Österreich € 4,– / Schweiz CHF 6,50 / Frankreich, Italien, Spanien, Slowenien: € 4,90 / Portugal (cont.): € 5.

– / Kanaren: € 5,20 / Griechenland: € 5,50 / Benelux: € 4,20 / Finnland: € 6,– / Norwegen: NOK 58,– / Tschechien: CZK 170,– / Ungarn: HUF 1665,–

NR. 33 8. 8. 2013 € 3,70

KRAFT
„Ich hätte
sterben können“
HANNELORE NOAH
BECKER
es allen zeigen
Boris' Sohn will

Die dunklen Seiten der Ferieninsel

die Köche
So tricksen
Restaurants:
Neue Spuren im Fall Hoeneß
 editorial

Ein stern-Titel entsteht

Viele Leser sprechen uns auf unsere Titelbilder an. Bis die
druckfertig sind, zerbrechen sich unsere Titelgrafiker Derik
Meinköhn, Manuel Dollt und Michel Lengenfelder die Dominik Wichmann
Köpfe. Manche ihrer Ideen sind gut und manche haarscharf Chefredakteur
daneben – wie Entwürfe für diese Ausgabe zeigen

Die Marke
Mallorca
Was hat diese Palme
mit Mallorcas
Schattenseiten zu tun?
Und was macht der
Mann auf dem Baum? Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Keine Ahnung.
Weiter! dieses Jahr verbringen vier Millionen Deutsche ihren
Urlaub auf Mallorca. Das sind so viele Besucher wie noch
nie zuvor. Die schiere Größe der Zahl regt zu ein paar
Mutmaßungen darüber an, warum wir die Mittelmeerinsel
Schöne Zeile! gegenwärtig so schätzen. Mallorca ist das Gegenteil von
„Olé! Oje oje oje!“ Kapiert Exotik, Mallorca ist berechenbar: die Anreise simpel; der
nur keiner. Und die
Bikinifrau ist voll aus den Himmel wahrscheinlich wolkenlos; das Essen vertraut;
Achtzigern. Weg damit – die Sprache im Idealfall identisch und das touristische
bevor Alice Schwarzer Angebot inzwischen so differenziert, dass jede Zielgruppe
einen Leserbrief schreibt. genau das findet, was sie erwartet. Mallorca ist zu einer
Marke geworden. Diese Marke verspricht Sicherheit in
jeder Hinsicht und erfüllt damit perfekt die Ansprüche
unserer Leistungsgesellschaft. Denn die Abwechslung
Ist das bunt. Eine
Variante für Daniela vom Alltag wird so effizient gestaltet wie der Alltag selbst.
Katzenberger. Oder Hinter den Fassaden jedoch begegnete unseren Reportern
Fans von „Miami Joachim Rienhardt, Andreas Albes und Stefan Schmitz
Vice“. Aber liegt ein großes Maß an Elend, Kriminalität und Verzweiflung.
Mallorca in Florida? Mallorca ist eben keine Utopie, sondern Realität. Seite 42
Eher nicht.
Die Sommerpause in Berlin nähert sich dem Ende, der
Parteienstreit dürfte nun rasch an Hitze zulegen. Endlich.
Denn bislang bieten die Politiker uns Bürgern nicht mehr
Botschaft mit dem als müde Pflichtdebatten. Als ginge es bei der Bundes-
Holzhammer: Mallorca
tagswahl um nichts. Hoffentlich jetzt also: Wahl-Kampf.
ist böse, böse, böse.
Stimmt so nur nicht. Es bricht die Zeit der Fernsehduelle an, der Vorträge auf
Und wirkt am Kiosk Marktplätzen vor Tausenden, das Ringen um jede Stimme.
eher abschreckend. Reden sind Werbung. Nun haben allerdings Peer Steinbrück
Bitte etwas freundlicher. und Angela Merkel beide nicht unbedingt den Ruf, begna-
dete Redner zu sein. Für den stern hat der Sprachkritiker
und Essayist Fritz J. Raddatz Hunderte Interviews und Bei-
träge der beiden Kandidaten analysiert. In dieser Ausgabe
Es geht, aber diese
Kaugummioptik ist des drucken wir sein Urteil über die rhetorischen Absonder-
Guten doch wirklich lichkeiten der Kanzlerin Angela Merkel. Feingeist Raddatz
zu viel. Dezentere entlarvt ihre „Grammatik des Unkonkreten“ und nimmt
Farben wären gut. sich das „Banalitätsgeschaukel ihrer Leerformen“ vor – das
Und etwas mehr Ernst- liest sich vergnüglich und zwingt zugleich zum Nachden-
haftigkeit. Geht nicht? ken. Denn die Zeiten mögen hart sein, ernst genommen
werden möchte man bitte schon. Seite 54

Herzlichst Ihr
Doch, das geht. Die Insel
erkennt jeder – oder?
Welcher Entwurf gefällt
Ihnen am besten?
Bitte schreiben Sie mir:
Dominik.Wichmann@stern.de

8.8.2013 5
Inhalt Diese Woche
Titel
Mallorca Das harte Leben jenseits
von Ballermann und Fincas 42
Politik
Zwischenruf Hans-Ulrich Jörges:
Merkels letzte drei Jahre 24
stern-Trends 1. Wahlumfrage
2. SPD noch mit Wählerpotenzial 25
Drohnen-Affäre Dokumente der US-
Rüstungsindustrie zeigen deutsche

56
Partner als Kuchenbäcker 32
Essay Der Stil-Kritiker Fritz J.
Krise? Doch nicht Raddatz über die Sprache Angela
Merkels 54 Ministerpräsidentin Hannelore Kraft über
auf Mallorca. So die Krankheit, die ihr fast zum Verhängnis
denken die Deut- Gesellschaft geworden wäre – das stern-Gespräch
schen. Aber es gibt
sie, die Probleme, Die Welt verstehen Kurze Antworten
und sie sind in auf aktuelle Fragen 22
diesem Sommer Die Welt auf einer Serviette Stefan
größer denn je. Gwildis und sein Teekistenbass 25
Ein Report über Vorher – nachher Ob als Rambo oder
die dunklen Seiten Angler: Wladimir Putin liebt die Pose 26
unserer liebsten
Ferieninsel 42 2 Uli Hoeneß Hatte der Bayern-Boss
TiTel: RaineR JunkeR/PRisma BildagenTuR; ediToRial: ValeRio BisPuRi,geTTy, dPa, PlainPicTuRe (3), illusTRaTion: naTalie neomi isseR;

mehr Konten als bisher bekannt? 28

Datenschutz Auch Kaufhäuser spähen
ihre Kunden aus – per Smartphone 30
manuell doll; inhalT: VolkeR hinz; Timmo schReiBeR; hazel ThomPson; Tomeu coll; isadoRa TasT; hoRsT FRiedRichs

Sehen und verstehen Wo die Deut-

schen am häufigsten Urlaub machen 34
Nachruf Fritz Pleitgen über Thyssen-
Krupp-Patriarch Berthold Beitz 36
2
64
Noah Becker Wie es ist, der Sohn
von Boris zu sein 72
Kriminalität Die Geschichte von
zwei Auftragsmördern, die sich in Doping: Womit sich Leis-
der Tür irrten 84 tungssportler aufputschen
Das stern-Gespräch
2 Hannelore Kraft Die NRW-Minister-
präsidentin über Armut, Steinbrück –
und ihre chronische Erkrankung 56

eMagazine Sport
Der stern erscheint Fußball I Bayern wird Meister –
auch für iPads und glaubt jeder zweite Deutsche 21
Android-Tablets,
immer mit exklusivem Doping Was wirkt wie? Bei wem
Zusatzmaterial. wurde was gefunden? 64
Download mittwochs Fußball II Bundesliga – die beste Liga
ab 18 Uhr. Abonnen- der Welt 80

72
ten des stern können
das eMagazine Wissen
kostenlos laden, siehe
www.stern.de/eabo. Diagnose Zehn Jahre quälender
Einzelkäufer zahlen Juckreiz – und die Erlösung 77 Schweres Erbe: Noah Becker
pro Ausgabe Fotografie will mehr sein als nur Sohn
2,69 Euro, siehe www. von Boris, der Tennislegende
stern.de/emagazine Sommer Eine Woche im Freibad 96

6 8.8.2013 Auf dem Titel angekündigte Themen sind mit einem 2 gekennzeichnet
 96
NR. 33 VoM 8. AUgUST 2013

In Massen glücklich: die

Deutschen im Freibad

Serie
2 stern-Branchencheck, Teil 3:
Woran man ein gutes Restaurant
erkennt: Gespräch mit Ralf
Flinkenflügel vom Guide Michelin 90
Kleiner Wegweiser zum guten Essen 93

Journal
Unterhaltung
Bryan Cranston Alles andere als
ein Monster: der Hauptdarsteller
der US-Serie „Breaking Bad“ 108
Kolumne Sylt. Ein neuer Versuch.
Von Meike Winnemuth 110
Im Bett mit Filmregisseur Roland
Emmerich 112
Augenblick Ein Bildband feiert die
Prachtgärten Ludwigs XIV. und ihren

42
Baumeister André Le Nôtre 118
Was macht eigentlich?
Astrid Kumbernuss, die beim Kugel-
Schon die Kinder in stoßen sieben Mal Gold gewann 134
Palmas Armenviertel Lebensfreude
wissen, wie man sich
durchschlägt. Abseits Was uns gefällt Gutes und Schönes
der Strände kämpft zum Aufstellen und Losgehen 111
Mallorca mit den Fol-
gen der Krise Vorwärts! Lange wird er nicht mehr
verkauft: der Lada Niva im Test 116
Leben, wo andere Urlaub machen
Das besondere Licht von St Ives in
Cornwall ließ auch Malerin Marion
Taylor nicht mehr los 128
Kultur-Tipps
Film Daneben: „Lone Ranger“ mit
Johnny Depp 120
Bestseller Film Mit DVD-Tipp 121
Buch Abgründig: der Roman „Die
Verfolgung“ von Alessandro Piperno 122
Bestseller Buch 122
Was ich höre Sängerin Katie Melua
ist Fan von Folk-Star Laura Marling 124
Bestseller Musik 124
Rubriken
Echo Die Seite der Leser 10
Bilder der Woche 12
Sehen und gesehen werden 32
Luftblasen, Haderer, Til Mette 30, 38, 71
Tetsche, Ein Quantum Trost 126, 127
Impressum 105

128 Köstliches Eis aus … England!?

Zu Besuch in Cornwall

8.8.2013 7
 echo

Ein ausgezeichneter Essay von Walter Unverschämt und peinlich

Ihre Interviewführung ist zwischen
Wüllenweber, der die Entfremdung unverschämt und peinlich anzu-
zwischen Amerika und Deutschland auf siedeln – vor allem im persönlichen
Bereich. Ich wäre anstelle von Herrn
den Punkt bringt. Der Kommentar von Döpfner viel früher ausgeflippt,
Daniel Hamilton ist dagegen sehr schwach. deshalb: Respekt!
Letztlich arbeitet der stern auch
Gilbert Esseiva, Steinhausen, Schweiz nicht anders, als er „Bild“ vorwirft.
Peter Naujok, Nürnberg

stern Nr. 32, Porträt des Schlagerstars

ES STAnd IM STErn Danke, Amerika Roland Kaiser
stern Nr. 32, „Die Freiheit nehm ich dir“ Durch ein Versehen fehlte zu dieser
Danke, Amerika, für die Befreiung Geschichte der Name der Autorin.
von den Nazis, für Marshallplan Den Text schrieb stern-Redakteurin
und Care-Pakete, für „Ich bin ein Helen Bömelburg. Die Redaktion
Berliner“, für die Unterstützung
bei der Wiedervereinigung, für den
rEdE und AnTWorT
Kampf gegen den Terrorismus, für
den Kauf unzähliger VWs, BMWs,
Porsches, Mercedes‘, Audis. Die
USA, ein riesiges Land, das auch
einige Macken hat. Niemand kann
ihm übel nehmen, dass es seine
Freiheit schützen will seit dem
Die „Lead Awards“ gehören zu Nominiert
fürs „Foto des 11.September. Wenn da schon in-
den begehrtesten Auszeichnun-
gen für Zeitschriftengestaltung Jahres“ ist tensiver ausgespäht worden wäre,
ein Bild vom hätten islamische Extremisten In jedem stern: Bestsellerlisten für Film,
und -fotografie in Deutschland.
Tahrir-Platz in vielleicht nicht die Chance gehabt, Musik und Buch
Für die Preisverleihung am Kairo, erschie-
13. September wurden der stern sich in Hamburg-Harburg ruhig Sehr geehrte Damen und Herren,
nen in stern
und seine Mitarbeiter in sechs Nr. 6/2013, auf ihre Mordaktion vorzubereiten. warum werden bei den Bestsellern
Kategorien nominiert. Alle aus- fotografiert Karl Jobig, Dresden nur in der Sparte „Film“ Verkaufs-
gewählten Arbeiten sind bereits von Mohamed bzw. Besucherzahlen angegeben
jetzt im Haus der Photographie Abd al-Ghany Reflexhafter Vorwurf und in den anderen Sparten nicht?
in den Hamburger Deichtor- Der amerikanische Mythos von Gerhard Ketz, Baden-Baden
hallen zu sehen (geöffnet Di–So Freiheit und Gerechtigkeit ist
11–18 Uhr). Bis zum 10. Septem- schon lange als naive Wunsch- Sehr geehrter Herr Ketz,
ber können sich Besucher der vorstellung entlarvt. Kaum ein da rühren Sie an einen Punkt,
Ausstellung an einer Publikums-
anderes Land setzt sich dermaßen der uns Kulturberichterstatter
bewertung beteiligen.
Anschließend wird deren Urteil arrogant und selbstgerecht über schon länger juckt. Kurze Antwort:
neben dem der Fachjury gezeigt. die Rechte und Empfindungen Das wird schon immer so gemacht!
eigener und ausländischer Längere Erklärung: Das zuständige
Staatsbürger hinweg. Wer dies Marktforschungsunternehmen
auszusprechen wagt, wird reflex- Media Control ermittelt natürlich
LESEr-SErVIcE haft des Antiamerikanismus sowohl für CDs als auch für
bezichtigt. Was sollen wir uns Bücher absolute Verkaufszahlen.
Wie finden Sie diesen stern? noch alles gefallen lassen? Die dürfen aber traditionell – bei
Ihre Meinung interessiert uns! Horst Nattermann, Grünstadt Musik seit 1977, bei Büchern seit
stern-Leserbriefredaktion, Brieffach 18, 20444 Hamburg
Telefax: 040 /37 03 56 27, E-Mail: briefe@stern.de 1984 – nur branchenintern
Die Redaktion behält sich Kürzungen vor. Bitte geben Sehr amüsant veröffentlicht werde. Zum einen,
Sie Namen und Anschrift an. stern Nr. 31, „Ein Drogendruide. um nicht konkrete Umsätze bei
Rücksichtslos. Radikal modern. Verlagen oder Ladengeschäften
facebook.com/stern Ein Innovator“ – Interview mit
offenzulegen, zum anderen, um
Service für Leser und Abonnenten Springer-Chef Mathias Döpfner
Manipulationen etwa durch Mas-
Fragen an die Redaktion
Telefon: 040/37 03 35 42, Telefax: 040/37 03 57 68 Vielen Dank an die Herren Döpfner senkäufe zu vermeiden. Würden
E-Mail: leserdienst@stern.de und Maus für das sehr amüsante wir Verkaufszahlen drucken, wenn
Artikelabfrage im Archiv stern-Gespräch. Viel über Wagner wir sie denn bekämen? Aber sofort!
Telefon: (Mo.–Fr. 10–12 Uhr): 040/37 03 38 88 Fax: 040/37 03 57 81
Bestellung älterer Ausgaben
gelernt und die Psyche des Mit freundlichen Grüßen,
Anfragen mit gewünschter Heftnummer an stern-Versandservice, Menschen im Allgemeinen. Matthias Schmidt,
20080 Hamburg oder per E-Mail an Heft-Service@guj.de Udo Wassmann, Detmold Redakteur im Ressort Leben

10 8.8.2013
 Bilder
der
Woche
Jordanien

Fluchtversuch
Sie wollen weg aus dem Flücht-
lingslager und zurück in den
Krieg, so verzweifelt sind sie.
Das Lager Za’atari in Jordanien,
gleich hinter der syrischen
Grenze, ist ein verkommener
Ort. Jeden Tag werden hier Syrer
aufgenommen, die den Krieg
hinter sich lassen wollen. Immer
mehr Menschen drängen sich
in den Zelten, es fehlt an allem.
So gibt es inzwischen auch
solche, die Za’atari wieder ver-

foto: MUHAMMAD HAMED/REUtERs

lassen wollen. Unbedingt. Nach
Monaten im Lager glauben sie,
draußen könne es nur besser
werden, selbst in Syrien, dem
Bürgerkriegsland. Morgens
stellen sie sich an, warten auf
die Lastwagen. Sie kämpfen um
einen Platz. Damit sie zurück-
dürfen, zurück in den Krieg.

8.8.2013 13
 Helgoland

Kinderstube
Sie sind erst ein Jahr alt, aber
bereit für ein Leben in Freiheit:
Diese Junghummer wurden von
Mitarbeitern der Biologischen
Anstalt Helgoland aufgezogen,
um die Bestände der Krebsart
in der Nordsee zu stabilisieren.
Vor dem Zweiten Weltkrieg
wurden um Helgoland bis zu
80 000 Hummer pro Jahr gefan-
gen. Danach sank der Bestand
rapide: Ihr Lebensraum wurde
durch Bomben der Alliierten
zerstört, später durch Muni-

foto: Sean Gallup/Getty ImaGeS

tionsreste, Öl oder Chemikalien
verschmutzt. Derzeit schätzen
Wissenschaftler, dass wieder
etwa 30 000 Tiere im Bereich
der Insel leben. Plus den 415
Exemplaren, die jetzt ausge-
wildert wurden. Lang lebe der
Hummer. Ohne Kummer.

8.8.2013 15
 Wacken

Feuertaufe
Wo die Luft brennt, da ist es heiß.
Da erliegt man in der Hitze des
Augenblicks schon mal einer
bizarren Sinnestäuschung. Beim
Heavy-Metal-Festival von
Wacken hatten Tausende von
Zuschauern den Eindruck, als
würde die sehr deutsche Rock-
band Rammstein mit dem noch
viel deutscheren Enzian-Sänger

foto: Carsten rehder/dPa/PiCture-allianCe

Heino gemeinsame Sache
machen. Wie absurd! Und wie
werbewirksam! Zumindest für
Heino, der nämlich tatsächlich
mit Rammstein-Frontmann
Till Lindemann (r.) den Song
„Sonne“ sang und so seine
Feuertaufe in Wacken bestand.
Hier scheint sich Lindemann gar
vor Heino zu verbeugen. Schon
wieder eine fiese Halluzination!
Oder sehen Sie das etwa auch?

8.8.2013 17
 Frankreich

Rekordstart
Das Wichtigste: nicht drängeln.
Schön ruhig bleiben, langsam
den Ballon füllen, auch wenn
die anderen schon von oben die
Sicht genießen. Das Schlimmste,
was bei so einem Rekordver-
such wie diesem hier im franzö-
sischen Chambley-Bussières
passieren kann, ist ein Crash,
nur weil es jemand nicht abwar-
ten konnte. Wenn so ein Heiß-
luftballon von unten gegen
einen Korb kracht, reißt schnell
der Stoff. Leichtes Touchieren
macht nichts. Ausweichen geht

foto: AlexAndre MArchi/AP

kaum, denn ein Ballon lässt
sich nur nach unten und oben
navigieren – den Rest regelt
der Wind. Und trotz alldem: Der
Rekordversuch ist den Ballon-
fahrern geglückt. 408 Heißluft-
ballons hoben gemeinsam ab.

8.8.2013 19
 WOCHE
Politik • Wirtschaft • Gesellschaft • Wissen • sPort • kultur

DIESE
InfografIk: datenbasIs: 1001 befragte am 31. JulI und 1. august. Quelle: forsa. foto: bernd ducke/Your Photo todaY

Wer wird
Deutscher
Meister?

die meisterschale:
auf ihr sind alle
Fußballmeister seit
1903 eingraviert
49 %
FC Bayern

Anpfiff 24 %
Für eine Hälfte der Männer endet das Leiden: Die Fußball-Bundesliga beginnt wieder
Borussia

M
änner, auf ein Wort! Was soll das? Könnt ihr
nicht, wollt ihr nicht, dürft ihr nicht wollen,
oder was ist los mit euch? Einfach nur die
alles lähmende Sommerhitze? Zu viel Frauen-
EM geguckt? Oder wie soll man folgende Zahlen
erklären, die uns Sportfreunde vom stern einfach nur
geschockt auf unsere alte „Kicker“-Stecktabelle an
der Wand starren lassen: Am Freitagabend geht es
endlich, endlich wieder los, Bayern! gegen! Gladbach!
Hach, die Fußball-Bundesliga startet in die 51. Sai-
son (siehe Seite 80) – und der Hälfte von euch geht
das am Stollen vorbei. Das kann, das darf doch nicht
Dortmund
sein, Männer! Dass sich nur jede fünfte Frau sehr
stark oder stark für die Liga interessiert – geschenkt, 4%
haben wir nicht anders erwartet. Aber nur 47 Prozent anderer Verein
von euch? Nicht wirklich überrascht hat uns dagegen
ein weiteres Umfrageergebnis: 49 Prozent der Deut-
schen glauben, dass Bayern München wieder Meis- 23 %
ter wird, bei den Fußball-Enthusiasten sind es sogar
62 Prozent (und über welches Geheimwissen jenes weiß nicht
eine Prozent verfügt, das auf Werder Bremen tippt, Stern-trend
wüssten wir auch gern). Nur eins noch, Männer: alle Stern-
Wenn ihr demnächst mal nach Sex gefragt werden trendS Sind ForSa-
solltet – ein wenig mehr Enthusiasmus, bitte! 2 UmFragen im
aUFtrag deS Stern

8.8.2013 21

4 2
Die Welt verstehen
Kurze Antworten auf aktuelle Fragen
1 China
Entdecken die Menschen jetzt
die Liebe zum Tier?
Im Sommer tragen viele Tiere an den Pfoten
kleine Schuhe. Ihre Besitzer wollen sie so
vor der Hitze schützen. Hunde und Katzen
haben längst neue Liebhaber gefunden –
außerhalb der Gourmet-Szene. Mit dem
Wohlstand entdecken immer mehr
Chinesen auch ihr Herz für Tiere. Viele
alleinstehende Großstadtbewohner teilen
Rausputzen statt Verputzen: Friseursalon für Hunde in Tonglu, Ostchina
22 8.8.2013
diese woche
3 5
6 1
Wohnung und Schlafzimmer inzwischen
mit dem Lieblingstier. Wenn die Provinz-
stadt Yulin zum jährlichen Hundefleisch-
Fest ruft, demonstrieren Tausende gegen die
alte Tradition. Aktivisten organisieren sogar
Befreiungsaktionen. Für viele sind sie die
neuen Helden einer Gesellschaft, in der
Tiere ganz plötzlich zu Freunden
geworden sind.
Janis Vougioukas, stern-Asienreporter,
antwortet Leserin Sandra Kraus
Haft bleibt Silvio Berlusconi, 76, erspart
– trotz einer Strafe von vier Jahren
2 Italien
Müssen Alte wirklich nicht
ins Gefängnis?
Hinter Gitter kommen über
70-Jährige in Italien nur, wenn sie
zu lebenslanger Haftstrafe wegen
Kapitalverbrechen oder Mafia-
Delikten verurteilt wurden. Allen
anderen Senioren bleibt der
Knast erspart: Sie werden nach
dem Urteil unter Hausarrest
gestellt. Manche verbüßen ihre
Strafen auch in Krankenhäusern
oder Altenheimen. Das kann ein
Richter festlegen. Ins Gefängnis
wandern sie allerdings, sollten sie
den Hausarrest nicht befolgen
oder in dieser Zeit erneut
Straftaten begehen.
Luisa Brandl,
stern-Büro Rom
 3 Großbritannien
Warum gibt es mehr Sex-Unfälle?
Seit 2010 sei die Anzahl der Notrufe im Zusammenhang
mit erotischen Experimenten gestiegen – das meldet die
Londoner Feuerwehr, die ausrücken muss, um Menschen
aus misslicher Lage zu befreien. Vor allem Handschellen
seien häufiger im Spiel. Ob die SM-Romanze „Fifty Shades
Wolfgang Schmidbauer, 72,
of Grey“ dahintersteckt, wie nun vermutet wird? Mag sein,
ist Psychoanalytiker,
allerdings wird dort meist mit einer Krawatte gefesselt, Kolumnist und Sachbuchautor
Am besten was aus mehreren Gründen praktischer sein dürfte.
vorher auspro- („Hilflose Helfer“)
bieren, ob das Wer Handschellen bevorzugt, dem rät die Feuer-
Schloss auch wehr: Die Schlüssel bitte in Reichweite behalten!
wieder aufgeht Andrea ritter, stern-Reporterin 6 Spanien
Wie wird der Lokführer
mit seiner Schuld fertig?

4 USA
Droht eine neue
Immobilienblase?
Kürzlich in meinem Wohnviertel:
Rund 150 Leute drängen sich in
die Tür, binnen einer Woche ist das
Haus verkauft – für 50 000 Dollar
über dem inserierten Preis. Der
Wahnsinn geht wieder los, sagte der
Makler: Vor allem in Metropolen
sind die Preise im Vergleich zum
Vorjahr um 20 Prozent gestiegen.
Die Zinsen sind niedrig, die Häuser
relativ billig. Immobilienfinanzierer
spekulieren wie zur Hochphase
des „Real Estate“-Fiebers. Hedge-
fonds-Manager John Paulson kün-
digte „wie in der Bibel“ sieben fette
Jahre an. Der Mann ist
kein Spinner, er hat 2007 den Crash
vorhergesehen und Milliarden
am Niedergang seiner Wall-
Street-Kollegen verdient. Auch
wenn es noch keine Blase ist:
Die Stimmung dreht.
Christine Kruttschnitt,
Fotos: xinhua/imago; aLEssanDRo BianChi/REutERs; DDp imagEs; miChaEL ConRoy/ap
5 Deutschland
Was ist ein
Doktortitel wert?
Viel. Trotz aller Skandale um
Plagiate und fehlerhaftes Zitieren,
die so manchen Minister zu Fall
und nun auch Bundestags-
präsident Norbert Lammert
ins Gerede brachten: Der akade-
Hat das Ansehen mische Titel beschert Geld,
des Doktortitels
gelitten? Ansehen und steigert die Karriere-
aussichten. Promovierte verdienen
nach einer Studie des Instituts
für Hochschulforschung (HIS)
49 % im Schnitt 75 500 Euro brutto
im Jahr. Das sind stolze 20 Prozent
mehr als einfache Hochschul-
ja absolventen (62 800 Euro).
„Eine Promotion ist in Deutsch-
land viel wichtiger für die Karriere
als etwa in angelsächsischen
47 % Ländern“, sagt HIS-Forscher Kolja
Briedis, der regelmäßig den Erfolg
von Absolventen untersucht.
Knapp 60 Prozent der Doktoren
nein
nehmen eine Führungsposition
E
s ist verständlich, dass sich
Lokführer Francisco José
Garzón Amo, dessen Zug kürz-
lich in der Kurve entgleiste,
nicht erklären kann, was passiert
ist. „Ich sage es Ihnen ganz ehrlich,
dass ich es nicht weiß, ich bin doch
nicht so verrückt, nicht zu bremsen“,
sagte er bei seiner Anhörung vor
den Staatsanwälten. Der Unfall
wird von ihm als persönlichkeits-
fremd angesehen, in Abstand
gerückt. Garzón Amo wird diese
Augenblicke immer wieder durch-
leben und sich fragen, wie es dazu
kam. Er wird keine Antwort finden.
Viele Tausend Male hat er im
richtigen Moment gebremst, jetzt
ein einziges Mal nicht! So sehr
er versucht, den Fehler in seiner
Erinnerung zu fassen, er findet nur
die grausamen Folgen. Er soll
gesagt haben, er würde lieber
sterben, „als mit der Schuld leben
zu müssen“. Seine Angehörigen
sollten gut auf ihn achten, denn es

stern-Korrespondentin in
Los Angeles
5Was wollen Sie wissen?
„Verkauft“: Plötzlich sind Häuser in
den USA wieder sehr begehrt
ein. Fast jeder zweite Spitzen-
4% manager in Deutschland hat
weiß nicht promoviert, bei den leitenden
Beamten in den Ministerien
Stern-trend
sind es 40 Prozent. Jeder dritte
Promovierte arbeitet übrigens als
Arzt oder Apotheker. Laut der
HIS-Studie erhöht das „Herr und
Frau Doktor“ die Akzeptanz bei
Patienten. Vor allem den Jüngeren
(56 Prozent) ist der
Doktortitel noch wichtig.
doris Schneyink,
stern-Wirtschaftsreporterin
Richten Sie Ihre Fragen an:
weltkarte@stern.de
erschwert die Verarbeitung solcher
Traumatisierungen, wenn man
nicht körperlich verletzt wurde,
sondern allein den seelischen
Schock zu verarbeiten hat.
Dann quälen den Überlebenden
besonders heftige Schuldgefühle:
Warum bin nicht auch ich gestorben
und erlöst? Hilfreich für die
Verarbeitung wäre eine feste
religiöse Überzeugung, eine starke
Bindung an Familie und Freunde,
die ihm zur Seite stehen. Vielleicht
auch noch die Einsicht, dass nicht
allein menschliches Versagen für
die vielen Toten verantwortlich ist,
sondern ein vom Geschwindig-
keitsrausch besessenes Verkehrs-
system, das den Unaufmerksamen
zum Todesengel macht. 2
8.8.2013 23

Hans-Ulrich Jörges,
Mitglied der stern-Chefredaktion,
schreibt jede Woche an dieser Stelle
F
ür Angela Merkels Lebenspla-
nung hat eine Ziffer wegwei-
sende Bedeutung. Es ist die
25. Am 18. Januar 1991 wurde
sie als Ministerin für Frauen
und Jugend im Kabinett Kohl
vereidigt, es war ihr Eintrittsdatum
in die Bundespolitik. 25 Jahre später
will sie als Bundeskanzlerin aufhö-
ren. 2016 soll ihr Austrittsdatum
werden, das Jahr vor der Bundes-
tagswahl 2017. Sofern sie im Septem-
ber im Amt bestätigt wird, woran
aktuell wenig Zweifel besteht. Und
sofern die neue Koalition den Über-
gang gefahrlos möglich macht.
Ein Vierteljahrhundert in der
deutschen Spitzenpolitik, davon
dann 16 Jahre als CDU-Vorsitzende
und elf Jahre als Kanzlerin, das ist
eine mächtige Strecke. Das reicht
ihr. Am 17. Juli 2016 wird sie 62, ihr
Mann Joachim Sauer 67 am 19. April.
Zur Wiederwahl 2017 jedenfalls
möchte sie sich nicht mehr stellen.
Also muss der oder die Nachfol-
ger/in die Chance erhalten, im Kanz-
leramt wenigstens ein Jahr lang Ge-
sicht zu zeigen, um mit den Würden
des Amtes in die Wahl 2017 zu gehen.
Vollendete Merkel hingegen die Le-
gislaturperiode, hätte die neue Füh-
rungsfigur ohne Kanzlerbonus an-
zutreten. Wahlen gewinnt man aber
nun mal leichter aus der Macht. In-
Merkels letzte
drei Jahre
Die Kanzlerin möchte 2016 aufhören. Und sich dann einen
Lebenstraum erfüllen. Glauben Sie keinem Dementi
24 8.8.2013
diese woche
sofern fügen sich Merkels magische
25 und die Mechanik des Wechsels.
Diese Mechanik, Kanzlerneuwahl
2016, funktionierte in einer Koali-
tion mit der FDP wohl störungsfrei.
In einer Großen Koalition wäre sie
indes risikobehaftet, die SPD könnte
die Sache platzen lassen. Die Koali-
tionsstatik muss also stimmen, die
Übergabe berechenbar sein.
Merkels Abschied aus dem Kanz-
leramt soll einer aus der Politik
generell sein. Alle Spekulationen,
sie könnte danach an einem Spit-
zenamt bei den Vereinten Nationen
oder in der Europäischen Union
interessiert sein, sind ohne Subs-
tanz. Sie will aufhören. Und leben.
Einen Lebenstraum, so höre ich,
möchte sie sich erfüllen: mit ihrem
Mann den Pan-American Highway
hinunterfahren. Der verbindet die
beiden Amerikas, den Norden und
den Süden, beginnt in der Prudhoe
Bay von Alaska und endet in Ushuaia,
der südlichsten Stadt der Welt im
argentinischen Feuerland. Rund
48 000 Kilometer lang ist dieses
Straßennetz durch Kanada, die USA
und Mexiko über Mittelamerika,
Kolumbien, Peru und Chile bis zum
äußersten Zipfel Südamerikas.
Das braucht Zeit, Reiselust und
Abenteurertum. Für Merkel schlösse
sich damit ein ganz besonderer Le-
benszyklus. Schon als Jugendliche
in der DDR hatte sie Reiseabenteuer
zwiScHenrUf aUS Berlin
gesucht, nicht nur Russland, Polen,
die ČSSR und die Ukraine besucht.
Sie trampte mit Freunden durch die
südlichen Sowjetrepubliken bis in
den Kaukasus und übernachtete im
georgischen Tiflis bei Obdachlosen
im Bahnhofsasyl. Den Osten kennt
sie, nun soll der Westen folgen.
Sofern ihr die Machtübergabe ge-
lingt. Denn einstürzen darf das Kar-
tenhaus CDU nicht, wenn sie geht.
Ein Viertel- Stünde das zu befürchten, würde
jahrhundert ihr Ausscheiden als Hinschmeißen
in der interpretiert. Der Wechsel wäre
deutschen misslungen, die Merkel-Ära am
Ende sogar historisch verdorben.
Spitzen- Alle Aufmerksamkeit ist also
politik, das darauf zu richten, wen sie – im Falle
reicht ihr eines Wahlsiegs – unionsseitig in
ihr Kabinett holt und wem davon
die Nachfolge zuzutrauen wäre.
Schon mit der Vereidigung des Ka-
binetts wäre das Rennen eröffnet,
denn die Aspiranten wissen, worum
es geht. Ursula von der Leyen hat
zwar im Moment extrem schlechte
Karten in der Unionsfraktion, aber
das muss nicht so bleiben. Auch der
Imageverlust Thomas de Maizières
durch die Drohnenaffäre dürfte
nicht von Ewigkeit sein. In den
Machtzirkeln der CDU stellt man
sich zudem darauf ein, dass Merkel
den ehemaligen niedersächsischen
Ministerpräsidenten David Mc Allis-
ter nach Berlin holen würde.
Allein entscheiden kann sie frei-
lich nicht. Die Kanzlerin wird in
der Nachfolgefrage ein gewichtiges,
vielleicht gar das ausschlaggebende
Wort haben, doch die Aussicht auf
das Ende ihrer Ära müsste die sanft
entschlummerte CDU, nicht zu ver-
gessen: auch die CSU, wachrütteln.
In der Regel kommt der Kanzler aus
dem Bundestag. Aber es geht ja auch
um den CDU-Vorsitz. Kehrt Fried-
rich Merz, der schwarze Traumprinz,
in die Politik zurück? Will Norbert
Röttgen wieder mitmischen?
Viel wichtiger aber ist die Frage,
wie Merkel ihre letzten drei Jahre
politisch ausfüllt. Regiert sie noch
präsidialer – oder kantiger, da sie
nicht mehr wiedergewählt werden
illustration: jan stöwe
möchte? Es wird spannend nach
dem 22. September. Angela Merkel
kann an diesem Tag vermutlich zum
letzten Mal gewählt werden. 2
Bitte lesen Sie auch auf Seite 54:
Fritz J. Raddatz über Merkels Rhetorik
 diese woche

STErn-rTL-WahLTrEnD
Wenn an diesem Sonntag
Bundestagswahl wäre …

5 5 –1
% 3 +1
3
7 –1
40 –1 14 +1
Selbst gebaut
23 +1
und laut: der
Teekistenbass CDU/CSU SPD AfD
FDP Grüne Piratenpartei
von Stefan Die Linke Sonstige
Gwildis (links)
Wer Kanzler werden sollte …
+1
+1

55% 21%

Angela Merkel Peer Steinbrück

DIE WELT aUf EInEr SErvIETTE

Die Straße rocken Manfred Güllner ist Chef des

datenbasIs: 3003 befragte VoM 29. julI bIs 5. august 2013. nIchtwähler/unentschlossene: 29 Prozent. fehlertoleranz

S
Forsa-Instituts in Berlin
elbst Gebasteltes, Showein- klärt haben: Wie entsteht eine Soul-
SPD hat noch Potenzial
InfografIk: angaben In Prozent. +/– Veränderung zur Vorwoche. weder Merkel noch steInbrück: 24 Prozent.

lagen – und bloß kein Hut. Melodie? Gwildis kann aber keine
Das Einmaleins der Fuß- Noten. Er komponiert in Bildern. Rund sechs Wochen vor der Bundes-
gängerzone laut Stefan „Letztens hatte ich Szenen aus ,Die tagswahl liegt die Union mit
Gwildis, Soul-Sänger aus Katze auf dem heißen Blechdach‘ vor 40 Prozent weiter mit großem Vor-
Hamburg. Er muss es wis- mir.“ Auf einer Serviette? Herrje. sprung vor der SPD. So gut hatte
sen. In den Achtzigern rockte er jah- Dann eben Straßenmusik, wie ver- sie bei einer Wahl zuletzt 1994
abgeschnitten. Doch CDU und CSU
relang die Mönckebergstraße, da dient man Geld damit? „Musik allein
haben ihr Wählerpotenzial schon
war er Anfang 20. Heute füllt er mit reicht nicht. Wir hatten selbst ge- weitgehend ausgeschöpft. Die SPD
Soul auf Deutsch die Säle. baute Instrumente, ein Glockophon, hingegen hat im Lager der Unent-
+– 2,5 ProzentPunkte. Quelle: forsa; fotos: walter schIesswohl; IMago

Einen Kilometer von der Einkaufs- Kochtöpfe, Hupen. Und zwischen- schlossenen noch Reserven. Aktuell
meile entfernt schaukelt das Feuer- durch haben wir Feuer gespuckt und sagen nur 57 Prozent derjenigen,
schiff auf der Elbe. Abends treffen jongliert.“ Er malt sich und Gitarrist die 2009 SPD gewählt haben, sie
sich Jazzer hier. Nachmittags gehört Rolf Claussen als Duo „Aprillfrisch“, wollten erneut für die Partei stimmen.
der Kahn Touristen. Gwil- Gwildis zupft an einem Dies ist ein ungewöhnlich niedriger
dis bestellt Käsekuchen. Ungetüm mit Schirm, Wert und zeigt, wie viel Arbeit
Am Nachbartisch kichert einem Teekistenbass. Die die SPD noch vor sich hat: Sie muss
ein Frauenkränzchen. beste Dramaturgie? 20 Mi- zunächst viele noch zögernde
Er zaubert eine fertige nuten Repertoire. Pause. So 2009er Wähler von sich überzeugen.
Serviette aus der Tasche: kriegen die Leute was fürs Zusätzlich will ihr Kanzlerkandidat
Ein Comicmann fliegt mit Geld. Nie den Hut hinle-
Peer Steinbrück mindestens
die Hälfte der zehn Millionen Wähler
ausgebreiteten Armen gen, immer sammeln. Was
zurückgewinnen, die seine Partei
überm Hamburger Michel. Sang in Fußgän- er aus der Straßenmusik- seit 1998 verloren hat. Gelingen
„So stelle ich mir Glück gerzonen: Soul- zeit beibehalten hat? „Ich
Musiker Stefan kann ihr dies nur, wenn sie die
vor“, sagt Gwildis. Ein An- spiele mit dem Publikum. Menschen davon überzeugt, dass
Gwildis, 54, kommt
klang ans neue Album am 18. August Aber ich lache nie auf sei- sie die Probleme des Landes zu lösen
vom Glück. Hübsch. Aber in den Hamburger ne Kosten.“
der stern möchte etwas er- Stadtpark
2
Nicole Heißmann
vermag, und wenn ihr Personal-
angebot akzeptiert wird.

