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schafft
weltweit Lügen
verbreitet und Chaos
Wie eine Geheimfirma
und sein Trauma
Steven Spielberg
über große Gefühle
Warum jetzt die
PERSONALMANGEL

Senioren ranmüssen
Kann Biontech
den Killer besiegen?
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DEUTSCHLAND
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Das Wissen
HAUSMITTEILUNG
der Besten
Titel  | Seiten 8, 16

Sie sind ehemalige Geheimdienstler und


Militärs, und sie haben eine Firma, die sich
Sandra Roderburg / DER SPIEGEL

auf ein besonders schmutziges Geschäft

Laura Pannack / DER SPIEGEL


spezialisiert hat: Mit Fake News und Lügen­
kampagnen setzen sie alles daran, in diver­
sen Ländern der Welt Wahlen zu mani­
pulieren. Mehr als 30 Abstimmungen will
das Team Jorge, wie sich die Israelis nennen,
bereits beeinflusst haben ­– für viel Geld.
Und sie sind nicht die Einzigen in der Bran­
che. Enthüllt hat die Machenschaften jetzt die gemeinnützige Investigativredaktion Forbidden
Stories. In deren Vorstand sitzt der Journalist Bastian Obermayer, der zusammen mit seinem Kol­
legen Frederik Obermaier auch für den SPIEGEL arbeitet. Seit Mitte 2022 untersuchten mehr
als 100 Reporterinnen und Reporter aus über 20 Ländern das Geschäft mit der Desinformation,
darunter neben SPIEGEL und ZDF auch »The Guardian« und »Le Monde«. Die SPIEGEL -­
Redakteure Marcel Rosenbach (l.) und Max Hoppenstedt waren den Spuren der Desinformations­
söldner um den Globus gefolgt, von Israel über die Schweiz bis nach Afrika. »Westliche Geheim­
dienste sind besorgt, weil Desinformation zu einer globalen Industrie angeschwollen ist, mit immer
aggressiveren Anbietern«, sagt Redakteur Jörg Diehl, der die Recherchen koordinierte. Ein Team
Jetzt
unter Leitung von Redakteurin Antje Windmann (r.) recherchierte in elf Ländern, wie Journalis­ neu im
tinnen auf der Suche nach der Wahrheit drangsaliert, bedroht und verfolgt werden. Windmann
und SPIEGEL -Mitarbeiterin Maria Christoph (3. v. r.) sprachen in Oxford mit der Wissenschaftle­ Handel
rin und früheren TV-Reporterin Julie Posetti, die erforscht hat, wie groß das Problem von Über­
griffen auf Journalistinnen ist. »Es ist erschütternd, wie viel diese Frauen aushalten müssen«, sagt
Windmann. »Trotzdem finden fast alle die Kraft, ihre Arbeit fortzusetzen.« Der unver-
Türkei | Seite 48 schämte Kunde
Özlem Gezer (2. v. r.) und Timofey Neshitov (l.)
Lächeln um jeden Preis?
waren auf dem Weg ins türkische Erdbeben­
gebiet, als sie erfuhren, dass am Tag zuvor ein @�c^\�@jcYZ�l^gY�^bbZg�]~jÀ\Zg�
Rettungsteam aus der Ukraine in Antakya ange­
kommen war. Die SPIEGEL -Reporter stellten
zum ungnädigen Tyrannen. Wie
sich in dem provisorischen Lager vor, parkten Sie sich und Ihr Team schützen.
Emre Caylak / DER SPIEGEL

ihren Minivan samt Schlafsäcken hinter dem


Küchen­zelt und verbrachten dann eine Woche mit
den Leuten, die aus dem Krieg kamen, um Ka­
tastrophenopfern zu helfen. Zusammen mit dem Weitere Themen:
Fotografen Emre Çaylak (r.) fuhren sie mit der
Gruppe des ukrainischen Katastrophenschutzes Zielvereinbarungen
zu Bergungseinsätzen, sie sprachen mit Erdbebenopfern, aßen Borschtsch und Konservenfleisch.
Neshitov verbrachte eine Nacht bei den Rettern im Zelt. »Iwan, Olga und Sergej haben mehr Angst
Falsche Anreize schaden dem
um ihre Familien in Kiew als vor einstürzenden Häusern in Antakya«, sagt er. Unternehmen

Fachkräftemangel | Seite 56
Rezession
In Deutschland fehlen so viele Fachkräfte wie nie. Bundes­
arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) fordert die Unternehmen Souverän führen, wenn Krise
deshalb zum Umdenken auf: Sie müssten die Älteren umwer­ auf Krise folgt
Marcus Simaitis / DER SPIEGEL

ben und verhindern, dass sie in die Frührente abwandern.


Klingt logisch. Aber ist das realistisch, wenn jemand auf
dem Bau schuftet oder am Schmelzofen steht? Redakteurin
Cornelia Schmergal ging mit ihren Kollegen Markus Dettmer
und Florian Diekmann den Fragen nach, wie man es über­
haupt bis zur Regelaltersgrenze schafft und was die Betriebe manager-
tun müssten. Dazu sprach sie auch mit Dachdecker­meister Nachrichten
Dirk Bollwerk (r.) und stieg mit seinem Mitarbeiter Werner Hankeln, 60, im niederrheinischen Jetzt App
Rees-Millingen in den Korb eines Autokrans. Hankeln sagt, er zähle die Tage bis zur Rente. downloaden

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 3


harvardbusinessmanager.de
INHALT TITEL

8 | Desinformation  Wie eine


Gruppe ehemaliger Geheim­
agenten und Militärs weltweit
DER SPIEGEL 77. Jahrgang | Heft 8 | 18.2.2023
Wahlen manipuliert

16 | Wahrheit  Jeden Tag


werden Journalistinnen auf der
ganzen Welt bedroht und einge­
schüchtert. Wer steckt dahinter?
[M] DER SPIEGEL; Fotos: Screenshot / Team Jorge Präsentation; William Andrew / Getty Images;

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel  Deutschlands
Mar tin Schutt / dpa; Sean Gallup / Getty Images; Olympia De Maismont / AF

Friedensbewegung missachtet
die Ukraine

20 | Ermittler finden sechs­


stellige Summe in Schließfach
des mutmaßlichen BND-Spions /
Grünen-Gruppe fordert Kurs­
wechsel in der Flüchtlings­
politik / Jusos gehen auf Heil
los / Die Gegendarstellung

24 | Bundesregierung  Die
­Differenzen zwischen Kanzler
und Außenministerin

28 | SPD  Der Partei fehlen


Spitzenfrauen

Frontalangriff auf die Demokratie 30 | Verteidigung  SPIEGEL -


Gespräch mit Minister Boris
Pistorius über Waffenlieferungen
und die Zukunft der Bundeswehr
DESINFORMATION  Ehemalige israelische Agenten haben offenbar fast drei Dutzend
Wahlen manipuliert. Ihre Kunden: machthungrige Politiker und wohlhabende 34 | Landespolitik  Die Freien
Wähler werden in Bayern wohl
­Geschäftsleute. In den vergangenen Jahren ist eine rasant wachsende Industrie zur Stütze der CSU
auf diesem Gebiet entstanden. Auch Deutschland ist in ihrem Visier. | 8
36 | Restitution  Die Erben
­Bismarcks holen Tausende Kunst-
und Kulturobjekte aus Museen

39 | Union  Parteichef Friedrich


Merz geht auf Distanz zum EVP-
Vorsitzenden Manfred Weber

40 | Strafjustiz  Überfordert
und alleingelassen – ein Rentner
Atiba Jefferson / NBAE via Getty Images

tötet seine pflegebedürftige Frau

43 | Ortstermin  Der Bürger­


meister von Harsum will
Marzena Skubatz / laif

eine Pistole tragen, weil er


Norman Konrad / laif

­bedroht wird

DEBAT TE
Annalena Baerbock LeBron James Franziska Giffey 44 | Ukrainekrieg  Warum
Die Außenministerin ringt Vorbild sein und Gutes tun – Die SPD hält trotz Niederlage ein SPIEGEL -Redakteur seine
mit dem Kanzler um Kurs und der Basketball-Superstar denkt an ihr fest. Es fehlt der Partei an Kriegsdienstverweigerung
Kommunikation. | 24 über den Sport hinaus. | 84 weiblichen Alternativen. | 28 zurückzieht

4 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
REPORTER SPORT

46 | Familienalbum / Angst vor 83 | Ausgeschlossene Nationen


Ballons? bei Olympischen Spielen /
So trotzen Sportvereine der
47 | Eine Meldung und ihre Energiekrise
­Geschichte Wie sich der
­ PIEGEL in den Fünfzigerjahren
S 84 | Karrieren  Die Mission
im Ton vergriff des Basketball-Superstars
­LeBron James
48 | Helfer  Unterwegs mit einem

Mar tin Meissner / AP


ukrainischen Rettungsteam, das
nach der Erdbeben­katastrophe in WISSEN
der Türkei Verschüttete sucht
90 | Wie realistisch ist »Der
53 | Kolumne  Alles Gutsch Schwarm«? / Analyse: Warum der
Ursprung der Coronapandemie »Niemand gibt gerne Geld für Waffen aus«
vielleicht nie gefunden wird
Boris Pistorius hat den schwierigsten Job der Regierung. Der neue
WIRTSCHAF T
Verteidigungsminister schildert im SPIEGEL-Gespräch sein­­­en Panzer-
92 | Medizinforschung  Kommt
frust und erklärt, wie er sich vor Einflüsterern schützen will. | 30
54 | Volkswagen löst Nachhaltig- bald die Impfung gegen Krebs?
keitsbeirat auf / Lindner
plant Entlastungen für Firmen 95 | Biologie  Forschende disku-
tieren das »Wood Wide Web«
56 | Arbeitsmarkt  Ältere Be-
schäftigte gelten als Geheimwaffe 96 | Klimakrise  Die Soziologin
gegen den Fachkräftemangel Anita Engels über nötige Ver­

Alfred Pasieka / Science Photo Librar y / Getty Images


änderungen in der Gesellschaft
62 | Energie  Peking droht
der westlichen Solarindustrie 98 | Naturschutz  Wie ein
mit Exportbeschränkungen neues Abkommen die hohe See
schützen soll
64 | Kunstmarkt  Diandra
Donecker, Chefin des Auktions-
hauses Grisebach, erklärt im KULTUR
SPIEGEL -Gespräch, warum sie
Kunst nicht als Wertanlage sieht 102 | Ein Roman über Belfast /
Zwei Fotopionierinnen werden
67 | Immobilien  Die neue geehrt / Eine ungewöhnliche
Grundsteuer wird zum Fall für Rapperbiografie Hoffnung im Kampf gegen den Krebs
die Gerichte
Neuartige mRNA-Impfstoffe sollen das Immunsystem so beeinflussen,
104 | Stars  SPIEGEL -Gespräch
dass es bösartige Tumore vernichten kann. Die deutsche Firma
68 | Handel  Die Elektronikkette mit Steven Spielberg über
­Biontech plant klinische Studien mit Tausenden Patienten. | 92
Media Markt Saturn ringt um sein Leben und die Zukunft von
ihre Existenz Hollywood

110 | Übergriffe  Was die Kot-


AUSLAND Attacke von Hannover über
das Verhältnis von Kunst und
70 | Der starke Rücktritt von Kritik aussagt
Schottlands Regierungschefin /
Taliban streiten über Bildungs- 112 | Karrieren  Der Autor
verbot für Mädchen Douglas Stuart erzählt von
Mike Marsland / WireImage / Getty Images

seinen Traumata
72 | Türkei  Führen die Erdbeben
zu einem Machtwechsel? 115 | Kinokritik  Der tragi­
komische Familienfilm
76 | Italien  Jagd auf die wert­ »Wann wird es endlich wieder
volle Weiße Trüffel im Piemont so, wie es nie war«

78 | Geopolitik  SPIEGEL -­
Gespräch mit Yale-Historiker
­Timothy Snyder über Szenarien
für ein Ende des Ukrainekriegs »Meine Kindheit ist nie weit weg«
SPIEGEL-TV-Programm | 42 Bestseller | 111 Steven Spielberg, erfolgreichster Regisseur aller Zeiten, hat in
Impressum, Leserservice | 116
80 | Ukraine  Der brutale Kampf Nachrufe | 117 Personalien | 118
»Die Fabelmans« seine Jugend verfilmt. Im SPIEGEL-Gespräch redet er
um Bachmut Briefe | 120 Letzte Seite | 122 über seine Träume, seine Ängste und den Zustand des Kinos. | 104

Titelfotos [M]: Screenshot / Team Jorge Präsentation (2); Gil Cohen Magen / Xinhua / IMAGO; Courtesy of Amblin Entertainment Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 5
Sprücheklopfer für den Frieden
LEITARTIKEL  Wer das deutsche Friedensmanifest in Kiew liest, dem verschlägt es die Sprache.
Die Ukraine ist dort Territorium, nicht Subjekt – genauso wie in Putins Kriegserklärung.

scharf geschossen wurde. Aufstand hieß für diese Men-


schen: ihr Leben für das eigene Land einsetzen.
Der sogenannte Aufstand in Berlin ist dagegen ziem-
lich risikofrei, mit weißen Kapitulationsfähnlein als Wahr-
zeichen, auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein »F«
für »Friedensverhandlungen« schreiben sollen.
Was mit Friedensverhandlungen genau gemeint sein
soll, dazu findet sich bei Wagenknecht und Schwarzer
kein Hinweis. Ihr Manifest ist ein Text voller Auslassun-
gen. Russlands Urheberschaft an diesem Krieg kommt
kaum vor, und die Ukraine fast ausschließlich als Schlacht-
feld, nicht als handelndes Subjekt. Wo von Verhandlungen
die Rede ist, nennen die Autorinnen nur die folgenden
Länder: Amerika, Russland und »europäische Nachbarn«.
Wer das in Kiew liest, dem verschlägt es die Sprache.
Rolf Vennenbernd / dpa Schwarzer und Wagenknecht wollen offenbar keinen Frie-
den mit der Ukraine, sondern nur einen in der Ukraine,
ein großer Unterschied. Da fühlen sich Ukrainer erinnert
an Wladimir Putin, der von sich selbst ja auch behauptet,
er führe seinen Krieg – Pardon, seine militärische Spezial-
operation – nicht gegen die Ukraine, sondern nur in der

E
Initiatorinnen in »Aufstand«, nichts weniger soll es ein. »Aufstand Ukraine. Ob in Putins Kriegserklärung oder im deutschen
Wagenknecht, für Frieden« haben Sahra Wagenknecht und Alice Friedensmanifest, die Ukraine wird nur als Territorium
Schwarzer
Schwarzer die Großkundgebung in Berlin genannt, betrachtet.
auf der sie am kommenden Samstag ein Ende von Waf- Schwarzer und Wagenknecht treffen in Deutschland
fenlieferungen an die Ukraine und den sofortigen Beginn einen Nerv. Sie drücken ein Unbehagen aus, das viele h
­ aben,
von Friedensverhandlungen fordern wollen. Die ostdeut- und das aus guten Gründen. Die Angst vor einer Ausweitung
sche Linkenpolitikerin und die westdeutsche Feministin des Kriegs mischt sich mit dem Verlust alter pazifistischer
behaupten, die Hälfte der Deutschen hinter sich zu haben. Gewissheiten, mit Gereiztheit über eine ukrai­nische Füh-
Ihr »Manifest für Frieden« haben schon rund eine hal- rung, die ständig an unser Gewissen appelliert.
be Million Menschen unterzeichnet. Der Philosoph Jürgen Habermas – der wie Schwarzer
Aufstand ist ein großes Wort. Wer zum Aufstand und Wagenknecht Verhandlungen fordert – kritisierte
ruft, meint: Andere Mittel des politischen Kampfes schon vor Monaten die angeblich »kriegstreiberische Rhe-
sind erschöpft. Es ist eine Rhetorik der Verzweiflung, torik« in den Medien, sie vertrage »sich schlecht mit der
wie bei den radikalen Klimaschützern von Extinction Zuschauerloge, aus der sie wortstark kommt«.
Re­bellion. Aber ist pazifistische Rhetorik aus der Zuschauerloge
Aufstand ist ein heroisches Wort. Wer von Aufstand nicht ebenso hohl? Ist das Verweigern von Waffen mora-
spricht, unterstellt Unterdrückung, gegen die das Volk lischer als Waffenhilfe für die Angegriffenen?
auf die Barrikaden geht. Ein Aufstand verlangt Mut. Es ist ein Privileg der Deutschen, darüber zu debattie-
Es ist eine erstaunlich militante Rhetorik, die Schwar- ren, wie weit man sich in diesen Krieg hineinbegeben will.
zer und Wagenknecht gewählt haben, vor allem wenn Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben dieses Privileg
man sie von Kiew aus wahrnimmt. Wer steht da gegen nicht. Russland hat sie nicht gefragt, bevor es sie überfiel.
wen auf? Ist Deutschland kein Land, in dem über Waffen- Die Deutschen schulden den Ukrainerinnen und
lieferungen diskutiert wird? Hört man in deutschen Talk- ­Ukrainern eine redliche Debatte. Dazu gehört: mit den
shows nicht Für- und Gegenstimmen? Angegriffenen mitfühlen. Sie als Handelnde anerkennen.
Ist das Die Kiewer haben jedes Verständnis für einen Auf-
stand; die Ukraine ist ja das Land periodischer Rebellio-
Eigener Verantwortung nicht ausweichen. Täter benen-
nen. Und: das eigene Unbehagen nicht bemänteln als
­Verweigern nen. Die friedliche Orange Revolution 2004 und der we- heroischen Aufstand gegen angebliche Kriegstreiber, wie
von Waffen niger friedliche Euromaidan zehn Jahre später waren es Schwarzer und Wagenknecht tun.
Aufstände. Und selbst der Widerstand gegen die russische »Verhandeln heißt nicht kapitulieren«, schreiben die
moralischer als Invasion hatte Formen eines Volksaufstands. In den ers- beiden. Das stimmt. Aber was heißt es dann? Welche
Waffenhilfe ten Tagen und Wochen des Kriegs griffen die Zivilisten Kompromisse wollen die Autorinnen der Ukraine abnö-
in Kiew selbst zur Waffe. In der Region Tschernihiw stell- tigen, welche Opfer? Das sollten sie offen aussprechen,
für die An­ ten sie sich mit bloßen Händen russischen Panzern in den bevor sie ihre weißen Fahnen schwenken.
gegriffenen? Weg. Im besetzten Cherson protestierten sie, obwohl Christian Esch  n

6 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


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TITEL

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DESINFORMATION  Eine konspirative Truppe ehemaliger Geheimdienstler und früherer Militärs
hat sich darauf spezialisiert, Wahlen in aller Welt zu manipulieren –
gegen Geld und mit Lügenkampagnen. Wer sind diese Söldner? Und wie flogen sie auf?

[M] DER SPIEGEL; Fotos: Screenshot / Team Jorge Präsentation; slavapolo / IMAGO; William Andrew / Getty Images

Geheimtruppe Team Jorge: Die Methoden


sind Hacken, Verleumden, Fälschen

8 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


N
TITEL

ach Monaten der der israelischen Streitkräfte, Anti­ daran arbeiten, die Wahrheit im Sin-
­f alschen Fährten, terrorspezialist und Militärausbilder. ne ihrer Auftraggeber zu verbiegen.
Fallen und Versteck- Ex-Verbindungsoffizier zur 6. Flotte Und dabei vor fast nichts zurück-
spiele endlich eine der US-Marine, mit Drähten zu ame- »Storykillers« ist schrecken: Sie manipulieren Wahlen,
vielversprechende rikanischen Sicherheitsbehörden. eine internationale sabotieren Politiker, stellen Whistle-
Spur. Sie führt ins Was Jorge und sein Team anbieten, Recherche zu Des­ blower kalt – und sie können Staaten
karge israelische sind maßgeschneiderte Frontalangrif- information, Propa­ ins Wanken bringen. Immer wieder
Bergland, in eine hässliche Planstadt fe auf den Kern der Demokratie. Sie ganda und Cyber­ drangsalieren sie auch Journalistin-
auf halbem Weg zwischen Tel Aviv manipulieren vermeintlich freie Wah- angriffen. Die Inves­ nen. In der Folge solcher Schmutz-
und Jerusalem. Zwischen zwei Auto- len. Wer sich ihre Dienste leisten tigativredaktion kampagnen kam es zu Morden.
bahnen steht dort ein gesichtsloses kann, erhöht seine Siegchancen. ­Forbidden Stories Die Hintermänner bleiben meist
Bürozentrum, der Eingang ist ver- ­Moral zählt dabei genauso wenig wie rief das Projekt im im Dunklen, ihre Motive versteckt,
steckt. Es geht durch die Tiefgarage, Gesetze. Hauptsache, das Geld Sommer 2022 ins aber die Spuren führen in viele Rich-
hoch in den dritten Stock, an der stimmt. Bis zu 15 Millionen Dollar Leben. Seitdem tungen, in Unternehmenszentralen,
Sicherheitstür hängt kein Schild, kein verlangt Team Jorge nach eigenen ­recherchierten mehr in Hauptstädte. Nach Moskau, Pe-
Hinweis. Drinnen: drei Männer, alle Angaben für eine manipulierte Wahl. als 100 Reporte­ king, Neu-Delhi, Riad und weiter
über 50, alle mit langen Karrieren Rund ein halbes Dutzend Geheim- rinnen und Reporter rund um die Welt, nach Washington,
als Agenten, Militärs. Schattengestal- dienste zählen zu seinen Kunden, sagt aus über 20 Län­ Berlin, Brüssel.
ten, die Tarnnamen nutzen. Die offi- Hanan alias Jorge. dern an dem Thema. Immer wieder zeigen sich Verbin-
ziell nicht existieren. Die Methoden sind offenbar so dungen nach Russland. Aus dem
»Wir sind niemand«, sagt einer ruchlos wie illegal: Hacken, Verleum- Kreml gesteuerte Trollarmeen und
von ihnen. Er nennt sich Jorge, ein den, Fälschen. Alles ist erlaubt, was Informationskrieger der Söldnertrup-
ebenso vorsichtiger wie gefährlicher die Wahrheit verbirgt und Erfolg ver- pe Wagner verbreiten Lügen, verdre-
Mann. Er weiß nicht, dass er mit spricht. Die Machenschaften erinnern hen Fakten, schaffen alternative Rea-
Journalisten redet, dass versteckte an Cambridge Analytica: jene berüch- litäten. Ihr Einfluss reicht auch nach
Kameras laufen. »Wir betreiben eine tigte Firma, die mit erschlichenen Deutschland. Kaum ein anderes Land
besondere Art von Geheimdienst«, Facebook-Nutzerdaten versuchte, im Westen wird derart mit Verschwö-
sagt Jorge. Und sie hätten eine Spe- den amerikanischen Wahlkampf 2016 rungserzählungen aus Russ­land ge-
zialität: Wahlen. zugunsten von Donald Trump zu be- flutet.
33 nationale Abstimmungen will einflussen. Tatsächlich gab es zwi- Verfassungsschutz und Politik sind
seine geheime Truppe nach eigenen schen Team Jorge und der inzwischen alarmiert. »Staatlich gelenkte Des-
Angaben manipuliert haben: mit aufgelösten britischen Skandalfirma information hat ein bedrohliches Aus-
­fabrizierten Skandalen, Lügenkam- offenbar Verbindungen. Nur dass die maß angenommen«, warnt Bundes-
pagnen, beeinflussten Abstimmungen Israelis wohl noch skrupelloser, noch innenministerin Nancy Faeser (SPD).
und anderen schmutzigen Methoden. geheimer sind – und mehr als 20 Jah- Russland setze viel Geld ein, um welt-
Wenn man erst einmal beginnt zu su- re lang nicht aufflogen. weite Lügenkampagnen zu fahren:
chen, finden sich Anzeichen dafür Sie operieren so gut getarnt, dass »Hier müssen wir dagegenhalten.«
rund um die Welt, in Indonesien, Ni- sie bislang nur in exklusiven Zirkeln Desinformation gehört lange
geria, auch in Bosnien. »Wir haben bekannt waren, unter machthungri- schon zu den beliebtesten Waffen vie-
Teams in Griechenland und den Emi- gen Politikern, Despoten, reichen Ge- ler autokratischer Staaten. »Hybride
raten«, sagt Jorge. Im Konferenzraum schäftsleuten. Vornehmlich in Süd- Kriegführung« nennen es deutsche
flirren Dokumente über einen großen ostasien, Lateinamerika und Afrika. Verfassungsschützer, wenn russische
Wandbildschirm – es geht um Perso- Mindestens ein europäischer Geheim- Trolle, chinesische Hacker und nord-
nen, Kampagnen und jene Orte, an dienst hatte Hanan zwar bereits im koreanische Agenten digitale Infra-
denen die Männer aktiv waren oder Visier, unternahm aber wohl nichts. struktur infizieren oder Fake News
noch sind. Erst jetzt wird das Treiben des verbreiten. Nun aber, in Zeiten des
»Kenia« heißt einer der Ordner. Teams Jorge nach einer monatelan- Krieges, verwischen die Grenzen zwi-
»Gutes Beispiel«, sagt Jorge. Vergan- gen weltweiten Recherche der ge- schen privaten Desinformationssöld-
genen Sommer hat Kenia einen neu- meinnützigen Investigativredaktion nern und staatlichen Akteuren. Eine
en Präsidenten gewählt. Seit Langem Forbidden Stories aufgedeckt; betei- gefährliche Dynamik. »Europa steht
ist das Land eine der stabilsten Demo- ligt sind der SPIEGEL und internatio- in Flammen«, sagt der Chef des
kratien des Kontinents, aber nun ist nale Medienpartner wie »Guardian«, Teams Jorge im vergangenen Sommer
die Rede von Wahlbetrug, hochran- »Le Monde«, ZDF, »Standard«, »Ta- in einer mitgeschnittenen Videokon-
gige Regierungsvertreter wurden ge- ges-Anzeiger« und »Zeit«. Ausgangs- ferenz, »aber genauso heiß brennt
hackt, angebliche Whistleblower ver- punkt war das gemeinsame Projekt unser Geschäft.«
breiten Lügen. Viele im Land wissen »Storykillers«, mit dem das enorme Experten sehen in Desinformation
nicht mehr, was wahr ist, was falsch. Ausmaß von Desinformation, Propa- mittlerweile ein erhebliches Risiko
Später werden die Israelis live demons- ganda und Cyberangriffen vermessen vor allem für ungefestigte oder pola-
trieren, wie sie offenbar in das E-Mail- wurde. risierte Gesellschaften. Wenn zu vie-
Konto eines mächtigen kenianischen Die Recherchen zeigen, dass Team
»Desinforma- le Menschen nicht mehr zwischen
Politikers eindringen. Jorge die vielleicht gefährlichste Söld- tion ist eine Fakten und Lügen unterscheiden kön-
Es sind Szenen wie aus einem Hol- nertruppe in einer bislang weitgehend Bedrohung für nen, wird es für Despoten leichter,
lywoodthriller. Die Hauptdarsteller verborgenen Halbwelt ist. Aber ihre dystopischen Weltbilder zu ver-
nennen sich Team Jorge: eine Truppe längst nicht die einzige. In den ver- unsere Demo- breiten. Siehe Orbán, siehe Putin,
moralfreier Desinformationssöldner, gangenen Jahren ist eine rasant wach- kratie.« siehe Trump.
benannt nach dem Tarnnamen ihres sende Desinformationsindustrie ent- Barack Obama,
»Es reicht schon, genügend Dinge
Anführers. Sein echter Name: Tal Ha- standen, mit Dutzenden Unterneh- ehemaliger infrage zu stellen, Schmutz zu ver-
nan. Ehemals Special-Forces-Offizier men rund um den Globus, die gezielt US-Präsident breiten, Verschwörungstheorien in

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 9


TITEL

Umlauf zu bringen, damit die Bürger ten auf einem Mobiltelefon, liest pri- Investigativ- tetes Spiel halten, bei dem meist der
nicht mehr ganz genau wissen, was vate Nachrichten, ruft Bilder ab, Do- Trickreichere gewinnt. Schön doof,
sie glauben können«, sagt Barack kumente. Er schreibt sogar im Namen journalisten wer glaubt, dass es fair zugeht, nur
Obama, der ehemalige US-Präsident, seines Opfers Nachrichten an dessen weil man Menschen manchmal ab-
im vergangenen Frühjahr in einer Kontakte – live, zum Zuschauen. stimmen lässt. Warum also, so die
Rede an der Stanford University, im Mashy Meidan weist über seinen Botschaft, dann nicht gleich im eige-
Herzen des Silicon Valley. Facebook Rechtsanwalt sämtliche Vorwürfe zu- nen Interesse nachhelfen?
und Twitter haben hier ihren Sitz. rück. Er habe den Namen Team Jorge Dass die Anführer des Teams Jorge
Obama lässt keinen Zweifel daran, noch nie gehört. Mit Aktivitäten der früher selbst in Diensten einer demo-
dass er sie für Brandbeschleuniger Firma habe er nichts zu tun. Israeli- kratisch gewählten Regierung stan-
einer fundamentalen Gefahr hält: sche Sicherheitskreise bestätigten den, scheint sie nicht weiter zu stören.
»Desinformation ist eine Bedrohung ­dagegen, dass es sich bei Max um Es gebe bei Team Jorge nur drei Re-
für unsere Demokratie.« Mashy Meidan handle. Auch ein Ab- geln, betont Nick: Man übernehme
Die Lügenindustrie rüstet indes gleich mehrerer Fotos beider Per­ keine Aufträge in Israel oder den
immer weiter auf, mit immer besseren sonen mithilfe einer Software zur USA, zumindest nicht in der Politik.
Instrumenten und künstlicher Intel- Gesichtserkennung ergibt Überein- Und man gehe nicht gegen Putin vor.
ligenz. Weder Politik noch Sicher- stimmungen zwischen 98,2 und Warum nicht in Israel, will einer
heitsbehörden scheinen für diesen 99,9 Prozent. Außerdem sind die von der Undercover-Reporter wissen.
globalen Angriff gewappnet. Max und Meidan genutzten Handy- »Man scheißt nicht dahin, wo man
Wie schwer ist es, eine Präsident- nummern identisch. schläft«, antwortet Nick.
schaftswahl zu manipulieren? Nicht Bei Wahlen komme es nur auf eine Tatsächlich ist der Mann, der sich
sonderlich, sagt Tal Hanan alias Jor- Handvoll wichtiger Dinge an, sagt Nick nennt, offenbar Tal Hanas älte-
ge. Nicht, wenn man es oft genug ge- Jorge später. Erstens gehe es ums rer Bruder Zohar. Auch er war wohl
macht hat. Am besten rund um den Image der Kandidaten, sagt er. Zwei- beim israelischen Geheimdienst. Ge-
Wahltag die Logistik lahmlegen. tens darum, Wählerinnen und Wäh- nauso wie Ilan Mizrahi, vormals Vize-
»Vielleicht crasht das Computersys- ler zu mobilisieren. Und drittens um chef des Mossad. Heute sitzt Mizrahi
tem, vielleicht funktioniert aber auch das jeweilige Wahlsystem – und wie angeblich im »Aufsichtsrat« von
schon die Wählerregistrierung nicht.« man es manipulieren könne. »Wir Team Jorge, so behauptet es Hanan.
Ganz einfach. decken alle drei Punkte ab«, sagt Jor- Auf Anfrage bestätigt Ilan Mizrahi,
»D-Days« nennen die israelischen ge. Zum Beispiel mit diesen eigentlich dass er Tal Hanan kennt. Soweit er
Desinformationssöldner solche Ope- immer funktionierenden Methoden: wisse, habe er aber keine Geschäfts-
rationen. Hanan stellt die Details in »Voter’s Suppression« und »Blame beziehung zu ihm; er habe noch nie

ZDF (3)
einer eigenen Verkaufspräsentation Game Disruption«, also erst Wähler von einem Team Jorge gehört. Die
vor, ihr Titel: »Wahlen – Sie haben am Urnengang hindern und dann mit Benjakob, Métézeau, engen Verbindungen zu Nachrichten-
nur einen Schuss, der muss sitzen.« falschen Schuldzuweisungen Chaos Megiddo diensten und Staatsapparat dürften
Mit Team Jorge kein Problem, sagt stiften. jedenfalls wesentlich geholfen haben,
Hanan. Eine Dienstleistung vom Wer Hanan und seinen Wahrheits- dass Team Jorge so lange im Gehei-
Fachmann. So trocken vorgetragen, killern eine Weile zuhört, merkt men agieren konnte.
als ginge es darum, eine Regenrinne schnell, dass echte Demokratie in Doch das Ende des Versteckspiels
zu richten. Unterschreiben Sie hier, ihrer Welt eine Illusion ist. Dass sie begann im Sommer 2022 mit einer
um verlässlich die Demokratie ins Wahlen für ein ohnehin oft abgekar- Theateraufführung. Darsteller: die
Wanken zu bringen. israelischen Investigativjournalisten
Fast eine Stunde dauert die Ver- Gur Megiddo und Omer Benjakob
kaufspräsentation zum Produkt Wahl- Globale Desinformation sowie ihr französischer Kollege Fré-
manipulation. »Die perfekte Kombi- déric Métézeau von Radio France.
nation unserer Fähigkeiten«, sagt der Eine Studie des Oxford Internet Institute zeigt, dass es 2020 … Sie gaben sich dem Team Jorge
Mann, der in leicht wackligem Eng- in 81 Ländern Berichte über politisch motivierte Desinforma- gegenüber als interessierte Neukun-
lisch durch fast drei Dutzend Power- tion und Propaganda in sozialen Medien gab und dass es … den aus, nachdem israelische Ge-
Point-Folien führt. Er nennt sich Max. in 48 dieser Länder Belege dafür gab, dass private Firmen für währsleute einen Kontakt vermittelt
Eigentlich heißt er wohl Mashy Mei- Manipulationskampagnen beauftragt wurden. hatten.
dan, Veteran der israelischen Nach- Métézeau stellte sich als Berater
richtendienste. eines wohlhabenden Geschäftsmanns
»Wir bieten einen außerordent­ vor, der großes finanzielles Interesse
lichen Service für spezielle Interes- habe, die anstehende Wahl in einem
sen an«, sagt Meidan. Überall, wo zentralafrikanischen Land zu verhin-
Regierungen wackeln, wo es richtig dern. Der Franzose spielte die Rolle
knallen könnte, wenn Wahlen aus des halbseidenen Vermittlers so
dem Ruder laufen. Der Kunde müsse glaubwürdig, dass Team Jorge auf die
nur Ziele oder Zielpersonen definie- Undercover-Journalisten als ver-
ren, Team Jorge entwerfe eine pas- meintliche Neukunden einstieg.
sende Strategie und setze die notwen- Es folgte ein monatelanger Aus-
digen Mittel und Leute ein: »Vetera- tausch. In insgesamt fünf Videokon-
nen aus Geheimdiensten und Mili- ferenzen und verschlüsselten Chats
tär«, »Spezialisten für psychologische In 79 Ländern wurden In 57 Ländern In 14 Ländern wurden ge- und schließlich zwei persönlichen
Kriegführung«, »Finanzexperten«. dazu von Menschen wurden hackte, gestohlene oder Treffen begannen die Journalisten mit
gesteuerte Konten automatisierte Fake-Konten bekannter
Dann führt Meidan vor, wie er in die verwandt. Konten verwandt. Personen verwandt. Team Jorge einen Plan zu entwickeln,
persönlichen Mail- oder Chatkonten wie die angebliche Wahl zum Platzen
S Quelle: Bradshaw et al., 2021, Industrialized Disinformation: 2020 Global Inventory
seiner Opfer eindringt. Er hackt Kon- gebracht werden könnte.
…

of Organized Social Media Manipulation

10 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


TITEL

Immer wieder spielen sich dabei erschre-


ckende Dialoge ab. Etwa wenn sich Max alias
Mashy Meidan an den vorgeblichen Berater
Métézeau wendet und sagt: »Für das Ziel dei-
nes Kunden wäre es das Beste, wenn man
jetzt erst mal noch mehr Aufruhr, mehr Angst,
mehr Probleme in den Straßen schaffen könn-
te.« Team Jorge schlägt also vor, Unruhen in
einem Land zu schüren, um geordnete Wah-
len zu verhindern.
Tal Hanan selbst wird erst in der dritten Vi-
deokonferenz auftauchen, als Einziger ohne
Bild und unter dem Bildschirmnamen »Joyce
Gamble«. Und erst nach einem halben Jahr
wird er sich als Chef und Namensgeber der
Geheimfirma zu erkennen geben: Eingeladen
ins israelische Hauptquartier, treffen die Re-
chercheure Ende Dezember auf einen stämmi-
gen Mann, das ergrauende Haar militärisch
kurz, am Arm eine schwere Uhr. »Ich bin Jorge«,
sagt er zur Begrüßung. Und als »Chairman«
für Cocktails und Partys zuständig. Er lacht.
Wer Jorge wirklich ist, findet Forbidden
Stories erst später heraus. Hinweise und Indi-
zien führen schnell in internationale Sicher-
heitskreise, wo Jorge unter seinem richtigen Undercover-Aufnahmen von Team Jorge:
Namen Tal Hanan kein Unbekannter ist. In »Sie haben nur einen Schuss«
Israel stieg er bei den Spezialkräften des Mili-
tärs einst bis zum stellvertretenden Leiter der
Einheit zur Beseitigung von Sprengkörpern kaum nachvollziehen. Der SPIEGEL konnte schaftskandidaten William Ruto. Offenbar
auf. Als Bombenexperte reiste Hanan durch jedoch zentrale Darstellungen des Teams Jor- unbemerkt öffnet Hanan den Chat zwischen
die Welt, trat nach eigenen Angaben vor dem ge verifizieren. Auch in Kenia. Denn Tal Ha- dem Mann und einem einflussreichen Ge-
US-Kongress auf. Als Experte im Antiterror- nan und sein Team hatten den afrikanischen schäftsmann.
kampf hatte Hanan offenbar auch mit Sicher- Staat für eine Machtdemonstration der be- Zum Beweis, dass er tatsächlich das Konto
heitsbeamten in Deutschland zu tun. Der ehe- sonderen Art ausgewählt. des Beraters kontrolliert, tippt Jorge willkür-
malige Abteilungsleiter für die westliche Hemi- Während der dritten Videokonferenz zwi- lich etwas in den Chat: die Zahl »11«. Er
sphäre im US-Außenministerium, Roger No- schen den Undercover-Journalisten und Team schickt die Nachricht im Namen des Beraters
riega, war zeitweilig sein Geschäftspartner. Jorge unterbricht Hanan plötzlich seine ge- an den Geschäftsmann ab, um sie sofort wie-
Noriega bestätigt auf Nachfrage, Hanan zu rade laufende Verkaufspräsentation. Die Re- der zu löschen. Wie man sehe, sagt Hanan,
kennen und mit ihm vor etwa zehn Jahren für porter haben immer wieder nach konkreten sei seine Firma also nicht nur in der Lage,
gemeinsame Kunden in Venezuela gearbeitet Belegen für die angeblichen Fähigkeiten der heimlich Informationen über Gegner zu sam-
zu haben. Zuletzt habe er vor rund zwei Jah- Israelis gefragt. meln. Sondern Nachrichten zu manipulieren.
ren mit ihm zu tun gehabt, dabei sei es aber Es ist der 25. Juli 2022, wenige Wochen vor Damit wird vieles möglich: Gerüchte verbrei-
nicht um Geschäfte gegangen. der kenianischen Präsidentschaftswahl. Hanan ten, falsche Spuren legen.
Bereits in den Neunzigerjahren begann hat seinen Computerbildschirm mit den Teil- Einige Tage später gewinnt der bisherige
Hanan, sein Wissen und seine Beziehungen nehmern der Videokonferenz geteilt, sodass kenianische Vizepräsident William Ruto
zu Geld zu machen. Mehrere Unternehmen alle sehen können, was er auf seinem Rechner knapp die Wahl. Kurz nach der Auszählung
laufen auf seinen Namen, darunter auch eine macht. Er öffnet den Ordner »Kenia«. beginnt eine beispiellose Desinformations-
Sicherheitsfirma: Demoman International. Wenige Minuten später dringt der Israeli kampagne gegen den Wahlgewinner, die bis
»Wenn konventionelle Ansätze nicht mehr offenkundig live in das Telegram-Konto eines heute andauert. Scheinbar manipulierte
weiterhelfen, kommen wir ins Spiel«, heißt hochrangigen kenianischen Regierungsver- Wahlunterlagen werden auf dubiosen Inter-
es in einer Eigenwerbung der Firma für ihre treters ein. Er ist in diesem Moment als ver- netseiten veröffentlicht, gefälschte Videos
»einzigartigen operativen Fähigkeiten«. meintlicher Inhaber des Kontos eingeloggt machen in den sozialen Medien die Runde,
Unerkannt zu bleiben ist überlebenswich- und kann in dessen Namen agieren. Auf dem angebliche Whistleblower tauchen auf, die
[M] DER SPIEGEL; Fotos: Screenshot / Team Jorge Präsentation

tig für eine klandestine Truppe wie Team Jor- Bildschirm erscheinen Kontakte, Chatgrup- sich später als Luftnummern herausstellen.
ge. Besucher müssen etwa ihre Handys am pen, Nachrichten, verschickte Dokumente Vieles davon klingt nach dem Werkzeug-
Eingang abgeben. Was Jorge nicht ahnt: Die des Spitzenpolitikers. Team Jorge liest mit kasten des Teams Jorge. In den Gesprächen
Undercover-Journalisten tragen versteckte und könnte dem Politiker leicht Dateien mit den Undercover-Reportern offenbart Ha-
Kameras, schneiden Präsentationen und Vi- unterjubeln, die ihn in Bedrängnis bringen nan nicht, wer genau in Kenia seine Dienste
deokonferenzen mit. würden. Oder Nachrichten aufspüren, die ihn mit welchem Ziel gebucht hat. So gern er über
Der SPIEGEL konnte die entstandenen für seine Gegner erpressbar machen würden. sein Manipulationsrepertoire spricht – seine
Aufnahmen, die Präsentationen und die Chats »Ich kann diesen Zugang also nutzen, um Pro- Klienten verrät er nicht.
auswerten und hat die Spuren des Teams Jor- bleme zu schaffen«, sagt Hanan. Um die haarsträubenden Livedemons-
ge in Tel Aviv, Großbritannien, den USA, Das demonstriert er in einem weiteren trationen zu verifizieren, hat der SPIEGEL die
Kenia, Nigeria und auch in Deutschland ver- gehackten Telegram-Konto. Es gehört einem Betroffenen vor Ort kontaktiert. Denn Jorge
folgt. kenianischen Politikberater. Auch er zählt ist in der Eile ein Fehler unterlaufen, wie die
Inwiefern die Geheimoperateure tatsäch- wie die anderen mutmaßlichen Ziele des Ha- Aufzeichnung der Reporter zeigt: Er hat die
lich Wahlen manipuliert haben, lässt sich cking-Angriffs zum Lager des Präsident- eingetippte »11« nur im Konto des Politik-

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 11


TITEL

Wagner-Chef Prigoschin, burkinischer Präsident Traoré:


Der Westen ist böse, Russland gut

beraters, also des Absenders, gelöscht. Nicht Wahltag selbst wurden die Telefone von Sie waren ihr aber durchaus bekannt. Wie

[M] DER SPIEGEL; Fotos: Mikhail Svetlov / Getty Images; French Army / AP; Patrick Meinhardt / DER SPIEGEL; William Andrew / Getty Images; Vincent
aber für den Empfänger, den Geschäftsmann. Oppositionellen mit Anrufen geflutet und der Mann hinter der israelischen Firma mit
Ein Vormittag in Nairobi, der Geschäfts- praktisch unbrauchbar gemacht. »2015 in vollem Namen heiße, wurde sie 2015 von
mann und Empfänger der Nachricht hat sich Nigeria, das waren wir«, sagt Hanan. Cambridge-Analytica-Chef Nix gefragt. Kai-
zu einem Treffen mit dem SPIEGEL bereit E-Mails legen nahe, dass Team Jorge tat- ser antwortete auf die E-Mail: »Tal Hanan,
erklärt. Er ist misstrauisch, als der Reporter sächlich während des Präsidentschaftswahl- Chef von Demoman International«.
ihn um einen Blick in sein Telegram-Konto kampfs vor Ort war. Ausweislich der Unter- Kaiser bestätigte auf Anfrage, einst mit
bittet. Doch dort steht in seinem Chatverlauf lagen hatten die Männer den Auftrag, dem Hanan in Kontakt gewesen zu sein. Es habe
mit dem Politikberater tatsächlich und un- damaligen Staatschef Goodluck Jonathan eine Gespräche über eine Zusammenarbeit in Ar-
übersehbar: »11«. weitere Amtszeit zu sichern – so wie auch die gentinien gegeben. Und in Nigeria habe Team
Damit scheint klar, dass die israelischen britische Skandalfirma Cambridge Analytica. Jorge »separat, aber parallel« zu Cambridge
Desinformationssöldner tatsächlich die Mög- Die beiden finsteren Firmen standen über Analytica gearbeitet. Die Details habe sie aber
lichkeit haben, prominente Politiker zu ma- Jahre in Kontakt, wie interne E-Mails zeigen: erst später erfahren, da sie nicht selbst vor
nipulieren. Ob ihre mutmaßlich illegalen Ak- Am 2. September 2017 etwa schreibt Tal Ha- Ort gewesen sei. Eindruck haben die Israelis
tivitäten auch Einfluss auf das Wahlergebnis nan an den Chef von Cambridge Analytica, aber offenbar schon damals auf Kaiser ge-
in Kenia hatten – und wenn ja, welchen –, Alexander Nix: »Können wir in Kenia helfen? macht: Sie seien, so schrieb sie in ihrem Buch,
lässt sich schwer bestimmen. Wir kennen uns dort aus.« Zwei Tage später »willens, für einen Sieg alles zu tun«.
Kenia ist nicht das einzige Land, das Hanan schreibt Nix zurück: »Was schlägst du vor?« Dazu gehört auch, dass das Team Jorge
und seine Partner nennen, um ihre Manipu- Daraufhin sendet Hanan ein einseitiges PDF sogar eine eigene Technologie für die Mani-
lationsmacht zu belegen. Sie präsentieren mit dem Titel »Wahlen Kenia« und verspricht: pulation von Social-Media-Plattformen wie
Folien über Cyberangriffe auf eine Abstim- »Wir liefern Auswirkungen, die spürbar sind.« Facebook entwickelt hat, denn die stehen oft
mung zur Unabhängigkeit Kataloniens 2014. Cambridge Analytica aber sind die dafür ver- im Zentrum von versteckten Operationen.
Die Attacken haben stattgefunden, ob Team langten »400 000 bis 600 000 Dollar pro Das System heißt »Aims«, kurz für »Advan-
Jorge etwas damit zu tun hatte, ließ sich nicht Monat zu teuer«. ced Impact Media Solutions«. Hanan kommt
verifizieren. In Indonesien wollen sie sogar Die zur Whistleblowerin gewandelte ehe- ins Schwärmen, als er es präsentiert: Über
Bado / REUTERS; Olympia De Maismont / AF

eine Niederlassung unterhalten haben. 2019 malige Cambridge-Analytica-Mitarbeiterin eine simple Benutzeroberfläche lässt sich eine
gab es rund um die indonesischen Wahlen Britanny Kaiser hatte früher schon in einem ganze Armada von Fakeprofilen für alle mög-
Hacking-Vorfälle. Ob Team Jorge darin ver- Enthüllungsbuch von ominösen Israelis be- lichen Internetplattformen anlegen. Mit Fotos
strickt ist, bleibt unklar. richtet, die annähernd so viele Wahlen mani- echter Personen, geklaut von echten Profilen.
Auch in einem weiteren großen afrikani- puliert hätten wie Cambridge Analytica Eine frühere Version präsentierte Hanan be-
schen Land kam es bei Präsidentschafts­ selbst. Teils hätten sich die Aufträge über- reits 2017 Cambridge Analytica.
wahlen vor einigen Jahren zu erheblichen lappt. An die Namen aber könne sie sich nicht Offenkundiger Zweck dieser virtuellen
Unregelmäßigkeiten. In Nigeria mussten die erinnern, behauptete Kaiser vor einem Unter­ Schlägertruppe ist es, Zielpersonen anzugrei-
Wahlen kurzfristig verschoben werden. Am suchungsausschuss des britischen Parlaments. fen, Debatten zu manipulieren, politische

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TITEL

Agenden zu setzen. Meist läuft das Zu den Branchengrößen zählt die Die Wahrheit »einseitigen Ansatz« hin. Zudem
wohl nach ähnlichen Mustern: Die dubiose Firma Eliminalia, die ihren gehe es um Geschäftsgeheimnisse.
falschen Influencer posten zuerst ihr Kunden verspricht, »ihre Vergangen- zu mani­ »Wir sehen, dass der Markt für
geklautes Profilbild und retweeten heit zu löschen«, sodass im Netz pulieren ist ähnliche Unternehmen weltweit
dann systematisch Posts von großen
Medienmarken wie der BBC, um un-
nichts mehr zu finden ist. Sogar läs-
tige Presseberichterstattung könne
zu einem wächst«, sagt ein führender west­
licher Geheimdienstler. Von Team
verdächtige Aktivitäten vorzutäu- man verschwinden lassen. Eine be- Milliarden­ Jorge hat er noch nicht gehört. Es
schen. Erst dann schlagen sie gemein- liebte Dienstleistung offenbar ins­ business gebe zunehmend »aggressive Anbie-
sam los für den jeweiligen Kunden. besondere für Kriminelle, zum Bei- ter«, so der Informationsspezialist,
Der SPIEGEL fand mit seinen Recher- spiel Geldwäscher mit Verbindungen
geworden. ein Veteran der Branche. Sein Spe-
chepartnern rund 20 verschiedene zum Drogenkartell von Medellin, zialgebiet sind sogenannte Hybrid
Kampagnen solcher Aims-Avatare – notorische Finanzbetrüger und ver- Threats, hybride Bedrohungen – ein
zum Beispiel, um für den Weiterbe- urteilte Sextäter. Das zeigt ein um- Sammelbegriff für verschiedene An-
trieb von Atomanlagen in Kalifornien fangreiches Leak aus den Datenban- griffsmethoden, die darauf zielen,
Stimmung zu machen. ken von Eliminalia, in das die Forbid- Gesellschaften zu zersetzen.
Einen umfangreichen Fragenkata- den-Stories-Partner Einblick nehmen Ein Schlüsselmoment für ihn sei
log von Forbidden Stories zu den Vor- konnten. 2017 gewesen. Ein Unternehmen in
würfen ließ Tal Hanan alias Jorge bis Der Datensatz enthält Verträge, den Vereinigten Arabischen Emiraten
Redaktionsschluss inhaltlich unbeant- Kundennamen und weitere Firmen- namens DarkMatter hatte einen gan-
wortet. Er bestreitet jedoch »jegliches interna. Insgesamt knapp 50 000 Do- zen Trupp US-amerikanischer Cyber-
Fehlverhalten«. Sein Bruder Zohar kumente, die brachiale Methoden spezialisten angestellt, die vorher für
Hanan alias Nick teilte bis Redak- erkennen lassen. Eliminalia-Mitarbei- NSA, CIA und Co. gearbeitet hatten.
tionsschluss auf Anfrage lediglich mit, ter fälschen demnach Inhalte, datie- Im Auftrag der Regierung in Abu
dass er sein »Leben lang gesetzes- ren Beiträge zurück und spiegeln re- Dhabi hätten sich die Ex-Agenten in
treu« gearbeitet habe. Israels Regie- gelmäßig falsche Tatsachen vor. Sie Computer und Handys von so ziem-
rung ließ eine Anfrage des SPIEGEL gaben sich in der Vergangenheit als lich jedem gehackt, der den Scheichs
unbeantwortet. EU-Einrichtung aus, manchmal posie- in die Quere gekommen war. Ins Vi-
Der Aufwand lohnt sich für die ren ihre Leute als Rechtsanwälte. sier der Söldnertruppe sei sogar der
Cybersöldner. Die Wahrheit zu ma- Auch Firmen nehmen diese Diens- damals verfeindete Nachbar der Kun-
nipulieren ist inzwischen zu einem te in Anspruch. Etwa das italienische den geraten, der Emir von Katar.
Milliardenbusiness angeschwollen, in Technologie-Unternehmen Area Spa, DarkMatter bestreitet die Vorwürfe.
dem Experten zufolge neben staat­ das ein Spionagesystem nach Syrien Inzwischen zählen westliche Nach-
lichen Akteuren weltweit Hunderte verkaufte – und diese Wahrheit nun richtendienste rund 60 Firmen allein
Dienstleister tätig sind. Und die Lü- aus der digitalen Welt geschafft haben im Bereich solcher »Dark PR«. Der
genindustrie wächst schnell. wollte. Die Italiener bestätigen auf Boom privater Söldner beunruhigt
Politische Kampagnen, Stim- Anfrage, Kunden gewesen zu sein. viele Experten. Vor allem, weil auch
mungsmache für bestimmte Interes- Man habe sich darauf verlassen, dass staatliche Akteure seit einigen Jahren
sen, der Versuch, die öffentliche Mei- Eliminalia rechtmäßig vorgehe, und Unternehmen zwischenschalten. Re-
nung in eine bestimmte Richtung zu sei sich keiner Schuld bewusst. gierungen nutzen sie statt der eigenen
drehen – all das war früher nur mit Eliminalia teilt zu den Vorwürfen Agenten, um Hackerangriffe oder
dem Budget von Geheimdiensten zu mit, die Fragen seien innerhalb der Desinformationskampagnen noch
stemmen. Heute gibt es Facebook vorgegebenen Frist von einer Woche besser zu verschleiern. Manche der
und Twitter, Telegram und Whats­ nicht zu beantworten. Die Ausrich- Unternehmen werden insgeheim
App, mit denen man seine Botschaft tung der Anfrage deute aber auf einen staatlich kontrolliert, so Sicherheits-
verbreiten kann. So ist ein Schatten- experten. Ein bedrohlicher Trend.
markt entstanden, auf dem Mani­ Lange galt Desinformation als vor-
pulation und Irreführungen zu einer Machtkampf in Afrika wiegend staatliche Waffe, vor allem
Standarddienstleistung für zahlungs- im Kalten Krieg. Die USA versuch-
Prorussische Desinformations-
kräftige Kunden geworden sind. Die kampagnen in sozialen
darüber hinaus drei ten, die DDR in ihren Anfangsjahren
Angebotspalette ist breit: Manche länderübergreifende zu destabilisieren, indem die CIA ge-
Medien in Afrika, Kampagnen
Firmen kaufen ihren Kunden massen- 2022* fälschte Zeitungen in Umlauf brachte.
haft Follower oder erstellen Fake­ Mit noch mehr Eifer betrieb die So-
Mali
konten, andere erfinden Lügen für Häufigkeit wjetunion Desinformazija. In einer
Onlinekampagnen. Wieder andere 33 3 groß angelegten Operation verbrei-
fälschen Dokumente, um damit den Niger tete der KGB die Lüge, das HI-Virus
Ruf eines Unternehmens oder eines Burkina Zentral- sei durch ein amerikanisches Experi-
politischen Gegners zu ruinieren. Faso afrikanische ment freigesetzt worden. Es war einer
Emma Briant, eine der weltweit Republik der größten Propagandaerfolge der
Elfenbein-
führenden Expertinnen für Informa- küste Sowjetgeheimdienste.
tionskriege und an der Aufdeckung In Mali und der Doch das goldene Zeitalter staat-
des Cambridge-Analytica-Skandals Zentralafrikanischen Demokratische licher Desinformation begann erst mit
beteiligt, sorgt sich, dass der öffent­ Republik verbindet Russland Republik Kongo dem Internet. »Die Zahl der Regie-
offenkundig Desinformation
liche Fokus weiterhin vor allem auf mit militärischer Präsenz rungen und politischen Parteien, die
Facebook, Twitter und ähnliche Me- durch Wagner-Söldner. computergestützte Propaganda für
dienunternehmen gerichtet sei. Nicht verschiedene politische Zwecke ein-
aber auf das eigentliche Problem, * insgesamt 74 von »Code for Africa« setzen, hat erheblich zugenommen«,
identifizierte Kampagnen, mit Fokus auf die
»auf die riesige Industrie, die im Ver- Sahelzone und Zentralafrika sagt Samantha Bradshaw. An der Ox-
borgenen existiert«. S Quelle: Code for Africa ford University verantwortete sie den
€

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 13


TITEL

Forschungs­bericht des »Computational Pro-


paganda Research Project« und erstellte die
Journalisten wurden dafür Wagner-Leuten begangene Morde an Zivilis-
ten werden Banditen in die Schuhe gescho-
größte globale Datenbank über Desinforma- bezahlt, Falschnachrichten ben. Journalisten wurden dafür bezahlt,
tionskampagnen, das »Cyber Troops Inven-
tory«. Stand 2020 nutzten demnach mindes-
zu verbreiten. Falschnachrichten über die im Land statio-
nierten Uno-Truppen zu verbreiten. Die
tens 81 Länder soziale Medien, um Propa- Schlagzeilen wiederum gaben russische Ins-
ganda und Desinformation zu verbreiten – bei Inzwischen gibt es eine neue Trollarmee. trukteure vor. Die Stoßrichtung ist immer die
einer noch hinzukommenden hohen Dunkel- Sie tauchte erstmals auf, nachdem russische gleiche: Der Westen ist böse, Russland gut.
ziffer. »Vier Jahre zuvor waren es nur etwa Truppen vergangenes Jahr die Ukraine über- Das jüngste Ziel dieses Infokriegs: Burkina
30 Länder«, so Bradshaw. Darunter finden fallen hatten. Die »Cyber Front Z« feiert die Faso. Ebenfalls ein rohstoffreiches Land. Als
sich auch demokratische Staaten, insbeson- Kremlpropaganda, leugnet das Massaker von sich vergangenen September der 34-jährige
dere aber auto­ritäre. Butscha und zelebriert den Tod ukrainischer Offizier Ibrahim Traoré in Burkina Faso an
Nordkoreanische und iranische Angreifer Soldaten. Offenbar hat erneut Prigoschin die Macht putschte, gratulierte ihm Wagner-
etwa geben sich immer wieder als vermeint- seine Finger im Spiel. Er gab an, der neuen Chef Prigoschin als einer der Ersten. Fast zeit-
lich seriöse Journalisten aus, um auf diese Trollarmee eine Bürofläche zur Verfügung zu gleich tauchten im Netz immer mehr prorus-
Weise unwahre Geschichten zu verbreiten. stellen. sische Accounts und in der Hauptstadt
China versuchte mit allen Mitteln zu verwäs- Prigoschins Rolle wäre kaum überra- Demonstranten mit »Merci Wagner«-Schil-
sern, dass Corona sich höchstwahrscheinlich schend. Die Gruppe Wagner und verbündete dern auf. Nun muss Frankreich seine Soldaten
von dort aus in die Welt verbreitet hatte. Unternehmen sind inzwischen Moskaus wich- abziehen, auf Wunsch Traorés.
Pekings Propagandisten erfanden unter tigste Waffe der hybriden Kriegführung. Mor- 74 prorussische Desinformationskampa­
anderem einen Schweizer Wissenschaftler den und manipulieren: Die unter anderem gnen identifizierte das afrikanische Journa-
namens »Wilson Edwards«, der auf Facebook aus Schwerverbrechern und Rechtsextre­ listennetzwerk Code for Africa allein 2022 in
vermeintlich enthüllte, wie die Suche nach misten rekrutierte Söldnertruppe ist flexibel der Sahelzone und der Mitte des Kontinents.
dem Ursprung des Virus politisiert worden einsetzbar. Und global. Auch dort, wo russi- Mal werden auf Twitter Lügen verbreitet, mal
sei. Offizielle chinesische Kanäle verbreiteten sches Militär nicht offiziell auftreten soll. Etwa geht es um gefälschte Dokumente, mal for-
die Botschaft des Fakeforschers. Allein im in Afrika, von Moskau als ein zentrales geo- mieren sich angeblich riesige Unterstützer-
Sommer 2020 löschte Twitter 170 000 Kon- politisches Schlachtfeld ausgemacht. gruppen, die Facebook-Nutzer mit solchen
ten, die Fake News und prochinesische Pro- Getarnt als militärische Berater strömten Sätzen indoktrinieren: »Putin ist der von Gott
paganda unter anderem zu Corona und Tai- in den vergangenen Jahren Tausende Wagner- gesandte Befreier, um die Welt vom Bösen
wan verbreiteten. Söldner nach Mali, Mosambik, Madagaskar. des Westens zu befreien.« Nächstes Ziel, ver-
Kein Staat aber hat in den vergangenen Zeitgleich fluten Desinformationsspezialisten muten Experten: Niger mit seinen wertvollen
Jahren Desinformation so systematisch als Ghana, Nigeria, Burkina Faso mit Fake News. Uranvorkommen.
Waffe genutzt wie Wladimir Putins Russland. Zusammen sollen sie Rohstoffe erobern und Moskaus Lügenkrieger treiben sich aber
Teils mit erschreckendem Erfolg, zu besich- Verbündete rekrutieren, mit Waffengewalt keineswegs nur in instabilen Weltregionen
tigen insbesondere während der amerikani- und Desinformation. um. Eines der wichtigsten Ziele russischer
schen Präsidentschaftswahlen 2016. Hacker, In Bangui, Hauptstadt der Zentralafrika- Desinformation: Deutschland. Rund 700 Fäl-
die dem russischen Geheimdienst zugerech- nischen Republik, sind sie nicht zu übersehen, le von Fake News und Verschwörungstheo-
net werden, stahlen kompromittierende Do- weiße Männer in Kampfmontur, vermummt, rien zählt eine Datenbank des Europäischen
kumente der Kampagne von Hillary Clinton. mit modernen Waffen. Die Bürger der Haupt- Auswärtigen Dienstes zwischen 2015 und
Und orchestrierten ihre Veröffentlichung. Ein stadt Bangui nennen sie »les instructeurs 2021 in Deutschland – mehr als in Frankreich,
Paradebeispiel für eine sogenannte Hack-and- ­russes«, die russischen Ausbilder. Der Präsi- Italien und Spanien zusammen. Aus Moskau
Leak-Attacke, wie sie 2017 auch Emmanuel dent hat sie ins Land geholt, um sich und sein verbreitet. Darunter findet sich etwa die
Macron im Wahlkampf traf. Regime vor Rebellen zu schützen, die Teile Behauptung, deutsche Wissenschaftler seien
Zugleich ließ Putin in einem geheimen Bü- des Landes kontrollieren. an der Produktion von Biowaffen in der
rogebäude in Sankt Petersburg eine ganze Moskaus Einsatztruppe kam gern. Die Ukra­ine beteiligt. Und damit quasi Kriegs­
Trollfabrik mit rund 1000 Angestellten ein- Zentralafrikanische Republik ist eines der ver­brecher.
richten, die systematisch westliche Gesell- ärmsten Länder der Welt, aber reich an Gold- Begleitend setzt Russland auch seine Ha-
schaften zersetzen sollten. Ihr oberstes Ziel: und Diamantenvorkommen. Die russische ckertruppen ein. Sie stecken mutmaßlich
Donald Trump ins Weiße Haus zu bringen. Firma Lobaye Invest, hinter der russischen hinter einer Attacke auf den deutschen Bun-
Im Vorfeld der US-Wahlen gründeten die rus- Medien zufolge ebenfalls Prigoschin steht, destag, bei der 16 Gigabyte Daten gestoh­
sischen Trolle vermeintlich amerikanische hat sich wichtige Abbaulizenzen gesichert. len wurden. Und die wohl von Putins Mili­
Facebook-Gruppen, etwa die »Vereinten Jährlich könnte bis zu eine Milliarde US-Dol- tärgeheimdienst gesteuerte Gruppierung
Muslime Amerikas«, die vorgaben, sich für lar aus dem Rohstoffgeschäft zurück nach »Ghost­writer« soll Dutzende deutsche Ab-
Hillary Clinton einzusetzen. Bis zu 120 Mil- Russland fließen, warnen US-Diplomaten. geordnete angegriffen haben, teilweise mit
lionen Amerikaner wurden mit polarisieren- Prigoschin teilt mit, er stehe nicht hinter Erfolg. Der Verfassungsschutz fürchtet, dass
den Fake News bombardiert, wie ein Sonder- Lobaye Invest. Die Firma sei noch nie im kompromittierendes Material gezielt öffent-
ermittler Jahre später feststellte. Gold- und Diamantenbergbau tätig gewesen. lich gemacht werden könnte. In Polen und im
Die US-Behörden schrieben zwölf russi- Sie habe nur »Explorationsdienstleistungen« Baltikum nutzten die Hacker erbeutete Infor-
sche Agenten zur Fahndung aus, wegen »Ver- erbracht, damit »das ärmste Land Afrikas mationen bereits für Schmutzkampagnen
schwörung gegen die USA«. Und setzten eine seine Ressourcen irgendwie verkaufen und gegen Politiker.
Belohnung von zehn Millionen Dollar für der Armut entkommen konnte«. Zuletzt probierte der Kreml offenbar im-
Informationen über die Wahleinmischung von Folgt man den Wagner-Spuren durch Afri­ mer neue Strategien aus. Im vergangenen Jahr
Jewgeni Prigoschin aus: dem Putin-Vertrau- ka, durch umkämpfte Hauptstädte der Sahel- tauchten täuschend echte Kopien etablierter
ten, verurteilten Verbrecher und Chef der be- zone, durch abgelegene Dörfer und Bergbau- deutscher Nachrichtenseiten auf, mit Falsch-
rüchtigten Söldnertruppe Wagner. Er finan- gebiete, zeigt sich Verstörendes. Während die nachrichten wie: »Olaf Scholz hat mit den
zierte auch die Sankt Petersburger Fake- Kämpfer brandschatzen, inszenieren die Des- Sanktionen gegen Russland das wirtschaftli-
News-Fabrik, wie Prigoschin dem SPIEGEL informationsspezialisten gleichzeitig prorus- che Todesurteil für Deutschland unterschrie-
auf Anfrage bestätigte. sische Demonstrationen. Mutmaßlich von ben.« Auch von SPIEGEL .de wurden Fake-

14 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


TITEL

seiten erstellt. Allzu viele Menschen


fallen auf diese Manipulationen nicht
herein, aber doch einige, und immer
wieder neue.
Immer wichtiger für die russische
Strategie werden einzelne Influencer
mit vielen Followern. Der Verfas-
sungsschutz warnt in einem vertrau-
lichen Lagebild, dass »Einzelperso-
nen für die Verbreitung russischer
Propaganda und Desinformation
über soziale Medien an Bedeutung
gewinnen«.
Die für das deutsche Publikum
wohl bedeutendste kremltreue Info-
kriegerin ist Alina Lipp, 29. In ihrem
Telegram-Kanal verbreitet die Lüne-
burgerin täglich Propaganda aus
Russland und den besetzten Gebieten
an ihre mehr als 180 000 Abonnen-
ten. Putins Angriffskrieg begrüßte sie
am 24. Februar 2022 mit den Worten
»Die Denazifikation hat begonnen«.
Lipp behauptet, dass sie unabhängig
agiere.
Das betont auch die extrem rech- Thüringens AfD-Chef Höcke, Influencerin Lipp, russischer
te AfD gern, wenn sich wieder ein­ Staatschef Putin: Demokratien sind besonders anfällig
mal zahlreiche ihrer Parlamentarier
oder Parteimitglieder als kreml-
freundliche Influencer betätigen. »Südländer« hätten sie entführt und Kartte von »Reset«, einer Initiative,
Hochrangige Funktionäre reisten vergewaltigt. Russische Staatsmedien die sich für digitale Demokratie ein-
wieder und wieder nach Russland sprangen auf und berichteten, dass setzt.
oder auf die besetzte Krim, Partei- das Mädchen von Arabern als »Sex- Andere EU-Staaten gehen in die
chef Tino Chrupalla wurde sogar sklavin« gehalten worden sei. Es Offensive. Vor allem die baltischen
von Moskaus Außenminister Sergej dauerte Tage, bis die Polizei demen- Länder Estland, Lettland und Litau-
Lawrow hofiert. tierte. en, die vor Jahren schon russische
[M] DER SPIEGEL; Fotos: Mar tin Schutt / dpa; Alina Lipp / Telegram; Contributor / Getty Images; Hans Lucas / IMAGO; Sean Gallup / Getty Images

Selbst nach dem Angriffskrieg Demokratien seien für diese Art Propagandasender sperrten. Die
gegen die Ukraine verteidigen die der Bedrohung besonders anfällig, Europäische Union richtete bereits
meisten AfD-Politiker den Kreml warnt der Verfassungsschutz. Trotz- 2015 eine Taskforce ein, die mitunter
noch, hierzulande wie in russischen dem agiert die Politik bislang zurück- täglich die Lügen aus Russland ent-
Staatsmedien. Sie fordern das Ende haltend. kräftet. In Finnland steht der Umgang
aller Sanktionen, sind gegen Waffen- Seit Herbst 2018 hat die Bundes- mit Desinformation auf dem Schul-
lieferungen für die Ukraine und fin- regierung immerhin eine Arbeits- lehrplan.
den, dass Russland alle eingenomme- gruppe, die sich der verdeckten Ein- Die Ampelregierung wolle nun
nen Gebiete behalten solle. Immer flussnahme durch Russland und eine umfassendere Strategie gegen
wieder verbreiten sie Falschinforma- ande­re Staaten widmet, die »AG Hy- Desinformation ausarbeiten, heißt es
tionen, behaupten etwa, dass ukra­ brid«. Dabei sind unter anderem in Berlin. Die Details sind noch offen.
inische Kriegsflüchtlinge nur wegen Innenministerium, Auswärtiges Amt, Bis die Regierungspläne fertig sind,
der Sozialleistungen nach Deutsch- Kanzleramt, Verfassungsschutz und werden Monate vergehen. Und große
land kämen. Bundesnachrichtendienst. Zudem zusätzliche Ressourcen sind vorerst
Es ist auch ein Systemkrieg zwi- wurde nach dem Überfall auf die nicht vorgesehen.
schen autokratischen und demokra- ­Ukraine eine zusätzliche Taskforce Dass sich auf diese Weise Lügen-
tischen Staaten: »Der Kampf um die eingerichtet, die jede Woche tagt söldner wie das Team Jorge bändigen
Köpfe und Herzen der Menschen und russische Kriegslügen bekämp- lassen, darf bezweifelt werden. Neue
über Einflussnahme, Desinformation fen soll. Technologien wie die künstliche In-
und Propaganda spielt eine immer Doch die Desinformationsjäger telligenz erlauben immer heftigere
größere Rolle«, warnt das Bundesamt der Regierung wirken vor allem hin- Angriffe. »Was wir bisher gesehen
für Verfassungsschutz. Viele Staaten ter den Kulissen, mit dem öffentlichen haben, ist auf jeden Fall nur der An-
seien bestrebt, das Vertrauen in die Zurechtrücken (»Debunking«) von fang«, sagt die Propagandaforscherin
Stabilität und Integrität des Rechts-
staats zu untergraben. »Putin ist Falschnachrichten hält sich die Bun-
desregierung bis heute zurück. Nie-
Samantha Bradshaw.
Die Zeit der Desinformations­
Wie schnell Hunderttausende der von Gott mand wolle in die Rolle eines »Wahr- kriege beginnt gerade erst.
Menschen in Aufruhr gebracht wer-
den können, musste Deutschland gesandte heitsministeriums« geraten, heißt es
in Berlin.
Christo Buschek, Maria Christoph,
Jörg Diehl, Roman Höfner,
insbesondere während der Hoch­ Befreier.« »Die Bundesregierung erörtert das Heiner Hoffmann, Max Hoppenstedt,
Roman Lehberger, Ann-Kathrin Müller,
phase der Migrationskrise erfahren. Werbespruch einer
Problem in Gesprächskreisen, statt Frederik Obermaier, Bastian Obermayer,
Da log zum Beispiel die russland- Kampagne umfassende und langfristige Strate- Marcel Rosenbach, Thomas Schulz,
deutsche Lisa aus Berlin-Marzahn, auf Facebook gien zu entwickeln«, kritisiert Felix Wolf Wiedmann-Schmidt n

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 15


TITEL

W
ir finden und wir töten dich.«
Diesen Satz las Nastia Zhvik
auf dem russischen Portal
VKontakte. Ein anderer Nutzer
schrieb ihr: »Wir stechen dich ab und

»Bring dich in Sicherheit«


dann vergraben wir dich.« Die Sätze
galten ihr. Sie sollten eine Warnung
sein.
Zhvik ist Journalistin, eine junge
Frau mit ruhiger Stimme. Sie stammt
WAHRHEIT  Jeden Tag werden Journalistinnen bedroht und eingeschüchtert, in aus Sewastopol, einer Hafenstadt auf
der russisch besetzten Krim-Halb-
Deutschland, in russisch besetzten Gebieten, in Nordirland, Mexiko und insel. Kurz vor den Drohungen im
anderswo. Wer steckt dahinter – und was lässt sich gegen die Gewalt tun? Netz hatten Polizisten die Zweizim-
Vier Frauen berichten über die tägliche Dosis Hass. merwohnung durchsucht, die sie sich
mit ihren Eltern teilt, und hatten ihr
Notebook und ihr Smartphone be-
schlagnahmt. Die Beamten drohten
ihr, so erzählt es Zhvik, mit einem
Strafverfahren wegen Extremismus,
darauf stehen mehrere Jahre Haft in
Russland. Der Vorwurf: Zhvik habe
nach der Explosion der Krim-Brücke
einen englischsprachigen Post auf In­
s­tagram geteilt, der den Anschlag be-
fürwortete und die Brücke, Putins
Prestigebauwerk, illegal nannte.
Zhvik bezeichnet sich selbst als
Ukrai­nerin mit russischen und bela-
russischen Wurzeln. Sie hat in Mos-
kau, Passau und Venedig Journalismus
studiert, im Ausland gelebt, sie hat für
kremlkritische Medien wie das Nach-
richtenportal »Medusa« geschrieben,
das in Russland als »Auslandsagent«
eingestuft ist. Sie kritisiert die Macht-
haber in Moskau oder berichtet über
heikle Themen wie die Stigmatisie-
rung von LGBTQ-Menschen in Russ-
land. Auf dem Revier wollten die Poli-
zisten wissen: Wer sind ihre Auftrag-
geber im Ausland? Wer bezahlt sie?
Wie viel Geld bekommt sie?
Stunden zuvor hatte ein russischer
Telegram-Kanal einen Honorarver-
trag von Zhvik mit »Medusa« ver-
öffentlicht. Später am Tag erschien
ein Artikel auf einer nationalistischen
Website über sie, in dem sie als »vom
Westen bezahlte Einfluss-Agentin«
und »Verrückte« bezeichnet wird. Sie
habe das zunächst als Quatsch abge-
tan, sagt Zhvik. Dann kamen die
Hassnachrichten. Freunde und Kol-
leginnen drängten sie, die Situation
ernst zu nehmen: »Du musst schnell
weg.« So begann die Flucht von Nas-
tia Zhvik quer durch Europa, sie en-
dete vorläufig in einer Dachgeschoss-
wohnung in Heidelberg.
Zhvik ist nicht die einzige Journa-
listin, die in Gefahr ist. Weltweit wer-
Verena Müller / DER SPIEGEL

den Reporterinnen zum Ziel von


Hetzkampagnen und Einschüchte-
rungsversuchen. Da ist Maria Ressa,
Journalistin Zhvik mit Hündin Molly in Heidelberg: Journalistin auf den Philippinen und
Platz 508 der »Agenten«-Liste
Friedensnobelpreisträgerin des Jahres
2021, die in ihrer Heimat als Hexe und

16 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


TITEL

Hure beschimpft wird. Oder Patricia Devlin, auch den SPIEGEL juristisch berät, spricht
Reporterin in Nordirland, der gedroht wurde, von einer koordinierten Attacke der Sicher-
dass man ihren Sohn vergewaltigen werde. heitsbehörden. »So organisiert, wie das ab-
Oder Marion Reimers, Sportmoderatorin in gelaufen ist, kann es nur der Inlandsgeheim-
Mexiko, die Zehntausende Hetznachrichten dienst FSB sein.« Zhvik passe gut in deren
auf Twitter, Facebook und Instagram be- Feindprofil: Journalistin, Studium im Aus-
kommt, eine Lawine des Hasses, ausgelöst land, kritisch gegenüber Moskau, lebt auf der
durch Bot-Netzwerke. annektierten Krim.
Auch männliche Journalisten werden be- Laut Arapowa hat sich das Vorgehen gegen
droht, wenn sie Mächtige und Reiche kritisie- kritische Journalistinnen und Journalisten mit
ren. Aber so brutal, so persönlich wie bei dem russischen Angriff auf die Ukraine und
Journalistinnen wird es selten. den Zensurgesetzen massiv verschärft. Sie
Es geht nicht nur um Gewalt im digitalen würden von ultranationalistischen Telegram-
Raum, das Androhen von Folter, Vergewalti- Kanälen verunglimpft und beschimpft. »Den
gung, Mord, traumatisierend genug für Be- Journalisten soll psychisch so zugesetzt wer-
troffene; es geht auch um Gewalt im echten den, dass sie das Land verlassen.«

Laura Pannack / DER SPIEGEL


Leben, wo Journalistinnen körperlich ange- An jenem Tag im Oktober sind es Zhviks
griffen und angefeindet werden, wo sie von Kolleginnen und Kollegen, die sie warnen.
offiziellen Stellen ausgebremst, drangsaliert »Schlaf diese Nacht bloß nicht zu Hause, ver-
und festgesetzt werden. Reporterin Ressa in London: steck deinen Pass«, schreiben Freunde. »Bring
Ein Team von SPIEGEL-Reporterinnen hat Schusssichere Weste dich in Sicherheit.« Sie hadert, ihre Mutter
in einem Dutzend Länder recherchiert und wiegelt ab, ihre Eltern stehen hinter Russland.
mit Journalistinnen gesprochen, die regel- Zwei Tage später steigt Nastia Zhvik in ihren
mäßig Gewalt erleben, in Nordirland, Mexiko, Die digitalen Attacken auf Journalistinnen gelben Lada und fährt mit ihrer Hündin los.
Kolumbien, Ghana, auf der annektierten eskalieren, stellte Posetti fest, sie werden pro- Später liest sie auf dem Telegram-Kanal
Krim und den Philippinen, aber auch hier in fessioneller, perfider und sind oft orchestriert. »Colonelcassad«, sie sei von CIA-Mitarbei-
Deutschland; sie trafen auf Frauen, die von Viel zu oft werden sie als Einzelfälle abgetan. tern ausgebildet worden. Der Kanal wird von
Banden bedroht, von Staaten verfolgt und dem bekannten russischen Militärhardliner
von religiösen Eiferern eingeschüchtert wer- Nastia Zhvik, 26, annektierte Krim / Ukraine Boris Roschin betrieben, er hat mehr als
den. Die Recherche erfolgte im Rahmen des Die Geschichte von Nastia Zhvik zeigt, wie 830 000 Abonnenten. Jemand hat ihre Han-
Projekts »Storykillers« der Investigativredak- staatliche Repression und digitale Desinfor- dynummer gepostet, unzählige Kommenta-
tion »Forbidden Stories«. Viele Interview- mation sich gegenseitig befeuern. toren fordern ihre Ermordung und fragen
anfragen blieben unbeantwortet oder wurden Es war der 24. Oktober 2022, morgens um nach ihrer Adresse.
aus Furcht vor weiterer Repression abgelehnt, sieben, als die Polizeibeamten vor Zhviks Tür Zhviks Stimme ist voller Wut. »Die Leute
vor allem in China, Russland und Iran. Allein in Sewastopol standen. Ein paar Monate spä- wünschen mir den Tod. Was zum Teufel habe
im Januar sind in Iran mehrere Journalistin- ter sitzt sie in Jeans und einem beigefarbenen ich ihnen getan?«
nen verhaftet worden. Pulli am Küchentisch in Heidelberg. Ein Die Gewalt bleibt oft nicht auf das Netz
Kaum jemand weiß besser als Julie Poset- Freund hat ihr Unterschlupf gewährt, nach beschränkt, wie der Fall der maltesischen
ti, wie verheerend die Lage für ihre Kollegin- wochenlanger Flucht. Zu ihren Füßen liegt Journalistin Daphne Caruana Galizia zeigt,
nen ist. Posetti war Reporterin beim austra- ihre Labradorhündin Molly. die im Oktober 2017 von einer Autobombe
lischen Sender ABC, inzwischen ist sie glo- Zhvik erzählt mit leiser Stimme, wie kurz getötet wurde. Galizia hatte jahrelang über
bale Forschungsdirektorin am International nach Erscheinen des Artikels auf der nationa- Korruption in ihrer Heimat berichtet und wur-
Center for Journalists (ICFJ), einer Lobby- listischen Website Nachrichten auf ihrem Tele- de dafür im Internet verleumdet. Fünf Jahre
organisation für Journalistinnen und Journa- fon auftauchten. Morddrohungen, Beschimp- nach dem Attentat wurden zwei Brüder schul-
listen mit Sitz in Washington. In den vergan- fungen, Gewaltfantasien. Zhvik ahnte, dass dig gesprochen, sie hatten gestanden, Galizia
genen Jahren hat sie dokumentiert, wie Jour- vielleicht doch alles kein Zufall war: ihre vo- für eine fünfstellige Summe getötet zu haben.
nalistinnen im Netz verleumdet werden, mal rübergehende Festnahme, das Verhör bei der Wer die tatsächlichen Hintermänner waren,
privat, mal vor einem Millionenpublikum, Polizei, der diffamierende Text, die Hetze im ist bis heute unklar. Eine unabhängige Unter-
fast immer mit dem Ziel, ihre Stimmen zu Netz gegen sie – alles am selben Tag. Heute suchung sprach dem Staat später eine Mit-
ersticken. Posetti hat mit einem internationa- weiß sie, dass jemand ihr Postfach gehackt schuld am Tod der Journalistin zu, da die
len Forscherteam mehr als 700 Journalistin- und ihren Honorarvertrag mit dem kremlkri- Regierung eine »Atmosphäre der Straflosig-
nen aus 125 Ländern befragt und über 2,5 Mil- tischen Medium »Medusa« ins Netz gestellt keit« geschaffen und es versäumt habe, Gali-
lionen Facebook- und Twitter-Posts analy- hatte, um sie zu diskreditieren. »Medusa« wird zia vor Bedrohungen zu schützen.
siert, ihre Erkenntnisse sind in dem Unesco- seit Ende Januar von den russischen Behörden Besonders in konservativen Kulturen wer-
ICFJ-Bericht mit dem Titel »The Chilling« zu als »unerwünschte Organisation« geführt. Au- den Frauen, die eine öffentliche Rolle ein-
lesen: die Abschreckung. torinnen, die für »Medusa« schreiben, drohen nehmen und Mächtige kritisieren, als Gefahr
»Ich wollte handfeste Beweise für das Aus- damit mehrjährige Haftstrafen. für die gesellschaftliche Ordnung gesehen.
maß und die Grausamkeit der Onlinegewalt Zhviks Anwältin Galina Arapowa, eine in Auch Religion und Herkunft spielen eine Rol-
gegen Journalistinnen liefern«, sagt Posetti. Russland bekannte Medienrechtlerin, die le. Schwarze Journalistinnen, aber auch Re-
Das Ergebnis erschüttert: Drei von vier porterinnen aus Asien oder dem arabischen
Journalistinnen gaben an, im Zuge ihrer Raum etwa werden im Netz besonders heftig
Arbeit Opfer von digitaler Gewalt geworden angegriffen.
zu sein, jeder vierten wurde körperliche Ge- Das gilt auch für Journalistinnen, die über
walt bis hin zu Mord angedroht. Bei 37 Pro- »Die Leute wünschen mir politische Themen berichten, was womöglich
zent der Befragten verbargen sich hinter den den Tod. Was zum Teufel daran liegt, dass sie in den meisten Fällen über
Angriffen politische Akteure. Uno-General-
sekretär António Guterres zitiert inzwischen habe ich ihnen getan?« Männer recherchieren, die viel zu verlieren
haben. So war es bei Maria Ressa, Journalis-
aus der Studie. Nastia Zhvik tin aus den Philippinen, die 2021 zusammen

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TITEL

mit dem russischen Journalisten Dmitrij


Muratow, Chefredakteur der unabhängigen
»Anfangs habe ich den zählt es Devlin, komme es zu Zusammenstö-
ßen zwischen paramilitärischen Gruppen.
Zeitung »Nowaja Gaseta«, den Friedensno- Hass hingenommen, Sie lenkt den Wagen über die Holywood
belpreis erhielt. ich dachte, das wäre nor- Road, vorbei an Backsteinhäusern mit Wand-
gemälden, die wie stumme Zeugen des Nord-
Maria Ressa, 59, Philippinen mal in meinem Job.« irlandkonflikts wirken. Während der Fahrt
Ressa war lange Investigativreporterin für Patricia Devlin zeigt sie aus dem Fenster: Dort sei ein Mann
CNN, im Jahr 2011 gründete sie mit Kollegin- auf offener Straße getötet, hier eine Frau von
nen in Manila das Nachrichtenportal Rappler. einem Mob totgeschlagen worden.
Ressa wurde eine der bekanntesten Kritike- An einer viel befahrenen Straße hält sie an,
rinnen des späteren Präsidenten Rodrigo Du- steigt aus, verdeckt ihr dunkles Haar mit einem
terte, vor allem seines »war on drugs«, bei gab, sondern wir zum Schweigen gebracht karierten Schal und geht zu einer der Mauern,
dem Tausende Menschen von Killerkomman- werden sollten.« auf die einst ihr Name gesprüht war, daneben
dos ermordet wurden. Duterte griff Rappler Ressa könnte es sich leicht machen und in ein Fadenkreuz. Es sind zwei Minuten vergan-
mehrfach öffentlich an. In seiner Amtszeit die USA ziehen, sie hat auch einen amerika- gen, da brüllt ein Mann von der anderen Stra-
wurden mehr als 20 philippinische Journalis- nischen Pass. Doch wenn sie einknicke, wenn ßenseite: »Devlin! Whore!« Er lacht hämisch.
tinnen und Journalisten sowie Mitarbeiter »ich meine Klappe halte«, dann lasse sie ihr Devlin hetzt zum Auto zurück, zitternd. »Man
von Medienhäusern getötet. Land und die Demokratie im Stich, das sei weiß nie, wozu diese Menschen fähig sind«.
Julie Posetti und ihr Team haben in ihrer für sie undenkbar. Und so arbeitet sie weiter- Patricia Devlin hat lange für Lokalmedien
Studie knapp 500 000 Beiträge über Ressa hin in Manila, wo in ihrem Auto ein sauberer über die Gewalt der bewaffneten Gangs ge-
auf Facebook und Twitter analysiert. Fast Kopfkissenbezug und eine Zahnbürste liegen, schrieben. »Anfangs habe ich den Hass ein-
60 Prozent zielten darauf ab, die Glaubwür- falls sie wieder mal verhaftet wird. Zudem fach hingenommen, ich dachte, das wäre nor-
digkeit der Journalistin zu diskreditieren. In habe sie sich angewöhnt, eine schusssichere mal in meinem Job«, sagt sie. Dann wurden
fast jedem zweiten Post fanden sie persönliche Weste zu tragen, sobald sie vor die Tür trete. mehrfach ihr Wohnort, ihre Handynummer
Attacken: »Hexe«, »Hure«, der Hashtag und ihre E-Mail-Adresse im Netz veröffent-
#Presstitute machte die Runde. Auf Fotos von Patricia Devlin, 36, Nordirland licht. Jahrelang fühlte sie sich nirgends sicher.
ihr, die im Netz kursierten, hatten Unbekann- Etwa jede zehnte Journalistin sagt, dass man Als sie mit ihrem dritten Kind schwanger
te in grellen Buchstaben die Worte »verurteil- auch ihr Umfeld, ihre Kinder bedroht habe. war, eskalierte die Situation. »Eine Frau
te Kriminelle« montiert. Es ist ein mächtiger Hebel, denn er attackiert schrieb mir, sie hoffe, ich müsse bald meine
Im Jahr 2018 wurde Ressa in ihrer Funk- die Betroffenen an einer empfindlichen Stel- Kinder begraben.« In einer Facebook-Nach-
tion als Geschäftsführerin von Rappler wegen le – besonders dann, wenn sie wie Patricia richt drohte ihr jemand, ihren Sohn zu miss-
Steuerbetrugs angeklagt. Vor Kurzem wurde Devlin in einer Region arbeiten, in der es oft handeln: Sie solle einen bestimmten Ort mei-
sie freigesprochen, allerdings laufen noch wei- zu Gewaltexzessen kommt und eine tote Jour- den oder »du wirst dabei zuschauen, wie dein
tere Verfahren gegen sie. nalistin als Kollateralschaden verbucht wird. neugeborener Junge vergewaltigt wird«.
Inzwischen ist Duterte abgetreten, aber In Nordirland gibt es zwar seit dem Karfrei- Monatelang habe sie ihr Haus nicht mehr
Ressa kämpft weiter gegen die politischen tagsabkommen von 1998 offiziell Frieden, verlassen, kaum noch geschlafen und geges-
Verhältnisse in ihrer Heimat. Am Rande einer doch bis heute beherrschen paramilitärische sen. Sie machte sich Vorwürfe, durch ihre
Buchvorstellung in London nimmt sie sich Gruppen ganze Straßenzüge. Arbeit ihre Familie gefährdet zu haben.
kurz Zeit für ein Gespräch. Sie erzählt, dass Patricia Devlin hat sich den Wagen ihres Ende 2020 klingelte die Polizei an ihrer
die sozialen Medien ihr am Anfang wie ein Mannes geliehen, um in den protestantischen Haustür. Die Beamten sagten, sie hätten In-
Segen erschienen seien. Dann aber kam der Osten von Belfast zu fahren. Hier leben vie- formationen, dass Devlin in den nächsten
Hass. »Ich dachte, was habe ich bloß falsch le Loyalisten, die eine möglichst enge Bindung 48 Stunden erschossen werden solle. Auch
gemacht?« Immer wieder habe sie geprüft, Nordirlands zum Vereinigten Königreich wol- ihre Kinder seien in Gefahr. Zuvor war ein
ob ihr und ihrem Team Fehler unterlaufen len, die Gegend ist zudem von Organisierter Facebook-Post online gegangen, der Devlin
seien. »Bis ich verstand, dass es keine Fehler Kriminalität geprägt. Immer wieder, so er- vorwarf, sie würde in Belfast Rohrbomben
an Autos von Frauen mit Kindern anbringen.
Die Polizei habe kaum etwas gegen die
Täter unternommen, trotz vieler Hinweise.
Sie habe sich auch sonst alleingelassen ge-
fühlt, sagt Patricia Devlin. »Mein Chef mein-
te nur, ich solle die Finger von Twitter lassen.
Meine Gewerkschaft riet mir zu einem ande-
ren Themenfeld.«
Wer sind die Menschen, die Reporterinnen
angreifen? Und vor allem: Warum tun sie das?
Die Forscherin Posetti sagt, manche der
Täter, meistens Männer, würden sich in Netz-
werken organisieren, um Journalistinnen ins
Visier zu nehmen. Die Angriffe liefen fast
immer anonymisiert ab. Als Motive nennt
Paulo Nunes dos Santos / DER SPIEGEL

Posetti Frauenfeindlichkeit und Sexismus.


