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Charakter. Stark.

Streng limitiert: die StreetStyle Sondermodelle mit AMG Line,


Bi-Xenon-Scheinwerfern und AMG Leichtmetallrädern.
Eine Marke der Daimler AG

¹Kraftstoffverbrauch innerorts/außerorts/kombiniert: 7,6/4,5/5,6 l/100 km; CO₂-Emissionen kombiniert: 131 g/km. ²Ein Leasingbei
Ist der Darlehens-/Leasingnehmer Verbraucher, besteht nach Vertragsschluss ein gesetzliches Widerrufsrecht nach § 495 BGB. Das
empfehlung des Herstellers, zuzüglich lokaler Überführungskosten.
Anbieter: Daimler AG, Mercedesstraße 137, 70327 Stuttgart
Mtl. Leasingrate A 180 StreetStyle¹

299 € Ein Leasingbeispiel der Mercedes-Benz Leasing GmbH²

Kaufpreis ab Werk³
Leasingsonderzahlung
27.965,00 €
0,00 €
Gesamtkreditbetrag 27.965,00 €
Gesamtbetrag 10.764,00 €
Laufzeit in Monaten 36
Gesamtlaufleistung 30.000 km
Sollzins gebunden p. a. -1,93 %
Effektiver Jahreszins -1,91 %

spiel der Mercedes-Benz Leasing GmbH, Siemensstraße 7, 70469 Stuttgart, für Privatkunden.
Angebot ist zeitlich begrenzt und gilt bei Bestellung bis 30.06.2015. ³Unverbindliche Preis-
Warum passieren die entscheidenden
Dinge immer dann, wenn man gerade
nicht hinschaut?

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Hausmitteilung
Betr.: RWE, Schlager, DEIN SPIEGEL

I n 160 Meter Tiefe, im rheinischen Braunkohle-


revier Garzweiler, durften die SPIEGEL-Redak-
teure Frank Dohmen und Dietmar Hawranek bei
Bernd-Josef Pütz einsteigen – ins Führerhaus von
„Bagger 288“. Es war das wuchtigste Gefährt, das
Hawranek und Dohmen je bestiegen haben, groß
wie ein Hochhaus, schwer wie 10 000 Mittel-
klassewagen. Der martialische Aufwand indes, mit
dem Braunkohle in Deutschland noch gefördert
Hawranek, Dohmen wird, steht in keinem Verhältnis zu der Zukunft,
die diese Form der Energiegewinnung hat: Strom
in Kohle- und Atomkraftwerken zu erzeugen, das gilt als eine angezählte Technik.
Ein Konzern wie das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk (RWE), das Garz-
weiler betreibt, kämpft also ums Überleben – diesen Kampf beschreiben Dohmen
und Hawranek. Sogar mit Start-ups will der Traditionskonzern, für den immer
noch rund 60 000 Menschen arbeiten, ins Geschäft kommen – und von ihnen ler-
nen. Leicht ist das nicht: Ein Jungunternehmer erklärte den RWE-Chefs munter,
dass Scheitern oft zum Geschäft gehöre. Die Antwort einer Managerin: „Wir füh-
ren Kernkraftwerke, da ist Scheitern vielleicht keine so gute Idee.“ Seite 58

I m September wird der Komponist


Ralph Siegel 70 Jahre alt – Anlass,
mit ihm über sein leidenschaftliches,
bisweilen maßloses Leben zu sprechen.
Siegel komponiert gern nachts, er liebt
Wein und Champagner, jahrelang
rauchte er bis zu hundert Zigaretten
am Tag; auf diese Art hat er in mehr
als 50 Jahren rund 2000 Lieder geschrie- Siegel, Goos, Hüetlin
ben. Weil er sich für das SPIEGEL-
Gespräch einen Nachmittag Zeit genommen hatte, gingen die Redakteure
Thomas Hüetlin und Hauke Goos vor dem Termin noch rasch etwas essen – ein
Fehler. Als Siegel sie ins Wohnzimmer führte, hatte seine Haushälterin bereits
Weißwürste aufgetischt, dazu gab es Brezen, süßen Senf, und unermüdlich rief
Siegel: „Nehmen Sie! Greifen Sie zu!“ Dann führte er die Redakteure in sein
Tonstudio, in dem ein Techniker gerade „Chain of Lights“ bearbeitete, ein Lied,
das Siegel für San Marino zum Eurovision Song Contest geschrieben hat, es ist
sein 24. Grand Prix. Während das Lied erklang, stand Siegel mit geschlossenen Bei allen betriebswirtschaftlichen Entscheidungen
Augen vor dem Lautsprecher und spielte Luftklavier. Dann, wieder im Wohn- und in der Personalwirtschaft können Sie auf die
zimmer, erklärte er, warum das Aufhören für ihn keine Option ist. „Abschied Unterstützung Ihres Steuerberaters vertrauen. Ge-
FOTOS: OLIVER TJADEN / DER SPIEGEL (O.); DIETER MAYR / DER SPIEGEL (M.)

ist ein bisschen wie sterben“, das sei seine Lieblingszeile, von Katja Ebstein meinsam mit ihm und Software von DATEV werden
gesungen, von ihm komponiert. Seite 48 alle Unternehmensfragen geklärt.

P olitik sei Kindern oft zu langweilig, zu kompliziert


– das glauben viele Erwachsene. Stimmt es? DEIN
SPIEGEL , das Nachrichten-Magazin für Kinder, erzählt
Sprechen Sie mit Ihrem Steuer-
berater oder informieren Sie
in seiner neuen Ausgabe, wie ein Gesetz entsteht, wie sich auf www.datev.de/vertrauen
Minister arbeiten, wie Demokratie funktioniert. Außer-
bzw. unter 0800 1001116.
dem: warum es Bettwäsche und Dosensuppen in zwei
Varianten gibt – für Jungen und für Mädchen. DEIN
SPIEGEL erscheint am Dienstag. Dieser SPIEGEL-Aus-
gabe liegt, im Studenten-Abo, der UNI SPIEGEL bei:
mit einem Report über WG-Horror. Die Ausgabe lässt
sich auf SPIEGEL ONLINE als PDF-Datei herunterladen.

DER SPIEGEL 21 / 2015 5


Das Duell
Parteien Die AfD steht vor der Spaltung. Auf
den ersten Blick ringen in der Protestpartei
die Eurogegner mit den Rechtsnationalen,
aber hinter den Kulissen bekämpfen sich vor
allem zwei Super-Egos, die die ganze Macht

FOTOS SEITE 6: HENNING SCHACHT / DDP IMAGES (O.); DER SPIEGEL (M. L.); OLIVER TJADEN / DER SPIEGEL (M. R.); WINNI WINTERMEYER / DER SPIEGEL (U.);
wollen: Bundessprecher Bernd Lucke und die
sächsische AfD-Chefin Frauke Petry. Beide
Seiten sammeln ihre Truppen, nun könnte es
zum Showdown kommen. Seite 20

Leben nach

SEITE 7: ASLON ARFA / DER SPIEGEL (O.); ANNA SCHORI / DER SPIEGEL (M.); ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL (U.)
Guantanamo
Uruguay Mehr als zwölf Jahre
lang saßen die sechs Araber
unschuldig in dem US-Gefan-
genenlager, dann wurden sie
nach Südamerika ausgeflogen.
Dort versuchen sie nun, sich
eine neue Existenz aufzu-
bauen – doch die Bevölkerung
beäugt sie misstrauisch. Sie
sprechen kein Spanisch und
fürchten die Zukunft in dem
fremden Land. Seite 86

Deutscher
Traum
Internet Der deutsche Unter-
nehmer Bastian Lehmann ist
mit seinem Onlinekurierdienst
Postmates zu einem der heim-
lichen Stars des Silicon Valley
Kampf ums Überleben
aufgestiegen. Jetzt will er seinen Konzerne Mit unkonventionellen Methoden will RWE-Chef
Service ausbauen und amerika- Peter Terium dem Energieunternehmen eine neue Zukunft
nische Branchengrößen wie sichern. Manager sollen meditieren und mit Start-ups zusammen-
Amazon und Uber angreifen. arbeiten. RWE muss neue Geschäftsfelder erschließen.
Der Mann hat Mut – oder Denn die Stromerzeugung mit Kohle- und Atomkraftwerken
ist es Größenwahn? Seite 64 ist ein Auslaufmodell. Seite 58

6 Titelbild: Foto Gerd George für den SPIEGEL


In diesem Heft

Titel Ausland
102 Sexualität Die weibliche Lust – Forscher 74 Der Künstler Ai Weiwei erzählt, warum
ergründen, was Frauen wirklich wollen er seinen in Berlin lebenden Sohn vermisst /
Deutscher Richter hält griechische
Deutschland Reparationsforderungen für berechtigt
14 Leitartikel Die Wahlmüdigkeit der Bürger 76 Iran Außenminister Javad Zarif erklärt den
ist auch eine Folge der Politik Merkels Atomstreit seines Landes mit dem Westen
16 Schäuble mahnt griechische Regierung / 78 Deutsche Konzerne hoffen auf dicke
NSA-Spionage immer noch umfangreicher / Geschäfte nach dem Ende der Sanktionen
Plädoyer für späteren Unterrichtsbeginn / 80 USA Ein Rechercheur will eine Verschwörung
Kolumne: Der schwarze Kanal um die Tötung Bin Ladens auf-
20 Parteien Der Kampf der Frontleute Bernd gedeckt haben – und gerät in die Kritik
Lucke und Frauke Petry zerreißt die AfD 82 Spionage Die unglaubliche Geschichte des
24 Geheimdienste I Die USA wollten schon KGB-Agenten Jack Barsky Mohammad Javad Zarif
2007 uneingeschränkten Zugang zu Daten
86 Uruguay Wie fühlt sich die Freiheit an Der iranische Außenminister,
aus dem deutschen Netz
nach zwölf Jahren Guantanamo – zu Besuch der die Atomverhandlungen
26 Geheimdienste II Der Streit um die bei sechs Exgefangenen
„Selektoren-Liste“ wird die Koalition in führt, ist in seiner Heimat
eine Krise stürzen 92 Global Village Ein Kanadier in Peking will ein Star, seine Autobiografie
27 Kommentar Angela Merkel und ihr gutes die Chinesen zum Lachen bringen
ein Bestseller. Aber wird
Gewissen in der BND-Affäre er auch erfolgreich sein? Zarif:
28 Rüstung Der Filz zwischen dem Sport „Eine Einigung ist sehr
Verteidigungsministerium und der Waffen- 93 Die geheime Zeichensprache in der
schmiede Heckler & Koch wahrscheinlich.“ Seite 76
Bundesliga / Schlammschlacht um öster-
30 Religion Evangelikale Gemeinden in reichischen Skistar
Deutschland nehmen politisch Einfluss
94 Idole Der FC Barcelona ist seinem Genie
33 NPD-Verbot Die Länder legen Details über Lionel Messi hörig
elf V-Leute in Parteivorständen offen
34 Migration Während die EU Flüchtlinge ab- 98 WM 2018 Die Fifa beklagt den entfesselten
wehrt, blüht das Geschäft mit Visa für Reiche Rassismus in Russlands Stadien
35 Einwurf Eine kleine Kulturgeschichte des
Schlauchboots Wissenschaft
36 Entscheidungen Wenn der eigene Ehe- 100 Deutscher Hobbyforscher entdeckt
partner psychisch schwer erkrankt, wird er krabbelnden Regenbogen / U. S. Navy will
zu einem Fremden – und dann? futuristisches Schienengewehr einsetzen
40 Wohnen Wie eine pragmatische Lösung für 111 Geschichte Der Pigmentdetektiv –
den Mietspiegel aussehen könnte was ein Farbhistoriker aus den Anstrichen
42 Bildung Die Bundeswehr präsentiert sich von Wänden und Häusern liest
in Schulen
112 Erziehung Im SPIEGEL-Gespräch fordert Lenore Skenazy
44 Polemik Das größte Problem für
die US-Autorin Lenore Skenazy Eltern
Erzieherinnen ist nicht die Bezahlung –
es sind die Eltern
auf, Kindern mehr Freiheiten zu lassen Die Autorin wurde angefeindet,
114 Medizin Wie gefährlich sind kleinere weil sie ihren neunjährigen
Lungenembolien? Sohn in New York allein
Gesellschaft
115 Umwelt Tiergerechte Häuser sollen die U-Bahn fahren ließ. Daraufhin
46 Sechserpack: Der Máximo Líder trägt Artenvielfalt in den Städten schützen
Adidas / Tipps vom Spargelschälweltmeister gründete sie die „Free-Range
47 Eine Meldung und ihre Geschichte Marsh Kids“-Bewegung. Forderung:
gegen Baxter oder Bio- gegen Genfood Kultur Eltern, lasst die Kinder
48 Schlager SPIEGEL-Gespräch mit dem 118 Cannes-Aufführung eines Dokumentarfilms von der Leine! Seite 112
Komponisten Ralph Siegel über Gershwin, über „Charlie Hebdo“ / Der seltsame
Roy Black und Rührei mit Trüffeln Streit unter den Berliner Philharmonikern /
54 Homestory Wie ich jahrelang nicht Kolumne: Mein Leben als Frau
in meine Zukunft, sondern in die eines 120 Pop Sex-Pistols-Sänger Johnny Rotten hat
Fondsmanagers investierte seine Autobiografie veröffentlicht
124 Zeitgeist An der Humboldt-Uni streiten
Wirtschaft sich Studenten mit ihrem prominenten
56 Regierung prüft Atomfonds / NRW- Politologieprofessor Herfried Münkler
Minister gegen Brüssel / Wirtschaftsweiser 126 Ökonomie Der Philosoph Christoph Türcke
fordert Bargeldstopp im SPIEGEL-Gespräch über den sakralen
58 Konzerne Der Stromriese RWE muss sich Ursprung des Geldes
neu erfinden 130 Kino Der israelische Regisseur Eran Riklis
62 Airlines Schwarze Kasse bei der Lufthansa? versucht sich in seinen Filmen als Mediator
64 Internet Ein deutscher Gründerunterneh- einer zerrissenen Gesellschaft
mer fordert die Digitalgiganten heraus 133 Literaturkritik Hermann Hesses Briefe aus
67 Handel Hörbuchverleger attackieren Amazon den Jahren 1916 bis 1923 zeigen einen Johnny Rotten
68 Börsen Die bittere Systemkritik eines Schriftsteller auf der Flucht vor zu viel Leben
Frankfurter Wertpapierhändlers Als Sänger der Sex Pistols
löste er Mitte der Siebziger-
10 Briefe jahre eine der größten Revo-
Medien
131 Bestseller lutionen der Popgeschichte
69 Stuttgarter Zeitungen vor Fusion? / ARD
plant Hannover-Doku 134 Impressum aus. Heute lebt der gebürtige
Wegweiser für
70 Verbraucher „Öko-Test“ will China erobern 135 Nachrufe
Informanten:
Londoner in Los Angeles.
72 Prozesse Einigung im Streit zwischen Google 136 Personalien www.spiegel.de/ Zum Lunch gibt es Wodka-
und früherem Motorsportpräsidenten Mosley 138 Hohlspiegel / Rückspiegel investigativ Cocktails. Seite 120

Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite. DER SPIEGEL 21 / 2015 7
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Briefe

„Bildung für alle klingt gut – aber spätestens bei der Klage um den
Studienplatz wird die alte Ordnung wiederhergestellt.“
Ute Kraemer-Pospiech, Heilpädagogin, Graz

Ein Wahnsinn Als Kinder- und Jugendarzt erlebe ich aus


nächster Nähe, was der Kollege Geburts-
In meiner Lehrtätigkeit an einem Berufs-
kolleg habe ich Schüler in verschiedenen
Nr. 20/2015 Die Lüge von der Chancengleichheit – helfer am Horizont sieht. Und leider passt Bildungsgängen aus allen Schichten ken-
warum schon die Geburt über Bildung und Aufstieg
sich auch unsere Medizin diesem Zwei- nengelernt. So konnte ich miterleben, dass
entscheidet
klassensystem an. In der Bildungsdis- „Unterschichtangehörige“ sehr erfolgreich
Ja, es existiert eine Zweiklassengesell- kussion geht es nur um Vermittlung von ihren Abschluss erreicht haben und beruf-
schaft, aber diese ist kaum dadurch zu be- Lifestyle-Signalen und Kommunikations- lich etabliert sind. Mittel- und Oberschicht-
heben, dass die sozial schwachen Familien techniken, um in seiner Kaste bestehen zu angehörige sind nicht automatisch erfolg-
mehr Geld erhalten. Stattdessen muss die können, vom Kindergarten angefangen bis reicher gewesen; sie sind teilweise geschei-
Einstellung verändert werden. Ich würde in die Sportvereine und die Unis. Rokoko – tert, weil ihnen der Wille fehlte, etwas zu
eine stundenweise, nach Alter gestaffelte mit sozialdemokratischer Fassade. erreichen. Allerdings: Der Anteil der Un-
Kita-Pflicht für alle Kinder spätestens ab Alfred Janta, Lüneburg willigen aus den Reihen der „Unter-
einem Jahr einführen, sodass diese in gut schicht“ ist ungleich größer als der aus an-
ausgestatteten Kitas, mit qualifiziertem Es ist ein absoluter Wahnsinn, dass Kinder deren Schichten. Hier müsste angesetzt
und gut entlohntem Personal optimal auf im Alter von neun oder zehn Jahren aus werden: Wie kann jemand ermutigt wer-
das Leben vorbereitet werden können. Sonder-, Rest- oder Hauptschulen aussor- den, ein erfolgreiches Leben anzustreben?
Martina Saße, Braunschweig tiert werden. Das dreigliedrige Schulsys- Wolfgang John, Siegen
tem gehört dringend abgeschafft. Es man-
Symptombeschreibung richtig, Diagnose
leider falsch und somit auch die Therapie-
gelte nicht an Erkenntnis, sondern an der
politischen Macht, dies umzusetzen.
Kompetente Nerds
empfehlung. Wenn rund ein Drittel der Un- Vanja Mocniak, Hamburg
Nr. 19/2015 Der Medizinertest – eine unlösbare
Aufgabe
terschichtsfrauen in der Schwangerschaft
raucht, was bekanntermaßen zu Frühge- Deutschland ist nicht auf dem Weg zur al- Deutschlands eigentliches Werkzeug, um
burten führt, dann können spätere Maß- ten Klassengesellschaft, weil unterprivile- sozialkompetente Bewerber ins Ausland
nahmen wie eine bessere Kita-Ausstattung gierten Kindern der Weg nach oben ver- zu vergraulen, ist nicht der Test für Medi-
nur noch lindern. Unser System setzt fal- baut wird. Vielmehr sehe ich als Vermieter, zinische Studiengänge (TMS), sondern das
sche Anreize. Für Frauen mit geringer Bil- dass Kinder von Hartz-IV-Empfängern oft sture Festhalten an einem völlig unkon-
dung sind Kinder- und Betreuungsgeld, deshalb auf Bildung, Karriere und An- trollierten Abitur als Bewertungsmaßstab.
kombiniert mit Hartz IV, oft ein Lebens- strengung verzichten, da sie dies von ihren Der TMS hat leider nur einen sehr gerin-
entwurf und somit ein Grund zum Kinder- Eltern vorgelebt bekommen: Wer solche gen Einfluss auf die spätere Auswahl der
kriegen. Der französische Weg über enor- Werte hat, macht es sich unnötig schwer, Studenten. Viele der deutschen Unis stel-
me steuerliche Kinderfreibeträge animiert weil man mit Grundsicherung durchaus len nicht einmal eigene Kriterien auf oder
dagegen bildungsnahe und einkommens- zurechtkommen kann. lassen den TMS in die Platzvergabe als
starke Frauen zu Schwangerschaften. Das Hans-Martin Esser, Arnsberg (NRW) Kriterium einfließen.
mag ungerecht sein, aber es wirkt. Dort Kai Jahns, Wackernheim (Rhld.-Pf.)
wachsen mehr Kinder in guten Verhältnis- Sie suggerieren die heile Welt in einer Lu-
sen auf, auch die Geburtenrate ist höher. xus-Kita und das Elend in einer staatlichen Die Unis beachten bei ihrem eigenen Aus-
Mariusz Rejmanowski, Hamburg Kita. Die Fotoauswahl unterstützt dieses, wahlverfahren entweder den TMS oder
dabei liegt die „Villa Ritz“ an einer Haupt- einen Berufsabschluss. Die Note, mit der
Die Selektion beginnt im Kopf. Unser verkehrsstraße und grenzt mit dem win- eine medizinnahe Ausbildung beendet
Schulsystem ist ein Instrument, um diese zigen Garten an eine Autowerkstatt. Die wurde, ist nicht relevant. Was man in der
zu verstärken. Hinzu kommt das Schub- „Kinderland“-Kita verfügt dagegen über Wartezeit macht, interessiert auch keinen.
ladendenken von Erziehern und Lehrern. ein großes Außengelände im Grünen. Man So hat also jemand, der bereits im Kran-
Marina Lamber, München hätte beim Vergleich eher die sozialen kenhaus arbeitet, die gleichen Chancen
Kompetenzen der Kinder in der „Villa wie einer, der nichts mit dem Gesundheits-
Leider droht auch im Rahmen der Inklu- Ritz“ hinterfragen sollen, in der es wohl system am Hut hatte.
sion eine solche Entwicklung: Die Thera- kaum die so wichtige soziale Durchmi- Anouk Erb, Berlin
peuten im bisher vorbildlichen inklusiven schung der Familien geben dürfte.
Kindergarten werden entlassen, und Kin- Rolf und Jana Sommerfeld, Berlin Sie setzen Nerdtum mit sozialer Inkom-
der mit Förderbedarf müssen zukünftig Re- petenz gleich. Es erscheint mir aber nicht
zepte vom Arzt vorlegen. Dann kommen Die meisten Bundesländer nehmen den zwingend, dass das Medizinstudium sozial
externe Therapeuten fallweise in den Kin- Bildungsauftrag, „kein Kind zurückzulas- weniger Begabten verschlossen sein sollte.
dergarten. Das ist bürokratisch und wird sen“, nicht ernst oder sind zu schwach, ihn Ein erheblicher Teil der Absolventen ar-
dem Alltag einer solchen Einrichtung nicht auszuführen. Öffentliche Schulen vermit- beitet in der pharmazeutischen Forschung,
gerecht. Besonders schlimm: Möchten Trä- teln höchstens noch ein Drittel der er- wo der Umgang mit Patienten wohl weni-
ger die Therapeuten halten, rechnet es sich, forderlichen Bildung. Der Rest liegt in ger relevant ist. Weiterhin frage ich mich,
bevorzugt privat versicherte Kinder mit der (Nicht-)Verantwortung der Eltern und ob der durchschnittliche Kranke im Ernst-
Förderbedarf aufzunehmen, da deren muss „zugekauft“ werden. Dabei verküm- fall wirklich die umgängliche Ärztin oder
Krankenkassen mehr bezahlen. mern zu viele Kinder samt ihren Talenten. doch die beste wählte.
Dr. Fabian Braun, Neuss (NRW) Achim Schüßler, Darmstadt Philipp Hoffmann, Berlin

10 DER SPIEGEL 21 / 2015


www.koreanair.com
Briefe

Bekenntnisse Gebot der Menschlichkeit man sich mancherorts glücklich schätzen,


wenn man einen Platz unter 1000 Euro
eines Nr. 19/2015 CDU-Politikerin Erika Steinbach
erklärt, warum der 8. Mai für sie nicht nur ein Tag
monatlich bekommt. Da stellt sich die Fra-
ge, was diese ungehörige Polemik soll.
der Befreiung ist
Hirnchirurgen Mit Ihrer Frage „Es wurden doch alle von
Stefan Behrendt, München

Naziherrschaft und vom Krieg befreit …“


blenden Sie aus, dass die Naziherrschaft
Integration ausgeschlossen
besonders von den Deutschen in den Nr. 19/2015 Die Bundesregierung schiebt Flüchtlinge
ins Elend nach Bulgarien ab
ganzen Ostgebieten aktiv unterstützt und
vorangetrieben wurde. Auch wenn diese Wann endlich stoppt das „Bundesamt für
Menschen nach Kriegsende viel Leid er- Abschiebung“ seine so erbarmungslose
fahren haben, so waren sie doch insofern Politik der Rückführung nach Bulgarien? In
keine Opfer, als sie die Verbrechen in deut- ein Land, das schon mit den eigenen Pro-
schem Namen aktiv befördert haben, weil blemen in keiner Weise zurechtkommt, ge-
sie sich selber davon Vorteile versprochen schweige denn mit Flüchtlingen; das zwar
haben. Und auch wenn Steinbach behaup- ein Asylpapier ausstellt, aber Prügel und
tet, nicht zu vermengen oder aufzurech- Gefängnis mitliefert; das keine Unterkunft
nen, so tut sie genau das. Frau Steinbach bereithält, sondern nur bittere Not, Hass
versucht nach wie vor, eine Kontinuität und Fremdenfeindlichkeit. Integration ist
Naziverbrechen – Stalinismusdiktatur her- dort ausgeschlossen. Warum können wir
zustellen, die die deutschen Taten relati- jene Asylbewerber, die in Deutschland gut
viert. Das ist unredlich und verharmlosend. integriert sind, nicht in Ruhe lassen und
Markus Herm, München den Aufenthalt genehmigen? Was hier ge-
schieht, ist sicherlich nicht der Wille der
Ohne ansonsten in politischer Hinsicht mit Mehrheit unseres Volkes. Statt helfen und
Erika Steinbach übereinzustimmen, hat sie unterstützen lieber abschieben, ausgren-
doch recht, wenn sie auf die Leiden der Zi- zen, gar ertrinken lassen: welch widersin-
vilbevölkerung beim Einmarsch der Roten nige, unmenschliche Politik.
Armee hinweist. Nein, die Hunderttausen- Prof. Eike Uhlich, Freundeskreis Asyl, Hofheim (Hessen)
den Frauen und Mädchen haben die russi-
schen Soldaten gewiss nicht als Befreier
angesehen. Sie alle waren nach den Über-
Der richtige Urgroßvater
griffen traumatisiert, viele haben sich um- Nr. 19/2015 Protokoll einer Familienfehde
gebracht. Die Verbrechen der Siegermäch- Hier wird gut deutlich, mit welchen Struk-
te nicht zu verschweigen ist ein Gebot der turen VW zu kämpfen hat. Dass dabei
Menschlichkeit und der Gerechtigkeit. Trends wie Elektromobilität oder Carsha-
Dr. Alexandra von Grote, Berlin ring unzureichend bedient werden kön-
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag nen, ist klar. Frischer Wind tut arg not.
352 Seiten · C 19,99 (D)
ISBN 978-3-421-04678-9 Geht’s noch? Benjamin Hoppe, Wilkau-Haßlau (Sachsen)

Auch als eBook erhältlich. Nr. 19/2015 Kommentar: Im Billig-Billig-Modus Die gelungene Geschichte gibt ein schönes
Es stimmt, unsere Kitas sind ziemlich mä- Beispiel dafür, warum eine Reform der
ßig und die Erzieher zu schlecht bezahlt. Erbschaftsteuer wichtig wäre. Dann müss-
Die Kinder sind unsere Zukunft, wir brau- ten viele Erben Anteile verkaufen – idea-
chen gute Ärzte, Pfleger, Handwerker, und lerweise an die Belegschaft oder an Leute,
die fallen nicht vom Himmel, sondern müs- die wissen, was sie mit dem Geld tun.
sen erzogen werden. Aber: Diese fähigen Stattdessen sollen nun eine Maklerin und
Henry Marsh, einer der besten jungen Leute kommen allen zugute, auch eine Modeexpertin in den Aufsichtsrat des
Neurochirurgen Großbritanniens, den Kinderlosen. Der Ertrag wird also so- größten deutschen Autobauers. Kommen
zialisiert, die Kosten tragen die Eltern zu sie vor allem etwa deshalb dafür infrage,
erzählt beeindruckend offen, großen Teilen allein. Deshalb wäre es Sa- weil sie den richtigen Urgroßvater haben?
selbstkritisch und humorvoll che des Staates – aller Steuerzahler, auch Jochen Neumeyer, Berlin
der Kinderlosen –, die Kitas zu finanzieren.
aus seinem Arbeitsalltag – Barbara Glum, Puchheim (Bayern) Wer Porsche retten konnte, der weiß si-
und von der Schwierigkeit, die cherlich, wie man VW auf Kurs bringen
richtige Entscheidung zu treffen. Die Eltern mehr in die Pflicht zu nehmen könnte. Einer der Intimfeinde von Wen-
kann nicht im Interesse der Gemeinschaft delin Wiedeking ist nun in den Hinter-
liegen. Die Konsequenz wäre eine größere grund gerückt. Es müssten VW-Betriebsrat
finanzielle Last durch Hartz-IV-Empfänger, und -Belegschaft jetzt über ihren Schatten
da man sich die Kita nicht leisten kann. springen, damit man ihm ein Angebot
Jochen Rittmann, Greifenberg (Bayern) macht, das er nicht ablehnen kann.
Gernot Förster, Hessigheim (Bad.-Württ.)
Laut Jan Friedmann „wollen“ wir Eltern
also für die Kita-Betreuung „nicht viel aus- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe ge-
geben“. Zudem gerieren wir uns als „Preis- kürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen:
drücker“. Geht’s noch? In Bayern kann leserbriefe@spiegel.de

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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Prekäre Demokratie
Die Entsaftung der Politik in der Ära Merkel trägt zur niedrigen Wahlbeteiligung bei.

Z
unächst vorneweg: Ganz aus der Verantwortung kann hafen und neue Bahnhöfe. Über das Freihandelsabkommen
man ihn nicht entlassen, den Wähler in Blumenthal, zwischen Europa und Amerika oder die Dauerkrisen um den
Neue Vahr oder Gröpelingen, der nicht wählen ging. Es Euro oder die Ukraine wird weit jenseits der Berliner Bann-
gab Gründe, bei der Wahl die Stimme abzugeben. Die Arbeits- meile heftig diskutiert. Das Land ist mehr an Politik interes-
losigkeit in Bremen ist hoch, obwohl der Überseehafen Jobs siert, als Politiker meinen.
und Steuereinnahmen garantiert. Zudem kämpft das kleinste Die Parteienmanager machen sich seit geraumer Zeit Ge-
Bundesland seit vielen Jahren ums Überleben. Der Länder- danken darüber, wie sich die Demokratie reanimieren lässt.
finanzausgleich ist nichts anderes als ein Bail-out für den über- Allerlei Vorschläge kursieren: Die Wahllokale sollen über
schuldeten Stadtstaat. Bremen oder das Saarland sind in einer 18 Uhr hinaus geöffnet bleiben, Wahlurnen auch im Super-
ähnlichen Lage wie Griechenland: pleite, ohne pleitezugehen. markt oder im Einkaufszentrum aufgestellt werden, das Wahl-
Die Wähler sind nicht allein verantwortlich für das Debakel, recht schon ab 16 (in Bremen eingeführt) gelten. Es ist aber
das die deutsche Demokratie am vergangenen Sonntag erlit- kaum zu glauben, dass sich allein damit die Wahlabstinenz
ten hat. Nie war die Wahlbeteiligung in einem westdeutschen aufhalten ließe.
Bundesland geringer als diesmal. Nur jeder zweite Bremer Wer etwas ändern will, wem an der Repräsentanz der
wollte mitbestimmen, wer ihn in welcher Koalition künftig Demokratie gelegen ist, der sollte bei den Parteien an-
regieren wird. Darin liegt eine setzen und bei der Parteien-
Zäsur, die sich seit Jahren ab- finanzierung. Heute alimentiert
zeichnete. der Staat die Parteien weit-
Es sind vor allem Menschen gehend unabhängig davon, wie
mit wenig Geld und wenig Bil- niedrig die Wahlbeteiligung aus-
dung, die Armen und Abge- fällt. Ein wirkungsvolles Junk-
hängten bis in die Mittelschicht, tim zwischen Wahlbeteiligung
die nicht wählen gehen. Die und Wahlkampfkostenerstat-
Wahlen in Bremen, aber auch tung könnte das ändern: geringe
schon zuvor in Hamburg und Wahlbeteiligung, weniger Geld
auch für den Bundestag zeigen, pro Wähler. Dann hätten die
dass die Wahlbeteiligung dort Parteien ein materielles Interes-
sinkt, wo Arbeitslosigkeit und se daran, die Wahlen zu politi-
Armut grassieren und die Mit- sieren.
telschicht im Überlebenskampf Momentan ist der Staat der
steht. Die Desillusionierung verlässlichste Geldgeber der
über die eigenen Lebenschancen Parteien. Deren Mitgliederzah-
führt dazu, dass nun weniger len sinken permanent, und da-
Wähler politisch abstimmen. mit schrumpft die Möglichkeit
Natürlich ist die Demokratie zur Selbstfinanzierung. Mehr
nicht gleich in Gefahr, wenn nur denn je sind die Parteien auf
noch jeder zweite Bürger wäh- jene 150 Millionen Euro ange-
len geht. In Amerika gibt selbst wiesen, die der Staat Jahr für
bei den Präsidentschaftswahlen Jahr überweist. Die Grundlage
allenfalls die Hälfte der Bürger ihre Stimme ab, das gehört für diese Alimentierung ist die „Verwurzelung in der Gesell-
dort zum Normalzustand der Demokratie. Nur Deutschland schaft“, so ist es im Parteiengesetz geregelt. Wie tief aber
produzierte bis in die Neunzigerjahre hinein Traumergebnisse schlagen diese Wurzeln noch?
von über 80 Prozent. Aber eine Demokratie kann prekär Wenn Parteien befürchten müssten, dass niedrige Wahlbe-
werden, sobald daraus ein Monopol der Arbeitsplatzbesitzer teiligung Konsequenzen für sie hat, würden sich die Protago-
und Gutverdiener, der wohlsituierten Mitte wird. Prekäre nisten überlegen, ob Kampagnen wie die von 2009 und 2013
Wahlen sind nicht, was Wahlen sein sollen: repräsentativ für in ihrem Interesse sind. Die Strategie Angela Merkels zielte
eine Gesellschaft. auf asymmetrische Demobilisierung ab, auf einen Sieg durch
In Deutschland breiten sich amerikanische Verhältnisse Entpolitisierung. Aus dieser Strategie ist ihr Regierungsstil
aus, die jedoch kein Beleg dafür sind, dass eine Mehrheit im geworden, den sie trotz der Krisen in Europa und der Kon-
Großen und Ganzen zufrieden mit den herrschenden Ver- flikte mit Amerika aufrechterhalten will.
hältnissen ist. Genauso wenig überzeugt die lässig dahin- Deshalb ist die deutsche Demokratie nach zehn Jahren mit
FOTO: JÖRG SARBACH / DPA

geworfene Bemerkung, die Leute würden sich eben einfach Angela Merkel entsaftet. Auch deshalb sind Wahlen heute
nicht mehr für Politik interessieren. Im ganzen Land stellen weniger repräsentativ als früher. Aber die Wähler haben
Bürger etliche Projekte infrage, die in ihr Leben eingreifen: einen Anspruch darauf, dass sie von ihren Regierungen ernst
Stromtrassen und Windkraftanlagen, Startbahnen am Flug- genommen werden, in Bremen wie in Berlin. Peter Müller

14 DER SPIEGEL 21 / 2015


∆Wie bringt man Häusern
das Sparen bei? Die KfW fördert
Energieeffizienz.
Seit 1990 ist die deutsche Wirtscha um ein Drittel gewachsen, braucht aber
deutlich weniger Energie. Die KfW fördert Investitionen in Energieeffizienz, denn
diese ist heute wichtiger denn je, um unsere Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten
und die Lebensbedingungen auf der Welt nachhaltig zu verbessern.
www.kfw.de/verantwortung
Europäische Union
Mahnungen an die Griechen und … … die Briten
Unterhändler reisten nach Die Forderungen des briti-
dem Finanzministertreffen schen Premierministers Da-
zurück nach Athen und kehr- vid Cameron – mehr nationa-
ten bis zum Ende der Woche le Souveränität, teilweise Ent-
nicht zurück. Auch die Ver- machtung der EU – werden
treter von IWF und EZB reis- in den anderen Mitgliedslän-
ten am Mittwoch entnervt dern scharf kritisiert. „Die
aus Brüssel ab. EU braucht gerade jetzt ver-
Angesichts der zähen Ver- antwortungsvoll agierende
handlungen bringt Hans- Politiker, die sich für eine ge-
Peter Friedrich, Vizechef der meinsame europäische Politik
CDU/CSU-Bundestagsfrak- einsetzen“, sagt Österreichs
tion, einen Austritt des Lan- Bundeskanzler Werner Fay-
des aus der Währungsunion mann. „Derzeit sehe ich in
ins Gespräch: „Wenn wir auf Großbritannien die gegentei-
den Reformzusagen nicht be- lige Tendenz.“ In Berlin,
stehen, fügen wir der Wäh- Brüssel und den meisten an-
rungsunion einen großen deren Hauptstädten gibt es
Schaden zu – dieser Schaden kaum Bereitschaft, den Bri-
wäre größer, als wenn Grie- ten weitere Ausnahmen vom
chenland in letzter Konse- EU-Recht zuzugestehen. Ca-
quenz austritt.“ Der CSU- meron fordert unter anderem,
Europaparlamentarier Mar- in der Präambel des EU-Ver-
kus Ferber machte bei Ge- trags das Ziel einer „immer
sprächen in Athen klar: „Es engeren Union“ zu streichen.
Schäuble, Varoufakis gibt in Deutschland keine Ziel der EU sei es nicht,
Mehrheit für ein drittes Hilfs- „dass jedes Mitgliedsland aus-
paket.“ Der IWF warnt die schließlich versucht, das Bes-
Bundesfinanzminister Wolf- che mehr stattgefunden zwi- Eurostaaten vor zu viel Groß- te für sich – auf Kosten der
gang Schäuble (CDU) verliert schen griechischer Regierung zügigkeit. Wenn die Euro- anderen – herauszuholen“,
zunehmend die Geduld mit und der Troika aus Europäi- zone nicht darauf beharre, sagt Faymann. Ähnlich äu-
Griechenland. „Die Zeit läuft scher Zentralbank (EZB), EU- dass die Reformen umgesetzt ßert sich Luxemburgs Außen-
euch davon“, warnte er sei- Kommission und Internatio- würden, sei ein Schulden- minister: „Eine Mitglied-
nen griechischen Amtskolle- nalem Währungsfonds (IWF), schnitt von 10 bis 20 Prozent schaft à la carte wird und
gen Gianis Varoufakis am warf Schäuble dem Griechen des griechischen Bruttoin- darf es nicht geben“, sagt
Montag am Rande einer Sit- vor. Seine Regierung solle landsprodukts notwendig. Jean Asselborn. „Die politi-
zung der Euro-Gruppe. Seit endlich anfangen, ernsthaft Die Geberländer müssten sche Essenz einer immer en-
dem vorangegangenen Don- mit den Geldgebern zu ver- dann auf bis zu 36 Milliarden geren Union darf nicht infra-
nerstag hätten keine Gesprä- handeln. Die griechischen Euro verzichten. cs, mp, rei ge gestellt werden.“ csc

Flucht nach Quote 1 Asylerstanträge 2014 in den EU-Ländern… 1 … und wie die Verteilung bei Anwendung der neuen Quoten wäre
* Dänemark, Großbritannien und Irland sind aufgrund einer rechtlichen Sonderstellung bei der Quote nicht berücksichtigt. Quellen: Eurostat, EU-Kommission
Flüchtlinge aus Afrika und 21 872
dem Nahen Osten gerechter 16 755 4779 3880
9896 10008 6803 9727 2193
auf die EU-Mitgliedstaaten 6466 6522 1030 1275
915 1440 1480
zu verteilen – das hat die Eu- 145 230 355 365 380 385 445
ropäische Kommission vor-
Estland Slowakei Slowenien Lettland Kroatien Litauen Portugal Tschechien Luxem- Malta Irland* Zypern
geschlagen. Alle, die es in burg
die Europäische Union ge- 51166 31712 10 683 10 805 25 700
21085 9671 24 459
schafft haben, sollen nach ei- 16 362
3495 7590 7028
nem festen Schlüssel in die 5460 5610
Mitgliedstaaten geschickt 1500 14 130 14565 21 810 14 731
werden („Relocation“). Wel-
ches Land wie viele Men- Rumänien Finnland Spanien Polen Griechen- Bulgarien Belgien Däne- Niederlande Österreich
land mark*
schen aufnehmen soll, be-
misst sich demzufolge unter 173 070
anderem nach Bevölkerungs- 79673
66 572
zahl, Wirtschaftskraft und 41215
Arbeitslosenquote eines Lan- 75 090 103 569
des. Mehrere EU-Staaten, 10065 58845 63 655
darunter Ungarn und Tsche- 31265 16 418
chien, haben die Brüsseler
Pläne bereits kritisiert. csc Großbritannien* Ungarn Frankreich Italien Schweden Deutschland

16 DER SPIEGEL 21 / 2015


Deutschland
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal

Die Nahles-Polizei
Es ist erstaunlich, wie die Politik Men-
schen verändert. Ich habe Andrea
Nahles immer für eine bodenständige,
lebenskluge Frau gehalten, die man
schon wegen ihres Lachens gern haben
muss. Aber seit sie unsere Arbeits-
ministerin ist, scheint sie die meiste
Zeit darüber nachzusinnen, wie sie
dafür sorgen kann, dass niemand zu
lang oder zu kurz arbeitet.
Jetzt will sie 1600 Lohnpolizisten einstellen, damit
nicht ein Bäckermeister oder Spargelbauer von der Min-
destlohnnorm abweicht. Die Sache mit dem Mindestlohn
ist leider ziemlich kompliziert geraten. Es gibt eine „Do-
Schulen den Kindern frühstücken zu kumentationspflicht“, damit in Deutschland keine Minute
„Furchtbar können. gearbeitet wird, ohne dass die Ministerin davon erfährt.
SPIEGEL: Ist der Ruf nach ei-
verschlafen“ nem späteren Schulbeginn
Jedes Mal, wenn jemand eine Pause macht, wird das fest-
gehalten. Wer seinen Arbeitskräften Kost und Logis an-
Kristina Schröder, 37, ist Bundes- nicht elitär? Maurer oder bietet, muss zusätzlich zum Arbeitsvertrag einen Miet-
tagsabgeordnete. Die CDU- Krankenschwestern, die früh vertrag und einen Bewirtungsvertrag abschließen.
Politikerin war von 2009 bis zur Arbeit müssen, sind froh, Viele versuchen, sich um die Papierarbeit herum-
2013 Bundesfamilienministerin. wenn sie die Kinder um halb zumogeln. Aber nicht mit der neuen Andrea Nahles, die
acht in der Schule abgeben nie lächelt! Die Lohnkontrolleure haben nicht nur eine
SPIEGEL: Frau Schröder, Sie en- können. Schulung in allen Einzelheiten des Mindestlohngesetzes
gagieren sich seit einigen Mo- Schröder: Deswegen muss der hinter sich, sie verfügen auch über eine abgeschlossene
naten dafür, dass Schulen in spätere Schulbeginn unbe- Schießausbildung. Das Arbeitsministerium hat vor dem
Ihrem hessischen Wahlkreis dingt mit einer Betreuung ab Einsatz eine „Gefährdungsanalyse“ erstellen lassen, wo-
später mit dem Unterricht be- 7.30 Uhr kombiniert werden. nach eine Bewaffnung unumgänglich sei. Man weiß ja nie,
ginnen. Sind Sie eine Lang- SPIEGEL: Den Ruf nach einem wen man in der Bäckerei oder auf dem Spargelfeld trifft.
schläferin? späteren Schulbeginn gibt es Die Nahles-Polizei ist eine Idee mit Zukunft. Ich bin
FOTOS: MARC-STEFFEN UNGER (O. L.); JONAS GÜTTLER / PICTURE ALLIANCE / DPA (O. R.); ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL

Schröder: Ich persönlich bin seit Jahren. Warum tut sich mir sicher, in anderen Ministerien überlegen sie schon,
gar nicht betroffen, meine nichts? wie sie sich ebenfalls Respekt verschaffen können. Es ist
große Tochter kommt erst in Schröder: Das ist ein kulturel- eine Sache, ob man als Landwirtschaftsminister an die
zwei Jahren in die Grund- les Problem. Frühes Aufste- Bauern appelliert, einen Teil des Ackerlandes in eine Blu-
schule. Aber ich kann mich hen ist in Deutschland ganz menwiese umzuwandeln; es ist eine ganz andere Sache,
noch gut daran erinnern, eng mit Redlichkeit verbun- ob man bewaffnete Einheiten schicken kann, die anhand
wie quälend für mich als den, mit Fleiß und Disziplin. der Ringelblumen hochrechnen, was aus dem Appell ge-
Schülerin das frühe Aufste- Viele Eltern haben immer worden ist. Auch in der Entwicklungshilfepolitik könnte
hen war. Mein persönlicher noch das Gefühl, sie verhät- der Einsatz von Ordnungskräften Wunder wirken. In vie-
Tiefpunkt war immer die scheln die Kinder, wenn sie len Gegenden der Welt nimmt man einen Politiker erst
nullte Stunde am Dienstag: sie ausschlafen lassen. Das ist ernst, wenn er über eine ausreichende Zahl an Body-
Lateinisch-Sprechen-AG natürlich Quatsch. Zur Wahr- guards verfügt. Selbst die Bildungsministerin, die bis heu-
um 7.15 Uhr. heit gehört aber auch: Ein te niemand kennt, würde mit einer Unipolizei im Rücken
SPIEGEL: Es heißt doch so späterer Schulbeginn scheitert ganz anders dastehen.
schön: Morgenstund hat Gold oft am Widerstand der Lehrer. Die Sozialdemokratie sei die Synthese aus Kranken-
im Mund. SPIEGEL: Schule ist Sache der station und Gefängnis, hat mir Peter Sloterdijk einmal
Schröder: Das hängt vom Länder. Bringt es überhaupt gesagt. Ich habe ihm sofort widersprochen. Meine Idee
Schlaftyp ab. Ausgeschlafene- etwas, wenn Sie sich als Berli- von Sozialdemokratie war immer Emanzipation und
re Kinder sind auf jeden Fall ner Politikerin einmischen? Freiheit. Aber vielleicht liegt Sloterdijk doch nicht ganz
leistungsfähiger, gesünder, Schröder: Ich habe mal in die falsch. Wenn man als Politiker davon ausgeht, dass man
schlanker und greifen selte- Schulgesetze der Länder ge- dem Bürger nicht über den Weg trauen kann, kommt
ner zur Zigarette. Und auch schaut. Die meisten sehen man nicht umhin, ihm genau auf die Finger zu sehen.
viele Eltern leiden darunter, vor, dass die Schulen selbst Was ich nicht begreife, ist, warum die SPD bei ihrem
dass die Kinder unter der Wo- über den Unterrichtsbeginn Faible fürs Überwachen so mit den Geheimdiensten ha-
che so früh aufstehen müssen entscheiden können. Das dert. Viel effizienter als Kontrollen auf der Basis von
und furchtbar verschlafen in heißt: Eltern und Lehrer müs- Stichproben wäre ja eine vollautomatische Sichtung aller
die Schule gehen. Das ist sen sich endlich dazu durch- Dokumentationspflichtbücher. Wir reden ständig davon,
auch schlecht für das Familien- ringen, die Dinge verändern wie wichtig Kooperation sei. Eine Kooperation von
leben. Denn gerade Akade- zu wollen. Dann können sie Bundesnachrichtendienst und Bundesarbeitsministerium
miker arbeiten oft lange, und auch verändert werden. Gera- wäre ein Anfang.
deswegen würde sie es freu- de in Ganztagsschulen wäre
en, morgens zusammen mit das gar nicht so schwierig. rp An dieser Stelle schreiben Jan Fleischhauer und Jakob Augstein im Wechsel.

DER SPIEGEL 21 / 2015 17


Deutschland

Verkehr fürchtet eine „Filetierung des


Das Geld liegt Straßennetzes“, da sich priva-
te Geldgeber die lukrativsten
auf der Straße Strecken heraussuchten; Ge-
Mehrere Bundesländer weh- bühren- und Steuerzahler hät-
ren sich gegen Pläne der Re- ten die Renditen der Investo-
gierung, Verkehrsinfrastruk- ren sicherzustellen. Groschek
turgesellschaften für Bund plädiert dafür, die öffentliche
und Kommunen zu gründen. Infrastruktur überwiegend
Die Gesellschaften wären für aus Steuermitteln zu finanzie-
den Straßenbau und -betrieb ren. Auf seinen Vorschlag soll
zuständig. Die Finanzierung Exbundesverkehrsminister
soll über Mautgebühren und Kurt Bodewig (SPD) zwi-
Fonds, an denen sich auch schen Bund und Ländern ver-
Versicherungen beteiligen mitteln, um bis zur nächsten
könnten, und Öffentlich-pri- Verkehrsministerkonferenz in
vaten Partnerschaften erfol- fünf Monaten eine Einigung
Der Augenzeuge gen. „Die verkorkste Bahn- zu erzielen. Neben vielen Ge-

„Traditionell wenige“ privatisierung müsste uns


Warnung genug sein“, sagt
NRW-Verkehrsminister Mi-
werkschaften stehen auch
Baden-Württemberg und Nie-
dersachsen dem Vorhaben
Der Informatiker André René Gefken, 39, war Wahlvorsteher im chael Groschek (SPD). Er kritisch gegenüber. bas
Ortsteil Tenever bei der Bremer Bürgerschaftswahl. Nur 50 Pro-
zent der Bremer stimmten ab, eine niedrigere Beteiligung gab
es noch nie bei einer westdeutschen Landtagswahl. In Gefkens Termingarantie Ärztetages warnt die Standes-
Wahllokal lag die Quote noch weit darunter: bei 25,6 Prozent. Ärzte in Sorge vertretung nun, dass aus ei-
ner Verlagerung der Termin-
„Seit 20 Jahren bin ich als Wahlhelfer tätig. Dies war mei- Die Bundesärztekammer vergabe auf kommerzielle
ne dritte Abstimmung als Wahlvorsteher, immer in der warnt vor Datenschutzproble- Anbieter „unmittelbar ein er-
Grundschule Andernacher Straße in Tenever. Am Sonn- men durch die geplante hebliches Datenschutzpro-
tag trafen wir uns um halb acht: ich als Wahlvorsteher, Garantie für Termine bei blem“ resultiere. Privatunter-
ein Stellvertreter, ein Schriftführer und drei weitere Wahl- Fachärzten. Gesetzlich Versi- nehmen hätten möglicherwei-
helfer. Mindestens fünf Leute müssen da sein, sonst dür- cherte sollen künftig ein Ge- se ein Interesse „auch an der
fen wir die Wahl nicht eröffnen. Zwischen neun und elf spräch mit einem Facharzt Sammlung, Verarbeitung und
Uhr kamen einige Wähler, über Mittag war es dann sehr binnen vier Wochen einfor- dem Verkauf von Krankheits-
ruhig. Die zweite Stoßzeit war nach dem Nachmittagskaf- dern können. Dazu müssen daten der Patienten“. Das
fee zwischen 15 und 17 Uhr. Da unterschied sich diese die Kassenärztlichen Vereini- Bundesgesundheitsministe-
Wahl nicht von anderen. Nach 17 Uhr tauchte kaum noch gungen sogenannte Termin- rium geht hingegen davon
jemand auf. Es zeichnete sich früh ab, dass die Betei- Servicestellen einrichten. Pri- aus, dass die Kassenärzt-
ligung dieses Mal sehr niedrig sein würde. Ich hatte vor- vate Unternehmen wie die lichen Vereinigungen „den
her mit ungefähr 35 Prozent gerechnet, aber selbst das Bertelsmann-Tochter Arvato vollen Schutz der Patienten-
war zu hoch. haben bereits angeboten, den daten“ sicherstellen. Anbie-
In Tenever gehen traditionell wenige wählen. Viele fühlen Aufbau dieser Online- und ter wie Arvato erklären, sie
sich mit ihren Problemen von der Politik nicht verstanden Telefondienste zu überneh- hielten sich streng an alle
oder wissen nicht, wem sie vertrauen können. Andere ver- men. In einer Resolution des Datenschutzvorgaben. cos
stehen das System nicht und haben keine Kenntnis davon,
dass selbst die Abgabe eines leeren Stimmzettels sinnvoll
ist. Das Bewusstsein, dass es in jedem Fall gut ist, zur Universität Konstanz Balken biegen“. Außerdem
Wahl zu gehen, das fehlt. Und das enttäuscht mich. In an-
deren Stadtteilen gibt es Informationsveranstaltungen, in Ehrliche Studenten seien Studenten verwöhnt: Ih-
nen werde „der Hintern ge-
denen erklärt wird, wie man wählt und warum Wählen Der Rektor der Universität pudert und mit viel Fürsorge
wichtig ist. Hier gibt es das nicht. In Tenever leben viele Konstanz kritisiert einen Pro- und Verständnis jede Faulheit
mit Migrationshintergrund. Ich glaube, wenn man den fessor für dessen Auslassun- und Inkompetenz vergeben“.
Menschen hier das Prinzip der Wahl vorher erklären wür- gen über Studenten. Die Aus- Rüdiger stellt nun klar, es
de, gingen auch mehr hin. Die Stimmung unter uns Wahl- sagen des Biologen Axel gebe keine Hinweise darauf,
helfern war trotzdem gut. Man kommt ins Gespräch, und Meyer in der „Frankfurter dass die „Straftat in direktem
die Leute erzählen von sich. Und da so wenige zum Wäh- Allgemeinen“ Mitte April Zusammenhang mit studen-
len kamen, hatten wir auch die Zeit dafür. seien „haltlos und diffamie- tischem Verhalten“ stehe.
Nachdem wir das Wahllokal geschlossen hatten, haben rend“, schreibt Ulrich Rüdi- Außerdem habe eine Prüfung
wir die Stimmen ausgezählt und die Zettel wieder in die ger in einem vierseitigen unter „Heranziehung von
Urnen gepackt. Die SPD hat hier rund 34 Prozent geholt, Rundbrief an seine Hoch- Schriftproben“ ergeben, dass
FOTO: CHRISTINA KUHAUPT

die CDU 24 Prozent, die Linke 22 Prozent. Die Grünen schullehrer. Meyer hatte nach eine Studentin – anders als
lagen bei rund 7 Prozent, die FDP und AfD jeweils unter einem Einbruchsversuch in von Meyer vermutet – zwei
5 Prozent. Die Urnen hat dann ein Beauftragter vom Amt sein Büro geschrieben, es sehr unterschiedlich benotete
abgeholt. Danach war Feierabend, um Viertel vor neun werde bei Klausuren „so oft Klausuren selbst geschrieben
war ich zu Hause.“ Aufgezeichnet von Jasper Ruppert geschummelt, dass sich die habe. fri

18 DER SPIEGEL 21 / 2015


BND-Zentrale in Berlin

Geheimdienste
Außer Kontrolle
Die NSA spionierte in größe- das Bundeskanzleramt hatte gelungen zu rekonstruieren, hördeninterne Strukturen,
rem Umfang gegen deutsche der BND Ende April nur wie die 40 000er-Liste zustan- die die Arbeit in den ver-
Interessen als bislang be- über 12 000 Selektoren infor- de kam, heißt es nun im schiedenen Abteilungen kon-
kannt: Mehr als die Hälfte miert, die im August 2013 im BND. Im Parlamentarischen trollieren“. Die SPD fordert
der rund 40 000 Suchbegriffe, „aktiven Profil“ der NSA ent- Kontrollgremium löst dies umfangreiche Einsicht in die
die der Bundesnachrichten- deckt worden seien. Dass bei Unverständnis aus. Es gebe Listen. „Warum erfahren wir
dienst (BND) aussortiert hat- einer weiteren Suche zusätz- „offensichtlich erhebliche De- diese zentralen Fakten erst
te, waren aktiv geschaltet – lich 13 000 Selektoren in der fizite im BND“, sagt der SPD- jetzt?“, fragt der Grünen-
sie wurden also tatsächlich 4,6 Millionen Suchbegriffe Abgeordnete in dem Gre- Abgeordnete Hans-Christian
zur Ausforschung auch von umfassenden NSA-Spionage- mium, Burkhard Lischka. Er Ströbele. Vieles deute darauf
Behörden, Unternehmen und liste gefunden wurden, ist verlangt „klare Regeln, wer hin, „dass wir wieder einmal
anderen Zielen in Europa ver- dem Papier nicht zu entneh- worüber innerhalb des BND gezielt hinters Licht geführt
wendet. In einem Testat an men. Erst Anfang Mai sei es zu informieren hat, und be- wurden“. gud

Deutsche Bahn

Dachschaden
Wäre der Architekt Meinhard von Gerkan nie auf Hartmut unternahm der SPD-Haushaltspolitiker Johannes Kahrs einen
Mehdorn getroffen – das Dach wäre da, wo es hingehört. Die neuen Versuch, die Bahn von der Dachverlängerung zu
FOTOS: PAUL ZINKEN / DPA (O.); ROBERT GRAHN / EUROLUFTBILD.DE / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.)

geschwungene Glas-Stahl-Konstruktion würde sich seit nun- überzeugen. Doch der Vorstoß beim Cheflobbyisten Ronald
mehr fast zehn Jahren in voller Länge über Gleise des Berliner Pofalla bleibt höchstwahrscheinlich ohne Erfolg. In einem
Hauptbahnhofs wölben. Doch Mehdorn, damals Bahn-Chef, Bahn-Gutachten hieß es schon im vorigen Jahr: alles tech-
wollte sparen und schneller fertig nisch machbar, aber mit 147 Millio-
werden. Er kürzte die filigrane Über- nen Euro arg teuer. Der gesamte
dachung von 454,6 auf 321,2 Meter. oberirdische Zugverkehr rund um
Die Teile, die nun nicht mehr benö- den Bahnhof müsste für neun Mo-
tigt wurden, lagerte die Bahn schon nate gesperrt werden. Und die Bau-
vor der Eröffnung im Jahr 2006 in ei- arbeiten wären problematisch, weil
nem Depot am Berliner Ostbahnhof inzwischen rund um den Haupt-
ein. Dort liegen sie noch heute. bahnhof eine Reihe neuer Gebäude
Wiederholt forderten Bundestagsab- entstanden ist. Gerkan empfahl,
geordnete, das Dach zu vollenden. den „notwendigen Freiraum für die
Schließlich habe der Steuerzahler Montage“ durch Abriss „eines der
mehr als 50 Millionen Euro nicht für missratenen Hotels“ zu schaffen.
eine Stummelüberdachung gezahlt. Die Bahn-Manager beeindruckte
Deren Nachteil: Ausgerechnet Erste- dies nicht. Sie prüfen nun die Idee,
Klasse-Passagiere – zum Beispiel: die eingelagerten Dachteile zu de-
Parlamentarier – sind Wind und Näs- Hauptbahnhof in Berlin montieren, das Glas einzuschmel-
se ausgesetzt. Vor wenigen Wochen zen und den Stahl zu recyceln. was

DER SPIEGEL 21 / 2015 19


Egos für Deutschland
Parteien Die rechtskonservative AfD steht am Abgrund.
Auf den ersten Blick zerreibt sie sich im Streit über Inhalte.
Tatsächlich spaltet die Feindschaft der
Frontleute Bernd Lucke und Frauke Petry die Eurogegner.