8.8.2013 25
 diese woche

Unterschiedliche
Erregungs-
zustände: 2007
gibt sich Putin
wehrbereit, 2013
scheint er sich
Vorher – Nachher vor nichts mehr
zu fürchten

Eiskalt
geangelt

U
m einen kapitalen Hecht
an Land zu ziehen, braucht
man Geduld und einen
harten Drill. Wladimir
Putin hat beides. Während
mit dem amerikanischen
Whistleblower Edward Snowden
geradezu ein Prachtexemplar in hei-
mischem Gewässer stand und nur
darauf wartete, abgefischt zu werden,
zog der russische Präsident es vor, in
Südsibirien angeln zu gehen. Der-
weil sich zwischen Moskau und
Washington eine neue Eiszeit ankün-
digt, schlüpft Putin aus dem Hemd
und wedelt mit der Rute. Im Kescher
hat er schließlich zwei gewichtige
Burschen: einen 21-Kilo-Hecht und
den US-Spionage-Enthüller.
Interessanter als die Frage, wer
ihm die Dickfische an den Haken
gehängt hat, ist bei Putins Medien-
inszenierung die Wahl seiner Waffe:
Zeigte er sich früher gern in Feld-
herrenpose auf dem Rücken eines
Pferdes oder als Russen-Rambo mit
einem Gewehr im Anschlag, zückt
er jetzt die harmlose Angel. Doch
der Herrscher gibt sich nicht wehr-
los, sondern unverwundbar. Putin
hat eiskalt abgerüstet. 2
26 8.8.2013
8.8.2013
27
Fotos: ap; Nikolsky alexei/actioN press

Mehr Millionen, mehr Konten?
Bei der Staatsanwaltschaft München hat sich ein Informant gemeldet.
Uli Hoeneß soll viel mehr Geld versteckt haben als bisher bekannt
E
s gebe zwei Uli Hoeneß, hat
Ulrich Hoeneß über sich er-
zählt, um seine persönliche
Misere zu erklären. „Einer ist
der seriöse Geschäftsmann
beim FC Bayern, bei unserer
Wurstfabrik.“ Daneben existiere ein
anderer Hoeneß – der Zocker, der
dem Kick nachjage. Der Steuersün-
der. Zwei Seelen, eine gefährliche
Mischung. Denn es gab immer wie-
der Momente, in denen sich beide
Persönlichkeiten trafen. Etwa wenn
der Fußballmanager in die Garage
der Schweizer Privatbank Vontobel
am Zürichsee einbog, Gebäudetrakt
Investmentbanking, und einen
Präsentkorb mit Wurstwaren mit-
brachte. Oder wenn der Bayern-
Patron unter Bankern Tickets für
Spiele seines FC verteilen ließ. Dann
waren sich Gut und Böse sehr nah.
Die Besuche, die Handytelefonate
in die Bank, regelmäßig auch beim
Nachtdienst („Nightdesk“) der Von-
tobel, um seine Finanzwetten zu
platzieren, wenn in Asien die Bör-
28 8.8.2013
diese woche
sen aufmachten: Vielleicht war es
genau diese Routine, die Hoeneß –
von der Bank als bedeutender Kun-
de geführt – bei seinen Geschäften
irgendwann auffällig werden ließ.
Heute ist Uli Hoeneß der Protago-
nist des spektakulärsten Steuerfalls
seit Jahren. Jeder seiner Schritte
wird beäugt. Wirkt er nervös? Grüßt
ihn die Kanzlerin? Hoeneß hat nicht
nur seine gesellschaftliche Stellung
als moralische Instanz verspielt. Sein
Fall ist ein Politikum. Im September
wird im Bund und in Bayern gewählt.
Das macht den Steuersünder zum
Risiko für politische Freunde.
Die Entwicklungen unter Akten-
zeichen 68 Js 3284/13 sind kaum
noch zu kalkulieren. Aufgeschreckt
von Recherchen des stern hatte Hoe-
neß im Januar dieses Jahres hastig
eine Selbstanzeige gestellt. Bei einer
Selbstanzeige bleibt der Betroffene
straffrei, wenn die Hinterziehung
noch nicht entdeckt war und die An-
gaben vollständig sind. Die Staats-
anwaltschaft aber hält Hoeneß’
Seit vergangener
Woche ist die
Anklage gegen Selbstanzeige für nicht strafbe-
Bayern-Boss Uli
Hoeneß wegen freiend. Vergangene Woche erhob
Steuerhinterzie- sie Anklage wegen Steuerhinterzie-
hung bei Gericht hung. Angeblich gehen die Fahnder
eingereicht von rund 3,2 Millionen Euro an
hinterzogenen Steuern aus – eine
außergewöhnlich hohe Summe. Bis
Ende September will die 5. Straf-
kammer des Landgerichts Mün-
chen II über die Zulassung der An-
klage entscheiden. Es spricht viel
dafür, dass es zum Prozess kommt.
Nicht ausgeschlossen, dass der
61-Jährige ins Gefängnis muss. Nur
eine Millionenkaution bewahrt ihn
derzeit vor der Untersuchungshaft.
Nun erfährt das Verfahren eine
neue Zuspitzung. Nach Informatio-
nen des stern hat sich bei den Er-
mittlern ein Hinweisgeber gemel-
Foto: Michaela Rehle/ReuteRs
det, der über einen Anwalt Angaben
zu Hoeneß’ Finanzgeschäften in der
Schweiz machte: zu angeblichen
Kontoständen, Aktiendeals und
weiteren Konten. Wenn die Angaben
stimmen, nimmt der Fall eine neue
Dimension an. Die Staatsanwalt-
schaft lehnt einen Kommentar zu
Inhalten des Verfahrens ab.
Vertreten wird der Whistleblower
von der Kanzlei des Mainzer
Wirtschaftsanwalts Volker Hoff-
mann. Hoffmann hat schon viele
Kriminalfälle verhandelt. Früher
als Staatsanwalt für Wirtschafts-
sachen, seit Mitte der 80er Jahre
als Verteidiger. Seine Kanzlei trat in
Unternehmen und Behörden im-
mer wieder als Ombudsmann auf,
die anwaltliche Schweigepflicht
schützt Hinweisgeber. Auch im Fall
Hoeneß sei er nur Mittler, sagte
Hoffmann dem stern. Er bestätigt
die Existenz eines Hinweises: „Ich
habe die Angaben in einem Ver-
merk an die Ermittlungsbehörden
weitergeleitet.“
Es geht um das Konto 4028BEA
bei der Vontobel. Das ist dieselbe
Depotkontoverbindung, über die
der stern am 17. Januar erstmals
berichtete („Das geheime Fußball-
konto“, Nr. 4/2013) – damals noch
ohne Angabe, wer dahinterstecken
könnte. Und es ist jene Bankver-
bindung, nach der befragt Hoeneß
vor einigen Wochen in der „Zeit“
erzählte, er habe darüber zwischen
2002 und 2006 in großem Stil
gezockt: „Das waren Summen, die
für mich auch heute schwer zu
begreifen sind.“ Als sein versteck-
ter Züricher Schatz im April dann
öffentlich wurde, gab er an, bei der
Vontobel hätten in der Spitze
15 bis 20 Millionen Euro gelegen.
Der anonyme Hinweisgeber
nennt nach stern-Informationen
dazu ganz andere Zahlen. Er gibt
an, auf dem Nummernkonto
4028BEA sowie auf Unterkonten
bei Vontobel hätten sich in den
Jahren vor 2008 durchgehend
Werte von addiert mindestens
500 Millionen Schweizer Franken
befunden. Das wären damals um
die 350 Millionen Euro gewesen.
Verfügungsberechtigt an dem
Konto seien Uli Hoeneß und seine
Frau Susanne.
20 Millionen oder Hunderte? Die
tatsächlichen Summen sind nicht
zwangsläufig mit einem Blick auf
den Kontoauszug zu klären – selbst
für Steuerfachleute nicht. Denn
anders als bei normalen Girokon-
ten können Bankverbindungen
wie 4028BEA eine ganze Reihe von
Unterkonten für unterschiedliche
Währungen, für Handelsgeschäfte
und Wertpapierdepots unter fort-
laufenden Ziffern bündeln.
Der stern hatte Hoeneß bereits im
April mit Recherchen konfrontiert,
die ebenfalls auf einige Hundert
Millionen Euro hinwiesen. Hoeneß
nannte das „absurd“. Den von ihm
genannten zweistelligen Millionen-
betrag erklärt Hoeneß mit einem
Darlehen und einer Bürgschaft
seines mittlerweile verstorbenen
Freundes Robert Louis-Dreyfus, sei-
nerzeit Adidas-Chef,
aus dem Jahr 2001.
Dies sei sein Startka-
pital für die Finanzge-
schäfte gewesen. Den
Kredit will Hoeneß
nach kurzer Zeit wie-
der abgelöst haben.
Wie alles begann Wären die Beträge
Über Konto um ein Vielfaches höher gewesen,
4028BEA bei stellt sich die Frage: Woher käme
Vontobel dann das viele Geld? Juristisch mag
berichtete der das wegen möglicher Verjährung
stern in seiner nebensächlich sein, und die Ankla-
Druckausgabe ge lautet einzig auf Steuerhinterzie-
erstmals am hung. Für die Bewertung des Falls,
17. Januar – noch für Stellung und Ansehen des
ohne Namen. Menschen Hoeneß ist die Quelle des
Am selben Tag Vermögens jedoch bedeutsam.
soll Hoeneß Fragen nach einer möglichen
seine Selbst- Verbindung der Schweizer Millio-
anzeige einge- nen mit Zahlungen etwa des einsti-
reicht haben gen Medienunternehmers Leo Kirch
hatte Hoeneß im April als „völlig
irre“ zurückgewiesen.
Vergangenen Freitag hat der stern
dem Bayern-Präsidenten erneut
Gelegenheit zur Stellungnahme
gegeben und ihm per Fax eine Rei-
he von Fragen zur Höhe der Summe
sowie zur Herkunft des Geldes ge-
stellt. Hoeneß’ Presseanwalt lehnte
am Montagnachmittag schriftlich
eine inhaltliche Stellungnahme ab.
Neu sind auch Informationen des
Hinweisgebers zu Aktiengeschäf-
ten, die über 4028BEA abgewickelt
worden sein sollen. Angeblich besaß
Hoeneß in erheblichem Umfang
Papiere der Deutschen Telekom.
Der Konzern ist seit 2002 Haupt-
sponsor des FC Bayern München.
Der Whistleblower legt einen Zu-
sammenhang zwischen Aktienein-
gängen und Sponsorengeschäften
nahe: So seien T-Aktien in Jahren
von Vertragsverlängerungen mit
dem Sponsor im Hoeneß-Depot
verbucht worden.
Hintergründe hierzu fehlen, ein
Zufall ist nicht ausgeschlossen.
Sponsorenverträge werden alle paar
Jahre neu verhandelt. Im Fall der
Bayern und der Telekom wurden sie
stets verlängert, manchmal nach
einigem Hakeln. Auch zu diesem
Thema wollte Hoeneß sich nicht
äußern.
Konkreter sind nach stern-Infor-
mationen die Hinweise des Infor-
manten auf Koppelgeschäfte einer
anderen Art. Hoeneß soll sich in
großem Stil am Dividendenstrip-
ping mit T-Aktien beteiligt haben.
Solche Geschäfte waren vor allem
bis zu einer Gesetzesänderung 2007
im grenzüberschreitenden Finanz-
verkehr nicht selten. Sie waren stets
umstritten, dem Fiskus entgingen
Riesensummen, aber illegal ist
Dividendenstripping per se nicht.
Die Sache ist komplex. Grund-
sätzlich machen sich dabei auslän-
dische und inländische Aktionäre
unterschiedliche Besteuerungsre-
geln auf Dividenden und Veräuße-
rungsgewinne zunutze, indem
Papiere eines Unternehmens zum
Dividendenstichtag hin und her
verkauft werden.
Hoeneß soll laut Aussage des Hin-
weisgebers mit derartigen Aktien-
verschiebungen bis zu 300 000 Euro
jährlich eingenommen haben. Auch
die stern-Fragen zum angeblichen
Dividendenstripping ließ der Bay-
ern-Präsident unbeantwortet.
Neben dem Aspekt, mit welchen
Summen Hoeneß jongliert hat, blieb
bislang vor allem ein großes Rätsel:
Wo ist das viele Geld geblieben?
Auch zu diesem Punkt machte der
Hinweisgeber nun Angaben. So soll
Vontobel nicht die einzige Bankver-
bindung gewesen sein. Der Infor-
mant brachte drei weitere Geld-
häuser ins Spiel: Danach sollen um
2008 herum von 4028BEA erhebliche
Summen auf Nummernkonten bei
der Großbank Credit Suisse, der
Zürcher Kantonalbank und dem
Bankhaus Julius Bär abgeflossen
sein. Von Hoeneß gab es auch hier-
zu keinen Kommentar.
Sollten die Informationen zutref-
fen, dann wäre der Schatz des Uli
Hoeneß besser versteckt als bisher
gedacht. 2 Johannes Röhrig
8.8.2013 29

Shoppen unter Beobachtung
Einzelhändler versuchen herauszufinden, wie wir uns
beim Einkaufen verhalten. Unser Smartphone kann es ihnen verraten
W
er im Netz einkauft,
ist es gewohnt, dass
ihm Werbebanner für
genau jene Garten-
schere oder die Hosen
gezeigt werden, die
er anderswo im Web geklickt
hat. Kleine Textdateien (Cookies)
machen es möglich.
Dass sie auch im Laden neben-
an ausgespäht werden, dürfte die
meisten Menschen überraschen.
Doch auch dort gilt: Wer Kunden
und ihre Gewohnheiten gut kennt,
kann Wettbewerbsvorteile errin-
gen. Den meisten Kunden der US-
Kaufhauskette Nordstrom etwa fiel
nicht auf, worüber ein Zettel am
Eingang vage informierte: Jeder
Schritt wurde ausspioniert – mit-
hilfe ihrer Handys. Ein WLAN-
Funknetz erfasste ihre Signale. So
konnte das Kaufhaus herausfinden,
wie viele Kunden vor Auslagen ste-
hen blieben, wo sie verweilten und
wie oft ein Kunde wiederkam.
Auch bei Testläufen der Mode-
Marke American Apparel und des
Uhrenherstellers Swatch kam in
30 8.8.2013
diese woche
Sieht aus wie
ein Bild einer
Wärmekamera, den USA eine ausgeklügelte Ana-
zeigt aber
Bewegungs- lyse-Software in Überwachungs-
muster und kameras zum Einsatz. Ob sie noch
Verweildauer immer genutzt wird, dazu schwei-
von Kunden gen die Unternehmen, doch effek-
in einem tiv war sie allemal. „Das Programm
Modegeschäft
liefert jede Menge Erkenntnisse:
welche Gänge besonders beliebt
sind, ob der Kunde an einem Regal
vorbeihetzt oder verweilt – oder
welche Bewegungsmuster dazu
führen, dass Kunden tatsächlich
kaufen“, sagt Tim Callan vom
Unternehmen Retailnext, das die
Software entwickelt hat. Daten
würden jedoch nie personalisiert
erhoben, betont er.
Die Ergebnisse werden wie in
einem Wärmebild visualisiert. Da-
bei sind jene Gänge und Regale des
Geschäfts tiefrot eingefärbt, an
denen Kunden besonders häufig
hängen bleiben. Hellgrüne Areale
bedeuten geringen Kundenver-
kehr. Die Software unterscheidet
auch zwischen Männern, Frauen
Foto: imago
und Kindern. All das liefert wert-
volle Antworten auf Fragen wie:
Sind in der Herrenabteilung viele
Frauen unterwegs, die Unterwä- LUFTBLASEN
sche für ihre Männer kaufen? Wel-
che Regale gefallen Kindern beson-
ders gut? So können Verkaufs-
flächen und Werbung optimiert
werden. Um durchschnittlich zehn
Prozent stiegen die Verkäufe nach Die Wahrheit ist:
dem Test. Ebenso stark ging der Wie konnte ich ...
Diebstahl zurück – ein willkom-
mener Nebeneffekt.
Hierzulande verbietet der Daten-
schutz viele derartige Maßnah-
men. „Die Analyse von Mobil-
telefon-Signalen über WLAN, um
Kundenströme individuell aus-
zuwerten, ist in Deutschland
unzulässig“, sagt Nils Schröder,
Sprecher des Landesdatenschutz-
beauftragten in Nordrhein-West-
falen. Die anonyme Auswertung
von Videos und Bewegungsmus-
tern hingegen kommt bereits zum
Einsatz.
In Deutschland ist beispielswei-
se ein Tochterunternehmen des
US-Mischkonzerns Tyco bei der ... wissen, seit wann
Videoanalyse aktiv. Interessiert ich was weiß ...
sind vor allem internationale und
deutsche Ketten aus der Mode- Leicht zu orten
und Lebensmittelbranche, zuneh- WLAN (in den USA
Wi-Fi) ermöglicht
mend aber auch der heimische billiges und
Mittelstand. „Bei einem Kunden schnelles Surfen.
fanden wir heraus, dass der runde Ist diese Funktion
Tisch vorn am Eingang unheimlich des Handys
eingeschaltet,
beliebt ist“, berichtet Rüdiger Rat- sendet es Signale
te, Verkaufsdirektor von Tyco In- aus, um Funknetz-
tegrated Fire & Security. Laden- stationen zu
hüter oder Produkte mit hoher finden. Umgekehrt
Marge werden nun gezielt dort können die Signale
genutzt werden,
ausgelegt – und häufiger gekauft. um die Position
Das Sammeln von Kundendaten des Smartphone-
kann auch Erkenntnisse ganz Besitzers zu
anderer Natur liefern, wie die ermitteln und ein
Bewegungsprofil
Geschichte einer Schülerin aus dem
zu erstellen. ... bevor ich
US-Bundesstaat Minnesota zeigt.
gehört habe, was
Sie kaufte regelmäßig bei der Super-
ich sage?
marktkette Target ein. Als diese ihr
Gutscheine für Babykleidung und
Umstandsmode schickte, stürmte
der Vater erbost in die nächste Fi-
liale: Wie man seiner Tochter solche
Werbung zusenden könne? Wenig
Fotos: maurizio gambarini/dpa

später musste er sich entschuldi-

gen: Das Mädchen war schwanger.
Target hatte es vor dem Vater
herausgefunden – mithilfe eines
ausgetüftelten Produktkorbes, aus
dem sich dank eines speziellen
Algorithmus eine Schwanger-
schaftswahrscheinlichkeit ableiten Verteidigungsminister Thomas de Maizière
lässt.2 Sebastian Jannasch Prominenten in den Mund geschoben von Rolf Dieckmann

8.8.2013 31

Backe, backe Kuchen
Wie sich der Rüstungsriese und Drohnenhersteller Northrop Grumman
die Zusammenarbeit mit deutschen Behörden vorstellte
P
iece of cake!“, sagt man auf
Englisch, wenn man ein
Problem herunterspielen
möchte: „Das ist ein Kin-
derspiel!“ Vielleicht war
das der Grund, weshalb
Manager des US-Rüstungsriesen
Northrop Grumman Anfang 2010
die Zulassungsprobleme der
deutsch-amerikanischen Drohne
Euro Hawk mit unterschiedlichen
Methoden des Kuchenbackens
verglichen. Für eine Krisensitzung
am 3. Februar 2010 ließen die Ame-
rikaner eigens putzige mehrfarbige
Bildchen von Torten und Zutaten
(Mehl, Zucker, Eier) in die Präsen-
tation einfügen – mitsamt einem
biederen Bäcker, der das Resultat
abschmeckte. Das naiv anmutende
Männchen mit der Mütze ver-
körperte die WTD 61 – die Geneh-
migungsbehörde der Bundeswehr
für Luftfahrzeuge. Präsentation
samt Bäckerbildchen stufte die
Bundesregierung auf Wunsch des
US-Außenministeriums übrigens
als „geheim“ ein.
Damals, im Februar 2010, stand
das für die Deutschen bestimmte
Vorführmodell des Euro Hawk auf
einem Flugplatz in Palmdale in
Kalifornien und hatte noch kein
einziges Mal abgehoben. Die Bun-
deswehr hatte Prüfer nach Palmdale
entsandt – doch einer von denen
Sehen und geSehen werden
Wie seine Katze ihn sieht Wie die Konkurrenz ihn sieht
32 8.8.2013
diese woche
schilderte im August 2009 in dras-
tischen Worten die Komplikationen.
Es gebe „keine anerkannten Bau-
unterlagen“ für die Drohne. Und
ihm, dem Prüfer selbst, fehle die
Qualifikation. Den Mann quälten
ernsthafte Bedenken: Gebe es später
beim Betrieb des Euro Hawk Unfälle,
könne für die genehmigenden
Karl lagerfeld, raStloSe deSigner-iKone
Wie die Weight Watchers ihn sehen Wie er sich selbst sieht
Beamten sogar „der Straftatbestand
der fahrlässigen Tötung, wenn nicht
sogar der des Totschlages erfüllt
sein“.
Die Amerikaner sahen das locke-
rer. Per Kuchenvergleich machten
sie sich klar, dass der Prototyp der
Drohne die Anforderungen für eine
deutsche Musterzulassung gar nicht
erfüllen könne. Auf ein „bewährtes
Rezept“ zu verweisen, werde nicht
funktionieren – auch wenn sie die
Deutschen vielleicht gern nach dem
Prinzip bedient hätten: Friss oder
stirb. „Ganz neu“ zu backen gehe
auch nicht. Der Euro Hawk war ja
bereits montiert.
Damals, Anfang Februar 2010,
trafen sich die Amerikaner mit
Beamten der Bundeswehr. Die ak-
zeptierten die Idee, auf die aufwen-
dige Musterzulassung zu verzichten
und die Drohne erst mal nur mit
einem vorläufigen Testat zu fliegen.
Zwei Jahre später stellte sich
jedoch heraus, dass die Zulassung
noch an die 600 Millionen Euro
verschlingen könnte. Das war das
Aus für den Euro Hawk.
Dieser Tage beklagte es Verteidi-
gungsminister Thomas de Maizière
(CDU) im Drohnen-Untersuchungs-
Das etwas andere ausschuss: Der Verzicht auf die
Tortendiagramm: Musterzulassung sei damals – noch
Der naive Bäcker unter Vorgänger Karl-Theodor zu
symbolisiert die
Genehmigungs- Guttenberg (CSU) – durch unterge-
behörde der ordnete Beamte „auf Vorschlag der
Bundeswehr für Industrie“ entschieden worden.
die Drohne „Das Problem wurde schlicht auf
später verschoben“, so de Maizière.
Anders gesagt: Er kam sich am
Ende vor wie der, dem die Torte ins
Gesicht flog. 2 Hans-Martin Tillack
Fotos: Geisler-Fotopress/Modjesch; Getty iMaGes; corbis (2); Mauritius
 diese woche

SEHEN UND VERSTEHEN

Ja, wohin fahren sie denn?

Zum Baden nach Antalya, fürs Naturerlebnis in die Alpen: Je nach Vorliebe
verteilen sich die Deutschen in der Ferienzeit rund um die Welt. Dieser Netzplan gibt
einen Überblick über die beliebtesten Reiseziele in verschiedenen Kategorien

W3

Kanada 9
*

London
P4 5 Großbritannien
USA 3 S2 6 Paris
Frankreich
Nordsee
7 Amsterdam
Niederlande Niedersachsen 1
10
*
9 4
10
5 2
Köln Hamburg

Welt Europa Deutschland

Gesamtbereich Großbereich Nahbereich
Schwarzwald
2
6
5 7 *
6
*
Bodensee

Kärnten
Österreich
Costa Brava Mallorca
Spanien Spanien Alpen 1 4
Österreich/Italien
V6 9 6 5
B5 9 3 10 2 6
Karibik Kanaren * Sardinien/Sizilien
P4 10 6 Italien
Ibiza
Spanien

*
Südafrika 9
W3

34 8.8.2013
 Der Urlaubsfahrplan
Die farbigen Linien zeigen die
Top-10-Ferienziele des vergangenen
Jahres für die verschiedenen Reise-

InfografIk: andrew TImmIns; TexT und recherche: nIels kruse; Quellen: reIseanalyse 1973, reIseanalyse 2013; Zuordnung der länder Zu kaTegorIen sowIe regIonale Zusammenfassungen: sTern-redakTIon
arten. Die Zahlen an den Stationen
stehen für die Position des Orts im
jeweiligen Ranking. Beispiel: Die
Urlaubsregion Karibik lag 2012 bei
W3 Badeurlauben (blau) auf Platz neun.

Skandinavien 2 H1 Heimaturlaub
S2 Städtereisen
W3 Wander- und Naturreisen
P4 Partyurlaub
H1 B5 Bade- und Strandurlaub
Rügen *
Ostsee 2 V6 Zum Vergleich:
Schleswig- Ostsee Ostsee Reiseziele 1973**
Holstein Mecklenburg Vorpommern
2 *
Stadt, Region, Land, Kontinent
5 4 *
1
7 V6
Ranking
H1 *Position im Ranking
doppelt besetzt
9 * **West-Deutschland
1 Berlin
1
Europa Welt
Großbereich Gesamtbereich
Dresden
3 München
4
Oberbayern
8
7 *
6
* 8 W3
* Indien/Nepal
Prag
8 S2
Tschechien
S2 8 P4
* Wien
8 Österreich Pula/Novalja Korfu Gold-/Sonnenstrand
Kroatien Griechenland Bulgarien Alanya
Österreich Türkei
1 3 4 9 2
Südostasien
4 5 1 *
6 P4
Kroatien Rhodos/Kreta Antalya
Jugoslawien 7 8
(stillgelegt) 3 Griechenland Türkei B5

Ägypten

8.8.2013 35

Leute
Vom Film auf die
Speisekarte
Zweite
Heimat Berlin:
Regisseur
Lelio (l.) in
seinem
Restaurant
Eigentlich wollte der chilenische
Filmemacher Sebastián Lelio gar
nicht nach Berlin. Nun bleibt er da,
denn „in Berlin ist alles möglich“.
Dank eines Stipendiums hat er im
vergangenen Jahr seinem Film „Glo-
ria“ in der Hauptstadt den letzten
Schliff verpasst. Im Februar wurde
das Werk auf der Berlinale gleicher-
maßen von Publikum, Kritikern und
Jury gefeiert. Drei Monate später
hat Lelio mit Freunden in Berlin- Bittersüß wie
Kreuzberg ein lateinamerikanisches
Pisco Sour:
„Gloria“ ist die
Restaurant eröffnet, mit Namen – lustvolle
man ahnt es: „Gloria“. Am 8. August Geschichte einer
kommt der Film in die Kinos (siehe Endfünfzigerin,
die auch Mitte 20
Seite 121). Der Geschmack der bitter- sein könnte,
süßen Geschichte über die Einsam- wenn sie nicht
keit und Leidenschaft einer geschie- so verdammt
denen Frau in Santiago findet sich cool wäre
auf Lelios Speisekarte wieder – zum
Beispiel im Huhn in Schokoladen-
sauce oder im Cocktail Pisco Sour,
der im Film eine wichtige Rolle
spielt. Und mit etwas Glück mixt der
Regisseur sogar selbst.
WaS haLteN Sie VoN?
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Sie kämpft gegen die Vorrats-
datenspeicherung sowie für
EU-weite Standards zur Weiter-
gabe von Informationen: Im
Dass sich die Daten-Spähskandal der USA ist
Justizministerin
die FDP-Justizministerin beson-
genügend
für die Bürger-
ders gefordert. Die 62-Jährige war
rechte einsetzt, schon Mitglied im Kabinett Kohl
sagen und 1996 aus Protest gegen mehr
Überwachung zurückgetreten.
Das Urteil der Bürger über die
31 % Politikerin ist gespalten: 31 Prozent
beurteilen ihre Arbeit positiv,
45 Prozent sind unzufrieden. Sogar
49 Prozent der FDP-Wähler sind
SteRn-tRenD von ihrer Ministerin enttäuscht.
36 8.8.2013
diese woche
NachruF
Berthold Beitz
Fritz Pleitgen über den Krupp-Patriarchen, mit dem er oft
bei indischem Tee über Gott und die Welt plauderte
S
einen 100. Geburtstag hätte
Berthold Beitz gerne noch
erlebt: Den Bürgerinnen
und Bürgern von Essen
wollte er ein Jazz-Konzert
spendieren, mit einem
Programm aus der Louis-Arm-
strong-Ära.
Seine beste Zeit, die Jahre mit
Alfried Krupp. Jazz war für Beitz
Improvisation und Ausdruck von
Freiheit. „Das Geheimnis des Glücks
ist die Freiheit“, zitierte er den Grie-
chen Perikles. Sein entschlossenes
Verständnis von Freiheit verlieh ihm
die Kraft, sich nie unterzuordnen,
und den Mut, den Mordkommandos
der Nazis entgegenzutreten.
Als Journalist war ich Berthold
Beitz Anfang der 60er Jahre zum ers-
ten Mal begegnet. Zum Kreis seiner
Vertrauten zählte ich nicht, aber ab
und an bat er mich auf den Hügel.
Bei indischem Tee wanderten wir
gemeinsam durch die Jahrzehnte.
Stoff hatten wir genug. In seinem
Arbeitszimmer drängten sich die
Größen seiner Zeit: auf Erinne-
rungsfotos mit Widmung. Chru-
schtschow, Reza Pahlawi, Brandt,
Schmeling. Wen hatte er in all den
Jahren besonders schätzen gelernt?
Otto Brenner, den prinzipienfesten
IG Metall-Chef!
Der Manager
starb kurz
vor seinem
100. Geburtstag
auf Sylt
Gelungen sei ihm längst nicht
alles, räumte Beitz in unseren Plau-
derstunden ein. Aber irgendwie
fand er immer den Dreh, aus Krisen
herauszukommen. Manchmal hät-
ten ihm Kleinigkeiten geholfen.
Zum Beispiel beim Deal mit Persien.
Der Schah sei Beckenbauer-Fan
gewesen. Das habe er genutzt. Am
Ende stieg der persische Staat mit
einigen Hundert Millionen bei
Krupp ein und machte den Konzern
wieder flüssig. Eigentlich habe Be-
ckenbauer eine Provision verdient.
Unsere letzten Gespräche waren
überschattet von seinen Sorgen um
Fotos: Daniel Biskup/laiF; sVen siMon; action press; GorDon Welters; DDp
Thyssen-Krupp und ganz besonders
um seine Frau. Else Beitz hatte ihm
bei der Rettung von Juden geholfen.
Für beide lebensgefährlich, aber
selbstverständlich. Nun war sie
schwer erkrankt. Rührend kümmer-
te er sich um sie. Er wollte an ihrer
Seite bleiben. Das ist ihm nicht
gelungen.
Was kann man den hymnischen
Nachrufen hinzufügen? Nichts. Au-
ßer Shakespeare. „He was a man“. 2
Fritz Pleitgen, 75, ehe-
maliger WDR-Intendant,
gehört dem Kuratorium
der Krupp-Stiftung
an, dessen Vorsitzender
Berthold Beitz war
 diese woche

Haderer

Auch in Landstrichen mit lückenhaftem Netz müssen User nicht auf die Annehmlichkeiten des E-Mail-Verkehrs verzichten

38 8.8.2013 www.stern.de/haderer Umfangreiches Archiv mit den Haderer-Cartoons

Diese Jungs wissen, wer in Palmas Stadtteil Camp Redó das Sagen hat: der Clan der Los Bizcos
 gesellschaft

hinterm strand
Krise? Doch nicht auf Mallorca – so denken viele
Deutsche. Aber die Einheimischen kämpfen.
Gegen Armut, Korruption, Banden. Ein Report
aus dem Alltag unserer Lieblingsinsel
Von Andreas Albes, Joachim Rienhardt und Stefan Schmitz; Fotos: Tomeu Coll

8.8.2013 43
 Schwer bewaffnete Polizisten vor einem Gerichtsgebäude,

Ihre Welten berühren sich kaum: die Badenden in einer Bucht vor Santanyí
und die Armen vor der Suppenküche in Palma

