, ging gern »Nuschi, das Mokkatörtchen« Klima herrsche, lesen sich für mich
mit ihr auf Dienstreisen, dann, nach genannt, konnte ich darüber lachen. wie Hohn. Ich bin auch deswegen
dem Ende des Verhältnisses, verbot Verblüfft war ich nicht. so von meinem Arbeitgeber ent-
er uns, mit ihr zu kommunizieren. Nach meinem Umzug in die täuscht, weil ich mich getäuscht füh-
Ich bin in einem Journalismus Schweiz freute ich mich, wenn ich le. Entgegen den Verlautbarungen
groß geworden, der von Männern erfuhr, dass sich im SPIEGEL einiges nach dem »Frauenbrief« gedachte
geprägt war, und deshalb keine Mi- tat. Nicht gerade im Zeitraffer, aber die Führungsriege anscheinend nie,
mose. Meinen ersten Job gab mir die junge Kollegin zum Beispiel, die die Vorgänge ernsthaft zu überprü-
1995 der SPIEGEL. Ich war 28 und mit mir begann, ist jetzt Ressort- fen und Maßnahmen zu ergreifen.
eine Exotin: jung, weiblich, dunkel leiterin. Bis Frühjahr 2022 machte ich
getönt. gute Miene zum bösen Spiel, weil
Ich erinnere mich gut an meine ich meine Hoffnung, man werde
erste Montagskonferenz; das Leit- mir letztlich beipflichten, nicht
motiv »Sturmgeschütz der Demo- fahren lassen wollte. Doch meine
kratie« im Hinterkopf, hatte ich Nerven wurden dünner. Als man
dort eine Runde »alter, weißer mich wissen ließ, dass man nach
Männer« angetroffen, die man nur dem Mandat an Lüders ein zweites
noch nicht so bezeichnete. Auf den an eine Anwaltskanzlei vergeben
Nebenrängen eine Handvoll zu- wolle, waren viele lange Monate
rückhaltender Frauen. vergangen, seitdem ich der Ge-
In den sieben Jahren beim schäftsleitung meine Situation erst-
SPIEGEL bekam ich viele Anzüglich- Canonicas Manuskriptredigaturen mals erklärt hatte.

48 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


Auf den Tag genau zehn Monate danach unterstehen, Gerüchte in die Welt zu set- seiner Übersiedlung von der Schweiz in die
saß ich, mit einer Anwaltsfreundin als Ver- zen, mit meinen Vorwürfen habe sein Weg- USA gesagt, er kehre dorthin zurück, sobald
trauensperson, in der Kanzlei und ließ mich gang nichts zu tun. Aus der Redaktion hieß eine Atombombe falle. Denn in der Schweiz
befragen. Ein zweites Gespräch fand per Vi- es, er habe eine hohe Abfindung erhalten. passiere alles mit 20 Jahren Verspätung.
deokonferenz statt, insgesamt waren es fast Ich gönne Einstein, dass seine Relativi-
neun Stunden. Der von Tamedia beauftrag- anonicas Posten hat sein Vize über- tätstheorie Bestand hat, in Sachen Sexis-
te Anwalt sagte, nach mir würde Canonica
von ihm befragt, dann unter Umständen
weitere Redaktionsmitglieder. Zu Beginn si-
C nommen, er ist schlicht nachgerückt.
Dabei hatte der Verlag nach dem
»Frauenbrief« verkündet, dass ab sofort
mus im Schweizer Alltag jedoch wünsche
ich mir, dass er unrecht behalten wird.
Sexismus ist fünf Jahre nach #MeToo
cherte er mir zu, dass ich als Betroffene das jede Stelle intern und extern zur Bewer- nicht Vergangenheit, sondern: eine tägliche
Ergebnis seines Berichts erfahren würde. bung ausgeschrieben werde. Das ist hier Realität. Und wenn ein Mann ein sexuelles
Das ist nie geschehen. So wie sich Canonica nicht geschehen. Im Editorial verabschiede- Interesse an einer Frau hat, über die er
anstrengte, mich kleinzukriegen, versucht te der neue »Magazin«-Chefredakteur den Macht besitzt, dann besteht die Gefahr,
Tamedia, mich in die Knie zu zwingen. De- alten mit Glanz und Gloria. dass er seine Macht ausspielt. Ich habe
ren Anwältin behauptet, dass ich alles nur Ende September hat mir Tamedia ohne zwar ein gewisses Verständnis dafür, dass
inszeniert hätte, um Canonicas Chefposten Angabe von Gründen gekündigt. Ich habe viele genug haben von diesem leidigen The-
zu bekommen. Was mich an die Bericht- gegen Tamedia Klage eingereicht wegen ma. Doch das ändert nichts daran, dass es
erstattung über den Weinstein-Skandal Verletzung der Fürsorgepflicht aufgrund weiter geschieht.
erinnert, in der oft insinuiert wurde, dass sexistischer Diskriminierung und Mobbings. Eine Filmszene in »She Said« erzählt,
sich manches Hollywoodsternchen nun als Und dem Gericht Zeugen für einzelne Fehl- wie eine Frau, die als junge Assistentin von
Opfer aufspiele, obwohl es sich doch der verhalten genannt. Weinstein missbraucht wurde, sich nach
Karriere zuliebe auf den Sex mit Weinstein Ich kann das Vergangene nicht ungesche- Jahrzehnten stummen Leidens entschließt,
eingelassen hätte. hen machen; ich kann aber auch nicht so aus der Deckung zu gehen, und der »New
Ende Juni gab der Verlag bekannt, Cano- tun, als hätte nicht stattgefunden, was mir York Times« erlaubt, ihren Namen zu nen-
nica verlasse »Das Magazin«, um eine widerfahren ist. Ich will die Hoheit über nen. Das schulde sie ihren Töchtern, sagt
»neue berufliche Herausforderung anzutre- mein Leben zurück. sie. Keine Frau solle jemals Missbrauch
ten«. Seitdem hat weder die Leserschaft Als ich in der Praxis meines Arztes in Trä- oder Mobbing akzeptieren. Dann fügt sie
noch die Redaktion erfahren, wo er abge- nen ausbrach, tröstete er mich mit einer hinzu: »Ich will meine Stimme zurück.«
blieben ist. Mir sagte man, ich solle mich Anekdote über Albert Einstein: Der habe bei Das will ich auch. n

Und das sagen Tamedia und der ehemalige Chefredakteur


Die Autorin Anuschka Roshani hat von 1995 erscheinen lassen. Soweit einzelne Vorwür- Beide Stellungnahmen verzichten auf die
bis Ende 2001 für den SPIEGEL gearbeitet. fe, etwa über den Inhalt von Vieraugen- Beantwortung der einzelnen Fragen. Eine
Sie wechselte danach zum Schweizer Wo- gesprächen, allein auf Wahrnehmungen von Nachfrage an Tamedia, welche der Vorwür-
chenblatt »Das Magazin« und lebt seither Anuschka Roshani beruhen, hat sie diese fe von Anuschka Roshani konkret widerlegt
in Zürich. eidesstattlich versichert. seien, ließ man mit dem Hinweis auf Per-
Die Journalistin hat der SPIEGEL-Redak- Canonica sowie die Betroffenen bei Tame- sönlichkeitschutz unbeantwortet.
tion ein Manuskript zugesandt, in dem sie dia hat der SPIEGEL mit einem ausführlichen Das Ergebnis des jeweils angesprochenen
über ihre Zeit als Redakteurin beim »Ma- Fragenkatalog zu den Vorhaltungen des Tex- Untersuchungsberichts, für den Anuschka
gazin« berichtet. Die Vorwürfe, die sie in tes konfrontiert. Der Anwalt des ehemaligen Roshani mehrere Stunden lang gehört wur-
diesem Text erhebt, sind drastisch: Die Rede Chefredakteurs Finn Canonica schrieb: »Die de, ist ihr trotz mehrfacher Bitten nicht zu-
ist von Sexismus, Machtmissbrauch und Vorwürfe treffen nicht zu und werden vehe- gänglich gemacht worden und wurde auch
Mobbing durch ihren Vorgesetzten Finn Ca- ment bestritten.« Sie seien intern und in einer dem SPIEGEL nicht zur Verfügung gestellt,
nonica sowie von einer frauenfeindlichen externen Untersuchung eines Anwaltsbüros wiederum, wie es heißt, aus Gründen des
Unternehmenskultur bei dem für seine libe- geprüft worden. Eine Veröffentlichung der Persönlichkeitschutzes.
ralen und progressiven Positionen bekann- »widerlegten Vorwürfe« wäre eine »krasse In einem Brief an den Rechtsanwalt Ro-
ten Medienhaus Tamedia. Ehrverletzung« und werde zivil- und straf- shanis Ende November des vergangenen
Die Journalistin, der im vergangenen rechtliche Folgen nach sich ziehen. Jahres schrieb die Anwältin von Tamedia,
September gekündigt worden ist und die Tamedia, mit der der SPIEGEL seit jüngs- dass das Haus eine Mitschuld Roshanis,
Ende November Tamedia wegen angebli- tem journalistisch kooperiert, erklärte in »weder bestätigen noch ausschließen« kön-
cher Verletzung ihrer Fürsorgepflicht ver- einer über ihren Kommunikationsverant- ne. Die Wiederherstellung einer unbelaste-
klagt hat, hat sich dafür entschieden, ihre wortlichen zugeleiteten Stellungnahme: ten Arbeitsatmosphäre sei aus Sicht von
Geschichte selbst zu erzählen, mit Bild und »Tamedia hat die Vorwürfe von Frau Ro- Tamedia »nur ohne beide Konfliktparteien
vollem Namen. Sie versteht ihren Text als shani sehr ernst genommen und akribisch möglich« gewesen.
eine Selbstermächtigung. prüfen lassen. Der Konflikt zwischen Frau Tamedia erklärt gegenüber dem SPIEGEL,
Die Redaktion lässt Roshani mit ihrem Roshani und Herrn Canonica war Gegen- man sei ein Arbeitgeber, der für Vielfalt,
Ich-Text für sich selbst sprechen. Der jour- stand einer von Tamedia in Auftrag gege- Fairness und Respekt stehe und dies auch
nalistischen Sorgfalt hat der SPIEGEL trotz benen externen Untersuchung, die die Vor- lebe. Mobbing, Diskriminierung und sexuel-
des außergewöhnlichen Formats selbstver- würfe von Frau Roshani zum überwiegen- le Belästigung würden nicht toleriert. Man
ständlich entsprochen und sich nicht allein den Teil nicht bestätigten.« In einigen Punk- habe eine vertrauliche Anlaufstelle für Be-
auf Roshanis Angaben verlassen. Der Re- ten sei die Untersuchung sogar zu einem troffene geschaffen, um Konflikte am
daktion liegen Aussagen ehemaliger Kolle- gegenteiligen Ergebnis gekommen – »ins- Arbeitsplatz systematisch zu erfassen und
gen und Kolleginnen, Chatnachrichten, Kor- besondere was Führungsstil und Arbeits- Veränderungen herbeizuführen. Entspre-
respondenz und Dokumente vor, die die atmosphäre unter der Leitung von Herrn chende Schulungen seien für Führungskräfte
Vorwürfe stützen und insgesamt plausibel Canonica betraf«. obligatorisch. n

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ERNÄHRUNG
REPORTER
»Wie viele Kalorien
hat die Hausgrille,
Frau Dittrich?«
SPIEGEL: Seit Kurzem ist die
Hausgrille europaweit als
Lebensmittel zugelassen. Schon
probiert?
Dittrich: Bislang habe ich noch
keine pulverisierte Hausgrille
gegessen. Ihr Geschmack gilt als
etwas nussig, ihre Konsistenz ist
eher knusprig.
SPIEGEL: Warum sagen Sie »pul-
verisiert«?
Dittrich: Bei dieser Zulassung
geht es nur um das »teilweise
entfettete Pulver«. Die Lebens-
mittelhersteller, in diesem Fall
die Cricket One Co. Ltd. aus
Vietnam, beantragen meist be-
stimmte Formen der Insekten.
SPIEGEL: Haben Hausgrillen
gute Nährwerte?
Dittrich: Sie besitzen viele un-
gesättigte Fettsäuren, Vitamine
und Mineralstoffe. Ihr Protein-
gehalt liegt bei etwa 67 Gramm
pro 100 Gramm, beim Schwein
sind es nur rund 22 Gramm.

Privat
SPIEGEL: Wie ist der Kalorien-
gehalt der Hausgrille?
Dittrich: Rund 450 Kilokalorien

Widmungen, 1965 pro 100 Gramm.


SPIEGEL: Wo wird der Verbrau-
cher auf die Grille stoßen?
Dittrich: Zugelassen ist das Pul-
FAMILIENALBUM Frank Barkmann, 78, Werther (Westfalen) ver für Mehrkornbrote, Cracker,
Brotstangen, Teigwaren,
ieses Foto entstand am 29. September 1965. für diese Zwecke ein eigenes Buch, in das sich Kartoffelerzeugnisse, Pizzen
D Ich machte eine Ausbildung zum Hotel-
fachmann. Auf dem Bild stehe ich neben
dem damaligen Bundeskanzler Ludwig Erhard,
schon viele Prominente eingetragen hatten. Ich
fragte den Kanzler auch nach einer persönlichen
Widmung, aber dieser war er nicht zugeneigt, er
und einiges mehr.
SPIEGEL: Sind Lebensmittel, die
»Insekt« enthalten, ent-
der am 19. September als Spitzenkandidat reagierte zugeknöpft, ein wenig schroff. Er unter- sprechend gekennzeichnet?
der CDU/CSU gerade erst die Bundestagswahl schrieb nur, mit blauer Tinte aus einem Füllfeder- Dittrich: In der Zutatenliste.
gewonnen hatte; im Obertaunuskreis musste halter. Ich war etwas enttäuscht, ich hätte einen Bei der Hausgrille muss es hei-
wegen des Todes eines Wahlkreisbewerbers am Bundeskanzler für weltoffener gehalten. Tatsäch- ßen: »teilweise entfettetes
3. Oktober nachgewählt werden. Das war der lich führte die Begegnung dazu, dass die CDU Pulver aus Acheta domesticus
Grund, warum sich CDU-Spitzenpolitiker in Bad mich als Wähler verloren hat, bis heute. (Hausgrille)«.
Homburg vor der Höhe im Kurhaushotel »Prinz Ich beendete meine Ausbildung 1966 und arbei- SPIEGEL: Welche anderen An-
von Homburg« zusammenfanden. Sie wollten tete noch einige Jahre in Hotels, bis ich bis zur träge liegen der EU vor?
ihren Kandidaten unterstützen. An der linken Rente für eine diakonische Einrichtung Groß- Dittrich: Etwa der für die ge-
Seite des Bundeskanzlers sitzt der damalige Ver- küchen plante. Die Zeit in Bad Homburg war für trocknete Tropische Hausgrille,
teidigungsminister Kai-Uwe von Hassel, ihm mein Buch eine gute Zeit. Es kamen viele Schau- die Drohnenbrut der Honig-
zur Rechten der Kandidat, Walther Leisler Kiep. spieler an das Theater. Ebenfalls eher mürrisch biene oder für Produkte aus gan-
Warum man sich ausgerechnet für Bad Homburg hatte damals noch der Schauspieler Willy Millo- zen oder zerkleinerten Larven
entschieden hatte, lässt sich nur vermuten: witsch reagiert; herzlich waren die Einträge von des Mehlkäfers.
vielleicht wegen der viel gerühmten Bad Hom- Fritz Walter, Liselotte Pulver oder Udo Jürgens. SPIEGEL: Was macht Insekten so
burger »Champagnerluft«. Der letzte Eintrag stammt aus dem Jahr 2020, vom interessant für den Markt?
Der Empfang fand in einem besonders herge- Botaniker Jürgen Feder, auch mit langer Widmung. Dittrich: Sie brauchen weniger
richteten Konferenzraum statt, die Tische waren Das Buch hat mittlerweile eine schöne Patina Platz, Wasser und Futter als die
mit Blumengestecken und Damastservietten entwickelt und erzählt auf eine Art mein Leben. meisten anderen Tiere. BHA
eingedeckt. Ich arbeitete an dem Tag im Service, Aufgezeichnet von Barbara Hardinghaus
ich brachte Ludwig Erhard den Wein und die Nora Dittrich ist Ernährungs-
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns
Suppe. In einer Pause gestattete mir mein Chef, Ihre Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: wissenschaftlerin bei der
Erhard nach einer Signatur zu fragen. Ich hatte familienalbum@spiegel.de Verbraucherzentrale NRW.

50 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


Plexiglas-Donut, ein durchsichtiger
Ring, in dem die Kugeln gedreht wer-
den, erst vorwärts, dann zurück.

Ruhige Kugel Ein Prototyp vom Donut liegt


noch oben auf einem der Schränke.
Um zu sehen, wie die Kugeln darin
laufen, hatte Held einen Stock genom-
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Warum ein österreichischer Erfinder bei men, ihn durch den Ring gesteckt und
den neuen deutschen Lottogeräten auf Schlichtheit setzt geschlagen, damit er rotiert, ähnlich
wie Jungs früher Fahrradfelgen in
Schwung brachten. Er versammelte
om Flughafen Zürich geht der chische Lotterie sollte er Rubbellos- »In Deutsch- wieder seine Kollegen, sie berie-
V Zug in Richtung Österreich,
und gleich hinter der Grenze,
an einem kleinen Bahnhof, wartet
Behälter entwickeln, ein »Joker-
Gerät« oder den »Money Maker«.
Sein liebstes Objekt war der »Ambo
land darf es
keine Revolu-
ten sich.
Nach einem halben Jahr, kurz vor
Weihnachten, war alles fertig, insge-
ein Mann mittleren Alters, Vollbart, Terno«; der Auftrag kam auch von tion sein, samt acht Geräte, inklusive der Er-
schwarzes Hemd und schwarze Weste, den österreichischen Lottoleuten. Er satzgeräte. In Helds Firma stehen
zwei schwarze Stifte in der Brust- solle etwas »Mystisches« machen, damit es ein Lackierkabinen und 3-D-Drucker, er
tasche. Der Mann ist Wolfgang Held. etwas, das »magic« war, hieß es. Also Erfolg wird.« hat eine Werkstatt mit Schweißgerät
Er sagt, es könne ja schließlich immer erschuf Held eine Riesentrommel, und Fräse. Sie machen alles selbst.
Wolfgang Held,
ein Stift verloren gehen oder plötzlich befüllte sie mit 800 Liter Wasser, Produktdesigner Dazu gehört auch, alles selbst zu ver-
nicht mehr schreiben. Held arbeitet leuchtenden Kugeln, die aussehen packen, die Gurte auf dem Transpor-
mit Eventualitäten, manchmal erzeugt sollten wie Planeten. Pumpen sogen ter selbst festzuzurren, alles in zwei
er sie sogar. Er ist Maschinenbauer, die Kugeln im Dunkeln auf. »Das Ge- Ladungen loszuschicken für den Fall,
Produktdesigner, eigentlich ist Held rät war wie ein Ferrari«, schwärmt dass ein Unfall passiert. Und auch so
Erfinder. Und weil seine Erfindungen Held noch immer ein wenig. Er sitzt etwas ist schon geschehen: Einmal
funktionieren sollen, denkt er sich vor- jetzt im Büro, wo überall Erfindun- war der Lkw mit dem österreichi-
her aus, was alles passieren könnte. gen herumstehen, Losdosen, mo- schen Glücksrad verunglückt und das
Zuletzt hat er drei neue Geräte für torisierte Oberschränke, neuartige Glücksrad kaputt.
den Deutschen Lotto- und Totoblock Möbelbeschläge. Held und seine Kollegen wollen
gebaut. In den alten Geräten flogen Seine letzten drei Lottogeräte Eventualitäten erkennen und sie aus-
noch echte Tischtennisbälle, die laut seien dagegen eher wie ein »solider schließen, aber manchmal ist der
waren, die klackten, wogegen die Mo- Golf«. »In Deutschland darf es keine Zufall stärker: Als sie damals den
deratoren immer anreden mussten. Revolution sein, damit es ein Erfolg »Ambo Terno« ins TV-Studio gestellt
Die neuen Kugeln sollten leiser sein; wird«, sagt Held. hatten und alle bereit waren für die
sie sind jetzt weich, aus geschäum- Beim Spiel »6 aus 49« ist die erste Ziehung, entdeckte Wolfgang
tem  Polyurethan. »Die soften, die Trommel aus Acrylglas, sie ist jetzt Held hinter dem Glas einen grauen
picken«, sagt Held auf dem Weg in um drei Zentimeter vergrößert. Eine Schmierfilm, der nicht sein sollte. Die
seine Firma, »Form Orange«, die zwi- zusätzliche Kamera ist installiert, die Kugeln mussten, Mystik hin oder her,
schen Bodensee und Bregenzer Wald die Ziehung aus der Nähe filmt. Der gut sichtbar sein. Es waren noch drei
liegt. Er kommt aus der Region und Greifarm ist nicht mehr aus Stahl, Stunden bis zur Ziehung, die live
spricht auch so. Picken bedeutet, dass sondern durchsichtig, eine Art Auf- Moderatorin übertragen werden sollte, sie disku-
mit Lottogerät,
die weichen Kugeln aneinanderreiben fangstutzen. Die Ziehung der »Super- Screenshot
tierten, sie stritten. Held hatte dann
und sich behindern können. Und das Zahl« ist ausgelagert in ein weiteres von der Website wieder eine Idee, nahm eine Säge und
soll ja nicht sein. Gerät, das ein wenig aussieht wie ein Abendblatt.de entfernte ein Überdruckventil, von
Also hat er die neuen Kugeln in dem er annahm, dass es der Grund
der Trommel immer wieder laufen war. Ganz sicher war er sich aber auch
lassen, mehrere Hundert Mal, hat sie nicht und entschied, während der
gefilmt, das Kugelverhalten analysiert Livesendung nicht mit den anderen
und im Team diskutiert. im Studio zu sitzen, sondern lieber
Es war schon immer Helds Ziel, allein in der ORF-Kantine bei etwas
die Dinge anders zu machen, besser. Weißwein.
Als er 13 Jahre alt war, hat er einen Es ging noch mal gut. Der Schmier-
Pfeifentabakmischer für seinen Vater film war weg.
gebaut und in der Werkstatt seines Als die neuen deutschen Geräte im
Großvaters einen Holzbob, der sehr Januar in Saarbrücken präsentiert
flach war und: schneller. In der Tasche wurden, waren Held und seine Kol-
trägt er bis heute lose DIN-A4-Zet- legen auch dabei. Das alte Gerät von
tel – und Stifte. Er hat seinem Patent- »6 aus 49« hatte da schon im Nach-
anwalt schon aus dem Malediven- barzimmer gestanden, nach 60 Jah-
urlaub Faxe geschickt mit neuen ren und 2300 neuen gezogenen
Anton Minayev

Ideen. Er gibt jedes Jahr rund 200 000 Lottomillionären.


Euro nur für Patente aus. Seine Kol- Die erste gezogene Zahl im neuen
legen und er haben bereits Skistöcke Gerät war die 21. Wolfgang Held saß
entwickelt, Folienschneider oder La- hinten im Studio auf einem Stuhl,
winenschaufeln. recht ruhig dieses Mal, aber auch mit
Seine Lottogeräte-Karriere be- Werkzeug in der Tasche.
gann vor 25 Jahren, für die österrei- Barbara Hardinghaus n

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REPORTER

W I E ICH
LE
LERNT
RNT E,
LUXUSUHREN
ZU LI EB ENRedakteur Dachsel
in der Uhren­
stadt La Chaux­de­
Fonds, Schweiz

52 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


REPORTER

KO N S U M Seit Jahren gibt es einen irren Hype um Uhrenmarken wie Rolex, Omega oder Patek Philippe.
Influencer protzen mit ausgefallenen Exemplaren, junge Menschen lernen auf YouTube
alles über Faltschließen und Ziffernblätter. Unser Reporter Felix Dachsel hat sich von diesem Trend
mitreißen lassen. Warum ist er auf einmal so besessen? Fotos von Roderick Aichinger

Vor ein paar Wochen, an einem normalen sende, er spielt dort mit bekannten Streamern des Ziffernblatts. Lünette kommt aus dem
Freitagmorgen, hatte ich das starke Bedürfnis, Uhrenpreiseraten. Französischen und heißt kleiner Mond. Ist
mir eine teure Uhr zu kaufen. Nicht irgend­ Ich bin selbst in einen warmen Strudel das nicht schön?

V
eine teure Uhr, sondern eine Uhr, die ich geraten, aus dem ich gar nicht mehr rauswill. Der Fotograf, der mich begleitet, trägt eine
ausgesucht hatte. Die mich ausgesucht hatte. Ich schaue mir Uhren an, die eine Spur zu elegante Anzuguhr aus den Vierzigern an sei­
Es war ungefähr zu der Zeit, als die evange­ teuer sind für mich. Ich blättere im Armband­ nem kleinen Handgelenk. Sie ist empfindlich,
lische Kirche mal wieder den Konsumwahn uhrenkatalog 2022/23. Ich höre einen Uhren­ schon ein Regentropfen wäre einer zu viel.
in der Gesellschaft kritisierte und die Journa­ podcast, in dem sich zwei Typen über die Ich hingegen kann, falls das auf dieser Reise
listin Ulrike Herrmann mit der Forderung Größe ihrer Handgelenke unterhalten. Sams­ notwendig wird, tauchen wie James Bond.
Wirbel machte, man müsse im Angesicht des tags fahre ich in die sächsische Kleinstadt
Klimawandels auf eine »ökologische Kreis­ Glashütte, ins Uhrenmuseum (Empfehlung!). Mein Uhrenhändler
laufwirtschaft« umschalten, vergleichbar Halt mal, was passiert da gerade mit mir? Die Reise beginnt an einem guten Morgen bei
mit der britischen Wirtschaft im Zweiten Werde ich jetzt tatsächlich einer dieser Män­ Ralf Meertz, meinem Händler. Hier sind die
Weltkrieg. ner, die sich für Uhren interessieren? Wände aus Teak, die Bänke gepolstert. Der
Ich saß in einem kleinen Uhrenladen in der Ich habe mich natürlich gefragt, ob ich ein Fotograf mit dem kleinen Handgelenk
Münchner Innenstadt, 35 Jahre alt, ich hatte Angeber bin, aber mir fiel nicht ein, bei wem schleppt sein Stativ in den Laden. Er hat heute
ein paar Tausend Euro in meiner Hosen­ ich angeben könnte. Im Alltag begegnen mir die einmalige Gelegenheit, seine regenscheue
tasche, hart erarbeitetes Geld, und mir gegen­ klimabewusste Menschen unter vierzig, die Uhr einem Meister des Fachs vorzulegen. Und
über saß Ralf Meertz, mein Händler, ein net­ wenn wir schon mal da sind, lernen wir noch
ter Uhrmachermeister, der in dieser Geschich­ Vokabeln. Wie zum Beispiel nennt der Uhr­
te noch eine Rolle spielen wird. macher diese Lupe, die er ins Auge klemmt?
Ich halte also eine Omega Seamaster in der »Lupe«, sagt Ralf Meertz.
Hand. Eine Taucheruhr aus Stahl. Ich ver­ Meertz trägt einen leichten Pullover, er hat
sinke im tiefblauen Ziffernblatt. Wie ein klei­ die Ärmel aufgekrempelt. Er ist so ein be­
ner Ozean. Der Sekundenzeiger tickt nicht, scheidener Typ, der eine bleiche Rolex Mil­
er gleitet. James Bond trägt eine Seamaster, gauss aus den Fünfzigern in der Hand hält,
das habe ich vielleicht im Hinterkopf. Der und wenn ich frage, was die wert ist, dann
Boden ist aus Saphirglas, ich schaue ins me­ sagt er gedankenverloren: Mmh, so 350 000?
chanische Uhrwerk. Ich schiebe die Scheine Aber was bedeutet schon der Preis? Meertz
in einem ungeordneten Haufen über den sagt: »Ich kann nicht vor einer alten Uhr sit­
Tisch. Mein Herz schlägt etwas schneller, als zen, die ihre Geschichte hat, und dann redet
würde ich etwas Verbotenes tun: Ich kaufe man die ganze Zeit nur über Zahlen, Invest­
die erste Luxusuhr meines Lebens. ment und, und, und.«
Ich würde nicht davon erzählen, wenn ich Hinter ihm steht eine Standuhr aus dem
nicht einer von vielen wäre, fast Teil einer 18. Jahrhundert, Bronze, feuervergoldet. Eine
Bewegung. Luxusuhren erleben seit ein paar Uhr aus einer Zeit, in der nur die Adligen und
Jahren einen irren Trend, das habe ich in Mächtigen Uhren hatten, der krumme Bauer
den letzten Monaten begriffen. Die Marken, auf dem Feld trug im Normalfall keine Ta­
die heiß gehandelt werden, neu und ge­ schenuhr mit sich rum.
braucht, heißen Patek Philippe, Jaeger­Le­ Uhrmachermeister Meertz Wie sieht der Uhrmachermeister auf den
Coultre, Rolex, Audemars Piguet, Tudor, Hype der vergangenen Jahre, auf die Rapper
Richard Mille, Cartier, IWC, Omega. Uhren, sich erzählen, auf was sie neuerdings verzich­ mit den dicken Uhren? Wir stehen in seiner
die 5000 Euro kosten oder eine Million. Der ten: Wir fliegen nicht mehr, wir schenken uns Werkstatt, zwischen Gehäuseöffnern und
Markt hat sich im vergangenen Jahr kurz nichts, wir haben unser Auto verkauft und so Wasserdichtigkeitsprüfgeräten, und er über­
abgekühlt, aber die Preise ziehen wieder an. weiter. Ihr Statussymbol ist der Verzicht. Da rascht mit seiner Antwort: »Ich finde das jetzt
In den letzten zwei Jahren seien Preise von stehe ich mit einer teuren Uhr am Handgelenk nicht verkehrt, ehrlich gesagt. Wenn ein Rap­
Luxusuhren um 70 Prozent gestiegen, meldet unter Christian­Lindner­Verdacht. per eine besondere Uhr anzieht, dann ist das
die Uhrenplattform Chrono24 im vergange­ Es muss noch andere Antworten geben, doch schön. Wenn er einfach mal eine alte
nen Herbst. Fast die Hälfte der Kaufanfragen die ich aufspüren will. Ich treffe, Achtung!, Nautilus mit Diamantkranz trägt, dann hat er
im Luxussegment komme von Menschen viele Männer auf meiner Reise. Die Nach­ sich Gedanken gemacht. Wir haben in Deutsch­
unter 35 Jahren. Im vergangenen Jahr ex­ frage nach Luxusuhren ist weiterhin sehr land so eine Zurückhaltung: Man hat ein teu­
portierte die Schweizer Uhrenindustrie männlich. Von uhreninteressierten Frauen res Auto, aber die Uhr muss man verstecken.«
Uhren im Wert von fast 25 Milliarden Fran­ habe ich erfahren, dass der Markt kaum bie­ Wir erinnern uns kurz an die SPD­Politi­
ken, so viel wie noch nie. te, was sie begehren: Die einen Modelle seien kerin Sawsan Chebli, die vor ein paar Jahren
Die Popkultur ist seit Jahren voller Luxus­ zu diamanten, die anderen zu groß. Die In­ einen Shitstorm abbekam, weil sie eine Date­
uhren. Die Rapperin Shirin David trägt im dustrie reagiert mit Werbebotschafterinnen just von Rolex trug, die nicht mehr kostet als
Privatjet eine Audemars Piguet Royal wie Nicole Kidman oder Zoë Kravitz. ein besserer Motorroller. Chebli reagierte auf
Oak. Der Fußballer Harry Kane protestiert Auf der Reise drehe ich manchmal an der Twitter mit einem furiosen Wutausbruch: Ihr
in Katar mit einer Regenbogen­Rolex, Wert: Taucherlünette meiner Uhr und denke nach. sage keiner, was Armut ist. Sie habe mit zwölf
600  000 Euro. Der Uhren­Influencer Marc Die Lünette, ich kenne diese Vokabel auch Geschwistern in zwei Zimmern gewohnt, auf
Gebauer erreicht auf YouTube Hunderttau­ erst seit ein paar Monaten, ist die Umrandung dem Boden geschlafen und gegessen und am

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REPORTER

Wochenende Holz gehackt, weil Koh- fährst ein bisschen rum, und schon
le zu teuer war. hast du Content für drei Monate.«
Wenn die goldene Rolex ein selbst- »Eigentlich braucht niemand eine
bewusstes Zeichen für sozialen Auf- Luxusuhr«, sagt Robin. Ich erschre-
stieg ist, dann bedeutet die Aufregung cke fast und schaue verschüchtert auf
über Cheblis Uhr, dass diese Gesell- meine Seamaster. Aber er hat natür-
schaft Probleme hat mit Aufsteigern, lich recht: Dieser brutale Druck, der
die ihren Erfolg zeigen. Die Mittel- durch omnipräsente Luxusuhren auf
schicht, die unter sich bleiben will, Instagram ausgelöst wird, führt bei
rümpft die Nase über zu viel Gold. jungen Menschen zu der falschen Vor-
Die verlogene, deutsche Bescheiden- stellung, es wäre normal, eine Rolex
heit. Aber bevor wir uns aufregen, zu haben. Und dieser Druck wird
ziehen der Fotograf und ich weiter. durch Fakes erhöht.
Es scheint den Jungs wirklich da-
Die Uhrenjäger rum zu gehen, Menschen vor Erwar-
Die »Munich Wrist Busters« sind tungen zu schützen, an denen sie nur
zwei Jungs Anfang zwanzig, die nicht scheitern können. Sie sind Anhänger
so gern hören, dass sie Influencer des Milestone-Prinzips: Man kauft
sind. Leon Schelske und Robin Haas sich eine Uhr zu einem besonderen
empfangen uns in ihren neuen und Anlass, nicht einfach so.
gut beheizten Büroräumen, sie tragen Wir machen noch ein kleines Video
T-Shirts wie Start-upper. Auf Leons für Insta. Leon hält zu Demonstra-
Schreibtisch steht Whisky bereit. tionszwecken eine Fake-Rolex in der
Auf Deutsch hießen sie wohl »Die Hand und schüttelt sie ein bisschen:
Münchner Handgelenksjäger«, was »Klingt wie ’ne Ritterrüstung.«
aber ein bisschen nach Volksmusik
klingt. Leon und Robin entlarven Fa- Meine Radikalisierung
ke-Luxusuhren und deren Träger, sie Ich stehe mit dem Fotografen in
haben knapp 250 000 Follower auf einem Münchner Café. Es ist jetzt mal
Instagram. Und inzwischen, das ist in an der Zeit, meine Spontanradikali-
gewisser Weise ihre Pointe, handeln sierung zu erklären. Im Sommer hör-
sie selbst mit Luxusuhren. te ich von einer Kooperation von
Leon und Robin haben zum Ge- Swatch und Omega. Sie legten zu-
spräch an einen langen Verhandlungs- sammen eine erschwingliche Quarz-
tisch gebeten, irgendwo surrt ein ausgefallenes Teenagerhobby. Sie Fake-Jäger Haas, uhr auf, die an eine Uhrenikone erin-
Champagner-Kühlschrank, zwischen studierten jedes Detail, Ziffernblatt, Schelske: Als Erstes nern soll. Der Astronaut Buzz Aldrin
nahmen sie den
uns liegen sieben funkelnde Uhren im Krone, Lünette. Im Münchner Nacht- Mister Bayern hopp trug 1969, als er seinen Fuß auf den
Gesamtwert einer schönen Wohnung leben fielen ihnen Typen auf, die sich staubigen Mond setzte, eine Speed-
am Stadtrand. Manchmal müssen Champagner über ihre Luxusuhr master von Omega. Man nannte sie
Leon und Robin raus zum Telefonie- kippten aus Angeberei. Was man halt fortan die »Moonwatch«. Nun, 53 Jah-
ren, sie müssen heute noch nach so macht in München. Nur: Die Uhren re später, kam die »MoonSwatch« in
Nürnberg, eine Uhr abholen. waren nicht echt, das sahen Leon und die Läden. Man konnte sie nicht online
Wir sind hier, um zu verstehen, Robin aus drei Meter Entfernung. Sie kaufen, nur im Store.
was mit den jungen Leuten und den beschlossen, die Angeber hochgehen Der Hype um die MoonSwatch
teuren Uhren los ist, was da seit ein zu lassen. war irre. Sie war rund um die Welt
paar Jahren abgeht. Denn nicht nur Als Allererstes nahmen sie den Mis- in Minuten ausverkauft. Menschen
Luisa Neubauer ist Deutschland, auch ter Bayern 2018 hopp. Er posierte auf übernachteten vor Swatch-Stores. Als
das hier ist Deutschland. Erstwähler Instagram mit offenem Hemd und ich in den Laden spazierte, um mir
wählen gern die Grünen, das hat die einer Fake-Rolex. Das gnadenlose diese Uhr anzusehen, war sie schon
Bundestagswahl gezeigt. Aber sie Urteil der Wrist Busters: »Lünette längst weg. Also kam ich ein zweites
wählen noch lieber die FDP. sieht aus wie ein Zahnrad, Krone viel und ein drittes Mal und auch ein vier-
Die Jugend versammelt sich nicht zu klein.« Dann kam Corona, der tes. Ich wartete erst stundenlang vor
nur um die Abbruchkante von Lütze- Lockdown. Die Wrist Busters entlarv- einem Laden in Berlin und versuchte
rath, sondern auch um die Rolex ten auf ihrem Account jetzt reihen- es dann noch in Hamburg, Zürich,
GMT-Master II. weise falsche Uhren. Ihr Account London und München. Erfolglos.
Autor Dachsel
Leon, warum trägst du heute keine wuchs und wuchs. Es war, wie man in im Uhrenmuseum
Während ich so auf dem Grün-
Uhr am Handgelenk? »Ich war heute Bayern sagt, eine große Gaudi. Selbst streifen in Charlottenburg auf einer
früh beim Sport, da gab es keine ab- einen Bundesligaprofi mit seiner eier- Bank saß und den Swatch-Store nicht
schließbaren Schränke«, sagt Leon. förmigen GMT Master II überführten aus den Augen ließ, googelte ich die
Okay, klingt vernünftig. Und, Robin, sie. Klar, der Blauton der Lünette war Geschichte von Buzz Aldrin. Ich
was ist deine Lieblingsuhr? »Die Pa- viel zu hell. schaute mir Bilder der Speedmaster
tek Philippe 5712.« Die berühmte Die Wrist Busters sitzen vor uns an, zoomte ran. Was für eine schöne
Nautilus. Beginnen wir mal von vorn, und sagen schlaue Dinge. »Jeder Uhr. Dann landete ich bei James Bond,
wie sind diese Jungs aus München Zweite, der eine Kamera zu Hause der früher mal Rolex trug, aber irgend-
hier gelandet, an diesem Profitisch? hat, ist jetzt ja Businesscoach«, sagt wann auf Omega umschwenkte. Die
Schon als Jugendliche saßen Leon Leon. »Kaufst dir eine Fake-Uhr für total wasserdichte Seamaster an sei-
und Robin beim Juwelier und schau- 50 Euro, mietest dir zu zehnt einen nem Handgelenk blitzte mich an. Es
ten sich Uhren an, das war ihr etwas Lamborghini, hast 20 Outfits dabei, muss der Moment gewesen sein, in

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REPORTER

dem sich diese Uhr für mich entschieden hatte.


Es war also Zufall, es hätte sich auch eine IWC
DIE JUGEND VERSAMMELT industrie manchmal kurz. Man kaufe etwas,
weil es gerade Mode ist. »In der Uhrenindus-
oder eine Rolex für mich entscheiden können, SICH NICHT NUR UM trie geht es um die langfristige Inspiration.
vielleicht war es Schicksal. Das erfahre ich hof-
fentlich in der Schweiz, der Heimat der Uhren.
DIE ABBRUCHK ANTE Menschen sehen eine Uhr und nehmen sich
vor, sie irgendwann einmal zu kaufen.«
VON LÜTZERATH, Das klingt sehr gemäßigt, was uns der CEO
Die Uhrenstadt
Wir brettern gut gelaunt Richtung Süden und SONDERN AUCH UM DIE da erzählt. Emotion nach Fakten. Schweizer
sind halt vernünftige Menschen, die nicht zum
trinken rote Rivella. Wir haben eine Einla- ROLEX GMT-MASTER II. Durchdrehen neigen. Vielleicht ist diese Soli-
dung nach Biel erhalten, in die Zentrale von dität in einer durchdrehenden Welt auch das
Omega. Auf unserer Fahrt haben wir viel Zeit. Faszinierende. Manchmal, wenn die Nach-
Also los, kleines Handgelenk, erzähle mir die richten auf mich einprasseln und mein Handy
Geschichte deiner Uhr. macher. Aufgewachsen ist er in Saint-Imier, vibrierend vom Schreibtisch fällt, drehe ich
»Ich war beim Schweizer Militär und wur- 5000 Einwohner, eine halbe Autostunde ent- meine Seamaster und schaue dem Uhrwerk
de nach einer Woche aus der Offiziersschule fernt. Wir sind am Tag zuvor durchgefahren: durchs Saphirglas beim Arbeiten zu: wie ein
entlassen, weil ich den Beförderungsdienst Das ist eher kein Luxusort. Alte Bauernhäu- pochendes Herz.
verweigerte«, sagt der Fotograf. »Mit dem ser, Durchgangsverkehr. Die Quarzkrise habe Als ich die Arbeiter in der Fabrik beobach-
Sold dieser Woche, gut 1000 Schweizer Fran- in der Region zwei von drei Jobs gekostet, te, die sich in ihren weißen Kitteln über Uhr-
ken, habe ich mir in Basel diese alte Omega erzählt er uns. Noch in den Neunzigern gab werke beugen, ohne jede Hast, als gäbe es
gekauft und sie revidieren lassen.« es für das Uhrmacherhandwerk kaum Lehr- keine Welt da draußen, überkommt mich der
Das ist eine gute Geschichte. Und spricht linge. Junge Leute hätten die Warnungen im Gedanke, dass sich ihre Ruhe in den Uhren
sie nicht dafür, dass wir diese Uhren gar nicht Ohr gehabt, sagt Aeschlimann, all die Sätze: speichert, bis die Ruhe eines Tages auf einen
für die anderen tragen, sondern für uns? »Das ist nichts für die Zukunft. Schaue auf gestressten Menschen wie mich übergeht.
Der Bielersee funkelt uns herausfordernd deinen Vater, schaue auf deinen Onkel. Er Aeschlimann springt auf. Der CEO kippt
an: Da könnte ich jetzt natürlich ohne Pro- musste mit 50 umlernen, er ist jetzt Lehrer.« den minutiösen Plan seiner Presseleute. Er
bleme reinspringen und mit meiner Uhr am Aeschlimann studierte erst Wirtschaft in nimmt sich jetzt den ganzen Vormittag Zeit.
Handgelenk ein bisschen tauchen und das St. Gallen, sein Weg führte Richtung Finan- »Kommen Sie mit.« Neulich bekam George
Versteck des Bösewichts aufspüren. Aber es zen, aber kurz nachdem James Bond anfing, Clooney eine Werksführung. »Clooney liebt
ist zu kalt heute. Wir steuern unseren Mittel- sich eine Seamaster anzuschnallen, Mitte der die Fabrik«, sagt Aeschlimann. In dieser Tra-
klasse-SUV im Schneegestöber durch die Neunziger, kam Raynald Aeschlimann zu dition fühlen wir, das große und das kleine
halb schöne Uhrenstadt La Chaux-de-Fonds Omega. Es waren die Jahre des Comebacks, Handgelenk, uns natürlich wohl. Ich sehe
im Hochjura, hier haben die Häuser große man kämpfte sich mit der Swatch Group an mein Spiegelbild in einer Aufzugtür: Da sind
Fenster, hier sind die Straßen breit, damit die die Weltspitze zurück. eindeutig graue Haare.
Sonne ihren Weg findet in die Uhrmacher- Herr Aeschlimann, haben Uhren eine See- Wenn Aeschlimann durch die Fabrik geht,
häuser. Hier ist die Industrie, das Handwerk. le? »Das Schicksal macht die Seele. Schicksal dann grüßt er seine Mitarbeiter zweisprachig:
Hier ist kein Glamour. heißt: Diese Uhr habe ich von meinem Vater Bonjour, hallo, ça va? Bon appétit! Wir spa-
Im Internationalen Uhrenmuseum wan- gekriegt, ich werde sie meinem Sohn geben.« zieren durchs Omega-Museum, sein Tross
dern wir durch die Geschichte: Es ist ein Wun- Gibt es bei Uhren Liebe auf den ersten versucht, Schritt zu halten. Manchmal zeige
der, dass mechanische Uhren heute boomen. Blick? Aeschlimann tippt sich aufs Revers. ich auf eine Uhr und sage wie ein Kind: »Die
In den Siebzigerjahren sprach alles gegen »Diesen Anzug habe ich um zehn Uhr abends gefällt mir.« Dort die Mondlandung und die
die Schweizer Uhrenindustrie, die Exporte in Tokio gekauft, weil er mir gefiel. Aber Lu- Olympischen Spiele, hier Commander Bond.
brachen ein, viele Menschen verloren ihren xus ist Emotion nach Fakten. Die Liebe hält Ein paar Besucher bleiben stehen und mus-
Job. Die Quarzkrise. Japan dominierte den nicht lange, wenn das Produkt nicht gut ist. tern den gut gekleideten Mann, der da vor
Markt mit günstigen Elektrouhren. Luxus bedeutet, dass die Emotionen bleiben.« den Vitrinen gestikuliert.
Selbst James Bond trug ein paar Filme lang Der Inspirationsprozess sei in der Luxus- »Apollo 13«, 1970, dramatische Momente
Modelle von Seiko. Seine Uhren trugen see- im All. Im Servicemodul explodiert ein Sauer-
lenlose Namen wie H357 5040 Duo Display stofftank. Die Astronauten müssen sekunden-
oder DXA001/002. Aber Schweizer sind genau die Steuerung übernehmen. Sie stop-
resistente Menschen. Ein Uhrmacher, das pen die Zeit mit ihrer Speedmaster. »Hätten
ist das Wichtigste, darf nicht zittern. sie falsch gezählt, wären sie verbrannt«, sagt
Aeschlimann. Sie zählen richtig und über-
Der Uhrenboss leben. Die Nasa dankt es Omega mit einem
In Biel, einer vernebelten Industriestadt ohne Orden. Manchmal geht es bei Luxusuhren um
viel Charme, parken wir vor der Omega-Zen- Leben oder Tod. Sie lassen drei Astronauten
trale: ein heller Bau aus Holz und Glas. Hier in einem Raumschiff überleben und eine gan-
sitzen konzentrierte Schweizer in weißen ze Region in der Schweiz.
Kitteln in sehr cleanen Räumen und setzen Wir machen uns auf den Weg zurück nach
Uhren zusammen. Nebenan residiert der Deutschland, mit einer MoonSwatch im Ge-
Mutterkonzern Swatch. päck. Ich habe sie im kleinen Swatch-Store
Wir werden von einem sehr gut gelaunten am Werksgelände gekauft, nach sechsmona-
Omega-CEO empfangen, Raynald Aeschli- tiger Jagd. Wir kehren heim mit dem Gefühl,
mann. Er trägt einen grauen Zweireiher aus dass es in der Welt der Uhren etwas gibt, das
Japan und eine Seamaster in der Bond-Edi- jeden Hype überdauern wird.
tion. Er begegnet uns mit der guten Laune Man sieht irre Szenen, wenn man sich in
eines Mannes, der regelmäßig mit seinem diese Welt begibt. Bei einem Spaziergang
Markenbotschafter George Clooney textet. durch München beobachtete ich, wie ein dicker
Aber er ist dennoch einer von hier. Der Rolls-Royce quer vor der Filiale von Audemars
eine Großvater war Metzger, der andere Uhr- Uhren im Wert einer Wohnung Piguet parkte, im Halteverbot. Durchs Schau-

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REPORTER

Ärger über die wachsenden Berge von Elek- wonnenen Etats zum Juwelier gefahren und
troschrott. Ich habe wohl meine Form der habe zur Feier des Tages teure Uhren gekauft.
Kapitalismuskritik gefunden: Luxusuhren. Aber er trug sie nur ein paar Monate lang.
Mit diesem Gedanken im Gepäck besuche Eine gab er seinem Sohn, eine andere schenk-
ich einen Schweizer in Berlin. te er einem Mitarbeiter als Dank für beson-
dere Leistungen. Beim legendären Autoren-
Das Ende nen Mille Miglia in Norditalien bekam von
Er macht uns einen Kaffee aus der Kapsel- Matt als Starter mal eine Mille-Miglia-Uhr
maschine. Wir sitzen in seinem Haus in der mit der Nummer eins überreicht, eine Rarität.
Brunnenstraße. Sein Esstisch ist so lang, dass Er weiß nicht, wo er die hingetan hat.
Jesus und seine zwölf Jünger hier sitzen könn- Es ist fast ein bisschen wohltuend, dass ich
ten und immer noch genug Platz wäre für uns jetzt noch diesen Armbanduhren-Skeptiker
zwei. Jean-Remy von Matt ist der bekanntes- treffe. Welche Erklärung hat er für den Trend?
te Werber Deutschlands und Mitgründer der Er habe ihn, offen gestanden, noch gar
Agentur Jung von Matt. Er ist 70 Jahre alt nicht wahrgenommen. Aber für ihn sei der
und sehr durchtrainiert. Er investiere, erzählt Hype plausibel. »In meiner Generation war
er mir, ein Prozent seiner Lebenszeit in Fit- das Auto ein wesentlicher Ausweis des Wohl-
ness, rund 15 Minuten am Tag. Seit er die stands. Es war immer wichtig, dass man nicht
Führung der Agentur abgegeben hat, macht mit dem falschen Auto vorfuhr. Das Auto
von Matt Kunst. Hinter ihm zählt eine Digi- spielt keine Rolle mehr. Ich merke das bei
taluhr die Sekunden herunter, die er schät- meinen Söhnen. Die sind Mitte, Ende zwan-
zungsweise noch zu leben hat, es sind im Mo- zig. Die finden Autos schön, aber wollen keins
Omega-CEO Aeschlimann
ment unseres Gesprächs noch gut 166 Millio- mehr besitzen. Die Ausweisfunktion ist nicht
nen. Unser Gespräch dauert 7200 Sekunden. mehr da. So etwas muss ersetzt werden.«
fenster der Breitling-Boutique sah ich einen Hoffentlich waren das okaye Sekunden im Hinter ihm rieseln die Sekunden seines
Typen mit Sonnenbrille, der sich mit dem Han- Leben des Jean-Remy von Matt. Er denkt viel Lebens weg. Seine Lebenszeituhr erinnert
dy dabei filmte, wie er Geldscheine durch den über Zeitverschwendung nach. Seine Uhr, die mich an eine Anekdote aus meiner Schulzeit,
Laden warf. ich erzähle sie ihm, die Zeit haben wir noch.
Aber was juckt das eine Uhr, die noch im- In der zehnten Klasse saßen wir im Englisch-
mer ticken wird, wenn der Sonnenbrillen- unterricht, und ich wollte wissen, wann end-
Mann schon längst keine Kraft mehr hat, fünf lich die Stunde endet. Wie lange noch?, frag-
Cent aus seinem Geldbeutel zu ziehen. Me- ICH HABE WOHL te ich meinen Nebensitzer. Und er antwortete:
chanische Uhren haben ein eigenes Leben. Noch drei Jahre. »Geil, den will ich kennen-
Sie umgibt eine Aura, die manche Menschen
MEINE FORM DER lernen«, sagt Jean-Remy von Matt.
kaltlässt und andere für immer verschlingt. K APITALISMUS- Als ich zu Hause bin, schickt er mir eine
Ich habe in den vergangenen Wochen mit KRITIK GEFUNDEN: Mail. Nach seinen Berechnungen werde ich
vielen Wahnsinnigen gesprochen. Wenn sie 89,2 Jahre alt, mir bleiben also noch 1,7 Mil-
von ihren Uhren reden, dann geht es nicht LUXUSUHREN. liarden Sekunden. Das Leben erhalte seine
um ihren Wert, dann taxieren sie keine Prei- Bedeutung erst durch Begrenzung, hatte mir
se. Sie erzählen, wie sie in Midtown Manhat- von Matt gesagt, stell dir mal ein Fußballspiel
tan in einem Uhrenladen standen. Wie sie aus vor, das niemals endet.
Liebeskummer eine Tudor kauften. Wie sie Carpe Vitam Clock, hat er vor 20 Jahren das Ich halte meine Uhr in der Hand und dre-
eine Rolex zurückbrachten, weil sie sich ein- erste Mal gebaut. Sie lasse keinen kalt, sagt he an der Lünette. Ich versinke im Ziffern-
fach nicht verlieben wollten in diese Uhr. Ein er. Inzwischen baut von Matt die Lebenszeit- blatt, ein kleiner Ozean. Der Sekundenzeiger
Freund gratulierte mir aufrichtig, als er ein uhr auch auf Bestellung, er sitzt in seinem tickt nicht, er gleitet. n
Bild meiner neuen Uhr sah, als hätte ich eine Atelier und schraubt die Metallplatten ans
Begleiterin fürs Leben gefunden. Eichenholz. Jede Schraube zieht er selbst an.
Als ich an diesem ganz normalen Freitag- Er programmiert die Uhren auf die errechne-
morgen in München saß mit ein paar Tausend te Lebenserwartung seiner Kunden und legt
Euro in meiner Hosentasche, dachte ich noch, ein Büchlein von Seneca bei, »Von der Kürze
dass ich aus Protest eine Luxusuhr kaufe, aus des Lebens«. Ich will von ihm eine These hö-
Widerstand gegen die grünen Wachstums- ren zum Hype der Luxusuhren.
kritiker und die öden Protestanten, die jedes Neulich habe er bei MediaMarkt eine Ent-
Jahr den Konsumwahn kritisieren. Das wäre deckung gemacht, erzählt er stattdessen:
die coole Version der Geschichte. Smartwatches, die mit ihrem detaillierten
In Wahrheit aber, das begreife ich am Ende Ziffernblatt analoge Uhren imitieren. Die
meiner Reise, sehne ich mich nach Beständig- hochgerüsteten Minicomputer scheinen sich
keit. Vielleicht werde ich mal Kinder haben, nach Einfachheit zu sehnen.
denen ich meine Uhr geben kann. Es ist sehr Jean-Remy von Matt, dessen Leben von
wahrscheinlich, dass meine Seamaster älter Deadlines bestimmt war, von Abgaben und
wird als ich, das ist ein tröstender Gedanke. Präsentationen, trägt keine Armbanduhr, das
Ich bin mit Kritik am Kapitalismus auf- fällt mir auf. »Die Uhren sind bei mir nie an-
gewachsen, mit Kritik am unendlichen Wachs- gewachsen«, sagt er. Irgendwo in seinem Haus
tum. Als ich älter wurde, merkte ich, dass ich liegt noch eine Tissot mit Rallye-Armband,
Ingrid Her t felder

den Kapitalismus eigentlich gut finde, Kaufen die er zur Kommunion bekommen hat. Seine
machte mir Spaß. Nun aber spüre ich diese Frau hat sie neulich gefunden.
Sehnsucht nach Dingen, die bleiben. Diese Ausflüge ins Luxussegment blieben erfolg-
Unlust, eine Smartwatch zu tragen. Meinen los. Mit seinem Kompagnon sei er nach ge- Werber von Matt mit seiner Lebenszeituhr

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REPORTER

heute erklären« – mitgeholfen, Uhus


auszuwildern. Ein Erfolgsprojekt.
Er steht in der Voliere, es gefällt
ihm hier.
Weniger zufrieden sind Leute, die
Bilder brauchen. Man kann Men-

Der Soldatenara und die Liebe schen ablichten, den Zoodirekter, den
Minister, Zoo- und Tierschutzperso-
nen. Oder die blauen Hyazinth-Aras
irgendwo in der Höhe. Aber nicht
ORTSTERMIN Was die Kampagne »Zootier des Jahres« über beides auf einmal in einem guten Bild.
das seltsame Verhältnis zwischen Mensch und Kreatur verrät Die Aras – sie kommen nicht nä-
her. Ruhig sitzen sie irgendwo da
oben. Sie sind nicht zahm und sollen
etztes Mal war das Pustel- es nicht sein.
L schwein »Zootier des Jahres«,
eine asiatische Wildschweinart
mit interessantem Borstenwuchs und
Mensch und Vogel dürften sich
nicht zu nahe sein, erklärt eine Ex-
pertin. Es könnte Missverständnisse
Schwellungen im Gesicht. geben. Es haben sich schließlich schon
Dieses Mal trägt das ausgesuchte Vögel in Menschen verliebt. Sie sollen
Tier Federn. Über einem Podium, sich aber in Vögel verlieben.
an einem trüben Tag in Wuppertal, Wenn alles klappt, kann man dann
leuchtet es bunt: der Ara. Ein Papa- ein Ara-Paar beim Schnäbeln sehen.
gei. Oder beim Gefiederputzen, das ge-
Es geht ums Bedrohtsein, draußen genseitige Putzen des Kopfgefieders,
in der Wildnis. Oder in dem, was frü- erzählt eine Tierpflegerin, sei beson-
her einmal die Wildnis war. Die »Zoo- ders intim. Aber es sei nicht einfach
logische Gesellschaft für Arten- und zu verstehen, wer tatsächlich wie häu-
Populationsschutz e. V.« will Auf- fig wessen Nähe sucht. Das verraten

Harald Lange / IMAGO


merksamkeit und Geld und sucht sich dann die Sender am Halsband, mit
dafür jährlich ein Tier aus, bisher wa- denen man das Bewegungsprofil der
ren das beispielsweise der Gibbon, Tiere überprüft.
das Krokodil, die Scharnierschildkrö- Oben also die Vögel, unten die
te. Und nun diese Vögel. Journalistenpopulation, die vor allem
Dies hier ist keine Schönheitskon- die Nähe des Ministers sucht; der sagt
kurrenz, siehe Pustelschwein, aber sie ter«, sagen manche. Menschenwörter. Soldatenaras noch eben etwas zu den Vogelnamen.
sehen gut aus, die Aras. Oder sahen Und so, wie man von Menschenliebe in Amazonien »Kleiner Soldatenara« – man müsse
gut aus, 19 Arten kennt man, 16 davon erzählt, so erzählt Lawrenz von die- sich »davon lösen«, es dem Vogel
sind noch da. Leuchtend blau der be- sen Vögeln. Alleinstehende ziehen nicht übelnehmen, so klingt das.
drohte Hyazinth-Ara. Der Kleine Sol- hier ein, Jungvögel, Paare, die nicht Dann muss er los. Zurück bleiben ein
datenara, ebenfalls gefährdet, ist brüten. Sie kommen zusammen. Es paar Menschen und ein paar Häpp-
hauptsächlich grün und ein bisschen gibt Auswahl. Vögel finden sich, wer- chen mit Salami und kaltem Fleisch.
rot. Soldatenara, das lenkt ab, aber den zum Paar, werden in einen ande- Der Mensch legt sich tote Tiere
Moment, hier geht es um Tiere. ren Zoo gebracht. Und vermehren aufs Brot und schaut sich lebende Tie-
Der Mensch isst Tiere, streichelt sich – freudiger, als wenn man sie re an, im Zoo.
sie, dressiert sie, stopft sie aus, er- zwangsweise zusammenbringt, das Der Mensch baut Pinguinen mit
forscht sie, gibt ihnen Namen, sperrt ist die Hoffnung. viel Aufwand ein künstliches Habitat,
sie ein, stellt sie aus. Nützt er ihnen Sie brüten, produzieren Küken, damit die die Freiheit nicht allzu sehr
auch? Kann er das? die man später hoffentlich auswildern vermissen sollen. Man geht zum Pin-
Juristisch werden Tiere hierzulan- kann. Sind – glücklicher? Es gibt Vo- guinquartier in Wuppertal und sieht
de behandelt wie eine Sache. Für gelexperten, die über Freiheit und ein Pinguinpaar beim Schnäbeln, und
Zoos waren sie lange Zeit eine Ware, Glück und Unglück in der Partner- es fällt schwer, darin nichts Mensch-
mit der man Einkünfte kreiert. Und wahl der Vögel spekulieren. liches zu sehen.
nun: steht da der Direktor des »Grü- Glück, Unglück – große Worte. Bei den Löwen gibt es an diesem
nen Zoo Wuppertal« vor geladenen Die Leute der »Zootier«-Initiative Tag Kaninchen. Das irritiert erst, aber
Gästen und redet über Gefühle. Von wären zufrieden mit reichlich Bericht- man besinnt sich: Es ist wie beim
langjährigen, eher kläglichen Ver- erstattung. Die Berichterstatter mit Menschen, manchmal. Nur dass das
suchen, Papageien zu züchten, spricht guten O-Tönen und schönen Bildern. Kaninchen roh und mit Fell verzehrt
Arne Lawrenz. Man habe umgedacht. Es gibt einen Minister, den grünen wird anstatt geschmort mit Soße.
Man halte sich nun an eine Experten- NRW-Umweltminister Oliver Kri- Der Leopard sitzt auf seinem
weisheit, die lautet: »Es muss Liebe scher, der zufrieden wirkt. »Unheim- Die Vögel Holzpodest und kann nichts dafür,
im Spiel sein.«. Er sagt: »Zwangsehen lich gefreut« habe er sich, als er die müssen sich dass Menschen eine Kampfmaschine
funktionieren bei Papageien nicht.« Schirmherrschaft über die Kampagne nach ihm benannt haben, die in den
Er redet im Ton eines Partnerver- bekam. Er klingt glaubhaft, er sei mögen. Krieg zieht.
mittlers über »Aralandia«, also über Hobby-Ornithologe, sagt er, und ein Zwangsehen Er sitzt da und rührt sich kaum.
jene speziell entwickelte, noch nicht Birdwatcher, der Listen führe, sei er Blickt zum Drahtzaun und durch den
lang eröffnete, großräumige Voliere auch. Und er habe als Zivildienstleis-
funktionieren Drahtzaun hindurch, in die Ferne.
im Wuppertaler Zoo. »Dating Cen- tender – »was das ist, muss man ja nicht. Barbara Supp n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 57


WIRTSCHAFT

Verbraucher haben
das Nachsehen
Zinsen für die Einlagen der Banken
bei der EZB sowie durchschnittliche
Zinsen* auf Tagesgeldkonten in
Deutschland, in Prozent

für Einlagen für Tagesgeld

2,50 2,50

2,00

1,50

1,00

0,71
0,50

0,00

−0,50

Daniel Kubirski / picture alliance


−1,00
2020 2021 2022 2023
* als Mittelwert von 78 ausgewählten Instituten
S Quellen: EZB, FMH; Stand: 2. Februar
Skyline von Frankfurt am Main

Banken streichen Zinsen ein


FINANZINDUSTRIE Während Deutschlands Sparer weiter darben, verdienen die Kreditinstitute prächtig
an der Geldpolitik der EZB. Laut einer Schätzung winken ihnen allein 2023 gut 27 Milliarden Euro.