AfD-Bundessprecher Lucke

20 DER SPIEGEL 21 / 2015


Deutschland

W
enn man nach den Ursachen für
die Feindschaft und das Miss-
trauen sucht, nach der Quelle
der Intrigen, dann muss man zurück zum
8. März 2013. Es ist der Tag, an dem sich
Bernd Lucke und Frauke Petry entzweien.
Die Alternative für Deutschland (AfD) ist
gerade mal einen Monat alt, der Bundes-
vorstand trifft sich zur außerplanmäßigen
Sitzung im A&O Hotel in Nürnberg. Ein
Dutzend Männer und Frauen kommen zu-
sammen, die einander kaum kennen und
sich teils noch mit „Sie“ ansprechen. Die
Parteigründer sind motiviert, sie spüren,
dass die AfD etwas Großes werden kann.
Aber auf der Tagesordnung steht ein
heikler Punkt: Die Unterlagen der AfD-
Gründungssitzung im hessischen Oberur-
sel sind teils verschwunden, die Ersatzdo-
kumente voller Fehler und Widersprüche.
Trotzdem wurden sie beim Wahlleiter ein-
gereicht – steht jetzt die Zulassung zur
Bundestagswahl auf der Kippe?
Der Vorstand diskutiert, ringt um Lö- AfD-Bundessprecherin Petry: „Dafür ist es zu früh“
sungen. Da kommt wie aus dem Nichts
ein Angriff auf Bundesvorstand Bernd Lu- gelang der AfD bei der Wahl in Bremen Dezember 2014 in seinem Brüsseler Büro.
cke: Ein Abwahlantrag gegen ihn liegt auf der Einzug in das fünfte Landesparlament. Seine Meinung hat sich seither nicht geän-
dem Tisch. Das Papier gibt Lucke die Dennoch sieht es so aus, als würde die Par- dert. Le parti, c’est moi. Lucke würde die
Schuld an dem bürokratischen Chaos. Er tei den Weg der Piraten gehen, die erst auf- AfD gern führen wie ein Sonnenkönig, aber
habe „mehrfach und wissentlich gegen die stiegen und später im Chaos versanken. in der Demokratie funktioniert Führung
Grundsätze und die Ordnung der Partei Auf den ersten Blick scheitert die AfD nicht ohne Charme, und der geht Lucke ab.
verstoßen und ihr so schwerwiegenden am Streit um Themen. Lucke will zu na- Er ist ein Mann der Zahlen, ein Volkswirt-
Schaden zugefügt“. tionalen Währungen zurück, mindestens schaftsprofessor, der sich mit komplizierten
Den Antrag bringt Michael Heendorf aber Griechenland aus dem Euro werfen. Rechenmodellen beschäftigt hat und nun
ein, ein Mann aus Sachsen-Anhalt, der bis Petrys Themen sind Nation und Familie, die Partei mit der Strenge des Pedanten zu
dahin wenig in Erscheinung getreten ist. sie ist gegen zu viele Moscheen, zu viele führen versucht. „Ich bin kein sehr emo-
Lucke, totenblass, bleibt zunächst stumm, Zuwanderer, gegen Abtreibungen. Luckes tionaler Mensch“, sagt er über sich.
will dann trotzig aus dem Saal marschie- Lager sagt, unter Petry entwickle sich die Petry hat wie Lucke eine gute Ausbil-
ren: „Bitte schön, dann stimmen Sie eben AfD zur rechtsnationalen Partei. Aber um dung genossen, sie war Stipendiatin der
über mich ab.“ Den Frontmann Lucke ein- Inhalte geht es nur, wenn man die Dinge Studienstiftung des deutschen Volkes, sie
fach absägen? Er ist zu diesem Zeitpunkt oberflächlich betrachtet. studierte Chemie an renommierten Uni-
noch unumstritten, der Antrag fällt durch. Lucke hat die Partei von Anfang an mit versitäten, aber die akademische Kühle,
Später wird Heendorf beichten, er sei absolutem Herrschaftsanspruch geführt, die Lucke ausstrahlt, fehlt ihr. Sie hat das
nur eine Marionette gewesen. In Wahrheit und Petry war nicht bereit, sich ihm zu Lächeln einer Kindergärtnerin, sie versteht
habe eine andere den Abwahlantrag so ge- beugen. In den zwei Parteijahren kam es es, Verbündete zu sammeln, und das wie-
schliffen und aggressiv formuliert: Frauke deshalb zu vielen Scharmützeln, nun wird derum ist das große Manko des Bernd Lu-
Petry. Die promovierte Pfarrersgattin aus es wohl zum Showdown kommen. Am cke. „Im Stil und in den Methoden unter-
Sachsen, die in der Nürnberger Sitzung Dienstag will Lucke ein Pressegespräch in scheiden wir uns sehr wohl“, sagte Petry
kein böses Wort gegen Lucke verlor, habe Straßburg abhalten. Dort wird er, so hat kürzlich über Lucke.
den Putschversuch eingefädelt. Lucke sei er es Vertrauten erzählt, Bedingungen stel- Je größer der Erfolg der AfD wurde,
unfähig zu führen, habe sie den Mitver- len für seinen Verbleib in der AfD. Nur desto mehr entfremdete sich Lucke von
schwörern geklagt. Zum Wohle der AfD mit diesen Themen, nur mit den Leuten der Parteibasis. Anfangs wurde er noch
FOTOS: HERMANN BREDEHORST (L.); DAVID HECKER / GETTY IMAGES (R.)

müsse sie selbst übernehmen. Wenn man auf meiner Liste. Und nicht mit Petry. Die fast gottgleich verehrt. Mitglieder stritten,
Petry heute dazu befragt, streitet sie ent- oder ich, das soll die Botschaft sein. Es wer den Meister im Auto chauffieren durf-
rüstet ab. kann nur einen geben. Wie konnte es so te. „Wenn er gesagt hätte, werft euch auf
Jetzt geht die Saat des Misstrauens auf. weit kommen? den Boden und strampelt mit den Beinen,
Seit Monaten lähmt ein Richtungsstreit die Sind Sie die AfD, Herr Lucke? wir hätten es getan“, erinnert sich eine
Partei, und die Anführer der Lager sind „Ich habe eigentlich den ganzen Grün- Aktivistin der ersten Stunde.
Bundessprecher Lucke und Sachsens AfD- dungsprozess der AfD vorangetrieben, ich Zwei Jahre später steht Lucke mit dem
Chefin Petry. Alle Versöhnungsversuche hatte das ganze Management inne“, sagt Rücken zur Wand. Landesvorstände kün-
und Friedensappelle waren bisher verge- er. „Alle Organisationsformen vor der AfD digen ihm die Gefolgschaft, Parteitage wäh-
bens, die AfD steht kurz vor der Spaltung. sind eigentlich immer auf meine Initiative len seine Gegner zu Delegierten. Vorstands-
Eigentlich könnte das politische Klima hin entstanden. Ich glaube, man kann kollegen schmähen ihn öffentlich als „Kon-
für die Eurogegner kaum günstiger sein. schon sagen, dass ich die AfD gegründet trollfreak“, laden ihn zum Tribunal wegen
Die Krise in Griechenland hat Europa wie- habe.“ seiner „Führung nach Gutsherrenart“.
der eingeholt, die Regierungskoalition strei- Lucke hat das im Gespräch mit zwei Es geht dabei nicht so sehr um Politik,
tet sich öffentlich. Vergangenen Sonntag SPIEGEL-Redakteuren gesagt, es war im Lucke ist vielen unheimlich. Sie halten ihn
DER SPIEGEL 21 / 2015 21
Deutschland

für einen Professor Seltsam, für einen sen da noch einen Punkt bereden“, habe
Menschen ohne Empathie. Aus dem ver- Lucke zu Ende des Telefonats unvermittelt
gangenen Oktober gibt es so eine Anek- gesagt, berichten Teilnehmer. „Der Ver-
dote. Die AfD-Spitze hatte alle Mitarbeiter trag von Herrn Pazderski muss gekündigt
der Geschäftsstelle zu einem Fest geladen. werden.“ Sein Gehalt werde für den neu-
Gefeiert wurden die erfolgreichen Land- en Generalsekretär gebraucht, erklärte
tagswahlen, Treffpunkt war ein Italiener Lucke. Pazderski war mit in der Leitung.
in Berlin. Am Ende beglich Lucke die Die Sache machte in der AfD sofort die
Rechnung, die sich auf knapp tausend Euro Runde, sie hat Lucke viel Sympathie ge-
belief, und verließ die Party vorzeitig. Als kostet. So behandelt man verdiente Par-
wenig später auch der Rest der munteren teifreunde nicht, hieß es.
Runde aufbrach, hielt der Wirt die AfDler Lucke versucht nun, den Streit mit Petry
aufgeregt fest: Ob die Herrschaften denn zur inhaltlichen Auseinandersetzung zu
nicht zufrieden seien? Lucke hatte keinen stilisieren. Seine Leute werfen ihren Leu-
Cent Trinkgeld gegeben. ten vor, die AfD zu einer rechtspopulisti-
Anfangs wurden dem Parteichef seine schen Partei zu machen und damit bürger-
Kälte und Nüchternheit noch als Stärken liche Anhänger zu verschrecken. „Ein se-
ausgelegt. Doch inzwischen klagen selbst riöses Image der AfD ist wichtig für viele
wohlmeinende Parteifreunde, Lucke leide Mitglieder, die mitten im Beruf stehen, die
unter „Autismus“. Dagegen schwärmen auf ein berufliches Fortkommen hoffen
Frauke Petrys Mitstreiter von ihrer unver- und in ihrem Freundeskreis nicht mit
wüstlich guten Laune und ihrer unpräten- schiefen Blicken bedacht werden möch-
tiösen Freundlichkeit. Wenn es um die ten“, schrieb er vergangene Woche in einer
Macht geht, kann auch Petry sehr kühl Aussteiger Henkel Rundmail an die Parteimitglieder.
sein, aber sie verdeckt ihren Ehrgeiz mit „Die Partei von diesen Elementen säubern“ Dabei war es Lucke selbst, der anfangs
einem sonnigen Gemüt. In diesen Tagen um Wähler am rechten Rand geworben
reist sie viel durch die Lande, besonders So wollte Lucke partout den Streit über hat. Mitten im Bundestagswahlkampf 2013
oft mit dem Chef des stärksten Landes- die Ausrichtung der Partei in einem Mit- bemühte er sich, Thilo Sarrazin als Stargast
verbands Nordrhein-Westfalen, Marcus gliederentscheid klären. Sieben Thesen für die AfD-Kampagne zu gewinnen, der
Pretzell. Sie sammelt Verbündete und be- legte der Vorstand in dieser Woche den mit einem Buch über die angebliche Über-
obachtet, wie Lucke einen PR-Fehler nach Mitgliedern vor. Sie sollten ankreuzen, ob fremdung Deutschlands einen Bestseller
dem anderen macht. sie sich zur „freiheitlich demokratischen gelandet hatte.
Intrigen fädelt sie diskret ein. Als sich Grundordnung“ bekennen und zu einer Lucke wie Petry haben zum rechten
der Vorstand im Januar dieses Jahres „sachorientierten Politik“. Rand ein instrumentelles Verhältnis. Lucke

FOTO: MAUERSBERGER / IMAGO (O.), GRAFIK UNTEN: MARC TIRL/DPA; RAINER UNKEL
mühsam auf einen Kompromiss über eine Mehrmals wanderte der Text zwischen duldete den Aufstieg eines ultrarechten
neue Führungsstruktur geeinigt hat, er- Vorstand und Geschäftsstelle hin und her. Parteimitglieds wie Björn Höcke zum Lan-
halten die Mitglieder von Petrys Sachsen- Endlich stand ein Kompromiss zur Ab- deschef in Thüringen, eines Mannes, der
AfD zum Parteitag die „Entscheidungs- stimmung. Lucke stimmte per Mail zu – von Ausländern Assimilation fordert und
hilfe“, diesen Kompromiss abzulehnen. mit dem Hinweis: „Bitte berücksichtigen die Alternative für Deutschland „als Wi-
Natürlich steht auf solchen Dokumenten Sie noch die kleineren Änderungen am derstandsbewegung gegen die weitere
nie Petrys Name. Text, die ich vorgenommen habe.“ Solche Aushöhlung der Souveränität und Identität
Öffentlich kritisiert Petry ihren Rivalen Rechthabereien treiben die Parteifreunde Deutschlands“ sieht. Erst als Höcke sich
immer nur stilistisch. „Es fällt mir schwer, zur Verzweiflung. verständnisvoll über die NPD äußerte
seinen Willen zur Integration zu erken- Lucke verlangt unbedingte Gefolg- („Nicht jedes Mitglied ist extremistisch“),
nen“, sagt sie. Oder: „Bernd ist ein Mann, schaft. Wer am Vorsitzenden zweifelt, zog Lucke die Notbremse. Nun will er Hö-
der gern recht behält.“ Sie befeuert damit kann über Nacht abgemeldet sein. Diese cke aus der Partei werfen.
eine Stimmung, die in der Partei ohnehin Erfahrung machte Bundesgeschäftsführer Auch für Petry geht es um Wähler-
um sich greift. Selbst Luckes Gegner er- Georg Pazderski, ein AfD-Mitglied der stimmen, nicht um Überzeugungen. Vor
kennen an, wie sehr sich Lucke um die ersten Stunde. Lucke servierte den pen- ihrer Zeit in der AfD plädierte sie für eine
Partei müht. Aber sie nervt, dass er stets sionierten Oberst in einer Vorstandstele- Frauenquote und für Kita-Plätze. Heute
das letzte Wort haben muss. fonkonferenz Anfang März ab. „Wir müs- hält sie die Quote für „dirigistisch“ und fin-

Im Zwist vereint Adam, Petry, Lucke


auf dem Gründungs-
Januar
Parteieintritt
22./ 23. März
Beim Bundesparteitag in
4. Januar
Die AfD-Spitze
parteitag
6. Februar von Exarbeit- Erfurt wird Luckes Initiative verhindert vor-
Die „Alternative für Deutschland“ (AfD) geberpräsident zur Stärkung des Vorstands erst Luckes
entsteht aus der Bürgerinitiative „Wahl- Hans-Olaf ausgebremst. In vielen Plan, alleiniger
alternative 2013“ in Oberursel Henkel wird Landesverbänden gibt es Parteivorsitzen-
in Hessen. bekannt. Querelen und Rücktritte. der zu werden.
2013 2014 2015
14. April 22. September 25. Mai August /September 1. Januar
Erster Bundesparteitag in Die AfD verpasst Bei der Europawahl erreicht In Sachsen, Branden- Luckes Gegner im
Berlin: Bernd Lucke, Frauke mit 4,7 % knapp den die AfD mit Lucke als Spitzen- burg und Thüringen Vorstand attackieren
Petry und Konrad Adam werden Einzug in den Deut- kandidat 7,1 % und zieht ins zieht die AfD in den in einem Brandbrief
als Parteisprecher gewählt. schen Bundestag. Europaparlament ein. Landtag ein. seinen Führungsstil.

22 DER SPIEGEL 21 / 2015


Natürlich achte ich
det, dass Kinder am besten bei der Mutter Rechtsideologen, Spinner und Pleitiers“.
auf Nachhaltigkeit.
aufgehoben sind. Sie ist da sehr flexibel. Petry, muss man wissen, hat vor einem
Petry war auch die Erste in der AfD, die Jahr wegen des Konkurses ihrer Firma Vor allem beim
die fremdenfeindlichen Pegida-Organisa- auch Privatinsolvenz beantragen müssen.
toren um Lutz Bachmann hofierte. Dann „Wir müssen die Partei von diesen Ele-
aber erschien ein Bild Bachmanns mit Hit- menten säubern“, sagte Henkel vergange-
Hausbau.
lerbärtchen in der Presse, das ging auch nen Mittwoch beim Gespräch in seinem
Petry zu weit. Sofort wurden die Verbin- Brüsseler Büro. Es klingt hilflos, wütend.
dungen gekappt. Namen nennt er nicht, aber es ist klar, wen
Für Lucke ist die Richtungsfrage vor al- er meint: Petry, Gauland und Pretzell, die
lem eine Machtfrage. Der Konflikt um den Leute mit „charakterlichen Defiziten“
Rechtskurs kochte erst hoch, als Petry da- eben. Sie seien zu schnell nach oben ge-
mit Erfolge feierte. Als Vorsitzende der kommen, deshalb stellten sie sich selbst
AfD Sachsen schaffte sie den Einzug in nicht mehr infrage.
den Landtag nicht mit dem Eurothema, Henkels Beliebtheit in der AfD ist sehr
sondern weil die AfD Stimmung machte begrenzt, das ahnt er selbst. Deshalb set-
gegen Ausländerkriminalität und den Bau zen er und Lucke statt Überzeugung auf
von Moscheen. Ähnlich verfuhr Alexander Zwang: Wie trotzige Kinder sollen die
Gauland, der AfD-Vorsitzende von Bran- AfDler auf den Weg der Vernunft gebracht
denburg. Beide Landeschefs scheuen nicht werden. „Tausende Mitglieder leiden unter
das muffige Rechtsmilieu der Stammtische. diesen Leuten“, klagt Henkel. „Sie sagen:
Aber wenn die AfD von einer Anti-Euro- ,Bitte vertragt euch.‘ Aber sie begreifen Mein Haus. Meine Welt.
Partei zu einer Anti-Zuwanderungs-Partei nicht, dass das nicht geht.“
mutiert, dann sind die Tage des Professors Für Frieden ist es tatsächlich zu spät.
Lucke an der Spitze gezählt. Das Misstrauen und die Verletzungen sit-
Deshalb sorgt er sich nun um das Image zen zu tief. Teilnehmer beschreiben die
der Partei. Es könne nicht sein, dass AfD- Sitzungen des AfD-Bundesvorstands wie
Mitglieder „sozial ins Abseits gerückt“ Therapiestunden einer dysfunktionalen
würden, warnte Lucke vergangene Woche Großfamilie. Vergebens versuchen die Ge-
in seiner Mail. Sie müsse eine bürgliche schäftsstellenmitarbeiter, über die Sitzord-
Bewegung bleiben und dürfe keinesfalls nung deeskalierend auf die Streithähne
eine „Partei der kleinen Leute“ werden. einzuwirken. Selten kann ein Thema ab-
Doch in Sachsen und Brandenburg ge- gehandelt werden, ohne dass der Ton
winnt man mit dem bürgerlichen Lager scharf wird. An der Basis zerbröckelt die
keine Wahlen. AfD auf allen Ebenen. Nicht nur einzelne
Auch Petry beteuert, dass Extreme nicht Landessprecher, ganze Kreisvorstände tre-
zur AfD gehören. „Ansonsten weiß ich je- ten dieser Tage kollektiv aus.
doch noch immer nicht, was man unter „Keinesfalls habe ich ein Interesse da- Verantwortung übernehmen.
diesem Schlagwort ,Abgrenzung‘ verste- ran, Bernd Lucke zu beschädigen“, beteu-
hen soll. Eine Partei wird doch nicht ge- ert Petry. Inhaltlich stehe man sich nahe. Für sich, die Familie, die
wählt für Ausschließeritis, sie muss inte- „Unterschiedlich ist unsere Art, Konflikte
grieren und den Wählern positive Aussa- auszutragen. Ich kann die persönliche Ebe- Umwelt. Mit dem Pionier
gen liefern, wofür sie eintritt.“ ne von der Sachebene trennen, er viel-
Hinter den Kulissen wird nun mit allen leicht weniger.“ für nachhaltiges Bauen
Mitteln um die Macht gekämpft. Lucke Stünde sie notfalls bereit, die AfD allein
wird zu seinem Pressetermin am kommen- zu führen? „Dafür ist es zu früh“, sagte treŎen Sie die richtige
den Dienstag Hans-Olaf Henkel mitbrin- Petry jüngst im ZDF.
gen, einen erbitterten Gegner Petrys. Erst Dann korrigiert sie sich. „Die Frage Wahl. Ökologisch,
kürzlich ist Henkel als AfD-Vize zurück- kann ich nicht beantworten, weil der Par- partnerschaftlich, fair.
getreten, dabei schmähte er die Partei öf- teitag sie beantworten muss.“
fentlich als Anlaufstelle für „Karrieristen, Melanie Amann, Christoph Schult weberhaus.de

7. Januar März 12. Mai


Der sächsische AfD- Die verfeindeten Neuer Machtkampf: Lucke fordert den Austritt
Landesverband mit Parteiflügel des ultrarechten Björn Höcke. Der Bundes-
Petry an der Spitze streiten mit vorstand beschließt in einer Telefonkonferenz
führt Gespräche mit Resolutionen mehrheitlich ein Amtsenthebungsverfahren.
der fremdenfeindlichen über den Kurs
Pegida-Bewegung. der AfD. Höcke

31. Januar Februar/Mai 23. April 19. Mai 13./ 14. Juni
Der Parteitag beschließt Einzug in die Rücktritt Lucke will in einem Presse- Der AfD-Partei-
eine neue Satzung, die Bürgerschaften Henkels aus gespräch Bedingungen tag soll eine
Lucke den alleinigen von Hamburg dem Partei- für seinen Verbleib in der neue Führung
Parteivorsitz ermöglicht. und Bremen. vorstand. Partei nennen. wählen.

DER SPIEGEL 21 / 2015 23


Sicherheitspolitiker de Maizière

den Deutschen mehrfach aufgefallen, dass


die Amerikaner sie zur Wirtschaftsspio-
nage gegen heimische Unternehmen miss-
brauchen wollten (SPIEGEL 18/2015).
Und in Frankfurt am Main, Deutsch-
lands Datenzentrum, sah es nicht besser
aus. Am Auslandsknotenpunkt der Deut-
schen Telekom arbeiteten BND und NSA
zu diesem Zeitpunkt schon mehr als drei
Jahre zusammen. Im Rahmen der Geheim-
operation „Eikonal“ leiteten die Deut-
schen, wie während der NSA-Affäre 2013
bekannt wurde, Daten weiter. Sie mühten
sich, Daten, die eindeutig auf deutsche
Urheber schließen ließen, auszufiltern;
andere lieferten sie an die NSA.
Der Filter jedoch funktionierte von An-
fang an nicht zuverlässig, immer wieder
flossen auch Daten mit Bezug zu Deutsch-
land an die Amerikaner. Im Juli 2007 kün-
digte der BND daher in Washington an,

„Alles ungefiltert“
den Datenzugang für die NSA zu stoppen.
Die NSA reagierte verärgert. Wenig später
buchte Geheimdienstkoordinator McCon-
nell sein Ticket nach Berlin.
Geheimdienste I Die USA wollten sich schon 2007 einen Um seine deutschen Gesprächspartner
nahezu uneingeschränkten Zugang zu Daten aus zu einer vertieften Kooperation zu drän-
gen, malte er die Zukunft in düstersten
dem deutschen Netz sichern – zum Entsetzen des BND.. Farben: Ein Laptop genüge, um etwa einen
Stromgenerator zu zerstören; ein paar
Klicks – und schon sei eine Großbank
lahmgelegt. Das habe man auch dem an-

E
s war ein Schreckensszenario, das hierzulande verboten. Die Amerikaner leg- fangs skeptischen US-Präsidenten George
Mike McConnell Anfang Dezember ten ein vergiftetes Angebot vor; es anzu- W. Bush und dessen Heimatschutzminister
2007 in Berlin präsentierte. Die Ver- nehmen hätte einen gravierenden Tabu- eindrucksvoll demonstriert. Seine Zuhörer
netzung der Welt berge unkalkulierbare und Rechtsbruch in der langjährigen Zu- im Bundesinnenministerium hielten als
Gefahren, erklärte Amerikas damaliger sammenarbeit zwischen deutschen und sein Fazit fest: „Die Verwundbarkeit der
oberster Geheimdienstkoordinator seinen amerikanischen Diensten bedeutet. USA bzw. der westlichen Welt liege bei
Gesprächspartnern; der Westen müsse sich Wie in der damaligen Bundesregierung ,Geld‘ und ,Stromverteilung‘.“
geschlossen dagegen wappnen. Die Lage damit umgegangen wurde, wie die Deut- Im Kanzleramt wurde McConnell am
sei wie im Kalten Krieg, als die USA „den schen mit sich selbst rangen, das kann der 4. Dezember 2007 konkreter. Den US-
Weltraum für sich eroberten und von dort SPIEGEL nun anhand vertraulicher Regie- Diensten gehe es darum, das Netz ausbeu-
aus in den Sowjetblock ,hineinsehen‘ und rungsdokumente nachzeichnen. Es ist die ten („exploit“), angreifen („attack“) und
,hineinhören‘ konnten“. Geschichte eines Konflikts, in dem über- verteidigen („defend“) zu können. Eine
„In der heutigen Welt“, protokollierten raschenderweise der BND als Bremser und Kooperation mit den Deutschen müsse
deutsche Beamte seinen Vortrag, „sei der das Kanzleramt unter seinem damaligen „alle drei Stufen einschließen“. Auch beim
zu erobernde ,Raum‘ das Internet“. Die Chef Thomas de Maizière (CDU) zunächst Bundesamt für Verfassungsschutz trug
Hilfe der Deutschen sei für diesen Kampf als Antreiber auftraten. McConnell seine Thesen vor. Vom deut-
unverzichtbar. Seit Wochen versichern die Kanzlerin schen Inlandsgeheimdienst wünschte er
Mit seinen Thesen absolvierte McCon- und ihr heutiger Innenminister de Maizière sich ebenfalls grenzenloses Entgegenkom-
nell in zwei Tagen ein straffes Programm. in der jüngsten Geheimdienstaffäre, von men – konkret die „Übermittlung aller Auf-
Am 4. und 5. Dezember sprach er mit dem den Absichten und Spionagezielen der klärungsergebnisse“. Und beim BND wies
deutschen Innenminister, dem Kanzler- Amerikaner in Deutschland kaum etwas er darauf hin, dass die Internetkabel in
amtschef, dem Präsidenten des Bundes- zu wissen. Die geheimen Protokolle zeigen Deutschland „voll von Informationen aus
nachrichtendienstes (BND), mit fast allen, nun, dass die Bundesregierung schon vor Nahost“ seien.
die in Sachen Geheimdienste etwas zu mehr als sieben Jahren über die unred- Der BND jedoch reagierte erstaunlich
sagen hatten. lichen Pläne der Amerikaner im Bilde war. taub auf die Lockrufe aus Washington. Of-
Sein Vorstoß galt einem Netzknoten- Sie legen offen, dass das Kanzleramt vom fenbar hatten die Tricksereien der NSA
punkt in Frankfurt am Main, dem größten BND deutlich vor Wirtschaftsspionage den Dienst unter seinem damaligen Präsi-
FOTO: UTE GRABOWSKY / PHOTOTHEK.NET

Datendrehkreuz der Welt. Die US-Seite durch US-Dienste gewarnt wurde; mög- denten Ernst Uhrlau vorsichtig werden las-
bestehe darauf, heißt es in einem Ge- liche Konflikte mit europäischen Partnern sen. Am 16. Januar 2008 jedenfalls verfass-
sprächsprotokoll, „alle (ungefilterten) In- waren ebenfalls bereits ein Thema. te der Chef des BND-Leitungsstabs eine
formationen“ zu erhalten. Die Visite aus Übersee kam zu einem Stellungnahme ans Bundeskanzleramt, die
Alle Informationen? Ungefiltert? Das heiklen Zeitpunkt. Ende 2007 knirschte es einer transatlantischen Ohrfeige gleich-
wäre eine anlasslose Massensammlung von in der engen Zusammenarbeit des BND kam. McConnells digitale Drohkulisse
Daten, die auch aus Deutschland und von mit dem US-Geheimdienst NSA. In der „wird hier als deutlich überzeichnet, teil-
deutschen Staatsbürgern stammten. Sie ist Satellitenabhörstation Bad Aibling war weise unzutreffend angesehen“, heißt es
24 DER SPIEGEL 21/ 2015
Deutschland

in dem Schreiben. Man empfehle „Zurück- sich eine hochrangige BND-Delegation ins dem Boden eines ausländischen Staates
haltung“ bezüglich einer vertieften Koope- Kanzleramt, um mit de Maizière und dem den Zugriff auf ein anderes, weltumspan-
ration mit den Amerikanern. für die Geheimdienste zuständigen Abtei- nendes Datenkabel zu sichern. Es war der
Ausdrücklich warnte der deutsche Ge- lungsleiter Klaus-Dieter Fritsche die künf- Beginn einer heiklen Operation, die bis
heimdienst vor „Wirtschaftsspionage ge- tige Linie abzustimmen. Die Zeit drängte, heute höchster Geheimhaltung unterliegt –
gen europäische Netzbetreiber und damit im Februar sollte de Maizière nach Wa- diskret holten sich die Deutschen dafür ih-
einhergehende mögliche Schäden für die shington fliegen. Er wusste, dass man dort ren erfahrenen Partner NSA an Bord. Man
europäische Wirtschaft“. Der Hinweis war nach Antworten gierte. schöpfte nun doch wieder gemeinsam Da-
nicht nur hypothetisch, tatsächlich hatte In dem Gespräch wollte der Minister ten ab, aber eben nicht mehr auf deut-
der BND zu diesem Zeitpunkt schon et- wissen, ob man den Amerikanern notfalls schem Boden.
liche Belege für die überbordende Neugier eine andere „Zusammenarbeit hinsichtlich Doch auch das Datendrehkreuz Frank-
der NSA gesammelt. Das Fazit aus dem furt blieb weiterhin begehrt. 2012 bat der
BND: „Eine umfassende Kooperation mit „Eine umfassende Kooperation britische Nachrichtendienst GCHQ um
den USA auf europäischem Boden birgt Übermittlung von Rohdaten aus dem
damit das Risiko innereuropäischer poli- birgt das Risiko inner- deutschen Netz. Diesmal gab es beim
tischer Verwerfungen.“ BND kaum noch Bedenken. Der neue Prä-
Im Kanzleramt jedoch kam die Mah- europäischer Verwerfungen.“ sident Gerhard Schindler hatte seine Leute
nung nicht so an wie gewünscht. Man neh- angewiesen, bei der Kooperation mit aus-
me die „betont skeptische Bewertung“ des Informationsgewinnung“ anbieten könne. ländischen Geheimdiensten ins Risiko zu
BND zur Kenntnis, schrieb ein Mitarbeiter Der BND winkte ab. gehen. Mit den Briten wurde die Opera-
kühl an seinen Vorgesetzten, den dama- So endete die Hängepartie, wie es tion „Monkeyshoulder“ vereinbart (SPIE-
ligen Kanzleramtsminister de Maizière. scheint, eindeutig: Die Deutschen wollten GEL 19/2015); der BND wollte die NSA als
Vom deutschen Geheimdienst werde sei- den drängelnden Amerikanern nicht den stillen Partner hinzuholen. Ein hochpro-
tens der Amerikaner „eine ,hidden agenda‘ Totalzugriff auf den Datenverkehr in blematischer Deal, der alle Gefahren barg,
für möglich bis wahrscheinlich gehalten“ – Deutschland gestatten. Auch das Projekt die der deutsche Geheimdienst 2007 so ein-
darunter auch, so der Vermerk, „industrie- „Eikonal“ wurde 2008 beendet – offiziell, dringlich beschrieben hatte.
politische Interessen“. weil zu wenig verwertbare Informationen Gut fünf Jahre nach McConnells Vi-
Er gehe jedoch davon aus, „dass andere dabei herausgekommen seien. site hätten die Amerikaner ihr Ziel
deutsche Sicherheitsbehörden dies anders Zum Bruch kam es damals dennoch fast erreicht – den Zugang zum Frankfur-
bewerten“. Offenbar hoffte man im Kanz- nicht. Zwar fuhren die Deutschen die Zu- ter Internetknoten der Telekom. Dass
leramt, den BND umstimmen zu können: sammenarbeit in Deutschland zurück; da- „Monkeyshoulder“ im August 2013 gerade
Sollte dieser bei seiner Haltung bleiben, für entschieden sie sich, künftig verstärkt noch rechtzeitig gestoppt wurde, lag an
werde er sich „argumentativ wappnen mit der NSA im Ausland zu kooperieren. einem anderen ehemaligen US-Geheim-
müssen“, heißt es in dem Schreiben. Ein Glücksfall bewahrte den BND vor dienstler.
Die Gelegenheit dazu ergab sich bereits einer nachhaltigen Verstimmung der NSA: Sein Name: Edward Snowden.
kurz darauf. Am 22. Januar 2008 begab Den deutschen Agenten gelang es, auf Maik Baumgärtner, Jörg Schindler

London Sankt Petersburg


2420 460
Moskau I
Amsterdam I 1330
3510 Moskau II Tokio
Amsterdam II Frankfurt am Main
700 389
Ashburn
915 812 Kiew
439
Warschau Hongkong
418 424
Die größten Internetknotenpunkte
Spitzen-Traffic-Wert,
in Gigabit pro Sekunde

3960
Quelle: PCH; Stand: 13. Mai

Gigabit an Daten
werden pro Sekunde in Spitzenzeiten über den welt-
weit größten Internetknoten in Frankfurt übertragen.
São Paulo Das entspricht dem Inhalt von 500 Stunden Spielfilm.
1330 Hinzu kommen weitere Kapazitäten, beispielsweise
über die Infrastruktur der Deutschen Telekom.

DER SPIEGEL 21/ 2015 25


Deutschland

Warten auf
das Nein
Geheimdienste II Sobald die
USA eine Veröffentlichung der
Liste ihrer Spähziele ablehnen,
wird die Berliner Koalition in
Turbulenzen kommen.

A
m vergangenen Montag klingelte
bei den Mitgliedern des Parlamen-
tarischen Kontrollgremiums (PKGr)
das Telefon, am Apparat war Peter Alt-
maier. Der Chef des Bundeskanzleramts
wollte die Abgeordneten über den Stand Kanzleramtschef Altmaier
der Dinge unterrichten. Am Wochenende
hatten Presseberichte für Aufregung ge-
sorgt, wonach die US-Regierung eine Frei-
gabe der „Selektoren-Liste“ rundheraus
Die Selektorenliste hat sich nicht über ein klares Nein aus Wa-
shington hinwegsetzen würde.
ablehnt, also jene Suchworte unter Ver- SPD-Chef Gabriel und Minister Und dann? Kampfabstimmung am Ka-
schluss bleiben müssten, mit denen der binettstisch? Gabriel kann nicht einmal auf
US-Geheimdienst deutsche Firmen und eu- Steinmeier bereits entzweit. die Unterstützung des Außenministers zäh-
ropäische Politiker ausgespäht haben soll. len. Parteifreund Steinmeier schweigt in
Am Telefon blieb Altmaier vage, den- der Sache beharrlich, aber dass er den Vor-
noch war zu erkennen, dass erste, interne sen der Geheimdienste in den Vordergrund stoß für wenig durchdacht hält, hat er Ga-
Hinweise aus Washington auch ein offiziel- stellen. Sie könnten sich aber auch rein ju- briel telefonisch wissen lassen.
les Nein erwarten lassen. Damit rechnet ristisch auf ein US-deutsches Geheim- Oder entscheidet Merkel am Ende allein,
in Berlin fast jedermann – aber auch mit schutzabkommen aus dem Jahr 1968 beru- zur Not auch unter Verweis auf ihre Richt-
heftigen Turbulenzen in der Großen Ko- fen, das die Offenlegung geheimer Unter- linienkompetenz als Kanzlerin? „Niemand
alition, sobald die Washingtoner Antwort lagen an die Zustimmung der betroffenen will die Koalition platzen lassen, aber das
schriftlich vorliegt. Immerhin hat sich SPD- Seite knüpft. Sie könnten zudem auf die wäre ein wirklich brisanter Moment“,
Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel öf- Vereinbarung verweisen, welche die Zu- heißt es im Regierungslager.
fentlich an die Spitze derer gestellt, die sammenarbeit von NSA und BND am ge- Als Ausweg bliebe, auch gegen alle US-
eine Herausgabe der Liste fordern. Aber meinsamen Horchposten in Bad Aibling Bedenken, vielleicht eine äußerst restrik-
schon SPD-Außenminister Frank-Walter regelt und Ähnliches sagt. Fraglich, ob die tive Freigabe der Liste. Das Kanzleramt
Steinmeier sieht das anders. Und die Kanz- Bundesregierung juristisch dagegen ankä- könnte beispielsweise nur jenen Teil offen-
lerin erst recht. me – oder gar geltende internationale Ver- legen, der für die Aufklärung am relevan-
In jedem Fall steht Angela Merkel vor träge innenpolitischen Erwägungen unter- testen ist: die deutschen und die europäi-
einer der heikelsten Entscheidungen ih- ordnet. schen Ausspähziele. Man könnte zugleich
rer Amtszeit. Bundestag und Öffentlich- Im Untersuchungsausschuss und im Par- den Kreis informierter Abgeordneter sehr
keit verlangen Klarheit über das Ausmaß lamentarischen Kontrollgremium erwartet klein halten. „Um die Brisanz und die Di-
der US-Späherei und der möglichen Bei- man für kommende Woche eine Stellung- mension des Falls wirklich einordnen zu
hilfe durch den Bundesnachrichtendienst nahme der Regierung. „Eine solche Ent- können, müssen zumindest die Mitglieder
(BND). Auch über den Wahrheitsgehalt di- scheidung ist jetzt die Nagelprobe, ob es des Parlamentarischen Kontrollgremiums
verser Äußerungen ehemaliger und aktu- das Kanzleramt ernst meint mit einer ef- Einblick in die Liste nehmen können“, sagt
eller Regierungsmitglieder soll die Liste fektiven und ernsthaften Kontrolle und CSU-Innenpolitiker und PKGr-Mitglied
Auskunft geben. Auf der anderen Seite Aufsicht der Nachrichtendienste in unse- Stephan Mayer.
gilt: Sich über den erklärten Willen der rem Land“, sagt Burkhard Lischka, der für Es gibt noch einen anderen Plan, der im
Amerikaner hinwegzusetzen könnte Scha- die SPD im PKGr sitzt. „Mit jedem Tag Kanzleramt erörtert wurde. Demnach
den im transatlantischen Verhältnis anrich- wird der Schaden größer.“ könnte die Bundesregierung die Freigabe
ten und die Zusammenarbeit der Dienste Aber das Kanzleramt will partout erst ablehnen und es dem Parlament anheim-
FOTO: LUKAS SCHULZE / PICTURE ALLIANCE / DPA

beeinträchtigen. die schriftliche Begründung aus Washing- stellen, vor das Bundesverfassungsgericht
Intern bereitet sich das Kanzleramt auf ton abwarten, dann solle die Große Koali- zu ziehen. Die Karlsruher Richter müssten
dieses Dilemma schon vor, mehrere juris- tion gemeinsam entscheiden, heißt es in klären, was das Recht des Bundestags ist
tische Expertisen sind angefertigt. Welche Berlin. Ein Kabinettsbeschluss ist angekün- und was der Anspruch der Regierung auf
am Ende zur Grundlage von Merkels Ent- digt – und eine unangenehme Lage für Vi- Geheimhaltung bestimmter Bereiche ihres
scheidung wird, hängt von der Begrün- zekanzler Gabriel sicher. Um seinen Wor- Tuns. Dass sich die USA im Fall des Falles
dung ab, mit der die US-Seite ihr Votum ten treu zu bleiben, müsste der SPD-Chef in Karlsruhe beschweren würden, gilt in
untermauert. eine weitreichende Freigabe der Liste for- Berlin als „unwahrscheinlich“.
Die Amerikaner könnten politisch argu- dern, egal, was die Amerikaner sagen. Von Nikolaus Blome, Matthias Gebauer,
mentieren und die gemeinsamen Interes- Merkel hingegen wird erwartet, dass sie Veit Medick, Peter Müller

26 DER SPIEGEL 21 / 2015


Kommentar

Form und Formel der Macht


Angela Merkel sagt, sie handle „nach bestem Wissen und Gewissen“. Was heißt das?

A
uf jeder Steuererklärung fand sich früher diese
Formel, zig Millionen Deutsche haben sie schon
einmal unterschrieben: Alle Angaben wurden
„nach bestem Wissen und Gewissen“ gemacht, unten auf
der ersten Seite stand es so. „Nach bestem Wissen und
Gewissen“, so erklärt Angela Merkel jetzt, habe sich ihr
Kanzleramt im Wahlkampf 2013 zu den Aussichten auf
ein baldiges No-Spy-Abkommen mit den Amerikanern
geäußert. Wer als Wähler den damaligen Äußerungen
Glauben schenkte, nahm eine Regierungschefin wahr, die
deutsche Interessen energisch vertritt und den großen Bru-
der USA zur Ordnung ruft. Aus solchem Zutrauen sind
Wahlsiege gemacht. Angela Merkel blieb Kanzlerin.
Heute weiß man: Es gibt kein solches Abkommen, es
wird niemals eines geben. Und seitdem der damalige E-
Mail-Verkehr zwischen Kanzleramt und dem Weißen Haus
bekannt ist, weiß man: Die Aussichten darauf waren denk-
bar gering. Am Ende war der Wähler in die Irre geleitet. ihr immerhin einen Irrtum vorzuhalten, macht sich die
Damit ist auch die Kanzlerin überführt, ja. Aber wes- mächtigste Frau Europas vor aller Augen klein. Sie wird
sen? Nur eines naiven Irrtums? Oder hat sie manch vage wissen, warum. Es zeigt, wie ernst sie die Krise nimmt.
Andeutung der amerikanischen Seite hochjazzen lassen, Zum eigenen Schutz Schwäche zu zeigen ist das Ge-
das wäre schon schlimmer, aber aus ihrer Sicht noch ver- genteil von Machismo. Ein Basta-Politiker wie Gerhard
schmerzbar. Oder war es eine Lüge, das könnte tödlich Schröder hätte eine solche Selbstschrumpfung nicht über
sein wie ein Schlangenbiss. Nichts zerstört politisches Ver- sich gebracht. Es hatte seinen Preis: Noch bevor er die
trauen schneller als eine erwiesene Lüge, nichts ist dage- zweite Amtszeit vollendete, waren alle Masten gebrochen.
gen menschlicher als Irrtümer. Angela Merkel hat mehr aus Gerhard Schröders Fehlern
„Nach bestem Wissen und Gewissen“, das soll nun ihr gelernt als er selbst. Gerade große Entscheidungen ihrer
Gegengift sein. Obwohl sie in der Substanz ja eine Selbst- Kanzlerschaft hüllte sie deshalb schützend in die Formel
verständlichkeit ist, hat diese Formel strategische Bedeu- ein. „Nach bestem Wissen und Gewissen“, der Satz fiel
tung. Ohne das Ergebnis, die Täuschung, beim Namen zu zum Beispiel, als sie rechtfertigte, warum das Parlament
nennen, wird die Aufmerksamkeit auf die Motive abgelenkt. deutsche Soldaten in Auslandseinsätze schickt. Er fiel, als
Nicht die Tat, sondern der Wille dahinter soll das Entschei- sie ihre Wende in der Atompolitik zu erklären versuchte,
dende sein. Das hat System. Beweislage und Beweisführung vielfach, als sie ihren Kurs in der Eurokrise vertrat oder
werden im Sinne der Angeschuldigten verändert. als sie das Verhalten von Union und SPD in der Edathy-
Denn wer kann schon ein Gewissen prüfen, sei es nun Affäre zu begründen hatte.
das eines Kanzleramtschefs oder das der Kanzlerin? Im In solchen Momenten tritt zutage, wie Angela Merkel
Zweifel nur die beiden selbst. Zudem verschiebt die Formel Politik versteht. Für sie ist Politik das professionelle Be-
den zeitlichen Rahmen und damit mühen, die bestmögliche Lösung eines Problems zu errei-
Diese Kanzlerin die Grenzen der Verantwortung.
Nicht das heutige, sondern allein
chen, auch wenn sie nicht die (objektiv) beste ist. Merkel
liebt diese Unterscheidung zwischen Optimum und Maxi-
lebt davon, dass ihre das damalige Wissen soll bei der Be- mum; das Erste soll Politik erreichen, das Zweite muss sie
Wähler schon urteilung zählen, ob, was 2013 ge-
schah, im Jahr 2015 Irrtum oder
nicht erreichen, um zu genügen. So kam in ihrer ersten
Großen Koalition, das hat sie später selbst eingeräumt,
den Willen als Tat Lüge zu nennen ist. Historiker erin- eine Gesundheitsreform zustande, die vielleicht die zwi-
akzeptieren. nert das an einen Aspekt der Her- schen SPD und Union bestmögliche war – aber keine gute,
Guter Wille macht meneutik, nämlich die Bindung von
Texten an ihren zeitgeschichtlichen
keine, die die Probleme grundsätzlich gelöst hätte.
Das funktioniert: Seit Jahren gründet das Vertrauen ei-
die Tat gut. Zusammenhang. Wenn diese Art ner Mehrheit der Bürger auf deren Eindruck, dass Angela
des Verstehens den damaligen Vor- Merkel sich akribisch und ehrlich, also nach bestem Wissen
gang auf einen Irrtum reduziert, kann er heute keine Lüge und Gewissen, um jene Lösungen bemüht, die zwar nicht
sein. Darauf zielt Merkel ab. Die Täuschung ist dabei schon die besten sind, immerhin jedoch als die jeweils bestmög-
„eingepreist“, wie Politprofis sagen. lichen erscheinen. Diese Kanzlerin lebt davon, dass ihre
Und zu noch etwas dient die Formel vom Wissen und Wähler schon den Willen als Tat akzeptieren. Guter Wille
Gewissen. So wie man bestimmte Segel refft, wenn der macht die Tat gut. Und eine Tat gilt erst dann als schlecht,
FOTO: DANIEL KARMANN / DPA

Wind zu heftig in sie hineinfährt und das Boot unter dem wenn der Wille dahinter böse war. So gesehen ist der Satz
Hebeldruck zu kentern droht, so verringert Angela Merkel vom „besten Wissen und Gewissen“ für Angela Merkel
mit ihrem Satz die Segelfläche. Der Sturm der Vorwürfe eine ihrer wichtigsten Brücken zu den Deutschen. Er ist
soll sie nicht umwerfen. Indem sie die Möglichkeit anbietet, Form und Formel ihrer Macht. Nikolaus Blome

DER SPIEGEL 21 / 2015 27


Deutschland

Unter Waffenbrüdern
Rüstung Verteidigungsministerin von der Leyen will die engen Bande zwischen Ministerium und
Heckler & Koch kappen. Sie riskiert, vom Sog der G36-Affäre mitgerissen zu werden.

I
m Verteidigungsministerium nannten ist groß genug, einen Minister aus dem „kollusiven Kontakte“ auflisten. So wird
sie ihn „den Cowboy“, und diesen Amt zu reißen. Aber sie hofft, dass am es in der Amtssprache genannt, wenn sich
Spitznamen verdankte der 59-jährige Ende die Verantwortung bei ihrem Vor- Ministeriumsbeamte außerhalb der Dienst-
Mann seiner Angewohnheit, zum Anzug gänger Thomas de Maizière gesucht wird. zeit mit Managern von Heckler & Koch
eine silberne Gürtelschnalle und Stiefel zu Schon jetzt bindet die Untersuchung treffen. Filz zwischen der Waffenschmiede
tragen, so als wäre die Bonner Hardthöhe enorme Kräfte. Aus fast allen Abteilungen und dem Ministerium, so der Verdacht,
ein Saloon. Zum Westernhelden taugt Det- werden Mitarbeiter abgezogen, sie erstel- habe dazu geführt, dass Probleme ver-
lef Selhausen allerdings nicht mehr. Denn len lange Chronologien, sammeln aus den tuscht und verschwiegen wurden.
es gibt da eine Gegnerin, die noch schnel- verästelten Bereichen des Hauses alle ver- Begonnen hat es schon vor der Beschaf-
ler schießt als er. fügbaren Papiere zum G36 und zu anderen fung Mitte der Neunzigerjahre. Eigentlich
Sie heißt Ursula von der Leyen, und ihr Kleinwaffen zusammen, sprechen mit Be- hätte das G36 1993 nicht zur Auswahlent-
Schuss traf den Ministerialbeamten am ver- teiligten. Jedem Verdacht, der in der Ver- scheidung zugelassen werden sollen, weil
gangenen Montagmittag. Da bekam der gangenheit kleingeredet wurde, soll nun es nicht wie ausdrücklich gefordert zu den
ehemalige Leiter der Rüstungsabteilung noch einmal nachgegangen werden. Von „bereits auf dem Markt befindlichen Waf-
im Verteidigungsministerium unangeneh- der Leyens Sprecher will auch Korruption fen“ gehörte. Wesentliche Patente für die
me Post. Der einst mächtige Strippenzie- nicht mehr ganz ausschließen. Waffe hatten die Oberndorfer erst im April
her wurde überraschend ohne Begründung Als erste Aufgabe soll die Taskforce die 1996 angemeldet. „Die Liste der Unge-
von seinem Posten als Geschäftsführer des „Beziehungen im Verhältnis der Dienststel- reimtheiten und neuen Fragen beim G36
Fuhrparks der Bundeswehr abberufen. Es len der Bundeswehr zum Unternehmen wird immer größer“, klagt Grünen-Vertei-
war das Ende einer langen Karriere im Ver- Heckler & Koch“ untersuchen. Sie soll alle digungsexpertin Agnieszka Brugger.
teidigungsministerium.
Selhausen ist vermutlich nur das erste
Opfer einer neuen Phase der Affäre um
die engen Bande zwischen dem schwäbi-
schen Waffenhersteller Heckler & Koch
und dem Verteidigungsministerium. Minis-
terin von der Leyen will sich zwar als scho-
nungslose Aufklärerin präsentieren. Aber
mit jeder neuen Windung wird die Affäre
auch zu der ihren. Das zeigt der Fall Sel-
hausen.
Der Beamte wurde gefeuert, weil er zu-
sammen mit Heckler & Koch versucht hat-
te, den Militärgeheimdienst MAD gegen
Journalisten in Stellung zu bringen, die
kritisch über das Gewehr G36 berichtet
hatten. Von der Leyen will von diesem
Vorgang erst aus der Presse erfahren ha-
ben, also vergangene Woche. Doch schon
im März 2014 ging in ihrem Büro ein Be-
richt ein, der Präzisionsprobleme des G36
beschrieb – und den Hinweis enthielt, dass
Selhausen und Heckler & Koch ein Vorge-
hen des MAD gegen missliebige Journalis-
ten gefordert hatten.
Eine eigene Taskforce unter Leitung von
Staatssekretär Gerd Hoofe soll nun das
Beziehungsgeflecht zwischen Heckler &
Koch und dem Verteidigungsministerium
durchleuchten. „Alles muss jetzt auf den
Tisch“, sagt einer der Vertrauten in von
der Leyens Ministerium, „sonst werden
wir das Thema nie wieder los.“
Die Ministerin hat sich entschlossen, die
Büchse der Pandora zu öffnen. Die Affäre

Gewehrproduktion bei Heckler & Koch


Kollusive Kontakte im Visier

28 DER SPIEGEL 21 / 2015


Aber auch mit anderen Handwaffen gibt Es spricht auch einiges dafür, dass die
es Probleme, etwa bei der Pistole P8. Fast Pistolen von den Bundeswehrprüfern nur
ein Jahrzehnt lang wussten die verantwort- äußerst nachlässig, teilweise gar nicht, kon-
lichen Stellen um die Gefahr, die von der trolliert wurden. Im Heckler-&-Koch-Werk
Standardpistole der Bundeswehr ausgeht – in Oberndorf ist dafür eine Außenstelle
nicht für die Person, auf die mit ihr ge- des Wehrbeschaffungsamts, die sogenann-
schossen wird, sondern für den Schützen te Güteprüfstelle, zuständig. Der kritische
selbst. Beamte meldete Indizien dafür, dass die
Die P8 wird von der Bundeswehr mit Gütesiegel, mit denen die Waffen nach der
Patronen bestückt, die im Lauf einen viel Prüfung versehen werden, vom Hersteller
zu hohen Gasdruck freisetzen. Lange selbst aufgestempelt wurden. Von tausend-
glaubten die Verantwortlichen des Vertei- facher „Falschbeurkundung“ schreibt der
digungsministeriums, das sei in Ordnung: Beamte an die Ministerin. Verteidigungsministerin von der Leyen
Sie hatten schließlich die Patronen bewusst Wer nach Belegen für diesen Verdacht Die Büchse der Pandora geöffnet
gewählt, weil sie die Schutzwesten von An- sucht, wird in den Quartalsberichten der
greifern durchschlagen sollen. Güteprüfstelle in Oberndorf fündig. Für Auch die Beschaffung des neuen Stan-
Allerdings ging man davon aus, dass die das Quartal IV des Jahres 2011 etwa steht dard-Maschinengewehrs der Bundeswehr
militärische Version der Pistole anders als da der schlichte Satz, bei Teilen des Ge- wird von der Leyen noch Sorgen bereiten.
die zivile Variante der Waffe so konstruiert wehrs G28 habe man „aus Termingründen 200 Millionen Euro soll das Projekt kosten,
worden sei, dass sie den hohen Kräften auf die Güteprüfung verzichtet“. Das Fach- kassieren wird Heckler & Koch. Das Ge-
beim Schuss standhält. Doch der Lauf von team des zuständigen Referats habe dem wehr des Typs MG5 stelle sich bisher als
ziviler und militärischer P8 ist offenbar ausdrücklich zugestimmt. „sehr funktionsfähige und zuverlässige Waf-
exakt gleich – daher die Gefahr für den Heckler & Koch wiederum war stets be- fe dar“, verkündete stolz von der Leyens
Schützen. Herausgefunden hat das ein müht, die Beamten im Verteidigungsminis- Staatssekretär im vergangenen Sommer
misstrauischer Beamter im Wehrbeschaf- terium bei guter Laune zu halten, die Fir- auf Anfrage der Grünen. Dabei hatte schon
fungsamt in Koblenz. Statt Lob erhielt er ma sponserte Treffen alter Bundeswehr- vor Monaten ein Beamter Alarm geschla-
von seinen Vorgesetzten eine Vorladung kameraden. In trauter Runde gelang es, gen und geraten, „das Vergabeverfahren
zum Psychiater. dass Ausschreibungsverfahren offenbar so aufzuheben“ und neu auszuschreiben.
formuliert wurden, dass sie nur auf Pro- Wiederholt sich die Affäre G36 also, nur
dukte von Heckler & Koch passten. dass es dieses Mal um das MG5 geht?
Im Jahr 2010 etwa sollte ein neues Offenbar hat die Rüstungsabteilung des
Scharfschützengewehr beschafft werden, Ministeriums auch in diesem Fall Mitbe-
und zwar auf Basis des alten Heckler-&- werber aus dem Rennen gekegelt, sodass
Koch-Modells G3. Ein kleiner Waffenher- Heckler & Koch als alleiniger Bieter übrig
steller aus Siegen bekam Wind von dem geblieben ist. In dem internen Schreiben
Vorhaben und bot ein eigenes Produkt an. vermerkt der Beamte, wie das gelungen
Die Antwort auf sein Gebot aus dem Mi- sein könnte: Man habe „eine Sicherheits-
nisterium war eine Ablehnung, ein Satz forderung“ in die Ausschreibung aufge-
darin lautete: „Eine Waffe auf der Basis nommen, die das belgische Konkurrenz-
der G3 kommt für die Bundeswehr nicht modell ausbootete.
in Betracht.“ Dabei hatten sich Vertreter Bei den anschließenden Vertragsver-
des Ministeriums mit Heckler & Koch be- handlungen scheint Heckler & Koch dann
reits Wochen zuvor auf genau diese Lö- die Bedingungen diktiert zu haben. Der
sung verständigt. Beamte jedenfalls ist mit dem Verlauf der
Die Siegener klagten, und eine Staats- Verhandlungen nicht zufrieden und no-
anwältin aus Bonn ermittelte. In ihren Ak- tiert, es sei ein „in rechtlicher und wirt-
ten heißt es: „Die zeitliche Abfolge lässt schaftlicher Hinsicht zu keinem für den
nur den Schluss zu, dass man sich schon Bund forderungsgerechten Ergebnis“ ge-
vor offizieller Auftragsvergabe mit dem kommen. Mit anderen Worten: Heckler &
Auftragnehmer (Heckler & Koch GmbH) Koch hat das Ministerium über den Tisch
geeinigt hatte.“ Bei ihren Ermittlungen gezogen. Das wird zu klären sein.
stieß die Staatsanwältin auf eine Mauer Doch die Fragen reichen noch weiter.
des Schweigens. Akten wurden ihr nicht Das Ministerium hatte angeordnet, dass in
FOTOS: RALPH ORLOWSKI / REUTERS (L.); KAY NIETFELD / DPA (R. O.)