44 8.8.2013
 D
Die Welt jenseits von Alpen und
Ostsee ist ein ungemütlicher Ort. Sie
sprechen dort komische Sprachen,
essen Tiere, denen wir Whiskas ser-
vieren, und wenn es Nacht wird,
droht Gefahr für Leib, Leben und
Mastercard. Man sollte in den Ferien
zu Hause bleiben, und wenn man
ganz auf Nummer sicher gehen will,
dann: ab nach Mallorca. Das ist
das himmelblaue Deutschland. Im
Supermarkt gibt es Nutella und im
Yachthafen Champagner.
Hier ist das Paradies. Die Augen
sind halb geschlossen. Der Sonne
wegen. Aber auch, weil man gar
nicht sehen will, was die Idylle stö-
ren könnte.
Kaum irgendwo sonst in Europa
treffen so große Gegensätze aufei-
nander. Es gibt Familienstrände
neben Wellness-Tempeln, Sterne-
Restaurants neben Armenküchen,
ökologisch einwandfreie Töpferstu-
ben in Fußweite des Drogensump-
fes. Alle schwitzen unter der glei-
chen Sonne – und leben doch in
verschiedenen Welten. Der Golf-
in dem die Hells Angels gerade vor dem Haftrichter stehen club-Betreiber im Südwesten fürch-
tet, dass die testosterongesteuerte
Ferrari-Kundschaft ausbleibt, weil
der Parkplatz verlegt werden muss.
Denn dann können die Mädchen
auf der Terrasse nicht mehr sehen,
welches Auto zu welchem Mann ge-
hört. Nicht allzu weit entfernt klagt
ein Priester über eine ganz andere
Sorge: Kinder, die nichts Vernünfti-
ges mehr zu essen bekommen.
„Vor wenigen Jahren noch war
Mallorca die Insel, auf der Milch und
Honig fließen“, sagt ein Arzt aus dem
Bezirk Calvià, einer der reichsten
Gegenden Spaniens. „Heute ist es
eine Insel der Probleme.“ Er sammelt
Lebensmittel für die Bedürftigen
Foto: Samuel aranda

und möchte anonym bleiben, weil

das Elend hier ein Makel ist, wichti-
ge Leute wollen nicht, dass darüber
gesprochen wird. Genauso wenig
wie über Gewalt, Prostitution 4
8.8.2013 45
und Drogen. Der Arzt aus Calvià ist mit Handschlag. Drinnen auf dem
nur einer von vielen, die den Weg in Tisch liegt ein weißer Block, groß wie
das dunklere Mallorca weisen. eine Zigarrenkiste. Kokain. „Top-
Da ist Ramon, ein tätowierter Spa- qualität aus Kolumbien“, versichert
nier, 29 Jahre alt, der sich auf den der Dealer. Er schabt ein paar Bröck-
Weg in die Barackensiedlung hinter chen ab, legt sie auf eine Folie und
dem Depot der hellblauen Tui-Bus- misst mit einer Präzisionswaage ein
se macht, wo das Kokain vom Block halbes Gramm ab; der Stoff für eine
gekratzt wird. Dann ein Deutscher, lange Nacht. Macht 20 Euro.
nackt bis auf die Socken, der in Ramon, der spanische Partykok-
den Straßen von Arenal aufgegrif- ser, nimmt sein Zeug und zieht ab.
fen wurde. Dort, wo nigerianische Wirklich gefährlich war der Ausflug
Prostituierte auf nordeuropäische für ihn nicht. Aber irgendwo zwi-
Suffköppe treffen. Und jeder hat schen Arenal und Son Banya hat er
dabei klare Vorstellungen, wie er den Geltungsbereich der Gesetze
den anderen ausbeuten will. verlassen. Hier herrscht der „La Pa-
Nicht fehlen darf natürlich Frank ca“-Clan mit seiner Chefin Francis-
Hanebuth, der Oberrocker aus Han- ca Cortés Picazo. Weder ihre weißen
nover, der im Knast von Palma ein- Haare noch ihre dickliche Gestalt
sitzt, wie auch ein Teil der Politpro- sollten einen verleiten, sie für eine
minenz der Insel, wegen der all- nette Oma zu halten. Erst im Ja-
gegenwärtigen Korruption. nuar stand sie wieder vor Gericht;
Schließlich Menschen wie Merce- zusammen mit 54 Mitgliedern ihrer
des García, 57, einst Zimmermäd- Sippe. Ihr Sohn El Ico soll ge-
chen, heute Frührentnerin. Sie hat weint haben. Aber letztlich lief das
einen Termin bei der Bank, die ihr Familienunternehmen weiter wie
den zu teuren Kredit für ihre Woh- gewohnt.
nung angedreht hat. Ihr droht der Die La Pacas sind nicht die ein-
Verlust ihres Zuhauses, der Absturz. zige Macht in der Unterwelt. In den Total gut drauf ist er, der partysüchtige Ramon, nach seinem
Touristen sind trotzdem sicher
Keiner der rund vier Millionen
Deutschen, die dieses Jahr nach
Mallorca reisen und einfach ihren
Urlaub genießen wollen, muss die
Welt von Ramon, Hanebuth, Mer-
cedes und den anderen fürchten.
Jeder kann hier sein eigenes Glück
suchen.
Ramons Glückssuche beginnt
nicht weit von Arenal. Er biegt um
eine Kurve, der Asphalt verwandelt
sich in eine Schotterpiste. Es stinkt
nach Müll und Fäkalien. Hunde
kläffen; Frauen hocken auf schiefen
Stühlen vor den Baracken und mus-
tern jeden Fremden. Ramon steuert
einen Schuppen ganz am Ende der
Siedlung Son Banya an, in der etwa
500 Sinti und Roma leben. Ein Mann
mit roter Turnhose begrüßt Ramon

46 8.8.2013
Besuch im Drogen-Supermarkt von Son Banya
Stadtteilen Camp Redó und Soledad
etwa kommt keiner an dem Roma-
Clan „Los Bizcos“ vorbei. Nigerianer
kontrollieren das Geschäft mit
schwarzen Prostituierten rund um
die Partymeile von El Arenal.
Die bedrängen Urlauber auf dem
schwankenden Rückzug vom „Ober-
bayern“ oder dem „Bierkönig“. Wie
die Zeitung „Diario de Mallorca“ be-
richtete, arbeiten sie in Gruppen von
vier oder fünf Frauen. Sie reden auf
die Besoffenen ein, versuchen sie
von ihren Kumpanen zu isolieren
Zweimal Arenal: links das Viertel Llucmajor, wo viele Einwanderer
hausen; um die Ecke Touristen in der Schinkenstraße und nehmen ihnen schließlich Geld
und Brieftasche ab.
Die „Klau-Huren“, wie sie die
„Bild“ nennt, treffen auf Männer wie
jenen armen Tropf, dessen nackter
Hintern in der Zeitung verdeutli-
chen sollte, was einem alles passie-
ren kann. Seine Klamotten waren
weg, wenn man von den Socken
absieht. Wertsachen schienen darin
auch nicht mehr zu stecken.
Die Nigerianer haben sich in Son
Gotleu niedergelassen, einer tristen
Gegend im Osten Palmas. Immer
wieder kommt es zu Straßen-
schlachten zwischen den Banden,
zwischen Nigerianern und Einhei-
mischen. „Meistens gewinnen die
Schwarzen“, erzählt Carlos, ein wild
tätowierter Junge, der vor der Bar
Vetam ein Bier trinkt. Die Straßen
sind voller Polizei. Gestern habe4
8.8.2013 47
gut zu wissen Mallorca
Alcúdia
Sóller
Palma de
Andratx Mallorca
Port El Arenal („Ballermann“)
Adriano
10 km
Lieblingsinsel
Schon der erste
Neckermann-Prospekt
von 1963 enthielt
Pauschalreisen auf
die Baleareninsel.
Dieses Jahr werden
vier Millionen Deut-
Lloret des Vistalegre, die Hanebuth
für seinen Rotlichtkumpel „Throm-
Port de Pollença ideale Lage bose-Paul“ gekauft haben soll.
Mallorca liegt rund landsprodukts erwirt- Der Rocker und zwei Dutzend sei-
170 Kilometer vor schaftet. Der lange ner Freunde gingen in den Bau.
Sa Pobla
dem spanischen Fest- boomende Bau- und „Urlaubsverlängerung“ nannte das
land im Mittelmeer. Immobiliensektor ist der Hüne aus dem regnerischen
Die Insel ist 3624 Kilo- durch die Krise der
Lloret de Vistalegre Niedersachsen.
meter groß, ihre Küste vergangenen Jahre
ist 550 Kilometer deutlich geschrumpft. Tatsächlich war es ein Warn-
lang. Im August wird schuss. Der Anwalt sagt: „Hier kann
es durchschnittlich tiefe Krise man keine Hells Angels gebrau-
30 Grad warm. Fast Die Arbeitslosigkeit chen.“ Schon als Ende der 90er Jah-
3000 Stunden scheint auf Mallorca liegt bei re ein Pate der Russenmafia hier
jedes Jahr die Sonne. rund 25 Prozent. auftauchte, konnte man beobach-
sche erwartet – so Der spanische Staat
viele wie nie zuvor. tourismus pur muss wegen seiner ten, dass die Justiz empfindlich auf
Insgesamt starten Die Wirtschaft ist hohen Schulden Aus- solche Leute reagiert. Sie verfolgte
und landen mehr ganz auf den Touris- gaben kürzen. Die ihn über Jahre und klagte ihn
als 20 Millionen mus ausgerichtet. ohnehin große Kluft schließlich wegen Geldwäsche an.
Menschen pro Jahr Mit Dienstleistungen zwischen Arm und Mittlerweile ist er wieder weg – eine
auf dem Flughafen werden etwa drei Reich ist dadurch Kaution von 600 000 und ein Privat-
Son Sant Joan. Viertel des Bruttoin- weiter gewachsen.
vermögen von 30 Millionen Euro
ließ er zurück. „So ähnlich stellt sich
die Justiz das bei den Hells Angels
vor“, sagt der Anwalt.

ein Festgenommener, der schon die
Handschellen am Gelenk hatte,
einen Polizisten niedergeschlagen,
sagt Carlos. „Den suchen sie jetzt.
So was kommt ständig vor.“
Palma ist nicht Neapel, nicht Por-
to, nicht mal so schlimm von der
Krise betroffen wie Malaga. Nur sind
die dunklen Seiten hier überra-
schender. Gilt die Insel bei Deut-
schen doch nach wie vor als Nah-
erholungsgebiet, gerade zwei Flug-
stunden von daheim entfernt. Es
gibt deutsche Bäcker, deutsche Ärz-
te, deutsche Zeitungen, deutsches
Radio. Das Gefühl, so leben zu kön-
nen wie zu Hause, wissen die Urlau-
ber ebenso zu schätzen wie die meh-
reren Zehntausend Deutschen, die
hier einen festen Wohnsitz haben.
Bislang sind die Ortskundigen
eher gelassen mit den Gruselberich-
ten umgegangen. Schon 2004 ent-
sandte die „Bild“ einen „Insel-In-
spektor“ an die „Abzock-Meile Bal-
lermann“. Er fand „Uhren-Gauner“,
Hütchenspieler, Drogendealer und
– na, logisch – klauende Huren.
In diesem Sommer aber mischen
sich die Folgen der lang anhalten-
den Krise mit hässlichen Nachrich-
ten aus den Zentren der deutschen
Prollkultur. Als die ersten Berichte
über Kriminalität am Ballermann
Urlauber verstörten, twitterte die
Policía National: „Mallorca ist im-
mer noch so wunderbar wie immer.
3600 Polizeibeamte sorgen für einen
sicheren #Urlaub. Wir warten auf
Sie!“ Der zuständige Staatssekretär
48 8.8.2013
versicherte, die Kriminalitätsrate
sei sogar leicht rückläufig. Auch der
Hoteliersverband reagierte aufge-
regt. Alles sei halb so schlimm.
„Außer Sonne, Strand und Meer
verkaufen wir hier vor allem Si-
cherheit“, sagt ein Rechtsanwalt in
Palma, der gerade viel zu tun hat:
Er verteidigt einen der vor zwei
Wochen festgenommenen Hells An-
gels. Die Rocker beschäftigen der-
zeit viele Juristen. Gleich mehrere
stehen im Dienst von Frank Hane-
buth, dem 140 Kilogramm schweren
und noch viel mächtigeren „Präsi-
denten“.
Vor ein paar Wochen noch saß
der Oberrocker in Hannover mit
einem Freund beim Bier und sagte:
„Ich habe die Schnauze voll von den
Schikanen durch die deutsche Jus-
tiz. Vielleicht haue ich bald ab.“ Kurz
darauf sah man ihn auf Mallorca im
„Casablanca“, einem der Stammlo-
kale der Rocker. Gefrühstückt hat er
gern in der „Sonnenbäckerei“. Schon
die Kutte wies ihn als Mitglied der
Hells Angels Mallorca aus. Nach
einer Schule für seinen Sohn soll er
sich bereits umgesehen haben.
Bis zum 23. Juli, bis zu dem Tag,
als die Hubschrauber loszogen,
unterstützt von Scharfschützen und
Kampfschwimmern. 200 Polizisten
waren im Einsatz. Europol war da-
bei; den Spaniern halfen auch deut-
sche Behörden, die bereits seit
Jahren gegen die Hells Angels er-
mitteln. Die Polizei stürmte unter
anderem eine Finca im malerischen
Rocker verderben das Geschäft
In Palma koordiniert Richter Eloy
Velasco das Verfahren. Er ist extra
aus Madrid eingeflogen und resi-
diert nun unter Neonlicht. Von Zu-
hälterei über Nötigung bis zu Dro-
genhandel und Betrug reichen die
Vorwürfe gegen die Deutschen.
Es ist mal wieder spät geworden.
Gegen 22 Uhr muss der Richter noch
über den weiteren Verbleib von drei
Rockern entscheiden, die im Knast
festsitzen. Vor seiner Tür klagen die
Anwälte, dass Kautionssummen
6,4 nicht in bar hinterlegt werden dür-
fen. 30 000 Euro sollen einem der
schweren Jungs die Freiheit bringen.
Millionen Es ist eine bizarre Szene. Keiner der
Übernachtungen Anwälte will seinen Namen nennen.
zählten die Einer sagt: „Die Hells Angels ma-
Hotels im Juni.
Die Betten- chen sich ganz schön breit auf Mal-
belegung ist auf lorca. Die brauchen wir hier nicht.“
Mallorca besser Selbst unter ihren eigenen Anwäl-
als in allen an- ten scheinen die Zugereisten nicht
deren spanischen viele Freunde zu besitzen.
Ferienregionen
Schließlich haben Mallorcas Ge-
richte schon genug mit den eigenen
Leuten zu tun. Mitte Juli wurde
Maria Antònia Munar, einst Präsi-
dentin des Inselrates, mit einem
Polizeiwagen ins Frauengefängnis
von Palma gebracht. Ihr Haar war
zerzaust, die Haut blass. Sechs Jahre
hatte ihr ein Gericht wegen Korrup-
tion beim Bau einer Luxussiedlung
aufgebrummt. Außer Munar ging in
derselben Woche Ex-Tourismusmi-
nister Frances Buils in den Knast.
Die beiden gehörten zu einer
hochkorrupten Politikerkaste. 4

Sie haben täglich mit der Krise zu tun: Àngela Pons Cendrós (l.) hilft Mallorquinern, die ihre Haus­
kredite nicht mehr abzahlen können; der Abgeordnete Antonio Diéguez sorgt sich um die Arbeitsplätze
Ein ehemaliger Baustadtrat brach-
te mit einer städtischen Kredit-
karte 50 000 Euro in Schwulenbor-
dellen durch. Im Blumenbeet einer
Würdenträgerin der Wirtschafts-
förderung fanden sich in einer
Blechbüchse 200 000 Euro.
Führend in jeder Beziehung war
jedoch der ehemalige Balearen-
Präsident Jaume Matas. Ein Mann,
der seine Freiheit dem Obersten
Gerichtshof verdankt, der seine Ver-
urteilung wegen Korruption erneut
zur Bewährung aussetzte. 19 Ver-
handlungen warten noch auf Matas,
der sich bei einem offiziellen Jahres-
gehalt von 70 000 Euro nicht nur ein
Stadtschlösschen leistete, sondern
auch eine Gattin, die bei ihren Shop-
pingtouren nur mit 500-Euro-
Scheinen zahlte.
Tsunami für die Mittelschicht
Eigentlich kann man hier von 50 000
Euro im Jahr durchaus leben. Nur
sind die Maßstäbe auf der Insel
durch den Zuzug der Reichen und
Superreichen verrutscht.
In Port Adriano, einem Yachtha-
fen im Westen der Insel, kostet das
teuerste Schiff zwei Millionen Euro
– an jährlichem Unterhalt wohl-
gemerkt. Es misst 88 Meter und ist
damit eine sichere Trumpfkarte im
Wettbewerb, wer das längste hat.
Der anonyme Arzt aus der Gemein-
de Calvià, der die Armen versorgt,
sitzt genau an der Schnittstelle von
Armut und Reichtum. In einer Ecke
seines Büros stapeln sich Milchtü-
50 8.8.2013
ten, die Gönner aus dem Real Club
Nautico Palma vorbeibringen lie-
ßen. 400 freiwillige Helfer hat die
Organisation. In ihrer Broschüre
steht: „Würde für Menschen in Not.“
Im Café gegenüber sitzen Urlauber
mit Zweitwohnsitz, Cabrios mit
schönen Menschen sind zu sehen,
Radfahrer in Gruppen. In der Ferne
Segelboote. Wenn man durch dieses
Fenster blickt, wird schnell klar, dass
die Idylle und der Rest nur schwer
zusammenzuhalten sind. „Die Kri-
se ist grausam“, sagt der Arzt. „Sie hat
wie ein Tsunami die Mittelschicht
erreicht.“ Nur die Hälfte der Spen-
den gehen in die Dritte Welt. „50
Prozent in die Vierte.“ Die Vierte
Welt? So nennt er die Notstandsge-
biete vor der eigenen Haustür.
In Sa Pobla, einer Kleinstadt im
Norden der Insel, schlug eine Kran-
kenschwester Alarm, weil Kinder
einer marokkanischen Familie an
Krätze erkrankt waren – was nicht
nur auf schlechte hygienische, son-
dern auch auf Fehlernährung und
Vitaminmangel hindeutet. Der am
meisten vergebene Geburtsname ist
dort Mohammed, so viele Einwan-
derer aus Marokko gibt es.
Auch aus anderen Gegenden
häuften sich Meldungen, dass im-
mer mehr Kinder morgens ohne
Frühstück in die Schule kommen.
779 Fälle von Mangelernährung
wurden in einer Studie dokumen-
tiert. „Mangelernährung ist falscher
Alarm, das ist eine Begriffsverwir-
rung“, sagt dagegen Sandra Fernán-
dez, die gerade die neu geschaffene
Abteilung für Familien und Soziale
Angelegenheiten der Inselregierung
leitet. Sie spricht von 779 Fällen,
in denen „wirtschaftliche Nothilfe“
gewährt worden sei.
Falscher Alarm? Padre Jaime
Santandreu, ein 75-Jähriger voller
Energie und Wut, sieht das anders:
„Offiziell 140 000 Arbeitslose auf
den Balearen, dazu 300 000 Einwan-
derer, die man als Billigarbeiter ge-
holt hat und die jetzt höchstens
noch fünf Euro die Stunde verdie-
nen – das ist ein Molotowcocktail.
Der muss jede Gesellschaft zur
Explosion bringen.“
Ganz Spanien ächzt unter einer
gigantischen Schuldenlast, die von
2008 bis 2012 von 40 auf über 90 Pro-
zent der jährlichen Wirtschafts-
leistung angestiegen ist. Dazu
schrumpft die Wirtschaft weiter, in
diesem Jahr voraussichtlich um 1,5
Prozent. Jeder Vierte ist arbeitslos.
Eine Zeit lang sah es so aus, als kön-
ne sich Mallorcas Wirtschaft vom
Mutterland abkoppeln – aber das
funktioniert längst nicht mehr.
„Der Wohlstand hier hängt mehr
vom deutschen als vom spanischen
Bruttosozialprodukt ab“, sagt Anto-
nio Diéguez, der sozialistische Ab-
geordnete im Balearenparlament.
„Im Vergleich zum Festland geht es
uns noch relativ gut.“ Aber die Krise
sei da, die Zustände „besorgniser-
regend“. Diéguez rattert in seiner
Anwaltskanzlei in Palmas Zentrum
35 % die Arbeitslosenzahlen herunter. 25
Prozent bei der Gesamtbevölkerung,
bei Jugendlichen um die 50 Prozent,
aller Hotelgäste von saisonalen Schwankungen ab-
auf der Insel sind gesehen. „Dabei hat Mallorca noch
Deutsche. Sie Glück. Wir profitieren, weil Urlau-
stellen damit die
größte auslän­
ber wegen der Sicherheitslage Ägyp-
dische Gruppe. ten und die Türkei scheuen“, sagt er.
Nummer zwei Bloß sei die Arbeit im Tourismus auf
sind die Briten, die Saison beschränkt, schlecht be-
mit rund zahlt, nur rund 800 Euro im Monat
18 Prozent bekomme ein Kellner.
In Not geraten zahllose Men-
schen, die sich Kredite haben auf-
schwatzen lassen, als es noch als
Naturgesetz galt, dass die Immobi-
lienpreise immer weiter steigen. Die
53-jährige Àngela Pons Cendrós lei-
tet die wichtigste Unterstützungs-
gruppe für Hypothekenopfer, die
Plataforma de Afectados por la Hi-
Foto: Samuel aranda
poteca (PAH). In ihrer Wohnung am
Stadtrand stapeln sich Möbel und
Altkleider. Zwei Gäste leben auch
hier – sie haben durch Zwangsräu-
mung ihre Wohnung verloren. So 4
wie knapp 10 000 Familien in den
vergangenen zwei Jahren. So wie
Mercedes García, eine einfache Frau
in verzweifelter Lage. Sie hat 2006
mit ihrem Mann eine 90-Quadrat-
meter-Wohnung gekauft und kann
die 980 Euro Monatsrate nicht mehr
bezahlen. Ihr Sohn ist Maurer und
arbeitslos. Ihr Mann Kellner. Sie
weiß nicht mehr weiter. „Hör gut zu“,
sagt Àngela Cendrós zu ihr. „Unser
Ziel ist es, die Wohnung der Bank zu-
rückzugeben.“ Aber in Palma stehen
25 000 Apartments leer, die Banken
haben keine Lust darauf, sich noch
mehr unverkäufliche Objekte auf-
zubürden. Àngela und Mercedes
gehen zur Bank; Ignacio, der Bank-
angestellte, erklärt in einem klima-
tisierten Büro, dass die Wohnung
heute nur noch die Hälfte der Kre-
ditsumme wert sei. Mercedes weint.
Am Ende bietet ihr der Bankmann
ein neues Darlehen an, mit dem die
monatliche Belastung erst mal auf
400 Euro sinkt. Glück gehabt. Vor-
läufig zumindest.
Trotz der Krise zieht Mallorca
weiter zahlungskräftige Besucher
an. Die halbe Belegschaft der deut-
schen Klatsch- und Wirtschafts-
spalten fühlt sich hier zu Hause. Das
reicht von Top-Managern wie Alli-
anz-Chef Michael Diekmann über
den Veronica-Ferres-Gefährten
Carsten Maschmeyer bis zu Sabine
Christiansen und Claudia Schiffer.
Auch der Zustrom der Normalos ist
ungebrochen. An einem Sommertag
zählt der Flughafen 144 000 Passa-
giere in 834 Flugzeugen. Eigentlich
müsste die Wirtschaft brummen.
Doch in den Krankenhäusern wer-
den Ärzte eingespart, Schwestern,
Stationen werden geschlossen und
Operationssäle dichtgemacht. Die
Gewerkschaft der Krankenschwes-
tern spricht von einem „schwerwie-
genden Risiko“. Die Wartezeit für
eine simple Darmspiegelung oder
Ultraschalluntersuchung kann
neun Monate betragen.
Die Urlauber merken davon kaum
etwas. Die Infrastruktur ist besser als
in Teilen Deutschlands. Im Frühjahr
und Herbst donnern die Rennrad-
fahrer durch die Berge – und konn-
ten bisher darauf vertrauen, dass
hinter der Kurve kein Schlagloch lau-
ert. Das ist jetzt auf abgelegeneren
Straßen anders. In Cafés an den Rad-
routen klagen sie darüber; während
die Kinder aus der Nachbarschaft
darunter leiden, dass ungefähr 1000
Lehrer gehen mussten, weil der Staat
kein Geld mehr hat.
Tomeo ist einer von ihnen. „Bil-
dung gilt bei uns nicht als Inves-
tition, Bildung gilt als Verschwen-
dung“, sagt der Ingenieur und Tech-
niklehrer. Die alten Politiker dächten
noch immer, was sie mal gelernt hät-
ten, würde auch den Jungen reichen.
Nur komme Mallorca so nicht voran.
Der 37-Jährige empfängt auf der
Terrasse eines Hauses unweit von
Palma. Renoviert hat er es schon vor
zehn Jahren, als er mit seinem Vater
noch eine Bauträgerfirma betrieben
hat. „Wir sahen kommen, dass die
Blase platzt, und haben das Geschäft
geschlossen“, sagt er. Tomeo hat
dann Pädagogikkurse besucht, um
am Gymnasium unterrichten zu
können. Dass er nun aussortiert
worden ist, verbittert ihn. Hart rech-
net er mit der Inselgesellschaft ab.
„Durch Innovation ist hier noch kei-
ner reich geworden“, sagt der zorni-
ge Mann. „Sondern nur durch Vet-
ternwirtschaft und Bauernschläue.“
Wirtschaft und Justiz sind auf der
Insel eng verflochten; zwölf Fami-
lien sind es, die maßgeblichen Ein-
fluss ausüben. Ein Bonmot lautet:
„Mallorca ist Sizilien ohne Pistolen.“
Anders als bei der russischen Mafia
oder deutschen Rockern gehört Ge-
walt hier nicht zu den Pfeilern des
Geschäftslebens. Offenheit und Ver-
änderungsbereitschaft aber auch
nicht. Lehrer Tomeo hat das nach
dem Verlust seines Jobs erfahren. Er
klappert jetzt als Seifen-Vertreter
Hotels ab. Bleiben wird er trotzdem.
Die Familie. Das Haus.
Vor allem die ganz Jungen denken
da inzwischen anders. Immer mehr
von ihnen sehen ihre Zukunft an-
derswo. Deutschkurse sind gefragt.
Im Deutsch-Spanischen Kulturzen-
trum Dialog stehen komplizierte
Grammatikbegriffe an der Tafel:
Substantiv, Präsens, Imperativ. Leh-
rerin Anja García erklärt gerade, was
das Wort „Bitte“ im Deutschen alles
bedeutet, wie unterschiedlich es
verwendet wird. Dann kontrolliert
sie die Hausaufgaben ihrer Schüler.
Die Geschwister Paquita, 9, Maria, 12,
und Feliú, 14, kommen aus einer
Arztfamilie. Lucia, 14, ist die Tochter
eines Beamten. Abwechselnd lesen
sie die Lösungssätze eines Kreuz-
worträtsels vor: „Ich gehe aufs Gym-
nasium.“ „Meine Schwester stu-
diert.“ „Ich habe gute Noten.“
Die vier sind mit Eifer bei der Sa-
che. „Deutschland ist ein sehr wich-
tiges Land“, sagt Maria. „Deutsch-
land bestimmt, und Frau Merkel hat
die Kontrolle.“ Feliú sagt: „Deutsch
ist sehr wichtig, um später einmal
eine Arbeit zu finden.“ Darauf Maria:
„Ich glaube nicht, dass es mal in
Spanien Arbeit für mich gibt.“
Neben dem Tourismus hat vor al-
lem der Immobilienboom die Wirt-
schaft in Schwung gehalten. Da, wo
es richtig schön ist, funktioniert
der Markt noch immer. Heidi Warth,
die Chefin der Immobilienfirma
Mallorca Gold, hat mal Kronjuwe-
len von Mallorca verkauft, eine
Halbinsel mit alter Festung für
20 Millionen Euro. Für sie sind die
Zeiten immer noch gut. Gerade ging
ein Objekt für zehn Millionen an
einen Franzosen, ein anderes für
fast sieben an einen Engländer.
Die Maklerin hat sich auf der
Terrasse des Hotels Bendinat nie-
dergelassen. Die letzten Badenden
springen von den Felsen ins blau-
grüne Wasser. Der Weißwein ist
kühl. Die 47-Jährige hat gerade
ihren Hauptwohnsitz und ihr Ver-
mögen nach Zürich verlegt. Sicher
ist sicher. „Wer sagt mir, dass sie hier
nicht bald Konten beschlagnahmen,
wie sie es auf Zypern gemacht ha-
ben?“, fragt sie.
Warth klagt über den Unwillen
der Mallorquiner, wirklich etwas zu
ändern. Alles Quatsch, sagt sie all
denen, die hier von einem fröhli-
chen Miteinander der verschiede-
nen Gruppen träumen. Das hat sie
längst abgehakt. Schön sei es auf
Mallorca. Keine Frage. Sonne, Meer,
Berge, wunderbare Restaurants. „Es
gibt eine Lebensqualität wie an
keinem anderen Standort“, sagt
Heidi Warth. „Aber man darf sich
nur an der Oberfläche bewegen,
sonst wird es grausam.“ 2
Andreas
Albes, Joachim
Rienhardt und
Stefan Schmitz
werden trotz allem weiterhin auf
der Insel Urlaub machen. Unterstützt
wurden sie bei den Recherchen
von Kuno Kruse, Wigbert Löer und
Andreas Mönnich

Gestrenger Wächter der deutschen Sprache:
Buchautor und Essayist Fritz J. Raddatz, 81
Einen Pudding kann man
nicht an die Wand nageln;
20
L
AH
das weiß der Volksmund.
W
Merkel-Mund indes ruft
13
um Hilfe und geht unter im
Bermudadreieck ihres schlaff gewordenen
Schwimmgürtel-Vokabulars. Zwar weiß
Angela Merkel, dass sie „das Kanzlersein
erfassen“ konnte, doch unsereins kann
durchaus nicht erfassen, was sie mit „Er-
wartungsmanagement“ meint. Sollen Er-
wartungen erfüllt – oder etwa „ge-
managt“, also manipuliert werden?
Nicht jeder Politiker kann über
das sprachliche Vermögen eines
Carlo Schmid verfügen – lang, lang
ist’s her, und längst vergessen ist
er. Aber ist es denn zu viel verlangt,
wenn man erwartet, die Kanzlerin
möge sich so ausdrücken, dass
man sie erstens versteht und
man sich zweitens nicht schämen
muss? „Ich bin platt“, sagte sie
kürzlich angesichts des wahrhaf-
tigen Traumergebnisses von 97,94
Prozent bei ihrer Wiederwahl zur
Parteichefin. Wie platt und wie
kaltschnäuzig, ohne jegliche innere
Regung.
Im Konkreten rutscht sie aus
Die „Jenachdemerin“, wie die „Zeit“ sie
nennt, oder die „Zauder-Künstlerin“, wie in
der „Faz“ formuliert, hat evident große
Schwierigkeiten mit der deutschen Spra-
che. „Nachhaltigkeit“ und „zielführend“
sind ihre Lieblingsvokabeln; doch nach-
haltig ist inzwischen jede Strumpfhose,
und zielführend sind (angeblich) Hybrid-
autos. Auch „alternativlos“ mag sie gern.
Doch was ist das? Gibt es nicht zu allem im
Leben eine Alternative? Zur Ehe, zum
kirchlichen Eid, zum Fasten, zu Amazon
und ja, pardon, auch zu dieser Bundesre-
gierung? Frau Merkel arbeitet mit einer
54 8.8.2013
poLitik
Für wie dumm hält
Frau Merkel ihr Volk?
Die Worte der Kanzlerin sind linkisch, hilflos und
fahrlässig – der Sprachkritiker Fritz J. Raddatz über die,
nun ja, Redekunst der deutschen Regierungschefin
Begrifflichkeit, die bar aller konkreten Be-
griffe ist. „Wir werden als Bundesrepublik
keine Waffen [nach Syrien] liefern.“ Als was
denn dann? Ein apartes „als“... Wir werden
es „als Exportnation“ also doch tun? Wir
werden es „als“ einer der größten Waffen-
hersteller der Welt also doch tun? Frau
Merkel scheint regelrecht vernarrt in ihr
glitschiges „als“: „Wir als Deutsche haben
viele Informationen bekommen“, weiß sie
zur NSA-Katastrophe beizutragen. Und
„Ihre Rhetorik
ist die der
Verkündigung,
und die Details der
dazu verwendeten
Behauptungen
sind Fertigware“
bügelt vorhandene Tatsachen mit einem
„undenkbar“ weg, dem sie im Jargon der
Sprüche-Jugend hinzufügt: „Abhören von
Freunden, das geht gar nicht.“ Aber es ging
doch?
Diese erfolgreiche Politikerin hat sich
eine ganz eigene Grammatik des Unkon-
kreten zusammengebaut. Prompt rutscht
sie aus, will sie dann doch einmal konkret
werden: „Sehr schweren Herzens habe
ich den Rücktritt [von Annette Schavan]
angenommen.“ Nun kann man füglich
keinen Rücktritt annehmen, sondern
nur ein Rücktrittsgesuch. Das Banalitäts-
geschaukel ihrer Leerformen ist reif für
die „heute-show“. So wollte sie zwar
„ergebnisoffene Verhandlungen“ mit der
Türkei; doch nein: Den Beitritt der Türkei
zur EU wolle sie nicht. Kein Wunder, dass
der verstorbene Sozialdemokrat Peter
Struck sie recht vertrackt lobte: Sie sei ein
guter Pilot, doch wüssten die Passagiere
nicht, wo sie schließlich landeten.
Der großartige Lyriker Kurt Drawert
hat einmal eine sehr prägnante Definition
gefunden: „Sprechen heißt, Kon-
takte herzustellen, Beziehungen
einzugehen und damit verbunden
auch, eine Anschauung von Welt
zu vertreten, wie diskret vorge-
tragen, wie vermittelt und un-
auffällig immer.“ Bedenkt man
diesen Satz ernsthaft und wen-
det man ihn auf die Kanzlerin an,
dann fällt auf: Diese Politikerin
„spricht“ überhaupt nicht. Sie
will weder Kontakt noch gar Be-
ziehungen. Weder mit ihren Inter-
viewpartnern, geschweige denn
mit unsereins, dem Stimmvieh.
Ihre Rhetorik ist die der Ver-
kündigung, und die Details der
dazu verwendeten Behauptungen
sind Fertigware, vorgefertigte
Teile aus dem Lego-Baukasten.
Plattenbauten. Das ist keine Sprache,
das sind Ansprachen, Ansagen. Zur Frage
nach der brutalen Behandlung oft fried-
fertiger Dissidenten durch die chinesi-
schen Behörden kommt im Trotzköpf-
chenton à la „Lassen Sie mich damit in
Fotos: Henning Bode ; Face to Face
Ruhe“ ein ungeduldiges „Wir sprechen bei
jedem Besuch über den Umgang mit Dis-
sidenten, sind aber dort unterschiedlicher
Meinung“.
Nun erwartet ja niemand, dass Frau
Merkel wie eine Mischung aus Mutter
Teresa und Freiheitsstatue sich auf
dem Platz des Himmlischen Friedens
aufpflanzt und dort das „Massaker“-Ge- Volk „gefahren werden“ kann, und an wel- Obergrenze des Haushalts jetzt ist auch
dicht von Liao Yiwu ins Megafon dekla- che Wand? eine Frage der Gerechtigkeit“. Politisches
miert. Doch die hier zitierten Sätze hat Manchmal kann derlei auch amüsant Vorabendprogramm.
sie schließlich nicht mit Diplomatenkrei- sein. Bei der Eröffnung des Paul-Wunder- Gut zwei Monate zuvor, soeben war der
de im Mund in Peking geäußert – sondern lich-Hauses in Eberswalde am 1. Juli 2007 Friedensnobelpreis an die Europäische
zu uns, einer deutschen Leserschaft. Ihr ging sie mit dem Künstler durch die Räume Union verliehen worden, konnte man zu-
stilistischer Gestus ist eindeutig doppel- und sagte schließlich – wohl nicht enthu- sehen, wie die deutsche Kanzlerin ein halb
deutig, hat etwas von Abspeisen und Bes- siasmiert von seiner leicht anzüglichen, verhungertes Kaninchen aus dem Zylinder
serwisserei. manieristischen Kunst: „Mir gefallen vor hervorzerrte. Schon die Eingangsformulie-
Aber weil sie tatsächlich manches besser allem die kleinen Formate.“ Des stets rung von „unserer politischen Generation“
weiß und ganz gewiss besser macht als Florett tüchtigen Malers ironische Replik lässt ja den Zirkusbesucher fragen: Wer mag
etwa der nun doch küssende Pleitier Hol- „Das verstehe ich sehr gut“ verstand sie das sein? Welche Generation ist das? Wer
lande oder die sich fast beneidenswert offenkundig nicht. wäre dann die „unpolitische Generation“?
hurtig in Lügengewebe einkleidenden Was sie zur Finanzkrise sagt, das klingt Und welche Altersklassen umfasst die „ver-
griechischen Politiker – deswegen ist die nach vorgefertigten Stereotypen, die in den pflichtete“ Generation? Das Kaninchen zap-
Frau beliebt. Wobei ich gleich ein mea cul- Synapsen des Kanzlerinnenhirns sitzen pelt bedenklich. Frau Dr. Merkel im Deut-
pa einfügen möchte: Auch ich finde Angela und auf Knopfdruck oder Stichwort abge- schen Bundestag am 13. Dezember 2012: „In
Merkel nicht unsympathisch, ich mag ihre nudelt werden – aufgezogen wie die Pup- diesem Sinne verpflichtet der Nobelpreis
unprätentiöse Art, ihr Interesse für Kunst pe Olympia in „Hoffmanns Erzählungen“, unsere politische Generation dazu, gemein-
und Künstler, das sie nie an die große Wahl- egal ob̓’s passt. Ihre Sprachwippe ist von sam dafür zu sorgen, dass Europa sein gro-
kampfglocke hängt. Nur ist „Beliebtheit“ fast bewundernswerter Kindlichkeit, und ßes Friedens- und Wohlstandsversprechen
für die Popularitätskurve von Politikern der Zeitschrift „Brigitte“ vertraute die auch in Zukunft halten kann.“
zwar wichtig, aber im Grunde keine Kanzlerin an, dass sie im Familien- und Genau genommen ist das eine Ungeheu-
politische Kategorie! Wenn die Deutschen Freundeskreis froh sei, wenn nicht über erlichkeit. Da wird mit einem gigantischen
ihre Politiker „lieben“, ist allemal Phrasen-Radiergummi die soziale
Vorsicht geboten. Gerechtigkeit schlichtweg wegge-
wischt. 55,9 Prozent Jugendarbeits-
Sie stellt Weichen „aufwärts“ losigkeit in Spanien; Griechenland
Gut möglich, dass linkische Spra- und Portugal wie Travens „Toten-
che – aber auch linkische Sprach- schiff“ am Untergang entlang-
losigkeit! – für das Bewundertwer- segelnd. Insgesamt 5,5 Millionen
den „hilfreich“ ist. Aber es geht Arbeitslose unter 25 Jahren in der
auch anders. Sir Winston Chur- EU. Die Realität wird einfach aus-
chill, bedeutender Staatsmann in geblendet, es wird über sie hinweg-
weitaus schwierigeren Zeiten als begöscht – womöglich in der Hoff-
den unsrigen, erhielt 1953 laut Be- nung auf Self-fulfilling prophe-
gründung der Schwedischen Aka- cies? Für wie dumm hält die Kanz-
demie „für seine Meisterschaft in lerin ihr Volk?
der historischen und biografi- Die arme Sprache unserer ja
schen Darstellung sowie für die gewiss und trotz allem erfolgrei-
glänzende Redekunst“ immerhin chen Regierungschefin ist nicht
den Nobelpreis für Literatur. Aller- Angela Merkel, Bundeskanzlerin seit 2005 lässig; sie ist fahrlässig. Dieses
dings hatten die Briten ihn im Polit-Abrakadabra macht Men-
Sommer 1945 als Premierminister schen misstrauisch gegen das
schon wieder abgewählt. Politik geredet werde, aber auch nicht Gesagte – selbst, wenn die Inhalte manch-
Die linkisch-hilflosen Dicta von Angela wolle, dass nicht über Politik geredet werde, mal stimmen. Siegfried Jacobsohn, der
Merkel sind allgegenwärtig: „Damit es in nur weil sie da sei. höchst stilempfindliche Herausgeber der
Deutschland besser geht, werden die Wei- Deutlichkeit ist Merkels Sache nicht. legendären „Weltbühne“, war gelegentlich
chen aufwärts gestellt“; „Mir ist der Atem Viele ihrer Sätze gleichen ausgepulten irritiert vom Geschwurbel seines pro-
gestockt, und zwar in zwei Richtungen“; Erbsenschalen, und die fallen raschelnd, minenten Mitarbeiters Kurt Tucholsky.
„Wir lassen nicht zu, dass Deutschland an weil fruchtlos und leer, auf den Boden: Der antwortete auf dessen Vorhaltungen
die Wand gefahren wird“. Wobei auffällig „Seht her, ich tue mich schwer, weil ich es über allzu Gedrechseltes mit „Ich wollte
ist, dass die Naturwissenschaftlerin offen- mir nicht leicht mache.“ Noch in ihrer Re- nur sagen ...“ Darauf kam ein bündiges
sichtlich Schwierigkeiten mit der Materie gierungserklärung vom 21. Februar 2013
hat: Wie macht man das: die Weichen auf- wimmelt es von schiefen Bildern: „Ziele,
„Dann sag̓’s.“2
wärts stellen? Mal wird Deutschland gegen die uns geleitet haben“; banalen Hohl- Im nächsten Heft: Peer Steinbrück
– nicht an – die Wand gefahren; wobei un- formen: „inflationsbereinigt gibt es keinen Lesen Sie Raddatz’ Ansichten über die
klar bleibt, wie ein Land, eine Nation, ein Aufwuchs“; und leerem Sprachstroh: „Die Sprache des SPD-Kanzlerkandidaten