Schon in einer kanadischen Studie aus dem
Jahr 2019 gaben 85 Prozent von mehr als
100 befragten Journalistinnen aus Nordame-
rika an, dass ihr Job in den vergangenen Jah-
Journalistin Devlin in Belfast: ren unsicherer geworden sei.
Als sie schwanger war, eskalierte die Situation
Zu den Ursachen wird weltweit geforscht,
oft sind es Rechtsextremismus und Populis-

18 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


TITEL

mus, aber auch das, was Expertinnen len Netzwerken zurück. Die wenigs-
»Desinfodemie« nennen: eine Epi- ten zeigen die Übergriffe an.
demie von Desinformation durch Ver- Was bleibt zu tun?
schwörungsmythen, die ganze Länder Wie so oft ist in erster Linie die
vergiften. In der Pandemie zirkulier- Politik gefragt. Die Europäische
ten diese besonders, auch in Deutsch- Union will eine Richtlinie zur Be-
land. kämpfung von Gewalt gegen Frauen
Nie sei es so schlimm gewesen, sagt und häuslicher Gewalt auf den Weg
die deutsche Reporterin Sophia bringen. Die Berliner Organisation

Marian Carrasquero / DER SPIEGEL


Maier, die mehrfach von Demonstra- HateAid, die sich für Opfer digitaler
tionen gegen die Coronamaßnahmen Gewalt im Netz einsetzt, sieht darin
berichtete. Einen Beitrag nannte sie die Chance, »sexistische Angriffe und
»Wut auf der Straße – Ist unsere De- Demütigungen gegen Frauen zu stop-
mokratie in Gefahr?«. Innerhalb von pen« und unter Strafe zu stellen.
zwei Tagen habe sie dafür rund 5000 Im November ist auf EU-Ebene
Nachrichten auf Instagram erhalten, zudem eine neue Verordnung in Kraft
darunter viel frauenfeindlicher Hass. getreten, der Digital Service Act.
Sportjournalistin
Einmal bekam sie diese Nachricht: Reimers in passen, gefällig und sexy zu sein. Ma- Techkonzerne müssen nun sicherstel-
»Irgendwann wird dich schon jemand Mexiko-Stadt: rion Reimers rebellierte dagegen, len, dass ihre Nutzer besser vor Hass-
wegklatschen. Tausende kennen dei- 400 Bot-Accounts outete sich als lesbisch, gründete eine rede und Desinformation geschützt
ne Visage und du wirst definitiv nicht gegen eine Frau Initiative gegen Diskriminierung im sind. Bislang haben sich Twitter, Ins-
verschont. Bitch!« Inzwischen könne Sportjournalismus – und zahlte dafür tagram und Facebook geweigert, von
sie nur noch mit Sicherheitspersonal einen hohen Preis. Nutzern gemeldete Hass-Posts an die
von Protesten berichten. Trotzdem Man habe ihr mit Gruppenverge- Strafverfolgungsbehörden zu über-
werde ihr das Mikro aus der Hand waltigungen gedroht, sagt sie, Fotos mitteln und die Nutzerdaten der Täter
geschlagen, einmal habe ihr ein von toten Frauen und gehäuteten verlässlich an diese herauszugeben.
Demonstrant zwischen die Beine ge- Menschen geschickt und behauptet, Zugleich mangelt es den Behörden
fasst, berichtet sie. sie habe ihre Ex-Freundin geschlagen. weiterhin an digitaler Kompetenz
Ihr Umfeld habe ihr geraten, all das und Personal, um aus eigener Kraft
Marion Reimers, 37, Mexiko nicht so ernst zu nehmen, das sei doch konsequent Straftäter im Netz zu er-
Weltweit gibt es einen Markt für Leu- nur das Internet. »Ja«, sagt Reimers, mitteln. Zudem kooperieren sie zu
te, die Kritikerinnen zum Schweigen »es ist ein Paralleluniversum, aber ich wenig über Ländergrenzen hinweg.
bringen wollen. Eine US-amerikani- bin eine reale Person.« Auch auf nationaler Ebene gibt es
sche NGO zählte im Jahr 2021 ins- Stutzig wurde sie im vergangenen Verbesserungsbedarf. Zwar gilt Hass-
gesamt 87 Trollkampagnen gegen August, beim Spiel Real Madrid rede in vielen europäischen Ländern
Journalistinnen, gut ein Fünftel mehr gegen Eintracht Frankfurt. Wieder als strafbares Verhalten, doch Frauen-
als im Vorjahr. Die Attacken auf Ma- rollte der Hass auf Twitter über sie feindlichkeit falle häufig nicht da­
rion Reimers zeigen, wie Frauen da- hinweg. Dabei kommentierte nicht runter, hält Posettis Studie fest.
durch verunsichert und aus der Öf- sie, sondern eine Kollegin das Spiel. Journalistinnen sind unabdingbar
fentlichkeit verdrängt werden sollen. Sie ließ ihren Account von Exper- für den öffentlichen Diskurs. Ziehen
Reimers ist eine der bekanntesten ten analysieren. Diese fanden heraus, sie sich aus dem Job zurück, schauen
Sportjournalistinnen in Mexiko, eine dass die Angriffe wohl aus Mexikos viel weniger Menschen den Macht-
Pionierin in Lateinamerika. Als erste berüchtigten Bot-Farmen stammten, habern auf die Finger. Jede Journalis-
hispanische Frau kommentierte sie in denen Operateure gegen Honorar tin, die ihren Beruf aus Angst aufgibt,
2019 ein Champions-League-Finale. auch politische Kampagnen betreiben nährt in Kolleginnen den Zweifel:
Sie empfängt in ihrer Penthouse- würden. Zeitweise erschienen rund Warum tue ich mir das noch an?
Wohnung im schicken Viertel Conde- 160 Hass-Tweets pro Minute und ins- Die Drohungen gegen Patricia
sa in Mexiko-Stadt. Zwei Katzen ha- gesamt bis zu 70 000 Kommentare, Devlin in Belfast sind zurückgegan-
ben es sich auf dem Sofa gemütlich unter anderem von rund 400 Bot-Ac- gen, seit sie nicht mehr als Reporterin
gemacht. Sie spricht, als stünde sie counts. Die Experten vermuten, dass arbeitet, sie produziert nun einen In-
vor der Kamera: klare Stimme, per- sie von rund 40 Menschen bedient terviewpodcast mit Ex-Terroristen
fekte Betonung, intensiver Blick. werden und dabei Kosten von meh- und Opfern des Nordirlandkonflikts.
Doch als sie beschreibt, wie die Hass- reren Zehntausend Euro anfallen. Marion Reimers aus Mexiko hat
kommentare ihr zusetzten, verliert Reimers weiß jetzt: Der Hass auf oft darüber nachgedacht, ihren Job
sie für einen Moment die Distanz: sie wird bezahlt. Aber von wem? Ste- aufzugeben. »Aber ich liebe meine
»Ich begann an meiner Kompetenz cken erzkonservative Gruppen da- Arbeit«, sagt sie, »und ich bin wirk-
zu zweifeln«, sagt sie leise, »dabei bin hinter, die einer lesbischen Modera- lich gut darin.« Ihren Twitter-Account
ich ausgebildete Fußballtrainerin.« torin schaden wollen? Ein konkurrie- schaue sie nicht mehr an.
Sobald sie im Fernsehen ein Spiel Die internationale render Sender? Auf diese Fragen hat Nastia Zhvik von der russisch be-
kommentiert, startet der Angriff: Recherche »Story­ sie keine Antwort. setzten Krim steht seit wenigen Wo-
Hunderte Bots beleidigen und diffa- killers« wurde Viele Journalistinnen entscheiden chen auf Platz 508 der »Agenten«-Lis-
mieren sie auf Twitter. Zehntausende ­koordiniert von der sich, über die Attacken zu schweigen. te des russischen Justizministeriums.
Kommentare machen ihren Namen gemeinnützigen Aus Scham, aber auch aus Angst, den Sie ist jetzt offiziell eine Staatsfeindin.
zum Trendthema in Mexiko: Alte ­Investigativredaktion oder die Täter damit noch anzusta- Trotzdem ist sie wieder in ihre Hei-
Hexe, Stinkerin, schaltet sie stumm! Forbidden Stories. cheln. Sie versuchen, die Situation mat zurückgekehrt. »Ich konnte ein-
Der Fußball ist in Lateinamerika allein zu bewältigen, löschen Kom- fach nicht anders«, sagt sie.
noch immer der Rückzugsort des Pa- mentare, blocken Accounts. Viele Nicola Abé, Maria Christoph,
triarchats. Eine Frau hat sich anzu- ziehen sich dauerhaft aus den sozia- Christina Hebel, Antje Windmann  n

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DEUTSCHLAND

Rolf Vennenbernd / picture alliance / dpa


Täglich grüßt das Murmeltier? Auf solche Gewissheiten mussten die Karnevalisten wegen der Coronapandemie lange verzichten, 2021 und 2022
fielen die Umzüge weitgehend aus. Umso ausgelassener feierten die Fans der fünften Jahreszeit am Donnerstag den Beginn des Straßenkarnevals,
hier auf der Domplatte in Köln. Beruhigend für Traditionalisten: Auch der Scheich scheint immer noch eine akzeptierte Verkleidung zu sein.

Geld im Schließfach
NACHRICHTENDIENSTE  Ermittler finden sechsstellige Summe beim mutmaßlichen BND-Spion.

D er Fall eines mutmaßlichen Spions beim Bundesnachrichten-


dienst (BND) ist brisanter als bisher bekannt. So hat der
­russische Geheimdienst FSB nach SPIEGEL -Informationen
im vergangenen Herbst versucht, über den mittlerweile festgenom-
ländegewinne gelungen – auch dank der Raketenwerfer. General-
bundesanwalt Peter Frank ermittelt gegen L. und E. wegen des Ver-
dachts auf Landesverrat. Beide sitzen in Untersuchungshaft. E. soll
bei zwei Treffen in Moskau geheimes Material des BND an den FSB
menen BND-Mitarbeiter Carsten L. Positionsdaten von Artillerie- übergeben haben, das L. bei seinem Arbeitgeber beschafft hatte.
und Flugabwehrstellungen der ukrainischen Armee zu beschaffen. Die russische Seite hat die mutmaßliche Spionage womöglich
Den Ermittlungen zufolge beauftragte der FSB den BND-Agenten fürstlich entlohnt. So fanden die Ermittler in einem Schließfach
über den Mittelsmann Arthur E., beim BND möglichst exakte GPS- von Carsten L. in Umschlägen eine sechsstellige Bargeldsumme.
Daten der von den USA gelieferten Mehrfachraketenwerfer vom Typ E. soll diese Umschläge vom FSB entgegenge­nommen und L.
Himars und des von Berlin gelieferten Luftabwehrsystems Iris-T ab- übergeben haben. Beim BND geht man davon aus, dass der FSB
zuschöpfen und zu übergeben. Mit dem Fall vertraute Personen sa- L. langfristig an sich binden wollte. L.s Verteidiger Marvin Schroth
gen, es sei eher unwahrscheinlich, dass solche Daten weitergereicht wollte sich auf Anfrage nicht äußern, E.s Anwalt ließ eine Anfrage
wurden. Der mutmaßliche Auftrag spiegelt die Situation an der Front unbeantwortet. Bundesanwaltschaft und BND lehnten einen Kom-
wider. Im Herbst waren der ukrainischen Armee spektakuläre Ge- mentar ab. FIS, KNO, MBA, MGB, ROL

20 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


Ende für Nebenjobs »Korruption ist, wenn das
DIE GEGENDARSTELLUNG
Allgemeinwohl von privaten

Gangsterparadies
KORRUPTION Raphaël Glucks- Interessen gekauft wird«, er-
mann, Chef des Sonderaus- läutert Glucksmann. »In unse-

Berlin
schusses für ausländische Ein- rem Parlament ist das struktu-
flussnahme im EU-Parlament, rell legal.« Das Mandat des von
fordert nach dem Skandal um Glucksmann geleiteten »ING2«-
Beeinflussungen durch Katar Sonderausschusses, der seit
und Marokko scharfe Maßnah- fast einem Jahr existiert, wurde Von Alexander Neubacher Die Justizsenatorin Lena
men – darunter ein weitgehen- diese Woche erweitert. Das Kreck, sie ist von den Linken,
des Verbot von Nebeneinkünf-
ten. »Neben ihrem Mandat
sollten Abgeordnete generell
keinen bezahlten Job bei Privat-
Gremium soll nun auch Lücken
bei Transparenz, Integrität
und Korruptionsbekämpfung
identifizieren und Reformen
A m vergangenen Sams-
tagmittag ging der Ber-
liner Schwerkriminelle
Muhamed Remo, 32, Spitz-
wiederum sagt, ihr seien in
einem solchen Fall die Hände
gebunden. Eine Priorisierung,
um Remo auf der Warteliste
unternehmen oder anderen vorschlagen. Den Skandal sieht name »Grizzly«, durch die fürs Krankenhaus nach oben
interessengeleiteten Stellen ha- Glucksmann als Chance für Sicherheitskontrolle am Flug- zu setzen, sei nicht erfolgt.
ben«, sagt der französische So- Veränderungen – »weil jetzt hafen BER und setzte sich in Und ohne SPIEGEL TV hätte
zialdemokrat. Es sei »verrückt«, öffentlicher Druck besteht«. eine Maschine Richtung Tür- wohl noch nicht mal die Ber-
dass Parlamentarier sich etwa Der Ausschuss werde voraus- kei. Dort tauchte er in einem liner Polizei erfahren, dass
von Energiefirmen bezahlen sichtlich Ende März seinen Be- Instagram-Video wieder auf. Remo frei herumläuft.
ließen und dann über Energie- richt vorlegen, das Plenum wer- Eigentlich wurde Remo, Nun fragt man sich: Wenn
gesetze abstimmen könnten. de wohl im Juli abstimmen. MBE Sproß eines einschlägig be- ein Mann durch die Welt rei-
kannten Clans, 2021 und 2022 sen kann, bis ein Therapie-
zu insgesamt mehr als acht platz frei wird – warum kann
Realos wollen konsequente Rückführung von Jahren Freiheitsstrafe ver- er nicht auch im Gefängnis
Geflüchteten in ihre Heimat, urteilt. Er hatte mit Kompli- warten? Zumal Remo für sei-
Zuwanderung steuern sobald sich dies verantworten zen einen Geldtransporter
GRÜNE Eine neu formierte lässt oder sie selbst es wollen«, überfallen. Die Urteile laute- Die Fortsetzung von
Gruppe innerhalb der Grünen so heißt es dort. Vonnöten seien ten auf besonders schweren
spricht sich für einen Kurswech- ein Einwanderungsgesetz für Raub, gefährliche Körperver-
Rot-Grün-Rot
sel in der Flüchtlingspolitik aus. Wirtschaftsmigranten, aber letzung sowie Drogenhandel würde in Verbrecher-
Sie nennt sich »Vert Realos«, auch »verpflichtende Aufent- in nicht geringer Menge. kreisen sicher
eines der prominentesten Mit-
glieder ist der Tübinger Ober-
haltszonen« für Geflüchtete so-
wohl an den Grenzen als auch
Doch die in Berlin verant-
wortliche Behördenchefin hat
freudig begrüßt.
bürgermeister Boris Palmer. Ihr außerhalb der Europäischen im Fall versagt. Also spazierte ne Mitmenschen nicht unge-
siebenseitiges »Memorandum Union. Asylbewerber ohne Remo vor einigen Tagen fährlich zu sein scheint.
für eine andere Migrationspoli- Papiere müssten zurückgewie- unbehelligt aus der Justizvoll- Aber nein: Solches gilt
tik in Deutschland« haben meh- sen werden oder »bis zur Klä- zugsanstalt Moabit und darf im Rechtsstaat als unzumut-
rere Dutzend Politikerinnen rung ihrer Identität in einer verreisen, wohin er will. bar, übrigens in ganz Deutsch-
und Politiker unterzeichnet, da- staatlichen Aufnahmeeinrich- Meine Kollegen von SPIEGEL land. Um das zu ändern,
runter der bayerische Landrat tung verbleiben«. Ein Aufent- TV haben den staunenswerten müsste auf Bundesebene der
Jens Marco Scherf oder Rebec- haltsrecht setze voraus, dass Vorgang in dieser Woche auf- Maßregelvollzug reformiert
ca Harms, einst Fraktionsvor- Geflüchtete sich »in die gesell- gedeckt. Er zeigt, warum eine werden.
sitzende im EU-Parlament. Es schaftliche Ordnung« einfügten Fortsetzung der Landeskoali- Remos Anwalt hat meinen
fehle ein »Konzept für eine ge- und Grundwerte wie religiöse tion aus SPD, Grünen und Kollegen gesagt, sein Man-
lungene Integration oder die Toleranz akzeptierten. KEK Linken wohl nirgends so freu- dant werde zurück nach
dig begrüßt würde wie in Deutschland kommen, sobald
Gangsterkreisen. Berlin, ein ihm ein Therapieplatz zur
Paradies für Gesetzesbrecher. Verfügung stehe. Ehrenwort.
Nachgezählt Im Fall Muhamed Remo Das kann man glauben oder
hätte die grüne Gesundheits- nicht. Bis dahin kann sich
Studierende je Wohnheimplatz in senatorin Ulrike Gote dafür Remo ein schönes Leben ma-
deutschen Hochschulorten 2022*,
Auswahl sorgen müssen, dass der Ver- chen. Wo die Beute aus dem
Garching brecher einen Platz in einer Geldtransporter abgeblieben
bei München Meschede
726 geschlossenen Entzugsklinik ist, ist bis heute unbekannt.
Berlin 90
bekommt, um seine Kokain- Sinnvoll wäre eine Drogen-
19
sucht zu therapieren. Leider therapie allemal, gerade mit
hatte sie kein Bett frei. Das Blick auf künftige Straftaten.
Krankenhaus für den soge- Es waren DNA-Spuren aus
Hamburg
13 239.463 nannten Maßregelvollzug ist
überbelegt, was Gote schon
der triefenden Koksnase, die
Remo beim Überfall verraten
Wohnheimplätze
gab es in oft beklagt hat, ohne mit haben.
Deutschland Neuen- einem schnell wirksamen Lö- Zu blöd, wenn ihm das
München für 2.516.129 Marburg Leipzig Heidelberg dettelsau
12 Studierende. 9 8 4 1 sungsvorschlag aufzuwarten. noch mal passierte.

ohne Fernuni Hagen, Bundeswehr-Hochschulen, Verwaltungsfachhochschulen der Länder und


An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
ohne berufsbegleitend Studierende; inkl. private Hochschulen mit staatlicher Zuständigkeit Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quelle: BMBF/Deutsches Studentenwerk; * Wintersemester 2021/22
ƒ

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 21


CHAPPATTES WELT Jusos gehen auf
Heil los
ARBEITSMARKTPOLITIK  Bun­
desarbeitsminister Hubertus
Heil (SPD) stößt mit seinen Plä­
nen für eine Ausbildungsgaran­
tie auf massiven Widerstand
beim eigenen Parteinachwuchs.
Der Gesetzentwurf des Minis­
ters habe mit der Garantie, wie
sie im Koalitionsvertrag der
Berliner Ampelparteien verein­
bart wurde, »nichts zu tun und
greift viel zu kurz«, kritisiert
­Juso-Chefin Jessica Rosenthal.
In dem Entwurf, der derzeit
in der Bundesregierung abge­
stimmt wird, ist kein gesetzli­
cher Anspruch auf einen Ausbil­
dungsplatz vorgesehen. Dabei
steigt die Zahl junger Menschen
ohne Ausbildung, eine Entwick­
lung, die die Jusos beunruhigt.
»2,3 Millionen haben keine
­abgeschlossene Berufsausbil­
dung, mehr als 200 000 junge
Menschen sind im Übergangs­
system geparkt, und mehr als
600 000 junge Menschen sind
Mehr Geld für Waffen Euro steigen. Aus dem Topf be­ werden. Hierfür könnten mehr gerade weder in der Schule
zahlt die Bundes­regierung einen als 200 Millionen Euro fällig noch im Beruf oder einer Aus­
HAUSHALT  Das Haus von Ver­ Großteil der Waffenlieferungen, werden. Das Finanzressort re­ bildung«, erklärt Rosenthal.
teidigungsminister Boris Pisto­ aber auch die Nachbeschaffung agierte reserviert auf die neue »Wir haben ein eklatantes Pro­
rius (SPD) fordert, die Mittel für von Systemen, die aus Bestän­ Forderung. Aus Sicht der Beam­ blem und fordern dafür eine
Waffenlieferungen an die Ukrai­ den der Bundeswehr abgegeben ten von Minister Christian Lind­ umfassende Antwort«, sagt die
ne deutlich aufzustocken. Bei werden. So etwa die für den ner (FDP) soll die Bundeswehr Juso-Chefin. Wer den Fach­
Gesprächen mit dem Finanzmi­ Sommer angepeilte Lieferung zunächst prüfen, ob man einzel­ kräftemangel bekämpfen wolle,
nisterium meldeten die Planer von 300 000 Schuss Munition ne Posten nicht aus dem Sonder­ müsse Jugendlichen eine Aus­
aus dem Wehrressort noch für für den Flugabwehrpanzer Ge­ vermögen von 100 Milliarden bildung zusichern, so Rosen­
den laufenden Haushalt einen pard, die mit einer niedrigen Euro stemmen kann, das Kanz­ thal. Die Jusos fordern von Ar­
akuten Mehrbedarf an. So dreistelligen Millionensumme ler Olaf Scholz (SPD) bereitge­ beitsminister Heil »ein echtes
­müsse der sogenannte Ertüch­ zu Buche schlägt. Daneben soll stellt hat. Im Kanzleramt indes Garantie-Gesetz«, das jungen
tigungstitel im Einzelplan 60 auch die Nachbeschaffung für wird die Idee aus dem Wehrres­ Menschen einen Rechtsan­
schon 2023 von bisher rund 14 Leopard-2-Panzer aus dem sort unterstützt, den Haushalts­ spruch auf einen Ausbildungs­
zwei auf knapp sechs Milliarden »Ertüchtigungstitel« finanziert titel aufzustocken. MGB, REI platz zusichern müsse. CTE

Hängepartie restaurieren. Wie lange das dau­ Überlastete Gerichte vakant. »Allein in meiner Kam­
ert, ist unklar. Es sei eine »nähe­ mer warten etwa 200 Beru­
GESCHICHTSPOLITIK  Das Aus­ re Begutachtung« erforderlich, JUSTIZ  In Sachsen führen un­ fungs- und Beschwerdeverfah­
wärtige Amt (AA) tut sich teilt das Amt mit. Über eine besetzte Richterstellen zu ren, normal sind um die 80«,
schwer mit seinem umstrittenen Anschlussverwendung ist noch ­massiven Verzögerungen: Am sagt Richter Heuwerth. Die
Porträt des ehemaligen Reichs­ nicht entschieden. Im Bonner Sächsischen Landesarbeits­ Laufzeiten betrügen inzwischen
kanzlers Otto von Bismarck. Dienstsitz hängt derzeit eine gericht in Chemnitz bearbeiten etwa anderthalb Jahre, er selbst
Das Ölgemälde hing im »Bis­ Kopie des Porträts, die womög­ derzeit lediglich zwei von neun kümmere sich noch um Kün­
marck-Zimmer« in der AA-Zen­ lich durch das Original ersetzt Kammern neu eingehende Ver­ digungen aus dem Jahr 2020.
trale in Berlin. Es stammt von wird. In Berlin musste Bismarck fahren. Jeden Monat kämen Es gebe jedoch Hoffnung: Der
Franz von Lenbach, Bismarcks drei unverfänglichen Architek­ in einigen Kammern doppelt so erkrankte Kollege werde bald
Hausmaler. Als auf Betreiben turaufnahmen weichen. Sie zei­ viele Fälle dazu, wie man be­ zurückkehren, es liefen zwei
von Staatssekretär Andreas Mi­ gen den Bonner Dienstsitz (bis arbeiten könne, sagt Gerichts­ Besetzungsverfahren. Den ge­
chaelis der Raum im November 1999 AA-Zentrale), das DDR- sprecher Frank Heuwerth. »Das setzlichen Beschleunigungs­
in »Saal der Deutschen Einheit« Außenministerium in Ost-Berlin ist eine Katastrophe.« Drei grundsatz kann das Gericht laut
umbenannt wurde, hängte man sowie die aktuelle AA-Zentrale. Kammern sind dauerhaft unbe­ Heuwerth dennoch nicht er­
das Gemälde ab – eine Debatte Eine Aufnahme stammt von setzt, der Vorsitzende von zwei füllen: »Bis hier alles wieder
folgte (SPIEGEL 52/2022). Nun dem Fotografen Peter Bialo­ weiteren Kammern ist seit normal funktioniert, werden auf
hat eine Kunstsachverständige brzeski, die anderen sind unbe­ einem Jahr krank, die Stelle des jeden Fall noch bis zu zwei Jah­
des AA empfohlen, das Werk zu kannter Herkunft. KLW Vizepräsidenten seit Längerem re vergehen.« HAS, MXW

22 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


»Aufgeklärter blick auf die Zahlen würde ich
sagen, dass der gemäßigte Weg
Absolutismus« von Nordrhein-Westfalen er­
Oliver Lepsius, 59, Professor für folgreicher war. Dennoch hatte
Öffentliches Recht und Verfas- das Team Vorsicht die Debat­
sungstheorie an der Universität tenhoheit, und diesem Tenor
Münster, über Freiheitsein- folgend hat die Bundeskanzle­
schränkungen unter Corona rin ja auch den Prozess an sich
gezogen. Zusammen mit der
SPIEGEL: Herr Professor Lep­ eher punktuellen wissenschaft­
sius, im Rückblick auf drei Jahre lichen Beratung führte das zu

Stefan Boness / DER SPIEGEL


Pandemiepolitik haben jüngst einem Regierungsstil, der Züge
Christian Drosten und Karl eines aufgeklärten Absolutis­
Lauterbach manche Corona­ mus trug. So wurden übergriffi­
maßnahmen als überzogen be­ ge Entscheidungen privilegiert.
zeichnet, etwa die langen Schul­ SPIEGEL: Wo war der Staat
schließungen. Was bringen übergriffig?
­solche Äußerungen jetzt noch? Lepsius: Es gab eine Unwucht

»Biblische Texte und


Lepsius: Die Aufarbeitung ist zulasten der Freiheit. Einige Co­
wichtig. Allerdings sollte es im rona-Verordnungen schrieben

das eigene Leben«


Nachhinein nicht darum gehen, zum Beispiel weiträumig das
wer wann was in virologischer Tragen von Masken im Außen­
Hinsicht wissen konnte. Viel­ bereich vor, auch beim Joggen
mehr sollten die sozialen Ver­ im Park, weil man sich angeb­
DIE AUGENZEUGIN  Die evangelische Kirche sucht
werfungen im Blickpunkt ste­ lich im Vorbeilaufen hätte infi­
hen mit dem Ziel, künftig Fehler zieren können. In der Begrün­ Theologen. Die Ingenieurin für Landschaftsarchitek-
zu vermeiden, die diese Verwer­ dung ersetzte eine Möglichkeit tur Ortrun Bertelsmann, 49, schult zur Pastorin um.
fungen verursacht haben. Wir die nötige Wahrscheinlichkeit.
behandelten die Pandemie als Da war manches unverhältnis­ »Ich hätte nicht gedacht, dass Semester, ich bin im dritten.
Gesundheitsgefahr. Sie ist aber mäßig, ebenso wie bei Aus­ man 30 Jahre nach dem Abi­ Die Voraussetzungen sind
auch ein soziales Geschehen. gangsbeschränkungen und Vor­ tur noch Prüfungsangst haben fünf Jahre Berufserfahrung
SPIEGEL: Wie fällt Ihre Fehler­ gaben für Demonstrationen. kann. Jetzt weiß ich: Man und ein akademischer Ab­
analyse aus? SPIEGEL: Es gab zig Klagen kann. schluss.
Lepsius: Die deutsche Corona­ gegen Coronamaßnahmen. Ich habe Landschaftsarchi­ In meinem Kurs sind
politik krankte unter einem ­Warum haben die Gerichte tektur studiert und arbeite ­Ingenieur*innen, Betriebs­
Mangel an Empirie und Prag­ nicht eingegriffen? als Sachbearbeiterin in einer wirt*innen, ein Philosoph.
matismus. Man hätte die jewei­ Lepsius: Die Richter waren auch Unteren Naturschutzbehörde Der Jüngste ist 31 Jahre alt,
ligen Maßnahmen passgenauer nicht mutiger oder schlauer als in Beeskow, Brandenburg. Ein die Älteste in Rente. Die
ausprobieren, bewerten und die breite Öffentlichkeit. Aber Bürojob. Irgendwann fragte ­Vorlesungen wechseln zwi­
je nach Erkenntnis wieder ab­ ich betrachte es als Versagen ich mich: Willst du das wirk­ schen Präsenzblöcken und
schaffen können. Sodann war meiner Zunft, dass in der Abwä­ lich bis zu deiner Rente tun? ­digitalen Formaten.
die wissenschaftliche Beratung, gung die Grundrechte zurück­ Mit 49 Jahren noch einmal Die Inhalte ähneln denen
im Gegensatz zu anderen Län­ traten. Ein häufiges Argument etwas völlig Neues zu machen eines normalen Theologiestu­
dern, sehr auf die gesundheitli­ war, dass die Maßnahmen be­ erfordert Mut. Um es etwas diums, nur komprimiert. Nach
chen und medizinischen Aspek­ fristet seien. Aber man hat sie pathetisch zu sagen: Man Althebräisch und -griechisch
te begrenzt. Die Politik richtete immer wieder verlängert, so­ muss bereit sein zu leiden. arbeite ich wissenschaftlich
sich dabei stark nach Modell­ dass wir faktisch eine gesund­ Manchmal wünschte ich, mit der Bibel und denke viel
annahmen über den Verlauf. heitspolitische Parallelrechts­ mein Tag hätte mehr als 24 über ethische Fragen nach.
SPIEGEL: Was kam zu kurz? ordnung hatten. Stunden. Ich studiere berufs­ Theologische Vorerfahrung
Lepsius: Welche psychologischen SPIEGEL: Wie kam es, dass der begleitend, arbeite 30 Stun­ ist nicht wichtig, wichtiger
und gesellschaftlichen Folgen es Begriff Freiheit hauptsächlich den pro Woche. In extremen ist Lebenserfahrung. Ich bin
hat, wenn man Menschen durch von Coronaleugnern und Quer­ Phasen bin ich um 4.30 Uhr christlich aufgewachsen und
Kontaktbeschränkungen zwangs­ denkern besetzt wurde? aufgestanden, habe gelernt, freue mich darauf, Gottes­
weise aus ihrem Umfeld heraus­ Lepsius: Darüber bin ich noch bin zur Arbeit gefahren, nur, dienste so zu gestalten, dass
löst, blieb lange zweitrangig. immer entsetzt. Offensichtlich um abends weiterzulernen. Menschen eine neue Verbin­
Hinzu kam ein Diskurs, auch in schätzt unsere Gesellschaft Frei­ Die Zahl der Theologinnen dung zwischen den alten bibli­
den Leitmedien, der einen föde­ heit zu wenig und ist im Zweifel und Theologen im Dienst der schen Texten und ihrem eige­
ralen Wettbewerb der geeigneten bereit, einem bevormundenden Kirche sinkt, viele Stellen sind nen Leben herstellen können.
Maßnahmen als unverantwort­ Regierungsstil zu folgen. FRI vakant. Zusammen mit Hoch­ Meine Familie findet es
lich stigmatisierte – Stichwort schulen hat die Kirche 2018 toll, dass ich diesen Schritt ge­
Flickenteppich – und nach ein­ eine Studien- und Prüfungs­ gangen bin. Mein Sohn stu­
heitlichen Regeln verlangte. ordnung für den Quereinstieg diert Geschichte. Wenn er in
SPIEGEL: Was ist daran falsch? in das Pfarramt vereinbart. der Uni erzählt, dass seine
Lepsius: Es gab in der Anfangs­ Der Studiengang wird auch Mutter gerade eine Prüfung in
ANP / picture alliance

phase der Pandemie konkurrie­ in Wuppertal angeboten. Ich Altgriechisch geschrieben hat,
rende Konzepte der Bundeslän­ wurde genommen. Das Stu­ dann horchen die Leute auf.«
der, etwa zwischen Bayern und dium dauert in der Regel sechs Aufgezeichnet von David Holzapfel
Nordrhein-Westfalen. Im Rück­

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 23


DEUTSCHLAND

Axel Heimken / REUTERS


Regierungschef Scholz vor Gepard-Panzer: Für den Kanzler zählt, was er sagt, nicht, wie er es sagt

Leisetreter gegen Lautsprecherin


BUNDESREGIERUNG  Ein Jahr Krieg in der Ukraine, ein Jahr Streit zwischen Kanzler
und Außenministerin um die richtige Politik. Scholz und Baer­bock haben inhaltliche Differenzen auf
vielen Feldern. Mehr noch trennen sie ihre Charaktere.

D
ie Regierungsmaschine überfliegt das ferenz. Ein bemerkenswerter Reisetipp, der Ukraine, und vom ersten Tag an war ­zwischen
Kaspische Meer, da ergreift die Minis- Baer­bock viel Beachtung in den Medien ein- Scholz und Baer­bock umstritten, mit welchen
terin das Bordmikrofon. Annalena bringt. Und den Ärger des Kanzlers. Waffen man den Angegriffenen helfen solle.
Baer­bock kehrt von einer viertägigen Zentral- Sie macht das gern so, kleine Spitzen gegen Auch über die nationale Sicherheitsstrate-
asienreise zurück, auf dem Programm standen Scholz. Als Baer­bock jüngst von Karnevalis- gie oder die Chinapolitik können sich Kanz-
Außentermine, bei strömendem Regen und ten in Aachen der »Orden wider den tieri- leramt und Außenministerium nicht einig
in tiefem Matsch. Nächstes Mal mögen die schen Ernst« verliehen wurde, sagte sie in werden, zum Schaden des Landes. Es geht
Mitreisenden doch »bitte, bitte alle Regen- ihrer Rede, dass sie die Idee verworfen habe, um Machtfragen, um inhaltliche Differenzen,
jacken mitbringen«, rät Baer­bock. Ein »Reise- im Leopardenkostüm zu kommen – eine An- die größten Differenzen jedoch liegen in den
tipp« sei das, der aber hoffentlich nicht wieder spielung auf den Streit um den deutschen Charakteren der beiden begründet.
»in der Zeitung stehen« werde. Kampfpanzer. »Ich hatte doch etwas Sorgen, Scholz und Baer­bock, gegensätzlicher kön-
Es ist der 2. November 2022, tags darauf dass mir das Kanzleramt wochenlang keine nen zwei Politiker kaum sein. Zum Beispiel
soll Kanzler Olaf Scholz zu seiner umstrittenen Reisegenehmigung erteilt.« Spontaneität: Wie reagieren die beiden auf
Reise nach China aufbrechen. Baer­bock hat in Scholz wird wenig amüsiert gewesen sein, eine unerwartete Situation?
Usbekistan ihr Missfallen an der Kanzlerreise als er das gelesen hat. Kanzler und Außenmi- Baer­bock: Beim Besuch auf dem Friedhof
deutlich gemacht und Scholz Ratschläge erteilt. nisterin, zwei der wichtigsten Politiker des Lan- der Warschauer Aufständischen erfährt sie,
Der Kanzler müsse in Peking die gemeinsamen des, zumal in Zeiten des Krieges, können nicht es fehlten noch 200 000 Euro für die neue
Botschaften der Bundesregierung übermitteln, miteinander. Auch deshalb gibt die Bundes- Dauerausstellung. Die Außenministerin ent-
fordert die Außen­ministerin. Auf internatio- republik derzeit kein gutes Bild in der Welt ab. scheidet spontan und ohne die übliche Rück-
naler Bühne. Öffentlich. Bei einer Pressekon- Vor einem Jahr überfiel Wladimir Putin die sprache mit den Fachleuten, dass die Bundes-

24 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


STAR PRESS
DEUTSCHLAND

Ministerin Baer­bock im Narrenkäfig bei Verleihung des »Ordens wider den tierischen Ernst«: Sie vertraut auf die Wirkung ihrer Authentizität

regierung die Kosten übernimmt, und ver- Frommen. Sie ist mehr als eine Visagistin, fast Aber sich das Unübliche gönnen – so weit
kündet das sofort den mitreisenden Journa- so etwas wie ein Coach, der die Außenminis- würde Scholz nicht gehen. Nur nicht auffallen.
listinnen und Journalisten. terin vor Auftritten in die richtige Balance Jedenfalls nicht äußerlich.
Scholz: Bei einer gemeinsamen Pressekon- bringt. Auf dem Rückflug von Nigeria, der Scholz setzt allein auf Worte. Besser: auf
ferenz in Brasilia schlägt der brasilianische letzten Reise vor Weihnachten, dankte Baer­ Inhalte. Für ihn zählt, was er sagt, nicht, wie er
Präsident Luiz Inácio Lula da Silva vor, auf bock »meiner lieben Claude Frommen« über es sagt. Und das ist ein Problem. Er spricht viel,
die üblichen vorgefertigten Statements zu ver- den Bordlautsprecher dafür, »dass immer wie- ob das im Bundestag ist, in Interviews oder
zichten und direkt die Fragen der Journalisten der schöne Bilder entstehen«. Bürgergesprächen. Aber es scheint wenig an-
zu beantworten. Scholz schaut erst verdutzt Fotos, auf denen sie ungeschminkt ist, ver- zukommen, das Vertrauen in seine Politik ist
drein, dann leicht amüsiert ob dieser Verwe- sucht ihr Presseteam zu verhindern. Als ihr in den vergangenen Monaten stark gesunken.
genheit des Kollegen. Danach leiert er, anders Flugzeug im Juni vergangenen Jahres auf dem Seine Nüchternheit wird zum Nachteil,
als Lula, sein Statement runter. Weg nach Pakistan einen nächtlichen Tank- wenn es darum geht, Menschen überzeugen
Baer­bock wirkt frischer als der Kanzler. stopp auf Zypern einlegen musste, wurde Baer­ zu müssen, sie für eine Sache einzunehmen.
Zwar versucht sie oft, ihre Spontaneität zu bock samt Delegation mit einem Flughafenbus Als er im April 2022 in London zu Besuch beim
bekämpfen und ihre öffentliche Kommunika- zu einem Terminal gebracht. Es war einer der damaligen Premier Boris Johnson war, redeten
tion strenger zu kontrollieren. Aber sie ver- wenigen Momente, in denen die mitreisenden beide über Waffenlieferungen. In der Substanz
traut auf die Wirkung ihrer Authentizität, und Journalisten sie ohne Make-up und in Jeans unterschieden sie sich nicht. Aber Johnson
dazu zählt ihr emotionaler Überschwang. Den erlebten. Als ein Fotograf einen Schnappschuss sprach so leidenschaftlich über das Engage-
gibt es bei Scholz nicht; und wenn doch, dann machen wollte, schritt ihr Sprecher ein. ment für die Ukraine, dass man glauben konn-
hinter verschlossenen Türen. Nach außen ist Scholz dagegen: blauer Anzug, grauer An- te, er werde die halbe britische Armee an die
Scholz immer der kontrollierte Scholz. zug, im Prinzip sieht er immer gleich aus und Front schicken. Scholz wirkte, als wollte er mit
Anders als der Kanzler muss Baer­bock so wie alle anderen Politiker. In Brasilien lob- dem Krieg lieber nichts zu tun haben.
ihren impulsiven Charakter im Griff behalten. te er den Hut eines Begleiters. Es sei leider Baer­bock dagegen spricht empathisch,
Auch aus dem verunglückten Wahlkampf als nicht mehr üblich, Hüte zu tragen, sagte er. auch über ihre Gefühle angesichts der Gräuel,
Kanzlerkandidatin wissen sie und ihre Leute, die Menschen anderen Menschen antun. Die-
dass man besser nichts dem Zufall überlässt. se Nahbarkeit und Empathie wird von vielen
Das beginnt bei der Inszenierung ihrer Bil- im Auswärtigen Amt gelobt. Sie ist auch auf
der. Ob am Strand von Palau, mit Frauen in den Reisen zu spüren, wenn sie mit Flücht-
Niger oder in der Uno-Generalversammlung – »Wir kämpfen einen Krieg lingen oder Kindern spricht. In ihren Reden
stets trägt sie Kleidung, die zum Anlass passt: gegen Russland und und Besuchen rückt sie Einzelschicksale ins
mal buntes Kleid, mal schwarzen Hosenanzug, Zentrum. Beim Besuch der Gedenkstätte in
mal mit Absätzen, mal barfuß. Ständig an nicht gegeneinander.« Warschau sprach sie mit einer Überlebenden
ihrer Seite: die Make-up-Spezialistin Claude Annalena Baer­bock des Aufstands gegen die deutschen Besatzer

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DEUTSCHLAND

1944. »Da stockt mir der Atem«, sagte Baer­ die Unterschiede, zu groß ist die Rivalität. Zu Polen auf der einen und dem westwärts orien­
bock zu der alten Frau. groß auch das Misstrauen. tierten Kanzler auf der anderen Seite. Scholz
Scholz greift meistens auf eines von drei Es sei keineswegs so, dass sie nicht mehr und sie sind in Osteuropa bekannte Gesichter.
Wörtern zurück, wenn er Gefühle ausdrücken miteinander redeten, heißt es aus Baer­bocks Beliebt ist nur Baer­bock.
will: berührt, betroffen, bewegt. Das Mahn­ Umfeld. Beider Job erfordere den häufigen Seit den Euromaidan-Protesten in der
mal für die Diktaturopfer in Buenos Aires hat Austausch, ob bei persönlichen Treffen, am ­Ukraine ab Ende 2013 haben die Grünen die
ihn »bewegt«. Die Bahnverbindungen argen­ Telefon oder per SMS. Ein Arbeitsverhältnis, Demokratiebestrebungen dort zu ihrer Sache
tinischer Häfen ins Hinterland haben ihn »be­ auf das Nötigste reduziert. gemacht. Putin steht für sie seit Langem für
rührt«, irgendwie wegen Hamburg, wo er mal Schade. Eigentlich könnten sie sich gut er­ alles, was die Grünen verachten: Militaris­
Bürgermeister war. Er klingt immer gleich, auch gänzen, könnten die deutsche Außenpolitik mus, Repression, Homophobie.
wenn es um unterschiedliche Sachen geht. auf ihre grundverschiedenen Weisen gestalten In einem »FAZ«-Interview fordert Baer­
Als Scholz kürzlich in einer Runde von und vertreten. Aber so ist es nicht. Dafür lie­ bock im September 2022, die Bundesregie­
SPD-Abgeordneten über den Krieg und die gen sie auch inhaltlich oft zu weit auseinander. rung solle die Panzerfrage endlich entschei­
Waffenlieferungen sprach, war er für manche Zum Beispiel die Waffenlieferungen an die den. Ein Affront gegen Scholz. Kurz danach,
im Saal kaum zu verstehen. Ob er bitte etwas Ukraine. Vom ersten Kriegstag an gingen so berichtete es die »Zeit« kürzlich, soll der
lauter sprechen könne, bat dem Vernehmen Scholz und Baer­bock bei der Frage, wie vie­ Kanzler seine Ministerin zu einem ernsten
nach eine der Anwesenden. le und welche tödlichen Waffen Deutschland Gespräch eingeladen haben. Unter vier Au­
Er könne gar nicht laut sprechen, soll der an Kiew abgeben soll, unterschiedliche Wege. gen habe er ein Ende ihrer öffentlichen Inter­
Kanzler erwidert haben. Ein Leisetreter im Scholz wollte den Kampfpanzer Leopard nur ventionen in der Panzerfrage angemahnt. In
Kanzleramt. Und eine Lautsprecherin im an die Ukraine liefern, wenn die Amerikaner den Wochen danach bleibt Baer­bock leise und
Außenministerium. parallel ihren Abrams schicken. Er nimmt wartet ab, was der Kanzler macht.
Baer­bocks Auftritte gehen mitunter schief, ­Putins Atomdrohungen ernst und will die Parallel versucht sie auf diskrete Weise, die
wenn sie kein Redemanuskript hat und spon­ Atommacht USA eng an seiner Seite haben, deutsche Panzerwende herbeizuführen. In
tan auf Fragen antwortet – sei es bei Presse­ damit sich Putin nicht Deutschland als Kriegs­ Telefonaten mit ihrem US-Kollegen Antony
konferenzen oder wie neulich im Europarat. gegner herauspicken kann. Blinken bemüht sie sich, Washington zur Ab­
Eine Stunde lang stand sie Rede und Antwort, Typisch Scholz: sich absichern, alles ein­ gabe von Schützen- und Kampfpanzern zu
auf Englisch. Auf die kritische Frage eines Bri­ kalkulieren, deutsche Interessen obenan stel­ bewegen. Sie setzt darauf, dass das Signal aus
ten entgegnete sie: »Wir kämpfen einen Krieg len, Emotionen raushalten, viel verhandeln, Washington einen Dominoeffekt auslösen
gegen Russland und nicht gegeneinander.« aber wenig nach außen kommunizieren. könnte, der am Ende in Berlin Wirkung zeigt.
Dabei legt die Bundesregierung bei ihrer Hil­ Baer­bock dagegen: Der bedrängten U­ kraine Ein Spiel über Bande. Auch ein Ausweis
fe für die Ukraine Wert auf die Feststellung, muss geholfen werden! von Illoyalität? Im Gegenteil, heißt es aus
Deutschland sei keine Konfliktpartei. Ihre Das hat mit ihrer persönlichen Geschich­ Baer­bocks Umfeld: Der Kanzler habe ja kei­
Presseleute mussten das Zitat zurechtrücken. te zu tun. Ihr außenpolitisches Erweckungs­ nen Alleingang gewollt, sie auch nicht, daher
Scholz, auf den Fauxpas seiner Außenmi­ erlebnis hatte Baer­bock in der Nacht zum habe sie versucht, die USA ins Boot zu holen.
nisterin angesprochen, schaute so ausdrucks­ 1. Mai 2004. Die damals 23-Jährige stand auf Im Januar gibt Baer­bock während eines
los, wie man nur ausdruckslos schauen kann. der Frankfurter Oderbrücke, als Polen und Festakts zum 60. Jubiläum des Élysée-Vertrags
Damit war alles ausgedrückt. sieben weitere mittel- und osteuropäische in Paris ein TV-Interview. Darin macht sie klar,
Öffentlich entfährt Scholz nie ein böses Staaten zu Feuerwerk und Europahymne dass Berlin den Polen gestatten soll, einen Teil
Wort über Baer­bock. Allerdings fällt auf, wie der EU beitraten. »Ein ganz besonderer ihrer Leopard-Panzer in die Ukraine zu schi­
selten er sie erwähnt. Der Kontakt des Kanz­ ­Moment« sei das für sie gewesen, hat sie spä­ cken. Sie treibt damit die Polen in die Enge,
lers zur anderen grünen Größe im Kabinett, ter erzählt. die bis dahin den nötigen Antrag für eine Aus­
zu Wirtschaftsminister Robert Habeck, ist Baer­bock sieht sich als Ombudsfrau der fuhrgenehmigung noch gar nicht gestellt hat­
intensiver. Was man im Kanzleramt vermutet: Osteuropäer im Kabinett. Als Mittlerin zwi­ ten. Sie treibt aber auch ihren Kanzler in die
Womöglich leide Baer­bock ein wenig darun­ schen den angsterfüllten Ukrainern, Balten, Enge. Scholz fand das Interview nicht gut.
ter, dass Habeck zu Scholz den besseren Draht Drei Tage später entscheidet Scholz, den
habe – wo sie sich doch selbst als die eigent­ Leopard für die Ukraine freizugeben, nach
liche Co-Kanzlerin sehe. Tiefflieger einer Einigung mit den Amerikanern. Wieder
In Scholz’ Umfeld werden Papiere aus dem sind es nur seine engsten Vertrauten, mit
Auswärtigen Amt schon mal als »unterkom­ Befragte, die eher oder sehr zufrieden mit der denen er sich berät. Auf die naheliegende
plex« abqualifiziert. Scholz’ Überheblichkeit Arbeit von Kanzler Olaf Scholz und Außen- Idee, das Sicherheitskabinett einzuberufen,
ministerin Annalena Baerbock sind, in Prozent
scheint abzufärben. kommt der Kanzler nicht. Von dem grünen
Baer­bock ärgert sich besonders über SPD- 100 Licht für den Plan, 14 Leopard-2-Panzer aus
Politiker, die ihr vorwerfen, sie setze sich nicht Bundeswehrbeständen zu liefern, erfährt
jeweils höchste Werte*:
für eine diplomatische Lösung im Ukraine­ 75 Scholz vom 15. bis 18. März Baer­bock deswegen erst am späten Nachmit­
krieg ein. Rolf Mützenich, Michael Müller, Baerbock am 4. Mai tag auf dem Rückflug von einem Termin beim
Ralf Stegner – das Trio der üblichen Verdäch­ 50
54 Europarat in Straßburg. In der Sache lag man
45
tigen gilt in Grünenkreisen als Hintergrund­ nie weit auseinander. Die Kommunikation
chor des Kanzleramts. Friedensdiplomatie, 32 aber war schlimm.
25 30
so sieht es Baer­bock, erfordert Verhandlungs­ Die Momente, in denen Olaf Scholz emo­
bereitschaft, und die gebe es in Moskau nicht. Überfall Russlands auf die Ukraine tional wird, sind selten. Einen dieser Momen­
Umgekehrt wird auch gelästert. Baer­bock 0 am 24. Febr. 2022 te kann man erleben, wenn sich der Kanzler
kehre die Scherben auf, die Scholz mit seiner Febr. Apr. Juni Aug. Okt. Dez. Febr. über diejenigen aufregt, die immerfort mehr
wenig empathischen Art hinterlasse, sie 2022 2023 und schwerere Waffen für die Ukraine for­
mühe sich um Deutschlands Ansehen in der * seit Beginn der Umfrage im Januar 2022 dern. Als wäre das alles nur ein großes Kriegs­
Welt – so die Wahrnehmung in ihrem Umfeld. S Quelle: Civey-Umfragen für den SPIEGEL; Befragungszeit- spiel, empört sich Scholz dann.
räume: je 14 Tage, jüngster Befragungszeitraum vom 2. bis 16.
Eine persönliche Bindung ist zwischen Februar; Stichprobengröße: mindestens 5000 Befragte; Die Abwägung, was die Ukraine brauche,
Scholz und Baer­bock im ersten gemeinsamen die statistische Ungenauigkeit der Umfrage liegt bei bis zu um standzuhalten, und was ein Schritt zu viel
2,5 Prozentpunkten; an 100 fehlende Prozent: »eher
Regierungsjahr nicht entstanden. Zu groß sind unzufrieden«, »sehr unzufrieden«, »unentschieden« sein könnte, beschäftige den Kanzler jeden

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DEUTSCHLAND

Russian Foreign Ministr y / TASS / action press


Yao Dawei / EPA

Gesprächspartner Scholz, Xi Jinping, Baer­bock, Sergej Lawrow*: Die Rivalität ist zu groß

Tag, sagen Vertraute. Er verweise dann gern Kanzleramt angesiedelt werden oder unter mal erscheint. Baer­bock kann pragmatisch
auf historische Beispiele, die Kubakrise etwa, rotierendem Vorsitz tagen soll. Der Konflikt sein, trägt Waffenlieferungen nach Saudi-Ara­
als die USA und die Sowjetunion heftig mit­ ist Ausdruck eines Machtkampfs zwischen bien mit – gegen breiten Widerstand aus ihrer
einander rangen, aber einen dritten Weltkrieg Kanzler und Außenministerin: Wer hat das Partei. Baer­bock sei eine Partnerin, »die naht­
unbedingt vermeiden wollten. So wie Scholz Sagen in der Außenpolitik? Der Kanzler hat los Prinzipien und Pragmatismus vermischt«,
jetzt. Während Baer­bock auf den Moment die Richtlinienkompetenz, also hat er auch schrieb Blinken im »Time«-Magazin.
fixiert sei, blicke er auf den Prozess, sagt ein in der Außenpolitik das letzte Wort, sagen Dass es trotzdem nicht gut funktioniert
Kenner der beiden. sie in der SPD. Deshalb müsse Kanzleramts­ zwischen Kanzler und Außenministerin, liegt
Aus seinen historischen Betrachtungen chef Wolfgang Schmidt das neue Gremium auch an der Bundestagswahl 2025. Baer­bock
zieht der Kanzler offenbar die Überzeugung, leiten. hat das Interesse am Kanzleramt nicht ver­
dass ein Ende des Krieges mit Putin nur dann Baer­bocks Umfeld verweist auf das Res­ loren. Leute, die sie gut kennen, halten eine
vorstellbar sei, wenn sich der russische Prä­ sortprinzip, also auf die eigenverantwortliche zweite Kanzlerkandidatur für wahrscheinlich.
sident nicht als völliger Verlierer sehe. Anders Führung der Ministerien. Dafür muss sie sich profilieren, um zunächst
ist es kaum zu erklären, dass der Kanzler eine Umstritten ist auch die Politik gegenüber erneut Habeck auszustechen und die Kandi­
Formulierung wie »Russland muss den Krieg China. Baer­bock hat sich eine wertegeleitete, datur der Grünen zu ergattern. Aus Habecks
verlieren« standhaft meidet, obwohl seine menschenrechtsbasierte und feministische Umfeld ist zu hören, dass sie ihre Chance hat­
verbalen Ausflüchte und Umschreibungen Außenpolitik auf die Fahne geschrieben. Der te; beim nächsten Mal sei er an der Reihe.
wie eine Karikatur wirken. idealistische Anspruch ist ihr Markenzeichen. Der Bundesvorstand der Grünen hat be­
Manchmal sind sich Scholz und Baer­bock Im Entwurf des Auswärtigen Amts zur China­ schlossen, im Falle mehrerer Bewerbungen die
auch einig. Dass Deutschland eine »nationale strategie der Bundesregierung mahnt Baer­ Basis entscheiden zu lassen, per Urwahl. Ha­
Sicherheitsstrategie« braucht, wie Amerikaner, bock mehr Härte gegenüber Peking an. beck hat den Grünen viel zugemutet: Flüssig­
Engländer, Franzosen sie haben, ist Konsens. Scholz dagegen hält wenig davon, den gasterminals, längere Kohle- und Atomlauf­
Aber nur grundsätzlich, nicht in den Details. Herrschern in Peking mit erhobenem Zeige­ zeiten. Auch Baer­bock mutet der Partei einiges
Das Auswärtige Amt sollte dazu ein Papier finger zu begegnen, er will schlicht die Distanz zu. Aber mit ihrem Konfrontationskurs gegen
verfassen, das Baer­bock auf der Münchner zu China vergrößern und die Abhängigkeiten Putin und ihrer feministischen Außenpolitik
Sicherheitskonferenz an diesem Wochenende verringern. Sein außenpolitischer Ansatz ist dürfte sie die Basis auf ihre Seite ziehen.
präsentieren wollte. Es hätte ihr großer Auf­ pragmatisch, nicht idealistisch. Deshalb stehen die Chancen schlecht, dass
tritt sein können. Das Kanzleramt hat das Aber auch hier sind die Unterschiede zwi­ Kanzler und Außenministerin besser harmo­
verhindert. Aus gekränkter Eitelkeit, heißt es schen den beiden nicht so groß, wie es manch­ nieren. Je näher die Wahl rückt, desto rum­
bei den Grünen. Aus inhaltlichen Gründen, peliger könnte es werden.
ist aus dem Kanzleramt zu hören. Um Deutschland vor Schaden zu bewah­
Knapp ein Jahr nach Beginn des Schreib­ ren, sollten sie vielleicht mal zusammen spa­
prozesses sind die Kernfragen ungeklärt, zum »Eine Partnerin, die nahtlos zieren gehen. Beide haben dasselbe liebste
Beispiel ob das neue Sicherheitsgremium im Prinzipien und Ausflugsziel: den Götzer Berg bei Potsdam.
Zusammen waren sie dort noch nicht.
* Links: Besuch des Bundeskanzlers beim chinesischen
Staatschef in Peking im November 2022; rechts: Presse-
Prag­matismus vermischt« Matthias Gebauer, Martin Knobbe,
konferenz des russischen Außenministers mit seiner US-Außenminister Antony Blinken über Marina Kormbaki, Dirk Kurbjuweit, Veit Medick,
deutschen Amtskollegin in Moskau im Januar 2022. Annalena Baerbock Christoph Schult n

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DEUTSCHLAND

schwindet. Nicht schon wieder. Das


kann man sich nicht leisten.
Die Sozialdemokraten haben
plötzlich ein Frauenproblem. Nicht,
weil es keine Frauen in der Partei
gäbe, sondern weil es der SPD an
einem bestimmten Typus fehlt: Frau-
en, die noch eine Karriere vor sich
haben und zugleich schon auf einige
Jahre in Ämtern zurückblicken kön-
nen. Politikerinnen, die erfahren sind
und trotzdem für die Zukunft stehen.
Es fehlt eine Führungsreserve für
Topjobs.
Genau dieser Mittelbau ist der
SPD im vergangenen Jahr weggebro-
chen. Einstige Hoffnungsträgerinnen
sind politisch beschädigt, andere pro-
minente Gesichter ziehen sich aus der
Politik zurück.
Lange waren es gerade die Frauen,
die diese Partei zusammenhielten,
vor allem in den Ländern. Anke Reh-
linger im Saarland, Malu Dreyer in
Rheinland-Pfalz, Manuela Schwesig
in Mecklenburg-Vorpommern und
Franziska Giffey in Berlin – vier Frau-
en, vier Ministerpräsidentinnen.
Immer wieder zeigten sich die
­Sozialdemokratinnen zusammen. Sie
ließen sich vor dem Bundestag foto-
grafieren, Dreyer und Schwesig Hand
in Hand. Sie posteten gemeinsame
Selfies anlässlich der Bundesver-

Marzena Skubatz / laif


sammlung oder aus der Klausur der
SPD-Spitze. Die Fotos von ihnen
schienen für eine neue SPD zu stehen:
modern und weiblich. Die Regie-
rungschefinnen prägten das Bild der
Partei.
Das hat sich geändert. Die zentra-

Comeback der Männer


le Figur heißt nun Olaf Scholz, und in
seinem Schatten drängen weitere
Männer nach vorn: Parteichef Lars
Klingbeil, der neue Verteidigungsmi-
nister Boris Pistorius. Plötzlich wirkt
SPD  Lange Zeit waren es vor allem erfolgreiche Frauen, die das Bild der die SPD wieder wie eine sehr männ-
liche Partei.
­ ozialdemokratie prägten. Die Niederlage von Franziska Giffey in Berlin legt nun
S Eine der stärksten Figuren in der
offen, dass ausgerechnet die weiblichen Spitzenkräfte zum Problem werden. SPD war lange Zeit Malu Dreyer. Die
rheinland-pfälzische Ministerprä­
sidentin war eine Konstante, leiden-

D
er Montag ist ein harter Tag dass Giffey jetzt gehen müsse. Im schaftlich, empathisch, beliebt. Doch
für sie. Die Zeitungen sind Gegenteil: Die Parteifreunde versu- die 62-Jährige geht dem Ende ihrer
morgens voll von Berichten chen, die 44-Jährige wieder aufzu- Karriere entgegen. Seit zehn Jahren
über Franziska Giffeys Wahldebakel bauen. regiert sie Rheinland-Pfalz, viele
in Berlin. In der SPD rumort es, erste Sie müsse sich nicht entschuldigen, rechnen damit, dass sie ihr Amt vor
Rücktrittsforderungen kursieren. heißt es. Es gebe viele Gründe für die der nächsten Wahl abgeben wird.
Vormittags tagen die Führungs­ Niederlage. Die allgemeine Situation, Bundespolitisch hat sie sich bereits
gremien der Bundespartei, auch Gif- der Frust über die Hauptstadt. Nur zurückgenommen, ihre Macht brö-
fey ist da. Auf Teilnehmer wirkt sie Giffey sei nicht schuld. Sie solle ckelt, in ihrem Landesverband rumort
ratlos, angeschlagen. Seit gerade ein- weiter­machen, da sind sich an diesem es. Und Dreyer macht etwas, das es
mal 13 Monaten Regierende Bürger- Morgen alle einig, auch in der Runde bei ihr lange Zeit nicht gegeben hat:
meisterin, hat sie bereits eine histo­ im Willy-Brandt-Haus. Fehler.
rische Niederlage erlitten. Die Partei klammert sich an ihre Am Sonntag hat die SPD die
Regierende Bürger-
Doch unter führenden Sozial­ Wahlverliererin, die Genossen wollen meisterin Giffey: Die ­Oberbürgermeisterwahl in Mainz
demokraten ist am Tag eins nach nicht riskieren, dass eine prominente Partei klammert sich ver­loren, der Landeshauptstadt, nach
dem Debakel keine Rede davon, SPD-Frau in der Versenkung ver- an die Verliererin mehr als 70 Jahren müssen die Sozial-

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DEUTSCHLAND

demokraten den Posten abgeben. Nicht ein-


mal in die Stichwahl haben sie es geschafft,
»Natürlich wird dem Vorsitzenden die wichtigste Person der
Fraktion. Ihre Vorgänger nutzten das Amt,
die machen jetzt ein Grüner und ein partei- keine von uns morgen ein um bundespolitische Prominenz zu erlangen,
loser Kandidat unter sich aus.
Vor der Wahl hatte der SPD-Politiker
­Ministerium führen.« am eindrucksvollsten tat das Thomas Opper-
mann. Er zeigte, dass man es in dieser Position
­Michael Ebling das Amt gut zehn Jahre lang Verena Hubertz, stellvertretende Vorsitzende zum heimlichen Generalsekretär bringen
der SPD-Bundestagsfraktion
inne. Dann machte Dreyer ihn im vergan­ kann. Mast hingegen macht das Amt weit-
genen Oktober zum Landesinnenminister, gehend überflüssig.
ihre Kritiker sahen darin den Versuch, ihn als Manche in der SPD setzen ihre Hoffnun-
Nachfolger aufzubauen. Ein strategischer gen deshalb inzwischen auf Nachwuchspoli-
Schnitzer, so sehen es jetzt manche in der tikerinnen, die noch gar keine Zeit hatten,
SPD. Mit dem Abzug des Oberbürgermeisters In der SPD-Bundestagsfraktion liegt der sich zu beweisen. Ein Name fällt immer wie-
sei die Landeshauptstadt an die Konkurrenz Frauenanteil immerhin bei 42 Prozent, doch der: Verena Hubertz.
verschenkt worden. rund die Hälfte der 87 weiblichen Abgeord- Hubertz ist erst seit 2021 Mitglied der Bun-
Kritik an Dreyer hat es jahrelang nicht neten ist in dieser Legislaturperiode ins Par­ destagsfraktion, stieg dort schnell auf. Nach
­gegeben, nun beginnen die Genossen zu lament eingezogen. Viele finden sich gerade wenigen Wochen im Parlament wurde sie zu
­murren. Und ihre Nachfolge ist ungeklärt. erst im politischen Betrieb ein. einer der acht stellvertretenden Fraktions-
In der rheinland-pfälzischen SPD kursieren Eine Ausnahme ist Katja Mast. Seit 2005 vorsitzenden gewählt. Mancher Kollege muss-
­inzwischen mehrere Namen möglicher Nach­ gehört die 52-Jährige dem Bundestag an, seit te sich erkundigen, wer denn die neue Frau
rücker – die meisten davon Männer. Ende 2021 ist sie Erste Parlamentarische Ge- in der Fraktionsführung sei.
Ähnlich schwierig ist die Lage in Mecklen- schäftsführerin – eine zentrale Machtposition Nun besetzt die 35-Jährige im Bundestag
burg-Vorpommern. Ministerpräsidentin Ma- in der SPD-Fraktion. ein großes Eckbüro mit Blick auf die Spree
nuela Schwesig war mal ein Star in der SPD, Während der Sitzungswochen lädt Mast und hat in ihrem Arbeitsbereich Männer unter
jung und angriffslustig, irgendwann würde immer mittwochs zum Pressefrühstück ein. sich, die 25 Jahre älter sind als sie. Sie sieht
sie Parteivorsitzende, das schien klar. Jetzt Eigentlich ist das eine gute Gelegenheit, dem das gelassen. »Alter ist ja kein Kriterium.«
kämpft sie darum, überhaupt noch mitmi- politischen Gegner vor der versammelten Hubertz steht für eine neue Generation
schen zu dürfen. Berliner Medienlandschaft eins überzubraten von SPD-Politikerinnen im Bundestag, die
Viele in der SPD lagen in der Russland- oder die Linie der Fraktion zu erklären. selbstbewusst nach Posten greifen und gut
politik falsch, Schwesig lag besonders falsch. Aber am Mittwoch vergangener Woche vernetzt sind. Es gibt regelmäßige Stamm­
Sie hat mit allen politischen Mitteln für Nord klappt das mal wieder nicht. Den FDP-Ver- tische für die weiblichen Abgeordneten, dazu
Stream 2 gekämpft und dafür unter anderem kehrsminister Volker Wissing? Nennt Mast laden sie Ministerinnen ein, Frauen aus der
eine dubiose Umweltstiftung gründen lassen »Herrn Wissmann«. Die Karnevalsrede von Wirtschaft oder die Bundestagspräsidentin.
– die aber in Wahrheit den Hauptzweck hat- Marie-Agnes Strack-Zimmermann gegen Es geht um Erfahrungsaustausch, aber natür-
te, die umstrittene Pipeline fertigzubauen. Friedrich Merz? Die habe sie nur am Rande lich auch um Machtfragen. Darum, Bündnis-
Schwesigs Landesregierung wirkte wie ein mitbekommen. Der Koalitionsstreit über den se für die Zukunft zu schmieden.
Außenbüro des Kreml, mittlerweile leuchtet Autobahnausbau? Mast äußert sich nur all- »Wir erleben derzeit einen Generations-
im Schweriner Landtag ein Untersuchungs- gemein, der zuständige Fachpolitiker sei da wechsel in der Fraktion«, sagt Hubertz. Es
ausschuss die Hintergründe aus. »sicher ein guter Gesprächspartner«. seien viele junge Frauen neu dazugekommen.
Seit Kriegsbeginn ist Schwesig bundes­ Mast ist bis heute nicht in ihrem Amt an- »Natürlich wird keine von uns morgen ein
politisch abgetaucht. Von einem Aufstieg an gekommen, in der Partei verdrehen viele die Ministerium führen. Aber wenn die SPD
die Parteispitze redet derzeit niemand mehr, Augen, wenn ihr Name fällt. Mast sei über- Frauen in diese Positionen bringen will, muss
der letzte große Talkshowauftritt ist fast ein fordert, heißt es. die Partei ihnen natürlich auch frühzeitig
halbes Jahr her. Als Ministerpräsidentin hat Für die SPD ist das bitter. Die Erste Par­ ­Verantwortung übertragen.«
Schwesig immer noch eine Stimme in der Par- lamentarische Geschäftsführerin ist neben Prominenz oder bundespolitische Erfah-
tei, doch den Widerhall von früher findet sie rung müsse aber ohnehin nicht entscheidend
nicht mehr. sein bei der Vergabe von Ämtern, sagt Hu-
Das ist für die Sozialdemokraten auch bertz. »Als Franziska Giffey Bezirksbürger-
­deshalb ein Problem, weil man Schwesig meisterin in Neukölln war, kannte sie außer-
im Kampf gegen die AfD braucht. Die Rech- halb von Berlin wahrscheinlich auch kaum
ten sind in Mecklenburg-Vorpommern stark, jemand. Und dann war sie plötzlich Familien-
in jüngsten Umfragen ist dort der einst ministerin.« Manchmal müsse man den Frau-
große Vorsprung der SPD zusammenge- en eben einfach etwas zutrauen.
schmolzen. Bis zur nächsten Landtagswahl Für Giffey sind die schwierigen Zeiten
sind es noch dreieinhalb Jahre. Vielleicht nicht vorbei. Sie muss jetzt versuchen, sich
schafft es Schwesig, ihre Krise bis dahin aus- im Roten Rathaus zu halten, eine Koalition
zusitzen. Vielleicht. zu bilden. Doch die Regierende Bürgermeis-
Auch im Bund stolperten SPD-Frauen zu- terin ist zäh. Giffey hat schon eine Plagiats­
letzt eher, als dass sie vorangeschritten wären. affäre politisch überlebt, sie hat einen schnell
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht zusammengezimmerten Wahlkampf durch-
trat nach monatelanger Kritik zurück. Innen- gestanden.
ministerin Nancy Faeser kündigte an, bei der Viele in ihrer Partei glauben deshalb, dass
Landtagswahl in Hessen im Oktober zu kan- Giffey sich rehabilitieren kann. Dass sie es
didieren, und manövrierte sich damit in eine vielleicht schafft und dann bei der nächsten
Johannes Arlt / laif

schwierige Doppelrolle. Für den Kanzler dürf- Wahl alles vergessen sein könnte.
te das so oder so zum Problem werden. Ver- In der Parteispitze hoffen sie inständig,
liert Faeser, hat er eine beschädigte Innen- dass es so kommt. So männlich wie früher
ministerin. Gewinnt sie, muss er eine Nach- wollen sie auf keinen Fall wieder werden.
folgerin für sein Kabinett finden – nur wo? Ministerpräsidentin Schwesig Sophie Garbe, Veit Medick, Christian Teevs n

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DEUTSCHLAND

»Ich bin ein Kind des Kalten Kriegs«


SPIEGEL-GESPRÄCH  Zum Amtsantritt gab es erst mal eine Enttäuschung: Deutschlands neuer
­ erteidigungsminister Boris Pistorius über die europäischen Partner, die sich bei Panzerlieferungen für die
V
Ukraine wegducken, die Neuaufstellung der Bundeswehr und die Frage, wer in Europa führen soll

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL

Sozialdemokrat Pistorius
im Bendlerblock

30 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


DEUTSCHLAND

SPIEGEL: Herr Pistorius, Sie sind der 20. Vertei­


digungsminister der Bundesrepublik Deutsch­
»Sie können nur gut führen, SPIEGEL: Das war’s?
Pistorius: Das war’s. Es war doch klar, dass er
land. Welcher Ihrer Vorgänger ist ein Vorbild wenn Sie sich auch beraten die Zeitenwende umgesetzt haben will. Ich
für Sie?
Pistorius: Spontan fallen mir zwei ein: Peter
lassen und zuhören.« will das auch. Er sieht, dass die Bundeswehr
nicht so dasteht, wie sie dastehen könnte und
Struck und Helmut Schmidt. müsste. Und er will jemanden haben, der das
SPIEGEL: Warum? ändert.
Pistorius: Wegen ihrer Art, die Dinge anzu­ SPIEGEL: Auf der Bundeswehrtagung im Sep­
packen. Wegen ihrer Nähe zur Truppe und tember erklärte Olaf Scholz, Deutschland sei
weil sie Pragmatiker waren. Da gab es sicher­ auf die Ukraine einfach nicht mehr in die Zeit bereit, »an führender Stelle Verantwortung
lich auch andere, wie zum Beispiel Volker passen. Da gehen wir jetzt ran. zu übernehmen für die Sicherheit unseres
Rühe. Aber den beiden Sozialdemokraten SPIEGEL: Ist diese Herkulesaufgabe mit der Kontinents«. Er hat damit eine Debatte um
Struck und Schmidt fühle ich mich als SPD- alten Mannschaft zu stemmen? den Begriff »Führungsmacht« ausgelöst. Was
Mann näher. Pistorius: Ich habe die Erfahrung gemacht, verstehen Sie selbst unter einem deutschen
SPIEGEL: Wenn im Bendlerblock ein neuer dass man über Personal nicht in den ersten Führungsanspruch?
Minister übernimmt, bringen sich sofort drei, vier Wochen entscheiden sollte. Ich Pistorius: Ich glaube, dass die größte Volks­
­Horden von Einflüsterern in Stellung. Wie schaue mir lieber die Abläufe an und entschei­ wirtschaft in Europa in vielen Bereichen eine
können Sie sich als Neuling vor falschem de nach einer gründlichen Abwägung, ob und führende Rolle übernehmen muss, weil wir
Rat schützen? welche Veränderungen es möglicherweise sie im Gegensatz zu kleineren und schwäche­
Pistorius: Durch meine Erfahrung. Jetzt geben muss. ren Ländern auch ausfüllen können.
gar nicht in diesem Amt, die habe ich ja SPIEGEL: Das Verteidigungsministerium muss SPIEGEL: Was heißt das konkret?
nicht. Aber meine politische Erfahrung eine Großorganisation mit 265 000 Männern Pistorius: Wir wollen gemeinsam mit Frank­
auf den unterschiedlichsten Ebenen schützt und Frauen führen. Was bedeutet Führung reich und den anderen Europäern klären,
mich davor, zu schnell auf alle möglichen für Sie? welchen Weg wir künftig einschlagen wollen.
Ratgeber zu hören. Man lernt sehr schnell, Pistorius: Wenn Sie führen wollen, können Dabei schauen wir natürlich auch darauf,
zu unterscheiden und auch zu hinterfragen. Sie nicht einfach sagen, ich habe ein Amt und wie sich die USA künftig aufstellen. Dass sie
Wer hat welches Interesse bei dem, was er damit die Autorität, und deshalb habe ich an unserer Seite stehen, ist unbestritten. Und
mir rät? recht. So funktioniert das nicht. Sie können das ist gut so. Künftig stellt sich die Frage,
SPIEGEL: Das Verteidigungsministerium gilt nur gut führen, wenn Sie sich auch beraten wie sich die Rolle der USA in den nächsten
mit mehr als 3000 Männern und Frauen als lassen und zuhören. Aber gleichzeitig ent­ 5, 10 oder 15 Jahren weiterentwickeln wird.
aufgebläht und wegen seiner verkorksten scheidungsfreudig und mutig sind. Vor allem Der Indopazifik wird geopolitisch immer
Strukturen als unführbar. Auch deshalb sind brauchen Sie den Blick für die Menschen, die wichtiger für die Amerikaner. Es muss klar
die meisten Ihrer Vorgängerinnen und Vor­ hier arbeiten. sein, wer in welcher Region der Welt mehr
gänger gescheitert. Wie wollen Sie dieses SPIEGEL: Als der Kanzler Ihnen das Verteidi­ Verantwortung übernimmt. Dafür muss eine
­Problem lösen? gungsministerium angeboten hat – welchen neue Balance gefunden werden. Und auch
Pistorius: »Aufgebläht« ist ein hässliches Auftrag hat er Ihnen mitgegeben? die Europäer werden möglicherweise auf
Wort. Aber ja, 3000 Leute an zwei Stand­ Pistorius: Der ergab sich ja schon aus der Fra­ ihrem Kontinent mehr Verantwortung über­
orten in Bonn und Berlin sind tatsächlich sehr ge: Bist du bereit, dieses Amt in meinem Ka­ nehmen müssen als heute und damit eine
viele. Und ja, wir werden uns auch die Struk­ binett zu übernehmen? Und ich habe Ja gesagt. neue Rolle wahrnehmen. Darauf sollten wir
turen des Ministeriums ansehen müssen. Es uns vorbereiten.
muss wieder eindeutige Verantwortlichkeiten SPIEGEL: Mal angenommen, die Amerikaner
mit klaren Abgrenzungen geben und keine Raketenstart würden sich unter einer neuen Administration
Parallelstrukturen. Wir brauchen eine zen­ aus Europa zurückziehen. Könnte Europa
trale Stelle, die Entscheidungen steuert und »Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit des Bun- ihre Rolle überhaupt übernehmen?
desverteidigungsministers, Boris Pistorius?«,
koordiniert. Pistorius: Vielleicht. Aber fragen Sie mich
seit Amtsantritt, Angaben in Prozent
SPIEGEL: Werden Sie im Ministerium Stellen nicht, wann. Das ist ein langer Weg.
abbauen? SPIEGEL: In der Nato wird die Waffenhilfe für
Pistorius: Ich will vor allem die Abläufe be­ sehr/eher zufrieden unentschieden die Ukraine als Gradmesser des deutschen
schleunigen und auf das Wesentliche reduzie­ sehr/eher unzufrieden Führungsanspruchs gesehen. In der Panzer­
ren. Da fängt man sinnvollerweise nicht mit frage hat Berlin nun nach langem Zögern die
dem Abbau von Stellen an, sondern sieht sich 70 Führung übernommen – und ist erst einmal
erst mal die Strukturen an. Da geht’s los, und 60
gescheitert. Was ist da schiefgelaufen?
dann schließe ich nicht aus, dass am Ende Pistorius: Ich bin ja an meinem ersten Arbeits­
Stellen frei werden, die man an anderen Orten 50 tag nach Ramstein geflogen und habe erwar­
effektiver einsetzen kann. tet, dass ich da vielen Vertretern von Natio­
SPIEGEL: Die Zeitenwende hängt entschei­ 40 42 nen gegenübersitze, die von mir ein Okay für
40
dend davon ab, ob die Bundeswehr ihr Be­ die Lieferung von vielen Leoparden in die
30
schaffungsproblem in den Griff bekommt. Ukraine haben wollten.
Ihre Vorgängerin Christine Lambrecht hat 20 SPIEGEL: Wie war es tatsächlich?
sich an dieses Problem nicht herangetraut und 18 Pistorius: Es war mitnichten so. Da gab es
dadurch mehr als ein Jahr verschwendet. 10 Polen und ein paar andere, die nach vorn
Trauen Sie sich? ­geprescht sind. Aber viele waren eben sehr
0
Pistorius: Dass ich jetzt das Beschaffungsamt viel zurückhaltender und hatten sich mit
auflöse, werden Sie nicht ernsthaft von mir 22. 29. 05. 12. der Frage noch nicht abschließend beschäf­
erwarten in Zeiten, in denen wir viel beschaf­ Jan. Febr. tigt. Das hat mich überrascht, denn ich hatte
fen müssen. Aber auch da geht es um Abläu­ S Quelle: Civey-Umfrage für den SPIEGEL, Befragungszeitraum nach der öffentlichen Berichterstattung an­
vom 20. Jan. bis 15. Febr.; Befragte: je mindestens 5000; die
fe, Strukturen, die Geschwindigkeit und die statistische Ungenauigkeit der Umfrage liegt bei 2,5 bis zu
deres erwartet. Wir haben uns in Deutschland
Methoden, die nach dem russischen Überfall 3 Prozentpunkten vier Tage später öffentlich verpflichtet, und

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 31


DEUTSCHLAND

dann hätten die Zusagen anderer kommen tion gemeinsam beschaffen könnte, um die
müssen. Bestände in den Depots endlich verlässlich
SPIEGEL: Sie meinen die Zusagen anderer Län- aufzufüllen.
der, Leoparden zu liefern. Was passierte? SPIEGEL: Als Verteidigungsminister können
Pistorius: Die Zusagen kamen nicht in der Sie doch gegen drei Prozent eigentlich nichts

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL


erhofften Größenordnung. Das hat mich haben?
­gewundert. Pistorius: Natürlich, als Verteidigungsminister
SPIEGEL: Was ist denn jetzt der Stand der bin ich für die Bundeswehr verantwortlich,
­Dinge? aber das heißt nicht, dass ich meine politische
Pistorius: Meine portugiesische Kollegin hat Verantwortlichkeit für alles andere aus dem
zugesagt, drei Leopard 2 A6 zu geben. Das Blick verliere. Es gibt auch noch andere Auf-
ist für ein Land wie Portugal nicht wenig. Wir gaben in diesem Land zu erfüllen – die Be-
haben ihnen dafür im Gegenzug angeboten, Pistorius, SPIEGEL-Redakteure* kämpfung der Klimakatastrophe, Bildung,
sie zusammen mit Krauss Maffei bei der In- Forschung, die Digitalisierung. Es geht für
standsetzung anderer Panzer zu unterstützen, schaft gemessen, die Bundeswehr mit ausrei- mich als Verteidigungsminister zuallererst
sodass sie ihre Bestände wieder auffüllen chend Geld auszustatten. Trotz des 100-Mil- darum, die Verteidigung unseres Landes si-
­können. Zusammen mit unseren 14 Panzern liarden-Sondervermögens hat Deutschland cherzustellen.
können wir jetzt also 17 liefern. bis heute das Zwei-Prozent-Ziel der Nato nicht SPIEGEL: Die Nato hat in den letzten Monaten
SPIEGEL: Ist es denkbar, dass Deutschland sein erfüllt. Können Sie eine verbindliche Zusage ein neues strategisches Konzept beschlossen,
Angebot noch einmal erhöht? machen, wann wir das schaffen? nach dem das Bündnis in Zukunft einen Groß-
Pistorius: Ich schließe erst mal nichts aus. Pistorius: Nein. Der Bundeskanzler, SPD- konflikt wie den mit Russland bewältigen
Aber Deutschland hat sich verpflichtet, bis Chef Lars Klingbeil und ich sind uns einig, können muss und zusätzlich eine Auslands-
zum Jahr 2025 eine voll ausgestattete Division dass wir das Zwei-Prozent-Ziel erreichen mission wie in Afghanistan. Was bedeutet
aufzustellen. Wir reden über den Schutz der müssen. Mindestens. Eigentlich kann es nur dieser Anspruch für die Bundeswehr?
Ostflanke der Nato. Ich muss doch die Ver- die Basis sein, auch darüber sind sich längst Pistorius: Diese strategische Ausrichtung ist
teidigungs- und Einsatzbereitschaft aufrecht- alle einig. Wie weit wir dann darüber hinaus- der Ausgangspunkt, um die nationalen Fähig-
erhalten. Nehmen Sie das Flugabwehrsystem kommen und wann wir das erreichen, steht keiten zu definieren und die Lücken zu er-
Patriot. Wir haben im Moment noch genau auf einem anderen Blatt. kennen, die es gibt. Das ist ein Prozess, der
eines dieser Systeme in Deutschland. Wenn SPIEGEL: Was bedeutet das für den kommen- jetzt in allen Nato-Streitkräften beginnt. Wir
ich das jetzt auch noch rausgebe, kann ich den Haushalt, der in den nächsten Wochen machen das auch, aber wo der endet und was
nicht mal mehr üben. Und wenn ich nicht verhandelt wird? das am Ende bedeutet, wird sich zeigen. Da
mehr üben kann, kann ich auch nicht mehr Pistorius: Wir brauchen eine Erhöhung möchte ich nicht vorgreifen. Klar ist, dass wir
ukrainische Soldaten ausbilden. Viele dieser des laufenden Etats. Jedes Gerät, das wir neu uns anders als in den letzten drei Jahrzehnten
Diskussionen sind deshalb einfach nicht vom aus dem Sondervermögen beschaffen, muss wieder mit dem Szenario einer militärischen
Ende her gedacht. instand gehalten werden, dazu kommen Auseinandersetzung beschäftigen müssen.
SPIEGEL: Das Panzerbataillon in Augustdorf die Betriebskosten. Allein dadurch steigen Wir müssen uns wieder als Bündnis- und Ver-
soll jetzt den Großteil seiner Leopard 2 an die schon die laufenden Ausgaben. Wenn Sie teidigungsarmee verstehen und deshalb vieles
Ukraine abgeben. Wann können die Soldaten neue Panzer, Haubitzen oder Seefernauf­ anders machen als bisher.
mit Ersatz rechnen? klärer bestellen, kostet das alles in der Unter- SPIEGEL: Was bedeutet das?
Pistorius: Mein Bestreben ist, dass die Ver- haltung wieder Geld. Und wenn das Geld Pistorius: Dass wir keine Zeit verlieren soll-
träge mit der Rüstungsindustrie bis zum Som- dafür oder für die Personalgewinnung fehlt, ten. Zusammen mit den anderen Streitkräften
mer unterschriftsreif sind. Wir haben Zusagen werden wir in den nächsten Jahren vor in Europa und auch den Amerikanern müssen
gemacht, und im Vertrauen darauf bestellen Problemen stehen. Das muss man sich jetzt wir unsere Bundeswehr so aufstellen, dass
die Unternehmen jetzt schon Stahl und Trieb- einfach klarmachen und die Weichen ent- wir einen Angriff auf das Bündnisgebiet ab-
werke. Zur Wahrheit gehört: Panzer haben sprechend stellen. wehren könnten. Das klingt völlig aus der Zeit
eine Lieferzeit von mindestens zwei, zwei- SPIEGEL: Innerhalb der Nato wollen viele Na- gefallen, und ich hätte nicht gedacht, dass ich
einhalb Jahren. Wenn ich wüsste, ich kriege tionen die Latte noch höher legen. Jedes Mit- das mit 62 noch mal würde sagen müssen.
in einem Jahr alle meine Leos ersetzt, könn- gliedsland müsste dann drei statt zwei Pro- Aber es ist die Realität.
te ich großzügiger sein mit der Hilfe für die zent seiner Wirtschaftsleistung in die Ver- SPIEGEL: Die wichtigste sicherheitspolitische
Ukraine. teidigung investieren. Deutschland müsste Herausforderung für das Bündnis und auch
SPIEGEL: Sie sind der erste Verteidigungs­ seine Ausgaben dafür auf 80 Milliarden Euro für Deutschland wird auf absehbare Zeit der
minister seit Langem, der sich mal wieder mit steigern. Krieg in der Ukraine bleiben. Der Kanzler
Vertretern der Rüstungsindustrie getroffen hat. Pistorius: Jedes Nato-Mitgliedsland kann das sagt, Russland dürfe nicht siegen, während
Pistorius: Ja, warum denn nicht? Ich habe natürlich machen, aber ich halte nichts von Sie davon sprechen, man helfe der Ukraine,
keine Berührungsängste mit der Rüstungs- einem Überbietungswettbewerb. Wenn wir damit sie den Krieg gewinnen könne. Ist das
industrie. Warum sollte ich auch? Ich glaube uns darauf verständigen würden, dass wir in mehr als nur ein semantischer Unterschied?
jeder von uns würde das Geld lieber für an- Zukunft über den zwei Prozent liegen, ist es Pistorius: Nein, ist es nicht.
dere Dinge ausgeben. Ich bin ein Kind des gut. Viel wichtiger ist doch die Frage, ob man SPIEGEL: Sondern?
Kalten Kriegs und war erleichtert, als er 1990 Waffensysteme standardisieren oder Muni- Pistorius: Russland darf mit diesem aggressi-
vorbei war. Ich hätte mir nie vorstellen kön- ven, imperialistischen Krieg auf Kosten eines
nen, dass ich mal in so einer Funktion Milliar- souveränen Staats nicht durchkommen.
den für Waffen ausgeben muss. Aber die Welt SPIEGEL: Sehen Sie sich in der Lage, ein Ziel
erfordert das nun mal. Das ist eine hässliche dieses Kriegs zu definieren?
Entwicklung. Pistorius: Eine Aussage darüber möchte ich
SPIEGEL: In der Nato wird der Führungsan- »Russland darf mit diesem mir nach weniger als einem Monat im Amt
spruch Deutschlands vor allem an der Bereit-
imperialistischen Krieg nicht anmaßen.
SPIEGEL: Herr Pistorius, wir danken Ihnen für
* Matthias Gebauer und Konstantin von Hammerstein. nicht durchkommen.« dieses Gespräch. n