übermittelt und wenn doch, dann nur mit den vergangenen Jahren Dutzende Ton-
großer Verspätung. nen des derzeit verwendeten Maschinen-
Einmal riss ihr der Geduldsfaden. Sie gewehrs MG3 verschrottet wurden. So
wurde persönlich im Verteidigungsminis- wurde der Druck erhöht, schnell ein neues
terium vorstellig, um endlich an die Ak- Maschinengewehr zu beschaffen.
ten heranzukommen. Sie staunte nicht Heckler & Koch kann das nur recht sein.
schlecht, was darin vermerkt war. So hatte Die Firma operiert seit einiger Zeit am
die Abteilung Selhausens bei Heckler & Rande der Insolvenz, das MG5 ist wie ei-
Koch extra für den Umbau der Waffe neue ner der letzten Strohhalme. So könnte die
Magazine, Magazintaschen und Reini- Operation der Chefermittlerin von der Ley-
gungsgeräte bestellt. Dabei hatte eine Ab- en einen Kollateralschaden nach sich zie-
frage ergeben, dass in den Bundeswehrde- hen: den Exitus der Waffenschmiede aus
pots Tausende dieser Ersatzteile lagerten, Oberndorf.
viele fabrikneu. Matthias Gebauer, Jörg Schmitt, Gerald Traufetter

DER SPIEGEL 21 / 2015 29


Evangelikale Veranstaltung in Stuttgart

„Böse Geister sind Realitäten“


Religion Evangelikale Gemeinden erleben in Deutschland großen Zulauf. Die konservativen
Christen irritieren die Amtskirche – und begeistern Populisten von Pegida bis zur AfD.

P
astor Peter Wenz läuft wild gesti- erhoffen, sondern auch prophetische Bot- Und auch politisch ist die Bewegung re-
kulierend durch sein Gotteshaus, schaften sowie die göttliche Kunst des Zun- levant: Konservative Christen versuchen
er will Krankheiten heilen. „Blutge- genredens, die Wenz regelmäßig prakti- immer wieder, etwa in Baden-Württem-
fäße, Herzklappen! Im Namen Jesu rufe ziert. Sein unverständliches Gemurmel soll berg, konkret Einfluss zu nehmen; in Städ-
ich euch in Gottes Ordnung! Kurzsichtig- den Segen des Heiligen Geistes über die ten wie Dresden und Berlin suchen sie
keit! Geh jetzt! Sehkraft hinein in die Gläubigen bringen. Allianzen mit Pegida und der AfD.
Körper! Nackensteifigkeit! Weiche in Jesu Evangelikale Gemeinden sorgen insbe- 1,3 Millionen Anhänger sind nach eige-
Namen!“ sondere in den Vereinigten Staaten und in nen Angaben in einem Dachverband zu-
Es ist Sonntagmorgen, mehr als 2000 Lateinamerika für Aufsehen. Aber auch sammengeschlossen, der sich Deutsche
Christen haben sich in Stuttgart-Feuerbach in Deutschland ziehen etliche Gemeinden Evangelische Allianz nennt und sich als
versammelt, viele heben die Arme, schlie- Christen an, die von der etablierten Kirche Zentralorgan der Evangelikalen versteht.
ßen die Augen und hoffen auf ein Wunder. enttäuscht sind – von Stuttgart bis Bremen, Wie ihre Glaubensverwandten in den USA
Deutschlands erste Megachurch nach vom Siegerland bis nach Sachsen. Vor al- nehmen sie die Bibel wortwörtlich. Aus-
amerikanischem Vorbild steht in einem Ge- lem in den Kleinstädten um Dresden ist drücklich bekennt sich die Evangelische
werbegebiet zwischen einer Autowasch- eine Art Bibelgürtel entstanden, der an Allianz zur Heiligen Schrift als „höchster
anlage und einem Schnellimbiss. Statt har- den „bible belt“ in den südlichen USA er- Autorität in allen Fragen des Glaubens und
ter Holzbänke gibt es im Gospel Forum innert, weil konservative, mitunter auch der Lebensführung“.
bequeme Stühle; anstelle eines Organisten fundamentalistische Einstellungen religiös Herablassend blicken sie auf die refor-
bringt eine Band die Gläubigen in Stim- wie politisch die Region prägen. matorische Theologie, die Bibelverse nicht
mung; Kreuz und Altar wurden durch Für die Evangelische Kirche in Deutsch- als „von Gott diktiertes Wort“ versteht,
Videoprojektionen und eine Nebelmaschi- land (EKD) sind die evangelikalen Glau- wie es in einem Grundlagenpapier der
ne ersetzt. bensbrüder ein Ärgernis. Viele von ihnen EKD heißt – sondern nach „Sinn und Stoß-
Das Publikum ist jung, viele Familien sind, wie Pastor Wenz mit seinem Gospel richtung“ der Texte fragt. Ein Irrweg, wie
mit Kindern sind gekommen, begeistert Forum, in unabhängigen Freikirchen orga- Michael Diener findet. Er ist Vorsitzender
singen sie religiöse Popsongs über den nisiert. Andere entwickeln innerhalb der der Evangelischen Allianz und bedauert,
„Herrn der Engelsheere“. Die evangelika- evangelischen Landeskirchen ein scharfes dass die Bibel von der Amtskirche „histo-
len Christen von Stuttgart freuen sich auf Profil, das vom protestantischen Main- risch-kritisch stranguliert wurde“.
Pfingsten, das Fest des Heiligen Geistes, stream abweicht. Fast hilflos müssen die Trotzdem fällt der EKD die Auseinan-
FOTOS: DANIEL URBAN

denn seine Freikirche, sagt Pastor Wenz, Bischöfe der schrumpfenden Amtskirche dersetzung mit den evangelikalen Strö-
sei „charismatisch-pfingstlich“ orientiert. beobachten, wie Evangelikale in Sachen mungen oft schwer. Zu unterschiedlich, zu
Seine Anhänger bekommen einiges gebo- Ehe, Sex und Erziehung erfolgreich erz- bunt sind die Gruppen am Rand des Pro-
ten. Sie dürfen nicht nur Wunderheilungen konservative Werte propagieren. testantismus. Neben vermeintlichen Wun-
30 DER SPIEGEL 21 / 2015
Deutschland

derheilern und Charismatikern nach ame- Viele Evangelikale sprechen, ähnlich


rikanischem Vorbild gibt es fromme Pie- wie Pegida-Anhänger, nur ungern mit Jour-
tisten, die sich auf Erweckungsbewegun- nalisten. So ist es auch im Gospel Forum
gen des 19. Jahrhunderts, etwa in Baden von Pastor Wenz. Nur zögerlich gibt dort
oder am Niederrhein, berufen. Mennoni- Annette S. Auskunft, aber dann erzählt
ten und Baptisten gehören ebenso dazu sie doch, dass sie mit 28 Jahren ihr „Erwe-
wie Pastoren, die als Hassprediger Schlag- ckungserlebnis“ hatte: „Mich störte die
zeilen machen. Oberflächlichkeit in der evangelischen
Einer von ihnen ist Olaf Latzel. In seiner Landeskirche.“
Bremer St.-Martini-Gemeinde wetterte er Als sie zum ersten Mal in einer Freikir-
Anfang des Jahres gegen Gemeinsamkei- che gewesen sei, sagt Annette S., habe sie
ten mit dem Islam: „Das ist Sünde, und den Eindruck gehabt, der Pastor predige
das darf nicht sein. Davon müssen wir uns nur für sie. Sie fand sich am Ziel ihrer Sinn-
reinigen.“ Christen sollten insbesondere suche angekommen. Jede Woche trifft sich
nicht am „Zuckerfest und all diesem Blöd- S. seither mit anderen Gläubigen in Haus-
sinn“ der Muslime teilnehmen. Nebenbei kreisen, deren Leiter als „Gesalbte des
mahnte er zu Distanz gegenüber dem Herrn“ bezeichnet werden.
Buddhismus. Keinesfalls dürften Gläubige Vielleicht zehn oder zwölf Evangelikale Pastor Wenz
zu Hause Statuen von Buddha aufstellen, treffen sich in solchen Hauskreisen in pri- Heilen durch Handauflegen
„so einem dicken, alten, fetten Herrn“. Es vatem Rahmen zum Bibelstudium. Die
müsse „Schluss sein mit dem Götzen- Gruppen gelten als Zentrum der Bewe- lich deren achtjährigen Sohn heimgesucht
dienst“. gung mit insgesamt 3500 Mitgliedern. und sich auf dessen Bett gesetzt. „Böse
Latzel ist ein evangelikaler Pastor, aber Aussteiger berichten, in den Hauskrei- Geister sind Realitäten, von denen hat Je-
er steht im Dienst der Bremischen Evan- sen herrschten autoritäre Strukturen. Dort sus ganz deutlich gesprochen“, sagt Wenz.
gelischen Kirche, die bislang keine Hand- trete die fundamentalistische Gesinnung Eine Winzerin in einem kleinen Ort bei
habe gegen ihn findet. Nachdem seine der Gemeinden besonders deutlich zutage. Stuttgart will er kürzlich durch bloßes
islamkritische Predigt bundesweit Kritik Wer Kritik an Hauskreisleitern wage, wer- Handauflegen von einer langjährigen
hervorgerufen hatte, ließ sich Latzel als de von der Gruppe sofort gerügt: „Rühr Krankheit geheilt haben. „Ich hab sie ge-
Opfer der Meinungsfreiheit von der „Jun- nicht den Gesalbten an!“ fragt, was sie gespürt hat, und es kam wie
gen Freiheit“ interviewen, dem zentralen Sonntags, im Stuttgarter Gospel Forum, Feuer in ihren Körper hinein.“ Nach zwei
Organ der Neuen Rechten. wird meist ein weicheres Image gepflegt. Minuten sei sie „komplett geheilt“ gewe-
Pastorinnen dürfen bei ihm weder auf Im Foyer der Kirche warten ein Eisstand, sen und habe dies anschließend in ihrer
der Kanzel predigen noch im Talar zu ei- ein Café und eine „Welcome-Lounge“ auf Winzerstube den Gästen verkündet.
ner Beerdigung erscheinen. Schließlich ste- die Gäste. Es gibt Betreuung für 300 Kin- Spenden fließen reichlich, auch dank
he, so Latzel, in der Bibel bei Timotheus der, ein kleiner Pool dient als Taufbecken solcher Geschichten. Im Gottesdienst rei-
Kapitel 2, Vers 12 geschrieben: „Einer Frau für die Erwachsenen, die dort ihr Glau- chen Mitarbeiter große Eimer durch die
gestatte ich nicht, dass sie lehre.“ Latzels bensbekenntnis erneuern. Reihen. Es wird erwartet, dass die Gläubi-
Anhängerschar wächst. Etwa 400 Gottes- Nach dem Gottesdienst lässt sich Pastor gen den „Zehnten von allem“ abgeben,
dienstbesucher lauschen ihm neuerdings, Wenz auf ein Gespräch mit dem SPIEGEL wie es in der Bibel heißt – also zehn Pro-
dazu verfolgen mehrere Tausend Men- ein. Stolz erzählt er, wie er auf Wunsch be- zent ihres Bruttoeinkommens.
schen seine wöchentlichen Predigten auf sorgter Eltern einen bösen Geist weggebe- Die langjährige Kulturbeauftragte des
YouTube. tet habe. Der Dämon habe zuvor allabend- Rates der EKD Petra Bahr beobachtet

Der wirtschaftliche Weg


ERDGAS – Lösungen für die Zukunft

zur Sanierung beginnt


im Heizungskeller.

Mehr Informationen finden Sie unter:


www.zukunft-erdgas.info
Günstig die Heizung modernisieren: mit ERDGAS.
Die Energiewende hat begonnen. Die Klimaschutzziele sind ehrgeizig. ERDGAS kann dazu beitragen, diese
Ziele zu erreichen – auch ohne die Kosten aus den Augen zu verlieren. Denn moderne Erdgas-Technologien
ermöglichen dank ihrer Effizienz hohe CO2-Einsparungen ohne großen Investitionsaufwand. Das hilft bezahl-
bare Mieten bei der energetischen Sanierung zu sichern. Dazu bietet ERDGAS als Partner der erneuerbaren
Energien eine hohe Zukunftssicherheit. Mit anderen Worten: Klimaschutz und Sozialverträglichkeit müssen
sich nicht ausschließen – mit ERDGAS.
entierung an den Werten der christlich-
abendländischen Kultur wird im Rahmen
der Bildungsplanreform umfassend Rech-
nung getragen.“
Auseinandersetzungen wie in Baden-
Württemberg machen die Evangelikalen
auch für politische Populisten attraktiv. Ins-
besondere rechtskonservative AfD-Poli-
tiker wollen den christlichen Fundamen-
talisten eine neue Heimat bieten. Die
Weltbilder beider Seiten harmonieren bes-
tens – gemeinsam fürchtet man den Un-
tergang der traditionellen Familie und des
Abendlands.
Hartmut Steeb ist dafür das beste Bei-
spiel. Der Generalsekretär der Evangeli-
schen Allianz ist auch Interviewpartner
der „Jungen Freiheit“. Er stilisiert sich und
seine Evangelische Allianz gern zum Op-
fer, ähnlich wie es Pegida-Demonstranten
in Dresden tun. Es werde, sagt Steeb, „die
Political Correctness gern zum Instrument
gegen christliche Positionen gemacht. Man
Protest gegen konservative Christen in Stuttgart: „Ideologie des Regenbogens“ darf dann keine abweichenden Meinungen
mehr äußern, ohne verfemt zu werden“.
die Entwicklung mit Sorge: „Mitten in tisieren. Umgehend hagelte es Proteste, Zum Islam sprach er in der „Jungen Frei-
einer offenen Gesellschaft wachsen ge- die auch von Evangelikalen geschürt wur- heit“ aus, was Evangelikale später in Dres-
schlossene Milieus, abgeschottet vom den. den als Losung auf die Straße trugen: „Wir
Rest, mit tiefer Skepsis zu großen Institu- Die verantwortlichen Ministerien erhal- dürfen schließlich auch die Tatsache einer
tionen, Rechtsstaat und Demokratie“, sagt ten bis heute Hunderte E-Mails mit ähnlich möglichen schleichenden Islamisierung
Bahr. Viele Evangelikale flüchteten in eine lautenden Textpassagen: „Das biologisch nicht übersehen.“
schlichte Welt, in der Gut und Böse ein- vorgegebene Sexualverhalten von Mensch Mindestens genauso stark erregen die
fach verteilt seien. „Sie suchen eine Ge- und Tier funktionierte über Jahrhunderte Evangelikalen immer wieder Fragen der
genwelt zur Moderne mit all ihren Zumu- und Jahrtausende auch ohne staatliche Sexualität und der Rolle der Geschlechter.
tungen.“ Reglementierung und Förderung spezieller So glaubt Steeb, der Vater von zehn Kin-
So liest sich auch die aktuelle Imagebro- Praktiken“, heißt es darin zum Beispiel. dern ist, dass „unter dem Deckmantel an-
schüre der Evangelischen Allianz. „Prak- Fast 200 000 Menschen unterzeichneten scheinender Gleichstellung die schöpfungs-
tizierte Homosexualität ist wie andere For- eine Petition des Realschullehrers und gemäße Polarität der Geschlechter“ ne-
men der außerehelichen Sexualität grund- evangelikalen Christen Gabriel Stängle mit giert werde.
sätzlich unvereinbar mit der biblischen dem Titel „Kein Bildungsplan unter der Rechte Christen und Politiker wettern
Ethik“, heißt es da zum Beispiel. Ebenso Ideologie des Regenbogens“. Fünf große vereint gegen das sogenannte Gender-
lehne man „eine prinzipielle Gleichmache- „Demos für alle“ hat die Landeshauptstadt Mainstreaming. So will die AfD-Europa-
rei der Geschlechter“ ab. Stuttgart schon erlebt. Die Demonstranten abgeordnete Beatrix von Storch mit ihren
Mit dieser Agenda drängen die from- trugen Transparente mit Aufschriften wie evangelikalen Freunden die „Gender-Ideo-
men Christen auch in die Politik. Die Evan- „Finger weg von unseren Kindern“, „Keine logie und Sexualisierung unserer Kinder“
gelische Allianz unterhält ein Lobbybüro Sex-Videos in der Schule“ oder „Gott liebt stoppen und den „Schutz der christlichen
im Bundestag und pflegt gute Beziehungen dich, aber er mag die Sünde nicht“. Be- Familie“ verstärken. Im Juni möchte sie
zu Politikern wie dem Unionsfraktionschef sonders im schwäbischen Landesteil, einer gemeinsam mit ihrer rechtskatholischen
Volker Kauder, der schon an der Jahres- pietistischen Hochburg, hat sich der Pro- Mitstreiterin Hedwig Freifrau von Bever-
konferenz der Allianz teilgenommen hat. test verfestigt. foerde „unsere Kräfte in Baden-Württem-
„Die evangelikale Bewegung imponiert Ministerpräsident Winfried Kretschmann berg stellvertretend für ganz Deutschland“
mir“, sagte Kauder 2014 im SPIEGEL- (Grüne) traf sich daraufhin mit Evangeli- bündeln.
Gespräch. kalen, darunter Vertreter der Evange- Das kommt auch Pastor Wenz entgegen.
Über Angela Merkel schrieb das evan- lischen Allianz und des konservativen Der selbst ernannte Wunderheiler kämpft
gelikale Medienmagazin „Pro“ lobend, die Evangelischen Gemeinschaftsverbands nicht nur gegen körperliche Gebrechen
FOTO: ROLAND GEISHEIMER / ATTENZIONE / AGENTUR FOCUS

Kanzlerin betrachte die Evangelikalen als Württemberg. Sein Kultusminister Andreas und Dämonen, die kleine Kinder erschre-
„intensiv evangelisch“. Und Gesundheits- Stoch (SPD), dessen Ministerium den Bil- cken. Er widmet sich auch Gespenstern
minister Hermann Gröhe (CDU) freute dungsplan entwickelt hatte, geriet unter in der Gesellschaft. Das „Gender-Main-
sich bei einem Spitzentreffen mit den Pro- Dauerfeuer der Christen. Er habe sich ge- streaming“, predigte Wenz vor seinen
testanten der Allianz darüber, dass diese gen „Verleumdungen“ wehren müssen, Gläubigen, sei eine „faschistische Ideo-
als Christen „politischer geworden sind“. klagt Stoch, wie er sie „in einem öffentli- logie“.
Wie Evangelikale versuchen, konkret chen Diskurs bislang nicht erlebt“ habe. Mareike Ahrens, Jan Friedmann, Peter Wensierski
Einfluss zu nehmen, zeigt sich in Baden- Die religiösen Eiferer ließen nicht nach,
Württemberg. Dort entwickelte die Lan- Stoch verschob seinen Plan um ein Jahr. Video: So predigen
desregierung 2013 den Plan, im Schul- In Powerpoint-Präsentationen, mit denen Evangelikale
unterricht stärker die sexuelle Vielfalt seine Mitarbeiter durchs Land geschickt spiegel.de/212015evangelikale
in der modernen Gesellschaft zu thema- wurden, hieß es zur Beruhigung: „Der Ori- oder in der App DER SPIEGEL

32 DER SPIEGEL 21 / 2015


Deutschland

Spitzel im
der Sicherheitsbehörden. Mit der Vorlage sondern auch die „nachrichtendienstliche
dieser Dokumente sei man „an die Grenze Tätigkeit in weiten Teilen unmöglich“
des rechtlich Zulässigen gegangen“, schrei- machen – potenzielle V-Personen würden

Vorstand
ben die Verfahrensbevollmächtigten des abgeschreckt. Schon die Preisgabe der
Bundesrats, die Juraprofessoren Christoph Anzahl und der „Abschaltdaten“ der elf
Möllers und Christian Waldhoff. NPD-Spitzel habe zu „deutlich erhöhten
Erstmals haben sich die Länder ent- Enttarnungsrisiken“ geführt.
schlossen, die Anzahl aller V-Leute zu nen- Höchstens ein sogenanntes In-camera-
NPD-Verbot Auf Drängen des Ver- nen, die vor dem Verbotsantrag in der Füh- Verfahren sei noch vorstellbar, bei dem
fassungsgerichts legen die Länder rungsebene der NPD saßen. Demnach hat- Vertreter des Bundesverfassungsgerichts
Details über elf einstige V-Leute te der Verfassungsschutz zum Stichtag die ungeschwärzten Geheimunterlagen
1. Dezember 2011 nicht weniger als elf hinter verschlossenen Türen einsehen
in der Partei offen – und räumen Quellen im Bundesvorstand oder den Lan- könnten – inklusive der Namen der Spitzel.
eine heikle Überwachung ein. desvorständen der Partei platziert. Ob die Karlsruher Richter sich darauf ein-
Drei der rechtsextremen Spitzenfunk- lassen, ist jedoch fraglich.

D
ie Warnung aus Karlsruhe erreichte tionäre wurden vom Bundesamt für Ver- Das Verfassungsgericht wird zudem ge-
die deutschen Innenminister auf ei- fassungsschutz geführt, zwei vom Bayeri- nau prüfen, ob die Länder sich an die Vor-
ner Sonderkonferenz Ende März schen Landesamt und zwei weitere vom gabe halten, auf keinen Fall auszuforschen,
in Brüssel. Mit einem „Hinweisbeschluss“ Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen. mit welcher Strategie die NPD sich im Ver-
machte das Bundesverfassungsgericht deut- Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen botsverfahren verteidigen will. Die Bun-
lich: Das von den Ländern angestrebte und Niedersachsen hatten jeweils eine Vor- desratsvertreter haben dem Senat interne
NPD-Verbot könnte scheitern. Die Richter stands-Quelle im Einsatz. Rundschreiben vorgelegt, die den Behör-
verlangten konkrete Belege, wann und wie In allen elf Fällen, so versichern die Si- den die „Entgegennahme nachrichten-
alle V-Leute in der Führungsebene der cherheitsbehörden, sei die Zusammenar- dienstlich erlangter Informationen über
rechtsextremen Partei abgeschaltet wor- beit mit den bezahlten Spitzeln rechtzeitig die Prozessstrategie der NPD“ verbieten.
den seien. Ansonsten, so die unterschwel- vor dem Verbotsantrag beendet worden, Auch bei sogenannten G-10-Maßnahmen –
lige Botschaft, werde auch dieser zweite die letzte im April 2012. Mit Agenten- also der Überwachung von Telefonaten,
Verbotsanlauf ein ungutes Ende nehmen. romantik hatten die „Abschaltvorgänge“ E-Mails oder Briefen – müsse sichergestellt
Nach außen gaben sich die Länderin- wenig zu tun: Dem Papier zufolge wurden werden, dass „keinerlei Informationen
nenminister damals gelassen. „Das werden die V-Leute von ihren Quellenführern zu über ein NPD-Verbotsverfahren aufgenom-
wir hinkriegen, da bin ich ziemlich sicher“, einem finalen Treff einbestellt, bei dem men werden“.
sagte der nordrhein-westfälische Ressort- sie „Abschalterklärungen“ unterzeichnen In zumindest einem Fall hat sich der
chef Ralf Jäger (SPD). Doch in den Verfas- mussten. Eine „Nachsorge“, so erfuhren Verfassungsschutz jedoch nicht an diese
sungsschutzämtern sorgte man sich um die Spitzel, könne leider nicht stattfinden, Regeln gehalten, wie die Länder nun ein-
den Schutz altgedienter V-Leute: Wie jeder weitere Kontakt zum Geheimdienst räumen müssen. Es geht um einen NPD-
Karlsruhe informieren, ohne die einstigen müsse vermieden werden. Zum Abschied Führungskader, der vom Brandenburger
Spitzel auffliegen zu lassen? gab es eine „Abschaltprämie“. Verfassungsschutz überwacht wurde. Ob-
In dieser Woche haben die Länder nun Die Sicherheitsbehörden wollen die Na- wohl die Mitarbeiter des Geheimdienstes
ihre Stellungnahme samt mehreren Hun- men der elf ehemaligen Zuträger weiterhin intern mehrfach „ausdrücklich darauf hin-
dert Seiten Anhang an den Zweiten Senat geheim halten. Eine „Offenlegung der gewiesen wurden, keine Inhalte zur Pro-
des Verfassungsgerichts geschickt. Es ist Identität“, so heißt es in dem Schreiben zessstrategie der NPD im bevorstehenden
ein Konvolut von Vermerken, Verfügun- an das Verfassungsgericht, würde sie nicht NPD-Verbotsverfahren zu protokollieren“,
gen und Protokollen aus dem Innersten nur „erheblicher Gefahr“ aussetzen, sei bei dieser Überwachung im Dezember
2013 hierzu „eine Randerkenntnis“ festge-
halten worden.
Das brisante Protokoll landete bei fünf
Landesgeheimdiensten – nur vier löschten
es. In Sachsen liegt es bis heute in den Ak-
tenschränken des Verfassungsschutzes.
Denn dort darf nach dem Auffliegen der
Terrorgruppe NSU nichts aus dem Bereich
Rechtsextremismus gelöscht werden. Das
Protokoll sei jedoch „für die Facharbeit
gesperrt“, versichert man. „Sehr ärgerlich“
nennt ein Verfassungsschutz-Chef den Vor-
fall. Dass das Verbot daran scheitert,
glaubt er jedoch nicht.
Die NPD wird sich die Panne vermutlich
zunutze machen. Ihr Verfahrensbevoll-
mächtigter, Peter Richter, hat schon absei-
tigere Vorstöße unternommen. In einem
seiner Schriftsätze für Karlsruhe beantrag-
FOTO: RENE PRIEBE / DPA

te er, „Herrn Edward Snowden“ vorzula-


den – zum „Beweis der Tatsache“, dass
der amerikanische Geheimdienst NSA ihn
und seine Partei ausspähe.
Tagungsort des Bundesparteitags der NPD bei Mannheim 2013: Abschaltprämie zum Abschied Hubert Gude, Sven Röbel, Wolf Wiedmann-Schmidt

DER SPIEGEL 21 / 2015 33


Deutschland

SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 17. 5., 22.15 – 23.25 UHR | RTL

Goldene
werden, Österreich etwa betreibt seit 30
Gefeiert, gefeuert – Der Schleudersitz Jahren ein ähnliches Programm, und es
auf der Bank: Fußballtrainer wie lief weiter, als die Republik im Jahr 1995

Brücke
Magath, Neururer und Lorant über in die EU eintrat. Doch nun haben viele
Leistungsdruck und Abstiegsängste; kleine und klamme Staaten aus dem Visa-
Tod einer Kiezlegende – Abschieds- handel einen regelrechten Geschäftszweig
feier für „Karate-Thommy“; Der un- gemacht, und größere Schengenstaaten,
hörbare Lärm – Macht Infraschall Migration Während die Europäi- allen voran Deutschland und Frankreich,
bei Windrädern die Menschen krank? sind nicht bereit, das länger zu akzep-
sche Union Hunderte Millionen tieren.
ausgibt, um Flüchtlinge abzu- Länder wie Ungarn oder Zypern sind
SPIEGEL GESCHICHTE wehren, floriert das Geschäft mit nämlich oft nur eine Durchgangsstation:
SONNTAG, 17. 5., 22.40 – 23.25 UHR | SKY Wer in Europa sein Business aufbauen will,
EU-Visa für reiche Ausländer. landet früher oder später im reichen Nor-
Die Berliner Mauer – den. Deutschland ist zurzeit beliebt, gera-
Geschichte einer Teilung

E
ine Wiese, eine blau-weiß karierte de unter chinesischen Geschäftsleuten, die
In der Nacht vom 12. auf den 13. Au- Decke, darauf ein junger chinesi- ihr Geld mit Immobilien verdienen. Der
gust 1961 beginnt, von den meisten scher Vater, der seine lächelnde Frau deutsche Markt gilt immer noch als günstig,
unbemerkt, der Bau der Berliner und zwei Kinder im Arm hält. Das Inter- und hiesige Makler bieten inzwischen so-
Mauer. Die Dokumentation zeichnet netportal www.immigration-hungary.com gar an, ihren chinesischen Geschäftspart-
die Ereignisse nach und erzählt von wirbt mit dem Glück in Europa, und es er- nern ein Visum zu besorgen.
einer der bemerkenswertesten klärt in bestem Chinesisch, was man tun Die Regierung in Berlin ist alarmiert.
Täuschungen des 20. Jahrhunderts. muss, um dieses zu ergattern – oder besser Vor allem das Innenministerium möchte
gesagt: was man haben muss. gern die Kontrolle über die Zuwanderer
300 000 Euro kostet ein dauerhaftes Vi- nach Deutschland behalten; auch wenn sie
SPIEGEL TV WISSEN sum für Ungarn, zu investieren in ungari- mit vollen Taschen ins Land kommen.
DIENSTAG, 19. 5., 22.05 – 22.50 UHR | PAY-TV sche Staatsanleihen, hinzu kommt eine „Drittstaatsangehörige, also auch Chinesen,
BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN „Gebühr“ in Höhe von 60 000 Euro – so dürfen sich mit einem nationalen Aufent-
wird im Internet für das staatliche Inves- haltstitel lediglich höchstens 90 Tage in-
Frauen in der Chirurgie – torenprogramm geworben. Für chinesi- nerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen im
Eroberung einer Männerdomäne sche Geschäftsleute ist das Geld gut ange- Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten
Chirurginnen erzählen von ihrer legt: Wer ein Schengenvisum kauft, der aufhalten“, teil ein Sprecher mit.
Freude am Beruf und den Widrig- genießt Reisefreiheit in allen 26 Ländern Das ungarische Visaprogramm aber
keiten auf dem Weg nach oben. des Schengenklubs. Es ist eine goldene wirbt ausdrücklich damit, Eintrittskarte für
Brücke. den deutschen Arbeitsmarkt zu sein. Sogar
Während die EU Hunderte Millionen in für die Kinder sei gesorgt. Wer das ungari-
SPIEGEL TV REPORTAGE Zäune und Überwachungssysteme inves- sche Schengenvisum besitze, „kann sich
MITTWOCH, 20. 5., 0.45 – 1.15 UHR | SAT.1 tiert, um bettelarme Flüchtlinge aus Afrika frei für jedwede Schule in einem Schen-
fernzuhalten, floriert das Geschäft mit genland bewerben“, steht auf der Website.
Weggesperrt vom Leben – Schengenvisa. Allein in China sei „die Das Berliner Innenministerium wider-
Das Frauengefängnis Willich Nachfrage in den letzten Jahren exponen- spricht. Mit dem Visakodex hätten sich
Zoff, Intrigen, Prügeleien – so zeigen tiell gestiegen“, heißt es in einem internen die EU-Mitgliedstaaten auf einen gemein-
Fernsehserien den Alltag in Frauen- Papier der EU. samen Rechtsrahmen für die Visavergabe
gefängnissen. Doch was passiert Wer reich genug ist, dem bieten zahl- im Schengenraum geeinigt, heißt es dort.
wirklich hinter Gittern? SPIEGEL- reiche EU-Länder ihre Dienste an. So hat Wenn ein Mitgliedstaat mit der Möglich-
TV-Autorin Christina Pohl hat drei sich Zypern vor allem auf vermögende keit eines längeren Aufenthalts in einem
Insassinnen begleitet. Russen und Chinesen spezialisiert, die anderen EU-Land werbe, sei das „nicht
sich auf der warmen Insel ein neues Leben mit dem Unionsrecht vereinbar“, so der
aufbauen wollen. Wer 2,5 Millionen Euro Sprecher. Über die Ständige Vertretung
investiert, kann die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik in Brüssel wurde die-
erhalten. Es gibt aber auch noch ein ser Missstand in den EU-Gremien bereits
Sonderrecht: Jeder, der bei der Beinahe- zur Sprache gebracht.
pleite der zwei größten zyprischen Ban- In Berlin ist man auch deshalb verärgert,
ken während der Finanzkrise im Jahr 2013 weil die rechtsgerichtete Regierung von
eine Summe von drei Millionen Euro ver- Ministerpräsident Viktor Orbán am ande-
loren hat, ist in dem Inselstaat ebenfalls ren Ende der Einwanderungspolitik extre-
willkommen. me Härte demonstriert. Ungarns Premier
Deutlich günstiger sind die Tarife auf will den Kampf gegen „Wirtschaftsflücht-
Malta. Dort kostet eine Staatsbürgerschaft linge“ verschärfen.
650 000 Euro. Dazu gehört der verpflich- Noch bevor die EU-Kommission in die-
tende Kauf von Anleihen oder Aktien in ser Woche vorschlug, ein Quotensystem
Höhe von 150 000 Euro. Und wer Malteser zur gerechteren Verteilung von Flüchtlin-
werden will, darf auch nicht zur Miete gen einzuführen, kam eine der ersten
wohnen: Obligatorisch ist der Erwerb einer Wortmeldungen aus Budapest. Er werde
Immobilie im Wert von 350 000 Euro. das verhindern, kündigte Orbán an und
Nun ist es keine Neuigkeit, dass in verspottete die Flucht nach Europa als „hei-
Insassin der JVA Willich Europa Staatsbürgerschaften verhökert teren Nachmittagsspaß“. Christoph Schult

34 DER SPIEGEL 21 / 2015


Freizeitkapitäne auf der Isar Flüchtlinge auf dem Mittelmeer

Einwurf

Ort des Lebens, Ort des Sterbens


Eine kleine Kulturgeschichte des Schlauchboots aus deutscher Sicht

E
s gibt einen Ort deutscher Träume: das Schlauch- zusammenrücken in einer Schicksalsgemeinschaft. Es war
boot. Es gibt einen Ort deutschen Heroismus: das die alte Welt, die, nun ja, heile.
Schlauchboot. Es gibt, neuerdings, einen Ort deut- Aber schon zu jener Zeit änderte sich das Image all-
scher Ängste: das Schlauchboot. Es gibt vielleicht bald ei- mählich. Greenpeace kämpfte gegen Bohrinseln, kämpfte
nen neuen Krieg: gegen Schlauchboote. gegen das Verklappen von Chemikalien im Meer, kämpfte
Die Europäische Union rätselt derzeit, wie sie den gegen das Schlachten von Walen – in hoch motorisierten
Strom der Flüchtlinge über das Mittelmeer aufhalten kann. Schlauchbooten. Sie waren nicht mehr Idyll, sie sollten
Eine Idee ist, die Boote der Schlepper schon am Strand helfen, die Vorstellung von einer idyllischen Welt zu ver-
zu zerstören, darunter Schlauchboote. Auch deutsche Sol- teidigen. Gerade die Deutschen, seit der Romantik, seit
daten wären dann aufgefordert, die dünne Bordwand zu mindestens 200 Jahren also, die führenden Träumer der
zerschießen oder zu zerstechen. Selten gab es in der Welt, waren begeistert von den Schlauchbootfahrern, den
Kulturgeschichte eines Gegen- Actionhelden eines zivilen Krieges für das Gute.
Die EU erwägt einen stands einen so harten Bruch. Die Schlauchboote, die dieser Tage in den Nachrichten
Das Schlauchboot ist das erscheinen, haben ebenfalls nichts von einem Idyll, im
Krieg gegen wohl kleinste Idyll der Deut- Gegenteil. Sie sind Orte des Leidens, überfüllt, dem Meer
Schlauchboote schon schen. Preiswert, leicht, beweg- nicht immer gewachsen, und daher oft Orte des Sterbens.
am Strand. Sie will lich; dazu zwei Paddel, Transis-
torradio, Sonnenhut, und dann
Sie sollen auch kein Idyll verteidigen, sondern dienen,
nunmehr Fortbewegungsmittel, der Passage von unange-
damit die Passage raus auf den See, den Fluss, das nehmen oder höllischen Orten zu solchen, die Frieden
von höllischen Orten in Meer, sich Tagträumen hinge- und Wohlstand verheißen.
FOTOS: STEPHAN JANSEN / DPA (L.); ITALIAN NAVY PRESS OFFICE / DPA (R.)

eine bessere Welt ben oder einander auf quiet-


schender Gummihaut lieben, da-
Auch in diesen Schlauchbooten sitzen Träumer. Sie
träumen vom deutschen, vom europäischen Leben.
unterbinden. nach die Bundesliga-Konferenz- Aber Europa hat Angst vor ihnen, weil es so viele sind.
schaltung hören oder angeln. Und mancher Europäer sieht sein Idyll bedroht, vielleicht
„Er hat ein knallrotes Gummiboot“, sang Wencke Myhre auch die Ruhe am Baggersee, wenn er mit Flüchtlingen
in einem Schlager des Jahres 1970, „und erst im Abendrot leben soll. Deshalb halten einige Politiker Schüsse gegen
kommen wir nach Haus.“ Ohne weit gefahren zu sein. Schlauchboote für eine Hoffnung.
Das Schlauchboot in klassischer Zivilnutzung ist mehr Dabei weiß jeder, der groß träumt, ob im Schlauchboot
Dümpler als Fortbewegungsmittel. oder anderswo, dass ein Traum nicht an ein Vehikel ge-
Politische Bedeutung hat es schon lange. Ein Foto aus bunden ist. Wer fliehen will, flieht mit allem, was er finden
dem Jahr 1978 zeigt Helmut Kohl mit Familie im Urlaub kann. Und bei verzweifelt Träumenden ist der Findungs-
am Wolfgangsee, und ein Schlauchboot ist selbstverständ- geist groß. Ein Krieg gegen Schlauchboote wäre sinnlos,
lich dabei, als Utensil kohlscher Familljen-Ideologie: eng wäre lächerlich. Dirk Kurbjuweit

DER SPIEGEL 21 / 2015 35


Angehöriger Radtke

In schlechten Zeiten
Entscheidungen Wenn der eigene Ehepartner psychisch schwer erkrankt, wird er zu einem
Fremden. Kann man mit diesem Menschen zusammenbleiben? Oder muss man es?

E
r hört, wie das Schloss klickt, er ahnt, „Es gibt drei Übertragungsformen“, er- aus arbeiten und Mittagessen für seinen
was das bedeutet, und dann steht sie klärt sie ihm. „Die eine ist durch Verwan- jüngeren Sohn kochen, der in diesem Jahr
im Wohnzimmer: Anja, seine Frau. zung entstanden, die andere terrestrisch Abitur macht.
Als gehörte sie noch immer hierhin. Als und die dritte über Satelliten. Und alle Wie er tatsächlich heißt und wo genau
wäre sein Leben immer noch ihr Leben. Gruppen arbeiten gleichzeitig: nicht um im Rhein-Sieg-Kreis, im Süden Nordrhein-
Jede Woche Anja. Unangekündigt. Wie mir zu helfen, sondern um mich fertigzu- Westfalens, er wohnt, das alles soll hier
oft hat er ihr schon gesagt, dass sie nicht machen.“ So ist das, und nicht anders. Und nicht stehen. Aber wie das ist, so ein Leben,
mehr einfach zu ihm nach Hause kommen so ist sie, seine Anja. verheiratet mit dem Wahnsinn, das soll
soll? Aber so ist das eben mit Anja: Könnte An einem Freitagnachmittag sitzt Daniel jetzt heraus, damit andere ihn verstehen.
Daniel Radtke noch vernünftig mit ihr Radtke in seinem Wohnzimmer und er- 25 Jahre lang war Daniel Radtke mit
reden, hätte er sie dann jemals verlassen? zählt von seinem früheren Leben, einem Anja verheiratet. Die letzten davon lag er
Anja will also zur Polizei, erzählt sie Leben, das ihn immer noch umgibt. Die nachts neben ihr und wachte davon auf,
diesmal, Anzeige erstatten gegen unbe- schweren Möbel, das Klavier in der Ecke, dass sie mit denen sprach, die „reinquak-
kannt, wegen Körperverletzung und Folter die wahllos zusammengestellte Deko, das ten“, wie sie das nannte. 30 unterschied-
per Fernübertragung. „Wie geht denn alles hat seine Frau ausgesucht. Sein Ge- liche Stimmen. Jahrelang erzählte sie ihm
Folter per Fernübertragung?“, fragt Daniel schmack ist das nicht. Der 51-Jährige hat von Insolvenzdrohungen, von der Zwangs-
Radtke gereizt. „Wenn du von morgens die Gespräche mit Anja auf Tonband auf- katholisierung ihrer Söhne, davon, dass
bis abends beleidigt wirst, dass du ’ne Hure gezeichnet, er will sich selbst versichern, Freunde sie sexuell missbraucht hätten.
wärst, ’ne Hexe wärst, ’ne Nutte wärst, dass es keinen Sinn ergibt, was sie sagt. Immer in einem Wortschwall.
dass es bei uns Dämonen gibt“, rasselt Daniel Radtke trägt einen akkurat ge- Jahrelang versuchte Daniel Radtke es
Anja hinunter. Sie spricht schnell, sie reiht stutzten Vollbart und eine randlose Brille, mit rationalen Argumenten, mit hilflosen
ihre Sätze atemlos aneinander, aber ihre er ist bei einem IT-Unternehmen angestellt. Maßnahmen, die seine Frau nur noch wü-
Stimme klingt klar, eindringlich, nicht un- Beruflich ist er viel unterwegs. Wenn er tender machten. Er erklärte ihr, dass eine
sympathisch. keine Termine hat, kann er von zu Hause Fremdübertragung von Stimmen nicht
36 DER SPIEGEL 21 / 2015
Deutschland

Zeigen sich die Symptome früh, sind es


meist die Eltern, die sich ein Leben lang
um ihre kranken erwachsenen Kinder
kümmern. Bricht die Störung später aus,
sind viele verheiratet oder leben in einer
festen Partnerschaft. All diese Partner wer-
den dann zur Geisel der Krankheit. Anders
als Eltern und Geschwister müssen sie eine
Entscheidung treffen: bleiben oder gehen?
Bleiben, wenn ein Partner immer ego-
zentrischer wird, sich ewig falsch verstan-
den fühlt, gehen, wenn er wochenlang im
Bett bleibt oder monatelang das Haus
nicht verlässt? Ehen scheitern an geringe-
ren Schwierigkeiten. Aber auch mit weni-
ger schlechtem Gewissen. Der Partner ist
ja krank, er kann nichts dafür. Kann man
ihn da wirklich verlassen? So etwas seinem
Mann, seiner Frau antun? Und wenn nicht, Psychiatrische Abteilung in Hamburger Klinik
meldet sich dann nicht jeden Tag die Frage: Symptome schleichen sich ins Leben
„Wo bleibe ich?“
Bleiben oder gehen, vor der Frage stand jahre. Er machte Überstunden im Büro,
IT-Experte Daniel Radtke, als ihm klar um seine Familie zu ernähren und das
wurde, dass seine Frau an Schizophrenie Haus abzubezahlen. Wenn er abends über-
leidet. Und dann noch einmal, als er ver- müdet am Küchentisch saß, beschwerte
stand, dass sie sich nicht behandeln lassen sich seine Frau, die sich als Hausfrau um
würde. Dass es in seiner Ehe nur noch die Kinder kümmerte, wie schrecklich Ver-
nicht ganz so schlechte und richtig schlech- wandte und Freunde sich ihr gegenüber
te Zeiten geben würde. benähmen. Sie beleidigten sie angeblich,
Diese bittere Erkenntnis traf auch Mar- behandelten sie ungerecht, führten etwas
got Bauer in Leipzig. Es dauerte Jahre, bis im Schilde. Daniel Radtke überlegte, ob
die 52-Jährige begriff, wie sehr die Psycho- er mit Menschen befreundet sein mochte,
sen ihres Mannes auch ihr Leben bestimm- die nett zu ihm waren, aber seine Ehefrau
ten. Sie schämt sich oft für sein Verhalten. so behandelten.
Und doch, er ist ihr Mann. Leidet ein Ehepartner an Schizophrenie,
Zwei Paare, zwei Ehen, zwei Menschen, ist auch der andere, gesunde oft irgend-
die wegen der Erkrankung ihres Partners wann isoliert, weil Freunde, Familie nicht
vor einer großen Frage standen – und verstehen, was passiert. Dass sich Freunde
die darauf unterschiedliche Antworten zurückziehen, erleben auch Paare, bei
fanden. denen ein Partner schwer körperlich er-
krankt. Depressionsleiden werden nur

W
äre Anja nicht krank geworden, langsam akzeptiert. „Aber Wahnvorstel-
würde auch Daniel Radtke heute lungen?“, fragt Gudrun Schliebener, Vor-
möglich ist. Er installierte Aufnahmegeräte noch sagen, sie seien füreinander sitzende des Bundesverbands der Angehö-
in der ganzen Wohnung, um ihr zu bewei- bestimmt gewesen. Zum ersten Mal sahen rigen psychisch Kranker (BApK). „Das ist
sen, dass da keine Stimmen waren, außer sie sich, als sie vier Jahre alt waren. Einige die Grenze des Erträglichen, für alle.“
in ihrem Kopf. Zeit vorher war Anjas Mutter bei einem Ihr Verband unterhält in jeder größeren
Anja glaubte ihm nicht. Sie gratulierte Verkehrsunfall gestorben, Anja hatte auf deutschen Stadt Beratungsstellen und
ihm zu seinem schlechten Gehör. Manch- der Rückbank gesessen. Ihr Vater war mit Selbsthilfegruppen. Wer die Symptome
mal war sich Daniel Radtke nicht mehr si- seiner neuen Frau bei Daniels Mutter zu erkennen, verstehen kann, lernt damit
cher, wessen Sicht auf die Welt eigentlich Besuch, die beiden Kinder fassten sofort umzugehen. Auf viel mehr dürfen Eltern,
verrutscht war. Anja fühlte sich gesund. Da- Vertrauen zueinander. Kinder und Partner oft nicht hoffen.
FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL (L.); JESCO DENZEL / VISUM (R.)

niel Radtke blieb bei ihr, bis er selbst zu- Mit 20 wurden sie ein Paar, da studierte Das muss man doch merken, sagen heu-
sammenbrach. Dann ließ er sich scheiden. er Medizin und Informatik, sie Bauinge- te viele, denen Daniel Radtke von früher
Hunderttausende Menschen in Deutsch- nieurwesen. Mit seiner Freundin fühlte erzählt. Aber der junge Daniel nahm das
land leiden an schweren psychischen Krank- sich Daniel stark und gebraucht. Denn merkwürdige Verhalten Anjas einfach hin.
heiten, etwa an Depressionen oder Schizo- Anja fürchtete sich schon damals vor Wie seine Schwiegereltern glaubte er, Anja
phrenie. Die ersten Symptome schleichen vielen Dingen: vor Prüfungen, vor abschüs- wäre durch den Unfall traumatisiert.
sich meist in einem Alter zwischen 18 und sigen Fahrradwegen, vor Menschen. Heute

M
35 Jahren in das Leben, selten brechen sie sagt er Paranoia dazu. Damals, als un- argot Bauer aus Sachsen dachte,
über Nacht aus. Gerade an Schizophrenie sicherer junger Mann, war er stolz, den sie wüsste, worauf sie sich einließ.
Erkrankte erkennen nicht, dass sich ihre Beschützer spielen zu dürfen. Als sie ihren Mann Hans heiratete,
Wahrnehmung verschiebt. Und Angehörige 1989 heirateten die beiden, zwei Söhne kannte sie seine Diagnose: Psychose aus
denken nicht als Erstes an eine psychische brachte Anja zur Welt. Richtig ausgebro- dem schizoiden Formenkreis. Was sie be-
Störung, nur weil sich jemand verändert. chen – der Mediziner Radtke benutzt den deutete, davon hatte sie in Wirklichkeit
Ihnen fallen oft erst im Rückblick Dinge Fachbegriff: exazerbiert – sei die schizoide keine Ahnung. Und noch weniger, was es
auf, die Vorboten der Krankheit waren. Störung seiner Frau Ende der Neunziger- heißen würde, das Leben mit einem psy-
DER SPIEGEL 21 / 2015 37
chisch Kranken zu verbringen. Wie Daniel
Radtke überschätzte sie ihren Einfluss auf
ihren Mann und unterschätzte den Einfluss,
den die Krankheit auf sie haben sollte.
Margot und Hans Bauer haben wenige
Freunde. Beim Kaffee redet Hans einfach
dazwischen, er hört nie richtig zu, das ist
den meisten zu anstrengend.
Manchmal sitzt Hans Bauer nur apa-
thisch in der Küche und raucht 80 Zigaret-
ten am Tag. Oder er ist manisch, dann
muss er das Zimmer bis zum Morgengrau-
en neu tapezieren. Oder er kauft CDs mit
französischer Musik, Feuerzeuge und wahl-
los Schmuck aus Plastik, aus Silber, aus
Gold. Früher, bevor er Medikamente
nahm, war er phasenweise in einer ande-
ren Welt, hörte nächtelang Orgelmusik in
dröhnender Lautstärke. Einmal stand er
auf einem Hochhaus und überlegte zu
springen. Da steckte seine Frau ihn in ein
Taxi und fuhr mit ihm in die psychiatrische
Notaufnahme.
An einem Mittwochnachmittag sitzt
Margot Bauer im Wohnzimmer ihrer Drei-
zimmerwohnung im Leipziger Osten. Die
Filteranlage des Aquariums rauscht. Die
52-jährige Verwaltungsangestellte trägt
einen knielangen Jeansrock und eine
Strickjacke. Auch sie will ihren Namen wiegelte ab, so etwas sei nicht vererbbar. Leute bei der Bank von ihm denken? Mar-
nicht gedruckt sehen, sie will ihren Mann Ein Kind sei gut für jemanden mit Selbst- got Bauer hob jeden Monat Geld ab und
nicht in der Öffentlichkeit bloßstellen. zweifeln, das stärke sein Selbstbewusstsein. versteckte es vor ihm. Als sie die Bank
Aber er ist einverstanden, über ihr gemein- Davon, dass jeder zehnte chronisch an wechselten, ließ sich Hans auf getrennte
sames Leben zu sprechen. Schizophrenie Erkrankte sich das Leben Konten ein, so einsichtig war er. Seither
Mit 19 Jahren war Margot beeindruckt nimmt, sagte sie nichts. überweist sie ihm monatlich einen Betrag,
von dem sieben Jahre älteren Hans, dem Heute findet Margot Bauer sich selbst von dem er so viele Feuerzeuge anschaffen
Mann aus der Großstadt. Margots Eltern naiv. „Es war eine Illusion zu glauben, kann, wie er will. Und wenn er abends
führten eine kleine Pension am Rennsteig, durch eine stabile Beziehung wird das mit stolz erzählt, er habe heute mal nichts ge-
umgeben von Fichtenwäldern. Hans wohn- der Krankheit wieder.“ Sie weiß, dass Kin- kauft, dann kann sie sich sogar ein biss-
te in Leipzig, am Wochenende zeigte er der von psychisch Kranken häufiger als an- chen für ihn freuen.
Margot das Museum, das Theater. Schon dere selbst krank werden. Ihr Sohn Daniel

D
damals arbeitete er nur vier Stunden ist jetzt 30 Jahre alt und bisher gesund. Er aniel Radtke brauchte mehr als
am Tag als Pförtner. Die Nationale Volks- arbeitet als Schauspieler, lebt aber noch zehn Jahre, um zu begreifen, dass
armee zahlte ihm eine Betriebsrente. Das zu Hause, auch weil er seine Mutter nicht seine Frau ernsthaft krank ist. Im
Leben in der Armee sei nichts für ihn allein lassen mag. Hans geht alle drei Wo- Jahr 2008 kam sie wutentbrannt nach
gewesen, erzählte er seiner Freundin. Die chen zu einer Neurologin. Sie verabreicht Hause. Der Verkäufer im Baumarkt habe
langen Märsche, zu wenig zu essen. Des- ihm Depotspritzen, die seine Gemütslage sich geweigert, ein Rohr zurückzunehmen.
halb habe er versucht, sich umzubringen, stabilisieren. Seine letzte psychotische Pha- Daniel stapfte sofort los, wollte sich im
zehn Wochen lang lag er im Lazarett. Eine se liegt 25 Jahre zurück. Namen seiner Frau beschweren. Der Ver-
Psychose, er wisse nun, dass er nicht gut Eigentlich läuft es also gut, eigentlich käufer machte den Fehlkauf umstandslos
mit Stress umgehen könne. könnte es, unter diesen Voraussetzungen, rückgängig. Warum er das nicht gleich ge-
Margot glaubte ihm, wollte ihm glauben, kaum besser laufen. Aber es wäre wohl tan habe, fragte Daniel. Weil seine Frau
musste ihm glauben, als sie mit 20 feststell- für die meisten unerträglich. Wenn Margot gar nicht gesagt habe, dass sie das Rohr
te, dass sie von ihm schwanger war. „Mein wieder mal beschämt neben Hans in der zurückgeben wolle.
Mann hat Schlosser gelernt, aber damit Straßenbahn sitzt und der herumschreit, Daniel Radtke stellte seine Frau zur
hätte er auch nicht mehr verdient als mit weil die Haltestelle nicht mehr mit dem Rede. Sie erzählte ihm eine Geschichte,
der Rente“, sagt sie. Dass er in seiner psy- Namen angekündigt wird, den sie zu DDR- die weder mit ihrer ersten Erklärung
chischen Verfassung schon mit Mitte zwan- Zeiten hatte. Oder früher, wenn nie Geld noch mit der des Verkäufers Ähnlichkeit
zig nicht mehr arbeiten konnte, verunsi- für einen Urlaub übrig war, weil Hans wie hatte. „In diesem Augenblick wurde mir
cherte sie nicht. im Rausch eingekauft hatte. Er versprach, schlagartig klar, dass da etwas gewaltig
Wie Daniel Radtke kann sie sich daran sich zu ändern. Aber er hatte keine Kon- schiefläuft“, sagt Radtke. „Das Problem
erinnern, dass sie sich schon früh über trolle über sich und sie keine über ihn. Da- war meine Frau.“ Ihm rasten all die Strei-
ihren Mann wunderte. Er war aufbrausend, mals verstand sie: Auch ohne Psychose tigkeiten durch den Kopf, bei denen er
cholerisch. Margot Bauer fragte eine Psy- würde die Krankheit immer sein Leben sich auf ihre Seite geschlagen hatte. Und
chologin, eine Bekannte, was eine Psycho- beherrschen. Und ihres. dass sich die anderen jedes Mal anders er-
se eigentlich sei und ob das Kind so etwas Margot schlug ihm getrennte Konten innert hatten als sie. Es war ein Schock.
auch bekommen könne. Die Psychologin vor, aber er sträubte sich. Was sollten die Und eine Offenbarung. Radtke recher-
38 DER SPIEGEL 21 / 2015
Deutschland
Ehepaar Bauer
„Ich kann ihn doch nicht zum Teufel jagen“

die es nicht gab. Der Betreuer wurde ein- „Was wollen Sie eigentlich? Bleiben oder
gesetzt. gehen?“ Margot Bauer sagte: „Ich tendiere
Auch für seine Söhne suchte Daniel nicht zum Weglaufen.“ Damit war es be-
Radtke Hilfe. Er machte sich Sorgen, weil schlossen, ihr Verantwortungsbewusstsein
die beiden Teenager zu Hause „lamm- siegte über den Wunsch, es mit dem Leben
fromm“ jeden Konflikt vermieden. „Dabei noch einmal neu, anders, allein zu probie-
wusste ich doch, dass die Pubertät eigent- ren. Sie fürchtet, dass er wieder versucht,
lich eine schwierige Zeit ist.“ Jugendpsy- sich umzubringen. „Mit dieser Schuld
chologen kamen mehrmals im Monat zu könnte ich nicht leben.“
den Radtkes nach Hause, um mit den Kin- Die Selbsthilfegruppen sind voll mit
dern über ihre Mutter zu sprechen. Frauen wie Bauer. „Eine nicht unerheb-
Daniel Radtke wollte bei seiner Frau liche Zahl der Partner trennt sich irgend-
bleiben, immer noch. Bis sein Körper und wann. Aber das sind mehrheitlich Män-
seine Psyche nicht mehr mitmachten. Elf ner“, sagt Gudrun Schliebener vom BApK.
Monate lang konnte er nicht arbeiten, ging Warum, darauf hat sie keine Antwort.
nicht mehr aus dem Haus. Burn-out. Er Bauer hat gelernt, die Stimmungs-
machte eine Therapie, um aus dem schwar- schwankungen ihres Mannes zu erkennen.
zen Loch herauszukommen. Und dann ka- Wenn er psychotisch ist, berührt sie ihn
pierte er eines Tages: Er war nicht zusam- nicht, sonst rastet er aus. Wenn er sich
mengebrochen, weil er zu viel gearbeitet nicht wäscht, dann lässt sie ihn. Sie kon-
hatte, der Grund war seine Frau. zentriert sich auf die guten Tage: wenn sie
„Als Angehöriger muss man auch mal eine Radtour gemacht haben und er nicht
sagen: Ich kann nicht mehr“, sagt die früher umgedreht ist. „Nur weil er schlech-
Vorsitzende des Angehörigen-Verbands, te Tage hat, kann ich ihn doch nicht zum
Gudrun Schliebener. „Aber das tun die Teufel jagen“, sagt Margot Bauer.
wenigsten. Deshalb wird ein hoher Anteil

D
irgendwann selbst depressiv.“ Sie sagt, aniel Radtke lud seine Exfrau auch
man könne auch jemandem helfen, wenn nach der Scheidung jeden Sonntag
man getrennt sei. „Und ich kann doch zum Mittagessen ein, damit sie
chierte im Internet. Las von Wahnvorstel- mein eigenes Leben nicht kaputtgehen las- ihren jüngeren Sohn sehen konnte. Bis es
lungen, von Realitätsverschiebung, von sen für jemand anders.“ dem Jungen zu viel wurde. Er und sein
Schizophrenie. Die Symptome passten auf Daniel Radtke konnte zum Schluss kei- älterer Bruder treffen ihre Mutter nur,
Anja, alle. mem mehr helfen, nicht seiner Frau, nicht wenn sie die Kraft dazu haben. Daniel
Daniel Radtke nahm seinen Mut zu- seinen Söhnen, nicht einmal sich selbst. Radtke ist stolz, dass seine Söhne ihre Mut-
sammen und versuchte ihr zu erklären, Im Frühjahr 2012 traf er seine Frau bei ter trotzdem oft besuchen. „Sie tun es vor
dass sie halluziniert. Zaghaft sprach er da- einer Psychologin. „Es ist unvermeidlich, allem, weil sie wissen, dass es ihr guttut.“
von, dass sich manche Dinge nur in ihrem dass wir uns trennen“, erklärte er unter Er kaufte Anja nach der Trennung ein
Kopf abspielten. Anja ging darüber einfach Zeugen. „Du nimmst keine Medikamente, Auto, mietete ihr eine Wohnung und zahlt
hinweg. du bist nicht krankheitseinsichtig, es geht für ihre Rente ein. Aber die Frau, mit der
Als sie in ihrem Verfolgungswahn Panik- nicht mehr.“ Anja reagierte so, wie er es er fast 30 Jahre zusammen war, ist ihm in-
attacken bekam, rief er zum ersten Mal erwartet hatte. Dazu habe er kein Recht, zwischen fremd. „Ich bereue die Ehe nicht,
den psychiatrischen Notdienst. Anja wurde „ich nehme das nicht an“. Die Ehe wurde aber ich habe mich 15 Jahre zu spät ge-
in eine Klinik eingewiesen. Daniel Radtke trotzdem geschieden. trennt“, sagt er. „Ich habe nur funktioniert
schöpfte Hoffnung, vielleicht würde es ihr Als er seiner Schwiegermutter die Ent- und so mein Leben vertan.“
mit einer ärztlichen Behandlung endlich scheidung mitteilte, sagte die nur: „Na Vor zwei Jahren hat er bei einem Koch-
besser gehen. Nach drei Wochen wurde endlich.“ kurs eine Ärztin kennengelernt, mit ihr
sie entlassen, ohne Diagnose. Daniel Radt- will er noch dieses Jahr zusammenziehen.