8.8.2013 55
 Ständig im
Scheinwerferlicht:
Hannelore Kraft,
Foto: Volker Hinz

52, ist seit 2010

SPD-Minister-
präsidentin
von Nordrhein-
Westfalen
 das stern-Gespräch
Hannelore Kraft ist eine der mächtigsten
Frauen im Land. Doch wie brüchig
jeder Erfolg ist, das weiß sie aus eigener
Erfahrung. Vor ein paar Jahren,
erzählt sie, wäre sie fast gestorben

„Ich wurde
immer
dünner,
immer
weniger“ Von Arno Luik

8.8.2013 57
L
achen musste ich,
Frau Kraft, wirklich lachen,
als ich sah, wie Sie hier
residieren.
Wieso? Was gibt es da zu lachen?
Na ja, ein riesiger Glaspalast,
internationale Immobilienkon­
zerne haben hier ihre Büros,
Projektentwickler, Beratungsfir­
men, und über Ihnen, der Minis­
terpräsidentin, logieren wirk­
liche Masters of the Universe –
die global agierende Boston
Consulting Group, Chefideologen
des Kapitals. Die da oben,
Sie da unten, da weiß man gleich,
wer das Sagen hat im Land.
Unsinn. Welcher Mieter über
uns ist, darüber denke ich nicht
nach. Und ich weiß nicht, ob man
besser dran ist, wenn man ganz
oben residiert. Im Katastrophen-
fall sind wir unten jedenfalls
schneller draußen. Dass die Staats-
kanzlei hier ist, diese Entschei-
dung fiel 1998, als Wolfgang
Clement Ministerpräsident war.
Der überaus enge Beziehungen
zur Wirtschaft pflegte.
Ich glaube, er hielt dieses Gebäude
hier einfach für moderner als die
Alte Staatskanzlei.
Für Heinrich Heine, Düsseldorfs
berühmtesten und lange verfem­
ten Sohn, der Zeit seines Lebens
einen „socialen Groll gegen die
überwuchernde Macht des Kapi­
tals“ hegte, wäre diese räumliche
Anordnung Material für Spott­
gedichte. Geld regiert die Welt …
Ich mache ja unter anderem Poli-
tik, damit es eben nicht so ist.
Allerdings finde ich schon, dass
die Politik wieder den Willen
zeigen muss, den Einfluss, den sie
58 8.8.2013
Irgendwo in
Namibia, im
Oktober 2012,
nach der kirchli-
chen Trauung: in den vergangenen Jahren abgab,
Kraft mit ihrem zurückzuholen – etwa über
Mann Udo die verstärkte Regulierung der
Finanzmärkte.
Sie haben also das Gefühl,
Sie als Politikerin können etwas
bewirken.
Ja, klar. Wenn ich diesen Glauben
nicht hätte, säße ich nicht hier.
Ich will die Welt verbessern.
Ja?
Ja, sicher! Dieser Gedanke ist mein
Antrieb.
Sie sind Sozialdemokratin …
Ja!
… und wie finden Sie diesen
Satz: „Es bleibt als Kern allen
sozialistischen Strebens die Idee
einer klassenlosen Gesellschaft,
die die ökonomische und
politische Unterdrückung hinter
sich gelassen hat.“
Ich hab das akustisch nicht
verstanden, können Sie das noch
mal wiederholen?
Klassenlose Gesellschaft.
Ohne Unterdrückung.
Das ist nicht meine Wortwahl.
Es sind Worte von Willy Brandt,
dessen 100. Geburtstag die SPD
demnächst feiert.
Es ist eine Vision, aber dass ich
sie noch erlebe, daran glaube ich
eher nicht.
Wissen Sie noch, warum Sie der
Partei Brandts beigetreten sind?
Mein Eintritt in die SPD war nicht
inspiriert durch Bücher oder Filme
oder Personen. Es war der Alltag,
der mich in die Partei brachte. Mein
Sohn bekam keinen Kitaplatz, als
Betriebsratsvorsitzende erlebte ich
hautnah wachsende soziale Proble-
me. Und deshalb bin ich, das war
1994, zur SPD gegangen, da war ein-
fach der Gedanke: Man muss etwas
machen. Man kann etwas machen.
Ich habe ein überbordendes Ge-
rechtigkeitsempfinden, und wenn
man sieht, was alles falsch läuft,
Foto: ddp images
dann muss man doch handeln.
Dann haben Sie verdammt viel
zu tun. Die Schere zwischen Arm
und Reich klafft auseinander wie

noch nie, die Zahl der Billigjobs
ist so hoch wie noch nie. Und die
Lebenserwartung von Leuten,
deren Einkommen unterhalb der
Armutsgrenze liegt, sinkt.
Ja! Aber das sind doch alles Gründe,
sich politisch zu engagieren. Man
kann nicht in der Ecke sitzen und
klagen: Ach, die Welt ist schlecht,
alles ist schrecklich.
Und dann nichts tun.
Ihr Vater, der Straßenbahnfahrer
war, der …
Er war Verkehrsmeister, er hat
sich hochgearbeitet.
Er wäre sicherlich stolz auf
seine Tochter, die …
Ja.
… die eines der ganz wenigen
Arbeiterkinder ist, die es nach
ganz oben geschafft haben.
Das mag sein. Meine Mutter war
Verkäuferin, früher hatte sie
als Schaffnerin gearbeitet, zwi-
schendurch im Akkord und
im Halbdunkel sitzend in der
Industrie.
War das für Sie eine schöne oder
beengte Kindheit?
Im Blick zurück: Es war schön. Wir
wohnten in einem Mehrfamilien-
haus einer Wohnungsbaugesell-
schaft, im Garten war eine Teppich-
stange, und ich spielte mit meiner
Schwester dort Federball. Und
sonntags bin ich mit meiner Oma,
die streng katholisch war, in die
Kirche. Ich bin auch ins Jugend-
heim gegangen, es war ein Falken-
Jugendheim, also SPD-nah. Da habe
ich im Chor gesungen, das gefiel
mir. „Brüder zur Sonne zur Freiheit“,
„Glück auf“ – diese Lieder singe
ich gerne. Das gehört zu unserer
Kultur und zu meiner Geschichte,
mein Opa war Bergmann.
Was war das traurigste Erlebnis
in Ihrer Kindheit?
Da meine Eltern auf Schicht
arbeiteten, hat mich meine Oma
mit großgezogen. Und als sie
starb, war das ein wirklicher Ver-
lust für mich. Und meine Jugend
endete, als mein Vater an seinem
50. Geburtstag starb, an Krebs.
Heute bin ich davon überzeugt,
er hatte wohl das, was ich habe.
Wie bitte?
Ich habe Zöliakie. Ich hatte die
gleichen Symptome wie mein
Vater, bei ihm wurde diese Krank-
heit allerdings nicht erkannt.
Ich darf nichts essen, was Gluten
enthält. Statt Weizennudeln
esse ich halt Reisnudeln, statt Brot
aus Weißmehl eben Maisbrot.
Ich bin jetzt gesund, ich kann
ohne Medikamente leben.
„Es gab eine Phase,
da war ich schwach“
Politiker müssen ja immer fit sein,
dürfen keine Schwäche zeigen.
Es gab eine Phase, da war ich
schwach. Bevor meine Glutenun-
verträglichkeit erkannt wurde, als
Ministerin und Fraktionsvorsit-
zende, wurde ich immer schwächer.
Aber Sie haben trotzdem
funktioniert.
Ich habe es versucht.
Wie düster sind dann die Gedanken
in solchen Momenten?
Es gab Augenblicke, da will man
aufhören. Es ist hart, wenn Sie
merken, dass Sie nicht können, wie
Sie wollen. Ich wurde immer
dünner, ich wurde immer weniger.
Ich bin von einem Arzt zum an-
deren, aber die haben alle nichts
herausgefunden. Sie sagten nur:
„Das ist der Dauerstress.“ Und in
der Weihnachtszeit 2007 beschloss
ich, der Krankheit selbst auf den
Grund zu gehen. Im Internet habe
ich rumgeforscht und bin irgend-
wann auf der Seite der Deutschen
Zöliakie-Gesellschaft gelandet,
und nach wenigen Minuten wusste
ich: „Das habe ich!“ Ich bin dann
zum Arzt und habe mich testen
lassen, und das war es.
Sie hätten sterben können?
Ja. Wenn ich glutenhaltiges Ge-
treide esse, zerstört das die Zellen
in meinem Dünndarm. Mein
Körper nimmt dann wichtige
Stoffe nicht mehr auf. Ich hatte
Eisenwerte, bei denen die Ärzte
sagten: „Wie kommt es, dass
Sie hier noch sitzen?“ Und sie
gaben mir Eisenpräparate, aber
damit wurde es nicht besser. Heute,
im Blick zurück, frage ich mich:
Mein Gott, wie habe ich das bloß
ausgehalten? Jetzt, wieder gesund,
bin ich von 50 auf 100 Prozent
Leistungsfähigkeit geklettert.
Da ich jetzt weiß, was ich habe,
kann ich gut damit umgehen.
Auf Ihrem Schreibtisch dort
drüben liegen x Kladden, das
sieht nach viel Arbeit aus.
Das ist nicht wirklich viel.
Es kommt ja darauf an, ob man
seinen Job nur als Belastung sieht.
Mich stört, wenn Kollegen sich
so belastet, so beladen geben.
Mir fällt da sofort Ihr baden-
württembergischer Kollege
Winfried Kretschmann ein, der
gern erzählt, wie schwierig
alles ist, der immer so bedrückt
durch die Gegend läuft.
Finden Sie? Ich will Ihnen dann
mal nicht widersprechen.
Politik ist nicht einfach. Es ist
harte Arbeit, mir macht sie Spaß.
Aber es gibt doch Schöneres,
als heute Abend mit mir hier zu
sitzen, zu reden, zu streiten.
Es war heute ein anstrengender
Tag, es ging um sechs Uhr los.
Aber das Schöne an meiner Arbeit
ist: Jeder Tag ist anders. Und ich
bin auch eine Hobbypsychologin,
daher finde ich es gerade spannend,
wie Sie Ihre Fragen aufbauen.
Jetzt kommt eine einfache Frage:
Was sind Sie für eine?
Das ist keine einfache Frage. Ich
versuche, ich zu bleiben. Ich mag
Menschen. Und ich glaube, 4
8.8.2013 59

das ist die wichtigste Voraussetzung,
um Politik zu machen. Das sage
ich auch unseren Jusos, wenn die
mich fragen: Ist Politik eine beruf-
liche Perspektive für mich? Meine
Antwort ist dann immer: Magst
du Menschen? Wenn du dich nicht
durch Begegnungen bereichert
fühlst, dann lass es sein! Für mich
ist also der Wahlkampf, bei dem
ich mit vielen Leuten zusammen-
komme, die Möglichkeit, meine
Batterien aufzuladen.
Jetzt sagen Sie bloß noch, Sie
klingeln auch gern an Haustüren.
Die SPD möchte ja an fünf
Millionen Türen für den Sieg im
September agitieren.
Auf Marktplätzen stehen, mit den
Bürgern reden – das mache ich
gerne. Und total gerne mache ich
Hausbesuche.
Da klopfen Sie und sagen:
Ich möchte Sie regieren?
Nein, ich versuche, mit den Men-
schen ins Gespräch zu kommen,
manche sind überrascht, aber die
meisten finden das gut. Die haben
das Gefühl: Die Politik kommt zu
ihnen. Im vorletzten Wahlkampf
habe ich 2500 Hausbesuche
gemacht, den Erfolg können Sie
direkt vor Ort an den Wahlergeb-
nissen nachlesen.
Sie glauben wirklich, Sie können
etwas bewirken!
Ja, das gibt mir Kraft. Mir geht
vieles oft viel zu langsam.
Aber ich weiß, ich kann eine
60 8.8.2013
Menge verändern. Wir legen
deshalb hier einen Schwerpunkt
auf Kinder und Bildung und …
Ihre Regierung hat doch gerade
16 Millionen Euro gestrichen
bei Vertretungsstunden.
Mein Gott, das ist aus einem Etat
von 15,1 Milliarden Euro! Wir
haben seit 2010 720 Millionen Euro
investiert für neue Kitaplätze
für Kinder unter drei, wir haben
eine Milliarde zusätzlich in
Bildung investiert. Wir tun, was
wir können.
„Total gerne mache
ich Hausbesuche“
Ich nenne Ihnen mal ein paar
Zahlen: 28,9 – 33,1 – 35,4 – 40,4
und 28,3.
Kommt noch eine Zahl?
Das sind die Prozentzahlen der
Kinder unter drei, die in Ihrem
Land in Armut aufwachsen, und
zwar in Bochum, Dortmund,
Duisburg, Gelsenkirchen und
dort, wo Sie geboren wurden und
wo Sie wohnen: in Mülheim.
Sie erzählen mir da nichts Neues.
Das ist ja der Grund, warum ich
Politik mache. Deswegen will ich
ja, dass die Bildungschancen von
Anfang an besser werden.
Insgesamt 44 Jahre lang stellte
die SPD in Ihrem Land den
Ministerpräsidenten, und dann
sieht es so aus!
Was soll das? Wir haben eine Menge
erreicht. Wenn ich an Johannes
Rau zurückdenke, wie er es ge-
schafft hat, im Ruhrgebiet, dieser
Arbeiterregion, dass Bildung zum
zentralen Faktor wurde. Früher
hieß es: Die Arbeiter, die hier leben,
die brauchen nicht zu studieren,
die sollen malochen. Fabriken – ja.
Bildungseinrichtungen – nein!
Wir Sozialdemokraten haben
Hochschulen und Fachhochschulen
gebaut, wir haben Kita-Program-
me und Familienzentren
vorangebracht.
Auf dem Weg zu Ihnen bin ich
durch das Ruhrgebiet gefahren:
löchrige Straßen, marode Fassa-
den, geschlossene, verkommene
Freibäder, Schlaglochpisten
innerorts, zerfallende, gesperrte
Er ist schuld, Brücken außerorts, Leerstand,
dass sie heute Schmuddelecken, Tristesse. Das
Ministerpräsi- Ruhrgebiet ist Heimat für fünf
dentin ist: Weil
Kraft 1994 Millionen Menschen, und die Not
keinen Kitaplatz ist überall spürbar.
für ihren Sohn Es ist nicht überall so, das gilt nur
Jan bekam, ging für manche Stadtteile. Das Ruhr-
sie in die SPD gebiet hat sich gut entwickelt.
Waren Sie jemals in einer anderen
Kohle- und Stahlregion, die einen
solchen Strukturwandel verkraften
muss wie das Ruhrgebiet?
Waren Sie mal in Lothringen? Oder
in Sheffield? Dann wissen Sie, wie
gut wir den schwierigen Struktur-
wandel hinbekommen haben. Ich
kenne das Ruhrgebiet aus meiner
Kindheit. Wenn Hochofenabstich
war, mussten wir die Wäsche ganz
schnell reinholen, weil sie sonst
völlig verdreckt worden wäre. Jetzt
ist das Ruhrgebiet viel grüner.
Der Himmel ist nun blau, aber die
Aussichten sind grau.
Nein. Definitiv nicht. Ich liebe
meine Heimat. Wir haben oben auf
dem Berg gelebt, und wenn ich
runter auf die Hütte geguckt habe
und der Abstich vom Hochofen
loderte, das hatte einen besonderen
Reiz. Heute schaue ich auf ein
großes Einkaufszentrum, ich blicke
auf eine moderne Region und
sehe: Es ist viel passiert.
Über 100 000 Kinder unter drei
Jahren wachsen im Ruhrgebiet in
Foto: Frank ossenbrink
Armut auf – schrecklich.
Ja, das stimmt. Ich will das nicht
wegreden. Es gibt eine Menge
zu tun. Aber ich weiß auch, dass die
frühere schwarz-gelbe Landes-
regierung versucht hat, sich auf 4
gut zu wissen Die Kämpferin
Politik übernahm ihre Regie-
Spätestens seit Mai rung nur für die unteren
2010, als sie der SPD Besoldungsgruppen.
zum Wahltriumph in Wo immer Kraft jetzt
Nordrhein-Westfalen auftritt, pfeifen Lehrer,
verhalf, ist Hannelore Polizisten, Steuerbe-
Kraft eine der einfluss- amte. Wenn sie gerade
reichsten Politikerinnen nicht pfeifen, rufen sie:
Deutschlands. Die „Kraftvoll angelogen“
52-Jährige kann durch- oder „Lügen-Hanni“.
aus hart agieren. Den Wenn Kraft den Kon-
Tarifabschluss des flikt mit den Gewerk-
öffentlichen Dienstes schaften durchsteht,
Kosten der Kommunen zu sanieren. weniger als sechs Euro. Wir hätten
Die waren dann gezwungen, ihre einen gesetzlichen Mindestlohn
Schwimmbäder und Jugendheime einführen sollen.
zu schließen. Wir hätten, aber Sie haben ja nicht.
Ja, ja, die anderen sind schuld. Sollen wir jetzt nochmals
Tut mir leid, das ist so. Wir tun die Agenda 2010 durcharbeiten?
jetzt, was wir können. Jetzt, bei der Vielleicht. Denn Klaus Wiesehü-
Bundestagswahl, geht es auch gel, er ist ja heute im Kompetenz-
darum, die Kommunalfinanzen, team Ihres Kanzlerkandidaten
überhaupt die Finanzkraft des Peer Steinbrück, verdammte als
Staates zu stärken. Die SPD … Gewerkschaftschef der IG Bau
Jetzt muss ich mal tief Luft auf einer Maikundgebung 2003
holen. Die SPD, also die rot-grüne die Agenda 2010, beschimpfte
Regierung unter Schröder, hat Kanzler Schröder als „asozialen
doch den Staat bewusst verarmt: Desperado“. Die Hartz-IV-Gesetze
Die Einkommenssteuer wurde hielt er für „zynisch“ und
gekürzt, die Spitzensteuersätze „einen üblen Verstoß gegen die
gesenkt, die Körperschaftssteuer Menschenwürde“.
vermindert, Steuerfreiheit
bei Unternehmensverkäufen
gewährt – so wurden dem
Staat Hunderte von Milliarden
„Merkels Spardiktat
entzogen.
Rot-Grün hat damals alles versucht,
ist gefährlich“
dieses Land voranzubringen.
Damals war Deutschland die Die Fehler, die gemacht wurden,
lahme Ente in Europa. Wir brauchten die wollen wir korrigieren. Politik
Reformen. Wir senkten die macht Fehler. Aber gute Politiker
Unternehmenssteuern, und die sind jene, die die Größe haben, ihre
Wirtschaft hatte versprochen, Fehler zu erkennen und sie zu kor-
dafür Arbeitsplätze zu schaffen. rigieren. Ich bin felsenfest über-
Aber die Zusagen sind nicht alle zeugt, dass wir das beste Programm
eingehalten worden. haben, das wir je hatten. Wir sagen,
Mit der Agenda 2010 und wie wir die Finanzmärkte in den
den Hartz-IV-Gesetzen hat Griff bekommen. Wir werden
die SPD ihre Seele verkauft, die Energiewende besser managen
ihre Kampfkraft verloren, als die Kanzlerin, wir ...
ihre Begeisterungsfähigkeit. Glauben Sie das wirklich?
Nein, so sehe ich das überhaupt Ja, ich sage nur, was ich denke
nicht. Ich gehöre zu denen, die und wovon ich überzeugt bin.
immer sagten: Teile der Reformen Wissen Sie, was mich nervt?
waren richtig. Etwa der Ausbau Nein, noch nicht.
der Ganztagsbetreuung, die Politik wird den Bürgern in der
Absicht, Langzeitarbeitslose über heutigen Mediendemokratie
Leih- und Zeitarbeit wieder in immer nur in Schwarz-Weiß und
feste Anstellungen zu bekommen. in Schlagworten transportiert.
Plötzlich gab es Löhne von Ich meine das nicht als Schelte.
62 8.8.2013
kommt sie, urteilt die sehr unterschiedlich.
„FAZ“, „in die Liga von Typische Beschwerden
Gerhard Schröder“. sind Gewichtsverlust,
Durchfall, Erschöpfung,
zöliakie Eisenmangel. Das
Wer unter der Krankheit Risiko für bestimmte
leidet, verträgt das Krebsformen ist ohne
Getreideeiweiß Gluten Behandlung leicht
nicht. Isst er dennoch erhöht. Einmal erkannt,
Glutenhaltiges, entzün- kann Zöliakie mit
det sich die Dünndarm- glutenfreier Kost
schleimhaut. Die Symp- normalerweise gut
tome sind individuell gemanagt werden.
Die Probleme sind heute komplex,
das Leben ist nicht nur
schwarz-weiß. Aber wenn ich
mir die Talkshows anschaue ...
Sie sind nun richtig wütend.
Nein. Wenn ich die Talkshows
sehe, in denen wir uns mit Halb-
sätzen befeuern, sodass der Infor-
mationsmehrwert für die Bürger
sehr gering ist, dann führt
das zu Politikverdrossenheit.
Warum gehen Sie dann über-
haupt in Talkshows? Sie werden ja
nicht in Handschellen dorthin
geschleppt.
Ich mache das sehr dosiert.
Ich glaube, etwas anderes führt
zu Politikverdrossenheit: Da
gibt es mit großem Täterätä ein
EU-Spitzentreffen in Berlin
zur Jugendarbeitslosigkeit. Sechs
Milliarden Euro, verteilt auf
zwei Jahre, soll es für die 5,6 Mil-
lionen arbeitslosen Jugendlichen
geben. Sechs Milliarden! Das
sind 0,13 Prozent der 4,5 Billionen
Euro, die seit 2008 in der
EU für diverse Bankenrettungen
bewilligt wurden.
Das hat die SPD kritisiert. Wir
haben gesagt, dass das Sparen,
wie es Merkel in Europa diktiert,
inzwischen sehr gefährlich ist.
Wir müssen auch Geld in die Hand
nehmen, um die Wirtschaft in
den Krisenländern anzukurbeln.
Und noch etwas schafft Politik-
verdruss: 80 Minuten lang plau-
derte Peer Steinbrück, er bekam
dafür 25 000 Euro von einer hoch
verschuldeten Stadt, Bochum,
in der ein Familienhaushalt
jährlich im Schnitt gerade mal
18 000 Euro zur Verfügung hat.
Ich muss das nicht kommentieren.
Er hat selbst gesagt, das war ein
Fehler.
Luise Nordhold ist 96 Jahre alt,
mit 14 wurde sie Genossin,
sie hat also mehr als die Hälfte
der 150-jährigen SPD-Parteige-
schichte selbst erlebt. Sie urteilt
in der „Frankfurter Rundschau“
so über Steinbrück: „Fachlich“ sei
er zwar ein fähiger Mann, er habe
„aber keinen Kontakt mehr zur
Basis. Kein Herz, kein Gefühl“.
Das ist falsch, ich kenne ihn besser.
Dass er sich für seine Reden so
fürstlich honorieren ließ, es
waren innerhalb von zweieinhalb
Jahren, in denen er als Bundes-
tagsmitglied vom Bürger gut
bezahlt wurde, 1,25 Millionen
Euro, das hat die Altgenossin
entsetzt. Früher, meinte sie, hätte
man das Geld der Partei gespen-
det, dass er das nicht getan hat,
„das hat mich maßlos enttäuscht.
Das zeigt, dass wir am Ende auch
nicht besser sind. Schade.“
Jemand, der viel verdient, kann
trotzdem gute Politik als Sozial-
demokrat machen. Ferdinand
Lassalle war auch kein einfacher
Arbeiter, aber er hat die Sozial-
demokratie vorangebracht. Und
Steinbrück kann das auch. Er
wäre ein wesentlich besserer Kanz-
ler als die amtierende Kanzlerin.
Das müssen Sie jetzt sagen.
Nein. Die Kanzlerin versucht, sich
durchzulavieren, um an der Macht
zu bleiben. Ich kenne Steinbrück
so gut wie wenige in der SPD-
Führung. Er hätte den Mut für die
richtigen Entscheidungen.
Sie reden so überzeugend, dass
Sie dem Papst mühelos ein
Doppelbett andrehen könnten.
Wie bitte? Ich rede so, weil ich
im Reinen bin mit dem, was ich
tue und sage.
Aber es muss Sie doch ärgern,
als emanzipierte Frau, dass
eine Clique von Häuptlingen,
getrieben von der gönnerhaften
Protektion des Altpensionärs
Helmut Schmidt, bestimmt hat,
dass Peer Steinbrück Kanzler-
kandidat wird. Einer, der noch nie
eine Wahl gewonnen hat. Da ist
die Niederlage programmiert.
So wie Sie das darstellen, lief das
wahrlich nicht, ich bin ja nun
selbst stellvertretende SPD-Vorsit-
zende und mittendrin. Und
ich kann nur sagen: Peer kann es.
Glaubt man den Umfragen,
können Sie es viel besser.
Politik darf sich nicht von Umfra-
gen leiten lassen. Peer Steinbrück
ist der richtige Mann. Er wird das
Land nach vorne bringen.
Wie Sie sich auch mühen:
Rot-Grün wird es nicht geben.
Warten Sie es ab. Die Bürger
beschäftigen sich doch noch gar
nicht mit der Wahl, aber wenn
sie es tun, dann sehen sie, dass es
große Unterschiede gibt, etwa:
Bürgerversicherung oder weiter
Klassenmedizin, mehr Umvertei-
lung, mehr soziale Gerechtigkeit
oder ein gefährliches Weiter-
wursteln.
Der 10. Oktober 2012, das …
… war ein wunderbarer Tag!
Es war der Tag, an dem Sie nach
20 Jahren Ihren Mann nochmals
heirateten. Und dann stellten Sie
ein Bild ins Netz, Sie, die Minister-
präsidentin, irgendwo in Namibia,
in weißem Brautkleid und
wehendem Schleier, Ihr Mann
im dunklen Anzug mit Fliege und
angesteckten Blumen. War das
klug? Im Netz wurden Sie dafür
verspottet, ein Twitterer meinte:
„Wie Mutti mit dem Sohn.“
Um ehrlich zu sein, ist mir das
ziemlich schnurz, weil es eine
private Angelegenheit ist. Wir
haben mit unserer Familie und
engsten Freunden unglaublichen
Spaß gehabt, für uns war das
sehr schön, und alles andere inter-
essiert mich nicht. 2
Fotos: dpa; volker hinz
Arno Luik mit Hannelore Kraft
in ihrem Büro hoch über dem Rhein
in Düsseldorf
8.8.2013 63
 Nebenwirkung: Tod
Das Medikament: Das Eiweißmolekül Erythropoetin (Epo) stimuliert bei Menschen mit Blutarmut
die Ausreifung roter Blutzellen. Das Dopingmittel: Steigt die Zahl der Sauerstoff tragenden
Blutkörperchen, verbessert sich die Leistung. Die Risiken: Eine höhere Anzahl der Zellen macht
das Blut dicker. Das Risiko für Schlaganfälle nimmt zu. Prominente Fälle: Der frühere Radprofi
Erik Zabel (l.) erklärte vor wenigen Tagen, mit Epo gedopt zu haben. Zuvor beichtete auch Lance
Armstrong. Ein ähnliches Mittel brachte dem Skilangläufer Johann Mühlegg 2002 eine Sperre.

64 8.8.2013
 sport

Auf Teufel Komm rAus

Seit Jahrzehnten lastet auf dem Sport der Fluch des
Dopings – in Ost und West, vom Radsport bis zur Leichtathletik.
Ein Führer durch die Welt der missbrauchten Arzneien
Von Nicole Simon; Fotos: Timmo Schreiber

Tuning im Kopf
Das Medikament: Der Wirkstoff Modafinil steigert bei Patienten mit Schlafkrankheit die Wachheit
und Aufmerksamkeit. Das Dopingmittel: Mit Modafinil wollen sich einige Athleten im Kopf
fit halten. Die Risiken: Das Mittel könnte abhängig machen. Außerdem führt es mitunter zu Kopf-
schmerzen, Herzrasen oder Angstattacken. Prominente Fälle: Die US-Sprinterin Kelli White (l.)
wurde nach ihren WM-Titeln von 2003 Modafinil nachgewiesen. Stimulanzien wurden auch
beim Fußballer Diego Maradona gefunden und nun wahrscheinlich auch beim Läufer Asafa Powell.
 Kleine Hoden, dicke Muskeln
Das Medikament: Andriol, das eine Variante des Sexualhormons Testosteron enthält, kann eine
Hodenunterfunktion ausgleichen. Das Dopingmittel: Testosteron und seine Verwandten regen
Muskelaufbau, körperliche Regeneration und Blutbildung an. Die Risiken: Akne ist oft das erste
Anzeichen des Gebrauchs. Später kann sich der Herzmuskel vergrößern, Männern wachsen Brüste,
die Hoden schrumpfen; Frauen vermännlichen. Prominente Fälle: Radprofi Tyler Hamilton (l.).
Weitere bekannte Anabolika-Sünder sind die Sprinter Ben Johnson und Linford Christie.

66 8.8.2013
Der Sauerstoff-Turbo
Das Medikament: Bei einem Unfall oder einer Operation kann man gefährlich viel Blut verlieren.
Eine Bluttransfusion rettet dann Leben. Das Dopingmittel: Mit Blutdoping erhöhen Sportler die
Zahl ihrer Sauerstoff tragenden Zellen und damit ihre Leistung. Die Risiken: Die Athleten riskieren
dabei Nierenschäden, Schlaganfälle oder die Übertragung von Krankheiten. Prominente Fälle:
Tour-de-France-Gewinner Jan Ullrich (l.) gestand Blutdoping. Die österreichischen Biathleten
Wolfgang Perner und Wolfgang Rottmann wurden von ihrem Skiverband ausgeschlossen.
 Anabolika-Blocker
Das Medikament: Tamoxifen wurde gegen Brustkrebs entwickelt. Es blockiert die Wirkung der
Östrogene und bremst so das Tumorwachstum. Das Dopingmittel: Die Tabletten sollen Neben-
wirkungen von Anabolika verhindern – etwa das Wachsen von Brüsten bei Männern. Die Risiken:
Tamoxifen führt mitunter zu Durchblutungsstörungen im Gehirn, Krämpfen, Blutarmut, Gelbsucht.
Prominente Fälle: Der Schwimmer Ľuboš Križko (l.) wurde für zwei Jahre gesperrt. Ein ähnliches
Krebsmittel wies man bei der Russin Tatjana Lysenko, Olympiasiegerin im Hammerwurf, nach.