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rona bestritten, sondern wollten die Gesell­


schaft gerade in der Krise zusammenhalten.«
Die Generalsekretärin ärgert sich noch immer
über eine Szene während einer Pressekonfe­

Der Ein-Mann-Stammtisch
renz im Juni 2021, den Tiefpunkt des Verhält­
nisses der beiden Parteichefs. »Vielleicht
sagst du selber was dazu, warum du dich ein­
fach nicht impfen lassen willst«, so outete
Söder seinen Stellvertreter Aiwanger. »Das
LANDESPOLITIK  Hubert Aiwanger sieht sich als Stimme der Provinz. war eine eindeutige Grenzüberschreitung«,
sagt Enders.
Seine Freien Wähler könnten dafür sorgen, dass Markus Söder nach der Die Freien Wähler propagieren, möglichst
Wahl im Oktober weiter Bayern regiert. Wofür steht die Partei? viele Entscheidungen lokal zu treffen. »Wir
glauben, dass Entscheidungen möglichst auf
der unteren Ebene erfolgen sollten, wo die

P
olitiker der Freien Wähler sind es ge­ der muss aufpassen, dass er nicht erdrückt Entscheider nahe an den Betroffenen dran
wohnt, nicht ganz ernst genommen zu wird«, beschrieb Aiwanger 2018 das Kräfte­ sind und sich um einen Ausgleich der Inte­
werden. Über den bayerischen Partei­ verhältnis. ressen bemühen«, sagt Armin Kroder, seit
chef Hubert Aiwanger, 52, wird gern gespot­ Ihre Partei habe da gut aufgepasst, sagt 2008 Landrat des Kreises Nürnberger Land.
tet, weil er auf einem Hof mit Schweinezucht Generalsekretärin Enders. »Die Leute sind 14 von 71 Landrätinnen und Landräten
aufwuchs und niederbairischen Dialekt uns dankbar, dass wir uns getraut haben, eine stellt die Partei in Bayern, dazu viele Bürger­
spricht. »Opfelsoft« statt »Apfelsaft«, haha. andere Meinung zu haben als der Sumorin­ meister. Die Hochburgen der Partei liegen in
Aiwangers Generalsekretärin Susann Enders ger.« Die Landtagsabgeordnete sitzt an einem Oberbayern, in Niederbayern und in Franken,
musste sich innerhalb und außerhalb der Poli­ Januarmorgen in ihrem Wahlkreisbüro in in den Großstädten sind die Freien Wähler
tik bisweilen anhören, sie sei ja »bloß« Kran­ Weilheim und formuliert Sätze, die der CSU dabei eher schwach.
kenschwester. »Als ob nur Ärzte, Juristen und wehtun müssen: »Bayern tut eine Allein­ Auch Kroder stammt von einem Bauern­
Professoren fähig wären, unser Land zu re­ regierung nicht gut. Wir haben uns als Kor­ hof, in Neunkirchen am Sand in Franken, er
gieren«, sagt sie. rektiv bewiesen, und wir sorgen dafür, dass lebt dort mit seiner Frau und drei Kindern.
Vor allem die CSU verkneift sich solche es hierzulande weiter vernünftig zugeht.« Kroder studierte nach der Bundeswehr Jura
Sticheleien inzwischen. Denn den Christ­ Laut Enders gilt das besonders für die Poli­ und wurde Verwaltungsrichter, bevor er ins
sozialen schwant, dass sie nach der Land­ tik in der Coronakrise. Während Söder lange Landratsamt wechselte. Seine politische Ma­
tagswahl im Oktober 2023 erneut auf den das Team Vorsicht anführte, stritten die Freien xime sei ein lebensnaher Pragmatismus. »Bei
kleineren Koalitionspartner angewiesen sein Wähler für weniger strenge Maßnahmen in uns klebten die gelben Anti-Atomkraft-Sti­
könnten. Bayerns Ministerpräsident Markus Schulen und Kindergärten, Gaststätten und cker zu Hause auf dem Traktor«, erzählt Kro­
Söder preist wie ein Mantra seine »Bayern- Hotels. »Wir haben keinen Wettbewerb um der. »Dennoch glaube ich, dass es notwendig
Koalition« als Gegenmodell zur Berliner Am­ die Kanzlerkandidatur mit dem Thema Co­ ist, die verbliebenen drei deutschen Atom­
pel. Vom früheren Alleinvertretungsanspruch kraftwerke noch eine Weile laufen zu lassen.«
der einst allmächtigen CSU und ihrem Bei­ Früher als die CSU setzten die Freien Wäh­
nahe-Kanzlerkandidaten ist gar nicht mehr Söders Retter ler auf eine dezentrale Energieversorgung, sie
die Rede. trommelten bereits für Wasserstoff, Wind­
Stattdessen setzt Söder offen auf das Bünd­ Landtagswahlergebnisse in Bayern, räder und Bürgerkraftwerke, als die Christ­
in Prozent der Zweitstimmen
nis mit den Freien Wählern: »Mein Wunsch sozialen noch auf russisches Gas vertrauten.
wäre, dass wir das genauso fortsetzen.« CSU Grüne AfD Freie Wähler Die Freien Wähler greifen lokale Aufreger­
Viele andere Möglichkeiten hat er auch SPD FDP themen auf, wie die Zuzahlungen für Anrainer
nicht. Eine Koalition mit den Grünen hat Sö­ beim Straßenausbau. Im aktuellen Wahlkampf
50
der ausgeschlossen, SPD und FDP sind für setzen sie sich dafür ein, die Erbschaftsteuer
ihn ebenfalls mit dem Makel der Ampelpartei abzuschaffen, durch die stark gestiegenen Im­
aktuelle
behaftet. Selbst den Versuch, die Freien Wäh­ Umfrage mobilienpreise in Bayern fürchten sich viele
ler durch thematische Umarmung kleinzure­ 40 Familien vor hohen Zahlungen.
gieren, haben die CSU-Strategen inzwischen 38% Lange war es das Rezept der CSU, solche
aufgegeben. Söder wird Anliegen einfach zu übernehmen, etwa die
Die Freien Wähler sitzen mittlerweile auch Ministerpräsident Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium
30 mit Aiwanger als
in Brandenburg und Rheinland-Pfalz in den Die Freien Wähler Stellvertreter.
oder die Abschaffung der Studiengebühren.
Landesparlamenten, doch nirgendwo sind sie ziehen in den Doch seit die Freien Wähler im Land mit­
so stark wie im Freistaat. In Umfragen liegt Landtag ein. regieren und dadurch sichtbarer sind, funk­
die Partei dort derzeit bei rund zehn Prozent­ 20 tioniert das nicht mehr so gut.
punkten (siehe Grafik), wobei sie am Wahltag 18% Hubert Aiwanger ist neben Söder mittler­
meist etwas stärker abschneidet als in Be­ weile der wohl bekannteste Politiker Bayerns.
fragungen. 13% Er beackert die Schützenfeste und Twitter,
10 10%
Vor knapp fünf Jahren wurden die Freien 9% ein wandelnder Ein-Mann-Stammtisch, der
Wähler Teil der Regierung, und damals pro­ 5 mühelos zwischen detaillierter Sachkenntnis
phezeiten ihnen viele Landespolitiker das 4% und schepperndem Populismus changiert.
Schicksal der bayerischen FDP. Die durfte 0 Ende Januar eröffnet Aiwanger am Vor­
eine Legislatur mit dem damaligen Minister­ 2008 2013 2018 2023 mittag Batteriespeicher für grün erzeugten
präsidenten Horst Seehofer (CSU) mittun, Strom in Neustadt an der Aisch in Mittel­
S Quellen: Bayerisches Landesamt für Statistik, infratest
bevor sie dann 2013 aus dem Landtag flog. dimap; Befragungszeitraum vom 4. bis 9. Januar 2023, franken. Im Vollbetrieb kann die Anlage
Den Freien Wählern ist das Risiko bewusst: Befragte: 1190; Schwankungsbreite: 2 Prozentpunkte bei einem
Anteilswert von 10 %, 3 Prozentpunkte bei einem Anteilswert
30 000 Haushalte für eine Stunde mit Strom
»Wer mit einem Sumoringer ins Bett geht, von 50 %; an 100 fehlende Prozent: »eine andere Partei« versorgen. Es schneit leicht, Aiwanger posiert

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DEUTSCHLAND

geduldig im Trachtenjanker vor den graublau­


en Kästen, die wie große Trafohäuschen aus­
sehen. »Wir müssen viele Energieeinheiten
vor Ort speichern«, sagt Aiwanger. Es dürfe
nicht sein, dass Strom ungenutzt abgeregelt
werden müsse, weil man ihn nicht ins Netz
bekomme. »Und die Kommune muss auch
etwas davon haben«, etwa über Einnahmen
in der Gewerbesteuer. Hunderte Windräder
sollten laut Aiwanger in Bayern zusätzlich
ans Netz gehen und viele Hektar an Solar­
anlagen – beim Thema Energie steht seine
Partei eindeutig links von der CSU.
Wesentlich traditioneller klingen die Bot­
schaften bei Aiwangers Nachmittagstermin,
dem Neujahrsempfang des Hotel- und Gast­
stättenverbands Dehoga in Wendelstein bei
Nürnberg. Der Agraringenieur spricht ohne
Manuskript, wie fast immer, im Landtag hält
er so ganze Reden. Aiwanger weiß, was das
Publikum hören will, den »Wirtshausminis­
ter« nennen ihn seine Kritiker. »Sie sind die
Lebensfreude-Braaaanche«, ruft Aiwanger in
den Gastraum und zieht den Vokal lang. »Sie
sorgen dafür, dass das Land stabil ist und die
Leute sich wohlfühlen.« Der Stammtisch
­könne manchmal den Arzt oder Psychologen
ersetzen, deshalb seien die Gasthäuser »sys­
temrelevant«.
Dann kommt der Vizeministerpräsident
auf den Skitourismus zu sprechen, eines sei­
ner Lieblingsthemen, obwohl er selbst nicht
Ski läuft. Auch die Nachbarländer Bayerns
beschneiten ihre Pisten, das sei nichts Un­
rechtes. Er wettert gegen die Kritik von
­Grünen und Klimaaktivisten: »Es gibt ja mitt­
lerweile die Skischam, vorher gab es die Flug­
scham und die Fleischscham.« Als mit Ver­
spätung der ersehnte Naturschnee auf Bayern
niederkam, twitterte Aiwanger: »Hallo Grü­

Florian Generotzky / laif


ne, schon mitbekommen, dass Petrus die
Schneekanone wieder eingeschaltet hat? Na­
türlichen Schnee gibt es ja nach Eurer Ideo­
logie nicht mehr.« Bayerischer Wirtschafts­
minister Aiwanger
Er sei ein Optimist und freiheitsliebender
Mensch, so erklärt Aiwanger später an einem
Gastrostehtisch: »Man muss den Menschen dabei eher rechts von der CSU. Aiwanger Aiwanger hat als Ziel ausgegeben, man wol­
das Leben nicht ständig madig machen. Ich warf der Bundesregierung etwa vor, mit den le zweitstärkste Partei werden. Das ist ambi­
will die Leute lieber lachen als kuschen se­ erleichterten Einbürgerungsplänen werde Zu­ tioniert, 2018 erreichten die Grünen mehr als
hen.« Er glaube, die Bürgerinnen und Bürger wanderern die Staatsbürgerschaft »quasi hin­ 17 Prozent. Und ist Söder wider Erwarten doch
ärgerten sich, wenn der Staat in ihren Alltag terhergeschmissen«. zu stark oder zu wendig, etwa hin zu den Grü­
hineinregiere. »Ich gehe den Weg, dass ich Mit solchen Sprüchen bleibt er der mar­ nen, hätten sich Aiwanger und seine derzeit
gezielt den linken Mainstream konfrontiere, kanteste Politiker der selbst ernannten Gras­ wohlgestimmten Freien Wähler verschätzt.
weil ich diese Umerziehungsideologien nicht wurzelpartei. Er ist so beliebt, dass er in Generalsekretärin Enders bezeichnet den
akzeptieren will.« ­seinem Stimmkreis in Landshut ein Direkt­ gegenwärtigen Erfolg der Freien Wähler als
Allerdings gilt das Stimmvolk in Bayern mandat erringen könnte. Das wäre ein Zwischenschritt. Sie kündigt an, dass die Par­
als nicht gerade umerziehungsgefährdet, ähn­ schmerzlicher Verlust für die CSU, zumal sie tei auch bei der Bundestagswahl wieder an­
liche Sätze sind auch aus der CSU zu hören, bei der letzten Wahl 2018 sechs Direkt­ treten werde, trotz bislang bescheidener Er­
regelmäßig etwa beim Politischen Ascher­ mandate in München und Würzburg an die gebnisse. Schließlich habe sie in Bayern auch
mittwoch. Aiwanger gelingt es mit solcher Grünen abgeben musste. mehrere Anläufe gebraucht, um ins Parlament
Rhetorik aber zuverlässig, ein konservatives zu kommen. Nach der Wahl im Oktober stre­
Wählersegment anzusprechen. be man in Bayern ein viertes Ministerium an,
Bisweilen rollen sie in der eigenen Partei derzeit besetzen die Freien Wähler neben
die Augen über den Chef, etwa als sich Ai­ dem Wirtschafts- auch das Kultus- und das
wanger erst spät gegen Covid impfen ließ. Er »Ich gehe den Weg, dass Umweltministerium. Enders Ansage, auch in
pflegt auch beim Thema Migration eine här­
tere Rhetorik als die meisten Kommunalpoli­
ich gezielt den linken Richtung CSU: »Wir haben qualifiziertes Per­
sonal in allen Bereichen.«
tiker der Freien Wähler und positioniert sich ­Mainstream konfrontiere.« Jan Friedmann  n

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DEUTSCHLAND

Christian Charisius / picture alliance / dpa


Nachfahr Gregor
von Bismarck in
Friedrichsruh vor
dem Gemälde
»Die Proklamierung
des deutschen
Kaiserreiches« von
Anton von Werner

melte und präsentierte die Familie hier Ge-


schenke und Ehrengaben, die in Bismarcks
Domizil in Friedrichsruh bei Hamburg ein-

Schädel für den


trafen. Tausende pilgerten in den Sachsen-
wald, um dem Gründer des deutschen Natio-
nalstaats zu huldigen. Allein die Präsente zu

Staatsgründer
seinem 80. Geburtstag 1895 füllten mehrere
Eisenbahnwaggons: kostbare Skulpturen,
Möbel, Gemälde, dazu Nippes wie Tabak-
beutel, Bierseidel oder Speere und Geweihe
aus den deutschen Kolonien in Afrika.
RESTITUTION  Die Erben Otto von Bismarcks holen Tausende Kunst- und Manche Präsente in der Schönhauser
Sammlung kamen von Prominenten wie Kai-
Kulturobjekte aus ostdeutschen Museen, Sammlungen, einem Archiv – ser Wilhelm I. Vieles stammt aus der Breite
und fordern auch Beutestücke aus einstigen Kolonien in Afrika zurück. der Gesellschaft, von Beamten des »Kaiser-
lichen Postamtes zu Leipzig«, den Harzer
Werken Blankenburg, der Stadt Köln oder

D
a stehen sie auf dem gekachelten Boden Wertvolle Ölgemälde zählen ebenso dazu der »Colonie Deutsch-Ostafrika«.
im Bismarck-Museum von Schönhau- wie prachtvolle Ehrenbürgerbriefe für Otto 1948 wurde der Besitzer des Schlosses –
sen an der Elbe, verpackt in Papier oder von Bismarck. Auch die geschmiedete Kupfer- ein Enkel des Reichskanzlers, auch genannt
Kartons: 18 Schädel, fast alle aus Afrika. kanne und der silberne Ehrenschild sind da- »Otto Zwei« – in der sowjetischen Besat-
Reichskanzler Otto von Bismarck (1815 bis bei, die auf der Weltausstellung in Chicago zungszone enteignet. Das Inventar wurde
1898) bekam sie von Verehrern geschenkt. 1893 gezeigt wurden. Allein das Landesarchiv später auf Museen und Archive in der DDR
Seine Ururenkel könnten sie abholen, doch Sachsen-Anhalt musste 57 laufende Regal- verteilt. Erst nach der deutschen Einheit 1990
sie lassen sich Zeit. Besonders wertvoll sind meter herausgeben: Ehrendiplome, Huldi- bot sich den Erben die Möglichkeit, den Be-
die Schädel nicht, und den Großteil des Erbes gungs- und Grußadressen, Fotos. sitz zurückzuerlangen.
haben sie ja schon übernommen. Und ein Ende ist nicht absehbar, die Bis- »Otto Zwei« hatte allerdings als Diplomat
Knapp 5000 Objekte sind in den letzten marck-Erben haben einen »globalen Restitu- im »Dritten Reich« Karriere gemacht, das
Jahren an die Familie »zurückübertragen« tionsanspruch« auf alles, was einst im Wohn- Land Sachsen-Anhalt lehnte eine Rückgabe
worden, wie es im Amtsdeutsch heißt. Sie schloss in Bismarcks Geburtsort Schönhausen ab. Nach geltendem Recht ist eine Rück­
stammen aus Museen, Sammlungen, einem hing, stand oder lag. Vieles wird noch gesucht. erstattung ausgeschlossen, wenn jemand
Archiv in den neuen Ländern, aus Rostock, Das barocke Schloss, heute Verwaltungs- dem Nationalsozialismus »erheblichen Vor-
Stendal, Leipzig, Havelberg, Wernigerode sitz, beherbergte seit 1891 das erste Bismarck- schub« geleistet hat. Diese sogenannte
oder Schönhausen. Museum. Schon zu Lebzeiten des Alten sam- ­Unwürdigkeitsklausel soll verhindern, dass

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DEUTSCHLAND

Nazihelfer und ihre Erben entschädigt Selbst das neue Bismarck-Museum »Die Wissen- 1997 setzte Kohl eine Bundesstiftung
werden. in Schönhausen – 1998 auf dem ehe- mit Sitz dort durch, sie soll das »An-
Doch Fürst Ferdinand – Sohn von maligen Familiengrund eröffnet – hat schaft verliert denken an das Wirken des Staatsman-
»Otto Zwei« und Vater des heutigen gelitten und musste Objekte heraus- damit eine nes Otto von Bismarck wahren«, wie
Familienchefs Gregor in Friedrichs-
ruh – zog mit seinen Geschwistern
geben. Geschätzter Gewinn der
Erbengemeinschaft bisher: mehrere
einmalige es im Stiftungsgesetz heißt. Es räumt
den unmittelbaren Nachfahren ein
vor das Bundesverwaltungsgericht Millionen Euro. Sammlung.« umfangreiches und zeitlich unbe-
und siegte schließlich: Der Vorfahre »Die Wissenschaft verliert damit Andrea Hopp, grenztes Mitspracherecht ein – ein
habe sich nicht so viel zuschulden eine einmalige Sammlung, die vom Historikerin einmaliges Privileg.
kommen lassen. Jetzt gehört das In- Bismarck-Kult der Deutschen zeugt«, Insgesamt gibt es sieben Politiker-
ventar wieder den Bismarcks. sagt die Historikerin Andrea Hopp, gedenkstiftungen, sie erinnern an
Nach offiziellen Angaben sind Leiterin des Standorts Schönhausen Präsidenten und Kanzler, etwa an
­ihnen seit 2013 bereits zehn Teilbe- der Bismarck-Stiftung. Schon zu Leb- Adenauer oder Helmut Schmidt,
scheide und ein Ergänzungsbescheid zeiten des Reichsgründers hatte die ­deren Erben das jeweilige Haus und
zugegangen, der jüngste vor wenigen Auffassung um sich gegriffen, ein Füh- Archiv unentgeltlich einbrachten. In
Monaten. Sie sind damit den Hohen- rer könne die großen Fragen der Zeit allen Stiftungen spielten oder spielen
zollern voraus, die seit Jahren mit lösen – anders als Parteien oder eine die Familien der Geehrten eine Rolle,
dem Staat um alten Besitz und Ent- gewählte Regierung. Die Stücke aus doch gefeilscht wird nur mit den Bis-
schädigung streiten. Im Gegensatz zu dem einstigen Bismarck-Museum zei- marcks, und das seit Jahren. Auch
der einst kaiserlichen Familie haben gen, welches Milieu dem Kult verfiel. hier tritt eine – weitere – Erbenge-
es die Bismarcks auch geschafft, ihren Doch nun ist nur noch jener Teil zu- meinschaft auf, deren Mitglieder
Fall weitgehend aus der öffentlichen gänglich, den die öffentliche Hand ­anonym bleiben möchten. Auch hier
Diskussion zu halten. Kulturpolitiker, zurückgekauft hat. spielt Chef Gregor eine Rolle, der zu-
Museumsleute, Stiftungsmitarbeiter – Wer genau profitiert, ist nicht be- dem über sein persönliches Eigentum
lange Zeit wollte niemand darüber kannt, weil einige aus der ursprüng- verhandelte.
reden, was zur Unterschätzung des lichen Erbengemeinschaft verstorben Verärgert mahnte ihn ein Vertreter
Vorgangs beitrug. Auch der SPIEGEL sind und deren Nachfolger offenbar des Bundes 2019 im Kuratorium,
berichtete nur einmal kurz über Bis- anonym bleiben möchten. Immerhin dass die Stiftung nicht für die Familie
marcks »Nippes« (Heft 23/2015). Als hat Familienchef Gregor in der Ver- ­heute, sondern zur Würdigung des
2021 die Linke im Landtag von Sach- gangenheit für die Erbengemeinschaft Reichskanzlers gegründet worden sei.
sen-Anhalt nach den Rückgaben frag- öffentlich gesprochen. Von den vielen Dennoch erreichte der Nachfahr, dass
te, wurde die Antwort teilweise als Bismarcks – der Verein »von Bis- der Bund über die Stiftung insbeson-
Verschlusssache eingestuft, einzu­ marck’scher Familienverband« zähl- dere für das schwer renovierungsbe-
sehen nur in der Geheimschutzstelle te im vorigen Jahr nach eigenen An- dürftige familieneigene Bismarck-
des Landesparlaments. gaben 377 Mitglieder – haben nur die Museum in Friedrichsruh samt Inven-
Doch die Zeiten ändern sich. Ta­ unmittelbaren Nachfahren von »Otto tar 7,25 Millionen Euro zahlt. Und für
ma­ra Zieschang (CDU), Innenminis- Zwei« Ansprüche. Es handelt sich um die vordergründig selbstlose Schen-
terin von Sachsen-Anhalt, hält nichts eine kleine Gemeinschaft von Erben, kung des Archivs wurde Gregor von
von der Geheimniskrämerei ihres deren Namen »aus Datenschutzgrün- Bismarck eine Spendenbescheinigung
Vorgängers. Vor allem hat sich die den nicht näher benannt werden«, über 2,6 Millionen Euro ausgestellt,
Stimmung gedreht. Ob im Bundestag, teilt ein Anwalt mit. was vermutlich zu einer Steuererspar-
in der Bundesregierung oder der Kul- Traditionell konnten die Bis- nis führte.
turszene – der Ruf des Familienzweigs marcks auf das Wohlwollen insbeson- Norbert Brackmann, viele Jahre
um Gregor ist lädiert. Ein Spitzen- dere der Christdemokraten zählen, lang CDU-Bundestagsmitglied und
politiker in Berlin fasst es so zusam- mehrere Familienmitglieder saßen für heute Vorstandsvorsitzender der Stif-
men: »Denen geht es nur um Kohle.« die Union im Bundestag. Die Kanzler Reichskommissar tung, rechtfertigt die Vereinbarungen
Ein Vorhalt, den Familienchef Gre- Konrad Adenauer, Kurt Georg Kie- Wissmann (sitzend als »Rettungserwerb«. Die Stiftung
1. v. l.) im damaligen
gor zurückweist. Er und die Seinen singer und Helmut Kohl reisten nach Deutsch-Ostafrika
wollte demnach verhindern, dass
wollten lediglich »das materielle Erbe Friedrichsruh, um vom Glanz des be- 1889: Mit Blumen noch mehr historische Objekte auf
des Reichskanzlers dauerhaft für die rühmten Vorgängers zu profitieren. und Sklavenpeitsche dem Kunstmarkt landeten, etwa An-
Nachwelt erhalten«. ton von Werners berühmtes Gemälde
Über die Rückgabeforderungen »Die Proklamierung des deutschen
der Hohenzollern will die Potsdamer Kaiserreiches« in Versailles 1871. Sei-
Justiz in einigen Monaten verhan- ne Familie sei »mit der Konservierung
deln. Die Bismarcks hingegen können und der dauerhaften öffentlichen
über ihre wiedergewonnenen Besitz- Ausstellung überfordert«, argumen-
tümer bereits verfügen – und haben tiert Gregor von Bismarck. Er findet
einen Teil verscherbelt. In den ver- aber, es sei »im staatlichen Interesse,
gangenen Jahren sind auf Angebots- das historische Erbe des Reichskanz-
listen von Sotheby’s und dem Auk- lers dauerhaft zu bewahren«.
tionshaus Reiss & Sohn in Königstein Praktisch für die Familie: Chef
im Taunus Hunderte der restituierten Gregor mischte auf beiden Seiten bei
ullstein bild / picture alliance

Objekte aufgetaucht. Manches aus den Verhandlungen mit. Sein Anwalt


dem alten Bismarck-Museum wurde verhandelt für ihn und die Erbenge-
auch an die Bundesstiftung Otto meinschaft mit der Stiftung. Zugleich
von Bismarck oder das Land Sachsen-­ sitzt Gregor von Bismarck als einer
Anhalt verkauft, gegen das die Bis- von zwei Familienvertretern im fünf-
marcks zuvor geklagt hatten. köpfigen Stiftungskuratorium, das die

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 37


DEUTSCHLAND

Verhandlungen genehmigen musste – rungsjahr Bismarcks zum Reichskom- »Reiche Beute (»geschmiedet von gefangenen Ki-
und einstimmig dafür votierte. Den- missar in Deutsch-Ostafrika aufstieg. bosho-Mädchen«), eine Kopfbede-
noch bestreitet Gregor von Bismarck Wolf und Wissmann waren zumindest an Zeug, ckung (»Beute aus dem Gefechte
eine Interessenkollision. Er sei ja »an zeitweise im Hause des Kanzlers gern Elfenbein und Wissmanns«), vier Lendengürtel
den konkreten Verhandlungen nicht
auf Seiten der Stiftung beteiligt« ge-
gesehen. Dessen Ehefrau Johanna
notierte 1892, nachdem Wolf zu Be-
zahlreichem (»von vier als Gefangene eingebrach-
ten Mädchen«) und ein weiterer Gür-
wesen. such gewesen war und Blumen und Kriegs- tel aus Perlen (»der als Gefangene
Eine öffentliche Debatte über sol- eine Sklavenpeitsche mitgebracht hat- schmuck« eingebrachten Frau des Häuptlings«).
che Verfahrensfragen gibt es bislang te: »Es war so liebenswürdig von Ih- Nach der Enteignung 1948 lande-
Eugen Wolf,
ebenso wenig wie über die sogenann- nen, unser zu gedenken in so köstli- ­Journalist te ein Großteil der Afrika-Sammlung
te Afrika-Sammlung des Reichskanz- cher Weise, die uns sehr erfreut, und über diverse Stationen im heutigen
lers. Sie wurde einst im Vorsaal des wir beide danken Ihnen recht von Grassi-Museum für Völkerkunde in
Bismarck-Museums in Schönhausen Herzen dafür.« Leipzig. Die Dinge seien zu DDR-Zei-
präsentiert: Speere, Schmuck, Klei- Wissmann führte mit deutschen ten allerdings ohne besondere Kenn-
dungsstücke, überwiegend aus dem Offizieren und afrikanischen Söld- zeichnung in die Bestände einsortiert
Osten des Kontinents. nern mehrere Strafexpeditionen worden, heißt es aus Expertenkrei-
Der Journalist und Bismarck-Ver- gegen Aufständische im damaligen sen: »Da kamen Speere zu Speeren.«
ehrer Eugen Wolf hatte die Objekte Deutsch-Ostafrika durch. Selbst Ko- Eine Handvoll Objekte wurde bislang
in mehreren Tranchen dem Reichs- lonialoffiziere bezeichneten seine den Bismarcks rückübertragen, Stand
kanzler geschenkt. Zum 81. Geburts- Kriegsführung als »äußerst grausam«. jetzt ist nach Angaben des Museums
tag brachte er Schädel von Menschen Dörfer wurden geplündert und nie- »keine weitere Identifizierung mög-
aus Madagaskar mit. In einer Pension dergebrannt, Frauen und Kinder ver- lich«. Doch es ist absehbar: Sollte sich
in Friedrichsruh wurden die Über- schleppt. Überliefert sind Massaker diese Lage ändern, würden die ent-
reste und anderes aufgebaut. Nach mit Hunderten Toten, etwa aus dem sprechenden Stücke an die Bismarcks
Angaben der »Hamburger Nachrich- Feldzug gegen Sina von Kibosho, herausgegeben.
ten« kam Bismarck vorbei und prüf- Machthaber am Kilimandscharo. Nicht auszuschließen also, dass
te alles »mit liebevollem Verständ- Journalist Wolf, der Wissmann be- Auktionshäuser in den kommenden
nis«. Die Schädel gingen dann an gleitete, freute sich über die »reiche Jahren Bismarck-Objekte vom Kibo­
einen Forscher in Berlin, alles andere Beute an Zeug, Elfenbein und zahl- sho-Massaker anbieten. Spätestens
ins Museum nach Schönhausen. reichem Kriegsschmuck«. Viele Stü- dann dürfte eine öffentliche Debatte
Viele Geschenke Wolfs stammten cke gingen an die Bismarcks, wie aus beginnen, wie mit dem materiellen
vom berüchtigten Offizier Hermann einem Führer für das Museum von Erbe des Kanzlers umzugehen ist.
Wissmann, der im vorletzten Regie- 1892 hervorgeht. Dazu zählen Ringe Klaus Wiegrefe  n

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Zunächst zeigte er sich demonstrativ Treffens, der dem SPIEGEL vorliegt,


an der Seite der italienischen Minis- ist zu hören, wie EVP-Schatzmeister
terpräsidentin Giorgia Meloni. Selbst Paulo Rangel ankündigt: »Jetzt noch
einen Beitritt ihrer postfaschistischen etwas bürokratisches Zeug.« In

Letzte Warnung
Partei »Brüder Italiens« zur EVP schwer verständlichem Englisch redet
wollte er nicht ausschließen. er über Heiz- und Stromkosten, dann
Er berief sich dabei unter anderem sagt er unvermittelt: »Die sonstigen
auf die Zustimmung von Merz – auch Kosten enthalten die Vergütung des
da zu Unrecht. Der CDU-Chef hatte EVP-Präsidenten, die sich im Ver-
UNION  Friedrich Merz geht auf Distanz zu auf dem CSU-Parteitag lediglich be- gleich zu den früheren EVP-Präsiden-
tont, Deutschland müsse weiter mit ten Joseph Daul und Donald Tusk
­Manfred Weber. Der EVP-Vorsitzende kann sich der italienischen Regierung im Ge- nicht verändert hat.« Dann geht es
nach mehreren Patzern und der Aufregung um spräch bleiben. weiter mit den Druckkosten.
sein Doppelgehalt keinen Fehler mehr erlauben. Ein Schnitzer war ebenfalls, dass Den entscheidenden Satz dürfte
Weber Parlamentspräsidentin Metso- kaum ein Delegierter mitbekommen
la als mögliche Spitzenkandidatin ins haben – jedenfalls hat der SPIEGEL

D
ie Sache war Friedrich Merz Spiel brachte. Von der Leyen hat zwar mit mehreren Teilnehmern gespro-
wichtig. Eigentlich wollte der viele Kritiker auf dem konservativen chen, und keiner konnte sich daran
CDU-Chef am Montagvormit- Flügel ihrer eigenen Partei. Am Ende erinnern. Die Passage befand sich
tag im Parteivorstand das heikle Aus- aber, das weiß Weber selbst, wird ihr auch nicht in der Fassung des Proto-
schlussverfahren gegen den früheren die Kandidatur nicht zu nehmen sein – kolls, die kurz nach der Versammlung
Verfassungsschutzpräsidenten Hans- vorausgesetzt, sie will antreten. Und am 4. Dezember an die Delegierten
Georg Maaßen behandeln. Doch be- daran zweifelt in Brüssel niemand. ging. Erst nachdem Fragen zu den
vor er darauf zu sprechen kam, knöpf- Dass Merz die Entscheidung nun Zahlungen in der Partei aufgekom-
te er sich einen anderen Unionspoli- faktisch vorwegnimmt, bedeutet für men waren, wurde am 2. Februar das
Peter Rigaud

tiker vor: Manfred Weber, den Partei- Weber einen massiven Autoritäts­ vollständige Protokoll ins Intranet der
und Fraktionschef der Europäischen verlust. Er hatte über die Spitzenkan- Partei gestellt. Es enthielt nun auch
Volkspartei (EVP). Über ihn hatte sich didatur gesagt, seine Aufgabe sei es, Rangels Satz.
CDU-Chef
Merz gleich doppelt geärgert. Merz »die EVP zu führen und den Auswahl- Der EVP-Beschluss erwähnt auch
Zum einen hatte Weber die Präsi- prozess zu moderieren«. Daraus wird nicht, dass Tusk und Daul zwar kurz-
dentin des Europaparlaments, die wohl nichts mehr. zeitig Übergangsgelder, aber anders
Malteserin Roberta Metsola, als EVP- Der Streit um sein Gehalt als Par- als Weber nicht zusätzlich zum Vor-
Spitzenkandidatin für die nächste teichef passt ins Bild. Juristisch sitzendengehalt dauerhaft mehr als
Europawahl ins Spiel gebracht. Im scheint die Sache in Ordnung zu sein, 100 000 Euro Diäten als Abgeordne-
Vorstand stellte Merz klar, dass er von es gibt einen entsprechenden Be- te bezogen hatten. Auffällig ist zudem,
der Idee rein gar nichts hält – an der schluss der Politischen Versammlung dass an keiner Stelle die genaue Höhe
Spitzenkandidatur der amtierenden der EVP vom November in Lissabon. der Vergütung genannt wird – und
EU-Kommissionschefin Ursula von Weber nimmt für sich in Anspruch, in wer sie festgelegt hat.
der Leyen gebe es nichts zu rütteln, der Sache vorbildlich zu agieren, weil Dass Webers Transparenzoffen­
sagte er. Das habe er auch Weber zu er anders als seine Vorgänger seine sive missglückt ist, zeigte sich am
verstehen gegeben. Vergütung transparent gemacht habe. Dienstag auch in der Sitzung der
EVP-Vorsitzender
Zum anderen hatte es gerade Auf- Weber: Sehr
Es handelt sich allerdings um eine deutschen EVP-Abgeordneten. Wie
regung über das Gehalt gegeben, das eigenwillige Form sehr eigenwillige Form der Transpa- schon in der Vorwoche kritisierten
Weber sich als Vorsitzender der EVP der Transparenz renz. Auf einem Audiomitschnitt des mehrere Parlamentarier ihren Vor-
zahlen lässt – nach SPIEGEL -Infor- sitzenden. Der brandenburgische Ab-
mationen rund 9000 Euro netto im geordnete Christian Ehler sagte, der
Monat, obwohl er als Parlamentarier Vorgang sei intransparent und nicht
bereits sehr gut verdient. Er erwarte, hilfreich für die Union. Der Bochu-
dass Weber die Sache noch in dieser mer Dennis Radtke stellte die Frage,
Woche kläre, sagte Merz in der Vor- ob das jetzt die Transparenz sein sol-
standssitzung nach Angaben von Teil- le, die Weber angekündigt habe.
nehmern. Auch andere äußerten ihren Unmut
Für Weber ist die Kritik von Merz über die Außendarstellung der EVP.
peinlich. Er hatte erst in der vergan- Weber tat die Kritik mit dem Hin-
genen Woche in einer Sitzung des weis ab, die ganze Sache sei juristisch
EVP-Präsidiums behauptet, Merz in Ordnung. Im Juni will er die füh-
habe ihm Rückendeckung in der Ge- renden EVP-Politiker aller 27 EU-
haltssache zugesichert. Das war of- Mitgliedstaaten zu einer Klausur nach
fenbar Wunschdenken. Spanien einladen. Dann sollen die
Damit wird die Sache für Weber Ausrichtung der Partei für die Europa-
Fabian Strauch / FUNKE Foto Ser vices

politisch gefährlich. Verliert er Merz’ wahl im kommenden Jahr und eine


Unterstützung, steht er allein da – mögliche Spitzenkandidatur bespro-
schließlich hält CSU-Chef Markus Sö- chen werden.
der sowieso wenig von ihm. Was Merz Wenn Weber nicht aufpasst, steht
am Montag im Vorstand aussprach, noch ein anderes Thema auf der Tages­
war so etwas wie die letzte Warnung. ordnung: seine eigene Zukunft.
Weber hat sich in den vergangenen Jürgen Dahlkamp, Jan Friedmann,
Monaten bereits einige Fehler erlaubt. Florian Gathmann, Ralf Neukirch  n

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 39


DEUTSCHLAND

Angeklagter N. Staat bietet Menschen, die Angehörige pfle-


im Kriminalgericht gen, verschiedene Arten der Unterstützung
Moabit an. Der Fall von Herrn N. zeigt aber, wie
­jemand trotz allem durchs Raster dieser
­Angebote fallen kann.
Laut Statistischem Bundesamt waren im
Dezember 2021 fast fünf Millionen Menschen
im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes als
pflegebedürftig erfasst, hatten also einen so-
genannten Pflegegrad. Ihre Zahl hat sich seit
2015 fast verdoppelt, die Mehrheit von ihnen
waren Frauen. Die allermeisten, mehr als vier
Millionen, wurden zu Hause betreut, von
Pflegekräften oder Familienmitgliedern. Nur
um jede sechste betroffene Person kümmern
sich vollständig die Pflegeheime.
Einen Angehörigen zu Hause zu pflegen
ist ein Knochenjob. Geht es um Kranke mit
hohem Pflegegrad und Demenz, wären oft
mehrere Kräfte nötig, um diese Aufgabe zu
bewältigen. Dazu kommt, dass Demente oft
nicht spüren, wie sich ihr Zustand verschlech-
tert. Sie verdrängen oder überspielen es, in-
dem sie mit Floskeln Konversation machen,
langjährige Alltagsrituale abrufen. Und An-
gehörige wollen häufig nicht wahrhaben, wie
schlimm es um einen geliebten Menschen

Rainer Keuenhof / DER SPIEGEL


steht.
Auch Herr N. tröstete sich mit dem Blick
in die Vergangenheit, das tut er auch im Ge-
richt: 1982 begegnete er seiner späteren Frau
im Urlaub auf Zypern. Sie war Norwegerin,
mit weißblonden Haaren. »Sie sah fantastisch
aus«, sagt Herr N. Sie waren beide Ende drei-
ßig, ungebunden. Er besorgte sich heimlich
ihre Adresse, flog unangemeldet von Berlin
nach Oslo, stand mit seinen Koffern vor ihrer

»Ich war ganz allein«


Haustür. »Sie muss gemerkt haben, wie sehr
ich sie liebe.« Wenige Monate später heirate-
ten sie in Norwegen, 1983 zogen sie nach Ber-
lin, 1985 bekamen sie eine Tochter.
Herr N. arbeitete als Justizwachtmeister
STRAFJUSTIZ  Ein Rentner tötet seine pflegebedürftige Frau. im Amtsgericht Charlottenburg, sie kümmer-
Der Prozess zeigt, warum der Mann keinen anderen Ausweg sah. te sich um den Haushalt und um das Kind.
»Wenn ich nach Hause kam, stand das Essen
aufm Tisch«, sagt Herr N., ein höflicher, ge-

B
evor Herr N. die Liebe seines Lebens N. selbst schildert, was er am 31. Mai 2022, pflegter Mann. »Ein schöneres Leben hätte
tötet, stellt er einen Stuhl auf den Bal- morgens gegen halb neun, getan hat: Er ich mir nicht vorstellen können.« Er ist
kon. Er bringt ein altes Paar Schuhe und drückt ihr das Kissen aufs Gesicht. Als er schmal, versinkt in seinem anthrazitfarbenen
ein Paar ausgebeulte Hosen zum Müllcontai- spürt, dass seine Frau tot ist, legt er es bei- Anzug, das silberne Haar streng gescheitelt.
ner, er räumt die Küche auf. Es soll ordentlich seite, gibt ihr einen letzten Kuss und wählt Noch immer trägt er seinen goldenen Ehering.
aussehen, wenn die Rettungskräfte in die die 110. Er nennt seinen Namen, seine Adres- Der Vorwurf der Staatsanwältin sei wahr,
Zweieinhalbzimmerwohnung in Berlin-Span- se. »Ich habe eben meine Frau umgebracht«, lässt Herr N. seinen Verteidiger Roland Weber
dau kommen und seine Frau finden. sagt er. Dann geht er auf den Balkon, stellt erklären. Das sei »nicht zu entschuldigen«,
Herr N. geht zu ihr ins Schlafzimmer, tritt seine Hausschuhe vor den Stuhl, klettert er wolle aber versuchen, »die Umstände dar-
an ihr Bett. Er ist 77 Jahre alt, sie 79. Sie leidet ­darauf und springt. Seine Wohnung liegt im zulegen«. 2009 ging er in Rente und über-
unter Demenz, sagt er. Sie war seit fast einem dritten Stock. nahm den täglichen Einkauf. Sie kochte, wäh-
Jahr nicht beim Friseur, hat seit sechs Mona- Doch Herr N. überlebt schwer verletzt. Ab rend er die Zeitung las. Sie gingen spazieren,
ten nicht mehr das Haus verlassen, obwohl dem 8. Februar steht er vor Gericht. Er habe sahen politische Sendungen im Fernsehen.
er auf sie eingeredet hat. Er hatte sich in der einen Menschen getötet, ohne Mörder zu sein, Sie hatten nicht viele Freunde, sie waren sich
Nachbarschaft dafür einen Rollstuhl geliehen. sagt Staatsanwältin Silke van Sweringen. selbst genug. Ab und zu flogen sie nach Nor-
Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Brief Es ist eine Tat, die sich angekündigt hatte wegen oder nach Schweden, wo die erwach-
an die gemeinsame Tochter. Er könne »nicht und die doch niemand erwartete. Je kränker sene Tochter inzwischen lebte. »Es war der
mehr«, hat er geschrieben. Daneben beide seine Frau wurde, umso schneller war seine Himmel auf Erden«, sagt Herr N.
Personalausweise, die Krankenversicherten- Erschöpfung gewachsen und zum Schluss Dann sei seine Frau »schrullig, wunder-
karte, Unterlagen vom Bestattungsinstitut. auch seine Verzweiflung. Er glaubte, er kön- lich« geworden, so nennt er es. Er habe nicht
So wird es im Prozess gegen Herrn N. im Kri- ne seine Frau einfach nicht mehr pflegen, er gemerkt, dass sie gesundheitlich abbaute und
minalgericht Berlin-Moabit rekonstruiert. fühlte sich hoffnungslos überfordert. Der er immer mehr Aufgaben übernahm. Erst

40 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


DEUTSCHLAND

recht, nachdem sie im Sommer 2021 achterin sprach kurz mit Frau N., die Eine Ärztin empfahl eine Unter­
wegen eines Aneurysmas, der Aus­ beteuerte, es gehe ihr gut. Im Novem­ Das große bringung im Heim. Herr N. ging zu
sackung der Bauchschlagader, eine ber wurde der Antrag abgelehnt. Im Vergessen einem Seniorenheim in der Nähe,
schwere Operation hatte. Sie verlor Fall eines Demenzverdachts sei es fragte nach einem Platz, aber die
den Appetit, klagte über Schmerzen, »vielleicht nicht so schlau« den Pro­ Geschätzter Anteil 2000 Euro im Monat konnten sie sich
das Herz war angeschlagen, das geht banden via Telefon zu untersuchen, Demenzkranker an nicht leisten. Ohne Pflegestufe erst
ihrer Altersgruppe in
aus den Unterlagen der Klinik hervor. bemerkt der Vorsitzende Richter Deutschland, in recht nicht. Vielleicht war er insge­
Sie hatte 60 Jahre lang geraucht und Mark Sautter. Prozent heim erleichtert, er wollte sie ja nicht
litt unter einer chronischen Lungen­ Wenn die Tochter anrief oder die abschieben. »Sie hat sich doch auf
40 bis 59 Jahre
erkrankung, bei der sich die Atem­ Nachbarn fragten, wie es gehe, fing mich verlassen.« Dass sie in einem
0,2
wege verengen. Frau N. bekam schwer Herr N. an zu weinen. »Meine Frau Heim besser aufgehoben sein könnte,
Luft und mochte nicht mehr das Haus ist nur noch ein Schatten ihrer selbst«, 60 bis 64 Jahre diesen Gedanken äußert er vor Ge­
verlassen. erzählte er einer Nachbarin. Zu Weih­ 0,9 richt nicht.
Der psychiatrische Sachverständi­ nachten 2021 habe sie dem Ehepaar ab 65 Jahren Frau N. wurde aus der Klinik ent­
ge, der eigentlich Herrn N. begutach­ Blaukraut, Kroketten und Braten 9,2 lassen mit einem Sauerstoffgerät. In
ten soll, geht davon aus, dass Frau N. ­gebracht. Die beiden hätten in der den meisten Krankenhäusern gibt es
S Quellen: Destatis,
zudem schon länger unter einem de­ Küche gesessen, er in seinem Anzug, einen Sozialdienst, der sicherstellen


Deutsches Zentrum für
menziellen Syndrom litt. Zu ihren sie im roten Samtkleid. Er habe ihr Altersfragen, Alzheimer
Europe, eigene Berechnung;
soll, dass die Patienten nach der Ent­
Lebzeiten diagnostiziert wurde es das Fleisch geschnitten, weil sie das Stand: Ende 2021 lassung versorgt werden. Ein Kran­
nicht. Laut Bundesgesundheitsminis­ Messer nicht mehr habe halten kenhaus kann auch einen Eilantrag
terium gibt es in Deutschland 1,6 Mil­ ­können. auf einen Pflegegrad stellen und Kon­
lionen Demenzerkrankte. Experten Herr N. »wurde immer trauriger, takt zu einem ambulanten Pflege­
gehen von einer weitaus höheren weil er seine Frau schwinden sah und dienst organisieren. Was genau das
Zahl Betroffener aus. ihr nicht helfen konnte«, sagt die Krankenhaus im Fall von Frau N. tat,
Ab dem Herbst 2021 verließ Herr Nachbarin. Sie bestellte Inkontinenz­ kommt im Prozess nicht zur Sprache.
N. kaum noch das Haus, weil er seine unterlagen fürs Bett, kam alle zwei Doch am 18. Mai meldet sich die
Frau nicht lange allein lassen wollte. Wochen zum Putzen. Im Januar, sagt Krankenkasse: Der Medizinische
Der ganze Tag drehte sich um ihre Herr N., habe er erneut einen Antrag Dienst werde sich wegen einer Begut­
Versorgung. »Manchmal wusste ich auf Pflegestufe gestellt, doch er habe achtung melden. Wieder telefonisch.
nicht, wie ich es schaffen sollte: Nie keine Rückmeldung erhalten. Da stand Herr N. mit seiner schwer
gab es eine Pause.« Irgendwann schlief Herr N. nicht kranken Frau und wusste nicht weiter.
Er machte den Haushalt und die mehr neben seiner Frau im Bett, so »Wir haben in Deutschland kein
Wäsche, kochte, obwohl er es nicht wie er es jahrzehntelang getan hatte. gutes Nachsorgesystem«, sagt Uwe
konnte. Seine Frau saß im Sessel oder Sie wusch sich nicht mehr, er hielt den Johansson, Chefarzt der Geronto­
blieb im Bett. Zum Essen half er ihr Geruch nicht aus, auch das schildert psychiatrie der LWL-Klinik in Dort­
in die Küche. Jeden Morgen holte er er. Er begleitete sie jede Nacht mehr­ mund. Die Krankenhäuser seien zwar
zwei Brötchen und die Zeitung, Frau mals zur Toilette, schrubbte den verpflichtet, als Teil ihres Entlass­
N. aß nur ein paar Bissen, rauchte ­Boden, wenn alles danebenging, managements eine Versorgung sicher­
dann eine Zigarette und schmiedete wechselte ihre Bettwäsche und die zustellen, doch das funktioniere in
Pläne für die nächste Reise nach Windeln. Einmal habe sie sich im vielen Fällen nur mäßig. In den Nie­
Skandinavien. Dabei war ihr der Weg ­Badezimmer auf die Waschmaschine derlanden gebe es das Pflegemodell
zum Rauchen vor die Tür schon zu gestützt und gesagt: »Wie soll das nur »Buurtzorg«, übersetzt: Nachbar­
weit. Eine Nachbarin berichtet im weitergehen?« schaftspflege: Staatlich bezahlte Pfle­
Prozess, sie habe gesagt: »Du kannst Aufgeben kam für Herrn N. nicht geteams versuchen, ein soziales Netz
nicht mehr verreisen.« Daraufhin infrage. Er hatte seiner Frau vor Jahr­ für Menschen zu spannen, die aus
habe Frau N. sie schief angeblickt. zehnten ein Versprechen gegeben: in dem Krankenhaus entlassen werden.
»Sie hat sich nicht so gesehen, wie sie guten wie in schlechten Zeiten. »Das Roland Weber vertritt Herrn N.
war«, sagt die Nachbarin. galt immer uneingeschränkt«, sagt er vor Gericht. Weber ist Fachanwalt für
Frau N. vergaß, wie spät es war im Gericht. Und weint. Strafrecht und doch nicht der klassi­
und welcher Tag, wurde einsilbig, Im Frühjahr 2022 fand Herr N. sei­ sche Strafverteidiger, er ist seit zehn
störrisch, umständlich. Sie löste keine ne Frau im Nachthemd auf dem Bal­ Jahren auch ehrenamtlicher Opfer­
Kreuzworträtsel mehr, verstand die kon, sie hatte sich eingenässt, nahm beauftragter des Landes Berlin. We­
politischen Fernsehsendungen nicht davon aber keine Notiz, sagt er. Sie ber sagt, im Fall N. sei eine Grenze
mehr und nahm zehn Kilo ab. Zum habe nur noch mit »Ja« oder »Nein« des Strafrechts erreicht, weil der Fall
Arzt wollte sie partout nicht. So schil­ geantwortet, sprach sonst kaum. »Ich von anderen Tötungsdelikten »so
dert Herr N. es im Gericht. war ganz allein«, sagt Herr N. sehr abweicht«, dass es keine ange­
Er habe gespürt, wie er seine Frau Im April stellte er erneut einen An­ messene Strafe gebe. »Die unstrittige
an die Krankheit verlor, berichtet er. trag auf einen Pflegegrad bei der Tötungshandlung ist nämlich das
Aber er kannte sich nicht aus – weder Krankenkasse. Am 11. Mai, drei Wo­ ­Resultat eines völlig unzulänglichen
mit Demenz noch mit der Pflege. Im chen vor der Tat, wurde ihre Atemnot Hilfssystems für Pflegebedürftige.
Oktober stellte er einen Antrag auf schlimmer. »Sie japste nach Luft«, Wie aber sollen die Folgen dieses
Pflegegrad bei der Krankenkasse sei­
ner Frau. Ein solcher Pflegegrad ist
sagt Herr N. Er rief die Feuerwehr,
seine Frau kam ins Krankenhaus.
»Sie muss ­Armutszeugnisses in einem der welt­
weit teuersten Sozialsysteme bestraft
oft Voraussetzung dafür, einen ambu­ Er saß an ihrem Bett, sie feierten den gemerkt werden?«
lanten Pflegedienst einsetzen zu kön­ 39. Hochzeitstag. »Wir haben beide haben, wie Zur Wahrheit zählt, dass alle, die
nen. Wegen Corona fand die Begut­ gespürt, dass wir unsere Rubinhoch­ in Deutschland für einen Angehöri­
achtung durch den Medizinischen zeit nicht mehr erleben werden.« sehr ich gen oder sich selbst einen Pflegegrad
Dienst nur am Telefon statt. Die Gut­ Herr N. schluchzt. sie liebe.« beantragen, Anspruch auf eine Pfle­

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 41


DEUTSCHLAND

geberatung haben. Das teilen die Kranken-


SPIEGEL TV Programm kassen standardmäßig in Briefen mit, die sie
nach einem solchen Antrag verschicken, in-
klusive Telefonnummer und Internetadresse.
Außerdem gibt es, gerade in Großstädten,
eine Vielzahl kostenloser Beratungsstellen für
pflegende Angehörige. Wird kein Pflegegrad
zuerkannt, können Betroffene dem wider-
sprechen oder im zweiten Schritt dagegen
klagen.
Zur Wahrheit zählt aber auch, dass etliche
überfordert sind, sich in diesem System zu-
rechtzufinden. Und womöglich gerade jene,
die Hilfe am allermeisten brauchen.
Nach der Tat fand eine Kommissarin in der
Post ein Schreiben vom Medizinischen
Dienst. Herr N. solle sich wegen eines Termins
für eine Begutachtung melden. Sie habe dort

SPIEGEL TV
angerufen, erzählt die Polizeibeamtin im Ge-
richt, und habe gerufen: »Das hat sich erle-
digt!« Und sie sagt: »Ich hätte denen am liebs-
Ukrainische Soldaten bei Einsatzbesprechung in Bachmut
ten den Obduktionsbericht geschickt: Frau
N. war nur noch Haut und Knochen, schwer
SPIEGEL TV SPIEGEL GESCHICHTE krank, inkontinent.«
MONTAG, 20. 2., 23.20 – 0.00 UHR, RTL DONNERSTAG, 23. 2., 20.15 – 22.30 UHR, SKY Die Kommissarin ist aufgebracht: »Ich war
so entsetzt über dieses Scheißsystem in Co-
Ein Jahr Krieg – Reportage Ukraine – Im Würgegriff ronazeiten!« Der Vorsitzende sagt: »Man
aus der Ukraine ­Russlands merkt Ihnen an, der Fall hat Sie berührt?«
Am 24. Februar 2022 überfiel Putins Den Überfall auf sein Nachbarland be- Die Kommissarin erzählt, dass sie ihren
Armee die Ukraine. Ein Angriffskrieg ohne gründet Putin mit der Behauptung, die schwer kranken Mann gepflegt habe. »Aber
jede Vorwarnung. Zum Jahrestag ist Ukraine sei nie ein eigenständiges Land ich bin 20 Jahre jünger als Herr N. Wie kann
SPIEGEL-TV-Reporter Andreas Lünser ins gewesen und müsse von nationalisti- man alte Menschen nur so alleine lassen?«
Krisengebiet gereist. Er traf Zeugen schen Kräften gesäubert werden. Eine Herr N. habe sich vor der Tat in einer »prä-
und Überlebende des russischen Mas­ dreiste Lüge, denn schon seit der Zaren- suizidalen Verfassung« befunden, sagt der
sakers in Butscha und begleitete Spezial- zeit streben die Menschen im Westen psychiatrische Sachverständige. Er habe
einheiten der Polizei bei lebensgefähr­ des Reiches nach Unabhängigkeit. durch die »Überforderungs- und Belastungs-
lichen Rettungsaktionen. Eine Reportage situation eine schwere depressive Episode
über das erste Kriegsjahr und die entwickelt«. Es sei nicht auszuschließen, dass
aktuelle Lage an der Front in Bachmut RTL ZWEI er zur Tatzeit vermindert schuldfähig war.
und Donezk. DIENSTAG, 21. 2., 21.15 – 23.15 UHR, RTL ZWEI Die Staatsanwältin beantragt in ihrem Plä-
doyer eine Freiheitsstrafe von zweieinhalb
Mensch Retter – Folge 2 Jahren. Eine Bewährungsstrafe sei das falsche
ARTE RE: Signal.
MONTAG, 20. 2., 19.40 – 20.15 UHR, ARTE Das Gericht sieht es anders. Es verurteilt
Herrn N. nach drei Verhandlungstagen wegen
Boom der Bunker – Totschlags in einem minder schweren Fall zu
Wohin im Ernstfall? zwei Jahren Freiheitsstrafe und setzt diese
Seit Beginn des Ukrainekriegs fragen zur Bewährung aus. Seine Ehe sei für Herrn
sich auch viele Bürgerinnen und Bürger N. »das wesentliche Fundament seines Le-
anderer Länder: Wie schützen wir uns bens« gewesen, sagt Richter Sautter, am Ende
SPIEGEL TV

eigentlich bei einem Angriff? In Deutsch- sei er von »nahezu vollständiger Hilflosigkeit«
land gibt es für die rund 84 Millionen gelenkt worden. Die Kammer wolle keinen
Einwohner weniger als 500 000 Bunker- Sanitäterinnen Kaiser, Datta Schuldvorwurf an die Klinik, die Kranken-
plätze. Dagegen ist die sogenannte kasse oder den Medizinischen Dienst richten,
Schutzraumpflicht in der Schweiz sogar Ob in der Notaufnahme in Hanau oder aber Frau N. habe objektiv Anspruch auf Leis-
gesetzlich verankert. Jedem Bürger steht auf den Straßen von Frankfurt – auch tungen gehabt – »und mit ihrer Gewährung
dort ein Platz im Bunker zu. diesmal haben die Retter alle Hände voll wäre es nicht zu dieser Tat gekommen«.
zu tun. Der Grund: Immer mehr Men- Wie es Herrn N. heute gehe, hatte Sautter
schen wählen die 112 oder gehen direkt die Nachbarin gefragt. »Schlecht«, sagte sie.
in die Notaufnahme, statt ihren Hausarzt »Er vermisst seine Frau. Und ich glaube, er
aufzusuchen. Eine Patientenflut, die das braucht Hilfe. Er ist noch immer ganz ver-
SPIEGEL TV / Jonas Schmailzl

Gesundheitssystem stark belastet. In zweifelt.« Zum Abschluss wendet sich der


Frankfurt am Main ist diesmal ein reines Richter an den Verurteilten: »Wir hätten Ih-
Frauenteam am Start: die 38-jährige nen gerne noch geholfen, aber dafür sind
Notfallsanitäterin Melli Kaiser und ihre unsere Möglichkeiten nicht gegeben.«
Kollegin, Rettungssanitäterin Kasia Datta. Herr N. hat nun wieder einen Antrag auf
Ein eingespieltes Team, wenn es Pflegegrad gestellt. Für sich selbst.
Soldaten in Schweizer Festung Castels darum geht, Menschen in Not zu helfen. Julia Jüttner  n

42 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


DEUTSCHLAND

nommen, weil er verdächtigt wurde,


zwei Gullydeckel in der Nähe von
Harsum auf die Autobahn A7 gewor-
fen zu haben. Ein Autofahrer wurde
schwer verletzt, seine Frau auf dem

Heimat der Zombies


Beifahrersitz lebensgefährlich. Nach
knapp sechs Wochen Untersuchungs-
haft kam der Mann frei. Er bestreitet
die Tat, die Ermittlungen dauern an.
Im Januar erhob die Staatsanwalt-
ORTSTERMIN  Ein Bürgermeister will eine Schusswaffe tragen, weil er bedroht schaft Hildesheim Anklage gegen ihn,
wird. Doch die Polizei ist dagegen und fürchtet eine Eskalation. Zu Recht? weil er auch für zwei Bombendrohun-
gen verantwortlich sein soll.
Litfin sagt, dass nachts Unrat auf

H
arsum ist eine idyllische Ge- den Straßen im Ort verteilt werde. Er
meinde mit gut 11 000 Ein- habe Hinweise darauf, dass der psy-
wohnern südlich von Hanno- chisch kranke Mann Müll aus Contai-
ver. Die Sehenswürdigkeiten: eine nern heraushole. In Litfins Vorgarten
neoromanische Kirche und ein weißes fanden sich Säcke mit menschlichen
Fachwerkrathaus, erbaut 1803. Für Exkrementen.
den parteilosen Marcel Litfin ist das »Aggressor« Nummer drei sitzt
Amt des Bürgermeisters eigentlich noch eine 15-monatige Freiheitsstra-
ein Traumjob. Wenn nur die vielen fe ab, weil er einen Pfarrer in Harsum
Briefe im Kasten der Gemeinde nicht angegriffen und verletzt hat. Es ist

Julian Stratenschulte / picture alliance / dpa


wären. ein rechtsextremer Reichsbürger. Bei
»Das wars. Litfin stirbt.« einer Durchsuchung entdeckte die
»Tod« Polizei Äxte, eine Lanze und eine
»Freitag 9.00 stirbt er.« Gaspistole. »Der Hass auf den Staat
Die Polizei nahm die Drohung hat sich wohl auf mich als dessen Ver-
vom März vergangenen Jahres ernst treter übertragen«, vermutet Litfin.
und gewährte Litfin am genannten Wenn er ihm in Harsum begegnet sei,
Freitag Personenschutz. Zudem fuhr habe der Mann »Heil Hitler, Herr
sie zu einer »Gefährderansprache« Bürgermeister« gerufen. Einmal habe
zum Absender. Der Mann hatte sei- der Reichsbürger sogar seinen Hund
nen Personalausweis mitgeschickt. Er auf ihn gehetzt, so Litfin. Er sei in sein
soll früher als Obdachloser in Harsum Litfin weiß, wer ihn bedroht, er Bürgermeister Auto geflüchtet.
gelebt haben. Er hatte offenbar nicht nennt die Männer »Aggressoren«. Litfin mit Anwältin Das ist die Situation in Harsum:
vor Gericht
mitbekommen, dass seine Mutter ver- Der Zweite ist ein 50-Jähriger, der ein ehemaliger Obdachloser mit per-
storben und von der Gemeinde bei- gleich neben dem Rathaus wohnt. Er sönlichem Groll, ein Briefschreiber
gesetzt worden war. Deswegen ist er schreibt fast täglich wirre Briefe an mit Verfolgungswahn und ein Reichs-
so wütend auf Litfin. den Bürgermeister und den Chef des bürger mit Hund. Die Polizeidirek-
Und er ist nicht der Einzige. Ein Fachbereichs Sicherheit und Ord- tion in Göttingen gewährte Litfin vor-
Berater des Bürgermeisters formuliert nung. Er wirft seine Schreiben nachts erst keinen weiteren Personenschutz.
es so: »Harsum ist ein Zombie-Dorf, in den Briefkasten der Gemeinde. »Er Er stellte einen Antrag auf einen Waf-
wenn abends die Glocken schlagen, fühlt sich ganz offensichtlich vom fenschein beim Landkreis Hildes-
kommen sie raus.« Staat verfolgt und überwacht«, sagt heim. Abgelehnt. Auch seine Klage
An besagtem Freitag passierte Litfin. »In den Briefen notiert er, wie dagegen vor dem Verwaltungsgericht
nichts. Aber sicher fühlt sich der Bür- lange wir abends getagt haben, und in Hannover schlug fehl. Der Kammer
germeister, der vor zwei Jahren mit das angeblich nur seinetwegen.« sei »bewusst, dass es Angriffe auf
87 Prozent der Stimmen wiederge- Am 26. Oktober habe ein Unbe- Mandatsträger in Deutschland« gebe,
wählt wurde, schon lange nicht mehr. kannter bei einem Mitarbeiter ange- hieß es bei der Verhandlung. Doch
Litfin sitzt in seinem Rathausbüro vor rufen, so Litfin. Er wisse, wo der Bür- das Gericht orientierte sich an der Ge-
vier Ordnern voller Hassbriefe. Der germeister wohne und werde gleich fährdungsanalyse der Polizei, wonach
36-Jährige sagt, er habe Angst um dorthin fahren und ihm den Schädel es »keine ernst zu nehmende Gefahr«
sich und um seine Familie. Darum will einschlagen, soll der Mann gesagt ha- für den Bürgermeister gebe. Schließ-
er eine scharfe Waffe haben, »am ben. Litfin fuhr sofort nach Hause, wo lich sei Litfin noch nie tätlich ange-
liebsten eine kleine, handliche Pisto- seine Frau mit den beiden Kindern griffen worden.
le, die sich unauffällig unter einem allein war. Die Polizei stellte fest, dass Eine Waffe könne auch zu einer
Sakko tragen lässt«. Auf die Polizei
will er sich nicht verlassen, die be-
der Anruf vom Handy des wirren
Briefschreibers kam. Wieder rückte
»Am liebsten Eskalation führen, meinten die Beam-
ten. Litfin empfindet das Urteil als
nötige bei einem Angriff mehrere die Polizei zur »Gefährderansprache« eine kleine, Provokation. »Muss erst etwas
­Minuten, um vor Ort zu sein. an. Kurz darauf drohte der Mann per handliche Schlimmes passieren, bevor jemand
Die heutige Kölner Oberbürger- Brief, dem Bürgermeister »mit dem meine Situation ernst nimmt?« Er
meisterin Henriette Reker wurde 2015 Hammer den Schädel einzuschlagen«. Pistole, die plane, in Berufung zu gehen. Eine
niedergestochen, der Kasseler Regie- Laut einem psychiatrischen Gut- sich unauf­ Schreckschusswaffe habe er sich
rungspräsident Walter Lübcke 2019 achten leidet er an einer »schweren schon vor Jahren zugelegt. Nun will
ermordet. Wie kann und soll das Land paranoiden Schizophrenie«. Im ver- fällig tragen er eine richtige Pistole.
seine gewählten Vertreter schützen? gangenen August wurde er festge- lässt« Hubert Gude  n

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 43


D E B AT T E U K R A I N E K R I E G

So etwas wie ewigen Frieden gibt es nicht 


SPIEGEL-Redakteur Tobias Rapp hat 1991 den Kriegsdienst
verweigert. Nun hat er seine Verweigerung zurückgezogen.

I
ch habe vor einigen Tagen Ich habe 1991 verweigert. In­ du dann den Dienst an der Waffe
einen Brief geschrieben. An ein mitten von Bundeswehrsoldaten, verweigern? Ich weiß noch genau,
Amt mit dem schönen Namen die kurzfristig ihr pazifistisches Ge­ dass ich mir sehr schlau vorkam,
Bundesamt für Familie und zivilge­ wissen entdeckten, als der Zweite diese Geschichte ausgehebelt zu ha­
sellschaftliche Aufgaben (BAFzA). Golfkrieg losging. Wer damals den ben, indem ich auf die mangelnde
Er ist nur ein paar Zeilen lang. Kriegsdienst verweigerte, ging zu Vergleichbarkeit zwischenmensch­
»Sehr geehrte Damen und Herren, einer Beratungsstelle, die einem licher und zwischenstaatlicher Be­
ich möchte gerne meine Verweige­ half, Worte für den Gewissenskon­ ziehungen verwies.
rung des Kriegsdienstes zurückzie­ flikt zu finden, der einem das Recht Im Nachhinein glaube ich, dass
hen. Ich fühle mich nicht mehr aus gab, den Dienst an der Waffe zu ich es mir zu einfach gemacht habe:
Gewissensgründen daran gehindert, verweigern. Und das Schöne am Beschreibt sie nicht ziemlich präzi­
den Dienst an der Waffe zu leisten. Gewissen ist ja: Jeder kann behaup­ se uns und die Schwierigkeiten,
Mit freundlichen Grüßen«. ten, dass es ihn quält. Ihr seid nicht mit dem Überfall Russlands auf die
Was aus diesem Brief wird, ist mir feige, wenn ihr nicht kämpfen wollt, Ukra­ine umzugehen?
nicht ganz klar. Wahrscheinlich wird wurde uns auf der Beratungsstelle Es dürfte welthistorisch kein
meine Akte nur von einem digitalen gesagt, ihr seid mutig. Aber ihr mächtiges Land geben, das sich das
Karteikasten in den anderen über­ müsst es erklären. Militärische so gründlich abge­
stellt, und das war’s. Ich bin 51 Jahre Besonders mutig kam ich mir wöhnt hat, wie die Bundesrepublik
alt, dass ich jetzt noch einmal an der ­damals schon nicht vor, ich kannte Deutschland. Dass es das Recht auf
Waffe dienen muss, wird kaum pas­ niemanden, der zur Bundeswehr Kriegsdienstverweigerung gibt, ist
sieren. Aber deshalb habe ich meine wollte, in meiner Schulklasse ver­ einer der großen demokratischen
Verweigerung auch nicht zurück­ weigerten alle. Der subtile Druck Errungenschaften vor dem Hinter­
gezogen. Ich glaube, dass sie ihren der sozialen Anerkennung wies in grund einer Geschichte, in der das
Sinn verloren hat. Denn die Welt, Richtung Zivildienst. Tatsächlich Militär jahrhundertelang eine so be­
in der ich sie erklärt habe, ist unter­ war die Verweigerung ja eine Art deutende und fatale Rolle gespielt
gegangen. Vielleicht existierte sie zweite Abiturprüfung, ein Teil der hat wie in Deutschland.
nur in meinem Kopf und den Köpfen »éducation sentimentale« der Söhne Allerdings kam die große Abrüs­
vieler anderer Deutscher. des deutschen Bürgertums. Ein Test, tung erst nach der Wiedervereini­
Die russische Armee hat in den den derjenige bestand, der in der gung, vorher war die Bundeswehr
vergangenen Jahrzehnten Zehntau­ Lage war, auf ein paar handschrift­ eine der größten Armeen der euro­
sende von Zivilisten getötet. Sie lich verfassten Seiten ein schlüssiges päischen Nato-Staaten. Das Lernen
hat Grosny dem Erdboden gleichge­ Argument zu formulieren. Die Be­ aus der Geschichte begann also erst
macht. Sie hat dem Assad-Regime lohnung war keine gute Note. Es war 45 Jahre nach Kriegsende? Wenn
geholfen, als es seine eigene Bevöl­ das Versprechen, in seiner Pflichtzeit das ein Lernen war, dann wurde es
kerung mit Giftgas angriff. Russland etwas Sinnvolles zu tun. durch einen historischen Glücksfall
hat versucht, den US-amerikani­ Anders als jene, die zum Militär befördert: dass die USA nämlich
schen Wahlkampf zu beeinflussen, gingen. Die waren angeblich zu weiter den Schutz der Bundesrepu­
es hat mit großer Wahrscheinlichkeit dumm, um kritisch zu denken, blik übernahmen. Die US-Armee
einen Hackerangriff auf den deut­ machten etwas, das vollkommen garantierte die Sicherheit, die den
schen Bundestag in die Wege gelei­ sinnlos war, und betranken sich Deutschen den Raum gab, vom ewi­
tet. Es hat das gefährliche Nervengift ­ansonsten auf ihrer Stube, so die gen Frieden zu träumen.
Nowitschok auf britischem Boden Unterstellung. Gegen wen sollte ­

N
Marlena Waldthausen / DER SPIEGEL

eingesetzt und einen Mann im Ber­ das Land beschützt werden? Es war atürlich gab es diesen Frieden
liner Tiergarten erschießen lassen. anderthalb Jahre nach Mauerfall, nie. Jugoslawien zerfiel, und
Und wir, der sogenannte die Sowjetunion war gerade unter­ Deutschland beteiligte sich
­Westen, wir Deutsche? Haben es gegangen. Es gab keinen Feind unter großem Streit auch am Nato-
­gewähren lassen. Mit erschrocke­ mehr. Einsatz gegen Serbien und an der
nem Blick. Dafür hatten wir Das Schreckgespenst, um das der Stabilisierungsmission im Kosovo.
­Deutsche gute Gründe. So haben Aufsatz vieler Verweigerer kreiste, Und dann war da noch der Einsatz
wir es uns zumindest eingeredet. war eine fiktive Geschichte. Du in Afghanistan, bei dem 59 deutsche
Weil wir aus der Geschichte gelernt Rapp, Jahrgang gehst mit einer Freundin durch den Soldaten ihr Leben ließen.
haben. Was wir den anderen auch 1971, ist SPIEGEL- Park, plötzlich springt ein Mann Doch die Soldaten und Soldatin­
Redakteur. Er war
dringend empfehlen würden. Mög­ Waldorfschüler,
aus dem Gebüsch und greift sie an. nen, die dort waren, können Ge­
licherweise ging es aber vor allem Hausbesetzer und Wirst du Gewalt anwenden, um ihr schichten von dem Unverständnis
um Bequemlichkeit. schrieb für die »taz«. zu helfen? Wenn ja: Warum willst erzählen, das einem in Deutschland

44 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


es auch keine Machtdemonstration,
sondern ein psychologischer Test
des Ex-Geheimdienstlers Putin –
und er hat Merkel und Deutschland
genau richtig gelesen. Dass wir
nämlich große Schwierigkeiten ha-
ben, auf aggressive Grenzüber-
schreitungen zu reagieren. Und dass
das, was wir für moralische Über­
legenheit halten, für den anderen
einfach Schwäche ist. Der richtige
Umgang mit einem Bully ist ein
­anderer. Man zeigt ihm seine Gren-
zen. Sonst wird er weitermachen.
Man stelle sich vor, Merkel hätte
nach dem unangenehmen Treffen
den deutschen Geheimdienst beauf-
tragt, Putins Hund zu vergiften. Und

Peter Frischmuth / Argus


hätte den russischen Präsidenten
­einige Wochen später angerufen und
sich nach dem Wohlergehen des Tie-
res erkundigt. Es wäre die Sprache
gewesen, die Putin versteht. Aber
das ist eine Sprache, die wir nicht
entgegenschlägt, wenn man ver- dürften sich aber vor allem zurück Wehrpflichtige sprechen. Vielleicht werden wir es
sucht, die dortigen Erfahrungen zu in die Sicherheit sehnen, die es nie bei öffentlicher auch nie. Aber wir sollten zumindest
Vereidigung in
teilen. In der Gesellschaft wie in der gab. Tatsächlich hängt die ganze Hamburg 2003
anerkennen, wie groß das Problem
Politik. Es gibt Soldaten, die mit Debatte schief: Es sollte bei der ist, das wir dadurch haben. Deshalb
dem Ehrenkreuz für Tapferkeit aus- Unterstützung der Ukraine nicht habe ich meine Verweigerung des
gezeichnet worden sind, weil sie um unser Gewissen gehen. Sondern Kriegsdienstes zurückgezogen.
unter Beschuss Kameraden das Le- um das, was politisch und militä- Nun wird so mancher sagen, dass
ben gerettet haben – und die nach risch vernünftig ist. dieser Tobias Rapp da große Worte
der Verleihung nie wieder zu einer schwingt, die auch ein bisschen hohl

E
offiziellen Veranstaltung eingeladen s gibt keine Welt ohne Krieg. klingen. Und das stimmt vielleicht.
worden sind. Öffentliche Gelöbnis- Schon gar nicht in der multi­ Ich bin zu alt für den Krieg, ich
se, Politiker, die gefallenen Soldaten lateralen Welt, die sich gerade würde billig davonkommen, so billig
am Sarg ihren Respekt erweisen: herausbildet. Und für ein mächtiges wie damals mit der Verweigerung.
Woanders gibt es Rituale, bei uns Land im Herzen Europas ist die Die unangenehme Frage, die ich be-
sind sie bis heute mit Scham und ­Beobachter- und Vermittlerposition, antworten muss, ist eine andere: Ich
Unsicherheit besetzt, man will den in der wir uns eingerichtet haben, habe zwei Söhne. Möchte ich, dass
Krieg nicht wahrhaben. Es dauerte keine realistische Möglichkeit. Wir die beiden eines Tages in den Krieg
Jahre, bis sich der Bundestag dazu können uns als Land nicht ewig ver- ziehen müssen? Als mir ein Freund
durchrang, der Bundeswehr die Be- halten wie die Kriegsdienstverwei- diese Frage neulich stellte, habe ich
schaffung von Kampfdrohnen zu gerer, als die wir uns ein paar glück- mich geweigert, eine Antwort zu ge-
­erlauben. Kampfdrohnen benutzen liche Jahrzehnte lang gefühlt haben. ben. Mit ähnlich formalen Gründen
die USA. Nicht wir. Es wird keine Zeitenwende geben, wie vor 30 Jahren. Das habe nichts
Der ewige Frieden, in dem wir ohne mehr Geld für die Bundes- miteinander zu tun, das sei doch
uns wähnten, war eben auch ein be- wehr, klar. Es wird aber auch keine eine politische Entscheidung und
quemes und profitables Geschäfts- Zeitenwende geben, wenn wir unser keine persönliche.
modell. Jeder Cent, den man nicht Verhältnis zum Militärischen nicht Auch das war zu einfach. In An-
für die Verteidigung ausgeben muss, grundlegend ändern. betracht der Tatsache, dass die
weil es jemand anderes für einen Eine der bekanntesten Geschich- Wehrpflicht ausgesetzt ist, müsste
tut, ist gespartes Geld. Moralische ten der ehemaligen Bundeskanzle- man sie sogar verschärfen. Was
Überlegenheit plus Geld sparen plus rin spielt bei ihrem Russlandbesuch wäre, wenn sich einer meiner
so gut wie kein Leben riskieren: Wer 2007. Putin empfängt sie, und weil Söhne freiwillig meldet? Weil er
hätte da Nein sagen können? er weiß, dass Merkel Angst vor es genauso sieht wie ich? Dass der
Nichts konnte die deutsche Wirt- Hunden hat, lässt er während des Frieden, in dem wir uns wähnten,
schaft, Politik und Gesellschaft Gesprächs seinen großen Hund Ich glaube, die eine Illusion ist. Dass das schöne
­davon abbringen, diesen Traum in im Zimmer herumlaufen. Merkel regelbasierte Europa, in dem wir
den Nuller- und Zehnerjahren wei- beherrscht sich, aber es fällt ihr Verweigerung leben, an seiner östlichen Grenze
terzuträumen. Bis zum 24. Februar schwer. Die deutsche Lesart dieser hat ihren Sinn für die kommenden Jahrzehnte
des vergangenen Jahres. Selbst
jetzt: Wie schwer es ist anzuerken-
Geschichte ist meistens: Gut ge-
macht, Frau Merkel. Putin habe
verloren. Die mit Waffen geschützt werden muss.
Ich werde ihn fragen, ob er das
nen, dass man in einer Illusion ge- die Kanzlerin provoziert, so diese Welt, in der wirklich machen möchte. Ich müss-
lebt hat, zeigen die Debatten um die Sicht, und sie hat es abperlen las- ich sie erklärt te lügen, wenn ich sage, dass ich
Waffenlieferungen an die Ukraine. sen. Die Klügere gibt nach, so zeigt keine Angst vor diesem Gespräch
Bestimmt sind überzeugte Pazifis- man wahre Stärke. Möglicherweise
habe, ist unter­ hätte. Aber ich werde mich ihm
ten unter den Gegnern. Die meisten ist das aber falsch. Vielleicht war gegangen. nicht in den Weg stellen.  n

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 45


LUFTFAHRT
REPORTER
Angst vor Ballons,
Herr Spies?
SPIEGEL: Sie kennen den Pop-
song von den Ballons und den
Kriegsministern?
Spies: Natürlich, die »99 Luft-
ballons« von Nena.
SPIEGEL: »Hielt man für Ufos
aus dem All / Darum schickte
ein General / ’ne Fliegerstaffel
hinterher / Alarm zu geben,
wenn’s so wär …« Klingt ziem-
lich aktuell, oder?
Spies: Wobei es jetzt nur noch
95 Ballons wären. Vier sind ab-
geschossen.
SPIEGEL: Irritieren einen prak-
tizierenden Ballonfahrer diese
Meldungen über von Kampf-
jägern gejagte und beschossene
Ballons in den USA und Kana-
da?
Spies: Ich habe mich nicht ge-
troffen gefühlt. In 18 Kilometer
Höhe, wo diese Flugobjekte
gesichtet wurden, halten wir
Heißluft- oder Gasballonpiloten
uns nicht auf. Ich bin gewöhn-
lich mehr in »Flugfläche 100«
unterwegs, das sind um die
Privat

3000 Meter.
SPIEGEL: Kommt man sich als

Erstsemester, 2021
Ballonsportler mit dem Militär
in die Quere?
Spies: Bei aktiven Militär-
stützpunkten muss man vorm
Überfliegen anfragen. Meist
FAMILIENALBUM Tom Niesporek, 21, aus Berlin in Deutschland kein Problem.
Die Bundeswehr macht ja um

D as war im März vor zwei Jahren. Nicht so


lange her, aber schon Erinnerung. Das Foto
zeigt mich, links mit den Pommes in der
Hand, zusammen mit meinen Freunden Jan und
Überall in unserem Umfeld ging es in Gesprächen
früher oder später darum, welche Zusammen-
künfte moralisch vertretbar sind. Und ob sie
überhaupt moralisch vertretbar sind. Aber bei
17 Uhr Feierabend.
SPIEGEL: Was ist Ihre Analyse
des Ballonkonflikts?
Spies: Der Wind in diesen
Lorenz am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. einem waren wir sicher: Spazierengehen wird Höhen kommt immer aus
Damals steckte uns allen bereits ein ganzes Jahr ja noch erlaubt sein. Also sind wir monatelang Westen. Insofern ist es Quatsch
Pandemie und Social Distancing in den Knochen. im Dreieck zwischen Neukölln, Alt-Treptow und zu sagen, auch die Amerikaner
Wir haben Politikwissenschaft an der Freien Uni- Kreuzberg auf und ab gelaufen. Haben uns um hätten Ballons nach China
versität studiert. Unser Start ins Unileben war – 18 Uhr am Hermannplatz in Neukölln getroffen geschickt. Ausgeschlossen.
wie bei vielen anderen auch – ziemlich holprig. und sind los, ohne Plan. Ohne zu wissen, wohin Das sind auch keine steuer-
Wintersemester 2020/2021, das bedeutete für wir jetzt gehen. Vier, fünf Stunden manchmal, baren Luftschiffe. In dieser
uns Onlinevorlesungen, Onlineseminare und 15 Kilometer, einmal auch 20. Die Dönerbuden Höhe herrscht der Jetstream,
Onlineklausuren. Es war wahnsinnig frustrierend. waren offen. Meistens haben wir dabei Bier gegen den kommt kein Pro-
Im Grunde haben wir damals so ziemlich aus- getrunken, manchmal sind wir alkoholfrei geblie- peller an. Wahrscheinlich
schließlich online gelebt. Die meisten von uns ben. Aber immer stundenlang unterwegs. Es kann man bei diesen Ballons
waren ja gerade frisch von zu Hause weg und ist nicht viel passiert dabei. Wir haben manchmal die Höhe verändern. So kann
viel zu jung, um eine Familie oder ein neues über schöne Dinge geredet, oft aber einfach die Flugrichtung wenigstens
Umfeld zu haben. Alle Klubs waren zu. Viele nur gemeinsam über die aktuelle Lage gestänkert. ein bisschen beeinflusst wer-
von uns hatten auch keine Partnerin oder keinen So wie Rentner eigentlich. Rentner auf einer den.
Partner, mit dem sie einfach mal zu Hause Parkbank. Aber es hat uns etwas gegeben, was SPIEGEL: Bleibt der Welt nur zu
tanzen konnten, wie Bayerns Ministerpräsident uns damals gefehlt hat. Ich habe das Gefühl, wünschen: Glück ab …
Markus Söder es uns damals vorgeschlagen in dieser Zeit der Pandemie ziemlich erwachsen Spies: … und gut Land! ASM
hat. Es war sehr, sehr schlimm, keinen Austausch geworden zu sein. Gealtert.
mit echten Leuten zu haben, gerade im ersten Aufgezeichnet von Alexander Smoltczyk Hans-Jörg Spies, 60, ist Mit-
Semester. begründer des Mecklenburg-
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns
Wir drei kannten uns vorher nicht, haben uns Ihre Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: brandenburgischen Ballon-
irgendwann über WhatsApp kennengelernt. familienalbum@spiegel.de sportvereins e. V.