ünfmal in Folge hat die Europäische In den vergangenen Jahren hatte die schen Finanzinstitute auf diese Weise im
F Zentralbank (EZB) die Leitzinsen
zuletzt kräftig erhöht – doch bei den
deutschen Sparerinnen und Sparern kommt
EZB die Leitzinsen auf historische Tiefst-
stände gesenkt – den Einlagensatz sogar bis
in den negativen Bereich. Geschäftsbanken
laufenden Jahr rund 27,4 Milliarden Euro
einstreichen könnten, sollte die EZB die
Leitzinsen wie erwartet bis Mitte des Jahres
davon bisher wenig an. Gerade mal 0,71 mussten also eine Art Strafzins zahlen, noch einmal um 0,5 Prozentpunkte an-
Prozent Zinsen bieten deutsche Kreditinsti- wenn sie überschüssiges Geld bei der Zen- heben. Selbst wenn die Leitzinsen 2023
tute laut Daten der Finanzberatung FMH tralbank deponierten. Teilweise gaben sie nicht mehr weiter steigen, würden die Ban-
im Schnitt aufs Tagesgeld – bei einer Infla- die Negativzinsen an ihre Kunden weiter. ken immer noch rund 25 Milliarden Euro
tionsrate von knapp acht Prozent 2022 Dort, wo ihnen das nicht gelang, mussten Zinsen erhalten.
schmelzen die Ersparnisse also weiter dahin. sie draufzahlen. »Diese risikolosen Erträge nutzen Ban-
Deutlich besser ergeht es den Banken. Inzwischen können die Banken ihre ge- ken, um ihre Gewinne zu erhöhen und
Sie profitieren etwa vom stark gestiegenen waltigen Überschussreserven, die sie unter mitunter auszuschütten, während auf den
Einlagenzins, einem der Leitzinssätze der anderem aus dem Verkauf von Staatsanlei- Konten der Kunden davon oft nichts an-
EZB. Die Notenbank verzinst damit über- hen an die EZB angehäuft haben, praktisch kommt«, sagt Experte Michael Peters von
schüssiges Geld der Geschäftsbanken, das risikolos zu dem hohen Zinssatz bei der Finanzwende. »Dem muss die EZB endlich
diese über Nacht bei ihr parken. Seit Don- Zentralbank parken. Daran verdienen sie ein Ende bereiten. Die Zentralbank sollte
nerstag liegt der Satz bei 2,5 Prozent – und prächtig: Die Bürgerbewegung Finanzwen- die Banken nicht länger bedingungslos
damit so hoch wie zuletzt im Jahr 2008. de hat ausgerechnet, dass allein die deut- subventionieren.« STK

58 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


»Sprengsatz im Palmölindustrie werden sich die Produktions-
bedingungen in den Anbaulän-
Bundeshaushalt« gelobt Besserung dern für Umwelt und Menschen
FINANZEN Die Schulden aus ROHSTOFFE Der Roundtable nicht verbessern, im Gegenteil.«
Coronapandemie und Ukraine- on Sustainable Palm Oil Hundert Prozent nachhaltig
krieg werden die Spielräume im (RSPO), ein Zusammenschluss angebautes Palmöl zu erreichen

Michele Tantussi / REUTERS


Bundeshaushalt auf Jahrzehnte von Industrie und Nichtregie- bleibe aber »eine Herausforde-
hinaus massiv einschränken. Zu rungsorganisationen, verspricht rung«. Die neue EU-Verord-
diesem Ergebnis kommt eine eine deutliche Verbesserung der nung zur Entwaldung werde
Analyse von Etatexperten der Anbaubedingungen für Palmöl hoffentlich zu einer Besserung
Unionsfraktion. Von 2028 an Scholz, Lindner in den kommenden Jahren. Es beitragen. Der im Jahr 2004 auf
werde die Bundesregierung bis wäre »fatal«, so RSPO-Europa- Initiative des WWF gegründete
zu 20,6 Milliarden Euro jährlich Unterstützungen für Strom- und direktor Ruben Brunsveld, Roundtable vergibt das RSPO-
an Tilgung aufbringen müssen, Gaskunden (»Doppelwumms«). »wenn Europa dem Palmöl den Zertifikat etwa für Palmöl, bei
um diese Verbindlichkeiten Zu der Summe kommen noch Rücken kehren würde«. Vor al- dessen Anbau keine Regenwäl-
abzutragen, heißt es in dem einmal 100 Milliarden Euro für lem aus China, Indien und In- der gerodet oder Arten vernich-
Papier. Die Belastungen seien das Sondervermögen Bundes- donesien steige die Nachfrage. tet werden. Das Label kritisie-
ein »Sprengsatz für den Bun- wehr, die in den nächsten Jah- Wenn Europa weniger abneh- ren viele Hilfsorganisationen
deshaushalt«. Der Analyse zu- ren abfließen sollen. Kredite, me, werde mehr Palmöl in Län- dennoch wegen zu geringer
folge nahmen Finanzminister die die Höchstgrenze der Schul- der mit niedrigeren Nachhaltig- Anforderungen als »Green-
Christian Lindner (FDP) und denbremse übersteigen, sowie keitsstandards verkauft. »Damit washing«. SBO
sein Amtsvorgänger, der heutige Verbindlichkeiten aus Neben-
Bundeskanzler Olaf Scholz haushalten muss die Bundes-
(SPD), von 2020 bis 2022 mit regierung von 2028 an über drei
Ausnahmegenehmigungen Jahrzehnte abtragen. Das Geld
537,6 Milliarden Euro an neuen für die Tilgung fehlt dann für
Schulden auf – über die zulässi- andere Vorhaben. Die Schulden
ge Obergrenze der Schulden- würden überhandnehmen, sagt
bremse hinaus. Die Zahl deckt CDU/CSU-Chefhaushälter

Dimas Ardian / Bloomberg / Getty Images


sich mit Angaben des Bundes- Christian Haase. »Statt haus-
finanzministeriums. Damit fi- haltspolitischer Geisterfahrt
nanzierten sie zum Beispiel brauchen wir kluges und verant-
Coronahilfen für Betriebe oder wortungsvolles Handeln.« REI

Weniger Service für ohne eine Bahnreise anzutre-


ten. Nun will der Konzern zu- Arbeiter bei Ölpalmenfrüchte-Ernte in Indonesien
Premiumkunden sätzlich ein gültiges Fernver-
BAHN Die Deutsche Bahn be- kehrsticket verlangen. Im Pre-
grenzt ihren Service für Vielfah- miumbereich, in dem alkoholi- Kein Managergehalt unter anderem mit den Lebens-
rer. So wird ab März der Zu- sche Getränke ausgeschenkt und läufen und Qualifikationen der
gang zu den Lounges, die es an kleine Snacks feilgeboten wer- für VW-Betriebsräte Arbeitnehmervertreter. Die
größeren Bahnhöfen gibt, ein- den, entfällt die Möglichkeit, AUTOINDUSTRIE Die Bezüge Vergütung Osterlohs und vier
geschränkt. Bisher reichte es, einen Gast mitzubringen. Zu- führender Betriebsräte im VW- weiterer leitender Betriebsräte
einen entsprechenden Status im letzt waren die Premium-Loun- Konzern sind im Vergleich zu führte zu einem Strafprozess
Kundenbindungsprogramm ges, die neben Kunden mit Pla- denen ihrer Vorgänger erheblich am Landgericht Braunschweig
BahnBonus nachzuweisen. tin-Status teils auch Inhabern gesunken. Unter den Spitzen- gegen frühere Personalmanager.
Offenbar wurde die Regelung einer Erster-Klasse-Fahrkarte kräften der Arbeitnehmerver- Die dort erfolgten Freisprüche
teilweise missbraucht: Status- zur Verfügung stehen, häufig treter erhält niemand mehr eine kassierte der Bundesgerichtshof
inhaber besuchten die Lounges, überfüllt. Laut Bahn litten unter Vergütung auf Management- (BGH) im Januar und verwies
der aktuell sehr hohen Auslas- niveau, ergab eine interne Erhe- den Fall zurück nach Braun-
Premium-Lounge tung »die Atmosphäre, der Ser- bung. 98 Prozent der derzeit schweig. Die schriftliche Urteils-
in Frankfurt vice und die Sitzplatzverfügbar- rund 250 Betriebsratsmitglieder begründung des BGH steht noch
keit«. Eine weitere Einbuße er- beziehen ein Tarifgehalt, nur aus. VW teilt mit, man werde
wartet Kunden der Ersten Klasse 2 Prozent – das sind vier Perso- das Urteil »sorgfältig prüfen«.
an Bord: Die Auslage von Zeitun- nen – werden außertariflich be- Nach Beginn der staatsanwalt-
gen ist endgültig passé. Zuletzt gab zahlt. Bis vor wenigen Jahren schaftlichen Ermittlungen wur-
es die zumindest teilweise noch erhielten die damaligen Betriebs- den 2017 die Gehälter für viele
als Bückware: Die Bahn wollte ratsvorsitzenden der VW-Werke langjährige führende Betriebs-
die Kundschaft offenbar sanft in Emden, Braunschweig, Salz- räte eingefroren. Zudem führte
entwöhnen und gab die Blätter gitter, Hannover und Kassel in- ein Generationswechsel zu
noch auf Nachfrage heraus, be- klusive Boni noch Jahresgehäl- sinkenden Bezügen. Osterlohs
Oliver Lang / Deutsche Bahn

richtet ein beteiligter Verlag. Die- ter in niedriger sechsstelliger Hö- Nachfolgerin Daniela Cavallo
se Woche ende nun auch die Be- he. Ex-Betriebsratsboss Bernd hatte ihre Vergütung 2021 öf-
lieferung mit diesen Notexempla- Osterloh wurde zuletzt wie ein fentlich gemacht: rund 100 000
ren, heißt es. Die Bahn teilt mit, leitender Angestellter vergütet – Euro plus einen fünfstelligen
Zeitungen gebe es künftig an Bord mit bis zu 750 000 Euro. VW Bonus, der vom Erfolg des
nur noch digital. MUM rechtfertigte die Bezahlungen Unternehmens abhängt. SH

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 59


WIRTSCHAFT

Frust am Bau
IMMOBILIEN In Deutschland fehlen Hunderttausende Wohnungen.
Hohe Zinsen und gestiegene Materialkosten verschärfen die
Not, denn es wird kaum noch neu gebaut. Braucht es mehr Geld
vom Staat – oder mehr Mut zum Standardhaus?

wanzig Jahre lang lief es gut für Ralf Die Teuerung trifft nicht nur private Bau-
Z Dwenger. Um die Jahrtausendwende
übernahm der Oldenburger den Fünf-
Mann-Holzbaubetrieb seines Vaters und
herren. Deutschlands größter Wohnungskon-
zern Vonovia will nur noch laufende Projek-
te fertigstellen und hat für dieses Jahr sämt-
machte daraus eine prosperierende mittel- liche Neubauten gestoppt. Vonovia-Vorstand
ständische Firma. Jahr für Jahr kamen mehr Daniel Riedl begründete den radikalen Ent-
Aufträge herein, das Geschäft brummte. schluss in der »Westdeutschen Allgemeinen
Heute hat Dwenger mehr als 50 Angestellte. Zeitung« mit den gestiegenen Finanzierungs-
Gerade erst hat er insgesamt 1,8 Millionen und Baukosten: Bei Objekten, die der Woh-
Euro in eine neue Werkshalle investiert. nungsriese früher für 12 Euro Kaltmiete je
Doch nun fragt sich der Unternehmer, ob Quadratmeter hätte anbieten können, müsse
sich die Investition jemals rechnen wird. Die er jetzt an die 20 Euro verlangen, um die Kos-
Geschäftsaussichten seien »miserabel«, sagt ten von 5000 Euro pro Quadratmeter rein-
er. Sein Auftragsvolumen ist um rund 50 Pro- zuholen. In München oder Frankfurt sei das
zent eingebrochen. Vor allem private Bau- vielleicht noch möglich, in weiten Teilen
herren stornierten wegen der stark gestie- Deutschlands indes »völlig unrealistisch«.
genen Zinsen und der hohen Kosten ihre Bau- Also wird gar nicht mehr gebaut.
vorhaben. »So einen Einbruch habe ich in »Die höheren Finanzierungskosten und
25 Jahren nicht erlebt«, sagt Dwenger. Noch die höheren Materialpreise sind ein giftiger
könne er geplante Projekte fertigstellen. Spä- Cocktail für die Branche«, sagt Sebastian Dul-
testens im Frühjahr aber werde er seine Mit- lien, Direktor des Instituts für Makroökono-
arbeiter in Kurzarbeit schicken müssen. mie und Konjunkturforschung. Und dieses
So geht es Bauunternehmern im ganzen Gift könnte nicht nur die Bauindustrie, son-
Land. Der jahrelange Boom der Branche hat dern das ganze Land lähmen. Laut Berech-
ein abruptes Ende gefunden. Noch vor Kur- nungen des Pestel-Instituts und des Baufor-
zem hatten Häuslebauer große Mühe, über- schungsinstituts Arge fehlen in Deutschland
haupt Anbieter zu finden – jetzt laufen aller- mindestens 700 000 Wohnungen. Um den
orten die Orderbücher leer. Laut Daten des Gebäudesektor klimaneutral zu machen,
Statistischen Bundesamts sanken die Auf- müssen in den kommenden Jahrzehnten zu-
tragseingänge im Bauhauptgewerbe in den dem Millionen Bestandsimmobilien saniert
ersten elf Monaten des vergangenen Jahres werden. Mal abgesehen von maroden Brü-
kalender- und preisbereinigt um 8,2 Prozent – cken, Straßen und Bahntrassen. Allein der
ein ganz neues Gefühl für eine Branche, die Sanierungsbedarf für das Bahnnetz wird auf
sich vor Arbeit jahrelang kaum retten konnte. 86 Milliarden Euro geschätzt.
Seit der Finanzkrise 2008 hatten sich die Auf-
tragsbestände mehr als verdreifacht.
Ausgelöst wird der Bauschock durch eine
Verquickung ungünstiger Umstände: Weil
Notenbanken die Leitzinsen erhöhten, um
die Inflation zu bekämpfen, verteuerten sich
Immobilienkredite massiv. Die Zinsen für
Baudarlehen kletterten binnen eines Jahres
von unter einem auf mehr als dreieinhalb
Prozent. Kostete ein typischer Eigenheim-
Roman Pawlowski / DER SPIEGEL

kredit über 300 000 Euro vor einem Jahr


noch rund 750 Euro im Monat, muss nun mit
rund 1380 Euro kalkuliert werden. Zugleich
Jochen Eckel / SZ Photo

verteuerten sich die Materialien infolge des


Ukrainekriegs drastisch, Holz und Stahl kos-
Neubauten in
teten im Dezember jeweils rund 38 Prozent
Berlin-Neukölln mehr als vor zwei Jahren. Bauen wird damit
für viele unbezahlbar. Holzbauer Dwenger

60 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


WIRTSCHAFT

Würden jetzt reihenweise Baufir­ an Sozialwohnungen mangelt es, was


men pleitegehen, fehlten künftig drin­ Erst Boom die ärmsten Bevölkerungsschichten
gend benötigte Kapazitäten, fürchtet dann Crash? besonders hart trifft. Ein Drittel der
Dullien: »Einen schrumpfenden Bau­ für 2023 und 2024 geplanten Einhei­
sektor können wir uns angesichts der Auftragseingang ten werde voraussichtlich nicht fertig­
Herausforderungen nicht leisten.« im Wohnungsbau gestellt, warnt der Gesamtverband
in Deutschland;
Wie aber kann und soll die Politik real, kalender- und
der deutschen Wohnungswirtschaft.
die Baukrise abwenden? Mit mehr saisonbereinigt Schon für das abgelaufene Jahr hat
Staatsgeld, wie manche Unternehmen Index: 2015=100
die Ampelkoalition ihr selbst gesteck­
fordern? Oder mit weniger Regulie­ tes Ziel, mindestens 400 000 neue
150
rung und laxeren Vorgaben für den Wohnungen zu errichten, krachend
Klimaschutz – auch auf die Gefahr verfehlt. Nur 280 000 dürften es tat­
hin, die hohen Standards im deut­ sächlich geworden sein, schätzt das
schen Bauwesen ebenso aufzugeben Baugewerbe, Tendenz sinkend. Ins­
wie die Emissionsziele? besondere für die SPD, die im Bun­
Bei Reinhard Quast weckt die ak­ 100 destagswahlkampf mit dem Thema
tuelle Lage böse Erinnerungen. Er um Stimmen buhlte, ein Offenbarungs­
ist Aufsichtsrat des Familienbetriebs Nov. eid. Zumal sie eigens ein Ressort schuf,
2022
Otto Quast und Präsident des Zentral­ 89,7
das sich der vermeintlichen Priorität
verbands Deutsches Baugewerbe. zu 100 Prozent widmen sollte: das
Auch in seiner Firma sei der Auftrags­ Bundesbauministerium.
bestand von 140 Millionen Euro auf 50 Umso lauter werden nun die Rufe
90 Millionen Euro zusammenge­ nach Staatshilfen. Das Bündnis »So­
schmolzen, erzählt Quast. Noch hal­ – 42 % ziales Wohnen«, ein Zusammen­
te sich mancher in der Branche mit gegenüber schluss aus Mieterbund, Baugewerk­
dem Hoch
dem Abarbeiten öffentlicher Aufträge im Okt. 2020
schaft, Sozial­ und Baubranchenver­
für Straßen oder Trassen über Wasser, bänden, warnt vor einer in »ihrer
aber lange dürfte das kaum mehr 0 Dimension beängstigenden Sozial­
gut gehen. Weil die kommunalen 2010 2023 wohnungsnot«.
Budgets mit der Kostenexplosion Abhilfe könnten nicht nur Neu­
nicht Schritt halten können, verab­ Fertiggestellte bauten und Aufstockungen schaffen,
schieden sich viele Kämmerer von Wohnungen sondern auch die Umwidmung von
in Deutschland,
ihren Bauplänen. Für den öffentlichen in Tausend Gewerbeflächen zu Wohnungen –
Sektor rechnet der Hauptverband der schließlich bleibt manches Büro in
Deutschen Bauindustrie in diesem 300 Deutschland verwaist, seit Arbeit­
Jahr mit einem Umsatzrückgang von 293 geber und Arbeitnehmer die Vorzüge
fünf Prozent. des Homeoffice kennengelernt haben.
Quast beschleicht das Gefühl, dass 200
Doch eine XXL­Wohnbauoffensive
sich die Geschichte wiederholen würde entsprechende Kosten ver­
könnte. Denn schon einmal gab es im ursachen. Das Bündnis fordert ein
Nachkriegsdeutschland eine histori­ 50­Milliarden­Euro­Wohnbaupaket
sche Baukrise: Nach dem Aufbau Ost, 100 nach dem Vorbild des Bundeswehr­
der von 1990 an zunächst zu einem Sondervermögens.
Bauboom in den damals neuen Bun­ Bei Bundesbauministerin Klara
desländern geführt hatte, wurden vie­ Geywitz (SPD) beißt man mit solchen
le Kapazitäten nicht mehr gebraucht, 0 Forderungen bislang auf Granit. Nach
Betriebe mussten reihenweise schlie­ 2010 2021 mehr Geld zu rufen sei ein beliebter
ßen. Zwischen 1995 und 2005 sank Reflex, erklärte die Ministerin im
die Zahl der Bauarbeiter von 1,4 Mil­ Beschäftigte SPIEGEL ­Gespräch (5/2023). »Es ist
lionen um die Hälfte auf nur noch im Bauhauptgewerbe aber nicht die richtige Antwort.«
rund 700 000. Inzwischen hat die in Deutschland, Geywitz verweist darauf, dass man
in Tausend*
Branche zwar wieder aufgestockt, 911
2022 allein über die Bundesförderung
blieb trotz der jahrelangen Auftrags­ für effiziente Gebäude rund 300 000
zuwächse allerdings unter der Marke 800 Wohneinheiten finanziell unterstützt
von einer Million Beschäftigten. habe. Deswegen sei kein bisschen
Gingen erneut Tausende Fachkräf­ mehr gebaut worden. »Wenn Sie ein­
te verloren, werde sich das Baugewer­ fach Milliarden an Subventionen in
be davon auf Jahrzehnte nicht erho­ den Markt pumpen, steigen nur die
len, mahnt Quast. Die ohnehin große 400 Preise.« Geywitz will stattdessen ge­
Wohnungsnot verschärfe sich dann zielt den sozialen Wohnungsbau för­
weiter. Ist das mehr als nur Gejammer dern. Zudem stellt der Bund 1,1 Mil­
von Lobbyisten, die in den vergange­ liarden Euro im Jahr für Neubauten
nen Jahren klotzig verdienten? zur Verfügung – Peanuts im Vergleich
Jochen Eckel / SZ Photo

Fest steht, dass der Bausektor zum 0 zu den Wünschen der Industrie.
denkbar schlechtesten Zeitpunkt 2010 2021 Unterstützung kommt von unge­
schwächelt. Aktuell fehlen in Deutsch­ * Jahresdurchschnittswerte wohnter Stelle: »Aufgabe der Politik
land so viele Wohnungen wie seit S Quellen: Bundesbank, kann es nicht sein, mit Fördermitteln

Hauptverband der Deutschen


mehr als 20 Jahren nicht. Vor allem Bauindustrie die Gewinne von Immobilienkonzer­

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 61


WIRTSCHAFT

nen zu treiben«, sagt Carsten Burck- Trotz aller Bemühungen der Politik
hardt von der Industriegewerkschaft herrscht in den Landesbauordnungen
Bauen-Agrar-Umwelt. Sein Verdacht: föderaler Wildwuchs. »Das ist fast so,
»Mancher Konzern verschiebt sein als müsste Volkswagen den Golf für
nächstes Neubau- oder Sanierungs- Niedersachsen mit eckigen und für
projekt in der Hoffnung, das eine Bayern mit runden Rücklichtern pro-
oder andere Fördermittelchen abgrei- duzieren«, sagt Tim-Oliver Müller,
fen zu können.« Hauptgeschäftsführer des Hauptver-

snapshot-photography / ullstein bild


Tatsächlich ist die Situation para- bands der Deutschen Bauindustrie.
dox: Fast ein Viertel der Bauunter- Müller plädiert nicht nur für eine Ver-
nehmen klagte im Dezember über einheitlichung des Baurechts, sondern
weggebrochene Aufträge. Einige hät- auch für mehr Flexibilität bei der Ver-
ten ihr Schicksal eng an große Immo- gabe von öffentlichen Aufträgen.
bilienkonzerne geknüpft, die nun ihre Derzeit muss der Staat seine Auf-
Investitionen kappten, sagt Gewerk- träge in Einzellosen vergeben: Ein
schafter Burckhardt. »Die geraten Unternehmen verantwortet den Tief-
jetzt ins Taumeln.« Zugleich gab ein bau, ein anderes die Sanitäranlagen,
Drittel der Baubetriebe an, durch den ke kommen sich weniger in die Que- Vonovia-Baustelle in ein weiteres die Elektrik. »Das sorgt
Fachkräftemangel ausgebremst zu re. Obendrein bekommen die Mit- Berlin-Spandau: oft für Reibungsverluste und er-
Der Wohnungsriese
werden. Davon zeugen auch die vie- arbeiter mit jeder Baustelle mehr hat für 2023 alle schwert insbesondere das serielle
len Werbetafeln auf den Baustellen, Routine, was die Produktivität stei- Neubauprojekte Bauen«, sagt Müller. »Die Gesamt-
mit denen Firmen um Poliere und gert. Gerade errichtet Goldbeck rund gestoppt vergabe, bei der ein Generalunter-
Maschinenführerinnen buhlen. Ein 30 Sporthallen in Berlin. Dass die nehmen beauftragt wird, würde viele
Teil der Branche hat zu wenige Auf- fertigen Hallen sich ähneln werden, Bauprojekte einfacher machen.« Grö-
träge, ein Teil zu wenige Mitarbei- sei für die Menschen in Berlin zu ver- ßere Spieler wie Goldbeck könnten
ter – fast so, als würde ein Autofahrer kraften, ist Goldbeck überzeugt. »Die von einer Liberalisierung des Vergabe-
zugleich Gas geben und bremsen. Leute erwarten von einer Sporthalle rechts profitieren. Kleinere Betriebe
Selbst mancher Baulöwe ist von kein ausgefallenes Unikat, sondern fürchten, so aus dem Markt gedrückt
Staatshilfen deshalb nicht überzeugt. freuen sich, wenn sie schnell fertig ist zu werden.
»Nur weil es nach einem tollen Som- und gut funktioniert.« In einem Punkt ist sich die Branche
mer auch mal regnet, sind staatliche Was für Turnhallen gilt, ließe sich einig: Um die Baulücke zu schließen,
Hilfen nicht gleich zwingend erfor- auch auf Wohnungen anwenden. müssen Projekte schneller genehmigt
derlich«, sagt Jan-Hendrik Goldbeck, Serielles Bauen gilt als Schlüsseltech- werden. Sie würden Bundeskanzler
Co-Chef des gleichnamigen Unter- nologie, um die Wohnungsnot zu Olaf Scholz (SPD) gern beim Wort
nehmens aus Bielefeld. Subventionen mindern. Unternehmer Goldbeck nehmen, der nach dem schnellen Bau
in Milliardenhöhe seien nicht unbe- sagt: »Wohnungen ab 2000 Euro pro der LNG-Terminals vom »Deutsch-
dingt die beste Lösung, fügt sein Bru- Quadratmeter zu errichten ist für uns land-Tempo« schwärmt. Noch ist
der und Co-Geschäftsführer Jörg- machbar. Wenn alle Rahmenbedin- davon nichts zu spüren – selbst der
Uwe Goldbeck hinzu. »Die Politik gungen stimmen. Leider ist das häufig digitale Bauantrag, der zum Jahres-
sollte lieber einen Genehmigungsrah- nicht der Fall.« So bestünden viele wechsel eingeführt sein sollte, lässt
men für schnellere Neubauten und kommunale Bauträger darauf, dass vielerorts auf sich warten. Dass FDP
Sanierungen schaffen.« zu jeder Wohnung ein Kellerabteil und Grüne seit Monaten um den
Die Goldbecks glauben, dass in gehört – obwohl das die Kosten für Autobahnausbau streiten, hebt die
der Krise auch eine Chance liegt, die Neubauten massiv nach oben treibe. Laune nicht. »Das ist nicht die Ver-
Bauindustrie effizienter zu machen – Auch mit mehrgeschossigen Gebäu- lässlichkeit, die wir brauchen, um
Peter Rigaud / DER SPIEGEL

vorausgesetzt, die Politik gebe ihr die den lasse sich Geld sparen, »aber künftige Investitionen zu planen«,
Chance dazu. »Der Bau der Tesla- mehr als drei oder vier Stockwerke heißt es beim Baukonzern Hochtief.
Fabrik in Grünheide hat gezeigt, was wollen viele Städte nicht«. Holzbau-Spezialist Dwenger hofft
in Deutschland möglich ist, wenn Ohnehin sähen viele kommunale auf bessere Zeiten. Eine Entspannung
Politik und Unternehmen an einem Bauträger innovative Lösungen wie an der Zinsfront würde helfen. Man-
Strang ziehen«, sagt Jan-Hendrik das serielle Bauen skeptisch, sagt che Ökonomen glauben, dass die EZB
Goldbeck. Goldbeck. »Da gilt dann schnell: ›Ge- angesichts der schrumpfenden Infla-
Seine Firma war am Bau der Tesla- lesen, gelacht, gelocht‹. Und man geht tion bereits im kommenden Jahr ver-
Fabrik in Grünheide beteiligt. Mit wieder zum bisherigen Vorgehen sucht sein könnte, die Zinsen wieder
rund 11 000 Beschäftigten zählt Gold- über.« Manche Kommune richtet lie- zu senken. Bauen würde dann er-
Xander Heinl / photothek / IMAGO

beck zu den größeren Unternehmen ber aufwendige Architekturwettbe- schwinglicher, zumal auch einige Bau-
der kleinteiligen Baubranche. Die Bie- werbe aus und entscheidet sich am materialien bereits günstiger werden.
lefelder bauen Logistik- und Industrie- Ende doch für den langweiligsten Ent- Für manch kleineren Betrieb kommt
hallen, Büro- und Schulgebäude, wurf, um ja kein Risiko einzugehen. das womöglich zu spät. »Es wird einen
Parkhäuser und Wohngebäude – und Verkompliziert wird die Lage massiven Anstieg der Insolvenzen ge-
setzen auf das sogenannte elementier- durch den Föderalismus. In Baden- ben«, glaubt Dwenger. Gewerkschaf-
te Bauen. Dabei werden Bauelemen- Württemberg müssen Immobilien- ter Burckhardt warnt angesichts der
te in Produktionshallen vorbereitet investoren nicht nur einen Autopark- Bundesbau- schlechten Stimmung in der Branche
und dann auf der Baustelle nur noch platz, sondern auch Fahrradstellplät- ministerin Geywitz, vor einer selbsterfüllenden Prophe-
montiert. ze einplanen – in Hamburg wurde die Ökonom Dullien: zeiung: »Wenn man permanent vom
»Nach mehr
Das hat Vorteile: Die Teile können Stellplatzbaupflicht dagegen ganz Geld zu rufen
Weltuntergang predigt, kommt der
auch bei schlechtem Wetter vorgefer- abgeschafft. Ob bei Parkplätzen, ist ein beliebter auch irgendwann.«
tigt werden, unterschiedliche Gewer- Brandschutz oder Brüstungshöhen: Reflex« Michael Brächer, Henning Jauernig n

62 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


WIRTSCHAFT

Hauptversammlung das Beschluss-


organ börsennotierter Firmen. Die Ak-
tionäre sind deren Eigentümer, die Vor-
stände angestellte Manager. Sie arbei-
ten für die Aktionäre, nicht umgekehrt.
Das Management sollte wenigs-

Mehr Buffet(t) wagen tens einmal im Jahr auf seine Eigen-


tümer treffen, sich physischer Kritik
stellen, Nachfragen beantworten,
Stimmungen erspüren. Pensions-
ANALYSE Trotz Inflation parken die Deutschen ihr Geld am liebsten immer oder Investmentfonds können auch
unterjährig mit dem Management
noch auf dem weitgehend zinslosen Sparbuch. Eine echte Aktienkultur gibt es sprechen, normale Kleinaktionäre
nicht – auch weil Politik und Unternehmen sie gar nicht wollen. nicht. Diese aktienrechtlich fragwür-
dige Ungleichbehandlung darf nicht
verschärft werden, indem man sich
ie Deutschen sind, das ist be- Letztere ganz vom Leib hält.
D kannt, notorische Aktienmuf-
fel. Seit Jahrzehnten parken
sie ihr Erspartes lieber auf dem Giro-
Aktienkultur entsteht so nicht.
Niemand weiß das besser als Warren
Buffett, der vielleicht erfolgreichste
konto oder dem Sparbuch, wo es kei- Investor der Geschichte. Die HV sei-
ne oder kaum Zinsen gibt, obwohl ner Anlagefirma Berkshire Hathaway
Dividendenpapiere erwiesenermaßen sind stets Happenings, Tausende Ak-

Carsten Koall / picture alliance / dpa


mehr Rendite abwerfen. tionäre nutzen die Gelegenheit, den
Zuletzt haben sich zwar bei den Meister zu befragen. Die deutschen
Jüngeren die Beklemmungen etwas Konzerne sollten mehr Buffett wagen.
gelöst, Neobroker-Apps auf dem In der Pandemie mussten die An-
Smartphone haben die Hürden ge- leger ihre Fragen schon Tage vor den
senkt. Der nächste Börsenwinter aber digitalen Treffen einreichen, die Kon-
kann das zarte Pflänzchen Aktien- zerne durften sich eine HV-Choreo-
kultur schnell wieder erfrieren lassen. grafie ausdenken, die ihnen in den
Denn das Gros der Deutschen hält Kram passte. Sogar Fragen von Profi-
die Börse immer noch für den Inbe- zu beginnen ist richtig, und auch die Aktionär auf der Investoren wurden teils nicht einmal
griff von Zockerei, jedenfalls nicht für Summe soll steigen. Nur wird Lind- VW-Haupt- verlesen, sondern nur schriftlich be-
versammlung
einen Ort, an dem man sich finanziell ners Vorhaben an der Kultur nichts antwortet. Manche Aufsichtsräte und
für die Zukunft absichert. ändern, er verwendet einfach ein paar Vorstände schwänzten gar die Ver-
Das ist tragisch. Die Gesellschaft Steuermilliarden anders als bisher. anstaltung. Den Vogel schoss der
altert, die Rentenkassen sind löchrig – Der Bürger kommt mit der Aktien- Energiekonzern E.on ab, wo sich Vor-
das beitragsfinanzierte System muss rente kaum in Berührung. Sie wird stands- und Finanzchef gegenseitig
dringend um eine kapitalgedeckte keinerlei Anreiz schaffen, sich selbst interviewten. Kritische Nachfragen
Aktienfinanzierung ergänzt werden. mehr um die Altersvorsorge zu küm- musste da niemand befürchten.
Mehr Eigeninitiative bei der Vermö- mern. Das erledigt, wie so vieles, der Unternehmen, die virtuell tagen
gensbildung braucht es ohnehin. Staat. Dabei hätte es mit Schweden wollen, begründen das mit dem ge-
Aber warum ist es nach wie vor so ein Vorbild gegeben: Dort müssen die ringeren CO2-Fußabdruck und mehr
schwierig, die Deutschen für Aktien Bürger 2,5 Prozent ihres Bruttoein- Aktionärsdemokratie, schließlich
zu gewinnen? Die Antwort ist nieder- kommens in vom Staat autorisierte könne jeder überall auf der Welt per
schmetternd: weil die Politik zaudert Aktienfonds investieren. Nur wer sich Computer teilnehmen. Tatsächlich ist
und Unternehmen kein Interesse an nicht selbst entscheidet, landet in der ökologische Flurschaden einer
einer lebendigen Aktienkultur haben. einem staatlich verwalteten Fonds. HV eher klein, die Zeitverschiebung
Eigentlich wollten die Ampel und Geradezu dreist ist, wie deutsche macht eine Rund-um-die-Uhr-Teil-
ihr liberaler Finanzminister Christian Konzerne die Aktienkultur unter- nahme unmöglich. Digitale Treffen
Lindner einer solchen endlich den minieren. Sie haben in der Pandemie sind für die Konzerne schlicht billiger,
Weg ebnen. Und tatsächlich enthält den Nutzen virtueller Hauptver- bequemer und schneller vorbei.
das Zukunftsfinanzierungsgesetz, das sammlungen (HV) entdeckt und zei- Um auch künftig virtuell oder hy-
Ende 2023 in Kraft treten könnte, gen kaum Bereitschaft, zu physischen brid zu tagen, werden viele Dax-Kon-
sinnvolle Elemente: niedrigere Hür- Versammlungen zurückzukehren. zerne in dieser HV-Saison ihre Aktio-
den für junge Firmen, die an die Bör- Der Bundestag hat das Gesetz so ge- näre um Erlaubnis fragen. 75 Prozent
se wollen, bessere Bedingungen für ändert, dass sie ihre Aktionärstreffen des Kapitals müssen zustimmen. Vor
Mitarbeiterkapital in Unternehmen. auch 2023 wieder digital abhalten Digitale allem deutsche Investmentfonds weh-
Doch ausgerechnet Lindners Lieb- können, ohne die Anleger um Zustim- Treffen sind ren sich hinter den Kulissen vehement
lingsprojekt, die Aktienrente, könnte mung bitten zu müssen. gegen die Verlegung ins Netz.
der Aktienkultur einen Bärendienst Das ist keine Petitesse. HV er- für Konzerne Dass ausgerechnet das Deutsche
erweisen. schöpfen sich nicht darin, dass Rent- schlicht Aktieninstitut und die Deutsche-Bör-
Der Minister will künftig zehn Mil- ner Bockwürstchen abgreifen und mit se-Tochter ISS, die Aktionäre bei der
liarden Euro aus Steuereinnahmen in vollen Backen lospöbeln, wenn der billiger und Ausübung ihrer Stimmrechte berät,
Aktienfonds umschichten, um aus den Aufsichtsratschef das Wort ergreift. reine Digitaltreffen nicht ablehnen,
Erträgen den Rentenbeitragssatz zu Was vielen kaum bewusst ist: Neben
schneller klingt wie ein schlechter Witz.
stabilisieren. Mit der Kapitaldeckung Vorstand und Aufsichtsrat ist die vorbei. Tim Bartz n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT

Siechtum statt Rettung


HANDEL Mit der Eröffnung des jüngsten Insolvenzverfahrens versucht Galeria Karstadt Kaufhof mal wieder
den Neustart. Doch die Akten offenbaren: So wirklich glaubt kaum einer mehr an die Warenhauskette.

igentlich hielten sie die Sache in internen Dokumenten, sorgten für bündelt sind. Die verbleibenden Häu-
E Koblenz schon für geritzt. Ihr
Galeria in der Löhrstraße war
ja gerade erst renoviert worden. Alles
»nachhaltig rückläufige Umsätze« –
und nötigten dem Konzern die zwei-
te Insolvenz in Eigenverwaltung bin-
ser will das Management künftig »lo-
kaler« führen, eigenständiger und
agiler – und das Unternehmen dafür
heller, luftiger, freundlicher – um wie- nen drei Jahren auf. Viele Mitarbeiter drei Jahre lang umbauen.
der mehr Kunden zu locken. Davon, hoffen, dass sich noch etwas zum »Prozess- und Organisationsstraf-
so die Hoffnung im Rathaus, würden Guten wenden könnte, wenigstens in fung« nennt Galeria das. Dafür aller-
auch die Einzelhändler im Ort profi- den Filialen, die überleben. Doch der dings bedürfe es einer »neuen Filial-
tieren. Das Warenhaus bringe »Fre- sogenannte Interessenausgleich, den personalstruktur« samt entsprechen-
quenz in die Einkaufsstraße«, be- Betriebsrat und Management verhan- dem »Personalabbau«. Im Klartext:
schwor die örtliche City-Managerin. delt haben, um die größten Härten Tausende Mitarbeiter erhalten dem-
Es sieht so aus, als würde daraus für die Beschäftigten abzufedern, lässt nächst ihre Kündigung, bekommen
nichts. In Koblenz müssen sie wieder wenig Platz für Hoffnung. entweder eine Abfindung von maxi-
bangen. Die Filiale gilt bei Galeria Das Papier, das dem SPIEGEL vor- mal 7500 Euro oder die Chance, in
Karstadt Kaufhof (GKK) als Problem- liegt, sieht vor, dass nur mehr ein eine Transfergesellschaft zu wechseln,
fall. Kein klares Konzept, zu schlech- Rumpfgeschäft übrig bleibt. Lediglich um womöglich einen Job zu finden:
tes Sortiment, keine ausreichende 48 der 129 Galeria-Filialen sollen of- irgendwie, irgendwo, irgendwann.
Kundenzahl. Dem Haus droht die fen bleiben, erleichtert um große Tei- Das Ganze liest sich wie der Fahr-
Schließung – wie 80 weiteren im le der Flächen und des Sortiments. plan für ein lang andauerndes Siech-
Land. So sieht es der Insolvenzplan Die GKK-Hauptverwaltung in tum. Und ganz bestimmt nicht wie
vor, der diese Woche beim Amts- Köln wird demnach dichtgemacht, die Neuerfindung des Warenhauses,
gericht Essen eingereicht wurde. ebenso die meisten Reisebüros und GKK-Eigner Benko, die GKK-Eigner René Benko einst
Ehefrau Nathalie:
Die Internetkonkurrenz, Corona das »Facility-Management«, unter Zweite Insolvenz in versprochen hatte.
und der Ukrainekrieg, so heißt es in dem die Hausmeistertätigkeiten ge- drei Jahren Nicht nur dem österreichischen
Milliardär, vor allem Bürgermeistern
und Bundesministern fehlt die Chuz-
pe, die bittere Wahrheit zuzugeben:
Nach 15 Jahren Rettung, nach Hertie
und Horten, drei Fusionen, mehreren
ausgerufenen Neustarts und noch
mehr eingestandenem Scheitern ist
das Modell Kaufhaus in Deutschland
ganz offensichtlich am Ende.
Dabei hat Berlin in den vergange-
nen Jahren mehr als genug unternom-
men, um die malade Kaufhauskette
zu stützen. Stattliche 700 Millionen
Euro Steuergeld flossen über den
Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF)
in mehreren Tranchen in das Unter-
nehmen, mal als Kredit, mal als stille
Einlage. Stets betonte der damals am-
tierende Bundeswirtschaftsminister
Peter Altmaier (CDU), GKK habe
momentan eine schwere Zeit, insge-
samt aber sehe er eine rosige Zukunft
für die Warenhäuser in den Zentren
des Landes.
Dass diese Botschaft die Wahrheit
wohl arg strapazierte, zeigen Gesprä-
Hans Klaus Techt / dpa

che, die der SPIEGEL in den vergan-


genen Wochen im politischen Berlin
geführt hat. Auch wenn Galeria das
stets bestritt: GKK habe »nie eine
echte positive Fortführungsprogno-

64 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


WIRTSCHAFT

se« gehabt, sagt einer, der mit jenen Gutach- triebsrat sieht vor, die Personaldichte pro
ten vertraut ist, die für die Vergabe der WSF- Zusammengeschmolzen Quadratmeter in den Filialen maximal auf
Mittel an Galeria geschrieben wurden. Meh- dem heutigen, eher dürftigen Level einzu-
rere Mitglieder des Bundesfinanzierungsgre- Umsätze von Galeria Karstadt Kaufhof (GKK), frieren.
in Mrd. Euro
miums, das die Verwendung der WSF-Mittel So sollen an den kleineren Standorten, die
überwache, hätten bei den GKK-Hilfen bis zu 20 Millionen Euro Umsatz im Jahr er-
»Bauchschmerzen« gehabt. »GKK zu retten Karstadt wirtschaften, ein Großteil der Funktionen der
war eine politische Entscheidung, keine wirt- 2018/19* Wareneinräumer und Verkäufer zusammen-
schaftliche. Die Zukunftsperspektive war und 2,1 gelegt werden, sie sollen künftig gemeinsam
ist einfach nicht da.« die verbliebenen Kunden bedienen. Weil zeit-
Man sei damals von Bürgermeistern, Land- gleich aber Flächen verkleinert und Sortimen-
räten und dem Handelsverband bekniet wor- Galeria te gekürzt werden, bestehe in den »Fortfüh-
Kaufhof GKK
den, GKK zu retten, heißt es aus Kreisen des 2019/20* 2020/21 rungsfilialen« spätestens zum 30. Juni 2023
Bundeswirtschaftsministeriums. Zehntausen- 2,6 2,1 ein »Personalüberhang, der abgebaut werden
de Jobs stünden bei GKK und dessen Partnern soll«. Im Klartext: Man trennt sich vom Som-
auf dem Spiel, Innenstädte würden ausbluten * jeweils letztes vollständiges Geschäftsjahr vor der Fusion mer an erneut von Mitarbeitern. Zudem ste-
und veröden, wenn der Bund nicht helfe. Da- S Quelle: Bundesanzeiger
◆ he ab dem 1. Oktober in der Verwaltung in
her habe man sich in der Bundesregierung am Essen ein »weiterer Personalabbau« an, heißt
Ende entschlossen, Geld zu geben. Galeria-Generalbevollmächtigten Arndt Gei- es in den Papieren.
Zunächst, so der Informant, sei der Plan witz, sagt der Insider. Dabei werde »kräftig Intern wird diskutiert, den absehbaren Per-
gewesen, sich im Gegenzug von GKK-Be- gezockt«. Können Mieten weiter gesenkt oder sonalmangel mit Mitarbeitern von Fremd-
sitzer Benko Immobilien als Sicherheiten Etagen geschlossen werden? Wird ein Haus firmen aufzufüllen. Prinzip: Shop in Shop.
geben zu lassen. »Als klar wurde, dass das umgebaut und, wenn ja: Wer zahlt dafür? Doch es bleibt Galerias Geheimnis, wie so je
kaum geht, weil die Kaufhausimmobilien in Immer weniger Eigentümer zeigten sich das versprochene »kundenfreundliche« Ge-
anderen Gesellschaften aus Benkos Signa- derzeit kompromissbereit, manche glaubten schäft der Zukunft entstehen soll.
Reich liegen, hat man sich beim zweiten nicht mehr an das Warenhaus, »sie haben Oder geht es Eigner Benko am Ende vor
Staatskredit zumindest versprechen lassen, andere Ideen für ihre Immobilie«. Bis in den allem darum, das Warenhausgeschäft so lan-
dass die Mieten gesenkt werden und der Bund März, so schätzen Eingeweihte, werde dieses ge wie möglich irgendwie am Leben zu
die Hälfte der künftigen GKK-Gewinne be- Duell dauern. halten – damit seine großen Kaufhausimmo-
kommt.« Dass es diese auf absehbare Zeit Was dann noch an Mitteln übrig ist, fließt bilien zumindest auf dem Papier noch einen
nicht geben wird, dürfte auch den Beamten in die »Quote«, die unter allen Gläubigern Mieter mit laufendem Geschäft haben? An-
klar gewesen sein. verteilt wird. Bei der letzten GKK-Insolvenz derenfalls müsste er den Wert der Immobilien
Mit dem jüngsten Insolvenzverfahren im Herbst 2020 deckte das nicht einmal fünf in den Büchern wohl nach unten korrigieren.
haben sich die Hoffnungen, das Geld zurück- Prozent der Forderungen. Dieses Mal dürfte Wie teuer es wäre, das Warenhausgeschäft
zubekommen, ohnehin erledigt. Stattdessen es ähnlich laufen. Insgesamt stehen für die tatsächlich zu drehen, zeigen frühere Planun-
kann Altmaiers Nachfolger Robert Habeck GKK-Geldgeber lediglich 50 Millionen Euro gen. Schon als Kaufhof noch eigenständig war,
(Grüne) schon froh sein, wenn er überhaupt bereit. das Geschäft aber schon nicht mehr gut lief,
die 180 Millionen Euro aus dem ersten Staats- Auch die Bundesanstalt für Arbeit, die legten sich die Manager einen 800 Millionen
kredit wiedersieht, für die man sich damals knapp 100 Millionen Euro für ihr gezahltes Euro schweren Fünf-Jahres-Sanierungsplan
hatte Sicherheiten geben lassen. Insolvenzgeld fordern könnte, werde davon zurecht: Die Zahl der Filialen sollte runter-
250 Millionen Euro kann der Bund auf je- kaum etwas wiedersehen, so ein Eingeweih- gehen, die Flächen sollten kleiner, dafür das
den Fall abschreiben. Sie stecken als stille Ein- ter. Während die Arbeitnehmer auf eine Sortiment hochwertiger werden. Mehr Erleb-
lage im Unternehmen und werden dem Eigen- Transfergesellschaft für ausscheidende Mit- nis, mehr Service, bessere Beratung, so die
kapital zugerechnet. Das ist inzwischen ver- arbeiter setzen, für die ein niedriger zwei- Idee.
brannt. stelliger Millionenbetrag angepeilt wird, kön- Im Kern also das, was Benko auch dieses
Nun muss Galeria aus den Trümmern die nen sich die Lieferanten sicher wähnen: Die Mal verspricht. Nur dass die nötigen Investi-
Reste für seinen großen Gläubiger zusammen- meisten haben ihre Ansprüche längst an einen tionen allein schon durch die Fusion mit Kar-
klauben: Warenbestände aus den zu schlie- Zentralregulierer verkauft, dessen Forderun- stadt und die zunehmende Digitalisierung
ßenden Filialen sollen – allein schon aus Zeit- gen vorrangig bedient werden. wohl deutlich steigen müssten. Schwer vor-
druck wohl mit kräftigem Rabatt – losgeschla- Es geht zu wie im Schlussverkauf. Da wird stellbar, dass GKK dieses Geld je wieder üb-
gen und der Ertrag dem Bund zugeschrieben gehandelt und gefeilscht, getrickst und ver- rig haben wird.
werden, sagt ein Insider. Ein Gutachten be- schoben. Auch um zumindest den Anschein Für den früheren Kaufhof-Chef Lovro
finde über den Wert der Marke, auch diese zu erwecken, das übrig bleibende Rumpfge- Mandac kommt all das zu spät. Schon längst,
ist als Sicherheit hinterlegt. Da Galeria selbst schäft von GKK habe noch eine Zukunft. sagt er, hätte man viel rigoroser schließen
inzwischen zu klamm sein dürfte, um die Tatsächlich dürfte selbst diese Hoffnung müssen. Es fehlten seit Jahren die nötigen
Rechte aus eigener Kasse abzulösen, werde jäh enttäuscht werden. In jenen 48 Häusern, Kunden, um profitabel zu wirtschaften – und
wohl auch von Benko Geld kommen müssen. die nach der Insolvenz offen bleiben sollen, damit auch die Erlöse, um in Gebäude, Sorti-
Obendrein prüfe man den Verkauf der belgi- wird das Warenhauserlebnis keinesfalls schö- ment und Beratung zu investieren.
schen Warenhauskette Inno, die Benkos Si- ner. Im Gegenteil: Der Deal mit dem Be- Die Manager von Galeria und Karstadt,
gna-Gruppe 2019 übernommen hatte – einen ob sie nun Benko hießen, Nicolas Berggruen
mittleren zweistelligen Millionenbetrag ver- oder Thomas Middelhoff, hätten nie genü-
spreche man sich davon. Insgesamt könne der gend investiert, um den modernen Ansprü-
Bund so auf einen dreistelligen Millionen- chen zu genügen. »Es war ihnen immer zu
betrag hoffen. Wenn es gut geht. Galeria lässt teuer.« Stattdessen seien Mieten erhöht wor-
eine Anfrage hierzu unbeantwortet. »Der Geiz ist der Sargnagel den, um noch das Letzte herauszuholen aus
Viel hängt nun von den Vermietern der dem maladen Geschäft. Mandac: »Dieser
Immobilien ab. Es laufe »ein mächtiger Ver- für viele Warenhäuser.« Geiz ist der Sargnagel für viele Warenhäuser.«
handlungspoker« zwischen ihnen und dem Lovro Mandac, ehemaliger Kaufhof-Chef Simon Book, Kristina Gnirke, Gerald Traufetter n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 65