68 8.8.2013
Hormon für die Potenz
Das Medikament: Humanes Choriongonadotropin (HCG) wird in der Schwangerschaft
ausgeschüttet. In der Medizin hilft das Hormon bei Fruchtbarkeitsstörungen. Das Dopingmittel:
Bei Männern lässt HCG die Testosteronproduktion anspringen. Außerdem soll das Hormon
Sportler-Hoden vor Anabolika-Schädigung schützen. Die Risiken: Ödeme, Schmerzen, Erbrechen.
Prominente Fälle: Der nigerianische Sprinter Davidson Ezinwa (l.) wurde 1999 positiv getestet.
Ebenfalls erwischt: die Radprofis Neil Campbell (2000) und Giuseppe Muraglia (2007).
E
s könnte ein einsames Ren-
nen werden. Wer soll ihn be-
zwingen? Ihn, den Olympia-
sieger, den Weltrekordhalter,
den Superstar: Usain Bolt.
Wer wird mithalten können,
wenn er in wenigen Tagen bei der
Leichtathletik-WM in Moskau aus
seinem Startblock schießt und wie
schwerelos über die blaue Tartan-
bahn des Stadions rast? Er wird Spit-
ze sein. Einsame Spitze.
Die Dopingfunde der vergange-
nen Wochen lichteten die Reihen
der Konkurrenten: Sein Landsmann
aus Jamaika, Asafa Powell, früherer
Weltrekordhalter, und Tyson Gay,
USA, derzeit Jahresschnellster, neh-
men nicht teil. Damit haben nun-
mehr neun der zehn schnellsten
Läufer der Geschichte eine Doping-
vergangenheit. Einzig Bolt, dem ele-
ganten Jahrhunderttalent, hat bis-
lang niemand etwas nachgewiesen.
Die Jagd um Sekundenbruchteile
oder Millimeter ist der Antrieb in je-
der Sportart. Alle Topathleten träu-
men davon, die Grenzen des Erreich-
ten ein Stück zu verschieben. Aber
einige von ihnen optimieren Mus-
keln und Geist nicht nur durch har-
tes Training. Gerade entlarvten
Nachtests zur Tour de France 1998,
dass seinerzeit die deutschen Rad-
sport-Stars Jan Ullrich und Erik
Zabel gedopt waren.
Viele Mittel, die Sportler schlu-
cken oder spritzen, entstammen
keineswegs Laboren für individuel-
le Leistungsphysiologie. Sie wurden
nicht extra für sie gefertigt, nie an
ihnen getestet. Von den weit über
100 Stoffen, die auf der Verbotsliste
der Welt-Anti-Doping-Agentur
(Wada) stehen, sind die meisten Me-
dikamente. Ihre Aufgabe ist es nicht,
das Beste aus einem gesunden Kör-
per herauszuholen. Sondern: Leiden
Schwerkranker zu lindern. Tamoxi-
fen wurde für Frauen mit Brust-
krebs entwickelt. Der Wachmacher
Modafinil soll Menschen mit
Schlafkrankheit helfen, und das
Mittel Synacthen akute Schübe bei
Multipler Sklerose stoppen.
Diese Arzneien aber können im
Körper jene Eigenschaften verstär-
ken, von denen sich Athleten Gold
versprechen – Kraft, Ausdauer, Kon-
zentration. Doch auch im Sport be-
wahrheitet sich: Alles, was eine Wir-
kung hat, hat ebenso Nebenwirkun-
gen. Die Medikamentencocktails
führen Sportler mitunter nicht aufs
Treppchen, sondern wegen der teil-
70 8.8.2013
weise lebensgefährlichen Begleit-
erscheinungen ins Krankenhaus.
In der Anfangszeit des Dopings
ging es in mancher Umkleidekabi-
ne zu wie in einer experimentellen
Alchemistenküche. Äther, Auf-
putschmittel, Strychnin, Heroin –
alles wurde ausprobiert. Schockie-
rende Todesfälle waren die Folge. So
kippte der Radfahrer Tom Simpson
1967 während der 13. Etappe der Tour
de France vom Fahrrad. Es war der
erste Dopingtod, der im Fernsehen
übertragen wurde.
In den 70er und 80er Jahren be-
gann die Zeit der Anabolika. Patien-
ten wurde Testosteron verschrieben,
um eine Hodenunterfunktion aus-
zugleichen; Sportler interessierten
sich für die Nebeneffekte: Das Hor-
mon und seine Verwandten lassen
die Muskeln wachsen.
Diese Stoffe nutzten die Länder
des Ostblocks systematisch –
Staatsdoping. Aber auch im Westen
wurde nicht nur in den Hinterzim-
mern der Sportärzte experimentiert.
Vielmehr finanzierte die BRD flä-
chendeckend Studien an Athleten.
Eine neue Untersuchung der Berli-
Die Fahnder warten
nicht, bis ein Mittel in der
Apotheke liegt – sie
müssen schneller sein
ner Humboldt-Universität offen-
bart den Zynismus der beteiligten
Forscher: Bei ihren Tests ging es vor-
dergründig darum nachzuweisen,
dass die Arzneien nicht die Leistung
steigern. Stellte sich jedoch das
Gegenteil heraus, verabreichte man
sie gezielt als Dopingmittel.
Dazu gehörte später auch Ery-
thropoietin, kurz Epo, das 1988 für
Patienten mit Blutarmut auf den
Markt kam. Gesteuert von Teamma-
nagern und Ärzten, geduldet von
Politikern, fand es schnell den Weg
in die Adern vor allem von Aus-
dauer-Athleten – alte Bestmarken
wurden im Sturm genommen. Ein
gefährliches Treiben: Im Radsport
raffte der Stoff anfangs vermutlich
eine ganze Reihe Sportler dahin. Epo
verdickt das Blut, was Schlaganfälle
und Herzinfarkte verursachen kann.
Seit den Olympischen Spielen
2000 in Sydney gibt es einen Test für
Epo, doch wahrscheinlich werden
Usain Bolt,
Jamaika, (l.) wird
das WM-Finale
in Moskau wohl
ähnlich mühelos auch heute längst nicht alle Betrü-
gewinnen wie ger überführt. Gut gewählte Zeit-
den olympischen punkte für die Verabreichung, klei-
100-Meter-Sprint
ne Dosen, oft in Kombination mit
2012 in London.
Vielen seiner Verschleierungsmitteln, machen
Rivalen ist schon den Nachweis schwer. Es ist das ewi-
mal Doping nach- ge Katz-und-Maus-Spiel zwischen
gewiesen worden; Dopingsündern und Fahndern.
Bolt nicht Andere Mittel haben noch nicht
die Zulassung als Medikament be-
standen – und werden schon miss-
braucht. Zum Beispiel SARMS:
selektive Androgenrezeptor-Modu-
latoren. In ihrer Wirkung ähneln sie
Anabolika. „Im Jahr 2008 haben wir
den Test entwickelt“, sagt Mario The-
vis vom Zentrum für präventive
Dopingforschung, Deutsche Sport-
hochschule Köln. „Zwei Jahre später
gab es die ersten positiven Befunde.“
Illegale Untergrundlabore bauen
solche Wirkstoffe nach und verkau-
fen sie auf dem Schwarzmarkt. „Wir
Fotos der sportler: ddp images; joe Klamar/aFp; action press (2); imago; getty images (2)
können nicht warten, bis ein Mittel
in der Apotheke verfügbar ist, wir
müssen schneller sein“, sagt Thevis.
Derzeit wird GW1516 als neueste
Wunderdroge gehypt, es soll be-
stimmte Muskelfasern leistungs-
fähiger machen. Einer der ersten
Dopingnachweise gelang im April
dieses Jahres. Was der dabei über-
führte russische Radprofi vermut-
lich nicht wusste: Im Labor erkrank-
ten Ratten, an denen der Wirkstoff
getestet wurde, an Krebs. 2
Nicole Simon hat selbst einmal
ein Mittel probiert, das ihre
sportliche Leistung steigern
sollte. Vor einem Unterwasser-
rugby-Spiel kostete sie von
einem grünen Saft, den sonst Renn-
pferde bekommen. Der schmeckte aber
so salzig, dass sie ihn wieder ausspuckte
 Til MeTTe

Umfangreiches Archiv mit Til-Mette-Cartoons: www.stern.de/mette

8.8.2013 71
Der
gesellschaft

Sohn
von…
... Boris Becker möchte endlich mehr sein als
nur Spross einer Tennislegende. Er will ernst
genommen werden als DJ, Modedesigner –
und als er selbst. Ist das zu viel verlangt?
Von Nora Gantenbrink; Fotos: Hazel Thompson

Noah Becker, 19,

in Istanbul:
Er besichtigt hier
jene Firma, die
seine Modelinie
produzieren soll.
Die Zukunft
will geplant sein

72 8.8.2013
N
oah Gabriel Becker ist
19 Jahre alt, wahnsinnig
schön und steht an diesem
Sonntagnachmittag sehr
verschlafen am Hambur-
ger Flughafen, um in die
Türkei zu reisen. Das Land, in dem
er, wenn alles gut geht, seine Zu-
kunft produzieren wird.
Er ist etwas traurig, dass er das
Wimbledon-Finale Murray gegen
Djokovic verpasst. Aber die Zukunft
fordert Opfer in der Gegenwart, das
weiß er schon. Auf seinem iPhone
checkt er alle paar Minuten die
Tennisergebnisse, seinen Twitter-Ac-
count, seinen Whatsapp-Messenger
und Facebook. Wenn er mal auf-
schaut, sagt er Sätze wie: „Ich brau-
che noch ein iPhone-5-Ladekabel!“
Oder: „Wenn ich noch einen im
Camp-David-T-Shirt sehe, kotze ich!“
Becker selbst trägt Chucks, kurze
Hose und Kapuzenpulli und spricht
Englisch, sehr amerikanisches. Oft
sagt er: „Oh, määään!“ Wenn er redet, Noah Becker mit Freunden in seiner ersten eigenen Wohnung in London. Auf dem Regalbrett
klingt er ein bisschen wie ein Hip-
Hopper oder ein Basketballprofi. Er
wurde zwar in München geboren
und besitzt einen deutschen Pass, „Ball“. Sie ähneln sich kaum, der zwar, aber nie wollte er Profispieler
aber seit er sieben Jahre alt war, lebte Vater weißhäutig und rothaarig. Der werden. Warum auch? Er hatte sich
er in den USA. Er sagt: Sein kleiner Sohn dunkel gelockt. In regelmäßi- die Youtube-Videos von seinem Dad
Bruder spricht nur Englisch. Seine gen Abständen berichtet die Boule- angeschaut. Alle drei Wimbledon-
Mutter spricht nur Englisch. Seine vardpresse über ihn. „Becker-Spross Siege. Danach wusste er: Er würde
Stiefmutter Lilly auch und deshalb total verliebt“ („Promiflash“). „Ganz nie größer werden als sein Vater.
meistens auch sein Vater. Immer der Papa!“ („Bild“). Man kennt ihn als Er hätte studieren können, er
höre und rede er Englisch. Aber Sohn von. Und genau das ist Noah dachte über eine Uni in New York
wenn er in Deutschland ist und Beckers Problem. Denn eine Kind- nach, ein Wirtschaftsstudium. Er
Englisch spricht, dann sagen die heit kann man so verbringen. Ein entschied sich dagegen. Er beschloss,
Leute: Sprich doch Deutsch, du bist ganzes Leben nicht. sein Geld mit Mode und Musik zu
doch deutsch! Für Noah Becker ist Anfang dieses Jahres ist Noah verdienen. Beides mochte er. Seit-
Deutschland auch deshalb ein Becker 19 geworden. Davor hat er die dem er 15 ist, produziert er T-Shirts
wenig tolerantes Land. Highschool in Miami abgeschlossen. mit dicken Aufdrucken. Das Start-
Noah Becker ist vor allem bekannt Früher wollte er mal Basketballprofi kapital sparte er zusammen, einen
als Sohn der Tennislegende Boris werden, aber dann brach er sich Teil lieh er sich von seinem Vater;
Becker. Sein erstes Wort war nicht beim Training den vierten und fünf- er möchte es ihm zurückzahlen.
„Mom“ und nicht „Dad“. Es war ten Rückenwirbel. Tennis lernte er
Sein Alias: DJ Knowa
Noah Becker reist von Hamburg
Noah mit acht nach Istanbul, um dort Gespräche
Jahren an mit der Firma zu führen, die seine
der Seite seines
Vaters Boris;
Modelinie Fancy Clothing in der
rechts mit Türkei herstellen soll. Er will auch
seiner Mutter die Fabrik besichtigen und Stoffe
Barbara – ansehen. Er muss nun lernen, er-
getwittert vom wachsen zu werden. Geschäfte zu
Papa machen. Noch lebt er von seinen
DJ-Auftritten, dem vererbten Pro-
minentenstatus und dem Geld
seines Vaters. Er sagt: „Noch.“ Letz-

74 8.8.2013

hinter ihm stehen Familienbilder. Rechts: Becker als DJ bei einer Londoner Modeparty
tes Jahr hat ihn jemand um viel Geld
betrogen. „Manche halten mich für
eine Kuh, die man melken kann.“
Als DJ tritt Noah nun unter einem
Alias-Namen auf: DJ Knowa. Denn
niemand wird gern gemolken.
Seit Ende der Highschool wohnt
Noah Becker in London – auch wie
sein Vater. Mindestens einmal in der
Woche muss er zu ihm rüber zum
Essen. Bis es zum ersten Treffen des
stern mit Noah Becker kam, verging
fast ein Jahr, zwei Manager wurden
ausgewechselt. Presseanfragen wur-
den abgesagt mit: Noah ist gerade in
London. Noah ist gerade in L. A. Bis
zum Ende des Jahres 2012 war er im
Winterurlaub in Miami. Dann,
schließlich, doch Ortstermin: Noah
Beckers erste eigene Wohnung hat
vier Zimmer und liegt im noblen
Chelsea, zehn Minuten vom Big Ben
entfernt. Für einen 19-Jährigen ist es
eine sehr große Wohnung. Es gibt
zwei Schlafzimmer, zwei Bäder, ein
kleines Musikstudio, ein riesiges
Wohnzimmer mit offener Küche,
Kamin, Beamer, Playstation und
einem Basketballkorb. Auf einem
Regalbrett im Wohnzimmer stehen
ordentlich aufgereiht Familien-
fotos. Noah Beckers Großeltern.
Noah Beckers Bruder Elias. Seine
Stiefmutter. Sein Vater. Nur seine
Halbschwester Anna Ermakova, die
steht dort nicht.
Ein Kind des Flugzeugs
In Hamburg legt Becker jetzt seinen
Pass auf den Schalter am Flughafen.
Er ist von außen ganz abgegriffen
und innen voller bunter Stempel.
Zuletzt war Becker für ein paar Tage
mit seiner Mutter und seinem Bru-
der im Urlaub in Kenia. Sie haben
eine Safari gemacht und Charity.
Jetzt kommt er gerade aus Berlin
von seiner Freundin Lary. Sie ist acht
Jahre älter als er, auch wahnsinnig
schön und Sängerin. Zum Geburts-
tag hat er ihr ein iPhone geschenkt.
Ein iPad. Und seine alten Platten-
teller. Sie waren zusammen auf der
Party von Modedesigner Michael
Michalsky auf der Fashion Week.
Noah Becker hat dort aufgelegt.
Seine Freundin hat ihn begleitet.
Es waren Fotografen da, die versucht
haben, Paparazzi-Bilder von den
beiden zu schießen.
Durch die Handgepäckkontrolle
bewegt sich Becker so routiniert, als
passierte er jeden Tag mindestens
eine. Einmal ruft er: „You made a
mistake!“ Und erklärt dann: „Nie in
der Gepäckkontrolle hinter Alten
und Familien mit Kindern anstel-
len.“ Becker ist nicht nur ein Promi-
nenten-, sondern auch ein Flug-
zeugkind. Das erste Mal hob er ab,
da war er gerade drei Wochen alt.
Seinen 18. Geburtstag verbrachte er
im Flugzeug.
Als er sechs Jahre alt war, da traf
Noah Becker Nelson Mandela, Mu-
hammad Ali und Michael Jackson
im selben Jahr. Er lernte auch Barack
Obama kennen und für ihn viel wich-
tiger: den Rapper Jay-Z. Noah Becker
traf A-Prominente wie andere Kinder
die Reihenhausnachbarn. Trotz der
Trennung sah er seinen Vater oft. Er
liebt ihn sehr. Genau wie seine
Mom. Manchmal sagt er unvermit-
telt: „Ich vermisse Elias!“ Sein Insta-
gram-Profilbild zeigt seine beiden
Brüder Elias und Amadeus.
Als er sieben Jahre alt war, ließen
sich seine Eltern scheiden. Noah Be-
cker wuchs danach bei seiner Mut-
ter in einer Villa auf Fisher Island
auf. Einer Insel im Atlantischen
Ozean vor Miami Beach. Man er-
reicht sie nur per Fähre. Seine Nach-
barn waren die US-Stars Oprah
Winfrey und Craig David – das Pro-
Kopf-Einkommen dort ist das
höchste der gesamten USA. Eine Art
Alcatraz für Superreiche. Zwei Mal
wurde bei Beckers eingebrochen,
dann schrie Mutter Barbara durch
die Villa: „Noah and Elias, into the
panic room!“ Der panic room war
ein Hochsicherheitsraum mit einer
Tür, die niemand öffnen kann.
Wie ist das, wenn man hineinge-
boren wird in eine Welt der Pri- 4
8.8.2013 75
vilegien? Was macht das mit einem,
wenn schon die eigene Geburt eine
Schlagzeile ist? Ist das ein großes
Glück oder eine große Scheiße?
Noah Becker bestellt sich jetzt
erst mal ein Bier an der Flughafen-
bar. Er hat 40 Euro in Zwei-Euro-
Stücken im Rucksack, weil er nicht
wusste, dass aus dem Bahnautoma-
ten das Rückgeld nur in Kleingeld
kommt. Überhaupt findet er viele
Dinge in Deutschland seltsam. Er
stellt Fragen wie: „Warum benutzen
die Deutschen als Zahnpasta immer
Bei der
Aronal und Elmex?“ Kurz bevor das Besichtigung
Flugzeug abhebt, fragt er, wo wir Mädchen lassen sich kurz los, sie sa- der türkischen
genau noch mal hinfliegen. gen etwas, was er nicht versteht. Er Textilfirma
Von den Protesten in Istanbul, sagt etwas, was sie nicht verstehen, geht Noah
erzählt er, habe er gar nichts mitbe- dann reichen sie ihm die Hände, und Becker ins
Detail: „Ich
kommen. In dem Moment läuft ein er tanzt mit ihnen auf der Straße.
möchte jetzt
Besoffener vorbei, Noah identifiziert Am nächsten Tag um zehn Uhr was Eigenes
ihn schon am Akzent als Neuseelän- rollt ein Fahrer vor das Hotel. Noah schaffen“
der. Der Mann trägt eine rosa Penis- Becker hat fast verschlafen. Um zehn
mütze aus Plüsch. Noah Becker sagt: war er mit seiner Managerin verab-
„Oh määään!“ Dann sucht er eine redet. Um Viertel nach kommt er in
Steckdose, um sein iPhone aufzu- die Lobby und sagt: „Oh määään!“
laden. Fast den ganzen Flug über Die Firma liegt in Merter, dem
schläft Becker, er sagt, besonders bei Textilviertel der Stadt, und heißt
Langstreckenflügen sei es empfeh- Kamer Giyim. Sie produziert auch
lenswert, vorher Bier zu trinken. für große Marken wie Marc O’Polo
Im Hotel in Istanbul trifft er sich und Gant. In der Firma erwartet ihn
mit seiner Managerin auf der Dach- ein Empfangskomitee. Der Inhaber,
terrasse. Sie heißt Riany Kathirit- Herr Zafer Kamerli, und seine Toch-
hamby, so heißt sie wirklich. Sie ist ter sowie mehrere Angestellte und
25 Jahre alt und sieht aus, als wäre sie Noahs Modeagentin Zeynep Elçin
direkt aus einem Beyoncé-Video in Özyğit stehen aufgereiht in der
die Wirklichkeit spaziert. Noah Be- Eingangshalle. Sie rufen: „Welcome!
cker möchte gern noch ausgehen. In And nice to meet you!“ Becker fasst
einer kleinen Gasse bestellt er Efes, sich an den Rücken und sagt seiner
ein türkisches Bier, und eine Wasser- Managerin, dass er dringend eine
pfeife mit Apfelgeschmack. Er foto- Massage brauche.
grafiert sich und seine Managerin Während der Besichtigung der
mit dem iPhone, Shisha rauchend, Firma sagt Zeynep Elçin Özyğit, sie
und postet das Bild auf Instagram. wäre stolz, wenn sie so einen Sohn
Nebenan wird eine türkische Hoch- wie Noah Becker hätte. Später fragt
zeit gefeiert. Noah Becker beobachtet sie: „Willst du die neue Kollektion
die Tanzenden, steht plötzlich auf deiner Mutter sehen?“ Auch sie wird
und nähert sich dem Kreis. Zwei hier hergestellt. Becker zuckt die
Gut zu wisseN Der becker- claN
Der chef weitere Grand- Ehe wurde 2001
Boris Becker, 45, Slam-Titel folgten. geschieden. 2000
muss zwar gerade brachte Angela
in der Presse lesen, Frauen, kinder Ermakova Beckers
dass er abnehmen Becker hat vier Tochter Anna
solle, ein sport- Kinder aus zwei zur Welt. 2009 hei-
liches Schwerge- Ehen und einem ratete er Sharlely
wicht bleibt er: Seitensprung. Seine Kerssenberger,
jüngster Wimble- Söhne aus erster genannt Lilly (l.).
don-Sieger der Ehe mit Barbara Sie ist die Mutter
Geschichte – mit Becker sind Noah seines dritten Soh-
gerade 17. Fünf und Elias (u.). Die nes, Amadeus (o).
Achseln. Kein unbekanntes Pro-
blem. Er kommt irgendwohin, und
immer geht es auch um seine Mut-
ter oder seinen Vater.
„In Deutschland“, sagt Noah Be-
cker später, „gelten Prominenten-
kinder direkt als verwöhnt.“ Er auch?
„Ja. Und Stars wie mein Dad werden
angegangen, nur weil man auf ihn
neidisch ist.“ Auf was? „Seinen Er-
folg! Er war der beste Tennisspieler
der Welt. “ Wo ist es denn besser? „In
den USA.“ Warum? „Deutschland hat
nicht richtig viele internationale
Prominente. Vielleicht fünf. Karl La-
gerfeld, Heidi Klum, Franz Becken-
bauer, Angela Merkel und meinen
Dad!“ Ist es ein Fluch oder ein Segen,
das Kind einer Tennislegende zu
sein? „Weißt du, ich habe eine Men-
ge toller Leute kennengelernt, und
dafür bin ich dankbar, aber ich habe
sie immer nur als Sohn von kennen-
gelernt. Ich will jetzt als ich selbst
wahrgenommen werden und etwas
Eigenes erschaffen.“
Die Tochter vom Paul
Es gibt durchaus Beispiele von Kin-
dern berühmter Eltern, die nicht
von den Verdiensten ihrer Eltern
zehren. Die eine eigene Karriere
schafften. Michael Douglas ist so ein
Beispiel. Stella McCartney auch.
Noah Becker aber hat keine guten
Erinnerungen an Stella McCartney.
Sie hat mal zu ihm gesagt:„Ah, du
bist also der Sohn von Boris Becker.“
Er war angepisst. Er war enttäuscht.
Stella McCartney müsste es doch
wissen. Sie, die Tochter vom großen
Paul. Er hasst diese drei Wörter: Der
Sohn von. Er würde sie gern ablegen
wie einen alten Parka, aber wie? Die
drei Wörter sind nicht erworben,
sondern angeboren. Becker sagt, er
habe geantwortet: „Ich habe auch
einen Namen, willst du ihn über-
haupt wissen?“
Becker hat sich in Rage geredet.
Er spannt die Arme an, setzt sich
aufrecht hin und schaut sich im
Shisha-Café um. Die Sonne am Bos-
porus ist längst untergegangen, als
Noah Becker sagt, er habe Bock, jetzt
jemanden umzuboxen. Knapp zwei
Wochen später twittert er:
Fuck the fame I’m a simple man. 2
Nora Gantenbrink ist die
Tochter eines Wurstwaren-
fachverkäufers und mochte
Noah Becker trotzdem.
Sie wünscht ihm, dass er glücklich
wird. Als was auch immer

76 8.8.2013

DiagNoSe
Ein gereiztes
Leben
Der ganze Körper übersät mit juckenden Knoten.
Die Patientin kratzt sich die Haut blutig. Tag und Nacht.
Sie ist am Ende ihrer Kräfte. Nach zehn Jahren
endlich die Diagnose. Doch welche Therapie hilft
gegen die seltene Krankheit?
M
anchmal muss man nicht in
die Krankenakte schauen, um
zu erkennen, wie sehr ein Pa-
tient leidet. Als die Frau in
mein Behandlungszimmer kam,
sprach die pure Verzweiflung
aus ihrem Blick.
Vor zehn Jahren, nach der Geburt ihres
zweiten Kindes, hatte ihre Haut plötzlich
zu jucken begonnen, an den Armen, an den
Beinen, am Oberkörper: „Es fühlte sich an,
als sei mein Körper übersät mit Mücken-
stichen.“ Ein paar Wochen später bildeten
sich unter der Haut murmelgroße Knöt-
chen, die den Juckreiz noch anzuheizen
schienen. Seitdem kribbelte fast der ganze
Körper der inzwischen 40-Jährigen. Im-
merzu, auch nachts. Sie erzählte, wie sie
sich regelrecht die Haut vom Körper krat-
ze, kaum noch schlafe. Inzwischen drehe
sich eigentlich alles in ihrem Leben um
diesen quälenden Juckreiz und die Kratz-
spuren auf ihrer Haut, die sie beschämt
unter langen Sachen versteckte.
Die Patientin zog ihre Bluse aus. Ihre
Arme waren voller offener Stellen. Dicht
an dicht reihten sich rote und verkrustete
Knoten. In den vergangenen Jahren war sie
bei verschiedenen Ärzten gewesen. Eine
Ursache für ihre Symptome hatte keiner
gefunden. Die Kollegen verschrieben
Antihistaminika und Cortisoncremes, die
gängigen Therapien. Damit erschöpfen
sich die Möglichkeiten der meisten
niedergelassenen Mediziner. Es gibt kaum
Medikamente, die gegen Juckreiz zugelas-
sen sind. Und die wenigen helfen nur etwa
30 Prozent der Patienten. Die arme Frau
gehörte nicht dazu.
Mir war klar, dass sie an einem Tiefpunkt
angekommen war. Ihre Krankheit und die
wissen
Ungewissheit hatten sie zermürbt. Wir
nahmen sie für zehn Tage stationär auf.
Und suchten in alle denkbaren Richtun-
gen – nach Autoimmunerkrankungen und
Organschäden, Krebserkrankungen, nach
häufigen und seltenen Störungen. Wir
nahmen Hautproben und analysierten
ihr Blut. Stellten Fragen zu Krankenge-
schichte, Essverhalten und Hautpflege.
Ein paar Tage später war klar: Eine schwere
Erkrankung steckte nicht hinter ihrem
Juckreiz.
Stattdessen fanden wir bei ihr eine
Anlage zur Neurodermitis. Ausgebrochen
war das Hautleiden mit den flächigen Aus-
schlägen nie. Stattdessen kamen die Kno-
ten. Nach Jahren des Kratzens bekam ihr
Leiden nun einen Namen, immerhin: Pru-
rigo nodularis – Juckreizknoten durch die
genetische Veranlagung zur Neurodermitis.
Diese Diagnose ist selten. Weniger als fünf
von 10 000 Menschen leiden darunter. Die
meisten sind deutlich älter als die Frau.
Mir war klar: Die Behandlung würde
nicht einfach sein, noch konnte ich ihr
nichts versprechen. Die Knoten waren
voller Entzündungszellen, die mit ihren
Botenstoffen die Nerven ständig reizten.
Hinzu kam, dass bei der Patientin die
Verarbeitung des Juckreizes gestört war.
Eigentlich wird das Jucksignal im Rücken-
mark für einige Zeit gestoppt, sobald man
zu kratzen beginnt. Bei ihr funktionierte
dieser Mechanismus nicht. Schubbern und
Reiben brachten keine Erleichterung.
Zunächst setzten wir verschiedene
Medikamente ein, mit denen wir bei
starkem Juckreiz gute Erfahrungen ge-
macht hatten. Keines davon schlug an. Ich
überlegte weiter. Menschen mit einer sehr
schweren Neurodermitis hilft es, ihr Im-
munsystem mit Medikamenten auszu-
bremsen. Auch wenn die Krankheit
bei meiner Patientin nie ausgebrochen
war – wir wollten es versuchen. Zusätz-
lich bekam sie ein Antidepressivum
aus der Gruppe der Serotonin-Wie-
deraufnahmehemmer, von dem
wir wussten, dass es bestimmte
Formen von Juckreiz unterdrü-
cken kann. Ob es auch bei ihrer
seltenen Form anschlagen
würde? Wir entließen die Frau
und hofften das Beste. Zum
nächsten Termin nach eini-
gen Tagen kam sie mit einem
Strahlen im Gesicht. Sechs
illustration: Katrin FuncKe; auFgezeichnet von nicole simon
Wochen später waren ihre
Beschwerden zu 80 Prozent
verschwunden. Wir konnten
die Medikamente schrittweise reduzieren.
Aus den Knoten sind inzwischen dunkle
Flecken auf der Haut geworden. Sie wer-
den mit der Zeit weiter verblassen. 2
An dieser Stelle schildern regelmäßig Ärzte
ihre außergewöhnlichsten Fälle. Diese Woche:
Prof. Dr. Sonja Ständer, 44
Die Dermatologin leitet das Kom­
petenzzentrum chronischer Pruritus
an der Klinik für Hautkrankheiten
der Universität Münster
8.8.2013 77
 sport

Spitzenreiter!
Sagen wir, wie’s ist: Die Bundesliga hat den Rest Europas
überholt. Die schönsten Stadien. Die günstigsten Tickets.
Und wer gewann die Champions League? Ein Lobgesang
Von Michael Streck

Inbegriff der
Fan-Kultur:
Die Dortmunder
Südtribüne –
genannt „Gelbe
Wand“ – fasst
knapp 25 000
Zuschauer
 E
in warmer Tag im Mai, Abendsonne
über dem neuen Wembley-Stadion;
dahinter eine Wiese und darauf
22 Männer. Englische Fans kicken Deutschland
gegen amerikanische, und am Rand
steht ein kleiner, glatzköpfiger
Mann mit Segelohren und einem Megafon.
Mark Perryman, Kolumnist, Philosoph,
erfolgreicher Buchautor. Er kommentiert
das Spiel gegen die Brüder aus Übersee, und
als die Amerikaner ein Tor schießen, brüllt
Perryman: „Eins null für die Kolonien!“
Pause nach 30 Minuten und Zeit für eine
heikle Fachsimpelei: über England und
Deutschland und Fußball. Sehr hübsch,
eure Stadien und die WM 2006 auch prima.
Aber nix im Vergleich zum Mutterland
dieses Spiels. Das Maß der Dinge: die Pre-
mier League, Englands höchste Spielklasse.
Ein paar Witzchen noch über den Krieg,
„mein Großvater kennt Deutschland auch.
Aber nur von oben.“ And goodbye. Das war
im Mai 2008, eine Woche zuvor hatte Man-
chester United in einem rein englischen
Champions-League-Finale den FC Chelsea
besiegt, und Michael Ballack, dem Deut-
schen bei Chelsea, liefen die Tränen.
Ein warmer Abend im Mai 2013. Abend-
sonne über dem prächtigen Wembley-
Stadion, 90 000 Zuschauer auf dem Weg
in die berühmteste Arena der Welt. Man
spricht deutsch an diesem Abend, Bayern
München spielt gegen Borussia Dortmund,
Champions-League-Finale. Tags darauf
verneigen sich die britischen Blätter vor
beiden Mannschaften für ein famoses
Spiel. Und wiederum ein paar Wochen
später verneigt sich der Fußball-Philosoph
Perryman. „Eure Bundesliga“, sagt er, „ist
aus Fan-Perspektive ein Vorbild. Und das
ist echt hart für einen Engländer.“
Ein Geheimtipp war die deutsche Liga
längst auf der Insel, wo die Ticketpreise
für Ligaspiele derart unverschämt sind,
dass englische Fans am Wochenende
scharenweise flüchten: ausgerechnet nach
Deutschland. Ryanair, Easyjet – samstags
gern voll mit Briten in Trikots von Schalke,
Dortmund oder St. Pauli. Sie suchen in
Deutschland jenes Fußballerlebnis, das sie
zu Hause vermissen. Für sie sind die Trips
Fotos: Franz Waelischmiller/sVen simon; imago (2)
auf den Kontinent eine romantische Reise
in die Vergangenheit, „a trip down memory
lane“, wie sie dort sagen. Perryman: „Die
Leute kommen zurück und sagen: ,Die
Deutschen sind inzwischen die besseren
Engländer. Sie singen lauter, sie dürfen im
Stadion noch stehen, sie dürfen noch Bier
trinken.‘“ Er selbst, Anhänger der Totten-
ham Hotspur, hat seit ein paar Jahren kein
Spiel seines Lieblingsklubs mehr im Sta-
Deutschland vorn
England Spanien Italien
Erschwingliche
Tickets, Bier
erlaubt – auch
deshalb kommen
inzwischen
42 36
englische Fans
in deutsche
29 23 Stadien
dion gesehen. Er hat mit seiner Liga gebro-
chen, nennt sie „ein Monster“, geführt von
Durchschnittliche „Gaunern“: „An der Spitze unserer großen
Besucherzahlen Vereine standen auch früher Ganoven. Aber
2012/2013 in Tausend es waren wenigstens unsere Ganoven.
Heute sind das Scheichs, Investoren und
Oligarchen. Wir beneiden euch.“
44 40 Und Perryman hat recht. Die Bundesliga,
die in diesen Tagen 50 wird und in ihre neue
Saison startet, ist die attraktivste Fußball-
23 27 Liga der Welt. 42 000 Zuschauer kommen
pro Spiel, die Stadionauslastung liegt bei
phänomenalen 91 Prozent. Die Eintritts-
preise sind günstiger als in allen übrigen
europäischen Topligen. Nur die Premier
League generiert mit zwei Milliarden Euro
pro Saison deutlich mehr TV-Gelder, aber
Durchschnittliche Ticketpreise mehr als zwei Drittel davon verdampfen
2012/2013 in Euro randlos in den immensen Personalkosten.
Außerdem, mit Bayern und Dortmund
kommen, sagen wir’s ruhig: die beiden
keine zurzeit besten Vereinsmannschaften der
Angaben
190 121 zur Bilanz
der spani-
Welt aus Deutschland.
Sommermärchen ist ab jetzt jeden Sams-
schen Liga tag. Auch im Winter.
–160 Es ist wie einst
Gewinne/Verluste Etwas Ältere mögen sich noch erinnern
2011/2012 in Millionen Euro an die zur goldenen Ära erklärten 70er und
frühen 80er Jahre. Seinerzeit galt die
Bundesliga schon einmal als das Beste vom
Besten. Der Fußball besaß allerdings längst
17928 nicht den gesellschaftlichen Stellenwert
17 714
16 428 von heute. Er war noch Männersache,
Kuttenträger standen in den Kurven. Die
14 416 Koteletten waren lang, die Hosen hatten
Schlag, die Bayern dominierten Europa,
und die Spieler trugen putzige Spitznamen
wie Katsche (Georg Schwarzenbeck), Tanne
1. 2. (Klaus Fichtel) oder Buffy (Johann
3. Ettmayer) und verrichteten ihre Arbeit in
zugigen Stadien mit Laufbahn. Auch
4. damals schwärmten englische Zeitungen
Punkte in der Saison 2012/2013 vom deutschen Sonnenscheinfußball der
in der Uefa-Jahreswertung Nationalmannschaft und adelten die
Bundesliga als Universität, an der sich 4
8.8.2013 81
ausgewiesene Weltklassespieler wie Kevin
Keegan (Hamburger SV) und Tony Wood-
cock (1. FC Köln) weiterbildeten. Doch
irgendwann Mitte der Neunziger sank die
Strahlkraft, Italien, Spanien und England
liefen der Bundesliga den Rang ab. Helmut
Kohl war Kanzler, gefühlte Jahrzehnte, und
der Fußball war ungefähr so, wie Kohl re-
gierte: gemächlich, solide, selbstzufrieden.
Der Fußballstandort Deutschland
verkümmerte. Kein Spanier, kein Italiener
verirrte sich hierher. Spektakel war wo-
anders – bei FC Barcelona, Real Madrid,
Juventus Turin, AC Mailand, Manchester
United, dem FC Liverpool oder dem FC
Chelsea. Die scherten sich nicht um ihre
Bilanzen und begannen ein absurdes Wett-
rüsten. Kauften Profis für horrende Ablöse-
summen, mit horrenden Gehältern – und
dem Versprechen auf Titel, das sie auch
einlösten. Geld schoss Tore, und selbst die
großen Bayern wurden müde belächelt.
Die Deutschen hielten ihre Liga unter-
dessen brav auf Kurs mit ihrem strengen
Lizenzierungsverfahren, das wilde Schul-
denmacherei schlimmstenfalls mit
Zwangsabstieg sanktioniert. Und um das
sie nunmehr überall beneidet werden.
Denn jetzt zeigt sich, dass die Liga den
richtigen Weg gewählt hat. Das war nicht
sexy, aber vernünftig – das Merkel-Prinzip
übertragen auf den Rasen. Und ähnlich wie
die gesamte Nation blieb auch die Bundes-
liga von der Krise verschont. 14 der 18
Erstligaklubs erwirtschafteten in der Sai-
son 2011/2012 ein positives Ergebnis, der
Umsatz lag zum ersten Mal über zwei Mil-
liarden Euro. Und das Finale von Wembley
bringe dem „Produkt Bundesliga nochmals
einen riesigen Schub“, prophezeit Christian
Seifert, Geschäftsführer der Deutschen
Fußball Liga. Die Konkurrenz staunt.
Streifzug durch Europa
Italiens Serie A? Abgewirtschaftet. „Ein
Skandal und Trauerspiel“, sagt der Fußball-
moderator Marcel Reif, der für den Pay-
TV-Sender Sky kommentiert. „Früher hieß
es: alle nach Italien. Und heute nur Erbar-
men.“ Kaum ein Spieltag ohne rassistische
Schmähungen gegen dunkelhäutige
Spieler, zuweilen gehen die dann mitten im
Spiel einfach vom Platz. Die chronisch
unbelehrbaren Fans von Lazio Rom, dem
Verein von Nationalspieler Miroslav Klose,
hielten schon mal Plakate in die Höhe,
auf denen „Auschwitz ist eure Heimat, die
Öfen eure Wohnungen“ stand. Gegen 41
Vereine wird wegen Steuerhinterziehung
ermittelt. Die Staatsanwaltschaft nennt
die Operation „Calcio malato“, kranker
Fußball.
Die Stadien sind marode und morbide,
die Klubs haben 2,9 Milliarden Euro
Schulden angesammelt. „Der Fußball ist in
den 90er Jahre stehen geblieben“, sagt Luca
Ferrari, renommierter Sportrechteanwalt
aus Mailand. „In Italien sind die Eigentü-
mer starke Persönlichkeiten, die wollen
selbst eine Führungsrolle spielen. Das
macht es für den Verband sehr schwer,
einen Businessplan zu verwirklichen.
Zumal das Misstrauen untereinander
riesengroß ist. Jeder geht in diesem Land
stillschweigend davon aus, dass alle, die
ein Amt bekleiden, das zu ihrem Vorteil
missbrauchen.“ Man könnte auch sagen:
Der italienische Fußball spiegelt zurzeit
die italienische Gesellschaft.
Spaniens Primera División, die Liga des
Welt- und Europameisters? Von der Qua-
lität der Ausbildung und der Spieler nach
wie vor unerreicht. Aber zu einem hohen
Preis. Die Verbindlichkeiten der Profi-
klubs belaufen sich auf rund vier Milliar-
den Euro; mehr als 800 Millionen davon
gehen auf die Kappe der beiden Topklubs
Real Madrid und FC Barcelona. In Deutsch-
land müssten die berühmtesten Klubs der
Welt unter neuem Namen in der Kreisliga
beginnen. In Spanien dagegen machen
die beiden Topschuldner seit Jahren die
zunehmend öde Meisterschaft unter sich
aus. Der FC Valencia, lange Zeit dritte heuerte, ist insofern kein glücklicher Zufall, sieht noch Luft nach oben: „Wenn ich mir
Kraft, ist im Grunde pleite wie der von sondern nur konsequente Entwicklung. anschaue, was die Vereine in den Nach-
einem arabischen Investor fallen gelassene Heute muss kein Profi mehr Deutsch- wuchs stecken, müsste da sogar noch mehr
FC Málaga, der im Frühjahr noch im land verlassen, um anderswo Karriere zu rauskommen.“ In diesem Beritt, aber auch
Viertelfinale der Champions League stand. machen. Mario Götze, Marco Reus, Mats nur in diesem, hält er die spanische Liga
Nuri Sahin wechselte vor zwei Jahren Hummels, Toni Kroos, Thomas Müller – für besser und breiter aufgestellt.
von Borussia Dortmund zu Real Madrid. alle Produkte der runderneuerten Nach- Ansonsten heißt es für die Fans: Carpe
Und kaum war er dort, streikten die Profis. wuchsförderung – bilden in ihren Teams diem, genieße den Tag. Denn besser kann’s
„Bei den kleinen Vereinen hatten die vielmehr einen deutschen Nukleus; und kaum werden. Die Schere zwischen den
Spieler monatelang kein Geld bekommen. davon profitiert am Ende auch die Natio- Topvereinen und dem großen Rest geht
Das muss man sich vorstellen: Die Vereine nalelf. Konkurrenz und Qualität sind in immer weiter auseinander. Durch die
machen Schulden, und die Spieler müssen den Spitzenteams derart hoch, dass die Einnahmen aus der Champions League
darunter leiden. Das wird in Deutschland beiden Nationalstürmer Klose und Mario zerfasert die Bundesliga in eine Dreiklas-
nie passieren.“ Sahin verletzte sich, spielte Gomez nach Italien emigrierten – bei den sengesellschaft: Bayern und Dortmund
kaum und kehrte über den Umweg FC Bayern waren beide ausgemustert worden. enteilen, es folgen die vier bis fünf übli-
Liverpool schließlich zum BVB zurück. Der Schwede Björn Andersson ist eine chen Europapokalanwärter, dann kommt
Während seiner Zeit im Ausland erfuhr Art Handlungsreisender des europäischen der große Rest. Das könnte auf Dauer die
auch er, dass die Bundesliga international Fußballs. Er arbeitet als Scout für Bayern Attraktivität beschädigen. Es ist eben nicht
inzwischen ganz anders wahrgenommen München, sondiert den skandinavischen mehr so, dass jeder jeden schlagen kann.
wird: „Das Interesse steigt. Man merkt, dass Markt und den internationalen Nachwuchs. Das war mal das Mantra. Vielleicht auch
in der Mannschaft – ob bei Real oder auch In den Siebzigern spielte er gemeinsam nur eine Mär oder – wie Marcel Reif es
Liverpool – mehr über die Liga geredet mit Hoeneß, Beckenbauer, Müller und ausdrückt – „ein Zeichen der Mediokrität“.
wird. Und sie ist inzwischen immens gewann Welt- und Europapokal. Wenn
interessant auch für ausländische Top- man diesen Andersson nun nach den
Und Mittelmaß war gestern. 2
spieler. So viele hatten wir doch noch nie“, attraktivsten Ligen befragt, antwortet
sagt Sahin. Dass der er subito: „Deutsch- Michael Streck wurde wie der Profi
vielleicht beste, mit land vor England, Nuri Sahin in Lüdenscheid geboren.
Eingeweihte wissen nun, für welchen
Sicherheit aber be- So geht’s los:
Spanien und Italien.“ Verein er schwärmt – den BVB.
gehrteste Trainer der Freitag, 9. August: Bayern München Es sei die Liga mit Die Geschichte über die fabelhafte
Welt, Pep Guardiola, gegen Borussia Mönchengladbach, der höchsten Leis- deutsche Liga recherchierte er zusammen mit
beim FC Bayern an- ab 20.15 Uhr live im Ersten tungsdichte. Aber er Alf Burchardt und Mathias Schneider
 gesellschaft