46 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


Bedingungen, eine Ablösesumme an
den Brautvater zu zahlen, für »das

Völkerschau
Mädchen, das der Antragsteller zu
heiraten wünscht«, und nie wieder
einen Fuß in das Mandatsgebiet zu
setzen.
»Das Mädchen ist erst 19 Jahre alt
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Wie ein ungewöhnliches Paar sich und unverdorben und beherrscht le-
gegen alle Widerstände durchsetzte diglich ihre Stammessprache. Aus
diesen Gründen muss gesagt werden,
dass sie sich nur schwer an das Leben

D »Sie hat die-


er SPIEGEL -Meldung aus dem weil er die dortige Rassentrennung in der Schweiz gewöhnen wird.« So
Jahr 1954 ist die Zeit noch nicht ertragen konnte. Er hatte ge- hieß es in einem Gutachten.
anzumerken, die damals ge- hofft, dass es im Bereich der briti- sen Zeitungs- »Man kann sich vorstellen, wie
rade erst vergangen war, die in der schen Demokratie besser sei. ausschnitt bis hart es für meine Großmutter gewe-
Sprache aber noch nachhallte. Es
stand, heute nur mit Erschrecken zu
Auf seiner Farm arbeitete die da-
mals 19-jährige Marita Salim. Sie ver-
zu ihrem Tod sen sein muss«, sagt Jennifer Weber,
die Enkelin. »In der Schweiz gab es
lesen und kaum zu glauben, in liebten sich ineinander. Dann wurde aufbewahrt.« damals im Zirkus noch sogenannte
Deutschlands frisch gegründetem die junge Frau schwanger. Die beiden Jennifer Weber, Völkerschauen. Afrikanische Men-
Nachrichten-Magazin. Eine triste Mi- wollten das Kind, und sie wollten Enkelin schen wurden bis 1935 im Basler Zoo
schung aus Karl May und altem Geist, zusammenbleiben. Aber auch die ausgestellt, neben Löwen und Elefan-
eine Verachtung des Nichtdeutschen, britischen Kolonialbehörden hatten ten. Aber die beiden hatten sich wirk-
die in den Fünfzigerjahren wohl noch »Misch-Ehen« verboten. Das Paar lich sehr gern. Sie bekamen ja auch
zum guten Ton gehörte. Da wird »der versuchte, mit dem Kind über Da- noch zwei weitere Kinder.«
Anton« aus der Schweiz genannt, ressalam in die Schweiz auszureisen, Jedes Jahr einmal reiste Marita
wacker, aber etwas tumb, da sind aber Marita durfte nicht. Nicht hei- Salim zu ihrer alten Familie nach Tan-
die »Welthilfstante Eleanor Roose- raten und auch nicht das Land ver- sania. So auch 1976, in Ostafrika das
velt« und die perfiden Briten mit lassen. Jahr einer schweren Masernepidemie.
ihrer kolonialen Doppelmoral. Und Nach etlichen vergeblichen De- Salim wurde in Quarantäne gesteckt,
da erscheint »zähnefletschend ein marchen, unter anderem einem Brief ohne vorher ihrem Mann in der
alter Neger« und erhebt »bei dem an Eleanor Roosevelt – die ehemalige Schweiz Bescheid geben zu können.
Eingeborenen-Tribunal Klage wegen First Lady der USA war inzwischen »Es gab damals ja«, sagt Jennifer We-
Ehebruchs«. Nur gut, dass »der für die Uno tätig – wandte sich Weber ber, »nur ein Telefon im Dorf. Mein
Anton« schließlich nach Daressa- schließlich an das Petitionskomitee Großvater glaubte, als keine Nach-
lam fahren »und das Negermädchen der Vereinten Nationen. Das Land richt kam, dass sie ihn verlassen hät-
Marita Salim mit Baby Mandaly zu war bis zur Unabhängigkeit 1961 te und nicht mehr zurückkommen
schwarz-weißem Familienglück in Treuhandgebiet der Uno und wurde würde. Er war so verzweifelt, dass er
die Schweiz holen« darf. So weit die von Großbritannien verwaltet. Der sich umbrachte.« Seine Tochter und
Meldung. Name Anton Weber erschien tat- sein jüngster Sohn Kary fanden ihn.
Jennifer Weber aus Gerlafingen im sächlich in den Protokollen der Ver- Er hatte das Familienvermögen, Geld,
Kanton Solothurn ist die Enkelin von einten Nationen. Höchstinstanzlich Briefe, Fotos, Urkunden in die Bade-
Marita Salim. Das erwähnte Baby (»521st meeting, 22 march 1954«) be- wanne geworfen, angezündet und
Mandaly ist ihr Vater. Sie sagt: »Mei- kam er »in Abstimmung mit dem Ver- sich selbst erschossen.
ne Großmutter hat diesen Zeitungs- einigten Königreich« eine Ausreise- Großmutter »Meine Großmutter hat danach
Weber-Salim,
ausschnitt bis zu ihrem Tod 2018 auf- genehmigung für seine Braut. Aller- Ausschnitt
nie wieder geheiratet«, sagt die En-
bewahrt. Sie sagte uns, dass sie kein dings unter den in zwei diploma- aus dem SPIEGEL kelin. »Anton Weber war ihr erster
Negermädchen mehr sei, sondern tischen Amtssprachen präzisierten Nr. 18/1954 und einziger Mann. Jetzt musste sie
eine stolze Schweizerin, und dass es die Kinder allein großziehen, als
sowieso am besten sei, beides in sich Schwarze in der Schweiz, und das,
zu haben.« ohne richtig lesen, schreiben oder
Es war für ihre Großmutter, dass rechnen zu können.« Aber Marita
sie sich an den SPIEGEL wandte, in Weber, geb. Salim, muss eine außer-
dem diese Meldung im Jahr 1954 ge- gewöhnliche Frau gewesen sein. Sie
druckt worden war. Sie schrieb, dass arbeitete bei Lindt & Sprüngli, der
ihre Großmutter eine außergewöhn- Schokoladenfabrik, am Fließband,
liche Frau gewesen sei. Sie schrieb: nahm zeitweise einen zweiten Job in
»Es wäre mir eine Freude, den Artikel einem Rollladenwerk an. Sie war
erscheinen zu sehen, sodass auch unter den allerersten schwarzen Frau-
ich einen Zeitungsausschnitt des en, die legal im Commonwealth eine
SPIEGEL über die Jahre hinweg be- Mischehe eingingen.
halten werde.« Das alles erzählt Jennifer Weber.
Anton Weber stammte aus Zürich Sie hat als Autolackiererin und medi-
Privat

und war in das damalige Britisch-Ost- zinisch-technische Assistentin gear-


afrika, heute Tansania, eingewandert. beitet, jetzt reist sie über die Schwei-
Dort in Irina, in der Mitte des Landes, zer Dörfer und hilft bei kommunaler
hatte er eine Farm gegründet. Zuvor Innovation. Man könnte sagen: Sie
hatte er drei Jahre in Südafrika gelebt, leistet Entwicklungshilfe.
den Apartheidstaat aber verlassen, Alexander Smoltczyk n

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 47


REPORTER

5 6

1 | Team A im Zelt  | 2 Lager der Ukrainer in der Türkei  | 3 Zentrum von Antakya  | 4 Eliteeinheit beim Bergen von Erdbebenopfern  | 5 Hundeführerin
Olga mit Ninja  | 6 Brustabzeichentauschen zwischen türkischem Soldaten und ukrainischem Katastrophenhelfer

48 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


REPORTER

Vom Krieg in die Katastrophe


HELFER  Seit Russlands Angriff holt eine Eliteeinheit des ukrainischen Katastrophenschutzes Menschen
aus Ruinen. Am Tag nach dem Erdbeben in der Türkei hat ihr Präsident sie dorthin
geschickt. Nun bergen sie vor allem Syrer, die einst vor russischen Bomben geflohen waren.
Von Özlem Gezer, Timofey Neshitov und Emre Çaylak (Fotos)

N
icht weit entfernt von der syrischen Einsatzleiter Witalij, 36, ein Mann mit brei- lette. Menschen im Orient glauben, sie schütz-
Grenze sitzt der Ukrainer Alek- tem Kreuz, der immer als Erster in die Trüm- ten vor dem bösen Blick.
sander auf einem grünen Cam- mer der eingestürzten Häuser geht. Seine Im Haus gegenüber retten türkische Helfer
pingstuhl im Westen von Antakya Eltern leben in einem Teil der von Russen gerade eine Katze aus dem fünften Stock, sie
und verfolgt die Bombeneinschlä- besetzten Region Cherson. Er hat sie seit fragen die Ukrainer nach einem Vorschlag-
ge in Kiew. Auf dem Hügel hinter seinem Zelt Kriegsbeginn nicht gesehen. hammer. Die Mutter wartet auf die Bergung
ist ein Feld mit Olivenbäumen, Aleksander Olga, 34, arbeitete früher im Marketing, ihrer Tochter Amina.
öffnet seine Raketenalarm-App. ist heute Hundeführerin. Seit Kriegsbeginn Ninja, Olgas Spürhund, verschwindet in
FREITAG, 10. FEBRUAR, KIEW war sie nie in einem Schutzkeller, weil einer einem dunklen Loch. Es war vor vier Tagen
3.58 Uhr: Alarmstufe Rot, alle in Deckung. ihrer Hunde keine engen Räume erträgt. Sie noch das Kinderzimmer von Amina. Ninja
4.48 Uhr: Entwarnung. lebt mit ihrer Mutter, Schwester und ihren winselt laut, rennt raus, stößt gegen den Baby­
8.27 Uhr: Alarmstufe Rot. sechs Hunden in Kiew. laufwagen, er leuchtet rot und blau auf. Olga
Er schreibt seiner Frau eine WhatsApp- Ninja, 4, voller Name »Ninja Impossible schickt ihren Hund wieder rein.
Nachricht: To Stop«. Die Spürhündin lebt in Kiew bei Sergej, der Boxer, öffnet den Zugang zur
»Wie geht es dir? Wieder Luftalarm? Ich Olga. Sie ist ein Epagneul Breton und schläft Seitenwand. Er schleppt Fensterrahmen, trägt
mache mir Sorgen.« viel, wenn sie nicht im Einsatz ist. Rohre, Matratzen, Äste, eine blaue Couch.
»Sie haben uns bei der Arbeit wegge- Iwan, 41, ist Arzt. Er ist einer der wenigen »Da war unser Wohnzimmer«, sagt Shahade.
schickt«, antwortet sie. »Aber ich will nicht im Team, die gut Englisch sprechen. Wenn er Als die Erde bebte, sprach sie mit ihrem
schon wieder ohne dich in der Metro hocken.« nicht in den Ruinen Menschen rettet, kocht Mann das Glaubensbekenntnis, sie suchten
Es ist Tag 351 nach der russischen Invasion er für sein Team Borschtsch. ihre Kinder, der Boden unter ihren Füßen
in der Ukraine und Tag 4 nach dem größten Roman, 28, brennt selbst Schnaps in Kiew. verschwand, die vier Stockwerke über ihnen
Erdbeben, das die Republik Türkei je getrof- Im Lager ist er der Entertainer, der Mann, stürzten in ihre Wohnung. Wenn man von
fen hat. Stärke 7,8, zehn Regionen sind be- der einen weißen Kittel anzieht und mal außen auf das Gebäude schaut, wirkt es so,
troffen, an diesem Freitag sind es bereits mehr den Koch spielt, mal den Arzt. Seine Schwes- als ob es das ersten Stockwerk nie gegeben
als 18 000 Tote. Antakya liegt im Südosten ter ist mit seinem Kollegen Sergej verheira- hätte. Verwandte zogen die Mutter und ihr
des Landes, in der Provinz Hatay. Die Region tet, die Schwager schlafen in einem Zelt, er Baby aus den Trümmern. Der Vater und der
zählt zu denen, die vom Erdbeben am stärks- nennt Sergej liebevoll den »Schwestern­ 17-Jährige befreiten sich aus dem Nachbar-
ten betroffen sind. ficker«. zimmer. Die zwei Kleinen krochen allein he-
Am Morgen nach dem Erdbeben entschied Sergej, 32, boxte vor dem Krieg bei Ama- raus. Sie sagten der Mutter später, sie hätten
der ukrainische Präsident Wolodomyr Selens- teurturnieren. Wenn er in Ruinen geht, nimmt an Amina gezerrt, aber ihre große Schwester
kyj, eine Eliteeinheit in das Erdbebengebiet er oft nur eine Schaufel mit. Sie nennen ihn habe sich nicht aus dem Kinderzimmer ge-
zu schicken. Es sind 87 Frauen und Männer, den »kleinen Drucklufthammer«. Wenn wie- traut.
dazu acht Hunde. Sie bergen Lebende und der Luftangriffe zunehmen in Kiew, schickt Insaf Shahade will es nicht glauben. »Viel-
Tote aus eingestürzten Häusern, löschen er seine Frau und seinen fünfjährigen Sohn leicht hat sie es ja doch geschafft? Vielleicht
Brände, ihre Ärzte amputieren in den Ruinen zu Verwandten aufs Land. ist sie im Krankenhaus? Oder ein Fremder
Beine. Sie alle sind im »Team A« der Eliteeinheit hat sie mitgenommen?« Amina ist­­14 Jahre
Wenige Stunden nach dem Einsatzbefehl und werden sich ein Zelt teilen. alt. »Was trug sie an dem Abend?«, fragen
stiegen 25 Ukrainer in eine Antonow AN-26 EINSATZ – Insaf Shahade sitzt auf einer die Helfer. »Einen schwarzen Pyjama«, sagt
an einem geheimen Flugplatz im Westen des Mauer vor ihrem eingestürzten Wohnhaus die Mutter. Sie zeigt ein WhatsApp-Profilbild
Landes. Eine weitere Antonow transportierte und wartet darauf, dass die Männer, die aus von Amina, Rehaugen, weißes Kopftuch.
Schaufeln, Schlaghammer, Betonschneider. dem Krieg in der Ukraine kommen, ihr ihre Witalij, der Einsatzleiter, stellt eine Leiter
Gleichzeitig fuhren 62 Einsatzkräfte in Lkw Tochter zurückbringen. an den Balkon. Er lässt sich einen Druckluft-
und Rettungswagen auf dem Landweg los. Sie Shahade ist 43 Jahre alt, Mutter von fünf hammer heraufreichen. Das Mädchen liegt
wollten erst Richtung Kahramanmaraş, zum Kindern. Sie kommt aus der Nähe der Stadt irgendwo unter ihnen. Sie bohren Löcher in
Epizentrum. Da sind russische Retter, wurde Idlib im Norden Syriens. 2012 floh sie mit den Boden, darunter ist ein einen halben Me-
ihnen gesagt, also fuhren sie weiter nach An- ihrer Familie vor dem Krieg. Ihr Mann pols- ter hoher Raum, dort hat Ninja angeschlagen.
takya. Der Einsatzort der Ukrainer ist keine terte in Syrien Möbel, in der Türkei wurde er Sie halten 360-Grad-Kameras in die Dunkel-
30 Kilometer von der syrischen Grenze ent- Bauarbeiter. Es war eine gute Wohnung, sagt heit, suchen in den Resten des Kinderzimmers
fernt. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs sie und zeigt auf die Trümmer. Dort liegt der nach Amina. Sie suchen zwei Stunden lang.
leben Hunderttausende Syrer in dieser Region. Laufwagen ihrer Einjährigen. Sie zahlten »Sie wurde wahrscheinlich hineingepresst
In dem Militärflugzeug aus der Ukraine 800 Lira Miete, knapp 40 Euro, für fünf Zim- in den Schutt«, sagt Witalij. Er will nicht, dass
saßen an diesem Montag: mer. An ihrem Gebäude prangen blaue Amu- der Dolmetscher das dem Vater übersetzt. Sie

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 49


REPORTER

suchen nach einer Hand, die herausragt, seien alle lebend raus. Vorbeigehende grüßen,
einem Fuß, nach dem schwarzen Pyjama. Der Istanbul schauen ihnen hinterher, sehen die slawischen
Vater zeichnet immer wieder Skizzen der Ankara Namen auf ihren Helmen und sagen: »Guck
Wohnung: Kinderzimmer, Bad, Fenster, Tür, mal, die Russen sind da.«
TÜRKEI
Schrank. Sergej fragt, ob das Mädchen auch Gegenüber ist ein fünfstöckiges Haus zu
außerhalb des Kinderzimmers sein könnte. Camp der inter- einem meterhohen Schuttberg zusammen­
nationalen Retter
Der Vater nickt, er will, dass sie weitere Lö­ gefallen. Zwei Männer kommen angelaufen.
cher bohren, dass sie alles absuchen mit ihren Antakya »Wir können euch die Leichen zeigen«, sagen
Kameras. SYRIEN sie. Witalij telefoniert. Er darf nicht rüber, es
Die Ukrainer sind mit zwei Teams im Vier­ 750 km ist der Sektor der Kroaten, er legt auf und tut
tel unterwegs. Wenn sie durch die Straßen es trotzdem.
ziehen, schauen die Menschen zu ihnen auf Eine Gruppe von Männern hockt vor dem
wie zu Superhelden. Alte Männer kriegen durch, wenn sie die Leichen herausgeholt ha­ Gebäude. Sie sind verwundet, sie sind wü­
Tränen in den Augen, wenn sie hören, dass ben. Dann sprüht er ein D. Das steht für »wo­ tend. Sie haben mit ihren Händen ein Loch
die Männer ihren Krieg zurückgelassen haben, möglich weitere Tote«. in den Schuttberg gebuddelt. Ein Mann
um ihnen zu helfen. L AGER – Das Zeltlager der Ukrainer steht zwängt sich aus dem Loch heraus. Er zieht
Gegenüber liegt ein Park, sie sagen, hier auf dem Expo-Gelände. Hier wohnen neben eine verknotete Wolldecke hinter sich her. Er
könnten sie endlich wieder auf Gras treten, den Ukrainern Rettungskräfte aus Rumänien, ist Syrer, trägt ein Stirnlicht und hat mit blo­
in der Ukraine hätten sie Angst vor Minen. oben auf dem Hügel die Inder. Die Berge sei­ ßen Händen seinen Angehörigen ge­funden.
Kinder stecken ihnen Pistazien in die Taschen. en hier so schön wie auf ihrer Krim, sagen sie. Die Männer reden jetzt vom türkischen
Freiwillige bringen ihnen Linsensuppe in Die Ukrainer waren noch nie zum Einsatz im Bergungsteam. Sie sagen, die Türken hätten
Pappschalen. Syrer stellen ihnen Orangen­ Ausland. Einige von ihnen kennen die Türkei geraucht, sich nicht beeilt, sie hätten ihnen
limonade auf Reste von Mauern. aus dem Badeurlaub in Kemer, sie schwärmen nicht ihre Handys zurückgegeben. Die Türken
Der Vater zerrt alles, was er greifen kann, vom Meer und den türkischen Granatäpfeln. hätten den Bagger in das Haus gerammt,
aus dem eingestürzten Haus und stapelt es Sie mögen die Türken. wahllos Stockwerke abgerissen, überall liegen
auf dem Boden vor seiner Frau. Auf dem As­ Im Lager reden sie immer wieder über die noch ihre Angehörigen, sagen sie. Sie hätten
phalt liegt jetzt ein Buch mit Koranversen, ein türkische Kampfdrohne Bayraktar, die in der nach drei Stunden abgebrochen und gesagt,
Gebetsteppich, eine Tüte mit Medikamenten, Ukraine russische Panzer, Schiffe und Ge­ wir kommen morgen wieder, und seien nie
eine Puppe mit blonden Haaren. schütze zerstört. Schön, sagen sie im Zeltlager wiedergekommen. Es sei Tage her, sagen sie.
Die Mutter wühlt in den Sachen. Sie hält in Antakya, wir können uns endlich bei den Seitdem stünden sie hier und warteten auf
ein weißes Tuch in den Händen und beginnt Türken revanchieren. ihre Leichen.
zu zittern. Es ist das Kopftuch ihrer Tochter. Auch ihr Präsident wollte sich bedanken. Die Ukrainer klettern zu siebt auf den
Sie riecht daran. Er braucht die Türkei in seinem Kampf, die Schutthaufen. Unter ihren Füßen müssten
Sie erfährt von der Menschenmenge vor Türken sind in der Nato. Zudem soll die Welt eine Frau und zwei Mädchen sein, sagen die
dem Haus, dass die Ukrainer am Vormittag durch diesen Einsatz sehen, die Ukraine ist Angehörigen, die jetzt mit auf den Schuttberg
die Leichen ihrer türkischen Nachbarn frei­ stark genug, sie schafft es sogar im Krieg, ei­ geklettert sind. Eine Stunde später fragt Ser­
geschaufelt hätten. Sie erfährt, dass die jüngs­ nige ihrer Besten wegzuschicken. gej einen der Männer: »Wollen Sie Ihre Frau
te Tochter die Einzige der fünfköpfigen Fa­ Das Lager der Ukrainer ist das größte auf selbst heraustragen?«
milie war, die lebend geborgen wurde, und diesem Hügel. 14 Zelte in Orange und Grau, Sergej weiß nicht viel über diese Region
sich unter den Trümmern aus Angst die Haa­ über dem Hauptquartier weht die ukrainische der Welt, aber er weiß, er als Mann sollte hier
re ausgerissen habe. Flagge. Hier verhandelt Aleksander jeden keine fremden Frauen berühren. Der Syrer
Um halb sieben, es beginnt zu dämmern, Morgen mit dem türkischen Koordinations­ kniet sich vor die Öffnung, versucht, mit
klettert Witalij vom Balkon herunter, er geht stab, wo seine Leute hinfahren dürfen. An einem Bein hinabzusteigen, er ist 65, er ist
zum Vater und sagt: »Wir können ohne Kran guten Tagen fahren sie dreimal am Tag mit verletzt. Dann sieht er Sergej und Witalij an
und Bagger leider nichts mehr machen, sonst vier Teams raus. und geht zur Seite.
stürzt hier alles ein.« An diesem Nachmittag Im Zelt von Team A stehen Klappliegen, Die Männer, die an diesem Nachmittag vor
gibt es immer wieder Nachbeben. Der Vater aufgestellt in zwei Reihen, Sergej schläft auf dem Gebäude stehen, sind alle aus Syrien. Sie
dreht sich zu seiner Frau um, guckt Witalij in der letzten Liege rechts. Ihm schräg gegen­ selbst oder ihre Väter kämpften gegen Assad,
die Augen und sagt: »Ich will nicht, dass hier über liegt der Einsatzleiter Witalij, zwei ukra­ sagen sie. Die einen flohen, als der Krieg be­
noch einer sein Leben gibt. Gott segne euch.« inische Fähnchen wehen über seinem Bett. gann, die anderen erst, als die Russen ihre
Amina Shahade bleibt die letzte Bewoh­ Am Eingang schläft Olga, neben ihr Ninja. In Städte bombardierten. Einer der Männer
nerin des Hauses, die nicht geborgen werden Kiew hatten sie nur zwei Stunden, um zu pa­ zeigt auf Sergej und seine Kollegen und sagt:
kann an diesem Abend. cken. Sie haben ihre Ladegeräte vergessen, »Die Ukrainer sind die Einzigen, die uns Sy­
Vorn am Haus lungert ein Mann, von dem es fehlen Handtücher und Rasierer. rer hier verstehen.«
die Nachbarn sagen, er sei ein Plünderer. Sie EINSATZ – Team A steht an einer Fried­ An diesem Tag bergen sie fünf Leichen.
jagen ihn davon. »Ich packe dich lebendig hofsmauer, davor liegt ein Berg von Holz­ LAGER – Zurück auf dem Hügel hängt Ser­
unter diesen Schuttberg«, schreit einer von särgen. Einsatzbesprechung. Witalij hält den gej seine Socken auf eine Leine, die sie zwi­
ihnen. Einer aus dem Team A macht eine Be­ Plan in der Hand, zeigt die Route. schen die Zelte geklemmt haben. Er denkt
wegung mit seiner Hand, streicht über seinen Sie laufen vorbei an einem Minarett, das auf dieser Reise immer wieder über den Krieg
eigenen Hals. Der Syrer nickt. In der Ukraine in ein Haus gestürzt ist. Nachbarn sagen, hier in Syrien nach und sagt: »Ihr Land ist eine
binden sie Plünderer mit heruntergezogenen Ruine, unser Land ist eine Ruine, aber uns
Hosen an Straßenlaternen. hilft die Welt.«
Wenn ein Einsatz beendet ist, erklingt im­ Sergej war 19, als er zum ukrainischen Ka­
mer das gleiche Geräusch. Es ist das Klackern tastrophenschutz kam. Er war Schweißer,
einer Spraydose. Einer aus dem Team sprüht »Die Ukrainer sind die machte Fortbildungen zum Sanitäter, zum
dann das internationale Kennzeichen UKR
an die Hauswand, 10. FEB, D4. Das steht für
Einzigen, die uns Rettungstaucher, zum Seilkletterer, bereits
ein Jahr später war er professioneller Retter.
vier Tote. Der Retter streicht das Zeichen Syrer hier verstehen.« Er holte seinen älteren Bruder dazu, 2014

50 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


REPORTER

rückten beide in die Eliteeinheit auf. Die Auf­


nahmeprüfung dauerte 36 Stunden. Sie bar­
gen Menschen aus zerstörten Häusern, ver­
sorgten Verletzte, sie waren, so lautete die
Anleitung zu diesem Simulationseinsatz, »in
einem Erdbebengebiet in der Türkei«.
Sergej legt sein Konservenfleisch aus Polen
in eine Metallschüssel, kippt türkischen Bul­
gur darauf. Er schaut ein Video von verschüt­
teten türkischen Rettern an, checkt Nach­
richten, heute keine Bomben auf Kiew. Sein
Einsatzleiter Witalij liegt gegenüber auf der
Liege, auch er ist an seinem Handy. Seine Frau
und sein Sohn verbrachten gestern mehrere
Stunden in der Parkgarage gegenüber ihrem
Plattenbau in Kiew. Sein Sohn ist 15.
»Jedes Kind, das du rausholst«, sagt Wita­
lij, »erinnert dich an dein eigenes.«
Olga, erste Liege rechts, guckt auf Insta­
gram Hundefotos an.
Sergej zeichnet eine Karte. Hier ist Kiew,
hier Irpin, hier Butscha, sagt er. Dann erzählt Überlebende Mutter Shahade in Antakya: Vielleicht hat sie es ja doch geschafft?
er, wie ihn am 9. März kurz vor Butscha rus­
sische Soldaten festnahmen. Er war mit einer Pilgerweg nach Mekka und Jerusalem. Im 2016 verließ Ismail Syrien. Kurz nachdem
Buskolonne unterwegs, sollte Menschen aus Römischen Reich war Antiochia die dritt­ er seine Familie in die Türkei gebracht hatte,
den besetzten Vorstädten evakuieren. Am größte Stadt nach Rom und Alexandria. Jetzt bombardierten die Russen sein Haus. Es sah
russischen Checkpoint habe er sich ausziehen kommen Fremde, um zu bergen oder zu dann genauso aus wie hier, sagt er.
müssen, habe zwei Tage lang nichts zu essen ­plündern. Die Ukrainer und Syrer, die sich hier in
und zu trinken bekommen. Bevor sie ihn frei­ In dieser Nacht erinnert das Zentrum von den Ruinen von Antakya zufällig begegnen,
ließen, hätten die Russen eine Kugel durch Antakya an eine Stadt im Bürgerkrieg. Die reden jetzt alle über »den Russen«. Die einen
sein Handy gejagt. Gebäude sind zerstört, das Militär regelt den kommen aus einem Krieg, den der Russe
Vor dem Krieg hatten Sergej und seine Kol­ Verkehr, auf den Straßen patrouillieren Si­ gegen sie führt. Die anderen sind vor einem
legen oft Leerlauf. Sie rückten ein paarmal cherheitskräfte mit Sturmgewehren, aus Krieg geflohen, in den er sich eingemischt
im Monat aus, bei größeren Verkehrsunfällen, Müllcontainern steigen Flammen. Polizisten hat.
bei Gasexplosionen, holten verirrte Wanderer zerren einen Mann am Kragen die Straße Roman trägt einen Vorschlaghammer ins
aus dem Wald und verdienten 13 000 Hryw­ entlang. Hinter ihnen marschieren zehn Män­ Haus, Sergej den Betonschneider, Iwan wirft
nja im Monat, etwa 400 Euro. In seiner Frei­ ner in gelben Westen und mit Schlagstöcken. den Generator an. Olga fotografiert ein Huhn.
zeit stutzte Sergej Bäume in Privatgärten. Der »Wenn ihr noch jemanden seht, der klaut, Dann fliegt ein Militärhubschrauber über
Krieg änderte alles. Sergej und seine Kollegen tötet ihn! Sofort!«, sagt einer von ihnen. In das Haus, und sie wirken das erste Mal un­
verdienen inzwischen mehr als das Dreifache, den Seitengassen sind die Juweliere und Uhr­ ruhig. Bei ihrer Ankunft am Haus bebte die
sie brauchen keine Nebenjobs mehr. engeschäfte der Stadt. Wenn man den Mann, Erde, es irritierte sie nicht, sie marschierten
Im Hauptquartier plant Aleksander den der seine Begleiter zum Töten auffordert, rein. Sie haben keine Angst vor dem Boden,
Aufbruch um 20 Uhr. Sie wollen noch bis Tag fragt, ob er Polizist sei, sagt er: Nein, er ar­ sie fürchten den Himmel.
zehn nach Lebenden suchen. Sie graben sechs beite eigentlich bei der Stadtverwaltung in Einer der Ukrainer tritt mit dem Fuß gegen
Stunden, machen sechs Stunden Pause – Istanbul und sei jetzt freiwillig hier und die Ziegelsteine, die vom Haus bröckeln. Er
­duschen, essen, schlafen – und fahren dann Teil einer Bürgerwehr. Mit ihren Schlag­ sagt: »Bei uns baut man daraus nur Hunde­
wieder los. stöcken verschwinden die Männer wieder in hütten.«
Zurück im Lager erzählt der Einsatzleiter der Dunkelheit. Olga ist auf der Straße einem Hund be­
von Team B von der Nacht davor. Sie hätten Erdoğan hat am Tag nach der Katastrophe gegnet, sie überlegt, ob sie ihn mitnimmt. Wi­
ihren Einsatz früher abbrechen müssen. Erst den Ausnahmezustand in der Region ausge­ talij sagt: »Es ist Krieg, du musst mindestens
habe eine Großfamilie sie bedrängt, ihre To­ rufen. acht Kinder machen.«
ten herauszuholen, obwohl es ohne Bagger L AGER – Am nächsten Morgen rasiert Wi­ Ismail hatte vor dem Erdbeben vier Kinder.
nicht möglich war. Dann hätten sie gesehen, talij einem seiner Männer die Haare vom Die ukrainischen Helfer bargen gestern die
wie Polizisten mit Pistolen im Anschlag Plün­ Kopf. Verletzte Dorfbewohner werden im Leichen seiner Frau und seiner dreijährigen
derer jagten. Hauptquartier behandelt, in der Zeltküche Tochter. Heute sollen sie seine neunjährige
Es heißt jetzt, die Stadt sei voller Plünderer, werden Kartoffeln geschält. Iwan versucht, Tochter, seine Schwester und Mutter noch aus
ausländische Teams dürfen nur noch mit zwei Kocher anzumachen, sie stammen aus dem Haus holen.
Schutz von Militär oder Polizei bergen. Die Beständen der Bundeswehr, Baujahr 1990. Es Nach vier Stunden haben die Ukrainer die
Ukrainer warten auf einen Begleitwagen. Er dauert ewig, bis eine Flamme kommt. »Das Leichen aus den Trümmern befreit.
kommt nicht. dauert zu lange«, sagt Iwan, »wie die Panzer­ Die Angehörigen kommen zum Rettungs­
DRAUSSEN – Antakya hatte vor dem Erd­ lieferungen von Scholz.« wagen. Sie legen ihre Hände ans Herz und
beben etwa 400 000 Einwohner, darunter E I N SATZ – Der Syrer Ismail sitzt auf sagen, sie werden ihre Angehörigen in ein
Christen und Juden. Jedes Jahr kamen fast einem Stein hinter seinem eingestürzten Dorf bringen, damit sie einen Ort haben, an
genauso viele Touristen in die Region. Die Wohnhaus. Er sagt, sein Haus in Syrien habe dem sie trauern können, sie wollen nicht an
Fremden kamen, um die angeblich älteste er selbst gebaut, es lag hinter einem Hügel, einem Massengrab stehen.
Kirche der Welt zu sehen, die wohl erste Mo­ bei Latakia, Assad war weit weg. Er habe im Die kommende Nacht legen sie ihre Lei­
schee Anatoliens, das letzte noch existieren­ Krieg keine Angst gehabt – bis der Russe kam, chen in einen Obstkühlraum, der Raum sei
de armenische Dorf in der Türkei, den alten mit Hubschraubern und Flugzeugen. bereits voller Leichen, sagen sie. An diesem

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REPORTER

Tag birgt allein das ukrainische Team elf Lei- heute Geburtstag, sagt einer. Sergej sagt, er auf denen Bagger graben. Witalij wirkt er-
chen in Antakya. würde lieber endlich seine Garage ausbauen, leichtert, hier werden sie gebraucht. Noch in
L AG E R – Am nächsten Morgen bleibt anstatt den Tag auf einer Klappliege in Anta- der ersten Stunde holen sie eine Frauenleiche.
Team A im Lager. Der türkische Koordinie- kya zu verbringen. Witalij sagt, er würde jetzt Sie laufen weiter Richtung Marktplatz, dort
rungsstab hat den Helfern keinen neuen Sek- arbeiten in der Ukraine, es gebe genug zu tun. haben die türkischen Soldaten ihren Stütz-
tor zugewiesen. Sie waren seit ihrer Ankunft Er, sagt Iwan, würde jetzt am liebsten für sei- punkt. Die Ukrainer haben Hunger. Die Tür-
noch nie im Zentrum der Stadt, wo die Zer- ne Frau eine Lasagne machen. Sie sehen sich ken bitten sie rein, servieren Wassermelonen-
störungen am stärksten sind. Aber sie machen, zu selten. Sie wollen ein Kind. brause. Sie sitzen jetzt gemeinsam um eine
was ihnen gesagt wird. Olga dreht mit Ninja Vor dem Krieg, sagt Iwan, habe er viel Krieg Regentonne, in der ein Feuer brennt. Die
Runden auf dem kleinen Acker hinter dem gespielt, Airsoft, er und seine Freunde hätten Soldaten geben ihnen Thunfisch aus Konser-
Duschzelt, Iwan und Roman rühren 40 Liter Schlachten aus dem Zweiten Weltkrieg nach- ven. Sie wollen später ihre Brustabzeichen
Borschtsch, mit drei Hühnern für die Brühe. gestellt. Er habe nie gedacht, dass der Krieg tauschen, ihre Klappmesser.
Die hat ein Mann aus Belarus vorbeige- auch im 21. Jahrhundert nach Europa kommen Sie schauen runter auf eine Hausruine, an
bracht, er kam in einem Renault mit ukraini- würde. Marschbefehle seines Präsidenten hin- der drei Bagger die Trümmer abreißen. Auf
schem Kennzeichen ins Lager. Er sei vor Ale- terfragt er nicht, das tut hier keiner im Lager. dem Schuttberg stehen Dutzende Männer.
xander Lukaschenko, dem belarussischen Sie sind Offiziere des Innenministeriums. Auf einmal bricht ein Geschrei los. Jemand
Diktator und Putin-Vasallen, geflohen und lebe EINSATZ – Im Zelt von Team A klingelt hat unter Tonnen von Schutt eine Stimme
in der Türkei, erzählte er ihnen. An diesem um sieben Uhr der Wecker. Nach einer Nacht, gehört. Ein Baby, vermuten sie.
Tag schält er für die Ukrainer Knoblauch. Sie in der sie nicht ausrücken durften. Keiner re- Es ist 16.35 Uhr, achteinhalb Tage nach
geben ihm eine Liste mit Sachen, die sie im det. Sergej verbrüht sich mit einer Tasse ko- dem Beben. Die Ukrainer rennen zur Haus-
Lager brauchen: Zigaretten, Seife, Hundefutter. chendem Wasser den Fuß. Er muss im Lager ruine und versuchen, durch eine jubelnde
Team B kommt von einem Einsatz zurück. bleiben. Sein Team wird in ein Bergdorf im Menge durchzukommen, die nicht zu beru-
Der Einsatzleiter klettert aus dem Wagen, Süden geschickt. higen ist. Roman hebt einen Arm in die Luft,
geht zum Stabszelt, macht sich einen Instant- Der Dorfvorsteher serviert Witalij Tee, er- ruft auf Ukrainisch, sie seien professionelle
kaffee. »Sie schicken uns hier zu irgendwel- zählt ihm, er habe nur ein paar tote Tiere zu Retter, sein Kollege kämpft sich durch, Roman
chen Hühnerställen«, sagt er. In seinem Ein- beklagen, und er sagt, seine Dorfbewohner geht nach, sie knien vor einer Betonplatte,
satzwagen sitzen Männer wie Sergejs Bruder, würden jetzt auf Plünderer schießen. »Finde darunter ist eine enge Öffnung im Schutt, kei-
die Mitte Januar noch in Dnipro eine Frau ich gut«, sagt Witalij, »man muss sich wehren. nen halben Meter hoch. Links von ihnen wirft
aus einem Gebäude holten, nachdem ein rus- Auch bei uns in der Ukraine sind jetzt viele sich ein Mann in roter Weste in den Staub,
sisches Flugzeug eine Rakete hineingeschos- bewaffnet.« er vertritt hier den Bildungs-, Kultur- und
sen hatte, 950 Kilogramm Sprengstoff, mit Ihr nächstes Ziel ist ein Villenvorort. Hier Umweltschutzverein Şemdinli, er schaufelt
solchen Raketen beschießt man Flugzeug- leben Ärzte, Anwälte, Geschäftsleute. Die Betonschutt mit bloßen Händen und ruft:
träger, es war der schwerste Angriff auf ein Häuser sehen von außen so aus, als ob es kein »Allahu akbar.«
ziviles Ziel seit Beginn des Krieges. Erdbeben gegeben hätte. Roman ruft seine Team A bildet eine Kette und reicht über
Aleksander im Stabszelt hebt die Schultern. Frau per Videocall an, zeigt ihr die Berge, die Köpfe der Freiwilligen hinweg Werkzeug,
Sie haben bereits heute früh mit Kiew tele- reißt für sie einen Lorbeerzweig vom Baum. sie sägen Metallstäbe durch, Roman schaufelt
foniert und gesagt, es gebe hier immer weni- Die Ukrainer machen Selfies vom Hügel, eine Tür frei, darunter sieht man ein Bein.
ger Aufgaben für sie. Bereitet euch auf die unter ihnen liegt die Stadt. Roman und sein Kollege ziehen die Frau
Abreise vor, lautete die Ansage aus Kiew. Witalij ruft im Hauptquartier an. »Was tun vorsichtig auf eine orangefarbene Trage. Die
Die Österreicher haben wegen der Plün- wir hier? Schickt uns endlich in einen ordent- Frau hält sich mit der linken Hand den rech-
derungen ihren Einsatz ausgesetzt und sind lichen Bezirk!« ten Arm.
dann abgereist. Die Schweizer sind weg, die EINSATZ – An diesem Nachmittag fährt An der Ruine stehen Soldaten. Helfer. Poli-
Niederländer, die Griechen. die ukrainische Einheit das erste Mal ins Zen- zisten. Schaulustige mit Handykameras. Aber
Im ukrainischen Lager spürt man an die- trum von Antakya. Überall liegen Leichen- kein Angehöriger. Keiner kennt die Frau, keiner
sem Tag das erste Mal Frust. Meine Frau hat säcke zwischen meterhohen Schuttbergen, wartet auf sie. Es gibt keinen Namen. Als die
Frau zum Krankenwagen getragen wird, rufen
die Menschen: »Hoch leben die Bergleute!«
Roman sagt: »Hauptsache, sie überlebt.«
An diesem Tag bergen die Ukrainer neun
Leichen und die eine Lebende.
L AGER – Zurück vom Einsatz, erfahren
sie, Kiew habe nach dem Wunder beschlossen,
dass sie länger bleiben.
EINSATZ – Am nächsten Morgen fahren
sie mit zwei Teams wieder ins Zentrum. Beim
Rundgang durchs Viertel teilen sie auf ihren
Instagram-Accounts den Dank des ukraini-
schen Präsidenten an sie für die Bergung der
Lebenden.
»Welcher Tod ist eigentlich sinnloser«,
fragt Iwan, »wenn man im Krieg draufgeht
oder bei einem Erdbeben?«
»Im Krieg«, sagt Olga. »Nichts ist sinnloser,
als wenn Menschen Menschen töten.«
Mitarbeit: Asia Haidar n

Lesen Sie auch ‣ Was das Beben für Erdoğans


Ukrainische Einheit beim Bergen im türkischen Antakya: »Hauptsache, sie überlebt« Herrschaft bedeutet | 72

52 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


REPORTER

Ich habe kürzlich bei Nachbarn ge-


klingelt, damit sie die Musik leiser
drehen. Ich stand dort in Hausschu-
hen und sagte irgendwas von Nacht-
ruhe und Polizei. Vielleicht war ich

CDU wählen? Leider geil


im Herzen längst CDU. Law and Or-
der. Viele Linke in meinem Alter sind
tief drinnen stark konservativ, geben
es aber nur ungern zu. Sie wollen bis
ans Totenbett progressiv und juvenil
ALLES GUTSCH   Über das befriedigende Gefühl, als Linker in einem grünen wirken. Die Konservativen dagegen
Stadtteil das Kreuz bei den Schwarzen zu machen sind einfach konservativ und stehen
dazu. Sie wählen reinen Herzens.
Oder liegt es am Auto? Ich bin

I
ch bin ein alter Sozi. Weiß Gott, Autofahrer. Ich bin aber auch Rad-
das bin ich. Seit dem 18. März fahrer. Ich fahre auch mit den Öffis.
1990 habe ich immer SPD gewählt. Ich bin verkehrstechnisch polyamo-
Ich habe auch fast immer die Grünen risch veranlagt. Manchmal fahre ich
gewählt. Mal bekamen die einen mei- mit der Bahn von Prenzlauer Berg
ne Erststimme, mal die anderen. Auf nach Karlshorst. Dort wohnen meine
meinem Grabstein sollte stehen: »Hier Eltern. Oder ich fahre ins Umland.
liegt Jochen Gutsch, der allerletzte Oft ist Schienenersatzverkehr – ein
Stammwähler.« Ich bin auch evange- Wort, das mich fertig macht. Nicht
lisch, mein Großonkel war Pfarrer in die Currywurst steht für Berlin. Es ist
Schwante. Dort wurde 1989 die Ost- der Schienenersatzverkehr.
SPD gegründet. Ich kann »Die Inter- Die Vergötterung des Autos war
Illustration: Mario Wagner / DER SPIEGEL

nationale« singen und das »Solidari- mir immer fremd. Aber die grüne
tätslied«. Seit meiner Kindheit kann Autoverachtung, die all jene Men-
ich das. Ich bin ein Berliner mit sozia- schen einschließt, die Auto fahren,
listischem Migrationshintergrund. habe ich in Berlin nie verstanden.
Natürlich fühle ich mich jetzt wie Ohne Autos ist diese Stadt verloren.
ein Verräter. Meinen Sozi-Eltern habe Wenn ich nun höre: autofreie In-
ich nichts erzählt. Aus Scham. Meine nenstadt, dann denke ich: Ach, hüb-
Frau behandelt mich seit Tagen mit sche Idee! Und dann stehe ich in der
einer gewissen Verachtung. Ich will Friedrichstraße, wo man keinen Plan
nicht darüber reden. Ich kann es hier hat, aber erst mal alles stilllegt. Viel-
nur stumm schreiben: Am Sonntag, SPD zur CDU. Eine Protestwahl in leicht wächst Gras. Vielleicht kom-
12. Februar 2023, habe ich zum ersten Berlin, sagte Schönenborn. men die Wölfe zurück. Vielleicht ent-
Mal CDU gewählt. Bin ich das jetzt? Ein Protestwäh- steht das Flair einer »italienischen
Was soll ich sagen? Es war spon- ler? Und was kommt als Nächstes? Ist Piazza«, wie Bettina Jarasch, die grü-
tan, und es war nicht aus Liebe. Aber der Schritt vom Protestwähler zum ne Verkehrssenatorin, glaubt. Wer
es war aufregend und ein bisschen Wutbürger und »Querdenker« nicht Berlin im Herbst und Winter kennt,
geil. Ich saß in der Wahlkabine und nur ein winziger? Und bald sitze ich der weiß: Mit Italien hat das nichts zu
plötzlich brach all der Berlin-Frust mit Attila Hildmann in einem dunk- tun. Eher mit Moskau.
aus mir heraus. Drei Kreuze bei den len Keller und plane den Kampf ge­gen Die SPD, die Grünen und ich – in
Schwarzen. Die XXL-Packung Kon- die zionistische Weltverschwörung, Berlin haben wir uns entfremdet. Es
servatismus. Mann, es tat so gut. angeführt von Bill Gates? Manchmal zerreißt mir das Herz. Aber ich bin
Anschließend schlich ich verwirrt fürchte ich mich vor mir selbst. so müde von dieser ideologischen
durch die Straßen von Prenzlauer Die Berliner CDU war mir stets so Spaltungspolitik. Autofahrer gegen
Berg, einer grünen Hochburg. Wenn fremd wie nur irgendwas. Eberhard Radfahrer. Mieter gegen Vermieter.
man hier sagt: »Hallo, ich bin der Jo- Diepgen, Heinrich Lummer oder Gendern gegen generisches Maskuli-
chen. Ich habe CDU gewählt«, dann Frank Steffel, Spitzname: der »Ken- num. Stadtmitte gegen Stadtrand.
schauen einen alle an wie einen Irren. nedy von der Spree«. In Berlin ist Alteingesessene gegen Investoren.
Womöglich wird man auch ganz lie- alles verstärkt: Die SPD ist linker, die Nie fühlte ich mich dümmer regiert.
bevoll im Lastenfahrrad durch die Grünen sind dogmatischer, die CDU Ich weiß nicht, ob die CDU es bes-
Straßen kutschiert – direkt zum Anti- ist piefiger. Kai Wegner, der CDU- ser macht. Ich weiß nur, dass man die
rassismus-Workshop, wo man stun- Wahlsieger, kommt aus Spandau, Linken in Berlin nicht loswird. Man
denlang die Sätze wiederholen muss: einem Stadtbezirk, den ich einmal im kann sie abwählen, aber sie sagen
Clan-Kriminalität in Berlin gibt es Jahr betrete, wenn ich mit meiner Alt- trotzig: 18 Prozent? Klingt nach Re-
nicht. Clan-Kriminalität ist nur ein herren-Fußballmannschaft gegen gierungsauftrag! Die SPD herrscht
rassistisches Konstrukt. Schwarz-Weiß Spandau spiele. Von Nicht die seit mehr als 20 Jahren. Wahrschein-
Meinen ersten Abend als CDU- Kai Wegner weiß ich nur, dass er Currywurst lich glauben sie im Roten Rathaus
Wähler verbrachte ich vor dem Fern- einen Labrador namens Casper hat. längst an die Monarchie. Und so
seher, wo ich in den Wählerwande- Er mag Hunde. Ich mag Katzen. Wir steht für ­verabschiede ich mich zum Schluss
rungsgrafiken von Jörg Schönenborn lieben Tiere! Reichte das schon für ­Berlin. Es ist noch von einem meiner liebsten
sah, dass ich nicht allein war. Zehn- mein CDU-Wahlkreuz in Berlin? Glaubenssätze: dass Linke irgendwie
tausende Wähler zogen wie die Gnus Manchmal denke ich, dass es auch
der Schienen- die besseren Menschen wären.
zum labenden Wasserloch von der am Alter liegen könnte. Ich bin 51. ersatzverkehr. Jochen-Martin Gutsch n

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 53


WIRTSCHAFT

10.000 9574

2150 1550 1197 973 927


Renditekönig 0 Ford Nio
Gewinne/Verluste Tesla GM BYD Toyota VW Hyundai – 762
der Hersteller je ver-
kauftes Elektroauto
im 3. Quartal 2022, – 10.000
in Dollar

geschätzte Durch-
schnittswerte
– 19.141
S Quelle: Reuters – 20.000


Josh Edelson / AFP


Elon Musks Guerilla-Taktik
E-MOBILITÄT  Mit radikalen Preissenkungen verunsicherte Tesla-Chef Musk erst Bestandskunden und
­ ktionäre. Jetzt zeigt sich: Seine Rabattschlacht bringt Wettbewerber in ernste Bedrängnis.
A

K eine sechs Wochen ist es her, dass


verärgerte Kunden die Tesla-Stores
in China stürmten. Sie protestierten
gegen wiederholte Preissenkungen, die den
Model Y, das derzeit meistverkaufte E-Auto
in Europa, kostet kaum noch mehr als Volks-
wagens deutlich weniger beliebtes E-Modell
ID.4. Der Trick dabei: Dank des gesenkten
Dudenhöffer führt die hohen Margen auf
Teslas Produktionsmethoden zurück: In
großen Druckgussmaschinen entstünden
ganze Vorder- und Hinterteile, das spare
Restwert ihrer Fahrzeuge drückten. Auch Listenpreises können Tesla-Kunden nun die viele Produktionsschritte und senke Kosten.
der Aktienkurs stürzte weiter ab. Doch die volle Umweltprämie von mehr als 7000 So könnten die Amerikaner Preisaktio-
Wut der Tesla-Fans verrauchte schnell. Euro inklusive Mehrwertsteuer einstreichen, nen gut verkraften – anders als etwa VW.
Der China-Absatz der US-Marke stieg im zuletzt bekamen sie lediglich Nachlässe in Europas größter Autohersteller beteuert,
Januar wieder deutlich an. Unlängst hat Höhe von rund 4800 Euro. die Preise stabil zu halten. Man setze auf
Konzernchef Elon Musk die Preise für den Für Wettbewerber wie BMW, Mercedes- Verlässlichkeit und profitables Wachstum.
Tesla-SUV Model Y bereits wieder leicht er- Benz oder VW ist Teslas Preisvorteil laut Das sei kaum durchzuhalten, so Dudenhöf-
höht – ein Verwirrspiel für seine Konkurren- Dudenhöffer eine beunruhigende Nach- fer: Nach einigen Monaten drohten die
ten. Musk und Tesla seien im Begriff, »mit richt: Musks Strategie bestehe offenkundig ­Verkäufe derart einzubrechen, »dass man
Guerilla-Methoden beim Pricing von Elek­ darin, mit Hyperwachstum die traditionel- mit großer Wahrscheinlichkeit wieder ge-
troautos die Wettbewerber auszutricksen«, len Hersteller »aus dem Markt zu drän- mäß dem alten Discount-Modell agiert«.
sagt Ferdinand Dudenhöffer, Direktor des gen«. Musk kann sich den Preiskrieg leis- Wer nicht auf Musks Guerilla-Taktik reagie-
Center Automotive Research. Seine Analyse ten: Tesla kommt auf deutlich höhere Ge- re, »verliert den Elektroautomarkt, die Zu-
der Autopreise in Deutschland zeigt: Teslas winne je verkauftes Auto (siehe Grafik). kunft des Autogeschäfts«. SH

54 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


Blume tauscht Braunkohle-Stopp Sachsen hatten sich bisher
gegen ein vorgezogenes Ende
­Umweltberater aus in Ostdeutschland? der Braunkohleförderung aus-
VOLKSWAGEN  Gut sieben Jah- ENERGIE  Das Bundeswirt- gesprochen. Brandenburg wäre
re nach Auffliegen des Diesel- schaftsministerium ist in Ge- nur unter Auflagen dazu bereit.

Reto Klar / FUNKE Foto Ser vices


betrugs hat der VW-Konzern sprächen mit dem ostdeutschen Ein 2020 verabschiedetes Ge-
seinen eigens eingerichteten Energiekonzern Leag über setz sieht vor, erst 2038 aus
Nachhaltigkeitsbeirat wieder einen früheren Ausstieg aus der der Kohleverstromung auszu-
aufgelöst. Das Mandat des Gre- Braunkohle in Ostdeutschland. steigen. Im Rheinischen Revier
miums, das bis Ende 2022 lief, »Ein auf 2030 vorgezogener hatte sich Habeck indes mit
hat der Autobauer nicht verlän- Blume Kohleausstieg im Osten muss der schwarz-grünen Landes­
gert. Aus dem Konzern heißt es, besprochen werden«, erklärte regierung von Nordrhein-West­
aktuell werde ein Nachfolgegre- UN-Initiative Global Compact. eine Sprecherin. Dies könne al- falen und dem Energiekonzern
mium zusammengestellt, auch Noch 2020 teilte VW mit, man lerdings nur im Konsens ent- RWE im Oktober auf einen
mit neuen Mitgliedern. Es solle werde den Dialog »intensivie- schieden werden, wie Robert Ausstieg im Jahr 2030 ge-
sich stärker den Themen Trans- ren«, der Beirat sei »Treiber Habeck (Grüne) bereits deutlich einigt. Am 22. Februar besucht
formation und Digitalisierung und Korrektiv für unsere Stra­ gemacht habe. Die tschechische der Minister nach SPIEGEL -
widmen. Beim Klimaschutz sei tegie«. Bei dem früheren Vor- Leag-Mutter EPH will Gesprä- Informationen den Kohle-
VW mittlerweile auf einem gu- standschef Herbert Diess habe che »weder bestätigen noch de- Industriestandort Schwarze
ten Weg. Der Beirat war 2016 das Gremium stets Gehör ge- mentieren«. Die Landesregie- Pumpe in der Lausitz sowie
gegründet worden, um VW bei funden, so der Eindruck von rungen in Sachsen-Anhalt und die Leag. GT, SBO
Themen wie Integrität, Umwelt- Mitgliedern. »Herr Diess hat
schutz und nachhaltiger Mobili- sich für die Klimapolitik immer
tät zu beraten. Zu den Mitglie- sehr interessiert«, sagt Ex-Bei-
dern zählten unter anderem ratsmitglied Edenhofer. Als
Margo Oge, Ex-Direktorin bei Diess im Sommer abgelöst wur-
der US-Umweltbehörde EPA, de, reagierte Beiratssprecher
Connie Hedegaard, frühere EU- Kell bestürzt: Man habe »mit
Kommissarin für Klimaschutz, großer Überraschung« davon
Ottmar Edenhofer, Direktor des erfahren. Kell ist nun damit be-
Potsdam-Instituts für Klimafol- auftragt, den Beirat neu aufzu-
genforschung sowie Gregor stellen. Er wird wohl kleiner
Kell, Gründungsdirektor der ausfallen als bisher. SH, MSA

Christophe Gateau / dpa


Billionen für grünen Dollar schaffen. Allerdings wer-
de der grüne Wasserstoff die Leag-Braunkohlekraftwerk
Wasserstoff »globale Machtbalance im
UMWELT  Um die Produktion Energiesektor verändern«, sagt
und den Transport von grünem Deloitte-Partner Bernhard Lo- Lindner bereitet die Prämie vom Finanzamt er-
Wasserstoff aufzubauen, sind rentz. Zwar würden die USA stattet. Der Digitalisierung will
bis Mitte des Jahrhunderts welt- die mächtigste Nation bleiben, ­Entlastungspaket vor Lindner mit einer speziellen
weit Investitionen in Höhe von herausgefordert nur von China. STEUERN  Im Rahmen seines Abschreibungsregelung Schub
zehn Billionen US-Dollar erfor- Zugleich werde die Bedeutung Wachstumspakets plant Bun- verleihen. Auch alle anderen
derlich. Zu dem Schluss kommt Russlands und des Nahen Os- desfinanzminister Christian Unternehmen sollen günstigere
eine Studie der Beratungsfirma tens abnehmen – beide Regio- Lindner (FDP) Entlastungen für Abschreibungen bekommen.
Deloitte Sustainability & Cli­ nen sind bisher große Liefe­ die Wirtschaft in zweistelliger Zudem möchte der Minister den
mate. Der dadurch entstehende ranten von fossilen Energieträ- Milliardenhöhe. Unter anderem Verlustvortrag großzügiger aus-
Markt könnte jährlich Einnah- gern wie Erdöl und Gas. Grüner will er Gewinne von Personen- gestalten. Dabei werden aktuel-
men von bis zu 285 Milliarden Wasserstoff soll etwa in der gesellschaften begünstigen, so- le Verluste steuermindernd auf
Stahl- und Chemieindustrie zur fern sie in der Firma bleiben. künftige Jahre verteilt. Die
klimaneutralen Produktion Derzeit werden Gewinne von steuerliche Forschungsförde-
eingesetzt werden. Für die Her- Kapitalgesellschaften, also rung möchte Lindner ausbauen.
stellung erneuerbarer Energien GmbH und AG, nur rund halb Die Eckwerte des Programms
braucht es neben Wind und so hoch belastet wie die von will er Ende März vorlegen.
Sonne große Flächen. Deshalb Personengesellschaften und Ein- Dann stehen auch die Steuer-
eigneten sich die USA, Latein- zelunternehmen, die aber mehr ausfälle genauer fest. Lindners
amerika, Nordafrika, Namibia als 75 Prozent aller Firmen in Ziel ist, Deutschlands Wettbe-
oder Südafrika als Produktions- Deutschland stellen. Diese werbsfähigkeit zu erhöhen.
stätten, heißt es in der Analyse. Schieflage will Lindner behe- Drei Hindernisse muss er über-
Deutschland und Europa wür- ben. Geplant ist zudem eine In- winden: Die Schuldenbremse
den zwar auch selbst grünen vestitionsprämie für Unterneh- schränkt das Entlastungsvolu-
Bridget Bennett / REUTERS

Wasserstoff herstellen, blieben men, die in Klimaschutz inves- men ein, auch könnten SPD
aber vor allem Importeure. tieren. Anders als bei der übli- und Grüne es als zu üppig
Deshalb empfehlen die Auto- chen steuerlichen Förderung empfinden. Und die Länder
Wasserstoffspeicher in
ren, rasch Energiepartnerschaf- wird die Maßnahme auch Fir- dürften Widerstand leisten:
den USA ten mit den größten Produk- men zugutekommen, die Ver- Sie tragen rund die Hälfte der
tionsländern aufzubauen. GT luste schreiben. Sie bekommen Steuerausfälle. REI

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 55


WIRTSCHAFT

Marcus Simaitis / DER SPIEGEL

Marcus Simaitis / DER SPIEGEL


1 2

Gordon Welters / DER SPIEGEL


Niklas Grapatin / DER SPIEGEL

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1 | Dachdecker Hankeln an der St.-Quirinus-Kirche in Rees-Millingen  2 | OP-Pflegefachkraft Christian-Wicher im Uniklinikum Münster  3 | Ofenmann
Maaß im Aluminiumwalzwerk Speira in Hamburg  4 | Partnerin Leißering-Bänsch in Berliner Steuerberaterkanzlei

56 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


WIRTSCHAFT

»Wertvoll wie Gold«


ARBEITSMARKT  Seit der Fachkräftemangel ganze Branchen lahmlegt, gelten reifere Beschäftigte als
Geheimwaffe gegen den Notstand auf dem Arbeitsmarkt. Aber wer schafft es heute überhaupt,
bis zum gesetzlichen Rentenalter im Job zu bleiben? Und was müssen die Unternehmen dafür tun?

W
erner Hankeln ist noch da, Dachdecker, die in seinem Alter noch gehen, weil es die Älteren in den Ru-
dabei wäre er am liebsten Mangel- im Geschäft sind. hestand drängt.
längst weg. Mit 60 Jah- wirtschaft Für ihre Arbeitgeber, sagt Boll- Und so geschieht im Lande derzeit
ren, so hatte er sich das werk, sind sie inzwischen so »wert- Unerhörtes. Noch vor einiger Zeit hät-
mal ausgemalt, sollte Schluss sein mit Offene Stellen voll wie Gold«. ten Personaler die Unterlagen 60-jäh-
in Deutschland*,
dem Arbeitsleben. Jetzt steuert er auf in Tausend An Beschäftigten fehlt es inzwi- riger Bewerberinnen und Bewerber
seinen 61. Geburtstag zu und steht schen überall. Auf dem Bau. In der ungelesen in einer Ablage verschwin-
2000
noch immer hier oben, über Giebeln Pflege. In der Energiebranche. 1,8 Mil- den lassen. Heute sind auch reifere
und Firsten, und zieht seine Kapuze lionen offene Stellen zählte das Insti- Kandidaten in Mangelbranchen be-
in die Stirn, wenn der Wind zu sehr tut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor- gehrt, wenn sie die passende Qualifi-
bläst. 1500 schung im dritten Quartal 2022, im kation mitbringen. Immer mehr
Das Wetter gibt sich an diesem Januar meldete das Forschungsinsti­tut Unternehmen mühen sich, ältere Be-
Januartag alle Mühe, eine alte Dach- einen Rekord: Nie zuvor in der Ge- schäftigte so lange wie möglich zu hal-
deckerweisheit zu bestätigen. »Wenn schichte der Statistik waren Arbeits- ten, bis zum gesetzlichen Rentenalter
1000
es kalt ist, ist es kalt. Und wenn es reg- kräfte knapper als heute. und darüber hinaus. Aus Eigennutz.
net, ist es nass.« Wer jetzt eine Mitarbeiterin ver- Denn es gibt kaum eine andere Reser-
Hankelns Plan war, endlich keinen liert, und sei es in die Rente, der findet ve, die schneller zu mobilisieren wäre.
Plan mehr haben zu müssen. Keinen 500 so schnell keine mehr. Annähernd Die Arbeitslosen? Können die
Wecker zu stellen, keinen Anweisun- fünf Monate vergehen laut Bundes- Fach­­kräftelücke ohne eine neue Aus-
gen folgen zu müssen, außer vielleicht agentur für Arbeit im Schnitt, bis Un­ bildung meist nicht schließen. Gut die
denen seiner Frau. Viel mehr wollte ternehmen eine Fachkraft ersetzen Hälfte von ihnen ist nur als Hilfskraft
0
er nicht, nach 40 Jahren im Betrieb. können. Im Sommer 2022 waren es qualifiziert. Die Frauen? Arbeiten
Ab in den Ruhestand, Feierabend für 2010 2022 noch gut vier Monate. Betroffen sind häufig in Teilzeit und werden ihr
immer. ausgerechnet jene Branchen, die ge- Arbeitsvolumen nur dann erhöhen,
Unternehmen in
Dass er noch da ist, hat zum einen Deutschland, die sellschaftlich besonders relevant sind. wenn sie ihre Kinder gut betreut wis-
damit zu tun, dass er nachgerechnet angeben, dass ihre Weil sie die Pflege der Schwächsten sen. Passende Mitarbeiter aus dem
hat. Würde er jetzt in Frührente ge- Geschäftstätigkeit organisieren. Oder die Energiewende Ausland? Sind kurzfristig nicht ver-
hen, wäre sein Auskommen reichlich durch Fachkräfte- voranbringen sollen. In Altenheimen fügbar, und ihr Interesse ist erfah-
mangel behindert
schmal. Und dann ist da noch sein wird, in Prozent dauert es fast neun Monate, bis eine rungsgemäß überschaubar. Die Bun-
Chef Dirk Bollwerk, der ihn inständig vakante Stelle besetzt werden kann, desagentur für Arbeit musste gerade
4. Quartal 2022
bat zu bleiben. in der Energietechnik sind es knapp erst einräumen, dass sie im vergange-
4. Quartal 2019
Personal ist knapp in der Branche, sieben. nen Jahr exakt 656 Pflegerinnen und
sehr knapp sogar. Bollwerk kommt Maschinenbau Auch andere Fortschrittsprojekte Pfleger aus dem Ausland anwerben
mit seinen Aufträgen kaum hinter­her. 47,4 straucheln. Laut einer bislang unver- konnte – bei bundesweit rund 40 000
Und für Einsätze an historischen Bau- 13,4 öffentlichten Studie des Instituts der unbesetzten Stellen.
werken braucht er erfahrene Hand- deutschen Wirtschaft wird die Fach- Die Älteren dagegen sind bereits
Autoindustrie
werker: Dachdecker wie Hankeln. kräftelücke in Digitalisierungsberufen da. Man muss nur dafür sorgen, dass
35,9
So kommt es, dass der an diesem bis 2026 auf einen neuen Höchststand sie nicht gehen. Doch das ist alles an-
Tag mal in 10 Meter, mal in 30 Meter 14,0 wachsen. Knapp 106 000 Stellen wer- dere als trivial.
Höhe schwebt, emporgehoben im Telekommunikation den dann rechnerisch nicht besetzt Viel zu lange schoben Unterneh-
Korb eines Autokrans, um das Dach 56,8 werden können – vor allem in Aus- men reifere Beschäftigte in den Vor-
der St.-Quirinus-Kirche im niederrhei- 38,4 bildungsberufen wie Bauelektriker ruhestand ab. »Die Zeit, in der in
nischen Rees-Millingen zu inspizieren. oder Mechatronikerin. vielen Großkonzernen über 60-Jäh-
»Sturmschäden«, ruft er und deutet Rechts- und Der Wirtschaftsverband DIHK rige zum alten Eisen gepackt werden,
Steuerberatung
auf die Stellen, an denen sich die Schie- schätzt, dass deutsche Unternehmen muss vorbei sein«, fordert Bundes-
68,1
ferplatten gelöst haben. Der Wind durch den Personalmangel bereits arbeitsminister Hubertus Heil, SPD.
zerrt unerbittlich an seiner Jacke. 46,7 jetzt fast 100 Milliarden Euro an mög- »In Zeiten des wachsenden Arbeits-
Die vielen Jahre auf dem Bau sieht * Quartalswerte, ab Q4 2020: licher Wertschöpfung einbüßen – pro und Fachkräftemangels kann unsere
man ihm an. Auch im Winter hat Han- vorläufige Werte Jahr. Und die aktuelle Lage lässt nur Volks­wirtschaft nicht auf erfahrene
S Quellen: IAB, Bundesagen-
keln die gesunde Gesichtsfarbe eines ahnen, was auf das Land noch zu- Beschäftigte verzichten.«


tur für Arbeit; KfW-ifo-Fach-


Mannes, der bei jedem Wetter über kräftebarometer, rund 9000
quartalsweise befragte
kommt. Bis 2035 könnten bis zu sie- Offiziell liegt die gesetzliche Alters-
Gerüste klettert. Es gibt nicht viele Unternehmen ben Millionen Arbeitskräfte verloren grenze heute bei 66 Jahren, doch nur

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WIRTSCHAFT

die wenigsten Beschäftigten erreichen Die groß gewachsene Frau mit dem
sie. Im Durchschnitt gehen sie mit Früher als geplant langen, schwarzen Haar führt zu
64,1 Jahren in Rente. Als kürzlich einem Fenster, aus dem man auf den
bekannt wurde, dass die Zahl der Durchschnittliches Renteneintrittsalter in Deutschland, in Jahren imposanten Kreisverkehr am Ernst-
Frührentner wächst, war der Auf- Männer Frauen Regelaltersgrenze für eine Altersrente Reuter-Platz blickt. Hier steht das
schrei in der Wirtschaft groß. Die 67 Telefunken-Haus, erbaut von jener
Arbeitgeber warfen der Politik vor, Firma, deren Radiogeräte und Fern-
falsche Anreize zu setzen, SPD-Poli- 65 seher in Bauers Kindheit in deutschen
tiker Heil keilte zurück, die Unter- Wohnzimmern allgegenwärtig waren.
nehmen müssten ihre Haltung zu älte­ 63 Mitte der Achtzigerjahre wurde
ren Bewerbern überdenken. das Unternehmen zerschlagen. Es
Vielleicht ist die Sache etwas kom- war die Zeit, als der damalige Bundes-
61
plizierter. Die Fachkräfte, die jetzt in sozialminister Norbert Blüm (CDU)
Massen fehlen, sind keine Raketen- 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020
erste Vorruhestandsgesetze auf den
wissenschaftlerinnen, sie haben sehr S Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund; bis 1992: früheres Bundesgebiet;
Weg brachte, um die Menschen be-
unaufgeregte und handfeste Berufe. reits mit 58 Jahren in Rente zu schi-


2014/15: Renteneintrittsalter korrigiert um Sondereffekt durch »neue Mütterrenten«


Viele ältere Beschäftigte sehnen sich cken. Beschäftigte im Alter von Hei-
nach einem Leben auf Schicht nach keine Rolle mehr. »Früher hätten wir ke Bauer waren auf dem Arbeits-
einem Leben ohne Stress. Manche wohl nicht mit einer solchen Selbst- markt nicht vorgesehen.
stehen nur deshalb noch auf Häusern verständlichkeit über 55-Jährige ein- Der demografische Wandel prägte
oder am Krankenbett, weil sie sich gestellt«, gibt die Steuerberaterin zu. das Land wie heute – nur unter um-
den Ausstieg nicht leisten können. Für die Kanzlei seien diese Mit- gekehrten Vorzeichen. Damals
»Wenn ich jetzt schon in Rente gehe, arbeiter besonders wichtig. Ältere drängten die Babyboomer, die heute
kann ich gleich zur Tafel laufen«, sagt seien bei komplexen Problemen oft in Massen das Rentenalter erreichen,
Dachdecker Hankeln. routiniert, blieben ruhiger, wenn in das Berufsleben. Um die Jungen
Wer also will bis zur Rente und Schwierigkeiten auftauchten. Und sie vor Arbeitslosigkeit zu bewahren,
länger arbeiten? Wer kann es über- seien offen dafür, von der Dynamik sollten sich die Alten mit staatlicher
haupt? Und was müssen Unterneh- jüngerer Kollegen zu lernen. »Meine Alimentierung früh in den Ruhestand
men und Politik tun, um die neuen Einstellung hat sich durch die Erfah- »Wir wollen, verabschieden. Viele Unternehmen
alten Talente für sich zu gewinnen? rung verändert«, sagt Leißering- missbrauchten das Instrument, um
dass die

D
Bänsch. »Heute habe ich mehr Wert- ihre Belegschaft kostengünstig zu
er Mangel ist dort besonders schätzung für Seniorität.« Mitarbeiter bis schrumpfen.
groß, wo man ihn nicht un­ Wenn es stimmt, dass der Empfangs- Erst um die Jahrtausendwende
bedingt vermutet. Kaum eine bereich das Gesicht einer Firma prägt, zur Rente wurden die meisten Fehlanreize ab-
Profession sucht derzeit so dann ist Heike Bauer für den Besucher- durchhalten.« geschafft. Die Älteren bleiben seither
verzweifelt nach Arbeitskräften wie tresen der Kanzlei eine ausgesprochen Meike Finnern,
länger im Job. Während im Jahr 2000
die Rechts- und Steuerberater. Über gute Wahl. Sie ist 63 Jahre alt. Als sie Speira-Personal­ nur etwa jeder Neunte im Alter von
ihre Büros wurden Coronahilfen be- eingestellt wurde, war sie 57. chefin 60 bis 64 Jahren einer sozialversiche-
antragt, Staatszuschüsse in der Ener- rungspflichtigen Beschäftigung nach-
giekrise abgewickelt und Grundsteuer- ging, war es im Frühjahr 2022 bereits
erklärungen eingereicht. Im Januar jeder Zweite. Je nach Kreativität der
gaben 75,2 Prozent der Kanzleien Zählung nimmt Deutschland bei der
in einer Umfrage für das Ifo-Institut Beschäftigung der Älteren inzwischen
an, ihre Geschäfte einschränken zu sogar einen globalen Spitzenplatz ein.
müssen, weil ihnen das Personal Natürlich gibt es nach wie vor Che-
ausgeht. finnen und Chefs, die sich von Älteren
Für Butenschön und Partner ist das bereitwillig trennen. Man findet sie
keine Option. Die Berliner Kanzlei im öffentlichen Dienst, etwa bei
inszeniert sich als Trendsetter. Wer Feuerwehren, die Mitarbeiter um die
sie im Netz besucht, kann einem 60 noch immer gern in den Vorruhe-
Drohnenflug durch die Büroräume stand abschieben. Oder in der Auto-
folgen, der bei einer Partie am Kicker- industrie, wo Produzenten und Zu-
tisch endet. lieferer zuerst die Älteren nach Hau-
Beatrice Leißering-Bänsch, 51, ist se schicken, wenn sie sich wegen der
für das Personal zuständig. Als die Transformation von Personal trennen
Steuerberaterin 2003 Partnerin wur- müssen.
de, hatte die Kanzlei 16 Mitarbeiter. Andere dagegen suchen inzwischen
Heute sind es rund 60. Lange Zeit war nach Konzepten, um ihre Mitarbeiter
das starke Wachstum kein Problem, so lange wie möglich zu behalten.
auf jede ausgeschriebene Stelle mel- Wenn Dachdeckermeister Dirk
deten sich genug geeignete Bewerber, Bollwerk mit seinem Pick-up durch
wie Leißering-Bänsch erzählt. Be- den Ort kurvt, kann er an beinahe je-
Niklas Grapatin / DER SPIEGEL

gehrt waren vor allem die Jüngeren, der Straße ein Haus zeigen, auf das
die »wir entwickeln können«. sein Betrieb schon geklettert ist. Däm-
Doch seit fünf Jahren hat sich die mung, Begrünung, Solaranlage – der-
Lage bei den Bewerbungen rapide zeit kommt er kaum hinterher. Manch-
verschlechtert. Nun gelte: Wenn die mal fehlt es an Material, meistens an
Qualifikation stimme, spiele das Alter Personal.

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WIRTSCHAFT

Das überdimensionierte Foto seines Teams freie Frührente in der Regel offensichtlich von
klebt auf allen größeren Firmenfahrzeugen, jenen, die rar sind, etwa von vergleichsweise
Mitarbeiter Werner Hankeln lächelnd in der gut abgesicherten Fachkräften in der Chemie-
Mitte. »Meine Jungs sind mir wichtig«, sagt und Metallindustrie.
Bollwerk, ein Mann mit sehr festem Hände- Am Bau allerdings erreichen die wenigsten
druck und drei Meistertiteln. Mitarbeiter die nötigen 45 Versicherungsjah-
Bollwerk meint das durchaus wörtlich: re, mehr als die Hälfte der Dachdecker stieg
Frauen sind für das Gewerbe nur schwer zu in der Vergangenheit vorzeitig aus und ist auf
begeistern. Ihre Quote in der Zunft liegt bei eine bescheidene Invalidenrente angewiesen.
rund zwei Prozent, auch deshalb ist der Be- Werner Hankeln sagt, es sei ein Wunder,
werberpool begrenzt. Auf seine weibliche dass er in seinem Alter »nichts mit Schulter,
Aushilfskraft ist der Chef daher mächtig stolz. Knie und Rücken« habe.

O
16 Angestellte hat der Betrieb. Zwei Aus-
zubildende würde Bollwerk gern einstellen, b jemand im fortgeschrittenen Alter
»ich wäre aber schon froh über einen einzi- noch berufstätig sein kann oder will, Berufliche
gen«, sagt er. Um Neuzugänge wirbt er auf hängt stark von seiner Bildung ab.
Instagram und Facebook. Zugleich müht er Rund 82 Prozent der Akademiker Weiterbildung
sich, die Älteren, so lange es geht, im Geschäft und Handwerksmeister sind auch zwischen
zu halten. Auch der Schwiegervater hilft mit 55 und 64 Jahren noch erwerbstätig. Bei Aus- wann und wo
76 Jahren noch im Lager aus. Es ist ein Ein-
satz an zwei Fronten.
gebildeten sind es rund 71 Prozent, bei Un-
gelernten nur 56.
Sie wollen
Kollege Hankeln hat bereits angekündigt, Großen Unternehmen, die ihren grau me-
dass er in 48 Monaten in Rente gehen will. lierten Wissensarbeiterinnen Büros mit ergo-
Dann wäre er fast 65. Damit Hankeln auch nomisch wertvollen Stühlen anbieten können,
wirklich so lange durchhält, hat der Chef um- fällt es offensichtlich leichter, ältere High
geplant. Er will ihn so wenig belasten wie Potentials zu halten. Der Stuttgarter Bosch-
möglich. Konzern etwa zählt in seiner Management
Die Ziegel zieht jetzt der Autokran hoch, Support GmbH rund 2300 Seniorexperten,
auf die ganz großen Dächer steigen die jün- Ruheständler im Alter zwischen 60 und 75.
geren Kollegen. Hankeln kümmert sich vor Zusammen kommen sie auf rund 50 000 Jah-
allem um Spezialaufträge und das Service- re Berufserfahrung.
geschäft bei den Kunden. Um alles also, was Sie werden befristet eingesetzt, etwa wenn
Fingerspitzengefühl erfordere. »Werner«, so Rat beim Anlauf einer neuen Produktionslinie
erzählt Bollwerk das, »kann nun mal Dinge, gefragt ist. Der Bedarf wächst, seit der Kon-
die nur wenige andere Kollegen auf dem Bau zern in der Transformation steckt.
können.« Eine Milliarde Euro investierte Bosch in
Wohl kein Beruf musste häufiger für eine den vergangenen fünf Jahren weltweit, um Jetzt nur
politische Erzählung herhalten als der von Maschinenbauer zu Softwareentwicklern um-
Hankeln. »Ich kann einen Dachdecker mit 67
nicht mehr auf dem Dach arbeiten lassen«,
zuschulen oder Facharbeiter aus der Ver-
brennertechnologie auf die Elektromobilität
€ 990,–
klagte der damalige rheinland-pfälzische Mi- vorzubereiten. Auch für die Älteren erwach- statt
nisterpräsident Kurt Beck (SPD) im Jahr 2006. sen daraus Chancen. € 1.290,–
Um die durch die Demografie gebeutelte Experten sehen im lebenslangen Lernen
Rentenkasse zu entlasten, hatte die Große einen Hebel für eine lange Berufstätigkeit.
Koalition vorgeschlagen, die gesetzliche Al- »Die Unternehmen sollten erkennen, dass
tersgrenze bis zum Jahr 2031 auf 67 Jahre auch 55-Jährige in den neuesten Technolo­
anzuheben. »Da muss man kein Mathemati- gien geschult werden müssen, einfach weil Wir feiern 5 Jahre
ker sein, da reicht Volksschule Sauerland, um die Alterszusammensetzung der Belegschaft
zu wissen: Wir müssen irgendetwas machen«, nie wieder so jung sein wird wie früher«, sagt
SPIEGEL Akademie!
hatte der damalige Arbeitsminister Franz Martina Schmeink, geschäftsführende Vor- Sichern Sie sich jetzt unser
Müntefering (SPD) erklärt. ständin des Demographie-Netzwerks. Jubiläumsangebot mit dem Code
Das Konzept war bei den Linken in der Allerdings gibt es Grenzen. Ein Gießer
Sozialdemokratie und bei Gewerkschaften lässt sich nur selten zum Büroangestellten
Aktion5. Erreichen Sie zeitlich
verhasst. Um es abzuschwächen, auch für die umschulen. Im Speira-Aluminiumwalzwerk flexibel und ortsunabhängig
viel beschworenen Dachdecker, einigte man im Hamburger Hafen jedenfalls haben sie das einen staatlich anerkannten
sich auf eine Ausnahme: Wer 45 Versiche- noch nie erlebt.
rungsjahre gesammelt hat, darf sich schon 685 Grad Celsius zeigt die Digitalanzeige Zertifikatsabschluss zur Erwei-
vorzeitig ohne Einbußen in den Ruhestand an. Oben glüht rot das Innere des Schmelz- terung Ihres beruflichen Profils.
verabschieden. Frühestens mit 63. ofens, unten schimmert grau das flüssige Me-
Als im Jahr 2014 diese Rente mit 63 be- tall. Michael Maaß steht wenige Schritte vor
schlossen wurde, ging die Regierung davon der Anlage, über seiner hitzefesten Arbeits-
aus, dass rund 200 000 Menschen jährlich kleidung trägt er den »Silbermantel«, wie sie
davon Gebrauch machen würden. Tatsächlich ihn auf Schicht nennen, dazu Visier und Helm.
sind es derzeit 260 000. Mit einem langen Teleskopstab nimmt er aus
Auch wenn man inzwischen mindestens der Schmelze Proben, um zu prüfen, ob die
64 Jahre alt sein muss, um das Konstrukt zu Legierung so ist, wie sie sein soll. Alle Kurse und
nutzen – ein großes Problem ist geblieben: Wenig später schält sich Maaß aus seiner Infos unter
In Anspruch genommen wird die abschlags- Kluft, die Schweißtropfen stehen noch auf
akademie.spiegel.de
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WIRTSCHAFT

seiner Stirn. Als er im Pausenraum men das die Maschinen. Nur die tem mit Ruf- und Bereitschaftsdiens-
den Helm abnimmt, kommen grau- Schichtdienste lassen sich nicht weg- ten strengt mich an«, sagt sie.
blonde Locken zum Vorschein. Maaß denken, daher sind die Opa-Tage Im Januar 2026 soll daher Schluss
ist 64 Jahre alt. wichtig. sein, mit gut 64 Jahren. Und weil ihr
Vor zehn Jahren haben sie ihn hier Das Investment hat sich gelohnt. Rentenkonto dann mehr als 45 Ver-
im Werk eingestellt. Seitdem gießt er Die Älteren seien eher seltener krank sicherungsjahre zählt, muss sie keine
flüssiges Leichtmetall zu großen Bar- als die Jüngeren, sagt Finnen. »Und Abschläge fürchten. Mehr als 1600

Julia Steinigeweg
ren, die später zu 150 Meter langen wir verabschieden die Allermeisten Euro an gesetzlicher Rente kann sie
dünnen Bändern gewalzt, auf riesige gesund in den Ruhestand.« erwarten, dazu eine Zusatzversor-
Rollen gewickelt und ausgeliefert Auch Michael Maaß geht jetzt in gung über das Land. Vor allem: Sie
werden – an Autohersteller, Baufir- Rente. könnte dann mehr Zeit mit ihren En-
men oder Zwischenhändler. Von den Dass viele Menschen länger im Job keln verbringen.
660 Beschäftigten in Hamburg arbei- bleiben würden, wenn sie nur anders »Die Zeit, in Im Uniklinikum Münster arbeiten
ten mehr als 400 in der Produktion, arbeiten könnten, ist eine späte Er- der über 2000 Menschen in der Pflege, 250
die niemals stillsteht, 24 Stunden am kenntnis. »Auch Ältere wollen Sou- Stellen sind derzeit unbesetzt. Die
Tag, 365 Tage im Jahr. veränität über ihre Arbeitszeit. Also 60-Jährige Älteren brauchte man auch als Aus-
»Das ist ganz schön anstrengend«, helfen flexible Modelle«, sagt Bettina zum alten hängeschild – »als wichtiges Signal
sagt Maaß, und meint nicht etwa die Kohlrausch, wissenschaftliche Direk- an junge Menschen, dass der Pflege-
Arbeit am Ofen, den Lärm oder die torin des Wirtschafts- und Sozialwis- Eisen gepackt beruf bis zum Renteneintritt attraktiv
Hitze. »Das steh ich durch«, sagt er. senschaftlichen Instituts. werden, muss und ausführbar ist«, sagt Pflegedirek-
Womit er ein Problem hat, ist die Sa- Und tatsächlich tut sich was, nicht
che mit dem Schlaf. »38 Jahre mache nur bei Speira mit seinen Opa-Tagen.
vorbei sein.« tor Thomas van den Hooven.
Christian-Wicher hängt an ihrem
ich jetzt Schicht. Als ich jung war, sind Firmenchef Bollwerk führt als Prä- Hubertus Heil, Arbeitgeber. Deshalb wünscht sie sich
Arbeitsminister
wir von der Party direkt zur Früh- sident des Zentralverbands des Deut- ein »langsames Verabschieden«. Ein
schicht, kein Ding. Und nach ’ner schen Dachdeckerhandwerks auch die paar Stunden pro Woche will sie auch
Nachtschicht konnte ich lange schla- Tarifverhandlungen mit der IG Bau. als Rentnerin weiterarbeiten. Ein Mo-
fen. Jetzt kaum noch. Meistens steh Er wirbt für einen »Work-Life-Ba­ dell, auf das auch die Bundesregie-
ich um elf Uhr wieder auf. Hat ja kei- lance-Fonds«, in den Arbeitgeber und rung setzt. Nur haben es die wenigs-
nen Zweck.« die Beschäftigten in jungen Jahren ten schon für sich entdeckt.
Die Kollegen im Pausenraum ni- einen kleinen Teil der jährlichen Lohn­ Bisher galt, dass Frührentner nur
cken. Schichtführer Ralf »Rambo« erhöhungen einzahlen könnten. So begrenzt nebenbei hinzuverdienen
Zajicek, 54, gehen vor allem die Früh- ließen sich später Einbußen ausglei- durften. Stieg ihr jährliches Einkom-
schichten auf die Knochen: »Wenn du chen, wenn 60-Jährige auf eine Vier- men über eine gewisse Grenze, im
da um 13 Uhr nach Hause kommst, tagewoche wechseln – oder 65-Jähri- vergangenen Jahr 46 060 Euro brutto,
gehen um 14 Uhr die Lampen aus.« ge nur noch zweimal in der Woche auf kürzte die Rentenkasse die monatli-
Ofenvorarbeiter Volkmar Ortgies, 60, dem Bau stehen wollten. »Auch Dach- Es wird länger che Überweisung. In einigen Bundes-
sagt: »Ich habe mich bis heute nicht decker könnten so bis zum Rentenalter gearbeitet ländern nutzten kaum mehr als 100
daran gewöhnt.« durchhalten«, sagt er. Menschen das Konstrukt.
Arbeiten bei Speira, das heißt für Und Kanzleipartnerin Leißering- Erwerbstätigenquote Seit dem 1. Januar 2023 ist die Be-
sie normalerweise: Zwei Tage Früh- Bänsch empfiehlt, schon in der Mitte bei den 55- bis 64- schränkung entfallen, die Wirkung ist
schicht ab fünf Uhr, zwei Tage Spät- des Berufslebens aufmerksam zu sein. Jährigen, in Prozent hoch umstritten. Die Ampelkoalition
schicht ab 13 Uhr, zwei Tage Nacht- »Wenn wir die Leute dann verheizen, Japan USA glaubt, viele Ältere sehnten sich nach
schicht ab 21 Uhr, vier Tage frei und wollen sie später so schnell wie mög- Deutschland einer Auszeit und wollten schon früh
dann alles von vorn. lich in Rente – um noch etwas vom OECD-Durchschnitt in Rente. Sie seien dann offener dafür,
Die älteren Kollegen jedoch be- Leben zu haben.« Frankreich Italien zumindest in Teilzeit nebenbei wei-

D
kommen nach vier Schichten oft terzuarbeiten – und für den Arbeits-
gleich sechs Tage frei. Dafür sorgen ie schlanke Frau mit den Lo- 80 markt nicht völlig verloren.
die »Opa-Tage«, die eigentlich Alters- cken, die in einem Vorort von Ökonomen dagegen prophezeien,
freischichten heißen, aber niemand Münster die Wohnungstür dass die Regel finanziell derart vor-
so nennt. Ab dem 55. Geburtstag gibt öffnet, wirkt nicht wie 61 und teilhaft ist, dass sie einen neuen Früh-
es drei, ab dem 57. sechs bezahlte schon gar nicht wie eine angehende 60 rentenboom auslösen könnte – und
freie Tage zusätzlich im Jahr. So ha- Ruheständlerin. Das Wort »Rentne- damit das verfügbare Arbeitsvolumen
ben es die IG Metall und das Werk in rin« mag sie nicht, zumindest nicht weiter sinkt. Gewonnen wäre dann
einem Haustarifvertrag vereinbart. für sich selbst. »Es ist immer etwas nichts.
»Wir wollen, dass die Mitarbeiter negativ belegt«, sagt Gertrud Chris- Am Ende geht es beim Job immer
bis zur Rente durchhalten«, sagt Per- tian-Wicher. »Als müsste man sich 40 um etwas mehr als Geld. Wer abge-
sonalchefin Meike Finnern. Schon plötzlich alt fühlen.« sichert sei, brauche keine finanziellen
jetzt werde es immer schwieriger, die- Doch die »Fachgesundheits- und Anreize, sagt Demografie-Expertin
jenigen zu ersetzen, die sich vorzeitig Krankenpflegerin für den Operations- Schmeink. Andere Dinge seien dann
aus dem Arbeitsleben verabschieden. dienst«, wie es offiziell heißt, merkt 20 wichtiger: »Flexibilität, Wertschät-
»Den Fachkräftemangel merken wir schon seit einer Weile, dass sie weni- zung – und vor allem, etwas bewirken
seit fünf Jahren ganz extrem«, sagt ger belastbar ist als früher, müde vom zu können, also Sinngebung.«
Finnern, »schon wegen der Konkur- Alltag im Hals-Nasen-Ohren-OP Gertrud Christian-Wicher sagt es
renz hier, nebenan ist Airbus, nicht eines großen Klinikums. Mit Früh- so: »Ich habe da ein Helfersyndröm-
0
weit weg Mercedes-Benz.« diensten, in denen sie morgens um chen.« Und das lässt sich mit der Ren-
Früher verpackten auch die Älte- sieben Uhr anfängt, und Bereitschafts- 2005 2022 te nicht abstellen.
ren die Bleche auf dem Rollgang, sie diensten, in denen sie in der Klinik auf jeweils 3. Quartal Markus Dettmer, Florian Diekmann,
mussten dazu knien. Heute überneh- der Pritsche schläft. »Das Schichtsys- S Quelle: OECD Cornelia Schmergal n


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WIRTSCHAFT

ziums, 85 Prozent der Zellen und gut drei


Viertel der aus ihnen zusammengefügten
Fotovoltaikmodule stammen laut Internatio-
naler Energieagentur aus der Volksrepublik.