A
ke rief in der Klinik an, aber niemand gab uch Margot Bauer stand einige „Ich war emotional richtig ausgehungert.
ihm Auskunft über seine Frau. Schweige- Male vor der Trennung. Als Hans Ich fühle mich jetzt schon vertrauter in
pflicht. Dreimal ging es Anja so schlecht, die Eingangstür des Mietshauses meiner Beziehung als jemals zuvor.“
dass sie in die Psychiatrie eingewiesen wur- verbarrikadiert hatte, weil ihn Handwerker Anja ging es nach der Scheidung zu-
de, zwangsweise. So eine Einweisung ist nervten. Als er ihre Mutter beim Kaffee- nächst besser, die Stimmungsschwankun-
nur erlaubt, wenn ein Patient eine Gefahr trinken wieder beschimpfte. Sie stellte gen wurden weniger, sie wusch sich jeden
für sich oder andere darstellt. ihren Mann vor die Wahl: Entweder darf Tag, wechselte ihre Kleider und fuhr sogar
Jedes Mal wurde Anja ohne klare Dia- ich mit deiner Ärztin reden, oder ich tren- Auto. Das hatte sie früher nicht gewagt.
gnose entlassen. Sie brauchte Medikamen- ne mich. Es erleichterte Daniel Radtkes schlechtes
te, aber sie sieht bis heute nicht ein, dass Sie hatte viele Fragen. Wieso ist mein Gewissen. Bis der nächste Schub kam. Im
sie krank ist. Dass die Diagnose Schizo- Mann so? Soll ich bei ihm bleiben? Kann Moment hat er Angst, dass seine Exfrau
phrenie stimmt, weiß Daniel Radtke, weil er unseren Sohn allein in den Kindergarten sich im Wahn etwas antut. Ein Leben ohne
FOTO: DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL

er 2011 einen gesetzlichen Betreuer für sie bringen? Das Gespräch verlief anders als Sorgen um Anja wird es so bald nicht
beantragte. Er wollte die Verantwortung erhofft. „Ob Sie ihm diese Verantwortung geben.
für Anja nicht mehr allein tragen. Ein psy- übertragen wollen, müssen Sie schon selbst Wahrscheinlich nie. Laura Backes
chiatrischer Gutachter und ein Jurist ka- wissen“, sagte die Ärztin. Und fügte hinzu:
men zu den Radtkes nach Hause und un- „Wenn Sie dieses Leben nicht wollen, müs- Video: Regeln für den Umgang
terhielten sich mit Anja, zwei Stunden sen Sie sich halt scheiden lassen.“ mit psychisch Kranken
lang. Danach attestierten sie ihr Wahnvor- Danach ging Margot Bauer selbst zur spiegel.de/sp212015regeln
stellungen, weil sie Dinge sah und hörte, Therapeutin. Die Psychologin fragte sie: oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 21 / 2015 39


Deutschland

Tabellen der
Fantasie
Wohnen Das Urteil eines Berliner
Gerichts verstärkt die Zweifel
an der Aussagekraft der Miet-
spiegel. Dabei wäre es einfach, Wohngebiet in Berlin-Mitte
präzise Daten zu ermitteln.

S
achverständige sind gut beraten, sich Das liegt daran, dass dem Mietspiegel rollen, wird mit „gut“ bewertet, zwei Stra-
nicht allein auf Akten zu verlassen. nun eine Bedeutung zukommt, für die er ßen weiter ist die Wohnqualität nur „nor-
Ein Gang vor Ort vermittelt mitunter nicht gedacht ist. Über Jahrzehnte herrsch- mal“, obwohl es dort viel ruhiger zugeht.
ungeahnte Einsichten, wie der Statistik- te zwischen Vermietern und Mietern Kon- Die Unterschiede zwischen Mietspiegel-
professor Walter Krämer erfahren konnte. sens: Bei der Erhöhung der Bestandsmie- theorie und Immobilienpraxis bestreitet
An einem Maitag im vorigen Jahr zog ten orientierte sich der Eigentümer brav selbst die Regierung nicht. Bis Ende des
er auf Erkundungstour durch Berlin-Char- am Mietspiegel; vermietete er neu, konnte Jahres wird Verbraucherschutzminister
lottenburg und fand dort einen ansprechen- er einen üppigen Aufschlag durchsetzen. Heiko Maas (SPD) aller Voraussicht nach
den Kiez vor: begrünt und verkehrsberu- Dieses stille Einverständnis wurde durch Vorschläge für Mindeststandards von Miet-
higt, in der Nähe von U-Bahn und Bus, in- die von der Großen Koalition verabschie- spiegeln machen.
mitten von Bars, Restaurants und Bistros. dete Mietpreisbremse aufgekündigt, da Am Ende wird wohl, wie so oft, ein fau-
„Von der Apotheke bis zum Bestattungs- künftig auch bei Neuvermietungen die Ver- ler Kompromiss stehen. So bevorzugen
unternehmen gibt es in Steinwurfweite al- gleichsmiete als Maßstab gilt. Sie darf in Vermieterlobby und CDU/CSU eine Lö-
les, was man zum Leben und zum Sterben vielen Fällen maximal zehn Prozent über sung, die möglichst umfangreich das aktu-
braucht“, stellte er fest – und wunderte dem offiziellen Wert liegen. Und die Da- elle Marktgeschehen abbildet. Mieterver-
sich, dass der Berliner Mietspiegel diesen tenbasis dafür liefert oft eben der Miet- bände und SPD dagegen wollen die dämp-
Straßenzügen nur mittlere Qualität zubil- spiegel. „Die Mietpreisbremse wird wohl fende Wirkung der Mietpreisbremse noch
ligt. Das gleiche Niveau also, wie es in zu einer Klagewelle führen“, prophezeit verstärken, indem Bestandsmieten umfas-
Randlagen von nicht gerade malerischen Ulf Börstinghaus, Vorsitzender des Deut- sender berücksichtigt werden. Angesichts
Stadtteilen wie Marzahn-Hellersdorf oder schen Mietgerichtstags. der widerstreitenden Interessen dürfte das
Spandau vorzufinden ist. Zumal es keine einheitlichen Standards Zahlenwerk kaum zuverlässiger werden.
Es ist nicht die einzige Ungereimtheit, gibt, jede Kommune erstellt ihre individu- Dabei ließen sich die Defizite der Miet-
die Krämer auffiel. Der Wissenschaftler elle Übersicht. Berlin etwa unterscheidet spiegel leicht beheben. Die Vorgaben, wie
hat für das Amtsgericht Charlottenburg in zwischen guten, mittleren und einfachen die Daten erhoben werden, müssten sich
einem juristischen Streit ein Gutachten ver- Lagen, in Frankfurt existieren vier Kate- ändern. Heute werden die Mieten per frei-
fasst, das, vorsichtig formuliert, Zweifel an gorien, in Hamburg nur zwei. Die Eingrup- williger Befragung ermittelt. Daran wür-
der Aussagekraft des Berliner Mietspiegels pierung wirkt erratisch. Ein Großteil der den kaum viel beschäftigte Jungmanager
erhebt. In dem Papier ist von „weitgehen- Elbchaussee, über die täglich 25 000 Autos teilnehmen, die sich hohe Mieten leisten,
der Unkenntnis mathematisch-statistischer schätzt Gutachter Krämer, sondern „eher
Methoden“ die Rede, von Zahlenwerten, Ungebremste Mieten die braven Beamten, die seit 20 Jahren in
die „nicht viel mehr als Fantasieprodukte“ der gleichen Wohnung leben“. Ein erster
Obergrenzen laut Mietspiegel*, in Euro/m2
seien, und davon, dass hier „einiges nicht Schritt bestünde deshalb darin, die Bürger
mit rechten Dingen“ zugehe. Obergrenzen bei Neuvermietung**, in Euro/m2 zur Auskunft zu verpflichten.
Krämer ist bekannt dafür, ein Querden- Differenz
Sinnvoller wäre es, jene Zahlen zu nut-
ker zu sein, manche sagen sogar: ein Que- München zen, die von Millionen Vermietern in ihrer
rulant. Auch wenn sich das Berliner Ge- 14,79 +50% Steuererklärung längst angegeben werden.
richt Krämers Kritik zu eigen gemacht und 22,20 Oder noch besser: Die Politik könnte im
den Mietspiegel angezweifelt hat, ist es Jahr 2015 endlich den Sprung ins 21. Jahr-
deshalb unwahrscheinlich, dass die Preis- Hamburg hundert wagen. „Es mutet archaisch an,
tabellen nun überall reihenweise zur Ma- 14,10 +33% im digitalen Zeitalter per schriftlicher Zu-
kulatur verkommen. fallsbefragung Mieterdaten zu erheben“,
18,70
Und dennoch weist das Urteil auf ein sagt Michael Voigtländer vom Institut der
Problem hin, das viele Wohnungssuchende Frankfurt am Main deutschen Wirtschaft Köln. Sein Vorschlag:
FOTO: THOMAS TRUTSCHEL / PHOTOTHEK.NET

kennen: Der Mietspiegel hat mit dem 13,81 +54% Eigentümer müssen bei Neuvermietungen
Marktgeschehen kaum etwas zu tun. In und Erhöhungen die Daten elektronisch
Frankfurt am Main etwa verlangen Vermie- 21,30 melden. „Eine bessere Datenbasis ist gar
ter für eine 100-Quadratmeter-Neubauwoh- Berlin nicht vorstellbar“, so der Experte.
nung in sehr guter Lage teilweise mehr als 8,89 +74% Und was ist mit dem stets beklagten bü-
21 Euro pro Quadratmeter. Der Mietspiegel rokratischen Aufwand? „Sich alle paar Jah-
taxiert ein vergleichbares Objekt auf knapp 15,50 re ein paar Minuten Zeit zu nehmen, kann
14 Euro (siehe Grafik). Der Immobilien- * Neubau, vergleichbar gute Wohnlagen, ca. 100 m2
man wirklich jedem zumuten.“
boom geht an der Statistik spurlos vorbei. ** aktuelle Stichproben, Quelle: Immobilienscout Matthias Bartsch, Sven Böll, Alexander Jung

40 DER SPIEGEL 21 / 2015


MOKKA
ÜBERZEUGT DOPPELT: DAS ALLRAD-AUTO
DES JAHRES 2013 UND 2014.*
Siegreich im Test, sicher auf der Straße: Der Opel Mokka ist das Allrad-
Auto des Jahres 2013* und 2014*. Dabei überzeugte er mit adaptivem
4x4 Allradantrieb und Sicherheitssystemen wie Front-Kollisionswarner,
Verkehrsschild- und Spurassistent.

opel.de
*
Gesamtsieger in der Kategorie „Geländewagen und SUV bis € 25.000“ (AUTO BILD ALLRAD, Ausgaben 03/2013 und 06/2014).
**
Mit rollwiderstandsarmen Reifen.

Kraftstoffverbrauch Opel Mokka innerorts 10,2–4,7** l/100 km, außerorts 6,7–3,8** l/100 km,
kombiniert 8,0–4,1** l/100 km; CO2 -Emission kombiniert 159–109** g/km (gemäß VO (EG) Nr.
715/2007). Effizienzklasse E–A**
Deutschland

In Uniform
ans Pult
Bildung Die Bundeswehr darf
sich an Schulen präsentieren. Um
für Waffengleichheit zu sorgen,
lassen zwei Bundesländer nun
Friedensaktivisten in die Klassen.

K
apitänleutnant Rainer Bühling trägt
eine dunkle Uniform mit Goldknöp-
fen, als er vor die Klasse tritt. Das
bleibt nicht ohne Wirkung: Die elf Schüler
sitzen plötzlich aufrecht, zwei, die Base- Beratung im Berliner Showroom der Bundeswehr: Früher noch Thema am Mittagstisch
ballmützen auf dem Kopf hatten, legen
diese vor sich auf den Tisch. beratern. Rund 3200-mal hielten Jugend- ling hat mit Friedensaktivisten an Podien
Der Offizier, Hornbrille, kurzer Vollbart, offiziere im vergangenen Jahr Vorträge an vor Schülern teilgenommen. „Ich bin ja
referiert den Schülern der Stuttgarter Ge- weiterführenden Schulen. Karriereberater kein Kriegsbefürworter“, sagt er. „Es geht
werbeschule Im Hoppenlau zunächst sei- referierten 8100-mal, 340-mal besuchten mir darum, eine Diskussion anzustoßen.“
nen Werdegang: 31 Jahre alt, aufgewach- Schulklassen Teile der Truppen. Knapp 30 Die Schulen, die Offiziere einladen, be-
sen in Oberbayern, Studium der Politik- Millionen Euro ließ sich das Verteidigungs- richten von positiven Effekten. „Die Aus-
wissenschaften an der LMU München. ministerium die Beschäftigung von Jugend- führungen des Jugendoffiziers sind authen-
Dann zur Marine, Grundausbildung in offizieren und Karriereberatern kosten. tisch“, sagt Eleonore Konz-Burger, Ge-
Mürwik, Schleswig-Holstein, Auslandsein- Zwei Bundesländer reglementieren in- meinschaftskundelehrerin an der Gewer-
sätze auf Zypern und im Libanon. zwischen den Zugang der Bundeswehr zu beschule Im Hoppenlau. „Das kann ich so
Es folgt ein knackiger Vortrag über die Schülern. Baden-Württemberg hat zwar nicht vermitteln.“ Den Werbeeffekt lasse
Sicherheitslage in der Welt: der „Islami- die bestehende Kooperation verlängert, sie nicht unkommentiert, sie stelle auch
sche Staat“, Nordkorea, das Atomwaffen doch dürfen die Jugendoffiziere nicht „für die Herausforderungen für Soldaten dar.
entwickelt, der Kampf um die Krim, in de- den Dienst in der Bundeswehr werben“. „Früher war die Bundeswehr noch The-
ren Häfen er vor einigen Jahren noch ein- Das galt schon vorher, doch habe es laut ma am Mittagstisch“, sagt Schulleiter Ge-
gelaufen sei. Die Lehrlinge antworten in Kultusministerium Hinweise gegeben, dass rald Machner, der seit fünf Jahren mit der
Stichworten auf Bühlings Fragen, mit de- das Gebot der Neutralität „in der schuli- Bundeswehr kooperiert. Heute sei sie weit-
nen er prüft, ob sie ihm folgen: „Terroris- schen Praxis bei Besuchen der Jugendoffi- gehend aus dem Alltagsleben verschwun-
mus“, „Piraterie“, „Armut“. ziere“ nicht immer eingehalten worden sei. den. Machner lädt auch Karriereberater
Nach knapp eineinhalb Stunden dürfen Im Südwesten sollen nun Friedensorga- ein. Sie kommen am Nachmittag oder
die Berufsschüler, Jahrgang 1991 bis 1996, nisationen oder kirchliche Vertreter gleich- Abend, außerhalb des Unterrichts. Mach-
Fragen stellen: „Du warst also bei den berechtigt Zugang zu den Schulen erhal- ner selbst hat den Wehrdienst verweigert.
Blauhelmen?“, will der erste Lehrling wis- ten. Das Kultusministerium unterzeichnete „Das war für uns damals die Wehrmacht“,
sen. Der zweite: „Wenn ich zur Bundes- mit 13 Organisationen von der Alt-Katho- erzählt er. Doch sei der Kontakt für seine
wehr will, wird dann eingeteilt, wo ich hin- lischen Kirche bis zur Friedenswerkstatt Schüler bereichernd, gerade junge Frauen
komme?“ Der Jugendoffizier antwortet: Mutlangen eine gemeinsame Erklärung: wüssten häufig nicht viel über die Bundes-
„Das sind Fragen, die du dem Karriere- Man wolle „die Bedeutung der Friedens- wehr. Die neue Regel in Baden-Württem-
berater stellen musst.“ bildung“ betonen und sie „als fächerüber- berg habe viele Kollegen verunsichert, sagt
Schulbesuche wie der des Jugendoffi- greifendes Anliegen“ stärker verankern. Machner. „Sie denken, sie dürften die Bun-
ziers Bühling in Stuttgart sind bei Eltern In Sachsen-Anhalt muss, wann immer deswehr nun nicht mehr einladen.“
und Lehrern umstritten. Befürworter wer- ein Vertreter der Bundeswehr im Unter- Seit der Aussetzung der Wehrpflicht im
ten sie als Element politischer Bildung, bei richt zu Wort kommt, ein Vertreter der Jahr 2011 versucht die Bundeswehr stärker
denen Schüler aus erster Hand informiert Friedensbewegung dessen Äußerungen so als zuvor, sich auch bei Schülern als attrak-
werden. Kritiker werfen der Bundeswehr bald wie möglich konterkarieren dürfen. tiver Arbeitgeber zu präsentieren. Das
eine Indoktrination von Teenagern vor. „Wir orientieren uns an den Spielregeln, Bundesverteidigungsministerium hat das
Hunderttausenden Schülern werde „der wie sie für Besuche von Politikerinnen und Personalmarketing verstärkt, sichtbar etwa
Auftrag und die Praxis der Bundeswehr Politikern in Schulen gelten“, sagt Kultus- an dem neu eröffneten Showroom beim
FOTO: MICHAEL GOTTSCHALK / PHOTOTHEK.NET

aus einseitiger Sicht des Bundesministe- minister Stephan Dorgerloh (SPD). Außer- Berliner Bahnhof Friedrichstraße. In Stutt-
riums für Verteidigung dargestellt“, beklagt dem dürfen „Truppenbesuche keinen er- gart unterhält die Bundeswehr ein neu ein-
Die Linke in einer aktuellen Bundestags- lebnispolitischen Event-Charakter haben“. gerichtetes Karrierecenter mit 45 Beratern.
anfrage. Die Bundeswehr verbreite in den Jugendoffizier Bühling sagt: „Ich bin we- In Baden-Württemberg sei die Rekrutie-
Schulen Militärpropaganda, sagt die Lin- der befugt noch angehalten, über Berufe rung besonders schwierig, weil es für Be-
ken-Abgeordnete Ulla Jelpke. bei der Bundeswehr Auskunft zu geben. werber viele Alternativen in der Wirt-
Die Partei verlangt von der Bundesre- Ich spreche über Sicherheitspolitik, be- schaft gebe, sagt die Leiterin Sylvia Jahnz.
gierung regelmäßig Auskunft über die Ein- leuchte Risiken.“ An Gymnasien werfe er „Die zivile Konkurrenz ist groß.“
sätze von Jugendoffizieren und Karriere- vermehrt auch ethische Fragen auf. Büh- Jan Friedmann

42 DER SPIEGEL 21 / 2015


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Herausgeber: Fidelity – FIL Investment Services GmbH, Kastanienhöhe 1, 61476 Kronberg im Taunus. Der Herausgeber erteilt keine Anlageempfehlung. Morningstar Awards 2015©. Morningstar, Inc. Alle Rechte
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Deutschland

Klappe halten!
Polemik Nicht die Bezahlung ist das größte Problem für Kita-Erzieher.
Es sind die egoistischen Eltern. Von Markus Deggerich

D
er Streik sei den Erzieherinnen und wenn ihr Kind zwei Wochen gefehlt hat – Eltern delegieren ihren Erziehungsauf-
ihren wenigen männlichen Kolle- weil sie es wichtig finden, dass es die trag, sie wollen „fertige“ Kinder abholen,
gen gegönnt. Es ist eine wohl- Masern durchlebt, ganz egal, ob ihre Impf- ein Endprodukt, ausgestattet mit Bildung,
verdiente Pause im Kita-Alltag: nicht von verweigerung ein Anschlag auf das Leben Benehmen, Werten, also allem, was es zu
lärmenden Kindern, stinkenden Toiletten anderer ist. Hause nicht mehr gibt. Bei jeder kleinen
und pampigem Mittagessen. Auch nicht Erzieherinnen graut es heute nicht mehr Abweichung von den aus dem Internet
vom depressiv stimmenden Lohnzettel vor dem Lärmpegel in der Kita-Gruppe. ausgedruckten Entwicklungskurven for-
oder von endlosen Qualitäts- und Bildungs- Denn der ist Balsam für ihre Ohren im Ver- dern sie von Erziehern ein Einzelgespräch
offensiven. Der Arbeitskampf der Erzieher gleich zu dem, was sie sich auf Elternaben- über das nun aufzulegende individuelle
befreit sie vorübergehend von ihrem wah- den anhören müssen. Von Müttern, die Förderprogramm für ihr Kind. Schuld sind
ren Problem: den Eltern. nach einer Google-Recherche ihr pädago- immer die anderen. Denn schwierige
Mütter und Väter betrachten Erzieher gisches Halbwissen gern zum neuen Re- Kinder gibt es nicht mehr. Nur noch hoch-
nicht mehr als Partner, sondern als Dienst- formmodell hochjubeln, das bitte ratzfatz begabte.
leister. Sie geben morgens mit den Kindern umzusetzen sei. Oder von überbesorgten Die lernen zu Hause zwar nicht mehr,
auch ihre Verantwortung ab. Am Abend Helikopter-Eltern, die für den Wandertag dass Worte wie „Bitte“ und „Danke“ das
erwarten sie dann kein fröhliches Kind, am liebsten ärztliche Begleitung und Si- Leben schöner machen oder wie man sich
sondern einen perfekt abgerichteten Leis- cherheitspersonal engagieren wollen. die Schnürsenkel bindet. Dafür haben sie
tungsträger. Ihre Ansprüche sind aber pädagogisch wertvolles
längst größer als der Schulden- Spielzeug, das verstaubt, weil
berg, den der Staat aufhäuft für Eltern den neuesten Bildungs-
Kitas, Erzieher, Eltern- und Kin- ratgeber studieren, anstatt ein-
dergeld. fach zweckfrei zu spielen.
Eltern halten sich grundsätz- Besonders engagiert sind dabei
lich für die besseren Menschen: diese neuen Väter. Die erwarten
jede Geburt ein Gnadenakt ge- für zwei Monate Elternzeit einen
genüber dem demografisch ge- vaterländischen Verdienstorden.
beutelten Staat, der sich dann Sie stellen jedes pädagogische
gefälligst erkenntlich zu zeigen Konzept der Kita infrage, weil
hat. In ihrer Vollkaskomentalität Frauen sowieso unlogisch sind.
gehen sie davon aus, dass jeder Dann lassen sie Erzieherinnen
Dorfkindergarten das Programm gönnerhaft wissen, dass es ja
eines Eliteinternats anbietet. sooo wichtig sei für Kinder, nicht
Was steckt hinter diesem An- nur von Frauen erzogen zu wer-
spruchsdenken? Sorge um die den. Sie möchten getätschelt und
Zukunft des Landes, die Demo- gelobt werden, weil sie kurzzeitig
kratie, den Weltfrieden? Es ist in einspringen.
Wahrheit nur eins: purer Egois- Sitzen sie dann wieder an ih-
mus. rem Karriereschreibtisch, vergeht
Wenn es um den eigenen kein Tag, an dem sie nicht über
Nachwuchs geht, rufen Elterntie- WhatsApp in zweifelhafter Recht-
re nicht: Meiner ist einer für alle! schreibung Anweisungen für das
Sondern: Alles für meinen. Sie Vorschultraining ihrer Sprösslin-
fordern Inklusion, Integration Schuhregal in Kindertagesstätte: „Gib Papi noch einen Kuss“ ge in die Kita schicken. Kommt
und Bildung, weil die für den nicht postwendend eine Eingangs-
ganzheitlichen Menschen ja so wichtig Allein die nicht kind-, sondern eltern- bestätigung, wird am Abend auf Facebook
sind und sich später bei der Bewerbung gerechte Diversifizierung des Speiseplans in der Elterngruppe die Qualifikation des
als „Soft Skills“ gut machen. Aber be- führt auf Elternabenden zu Überstunden, Personals infrage gestellt.
kommt eines der „Türkenkinder“ einen die Erzieher nie bezahlt bekommen. Ve- Am nächsten Morgen bringen sie dann
Apfel mehr als ihr eigenes, rechnen sie getarisch, vegan, allergen, halal, weder ihr Kind bei Minustemperaturen in Sanda-
am Monatsende vor, dass auch mal Schluss Fisch noch Fleisch und schon gar keine len zur Kita und wünschen dem frierenden
sein müsse mit dem Quersubventionieren Tiefkühlpizza. Denn die gibt es ja schon Nachwuchs mit sich überschlagender Stim-
des Prekariats. daheim. me einen „ganz, ganz tollen Tag, und gib
FOTO: JULIAN STRATENSCHULTE / DPA

Sie rammen sich den Weg zur Kita frei Ansprüche haben Eltern nur noch an Papi noch einen Kuss“, immer darauf
mit ihren High-End-Buggys im Wert eines die Kita, aber nicht an sich selbst. Zu Hau- bedacht, dass die unbezahlte Kita-Prakti-
gebrauchten Kleinwagens, kriegen aber se wollen sie nicht erziehen, sondern ge- kantin sie dafür unglaublich modern und
Schreianfälle, wenn sie 50 Cent mehr für liebt werden; deshalb lassen sie den Vier- sexy findet.
das Mittagessen zahlen sollen. Oder sie jährigen bis 21 Uhr fernsehen. Mit den Fol- Ist der Streik für eine bessere Bezahlung
fordern eine Rückzahlung ihrer vom Steu- gen kann sich am nächsten Morgen ja das berechtigt? Natürlich. Es ist Schmerzens-
erzahler subventionierten Kita-Kosten, Personal im Kindergarten herumschlagen. geld. Der Autor ist Vater von drei Kindern.

44 DER SPIEGEL 21 / 2015


Typisch Ford:
bewegt die Wirtschaft

DIE FORD TRANSIT FAMILIE


Ein starker Partner seit 50 Jahren.
• der geräumige Ford Transit
• der vielseitige Ford Transit Custom
• der kompakte Ford Transit Connect
• der citytaugliche Ford Transit Courier

Abbildungen zeigen Wunschausstattung gegen Mehrpreis.


FOTOS: POLARIS / LAIF (1); ALEX CASTRO / XINHUA / EYEVINE / PICTURE PRESS (2); IRANIAN PRESIDENCY / DPA (3); TELAM / CHINE NOUVELLE / SIPA (4); IMAGO (5); DOMINICAN PRESIDENCY / PICTURE ALLIANCE / DPA (6); FRANZISKA WERNER / ZERBSTER VOLKSSTIMME (U.)
1 2 3

4 5 6

Sechserpack Fidel Castro trägt Adidas, egal wer sich ansagt. Ob François Hollande (1), Wladimir Putin (2) oder der Iraner
Ahmadinedschad (3), ob die Argentinierin Kirchner (4), Hu aus China (5) oder Präsident Fernández aus der Dominikanischen
Republik (6) – Kubas „Líder“ mag’s gestreift. Es heißt, er trage die Garnituren des Olympiateams auf; alles Auslaufmodelle.

Gemüse Hinkelmann: Ich sach mal: Böckchen gebaut, auf das ich ren schälen, die wackeln.
Wie schält man Die Form ist immer entschei- das Endstück des Spargels Dann kommt das Zittern, die
Spargel, dend.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
abstütze. Die Stange halte ich
am Kopf und schäle dann
Aufregung, immer noch.
Wenn ich auf die Bühne gehe,
Herr Hinkelmann? Hinkelmann: Hören Sie mal, nach vorne weg. bin ich wie im Tunnel. Dann
Steffen Hinkelmann, 55, ich bin seit 20 Jahren im Ge- SPIEGEL: Aha! kriege ich noch nicht mal mit,
ist Hotelchef und Koch in schäft. In der Saison schäle Hinkelmann: Das Problem ist, wer neben mir steht. Meine
Wendorf bei Stralsund. ich bis zu 30 Kilogramm Spar- bei der Weltmeisterschaft Frau steht immer vorne im
gel am Tag. Da ziehe ich voll muss ich auf Bierzeltgarnitu- Publikum und schreit mich
SPIEGEL: Herr Hinkelmann, Sie durch. Da gibt es nur Spargel. an. Das hilft.
sind fünffacher Spargelwelt- Ich trage mittlerweile eine SPIEGEL: Was halten Sie von
meister in Folge. Sie haben Bandage, so überlastet ist Spargelschälmaschinen?
den Spargelschälweltrekord mein Ellbogen. Meine genaue Hinkelmann: Mein Spargel-
des Ostfriesen Bernhard Rob- Technik ist ein Geheimnis. bauer im Emsland hat so
ben erreicht, ihn voriges Jahr Aber ich sach immer: Man eine. Ich hab mal gegen die
um 80 Gramm übertroffen: muss schnell sein. geschält und war schneller.
3480 Gramm Spargel, etwa SPIEGEL: Sparschäler? SPIEGEL: Seit 20 Jahren nur
90 Stangen, in fünf Minuten Hinkelmann: Nein! Das ist für Spargel. Mal ehrlich,
küchenfertig geschält, mit dem Amateure. schmeckt Ihnen der noch?
Messer. Sie haben den Titel SPIEGEL: In der klassischen Hinkelmann: Jo, ich mag den
am Wochenende erneut ver- Spargelschälhaltung legt man immer noch ganz gern. Ist
teidigt, Sie sind ein Champion. sich ja die Stange auf den halt ein Saisongemüse.
Hinkelmann: Jo. Unterarm. SPIEGEL: Wie essen Sie ihn am
SPIEGEL: Was ist Ihr Geheim- Hinkelmann: Das mache ich liebsten?
nis beim Spargelschälen? nicht. Ich hab mir ein kleines Hinkelmann Hinkelmann: Roh. jst

46 DER SPIEGEL 21 / 2015


Gesellschaft
wenig beiseite, schüttelt seinen Kopf mit den lichten, braunen
Haaren und sagt: „Es war nie möglich, mit Michael in Ruhe
über diese Sache zu reden.“
Früchte des Zorns Die Sache, das sind die Rapssamen, die bei der Ernte von
Baxter auf die Felder von Marsh geweht sind. Marsh sammelte
Eine Meldung und ihre Geschichte Im Westen einige der Hülsen mit den kleinen, schwarzen Körnern auf. Ein
erster Schnelltest jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken,
Australiens führen zwei Farmer und ein Labor bestätigte später das Ergebnis: Auch auf seinen
einen Stellvertreterkrieg in Sachen Genfood. Weizenfeldern lag genverändertes Saatgut herum. Zu viel, um
es wieder loszuwerden. Viel zu viel, um die Lizenz als Biobauer
zu behalten. Marsh musste die Samen bei der NASAA, dem

I
mmer wenn sich früh am Morgen Fußspuren über den stau- Nationalen Verband für Nachhaltige Landwirtschaft, melden,
bigen Boden vor dem Haus ziehen, weiß Stephen Marshs 70 Prozent seines Betriebs verloren das Biosiegel.
Frau Sue, dass es ihrem Mann nicht gut geht. Dass er wieder Marsh hatte lange überlegt, ob er sich als Biobauer versuchen
keinen Schlaf gefunden hat und durch die Nacht gewandert ist. sollte. Die geringeren Erträge, die Mehrarbeit, er sah das Risiko.
Dass er darüber gegrübelt hat, auf seinem einsamen Weg, dass Aber schon von seiner ersten Ernte als Biobauer verkaufte
alles fort ist, was ihm einmal wichtig war. Fünf Jahre sind seit er allein 10 000 Tonnen Lupinen, eine Soja-Alternative, an einen
dem Tag vergangen, an dem alles begann, an dem Stephen Kunden in Korea. Eine Biobäckerei in Perth bezog fortan sei-
Marsh seine Heimat verlor, seine Arbeit, seine Freundschaften. nen Weizen. „Ich hätte das nie vermutet“, sagt Marsh, „aber
Und den Schlaf. die Nachfrage war größer als das Angebot.“ Er hatte den rich-
Marsh und sein Nachbar Michael Baxter reparierten damals tigen Schritt zur richtigen Zeit gemacht, auch in Australien
einen Zaun in Kojonup, einem Dorf in Western Australia, wuchs die Biobewegung rasant.
1200 Einwohner, drei Autostunden Jetzt gelten seine Felder als kon-
von der Großstadt Perth entfernt. taminiert. Sein Getreide darf nicht
Eine Schnellstraße zerschneidet mehr bio heißen, die Gerichtskos-
hier Weizen-, Hafer- und Rapsfel- ten ruinieren seine Bilanzen, er
der, die sich bis zum Horizont er- musste 2000 Schafe verkaufen. Er
strecken. Marsh und Baxter ramm- kann kaum mehr arbeiten, weil er
ten gerade einen Holzpfosten in diesen Prozess führt, der so be-
den Boden, als Baxter sagte, er deutend ist, dass er ihm keine ru-
habe sich entschieden. Er werde hige Minute lässt, einen Präze-
gentechnisch veränderten Raps denzfall in Australiens Geschichte.
anbauen. „Er hat das beiläufig er- Noch nie hat ein Biobauer gegen
wähnt“, sagt Marsh. „Als ginge einen Genbauern geklagt.
es um nichts.“ Für Marsh ging es In Western Australia ist der An-
um alles. bau von transgenem Raps seit
Stephen Marsh ist Bauer in der 2010 erlaubt. Nach und nach ha-
fünften Generation. Der erste ben sich Bauern für das neue Saat-
Marsh hat 1860 Land im Busch Biobauer Marsh in Perth gut entschieden, inzwischen sol-
abgesteckt, da war Australien len es mehr als tausend Farmen
noch eine britische Kolonie. Sein in Western Australia sein. „Wenn
Nachfahre Stephen Marsh kaufte ich verliere, haben wir keinen
ein gutes Jahrhundert danach Schutz mehr gegen die Industrie“,
noch reichlich Grund dazu und sagt Marsh. Und im ganzen Land
nannte das Ganze „Eagle Rest“, Von der Website Netzfrauen.org skandieren Demonstranten der
„Ruheplatz des Adlers“. Ein 478 Anti-Genfood-Bewegung: „I am
Hektar großer Hof, der an die Farm „Seven Oaks“, „Sieben Steven Marsh.“ Für ihn und seinen Prozess wurden 500 000 Euro
Eichen“, von Michael Baxter grenzt. Spenden gesammelt. Er ist, wider Willen, ein Ökostar.
Die Männer, heute beide Anfang fünfzig, wuchsen zusammen Im Mai 2014 wird seine Klage zurückgewiesen. Und Marsh
auf. Sie gingen gemeinsam zur Schule und auf Partys, sie waren soll Baxter obendrein die Prozesskosten erstatten, angeblich
die besten Freunde. Als junger Mann arbeitete Marsh für Baxters 600 000 Euro. Stephen Marsh legte Berufung ein und forderte
Vater. Baxters jüngste Schwester war Brautjungfer auf der Hoch- die Offenlegung von Baxters finanzieller Unterstützung. Anfang
zeit von Stephen Marsh und dessen Frau Sue. Heute ist der Fall April, vor wenigen Wochen, gab Baxter nach gerichtlicher An-
„Marsh gegen Baxter“ ein Präzedenzfall, der den ganzen Kon- ordnung schließlich zu, dass ihm der durch Gentechnik in Verruf
tinent beschäftigt. Eine große Männerfeindschaft. geratene Agrarkonzern Monsanto einen Teil seiner Ausgaben
„Es gibt kein Zurück mehr“, sagt Marsh. Vor ihm auf dem bezahlt habe. Wie viel genau, will Baxter nicht sagen. Monsanto
Tisch stapeln sich Ordner mit Beweisen. „Das gilt für die Natur verkündete, lediglich finanziell beigetragen, jedoch keinen Ein-
FOTO: ROSS SWANBOROUGH / NEWSPIX (O.)

wie für unsere Freundschaft.“ Nur wenige Monate nach ihrem fluss auf das Verfahren genommen zu haben.
Gespräch am Zaun ging Marsh zum Anwalt, um seinen Freund Nun müssen drei Richter des Obersten Gerichtshofs erneut
auf 60 000 Euro Schadensersatz zu verklagen und eine Verfügung über den Fall Marsh gegen Baxter entscheiden. Das Urteil wird
zu erwirken, die Baxter den Anbau von genveränderter Saat bald erwartet. „Ich hoffe nicht mehr“, sagt Stephen Marsh. „Wer
verbieten sollte. hofft, hat noch mehr zu verlieren.“ Er will akzeptieren, was im-
Das, sagt Baxter, hätte Marsh nicht tun dürfen. Sie hätten, mer das Urteil sein wird. Mehr, glaubt er, bleibe ihm ohnehin
als Freunde, alles bei einem Bier besprechen können. Hätten nicht. Nur Sue, seine Frau, ist noch an seiner Seite, so wie
eine Lösung finden können, von Mann zu Mann, ohne Papier- früher. „Das ist viel wert“, sagt Marsh. Die Baxters leben in-
krieg, ohne Gerichte. Hört Marsh das, schiebt er die Ordner ein zwischen in Scheidung. Anne Backhaus

DER SPIEGEL 21 / 2015 47


Gesellschaft

„Das,Hossa‘ ist meine Erfindung“


SPIEGEL-Gespräch Er hat in 50 Jahren rund 2000 Lieder geschrieben, Hits wie „Fiesta
Mexicana“ geschaffen und den Grand Prix gewonnen. Der Komponist Ralph Siegel über seinen
Vater, Einsamkeit im Schlagergeschäft und den Unterschied zwischen Gelb und Blau.
Eine Vorstadtstraße in München unweit der ken und in zu kleinen Badewannen zu ba- jetzt kostet er schon 25 Euro, „Cloudy
Isar, ein eingewachsenes Grundstück, großer den“. Für mich der Inbegriff des No-Go. Bay“, aus Neuseeland. Für mich der beste
Garten: Hier lebt und arbeitet Ralph Siegel, SPIEGEL: Was haben Sie gegen Gassi gehen? Sauvignon Blanc. Ich habe seit sechs Mo-
Komponist, Musikverleger, Produzent. Seit Siegel: Wenn Sie ein guter Hundepapa sind, naten eigentlich überhaupt nichts anderes
mehr als 50 Jahren liefert er den Soundtrack dann können Sie sich ausrechnen, dass Sie getrunken als Wein. Weil ich ja 40 Kilo-
zu Liebe und Leid vieler Deutschen. Rund circa 500 Stunden im Jahr Gassi gehen. gramm abgenommen habe. Da darfst du
2000 Lieder hat er komponiert, für Costa Cor- Das mal 40 Jahre macht locker 20 000 Stun- an alkoholischen Getränken nur Wein oder
dalis, für Mireille Mathieu, Nana Mouskouri, den, rund zehn Jahre Ihres Arbeitslebens! Champagner trinken.
Udo Jürgens, Peter Alexander oder Roy Black, SPIEGEL: Gehen Sie nicht gern spazieren – SPIEGEL: Sie machen eine Weinkur?
er hat Hits geschrieben wie „Fiesta Mexicana“, oder laufen Sie nicht gern hinter jeman- Siegel: Nein, ich esse extrem kohlenhydra-
„Theater“, „Ein bißchen Frieden“, mit dem er dem her? tearm. Ich habe mir etwa 50 Gerichte aus-
1982 den Grand Prix Euro- gesucht, von Lachs-Sashimi
vision de la Chanson gewann, bis Scampi, Hummer, alle
in Harrogate, mit Nicole. Er ist Fische, was du haben willst,
„Mr Grand Prix“, er ist aber selbst Schweinebraten geht.
auch: der Mann, der nicht auf- Du kannst mit Blumen- oder
hören kann. Der für Malta Rosenkohl verlängern, mit
beim Schlager-Grand-Prix kom- Salaten, Spargel, Radicchio.
poniert und zuletzt für San Ich ess also nur die guten
Marino, das in der kommen- Sachen.
den Woche in Wien mit „Chain SPIEGEL: Haben Sie einen

FOTO: DIETER MAYR / DER SPIEGEL (L.); ILLUSTRATION: JON FRICKEY FÜR DEN SPIEGEL, FOTOS: PETER BISCHOFF / GETTY IMAGES, KEYSTONE; ABACA; JESSICA GOW / DPA;
of Lights“ in den Wettbewerb Dreisternekoch zu Hause?
geht. Es ist Siegels 24. Grand Siegel: Ingrid, meine bezau-
Prix. Drei Kinder, drei geschei- bernde Haushälterin, kocht.
terte Ehen, Krebs; ein rast- Seit meine Frau nicht mehr
loses Leben. Das Tor fährt auf, bei mir ist, kümmert Ingrid
Siegels Haushälterin Ingrid bit- sich darum, dass der Eis-
tet hinein. An den Wänden: schrank voll ist. Und abends:
Preise, Gitarren, Fotos mit Ich gehe viermal die Woche
Stars, viele signiert: Franz essen, wenn’s geht auch
Beckenbauer, Franz Josef fünfmal. Wenn einer sagt:

ACTION PRESS; WOLFRAM JÜRGEN MEHL / INTERTOPICS; SÜDDEUTSCHER VERLAG; S.E.T.; FRANZISKA KRUG / GETTY IMAGES
Strauß, Roy Black, Elvis Pres- Heute ess ich Nudeln mit
ley, Rex Gildo, Nicole. Auftritt Trüffeln – was ess ich?
Ralph Siegel: schwarze Hose, SPIEGEL: Nur Trüffeln.
schwarzes Polohemd, schwar- Siegel: Rührei mit Trüffeln!
ze Slipper. Ein paar Monate zu- Das ist eben ohne Mehl und
vor ist seine dritte Ehefrau besser. Wenn die anderen
Kriemhild ausgezogen, die er Sushi essen, Lachs, dann ess
2006 geheiratet hatte. Auf ich eben Sashimi. Ohne
dem Tisch: Mineralwasser Reis.
und Gläser mit Noten drauf, SPIEGEL: Und wie viel Wein
die ihm seine Tochter zu Weih- geht dazu?
nachten geschenkt hat. Schlagerproduzent Siegel: „Das Leben ist zu kurz, um Gassi zu gehen“ Siegel: Das kommt darauf
an, wie viel Sie abnehmen
SPIEGEL: Herr Siegel, Sie haben gerade, Siegel: Das kommt darauf an, wer es ist. wollen. Wenn Sie eine Flasche Wein trin-
zum 70. Geburtstag, Ihre Autobiografie Wenn der Anblick unendlich schön ist von ken, dann nehmen Sie wahrscheinlich 100
geschrieben. Was ist die Überschrift Ihres hinten, dann lässt du dir ein bisschen Zeit. bis 200 Gramm am Tag ab. Wenn Sie zwei
Lebens? Aber irgendwann holst du ihn ein. Und sagst: Flaschen Wein trinken, dann nehmen Sie
Siegel: Vor Jahren hatte ich mal die Idee: Hello baby. You look so sweet. Can I do nichts ab. Wenn Sie jetzt drei trinken, dann
„Kein bisschen Frieden“. Oder: „Mein Le- something for you? Sonst laufe ich nicht gern werden Sie zunehmen.
ben im Dauerlauf“. Meine Lieblingszeile hinterher. Wer läuft schon gern hinterher? SPIEGEL: Bleibt: die Badewanne.
lautet aber: „Das Leben ist zu kurz, um SPIEGEL: Schlechter Wein, sagen Sie, geht Siegel: Für mich gibt’s nichts Schlimmeres,
Gassi zu gehen, schlechten Wein zu trin- auch nicht. Wo fängt ein guter Wein an? als wenn du dich mit 136 Kilo in eine zu
Siegel: Bei den Trauben und dem Winzer – kleine Badewanne legen musst. Du liegst
Das Gespräch führten die Redakteure Hauke Goos und ich trinke seit vielen Jahren einen Wein, so (rutscht auf dem Sofa nach unten).
Thomas Hüetlin. der kostete, als ich ihn entdeckte, 16 Euro; Allein rein und raus ist schon lebens-
48 DER SPIEGEL 21 / 2015
DER SPIEGEL 21 / 2015 49
gefährlich. Du hängst drin und
stemmst die 136 Kilo da raus.
„Erst mal war ich ,der Sohn vom Siegel‘, die Nacht hinaus und lernst
jemanden kennen, und wenn
Gott sei Dank sind es bei mir das war schon mal schwer genug.“ die raucht, zündest du dir
nur noch 96 Kilo. sofort eine an. (Hustet.) Eine
Zigarette, und schon huste ich
Siegel sitzt jetzt bequem wieder.
auf dem schwarzen Ledersofa, SPIEGEL: Sie sind 1945 geboren.
beinahe liegt er, den Kopf Mitte der Fünfzigerjahre kommt
meist auf den rechten Arm ge- die große Erneuerung der Mu-
stützt. Von seinem Platz aus sik, durch die Amerikaner.
kann er durch ein kleines Siegel: Mein großer Held war
Fenster in der Wand ins Ton- George Gershwin, der Kom-
studio sehen, wo ein Mann, ponist von „Rhapsody in
den Siegel als „Klaus“ vor- Blue“ oder berühmten Stü-
stellt, irgendetwas am Com- cken wie „Porgy und Bess“.
puter mischt. Siegel wurde Als ich Gershwin entdeckte,
nach seinem Vater genannt, war ich 12 oder 13. Mit 14 habe
der Ralph Maria Siegel hieß ich die ersten Wienerlieder
und ein bekannter Komponist komponiert. „Der alte Stamm-
und Texter war. Er hat „Ich gast“, „Herr Ober, zwei Gla-
hab noch einen Koffer in Ber- serl und a guats Flascherl
lin“ geschrieben und den Text Wein“, „An der Donau hängt
zu den „Capri-Fischern“ und der Himmel voller Geigen“.
zum „Chianti-Lied“, insge- SPIEGEL: Elvis kommt 1956 und
samt über 3000 Schlager und verändert die populäre Musik,
Lieder. In den späten Vierzi- die Jugend fängt an, Dinge zu
ger- und Fünfzigerjahren war zertrümmern – und Sie schrei-
Ralph Maria Siegel der Party- ben „Herr Ober, zwei Glaserl
keller-Komponist des deut- und a guats Flascherl Wein?“
schen Wiederaufbaus und des Siegel: Und „In der Heimat
Wirtschaftswunders. blühen die letzten Rosen“
und „Du bist kein Fall von
SPIEGEL: Welche Erinnerung haben Sie an Sei mir nicht böse, dass ich meine Männ- Traurigkeit“. Ich war ja noch ein Jüngling.
Ihren Vater? lichkeit noch in anderer Form unter Beweis Elvis hab ich zum ersten Mal wahrgenom-
Siegel: Mein Vater war ein fleißiges Genie, stelle. men, als er nach Deutschland kam, als
ein Charmeur, ein Mann, der das Leben SPIEGEL: Und Püppchen? Soldat.
genoss. Er rasierte sich hier oben an der Siegel: Sie hat sich nicht scheiden lassen, SPIEGEL: Sie haben, als 18-Jähriger, ein Jahr
Stirn immer die Haare aus, damit man die natürlich nicht. Irgendwann hat sie jeman- in Paris gelebt, haben das Musikgeschäft
Geheimratsecken nicht so sah, und trug den gefunden, der auch sie in die Arme gelernt, Notenstechen, Katalogschreiben.
danach ein starkes Aftershave auf. Meine nahm, wenn sie einsam war. Siegel: Und dann bin ich in die USA ge-
Mutter war eine herzensgute, wunderbare gangen, nach Nashville. Dort habe ich
Grande Dame und eine große Sängerin. Siegel springt auf, läuft zum Esstisch schon 60 Songs geschrieben, ich hatte drü-
Sie musste allerdings ein bisschen unter hinüber, sucht ein Foto. Es zeigt seinen Va- ben meinen ersten Hit, mit Don Gibson,
meinem Vater leiden. ter und den sehr jungen Ralph Siegel, der damals ein großer Countrystar war.
SPIEGEL: Wieso? schwarz-weiß. Dann holt er ein Bild seiner Mit Roy Orbison bin ich Motorrad gefah-
Siegel: Mein Vater war dem weiblichen Ge- Mutter hervor, der Operettensängerin In- ren. Auf unserer Strecke, in Tennessee,
schlecht polygam zugewandt. Wir lebten geborg Döderlein, es zeigt sie in der Rolle auf der Maschine, die ich vorher benutzt
damals am Chiemsee. Mein Vater hatte der Dubarry. Siegel geht zum Tisch zurück, hatte, einer Honda, ist wenig später seine
seine Firma in München und war die ganze holt eine Marlboro aus der Packung. Frü- Frau Claudette tödlich verunglückt.
Woche dort. Er sah sehr gut aus und war her, das erzählt er gern, hat er bis zu hun- SPIEGEL: Als Sie nach Deutschland zurück-
sehr spendabel, und da kümmerten sich dert Zigaretten am Tag geraucht. Vor vie- kehrten, waren Sie euphorisiert. Sie schrie-
die Damen schon gern darum, dass er nicht len Jahren hatte er einen Hörsturz, er leidet ben Protestsongs im Stil von Bob Dylan,
allein blieb. unter Tinnitus, Siegel hört schwer, er bit- die keiner wollte. Warum eigentlich nicht?
ILLUSTRATION: JON FRICKEY FÜR DEN SPIEGEL, FOTOS: TELE BUNK, AKG

SPIEGEL: Hat Ihre Mutter davon gewusst? tet darum, manche Frage zu wiederholen. Siegel: „Die Felder von Verdun“ und „Der
Siegel: Nach einer gewissen Zeit haben unbekannte Soldat“. Aber erst mal war
meine Mutter und mein Vater sich arran- SPIEGEL: Sie haben als Kind schon geraucht. ich „der Sohn vom Siegel“, das war schon
giert. Meine Mutter hat viele Dinge aus- Siegel: Im Indianerzelt, mit der Friedens- mal schwer genug. Nennen Sie mir doch
gehalten, damit das Familienleben nicht pfeife, gestopft mit den Zigarettenresten, mal einen erfolgreichen Sohn im selben
offiziell zerschnitten wurde. die in den Aschenbechern des Hauses üb- kreativen Beruf! Kennen Sie einen? Ken-
SPIEGEL: Haben Sie das mitbekommen? rig blieben. Ich habe 1982 aufgehört, in der nen Sie Gershwin jr.? Kaempfert jr.? Ken-
Siegel: Selbstverständlich. Der schönste Nacht beim Grand Prix. Ich habe mein nen Sie einen Cézanne jr.? Einen Miró jr.?
Satz, den mein Vater mal zu meiner Mut- Feuerzeug, alles weggeschmissen, ein Jahr Einen Picasso jr.? Das ist ganz schwer, in
ter gesagt hat: „Bitte, Püppchen, lass dich nicht geraucht. Beim nächsten Grand Prix die Fußstapfen eines kreativen Vaters zu
nicht scheiden, damit ich die andere Dame habe ich wieder angefangen und dann treten. Als Sohn eines Fabrikbesitzers
nicht heiraten muss.“ Das sagt doch viel zweimal sieben Jahre lang nicht geraucht. kannst du’s irgendwie schon lernen. Selbst
aus. Auf der einen Seite: Ich liebe dich Und irgendwann, wenn ich eine Scheidung Aldi kannst du irgendwann übernehmen.
und brauch dich. Auf der anderen Seite: oder so was Trauriges hatte, gehst du in Aber denselben Federstrich vom Papa? Da
50 DER SPIEGEL 21 / 2015
Gesellschaft

muss dann auch was Eigenes


kommen.
„Meinen Sie, Roy Black hätte ohne ,Ganz in – die sich gut verkaufen. Mit
dem Geld, das er verdient,
Weiß‘ irgendwo auftreten können?“ kauft er sich also weiter blaue
Siegel regt sich jetzt herr- Farbe und malt fortan blaue
lich auf. Er hat eine Menge Bilder. Und wissen Sie, was
ausprobiert, um eine Karriere bei ihm zu Hause hängt? Gel-
zu machen, die sich von der be Bilder. Das ist die Antwort.
seines Vaters unterscheidet, Wenn du nicht mehr kannst –
und er hat sich daran ge- wenn du nicht mehr darfst,
wöhnt, ständig an seinem dann machst du irgendwelche
Vater gemessen zu werden. Er Dinge, damit du Geld ver-
spielt Schlagzeug, Akkordeon, dienst.
Gitarre und natürlich Klavier, SPIEGEL: Waren Ihre ersten
er bekam Unterricht in Har- Hits gelb oder blau?
monie- und Kompositionsleh- Siegel: Blau, sicherlich. Aber
re, er hatte mit 19 einen Hit, mit eigener Handschrift.
der es in den US-amerikani- SPIEGEL: Dann wurde es noch
schen Countrycharts bis auf blauer: Rex Gildo, „Fiesta Me-
Platz acht schaffte. Er hat xicana“.
Talente entdeckt und aus Ta- Siegel: Michael Holm hat den
lenten Stars gemacht, eine Text geschrieben, das „Hossa“
Zeit lang galt er als jemand, ist meine Erfindung.
der Karrieren wiederbeleben SPIEGEL: Rex Gildo hat sich
kann. 1999 aus dem Fenster gestürzt.
Ist es zu viel für einen Men-
SPIEGEL: Udo Lindenberg soll schen, tausendmal, zehntau-
bei Ihnen vorgesungen haben, sendmal „Hossa“ zu singen?
Mitte der Sechzigerjahre. Sie Siegel: Das ist doch die Tragik
haben ihn weggeschickt. Wa- eines jeden Künstlers, der in
rum haben Sie in Ihrem Be- jungen Jahren Erfolg hat. Die
mühen, eigene Wege zu ge- Leute wollen immer die größ-
hen, das Talent eines der ten Hits hören – auch von Si-
größten Erneuerer der deutschen Popkul- Siegel: Echtes Geld, zum ersten Mal. Die natra oder Bing Crosby. Das ist schon auch
tur nicht erkannt? Sängerin hieß Heidi Brühl, das Lied „Ein in gewisser Hinsicht tragisch, wenn du
Siegel: Udo sagte: Ralph, kann ich bei dir Buch ohne Seiten“, es wurde auf eine Be- 30 Jahre dasselbe Lied singen musst. Aber
vorsingen und so? Ich sagte: Gern, komm nefizplatte aufgenommen. Das Ding ver- stell dir vor, du hast dieses Lied nicht! Mei-
in mein Studio. Ich kam grad aus Amerika, kaufte zwei Millionen Stück, und ich be- nen Sie, Roy Black hätte jemals ohne „Du
und er sagte: Ey, Alter, ich kann auch das kam auf einen Schlag 8000 Mark Gebüh- bist nicht allein“ oder „Ganz in Weiß“ ir-
... Ich sagte: Udo, pass auf, sorry, ich liebe ren von der Gema dafür. Vorher hatte ich gendwo auftreten können?
Gene Pitney, die Righteous Brothers, Roy bei meinem Vater 400 Mark im Monat ver- SPIEGEL: Roy Black ist auch eine tragische
Orbison, Frank Sinatra – du wirst NIE ein dient. Plötzlich war ich selbstständig und Geschichte, er starb einsam in seiner Fi-
Sänger! Ist er auch nie geworden. Aber er unabhängig. scherhütte.
wurde ein genialer Interpret mit einer un- Siegel: Roy Black war, so wie er von Hans
verkennbaren Stilistik. Siegel liebt Motown und Bob Dylan, Bertram kreiert wurde, ein Geschenk für
SPIEGEL: Heißt das, um ein Haar hätte Udo aber er liebt auch den Erfolg. Erfolg drückt ihn. Er wäre als Rocksänger nie erfolgreich
Lindenberg „Fiesta Mexicana“ gesungen? sich für ihn in Zahlen aus: in verkauften geworden. Ich kannte ihn gut und habe
Siegel: Nein, das hätte er nicht gesungen, Alben, in Grand-Prix-Platzierungen, in „Sand in deinen Augen“, sein Comeback,
das hätte ich auch nie für ihn geschrieben. Einschaltquoten. Als sich „Ein Buch ohne geschrieben und produziert.
Für mich galt damals: Ein Sänger muss sin- Seiten“ so blendend verkaufte, konzen- SPIEGEL: Was war der Bauplan für Roy
gen, nicht nur interpretieren. Udo hat sei- trierte er sich aufs Schlagergeschäft. Black?
ne Persönlichkeit so kultiviert, dass ein Siegel: Hans Bertram hatte von einer Augs-
großer Künstler aus ihm wurde. SPIEGEL: Ärgern Sie sich noch immer über burger Band gehört, in der ein Gerhard
ILLUSTRATION: JON FRICKEY FÜR DEN SPIEGEL, DDP IMAGES, RUST/IMAGO