Cardiff, Wales. Es ist Anfang April, ein

Ein beschauliches Viertel. An der Kreuz
Sie schauen in die linke Straße, sie sch

der irrtum
sind Auftragskiller
Von Raphael Geiger; Fotos: Andrew Matthews

84 8.8.2013
Sonntag, früher Nachmittag.
ung hält ein Auto mit zwei Männern.
auen in die rechte. Die beiden
A
m Ende seines Lebens war­
tet Aamir Siddiqi, 17, auf
den Koranlehrer. Er ist bei
seinen Eltern, in einem
Rotklinkerhaus in Cardiff,
Wales, 110 Ninian Road. Sie
haben gute Laune, es ist ein sonni­
ger Sonntag Anfang April 2010,
nebenan im Park gehen die Leute
spazieren, der Frühling beginnt.
Es ist zwanzig vor zwei, als es an
der Tür klingelt. Machst du auf?,
fragt die Mutter Aamir. Sie hat
durchs Fenster jemanden mit einer
schwarzen Kapuze gesehen. Sie
denkt, es müsse der Imam sein.
Aamir öffnet die Tür. Sofort ste­
chen zwei Männer auf ihn ein. Sie
tragen Sturmmasken und brüllen
wie Tiere, sie treffen Aamir in der
Brust und im Hals, schnell geht der
Junge zu Boden. Seine Eltern laufen
herbei, auch auf sie stechen die
Männer ein. Aamirs Vater versucht,
einen von ihnen gegen die Wand zu
drücken, der ist zu stark, er reißt sich
los, dann flüchten die beiden.
Aus einem Zimmer ragen Aamirs
Füße in den Flur. Der Junge ist
leblos, Er hat keinen Puls mehr.
Die Mutter läuft hinaus auf die
Straße, sie stammelt zwei Worte.
„Help“, Hilfe. „stab“, Messerstich.
Später stehen Polizeiwagen vor
dem Haus, drinnen versuchen Sani­
täter, Aamir wiederzubeleben. Alle
hören die Schreie der Mutter. Einer
der Polizisten sagt: „Solch ein
Schreien habe ich noch nie gehört.“
Und alle fragen sich: Warum woll­
te jemand diesen Jungen töten?
Sehr geehrter Herr Tanhai, wenn Sie
diesen Brief weglegen, dann ist das Ihr
gutes Recht. Aber als ich von dem Fall
Ihres zu Tode gekommenen Nachbarn
gehört habe, dachte ich: Wie muss es
Ihnen gehen, dem Mann, den die Ver-
brecher eigentlich hätten umbringen
sollen? Ich habe mich gefragt, wie es
mir gehen würde, wenn ich wüsste, dass
ich eigentlich nur noch aus Zufall lebe.
Ich würde mich sehr freuen, wenn ich
mit Ihnen reden dürfte. Mit freund-
lichen Grüßen,
Raphael Geiger, stern-Reporter
Mohammed Tanhai sitzt vor dem
Kamin, macht Feuer. Ein Raum mit
86 8.8.2013
einem alten Holzboden, Sofas, in die
man tief einsinkt, an der Wand per­
sische Teppiche. Tanhai hat graues
lockiges Haar, ein volles Gesicht, er
trägt einen Wollpulli. Er ist Anfang
50, er ist arbeitslos. Wie er da vor
dem Kamin kniet, spricht er ganz
langsam, seine Stimme ist dunkel.
Warum wollte man Sie töten?
Geld. Ich sollte diesem Kriminel­
len 50 000 Pfund zurückzahlen, aber
die hatte ich nicht.
Jeden Tag weiß Tanhai, dass er
tot sein sollte. Dass er nur lebt, weil
für ihn ein Junge aus der Nach­
barstraße gestorben ist. Weil sich
zwei Auftragskiller in der Tür geirrt
haben.
Sind Sie paranoid geworden?
Anfangs ja. Es hat ein Jahr gedau­
ert, bis ich die Balance gefunden
habe: nicht unvorsichtig sein, aber
auch nicht übervorsichtig. Wenn
man überall nur Gefahr wittert,
wird man unausstehlich.
Morgens um sieben ging er mit
dem Hund in den Park, da kamen
ihm zwei junge Männer entgegen.
Er sah sie an, suchte nach etwas, was
Es klingelt. Aamir sie unverdächtig machte. Ein Notiz­
öffnet die Tür, block: gut, wahrscheinlich Studen­
sofort stechen die ten. Keine Auftragskiller.
beiden Männer auf Mittags fuhr er zur Schule, holte
die Kinder ab. Er sah in den Rück­
ihn ein. Sie brüllen spiegel. Warum folgte ihm das
dabei wie Tiere Auto? Er versuchte, sich nicht zu
fürchten. Nicht unausstehlich wer­
den, sagte er sich. Irgendwann bog
das Auto ab.
Mal wünscht er sich das alte Le­
ben zurück. Dann sagt er sich: Ver­
giss es, finde dich ab. Tanhais Leben
wird für immer geprägt sein von
diesem Tag, als zwei Männer mit
dem Auftrag losfuhren, ihn umzu­
bringen. Wie geht er damit um?
Ein Viertel, gut für Kinder
Es war vor einigen Jahren, Aamir
Siddiqi und Luke, der Sohn der Tan­
hais, waren noch klein. Aamir kam
oft zu den Tanhais. Es trennte sie nur
der Kreisverkehr, in der Ninian Road
wohnten die Siddiqis und in der
Aamir Siddiqi, 17, das Opfer, wohnte in
der Ninian Road, der linken Straße. Seine Fairoak Road die Tanhais. Ein be­
Familie lebt dort heute nicht mehr schauliches Viertel, gut für Kinder.
Aamirs Familie sei religiös gewe­
Foto: AFP
sen, sagt Tanhai. Im Gegensatz zu
ihm, der aus dem Iran stammt und
Muslim sein sollte, wie er sagt, aber
mit einer Christin verheiratet ist.
Der die Moschee meidet und Whis-
key trinkt, denn Gott brauche nicht
nur welche für den Himmel, es müs-
se ja auch die Hölle voll werden.
Das Leben entglitt ihm an dem
Tag, an dem sein Sohn Luke starb.
Ein Autounfall. Mehr will Tanhai
darüber nicht erzählen. Luke war 13.
An dem Tag, an dem er starb, begann
die Tragödie. Die Tragödie zweier
Familien.
Fehlt Ihnen Luke noch immer?
Ja. Aber wissen Sie, auf gewisse
Weise hat uns der Tod von Luke stär-
ker gemacht. Vielleicht wären wir
mit allem, was später passierte,
sonst gar nicht klargekommen.
Wie meinen Sie das?
Ich kenne das Gefühl, wenn der
Tod ganz nah ist. Das macht einen
weiser. Früher hatte ich Sorgen we-
gen alltäglicher Dinge. Vor allem
wegen Geld, der Hypothek. Junge
Menschen haben vielleicht Angst
davor, den Job zu verlieren. Sie ha-
ben Angst vor ernsten Situationen.
Ich nicht. Ich bin entspannter.
Es ging um Geld, was sonst?
Nach dem Unfall ihres Kindes wa-
ren die Tanhais wie gelähmt. Eine
Weile konnten sie nicht arbeiten. Sie
kamen in Geldnot. Und sie fanden,
dass sie nicht länger in dem Haus
wohnen konnten. Alles erinnerte sie
an ihren Sohn. Sie wollten nicht an
der Trauer ersticken, sie wollten
weitermachen. So kauften sie ein
anderes, ein kleineres Haus, 85 Shir-
ley Road, einer Parallelstraße zur
Ninian Road, wo die Siddiqis woh-
nen. Die Straßen ähneln sich. Rei-
henhäuser, Doppelhäuser, alles Rot-
klinkerfassaden. Es ist das Haus, das
die Auftragskiller später mit Aamirs
Haus verwechseln.
Den Tanhais fiel es schwer, ihr
altes Haus loszuwerden. Sie zahlten
zwei Hypotheken ab und waren
schon im Verzug, lange würde die
Bank das nicht mehr mitmachen, es
eilte. Sie beauftragten einen Makler,
aber auch der fand keinen Käufer.
Dann stellte ihnen einer ihrer
Söhne einen Mann vor, der vorgab,
er sei an dem Haus interessiert. Sein
Nachname beginnt mit E.
280 000 Pfund, sagte Tanhai.
E. war einverstanden, unter der
Bedingung, dass Tanhai das Haus
sofort vom Markt nehme, schon
vor dem Kaufvertrag, er würde die
ersten Raten bar zahlen. Tanhai war
dankbar. Es ging schnell. Hätte er
vorsichtiger sein sollen?
Meistens fuhr E., Anfang 30, in
einem Porsche Cayenne durch die
Stadt. Sonst auch mal im Audi TT.
Von einem „verschwenderischen
Lebensstil“ sprach später das Ge-
richt. Er stammte aus Dubai, aber
die meiste Zeit hatte er in Cardiff
gelebt. Beruf: Geschäftsmann, ge-
nauer: Drogendealer. Ein Spieler.
Einer, der sich nahm, was er kriegen
konnte.
Hätte Tanhai misstrauisch wer-
den müssen? Hätte er merken müs-
sen, dass E. unseriös ist, als er das
Geld immer nur in bar bekam?
Vielleicht ist Tanhai einer dieser
Menschen, die so rechtschaffen
durchs Leben gehen, dass sie auch
in anderen nur das Gute sehen. Und
nicht merken, dass sie nicht nur gut-
gläubig sind, sondern naiv.
Ich kenne das Gefühl, Wie haben Sie sich in der Zeit ver-
wenn der Tod ganz ändert?
nah ist. Das macht Eigentlich bin ich ein lustiger
einen weiser. Junge Mensch, und das bin ich geblieben.
Ich mache gern Sprüche. Jetzt trin-
Menschen haben ke ich noch mehr und lache noch
Angst. Ich nicht“ mehr. Aber ich bin auch vorsichti-
ger geworden. Misstrauischer. Ich
habe viele Freunde verloren. Der
Kontakt ist einfach abgebrochen,
weil es in meinem Leben nur noch
um dieses eine Thema ging: den
Hausverkauf und diese dubiosen
Typen. Das hielten die meisten
Freundschaften nicht aus. Irgend-
wann blieb ich lieber zu Hause.
Sie wollten das alles mit sich
selbst ausmachen?
Ich habe eine Familie. Vier Kinder,
das älteste ist 28, das jüngste in der
Pubertät. Inzwischen haben wir En-
kel. Wir sind mehr zusammen jetzt.
Unser ältester Sohn kommt fast
jeden Sonntag zum Essen. Freunde
sind verschwunden, aber in der Fa-
Mohammed Tanhai, 52, lebt in der
Shirley Road, der rechten Straße. milie sind wir enger geworden.
Er ließ sich lieber nicht fotografieren E. zahlte stets nur Raten. Mal
10 000 Pfund. Dann 5000. Wie lange
sollte das weitergehen? Nach zwei
Jahren hatte Tanhai 50 000 Pfund 4
8.8.2013 87
bekommen. Das Geld hatte er aus-
gegeben. Rechnungen, Hypotheken.
Er stellte ein Ultimatum. Den
ganzen Kaufpreis sofort oder er
werde das Haus an jemand anderen
verkaufen. Gut, sagte E., verkauf
es, aber nur, wenn ich sofort das
Geld zurückbekomme. Es waren
wohl Einnahmen aus Drogenge-
schäften, die E. bei Tanhai reinwa-
schen wollte. An dem Haus war er
nie interessiert.
Tanhai sagte, er habe das Geld
nicht mehr. Er bat um Zeit, erst müs-
se er das Haus verkaufen, dann kön-
ne er zurückzahlen. Er sagt, er habe
erst an dem Punkt begriffen: dass E.
ein Verbrecher war.
Ein besonderes Kind
Nach Aamir Siddiqis Tod sprachen
die Freunde von einem Jungen, der
„keiner Fliege etwas zuleide tun
konnte“, von einem „gewissenhaften
Koranschüler“, einem „Jungen mit
außergewöhnlichem Gedächtnis“.
Im Kricket-Club nannten sie ihn
„ein Geschenk für seine Eltern“,
einen höflichen Jungen, der vom
nächsten Semester an einen Stu-
dienplatz gehabt hätte, Jura an der
Uni von Cardiff. In der Schule
schrieb er Einsen. Seine Eltern sag-
ten, ihnen sei früh aufgefallen, dass
Aamir „ein besonderes Kind“ war.
Sie hätten, sagten sie, in den letzten
Jahren nur noch für ihn gelebt.
Herr Tanhai, haben Sie noch ein-
mal mit den Siddiqis gesprochen?
Direkt danach. Einfach, weil wir es
richtig fanden. Wir haben ihnen
gesagt, dass wir nachvollziehen kön-
nen, was sie durchmachen, dass wir
wissen, wie es ist, wenn man ein
Kind verliert.
Und seitdem?
Seitdem haben wir keinen Kon-
takt mehr. Wir könnten einander
doch sehr leicht verletzen oder zu-
mindest aufwühlen. Da wäre immer
etwas zwischen uns.
Die Siddiqis sind weggezogen. Es
heißt, sie seien noch religiöser ge-
worden, ganz fromm, um auszuhal-
ten, was man kaum aushalten kann.
Nachdem Mohammed Ali Tanhai
mit E. gesprochen hatte, fragte er
sich: Wie sollte man derselbe blei-
ben, wenn ständig Männer in der
88 8.8.2013
Tür stehen, die einen einschüchtern
wollen?
Immer wieder schickte E. Typen
vorbei, die das Geld forderten. Tan-
hais Frau sagt, damals habe es
begonnen, dass Mohammed „ein
anderer Mann“ wurde. Einer, der den
Menschen genauer in die Augen
schaute, um sie einzuschätzen: gu-
ter Mensch, schlechter Mensch?
Bis heute öffnet er nicht einfach
die Tür. Er sieht sich die Leute an.
Zwei jungen Männern, die er nicht
kennt, macht er nicht auf. Er sagt,
er hätte wahrscheinlich auch dem
Reporter nicht geöffnet, wenn ein
zweiter Mann, ein Fotograf zum Bei-
spiel, dabei gewesen wäre. Er achtet
auf den Blick der Menschen. Er hat
nicht vergessen, wie die Leute blick-
ten, die ihn damals einschüchterten.
Haben Sie überlegt wegzuziehen?
Die Polizei hat uns einmal in ein
anderes Haus verlegt, das sie „safe
house“ nannten, dabei war es ein-
fach ein normales Haus in einem
anderen Ort. Da fanden wir es nicht
sicherer als hier, wo die Nachbarn
uns kennen und wir uns auskennen.
Die Polizei war auch überfordert mit
der Situation, die hatten bislang im
Zeugenschutzprogramm Einzelne
oder Paare, nie eine Großfamilie.
Denken Sie heute manchmal: Ei-
gentlich bin ich zu leichtsinnig?
Vor ein paar Tagen standen fünf
Männer vor der Tür. Meine Frau
dachte: Fünf, das ist viel, und der Äl-
tere sah beruhigend aus. Dann frag-
ten die, ob hier Muslime lebten, und
meine Frau rief mich: Mohammed,
bist du Muslim? Das ist immer so
ein Scherz zwischen uns. Ich hab ge-
antwortet: Nein, ich bin kochen. Es
stellte sich heraus, dass sie mich zu
einem Gespräch in die Moschee ein-
Ben Hope (o.) und Jason Richards laden wollten. Ganz harmlos, aber ja,
wir haben geöffnet, und es hätte
etwas passieren können.
Es war an einem Abend, als es
klingelte und E. in der Tür stand. Er
schlug sofort auf Tanhai ein. Ein
Die Killer kennen weiterer Mann sprühte ihm etwas
ihren Auftrag- ins Gesicht, wahrscheinlich Pfeffer-
geber aus dem spray. Tanhais Augen brannten, er
konnte nichts mehr sehen. Seine
Drogenmilieu. Sie Kinder mussten mit ansehen, wie er
Fotos: AFP
sind Junkies, zu Boden ging, wie die Männer auf
die Geld brauchen ihn eintraten.
 Tanhai sagt, das sei es gewesen, was
ihn am traurigsten gemacht habe:
dass er seinen Kindern kein guter,
starker Vater mehr sein konnte. Er
wollte sie raushalten, aber er konn-
te nicht mal mehr auf sich selbst auf-
passen. Ein Krankenwagen brachte
ihn in die Klinik, aber Tanhai wollte
dort nicht bleiben. Er entließ sich
selbst aus dem Krankenhaus und
fuhr nach Hause zu seiner Familie.
Wie ging es Ihren Kindern?
Die hat das alles traumatisiert.
Dass sie damals mit niemandem
über den Umzug sprechen durften,
niemandem etwas verraten, nicht
mal guten Freunden oder ihren
Großeltern. Gleichzeitig waren es
die Kinder, die uns die Kraft gaben,
das alles durchzustehen. Die Kinder
haben uns erinnert, dass erst einmal
nur der morgige Tag wichtig ist.
Hätte womöglich eines Ihrer Kin-
der den Auftragskillern geöffnet?
Das ist der schlimmste Gedanke.
Wenn sie die richtige Tür gefunden
hätten, hätte es jeden von uns tref-
fen können.
Zweimal 1000 Pfund
Am Tag vor dem Auftragsmord
hatte sich E. mit den beiden Killern
im Park getroffen. Er hatte seine
Kinder dabei, damit es unauffälli-
ger wirkte. Die Killer waren Be-
kannte aus dem Drogenmilieu. Ben
Hope und Jason Richards, beide
Mitte 30. Hope war wegen eines
Raubüberfalls verurteilt worden,
mit Richards teilte er sich die Zel-
le. Zurück in Freiheit, kamen sie
nicht los von ihrer Sucht nach
Heroin. Sie waren Junkies, die Geld
brauchten. Dafür klaute Hope in
Geschäften. Dafür standen sie an
diesem Tag im Park und hörten
dem Mann zu, der jedem von ihnen
1000 Pfund versprach. Zweimal 1000
Pfund für einen Mord.
In einem gestohlenen Volvo XC90
fuhren Hope und Richards, beide auf
Heroin, in Tanhais Viertel. Zuerst
machten sie eine Erkundungsfahrt.
Dann fuhren sie zurück, jetzt woll-
ten sie bei Tanhai klingeln. Aber sie
irrten sich in der Straße.
Es ist der Kreisverkehr, über den
Aamir Siddiqi immer lief, wenn er
zu den Tanhais wollte, zu seinem
Freund Luke. Hope und Richards
fuhren nicht in die Shirley Road, sie
nahmen eine Abbiegung zu früh, die
Ninian Road. Eines der ersten Häu-
ser auf der rechten Seite der Ninian
Road ist die Nummer 110. Hier leben
die Siddiqis. Es ist ein Rotklinker-
haus mit einem Erker auf der rech-
ten Seite. Es sieht neu aus. Das Haus,
in dem Tanhai wohnt, eines der ers-
ten auf der rechten Seite der Shirley
Road, ist auch ein Rotklinkerhaus.
Tanhais Haus sieht älter aus, der
Erker ist auf der linken Seite.
Einige Minuten nachdem Hope
und Richards geklingelt haben, liegt
Aamir am Boden, die Mutter ist auf
die Straße gestürmt, hat einen Pas-
santen um Hilfe gebeten. Sanitäter
bringen Aamir ins Krankenhaus. Es
ist sinnlos.
Aamir, der nichts zu tun hatte mit
E., Richards und Hope, der Tanhai
nur von früher kannte und nichts
wusste von den Schulden, ein völlig
unbeteiligter Junge – er ist tot.
Noch am selben Tag gibt E. Hope
und Richards jeweils einen Um-
schlag, darin 50 Scheine à 20 Pfund.
Hope will das Geld gleich ausge-
ben. In einem Laden kauft er ein
Paar Turnschuhe, Socken und ein
Portemonnaie. Danach nimmt er
sich ein Taxi, zu PC World. Dort sagt
er dem Taxifahrer, er solle draußen
warten, dann läuft er ins Geschäft.
Er spricht einen Verkäufer an. „Ich
will den teuersten Laptop, den ihr
habt“, sagt er.
Der Verkäufer zeigt ihm einen
Laptop für 1000 Pfund. Den kann
Hope sich wegen der Turnschuhe
nicht mehr leisten. Schließlich kauft
er einen für 699 Pfund. Der Ver-
käufer erinnert sich später, dass Hope
nichts über den Computer wissen
wollte, keine einzige Frage stellte
und dass er in bar bezahlte. Gefragt,
wie er heiße, antwortet Hope:
„Smith.“
Zwei Tage später besucht Hope
ein Pfandhaus. Er hat kein Geld
mehr und braucht Heroin. Er ver-
pfändet den Laptop für 200 Pfund.
Die Polizei überführt ihn und sei-
nen Partner Richards später anhand
von Blut, das von Aamir stammt und
das sich in dem gestohlenen Volvo
und auf einem Pullover befindet, zu-
sammen mit Fingerabdrücken und
DNA der Täter.
Immer wieder dieser Gedanke: Ist
es ungerecht, dass Aamir gestorben
ist, damit ich, Mohammed, lebe?
Was hätte dieser Junge die nächs-
ten Jahre gemacht, wenn man ihn
nicht umgebracht hätte? In wen hät-
te er sich verliebt? Hätte er Kinder
bekommen? Kann ich mich jemals
bei Aamirs Eltern entschuldigen?
Wie sollte ich das tun? Gibt es Wor-
te des Trostes dafür, dass ich auf
ihrem Sofa sitze statt Aamir?
Darf ich mich freuen, dass ich
überlebt habe?
Tanhai sagt, er sei nach dem Mord
an Aamir zum ersten Mal richtig froh
gewesen, nicht älter zu sein. Viel-
leicht blieben ihm noch viele Jahre.
Der Auftraggeber ist in Indien
Vor Gericht schoben sich Aamirs
Mörder gegenseitig die Schuld zu.
Der Richter verurteilte sie zu min-
destens 40 Jahren Haft.
Der Mann, der die beiden mit dem
Mord beauftragte, floh nach Indien,
ins Heimatland seiner Mutter. Er
verkleidete sich, trug Perücken,
trotzdem spürte ihn die indische
Polizei auf. Die britischen Behörden
hoffen, dass die Inder ihn ausliefern.
Tanhai sagt nach zwei Stunden
Gespräch, dass es auf manche Fra-
gen im Leben keine Antwort gebe.
Dass man sich manchmal abfinden
müsse. Abschließen mit einem Le-
bensabschnitt – und gnädig mit sich
selbst sein.
Mohammed Tanhai, ein Mensch,
der Dinge falsch gemacht hat. Der
indirekt den Tod von Aamir Siddiqi
mitverschuldet hat. Er sagt, dass er
Glück hatte, ja. Und ja, er mache sich
Vorwürfe. Aber am Ende ist die
Wahrheit doch einfach: Natürlich
hängt er an sich selbst mehr als an
einem Jungen aus der Nachbar-
schaft.
Tanhai freut sich jetzt auf sein
Leben. 2
Raphael Geiger schrieb
Mohammed Tanhai einen Brief,
bekam aber keine Antwort. Er
fuhr nach Cardiff, klingelte an
der Tür. Tanhai öffnete, sagte:
„Ich wusste, Sie würden kommen“
8.8.2013 89
 Schmeckt’s?
serie

Es gibt sie, die

nicht zu teuren
guten Restau-
rants. Man muss
sie nur erkennen –
um die Gastwirte,
die uns mindere
Ware servieren,
meiden zu können

Kennen Sie das? Sie zahlen für
Dinge, die Sie nicht brauchen.
Werden von der Werbung ge-
täuscht. In Verträgen gefesselt,
in Hotlines vertröstet. Haben
Sie auch genug davon, als Kunde
ausgetrickst zu werden? Wir
haben unsere Reporter losge-
schickt, den Verkaufsprofis auf
die Schliche zu kommen, etwa
Optikern, Apothekern, Bio-
händlern. Wir zeigen, wie die
Geschäfte wirklich funktio-
nieren – und welche Maschen
Sie kennen sollten. Sieben
Branchen in sieben Wochen.
Die stern-Serie, Teil 3
… leider nicht immer. Ralf Flinkenflügel,
Cheftester des Guide Michelin, verrät,
wie wir in Restaurants abgespeist werden.
Dazu: Wie Sie die Tricks der Köche schon
beim Lesen der Karte durchschauen
Von Silke Gronwald und Lara Wiedeking; Illustrationen: Dieter Braun
H
err Flinkenflügel, ist
Ihnen nach einem
Restaurantbesuch schon
mal schlecht geworden?
Ja, das passiert allen unse­
ren Inspektoren ab und an.
Bei mir war es in einem Ratskeller.
Es gab Geschnetzeltes mit Spätzle.
Die Nudeln schwammen im Was­
ser, das Fleisch war ungenießbar.
Ich habe fast nichts runterbekom­
men und wollte das Restaurant
nur noch verlassen. Dazu musste
nach der Qualität
ich an den Toiletten vorbei.
Der Geruch gab mir den Rest.
Solche Restaurants erscheinen
im Guide natürlich nicht.
Stimmt der Mythos, dass man
von der Sauberkeit der Toiletten
auf die Hygiene in der Küche
schließen kann?
Meiner Erfahrung nach ist es so:
Wenn es schon draußen anfängt,
und der Speisekasten ist nicht
sauber, drinnen die Teppiche fle­
ckig und das Personal ungepflegt,
dann zieht sich das wie ein roter
Faden durch das ganze Restaurant.
Da überrascht es nicht, wenn die
Küche auch so aussieht.
Worauf achten Sie, um die
Qualität eines Restaurants zu
erkennen?
Mein erster Blick fällt auf die
Karte neben dem Eingang. Stehen
saisonale Produkte drauf? Wenn
Sie zur Spargelzeit einen Hirsch­
braten mit Rotkohl und Semmel­
knödel auf der Karte sehen, aber
keinen Spargel, scheint der Koch
nicht auf saisonale Produkte
zu reagieren. Kein gutes Zeichen.
Skeptisch werde ich auch, wenn
eine Speisekarte 40 Hauptgerichte
und 25 Vorspeisen hat – so viel
kann keiner frisch vorhalten.
Beim Blick auf die Karte entdeckt
man immer öfter klangvolle
Namen, aber die wenigsten
wissen etwa, dass sich hinter
„Interpretation eines Ceviche
nach der Lima-Reise“ ein ein-
faches peruanisches Gericht aus
So Wählen rohem Fisch verbirgt.
Wir unSer Ja, es tauchen immer neue Ver­
lokal auS
klausulierungen auf. Je länger ein
Gericht auf der Karte beschrieben
wird, desto skeptischer werde ich.
95 % Die Gefahr: Da versucht
jemand, mehr durch die Formulie­
rungen zu überzeugen als mit
Qualität auf dem Teller. Es muss
der Speisen aber nicht so sein. Letztlich
können Sie das nur herausfinden,
wenn Sie die Gerichte probieren.
66 % Wenn mit „frischem Fisch“
geworben wird: Ist der frisch auf-
nach dem Preis getaut oder tatsächlich gestern
der Gerichte aus dem Meer gezogen worden?
Ein gutes Restaurant schreibt
29% gar nicht erst „frischer Fisch“ auf
nach der Größe die Karte – das ist eine Selbst­
der Portionen verständlichkeit. Das wirkliche
Qualitätsmerkmal ist doch:
Handelt es sich um einen Wild­
fang, oder stammt das Tier aus der
Aquakultur? Das ist ein riesiger
Unterschied im Geschmack. Und
wenn es nicht mehr gut ist, mer­
ken Sie das sofort am Geruch.
Wenn auf der Karte Biorind oder
Biolamm angeboten wird, wie
kann ich sichergehen,
dass ich kein Fleisch aus Massen-
produktion bekomme?
Man schmeckt den Unterschied.
Ein Lamm, das einige Zeit auf der
Wiese verbringen konnte und
nicht in kürzester Zeit mit Kraft­
futter aufgepeppt wurde, hat einen
feinen zarten Geschmack. Der
sticht nicht aggressiv auf, sondern
hat eine gewisse Eleganz.
Kartoffelpüree aus der Tüte und
passierte Tomaten aus der Dose –
kommt vor, oder?
Ab und an, ja. Wenn wir als Inspek­
toren die Restaurants offiziell 4
8.8.2013 91
Gefürchteter Gast
Ralf Flinkenflügel, 48, ist ausgebil-
deter Koch und Hotelfachmann.
Sein Gesicht darf nicht aufs Bild.
Denn Gastronomen hängen gern
Porträtfotos hinterm Tresen auf,
damit das Personal sofort
erkennt, wen es vor sich hat. Seit
1992 arbeitet Flinkenflügel als
Hotel- und Restauranttester beim
Michelin-Verlag. Seit 2009 ist er
Chefredakteur des Guide Michelin
für Deutschland und die Schweiz.
Mit rund 18 festangestellten
Mitarbeitern und Kollegen aus
dem Ausland wählt er Jahr für
Jahr die besten Spitzenlokale,
Weinstuben und Gasthöfe aus. In
Deutschland gibt es derzeit über
2200 empfohlene Restaurants.
92 8.8.2013
besuchen, werfen wir gerne einen
Blick in die Küche. Manchmal steht
da dann die ganze Palette mit
den „Helferchen“ wie Soßenpulver,
gekörnte Brühe oder Fertigdres-
sings. So ein Restaurant würden
wir aber nicht empfehlen.
Wie viel Mikrowelle, wie viel
Tiefkühltruhe darf sein?
Mit der Mikrowelle werden doch
nur die Wassermoleküle erhitzt.
Richtig kochen kann man damit
nicht. Aber gegen die Tiefkühl-
truhe für die Zwischenlagerung
von frischen Produkten ist nichts
zu sagen.
Stimmt es, dass in der Tages-
suppe immer die Reste vom
Vortag verwertet werden?
Ich glaube, wirklich gute Köche
machen das nicht. Viele Top-
gastronomen haben allerdings
ein Zweitrestaurant, auf einem
preislich günstigeren Niveau.
Vieles, was qualitativ immer
noch einwandfrei ist, wandert
dort hin.
Sparen lässt sich doch auch bei
Küchenklassikern wie einer
Bouillabaisse, wenn man statt
Edelfisch nur einfachen Seelachs
nimmt. Oder wenn man beim
Wiener Schnitzel statt Kalbs- nur
Schweineschnitzel nimmt.
Ja. Aber grundsätzlich gilt: Der
Koch muss sich ans Rezept halten.
Alles andere ist nicht korrekt. Es
sei denn, er schreibt auf die Karte
Aus dem Meer
direkt auf den
Teller? Manch-
mal ist das
so – aber nicht
jeder Fisch
hält, was der
Gastwirt
verspricht
„Interpretation“ einer Bouilla-
baisse. Dann ist alles erlaubt.
Und beim Wiener Schnitzel?
Ach, da hat ja jeder so seinen Trick,
dass die Panade fluffig wird. Da
sieht man alles Mögliche – auch
dass das Schnitzel nur kurz in die
Fritteuse gehalten wird und ganz
fettig auf den Teller kommt. Und
für die Schweinefleischvariante
hat sich die Formulierung „nach
Wiener Art“ eingebürgert.
Wann lassen Sie ein Essen
zurückgehen?
Wenn Produkte vergammelt sind.
Oder etwas nicht richtig heiß
ist. Ich hatte auch schon mal ein
ungenießbares Stück Fleisch –
und einen Gastronomen, der ganz
unverschämt reagiert hat. In sol-
chen Fällen macht es auch keinen
Sinn zu diskutieren. Da kann man
höchstens sagen: „Packen Sie es
mir ein, ich gebe es dem Lebens-
mittelkontrolleur.“ Aber die meis-
ten Gastronomen sind sehr kulant.
Es wird in den Küchen zuneh-
mend experimentiert. Da gibt’s
dann schon mal Gänseleber mit
Coca-Cola-Gelee.
Ja, der Kontrast des Süßen mit dem
Herben kann sehr interessant sein.
Es gibt natürlich auch einige Köche,
die zwanghaft Dinge kombinieren,
die nicht passen. Je mehr Produkte
bei einem Gericht beteiligt sind,
umso größer ist die Herausforde-
rung für den Koch, die geschmack-
lich zusammenzubekommen.
Aber wenn die Köche nichts aus-
probierten, wären wir noch auf
dem Stand von vor 30, 40 Jahren.
Warum wird in Spitzenlokalen
geflüstert?
Das ändert sich gerade, und das
finde ich toll. Auch in einem
Gourmettempel darf man Lebens-
freude zeigen.
Blamiere ich mich, wenn ich
den Kellner bitte, mir die Reste
einzupacken?
Nein, Sie haben doch dafür
bezahlt. 2
Fotos: Martin Wagenhan
Bis zu 250-mal im Jahr geht ein
Gastrokritiker ins Restaurant –
egal, ob er Hunger hat oder
nicht. Silke Gronwald (Foto)
und Lara Wiedeking sind
froh, selbst entscheiden zu können, wo,
wann und was sie essen
 Kleiner Wegweiser zum guten Essen
Grundsätzlich: Im Restau-
rant ist Geiz gar nicht gut.
Wenn Sie erwarten, dass in
einem Restaurant jemand frisch
für Sie kocht, schauen Sie sich
die Speisekarte einmal kühl an:
eine Platte mit dreierlei Edel-
fisch, Gemüse, Pommes und Sa-
lat für 9, 50 Euro? Ist seriös so
billig nicht herzustellen, dassel-
be gilt für Grillplatten mit drei,
vier verschiedenen Fleischstü-
cken für unter zehn Euro. Viel
und billig – diese Kombination
schmeckt normalerweise nicht.
Speisekarte I – Fertigsaucen
Eine Salatsaucen-Auswahl à la
„Italian“, „American“ und „Thou-
sand Island“ lässt darauf schlie-
ßen, dass diese Saucen aus
dem Plastikeimer kommen.
Ähnliches gilt für unser
Lieblingsgemüse, den Spargel:
Sauce Hollandaise ist – frisch
aufgeschlagen aus Eigelb und
geklärter Butter – etwas Be-
sonderes. Da sie aber leicht
gerinnt, ist sie für den Koch ein
Risiko. Deshalb hat sich die
Sauce Hollandaise aus dem Te-
trapack vollends durchgesetzt:
Ein Beutel wird aufgeschnitten,
die Masse im Topf erhitzt – der
Gast bezahlt den Preis für eine
frische Sauce. Essen Sie Spar-
gel einfach pur oder mit Butter.
Speisekarte II – Fleisch
Bietet ein Restaurant haupt-
sächlich Gerichte mit Hähn-
chenbrust und Steaks? Dann
hat der Koch keinen Stolz: Das
Fleisch kommt so gut wie sicher
aus der Massentierhaltung,
ist das Billigste vom Billigen
und verfügt über keinerlei
Eigengeschmack. Die Gerichte
sind nur deshalb auf der Karte,
weil sie sich in Einzelportionen
zubereiten lassen und die Zu-
taten kostensparend im Kühl-
schrank liegen. Ein ganzer Bra-
ten hingegen wäre ein Risiko,
da er nur im Ganzen zubereitet
werden kann – und womöglich
nicht komplett verkauft wird.
Gern wird auch bei Steak-
Spezialschnitten wie Chateau-
briand, Entrecôte oder Ribeye
geschummelt. Hier wird oft
Hüftsteak statt Rückenfleisch
serviert oder das Bürgermeis- Nein, nein, nein: Kein italieni- Küchenbereich eines Lokals
terstück (Faux Filet). Fragen Sie scher Koch würde seinen Toma- sieht oder gar serviert be-
zur Sicherheit nach. tensugo mit H-Sahne verun- kommt, kann davon ausgehen,
reinigen – im Flieger wird zum dass die Wirtschaft auch sonst
Speisekarte III – Fisch Tomatensaft auch keine Dosen- bei entscheidenden Produkten
Die Speisekarte bietet (längs milch gereicht. Die Speisekarte ahnungslos ist – und vor nichts
der Ostsee) Boddenzander bietet Tomate-Mozzarella mit zurückschreckt. Dasselbe gilt
oder (längs des Bodensees) Bo- Balsamessig? Ein Insalata Ca- für Sprühsahne aus der Fertig-
denseezander? Kein gutes Zei- prese besteht in Italien niemals flasche.
chen: Die paar Boddengewäs- aus mehr als Büffelmozzarella,
ser sind längst zu leer gefischt, reifen Tomaten, Olivenöl, Salz Wein und Wahrheit
um die Millionen an Übernach- und frisch geschrotetem Pfeffer. Nehmen wir an, Sie sind kein
tungsgästen mit Zander aus Nur in Deutschland wird das Weinexperte (wer ist das
dem Bodden zu verpflegen. Gericht mit Billigbalsamico schon?) und bestellen im Res-
Und der Bodensee ist längst zu übergossen, da weder Tomaten taurant keinen Weißwein für
sauber, um noch viele Zander noch der Kuhmilchkäse nach 100 Euro (wer tut das schon?).
zu liefern – denen fehlen die irgendetwas schmecken. Be- Sondern wählen etwa den deut-
herausgefilterten Trübstoffe. sonders gern wird diese Kombi schen Riesling für 25 Euro –
Zander in Deutschland kommt im Winter angeboten, wenn so weit, so gut, für diesen Preis
fast immer aus Russland oder Tomaten nach nichts schme- kann man absolut trinkbaren
Kasachstan. Da sich Kasachen- cken können. Wein kriegen. Gefährlich wird es,
Zander schlecht verkaufen wür- wenn Sie auf der Speisekarte
de, kommt eben alles angeblich Speisekarte V – Frittiertes neben Ihrem Wein keine Jahr-
aus Bodden und Bodensee. Deutet die Speisekarte auf gangsangabe finden – erfragen
Ähnliches gilt für Seezunge: die Nutzung einer Fritteuse hin Sie den Jahrgang unbedingt!
Der Fisch ist rar und sauteuer (neben Pommes auch noch Wenn Ihnen dann im Jahr 2013
bis unbezahlbar, das gilt beson- Kroketten, Wedges, Schnitzel, ein 2008er angeboten wird –
ders für große Exemplare. Wird Frühlingsrolle etc.), kommt ein trinken Sie Wasser. Die meisten
Seezunge erschwinglich ange- erheblicher Teil der Gerichte Weißweine (ausgenommen die
boten, handelt es sich ziemlich aus der Großpackung. Fritteu- besagten teuren) altern nicht
sicher um Rotzunge (Limande), sen-Köche sind faule Köche. gut – anders als viele Rotweine.
die weniger weiß und weniger Weißweine sollten vom vergan-
festfleischig ist – vor allem aber Tütchen und Pulver genen oder vorvergangenen
billig im Einkauf. Suchen Sie Maggi, Knorr, Maizena, Fondor Jahr sein, dann sind sie spritzig
sich etwas anderes aus. Einen und so weiter: In den Groß- und frisch. Vom 2008er hatte
lässlicheren Etikettenschwindel märkten wimmelt es von Kunst- der Wirt damals zu viel gekauft,
gibt es beim Matjes: Die original saucen und Suppenpulvern für jetzt verscherbelt er die schalen
niederländische Art funktio- jede Geschmacksrichtung. Be- Reste.
niert mit kleinen, fetten Fischen, sonders Lokale, die ausschließ-
die kurz vor dem Laichen lich Kurzgebratenes auf der Das sichere Zeichen für
gefangen werden. Sie werden Karte haben (wie Steaks, Geflü- einen fleißigen Koch
ausgenommen, nur die Bauch- gelbrust und Burger) setzen Achten Sie auf regionale
speicheldrüse bleibt drin – meist auf Schnelligkeit und flot- Spezialitäten, die es nicht als
deren Enzyme verarbeiten ten Umsatz. Sie machen sich Fertigprodukte gibt. In
das Fett des Fisches zu etwas gemeinhin nicht die Mühe, ein- Süddeutschland können das
wunderbar Zartem. Die ver- zelne Töpfe mit Hühner-, Rin- Gerichte mit Innereien sein –
breiteten Matjes „Nordische der-, Kalbs- und Fischfond zu Niere, Lunge, Leber, Kuttelsup-
Art“ sind deutlich größer, unterhalten, die zu Saucen pe. Sie müssen das nicht essen,
billiger und werden mit pflanz- reduziert werden könnten. Die aber Sie können darauf wetten:
lichen Enzymen verarbeitet – Kunstsaucen schmecken übri- In dem Laden gibt es noch an-
sie zergehen eben nicht auf gens inzwischen gar nicht dere frisch gekochte Speisen,
der Zunge. Die echten Matjes schlecht, bestehen aber haupt- die Sie mögen werden. In Nord-
gibt es in den Grenzgebieten sächlich aus Lebensmittelche- deutschland ist beim Angebot
zu Holland oder im deutschen mie und Kalorien und haben „Labskaus“ gewiss, dass dieser
Städtchen Glückstadt – nichts an sich, was dem Körper frisch gemacht ist – denn
sollten Sie in der Nähe sein, guttäte. Allerdings: Es ist das Gericht ist einfach und
probieren Sie, es lohnt sich. schwer, sich dagegen zu wehren. Dosenlabskaus zu teuer.
Was man sich überhaupt nicht Auch Schmorgerichte und alle
Speisekarte IV – Italien gefallen lassen muss: Tüten- Bratenarten sind ein gutes
Sie sind in einem „italienischen“ Latte respektive Instant- Zeichen.
Restaurant, das Pasta mit To- Cappuccino. Wer ein solches Stephan Draf,
maten-Sahne-Sauce anbietet? Produkt im Theken- oder Bert Gamerschlag
8.8.2013 93
 Der
Zehner
FotograFie