Sonnenfinsternis
Am erdrückendsten ist die Dominanz beim
Ausgangsmaterial, den sogenannten Wafern:
hauchdünnen Siliziumscheiben, die zu Zellen
verarbeitet werden. Hier hat China sagen-
hafte 97 Prozent Weltmarktanteil.
ENERGIE  Europas Solarindustrie ist fast vollständig abhängig von Um diese Quasimonopole entlang der
Wertschöpfungskette zu brechen, muss der
Lieferungen aus China. Nun droht Peking implizit mit Westen riesige Fabriken aufbauen. Wie aber
Exportbeschränkungen. Eine neue Stufe im geopolitischen Kräftemessen – soll das gehen ohne Maschinen aus China?
und eine akute Gefahr für die deutsche Energiewende. Die zehn weltweit führenden Maschinen-
bauer für den Fotovoltaiksektor sind mittler-
weile ebenfalls in der Volksrepublik ansässig.

X
injiang, im kargen Nordwesten Chinas. behördliche Genehmigung. Es ist ein mögli- »Anfangs haben sie einfach unsere Anlagen
Nirgends ist die Volksrepublik lebens- cher Hebel, um die Solarindustrie in Europa kopiert und der Industrie angeboten: in
feindlicher. Zerklüftete Gebirgsketten und den USA auszuhungern. Und die Ener- schlechterer Qualität, aber für einen Bruchteil
ragen in den Himmel: das Tian-Shan-Massiv, giewende zu untergraben. des Preises«, erzählt der Vertreter eines euro-
der Pamir, das Kunlun-Gebirge. Im Flachland Die Ankündigung sorgt für Entsetzen in päischen Maschinenbauers, der aus dem
liegt die Taklamakan, eine Sandwüste so groß der Branche, denn sie trifft den Westen an ­Solargeschäft ausgestiegen ist. Mittlerweile
wie Großbritannien. Früher testete China einem sensiblen Punkt. Spätestens der Ein- hat China die Technologie weiterentwickelt.
seine Atomwaffen am Rande dieser Ödnis. marsch russischer Truppen in die Ukraine hat Ohne die chinesischen Anlagen wären Euro-
Heute werden Hunderttausende muslimische klargemacht, dass sich Europa vom billigen päer und Amerikaner kaum in der Lage, eige-
Uigurinnen und Uiguren hier in Umerzie- Gas lösen muss. Um die Abhängigkeit von ne Produktionsstätten für Solarmodule oder
hungslager gesperrt. Russland abzuschütteln, soll der Ausbau der deren Vorprodukte zu errichten.
Ausgerechnet in dieser unwirtlichen Welt Erneuerbaren forciert werden. Europäer und »Wir haben seit Jahren vorausgesagt, dass
zwischen Polizeiterror und Wüstensand ent- Amerikaner arbeiten deshalb mit Hochdruck so etwas kommt, aber die Europäer sind dem
scheidet sich die Zukunft der europäischen am Wiederaufbau ihrer eigenen Solarindus- süßen Gift der billigen Module erlegen«, sagt
Energieversorgung. Denn Xinjiang ist das trie – zum Unmut Pekings, das Konkurrenz Gunter Erfurt, Chef von Meyer Burger. Das
­Silicon Valley der globalen Solarbranche. in dem Multimilliardengeschäft gar nicht erst Unternehmen hat früher selbst Maschinen für
Entlang der schnurgeraden Autobahnen aufkommen lassen will. Solarfabriken gebaut. Heute fertigt Meyer
und Landstraßen durch die Region wurden »Wenn die Exportrestriktionen kommen, Burger Module, unter anderem im einstigen
in den vergangenen Jahren etliche Solarparks kann sich die Technologie in Europa erst mal Solar Valley in Bitterfeld-Wolfen. Es ist ein
errichtet, Zelle an Zelle ausgerichtet nach Sü- nicht weiterentwickeln«, sagt Andreas Bett, Versuch, die deutsche Solarindustrie wieder-
den. Der Sonnenstrom sowie massenhaft sub- Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare zubeleben, die vor 15 Jahren an der Konkur-
ventionierter Kohlestrom werden benötigt, Energiesysteme in Freiburg. Frank Asbeck, renz aus China zugrunde ging.
um kristallines Silizium zu erzeugen – jenen langjähriger Chef des inzwischen insolventen Branchenpioniere wie Q-Cells, Solarworld
Stoff, aus dem Solarzellen gefertigt werden. Bonner Konzerns Solarworld, sagt: »Wer Mo- oder Conergy hatten sich damals zu globalen
Um Silizium zu gewinnen, muss Quarz- dule vertreibt oder Solarparks baut, bekommt Marktführern hochgearbeitet. Sogar der
sand aufwendig verarbeitet werden, in Licht- jetzt Angst, dass Lieferungen aus China jeder- Bosch-Konzern stieg zeitweilig in das boo-
bogenöfen bei mehr als 2000 Grad. Etwa 40 zeit gestoppt werden könnten.« mende Geschäft ein. Bis die Chinesen Wafer,
Prozent der Herstellungskosten entfallen auf Alternative Lieferanten gibt es kaum. Zellen und Module zu Kampfpreisen anboten,
den Strom, der die Öfen auf Touren bringt. 79 Prozent des weltweit gefertigten Polysili- dank massiver staatlicher Unterstützung: Fi-
Und nirgendwo sonst in China ist Energie nanzierungshilfe, billiges Bauland, günstige
preiswerter als in Xinjiang. Energie und Steuervergünstigungen machten
Etwa 45 Prozent der weltweiten Produk- In Chinas Schatten sie im Wettbewerb unschlagbar.
tion von polykristallinem Silizium stammen Die Hilfe, die den deutschen Herstellern
inzwischen aus der Region, vier der fünf größ- Chinas Weltmarktanteil bei Solarprodukten aus Brüssel und Berlin gewährt wurde, reich-
2021, in Prozent
ten Hersteller haben hier ihren Sitz. Ohne te nicht aus. Weil Peking mit Vergeltungs-
den Stoff geht in der globalen Solarbranche China Rest der Welt maßnahmen drohte, entschied sich die EU
so gut wie nichts. für einen ihrer typischen Kompromisse: Sie
Die Abhängigkeit will Peking offenbar für 100 3,2 verhängte 2013 Anti-Dumping-Zölle und
seine Zwecke nutzen. Ende Dezember ver- 14,9 schrieb Mindestpreise vor für bestimmte chi-
25,3
öffentlichte das chinesische Handelsministe- nesische Billigprodukte und -komponenten.
rium eine Mitteilung auf der Behördenweb- Die Strafen beeindruckten die Konkurrenz
site. Von einer Ȇberarbeitung des Katalogs 63,6 aus Fernost wenig, zudem gab es etliche
der in China verbotenen und eingeschränkten Schlupflöcher.
Technologien für den Export« ist dort etwas 50 96,8 Vor allem die Bundesregierung setzte sich
steif die Rede. 85,1 damals in Brüssel dafür ein, Peking nicht all-
Doch die Liste hat es in sich, sollte sie tat- 74,7 zu sehr zu brüskieren, aus Furcht um die deut-
sächlich in Kraft treten: Künftig, so sieht es schen Autokonzerne in China. Die deutsche
das Ministerium vor, sollen Maschinen für 36,4 Solarindustrie implodierte binnen weniger
Rohstoffe und Vorprodukte von Solarmodu- Jahre. »Die Politik hätte das chinesische
len nur noch beschränkt exportiert werden Monopol vermeiden können, aber sie wollte
dürfen. Chinesische Unternehmen, die diese Bedarf Module Zellen Wafer es nicht. Wir sind auf dem Altar der Auto-
Anlagen ausführen wollen, bräuchten eine S Quelle: Internationale Energieagentur industrie geopfert worden«, resümiert Frank

62 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


WIRTSCHAFT

Die EU hat ebenfalls ehrgeizige


Pläne verkündet. Bis 2030 will die
EU-Kommission die Stromerzeu-
gungskapazität von Solarparks, -dä-
chern und -fassaden in Europa fast
verdreifachen. Erst im Dezember hat
Brüssel eine Solarindustrie-Allianz
ins Leben gerufen mit dem Ziel, die
Produktion jeder Schlüsselkompo-
nente bis 2025 auf mindestens 30 Gi-
gawatt zu steigern – derzeit liegt die
eigene Modulkapazität nicht einmal
bei fünf Gigawatt.
Wie das ohne Vorprodukte aus
China funktionieren soll, bleibt das
Geheimnis der Kommission.
Meyer-Burger-Chef Erfurt sorgt
schon einmal vor, so gut er kann. Ver-
gangene Woche hat er einen langfris-
tigen Liefervertrag mit dem norwegi-
schen Wafer-Hersteller Norsun unter-
zeichnet, auch vom Produzenten
Norwegian Crystals hat sich die Firma
Wafer gesichert. Beide Lieferanten

Jenson / Shutterstock
sind klein – sämtliche westlichen Pro-
duzenten kommen zusammen nicht
einmal auf ein Prozent Weltmarkt-
anteil. Ein vollständiger Lieferstopp
aus China ließe sich nicht kompensie-
Asbeck. Der gescheiterte Solarpio- Trump keine Halbleiter mehr von Kollektoren in der ren, sagt Erfurt: »Aber wir müssten
nier, mittlerweile 63 Jahre alt, ver- amerikanischen Firmen beziehen. Provinz Xinjiang: »Die nicht abschalten.«
Europäer sind dem
kauft heute Wild und Holz von sei- Das Gleiche gilt für Chips, die mit US- süßen Gift der billigen Er glaubt nicht, dass Peking es so
nem Jagdgut, züchtet ungarische Maschinen hergestellt werden oder Module erlegen« weit kommen lässt. »Die Chinesen
Mangalica-Wollschweine – und berät deren Produktionsverfahren in den zielen nicht in erster Linie darauf, den
immer mal wieder Energieunterneh- Vereinigten Staaten patentiert sind. Wafer-Zufluss in andere Länder zu
mer. Manch einer merke erst jetzt, Und erst vor ein paar Wochen erklär- beenden, sondern darauf, dass an-
was auf dem Spiel steht, sagt er. te die Regierung von Trumps Nach- derswo in der Welt niemand eine
Fotovoltaik ist zum Big Business folger Joe Biden zusammen mit den neue Solarzellenproduktion aufbaut.«
geworden, und die Deutschen haben Niederlanden und Japan, keine Spe- Dazu wäre die Bundesrepublik
darin nichts mehr zu melden. Mehr zialmaschinen zur Chipherstellung derzeit kaum in der Lage. Zwar gibt
als 50 Milliarden Dollar haben Chinas mehr nach China zu verkaufen. es viel technologisches Wissen, fähige
Branchengrößen in den vergangenen Die Höflinge in Peking haben Bi- Ingenieure und Patente. Doch:
Jahren investiert – zehnmal so viel dens Inflation Reduction Act genau »Deutschland fehlt bei Cleantech jede
wie ihre europäischen Wettbewerber. studiert und entdeckt, dass hierfür in industriepolitische Ambition«, sagt
2021 exportierte die Volksrepublik Amerika eine eigene Solarindustrie Erfurt. Die bürokratischen Hürden
bereits Sonnenstromprodukte im angesiedelt werden soll. Mit Steuer- seien zu hoch, allen voran für den Bau
Wert von mehr als 30 Milliarden Dol- vergünstigungen und billigen Kredi- von Fabriken.
lar. Und das dürfte nur der Anfang ten, so wie einst in China. Nur wenn die Politik rasch die rich-
sein: Um die globale Wirtschaft zu Erst im Januar verkündete das tigen Bedingungen schaffe, sei es
dekarbonisieren, muss sich die Zahl Weiße Haus, der koreanische Herstel- möglich, mit einer Anlaufzeit von ein-
der weltweit installierten Module in ler Hanwha Q-Cells wolle 2,5 Milliar- einhalb bis zwei Jahren die Grund-
den kommenden Jahren vervielfa- den Dollar in den Ausbau seines lagen für eine Wiederbelebung der
chen. Diesen Wachstumsmarkt will Werks im Bundesstaat Georgia inves- Solarindustrie zu legen. Vorausge-
Peking nicht teilen, weder mit Europa tieren. Laut Energieministerium in setzt, große Kapitalgeber und Kon-
noch mit den USA. Washington muss sich der Solaranteil zerne stiegen mit ein, wie einst Bosch.
Der drohende Ausfuhrbann ist Teil an der Stromerzeugung in den USA Wie weit der Weg in die Weltspit-
eines Handelsstreits zwischen Peking bis 2035 von derzeit 6 auf 40 Prozent ze ist, zeigt die jüngste Kapitalerhö-
und Washington. Was vor knapp fünf vervielfachen, damit das Land seine hung von Meyer Burger. Das Unter-
Jahren mit einigen Milliarden Dollar Klimaziele erreicht. nehmen hat sich 250 Millionen
Einfuhrabgaben begann, ist zu einem Sonnenkollektoren aus Xinjiang Schweizer Franken beschafft, um sei-
ruinösen Handelskrieg geworden, in dürfen schon seit vergangenem Som- ne Produktion auszubauen. Wenn
dem beide Lager einander Strafzölle mer nur noch in die USA eingeführt alles gut geht, könnten bis Ende 2024
in dreistelliger Milliardenhöhe auf- werden, wenn die Hersteller nach- Module mit einer Gesamtleistung von
erlegt und Exportverbote verhängt weisen können, dass die Produktion bis zu drei Gigawatt pro Jahr gebaut
Meyer Burger

haben. ohne Zwangsarbeit vonstattengeht. werden. Zum Vergleich: Jinko Solar


So darf der chinesische Netzwerk- In amerikanischen Häfen stapelt sich aus China verkauft jährlich rund
ausrüster Huawei aufgrund einer Ver- seither die Ware aus Chinas Problem- Meyer-Burger-Chef 40 Gigawatt.
fügung von Ex-US-Präsident Donald region Xinjiang. Erfurt Christoph Giesen, Claus Hecking  n

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT

SPIEGEL: Frau Donecker, im vergangenen


Dezember brach das Auktionshaus Grise­
bach den Auktionsrekord für Deutschland mit
der Versteigerung eines Max-Beckmann-
Selbstbildnisses für 20 Millionen Euro. Was

»Ein Gemälde kannst du bringt Menschen dazu, sich von einem sol­
chen Schatz zu trennen?
Donecker: Ich kann natürlich nichts konkret

schlecht zerteilen, einen zu den Verkäufern sagen. Trennt man sich


von einem Kunstwerk, stellen sich Fragen
wie: Interessieren sich meine Nachkommen

Geldbetrag schon« dafür? Ist es etwas, das ich auch zu Hause


hängen haben möchte? Wenn es konkret ums
Vererben geht, wird auch an diesem Beispiel
klar: Ein Gemälde kannst du schlecht zertei­
len, einen Geldbetrag schon.
SPIEGEL-GESPRÄCH  Diandra Donecker, 34, Chefin und Miteignerin
SPIEGEL: Tod, Schulden und Scheidung sind
des Auktionshauses Grisebach, über den Fehler, Kunst als oft Anlässe, weshalb ein Kunstwerk verstei­
Wertanlage zu begreifen – und Großmütter, die mit Bilderverkäufen gert wird. Muss man sich Sie und Ihre Kolle­
gen wie Aasgeier vorstellen, die auf solche
ihren Enkeln das Studium finanzieren
unglücklichen Fügungen lauern?
Donecker: Wir verstehen uns als Dienstleister.
Aber es stimmt, die Gründe, weshalb jemand
verkauft, können traurig sein.
SPIEGEL: Was heißt das?
Donecker: Sagen wir so: Hin und wieder tref­
fen wir auf Menschen mit einer wahnsinnig
hohen Zahnarztrechnung. Die verwenden
dann die 20 000 Euro aus der Versteigerung
ihres Rupprecht-Geiger-Gemäldes, um für die
medizinische Behandlung aufzukommen.
Was ich auch häufig erlebe, ist die Großmut­
ter, die mit einer Versteigerung den Auslands­
aufenthalt ihrer studierenden Enkelkinder
finanzieren möchte.
SPIEGEL: Vor dem Rekord im Dezember war
das teuerste in Deutschland versteigerte
Gemälde auch ein Werk von Beckmann, »Die
Ägypterin« für insgesamt 5,5 Millionen Euro,
2018 ebenfalls bei Grisebach. Offenbar hat
sich der Markt günstig entwickelt.
Donecker: Es gibt eine Kerngruppe deutscher
Expressionisten, die keine Konjunktur­
schwankungen kennt. Neben Beckmann zäh­
len dazu Karl Schmidt-Rottluff, Ernst Ludwig
Kirchner und Max Pechstein. Das Selbstpor­
trät war eine Rarität, es gibt viele Beckmanns,
aber nur wenige Selbstbildnisse. Falsche Ver­
kaufsmomente gibt es daher nicht.
SPIEGEL: Trotzdem haben Sie nichts dem Zu­
fall überlassen und sogar in der »New York
Times« für die Versteigerung des Beckmanns
geworben. Wie hoch war Ihr Marketingbud­
get für die Auktion?
Donecker: Eine Viertelmillion Euro. Wir sind
mit dem Beckmann auch nach New York zur
Vorbesichtigung während der großen Auk­
tionswochen. Aber 250 000 Euro sind natür­
lich Peanuts im Vergleich zu den Summen,
mit denen Christie’s und Sotheby’s in Vor­
kasse gehen. Christie’s hat im November in
Lisa Wassmann / DER SPIEGEL

New York die Kunstsammlung des 2018 ver­


storbenen Microsoft-Mitbegründers Paul
Allen versteigert. Dafür haben die Kollegen
teilweise Werke mit Privatjets um die Welt

Das Gespräch führten die Redakteure Sebastian Späth


Kunstkennerin Donecker: »Die Qualität der Privatsammlungen wird abnehmen, fürchte ich« und Martin U. Müller in Berlin.

64 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


WIRTSCHAFT

geflogen für Vorbesichtigungen. Von hat. In jedem Fall aber ist sie Anlass
den 149 Millionen Dollar, die das für eine Flucht in Sachwerte. Viele
Gemälde »Les Poseuses, ensemble« sagen sich, bevor Negativzinsen mein
des französischen Künstlers Georges Vermögen tilgen oder mein Portfolio
Seurat einbrachte, blieb für Christie’s schrumpft, investiere ich lieber in
sicher nicht viel übrig an Gewinn. ein Bild, das mich glücklich macht
Aber das ist so wohl kalkuliert, was und nicht weniger wert wird. Vor al-
zählt, ist der Marketingeffekt. lem im Frühjahr 2021, während des

Britta Pedersen / picture alliance / dpa


SPIEGEL: Wie viele Kunstschätze be- langen Lockdowns, hat man bei vie-
finden sich in Deutschland in Privat- len einen gewissen Investitionsdruck
besitz? gespürt.
Donecker: So viele, dass ich es nicht SPIEGEL: Auch wenn es Ihnen wider-
schätzen kann. Deutschland ist ein strebt, darüber zu sprechen: Wo liegt
wahnsinnig wichtiges Sammlerland. denn die langfristige Rendite bei
Was vor allem an der starken Künst- Kunst im Schnitt?
lerschaft hierzulande liegt: vom Ex- Donecker: Wenn Sie unbedingt wol-
pressionismus bis hin zu Gegenwarts- len. Auf 20 Jahre betrachtet, wahr-
positionen wie Richter, Baselitz oder scheinlich nur im einstelligen Bereich.
Polke. In welchem anderen Land gibt Der Wert der meisten Kunstwerke
es eine derart große Fülle bedeuten- verändert sich in diesem Zeitraum
der Namen? Was glauben Sie, warum nicht. Natürlich gibt es Aus­nahmen.
Christie’s und Sotheby’s hier in Ich denke da etwa an den 2013 ver-
Deutschland Niederlassungen betrei- storbenen Bremer Maler Norbert
ben? Nur sind die Sammler sehr dis- Schwontkowski. Seine Bilder haben
kret. Viele sind schon über achtzig. etwas Trauriges, etwa das mit dem
In den nächsten zehn Jahren werden einsamen Menschen, der sich an der
also sicher einige spannende Kunst- Laterne festhält und ins Weite blickt.
werke auf den Markt kommen. Viele seiner Bilder sind während der
SPIEGEL: Abgesehen von den Klassi- Coronapandemie für 100 000 Euro

Guy Bell / Shutterstock


kern und großen Namen, die immer und drüber weggegangen. Einfach,
gehen: Gibt es den idealen Moment, weil sich Menschen während des
um ein Werk zu verkaufen? Lockdowns in seinen Sujets wieder-
Donecker: Gerade ist der richtige Zeit- fanden. Auch unabhängig von der
punkt, um Bilder der sogenannten kunsthistorischen Wertschätzung.
Neuen Wilden zu versteigern. Deren Ausschläge nach oben. Die Kunden Gemäldeauktionen: SPIEGEL: In Deutschland liegt das
Preise sind enorm gestiegen. Für einen hierzulande sind unaufgeregt, kennen Das Max-Beckmann- Auktionsergebnis für ein Werk im
Werk »Selbstbildnis
Rainer Fetting haben wir gerade sich hervorragend aus und wissen, gelb-rosa« wurde im Schnitt bei 30 000 bis 50 000 Euro.
100 000 Euro erzielt. Es gibt aber auch was sie wollen. Dezember bei Grise- Richtig teure Kunst vertrauen Samm-
den umgekehrten Fall, den Künstler SPIEGEL: Wie kommen Sie an diese bach für 20 Millionen ler lieber internationalen Häusern an.
Anselm Reyle etwa. Es gab eine Zeit, Leute ran? Euro versteigert, das Donecker: Wir sprechen in Bezug auf
Gemälde »Les
da erreichten seine Streifenbilder Zu- Donecker: In Berlin sind wir natürlich Poseuses, ensemble« Deutschland von einer gläsernen De-
schläge von einer Viertelmillion, mo- eine lokale Hausmacht, wer hier kauft von Geor­ges Seurat cke. Das hat viel mit Psychologie zu
mentan krebsen sie bei 30 000 Euro oder verkauft, landet früher oder spä- im November bei tun. Man will es natürlich bei den
rum. Deshalb vergleichen so viele den ter bei uns. Ein anderer wichtiger As- Christie’s in London Besten versuchen – nach dem Motto:
für 149 Mil­lionen
Kunstmarkt mit dem Aktienmarkt. pekt ist unser Netzwerk und unsere Dollar Da mache ich nichts falsch. Und das
SPIEGEL: Liegt ja auch nah. Expertise. Und dann gibt es zufällige sind für Kunden oft die internationa-
Donecker: Das finde ich schwierig: Begegnungen. Neulich stand ich an len Häuser Christie’s und Sotheby’s.
Jede Voraussage zur wirtschaftlichen der Sicherheitskontrolle am Londo- SPIEGEL: Warum sollte ich dann ein
Entwicklung einer künstlerischen ner Flughafen, hatte mal wieder zu Werk überhaupt zu Grisebach geben?
Position geht für mich fast schon in viele Flüssigkeiten in meinem Kos- Donecker: In Deutschland haben auch
den Bereich der Wirtschaftskrimina- metikbeutel, als plötzlich ein Herr auf Werke unter einer Million Euro die
lität. Das ist einfach unseriös. Ich wür- mich zukam und auf Englisch mit mir Chance, in der prestigeträchtigen
de nie ein Gespräch führen mit einem plaudern wollte. Irgendwie kamen Abendauktion zu landen, während
Fokus auf Kunst als Geldanlage. wir auf den Kunsthandel und dann Christie’s und Sotheby’s die eher an
SPIEGEL: Geht es den meisten Käu- sagte der Mann, dass er Bilder von einem Nachmittag oder rein online
fern nicht genau darum? Albert Oehlen liebe. So jemandem versteigern. Zudem publizieren wir
Donecker: In den USA und in Asien gebe ich gleich meine Karte. Keine Kataloge, investieren in die Präsen-
mag das von Fall zu Fall so sein. Bei Ahnung, ob er sich je melden wird. tation und Vorbesichtigung – auch für
unseren Kunden nicht. Sie leben zu SPIEGEL: Christie’s hat vergangenes Werke weit unter dieser Preisgrenze.
70 Prozent mit ihrer Kunst, statt sie Jahr mit 8,4 Milliarden Dollar einen Die Aufmerksamkeit der internatio-
einzulagern. Sie haben also einen Rekordumsatz erzielt. Auch für Gri- nalen Kollegen beginnt meist erst bei
ganz anderen, einen persönlicheren sebach war 2022 das erfolgreichste 200 000 Euro aufwärts.
und leidenschaftlicheren Zugang. Das Geschäftsjahr der Firmengeschichte. SPIEGEL: Wie viel bleibt vom Preis
führt zugleich zu einer unglaublichen Die angsteinflößende Weltlage denn am Ende bei Ihnen hängen?
Stabilität. Während der Bankenkrise scheint dem Kunstmarkt eher zuträg- Donecker: Nur ein kleiner Anteil. Der
2008 und 2009 blieb der Auktions- lich. Wie erklären Sie das? Käufer zahlt auf den Zuschlagspreis
markt in Deutschland vergleichswei- Donecker: Ich will jetzt nicht sagen, 25 Prozent Aufgeld. Davon bezahlen
se stabil, dafür gibt es auch nur selten dass jede Krise etwas Gutes für uns wir unsere 57 Experten, die genaue

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 65


WIRTSCHAFT

Erfassung des Kunstwerks, die Er­ Donecker: Verdacht auf Geldwäsche meist jüngere Menschen begeistern
mittlung seiner Herkunft, die Foto­ und Sanktionsrichtlinien sind natür­ Von Amerika und es normal geworden ist, ein
grafie für den Katalog, Versicherung, lich Ausschlusskriterien. Aber wenn dominiert Gallery Weekend oder eine Lange
Transport und Marketing. jemand sein Geld mit einer Table­ Nacht der Museen zu besuchen. Auch
SPIEGEL: Sie halten weiterhin an Saal­ dancebar verdient, geht mich das Kunstweltmarkt- der Onlinekunsthandel birgt Poten­
auktionen fest. Dabei bieten die ech­ nichts an. Ich bin keine moralische anteile 2021, zial. Nur eines wird ziemlich sicher
in Prozent*
ten Schwergewichte doch sowieso nur Instanz. weniger: Sammler, die sich sehr breit
übers Telefon mit. SPIEGEL: Was ist, wenn ich nach dem USA China auskennen und sich tief epochenüber­
43 20
Donecker: Vor der Pandemie hatten Kauf feststelle, dass das Bild gar nicht greifend mit Kunst befassen. Jüngeren
wir an die 400 Gäste im Saal. Heute zum Sofa passt? fehlen hierfür oftmals die Zeit und
sind es im Durchschnitt gerade mal Donecker: Umtauschen nach dem auch das Interesse. Die Qualität der
insgesamt
noch die Hälfte. Diese Entwicklung Kauf in einer Liveauktion geht nicht. 65,1 Mrd. Privatsammlungen wird abnehmen,
hat sich schon vor Corona abgezeich­ Als Teil unseres Services bieten wir Dollar befürchte ich.
net. Die meisten genießen die Ano­ Interessenten aber an, Kunstwerke SPIEGEL: Wie sehr beeinflusst die TV-
nymität des Telefonbietens. Sie wol­ vor der Auktion zu Hause Probe zu Trödelshow »Bares für Rares« das
len nicht gesehen werden. Diskretion hängen. Das kostet uns den Versand, Groß- Bild der Kunden vom Kunstmarkt?
ist in Deutschland wichtig. Vor Ort den Service und die Versicherung, er­ Deutschland bri- Donecker: Schon ein bisschen. Wir
2 tan-
sind hauptsächlich noch bekannte höht aber die Chancen enorm, dass freuen uns über die Popularität dieser
Frankreich nien
Berliner Kunden und Zaungäste, die die Person das Werk dann auch haben 7 17 Sendung. Sie hilft, Menschen für die
das Ganze als Event sehen. Aber die will. Am Ende ist es das Wichtigste, Geschichten hinter dem Werk zu be­
theatralische Stimmung im Saal ist dass der Kunde merkt, wir geben alles * gemessen am Umsatz geistern. Wir werben außerdem da­
Teil der Gesamtinszenierung, genau­ für seine Zufriedenheit. S Quelle: Art Basel/UBS; mit, dass bei uns jeder Tag ein Schätz­


an 100 fehlende Prozent:
so wie die Reihenfolge, in der die SPIEGEL: Die Pandemie hat einen andere Länder tag ist. Man kann immer hereinkom­
Werke präsentiert werden. Nach ein Hype um digitale Kunstwerke aus­ men und ein Kunstwerk bewerten
paar Highlights braucht es immer gelöst, sogenannte NFTs. Spielen die lassen. Das ist dann so ein wenig der
wieder Phasen der Beruhigung, und auf Auktionen eine große Rolle? Fernsehmoment. Um sich seriös zu
das wertvollste Stück wird meist in Donecker: NFTs sind nicht das Netflix äußern, muss das Kunstwerk anders
der Mitte aufgerufen. des Kunstmarkts geworden. Es gab als im Fernsehen allerdings erst mal
SPIEGEL: Ruft ein bedeutender Samm­ einen kurzen Hype, heute redet kaum bei uns bleiben. Nicht immer ist ein
ler wie Schraubenmilliardär Reinhold mehr einer darüber. Ich finde die Idee Gemälde oder eine Zeichnung sig­
Würth persönlich bei Ihnen an? von digitaler Kunst ziemlich langwei­ niert, wir müssen in der Literatur su­
Donecker: Nein, in seinem Fall ist es lig. Mit Kunst ist es wie mit Men­ chen, die Epoche genau bestimmen,
eine enge Vertraute, die genaue An­ schen: Man kann sich verlieben, man das Werk unter UV-Licht ansehen,
weisungen hat. kann von ihnen getroffen sein oder Zuschläge der letzten Jahre berück­
SPIEGEL: Sehen Sie vor Beginn einer sich abgestoßen fühlen. Das alles geht sichtigen, um den Schätzpreis zu er­
Versteigerung den Leuten an, ob mit einem NFT meines Erachtens mitteln. Der Dachbodenfund ist bei
sie kaufen oder nur herumsitzen schlecht. uns eher selten. Einmal glaubte eine
wollen? SPIEGEL: Sammler in Deutschland Familie, einen Druck zu besitzen.
Donecker: Man sollte unauffällige sind oft im gesetzteren Alter. Wach­ Wir haben das Kunstwerk aus dem
Menschen nie unterschätzen. Wenn sen überhaupt welche nach? Rahmen genommen – es waren die
hingegen jemand permanent davon Donecker: Manchmal erwische ich »Schlittschuhläufer« von Adolph
redet, was er angeblich schon alles mich selbst in einem gewissen Kultur­ Menzel. Sie haben in der Auktion
gekauft hat, bin ich eher vorsichtig. pessimismus und denke, eher nein. über 300 000 Euro erzielt.
SPIEGEL: Spielt es eine Rolle, woher Dann sehe ich wieder, wie Künstler SPIEGEL: Frau Donecker, wir danken
Ihre Kunden ihr Geld haben? in den sozialen Medien Tausende, Ihnen für dieses Gespräch. n

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Geisenhofer eine Herzensangelegenheit. Ihr Anspruch ist es,
jeden Tag der Verantwortung für Mitarbeitende, Kundschaft
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)GUEJÀHVURTQ\GUUG�PCEJJCNVKIGT�WPF�GH��\KGPVGT�\W�IGUVCNVGP�
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Unterstützung ihrer Steuerberatung.

Stephanie und Stefan,


GEMEINSAM-BESSER-MACHEN.DE Inhaberin und Inhaber Bäckerei GEISENHOFER
Zukunft gestalten.
Gemeinsam.
WIRTSCHAFT

temberg ist ungerecht«, sagt Bastian. Werte zustande kommen, sei für Haus-
»Sobald der Bescheid da ist, werde besitzer »eine Blackbox«, kritisiert
ich Widerspruch einlegen.« Sibylle Barent von Haus & Grund.
Nicht nur in Baden-Württemberg, Auch den Ausschüssen selbst dürfte
wo der Steuerzahlerbund und Immo- die Wertermittlung mitunter schwer-
bilienverbände bereits eine Muster- fallen – in Gegenden, wo kaum Immo­
klage eingereicht haben, wächst der bilien verkauft werden, fehlen schlicht
Widerstand gegen die neue Grund- die Vergleichspreise. »Zudem werden
steuer. Auch gegen das sogenannte gerade im ländlichen Raum oft Miet-
Bundesmodell, das die Mehrheit der einnahmen angesetzt, die sich unmög-
Länder umsetzt, bereiten der Immo- lich erzielen lassen«, sagt die Juristin.
bilienverband Haus & Grund und der Hausbesitzer haben jedoch laut Ge-
Steuerzahlerbund eine Klage vor. setz bisher keine Möglichkeit, ein
Weitere werden folgen. Gegengutachten vorzulegen, anders

plainpicture
Dabei sollte die Mammutreform als sonst im Steuerrecht.
eigentlich Klarheit schaffen. Jahr- Verfassungsrechtler Kirchhof ist
zehntelang hatte der Fiskus mit ver- sich sicher: Werden die Gesetze nicht
alteten Bodenwerten gerechnet, in korrigiert, wird am Ende das Bundes-
Ostdeutschland stammen sie aus dem verfassungsgericht Nachbesserungen

Das große Chaos


Jahr 1935. Es müsse Schluss sein mit von der Politik fordern: »Selbst wenn
»Ungleichbehandlungen durch Wert- es schnell geht, haben wir dann erst
verzerrungen«, urteilte 2018 das Bun- in rund vier bis acht Jahren eine
desverfassungsgericht und verdon- Grundsteuer, mit der man dauerhaft
nerte die Politik zu einer der größten arbeiten kann.«
IMMOBILIEN  Die neue Grundsteuer sollte Steuerreformen der Nachkriegszeit. Das Dilemma für Eigentümer: Wer
Schon das Ausfüllen der Formula- den Grundsteuerwertbescheid vom
­ echts­sicherheit schaffen, jetzt wird sie zum Fall
R re sorgte bei Grundbesitzern aller- Finanzamt erhält, dem bleiben nur
für die Gerichte. Und viele Eigentümer fragen dings für Frust und Verzweiflung, der vier Wochen Zeit, um Widerspruch
sich: Was tun, wenn Post vom Fiskus kommt? Abgabetermin wurde verschoben, in einzulegen. Sonst wird der neue
Bayern gar zweimal. Angesichts vieler Grundsteuerwert rechtskräftig und
Ungereimtheiten rieten Steuerberater gilt bis 2029 – es gibt nur wenige und

G
regor Bastian liebt den großen schon früh zum Widerspruch gegen aufwendige Möglichkeiten zur Ände-
Garten hinter seinem Haus, im die Wertbescheide, die jetzt ergehen. rung. Wie hoch die künftige Steuer-
Sommer spendet dort ein Nuss- Allein bis Anfang Februar zählten die last ausfällt, geht aus dem Schreiben
baum viel Schatten. Doch seine Vor- Finanzämter mehr als 350 000 Ein- aber gar nicht hervor. Maßgeblich
freude auf die warmen Tage ist der- sprüche, das Portal »Finanztip« dafür sind die sogenannten Hebesätze,
zeit getrübt: Der 68-jährige Rentner schätzt, dass es bis zu 1,5 Millionen die von den Gemeinden erst dem-
rechnet jeden Tag mit dem Grund- werden könnten. nächst neu festgelegt werden. Deshalb
steuerwertbescheid des Finanzamts. Die Einspruchswelle wird zum Fall raten Steuerberater wie Oliver Hagen
Das Amt hat für große Gärten von für die Gerichte: »In zwölf Bundes- aus Berlin zum Einspruch. Bloß was
Gesetzes wegen wenig Verständnis. ländern dürfte die neue Steuer einer geschieht dann? »Angesichts der ver-
Bastian und seine Frau leben in verfassungsrechtlichen Prüfung nicht worrenen Lage könnten viele Ämter
einem Einfamilienhaus am Stadtrand standhalten«, sagt Gregor Kirchhof, kulant damit umgehen – sie müssen
von Karlsruhe, sie heißen in Wahrheit Professor für öffentliches Recht an das aber nicht«, sagt Hagen. »Wird
anders. Als die Siedlung nach dem der Uni Augsburg. Er kritisiert die man sich gar nicht einig, bleibt nur die
Zweiten Weltkrieg errichtet wurde, Reform schon länger und hat für den Klage, die ins Geld gehen kann. Oder
plante die Stadt üppige Gartenflächen Bund der Steuerzahler ein Gutachten man zieht den Einspruch zurück.«
ein, damit sich die Bewohner selbst verfasst. Elf Bundesländer folgen dem Einige Verbände und Experten
versorgen konnten. Das droht sich Bundesmodell. Fünf setzen auf eige- plädieren dafür, dass die Bescheide
nun zu rächen. ne Regelungen, darunter Baden- lediglich vorläufig erteilt werden, bis
Die meisten Bundesländer berück- Württemberg, dessen Modell Kirch- Gerichte über die Verfassungsmäßig-
sichtigen bei der Berechnung des Bo- hof für das problematischste hält. keit der Reform entschieden haben
denzinses, wie ein Grundstück ge- Bayern hat eine einfache Lösung, – damit wären weitere Widersprüche
nutzt wird: Ein Mehrfamilienhaus ist Hamburg, Hessen und Niedersachsen und Klagen obsolet. »Wenn wir jetzt
schließlich mehr wert als der große
Garten der Bastians, in dem gerade 350 000 hätten eine bessere Balance gefunden
zwischen Vereinfachung, Transpa-
noch die Gerichte mit weiteren Ver-
fahren verstopfen, ist niemandem ge-
der Feldsalat reift. Doch Baden-Würt- Einsprüche renz und gerechter Bewertung unter- dient«, sagt Petra Uertz vom Verband
temberg zieht zur Steuerberechnung schiedlicher Wohngegenden. Wohneigentum. Viele Finanzämter
allein Fläche und Bodenwert heran. Beim Bundesmodell, das etwa in sind ohnehin mit dem Abarbeiten der
Das Grundstück dürfte deshalb mit
gegen die neue Berlin oder in den Flächenländern Erklärungen überlastet.
einem hohen sechsstelligen Betrag Grundsteuer Nordrhein-Westfalen und Rheinland- Beim Bundesfinanzministerium
bewertet werden. Für das Rentner- zählten die Pfalz zur Anwendung kommt, sieht sind dazu aus den Ländern allerdings
paar hieße das, dass sie so viel Grund- der Verfassungsexperte ebenfalls ekla­ noch »keine Überlegungen bekannt«.
steuer zahlen müssen wie ein Villen- Finanz­ämter tante Schwächen: »zu kompliziert und Offenbar fürchtet man, dass es den
besitzer – dabei dürfen sie auf der bis Anfang nicht folgerichtig«. Entscheidend für Kommunen mit vorläufigen Beschei-
Gartenfläche wegen des Bebauungs-
plans gar kein Haus errichten. »Die
Februar. den Steuerwert sind die sogenannten
Bodenrichtwerte, die von Gutachter-
den nicht möglich wäre, ihre Hebe-
sätze rechtssicher festzulegen.
Grundsteuerregelung in Baden-Würt- »Finanztip«-Umfrage ausschüssen ermittelt werden. Wie die Michael Brächer, Matthias Kaufmann n

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 67


WIRTSCHAFT

Geil war gestern


HANDEL  MediaMarkt und Saturn galten mal als cool und gehörten zum festen Bestandteil deutscher
Innenstädte und Einkaufszentren. Heute kämpft die Elektronikkette um ihre Existenzberechtigung.

D
ie Neuerfindung des Einkaufens? Bei
MediaMarkt sieht sie so aus: Der Euro-
Industriepark, ein Shoppingcenter am
Stadtrand von München; hier, zwischen Dö-
ner- und Pommesbuden, hat der Elektronik-
händler vor 15 Monaten seine jüngste Filiale
eröffnet. Mit einem großen Versprechen:
»Besser, größer, fescher« sollte alles werden.
Doch drinnen empfängt die Kunden der
Charme einer Lagerhalle: Waschmaschinen
und andere weiße Waren stapeln sich auf
Holzpaletten, dazwischen stehen braune Kar-
tons herum. Aus den Flachbildfernsehern
schallt es in kakofonischer Dauerschleife. Äl-
tere Herrschaften in gedeckten Farben strei-
fen durch die Reihen.
Dabei hatte hier in Freimann einst alles so
glorreich begonnen. 1979 eröffnete direkt
gegenüber der weltweit erste MediaMarkt-
Laden. Die Elektronikkette traf damals den
Nerv der Zeit, die Kunden wollten neue Tech-
nik ausprobieren, gute Beratung und niedrige
Preise. Media Markt wuchs, Filiale um Filia-
le, zu Europas Marktführer.
Heute ist Media Markt Saturn (MMS) ein
Schatten seiner selbst. Aus dem kaum wegzu­
denkenden Fixpunkt deutscher Fußgänger-
zonen und Malls ist ein Sanierungsfall gewor-
den. Der Niedergang ist das Resultat einer
Führung, die den radikalen Wandel im Handel
nicht umarmte, sondern sich vor ihm fürchtete.
Und aus Angst vor Fehlern alles falsch machte.
Die Gesellschafter stritten um die Macht
und verschlissen Manager zuhauf. Viel zu lan-
ge klammerte sich die Kette an den legendären,
aber in die Jahre gekommenen Werbeclaim:
»Geiz ist geil«, während sich draußen der Ein-
zelhandel revolutionierte. Onlinehändler wie
Amazon oder Otto übernahmen die Preisfüh-
rerschaft, stationäre Händler investierten in
Beratung und konzentrierten sich auf hoch-
wertige Ware statt auf Schnäppchen. Media
Markt Saturn lavierte irgendwo dazwischen.
Die letzte Bilanz geriet zum Desaster.
21,8 Milliarden Euro Jahresumsatz klingen
nach viel. Tatsächlich aber schafft die MMS-
Mutter Ceconomy nicht einmal mehr ein Pro-
Florian Generotzky / DER SPIEGEL

zent Gewinnmarge. Vergangenes Geschäfts-


jahr sank der Gewinn vor Steuern um zwei
Drittel. Die Ratingagentur Moody’s stufte
die Ceconomy-Papiere im November auf
Ramschniveau herab. Zuletzt machten gar
Übernahmegerüchte die Runde, angeblich ist
der französische Elektronikhändler Fnac
­Darty an einem Zusammenschluss interes- Ceconomy-Chef Wildberger: »Am Kundenwunsch vorbei« gekauft

68 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


WIRTSCHAFT

siert. An der Börse ist die Firma ge- installiert, der Insider eine »zerstöre- vielen Chefs. Eine Fusion würde die
rade noch eine Milliarde Euro wert. rische Kraft« attestieren: Im Machtge- Unter nervenaufreibende und teure Kon-
Selbst aus dem Boom in der Coro- rangel hätten sie nicht nur sich selbst 1 Prozent kurrenz beider Marken beenden, hie-
napandemie konnte Media Markt demontiert, sondern die Firma gleich ße aber, sich von Doppelstandorten
Saturn weniger Kapital schlagen als mit. In der IT wurde das Kundenbin- Ebit-Marge von und damit Tausenden Mitarbeitern
die Konkurrenz. Die daheim einge- dungsprogramm zurückgedreht, die Ceconomy (Media zu trennen. Wildberger sei »ein Zau-
Markt Saturn),
sperrten Kunden schafften sich zwar für den Onlinehandel unentbehrlichen in Prozent
derer«, spottet ein Aufsichtsrat. Es
massenhaft neue Fernseher, Spiele- Preis-Tools wurden vernachlässigt. gebe bei der Fusion keine richtige
3,2
konsolen und Audiosysteme an, nur Unterstützt von Fitschen, blockierte 3 oder falsche Wahl – nur müsse halt
eben nicht ausreichend viele über den die Managerriege einen Strategie- irgendeine mal getroffen werden.
altmodisch anmutenden Onlineshop wechsel hin zu mehr Entertainment- Der Konzernchef versucht es statt-
von MMS. Im Weihnachtsgeschäft Angeboten, Gaming, Gesundheitspro- dessen mit einem halbherzigen Mit-
gelang immerhin ein kleiner Umsatz- dukten und smarter Haustechnik telweg. Er lässt beide Ketten neuer-
schub. Doch der Marge half es nicht, – also allem, was Kunden heute lockt. 2 dings gemeinsam werben, will das
der operative Gewinn fällt weiter. Der studierte Physiker Wildberger aber keinesfalls als Schritt in Richtung
Ceconomy-Chef Karsten Wild- wiederum tut sich offenbar schwer einer einheitlichen Marke verstanden
berger muss für den maladen Filialis- damit, neue Kräfte von seiner Ret- 0,9 wissen. Zu groß ist die Angst, dass
ten dringend eine neue Existenz­ tungsmission zu überzeugen. Quä- Sa­turn-Kunden ganz wegbleiben,
1
berechtigung finden. Der frühere lend lange Monate habe die Suche statt zur Schwestermarke zu wech-
E.on-Manager ist erst seit Mitte 2021 nach einem Nachfolger für den ab- seln. Der Mehrwert der zwei Unter-
an Bord, hat aber nicht viel Zeit. Schon getretenen Finanzchef gedauert, be- nehmen überwiege potenzielle Effi-
im Sommer müsste sein Vertrag ver- richtet ein Eingeweihter, bis man zienzgewinne, glaubt Wildberger,
längert werden, sonst ist ein Jahr spä- schließlich bei der Deutschen Tele- »aktuell« jedenfalls noch.
ter Schluss. Die Ahnenreihe der Ge- kom fündig geworden sei. Andere Vielleicht hat er da nicht ganz un-
2008 2021/22
scheiterten und Gefeuerten wäre dann seien nach Gesprächen mit Wild- recht. Der neue, gemeinsame Online-
2013/14: Änderung des
um ein weiteres Mitglied gewachsen. berger abgesprungen, fühlten sich Berichtszeitraums von shop beider Häuser bleibt jedenfalls
Wie ein Radikalsanierer wirkt Wild- »nicht inspiriert« und »trauen ihm Kalender- auf Geschäftsjahr
Oktober bis September;
hinter den Erwartungen zurück. Die
berger allerdings nicht. Ein ­Vormittag den Wandel nicht zu«. Er baue nur Juli 2017: Aufspaltung Pandemie hat den Umsatzanteil des
der Metro Group und
im Januar, ernst und still schreitet der schwer Nähe auf und verstecke sich Umfirmierung in Ceconomy Onlinegeschäfts auf 25 Prozent fast
Ceconomy-Chef durch die vermeint- lieber hinter Excel-Tabellen, als eine S Quelle: Unternehmen verdoppelt, neues Ziel sind 35 Pro-
‘

liche Vorzeigefiliale in Freimann. Er überzeugende Strategie zu formulie- zent. Ein Problem: Kunden wird auf
redet leise, fast so, als fürchte er, je- ren. Es gehe deutlich »zu langsam dem Portal beim Einkauf von Geräten
manden aufzuschrecken. »Das ganze voran«, sagt ein Aufsichtsrat. kaum passendes Zubehör angeboten,
Unternehmen muss schneller werden«, Der Chef selbst reklamiert durch- obwohl das lukrativ wäre.
sagt er. Andererseits dauere es, bis eine aus Fortschritte für sich und seinen Stattdessen, moniert ein Aufsichts-
leistungsfähigere Technik, eine effizi- Kurs: Das Sortiment in den Märkten rat, falle MMS immer wieder in alte
entere Logistik, ein besseres Sortiment soll auf 20 000 Artikel halbiert und Rollen zurück: Wenn Samsung 20 000
geschaffen seien und ihre Wirkung ent- trendiger werden, das heißt, mehr Pro- Waschmaschinen zum Sonderpreis
falten könnten. dukte für Fitness, Gesundheit und Ga- anbiete, schlage die Truppe nach al-
Und was ist mit den hässlichen ming. Auch E-Scooter finden sich in den tem Einkäufermuster sofort zu – und
­Paletten unter den Waschmaschinen? Läden. Gerade testen sie Angebote für müsse die vielen Geräte später mit
»Dem Warendruck und der Ge- Elektroautos inklusive Ladelösungen. hohem Rabatt losschlagen, weil wie-
schwindigkeit geschuldet«, sagt Wild- Die Filialen werden in Kategorien der einmal »am Kundenwunsch vor-
berger, das werde man »weiterent­ aufgeteilt, »Lighthouse«, »Core« und bei« gekauft wurde.
wickeln«. Lieber verweist er auf die »Smart«: große Technik-Erlebniswel- Seit Herbst 2021 betreiben Media-
Abholstation für online bestellte ten in Metropolen, mittlere »mit viel Markt und Saturn ein gemeinsames
Elektronik vor dem Eingang. 40 Pro- Service und Beratung« und kleine mit Zentrallager bei Göttingen. Es soll
zent der Kunden würden den Service einem ausgewählten Sortiment in In- dem Unternehmen helfen, insgesamt
nutzen. Das sei »gelebtes Omnichan- nenstädten. Es soll mehr Angebote wie weniger Ware vorzuhalten und so die
nel« und »so einfach wie möglich«. Reparaturen, Aufbereitung und Rück- Kosten zu senken. Zuvor wurden die
Dass die Leute dadurch erst recht kei- nahme von Altgeräten geben. Schon Filialen ausschließlich aus diversen
nen Anreiz mehr haben, den Shop zu länger versuchen MediaMarkt und Regionallagern versorgt. Ceconomy
betreten, nimmt er in Kauf. Saturn Kunden mit der Installation solle »zu einem der effizientesten
Womöglich, argwöhnen manche, von Geräten und Garantieverlänge- ­Logistikunternehmen« werden, ver-
fehle Wildberger das nötige Bran- rungen zu locken – das Servicegeschäft spricht Wildberger.
chenwissen. Einen Handelsexperten verspricht kräftig Marge, auch wenn Davon scheint der Konzern weit
hatten die Gesellschafter für den Hor- der Anteil am Umsatz noch winzig ist. entfernt. Bislang sei der Waren­
rorjob offenbar nicht finden können. An den Elefanten im Raum aber bestand kaum gesunken, sagt ein In-
Das wäre zu verschmerzen, gäbe es traut sich auch Wildberger nicht he­ sider. Die Lagerkosten, gesteht Ceco-
genügend versierte Leute unter dem ran: die Verschmelzung von Media- »Das ganze nomy, blieben im Verhältnis zum Um-
Chef. Die aber, sagt ein Aufsichtsrat, Markt und Saturn. satz konstant.
hätten längst das Weite gesucht. Wild- Anfang der Sechzigerjahre gegrün- Unternehmen Wildberger wirbt um Geduld: Bis
bergers Hoffnung, einmal im Amt, det, war Saturn von 1990 an unter die muss das Unternehmen so dastehe, wie er
aus einem Fundus von Spitzenkräften
zu schöpfen, habe sich zerschlagen.
Kontrolle der MediaMarkt-Mutter-
gesellschaft gekommen. Pläne für ein
­schneller es sich vorstelle, brauche es sicherlich
noch drei Jahre. Wenn der Schleuder-
Der vorherige Aufsichtsratschef Zusammengehen gibt es in der Ingol- werden.« sitz an der Ceconomy-Spitze nicht
und Ex-Deutschbanker Jürgen Fit- städter Zentrale schon lange, den Mut Karsten Wildberger, schon vorher zündet.
schen hatte eine Garde von Managern zur Umsetzung fand bisher keiner der Manager Simon Book, Kristina Gnirke n

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 69


AUSLAND

Francisco Robles / AFP


Im mexikanischen Bundesstaat Guerrero, bisher bekannt als Anbaugebiet von Mohn und Cannabis, verbrennen Soldaten Pflanzen einer illegalen
Kokablatt-Plantage. Seit Neuestem experimentieren mexikanische Drogenkartelle auch mit dem Gewächs, aus dem Kokain hergestellt wird,
um es nicht länger aus südamerikanischen Ländern wie Kolumbien importieren zu müssen. Allein im vergangenen Monat entdeckte und zerstörte
die Armee 23 Plantagen im Hinterland von Acapulco, riss die Pflanzen aus dem Boden und steckte sie in Brand.

Der Preis der Macht


Vor allem aber hatte sich Sturgeon wieder und wieder im
Kampf um die schottische Unabhängigkeit aufgerieben und war
ihr zwar nahegekommen – mehr aber auch nicht. Erst im Novem-
ber hatte der britische Oberste Gerichtshof geurteilt, Edinburgh
ANALYSE   Was steckt hinter dem Rücktritt der
könne ohne Zustimmung aus London kein neues Unabhängig-
schottischen Premierministerin Nicola Sturgeon? keitsreferendum – das zweite nach 2014 – durchführen. Sturgeon
wollte dann eben die kommenden britischen Parlamentswahlen
Es war ein Abgang, der an den Rückzug der Neuseeländerin 2024 in ihrem Landesteil zu einem De-facto-Referendum umwid-
­Jacinda Ardern erinnerte – auch sie eine Regierungschefin, die men. Zweifel daran gab es nicht nur in ihrer Schottischen Natio-
es geschickt verstanden hatte, ihr Land in der internationalen nalpartei (SNP), sondern auch in der Bevölkerung. In Umfragen
Wahrnehmung größer wirken zu lassen, als es ist. Während sank die Zustimmung zur schottischen Selbstständigkeit. Und
­Arderns Abgang im Januar jedoch weitgehend überraschend in London regieren auch nicht mehr Boris Johnson und Liz Truss,
kam, hatte es im Fall von Schottlands Erster Ministerin Nicola die Schottland stets mit Herablassung behandelten und der SNP
Sturgeon, die am Mittwoch zurücktrat, schon länger Anzei- so stetig neue Unterstützer in die Arme trieben.
chen für eine gewisse Amtsmüdigkeit gegeben. Nicola Sturgeon, die den Schotten mit großer Beharrlichkeit
Die 52-Jährige, die seit 1999 im schottischen Parlament sitzt bemerkenswerte sozialpolitische Reformen und noch mehr
und 2014 Regierungschefin wurde, hatte sich jahrelange ­nationales und europäisches Selbstbewusstsein gebracht hat, wird
­politische Dauerfehden mit wechselnden Tory-Regierungen daher wohl eine Unvollendete bleiben. Um das Ruder rum­
in London geliefert. Sie hatte die gut fünf ­Millionen Schotten zureißen, hätte die stärkste Frau Schottlands alle Kraft gebraucht.
zwar mit ruhiger Hand durch die Pandemie geführt, dafür Aber die hat sie nicht mehr. Und dass sie das nun eingestanden
nach eigenen Worten jedoch einen hohen ­»seelischen und hat, ist ein weiterer Beweis für politische Größe, die man wo­
­körperlichen« Preis bezahlt. anders im Vereinigten Königreich vergebens sucht. Jörg Schindler

70 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


China blockiert den im Ausland abzuzahlen.
Andere große Gläubiger des
Wirtschaftshilfen Landes haben solche Erklärun­
SRI LANKA   Vor knapp einem gen bereits abgegeben, dazu
Jahr schlitterte der südasiatische ­gehören Indien, einige Hedge­
Inselstaat in die schlimmste fonds und der Pariser Club, ein
Wirtschaftskrise seiner Ge­ Zusammenschluss staatlicher
schichte und erklärte sich im Gläubiger. »Was der IWF will,
April 2022 für zahlungsunfähig. ist, dass China vorerst darauf
Heute ist das einst aufstrebende verzichtet, seine Schulden ein­
Land verarmt. Die Inflation liegt zutreiben. So kann man in
bei über 50 Prozent, Medika­ der Zwischenzeit beraten, wie
mente und Benzin sind knapp, sich Sri Lankas Schuldenberg

Atta Kenare / AFP


fast ein Drittel der Bürgerinnen abbauen lässt«, sagt der Wirt­
und Bürger spart am Essen. schaftsanalyst Chayu Damsinghe
Ein milliardenschweres Ret­ von der Beratungsfirma Frontier
tungspaket könnte das Leid lin­ Research in Colombo. China Basarbesucher in Teheran
dern und dabei helfen, die Wirt­ habe sich in der Vergangenheit

»Die Frauen in Teheran ­machen,


schaft wieder in Schwung zu großzügig gezeigt, wenn es da­
bringen. Dafür hatte sich die Re­ rum ging, hoch verschuldeten

was sie wollen«


gierung in Colombo schon vor Staaten einen Zahlungsaufschub
Monaten mit dem Internationa­ zu gewähren. Doch Peking ziehe
len Währungsfonds (IWF) auf es vor, solche Angelegenheiten
Hilfen in Höhe von 2,9 Milliar­ bilateral zu verhandeln, nicht
IR AN  Der Abgeordnete Ahmad Naderi versucht, die
den Dollar geeinigt. Aber das vermittelt von einer Organisa­
Geld kommt nicht, der Grund tion wie dem IWF mit Sitz in Unterdrückung der Proteste zu rechtfertigen.
für die Verzögerung: China, Sri Washington. »Peking stellt die
Lankas größter bilateraler Kre­ alte Ordnung infrage, also die Naderi, 41, ist Lei- SPIEGEL: Die Unterdrückung
ditgeber. Der IWF fordert eine übliche Art, Staatsschulden zu ter der deutsch-­ der Proteste war kein Fehler,
schriftliche Zusicherung, dass restrukturieren«, sagt Damsinghe. iranischen Parlamen- sondern systematisch.
Sri Lanka das Geld nicht darauf Wer leidet, sind Sri Lankas tariergruppe. Er Naderi: Gerade hat unsere
verwenden muss, seine Schul­ 22 Millionen Einwohner. LH hat an der Freien ­Führung eine Amnestie für
Universität Berlin ­Inhaftierte erlassen.
Privat

promoviert. SPIEGEL: Die deutsch-iranischen


Taliban vor der Die Radikalislamisten teilen Beziehungen gelten als ange­
sich inzwischen in eine Hard­ SPIEGEL: Herr Naderi, warum spannt. Warum?
Zerreißprobe liner-Gruppe um den Emir, der dürfen Iranerinnen nicht Naderi: Vor den Ereignissen …
AFGHANISTAN  Die Taliban in Kandahar residiert, und eine selbst entscheiden, wie sie sich SPIEGEL: … Sie meinen, vor dem
streiten über den künftigen poli­ Gruppe von Pragmatikern in kleiden wollen? Massenaufstand …
tischen Kurs: In einem Brand­ Kabul. Angeführt wird die Ka­ Naderi: Die Mehrheit der Irane­ Naderi: … hätte ich unsere Be­
brief forderte das Kabinett in bul-Fraktion von Innenminister rinnen ist nicht gegen die ziehungen auf einer Skala
Kabul den Taliban-Führer Emir Sirajuddin Haqqani, der vom ­Hidschab-Pflicht. Die Frage ist: von eins bis zehn mit sechs oder
Haibatullah Akhundzada auf, FBI gesucht wird, weil ihm Ter­ Warum denken Europäer und sieben bewertet. Jetzt sind wir
das Bildungsverbot für Mäd­ roranschläge vorgeworfen wer­ Amerikaner, dass die iranischen höchstens bei zwei.
chen und Frauen aufzuheben. den; von Verteidigungsminister Frauen gerettet werden sollten? SPIEGEL: Iran wirft Deutschland
Die Regierung will so die inter­ Mullah Yaqoob, Sohn des Tali­ SPIEGEL: Die Auflehnung gegen vor, als Aufwiegler hinter
nationale Isolation des Landes ban-Gründers Mullah Omar, die Kleiderordnung ist auch dem Aufstand zu stecken. Wo­
durchbrechen, das einen extrem und dem ehemaligen Verhand­ ein Symbol für den Widerstand rauf stützt sich dieser Vorwurf?
kalten Winter erlebt. Viele Af­ lungsführer in Doha, Mullah gegen Korruption und eine Naderi: Wir verstehen nicht,
ghaninnen und Afghanen haben Baradar. Alle drei sind ebenfalls theokratische Regierung, die ­warum sich Politiker dafür ein­
kein Geld, um zu heizen, Hun­ radikal, zeigen sich aber fle­ ihre Bürger gängelt. setzen, dass sich Iranerinnen
derte starben bereits aufgrund xibler, wenn es um die Erfüllung Naderi: Die Sittenpolizei ist seit verhalten sollten wie deutsche
von Kälte und Krankheiten, der Bedingungen geht, unter Wochen nicht mehr auf der Frauen. Frauen im Nahen Osten
Millionen sind unterernährt. denen die internationale Ge­ Straße unterwegs. Sehen Sie sind kulturell anders. Was
meinschaft sich wieder stärker sich um in Teheran, viele Frau­ ­bezweckt Frau Baerbock mit
engagieren könnte. Die Taliban en tragen gar keinen Schleier. Begriffen wie einer »werte­
wollen eine internationale An­ Sie machen, was sie wollen. basierten, feministischen
erkennung ihrer Regierung und SPIEGEL: Warum schaffen Sie Außenpolitik«?
das Land vor einer weiteren die Sittenpolizei nicht ab? SPIEGEL: Annalena Baerbock
Isolation bewahren. Den Brief Naderi: Das Parlament disku­ hält Grundrechte wie die Mei­
seiner Minister hat der Emir vor tiert über Veränderungen. nungsfreiheit für nicht verhan­
wenigen Tagen jedoch abschlä­ SPIEGEL: Videos von Protesten delbar. Was ist falsch daran?
Sanaullah Seiam / AFP

gig beschieden, er will an sei­ zeigen Polizisten in Zivil, Naderi: Die deutsche Außen­
nem fundamentalistischen Kurs die auf Demonstrierende ein­ politik sollte zur Rationalität
festhalten. Beobachter gehen schlagen. Warum diese Härte? zurückkehren. Mit Iran verliert
davon aus, dass eine Konfronta­ Naderi: Sie sehen das zu ein­ Deutschland womöglich einen
tion innerhalb der Taliban-Füh­ seitig. Und vielleicht machen künftigen Energielieferanten
Afghaninnen in Kandahar rung bevorsteht. SUK Polizisten auch Fehler … und großen Absatzmarkt. SUK

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 71


AUSLAND

Yusuf Sayman / DER SPIEGEL

Zerstörtes
AKP-Büro
in Antakya

72 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


AUSLAND

In den Trümmern der Macht


TÜRKEI  Die Erdbebenkatastrophe offenbart die Schwächen im Ein-Mann-Staat. Strafen die Wählerinnen
und Wähler Präsident Erdoğan für sein Krisenmanagement ab?

S
üleyman Soylu, der türkische Innen- Das Erdbeben vom 6. Februar ragt dennoch gangenen Woche wie geplant stattfinden kön-
minister, läuft kurz vor Sonnenunter- heraus. Mindestens 40 000 Tote, mehr als eine nen. Sie dürften zu einem Referendum über
gang die Hauptstraße von Antakya Million Obdachlose. Das ist die vorläufige Bi- Erdoğans Krisenmanagement werden.
hinunter, neben ihm seine Leibwächter. Die lanz, die die Behörden nach dem verheerends- Kahramanmaraş ist eigentlich eine Hoch-
Häuser links und rechts sind zu Schuttbergen ten Beben seit 100 Jahren in der Türkei und burg der Erdoğan-Partei AKP. 74 Prozent der
zerfallen. Anderthalb Wochen nach den Erd- Syrien ziehen. Es ist zu befürchten, dass die Stimmen holte Erdoğan hier bei der Präsi-
beben liegt noch immer eine dichte Staub- Zahlen weiter steigen. Noch immer liegen Op- dentschaftswahl 2018. Doch selbst hier fragen
wolke über der Stadt. Antakya in der Provinz fer unter den Trümmern. Manche Experten sich die Menschen, ob sie die AKP nach der
Hatay im Süden der Türkei, einst ein ge- rechnen mit bis zu 150 000 Toten. Katastrophe noch wählen können.
schichtsträchtiger Ort mit muslimischer, Im ganzen Land bricht sich neben der Ramazan Şileli sitzt in Cargohosen auf dem
christlicher, jüdischer Tradition, wurde von Trauer der Menschen auch Wut Bahn. Warum Bürgersteig vor dem Krankenhaus im Zentrum
dem Erdbeben am 6. Februar so hart getrof- hat es so lange gedauert, bis Hilfe im Erd- von Kahramanmaraş auf einem Hocker, der
fen wie kaum eine andere Stadt. bebengebiet ankam, fragen viele. Warum war nicht sehr stabil aussieht. Aber was ist schon
Auf dem Gehweg neben Soylu hieven die Türkei, die so erdbebengefährdet ist wie stabil hier, im Süden der Türkei, in diesen
Männer eine Leiche aus einer Baggerschaufel kaum ein anderes Land, nicht besser auf die ­Tagen? Kahramanmaraş liegt nahe den Epi-
in einen Sarg. Dem Minister stehen Tränen Katastrophe vorbereitet? zentren der Beben. In Teilen der Stadt herrscht
in den Augen. »Geh weiter! Geh weiter!«, Bei der Suche nach Antworten steht ein eine seltsame Stille; dann wieder, einige Meter
schreit eine junge Frau in türkisfarbener Mann zwangsläufig im Mittelpunkt, der weiter, krachen die Schaufeln der Bagger in
Sportjacke ihn an. »Du kannst hier nur mächtigste Mann im Staat: Präsident Recep die Trümmerberge, tragen den Schutt ab.
­laufen, weil du 40 Leute dabei hast!« Soylu Tayyip Erdoğan. Şileli raucht und erzählt ruhig, als hätte er
schaut sie kurz an. Dann geht er tatsächlich Für den 14. Mai sind in der Türkei Präsi- nicht gerade alles Hab und Gut verloren. Sein
weiter. dentschafts- und Parlamentswahlen ange- Haus hatte acht Stockwerke, Şileli, seine Frau
Sera Kadıgil, die Frau in der türkisfarbe- setzt. Schon läuft eine politische Debatte und die zwei Töchter hatten dort eine Woh-
nen Jacke, sitzt für die Arbeiterpartei im tür- darüber, ob sie nach den Ereignissen der ver- nung, 200 Quadratmeter. Sie ist nicht mehr
kischen Parlament. Lange hat sie gehofft, die bewohnbar. Als es losging, habe sich seine
Eltern ihrer Freundin noch lebend zu finden. Frau auf eines der Kinder geworfen, erzählt
Jetzt werden ihre Leichen in einen Trans- Şileli. Seine Tochter Beyzanur ist gehbehin-
porter gehoben. Istanbul dert. »Es war die Hölle«, sagt Şileli.
Kadıgil vergräbt ihr Gesicht im Arm einer Ankara Und zunächst sei niemand zu Hilfe ge-
Freundin, Tränen rinnen ihre Wangen hinab. kommen. Dann seien, als Erste, Helfer eines
TÜRKEI
Nach dem Beben seien zwei Tage lang kaum religiösen Ordens angerückt. Afad, die tür-
Kahramanmaraş
staatliche Rettungskräfte gekommen, sagt sie. kische Katastrophenschutzbehörde, sei erst
Die Menschen seien gestorben, frierend, Antakya
zwei Tage später zur Stelle gewesen. »Afad
­rufend. »Und jetzt besitzt der Minister die und der Rote Halbmond haben versagt«, mi-
SYRIEN
Frechheit, den Ort des Verbrechens zu be- 750 km
schen sich zwei Frauen ein.
suchen. Schamlos!« Auf die Frage, wen Şileli dafür verantwort-
Kadıgil wirft ihr Taschentuch in den Staub. lich macht, nennt er die Stadtverwaltung und
Ihre Augen funkeln vor Wut. Jeder habe ge- die »fünf Reichen im Ort«, die hier das Sagen
wusst, dass die Häuser nicht sicher gewesen hätten, die immer auf Gewinn aus seien. Şileli
seien. »Sie haben es kommen sehen und sagt: »Die AKP soll nicht denken, dass sie
nichts getan! Zehntausende wurden hier hier noch unsere Stimmen bekommt.« Aber
­lebendig begraben!« Kadıgil spricht von Tot- er sagt auch: »Der Reis ist einer von uns. Er
schlag. hat unendlichen Kredit bei mir.« Reis bedeu-
Die Türkei hat schon einige schmerzhafte tet Oberhaupt – so nennen viele seiner An-
Episoden durchlebt. Da waren die Putsche hänger Erdoğan.
des Militärs. Da ist der seit Jahrzehnten wäh- Şilelis Tochter Beyzanur sieht das anders.
rende Konflikt zwischen der verbotenen kur- Sie kam 2001 zur Welt, im selben Jahr grün-
dischen Arbeiterpartei PKK und dem türki- dete Erdoğan mit Wegbegleitern die AKP.
Yusuf Sayman / DER SPIEGEL

schen Staat. Beyzanur scheint von Erdoğans Politik genug


Das Land hat unzählige Terrorattentate zu haben, noch bevor sie das erste Mal ge-
hinter sich, hinzu kommt die schwierige wirt- wählt hat. Daran hat auch Erdoğans Besuch
schaftliche Lage, die existenzielle Not für so in Kahramanmaraş vergangene Woche nichts
viele Menschen, die Supermarkt um Super- geändert. »Warum tut er nichts?«, fragt sie.
markt abklappern, um noch ein paar Lira bei Erdoğan ist ein Politiker, der sich auch mit
der Milch zu sparen. Politiker Kılıçdaroğlu den Details beschäftigt, ein Mikromanager,

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 73


AUSLAND

vor allem in wirtschaftlichen Fragen. nen Genehmigungen gegeben, fast Der Wahl- vor allem mit Wahlkampfgeschen-
2017 hat die Türkei ihr politisches 300 000 in dem nun von den Erd- ken, etwa der Erhöhung des Mindest-
System mit einem Referendum beben betroffenen Gebiet. kampf dürfte lohns oder mit mehr Geld für Rent-
grundlegend verändert. Erdoğan hat Amnestien wurden auch schon zu einem ner und Beamte.
hart dafür gekämpft, dass er der
Mann an der Spitze eines Präsidial-
vor Erdoğan ausgesprochen, unter
anderen Regierungen. Die Oppo­
Wettstreit in Dennoch ist man im Palast in An-
kara erkennbar nervös, dass die Ver-
systems werden konnte. sition beharrt darauf, dass dieses Katastrophen- säumnisse bei der Erdbebenpräven-
Seitdem hat der Präsident weit- ­Gesetz, »Bau-Frieden« genannt, sich hilfe werden. tion dem Präsidenten politisch scha-
reichende Befugnisse: Er steht der aber in Größe, Umfang und Quali- den könnten. Die Justiz geht schon
Exekutive vor, das Amt des Premiers tät von den vorherigen unterschei- jetzt gegen Bürgerinnen und Bürger
wurde abgeschafft. Er kann Dekrete de – Schrottbauten seien geschützt vor, die vermeintliche Falschnach-
mit Gesetzeskraft erlassen, Vetos ein- worden. richten über das Beben verbreiten.
legen gegen Gesetzesentwürfe des Zur Wahrheit gehört allerdings Twitter wurde vorübergehend blo-
Parlaments, das Parlament auflösen auch, dass sich sehr viele Menschen ckiert. Ob sich so der Unmut über
und Neuwahlen ausrufen. Er benennt über dieses Gesetz gefreut haben. Erdoğans Krisenmanagement abstel-
6 der 13 Mitglieder des Gremiums, Darunter nicht nur Anhänger und len lässt?
das Richter und Staatsanwälte beruft. Wähler der AKP. Bei all dem Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsit-
Der Haushalt ist faktisch unter seiner Schmerz, sagt der Abgeordnete zende der säkularen Republikani-
Kontrolle. Erdoğan ernennt Minister Ömer Faruk Gergerlioğlu von der schen Volkspartei (CHP), sitzt am
und hohe Beamte. Und er ist Ober- prokurdischen Partei HDP, dürfe Sonntag nach der Katastrophe in
befehlshaber der Armee. Die Befür- man »uns als Gesellschaft nicht aus einem Zelt in Antakya. Links und
worter des Präsidialsystems beteu- der Verantwortung entlassen«. Es rechts von ihm, an einem langen
ern, so könne das Land effizienter gebe hier ein »Bündnis der Schuld«, Tisch, haben Dutzende CHP-Stadt-
regiert werden, ohne die Fesseln des aber am Ende trage die Regierung die chefs aus dem ganzen Land Platz ge-
Apparats. Verantwortung. nommen. Die CHP-Bürgermeister
Die Erdbebenkatastrophe offen- tragen vor, wie sie den Opfern helfen:
bart nun die Schwäche des Ein-Mann- Die Behörden haben nach dem Beben Hunderte Feuerwehrleute, Räum-
Staats. Hilfe sei auch deshalb so spät Haftbefehle gegen rund hundert Per- kommandos und mehr als tausend
bei Betroffenen angekommen, sagen sonen erlassen, unter anderem wegen technische Experten seien auf dem
Kritiker, weil Erdoğan staatliche In- mutmaßlicher Verstöße gegen Bau- Weg. Außerdem rund 2000 Lkw und
stitutionen wie die Katastrophen- vorschriften. Ein Bauunternehmer vier Flugzeuge.
schutzbehörde Afad ausgehöhlt und wurde am Flughafen von Istanbul Mit dem Parteitreffen will die CHP
ihre Leitung fachfremden Gefolgs- gefasst, ehe er sich mit viel Geld in eine Botschaft an alle Menschen im
leuten überlassen habe. Staatsbe- der Tasche nach Montenegro abset- Land senden. Erdoğan lässt euch im
dienstete hätten langsam und unfle- zen konnte. Stich. Und: Die CHP kann es besser.
xibel auf das Unglück reagiert, weil Doch diese Maßnahmen wirken Die Säkularen haben die Türkei seit
sie gewohnt seien, auf Befehle aus eher wie eine Imagekampagne der einem Vierteljahrhundert nicht mehr
dem Palast zu warten. Regierung als wie eine ernsthafte regiert. Das Erdbeben ist für sie auch
Warnungen von Experten, wo- ­Aufarbeitung der Katastrophe. Be- eine Chance, sich zu be­weisen.
nach die Türkei auf ein Beben nicht richterstattung und die politischen Gespräche mit Betroffenen hätten
ausreichend vorbereitet sei, habe die Talkshows in den regierungsnahen ihn sehr berührt, sagt Kılıçdaroğlu
Regierung ignoriert, so der Vorwurf, Medien erwecken den Eindruck, als mit leiser Stimme. Dann redet er sich
zu sehr profitierte sie von dem Bau- wären vor allem die Bauunternehmer in Rage. »Sie wissen nicht, wie man
boom der vergangenen zwei Jahr- schuld am Desaster. einen Staat führt«, ruft er in den
zehnte. Man könnte sagen: Erdoğans Die Wirtschaftskrise hat dazu ge- Raum. »Der Staat kann nicht das
Macht ist auch auf Beton und Stahl führt, dass Erdoğans Beliebtheit im Werkzeug für den persönlichen Ehr-
gebaut. vergangenen Sommer auf einen Tief- Trümmer einer geiz eines einzelnen Menschen sein!«
Kirche in Antakya:
Erdoğans Amtszeit ist untrennbar punkt abgeglitten ist. Zuletzt holten Warnungen Später, im Gespräch mit dem
mit den großen Infrastrukturprojek- er und die AKP allerdings wieder auf, wurden ignoriert ­ PIEGEL , präzisiert Kılıçdaroğlu sei-
S
ten des Landes verbunden, mit Brü- ne Kritik. Erdoğan regiere allein,
cken, Straßen, Autobahnen, Wohn- ­natürlich sei er für das Ausmaß der
blöcken, die dem Land und seinen Katastrophe verantwortlich. Wenn
Menschen einen bis dahin ungekann- der Staat die wichtigen Posten mit
ten Wohlstand beschert haben. In den falschen Leuten besetze, verfau-
den ersten zehn Jahren unter Erdo­ le er von innen.
ğan hat sich das türkische Brutto­ »Man kann keinen Archäologen
inlandsprodukt auf 838 Milliarden in der Zentralbank anstellen. Man
Dollar verdreifacht. Nun aber sind kann jemanden, der sich bestechen
viele der Bauten zu tödlichen Fallen lässt, nicht zum Botschafter machen.
geworden. Und man kann keinen Theologen be-
Vor den Wahlen 2018 unterzeich- auftragen, Erdbebenschäden zu be-
nete Erdoğan ein Gesetz, das illegal gutachten!« Doch all das habe die
Yusuf Sayman / DER SPIEGEL

gebaute Gebäude gegen eine Straf- Regierung getan, sagt Kılıçdaroğlu.


zahlung rückwirkend genehmigte. Es sei kein Wunder, dass die Leute
Etwa zehn Millionen Anträge sollen ihr nicht mehr vertrauten.
eingegangen sein, schreibt der Jour- Seit Monaten wird spekuliert, wen
nalist Murat Yetkin auf seiner Web- das Oppositionsbündnis, zu dem
site, es habe mehr als drei Millio- sich die CHP und fünf weitere Par­

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AUSLAND

teien zusammengeschlossen haben, zum


­Präsidentschaftskandidaten machen wird.
Kılıçdaroğlu, den erfahrenen Verwalter? Oder
doch Ekrem İmamoğlu, den Bürgermeister,
der in Istanbul bereits bewiesen hat, dass er
eine wichtige Wahl gewinnen kann? Dass sie
in dieser ­Frage uneins erscheint, schwächt die
Opposition.
Die Sonne ist schon untergegangen, an
jenem Sonntag nach der Katastrophe, als
İmamoğlu in Antakya Zeit für ein Gespräch
findet. Er trägt einen Kapuzenpullover und
eine weite Cordhose, müde sinkt er auf einen
Plastikstuhl. Er habe beim Erdbeben von
1999 nahe Istanbul geholfen, sagt İmamoğlu.
Diesmal sei es schlimmer.
İmamoğlu kommt selbst aus der Bauindus-
trie. Er spricht jetzt über die illegalen Ände-
rungen an bereits genehmigten Bauvorhaben,
über fehlende Inspektionen, das Amnestie-
gesetz der Regierung für Gebäude, die nicht

Yusuf Sayman / DER SPIEGEL


den Vorschriften entsprachen: »Wir haben
unsere Särge mit unseren eigenen Händen
gezimmert«, sagt er.
İmamoğlu stammt wie Erdoğan von der
Schwarzmeerküste, wo die Leute eher kon-
servativ sind. Bis 2019 war er weitgehend
unbekannt. Dann machte ihn die CHP zum Helfer mit Sarg in Antakya: Ein Gesetz legalisierte illegale Gebäude rückwirkend
Kandidaten in Istanbul. Die Wette ging
auf, nach 15 Jahren entriss er der Erdoğan- Die Opposition unterstellt Strategie. Die Lütfü Savaş, der Bürgermeister der Metro­
Partei AKP die Macht in der Metropole. AKP wolle die Wahl nur deshalb hinauszögern, polregion Hatay, kämpft versunken in die
İmamoğlu regiert nun 16 Millionen Menschen weil sie eine Niederlage befürchte, vermutet Ledersitze seines Mercedes Vito gegen den
– und nutzt die Ressourcen der Stadt, um CHP-Chef Kılıçdaroğlu. Er will an dem ge- Schlaf. Das Erdbeben hat sein Büro und sein
direkt zu helfen. planten Termin festhalten. »Nur im Kriegsfall Haus beschädigt, seitdem arbeitet und schläft
2326 Angestellte hat İmamoğlu nach eige- sieht die Verfassung eine Wahlverschiebung Savaş im Auto. Wenn er nicht telefoniert,
nen Angaben aus Istanbul ins Krisengebiet vor«, sagt er. »Wir sind nicht im Krieg.« fährt er über die Dörfer, trifft sich mit Lokal-
geschickt, zwei Fähren, 997 Fahrzeuge und Dabei ist keineswegs ausgemacht, dass die politikern.
Maschinen. In der Stadt versorgen 13 mobi- Opposition siegen wird. Bei manchen Um- Savaş, ein studierter Mediziner, muss
le Essensausgaben die Menschen mit Suppe, fragen waren beide Lager zuletzt etwa gleich- eine Bleibe finden für Hunderttausende
Brot und Wasser. All das wird nun öffentlich- auf, die Demoskopen des Instituts Metropoll ­Menschen, die bei Temperaturen um den Ge-
keitswirksam präsentiert. Der Wahlkampf sahen das Erdoğan-Bündnis vorn. Erdoğan frierpunkt in Zelten übernachten. »Sag ihnen,
dürfte auch zu einem Wettstreit in Katastro- könne nach wie vor nahezu blind auf den wir sterben hier. Die Kinder frieren«, klagt
phenhilfe werden. Rückhalt etwa eines Drittels der Wählerinnen ein Mann, der in einem der notdürftig
Erdoğan nimmt den CHP-Politiker augen- und Wähler vertrauen, sagt Metropoll-Chef ­errichteten Camps lebt. Savaş sorgt sich,
scheinlich als ernsthaften Konkurrenten Özer Sencar im Gespräch mit dem SPIEGEL . dass Krankheiten ausbrechen könnten. Die
wahr. Ein Gericht verurteilte İmamoğlu kürz- Daran werde wohl auch das Erdbeben nichts Wasser­versorgung ist zusammengebrochen,
lich wegen angeblicher Beleidigung von ändern. keine Toilette funktioniert. »Häuser, Hei-
Staatsbediensteten. Sollte das Urteil bestä- zung, ­Hygiene«, sagt er. Das seien nun seine
tigt werden, könnte er mit einem Politik­ Erdoğan ist bislang fast immer gestärkt aus Prioritäten.
verbot belegt werden. İmamoğlu lässt sich Krisen hervorgegangen. In seiner ersten Rede Eine Katastrophe kann eine Gesellschaft
davon nicht beirren. Er versucht es mit Hoff- nach dem Erdbeben wandte er sich auch einen. Nach all dem Schmerz kann auch et-
nung. Die Wahl in Istanbul gewann er gleich an seine Gegner. Man verfolge auf- was Neues erwachsen, wenn die Wunden ge-
mit der Botschaft: »Alles wird sehr schön merksam jene, »die unser Volk mit falschen heilt sind, irgendwann. Wenn es seit dem
werden.« Nachrichten und Verzerrungen gegeneinan- Erdbeben etwas Gutes zu beobachten gibt,
Selbst jetzt, in einer kalten Zeltecke, ange­ der ausspielen wollen«, sagte er. »Heute ist dann ist es die Hilfsbereitschaft der Zivil­
sichts von Zehntausenden Toten, hält İma­ nicht der Tag, um mit ihnen zu streiten. Wenn gesellschaft. Feuerwehrleute aus Istanbul
moğlu an diesem Ton fest. Er glaube noch an der Tag kommt, werden wir in unsere Notiz- bergen Rentnerinnen in Kahramanmaraş.
seinen Slogan, sagt er. Die Geschichte sei voll bücher schauen.« Minenarbeiter aus Zonguldak kriechen in
mit Ländern, die nach Kriegen oder Natur- Egal wer die Wahlen gewinnt, die Heraus- den Schutt und ziehen Kleinkinder sanft aus
katastrophen wieder auferstanden seien. forderungen, mit denen die nächste Regie- dem Beton. Freiwillige stehen an Suppen-
Deutschland sei ein gutes Beispiel. rung konfrontiert sein wird, sind enorm. Ex- töpfen. Schauspieler und Musiker sammeln
Ob das Beben tatsächlich zu einem Wan- perten schätzen, dass das Beben Schäden in Spenden ein.
del in der türkischen Politik führt, wie Höhe von rund 84 Milliarden Dollar verur- Wenn man dieser Tage am Flughafen
İmamoğlu hofft, lässt sich schwer vorhersa- sacht hat. Zwar hat Erdoğan versprochen, die in Istanbul ankommt, steht da »Milletçe
gen. Der AKP-Mitgründer und ehemalige zerstörten Städte und Dörfer innerhalb eines yastayız« auf den Bildschirmen: Wir trauern
Vizepremier Bülent Arinç brachte diese Wo- Jahres wiederaufzubauen, doch es ist unklar, gemeinsam.
che eine Verschiebung der für Mai geplanten woher dafür inmitten der Wirtschaftskrise Şebnem Arsu, Steffen Lüdke,
Wahlen um bis zu zehn Monate ins Spiel. das Geld kommen soll. Maximilian Popp, Özlem Topçu n

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AUSLAND

Gerade Sammler der älteren Generation


gingen nicht zimperlich vor, um ihr Revier zu
markieren, sagt Bessone. Sie legen Hackbäll-
chen mit Rattengift oder Schneckenkorn aus,

Vergifteter Genuss
um den Hunden der Konkurrenz zu schaden.
Auch mit Frostschutzmittel vermischtes
Fleisch soll zwischen Bäumen gefunden wor-
den sein. Einige Sammler berichten, dass
sie nach einer Trüffelsuche ihr Auto mit zer-
ITALIEN  Infolge des Klimawandels leidet das Piemont unter T­ rockenheit – stochenen Reifen vorgefunden hätten. An­dere
hatten Zucker im Tank.
deshalb wächst die wertvolle Weiße Trüffel dort immer schlechter. Ein gut ausgebildeter Hund ist für die Trüf-
Die Preise steigen, die Konkurrenz unter den Sammlern nimmt zu. Sogar felsuche zentral. Denn seine feine Nase kann
Suchhunde werden getötet. die Aromen der unterirdisch wachsenden
Knolle riechen.
Doch Hunde treffen die Verbrechen immer

I
n einem Revier der Forstpolizei in der Mehr als 150 Millionen Euro Umsatz hat die häufiger, und das weit über das Piemont hi­
Kleinstadt Bra, zwischen Weinbergen Region Alba geschätzt mit dem Trüffeltouris- naus. In den meisten Trüffelregionen Italiens
und Haselnussplantagen im Piemont, mus 2022 erzielt. Doch die Weiße Trüffel ist werden ähnliche Vergiftungsfälle gemeldet:
sitzt Polizistin Nadia Bessone hinter ihrem ein teures Vergnügen: 100 Gramm kosteten in der Toskana, im Latium, in den Marken,
Schreibtisch und erzählt vom größten Schatz in dieser Saison rund 550 Euro. Der Klima- in Umbrien. Wie viele Suchhunde wirklich
ihrer Region – der Weißen Trüffel – und dem wandel hat eine Luxussparte erreicht – mit vergiftet werden, wissen die Behörden nicht.
brutalen Kampf darum. So unerbittlich wie brutalen Konsequenzen. Tierschützer, die Zahlen aus Presseberichten
in dieser extrem trockenen Saison wurde er »Die Preise für Weiße Trüffeln sind ex- gesammelt und ausgewertet haben, gehen für
selten geführt. plodiert«, sagt Polizistin Bessone. »Und je 2022 von Hunderten Fällen aus.
Bessone, 39, in dunkelblauer Uniform mit knapper die Weißen Trüffeln, desto mehr Bis zu 18 Monate Haft oder eine saftige
Dienstwaffe, zeigt auf eine Karte an der Konkurrenz unter den Trüffeljägern.« Geldstrafe drohen, sollte Bessones Einheit
Wand, auf der ein riesiges Waldgebiet um- Weil während des vergangenen Jahres so einen Täter beim Auslegen von Giftködern
rissen ist. In dieser Region, an den Wurzeln wenig Niederschlag fiel und im Sommer die erwischen. Doch das passiert praktisch nie,
von Eichen, Pappeln oder Linden, wächst Temperaturen so hoch waren, trockneten Ita- auch zu Strafanzeigen kommt es selten. »Es
Tuber magnatum pico, die Weiße Alba-Trüf- liens Flüsse und Seen aus. Ein riesiges Stück ist eine sehr geschlossene Welt«, sagt Bessone
fel, eines der teuersten Lebensmittel der Welt. eines Gletschers in den Dolomiten brach ab. über die Trüffelszene. Es fällt oft das Wort
Für das Piemont gilt sie als Identitätsstifter, In etlichen Regionen musste die Weinernte »Omertà« – ein Begriff, der normalerweise
rund 40 000 lizenzierte Trüffeljäger haben um Wochen vorgezogen werden. Auch im die Schweigepflicht unter Mafiosi beschreibt.
ihr Wissen über Generationen erworben. In westlichen Piemont regnete es kaum. Die »Die Trüffeljäger sagen uns, es bringe
den Restaurants raspeln Kellner die Weiße Weiße Trüffel, die in einigen Regionen Italiens nichts, die Vergiftungen zu melden, weil wir
Trüffel auf Pasta oder dünn geschnittenes vorkommt, braucht eine kühle, feuchte Um- die Täter nicht erwischten«, so die Polizistin.
Fleisch. Kenner genießen sie auf Spiegelei. gebung, um zu wachsen. Erst seit zwei Jahren komme mehr Bewegung
in die Sache, weil sich einer der Trüffelsucher
gemeldet habe. Seine Hunde seien bereits
fünfmal vergiftet worden. »Er hat es nicht
mehr ausgehalten.«
Bessones Einheit besteht aus nur vier Poli-
zisten, die für ein Dutzend Gemeinden zu-
ständig sind. Zwei zusätzliche Polizisten füh-
ren Spürhunde durchs Piemont. Die Forst-
polizei kümmert sich um illegale Jagd, Müll
im Wald, um Schäfer, die tote Schafe mit Gift-
ködern auf den Weiden liegen lassen, um
Wölfe zu erlegen. Doch bei der Trüffelsache
geht es um den Ruf einer ganzen Region, die
bekannt ist für ihre Dichte an Sternerestau-
rants. Es steht viel auf dem Spiel.
An einem Morgen Ende Januar biegen Bes-
sone und ihr Kollege Emanuele Gallo aus der
Spürhundestaffel mit ihren Polizeiwagen in
einen Waldweg ein. Sie wollen einen Trüffel-
grund absuchen, in dem vergiftete Köder ge-
funden wurden. »Es ist immer gut, sich sehen
zu lassen«, sagt Hundeführer Gallo, ein drah-
tiger Mann mit einem fuchsfarbenen Malinois
an der Seite. Zum Start der Saison hat er mit
zwölf Kollegen aus ganz Italien präventiv die
Wälder durchkämmt. »Hackbällchen mit Ra-
Francesca Volpi

sierklingen« waren sein grausamster Fund.