WIRTSCHAFT

Brüsseler Wumms-Versuch
GEOPOLITIK Die EU-Kommission will Chinas »Neuer Seidenstraße« ein milliardenschweres Infrastrukturprojekt
entgegensetzen. »Global Gateway« soll Häfen, Straßen und Energieanlagen in Afrika und Asien
fördern, um Europas Einfluss zu sichern. Doch die Umsetzung stößt auf Widerstand in den eigenen Reihen.

n den kargen Steppen Südwestkasach- EU-Kommissionschefin Ursula von der darüber entschieden, welche 30 davon vor-
I stans, nicht weit vom Kaspischen Meer,
sollen schon bald die Energiesorgen der
Europäischen Union verfliegen. Wind- und
Leyen ist von dem Projekt regelrecht angefixt.
Denn »Hyrasia One« soll ein Zugpferd für
eine 300 Milliarden Euro schwere Offensive
rangig umgesetzt werden. Regionaler Schwer-
punkt ist Afrika südlich der Sahara; mehr als
die Hälfte der Projektvorschläge liegt hier.
Solaranlagen mit rund 40 Gigawatt Leistung werden, die von der Leyen zur Priorität ihrer Hinzu kommen 14 Vorhaben in Mittel- und
sind dort geplant, hinzu kommen Elektro- Amtszeit gemacht hat: »Global Gateway«. Südamerika, 13 in Asien und Ozeanien sowie
lyseure zur Herstellung von zwei Millionen Die Initiative, als Antwort auf Chinas »Neue 7 auf dem Balkan und in Nordafrika.
Tonnen grünen Wasserstoffs pro Jahr – genug, Seidenstraße« konzipiert, will Infrastruktur- Die EU plant Rohstoffdeals mit Namibia
um ein Fünftel des geschätzten EU-Import- vorhaben in der ganzen Welt umsetzen. Stra- und Chile, neue Stromleitungen in den West-
bedarfs im Jahr 2030 zu decken. ßen, Häfen und Stromleitungen, Internet- balkan und nach Tunesien. Und sie will Russ-
»Hyrasia One« heißt das Multimilliarden- kabel und Solarparks sollen die Wirtschaft land und China teils in deren Hinterhöfen
Euro-Projekt, an dem auch eine Dresdner von Entwicklungs- und Schwellenländern Konkurrenz machen – mit Großprojekten in
Firma beteiligt ist. Es soll ein Fanal für eine voranbringen – und gleichzeitig Europa zu Zentralasien, Indonesien oder Vietnam.
grünere Wirtschaft werden. Und gegen Wla- neuem geopolitischen Einfluss verhelfen. »Global Gateway« markiert einen Strate-
dimir Putin: Seit die russische Armee die In einer internen Liste hat das »Global- giewechsel in der europäischen Außenpolitik.
Ukraine überfallen hat, wendet sich Kasachs- Gateway«-Team 70 Leuchtturmprojekte ge- Lange hatte sich die EU vor allem als Vertre-
tan zusehends von Moskau ab und sucht sich sammelt, die noch im laufenden Jahr starten terin des Guten, Wahren und Schönen insze-
verstärkt Partner im Westen. können. In diesen Tagen wird in Brüssel niert, als Initiatorin von klassischer Entwick-

Brüsseler Gegenoffensive
Wie Europa versucht, seinen Einfluss in der Welt zu stärken

Latein- Asien EU-


Subsahara- amerika und Nachbar-
Afrika und Karibik Ozeanien regionen

36 14 13 7
Projekte Projekte Projekte Projekte
in 25 Ländern mit in 15 Ländern mit in 13 Ländern in Balkan- und
den Schwerpunkten sehr unterschiedlichen mit dem GUS-Staaten
erneuerbare Schwerpunkten: von Schwerpunkt sowie in Nordafrika,
Energien Internet über Wald- erneuerbare Schwerpunkt:
und Infrastruktur schutz bis Mobilität Energien digitale Infrastruktur
S Quelle: EU-Kommission

HYRASIA ONE

Visualisierung eines »Global Gateway«-Projekts in Kasachstan: Wind- und Solarparks statt klassischer Entwicklungshilfe

66 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


WIRTSCHAFT

lungshilfe. Es ging, zumindest rheto- Bevölkerung in den Entwicklungs-


risch, um das Wohl der Empfänger- und Schwellenländern ist in Seiden-
staaten. Das war immer schon schön- straßen-Projekte selten eingebunden.
gefärbt, natürlich profitierte auch »Auf chinesischen Auslandsbaustel-
Europa. Mit »Global Gateway« be- len haben vielfach nur Chinesen Zu-
kennt sich die EU nun offener zum tritt«, sagt ein Brüsseler Entwick-
Eigennutz. lungsexperte. »Es wird chinesisch
Infrastrukturinvestitionen stünden geplant, chinesisch gearbeitet, chine-
»im Mittelpunkt der heutigen Geo- sisch gesprochen.« Die Arbeitsbedin-
politik«, erklärte von der Leyen bei gungen sind oft bedenklich, Klima-
der ersten Ausschusssitzung des Pro- schutz spielt eine untergeordnete

Davide Monteleone / laif


jekts Ende 2021. »Global Gateway« Rolle. Und Staaten wie Sri Lanka,
werde weltweite Lieferketten sichern, Dschibuti oder Kirgisistan sind finan-
heißt es in einem EU-Papier. Und den ziell hochgradig abhängig von Peking
beteiligten Ländern ein Gegenange- geworden. Obendrein stattet China
bot zu Peking machen, das seine Diktatoren und Autokraten mit Über-
»Neue Seidenstraße« nicht bloß als wachungstechnik aus.
wirtschaftliche, sondern auch als so- 60 Prozent gestiegen, die der EU auf Von China finan-
ziopolitische Machtsphäre begreift, gut 20 Prozent gefallen – die Folge zierte Bahntrasse in Die EU tat sich lange schwer, darauf
Kasachstan: Europa
in der die eigenen Wertvorstellungen einer kurzsichtigen Außenpolitik. ist im globalen geschlossen zu reagieren. Vor gut drei
und wirtschaftspolitischen Standards Jahrzehntelang waren es vor allem Machtpoker zuletzt Jahren analysierte eine Experten-
durchgedrückt werden können. die Europäer gewesen, die in Schwel- zurückgefallen gruppe unter Leitung des langjähri-
»›Global Gateway‹ kann zeigen, len- und Entwicklungsländern große gen EU-Topbeamten Thomas Wieser
wie demokratische Werte Sicherheit Infrastrukturprojekte vorangetrieben die Förderpolitik des Staatenbundes.
und Transparenz für Investoren, hatten. Das eingedeichte Tigris-Ufer Ihr Urteil war vernichtend: Eine
Nachhaltigkeit für Partner und lang- in Bagdad, die Stadtautobahnen von »Vielzahl von Akteuren auf nationa-
fristige Vorteile für Menschen auf der Riad und Dschidda in Saudi-Arabien ler und europäischer Ebene« bilde
ganzen Welt bieten«, schreibt die oder der Straßenplan von Nigerias eine »hochkomplexe Architektur«
EU-Kommission. Regierungen von Metropole Lagos sind Monumente mit vielen »Überschneidungen, Lü-
Entwicklungs- und Schwellenländern dieser Zeit. cken und Ineffizienzen«, hieß es im
würden als Partner auf Augenhöhe Dass Europa als globaler Bauherr Abschlussbericht des Gremiums. Es
definiert, die dank der EU-Projekte auftrat, hatte auch praktische Gründe. fehle eine »einheitliche Strategie«.
neue Jobs aufbauen könnten. Mit sol- Seine im Zweiten Weltkrieg zerstör- »Konsolidierung und Konzentration«
chen Versprechen versucht Brüssel, ten Städte waren Anfang der Sieb- seien nötig, um »die EU-Präsenz und
weltweit Staaten auf seine Seite zu zigerjahre weitgehend wiederaufge- die EU-Entwicklungsprioritäten zu
ziehen. baut, ein Ende des Ostblocks noch stärken«.
Der Strategieschwenk des Konti- nicht in Sicht. Also sahen sich Bau- An der Spitze des Staatenbundes
nents fällt in eine Zeit, in der das welt- konzerne wie Balfour Beatty oder sah man das genauso. Frankreich und
politische Klima frostiger wird. Die Hochtief nach neuen Märkten in Afri- Deutschland, sonst nicht immer auf
Pandemie und Russlands Angriff auf ka und Asien um. Viele Drittstaaten einer Linie, befürworteten Wiesers
die Ukraine haben die Energiepreise kauften gern europäische Qualität, Ratschläge ebenso wie die Außen-
zeitweilig in absurde Höhen getrieben sie zahlten mit eigenen Ölmilliarden und Entwicklungspolitiker im EU-
und gezeigt, wie verwundbar Firmen oder dem Geld westlicher Entwick- Parlament. Kommissionschefin Ursu-
und Staaten durch globale Abhängig- lungsbanken. la von der Leyen machte sie sich nach
keiten sind. Bald zeigten sich die Schattensei- anfänglichem Zögern schließlich zu
Gleichzeitig erhebt sich mit China ten von Europas Bau-Elan. Denn in eigen.
eine neue Supermacht, die Staaten in den begünstigten Ländern häuften Allzu viel passiert ist bis heute
die Schuldenfalle lockt, sich weltweit sich Korruptionsskandale und »weiße nicht. »Die Bagger müssen jetzt rol-
Zugriff auf Rohstoffe sichert, immer Elefanten«: überteuerte, überdimen- len«, fordert Nils Schmid, der außen-
mehr Märkte dominiert. sionierte, letztlich unbrauchbare Pro- politische Sprecher der SPD-Bundes-
Auf die neue geopolitische Realität jekte. Die EU-Entwicklungspolitik tagsfraktion. »Die Kommission muss
antworten viele Staaten mit dem Ruf begann, ihre Hilfen zunehmend an endlich liefern«, sagt der grüne EU-
nach »strategischer Autonomie«, zu- strengere Bedingungen zu knüpfen. Abgeordnete Reinhard Bütikofer.
gleich versuchen sie, andere Länder Doch der wuchtige Aufschlag
über Infrastrukturinvestitionen an Der Globale Süden, dessen Bevölke- droht im Klein-Klein zerrieben zu
sich zu binden: Die USA, Japan und rung ebenso schnell wuchs wie sein werden. Unter den Mitgliedsländern
Australien wollen Schwellen- und Bedarf an Infrastruktur, fand in China gibt es Streit über den regionalen
Robin Utrecht / action press

Entwicklungsländern über das »Blue einen weniger kritischen Helfer. Des- Schwerpunkt der Initiative. Italien
Dot Network« ihren Stempel aufdrü- sen überwiegend staatliche Baukon- und Frankreich fordern vor allem
cken, die Mittelmacht Indien fördert zerne suchten, ähnlich wie zuvor die Investitionen in Afrika. Spanien und
Initiativen in Süd- und Südostasien. Europäer, nach neuen Märkten. Und Portugal machen sich dagegen für La-
Die EU jedoch ist im globalen Macht- Peking nach Mitteln, um seinen Ein- teinamerika stark. Und die osteuro-
poker zuletzt eher zurückgefallen. fluss auszudehnen. 2013 rief Staats- päischen Hauptstädte wollen mehr
In Afrika etwa hatten Brüssel und chef Xi Jinping das Projekt »Neue EU-Kommissions- Geld für die Westbalkanregion.
Peking 2010 noch einen Anteil von Seidenstraße« aus. chefin von der Leyen: Auch die Finanzarchitektur für das
Offenes Bekenntnis
jeweils etwa 40 Prozent an den Bau- Chinas Führung machte von An- zum Eigennutz Vorhaben kommt kaum voran. Schon
und Infrastrukturinvestitionen. 2018 fang an keinen Unterschied zwischen nach langer Zeit der die Wieser-Kommission hatte mo-
war die chinesische Quote auf rund Entwicklungs- und Geopolitik. Die Schönfärberei niert, dass Europas Infrastruktur-

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 67


WIRTSCHAFT

gelder von zwei Finanzinstituten ver- »Die Bagger Förderung kommen sollen, hegen da- te, gibt sich derzeit offiziell koopera-
geben werden: der Europäischen In- ran Zweifel. »Wir haben in letzter Zeit tiv. Als »Global Gateway« Ende 2021
vestitionsbank (EIB) in Luxemburg müssen jetzt gesehen, dass die EU und andere Ent- vorgestellt wurde, hatte Peking die
und der Europäischen Bank für Wie- rollen.« wicklungspartner grandiose Erklä- Initiative noch schlechtgeredet. Wer
deraufbau und Entwicklung (EBRD) Nils Schmid,
rungen abgegeben haben, aber nur mit der EU Geschäfte mache, riskiere
in London. Doch anstatt die Kredit- außenpolitischer sehr wenig davon tatsächlich umge- politische und ideologische Abhän-
vergabe bei einem Institut zu bün- Sprecher der SPD setzt wurde«, sagt der Kenianer Jason gigkeiten, schrieb das Parteiblatt
deln, versprach die EU-Kommission Braganza, Ökonom und Direktor des »Global Times«. Es war das spiegel-
lediglich eine bessere Zusammen- African Forum and Network on Debt verkehrte Narrativ zur Seidenstra-
arbeit der beiden. and Development. ßen-Erzählung der Europäer.
Die Liste mit Europas Leuchtturm- Bei größeren geplanten Infrastruk-
projekten sieht entsprechend zer- turprojekten kämen viele Unterneh- Seit der Taiwankrise im August ver-
fasert aus. Große Vorhaben aus den men, Materialien und Experten aus sucht China, die Europäer zu umwer-
Bereichen Verkehr und Wasserwirt- der EU. Die hätten in der Vergangen- ben, auch um einen Keil zwischen die
schaft seien »unterrepräsentiert«, heit oft erhebliche Steuererleichte- Europäische Union und Amerika zu
klagt Frank Kehlenbach, Europa- rungen oder gar Steuerbefreiungen treiben. Zu »Global Gateway« bringt
experte beim Hauptverband der durchgedrückt. Den betroffenen Staa- Peking seit Kurzem eine ganz neue
Deutschen Bauindustrie. Vieles folgt ten fehlten diese Einnahmen dann. Lesart in Umlauf.
dem Prinzip Gießkanne: Mal geht es »Angesichts der Haushaltsdefizite Nach einem Besuch von EU-Rats-
um ein Solarprojekt für ein paar und der Verschuldung vieler afrika- präsident Charles Michel Anfang De-
Zehntausend Menschen in Nigeria, nischer Länder muss man sich fragen, zember 2022 in Peking erwähnte die
mal um eine Meerwasserentsalzungs- ob dies das geeignete Finanzierungs- amtliche Nachrichtenagentur Xinhua
anlage für Jordanien. modell ist«, sagt Braganza. Chinas »Neue Seidenstraße« sowie
Klimaschutz genießt dabei offen- »Global Gateway« sieht er vor das »Global Gateway«-Projekt in
bar keine besondere Priorität – mehr allem als weiteren Versuch, Zugang einem Text und fabulierte, man kön-
als 40 Prozent der Vorhaben haben zu den Ressourcen des Kontinents ne »fruchtbarere Ergebnisse im Dia-
sich ihm zumindest nicht explizit ver- zu bekommen. Würde es der EU um log und in der Zusammenarbeit in
schrieben. Zudem sind Projekte in Werte gehen, könne sie keine Ge- verschiedenen Bereichen erzielen«.
autokratischen Ländern wie Kame- Hafen von Gwadar in schäfte in einem Umfeld von Korrup- Das konnte man so verstehen, als
run, Ruanda oder dem Kongo ge- Pakistan, Stadt- tion und Kleptokratie machen. wäre eine Kooperation zwischen bei-
autobahn in Nairobi:
plant. »Unter dem Strich dürften sie Ausgerechnet Ausgerechnet China, das sich durch den Initiativen angedacht, mit China
die Position der dortigen Autokraten China gibt sich derzeit Europas neu erwachte strategische als treibender Kraft.
stärken«, sagt Mark Furness vom offiziell kooperativ Ambitionen provoziert fühlen könn- In Brüssel finden das viele be-
Deutschen Institut für Entwicklungs- fremdlich. Von Gesprächen über eine
politik. Ganz gleich, wie hoch die Kooperation habe man noch nichts
Standards für die Projekte selbst gehört, heißt es im Umfeld von der
seien – und ungeachtet ihrer positiven Leyens.
Wirkung. Die Kommissionschefin drückt
Die Privatwirtschaft, die einen jedenfalls aufs Tempo. Sie hat höchst-
großen Teil der insgesamt 300 Mil- persönlich die Leitung des Aufsichts-
liarden Euro aufbringen soll, fühlt rats von »Global Gateway« übernom-
sich nicht ausreichend eingebunden. men und sucht nach einem prominen-
Ahmad Kamal / Xinhua / eyevine / ddp

Bislang haben die Firmen noch nicht ten Europapolitiker, der den Apparat
einmal einen direkten Ansprechpart- als Sonderbeauftragter auf Linie brin-
ner in Brüssel, wenn sie an dem Pro- gen soll.
jekt mitwirken wollen. »Das Interes- Im Gespräch war unter anderen
se der Unternehmen ist relativ groß«, der frühere EZB-Chef und italienische
sagt Patricia Schetelig, stellvertreten- Premier Mario Draghi. Doch der lehn-
de Leiterin der Abteilung Internatio- te den Posten ab. Immerhin koordi-
nale Märkte beim Bundesverband der niert von der Leyens Kabinettschef
Deutschen Industrie. »Doch viele Björn Seibert Entwicklungsprojekte
sind gerade etwas ratlos.« auf G7-Ebene.
Zumal innerhalb der EU-Adminis- Damit nicht wieder geschieht, was
tration. Dort ist die Grundsatzfrage dem deutschen Europaparlamenta-
neu entflammt, ob Europas Geopoli- rier Bernd Lange, Chef des Handels-
tik wirklich so viel eigennütziger wer- ausschusses, jüngst in Nairobi passier-
den darf. Hinzu kommt eine generel- te. Er wollte dort über EU-Projekte
le Veränderungsaversion. Mancher sprechen, doch in der kenianischen
Beamte klebe alten Projekten einfach Regierung redete man fast nur über
das »Global Gateway«-Label auf, die neue Autobahntrasse der Haupt-
wolle aber eigentlich so weiterma- stadt, die chinesische Konzerne in
Dong Jianghui / Xinhua / IMAGO

chen wie bisher, heißt es in Brüssel. wenigen Jahren fertiggestellt hatten.


Zwar sollen die europäisch initiier- Allein für die Genehmigung des Pro-
ten Bauvorhaben hohe Arbeits- und jekts, sagt der SPD-Politiker, »hätten
Klimastandards setzen, die Kredite wir in Europa zehn Jahre gebraucht«.
dürfen die teilnehmenden Länder Christoph Giesen, Michael Sauga,
nicht überfordern. Das Problem: Fritz Schaap, Stefan Schultz,
Selbst Länder, die in den Genuss der Bernhard Zand n

68 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


WIRTSCHAFT

gesuchte Information im besten Fall drin-


steckt.« Was den kreativen sprachlichen Um-
gang mit dem jeweiligen Ergebnis angeht, sei
Watson allerdings ziemlich beschränkt.
ChatGPT hingegen ist ein sogenanntes

Chief Executive Ottifant Sprachmodell. Diese waren anfangs nur in der


Lage, beim Erzeugen von Texten ein paar vo-
rangegangene Wörter daraufhin zu analysie-
ren, welches Wort wohl als Nächstes folgen
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ Otto Waalkes ist Vorstandschef? müsste. Inzwischen könne das Sprachmodell
von ChatGPT sogar mehrere Absätze berück-
Dieter Zetsche nennt sich in seiner Biografie Dieter Z.? sichtigen, »deswegen wird das Ergebnis se-
Das kommt heraus, wenn Sprachsoftware wie ChatGPT mantisch immer kohärenter«, sagt Biemann,
halluziniert. War KI nicht schon mal weiter? »aber es hat keine Faktizität«. Mit anderen
Worten: ChatGPT ist aufgrund jahrelanger
Forschungsarbeit sehr viel eloquenter, als Wat-
ieter Zetsche, ehemaliger Chef der son je sein könnte, generiert aber zugleich
D Daimler AG, hat seine Autobiografie
veröffentlicht. Titel des Kunstwerks:
»Ich. Dieter Z. – Ein Leben für den Automo-
mehr Unwahrheiten, die nur mehr oder we-
niger überzeugend klingen. Die Halluzinatio-
nen, glaubt der KI-Forscher, würden »in ab-
bilbau«. So jedenfalls behauptet es ChatGPT. sehbarer Zeit« nicht verschwinden. In den
Auf die Frage, welche deutschen Unter- nächsten ein bis zwei Jahren werde es dazu
nehmensbosse sonst noch über ihr Leben ge- viel Forschungsarbeit geben. Bis das Problem

Stefan Zeitz / IMAGO


schrieben haben, listet der populäre Chatbot der fantasierenden KI wirklich gelöst sei, wür-
Wolf Lux / BILD

unter anderem Ex-SAP-Chef Dietmar Hopp den eher noch drei bis fünf Jahre vergehen.
auf (»Mein Weg – Erfolg durch Beharrlichkeit Einige Entwickler sind da zuversichtlicher.
und Zusammenhalt«). Der ehemalige Airbus- Sie glauben, dass es sich nur um KI-Kinder-
Vorstandsvorsitzende Tom Enders soll seine Komiker Waalkes, Ex-Boss Zetsche krankheiten handelt. Forscherinnen und
Memoiren unter der unbescheidenen Zeile Forscher von Google, der Carnegie Mellon
»Einfluss – Wie man in der Welt von heute liarden Wörtern. Sie bilden die Ursuppe, aus University und der UC Irvine hatten schon
erfolgreich ist« veröffentlicht haben. Ralf der sich ChatGPT bedient. Eine Antwort der kurz vor der Veröffentlichung von ChatGPT
Dümmel, Juror der TV-Show »Höhle des Lö- Software lässt sich daher nie auf einen ein- einen Faktencheck- und Korrekturauto-
wen« und angeblich früherer CEO der »Düm- zigen Text zurückführen, sondern auf alle. matismus für Sprachmodelle entwickelt. Die
mel Holding«, hat laut ChatGPT »Ich bin Weil die Wörter Zetsche, Kaeser, Hopp und Firma Writesonic behauptet, ihr eigener Bot
dann mal Unternehmer« verfasst. Das Buch Plattner wahrscheinlich in Zusammenhängen namens Chatsonic habe die Limitierungen
von Joe Kaeser heißt vermeintlich »Meine wie Automobilbau, Transformation, Erfolg von ChatGPT dank einer Anbindung an
Transformation – Wie ich Siemens veränder- oder IT auftauchen, erzeugt ChatGPT daraus Google sogar überwunden und könne »akku-
te« und die Autobiografie von Markus Braun, Titel, die inhaltlich plausibel klingen. Darüber rate Antworten« zu jedem Thema erzeugen.
einst CEO des Skandalkonzerns Wirecard, hinaus hat das Modell aus seinen Trainings- Die Frage nach den Autobiografien deut-
ganz schnöde: »Mein Weg in die Finanzwelt«. daten offenbar gelernt, wie Titel von Biogra- scher CEOs beantwortet Chatsonic allerdings
Das alles ist immerhin lustiger als die Witze, fien typischerweise aufgebaut sind. Die Infor- mit einem Hinweis auf Otto Waalkes. Otto,
die ChatGPT auf Bitte generiert. (»Warum ist mation, ob ein solches Werk wirklich existiert, der Chief Executive Ottifant?
das Meer salzig? Weil die Fische die Chips fal- kann die Software nirgends abfragen. Die von Biemann prognostizierten drei bis
len lassen!«), aber keine der angeblichen Auto- Das klingt erst mal nach einem Rückschritt. fünf Jahre werden Techkonzerne jedenfalls
biografien existiert. Dass Dieter Zetsche sich Denn wahrscheinlich hätte eine andere KI die nicht hinter verschlossenen Türen experi-
selbst »Dieter Z.« nennen würde, ist ohnehin Frage nach einer Zetsche-Biografie schon 2011 mentieren. Microsoft wird die Technik von
wenig wahrscheinlich. In einer Werbekampa- korrekt beantwortet. Watson, die künstliche OpenAI schon bald in einige Produkte inte-
gne für DaimlerChrysler spielte der Konzern- Intelligenz von IBM, gewann damals die Quiz- grieren. Der chinesische Konzern Baidu will
boss vor 17 Jahren mal die Rolle des allwissen- show »Jeopardy!«, weil sie so gut darin war, seinen ChatGPT-Konkurrenten angeblich im
den »Dr. Z.«, doch das war ein eher augen- korrekte Informationen zu reproduzieren. März in seine Suchmaschine einbauen. Google
zwinkernder Ansatz. Und auch eine Dümmel Doch die Technologie hinter beiden An- hat laut US-Medien interne Tests von »Ap-
Holding gibt es schlicht nicht. Alles erstunken sätzen unterscheidet sich grundlegend. »Wat- prentice Bard« intensiviert, ebenfalls eine di-
und erlogen also – wie kann das sein? son ist eine Art Google, auf das noch etwas rekte Antwort auf ChatGPT. Die Google-Toch-
Der auf künstlicher Intelligenz (KI) beru- draufgebaut wurde«, sagt Chris Biemann, ter DeepMind wiederum hat mit Sparrow
hende Textroboter hat halluziniert, wie das Professor für Sprachtechnologie an der Uni- einen Chatbot entwickelt, der Faktenfehler
in der Fachsprache heißt. ChatGPT greift auf versität Hamburg. »Das System zerlegt eine einer KI ausbügeln und noch dieses Jahr in
keine Datenbank zu, in der Antworten auf Frage in Suchbegriffe, die es in so etwas Ähn- eine halb öffentliche Testphase gehen soll.
Fragen von Nutzerinnen und Nutzern gespei- liches wie eine Suchmaschine eingibt, um dort Anfang der Woche verkündete OpenAI,
chert sind. Stattdessen erzeugt der Chatbot relevante Textstücke zu finden, in denen die dass ChatGPT nach einem Upgrade nun fak-
Antworten stets aufs Neue. Sein Maßstab sind tentreuer antworte. Tatsächlich nennt die
statistische Zusammenhänge zwischen Wör- Software auf die Frage nach CEO-Biografien
tern und Wortgruppen, die er in seinen Trai- korrekte Beispiele vor allem aus dem eng-
ningsdaten erkannt hat. Sein Modus Operan- lischsprachigen Raum. Die vermeintliche
di basiert auf der Frage: Welches Wort folgt »Warum ist das Meer Autobiografie von Dieter Zetsche existiert
wahrscheinlich auf die vorangegangenen? salzig? Weil die Fische die laut dem überarbeiteten Bot aber weiter, sie
Als Trainingsdaten wiederum dienen ihm heißt nur anders: »Bestimmt – Mein Weg zu
ein Großteil der bis 2021 im Internet veröf- Chips fallen lassen!« Daimler und zurück«. Ganz bestimmt nicht.
fentlichten Texte mit insgesamt über 200 Mil- Witz von ChatGPT Patrick Beuth n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 69


WIRTSCHAFT

das wird nicht geschehen. Und derzeit man-


gelt es den Autobauern noch immer an wich-
tigen Rohstoffen und Bauteilen. Die Antriebs-
wende kann also nicht so schnell umgesetzt
werden wie geplant. Das bedeutet: Wir haben

»Der Nutzen strengerer aktuell nicht zu viele E-Autos auf der Straße,
sondern zu wenige. Es ist gut, frühzeitig auf
Probleme hinzuweisen, für Panikmache gibt

Standards nimmt ab« es indes keinen Grund. E-Autos werden nicht


die Netze zusammenbrechen lassen, und die
Elektrowende in der Mobilität wird nicht an
mangelnder Stromversorgung scheitern.
MOBILITÄT Niedersachsens Ministerpräsident und VW-Aufsichtsrat SPIEGEL: Wie ließe sich die Stabilität des
Stromnetzes dauerhaft sichern?
Stephan Weil, 64 (SPD), erklärt, warum er ein Tempolimit auf Autobahnen Weil: Die Verteilnetze müssen dringend aus-
fordert, aber striktere Abgasnormen ablehnt. Warnungen vor einer gebaut und modernisiert werden. Das ist eine
Überlastung der Stromnetze durch die E-Wende hält er für Panikmache. Kernaufgabe der nächsten Jahre. Und wir
müssen viel schneller werden. Auch Projekte
in den Übertragungsnetzen, die dringend be-
SPIEGEL: Herr Weil, Sie reisen derzeit noch SPIEGEL: VW will künftig voll auf E-Mobilität nötigt werden, brauchen viel zu lange. Ein
regelmäßig mit einer Hybrid-Limousine durch setzen. Wundert es Sie da nicht, dass Blume gutes Beispiel ist der Südlink, die Stromauto-
Ihr Bundesland. Wann ist die Zeit endlich reif neuerdings ständig über synthetische Ver- bahn zwischen Nord- und Süddeutschland.
für einen reinen Stromer? brennerkraftstoffe spricht? Ich hoffe sehr, dass sie wenigstens noch in
Weil: In Hannover bewegen wir uns schon Weil: Nein, das wundert mich nicht. Es ist ja diesem Jahrzehnt fertig wird.
heute problemlos vollelektrisch. Aber wenn richtig, dass E-Fuel dort eine Zukunft haben SPIEGEL: Die USA locken Konzerne mit
ich beispielsweise einen Tagestrip nach Ost- kann, wo es erneuerbare Energien in Hülle und billigem Strom und hohen Subventionen. Hat
friesland unternehme, wird es schwierig. Ich Fülle gibt. Aber in einem Land wie Deutschland, Europa diesen Wettlauf schon verloren?
hoffe, dass die VW-Tochter Audi in den nächs- wo wir viel mehr erneuerbare Energien benöti- Weil: Diese Gefahr besteht eindeutig. Wenn
ten zwei Jahren für Langstreckenfahrer wie gen, als wir vorerst selbst aus Sonne, Wind und wir die Gaskrise überwunden und die Ener-
mich eine E-Limousine mit größerer Reich- Biomasse produzieren können, können wir uns giewende weiter vorangebracht haben, wer-
weite im Angebot hat. das nicht leisten. Da haben andere Nutzungen den wir auch wieder wettbewerbsfähige Prei-
SPIEGEL: Mit welchem Tempo sind Sie unter- schlichtweg Vorrang für den Klimaschutz. se bieten können. Nur sind wir leider noch
wegs? Würden Ihnen 130 Kilometer pro Stun- SPIEGEL: Bundesnetzagentur-Chef Klaus Mül- nicht so weit. Wir haben noch eine Durst-
de auf der Autobahn reichen? ler sorgte kürzlich für Irritation in der Auto- strecke von mehreren Jahren vor uns. Und so
Weil: Tagsüber kann man ohnehin selten industrie mit der Idee, in Zeiten hoher Netz- lange können viele Industrieunternehmen
schneller fahren. Das kommt allenfalls auf auslastung den Ladestrom zu rationieren. nicht gegen Energiepreise wie in den USA
nächtlichen Rückfahrten vor. In der Sache Schaden solche Aussagen der E-Wende? konkurrieren.
selbst spricht sehr viel für ein Tempolimit. Weil: Die Irritation gab es auch bei mir. Ich SPIEGEL: Was müsste geschehen, um die In-
SPIEGEL: Warum? halte die Aussage, bei allem Respekt für Herrn dustrie zu entlasten?
Weil: Andere Länder in Europa und auch die Müller, für unausgegoren. Es ist sicher richtig, Weil: Das Bundeswirtschaftsministerium hat
USA haben längst eine Geschwindigkeits- wenn die Bundesnetzagentur auf Risiken hin- eine erste Skizze mit klugen Gedanken vor-
beschränkung, da funktioniert das hervor- weist. Aber sie sollte lieber Lösungen auf- gelegt. Wenn sich die Unternehmen selbst an
ragend. Der Verkehrsfluss leidet nicht da- zeigen, wie wir Zeiten, in denen das Netz der grünen Stromerzeugung beteiligen, kön-
runter, er wird sogar eher besser. Und Studien überlastet ist, vermeiden können. nen sie auch von wettbewerbsfähigen Ener-
zeigen immer wieder, dass man mit dieser SPIEGEL: Gibt es genug Strom für die E-Wende? giekosten profitieren. Das setzt voraus, dass
relativ einfachen Maßnahme einen beacht- Weil: Wenn wir ab morgen alle nur noch E- sie über das nötige Kapital verfügen und eine
lichen Beitrag zum Klimaschutz und für mehr Autos fahren würden, dann wohl nicht. Aber Zwischenphase von etlichen Jahren überle-
Verkehrssicherheit leisten kann. ben. Für manche Großunternehmen mag das
SPIEGEL: Haben Sie darüber schon mal mit eine Lösung sein, andere werden überfordert
VW-Boss Oliver Blume diskutiert? Für ihn Getankt wird meist daheim sein, erst recht kleinere Mittelständler. Etliche
bedeutet ein hohes Fahrtempo auf der Auto- Staaten garantieren dagegen jetzt schon nied-
bahn »ein Stück individuelle Freiheit«. Wo Nutzer ihre Elektroautos laden, in Prozent rige Industriestrompreise über einen längeren
Weil: Wir beide nehmen uns das Recht auf zu Hause Zeitraum. Das muss für uns der Maßstab sein.
freie Meinungsäußerung heraus, das trübt 74 SPIEGEL: Wäre es nicht sinnvoller für Deutsch-
das gute Miteinander nicht. Früher bedeute- unterwegs (Schnellladen) land, die energieintensive Produktion von
te das Recht auf schnelles Fahren auch für 54 Grundstoffen wie Ammoniak abzugeben –
mich ein Stück Freiheit. Aber was bringt mir und sich auf Zukunftstechnologien und hoch-
öffentlich (Normalladen)
diese Freiheit, wenn ich mit einem Tempo- wertigere Produkte zu konzentrieren?
34
limit gelassener und womöglich schneller am Weil: Wir haben doch gerade gelernt, dass wir
Ziel bin? auf Kundenparkplätzen resilienter werden müssen und die Produktion
SPIEGEL: Woher rührt die Abneigung der 31 wichtiger Vorprodukte nicht einfach anderen
Autoindustrie gegen Tempolimits eigentlich? am Arbeitsort überlassen dürfen. Wenn ich mir anschaue,
Drohen Konzernen wie VW Absatzeinbußen, 26 welche große Bedeutung chemische Grund-
wenn Kunden ihre hochmotorisierten Fahr- öffentlich (Schnellladen) stoffe für die gesamte Industrie haben, dann
zeuge nicht voll ausfahren können? 14 möchte ich mir nicht vorstellen, was passiert
Weil: Nein, das sehe ich nicht. VW ist schließ- und welche Preise wir zahlen müssten, wenn
Mehrfachnennungen
lich auch auf Märkten mit Tempolimit erfolg- S Quelle: Uscale-Nutzerumfrage im Auftrag des BDEW zu
wir das komplett aus der Hand geben. Wir

reich unterwegs. »Elektromobilität und Laden«, September 2022; 2964 Befragte können und wollen in Deutschland keine Insel-

70 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


WIRTSCHAFT

wofür? Sehr viel klüger wäre es, sich


voll auf die Zukunft zu konzentrieren:
die Elektromobilität.
SPIEGEL: Will die Kommission mit
strengen Abgaswerten nicht den Um-
stieg auf E-Antriebe beschleunigen?
Weil: Ich hoffe, dass das nicht die ver-
steckte Agenda ist. Die Luftqualität
hat sich wesentlich verbessert. Was
man da zusätzlich erreichen kann,
steht aus meiner Sicht in keinem an-
gemessenen Verhältnis zum Schaden,
den man in der Industrie anrichtet.
SPIEGEL: Tut die Autobranche genug
gegen die Verkehrsprobleme in den
Innenstädten?
Weil: Sie tut wesentlich mehr als frü-
her. Aber wenn ich mir den zuneh-
menden Lieferverkehr in den Innen-
städten ansehe, ist bei den Konzepten
noch einiges möglich und nötig. Das
ist nicht nur eine Frage des Autobaus,
sondern auch der Verkehrsplanung.

Wolf Lux / Bild am Sonntag


SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Weil: Paketdienste nehmen selbstver-
ständlich öffentliche Parkflächen und
Fahrspuren in Anspruch, ohne etwas
dafür zu bezahlen, während von ande-
ren Autofahrern Parkplatzgebühren
politik betreiben, aber aus ganzen diesem Jahr Investitionsentscheidun- Landesvater Weil verlangt werden. Wir haben es da mit
Branchen auszusteigen, halte ich für gen mit langfristiger Wirkung anste- einem gewissen Wildwuchs zu tun.
brandgefährlich. hen. Und ich hoffe, dass auch Projek- Wenn man neue Konzepte für den Ver-
SPIEGEL: Und wie wollen Sie Zu- te wie die Halbleiterfabrik von Intel kehr in den Innenstädten entwickelt,
kunftsbranchen überzeugen, in in Magdeburg oder die Batteriezel- muss man berücksichtigen, dass gerade
Deutschland zu investieren? lenproduktion von Northvolt in Hei- ältere Menschen, die in den Innenstäd-
Weil: In der Tat werden gerade vieler- de nicht infrage gestellt werden, weil ten einkaufen, ein Auto in der Nähe ha-
orts die Claims für die Zukunft ab- die Energiekosten zu hoch sind. Ohne ben möchten. Innenstädte dürfen nicht
gesteckt. Die Gefahr ist, dass Deutsch- aktive staatliche Unterstützung wird autogerecht sein, aber sie müssen eini-
land in Bereichen wie der Batterie- es nicht gehen. Da wird Europa nicht germaßen bequem erreichbar bleiben.
zelltechnologie nicht mitspielen die reine Lehre vertreten und sagen SPIEGEL: Das Deutschland-Ticket soll
kann. Das würde bedeuten: Der Kern können, es gebe keine Unterstützung. Menschen motivieren, auf öffentliche
der Wertschöpfung eines E-Fahrzeugs Die jüngsten Signale aus Brüssel deu- Verkehrsmittel umzusteigen. Begrü-
würde nicht im Autoland Deutsch- ten ja auf einen Sinneswandel hin, ßen Sie als VW-Aufsichtsrat den
land stattfinden. aber jetzt muss es konkret werden. Schritt in eine autoärmere Zukunft?
SPIEGEL: Sie werden Anfang März SPIEGEL: Nehmen Sie auch eine Bot- Weil: Als Ministerpräsident sehe ich
nach Brüssel reisen. Welche Botschaft schaft der Autoindustrie mit nach darin einen wesentlichen Fortschritt,
wollen Sie in der EU-Kommission Brüssel? Dort herrscht Ärger über die vor allem in den Ballungsräumen. Die
platzieren? geplante neue Abgasnorm Euro 7. Verkehrsangebote in den großen
Weil: US-Präsident Joe Biden hat mit Weil: Es wird Sie wundern, aber ich Städten sind allerdings in vielen Fäl-
dem Inflation Reduction Act den fahre als Ministerpräsident nach len schon ziemlich gut, für meine Hei-
Maßstab gesetzt. Die Regierung ga- Brüssel und nicht als Botschafter der matstadt Hannover kann ich das
rantiert niedrige Steuern und Preise Automobilindustrie. allemal sagen. Aber wer im ländli-
auf lange Zeit. Auf der anderen Seite SPIEGEL: Das schließt sich nicht aus. chen Raum wohnt, wo morgens und
haben wir es in China mit einem Staat Weil: Ich trenne beide Rollen strikt, abends nur einmal der Bus fährt, dem
zu tun, der ohne Limit steuert und dennoch lautet meine Antwort auch nutzt das 49-Euro-Ticket wenig. Da
fördert. Da können wir in Europa als Ministerpräsident: Das wäre ein würden Rufbusse helfen. Deswegen
nicht sagen, wir halten uns da raus großer Fehler. Man kann natürlich die »Wir haben müssen wir auch über das Angebot
und lassen den Markt entscheiden. Standards immer noch strenger ge- in der Fläche reden. Bis auf Weiteres
Das wäre absurd. stalten, aber der zusätzliche Nutzen
nicht zu viele bleibt das eigene Auto deswegen in
SPIEGEL: Es gab zuletzt etliche An- für die Umwelt nimmt immer weiter E-Autos auf vielen Fällen unverzichtbar.
kündigungen für Investitionen in ab. Außerdem geht es beim Verbren- der Straße, SPIEGEL: Auch für Sie privat?
Europa, etwa in der Chipindustrie. nungsmotor um eine Technologie, Weil: Ich möchte weiter ein Auto fah-
Weil: Wir brauchen dafür schnellere deren Ende längst beschlossen ist. sondern zu ren, sehr gern klimaneutral. Zu den
Entscheidungen in den europäischen Deswegen ergibt es schlicht keinen wenige.« guten Vorsätzen für das neue Jahr
Beihilfeverfahren und eine Weiter- Sinn, die Abgasnormen weiter zu ver- zählt daher, dass ich meinen Ver-
Volkswagen AG

entwicklung des Beihilferechts. Das schärfen. Das würde die wirtschaft- brenner-Golf gegen ein VW-Elektro-
ist zum Beispiel für die Chemieindus- lichen Probleme vor allem in der Zu- auto austausche.
trie von enormer Bedeutung, wo in lieferindustrie massiv erhöhen. Und Interview: Simon Hage, Martin Hesse n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 71


AUSLAND

Anushree Fadnavis / REUTERS


Risse fressen sich durch die grüne Zimmerwand, der Fußboden im Haus der Großeltern dieses Mädchens ist schief, und nur die Reste eines
Geburtstagsgrußes erinnern an bessere Zeiten: Um die Wege für Millionen Hindu- und Sikh-Pilger zur Quelle des Ganges und anderer religiöser
Stätten auszubauen, ließ Indiens Regierung in Rekordtempo Straßen und Schienenwege in die Berge des Himalaja schlagen. Offenbar eine der
Folgen: Im Bundesstaat Uttarakhand senken sich die Fundamente um mehrere Zentimeter jährlich; Hunderte Häuser drohen die Berge hinunterzu-
rutschen. Seit Jahren wehren sich die Anwohner gegen das Bauvorhaben, zurzeit ruhen ein paar Baustellen, und Menschen werden umgesiedelt.

Iranische Befürworter einer Terrorlistung wollen umgekehrt


Der Preis der eigenen Werte einen neuen Atomdeal um jeden Preis verhindern. Sie sagen,
ein solcher würde Milliarden freisetzen, die dann vor allem dem
Regime zugutekämen, das weite Teile der Wirtschaft des Landes
ANALYSE Was spricht dafür, die Revolutionswächter
dominiert.
in Iran auf die Terrorliste der EU zu setzen? Andere argumentieren damit, dass die Maßnahme neue Sank-
tionen nachzöge und die Geldflüsse der Revolutionswächter
Iranische Oppositionelle fordern, dass die EU die Revolutions- austrocknen würden. Das ist jedoch unwahrscheinlich: Schon
wächter auf eine Terrorliste setzt. Dafür gibt es gute Argumente: jetzt gibt es reihenweise internationale Sanktionen gegen die
Die Sepah-e Pasdaran indoktriniert ihre Mitglieder und steht an Sepah und ihre Mitglieder. Geschäfte mit ihnen zu machen ist in
vorderster Front der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste Europa schon jetzt illegal, ihre Vermögen werden eingefroren.
in Iran. Im Ausland sind die Revolutionswächter für die Unter- Trotzdem haben die Revolutionswächter in Iran ein regelrechtes
stützung radikaler Milizen und für Terroraktivitäten mitverant- Wirtschaftsimperium aufgebaut.
wortlich. Doch die EU zögert und macht juristische Probleme Deshalb wäre eine Terrorlistung in erster Linie ein starkes
geltend. Das Zögern allerdings hat politische Gründe. politisches Signal. Sie könnte die Moral der iranischen Opposi-
Weil die Revolutionswächter Streitkräfte eines Staates sind, tion stärken und würde ein klares Zeichen senden: dass Europa
bedeutet ihre Terrorlistung auch eine Herabstufung der diploma- die brutale Repression der Proteste in Iran nicht gutheißt. Der
tischen Beziehungen zu Iran. In europäischen Außenministerien Preis dafür wäre, ein formales Ende der Atomgespräche zu ris-
möchte man insbesondere ein formales Ende der Nuklearver- kieren. Europa muss sich entscheiden, ob sich dieser Preis lohnt,
handlungen verhindern. Schon jetzt scheinen die Gespräche tot, um für die eigenen Werte einzustehen. Je nachdem, ob man den
aber trotzdem gibt es aus EU-Sicht keine gute Alternative, um Atomgesprächen noch Chancen gibt oder nicht, dürfte diese
das iranische Atomprogramm einzuschränken. Rechnung unterschiedlich ausfallen. Monika Bolliger

72 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


Abschreckung von demokraten einen wichtigen Demonstrierende
Baustein der künftigen Migra- in Thailand
Asylsuchenden tionspolitik vor: Mit einer
SCHWEDEN Die Verhältnisse in Informationskampagne will die
Stockholm haben sich geändert: Regierung potenzielle Asyl-
Was vor gut drei Jahren noch suchende bereits in ihren Her-
als Provokation der Rechten kunftsländern abschrecken,

Peerapon Boonyakiat / SOPA Images / ddp


galt, klingt heute wie die Vorla- nach Schweden zu gelangen.
ge für die neue Migrationspoli- Die Botschaften in Schweden
tik der Regierung. »Schweden und ausländische Medien sollen
ist voll – kommt nicht zu uns«: den Menschen in unterschied-
Diese Worte ließ der Chef der lichen Sprachen mitteilen, dass
rechtspopulistischen Schweden- der Familiennachzug und der
demokraten, Jimmie Åkesson, Erhalt der Staatsbürgerschaft
2020 auf Flugblätter drucken künftig schwieriger und finan-
und verteilte sie an Geflüchtete zielle Unterstützung gestrichen
an der türkisch-griechischen werde. Damit hoffe man, die
Grenze. Mittlerweile hat seine Zahl der Asylsuchenden stark
Partei deutlich mehr Einfluss. zu reduzieren. »Derzeit haben
Die konservative Minderheits- zwei Drittel derjenigen, die »Waffen statt Wandel«
regierung von Ulf Kristersson nach Europa kommen, keinen
ist auf ihre Unterstützung an- triftigen Schutzgrund. Viele
MYANMAR Politologe Felix Heiduk über Proteste gegen
gewiesen. Im Gegenzug sicher- von ihnen werden zur Rück-
ten sich die Schwedendemo- kehr gezwungen sein«, so die Militärjunta zwei Jahre nach dem Staatsstreich
kraten Mitspracherecht bei Malmer Stenergard. Mit der
allen großen Themen. Nun Regierung und ihren rechts- Heiduk, 46, ist Lei- öffentlichen Erschießungen – so
kündigte Migrationsministerin populistischen Unterstützern ter der Forschungs- etwas gab es vor dem Putsch
Maria Malmer Stenergard einen werde die Zahl der Abschie- gruppe Asien nicht.
»Paradigmenwechsel« in Bezug bungen weiter steigen. Künftig bei der Stiftung SPIEGEL: Besteht noch Hoff-
auf Einwanderung und Asyl will Schweden nur noch Wissenschaft und nung auf einen Regimewechsel?
SWP

an und stellte gemeinsam mit einige Hundert Asylsuchende Politik in Berlin. Heiduk: Die Hoffnung ist unge-
einem Vertreter der Schweden- im Jahr aufnehmen. ASC brochen. Das sieht man daran,
SPIEGEL: Herr Heiduk, im Fe- dass der bewaffnete Widerstand
bruar 2021 putschte das Militär, gegen die Militärjunta nicht ab-
Exodus der auf der Insel, schätzen Exper- gibt es noch zivile Proteste? ebbt – ganz im Gegenteil. Un-
ten – zumindest sind sie dort Heiduk: Im gesamten Land wur- abhängige Beobachter schätzen,
Superreichen gemeldet. Schuld am Exodus ist de still und friedlich demons- dass oppositionelle Gruppen
GROSSBRITANNIEN Wie ein der Brexit: Banken verlegten triert. Auch wenn jetzt weniger mittlerweile immer größere Tei-
Vergnügungspark für Vermö- ihre Sitze in die EU, gut verdie- Menschen auf die Straße zie- le des Landes unter ihre Kon-
gende wirkt London, wenn man nende Banker zogen ihren hen, heißt das nicht, dass die trolle bringen.
durch die Straßen von Mayfair, Arbeitsplätzen hinterher, auch Zustimmung zur Junta gewach- SPIEGEL: Ist mit einer Art
Westminster oder Chelsea geht. andere Branchen fürchteten sen wäre. Gegenputsch zu rechnen?
Großzügige Steuermodelle und Handelshindernisse und gaben SPIEGEL: Wie schätzen Sie die Heiduk: Davon ist im Moment
Visaprogramme sorgten dafür, Großbritannien als Hauptsitz derzeitige Situation ein? nicht auszugehen, weil die be-
dass Großbritannien lange als auf. Ein weiterer Grund für die Heiduk: Seit dem Militärputsch waffnete Opposition noch zu
Europas Hotspot für Supersitu- Emigration der Millionäre ist im vergangenen Jahr ist die heterogen und zersplittert ist
ierte galt. Doch das änderte sich das Ende der »goldenen Visa«. Sicherheitslage prekär, die und militärisch nicht koordi-
zuletzt: Seit 2016 haben schät- Mit einem Zwei-Millionen- Wirtschaft liegt am Boden. niert an einem Strang zieht.
zungsweise 12 000 Millionäre Pfund-Investment konnten Rei- SPIEGEL: Wie kam es dazu? SPIEGEL: Was bezweckt die
die Insel verlassen, allein 1400 che so an eine Aufenthaltsge- Heiduk: De facto befindet sich Militärjunta mit der für 2023
sollen es im letzten Jahr gewe- nehmigung und später an einen das Land im Bürgerkrieg, eine angekündigten Wahl?
sen sein. Ganz weg sind die Rei- britischen Pass kommen. 6312 Vielzahl von Bewaffneten be- Heiduk: Das ist eine Schein-
chen jedoch nicht: Noch heute Menschen gelangten so bis 2015 kämpfen die Junta, aber auch wahl, die hat null Legitimität
lebten etwa 737 000 Millionäre nach Großbritannien, darunter sich gegenseitig. beim Großteil der Bevölkerung.
offenbar 700 russische Millionä- SPIEGEL: Wer kämpft gegen Außerdem hat die Junta gerade
re. 2022 wurde das Programm wen? den Ausnahmezustand im Land
eingestellt, um den Fluss russi- Heiduk: Auf der einen Seite die um weitere sechs Monate ver-
schen Geldes zu stoppen. Im Militärjunta – auf der anderen längert, der ursprüngliche
Sinai Noor / AgeFotoStock / picture alliance

Januar erklärte Innenministerin erstens der bewaffnete Arm der Wahltermin im August ist also
Suella Braverman, dass eine demokratischen Exilregierung, nicht zu halten.
»kleine Minderheit« der Visa- zweitens mehrere Dutzend eth- SPIEGEL: Wie lautet Ihre Pro-
träger aus illegalen Finanzakti- nische Rebellengruppen, von gnose für 2023, dem dritten
vitäten zu Geld gekommen sei denen einige die Opposition Jahr nach dem Putsch?
oder Verbindungen zum organi- unterstützen, andere aber Waf- Heiduk: Ich denke, wir werden
sierten Verbrechen gehabt hätte. fenstillstand mit der Junta ver- mehr Waffen sehen statt politi-
Viele Vermögende zieht es nach einbart haben. Die Situation ist schen Wandel. Entscheidend ist
Abu Dhabi, aber auch Lissabon verworren. Fast täglich kommt auch, wie sich China und Indien
Protestplakat gegen den Brexit profitiert vom Exodus. MUK es zu Bombenanschlägen und zur Junta positionieren. FIO