ist
offen!

Das könnte ein

Bauchklatscher
werden. In seinem
Aufsichtsturm
wacht der Bade-
meister über
das Treiben im
Hamburger
Freibad Kaifu
Deutschland schwitzt – nichts wie ab ins Freibad.
Zu Besuch in einem ganz besonderen Biotop
Von Peter Pursche; Fotos: Isadora Tast

8.8.2013 97
 Die heißeste
Disziplin im
Freibad heißt
nicht Brust
oder Kraul.
Sie heißt Sehen

Bloß nicht vom

und Gesehen-
werden

Beckenrand
springen!

98 8.8.2013
 Aufgeplatzte
Knie: Zum Trost
gibt’s Pommes,
den Dauerbrenner
der Freibad-
Ernährung. Zum
Nachtisch gibt
es wahrscheinlich
ein Calippo
 Einigkeit und
Recht auf
Freibad
Was raucht
man im Freibad?
Natürlich
Wasserpfeife.
Buco und
Samir finden es
cool, wenn die
Aufsicht ein
Auge zudrückt
8.8.2013 101
Alte Regel:
erst abbrausen,
dann baden.
Nach der Pflicht
freut sich Levi
auf die Kür im
In der kalten Dusche
Schwimmbad

ist jeder gleich

102 8.8.2013
 Raus aus den
Klamotten, rein
ins Becken –
wer fragt da nach
Aufräumen?
M
indestens 30 Grad, die
Sonne brennt Blasen in
den Asphalt; Kreisläufe
kommen ins Stolpern,
Hemden und Blusen
kleben an Bürostühlen,
Kinder wollen Eis: Die Stadt hat
Fieber. Ein neuer Jahrhundertsom­
mer ist über sie gekommen. Er wirft
dem glatten Gang der Dinge Sand
ins Getriebe. Endlich! Endlich ins
Freibad.
Vom Ende der Warteschlange
blickt man auf ein zusammen­
gewürfeltes Völkchen: Mütter mit
Kinderwagen und Reiswaffeln in der
Tasche, kreischige Kicher­Mädchen
mit Neon­Fingernägeln, gockelige
Jungs, die in wenigen Minuten das
Letzte aus ihrer Pubertät herausho­
len werden, ausgemergelte Senio­
rinnen mit Rüschenbadekappe,
Kraftmeier mit mächtig über der
Brust spannenden Hemden und
Väter mit quengelnder Brut. Keiner
passt zum anderen – und doch wer­
den diese vielen Dutzend Menschen
sich friedlich ein Stückchen Wiese
und zwei Becken von überschauba­
rer Größe teilen. Irgendwo auf der
Liegewiese – die Schattenplätze
sind natürlich alle besetzt – mar­
kiert der schwitzende Städter also
sein Revier mit dem Badehandtuch.
Um dann mit zirkusreifer Verberge­
Akrobatik und vorgetäuschter Bei­
läufigkeit die Badehose zu applizie­
ren, dann eincremen mit Faktor 20
und ... „Du“, spricht die junge Frau
vom Nebenhandtuch in ihr Handy,
„ich bin im Freibad.“
Unverkennbar. Die Geräuschku­
lisse ist eine Wiedervorlage aus den
schönsten aller Kindheitstage:
Imponiergegröle werdender Män­
ner, Kinderjuchzen, das Platschen
übermütig gesprungener Köpfer,
Duschengepladder, die Trillerpfeife
des Bademeisters. Es ist der Auftakt
zur herrlich kakophonen Sommer­
sinfonie „Ode an die Freiheit“.
Auch die Gerüche sind die alten,
und sie sind so grundverschieden
wie die Menschen: Fritten, Sonnen­
creme und Chlor scheinen auf ewig
das olfaktorische Dreierpack fürs
Sommerglück zu bilden.
Was anders ist auf dem Baderasen
2013: Es gibt mehr Tattoos, und sie
sind größer geworden. Wo früher die
Haut mit brotkastengroßen Arsch­
geweihen zu Markte getragen wurde,
züngeln heute Flammenmeere über
ganze Körperhälften, Speisekarten
vom Chinesen um die Ecke schlän­
104 8.8.2013
geln sich in Originalschrift um Arme
und Beine. Wenn man denn schon
nicht tätowiert ist, sollte man
wenigstens ganzkörperrasiert sein:
Es ist die Zeit der Nacktmulle.
Alle wollen glatt sein; es herrscht
strengstes Epilée und frei kräuseln­
des Achsel­ oder Schamhaar ist
absolut igitt oder zumindest sehr
von gestern.
Man liegt auf Tuchfühlung. An
heißen Tagen könnte man durch die
ganze Anlage von Handtuch zu
Handtuch marschieren, ohne die
Grasnarbe zu berühren.
Das Wunder
des Freibades:
Aufeinander-
hocken fördert
die Toleranz
Und das ist das Wunder der Frei­ Tattoos sind
bäder: Das Aufeinanderhocken, die heute eher groß
Enge fördern nicht die Aggression, und flammend. Galt es früher, den Mädchen mit
Zarte Engels-
sondern die Toleranz. Größtmög­ flügel sieht eleganten Kopfsprüngen zu im­
licher Spaß bei dichtestmöglicher man selten ponieren, ist heute die allerkrawal­
Ballung der Besucher – das klappt ligste Arschbombe die Krone des
sonst nur beim Open­Air­Konzert. Balzrituals. Bisweilen brandet von
Während das Publikum sich aber Handtüchern sogar Beifall auf für
dort einig ist und nur Musik hören besonders gelungene Sprünge.
will, geht es auf der Liegewiese und Der Klassiker der Anbandelung
im Becken allen um alles: Ruhe, Tru­ ist geblieben: Mädchen ins Wasser
bel, Erholung, Flirt, Schaulust, Bewe­ schubsen. Selbst die sperrigste
gung, Fitness, schlafen, essen, lesen, Zahnspange kann dann das Girlie­
dösen, schmusen, ja, sogar lernen Gekreische nicht stoppen. Auch
und arbeiten – nichts passt zusam­ dieses fiese Geräusch ist nur hier
men, und doch geschieht alles erträglich, weil es zum ewigen
parallel wie in einer riesigen Patch­ Soundtrack eines glückseligen
work­Familie. Alle hauen auf die Sommers gehört.
Pauke und reißen sich gleichzeitig Zeit, selbst ins Wasser zu sprin­
am Riemen. Alle haben ihre Bade­ gen. Vom Einer. Natürlich mit einer
klamotten an und kümmern sich Arschbombe, die alle rundum nass
nicht drum, ob der Handtuchnach­ macht und empört aufkreischen
bar Professor oder Lagerarbeiter ist.
Kommt es tatsächlich mal zum
lässt. Platz da, jetzt komm ich! 2
Streit, weil ein vagabundierender
Wasserball eine Tupperschüssel mit
Paprikavierteln zersprengt und den
Inhalt über viele Handtücher im
Umkreis verteilt oder ein Kampf­
schwimmer eine Sportoma nieder­
gemangelt hat, dann taucht der
Bademeister auf und glättet Wogen.
War er früher eher der Diktator in
Weiß mit Trillerpfeife, kommt er
heute als Mediator daher und dis­ Eine Woche hat die Fotografin Isadora
kutiert, bis wieder Frieden am und Tast im Kaifu, Hamburgs ältestem
Freibad, fotografiert und traf nur auf
im Becken herrscht. entspannte Menschen. Einer davon
Gerade hat er den Zehner freige­ war Autor Peter Pursche, der sein Büro
geben – Showtime am Sprungturm für ein paar glückliche Tage dorthin
für alte Jungen und junge Männer. verlegen durfte
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8.8.2013 105
 Fernsehen • Film • buch • musik • stil • Auto • lebensFreude • reise

journal
4 So nett: Bryan Cranston, der Star aus „Breaking Bad“ Seite 108 4 Warum „Lone Ranger“
nichts taugt Seite 120 4 Das traumhafte Licht von St Ives, Cornwall Seite 128

m
W i n ne i k e
emu
über th
Sylt
seit
e 110

Sie können
einpacken
Sommerzeit, Reisezeit,
Ausflugszeit: Mit dieser
Fahrradtasche im
Retro-Look kommen Sie
überall gut an. Seite 111

8.8.2013 107
 „Sein Talent zum Arschlochsein
ist grenzenlos“

Gelbe Gefahr:
Bryan Cranston
als Walter
White mit hoch-
geklapptem
Atemschutz
und probater
Drogenküchen-
kleidung

Chemie
des Bösen
Die gefeierte US-Serie „Breaking Bad“
geht zu Ende. Die Fans trauern, Hauptdarsteller
Bryan Cranston bleibt erschütternd gelassen
B
ryan Cranston ist ein so
netter Mensch. Seine
Kollegen möchten ihn
unentwegt knuddeln,
seine Regisseure würden
am liebsten jeden ihrer
Filme mit ihm besetzen.
Und die Kritiker häufen
Preise auf den 57-Jährigen, nicht zu-
letzt in der Hoffnung, dass sie später
am Abend dicht neben ihm stehen
und ihn wie zufällig ein bisschen
herzen können. Nie verliert jemand
ein schlechtes Wort über ihn, und so
muss man es als höchstes Kom-
pliment verstehen, wenn Vince Gil-
ligan, Schöpfer der Fernsehserie
„Breaking Bad“, deren Held Cranston
ist, strahlend verkündet: „Sein Talent
zum Arschlochsein ist grenzenlos!“
Seine Frau finde das auch, bestä-
tigt Bryan Cranston. Und als er sich
für die Rolle den Schädel schor und
hager hungerte, drohte sie, ihn nicht
mehr ins Schlafzimmer zu lassen, er
sehe einfach zu fies aus. „Glatzen
machen alt“, sagt er gemütlich und
fasst ins gerade nachgeschossene
braune Haar. „Aber auf eine Art wir-
ken sie eben auch bedrohlich.“
Fotos: Frank ockenFels/aMc; aP
Und bedrohlich: Das muss sein!
Eiskalt. Mörderisch. „Breaking Bad“,
eine der besten Serien der US-Fern-
sehgeschichte, erzählt schließlich
von der unwahrscheinlichen und
doch zwingenden Verwandlung
eines harmlosen Familienvaters in
einen Drogenbaron – vom Chemie-
journal FilM
lehrer zum Psychopathen, der das
beste Methylamphetamin des Staa-
tes New Mexico zusammenbraut.
Zunächst aus schierer Not: Denn
der tragische Held dieser als Revo-
lution gefeierten Saga ist unheilbar
an Krebs erkrankt und will nur
seine Familie versorgt wissen; dass
Papa so viel Gefallen am Geschäft
mit „Crystal Meth“ findet, konnte
vor fünf Jahren und fünf Staffeln
niemand ahnen.
Selbst der Hauptdarsteller nicht;
er empfand, wie alle Zuschauer, tie-
fe Sympathie für diesen Jedermann
mit Namen Walter White. „Jetzt ist
er ein Monster, sogar seine Frau
hat Angst vor ihm“, seufzt Bryan
Cranston über seine bislang be-
rühmteste Rolle. Bekannt wurde der
Kalifornier – dreimal in Folge mit
dem TV-Preis „Emmy“ für Walters
Wandlungen belohnt – 2000 als dus-
seliger Vorstadtspießer in der Sit-
com „Malcolm mittendrin“. Dabei
steht er schon seit mehr als 30 Jah-
ren vor und hinter der Kamera. Er
hat mit Steven Spielberg gearbeitet,
mit Tom Cruise und Chuck Norris –
das ganze Programm von Welterfolg
bis peinlich. Einige Episoden von
„Breaking Bad“ hat er selbst insze-
niert. Und er hat einen Spielfilm am
Wickel, für den er seit Jahren Geld-
geber sucht. Aber selbst George
Clooney, sagt er lachend, habe ewig
gebraucht, um „Argo“ zu finan-
zieren, den Oscar-Gewinner 2013,
So long, Walter
White: Nach
fünf Staffeln
„Breaking Bad“
ist Schluss für
Bryan Cranston,
hier mit einer
White-Maske
Ende Juli
in San Diego
in dem Cranston auch mitgespielt
hat. „Was kann ich Wurst da schon
erwarten?“
Sein finsteres Alter Ego ist das
Ergebnis einer Midlife-Crisis: So
witzelt sein Erfinder Vince Gilligan.
Er habe seine eigene Sinnkrise ver-
arbeitet in der Story jenes Losers,
der seine Probleme auf verblüffend
radikale Weise löst – „he is breaking
bad“, Walter kommt vom rechten
Wege ab. Der Lehrer wird zum
Lehrling, letztlich zum Meister der
Unterwelt: So ist Walters Saga Tra-
gödie und Komödie zugleich, hart
und von rabenschwarzem Humor.
Am letzten Drehtag, so berichtet Schnittmenge
Zum An-die-
das „Breaking Bad“-Team, seien
Wand-Hängen
Tränen geflossen: nie wieder diese oder Aus-
himmlische Hölle! Einzig Cranston schneiden:
nahm es gelassen. Er kennt das Spiel, die Walter-White-
von klein auf. Schließlich kommt Anziehpuppe aus
dünner Pappe.
er aus einer Schauspielerfamilie – Gibt es übrigens
da macht man den Job, so gut es geht, auch von anderen
letzte Klappe, danke und der Nächs- Figuren aus
te, bitte. Obwohl er weiß, dass Wal- „Breaking Bad“
ter White wahrscheinlich die Rolle sowie weiteren
TV-Serien wie
seines Lebens ist, fällt es ihm leicht, etwa „Downton
den schlimmen Finger jetzt sich Abbey“ (www.
selbst zu überlassen. society6.com,
Ob er Walters Ende verraten 16 Dollar).
könne, bedrängen ihn Fans und
Journalisten dieser Tage. Aber klar,
erwidert Cranston: „Alle nehmen
sich in den Arm und verzeihen ei-
nander.“ Und dann lacht er, Tausen-
de Fältchen um die heiteren Augen.
Gemeiner kann er einfach nicht. 2
Christine Kruttschnitt
6
Abschied nehmen von Walter White
„Breaking Bad“: Die letzten Folgen
auf dem Pay-TV-Sender AXN ab
13. August immer dienstags, 21 Uhr;
alle bisher gesendeten Folgen gibt
es synchronisiert auf DVD
8.8.2013 109

Meike Winnemuth
Die Bestsellerautorin („Das große Los“)
schreibt ab sofort wöchentlich im stern
E
s war alles gut zuerst. Aller-
bestes Wetter, voll besetzte
Lesung, gut gelaunte Leute.
Diesmal könnte es klappen,
dachte ich. Diesmal könnte
ich Sylt mögen.
Dann passierte, wie immer: Sylt.
Im Restaurant. Die Kellnerin
beim Abräumen, freundlich: „Kann
ich Ihnen noch was Gutes tun?“ Eine
Frau: „Furchtbar. Ich ertrage es nicht
mehr. Das sagen jetzt alle: ‚Kann ich
Ihnen noch was Gutes tun? Kann ich
Ihnen noch was Gutes tun?‘“ Sie äfft
es nach, in Hörweite der Kellnerin.
Nachts auf dem Heimweg, Kam-
pener Hauptstraße. Zwei weiß
gekleidete Jungs, Typ Berufssohn,
hüpfen aus dem Cabrio, um in eine
Hecke zu pinkeln. Satzfetzen.
„Kennst du die Eva?“ – „Nee. Welche
Eva?“ – „Ganz hübsch, aber ein biss-
chen billig?“ – „Ach die. Ja, habe ich
auch schon gebumst.“
WinneMuth
Sylt. Ein neuer Versuch
Die Insel ist toll. Die Dünen, die Heide, der Strand, das Meer.
Aber irgendetwas läuft da schief
110 8.8.2013
journal koluMne
neu!
Immer noch Kampener Haupt-
straße. Ich versuche, den Gassibeu-
tel meines Hundes zu entsorgen.
Weit und breit kein Mülleimer.
Nicht einer. Ich stecke den Beutel in
die Handtasche. Und frage später
nach: Warum gibt es hier keine
öffentlichen Abfallbehälter? „Damit
die Apartment-Mieter darin nicht
ihren Hausmüll entsorgen.“
Morgens. Am Frühstückstisch im
Hotel, Tisch links: „Schade, dass
Samstag ist, sonst könnte ich euch
jetzt die Börsenkurse auf dem Tablet
vorlesen.“ Ja, schade.
Am Frühstückstisch rechts fragt
die Bedienung, ob sie schon das
Brotkörbchen abräumen dürfe. Der
Mann nickt. „Aber über die Körb-
chengröße müssen wir noch reden.“
Seine Frau lacht geübt.
Am Tisch links geht es jetzt um
einen Steuerberater, der immer
Champagner mitbringt, wenn er
vorspricht. Am Tisch rechts bricht
man zum Golfen auf.
Raus hier. Mit dem Hund durch
Kampen, Wattseite. Ich laufe durch
die teuersten Wohnstraßen der Re-
publik, Hobookenweg und Wiesen-
weg, 35 000 Euro der Quadratmeter.
Bürgersteige gibt es nicht. Wer hier
nicht fährt, hat hier auch nichts zu
suchen. Vorbei an Reetdachhäusern
9Meike Winnemuth freut sich auf Sie
für acht oder zwölf Millionen, „Dop-
pelhaushälften unter Reet“ bereits
für drei bis sechs. Alle mit den glei-
chen Findlingsmauern und den glei-
chen Heckenrosen und dem gleichen
Fünf-Millimeter-Rasen und der glei-
chen albernen Friesenpforte, an der
man links und rechts vorbeispazie-
ren kann. Leben im Geschmacks-
knast – ach, sind ja nur sechs Wochen
im Jahr, das geht schon.
In einer Einfahrt zwei Porsche
Cayenne mit Monogramm-Kenn-
zeichen, jede Wette. Ein paar Häuser
weiter ein Jaguar Sovereign V12 und
ein Bentley Azure, ebenfalls mit
Monogramm-Kennzeichen. Und
abends fahren alle im Konvoi die
20 Kilometer zum Herbert, der Tisch
ist schließlich seit drei Monaten
reserviert. Ah, Freiheit!
Weit und breit nur Gärtner zu se-
hen, ein Geisterdorf. Endlich doch ein
Anwohner, ein Mann mit einem kläf-
fenden Shih Tzu, die Haare eine Spur
zu lang, beide. Mein Foxterrierwelpe
stürzt schwanzwedelnd auf sie zu,
der Mann bremst ihn mit dem Fuß.
„Sie mag das nicht. Sie spielt nicht.“
Ich will Sylt toll finden, wirklich.
Ist ja auch toll: die Dünen, die Hei-
de, der Strand, der Wind, die Wol-
ken. Aber die Leute. Die Leute. Die
verzweifelten Leute. Die Männer
mit ihren roten Hosen und Dieter-
Bohlen-Hemden, bedruckt mit
Jetsetquatsch, „United States Polo
Tournament Jeux Olympiques 1924
Player“, Herrgott. Die Frauen so
blond, so rundstirnig, so behängt.
Und alle zu braun. Und alle zu laut.
In List, beim Warten auf die Auto-
fähre. Ich steige aus meinem 14 Jah-
re alten Lupo, einmal noch die gute
Luft atmen. Der Mann im X6 in der
Spur links neben mir fährt die
Beifahrerscheibe herunter und sagt
IllustratIon: tIna bernIng; Foto: DavID MaupIlé
was. „Ja?“ – „Machen Sie bitte Ihre
Autotür zu. Der Wind könnte sie
gegen meinen Wagen schlagen.“
Tschüs, Sylt. Dann wie immer in
zehn Jahren. 2
Was bewegt Sie gerade?
Tauschen Sie sich mit unserer Kolumnistin
aus: www.facebook.com/winnemuth
 journal Stil

unter 10 Euro unter 1000 Euro

Pflegeleicht Tiefgelegt
Die Erdmännchen Nur hohe Schuhe
sehen täuschend sind elegant und
echt aus, sind aber extravagant? Muss
aus handbemaltem nicht sein – dachten
Kunststoff – und sich die drei jungen
der letzte Schrei Frauen, die hinter
unter den Tierfigu- der italienischen
ren von Schleich. Schuhmarke Attilio
Lehrreich ist das Giusti Leombruni
Spielzeug auch: stecken: Sie machen
Kinder, wo leben wunderbar besondere
Erdmännchen? Damenschuhe –
In Afrika! Sandalen, Stiefel oder
www.schleich-s.com, diese sommerlichen
ca.4 Euro Budapester.
Und alle sind flach.
Danke.
www.agl.it,
um 225 Euro
unter 100 Euro
Sattelfest
Praktisches muss
nicht stillos sein:
Diese Retro-Taschen
aus wasserfestem
Nylon lassen sich
ganz leicht am
Fahrradlenker oder
an der Stange
befestigen – können
aber auch als
Schultertasche fürs
Büro oder für den unvernünftig
Stadtbummel Antriebs-
genutzt werden.
www.goodordering.
stark
com, ab 37 Euro Luxus und Recyc-
ling – bei diesem
Tisch von Moto
Art’s ist das kein
Widerspruch: Die
Glasplatte ruht auf
einem ehemaligen
Triebwerk einer
Boeing 747. Daran
können sich zwölf
Menschen zum
Meeting versammeln
und sich sicher sein:
Finanziell geht
es ihrer Firma gut.
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Gehaltserhöhung!
www.motoart.com,
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Perfekt aufgestellt
Gutes und Schönes von 4 bis 30 000 Euro
8.8.2013 111
 journal persönlich
Foto: peter rigaud

112 8.8.2013
Im Bett mIt

Roland Emmerich
D
er Mann ist in Hollywood zuständig für den großen Wumms.
Mit Blockbustern wie „Independence Day“ hat der gebürtige
Stuttgarter Actionfilm-Geschichte geschrieben. In seinem neuen
Werk „White House Down“ (Kinostart 5. September) lässt er
Obamas Amtssitz gründlich in seine Einzelteile zerlegen. Im Bett ist
der Regisseur dagegen sehr entspannt und gut gelaunt.

Herr Emmerich, haben Sie je ein Bett gesprengt?

Nein, aber da würden die Federn fliegen!
Träumen Sie wild?
Oh ja! Manchmal, wenn ich gerade einen Film
drehe, träume ich von Szenen, die nicht einmal im
Drehbuch stehen. Und wie im richtigen Leben
gibt es immer ein Problem, das man nicht lösen kann.
Und dann wache ich auf und denke: „Puh, das haben
wir doch gar nicht im Skript! Das müssen wir gar
nicht lösen!“
Stimmt es, dass Sie ein Ulkbild von Ahmadinedschad
mit Sixpack im Schlafzimmer stehen haben?
Das ist in meinem amerikanischen Zimmer im
Haus in London. Da steht ein kleines Foto von ihm
auf dem Beistelltisch, das ist witzig.
Das Bett ist übrigens aus einem alten Flugzeugflügel.
Sehr gute Matratze.
Neben wem möchten Sie niemals aufwachen?
George W. Bush!
Wenn Ihr Liebesleben ein Musikstück wäre, klänge es
wie …
… keine Ahnung. Wie ein Schlager vielleicht?
Denken Sie beim Sex?
Das sollte man nicht.
Was ist der ungewöhnlichste Ort, an dem Sie je
geschlafen haben?
In einem Safarizelt beim Dreh von „10.000 B.C.“.
Und ich hatte die ganze Zeit Angst, dass Schlangen
reinkommen. Ich kriege schon bei einer Blind-
schleiche fast einen Herzinfarkt.
Schlafen Sie gut?
Ja! Ich bin da wie ein Teenager, ich kann den ganzen
Tag im Bett liegen. Außer wenn ich drehe, da reichen
vier, fünf Stunden. Dann stellt sich mein ganzer
Körper um. Das muss was Chemisches sein.
Wachen Sie von allein auf?
Ich brauche einen Wecker.
Kann auch Stehen Sie gleich auf, oder sind Sie der Snooze-Typ?
mal den Ich muss sofort unter die Dusche, sonst schlafe ich
ganzen Tag direkt wieder ein.
im Bett Sind Sie ein Morgenmuffel?
bleiben: Ich bin kein Morgenmensch. Manche Leute
Regisseur
Roland nennen mich griesgrämig. Ich bin dann halt sehr
Emmerich kurz angebunden. So ab elf bin ich aber wieder
in Berlin die normale Frohnatur. 2 Interview: Sophie Albers

8.8.2013 113
 journal Mobil

Wirklichkeit
Die Experten vom stern:
Harald Kaiser, Jan Boris
Wintzenburg, Frank Janßen
und Stefan Schmitz (v. l.) 4 Kurbeln und Knöpfe. Der Niva
begegnet seinem Fahrer ungefähr so
wie ein VW Käfer. Die Fenster muss
man per Hand kurbeln. Dem Bei-
fahrer öffnet man mit einem langen
VorwärTs! Griff ans Türknöpfchen auf der

Ein Dino zum Liebhaben

anderen Seite. Die Lüftung verbirgt
keine Sekunde, dass hier echte
Mechanik etwas bewegt. Es gibt
Schalter statt Touchscreens. Und
Wer russische Mechanik mag, schätzt den Lada Niva – wer zu blöd ist, abends das Licht aus-
und sollte schleunigst bestellen zumachen, der steht morgens eben
mit leerer Batterie da. Denn es warnt
und wacht keine umsichtige Elek-
Zeitlose Karosse, tronik. ABS hat das Auto, eine
aber modische
Deko-Folie! Servolenkung und auch einen digi-
talen Kilometerzähler. Viel mehr
Zugeständnisse hat Lada dem Zeit-
geist nicht gemacht.
4 Fahren und tanken. Wer schal-
ten will, sollte mit langem Arm, ein
wenig Kraft und viel Gefühl zu Wer-
ke gehen. Dann fährt das Ding wun-
derbar. Der Allradantrieb ist klasse,
der Wendekreis winzig, die Fahr-
leistungen in der Stadt und auf der
Landstraße absolut okay. Hinten
ist es ein wenig eng und überall
sehr laut. Vor allem wenn man
den Wagen außerhalb seines natür-
lichen Lebensraums auf der Auto-
bahn bewegt. Tanken macht bei
einem realistischen Verbrauch von
zwölf Litern wenig Freude – aber für
2850 Euro gibt es eine Gasanlage, die
den Kofferraum nicht vollstellt und
Technische
Daten Anspruch die Kraftstoffrechnung halbiert.
4 Eine Klasse für sich. Kein Lada-
Motor Der Lada Niva ist anders. Klobig an- Käufer sollte sich fragen, ob ein Golf
1,7 Liter-Benziner, zuschauen, gemacht fürs Gelände vielleicht das bessere Auto sei. Er
61 kW/83 PS, und nicht für den Boulevard. Ein
Allradantrieb ist es. Wen das bekümmert, der ist
raubauziger Russe mit Charme und falsch im Niva. Dies ist ein Auto für
Fahrleistung
0–100 km/h:
Seele, großem Durst und ebensol- Liebhaber. Für Menschen, die vor
19 Sek., Spitze: cher Sehnsucht nach Wartung und öligen Fingern keine Scheu haben
Ein Türknopf,
Baujahr 2013 137 km/h Zuwendung. Wenig hat er mit und Spaß an echter Mechanik, deren
Verbrauch den Produkten des modernen Auto- Wohl und Wehe man hören, riechen,
9,5 l n. Euro-Norm mobilbaus gemein. Er ist eben kein
Gewicht/Länge sehen kann – und die sich nicht hin-
Kind der Globalisierung, sondern ter Plastik und Elektronik ver-
1,2 t leer, 3,72 m
der Zeit des Kalten Krieges. Seit 1976 stecken. Die meisten Autofahrer
Preis
ab 11 000 Euro gibt es das Auto. Mittlerweile ist er würden mit dem Niva nicht glück-
ein Oldtimer, den man neu kaufen lich. Aber einige sehr. 2
Foto: Marcus Vogel

kann. Aber nicht mehr sehr lange. In

Deutschland wird der Niva wegen
neuer Sicherheitsanforderungen
Im Cockpit: alles,
was man braucht insbesondere zum Fußgängerschutz
bald vom Markt verschwinden.
Stefan Schmitz
Unterwegs mit dem Lada Niva
Im eMagazine des stern sehen Sie das
Video zum Fahrbericht

116 8.8.2013
 Der Garten von
Schloss Vaux-le-
Vicomte, südöstlich
von Paris, machte
André le Nôtre zum
Star seiner Zeit
Fotos: Jean-Baptiste Leroux/schirmer/moseL; interFoto
 journal augenblick

Königsgrün
André Le Nôtre, geboren vor 400 Jahren,
revolutionierte die Gartenarchitektur