Das fünf Hektar große Grundstück, das
der Polizeihund an diesem Tag durchsuchen
Weiße Trüffeln auf der Messe 2022 in Alba: Die Preise sind explodiert soll, liegt auf einer Anhöhe. Im Tal hängt Ne-

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AUSLAND

bel über den Dörfern. Rauchend fol- ter mit den jährlich wechselnden Mot-
gen zwei Trüffelsammler Bessones tos der Messe – die Weiße Trüffel
Forstpolizei. Während sich der Poli- etwa als Weltkugel, eine Trüffel auf
zeihund schnüffelnd unter den Ästen einem roten Sessel oder balancierend
durchzwängt, hält einer der Sammler auf einem Ei. Bei der vergangenen
seinen drängelnden Mischling fest. 92. Messe war von Trüffelverklärung
Francesco O., 48, Maurer von Beruf, keine Spur mehr. »Die Zeit ist um«,
lässt seinen Trüffelhund erst los, als steht auf dem jüngsten Plakat, darü-
sicher ist, dass kein Gift ausliegt. »Wir ber eine Trüffel vor rissigem Hinter-
haben Krieg hier im Wald«, sagt er. grund. »Wir wollen niemanden be-

Francesca Volpi / DER SPIEGEL


Der zweite Trifulau, so nennen unruhigen«, sagt Allena. »Aber wenn
sich die Trüffelsammler hier, Saverio wir Trüffeln auch noch in 30 oder
D., 57, ist derjenige, der sich bei der 50 Jahren auf unserem Esstisch h ­ aben
Polizei von Bra gemeldet hat. Er sam- wollen, müssen wir aktiv zu ihrem
melt seit 45 Jahren Trüffeln, seine so- Schutz beitragen.«
genannte Tartufaia, seinen einge- Die Unesco hat die Trüffelsuche
grenzten Jagdgrund, hat er mit Ka- und -ernte im Jahr 2021 zum imma-
meras gesichert. In den vergangenen Trüffelsammler O. Wald. In zwei bis drei Jahren sei ein teriellen Kulturerbe erklärt – vorsorg-
Jahren sind zwei seiner Hunde durch mit Hund: Es geht Suchhund fit – und kostet dann schon lich, so mutet es an.
um den Ruf einer
Gift gestorben, drei weitere Male ha- ganzen Region
mal 10 000 Euro. Der Bedarf sei rie- Wie kann man die Weiße Trüffel
ben seine Tiere überlebt. »Innere Blu- sig, sogar aus China habe er Anfragen schützen? Züchten lässt sie sich
tungen, Zittern, hohes Fieber« – das von Menschen erhalten, die wollten, nicht so einfach. »Wir sind dafür,
seien die Symptome nach der Einnah- dass er ihre Hunde ausbildet. »Trüf- den Beginn der Saison auf Anfang
me von Schneckengift. feln sind ein Business geworden.« Oktober zu verschieben«, sagt Alle­
»Die Wälder verschwinden wegen Dass die Weiße Trüffel zum Objekt na, und sie ist mit dieser Meinung
immer mehr Weinbergen und Hasel- der Begierde wurde, liegt auch an nicht allein. »Der 21. September pass-
nussplantagen, dann kommt der Kli- einem Mann namens Giacomo Mor- te vor 10, 20 Jahren gut. Heute müs-
mawandel hinzu.« Dadurch passier- ra. Er führte in den 1920ern ein Res- sen wir uns darüber im Klaren sein,
ten »manche Bosheiten«, sagt er mit taurant in Alba und soll über alle Ge- dass an diesem Tag möglicherweise
finsterem Blick. Viele Trüffeljäger richte – außer Desserts – etwas Trüf- noch 30 Grad sind.« Schon zehn Tage
tragen Salz in der Tasche, um ihren fel gerieben haben. Er vermarktete könnten einen Unterschied ausma-
Hund zur Not erbrechen zu lassen. die Alba-Trüffel zunächst, indem er chen, weil die Weiße Trüffel unter
Die Saison der Weißen Trüffeln geht Fiat-Arbeitern im 50 Kilometer ent- Umständen mehr Wasser bekomme.
vom 21. September bis zum 31. Januar. fernten Turin Zugtickets nach Alba Im Piemont wachsen heute weni-
Die beiden Trifulau sind frustriert von plus Mittagessen mit Trüffeln ver- ger für die Trüffeln geeignete Bäume
der mageren Ausbeute – schon das kaufte. Die größten Weißen Trüffeln als vor 50 Jahren – das liegt an der
dritte Jahr in Folge. »1500 Euro habe der Saison schickte er an Promis: Ausweitung des Weinanbaus und der
ich gemacht«, klagt Saverio D. »Inzwi- Winston Churchill, Harry Truman, intensiven Landwirtschaft. Wichtig
schen können wir nicht einmal die Hal- Marilyn Monroe und Alfred Hitch- sei daher, neue Bäume zu pflanzen
tungskosten für die Hunde abdecken.« cock wurden von ihm beschenkt. So und Wälder instand zu halten. Das
Zwar habe er in die Schweiz, nach Lon- wurde die Alba-Trüffel weltweit be- Business soll weitergehen. Schon seit
don und an Gourmetrestaurants ver- kannt – als Pilz der Reichen, Schönen Jahren organisiert die Messe Kam­
kauft, aber ein Geschäft sei das nicht. und Mächtigen. pagnen zum Schutz der Trüffelgründe
Noch im Jahr 2019 habe ein Sammler Wahre Liebhaber des Luxuspro- mit dem »Zentrum für Trüffelstu-
Weiße Trüffeln im Gesamtwert von dukts müssen im Herbst nach Alba dien« in Alba.
30 000 Euro verkauft. zur Trüffelmesse. Liliana Allena, ihre Auf der bewaldeten Anhöhe, im
Die Mischlingshündin schnüffelt Präsidentin, ist trotz der desaströsen Trüffelgrund, sind die Forstpolizisten
und bleibt ratlos zwischen den Bäu- Saison zufrieden mit den Zahlen: Es und die Sammler inzwischen zum
men stehen. Der Boden ist trocken, seien mehr als 95 000 Besucher ange­ Stehen gekommen. Paris, der Misch-
offenbar kein Trüffelaroma weit und reist, aus Südkorea, den USA, Austra­ ling, gräbt aufgeregt am Fuß einer
breit. »Sie langweilt sich.« Forstpolizistin lien. Die Nachfrage nach Trüffeln Eiche. »Wo ist die Trüffel?«, flüstert
Damit ein Hund Erfolg hat, sollte Bessone in Bra: Der bleibe sehr hoch. Bei der traditionel- ihr Halter, »wo ist die Trüffel? Warte,
die Suche einem Spiel gleichen. Nie- Krieg der Trüffeljäger len Benefizversteigerung ging vergan- ich helfe dir.« Neben seiner Hündin
wird mit Rattengift,
mand weiß das besser als Giovanni Schneckenkorn
genes Jahr eine Weiße Trüffel für kniend, gräbt Francesco O. mit einer
Monchiero, Inhaber der 1880 ge- oder Frostschutz­ 184 000 Euro an einen Unternehmer Hand in der Erde und holt schließlich
gründeten »Universität für Trüffel- mittel geführt aus Hongkong. »Nur zu Anfang der eine kleine Knolle hervor. Ein Leuch-
hunde« im Ort Roddi. Der 60-Jähri- Messe hatten wir Schwierigkeiten«, ten geht über sein Gesicht.
ge empfängt in einem Anbau neben denn die Sammler seien mit der Suche Doch die Trüffel ist trocken, sie
seinem Haus, in dem Dutzende nicht nachgekommen. An manchen wiegt nur etwa drei Gramm. Ihr Duft
­Zeitungsartikel mit historischen Trüf- Nachmittagen habe es um 16 Uhr ist verhalten. »Dafür würde ich mich
felartikeln hängen. Monchiero führt ­keine Trüffeln mehr gegeben. Dafür nicht trauen, Geld zu nehmen«, sagt
das Familienunternehmen in vierter hätten die Preise Spitzen von 700 bis Francesco O. Dann, als die Gruppe
Generation. »Zuerst lassen wir die 800 Euro für 100 Gramm erreicht. das Waldstück verlässt, bricht er sie
Tiere mit einer frischen Trüffel spie- Allena, eine elegante Frau mit auseinander und verstreut die Stücke
len«, erklärt er. »Weiter geht es mit markanter Brille, sitzt in Alba in den auf der Erde. Vielleicht, so hofft er,
Francesca Volpi

Trüffelöl auf einem Tennisball.« In Räumen des »Ente Fiera«, so heißt verbreiten sich die Sporen. Für eine
einem dritten Schritt suchen die Hun- der Verein hinter der Trüffelmesse. bessere Saison im kommenden Jahr.
de von ihm versteckte Trüffeln im In ihrem Konferenzraum hängen Pos- Francesco Collini, Katrin Kuntz  n

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 77


AUSLAND

SPIEGEL: Sie haben Putins Russland immer


wieder als faschistischen Staat bezeichnet.
Der Begriff ist umstritten.
Snyder: Ich nutze ihn, weil es eine intellek­

»In Russland steht der


tuelle Tradition des russischen Faschismus
gibt, von der Putin offensichtlich beeinflusst
ist, etwa von dem Philosophen Iwan Iljin,

Wille über der Vernunft«


den er seit fast zwanzig Jahren immer wieder
in Reden zitiert, zuletzt im September. Zu­
dem gibt es strukturelle Merkmale: Erstens
steht in Russland der Wille über der Vernunft.
Zweitens herrschen dort ein Kult der Gewalt
SPIEGEL-GESPRÄCH  Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder ist und eine Gleichgültigkeit gegenüber dem
Recht. Drittens steht Putin als Anführer
einer der besten und ­streitbarsten Kenner der ukrainischen über den Institutionen – es gibt keine wirk­
Geschichte. Er hält die Angst vor einem Atomschlag Putins für irrational – lichen Parteien, keine Nachfolgeregelung,
und beschreibt, wie der Krieg enden könnte. alle Insti­tutionen existieren nur durch oder
in Bezug auf Putin. Das vierte faschistische
Merkmal ist die Verbreitung von Verschwö­
Snyder, 53, lehrt an der Universität Yale. Sein SPIEGEL: Bundeskanzler Olaf Scholz hat den rungsmythen. Putin behauptet, der Westen
Buch »Bloodlands« über Europa zwischen Krieg schon kurz nach Ausbruch als »Zeiten­ wolle Russland zerstören, russische Propa­
Stalin und Hitler wurde 2010 zu einem Best- wende« bezeichnet. Hat er die Bedeutung des gandasendungen nutzen ständig eindeutig
seller. Snyders Vorlesung über die Entstehung Konflikts damit nicht klar benannt? faschistische Formulierungen. Und wenn
der modernen Ukraine wurde auf YouTube Snyder: Der Krieg ist ein Wendepunkt, ja. man sich anschaut, wie die russische Führung
mehr als eine Million Mal abgerufen. Aber beobachtet Deutschland diese Wende über »ukra­inische Satanisten« spricht, inter­
nur, oder ist es bereit, sich selbst auch zu ver­ nationales Recht ignoriert, wie sie sich an­
SPIEGEL: Professor Snyder, ist es nach einem ändern? Nach meinem Gefühl stecken die maßt, Menschen zu deportieren, auch da
Jahr schon möglich, Russlands Krieg gegen Deutschen gerade irgendwo dazwischen. zeigen sich in meinen Augen faschistische
die Ukraine historisch einzuordnen? Manche Formulierungen von Scholz waren Praktiken.
Snyder: Seit 75 Jahren ist Europa dabei, sich brillant, etwa als er sagte, dass die Europäi­ SPIEGEL: Der australische Historiker Christo­
von der Idee konkurrierender Großmächte sche Union die Antithese zu Imperialismus pher Clark lehnte im SPIEGEL Vergleiche
zu verabschieden und stattdessen die euro­ und Autokratie sei. Auf solche Reden müssten zwischen Hitler und Putin ab. Sie dienten nur
päische Integration voranzutreiben. Darin Taten folgen. Deutschland sollte sich an die dazu, Emotionen zu mobilisieren. Ist man
liegt für mich die tiefere historische Bedeu­ Spitze eines geopolitisch selbstbewussten nicht schnell bei diesem Vergleich, wenn man
tung dieses Kriegs: Europäische Imperien Europas stellen, die Sache der Ukraine zu Russland als faschistischen Staat bezeichnet?
müssen offenbar erst Kriege verlieren, um seiner eigenen machen. Bisher ist Europa in Snyder: Es sind hauptsächlich die Ukrainer,
sich weiterzuentwickeln. So wie Deutschland Sicherheitsfragen noch zu abhängig von den die solche Vergleiche machen. Und sie tun
1945 den Zweiten Weltkrieg verloren hat, USA. Um das zu ändern, müsste Deutschland das nicht, um unsere Emotionen zu mobili­
Frankreich 1962 den Algerienkrieg, so wie sagen: Das ist unser Krieg, und wir werden sieren, sie tun das, um ihren Erfahrungen Aus­
Portugal und Spanien ihre afrikanischen Ko­ ihn nicht verlieren. Dergleichen sehe ich bis­ druck zu verleihen. Historisch gesehen haben
lonien verloren haben. Russland muss in der her nicht. sie ein Recht auf solche Formulierungen, da
Ukraine verlieren, um sich von einer Groß­ SPIEGEL: Hat Deutschland eine besondere es in ihren Familiengeschichten Erfahrungen
macht in etwas Neues zu verwandeln. historische Verantwortung für die Ukraine? mit beiden Kriegen gibt. Aber auch wir Be­
SPIEGEL: Putin selbst hat seinen Krieg immer Snyder: Zunächst einmal hat Deutschland eine obachter müssen verhindern, dass ein Ver­
wieder mit historischen Argumenten legiti­ gegenwärtige Verantwortung: Es ist einfach gleichs-Tabu uns den Blick auf die Realität
miert. Die sind hanebüchen, machen aber den die nächstgelegene große Macht. Dazu kommt verstellt. Wenn man von Hitler nicht sprechen
Zweiten Weltkrieg zum Bezugspunkt. Was eine dreifache historische Verantwortung. darf, dann tabuisieren wir auch andere As­
beabsichtigt er damit? Erstens, weil Deutschland von 1941 bis 1945 pekte und Kategorien, die analytisch un­
Snyder: Damit zielt Putin nicht zuletzt auf einen kolonialen Krieg geführt hat, um die verzichtbar sind, wie etwa Faschismus. Ich
Deutschland und die historische Erinnerung Ukraine zu kontrollieren – etwas, was vielen sage, es gibt ein historisches Phänomen na­
der Deutschen. Russland hat die Ukraine an­ Deutschen gerade erst klar wird. Zweitens, mens Faschismus, und es gibt russischen
gegriffen mit der Behauptung, es verteidige weil Deutschland, auch wegen dieser kolo­ ­Faschismus.
sich so, wie es sich ab 1941 gegen die Nazis nialen Vergangenheit und der kompletten SPIEGEL: In Ihren Büchern warnen Sie davor,
verteidigt habe. Aus meiner Sicht verhält Verdrängung dieses Kapitels, die Ukraine als dass Schreckliches wie ein neuer Hitler oder
Russland sich aber eher wie Deutschland Staat und als Nation nie ernst genommen hat. ein neuer Holocaust auch heute wieder mög­
1941: Hinter dem Einmarsch steht eine Ideo­ Und drittens wegen der Ostpolitik seit 2014 lich seien. Wiederholt sich Geschichte?
logie, Russland behauptet, es gebe die Ukra­ und der Vorstellung, man könnte eine rein Snyder: Nein. Wir haben Handlungsspielräu­
ine als Staat gar nicht. Es führt einen Angriffs­ wirtschaftliche Beziehung zu Russland haben. me, wir können entscheiden. Aber wer die
krieg, verfolgt eine genozidale Politik – all Dass Nord Stream 2 trotz des russischen Ein­ Geschichte kennt, versteht, welche Gefahren
das ähnelt dem deutschen Vorgehen beim marschs in die Krim noch gebaut wurde, und und Chancen es gibt. Die Geschichte zeigt,
Einmarsch in die Sowjetunion. Wenn Russ­ zwar um die Ukraine herum, hat die Invasion dass Dinge, die wir nicht für möglich halten,
land sich aber tatsächlich verhält wie Deutsch­ wahrscheinlicher gemacht. tatsächlich geschehen. Sie zeigt uns außer­
land 1941, dann haben die Deutschen jetzt dem, dass es bessere Alternativen geben
eine zweite Chance, auf den Faschismus zu kann. Die historische Bedeutung des 21. Jahr­
reagieren. Werden sie die ergreifen? hunderts liegt auch darin, dass es furchtbar
»Deutschland müsste s­ agen: werden könnte, angesichts von Klimawandel
und anderen globalen Bedrohungen. Doch es
Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteurin Eva-
Maria Schnurr und die -Mitarbeiterin Ann-Dorit Boy. Das ist unser Krieg.« könnte auch wunderbar werden. Das hängt

78 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


AUSLAND

zum Großteil von den Entscheidun­


gen ab, die wir treffen. Dazu gehört
dieser Krieg: Die Ukrainer geben uns
die Chance, die Weichen in die rich­
tige Richtung zu stellen.
SPIEGEL: Gehen Putins Absichten
über die Ukraine hinaus?
Snyder: In der Ukraine verfolgt Putin
neben ideologischen auch praktische
Ziele. Praktisch geht es darum, dass
Putin ein oligarchisches Russland re­
giert, das nicht reformierbar ist, so­
lange er an der Macht ist. Die Ukra­ine
ist für Putin extrem wichtig, denn
wenn dort Demokratie funktionieren
würde, würde sie ein besseres Bild
abgeben als Russland. Das wäre ein
echtes Problem für Putin. Weil er die
Lage in Russland nicht verbessern
kann, versucht er, den Westen schlech­

Andrej Krementschouk / Agentur Focus


ter dastehen zu lassen, sowohl in der
Wahrnehmung der Russen als auch
in der Realität. Deshalb hat er den
Brexit und Donald Trump unterstützt
und für Skandale in Deutschland ge­
sorgt.
SPIEGEL: Der Westen hat durch den
Krieg enger zusammengefunden, die
Nato ist gestärkt, auch in der EU zei­
gen sich bisher keine größeren Risse. Mann mit Stalin-­ Fenster, in dem sich Europa auf die Der ukrainische Widerstand hat die
Wenn es Putins Ziel war, den Westen Porträt bei Wirtschaft konzentrieren konnte und Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs
Parade am 9. Mai
zu schwächen, hat er es nicht erreicht. 2022 in Moskau: die USA sich um das Militärische und für die nächsten Jahrzehnte mini­
Snyder: Putin dachte wohl wirklich, »Es herrscht ein Kult um die existenzielle Herausforderung miert. Eine Nato-Russland-Konfron­
die Ukraine würde in drei Tagen fal­ der Gewalt« des Kalten Kriegs kümmerte. Jetzt tation ist angesichts der Stärke der
len. Wäre das passiert, hätten wir ein stehen wir wieder vor so einer He­ Nato und der Schwäche der russi­
komplett anderes Jahr hinter uns. Wir rausforderung. Jetzt können die Euro­ schen Armee sehr unwahrscheinlich
würden uns heute fragen, warum Dik­ päer sagen, dass sie gegen Aggres­ geworden. Auch Peking muss jetzt
taturen besser funktionieren als De­ sionskriege sind, gegen eine Welt der alle Pläne für einen Angriff auf Tai­
mokratien, oder was wir tun würden, Grausamkeit, und wofür sie stattdes­ wan überdenken, sodass ein Atom­
wenn die Russen und die Chinesen sen einstehen wollen: für eine Inte­ krieg in Asien ebenfalls sehr unwahr­
die Welt regieren sollten. Dass es gration, in der Staaten einander unter­ scheinlich wird.
nicht so kam, liegt an den Ukrainern. stützen, hoffentlich für eine vergrö­ SPIEGEL: Wie könnte ein Ausweg aus
Bevor wir also über den Westen spre­ ßerte Europäische Union. Aber ohne dem Krieg aussehen?
chen, sollten wir darüber sprechen, einen ukrainischen Sieg wird es auch Snyder: Ich glaube, es wird kein so
wie die Ukrainer sich verteidigt ha­ keine Einigkeit geben. klares Ende geben, wie wir uns das
ben. Hätten sie der russischen Armee SPIEGEL: Hierzulande fürchten viele wünschen: dass die Russen verlieren
nicht widerstanden, hätten die Deut­ eine Eskalation des Konflikts, einen und das auch zugeben. Es wird enden
schen kein Jahr Zeit gehabt, über die Weltkrieg oder einen Atomschlag. wie der amerikanische Einsatz in
Bedeutung der Zeitenwende und über Diese Sorge teilen Sie nicht? ­Afghanistan, in Irak oder Vietnam
Panzerlieferungen zu diskutieren. Snyder: Nein, ich bin genervt von die­ oder wie die sowjetische Besatzung
Der Zusammenhalt des Westens ser Diskussion. Bei der Angst vor in Afghanistan. Putin wird seinen
hängt davon ab, dass die Ukrainer einem Atomkrieg geht es uns vor Leuten eine Geschichte erzählen, die
gewinnen. ­allem um unsere eigene Sicherheit. glaubhaft klingt. Vielleicht erklärt er
SPIEGEL: Das klingt, als gäbe es keine Das ist erbärmlich. Und es ist gerade­ sogar seinen Sieg. Vielleicht wird er
Alternative zu einem ukrainischen zu peinlich, dass man Atomwaffen als sagen, der Westen habe Russland an­
Sieg? Autor Snyder ultimativen Schrecken imaginiert, ob­ gegriffen und man habe ihn in der
Snyder: Keine Alternative für den wohl in der Ukraine unvorstellbare Ukraine gestoppt. Hinter so einer
Westen. Die Ukrainer tun, was sie Grausamkeiten längst stattfinden. Story kann man viele Verluste ver­
können, aber sie brauchen mehr Hil­ Hinzu kommt: Falls Putin Nuklear­ bergen. Damit der Krieg endet, müs­
fe, als sie bekommen. Was der Westen waffen einsetzen würde, wäre es die sen wir der Ukraine also helfen, die
mit seiner neuen Einigkeit machen Ukraine, die diese Waffen abbekäme. nächste russische Mobilisierung zu
Stefan Für tbauer / picture alliance

sollte, ist, den Krieg zu gewinnen und Ich glaube nicht daran, denn der Sinn überstehen. Wir müssen ihr so viele
darüber nachzudenken, wie er die von Atomwaffen ist, sie nicht einzu­ Waffen liefern wie nur möglich, um
Zeit danach gestalten will. Mir setzen. Würde Putin sie nutzen, wür­ Leben auf beiden Seiten zu retten und
scheint, als brauchte die Europäische den alle anderen Staaten beginnen, Putin schneller zu einem Rückzug zu
Union eine neue Erzählung, um ihre welche zu bauen – dann könnte Russ­ bringen.
Existenz zu legitimieren. Der Zweite land sich selbst nicht mehr als Super­ SPIEGEL: Professor Snyder, wir dan­
Weltkrieg öffnete ein historisches macht sehen. Was wir gern vergessen: ken Ihnen für dieses Gespräch. n

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AUSLAND

»Hier ist die Hölle«


UKRAINE  Während der Westen um die Zahl moderner Panzer ringt, kämpfen ukrainische Truppen
bei Bachmut mit Uralt-Geschützen aus sowjetischem Nachlass. Bericht von einer Front,
die an den Ersten Weltkrieg erinnert. Von Christoph Reuter und Johanna-Maria Fritz (Fotos)

Ukrainische Verteidiger bei Bachmut

B
auchig, dunkelgrün und verbeult tau- des Krieges aus? Was sind das für Kämpfe, ßerer Berg. Aus der Ferne ist das Wummern
chen sie aus der Deckung einer noch und welche Rolle spielen die modernen Ge- von Artillerie zu hören. »Die Russen, das sind
stehenden Hauswand auf. Zwei Schüt- schütze aus deutschen oder amerikanischen doch Feiglinge«, sekundiert draußen Wanja,
zenpanzer einer Abteilung der ukrainischen Beständen? einer der Mechaniker. Okay, gestern seien es
93. Brigade. Der Stolz ihrer winzigen Einheit, Am Vortag dieses Morgens Anfang Febru- einfach zu viele von denen gewesen, aber im
genauer: das Einzige, was sie haben. Die fla- ar hätten die russischen Truppen in der Nähe Prinzip: »alles Schisser«, rufen sie sich Mut zu.
chen Kettenfahrzeuge mit der kleinen Kanone eine Stellung der Ukrainer eingenommen, Ihre beiden sowjetischen Schützenpanzer
tragen keine dramatischen Raubtiernamen, sagt der Schütze Jewegenij. Die soll nun zu- seien immerhin gewartet worden, würden
sondern das prosaische Kürzel BMP-2, »Ge- rückerobert werden. Die beiden BMPs sollen halbwegs funktionieren. Nur dass der Kom-
fechtsfahrzeug der Infanterie – Typ 2«. Gebaut dazu an unerwarteter Stelle vorrücken, um mandant im Gefecht immer den Kopf raus-
irgendwann in den Achtzigerjahren in der vom Hauptangriff woanders abzulenken. strecken müsse, sobald es drinnen warm wer-
­Sowjetunion, übernommen von der russischen »Noch vor die Front, um das Feuer auf uns de. Dann beschlagen die Periskope, die Sol-
Armee, von der die Ukrainer sie im vergan- zu ziehen«, sagt Jewgenij. daten sehen nichts mehr. Weshalb sie beim
genen Herbst erbeuteten, als die Russen flucht- Ob sie das schon einmal gemacht hätten? Angreifen sofort und mit höchster Feuerrate
artig aus der Stadt Isjum im Osten abzogen. »Dreimal am Tag«, schnaubt er, schwingt sich ihre Bordkanone einsetzen, die über 500 der
Doch hier, in einem Vorort südwestlich der vom stählernen Dach des Fahrzeugs in den 30-Millimeter-Geschosse in knapp einer Mi-
seit Monaten hart umkämpften Stadt Bach- Schnee: »Kommt mit!« Er stapft voran durch nute abfeuern kann, »so schießt wenigstens
mut, ziehen die Angreifer nicht ab. Seit Wo- die verwüsteten Räume des Hauses, »da, das keiner auf uns«. Dann sei das Magazin leer,
chen werfen sie Welle um Welle Soldaten an sind die letzten drei Tage«: ein anderthalb die Besatzung ohnehin kurz vorm Ersti-
die Front, schießen mit schwerer Artillerie, ­Meter hoher Haufen leerer Munitionskisten. ckungskollaps, da die Pulverdämpfe sich im
drängen die ukrainischen Verteidiger immer Nächster Raum: »letzte Woche«, ein noch grö- Innern sammeln. Vor Tagen habe sie eine
weiter zurück, umzingeln langsam die Stadt. Grad-Rakete knapp verfehlt, »so richtig ge-
Auf der Karte der Ukraine ist Bachmut nur troffen wurden wir noch nicht«, sagt Jewgenij.
ein winziger Punkt der etwa tausend Kilo- Wenigstens haben sie zwei Gefährte, die
meter langen Frontlinie. gepanzert sind und fahren. Wie sie kämpft
Der Blick aus der Ferne, die Debatte in »Die Russen warten immer, das Gros der Zigtausenden ukrainischen Sol-
Deutschland, wird geprägt von den Lieferun-
gen westlichen Militärgeräts in meist geringen bis es dunkel wird.« daten in und um Bachmut nicht mit moderner
Technik wie der Panzerhaubitze 2000 oder
Stückzahlen. Doch wie sieht die Wirklichkeit Ukrainischer Feldwebel »Sonic« den amerikanischen Himars-Raketenwerfern

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AUSLAND

– sondern mit Uralt-Geschützen und Ge­


wehren aus sowjetischem Nachlass, mit er­
»Das waren Zombies. Die einzigen Nacht ausgehoben, leise, mit Spitz-
hacken, »die sind wie Maulwürfe«. Das seien
beu­teten Panzern oder iranischen Mörsern, gingen einfach ins Feuer, die Methoden eher des Ersten als des Zweiten
die von der US-Marine auf ihrem Weg in den
Jemen abgefangen und später der Ukraine
dann kamen die nächsten.« Weltkriegs, »aber es funktioniert«.
Aus dem Zentrum von Bachmut meldet
überlassen wurden. An den vordersten Linien Ukrainischer Elitesoldat sich ein Panzerkommandant zurück, der
müssen sich die Männer vor Handgranaten ­Wochen zuvor glücklich geschrieben hatte,
fürchten, so dicht stehen sich beide Seiten wenigstens einen instand gesetzten, jahrzehn-
gegenüber. begleitende Presseoffizierin sagt, es sei rat- tealten T-64-Panzer bekommen zu haben.
Gleich sollen Jewgenij und seine Kollegen sam, sofort aufzubrechen. Ein ganz normaler Zuvor sei er im Übungspanzer der Uni Char-
los. Den ganzen Morgen haben die Männer Tag an der Front von Bachmut. kiw unterwegs gewesen. Ob er auch von
mit Gummihämmern jede Patrone einzeln in Man könne sich in Ruhe treffen, wenn er einem deutschen Leopard 2 träume? »Nein«,
die Halterungen des Metallgurts schlagen freihabe, sagt der Soldat einer ukrainischen lautet die Antwort: »Ich will die nächsten Wo-
müssen, der sie der Bordkanone zuführt. »Ge- Eliteeinheit am Telefon. Zum Gespräch chen überleben. Was hilft mir da ein Panzer,
fertigt 1984« steht auf den Packzetteln in den kommt er auf den Parkplatz einer Tankstelle der vielleicht in einem halben Jahr kommt?
Munitionskisten. »Das dauert anderthalb 30 Kilometer westlich der Kampfzone. »Wir Von dem ich nicht weiß, ob die Elektronik
Stunden, wenn alle mitmachen, und in einer haben, was die haben«, umreißt er das Ver- durchhält oder wir unter Beschuss einfach
Minute ist alles weg«, konstatiert Andrij, hältnis zu den Russen: »Nur die haben mehr stehen bleiben? Ich brauche einfache Dinge,
einer der beiden Fahrer. Vor dem Krieg fuhr davon: mehr Artillerie, mehr Soldaten, mehr aber ich brauche sie jetzt: Nachtsichtfähigkeit,
er Taxi, und so haben sie seinen Panzer Munition.« Er sei bei der Verteidigung des eine Wärmebildkamera und eine leistungs-
­»Taxist« getauft, Taxifahrer, »Huzul« den Dorfes Klischtschijiwka südlich von Bachmut stärkere Zieloptik!«
anderen, nach dem Bergvolk der Karpaten, dabei gewesen, »wir mussten es aufgeben. Seine Meinung ist die Ausnahme, woanders
woher drei der fünf Männer stammen. Uns gingen die Granaten aus«. hoffen sie inständig auf mehr und neue Panzer,
Zufällig seien sie vor einem halben Jahr Bis tief in den Januar hinein sei die Lage Geschütze. Aber immer wieder klingt Ver-
auf einer Militärbasis zusammengewürfelt noch anders gewesen. Da hätten die Chefs von bitterung durch über das Unverständnis selbst
worden. »Seither sind wir ganz schön herum- Wagner, der Söldnertruppe im Dienst des der Unterstützernationen: Viele im Westen
gekommen«, sagt Jewegenij und bemüht sich, Kreml, Welle um Welle entlassener Sträflinge begriffen nicht, dass Geschützrohre nach ein
locker zu klingen: »Charkiw, Isjum, Don- nach vorn geschickt. »Das waren Zombies«, paar Wochen hinüber seien vom Dauerein-
bass.« Schütze Kolja, der bislang geschwiegen erzählt er, wortgleich berichten es Zeugen von satz. Dass Fahrzeuge getroffen würden, ihnen
hat, sagt auf die Frage, ob sie ihre Beutepan- allen Frontabschnitten: »Die rannten oft nicht die Munition ausgehe, sie jeden Tag Drohnen
zer mögen, dass er viel lieber wieder angeln einmal, sondern gingen einfach ins Feuer, verlören. Und vor allem Menschen.
ginge, als Krieg zu führen. ­fielen, dann kamen die nächsten.« Sie hätten Auf einer Anhöhe am Rand der M3-Über-
Eine halbe Stunde vergeht, kein Befehl Blutproben der Toten genommen und deren landstraße nordwestlich von Bachmut stauen
kommt. Eine Stunde. »Der Vormittag ist rum, Trinkflaschen zur Untersuchung geschickt, sich am vergangenen Montagvormittag die
und wir haben noch keine Russen gejagt«, Ähnliches schildert der Offizier einer anderen Militärfahrzeuge. »Die Russen können jetzt
ruft Wanja. Langsam werden sie nervös. Dann Einheit. Mehrfach seien Amphetamine gefun- die Straße ab dem nächsten Hügel gezielt
kommt die Meldung aus dem Kommando- den worden, die euphorisierend wirken. unter Feuer nehmen«, sagt Ingenieur Dmitrij,
bunker: Die Russen haben schon vor ihnen Das sei vorbei. Nun kämpfen vor allem der hier auf seinen Kommandeur wartet, um
angegriffen. Jewgenijs Panzer soll sofort zur russische Fallschirmjäger, das sind Eliteein- ihm einen Mitsubishi-Pick-up zu übergeben:
ersten Linie rollen, einen Kilometer entfernt, heiten, erfahrene Soldaten, die auch ihre To- »Der letzte wurde gestern zerschossen beim
von dort in ein Waldstück feuern, aus dem ten bergen und nicht einfach liegen ließen wie Versuch, Verwundete zu bergen.« Er ist bei
russische Infanteristen vorrückten. Still und die Wagner-Truppen: »Die kommen in klei- der Territorialverteidigung, deren Einheiten
ernst röhren sie los, kommen nach wenigen nen Gruppen, stoßen in alle Richtungen vor, zu Beginn des Krieges aus Freiwilligen ge-
Salven wieder heil zurück. Zwei Radpanzer graben sich ein.« Er holt sein Telefon heraus, bildet wurden, um ihre Heimatorte zu schüt-
und ein Flugabwehrgeschütz rollen aus Ver- zeigt das Drohnenfoto eines rechteckigen zen. Längst kämpfen sie wie die reguläre
stecken zur Verstärkung heran. Dann brüllt Grabens im Wald, an dessen einer Längsseite ­Armee überall im Land, sind aber weniger
einer »Drohne!«, von der niemand weiß, noch ein Quadrat sitzt: »intelligentes Design, gut ausgerüstet. »Angefangen haben wir mit
­welche Seite sie geschickt hat. Alle Männer viele Winkel.« Solch ein Graben lasse sich gut 90 Leuten, waren noch 55, als wir nach Bach-
suchen entlang der Hauswand Deckung. Die verteidigen. Die Russen hätten ihn in einer mut kamen. Jetzt sind wir 30.« Die anderen

Soldaten mit Drohne und beim Austausch eines Geschützrohrs: Verbitterung über das Unverständnis der Unterstützernationen

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AUSLAND

kel wird«, sagt Sonic: »Wer noch lebt, wird


abgeholt.« Dann bricht die Satellitenverbin-
dung ab, das Bild friert ein, der Kommandeur
flucht: »Elon Musk. Was will er? Uns helfen?
Oder Gott spielen?« Seit das Management
von Musks »Starlink«-Satellitensystem an-
gekündigt hat, dass die Geräte nicht für of-
fensive Zwecke genutzt werden sollen, seien
die Verbindungen instabiler geworden.
Es fühlt sich beklemmend an, nur eine hal-
be Stunde später zu Fuß durch den Schnee
zur tiefer im Zentrum liegenden Basis der
Drohnenpiloten zu laufen und über sich ein
Sirren zu hören. »Das ist unsere Drohne«,
sagt Oleksandr, der Navigator, und bittet
­darum, mindestens fünf Meter Abstand zum
Vorangehenden zu lassen, »für alle Fälle«.
Das Töten ist normal geworden. Das Sterben
ist normal geworden. Darüber, dass all dies
eine monströse Verzerrung der menschlichen
Normalität ist, redet kaum einer. Doch auch
über die verloren gegangene Welt, ihre alten
Existenzen, die Familien, ihre Freuden von
Ukrainische Soldaten nahe Bachmut: Das Töten ist normal geworden früher erzählen die meisten Soldaten nur zag-
haft, auf Nachfrage. Als wäre es riskant, sich
seien verletzt, tot oder von Explosionen taub schiedenfarbig markierten Sektoren, wo jede innerlich zu weit vom Grauen zu entfernen,
geworden und durchgedreht: »In den Front- Ruine eine Nummer trägt. weil die Rückkehr dorthin dann noch schwe-
stellungen haben wir von drei auf zwei Eine Weile ist nur das Gleiten der Kamera rer fiele.
Schichten umgestellt.« über ramponierte Häuserreihen am Nordost- In einem anderen Keller im Ruinenmeer
Länger als 24 Stunden halte man die Tem- rand von Bachmut zu sehen. Es gibt Schreib- von Bachmut sitzt Major Serhij von den
peraturen von häufig weit unter null Grad tische hier unten, Drucker, Handbücher, Grenzschützern in seinem Kabuff, in das ge-
kaum aus, würden die Finger zu klamm zum Steckdosen, am Eingang sogar Regale für die rade ein Feldbett passt, an der Wand der hand-
Zielen. »Und selbst mit zwei Schichten stehen Helme. »Da!« Die Drohne stoppt. Im Bild geschriebene Dienstplan seiner Einheit. Er
da oft nur noch drei, vier Mann. Was bedeu- laufen zwei russische Soldaten durch einen habe viel erlebt, »aber hier ist die Hölle«. Vor
tet, dass wir Verletzte nicht wegtragen kön- Hinterhof, folgen Spuren im Schnee zu einem einer Woche hätten sie nachts eine verlorene
nen, sondern die Autos dicht an die Position Haus. »Ist da deren Stab?«, fragt der Kom- Position der 93. Brigade und deren längst ab-
kommen müssen, dort unter Beschuss gera- mandeur in die Runde und ins Telefon. Seit gezogener BMP-Einheit von Jewgenij und den
ten. Gepanzerte Fahrzeuge haben wir keine. Tagen hätten sie dort Männer hineingehen anderen wiedereinnehmen wollen: »Wir ka-
Manchmal leiht uns die 30. Brigade einen und herauskommen sehen. men mit 16 Mann, haben die Russen sogar erst
BMP. Elf Monate, und wir fahren immer noch Die beiden Russen sind im Haus ver- vertrieben. Aber dann haben sie stundenlang
herum wie eine Partisaneneinheit.« schwunden, das auf dem Bildschirm mit einem mit Granatwerfern, Mörsern, allem auf uns
Ein Humvee, ein amerikanischer Militär- dünnen Kreuz markiert wird. Im Keller wird gefeuert. 9 von uns wurden verwundet.« Es
wagen, rast auf der Hügelkuppe nordwestlich hektisch telefoniert, der Verbindungsoffizier sei ein Wunder, dass es letztlich gelungen sei,
von Bachmut vorbei, kehrt nach Minuten vom Geheimdienst geht am Tablet Observa- alle lebend herauszubringen. »Das Wrack
wieder um. Ein schwerer Militär-Lkw fährt tionslisten durch, bis jählings eine Explosions- eines gepanzerten Wagens hat uns gerettet.«
kurz weiter, stoppt, setzt zurück. Alle warten wolke auf dem Monitor hochschießt, lautlos. Dahinter hätten sie gekauert, als eine Panzer-
an der Straße, über die zwischendurch ein Aus 20, 30 Kilometer Entfernung habe eine granate fünf Meter davor detonierte: »Sonst
ukrainischer Jet im Tiefflug wenige Dutzend amerikanische M777-Haubitze das Haus ge- wären wir alle hin.« Major Serhij ist 52. Und
Meter über dem Boden hinwegdonnert. Dmi- troffen, sagt ein Feldwebel, der nur seinen war mit vorn im Einsatz. Er schaut hinter sich
trij fragt, ob man noch eine Zigarette für ihn Codenamen nennt: »Sonic«, Schall. auf den Dienstplan, »fünfmal in den letzten
habe. Vor dem Krieg hatte er aufgehört zu Der Rauch verzieht sich, alle starren auf sieben Tagen waren wir draußen«.
rauchen. Drei aus ihrer Einheit seien gestern das Bild, nichts geschieht. Niemand läuft 2009 sei er aus dem Dienst ausgeschieden,
umgekommen durch den Volltreffer einer ­heraus, niemand kommt den Getroffenen zu erzählt er. Er hatte eigentlich einen anderen
­russischen 82-Millimeter-Granate auf ihren Hilfe. »Die Russen warten immer, bis es dun­ Plan für sein Leben, war Vizechef der Wein-
Unterstand: »Es gab nicht einmal Verletzte. brand-Destillerie von Odessa geworden, sei-
So präzise haben die getroffen.« ner Heimatstadt. Aber er und die anderen
Stärker sind die Ukrainer vor allem dann, EIndrücke von der Front würden an ihr Land glauben, nicht aufgeben,
wenn sie die technische Überlegenheit aus Besuche in Befehlsstäben, bei Drohnen­ auch wenn Russland 30-mal größer sei: »Das
Drohnenbeobachtung, Satellitenkommuni­ piloten waren nur möglich mit Militär­ ist kein Land, das ist ein Monster. Es erschafft
ka­tion und den weitreichenden Geschützen genehmigung und in Begleitung eines nichts, zerstört nur.«
aus den USA oder Deutschland nutzen Presseoffiziers. Doch wie repräsentativ 1988 sei er noch als Sowjetsoldat an die
­können. Das eigentümliche Joint Venture aus sind arrangierte Termine? Um ein realitäts­ afghanische Grenze geschickt worden, sagt
der Nationalgarde und Chartija, einer von nahes Geschehensbild zu bekommen, Major Serhij, 2014 nach der russischen In-
­Geschäftsleuten aus Charkiw finanzierten sprach das SPIEGEL-Team immer wieder vasion als ukrainischer Offizier in den Don-
Einheit, kann es. In einem besonders tiefen direkt mit Soldaten, Sanitäterinnen – an bass, 2021 nach einer Beinverletzung aus­
Keller mitten in Bachmut sitzt deren Stab vor Posten, in Panzerstellungen, am Straßen­ geschieden: »Jetzt bin ich zum dritten Mal
mehreren Bildschirmen, verfolgt den Kamera­ rand. Manche traf das Team mehrmals in einen Krieg gezogen worden.« Das letzte
flug einer Drohne, nebenher die Lage in ver- über Wochen zu Hintergrundgesprächen. Mal? Er lacht heiser, »ich weiß es nicht«.  n

82 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


SPORT

Unerwünschte Athleten
Vom Internationalen Olympischen Komitee ausgeschlossene oder nicht eingeladene Nationen
Verpasste Olympische Sommer- oder Winterspiele Begründung Andrey Rublev,
russischer
Olympia-Gold-
Deutschland medaillen-
gewinner im
Österreich Mixed-Tennis,
Türkei startete 2021
Verantwortung für Verantwortung für unter neutraler
Bulgarien Ersten Weltkrieg Zweiten Weltkrieg Flagge. Er hat
Unter sich im Februar
Ungarn Apartheid anderem 2022 vom Krieg

5
Japan Unter- Russlands
drückung distanziert.
Südafrika von Frauen
Rhodesien
Olympische Spiele verpasste

Clive Brunskill / Getty Images


Deutschland wegen seiner Afghanistan
Verantwortung für die zwei Indien*
Weltkriege.
Politische Kuwait*
* Athleten aus diesen Ländern konnten Einmischung
Russland*
als Unabhängige oder unter neutraler in Nationales Staatlich
Flagge antreten. Der Ausschluss Indiens Olympisches gefördertes
wurde während der Spiele aufgehoben.
Komitee Doping

1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020

Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, Thomas Bach, will, dass russische Athletinnen und Athleten im kommenden Jahr
an den Olympischen Spielen in Paris teilnehmen dürfen. Politiker aus vielen Staaten sind dagegen. Bach ist der Auffassung, dass die olympische
­Friedensmission den Sport zu Neutralität bei staatlichen Auseinandersetzungen verpflichte. In der Vergangenheit sind allerdings immer
wieder ­Länder ausgeschlossen worden, aus unterschiedlichen Gründen: weil sie Kriege begonnen haben, wegen der Unterdrückung von Frauen
oder Schwarzen und wegen Dopings. Zuletzt immerhin durften einige Sportler solcher Nationen unter Auflagen starten.

GUT ZU WISSEN »Niedersachsen, das früh be- vermieden wurden, seien viel-
gonnen hat und die Schwellen fach die Mitgliedsbeiträge er-
Wie trotzen Sportvereine niedrig ansetzt, hat bereits
700 Anträge eingesammelt«,
höht oder das Angebot redu-
ziert worden. Zugleich konkur-
der Energiekrise? teilt der DOSB mit, »andere
Länder stehen noch in den
riere der Sport angesichts der
Inflation bei vielen Familien
Startlöchern.« Allerdings seien mit anderen Freizeitangeboten.
Schlecht isolierte Sporthallen, DOSB sieht dafür zwei Grün- etwa Kommunen in Baden- Der Düsseldorfer Steuer-
stromfressende Flutlichtanla- de: die inzwischen beschlosse- Württemberg deutlich finanz- und Insolvenzexperte Claus-
gen, Eishallen und Schwimm- nen Preisbremsen für Strom kräftiger als im Norden. Sie Peter Kruth, dessen Kanzlei in
bäder – die gestiegenen Ener- und Gas – vor allem aber, dass könnten die Vereine stärker den vergangenen Jahren zahl-
giepreise machen vielen der in den vergangenen Wochen unterstützen. reiche Insolvenzverfahren
fast 90 000 Sportvereine in fast alle Länder mit eigenen, Grund für eine Entwarnung klammer Sportklubs betreut
Deutschland zu schaffen. Eine millionenschweren Hilfspro- sieht der DOSB trotzdem nicht. hat, glaubt, dass die Vereine
Umfrage des Deutschen Olym- grammen eingesprungen sind. Denn auch wenn Insolvenzen sich aus eigener Kraft retten
pischen Sportbunds (DOSB) So gibt etwa Bayern mehr als können. Viele hätten zwar kein
im Herbst war alarmierend, 55 Millionen Euro für Not lei- finanzielles Polster. Aber damit
Tausende Klubs stehen dem- dende Vereine aus, Hamburg umzugehen sei »alltägliches
nach vor »existenzbedrohen- 9 Millionen. Laut DOSB gibt es Vereinsmanagement«, so
den finanziellen Belastungen«. nur in Sachsen-Anhalt, Sach- Kruth. »Die meisten Klubs ha-
Gemeinsam mit den Länder- sen, dem Saarland und Baden- ben ihre Saison ohnehin nicht
Sportministern forderte der Württemberg bislang keine komplett durchfinanziert und
DOSB deshalb eine Aufnahme Unterstützung. sind ständig auf der Suche
der Vereine in eine Härtefallre- Regionale Unterschiede be- nach zusätzlichen Geldquellen,
Stephanie Zerbe

gelung des Bundes. Doch es tat stünden also nicht nur bei den zum Beispiel über die Veran-
sich nichts. Eine Pleitewelle Energiepreisen, sondern auch staltung von Sponsorenaben-
blieb bislang trotzdem aus. Der bei den Hilfspaketen, heißt es. den. Meistens hilft das.« MIF

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 83


SPORT

Pari Dukovic / Trunk Archive

»King« James

84 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


SPORT

American Idol
KARRIEREN  LeBron James schaffte den Aufstieg vom armen Jungen zum besten Basketballer seiner
­ eneration. Er hat mehr Punkte erzielt als jeder Profi vor ihm, eine Milliarde Dollar verdient
G
und sich mit Donald Trump angelegt. Und er will einfach nicht aufhören. Was treibt diesen Mann an?

F
ünf Tage bevor ihm US-Präsident Joe LeBron James könnte mit dem Basketball bus fehlte. Zeitweise lebte er bei einer be-
Biden in einer Videobotschaft zu seinem einfach aufhören. Doch er spielt weiter. freundeten Familie.
»heiligen Rekord« gratuliert, der eine Abend für Abend, Saison für Saison, bis zu James spricht nicht gern über diese Zeit.
»ganze Nation inspiriert«, hockt LeBron 100 Spiele in gut einem halben Jahr, verteilt Dass ausgerechnet er der Armut entkam,
James oberkörperfrei in einer Sportarena in auf vier Zeitzonen. Warum macht er das? Was empfindet er bis heute als Wunder. Für
Indianapolis auf einem Klappstuhl. Auf den treibt einen, der sich als 17-Jähriger an der schwarze Unterschichtenkinder wie ihn, sag-
Knien dicke Eisbeutel, den Kopf in die linke Highschool den Schriftzug »Chosen1«, der te er einmal, sei Erfolg nicht vorgesehen.
Hand gestützt, starrt er mit müden Augen in Auserwählte, auf den Rücken stechen ließ – Zwölf Stunden bevor James mit den Lakers
die Mitte der Umkleidekabine. und der diese inzwischen verblichene Pro- gegen Indiana antritt, schließt Dru Joyce II,
James, 2,06 Meter groß und 113 Kilo- phezeiung sportlich längst erfüllt hat? Was den alle nur Coach Dru nennen, die Tür zur
gramm schwer, hat an diesem Donnerstag- gibt einem Profi wie James noch ein Spiel, in Sporthalle der St. Vincent–St. Mary High
abend Anfang Februar gerade Saisonspiel dem er beinahe alles gewonnen hat? School auf. Das Backsteingebäude im Norden
Nummer 1408 seiner Profikarriere absol- Die Antwort darauf können jene geben, die Akrons, das heute LeBron James Arena heißt,
viert – so viele wie kaum ein Spieler vor ihm. James über Jahre begleitet haben: Trainer, Mit- ist der Ort, an dem die Karriere des Weltstars
Er ist Bällen hinterhergehechtet, hat 26 Punk- spieler, Weggefährten. Der SPIEGEL hat sie begann.
te erzielt und sein Team, die Los Angeles La- besucht, um zu erfahren, wie LeBron James Die Halle wirkt wie eine Hommage an
kers, unter dem Jubel der Fans zu einem tickt, was ihn antreibt und wer ihn geprägt hat. James, nicht zuletzt wegen der Million Dollar,
knappen Sieg über Gastgeber Indiana Pacers Es ist die Geschichte eines Mannes, der in die James selbst in die Renovierung gesteckt
getragen. seinem Leben viel Glück und die richtigen hat. An den Wänden am Eingang und in der
Und nun, während das Eis von seinen Kni- Leute um sich hatte. Eine Geschichte, die von Umkleide: Fotos von James als Kind, mit sei-
en in einen Eimer unter seinen Füßen tropft, Gewinnern und Verlierern der amerikani- ner Mutter, mit seinem Schulteam, den
ein Kameramann ihm die Linse vor das Ge- schen Leistungsgesellschaft erzählt – und von »Fab5«, den fantastischen fünf. Dazwischen
sicht hält, horcht der beste Basketballer der einem Ausnahmesportler, der verstanden hat, in großen Lettern das Versprechen, nie ver-
Gegenwart für einen Moment in sich hinein. welche Macht ihm der Basketball verleiht. gessen zu wollen, woher er komme. »I pro-
»Fühlt sich besser an als sonst«, murmelt er. James wuchs in Akron auf, einer tristen mise to never forget where I came from.«
Dann lässt er sich von einer Teambetreuerin Arbeiterstadt im Bundesstaat Ohio. Seine al- Coach Dru, 67, ist ein glatzköpfiger Mann
Füße und Waden massieren, duscht und cremt leinerziehende Mutter Gloria war bei seiner mit einem sanftmütigen Lächeln, der in sei-
sich, kämmt sein lichter werdendes Haar und Geburt 16 und konnte kaum für ihn sorgen; nem Leben mehr an seine Spieler als an sich
den dichten Vollbart. seinen Vater lernte er nie kennen. Mutter und selbst gedacht hat. Er entdeckte den zehn-
Auf der anschließenden Pressekonferenz Sohn lebten von Sozialhilfe und Essensmar- jährigen James beim Basketball in einem Ge-
beantwortet er zum x-ten Mal die Frage, was ken, schliefen häufig bei Freunden auf der meindezentrum und holte ihn in die Jugend-
es ihm bedeute, bald die NBA-Bestmarke von Couch, wohnten mal hier und mal da. In der mannschaft seines Sohns, weil er erkannte,
38 387 erzielten Punkten zu übertreffen – auf- vierten Klasse verpasste James fast 100 Schul- dass der schlaksige Junge den Korb besser
gestellt von Kareem Abdul-Jabbar 34 Jahre tage, weil der Mutter das Geld für den Schul- traf als alle anderen Kinder.
zuvor. Es sei »einer der größten Rekorde im Joyce erklärte ihm bald, dass ihn seine Mit-
Sport«, sagt James, »einer, von dem man nie spieler mehr mögen würden, wenn er den
gedacht hatte, dass er gebrochen werden kön- Kometenhafter Aufstieg Ball auch abspiele. Er fuhr ihn vom Training
ne«. Nach fünf Minuten verlässt er den Raum, nach Hause, kaufte ihm Kleidung, ließ ihn bei
fährt ins Hotel. Am Folgetag besteigt er ein Gehalt von LeBron James, in Millionen Dollar sich übernachten. »Wir liebten ihn wie einen
Flugzeug nach New Orleans zu seinem NBA- 44 Vater«, sagt James, der Vaterlose, über den
Spiel Nummer 1409. So oder ähnlich geht das 40 Coach in einem Dokumentarfilm.
seit fast 20 Jahren. Der Trainer, der bis heute mit James Text-
Mittlerweile ist James, 38, verheiratet, er 30 nachrichten austauscht, erinnert sich gut an
hat zwei Söhne im Teenageralter und eine Klub: Miami Cleve- Los den jungen, ehrgeizigen LeBron. Er sei ein
Cleveland Heat land Angeles
kleine Tochter. Der »King«, wie er sich selbst Cavaliers Cavaliers Lakers genauer Beobachter gewesen, habe schnell
20
nennt, hat vier NBA-Meisterschaften und aus den Fehlern anderer gelernt und Wurf-
zweimal olympisches Gold gewonnen. Er ist techniken so lange geübt, bis er sie konnte.
erfolgreicher Unternehmer, Medienprodu- 10 »Er wollte bei allem der Beste sein.« James
zent, Milliardär, Aktivist mit Millionen Fol- 4 habe sich nie beklagt über die Probleme zu
lowern in sozialen Medien. Er hat sich den 0 Hause, die Unsicherheit in seinem Leben. »Er
Zorn Donald Trumps zugezogen und eine hat daraus seine Motivation geschöpft.«
Saison 2003/04 09/10 13/14 17/18 22/23
Schule für sozial benachteiligte Kinder auf- Ein paar Jahre später, als Joyce Trainer an
gebaut. S Quelle: Spotrac der St. Vincent–St. Mary High School wurde,


Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 85


SPORT

habe er James und seine Teamkameraden Direkt von der Highschool wechselte in die Elektrostimulation seiner Muskeln. Auf
gelehrt, den Basketball zu nutzen. Er brachte James 2003 in die NBA nach Cleveland, nur Flügen trägt er Kompressionsstrumpfhosen.
ihnen bei, was es heißt, ein Mann zu sein, 45 Autominuten von Akron entfernt. Dort Er schläft bis zu zwölf Stunden täglich, hält
Verantwortung zu übernehmen, sich um die feierten die Fans die Ankunft des Wunder- rigoros Diät. Es scheint, als wollte James den
Familie zu kümmern, die Ehefrau zu ehren. kinds wie eine Erlösung. Er sollte der einst Alterungsprozess aufhalten und die Gesetze
James vergaß diese Sätze nie; heute nennt er prosperierenden Industriestadt, die inzwi- der Natur bezwingen.
seine Frau »Queen« – so wie Joyce damals. schen unter Arbeitslosigkeit und Bevöl­ Es gibt Profis, die irgendwann dem Grö-
Der Profisport gilt unter jungen Afroame- kerungsschwund litt, zu neuem Glanz ver- ßenwahn verfallen, dem Glücksspiel oder den
rikanern nach wie vor als Königsweg zu helfen – und schon bald einen Meistertitel Frauen. James hat seine Partnerin seit der
Ruhm und Reichtum. Mehr als 70 Prozent schenken. Im Gegenzug versprachen die Schulzeit, große Skandale hat es bei ihm nie
der Spieler in der NBA sind schwarz. Zum Clevelander ihm bedingungslose Loyalität. gegeben. Durch sein Arbeitsethos und die
Besitzer eines Klubs hat es bislang allerdings Die Anhänger der Cleveland Cavaliers ver- Liebe für den Basketball bot er kaum An-
nur ein Afroamerikaner gebracht: Basketball- liebten sich schnell in James’ mannschafts- griffsfläche. Erst als James den Cavaliers nach
ikone Michael Jordan. dienlichen Stil. Bis heute ist er unter den Top- sieben Spielzeiten immer noch nicht den Ti-
In seinem letzten Schuljahr 2002/03 er- scorern der Ligageschichte der erfolgreichste tel gebracht hatte, wurde Kritik an seiner
lebte James, wie schnell der Aufstieg im Sport Passgeber. Zehntausende pilgerten zu den sportlichen Bilanz laut. Er ducke sich in ent-
gehen kann. Wenige Jahre zuvor hatten er Heimspielen, jedes einzelne brachte der hei- scheidenden Spielphasen weg, hieß es.
und seine Mitspieler auf der Straße noch mischen Wirtschaft Millionen Dollar ein. Im Sommer 2010 verkündete James,
Klebe­band verkaufen müssen, um die Mann- Die Karriere eines NBA-Profis währt im Cleveland zu verlassen und sich den Miami
schaftskasse zu füllen. Nun zahlten die Leute Schnitt etwa viereinhalb Jahre. Mit jedem Heat anzuschließen. Mit den Nationalspielern
auf dem Schwarzmarkt Tausende Dollar, um weiteren Jahr wird für gewöhnlich die Punkte­ Dwyane Wade und Chris Bosh wolle er eines
dieselben Jungs die nationale Highschool- ausbeute geringer. Das war bei Michael Jordan der potentesten Dreigespanne der Liga­
Meisterschaft gewinnen zu sehen – allen vo- so, bei Dirk Nowitzki, bei Kobe Bryant. Nicht geschichte bilden. Er spüre, dass er in Miami
ran den sprunggewaltigen James, der über bei LeBron James. Bis auf seine erste Saison »die besten Chancen habe zu gewinnen«, und
Gegenspieler flog, als wären sie Statisten. Er machte er nie weniger als 25 Punkte pro Spiel, zwar »über mehrere Jahre«, erklärte James
habe sich gefühlt wie »mit Elton John auf aktuell sind es sogar mehr als 30. Das ist zuvor in einer 75-minütigen Fernsehsendung, die
Tour«, umschreibt ein ehemaliger Trainer von keinem Spieler in seinem Alter gelungen. extra für die Verkündung des Wechsels an-
James den Hype um den Wunderknaben. James hat über die Jahre gelernt, seine gesetzt worden war. Es sei eine geschäftliche,
Mehr als 5000 Zuschauer strömten zu den Kräfte einzuteilen. Er sprintet nicht mehr, als keine emotionale Entscheidung.
ausverkauften Heimspielen. Der Sportsender er muss, vermeidet unnötige Laufwege. »Er In Cleveland verstanden sie seinen Abgang
ESPN übertrug live, Fans und Reporter be- spielt Basketball wie ein Computerspiel«, sagt als Fahnenflucht. Noch am Abend des Wech-
lagerten James und das Team so sehr, dass Dennis Schröder, deutscher Nationalspieler sels veröffentlichte der Klubeigentümer einen
die Schule bewaffnete Sicherheitsleute an- und Teamkollege von James. »Das ist so offenen Brief, in dem er dem »selbst ernann-
stellen und Pressekonferenzen abhalten krass.« Schröder wirkt tief beeindruckt, wenn ten ehemaligen König« einen »feigen Verrat«
musste. »Es war völlig irre«, erinnert sich er beschreibt, wie der neun Jahre ältere James vorwarf. Fans verbrannten auf der Straße
Coach Joyce, der Mühe hatte, den Zirkus zu ­seinen Körper pflegt. »Der dehnt sich ständig, Trikots und T-Shirts ihres einstigen Helden.
moderieren. »Sie waren doch noch Teen- kühlt seine Gelenke, so oft er kann.« Schröder Als James Monate später zum ersten Mal mit
ager.« sagt: »Der hat noch locker fünf Jahre im den Miami Heat in Cleveland gastierte, stand
Der Rummel um seine Person sei James Tank.« das Spiel vor dem Abbruch, nachdem Zu-
nie übermäßig zu Kopf gestiegen, berichten Von Rückenproblemen und maladen Bän- schauer Batterien nach ihm geworfen hatten.
frühere Trainer und Mitspieler. Selbst dann dern abgesehen, hat sich James in seiner Dru Joyce III zieht die Augenbrauen hoch,
nicht, als ihn das Magazin »Sports Illustrated« Profi­zeit noch nie ernsthaft verletzt. Er be- wenn er an jene Zeit zurückdenkt. »LeBron
auf das Cover druckte und ihn zum »Aus- handelt seinen Körper wie ein Investment, war nicht bewusst, welchen Effekt seine Ent-
erwählten« stilisierte. Seine Teamkameraden steckt jährlich etwa 1,5 Millionen Dollar in scheidung auf viele Menschen haben würde«,
sorgten dafür, dass er am Boden blieb. Coach einen Fitnesstrainer, in Sauerstofftherapien, sagt er. »Es war hart für ihn zu sehen, wie
Joyce verbot Fans und Journalisten den Zu-
gang zum Training, sperrte die Schule für
Kamerateams.
James besitze ein besonderes Gespür für
die Menschen um sich herum, schreibt der
Journalist Brian Windhorst in seinem Buch
»LeBron, Inc.«. Er begreife schnell, wer ihm
helfen und wer nur Profit aus ihm schlagen
wolle. Als 18-Jähriger gab James dem Sport-
artikelhersteller Reebok einen Korb, als der
ihm einen Vertrag über rund 100 Millionen
Dollar in Aussicht stellte. Stattdessen unter-
schrieb er kurz darauf bei Nike – für weniger
Geld, aber mit besserer Perspektive.
Gar y A. Vasquez / USA TODAY Spor ts

Dass James später als Profi unter dem


­Erwartungsdruck nicht zusammenbrach,
habe mit den Erfahrungen seiner Kindheit
zu tun, sagt ein Bekannter. Druck habe für
James bedeutet, nicht zu wissen, wo er die
Nacht verbringen werde oder ob es etwas zu
essen geben würde. Basketball war nur Spaß;
das Spielfeld ein Ort frei von Nöten und
­Sorgen. Rekordhalter James, Mutter Gloria in Los Angeles am 7. Februar: 20 Jahre lange Reise

86 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


SPORT

Leute, die ihm zugejubelt hatten, auf funktionieren kann.« McGee kennt
einmal sein Trikot verbrannten.« James seit Kindheitstagen, ihr jünge-
Joyce III, 38, ist der Sohn des Trai- rer Bruder Willie war James’ Team-
ners Joyce II aus Akron und einer der kollege in der Highschool-Basketball-
engsten Jugendgefährten von James, mannschaft. Heute ist McGee wie
sie spielten zusammen in der Schul- auch ihr Bruder für die LeBron James

LeBron James Family Foundation


mannschaft, sind bis heute eng be- Family Foundation tätig, führt Gäste
freundet, fahren gemeinsam in den durch die Schule, spricht in Super­
Urlaub. Auch Joyce schaffte es zum lativen über ihren Arbeitgeber.
Profi, neun Jahre lang spielte er in der James ist allgegenwärtig. Im Foyer
Bundesliga – unter anderem für Ulm, sind Dutzende Schuhe von ihm aus-
Oldenburg, München. Nach der Kar- gestellt, Schwarz-Weiß-Fotografien
riere ging er zurück in die Heimat, zieren die Gänge: James liest ein Buch,
heute arbeitet er als Co-Trainer an James inmitten der I-Promise-Schüler,
der Duquesne-Universität in Pitts- James als kleiner Junge mit seinem
burgh, keine zwei Autostunden süd- ersten Basketball. An einer Wand
östlich von Akron. klebt eine Tapete mit handgroßen
An einem kalten Vormittag im Ja- Buchstaben: »Was auch immer meine
nuar läuft Joyce durch die Katakom- Mutter tun oder nicht tun konnte, so
ben der Basketballhalle, er trägt Nike- wusste ich doch, dass ihr niemand im
Schuhe aus der LeBron-James-Kol- Leben wichtiger war als ich.«

Lions Gate / Everett Collection / ddp


lektion. »Er hat damals viel mit sich Es gibt zwei Mahlzeiten am Tag,
selbst ausgemacht«, sagt Joyce. Er Abendkurse für Eltern, Notunter-
erinnere sich, wie sein Freund, eigent- künfte für Obdachlose. Derzeit ent-
lich eine Frohnatur, sich zurückzog. stehen aus Stiftungsmitteln 50 Wohn-
»Wir saßen beisammen in seinem einheiten für Geringverdienende und
Haus, es kam vor, dass er plötzlich ein Gemeindezentrum mit Ballsaal,
aufstand und hoch in sein Schlafzim- Pizzeria und einem LeBron-James-
mer ging. Für einige Zeit war da die- Museum, in dem die alte Sozialwoh-
se Stille.« Schulgründer James, es darin. »Dessen war ich mir vor vier nung von Mutter und Sohn original-
In seiner ersten Saison in Miami, Teamkamerad Jahren nicht bewusst. Nun schon.« getreu nachgebaut wird – wie das
James (hinten M.)
gestand James später, sei er von der mit Highschool-
James schrieb von seiner Reifung als Buddenbrookhaus für Thomas Mann,
Wut auf seine Kritiker getrieben ge- Mannschaft 2003*: Spieler und Mensch, von seinen Feh- nur eben zu Leb­zeiten.
wesen, nicht von der Liebe zum Bas- Ein besonderes lern und Gefühlen. »Ich trage die Ver- »Wir wollen einen Wandel schaf-
ketball. Zudem bereue er, wie er sei- Gefühl für antwortung, Führung in vielerlei Hin- fen, über Generationen«, sagt Vic­
die Menschen um
ne Entscheidung im TV inszeniert sich herum
sicht zu übernehmen.« toria McGee. Sie steht vor einem
habe. »Diese Selbstreflexion hat ihm Ein Ergebnis seines Reifeprozesses Wandgemälde im Untergeschoss des
am meisten geholfen«, sagt sein steht heute neben einem McDonald’s ­Schulgebäudes, es zeigt James neben
Freund Joyce, »die Rückbesinnung mitten in Akron: die »I Promise Größen der schwarzen Bürgerrechts-
darauf, wer er wirklich ist.« School«. James nennt das Projekt die bewegung wie Muhammad Ali und
In Florida erlebte James die erfolg- »wichtigste Errungenschaft« seiner Martin Luther King Jr. »There is no
reichste Phase seiner Karriere. Er ge- Karriere. In einem Backsteingebäude gain without struggle« steht da – kein
wann in vier Jahren zwei Meister- mit Uhrturm auf dem Dach hat James Fortschritt ohne Kampf. »Für mich ist
schaften, wurde zweimal als bester mithilfe seiner Stiftung eine Schule LeBron der Größte«, sagt McGee mit
Spieler der Saison ausgezeichnet – für bedürftige Kinder gebaut. Sie ernster Miene, »im Basketball, in sei-
und spürte doch, dass sein Platz wurde 2018 eröffnet, mittlerweile be- ner Philanthropie, in seiner Arbeit
eigentlich woanders war. suchen rund 580 Dritt- bis Achtkläss- für die Gemeinde. Er ist auf einer Stu-
»Bis heute ist er der Junge aus ler die öffentliche Schule. fe mit Ali.«
­Akron geblieben«, sagt Joyce. Wenn Die Einrichtung soll ein Rettungs- Wer in diesen Tagen durch Akron
James im Sommer zu Besuch komme, anker sein für die Abgehängten der fährt, merkt schnell, dass die Vereh-
gingen sie häufig ins Ken Stewart’s, Gesellschaft. Das einzige Aufnahme- rung für LeBron James nicht an den
ein Steakhaus an der West Market kriterium: unterdurchschnittliche Schulmauern haltmacht. »Er holt die
Street mit dunklen Stoffservietten schulische Leistungen. Jedes Jahr Kinder von der Straße«, sagt Ted, 28,
und gedimmten Leuchten. Dort kön- werden aus den lernschwächsten während er in einem Café am King
ne James noch sein Rib Eye essen, Zweitklässlern der Stadt etwa 120 James Way im Stadtzentrum auf sein
ohne ständig von Autogrammjägern ausgelost, die die Schule besuchen Rührei wartet. Er wiederholt, was
belagert zu werden. In Akron kennen dürfen. Schaffen sie den Abschluss an viele hier sagen: James habe nie ver-
ihn die Leute, seitdem er als Teenager der Highschool, ist ihnen ein kosten- gessen, woher er komme. »Er hebt
mit seinen Kumpels von der High- loser Studienplatz an der örtlichen die Stimmung der ganzen Stadt.«
school freitagabends auf dem Park-
platz eines Schnellrestaurants bei
»Bis heute Universität garantiert. Dafür geben
die Kinder das Versprechen, nach dem
Sechs Jahre nachdem Männer und
Frauen sein Trikot öffentlich ver-
Burgern und Milkshakes abhing. ist LeBron der die Schule benannt ist: Sie machen brannt haben, steht James im Juni
Im Juli 2014 veröffentlichte James Junge ihre Hausaufgaben, hören auf die 2016 auf einer Bühne in Akron, ihm
in »Sports Illustrated« einen Brief, in
dem er seine Rückkehr nach Cleve-
aus Akron Lehrer, geben niemals auf. I promise.
»Wir können nicht jedem Kind hel-
zu Füßen eine jubelnde Menge, neben

land zu den Cavaliers ankündigte. geblieben.« fen«, erklärt Victoria McGee an * Oben: in der »I Promise School« in Akron;
unten: Coach Dru Joyce II (vorn), Mitspieler
»Meine Beziehung zu Northeast Ohio Dru Joyce III, einem sonnigen Vormittag im Febru- Dru Joyce III, Sian Cotton, Willie McGee,
ist stärker als der Basketball«, heißt Jugendfreund ar, »aber wir können zeigen, wie es ­Romeo Travis.

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SPORT

der Rapper Jay-Z und der Investor


Warren Buffett. Im vergangenen Jahr
berichtete »Forbes«, James habe in
seiner Karriere mehr als eine Milliar-
de Dollar eingenommen.
Doch auch sein Reichtum und sei-
ne Popularität konnten James vor
Rassismus nicht schützen. »Egal wie
weit du es als Afroamerikaner ge-
bracht hast«, sagte James vor weni-
gen Jahren, »sie werden dir immer
zeigen wollen, dass du unter ihnen
stehst.« Zuvor war sein Haus mit ras-
sistischen Beschimpfungen besprüht
worden.
Coach Joyce, sein alter High-

Fernando Medina / NBAE / Getty Images


school-Trainer, nickt, als er das Zitat
hört. »Das ist Amerika«, sagt Joyce.
Er selbst habe von seinen Eltern einen
Rat mitbekommen: Sei stets doppelt
so gut wie die anderen, um es zu et-
was zu bringen. »Auch das habe ich
versucht, LeBron und den anderen
Jungs zu vermitteln.«
Fünf Tage später, am 7. Februar,
ihm der NBA-Meisterpokal. »Es war James heute. Er musste erst lernen, Topscorer James im sitzt Joyce mit seiner Frau vor dem
meine Mission, eine Meisterschaft dass seine Worte Gewicht haben. Spiel gegen Orlando heimischen Fernseher, es läuft das
Magic im Dezember
zurück nach Ohio zu bringen, nach Und dass er seine Popularität für 2022: »Er spielt Spiel der Lakers gegen Oklahoma
Cleveland, nach Akron«, sagt James ­Dinge einsetzen kann, die ihm wich- Basketball wie ein City. Kurz vor Ende des dritten Vier-
in T-Shirt und Schirmmütze. »Schaut tig sind. Computerspiel« tels bekommt James etwa fünf Meter
her, hier ist sie!« Mittlerweile erhebt er seine Stim- vom Korb entfernt den Ball zugepasst.
Tage zuvor hatte er mit den Cava- me regelmäßig. James kritisierte Poli- Er dribbelt dreimal, wirft im Rück-
liers im siebten und entscheidenden zeigewalt gegen Afroamerikaner und wärtsfallen – und trifft. Es sind seine
Finalspiel die Golden State Warriors gründete eine Organisation, die sich Karrierepunkte 38 387 und 38 388,
aus Kalifornien besiegt. Nach Spiel­ für die Rechte schwarzer Wähler ein- ein neuer NBA-Rekord. Die Partie
ende kauerte James weinend auf dem setzt. Er nannte den damaligen US- wird unterbrochen, in der ersten Rei-
Parkett, dann ließ er drei Fotos mit Präsidenten Donald Trump einen he erhebt sich Kareem Abdul-Jabbar,
dem Meisterpokal machen: eins zu- »Penner« und warf ihm vor, »sich der vormalige Rekordhalter, und um-
sammen mit seiner Mutter Gloria, einen Scheißdreck um die Menschen armt James.
eins mit seinen engsten Freunden, zu kümmern«. Als eine TV-Modera- Auch James’ Sohn, LeBron James
eins mit seinen Kindern und seiner torin ihn mit den Worten »Shut up Jr., Rufname Bronny, gratuliert sei-
Ehefrau – es war Vatertag. and dribble!« (halt’s Maul und dribble) nem Vater. Der 18-Jährige ist ein ta-
Die »New York Times« hob James zurechtwies, produzierte er eine lentierter Basketballer, 2024 könnte
auf eine Stufe mit Größen der Welt- Fernsehdokumentation über das so- er es in die NBA schaffen. Bis dahin
literatur: Goethes Wilhelm Meister ziale Engagement von Profisportlern, will der Vater seine Karriere fortset-
oder Mark Twains Huckleberry Finn – Titel: »Shut up and dribble«. zen. Mindestens. Er wolle unbedingt
Suchende, die auszogen, um ihren James hat es geschafft, Sport, Ak- eine Saison als Teamkollege seines
Platz in der Gesellschaft zu finden. tivismus und Business clever zu ver- Sohns spielen – auch das hat bisher
James selbst hatte sich mit seinem binden. Mit einem Jugendfreund be- kein NBA-Profi geschafft.
Wechsel nach Miami auf eine ähn­ treibt er eine Filmproduktionsfirma, Doch zunächst soll James ein
liche Odyssee begeben, die mit der SpringHill, benannt nach dem Sozial- paar Worte an die Menschen in der
Rückkehr und dem Triumph ihr ver- wohnkomplex, in dem er groß wurde. Halle richten, an die Millionen vor
söhnliches Ende fand. »Wie der Held Er ist Miteigentümer des englischen den Fernsehgeräten und Livestreams,
eines Bildungsromans hat James die Fußballklubs FC Liverpool. Sein Ver- an Dru Joyce II in Akron, an Dru
Erwartungen der Gesellschaft sowie trag mit Nike bringt ihm jedes Jahr Joyce III in Pittsburgh, an die Kinder
seine eigenen vollständig erfüllt«, eine achtstellige Summe ein, zu sei- der »I Promise School«, an die Men-
schrieb die »Times« und: »Er wird nen Freunden und Förderern zählen schen in Ohio, die ihm an diesem
nie wieder einen so bedeutungs- Abend zuschauen.
schwangeren Moment erleben, egal James weint, bevor er zu einer kur-
was als Nächstes kommen mag.« Im Stolz vereint zen Rede ansetzt: »An meine wun-
Zwei Jahre später wechselte James Vier Tage verbrachten die SPIEGEL-Redakteure Matthias dervolle Frau, meine Tochter, meine
zu den Los Angeles Lakers. Die Lo- Fiedler und Thilo Neumann in Akron, Ohio, wo sie auf alte Söhne, meine Freunde, meine Fami-
kalzeitung verabschiedete ihn dies- Weggefährten und Unterstützer von LeBron James trafen: lie, meine Mutter«, sagt James, »an
mal knapp mit zwei Worten: »Ver- Teamkameraden, Trainer, Bekannte, einen früheren Sport­ jeden, der mich auf dieser Reise
sprechen gehalten«. direktor seiner Highschool. Sie alle eint der Stolz auf den 20 Jahre lang begleitet hat: Ich danke
Er hoffe, dass sich die Menschen berühmten Sohn der Stadt. Selbst Coach Joyce nahm sich euch, denn ohne euch wäre ich nicht,
vor allem an sein Wirken abseits des mehrere Stunden Zeit für die Gäste aus Deutschland – ob- wer ich heute bin.«
Spielfelds erinnern werden, sagt wohl er noch am selben Tag zu einer Beerdigung musste. Matthias Fiedler, Thilo Neumann n

88 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


Dein SPIEGEL  Leseprobe

Was braucht die Ukraine, um sich gegen Russland Warum drängt man nicht auf Friedensverhandlungen oder auf
wehren zu können? einen Waffenstillstand, anstatt noch mehr Waffen zu schicken?
»Dein SPIEGEL«-Kinderreporterinnen sprachen mit der Sicherheits- Seit Beginn des Krieges gab und gibt es viele Verhandlungsange­
expertin Claudia Major über den Krieg in der Ukraine. bote. Doch Putin hat kein Interesse daran, diesen Krieg zu be­
enden. Er glaubt noch immer, dass er gewinnen und seinen Willen
Manche Menschen sind dagegen, dass wir Waffen liefern. durchsetzen kann. Er ist der Ansicht, dass die Ukraine geschicht­
Können Sie das verstehen? lich zu Russland gehört und kein eigener Staat sein sollte.
Ja, natürlich. Jeder Krieg geht mit enormer Zerstörung und riesigem Das kann die Ukraine nicht akzeptieren. Solange Putin von seinen
Leid einher. Man darf nicht glauben, dass es Frieden gibt, wenn wir der Forderungen nicht abweicht, haben wir keine Chance auf Ver­
Ukraine keine Waffen mehr liefern. Dann könnten die Ukrainer ihr Land handlungen. Es bleibt momentan nur die Hoffnung, dass er auf
nicht mehr verteidigen und müssten auf Putins Forderungen eingehen. Härte reagiert.
Sie würden ihr Land zur Vernichtung freigeben. Es gäbe keine Ukraine Was ist damit gemeint?
mehr. Und Putin würde eine gefährliche Lehre aus dem Krieg ziehen. Damit sind zum einen die wirtschaftlichen Strafen gemeint, die
Welche Lehre wäre das? wir für andere Länder verhängt haben, um Russland zu schaden.
Dass sich Krieg führen lohnt, weil er sich so durchsetzen kann. Viele Länder kaufen keine russischen Waren mehr ein und verkau­
Dass das Recht des Größeren, Mächtigeren gilt und sich ihm keiner fen auch keine Sachen mehr nach Russland. Zum anderen muss
­standhaft in den Weg stellt. Dass er auf die Regeln pfeifen kann, die Ukraine durch die militärische Hilfe so wehrhaft bleiben, dass
die wir uns als internationale Staatengemeinschaft gegeben haben. sie die russischen Soldaten zurückdrängt. Das soll dazu führen,
Das wäre gefährlich, weil man davon ausgehen kann, dass Putin dass Putin irgendwann einlenkt. Mehr Waffenlieferungen könnten
dann auch andere Länder angreifen würde. also dazu führen, dass wir schneller Frieden haben.

Neues aus der SPIEGEL-Welt: In der aktuellen »Dein SPIEGEL«-Ausgabe geht es um den
Krieg in der Ukraine, der sich zum ersten Mal jährt.

Weitere Themen »Dein SPIEGEL« ist das monatliche Nachrichten-


• Europas erste Supermacht: Aufstieg und Magazin für Kinder zwischen 8 und 14 Jahren.
Untergang des Römischen Reichs JETZT ERHÄLTLICH IM ZEITSCHRIFTENHANDEL, UNTER
• Einmal um die Welt naschen: Der Hype AMAZON.DE/SPIEGEL UND MEINEZEITSCHRIFT.DE.
um die Candy-Stores 68 SEITEN; 4,90 EURO; AUSGEWÄHLTE TEXTE AUF
• Eisschwimmen: So trainiert die Weltmeisterin SPIEGEL.DE/DEINSPIEGEL
WISSEN

Sebastian Castaneda / REUTERS


Mit einer Kombination aus Kraft und Wendigkeit machte dieser prähistorische Pottwal vor rund sieben Millionen Jahren vor der damaligen Küste
Perus Jagd auf Fische, Pinguine und kleine Meeressäuger. Jetzt sind seine fossilen Zähne samt Schädel im naturhistorischen Museum der Uni­
versität San Marcos in Lima zu bestaunen. Ein Team rund um den peruanischen Paläontologen Aldo Benites-Palomino fand die Überreste des marinen
Räubers in der Ocucaje-Wüste, etwa 350 Kilometer südlich der peruanischen Hauptstadt und 40 Kilometer östlich der heutigen Pazifikküste.