SPIEGEL: Aber damals wollten Sie Linden- die Geringschätzung, die der Schlager in Höllerich sang. Sie trat unter dem Namen
berg nicht. Was wollten Sie stattdessen? Deutschland erfährt? „Roy Black and the Cannons“ auf. Bert-
Siegel: Ich suchte Sänger wie Peter Ale- Siegel: Ich erzähle Ihnen eine Geschichte. ram hat dann deutsche Lieder mit ihm pro-
xander. Ich habe auch bald versucht, mit Ich habe sie mir ausgedacht, aber sie könn- duziert. Glauben Sie, Roy wäre mit engli-
23 oder 24 Jahren, meinem Vater zu sagen, te wahr sein. Sie handelt von einem Maler, schem Rock ’n’ Roll jemals was geworden?
wie ich seine Firma ändern und wie ich der im Sommer auf der Leopoldstraße sitzt Nie! Das ist gar nicht möglich. Du kannst
alles umstrukturieren würde, und er hat und ein gelbes Bild nach dem anderen nur in deiner eigenen Muttersprache au-
nur gesagt: Ralph, ich bin bald 60, das ist malt. Weil Gelb seine Lieblingsfarbe ist. thentisch sein. Die Leute müssen mal be-
mir too much. Und dann hab ich mich Und er verkauft kein einziges Bild. Irgend- greifen, dass sie ihr Leben verplempern,
selbstständig gemacht, bin in den untersten wann ist er so arm, dass er sich keine Farbe wenn sie es auf Englisch versuchen.
Stock gezogen, und er hat mir eine Sekre- mehr kaufen kann. Er besitzt aber noch SPIEGEL: Aber Black wäre lieber ein Rock-
tärin gegeben. Und dann hatte ich im ers- ein paar Leinwände, also geht er zu einem star gewesen. Besteht die Tragik darin,
ten Jahr sechs Hits. Kollegen und bittet ihn um Farbe. Der hat dass er davon geträumt hat, gelbe Bilder
SPIEGEL: Echte Hits, die echtes Geld brach- aber nur noch blaue Farbe. Egal, sagt er, zu malen – und dass er mit blauen Bildern
ten? ich muss malen. Er malt also blaue Bilder Erfolg hatte?
DER SPIEGEL 21 / 2015 51
Siegel: Wenn jemand keine guten gelben
Bilder malt, dann ist es besser, er verdient
sein Geld mit guten blauen als mit schlech-
ten gelben. Du musst auch gut sein – und
er war in seiner blauen Rolle gut.
SPIEGEL: Und wenn du in dem, was du
willst, nicht gut bist, erfolglos?
Siegel: Der eine oder andere Schauspieler
oder Sänger wird Komiker, setzt sich eine
Maske auf. Das beste Beispiel ist Werner
Böhm, der ein fantastischer Pianist war,
ein bildschöner Junge, der gut gesungen
hat und als Werner Böhm nie richtig Erfolg
hatte. Das ist nur Pech, Pech, Pech. Und Musiker Siegel in seinem Münchner Haus: „Was soll ich machen? Golf spielen?“
das größte Pech ist, dass er dann eines Ta-
ges den Song „Polonäse Blankenese“ ge- früher. Ich bin 69 Jahre alt, und ich möchte schreibt er an seiner Rede. Später, nach-
schrieben und gesungen hat. Dann hat er weiter kreativ sein. Das hält mich am Le- dem die Preisverleihung vorbei ist, wird
sich eine karierte Jacke angezogen, die ben. Was soll ich machen? Golf spielen? er erzählen, dass die Zuschauer sich am
Haare nach hinten gekämmt und sich eine SPIEGEL: Sie werden dieses Jahr 70. Bei Ende seiner Rede von ihren Sitzen er-
Brille aufgesetzt. Was kann dir Schlimme- BMW und Allianz beispielsweise darf ein hoben haben. Siegel stemmt sich vom
res passieren, als damit Erfolg zu haben – Vorstandsmitglied nicht älter sein als 60. Sofa hoch und zeigt auf eine Regalwand,
und nur noch so von deinen Fans geliebt Siegel: Kennen Sie Künstler, die aufhören? wo hinter Glas sein eigener Saumagen-
zu werden? Ich kenne niemanden. Die besten Werke orden steht, aus Rosenquarz. Dann geht
SPIEGEL: Sie waren jahrzehntelang eine der haben die großen Künstler erst gemacht, er hinüber in den „living room“, wo eines
großen Figuren im deutschen Schlager- als sie älter waren. Stellen Sie sich vor, seiner vier Klaviere steht.
geschäft, in der Spitze hatten Sie über hun- alle Maler hätten mit 60 aufgehört zu ma-
dert Angestellte – nur um Schlager zu len. Alle Dichter hätten aufgehört zu dich- SPIEGEL: Auf Ihrem Facebook-Titelbild
schreiben. Ihr letzter großer Erfolg liegt ten. Und mir sagt einer: Ralph Siegel, wie- waren Sie eine Zeit lang neben Ihrer
16 Jahre zurück. Ist Ihnen nicht irgend- so komponierst du noch? Wieso produ- Tochter Alana zu sehen, die offenbar
wann das Geld ausgegangen? zierst du noch? Was meinen Sie: Ich müsst gerade Abitur gemacht hatte. Sie sahen
Siegel: Gott sei Dank stimmt das nicht, Sie mich erschießen, sofort! Es ist mein Leben! müde aus.
wissen gar nicht, was ich alles so schreibe Mein Spaß! Meine Berufung! Siegel: Müde ist gar kein Ausdruck. Das
und produziere. Die hundert Leute hatte SPIEGEL: Macht es auch Spaß, beim Grand Foto war ein paar Tage nachdem meine
ich nicht, um Schlager zu schreiben, die Prix mit San Marino anzutreten? Frau gesagt hat, dass sie mich verlässt. Da
schrieb ich allein. Aber manchmal wusste Siegel: Ich hab nicht nur in San Marino an- würden Sie auch müde aussehen. Und ich
ich am 25. des Monats nicht, wie ich die geboten, seit die ARD nichts mehr von wog noch fast 40 Kilo mehr. Ich war an
Miete, die Gehälter für Promoter oder Ver- mir haben wollte – das fing vor 40 Jahren diesem Tag nicht nur fertig, ich hab wie
lagsangestellte bezahlen sollte. Da kom- mit Luxemburg an, später sechs- oder sie- ein kleines Kind geheult bei der Abitur-
poniert man nicht mehr, sondern hat an- benmal Malta und ganz Europa und lan- feier. Da lief mir so das Wasser runter
dere Probleme. dete in den letzten Jahren in San Marino. – wie ein Wasserfall –, ich konnt mich gar
SPIEGEL: Tinnitus rechts, Tinnitus links, Aber was Sie nicht wissen: Ich war Num- nicht halten. Ich bin kein Weichei, was
dazu neue Kredite. mer zwei in Rumänien, in der Vorentschei- Arbeit betrifft – aber das hat mich fertig-
Siegel: Du gehst zur Bank. Und holst Geld. dung, und sogar Nummer eins in Bosnien- gemacht.
Was anderes kannst du nicht machen. Du Herzegowina. Ich war in Österreich, in der SPIEGEL: Gibt es ein Lied, das Sie tröstet?
fängst an, deine Schulden zu erhöhen. Bis Schweiz, in Spanien und Irland dabei, ich Siegel: Wenn ich richtig down bin, habe
du feststellst: Halt, ich muss doch irgend- habe in Moldau und in der Ukraine den ich keine Kraft, die Finger zu bewegen,
wann verkleinern und Leute entlassen, Dritten gemacht. San Marino ist ein reiner mich ans Klavier zu setzen. (Siegel spielt
und das ist teuer. Zufall. die ersten Takte von Gershwins „Rhapso-
SPIEGEL: Müssen Sie noch arbeiten, oder SPIEGEL: Von Ihrem Vater kennt man noch dy in Blue“.) Das tröstet mich. Wenn du
müssen Sie wieder arbeiten? heute die „Capri-Fischer“. Was bleibt von dir das anhörst – von Paul Whiteman und
Siegel: Ich kriege heute Abrechnungen, die Ihnen? Gershwin selbst gespielt – das ist tröstend.
sind so dick (zeigt einen Stoß von Blät- Siegel: Ich glaube, dass „Moskau“ bleibt. SPIEGEL: Stellen Sie sich manchmal vor, wie
tern), Hunderte von Seiten, von meinen Das ist in Russland heute wie die Natio- es wäre, wenn Sie Ihrem Vater zeigen
diversen Songs, weil ich ja so viel gemacht nalhymne. „Dschingis Khan“ ist in Israel könnten, was Sie erreicht haben?
habe, da steht dann drunter: 168 Euro. Das wie ein Volkslied. Ich weiß nicht, ob „Ein Siegel: Was ich erreicht habe nicht, aber
glauben Sie nicht! Nehmen Sie Spotify. bißchen Frieden“ bleibt; ich glaube auch, ich würde ihm gern ein paar Songs vor-
Neulich war ein Gitarrist und Komponist das „Theater“ bleiben wird. „BabiČka“ spielen.
hier, mit dem ich befreundet bin. Der hatte vielleicht. Ob „Fiesta Mexicana“ bleibt, SPIEGEL: Was würden Sie ihm vorspielen?
Post von der Gema bekommen, 6000 weiß ich nicht. Vielleicht, im Schlager- Siegel: Ich würd ihm gern mein Musical
Übertragungen bei Spotify. Er hat geguckt, bereich, „Du kannst nicht immer siebzehn vorspielen: „Clowntown“.
FOTOS: DIETER MAYR / DER SPIEGEL

was das bringt, das waren 3,60 Euro. sein“ und ein paar mehr. SPIEGEL: Für den Broadway geplant, vor
SPIEGEL: Warum sagen Sie nicht: Das war’s. vielen Jahren begonnen und bis heute nie
Macht euren Mist allein? Siegel ist inzwischen bei der zwölften irgendwo aufgeführt.
Siegel: Ich hab 2000 Titel geschrieben, von Zigarette. In der darauffolgenden Woche Siegel: Das ist mein großes Lebensdilem-
denen waren über hundert richtig erfolg- soll er in Schifferstadt eine Laudatio hal- ma. 1964 sang Barbra Streisand in „Funny
reich, aber ich verdiene, wie die meisten mei- ten, auf Frank Elstner, der den Saumagen- Girl“, Sammy Davis Junior „Golden Boy“,
ner Kollegen, heute noch 20 Prozent von orden verliehen bekommt, seit Wochen Carol Channing „Hello Dolly“, und ich
52 DER SPIEGEL 21 / 2015
Gesellschaft

Dann haben wunderbare Ärzte mich ope-


riert, 2010 kam der Krebs wieder, und ich
war sieben Wochen lang unter Bestrah-
lung. Ich habe alles hinter mir, was es gibt.
Ich bin fast drei Monate zu Hause in Win-
deln gelegen. Da denkst du nicht darüber
nach, ob du schnell noch den Grand Prix
gewinnst. Da brauchst du vielleicht eine
Motivation, und es ist eben eine Motiva-
tion zu sagen: Okay, ich schreib aber noch
ein paar schöne Lieder. Und wenn’s die
Freunde von der ARD nicht wollen, dann
schick ich’s nach Malta oder wo auch
immer hin.
SPIEGEL: Was zählt mehr, das schöne Lied
habe das immer gesehen: Da stand der habe Jahre und Jahre verbracht, es mit die- oder der Sieg?
Name und oben drüber der Komponist, sem Stück an den Broadway zu schaffen – Siegel: Mich motiviert weiterleben zu kön-
und ich hab gesagt: Papi, das ist mein leider habe ich’s bis jetzt nicht geschafft. nen – und vielleicht etwas zu tun, worauf
Wunsch, dass eines Tages, wenn ich an SPIEGEL: Wie viel Geld haben Sie da rein- man stolz sein kann. Hey, du hast mal
den Broadway komme, dass da oben mein gesteckt? gewonnen, Ralph. Schaffst das noch mal?
Name und unser Stück steht. Siegel: Über all die Jahre gerechnet eine Weiß ich nicht. Aber – probieren schad ja
SPIEGEL: Und der Papi soll gesagt haben: halbe Million Euro. nichts, oder? Ich schreibe heute wesentlich
Unmöglich, mein Sohn. SPIEGEL: Haben Sie Schulden? bessere Lieder als früher.
Siegel: Ich habe es trotzdem versucht. Siegel: Ich bin nun wirklich ein offenes SPIEGEL: Was würde Gershwin zu „Mos-
Sechsmal, es waren große, lange Proben in Buch, aber darüber muss ich nicht spre- kau“ sagen? Well done, Ralph?
Amerika. Jedes Mal haben die Proben zwi- chen. Übrigens kenne ich keinen Unter- Siegel: Ich glaube, er würde das mit einem
schen 20 000 und 40 000 Dollar gekostet. Ich nehmer, der keine Schulden hat. schmunzelnden Auge sehen und sagen:
habe neunmal ein komplett neues Stück SPIEGEL: Schlafen Sie gut? Hey, das ist gar nicht so schlecht.
geschrieben auf Englisch. Ich habe mir, auf Siegel: Wissen Sie: Ich hab 2008 Krebs ge- SPIEGEL: Herr Siegel, wir danken Ihnen für
gut Bayerisch, den Arsch aufgerissen und habt. Mir haben sie sechs Monate gegeben. dieses Gespräch.

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Gesellschaft

vestiert hatten. Zum Glück waren es nicht nur überforderte


Kleinanleger, die sich den Fonds hatten aufschwatzen lassen,
sondern auch mehrere Diplom-Mathematiker, ein ehemaliger
Gouda-Gate Bankenchef und ein ehemaliger Richter für Handelssachen,
was zum einen tröstlich und zum anderen nützlich war.
Homestory Wie sich ein windiger Treuhänder Für sie kam das Urteil des Landgerichts vermutlich weniger
überraschend als für mich: 327-mal habe Schulte zwischen
mit meinem Geld eine Jacht, Kunst, Rotwein August 2011 und September 2013 in die Kasse gegriffen und
und eine doofe Villa an der Elbchaussee leistete 147,3 Millionen Euro abgezweigt.
Diese Mitanleger hatten die Briefe nicht nur abgeheftet, sie
waren misstrauisch und aktiv geworden, als kein Geld mehr

M
ein Treuhänder wohnt jetzt am Holstenglacis 3, im kam. Als Schulte die Zustimmung für eine neue, unübersicht-
Hamburger Untersuchungsgefängnis, tritt aber vor liche Art des „Liquiditätsmanagements“ verlangte, um sein
Gericht immer noch so auf, als erledigte er mal eben Konstrukt zu retten. Als er plötzlich alle Immobilien als Paket
einen Geschäftstermin. So war es auch neulich, als er zu acht- verkaufen wollte – mit hoher Vergütung für Wölbern Invest.
einhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Dunkler Anzug, Geschlossene Fonds sind nicht besonders gut reguliert, wie
blaues Hemd, rote Krawatte und darüber ein Blick, der sagt: ich mittlerweile begriffen habe, deshalb konnte Schulte sich
Ich habe nichts falsch gemacht. Wenn ich diesen Blick sehe, offenbar selbst kontrollieren, und er war eben immer einver-
dann denke ich: ich schon. standen mit dem, was er da tat. Vor Gericht trat er gern auf
Mein Treuhänder heißt Heinrich Maria Schulte, ihm gehörte wie ein Vorgesetzter, der Untergebenen ihre Berichte abnimmt.
die Wölbern-Bank, deren Tochter Wölbern Treu- Hätte ich es wissen müssen? Muss man sich bei
hand in der holländischen Stadt Gouda ein jeder Geldanlage fragen, ob ein wild gewor-
Bürohaus bauen ließ. Ein kleiner Teil da- dener Endokrinologe dahintersteckt, der
von würde mir gehören, und ein klei- Millionen abräumt?
ner Teil der Miete käme auf meinem Ich hatte mein Geld einem ano-
Konto an, das war die Idee. nymen Gebilde anvertraut, einem
Meine Idee jedenfalls. Er hat- Bankhaus, das ich für seriös
te eine andere. hielt, und mich nicht gefragt,
Heinrich Maria Schulte ist welche Art Mensch es nun in
61 und Arzt, Endokrinologe, der Hand haben würde; im
er hatte viel mit Hormonen Prospekt steht so etwas
zu tun, bot früher Männer- ja nicht. Jetzt weiß ich
sprechstunden zum The- mehr.
ma Testosteron an. Grün- Über das Haus in
dete ein paar Biotech- Kampen auf Sylt und
und Medizinunternehmen, über die Villa an der
kaufte sich dann eine Hamburger Elbchaussee,
Bank. Er verlor sie wieder, die er für 2,5 Millionen
die Wölbern-Bank wurde Euro renovieren ließ. Über
abgewickelt, aber eine die 20-Meter-Jacht, über
Fondsgesellschaft blieb ihm, die Gemäldesammlung mit
Wölbern Invest, Spezialität: Dutzenden wertvollen Stü-
geschlossene Immobilienfonds. cken, darunter ein Warhol, auf
Einer davon war meiner. Meine den aber leider auch eine seiner
Sparkasse hatte ihn empfohlen. drei Exfrauen Anspruch erhebt.
Wölbern: Das klang hanseatisch Über das Gemälde von Gerhard
und seriös. Richter, das in einem begehbaren
Bürohaus: Das klang auch nicht Bankschließfach hängt, in der Schweiz.
schlecht, etwas Solides, das real existierte Über die Weinsammlung im Wert von
und laut Prospekt bis mindestens 2018 vermietet 16 000 Euro.
war. In den ersten Jahren war alles bestens in den Briefen, die Ich verstehe schon. Er brauchte mein Geld.
ich von Wölbern bekam und im Ordner ablegte: Immobilie Heinrich Maria Schulte hat Privatinsolvenz angemeldet und
vermietet, Miete bezahlt, hier kommt ein bisschen Geld. wartet darauf, dass sein Prozess in nächster Instanz zum
Für das Jahr 2011 kam noch welches. Im September hatte Bundesgerichtshof geht; Schulte hat Revision eingelegt und
Schulte selbst die Geschäftsführung meines Fonds übernom- die Staatsanwaltschaft, die eine höhere Strafe gefordert hatte,
men. Geld kam danach keines mehr, für das Jahr 2012 nicht ebenso. Und der Insolvenzverwalter ist noch dabei, sich ein
und auch nicht für die Jahre danach. Bild zu machen, wohin überall Schultes Geld geflossen ist.
ILLUSTRATION: THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL

Wölbern war mir unheimlich geworden. Ich erhielt jetzt auch Sein Geld. Also auch meines. Ich frage mich, was nun alles
Briefe von Mitanlegern, die Finsteres ahnten, und von Rechts- ein kleines bisschen mir gehören könnte, ein paar Quadrat-
anwälten, die mir ihre Dienste anboten, las schnell darüber zentimeter Richter, ein Château Lafite vielleicht oder der
weg oder las es gar nicht mehr und heftete alles ab. Im Sep- Fensterrahmen oben links im Haus in Blankenese.
tember 2013 wies Schulte in einem Brief an uns Anleger den Ich habe es mir angeschaut.
Vorwurf der Untreue „in aller Entschiedenheit“ zurück. Rhododendron, weiße Villa, Veranda im Jugendstil. Aber
Drei Tage später saß er in Haft. rechts und links gleich die Nachbarn, und das Ganze auf der
Wir waren rund 900, die Anteile am Bürohaus in Gouda falschen Seite der Elbchaussee.
hielten, und über 30 000 insgesamt, die in Wölbern-Fonds in- Ich gebe zu, ich war ein bisschen enttäuscht. Barbara Supp

54 DER SPIEGEL 21 / 2015


Lesen
was gesund macht.
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Wirtschaft
EU-Gesellschaftsrecht
Kernkraftwerk Isar bei Landshut
Geballter Protest
Fünf Minister aus der nord-
rhein-westfälischen Landes-
regierung haben Bundes-
justizminister Heiko Maas
(SPD) aufgefordert, ein Vor-
haben der EU-Kommission
zu Fall zu bringen: die Ein-
Personen-Gesellschaft („So-
cietas Unius Personae“), de-
ren Gründung in den 28 Mit-
gliedstaaten im Schnellver-
Atomkraft fahren ermöglicht werden

Kanzleramt will
soll. Die Kommission ver-
spricht sich davon einen

Entscheidung
Gründungsboom für kleine-
re und mittlere Unterneh-
men. Die neuen Gesellschaf-
ten sollen im Internet und
ohne Beteiligung eines No-
Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) gibt es offenbar Probleme, die strahlenden tars angemeldet werden
will noch bis zum Sommer entscheiden, ob Brennelemente aus den Reaktorkernen können. „Ohne Identitäts-
es einen öffentlich-rechtlichen Atomfonds und Lagerbecken in Zwischenlager zu prüfung des Gründers kön-
in Deutschland geben soll. Es geht um gut schaffen. Das ergibt sich aus einer Antwort nen sie schnell zur Plattform
36 Milliarden Euro Rückstellungen, die auf eine Kleine Anfrage der atompoliti- für kriminelles Handeln wer-
von den Stromkonzernen für den Rückbau schen Sprecherin der Grünen, Sylvia Kot- den“, sagt Justizminister
der Atomkraftwerke und die Endlagerung ting-Uhl. Bislang ging die Regierung davon Thomas Kutschaty (SPD),
des Atommülls gebildet wurden. Nach dem aus, dass die „Kernbrennstofffreiheit“ in „die Strafverfolgung bei
Willen der Konzerne soll das Geld von ein bis zwei Jahren erreicht werden könn- Delikten wie Geldwäsche
einer öffentlich-rechtlichen Stiftung ver- te. Nun heißt es, das Ziel werde im still- und Insolvenzbetrug wird
waltet werden. Der Bund solle dann auch gelegten Kraftwerk Isar I erst in drei und schwer, wenn nicht gar
die Verantwortung und den Betrieb der im Kraftwerk Unterweser in vier bis fünf unmöglich.“ Finanzminister
Nuklearanlagen übernehmen. Bundeswirt- Jahren erreicht. Für die Anlage Krümmel Norbert Walter-Borjans
schaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) habe der Betreiber Vattenfall noch nicht (SPD) sieht das ähnlich:
hingegen möchte mit einem Stresstest zu- einmal einen Rückbauantrag gestellt. „Wir unternehmen alles, um
nächst prüfen, ob die von den Konzernen Weitere Verzögerungen sind zu erwarten, auf europäischer Ebene
dafür gebildeten Rückstellungen überhaupt weil immer noch nicht geregelt ist, wie mit Schlupflöcher zu schließen,
ausreichen. Derweil verzögert sich der rund 600 beschädigten oder unvollständig aber diese Richtlinie schafft
Rückbau der acht deutschen Atomkraft- abgebrannten Brennstäben in den Reakto- ein Einfallstor für Steuerhin-
werke, die 2011 abgeschaltet wurden. So ren umgegangen werden muss. fdo, mif, gt terzieher und Betrüger.“ bas

Währungen Bofinger: Bei den heutigen umlaufs besteht aus 500- SPIEGEL: Sollte das passieren,
„Bargeld ist ein technischen Möglichkeiten Euro-Noten. Fürs Einkaufen müsste der Staat auf Gewin-
Anachronismus“ sind Münzen und Geld-
scheine tatsächlich ein
braucht die niemand, damit
wickeln lichtscheue Gestal-
ne aus der Münzproduktion
verzichten.
Peter Bofinger, Anachronismus. Sie erschwe- ten ihre Geschäfte ab. Bofinger: Doch dafür haben es
60, lehrt Volkswirt- ren den Zahlungsverkehr SPIEGEL: Schwarzarbeiter und die Notenbanken einfacher,
schaft in Würz- ungemein. Denken Sie nur Kriminelle könnten auf an- ihre Geldpolitik durchzuset-
burg und ist daran, wie viel Zeit verloren dere Währungen, etwa den zen. Derzeit können sie die
Mitglied des Sach- geht, wenn Leute vor Ihnen Dollar, umsteigen. Zinsen kaum nennenswert un-
verständigenrats, an der Ladenkasse nach Bofinger: Das stimmt, aber ter null Prozent drücken, da
der sogenannten Kleingeld suchen und die jede größere Menge an frem- die Anleger sonst Bargeld hor-
FOTOS: PETER WIDMANN / IMAGO (O.); TIM WEGNER (U.)

Fünf Weisen. Kassiererin nach Wechsel- den Währungen wäre dann ten. Gibt es kein Bargeld mehr,
geld. Aber zusätzliche Zeit ein Hinweis für Polizei und entfällt die Nullzinsgrenze.
SPIEGEL: Herr Professor Bofin- ist nicht der größte Gewinn Finanzämter, noch einmal SPIEGEL: Sollte sich die Bun-
ger, die dänische Regierung bei der Abschaffung des genauer hinzuschauen. Auf desregierung ebenfalls für
überlegt, das Bargeld abzu- Bargelds. jeden Fall wäre es besser, die Abschaffung des Bar-
schaffen, ein Vorschlag, den SPIEGEL: Sondern? wenn der Euroraum und die gelds starkmachen?
auch Ihr amerikanischer Kol- Bofinger: Sie trocknen die Vereinigten Staaten, Groß- Bofinger: Das wäre jedenfalls
lege Kenneth Rogoff schon Märkte für Schwarzarbeit britannien und die Schweiz ein gutes Thema für die
einmal vorgebracht hat. Eine und Drogen aus. Fast ein gleichzeitig auf das Bargeld Agenda des G-7-Gipfels in
gute Idee? Drittel des Euro-Bargeld- verzichten würden. Elmau. rei

56 DER SPIEGEL 21 / 2015


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RWE-Tagebau in Nordrhein-Westfalen

Sisyphus in der Grube


Konzerne Der Stromriese RWE kämpft ums Überleben. Weil das traditionelle Geschäft
mit Kohle und Atom keine Zukunft hat, muss das Unternehmen rasch
den Einstieg in moderne lukrative Geschäftsfelder finden. Kann der Umbau gelingen?

G
ib mir mal die Wolle“, sagt die Ma- ein Mondgesicht. „Das ist unsere Kollegin befestigt. „Das ist unser Problem“, sagt
nagerin. Sie hat sich mit vier Kol- Julia“, sagt die Managerin, „die kriegt die Managerin. „Wir bekommen keinen
legen um einen Tisch herum pos- noch eine Feder ins Haar.“ Kontakt zu den Start-ups.“
FOTO: OLIVER TJADEN / DER SPIEGEL

tiert; fünf Führungskräfte, die zusammen „Jetzt brauchen wir noch den ,big tan- Aha. Und deshalb ist die Julia traurig,
auf ein Jahreseinkommen von einer Mil- ker‘, das sind wir“, sagt die Managerin, was die nach unten gezogenen Mundwin-
lion Euro kommen dürften. Auf dem Tisch „und Schnellboote, das sind die Start-ups, kel symbolisieren? Richtig.
liegen Luftballons, Strohhalme, Scheren, mit denen wir in Kontakt kommen wol- Willkommen bei RWE, einem Konzern,
Pappe und Filz. Ein Kollege klebt die Wol- len.“ Der Kollege schneidet aus Pappe ein der ums Überleben kämpft, der die deut-
le, zwei aus Filz geschnittene Punkte und großes Schiff und mehrere kleine Boote sche Industriegeschichte prägte wie Thys-
zwei Striche auf eine Schautafel. Fertig ist aus. Zwischen ihnen wird ein Wollknäuel sen und Krupp, wie Daimler und Volks-
58 DER SPIEGEL 21 / 2015
Wirtschaft

60 Prozent. Ohne Atomkraft, ohne Braun- no-Sitzungen vor gut einem Jahr einge-
kohleförderung und ohne Kohlekraftwerke führt und nimmt häufig selbst daran teil.
bleibt nicht mehr viel übrig von einem Un- „Wir sind Weltmeister im Erstellen von
ternehmen, das auch ein Stück Ruhrgebiet Plänen“, sagt eine Mitarbeiterin aus der
ist. Oberhausen, Bochum, Bottrop, Essen, Verwaltung. Für jedes Szenario gebe es
Dortmund, Duisburg und Gelsenkirchen Tausende Seiten Papier. „Nur entschieden
sind an RWE beteiligt. Sie erhalten Jahr für wird kaum etwas.“ Ihre Kollegin sagt:
Jahr mehrere Hundert Millionen Euro Di- „Was wirklich fehlt, ist jedem im Haus klar:
vidende. Aber die Dividende ist seit 2009 neue Geschäftsideen, neue Produkte und
von 3,50 Euro auf einen Euro gefallen. Den eine klar definierte Strategie.“
Städten fehlt das Geld, mit dem sie unter Das zielt auf den Vorstandschef. Peter
anderem den öffentlichen Nahverkehr, Schu- Terium sagt, er habe es offenbar noch nicht
len und Kindergärten finanzieren. geschafft, ein überzeugendes Zukunftsbild
RWE wehrt sich gegen den Niedergang. des Konzerns zu entwerfen. „Das ist wohl
Seine Mitarbeiter demonstrieren in Berlin nicht meine Stärke.“
gegen die Kohlepolitik der Regierung. Der Der RWE-Chef zeigt sich selbstkritisch,
Konzern sucht neue Geschäftsfelder. Aber wie selten ein Vorstandsvorsitzender eines
er hat kaum Geld für Investitionen und Dax-Konzerns. „Ich habe selbst viele Zwei-
muss deshalb die Ausgaben für erneuer- fel, ob wir all das schaffen werden.“
bare Energien auf ein Drittel zusammen- Geboren wurde Terium in dem nieder-
streichen. Zugleich muss RWE die Kultur ländischen Dorf Nederweert. Er arbeitete
eines „big tanker“ ändern, der sich lange als Controller, bei dem Wirtschaftsprüfer
nicht um Kunden kümmern musste, der KPMG, beim Verpackungsunternehmen
seiner Belegschaft ein Stromdeputat und Schmalbach-Lubeca und bei RWE. Terium
seinen Direktoren einen wöchentlichen ist nicht groß, er hat schütteres Haar, und
Frischblumenstrauß bescherte. in sein Deutsch mischt sich mitunter ein
Der Energiekonzern gewährte dem SPIE- Zischlaut. Der Mann lädt alle dazu ein, ihn
GEL Einblicke in diesen Überlebenskampf, zu unterschätzen. Dies liegt auch daran,
in dem auch Wollknäuel und Meditation dass Terium der Gegenentwurf zu seinem
eine Rolle spielen, ein Staatssekretär, dem Vorgänger ist, zu Jürgen Großmann, dem
es um sein Lebenswerk geht, ein Bagger- 2,04-Meter-Mann, der mit Donnerstimme
fahrer, der um seinen Job bangt, und ein verkündete, der Atomausstieg sei Unsinn,
Vorstandschef, der in drei Rollen auftritt: als und der viele Milliarden Euro in konven-
Selbstkritiker, als harter Sanierer und als tionelle Kraftwerke investierte, als gäbe
Management-Guru, der aus RWE-Ange- es keine Energiewende.
stellten bessere Führungskräfte machen will. Großmann hat einen Konzern hinter-
lassen, in dem Sonnen- und Windenergie,

W
ir wissen doch alle, was bei RWE die Zukunft also, nur in der Werbung
schiefläuft“, sagt ein Mann, der („VoRWEggehen“) eine angemessene Rolle
seit 40 Jahren in dem Unterneh- spielen. Sein Nachfolger steht vor einer
men arbeitet. Er hat sich ein kariertes Sak- kaum lösbaren Aufgabe. Und jetzt hat er
ko angezogen, für diesen Termin auf der es auch noch mit einem gefährlichen Geg-
26. Etage der RWE-Zentrale in Essen. „Wir ner in der Berliner Regierung zu tun.
haben eine dicke Lehmschicht, Führungs-

R
kräfte, die jede gute Idee totreden und sich ainer Baake steht mit einer weißen
wagen, und der in seinen Glanzzeiten auf ihren dicken Gehältern ausruhen.“ Porzellanschüssel vor einer Glasvi-
mehr als 160 000 Menschen beschäftigte. Wenn es ums Arbeiten gehe, zeigten sie trine. Eine Vietnamesin schaufelt sie
Heute arbeiten noch knapp 60 000 für das auf andere, beim Sparen übrigens auch. randvoll mit Nudeln und fragt, ob er lieber
Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk „Wenn du wirklich etwas verändern willst, die scharfe oder die süßsaure Soße wolle.
(RWE). Sie fördern Braunkohle, betreiben Peter, dann musst du an diese Leute ran.“ „Mittagslunch“ nennt sich das Menü, das
Kohle-, Gas- und Atomkraftwerke und ver- Der Peter, seit zwölf Jahren im Konzern, 4,75 Euro kostet. Baake versucht erst gar
sorgen 16 Millionen Menschen und Tausen- schaukelt auf seinem Stuhl vor und zurück. nicht, den Eindruck zu erwecken, diese
de Unternehmen mit Strom und Wärme. Er hat die Krawatte abgelegt für diese Sit- Form der Nahrungsaufnahme sei gelegent-
Noch, muss man anfügen. Denn RWE zung. „Ich heiße Peter, bin RWE-Chef, lich akzeptabel. Er sagt: „Ich habe das Lo-
wird in wichtigen Teilen die Geschäfts- aber das wissen die meisten hier ja schon“, kal nicht ausgesucht.“
grundlage entzogen. Der Konzern muss sagt er. Die Unternehmensberaterin, die Baake ist Staatssekretär im Wirtschafts-
seine Kernkraftwerke demnächst abreißen. die Zusammenkunft leitet, hatte zu Beginn ministerium und der Kopf hinter dem Pro-
Ältere Kohlekraftwerke sollen mit einer gesagt, so ein Gespräch falle leichter, wenn jekt, Deutschlands Energieversorgung um-
Abgabe belastet werden. Sie wären dann sich alle am Tisch duzen. „Ich will erfah- zustellen, Wind und Sonne statt Atom und
wirtschaftlich kaum noch zu betreiben. ren, was in unserem Unternehmen gut Kohle. Es gibt wohl keinen Politiker, der
Und wenn sie abgeschaltet werden, lohnt oder schlecht läuft“, sagt der Peter. die Materie so gut kennt wie der 59-jährige
sich möglicherweise der Braunkohletage- Domino-Sessions heißen diese Zusam- Volkswirt. Das weiß Baake, und das lässt
bau im Revier Garzweiler nicht mehr. menkünfte. Jeder RWE-Beschäftigte soll er Gesprächspartner oft spüren.
In den vergangenen fünf Jahren ist der daran teilnehmen und sich mit Kollegen Schon Ende der Neunzigerjahre hatte
Gewinn um mehr als 50 Prozent ge- über die eigenen Stärken und Schwächen Baake als Staatssekretär bei Umweltminis-
schrumpft auf 1,7 Milliarden Euro, und der und die des Unternehmens austauschen. ter Jürgen Trittin den Atomausstieg aus-
Börsenwert des Konzerns sank um mehr als Vorstandschef Peter Terium hat die Domi- gehandelt und später den Umstieg auf er-
DER SPIEGEL 21 / 2015 59
Wirtschaft
Braunkohle
77,2 (–4,0)
50
neuerbare Energien geplant. Gabriel berief Erneuerbare Energiemix Stein-
deshalb keinen Parteifreund, sondern den Energien in Mrd. kWh kohle
Grünen Baake in sein Ministerium, um die 40 10,1 (–3,7) Sonstige 2014 48,3
(–3,7)
Schwachstellen der Energiewende zu be- (Veränderung
gegenüber 2013)
seitigen. Der CO2-Ausstoß der Branche
sinkt trotz Sonnen- und Windenergie Kernkraft
30 31,7 (+0,4) Gas
kaum, was an den CO2-Zertifikaten liegt, 38,3 (+1,3)
die in der EU billig sind. Kohlekraftwerke
können deshalb günstig Strom erzeugen 20
und das Klima weiter schädigen.
Baake will deshalb alte und ineffiziente
Kraftwerke mit einer Abgabe belegen. Sie
würde den Einsatz der Braunkohlemeiler, 10 Marktwert, in Mrd. Euro Quelle: Thomson Reuters Datastream

die besonders viel CO2 ausstoßen, ver- 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
teuern. Moderne Gaskraftwerke würden
3,8 3,6
wettbewerbsfähiger. 2,7 2,6
3,3
Für den Staatssekretär geht es nicht um 2,2 1,8 1,7
1,3
irgendeine neue Abgabe. Es geht um sein
Lebenswerk, eine ökologische Energiever- Gewinn/Verlust, in Mrd. Euro –2,8
sorgung. Es geht um den Plan von Kanzle-
rin Angela Merkel, den CO2-Ausstoß hier- Werden ältere Kraftwerke mit einer Ab- Baggerführer Pütz hofft, dass es für ihn
zulande bis 2020 um 40 Prozent gegenüber gabe belastet, wie von Staatssekretär Baa- noch bis zur Rente reicht. Er ist jetzt 59
1990 zu senken. Es geht um große Politik ke geplant, würden sie unwirtschaftlich. Jahre alt.
und Deutschlands Rolle als Vorreiter beim Der Tagebau könnte weniger Braunkohle

I
Klimaschutz. fördern. Diese würde, auf die Tonne ge- n einem Vorort von Essen sitzt RWE-
Doch was machen RWE und all die an- rechnet, teurer. Und das würde dann auch Chef Terium bei einem Italiener. Weiße
deren Energieversorger? Händeringend die verbliebenen, die neueren Kraftwerke Stofftischdecke, frische Blumen, leise
habe er sie gebeten, eigene Vorschläge ein- treffen. Es wäre der Anfang vom Ende der Musik. Nach einem Gruß aus der Küche
zubringen, wie der CO2-Ausstoß verringert Braunkohle bei RWE. werden Edelfisch, Biofleisch und Bordeaux
werden könnte. Aber die Konzerne seien Aus Sicht eines Umweltschützers ist die gereicht. Baake würde sich hier wohlfüh-
nicht willens oder nicht in der Lage gewe- Stromerzeugung mit Braunkohle eine ein- len. Terium kann sich nicht auf das Essen
sen. Und jetzt, nachdem er seine Pläne be- zige Sauerei. Dörfer werden umgesiedelt, konzentrieren.
kannt gegeben hat, schreien sie auf. Wälder und Wiesen zerstört. Alles muss Am Tag zuvor ist Baakes Abgabenplan
„Alles, was ich bisher an Argumenten weg, damit im Revier Garzweiler jedes bekannt geworden. Über Nacht haben die
aus dieser Ecke gehört habe“, sagt Baake, Jahr rund 36 Millionen Tonnen Braunkoh- Controller von RWE die Folgen für das
„kann ich nicht nachvollziehen.“ Das Dis- le aus der Erde geholt werden können, mit Unternehmen berechnet. Es wäre das Aus
kussionsniveau sei teilweise unterirdisch, der dann unter hohen Umweltbelastungen für mehrere Kraftwerke, für Teile des Ta-
für den Energieexperten eine intellektuelle Strom erzeugt wird. Selbst moderne gebaus und mehr als 20 000 Arbeitsplätze.
Beleidigung. Baake hat langsam seine Flug- Braunkohlekraftwerke stoßen rund dop- Damit stünde, sagt Terium, „die Zukunft
höhe erreicht. Der Asiaimbiss ist weit weg. pelt so viel CO2 aus wie neue Gaskraft- des Konzerns auf dem Spiel“.
werke. Rund um Garzweiler arbeiten aber Er muss jetzt mal kurz den Tisch verlas-

B
aake? Bernd-Josef Pütz hat den Na- noch Anlagen aus den Siebzigerjahren. sen. Er telefoniert mit Nordrhein-Westfa-
men noch nicht gehört. Aber er Die Zukunft der Energieversorgung sieht lens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft
weiß natürlich, was die in Berlin vor- anders aus. und Wirtschaftsminister Garrelt Duin. Die
haben, mit ihm und seinen Kumpels im beiden Sozialdemokraten sind auf der Sei-
rheinischen Braunkohlerevier Garzweiler. te von RWE. Das hat Tradition. Was gut
„Das ist ’ne Schande.“ war für RWE, war auch gut für die SPD in
Pütz sitzt im Steuerhaus von „Bagger Nordrhein-Westfalen. Kraft und Duin wol-
288“, einem Ungetüm, mehr als 90 Meter len mit Baakes Chef sprechen, mit ihrem
hoch und mehr als 200 Meter lang. Vor Genossen Sigmar Gabriel.
sich hat Pütz vier Bildschirme, die rechte „Wir kämpfen ums Überleben“, sagt
und die linke Hand ruhen auf einem Steu- Terium. Seit 2010 ist der Umsatz von Stein-
erknüppel. Mit kleinen Bewegungen seiner kohle- und Atomkraftwerken eingebro-
Finger steuert er das mehr als 13 000 Ton- chen, knapp acht Milliarden Euro musste
nen schwere Gerät. Er kann die Schaufeln Terium außerplanmäßig abschreiben. Der
auf zehn Zentimeter genau an die Ab- ehemalige Controller setzte Sparprogram-
bruchkante heranfahren. me durch, er verkaufte die Öl- und Gas-
Umgeben ist der Bagger von einer handelstochter Dea und verringerte die
Mondlandschaft. So weit das Auge reicht, Schulden. Mit seinen regionalen Strom-
ist alles grau und braun, Erde, Sand, Lehm, netzen, dem Stromverkauf und -handel
Kohle, kein Baum, kein Strauch, und am verdient RWE Geld.
Horizont rauchen Schornsteine. 16 Kraft- All das hat Terium angeschoben. Terium,
FOTO: MATTHIAS LUEDECKE

werksblöcke in Frimmersdorf, Neurath der Sanierer, der ganz nebenbei und laut-
und Niederaußem verfeuern die Braunkoh- los Gegner im Management beiseiteräum-
le, die auf Förderbändern direkt vom Bag- te. „Viele hätten mir das nicht zugetraut“,
ger zu ihnen transportiert wird. Es ist ein Staatssekretär Baake sagt er, „sie haben mich unterschätzt.“
Verbund, der nur als Verbund funktioniert. Unterirdisches Diskussionsniveau Und jetzt kommt dieser Baake.
60 DER SPIEGEL 21 / 2015
RWE-Chef Terium bei einer Demonstration in Berlin für den Erhalt des Braunkohleabbaus: Es ist ein Abwehrkampf

Einmal noch muss Terium den Tisch ver- und dezentral. Nicht mehr die Konzerne muss schrumpfen, weiter schrumpfen. Es
lassen. Michael Vassiliadis ist am Telefon, mit ihren Kraftwerken bestimmen den wäre schon ein Erfolg, wenn es gelänge,
der Chef der Bergbaugewerkschaft IG Markt, sondern viele kleine Erzeuger, die den Niedergang zu verlangsamen.
BCE. Er will den Protest gegen die Kohle- Strom auf Hausdächern, mit Wasserrädern Aber Terium besitzt die Fähigkeit, auch
politik organisieren. Eine große Demons- und Windmühlen produzieren, im Idealfall Attrappen in Musterkoffern etwas Positi-
tration in Berlin. dort, wo er gebraucht wird. RWE muss ves abzugewinnen. Exakt wegen solcher
Es ist ein Abwehrkampf. Langfristig hat den Kunden mehr bieten als Strom, um in Erfahrungen habe er doch die Seminare
Braunkohle keine Chance. Wenn die ge- diesem Wettbewerb zu bestehen. für das Management eingeführt. 250 Füh-
plante Abgabe für alte Kraftwerke verrin- Der Konzern hat eine Reihe neuer Ge- rungskräfte müssen in mehreren Etappen
gert oder verschoben wird, dann gewinnt schäfte aufgebaut. In den Niederlanden ver- ins Bildungszentrum Wanderath reisen,
RWE Zeit. Mehr nicht. Terium ist ein Sisy- messen RWE-Mitarbeiter auf Satellitenbil- das irgendwo im Nirgendwo der Eifel liegt,
phus in der Kohlegrube. dern Dächer, um den Hausbesitzern Ange- und dort tagelang Kurse besuchen.
bote für Solaranlagen zu unterbreiten. In Natürlich fragen viele Manager, ob sie

A
m Tag darauf fährt der RWE-Chef Deutschland vertreibt RWE Solaranlagen nichts Besseres zu tun hätten? Was soll bei-
nach Münster. Es geht um das und Blockheizkraftwerke. Außerdem baut spielsweise das „Silent Walking“, bei dem
Neue, um die Zukunft. Rund 400 der Konzern in Berlin, London, Amsterdam, zwei Manager eine halbe Stunde lang spa-
Mitarbeiter verkaufen in der Regionalge- Jerusalem und im Silicon Valley Kontakte zieren gehen? Während der ersten 15 Mi-
sellschaft Strom und Gas. Es ist ein müh- zu Start-ups auf. Möglicherweise ent- nuten darf nur der eine und in der zweiten
sames Geschäft. wickeln sie Geschäftsideen rund um die Halbzeit nur der andere sprechen. Und
Irgendwann übernimmt der RWE-Chef Stromerzeugung, auf die der „big tanker“ was soll das „Silent Breakfast“, bei dem
den Telefonhörer einer Mitarbeiterin, die RWE nicht kommt. Es ist eine Art Lotto- totale Ruhe herrschen soll? Und dann gibt
gerade mit einem Wurstfabrikanten ver- spiel. Die Chancen auf einen Volltreffer es noch Meditationsrunden und Ernäh-
handelt, und sagt: „Ich heiße Terium und sind klein, aber der Einsatz ist überschaubar. rungsberatung, weshalb in vielen Sitzun-
bin ein Kollege.“ Der Mann am anderen Im nächsten Büro, das der RWE-Chef gen bei RWE jetzt Nüsse gereicht werden,
Ende kann mit dem Namen nichts anfan- bei seiner Visite besucht, betreut ein Inge- weil sie die Nervenfunktionen stärken sol-
gen. Er schimpft weiter über den hohen nieur Industriekunden. Er hat ihnen vor len. Will RWE-Chef Terium hier einen neu-
Gaspreis. Er will sich nicht mit einem lang- Monaten angekündigt, dass RWE ein „neu- en Manager-Menschen erschaffen?
fristigen Vertrag an RWE binden. Nach es Produkt auf den Markt“ bringt. „Smart „Ich bin kein Guru, der die Welt bekeh-
zehn Minuten hat ihn der RWE-Chef zu- Company“ soll es heißen, das sind mehre- ren will“, sagt er. Manche im Konzern sind
mindest davon überzeugt, dass er das An- re kleine Zähler, die messen, welche An- angetan von diesen Kursen, manchen sind
gebot von RWE noch einmal prüft. lage gerade wie viel Strom verbraucht. Ein sie unheimlich, und andere schmunzeln
Zwei Büros weiter haben die Mitarbeiter Unternehmen kann die Produktion dann darüber. So wie über das Management-
solche Hoffnungen aufgegeben. Sie betreu- so steuern, dass die Stromkosten möglichst Bild aus Wolle und Pappe.
en die Ausschreibungen, wenn Gemeinden gering sind. Julia, das Mondgesicht auf der Tafel,
Strom für Straßenbeleuchtung, für Schulen „Das ist hervorragend angekommen“, steht für eine real existierende RWE-
oder Sportstadien einkaufen wollen. sagt der RWE-Mitarbeiter, „wir hätten et- Managerin. Sie konnte keinen Vertrag mit
„Eigentlich könnten wir uns den ganzen was gehabt, das uns von der Konkurrenz einem Start-up abschließen, weil verschie-
Papierkram sparen“, sagt ein RWE-Mit- abhebt.“ Doch die Zentrale schickte ihm dene Abteilungen im Konzern dies mona-
arbeiter. Mit Zusatzleistungen könne man keine Geräte. „Wir haben einen Muster- telang prüften. Der „big tanker“ fand kei-
FOTO: THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL

nicht punkten. „Das ist ein reiner Preis- koffer bekommen“, sagt der junge Mann. nen Weg zum Schnellboot. An der Tafel
wettkampf, und da liegen wir auf einem Er holt ihn aus der Ecke und öffnet ihn. wird das Problem schnell gelöst. Ein Kol-
der letzten Plätze.“ Terium weiß das. Er Drinnen liegen keine Stromzähler, son- lege klebt einen Faden zwischen RWE und
murmelt etwas von einer großen Organi- dern: Attrappen. das Start-up, eine direkte Verbindung. Und
sation, die nun einmal höhere Kosten habe Es ist kein guter Tag für den RWE-Chef. Julia erhält einen neuen Pappmund. Die
als unabhängige Stromhändler. Wovon der Konzern bislang lebte, das hat Mundwinkel zeigen jetzt nach oben.
Die Energiewelt ist eine andere gewor- keine Zukunft. Gleichzeitig kommen die Na dann.
den. Das Stromgeschäft wird kleinteilig neuen Geschäfte nur mühsam voran. RWE Frank Dohmen, Dietmar Hawranek

DER SPIEGEL 21 / 2015 61


Schattenreich beim Sonnenflieger
Airlines Der Chef eines Lufthansa-Ablegers hat offenbar jahrelang eine schwarze Kasse geführt.
Die Affäre gefährdet die Pläne von Konzernchef Spohr, das Unternehmen neu zu ordnen.

Sun-Express-Jet

E
s war exakt eine Woche nach dem droht auch die Pläne von Konzernchef Um die Tickets möglichst günstig anbie-
Absturz der Germanwings-Maschine Carsten Spohr für den Umbau der Unter- ten zu können, will Spohr das neue Lang-
in den französischen Alpen, als die nehmensgruppe mit weltweit über 120 000 streckenangebot seiner kostengünstigen
Lufthansa eine etwas lapidare Pressemit- Mitarbeitern. 50-Prozent-Beteiligung Sun Express über-
teilung herausgab. Mit dem schlimmsten Schwaiger, so die Vorwürfe in einem tragen. Der Plan stieß allerdings bereits
Unglück in der 60-jährigen Geschichte des kürzlich von Turkish Airlines und Luft- im vergangenen Dezember auf erbitterten
Unternehmens hatte die Nachricht nichts zu hansa gemeinsam erstellten Revisionsbe- Widerstand von Arbeitnehmervertretern
tun; deshalb interessierten sich, wenn über- richt, soll eine schwarze Kasse geführt und im Konzern.
haupt, nur Fachleute für die kurze Notiz. einem Mitarbeiter neben seinem Gehalt Der Laden sei windig, schlecht geführt
Der langjährige Chef des Joint Venture ohne vertragliche Grundlage rund 50 000 und auf Konfrontationskurs zu Betriebs-
Sun Express, Paul Schwaiger, 61, werde Euro in bar ausbezahlt haben. Außerdem räten und Gewerkschaften, kritisierten sie.
seinen Job bei der Gemeinschaftsfirma mit soll er eigenmächtig Sponsorengelder und Deshalb könne man dem Unternehmen
Turkish Airlines Ende Mai aufgeben, hieß Freiflüge verteilt haben. Schwaiger selbst eine so verantwortungsvolle Aufgabe im
es darin. Danach solle der gebürtige Öster- nahm dazu nicht Stellung. Auftrag der Mutter nicht anvertrauen.
reicher noch ein paar Wochen lang seinen Die Vorwürfe sind gewichtig. Sollten sie Die Bedenkenträger können sich nun
Nachfolger anlernen, den bisherigen Aus- sich bestätigen, könnten bald weitere Köp- bestätigt fühlen. Schon im Jahr 2008 ur-
trian-Airlines-Vorstandsvorsitzenden Jaan fe rollen, von Helfern oder Mitwissern. Ein teilte der Bundesgerichtshof im Zuge der
Albrecht, 60. Schattenreich beim Sonnenflieger? Das Siemens-Schmiergeldaffäre, dass das An-
Schwaiger hat den deutsch-türkischen hätte der Lufthansa gerade noch gefehlt. legen schwarzer Kassen in einem Unter-
Ferienflieger in den vergangenen 15 Jahren Für Unternehmenschef Spohr kommt nehmen den Straftatbestand der Untreue
zu einem der rentabelsten und wachstums- die Affäre zum denkbar ungünstigsten erfüllt, auch wenn die Mittel nur für klan-
stärksten Lufthansa-Ableger ausgebaut – Zeitpunkt. Denn sie könnte einen zentra- destine Ausgaben wie etwa Schmiergelder
mit rund sieben Millionen Passagieren und len Baustein aus seiner geplanten neuen und nicht zur persönlichen Bereicherung
über einer Milliarde Euro Umsatz pro Jahr. Unternehmensstruktur herausbrechen, die genutzt wurden.
Normalerweise wird ein Manager, der sol- er Mitte September dem Aufsichtsrat de- Bis zu der Lufthansa-Beteiligungsgesell-
che Zahlen liefert, bei seinem Abgang mit tailliert erläutern will: die Aufnahme neuer schaft scheint der Richterspruch aber nicht
Lob und Dank überschüttet. Fernstrecken zu Günstigtarifen mithilfe durchgedrungen zu sein. Dort existierte
Doch die Konzernmeldung würdigte von Sun Express Deutschland. der geheime Geldtopf noch bis Ende 2012.
den scheidenden Sun-Express-Chef nur Der seit gut einem Jahr amtierende neue Kontrollmechanismen, wie sie bei den
FOTO: MICHAEL FRITSCHER / PICTURE ALLIANCE / DPA

mit einem einzigen Satz, offenbar aus Kal- Lufthansa-Chef will den Konzern künftig meisten anderen Unternehmen spätestens
kül. Denn der Abgang des Managers und in drei Sparten aufteilen, das klassische nach dem Siemens-Korruptionsskandal
seine Umstände könnten den Konzern Umsteige-Passagiergeschäft über die bei- eingeführt wurden, gab es bei Sun Express
noch in erhebliche Turbulenzen stürzen. den großen Flughäfen in Frankfurt und nicht, sie sollen erst jetzt – nachträglich –
Der Tourismusexperte ist in eine Un- München, das Dienstleistungsangebot eingeführt werden.
treueaffäre verstrickt, die in dieser Form rund um Aktivitäten wie die Technik oder Dass bei dem Lufthansa-Ableger zu-
bei der Lufthansa niemand für möglich das Catering und eine neue Billigfluglinie weilen eigene Gesetze gelten, die nicht
gehalten hätte und deren Auswirkungen unter dem Markennamen Eurowings, die den gängigen Konzernstandards entspre-
noch nicht absehbar sind. Sie entwertet ihre Kunden innerhalb Europas, aber auch chen, war schon länger erkennbar, wurde
nicht nur Schwaigers Verdienste um den zu Fernzielen wie Bangkok oder Dubai von der Führung aber offenbar zu wenig
binationalen Chartercarrier, sondern be- transportieren soll. wahrgenommen. Bereits zur Jahreswende
62 DER SPIEGEL 21 / 2015
Wirtschaft

2012/13 warnte eine Gruppe besorgter mit die Behörden auf den Plan rief. Es sei Ein Lufthansa-Sprecher bestätigt die
Sun-Express-Piloten in einem anonymen aber umgehend Geld nachgeschossen Darstellung weitgehend, will sich zu De-
Schreiben an den Vorstand unter anderem worden. tails aber nicht äußern. Nach seinen An-
vor angeblichen Sicherheitsmängeln, of- Das Fazit der Angestellten: Bei Sun Ex- gaben hat Sun Express inzwischen Selbst-
fenbar aus gutem Grund. Immerhin erhielt press müssten „erst (einmal) die struktu- anzeige erstattet und die kürzlich entdeck-
der Deutschland-Ableger des Unterneh- rellen und fachlich personellen Vorausset- ten, bislang nicht bekannten Einnahmen
mens in Frankfurt daraufhin erstmals eine zungen“ geschaffen werden, bevor man für drei der insgesamt knapp zwölf Jahre
eigenständige Technik- und Wartungsab- die Firma mit dem Schnäppchen-Langstre- nachversteuert.
teilung. Nach Darstellung von Sun Express ckenverkehr unter der Marke Eurowings Ungeklärt blieb zunächst auch, warum
war der Schritt ohnehin geplant – um die betrauen könne. Sonst, warnen die Auto- Schwaiger einem zwischen 2011 und 2014
Pünktlichkeit der Jets zu verbessern. Die ren, sei „das negative Ergebnis des Expe- bei Sun Express Deutschland angestellten
ließ damals ziemlich zu wünschen übrig. riments … vorhersehbar“. Mitarbeiter neben knapp 20 000 Euro Fest-
Vergangenen Dezember meldeten sich Mit dem Abgang Schwaigers ist nun zu- gehalt zusätzlich immer wieder Bargeld
die Flugzeugführer in einem siebenseiti- mindest der erste Schritt getan. Er war zukommen ließ, alles in allem fast 50 000
gen, eng bedruckten Brief an Konzernchef überfällig – und in seinem Fall wohl wirk- Euro. Einen dazugehörigen Arbeits- oder
Spohr erneut zu Wort. Das Schreiben liegt lich alternativlos. Beratervertrag gab es offenbar nicht, wo-
inzwischen auch dem Vorstand, dem Auf- Erste Hinweise auf Regelverstöße hatte möglich sollten Sozialversicherungsbei-
sichtsrat und dem SPIEGEL vor. In dem der Turkish-Airlines-Verwaltungsratschef träge gespart werden.
Papier üben die besorgten Piloten heftige Hamdi Topçu bereits im Herbst 2014 gege- Auch dazu will die Lufthansa sich im
Kritik an Schwaiger und den Zuständen ben. Lufthansa und Turkish Airlines ver- Detail nicht äußern. Ein Sprecher erklärt,
bei Sun Express. anlassten als Eigentümer daraufhin eine der Mann sei ein Exangestellter gewesen
Ihr Chef habe abgehoben und sei mit gesonderte, gemeinsame Untersuchung und habe sowohl für die deutsche als auch
seiner Aufgabe überfordert, heißt es darin und Überprüfung der Bücher und anderer für die türkische Gesellschaft gearbeitet.
unter anderem. Die Stimmung zwischen Unterlagen bei ihrer Gemeinschaftsfirma. Die Zahlungen seien in beiden Ländern
den Kollegen in Frankfurt und Antalya Dabei stellte sich heraus, dass Schwaiger jeweils getrennt verbucht worden und für
oder Istanbul sei auch knapp vier Jahre bereits ab 2001 bei der Firma eine Art tatsächlich erbrachte Leistungen erfolgt.
nach Gründung der deutschen Sun-Ex- Kriegskasse unterhielt, also mehr als zehn Großzügig zeigte sich Schwaiger auch
press-Tochter noch immer schlecht, es Jahre lang. Abgeschafft wurde sie erst im gegenüber der Deutschen Schule in Izmir.
herrschten Konkurrenzdenken und Futter- Dezember 2012. Sie erhielt rund 150 000 Euro. Wofür das
neid. Die starke Expansion und der hohe Nach Erkenntnissen der internen Kon- Geld im Einzelnen ausgegeben wurde,
Arbeitsdruck führten immer wieder zu trolleure wurde sie unter anderem mit konnten die Prüfer zunächst nicht klären.
Qualitätsmängeln – zulasten der Passagie- Geld aus dem Verkauf von Mitarbeiter- Die dazugehörigen Belege fehlten zum gro-
re. Sun Express betont, in einer solchen tickets oder Gebühren für hauseigene ßen Teil.
Aufbauphase könne es „naturgemäß“ Schulungen gespeist. Verwendet wurden Nach Darstellung der Lufthansa sind sie
stressig werden. die Mittel unter anderem, um Visagebüh- inzwischen aufgetaucht. Demnach wollte
Das Führungspersonal, so die Kritiker, ren oder Übersetzungen zu bezahlen. Der Schwaiger mithilfe der Morgengaben errei-
wechsle zuweilen schneller als die Flug- Verdacht, dass auch Amtsträger geschmiert chen, dass Sun Express eine führende
pläne. Kabinenmitarbeiter würden oft nur wurden, liegt nahe. Er wurde vom Partner Marktposition im Luftverkehr zwischen
als Leiharbeiter angestellt. Deshalb zöger- Turkish Airlines auch erhoben, konnte Izmir und Deutschland erreicht. Eingesetzt
ten sie, sich krank oder flugunfähig zu mel- aber nicht erhärtet werden. wurden die Mittel nach Angaben des Kon-
den, aus Angst, für die nächste zerns vor allem, um Kindern
Saison nicht übernommen zu deutscher Manager vor Ort qua-
werden. Laut Sun Express be- lifizierte Schulabschlüsse nach
kommen die meisten Zeitkräfte heimischen Standards zu ermög-
später ohnehin einen festen lichen. Normalerweise kümmert
Vertrag. Genauer hingeschaut sich das Auswärtige Amt darum.
werde nur bei Kandidaten, die Andere Unternehmen hätten
sich ohne Vorliegen einer ernst- in einem Fall, wie er jetzt bei
haften Krankheit mehr als 14 Sun Express aufgetaucht ist,
Tage pro Jahr dienstunfähig wohl die Staatsanwaltschaft ein-
meldeten. geschaltet. Nicht so die Lufthan-
Im Sommer 2012, heißt es in sa. Sie ahndet Verstöße gegen
dem Brandbrief an Spohr wei- die internen Verhaltensregeln
ter, habe das Luftfahrt-Bundes- gern auf eigene Faust – und mit
amt (LBA) sogar damit gedroht, Bordmitteln.
der Gesellschaft die Lizenz zu Im Fall Schwaiger dürfte das
FOTO: HORST GALUSCHKA / PICTURE ALLIANCE / DPA

entziehen. Eine LBA-Spreche- schwierig werden. Sitz von Sun


rin wollte sich dazu nicht äu- Express Deutschland ist Frank-
ßern, betont aber, „dass das furt. Die Ermittler dort haben
LBA im Rahmen seiner Auf- die Lufthansa ohnehin im Vi-
sichtstätigkeit … auch die Hin- sier – wegen angeblicher Beste-
weise Dritter berücksichtigt und chungspraktiken in der Fracht-
diesen nachgeht“. Ein Sun-Ex- sparte (SPIEGEL 12/2015). Viel-
press-Sprecher bestätigt, dass leicht interessieren sie sich ja
die Deutschland-Tochter im auch für den Ferien- und künf-
Sommer 2012 finanziell tatsäch- tigen Langstreckenableger der
lich etwas klamm war und da- Airline-Manager Schwaiger: 50 000 Euro in bar Lufthansa. Dinah Deckstein

DER SPIEGEL 21 / 2015 63


Wirtschaft

Herr Lehmann und das Einhorn


Internet Ein deutscher Gründer legt sich mit Amazon und Uber an. Sein Start-up gilt als einer
der neuen Stars im Silicon Valley. Doch der Weg zu globalem Erfolg ist lang.