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 73


AUSLAND

Die letzten Bestatter von Bachmut


UKRAINE Sie transportieren Leichen durch Granatenhagel, sprechen Trauerreden, während die
Russen schießen, und stecken Gebinde aus Plastikblumen. In einer Stadt an der Front,
ohne Gas, ohne Wasser, ohne Strom, halten ein paar Ukrainer den Betrieb aufrecht. Sie werden
schließlich gebraucht. Von Christoph Reuter und Johanna-Maria Fritz (Fotos)

ange bevor Bachmut zu sehen ist hinter schuss, der Bachmut über Monate zur Trüm- ten nur noch von furchtlosen Nothelfern auf-
L den sanft gewellten Hügeln, kann man
die Stadt hören. Was im Winterdunst
aus der Ferne erst klingt wie eine unaufhör-
merlandschaft gemacht hat und dessen Druck-
wellen fast alle Scheiben der noch stehenden
Häuser splittern ließen, verlagert sich Ende
rechterhalten wird, die mit kleinen Trans-
portern in die Stadt kommen. Alle Kranken-
häuser Bachmuts sind zerstört, eine Ärztin
liche Kakofonie, löst sich beim Näherkommen Januar für ein paar Tage vom Zentrum etwas bleibt und beteuert, zwei Kollegen seien be-
auf in ganz verschiedene Geräusche, die zu nach außen. Die Russen wollen die Stadt ein- stimmt auch noch da.
unterscheiden lebensrettend sein kann. Da kreisen, abschneiden von den letzten Zu- Je näher man dem Zentrum kommt, desto
sind die harten, trockenen Mündungsknalle gangsstraßen und der Versorgung. gespenstischer wird es. Die östliche Seite jen-
der ukrainischen Geschütze, manchmal Schon heute sieht Bachmut aus wie eine seits des Flusses liege bereits in Sicht russi-
vibrierend, als ob sich ein Knall und sein Echo Geisterstadt, verlassen von neun Zehnteln scher Schützen, warnen Soldaten. Aber auch
überlagern. Da ist das tiefe Wummern der ihrer einst 70 000 Bewohner. Hunderudel die »Punkte der Unbesiegbarkeit«, wie die
russischen Einschläge, länger und manchmal stromern durch verwaiste Straßen. Krähen- Noträume mit Ofen, heißer Suppe und WLAN
gefolgt von einem Bersten und Krachen. Da- schwärme picken auf gefrorenen Müllbergen genannt werden, liegen weiter in Richtung
zwischen klingt das Tacktacktack schwerer herum, die seit Monaten niemand mehr ab- Stadtrand. Ebenso die Verteilerstellen für
Maschinengewehre, ab und zu das Zischen holt. Doch immer wieder tauchen Menschen Hilfsgüter und der winzige Markt, auf dem
der Grad-Raketen, gefolgt von einer raschen auf, die in Zeitlupe mit einem Handwagen eine Handvoll Furchtloser Speck, getrock-
Abfolge kleiner Explosionen. voller Wasserkanister durchs Inferno schlur- neten Fisch, Batterien, Filzstiefel und Woll-
Von der Hügelkuppe aus führt die Straße fen. Wie Jurij, ein Rentner mit Wollmütze, sachen aus Kofferräumen und auf Tapezier-
von Westen, der letzten halbwegs sicheren der gerade von einer Quelle am Stadtrand tischen anbieten. Von morgens bis mittags,
Zufahrt, schnurgerade Hunderte Meter ab- kommt: »Alle reden von Evakuierungen. »dann wird der Beschuss zu stark«, sagt ein
wärts ins Flusstal der Bachmutka. Der letzte Aber was soll ich woanders? Hier ist mein Mann, als ließe sich dem Krieg mit tageszeit-
Posten ukrainischer Soldaten vor Bachmut Haus, hier liegen meine Eltern begraben.« licher Umsicht entkommen.
ist seit Tagen verlassen. Nicht weil die Armee Eine alte Frau schließt atemlos zu uns auf: Das Zentrum ist Verwüstung, Dröhnen
die Stadt aufgegeben hätte: Im Minutentakt »Woanders liebt uns niemand!« Aber hier? und Leere. Bis auf das Erdgeschoss eines Eck-
rasseln Panzer und Truppentransporter vor- »Hier ist Heimat.« gebäudes. An der Straße des Friedens, um-
bei, Soldaten kommen in Lieferwagen und Das letzte Zehntel harrt aus. Vor allem die geben von zerbombten, verlassenen Gebäu-
SUV, aber auch einem dottergelben Lada in Alten von Bachmut wollen die Hölle ihrer den und zwei Häusern, die seit Tagen bren-
die Stadt, der Kofferraum zusammengehalten Heimat nicht verlassen – auch wenn ihre Ver- nen, machen sechs Männer und zwei Frauen
von einem Stück Wäscheleine, alles überzo- sorgung mit Lebensmitteln und Medikamen- einfach weiter. Zwischen Sargrohlingen aus
gen von graubraunem Schlamm. Fichtenholz, Gestecken aus Plastikblumen,
Der Posten, ein Quader aus tonnenschwe- bunten Bordüren und schwarzen Synthetik-
ren Betonblöcken mit Tarnnetz darüber, war Drohende Einkreisung jacken mit angedeuteten Taschen halten die
ein zu leichtes Ziel für die russische Artillerie Angestellten des städtischen Bestattungs-
geworden, die ihn bereits einmal getroffen russisch besetzte Gebiete instituts den Betrieb aufrecht: montags bis
hat. Die ganze Stadt und ihre Umgebung sei- freitags, von 8 bis 13 Uhr, samstags und sonn-
Vormarsch russischer Truppen
en zur Kampfzone geworden, sagt ein Soldat tags geschlossen.
beim Aufwärmen an einem Holzofen, zur
härtesten der ganzen Ukraine. Soledar
Im Verlauf einer Woche wird einer von ihnen
Ba chmu t k a

Seit Mai gibt es kein Gas mehr, seit ver- UKRAINE verletzt, ein zweiter beinahe erschossen wer-
gangenem Sommer wird Bachmut von russi- den, schlägt eine russische Rakete im Innen-
scher Artillerie beschossen. Seit September hof ein. »Aber man könnte ja auch woanders
gibt es kein Leitungswasser, seit Oktober kei- DONEZK
einen Verkehrsunfall haben«, wirft Wiktorija
nen Strom mehr. Mitte Januar ist die Tempe- Bachmut
ein, die stoische Herrscherin über den Emp-
ratur auf minus 15 Grad gefallen. Am 25. Ja- Tschassiw Jar Stadtteil fangstisch, »oder von einem Ziegelstein auf
nuar gesteht die ukrainische Regierung ein, Sabachmutka den Kopf getroffen werden.« Niemand wider-
die Kontrolle über die kleine Bergbaustadt Iwaniwske spricht.
Soledar nördlich von Bachmut verloren zu Sie sind eine zusammengewürfelte Schar.
haben. Dann erobern russische Truppen das Wolodymyr, ein sanfter, rundlicher Endvier-
Dorf Klischtschijiwka südlich von Bachmut. ziger, dessen Familie es irgendwann aus Geor-
5 km Klischtschijiwka
Aus dem Vorort Iwaniwske und dem Stadtteil gien nach Bachmut verschlagen hatte und
Sabachmutka berichten zurückkehrende Sol- den alle nur »Wowa« rufen, kam als Matrose
S Quelle: Institute for the Study of War and Critical Threats
daten von Häuserkämpfen. Der Artilleriebe- Project; Deep State; Stand: 2. Febr. 2023, Karte: OpenStreetMap der ukrainischen Marine bis nach Somalia,

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2 3

1 | Totengräber bei der Beerdigung der 95-jährigen Popowitsch auf dem Friedhof von Tschassiw Jar bei Bachmut 2 | Von einer Granate getötete
Kolomoizewa auf dem Boden ihres Wohnzimmers 3 | Bestatterin Tanja beim Beziehen von Särgen

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Panzer nahe Bachmut: »Sie kommen in Wellen« Sanitäter Rabbi (l.), Verwundeter: »Wir müssen schnell sein, immer«

war Bauarbeiter in Kiew, »alles außer Elek- mittlerweile zehn Hunde, zwei Katzen, drei daten in voller Ausrüstung über die Straße.
trik«, aber wollte immer zurück nach Hause. Enten von all jenen, die gegangen sind!« Mit Auf der anderen Seite lassen sie sich in klir-
Serhij, der Älteste von ihnen, ist wütend auf jedem aufgenommenen Tier könne sie umso render Kälte auf einen gefrorenen Erdwall
die Russen, den immer wieder streikenden weniger weg, »je mehr Leute gehen, desto fallen, bleiben dort einfach liegen. Erschöpft,
Leichenwagen und jeden, der im Weg herum- dringender muss sich doch jemand um die erleichtert, vor allem erschüttert: »113. Bri-
steht. Petja, der Jüngste, schaut so klein aus Tiere kümmern«. gade«, sagt einer, »Ablösung.« Fünf Kilome-
seiner übergroßen Kapuze und spricht so lei- Irgendwer müsse bald die tote alte Frau ter seien sie gelaufen von ihrer Position nahe
se, als wäre die Welt einfach zu groß für ihn. aus dem getroffenen Haus um die Ecke ab- »Linie null«, der Front, bis hierher. Vier Tote,
Er sagt, die Alten, die nun stürben, hätten holen, drängt Serhij. Die liege dort seit vier drei Verletzte, die Bilanz einer Nacht. Dann
doch auch ein Recht, mit Würde begraben zu Tagen. Aber Andrij und Petja sind immer schweigt er und schaut in den Morgenhimmel.
werden. Kostja, ein melancholischer Mitt- noch unterwegs, die Papiere für eine andere
vierziger mit spärlichem Bart, ergänzt, dass Leiche zu besorgen. Weiterhin gilt auch in »Sie kommen in Wellen«, wird später ein
sie hier wenigstens ein bisschen Geld ver- Bachmut das bürokratische Prozedere, dass ukrainischer Soldat die vergangenen sechs
dienen könnten: »Sonst gibt es keine Jobs erst die Polizei prüft, ob bei einem Tod aus Wochen in seiner Stellung außerhalb der Stadt
mehr. Und, nun ja, gestorben wird ja weiter- Altersschwäche nicht vielleicht doch Fremd- rekapitulieren: »Die erste Welle der Russen,
hin.« Iwan, der Chef, früher Polizist, räumt verschulden vorliegt. Mit diesem Papier stellt 10, 15 Mann, läuft auf unsere Stellungen zu.
ein, dass es riskant sei, im Zentrum zu blei- das Gesundheitsamt den Totenschein aus. Fast alle von denen werden erschossen. Ab
ben: »Aber diese Adresse kennen alle, da Nur, wo sind jetzt die letzten Polizisten, deren da wissen die russischen Aufklärer, wo wir
finden sie uns wenigstens.« Wache längst in Trümmern liegt, wo liegen sind. Drohnen haben die auch. Dann fängt
So unterschiedlich die Charaktere, so viel- die Formblätter und Stempel? Alle Telefon- die russische Artillerie an, unsere Gräben zu
fältig ihre Gründe, sind sie sich in einem netze sind tot. Und wer stellt jetzt die Toten- beschießen. Anschließend kommt die nächs-
einig: zu bleiben. Es ist Wahnsinn. Oder, wie scheine aus? te Welle. Und noch eine. Manchmal ein Dut-
sie es sehen: Jeder überlebte Tag ist ein Sieg Außerdem wollen Wowa und Kostja zeitig zend in 24 Stunden.« Auf acht Russen komme
gegen die Zumutungen des Daseins. »Wir los. Sie wohnen immer noch auf der anderen ein Ukrainer, schätzt er das Kräfteverhältnis.
werden doch gebraucht«, sagen sie. Etwa Seite des Flusses, in Sabachmutka, wo russi- Aber auch bei den Opfern lägen die Russen
7000 Hrywnja kostet eine schlichte Beerdi- sche Truppen sehen, auf wen sie schießen vorn, es stürben im Verhältnis weit mehr.
gung, umgerechnet etwa 170 Euro. Bei Toten können, wo der Weg über die Brücke zum Sie würden so viele Russen erschießen,
ohne Angehörige zahlt der Staat. russischen Roulette mit Granaten geworden dass er sich nicht vorstellen könne, wie Mos-
Das Rattern der Maschinengewehre und ist. Das wiederum finden auch die anderen kaus Generäle damit noch lange weiterma-
Wummern einschlagender Geschosse aus der lebensgefährlich. »In meinem Haus ist genau chen könnten: »Das ist wie Zweiter Welt-
Ferne mischt sich ins helle Klackern von Tan- ein Zimmer übrig«, sagt Wowa, »der Rest ist krieg.« Doch auch ihre eigenen Verluste seien
jas Heftklammerpistole, mit der sie im Werk- weg.« Als sei das ein Wink des Himmels zu grauenhaft: »Wir waren 90, 95 Mann. Jetzt
stattraum Schmuckbordüren an die Sargrän- bleiben. Meistens laufe er jetzt übers Eis, mei- ist noch die Hälfte da, jeder Fünfte ist tot.«
der tackert. Aus einem kleinen Lautsprecher de die Brücke, will er die anderen beruhigen. Bis zur Ablösung hätten sie durchgehalten.
klingen Schlager der Neunzigerjahre. Alle Draußen vor der Stadt, im Dunst des »Aber noch mal?« Und was solle man denen
paar Minuten setzt der zigfach reparierte Ge- nächsten Morgens, taumeln ukrainische Sol- sagen, die einfach verrückt werden, die es
nerator aus, verschwindet alles in Finsternis, nicht mehr aushalten? »Zwischen uns und den
bis die beiden bleichen Energiesparlampen Russen sind oft nur noch 50 Meter, manchmal
wieder angehen. weniger.« Manche würden die Angst nicht
Wiktorija, in Schneeanzug, darüber eine mehr ertragen, andere wiederum nicht, dass
Fellweste; Wollmütze und Filzstiefel, war bis »Was wollen die mit einer sie selbst davongekommen, ihre Freunde aber
zum Sommer beim städtischen Grünflächen- Stadt im Talkessel, die tot seien. Einige brächten sich um.
amt für die Pflege der Blumenrabatten an- Dieser Krieg macht etwas mit allen hier.
gestellt. Kein Job mit Zukunft in Bachmut. schwer zu verteidigen ist?« Manche macht er mutiger, andere wahnsinnig,
Aber sie müsse in der Stadt bleiben: »Ich habe Tschetschenischer Vizekommandeur wieder andere lebensmüde.

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Als Wiktorija und die anderen an te Person eine Adresse: Jubilejna- »Stabilisierungspunkte« eingerichtet,
diesem Donnerstag, morgens um halb Straße, Block 2/4, zweiter Stock. wo die Verwundeten erstbehandelt
acht, ins Bestattungsinstitut gekom- Noch eine Nina. werden.
men sind, habe es draußen noch ge- Es ist einer jener Wohnblocks, die Von außen ist am Abend nur ein
brannt, sagen sie. Das Bestattungs- mit Fernwärme geheizt werden, jetzt Lichtschimmer erkennbar, der Ort
auto war so vorsichtig wie möglich aber eiskalt sind. Von Nina Michai- muss geheim bleiben. »Rabbi«, ein
zwischen zwei Gebäudeteilen im Hin- lowa, 73, pensionierte Bibliothekarin, Rettungssanitäter, der aus Israel zu-
terhof geparkt. Genau dort schlug in ist nur der Kopf zu sehen, ihren Leib rückgekommen ist, wohin seine Fa-
der Nacht eine russische Grad-Rake- hatte sie fest in einen Baumwollschlaf- milie einst auswanderte, erlaubt die
te ein, hat das Blech des Lieferwagens sack gewickelt. Anwesenheit des SPIEGEL -Teams,
zerfetzt, verbogen, gekräuselt, als Woran ist sie gestorben? War sie solange niemand im Weg stehe: »Wir
wäre es der Rüschenstoff des Grab- krank, ist sie erfroren? Verdurstet, müssen schnell sein, immer.« Es dau-
schmucks. Die Werkstatt, der Schau- weil sie zu schwach war, aus ihrem ert nicht lange, und das Kreischen
raum mit 17 Särgen, der Empfang: Kokon wieder herauszukommen? Pet- eines Kettenfahrzeugs nähert sich.
unversehrt. Nur haben sie jetzt kein ja schneidet den Schlafsack auf, Ninas Der Truppentransporter bremst ab-
Auto mehr. Zehen sind schwarz, ihr Körper ist so rupt, die Heckklappe senkt sich, zwei
Und Wowa ist nicht gekommen. leicht, dass Serhij sie allein in den Soldaten springen heraus, tragen
Ihn habe, so viel wissen sie von Sol- weißen Plastiksack legt, den Reißver- einen Verletzten in goldschimmern-
daten, auf dem Heimweg eine Gra- schluss hochzieht und sie über der der Rettungsfolie hinein. Eine Viertel-
nate verletzt. Er habe nichts mehr Schulter nach unten trägt. »Wartet!«, stunde später kommt ein Pick-up, ein
gehört, kaum ein Wort herausge- brüllt Petja aus einem Nebenzimmer, Schwerverwundeter liegt in Eiseskäl-
bracht, Folgen von Schock und Knall- »ich muss noch ihren Pass oder ir- te auf der offenen Ladefläche, schließ-
trauma. Die Soldaten hätten ihn in gendetwas finden.« Er durchstöbert lich wird ein Dritter gebracht. Es gebe
ein Krankenhaus außerhalb bringen Schubladen, Kästen, findet schließlich auch ruhige Tage, sagt Rabbi. Heute
wollen. »Er hat sich geweigert«, sagt den Pensionsausweis. »Dawai«, los! sei keiner davon.
Wiktorija, sei nach Hause gehumpelt. Nicht zu lange bleiben, nirgends. Eine
Anrufen könne man ihn ja nicht, fügt Nachbarin steht auf dem Bürgersteig, Drinnen arbeiten zwei, drei Sanitäter
sie missbilligend hinzu. Niemand »ja, Nina, die hat hier gewohnt. Sie und ein Arzt zügig und leise. Mit
weiß, wie es ihm geht, ob er über- Bestatter Wowa, hatte wohl Krebs«, ein kurzes Lä- einem tassengroßen Magneten ziehen
haupt noch lebt. Aber jetzt müssten Serhij, Petja in cheln: »Sie war so lebenslustig, hat sie kleine Metallsplitter aus dem Ge-
erst mal drei Tote abgeholt werden. Bachmut: »Nun ja, sich gern mit allen unterhalten. Klug webe eines Schwerverletzten. Der
gestorben wird ja
Serhij flucht, läuft los, treibt ein weiterhin«
war sie.« Und jetzt tot. »Ja.« Keine schreit, dann verstummt er im Mor-
Ersatzfahrzeug ohne Zündschlüssel Bestürzung, nur ein Nicken. phindämmer. Er hat große Muskel-
auf, das er jedes Mal kurzschließen Als sie die drei weißen Säcke im teile vom Bein, Knochenstücke vom
muss. Zu dritt brechen sie auf. Irgend- improvisierten Leichenraum am Ellbogen verloren, beim Umheben
wer hat »200, vierter Stock« mit Filz- Stadtrand ausgeladen haben, schaut vom Behandlungstisch fällt noch ein
stift auf die Haustür um die Ecke ge- Petja betrübt aus dem Seitenfenster daumengroßer Granatsplitter zu Bo-
schrieben, das alte sowjetische Ar- des geliehenen Transporters, zeigt den, der in seinem Po gesteckt hat. Er
meekürzel für »Leiche«. Zwischen mit einer Kopfbewegung auf den zer- habe, sagt ein Sanitäter, »traumato-
umgestürzten Möbeln finden sie Nina schossenen Häuserblock gegenüber: logisch gesehen absolut Glück gehabt:
Kolomoizewa, ihr halber Kopf fehlt. »Da war meine Wohnung. Sie ge- Herz, Hirn, innere Organe, alles un-
Aber nirgends ein Ausweis mit dem hörte mir, ich hatte sie mit Erspartem versehrt. Der überlebt. In zwei, drei
Geburtsdatum. Zumindest die Todes- gekauft.« An einigen Stellen gähnen Monaten kann er wieder an die
ursache ist eindeutig. breite Löcher in der Fassade. Über- Front.« Nur, ob er seinen Arm wieder
Irgendwo im Viertel Posjolok soll all haben Druckwellen die Scheiben werde strecken können, sei nicht ganz
ein Mann tot auf seinem Sofa liegen. zerschmettert. Aus einigen Rahmen klar. »Und jetzt raus hier«, sie müss-
Aber wo genau? Immer wieder kurvt wehen Gardinen im Winterwind. ten den Behandlungstisch sofort
Serhij durch dieselben Gassen, kann Jetzt wohne er wieder bei seinen sauber machen. Für den nächsten.
die Adresse nicht finden, erntet meist Eltern. Dass er überhaupt bleibe, wei- Die zerschnittenen Hosen, bluti-
nur Kopfschütteln auf die Frage nach ter arbeite, sei nicht wegen des Gel- gen Jacken landen in großen Müll-
dem Toten. Bis sie Jurij finden, der des. »Die Menschen wollen doch an- tüten. Telefone, Talismane, Ausweise
ein Haus mit verwildertem Garten ständig, in Würde begraben werden, kommen in Klarsichttüten und wer-
bewohnt hat. »Ich verstehe das gar wenn es zu Ende geht.« Nun, es sei den den Versehrten hinterherge-
nicht, dass er gestorben ist«, ruft der nicht mehr viel, kein Gottesdienst, schickt, die auf Krankenhäuser im
Nachbar von gegenüber herüber: »Er kein Priester, keine echten Blumen, ganzen Land verteilt werden. Nur die
hatte einen Ofen, Holz und zu essen.« und von der ersten Nina in der Hor- Stiefel landen vor der Tür des Be-
Jurij ruht auf seinem Sofa, den Kopf batowa-Straße wissen sie nicht ein- handlungsraums. Eine sehr lange Rei-
zur Seite gelehnt, vielleicht war es mal, ob sie wirklich am 21. Januar he zieht sich die Wand entlang.
ein Herzinfarkt. Er war ein schwerer ums Leben gekommen ist. »Aber Aber wozu das alles? Warum will
Mann, nur zu dritt bekommen sie trotzdem.« Russland um den Preis zahlloser Toter
ihn durch die vollgestellten Zimmer Je näher man Bachmut kommt, ausgerechnet Bachmut erobern? Die-
nach draußen. Meterweise Bücher, desto mehr dunkel gestrichene, um- selbe Frage ist immer wieder von
ein verstaubtes schwarzes Klavier, gebaute Lieferwagen zum Kranken- ukrainischen Militärs und sogar dem
darauf eine Schar grellbunter Plastik- transport stehen am Straßenrand – in Vizekommandeur einer tschetscheni-
plüschtiere. Was für ein Mensch er weitem Abstand voneinander, damit schen Freiwilligeneinheit in Bachmut
wohl war? Dann hupt es von draußen, eine Granate nur einen von ihnen zu hören: »Was wollen die mit einer
Jurij wird neben Nina verladen, wei- träfe. Drei, vier Kilometer von der Stadt im Talkessel, die schwer zu ver-
ter. Wenigstens haben sie für die drit- Kampfzone entfernt hat die Armee teidigen, mühelos von oben zu be-

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schießen ist?« Nicht einmal im Zweiten Welt- »Der Heimweg war gut. Nur bunden, ihn in eine Garage gezogen. Habe
krieg sei lange um Bachmut gekämpft worden. gerufen, niemand kam. Bin dann zurück über
Die Antwort liefern sie meistens mit. Ihre dann wäre ich beinahe die Brücke, bis Soldaten mich fanden.«
Stadt sei zur Arena Moskauer Diadochen- im Hof erschossen worden.« Nach einer Stunde seien sie beim Schwer-
kämpfe geworden. Es gehe darum, wer Bach- verletzten angekommen, den sie lebend ins
mut erobern könne. Jewgenij Prigoschin und Kostja, Totengräber Krankenhaus nach Kramatorsk, 60 Kilometer
seine Wagner-Truppe aus Söldnern und ent- entfernt, brachten. Wowa wollten sie eben-
lassenen Strafgefangenen? Oder die regulären falls mitnehmen, »aber mir war doch fast
Streitkräfte unter Oberbefehlshaber Walerij nichts passiert«. Er schleppte sich zurück in
Gerassimow? Was der Armee im Sommer gibt. Und sie müssen weiter, die nächste Lei- die Hölle von Sabachmutka, blieb vier Tage
nicht gelang, wollte Prigoschin schaffen, aber che abholen. Ein namenloser Mann, um die im Bett liegen, in seinem letzten verbliebenen
Wagner kam nur bis Soledar. In Bachmut 60, vermutlich ein Obdachloser. Tief im Zimmer. Auch Kostja findet, dass doch alles
habe Prigoschins Truppe so horrende Ver- Süden Bachmuts, hart an der Grenze des Be- gut gegangen sei: »Letzte Nacht war gut, also
luste erlitten, dass seit Beginn der letzten tretbaren. Sie seien ja nicht lebensmüde, der Heimweg war gut. Nur dann wäre ich bei-
Januarwoche nun wieder reguläre Soldaten sagen sie. Den Leichnam hätten Nachbarn in nahe im Hof erschossen worden«, eine Kugel
gesichtet würden. Dass sie Bachmut auf Dau- ein verlassenes Haus geschleift, damit die sei zischend an ihm vorbeigerauscht, als er
er halten könnten, sagt keiner der Ukrainer. Hunde sich nicht über ihn hermachen. Petja rauchend draußen stand.
holt den Leichensack, Andrij die Einweghand- Rauchen sei gefährlich, sagt Wiktorija:
Am nächsten Morgen hängt Nebel tief über schuhe, Serhij schließt den Motor kurz, dann »Draußen, meine ich.« Iwan, der Chef, habe
den Hügeln, dämpft den Lärm aus der Ferne. ruckelt der Wagen zwischen umgestürzten ihnen ja verboten, drinnen zu rauchen, das
Margarita Popowitsch, 95, ist am Samstag- Bäumen und Trümmerteilen nach Süden. sei pietätlos. Während die anderen draußen
mittag gestorben, friedlich, sagt ihre Tochter, Der Mann ist rasch gefunden, er trägt einen beim Friedhof waren, schlug gegen halb elf
die mit der Nachbarin gekommen ist. Die ers- struppigen Bart, abgerissene Kleidung. Im Hin- eine Granate auf der Kreuzung ein, kaum
te Beerdigung dieser Woche mit Trauergästen. terkopf hat er eine Schusswunde. Die Nach- 30 Meter von der Tür zum Bestattungsinstitut
Der Friedhof von Tschassiw Jar, 20 Minuten barin, die das Tor aufgeschlossen hat, hebt die entfernt. Weil Iwan nicht da ist, holen jetzt
Autofahrt westlich von Bachmut, ist der letz- Arme: So hätten sie ihn schon auf der Straße alle ihre Zigarettenpackungen raus. Wowa
te sichere Ort für Bestattungen. Er liegt schön, gefunden. Die anderen rätseln: Vielleicht habe stöbert irgendwo noch eine Wodkaflasche auf,
mit Blick über die Wiesen, Waldraine und er versucht, nachts irgendwo einzubrechen? Serhij hat Kekse und Äpfel dabei, und dann
Bachmut in der Ferne. Das wäre keine kluge Idee, so nahe der Front. wird Wowas wundersame Wiederkehr ge-
Es wird eine kurze Zeremonie. Petja sagt Aber ein Toter ohne Papiere, den niemand feiert. Eilig, aber als um halb zwei alle gehen,
ein paar Worte, die der Wind davonträgt, kennt? Petja breitet den grauen Plastiksack mit ist die Flasche leer.
gießt eine Flasche mit Weihwasser über den den seitlichen Griffen aus, die anderen legen Am Tag nach dem Fest sind die Einschläge
Sarg. Die Tochter der Toten hatte es vorsorg- die gefrorene Leiche hinein. Auf kürzestem zurück. Russische Raketen treffen ab dem
lich beschafft, als die Kirchen noch offen wa- Weg geht es zum Friedhof. Sie hieven den Sack letzten Januartag wieder das Zentrum von
ren. Mit Brecheisen müssen die Männer die in die vorletzte offene Grube, auf seinem Bachmut. Im Bestattungsinstitut an der Stra-
gefrorene Erde aufreißen, um das Grab wie- Schild steht nur: »Unbekannter Mann – 2023«. ße des Friedens lauscht Serhij den Explosio-
der zuschütten zu können. Zum Ausheben Zurück im Büro, Wowa ist wieder aufge- nen, dem Bersten und Krachen danach. Alle
kommt alle paar Wochen ein großer Bagger taucht. Auferstanden von den Totgeglaubten. Härte ist aus seinen Zügen gewichen. »Mor-
vorbei und schaufelt eine weitere Reihe Grä- Seine Splitterwunden sind versorgt, aber er gen werden wir zu tun haben«, sagt er.
ber auf Vorrat. Am Ende kommen die beiden stottert, bis die Worte ihren Weg finden. In Später steigen aus einer kahlen Eiche zwi-
Blumengebinde aus Plastik auf den Erdhügel vielen kleinen Sätzen erzählt er den restlichen schen den Ruinen ein paar Krähen auf, als der
und das Kreuz mit der Plastiktafel ans Ende. Teil der Geschichte. Die Granate habe ihn Boden zittert unter zwei schweren Detona-
»Wir brauchen Nägel, verdammt«, grantelt verletzt, einem Radfahrer vor ihm die Beine tionen. Doch der riesige Rest des Krähen-
Serhij beim Losfahren, kleine Nägel für die in Stücke gerissen. »Ich bin hin zu ihm, habe schwarms im Baum bleibt einfach sitzen, un-
Särge, die es auf dem winzigen Markt nicht Draht gefunden, die blutenden Beine abge- bewegt, ungerührt. n

Bewohner Bachmuts im Hilfszentrum: »Woanders liebt uns niemand!« Helfer Petja, Kostja beim Wasserschöpfen: »Wir brauchen Nägel«

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AUSLAND

Nun bröckelt auch in diesem Lager


die Zustimmung.
7000 Änderungsanträge haben die
Oppositionsparteien in der National-
versammlung gestellt, die ab dieser
Woche über den Gesetzentwurf be-

Ein bisschen Klassenkampf rät. Sie alle zu bearbeiten wird in der


gesetzten Frist kaum möglich sein.
Zwei Parteien reichten einen Antrag
ein, per Referendum über die Reform
ANALYSE Hunderttausende Franzosen demonstrierten gegen die geplante abstimmen zu lassen. Das Ergebnis
stünde jetzt schon fest, schaut man
Rentenreform von Präsident Macron. Sie fühlen sich sich die Umfragen zu Macrons Plänen
hintergangen und benachteiligt. Davon profitiert vor allem eine Partei. an. Der hatte einmal gesagt, eine Re-
form halte er nur für sinnvoll, wenn
sie das Rentensystem neu strukturie-
r hätte einfach warten können. re und nicht nur das Eintrittsalter
E Die kalten Wintermonate vor-
beiziehen lassen, den Schock
der gestiegenen Energiekosten und
heraufsetze. Das genau aber macht
er nun und verspielt damit politische
Glaubwürdigkeit.
der Inflation. Auch den Jahrestag des So nutzt die Krise vor allem einer
russischen Angriffskriegs auf die Politikerin am rechten Rand: Marine
Ukraine hätte er abwarten können. Le Pen. Seit dem Präsidentschafts-

Samuel Boivin / NurPhoto / IMAGO


Emmanuel Macron hat viele Stärken, wahlkampf 2022 hat sie sich zur An-
Warten aber gehört nicht dazu. wältin des Volkes erklärt, die fehlen-
Noch klafft kein bedrohliches Loch de Kaufkraft im Wahlkampf früh zum
in der Rentenkasse, dass sofortiges Thema gemacht und nun die Pläne
Handeln geboten wäre. Das Timing Macrons scharf kritisiert. In einer
der Reform sei denkbar schlecht, be- Umfrage vom 31. Januar liegen die
fand auch ein Ökonom in einer der Zustimmungswerte der Rechtspopu-
vielen TV-Sondersendungen dieser listin stabil bei 33 Prozent. Macron
Tage. Frankreich komme nach Covid, tive fällt es schwer, den nationalen Protestierende und seine Premierministerin Élisa-
dem Krieg in der Ukraine und den Aufruhr nachzuvollziehen, auch weil in Paris beth Borne hingegen verlieren fünf
gestiegenen Lebenskosten gerade aus einige Gegner der Reform mit irren Prozentpunkte.
drei Jahren der Krise. Da hätte man Äußerungen auffallen. So forderte der Die linke Tageszeitung »Libéra-
den Menschen mehr Zeit zum Luft- linke Abgeordnete François Ruffin, tion« skizzierte diese Woche drei Op-
holen lassen können. der Milliardär Bernard Arnault solle tionen, die dem Präsidenten und sei-
Macron aber wollte offensichtlich doch einfach das Loch in der Renten- ner Reform nun blieben. Die unwahr-
mit aller Macht seinen Ruf als Refor- kasse ausgleichen. Und die Grüne scheinlichste lautete, dass Macrons
mer wiederherstellen, nachdem er Sandrine Rousseau stellte die absurde Pläne durch die vielen Änderungs-
2020 bereits mit einer Reform des Frage, was denn eigentlich aus Kylian anträge im Parlament verbessert und
Rentensystems gescheitert war. Mit Mbappé, dem Fußball spielenden damit nicht mehr als ungerecht an-
seiner Ungeduld hat er einen innen- Multimillionär, mit 50 Jahren werden gesehen würden. Eine andere, dass
politischen Konflikt entfacht, der das solle? Macron die Reform bei anhaltendem
Land seit Wochen nicht zur Ruhe Auf den zweiten Blick aber ist der Widerstand der Bevölkerung und
kommen lässt. Zwei Drittel der Fran- Widerstand weniger lächerlich. Denn einem sich von ihm absetzenden kon-
zosen sind laut Umfragen gegen die es geht längst nicht mehr um zwei servativen Lager wieder absagt. Eine
Pläne der Regierung. Hunderttausen- zusätzliche Arbeitsjahre. Es geht um dritte Option sieht vor, dass er das
de zogen am vergangenen Dienstag Glaubwürdigkeit in der Politik, ge- Gesetz ohne große Änderungen mit
in ganz Frankreich auf die Straße. Die brochene Versprechen und, wie im- einer knappen Mehrheit durchs Par-
Zahlenangaben variieren zwar nach mer bei sozialen Konflikten in Frank- lament bringt. Er könnte es notfalls
Quelle, 2,8 Millionen Franzosen sol- reich, auch um Klassenkampf. Denn sogar per Verordnung am Parlament
len es laut der linken Gewerkschaft für viele Akademiker und Berufs- vorbei in Kraft setzen lassen. Beides
CGT gewesen sein, 1,27 Millionen laut späteinsteiger werden die Reform- aber würde die derzeitige Krise der
den Zählungen des Innenministe- pläne wenig ändern – sie arbeiten repräsentativen Demokratie in Frank-
riums. Doch so oder so erlebt das schon heute oft bis 64 und länger, um reich nur verstärken.
Land die umfangreichsten Proteste auf ihre Beitragsjahre zu kommen. »Ich habe wahrscheinlich den Ein-
seit mehr als zehn Jahren. Anders sieht es bei allen aus, die mit druck erweckt, dass ich gegen das
Macron will das Renteneintritts- 20 schon im Job sind. Volk reformieren wollte. Meine Un-
alter stufenweise von 62 auf 64 Jahre »Diese Reform ist ungerecht und Macron könn- geduld wurde als Ungeduld gegen-
anheben, die Zahl der Beitragsjahre bestraft jene, die schon früh angefan- te die Krise über den Franzosen empfunden«,
soll um ein Jahr auf 43 Jahre erhöht gen haben zu arbeiten«, kritisierte gestand Macron im September 2019
werden. Nach wie vor wird es Aus- der Abgeordnete Aurélien Pradié.
der repräsen- in einem »Time«-Interview. Er müsse
nahmen geben, für Tänzer der Pariser Der Mann ist Republikaner und ge- tativen Demo- sich wohl mehr Zeit nehmen, um
Oper, für Menschen in körperlich an- hört zu der konservativen Fraktion kratie in zu erklären, was er genau wolle. Das
strengenden Berufen, für all jene, die im Parlament, deren Stimmen Ma- war damals wie heute eine richtige
schon mit 16 Jahren begonnen haben cron unbedingt braucht, um das Vor- Frankreich Einsicht.
zu arbeiten. Aus deutscher Perspek- haben durchs Parlament zu bringen. verstärken. Britta Sandberg n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 79


AUSLAND

vorgängerin Liz Truss und anders als deren


Vorgänger Boris Johnson hat Sunak die bri-
tische Wirtschaft nicht auf Talfahrt geschickt
und die internationalen Märkte nicht in Auf-
ruhr versetzt.

Der Ausmister Er hat weder Frankreich wüst beleidigt


noch dauerhaft die EU provoziert. Er hat
nicht das Parlament belogen, nicht Geld von
windigen Spendern angenommen und noch
GROSSBRITANNIEN In seinen ersten 100 Tagen im Amt hat sich Premier windigere Spender ins House of Lords be-
fördert. Er hat nicht den Frieden in Nordirland
Rishi Sunak als Saubermann gezeigt. Aber zwischen ihm und dem Erfolg aufs Spiel gesetzt. Und nach allem, was man
steht eine zänkische Partei, in der Boris Johnson weiter Duftmarken setzt. weiß, hat er auch nicht seine Dienstwohnung
mit Goldtapeten verzieren lassen.
»Die Langeweile ist zurück«, versprach
ürzlich ist Rishi Sunak Auto gefahren, auch schon. Einen gravierenderen persönli- einer seiner Minister, als Sunak Ende Oktober
K ohne sich anzuschnallen. Das heißt, er
hat sich fahren lassen, ohne ange-
schnallt zu sein. Es war bei einer Stippvisite
chen Fehltritt konnte die skandalversessene
britische Presse dem Regierungschef noch
nicht nachsagen. Würden nicht wenigstens
die »menschliche Handgranate« Liz Truss
beerbte, die sich nicht einmal 50 Tage im Amt
halten konnte. Wie um das zu untermauern,
im nordenglischen Lancashire, und weil Su- mehrere seiner Minister beständig Affären- trat der Neue mit bitterernster Miene vor sei-
nak während der Fahrt ein kleines Video zum stoff liefern, wäre das Königreich in diesem nen Amtssitz, um die Nation auf schwere Zei-
Beweis seiner Volksnähe aufnahm, konnte Winter nach jahrelangem politischem Dauer- ten einzustimmen. Ganz allein trat er da auf,
anschließend jeder sehen, dass da kein Gurt chaos auf Dramaentzug. im dunklen Anzug, ohne Jubelmeute, ohne
war, wo von Gesetzes wegen einer hätte sein Seine ersten 100 Tage hat Rishi Sunak seit Triumphgeste, als wäre er Bestattungsunter-
sollen. dieser Woche in 10 Downing Street verbracht. nehmer – und nicht Premierminister.
War etwas blamabel für Großbritanniens Und wie sehr mit ihm ein neuer Regierungs- Die Aufgabe, vor der Sunak stand und
noch immer recht neuen Premierminister. Hat stil Einzug gehalten hat, lässt sich vor allem steht, war und ist gewaltig. Hatte Johnson die
ihm ein Bußgeld eingebrockt und ein paar daran bemessen, was er in dieser Zeit alles Reputation der Konservativen als vernunft-
hämische Schlagzeilen. Aber das war’s dann nicht getan hat. Anders als seine Kurzzeit- geleitete Common-Sense-Partei geschreddert,
zerstörte Truss ihren Nimbus als Sachwalterin
Regierungschef geordneter Finanzen. Knapp zwei Jahre vor
Sunak den nächsten Parlamentswahlen lagen die
seit 2010 regierenden Tories weit abgeschla-
gen hinter der Labour-Partei. Viel Zeit würde
Sunak nicht bleiben.
Um die Märkte zu beruhigen, das gewal-
tige Haushaltsloch zu stopfen und die galop-
pierende Inflation zu bekämpfen, ließ der
ehemalige Investmentbanker und frühere
Schatzkanzler die höchsten Steuererhöhun-
gen seit Jahrzehnten verkünden.
Er bemühte sich um ein besseres Verhält-
nis zu Schottland und der dort regierenden
Nationalpartei, die mit allen Mitteln die
Weichen Richtung Unabhängigkeit zu stellen
versucht.
Der Premier wies seine Leute zudem an,
den Dauerkonflikt mit Brüssel über den brexit-
bedingten Sonderstatus von Nordirland zu
deeskalieren. Seit dem EU-Austritt, der sich
in dieser Woche zum dritten Mal jährte, ist die
einstige Unruheprovinz faktisch weiterhin Teil
des EU-Binnenmarktes, Waren auf dem Weg
von Großbritannien nach Nordirland müssten
deshalb kontrolliert werden. So steht es im
sogenannten Nordirlandprotokoll.
Dagegen jedoch liefen Unionisten – die
nichts so sehr fürchten wie ein wiederver-
einigtes Irland – von Anfang an Sturm. Boris
Johnson und Liz Truss hatten deshalb ein
Gesetz vorangetrieben, um den Vertrag aus-
zuhebeln, worauf die EU mit Strafmaßnah-
men reagierte. Über viele Monate waren die
Leon Neal / Getty Images

Fronten verhärtet.
Seit Sunak übernommen hat, sind nun erst-
mals seit Jahren diesseits wie jenseits des Är-
melkanals neue Töne zu vernehmen. Ein Kom-
promiss, mit dem alle Seiten leben können,

80 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


AUSLAND

scheint greifbar nahe zu sein. Er wür­ durchgebissen haben. Sie und ihre
de den Weg frei machen für ungestör­ Unterstützer machen weiter, was sie
te Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag im Post­Brexit­Chaos seit 2016 gelernt
des Karfreitagabkommens, mit dem haben. Schon formieren sich wieder
der 30­jährige Bürgerkrieg in Nordir­ Grüppchen, die Sunak zwingen wol­
land am 10. April 1998 beendet wurde. len, Steuern zu senken, der EU keine
London hofft, dann auch US­Prä­ Handbreit entgegenzukommen, die
sident Joe Biden begrüßen zu kön­ heilige Brexit­Lehre nicht zu ver­
nen, der hinter den Kulissen stetigen wässern. Sunak ist im Begriff zu ern­
Druck ausübte, damit der Frieden in ten, was Boris Johnson gesät hat.
Nordirland gewahrt bleibt. Dass in Und natürlich mischt auch der bul­
der neuen britischen Regierung ein lige Brexit­Frontmann persönlich

Scott Heppell / dpa


gewisser Brexitrealismus Einzug ge­ wieder mit, der sich selbst nichts vor­
halten habe, nehme man wohlwol­ zuwerfen hat und offenkundig auf ein
lend zur Kenntnis, heißt es in EU­ Comeback lauert. Ein Unterstützer­
Kreisen. Nach Jahren des Krawalls trupp trommelt seit Sunaks Amts­
bestehe nun endlich die Chance, sich beginn für eine Rückkehr Johnsons.
wieder aufeinander zuzubewegen. Politiker Sunak bei gutes Händchen bewies, als er vor fast Der war vor wenigen Tagen, als
In London wird also wieder häufi­ Siebdruck in der 100 Tagen sein neues Kabinett zu­ einfacher Hinterbänkler, in der Ukrai­
Northern School of
ger regiert und seltener polemisiert. Art in Hartlepool:
sammenstellte. Seine Regierung, so ne, um sich mal wieder auf der Welt­
Verantwortlich dafür ist ein politisch Bitte recht langweilig versprach er damals, werde »auf allen bühne zu sonnen. Jüngst erhielt er
vergleichsweise unerfahrener Mann, Ebenen Integrität, Professionalität mit einer Million Pfund die höchste
der mit 42 Jahren zum jüngsten briti­ und Verantwortlichkeit« demonstrie­ Einzelspende in der Geschichte der
schen Premier der Neuzeit wurde, der ren. Das Gegenteil geschah. britischen Demokratie. Bei dem Gön­
erste Hindu an der Regierungsspitze So musste im November, nach ge­ ner handelt es sich um den öffentlich­
und der erste Mensch in 10 Downing rade mal zwei Wochen, Gavin Wil­ keitsscheuen Brexit­Enthusiasten
Street, der wohl reicher ist als der bri­ liamson, Minister ohne Geschäfts­ Christopher Harborne, der in Thai­
tische König. Schätzungen zufolge bereich, seinen Hut nehmen, als be­ land lebt und sich als »Investor in
beläuft sich das Vermögen von Sunak kannt wurde, dass er Parteifreunde neue Technologien« bezeichnet. Kurz
und seiner Frau Akshata Murty auf bedroht und schikaniert hatte. darauf kündigte Johnson seine Me­
730 Millionen Pfund. Vergangenen Sonntag schmiss Su­ moiren an, für die er weitere Millio­
Und dennoch spricht nach 100 Ta­ nak dann Tory­Generalsekretär und nen kassieren wird.
gen wenig dafür, dass es Sunak ge­ Kabinettsmitglied Nadhim Zahawi Zugleich werden immer neue Ge­
lingen wird, die Tories aus der tiefen raus. Der war unter Johnson Schatz­ fälligkeits­ und andere Affären ruch­
Grube zu befreien, die sie sich über kanzler geworden, hatte aber offen­ bar, in die er verstrickt sein soll. So
die vergangenen Jahre selbst gegra­ bar bei etlichen Gelegenheiten ver­ wie immer, wenn der Name Johnson
ben haben. Zwei nicht ganz unwe­ schwiegen, dass das Finanzamt wegen auftaucht. Aktuell steht die Frage im
sentliche Faktoren sprechen dagegen: mehrerer Millionen nicht gezahlter Raum, ob der damalige Premier den
der desolate Zustand seines Landes – Steuern gegen ihn ermittelt. Investmentbanker Richard Sharp
und der seiner Partei. Und es könnte gut sein, dass Sunak auch deshalb zum BBC­Vorsitzen­
Seit Anfang Dezember ist prak­ demnächst noch weitere Mitstreiter den befördert hat, weil dieser ihm
tisch kein Tag mehr vergangen, ohne abhandenkommen. Allen voran Jus­ geholfen hatte, eine Darlehens­
dass streikende Krankenpflegerinnen, tizminister Dominic Raab, den mitt­ garantie über 800 000 Pfund zu be­
Postboten, Lehrerinnen, Notarzt­ lerweile zwei Dutzend Beamte be­ kommen.
wagenfahrer, Beamtinnen, Busfahrer schuldigen, Untergebene gemobbt, Das Bild, das die Tories durch sol­
und viele andere das halbe Land erniedrigt und drangsaliert zu haben. che und weitere Berichte abgeben, ist
lahmlegen. Der Unmut über explo­ Eine Ermittlung dazu läuft. das einer Partei, die nach 13 Jahren
dierende Lebenshaltungs­ und Ener­
giekosten bei faktisch seit Jahren
schrumpfenden Gehältern ist gewal­
730
Millionen
All das geschah vor Sunaks Amts­
zeit. Aber mehr und mehr zeigt sich,
dass er eben kein »Kabinett der Ta­
an der Macht fast nur noch mit sich
selbst ringt, Pfründe sichert, Posten
verschachert. Und in der sich so man­
tig. Viele Bürger bezweifeln, dass lente« berufen hat, sondern eines, das cher ungeniert bereichert, während
wirklich nur die Pandemie und Russ­ Pfund vor allem austariert war, um die di­ der Rest des Landes darbt.
lands Krieg in der Ukraine Schuld an versen Flügel seiner zerstrittenen Par­ Ein Einzelner wird diesen Stall
den desaströsen Lebensbedingungen tei ruhigzustellen. Daher rehabilitier­ wohl nicht ausmisten können, auch
von Millionen haben, wie die Regie­
beträgt das te er auch die rechte Hardlinerin dann nicht, wenn er – wie Rishi Su­
rung gebetsmühlenhaft behauptet. Vermögen Suella Braverman, die von Truss ge­ nak – das Image eines unermüdlichen
Tatsächlich hatte davor schon ein des britischen schasst worden war, weil sie Unbe­ Saubermanns pflegt. Dessen Lage er­
zehnjähriges Spardiktat Land und fugten Geheimdokumente geschickt innere ihn auf fatale Weise an die des
Leute ausgelaugt. Und die haben Premiers hatte. Die Frage, was genau der neue früheren Tory­Premiers John Major
nicht vergessen, dass fünf aufeinan­ Rishi Sunak Chef vom Gebaren seiner Hintersas­ in den 1990er­Jahren, sagte dieser
derfolgende Tory­Regierungschefs sen wusste, bevor er sie bestallte, wird Tage der ehemalige Schatzkanzler
seit 2010 die Verantwortung dafür
und seiner Westminster noch wochenlang be­ George Osborne: »Major war so sym­
tragen. Sosehr sich Sunak also auch Frau Akshata schäftigen. pathisch und gewissenhaft wie Rishi
bemüht, seine Partei hinkt in Umfra­ Murty schät- Fest steht: Ein Gutteil von Sunaks Sunak, konnte sich aber nicht aus der
gen weiter Labour hinterher. Team besteht nicht aus neuen Figuren Abwärtsspirale der Tories befreien.«
Das wiederum liegt auch daran, zungsweise. mit unzweifelhafter Reputation – son­ 1997 wurde er von einer Labour­
dass der vorsichtige – manche sagen: Quelle: dern aus Leuten, die sich in Boris Lawine namens Tony Blair überrollt.
ängstliche – Sunak kein sonderlich »Sunday Times« Johnsons Kabale­ und Intrigenstadel Jörg Schindler n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 81


AUSLAND

Die Chinesen kommen – gut so!