In China nichts Neues


a­ ndere, für die WHO kaum minder unangenehme Wahrheit:
Die Organisation ist macht- und hilflos, ein zahnloser Tiger, wenn
ein Land wie China die Mitarbeit verweigert.
Zwar hat die WHO eine Gruppe hochrangiger Experten zu-
ANALYSE  Die WHO ist macht- und hilflos bei der
sammengestellt, darunter der Charité-Virologe Christian Drosten,
Suche nach dem Virusursprung. die alle neuen Daten und Studien zum Thema Virusursprung
auswerten und einordnen soll. Allein: Es gibt kaum Neues, womit
Noch immer kann nicht vollständig ausgeschlossen werden, sich die Experten beschäftigen könnten. Von der Liste dringend
dass Sars-CoV-2 aus dem Labor stammt. Mindestens genauso notwendiger Untersuchungen, die nach der ersten WHO-Mission
wichtig wäre es zu wissen, ob sich der Erreger vielleicht in nach Wuhan zusammengestellt worden war, ist bislang wenig
einer chinesischen Pelztierfarm an den Menschen anpasste oder ­abgearbeitet. China versucht indes, den Verdacht lieber auf an-
über den Handel mit Wildtierfleisch – strenge Verbote und dere Länder zu lenken. Tiefkühlkost aus dem Ausland, so heißt
­Kontrollen könnten eine neue Pandemie dann möglicherweise es, könne ebenfalls die Quelle der Pandemie gewesen sein.
verhindern. Es sei deshalb entscheidend, den Ursprung von »Wir tun, was wir können, aber wir können kein Land zwin-
Sars-CoV-2 zu finden, stellte der Generaldirektor der Welt­gesund­ gen, Studien durchzuführen«, so die leitende WHO-Expertin
heitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, am Maria Van Kerkhove auf Anfrage. »Wir brauchen die Koopera-
Mittwoch noch einmal klar. tion und die Mitarbeit Chinas.«
Er dementierte damit eine Nachricht, die zuvor in einen etwas Wenn nicht ein Wunder passiert, wird sich deshalb wahr-
missverständlichen Artikel aus der renommierten Fachzeitschrift scheinlich bewahrheiten, was der neue Chefwissenschaftler der
»Nature« hineininterpretiert worden war: Die WHO, so hieß WHO, Jeremy Farrar, dem SPIEGEL schon im Oktober 2022
es, gebe es angeblich auf, nach dem Virusursprung zu suchen. Das ­sagte: Die Frage nach dem Ursprung von Sars-CoV-2 »könnte
ist Unsinn. Gleichzeitig benennt der »Nature«-Artikel eine auch in 100 Jahren noch umstritten sein«. Veronika Hackenbroch

90 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


Vibrieren für die (sAC), war eigentlich als Augenmedikament viele Hürden nehmen, bis sie tatsächlich
entwickelt worden. Doch sAC hat auch in Menschen zur Anwendung kommen
Gleichberechtigung auf die Spermienbeweglichkeit einen erheb­ könnte; vor einer Zulassung sind mehrere
VERHÜTUNG  Wer als Mann verhüten will, lichen Einfluss; es gibt Männer mit einer Jahre der klinischen Erprobung die Regel.
hat bislang genau zwei Optionen: Kon­­ Mutation im sAC-Gen, die unfruchtbar sind. Doch die Methode habe das Potenzial,
dome oder Vasektomie. An einer »Pille für Deshalb testeten die Cornell-Forscher den »für Gleichberechtigung zwischen den
den Mann« wird zwar seit Jahrzehnten Hemmstoff an männlichen Mäusen. ­Geschlechtern zu sorgen«, so die Cornell-­
­geforscht. Doch diese Hormone greifen Die Ergebnisse, die jetzt in der renom­ Forscherinnen und -forscher, und »die
in die rund 74 Tage dauernde Bildung der mierten Fachzeitschrift »Nature Communi­ ­Familienplanung zu revolutionieren«. VH
Spermien ein; sie müssen wochen- oder cations« veröffentlicht wurden, dürften
­sogar monatelang eingenommen werden, ­pillenmüde Frauen begeistern: Eine einzige
um zu wirken, und es dauert lange, bis Dosis des Mittels machte die männlichen
die ­Zeugungsfähigkeit wieder einsetzt. Die Mäuse schon eine halbe Stunde nach der
­Akzeptanz solcher Mittel wäre entspre­ Einnahme unfruchtbar. Ihre Spermien
chend gering, befürchten Pharmafirmen. strebten nicht mehr in Richtung Eizelle,
Jetzt haben Wissenschaftlerinnen und sie vibrierten nur noch vor sich hin. Am

Kristiane Vey / Twinkle Images


Wissenschaftler vom Weill Cornell Medical nächsten Tag waren die Mäuse allerdings
College in New York eine Substanz an schon wieder voll zeugungsfähig.
Mäusen getestet, die zur pharmakologi­ Dabei schien der sAC-Inhibitor nicht
schen Ad-hoc-Einmalverhütung für Männer auf die Libido zu schlagen: Die Tiere zeigten
taugen könnte. Das Mittel, ein Hemmstoff ihr gewohntes Paarungsverhalten. Zwar
der sogenannten löslichen Adenylylcyclase muss die neue Verhütungsmethode noch

»All das gibt es wirklich!«


das im Roman beschriebene wie die Yrr. Der wesentliche
Szenario ist also eher Fiktion. Unterschied zum Roman ist,
SPIEGEL: Eine zentrale Rolle dass diese Einzeller anders als
im »Schwarm« spielen die Yrr, die Yrr nicht intelligent sind.
WISSENSCHAF TSKRIMIS  Das ZDF verfilmt den Roman ­Einzeller, die die Menschheit SPIEGEL: Giftige Quallen,
»Der Schwarm«. Die Meeresbiologin Ute Hentschel bekämpfen. ­Muscheln, die sich an Schiffs­
Humeida, 56, über den Realitätsgehalt der Vorlage. Hentschel Humeida: Auch für rümpfen festkleben, infizierte
diese Wesen gibt es eine wissen­ Hummer, die Menschen töten –
SPIEGEL: Frau so aufregend, als hätte man schaftliche Basis. Marine sie gehören im »Schwarm«
Hentschel Humeida, ­Leben auf dem Mond entdeckt. Vibrio­nen etwa, eine im Meer ebenfalls zu den Protagonisten.
in Frank Schätzings SPIEGEL: Wäre es denkbar, dass lebende Bakterienart, können Hentschel Humeida: All das gibt
Buch »Der diese Würmer das Kontinental­ sehr große Zusammenschlüsse es wirklich! Bestimmte Algen
Schwarm« wehrt schelf zerstören und eine bilden, innerhalb derer sie auch werden zum Beispiel von Hum­
GEOMAR

sich eine in der Tsunami­katastrophe auslösen? miteinander kommunizieren. mern oder Fischen aufgenom­
Tiefsee lebende Hentschel Humeida: Es gibt Dafür nutzen sie chemische Mo­ men und können dann bei Men­
Schwarmintelligenz gegen Lebewesen, Termiten in Afrika leküle. Wenn eine bestimmte schen zu gefährlichen Nah­
­Umweltzerstörung im Meer, zum Beispiel, die in großen Dichte von Bakterien erreicht rungsmittelvergiftungen führen.
die vom Menschen verursacht ­Kolonien leben und Gebilde ist und eine bestimmte Konzen­ SPIEGEL: Haben Sie auch einen
wurde. Wie liest eine Meeres­ bauen, die die Größe eines Hau­ tration des chemischen Signals, Fehler im Buch gefunden?
biologin einen solchen Stoff? ses erreichen können. Tiere in man nennt das »Quorum Sen­ Hentschel Humeida: (lacht) Ich
Hentschel Humeida: Mit großer Kollektiven können sehr große sing«, wird ein neues »Verhalten« habe das Buch als Krimi gelesen
Begeisterung! Schätzing hat eine Strukturen schaffen – oder auch ausgelöst. Der Bakterien­ und keinen Faktencheck ge­
tiefe Kenntnis der wissenschaft­ zerstören. Bei den Eiswürmern schwarm kann dann etwa macht. Bei der Lektüre sind mir
lichen Fakten. Vor allem im letz­ gehe ich aber nicht davon aus, ­anfangen zu leuchten – genau aber keine Fehler aufgefallen.
ten Drittel des Buchs verknüpft SPIEGEL: Das ganz große Thema
er reale Forschungsinhalte zu des »Schwarms« ist die
­etwas Fiktivem. Das ist eine sehr ­Zer­störung des Lebensraums
spannende Gratwanderung. Meer durch den Menschen.
SPIEGEL: Auch die ZDF-­ Hentschel Humeida: Da ist das
Zuschauer werden sich wohl oft Buch leider aktueller denn je.
fragen: Was ist Wissenschaft SPIEGEL: Wünschen Sie sich
und was Fiktion an dieser Ge­ manchmal, dass wie in Schät­
schichte? Gibt es etwa Meeres­ zings Roman eine Schwarm­
würmer, die im Methaneis intelligenz dem Menschen seine
­lebende Bakterien fressen und Grenzen aufzeigt?
mit ihrem unersättlichen Appe­ Hentschel Humeida: Wir müssen
tit schließlich sogar das Kon­ unsere Probleme selbst lösen.
tinentalschelf destabilisieren? Wenn wir unsere menschliche
Hentschel Humeida: Ja, diese Schwarmintelligenz nutzen,
Staudinger + Franke / dpa

Würmer gibt es. Als sie Ende um die Klimakrise und die Zer­
der Neunzigerjahre in sehr störung der Meere in den Griff
­unwirtlichen Gegenden der zu bekommen, dann bin ich
­Tiefsee gefunden wurden, Standfoto aus der ZDF-Serie »Der Schwarm« ­optimistisch, dass wir das auch
war das für uns Meeresforscher schaffen werden. VH

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 91


WISSEN

Impfung gegen den Krebs


MEDIZINFORSCHUNG  Die deutsche Firma Biontech glaubt, dass sie
eine revolutionäre Therapie gegen tödliche Karzinome entwickelt hat. In klinischen
Studien mit Tausenden Menschen sollen die Mittel nun getestet werden.

Wie mRNA-Impfstoff
gegen Krebs wirken soll
Krebserkrankungen
entstehen durch Mutationen gesunde gesundes
Erbgut Um die Mutationen im
im Erbgut einer Zelle. Zelle Erbgut zu finden, wird
Die Krebszelle teilt sich Krebs-
zelle
gesundes Gewebe mit
unkontrolliert. Krebsgewebe verglichen.
Mutation

Krebs-Erbgut

Hautkrebszelle
Krebs-Erbgut
Ausgewählte
DNA-Sequenzen mit
Mutationen
werden verwendet,
Transkription um den Bauplan
eines krebszellen-
spezifischen
Proteins als mRNA
zu kodieren.
mRNA

Die Krebszellen
werden von
sogenannten
T-Zellen
attackiert, da T-Zellen Injektion
sie die fremden
Proteine aufweisen.
mRNA
Imm
un
krebs-
spezifische
ze

Proteine
lle

Die Immunzellen präsentieren Im


die fremden Proteine nun auf ihrer mu
n z e ll e
Oberfläche, sodass sie von anderen
Zellen des Immunsystems erkannt Die mRNA wird in den Körper injiziert. In
werden. Diese starten eine Abwehr- Immunzellen werden anhand der mRNA die
reaktion. krebsspezifischen Proteine gebildet.
Achim Chowanetz / OKAPIA

S Grafik


92 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


WISSEN

F
ür Briten ist es dieser Tage be- »Die mRNA-Technik ist ein fan- zellnester, die in der radiologischen
sonders ungünstig, krank zu tastischer Ansatz, den es so vorher Untersuchung unsichtbar sind und
sein. Wer den Rettungswagen nicht gab und der ein enormes Poten- nach Monaten bis Jahren aufwachsen
ruft, muss manchmal mehr als zial entfalten kann«, sagt der Tumor- und zu Metastasen führen«, sagt Bion­
24 Stunden warten. Menschen kam- immunologe Niels Halama, der die tech-Medizinerin Türeci. In Deutsch-
pieren auf den Korridoren der Not- Abteilung für Translationale Immun- land sterben jedes Jahr ungefähr
aufnahmen, Termine bei Zahnärzten therapie des Deutschen Krebsfor- 230 000 Menschen an den Folgen
sind auf Jahre ausgebucht. Allein im schungszentrums in Heidelberg leitet. einer Krebserkrankung.

Ramon Haindl / laif


Dezember warteten 7,2 Millionen Eine Krebserkrankung beginnt im- Große Hoffnungen ruhen deswe-
Kinder, Frauen und Männer im Ver- mer gleich. Bei der Teilung einer Zel- gen auf der Immuntherapie, der vier-
einigten Königreich auf eine medizi- le kommt es zu Mutationen im Erb- ten Säule der Onkologie. Mit Wirk-
nische Behandlung. gut, die Zelle verliert dadurch die stoffen soll das Immunsystem dazu
Umso erstaunlicher ist, was der Kontrolle über das eigene Wachstum. »Das ist eine gebracht werden, den Tumor und
britische Gesundheitsminister Steve Bestandteile aus dem Zigaretten- wichtige etwaige Metastasen selbst zu be-
Barclay im Januar freudig verkünde- rauch, verschiedene Chemikalien und kämpfen. Oft wehren Krebszellen
te: Der marode nationale Gesund- UV-Strahlen wirken schädigend auf Säule für die sich gegen die Körperabwehr: Sie bin-
heitsdienst (NHS) sowie andere bri- das Erbgut und erhöhen deshalb das Entwicklung den an bestimmte Rezeptoren, die
tische Behörden und Organisationen
hätten einen Pakt mit dem deutschen
Risiko für Mutationen. Allerdings
können die auch durch rein zufällige
personalisier­ sogenannten Checkpoints der Im-
munzellen, und legen sie auf diese
Unternehmen Biontech geschlossen. Fehler bei der Zellteilung entstehen. ter Behand­ Weise lahm.
Menschen in Großbritannien würden Jeden Tag gibt es Milliarden Zell- lungs­ansätze.« Durch bestimmte Arzneimittel,
exklusiven Zugang zu den Krebsmit- teilungen im Körper, jeden Tag die Checkpoint-Inhibitoren, kann
Uğur Şahin
telkandidaten aus dessen Forschung kommt es dabei zu Mutationen. Und dieses Manöver verhindert werden:
erhalten. Der oder die erste Britin jeden Tag bilden sich auch ein paar Die Immunzellen werden wieder ak-
werde noch in diesem Jahr behandelt. Krebszellen. Allerdings bleiben die tiv und drängen die Krankheit merk-
Der Coup lässt Minister Barclay Vorgänge dem Immunsystem nicht lich zurück. Allerdings wirken Check-
auf bessere Zeiten hoffen: »Unsere verborgen: Durch die Mutationen point-Inhibitoren nur bei einem Teil
Patienten werden zu den Ersten ge- tragen viele Krebszellen auf der der Patienten.
hören, die an Studien und Versuchen Oberfläche spezifische Tumorprotei- Nun kommt ein weiteres Werk-
zur gezielten, personalisierten und ne, die es in dieser Form zuvor im zeug hinzu, mit dem das Immunsys-
präzisen Behandlung mit neuen The- Körper nicht gab. Bestimmte Immun- tem getunt werden soll: die Boten-
rapien teilnehmen können, um so- zellen erkennen die verräterischen RNA, englisch Messenger RNA, kurz
wohl die bestehende Krebserkran- Proteine und zerstören sie mitsamt mRNA. Sie enthält jeweils die Bau-
kung zu behandeln als auch ein Wie- den Krebszellen. anleitung für die Herstellung eines
derauftreten zu verhindern.« Immer mal wieder aber entwi- bestimmten Proteins in der Zelle.
Ähnlich euphorisch gibt sich Öz- schen einzelne Krebszellen dem Im- Für eine Impfung stellt man mRNA-­
lem Türeci, Medizinerin und Mitgrün- munsystem. Das passiert statistisch Moleküle mit gewünschtem Bauplan
derin von Biontech: »Ziel unserer gesehen häufiger, wenn die Abwehr im Labor her und spritzt sie in den
Partnerschaft ist es, personalisierte geschwächt ist, etwa durch wenig Be- Körper. Dort dringen sie in Zellen ein
Krebs­immun­therapien zu entwickeln, wegung, krankhaftes Übergewicht und bringen diese dazu, die Anleitung
zuzulassen und parallel die Rahmen- oder die natürliche Alterung. abzulesen und das gewünschte Pro-
bedingungen zu erarbeiten, um diese Aus einer einzigen entwischten tein herzustellen. Wenn dieses Pro-
Therapien möglichst breit als neue Krebszelle kann eine bösartige Ge- tein für die Immunzellen fremd ist,
Standardtherapie verfügbar zu ma- schwulst entstehen. Dieses fordert wird es bekämpft. So entsteht eine
chen«, sagt sie. Bis 2030 sollen im immer mehr Raum, streut womöglich Immunität.
Rahmen des als »Leuchtturm« dekla- Metastasen und verbraucht Ressour- Mit der Methode gelang es Moder-
rierten Projekts in Großbritannien bis cen, bis der Körper dieses Zehren na und Biontech, jeweils eigene Co-
zu 10 000 Patienten behandelt werden. nicht mehr überleben kann. Der ame- »Für einige vid-19-Impfstoffe herzustellen, die
Biontech bei den Briten – das un- rikanische Arzt und Autor Sherwin dieser Kandi­ wohl wirksamste Waffe im Kampf
gewöhnliche Bündnis rückt eine neue Nuland beschrieb das Drama so: »Der gegen das Coronavirus. Nach dem
Waffe gegen Krebs in den Brenn- Krebs hält sich an keine Gesetze und
daten sehen sagenhaften Erfolg und mit gut ge-
punkt. Mit der mRNA-Technik, Basis wuchert rücksichtslos auf Kosten sei- wir Hinweise füllten Kassen wollen die Unterneh-
für den Coronaimpfstoff des Mainzer ner Umgebung.« auf klinische men nun ihr ursprüngliches Ziel er-
Unternehmens, soll das Immunsys- Traditionell schneiden Ärztinnen reichen: mRNA-Impfstoffe gegen
tem dazu angeregt werden, Krebs- und Ärzte das Krebsgewebe heraus, Aktivität.« Krebs auf den Markt zu bringen.
zellen im Körper zu erkennen und zu zerstören es mit ionisierender Strah- Özlem Türeci Die Ansätze von Biontech und
vernichten. Es wäre eine Impfung lung und töten es mit Medikamenten Moderna sind ähnlich. Die Forscher
gegen die am meisten gefürchtete in der sogenannten Chemotherapie; und Forscherinnen entnehmen einem
Krankheit unserer Zeit. oft werden die Ansätze kombiniert. Patienten gesunde Zellen sowie
Biontech hat verschiedene Varian- Viele Betroffene können dadurch in- Krebszellen und vergleichen deren
ten der Krebsimpfstoffe in der Ent- zwischen immer besser behandelt Erbmaterial miteinander. Auf diese
wicklung und kann auch schon erste werden und erscheinen häufig sogar Weise können sie entdecken, welche
ermutigende Ergebnisse etwa bei als geheilt. Tumorproteine auf den Krebszellen
Karzinomen an der Bauchspeichel- Dennoch müssen sie sich vor Rück- vorkommen.
Ramon Haindl / laif

drüse vorweisen. Die Firma Moderna, fällen fürchten, die Quote kann je Mithilfe der mRNA-Technik wer-
der große Rivale aus Amerika, ver- nach Tumortyp zwischen 20 und den sodann einige dieser Tumorpro-
kündete im Dezember einen Erfolg 75 Prozent liegen. »Die Ursache hier- teine in großer Zahl im Körper des
gegen den schwarzen Hautkrebs. für sind verstreute kleine Tumor­ Patienten hergestellt. Der persona­

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 93


WISSEN

Bereits vor der Partnerschaft hat


Biontech klinische Studien in England
begonnen, diese werden jetzt ver-
stärkt. Darüber hinaus ist das Unter-
nehmen dabei, die Impfstoffkandida-
ten, Krebsarten und Standorte für die
neu vereinbarten Untersuchungen
auszuwählen.
Offen ist noch die Frage nach der
perfekten Impfstoffrezeptur. Eine
Krebszelle hat oftmals viele verschie-
dene Tumorproteine, jedes einzelne
von ihnen ins Visier zu nehmen wäre
viel zu aufwendig. Die Studien sollen
zeigen, wie man auf jene Tumorpro-
teine zielt, die zu einer besonders
starken Immunantwort führen. Idea-
lerweise würden dann sämtliche Pa-
tientinnen und Patienten auf die Be-
handlung ansprechen.
Mit den britischen Partnern will

Biontech
Biontech erreichen, dass die neuarti-
gen Krebsimpfungen möglichst rasch
lisierte Impfstoff leitet das Immun- land nur schwer durchführen. Der Biontech-Mitarbeiter Behandlungsalltag werden. Şahin
system dazu an, die Krebszellen ge- international bekannte Onkologe bei Herstellung sagt: »Wir glauben, dass dies in grö-
von mRNA: Krebs­
zielt zu attackieren. Michael Hallek von der Uniklinik impfung noch vor ßerem Umfang für Patienten vor
Die Technik sei schon weit voran- Köln klagte erst kürzlich im »Kölner 2030 Behandlungs­ 2030 möglich sein wird.«
geschritten, sagt der Mediziner Uğur Stadt-Anzeiger« sein Leid: »Die alltag? Wundermittel sollte trotzdem nie-
Şahin, der Biontech mit seiner Frau Durchführung klinischer Prüfungen mand erwarten. »Zu glauben, dass
Türeci gegründet hat: »So haben wir wird mehr und mehr bürokratisch er- mit einer Spritze dann der Tumor weg
2014 drei bis sechs Monate gebraucht, schwert, das Problem muss die Politik ist, das ist illusorisch«, sagt der Im-
um einen individualisierten Krebs- anpacken.« munologe Halama vom Deutschen
impfstoff herzustellen, aktuell sind Niels Halama, der Tumorimmuno- Krebsforschungszentrum in Heidel-
wir bei vier bis sechs Wochen. Unser loge in Heidelberg, sieht es ähnlich. berg. Er sieht die mRNA eher als wei-
Ziel ist es, deutlich unter vier Wochen »Es ist ein großes Hindernis, wenn tere, wertvolle Komponente im
zu kommen.« für eine klinische Studie 50 Akten- Kampf gegen Krebs.
Dass die neuartigen Impfstoffe tat- ordner gefüllt werden müssen.« Und Für den Einsatz lassen sich zwei
sächlich wirken, darauf deutete zuletzt auch Özlem Türeci merkt kritisch an, Szenarien denken. Einmal, Tumor
eine Mitteilung von Moderna zu der dass im Umgang mit deutschen Be- und Metastasen werden zunächst mit
Hautkrebsstudie hin: Von 157 schwer hörden »viel Zeit in die Kategorie den klassischen Methoden zurück-
kranken Menschen – sie waren zuvor ›Warten auf Antwort‹ fällt«. gedrängt. Anschließend erhält der
operiert worden – erhielten einige In England dagegen mag die me- Patient oder die Patientin eine Reihe
nur einen Checkpoint-Inhibitor; an- dizinische Versorgung zwar miserabel von Impfungen, damit verbliebene
dere wurden zusätzlich mit einem sein, aber Entwickler neuer Heilver- Krebsnester zerstört oder zumindest
personalisierten mRNA-Impfstoff be- fahren finden gute Bedingungen vor. in Schach gehalten werden. Rückfäl-
handelt. Gerade das Dreieck London – Oxford le würde es nicht mehr geben, so die
Laut Moderna verringerte die – Cambridge gilt als hervorragender Hoffnung.
Kombinationstherapie das Risiko, in Standort für Biotechunternehmen. Eine weitere Verwendung wäre
einem bestimmten Zeitraum zu ster- Das sieht Biontech offenbar eben- mit einer neuartigen Früherkennung
ben oder wieder zu erkranken, um so, die Firma plant ein Forschungs- verbunden. Man würde das Blut
rund 44 Prozent. zentrum mit 70 Mitarbeiterinnen und eines Menschen regelmäßig darauf
Biontech berichtet ebenso von Mitarbeitern in Cambridge. Darüber untersuchen, ob es einzelne Krebs-
vielversprechenden Befunden. Man hinaus soll ein Büro in London ent- zellen enthält. Das wäre ein Hin-
erforsche derzeit »mehrere mRNA- stehen, das sich um Patentschutz und weis auf einen entstehenden Tumor.
Krebsimpfstoffe«, sagt Özlem Türeci. klinische Studien kümmern wird. Noch bevor der sich zu einer Ge-
»Für einige dieser Kandidaten sehen Dass der NHS und die Aufsichts- schwulst auswachsen kann, würde
wir Hinweise auf klinische Aktivität. behörde für Arzneimittel fix zusam- man ihn mit der mRNA-Impfung ver-
Klinische Aktivität heißt, dass das menarbeiten können, zeigte sich in nichten.
Immunsystem aktiviert wird, sodass der Coronapandemie: Die Covid- Die Kosten einer solchen Behand-
bei einem Teil der Patienten der 19-Impfstoffe waren in Großbritan- »Zu glauben, lung lassen sich noch nicht abschät-
Krebs sichtbar kleiner wird oder ver- nien besonders früh verfügbar. dass mit einer zen, aber sie könnten für den maro-
schwindet und Rückfälle seltener auf- Zudem ist das Vereinigte König- den, weil unterfinanzierten NHS bis
treten.« reich im internationalen Vergleich
Spritze dann auf Weiteres viel zu teuer sein. Die
Das wahre Potenzial des neuen führend bei Genanalysen. »Das der Tumor weg Briten helfen also bei der Marktzu-
Ansatzes kann sich allerdings erst in ist eine wichtige Säule für die Ent- ist, das ist lassung einer revolutionären Medizin,
Vergleichsstudien mit sehr vielen Teil- wicklung personalisierter Behand- die sie sich dann selbst womöglich
nehmerinnen und Teilnehmern zei- lungsansätze«, sagt Biontech-Chef illusorisch.« nicht werden leisten können.
gen – doch die lassen sich in Deutsch- Şahin. Niels Halama Jörg Blech n

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WISSEN

vor mehr als einem Vierteljahrhundert mit­


hilfe radioaktiv markierten Kohlenstoffs in
einem Feldversuch nachweisen, dass es zwi­
schen einer Birke und einer Douglasie zu

Hirngespinst unter dem


einem Austausch von Kohlenstoff kam. Die
Ergebnisse dieser Studie, die im Fachjournal
»Nature« veröffentlicht wurden, gelten als

Waldboden
Beweis dafür, dass Bäume über das Wood
Wide Web Ressourcen untereinander teilen
– die Autoren entwarfen damals das Bild einer
geradezu sozialen Pflanzengemeinschaft.
2008 konnte der bislang stärkste Beweis
BIOLOGIE  Wissenschaftler und Enthusiasten wie der Bestsellerautor Peter dafür erbracht werden, dass ältere Bäume
junge Bäume über ein Pilznetzwerk mit Was­
Wohlleben behaupten, dass Bäume über Pilzfäden, das »Wood Wide ser versorgen. Für das Experiment waren jun­
Web«, miteinander kommunizieren wie soziale Lebewesen. Stimmt das? ge Kiefern in Netze gepflanzt worden, deren
Maschen groß genug für Pilzfäden, nicht aber
für Wurzeln waren. Anschließend gaben die

H
eute zeige ich euch mal was Beson­ einem einzigen Pilz stammen? Am besten Forscher rot gefärbtes Wasser auf die Stümp­
deres«, sagt der Mann verheißungsvoll durch Erbgutanalyse, schreiben die Forscher fe umliegender gefällter Bäume und konnten
in einem kurzen Film auf seiner Face­ aus Kanada. nachweisen, dass es die jungen Bäume er­
book-Seite. Die Kamera schwenkt in eine Doch genetische Verbreitungskarten von reichte.
Grube, zwischen Laub und Erde zeigt sich ein Pilzen zu erstellen sei eine »intensive, müh­ Trotzdem bleiben die kanadischen Wissen­
Netz weißer Pilzfäden. »Hier seht ihr, frisch same Aufgabe«, so die Wissenschaftler. Wohl schaftler hinsichtlich der Rolle des Wood
und in Farbe, das Wood Wide Web«, erklärt deshalb seien bislang lediglich fünf solcher Wide Web bei der Wasserversorgung skep­
der Bestsellerautor Peter Wohlleben (»Das Studien durchgeführt worden, in denen ins­ tisch. Bei den allermeisten der 26 Studien, die
geheime Leben der Bäume«) begeistert. »Das gesamt »nur zwei Baumarten von schätzungs­ sie ausgewertet hätten, lasse sich der beobach­
funkt jetzt gerade. Was, kann ich euch nicht weise 73 300 weltweit« und nur drei Pilzarten tete Effekt auch durch andere Einflussfakto­
sagen. Aber hier ist richtig was los nachrich­ kartiert wurden – eine schwache Evidenz. ren erklären.
tentechnisch.« Stattdessen, so kritisieren die Forscher, Die Kritik der kanadischen Forscher
Der gelernte Förster sucht wie viele an­dere werde oft allein die Präsenz derselben Pilz­ schließt die eigene Zunft nicht aus: In Fach­
Autoren und Wissenschaftler das Menschliche spezies bei mehreren Bäumen als Beweis veröffentlichungen würden die Ergebnisse
im Baum. Für sie sind die Gewächse nicht für ein Wood Wide Web gewertet. Auch die früherer Wood-Wide-Web-Studien oft über­
isoliert, sondern kommunizieren mithilfe von Dauerhaftigkeit der Pilzverbindungen sei in interpretiert, verzerrt und zu positiv darge­
Botenstoffen, die sie über die Luft versenden Wahrheit unbekannt. »Aufgrund der spär­ stellt. Der Anteil wissenschaftlich nicht aus­
– und über ein Netz unterirdischer Pilzfäden, lichen Informationen«, so das Fazit, könne reichend belegter Zitate sei in den vergange­
das »Wood Wide Web«. Es gibt kaum eine die Behauptung, Pilznetzwerke zwischen den nen Jahren in Fachartikeln sogar angestiegen.
Zeitung, kaum einen Fernsehsender, bei dem Wurzelsystemen unterschiedlicher Bäume Die Forscher aus Kanada plädieren dafür,
noch nichts über dieses Wunderwerk der seien in Wäldern weitverbreitet, »nur be­ Pilznetzwerke in Zukunft weniger enthusias­
­Gehölzkommunikation zu erfahren war, die grenzt unterstützt werden«. tisch, sondern wissenschaftlich präziser unter
»New York Times« berichtete ebenso wie Dass ältere Bäume mithilfe des Wood Wide die Lupe zu nehmen. »Andernfalls«, so schrei­
der »Guardian«, die BBC, die ARD und der Web für junge Bäume sorgen wie Eltern für ben sie am Ende ihres Artikels, »riskieren wir,
­ PIEGEL .
S ihre Kinder, sie sogar »stillen« (Wohlleben), dass das Wood Wide Web zu einem Hirn­
Jetzt haben Forscherinnen und Forscher ist eine weitere zentrale Idee der Waldbegeis­ gespinst unter unseren Füßen wird.«
aus Kanada die Thesen kritisch unter die Lupe terten. Und in der Tat konnten Forscher schon Veronika Hackenbroch n
genommen. Anhand der Fachliteratur haben
sie systematisch untersucht, ob es für die
wichtigsten Behauptungen über die Fähig­
keiten des Wood Wide Web eine wissenschaft­
liche Basis gibt. Die Ergebnisse sind in der
Fachzeitschrift »Nature Ecology & Evolution«
veröffentlicht worden.
Die Forscher bestreiten dabei nicht, dass
Pilze, die am Wurzelsystem eines einzelnen
Baumes wachsen, positive Effekte haben kön­
nen. Auch die Existenz unterirdischer Netz­
werke aus Pilzfäden, die die Wurzeln meh­rerer
Bäume miteinander verbinden, stellen sie nicht
infrage. Doch für viele weitergehende Behaup­
tungen, auch in wissenschaftlichen Veröffent­
lichungen, sehen sie nur eine dünne Beleglage.
Damit zwischen Bäumen Botschaften
übermittelt werden könnten, müssten die
Sebastian Steude / Look

­Fäden eines einzigen Pilzes die Wurzeln meh­


rerer verschiedener Bäume miteinander kop­
peln. Doch wie beweist man, dass die weißen
­Fäden, die beim Buddeln im Waldboden an Waldbiotop
vielen Stellen sichtbar werden, wirklich von

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WISSEN

Durchschnitt nur zu einer Senkung


von elf Prozent gereicht. Unsere In­
frastrukturen sind eben so, dass uns
ein CO2-armes Leben in Deutschland

»Es reicht einfach nicht«


jetzt noch nicht gelingen kann.
SPIEGEL: Wie können wir das ändern?
Engels: Um strukturelle Veränderun­
gen in ausreichendem Maße zu er­
reichen, braucht man politischen
KLIMAKRISE  Die Hamburger Soziologin Anita Engels über die gefühlte ­ Druck, damit die Regierungen in die
Lage versetzt werden, solche Ziele
Ohnmacht der Menschen in Zeiten der Erwärmung, den Nutzen umzusetzen. Diesen nötigen Druck
radikaler ­Protestformen und den Klimamarsch durch die Institutionen gibt es derzeit nicht.
SPIEGEL: Den größten unmittelbaren
Druck üben für viele Menschen ins­
Engels, 53, ist Sprecherin des Exzel- gesetzt wird. Es sind also auch politi­ »In vielen besondere im Berufsverkehr derzeit
lenzclusters Klima, Klimawandel
und Gesellschaft, in dem mehr als
sche Entscheidungen notwendig.
SPIEGEL: Die EU hat sich vorgenom­
sozialen Aktivisten der »Letzten Generation«
aus, deren Aktionen von vielen Poli­
200 Forschende verschiedener Fach- men, bis 2030 die Emissionen um Bewegungen tikern abgelehnt werden. Erzeugt
richtungen untersuchen, wie die Welt 55 Prozent unter das Niveau von sieht man diese Gruppe den nötigen Druck, den
auf die globale Erwärmung reagiert – 1990 zu reduzieren. Zeigt das nicht, Sie meinen?
und wie sie reagieren sollte. dass zumindest westliche Gesellschaf­
Abschleif-­ Engels: Ich meine Druck auf allen
ten zu tiefgreifendem Wandel bereit Erscheinun- Ebenen: Druck durch Klimaproteste,
SPIEGEL: Frau Engels, vor sieben Jah­ sind? gen.« Druck auf den Finanzmärkten, Nach­
ren hat sich die Welt im Klimaab­ Engels: Es gibt Weltregionen, Regie­ fragedruck beim klimafreundlichen
kommen von Paris zum Ziel gesetzt, rungen, Unternehmen, private Ak­ Konsum und vor allem der Wähler­
die globale Erwärmung auf deutlich teure, die tatsächlich viel vorlegen. druck, der überhaupt erst stabile
unter 2 Grad Celsius, möglichst sogar Da wird zum Teil Ungeheures geleis­ Mehrheiten bereitstellt.
unter 1,5 Grad zu beschränken. Wo tet, ganze Geschäftsmodelle werden SPIEGEL: Welche Protestform bewirkt
stehen wir? umgekrempelt. Nur reicht das einfach in der gegenwärtigen Lage aus Ihrer
Engels: Auch wenn es schon vielfach nicht. Die Emissionen steigen welt­ Sicht mehr? Das Modell »Fridays for
totgesagt wurde, muss man wissen: weit gesehen einfach weiter, jedes Future«, das auf breit getragene, letzt­
Rein physikalisch gesprochen, können Jahr wird ein neues Rekordjahr – bis lich regelkonforme Großdemons­
wir das 1,5-Grad-Ziel vermutlich im­ auf 2020, als wir eine pandemie­ trationen und politische Gespräche
mer noch erreichen. Allerdings ist die bedingte kleine Delle bei den Emissio­ setzt, oder der zivile Ungehorsam der
Gesellschaft dazu offenbar nicht in der nen hatten. Wir bräuchten eine dras­ »Letzten Generation«, von »Ende
Lage. So, wie wir alle uns derzeit ver­ tische Trendumkehr – aber die ist Gelände« und anderen, der Reibung
halten, ist es nicht plausibel, dass wir global nach wie vor nicht erkennbar. und Streit erzeugt?
das 1,5-Grad-Ziel einhalten werden. SPIEGEL: Woran liegt das? Engels: Viele Menschen fühlen sich
Kollektiv fahren wir als Weltgemein­ Engels: Manche Menschen sind nicht gerade abgestoßen von den radika­
schaft immer noch in die völlig falsche einmal gewillt, es zu versuchen. Aber leren Protestformen. Im Rückblick
Richtung. Das Problem ist nicht so stärker ins Gewicht fällt, dass die Rah­ sieht man aber, dass wichtige gesell­
sehr technisch, sondern sozial. menbedingungen einfach nicht geeig­ schaftliche Reformen eigentlich im­
SPIEGEL: Das sehen hierzulande of­ net sind für ein CO2-freies Leben. In mer politisch erkämpft wurden und
fenbar viele anders. Auch in Deutsch­ Berlin gab es ein interessantes Expe­ dass dafür oft Regelbrüche erforder­
land gibt es die verbreitete Haltung, riment: Knapp 100 Haushalte hat­ lich waren. Ich würde diese Protest­
beim Klimaschutz gehe es nicht in ten mit wissenschaftlicher Begleitung formen also nicht gegeneinander aus­
erster Linie um Verhaltensänderun­ versucht, ihren CO2-Ausstoß deutlich spielen.
gen, sondern um technische Lösun­ zu senken. Trotz großer lebensprak­ Wissenschaftlerin SPIEGEL: Welche Rolle werden Be­
gen. Wird hier schlicht die Realität tischer Unterstützung hat es im Engels wegungen in Zukunft spielen?
verdrängt? Engels: Wenn auch vieles gerade sehr
Engels: Das Klimaproblem lässt sich schwierig ist, gerade im internationa­
natürlich nicht ohne technologische len Kontext, so ist es doch auch sehr
Innovation lösen. Aber auch für den wichtig zu sagen: Es gibt für Bewe­
massenhaften Einsatz klimafreund­ gungen in westlichen Ländern weiter­
licher Technologien muss es Bereit­ hin viele Ansatzpunkte, Veränderun­
schaft und sogar aktives Mitmachen gen herbeizuführen. Das ist unsere
in der Gesellschaft geben, denn die Botschaft an die jugendlichen Protes­
setzen sich nicht von allein durch. Zu­ tierer. Die müssen den politischen
mal die meisten technologischen Lö­ Druck weiterhin erhöhen. In wenigen
sungen wiederum neue Probleme Jahren werden sie selbst in verant­
nach sich ziehen. Es gibt nicht die eine wortlichen Positionen sein, in Unter­
neutrale Technologie, die uns die De­ nehmen, Organisationen und Verwal­
karbonisierung beschert. Stattdessen tungen.
gibt es konkurrierende Technologien, SPIEGEL: Und dann folgt der Klima­
und jede einzelne davon erzeugt marsch durch die Institutionen?
Maria Feck

unterschiedliche Gewinner und Ver­ Engels: In vielen sozialen Bewegun­


lierer, wenn sie flächendeckend ein­ gen sieht man Abschleif-Erscheinun­

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WISSEN

gen, in zehn Jahren werden nicht mehr alle Braunkohle­


der heutigen Protestierer die gleiche Einstel- abbaugebiet bei
lung haben. Bei einigen setzt sich vielleicht Lützerath
Bequemlichkeit durch. Aber viele von denen
haben, glaube ich, sich doch sehr ernsthaft
dieses Themas angenommen. Ich erwarte
schon, dass sich dieses Engagement in vielen
gesellschaftlichen Feldern niederschlagen
wird, was einiges verändern könnte.
SPIEGEL: Ist die Sorge vor einer antidemokra-
tischen Radikalisierung eines Teils der Klima-
bewegung begründet?
Engels: Das kann ich nicht komplett ausschlie-
ßen. Zunächst bewegt sich aber auch ziviler
Ungehorsam im demokratischen Rahmen.
SPIEGEL: Kann es sein, dass Klimaschützer
irgendwann eine kritische Masse erreichen
und dass sich der Wandel schneller vollzieht,
als Sie jetzt denken?

Dirk Kruell / laif


Engels: Ich würde mir wünschen, dass wir in
zehn Jahren sagen: Mit unserer Skepsis haben
wir doch eher übertrieben. Kipppunkte kann
man bei Innovationsprozessen, etwa der Ver-
breitung neuer Technologien, oft sehen. Erst Engels: Aber das hat mehrere Jahrhunderte SPIEGEL: Seit der Gründung des Weltklimarats
hat kaum einer ein Smartphone, dann haben gedauert und ist mit Kriegen einhergegangen. IPCC 1988 haben sich die vom Menschen
es alle. Beim Klimathema ist es aber nicht so Wir versuchen hingegen, die Dekarbonisie- verursachten CO2-Emissionen glatt verdop-
einfach. Wir haben oft schon scheinbare Kipp- rung rasch auf friedliche Weise zu erreichen. pelt. Haben wir also bisher trotz klarer War-
punkte gesehen, etwa bei der Klimapolitik Wir wollen auch nicht, dass irgendwo eine nung nichts erreicht?
der Uno. Im Nachhinein haben solche Durch- Weltregierung das gegen den Willen von allen Engels: Das würde ich so nicht sagen. Die öf-
brüche aber häufig die Erwartungen nicht Staaten umsetzt. fentliche Aufmerksamkeit für den Klimawan-
­erfüllt. Oft gibt es Stagnation. SPIEGEL: Brauchen wir Demokratien, um die del ist sehr stark gewachsen. Es sind politische
SPIEGEL: Ihr kürzlich vorgelegter Bericht zur Dekarbonisierung voranzubringen? Parteien entstanden, die sich dieser Aufgabe
Realisierbarkeit der aktuellen Klimaschutz- Engels: Eine Zeit lang haben viele ganz be- verschrieben haben. Das Klimathema ist in
ziele klingt pessimistisch. Wollen Sie sagen, geistert nach China geschaut, weil der Ausbau alle wesentlichen Gesellschaftsbereiche ein-
dass wir uns nun abfinden müssen mit einer von erneuerbaren Energien dort so viel be- gedrungen; eigentlich muss sich heute auch
Zukunft, die von der eskalierenden Klima- eindruckender vor sich ging als etwa in Euro- jeder Verein überlegen: Wie werde ich eigent-
krise geprägt sein wird? pa. Aber ich denke, dass Demokratien für den lich klimaneutral?
Engels: Das werfen uns jetzt natürlich viele langfristigen Umbau tatsächlich besser ge- SPIEGEL: Sind die Menschen angesichts der
vor. Unsere Botschaft ist aber diese: So, wie eignet sind. Wenn eine so gewaltige Trans- Größe dieses Problems schlicht überfordert?
wir jetzt aufgestellt sind, werden wir das formation geschafft werden soll, ohne Kriege, Engels: Wir können sicherlich sagen, dass die
1,5-Grad-Ziel verfehlen. Aber wenn wir uns ohne massive soziale Verwerfungen und Un- politischen Entscheidungssysteme damit bis-
tiefgreifend verändern, dann können wir im- gleichheiten, dann traue ich Demokratien da her überfordert waren. Die andere Frage ist
mer noch in Richtung einer Dekarbonisierung mehr zu als mitunter schnell agierenden Re- natürlich diese: Sind wir vielleicht psychisch
einschwenken. Natürlich ist das in der der- gimen wie in China. überfordert von der Situation? Wir sehen ja
zeitigen Verfassung der Welt nicht einfach. jetzt viele Gegenreaktionen. Leute schimpfen
Es kommt immer etwas dazwischen beim leidenschaftlich über die Protestierer gegen
Klimaschutz – Pandemie, Inflation, Ukraine- Gute Absichten, wenige Taten den Klimawandel, was sie davon ablenkt,
krieg. Und wer weiß, was sich in den nächsten über das eigentliche Problem nachdenken zu
Jahren zwischen den USA und China abspielt. CO2-Konzentration in der Atmosphäre, müssen, dass wir nämlich viele nötige Wen-
gemessen am Mauna-Loa-Observatorium
SPIEGEL: Die Internationale Energieagentur auf Hawaii, in ppm (parts per million) den noch nicht geschafft haben. Es ist natür-
IEA geht davon aus, dass in den nächsten fünf lich beängstigend und beschämend zu er­
Jahren mehr an Solar- und Windenergie auf- Monatsdurchschnitt saisonbereinigt leben, wie wir diesen schönen Planeten auf
gestellt wird als in den 20 Jahren zuvor. Das 2015 Klimakonferenz von Paris
diese Weise so herunterwirtschaften. Diese
ist doch ein Signal. Erkenntnis ist eine unglaubliche Bürde.
Engels: Das ist ohne Zweifel erfreulich, aber 2005 Kyoto-Protokoll tritt in Kraft SPIEGEL: Wenn wir das 1,5-Grad-Ziel auf­
nach wie vor wird massiv in die Erschließung 400 geben müssten, bleibt uns immer noch die
1995 erste Uno-Klimakonferenz
neuer Öl-, Gas- und Kohlevorkommen in- Alternative aus dem Pariser Abkommen,
vestiert. Um das 1,5-Grad-Ziel bis 2050 ein- nämlich die Erwärmung auf deutlich unter
zuhalten, brauchen wir dann eine Nullemis- 350 2 Grad zu begrenzen. Sind die Erfolgschancen
sionsgesellschaft weltweit. Die Grundlagen da höher?
dafür müssen wegen der langen Investitions- 1988 Gründung Engels: Selbst dafür müssen wir große gesell-
Weltklimarat (IPCC)
zyklen und des nötigen Infrastrukturumbaus schaftliche Veränderungen herbeiführen. Für
300 1979 erste Weltklimakonferenz
in diesem Jahrzehnt gelegt werden – doch das dieses Ziel haben wir ein bisschen mehr Zeit.
passiert nicht in ausreichendem Maße. 1958 Messbeginn Aber der Dekarbonisierungspfad muss richtig
SPIEGEL: Die Menschheit hat öfter schon Gro- und mit voller Konsequenz eingeschlagen
ßes bewirkt, sie hat etwa die Sklaverei ab- werden. Selbst den Anfang davon haben wir
geschafft und den Kolonialismus beendet. 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 noch nicht ernsthaft geschafft.
Sollten Sie ihr nicht mehr zutrauen? S Quelle: Scripps Institution of Oceanography Interview: Marco Evers  n

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WISSEN

torin Antje Boetius. »Die Ozeane


nehmen 93 Prozent der durch den
Klimawandel verursachten Wärme
auf und machen 90 Prozent des be-
lebten Raums der Erde aus«, mahnt
sie. »Wer dem Meer den Rücken zu-
kehrt, verkennt, dass es die Grund-
lagen unseres Überlebens absichert.«
Boetius ist eine der bekanntesten
Meeresforscherinnen Deutschlands.
Seit 2017 leitet »Deutschlands Eis-
königin« (»Bild«) das AWI. Ihr Büro
mit Blick auf die Wesermündung liegt
im vierten Stock des Hauptgebäudes
der Bremerhavener Forschungsstätte.
Als eine Art Anwältin der Meere will
die Forscherin die wissenschaftlichen
Grundlagen dafür schaffen, dass die

Bedrohte Wunderwelt Ozeane verantwortungsvoll genutzt


werden. »Wir erzeugen das Wissen,
das Schutzverträge wie BBNJ erst
­ermöglicht«, sagt sie.

Barcroft Pacific / animal.press


Beispiel Tiefseebergbau: Abertau-
Seit Jahren kämpft die Meeresbiologin
NATURSCHUTZ  sende Tonnen sogenannter Mangan-
Antje Boetius für den Schutz der Ozeane. Ein neues Uno-Abkommen knollen ruhen am Grund der Welt-
meere. Mangan wird zum Beispiel in
für die hohe See könnte jetzt den Durchbruch bringen. der Batterie- und Stahlproduktion
gebraucht. Die kartoffel- bis kohl-
kopfgroßen Klumpen enthalten allein

D
as erste Eisfisch-Nest erschien Doch die Ozeane sind bedroht, Tiefsee-Anglerfisch: in der Clarion-Clipperton-Zone süd-
um drei Uhr morgens auf dem in nie gekanntem Ausmaß. Bis zu Arche der Schönheit lich von Hawaii geschätzt sechs Mil-
und Skurrilität
Bildschirm von Lilian Böhrin- 90 Prozent der großen Fische sind liarden Tonnen des Stoffs – zehnmal
ger. Videoaufnahmen erreichten die bereits verschwunden. Plastikmüll mehr als die Lagerstätten an Land.
Biologin aus 450 Meter Wassertiefe wabert inzwischen in den tiefsten Auch Deutschland hat dort bereits
in ihrem Kontrollraum im Bauch des Meeresgräben. Bergbaukonzerne einen Claim abgesteckt. 2006 erwarb
Eisbrechers »Polarstern«. Darauf zu wollen die Rohstoffe der Tiefsee ber- die Bundesregierung die Nutzungsli­
sehen: eine Folge flacher Kuhlen im gen. Sogar die Chemie des Ökosys- zenzen für 75 000 Quadratkilo­me­ter
Meeresboden, jede von ihnen gefüllt tems gerät aus dem Gleichgewicht. Meeresgrund.
mit mehr als tausend blauen Eiern – Ein tödliches Trio aus Erwärmung, Die Flanken von Unterwasservul-
jeweils bewacht von einem Fisch. Sauerstoffmangel und Versauerung kanen wiederum sind mit Krusten aus
»Zuerst dachte ich, wow, was ist des Meerwassers konstatieren For- Kobalt überzogen, das etwa für zahl-
das denn«, sagt Böhringer, Dokto­ scher als Folge des menschengemach- reiche Legierungen gebraucht wird.
randin am Alfred-Wegener-Institut, ten Klimawandels. Schwarze Raucher speien an den Mit-
Helmholtz-Zentrum für Polar- und Die Konsequenzen für das Leben telozeanischen Rücken metallhaltige
Meeresforschung (AWI) in Bremer- in den Meeren, für das Weltklima, Massivsulfide und andere Mineralien
haven, »dann erschien ein Nest nach für Ernährung und Wohlstand der aus, die sich rundherum in dicken
dem anderen.« Der Fund von Fe­bruar Menschheit sind noch gar nicht ab- Schichten ablagern.
2021 war eine Weltsensation: Unter sehbar. Und doch ist ein Großteil der Forscherinnen wie Boetius warnen
der »Polarstern«, am Grund des Meere bislang kaum geschützt. Mehr vor dem unkontrollierten Abbau sol-
­antarktischen Weddell-Meeres, lagen als 60 Prozent der Ozeanfläche liegen cher Rohstoffe. Welche Folgen die
etwa 60 Millionen Fischnester, ver- in internationalen Gewässern, ein Förderung haben könnte, hat die Wis-
teilt über eine Ebene von mindestens kaum kontrollierter Raum, der mit senschaftlerin im ostpazifischen Peru-
240 Quadratkilometern. enormen Ressourcen lockt. Seine becken selbst ergründet.
»Wir haben in dieser Nacht die Nutzung wird bislang nur von einem Deutsche Wissenschaftler durch-
größte bislang entdeckte Kolonie brü- Flickenteppich aus internationalen pflügten dort bereits Ende der Acht-
tender Fische auf der Erde gefunden«, Verträgen geregelt. zigerjahre den Grund, um die Ernte
schwärmt Autun Purser, der am AWI Seit 2018 ringt die Staatengemein- von Manganknollen zu simulieren.
als Tiefseeökologe arbeitet. Über- schaft um einen neuen Vertrag. In Boetius und ihr Team kehrten 2015 an
rascht ist der Biologe nicht: »Kaum den kommenden zwei Wochen soll Bord des Forschungsschiffs »Sonne«
etwas ist so unerforscht wie die Wei- das sogenannte BBNJ-Abkommen an den Ort zurück. Ihre Erkenntnis:
ten der Ozeane.« (Biodiversity Beyond National Juris- Auch ein gutes Vierteljahrhundert
Esther Hor vath / AWI

Wild und geheimnisvoll sind die diction) nun in New York unter dem nach dem Experiment hatte sich der
Meere, sie nehmen gewaltige Mengen Dach der Vereinten Nationen zum Meeresboden noch nicht wieder voll-
Kohlendioxid auf und liefern den Abschluss gebracht werden. ständig erholt. »Das Umpflügen ent-
Sauerstoff für jeden zweiten Atem- Die Erwartungen sind groß. »Es ist fernt die bioaktive Schicht des Bo-
zug. Sie sind eine Arche der Schön- höchste Zeit, dass die Vielfalt der ho- Meeresforscherin
dens«, sagt Boetius, »das ist so ähnlich,
heit und Skurrilität, überbordend mit hen See und des Tiefseebodens effek- Boetius: »Wir als würde an Land die Humusschicht
Farben, Formen und Strukturen. tiv geschützt wird«, sagt AWI-Direk­ erzeugen Wissen« der Ackerböden abgetragen.«

98 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


WISSEN

Biologische Prozesse laufen in der Tiefsee


sehr langsam ab, die Regeneration des Mee- Wilder Westen unter Wasser
resbodens kann viele Hundert Jahre dauern.
Auf den Manganknollen leben zudem Orga- Rohstoffe auf dem Grund der Ozeane
nismen, die festen Untergrund brauchen. Die- Manganknollen* Kobaltkrusten Massivsulfide (Schwarze Raucher)
ser Lebensraum ist nach der Ernte der Knol- Hohe See jenseits nationaler Gewässer
len unwiederbringlich verloren.
Um derlei Schäden abzuwenden, fordern
die AWI-Experten ein internationales Mora-
torium für den Tiefseebergbau. Deutschland
hat sich bereits verpflichtet, vorläufig keine
Rohstoffe in der Tiefsee abzubauen. »Gerade
die mikrobiellen Prozesse im Meeresboden Pazifik
sind noch viel zu wenig erforscht«, sagt Boe-
tius, »dabei haben sie enorme Bedeutung,
etwa für die Fähigkeit des Meeres, den Klima-
wandel abzupuffern.« Clarion-
Die Meere speichern mehr Kohlenstoff als Clipperton-
Zone
alle Wälder und Böden des Planeten zusam-
men. Aktuell verschluckt das große Blau jedes
Jahr 25 bis 35 Prozent der durch den Men- Indischer
Ozean
schen verursachten CO2-Emissionen. Algen Atlantik
und andere von Fotosynthese lebende Orga-
nismen binden in den oberen Wasserschichten
CO2, werden anschließend gefressen oder
sterben ab. Als sogenannter mariner Schnee
sinken die Organismen dann in die Tiefe. Am * wirtschaftlich bedeutende Bereiche
Meeresgrund kann sich das organische Ma- S Quelle: World Ocean Review, 2021


terial für Millionen Jahre ablagern.


»Der Ozean ist das größte natürliche Sys- sie ­wieder ab. Die nächtliche Wanderung ist Fischerei oder Tiefseebergbau auf hoher See
tem der Erde, das der Atmosphäre langfristig die größte Tierbewegung des Planeten, ein umweltverträglich ablaufen und wer zur Ver-
CO2 entziehen kann«, sagt Frank Wenzhöfer, mächtiger Herzschlag des Meeres, der Wale antwortung gezogen werden kann, wenn es
der am AWI die Stoffkreisläufe in der Tiefsee und die großen Schwert- und Thunfisch- Schäden gibt.
erforscht. Wenzhöfer lässt »Lander« auf den schwärme der Erde speist. Der AWI-Expertise kommt in diesen Fra-
Meeresboden hinab, Roboter, die noch in den Wie können solche Wunder in die Zukunft gen besondere Bedeutung zu. Wer die hohe
tiefsten Ozeangräben Messungen vornehmen gerettet und für den Menschen nutzbar ge- See und die weiten Tiefseeebenen überwa-
und Proben nehmen können. So wiesen die macht werden? Genau darum geht es nun in chen und bewerten will, braucht schweres
AWI-Forscher bis in elf Kilometer Tiefe Mi- New York. Im August vergangenen Jahres wa- Gerät und leistungsfähige Forschungsschiffe.
kroplastik nach. ren die Verhandlungen noch gescheitert, »kurz In Planung ist am AWI derzeit als Nachfolger
Gleichzeitig entdecken die Roboter immer vor der Ziellinie«, wie Minna Epps von der des Eisbrechers »Polarstern« die »Polarstern
wieder neue Wunderwelten unter den Wellen. Weltnaturschutzunion IUCN berichtet. Jetzt II«. Sie soll 2027 in See stechen und auf Ant-
Auf Bergen unter dem Meereis der Arktis soll das BBNJ-Abkommen besiegelt werden. arktisfahrt gehen.
etwa fanden sich bis zu 900 Jahre alte Auf der Uno-Biodiversitätskonferenz im Ob sich dann auch die Eisfisch-Brutkolonie
Schwämme, die sich fortbewegen können, Dezember einigte sich die Staatengemein- am Grund des Weddell-Meeres wiederfinden
hinter sich eine Spur von Nadeln aus Glas. schaft auf das sogenannte 30-bis-30-Ziel, dem lässt? »Der Jonah-Eisfisch wird bislang noch
»Diese Schwämme sind quasi unsterblich«, zufolge 30 Prozent der globalen Meeres- und nicht kommerziell gejagt«, sagt der Biologe
sagt der Biologe Purser, der den spektakulä- Landfläche bis 2030 unter Schutz gestellt wer- Purser, »ohne Schutzmaßnahmen fürchten
ren Fund machte. den sollen. Mit dem BBNJ hoffen Artenschüt- wir jedoch, dass es dazu kommen könnte.«
Wundersame Quallen mit muskulösen zer darauf, dieses Ziel auf der hohen See Meeresbewohner in solcher Dichte würden
Mundarmen schweben durch die Weite. Auf durchzusetzen. Bislang ist nur etwa ein Pro- fast immer Begehrlichkeiten wecken und die
ihren weltumspannenden Expeditionen ha- zent davon geschützt. Trawler auf den Plan rufen, sagt der Biologe.
ben Meeresbiologen Fische gefunden, die fast Streit gibt es noch um die Frage, wie die Sterben jedoch die Eisfische, gerät ein gan-
ausschließlich aus einem riesigen Maul mit genetischen Ressourcen der Meere künftig zes Nahrungsnetz in Gefahr. Seesterne, Rie-
säbelartigen Fangzähnen und einem ­extrem gerecht genutzt werden können. Genmaterial senasselspinnen, Tintenfische, Plattfische und
dehnbaren Magen bestehen. von Meeresbewohnern könnte Landwirt- Weddellrobben leben von den Tiefseebewoh-
Sie gehören zu den Bewohnern der Däm- schaft, Industrie und Medizin voranbringen, nern und ihrer Brut.
merungszone der Weltmeere. In rund tausend sagt AWI-Chefin Boetius. »Es ist fantastisch, Purser und sein Team zögerten deshalb
Meter Wassertiefe ist das Licht nur noch fahl. wie Tiefseelebewesen zum Beispiel gelernt zunächst, die Koordinaten der untermeeri-
Doch im Halbdunkeln lebt es sich offenbar haben, sehr alt zu werden und sich ständig schen Flossentier-Kinderstube zu veröffent-
besonders gut. gegen Myriaden von Bakterien und anderen lichen. Am Ende taten sie es doch.
Hunderttausende Tintenfische und Myria- Erregern zu verteidigen«, erläutert die For- Die Fischnest-Kolonie liege in einem
den von Krebstierchen besiedeln dieses so­ scherin. Sie hofft beispielsweise auf neue Stof- ­Gebiet, das bislang nur mit Eisbrechern wie
genannte Mesopelagial. Sie sind stellenweise fe aus dem Meer, die unwirksam gewordene der »Polarstern« erreicht werden könne, sagt
so dicht gepackt, dass ihre Schwärme als Antibiotika ersetzen könnten. Doch wem der Biologe, »und wenn alle darüber Bescheid
dunkle Wolken auf den Sonaren von Schiffen würden solche Medikamente gehören, und wissen, lässt sich zumindest gemeinsam
zu erkennen sind. Mit Einbruch der Dunkel- wer würde von ihnen profitieren? ­darüber nachdenken, wie die Tiere effektiv
heit steigen sie zur Nahrungssuche bis fast an Zudem soll in New York besprochen wer- geschützt werden können«.
die Oberfläche auf. Sobald es hell wird, sinken den, wie künftig geprüft werden kann, ob Philip Bethge n

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 99


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KULTUR Panik Panzer auf
Kreuzfahrt
K ARRIEREN  Rapperbiografien
gibt es mittlerweile wie Sand
am Meer. Kein Wunder, ist doch
der nächste logische Schritt in
der Verwertungskette der Weg
aus den Spotify-Charts hinein
in die Buchhandlungen. Dort
wartet eine junge Leserschaft
darauf, mehr Hintergründe
zu der in Songs angeteaserten
Heldenreise eines Künstlers
zu erfahren. Oft geht es in sol­
chen Büchern vor allem um
die Überhöhung der eigenen
Person und die Glorifizierung
der nicht selten halb kriminellen
Vergangenheit. Diese Erwar­
tungshaltung unterläuft der
Rapper Panik Panzer von der
Antilopen Gang mit seinem
Buch »Der beste Mensch der
Welt«. Darin erzählt er episo­
denhaft Geschichten, bei denen
ullstein bild / Das Verborgene Museum

maximal der grobe biografische


Handlungsrahmen wahr ist
und der Rest märchenhaft aus­
Das Verborgene Museum

geschmückt wurde: Bereits als


Fünfjähriger verachtet er dem­
nach Punks, er beschreibt einen
Flugzeugabsturz über den An­
den, schließt sich ohne wirk­
Margo-Lion-Porträt von Riess, 1923 Creme-Mouson-Werbeaufnahme von Yva, um 1937
liche Überzeugung der lokalen
Antifa an (»Ich bin Panik Pan­

Fast vergessene Schätze


zer und würde gerne bei euch
mitmachen«), will aber doch
zur Bundeswehr. Er geht zudem
auf Kreuzfahrt, wird von Aliens
entführt, landet im Gefängnis,
FOTOGR AFIE  Eine Doppelausstellung in den Opelvillen Rüsselsheim stellt das Werk
wird Fernfahrer und reist
und Leben von zwei Fotopionierinnen des 20. Jahrhunderts vor. schließlich durch die Zeit zu­
rück. Irgendwann gibt es auch

S ie gehörten zu einer kleinen Gruppe Frau­


en, die in Deutschland zwischen den Welt­
kriegen als selbstständige Unternehmerin­
nen ihr Leben bestritten: Frieda Riess und die
dem sie eine dreijährige Ausbildung absolviert
hatte. Sie war damals erst 25 Jahre alt. Yva ver­
stand sich in erster Linie als Gebrauchsfotografin
und reüssierte mit ihren Werbefotografien auch
noch ein Rühreirezept. Panik
Panzer treibt das genreübliche
Spiel der Selbstglorifizierung
ironisch auf die Spitze, und
zehn Jahre jüngere Else Ernestine Neuländer, die international. Der Malerei war sie weniger ver­ das im Stil eines Lügenbarons,
sich Yva nannte. Das Werk dieser Gründerinnen bunden, sie wollte die Technik »dem künstleri­ der vor allem unterhalten will.
bedeutender Fotoateliers in Berlin ist fast ver­ schen Zweck unverfälscht dienstbar machen«, ­Wobei: Auch die Moral kommt
gessen, nur ein Bruchteil ist überliefert – jetzt wie sie es erklärte. Ihre Experimente mit Doppel­ nicht zu kurz. »Es ist wichtig,
werden sie in einer Doppelausstellung gewürdigt. belichtungen, mit denen sie Collagen komponier­ dass ihr eure Träume verfolgt
Beide waren Pionierinnen im Ausloten der te, gelten als revolutionär. Mit diesen gestaltete und nie den Glauben verliert.
Möglichkeiten für die damals noch recht junge sie auch Bildergeschichten in Illustrierten, eine Dann kann euch nichts aufhal­
Technik der Fotografie – und sie kamen zu ganz für die damalige Zeit neuartige Erzählform. ten.« Denn, so heißt es an ande­
unterschiedlichen Ergebnissen. Frieda Riess feier­ Dass Frieda Riess und Yva einander persönlich rer Stelle im Buch: »Gelegen­
te 1925 ihren Durchbruch mit einer Ausstellung, kannten, ist nicht belegt. Dass sie voneinander heiten liegen
die der berühmte Kunsthändler Alfred Flecht­ wussten, liegt nahe. Verbunden sind sie durch ihr vor euch
heim organisiert hatte – und wurde fortan nur späteres Schicksal: Beide stammten aus jüdischen wie gestran­
noch »die Riess« genannt. Bildhauerei und ex­ Familien, beider Leben wurde durch die Natio­ dete Meeres­
pressionistische Malerei beeinflussten ihre Auf­ nalsozialisten zerstört. Yva wurde 1942 deportiert tiere.« FRN
nahmen. Sie erarbeitete sich einen glänzenden und wahrscheinlich im KZ Sobibor sofort ermor­
Ruf als Porträtistin, Künstler- und Gesellschafts­ det, Riess überlebte den Krieg im Exil, sie starb Panik Panzer,
fotografin. Zu ihren Kunden und Kundinnen ge­ vereinsamt und verarmt Mitte der Fünfzigerjahre Martin Seeliger:
hörten Schriftsteller wie Gerhart Hauptmann und in Paris. KS »Der beste
Mensch der
Bühnenstars wie die Sängerin Margo Lion. Yva »Frieda Riess und Yva. Fotografien 1919–1937«. Opelvillen Welt«. Riva; 208
gründete ihr Studio in Berlin-Tiergarten, nach­ Rüsselsheim; 19. Februar bis 4. Juni. Seiten; 17 Euro.

102 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


Stadt der Feuer Babys genannt werden, manche
sind Vampire, andere haben
LITER ATUR  Als Geschichte über Flügel. Es geht Carson um die
Väter, »die ihre Rolle hinterfra- irische Vergangenheit, darum,
gen müssen, um sich selbst zu dass es keine Abkürzungen zum
finden«, wird »Firestarter« von Frieden gibt, und dass das, was
der nordirischen Autorin Jan Angst macht, verrückten Kon­
Carson im Klappentext ange- trollverlust hervorbringt. Aber
kündigt. Das klingt trendy, nach sie beschreibt auch das Span-
neuen Familienmodellen – und nungsfeld zwischen Gefühlsab-
führt komplett in die Irre. Was sorption und Gewaltausbruch,
stimmt: Im Mittelpunkt von Car- das so leicht explodieren kann;
sons Roman stehen zwei Väter, das Sammy im Alltag unter-
der Arzt Jonathan und Sammy, drückt, ihn aber nachts nicht
der in den Achtzigern Katholi- schlafen lässt. Drinnen trinkt
ken »nicht ganz tot, aber fast« Sammy seinen Tee ohne Milch
BENJAKON

Deichkind prügelte. Beide sind auf ihre und Zucker, um sich zu bestra-
Weise gestört. Doch ihre Proble- fen. Draußen brennen die Feuer,
me bringen vor allem Bewegung aber der Firestarter, der sie auch
Mariacron oder mal ab, sie stehen vor der Frage in Carsons Por­trät eines kaum angezündet hat, sitzt mit im
»Mariacron oder lieber Mari- gebändigten Belfast. Auch in Haus. Und Sammy ist sogar
Marihuana huana« und schlucken Guarana- diesem Sommer 2014 brennen in neidisch auf ihn. ETH
MUSIK  Deichkind waren früher Getränke, um nicht einzuschla- der Stadt Feuer, die Dutzende
Jan Carson: »Firestarter«. Aus dem
so etwas wie Deutschlands fen – denn die Fete wird sonst Meter hoch lodern. So wird je- Englischen von Stefanie Schäfer.
smarteste Bierhelmträger. Die auch mal verpennt. Das Album des Jahr der Schlacht am Boyne Liebeskind; 384 Seiten; 24 Euro.
Komponisten von Party-Natio- ist keine Neuerfindung im von 1690 gedacht, in der die
nalhymnen wie »Remmidemmi Sound. Dafür loten Deichkind protestantische Armee die Ka-
(Yippie Yippie Yeah)«, »Arbeit die Doppelmoral einer Luxus- tholiken besiegte. Durch das
nervt« und »Leider geil«. Die gesellschaft so genau und so Karfreitagsabkommen kaum be-
Produzenten von Quatsch mit selbstironisch aus wie selten: friedete Unruhen, Zerstörungs-
Soße und Anspruch. Was ma- »Fairphone, aber Apple-Aktien lust von Teenagern – all das
chen solche Leute, wenn sie so haben«, heißt es in »Merkste steckt in den Flammen. Und ein
langsam auf die 50 zugehen? selber«, »Kinosterben beklagen, anonymer Zündler wiegelt im
»Kids in meinem Alter haben aber dann schön Netflix gu- Internet auf. Sammy ist sicher:
Geld und schieben Frust«, rappt cken«. Und wer sich als Groß- Sein Sohn könnte bald für den

Philippe Matsas / opale.photo / laif


Philipp Grütering alias Kryptik städter dem Peter-Wohlleben- Tod von Menschen verantwort-
Joe auf dem achten Album Wald-Liebhaber-Hype an- lich sein. Ihm gegenüber stellt
»Neues vom Dauerzustand«. schließt, wünscht sich dann Carson eine magische Erzäh-
»Kids in meinem Alter gucken doch »zum Hermannplatz zu- lung: Jonathan wurde vom Ge-
nach atemberaubenden Garten- rück«. Am Ende bleiben Deich- sang einer Sirene verführt und
lauben« und »denken an Bier, kind auf ihrem neuen Album, hat Angst, dass aus seinem Baby
aber trinken Schampus«. Die was sie schon immer waren. ein »Unglückskind« wird, wie in Carson
Bierhelme legen Deichkind jetzt Fantastische Beobachter. SKR den armen Vierteln besondere

Moderne Mädchen pasalo ­erzählte in vergange- teln gedreht, verleiht den klas­ die Be­ziehungen zwischen
nen Filmen schon über Gender sischen Themen des Genres – den Mädchen schildert sie ge-
KINO  Die finnische Regisseurin Bias und Machtmissbrauch, erste Liebe, ­Sexualität, Pro­ nau: Mimmi kom­pensiert ihre
Alli Haapasalo spielt in ihrem jetzt hat sie eine Coming-of- bleme mit den Eltern – aber Unsicherheit durch eine se­xu­
neuen Werk »Girls Girls Girls« Age-Geschichte in drei Kapi- eine kluge Tiefe. Besonders elle Ausgelassenheit, die ihre
(ab 23. Februar im Kino) mit Bindung zu Emma ins Strau-
dem Stereotyp des niedlichen cheln bringt. Rönkkö hin-
Mädchens – und verleiht die- gegen hat Schwierigkeiten,
sem allein durch die Wahl des ihre Bedürfnisse im Bett über-
Filmtitels neuen Punch. Denn haupt auszudrücken. Mimmi
schwach und süß sind ihre formuliert es so: »Keiner ka-
drei Protagonistinnen nicht. piert, wenn du nicht Dinge
Die Teenager Mimmi und sagst wie höher oder tiefer.«
Rönkkö arbeiten an einem Als sich Rönkkö dann doch
Smoothiestand im Einkaufs­ öffnet, scheint wiederum das
zentrum. Die Eiskunstläuferin zum Problem zu werden,
Emma hat den Sport schon weil der Typ, der neben ihr
immer zu ihrem Lebensmit­ im Bett liegt, mit ihrer Offen-
telpunkt gemacht. Als sie je- heit nicht umgehen kann.
doch Mimmi kennenlernt, Haapasalo findet aber auch
verlieben sich die beiden, ein für Rönkkö eine ­Lösung –
Salzgeber

neues ­Gefühl für die emotio- Szene aus »Girls Girls Girls« auf ihre Figuren blickt sie
nal aus­gekühlte Mimmi. Haa- mit großer Fürsorge. JGA

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 103


KU LT U R

»Ich bin ein Träumer, im Schlaf und im Wachzustand.«

Merie Weismiller Wallace / Universal Pictures and Amblin Enter tainment


Cour tesy of Amblin Enter tainment

Amateurfilmer Spielberg 1964,


Darsteller Gabriel
LaBelle in »Die Fabelmans«

»Das Kino ist mein Psychiater«


SPIEGEL-GESPRÄCH  Steven Spielberg ist der erfolgreichste Regisseur aller Zeiten, seine Werke begleiteten das
Leben von Millionen. Jetzt hat er seine eigene Jugend verfilmt – und erzählt, wie er wurde, was er ist.

Spielberg gilt als einer der mächtigsten Auf der diesjährigen Berlinale wird er für sein Spielberg: Über die physiologischen Folgen
­Männer Hollywoods. Über zehn Milliarden Lebenswerk mit dem Goldenen Ehrenbären kann ich nur spekulieren. Aber eines kann
Dollar brachten die mehr als 30 Kinoproduk- ausgezeichnet. ich Ihnen versichern: Bei uns zu Hause gab
tionen ein, die er seit 1973 gedreht hat. Seinen In der Filmbiografie »Die Fabelmans«, die es nie einen uninteressanten Augenblick. Oft
Durchbruch hatte der 1946 in Cincinnati ge- auf der Berlinale Deutschlandpremiere feiert fangen Kinder an zu nörgeln, wenn sie nichts
borene Sohn jüdischer Eltern mit dem Mons- und danach am 9. März in die deutschen Kinos mit sich anzufangen wissen: Mum und Dad,
terfilm »Der weiße Hai« (1975). Er schuf da- kommt, erzählt der Regisseur von seiner Kind- mir ist so langweilig! Diesen Satz habe ich zu
mit eine Blaupause für moderne Hollywood-­ heit und Jugend im Amerika der Fünfziger- meinen Eltern nie gesagt. In einer Familie, in
Blockbuster. und Sechzigerjahre. Es ist eine Hommage an der es so grundverschiedene Leidenschaften
Mit dem Indiana-Jones-Spektakel »Jäger seine Familie und seine früh entdeckte Leiden- gibt, herrscht keine Langeweile.
des verlorenen Schatzes« (1981) und dem schaft: das Filmemachen. Bei den diesjährigen SPIEGEL: Die Geschichte Ihrer Familie ist fan­
­Science-Fiction-Film »E. T.« (1982) festigte er Oscars ist »Die Fabelmans« als bester Film tastischer Erzählstoff. Warum haben Sie erst
seinen Ruf als Meister der Kinounterhaltung. nominiert, Spielberg als einer der Favoriten jetzt einen Film daraus gemacht?
Als Produzent förderte er die Karrieren vieler für die beste Regie. Spielberg: Ich versuche, ständig hinzuzu­
Regisseure. 1993 brachte er das Holocaustdra- lernen, über mich und die Welt. Diese Samm­
ma »Schindlers Liste« auf die Leinwand, ein SPIEGEL: Herr Spielberg, wie man in »Die lung von Erfahrungen wächst. Ich bin glück­
Jahr später rief er die Shoah Foundation ins Fabelmans« sehen kann, hatte Ihr Vater eine lich, dass manches davon in meine Filme ein­
Carlyle Routh / Universal Pictures and Amblin Enter tainment

Leben, die sich die Dokumentation der Be- große Leidenschaft für Technik und Ihre Mut­ geflossen ist. Aber diese Filme handelten von
richte von Holocaustüberlebenden zur Auf- ter ein Faible für Kunst. Als Filmregisseur anderen Menschen. Ich habe in vielen Genres
gabe gemacht hat. brauchen Sie beides. War Ihre Familie der gearbeitet, weil ich will, dass jedes meiner
Fortan drehte Spielberg vermehrt politische perfekte Nährboden für Sie? Werke ein wenig anders ist. Dass ich in mei­
Filme wie »München« (2005), in dem er sich Spielberg: Mein Vater war Elektroingenieur nem Leben Erfahrungen gemacht habe, die
mit den Folgen der Attentate palästinensischer und einer der Pioniere der Computerindus­ ich für ganz verschiedene Filme nutzen konn­
Terroristen während der Olympischen Spiele trie. Meine Mutter war Hausfrau und Pianis­ te, war für mich selbstverständlich. Ich habe
1972 beschäftigte. Spielberg arbeitete in vielen tin. Mein Vater nahm die eine Hälfte meines lange gebraucht, um zu begreifen, dass meine
Genres, 2021 kam seine Neuverfilmung des Hirns in Beschlag, meine Mutter die andere. eigene Geschichte erzählenswert ist. Obwohl
Musicalklassikers »West Side Story« ins Kino. Ich weiß nicht, was es mit mir gemacht hat, mir meine Mutter gesagt hatte: »Steven, du
dass ich in dieser Familie aufgewachsen bin. musst einen Film über uns machen, wir liefern
Das Gespräch führten die Redakteure Lars-Olav Beier SPIEGEL: Möglicherweise haben Sie ein ziem­ dir so tollen Stoff.«
und Andreas Borcholte. lich aktives Gehirn entwickelt. SPIEGEL: Was haben Sie erwidert?

104 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


KU LT U R

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 105


KU LT U R

»Der Film ist genauso jüdisch, wie ich mich fühle.«

Merie Weismiller Wallace / Universal Pictures and Amblin Enter tainment


Arnold Spielberg / Cour tesy of Amblin Enter tainment
Spielberg-Familie 1956,
Szene aus
»Die Fabelmans«

Spielberg: Ich habe gesagt: »Das mache ich ins Kino geht, sagt er: »Träume sind furcht- Fernsehen. Mein Vater verdiente sich Geld
doch schon ständig!« Vieles von dem, was erregend«. Träumen Sie viel? hinzu, indem er defekte TV-Geräte reparier-
mir meine Eltern mitgegeben haben, steckt Spielberg: Ja, ich bin ein Träumer, im Schlaf te. Ich war begeistert von den Löwen, den
in meinen Abenteuerfilmen und auch in mei- und im Wachzustand. Allerdings nehme ich Trapeznummern, von Jimmy Stewart als
nen historischen oder politischen Filmen. meine nächtlichen Träume nie persönlich und Clown – doch dann gab es plötzlich ein Zug-
Doch nachdem meine Mutter die HBO-Do- benutze sie nicht als psychoanalytische Über- unglück. Auf einmal war alles wie weggebla-
kumentation von 2017 über mich gesehen setzungshilfe. Der Drang, durch die Beschäf- sen. Die Szene hat mich sehr erschreckt und
hatte, für die sie interviewt worden war, sag- tigung mit meinen Träumen mehr über mich traumatisiert.
te sie: »Ich glaube, darin verbirgt sich eine zu erfahren, ist mir eher fremd. Ich habe das SPIEGEL: Für Sie war das Unglück real?
größere Geschichte.« Das war der entschei- Gefühl, dass ich ganz gut im Lot bin. Ich war Spielberg: Ich habe alles für bare Münze ge-
dende Impuls. Zusammen mit Tony Kushner auch noch nie in Therapie. Das Kino ist mein nommen. Erst als ich älter war und den Film
habe ich dann das Drehbuch entwickelt. Psychiater. Wenn ich einen Traum habe, der noch einmal sah, wurde mir klar, wie diese
SPIEGEL: Kushner hatte für Sie schon die nicht angenehm ist, versuche ich ihn mög- Szene gedreht worden war. Daraufhin habe
Drehbücher zu »München« (2005), Lincoln« lichst schnell zu vergessen. ich sie nachgestellt und gefilmt. Auf diese Wei-
(2012) und »West Side Story« (2021) ge­ SPIEGEL: Weil er Ihnen Angst macht? se habe ich meine Angst unter Kontrolle be-
schrieben. Spielberg: Weil es für mich keinen Sinn ergibt, kommen. Filme haben mir den Weg gebahnt,
Spielberg: Als wir an »München« arbeiteten, mich mit ihm zu beschäftigen. Ich habe viel meiner Ängste Herr zu werden.
redeten wir viel über unser Privatleben. Tony zu viel um die Ohren. Natürlich kann man SPIEGEL: Der erste Film der Kinogeschichte,
sagte schon damals: »Du hast so viele gute den ganzen Vormittag lang darüber grübeln, der sein Publikum in Angst und Schrecken
Geschichten erlebt, schreib die mal auf!« So was der Traum der letzten Nacht bedeuten versetzt hat, war 1896 »Die Ankunft des Zu-
fing es an, mit der Idee, alles endlich mal fest- könnte. Aber dann kriegt man nichts auf die ges auf dem Bahnhof in La Ciotat«. Die Zu-
zuhalten. Dann überlegten wir, daraus ein Reihe. Außerdem machen mir Albträume schauer gerieten in Panik, weil sie dachten,
Buch zu machen. Irgendwann sagte Tony: weitaus weniger Angst als das Leben. Aus der Zug würde direkt auf sie zu fahren.
»Nein, das ist ein Film!« – »Seltsam, meine einem Albtraum wacht man auf, aus dem Spielberg: Diese Zeit der Unschuld vermisse
Mutter findet das auch«, erwiderte ich. »Du ­Leben nicht. ich. Die Leute wussten damals nicht, was da
solltest auf deine Mutter und deinen Freund SPIEGEL: Gibt es Ihnen ein Gefühl von Sicher- vor ihnen passierte. Erst wenige Menschen
hören«, meinte Tony nur. heit, wenn Sie Filme drehen? hatten Familienfotos an den Wänden hängen.
SPIEGEL: Bislang hatte man eher das Gefühl, Spielberg: Wenn ich mich als Regisseur sicher Man musste zu professionellen Fotografen
dass Sie der Öffentlichkeit nur wenig von fühle, bin ich auf dem falschen Weg. Dann gehen, um Bilder von sich machen zu lassen.
Ihrem Privatleben preisgeben. gehe ich nämlich kein Risiko mehr ein. Es ist Dann kamen die Nickelodeons auf, man warf
Spielberg: Ich versuche es zu schützen, ich für mich essenziell, mich auf dünnes Eis zu eine Münze ein und konnte einen Film sehen.
bin eine sehr private Person. Deshalb war ich begeben. Ich leiste bessere Arbeit, wenn ich Die ersten 30 Jahre der Filmgeschichte waren
lange nicht bereit, meine Geschichte zu er- mit mir ringe, was die beste Lösung ist, als für ganz normale Menschen eine sehr auf­
zählen. Obwohl einige meiner Idole das wenn ich einen Fortsetzungsfilm drehe. Na- regende Zeit, in der sie sich in den Träumen
schon getan hatten: Mein Freund François türlich ist es schön, wenn der am ersten Wo- anderer komplett verlieren konnten.
Truffaut in »Sie küssten und sie schlugen chenende viel Geld einspielt. Doch wenn ich SPIEGEL: Das klingt nach Flucht vor der Wirk-
ihn«, Federico Fellini in »Amacord«, Louis keine Angst mehr habe, nehme ich mich selbst lichkeit.
Malle in »Auf Wiedersehen, Kinder«. Es gab nicht hart genug ran. Spielberg: Wer sich in den Träumen anderer
also Vorbilder, aber ich war zu schüchtern. SPIEGEL: Kino und Angst, gehört das vielleicht verliert, fängt selbst an zu träumen – und
»Die Fabelmans« ist ja so etwas wie ein sogar zusammen? kann den Drang entwickeln, seine Träume zu
­öffentliches Geständnis. Spielberg: Anfang der Fünfzigerjahre sah ich verwirklichen. Der Beginn des Kinos war der
SPIEGEL: Als Ihr Alter Ego Sam in »Die Fa- meinen ersten Film im Kino, »Die größte Beginn der Revolution unserer globalen, kol-
belmans« zum ersten Mal in seinem Leben Schau der Welt«. Bis dahin kannte ich nur lektiven Imagination.