D
ie Rushhour in San Francisco hat überprüfen. Der 37-Jährige, aufgewachsen auf zwei Loft-Etagen. In langen Reihen
gerade begonnen, als ein Algorith- in Bielefeld und München, ist Gründer und steht Computer an Computer. Gegessen
mus entscheidet: Bastian Lehmann Chef von Postmates. In diesen Wochen wird am Schreibtisch.
ist der Richtige, um einen Hamburger mit scheint es, als sei er dabei, eine Wette ge- Der Aufstieg des Start-ups war zuletzt
Knoblauch-Pommes in einem Fast-Food- gen die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen, so rasant, dass nicht wenige im Silicon Val-
Restaurant abzuholen und quer durch die einen Traum zu realisieren, der vor 20 Jah- ley glauben, Postmates könne das nächste
Innenstadt zu fahren. ren in einem Kinderzimmer in München Einhorn sein: das seltene Start-up, das mit
Der Auftrag kommt per Klingelton über begann: ein deutscher Gründer, der auf einer neuen Idee eine Branche umwälzt
Lehmanns iPhone, das am Armaturenbrett dem Weg ist, sich im Silicon Valley durch- oder ein neues Geschäftsfeld definiert. Und
seines VW Golf festgeklemmt ist. Kaum zusetzen, dessen Unternehmen nun in den dessen Unternehmenswert unabhängig von
eine Minute zuvor hat er sich angemeldet USA gefeiert wird als eines der heißesten Umsatz und Profiten in die Milliarden
bei Postmates, einer App, installiert auf Start-ups, als neuer Star. schießt. Airbnb und Uber sind die promi-
seinem Smartphone. Die Soft- nentesten Beispiele dieser selte-
ware hat berechnet: Lehmann ist nen Spezies.
am nächsten dran, wird am Andererseits müssen all die
schnellsten liefern und kann so Erfolge der vergangenen Monate
wohl auch am meisten verdienen. nichts bedeuten. Denn der Ab-
Die App sagt Lehmann 25 Minu- sturz kann im Silicon Valley noch
ten später, was er für seine Tour rasanter sein als der Aufstieg. Von
verdient hat: 5,80 Dollar plus 4 vielen gefeierten Erfindern neuer
Dollar Trinkgeld. digitaler Modelle sind heute nur
Für den Auftraggeber war die noch Skelette übrig: Groupon,
Bestellung ein teurer Spaß, doch Foursquare, Fab. Tote Einhörner,
Postmates, ein drei Jahre altes allesamt.
Start-up, setzt darauf, dass es im- Lehmann aber sieht „eine his-
mer mehr Menschen gibt wie ihn: torisch einmalige Gelegenheit“,
die bereit sind, Zeit gegen Geld denn er hat früher als andere er-
zu tauschen, die sich jede Arbeit kannt, dass die gerade erst begin-
abnehmen lassen, solange ihnen nende Digitalisierung des Einzel-
das nur effizient und elegant per handels große Chancen bietet,
Smartphone-App angeboten wird. dass die Smartphone-Revolution
Lehmann, Vollbart und kurz irgendwann jeden kleinen Laden
geschorene Haare, in schwarzem an der Ecke erreichen wird. Und
T-Shirt und Jeans, ist nur einer von Lehmann hat erkannt, dass es
inzwischen mehr als 10 000 Fah- eine große Idee braucht, denn nur
rern, die in vielen Städten der so fällt man auf im riesigen Meer
USA als Kurier für Postmates un- der Start-ups, in dem zu jeder
terwegs sind: Sie liefern Super- Zeit Tausende Gründer nach Geld
markteinkäufe, Pizza, Aspirin oder und Aufmerksamkeit schreien.
auch ein neues iPad, alles inner- Facebook-Seite von Postmates: Riesiges Netzwerk von Kurieren Lehmanns Vision sieht so aus:
halb einer Stunde, abgeholt vom Er will einen urbanen Logistik-
Händler der Wahl. Über die App lässt sich Postmates verzeichnet inzwischen riesen schaffen, der alle Einzelhändler in
genau verfolgen, wo der Kurier ist und wie 70 000 Lieferaufträge pro Woche, ist in der Stadt zusammen auf einer Plattform
lange es noch bis zur Auslieferung dauert. 26 amerikanischen Metropolregionen verknüpft, um sie dadurch zusammen „so
Postmates hat ein großes Ziel: eine Art präsent, hat fast 60 Millionen Dollar an mächtig zu machen wie Amazon“. Denn
Uber für Waren zu werden; ein riesiges Wagniskapital eingesammelt, verfügt über Amazon schöpfe seine Marktmacht aus
Netzwerk von Kurieren, ähnlich wie Uber- das drittgrößte Fahrernetzwerk nach den dem riesigen Angebot in seinen enormen
Fahrer verbunden über eine elegante App, Transportdiensten Uber und Lyft. Vor we- Warenlagern, und deswegen müsse die
die per Knopfdruck auf dem Smartphone nigen Wochen kündigte Starbucks an, dass Stadt selbst das Warenlager sein: das In-
losgeschickt werden und alles transportie- es bald Milchkaffee nicht mehr nur in den ventar aller Einzelhändler zusammenge-
FOTO: WINNI WINTERMEYER / DER SPIEGEL (R.)

ren, was man kaufen kann. Wie auch die rund 20 000 Filialen des Kaffeekonzerns nommen, das auf der Postmates-Plattform
Uber-Fahrer sind die Postmates-Kuriere geben wird, sondern dass sie erstmals auch eingesehen werden kann, jedes Produkt
keine Angestellten, sondern „unabhängige ins Büro oder nach Hause geliefert werden per Knopfdruck auf dem Smartphone be-
Auftragnehmer“. Wer Auto, Fahrrad oder sollen – von Postmates. stellbar und ausgeliefert per Kurier inner-
Motorroller hat, kann sich anmelden und Das Firmenhauptquartier, ein vor rund halb einer Stunde für ein paar Dollar oder
entscheiden, wann er Aufträge annimmt. acht Monaten angemietetes Backstein-Loft Euro Gebühr.
Bastian Lehmann ist meist nur noch ein- in der Innenstadt, wird schon wieder zu Lehmann weiß, dass der Weg dorthin
mal pro Woche als Kurier online, und das klein. 198 Mitarbeiter, viele mit Informa- lang ist, denn es gibt inzwischen viele, die
auch nur, um die App auf Schwächen zu tikabschluss einer Elite-Uni, drängen sich mitmischen in diesem Wettrennen. Die
64 DER SPIEGEL 21 / 2015
um die ersten 500 000 Lieferungen zusam-
menzubekommen. Aber dann springt die
Kurve plötzlich steil nach oben. Für die
nächsten 500 000 Lieferungen braucht es
nur noch 20 Wochen. Zehn Wochen für
die nächsten 500 000 Lieferungen.
Lehmann lacht, während er noch mehr
Grafiken malt, bei denen alle Kurven nach
oben zeigen, aber es ist ein nervöses La-
chen, kein euphorisches. Seit drei Jahren
ist sein Leben ein andauernder Zyklus aus
Schlafentzug und Adrenalin. Auch der
Hockeyschläger bedeutet noch nichts, je-
denfalls nichts für den großen Plan: die
globale Marke, „ein Unternehmen, das
echte Bedeutung hat“.
Lehmann ist bissig und laut, er flucht
viel und sitzt selten still. Er sagt, er habe
nie „Konzernsklave“ sein wollen, und
macht keinen Hehl aus seiner Abscheu für
„die ewige Langsamkeit“ der alten Wirt-
schaftswelt. „Bei großen Firmen, da biste
dann wieder nur so ’ne Wurst“, sagt
Lehmann. „Du sitzt den ganzen Tag am
Schreibtisch und hast keine Power.“ Im
Silicon Valley fühlt sich Lehmann deswe-
gen heimisch, denn Schnelligkeit ist hier
alles: bauen, ausprobieren, verwerfen, von
vorn anfangen. Für vieles gibt es noch kei-
ne Modelle, keine Vorbilder, und Lehmann
liebt es, den ganzen Tag darüber nachzu-
denken, eine neue digitale Plattform zu
entwickeln, „in der die Welt synchronisiert
ist, du drückst einen Knopf, und dann pas-
siert alles in Echtzeit“.
Lehmann ist kein stiller Tüftler, sondern
ein Antreiber, dominant und kompromiss-
los. Die Nummer zwei im Unternehmen
hat er gerade hinausgedrängt. Aber das
sind Eigenschaften, ohne die es kaum geht
auf dem Weg nach oben. Oft hat es den
Anschein, als arbeite das ganze Silicon Val-
ley gemeinsam an seinem Ziel, die digitale
Revolution voranzutreiben, eine vereinte
Front gegen die alten Industrien. Doch un-
ter der Oberfläche ist der Konkurrenz-
kampf hart, mitunter giftig, und wer nicht
Postmates-Gründer Lehmann: „Fokus, Fokus, Fokus“ aufpasst, wird schnell überrollt.
Im Sommer 2012, nur wenige Monate
auch Einhörner sein wollen oder es schon dem alten Denken nicht ausbrechen. Auch nach der Gründung von Postmates, traf
sind – und entsprechend größer, mächtiger, weil keiner an dich glaubt, weil niemand Lehmann auf den Gründer von Uber, Tra-
gefährlicher. Aber Lehmann weiß auch, dir einen Scheck ausstellt.“ vis Kalanick. Uber war damals schon ein
dass es machbar ist, aus dem Nichts heraus Im Silicon Valley glauben inzwischen Einhorn, und Lehmann suchte nach Rat.
wahnwitzig klingende Ambitionen inner- viele an Lehmann, und das hat vor allem Er stellte sich Kalanick vor, „Bastian Leh-
halb nur weniger Jahre zu realisieren, in mit dem Eishockeyschläger zu tun. So sieht mann, Postmates, ich bin ein großer Fan“,
diesen Zeiten, in denen digitale Technolo- das Diagramm aus, nach der sich alle Start- doch der Uber-Chef schlug die Hand aus,
gie es ermöglicht, die Welt von heute auf ups sehnen: anfangs eine lange, flache Li- drehte sich um und rief Lehmann nur über
morgen auf den Kopf zu stellen. nie, die Zeit, in der am Produkt gebastelt die Schulter zu: „Wir sehen uns auf dem
Lehmann ist nach Amerika gegangen, wird und es nur wenige Kunden gibt. Aber Schlachtfeld.“
um an seiner Vision zu basteln, weil er dann kommt ein abrupter, scharfer Knick Uber ist inzwischen rund 40 Milliarden
glaubte, keine andere Wahl zu haben: nach oben, weil das Geschäft auf einmal Dollar wert und plant längst, nicht mehr
„Wenn man in Deutschland solche Ideen explodiert. nur Menschen, sondern auch Waren zu
hat, fragt doch jeder gleich: Bist du grö- Wenn Lehmann die Entwicklung von transportieren. Wie soll sich Postmates
ßenwahnsinnig?“ Ein schlimmes Umfeld Postmates mit einem dicken Marker in durchsetzen gegen solche Konkurrenten?
für Gründer, findet Lehmann. Er sagt: „Ich schnellen Strichen an die Wand eines Kon- Gegen einen Konzern wie Amazon?
habe Freunde, die seit zehn Jahren eine ferenzraums malt, sieht das Diagramm ge- „Wenn ich an eines fest glaube, dann
Firma starten wollen, aber sie können aus nau so aus: 116 Wochen braucht Postmates, daran, dass Amazon diesen Kampf nicht
DER SPIEGEL 21 / 2015 65
Uber die arbeitsrechtlichen Errungenschaf-
ten der vergangenen 50 Jahre unterlaufen.
Dass die vermeintlich flexiblen „unabhän-
gigen Auftragnehmer“ nicht mehr sind als
ein wachsendes Heer von unterbezahlten
Minijobbern.
Versteht Lehmann die Kritik? Er nickt.
Vor einigen Monaten wurde Postmates
zusammen mit einer Reihe anderer Start-
ups von Arbeitsrechtlern verklagt, die er-
reichen wollen, dass aus den inzwischen
vielen Tausenden selbstständigen Fahrern
feste Angestellte werden. Lehmann sagt:
„Wir glauben, dass wir ein sehr faires
Modell für Menschen anbieten, die selbst
entscheiden wollen, wann und wie viel sie
arbeiten möchten.“ Aber Lehmann weiß
auch, dass sie in Europa wohl mit einem
anderen Modell arbeiten müssten, „so et-
Postmates-Firmenzentrale in San Francisco: Vereinte Front gegen die alten Industrien was wie flexible Teilzeit vielleicht“. Doch
zurzeit wären solche Modelle für Post-
gewinnen wird“, sagt Lehmann. Die Macht großen Marken sollen bald folgen. Verant- mates noch gar nicht zu stemmen, nicht
des Onlineriesen ist für viele kleine Läden wortlich für solche Deals ist Holger Lüh- in einer Phase, in der in manchen Städten
ein Problem. Und so schnell werden aus dorf, Leiter der Geschäftsentwicklung, aus wie Los Angeles täglich 40 neue Kuriere
großen Feinden keine engen Verbündeten. Norddeutschland stammend. Lühdorf hat den Postmates-Dienst aufnehmen müssen,
So hofft Lehmann. Er verwendet deswe- früher bei Foursquare gearbeitet, einem um den Bedarf zu decken.
gen viel Zeit darauf, Postmates als Partner Start-up aus New York. Auch Foursquare Wachstum in solchen Größenordnungen
zu positionieren, der den Einzelhandel zu war fast ein Einhorn und stürzte dann ab. ist teuer, und deswegen wird Postmates in
neuer Stärke führt. Lehmann sagt: „Ama- Lühdorf weiß, wie schnell es vorbei sein den nächsten Monaten versuchen, frisches
zon macht die Innenstädte fertig.“ kann, dass es oft nur um einige kritische Geld einzusammeln. Bislang war das kein
40 000 Partner hat Postmates bislang Monate geht. Problem. Den ersten Scheck über 250 000
gefunden, drei Viertel aller Lieferungen Deswegen verwenden Lühdorf und Dollar schrieb ein Wagniskapitalgeber
sind jedoch Essensbestellungen. Das muss Lehmann viel Zeit darauf sicherzustellen, nach fünf Minuten in ihrem ersten Mee-
sich ändern, und zwar schnell, wenn das dass alle Mitarbeiter sich ausschließlich ting, noch bevor Lehmann seine Idee ganz
Start-up wirklich den Kampf suchen will auf eine kleine Anzahl von Prioritäten vorgestellt hatte.
mit Amazon. Postmates hat sich zunächst konzentrieren, die unmittelbare Aufmerk- Bislang sammelte Postmates eher vor-
auf Restaurants konzentriert, weil das samkeit benötigen. „Fokus, Fokus, Fokus“, sichtig Wagniskapital ein, vielleicht zu
Angebot einfach abzubil- sagt Lehmann, und Lühdorf vorsichtig. 16 Investoren gaben insgesamt
den ist: Eine Speisekarte Postmates- nickt. „Es ist so einfach, knapp 60 Millionen. Instacart, ein konkur-
ändert sich nicht ständig. Auslieferungen 1,5 eine ganze Woche zu ver- rierendes Start-up, sackte dagegen im ver-
Den Warenbestand zahl- Gesamtzahl, brennen mit irgendwelchen gangenen Dezember auf einen Schlag rund
loser Einzelhändler in in Millionen Dingen, die gerade jetzt gar 220 Millionen Dollar ein. Instacart konzen-
Echtzeit auf einer App 1,0 nicht wichtig sind.“ trierte sich zwar bislang auf Lieferungen
anzuzeigen ist dagegen Lehmann hat sich seine aus Supermärkten, aber mit so viel Geld
weitaus komplexer. Seit Managementkonzepte lässt sich sehr schnell auch in andere Rich-
vergangenem Jahr ist Post- selbst beigebracht. Er hat tungen expandieren. „Das hat mich ge-
mates nun dabei, vorsichtig
0,5 die Fachhochschule abge- ärgert“, sagt Lehmann.
neue Kategorien einzu- brochen, ging lieber schon Nun arbeitet er an einem neuen „Pitch-
Quelle:
führen: Supermärkte, auch Mai Postmates Ende der Neunzigerjahre Deck“, einer Präsentation für Investoren:
Elektronikläden und Dro- 2012 2013 2014 15 zu einem Start-up. Das Un- Mindestens hundert Folien mit Fakten und
gerien. ternehmen scheiterte, aber Geschäftsstrategie müssen es diesmal sein,
Partnerschaften mit prominenten Han- Lehmann nahm die Erfahrung mit zu an- die vor allem das Umsatzpotenzial zeigen.
delsketten sollen dabei helfen. Starbucks deren kleinen Technologiefirmen. Lehmann sagt: „Ich habe keine Zweifel,
soll nur ein erster Schritt sein, wenn auch Bis Ende des Jahres soll Postmates in dass auch wir irgendwann 200, 300 Millio-
ein riesiger, denn der Konzern gehört zu über 50 US-Regionen sein, danach wartet nen Dollar reinholen werden.“
den bekanntesten Marken der Welt. Bevor die internationale Expansion. Schon jetzt Und dann? Verkaufen zum Zeitpunkt der
Starbucks sich auf die Partnerschaft ein- müssen jede Woche Hunderte Kuriere re- höchsten Bewertung, wie es so viele Grün-
ließ, hatten sich heimlich mehrere Mana- krutiert werden. In vielen Städten wird der im Valley machen, die lieber das Geld
FOTO: WINNI WINTERMEYER / DER SPIEGEL

ger bei Postmates als Kuriere angemeldet das zunehmend schwierig, denn Uber mitnehmen, als noch für weitere Jahre das
und wochenlang die Technologie und die spricht dieselbe Zielgruppe an: Studenten Risiko des kompletten Scheiterns zu tragen?
Logistik geprüft: Sie wollten sichergehen, und Selbstständige, Gelegenheitsarbeiter, „Ich bin arm aufgewachsen, ich brauche
dass Postmates überhaupt in der Lage ist, alle, die sich mit dem eigenen Auto oder die ganze Kohle nicht“, sagt Lehmann.
potenziell Hunderttausende Cappuccini Rad ein paar Dollar dazuverdienen wollen. „Viel spannender ist doch: Kann es ge-
am Tag zu liefern. Unter 40 Prozent der Postmates-Kuriere lingen, ein Unternehmen zu bauen, das in
Das Pilotprojekt mit Starbucks, das machen den Job in Vollzeit. einer Gesellschaft bleibenden positiven
zunächst in Seattle beginnt, soll nun Kata- Es gibt Kritiker, die sagen, dass Ge- Einfluss hinterlässt? Das finde ich richtig
lysator sein. Weitere Partnerschaften mit schäftsmodelle wie das von Postmates und geil.“ Thomas Schulz

66 DER SPIEGEL 21 / 2015


Wirtschaft

Die Gazellen
gedruckt sehen, zu groß ist die Angst, ihr Umsatz deutlich niedriger wäre als bis-
Amazon zu vergrätzen. her. Sie fühlen sich unter Druck gesetzt.
Audible hat den Markt fest im Griff. Wer nicht zustimme, müsse befürchten,

wehren sich
Der Mutterkonzern Amazon bietet in sei- keinen neuen Vertrag zu bekommen, heißt
nem Onlineshop ausschließlich Hörbücher es. In einem Flatrate-Modell aber wollen
von Audible zum Download an. Auch in die Verlage ihre Hörbücher nicht ver-
den iTunes-Shop von Apple kommen die schleudert sehen. Sie wittern zudem, dass
Handel Die Amazon-Tochter Verlage meist nur via Audible hinein: Audible die Flatrate nutzen könnte, um
Apple hat die Firma zu ihrem exklusiven einen Streaming-Dienst nach dem Vorbild
Audible hat bei Hörbuch- Lieferanten für Hörbücher erkoren. Ver- von Spotify anzubieten. Dafür aber besä-
Downloads fast ein Monopol. lage, die Audibles Konditionen nicht ak- ßen die Verlage zum Teil gar nicht die not-
zeptieren, haben damit praktisch keinen wendigen Lizenzen. „Wenn wir die Titel
Das nutzt sie, um Verlagen Zugang mehr zum digitalen Markt. nicht liefern, fliegen diese bei Audible
ihre Konditionen aufzuzwingen. Audibles Geschäftsmodell ist simpel: ganz raus“, sagt ein Hörbuchmanager.
Kunden können einzelne Titel kaufen, at- Audible streitet das nicht ab. „Wir wol-

F
ür Amazon-Boss Jeff Bezos gilt im traktiver ist ein Abo: Für 9,95 Euro gibt es len gemeinsam mit den Verlagen den
Geschäftsleben wie in der freien ein Hörbuch im Monat. Was für Audible Markt vergrößern. Das setzt aber die Be-
Wildbahn nur ein Gesetz: das des und die Kunden gut ist, ist für die Verlage reitschaft zur Innovation voraus“, sagt Nils
Stärkeren. Wie der Gepard eine „kranke ein Problem: Von 9,95 bleiben ihnen oft Rauterberg, Geschäftsführer von Audible.
Gazelle“, so müsse Amazon die Buchver- nur 4 oder 5 Euro; bei teuren Produktio- Tatsächlich hat Amazon seine Flatrate
lage jagen, hat Bezos einmal gesagt. nen ist das ein Verlustgeschäft. Eine Wahl bereits gestartet: Nutzer seiner E-Book-
Dafür setzt der Konzern seine Markt- aber haben sie nicht: Wer seine Titel nicht Flatrate „Kindle Unlimited“ haben seit
macht rücksichtslos ein. Das haben Buch- ins Abo geben will, darf sie bei Audible einigen Wochen auch Zugang zu gut 2000
verlage wie Hachette in den USA unlängst auch nicht à la carte verkaufen. Ganz oder Hörbüchern – bisher vielfach Eigenpro-
zu spüren bekommen, aber auch deutsche gar nicht, friss oder stirb, lautet die Ansage. duktionen von Audible. Nun sollen of-
Verlage wie Ullstein und Piper. Weil sie Ähnlich rigoros verfährt der Konzern fenbar die Verlage „gewonnen“ werden;
Amazons Knebelpreise für E-Books nicht nun bei den Vertragskündigungen. Audible zuerst die kleinen, die kaum eine Wahl
akzeptieren wollten, lieferte der Internet- geht es nicht um ein paar Prozent mehr haben. Zwischenhändler wie Bookwire
händler ihre Bücher zur Strafe zeitweise am Umsatz, sondern offenbar darum, die würden in dem Modell ohnehin eher stö-
nur noch verspätet aus – die Verlage kos- Hörbuchverlage in ein Flatrate-Modell zu ren, weil sie an der Gewinnmarge zehren.
tete das wertvollen Umsatz. zwingen. Sie sollen einem sogenannten Bisher hat Audible die meisten großen
In Deutschland schaltete sich das Bun- Abo-Pool zustimmen, der den Abonnen- Anbieter, die zu Buchkonzernen wie Ran-
deskartellamt ein, inzwischen ermittelt ten erlaubt, mehr als nur ein Buch im Mo- dom House oder Bonnier gehören, ver-
sogar die EU-Kommission. Doch das hält nat zu hören. Weitere Details gibt Audible schont, doch auch ihnen bereitet die Markt-
Amazon nicht ab. Der Konzern ist wieder nicht preis. Die Verlage aber fürchten, dass macht von Audible Sorge. „Wenn Audible
auf der Jagd, genauer gesagt die morgen entscheidet, dass das Abo
Amazon-Tochter Audible. Mit ei- nur 4,95 Euro kostet, könnten wir
nem geschätzten Marktanteil von dagegen nichts tun“, sagt Robert
90 Prozent verfügt sie praktisch Wildgruber, der Rechte und Lizen-
über ein Monopol bei Hörbuch- zen bei der Random-House-Tochter
Downloads. Der Hörverlag verantwortet. „Au-
Die Frankfurter Firma Bookwire dible ist ein wichtiger Marktpartner,
vertreibt Hörbücher, meist für klei- aber mehr Partnerschaftlichkeit
nere Verlage. Gut 500 Titel hat sie wäre wünschenswert.“
bei Audible im Programm. Über die Auch bei der Bonnier-Tochter
Hälfte ihrer Digitalerlöse stammt Hörbuch Hamburg fühlt man sich
daher. Vor ein paar Monaten aber bisweilen überrannt. „Audible lässt
bekam Bookwire Post: Audible den Verlagen kaum eine Wahl, fair
kündigte den Vertrag, an diesem ist das nicht“, sagt Geschäftsführer
Samstag ist Schluss. Johannes Stricker.
Seine Partnerverlage hat Book- Gleich mehrere Verlage erwägen
wire kürzlich schriftlich über das nun eine Kartellbeschwerde gegen
Aus informiert. Das Unternehmen Audible. Auch der Börsenverein des
hat noch versucht zu verhandeln, Deutschen Buchhandels, wichtigster
ohne Erfolg. Es will sich nun juris- Verband des Gewerbes, prüft das
tisch wehren. Verhalten von Audible derzeit juris-
FOTO: MARC JACQUEMIN / FRANKFURTER BUCHMESSE

So wie Bookwire geht es derzeit tisch und würde eine Beschwerde


einer Reihe kleinerer Hörbuchver- der Verlage wohl unterstützen.
lage: Audible hat ihre Verträge ge- Hauptgeschäftsführer Alexander
kündigt. Die meisten haben zwar Skipis hat bereits im E-Book-Streit
neue Konditionen vorgelegt bekom- die Wettbewerbshüter in Bonn in
men, doch wer nicht unterschreibt, die Spur gesetzt. „Wenn Audible
muss fürchten, dass seine Titel aus- kleinen Hörbuchverlagen damit
gelistet werden. „Dann können wir droht, ihre Titel auszulisten“, sagt
hier dichtmachen“, heißt es in ei- er, „ist das angesichts seiner Markt-
nem der betroffenen Verlage. Ihren Hörbuchpräsentation auf der Buchmesse Frankfurt macht aus meiner Sicht rechtlich
Namen wollen die meisten nicht sehr fragwürdig.“ Isabell Hülsen

DER SPIEGEL 21 / 2015 67


Wirtschaft

Glücksritter
Druck zerbrachen; Händler, die „betrun- Eher Opfer als Täter ist für Handon auch
ken neben ihren Rechnern lagen“ und Fla- Navinder Singh Sarao, der sogenannte
schen an die Wand warfen; Börsianer, die Crash-Trader. Die Behörden werfen ihm

auf Speed
ohne ihre morgendliche Ritalin-Dosis gar vor, 2010 einen 700 Milliarden Dollar teu-
nicht mehr handeln konnten, denn „speed ren Börsensturz verursacht zu haben. Für
braucht speed“. Handon hat er dagegen nur „einen Weg
Der Mann war bereits im Geschäft, als gefunden, um jene Hochgeschwindigkeits-
Börsen Ein Wertpapierhändler be- sich der Computerhandel nach heutigen händler zu plündern, die sich wie Wege-
Maßstäben noch in Zeitlupe abspielte. lagerer an der Börse bereichern“.
schreibt den Finanzmarkt als Heute werden Milliarden in Nanosekun- Den letzten Glauben an das Finanzsys-
Dschungel: Sparer werden ausge- den um den Globus geschickt. Eines aber tem hat Handon verloren, als die Schwei-
habe sich in all den Jahren nicht geändert, zer Nationalbank Anfang des Jahres von
plündert, Banken und Speku- sagt Handon: Das Finanzsystem ist eine einem Tag auf den anderen den Wechsel-
lanten von der Politik geschützt. gigantische Umverteilungsmaschine, nur kurs des Franken freigab, obwohl sie nur
die Dimensionen nehmen zu. Tage zuvor erklärt hatte, den Kurs bedin-

E
r ist nur eine kleine Nummer im Der Kuchen, der an den Börsen verteilt gungslos zu verteidigen. An jenem 15. Ja-
globalen Finanzmonopoly, aber werde, sei das Geld des kleinen Mannes, nuar sei das Vertrauen in die Politik einer
auch die Kleinen können manchmal und immer mehr Profiteure äßen mit. Sie der renommiertesten und erfolgreichsten
Großes vollbringen. Volker Handon ist schaufelten das Geld unwissender Sparer, Notenbanken zu Grabe getragen worden,
Daytrader, einer von Tausenden Glücks- die ihr Geld in Riester-Produkte, Fonds sagt Handon. „Ab jetzt ist alles möglich.“
rittern im globalen Börsenkasino, die auf und Lebensversicherungen stecken, hin zu Dabei hält der Börsenprofi ein gerech-
eigene Rechnung ihre Chance suchen ge- Großspekulanten, Banken und den Börsen teres Finanzsystem für machbar. Dazu
gen die Handelsroboter der Großinvesto- selbst. Über versteckte Gebühren, Manage- müssten alle Handelsgeschäfte, die Banken
ren. „Mensch gegen Maschine und Mensch mententgelte und Gewinnbeteiligungen und Schattenbanken derzeit weitgehend
gewinnt – ein wirklich schöner Sieg für werde Geld abgezweigt, das den Lebens- unbeaufsichtigt in sogenannten Dark Pools
mich“, erinnert sich Handon an einen der abend der Anleger finanzieren soll. oder direkt untereinander abwickelten, auf
seltenen, süßen Triumphe. Die Behauptung, der Aktienmarkt sei regulierte Börsen übertragen werden. Die
Handon ist ein einsamer Jäger, und jetzt eine zuverlässige Säule für die Altersvor- Börsen selbst gehörten seiner Ansicht nach
hat der Frankfurter Wertpapierhändler et- sorge, sei vorsätzliche Volksverdummung, in staatliche Hände. Nur so seien faire Han-
was getan, das vielen in der Branche nicht findet Handon. Die Politik spiele den Schä- delsbedingungen für alle zu gewährleisten.
gefallen wird. In einem Buch gewährt er ferhund, der die Herde in die Arme ihrer Aktien und andere Wertpapiere müss-
einen seltenen Einblick in die Finanzwelt, Schlächter treibt. ten für eine Mindestzeit gehalten werden,
wie sie wirklich ist: ein krankes System, Die Reformen des Finanzsystems, die um den High-Speed-Händlern ihren Vor-
das unfair ist und obskur, in dem das Recht Politiker nach der Krise von 2008 angesto- teil zu nehmen. Bei den Banken sollten
des Stärkeren gilt und das darauf ausge- ßen haben, hält Handon für unzureichend. Handel und Einlagengeschäft strikt ge-
richtet ist, die Bürger zu plündern, damit Die Interessen der mächtigsten Akteure trennt werden. Doch der Politik traut
sich Banken und Börsen bereichern kön- würden weiterhin geschützt, stattdessen Handon solch einschneidende Veränderun-
nen; ein System, das von Manipulation würden Exempel statuiert und Sünden- gen nicht zu. Es fehle dort an Kompetenz,
und Betrug befallen ist und trotzdem von böcke gesucht. So hätten die Banken Ma- zu sehr lasse man sich von den Einflüste-
der Politik geschützt wird*. nipulation und grenzwertige Geschäfte lau- rungen der Finanzbranche leiten.
Handon trägt das Hemd über der Hose, fen lassen, solange sie davon profitierten – Oft hat Handon sich gefragt, ob er aus-
die grauen Haare fallen ihm in die zer- und einzelne Händler hingehängt, wenn steigen soll aus dem kranken System. Doch
furchte Stirn. Er erzählt mit der Attitüde die Sache aufgeflogen sei. sein letzter Versuch endete bezeichnend:
des alternden Rockstars, der schon so gut Dass an den Zins- und Währungsmärk- Ein Geschäftspartner, mit dem er sich im
wie alles gesehen hat: Kollegen, die am ten manipuliert worden sei, sei lange be- Gesundheitswesen selbstständig machen
kannt gewesen, sagt Handon. „Die Händ- wollte, verzockte sich in den Turbulenzen
* Volker Handon: „Die Psycho-Trader. Aus dem Innen- ler, die den Libor-Zins manipuliert haben, der Eurokrise – und verlor sein Kapital für
leben unseres kranken Finanzsystems. Ein Insider er-
zählt“. Westend Verlag, Frankfurt am Main; 256 Seiten; sind kleine Soldaten, sie haben getan, was den geplanten gemeinsamen Neustart.
19,99 Euro. man von ihnen erwartete.“ Martin Hesse

Börsenkasino Durchschnittliche
Aktienhandelsvolumen weltweit 117,9 Haltedauer:
in Billionen US-Dollar 10 Monate
Quelle: World Federation of Exchanges
85,5
80,9
80
Durchschnittliche
Haltedauer:
49,8 52,6 60
19 Monate
40
FOTO: WESTEND VERLAG

20
10,8
5,7
Autor Handon
0
1990 1995 2000 2005 2010 2014

68 DER SPIEGEL 21 / 2015


Medien
Verlage
Angst vor der
Zusammenlegung
Die Redaktionen von „Stutt-
garter Zeitung“ („StZ“) und
„Stuttgarter Nachrichten“
(„StN“) sorgen sich um ihre
Eigenständigkeit. „Wir be-
fürchten, dass die Redaktio-
nen zusammengelegt werden.
Dann wäre die Medienviel-
falt in Baden-Württemberg
nicht mehr gewährleistet“,
sagt Samir Alicic, Vorsitzen-
der des Konzernbetriebsrats
der Medienholding Süd, in
der beide Blätter erscheinen
und die mehrheitlich zur
Südwestdeutschen Medien-
holding (SWMH) gehört.
Auslöser für die Unruhe in
den Redaktionen sind Ge- Schröder 2005
heimpläne des Verlags, die in
den vergangenen Monaten Hannover
Stadt der Spitzenkräfte
erarbeitet wurden und über
deren Inhalt die SWMH auch
intern schweigt; der Konzern-
betriebsrat berät nun, wie er Filmemacher Lutz Hachmeister („Das Goebbels-Experiment“) erforscht für die ARD das
an die Informationen gelan- Phänomen Hannover. Für einen 90-minütigen Dokumentarfilm spürt der frühere Leiter
gen kann. Verunsichert hat des Adolf-Grimme-Instituts der „politischen Energie dieses Ortes“ nach. „Der Philosoph
die Belegschaft zudem, dass Theodor Lessing nannte Hannover ,ein Paradies des Mittelstands, der Bemittelten und
Personalchef Ulrich Bensel, jeder Mittelmäßigkeit‘“, so Hachmeister. „Allerdings hat keine andere deutsche Stadt in
der in der Vergangenheit den vergangenen Jahrzehnten so viel Spitzenpersonal an die Bundespolitik vermittelt,
durch kritische Äußerungen von Gerhard Schröder über Frank-Walter Steinmeier und Ursula von der Leyen bis
über Verleger aufgefallen Christian Wulff.“ Zu Wort kommen im Film unter anderen SPD-Chef Sigmar Gabriel,
war, im April überraschend Exbischöfin Margot Käßmann, der Anwalt und Schröder-Freund Götz von Fromberg
den Konzern verlassen muss- und der Soziologe Oskar Negt. Die Ausstrahlung ist für Herbst im Ersten geplant. akü
te. Die Redaktionen von
„StN“ und „StZ“ sind an-
gesichts schrumpfender Auf-
lagen in den vergangenen Journalismus Buchladen berichtet, schalte lich mindestens 4,90 Euro
Jahren immer näher zusam- „Ich nenne es ich eine Anzeige. Man kann bezahlen wird. Der Start vor
mengerückt, die Regionalbe-
richterstattung übernehmen Schleichwerbung“ das als Annäherung von
Redaktion und Reklame
zwei Wochen war gut, nun
sind wir in einer schwierigen
die „StN“ weitgehend von Herausgeber bezeichnen – ich nenne es: Phase, was auch am schönen
der „StZ“, auch eine gemein- Philipp Schwörbel, Schleichwerbung. Zuletzt Wetter der vergangenen Tage
same Wochenendbeilage 43, über die Kam- haben wir zwei von drei liegen kann. Durch dieses Tal
wird erwogen. Voraussicht- pagne zur Rettung möglichen Kunden abgesagt. müssen wir durch.
lich im Juli sollen die Online- seiner Online- SPIEGEL: Stattdessen hoffen SPIEGEL: Sie sind auch Ge-
redaktionen zusammengelegt zeitung „Prenzlau- Sie auf zahlende Leser. Bis schäftsführer des Online-
werden. Die Eigenständig- er Berg Nachrich- Ende Mai müssen 750 Abon- magazins Krautreporter, das
keit der beiden Printredak- ten“ („PBN“) nenten gefunden sein, ebenfalls mithilfe einer
tionen will die SWMH auf andernfalls wollen Sie die Crowdfunding-Kampagne fi-
Anfrage nicht garantieren: SPIEGEL: Bislang waren die „PBN“ einstellen. Geben nanziert wurde. Kopieren Sie
„Es ist unsere Aufgabe, routi- „PBN“ durch Werbung finan- Menschen für Lokaljourna- jetzt Ihr eigenes Erlösmodell?
nemäßig zu prüfen, ob und ziert und für den Leser gra- lismus noch Geld aus? Schwörbel: Das Modell ist das
Schwörbel: Nicht für die üb-
FOTOS: KAI-UWE KNOTH / AP (O.); JAN ZAPPNER (U.)

wie diese Zusammenarbeit tis. Warum wollen Sie künf- gleiche, das Kampagnenziel
weiterentwickelt werden tig auf Anzeigen verzichten? lichen Fotos von der Grund- nicht. Mit den Krautreportern
kann. Es gibt in diesem Schwörbel: Mit Werbung lässt steinlegung oder vom Schwei- haben wir eine Idee von Jour-
Zusammenhang jedoch keine sich im Netz kaum noch nepreis-Schießen. Die Leser nalismus verkauft, bevor die
Entscheidungen.“ Für Diens- Geld verdienen. Die Preise wollen auch im Lokalen gut Leute etwas sehen konnten.
tag lädt der Deutsche Jour- sind im Keller, und immer erzählte Geschichten. Mit Jetzt erklären wir ihnen, dass
nalisten-Verband die Redak- mehr potenzielle Kunden unserer Kampagne haben wir sie für das, was es bisher kos-
teure beider Zeitungen zum verlangen Koppelgeschäfte: bereits 260 Mitglieder gewon- tenlos gab, bezahlen sollen.
Krisentreffen ein. akü Wenn ihr nett über meinen nen, von denen jeder monat- Das ist viel schwieriger. akü

DER SPIEGEL 21 / 2015 69


„OKOer“-Chefredakteur Luo

Zornig in Peking
Verbraucher In keinem Land gibt es mehr Konsumenten als in China –
und kaum irgendwo sind sie misstrauischer. Nun expandiert das
Nutzwertmagazin „Öko-Test“ dorthin. Kann es der Zensur entgehen?

Vernichtung von gepanschtem Milchpulver*

70 DER SPIEGEL 21 / 2015


Medien

E
s war ein Name, der die Einkäufer nutzern, deren Gehälter steigen – ein guter nen der angesehensten chinesischen Jour-
stutzig machte: Die Rezeptur der Markt für ein deutsches Konsumenten- nalisten als Chefredakteur an. Der erteilte
Zahnpasta, die sie gerade in einem magazin, das nach Asien expandiert. ihnen gleich eine Lektion über die sich ver-
Pekinger Supermarkt erworben hatten, Denn Chinas Kunden sind nicht nur ver- ändernde Medienlandschaft in der zweit-
stamme von einer Firma namens „Bayeri- mögender, sondern auch kritischer gewor- größten Volkswirtschaft der Welt.
sche Gesundheits-Ideologie GmbH“, so den. Mit dem Wohlstand ist ihr Anspruch „Das erste Angebot der Deutschen lehn-
stand es auf der Tube. Sie habe ihren Sitz gewachsen – und mit den zahlreichen Le- te ich ab“, sagt Luo Changping, 34. „Sie
in Deutschland, in „Haidebao“ – Heidel- bensmittel- und Produktskandalen der ver- dachten, wir könnten ,OKOer‘ als Magazin
berg. Zur Illustration war die Alte Brücke gangenen Jahre auch ihr Misstrauen. auflegen. Das geht in China nicht mehr.“
über den Neckar abgebildet. Der schwerste dieser Skandale ereignete Luo, ein international ausgezeichneter In-
„Das kam uns verdächtig vor. Der Her- sich 2008: Da stellte sich heraus, dass Pro- vestigativreporter, überzeugte die Deut-
steller, das wussten wir, saß in Hongkong“, dukte einiger chinesischer Molkereien mit schen, dass ihr gemeinsames Projekt nur
sagt Li Xiao, einer der Einkäufer. „Wir Melamin gepanscht worden waren, einer digital funktionieren würde. „Die traditio-
fragten unsere Kollegen in Deutschland, Substanz, die einen erhöhten Proteinwert nellen Medien sind in China so fest im
ob sie von dieser Firma je gehört hatten.“ vortäuscht, zugleich aber die Nieren schä- Griff der Zensur, da bewegt sich überhaupt
Die Kollegen des Frankfurter Verbrau- digt. Mehr als 300 000 Kleinkinder erkrank- nichts mehr“, sagt er. „Mit jedem neuen
chermagazins „Öko-Test“ sahen nach, und ten, sechs Babys starben. Medium aber verschaffen wir uns einen
wie erwartet – eine „Bayerische Gesund- Seither misstrauen viele Chinesen ihrer Vorsprung, die Zensoren hinken hinterher.“
heits-Ideologie GmbH“ gibt es nicht. Der Babymilch. Sie greifen lieber zu Produkten So kam es, dass „OKOer“ nicht als Ma-
Name ist eine gewagte, doch wohlüberleg- mit ausländischen Namen – und genau die- gazin antritt, nicht einmal nur als Website
te Erfindung: Produkte, die nach Deutsch- se Warengruppe unterzog oder im Kurznachrichten-
land klingen, genießen unter Chinesen „OKOer“ nun als Erste einem Anteil der Chinesen, dienst Weibo, sondern gleich-
einen hervorragenden Ruf. Ob Autos Test. Die Ergebnisse sind alar- die mit der Nahrungsmit- zeitig auf diversen Chat-Platt-
oder Sonnencremes – was aus „Deguo“ mierend. Fünf von neun Pro- telsicherheit unzufrieden formen. Die Zensur, stets hin-
(Deutschland) kommt, gilt als hochwertig. ben wurden mit „ungenü- oder sehr ter Chinas Journalisten her,
Mit diesem Ruf werben auch die Redak- gend“ bewertet – bei einem unzufrieden sind treibt sie zu neuen Ideen an.
teure von „OKOer“ für ihr Produkt, eine vergleichbaren Test in Beeindruckt nahmen die
von der Zeitschrift „Öko-Test“ entwickelte Deutschland waren es zwei. deutschen Kollegen den ver-
Internetplattform, die in diesen Tagen in Hauptgrund für das schlechte blüffend einfachen Modus zur
Peking an den Start geht. Abschneiden: „Die in China Kenntnis, mit dem in China
Das Geschäftsmodell geht so: Chinesi- gekauften Produkte enthielten für Onlinejournalismus be-
sche und deutsche Experten kaufen ge- erheblich höhere Mengen an zahlt wird. In ein paar Mona-
meinsam in China ein – Lebensmittel, Kos- Schadstoffen“ – sie sind fast ten soll er aktiviert werden:
metika, Produkte des täglichen Bedarfs. fünfmal höher als in Deutsch- Fast alle Chinesen sind bei On-
Die Proben werden versiegelt und an deut- land mit Mineralöl, dreimal linehändlern wie Alibaba re-
sche Testlaboratorien geschickt, die sie höher mit Chlorat und doppelt 30% 2012 gistriert, wo sie ein eigenes
nach europäischen Standards untersuchen. so hoch mit Fettschadstoffen 48 % 2014 Konto führen.
Die Ergebnisse werden mit den chinesi- belastet. Das Ergebnis, sagt Von dort bucht „OKOer“di-
schen Produktstandards abgeglichen, die „Öko-Test“-Chefredakteur Jür- Quelle: China Food and rekt ab, wenn ein Kunde ei-
Drug Administration
zum Teil von den europäischen abweichen, gen Stellpflug, 58, habe ihn nen Artikel anklickt. Der Preis
und dann im Internet präsentiert. überrascht. Bei einem so sen- wird sich fürs Erste an der chi-
Das Interesse an solchen Informationen siblen Produkt habe er schon erwartet, nesischen Glückszahl, der Acht, orientie-
ist groß, sehr groß sogar. Auf rund „dass die Standards höher sind“. ren: acht Yuan, umgerechnet 1,20 Euro pro
400 Millionen Menschen schätzt die Un- Besonders bitter für die chinesischen Testreihe, die öffentlich ins Netz gestellt
ternehmensberatung McKinsey Chinas Kunden: Die Produkte werden von inter- wird. Chefredakteur Luo macht sich keine
Mittelschicht, die in den 30 Jahren des nationalen Konzernen vertrieben, aber zum Illusionen über den Spielraum, der ihm
Wirtschaftswunders jenen „bescheidenen Teil in China hergestellt. Trotzdem sind sie bleiben wird. Die Zensur sei schließlich
Wohlstand“ erworben hat, den ihr die teurer als im Ausland. Der Eindruck, sie nur ein Hemmnis von vielen im chinesi-
Kommunistische Partei versprach. „Wir seien Kunden zweiter Klasse, verbittert vie- schen Journalismus. „Früher oder später
rechnen damit, dass wir innerhalb der le Chinesen. Das bekommen auch Herstel- werden wir mit den wirtschaftlichen Inte-
nächsten drei Jahre etwa 40 Millionen da- ler anderer Sektoren zu spüren. Aus Protest ressen kollidieren“, sagt er. Das liege in
von erreichen“, sagt Thomas Böwer, 55, sind unzufriedene Käufer ausländischer Lu- der Natur der Sache. Im ersten Jahr will
von der Deutschen Druck- und Verlagsge- xus-Autos in ihrem Maserati oder Lambor- „OKOer“ nur ausländische Produkte tes-
sellschaft. Der SPD-eigene Verlag ist Mehr- ghini zum Händler gerollt und haben ihre ten, die allenfalls mit Lizenz in China her-
FOTOS: DER SPIEGEL (O.); STRINGER SHANGHAI / REUTERS (U.)

heitsgesellschafter der „Öko-Test“-Holding Fahrzeuge demolieren lassen. gestellt werden: europäische Hautcremes
und damit führend an dem deutsch-chine- Bislang berichten nur Staatsmedien über und Kondensmilch, amerikanische Frucht-
sischen Joint Venture beteiligt. den Zorn der Kunden; ausländische Mar- säfte und Zahnpasta aus Heidelberg – be-
Wenn es nach Chinas Führung geht, ken kommen dabei meist besonders ziehungsweise Hongkong. „Dann aber
wird die Zahl der kaufkräftigen Chinesen schlecht weg. Berüchtigt ist die immer im geht es an den Kern der Sache, an rein chi-
wachsen. Peking hat beschlossen, die Frühjahr ausgestrahlte Verbrauchersen- nesische Produkte chinesischer Hersteller.
„Werkbank der Welt“ zu einer Konsum- dung des Staatssenders CCTV. In den ver- Das wird irgendwann vor Gericht enden.“
und Dienstleistungsnation umzubauen, die gangenen Jahren nahm sie sich Nobelmar- Vor Gericht wiederum kennt sich „Öko-
Bauern zu Städtern und die Arbeiter zu ken wie Mercedes, Apple und Armani vor; Test“-Chefredakteur Jürgen Stellpflug aus.
Verbrauchern zu machen. Ein Milliarden- die Beiträge waren reich an drastischen „Bis heute gehe ich gern zu jedem Pro-
volk von Deutschland-Fans und Online- Beispielen, aber arm an Analyse. zess“, sagt er. „Mindestens einen gibt es
Die Betreiber von „Öko-Test“ verfolgen nach jedem neuen Heft.“
* Im südchinesischen Shenzhen 2008. einen höheren Anspruch und heuerten ei- Bernhard Zand

DER SPIEGEL 21 / 2015 71


der die Suchmaschine nicht dazu verpflich-
tet, die Bilder alsbald zu entfernen.
Um Geld ging es dem 75-Jährigen nie:
Der Streit hat Mosley fast eine Million
Euro gekostet – wie viel genau, das weiß
er nicht. „Little money“ sei das. Wenn
nötig, werde er bis zum Bundesgerichtshof
ziehen und den Konzern auch in Kalifor-
nien verklagen, aber „vielleicht setzt sich
bei Google jetzt ja mal jemand hin und
überlegt, ob es sinnvoll ist, weiterzuklagen
und das Geld der Aktionäre und die Zeit
der Manager zu verschwenden“, so Mosley
vor gut einem Jahr, nachdem er vor dem
Hamburger Landgericht in erster Instanz
gewonnen hatte (SPIEGEL 5/2014).
Dass die Dinge gegen sie laufen, dürfte
den Google-Anwälten in den vergangenen
Kläger Mosley im Januar Monaten immer klarer geworden sein.
Schon vor gut zwei Jahren verurteilte ein
Gericht in Paris Google dazu, neun Fotos

Ende einer
wohl nicht mehr kommen. Der Fall Mosley der Mosley-Orgie aus seinen Treffern he-
gegen Google ist Geschichte. Am vergan- rauszufiltern. Kurz darauf folgte das Land-
genen Montag einigten sich beide Seiten, gericht Hamburg, das den Konzern anwies,

Hassliebe
still und leise. „Der Streit ist beigelegt, zur sechs Bilder auszusortieren. Google ging
Zufriedenheit beider Seiten“, lässt Tanja in Berufung, doch bei der mündlichen
Irion, Mosleys Anwältin in Deutschland, Verhandlung Anfang Februar ließ der Vor-
auf Anfrage ausrichten. Mehr kann und sitzende Richter am Oberlandesgericht mit
Prozesse Max Mosleys Kampf darf sie nicht sagen, über Details ihrer Eini- seltener Klarheit durchblicken, dass ihn
gung haben Google und Mosley Stillschwei- die Argumente des US-Konzerns nicht
gegen Google beschäftigt seit gen vereinbart. Auch Google will sich nicht überzeugen. Die Google-Vertreter waren
Jahren die Gerichte in Europa. äußern. „Die Vereinbarung ist vertraulich“, schockiert. In Großbritannien kassierte
Nun haben sich beide Parteien sagt Mosley am Telefon, „ich bin zufrieden Google Mitte Januar zudem eine Schlappe
und möchte sie nicht gefährden.“ vor dem Londoner High Court: Das Ge-
in aller Stille geeinigt. Bis vergangenen Mittwochabend wuss- richt wies das Ansinnen des Konzerns zu-
ten nicht mal die Richter am OLG Ham- rück, einen Prozess Mosleys gar nicht erst

W
er vergangene Woche bei Google burg von der Einigung. Google hatte zwar zuzulassen.
den Namen Max Mosley und den beantragt, die für den 5. Mai angekündigte Der ständige Ärger mit Mosley aber
Begriff Sex eintippte, erhielt die Urteilsverkündung um zwei Wochen zu passt dem Konzern nicht, der massive
üblichen Treffer: Fotos des früheren Motor- verschieben. Offenbar aber nur, um Zeit Imageprobleme in Europa hat: Im vergan-
sportpräsidenten auf einer privaten Sado- zu gewinnen, die Gespräche waren da be- genen Jahr hatte der Europäische Gerichts-
maso-Party, Mosley halb nackt, dazu Da- reits weit gediehen. hof ein „Recht auf Vergessen“ im Netz
men mit Peitschen und Lederstiefeln. Alles Die Geheimniskrämerei wirkt absurd: etabliert, das Google zwingt, Suchtreffer
problemlos zu finden. Denn sowohl Mosley als auch Google ha- auf Antrag zu löschen, wenn Betroffene
Ein britisches Boulevardblatt hatte die ben ihre Fehde bisher als Grundsatzstreit darin sensible persönliche Daten verletzt
Orgie vor sieben Jahren heimlich gefilmt über zentrale Prinzipien der Netzöffent- sehen. Darüber hinaus hat die EU-Kom-
und das Video ins Netz gestellt. Seither lichkeit verstanden – und auch öffentlich mission ein Wettbewerbsverfahren er-
tauchen die illegalen Bilder immer wieder ausgefochten. „Es geht nicht mehr um öffnet, das in einer Milliardenstrafe enden
auf, Hunderte Website-Betreiber hat Mos- mich“, so Mosley vor drei Jahren (SPIEGEL könnte. Entsprechend groß ist Googles
ley wegen der Verletzung seiner Privat- 35/2012). „Ich habe Zeit und Geld. Wenn Bemühen, sich einsichtig zu zeigen. Die
sphäre erfolgreich verklagt. Die Bilderflut man beides hat, ist man verpflichtet zu europäischen Verlage hat der Konzern ge-
aber hat das nicht gestoppt. Seit Jahren kämpfen, damit es anderen nicht genauso rade mit einem 150 Millionen Euro schwe-
heißt sein Gegner deshalb: Google. Die ergeht.“ Der Brite ist damit zu einem pro- ren Fördertopf beschenkt, das Recht auf
Suchmaschine, so fordert es Mosley, soll minenten Vorkämpfer für das Persönlich- Vergessen setzt Google fast übereifrig um.
die illegalen Aufnahmen von vornherein keitsrecht im Netz geworden. Die Einigung mit Mosley soll nun wohl ei-
aus ihren Suchergebnissen herausfiltern. Google wiederum wies Mosleys Ansin- nen weiteren hässlichen Fleck auf der wei-
Der Konzern aber weigerte sich beharrlich. nen stets mit dem Argument zurück, man ßen Weste beseitigen.
In Deutschland, Großbritannien und wolle sich nicht zum Zensor des Netzes Da beide Seiten sich über Details aus-
Frankreich beschäftigt der Fall die Juristen. machen lassen. Einen technischen Filter schweigen, darf Google hoffen, den ge-
Es ist ein Streit um Grundsatzfragen der eigens für Mosleys Fotos zu bauen sei nicht fürchteten Präzedenzfall zumindest vor-
FOTO: STEFAN WERMUTH / REUTERS

digitalen Welt: Wer hat im Netz das Sagen, nur ein unzumutbarer Aufwand, sondern erst abgewendet zu haben. Den Betroffe-
Gerichte oder globale Konzerne? Und was auch ein Präzedenzfall, der zahllose Pro- nen, denen Mosley mit seinem Aufstand
wiegt schwerer: das Persönlichkeitsrecht mis, Politiker und Unternehmen auf den gegen Google eigentlich helfen wollte,
oder die Freiheit des Internets? Plan rufen würde. nützt das aber wenig. Ihnen hätte es mehr
Am kommenden Dienstag hätte das Noch sind die Sadomaso-Fotos im Netz, gebracht, wenn ein Gericht abschließend
Oberlandesgericht Hamburg darauf Ant- aber es ist kaum vorstellbar, dass Mosley geklärt hätte, wer im Netz tatsächlich das
worten liefern sollen. Doch dazu wird es sich auf einen Vergleich eingelassen hat, Sagen hat. Isabell Hülsen

72 DER SPIEGEL 21 / 2015


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acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Warten auf Hilfe
Es war wie von vielen befürchtet: Dem ersten
Beben in Nepal folgte ein zweites, mit weiteren Toten
und neuen Zerstörungen. Mehrere Hunderttausend
Menschen suchen nun wieder Zuflucht in Zelten.
Sie sind auf Nahrungsmittellieferungen von Hilfs-
organisationen angewiesen und warten, wie hier
in Kathmandu, in langen Schlangen auf Versorgung
mit dem Nötigsten. Das Epizentrum lag diesmal
östlich der Hauptstadt.