ESSAY Drei Jahre lang war das Land abgeschottet. Nun reisen die Menschen wieder. Das wird unser Bild
von China verbessern – und das der Chinesen von der Welt. Von Bernhard Zand

or ein paar Tagen traf ich ins Ausland überschwappen könnte. ses, nach Taiwan. China reagierte
V einen guten Bekannten aus
China wieder: Zhao Tong,
einen Experten für Nuklear- und
Die Sorge ist berechtigt, auch der
Ausbruch der Pandemie vor drei
Jahren fiel mit der Reisewelle zum
mit so massiven Militärmanövern,
dass die Sorge vor einem kalten all-
mählich der vor einem heißen Krieg
Abrüstungspolitik. Wir hatten uns chinesischen Neujahrsfest zusam- im Pazifik wich. In immer konkrete-
zuletzt vor der Pandemie gesehen, men. Und wie damals verschleiert ren Szenarien warnen westliche Mi-
bei einem Abendessen in Peking. Peking auch heute das wahre Aus- litärs seither vor einer chinesischen
DER SPIEGEL

Seit Kurzem lebt er in den USA maß der Welle mit unglaubwürdi- Invasion Taiwans. Und sie sehen sie
und hat einen Forschungsauftrag gen Todeszahlen. immer früher kommen. 2035?
Zand, 55, heute
an der Universität Princeton. Vor allem die westliche Welt 2027? »Mein Bauchgefühl sagt mir,
SPIEGEL-Korrespon- Drei Jahre lang hatten wir nur schaut mit Ängsten auf das Ende wir werden 2025 kämpfen«, schrieb
dent in New York, ab und zu telefoniert und meistens der chinesischen Null-Covid-Politik. ein US-Luftwaffengeneral vorige
berichtete von 2012 über unerfreuliche Dinge gespro- Dabei ist Chinas Öffnung auch eine Woche in einem Memo, aus dem
bis 2020 aus Peking.
chen, über Chinas Atomprogramm, gute Nachricht. Wir sollten uns die »Washington Post« zitierte.
Russlandpolitik, das chinesisch- auf die Menschen aus China freuen. Erst in der Rückschau wird
amerikanische Verhältnis. Bei ei- Denn ihre Rückkehr wird nicht deutlich, wie schwer die Pandemie
nem dieser Gespräche erzählte nur den Tourismus wiederbeleben. Chinas schon zuvor gespanntes
Zhao, dass ihn etwas beunruhige. Sie wird auch unser Bild von China Verhältnis zum Westen belastet hat.
»Wir reden immer weniger mit verbessern – und das der Chinesen Denn in China setzte mit den frü-
unseren Kollegen im Ausland. Kei- von der Welt. Viel schlechter als hen Erfolgen der Null-Covid-Politik
ne Regierung will das zurzeit, we- derzeit könnten beide kaum sein. und den zugleich steigenden Todes-
der unsere noch die der anderen.« Pekings Selbstisolation fiel ins zahlen im Ausland eine bis heute
Er sprach vom Austausch unter letzte Amtsjahr von US-Präsident anhaltende Welle des Chauvinismus
Forschern und Politikberatern, den Donald Trump. Zwei Jahre zuvor ein. Die Abschottung nach außen
halb offiziellen Kanälen zwischen hatte der Handelskrieg zwischen steigerte das Überlegenheitsgefühl
gut informierten Leuten, die sinn- den beiden größten Volkswirtschaf- im Inneren.
voll sind, wenn es um Finanzwirt- ten begonnen, Trump nahm Chinas »Früher wurde man im Internet
schaft, öffentliche Gesundheit und Techkonzerne ins Visier und dräng- zensiert, wenn man die eigene Re-
den Klimawandel geht. Oder um te Amerikas Verbündete, ihm zu fol- gierung kritisierte«, sagt der Wissen-
Nuklearpolitik. gen. Chinas Führung hatte über Jah- schaftler Zhao Tong. »Inzwischen
Doch diese Kanäle sind mit re aufgerüstet, Inseln im Südchine- werden Accounts gelöscht, wenn
Chinas Abschottung vor drei Jahren sischen Meer besetzt und ihre Dro- sich jemand zu positiv über irgend-
weitgehend ausgetrocknet. Mit hungen gegen Taiwan verschärft. etwas Ausländisches äußert.« West-
seiner Null-Covid-Politik hatte Sie hatte Hunderttausende muslimi- liche Produkte, westlichen Lifestyle,
Peking einen mächtigen Strang der scher Uiguren in Umerziehungs- gar westliche Universitäten zu loben
Globalisierung abgeklemmt. Der lager gesperrt und die Demokratie- ziehe mittlerweile oft schwere Shit-
Strom chinesischer Auslandstou- bewegung in Hongkong erstickt. storms nach sich: Wozu im Ausland
risten – rund 155 Millionen im Jahr Die Pandemie vertiefte den Gra- studieren? Sind unsere eigenen
2019 – versiegte völlig, der von ben. Trump machte das »China- Hochschulen nicht viel besser?
Geschäftsleuten, Wissenschaftlern Virus« für die Weltkrise verantwort-
und Studierenden verkümmerte lich, der chinesische Außenamts- uf diese Weise sei etwas
zu einem Rinnsal. Als ich Peking im
Spätsommer 2020 verließ, stand
ich mit ein paar wenigen Reisenden
sprecher behauptete ohne jeden
Beleg, amerikanische Sportler hät-
ten womöglich die Seuche nach
A entstanden, das Zhao eine
»Wahrnehmungskluft«
nennt: »Was westliche Gesellschaf-
in einem der größten Flughäfen China eingeschleppt. ten beunruhigt, kommt in der chi-
der Welt. Eine besonders trostlose Unterdessen näherten sich Pe- nesischen Öffentlichkeit heute prak-
Vertonung von »La Paloma« hallte king und Moskau an. Drei Wochen tisch nicht mehr vor. Der Krieg in
durch den Terminal. Es hörte sich vor Russlands Angriffskrieg gegen der Ukraine hat in unserem Fernse-
an wie ein Grablied. die Ukraine empfing Staatschef Xi hen keine menschliche Dimension.«
Nun macht China wieder auf, Jinping seinen Amtskollegen Wladi- Im Netz grassierten Verschwörungs-
und die Welt bereitet sich auf einen mir Putin und schwor ihm »Freund- theorien, »die womöglich noch
Ansturm vor. In manchen Ländern schaft ohne Grenzen«. Im August schlimmer sind als die in Russland«.
überwiegt die Sorge, dass die aktu- reiste Nancy Pelosi, damals Spre- Es werde unterschätzt, sagt
elle Covidwelle von China erneut cherin des US-Repräsentantenhau- Zhao, wie stark die Entscheidungs-

82 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


AUSLAND

das mit eigenen Augen sehen kön-


nen. Der große Aufbruch wird sich
noch etwas verzögern. Flughäfen
müssen reaktiviert, Maschinen ent-
mottet, Crews neu trainiert werden.
Aber wenn es die Weltlage er-
laubt, wird der neue Lange Marsch
beginnen, zuerst in Chinas Nach-
barländern, im Sommer auch in
Europa und den USA. Von 120 auf
rund 200 Millionen war die Zahl
chinesischer Reisepässe zwischen
2016 und 2020 gestiegen. »Chinesi-
sche Freunde, Frankreich heißt euch
mit offenen Armen willkommen«,
postete die französische Botschaft
in Peking Ende Dezember. Die
Ära des »social distancing«, das

Thomas Roetting / laif


während der Pandemie die Anste-
ckungsgefahr verringern sollte, hat
im Verhältnis Chinas zum Westen
auch den politischen Abstand ver-
größert. Vielleicht verringert er sich
träger selbst von dieser Wahrneh- Touristinnen nau das: Hunderte fanden sich nun wieder.
mungskluft beeinflusst werden. vor Schloss in Peking, Shanghai und anderen Hoffen ist erlaubt, verklären soll-
Neuschwanstein
Jede Kritik an Pekings Covid-Maß- 2018
Städten zusammen, um gegen te man nicht. Viele Chinesen haben
nahmen, an der Menschenrechts- die unerträglich gewordenen in den vergangenen drei Jahren
lage, an der Taiwanpolitik werde Covid-Beschränkungen zu demons- dunkle Ideen über die westliche
von der politischen Führung als trieren. Welt entwickelt, ganz im Sinne
Versuch verstanden, Chinas Errun- ihrer Regierung. Dass auch die sich
genschaften kleinzureden und das icht nur Chinas Sicherheits- auf den letzten Metern dieser Pan-
Land »einzudämmen«.
Zhao Tong ist ein höflicher
Mann, der lieber über die chine-
N apparat, sondern auch viele
Beobachter im Westen waren
perplex: Trauernde, zornige, aber
demie als unvorbereitet und fehlbar
erwiesen hat, ist für Hunderttau-
sende eine Tragödie und mag der
sische als über die westliche Seite auch selbstbewusst und befreit Führung eine bittere Lehre sein.
der Wahrnehmungskluft redet. wirkende Frauen und Männer mar- Noch wichtiger, als dass die
Interessant ist aber auch die. schierten die Straßen hinunter und Freunde des Westens auf Reisen
China wird im Westen heute fast hielten weiße Blätter in die Luft – gehen, wäre es daher, wenn seine
nur noch als politischer Akteur und ein Protest gegen die allgegenwärti- Verächter kämen. »Wir können es
wirtschaftlicher Gigant wahrgenom- ge Zensur. Für zwei, drei Abende uns einfach nicht leisten, China für
men und nicht als Schauplatz von öffnete sich ein Fenster und gab den immer außerhalb der Familie der
»einer Milliarde Geschichten«, wie Blick auf einen sicher nicht repräsen- Nationen zu lassen, um dort seine
der frühere Chinakorrespondent des tativen, aber wichtigen Ausschnitt Fantasien zu nähren, seinen Hass
»New Yorker« 2013 sein Abschieds- der chinesischen Gesellschaft frei. zu pflegen und seine Nachbarn zu
stück überschrieb. Die Menschen Welchen Anteil die Demons- bedrohen«, schrieb Richard Nixon
des Landes, auch für mich acht Jahre trationen an der überraschenden 1967, ein Jahr vor seiner Wahl zum
lang das genaue Gegenbild zu ihren Entscheidung hatten, die rigide US-Präsidenten. »Auf diesem klei-
spröden, stets ähnlich gekleideten Covid-Politik kurz darauf abrupt zu nen Planeten gibt es nicht genug
und frisierten Politikern, treten zu- beenden, ist schwer einzuschätzen. Platz, dass eine Milliarde seiner
nehmend hinter dem Staat zurück. Dutzende der Protestierenden sind potenziell fähigsten Menschen in
Dafür ist nicht zuletzt die chine- inzwischen festgenommen und wütender Isolation leben.«
sische Regierung verantwortlich. verhört worden, der Staat hat die Fünf Jahre später reiste er selbst
Die Zugänge zu offiziellen Quellen Kontrolle wieder übernommen. in ein China, das damals viel schwä-
sind drastisch eingeschränkt wor- Viele Chinesen An eines aber haben die De- cher, aber wohl noch isolierter war
den, Interviewpartner westlicher haben in den monstranten Ende November als heute. Auch damals tobte ein
Medien haben mit Repressalien zu erinnert: Chinas Menschen sind nur grauenhafter Krieg, auch damals
rechnen. Eine Reihe ausländischer vergangenen scheinbar hinter der Fassade ihrer stand Peking nicht auf der Seite des
Reporter und Reporterinnen wurde drei Jahren staatlichen Repräsentanten ver- Westens. Aber es war die richtige
ausgewiesen, und wer weiterhin be- dunkle Ideen schwunden. Wenn jemand Chinas Entscheidung, dass Nixon nach
richtet, wird auf Schritt und Tritt Führung aus dem Tritt bringen China flog.
verfolgt. Das war zwar auch schon über die kann, dann sind es die Jungen und Anfang Februar wird Antony
vor 2020 so, aber während der Pan- westliche Welt Gebildeten. Sie haben die Macht Blinken in Peking erwartet, es wäre
demie hat sich diese Entwicklung herausgefordert und die Führung der erste Besuch eines US-Außen-
verschärft. entwickelt, darauf hingewiesen, dass in anderen ministers seit fast fünf Jahren. Ende
Es kam seither nur selten vor, ganz im Ländern andere Regeln gelten, mit- April, heißt es, will sich Frankreichs
dass den Behörden die Kontrolle unter sogar bessere. Präsident Emmanuel Macron auf
entglitt. Doch plötzlich, Ende Sinne ihrer Auch deshalb ist es wichtig, dass den Weg machen. Gut, dass sie
vergangenen Jahres, geschah ge- Regierung. die Chinesen nun wieder reisen und kommen. n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 83


SPIEGEL GESCHICHTE
Eigenanzeige Leseprobe

Old Elk und die Deutschen schwenkt die Arme hin und her, das Publikum klatscht mit, die
Viele Vorstellungen von »den Indianern« haben mit dem wahren Kinder in der ersten Reihe springen auf.
Leben nordamerikanischer Indigener wenig zu tun. Als der Song endet, steht Old Elk am Rand der Bühne. »Ich
Die neue Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE schlüsselt auf, heiße Kendall Old Elk und möchte euch etwas über die Kultur der
welche Klischees unhaltbar sind. Native Americans beibringen«, sagt er. »Howgh«, ruft ein Mann
aus dem Publikum.
Kendall Old Elk steht auf der Bühne des Wildwestsalons, schlägt Old Elk wird ernst. »Das ist ein Stereotyp«, sagt er ins Mikrofon.
auf seine Trommel und tanzt. Er hat sein Haar zu zwei Zöpfen In Nordamerika gebe es mehr als 500 indigene Gruppen, teils
geflochten, zwei große Adlerfedern und viele kleinere Hühnerfedern mit eigenen Sprachen. »Howgh« habe er noch nie zur Begrüßung
ragen aus dem Stirnband. Sein lilafarbenes Überkleid aus Stoff gehört.
bedeckt gerade so die Funktionsunterwäsche, die er darunter trägt. In seiner Gruppe, den Apsáalooke aus Montana, sage man
An Armen und Beinen klingeln Glocken, während er von einem Fuß »Shoda«. Im Publikum formen die Lippen der Erwachsenen die
auf den anderen springt. Worte nach, ein paar Kinder rufen laut »Scho-daa« in den Saal. Old
Old Elk ist Schausteller im El Dorado Templin, einem Wildwest- Elk lächelt. Man könne ihn auch mit einem »Hello« und »Hallo«
Themenpark in der Uckermark, anderthalb Autostunden von Berlin. begrüßen, aber bitte nicht mit »Howgh«. »Native Americans sind
Etwa 200 Menschen sitzen im Publikum und schauen Old Elk zu, keine Stereotype«, sagt er, »wir sind echte Menschen.«
vor allem Eltern mit ihren Kindern. Viele von ihnen tragen Cowboy- Old Elks Satz wirkt wie ein politisches Statement in der Debatte,
hüte, Sheriffsterne, Spielzeugpistolen. die die deutsche Öffentlichkeit seit einiger Zeit beschäftigt.
Aus den Boxen kommt indigener Gesang, dann wechselt die Eine Debatte darüber, wie man mit einem der größten deutschen
Musik plötzlich zu »The Real Slim Shady« von Eminem, Old Elk Superhelden umgehen soll, dem Apachen Winnetou.

Neues aus der SPIEGEL-Welt: Die aktuelle Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE erzählt vom
Leben und Überleben der Indigenen Nordamerikas – von den Anfängen bis heute.

Weitere Themen SPIEGEL GESCHICHTE erscheint sechsmal im Jahr, bereitet


• Pocahontas: Wer war die legendäre jeweils ein historisches Thema anschaulich und analytisch auf –
Prinzessin? und liefert immer auch Erkenntnisse für die Gegenwart.
• Mustangs: Wie die Pferde in die Prärie kamen ERHÄLTLICH IM ABONNEMENT (ABO.SPIEGEL-GESCHICHTE.DE),
• Anasazi: Was hinter dem Untergang IM ZEITSCHRIFTENHANDEL UND UNTER AMAZON.DE/SPIEGEL.
der geheimnisvollen Pueblo-Kultur steckte 148 SEITEN; 9,90 EURO.
SPORT
Hockey-Nationalspieler Gonzalo Peillat
nach seinem Ausgleichstor zum 2:2
im Finale gegen Belgien

Seltener Jubel
Platzierung deutscher
Nationalmann-
schaften bei Hockey
WM-Turnieren
Basketball

Männer
Volleyball

7
von 69 Welt-
meisterschaften
konnten deutsche
Turniersieg

2. Platz
Handball

Fußball

2000 2005 2010 2015 2020 2023

Nationalmann-
Nationalmann 3. Platz Hockey
schaften seit
2000 in wichtigen 4. bis
Basketball
Ballsportarten 8. Platz
gewinnen.
9. bis Frauen
Volleyball
16. Platz
ab 17. Platz Handball

ANP / IMAGO
nicht
Fußball
qualifiziert
S Grafik

Deutschlands Hockey-Herren sind gerade gegen Titelverteidiger Belgien Weltmeister geworden, ein seltener Triumph: In großen Teamsportarten
gehörten deutsche Frauen und Männer zuletzt immer seltener zur Weltspitze. Immerhin: Im Sommer kann die Bilanz verbessert werden.
Die Basketballer (25. August bis 10. September) und die Fußballerinnen (20. Juli bis 20. August) bestreiten jeweils ihre Weltmeisterschaft. Nach
EM-Bronze 2022 macht sich vor allem das deutsche Basketballteam um NBA-Star Dennis Schröder Hoffnungen.

GUT ZU WISSEN auch beim Aufbau, in der Be- könne, sei eine Einnahme von
lastung und Erholung sowie Vitamin D für Sportler durch-
Warum Sportler ihren Vitamin- bei der Heilung von Verletzun-
gen. Ein dauerhaftes Defizit
aus sinnvoll, sagt Bloch – gera-
de in der dunklen Jahreszeit.
D-Status kennen sollten erhöht unter anderem das Risi-
ko von Knochenbrüchen.
Auch deshalb, weil sich das
Vitamin über die Ernährung nur
Sportler spüren einen Vita- sehr eingeschränkt zuführen
Draußen ist es kalt, selbst tags- merkbar machen als bei weni- min-D-Mangel schnell. »Die lässt. Vitamin D sei zwar in fet-
über wird es kaum hell, auf die ger aktiven Menschen. Vitamin Leistungsentwicklung wird tem Fisch oder Lebertran ent-
Laufrunde geht es dick einge- D regelt den Kalzium- und dann negativ beeinflusst«, sagt halten, aber »das sind Sachen,
packt, sofern das Training Phosphatstoffwechsel und be- Bloch. die eher selten auf den Teller
nicht gleich drinnen stattfindet: wirkt dadurch die Härtung Während man sich andere kommen und dann auch nicht
Vitamin-D-Mangel ist im Win- des Knochens. Darüber hinaus Nahrungsergänzungsmittel in den richtigen Mengen«.
ter ein Problem, das viele erfülle Vitamin D eine Reihe bei einer ausgewogenen Ernäh- Bei der Versorgung sollten
betrifft. Normalerweise produ- weiterer Aufgaben, sagt Wil- rung weitestgehend sparen sich Sportler an 75 Nanomol
ziert der Körper selbst Vita- helm Bloch, Sportmediziner an pro Liter Blut orientieren, um
min D, angeregt durch die Son- der Deutschen Sporthoch- die bestmögliche Leistung er-
neneinstrahlung auf die Haut. schule in Köln. Vitamin D ist reichen zu können. »Bei der
Die Deutsche Gesellschaft für für die Muskeln wichtig, es normalen Bevölkerung sind
Ernährung empfiehlt, sich fördert Wachstum und Regene- etwa 50 Nanomol pro Liter die
täglich 5 bis 25 Minuten der ration und spielt überdies Grenze, unterhalb derer man
Stefan Schurr / Westend61

Sonne auszusetzen, im im Immunsystem eine wichti- über eine Substitution nach-


Winter ist das jedoch oft nicht ge Rolle. denken sollte«, sagt Bloch. Der
möglich. Für Athleten wird Vitamin Bedarf dürfte bei Sportlern
Bei Sportlerinnen und D damit zu einer Art All- wegen des höheren Muskel-
Sportlern kann sich eine rounder, wichtig in Trainings- proteinumsatzes aber größer
Unterversorgung stärker be- und Wettkampfphasen, aber sein. ARA

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 85


SPORT

Ski grotesk
KLIMAWANDEL Julian Schütter ist ein Exot im alpinen Skiweltcup – er ist Rennläufer und einer seiner ersten
Umweltaktivisten. Kann man heute noch guten Gewissens Wintersport treiben?

enn der Rennläufer Julian Schütter, raum liefen Zuschauer in dünnen Jacken he­ angestiegen sind. Er sagt: »Wenn es so wei­
W 24, über seine Liebe zum Skifahren rum. Die Rennläufer kämpften sich auf einer tergeht, werden wir unseren Sport nicht
spricht, schwelgt er in Erinnerungen: aufgeweichten Kunstschneepiste inmitten mehr lange machen können.«
an seine Kindheit auf der Reiteralm in der einer grünen Landschaft ins Tal. Ski grotesk. Ist Skifahren in Zeiten der Klimakrise noch
Steiermark, daran, wie er als kleiner Junge Julian Schütter macht diese Entwicklung akzeptabel? Ist es zeitgemäß, sich von Seil­
im Winter ganze Tage im Schnee verbrachte, Sorgen. Er hat sich informiert: über die Erd­ bahnen und Liftanlagen auf die Berge trans­
immer zusammen mit Freunden die Hänge erwärmung, ihre Auswirkungen auf den portieren zu lassen, um dann auf Ski oder mit
hinabsauste. »Ich bin mit den Skiern direkt Alpenraum, wo die Temperaturen in den ver­ dem Snowboard wieder hinunterzufahren,
vor der Haustür losgefahren.« gangenen Jahrzehnten besonders schnell einfach so zum Vergnügen?
Schütter gehört inzwischen zu den besten
Skiläufern seines Landes, in diesem Winter
hat er den Sprung ins ruhmreiche Weltcup­
team Österreichs geschafft. Seine Spezial­
disziplin ist die Abfahrt. Zehntausende
Fans fiebern mit, wenn er im Weltcup mit
140 Kilometern pro Stunde die steilsten Hän­
ge hinunterrast.
Julian Schütter, ein muskulöser Kerl, ist
stolz auf sein Talent und seine Erfolge. Und
doch hadert er zunehmend mit seiner Rolle.
Mitte Januar sitzt er in der Lobby eines Hotels
in Kitzbühel, der Ort füllt sich mit Fans, die
zum jährlichen Hahnenkamm­Rennen auf
der berüchtigten Streif­Abfahrt angereist sind.
Schütter erzählt, dass er an Weltcupwochen­
enden oft mit einem mulmigen Gefühl zu
kämpfen habe. Nicht die Angst vor einem
Sturz treibe ihn um, »in dieser Hinsicht bin
ich eigentlich immer ganz entspannt«, sagt er.
Vielmehr mache er sich schon seit einer Wei­
le Gedanken darüber, ob das, was er beruflich
macht, »eigentlich überhaupt noch vertretbar
ist«.
Skifahren ist in Zeiten der Klimakrise zum
Problemsport geworden. Gletscher schmel­
zen, die Winter werden milder, in den Ski­
gebieten fällt immer weniger Schnee. Der
Betrieb ist oft nur noch mit teuren Kunst­
schneeanlagen am Laufen zu halten – dabei
werden enorme Mengen Wasser und Strom
verbraucht.
Die Events des Weltcups, die eigentlich
die Faszination des Skilaufens transportieren
sollen, produzierten zuletzt absurde Bilder.
Im Oktober sollte ein Rennen am Fuß des
Matterhorns ausgetragen werden, eine Ab­
Mario Buehner / GEPA Pictures

fahrt der Superlative, mit Start in der Schweiz


und dem Zieleinlauf in Italien. Alles stand
bereit für die Show, aber dann lag zu wenig
Schnee. Die Veranstaltung musste abgesagt
werden.
Anfang Januar wurde dann bei frühlings­
haften Temperaturen ein Nachtslalom in Gar­
misch­Partenkirchen ausgetragen. Im Ziel­ Alpinathlet Schütter: »Ich stecke in einem permanenten inneren Konflikt«

86 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


SPORT

Vielen Wintersportlern stellen sich er, der Verband stemmt sich gegen
diese Fragen nicht. Der Skiurlaub ist Pläne, den Rennkalender auszuwei-
ihnen heilig. Selbst als über Weihnach- ten, weil das nur noch mehr Reisen
ten und Neujahr wenig Schnee in den des Weltcup-Trosses bedeuten würde.
Bergen lag, waren die Hotels in be- Der DSV hat sich mit dem Präsiden-
liebten Gebieten in Tirol gut gebucht ten des Internationalen Skiverbands
und die wenigen befahrbaren Kunst- Fis, dem schwedischen Milliardär
schneepisten überfüllt mit Winter- Johan Eliasch, angelegt, der mehr
sportlern aus Deutschland, den Nie- Geld mit dem Weltcup verdienen will
derlanden, Großbritannien und Belgien. und sich deshalb vorstellen kann,
Ende Februar und Anfang März, wenn künftig Rennen in China und Saudi-
in den Niederlanden und in Hamburg Arabien auszutragen.
Schulferien sind, rollt die nächste Be- Wintersport in der Wüste – der
sucherwelle Richtung Alpen. DSV will das verhindern, weil das
Für Julian Schütter gibt es eigent- Image des alpinen Skisports dadurch

Privat
lich nichts Schöneres als Skilaufen: weiter leiden würde. Die Deutschen
die Berge, der Schnee, das große Ge- haben eine Klage vor dem internatio-
fühl von Freiheit. Er brennt darauf, nalen Sportgerichtshof Cas ange-
sich mit den Konkurrenten im Welt- strengt. Sie kritisieren, dass es bei der
cup zu messen. Aber er will nicht die Präsidentenwahl im vergangenen
Augen vor den Problemen, die sein Jahr für die Delegierten nicht möglich

Johann Groder / EXPA / picturede / picture alliance


Sport verursacht, verschließen. gewesen sei, gegen Eliasch zu stim-
Schütter ist einer der ersten Klima- men. Der DSV hofft, den Fis-Präsi-
aktivisten im Skiweltcup. Er enga- denten durch das Verfahren am grü-
giert sich bei Fridays for Future und nen Tisch auszubremsen.
bei der NGO Protect our Winters; er Wolfgang Maier ist seit fast 40 Jah-
lebt in Innsbruck und studiert Wirt- ren Trainer und Funktionär im DSV
schaftsingenieurwesen mit Schwer- und im Winter ständig unterwegs zu
punkt erneuerbare Energien. »Etwas irgendwelchen Rennen, er kennt so
Sinnvolles«, sagt er stolz – und ärgert gut wie jedes Tal in den Alpen. Schon
sich darüber, dass in ganz Tirol noch oft hat er die Aufregung erlebt, wenn
kein einziges großes Windrad steht. Wettkämpfe wegen Schneemangels
Er ernährt sich vegetarisch, fährt ausfielen. Seitdem die Events immer
ein Elektroauto. Dennoch plagt ihn Alpen, mit Bettenburgen und Skige- Sportler Schütter häufiger auf künstlich erzeugtem
ständig das schlechte Gewissen. Ski- bieten, in denen ganze Bergmassive bei Klimastreik in Schnee ausgetragen werden, der
Salzburg 2021, bei
profis sind Heavy User der energie- durch Liftanlagen verbaut sind. Seit- Skiweltcup 2022: kompakter ist und deshalb länger lie-
verschlingenden Wintersport-Infra- dem schrumpfende Gletscher zum »Mein ökologischer gen bleibt, sind die Absagen seltener
struktur. Um sich auf die ersten Ren- Symbol für die Erwärmung in den Fußabdruck ist riesig« geworden.
nen der Saison vorzubereiten, fliegen Alpen geworden sind, werden Skiläu- Die Beschneiung von Pisten ist
die Rennläufer im Sommer zum fer für ihr Freizeitverhalten angefein- existenziell geworden für den Renn-
Training auf die Südhalbkugel, nach det. In sozialen Medien werden sie sport und für den Skitourismus.
Neuseeland, Chile oder Peru. Wäh- als Dreckschleudern und Treiber der Maier kann die Bedenken von Um-
rend der Saison pendelt der Weltcup- Erderwärmung beschimpft, ähnlich weltschützern, wonach dieser Schnee
Tross dann zwischen den Wettkämp- wie Vielflieger und Dieselfahrer. schlecht für die Natur sei, nicht nach-
fen in Europa und Nordamerika hin Julian Schütter akzeptiert die Kri-
Bis zu vollziehen. »Das ist gefrorenes Was-
und her.
»Mein ökologischer Fußabdruck
ist riesig«, sagt Schütter. Vergangenes
tik. Es ärgert ihn auch nicht, dass an-
dere Sportler nicht so stark hinter-
fragt werden wie Skiläuferinnen und
18 000 ser, das auf dem Boden liegt. Was
kann daran böse sein?«
Der Einsatz von Kunstschnee ist
Kilowattstunden
Jahr betrugen seine allein durch Rei- Skiläufer, etwa Tennisprofis, die stän- im Streit um die Zukunft des Ski-
sen verursachten Emissionen laut dig durch die Welt jetten. »Wir sind Energie sports das zentrale Thema geworden.
eigener Berechnung 1,525 Tonnen die Ersten, die den Sport nicht mehr werden für Die Fronten sind verhärtet. Die Be-
CO2, obwohl er nur bei Rennen in ausüben können, wenn sich die Kli- einen Hektar fürworter argumentieren, dass in
Europa an den Start gegangen war. makrise verschärft«, sagt Schütter. Kunstschnee- Österreich und der Schweiz ganze
Bei der Organisation Atmosfair zahl- Tennis werde man immer spielen kön- Bergregionen vom Skitourismus leb-
te er einen Ausgleich dafür und spen- nen. piste benötigt. ten, Schneekanonen deshalb unver-
dete an Greenpeace, 180 Euro pro Anderen im alpinen Weltcup geht zichtbar seien. Die Gegner fordern,
Tonne, wie es Fridays for Future ver- der Furor im Netz zu weit. »Da die Geräte abzuschalten.
langt. »Doch das kann nicht dauer- wird eine Klientel abgeurteilt, ohne Inzwischen mischt sich auch die
haft die Lösung sein«, sagt er. objektiv zu diskutieren und Argu- Politik ein. Bayerns Wirtschaftsminis-
Schütter hat ernsthaft darüber mente auszutauschen«, sagt Wolf- ter Hubert Aiwanger beschimpfte
nachgedacht, mit dem Skifahren auf- gang Maier, Alpin-Sportvorstand des
Rund Skikritiker und Kunstschneeverächter
zuhören, seine Karriere zu beenden.
Andererseits träumt er von der Olym-
piateilnahme 2026. Es ist ein Dilem-
Deutschen Skiverbands (DSV). »Es
wird derzeit versucht, den Skisport
generell mit einem negativen Image
80 000
Schneekanonen
kürzlich als Spaßbremsen und twit-
terte: »Auch Schneekanonen sind
Freiheit.«
ma. »Ich stecke in einem permanen- zu belegen.« Michael Pröttel ist im Vorstand der
ten inneren Konflikt.« Maier findet das unangemessen.
sind in deutschen Sektion der internationa-
Umweltschützer kritisieren seit Der DSV kämpfe seit Jahren für mehr den Alpen im len Umweltorganisation Mountain
Jahrzehnten den Skitourismus in den Nachhaltigkeit im Skirennsport, sagt Einsatz. Wilderness. Er steht in seiner Küche

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 87


SPORT

tag die alpine Skiweltmeisterschaft


beginnt, ist mit 600 Pistenkilometern
etwa dreimal so groß.
Pröttel kennt alle Argumente zum
Für und Wider des Skisports, er hat
auch irgendwo mal gelesen, dass die
für Seilbahnen und Pisten verbaute
Fläche in Österreich gering sei, laut
WKÖ beträgt der Anteil gemessen an
der Landesfläche 0,28 Prozent. Aber
was besagt so eine Zahl? Auch wenn
die Erschließung der Berge nicht so
üppig ausgefallen ist, wie das manchen
Gästen in großen Gebieten wie in Söl­
den im Ötztal vorkommen mag, so
werde durch jeden Lift und jede Seil­
bahnanlage, die über die Jahre ins Ge­
birge gehauen wurden, trotzdem ein
Ökosystem beschädigt oder zerstört.
»Es geht uns um den Wert und den
Erhalt der Landschaften«, sagt Pröt­
tel, »wir wollen Kleinode bewahren.«

Christian Woeckinger
Kurz vor Weihnachten veranstal­
tete Mountain Wilderness eine
Demonstration an der Talstation der
Hausbergbahn in Garmisch­Parten­
kirchen wegen der vielen Schnee­
in Steinebach am Wörthsee in Ober­ folgt dabei einer simplen Formel: Skigebiet Saalbach- kanonen in dem Gebiet rund um die
bayern, es herrscht Föhnwetter, die »Man soll Ski fahren, wenn genug Hinterglemm: Alpspitze. Auf einem großen Plakat
Dreckschleudern
Fernsicht auf die Alpen ist atembe­ Schnee vom Himmel gefallen ist. und Treiber der Umweltschützer stand: »Energie
raubend. Pröttel sagt: »Wir fordern Wenn es nicht genug Naturschnee der Erderwärmung verpulvern ohne uns«.
das Aus der Schneekanonen. Sofort.« gibt, sollte man wandern.« Der Effekt der Aktion, räumt Pröt­
Pröttel und die 300 Mitglieder von Das klingt einerseits vernünftig. tel ein, sei mäßig gewesen. Die Ski­
Mountain Wilderness Deutschland Andererseits setzt Österreich jedes fahrer, denen die Naturfreunde am
kämpfen gegen den Bau neuer Lift­ Jahr rund elf Milliarden Euro durch Hausberg eigentlich ins Gewissen
anlagen, gegen den Zusammen­ Skitouristen um, die kommen, weil reden wollten, marschierten an der
schluss von Skigebieten, gegen Ski­ sie darauf vertrauen, dass die Demo schulterzuckend vorbei oder
hotels mit beheizbarem Außenpool Lifte laufen. Soll man diesen Wirt­ winkten ab, wenn die Aktivisten ihre
– also im Prinzip gegen alles, was den schaftszweig durch den Verzicht Flyer verteilen wollten. »Wir haben
heutigen Skitourismus ausmacht. auf eine künstliche Beschneiung da leider nicht viele Leute erreicht.«
Die Umweltschützer haben eine gefährden? Wegen ein paar Kaul­ Skisport ist in Garmisch­Parten­
konkrete Forderung: Sie verlangen quappen? kirchen heilig, genauso wie in Öster­
von der bayerischen Politik, die Sub­ Die österreichische Wirtschafts­ reich. Das bekommt auch Rennläufer
ventionen für Seilbahnbetriebe zu kammer WKÖ hat vergangenes Jahr Schütter zu spüren. Wenn er sich wie­
streichen, weil die Steuergelder am einen Bericht über den Energiever­ der Sprüche von Kollegen gefallen
Ende in neue Maschinen zur Produk­ brauch in Skigebieten vorgelegt. Er lassen muss, wieso er sich ständig so
tion von Kunstschnee fließen würden. soll belegen, dass die Kritik am Ski­ viele Gedanken mache. Aber er fühlt
Skitourismus habe angesichts der im­ laufen zu großen Teilen unberech­ sich nicht als Nestbeschmutzer.
mer milder werdenden Winter in den tigt ist. Schütter fordert vom Internatio­
tiefen Lagen in Bayern keinen Sinn Knapp 90 Prozent des Energie­ nalen Skiverband einen sinnvolleren
mehr, sagt Pröttel. Außerdem ver­ aufwands für die künstliche Be­ Wettkampfkalender. Weniger Inter­
schandelten die Speicherseen, in schneiung in Österreich stamme aus kontinentalreisen. Einen späteren
denen das Wasser für die Schnee­ erneuerbaren Quellen, heißt es darin. Saisonstart. Beim Auftaktrennen zu
kanonen gesammelt wird, die Land­ Der Energieverbrauch zur Herstel­ dieser Saison im Oktober in Sölden
schaft und seien Todesfallen für Am­ lung von einem Kubikmeter Schnee rutschten die Läufer auf einem Eis­
phibien. Er habe einmal erlebt, er­ betrage ein bis drei Kilowattstunden. hang herum, inmitten einer Geröll­
zählt Pröttel, wie Kaulquappen an Pro Winter werden etwa 525 000 Kilo­ wüste. »Oktober ist einfach nicht
dem steilen Betonufer eines künst­ wattstunden benötigt, um ein Ski­ Winter, wir vermitteln da ein völlig
lichen Tümpels vertrockneten. »Ich gebiet mit 30 Hektar Pistenfläche falsches Bild«, sagt Schütter.
hätte heulen können.« zu beschneien. Zum Vergleich: Ein Nach einem Sturz beim Rennen in
In den Skigebieten Österreichs Hallenbad habe einen Bedarf von Kitzbühel verletzte er sich schwer.
werden die rund 30 000 Schneeka­ rund 750 000 Kilowattstunden pro »Auch Schnee- Kreuzbandriss. Die Saison ist für ihn
nonen mit dem Wasser aus 450 Spei­ Jahr. vorbei. Er hat jetzt viel Zeit, über sei­
cherbecken gespeist. »Wahnsinn«, Was der Bericht nicht erwähnt: Al­ kanonen sind ne Skikarriere nachzudenken.
sagt Pröttel. Denn das Wasser fehle lein die Pistenfläche des Skigebiets Freiheit.« »Wenn ich sehe, dass sich gar
an anderer Stelle. Serfaus­Fiss­Ladis in Tirol umfasst Hubert Aiwanger,
nichts ändert«, sagt Schütter, »kann
Pröttel, drahtig und durchtrainiert, 460 Hektar, das größte Skigebiet der bayerischer Wirt- es schon sein, dass ich aufhöre.«
ist begeisterter Skitourengeher. Er Alpen, Les Trois Vallées, wo am Mon­ schaftsminister Jonas Kraus, Gerhard Pfeil n

88 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


SPORT

Der 86 Seiten lange Bericht ver- griffen und halte nun wie der Rech-
mittelt den Eindruck, als hätte der nungshof die meisten Punkte für er-
»Zweckverband Thüringer Winter- ledigt.
sportzentrum« die Millionen mit vol- Schon mehrfach in der Vergangen-
len Händen nur so hinausgeworfen. heit hat die Staatsanwaltschaft in

»Unzulässige Im Zweckverband vereinen sich der


Freistaat Thüringen, der Landkreis
und die Stadt mit dem Ziel, »den Tou-
Oberhof wegen Korruption ermittelt –
der Bürgermeister etwa kassierte
einen Strafbefehl, ein ehemaliger Lei-

Bevorzugung« rismus und die Entwicklung des sport-


lichen Lebens in Oberhof« zu fördern.
Seit Jahrzehnten folgen die Aus-
ter des Olympiastützpunktes kam mit
einer Geldauflage davon. Geändert hat
sich offenbar nichts. Dem SPIEGEL
gaben dem gleichen Muster. Um teilte die Erfurter Staatsanwaltschaft
SUBVENTIONEN Das thüringische Skizentrum Oberhof zu mehr Aufmerksamkeit zu mit, der Rechnungshofbericht sei ihr
verhelfen, ermuntert Thüringen die nicht bekannt, sie werde vom Rech-
Oberhof wirft mit den Millionen nur so Sportverbände, sich für internationa- nungshof »nahezu nie ›eingeschaltet‹«.
um sich. Rechnungsprüfer erkennen darin eine le Großveranstaltungen zu bewerben. Kritik an der großzügigen Unter-
perfide Form der Selbstbedienung. Bekommt Oberhof den Zuschlag für stützung Oberhofs regt sich in weiten
Welt- oder Europameisterschaften, Teilen Thüringens, weil im Land viele
werden Steuermillionen freigegeben, Anlagen für Freizeitsportler marode
berhof ist nicht wirklich schön. die meisten kommen vom Bund. Und sind. Der Landessportbund schätzt
O Ein Busbahnhof mit Parkdeck
verschandelt die Ortsmitte, der
Klotz des Hotels Panorama aus den
Die Touristen
bleiben weg
wenn am Ende alles teurer wird als
geplant, begründet dies der Zweck-
verband mit den hohen »Anforderun-
den Sanierungsstau auf eine Milliarde
Euro. Teile der Landesregierung ha-
ben zudem längst Zweifel an der Zu-
Sechzigern dominiert die kleine Übernachtungen in gen der Sportverbände«. kunft des Wintersports im Thüringer
Stadt. Kneipen und Restaurants mit Oberhof, Thüringen, Von diesem System profitieren be- Wald. Das rund 800 Meter hoch ge-
in Tausend
Stil sind rar. sonders die heimischen Geschäfts- legene Wintersportzentrum leide
Aber auf die Großen dieser Welt 531 leute, zum Beispiel beim Umbau des unter dem Klimawandel, heißt es in
strahlt der Ort im Thüringer Wald 500 Biathlonstadions für die WM. Laut einem Bericht des Umweltministe-
eine magische Anziehungskraft aus. Rechnungshof sei »das Vergabever- riums. Die Frosttage haben erheblich
Kaiser Wilhelm II. schickte seine Kin- 400 fahren für bestimmte Leistungen so abgenommen, die »extreme Schnee-
der hierhin, NS-Propagandaminister 300
ausgestaltet« worden, dass »in 19 von armut bis hinauf in die Hochlagen von
Joseph Goebbels kam zu Weihnach- 34 Verfahren derselbe Bieter beauf- über 750 Meter ist ein neues Phäno-
229
ten. Walter Ulbricht, Staatsratsvor- 200 tragt« wurde. Die Aufträge an Firmen men nach der Jahrtausendwende«.
sitzender der DDR, hatte hier ein seien zum Teil willkürlich, das könne Die Oberhofer kauften deshalb
Urlaubsdomizil. Bundespräsidenten 100 eine »unzulässige verdeckte Bevor- Schneekanonen und Kühlaggregate
und Kanzler besuchten nach der Wie- 0
zugung darstellen«. Der Zweckver- und bauten eine Halle für die Her-
dervereinigung den Ort mit seinen 2001 2011 2021 band und der Landkreis antworteten stellung und Lagerung von Schnee.
1600 Einwohnern. S Quelle: Thüringer Landes-
auf Nachfragen, sie hätten die kriti- Sebastian König, Landesgeschäfts-
»Oberhof ist das Markenzeichen amt für Statistik schen Punkte sehr ernst genommen führer des Bundes für Umwelt- und
Thüringens und Deutschlands für den und diese durch eine interne Prüfung Naturschutz, kritisiert zudem die Ver-
Wintersport«, erklärte Ministerprä- nochmals detailliert beleuchtet und siegelung der Natur an den Sportstät-
sident Bodo Ramelow bei der Eröff- bewertet. Man habe Maßnahmen er- ten, zum Beispiel für neue Parkplät-
nung der Rodelweltmeisterschaft ver- ze: »Bei Drohnenaufnahmen sieht
gangene Woche. Und begründete man dort mittlerweile ein Riesen-
damit auch die gewaltigen Summen, areal, vergleichbar einem größeren
die Bund und Land in Oberhof in- Industriegebiet.« Anstatt die Millio-
vestiert haben – so als spielte Geld nen nach Oberhof zu pumpen, so
keine Rolle, um Wintertourismus im König, »sollten Tourismusprojekte in
Mittelgebirge am Leben zu erhalten. anderen Orten des Thüringer Waldes
Für die WM im Rodeln und im gefördert werden«, der Klimawandel
Biathlon ab kommendem Mittwoch fordere eine »Neuausrichtung der
wurden noch einmal rund 100 Mil- ganzen Region«.
lionen Euro in die Sportanlagen ge- Das kann dauern. Hartmut Schu-
steckt. Diese Investitionen hat sich bert, Finanzstaatssekretär und Ober-
der Landesrechnungshof einmal ge- hof-Beauftragter der Landesregie-
nauer angeschaut und dabei verblüf- rung, lebt noch in der alten, der kalten
fende Entdeckungen gemacht. In Welt. Allein der Werbewert »aus den
einem Prüfbericht, der dem SPIEGEL TV-Übertragungszeiten und die Wert-
vorliegt, stellte er 16 zum Teil erheb- schöpfung aus Übernachtung und
liche Verfehlungen fest: Bauten waren Dienstleistungen für Gäste der Wett-
deutlich überteuert, Rechnungen un- kämpfe« übersteige die Höhe der In-
vollständig und fehlerhaft, Leistungen vestitionen in den Wintersport um
von Architekten und Ingenieuren ein Vielfaches, so Schubert. Er könne
Mar tin Schutt / dpa

mangelhaft, die Eignung einiger Be- sich sogar die nordische Ski-WM in
teiligter am Bau zweifelhaft, es gab Oberhof vorstellen. Dafür müsse aber
Hinweise auf Korruption. zunächst die Großschanze saniert
werden.
* Nach dem Teamsieg in Oberhof am 29. Januar. Rodelweltmeisterin Anna Berreiter*: In der alten, kalten Welt Udo Ludwig, Thomas Purschke n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 89


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Clemént Kolopp / WCS


Ganz weit die Schnauze aufmachen muss dieser Palmenflughund in Brazzaville in der Republik Kongo. Mitarbeiter der Wildlife Conservation Society
entnehmen dem Tier einen Abstrich, um es auf Zoonosen wie Ebola zu testen. Auch rund 100 Menschen, die mit den Tieren handeln,
werden untersucht, um herauszufinden, inwieweit sie beim Verkauf der Tiere Krankheitserregern ausgesetzt sind. Die Wissenschaftler möchten
feststellen, welches Risiko vom Handel mit Fledermausfleisch und von dessen Verzehr ausgeht.

schlich im alten Tempo dahin. Was könnte stattdessen helfen?


Was wirklich gegen Stau hilft Das einsame Pendeln müsste eingeschränkt werden. Frankreich
will Fahrer mit Geld locken, damit sie nicht mehr allein im
Auto sitzen. In den USA gibt es reservierte Fahrspuren, in denen
ANALYSE Sechs, acht, zehn Spuren – und dann fließt
Fahrgemeinschaften am Stau der Einzelfahrenden vorbeidüsen.
der Verkehr? Von wegen. Oft führt der Auto­ Auch mehr Bahn zu fahren hilft. Ein erster Anreiz dafür ist das
bahnausbau zu neuem Stau. Gibt es Alternativen? Deutschlandticket.
Straßen zu bauen ist teuer. Wer sie nutzt, sollte dafür bezah-
Neue Schnellstraßenprojekte alsbald anzugehen, das rechtfertigte len. Eine Autobahnmaut gibt es vielerorts in Europa, in Deutsch-
Finanzminister Christian Lindner von der FDP so: »Durch Staus land nicht. Auch erheben manche Städte wie Stockholm eine
und Umwege unnötig produziertes CO2« ließe sich reduzieren, Gebühr. Um 15 bis 44 Prozent wurde der Straßenverkehr laut
»wenn unsere Autobahnen besser ausgebaut und verbunden Studien dadurch in den jeweiligen Metropolen verringert.
sind«. Ob der geplante Autobahnausbau tatsächlich Schluss mit So paradox es klingt: Autofahrer kommen meist langsam
dem nervigen Stau macht, ist jedoch zweifelhaft. voran, weil sie versuchen, es schnell zu tun. Mit der Geschwin-
1962 stellte der US-Ökonom Anthony Downs das »Gesetz digkeit steigt der nötige Abstand zwischen den Fahrzeugen,
des Autobahnstaus« auf: Egal wie viele Fahrbahnen angeboten die Kapazität der Straße nimmt ab. Besonders stauanfällig sind
werden, die Nachfrage zu Stoßzeiten fülle ihre maximale Kapa- Strecken, auf denen mit stark unterschiedlichem Tempo gefah-
zität aus. Am Beispiel der Londoner Ringautobahn, deren Nord- ren wird. Wenn ein Fahrer bremst, muss das folgende Fahrzeug
abschnitt von sechs auf acht Spuren verbreitert wurde, bestätigte stärker bremsen. Bei dichtem Verkehr entsteht eine Kaskade
es sich. Nur im ersten Jahr nach der Öffnung 2014 kamen die bis zum Stillstand. Diese Erkenntnis wird man vor allem in der
Autos auf der untersuchten Strecke etwas schneller voran. Nach FDP nicht gern hören: Tempo drosseln hilft offenbar mehr als
drei Jahren war der Verkehr um 23 Prozent gewachsen und der Autobahnausbau. Arvid Haitsch

92 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


Mehr Grün gegen Hitzetod 20 Jahre in 93 europäischen Städten und Baumbestand von 30 Prozent die Tempera-
analysierten den Zeitraum von Anfang Juni tur um durchschnittlich etwa 0,4 Grad Cel-
KLIMA Mehr Bäume in den Städten Europas bis Ende August 2015. Sie wählten das Jahr sius gesenkt hätte. Sie berechneten, dass
hätten im Sommer 2015 wohl den Tod von 2015, weil ihnen dafür vollständige Bevöl- sich durch das Mehr an Schatten und Küh-
über 2600 Menschen verhindert. Das haben kerungsdaten vorlagen – von insgesamt fast lung 2644 Hitzetote verhindern ließen –
Gesundheitswissenschaftler in einer Studie 58 Millionen Bewohnern. also fast 40 Prozent. Derzeit liegt der durch-
ermittelt, die in der Fachzeitschrift »The Lan- Städte sind im Fokus, weil sie im schnittliche Baumbestand in den unter-
cet« erschienen ist. Das internationale Sommer zu »urbanen Hitzeinseln« werden. suchten europäischen Städten laut den For-
Team wollte herausfinden, welchen Effekt die Straßenbeläge wie Asphalt und Baumate- schern bei 14,9 Prozent. KK
grünen Riesen in den aufgeheizten Städten rialien, die Wärme absorbieren, sowie das
des Kontinents haben – und wie er sich bes- Fehlen natürlicher Vegetation führen dazu,
ser nutzen ließe, pflanzte man mehr davon. dass es dort heißer wird als im Umland.
Erst Anfang November hatte die Weltge- Für den Sommer 2015 führten die Forscher

Alexander Pohl / NurPhoto / Getty Images


sundheitsorganisation (WHO) vermeldet, 6700 vorzeitige Todesfälle auf die höheren
dass 2022, im heißesten Sommer in Europa Temperaturen in den Städten zurück. Dabei
seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, min- war die Zahl der zusätzlichen Toten in Süd-
destens 15 000 Menschen der Hitze zum und Osteuropa am höchsten. Sie lag bei
Opfer gefallen sind. In Deutschland, so die 32 Verstorbenen auf 100 000 Einwohner in
WHO, starben rund 4500 zusätzlich wäh- der rumänischen Großstadt Cluj-Napoca.
rend der heißen Sommermonate. Im schwedischen Göteborg bei null.
Die Forscherinnen und Forscher nutzten Anhand von Computermodellen ermit- Englischer Garten in München
Sterblichkeitsraten von Einwohnern über telten die Fachleute, dass ein städtischer

Best: Manche Menschen stellen liert fühlt. Und dass man mehr
»Jeder Mensch erlebt das geringere Mengen an FAAH Alkohol zu sich nehmen kann,
her. In einigen früheren Studien bevor man negative Auswirkun-
Trinken anders« haben wir festgestellt, dass die- gen bemerkt.
ser Genotyp auch mit erhöhtem SPIEGEL: Was kann man mit die-
Alkoholkonsum verbunden ist. sem Wissen konkret anfangen?
HIRNFORSCHUNG Wer in Jugendjahren viel Alkohol
Jetzt wollten wir mit einem Best: Weil unsere jetzige Studie
konsumiert, entwickelt später eher ein Suchtproblem – bildgebenden Verfahren dieses mit 31 Probanden klein ist und
aber nicht immer. Die kanadische Pharmakologin Laura Enzym im Gehirn messen. Wir man die Zusammenhänge damit
haben dazu 31 Probanden im noch nicht klar zeigen kann, wol-
Best, 31, und ihr Team haben das Phänomen untersucht. Alter von 19 bis 25 Jahren zu len wir noch einmal eine größere
uns ins Labor gebeten, wo wir Stichprobe nehmen. Außerdem
SPIEGEL: Frau bekommen durch das Trinken ihnen über eine Infusion Alko- untersuchen wir Menschen, die
Best, wie kann ein stärkeres Verlangen, mehr hol verabreicht haben. Während bereits eine Alkoholsuchtstörung
man im Labor zu trinken, andere leiden am der Sitzungen haben wir dann oder einen problematischen
feststellen, wer nächsten Tag stärker unter den erfragt, wie sich die Probanden Konsum haben. Das ist wichtig,
später einmal Auswirkungen. Wir wollten fühlen. Stimuliert, sediert, ob wenn man verstehen will, ob und
Mikaeel Vali 

alkoholsüchtig herausfinden, ob ein bestimm- sie mehr trinken wollten. wann es bei Menschen mit dieser
wird? ter chemischer Stoff im Gehirn, SPIEGEL: Was haben Sie heraus- Störung einen Zeitpunkt gibt, an
Best: Nicht jeder Jugendliche, die Fettsäureamid-Hydrolase gefunden? dem man besser eingreifen sollte.
der viel oder in gefährlichen (FAAH) zu den beobachteten Best: Eine geringere Menge Vielleicht, wenn sie in Behand-
Mengen trinkt, entwickelt später Phänomenen beiträgt. an FAAH im Gehirn führt dazu, lung sind, beim Entzug oder spä-
in seinem Leben ein Suchtpro- SPIEGEL: Wie könnte die FAAH dass man sich während des ter, um das Verlangen nach Alko-
blem. Deshalb haben wir ein hier den Ausschlag geben? Alkoholkonsums stärker stimu- hol zu mindern?
Merkmal im Gehirn gesucht, das SPIEGEL: Wird denn bereits an
den Unterschied erklären könn- Präparaten geforscht?
te. Wir haben in Tierversuchen Best: Es werden gerade Medika-
ein System gesehen, das an der mente entwickelt, die das
Vorliebe für Alkohol und an FAAH vermindern sollen. Nach
dessen Aufnahme beteiligt sein unseren Erkenntnissen ist das
könnte. Wenn dieses System nicht unbedingt eine gute Sa-
moduliert wird, trinken die che, es kann schließlich auch zu
Tiere mehr. Es ist das gleiche mehr Alkoholkonsum führen.
System, das durch Cannabis FAAH spielt aber auch bei
aktiviert wird, das sogenannte Angstzuständen, Traumastö-
Endocannabinoid-System. rungen und Cannabisabhängig-
SPIEGEL: Wie haben Sie diese keit eine Rolle, deswegen wird
Erkenntnis in eine Studie am das Medikament entwickelt.
Menschen übertragen? Wenn Ärzte ein solches Medi-
Best: Jeder Mensch erlebt die kament in Zukunft verschreiben
RooM / Getty Images

Wirkung von Alkohol anders. könnten, wissen sie nun, dass


Manche fühlen sich stärker sie möglicherweise als Neben-
stimuliert, wenn sie trinken. wirkung den Alkoholkonsum
Andere macht er müde. Manche ihrer Patienten beeinflussen. KK

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 93


WISSEN

Der skrupellose
Dr. He
SKANDALE Vor vier Jahren hat er die Welt in
Schock versetzt, jetzt ist er zurück:
Der Mann, der die ersten Babys mit mutwillig
verändertem Erbgut erschaffen hat,
will jetzt an Muskelschwund leidende Kinder
retten – mit einer Genspritze.