106 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


KU LT U R

SPIEGEL: Stimmt es eigentlich, dass Spielberg: Überhaupt nicht. Eines Ta­ innerungen daran, wie es war, im Al­
Sie dachten, die Coronapandemie ges, wenn man eigene Kinder hat, tritt ter zwischen 6 und 18 Jahren aufzu­
würde die ganze Menschheit auslö­ man seinen Eltern auf Augenhöhe wachsen. Ich bin jüdischer Abstam­
schen, und dass Sie deswegen unbe­ gegenüber. Aber nicht so früh. mung, und meine Großeltern waren
dingt noch diesen einen Film machen SPIEGEL: War das ein Verlust von koscher. Wir waren es nicht. Aber
wollten? ­Unschuld? als meine Großeltern uns für einen
Spielberg: Nun, wissen Sie, ich habe Spielberg: Ja. Es ist schlimm, ein Monat besuchen kamen, waren wir
Ehefrau Kate
nun einmal eine sehr große Vor­ ­Geheimnis zu kennen, ohne es mit Capshaw koscher. Und als sie dann zurück
stellungskraft, und daraus ergeben jemandem teilen zu können. Ich nach Cincinnati, Ohio, gingen, waren
sich viele, viele gruselige Tagträume. konnte das nicht, weder mit meinen wir nicht mehr koscher. Ich konnte
Was ich nachts träume, macht mir Geschwistern noch mit meinem Vater. Familie die Geschichte der Fabelmans nicht
keine Angst, aber was ich am Tag Nur meine Mutter und ich kannten Spielberg erzählen, ohne die Geschichte der
träume, das schon! Als wir in Ameri­ es. Ich trug es jahrelang mit mir Religion und des Glaubens mit ein­
ka 100 000 Covid-Tote erreichten, ­herum. zubeziehen. Der Film ist genauso
dachte ich an diesen Film, den Steven SPIEGEL: Dennoch hat das Kind in ­jüdisch, wie ich mich fühle.
Soderbergh vor Jahren gemacht hat, Ihnen überlebt, vielleicht sogar bis SPIEGEL: In Ihrem Film wird der j­ unge
»Contagion«, und dass das Leben nun heute. Sam an der High School verprügelt,
die Kunst imitieren würde. Ich muss­ Spielberg: Meine Kindheit ist nie weil er Jude ist. Wann haben Sie
te mir also die Frage stellen: Wenn es weit weg. Sie entschwindet nicht, im selbst zum ersten Mal Antisemitismus
nur noch einen Film gäbe, den ich Gegenteil, sie wird immer bedeuten­ Stieftochter erlebt?
machen dürfte, was wäre er? Und der. Ich habe viele Filme aus der Sicht Jessica Capshaw Spielberg: Ich habe von Antisemitis­
dann wusste ich, dass es die Geschich­ von Kindern erzählt. Geschichten mus zunächst nur durch die Tisch­
te meiner Kindheit sein musste. über die Ermächtigung von Kindern gespräche meiner Eltern erfahren,
SPIEGEL: In »Die Fabelmans« be­ sind sehr stark. denn sie sprachen beim Abendessen
kommt Sam von seinem Onkel Boris SPIEGEL: Wann wurde Ihnen klar, dass oft über Antisemitismus am Arbeits­
eine Lektion erteilt. Sie lautet: Der es vielleicht nicht reicht, die Men­ platz, Antisemitismus in der Nach­
Konflikt zwischen Familie und Kunst schen zu unterhalten? barschaft, Antisemitismus in den
kann dich zerreißen. Wie war das Spielberg: Das war, als ich bei »Die Sohn Max Nachrichten, Antisemitismus in der
bei Ihnen? Farbe Lila« Regie führte. Ich weiß Spielberg ganzen Welt. Und natürlich war der
Spielberg: Er hat mich mein Leben noch, warum ich mich mit dieser Holocaust etwas, worüber meine El­
lang beschäftigt. Wir haben sieben ­Geschichte so verbunden fühlte: Es tern redeten, seit ich mich erinnern
Kinder und sechs Enkel. Die Familie ging darin auch um eine Trennung, kann. Wir nannten es damals nicht
steht an erster Stelle, und doch muss um das gewaltige Trauma der Schei­ Holocaust, meine Eltern nannten es
ich immer wieder monatelang weg, dung, das mir und meinen drei die »großen Morde«, aber darüber
um in anderen Ländern zu drehen. Schwestern widerfahren ist und auch wurde bei uns zu Hause ständig offen
Diese Entscheidung, das Zuhause meinen Vater und meine Mutter trau­ Tochter Sasha diskutiert. Ich war mir also darüber
Spielberg
zu verlassen und für meine Kinder matisiert hat. Als der Vater im Film im Klaren, was in der Welt geschah
nicht da sein zu können, ist ein Bei­ die beiden Schwestern Nettie und und was viele Menschen, egal ob in
spiel für die ständige Zerreißprobe ­Celie auseinanderreißt, hat mir das Übersee oder in Amerika, über Juden
zwischen der Liebe zu meiner Fami­ sehr geholfen, eine Menge meiner dachten. Aber das erste Mal, dass ich
lie und meiner Liebe zum Kino. Die Dämonen zu verarbeiten, das ganze wirklich persönlich mit antisemiti­
Lektion von Onkel Boris ist der emotionale Gepäck, vor dem ich mich schen Beleidigungen konfrontiert
Schlüssel für den gesamten Film. Sam versteckt hatte. wurde, war tatsächlich an der High­
erfährt in »Die Fabelmans«, wie wahr SPIEGEL: Um Trennungen ging es aber Sohn Sawyer school. Als wir noch in Arizona leb­
Spielberg
es ist. Als er Filmaufnahmen von auch schon in Ihren früheren Filmen. ten, war ich überhaupt nicht direkt
einem Campingausflug der Familie Spielberg: Das stimmt, schon »E. T.« mit Antisemitismus konfrontiert wor­
sichtet, stellt er beim Betrachten war eigentlich eine Geschichte über den. Es gab ein paar Witze, Juden­
der Bilder fest, dass seine Mutter eine eine Trennung: Die Kinder Elliott, witze, die ich von Zeit zu Zeit hörte,
Affäre hat. Gertie und Michael müssen ohne aber nichts war gegen mich persönlich
SPIEGEL: Ist die Kamera für Sie ein ihren Vater zurechtkommen, denn als Klassenkameraden gerichtet. Erst
Mittel, um die Wahrheit aufzudecken? der hat Spaß mit seiner neuen Freun­ als ich nach Nordkalifornien zog, er­
Tochter Destry
Spielberg: Als Jugendlicher war die din in Mexiko. »E. T.« sollte tatsäch­ Allyn Spielberg lebte ich Antisemitismus in ziemlich
Kamera für mich in zweierlei Hinsicht lich mein erster Film über das Schei­ genau der Art und Weise, wie er auch
wichtig. Zum einen konnte ich mit dungstrauma sein, aber dann hatte im Film dargestellt wird.
ihr ausdrücken, was in mir vorging. ich die Idee, ein Alien in die Story SPIEGEL: Wenn Sie also in Ihrer Fa­
Zum anderen war sie eine Art Waffe, einzubauen – und dann wurde es et­ milie über den Holocaust gesprochen
mit der ich mich zur Wehr setzen was ganz anderes. Aber in den Wur­ haben, bedeutet das, dass »Schindlers
konnte. Doch als ich 16 war, machte zeln von »E. T.« liegen auch die Wur­ Liste« als Filmprojekt schon sehr viel
ich bei der Arbeit an unserem Fami­ zeln meines Traumas. Tochter Mikaela früher in Ihrem Kopf war als erst in
lienfilm diese Entdeckung über meine SPIEGEL: Und jetzt sind Sie sozusagen Spielberg den Neunzigerjahren?
Mutter. In dem Moment wurde mir beim Urtrauma angekommen, indem Spielberg: Ja, ich hätte vermutlich
klar, dass sie ein Mensch wie ich ist. Sie erstmals Ihre eigene Geschichte nicht viel mit dem Buch anfangen
Aus meiner Mutter wurde eine Per­ direkt aufbereiten. Auffällig ist, wie können, wenn ich nicht so viel über
son. Das sollte nicht passieren, bevor sehr Sie Ihre jüdischen Wurzeln in die Schoa gewusst hätte. Eine meiner
Getty Images (7), ddp

man das Elternhaus verlässt und aufs »Die Fabelmans« betonen. Was war frühesten Erinnerungen ist, wie ich
College geht. der Grund? zählen lernte. Viele Kinder, die bei
SPIEGEL: Sie waren darauf nicht Spielberg: Nun ja, der Film ist eine Sohn Theo uns aufwuchsen, lernten die Zahlen,
­vorbereitet. Sammlung meiner bestmöglichen Er­ Spielberg indem sie die »Sesamstraße« guckten;

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 107


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ich aber habe meine Zahlen im Alter von drei das wird natürlich jemandem passieren, der
Jahren auf dem Arm eines Auschwitz-Über- Seine größten herausgefunden hat, wie Telomere funktio-
lebenden gelernt, als meine Großmutter
10 bis 20 ungarischen Überlebenden in ihrem
­Kinoerfolge nieren …
SPIEGEL: … der also das Geheimnis der Zell-
Haus in Cincinnati Englisch beibrachte. Sie alterung in der menschlichen DNA entschlüs-
alle hatten Zahlen auf ihren Unterarmen. Ich selt hat. Vielleicht hat der 100-Jährige aber
erinnere mich nicht an die Geschichten der auch einen Avatar, der für ihn läuft.
Menschen am Tisch, erst Jahre später erklär- Spielberg: Ha, den Film habe ich schon ge-
ten mir meine Eltern, wer sie waren. Aber da dreht, er heißt »Ready Player One«!
war dieser eine nette Mann, der mir all die SPIEGEL: Das war einer Ihrer letzten großen
Zahlen auf seinem Arm zeigte und mir er- Erfolge, er spielte weltweit fast 600 Millionen
klärte, was eine Fünf ist. Und er sagte: »Das Dollar ein. »Die Fabelmans« hingegen hat in
ist eine Vier und das eine Sieben.« Und er den USA Probleme, viele Zuschauer anzu-

Universal / ddp
sagte: »Lass mich dir einen Zaubertrick zei- locken. Wie sehr besorgt Sie das?
gen: Das hier ist eine Sechs. Aber wenn ich 1 Spielberg: Ich bin erst einmal dankbar dafür,
meinen Arm in diese Richtung drehe, ist es dass ich überhaupt die Gelegenheit hatte,
eine Neun. Und wenn ich meinen Arm dann ­diesen Film zu machen. Es enttäuscht mich
wieder zurückdrehe, ist es wieder eine aber, dass nicht viele Leute den Film im Kino
Sechs.« Das werde ich nie vergessen, es hat gesehen haben, obwohl eine Menge ihn jetzt
mich mein ganzes Leben lang begleitet. Ich im Streaming sehen, auf Apple oder all den
hätte niemals die Fähigkeit oder auch nur die anderen Diensten, die ihn anbieten. Er hat
Neigung gehabt, die Geschichte von »Schind- dort ein riesiges Publikum, was großartig
lers Liste« zu erzählen, wenn ich nicht all ist. Wenigstens sehen ihn die Leute sich an!
diese Erfahrungen gemacht hätte, die ihr Aber ich mache Filme für das Kino, nicht fürs

Paramount / ddp
­vorausgingen. Fernsehen.
SPIEGEL: Nehmen Sie in Amerika ein Er­ SPIEGEL: Ist das ein Anzeichen eines größeren
starken antisemitischer Tendenzen wahr? 2 Umwälzungsprozesses in der Filmbranche?
Spielberg: Der Antisemitismus nimmt stetig Viele renommierte Regisseure haben weniger
zu, der letzte Zyklus begann wahrscheinlich Berührungsängste als Sie.
vor acht oder neun Jahren, das habe ich auch Spielberg: Viele der Filme, die rein für Strea-
durch meine Arbeit mit der Shoah Foundation ming gedreht werden, sind großartig, und ich
beobachten können. Wahrscheinlich habe ich respektiere das. Aber solange Filme für Er-
heute mehr Angst vor Antisemitismus in die- Universal / Bridgeman Images wachsene an den Kinokassen nicht so gut ab-
sem Land, als ich es jemals zuvor in meinem schneiden, werden die Streaminganbieter den
Leben hatte. Filmemachern immer seltener eine Kinoaus-
SPIEGEL: Wollten Sie auch deshalb mit »Die wertung anbieten. Deshalb bin ich auf die
Fabelmans« zeigen, wie normal und selbst- Filme anderer angewiesen, wie zum Beispiel
verständlich es ist, eine jüdische Familie in »Elvis« von Baz Luhrmann. Er lief sehr gut
Amerika zu haben? 3 im Kino. Das gilt auch für Tom Hanks’ neuen
Spielberg: Ich wollte einfach eine komplette Film »Ein Mann namens Otto«, der sich fast
Geschichte erzählen, die einen Anfang, eine ausschließlich an Erwachsene richtet. Tom
Mitte und ein Ende hat. Aber es gab in dieser Hanks, der auch in »Elvis« zu sehen ist, hat
Geschichte bestimmte Schlüsselmomente aus also gerade in zwei Filmen mitgewirkt, die
meinem Leben, ohne die ich den Film nicht mir ein bisschen Hoffnung geben, dass Filme,
machen wollte. Bei all der Comedy und all die auch ein älteres Publikum ansprechen,
der Leidenschaft zu zeigen, wie es ist, jung langsam, aber sicher ein Comeback erleben
Universal / akg-images

zu sein und Geschichten zu erzählen und werden. Darauf verlasse ich mich. Ich glaube,
Achtmillimeterfilme zu drehen, bei denen sich wir alle sollten darauf hoffen.
jeder in der Nachbarschaft als Soldat des SPIEGEL: Sie haben in sehr vielen verschiede-
Zweiten Weltkriegs verkleidet und in die 4
nen Genres gearbeitet. Was noch fehlt, ist ein
­Wüste geht, um diese Kriegsfilme zu drehen Superheldenfilm.
– bei all diesen Entdeckungen wollte ich den Spielberg: Ja, das stimmt. Aber wissen Sie,
jungen Leuten von heute zeigen, dass sie mit meine Mutter und mein Vater waren meine
ihren iPhones losziehen und Filme machen Superhelden. Was das betrifft, habe ich mit
können, wie ich es damals mit meiner Kame- »Die Fabelmans« also auch so etwas wie einen
ra getan habe. Es gab aber auch signifikante Superheldenfilm gedreht.
Momente in meinem Leben, die zur Schei- SPIEGEL: Kommerziell gesehen sind Sie der
Universal / picture alliance

dung meiner Eltern und zu jener Zeit führten, erfolgreichste Regisseur der Filmgeschichte.
als ich mit der Highschool fertig war, die ich Welche Bedeutung hat das für Sie?
erzählen und über die ich sprechen musste. Spielberg: Nun, es bedeutet, dass die Men-
Und deshalb sind sie in diesem Film enthalten. schen seit fast 50 Jahren meine Filme in den
SPIEGEL: Ihre Mutter starb mit 97, Ihr Vater 5 Kinos gesehen haben. Es macht mich sehr
wurde 103: Welchen Film werden Sie drehen, stolz, das zu wissen. Und ich hoffe einfach,
wenn Sie 100 Jahre alt sind? dass das Publikum weiterhin Filme unter-
Spielberg: Wenn ich 100 bin? Würde ich ger- 1 | »Der weiße Hai« 1975  stützt und sie an den Orten sieht, an denen
ne einen Film über einen Mann machen, der 2 | »Jäger des verlorenen Schatzes« 1981  sie gezeigt werden sollten.
3 | »E. T. – Der Außerirdische« 1982 
gerade 100 Jahre alt geworden ist und be- 4 | »Jurassic Park« 1993  SPIEGEL: Herr Spielberg, wir danken Ihnen
schlossen hat, einen Marathon zu laufen. Und 5 | »Schindlers Liste« 1993  für dieses Gespräch. n

108 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


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ist dem Publikum und seiner Orien-


tierung verpflichtet – sowie der
Kunst, zu deren Verbesserung sie
idealerweise einen bescheidenen Bei-

Mit einer Handvoll


trag leistet. Sie hat allerdings, will sie
brauchbar sein, bei aller Härte die
Argumente für ihr ästhetisches Urteil

Dackelkacke
darzulegen. Das kann plausibel sein,
aber keine objektive Gültigkeit be-
anspruchen. In dieser Sphäre finden
Beweise nicht statt. Die Kritik ist ein
oft unerwünschtes Gesprächsange-
ÜBERGRIFFE  Die Attacke des Choreografen Marco Goecke bot, mehr nicht. Steht sie ihrerseits in
der Kritik, kommt ein Gespräch in
auf eine Journalistin ist ein Skandal – und ein Gang – über Kunst.
Symptom der schleichenden Zerrüttung von Kunst und Kritik. Weshalb Künstler gut beraten
sind, sich die PR-Strategie des briti-
schen Königshauses zu eigen zu

G
ustav und sein Besitzer sind un- kum, sondern der kundige Konsu- ­machen: »Never complain, never ex-
zertrennlich. Auf Proben, auf ment trat aus der Masse hervor und plain«. Was leichter gesagt als getan
Reisen oder auf Premieren ist formulierte eine Meinung. In den ist. Das Verhältnis zwischen Kunst
der betagte Dackel immer dabei. »In Zeitungen schrieben Vertreter einer und Kritik bleibt insofern asymme­
der Regel friedlich«, wie die »Stutt- bürgerlichen Öffentlichkeit, deren trisch, als der Künstler sich prinzipiell
garter Zeitung« noch vor vier Jahren Interesse an Theater, Musik oder Ma- weiter aus dem Fenster lehnt als der
notierte, dämmert der Hund dann in lerei sich zur Kennerschaft verfeinert Kritiker. Ohnmächtig ist er ohnehin
seiner Tragetasche vor sich hin und hatte. Journalisten! immer der Gunst oder Ablehnung

Privat
verfolgt das Geschehen »mit sanftem Seinen Ärger über Mäkeleien fass- seines Publikums ausgeliefert. Gegen
Dackelblick«. Das Tier soll schon te schon 1774 ein Dichter in frustrier- Kritikerin Hüster das Urteil einer einzelnen Journa­
mit Prinzessin Caroline gespeist und te Verse, die er in einem Mordaufruf listin aber kann er sich zur Wehr
Inspiration für ein Ballett (»Dogs gipfeln ließ: »Schlagt ihn tot, den ­setzen – bestenfalls mit den künst-
Sleep«) gewesen sein. Hund! Es ist ein Rezensent!« Kritiker lerischen Mitteln, die ihm zur Ver-
Vor ein paar Tagen ist Gustav ins Marcel Reich-Ranicki freilich nannte fügung stehen.
Zentrum eines Skandals geraten, der dieses Gedicht von Goethe später Weil aber die Nerven blank liegen,
seinerseits die Grundlage für ein ab- »das dümmste, das seiner Feder ent- sind Reaktionen auf Verrisse leider
surdes Theaterstück sein könnte. stammt« – und gab sich Mühe, dieses selten so elegant wie die Zeilen, die
Im Foyer des Opernhauses von Verdikt auch zu begründen. Angreifer Goecke:
der Komponist Max Reger einmal
Hannover ist sein Herrchen, der Bal- Merkmal guter Kritik ist nicht, Aus einer Metapher einem Kritiker schrieb: »Ich sitze hier
lettdirektor Marco Goecke, auf die dass sie konstruktiv zu sein hat. Sie wurde Wirklichkeit im kleinsten Raum des Hauses. Ihre
Kritikerin Wiebke Hüster losgegan- Kritik habe ich vor mir. Bald werde
gen. Zuvor habe der Dackel »in seine ich sie hinter mir haben«. Diese Läs-
Tasche gemacht, was manchmal pas- sigkeit muss man sich leisten kön-
siert«, erzählte Goecke dem NDR. Er nen – und auch das Ich vom Werk
habe »das Häufchen« in eine Tüte trennen können. Wer aber seinen
gepackt, um es später zu entsorgen. Selbstwert aus Hymnen ableitet, den
Stattdessen beschmierte er damit, treffen »Hinrichtungen« existenziell.
angeblich »aus dem Affekt«, das Ge- Dabei ist das Spiel um öffentliche
sicht der Journalistin von der »FAZ«. Aufmerksamkeit vor allem: ein Spiel,
Hüster hat Anzeige erstattet, Goeckes in dem schon immer mit harten Ban-
Vertrag als Ballettdirektor des Opern- dagen gekämpft wurde. 1995 illus­
hauses wurde in gegenseitigem Ein- trierte der SPIEGEL auf dem Cover
verständnis aufgelöst. Inzwischen hat eine vernichtende Besprechung des
der Choreograf sich leidlich entschul- neuen Romans von Günter Grass mit
digt, ein Einsehen hatte er zunächst einem Marcel Reich-Ranicki, der das
nicht: »Sie hat mich auch jahrelang Buch in der Luft zerfetzt. 2002 soll
mit Scheiße beworfen«, behauptet er. ihm Martin Walser literarisch den
Und so hat der Künstler die fäkale »Tod eines Kritikers« an den Hals ge-
Metapher handgreiflich in die Wirk- wünscht haben. Beide Zuspitzungen
lichkeit überführt. waren radikal. Sie wirken aus heuti-
Der Eklat wirft ein erhellendes ger Sicht aber wie rührende Relikte
Christophe Gateau / picture alliance / dpa

Licht auf den gesellschaftlichen Stel- aus idyllischen Zeiten. Großkritiker


lenwert von Kritik. gab es! Und Großschriftsteller! Und
Innig war dieses Verhältnis seitens wie sich die Gockel befehdeten, zum
der Kunst noch nie, und mindestens Gaudium des Publikums!
kompliziert schon seit dem Aufkom- Heute wirken die Fehden nicht nur
men der modernen Kunstkritik im kleiner, gemeiner, schäbiger. Sie sind
Frankreich des 18. Jahrhunderts. es auch. Nicht ausgeschlossen, dass
Nicht mehr Adel oder Klerus als Auf- auch am Straßenrand der Kultur den
traggeber, nicht das übliche Publi- Journalisten vom Demonstrationszug

110 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


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der Schaffenden die Kamera aus der Hand


geschlagen wird.
2006 entriss ein Schauspieler dem Theater-
kritiker Gerhard Stadelmaier den Notizblock,
was der als Angriff auf die Pressefreiheit BELLETRISTIK SACHBUCH
wertete. Karin Beier, Chefin des Deutschen
Schauspielhauses in Hamburg, hält Rezensio- Nach einem verunglückten
Wie kam es zum Angriff
nen für überflüssig – schlechte Presse bleibe Instagram-Post treffen
auf die Ukraine? Russland-
Schauspielerin Rebecca,
an den Kunstschaffenden kleben wie »Schei- korrespondent Michael
Schriftsteller Oscar und
Thumann zeichnet innen-
ße am Ärmel«, sagte sie 2021 dem Deutsch- Social-Media-Aktivistin Zoé
politische Stationen nach
landfunk. Auch andere Intendanten, wie aufeinander. Es entwickelt
und beschreibt Putins
sich ein reger Austausch
Amelie Deuflhard und Matthias Lilienthal, Aufstieg als Spielart eines
über Herkunft, Kunst und
neuen, radikalen
könnten wohl auf eine im »Verfall« begriffe- Feminismus. Ein digitaler
­Nationalismus. | Platz 4
ne Theaterkritik gut verzichten. Briefroman. | Platz 12
Ein Elfenbeinturm mag die Gegenwart des
benachbarten Elfenbeinturms nicht mehr er- 1 (1) Simon Urban / Juli Zeh 1 (1) Prinz Harry
Zwischen Welten Luchterhand; 24 Euro Reserve Penguin; 26 Euro
tragen, die diplomatischen Beziehungen ste-
hen vor dem Abbruch. Die Zerrüttung zwi- 2 (2) Ewald Arenz 2 (3) Brianna Wiest 101 Essays, die
schen den Zwillingstürmen war schleichend. Die Liebe an miesen Tagen Dumont; 24 Euro dein Leben verändern werden Piper; 22 Euro
An ihrem vorläufigen Tiefpunkt geht es nun
tatsächlich um – nein, nicht nur Dackelkacke – 3 (3) Jojo Moyes 3 (2) Elke Heidenreich
den körperlichen Übergriff auf eine Kritikerin. Mein Leben in deinem Wunderlich; 25 Euro Ihr glücklichen Augen Hanser; 26 Euro

»Eine 57-jährige Frau, die in Ausübung 4 (11) Michael Thumann


ihres Berufs ist, steht da und schreit«, sagte 4 (4) Bonnie Garmus
Eine Frage der Chemie Piper; 22 Euro
Revanche C. H. Beck; 25 Euro
Hüster dem NDR: »Ich war in Schockstarre,
ich war in Panik.« Wenn diese Attacke als 5 (5) Dörte Hansen 5 (7) Torsten Sträter Du kannst alles lassen,
Symptom gelesen werden kann, dann für eine Zur See Penguin; 24 Euro
du musst es nur wollen Ullstein; 19,99 Euro

systemische Krise.
6 (8) Richard David Precht / Harald Welzer
Einerseits gönnen wir uns als Gesellschaft 6 (7) Mariana Leky Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung
eine öffentlich subventionierte Kunst, Kummer aller Art Dumont; 22 Euro
gemacht wird, auch wenn sie keine ist
die auch dann nicht ernsthaft um ihre Exis-  S. Fischer; 22 Euro
tenz bangen muss, wenn sie vor gelichteten 7 (6) Arno Geiger
Das glückliche Geheimnis Hanser; 25 Euro 7 (6) Stefanie Stahl
Rängen aufgeführt wird. Zwar ist sie dem
Zwang, sich am Markt zu bewähren, aus gu- Wer wir sind Kailash; 22 Euro
8 (8) Sebastian Fitzek
ten Gründen weitgehend enthoben – sich Mimik Droemer; 24 Euro 8 (15) Manfred Krug
ihrer prekären Lage aber durchaus bewusst. Ich bin zu zart für diese Welt Kanon; 24 Euro
Umso mehr ist sie darauf angewiesen, we- 9 (9) Colleen Hoover It starts with us –
nigstens von der Kritik zur Kenntnis genom- Nur noch einmal und für immer dtv; 20 Euro 9 (4) Hamed Abdel-Samad
men zu werden. Islam dtv; 24 Euro
10 (10) Annie Ernaux
Es gibt nicht viele Leute, die verstehen oder
Der junge Mann Suhrkamp; 15 Euro 10 (12) Kurt Krömer Du darfst nicht alles glauben,
gar in Worte fassen können, was ein Marco was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
Goecke überhaupt macht. Wiebke Hüster ge- 11 (11) Ferdinand von Schirach
hört dazu. Das verleiht, aller ausgestellten Ver- Nachmittage  Luchterhand; 22 Euro 11 (5) Gerhard Wisnewski verheimlicht –
achtung zum Trotz, ihrer Stimme ein Gewicht. vertuscht – vergessen 2023 Kopp; 16,99 Euro
Andererseits leidet auch Kritik unter aku- 12 (–) Virginie Despentes
tem Bedeutungsschwund. Ein Grund dafür Liebes Arschloch Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro 12 (10) Andrea Wulf
Fabelhafte Rebellen C. Bertelsmann; 30 Euro
sind die andauernden wirtschaftlichen Heraus-
13 (14) Tommy Jaud Komm zu nix – Nix erledigt
forderungen des bezahlten Qualitätsjournalis- 13 (9) Michelle Obama
und trotzdem fertig Fischer Scherz; 15 Euro
mus. Wer muss wohl zuerst seinen Schreib- Das Licht in uns Goldmann; 28 Euro
tisch räumen, wenn es ans Eingemachte geht? 14 (13) Charlotte Link
Der Redakteur mit Faible für Finanzmärkte? Einsame Nacht Blanvalet; 25 Euro
14 (–) Karolina Kuszyk
Oder eher die Fachfrau für moderne Lyrik? In den Häusern der anderen Ch. Links; 25 Euro

Ein weiterer Grund ist die Entwertung profes- 15 (–) Jonas Jonasson Drei fast geniale Freunde auf
dem Weg zum Ende der Welt C. Bertelsmann; 24 Euro 15 (14) Ulrike Herrmann Das Ende des
sioneller Kritik durch Produktbewertungen, Kapitalismus Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
mit denen eine atomisierte Masse an Amateu-
16 (18) Susanne Abel 16 (13) Oliver Hilmes
ren das Internet flutet. Stay away from Gretchen  dtv; 20 Euro
Das klassische Rezensionswesen sieht sich Schattenzeit Siedler; 24 Euro

mit einem grundstürzenden Demokratisie- 17 (19) Andrea Camilleri Die Botschaft der 17 (–) Kerstin Holzer
rungsschub konfrontiert. Einem vergleich- verborgenen Bilder  Lübbe; 23 Euro Monascella dtv; 22 Euro
baren Schub vor mehr als 200 Jahren ver-
dankt es seine Existenz. 18 (–) Jo Nesbø 18 (–) Orlando Figes
Der Skandal von Hannover hat beiden ge- Blutmond Ullstein; 25,99 Euro Eine Geschichte Russlands Klett-Cotta; 28 Euro
schadet, Kultur wie Kritik. Ein Gespräch über
19 (12) Susanne Fröhlich 19 (19) Biyon Kattilathu Spaziergang
Kunst findet nicht statt, im Gegenteil. Und Getraut Knaur; 18 Euro zu dir selbst Gräfe und Unzer; 19,99 Euro
das Publikum? Findet sich in wahlweise scha-
denfrohe oder empörte Aufregung versetzt. 20 (15) Lars Kepler 20 (–) Claudia Kemfert
Die aber niemanden voranbringt. Spinnennetz Lübbe; 23 Euro Schockwellen Campus; 26 Euro
Arno Frank n Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 111


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Vincent Tullo / DER SPIEGEL


Jenseits des Trauma-Pornos
KARRIEREN  Douglas Stuart schreibt über seine Kindheit im Glasgow der Achtzigerjahre: voller Gewalt,
Armut und mit einer Mutter, die sich zu Tode säuft. Die Bücher sind Weltbestseller,
ausgezeichnet mit wichtigen Literaturpreisen. Doch reicht eine Leidensgeschichte schon für gute Literatur?

D
reimal hat Douglas Stuart Trä- Er war damals 15, sagt er, er lief würdige, irgendwie doch Menschliche
nen in den Augen während durch Glasgow, Samstag Nachmittag, war, dass sie sich sogar angestellt
unseres Gesprächs, das wir in Heimweg. Da kamen sie. Jungs, ­haben, um mich totzuprügeln«, sagt
New York führen, oder genauer: erst Jugendliche, junge Männer, die
­ Stuart. Eine alte Frau in einem klei-
in einem Restaurant in Brooklyn, Schwäche rochen und ihn aufspürten. nen roten Auto rettete ihm das Leben.
dann auf der Williamsburg Bridge auf Einfach um Spaß zu haben. Sie Sie hielt an und half ihm auf, während
dem Weg nach Manhattan und zuletzt ­folgten ihm, dann schimpften sie ihn die anderen wegrannten. Sie habe zu
in einer Cocktailbar in Soho. Als wir »Schwuchtel«, kreisten ihn ein, wie ihm gesagt: »Ich habe gar nicht ge-
über den Tod seiner Mutter sprechen Hyänen. So erinnert er es. Einer warf sehen, dass da ein Junge lag. Ich dach-
(Alkohol). Als wir über den Tod sei- ihn um, und sobald er am Boden lag, te, du wärst ein Hund.«
nes Bruders sprechen (Motorradun- schlugen und traten sie alle auf ihn Autor Stuart in Man könnte das Leben von Dou-
New York:
fall). Und als er davon erzählt, wie ein. Dann wechselten sie sich ab, Er vermisst das
glas Stuart auf viele Weisen erzählen.
ein paar Typen »die Scheiße aus ihm einer nach dem anderen durfte noch Verrückte, Als Erfolgsgeschichte zum Beispiel:
rausgeprügelt haben«. mal richtig ran. »Das Lustige, Merk- das Anarchische vom Arbeiterkind zum gefeierten

112 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


KU LT U R

Schriftsteller, der mit seinem ersten Roman


gleich eine der wichtigsten literarischen Aus-
»Der Tod meiner obwohl es lange keiner veröffentlichen woll-
te, gleich sein zweites Buch.
zeichnungen der Welt, den Booker Prize, ge- Mutter war auch eine »Young Mungo« spielt ebenfalls in Glas-
winnt. Als Liebesgeschichte auch, von Stuart
und seinem Mann, einem Picasso-Experten,
­Erleichterung.« gow, ein Jahrzehnt später, in den Neunzi-
gern*. Wieder geht es um einen Jungen, wie-
mit dem er seit mehr als 20 Jahren zusammen der hat der eine alkoholkranke Mutter. Doch
ist. Als Auswanderergeschichte: Stuart ist ein diesmal verliebt sich der Junge, Mungo, in
Schotte in New York. Wobei das auf Englisch einen anderen Jungen. Eine schwule Liebes-
wirklich viel besser klingt, melancholischer, Agent habe ihm nach der 20. Absage schon geschichte im homophoben, brutalen Glas-
verlorener, was auch an dem Sting-Song liegt. gar nicht mehr Bescheid gegeben, um ihn gow, es gibt wieder viel Trostlosigkeit und
»I’m a Scotsman in New York.« nicht zu demotivieren. Horror. Prügeleien und Misshandlungen
Es ist aber bei den Interviews, die er gibt, »Shuggie Bain« erschien dann doch, auf wechseln sich ab, Menschen werden ersto-
auf den Podien, auf denen er sitzt, und eben knapp 500 Seiten gekürzt, und wurde 2020 chen und vergewaltigt. Anders als in »Shug-
auch in den Büchern, die er schreibt, das Leid, mit dem Booker Prize ausgezeichnet, gie« gibt es in »Mungo« aber kaum Luft zu
das alles durchzieht. Das Leid des Autors und 1,75 Millionen Mal hat sich das Buch bislang atmen. Das Buch ist schneller erzählt, mit
das Leid der Figuren. Der Autor als geprügel- verkauft. Shuggie und seine Mutter Agnes, das mehr Spannungselementen, teilweise ein
ter Hund. Dass er damit Preise gewinnt, ist sind zwei Charaktere, die man nicht vergessen Thriller. Es gibt weniger Schönheit und mehr
nicht verwunderlich. Dass die Romane nicht wird. Die bei einem bleiben im Alltag, lange Hoffnungslosigkeit. Es gibt zwar Liebe, aber
bloßer Elendsvoyeurismus sind, sondern nachdem man das Buch zugeklappt hat. Die nur als Negativ, weil man immer schon weiß,
großartige Literatur, schon eher. Mutter, die sich mehr und mehr im Suff ver- dass sie die Zerstörung in sich trägt.
Douglas Stuart war 16 Jahre alt, als seine liert, und der Sohn, der sie noch nicht aufgeben Stuart läuft jetzt über die Williamsburg
Mutter starb. »Ihr Tod war unweigerlich. Wenn kann. Der Rollentausch, wenn die Mutter wie- Bridge Richtung Manhattan. Es ist eine der
man so viel trinkt, dann macht der Körper der mal betrunken ist und der Sohn sie hin- großen Brücken, die über den East River füh-
irgendwann nicht mehr mit«, sagt er. Wir sitzen gebungsvoll pflegt. Das Buch lebt von den ren, Stuart hat sie früher jeden Tag auf dem
in einem Lokal in Williamsburg, dem gentri- völlig gegensätzlichen Stimmungen, die es be- Weg zur Arbeit überquert. Ab und an rattert
fizierten Stadtteil von Brooklyn gegenüber schreibt und hervorbringt. Stuart erzählt die- die Subway neben uns vorbei, unter uns fließt
Manhattan, in dem Stuart selbst lange gewohnt se Geschichte im rauen Ton des Glasgower der Verkehr, und vor uns zeigt sich die be-
hat. Er ist jetzt 46 Jahre alt und insgesamt ein Dialekts, für den die Übersetzerin eine fiktive rühmteste Skyline der Welt von ihrer guten
sehr freundlicher Mensch. Er nimmt sich Zeit, deutsche Umgangssprache eingesetzt hat. Seite, der Himmel stahlblau, die Konturen
ist höflich, und selbst wenn er »fuck« sagt, was Es herrscht eine absolute Trostlosigkeit. scharf, »dieser Anblick wird nie langweilig«,
ab und zu vorkommt, klingt das irgendwie Armut, Arbeitslosigkeit, Gewalt. Und doch findet Stuart. Auf einmal hält ein Jogger an.
herzlich. Auf jeden Fall ohne eine Spur Ver- schafft es Stuart, seine Figuren nicht von oben Er ist völlig außer Atem, schreit: »Warten
bitterung. Er war in der Schule, als die Mutter herab zu betrachten, sondern auf Augenhöhe Sie!«, nimmt seine Kopfhörer ab und fragt
starb. »Am Morgen hatte ich sie noch gesehen, zu bleiben. Auf dieser Augenhöhe sieht er, völlig entgeistert, ob das wirklich Douglas
und vor dem Mittagessen war sie tot«, sagt und der Leser eben auch, dass es auch in Stuart sei. Der Jogger kann sein Glück kaum
Stuart. Es sei der größte Verlust seines Lebens ­Armut, Arbeitslosigkeit und Gewalt Schönheit fassen, kurz hat man Angst, er kollabiere,
gewesen, und doch habe er auch noch etwas und Liebe gibt. Manchmal alles zu­sammen in dann sagt er, er sei wirklich der größte Fan,
anderes gefühlt: Erleichterung. »Weil sie im einem Satz. Über die Mutter heißt es: »Jeden und dann, sehr amerikanisch: »Oh my god,
Tod einen Frieden gefunden hatte, den es für Tag schminkte und frisierte sie sich und stieg Shuggie.« Stuart bedankt sich, und der Jogger
sie im Leben nicht gab.« mit hoch erhobenem Kopf aus ihrem Grab.« läuft weiter. Dann dreht er sich noch mal um
Über das Verhältnis eines Jungen zu seiner »Ich musste mir von Anfang an die Frage und bittet um ein gemeinsames Selfie. Man
alkoholsüchtigen Mutter hat Stuart den Ro- stellen: Bin ich auf der Seite meiner Figuren müsse ihm jetzt wirklich glauben, dass er dem
man »Shuggie Bain« geschrieben. Er heißt oder auf der Seite der Leser? Die Leser sind Mann nicht vorher 20 Dollar gegeben habe,
wie der Sohn, um den es geht, und spielt im mir egal. Ich bin natürlich auf der Seite meiner sagt Stuart, und überhaupt: So etwas passie-
Glasgow der Achtzigerjahre. »Shuggie Bain« Figuren«, sagt Stuart. Die Mutter stirbt, und re ihm fast nie.
erschien auf Englisch im Jahr 2020, es war Shuggie bleibt allein zurück. So war es ja auch Stuart hat seinen Job mittlerweile aufge-
das erste Buch, das Stuart geschrieben hatte. im echten Leben, oder? Fast. geben. Er ist jetzt Schriftsteller, auch wenn
Zehn Jahre lang, an Sonntagen, nachts, in der Douglas Stuart sagt, er sei ein sehr schlechter sich das immer noch komisch für ihn anfühlt.
U-Bahn. Stuart ist auf keiner Schreibschule Schüler gewesen, was vor allem daran lag, dass Er arbeitet an seinem dritten Buch, für die
gewesen, hat kein Creative-Writing-Seminar er fast nie in die Schule war, sondern sich um Serienadaption von »Shuggie Bain« hat er
besucht. Seinen ersten Roman habe er über- die Mutter kümmerte. Als Achtjähriger beglei- selbst die Drehbücher geschrieben. Er war
haupt erst mit 16 gelesen, sagt er. Er hatte tete er sie regelmäßig zu den anonymen Alko- schon als Modedesigner erfolgreich, aber in-
keine Ahnung, wie man ein Buch schreibt. holikern. Wenn sie alles Geld vertrunken hatte, zwischen hat er Agenten, die für ihn Termine
Stuart arbeitete zu der Zeit für die Mode- brach er den Zählerkasten der Heizung auf, in ausmachen, und die Fotografen wollen nicht
marke Banana Republic, davor hatte er für den sie Münzen werfen mussten, wenn es warm seine Arbeit, sondern ihn selbst in ein gutes
Ralph Lauren und Calvin Klein Stoffe aus- sein sollte. Den Rest des Monats froren sie. Aber Licht rücken. Stuart reist mehrmals im Jahr
gesucht und bearbeitet. Er hat Modedesign dann änderten sich zwei Dinge. Erstens ver- nach Glasgow und findet, obwohl er dort seit
studiert, und der Prozess, aus einem Stoff ein ließen von den 250 Schülern seiner Stufe fast 20 Jahren nicht mehr lebt, das sei sein eigent-
Kleidungsstück herzustellen, blieb für ihn im- alle die Schule, als sie 16 wurden. Und von liches Zuhause. Er vermisst das Verrückte,
mer das Interessante an seiner Arbeit. Den denen, die blieben, wählte keiner Englisch. Also das Anarchische, das auch in seinen Büchern
Schreibprozess vergleicht er mit Stricken. hatte Stuart Einzelunterricht in Literatur. immer mitschwingt und die ganze Tragik er-
»Man weiß noch nicht, wie es am Ende aus- Zweitens starb die Mutter. »Die Schule träglich macht.
sehen wird. Man weiß nur, wenn man auf den wurde auf einmal viel ruhiger. Und ein paar Dass Glasgow unter Margaret Thatcher ein
kleinsten Stich achtet, auf die kleinste Schlau- Monate später wurde auch unser Zuhause viel besonders dunkler Fleck war, ist keine gefühl-
fe, dann entsteht am Schluss ein größeres ruhiger«, sagt er. Er schaffte den Schulab- te Wahrheit Stuarts. Der sogenannte Glasgow-
Stück Stoff.« Am Ende waren es 1800 Seiten, schluss, ging mit einem Stipendium an die
die er seinem Freund zu lesen gab. Ein XXL- Uni, zog nach New York, wurde erfolgreicher * Douglas Stuart: »Young Mungo«. Aus dem Englischen
Pullover. 44 Verlage sagten ihm ab. Sein Modedesigner. Schrieb »Shuggie Bain«. Und, von Sophie Zeitz. Hanser Berlin; 416 Seiten; 26 Euro.

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Effekt bezeichnet das Phänomen, dass bar ist. Im »New Yorker« hieß es: »Für meine kritisieren kann, was bei individuellen
die Lebenserwartung in der Stadt »Der Trauma-Plot verflacht, verzerrt, Diskriminierungserfahrungen nicht
deutlich niedriger ist als im Rest des reduziert die Figuren auf ein Symp- Figuren ist es so einfach möglich ist: Wie genau
Vereinigten Königreichs. »Die Arbeits- tom und belehrt und beharrt auf sei- kein Trauma. schaut sich ein Autor seine Figuren
losigkeit. Der Alkohol. Die Drogen.
Das hat sicher alles eine Rolle gespielt«,
ner moralischen Autorität.«
Der Literaturwissenschaftler Mo­
Sondern an? Lässt er bei ihnen auch Wider-
sprüche zu, oder reduziert er sie auf
sagt Stuart. »Aber am Ende ist es doch ritz Baßler überführte diese Debatte Dienstag.« die eine schreckliche Erfahrung?
die Hoffnungslosigkeit. Das Gefühl, im nach Deutschland in seinem Buch Die Romane von Douglas Stuart
Stich gelassen zu werden. Allen egal zu »Populärer Realismus«, in dem er die stehen insofern unter erhöhtem Mid-
sein. Das nimmt dir die Lebenskraft.« These aufstellt, dass viele Gegenwarts- cult-Verdacht. Trauma-Porno. Der
Vor dieser Kulisse und in diesem romane ihre Bedeutung daraus ziehen, vernachlässigte Sohn einer alkohol-
Milieu erzählt Stuart seine Geschich- dass den Figuren ganz schlimme Din- kranken Mutter schreibt Romane über
ten. Und je länger man mit ihm ge passiert sind – was den Roman vernachlässigte Söhne alkoholkranker
spricht, desto klarer wird, dass er na- dann moralisch imprägniere. Baßler Mütter. Elend, Leid, Em­powerment?
türlich im Grunde seine Geschichte schreibt: »Wenn das Verhältnis von Als Leser stellt sich allerdings nicht
erzählt, immer wieder, in Varianten. Darstellungs- und Bedeutungsebene das Gefühl ein, hier in eine Pseudo-
»Die Leute glauben, und ich muss zu- in einem literarischen Text so organi- bedeutung hineingetrickst zu werden.
geben, ich bin auch ein bisschen selbst siert ist, dass Themen des Traumas, Sicher, Stuart bedient vieles, was
dran schuld, dass ich über bestimmte des Leids und der Diskriminierung der derzeitige Literaturmarkt liebt
Themen schreibe. Maskulinität, Se- sowie insgesamt die Schlechtigkeit der und die Jurys gern auszeichnen. Man
xualität, Alkoholsucht. Aber das Gesellschaft, der Anderen, des Kapi- könnte das zum Beispiel so zusam-
stimmt nicht. Mich interessiert die talismus oder der Welt den Text mit menfassen: In Stuarts Romanen be-
Frage: Wer gehört dazu? Und was BIG SINN ausstatten, dann bedient kommen Angehörige von margina­
muss man tun, um dazuzugehören?« diese Literatur Grundmuster des Mid- lisierten Gruppen eine Stimme. Und
Vor einem Jahr schrieb eine Kriti- cult, der immer schon eine Culture of das stimmt auch. Es stimmt aber auch
kerin im Magazin »New Yorker« Pain für besonders tief­sinnig hielt.« noch etwas anderes. Stuart leiht sich
einen Text über den »Trauma-Plot« Midcult, ein Buch, das so tut, als die Bedeutung für seine Geschichten
und löste damit eine breite Diskus- handelte es sich um große Kunst, in nicht von außen. Sondern findet sie
sion aus, die immer noch anhält. Die Wahrheit aber nur beschwerter Kitsch ganz tief drinnen, in seinen Figuren.
These: Immer öfter werde heute Li- ist, ist dann das ultimative Verdikt. Wir sitzen jetzt am Tresen einer
teratur in Form eines Zeugnisses ge- Entzündet hatte sich die Debatte da- Austernbar in Soho, aber Stuart hasst
schrieben. Und je schwerwiegender, mals am Bestseller »Ein wenig Leben« Austern, er trinkt einen Orange San-
schlimmer oder eben traumatischer von Hanya Yanagihara, in dem auf guine aus Tequila, Limettensaft, Grape-
das Bezeugte, desto kraftvoller der vielen hundert Seiten die Leidensge- fruitsaft und Blutorangensirup. Trauma
Roman. Es sei nur zweifelhaft, ob das schichte eines vergewaltigten Mannes sei ein komplett neues Konzept, sagt
wirklich immer zu interessanten Ge- auserzählt wird. Was stimmt: Von all Stuart. Überhaupt, der ganze psycho-
schichten führe oder nicht vielmehr den sich häufenden Mahnungen, die Kinder an einer logische Sprech. Er habe ja versucht,
die Figuren zu Schablonen verforme. Gegenwartsliteratur erzähle nur noch Glasgower ein Buch zu schreiben über etwas, für
Insbesondere dann, wenn die Ge- von Minderheitsbefindlichkeiten, ist Straße 1980: Das das es noch keine Sprache gegeben
Gefühl, im Stich
schichte sich mit der tatsächlichen die Kritik am Trauma-Plot die inte­ gelassen zu
habe. »Ich bin eben auf der Seite mei-
Biografie des Autors oder der Autorin ressanteste. Denn sie analysiert eine werden und allen ner Figuren. Für meine Figuren ist es
deckt und somit kaum noch angreif- Erzählstruktur, die man dann auch egal zu sein kein Trauma. Für die ist es Dienstag.«
Einmal sei eine Leserin zu ihm ge-
kommen und habe ihn gefragt, wa­
rum Shuggie keine Therapie mache.
Er konnte es nicht fassen. In den
Achtzigern, in Glasgow – eine The-
rapie? »Wir haben heute diese kollek-
tive akademische Sprache für alles,
für Homophobie, Misogynie, Rassis-
mus. Und die Leser verstehen oft
nicht, warum ich das nicht benenne.
Aber ich schreibe nicht für die Leser.
Ich schreibe für Agnes.«
Das Leid, das Douglas Stuart in all
seinen Facetten ausstellt und das er
Raymond Depardon / Magnum Photos / Agentur Focus

aus eigener Erfahrung kennt, ist keine


Etappe zu einem höheren Ziel. Es sei
denn, das Ziel ist, alle Winkel der
Menschlichkeit auszuleuchten, auch
die stockdunkelsten. Stuart muss kein
vergangenes Trauma aufdecken, weil
bei ihm alles schon brachliegt. Da ist
kein Geheimnis, und da ist auch kei-
ne Moral. Da ist nur ein Autor, der
seine Figuren gegen den Rest der Welt
verteidigen will.
Xaver von Cranach n

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wurde. Der Film wirkt nun manchmal


so, als zeigte er eine Spur zu beflissen
die Kaputtheit der Charaktere und
die Zerrüttung der Elternbeziehung
in der Familie der Meyerhoffs.

Im Eisbärengehege
Striesows charmanter, von mani-
scher Heiterkeit beseelter Klinikchef
wird von seinen Söhnen geliebt, aber
auch als Weichei verlacht. Er ist him-
melschreiend lebensuntüchtig, trägt
KINOKRITIK  Die Bestsellerverfilmung »Wann wird es endlich wieder so, gern gruselige und zu enge rosa Hem-
den und fällt bei der Segelprüfung
wie es nie war« erzählt vom Aufwachsen in einer Psychiatrie. durch, trotz oder wegen Totalflaute.
Am Anfang ist es noch eine lustige Familienstory, dann nicht mehr. Die von Tonke dargestellte Mutter
reagiert zunehmend genervt auf die
Egomanie ihres Gatten und bettelt

D
as Kindheitsparadies, in dem mit geröteten Augen darum, auch mal
dieser Film spielt, ist eine ein paar Normalos aus der bürgerli-
­Anstalt für psychisch Kranke. chen Außenwelt zum Cocktail einzu-
Joachim, der Josse genannt wird, laden. Doch sie muss weiter nur nett

Frédéric Batier / Komplizen Film / Warner Bros. Enter tainment


wächst als Sohn des Klinikdirektors durchgeknallte Psychiatriepatienten
auf und ist hingerissen von den Ma- in ihrer Wohnstube bespaßen.
cken der Patienten. Zum Beispiel von Die Regisseurin Heiss ist bekannt
dem stets lächelnden Kerl, der mit geworden durch das eigenwillige
einem Lenkrad in der Hand frühmor- Rucksacktouristendrama »Hotel Very
gens als Chauffeur eines unsichtbaren Welcome« aus dem Jahr 2007 und
Autos auftritt und den Vater des Hel- die leicht autobiografische Lebens-
den zur Arbeit abholt. Von dem sui- krisenballade »Hedi Schneider steckt
zidgefährdeten Mädchen, das sich fest« von 2015. Ihr herausragendes
ausschließlich von Bifi-Würstchen Talent ist möglicherweise nicht so
ernährt. Oder von dem schwarz ge- sehr die Satire, sondern die melan-
wandeten Patienten namens Glöck- cholisch-einfühlsame Menschenbeob-
ner, der beim Pa­trouillieren im An- achtung. Das wird deutlich, wenn in
staltsgarten mit einer Handglocke der Meyerhoff-Story über die eigene
bimmelt. Kindheit und Jugend plötzlich der
Besonders fasziniert ist Josse, Es ist ein zunächst in den Siebzi- Film-Ehepaar Schrecken einzieht.
wenn sein Vater ihm krasse Details gerjahren spielendes deutsches Mär- Tonke, Striesow (M.), Erst stirbt einer der älteren Brüder
Darsteller
aus den Akten von Klinikinsassen chen, das die Regisseurin Heiss er- bei einem Autounfall, während Jo­
verrät, die vor ihrer Einweisung in zählt. Die Möbel der Arztvilla, die achim (nun gespielt von Arsseni Bult-
der sogenannten Normalwelt etwa mitten auf dem Klinikgelände steht, mann) beim Schüleraustausch in den
ihre Sexualpartner mit Bissen trak- sind ebenso sorgsam zusammenge- USA ist, dann wird der Vater des Hel-
tiert haben. »Das bleibt aber unter sucht wie die Kleider der Protagonis- den todkrank. Und es ist, als käme
uns«, sagt der Psychiatriechef dann ten. Die von Laura Tonke gespielte, der Film, der zuvor in zunehmend
mit einem merkwürdigen Strahlen von berechtigter Eifersucht geplagte verkrampften Lustigkeiten zu versin-
im Gesicht zu seinem Jüngsten. Ehefrau des Klinikdirektors schmach- ken drohte, nun endlich zur Ruhe.
Der Schauspieler Devid Striesow tet in den italienischen Schlagern der »Ich möchte ein Eisbär sein« sieht
verkörpert eine wunderbar irrlich- Zeit und trauert ihrer Jugendliebe zu man den pubertierenden Helden mit
ternde Vaterfigur in »Wann wird es einem Latin Lover hinterher. Die He- seiner allerersten Freundin in einer
endlich wieder so, wie es nie war«. cken auf dem Schulweg des Knaben zentralen Szene des Films singen,
Es ist die Verfilmung eines Bestsellers Joachim sind so spießig gestutzt, als fröhlich wippend und für kurze Zeit
von Joachim Meyerhoff. Das Buch gehörten sie zur Ausstattung einer herzergreifend miteinander verbün-
beruht auf wahren Begebenheiten aus Modelleisenbahn. det. Tatsächlich entsteht die Kraft
der Familiengeschichte des Autors Hinter einer der Hecken entdeckt dieses Films dadurch, dass der Held
und ist doch halb erfunden, weil es Joachim an einem sonnigen Tag einen staunend die Schmerzen des Heran-
voller Pointen, Übertreibungen und Toten, der Mann wurde offenbar vom wachsens zu begreifen lernt, das Ende
greller Ausschmückungen ist. Herzinfarkt gefällt. Den jungen Hel- seiner ersten Liebe, den Verlust von
Im Film der Regisseurin Sonja den macht sein Leichenfund so stolz, nahen Menschen.
Heiss sieht man gleichfalls grotesk dass er begeistert und mit jeweils neu Viele moderne Gesellschaften
komische Szenen. So wird der kleine ausgedachten Details immer wieder zeichneten sich durch einen »hohen
Held als Siebenjähriger (gespielt von davon erzählt. Anspruch auf Glück« aus, hat Sonja
Camille Loup Moltzen) von seinen Die Welt der angeblich seelisch Heiss mal gesagt, gerade jüngere
Eltern regelmäßig auf einer im Intakten unterscheidet sich nur wenig Staunend Frauen und Männer ließen sich die
Schleudergang laufenden Waschma- von der jener Ausgegrenzten, die Illusion eines schmerzfreien Lebens
schine platziert – offenbar ist Josses von Ärzten als »verrückt« eingestuft erlebt der vorgaukeln. Von der Kunst, mit Ent-
Tobsucht, die ihn immer dann packt, ­werden – das ist ein locker vorgetra- junge Held den täuschung, Unglück und Tod klarzu-
wenn seine größeren Brüder ihn gener Grundgedanke des Meyerhoff- kommen und das Trauern zu lernen,
­ärgern, nur durch das Maschinen­ Romans, der 2013 erschien und von ersten Liebes- handelt auch ihr neuer Film.
gerüttel zu bändigen. Hunderttausenden Menschen gelesen schmerz. Wolfgang Höbel n

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116 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Hans Modrow, 95 Tim Lobinger, 50
NACHRUFE Auf den ersten Blick war er ein Im Sportlerleben von Tim
SED-Funktionär wie viele ande- ­Lobinger ging es um Zentime-
re. 1928 im pommerischen Jase- ter. Noch ein wenig höher sprin-
nitz geboren, arbeitete er nach gen, die Latte noch eins rauf­
dem Krieg als Maschinenschlos- legen. Der Stabhochspringer, zu
ser, trat in die SED ein und be- seiner aktiven Zeit 1,93 Meter
suchte rote Kaderschmieden. groß, 85 Kilogramm schwer, ein
Er wurde rasch ein Genosse mit Kraftpaket, gewann insgesamt
­allerlei Posten und Zuständig- drei Medaillen bei Freiluft-
keiten, Chef einer SED-Kreislei- Europameisterschaften. 1997
tung in Berlin, Mitglied des übersprang er als erster deut-
Zentralkomitees, SED-Bezirks- scher Stabhochspringer im
chef in Dresden. Aber Hans Freien die Sechs-Meter-Marke.
Modrow war kein Bonze, der Lobinger wurde zu einem
sich vor dem eigenen Volk ver- ­Aushängeschild der deutschen
steckte. Er lebte bescheiden, ein Leichtathletik und blieb dem
gerader Typ, so hieß es, mit Sport viele Jahre als Athletik-
einem Blick für die Realitäten und Fitnesstrainer verbunden.
und gelegentlichen Differenzen Doch einige Zeit nach der
mit den obersten Genossen in ­aktiven Laufbahn ging es in sei-
Berlin. So ruhten im Herbst nem Leben nicht mehr um Zen-
1989 nach dem Sturz Erich Ho- timeter. Jetzt ging es um Zeit:
neckers viele Hoffnungen auf Jedes Jahr, das er durchhalte,
MGM / United Archives Modrow. Im November des Jah- bringe ihn einer Therapie näher,
res wurde er Ministerpräsident die ihn vom Krebs heilen
der DDR, der letzte mit Partei- ­könne, sagte er einmal. Im März
buch der SED. Seine Regierung 2017 war bei Lobinger Blut-
bemühte sich um Reformen,
aber dafür war es längst zu spät.
Die DDR hat er in dieser Zeit –
Raquel Welch, 82 was nicht ganz leicht war –
Wenige Jahre nach dem Tod von Marilyn Monroe wurde sie zum halbwegs stabilisiert. Ähnliches
ersten großen amerikanischen Sexsymbol der Sechzigerjahre. Es versuchte er mit seiner Partei.
war vor allem das Filmplakat von »Eine Million Jahre vor unserer Er war maßgeblich an der Um-

Sven Simon / Sven Simon Fotoagentur


Zeit«, das 1966 ihren Ruhm begründete. Man sah Raquel Welch da- gründung der Staatspartei von
rauf als Höhlenfrau in Fellbikini, bereit zum Kampf mit Dinosau- der SED zur PDS beteiligt.
riern. Dass sie mehr konnte als »von einem Felsen zum nächsten zu Modrow wurde Bundestagsab-
rennen«, wie es der Regisseur von ihr verlangt habe, zeigte Welch geordneter, zog ins Europapar-
1973 in »Die drei Musketiere« und gewann einen Golden Globe. lament ein, aber seine Leiden-
Trotzdem blieb sie, wie das damals eben hieß, vor allem ein Sex- schaft galt der Partei. Der Re-
symbol – und das für nahezu 50 Jahre. 1998 kam sie in einer Liste former, der die DDR durchaus
der »Sexiest Stars of the Century«, die die Zeitschrift »Playboy« kritisch bewertet hatte, wurde
erstellt hatte, auf Platz drei, hinter Monroe und Jayne Mansfield, im Alter immer mehr zum
aber vor Brigitte Bardot. Jo-Raquel Tejada, wie sie ursprüng­ Hardliner. Er fühlte sich unge- krebs diagnostiziert worden.
lich hieß, war die Tochter eines bolivianischen Einwanderers und recht behandelt von jenen Poli- Und jeder weitere Tag mit sei-
kämpfte ihr Leben lang um Anerkennung jenseits ihres Aus- tikern des Westens, die ihn vor ner Familie sei den Kampf wert,
schnitts – ihre Autobiografie von 2010 nannte sie »Beyond the dem Mauerfall in Dresden be- sagte er. Nach Chemotherapien,
Cleavage«. Raquel Welch starb am 15. Februar in Los Angeles. OEH sucht hatten, nun aber mieden. Stammzellspenden, zwischen-
Hans Modrow starb am zeitlichen Rückfällen und einem
10. Februar in Berlin. STB kurzzeitigen Leberversagen
Carlos Saura, 91 im Sommer 2018 galt er wieder
Die gewaltvolle Geschichte seines Heimatlandes als gesund. »Verlieren ist keine
brachte den Regisseur Carlos Saura über acht Jahr- ­Option« heißt das Buch, das
zehnte hinweg immer wieder zum Filmemachen. ­Lobinger im selben Jahr veröf-
Noch 2021 stellte er einen Kurzfilm über die Erlebnis- fentlicht hat. Vier Jahre später
ullstein bild

se von Kindern im Spanischen Bürgerkrieg fertig. gab er bekannt, dass der Krebs
­Berühmt wurde Saura, der Regie in Madrid studiert zurückgekehrt sei. »Heilung
­hatte, durch seine parabelhaften Arbeiten über das wird es für mich nicht mehr ge-
faschistische Franco-Regime. In Filmen wie »Die Jagd« von 1966 ben. Mein Krebs ist zu aggres-
oder »Anna und die Wölfe« von 1973 fand er eine wild-poetische siv«, sagte Lobinger im vergan-
Ausdrucksform für die Gewalt, die sich Menschen gegenseitig an- genen Oktober. Auch diesmal
tun. Er stieg in dieser Zeit zum berühmtesten Regisseur Spaniens habe er nicht verloren, teilte
teutopress / SZ Photo

neben Luis Buñuel auf, mit dem er die Liebe zum Experiment teil- seine Familie nun in einer Er-
te. Nach dem Tod Francos 1975 öffnete sich Sauras Werk thema- klärung mit, »sondern auf
tisch. Sein Musikfilm »Carmen« machte ihn 1983 einem breiten Pu- ­seine Weise gewonnen«. Tim
blikum bekannt und wurde vielfach ausgezeichnet. Carlos Saura ­Lobinger starb am 16. Februar
starb am 10. Februar in Collado Mediano bei Madrid. HPI in München. JAN

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 117


PERSONALIEN

Chart-Killerin
Beyoncé mag die meisten
Grammys gewonnen haben,
Kollegin Rihanna sorgte beim
Super Bowl für Mega-Einschalt-
quoten, die meiste Musik je-
doch verkauft gerade eine ande-
re Künstlerin: Die afroamerika-
nische Sängerin SZA (sprich:
Sizz-ah), 33, führt seit acht Wo-
chen fast ununterbrochen die
US-Charts an. Nach einer Wo-
che, in der ihr Album »SOS«
auf den zweiten Rang abrutsch-
te, nahm es nun wieder den
Spitzenplatz ein. Zuletzt war
2020 Popmusikerin Taylor
Swift acht Wochen Nummer
eins, im R&B-Genre schaffte
das als Frau bisher nur Mariah
Carey in den Neunzigerjahren
mit »Music Box«, Whitney
Houston brachte es 1987 mit
»Whitney« nur auf sieben Wo-
chen. Auf »SOS« zeigt sich SZA
weniger verletzlich als auf
ihrem Debüt, öffnet ihr Song-
writing für amüsante Mordfan-
tasien über Ex-Freunde oder
pocht auf ihr Recht, sich auch
einfach mal nach unverbind­
lichem Sex zu sehnen. Ihren bis-
her klassischen Soul- und R&B-
Sound öffnete sie zu untypi-
schen Stilen wie Pop, Country
und Rock. 2018 hatte sie, ermü-
det vom Popstarstress, ange-
deutet, dass ihr zweites Album RCA Records
ihr letztes sein könnte. Es wäre
ein Jammer. BOR

Bloß keine meiner Ehe, ist mir wichtig. Es qualitäten entwickelt, sobald er
ist einfach ein Punkt erreicht, sich verliebt. Dass Liebesszenen
­Sex­szenen mehr an dem ich das nicht mehr tun aus der Serie nicht komplett
Schon vor dem Dreh der neuen möchte«, sagt er. Die bisherigen wegzudenken sind, ist wohl
Staffel von »You« wusste Staffeln der Netflix-Produktion auch Badgley bewusst: Am Ende
Hauptdarsteller Penn Badgley, lebten durchaus von Liebes­ habe er doch auf einen Kom-
36, dass er keine intimen Mo- szenen, sie bewegten sich zwi- promiss mit Showrunnerin Sera
mente mehr drehen möchte. schen Romcom und Thriller: Gamble hingearbeitet. Offenbar
Cindy Ord / Getty Images

Das sagt der ehemalige »Gossip Badgley, seit 2018 der Haupt- erfolgreich, denn die ersten
Girl«-Darsteller jetzt im Pod- darsteller von »You«, spielt in ­Folgen der aktuellen Staffel zei-
cast »Podcrushed«. Der Grund? der Serie den verträumt und gen deutlich weniger Haut.
Sein Privatleben. »Treue in charmant wirkenden Joe Gold- Wie es weitergehen wird, wollte
­jeder Beziehung, besonders in berg, der mörderische Stalker- Badgley aber nicht verraten. JGA

118 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


Aufschlag in Berlin zwei Interviews mit ihm ge- Erst Stilikone, jetzt
führt – eines 2019, das andere
Wenn es einen deutschen Sport- 2022, kurz vor der Verurteilung. Modedesigner
ler gibt, dessen Leben großes Nun wird Becker, der im Dezem- 15 Monate nach dem unerwar-
Kino ist, dann Boris Becker, 55. ber vorzeitig aus dem Gefängnis teten Tod des Designers Virgil
Sportliche Triumphe, Sexskan- entlassen und nach Deutschland Abloh hat das Luxusunterneh-
dale, Zocken in Las Vegas, abgeschoben wurde, in Berlin men Louis Vuitton einen neuen
Knast in England – mehr Stoff erwartet. Für den Film kehrte er Kreativdirektor für die Männer-
kann eine Biografie kaum her- an den Ort seiner größten Erfol- linie benannt: Der Produzent
geben. Aufstieg und Fall des ge zurück, den er gern als sein und Musiker Pharrell Williams,
Leimeners, der als Teenager Wohnzimmer bezeichnete, den 49, wird in die Fußstapfen
zum Tennisstar wurde, aber im Center Court von Wimbledon. ­Ablohs treten, der das Mode-

Rebecca Smeyne / NYT / Redux / laif


vergangenen Jahr wegen Insol- Weggefährten wie Mats Wilan- haus umkrempelte und einen
venzdelikten ins Gefängnis der und John McEnroe oder neuen Hype um die Marke
kam, ist Gegenstand der Doku- ­Beckers früherer Manager Ion ­kreierte, indem er Streetwear
mentation »Boom! Boom! – ­Tiriac kommen zu Wort. An der mit Luxus paarte. Williams
The World vs. Boris Becker«, RTL-Produktion »Der Rebell – ­begeistert die Modewelt seit
die auf der Berlinale Premiere Von Leimen nach Wimbledon«, Jahren mit seinen Outfits bei
feiern wird. Der amerikanische einem Spielfilm über seine frü- Preisverleihungen und Auftrit-
Regisseur und Oscarpreisträger hen Jahre, hatte Becker 2021 ten. Seine erste Kollektion im
Alex Gibney, bislang eher für Ungenauigkeiten bemängelt. Mal neuen Job soll er im Juni dieses jahren das Label Billionaire
politische Sujets bekannt, hat sehen, ob seiner Ansicht nach Jahres in Paris präsentieren. Boys Club und war Markenbot-
Becker jahrelang begleitet und diesmal alles stimmt. LOB Williams wurde in den Neunzi- schafter für Chanel. Später
gerjahren mit der Hip-Hop- ­folgten mit Humanrace eine
Gruppe The Neptunes bekannt. Pflegelinie und auch schon erste
Später feierte er als Solokünst- Kooperationen mit Louis
ler unzählige Erfolge, unter ­Vuitton; zuletzt arbeitete er mit
­anderem mit »Happy« und dem Juwelier Tiffany & Co.
»Frontin’«. Williams produzier- zusammen. Im vergangenen
te und schrieb außerdem Songs Jahr sagte Williams der »Vogue
für Stars wie Britney Spears, Man« über seine Outfits: »Ich
Madonna und Beyoncé. Insge- bin ein Beobachter, und mein
samt wurde er 39-mal für Stil ist ein Ergebnis davon.«
Schrader / picture-alliance / dpa

einen Grammy nominiert und Alle zwei Jahre würde er jedoch


gewann die Trophäe 13-mal. entscheiden, dass er seinen
Schon ­länger ist er aber auch ­vorherigen Style hasse: »Es ist
beruflich in der ­Modewelt seltsam – es ist wie: ›Oh mein
unterwegs: Mit dem japani- Gott, warum habe ich das ge­
schen Mode­designer Nigo grün- tragen?‹ Ich bin so kritisch mir
1985
dete ­Williams in den Nuller­ selbst gegenüber.« IPP

Oje, ein Oscar Kampf gewesen. Nun scheint


Chau dort angekommen zu sein,
In der Regel freuen sich Schau- wo sie sein möchte. Allein im
spielerinnen und Schauspieler vergangenen Jahr begeisterte sie
überschwänglich über eine nicht nur in Darren Aronofskys
­Oscarnominierung – nicht aber »The Whale«, sondern auch
Hong Chau, 43, die für »The in »The Menu« sowie »Showing
Whale« um die Trophäe für die Up«. Der Erfolg von »The
beste Nebendarstellerin kon- ­Whale« wird jedoch ein wenig
kurriert. »Wenn mich Leute überschattet. Kritikerinnen und
jetzt fragen, wie es sich anfühlt, Kritiker werfen dem Film vor,
ist das schon seltsam. Ich fühle grausam und effekthascherisch
wirklich nichts. Wenn ich ganz mit der von Brendan Fraser
ehrlich sein soll, ist es eher so: ­gespielten adipösen Hauptfigur
›Oje‹«, sagte sie der britischen umzugehen. Chau sagt dazu:
Onlinezeitung »The Indepen- »Was sie darüber denken, ist
Chris Pizzello / Invision / AP / picture alliance

dent«. Ihr Verhältnis zu Preisen völlig legitim. Man kann stolz


habe sich 2017 verändert, als darauf sein und gleichzeitig
sie in der Science-Fiction-Satire ­offen für Kritik sein.« Woran
»Downsizing« zu sehen war. es keinen Zweifel gibt, ist die
Alle hätten ihr damals gesagt, ­unglaubliche Performance der
sie würde einen Oscar bekom- ­vietnamesisch-amerikanischen
men. Dazu kam es nicht, und Schauspielerin in dem Film.
auch der erwünschte Durch- Sollte Chau den Oscar gewin-
bruch ließ länger auf sich war- nen, wird sie hoffentlich mehr
ten. Ihre ganze Karriere sei ein denken als nur »Oje«. IPP

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 119


BRIEFE zu ermöglichen. Denn sie sind es,
die besonders unter den fehlen-
den Kollegen leiden. Außerdem
sollte vor dem Lehramtsstudium
unbedingt mindestens ein Pflicht-
halbjahr in der Schule stattfinden,
damit den Studierenden klar
wird, was sie heute in der Schule
höherer Anspruch, in Zeiten von Einige SPIEGEL -Titel und -Storys erwartet. Wir brauchen nicht nur
Notwehr jedoch eine Überforde- in letzter Zeit ließen mich als mehr Lehrer, sondern mehr gute
rung ist. Bedeutet das fünfte Ge- ­jahrzehntelangen Leser mit der Lehrer!
bot nicht auch: Du sollst nicht inhaltlichen Entwicklung des Bärbel Bruhn, Glinde (Schl.-Holst.)
töten (zu-)lassen? Und ist das ­Magazins und der mangelnden
nicht das, was wir gerade tun? Abgrenzung zum Boulevard Die Vorschläge der Ständigen
Auch das Böse ist in der Welt. fremdeln. Die Aufarbeitung, Hin- Wissenschaftlichen Kommission
Selbst der Pazifismus der einen tergründe und Gespräche über haben durchaus das benötigte
Seite kann der anderen Seite als diesen furchtbaren Krieg in Euro- Wumms-Potenzial, wenn man sie
Anreiz für einen Krieg dienen. pa beseitigen die aufkeimenden zu Ende denkt: Das System Schu-
Ein Friede muss beständig er- Zweifel an der journalistischen le braucht mehr Unterricht. Also
arbeitet, sogar erkämpft werden. Ausrichtung und Qualität des mehr Lehrerinnen und Lehrer,
Dr. Eberhard Meyer-Raven, Göttingen SPIEGEL allerdings mit einem die möglichst hoch qualifiziert
Schlag. Eine Ausgabe, die es wert dort tätig sind, wo sie gebraucht
Langsam nervt Selenskyjs Ge- ist, als historisches Dokument be- werden – im Klassenzimmer. Da-
jammer. Europa, insbesondere wahrt zu werden. Nicht zuletzt raus folgt: Schulverwaltungs­
Deutschland, hat in keinem an- zur Wiedervorlage, wenn wir ein- assistenten in die Schulen, damit
deren Krieg so viel geleistet wie mal wissen werden, mit welchen Lehrer:innen keine iPads warten,
Ungebrochener jetzt für die Ukraine. Sowohl fi- Auswirkungen dieser Krieg für keine Klassenfahrten abrechnen,
nanziell als auch in puncto Waf- die Menschen in der Ukraine und kein Budget verwalten und kei-
Verteidigungswille fenlieferungen steht Deutschland ganz Europa geendet haben wird. nen Stunden- und Vertretungs-
Nr. 7/2023  Titel: »Putin ist ein Drache, keinem anderen europäischen Heinz Hoppe, Bühl (Bad.-Württ.) plan erstellen müssen. Mehr So-
der fressen muss« Land nach. Man erinnere sich an zialpädagog:innen und mehr
den Balkankrieg, wo die Hilfe zu Schulpsycholog:innen ließen
Tolles und wichtiges Interview! spät kam. Mehr gute Lehrer! Lehrer:innen mehr Raum für ihr
Mario Rauschenbach, Hamburg Bülent Kalman, Duisburg Kerngeschäft – den Unterricht.
Nr. 6/2023  Leitartikel: Die Politik Viel zu viele Lehrer:innen neh-
muss dringend eine Strategie gegen
Herr Selenskyj hat seine wie auch Wir haben dem Drachen Putin im den Lehrermangel entwickeln men während der Unterrichtszeit
die Lage der Ukraine sehr tref- Februar 2014 ein zahmes Aus­ an Zertifikatskursen und Schul-
fend, verständlich und ohne poli- sehen gegeben, indem wir ihn die Tatsächlich sind die von Ihnen leitungsqualifizierungen teil,
tisches Geschwurbel erklärt. Es Olympischen Winterspiele in beschriebenen Lücken in der arbeiten als Fachberater:innen in
hat mich bestärkt, dass ich mit ­Sotschi ausrichten ließen. Einen Unterrichtsversorgung an deut- den Bezirksregierungen oder als
meinen bisher vier privaten Fahr- Monat später hat dieser Drache schen Schulen noch viel größer pädagogische Mitarbeiter:innen
ten mit Hilfslieferungen für Babys gefressen: den Osten der Ukraine, als offiziell bekannt. Bereits jetzt im Ministerium. Also gilt auch für
und Mütter nach Kiew, Butscha die Krim. Anstatt ihm danach sein gibt es an sehr vielen Schulen die Behördenstrukturen: Päda-
und Chernihiv doch richtig hand- Fressen zu entziehen, haben wir zahlreiche Selbstlernstunden, in gog:innen zurück in die Schulen,
le. Etliches, was aus dem Inter- ihn gemästet – durch den Verkauf denen Schüler ohne Lehrkraft und Verwaltungsfachangestellte
view herauszulesen ist, habe ich unserer systemrelevanten Gas- lernen sollen. Diese werden in der und Jurist:innen auf die entspre-
vor Ort von den Bürgern des Lan- speicher, den Bau einer zusätzli- Schulstatistik aber als »Unter- chenden Posten.
des so auch erfahren. Es ist bis chen Gaspipeline, die Lieferung richt« verbucht. Sie tauchen also Dr. Katja Kunz, Wuppertal
jetzt ungebrochener Verteidi- wichtiger Elektronikteile für Prä- in den Erhebungen zu Lücken in
gungswille vorhanden, mit dem zisionswaffen und durch die der Unterrichtsversorgung gar Die Abschaffung des sinnlosen
Glauben, diesen Krieg zu ge­ tägliche Zahlung von Millionen- nicht auf. Würde man diese Stun- Bewertungsrituals Klassenarbeit
winnen. summen für fossile Energien und den hinzuzählen, wäre das Minus könnte die Lehrkräfte deutlich
Rainer Mebes, Waldkirchen (Bayern) seltene Rohstoffe. Als er genü- bei der Unterrichtsversorgung und spürbar entlasten und würde
gend gemästet war, machte er sich noch viel größer. die Akzeptanz für eine Erhöhung
20 Jahre lang haben wir die Bun- daran, die Ukraine zu fressen. Andreas Mertens, Vorsitzender des der Unterrichtsverpflichtung um
deswehr nach Afghanistan ge- Wir hatten nichts dagegen. Hoff- Bezirks­personalrats für Integrierte ein oder zwei Stunden pro Voll-
schickt, um Deutschlands Sicher- ten vielmehr, er würde es schnellst- Gesamt­schulen in Rhld.-Pf., Nannhausen zeitkraft erhöhen. Kinder, Eltern,
heit am Hindukusch zu verteidi- möglich tun, uns vor vollendete korrigierende Lehrkräfte – nie-
gen. Nun, da Russland die Ukra­ Tatsachen stellen, die unser Ein- Um dem Lehrermangel abzuhel- mand würde diesem für die Lern-
ine und damit Europa angreift, greifen nicht mehr erforderten. fen: keine Sabbatjahre, keine standsanalyse nicht aussagekräf-
lassen wir, hasenherzig und unse- Der Drache war aber überfüttert, Teilzeit, bei Krankmeldung ge- tigen und allseits nur Stress aus-
re Möglichkeiten kleinredend, die zu behäbig, um Beute zu machen. nauer von Behördenaufsicht hin- lösenden Prüfungsritual nach-
Ukraine auch einen Stellvertre- Vor diesem Pro­blem stehen wir sehen, wer seine Krankheit in trauern, während in den Schulen
terkrieg für uns führen, für unse- jetzt und wissen nicht, ob wir das fernen Landen »auskuriert«. Das der Unterrichtsausfall sofort spür-
re Freiheit, unsere Werte. Viele angeschlagene Untier mit erlegen würde nicht nur den Schülern hel- bar reduziert würde. Und junge
von uns berufen sich auf einen sollen. fen, sondern auch denjenigen Menschen, die gerne Lernfort-
(christlich fundierten) Pazifismus, Josef Gegenfurtner, Schwabmünchen Lehrern, die alles tun, um den schritte für Kinder und Jugend-
der ein hohes Gut und ein noch (Bayern) Schülern einen guten Unterricht liche organisieren möchten, wür-

120 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


akzeptieren, mit der Faszination
Dass es die Chatbots Ich danke für diesen Anuschka Roshanis von Design, Material und Verarbei-
mit der Wahrheit bewegenden Artikel. Schilderungen tung. Dabei gibt es kaum Konsum-
ihrer Aussagen nicht Ihr Reporter Chris­ sind kaum auszuhal­ güter mit einer so hohen Diskre-
panz zwischen Herstellungskosten
so genau nehmen, toph Reuter ist ein ten. Was sie im jour­ und Verkaufspreis. Würde man bei
ist für mich ein unglaublicher Mann. nalistischem Milieu einer Rolex-Uhr das Rolex-Logo
­Zeichen von wahrer Möge es ihm in jeder erlebte, ist erschüt­ abnehmen und, sagen wir, stattdes-
Intelligenz: Jeder Hinsicht gut gehen. ternd. Verwerflich sen zum Beispiel »Aldi Süd« oder
»Dacia« draufschreiben, dann
weiß doch, dass es Und möge er einen bleibt das der Feigheit könnte man die identische Uhr si-
viel leichter ist, die guten Weg finden, mit geschuldete Ver­ cher für ein Drittel des Kaufpreises
Wahrheit zu sagen, diesen Erlebnissen halten der Kollegin­ erwerben. Leider wäre sie aber
vermutlich komplett unverkäuf-
als eine gute Lüge zu umzugehen. nen und Kollegen. lich, trotz der angeführten großen
erfinden. Andreas Bathelt, Karlsruhe Haltungslosigkeit Faszination. Also nennen wir das
Peter Pielmeier, bestimmt offensicht­ Kind doch bitte beim Namen. Lu-
­Alsbach-Hähnlein (Hessen)
lich deren Existenz. xusuhren sind einfach ein halbwegs
klimaneutrales Top-Statussymbol,
Burkhard Maus, Paris das man notfalls auch 24 Stunden
Nr. 6/2023  Warum die letzten
Nr. 6/2023  Otto Waalkes ist Bestatter im ukrainischen Nr. 6/2023  Was eine Journalis- am Handgelenk vorzeigen kann
CEO – wenn KI-Programme wie Bachmut immer noch ihrer tin über das renommierte und nicht verschämt in einer Tief-
ChatGPT halluzinieren Arbeit nachgehen Medienhaus Tamedia berichtet garage versteckt. Ich habe übrigens
auch eine.
den nicht länger durch die Aus- »Befürchtung«, das Ministeramt Angesichts der Vielzahl von Mar- John Hillebrand, Wiesbaden
sicht auf die Korrektur Hunderter und der Wahlkampf für das Amt ken-Nennungen habe ich den
Klassenarbeiten vom Lehrerberuf der Ministerpräsidentin seien Hinweis vermisst: »Die Recher- Schöner Artikel, viel Spaß mit der
abgeschreckt. eine unzulässige Doppelbelas- che wurde unterstützt von der Speedmaster. Da kann ich ja nur
Dr. Bernd Hauck, Autor »Lust und Last tung, ist heuchlerisch. Es ist eine Schweizer Uhrenindustrie«. froh sein, dass mich nur die Rado
des Korrigierens«, Lengede (Nieders.) Selbstverständlichkeit, dass Mi- Harald Kötter, Berlin ausgesucht hat. Immer war eine
nisterinnen und Minister Wahl- Reklame im SPIEGEL oder auch
kämpfe betreiben. Es macht kei- Eine überhebliche Diktion des Ver- auf den Tennisplätzen, da musste
Den Wählern nen Unterschied, ob der Wahl- fassers mit Lesewert gegen null. ich die haben.
kampf dem aktuellen oder dem Siegfried Nicolay, Saarbrücken Dieter Bohl, Aachen
überlassen angestrebten Amt gilt. Die da-
Nr. 6/2023  SPIEGEL-Gespräch mit mals amtierenden Ministerpräsi- In jedem der von mir seit Jahren
I­nnenministerin Faeser über ihre
­Kandidatur in Hessen und Pläne für
denten Strauß und Stoiber haben gekauften SPI EGEL lese ich Knapp und
– unbeanstandet – als Kanzler- grundsätzlich alle Artikel; diesen
die innere Sicherheit
kandidaten Wahlkampf geführt. habe ich aus Desinteresse zualler- mitreißend
Die Aussage der deutschen In- Dr. Hubert van Bühren, Köln letzt gelesen. Mein Vorschlag: Nr. 6/2023 SPIEGEL-Gespräch
nenministerin Nancy Faeser, ihr Nutzen Sie den Platz lieber für mit ­Nobelpreisträgerin Annie Ernaux
Amt weiterzuführen und sich für Warum sollte Frau Faeser in ihrer investigativen Journalismus, den über die Last der Prominenz
das Amt der hessischen Minister- Freizeit nicht Wahlkampf in Hes- schätze ich beim SPIEGEL seit
präsidentin zu bewerben, hat die sen machen können? Die Antwort ­jeher ganz besonders. Ist Annie Ernaux’ Literatur wirk-
anderen Parteien ziemlich ge- auf die Frage, ob Wiesbaden oder Annette Winkel, Hamburg lich so revolutionär, dass sie den
schockt. Sonst wären nicht so Berlin, sollte man doch lieber den Nobelpreis verdient? Immer nur
seltsame Aussagen zu lesen ge- selbstbewussten hessischen Wäh- Obwohl ich selbst keine Luxusuhr und über Jahrzehnte in der eige-
wesen. Besonders die Opposi- lerinnen und Wählern überlassen, trage oder besitze, hat mich Ihre nen Biografie herumstochern bis
tionsparteien CDU und CSU ha- die am 8. Oktober mit ihrem Vo- Reportage sehr vergnüglich ge- zur Selbstverletzung? Ihr erster
ben hier auf Stammtischniveau tum klug darüber entscheiden stimmt. Vielen Dank dafür. Roman »Die leeren Schränke«
argumentiert. Markus Söder, der werden, ob sie Nancy Faeser zur Stephan König, Schönebeck (Sachs.-Anh.) beinhaltet bereits ihr ganzes
bayerischer Ministerpräsident ersten hessischen Ministerpräsi- Werk: alles ziemlich leer. Was soll
war und ist und sich gleichzeitig dentin machen oder sie lieber wei- Was für ein großartiger Text! man aus dieser Leere schöpfen?
in den Wahlkampf begab, um terhin in Berlin sehen wollen. Scheinbar ganz leicht aus dem Die autoaggressive Sprache soll
Kanzlerkandidat zu werden, hat Hans Schinke, Offenbach linken Handgelenk geschüttelt, schön sein? Nein, sie stört.
dies wohl verdrängt und seinen steht alles drin, was man wissen Gérard Carau, Beckingen (Saarl.)
unqualifizierten Senf dazuge­ muss – von Quarzkrise bis Fake-
geben. Sehr vergnüglich Rolex. Und vor allem, wie man Ihr Büchlein »Der junge Mann«,
Helmut Kotyrba, Bad Camberg (Hessen) lernt, sich selbst nicht so wichtig nur 40 Seiten stark, habe ich ratz-
Nr. 6/2023  Seit Jahren gibt es zu nehmen. Am besten gefallen fatz gelesen. Mein Gott, kann
einen Hype um Luxusuhren, vor allem
Im Gegensatz zu Norbert Rött- bei jungen Menschen hat mir in diesem Sinne die Annie Ernaux kurz, knapp und
gen, der für das Amt des Minister- ­Uhrmacher-Spezial-Vokabel für mitreißend schreiben, alle Ach-
präsidenten in Nordrhein-West- Fünf Seiten über Luxusuhren, die Lupe: Lupe. Genial. tung!
falen kandidierte, hat Frau Faeser sich die meisten der SPIEGEL -­ Benedikt Hotze, Berlin Klaus Jaworek, Büchenbach (Bayern)
unmissverständlich klargemacht, Leser sowieso nicht leisten kön-
dass sie nur als Ministerpräsiden- nen! Wow! Was hat Euch denn Viele Fans von hochwertigen Uh- Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
tin nach Hessen gehen wird. Die da geritten? ren begründen ihre Bereitschaft, gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
von der Opposition geäußerte Klaus Räk, Glienicke/Nordb. (Brandenb.) teilweise obszöne Kaufpreise zu unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 8 / 18.2.2023 DER SPIEGEL 121


L E TZ T E S E I T E

Linksdrall und Tumulte an den Unis HOHLSPIEGEL

SWR.de über eine Evakuierung wegen eines Bombenfunds:


ZEITREISE  Besetzungen, Streiks, weltanschauliche Grabenkriege – Politiker »Aktuell gehe man von einem Evakuie­
von Berlin bis Bayern befürchteten 1973 eine neue Studentenrevolte. rungsradius von 1000 Metern aus.
Sie setzten auf mehr Staatskontrolle und weniger Hochschulautonomie. ­Eventuell werde eine Ausweitung auf einen
Kilometer nötig.«
Nr. 8/1973  »Das Misstrauen ist
nahezu absolut«
Onlinewerbung eines Bekleidungsanbieters:

Kaum war nach den 68er-


Wirren an den Univer­
sitäten etwas Ruhe einge­
kehrt, begann es 1973
­erneut zu brodeln. Mit
bisweilen wilden Szenen: Aus einem Stadtführer für Göteborg:
In Berlin flogen Steine durch die Fenster
eines liberalen Ökonomen, ein Kölner So­ »Erwachen Sie am Morgen gut ausge­
Studierende bei Demo in München 1973
ziologe erhielt Bombendrohungen, Heidel­ schlafen und hüllen Sie sich in einen
berger Studenten besetzten ein Unigebäu­ ­flauschigen Bademantel, bevor Sie sich
de. Und in München sprengten vermummte marxistischer Umtriebe mehr Staatskon­ in die Stadt begeben.«
Linke eine Sitzung von Professoren – die trolle über Forschung und Lehre, dazu
mit Kaffeetassen warfen und die Störer in staatliche Personalhoheit für alle Uni-Ange­ Wahlplakat von »Team Todenhöfer – die Gerechtigkeits-
einem »Handgemenge« hinausdrängten. stellten. Konkret sollte dem trotzkistischen partei« in Berlin:
Vor allem konservative Professoren und Ökonomen Ernest Mandel der Professoren­
Politiker waren empört. Manche fühlten status verwehrt werden, weil dieser und
sich bereits »an Verhältnisse der Weimarer ­seine radikalen Anhänger auf die »Eliminie­
Republik letzter Akt« erinnert; der »Bay­ rung der freiheitlich demokratischen
ernkurier« sah Deutschland von einer Grundordnung« aus seien.
»Diktatur der Lernenden gegen die Lehren­ Ganz abwegig war die Befürchtung
den« bedroht. nicht. Zumindest einige radikale Splitter­
Selbst sozialdemokratisch regierte Bun­ gruppen wollten offenkundig den Mikro­
desländer waren zum Einschreiten ent­ kosmos Uni nach ihren sozialistischen Vor­
schlossen. West-Berlins SPD-Senat, fünf stellungen formen – wenn sie schon nicht
Jahre zuvor noch Vorreiter des univer­ die ­Gesellschaft als Ganzes revolutionieren
sitären Laisser-faire, verlangte angesichts konnten. Rainer Lübbert Aus der »Süddeutschen Zeitung«:

»Vor drei Monaten haben Kriminelle die

Shit happens
sei »einer der überragenden Künstler in D«, Verwaltung des Rhein-Pfalz-Kreises
ihn zu verlieren wäre »ein riesiger Verlust«. ­gehackt, seitdem versuchen sie hier, alles
Dem Künstler und der Kritikerin riet sie: wieder in den Griff zu bekommen.«
»Macht ne Therapie, gebt Euch die Hand.«
SO GESEHEN  Solidarität für
Während allgemein noch gerätselt wurde,
Goecke nach Hundekot-Attacke weshalb Berg nicht nur dem Täter, sondern
Aus den »Badischen Neuesten Nachrichten«:

auch dem Opfer eine Behandlung empfahl, »Er war gerade einmal zwei Monate vor
Sein Arbeitsvertrag an der Staatsoper in meldete sich der Deutsche Tanztheaterver­ Ort, als die Polizei seine Bleibe stürmte und
Hannover ist aufgehoben, doch nun erfährt band mit einer Presseerklärung zu Wort, zwei Jahre in Untersuchungshaft blieb.«
Marco Goecke ungeahnte Solidarität. Dem in der Goecke ausdrücklich gedankt wurde:
Choreografen war zuvor ein ungeheuer­ »Hervorzuheben ist, dass er Aufmerksam­
Kleinanzeige in den »Grafschafter Nachrichten«:
licher Angriff auf die Pressefreiheit vorge­ keit für eine oft sträflich vernachlässigte
worfen worden, weil er einer Kritikerin Kunstform geweckt hat. Denn seien wir mal
bei einem Aufeinandertreffen im Theater­ ehrlich: Wer interessiert sich denn sonst
foyer den Kot seines Dackels Gustav ins für uns?« Man rechne nun mit deutlich hö­
Gesicht geschmiert hatte. Begründet hatte heren Zuschauerzahlen.
Goecke seine Tat mit der angeblich jahre­ Unterdessen scheint auch der oftmals
langen Demütigung durch schlechte Kri­ von der Kritik geschmähte Regisseur und
tiken der Journalistin. Schauspieler Til Schweiger von der Auf­
Der allgemeinen Empörung regung profitieren zu wollen. Ein von
stellte sich zunächst die Schweiger offenbar flugs verfasstes Dreh­ Von Focus.de:
Schriftstellerin Sibylle Berg buch mit dem Arbeitstitel »Kackeldackel«
entgegen: »Über­ragende soll angeblich schnell verfilmt werden, »Warum ließ Peking nur wenige Tage vor
Künstler« seien »Aus­ ­Goecke darin die Hauptrolle spielen. dem Besuch des US-Außenministers einen
nahmemenschen«, Der Choreograf scheint allerdings keinen Ballon über die USA fliegen, von dem
schrieb Berg auf Bedarf an Engagements zu haben, seine klar war, dass er entdeckt werden würde?
Twitter: »Sie dür­ ­finanzielle Zukunft gilt als rosig: Bereits im Es ­erscheint plausibel, dass sogar Diktator
fen nicht alles, aber März erscheint seine eigene Sonnenbrillen­ Xi keinen blassen Schimmer hatte – und
shit happens.« Goecke kollektion »Goecke genial«. Stefan Kuzmany jetzt sein Gewicht wahren muss.«

122 DER SPIEGEL Nr. 8 / 18.2.2023


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