Griechenland gezahlten 115 Millionen Mark rationsansprüche gleich, so auch Experte für Völkerrecht
Berechtigte nichts ändern. Die Zahlungen Deiseroth. Auch von einer ist. Das Abkommen sei ein
Forderungen zugunsten der „aus Gründen
der Rasse, des Glaubens oder
Verjährung oder gar Verwir-
kung griechischer Forderun-
„klassischer Vertrag zulasten
Dritter“. Griechenland habe
Die Athener Regierung er- der Weltanschauung“ Ver- gen durch den Zwei-plus-Vier- nirgendwo einen Verzicht auf
hielt in dieser Woche uner- folgten kämen „allenfalls ei- Vertrag von 1990 könne keine Ansprüche zu Protokoll gege-

FOTOS: MAST IRHAM / DPA (O.); SCHERL / SÜDDEUTSCHER VERLAG (U. L.); SIM CHI YIN / VII (R.)
wartet Unterstützung für ihre ner Teilerfüllung“ der Repa- Rede sein, so der Richter, der ben. Und allein die Tatsache,
Reparationsforderungen – dass sich die griechische Re-
und zwar erstmals von einem gierung 1990 nicht zu Wort
hochrangigen deutschen Ju- gemeldet habe, begründe ei-
risten. Dabei geht es insbe- nen solchen nicht: Es gebe
sondere um die Rückzahlung keinen „Verzicht durch
des Zwangskredites, den die Schweigen“. Deiseroth emp-
NS-Besatzer der griechischen fiehlt zur Klärung nun den
Zentralbank 1942 abverlangt Weg vor den Internationalen
hatten. Der Richter am Bun- Gerichtshof in Den Haag;
desverwaltungsgericht Dieter dazu sei allerdings eine Ver-
Deiseroth sagte nun in Berlin, einbarung mit Berlin erfor-
er halte die Forderung für derlich. Ersatzweise könne
plausibel: „Es spricht einiges auch der Vergleichs- und
dafür, dass es sich um ein Schiedsgerichtshof der OSZE
Darlehen gehandelt hat.“ Da- angerufen werden, was wie-
ran würden auch die 1960 derum Geschichte schreiben
im Rahmen eines Globalab- würde: „Der ist noch nie tätig
kommens von Deutschland Deutsche Besatzungssoldaten bei Thessaloniki 1941 geworden.“ mer

74 DER SPIEGEL 21 / 2015


Ausland
China gehen? Diplomaten sagen, sen Polizisten wird nun öffent-
„Der Staat hat Angst“ man helfe Dissidenten mehr,
wenn man hinter verschlosse-
lich ermittelt. So etwas wäre
früher nie passiert – niemals!
Der Künstler Ai Weiwei, 57, über nen Türen über sie spreche. Das Internet hat einen Druck
seinen in Berlin lebenden Sohn Ai: Das ist falsch. Wenn Men- erzeugt, den die Regierung
und die Repression des Staates schenrechte eine Bedeutung nicht mehr ignorieren kann.
gegen Bürgerrechtler haben sollen, dann muss man SPIEGEL: Chinas Regierung
sie öffentlich benennen. Es ist sperrt mehr Bürgerrechtler ein
SPIEGEL: Ai Weiwei, Amnesty respektlos, etwas anderes zu als noch vor Jahren – doch das
International zeichnet Sie jetzt tun – sowohl Chinas Regierung Internet läuft über mit sarkas-
in Berlin als „Botschafter des gegenüber wie auch den Men- tischen Kommentaren, die
Gewissens“ aus – doch Ihre Re- schen, um die es geht. Zensoren kommen kaum hin-
gierung lässt Sie nicht ausrei- SPIEGEL: Die chinesische Regie- terher.
sen. Was würden Sie eigentlich rung war früher defensiv, Ai: Wir haben gerade ein paar
tun, wenn Sie Ihren Pass zu- wenn es um Menschenrechte kalte Tage, aber das hält den
rückbekämen? ging, nun argumentiert sie: Sommer nicht auf. Genau so
Ai: Ich würde nachsehen, ob Was ist mit den rassistischen verhält es sich mit China. Der-
die Angaben im Pass über- Vorfällen in den USA? zeit kommen jährlich über
haupt richtig sind (lacht). Nein, Ai: Diese Fälle sind schändlich, 350 000 chinesische Studenten
ich würde meinen Sohn anru- aber in Amerika wird darüber aus dem Ausland zurück –
fen, der mit seiner Mutter in offen gesprochen. China steht 350 000 junge, gebildete Men-
Berlin lebt und mich vermisst. auf einer ganz anderen Stufe schen. Diese Menschen sind
Es ist für einen Vater schmerz- der Entwicklung, die Men- kreativ und ironisch, und was
haft, seinem Sohn gegenüber schenrechte werden hier viel in ihren Köpfen vorgeht, kann
so eingesperrt zu sein. Zu sei- öfter verletzt. Und doch sehen die Regierung nicht mehr kon-
ner Mutter sagte er einmal: wir auch Verbesserungen. Ge- trollieren. Auch wenn die letz-
„Ich bin sicher, dass sie ihm rade wurde der Fall eines Poli- ten zweieinhalb Jahre viele
den Pass nie zurückgeben wer- zisten bekannt, der auf einem Rückschritte gebracht haben –
den. Ich habe es geträumt!“ Bahnhof in Qing’an einen China verändert sich, die Ge-
SPIEGEL: Ihr Sohn Ai Lao ist Mann erschoss – vor den Au- sellschaft öffnet sich.
sechs Jahre alt. gen seiner Kinder. Gegen die- Interview: Bernhard Zand
Ai: Er ist ein sehr emotionales
und einfallsreiches Kind. „In
Wahrheit geht es deinen Ver-
folgern auch nicht besser als
dir“, sagte er neulich zu mir,
„du musst ihnen zwar davon-
laufen – aber sie müssen auch
immer hinter dir herlaufen.“
Das hat meine Laune wirklich
verbessert. Meine Angst, mei-
Fußnote

71745
ne Unsicherheit spiegeln also
nur die Angst und die Un-
sicherheit des Staates wider.
SPIEGEL: Wenn Sie einen der
vielen Menschenrechtsfälle in
Patente wurden 2014 China hervorheben wollten,
aus den USA beim Euro- welcher wäre das?
päischen Patentamt an- Ai: Der Fall von Pu Zhiqiang –
gemeldet, 74-mal mehr einem Mann, der wie wenige
als aus Russland. Die das neue China repräsentiert:
Statistik aus Brüssel gilt ein Anwalt, hoch gebildet, be-
als Vergleichsbasis für sonnen. Er weigert sich aber
den Entwicklungsstand zu vergessen, was 1989 auf dem
und Fortschritt eines Platz des Himmlischen Frie-
Landes. Die USA stehen dens passiert ist. Dafür sitzt er
danach an erster Stelle, seit einem Jahr im Gefängnis
gefolgt von Japan mit und wird unerhörter Verbre-
48 657 und Deutschland chen beschuldigt, für die es kei-
mit 31 647 Anmeldungen. ne Beweise gibt. An seinem
Russland brachte es Fall wird sich zeigen, wie Chi-
nur auf 967 Einträge. na eines Tages aussehen wird:
Wird es je ein Rechtsstaat sein?
SPIEGEL: Wie sollen westliche
Regierungen mit einem Fall Künstler Ai
wie dem von Pu Zhiqiang um-

DER SPIEGEL 21 / 2015 75


„Das Misstrauen ist riesig“
Iran Außenminister Mohammad Javad Zarif ist optimistisch, dass eine Einigung im Atomstreit
möglich ist. Aber eine Annäherung an den Westen, sagt er, bedeute das nicht.

76 DER SPIEGEL 21 / 2015


Ausland

Zarif, 55, ist entspannt und jovial, als er den Zarif: Die Prozedur wird in der EU und zu Konflikten. So unterstützen Sie im Je-
SPIEGEL in seinem Büro in Teheran empfängt. den USA unterschiedlich sein. Für uns ist men die schiitischen Huthi-Milizen, wäh-
Er scherzt in perfektem Englisch, er hat in das Ergebnis entscheidend, und das ist klar. rend die USA aufseiten der von Saudi-
den USA Politikwissenschaft studiert und war SPIEGEL: Ein weiteres Hindernis ist, dass Arabien angeführten Koalition stehen.
Teherans Botschafter bei der Uno. Seit 2013 Sie darauf bestehen, dass Militäranlagen Zarif: Ich verstehe nicht, warum die USA
ist er Außenminister unter Präsident Hassan nicht von der Atomenergiebehörde IAEA die Bombardierung von Zivilisten unter-
Rohani, jüngst verhandelte er die vorläufige Ei- inspiziert werden. stützen. Wir unterstützen niemanden.
nigung im Atomstreit. Er ist beliebt bei seinen Zarif: Aber Iran hat sich bereit erklärt, im SPIEGEL: Es gibt dafür aber Belege. Doku-
westlichen Gesprächspartnern und ein Star Falle einer Einigung das Zusatzprotokoll mente der Jemeniten zeigen, dass Revo-
in seiner Heimat, seine Autobiografie ist ein zum Atomwaffensperrvertrag zu imple- lutionswächter im Land sind.
Bestseller. Manche sehen ihn schon als kom- mentieren. Kein Land gewährt Zugang zu Zarif: Es gibt viele Lügen. Wir haben die
menden Präsidenten. Er wiegelt lächelnd ab: seinen Geheimanlagen, alle internationa- Gewalt im Jemen von Anfang an verur-
„Innenpolitik ist nichts für mich.“ len Abkommen berücksichtigen Staatsge- teilt. So entsteht ein Machtvakuum, das
heimnisse. Ich sehe keine Schwierigkeiten, nur al-Qaida nützt.
SPIEGEL: Herr Minister, Sie haben die Iraner internationale Standards der Transparenz SPIEGEL: Und was sagen Sie zu dieser Äu-
auf den Straßen zum Tanzen gebracht, als zu akzeptieren. Das Problem ist, dass ei- ßerung von US-Außenminister John Ker-
Sie am 2. April verkündeten, eine Lösung nige Leute auf einem bestimmten Narrativ ry: „Es gibt offensichtlich Unterstützung
des Nuklearkonflikts sei in Sicht. Dabei ha- bestehen – und das ruft entsprechende Re- aus Iran, mehrere Flüge pro Woche.“
ben sich beide Seiten nicht einmal auf ein aktionen hier in Teheran hervor. Zarif: Es sind nicht unsere Flugzeuge, die
gemeinsames Papier einigen können. Ha- SPIEGEL: Dazu zählt auch die Äußerung von den Jemen bombardieren. Unsere Flug-
ben die Menschen zu früh gefeiert? Religionsführer Ajatollah Ali Khamenei. zeuge, die humanitäre Hilfe bringen woll-
Zarif: Es ist ihr gutes Recht, sich zu freuen, Er sagte, er mache sich Sorgen über das ten, wurden an der Landung gehindert.
und die Pflicht der Regierung, die Iraner Ergebnis von Lausanne und warnt, dass SPIEGEL: Kerry hat auch gewarnt, dass die
glücklich zu machen. Lausanne war ein „die andere Seite uns in den Rücken ste- Amerikaner nicht tatenlos zusehen wür-
Meilenstein, aber kein Deal. Eine Einigung chen könnte“. Konnten Sie seine Sorgen den, wie die Region destabilisiert wird.
ist sehr wahrscheinlich – vorausgesetzt, nicht ausräumen? Von Iran destabilisiert, meint er.
dass unsere Verhandlungspartner es ernst Zarif: Wir sind alle in Sorge, wie aufrichtig Zarif: Die Instabilität dieser Region kommt
meinen. Wir haben uns grundsätzlich über und ernsthaft unsere westlichen Partner, von dem kurzsichtigen Versuch, den „Isla-
eine Reihe von Parametern geeinigt. Da- besonders die USA, verhandeln. Das Miss- mischen Staat“, die Nusra-Front und al-
raus müssen wir jetzt ein Abkommen for- trauen ist riesig – und es ist gegenseitig. Qaida zu finanzieren und bewaffnen. All
mulieren, und das geschieht in diesem Mo- SPIEGEL: Fürchten Sie, die Konservativen jene, die diese extremistischen Gruppen
ment in Wien. in Iran könnten eine Einigung verhindern? unterstützt haben, wurden später selbst zu
SPIEGEL: Die USA haben nach den Ver- Oder sind sie vielleicht sogar nützlich, weil deren Opfern. Und der Westen ist Teil des
handlungen ihre Sicht der Eckpunkte ver- Sie so immer sagen können: Das geht nicht, Problems. Es gibt im Westen geborene und
öffentlicht, um zu zeigen, dass sie nicht zu da machen unsere Hardliner nicht mit? erzogene Menschen, die im Irak oder in
große Zugeständnisse gemacht haben. Wir Zarif: Ich wünschte, das wäre so. Dann Syrien ihre Opfer enthaupten oder leben-
nehmen an, Sie waren nicht begeistert? müsste ich nicht den ganzen Schmerz und dig verbrennen. Wie kann das sein, warum
Zarif: Ich halte das nicht für hilfreich, man die Quälerei auf mich nehmen, um unsere können diese Menschen rekrutiert werden?
muss das endgültige Ergebnis abwarten. Hardliner zu überzeugen. SPIEGEL: Im Kampf gegen den „Islamischen
Früher konnte jeder seinem Publikum sei- SPIEGEL: Der Antiamerikanismus ist eine Staat“ könnte Iran doch mit den USA of-
ne Version der Wirklichkeit präsentieren. Säule der Revolution, „Tod den USA“ war fiziell zusammenarbeiten.
Aber im Zeitalter von sozialen Medien 35 Jahre lang der wichtigste Slogan der Zarif: Wir sehen keine Bereitschaft der
geht das nicht mehr. Hardliner. Würde ein Nuklearabkommen USA, ernsthaft gegen den „Islamischen
SPIEGEL: Was sind im Moment die schwie- Iran dazu bringen, seinerseits die Haltung Staat“ vorzugehen. Aber alle Versuche,
rigsten Streitfragen? zum „Großen Satan“ zu überdenken? die wirklich ernsthaft sind, global wie re-
Zarif: Alles. Im Grundsatz haben wir zwar Zarif: Diese Verhandlungen sind ein Lack- gional, werden wir unterstützen.
in Lausanne alle Fragen geklärt, aber die mustest, ob die USA bereit sind, die Illu- SPIEGEL: Gibt es im Irak schon eine solche
Punkte müssen so niedergeschrieben wer- sion eines Regimewechsels in Iran aufzu- Zusammenarbeit, etwa mit den USA?
den, dass alle acht Parteien sie akzeptie- geben, genauso wie die Feindschaft gegen Zarif: Nein, wir arbeiten mit der irakischen
ren: Iran, die P5 plus 1 – also die USA, unser Volk und die iranische Revolution. Regierung zusammen.
China, Russland, Frankreich, Großbritan- SPIEGEL: Ist Ajatollah Khamenei denn sei- SPIEGEL: Und gleichzeitig unterstützen Sie
nien, Deutschland sowie die EU. Die meis- nerseits bereit zu einer Annäherung? das Regime von Baschar al-Assad mit
te Zeit nehmen übrigens Verhandlungen Zarif: Es geht nicht um Annäherung. Iran Kämpfern, Geld und Waffen. Damit ver-
innerhalb der P5 plus 1 in Anspruch. In und die USA werden in jedem Fall weiter- längern Sie die syrische Tragödie.
manchen Fragen haben sie immer noch hin eine unterschiedliche Sicht auf die Welt Zarif: Wir unterstützen die legitime Regie-
keine gemeinsame Position. haben. Wir werden unsere Positionen nicht rung von Syrien. Hätten wir das nicht ge-
SPIEGEL: Das US-Papier sagt wenig darüber, aufgeben, sie sind unsere Identität. Aber tan, würde der „Islamische Staat“ jetzt in
wie die Sanktionen aufgehoben werden sol- das muss nicht zu Konflikten führen. Wenn Damaskus sitzen. Wir haben immer ge-
len. Und Sie lassen bisher offen, wie das Nu- wir ernsthafte Fortschritte beim Nuklear- sagt, dass es eine politische Lösung in Sy-
klearprogramm zurückgefahren werden soll. thema machen, kann das die Grundlage rien geben muss. Aber es wurden Bedin-
FOTO: ASLON ARFA / DER SPIEGEL

Zarif: Wir waren sehr konkret bei der Zahl sein, um andere Fragen anzugehen. gungen gestellt, bestimmte Personen …
der Zentrifugen in Natans und Fordo, ge- SPIEGEL: Das klingt nicht, als würde die US- SPIEGEL: Sie meinen Baschar al-Assad?
nauso hinsichtlich des Schwerwasserreak- Botschaft in Teheran bald wiedereröffnet. Zarif: … durften nicht am politischen Pro-
tors in Arak. Und es ist klar, dass alle Sank- Zarif: Nein, dafür ist es zu früh. zess beteiligt sein. Diejenigen, die diese Be-
tionen von der EU und den USA aufgeho- SPIEGEL: Das Atomprogramm ist nicht das dingungen stellen, verlängern den Konflikt.
ben werden. einzige Streitthema zwischen Iran und den SPIEGEL: Präsident Rohani hat es 2013 als
SPIEGEL: Ein Streitpunkt ist der Zeitplan … USA. Auch Irans Rolle in der Region führt Priorität bezeichnet, die Beziehungen zu
DER SPIEGEL 21 / 2015 77
Drehscheibe nach Osten
Handel Deutschlands Industrie hofft auf einen Neustart in Iran.

W
enn Irans Ölminister Besu- Auch in Wolfsburg und Stuttgart
cher empfängt, trägt er die sind die Manager aktiv. Volkswagen
üblichen Insignien iranischer und Daimler können sich eine Pro-
Revolutionäre: offenes Hemd zum duktion von Autos in Iran vorstellen,
dunklen Anzug, Fünftagebart, keine bei der in Deutschland produzierte
Krawatte. Die Tasbih, eine Gebets- Pkw – auseinandergenommen und in
kette, wandert durch seine linke Hand. Kisten verpackt – verschickt und in Explosion in Jemens Hauptstadt Sanaa
In Wahrheit gehört Bijan Zanganeh Iran wieder zusammenmontiert „Wir wollen die Region nicht dominieren“
aber zu jenen iranischen Pragmati- werden, heißt es. Der Vorteil gegen-
kern, die tatsächlich eine Wende der über dem Export kompletter Fahr- Saudi-Arabien zu verbessern. Seitdem ha-
Beziehungen mit dem Westen wollen. zeuge: Es werden keine Einfuhrzölle ben diese sich aber verschlechtert. Rohani
Entsprechend gedrängt war das Pro- fällig. Die VW-Tochter MAN sucht nennt die neue saudische Führung „uner-
gramm, als der Minister vergangene zudem bereits nach einem Importeur, fahren“, das fördert kaum die Harmonie.
Woche Berlin besuchte. um Lastwagen nach Iran zu ver- Zarif: Wir haben eine Menge Selbstbeherr-
Er frühstückte mit Konzernvertre- kaufen. schung geübt, doch leider hat es eine Flut
tern von VW und Linde, diskutierte Siemens ließ den Kontakt mit dem beleidigender Kommentare aus Saudi-
mit Mittelständlern und Energieexper- Land nie abreißen, auch nicht wäh- Arabien gegeben, privat wie politisch.
ten und rechnete Wirtschaftsminister rend der schwierigen Sanktionsjahre. Einige Leute in der Region haben offenbar
Sigmar Gabriel vor, welch riesige Das Büro in Teheran blieb zu allen Panik.
Chancen im Aufbau des iranischen Zeiten geöffnet. Der Weltkonzern SPIEGEL: Dafür gibt es gute Gründe. Syrien,
Energiesektors liegen. kennt das Potenzial genau, das im der Irak, der Jemen und Afghanistan sind
Der Mann aus Teheran fand auf- Wiederaufbau der iranischen Indus- scheiternde Staaten, in denen der Einfluss
merksame Zuhörer. Nach Einschät- triestrukturen liegt, von der Elektrifi- Irans massiv gewachsen ist. Was tun Sie,
zung von Gabriels Beamten beläuft zierung bis zur Energieversorgung, um den Ängsten Ihrer Nachbarn zu be-
sich der Investitionsbedarf des Landes dem Aufbau von Straßen und Bahn- gegnen, dass Ihr Land die Vorherrschaft
auf rund hundert Milliarden Dollar – strecken bis zur Automatisierung mo- im Nahen Osten anstrebt?
pro Jahr. Das Land muss seine derner Produktion. Zarif: Iran ist ein mächtiges Land, mit einer
Infrastruktur erneuern; es braucht mo- Ölminister Zanganeh zerstört je- großen Bevölkerung und vielen Ressour-
derne Autos, Maschinen und Arznei- doch die Hoffnung all jener, die Irans cen. Wir sind zufrieden mit unserer Größe
mittel, lauter Waren also, die Deutsch- Öffnung nutzen wollen, um weniger und Geografie. Wir waren in den letzten
land im Angebot hat. abhängig von russischer Energie zu 250 Jahren nicht an militärischen Aben-
Bevor die Sanktionen gegen das werden. Die Teheraner Regierung ver- teuern beteiligt. Wir wollen die Region
Land vor vier Jahren verschärft fügt über die größten Gasvorkommen nicht dominieren, wir wollen Stabilität.
wurden, betrug der hiesige Iran- und die viertgrößten Ölreserven der Für Panik gibt es also keinen Grund.
Export knapp vier Milliarden Euro Welt. Der Bau und auch der Trans- SPIEGEL: Es gibt einen weiteren Konflikt
jährlich. Wird das Embargo im port von Gas über Pipelines nach zwischen Ihrem Land und dem Westen:
kommenden Jahr schrittweise aufge- Europa sei aber zu teuer, sagt Zanga- die Menschenrechte in Iran. Vor zwei Wo-
hoben, heißt es im Ministerium, neh. Seine künftigen Kunden sehe er chen haben Sie in einem Interview gesagt:
könnte das Handelsvolumen bald eher in Asien. „Wir bringen Leute nicht für ihre Meinung
„deutlich darüber hinausgehen“. Dafür könnten die deutschen Unter- ins Gefängnis.“ Parallel dazu gab es Ver-
Die Zeit läuft. In sechs Wochen, am nehmen über Iran aber die Märkte haftungen. Dieser Zynismus hat Proteste
30. Juni, wollen Präsident Hassan Ro- der Region erschließen, lockt der Mi- in den sozialen Medien hervorgerufen,
hani und seine Verhandlungspartner nister, „den Irak, Turkmenistan, Zen- auch unter Ihren Anhängern. Können Sie
ein Abkommen über das iranische tralasien, Aserbaidschan“. die Enttäuschung verstehen?
Atomprogramm und den Abbau der Wie gern die Wirtschaft der Ein- Zarif: Nein, denn dieser Satz wurde aus
Sanktionen vorlegen, dem auch die ladung folgen möchte, zeigte die dem Zusammenhang gerissen. Es tut mir
Hardliner in Teheran und die Volks- Präsenz deutscher Firmen vergangene leid, dass ich missverstanden wurde. Ich
vertreter in Washington zustimmen Woche auf der „Iran Oil Show“ in bedaure das. Aber einige Leute wollten
können. Die Hürden sind dabei in Teheran. „Rohanis Regierung ist zum mir da etwas zuschreiben, was ich in einem
Amerika höher als in Iran. Der US- Erfolg verdammt“, urteilt der Ge- anderen Kontext gesagt habe.
Kongress kann die Sache bis zuletzt schäftsführer der Deutsch-Iranischen SPIEGEL: Der Uno-Sonderberichterstatter
platzen lassen. Industrie- und Handelskammer hat im März gesagt, die Menschenrechts-
Doch die Fantasie der deutschen Daniel Bernbeck. Wenn der Präsident lage habe sich unter Präsident Rohani
Wirtschaftsbosse ist geweckt. Frank- nicht den Durchbruch liefere, werde deutlich verschlechtert.
furter Spitzenbanker etwa knüpfen er nicht viel länger im Amt sein. Zarif: Der Uno-Sonderberichterstatter ist
FOTO: MOHAMED AL-SAYAGHI / REUTERS

heimlich Kontakte zur Teheraner Re- Und so wartet ein ganzes Land auf nicht glaubwürdig im Umgang mit Iran. Ro-
gierung, eine heikle Operation. Einer- das Ende der Verhandlungen im kom- hani wurde demokratisch gewählt. Wer sol-
seits wollen sie die Amerikaner nicht menden Monat, auch der iranische che Aussagen macht, betreibt Propaganda
verärgern, andererseits wird der Iran- Ölequipmenthändler Mehdi Khajeh- gegen die gewählte Regierung. Trotzdem
Handel nur in Schwung kommen, pour gehört dazu. Er sagt: „Wir zäh- ist es ein wichtiges Ziel für uns, die Men-
wenn auch der Geldverkehr wieder len die Tage.“ Martin Hesse, schenrechtssituation zu verbessern. Wir be-
funktioniert. Susanne Koelbl, Michael Sauga haupten nicht, dass wir perfekt sind.
Interview: Christiane Hoffmann

78 DER SPIEGEL 21 / 2015


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acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Ausland

Eine Frage der Ehre


USA Der Enthüllungsjournalist Seymour Hersh behauptet, die US-Regierung verschleiere die wahren
Hintergründe von Bin Ladens Tod. Seine Recherchen klingen sensationell, sind aber umstritten.

S
eymour Hersh sitzt in seinem Büro bad mit Wissen der pakistanischen Behör- maskiert. Die Enthüllung hätte das Poten-
in Washington und spricht über den den gewohnt. Der Geheimdienst ISI habe zial, den Ruf von Präsident Barack Obama
Tod von Osama Bin Laden, als das ihn dort spätestens seit 2006 in einer Art zu beschädigen. Die Operation gegen Bin
Telefon auf dem Schreibtisch klingelt. Am Hausarrest festgehalten, als Faustpfand ge- Laden zählt zu den großen Erfolgen von
anderen Ende der Leitung ist ein Reporter gen al-Qaida. Dafür habe Pakistan große Obamas erster Amtszeit. In Filmen wie
der „Washington Post“. Hersh erklärt ihm, Geldsummen aus Saudi-Arabien erhalten. „Zero Dark Thirty“ hat Hollywood die
das Weiße Haus habe gerade die offizielle Erst durch einen ehemaligen pakistani- Operation „Neptune’s Spear“ aufgearbei-
Version der Ereignisse abgeändert, da klin- schen Geheimdienstmann hätten die Ame- tet, wie die US-Armee die Aktion taufte.
gelt auch das Handy. Ein Radiosender will rikaner davon erfahren und schließlich, Der dramatische Vergeltungsschlag der
ein Interview, aber Hersh hat keine Zeit. nach massivem Druck auf die Regierung Elitesoldaten sollte die Wunden nach den
„Im Siegesrausch nach Bin Ladens Tod ha- in Islamabad und mit deren Wissen, jene Anschlägen vom 11. September 2001
ben viele übersehen, dass es ein paar ent- Kommandoaktion durchgeführt, bei der heilen. All dies stünde infrage, wenn die
scheidende Lücken in der offiziellen Dar- Bin Laden erschossen wurde. Der Qaida- Recherche stimmt.
stellung gibt“, sagt er. Chef, so Hersh, sei gezielt getötet worden, Wenn.
Wieder läutet das Telefon, es ist Hersh lacht, ein kurzes, scharfes
jemand von „El Mundo“ aus Spa- Bellen. Er kennt die Kritik, sie pras-
nien. „Ich liebe Ihre Zeitung“, ruft selt seit Tagen von allen Seiten auf
Hersh in den Hörer. „Sie hat mir ihn ein, es ist nicht ganz klar, mit
einmal einen gut dotierten Preis wem er sich mehr angelegt hat: mit
verliehen!“ Er sieht jetzt sehr zu- der US-Regierung oder mit dem
frieden aus. Seymour Hersh bewegt Medienbetrieb. Die Verachtung, die
die Welt. Wieder einmal. ihm von beiden Seiten entgegen-
Die Wände sind gepflastert mit schlägt, hält sich in etwa die Waage.
Auszeichnungen. Urkunden liegen Die Story sei „haltlos“, ließ das
neben Papierstapeln verstreut auf Weiße Haus verbreiten. „In der Ge-
dem Teppich. Hersh, 78, ist eine Iko- schichte gibt es zu viele Ungenauig-
ne des investigativen Journalismus, keiten und unfundierte Anschuldi-
er hat das Massaker von My Lai und gungen, um sie eine nach der ande-
die Folter im US-Gefängnis in Abu ren zu widerlegen.“ Der ehemalige
Ghuraib enthüllt. Neben den Wa- CIA-Vize Michael Morell sagt, „alles
tergate-Enthüllern Bob Woodward daran“ sei falsch. Das Magazin
und Carl Bernstein galt er als be- „New Yorker“, für das Hersh arbei-
rühmtester Rechercheur der Welt – tet, lehnte die Publikation 2011 in
aber spätestens seit dieser Woche einer frühen Fassung ab.
auch als der umstrittenste. Hersh fährt sich durch das graue
Vergangene Woche publizierte Haar. Er hat sich hinter Bergen von
Hersh in der „London Review of Papier auf seinem Schreibtisch
Books“ eine lange Geschichte über verschanzt, Hunderten gelben No-
die Tötung Osama Bin Ladens im tizblöcken mit handschriftlichen
pakistanischen Abbottabad am 2. Aufzeichnungen. An der Bin-La-
Mai 2011. Die Geschichte liest sich Journalist Hersh in seinem Büro: „Das macht mir nichts aus“ den-Geschichte hat er jahrelang
wie ein Thriller, und wenn sie stim- gearbeitet, zwischendrin sei er so
men sollte, wäre sie ein gewaltiger Skan- ohne Gegenwehr. Und er sei danach nicht frustriert gewesen, sagt er, dass er die Re-
dal. Doch in der Öffentlichkeit überwiegen im Meer bestattet worden, sondern Teile cherche einige Monate lang habe ruhen
die Zweifel – an der vermeintlichen Ent- seiner schwer versehrten Leiche seien aus lassen.
hüllung, am Reporter und an seinen Infor- einem Hubschrauber geworfen worden. Er hat jetzt überlegt, ob er sich in die
manten. „Wäre nicht die Autorenzeile von Seit Jahren wird immer wieder disku- Debatte auf Twitter einmischen soll, seine
Hersh“, schrieb die „New York Times“ mit tiert, ob es wirklich sein konnte, dass sich Geschichte gehört zu den weltweit meist-
Verweis auf die Quellenlage, „diese Story Bin Laden direkt vor der Nase des Mili- diskutierten, aber seine drei Kinder haben
wäre sogleich zurückgewiesen worden und tärgeheimdienstes ISI versteckte, oder ob ihm abgeraten. Zu viele Beschimpfungen.
hätte kaum Aufmerksamkeit bekommen.“ dieser nicht vom Aufenthaltsort des flüch- „Dass das Weiße Haus mich totschwei-
Seit Jahren verfolgt Hersh hartnäckig tigen Terroristen wusste, ihn womöglich gen und diskreditieren möchte, ist Teil des
eine These, die auch der britische „Tele- sogar unter Arrest hielt. Doch Hershs Ver- Spiels“, sagt der Rechercheur. „Das macht
graph“ schon 2011 als Gerücht veröffent- sion geht weit darüber hinaus, sie zieht mir nichts aus.“
lichte. Sie geht so: Das Weiße Haus habe die entscheidenden Details der bisherigen So sei es schon 1969 gewesen, als er als
die Öffentlichkeit belogen und verschleiere Darstellung in Zweifel. junger Journalist das Massaker von My Lai
bis heute, was wirklich geschehen sei. Sollte Hersh recht haben, wäre die Em- in Vietnam enthüllte und von der Regie-
Denn anders als bisher behauptet, habe pörung der pakistanischen Regierung nach rung angegriffen wurde. Für die Recherche
Bin Laden in der Garnisonsstadt Abbotta- der Tötung Bin Ladens als Schauspiel de- wurde er mit dem Pulitzerpreis ausgezeich-
80 DER SPIEGEL 21 / 2015
Überreste von Bin Ladens Versteck in Abbottabad: Eine große Verschwörung mit Hunderten Mitwissern

net. Sein zweiter Scoop von Weltrang war Seither hat sein Ruf in Washington ge- stützt: Die eine ist ein ehemaliger pakista-
der Folterskandal von Abu Ghuraib 2004, litten. Hersh erklärt das mit inhaltlichen nischer ISI-Chef, der seit 23 Jahren nicht
bei dem er – etwa zeitgleich mit dem Fern- Differenzen. „Ich habe in so ziemlich je- mehr im Amt ist. Die andere ist ein ano-
sehmagazin „60 Minutes“ – detailliert der Frage eine andere Position als die nymer pensionierter US-Geheimdienstler,
enthüllte, wie US-Soldaten systematisch meisten amerikanischen Kollegen“, sagt der laut Hersh „Kenntnisse“ über die Vor-
irakische Gefangene gequält hatten. er, etwa bei Konflikten wie in Syrien, in bereitung der Operation und Bin Ladens
Für Hersh, der aus einer jüdischen Ein- der Ukraine oder Russland. Daraus ent- Aufenthaltsort habe. Sie sind seine Kron-
wandererfamilie mit polnischen und li- stünden Recherchen, die politisch umstrit- zeugen – doch beide waren nicht direkt
tauischen Wurzeln stammt und in Chicago ten seien. an den Geschehnissen beteiligt.
geboren wurde, sind Worte Skalpelle. Das Anders als etwa bei Abu Ghuraib fehlen Die Ablehnung, die Hersh nun entge-
Pressekorps im Weißen Haus sei nicht un- bei der Story über Bin Laden allerdings genschlägt, ist fast einhellig. Allerdings prä-
abhängig, sondern „frisst der Regierung eindeutige Beweise. Hersh zeichnet das sentierte eine Reporterin der „New York
aus der Hand“, in der Hoffnung, eine Ge- Bild einer großen Verschwörung, die die Times“ Hinweise darauf, dass zumindest
schichte lanciert zu bekommen, sagt er. Rolle des ISI verschleiern und die Identität ein Aspekt seiner Recherchen stimmen
Allein gegen die Mafia in Washington, des pakistanischen Informanten schützen könnte: dass es ein Überläufer des pakista-
das ist die Rolle, in der er sich selbst sieht. sollte, der der CIA die Wahrheit über nischen Geheimdienstes gewesen sein
Hinzu kommt eine Portion Renitenz, die Bin Laden verkauft hatte – angeblich für könnte, der die CIA auf die Spur Bin La-
ihn auszeichnet und ihn immer wieder mit 20 Millionen Dollar. Hersh behauptet zu- dens führte. Die pakistanische Zeitung
seinen Chefredakteuren in Konflikt ge- dem, dass in Abbottabad keine internen „The News“ nannte diese Woche sogar den
bracht hat. Doch die Frage, die viele Jour- Dokumente Bin Ladens gefunden worden Namen eines ehemaligen hochrangigen Of-
nalisten nun stellen, ist, ob Hersh sich seit seien, entsprechende Unterlagen seien fiziers als mutmaßlichen Informanten. Das
einiger Zeit in Geschichten verrennt, für Fälschungen. belegt allerdings nicht Hershs These für
die er zu wenige Belege hat. Und ob er Aber warum sollten die US-Elitesolda- eine umfangreiche Verschwörung.
FOTOS: MARK MAHANEY / REDUX / LAIF (L.); SULTAN DOGAR / DPA (R.)

deshalb die eigentliche Geschichte ist. ten, wie von Hersh behauptet, Bin Laden Hersh weiß, dass er mit hohem Einsatz
Mit dem „New Yorker“, für den Hersh mit Gewehren in Fetzen schießen und spielt, er hat seine Glaubwürdigkeit mit
seit 1993 regelmäßig schreibt, zerstritt er Teile seiner Leiche über dem Hindukusch der Recherche über Bin Ladens Tod ver-
sich Ende 2013 über eine Geschichte zum abwerfen? Wie hätte eine so weitreichende bunden. Die Story kann darüber entschei-
Giftgaseinsatz im syrischen Bürgerkrieg. Verschwörung geheim bleiben können, den, wie er in die Geschichte eingeht, sie
Anders als die US-Regierung und interna- trotz Hunderten Mitwissern? Und warum wird Teil seines Vermächtnisses sein.
tionale Beobachter machte Hersh dafür sollte die US-Regierung gefälschte klan- Vermächtnis?
nicht das Assad-Regime, sondern Islamis- destine Bin-Laden-Papiere erstellen – zu- Seymour Hersh schüttelt energisch den
ten mit Unterstützung der türkischen Re- mal einige davon nicht nur veröffentlicht, Kopf. Er arbeitet jetzt an einem Buch über
gierung verantwortlich. Der „New Yorker“ sondern auch vom FBI als Beweismittel den ehemaligen Vizepräsidenten Dick Che-
und die „Washington Post“ weigerten sich vor Gericht eingebracht wurden? ney und die Exzesse im Krieg gegen den
damals, die Story zu veröffentlichen, mit Die Kritik an Hershs Geschichte betrifft Terror.
Verweis auf die Quellenlage. Auch sie er- allerdings nicht nur ihre Plausibilität, son- Er will noch lange nicht aufhören.
schien in der „London Review of Books“. dern auch die Quellen, auf die er sich Holger Stark

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Ehemaliger KGB-Mann Barsky in New York

Zwei Leben
Spionage 1978 zog Albrecht Dittrich als KGB-Agent von Jena nach Amerika. Der Kalte Krieg
endete, aber er blieb. Jetzt heißt er Jack Barsky und führt ein bürgerliches Vorstadtleben.

D
ie zwei Leben des Jack Barsky en- mit der Tochter Basketball im Garten Der Agent aus Jena hat zwar die Regie-
den nach 6794 Tagen am Ufer des spielt und am Wochenende die Nachbarn rung in Washington nicht ins Wanken ge-
Delaware. Barsky hat gerade in sei- zum Barbecue einlädt. Nur wer genau hin- bracht so wie einst Günter Guillaume die
nem weißen Mazda 323 die Brücke über hört, der merkt, dass sein Englisch einen deutsche Bundesregierung. Aber ein Spion,
den Fluss überquert, er kommt aus New leichten Akzent hat. der fast zwei Jahrzehnte lang mit falscher
York. Hinter der Brücke steht ein Polizist, Vielleicht wäre es immer so weiter- Identität in den USA leben konnte, das ist
er winkt Autofahrer an die Seite. Barsky gegangen. Wäre da nicht Wassilij Mitro- für das FBI ein Super-GAU.
hält an, ein Mann in Zivilkleidung beugt chin, ein früherer Archivar des KGB, der Monatelang beobachtet Reilly den Deut-
sich zu ihm und sagt: „FBI, Herr Barsky, 1992 nach London flieht und Tausende schen. Erst getarnt als Ornithologe in ei-
wir sollten reden.“ weltweit operierende KGB-Agenten ent- nem Feld, dann vom Nachbarhaus aus. Er
Barskys erste Frage lautet: „Bin ich ver- tarnt. Einer der Namen ist: Barsky. verfolgt Barskys Alltag, er lernt ihn aus
haftet?“ Seine zweite Frage: „Warum habt Drei Jahre lang überwacht der Inlands- der Ferne kennen, ja, mögen, während er
ihr so lange gebraucht?“ geheimdienst Jack Barsky, er verwanzt darauf wartet, dass Barsky einen Fehler
Es ist ein Freitag im Mai 1997, als die sein Wohnzimmer und seine Küche mit macht. Am Ende ist es ein Ehestreit, der
Jagd nach dem vermutlich letzten KGB- Mikrofonen, späht ihn mit Ferngläsern aus Barskys Doppelleben beendet. Barsky
Agenten in den USA endet. 6794 Tage, so und kauft sogar das Nachbarhaus, um ihn brüllt seine Frau Penelope an: Und übri-
lange ist es her, dass der DDR-Bürger Al- ganz aus der Nähe zu beobachten. gens, er sei ein Spion.
brecht Dittrich aus Jena nach Amerika reis- Dort, im Nachbarhaus, sitzt Joe Reilly, Das ist der Fehler.
FOTOS: PETER LUEDERS / DER SPIEGEL (O. + R. U.)

te, um für den sowjetischen Geheimdienst 23 Jahre FBI, Abteilung Gegenspionage, Bald darauf folgt der Zugriff. Ein Wo-
KGB zu spionieren. ein konservativer Patriot und gläubiger Ka- chenende lang verhört Reilly den Deut-
Doch inzwischen gibt es die Sowjet- tholik. Als Erster in der Familie durfte er schen in einem Motel. Barsky ist geständig,
union nicht mehr, die Mauer ist gefallen, studieren und fand beim FBI seine Beru- er verrät den FBI-Ermittlern den Morse-
der Kalte Krieg vorbei. Und aus dem kom- fung darin, dieses Amerika, das ihm so viel code für geheime Nachrichtenübertragung
munistischen Agenten ist ein Amerikaner ermöglicht hat, gegen Angreifer zu vertei- und auch sonst alles, was er über die Aus-
geworden, mit Frau, Kindern und Vor- digen. Reilly hat schon viele andere Ge- bildungstechniken des KGB und die Denk-
stadtleben, zu diesem Zeitpunkt 47 Jahre heimdienstzuträger enttarnt, osteuropäi- weise russischer Spione weiß.
alt. Ein großer, blonder Mann, Seitenschei- sche Diplomaten und ausländische Studen- „Irgendwann werden sie alle verhaftet,
tel links, der morgens zur Arbeit fährt, ten. Aber Barsky ist sein wichtigster Fall. erschossen, hängen sich auf oder trinken
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Ausland

sich tot“, sagt Reilly. Aber der Deutsche danach arbeitet er als Programmierer bei ein anderer Agent holt sie später ab. Jeden
ist anders, er ist dem FBI nützlich. So einem Versicherungskonzern. Fragt ihn je- Donnerstag um 21.15 Uhr sitzt Barsky zu
nützlich, dass sie ihn nach einem Wochen- mand, woher er komme, sagt er: New Jer- Hause am Kurzwellenradio und empfängt
ende gehen lassen. Reilly ist überzeugt, sey. Fragt ihn jemand nach seinem Akzent, Nachrichten aus der Zentrale in Moskau.
Barsky diene Amerika besser in Freiheit sagt er: seine Mutter sei Deutsche. Einmal soll er einen abtrünnigen KGB-
als im Gefängnis, so entgeht der Deutsche Heute sagt er von sich: er sei ein guter Spitzel in Kanada ausfindig machen, ein
einer langjährigen Haftstrafe. Lügner gewesen. anderes Mal die Meinung der Amerikaner
Über die Jahre entsteht aus der Bezie- Nachts erstellt er Profile möglicher neu- zum Krieg der Roten Armee in Afgha-
hung zwischen dem Agentenjäger und er Agenten. Er schreibt politische Einschät- nistan bewerten.
dem Spion sogar eine unwahrscheinliche zungen, baut aus kleinen Stahlcontainern Vor allem aber gelingt ihm nach seiner
Freundschaft: Reilly und Barsky spielen tote Briefkästen, getarnt als Steine, in de- Darstellung in dieser Zeit sein wohl größ-
heute regelmäßig Golf zusammen. nen er Fotos und Mikrofilme deponiert. Er ter Coup: Er stiehlt einen Programmier-
Barskys Geschichte ist eine Zeitreise, versteckt sie am Stadtrand in einem Park, code, welchen, will er nicht verraten. Die-
ein Blick zurück in die Ära des Kalten ser sei für die Sowjetunion wirtschaftlich
Krieges. Sie erinnert an die Serie „The wichtig gewesen, sagt Barsky. Er betreibt
Americans“ über zwei KGB-Agenten, die also Industriespionage, seinem eigent-
mit ihren ahnungslosen Kindern in Wa- lichen Ziel, dem Sicherheitsberater Brzezin-
shington leben. Aber Barskys Geschichte ski, kommt er kein einziges Mal nahe.
ist wahr. Sie beruht zwar auf seinen An- Aber Barsky hat nicht nur ein Leben in
gaben, wird aber in wesentlichen Punkten Amerika, er hat auch eines in Deutschland.
von dem FBI-Mann Reilly bestätigt. Er hat zwei Ehen, im Verlauf der Jahre
Diese Geschichte also beginnt mit einem auch zwei Familien. In Deutschland heira-
jungen Chemiker, hochintelligent, gut aus- tet er 1980 Gerlinde, sie bekommen einen
sehend, mit einer kleinen Schwäche: Er Sohn, Matthias. Alle zwei Jahre kehrt Ditt-
will herausragen aus der Masse. Als der rich für drei Wochen Urlaub nach Ostber-
KGB ihn 1970 anspricht, ist er fasziniert lin zurück, wo Gerlinde auf ihn wartet. Er
von der Idee, Agent im Westen zu werden. bringt teure Geschenke mit, einmal ein
„Ich konnte die Welt sehen und jenseits Brillantarmband. In Amerika lernt er Pe-
aller Regeln leben, ich stand über dem Ge- nelope, eine Einwandererin aus Guyana,
setz“, erzählt er. durch eine Zeitungsanzeige kennen. Sie
Er lernt in Berlin das Spionagehand- heiraten 1986 und bekommen zwei Kinder,
werk: Geheimschrift, Morsecode, Verfol- Chelsea und Jessie.
ger abschütteln. Dann geht er nach Mos- Im Rückblick sagt er: „Ich konnte das
kau, wo er zwei Jahre lang zum Agenten immer gut trennen, Barsky hatte nichts zu
ausgebildet wird. Er paukt Englisch, hun- tun mit Dittrich, und Dittrich war nicht
dert Wörter am Tag. In Jena wartet unter- verantwortlich für Barsky.“
dessen seine Freundin Gerlinde auf ihn. Doch das Pendeln zwischen den beiden
Am 8. Oktober 1978 landet Albrecht Welten endet 1986. Da ist Barsky zum letz-
Dittrich, damals 29, in Chicago, im Gepäck Jugendlicher Dittrich in Jena 1967 ten Mal in Deutschland, bei Gerlinde und
6000 Dollar und die Geburtsurkunde eines Die Welt sehen und jenseits der Regeln leben Matthias. Die Familie macht Urlaub an der
Jungen, der 1955 im Alter von zehn Jahren Ostsee, sie gehen schwimmen und sam-
starb. Sein Name: Jack Barsky. Ein Mit- meln Pilze, und er verspricht, bald zurück-
arbeiter der Sowjetbotschaft in Washing- zukommen. Dann fliegt er nach Moskau,
ton hat den Namen auf einem Friedhof no- erhält dort neue Aufträge und reist mit ge-
tiert und die Urkunde besorgt. fälschten Pässen über Belgrad, Wien, Rom
Der Plan des KGB: Barsky soll mithilfe und Mexiko zurück nach New York.
der Geburtsurkunde einen amerikanischen In seinem letzten Brief an seine Mutter
Pass beantragen, danach als Geschäfts- schreibt Dittrich, er hätte sie gern noch in
mann auftreten und sich mit Politikern und Zwickau besucht, habe es aber nicht mehr
einflussreichen Mitgliedern der Gesell- geschafft. In zwei Jahren sei aber „Schluss,
schaft anfreunden. Darüber hinaus soll er endgültig“. Die Mutter vermutet ihren
Kontakt zum Nationalen Sicherheitsbera- Sohn nicht im Westen, sondern tief im Os-
ter Zbigniew Brzezinski herstellen, sich ten, in der kasachischen Steppe. Er arbeitet
dessen Vertrauen erschleichen und ihn be- dort angeblich als Wissenschaftler auf dem
spitzeln. Weltraumbahnhof in Baikonur. Das ist die
Es ist ein ambitionierter Plan, und er offizielle Legende, die Dittrich der Familie
scheitert gleich am Anfang. Der Deutsche und den Freunden in der DDR erzählt.
schafft es nicht, den Pass zu bekommen, Doch dann befiehlt der KGB dem Spion,
der KGB hat ihn nicht auf die amerikani- sofort in die DDR zurückzukehren. Man
sche Bürokratie vorbereitet. befürchtet offenbar, er sei enttarnt worden.
Aber Albrecht Dittrich gibt nicht auf. Barsky soll Pass und Geld erhalten, ver-
Er nennt sich Jack Barsky und beginnt als steckt in einem Ölkanister an einem Wan-
Fahrradkurier in New York zu arbeiten. derweg. Barsky sagt, er habe den Kanister
Nach einiger Zeit besorgt er sich eine So- nicht gefunden. So oder so, klar ist: Er will
zialversicherungsnummer, das ist der erste nicht zurück in die DDR.
Schritt auf seinem Weg, US-Bürger zu wer- Exspion Barsky, Frau Shawna, Tochter Daher erzählt er dem Geheimdienst, er
den. Er studiert Computerwissenschaften, Reue für ein Leben voller Lügen habe sich mit HIV infiziert und könne nur
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Ausland

eine andere Frau heiratete, wieder Kinder


bekam, denen er nichts von der Familie in
Deutschland erzählte? Barsky sagt, er habe
Angst vor diesen Begegnungen, vor den
Fragen. Er habe keine guten Antworten.
Barsky ist jetzt 65, ein junger Alter mit
federndem Gang und brüchigem Deutsch.
Die Reise in die Vergangenheit hat er bis
ins Detail geplant, denn er will die Kon-
trolle über die Vergangenheit behalten, sie
darf nicht zu mächtig werden auf dieser
Reise. Er hat für die kommenden 14 Tage
Termine mit Schulkameraden, Kommili-
tonen, der Familie gemacht. Er wird seine
alte Basketballmannschaft treffen und sein
Elternhaus in Sachsen besuchen. Nur Ger-
linde steht nicht auf seiner Liste.
Auch mit Matthias hat er sich verabre-
det. Sein Sohn ist heute 33, er hat Chemie
studiert wie der Vater und arbeitet als
Apotheker in Berlin. Den Großteil seines
Lebens hat er ohne Vater verbracht, ohne
Erklärung, ohne Wissen um sein Tun.
Barsky will jetzt diese Erklärung geben,
er will, dass die anderen verstehen, warum
er so handelte. Doch das Vorhaben ist zum
Scheitern verurteilt, vermutlich, weil es
Jahre zu spät kommt. Matthias sagt das
Freunde Reilly, Barsky: Erst haben sie sich gejagt, jetzt spielen sie Golf zusammen Treffen kurzfristig ab, er ist wieder einmal
wütend, er will nicht nur Programmpunkt
in Amerika behandelt werden. Befehlsver- hat, vielleicht hätte er anders gehandelt. auf der Liste seines Vaters sein. Er hat
weigerungen ahndet der KGB mitunter mit Mit dieser Schuld muss er leben.“ zwar gesagt, er verstehe, dass der Vater
Hinrichtungen. Ende 1988, erzählt Barsky, Gerlinde ist eingeweiht, sie weiß von damals die andere Familie wählte. Aber
sei in New York ein KGB-Mann an ihn der Agententätigkeit ihres Mannes, trotz- kann man es wirklich verzeihen, wenn
herangetreten: „Wenn du jetzt nicht zu- dem kommt auch sie nie über sein rätsel- man als Kind verlassen wurde?
rückkommst, bist du tot.“ Es ist eine dop- haftes Verschwinden hinweg. Irgendwann Von Penelope ist Barsky längst geschie-
pelte Wette: dass der KGB sich nicht rächt. erklärt sie ihn für verschollen und lässt den. Die beiden streiten noch immer vor
Und dass das FBI ihn nicht aufspürt. sich scheiden. Bis heute ist sie nervlich an- Gericht um Geld und darüber, wer wen
Barsky sagt, er habe sich entscheiden geschlagen, sagt ihr Sohn Matthias. Sie mehr belog und verletzte. Nur Barsky selbst,
müssen: zwischen Chelsea, die gerade erst selbst will nicht reden. so scheint es, haben all diese Lügen am
geboren war, und Matthias in Berlin. „Das Matthias hat inzwischen seine Halbge- Ende nichts ausgemacht. Im Gegenteil, 2014,
Mädchen brauchte mich dringender.“ schwister kennengelernt. Denn Barsky hat 36 Jahre nach seiner ersten Einreise, ist er
Wahrscheinlicher ist, dass aus dem glühen- Chelsea nach ihrem 18. Geburtstag erzählt, endlich offiziell amerikanischer Staatsbür-
den Kommunisten Albrecht Dittrich, der dass er ein Spion war – und sie eine Fami- ger geworden. Auch den gestohlenen Na-
den Marxismus als „natürlichen Endzu- lie in Deutschland hat. Chelsea schreibt men darf er weiter tragen. Es war Joe Reilly,
stand“ betrachtete, Jack Barsky geworden Matthias, 2005 besucht der Halbbruder sie der FBI-Mann, der ihm dabei geholfen hat.
ist, der die unendlichen Möglichkeiten des in den USA. Auch seinen Vater trifft er, Nach seiner Deutschlandreise empfängt
kapitalistischen Amerika genießt. das erste Mal nach fast 20 Jahren. Ein Wie- Barsky in einem hübschen Holzhaus in
Aber auch wenn Gerlinde und Matthias dersehen voller unterdrückter Wut und Upstate New York, das er kürzlich gekauft
1986 aus Barskys Leben verschwinden, für ohne Erklärungen, aber ein Anfang. Für hat. Davor ist ein Teich angelegt, in Herz-
die Zurückgebliebenen ist die Geschichte lange Zeit ist es ihre einzige Begegnung. form. Im Garten spielt ein Mädchen mit
nicht vorbei. Das ist die Ausgangslage, als Jack Barsky Locken, seine vierjährige Tochter Trinity.
Seine Mutter forscht über die deutsche vor einigen Monaten in Berlin landet, zum Barsky hat zum dritten Mal von vorn
Botschaft in Moskau nach dem Sohn und ersten Mal nach 28 Jahren ist er wieder in angefangen, er hat Shawna geheiratet, eine
lässt sogar in einer Vermisstensendung des Deutschland. Er will reinen Tisch machen, strenggläubige Christin aus Jamaika.
russischen Fernsehens nach ihm fahnden. die Lügen hinter sich lassen. Denn je mehr Durch sie habe er zu Gott gefunden. Und
Am Ende schreibt sie, völlig verzweifelt, er versucht, die Vergangenheit zu vergessen, weil sie sich gewünscht hat, dass er sich
an Michail Gorbatschow. Erst 1996 findet desto drängender kehrt sie zurück. Daher öffentlich zu den Sünden seiner Vergan-
das Auswärtige Amt heraus, dass Dittrichs will er nun seine eherne Regel brechen: dass genheit bekennt, ist Barsky vor Kurzem
Geschichte nicht stimmt: Das Projekt in sich seine zwei Leben nie berühren dürfen. vor die Kirchengemeinde getreten. Er hat
FOTO: PETER LUEDERS / DER SPIEGEL

Baikonur, an dem er zu arbeiten vorgab, Bevor er aus New York abgeflogen ist, hat erklärt, wie tief er bereue, dass er „in einer
war bereits 1978 beendet worden. er in seinem Kalender notiert: „Wollen mal Lüge lebte“. Es war ein ergreifender Mo-
Die Mutter erkrankt an Parkinson, sie sehen, ob sich Herr Barsky und Herr Ditt- ment, und Barsky wirkte überzeugend.
stirbt in dem Glauben, um den Sohn wie rich wieder zusammenfügen lassen.“ Er sagt, mit seiner offenen Art habe er
um die Wahrheit betrogen worden zu sein. Aber was soll er seinem Sohn sagen? immer den größten Erfolg gehabt. „Die
Ihr zweiter Sohn Günther sagt: „Wenn Al- Dass er ihn verlassen hat, weil andere Men- ehrlichsten Leute sind die besten Lügner.“
brecht wüsste, was er der Mutter angetan schen für ihn wichtiger waren? Dass er Susanne Koelbl

84 DER SPIEGEL 21 / 2015


AB 19.5.
DIENSTAGS I 20:15
SING
MEINEN SONG
DAS TAUSCHKONZERT

SCHON GEHÖRT?
GE
Exgefangener Jihad vor US-Botschaft in Montevideo

Das Haus
der Unfreien
Uruguay Sechs frühere Gefangene aus Guantanamo
leben seit einem halben Jahr in einer Wohngemeinschaft
in Montevideo. Vom Gelingen dieses Experiments
könnte die geplante Schließung des Lagers
abhängen. Bislang überwiegen die Probleme.
Von Marian Blasberg