Gilles Sabrie / DER SPIEGEL


r ist wieder da, entlassen aus dem Ge- zen Welt, wie He spröde Daten in gebroche- zent der Bewohner infiziert sind.« Um die
E fängnis: He Jiankui, der Mann, der Gott
spielen wollte. Der mit Menschenem-
bryonen experimentierte und genmanipulier-
nem Laborenglisch vortrug. Alle wollten
wissen: Wer ist dieser Mann, der als Erster
den Eingriff in den Bauplan des Menschen
Kinder müssten sich häufig Oma und Opa
kümmern, weil die Eltern sterbenskrank
seien. Für sie alle habe er nun das Problem
te Babys erschuf. Ende 2018 löste er den wohl gewagt und damit ein ethisches Tabu gebro- gelöst, brüstete er sich.
größten Wissenschaftsskandal des 21. Jahr- chen hat? Die Technik, die er nutzte, heißt Crispr-
hunderts aus. Vier Jahre lang war er ver- Einen Tag vor der Konferenz hatte He drei Cas9. Das Verfahren erlaubt gezielte Verän-
schwunden, nun möchte er reden. Videos auf YouTube hochladen lassen, gefilmt derungen im Erbgut. Crispr wird oft ver-
He empfängt in der Lobby eines abge- in seinem Labor in Shenzhen auf dem chine- glichen mit einer Schere, mit der sich einzel-
wohnten Hotels im Pekinger Umland. Ein sischen Festland, nur wenige Kilometer von ne Buchstaben oder auch längere Passagen
Tisch, ein paar zusammengeschobene Sessel, Hongkong entfernt. In den Videos sprach er im genetischen Text entfernen, verändern
in der Ecke ein schwarzer Flügel. Es gibt Tee von den Zwillingen Lulu und Nana, von ihren oder hinzufügen lassen.
aus Pappbechern. Vom Empfang schallt Eltern Grace und Mark, von einer glücklichen Auch Eingriffe in Eizellen oder Embryo-
schmalzige Popmusik herüber. Ein wenig fül- Familie. Vater Mark sei mit dem Aidsvirus nen sind mit Crispr möglich. Die Methode
lig ist der inzwischen 38-Jährige geworden. HIV infiziert. Doch er, He Jiankui, habe ist nach einhelliger Meinung der Forschenden
Ende November 2018 hatte He in gestreif- Marks Kindern einen Schutz vor dem Virus jedoch nicht ausgereift genug, um manipu-
tem Hemd und mit noch deutlich mehr Haa- ins Erbgut gebaut. lierte Embryonen in den Mutterbauch ein-
ren auf dem Kopf die Bühne eines Hörsaals Die Zwillinge, geboren im Oktober 2018, zupflanzen und zu Babys heranwachsen zu
in Hongkong betreten. Empfangen wurde er sind damit die ersten Kinder der Welt, deren lassen. Zu groß ist die Gefahr, dass die Gen-
von einer Heerschar von Journalisten, die Genom mutwillig verändert wurde. schere irgendwo im Erbgut Schäden anrich-
Fotokameras klickten wie ein Sperrfeuer. Per He erzählte rührselige Geschichten: »Ich tet, die zu schweren Krankheiten führen kön-
Livestream verfolgten Menschen auf der gan- habe Aids-Dörfer besucht, in denen 30 Pro- nen, etwa Krebs. Hes Experiment war ein

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Lotteriespiel mit dem Schicksal der »He ist ein lich dagegen sind die Klauseln, die schen Studie kommen.« Hank Gree-
Zwillinge. den Haftungsausschluss regeln. ly von der kalifornischen Stanford-
Je mehr die Experten über das verurteilter He nötigte seine Probanden gera- Universität, der sich als Jurist mit der
Vorgehen von He erfuhren, desto grö- Verbrecher. dezu zur Kooperation. Wer nach dem modernen Bio- und Gentechnik be-
ßer war ihr Entsetzen – auch in China. Und er hat Beginn des Experiments aussteigen fasst, kommt zu einem ähnlichen
Mehr als 100 chinesische Wissen- wolle, müsse für die Kosten selbst auf- Schluss: »Die Wissenschaft sollte ihn
schaftler unterzeichneten nach Be- unter Beweis kommen. Wer nicht binnen zehn Ta- vorerst nicht wieder in ihre Reihen
kanntwerden der Menschenversuche gestellt, gen zahle, dem drohte He eine Strafe aufnehmen.«
einen offenen Brief, in dem sie Hes von weiteren 100 000 Yuan (umge- He Jiankui erweckt nicht den Ein-
Studie als »verrückt« bezeichneten.
dass ihm ein rechnet 15 000 Euro) an, heißt es in druck, als föchte ihn das an. Noch
»Handelte er skrupellos? Oder ethischer dem Dokument. immer spricht er mit viel Pathos von
wusste er es einfach nicht besser?«, Kompass Ende 2019 verurteilte ein Volks- großen Menschheitsproblemen, und
fragt sich Kiran Musunuru. Der Kar- gericht in Shenzhen He zu drei Jah- er fühlt sich berufen, sie zu lösen.
diologe und Genomforscher von der fehlt.« ren Haft. Er habe die »Grenzen der Neben ihm auf einem Sessel in der
University of Pennsylvania war einer Kiran Musunuru, medizinischen Ethik überschritten« Hotellobby sitzt ein schlaksiger Mann
der wenigen, die damals die nie Genomforscher und das »schwere Verbrechen der mit zurückgegelten Haaren. Li Erge,
offiziell veröffentlichten Daten des illegalen Ausübung von Medizin 39 Jahre alt, er stammt aus der ost-
Babydesigners zu Gesicht bekamen. begangen«, heißt es in dem Urteil. chinesischen Provinz Shandong. Für
»Schon auf den ersten Blick zeigen Die Nationale Gesundheitskommis- das Gespräch mit dem SPIEGEL hat
seine Diagramme, dass in der Ent- sion in China erließ nach Hes Expe- He ihn aus Hunderten Kilometer Ent-
wicklung dieser Embryonen etwas rimenten neue Vorschriften, damit fernung nach Peking beordert.
schwerwiegend schiefgelaufen ist«, sich ein solcher Skandal nicht wie- Lis Sohn leidet an Duchenne-Mus-
sagt er. derholen kann. keldystrophie (DMD), einer Erb-
Schlimmer noch: Das ganze Stu- »He ist ein verurteilter Verbrecher. krankheit, bei der die Muskeln ver-
diendesign habe keinen Sinn ergeben. Und er hat unter Beweis gestellt, dass kümmern. Arme und Beine des Jun-
»Das Risiko, sich beim Vater mit HIV ihm ein ethischer Kompass fehlt«, gen sind erlahmt, irgendwann wird er
zu infizieren, lag bei diesen Zwillin- meint Musunuru. »Nie wieder darf nicht mehr atmen können, weil das
gen bei praktisch null«, sagt Musunu- er auch nur in die Nähe einer klini- Zwerchfell betroffen ist. »Die Krank-
ru. He habe folglich mit dem Eingriff heit meines Kindes wurde 2016
ins Erbgut eine Gefahr verhütet, die diagnostiziert, seither habe ich alles
gar nicht bestand. Viel stärker ins Ge- Schöpfer spielen mit der Schere darüber gelesen, was ich bekommen
wicht fallen dagegen andere Effekte. konnte«, sagt Li. Er erfuhr, dass sich
So erhöht sich zum Beispiel durch Genom-Eingriffe mit der Crispr-Genschere He Jiankui fortan mit der Heilung von
die von He vorgenommene geneti- Mithilfe einer künstlich hergestellten Leit-RNA Erbkrankheiten beschäftigen wolle.
sche Veränderung für die Zwillinge Sequenz (Leit-RNA) findet die Crispr- »Ich habe auf jede nur erdenkliche
Genschere ihr Ziel. Dort zerschneidet sie
das Risiko, bei einem Grippeinfekt den Doppelstrang der DNA und ergänzt,
Weise versucht, mit ihm in Kontakt
schwer zu erkranken oder gar daran entfernt oder verändert zu treten.«
zu sterben. die Gensequenz. Gemeinsam mit anderen DMD-
Auch die Auswahl der Probanden Eltern schrieb er He einen Brief. Da-
wirft Fragen auf. Warum wählte He rin flehen sie ihn an, eine Gentherapie
für seine Studie gezielt Paare aus, bei Genschere
für ihre Kinder zu entwickeln. Dass
denen der Mann HIV-infiziert war? He für sein Fehlverhalten vor vier
Musunuru vermutet, dass es ihm kei- Jahren verurteilt wurde, störe ihn
neswegs darum ging, die Kinder vor nicht, sagt Li. »Gewiss, das war nicht
Aids zu schützen. Wahrscheinlicher Eingriffe in der Eingriffe in ganz legal«, sagt er. »Aber diesmal
sei, dass er schlicht die Notlage seiner befruchteten Eizelle Körperzellen werden wir alles streng nach dem Ge-
Probanden ausgenutzt habe. setz machen und alle ethischen Richt-
Denn in China ist Männern mit Ge- Die Crispr-Genschere linien befolgen.« Er hält den Baby-
kommt in einer befruchte-
schlechtskrankheiten die Retortenzeu- ten Eizelle zum Einsatz. Körper- designer für geläutert: »Aus dem
gung von Babys verboten. Vater Mark Durch die anschließende zellen Teufel ist ein Engel geworden.« He
musste deshalb, wenn er nicht riskie- Zellteilung tragen alle Jiankui sitzt daneben und lächelt zu-
ren wollte, seine Frau beim Sex zu in- Zellen des Menschen die frieden.
genetischen Veränderun-
fizieren, auf Kinder verzichten. He Zell- gen in sich. Diese werden Er will fortfahren, wo er 2018 auf-
dagegen konnte dem Paar den Kinder- teilung vererbt. gehört hat. Weiterhin Wissenschaft
wunsch erfüllen. Dass er dabei die Eingriff treiben. Wieder mit Crispr. »Ich habe
Gene ihrer Babys manipulierte, haben nie daran gedacht, dieses Gebiet zu
die Eltern wohl nicht gewünscht, son- verlassen«, sagt er. Im Frühjahr 2022
dern nur in Kauf genommen. genetisch veränderte
schrieb er, kaum aus dem Gefängnis
Er habe die Eltern sorgfältig über Zellen entlassen, eine E-Mail an Jennifer
alle Risiken aufgeklärt, beteuerte He Doudna. Die Genforscherin der ka-
in Hongkong. 70 Minuten habe er Wird die Crispr-Genschere in lifornischen Universität Berkeley ist
sich dafür Zeit genommen. Doch auch Körperzellen eingesetzt, tragen sein Idol. Vor gut zehn Jahren hat
das erweist sich als Trug: 20 Seiten nur sie die Veränderungen in sie die Genschere Crispr mitent-
sich und eine Vererbung ist
umfasst der Text, den He seinen Pro- ausgeschlossen
wickelt, vor zwei Jahren bekam sie
banden vorgelegt hat. Von den Risi- (»somatische Gentherapie«). den Chemienobelpreis dafür. »Ich
ken der Genmanipulation ist darin habe ihr geschrieben, dass ich eine
nur sehr versteckt und für Laien kaum Gentherapie zur Behandlung selte-
verständlich die Rede. Sehr ausführ- S Grafik ner  Erbkrankheiten durchführen

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WISSEN

kann«, sagt er. Sie hat ihm nicht ge­ »In drei scher George Church eröffnete seine lichkeitsfremd: »In drei Monaten
antwortet. Vorträge mit Listen von Genen, mit werde ich ein Tiermodell haben«,
Er habe Jennifer Doudna schon Monaten deren Manipulation sich der Mensch erklärt er. In sechs Monaten könnten
vor Jahren kennengelernt, erzählt er werde ich ein verbessern lasse. In Laboren nicht nur die Tests an Mäusen beginnen, nach
und wischt auf dem Display seines Tiermodell in China, sondern auch in Oregon und sechs weiteren Monaten die an Affen.
Handys herum, bis er das richtige in London wurden menschliche Em­ Im März 2025, so rechnet er vor,
Foto gefunden hat. Ein Selfie, auf­ haben.« bryonen genetisch verändert – auch werden erstmals DMD­Patienten
genommen am 18. August 2016: He Jiankui wenn die Forschenden sie anschlie­ eine Genspritze bekommen.
He links, Doudna rechts, beide strah­ ßend vernichteten. Nur am Geld fehle es noch. Fürs
len. »Sie war ein leuchtender Stern«, Ist es angesichts all dessen erstaun­ Erste, meint er, würden ihm 50 Mil­
sagt He. lich, dass sich ein überehrgeiziger lionen Yuan (7 Millionen Euro) rei­
Die beiden trafen einander noch Wissenschaftler fand, der sich daran­ chen. Später werde er bis zu eine
einmal, unmittelbar nach Hes Tabu­ machte, das, wovon die anderen nur Milliarde Yuan brauchen. Ihm
bruch. Diesmal saßen sie beim redeten, wirklich zu tun? Der Crispr­ schwebt ein Institut mit 200 Mit­
Abendessen zusammen. Doudna ver­ Forscher Musunuru kann sich noch arbeitern vor. Die Behörden, sagt er,
suchte zusammen mit anderen füh­ gut daran erinnern, wie er damals von habe er über seine Pläne noch nicht
renden Genomforschern, dem selbst einer ihm bekannten Journalistin den informiert.
ernannten Menschendesigner klarzu­ Entwurf der Publikation eines gewis­ Über die Finanzen redet He lieber
machen, welch schweren Schaden er sen He Jiankui erhielt. »Ich war scho­ als über die Einzelheiten der Gen­
der Wissenschaft zugefügt habe. Etwa ckiert«, sagt er, »aber ich war nicht therapie. Die Geburt der Crispr­Kin­
eine Stunde lang hörte er sich das überrascht.« der finanzierte er über zwei Start­ups.
an, dann stürmte er genervt aus dem Im Rückblick scheint es ihm, als Das eine stellt Maschinen zur DNA­
Restaurant. wäre der Crispr­GAU fast unvermeid­ Sequenzierung her, das zweite hat
Heute mag er nicht mehr darüber lich gewesen. »Das Problem ist, dass sich auf Krebsdiagnosen spezialisiert.
reden, wie es war, als er plötzlich als es so einfach war«, sagt Musunuru. Zusammen waren beide Firmen ein­
Dämon vor der Weltöffentlichkeit Inzwischen ist Ernüchterung ein­ mal mehr als drei Milliarden Yuan
stand. Die YouTube­Videos, die er gekehrt. Die Debatte ums Embryo­ (430 Millionen Euro) wert. Doch
damals unter professioneller PR­Be­ nendesign ist abgeklungen. Die Vi­ ist er überhaupt noch Eigentümer?
ratung anfertigte, lassen erahnen, sion des gentechnisch verbesserten »Ich weiß es nicht. Ich verstehe nicht,
dass er bis zuletzt damit rechnete, Menschen hat ihren Glanz verloren. ob es noch meine Aktien sind«, sagt
dass die Welt ihn als Wohltäter emp­ Denn sie ist untrennbar mit der er. Er habe sich einen Anwalt ge­
fangen werde. So sehr steigerte er sich Schmach von He Jiankui verbunden. nommen.
in diesen Wahn, dass manche in ihm He selbst versucht unterdessen, He sucht jetzt die Öffentlichkeit,
eher das Opfer als den Täter sehen. seinen Traum vom Weltruhm weiter­ um Geldgeber zu finden. Deshalb
Denn der Tabubruch, den He Jian­ zuträumen. Vor vier Monaten hat er möchte er über das Leid der DMD­
kui beging, war zuvor regelrecht her­ Vater Li und andere DMD­Eltern zum Kinder sprechen. Darüber, dass sie
beigeredet worden. Im Jahr 2012, als ersten Mal getroffen und ein kleines dringend seine Hilfe brauchen. Die
die Nachricht von dem neuen Crispr­ Labor im Pekinger Außenbezirk Da­ Vergangenheit aber möchte er hinter
Verfahren bekannt wurde, war den xing angemietet, 30 Minuten zu Fuß sich lassen.
Fachleuten sofort klar, dass dies den von dem Hotel entfernt, in dem er Wie es war, als er erst als nationa­
Beginn einer biotechnologischen Re­ derzeit wohnt. Im Sommer soll seine ler Held gefeiert und kurz darauf als
volution bedeutete. Auf einmal stand Frau mit den beiden Töchtern zu ihm Verbrecher verdammt wurde? »Las­
den Genforschern eine Methode zur ziehen. Für den Umzug gebe es stra­ sen wir das.« Warum er die Geburt
Verfügung, mit der sich billig, präzise tegische Gründe, erklärt er: »Shen­ der Babys damals mit schwülstigen
und geradezu kinderleicht Erban­ zhen ist gut für das Gründen von YouTube­Videos vermarkten wollte?
lagen manipulieren ließen. Binnen Vorbereitung einer Unternehmen. Aber für die Forschung, »Darüber möchte ich nicht reden.«
Monaten hielt Crispr Einzug in Labo­ Embryomanipulation insbesondere die medizinische For­ Wie er das Gefängnis erlebt habe und
im Labor des
re in aller Welt. Forschers He 2018:
schung, ist Peking am besten.« wo genau er inhaftiert gewesen sei?
Auch in der Öffentlichkeit verbrei­ Schockierend, aber Der Zeitplan, den He sich zurecht­ »Lassen Sie es gut sein.«
tete sich rasch die Kunde, dass Crispr wenig überraschend gelegt hat, ist ebenso straff wie wirk­ Den Zwillingen, deren Erbgut sei­
die Welt verändere. Die Zeitschrift ne Spuren trägt, gehe es gut, behaup­
»Wired« verkündete auf dem Titel­ tet er. »Sie leben jetzt glücklich mit
bild »das Ende des Lebens, wie wir ihren Eltern.« Bis heute hofft er, dass
es kennen«. Ein hochrangiger US­ der wissenschaftliche Artikel zu sei­
Geheimdienstmitarbeiter witterte die nem Experiment irgendwann begut­
Gefahr neuer Massenvernichtungs­ achtet und veröffentlicht wird. Dass
waffen. es dazu nie kommen wird, hat er of­
Die Welt steigerte sich in einen fenbar nicht begriffen.
Crispr­Rausch. Künstler riefen das ge­ Reue empfindet He nicht. »Ich
Mark Schiefelbein / AP / picture alliance

netische Design von Kreaturen zu habe es zu schnell gemacht«: Das ist


einer neuen Kunstform aus. Im Inter­ das Äußerste, was er eingestehen
net wurden Do­it­yourself­Crispr­ mag. Ansonsten wünsche er sich, dass
Baukästen feilgeboten. Die Dotcom­ eines Tages Jennifer Doudna ihn be­
Milliardäre im Silicon Valley schwärm­ suchen komme. »Hey, Jennifer«, so
ten, jetzt werde der Sieg über das möchte er ihr zurufen, »wie geht’s?
Alter und den Tod gelingen. Du bist in China willkommen. Ich
Und auch die Wissenschaft mach­ würde dir gern mein Labor zeigen.«
te mit. Der prominente Harvard­For­ Christoph Giesen, Johann Grolle n

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Passagier-
maschine 747 bei
Anflug auf die
Karibikinsel Sint
Maarten 2015

Lukas Bischoff / Alamy / mauritius images


zuverlässigen Triebwerken teilweise noch viel
weiter fliegen können.
Derzeit herrscht ein regelrechtes Jumbo-
sterben. 1574 Maschinen dieses Typs hat Boe-
ing gebaut, viel mehr, als sich der Konzern

Letzter Riese einst erhofft hatte. Viele davon warten als


Dauerparker in einsamen Wüsten darauf, aus-
geschlachtet oder verschrottet zu werden.
Keine nordamerikanische Linienfluggesell-
LUFTFAHRT Mehr als 50 Jahre lang hat Boeing den Jumbo produziert, schaft nutzt die 747 noch im Passagierverkehr,
keine in Japan, Hongkong, Singapur oder
ein Flugzeug, das die Welt wie kein anderes verändert hat. Jetzt ist seine Ära Australien, wo sie überall ehedem stark
am Ende – und die Zukunft der einst so legendären Firma ungewiss. vertreten war. Ganz China hat noch zehn
Exemplare.
Auch in Westeuropa haben sich alle Air-
ie war viel mehr als ein Flugzeug. Sie Nun ist die 747-Ära Geschichte. 53 Jahre lines von der 747 getrennt, nur eine nicht:
S war Legende, der Star der Lüfte, viel-
leicht sogar ein Wunder. Mit ihrer da-
mals kaum fassbaren Reichweite hat sie den
nach ihrer Indienststellung – und sehr lange
nach ihrem Zenit – hat Boeing jetzt die aller-
letzte 747 ihrem Käufer übergeben. Am Paine
Lufthansa. Einzig die Deutschen halten sen-
timental an ihrem majestätischen Altmetall
fest, an 19 Maschinen vom modernsten Typ
Erdball geschrumpft und mit ihrer Größe das Field nahe Seattle fanden sich am Dienstag 747-8 und an acht der älteren Variante 747-
Jet-Zeitalter demokratisiert. Sie machte Fern- Werksangehörige und Honoratioren ein, die- 400, von denen einige bald 25 Jahre auf dem
reisen für die Mittelklasse erschwinglich, sie se Zäsur zu würdigen. Der Gigant mit dem Buckel haben. Sie ist die weltgrößte Flotte
eröffnete Millionen Menschen die weite, Kennzeichen N863GT gehört nunmehr der ihrer Art und ein Kuriosum für sich.
weite Welt. Leasingfirma Atlas Air aus den USA; künftig Abgesehen von einigen Prunkversionen
Die vierstrahlige Boeing 747 hat mit ihrem wird er für den Spediteur Kühne + Nagel für saudische Prinzen und geltungsbedürftige
Buckel, ihrer Eleganz und Riesigkeit nicht nur als wenig glamouröser Frachter um die Welt Staats- und Regierungschefs sind fast alle an-
Kinder in den Bann geschlagen. Wenn Leute jetten. deren aktiven Jumbos – mehr als 300 Stück –
überhaupt einen Flugzeugtyp benennen Das war’s. Die Legende ist am Ende, un- ziemliche Langweiler: Als reine Frachter
konnten, dann diesen Hingucker mit dem vergessen zwar, aber eindeutig zu alt, zu dre- chauffieren sie jeden Tag tonnenweise Schnitt-
Kosenamen »Jumbo«. Der britische Star- ckig, zu teuer. Längst gibt es Flugzeuge wie blumen, Mangos, Fisch, Medikamente, Post
architekt Norman Foster erkor die 747 gar zu die Boeing 787 oder den Airbus A350, die und Ersatzteile rund um die Welt. Doch
seinem »Lieblingsgebäude« aus dem späten weniger Kerosin verbrauchen, leiser und war- sogar für sie werden die Zeiten härter. Aus
20. Jahrhundert. tungsärmer sind und mit nur zwei überaus Lärmschutzgründen dürfen sie bald Israel

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nicht mehr ansteuern. Auch der nie­ gere Tragflächen mit viel geringerem Langstrecken wie Berlin–Chicago be­
derländische »Maastricht Aachen Geschichte Luftwiderstand (»Transonic Truss­ dienen können, ihm hat der US­Her­
Airport« will zumindest die ältesten des Jumbo Braced Wings«), die Boeing jetzt zu­ steller gar nichts entgegenzusetzen.
Maschinen mit einem Bann belegen, sammen mit der Nasa für mehr als Der renommierte Flugzeuganalyst
weitere Flughäfen dürften dem Bei­ 1969: Die erste eine Milliarde Dollar entwickeln und Richard Aboulafia sagt Boeing nun
spiel folgen. 747-100 wird testen will. sogar den Untergang voraus, einen
an Pan Am
Die letzte 747 ist daher schon vor ausgeliefert, Vielen Experten missfällt aller­ Marktanteil von weniger als 30 Pro­
ihrem ersten Einsatz ein Paradox: ein typische dings, dass sich Boeing so viel Zeit zent rund um 2035, mangels Geld und
nagelneuer Oldtimer, gestrig und Bestuhlung: lässt. Manche glauben, dass die Firma Ingenieurskompetenz unfähig, über­
museal von Anbeginn. Kaum war 366 Sitze das Wagnis scheut, schon heute ein haupt noch neue Flugzeuge an den
N863GT im Dezember nach der End­ 1970: erster besseres Flugzeug zu bauen. Die 737 Start zu bringen. Der Anfang vom
montage aus der berühmten Werks­ kommerzieller bringt immer noch viel Geld ein, Ende könnte bereits begonnen haben.
halle in Everett nahe Seattle gerollt, Flug zwischen denn das Marktsegment kleinerer Keine Frage: Boeing von heute ist
begann Boeing damit, die Produk­ New York und Kurz­ und Mittelstreckenflieger mit nicht mehr wie Boeing von ehedem.
London
tionsanlagen seines Erfolgsfliegers schmalem Rumpf boomt seit vielen Der Blick zurück zeigt, wie kühn die­
abzubauen. 1989: Indienst- Jahren. Boeing hat wie der europä­ se einstige Weltklassefirma die Flie­
Das von seinem Volumen her größ­ stellung des ische Konkurrent Airbus wenig gerei veränderte, wie ihr damaliges
te Gebäude der Welt, einst im Eiltem­ modernisierten Anreiz, das derzeit erfolgreiche Pro­ Führungspersonal mit Chuzpe und
Modells 747-400
po errichtet für das damals größte gramm durch unsichere, teure Inno­ gesund naivem Zukunftsvertrauen
Verkehrsflugzeug der Welt, steht nun 1990: Zwei vationen zu stören. Für den Fort­ jenen Tatendrang entwickelte, der
weitgehend leer – zum ersten Mal. 747-200B schritt in der Luftfahrt ist das keine jetzt so sehr fehlt.
Die Nachnutzung des Hallen­ ersetzen die gute Nachricht. Die 747 kam zur Welt mit einem
707-Jets als
komplexes mit seiner Fläche von ins­ Dienstflugzeuge Die aktuelle Version von Boeings Handschlag und einem Schwur unter
gesamt rund 400 000 Quadratmetern für den US- Goldesel – die 737 Max – gilt nach Freunden. Kurz vor Weihnachten
ist ungewiss. Was kann hier schon der Präsidenten zwei Abstürzen fabrikneuer Exem­ 1965 trafen sich Juan Trippe, Grün­
»Königin der Lüfte« folgen? plare vor Indonesien und in Äthio­ der der Fluggesellschaft Pan Am, und
2023: 53 Jahre
Leere, Ungewissheit, Demontage nach Indienst- pien eigentlich als Fehlkonstruktion. Boeing­Chef Bill Allen zum Lachs­
und das Warten auf die Vollendung stellung übergibt 346 Menschen sind bei den Crashs, fischen. Großkunde Trippe drängte
des Schicksals – all dies kennzeichnet Boeing die letzte an denen Boeing wegen handwerk­ auf ein neues Flugzeug ungekannter
gewissermaßen auch den aktuellen 747 ihrem Käufer, licher Fahrlässigkeit die Hauptschuld Dimension; über 370 Passagiere
insgesamt
Zustand von Boeing selbst. Der einst wurden 1574 trägt, ums Leben gekommen. Den­ sollten da hineinpassen, mehr als
in der Branche für seine bravouröse Maschinen noch erfreut sich der Hersteller eines doppelt so viele wie in Boeings ersten
Ingenieurskunst so bewunderte Flug­ gebaut. prallen Orderbuchs für den befleck­ Langstreckenjet 707. Im Reiseboom
zeugkonstrukteur scheint allen An­ ten Jet: Die Airlines der Welt haben der bewegten 1960er­Jahre erlebte
2025: Erwartete
trieb, all seine Stärken verloren zu Indienststellung mehr als 3600 dieser inzwischen Trippe täglich, dass die bestehenden
haben. von zwei 747-8, nachgerüsteten Maschinen bestellt, Flieger und Flughäfen dem Andrang
Vor langer Zeit, zwischen 1958 und die derzeit zu Boeings Produktion ist damit über der Passagiere nicht mehr gewachsen
1995, hat Boeing im Schnitt alle fünf neuen Dienst- Jahre gesichert. waren.
maschinen für
Jahre einen Bestseller auf den Markt den US-Präsi- Airbus hat für seine Jets der A320­ »Wenn du es baust, kaufe ich es«,
gebracht: 707, 727, 737, 747, 757, 767 denten umgerüs- Familie sogar noch viel mehr Aufträ­ soll Trippe gesagt haben – worauf
und 777 lauten die Modellbezeich­ tet werden ge: Über 6000 Orders stehen in den Allen angeblich entgegnet hat: »Wenn
nungen, hinter denen sich Boeings Büchern. Längst sind die Europäer du es kaufst, baue ich es.«
Legenden der Luftfahrt verbergen. damit bei den kleineren, aber sehr Und so kam es. Der Kaufvertrag
Seit der Jahrtausendwende aber tut profitablen Flugzeugen zum klaren vom April 1966 sah die Lieferung von
sich der Konzern auffällig schwer. Der Marktführer geworden – und Boeing­ 25 Flugzeugen vor, das erste sollte
innovative Langstreckenjet 787 ist mit Letzte Maschine Chef Calhoun sieht zu, wie Airbus schon Ende 1969 an Pan Am ausge­
Verspätung und überzogenem Kos­ 747-8F im Boeing- mit weiteren Varianten mehr und händigt werden. Einen größeren Auf­
Werk von Everett
tenplan 2011 in Dienst getreten. im Dezember 2022:
mehr Marktanteile gewinnt. trag hatte es in der zivilen Luftfahrt
Jüngst fiel er auf durch Qualitätspro­ Leere, Ungewissheit, Das neueste, noch nicht zugelas­ noch nicht gegeben, frohgemut gin­
bleme, die gar zu einem mehrmona­ Demontage sene Modell A321XLR wird sogar gen Boeing und Pan Am horrende
tigen Auslieferungsstopp führten. Risiken ein.
Etwas von Grund auf Neues gibt es Projektleiter wurde der Ingenieur
seither nicht mehr bei Boeing – trotz Joe Sutter, heute noch bekannt als
offensichtlichen Bedarfs. »Vater der 747«. Bis zu 4500 Inge­
Vor allem braucht die Firma einen nieure und Techniker arbeiteten fort­
kompletten Neuentwurf als Ersatz für an unter Hochdruck an der Idee, oft
die kommerziell entscheidende, aber nachts und an den Wochenenden; ihr
technisch veraltete Baureihe 737. Plä­ Einsatz brachte der Mannschaft den
ne dafür schmiedet und verwirft der Beinamen »The Incredibles« ein.
Konzern seit Jahren, jetzt aber hat Was »die Unglaublichen« damals
Boeing­Chef David Calhoun vor In­ leisteten, ist nach heutigen Maßstä­
Paul Weatherman / Boeing / AFP

vestoren angekündigt, wann dieser ben völlig undenkbar: Nach nur


Ersatz frühestens zu erwarten sei: 29 Monaten Entwicklungs­ und Bau­
nämlich erst um das Jahr 2035. Dieser zeit, alles in Handarbeit, ganz ohne
Nachfolger müsste, um seinen Kero­ computergestützte Designhilfe oder
sinverbrauch um 30 Prozent zu sen­ 3­D­Modelle, verließ der 747­Proto­
ken, über völlig neuartige Techno­ typ Ende 1968 die gewaltigen Hallen
logien verfügen, etwa dünnere, län­ von Everett. Diese waren buchstäb­

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US-Kongress 1971 alle Unterstützung


für Überschallflugzeuge. Sie galten einer
Mehrheit nun als laut, teuer, schmutzig und
überflüssig. 1973 kam auch noch die Ölkrise
über die Welt, wodurch die Ticketnachfrage
kollabierte.
Boeing stand urplötzlich am Rande der

Lufthansa / ullstein bild


Pleite. Der Hersteller musste über 60 000 An-
gestellte entlassen, was mehr als der Hälfte
der Belegschaft entsprach. Wenn die 747 nicht
2 schon frisch zugelassen gewesen wäre,
hätte sie in diesem Strudel der Ereignisse viel-
leicht ebenfalls in den Abgrund gerissen wer-
den können.
So aber wurde sie zum Stützpfeiler für
NMSI / Science Museum / ullstein bild
Boeing. Dank der 747 und vor allem der 1989

Phillip A. Harrington / ullstein bild


eingeführten Variante 747-400 hatte der
Konzern viele Jahre lang ein lukratives Mono-
pol auf sehr große Langstreckenflugzeuge.
Airbus hat es erst 2007 mit dem doppelstö-
ckigen A380 brechen können, der dennoch
1 3 als wirtschaftlicher Misserfolg in die Ge-
schichte einging.
Die besondere Pointe der 747-Saga besteht

Space Frontiers / Archive Photos / Hulton Archive / Getty Images


darin, dass zumindest zu Beginn niemand
bei Boeing geahnt hatte, wie sehr sie Furore
Sidey, Crawshaw & McDonald / Mirrorpix / Getty Images

machen würde. Sie war auch nie auserkoren


zu dem Designobjekt, als das sie bis heute
bewundert wird. Einige ihrer auffälligsten
Eigenschaften – das Cockpit im Buckel etwa,
damit die Nase aufgeklappt werden kann –
verdankt sie dem Pragmatismus von Inge-
nieuren wie Sutter. Der hatte die 747 von
Anfang an als sehr taugliche Frachtmaschine
geplant, die nur kurze Zeit Menschen trans-
portieren sollte.
4 5 Weshalb Boeing nach Jahrzehnten der
Technologieführerschaft fast all seinen
1 | Rumpfquerschnitt der 747 2 | Erste Frachtversion mit Laderaum für 72 VW Käfer 1972 3 | Ingenieur Schwung verlor? 1997 fusionierte Boeing mit
Sutter mit einem frühen 747-Modell 1966 4 | Passagiere beim Premierenflug New York–London seinem kleineren Konkurrenten McDonnell
im Januar 1970 5 | Flugzeug 747-100 als Transporter für Prototyp der Raumfähre Space Shuttle 1977 Douglas, dem Hersteller unter anderem der
Langstreckenmaschine MD-11. Die Fusion
lich von Zehntausenden Arbeitern um das Die ehrgeizigste und vielleicht hochnäsigs- katapultierte bei Boeing Leute an die
gedeihende Riesenbaby herum in die Höhe te Gruppe aber konzentrierte sich auf Boeings Macht, die dort wohl zuvor keine Chance
gezogen worden. primäre Zukunftsvision: das Überschallflug- gehabt hätten.
Zum Erstflug im Februar 1969 rückten zeug 2707 für bis zu 300 Passagiere, das die Das technischer Qualität verschriebene
die Weltpresse und Tausende Zuschauer an. schnellere, größere Antwort auf die Concorde Ingenieurskollektiv, das Boeing einst war,
Viele diskutierten erregt, ob ein mehr als sein sollte. bekam eine neuartige Führungsmannschaft,
300 Tonnen schweres und hochkomplexes Anders als bei der 747 finanzierte Washing- die die einstige Boeing-Unternehmenskultur
Monstrum aus sechs Millionen Einzelteilen ton einen Teil von Boeings Entwicklungs- zugrunde richtete. Der Börsenwert der Firma
wirklich in die Luft kommen könne. Boeing- arbeit am Überschalljet 2707, die Technologie wurde zentral, verdiente Designprinzipien
Chef Allen ermahnte den Kapitän des Erst- lag angeblich im nationalen Interesse, zumal von Sutter und anderen hatten intern auf ein-
lings, jetzt bloß nichts falsch zu machen, die die Sowjetunion mit der Tupolew Tu-144 be- mal weniger Gewicht als »Shareholder Va-
Zukunft der inzwischen extrem verschuldeten reits einen – letztlich erfolglosen – Über- lue«. Der neue Boeing-Chef Harry Stone-
Firma liege in seinen Händen. Ingenieur Sut- schallflieger besaß. Volle 26 Airlines hatten cipher lobte sich 2004 in einem Interview
ter sah dem Start gelassen entgegen, doch bei Boeing schon 122 Reservierungen einge- dafür, die Firma mehr auf Profit ausgerichtet
fragte er sich insgeheim, ob das Ungetüm auch reicht, darunter Pan Am, Lufthansa und Qan- zu haben statt auf Ingenieurskunst, schließlich
die Landung überstehen würde. tas. 1975 sollte die erste Überschall-2707 den wollten Investoren doch vor allem Geld ver-
Diese Sorgen erwiesen sich als unbegrün- Betrieb aufnehmen. dienen.
det. Nummer eins hob ab wie berechnet, flog Doch es kam alles anders für Boeing – und Was Stonecipher und seine Nachfolger
76 Minuten lang und landete sanft. zwar sehr schnell sehr anders als gedacht. bewirkten, lässt sich so zusammenfassen:
Sutters Truppe war bei Boeing nicht einmal 1970 konnte der Konzern kaum noch ein Boeings Aktienkurs stieg und stieg – die tech-
die schillerndste. Parallel arbeiteten Firmen- Flugzeug an eine US-Airline verkaufen. nische Kompetenz aber nahm ab. Jumbo-
Ingenieure an der ursprünglichen 737. Wei- Triebwerksprobleme hielten die Auslieferung Ingenieur Sutter starb 2016 hoch geehrt mit
tere waren mit dem Apollo-Programm der der 747 auf. Inflation und Zinsen waren auf 95 Jahren. Das Ende der 747 und die kon-
Nasa beschäftigt, zu dem der Konzern unter einmal hinaufgeschossen, eine Rezession struktionsbedingten Crashs der 737 Max
anderem Raketenstufen und das Mondauto brach über die US-Wirtschaft ein. Das Apollo- musste er nicht mehr miterleben.
beisteuerte. Programm endete – und überdies strich der Marco Evers n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 99


WISSEN

Luxus für Leichen


ÄGYPTOLOGIE In der Nekropole von Sakkara stießen Wissenschaftler auf eine unterirdische
Mumifizierungswerkstatt. Ihre Funde zeigen, wie die Verstorbenen auf das Leben
im Jenseits vorbereitet wurden – und deuten auf eine bisher unbekannte frühe Globalisierung hin.

üdlich von Kairo liegt ein Ort, an »Die Mumifizierung war ein Wegbereiter Kanopen-Krüge gelegt wurden. Auch Finger-
S dem es mehr Tote als Lebende gibt.
Über drei Jahrtausende hinweg wurde
Sakkara von den alten Ägyptern als Ne-
früher Globalisierung«, sagt der Münchner
Archäologe Philipp Stockhammer, der die
nun im Magazin »Nature« publizierten For-
und Zehennägel wurden eigens gesichert,
damit sie sich nicht vom Körper lösen konn-
ten und im Jenseits intakt waren. Das Herz
kropole genutzt. Weil auf dem Wüsten- schungsergebnisse gern gemeinsam mit sei- verblieb meist im Brustraum: Es galt den alten
plateau daher Tausende Menschen bestattet nem Kollegen Hussein präsentiert hätte. Doch Ägyptern als Sitz des Verstandes und war
wurden, machen Forscherteams hier seit der Ägypter, der an der Tübinger Universität für das Totengericht wichtig, dem sich jeder
langer Zeit spektakuläre Entdeckungen. lehrte, ist im März vergangenen Jahres im Verstorbene stellen musste.
Doch in der Unterwelt verbirgt sich noch Alter von nur 50 Jahren nach schwerer Krank- War das Körperinnere freigeräumt und al-
etwas anderes als Grabkammern, Sarko- heit gestorben. les Blut abgeflossen, wurde dem Leichnam
phage und wertvoller Schmuck – nämlich Husseins Fund ergänzt, was bereits aus mithilfe von Salz die Feuchtigkeit entzogen.
ein Raum, in dem die Menschen vor etwa Papyri, Inschriften und zeitgenössischen Be- Das geschah in großen Becken, wie sie auch
2600 Jahren im Rahmen einer aufwendigen richten bekannt ist. Einer dieser Berichte von Hussein und seinen Leuten entdeckt wur-
Prozedur für das Leben im Jenseits präpa- stammt vom griechischen Geschichtsschrei- den, direkt neben dem Zugang zur Werkstatt.
riert wurden. ber Herodot, dessen Ausführungen von Die Prozedur dauerte etwa 40 Tage und er-
Die Entdeckung ist dem Ägyptologen Ra- Ägyptologen für authentisch gehalten wer- forderte gewaltige Mengen Natron, denn das
madan Hussein und seinem Team zu ver- den. Demnach begann die Mumifizierung Salz sog sich schnell voll und musste ständig
danken. Sie stießen zunächst auf einen mit einer Waschung des Leichnams und der ausgetauscht werden. Wissenschaftler ver-
Schacht, der komplett mit Schutt gefüllt war. Entnahme des Gehirns, dem die alten Ägyp- muten, dass für die Behandlung eines erwach-
Unter brütender Hitze räumten die Wissen- ter wenig Bedeutung zumaßen. Die Hand- senen Menschen etwa 270 Kilogramm von-
schaftler und ihre Helfer erst einmal 42 Ton- werker in den Werkstätten führten daher nöten waren.
nen Sand und Steine beiseite. Dann erreich- meist durch die Nase einen Haken ins Kopf- Innen und außen gut durchgetrocknet,
ten sie in 13 Meter Tiefe die Kammer, die innere ein und verquirlten das vermeintlich wurden die Körperhöhlen der Verstorbenen
Hussein schon bald als Mumifizierungswerk- nutzlose Gewebe. Danach konnte es ver- ausgestopft, meistens mit Leinen und Säge-
statt identifizierte. wesen, durch die Nasenlöcher abfließen und spänen, manchmal auch mit getrocknetem
Es gibt darin einen Block aus Felsgestein, entsorgt werden. Nilschlamm, der reichlich vorhanden war.
der wohl zur Organentnahme diente; leicht Bekannt war auch schon, dass Leber, Lun- Anschließend begann die Einbalsamierung,
abfallende Bodenrinnen, durch die Blut und ge, Magen und Gedärme mithilfe eines Mes- die durch die Forschung des Stockhammer-
andere Körpersäfte abfließen konnten; meh- sers aus der Bauchhöhle entfernt, getrocknet, Teams nun deutlich besser rekonstruiert wer-
rere Öffnungen in der Decke, die für einen mit Salböl übergossen und in sogenannte den kann. Die Arbeiten wurden meist von
steten Luftaustausch sorgten und den Lei- den Taricheuten erledigt, hoch angesehenen
chengestank erträglich machten; und eine Spezialisten, die bei der Arbeit die Maske des
große Räucherschale, die vermutlich helfen schakalköpfigen Totengottes Anubis getragen
sollte, das Ungeziefer zu vertreiben. haben sollen. Um die Verstorbenen zu prä-
Die unterirdische Anlage gewährt einen parieren, nutzten sie etliche jener Salböle,
Einblick in ein Gewerbe, das das alte Ägypten Harze und anderen Substanzen, die durch die
vermutlich stärker prägte als jedes andere Rückstandsanalysen im Labor nachgewiesen
Handwerk. Außerdem deuten Husseins Ent- werden konnten.
deckungen auf einen Fernhandel bisher un- Die Wissenschaft kennt die ägyptischen
bekannten Ausmaßes hin. Namen der einzelnen Rezepturen und Sub-
Die eindrucksvollsten Erkenntnisse beru- stanzen schon lange aus zeitgenössischen
hen vor allem auf den Töpfen und Krügen, Schriftstücken. Es war aber in vielen Fällen
die in der Werkstatt und in einigen benach- unklar, welche Kräuter und Stoffe sich genau
barten Grabkammern zurückgelassen wur- dahinter verbargen. So ist in den Quellen im-
den. Ein Team aus deutschen und ägyptischen mer wieder von einem »antiu« die Rede —
Forschern hat 31 der zum Teil beschrifteten ein Wort, das die Forschung bisher mal mit
Gefäße genau untersucht, unter anderem »Myrrhe«, mal mit »Weihrauch« übersetzte.
durch sogenannte organische Rückstands- Nun konnte jedoch rekonstruiert werden, dass
analysen mit einem Massenspektrometer. zumindest das »antiu« aus Sakkara eine Mi-
Die Wissenschaftler fanden dabei heraus, schung aus Zedernöl, tierischen Fetten und
Piers Leigh

dass etliche der Substanzen aus weit ent- Wacholder- oder Zypressenöl war.
fernten Regionen importiert worden sein Durch den Abgleich der identifizierten
mussten. Forscher Hussein in Sakkara 2019 Stoffe mit den Gefäßbeschriftungen konnte

100 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


WISSEN

das Forschungsteam zudem nachwei- Mumifizierungswerkstatt (Illustration)


sen, welcher Stoff für welches Kör-
perteil und zu welchem Zweck zum
Einsatz kam. So wurden Pistazien-
harz und Rizinusöl wohl ausschließ-
lich für die Behandlung des Kopfes
genutzt und heißes Bienenwachs für
die Konservierung des Magens. Eine
Mischung aus tierischem Fett und
dem Harz von Balsambaumgewächsen
verwendeten die Mitarbeiter der Mu-
mifizierungswerkstatt, um laut einer
Beschriftung »den Geruch angenehm
zu machen«.
»Besonders überraschend war für
uns, dass der größte Teil der Substan-
zen nicht aus Ägypten stammt«, sagt
Stockhammer. Die Forscher stießen
auf Harz und Zedernöl aus der
Levante und wiesen Bitumen nach,
das mit großer Wahrscheinlichkeit aus
der Gegend des Toten Meeres
stammt. Außerdem konnten sie Rück-

Illustration: Nikola Nevenov


stände von Dammar nachweisen – ein
Harz von Laubbäumen, die unter
anderem auf den Sundainseln im
Malaiischen Archipel wachsen, also
etwa 7000 Kilometer Luftlinie von
Sakkara entfernt. Auch das bei den
Analysen entdeckte Elemi-Harz Wer über ausreichende finanzielle Wo viel gearbeitet wird, passieren
musste aus Südostasien oder dem Mittel verfügte, konnte seine verstor- auch immer wieder Fehler. So ent-
tropischen Afrika herbeigeschafft benen Angehörigen auch komplett deckten Archäologen und andere
worden sein. vergolden lassen, wie erst vergangene Ausgräber Spatel, Pinzetten, Haken
»Vermutlich hatte die ägyptische Woche nach einem entsprechenden und anderen Werkzeuge, die wohl
Mumifizierung letztlich einen wich- Fund bekannt wurde. Ein Team war versehentlich miteingewickelt oder
tigen Anteil daran, dass es zu einer in Sakkara auf die Mumie eines Man- im Körperinnern der Verstorbenen
frühen weltweiten Vernetzung kam«, nes namens Heqa-Shepes gestoßen, vergessen wurden.
sagt der Tübinger Archäologe Ma- dessen ganzer Körper in Blattgold ge- Auch die Mumie Tutanchamuns,
xime Rageot, Leiter des Analyse- hüllt war. des bekanntesten Pharaos aller Zei-
projekts. Schließlich habe man Ägyptische Bauern konnten sich ten, umrankt die Legende eines
große Mengen des exotischen Harzes Mumifiziertes all das aber nicht leisten: Sie vergru- Kunstfehlers. Der Körper ist dunkler
benötigt. Kind aus dem 1. bis ben ihre Verstorbenen wohl oft ein- als viele andere, womöglich durch
2. Jahrhundert
Zunächst ließen wohl vor allem n. Chr.: Wer über ge-
fach in der Wüste – möglicherweise eine Behandlung mit speziellen Har-
gut betuchte Menschen ihre ver- nügend Mittel in der Hoffnung auf eine natürliche zen; diese könnte dazu gedient ha-
storbenen Angehörigen einbal- verfügte, konnte ein Mumifizierung durch Trockenheit ben, die Hautfarbe von Osiris nach-
samieren. Doch im Laufe der Zeit De-luxe-Paket buchen und Hitze. Nach den damaligen Glau- zuahmen, dem Gott der Unterwelt
nahmen auch immer mehr Men- bensvorstellungen waren die Toten und der Fruchtbarkeit. Einige Ägyp-
schen aus dem Mittelstand die zwingend auf einen weitgehend in- tologen vertreten allerdings eine
Dienste der Mumifizierer in An- takten Körper angewiesen, damit Theorie, die umstritten ist: Sie führen
spruch. Die Betriebe reagierten auf sie im Jenseits weiterleben konnten. den Teint Tutanchamuns auf eine
die unterschiedlichen finanziellen Dafür wurden die Leichname zum Art Selbstentzündung zurück, die
Möglichkeiten und boten laut Schluss der Prozedur kokonartig in durch die Harze und die Hitze in der
Schriftquellen und anderen Er- Stoff gewickelt. Zunächst wurden Grabkammer hätte verursacht wer-
kenntnissen sowohl Spar- als auch Arme und Beine umhüllt, dann war den können.
De-luxe-Pakete an. der Körper dran. Ob ein solches Missgeschick aufs
Wer kein Geld für eine luxuriöse In der 26. Dynastie, aus der die Konto der Werkstatt geht, lässt sich
Ashmolean Museum / Heritage Images / Getty Images

Totenmaske aus Gold und Silber Werkstatt stammt, war die Banda- nicht sagen. Klar ist, dass sich die
hatte, konnte eine Version aus Gips gierungstechnik besonders ausge- Taricheuten ansonsten große Mühe
wählen und diese auf Wunsch ver- feilt: Häufig wurden bis zu 25 Kilo- gaben – auch bei der Behandlung von
golden lassen. Wem die Mittel für gramm Leinen verwendet. Viele Tutanchamuns bestem Stück. Wo-
Kanopen aus Alabaster fehlten, dem Menschen sammelten daher zeit- möglich, weil seine Ehe mit Schwester
wurde ein Set aus bemaltem Ton an- lebens alte Kleidung, um sie später Anchesenamun kinderlos blieb und
geboten, berichtete Ausgräber Hus- in Streifen zu schneiden und für den er sich im Jenseits fortpflanzen sollte,
sein im Jahre 2020. Die Werkstätten Schutz ihrer Verstorbenen zu nut- bekam er eine Erektion für die Ewig-
verkauften Glasaugen, ließen Perü- zen. »Die Werkstätten verbrauchten keit verpasst: Die Werkstattmitar-
cken anfertigen und hatten Schutz- gewaltige Mengen an Material«, sagt beiter balsamierten den Penis des
kappen für das männliche Ge- Archäologe Stockhammer, »das war Gottkönigs im 90-Grad-Winkel ein.
schlechtsteil im Programm. ein Massengeschäft.« Guido Kleinhubbert n

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 101


KULTUR

Pop-Philosoph im
Piranhateich
LITER ATUR In der deutschen
Popgeschichte ist das Lied
»Fred vom Jupiter« von 1981
ungefähr das, was die Komödie
»Kevin – Allein zu Haus«
(1990) in der US­Filmgeschichte
ist – ein Werk voller kindlichen,
cleveren Zaubers, das perfekt
in die Zeit passte und bis heute
ans Herz geht. Der mit »Fred
vom Jupiter« bekannt geworde­
ne Künstler Andreas Dorau, 59,
hat seinen Erfolg in jungen Jah­
ren besser überstanden als Ke­
vin­Darsteller Macaulay Culkin.
Culkin machte öfter mit Ab­
stürzen von sich reden. Dorau

CFOTO / Future Publishing / Getty Images


dagegen lebt ein gut gelauntes,
von Massenerfolg fernes Leben
eines Kreativen in Hamburg.
Er fabriziert poetische Lieder
und bringt Videos, auch mal ein
Indiemusical und, gemeinsam
mit Sven Regener, Bücher
heraus. Das neue Buch heißt
»Die Frau mit dem Arm«. Wie
Kinovorstellung in Shanghai am 27. Januar zuvor »Ärger mit der Unsterb­
lichkeit« (2015) handelt es von
den Ansichten und Erinnerun­

Ungebrochene Lust auf Filme gen Doraus, diesmal aus der


Zeit von 2000 bis heute. Herz­
erfrischend und mit Charme
berichtet der Held Dorau von
UNTERHALTUNG Nach Aufhebung der Coronabeschränkungen in China kommen Abenteuern in den Piranha­
die Menschen in Massen ins Kino – und sorgen für beeindruckende Umsätze. gewässern der Musikindustrie,
von Videodrehs und der philo­
n China gehen an den Feiertagen um das wieder verstärkt außerhalb der eigenen vier sophischen Freude an Arztbesu­
I Neujahrsfest traditionell die meisten Men­
schen ins Kino. Im Januar spielten Filme
in diesem Zeitraum mehr Geld ein als im Ver­
Wände verbringen, auch Restaurants, Veranstal­
tungen aller Art und Sehenswürdigkeiten pro­
fitierten davon, so der »Hollywood Reporter«.
chen. Inmitten des hinreißend
komischen Bekenntnisbuchs
erklärt Dorau, warum er das
gleichszeitraum 2019: Einnahmen von 993 Millio­ Obwohl James Camerons Blockbuster »Ava­ Lied »Fred vom Jupiter« bei
nen Dollar bedeuten einen Zugewinn von 14 Pro­ tar: The Way of Water« in China mit einem Ein­ Konzerten meist verweigern
zent gegenüber damals, rechnete das Branchen­ spielergebnis von knapp 240 Millionen Dollar muss – es braucht für das Lied
magazin »Hollywood Reporter« aus. Die Lust weit hinter den einheimischen Hits zurückbleibt, extra einen kleinen Mädchen­
auf große Kinoerlebnisse scheint trotz – oder ge­ dürften sich auch die Hollywoodstudios über chor, der den Song vorträgt; sei­
rade wegen – der Pandemie ungebrochen zu sein. die Erfolgsmeldungen freuen. Denn der chine­ ne Rolle bei der Entstehung des
An der Spitze der Beliebtheit liegt »Full River sische Markt ist für das Filmgeschäft von enormer Meisterwerks verharmlost er vor­
Red«, eine Thrillerkomödie des Regiealtmeisters Bedeutung. Das Superheldenspektakel »Aven­ nehm: »Eigent­
Zhang Yimou. Seit ihrem Start am 22. Januar gers: Endgame« spielte dort 2019 mehr als lich war ich nur
brachte sie bereits mehr als 500 Millionen Dollar 630 Millionen Dollar ein. Allerdings legen staat­ Statist in
in die Kassen. Auf Platz zwei folgt »The Wande­ liche Behörden fest, welche ausländischen Pro­ meinem größ­
ring Earth 2«, die Fortsetzung eines überaus er­ duktionen starten dürfen und welche nicht. Mehr ten Hit.« HÖB
folgreichen Science­Fiction­Spektakels von 2019. als drei Jahre lang war kein Marvel­Film in den
Der neue Kinoboom ist nicht zuletzt darauf zu­ chinesischen Kinos zu sehen. Am 7. Februar wird Andreas Dorau,
rückzuführen, dass die Regierung in Peking ihre sich das ändern. Dann läuft »Black Panther: Sven Regener: »Die
Frau mit dem
strikte Null­Covid­Strategie im Dezember auf­ Wakanda Forever« in China an, zehn Tage später Arm«. Galiani; 180
gab. Seither würden die Chinesen ihre Freizeit folgt der neue »Ant­Man«­Film. LOB Seiten; 22 Euro.

102 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


Melancholie ersten Sekunden rappt er, Bü- Nach roten Gauloises und Träu-
cher hätten ihn zu ihm selbst ge- men vom Studium an der Uni-
und Spaß macht. Es sind nicht nur die versität der Künste. Melancholie
POP »Die Generation, für die Bücher, die Kautz zu einem be- und endlicher Spaß, geeint
ein Roman wie J. D. Salingers sonderen Rapper machen. Es durch einen Sound, der mit Old-
›Fänger im Roggen‹ alles war, ist auch sein Gespür für Bilder, School-Hip-Hop aufgewachsen
stirbt jetzt aus«, hat der Rapper die zeigen, wie grotesk die ist, aber auch weiß, wie gute
dem SPIEGEL vor ein paar Jah- Gegenwart ist. »Wir sitzen beide Trapbeats klingen. Zuletzt liest
ren gesagt. »Dafür gibt es heute in einem Gummiboot, an der Prinz Pi dann wieder Bücher –
viele Leute, die sagen: ›Dieser Metapher ist nichts verkehrt«, »und danach die Bücherei. Flieh
Song, der beschreibt mein Le- rappt er an einer Stelle. »Nur zu Isaac Asimov, Jules Verne
ben in drei Minuten.‹« Prinz Pi, eines treibt auf dem Baggersee, und Karl May«. Der Autoren-
der eigentlich Friedrich Kautz eines versinkt grad im Mittel- »ADHS«-Albumcover
rapper Kautz ist so etwas wie
heißt, aus West-Berlin kommt meer.« An einer anderen Stelle der lebende Beweis, dass die ka-
und 43 Jahre alt ist, mischt auf heißt es: »Wir haben scheißgro- er treffend. Manchmal klingt tegorische Abgrenzung zwi-
seinem neuen Album »ADHS« ße Angst vor der Einsamkeit, »ADHS« aber auch schlicht schen Unterhaltung und Ernst-
solche zeitgeistigen Minuten- alle online, doch es hat keiner nach Nostalgie, nach schöner haftem Quatsch ist. »ADHS«
songs mit dem zeitkritischen Zeit.« Manchmal klinge »aus Vergänglichkeit. Nach MP3s, ist ernstes Entertainment
Blick eines Schriftstellers. In den jedem Ton Depression«, rappt Minidiscs und Gettoblastern. in Reim- und Reinform. SKR

Rober t Allmann / tim / Staatliches Textil- und Industriemuseum Augsburg


Kostbare Botschaft zählt der Film das Leben vor
dem Krieg, während des Kriegs
KINO Filme über den Zweiten – und davon, was nach dem
Weltkrieg zeigen oft die unmit- Krieg noch vom Leben übrig ge-
telbaren Auswirkungen der blieben ist. Aus Tagen werden
Gewalt, zerstörte Häuser, Ver- Wochen, Monate, Jahre,
letzte, Tote, und spielen in schließlich Jahrzehnte. Wäh-
einem zeitlich klar abgesteckten rend die Hoffnung der Protago-
Rahmen. In »War Sailor« da- nisten auf ein Wiedersehen mit
gegen zeichnet der norwegische ihren Liebsten schwindet, blei-
Regisseur Gunnar Vikene in ben der Krieg und seine Folgen
einer Langzeitstudie ein omnipräsent. Mehr als zehn
schmerzhaftes Porträt von drei Millionen Euro soll der norwe-
miteinander verwobenen Ein- gische Antikriegsfilm gekostet
zelschicksalen. Als der Krieg haben. Seine eindrucksvollen
1940 Norwegen erreicht, arbei- Bilder produzieren rustikale, le-
Brecht-Handtuch-Produktion in Augsburg ten Alfred (Kristoffer Joner), bensecht erscheinende Räume
ein verheirateter Vater von drei und bringen dem Zuschauer das
Ein Handtuch zu Gedicht geklungen: »Da fällt Kindern, und sein Jugendfreund Gefühl der Bedrohung durch
von des Altans Rand / Ein Sigbjørn (Pål Sverre Valheim) die unerbittlichen Elemente des
Brechts Ehren Handtuch von schöner Hand«. auf einem Handelsschiff im At- Meeres nahe. Der Verlust von
TEXTILIEN Die Kulturgeschich- Aber nein, es kam bekanntlich lantik. Nach dem Angriff eines gemeinsamer Lebenszeit steht
te ist bekanntlich ungerecht. anders. Doch was wusste Schil- deutschen U-Boots sind sie von im Mittelpunkt der Erzählung,
Und so wird man in einem ler schon von moderner Kör- den Kampfhandlungen betrof- und »War Sailor« zeigt, wie
deutschsprachigen Literatur- perhygiene? In seinem Drama fen. Alfreds Frau Cecilia (Ine grausam und weitreichend diese
lexikon unter H zwar Handke »Wilhelm Tell« hatte er 1804 Marie Wilmann) versucht mit Erfahrung für die Betroffenen
finden, aber nicht Handtuch. die Badewanne als lebensge- den Kindern in der Heimat, die ist. Eine kostbare, anrührende
Das liegt nicht allein daran, fährlichen Ort dargestellt – und Familie durch die schwere Zeit Botschaft – selten in Filmen die-
dass das Werk einer Dichterin damit offensichtlich den Ton zu bringen. In drei Akten er- ses Genres zu entdecken. FRN
oder eines Dichters dieses Na- gesetzt für alle Schriftstellerin-
mens selbst den Eingeweihten nen und Schriftsteller, die nach
bis heute völlig unbekannt ihm kamen. Wenn das Hand-
geblieben ist. Sondern auch da- tuch nun zum 125. Geburtstag
ran, dass das Handtuch als (es ist der 10. Februar) eines an-
Gegenstand in der Literatur- deren Dichters, Bertolt Brechts,
geschichte eine deutlich gerin- vom Augsburger Textil- und
gere Bedeutung hat als bei- Industriemuseum in einer Son-
spielsweise der Handschuh. Der deredition mit dem Konterfei
hat mit dem Handtuch zwar des Autors aufgelegt wird, kann
die erste Silbe gemein, wurde man das deshalb nur als längst
Roxana Reiss / Mer Film / DCM

anders als dieses aber von fällige Würdigung eines texti-


Friedrich Schiller in einer Bal- len Klassikers verstehen. Der
lade besungen, »Der Hand- Dargestellte selbst, man ahnt
schuh« heißt sie entsprechend. es, hat diese Ehre nicht ver-
Eigentlich eine Provokation, für dient. Auch in Brechts Werk
das Handtuch zumindest. Denn spielt das Handtuch nur eine Szene aus »War Sailor«
wie schön hätte das in Schillers unbedeutende Rolle. SHA

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 103


KU LT U R

Bettina Pittaluga

Schriftstellerin Ernaux

104 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


KU LT U R

»Ich wollte diesen Preis nicht«


SPIEGEL-GESPRÄCH Von der Arbeiterklasse bis zur höchsten Auszeichnung, die die Bourgeoisie zu
bieten hat: Annie Ernaux hat ihr Leben lang über ihre Herkunft geschrieben. Dafür bekam
sie den Nobelpreis. Hier spricht sie über Radikalität, Einsamkeit und ihr politisches Engagement.