A
m 17. August 1661 hatte
der französische Finanz-
minister Nicolas Fouquet
seinen Chef zu sich einge-
laden, den Sonnenkönig
Louis XIV. Von der Terrasse
seines neuen Schlosses Vaux-le-
Vicomte aus präsentierte er ihm sei-
nen Garten. Wasserfontänen schos-
sen in die Höhe, auf den weitläufi-
gen Rasenflächen waren 80 Tische
aufgestellt. Louis war beeindruckt,
mehr noch: Wenige Wochen später
ließ der König den Minister verhaf-
ten, offiziell, weil dieser Staatsgeld
veruntreut haben sollte.
Mit dem Gärtner André Le Nôtre
hatte er anderes vor: Louis XIV.
wollte das Jagdschloss von Versailles
zum prachtvollsten Ort der Nation
machen. Und Le Nôtre sollte ihm
den Garten anlegen. Keine schlechte
André Le Nôtre Wahl: Immerhin hatte der damals
lebte, wo er 48-jährige Gartenarchitekt bereits
arbeitete: die Tuilerien modernisiert. Für Louis
Er wurde 1613 plante er riesige Alleen, einen sanft
in einem Haus abfallenden Rasenteppich, gewaltige
in den Tuilerien
Brunnen, Spiegelbassins. Der mit
geboren, und
dort starb Skulpturen vollgestellte Garten
er auch – im endete erst im Dunst des Horizonts.
hohen Alter Sein Meisterwerk wurde fortan
von 87 Jahren überall kopiert, wo Herrscher nach
mehr Glanz verlangten, etwa am
Peterhof in Russland. Wo immer er
wirkte, führte Le Nôtre die Garten-
kunst zur Vollendung. Louis XIV.
behauptete: „Der Staat, das bin ich.“
André le Nôtre hätte entgegnen kön-
nen: „Aber der Garten, das bin ich.“ 2
Eine Pracht:
der Bildband
„Le Nôtre – Der
Gartenarchitekt
Ludwigs XIV.“,
Schirmer/Mosel,
178 S., 49,80 Euro

8.8.2013 119

So gar nicht zum
Wiehern: Tonto
(Johnny Depp) im
Dialog mit dem
Geisterpferd Silver
Im Western
nichts Neues
Rund 250 Millionen Dollar
aufs falsche Pferd gesetzt:
Der „Lone Ranger“
vergaloppiert sich gewaltig
J
erry Bruckheimer kann man
jedenfalls nichts vorwerfen:
Sein Job und Anspruch als
Produzent ist es, Hunderte
Millionen Dollar schwere
Blockbuster herzustellen, die
Milliarden Dollar einspielen sollen.
Hat ganz gut geklappt bisher.
Einer seiner größten Erfolge ist
die „Fluch der Karibik“-Reihe, die
bewiesen hat, dass das Verwertungs-
kettenprinzip sogar umgekehrt
funktioniert: Das Freibeuter-Spek-
takel basierte auf einer Disney-
land-Attraktion namens „Pirates of
120 8.8.2013
journal FilM
the Caribbean“ und spielte in vier
Filmen weltweit fast vier Milliarden
Dollar ein, obwohl jeder Teil schwä-
cher war als sein Vorgänger.
Nachvollziehbar, dass Bruckhei-
mer und Disney nun die gleichen
Kreativen versammelten, um ihre
Hitformel auf ein anderes Genre zu
übertragen: Gore Verbinski, Regis-
seur der ersten drei Piratenfilme, die
Drehbuchautoren Ted Elliott und
Terry Rossio und – natürlich– John-
ny Depp, der als Gaga-Pirat Jack
Sparrow zur Galionsfigur der Serie
wurde und eine Kino-Ikone schuf.
Reset also, Neustart, nur diesmal
im Wilden Westen. „Lone Ranger“
basiert auf einer zwischen 1933 und
1957 in Amerika populären Radio-
und TV-Serie um einen Texas Ran-
ger, dessen Bruder von Gesetzes-
brechern erschossen wird. Er mu-
tiert zum maskierten Cowboy, der
fortan die Prärie von allerlei Gesin-
del befreit. Ihm zur Seite steht der
gutmütige Komantsche Tonto, im
Original eine Nebenfigur, hier
gleichberechtigter Partner des Titel-
helden (wacker: Armie Hammer).
Johnny Depp jedoch spielt Tonto
als Indianerkarikatur, die zwischen
realer und spiritueller Welt
schwankt, Weisheiten murmelt und
meist erstaunt in die Gegend guckt.
Was bei Jack Sparrow noch lustig
war, gerät hier schnell zum faden
Abklatsch – trotz toter Krähe auf
dem Kopf. Erschwerend kommt hin-
Clayton Moore zu, dass der Film in keiner Sekunde
spielte den seiner endlosen 149 Minuten einen
„Lone Ranger“ Rhythmus findet. Blutige Grausam-
in einer TV-Serie. keiten, verpuffende Gags, lahmer
FotoS: Peter Mountain/Walt DiSney; action PreSS
Insgesamt wurden Slapstick, brachiale Action-Sequen-
221 Folgen
produziert, die zen, Westernklischees und Genre-
ersten 52 sind Abziehbilder: Das alles prallt wie in
in einer DVD-Box einem Teilchenbeschleuniger auf-
erhältlich – einander – zündet aber leider nicht.
und besser als In den USA ist „Lone Ranger“
der Film gefloppt. Jerry Bruckheimer indes
bereitet Teil 5 von „Pirates of the
Caribbean“ vor. Wieder mit Johnny
Depp. Kann man dem Produzenten
nicht vorwerfen.
22222 Bernd Teichmann
 DVD -TIPP
In der französischen Provinz
der 20er Jahre werden Ehen
weniger aus Liebe denn
aus Gründen der Religion,
sTern-BesTseller Reputation und Besitzmehrung geschlossen.
Entsprechend trist verläuft der Alltag von
„Thérèse“, vermählt mit dem tumben Ber-
Film nard – bis sie zur Verzweiflungstat schreitet.
Elegante Literaturverfilmung nach François
1 (–) Die Schlümpfe 2 Mauriac und letzte Regiearbeit des 2012
Klein, blau, lustig: Urlaubs­ verstorbenen Claude Miller mit einer faszinie-
alltag auf Mallorca. rend enigmatischen Audrey Tautou.
Besucher: 319 910

2 (1) Ich –
Einfach unverbesserlich 2
Selbsteinschätzung von Vertei­
digungsminister de Maizière.
Besucher: 166 963;
gesamt: 2 479 753

3 (2) Wolverine: Weg des Kriegers

Eigentlich heißt er Wolfgang.
Besucher: 153 958; Sie ist 58 und geschieden. Doch „Gloria“
gesamt: 547 608 aus Santiago de Chile gibt nicht auf, son-
dern wirft sich in die Affäre mit einem Mann,
4 (3) Kindsköpfe 2
der mehr an der Vergangenheit klebt als
sie. Sebastián Lelios’ Film, Liebling der
Als Doppelvorführung mit
Berlinale, ist gut gelaunte Frauenpower,
„Schlümpfe 2“ der sichere Weg aber auch intelligente Metapher für den
zum Hirntod. komplizierten Umgang mit Geschichte.
Besucher: 142 232;
gesamt: 871 504
22222
5 (–) Conjuring –
Die Heimsuchung
Was für ein Horror: Das Heim
wurde bis heute nicht gefunden.
Besucher: 83 936

6 (4) Pacific Rim

Roboter vs. Aliens. Vor allem
wegen der Dialoge sehenswert.
Besucher: 53 452;
gesamt: 407 744
7 (–) Dampfnudelblues
Klingt nach einer Kochshow,
die wir nicht sehen wollen.
Besucher: 34 508
Quelle: MeDia control®/rentrak; (–)=neueinStieg; (We)=WieDereinStieg
Der Titel klingt so sperrig wie die Hand-
lung: Filmteam geht während der Arbeiten
an einem Historiendrama pleite und muss
improvisieren. Doch „Kohlhaas oder die
Verhältnismäßigkeit der Mittel“ ist eine
schlaue Komödie über kreative Kompromis-
se und Wahnwitz, die Kleists Helden näher
kommt als jede Großproduktion.
22222

8 (5) Die Unfassbaren –

Now You See Me
NSA – Der Film.
Besucher: 32 984;
gesamt: 393 913

9 (10) Paulette
Oma backt Haschkekse. Klingt
nach einer Kochshow, die
wir unbedingt sehen wollen.
Bollywood-Märchen, Zombie-Schocker,
Besucher: 27 290; Olympia-Eröffnungsfeier: Danny Boyle ist
gesamt: 143 844 kein Genre fremd. Nun verwirrt er im Thriller
„Trance“ mit der Story eines Auktionators
10 (8) Taffe Mädels und Kunstdiebs (James McAvoy), der sein
… benutzen nur Drei­ Gedächtnis verliert und hypnotisiert wird.
Wetter­Taff. Die elegante Psycho-Hetzjagd schlägt
Besucher: 22 432; gegen Ende leider ein paar Haken zu viel.
gesamt: 491 442 22222
8.8.2013 121
 journal bucH

sTeRn-BesTseLLeR
Von wegen
Paradies: Auch
in der schönsten
italienischen
Taschenbuch
Villa können
1 (1) Ein ganzes halbes Jahr
Abgründe lauern
Jojo Moyes
(Rowohlt)

2 (8) Die unwahrscheinliche

Pilgerreise des Harold Fry
Rachel Joyce
(Fischer)

3 (3) Der Lavendelgarten

Lucinda Riley
(Goldmann)

4 (2) Blackout –
Morgen ist es zu spät
Marc Elsberg
(Blanvalet)

5 (5) Die Hummerschwestern

Beverly Jensen (BTB)

6 (7) Crossfire. Erfüllung

Sylvia Day (Heyne)

7 (6) Die Toten, die

niemand vermisst

Doktor
gebaut und lässt seinen tragischen Michael Hjorth, Hans Rosenfeldt
Helden mit Karacho in die Hölle (Rowohlt)
fahren. Die liegt im Souterrain sei-

in der Hölle
nes Hauses, wohin sich der Hausherr Apps deR 8 (9) Der Mann, der
Woche kein Mörder war
vor jenen flüchtet, die er nun am
Michael Hjorth, Hans Rosenfeldt
meisten fürchtet: Frau und Kinder.
(Rowohlt)
Zum Schadenfreuen: Er bleibt isoliert unter Tage, wo-
chenlang, seine Familie stellt ihm Roman Forum
Ein erfolgreicher Mann Handy- oder
9 (WE) Shades of Grey –
nur noch das Essen vor die Tür. Wäh- Geheimes Verlangen
muss für seine Sünden rend er sich das Gehirn zermartert
Tabletkamera
E. L. James (Goldmann)
bitter büßen und uns die Geschichte rückwärts
auf die Ruinen des
Forum Romanum

D
erzählt – es hat mich reingelegt, 10 (WE) Shades of Grey –
richten und auf
Gefährliche Liebe
as Leben kann so schön das kleine, fiese Ding; ich habe doch dem Display
sehen, wie die E. L. James (Goldmann)
sein: Eine Familie sitzt gar nicht auf ihre Anzüglichkeiten
beim Abendessen in einer reagiert; oder doch? Aber wieso? –, Bauwerke in der
Antike wohl
feinen Villa in einem noch geht oben das Leben einfach weiter:
ausgesehen
schickeren Viertel vor den Die Familie zerbricht, er verliert den haben (Android, Frank Stemmer,
Toren Roms. Der berühmte Job, es kommt zum Prozess – und iOS, gratis) PR-Schaumschläger
Kinderarzt Leo Pontecorvo, seine Pontecorvo muss erkennen, dass er im Brokerhaus „Suisse
Frau, die beiden Söhne, 15 und 13 das Spiel nie hätte beginnen dürfen. Forex“, ist eine amü-
Jahre alt. Alles ganz harmonisch, bis Ein böser Roman: provokant. Kaum sant-blamable Figur,
die im Bankermilieu
aus dem Fernseher plärrt, dass der mitleidig. Und am Ende? Gewinnt Ulmon Rom „tief gebräunter Ent-
weithin bekannte Mediziner Ponte- keiner. Stephan Draf Offline-Stadtplan scheidungsgesichter“
corvo beschuldigt wird, mit der und solide und betörender
Freundin seines Zweitgeborenen Basis-Infos, auch Frauen in einen Bestechungsskandal tau-
Briefe ausgetauscht zu haben – ein- Alessandro ohne Internet- melt. In seinem satirischen Debütroman
piperno: verbindung „die schreckliche Wirklichkeit des
deutig unangemessenen Inhalts. nutzbar (iOS,
„die Verfolgung“ Lebens an meiner seite“ schildert Chris-
In diesem Augenblick wünscht
Foto: tuscanynoW

Ü.: Ulrich gratis) toph Höhtker die Kapriolen der Genfer

sich Pontecorvo, nie auf die Welt Hartmann, Businesswelt mit enormem Sprachwitz
gekommen zu sein. S. Fischer, 448 S., und – bisweilen etwas überdosierter –
Alessandro Piperno hat sich ein 22,99 Euro Komik (Berlin Verlag, 17,99 Euro).
prima Setting für seinen Roman 22222 22222
122 8.8.2013
 Augenzwinkernd und anregend:
Zwei Schweizer Grafiker haben Geld-
scheine für eine Zeit nach dem Euro
entworfen – mit jeweils landestypischen
Motiven. Für ca. 46 Euro zu bestellen bei
www.weicherumbruch.ch

Belletristik Sachbuch
1 (2) Der Hundertjährige, 1 (2) Duden – Die deutsche
der aus dem Fenster Rechtschreibung
stieg und verschwand (Bibliographisches Institut)
Jonas Jonasson (Carl’s Books) Es ist doch beruhigend, dass
ein literarisches Fossil noch so
2 (1) Inferno lebendig ist. Rund 140 000 Ein-
Dan Brown träge verzeichnet diese Ausgabe.
(Bastei Lübbe) Ständig kommen neue hinzu,
andere werden gestrichen.
3 (3) Silber – Die Duden-Redaktion speist
Das erste Buch der Träume unzählige Artikel, Interviews
Kerstin Gier (Fischer) und Websites in das sogenannte
Dudenkorpus ein. Eine Software
4 (6) Das Lavendelzimmer erkennt sodann neu auftretende
Nina George Wörter, daraufhin entscheiden
(Knaur) die Macher, welche der Begriffe
in die neueste Ausgabe müssen.
5 (4) Er ist wieder da Vermutlich werden das im
Timur Vermes nächsten Duden die Begriffe
(Eichborn) „Prism“ und „Spähprogramm“
sein. Auch das schöne Wort
6 (5) Bretonische Brandung „Volksverarsche“ hat gute Chan-
Jean-Luc Bannalec cen, siehe Platz acht.
(Kiepenheuer & Witsch)
2 (1) Schantall, tu ma
7 (8) Bretonische Verhältnisse die Omma winken!
Jean-Luc Bannalec Kai Twilfer
(Kiepenheuer & Witsch) (Schwarzkopf & Schwarzkopf)

8 (10) Das Nebelhaus 3 (3) 1913

Eric Berg (Limes) Florian Illies (S. Fischer)

9 (7) Shadow Falls Camp – 4 (8) Vegan for Fit. Die Attila
Verfolgt im Mondlicht Hildmann 30-Tage-Challenge
Attila Hildmann
C.C. Hunter
(Becker Joest Volk)
(Fischer)
QuEllE: mEdia control ® GFK intErnational GmbH; (–)=nEuEinstiEG; (WE)=WiEdErEinstiEG

5 (6) Die Kunst des

10 (9) Warrior Cats – Die Macht
klaren Denkens
der drei. Lange Schatten
Rolf Dobelli
Erin Hunter (Beltz) (Hanser)

6 (7) Das große Los

Meike Winnemuth
Das Fremde kommt (Knaus)
zu uns, lokal ist fast
überall global. In Nino 7 (5) Weber’s Grillbibel
Vetris verschmitztem Jamie Purviance
Roman „Lume (Gräfe und Unzer)
Lume“ ist es Palermo,
traditioneller Ort der 8 (4) Die große Volksverarsche
Migration, wo sich Hannes Jaenicke
Bangladescher, Sinti, (Gütersloher Verlagshaus)
Rumänen, Afrikaner und das örtliche
Prekariat mischen, einander bestaunen, 9 (9) 5 Dinge, die Sterbende
misstrauen – bis doch einer neugierig am meisten bereuen
den Schritt nach vorn wagt. Wir lernen Bronnie Ware
von Vetri vor allem: Ohne Musik und (Arkana)
Essen wäre noch die vorsichtigste
Annäherung undenkbar (Edition Foto- 10 (WE) Fit ohne Geräte
tapeta, Ü.: Andreas Rostek, 12,80 Euro). Mark Lauren, Joshua Clark
22222 (Riva)

8.8.2013 123
 journal musiK

stern-BestseLLer

CD
1 (–) Heut’ is Dein Tag
Hansi Hinterseer
Mit Hansi Hinterseers Musik
ist es wie mit seiner Hautfarbe:
Konservieren kann er. Wieder
singt er 90er-Jahre-Schlager,
bloß keine Experimente. Auch
optisch zahnpastalächelt der
59-Jährige neue Trends einfach
weg, immer wirkt er frisch
geföhnt, gebräunt, gesträhnt.
Da passt es, dass man in
London gerade an einer Hansi-
Figur für Madame Tussauds
Mein Wachsfigurenkabinett bastelt.
Lieblingssong: Die Modellierer können bei
„I Was An Eagle“.
ihm noch eine Menge lernen.
Ein sehr atmo-
sphärischer,
unsentimentaler 2 (6) Bei meiner Seele
Song mit der Xavier Naidoo
großartigen Zeile
„I will not be a 3 (2) Mit den Gezeiten
victim of Santiano
romance/I will
not be a victim of 4 (–) The Wrong Side Of Heaven
circumstance“ and The Righteous Side Of Hell
Five Finger Death Punch
was iCh höre
5 (5) Raop

„Ich hab’s geahnt“

Cro

6 (8) New York, Rio, Rosenheim

Sportfreunde Stiller
Die Sängerin Katie Melua liebte die Folksongs von
Laura Marling schon, bevor die berühmt wurde 7 (3) Blurred Lines
Robin Thicke

E
ndlich kann ich mal sagen:
Ich habe jemanden entdeckt!
Okay, vielleicht war ich nicht
die Einzige, aber bevor die
Und tatsächlich: Heute, sechs 8 (–) Winners & Boozers
Jahre später, gilt sie nicht mehr als Fiddler’s Green
Geheimtipp, sondern in England
als neuer Superstar der Folkszene. 9 (7) 13

quelle: media control ® GfK international GmbH; foto: picture alliance

Britin Laura Marling über-
haupt einen Plattenvertrag
hatte, sah ich in ihrer Musik so etwas
wie die Zukunft der Folkmusik. 2007
war das, in einem kleinen Pub in
London, ein Freund hatte mich an
dem Abend mitgeschleppt. Auf der
Bühne sang dieses elfenhafte Mäd-
chen. Sie schaute kaum ins Publi-
kum, und ihre Gitarre wirkte wie ein
Schutzschild, den sie vor sich hielt.
Laura Marling war damals 17, und
ihre selbst komponierten Folk-
balladen hatten schon die Eingän-
gigkeit und Raffinesse einer Joni
Mitchell. An diesem Abend ahnte
ich, dass Laura Marling mal eine
große Karriere machen würde.
124 8.8.2013
Sie hat Musikpreise gewonnen, ihre
Konzerte sind voll.
Ich mag alle ihre Alben, aber ihre
letzte CD „Once I Was An Eagle“ hat
mich besonders berührt. Es geht um
Beziehungsstress und das Sterben
einer großen Liebe, aber Laura
Marling versinkt dabei nicht in die
klischeetypische Opferrolle des
armen verlassenen Weibchens. Sie
singt davon, stolz zu sein, aufzuste-
hen und weiterzumachen. So erha-
ben würde ich selbst gerne durch
jede Krise gehen können. 2 George Reid alias alunaGeorge gelten
Die Sängerin Katie Melua, 28, lebt in
London. Ihr neues Album „Ketevan“
erscheint am 20. September
Black Sabbath
Laura Marling: 10 (9) Random Access Memories
„Once I Was Daft Punk
An Eagle“, bereits
erschienen
Die farbige Sängerin Aluna Francis und
der milchgesichtige Programmierer
als Duo der Stunde. Zu Recht, denn ihr
Debüt „Body Music“ glänzt mit lässigem
Elektro-Pop, zu dem man entspannen,
aber auch wunderbar tanzen kann.
22222
 journal ein QuAntuM trost

TeTsche

www.tetsche.de, umfangreiches Archiv mit Tetsche-Cartoons: www.stern.de/tetsche

Rebus
Diese Abbildungen
ergeben zusammen einen
neuen Begriff. Lösung
aus Heft 32: Mein
kleiner grüner Kaktus

126 8.8.2013
 Randgruppen in Europa

Sinti und Oma

ALLT
AGST
Zieh IPP *

Sätze für die Ewigkeit vati

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„Was wird das denn, erwe nn n
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CArtoons: MoCk; BeCk; Fotos: rue des ArChives/rdA/süddeutsChe Zeitung Photo; getty iMAges

*Von
„Die Hundeleine funktioniert au s B L e s e r B e
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m . V ie n h a r d G ie
doch auch im Treppenhaus, Len d
ank! ke
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Personenkontrolle oder?“

Albert Einstein 98 % „Ist ja auch schon über 60 Jahre

alt, das Haus.“
Er gilt bis heute als Genie,
Doch keiner weiß, weswegen. Prozent der „Das Fahrrad ist
Schon seine Raumzeit-Theorie
Deutschen glauben morgen aber weg hier!“
nicht, dass es den
Ist leicht zu widerlegen. Telekom-Techniker „Haben Sie mal auf
wirklich gibt
die Uhr geguckt?“
Denn hie ist Raum – und da ist Zeit.
Nur so sind sie von Nutzen.
Kein Raumpfleger wär je bereit, leserservIce
Die ganze Zeit zu putzen! Jetzt schon wissen, was
auf Seite 129 passiert.
Auch Kofferraumzeit
braucht man nicht,
Der Kofferraum genügt uns.
Moral: So manches „große Licht“ 5
✂

Ideen? Anregungen? kritik?

Veräppelt und betrügt uns … Schreiben Sie uns!
Thomas Gsella humor@stern.de

8.8.2013 127
Englands Riviera:
Ausblick über den
Hafen von St Ives
 journal reise

leben, wo andere urlaub machen

Wie gemalt
In Cornwall, im Südwesten Englands, leuchtet ein besonderes Licht,
und es bündelt sich in St Ives: Künstlerkolonie, Sehnsuchtsort.
Die Malerin Marion Taylor lebt hier seit über 20 Jahren. Sie weiß,
warum der Ort auch jeden Urlauber verzaubert

8.8.2013 129

Marion Tayler
Meine besten Tipps
Übernachten
Hotels sind nicht billig, man kann
aber erschwinglichere Apartments
über das Internet mieten.
Ein guter Überblick findet sich unter
www.stives-cornwall.co.uk
Primrose Valley Hotel: gleich ober-
halb des Porthminster-Strandes –
gutes Frühstück, gut sortierte Bar.
Porthminster Beach, ab ca. 110 Euro/DZ
inklusive Frühstück
Essen
Porthgwidden Beach Cafe: große
Terrasse oberhalb des Strandes, im
Sommer ab neun Uhr morgens für
ein englisches Frühstück geöffnet.
The Island, St Ives, +44/1736/79 67 91,
www.porthgwiddencafe.co.uk
Pub
The Sloop Inn am Hafen: angeblich
seit 1312 geöffnet, eines der
ältesten Wirtshäuser Cornwalls.
Gutes Frühstück, gute
„Sunday Roasts“. Doppelzimmer
mit Frühstück ab ca. 120 Euro.
The Wharf, St. Ives,
+44/1736/79 65 84
Malkurse
St Ives School of Painting: Kurse
etwa in Landschaftsmalerei,
abstrakter Kunst oder Collage.
www.stivesartschool.co.uk,
Drei-Stunden-Kurse ab 45 Euro,
ganze Tage für 85 Euro
130 8.8.2013
journal reise
„Hier kann man
sich auf das
konzentrieren,
was wichtig ist“
Marion Taylor in ihrem Atelier
A
m Anfang war das Licht.
„Natürlich ist es genau das,
was uns alle hier in den
Bann schlägt. Selbst wenn
keiner es so recht zugeben
mag, weil es wie ein Kli-
schee klingt und jeder gleich diese
kitschigen Bilder von Sonnenunter-
gängen vor Augen hat oder von Boo-
ten, die mit vom Sturm gepeitschten
Wellen kämpfen“, sagt Marion Taylor.
Sie sitzt in einem alten Sessel
ihres Ateliers vor ein paar großen
abstrakten Gemälden gleich ober-
halb des Porthgwidden-Strandes.
Draußen versinkt die Sonne im
Atlantik, und ihre Strahlen tauchen
den Himmel und die tief hängenden
Wolken in ein wildes Gemisch aus
Blau und Rot, Schwarz, Rosa und
Gelb. Jetzt, bei Ebbe, hat das sich
Englisches Eis! zurückziehende Wasser schroffe
Die beste Felsen bloßgelegt und eine feine
Cornish Ice Struktur in den Sand gemalt, die in
Cream „Moomaid wechselnden Farben schimmert –
of Zennor“ ein grandioses abstraktes Gemälde.
kommt unter Das einstige Fischerdorf St Ives
dem Zeichen
einer Kuh-Nixe am äußersten Südwestzipfel Groß-
daher. Und britanniens zieht Künstler wie
die Sorten? Marion Taylor schon seit mehr als
Tja, Meersalz- hundert Jahren an. In ihrem Gefol-
Karamell ge kamen auch die Touristen und
zum Beispiel. nannten die Gegend „Cornish Rivie-
Probieren
kann man im ra“, die Riviera von Cornwall. Wo der
Golfstrom die Luft und das Meer
Eisladen an
der Wharf Rd. 1 wärmt. Wo sich feinsandige Buchten
in St Ives mit steilen Klippen abwechseln. Wo
sich alte Dörfer zwischen grüne Hü-
gel ducken. Wo einem die von drei
Seiten Meer umspülte Landzunge
von St Ives ein Gefühl jener Weite
gibt, die Richtung Westen erst in
einem Hafen irgendwo in Amerika
endet.
Als Marion Taylor vor 24 Jahren
London den Rücken kehrte, hatte
die heute 65-jährige Malerin nach
dem Ende einer Ehe zunächst nur in
die Ruhe von St Ives flüchten wol-
len. „Keiner kommt vermutlich her,
weil er hier und nur hier unbedingt
leben und malen will“, sagt sie. „Aber
dass wir bleiben, das hat mit dem
Licht zu tun. Und mit der Umge-
bung, die schlägt ja nicht nur Maler,
aber die ganz besonders, in ihren
Bann.“
Da ist der bereits seit dem 14. Jahr-
hundert bestehende Pub The Sloop
Inn direkt am Hafen, Treffpunkt von
Ureinwohnern und Künstlern schon
vor langer Zeit. Da ist die 1938 ge-
gründete St Ives School of Painting,
die bis auf den heutigen Tag Mal-
kurse anbietet und Künstlern wie
Marion Taylor eine Chance gibt, ein
fotos: Horst friedricHs; food: Jan-Peter Westermann; foodstyling: marlies Klosterfelde-Wentzel; styling: cHristine mäHler
Zubrot zu verdienen. Denn nicht
alle, die hier an der Staffelei am Ha-
fen und in den Dünen oder vor ihren
Leinwänden in den Studios ober-
halb des Strandes standen, konnten
davon so gut leben wie Ben Nichol-
son oder Barbara Hepworth – Maler
der eine, Bildhauerin die andere, bei-
de Mitbegründer der abstrakten
Kunst Großbritanniens.
Auch heute prägen Galerien die
engen Gassen der kleinen Stadt, und
eine Außenstelle der Londoner Tate
Gallery thront mächtig über der
Küste. Sie hat sich der Tradition
der modernen Malerei in Cornwall
verschrieben. Aber für die meisten
Besucher hält St Ives einfach bereit,
was die englische Küste so un-
verwechselbar macht: alte Pubs,
Fish & Chips, kurz geschorener Bow-
ling-Rasen, feiner Sandstrand und
der Cornish Coast Path, Hunderte
Kilometer Wanderweg, immer ober-
halb der Steilküste mit dramati-
scher Aussicht, zotteligen Schafen
und fetten Milchkühen.
Auch wenn es im englischen
Südwesten keine Berge gibt, ist
das Erlebnis alpin: Das ständige
Auf und Ab von Bucht zu Bucht,
von Dorf zu Dorf strengt mindes- 4
 Inbegriff
südenglischen
Wohlbefindens:
Scones mit
Clotted Cream
und Erdbeer-
marmelade

Mittelalterlich: The Sloop Inn am Hafen gilt als eine der ältesten Kneipen Cornwalls
tens so an wie eine Wanderung im
Engadin.
In einer Zeit, da der Pauschal-
urlaub in Magaluf oder Antalya
mehr Sonnenbrand für weniger
Geld verspricht, haben sich Orte wie
St Ives schicker gemacht. Hier gibt
es gleich am Hafen „Moomaid of
Zennor“, einen kleinen Laden, der
das bei Weitem beste Eis der Gegend
produziert mit Sorten wie „Sea Salt
Caramel“ oder „Feige und Mascar-
pone“. Hier haben Strandbars geöff-
net wie das Porthminster Café, in
denen das angeblich so fürchterli-
che britische Essen aus frischem
Fisch und auf den Punkt gegartem
Gemüse besteht, fein abgeschmeckt.
Und natürlich hat sich auch in Orten
wie St Ives eine Kaffeekultur eta-
bliert, und der Mann an der Maschi-
ne heißt neuenglisch „Barista“.
Marion Taylor genießt die liebe-
volle Atmosphäre der Stadt: „Weit
weg von der Hektik einer großen
Metropole wie London hat man die
Chance, sich auf das zu konzentrie-
ren, was einem wichtig ist.“ Auch
deshalb gibt es in Cornwall in jedem
Ort mindestens eine Bäckerei, in der
man alles bekommt, was für einen
132 8.8.2013
journal reise
ruhigen Moment samt Cornish
Cream Tea gehört: Scones, Clotted
Cream – einen fetten Aufstrich, halb
Butter, halb Sahne – und dazu eine
oft selbst gemachte Erdbeermarme-
lade voller Fruchtstücke.
Ob man für den ultimativen Ge-
schmack erst die Cream auf den ge-
teilten Scone streichen muss und
dann die Marmelade oder umge-
kehrt, darüber lässt sich mit nahe-
zu religiöser Inbrunst streiten. Si-
cher ist: Die meisten hier trinken
weiterhin Tee zu den Scones. Und sie
gießen erst die Milch in die Tasse
und dann den Tee drauf. Nie anders-
herum. 2 Hans-Hermann Klare
Atlantik
Tate Gallery
St Ive s
Cornwall-
Wanderweg
Fish & Chips Was Marion Taylor gern isst
Scones mit
Natürlich werden
auch in Cornwall
Backfisch
und frittierte
Kartoffelstäbchen Erdbeerkonfitüre
serviert. Diese
Fische eignen Für ca. zwölf Scones
sich perfekt: 1 Ei; 2 Eigelb (Gr. M); 4 ½ EL Butter-
Kabeljau (cod), milch; 250 g Instant-Weizenmehl (405)
Schellfisch und etwas für die Arbeitsfläche;
(haddock) 1 TL Backpulver; ½ TL Natron; Salz;
und Seelachs 1 EL brauner Zucker; 60 g weiche Butter
(pollock). 1. Das Ei, 1 Eigelb und 4 EL Buttermilch
Bitte unbedingt verquirlen. Mehl, Backpulver, Natron,
mit Meersalz ½ TL Salz, Zucker und Butter, in Flöck-
und Malzessig chen geteilt, mischen.
verzehren!
2. Buttermilchmischung kurz (!) unter
die Mehlmischung rühren, alles auf der
Arbeitsfläche kurz verkneten und etwa
2 cm dick ausrollen.
3. Zweites Eigelb mit ½ EL Buttermilch
verrühren. Scones rund (5 cm Ø) ausste-
chen, auf ein mit Backpapier ausgeleg-
tes Backblech legen, mit dem Eigelb be-
streichen und 30 Minuten ruhen lassen.
4. Backofen auf 200 Grad Ober-/
Unterhitze vorheizen, Scones noch ein-
mal mit Eigelb bestreichen und auf der
zweiten Leiste von unten 15–18 Minuten
backen. Lauwarm servieren.
Tipp: dazu Clotted Cream (aus dem
englischen Laden, ersatzweise Crème
Double oder Mascarpone).
Für sechs kleine Gläser Konfitüre
1 kg reife Erdbeeren; 2 EL Zitronen-
saft; 500 g feinster Zucker;
1 Tüte Gelierpulver (2 : 1)
fotos: Horst friedricHs
1. Früchte waschen, klein schneiden,
mit Zitronensaft, Zucker und Gelierpulver
verrühren und Saft ziehen lassen.
+
2. Masse nach Packungsangaben
unter Rühren 3–4 Minuten kochen und
in saubere Gläser füllen.
Sloop Inn

WAS MACHT EIGENTLICH?
Astrid Kumbernuss
Die Kugelstoßerin gewann bei Welt- und Europameisterschaften
und bei Olympischen Spielen sieben Mal Gold für Deutschland
Astrid Kumbernuss bei
der Ausübung ihres
Erstberufes – hier 1999
beim Sportfest in Berlin
B
ei der Leichtathletik-WM
in Moskau treten nur
noch Sportler an, die im
vereinigten Deutschland
sportlich groß geworden
sind. Sie haben Ihre
Karriere noch in der DDR begon-
nen, wie war das?
Wir haben jeden Tag trainiert, und
alles war reglementiert. Meine
Schulzeit war zwar hart, aber ich
konnte machen, was ich liebte: Sport!
Ich war erfolgreich und glücklich.
Und ich habe Dieter Kollark ken-
nengelernt, meinen ersten Trainer
und späteren Lebensgefährten –
er hat in mir einen Rohdiamanten
erkannt und mich geschliffen. Ohne
ihn wäre alles anders gekommen.
Nach der Wende siegten Sie für
die Bundesrepublik. Wie fühlte
sich die neue Hymne an?
Komisch. Wenn die Hymne erklang,
dachte ich nur: Hoffentlich ist
es schnell vorbei. Ich konnte den
Schalter nicht sofort umlegen.
Welcher Ihrer großen Erfolge war
der schönste?
134 8.8.2013
journal
Der WM-Triumph von 1999.
Vorher laborierte ich lange an
einer Verletzung und war
zudem auch Mutter geworden.
Ich fühlte mich wabbelig
und wurde trotzdem belohnt.
Das war Gänsehaut pur.
Sie haben in Ihrer Karriere ja
relativ viel Geld verdient.
Die dickste Prämie gab es beim
Grand-Prix-Finale 1997 in Japan.
Ich erhielt einen Scheck über
250 000 Dollar – das waren
damals 450 000 Mark. Das war
für Leichtathleten enorm viel.
Im Vorfeld dieser WM gab es
wieder Dopingfälle – kann Sie
das noch schocken?
Nein. Schon immer lügen sich
Athleten in die Tasche. Fakt ist
aber auch: Die Leichtathletik
braucht ihre Stars. Echte Aus-
hängeschilder, um die Stadien
vollzukriegen. Die Frage ist:
um welchen Preis? Da ist wirklich
der Weltverband gefragt.
Glauben Sie, dass Usain Bolt
sauber ist?
Ich hoffe inständig, dass Usain
Bolt nie überführt wird. Das wäre
genauso enttäuschend wie damals
bei Jan Ullrich. Den kannte ich
persönlich und fand es einfach
schlimm, als das alles hochkam.
Wenn man Bolts Statur und die
Dynamik sieht – dann will ich
daran glauben, dass er der große
Ausnahmeathlet ist. Aber klar:
Die Historie der Leichtathletik
spricht dagegen.
Wie groß war für Sie die
Verlockung zu dopen?
Wenn man weiß, dass Konkurren-
tinnen wie damals Wita Pawlitsch
dopen, kommt man in harten
Trainingsphasen schon ins Grübeln.
Die werfen ’ne Pille ein, und ich
muss mich quälen. Letztlich war
es für mich und Dieter aber kein
Thema. Auch weil ich Mutter
gesunder Kinder werden wollte.
Vor zweieinhalb Jahren haben Sie
noch eine Tochter bekommen.
Ja. Mit 40. Hannah macht mein
Glück perfekt. 2008 habe ich ja
meinen Henry geheiratet, und zu
Dieter Kollark, dem Vater von
Frau Kumbernuss Philip, besteht sehr guter Kontakt.
mit Katze auf Der Job macht auch Spaß: Ich bin
der Terrasse bei einer Krankenkasse Leiterin
ihres Hauses in
Neustrelitz für Marketing und Vertrieb. Privat
ist alles gut.
Wer holt in Moskau Gold für
Deutschland?
Ich hoffe auf Robert Harting im
Diskus. Vielleicht auch Christina
Obergföll im Speerwurf oder
Betty Heidler im Hammerwurf. 2
Interview: Patrick Kiefer
Zur Person
Astrid Kumbernuss wurde am
5. Februar 1970 in Grevesmühlen
geboren. Mit 13 Jahren wurde
ihr sportliches Talent entdeckt und
an der Kinder- und Jugend-
sportschule in Neubrandenburg
FotoS: Marc BeckMann; action preSS
gefördert. 1995, 1997 und 1999 siegte
sie bei Weltmeisterschaften – eine
Serie für die Ewigkeit. 1998 bekam
sie Sohn Philip, vor zweieinhalb
Jahren folgte Tochter Hannah.
2005 beendete sie ihre sportliche
Karriere. Sie lebt mit ihrem Mann
Henry am Stadtrand von Neustrelitz.