Eine Stunde von Paris entfernt, in dem Ort muss ich mich gegen diese ganzen Anfragen Städtchen in der Normandie einen Laden und
Cergy, lebt die Schriftstellerin Annie Ernaux. behaupten. Ich bin nicht mehr Annie Ernaux. eine Kneipe eröffneten. Arm blieben sie ihr
Seit sie voriges Jahr den Nobelpreis erhalten Ich bin jetzt die Nobelpreisträgerin. Leben lang. Ernaux’ Bücher drehen sich immer
hat, ist sie weltbekannt. Umso unspektakulärer SPIEGEL: Aber am Briefkasten ist noch immer auch um ihre Herkunft. Sie schrieb eines über
wirkt ihr Zuhause. Ein schief hängender Brief- Ihr Name angeschrieben; das Tor zu Ihrem ihren Vater (»Der Platz«), über ihre Mutter
kasten mit per Hand geschriebenem Namen; Grundstück stand weit offen, als wir kamen. (»Eine Frau«), über ihre illegale Abtreibung
auf der Klingel ein Aufkleber: kaputt. Im Gar- Auf den ersten Blick wirkt Ihr Leben nach (»Das Ereignis«) und ihre früh verstorbene
ten steht eine Atlaszeder, drinnen empfängt wie vor sehr normal. Schwester (»Das andere Mädchen«). Ihre Texte
die 82-Jährige freundlich, aber reserviert. Sie Ernaux: Die Leute hier in Cergy sind nicht sind meistens autobiografisch und in einer sehr
lebt allein mit ihren beiden Katzen Zoë und aufdringlich, sie respektieren mein Bedürfnis nüchternen Sprache verfasst. Immer wieder
Sam und fühlt sich sichtlich unwohl bei all dem nach Ruhe. Heute Mittag bin ich in den Gar- beschreibt sie die Zerrissenheit, die es mit sich
Trubel, der um sie gemacht wird. Ihr Schreib- ten gegangen, um nach der Post zu sehen. Da bringt, wenn man zur »Klassenüberläuferin«
zimmer geht nach Norden raus, damit sie nicht kam ein Mann und meinte, mein Tor sei auf, wird, wie sie sagt.
vom Ausblick oder der Sonne abgelenkt wird. ob das so gewollt sei. Ich kannte ihn nicht, er
Dort sitzt sie, wenn möglich, jeden Tag ab neun stellte sich als Nachbar vor, er wohne in Num- SPIEGEL: Es gibt einen mittlerweile berühmten
Uhr morgens und schreibt mit der Hand. Zwi- mer 13. Das war’s. Satz, den Sie in Ihrer Dankesrede in Stock-
schen Mittel- und Zeigefinger hat sich vom Stift SPIEGEL: Der Nobelpreis stellt den Höhepunkt holm sagten. Er lautet: »Ich werde schreiben,
schon eine Kuhle gebildet, die nicht mehr weg- Ihres sozialen Aufstiegs dar. Ist das nicht auch um meine Rasse zu rächen.« Das klingt ge-
geht. Die Arthrose macht es auch nicht besser. eine Genugtuung? walttätig.
Wir setzen uns an den Tisch im Wohnzimmer, Ernaux: Natürlich ist da eine gewisse Genug- Ernaux: Ich habe diesen Satz bereits mit
von dem aus man auf einen Fluss blickt. Da tuung. Aber die hat nicht so sehr mit dem 22 geschrieben. »Rasse« stand damals für
hinten, sagt sie, könne man manchmal auch Preis zu tun, die gab es schon vorher. Wenn mich für »unterdrückte und verachtete sozia-
den Eiffelturm sehen. Ganz klein natürlich nur. mir jemand schreibt, dass mein Buch eine le Klasse«. Das Wort Klassenüberläufer exis-
Aber an diesem Tag nicht. Zu diesig. Sie spricht wichtige Rolle in seinem Leben spiele, dann tierte noch nicht. Ich hatte keine anderen
klar und konzentriert, und öfter als man es ist das eine Befriedigung. Der Nobelpreis ist Worte für das, was ich empfand. Auch mein
vermutet hätte, lacht sie. keine Weihe. Er ist eine Zäsur, es gibt nun ein erstes Buch, »Les armoires vides« (»Die lee-
Davor und ein Danach. ren Schränke«), entstand ohne soziologische
SPIEGEL: Madame Ernaux, wie lange hat es SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie mit Anfang Kenntnisse. Ich wollte beschreiben, wie mich
gedauert, bis Sie sich an den Gedanken ge- zwanzig in Ihr Tagebuch schrieben: »Wenn mein Studium von der Arbeiterwelt in die
wöhnt hatten, Nobelpreisträgerin zu sein? ich mit 25 noch keinen Roman veröffentlicht Bourgeoisie befördert hatte, wollte von der
Ernaux: Ziemlich lange. Ich habe ein sehr habe, bringe ich mich um.«? Ablehnung meiner Eltern und der erlebten
zurückgezogenes Schriftstellerinnendasein Ernaux: Ja, das stimmt. Was man halt so Scham erzählen. Ich hatte noch nicht den
geführt, abseits des Pariser Literaturbetriebs. schreibt als junges Mädchen. Aber das Schrei- Soziologen Pierre Bourdieu gelesen.
Und dann wurde ich von einem Tag auf den ben war meine größte Sehnsucht. SPIEGEL: Hat das Ihr Schreiben verändert?
anderen zu einer öffentlichen Person, auf ge- SPIEGEL: Woher kam diese Dringlichkeit? Ernaux: Natürlich. Bourdieu zu lesen war wie
wisse Art wurde ich meines Wesens beraubt. Ernaux: Ich glaubte, etwas zu sagen zu haben. ein Schock für mich. Auf einmal verstand ich,
Das entspricht mir nicht. Und es fällt mir Und ich suchte nach einer Form, wie ich es warum ich mich zwischen den bürgerlichen
schwer, mich gegen all diese Beanspruchun- sagen kann. Ich habe diesen Roman übrigens Studenten anders fühlte. Und warum ich da-
gen, das Eindringen in mein Leben zu wehren. geschrieben, nur wurde er nie veröffentlicht. mals diesen Satz schrieb, meine Rasse zu rä-
SPIEGEL: Am Abend bevor der Anruf aus Ich habe mich trotzdem nicht umgebracht und chen. Was ich intuitiv wusste, erklärte Bour-
Stockholm kam, schrieben Sie in Ihr Tage- habe über das nächste Buch nachgedacht. dieu wissenschaftlich. Und ich erkannte mich
buch: Wenn Sie den Preis bekämen, »stehlen in seinen Gesellschaftsanalysen wieder. Ich
sie mir mein Alter«. Hatten Sie solche Angst Ernaux’ Eltern mussten beide früh die Schule kannte die Kluft, die zwischen den Studenten
davor? verlassen. Der Vater arbeitete in der Fabrik, herrschte, die »Erben« waren. Und jenen, die
Ernaux: Ich wollte diesen Preis nicht, und die Mutter in einer Seilerei, bis sie in einem nur ein Stipendium hatten und aus dem Arbei-
dann habe ich ihn dennoch bekommen. Ich termilieu kamen.
hatte mir das Alter immer als einen Moment SPIEGEL: »Literatur ist nie neutral«, haben Sie
vorgestellt, in dem man frei ist und in Ruhe einmal gesagt. Sondern?
gelassen wird. Wo ich tun kann, was ich möch- Ernaux: Sie ist grundsätzlich politisch. Jedes
te. Schreiben kann, wann ich will. Aber jetzt Buch vermittelt ein Bild von Beziehungen
zwischen Menschen, von einem sozialen Mi-
Das Gespräch führten die Redakteurin Britta Sandberg
»Literatur ist lieu, in dem man die Sprache verortet. Es gibt
und der Redakteur Xaver von Cranach. grundsätzlich politisch.« Texte, die eine konservative Gesellschafts-

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 105


KU LT U R

sicht wiedergeben – und andere, die vador Allende zu besichtigen. Seit


diese infrage stellen. 2012 unterstützt sie den Linkspopulis-
SPIEGEL: Ihre Mutter sagte mal zu ten Jean-Luc Mélenchon, der eine
Ihnen: »Eines Tages wirst du uns ins Rückkehr zur Rente mit 60 fordert und
Gesicht spucken.« Hat Ihr Erfolg Ihre mit derzeit geltenden europäischen
Beziehung zu ihr beschädigt? Vereinbarungen brechen will. Ernaux
Ernaux: Meine Mutter hat den Wert hat Präsident Macron mehrmals öf-
von Literatur und damit auch meinen fentlich kritisiert, im zweiten Wahl-
immer anerkannt. Ich habe keine klas- gang wählte sie ihn dann trotzdem,
sisch weibliche Erziehung erhalten. weil sie die Gefahr von rechts für zu
Meine Mutter war eine Frau der Tat, groß hielt, beklagte aber, als Wählerin
sie führte einen Lebensmittelladen keine Wahl gehabt zu haben.
und erachtete das Leben einer Haus-
frau als unnütz. Sie ist mit zwölf von SPIEGEL: Sie unterstützen seit Lan-
der Schule abgegangen, aber sie lieb- gem die Linke um Jean-Luc Mélen-
te es zu lesen. Sie zog es vor, dass auch chon. Was verbindet Sie mit ihm?
ich lese, statt zu sticken, und vor allem Ernaux: Ich teile seinen Blick auf die

Privatarchiv Annie Ernaux


wollte sie, dass ich studiere. Wir wa- Gesellschaft und viele seiner Forde-
ren nicht reich, aber sie hat mir immer rungen. Er will diese Republik nicht
viele Bücher gekauft. Ja, sie hat ge- mehr, die per Verfassung einem
sagt, dass ich ihnen einmal ins Gesicht einzelnen Mann, dem Präsidenten,
spucken würde. Aber tatsächlich kam exzessiv viel Macht gibt. Das ist
diese Angst eher von meinem Vater. nicht mehr zeitgemäß in einer Epo-
SPIEGEL: Warum? schied, ob ich jemandem etwas erzäh- Autorin Ernaux che, in der die Bürger an den politi-
Ernaux: Er hatte das Gefühl, ich le, mit meiner Stimme, meinem Kör- um 1962 schen Entscheidungen beteiligt wer-
entfremde mich von ihm aufgrund per, zum Beispiel über diese gewalt- den möchten.
des Studiums. Er fühlte sich von mir tätige Geste, die mein Vater meiner SPIEGEL: Sie haben vor Kurzem ge-
beurteilt. Und ihm war dieser tiefe Mutter gegenüber ausübte, als ich sagt: »Ich bin 82 Jahre alt, aber der
Riss zwischen Arbeitern – er war län- zwölf Jahre alt war, oder über meine Kampf geht weiter.« Welchen Kampf
ger einer als meine Mutter – und einer Abtreibung. Oder ob ich diese Ereig- führen Sie?
kultivierten Welt sehr bewusst. nisse zum Thema eines Buchs mache. Ernaux: Ich kämpfe für soziale Ge-
SPIEGEL: War Ihre Mutter eine frühe Es bedeutet, vom Singulären zum rechtigkeit und gegen exzessive Pri-
Feministin? Generellen überzugehen, von einer vilegien, gegen bestehende Hierar-
Ernaux: Das war sie sicherlich. Aber individuellen Person zu einer körper- chien. Ich will, dass die Profite großer
als Jugendliche fand ich sie zu dick und losen Stimme, der Stimme des Buchs. Unternehmen begrenzt werden und
ihre Stimme zu laut. Ich spreche sehr SPIEGEL: Irritiert es Sie noch, wenn dass sich der Blick auf die Gesell-
leise, was kein Zufall ist. Ich hatte eine Sie verrissen werden? Nach der No- schaft ändert. Deshalb habe ich auch
Cousine zum Vorbild, die eine eher belpreisernennung schrieb die Tages- die Gelbwestenbewegung unter-
zarte Stimme hatte und versuchte, vor- zeitung »Le Figaro«, Ihre Prosa stehe stützt. Ich fand es gut, dass die Ver-
nehm zu sein. Meine Mutter war wie »im Zeichen einer semantischen Ar- gessenen und die Verachteten ihre
ein Gegenentwurf zu den Frauen in mut und einer minimalen Syntax, die Meinung äußerten, zeigten, dass sie
Magazinen oder den Müttern meiner in den Dienst einer egoistischen Er- ein politisches Bewusstsein hatten,
Klassenkameradinnen. Ich habe erst zählung gestellt wird«. auch wenn sie keiner Partei angehör-
sehr viel später verstanden, was für Ernaux: Seit 30 Jahren attackiert eine ten, nie zuvor in ihrem Leben
eine unabhängige Frau sie war. bestimmte rechtskonservative Presse demonstriert hatten. Es war, als hät-
SPIEGEL: Ihr erstes Buch, »Les ar- meine Texte. Das hat mich noch nie ten sie einen Schnellkurs in politi-
moires vides« schrieben Sie im Ge- getroffen. scher Bildung belegt.
heimen. Weder Ihr Mann noch Ihre SPIEGEL: Werden Ihre Bücher in SPIEGEL: Waren Sie von Anfang an
Mutter wussten davon, dabei waren Frankreich nach wie vor als Angriff für die Gelbwestenbewegung, die
die beiden Protagonisten. Macht Ihre auf die soziale Ordnung und auf die Ende 2018 die Kreisverkehre der Re-
Art zu schreiben einsam? traditionelle Literatur empfunden, publik besetzte, um gegen eine ge-
Ernaux: Natürlich exponiert man sich oder ist das vorbei? plante Erhöhung der Benzinpreise zu
beim autobiografischen Schreiben Ernaux: Ich befürchte, es ist immer protestieren?
mehr als bei der Fiktion, sich selbst noch so. Und die eben zitierte Kritik, Ernaux: Absolut. Weil ihre Forderun-
und die anderen. In diesem ersten wie viele andere nach dem Nobel- gen so grundsätzlich und richtig wa-
Buch habe ich über unaussprechliche preis, belegt es. Und beweist zugleich, ren: Sie wollten endlich zählen, keine
Dinge geschrieben. Über die Bezie- dass meine Bücher nach wie vor eine anonyme Masse mehr sein. Sie woll-
hung meiner Eltern, über meine Mut- bestimmte politische Richtung als ten angehört und ernst genommen
ter insbesondere, über meine Abtrei- auch die Anhänger einer traditions- werden. Und das ist ihr gutes Recht.
bung. Die Einsamkeit und das Schrei- bewussten Literatur stören. Aber Diese Regierung behandelt die Leute
ben im Geheimen haben es erst mög- auch das irritiert mich nicht, ganz im wie Kinder.
lich gemacht, dass ich dieses Projekt Gegenteil. Ich will nicht so schreiben SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
bis zu Ende geführt habe. wie alle anderen.
»Macron Ernaux: Ich mag nicht, wie Macron
SPIEGEL: Haben Sie je Angst gehabt, regiert auto­ mit den Leuten umgeht. Nehmen Sie
zu viel Privates in Ihren Büchern Ernaux engagiert sich seit Langem ritär und ohne nur die geplante Rentenreform. Jene,
preiszugeben? politisch. Anfang der Siebzigerjahre die dagegen protestieren, haben die
Ernaux: Nein, ich tue es ja freiwillig. reiste sie nach Chile, um das sozialis- Empathie Reform laut Macron und seinen Mi-
Und es gibt einen riesigen Unter- tische Experiment von Präsident Sal- für das Volk.« nistern nur nicht richtig verstanden.

106 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


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Die Regierung sagt: »Wir müssen es ihnen es zu beweinen. Ich glaube, es könnte schlim- Staates infrage gestellt. Ich habe auch keine
noch mal erklären, damit sie die Vorteile ver- mer werden als in Italien. Schauen Sie doch, Petitionen gegen Israel unterzeichnet, son-
stehen.« Als ob die Menschen nicht am besten wie sie schon jetzt unser Parlament vergiftet, dern nur solche, die sich gegen bestimmte
in der Lage wären, das Glück oder Unglück mit den vielen Abgeordneten, die sie hat. Man Programme oder Veranstaltungen wendeten.
ihres Lebens zu beurteilen. Ich empfinde das sollte nicht vergessen, dass es der Wunsch SPIEGEL: Sie protestierten gegen die Austra-
als eine Beleidigung. Macrons war, in der Stichwahl erneut Le Pen gung des Eurovision-Preises in Tel Aviv, und
SPIEGEL: Macrons Reform sieht vor, das als Gegnerin zu haben. Er wollte sicher sein, Sie wollten ein französischisraelisches Kultur-
Renteneintrittsalter bis 2030 stufenweise von dass sich die Franzosen für ihn entscheiden. programm verhindern.
derzeit 62 Jahren auf 64 anzuheben. In an- SPIEGEL: Geben Sie Macron jetzt auch noch Ernaux: Ich setze mich für das palästinensische
deren Ländern ist das längst geschehen. Sind die Schuld am Erfolg von Marine Le Pen? Volk und die Rechte der Menschen ein, die in
Sie auch eine Gegnerin der Rentenreform – Ernaux: Er hat aus wahltaktischen Gründen den besetzten Gebieten leben. Deshalb habe
immerhin arbeiten Sie mit 82 Jahren noch ein gefährliches Spiel gespielt und damit der ich diese Petitionen unterzeichnet. Ich glaube,
immer? extremen Rechten um Le Pen noch mehr Ein- ich muss mich da für nichts rechtfertigen.
Ernaux: In meinem Beruf als Lehrerin habe fluss verschafft. SPIEGEL: Sie waren zeit Ihres Lebens politisch
ich mit 60 Jahren aufgehört. Ich habe das SPIEGEL: Hat Macron Ihnen eigentlich zu aktiv, wie vor Kurzem im Kino zu sehen war
Schreiben nie als Beruf angesehen, eher wie Ihrem Preis gratuliert? in einem Film, den Sie aus privaten Super-
ein lebenslanges persönliches Engagement. Ernaux: Er hat mir zwei Wochen nach der 8-Aufnahmen zusammengeschnitten haben.
Für mich ist es normal, mich dem auch mit Verkündung einen Brief hier nach Hause In Ihren Büchern nehmen Sie oft Bezug auf
82 Jahren noch so lange wie möglich zu wid- geschickt, nicht besonders persönlich, aber Fotos aus Ihrer Vergangenheit. Sind Sie ein
men. Aber das ist meine freie Entscheidung. es gab immerhin diese Geste von ihm. nostalgischer Mensch?
SPIEGEL: Warum empfinden Sie es wie viele SPIEGEL: Sie wenden sich seit Jahren gegen Ernaux: Nicht nostalgisch, sondern melancho-
Franzosen als eine solche Zumutung, erst mit Israel, Sie haben mehrere Petitionen unter- lisch. Das ist nicht dasselbe. Nostalgische
64 in Rente gehen zu können? schrieben, die sich gegen das Land wenden. Menschen sehnen sich in die Vergangenheit
Ernaux: Ich glaube, es liegt an unserem Ver- Ernaux: Um eines klarzustellen, weil es in die- zurück. Melancholiker wie ich sehen die Zeit
hältnis zur Arbeit. Angestellte und Arbeiter ser Hinsicht viel unberechtigte Kritik gab: Ich an sich vorbeiziehen, aber sie idealisieren sie
haben in Frankreich weniger Möglichkeiten habe nie das Existenzrecht des israelischen nicht. Fotos sind wichtig für mich, weil sie
der Mitbestimmung. Die Leute haben oft einen Moment einfrieren und das Ablaufen
keine Beziehung mehr zu dem Unternehmen, der Zeit zeigen. Sie dokumentieren das Leben
in dem sie arbeiten. Viele mögen ihre Arbeit wie den Tod.
nicht. Und nun nimmt man ihnen auch SPIEGEL: Ihre Eltern und Ihre Schwester sind
noch die Gewissheit, zu einem bestimmten auf einem Friedhof in Yvetot in der Norman-
Zeitpunkt aufhören zu können. Das ist sehr die begraben, wollen auch Sie dort einmal
gewalttätig. liegen?
SPIEGEL: Werden Sie gegen die Reform wieder Ernaux: Auf keinen Fall. Ich wollte weg von
auf die Straße gehen, wie im Oktober, als diesem Ort, da werde ich nicht am Ende mei-
Sie am »Marsch gegen das teure Leben« teil- nes Lebens dorthin zurückkehren. Ich habe
nahmen? schon vor zwölf Jahren eine Konzession
Ernaux: Nein, aber nur, weil ich nicht mehr für ein Grab auf dem alten Dorffriedhof von
so gut gehen kann. Im Oktober habe ich üb- Cergy gekauft.
rigens auch nur wenige Meter geschafft. Und SPIEGEL: Würden Sie von sich sagen, dass Sie
ich habe nicht als designierte Nobelpreisträ- Ihre eigene Herkunft überwunden haben –
gerin an dieser Demonstration teilgenommen, geht das überhaupt, die Herkunft hinter sich
sondern als solidarische Bürgerin. lassen?
SPIEGEL: Sie haben während der Pandemie Ernaux: Ich habe in zwei Welten gelebt, in der
einen offenen Brief an Emmanuel Macron Arbeiterklasse und in der Welt der Bour-
geschrieben, in dem Sie ihm vorwarfen, taub geoisie. Entscheidend ist, wie viel man sich
gewesen zu sein gegenüber den Alarmrufen von seiner ersten Welt bewahrt. Bei mir ist
aus dem Gesundheitswesen. Ist wirklich alles sie sehr präsent, auch weil ich sie zum Thema
schlechter geworden, seit er im Élysée ist? meiner Bücher gemacht habe. Und wenn ich
Ernaux: Es ist auf jeden Fall nichts besser mich umschaue, sehe ich immer noch diese
geworden. Was mich aber am meisten stört, erste Welt. Ich fühle mich ihr näher als jener,
ist Macrons Vorstellung von Macht. Seit er in der ich mich weiterentwickelt habe.
im Élysée ist, regiert er autoritär und ohne SPIEGEL: Was überraschend ist.
Empathie für das Volk. Wenn man ihn mit Ernaux: Nicht in meinen Augen. Die erste
seinen Vorgängern vergleicht, selbst mit dem Welt bleibt die der Kindheit, mit allen Er-
Konservativen Nicolas Sarkozy, ist Macron innerungen, mit der Art, zu empfinden. Ich
derjenige, der am weitesten entfernt ist von betrachte die Welt, in der ich nun lebe, eher
den Franzosen. Und der eindeutiger als alle mit den Augen eines Ethnologen.
anderen ein Präsident der Reichen ist. SPIEGEL: Was haben Sie eigentlich mit dem
SPIEGEL: Die Rechtspopulisten unter Marine Geld gemacht, das mit dem Nobelpreis ein-
Les Films Palléas (3)

Le Pen sind bei den Präsidentschaftswahlen hergeht – knapp 900 000 Euro, ziemlich viel
im vergangenen Jahr der Macht näher ge- für jemanden aus der ersten Welt?
kommen als je zuvor. Gehören Sie zu jenen, Ernaux: Ich habe es noch nicht abgeholt, weil
die trotzdem sagen, Le Pen werde nie in den ich wirklich nicht weiß, was ich damit machen
Élysée einziehen, oder halten Sie das 2027 soll. Man hat ein Jahr Zeit, um sich das zu
für möglich? Szenen von 1972 bis 1981 aus dem Film überlegen. Noch bin ich nicht so weit.
»Die Super-8 Jahre«, 2022: Literatin
Ernaux: Ich habe große Angst, dass es so kom- Ernaux mit Kindern am See, am Schreibtisch, SPIEGEL: Madame Ernaux, wir danken Ihnen
men könnte. Und dann wird es zu spät sein, mit ihrer Mutter in den Bergen für dieses Gespräch. n

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reicher Popsänger, später ein berühm­


ter Radiomoderator in Kanada. Mit
19 Jahren findet sie sich in einem
Hotelzimmer mit Harvey Weinstein
wieder. Er werde sie zu einem Star

Der Angst entgegen machen, wenn sie sich auf ein »enges
Verhältnis« mit ihm einlasse.
Jetzt, mit 44 Jahren, sitzt Polley in
einem von der Mittagssonne durch­
KINO Krankheit, Missbrauch, ein schrecklicher Unfall – was Schauspielerin und fluteten Arbeitszimmer, das sie sich
in einem Schuppen hinter ihrem Haus
Regisseurin Sarah Polley erlebt hat, reicht für fünf Leben. Ihre Erfahrungen in Toronto eingerichtet hat. Im Haupt­
nutzt sie, um weise Filme wie das #MeToo-Drama »Die Aussprache« zu machen. haus wohnt sie mit ihrem Mann und
den gemeinsamen drei Kindern. Pol­
ley spricht via Zoom angeregt über
it 36 Jahren fällt der kana­ Filmemacherin Mit 14 Jahren zieht Polley von zu »Die Aussprache«. Die zwei Oscar­
M dischen Schauspielerin und
Regisseurin Sarah Polley ein
Feuerlöscher auf den Kopf, einfach
Polley: »Was man zu
sagen hat, muss man
zusammentragen«
Hause aus, ihre Mutter ist drei Jahre
zuvor an Krebs gestorben, der Vater
lässt vor Trauer das Familienhaus
nominierungen, die sie dafür erhalten
wird – eine für den besten Film, eine
für das beste adaptierte Drehbuch –,
so, in einer Umkleidekabine in einem verwahrlosen. Das Geld, das sie zu sind zum Zeitpunkt unseres Ge­
Schwimmbad. Sie erleidet ein so schwe­ dieser Zeit als Hauptdarstellerin in sprächs noch einige Wochen entfernt.
res Schädeltrauma, dass die nächsten der historischen Familienserie »Avon­ Polley schwärmt von Miriam Toews’
drei Jahre ihres Lebens auf ein Mini­ lea – Das Mädchen aus der Stadt« Buchvorlage für den Film, die »wie
mum von Aktivitäten zusammen­ verdient, reicht aus, um für den eige­ eine Kugel« durch sie hindurchge­
schrumpfen. Sie empfindet Schmerz nen Lebensunterhalt zu sorgen. Mit gangen sei, und den Regisseurinnen
bei hellem Licht, kann sich nicht auf 15  Jahren verschlimmert sich ihr und Regisseuren, für die sie nach
Gespräche konzentrieren, hat Mi­ Wirbelsäulenleiden so sehr, dass ihr 14 Jahren Schauspielpause wieder vor
gräneattacken, muss Projekte wie die zwei Metallsäulen zur Stabilisierung die Kamera trat (Isabel Coixet, Atom
Neuverfilmung von »Little Women« einoperiert werden und sie fast ein Egoyan, Wim Wenders).
absagen. Dann findet sie einen Spe­ ganzes Jahr liegend verbringen muss. Ihren ersten Spielfilm, »An ihrer
zialisten, der ihr den Rat gibt, sie solle Mit 16 Jahren wird sie Opfer eines Seite«, dreht sie mit 27 – er handelt
der Gefahr entgegenlaufen. Nur wenn sexuellen Übergriffs durch Jian von einer an Alzheimer erkrankten
sie die Tätigkeiten, die sie aus Angst Ghomeshi, damals ein semierfolg­ Seniorin, die ihren langjährigen Part­
vor weiteren Schmerzen bislang ver­ ner vergisst. Für den Film wird Polley
mieden habe, aktiv suche, könne sie zum ersten Mal für den Oscar für das
ihr Gehirn dazu bringen, wieder so wie beste adaptierte Drehbuch nominiert.
vor dem Unfall zu funktionieren. Ihr Dokumentarfilm »Stories We
»Run Towards the Danger«, der Tell« von 2012 über die Geheimnisse
Gefahr entgegenlaufen, hat Sarah ihrer berühmten Eltern, die Schau­
Polley das Buch mit autobiografi­ spieler Diane und Michael Polley,
schen Essays genannt, das sie schrei­ wird vom Toronto Film Festival zu
ben konnte, als das Schädeltrauma einem der zehn besten kanadischen
geheilt war. Es ist 2022 im englisch­ Filme aller Zeiten gewählt – in einer
sprachigen Raum erschienen, einige Reihe mit »Das süße Jenseits« von
Monate vor der Premiere ihres neuen Atom Egoyan, in dem Polley als
Films »Die Aussprache«, ihrer vier­ 17­Jährige eine Hauptrolle gespielt
ten, brillanten Langfilmregiearbeit. hat. »Sarah spielt Film so, wie Mozart
Am 9. Februar kommt die nun auch Klavier gespielt hat«, hat Schrift­
in die deutschen Kinos. Buch und stellerin Margaret Atwood, eine an­
Film sind nicht nur durch die paral­ dere sehr geschätzte Kanadierin, ein­
lele Entstehungszeit eng miteinander mal gesagt.
verbunden. Beide Arbeiten zeigen Unser Interview ist in vollem Gan­
auch, wie es aussieht, wenn jemand ge, als am unteren Rand von Polleys
der Gefahr entgegenläuft und da­ Bildschirm ein voll beladener Teller
durch stark wird. mit Braten und Beilagen erscheint.
Aber dazu mussten die Gefahren Die älteste Tochter hat Reste von ges­
erst auf Polley zulaufen. tern Abend warm gemacht und ihrer
Als sie neun Jahre alt ist, spielt sie Mutter in den Schuppen gebracht.
in Terry Gilliams »Die Abenteuer des Begeistert nimmt Polley das Essen
Baron Münchhausen« mit und wird entgegen.
Chantal Anderson / NYT / Redux / laif

am Set wild gewordenen Pferden, un­ Das Leben, das sie jetzt führt,
kontrollierten Pyroeffekten und zahl­ scheint wenig mit dem Leben gemein
losen Überstunden ausgesetzt, ohne zu haben, das hinter ihr liegt. Aber
dass jemand einschreitet. Noch Jahre beide zusammenzuführen, das eine
später begegnet sie Crewmitgliedern, Leben, in dem die Gefahren auf
die in Tränen ausbrechen, weil sie der Polley zugelaufen sind, und das an­
Anblick des vor Panik kreischenden dere, in dem sie ihnen begegnet ist,
Kindes traumatisiert hat. ist Polley mit »Die Aussprache« ge­

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lungen. Der Film handelt nämlich von der


Gewalt, der Frauen ausgesetzt sind, und
den Optionen, die sie haben, um mit dieser
Gewalt umzugehen. Angesichts ihrer Erfah-
rungen mit Ghomeshi und Weinstein ist es
natürlich ein persönlicher Film geworden –
und gleichzeitig ein viel größerer, allgemein-
gültiger.
»Die Aussprache«, im englischen Original
»Women Talking« genannt, basiert auf dem
gleichnamigen Roman von Miriam Toews,
dem wiederum wahre Begebenheiten zugrun-

Michael Gibson / Orion Releasing LLC / Universal


de liegen. In einer mennonitischen Kolonie
in Bolivien wurden zwischen 2005 und 2009
mehr als 100 Frauen nachts mit Betäubungs-
mitteln gefügig gemacht und vergewaltigt. Die
Verletzungen erklärten sich die Einwohner
wahlweise mit Dämonen, die über die Frauen
hergefallen seien, oder mit »der wilden weib-
lichen Fantasie«.
Erst als ein Vergewaltiger geschnappt wur-
de, flog die Verschwörung auf. In der Realität
wurden acht Männer aus der Kolonie zu lan-
gen Haftstrafen verurteilt. Buch und Film Szene aus »Die Aussprache«: Es geht um die Art, wie wir Demokratie ausüben
imaginieren dagegen eine andere Art von
Prozess: Während die beschuldigten Männer als Zwölfjährige legt sie sich mit dem mäch- konnten, falls sie über eigene Verletzungen
in Untersuchungshaft sitzen, kommen die tigen Disney-Konzern an, als der ihr verbieten sprechen wollten.
Frauen für zwei Tage zusammen, um zu be- will, bei der Premiere von »Avonlea« aus »Sonst macht es mir nicht so viel Spaß,
ratschlagen, wie es für sie in der Kolonie wei- Protest gegen den Zweiten Golfkrieg mit über meine Filme zu reden«, sagt Polley.
tergehen soll: bleiben und nichts tun, für Ver- einem Friedensabzeichen auf dem roten Tep- »Aber bei diesem bleiben viele Leute hängen
änderungen kämpfen oder gehen? Was rät pich zu erscheinen. Sie setzt sich über die und fangen an, mir von sich und ihren Erfah-
ihnen ihre Religion, was ihr eigener Verstand? Bedenken hinweg und trägt das Badge. Später rungen zu erzählen.« Dabei ist »Die Ausspra-
Die Aussprache beginnt. Der Ausgang? Völlig engagiert sie sich für die Wahlkämpfe der che« keinesfalls didaktische Anleitung zum
ungewiss, das macht den Film so spannend links gerichteten Ontario New Democratic Herzausschütten. Vielmehr ist der Film von
wie einen Thriller. Party und bringt sich lautstark in die Debatten einem starken Stilwillen geprägt, der konser-
Die Resonanzen, die »Die Aussprache« um Machtmissbrauch ein, einmal als es um vativere Oscarstimmberechtigte von noch
angesichts #MeToo hat, sind deutlich zu die Vorwürfe gegen Ghomeshi geht, dann als mehr Nominierungen – nicht zuletzt für Pol-
vernehmen. Geradezu prototypisch stehen Harvey Weinstein entlarvt wird. Ihr selbst leys Regieleistung – abgeschreckt haben dürf-
die Figuren aus dem exzellent besetzten En- war damals im Hotelzimmer nichts passiert. te. Ein starker Sepiastich in den Bildern ver-
semble für die verschiedene Art und Weise, Weil jemand von der Produktionsfirma darauf dichtet sich mit den langen Kleidern und
mit sexualisierter Gewalt umzugehen. bestand, sie nicht mit Weinstein allein zu las- strengen Frisuren der Frauen zu einem irri-
Scarface Janz (Frances McDormand) hat in sen. Und weil sie, so Polley in einem Beitrag tierenden Eindruck von Zeitlosigkeit. Die
ihrem Leben zu viel erduldet, als dass sie jetzt für die »New York Times« kurz nach den ers- Kamera, geführt von Luc Montpellier, gleitet
noch an Erneuerung glauben könnte. Salome ten Enthüllungen, nicht so sehr an einer Kar- durch weite Kornfelder und findet dort immer
(Claire Foy) ist dagegen so wütend, dass sie riere als Schauspielerin interessiert war, als wieder eine bombastische Totale.
mit dem Beil auf die Männer losgehen könn- dass sie sich von Weinstein abhängig fühlte. Die Inspiration für die wuchtige Kamera-
te. Für Ona (Rooney Mara), die durch eine Indirekt hatte Weinstein dennoch Einfluss arbeit, erzählt Polley, sei ihr in den zehn Jah-
Vergewaltigung schwanger geworden ist, steht auf ihre Karriere, denn ihre schlechten Er- ren gekommen, in denen sie weder Regie
fest, dass sie ihr Leben in völliger Eigenver- fahrungen mit Regisseuren und Produzenten geführt noch geschauspielert, sondern ein-
antwortung leben möchte – selbst wenn das brachten sie schließlich dazu, mit der Schau- fach nur Filme geguckt habe. Ihr sei bei den
bedeutet, auf die Liebe eines ehrbaren Man- spielerei aufzuhören. Im Gegenzug veränder- großen alten Heldenepen aufgefallen, wie
nes zu verzichten. Wie sollen die Frauen sich te sie ihre Arbeit als Regisseurin. Die Drehs nonchalant die Kamera bereits Erzähltes
darauf einigen können, was am besten für sie müssen familienfreundlich gestaltet sein, mit noch mal betont und wichtige Punkte unter-
und für ihre Kinder ist? verträglichen Arbeitszeiten und vertrauens- strichen habe. »Was die Geschichten von
»Für mich hat die Geschichte etwas von voller, sicherer Atmosphäre. Für »Die Aus- Frauen betrifft, haben wir diese unglaublich
einer Fabel«, sagt Polley. »Es geht ja nicht nur sprache« brachte sie eine klinische Psycho- reichhaltige filmhistorische Tradition aber
um sexualisierte Gewalt, sondern auch um login mit Schwerpunkt Traumatisierung durch nicht. Ich fand es deshalb in Ordnung, zu-
spirituelle und philosophische Fragen und die Missbrauch mit ans Set, an die sich Cast und rückzukehren und diese epische Filmsprache
Art, wie wir Demokratie ausüben.« So wie Crew bei Fragen und mit Redebedarf wenden wieder aufzugreifen.«
die Frauen sich in ihrer Unterschiedlichkeit Auf ihren nächsten Film müsse man nicht
begegnen und miteinander reden würden, das wieder zehn Jahre warten, versichert Polley
käme demokratischen Idealen wirklich nahe. am Schluss unseres Gesprächs. Allzu schnell
»Die Idee, dass wir für eine funktionierende darf es ihrer Meinung nach aber nicht gehen.
Demokratie nicht mehr leisten müssen, als »Sarah spielt Film »Sonst kannst du in der Zwischenzeit nicht
einmal alle vier Jahre zu wählen, ist doch so, wie Mozart genug Leben anhäufen. Was man zu sagen
eigentlich eine Beleidigung.« hat, muss man zusammentragen. Das kann
In ihrer Heimat Kanada ist Polley auch für Klavier gespielt hat.« man sich nicht ausdenken.«
ihr politisches Engagement bekannt. Schon Margaret Atwood, Schriftstellerin Hannah Pilarczyk n

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Im ewigen Jetzt
LIBANON Korruption, Wirtschaftskrise, eine ungeheure Explosion – Beirut ist im
Niedergang. Einige junge Künstlerinnen und Künstler sind trotzdem geblieben
und versuchen, das Gedächtnis der Stadt zu bewahren. Von Xaver von Cranach

2 3

Maria Klenner / DER SPIEGEL (4)

3
1 | Ausblick aufs Mittelmeer vom ehemaligen Excelsior-Hotel aus 2 | Nachgebauter Eingang des Nachtklubs Les Caves du Roy im Museum
3 | Restauriertes Gebäude Beit Beirut mit Einschusslöchern

110 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


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u den vielen Dingen, die man etwas weiteren Architektin: Mona El Hallak. El Hal-
Z verdutzt zur Kenntnis nehmen muss,
wenn man sich in Beirut aufhält, der
Hauptstadt des Libanon, gehört diese Infor-
»Wir leben zwischen einer
Vergangenheit, die nicht
lak ist so etwas wie Jallads Mentorin. Seit dem
Ende des Bürgerkriegs war sie oft hier und
hat mitgenommen, was sie finden konnte.
mation: In den Schulgeschichtsbüchern ist
stirbt, und einer Zukunft, Möbel, Fotos, Negative, Kleidungsstücke.
nach 1943 offiziell nichts mehr passiert. Die die gelöscht wurde.« Wer weiß, dachte sie, vielleicht kann man es
Geschichte endet einfach. Ende des franzö- Nadim Mishlawi, Filmemacher ja mal brauchen.
sischen Mandats, Beginn der Unabhängig- Über das Excelsior haben die beiden Frau-
keit, grüne Zeder auf rot-weißer Flagge. Und en sich kennengelernt. Denn Jallad hat ihre
Schluss. Nichts steht da von einer »goldenen Doktorarbeit über ein Ereignis geschrieben,
Ära« in den Sechziger- und Siebzigerjahren. oder fast keine staatlichen Strukturen gibt, das in Beirut zwar jeder kennt, von dem aber
Nichts vom Bürgerkrieg, der das Land 15 Jah- wie so oft im Libanon. niemand so richtig weiß, wie genau es abge-
re lang heimsuchte. Nichts vom Wieder- Nach dem Krieg wurden ganze Wohn- laufen ist: die »Hotelschlacht«. Während des
aufbau. viertel dem Erdboden gleichgemacht, die Bürgerkriegs verschanzten sich die verfein-
Im Libanon gibt es 18 anerkannte Reli- Innenstadt komplett umgestaltet, moderne deten muslimischen und christlichen Milizen
gionsgemeinschaften. Der Bürgerkrieg von Glastürme gebaut. Angeblich um die Stadt in den gerade neu gebauten Hotels, weil die
1975 bis 1990 endete mit einer Amnestie für wiederzubeleben. Die Kritiker sagen: um hohen Gebäude strategisch günstig waren.
alle Warlords. In manchen Stadtteilen Beiruts ausländisches Geld reinzuholen und die Spu- Fünf Monate lang tobte die Hochhauschlacht.
regiert die Hisbollah, in anderen bekommt ren des Kriegs zu verwischen. Niemand er- Mitten drin: das Excelsior.
man nachts um vier noch einen Gin Basil innert sich gern an die eigene Niederlage und Jallad will aus ihrer Doktorarbeit jetzt ein
Smash in einer queeren Bar. Der Libanon ist noch weniger an die eigenen Gräueltaten und Buch machen, nicht zu akademisch, sondern
nicht zersplittert. Es gibt viele Splitter, die Massaker. »Sie nannten es Wiederaufbau«, eine zugängliche Geschichte über dieses wich-
sich Libanon nennen. sagt Jallad. »Ich nenne es Zerstörung.« tige Ereignis. Sie wird zeitgleich ein Album
Geschichte, heißt es, werde von Siegern Jallad steigt über Glas und Ziegel, herab- veröffentlichen, mit Liedern, die jeweils
geschrieben. Umgekehrt bedeutet das: Wenn gestürzte Deckenteile, Müll, den wahrschein- einem der Hotels gewidmet sind. Wenn alles
es keinen Sieger gibt, schreibt auch keiner. lich Obdachlose hinterlassen haben. Es ist klappt, dann stehen hier bald 100 Leute im
Dann wird die Gegenwart nicht zu Geschich- dunkel, weil die meisten Fenster mit Brettern Pool des Excelsior, sehen den blühenden
te werden. Keine Wirtschaftskrise. Keine vernagelt sind. Jallad bahnt sich einen Weg Oleander und hören einen ihrer Songs. In
Explosion von 2750 Tonnen Ammoniumnit- bis zum Innenhof. Hier erstreckt sich das, was einem heißt es:
rat im Hafen, die ganze Viertel verwüstete. vom Pool noch übrig ist. Es gibt alte Fotos, Hier gibt es ein Krankenhaus, aber ich sehe
Kein Exodus. auf denen man Frauen im Bikini sieht, die sich es nicht / Hier ist ein Hotel, es füllt den Himmel
In Beirut zu leben bedeutet, im ewigen am Rand des von Palmen umgebenen, blau Es gibt einen Scharfschützen, er fällt in den
Jetzt zu leben. Das ewige Jetzt kann ein Ver- glitzernden Schwimmbads sonnen. Die Pal- Raum / Es gibt Geister hier und die Mörder,
sprechen sein, wenn es einem gut geht. Das men stehen immer noch. Ansonsten ist das frei und lebendig unter uns
ewige Jetzt wird aber zur Hölle, wenn dem eher ein Dschungel als ein Garten, mit riesi-
nicht so ist. Und in einem Land, in dem stän- gen Oleandersträuchern und Olivenbäumen, »Als ich hier aufgewachsen bin, habe ich im-
dig der Strom ausfällt, das Geld täglich an durch die man sich den Weg bahnen muss. mer gefühlt, dass an diesem Ort etwas
Wert verliert und der Staat nur noch als Hül- Nur wo einst Wasser war, suppt brauner Schreckliches passiert sein muss«, sagt sie.
le existiert, muss man jeden weiteren Schlag Schlick vor sich hin, vom Rand her wächst »Aber ich hatte keine Ahnung, was. Unsere
als unentrinnbares Schicksal verstehen. ein gewaltiger Gummibaum ins Becken, die Eltern reden nicht über den Krieg. Sie wollen
Was, wenn man dieses Schicksal nicht ak- Wurzeln haben sich wie in einem Gemälde sich nicht erinnern.« Wenn sie ihre Eltern
zeptieren will? von Salvador Dalí wachsweich über den Be- nach dem Krieg gefragt habe, hätten die im-
»Wir sind die Generation ohne Gedächt- ckenrand ergossen. mer nur kleine Bruchstücke erzählt. »Sie
nis«, sagt Mayssa Jallad. Sie steigt durch ein Jallad ist an diesem Tag nicht allein her- erzählen dir nie die ganze Geschichte. Weil
Loch in der Wand, während sie das sagt. Ein gekommen, sondern zusammen mit einer sie sie selbst wahrscheinlich nicht einmal
Loch, durch das man, so scheint es, in eine kennen.«
andere Dimension gelangt, in der die Zeit ste- Der Krieg, in dem sich zunächst Muslime
hen geblieben ist. Das Excelsior-Hotel zählte und Christen, schnell aber verschiedenste
mal zu den angesagtesten Adressen in der Splittergruppen bekämpften, ist im heutigen
Stadt. In den späten Fünfzigerjahren gebaut, Beirut immer noch präsent, auf unterschied-
mit Pool, Palmen und Blick auf das Mittel- lichen Ebenen. Da sind die Einschusslöcher
meer. »Alle reden immer vom goldenen Zeit- an den Fassaden der Häuser. Da ist aber auch
alter Beiruts«, sagt Jallad. »Das hier war das das politische System, das vom Ende des
Epizentrum.« Im Keller des Hotels feierten Kriegs geprägt ist: Um keine Volksgruppe zu
jene, die es sich leisten konnten, im legendären verärgern, wurde die politische Macht genau
Nachtklub Caves du Roy, den Kellern des Kö- aufgeteilt. Der Präsident ist traditionell
nigs. Der modernistische Bau war ein Ver- ein maronitischer Christ, der Regierungschef
sprechen auf eine bessere Zukunft. Heute ist ein sunnitischer Muslim und der Parlaments-
klar, dass das Versprechen gebrochen wurde. präsident ein Schiit. Wegen der generellen
Mayssa Jallad wurde 1990 geboren, in dem Amnestie haben die Milizenführer von da-
Jahr, als der Bürgerkrieg endete. Ein Kind des mals auch heute das Sagen. Und da ist noch
Neuanfangs, eigentlich. Sie studierte Archi- etwas anderes, eine diffuse Anwesenheit
tektur in Beirut, die kaputten Gebäudehüllen des Kriegs.
hätten sie schon immer fasziniert, sagt sie. Im Excelsior zeigt sie sich, als die beiden
Anschließend ging sie nach New York, um Frauen den Ausblick vom Dach aus anschau-
sich auf Denkmalschutz zu spezialisieren. en wollen. Sie steigen vorsichtig die Treppe
Heute bezeichnet sie sich als Denkmalschutz- hoch, Jallad stolpert. El Hallak sagt, daran
aktivistin, weil es für das, was sie tut, keine Sängerin Jallad sehe man, dass sie beide aus unterschied-

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lichen Generationen kämen. »Wie im Gegenteil. »Basta ist abstoßend«, und einer Zukunft, die gelöscht wur-
viele Stufen hat die Treppe?«, fragt sagt er. Sondern weil hier alles de«, sagt er. Weil sich alles wieder-
sie Jallad. Sie weiß es nicht. »Sieben gleichzeitig existiert. Verschiedene holt? Nein, das eben nicht. Denn um
Stufen, Absatz, sechs Stufen, Absatz, Religionen, verschiedene soziale sich zu wiederholen, müsste etwas
sieben Stufen, Absatz, sechs Stufen Schichten und verschiedene Zeitebe- ja erst mal vorbei sein. »Aber wie
und so weiter«, sagt El Hallak. nen. Basta ist das Viertel der Anti- soll etwas vorbei sein, wenn wir
»Wenn du im Krieg aufgewachsen quitätenhändler. nicht darüber gesprochen haben?
bist, lernst du, die Stufen automa- Mishlawi schiebt sich durch einen Wenn wir nicht mal wissen, was ge-
tisch zu zählen, damit du nach dem sehr engen Gang, rechts und links nau passiert ist?«
Bombenalarm im Dunkeln wieder liegen alte Fotoapparate in staubigen Es gibt den militärischen Begriff
hochgehen kannst.« Vitrinen. Er sucht nichts Bestimmtes der »offenen Stadt«. Er meint eine
heute, er schaut sich um, hebt hier Stadt, die im Krieg die Verteidigung
Nadim Mishlawi hat seinen Film einen Kerzenständer hoch und da ein Regisseur Mishlawi aufgibt, die Tore öffnet und nicht
»Nach dem Ende der Welt« genannt. Walkie-Talkie. Er begutachtet ein mehr angegriffen werden darf. Jeder
Das klingt sehr pathetisch, ein biss- Sideboard mit integriertem Platten- hat hier Zugang. Beirut befindet sich
chen drüber, und mit Weltuntergangs- spieler. Sehr gut erhalten, Fünfziger- zwar nicht mehr im Krieg. Frieden
szenarien ist es ja so, dass sie sich ab- jahre, Telefunken. Der Händler will ist allerdings auch ein großes Wort.
nutzen, je öfter man sie beschwört, 3000 Dollar, Mishlawi kauft nichts. Nicht wenige sehen Parallelen zu
und sie dann nicht eintreten. Aber Die Lagerhallen der Antiquitäten- der Zeit, kurz bevor der Bürgerkrieg
Mishlawi hat eben keinen Film über händler sind voll, weil so viele Men- ausbrach. Das Machtvakuum, die
das Ende der Welt gemacht. Sondern schen das Land verlassen haben und enormen Gegensätze zwischen
über das, was danach kommt. ihr Hab und Gut loswerden wollten. den Reichen und den Armen, die
Will man verstehen, wie es sich Der Libanon war schon immer ein Re ligionskonflikte. Der traurige
anfühlt, heute in Beirut zu leben, Land des Exodus. Wer kann, der Schleier, den viele Menschen im Blick
hilft es, den Regisseur zu treffen. geht. Wer jung ist, Geld hat, eine Zu- tragen, weil sie die Hoffnung noch
Mishlawi ist 42 Jahre alt, als der Bür- kunft will, der geht auf jeden Fall. Aktivistin El Hallak nicht aufgegeben haben, aber auch
gerkrieg zu Ende ging, war er zehn. Mishlawi hat einen britischen Pass, nicht so recht wissen, warum eigent-
Mishlawi hatte schon mal einen Do- seine Mutter ist Britin. Er ist trotz- lich. Weil sie im ewigen Jetzt gefan-
kumentarfilm gemacht, aber weil dem noch hier. Wegen seines Sohns, gen sind.
man davon nicht leben kann, schon ist die eine Antwort. Die andere: weil Mishlawi war mit seinem Film
gar nicht in Beirut, arbeitet er vor er das Gefühl hat, erst etwas abschlie- eigentlich schon fertig, als sich 2020
allem als Toningenieur für andere ßen zu müssen, das schwarze Loch im Hafen eine der größten jemals ge-
Filme. Trotzdem konnte er es nicht zu füllen. messenen nicht atomaren Explosio-
lassen. Und begann 2013 mit einem Er möge es, durch die Besitztümer Antiquitätenhand- nen ereignete. Ganze Stadtviertel
neuen Projekt, das ihn fast zehn Jah- anderer Menschen zu schlendern, lung in Basta-Viertel: wurden in Schutt und Asche gelegt,
Die Menschen
re lang beschäftigen sollte. sagt Mishlawi. »In Beirut zu leben verlassen das Land weil illegal gelagertes Düngemittel
Er wollte eine Geschichte erzählen bedeutet, zwischen einer Vergangen- und wollen ihre Feuer fing und in die Luft flog. Mehr
über die Architektur in der Stadt. Wie heit zu leben, die nicht sterben will, Sachen loswerden als zwei Jahre ist es her, und immer
sie sich verändert hat seit dem Bür- noch gibt es keine wirkliche Aufarbei-
gerkrieg, wie die alten Häuser abge- tung, keine Schuldigen, niemanden,
rissen und die neuen gebaut wurden. der Verantwortung übernimmt. Es
Wie die neuen Häuser leer standen scheint, als würde man sich schon
und langsam verfielen, weil die rei- wieder für eine kollektive Amnestie
chen Touristen aus dem Ausland doch entscheiden.
nicht kamen oder nur Wohnungen Es sei schon ironisch gewesen,
kauften und nie drin lebten. Er woll- meint Mishlawi. »Ich wollte einen
te einen nüchternen Film machen mit Film darüber machen, was passiert,
Architekten, Stadtplanern und Foto- wenn eine Stadt allmählich ver-
grafen. schwindet. Und dann verschwand die
Dann starb sein Vater. Nicht über- Stadt tatsächlich.«
raschend zwar, nach langer Krank- Zwischen den Interviews, die
heit. Trotzdem, jeder Tod ist eine Mishlawi für seinen Film geführt hat,
Katastrophe. Er hörte auf zu filmen. sieht man immer wieder historische
Bis ihm klar wurde: Er kann diesen Szenen. Auch eine, in der er selbst
Film nur machen, wenn es persönlich zu sehen ist. 1985, er ist da fünf Jah-
wird. Der Tod seines Vaters war für re alt. Seine Familie hatte damals
ihn ähnlich wie das Ende des Bürger- Glück, der Vater war Journalist, also
kriegs für die Stadt. Oder die Explo- durften sie im Commodore-Hotel Zu-
sion im Hafen. Was kommt nach der flucht suchen vor den Bomben. Das
Leere? Und was passiert, wenn sie nie Hotel war die Zentrale der interna-
gefüllt wird? tionalen Presse und relativ sicher. Ein
Maria Klenner / DER SPIEGEL (3)

Mishlawi klingt oft zynisch, ob- britisches Fernsehteam machte einen


wohl er bestreitet, ein Zyniker zu kurzen Beitrag über die Familie
sein. Er trägt eine speckige Leder- Mishlawi.
jacke und raucht fast ununterbro- Wahrscheinlich weil es ein starkes
chen, für das Treffen schlägt er Bas- Bild war, dieser kleine Junge, der im
ta vor, eines seiner Lieblingsviertel Kriegshotel versucht, eine Kindheit
in der Stadt. Nicht weil es schön ist, zu haben, und mit leeren Patronen-

112 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


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hülsen spielt. Die Familie verließ das Land


noch im selben Jahr, ging in die USA und kam
zwei Jahre nach Ende des Kriegs wieder zu-
rück. Das Haus stand noch, die Wohnung war
verwüstet, irgendwelche Leute hatten dort BELLETRISTIK SACHBUCH
gewohnt und etwas dagelassen.
Ein Video, eine Art Collage von Fernseh- Ein moderner Briefroman, Der zweite Band der
beiträgen, unterlegt mit dem Song »Our in dem erbittert gestritten Tagebücher des Schau-
Town« von Kim Wilde. Kinder, die Panzer- wird: Journalist Stefan und spielers, Sängers und
Bäuerin Theresa tauschen Autors schildert die
fäuste abfeuern. Männer auf Gefechtsstatio- sich per E-Mail und Whats- Jahre 1998 und 1999.
nen. Ruinen, Ruinen, Ruinen. Es ist ein bizar- App über Zeitgeistthemen Abschied und Neuan-
rer Film, den Mishlawi in seinen eigenen Film und echte Probleme aus, fang sind seine be-
zwei Welten prallen auf- herrschenden Lebens-
hineingeschnitten hat. Zusammengenommen einander. | Platz 1 themen. | Platz 14
ergibt das eine Überlagerung von Erinnerun-
gen. Seine Kindheit, aufgenommen von inter-
nationalen Journalisten, für die der Krieg 1 (2) Simon Urban / Juli Zeh 1 (1) Prinz Harry
Zwischen Welten Luchterhand; 24 Euro Reserve Penguin; 26 Euro
nicht Leben, sondern Arbeit war. Kim Wilde
singt: unsere Stadt. Wessen Stadt? 2 (1) Ewald Arenz 2 (2) Brianna Wiest 101 Essays, die dein Leben
Die Explosion im Hafen hat Mishlawi nicht Die Liebe an miesen Tagen Dumont; 24 Euro verändern werden Piper; 22 Euro
überrascht. Er ist ebenfalls nicht überrascht
von der Korruption oder der Inflation und 3 (3) Bonnie Garmus 3 (3) Gerhard Wisnewski verheimlicht –
wird wohl auch von sonst keiner schlechten Eine Frage der Chemie Piper; 22 Euro vertuscht – vergessen 2023 Kopp; 16,99 Euro

Nachricht überrascht sein, die kommen kann. 4 (5) Elke Heidenreich


4 (4) Dörte Hansen
Er sagt: »Wir sind gefangen, und jemand hat Zur See Penguin; 24 Euro Ihr glücklichen Augen Hanser; 26 Euro
den Schlüssel weggeworfen.«
Es gebe eine Person, sagt Mishlawi, die 5 (6) Mariana Leky 5 (7) Stefanie Stahl
mehr über die Stadt wisse als jede andere. Kummer aller Art Dumont; 22 Euro Wer wir sind Kailash; 22 Euro

Die es sich zur Aufgabe gemacht habe, aus 6 (10) Richard David Precht / Harald Welzer
dem Schutt einen Sinn zu ziehen. Und das 6 (5) Sebastian Fitzek
Mimik Droemer; 24 Euro
Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung
sei Mona El Hallak. Ob man sich schon be- gemacht wird, auch wenn sie keine ist
gegnet sei? 7 (10) Arno Geiger S. Fischer; 22 Euro
Das glückliche Geheimnis Hanser; 25 Euro
»Bis wir Fakten haben, haben wir unsere Ge- 7 (11) Andrea Wulf
schichten«, sagt Mona El Hallak. El Hallak 8 (–) Dmitry Glukhovsky Fabelhafte Rebellen C. Bertelsmann; 30 Euro

und Mayssa Jallad, die beiden Architek- Geschichten aus der Heimat Heyne; 24 Euro
8 (4) Michelle Obama
tinnen, haben das Excelsior verlassen Das Licht in uns Goldmann; 28 Euro
und sind zusammen zu einem weiteren Ge- 9 (11) Ferdinand von Schirach
Nachmittage Luchterhand; 22 Euro
bäude gefahren, das vielleicht für die ganze 9 (–) Oliver Hilmes
Stadt wichtig wird, das zu dem wird, was es Schattenzeit Siedler; 24 Euro
10 (9) Colleen Hoover It starts with us –
so lange nicht gab: einem Ort, an dem sich Nur noch einmal und für immer dtv; 20 Euro
10 (8) Torsten Sträter Du kannst alles lassen,
Geschichte manifestieren kann. Das gelbe du musst es nur wollen Ullstein; 19,99 Euro
Haus steht im Zentrum Beiruts, genau dort, 11 (7) Annie Ernaux
wo im Bürgerkrieg die Front verlief. Sie wur- Der junge Mann Suhrkamp; 15 Euro 11 (9) Kurt Krömer Du darfst nicht alles glauben,
de Grüne Linie genannt, weil sie unbewohn- was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
12 (–) Lars Kepler
bar und menschenleer war und sich im Laufe Spinnennetz
der Jahre die Natur ihren Raum zurück-
Lübbe; 23 Euro 12 (6) Ulrike Herrmann Das Ende
des Kapitalismus Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
erobert hat. 13 (12) Charlotte Link
Unzählige Einschusslöcher sieht man heu- Einsame Nacht Blanvalet; 25 Euro 13 (12) Hamed Abdel-Samad
te noch an der zerstörten Fassade. Das gelbe Islam dtv; 24 Euro
Haus heißt heute Beit Beirut und ist ein Mu- 14 (–) Andrea Camilleri Die Botschaft
seum. Oder besser: könnte ein Museum wer- der verborgenen Bilder Lübbe; 23 Euro 14 (–) Manfred Krug
den. Auf jeden Fall ist da jetzt eine Ausstel- Ich bin zu zart für diese Welt Kanon; 24 Euro
15 (13) Tommy Jaud Komm zu nix – Nix erledigt
lung zu sehen. Mona El Hallak hat sie orga- und trotzdem fertig Fischer Scherz; 15 Euro 15 (–) Karolina Kuszyk
nisiert. Die Stadtarchäologin versammelte In den Häusern der anderen Ch. Links; 25 Euro
hier ihre Schätze, all die Gegenstände, die sie 16 (15) Jonas Jonasson Drei fast geniale Freunde
im Excelsior-Hotel und in anderen Gebäuden auf dem Weg zum Ende der Welt 16 (18) Rachel Hanan / Thilo Komma-Pöllath
C. Bertelsmann; 24 Euro »Ich habe Wut und Hass besiegt« Heyne; 20 Euro
der Stadt über die Jahre gefunden hat. Tau-
sende Fotos, Möbel, Kleider. Eine ganze 17 (8) Sabine Thiesler 17 (13) Petra Bracht / Claus Leitzmann
Kaffeehauseinrichtung ist darunter. Der größ- Verschwunden Heyne; 22 Euro Klartext Abnehmen Mosaik; 24 Euro
te Schatz ist aber das Haus selbst.
Es ist ein ungewöhnlicher Bau, was sofort 18 (14) Bret Easton Ellis 18 (–) Max Czollek
ins Auge sticht: eine Leerstelle. An der Ecke The Shards Kiepenheuer & Witsch; 28 Euro Versöhnungstheater Hanser; 22 Euro
zur Straße hin fehlt einfach, nun ja, die Ecke.
19 (16) Susanne Abel 19 (–) Harald Lesch / Gisela Graichen Liegt die
Statt des Mauerwerks sind zwei von Säulen Stay away from Gretchen dtv; 20 Euro Antwort in den Sternen? Propyläen; 32 Euro
getragene Loggien in den oberen Stockwer-
ken zu sehen. Der Architekt wollte dadurch 20 (20) Jo Nesbø 20 (–) Michael Thumann
überraschende Sichtachsen ermöglichen. Und Blutmond Ullstein; 25,99 Euro Revanche C. H. Beck; 25 Euro
tatsächlich, wenn man durch das Haus läuft, Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

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sieht man auf einmal von ganz hinten durch


SPIEGEL TV Programm alle Räume hindurch bis auf die Straße, was
man so nicht erwarten würde. »Durch diese
architektonische Idee wurde das Haus zur
Killermaschine«, sagt Mona El Hallak. Die
ungewöhnlichen, von außen nicht erahnbaren
Sichtachsen waren perfekt für Scharfschüt-
zen. Während des Bürgerkriegs verschanzten
sich die Sniper hier und machten die Gegend
zur Todeszone.
El Hallak studierte Architektur während
des Bürgerkriegs. Danach ging sie nach Flo-
renz, und als sie zurückkehrte, erkannte sie
die eigene Stadt kaum wieder. Der »Wieder-
aufbau« war in vollem Gange. Seitdem hat
sie versucht, wenigstens das gelbe Haus zu
bewahren. »Es ist das einzige große öffentli-
che Gebäude, das den Krieg anerkennt«, sagt
sie. Zwölf Jahre hat es gedauert, bis das Haus

SPIEGEL TV
saniert wurde, mit Geld von internationalen
Stiftungen. Ihr Traum: dass daraus ein richti-
Sachverständiger Lothar Henninghaus mit Faksimile
ges Museum wird. Kein Kriegsmuseum, son-
dern ein »Gedächtnismuseum«, wie sie es
nennt. Wo Geschichten aus der Stadt erzählt
SPIEGEL TV polizeilicher Kriminalitätsdaten einen und Biografien recherchiert werden, wo an
MONTAG, 6. 2., 23.20 – 0.00 UHR, RTL möglichst gefahrlosen Weg nach Hause das alltägliche Leben erinnert wird. »Wir wis-
aufzeigen soll. Welche Bedeutung in- sen immer noch nicht, wer wen getötet hat.
Rückkehr zu alten Feindbildern frastrukturelle Entscheidungen für die Wer wen entführt hat. Wo die Vermissten
Proteste gegen Flüchtlingsheime in Sicherheit von Frauen haben, macht sind, was mit ihnen passiert ist. Niemand hat
mehreren Bundesländern die kleine Stadt Umeå im Norden Schwe- Verantwortung übernommen. Und bis wir
dens vor. Hier bemühen sich Linda mehr wissen, können wir uns nur unsere Ge-
Die Faksimile-Gauner Gustafsson und ihr Team, die Situation schichten erzählen.«
Der Millionenbetrug mit Faksimiles geht der Einwohnerinnen mithilfe städte- Während des Bürgerkriegs hatte ein Foto-
weiter. baulicher Maßnahmen zu verbessern. graf sein Studio im ersten Stock. Noch als
Gustafsson ist überzeugt: Nicht oben die Sniper lagen, machte er unten Por-
vor der Dunkelheit fürchten sich Frauen, trätaufnahmen. Als El Hallak 1994 zum ersten
ARTE RE: sondern vor männlichen Übergriffen. Mal hier hereinkam, lag noch alles da.
MONTAG, 6. 2., 19.40 – 20.15 UHR, ARTE 8000 Negative unter dem Schutt. 80 davon
zeigt sie nun in der Ausstellung. Zwölf der
Angst auf dem Heimweg – HARTES DEUTSCHLAND – Porträtierten wurden identifiziert, von Be-
Wie sicher fühlen sich Frauen? suchern, die ihren Cousin, ihre Tante oder
LEBEN IM BRENNPUNKT einen Freund wiedererkannten.
DONNERSTAG, 9. 2., 20.15 – 22.15 UHR, RTLZWEI Es gab dann natürlich doch Probleme. Nie-
mand wollte ein Museum finanzieren. Also
Folge 47 – Leipzig ist es heute eher ein Veranstaltungsort, den
Anett, 45, ist seit 1997 in der von Crystal man auch für Hochzeiten mieten kann. Vor
Victor Colletta/ SPIEGEL TV

Meth und Heroin geprägten Leipziger allem aber ist El Hallak nicht mit dem Archi-
Drogenszene unterwegs. Um ihre Sucht tekten einverstanden, der für die Instandset-
zu finanzieren, prostituiert sie sich auf zung zuständig war. Sie schreit auf, wenn man
dem illegalen Straßenstrich. Eva hatte sie auf die Fassade anspricht, die an manchen
bereits mit 22 schwere Zeiten in Leipziger Stellen etwas künstlich aussieht. Tatsächlich,
Abrisshäusern hinter sich. Vor acht manche Einschusslöcher sind nicht echt, son-
App-Entwicklerin Kay in London Monaten brachte sie einen Sohn zur Welt. dern wurden im Nachhinein gebohrt. Wo man
Während der Schwangerschaft hatte den Krieg lange Zeit loswerden wollte, wird
Am 3. März 2021 besucht Sarah Everard sie es geschafft, weder Crystal Meth noch er auf einmal künstlich betont. Fetischisierung
im Süden Londons eine Freundin. Gegen Alkohol zu konsumieren. Doch einige ist auch eine Art der Verdrängung.
21 Uhr bricht sie auf und geht nach Monate später kommt es zum Rückfall. El Hallak hat einen zwölfjährigen Sohn
Hause. Doch dort kommt die junge Frau und sagt, sie habe in den vergangenen zwölf
nie an. Vier Tage später wird ihre Leiche Jahren mehr Zeit mit dem gelben Haus ver-
gefunden. Die 33-Jährige wurde von bracht als mit ihm. Der ständige Kampf gegen
einem Polizeibeamten entführt, verge- Widerstände sei anstrengend. Doch es gebe
waltigt und ermordet. Der Fall hat eine einen großen Vorteil, meint sie, wenn keine
Welle der Empörung losgetreten und offizielle Version existiere, kein Staat, der
SPIEGEL TV, RTLZWEI

Fragen aufgeworfen: Wie sicher sind seine Agenda durchdrücken wolle. Was soll-
Frauen im öffentlichen Raum? Und wie te das überhaupt sein, eine offizielle Geschich-
können sie vor Gewalt geschützt wer- te? »Wir machen unsere Geschichte selbst«,
den? Die Britin Emma Kay hat eine App sagt sie. Und wie sie das sagt, klingt es fast
entwickelt, die Nutzerinnen mithilfe Obdachlose Anett schon nach Zukunft. n

114 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


KU LT U R

den Jazzstandards. Sie kam wieder


auf Schumann zurück.
Summer veröffentlichte »Schu-
mann Kaleidoskop«, ihr Solodebüt.
Es ist bemerkenswert. Ein Album,
auf dem sie Klassik spielt, als wäre es

Die Entdeckerin Jazz, ohne es sich bequem zu ma-


chen. Dann wäre sie dem Klischee
der verjazzten Klassik erlegen. Ver-
jazzte Klassik, das war mal in Mode,
MUSIKKRITIK Die junge deutsche Pianistin Johanna Summer schafft mit ihrem es ging darum, die alten Komposi-
beeindruckenden Album »Resonanzen« aus Klassik und Jazz etwas Neues. tionen zum Grooven zu bringen.
Jacques Loussiers »Play Bach« hat
damals den Standard gesetzt, doch
ieser Text beginnt dort, wo mit dessen Sound hat Summers
D viele Jazzfilme anfangen: in
einem kleinen Klub. Der ist
natürlich so gut wie leer. Die Ein-
Musik wenig zu tun.
Wenn sie spielt, entsteht etwas
Neues; Musik, die sich stilistisch ir-
samkeit des Manns am Klavier, gendwo dazwischen befindet, auf der
oder in diesem Fall der Frau, ist Basis von Klassik, im Geist des Jazz.
schließlich das Grundmotiv für eine Musik, die sich von der Komposition
solche Geschichte, die im Kino ja auf dem Notenblatt löst, aber auch
meist traurig ist, voller Melancholie. von den typischen Jazzharmonien.
Diesmal aber, im wirklichen Leben, Auf ihrem neuen, zweiten Solo-
führt sie zu einem Plattenvertrag, zu album »Resonanzen« hat Johanna
außergewöhnlichen Alben, deren Summer ihre Technik verfeinert und
jüngstes, »Resonanzen«, soeben er- perfektioniert. Wenn ihr Debüt schon

Steffen Jänicke / DER SPIEGEL


schienen ist. bemerkenswert war, so ist die neue
Die Pianistin in dieser Geschichte Platte beeindruckend.
heißt Johanna Summer. 2018, zu Be- Summer spielt neun Klavierstücke,
ginn der Geschichte, saß sie im Blue von Bach und Beethoven, von Schu-
Note, einem kleinen Klub in der bert, Ligeti und Mompou – in freier
Dresdner Neustadt. »Da gab es viele Improvisation, spontan bei den Auf-
freie Slots. Wer einen Platz suchte, nahmen entstanden. »Bei einer Im-
um ohne Risiko etwas auszuprobie- provisation geht es darum, etwas zu
ren, war da richtig«, sagt sie heute. E-Keyboard, als die Tochter mit sie- Künstlerin Summer entdecken, von dem ich nicht gedacht
Summer war damals 23 Jahre alt, ben Jahren anfing, Klavierunterricht hätte, dass ich es entdecken kann«,
am Klavier spielte sie die großen zu nehmen. beschreibt Summer das, was sie an
Standards, »Stella by Starlight« zum Mit neun spielte sie Robert Schu- den Tasten macht. In den wenigsten
Beispiel oder »East of the Sun (and manns »Album für die Jugend«: Das Fällen behält sie die Tonart bei, den
West of the Moon)«. Wie alle. Damit sei einfach, erinnert sie sich. Wer vorgegebenen Takt, es ist eher der
macht man nichts falsch. Summer stu- selbst versucht hat, Schumann zu Charakter einer Komposition, der sie
dierte an der Hochschule für Musik spielen (und vielleicht etwas weniger inspiriert. »Das sehr Tänzerische bei
in Dresden, Jazz-Rock-Pop nennt sich begabt ist als Johanna Summer) weiß, Grieg zum Beispiel«, sagt sie, von
der Studiengang, sie schloss ihn mit dass auch das »Album für die Ju- dem sie eines seiner »Lyrischen Stü-
dem Bachelor ab. Der deutsche Weg gend« trotz seines Titels nicht kinder- cke« aufgegriffen hat. Auch wichtig:
zum Jazz, akademisch, wohlgeord- leicht ist. bloß kein Ziel haben, wo die Impro-
net. Nicht unbedingt das, was man Als Teenager entdeckte sie den visation hinführen soll. »Das würde
mit dieser Musik verbindet, die in Jazz. Sie hörte »Kind of Blue« von mich unter Druck setzen.«
ihrer goldenen Zeit ja eine Geschich- Miles Davis, den Jazzklassiker Das Album »Resonanzen« musste
te der Extreme war, des wilden Ex- schlechthin. Und Pat Metheny. Sie Johanna Summer deshalb zweimal
perimentierens jenseits aller Akade- spielte in einer Band. Und schließlich aufnehmen. Beim ersten Mal saß sie
mien. Aber die Geschichte geht ihre wollte sie es an einer Musikhochschu- allein im Studio, sie hatte zu viel vor,
eigenen Wege – und so kann es kom- le probieren: »Ich wusste lange nicht, kam ins Grübeln, brach ab. Erst als
men, dass eine junge Frau aus der ob ich etwas besser kann als Klavier sie sich an einem anderen Tag für
sächsischen Provinz schließlich ihre spielen.« einen zweiten Versuch Publikum da-
Zuhörer überrascht. Sie wurde abgelehnt und wieder zuholte, klappte es: Sie musste spie-
Sie heißt eigentlich Summerer mit abgelehnt und schließlich an der len, die Stücke zu Ende bringen,
Nachnamen, sie hat ihn verkürzt, weil Dresdner Musikhochschule ange- schließlich hörte jemand zu. Es waren
sich das besser aussprechen lässt. Ge- nommen. Dort, bei Günter »Baby« nur drei Leute, fast wie damals in
boren 1995, ist sie in Plauen aufge- Sommer, dem großen alten Mann des Dresden. Aber diese drei reichten, um
wachsen, die Mutter Lehrerin, der ostdeutschen Free Jazz, hat sie das Ihre Eltern Johanna Summer Sicherheit zu geben.
Vater Ingenieur. Die Eltern hörten Improvisieren gelernt. Und dann, Und so endet diese Geschichte,
»Best of ›Forrest Gump‹ oder ›Free nachdem sie sich, fast ohne Publikum, hörten »Best of wie Jazzfilme anfangen: eine Pianis-
Willy‹«, wie die Tochter es heute aus- im Blue Note in der Neustadt freige- ›Forrest Gump‹«, tin am Klavier, fast allein. Nur dass
drückt, keine Klassik und schon gar spielt hatte, nachdem sie in München die Geschichte bei Johanna Summer
keinen Jazz. Es gab zu Hause nicht bei einem Wettbewerb entdeckt wor- Klassik gab es ein gutes Ende nimmt.
mal ein Klavier. Aber schließlich ein den war, verabschiedete sie sich von zu Hause nicht. Sebastian Hammelehle n

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116 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Tom Verlaine, 73 Barrett Strong, 81
NACHRUFE Als er von der »New York Die damals noch jugendfrischen
Times« gebeten wurde, sein Le- britischen Bands The Beatles
ben zusammenzufassen, ant- und The Rolling Stones nahmen
wortete der Musiker, er habe in den Sechzigerjahren das Lied
immer darum gekämpft, nicht »Money (That’s What I Want)«
Karriere zu machen. Das mag auf und machten es in Europa
ironisches Understatement ge- berühmt – die unübertroffen
wesen sein, traf die Sache aber coole Originalversion aber hat
ziemlich gut. Als Gitarrist, Sän- der Afroamerikaner Strong mit
ger und Songwriter der Band geschrieben und gesungen.
Television schrieb Verlaine mit Strong, Sohn eines Farmarbei-
einer einzigen Platte Musik- ters, war 18 Jahre alt, als er
geschichte: »Marquee Moon«, 1959 bei einer von Berry Gordy
1977 erschienen, taucht bis heu- frisch gegründeten Plattenfirma
te regelmäßig auf den Listen in Detroit anfing. Als Sänger
der besten Alben des Rock auf. von »Money …« lieferte er Gor-
Television galten wahlweise als dy den ersten Hit des bald welt-
die neuen Velvet Underground berühmten Labels Motown,
oder als Vorläufer des Punk, hatte aber Streit mit dem Chef,
waren aber deutlich kunstvol- weil der ihn lange nicht als Mit-
Leo Baeck Institute

ler: Neben Verlaine hatte die autor nennen wollte. Der be-
Band mit dem Rhythmusgitar- gnadete Songschreiber Strong
risten Richard Lloyd noch einen erschuf (meist zusammen mit
zweiten Virtuosen, in manchen
Stücken überboten sie sich
Peter Pulzer, 93 gegenseitig. Als Hausband des
Die wohl originellste Antwort auf die Frage, warum die alte Bun- legendären Klubs CBGB traten
desrepublik sich mit Veränderung schwertat, stammte von Television dort phasenweise

Charlie Gillett Coll. / Redferns / Getty Images


dem großen, in Oxford lehrenden Politikprofessor: weil sie eine wöchentlich auf, kaum eine an-
»stille Revolution« hinter sich habe – und nichts sei konservativer dere Gruppe war im Manhattan
als eine erfolgreiche Revolution. Pulzer spielte auf den Wandel der mittleren Siebziger cooler
nach 1945 an. Das Erreichte wollten viele nach zwei Weltkriegen, als sie. David Bowie war be-
Holocaust, Flucht und Vertreibung bloß nicht infrage stellen. geistert von ihrer Musik. Patti
Der brillante, zugewandte Gelehrte kannte die Deutschen. In der Smith, mit der Verlaine eine
Reichspogromnacht 1938 hatten Nazis die elterliche Wohnung Zeit lang liiert war, meinte,
in Wien geplündert. Monate später wanderte die Familie nach 1000 Vögel schreien zu hören,
Großbritannien aus. Pulzer studierte an der Universität Cambridge wenn er Gitarre spielte. Nach
Geschichte und machte Karriere als Antisemitismusforscher und einer zweiten Platte lösten Tele-
Experte des britischen Parteiensystems. Dieses werde von Klassen- vision sich fürs Erste auf. Als dem Produzenten Norman
zugehörigkeit bestimmt, alles andere sei nur Dekoration – insbe- Solokünstler veröffentlichte Whitfield) zahlreiche Klassiker
sondere dieses Urteil Pulzers aus dem Jahr 1967 wurde zum Klassi- Verlaine etliche von der Kritik der Soulmusik, darunter »I
ker. Kanzler Helmut Kohl schätzte später seine Mahnung, die gelobte Alben, erhielt aber nie Heard It Through the Grape-
deutsche Historie nicht rückwärts zu lesen, also alles auf das »Drit- die breite Anerkennung, die er vine«, das unter anderem durch
te Reich« hin zu deuten. Pulzer bezweifelte zugleich, dass es den verdient gehabt hätte – und den Marvin Gaye ein Evergreen
Deutschen gelingen werde, so bald aus dem Schatten Hitlers zu tre- kommerziellen Erfolg hatten wurde, und »Papa Was a Rollin’
ten. Die Last der deutschen Geschichte schließe »eine Freispre- Weggefährten wie Debbie Har- Stone«, einen der großen Hits
chung wegen guter Führung aus«. Peter Pulzer starb am 26. Januar ry, die bei Television einst im der Band The Temptations. Der
in Oxford. KLW Vorprogramm gespielt hatte. Antikriegssong »War (What Is It
Geboren wurde er 1949 als Tho- Good For)« wurde 1970 durch
mas Miller, seinen Künstlerna- Edwin Starr ein spektakulärer
Annie Wersching, 45 men lieh er sich bei dem franzö- Erfolg, Strong mochte aber auch
International bekannt wurde sie Ende der Nuller- sischen symbolistischen Dichter die spätere Version von Bruce
Charley Gallay / Getty Images

jahre in der Terrorismusserie »24«, als sie für zwei Paul Verlaine. Auch eine Geste. Springsteen: »Springsteen hat
Staffeln die Rolle der FBI-Agentin Renee Walker Tom Verlaine starb am 28. Ja- den Song vollkommen anders
übernahm. Zunächst ist sie da von der Rücksichts- nuar in New York. SHA interpretiert«, sagte er, »aber er
losigkeit des von Kiefer Sutherland gespielten Hel- drückt das aus, was ich beim
den entsetzt, beginnt dann aber, ihn besser zu ver- Schreiben des Songs empfun-
stehen. Die Schauspielerin Wersching, geboren in den habe. Er ist einer meiner
Rober ta Bayley / Redferns / Getty Images

St. Louis, studierte Musical und hatte 2002 in Lieblingssänger, was immer er
einer Episode von »Star Trek: Enterprise« einen kurzen Auftritt. In singt.« Nach einer langen Pro-
den folgenden Jahren war sie in Serien wie »Angel – Jäger der duzenten- und Songwriter-
Finsternis«, »Boston Legal« oder »Cold Case – Kein Opfer ist je karriere, während derer er in
vergessen« zu sehen. In rund 80 Folgen der Sitcom »General Hos- Detroit zeitweise ein eigenes
pital« spielte sie eine TV-Produzentin namens Amelia Joffe. In Studio betrieb, verbrachte
dem erfolgreichen Videospiel »The Last of Us« lieh sie einer Strong seine späten Jahre in Ka-
Hauptfigur ihre Stimme und ihre Gesichtszüge. Annie Wersching lifornien. Barrett Strong starb
starb am 29. Januar in Los Angeles an Brustkrebs. LOB am 29. Januar in Detroit. HÖB

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 117


PERSONALIEN

Frei durch
den »Playboy«
Bei der Wahl ihrer Lebensgefähr-
ten hatte Pamela Anderson, 55,
bisher nicht viel Glück. Es habe
in ihrem Leben nur einen Mann
gegeben, der sie mit »völligem
und uneingeschränktem Res-
pekt« behandelt habe – und das
sei der 2017 verstorbene »Play-
boy«-Gründer Hugh Hefner ge-
wesen, erzählte die US-Schau-
spielerin der »Sunday Times«.
Anderson hat soeben ihr beweg-
tes Liebesleben in einer Auto-
biografie und in einer Netflix-
Dokumentation ausgebreitet.
Dass Hefner die damals 22-Jäh-
rige entdeckte und aufs »Play-
boy«-Cover brachte, sei für sie
ein Akt der Befreiung gewesen.
»Ich war schrecklich schüchtern
und hasste es. Ich wollte dieses
Gefühl nicht mehr.« Die Fotos
hätten ihr Macht über ihre Se-
xualität gegeben, sagt Anderson,
die danach als Rettungsschwim-
merin in der TV-Serie »Bay-
watch« weltweit zur Sexikone
wurde. Sie heiratete sechsmal
und ließ sich ebenso oft schei-
den. Sie habe sich nach einer
Familie gesehnt, sagt Anderson.

Joe Pugliese / News Licensing / ddp


»Aber ich wollte auch nieman-
dem erlauben, mich zu misshan-
deln.« Sie wolle nicht, dass ihre
Söhne ein schlechtes Vorbild ha-
ben. »Sosehr ich wie ein Clown
aussehe, wenn ich mich immer
wieder scheiden lasse – das kann
ich nicht zulassen.« CPA

Wer bin ich? Dreharbeiten seien so intensiv dass rechtzeitig Schluss war:
gewesen, dass er manchmal gar »Hätten wir weitergemacht,
Über die psychischen Belastun- nicht mehr gewusst habe, wer hätte es schiefgehen können.«
gen von Kinderstars wird häufig er wirklich war: »In den Filmen Trotz der Belastungen blieb
Kristina Bumphrey / Variety / Getty Images

berichtet. Auch Rupert Grint, wurden wir eins. Zum Schluss der Brite beim Film, zu seinen
34, als Ron Weasley im ersten habe ich mich selbst gespielt. letzten Projekten gehört der
»Harry Potter«-Film 2001 be- Die Grenzen waren verwischt.« Thriller »Knock at the Cabin«
rühmt geworden, hat sein Päck- Er habe sogar reagiert, wenn von M. Night Shyamalan. Er
chen zu tragen. In einem Inter- ihn jemand mit dem Namen fühle sich zu einer verdeckten
view sagte er jetzt, die Rolle seiner Figur ansprach. Grint ist Verletzlichkeit hingezogen, sag-
vom 11. bis zum 22. Lebensjahr zwar sehr dankbar für all die te Grint, zu etwas kaputten
auszufüllen, habe er als «ziem- Möglichkeiten, die ihm die Rol- Charakteren, diese Rollen hätten
lich einengend« erlebt. Die le eröffnet hat, doch auch dafür, etwas Therapeutisches für ihn. KS

118 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


Feminist mit Fair«, dass das der Wunsch der
Produktion gewesen sei, denn
Sexappeal er habe »eine Art von Verant-
Am 9. Februar kommt »Magic wortung gefühlt«, weil «die an-
Mike – The Last Dance« in die deren Filme nicht von Frauen
deutschen Kinos. Darin zeigt handelten, sie drehten sich um
Channing Tatum, 42, Schauspie- Männer«. Es seien Filme von
ler, Produzent, Autor, wie in Männern für Frauen gewesen
den zwei Vorgängerfilmen Sex- oder für Leute, die Männer mö-
appeal und seinen schönen Kör- gen, aber keine Frau habe eine
per. Dieses Mal tanzt er jedoch tragende Rolle gespielt. Das
vor allem nach der Pfeife einer fühle sich an, so Tatum, »als
Frau: Salma Hayek spielt hätten wir die Leute in gewisser

Kor yphäen film


Maxandra Mendoza, die Mike Weise reingelegt«. Diese Ent-
für ihre ganz eigenen Zwecke wicklung ist nicht ausschließlich
einspannt. Dass eine starke dem Zeitgeist geschuldet. Vater
Frauenfigur mit im Mittelpunkt einer Tochter zu sein hat Ta-
der Geschichte um den ehema- tums Einstellung zu Feminismus Fleiß und Idealismus »Pedal the World« (2015) und
ligen Stripper steht, ist kein Zu- gestärkt: »Erst mit meiner »Expedition Happiness« (2017),
fall. Tatum sagte der »Vanity Tochter fing ich an, mich davor Manchmal ist das Ankommen stand er mit im Mittelpunkt, sie
zu fürchten, wie Furcht einflö- wichtiger als das Reisen. Eine waren noch geprägt von Rast-
ßend die Welt für Frauen ist«, Wandkalender-Weisheit, die losigkeit und der Suche nach
sagte er der »Vanity Fair«. Der sich wohl auch Filmemacher einem Zuhause. Starcks neuer
Titel des neuen »Magic Mike«- Felix Starck, 32, zu Herzen ge- Film zeigt das scheinbar unge-
Films klingt final; und mit An- nommen hat. In seinem neuen brochene Glück in der autarken
fang vierzig muss ein Tänzer in Dokumentarfilm »Step by Selbstversorgung. Starcks erster
der echten Welt tatsächlich ans Step« schildert Starck in ästhe- Dokumentarfilm über seine
Aufhören denken. Tatum hat tischen Bildern den beschwer- Weltreise mit dem Fahrrad lock-
diverse Projekte, die ihn be- lichen Weg einer Existenz- te mehr als 240 000 Besucher
schäftigen. Gerade dreht er mit gründung als bäuerlicher Selbst- in die Kinos. Gut möglich, dass
Scarlett Johansson einen Film, versorger auf Mallorca. Das sich auch dieses Mal eine größe-
in dem er einen Nasa-Mitar- Familienprojekt, das er gemein- re umweltbewusste Zielgruppe
beiter spielt. Vielleicht der Be- sam mit seiner Partnerin Valen- vor der Leinwand versammelt,
Doug Peters / PA Images / IMAGO

ginn einer zugeknöpfteren Pha- tina ohne landwirtschaftliche wenn Starck erklärt, dass es
se seiner Karriere? Fans und Vorkenntnisse in Angriff nimmt, mit Fleiß und Idealismus mög-
Bewunderinnen seiner Freizü- soll ihnen und dem gemeinsa- lich sei, einen nährstoffarmen
gigkeit können Hoffnung haben: men Kind ein umweltverträg- Boden wieder nutzbar zu
»Ich bezweifle, dass ich für im- liches und sinnstiftendes Leben machen. Dazu gibt es Bio-
mer meine Klamotten anlassen ermöglichen. Auch in seinen cracker – und einen schönen
kann«, sagte Tatum trocken. KS ersten Dokumentarfilmen, Sonnenuntergang. FRN

Kampf um Oscar len Medien getrommelt, auch


von mächtigen Kolleginnen wie
Darf ein Film, der an den ameri- Kate Winslet und Charlize The-
kanischen Kinokassen nur ron. Die Academy untersuchte
27 300 Dollar einspielte, den die Vorgänge, konnte aber keine
also fast niemand gesehen hat, illegalen Vorgänge erkennen.
darf ein solcher Film an der Os- Ein weiterer Vorwurf: Mächtige
carverleihung teilnehmen? Im Netzwerke weißer Filmschaffen-
Fall von »To Leslie« schon, das der würden schwarze Kollegin-
hat die Academy gerade ent- nen benachteiligen. So hatte
schieden. Völlig überraschend etwa Viola Davis für ihre Rolle
war die britische Schauspielerin in »The Woman King« keine No-
Andrea Riseborough, 41, für die- minierung erhalten. Aber das
sen Film als beste Hauptdar- heißt, eine Benachteiligung
stellerin nominiert worden. Da- gegen eine andere auszuspielen.
nach gab es Unruhe in Holly- Der Independentfilm »To Les-
wood. Wurde hier manipuliert? lie« hatte ein kleines Budget und
Tatsächlich gab es eine Kampa- keine Möglichkeit, durch Wer-
gne für die Unterstützung der bung einem größeren Publikum
Academy-Mitglieder, die zur bekannt zu werden. Kurz vor
Matt Crossick / EMPICS / ddp

Nominierung führte. In Holly- ihrer Nominierung hatte Rise-


wood ist das nicht ungewöhn- borough in einem Interview ge-
lich, Konzerne stecken teilweise sagt: »Ich finde nicht, dass wir
Millionen in ihre Oscarfeldzüge. mehr Geld zur Verfügung hätten
Im Fall von Riseborough wurde haben sollen. Alle anderen soll-
vor allem auf Kanälen der sozia- ten weniger Geld haben.« KAE

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 119


Fernzügen. Zu allem Überfluss
BRIEFE verlangt die Bahn für kurzfristige
Fernreisen teilweise Preise, bei
denen man sich verwundert die
Augen reibt: So wurden beispiels-
weise für die günstigste Fahrt
von München nach Lüneburg
am 23. 12. vergangenen Jahres
abgedruckt. Das ist weit unter Schritt nach dem anderen macht, 184,10 Euro für die zweite Klasse
dem erwarteten Informations- lieber als ein Politiker, der wie verlangt, zuzüglich Reservierung.
niveau des SPIEGEL . ein Schlafwandler in einen Krieg Wie solche Preise zu rechtfertigen
Guido Hasel, Sindelfingen (Bad.-Württ.) hineinstolpert. Immerhin hat er sind, weiß wohl nur die Bahn.
es geschafft, die Amerikaner auf Heiko Herms, München
Kaum hat ein beispielloses Kes- seine Seite zu ziehen. Nur im Ver-
seltreiben unsere Regierung ver- bund mit dem Nato-Partner USA Die Bundesregierung muss sich
anlasst, den Leopard-Panzer zu und den übrigen europäischen entscheiden: Will sie die Bahn
liefern, folgt der Ruf aus der Verbündeten kann eine effiziente weiterhin als Wirtschaftsunter-
Ukraine nach Kampfjets. Beson- Versorgung der Ukraine mit den nehmen betreiben oder als Ins-
nenes Handeln wird in Kiew nicht benötigten Waffensystemen ge- trument ihrer Mobilitätspolitik
akzeptiert. Nein – es gibt keine lingen. Vermutlich wird sich der einsetzen? Sie muss der Bahn er-
Absichten, Gespräche zu führen, Krieg noch hinziehen, bis Putin möglichen, ihre Vorteile gegen-
um die Ausweitung des Krieges zur Einsicht kommt, dass er ihn über anderen Mobilitätssystemen
zu bremsen. Aber wo soll der nicht gewinnen kann. Deshalb zu nutzen: Eine Spur Schiene ist
Waffenrausch enden? müssen sich die Staaten, die der um ein Vielfaches leistungsfähi-
Peter Jäger, Quickborn (Schl.-Holst.) Ukraine in ihrem Kampf beiste- ger als eine Spur Straße, die Bahn
hen, um Einigkeit bemühen. Die- ist sicherer und zugleich schneller,
Vabanquespiel Wer glaubt allen Ernstes, die Lie- se Einigkeit ist auch eine Waffe, die Elektrifizierung des Antriebs
ferung einer Handvoll Panzer aus mit der die EU ihre Freiheit und ist lange bewährter Standard, die
Nr. 5/2023 Titel: Kann die Ukraine Deutschland werde dazu führen, Demokratie verteidigt. Bahn ist umweltfreundlicher.
jetzt siegen?
dass die Ukraine diesen Krieg ge- Götz Doll, Köln Deshalb ist die von Verkehrsex-
Heute Morgen starrt mich von winnt? Die Wunderwaffe Leo- perten seit Jahrzehnten geforder-
Ihrem Titelblatt ein Panzer fron- pard 2 wird genauso versagen wie Wer die Sinnhaftigkeit der Liefe- te Verlagerung von der Straße auf
tal an. Ich erschrecke über die alle anderen Panzer auch, zumal rung schwerster Waffen an die die Schiene eine mobilitätspoli-
bedenkenlose Wortwahl. Nicht wenn ihr Einsatz zuvor monate- Ukraine infrage stellt, sollte beden- tische Notwendigkeit. Die Bahn
genug, dass in den inzwischen lang in der Weltpresse angekün- ken, dass der Sowjetunion im braucht zwei unabhängig von-
von grüner Kriegstreiberei durch- digt wird. Wie so oft fehlt deut- Zweiten Weltkrieg von den West- einander bespielbare Hochge-
setzten TV-Medien gefühlt nur in schen Politikern der Blick, vor alliierten circa 5000 Panzer, 7000 schwindigkeitsnetze, eins für den
eine Richtung argumentiert wird. allem auf die Landkarte. Flugzeuge, Millionen Schuss Mu- Personen-, eins für den Güterver-
Obwohl die Hälfte der Bevölke- David Malecki, Tübingen nition und weiteres Kriegsgerät zur kehr. Eine leistungsfähige, um-
rung in Deutschland eine immer Verfügung gestellt wurden. Das weltfreundliche, sichere Mobilität
tiefer gehende Verstrickung unse- Die jetzige Situation ist ein ein- trug wesentlich zur vernichtenden ist ein wichtiger Standortfaktor
res Landes in das Kriegsgesche- ziges Vabanquespiel. Von dem Niederlage des deutschen Aggres- für die deutsche Wirtschaft. Die
hen mit Sorge betrachtet! Durch einstigen Grundsatz »keine Waf- sors bei. Wer der Ukraine heute Zeit drängt.
einen frechen Titel provozieren fen in Kriegsgebiete« sind wir derartige Hilfsleistungen verwehrt, Hans Lafrenz, Hamburg
ist ja schön, aber bitte nicht bei meilenweit entfernt. Sukzessiv nimmt billigend in Kauf, dass Pu-
diesem Thema. wird die Lieferung tödlicher Waf- tins Mördertruppen weiter Men-
Alexandra Gehr, Deuerling (Bayern) fen zwar zögerlich, aber dennoch schen töten – und Schritt für Schritt
höchst riskant vollzogen. Was in Richtung Polen vordringen. KORREKTUREN
Das Titelbild ist widerlich, in- folgt auf die Bereitstellung von Dr. Klaus Swieczkowski, Hildburghausen Zum Nachruf auf Faye Cukier in
sofern aber realistisch, als wir Kampfpanzern? Sind Kampfflug- (Thüringen) Heft 5/2023, Seite 117: Die Holo-
langsam in die Mündung eines zeuge und Kriegsschiffe das caust-Überlebende Faye Cukier
großkalibrigen Geschützlaufs Nächste? Diese Strategie führt zu starb im Alter von 100 Jahren,
schauen. Leid und Tod, zur unnötigen Ver- Neuorientierung nicht, wie versehentlich geschrie-
Dr. Gregor Babaryka, Weismain (Bayern) längerung des unsäglichen Krie- ben, mit 101 Jahren.
ges. Die Gefahr, dass irgendwann der Mobilität Zu »Hauptziel ist der Unter-
Auf der Titelseite suggerieren Sie, ABC-Waffen zum Einsatz kom- Nr. 4/2023 Verkehr: Wo die Bahn leib« in Heft 5/2023, Seite 98:
dass der Leser Fakten über den men, ist zumindest latent gege- besonders oft verspätet ist – und warum Der Sportwissenschaftler und Ge-
militärischen Nutzen des Leopard ben. Im Übrigen bestimmt allein waltpräventionstrainer Swen
erfahren würde. Innen findet man Putin, wann die Schwelle zur Neben der zunehmenden Un- Körner ist 47, nicht 56 Jahre alt.
nur ein Bildchen aus dem Lehr- Kriegserklärung erreicht ist. Mö- pünktlichkeit der Reisefernzüge Zu »Müssen wir denn warten,
buch über Panzerschlachten, auf gen am Schluss die Vernunft und hat der Reisekomfort insgesamt bis alles in Schutt und Asche
dem die Kampfpanzer fast nicht Verhandlungen dieses schreck- ebenfalls stark nachgelassen: liegt?« in Heft 4/2023, Seite 66:
zu finden sind, zwei Kästen mit liche Szenario beenden. Kurzfristig geänderte Wagenrei- Der US-Autor des jüngst erschie-
bekannten, aber belanglosen Horst Winkler, Herne (NRW) hungen, oft defekte Toiletten und nenen Buches »Addicted to
technischen Daten und ein paar geschlossene oder nur mit redu- Growth: Societal Therapy for a
verklärende Werbefotos. Dafür Ich kann die Kritik am Zögern des ziertem Angebot geöffnete Bord- Sustainable Wellbeing Future«
wurden dann seitenweise die An- Kanzlers verstehen, aber mir ist bistros gehören leider auch zum wird richtig Robert Costanza ge-
sichten von A-, B- und C-Promis ein Kanzler, der langsam einen Alltag von Bahnreisenden in den schrieben, nicht Constanza.

120 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


Schule eine große Aufgabe zu,
Am Ende eines jeden Dank an die Steuer- Dieses Interview hat da dies der Ort ist, wo Jugend-
Krieges gibt es nur fahnderin für ihren mich tief berührt. liche sich in der Öffentlichkeit
Verlierer. Menschen langjährigen Einsatz Man kann vor Frau zeigen, sich Betroffene oder
Freunde Lehrer:innen anvertrau-
auf beiden Seiten und ihr Buch. In Hanan nur auf die en. Es ist daher entscheidend,
sterben. Wie kann Zeiten, in denen der Knie sinken und sie wie Lehrkräfte reagieren, Ver-
man da von »siegen« Staat Unsummen und alle Holocaust- trauen aufbauen, aber auch, dass
sprechen? Schulden machen Überlebenden um sie sich nicht zu Komplizen der
Betroffenen entwickeln. Es ist
Jürgen Schöfer, Manila muss, sollten Frau Verzeihung bitten. dringend notwendig, psychische
(Philippinen)
Orths’ Vorschläge Diese Untaten dürfen Erkrankungen von Kindern und
doch umgesetzt sich nie wiederholen Jugendlichen verstärkt in die
Ausbildung von Lehrer:innen
werden. und nie vergessen aller Schulformen zu integrieren.
Günter Pfeiffer, Herchen (NRW) werden. Ein rechtzeitig erkannter Be-
Rüdiger Stuis, München handlungsbedarf verhindert eine
Verfestigung.
Nr. 4/2023 Die Steuerfahnderin
Birgit E. Orths berichtet Nr. 4/2023 SPIEGEL-Gespräch Rainer Staska, Mitglied des Arbeitskreises
Nr. 5/2023 Titel: Kann die von dummen, dreisten und mit Rachel Hanan, die vier Schule und Psychiatrie, Herborn (Hessen)
Ukraine jetzt siegen? erfolgreichen Tätern Konzentrationslager überlebte
Dieser Artikel hat mitten ins Herz
getroffen, einfach, weil ich fast
Gefräßige Maschine rung. Die Politik und die Kon- ger adäquate, von Herzen kom- jede Zeile nachfühlen konnte und
zernlenker haben, wie Dixson- mende Hilfe bekommt und es fast der Bericht mehrere Jahre der
Nr. 4/2023 Nachhaltigkeit: SPIEGEL- Declève sagt, die Probleme ne- keine mit örtlichen Schulen ver- Verzweiflung und auch der Er-
Gespräch mit Sandrine Dixson-Declève,
Präsidentin des Club of Rome, über giert, und nun bleibt kaum noch netzten SchulpsychologInnen leichterung wieder aufgewühlt
düstere Vorhersagen ihrer Organisation Zeit, um das Richtige zu tun. Die oder SchulsozialarbeiterInnen hat. Gelernt haben wir, dass wir
Politik muss endlich handeln und gibt. Das Hilfssystem für Jugend- als Eltern die Hilfe Profis über-
Man muss sich nicht wundern, die Regeln der Marktwirtschaft liche ist in Westösterreich noch lassen müssen. Wir können nur
dass Frau Dixson-Declève in ihrer so verändern, dass Profit nur wesentlich dürftiger ausgebaut unterstützen, dürfen dafür aber
Position über eine gehörige Por- dann möglich ist, wenn umwelt- als in Deutschland, scheint mir. endlich wieder einfach nur Eltern
tion Optimismus verfügt, sonst schonend, nachhaltig und ge- Außer der Kinder- und Jugend- sein. Es steht und fällt mit dem
wäre der Posten sinnlos. Erstaun- meinwohlorientiert gewirtschaf- psychiatrie in Hall/Tirol waren richtigen Therapeuten, der ech-
lich ist nur, dass sich überhaupt tet wird. für uns lange keinerlei ambulante ten Zugang zum Kind findet.
noch jemand für die Position fin- Dieter Murmann, Dietzenbach (Hessen) Unterstützungsmöglichkeiten er- Letztendlich hat eine langfristige
det. Trotz der Erkenntnis, dass reichbar. Die Kinder- und Jugend- Therapie den Weg gewiesen, bei
die verheerenden Konsequenzen Die Weltwirtschaft kann man sich psychiatrie haben wir als sehr der unsere Tochter irgendwann
des Klimawandels bald nicht als gefräßige Maschine vorstellen, wenig hilfreichen, personell ab- zu dem Punkt kam, sich helfen
mehr abwendbar sein werden, ist die sich ziellos und zerstörerisch solut unterbesetzten und atmo- lassen zu wollen, um aus eigener
die Menschheit offensichtlich durch Raum und Zeit bewegt. sphärisch kalten Ort erleben müs- Kraft aus dem tiefen Loch zu
nicht willens gegenzusteuern. Es Es gibt keine vernunftbegabte sen, der die Not unserer Tochter kommen. Nach mehreren Jahren
ist so deprimierend! Zentrale, sondern zahlreiche Di- eher verschlimmert als gelindert durch diese Hölle sitzt eine ziem-
Carl Ibs, Salzgitter (Nieders.) lettanten, die jeweils ihren egois- hat. Man ist als Eltern in einer lich abgeklärte junge Frau neben
tischen Zielen folgend an der solchen Situation hier lange kom- mir, die ihre Grenzen kennt und
Vor 50 Jahren wurde eine wissen- Steuerung arbeiten. Das kann plett auf sich allein gestellt. Ich einen ganzen Handwerkskasten
schaftliche Analyse unserer auf nicht funktionieren, weil es würde mir so wünschen, dass voll Strategien hat für die Mo-
exponentiellem Wachstum basie- archaisch und chaotisch ist. Diese Schulen und Lehrpersonal besser mente, in denen es ihr nicht gut
renden zerstörerischen Lebens- weltweite Kleinstaaterei wird im- auf die Seelen unserer Kinder und geht. Das Allerschönste aber: Sie
weise veröffentlicht. Die vom mer eine globale Lösung verhin- Jugendlichen achten. Nichts wäre hat ihr Lachen zurückgewonnen,
Club of Rome erstellte Prognose dern. Nur eine Weltregierung mit wichtiger als das – schon gar nicht macht Pläne für die Zukunft und
»Die Grenzen des Wachstums« allen Vollmachten könnte den Klassenarbeiten, Referate und ist zu einem sehr mitfühlenden
hat zunächst für große Aufregung Kollaps aufhalten. Und das wird gute Noten! Menschen herangewachsen. Viel-
gesorgt. Aber schon bald wurden niemals geschehen. Martina Hahne-Mair, Kolsass (Österreich) leicht kann dieser gute Ausgang
die Aussagen, vor allem von der Rainer Kollewe, Laer (NRW) Mut machen. Der Weg ist lang
Wirtschaft, die gut an der gnaden- Aus unserer Erfahrung ist es tat- und hart, aber er lohnt sich. Liebe
losen Ausbeutung der Erde ver- sächlich so, dass Erziehungs- unbekannte Eltern: Haltet durch,
dient, in Zweifel gezogen. Die Mitten ins Herz berechtigte als Letzte erfahren, unterstützt euer Kind, aber über-
Menschen in den reichen Län- dass sich Kinder und Jugendliche lasst die Hauptarbeit den Profis.
dern der Nordhalbkugel haben Nr. 4/2023 Familie: Was tun, wenn selbst verletzen, weil sie Stra- Dann könnt ihr einfach wieder
das Kind sich selbst Wunden zufügt?
von dem System profitiert und Aus dem Alltag eines Vaters tegien entwickelt haben, dies nur Eltern sein. Und auch wich-
ließen sich gerne beruhigen. Erst zu verbergen. Hinweise gibt es tig: Verliert euch selbst nicht auf
mit der Jugendbewegung Fridays Endlich, endlich, endlich schreibt zwar, wie Schlabberkleidung diesem Weg!
for Future rückte das Thema, jemand auf, wie es ist. Danke! oder Rückzug, dies wird aber Michaela Stege, Hamburg
»unterstützt« von den inzwischen Lange habe ich nicht mehr so viel oft als pubertäre Entwicklung
immer häufigeren und katastro- geweint wie bei der Lektüre Ihres überspielt. Zumeist sind die Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
phaleren Umweltkatastrophen, Artikels. Fast alles wie bei uns, Ersten, denen sich geöffnet wird, gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
in das Bewusstsein der Bevölke- nur dass man in Tirol noch weni- engere Freunde. Hier kommt der unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 6 / 4.2.2023 DER SPIEGEL 121


L E TZ T E S E I T E

Wenn das Schwarze Meer grüne Welle hat HOHLSPIEGEL

Aushang in einem Restaurant in Hachenburg (Rhld.-Pf.):


ZEITREISE Spanien war das Vorbild – an der Schwarzmeerküste
bauten rumänische und bulgarische Funktionäre vor 50 Jahren Betten-
burgen. Beim Komfort blieb Luft nach oben.
Nr. 6/1973 »Nur für eiserne

Keystone-France / Gamma-Keystone / Getty Images


Nerven«

Für eine Weile bildeten


die Strände am Schwarzen Von msn.com:
Meer das »wohl dyna- »Der britische Sprecher sagte, dass beide
mischste und erstaunlichste Kampfflugzeuge ›extrem anspruchsvoll‹
Ferienziel unter den künst- seien und daher ›Monate brauchen, um das
lichen Paradiesen auf der Fliegen zu lernen‹.«
Weltkarte«, schrieb der SPIEGEL 1973. In Urlauber im
nur 16 Jahren steigerten Bulgariens »Frem- bulgarischen
Schild nahe Zell (Mosel):
denverkehrsmanager« die Zahl der Bade- Albena 1969
urlauber von null auf annähernd zwei Mil-
lionen, Rumänien mobilisierte »noch mehr noch Männer mit eisernen Nerven.« Der
Massen«. Komfort ließ Wünsche offen: »Nirgendwo
Zeitweise kam mehr als die Hälfte der sonst sind Hotelzimmer so klein und trostlos
Westurlauber aus der Bundesrepublik. Ob- möbliert, der Service so muffig und uninte-
wohl das Strandgedrängel teils »annähernd ressiert, die Küche so kläglich«, kritisierte der
spanisches Format erreicht« hatte, kündigte SPIEGEL . Von 1971 an erlahmte der Schwarz-
Rumäniens Tourismusminister an: »Wir wer- meer-Boom deutlich.
den an der Schwarzmeerküste noch dreimal In der Titelgeschichte der Ausgabe vor
so viele Betten bauen.« genau 50 Jahren ging es um die deutschen
Die Funktionäre warben mit dem »nostal- Polizisten und ihr »Dasein im Widerspruch«.
gischen Charme des Ostblocks« und lockten Sie sollten »höflich sein, ohne devot zu wir-
Familien mit »extrem großen Kinderermäßi- ken, bestimmt einschreiten, ohne zu weich Aus der »Sächsischen Zeitung«:
gungen«. Ein Reiseleiter berichtete von Hun- zu erscheinen«, kurz: Sie sollten »antiauto- »Rund 90 Prozent der Patientinnen in
derten Kindern, die bei Regenwetter zwischen ritäre Autorität« verkörpern, wie Berliner Deutschland waren 2022 Frauen.«
den Müttern in der Halle eines 1200-Betten- Polizeischullehrer von ihrem Nachwuchs
Hotels umhertollten. »Dann bleiben hier nur forderten. Rainer Lübbert
Aus den »Lübecker Nachrichten«:

Maßnahmen die staatlich verordnete Ab-


Restbestände schaffung der Demokratie diagnostizierten,
kehren an ihre Stammtische zurück und
entwickeln hoffnungsfroh neue Untergangs-
SO GESEHEN Was tun mit den
szenarien. Die Bundesländer verbrennen
Überbleibseln der Pandemie? 17 Millionen Schutzmasken, weitere werden
granuliert und als Dämmstoff und Auto- Aus dem SPIEGEL:
Die Maskenpflicht ist weitgehend abge- bahn-Flüsterasphalt verbaut. Ein Sonder- »Lundberg selbst wurde 1983 im Alter
schafft, die Fallzahlen sind niedrig, die kontingent geht, zu weichen Kissen ver- von sechs Monaten als Kim Jong Dae im
Krankheitsverläufe für die meisten nicht näht, als Spende an die Münchner Justiz- südkoreanischen Busan geboren.«
mehr gefährlich: Die Coronapandemie vollzugsanstalt Stadelheim, z. Hd. Andrea
scheint überstanden. Nun sucht das Land Tandler. Die Homeoffice-Ausstattung in
Aus einem Katalog des Buchversands Jokers:
nach Verwendungsmöglichkeiten für nicht Privathaushalten dient zunehmend nicht
mehr benötigte Covid-Ressourcen. mehr der öden und einsamen Arbeit im »Prof. Grönemeyer befasst sich seit über
Vielerlei Umschichtungen sind nahelie- Wohnzimmerbüro, sondern erquicklicher 40 Jahren mit der Heilung von Menschen.
gend: Frei gewordene Kapazitäten in Kran- Bildschirm-Freizeitbeschäftigung mit Er bezieht dabei alle Heilmethoden
kenhäusern können nun wieder für aufge- Computerspielen und Filmchenkonsum für der ganzen Welt mit ein. In seinem Buch
schobene Operationen an Oberweiten Kinder und Erwachsene. Die gehorteten erklärt er ihre Entstehung und zeigt,
eingesetzt werden. Tausende Medienschaf- Toilettenpapierbestände werden unter Ver- was man dagegen tun kann.«
fende, die in den vergangenen wendung von mindestens 12 Blatt pro
Jahren minütlich Corona- Wischvorgang zügig verspült. Schild in einem Schaufenster in Baden-Baden:
Liveticker mit dem jüngsten Manch eigens und unter hohen politi-
Pandemiegeschehen befüll- schen Kosten erworbenes Spezialgerät je-
ten, widmen sich nun der doch findet auch beim besten Willen keine
Klima-, Ukraine- und Verwendung. In der Pandemie galt es als
Ampelkrise. Be- überlebenswichtig, aus heutiger Perspektive
sorgte Bürgerin- lässt sich das kaum noch erklären. Selbst
nen und Bürger, die Experten stehen vor einem Rätsel: Was tun
angesichts der Corona- mit Karl Lauterbach? Stefan Kuzmany

122 DER SPIEGEL Nr. 6 / 4.2.2023


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