G
estützt auf Krücken tritt Jihad stellt, unter denen er bereit sei, darüber zu er an manchen Tagen die rechte Seite sei-
Diyab aus dem Eingang seines neu- reden, wie es ihm geht, nach zwölf Jahren nes Körpers nicht mehr spürt, was, wie er
en Hauses in der Calle Maldonado in der Hölle. Er brauche einen Rollstuhl, glaubt, an Würmern liegen könnte, die sich
in Montevideo, Uruguay, 12 000 Kilometer hatte er gesagt, nach Möglichkeit einen durch seinen Magen fressen, oder an den
von seiner Heimat Syrien entfernt. elektrischen. Dazu einen Laptop, eine Ka- Schlägen, die er regelmäßig einsteckte, be-
Er wolle draußen reden, hatte Jihad ge- mera, ein iPhone 6, weil er eine Kampagne vor man ihm mit Gewalt einen Schlauch
sagt. Seine Mitbewohner, eine Gruppe plane, um die Häftlinge zu befreien, die in die Nase bohrte, durch den das Essen
Araber, die wie er vor Kurzem aus Guan- noch immer in diesem dunklen Loch auf floss, das er verweigerte.
tanamo entlassen wurden und jetzt in der Kuba hocken. Außerdem habe er Verwand- Acht Jahre war er immer wieder im
Fremde die ersten Schritte in die Freiheit te, die auf der Flucht seien vor dem Krieg Hungerstreik in Guantanamo, weil ihm
proben, müssten ja nicht alles mitbekom- in Syrien. Jihad sagte, er würde reden, Amerika nicht sagte, was gegen ihn vorlag.
men. Jihad hinkt den Bürgersteig herunter, wenn Deutschland dafür sorge, dass sie in Es hieß, Jihad habe einer Qaida-Zelle in
ehe er sich an der nächsten Ecke vor einem der Berliner Charité behandelt würden. Afghanistan angehört, aber angeklagt wur-
Kiosk auf einen Plastikstuhl fallen lässt. Jihads Augen funkeln misstrauisch. Die de er nie. 2009 wurde er offiziell für un-
Er lehnt die Krücken gegen den Tisch und Jahre in der Haft haben die Züge seines schuldig erklärt, danach verweigerte er
FOTO: DER SPIEGEL

beugt sich vor. Gesichts hart werden lassen. Sein T-Shirt sich, weil er das jahrelange Warten auf die
„Und“, fragt er, „wie sieht es aus?“ flattert um die dünne Brust. Jihad ist erst Freiheit nicht ertrug.
Bei einem ersten Treffen vor einigen Ta- 43, aber sein Bart und seine Locken schim- „Ich habe nachgedacht“, sagt Jihad. „Ver-
gen hatte Jihad ein paar Bedingungen ge- mern grau. Die Krücken braucht er, weil giss, was ich gesagt habe. Besorg mir statt-
86 DER SPIEGEL 21 / 2015
Ausland

nichts mehr sieht. Mohammed, der Physik sechs sein, wenn selbst ein Land wie
studieren wollte, aber sich heute kaum Schweden nur einen aufnimmt?
zwei Zahlen merken kann. Ahmed, Abdul Dies sind also, kurz gesagt, die Koordi-
und Omar, der Jüngste in der Gruppe, der naten, die den Beginn der neuen Freiheit
auf dem Flug nach Uruguay in seinen markieren: eine Wohngemeinschaft irgend-
orangefarbenen Overall pinkelte, weil ihn wo am Rand der Welt, zu der jeder Mit-
die Wachen nicht auf die Toilette ließen. bewohner sein eigenes Trauma beisteuert.
Bis zur Landung trugen sie über dem Kopf Draußen eine relativ geschlossene Wand
blickdichte Kapuzen. Es war der 7. Dezem- der Ablehnung. Dazu ein 79-jähriger Kauz,
ber, als man ihnen kurz nach Mitternacht der zwar ihre Ankunft gegen alle Wider-
am Flughafen von Montevideo ein Papier stände durchgeboxt hat, aber seit Anfang
aushändigte, auf dem stand, dass „keiner- März nicht mehr im Amt ist.
lei Informationen vorliegen, dass sie in ter- Wie kann das gut gehen? Und was bedeu-
roristische Aktivitäten gegen die USA ver- tet das für die Zukunft von Guantanamo?
wickelt waren“.
Ein Zweizeiler, unterschrieben von ei- Der Unruhestifter: Jihad
nem Mann namens Cliff Sloan, der damals Nach vier Tagen, die sie in einem Kran-
als Sondergesandter der US-Regierung nach kenhaus verbracht hatte, bezog die Grup-
Ländern fahndete, in die er Guantanamo- pe das Haus in der Calle Maldonado, ei-
Häftlinge ausfliegen lassen konnte. Kein nen zweistöckigen, etwas heruntergekom-
Wort des Bedauerns. Keine Entschuldigung. menen Gründerzeitbau. Eigentümer ist
Und ausgerechnet Uruguay. der Gewerkschaftsverband PIT-CNT, den
Uruguay ist ein kleines Land mit drei Mujica mit der Betreuung der Neu-
Millionen Einwohnern, das auf der Welt- ankömmlinge beauftragt hatte. Die Ge-
karte am linken unteren Rand liegt, ein- werkschaftsleute stellten einen neuen
geklemmt zwischen Argentinien und Bra- Kühlschrank in die Küche und einen Com-
silien. Wenn man mit dem Finger den puter ins Foyer. Als sie am Tag der An-
Atlantik überquert, Afrika und das Mittel- kunft Schinken-Käse-Baguettes auftisch-
meer, begreift man, dass zwischen der ten, wunderten sie sich, dass die Araber
alten und der neuen Heimat der ehemali- nichts anrührten. „Schweinefleisch!“, sagt
gen Gefangenen Welten liegen. Fernando Gambera, der als Direktor für
In Uruguay gibt es keine einzige Mo- Internationale Beziehungen sonst den Kon-
schee. In Montevideo leben kaum hundert takt zu anderen Gewerkschaften in Süd-
Muslime, und viele von ihnen fragten sich amerika hält. „Da hatten wir nicht dran
vor der Ankunft ihrer Glaubensbrüder, was gedacht.“
diese wohl im Sinn hatten, als sie kurz nach In den ersten Tagen belagerten Journa-
der Jahrtausendwende im Grenzgebiet zwi- listen den Bürgersteig vor dem Haus, wie
schen Afghanistan und Pakistan den Ame- Tierfilmer, die in der Serengeti einer un-
rikanern in die Hände fielen. Tourismus? bekannten Spezies auf der Spur sind. Sie
Felsen gucken in Tora Bora? Die große hielten fest, wie Mohammed winkend an
Mehrheit der Bevölkerung war ebenfalls sein Fenster trat, und sie dokumentierten,
skeptisch. Uruguay hat kaum Erfahrung mit wie Jihad zum Kiosk an der Ecke hinkte.
der Aufnahme von Flüchtlingen. Es hat Journalisten waren auch dabei, als sie zum
nicht einmal ein Programm zur Resoziali- ersten Mal ans Meer fuhren, wo Ali mit ei-
sierung seiner eigenen Strafgefangenen. nem Stock die Worte „Viva Libertad“ in
Warum, fragten Politiker der Opposi- den Sand schrieb: Es lebe die Freiheit. Mit
tion, sollen ausgerechnet wir Barack Oba- ihren frisch gestutzten Bärten und Sonnen-
mas Probleme lösen? Was haben wir damit brillen sahen sie aus wie Touristen.
dessen einen Termin bei Dilma, der Präsi- zu tun, dass er die Schließung des Gefäng- Es waren Tage, in denen sich alle Seiten
dentin von Brasilien. Ich will sie bitten, ein nisses zur „nationalen Priorität“ erklärte? Mühe gaben. Nachbarn gingen durch die
paar von meinem Brüdern aufzunehmen.“ Viele rieben sich die Augen, dass sich offene Tür ins Haus, um Tee und Minz-
Jihad, hatten die anderen Freigelassenen ausgerechnet ihr damaliger Präsident die- pflanzen zu bringen. Omar wandte sich
gewarnt, sei der Komplizierteste von ih- ses Ortes annahm, der wie kaum mit einem Brief an die Bevölkerung, in
nen. Ein Eigenbrötler, der in den Nächten, ein anderer zum Symbol für die dem er Präsident Mujica seine tiefe
die er wach auf seinem Bett liegt, seltsame Verirrungen Amerikas gewor- Dankbarkeit aussprach, und in der Ge-
Ideen ausbrüte. Was geht ihm durch den den ist. José Mujica, ein frühe- werkschaft drückten sie ein Auge
Kopf? Stellt er Regeln auf, weil die Regeln rer linker Guerillero, ist eigent- zu, als die erste Telefonrech-
in den letzten Jahren immer andere dik- lich dafür bekannt, über das SÜDAMERIKA nung ins Haus flatterte, auf der
tiert haben? Geht es um Kontrolle, um „Imperium im Norden“ herzu- allein die Ferngespräche mit
Würde, oder steckt dahinter ein Gefühl, ziehen. Mujica lebt auf einem mehr als 3000 Euro zu Buche
dass die Welt ihm etwas schuldig sei? Bauernhof außerhalb der Stadt, er schlugen. Als einer aus der Grup-
Es ist Ende März, in Montevideo fallen fährt einen alten blauen Käfer. Was URUGUAY pe einmal zitternd aus dem Hof zu-
die ersten Blätter von den Bäumen. Fast hat er sich dabei gedacht, als er sich rückkam, weil ihn an den Mülltonnen
vier Monate sind sie jetzt hier, Jihad, der in den letzten Wochen seiner Amts- Montevideo der Hund einer Nachbarin anbellte,
Sonderling, Ali, der darauf wartet, dass zeit bereit erklärte, die Araber ins kam der Gewerkschafter Gambera
sie ihm sein rechtes Auge operieren, auf Land zu holen, als erster Präsident auf die Idee, den Männern die Hilfe eines
dem er nach zahllosen Elektroschocks Südamerikas? Und warum mussten es Psychologen anzubieten. Sie lehnten
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ab. Der Erste, der die Grenzen seiner neu-


en Freiheit testete, war Jihad. Anfang Fe-
bruar nahm er die Fähre nach Buenos Ai-
res, wo er sich auf die Suche nach Verwand-
ten seiner argentinischen Mutter machen
wollte. Der Ausweis, den Uruguay ihm aus-
gestellt hat, erlaubt es ihm, sich in den Mit-
gliedsländern der Wirtschaftsgemeinschaft
Mercosur frei zu bewegen, aber die Zoll-
beamten im Hafen von Buenos Aires rieten
ihm, besser wieder umzukehren.
„Es kommt mir vor, als käme ich von ei-
nem Knast in den nächsten“, sagt Jihad
an einem Morgen, an dem er eigentlich
wieder über seine Bedingungen für ein In-
terview sprechen wollte. Er sitzt in einem
Café und wirkt niedergeschlagen. Sein
Blick verliert sich in einem Teller Humus,
den er minutenlang nicht anrührt. Seine
Eltern, murmelt er, hätten in Damaskus
ein Restaurant geführt, mit hundert Ti-
schen, die im Schatten mächtiger Bäume
standen. Als kleiner Junge habe er die
Nachmittage dort verbracht.
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Exgefangener Omar: „Suchen die hier Leute, die wissen, wie man ein Lamm schächtet?“
„Mujica“, sagt er, „hat versprochen, un-
sere Familien nach Uruguay zu holen. Er der Aufschrei so groß, dass ihn Uruguays einmal gründlich überprüfte. Im Zuge die-
sprach von einem eigenen Haus, in dem Außenminister sprechen wollte. ser Revision wurde eine große Mehrheit
wir leben könnten, aber nichts passiert. der Gefangenen „cleared for release“, zur
Stattdessen kappen sie das Telefon mit der Der Vermittler: Cliff Sloan Entlassung freigegeben. Es war die techni-
Begründung, Skype sei billiger. Warum las- Auch in den USA hat man die Sache auf- sche Umschreibung dafür, dass man sich
sen sie sich die Rechnung nicht von den merksam verfolgt. Sollte Jihad seine Dro- leider geirrt hatte. Dass heute, gut sechs
USA erstatten?“ hung wahr machen, könnte dies bedeuten, Jahre später, immer noch so viele Gefan-
Gleich nach ihrer Ankunft hatte Jihad dass es noch komplizierter wird, Guanta- gene in Guantanamo sitzen, liegt daran,
bei den Behörden einen Antrag auf Fami- namo zu schließen. dass Amerika nicht weiß, wohin mit ihnen.
lienzusammenführung ausgefüllt. Es ist ein Cliff Sloan, ein smarter Anwalt in seinen Das Problem, sagt Sloan, sei, dass die
Recht, das ihm als anerkanntem Flüchtling Fünfzigern, hat als Sonderbeauftragter der meisten der verbliebenen Häftlinge aus
zusteht. Er sagt, er habe einen Sohn verlo- US-Regierung in den letzten Jahren dafür Ländern kommen, in die Amerika nicht
ren, als Assads Kampfjets Bomben auf sein gekämpft, dass Barack Obama nicht als gro- abschiebt. Im Jemen, woher die größte
Viertel warfen. Seine anderen drei Kinder ßer Wortbrecher in die Geschichte eingeht. Gruppe stammt, gewinnt al-Qaida an Ein-
seien lange genug als Halbwaisen aufge- Ein paar Tage nachdem er seine Unter- fluss. Auch in das Bürgerkriegsland Syrien
wachsen. schrift unter Jihads Entlassungsurkunde ge- kann man niemanden zurückschicken.
„Es reicht jetzt“, sagt Jihad. setzt hatte, trat er zurück. Es hieß, die Din- Schon deshalb, weil Amerika sie dort aus
Wie war es, nach so langer Zeit die Stim- ge gingen ihm nicht schnell genug voran. dem Blick verliert.
me seiner Frau am Telefon zu hören? Sloan sitzt an einem Konferenztisch sei- „Das Gefängnis selbst“, sagt Sloan, „ist
Von einem Augenblick zum nächsten ner Kanzlei in der Nähe des Weißen Hau- nun zum Sicherheitsrisiko geworden.“ Es
verfinstert sich der Ausdruck auf seinem ses. Er trägt einen Nadelstreifenanzug und ist nicht auszuschließen, dass ein Gefan-
Gesicht. „Wie sieht es aus mit dem Termin eine runde Brille, seine Worte wählt er mit gener plane, sich an Amerika zu rächen.
bei Dilma? Oder kennst du vielleicht einen Bedacht. „Immer wieder“, sagt er, „habe Was es also braucht, sind vertrauenswür-
Regisseur, der Interesse daran hat, meine ich bei meinen Gesprächen rund um die dige Drittländer, die noch nicht „ausver-
Geschichte zu verfilmen?“ Welt gehört, dass das Ende von Guanta- handelt“ sind. Sloan sagt: „Ich habe selten
Es ist schwierig mit Jihad. Er wirkt wie namo der größte Sieg im Kampf gegen den einen beeindruckenderen Mann getroffen
ein Mann, der tausend Pläne gleichzeitig Terror sei.“ als Präsident Mujica.“
verfolgt, aber nicht weiß, wo er beginnen Als Sloan im Juli 2013 sein Amt antrat, Er hatte sich ihn ausgeguckt.
soll. Manchmal ist er rastlos, als wollte er saßen 166 Gefangene in Guantanamo in Sloan wusste, dass Mujica in den Sieb-
die ganzen zwölf Jahre in ein paar Wochen Haft. Heute, fast zwei Jahre später, sind zigerjahren selbst im Gefängnis gesessen
aufholen, und dann hat er Tage, an denen es noch immer 122. Um Guantanamo zu hatte, weil er als Mitglied einer Guerilla-
er sein Zimmer nicht verlässt. schließen, müsste man die Zahl auf unter gruppe in Anschläge gegen die Militärdik-
Wenn man in der dunklen Sofaecke ihres 60 drücken. Dann würden die Kosten für tatur verwickelt war. Später, als Präsident,
Hauses sitzt, kann man ihn hören, vertieft jeden Gefangenen auf über sechs Millio- hatte er gegen den Widerstand der Kirche
in sein Gebet, das länger dauert als bei den nen Dollar im Jahr steigen, das Lager wäre ein Abtreibungsgesetz erlassen und den
anderen. 2000 Bücher, sagt Jihad, habe er dann nicht nur politisch, sondern auch Konsum von Marihuana legalisiert. Mujica,
in Guantanamo verschlungen. wirtschaftlich kaum mehr zu rechtfertigen. so schien es, war undogmatisch und stand-
FOTOS: DER SPIEGEL

Als er in der „Washington Post“ kürzlich „Es ist vertrackt“, sagt Sloan. fest genug, um nicht beim ersten Gegen-
ankündigte, vor der amerikanischen Bot- 2009, kurz nach seinem Amtsantritt, hat- wind umzufallen. Er sollte der Mann sein,
schaft in Hungerstreik zu treten, wenn sei- te Obama eine Kommission gegründet, die der den Gefangenen von Guantanamo die
ne Familie nicht bald kommen dürfe, war die Fälle aller damaligen Häftlinge noch Tür nach Südamerika öffnet.
88 DER SPIEGEL 21 / 2015
der sie leben, hat der Krieg die Leitungen
zerstört. Niemand dort hat Skype. Die ein-
zige Verbindung, die Omar besitzt, ist die
Handynummer seines Vaters.
„Er wusste nicht, dass ich noch lebe“,
sagt Omar.
Wie war es, die Stimme seines Vaters
nach so langer Zeit zu hören?
Omar blickt aufs Meer. Er schluckt.
„Als er sich meldete“, sagt er, „da klang
er wie ein fremder alter Mann. Ich sagte:
Hey, hier ist dein Sohn, und dann war erst
mal Stille. Ich hörte, wie er weinte. Nach
einer Weile fragte er, wie es mir gehe, und
ich sagte: gut. Er bohrte zum Glück nicht
weiter nach.“ Seine jüngste Schwester, sagt
er, die damals noch nicht zur Schule ging,
habe mittlerweile selbst ein Kind.
Omar war 19, als er die syrische Stadt
Hama im Frühjahr 2001 verließ, um sich
dem Militärdienst zu entziehen. Gleichzei-
tig hoffte er, im Ausland etwas Geld zu
verdienen, um davon später eine Familie
zu gründen. Omar ging nach Teheran, wo
Unterkunft der Freigelassenen in der Calle Maldonado: Kaum Erfahrung mit Flüchtlingen er bei einem Schlachter unterkam, doch
als Sunnit, sagt er, sei er von den Iranern
Sloans Plan schien aufzugehen. Im De- lange hielt er das Alleinsein nicht aus. angefeindet worden. Er zog weiter, nach
zember, kurz nachdem die Gruppe ihre Auf einem Tisch in Omars Zimmer steht Kabul, der Fehler seines Lebens. Während
WG in Montevideo bezogen hatte, deute- ein Bild, das die Tochter einer Nachbarin Omar in einem Lebensmittelladen Oran-
ten Chile, Brasilien und Kolumbien an, für ihn gemalt hat. Daneben liegt ein Spa- genkisten stapelte, steuerten Terroristen
über die Aufnahme von Häftlingen zu be- nisch-Wörterbuch, in das Omar jetzt im- der Qaida zwei Flugzeuge in die Türme
raten. „Uruguay“, sagt Sloan, „muss jetzt mer öfter einen Blick wirft, auch wenn in des World Trade Center.
funktionieren.“ Es darf keine Störgeräu- seinem Kopf noch kein Platz für eine frem- Die Welt war plötzlich eine andere.
sche geben. Sollte Jihad tatsächlich im Pro- de Grammatik ist. Omar weiß, spätestens Amerikanische Militärflugzeuge tauch-
test vor die Botschaft ziehen, könnte dies in zwei Jahren, wenn die Regierung ihre ten über Kabul auf. Soldaten der afghani-
die Tür wieder verschließen. monatlichen Zahlungen von 600 Dollar schen Nordallianz rückten in die Stadt ein
einstellt, muss er unabhängig sein. und machten Jagd auf Araber, die nur aus
Der Stille: Omar Omar richtet sich auf. einem Grund in diesem Land sein konnten:
„Jihad merkt nicht, dass er uns mit rein- „Weißt du“, fragt er, „wo sie hier Leute Sie mussten mit den Anschlägen etwas zu
zieht in seine Aktionen“, sagt Omar. „Die suchen, die wissen, wie man ein Lamm tun haben. Binnen Wochen, sagt Omar,
Leute schmeißen uns in einen Topf, sie schächtet?“ habe Kabul sich in einen Ort verwandelt,
denken: Wir sind so wie er, undankbar In dem Brief, mit dem sich Omar nach an dem er nicht mehr sicher war.
und aufrührerisch. Wir haben schon ver- der Ankunft an die Öffentlichkeit gewandt Er nahm ein Taxi Richtung Pakistan,
sucht, mit ihm zu reden, aber es hat nichts hatte, schrieb er, dass er nach der sechsten nicht ahnend, dass Amerika inzwischen
gebracht. Ich weiß nicht, was Jihad denkt. Klasse die Schule abgebrochen habe. In Kopfgelder für Männer wie ihn zahlte. Er
Auch in Guantanamo, wenn wir unsere den Jahren, bevor er Syrien verließ, arbei- wurde an der Grenze festgenommen, und
Runden durch den Hof drehten, haben wir tete er bei einem Metzger, wo er lernte, sechs Monate später, am 8. Juni 2002, flog
nur selten ein Wort gewechselt.“ wie man ein Lamm „halal“ schlachtet. Er man ihn nach Guantanamo, wo die Ermitt-
Abd al-Hadi Omar Faraj ist ein leiser hoffte, dass sich jemand melden würde, ler seine Angaben als „typischen, fingierten
34-Jähriger, dem es irgendwie gelungen doch es scheint, als wären seine Kenntnisse Qaida-Plot“ einstuften. Er war jetzt eine
ist, sein Lächeln zu retten. Er trägt eine in Uruguay nicht gefragt. „Vielleicht“, sagt Bedrohung für die Sicherheit der USA.
schmale, leicht getönte Brille, seine kurzen er, „sollte ich Auto fahren lernen. Ich könn- Er wisse nicht mehr, sagt Omar, wie oft
Haare stecken unter einer Baseballkappe. te Taxifahrer werden.“ man ihn gefragt habe, was seine Verbin-
Anders als Jihad stellt Omar keine Bedin- Omar schlägt vor, ein bisschen rauszu- dung zu Bin Laden sei; wie häufig er bete;
gungen. Im Gegenteil, er freut sich, wenn gehen, am Meer entlangzulaufen, das er ob das Hostel, in dem er in Kabul lebte,
man ihm Gesellschaft leistet. in Guantanamo an manchen Tagen riechen eine Terrorzelle war.
Omar liegt auf dem Bett eines Hotelzim- konnte. Jogger sind an der Promenade un- Vielleicht ist es kein Wunder, dass sich
mers, in das er vor einigen Tagen umgezo- terwegs, Fahrradfahrer. Paare sitzen Händ- ihre Geschichten auf gewisse Weise ähneln.
gen ist. Er sagt, dass er die Nähe nicht chen haltend an der Mole. Manchmal, Jihad ist früher Lkw gefahren, ehe ihn ein
mehr aushielt, das Leid, das unausgespro- wenn Omar eine hübsche Frau entdeckt, afghanischer Geschäftsmann davon über-
chen über dem Haus in der Calle Maldo- dreht er sich schüchtern nach ihr um. zeugte, in Kabul Honig zu verkaufen. Mo-
nado liege, und er wolle endlich ein eige- „Ich verstehe nicht, warum sie uns das hammed, der in eine kinderreiche palästi-
nes Bad. Das Metro, ein Hotel der einfachs- Telefon gekappt haben“, sagt er. „Warum nensische Familie geboren wurde, hatte
ten Kategorie, für dessen Kosten die Ge- geben sie uns nicht ein Guthaben, zehn sich der sunnitischen Missionsbewegung
werkschaft aufkommt, liegt nur ein paar Stunden im Monat oder so?“ Tabligh-i-Jamaat angeschlossen, die ihm
Blocks von der WG entfernt. Anfangs hat Seit 51 Tagen, sagt er, habe er von sei- in Afghanistan ein Auskommen als Lehrer
Mohammed auch mal hier gelebt, aber nen Eltern nichts gehört. In der Stadt, in versprach. Sie alle hatten lange und ver-
DER SPIEGEL 21 / 2015 89
Präsident Mujica 2014 auf seiner Farm: „Ich weiß nicht, worüber sich die Araber beklagen“

schlungene Wege hinter sich, die sie zur Begleitung eines Dolmetschers. Mujica ließ Grundstück. Minuten später taucht er wie-
falschen Zeit an den falschen Ort führten. sich in die Sofaecke fallen. Er brummte, der auf, am Steuer seines Traktors. Er knat-
Wenn man Omar fragt, wann er daran dass er nicht als Präsident gekommen sei, tert in den Schuppen, wo er den Pflug ab-
geglaubt habe, dass es Präsident Mujica sondern als väterlicher Freund, der selbst nimmt, dann parkt er den Traktor draußen
wirklich ernst mit ihrer Aufnahme meint, im Knast gesessen habe. neben einem Feld. Es ist ein Stück, das
lacht er spöttisch auf. „Als ich hier aus Fast 15 Jahre hat Mujica in Haft ver- Mujica regelmäßig aufführt, wenn Journa-
dem Flugzeug ausgestiegen bin“, sagt er. bracht, die meisten davon in totaler Isola- listen ihn besuchen.
„In Guantanamo hatten sie eine Methode: tion. „Ich weiß also, wovon ich rede“, sag- Dann gibt er das Zeichen, ihm zu folgen.
Manchmal kamen sie mit Zivilklamotten te er. Dann setzte er an zu einem langen Mujica taucht auf einer Wiese unter Wä-
in unsere Zellen. Sie sagten uns: ,Du Monolog. scheleinen durch, ehe er auf einer Bank
kommst jetzt frei.‘ Dann brachten sie uns Mujica sprach über die Einwanderer, die vor seinem Haus Platz nimmt, auf der
raus zum Flugplatz, aber wir drehten jedes mit der Kraft ihrer Hände das Land urbar kürzlich der ehemalige spanische König
Mal nur ein paar Runden um die Insel.“ gemacht haben, einfache, zähe Menschen, saß, der sehen wollte, wie Mujica lebt. Mu-
die – wie sein Vater – eine lange Reise auf jica verzieht sein knautschiges Gesicht zu
Der Präsident: Mujica sich genommen hätten, um in einer frem- einem zahnlosen Lächeln.
Es scheint, als gehe jeder anders mit der den Welt ihr Glück zu suchen. Auch er „Ehrlich“, sagt er, „ich weiß nicht, wo-
neuen Freiheit um. Während Jihads Ge- selbst, sagte Mujica, habe durch die Arbeit rüber sich die Araber beklagen: Wir zahlen
danken meist um das Vergangene kreisen, auf dem Feld wieder zurück ins Leben ge- ihnen 600 Dollar im Monat. Jeder sechste
versucht sich Omar eine Zukunft auszu- funden. Es war ein Anschiss, dessen Bot- Uruguayer lebt von diesem Geld – und die
malen, die noch nicht richtig beginnen will. schaft klar war: Stellt euch nicht so an. meisten davon arbeiten.“
Vielleicht kommt es ihnen deshalb manch- Tags darauf lästerte Mujica im Radio, Mujica nimmt seine Baseballkappe ab.
mal vor, als wäre Uruguay ein Knast mit dass die Männer aus Guantanamo die zar- „Einer aus der Gruppe fragte mich, ob
besseren Bedingungen: ein Zeitloch, in ten Hände von Intellektuellen aus der Mit- ich zwei Monate nach der Haft schon in
dem die Gegenwart kaum existiert. Aber telschicht hätten. der Lage war zu arbeiten“, sagt er. „Nach
vielleicht ist alles auch noch etwas früh. Es ist ein Samstagmorgen, als Mujica auf zwei Stunden war ich schon so weit.“
Im Februar hatte die Gewerkschaft Ab- einem Plastikstuhl vor seinem Schuppen Mujica sagt, er verstehe, dass man die
dul und Mohammed auf ein Fabrikgelände sitzt. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht. Er Dinge nur schwer vergleichen könne. An-
FOTO: ANDRES STAPFF / REUTERS

außerhalb der Stadt gefahren. Es gab zwei trägt einen verdreckten Trainingsanzug, ders als sie hatte er damals seine Sprache,
freie Stellen dort, in der Werkzeugausgabe trinkt eine Tasse Tee und macht insgesamt seine Frau, die Politik. Vor allem aber, sagt
und in der Kantine, leichte Tätigkeiten, den Eindruck eines Mannes, der lieber den er, habe er in der Haft gelernt, dass die Er-
aber noch während sie sich umsahen, sag- Vögeln zuhört als dem Geplapper eines wartungen, die wir an die Freiheit stellen,
ten die beiden ab. Ein paar Tage später Staatsempfangs. überzogen sind. Alles, was Mujica brauch-
parkte José Mujica seinen Käfer in der Nach einer Weile steht Mujica auf und te, war ein Stück Land, auf dem er Gemüse
Calle Maldonado. Er kam allein, nur in verschwindet ohne Gruß auf seinem anbauen konnte. Noch heute verzieht er
90 DER SPIEGEL 21 / 2015
Ausland

sich in den Momenten, in denen die verhandelte, war Mohammed einer


Menschen ihm zu viel werden, auf der Kandidaten. Die deutschen Re-
den Bock des Traktors. gierungsvertreter baten ihn so häu-
War es ein Fehler, die Araber ins fig zum Gespräch, dass Mohammed
Land zu holen? glaubte, sie meinten es ernst. Mit-
„Keinesfalls. Es lag ja nichts gegen hilfe eines Wörterbuchs, das ihm
sie vor. Sie waren Geiseln eines Re- sein Anwalt schenkte, paukte er
gimes, wie wir damals. Als ich Oba- schon Vokabeln. „Tisch“ und
ma vor einem Jahr traf, da spürte „Stuhl“, sagt er. „Hab ich bis heute
ich, dass seine Absicht, Guantana- nicht vergessen.“
mo zu schließen, ehrlich ist.“ Irgendwann in diesen Wochen, in
Im Januar 2014 waren die Ameri- denen Mohammed darauf wartete,
kaner erstmals offiziell an ihn heran- dass es endlich losgeht, riss der Kon-
getreten. Joe Biden rief ihn an, Oba- takt zu Deutschland ab. Erst später
mas Stellvertreter. Wenig später be- erfuhr er, dass der damalige Innen-
suchte ihn Cliff Sloan, der die Bedin- minister Thomas de Maizière ent-
gung vortrug, dass die ausgeflogenen schieden hatte, die Zahl der Häftlin-
Häftlinge ihre neue Heimat für zwei ge von drei auf zwei zu reduzieren;
Jahre nicht verlassen dürften. Mujica damit es nicht so aussehen würde,
sagt, er habe abgelehnt. Stattdessen als ließe er sich von den Amerika-
handelte er aus, dass die USA ihren nern über den Tisch ziehen. „Diese
Markt für uruguayische Zitrusfrüchte Enttäuschung“, sagt Mohammed,
öffneten. Außerdem wollte er das „war schlimmer als alles andere.“
Einverständnis des kubanischen Prä- Jetzt sitzt er hier am Rand der Welt
sidenten Raúl Castro, eines alten und chattet hin und wieder mit einem
Compañero aus Guerillatagen. ehemaligen Zellennachbarn, der heu-
Zehn Tage nachdem Mujica die te irgendwo am Rhein lebt. „Es geht
Araber am Flughafen in Empfang ihm gut“, sagt Mohammed. „Er hat
genommen hatte, endete die Eiszeit ein gutes Einkommen, seine Familie
zwischen Washington und Havanna. lebt bei ihm im Haus.“ Manchmal
Kuba ließ einen Amerikaner frei, fragt er sich, wie sein Leben wohl ver-
Obama drei kubanische Agenten, die Exinsassen vor der US-Botschaft*: Enttäuschung wird zu Wut laufen wäre, wenn er selbst in dieses
seit Jahren in den USA in Haft sa- Haus am Rhein gezogen wäre.
ßen. Mujica sagt, er habe dies im Mai 2014 „Wie Abu Ghraib“, sagt Jihad, der glaubt, Freiheit ist kein Wert an sich, nicht nach
in Washington als Bedingung vorgetragen. dass eines der Folteropfer der Mann seiner diesen zwölf Jahren, nicht nur für Moham-
Die Freilassung der Gefangenen verzö- Tochter ist. med. Ein halbes Jahr nachdem die Grup-
gerte sich dann noch mal um sieben Mona- Er wirkt abwesend. Seit Tagen hat er pe in ihrer neuen Heimat angekommen
te, weil zunächst der US-Kongress die Aus- keine Schlafmittel genommen. Arztbesu- ist, ist die Euphorie verflogen. Zu viele
lieferung absegnen musste. Dann begann che lehnt er mittlerweile ab, und auch den Erwartungen sind an der Wirklichkeit
in Uruguay der Wahlkampf um Mujicas Antrag auf Familienzusammenführung hat zerschellt. Die Enttäuschung schlägt in
Nachfolge. Tabaré Vázquez, der für Mujicas Jihad zurückgezogen. Er verweigert sich Wut um.
Partei antrat, bat darum, seine Kampagne wieder, wie in Guantanamo, wo die Ver- Am Abend des 24. April tritt ein, wovor
nicht durch die Araber zu belasten. weigerung des Essens der einzige Weg war, sich Amerika gefürchtet hat. Jihad macht
Nur ein knapper Monat, sagt der Gewerk- gegen die Zustände zu protestieren. Es seine Drohung wahr. Gemeinsam mit den
schafter Gambera, sei ihnen geblieben, um scheint, als wäre er noch nicht bereit für anderen zieht er von dem Haus in der
sich auf die Ankunft vorzubereiten. Es sei die Begegnung mit der Wirklichkeit. Calle Maldonado zur amerikanischen
typisch für Mujica, der lieber in großen Li- Ali trägt an diesem Tag ein dickes Pflas- Botschaft, die aussieht wie eine Festung.
nien denke, als sich um Details wie Psycho- ter auf dem rechten Auge, ein kubanischer Vor der hohen Mauer davor rollen sie ihre
logen oder Dolmetscher zu kümmern. Arzt hat ihn operiert. Gebetsteppiche aus. Jihad diktiert den
Im April 2015 kündigt Präsident Váz- Omar, der seit ein paar Tagen wieder in Journalisten in den Block, dass gute Ab-
quez an, bei Obama finanzielle Hilfen ein- dem Haus lebt, weil die Gewerkschaft das sichten nicht reichten. Sie hätten Rechte,
fordern zu wollen. Aus Chile heißt es jetzt, Hotel nicht mehr bezahlt, erzählt, dass er sagt er, sie wollten einen Termin beim Bot-
dass kein Interesse mehr daran bestehe, noch nie in seinem Leben eine Frau ge- schafter. Man richtet ihnen aus, dass sie
Häftlinge aufzunehmen. Der Plan von Cliff küsst habe. Die Sehnsucht frisst ihn manch- ihr Gesuch über die offiziellen Kanäle stel-
Sloan droht zu scheitern. Vielleicht war es mal auf. Er glaubt, dass eine Frau ihm hel- len sollten.
naiv zu glauben, dass man Menschen wie fen würde, das Geschehene zu vergessen. Seither kampieren sie dort und verhan-
Omar oder Jihad in einem Land wie Uru- „Aber wo soll ich sie suchen? Wer braucht deln, nicht mit den Amerikanern, sondern
guay geräuschlos entsorgen könne. einen wie mich?“ mit der neuen uruguayischen Regierung
Mohammed findet man in seinem Zim- und mit dem Flüchtlingshochkommissariat
Der Enttäuschte: Mohammed mer, wo er wie meistens mit dem Laptop der Uno. Es geht um mehr Geld, um Hilfe
An einem dieser Abende sitzt Jihad wie auf dem Schoß auf seinem Bett sitzt. Er für die Angehörigen. Es geht um den Preis
ein Gespenst vor dem Computer im Foyer. ist nicht gut zu sprechen auf Besuch aus für zwölf verlorene Jahre.
Er klickt sich durch Fotos aus einem syri- Deutschland.
Video: Leben
FOTO: DER SPIEGEL

schen Gefängnis. Sie zeigen Leichen, an Im Jahr 2010, als Deutschland mit den
denen noch Blut klebt, Wärter, die grin- USA die Aufnahme von drei Häftlingen nach Guantanamo
send vor der Kamera posieren. Es sind Bil- spiegel.de/sp212015guantanamo
der, die an ein anderes Symbol erinnern. * Am 1. Mai beim Gebet während eines Protests. oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 21 / 2015 91


Ausland

PEKING kometenhaften Aufstieg, ein paar Jahre bei chinesischen


Meistern in die Lehre gegangen. Doch schnell störte ihn, dass
niemand mehr neue Sketche schrieb. Die Meister begnügten
sich damit, überlieferte Skripte zu variieren. „Um mich selbst
auszudrücken, habe ich etwas Neues gebraucht.“
Seit zwei Jahren arbeitet er bereits an seinem ersten Stand-
up-Programm. Zwar gibt es in China ein paar moderne Come-
Plüschige Soft Power dians, aber keine Stand-up-Kultur. In Peking und Shanghai er-
zählen in Klubs Ausländer anderen Ausländern Witze, auf Eng-
Global Village Wie ein kanadischer Komiker lisch. Doch das sind Comedy-Gettos, nichts für Dashan, er will
vor chinesischem Publikum auftreten. Deshalb zieht er nun
die Chinesen zum Lachen bringen will durch Universitäten, um seine Witze zu proben und seine Poin-
ten zu polieren. Aber auch um zu testen, ob das funktioniert:

D
as Problem mit Stand-up-Comedy in China fängt damit Comedy in China.
an, dass es im Chinesischen kein richtiges Wort dafür Wenn Ausländer im chinesischen Showgeschäft Erfolg haben
gibt. „Einer steht auf der Bühne und erzählt Witze“, so wollen, müssen sie sich auf einen Deal einlassen. Wer traditio-
erklärt der Comedian Mark Rowswell es den etwa 500 Studen- nelle Sketche aufsagt, die aus Wortspielen und historischen
ten der Pekinger Fremdsprachenuniversität, die vor ihm sitzen. Anekdoten bestehen, wird zwar brav beklatscht, verschwindet
Das chinesische Wort für Stand-up ist „Tuokouxiu“, das be- aber schnell wieder in der Versenkung. Wer massentauglich
deutet „Talkshow“. „Ich bin aber nicht Oprah Winfrey“, sagt sein will, muss sich auf Kalauer über die Zumutungen des All-
Rowswell. Die Studenten lächeln, was vielleicht auch daran tags beschränken: Stau, Smog, Schwindeleien. Politische Witze
liegt, dass Rowswell fließend Chinesisch spricht, mit Pekinger sind tabu. „Die Toleranz Chinas gegenüber Kritik von Auslän-
Dialekt, der so scharf ist wie chinesischer Hirseschnaps. dern ist gleich null“, sagt Rowswell. Wegen seiner Bereitschaft,
Mark Rowswell ist Kanadier und wahrscheinlich der bekann-
teste Ausländer in China. Seine Berühmtheit hat er einem
Zufall zu verdanken: Nach dem Chinesischstudium in Toronto
kam Rowswell 1988 als Austauschstudent nach Peking, auf dem
Campus wurde er gefragt, ob er in einem traditionellen Sketch
im Fernsehen mitmachen wolle. Er stimmte zu, im Wesent-
lichen spielte er sich selbst: einen Chinesisch sprechenden Aus-
länder mit leichtem Akzent. In der Sendung nannten sie ihn
„Dashan“, großer Berg. Als die Sendung zu Silvester ausge-
strahlt wurde, sahen fast 600 Millionen Chinesen zu. Rowswell
konnte nicht mehr durch Peking laufen, ohne erkannt zu wer-
den. Von nun an war er: Dashan, der Ausländer, der traditio-
nelle Sketche aufführt. Im Grunde ist er das geblieben. Nur
sein Chinesisch ist inzwischen perfekt.
In den Neunzigerjahren war ein Ausländer, der zum Rhyth-
mus einer Bambusklapper chinesische Wortwitze reißt, eine
Sensation. Rowswell machte Karriere, insgesamt viermal trat
er in der Frühlingsfestgala des Staatssenders CCTV auf, der
meistgesehenen Show des Landes. Damit hält er unter Aus-
ländern den Rekord. Einen Rekord, auf den er stolz ist.
Heute aber interessieren solche Sketche immer weniger. Comedian Rowswell: Ironie funktioniert selten
Man hört sie ab und zu im Autoradio älterer Taxifahrer, sonst
kaum noch. Rowswell hat daher Werbefilme gedreht, er hat sich auf diesen Deal einzulassen, muss er oft Kritik einstecken.
Chinesisch auf CCTV unterrichtet und ist zum kanadischen Der US-Autor Peter Hessler hat ihn einmal einen „dressierten
Botschafter des guten Willens ernannt worden. Er ist 49 Jahre Affen“ genannt. Andere Kritiker sagen, Rowswell sei für
alt und mit einer Chinesin verheiratet, mit der er zwei Kinder Kanada das, was der Panda für China sei: ein plüschiges Soft-
hat. Er ist immer noch Dashan, aber er will sich jetzt neu er- Power-Symbol. Hübsch, aber harmlos.
finden: als Stand-up-Comedian.   Rowswell ärgert sich darüber, er sieht sich als Mann des Dia-
Rowswells Pointen speisen sich zum größten Teil aus Ost- logs. Nachdem 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens
West-Klischees, davon gibt es viele in China. Weil die meisten die Studentenproteste niedergeschlagen worden waren, blieb
Chinesen der Meinung sind, dass ihr Land Westler überfordert, er als einer von wenigen Austauschstudenten im Land. Er sagt,
bemuttern sie die Fremden gern und loben sie überschwänglich er begegne heute noch Menschen, die ihm danken, dass er in
für banale Dinge. Etwa für das Essen mit Stäbchen. „Ich bin China blieb, als das Land Freunde am dringendsten brauchte. 
seit mehr als 25 Jahren in China“, ruft Rowswell und schaut In der Universität erntet Rowswell nach einer Stunde tosen-
ins Publikum, „also länger als ihr. Habt ihr euch eigentlich gut den Applaus. Ein, zwei Pointen haben nicht funktioniert, weil
eingelebt? Könnt ihr mittlerweile mit Stäbchen essen?“ Es sie zu ironisch waren. Ironie hat es schwer in China. Außerdem
funktioniert, die Studenten lachen. hat er einen Kompromiss mit seiner Vergangenheit geschlossen
Wenige Stunden vor seinem Auftritt in der Universität sitzt und seine Bambusklapper ausgepackt, einen alten Sketch auf-
Rowswell in einem Pekinger Café, das Basecap tief in die Stirn gewärmt. Rowswell freut sich über den Applaus, aber er weiß,
gezogen, die Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt. Kein dass die Studenten ein dankbares Publikum sind. Sie zahlen
Wunder, dass fast niemand mehr traditionelle Sketche schaue, nichts und lachen gern. Ende des Jahres will er seine erste
sagt er. China habe sich weiterentwickelt; „Xiangsheng“, die kommerzielle Stand-up-Tour auf die große Bühne bringen.
Sketche, seien stehen geblieben. Er ist damals, nach seinem Dann wird es ernst mit dem Humor. Maximilian Kalkhof

92 DER SPIEGEL 21 / 2015


Sport
Ski alpin
„Absurde
Auswüchse“ Fußball
Im Fall um die Ski-Olympia-
siegerin Anna Fenninger Geheime Zeichen
wird die Kritik am Österrei-
chischen Skiverband (ÖSV)
lauter. „Es ist eine Sauerei,
was der Ver-
band sich er-
laubt“, sagt
der ehemali-
ge Slalomspe-
zialist Kilian
Albrecht. Der
ÖSV fordert
von Fennin- Fenninger
ger, sich von
ihrem deutschen Manager
Klaus Kärcher zu trennen
und sich künftig vom Ver-
band vermarkten zu lassen.
Fenninger aber spricht
von Nötigung und will ihre
Karriere beim ÖSV eher be-
enden, als dass sie dem
Wunsch entspräche. „Dem
ÖSV geht es nur um Macht.
Das Streben nach Kontrolle
ist eine Verbandskrankheit“,
findet Albrecht. Der hatte
sich einst im Streit vom ÖSV
getrennt und war anschlie-
ßend für Bulgarien gestartet.
Fenninger ist nicht nur Öster-
reichs beste Skifahrerin,
Weltmeisterin und Gesamt-
weltcup-Gewinnerin, son-
dern auch die beliebteste
Athletin des Landes. Sollte
sie sich von ihrem Manager
trennen, bietet ihr der Ver-
band ein eigenes Team an,
persönliche Betreuer, Trai-
ner, Mediziner. Ein ähnliches
Angebot machte der ÖSV
vor drei Jahren Marcel Hir- Bayern Münchens Profi Bastian Schweinsteiger vor einem Freistoß
scher. Zu dem Zeitpunkt war
FOTOS: GEPA / IMAGO (L.); AUGENKLICK / FIRO SPORTPHOTO / PICTURE ALLIANCE / DPA (R.)

Michael Holzer dessen Mana- Fußball im Abstiegskampf, das ist auch Spio- wurde schon geknackt. Lars Voßler, im Trai-
ger, dann übernahm ÖSV- nage und ein bisschen Spieltheorie: Weiß die nerstab des SC Freiburg für diese Standardsi-
Präsident Peter Schröcksna- andere Mannschaft, was ich von ihr weiß? tuationen zuständig, brauchte kein Handy. Er
del die Vermarktung des Von André Breitenreiter, dem Trainer des bedient sich der Bilder eines Analyseanbie-
Kombinationsweltmeisters. Bundesligisten SC Paderborn, wird berichtet, ters, auf denen stets jeder Spieler zu sehen ist.
Holzer sagt: „Der Verband er habe mit der Handykamera Eckbälle und Freiburgs Profis sollen sich auf dem Platz
stuft jeden, der sich nicht in Freistöße künftiger Gegner aufgenommen, um nicht mit der Decodierung von Gesten belas-
seinem Einflussbereich befin- deren geheime Zeichensprache zu entschlüs- ten. Voßler ruft stattdessen Informationen
det, als bedrohlich ein. Die- seln. Einen Arm heben oder zwei, die Kugel aufs Feld, sobald er ein Zeichen wiederer-
ses Prinzip hat absurde Aus- noch mal zurechtlegen – das kann bedeuten, kannt hat. Gegen den VfL Wolfsburg konnten
wüchse erreicht.“ Nach Hol- dass der Ball weit geschlagen wird oder kurz, die Freiburger zweimal Konterangriffe einlei-
zers Meinung verhält sich erst in drei Sekunden oder dass im letzten Mo- ten, weil sie den Adressaten der Eckbälle
Fenninger, wie sich ein Ver- ment zwei weitere Angreifer aus dem Rück- kannten. Das hatte die Laufrichtung bestimm-
band eine Athletin wünschen raum vors Tor laufen sollen. Wer das weiß, ter Spieler verraten. Die Geheimcodes müssen
sollte: „mündig, couragiert kann Gegenmaßnahmen treffen, Räume ver- also manchmal wechseln. Probleme, so Voßler,
und kompetent, ein Vorbild stellen, rechtzeitig eigene Leute zur Bewa- träten zuweilen auch auf, „wenn sich manche
im besten Sinne“. mag chung einteilen. Doch auch Paderborns Code die eigenen Handzeichen nicht merken“. kra

DER SPIEGEL 21 / 2015 93


FOTO: RYAN PIERSE / FIFA / GETTY IMAGES

Barcelona-Star Messi

94 DER SPIEGEL 21 / 2015


Sport

Gottes Gier
Idole Lionel Messi droht ein Prozess wegen Steuerhinterziehung,
aber das ist den Fans und den Funktionären des
FC Barcelona komplett egal. Sie sind dem kleinen Genie inzwischen hörig.

M
an könnte das bisherige Wirken nie habe spielen sehen, aber für ihn sei Richtung AC Mailand, Barcelona verbuch-
des Lionel Messi in drei Phasen Leo Messi „der beste Spieler aller Zeiten“. te einen Transferverlust von rund 45 Mil-
unterteilen. Die erste begann im Gary Lineker, englischer Großkommen- lionen Euro.
August 2005. Frank Rijkaard, damaliger tator und früherer Nationalstürmer, wirft Mitte dieser Saison erkannte Messi, dass
Cheftrainer des FC Barcelona, berief zu sich seit Monaten in Bewunderung vor er nun doch lieber auf der rechten Sturm-
einem Freundschaftsspiel gegen Juventus Messis Füße. Zuletzt befand er die Pass- seite spielt, und beorderte Neuzugang Luis
Turin den damals noch unbekannten Nach- genauigkeit des Argentiniers für so gut, Suárez ins Sturmzentrum. „Er hat gesagt,
wuchsspieler in die Startelf. Schon in der dass man „vom Glauben“ abfalle.  ich soll das spielen“, erklärte Suárez kürz-
ersten Halbzeit hatte Messi Leute wie Fa- Es gibt im aktuellen Barça-Spiel kein lich. Er, Messi. Nicht Trainer Luis Enrique.
bio Cannavaro und Patrick Vieira so lä- Konzept, keine Strategie, keine Taktik, Die Entscheidung, den Stürmer aus Liver-
cherlich gemacht, dass Juve-Trainer Fabio nichts, was Messi zu irgendetwas verpflich- pool überhaupt nach Barcelona zu holen,
Capello bei Rijkaard nachfragte, ob er die- tet. Trainer Luis Enrique, ein Disziplin- war vorher mit Messi abgestimmt worden.
sen Zwerg für ein Jahr ausleihen dürfe. fanatiker, sagt: „Er kann machen, was er Messi könnte alles von Barcelona ver-
Durfte er nicht. Nach dem Spiel sagte Ca- will.“ Die spanische Zeitung „El País“ langen. Der stolze Verein ist ihm hörig.
pello, dass er noch nie jemanden gesehen schrieb kürzlich vom „FC Messi“. Als der Chef der Finanzabteilung 2013
habe, der mit 18 Jahren so gut gewesen Natürlich weiß Messi, was er für den mitteilen ließ, dass er nicht verstehe, wa-
sei. Damals gab es zum ersten Mal stehen- Verein bedeutet. Es gehört zu den großen rum man Messi den Vertrag schon wieder
de Ovationen für Messi im Camp Nou, ei- Missverständnissen über ihn, wonach er verbessern müsse, man habe das doch ge-
nem Stadion, das für alles Mögliche be- ein entrückter, naiver, von Gott geküsster rade vor einem halben Jahr getan, erwi-
kannt ist, aber nicht für die Angewohnheit, Junge sei, der sich nur für Fußball, seine derte der Argentinier: „Herr Faus ist ein
voreilig zu huldigen. tägliche Siesta und seine Jugendliebe An- Mann, der nichts über den Fußball weiß.
Die zweite Phase, in der Messi zum bes- tonella Roccuzzo interessiere. Messi weiß, Er möchte Barcelona wie ein Unterneh-
ten Spieler des Planeten aufstieg, be- was er wert ist. Er weiß, dass die größte men führen, aber das ist es nicht.“
gann 2008. Ein gewisser Pep Guardiola Erfolgsära der Vereinsgeschichte – drei, Herr Faus hat sich zu diesem Thema nie
komponierte um ihn herum eine offensive, möglicherweise sogar vier Champions- wieder geäußert. Einige Monate später be-
ballorientierte Mannschaft. Das Ganze League-Triumphe in den letzten zehn Jah- gannen die Verhandlungen für eine Ge-
wurde Tiki-Taka getauft, und in Deutsch- ren – genau in die Zeit fällt, in der er zur haltserhöhung im laufenden Vertrag von
land war es so lange verpönt, bis die Na- ersten Mannschaft der Katalanen gehört. Lionel Messi. Nun bekommt er geschätzte
tionalmannschaft es zu kopieren begann Er weiß, dass niemand beim FC Barcelona 20 Millionen Euro im Jahr.
und in einer abgewandelten Form damit ihm irgendetwas zu sagen hat.  Messi, der kleine Mann, den die Fans
im vorigen Sommer Weltmeister wurde. Die Vereinsführung hat erkannt, dass so knuddelig finden, ist in Barcelona der
Die zweite Phase hatte 2012 ihren Höhe- Messi glücklich sein muss, um gut zu spie- Imperator, ein Machtmensch. Und wenn
punkt. In diesem Kalenderjahr schoss Mes- len. Das bedeutet, dass ihm nicht die bes- es ums Geld geht, dann ist Messi ein
si 91 Tore. Irrsinn. ten Spieler der Welt zur Seite gestellt wer- Mensch mit Schwächen.
Phase drei nun fing Mitte dieser Saison den müssen. Man muss Messi die Spieler Finanzermittler der Guardia Civil in Ma-
an, sie zeigt Messi in seiner Blüte. Als kom- zur Seite stellen, mit denen er am besten drid haben derzeit einige Benefizspiele im
pletten, gereiften Fußballer. Er dominiert spielt. Spieler, die er mag. Die sich unter- Visier, die Messis Stiftung zu wohltätigen
nicht nur das Barça-Spiel. Er ist das Spiel. ordnen. Die Hierarchien akzeptieren. Stür- Zwecken in den USA und in Südamerika
Er ist das, was in Barcelona auf Tiki-Taka mer Samuel Eto’o hat das nie getan und organisierte. Der Verdacht der Ermittler
folgt. Er schießt weiterhin reihenweise musste gehen. Für ihn kam Zlatan Ibrahi- ist, dass Messi und seine Freunde hohe An-
Tore, übernimmt aber zusätzlich den Spiel- mović, ein Hitzkopf, der das noch viel we- trittsgagen an der Steuer vorbei kassiert
aufbau, ist Vorbereiter, Passgeber, kontrol- niger konnte. Der Schwede machte 2009 haben. Messi bestritt dies, als ihn die Fahn-
liert das Tempo. Er macht das, was früher in seinen ersten fünf Spielen für Barcelona der dazu als Zeugen befragten.
Xavi machte. Er ist der Kopf, das Herz der fünf Tore. Er spielte im Sturmzentrum, Zudem läuft seit knapp zwei Jahren ge-
Mannschaft, der Trainer auf dem Platz. Messi spielte rechts. Es dauerte nicht lange, gen ihn und seinen Vater ein Ermittlungs-
Beim 3:2 im Champions-League-Rück- bis Messi eine SMS an Guardiola schrieb. verfahren wegen des Verdachts der Steuer-
spiel zwischen Bayern und Barcelona – ei- SMS waren immer seine liebste Art der hinterziehung. Dem SPIEGEL liegen Do-
nem schönen Beweis dafür, wie man ein Kommunikation. Es ist bis heute leichter kumente der Staatsanwaltschaft Barcelona
Spiel gewinnen und in Wahrheit trotzdem für ihn, sich mit dem Ball oder einer Tas- und des Untersuchungsgerichts Gavà vor,
völlig chancenlos sein kann – tippte Messi tatur auf dem Mobiltelefon auszudrücken des Ortes, in dem Messi steuerpflichtig ist.
für eine Viertelstunde aufs Gas. Er leitete als mit dem Mund. Es geht um Sponsorengelder in Millio-
beide Barça-Tore ein, brachte damit sein „Ich sehe, ich bin nicht mehr wichtig für nenhöhe, die am spanischen Fiskus vor-
Team zwischenzeitlich in Führung und zer- den Verein“, tippte Messi im Mannschafts- beigeschleust worden sein sollen. Es geht
störte somit jede Münchner Hoffnung auf bus, obwohl Guardiola nur ein paar Meter um verschachtelte Firmenkonstruktionen
den Finaleinzug. Nach dem Spiel sagte vor ihm saß. Es war das Ende für Ibrahi- in europäischen und lateinamerikanischen
Bayern-Trainer Pep Guardiola, dass er Pelé mović in Barcelona. Er verließ den Verein Steueroasen, die wohl einzig und allein
DER SPIEGEL 21 / 2015 95
Sport

dem Ziel dienten, die sprudelnden Werbe- die Eltern die weltweiten Vermarktungs- haltspunkte dafür, dass Messi gemeinschaft-
einnahmen des Idols vor dem spanischen rechte an ihrem Sohn von Sports Consul- lich mit seinem Vater Steuern hinterzogen
Fiskus zu verstecken. Es geht um die Frage, tants Ltd an die Firma Jenbril SA. habe. Er gehöre auf die Anklagebank.
ob Lionel Messi wusste, welch dunkle Ka- Das Prinzip blieb das gleiche: Jenbril Weder Lionel Messi noch sein Vater
näle Vater Messi für die Einnahmen aus SA wurde von Vater Messi kontrolliert, nehmen Stellung zu den Vorwürfen. Der
der weltweiten Vermarktung seines Soh- ebenso die zwischengeschalteten Firmen, Madrider Jurist Enrique Bacigalupo, ein
nes bereits angelegt hatte, als der noch die mit den Werbepartnern die Verträge früherer Richter des Obersten Spanischen
minderjährig war. schlossen. Sitz der Firma Jenbril war Uru- Gerichtshofs und seit Ende vergangenen
Und es geht um drastische Strafen, sollte guay, ebenfalls ein Steuerparadies. So blie- Jahres Anwalt des Spielers, antwortete
die Anklage gegen Lionel Messi zugelassen ben Messis Werbemillionen Nettogagen, dem SPIEGEL, sein Mandant habe ihm
werden und ein Gericht ihn für schuldig allein von Adidas erhielt er zwischen 2007 „Anweisungen gegeben, keinen Informa-
befinden. Dann drohen ihm bis zu sechs und 2009 exakt 3 967 785,92 Euro. Adidas tionsaustausch mit Medien über diesen
Jahre Haft und Rückzahlung der hinterzo- äußert sich nicht zu diesen zwielichtigen Sachverhalt zu unterhalten“.
genen Summe, multipliziert mit Faktor Zahlungen. Der Showdown zwischen Messi und den
sechs. In seinem Fall wären das über Strittig ist nun zwischen den Ermitt- Strafverfolgern ist in Spanien ein Spekta-
24 Millionen Euro. lungsbehörden, ob Lionel Messi von den kel. Vor seiner Vernehmung in Gavà stan-
Das Erstaunliche ist, dass Messi die Af- steuervermeidenden Firmenkonstruktio- den Dutzende Fans vor dem Justizgebäu-
färe offenbar überhaupt nicht belastet. Er nen wusste, die sein Vater errichtet hatte. de, um einen Blick auf ihren Liebling zu
lässt seine Anwälte agieren, geht erhaschen. Groll auf den mut-
zu Gerichtsterminen, wenn es maßlichen Steuersünder? Keine
sein muss. Ansonsten scheint ihm Spur.
der Vorgang egal zu sein. Er Messi versprüht in Spanien bis
spielt, als gäbe es gar kein Ver- heute die Aura des Entrückten.
fahren, das ihn ins Gefängnis Des vollendeten Fußballers, der
bringen könnte. Wenn man Messi sich mit den Trivialitäten spani-
mit Neymar und Suárez Tore be- scher Steuergesetzgebung nicht
jubeln sieht, könnte man meinen, befassen mag. Steuern sind ein
er habe noch nie so viel Spaß ge- irdisches Problem, das jemanden,
habt wie in den letzten Monaten. der offensichtlich vom Mars
Messi und sein Vater haben stammt, nicht interessieren muss.
ihre Steuerschuld bereits im Au- Als die Affäre in ihren groben
gust 2013 beglichen. Damals zahl- Umrissen bekannt wurde, erklär-
ten sie exakt 5 016 542,27 Euro an te Spaniens Sportminister José
die Finanzbehörden zurück. Die- Ignacio Wert, in dem Land seien
se Summe entspricht den Werbe- vor dem Gesetz alle gleich. In
einkünften aus den Jahren 2007 spanischen Medien wurde sogar
bis 2009, die Messi am spanischen darüber spekuliert, wie lange
Fiskus vorbei kassiert hatte. Plus Messi seiner Mannschaft wohl
Zinsen. fehlen dürfte, sollte es zum Un-
Insgesamt, so steht es in den Ballkünstler Messi: Er ist das Spiel denkbaren kommen und eine
Unterlagen der Ermittler, soll Haftstrafe ausgesprochen wer-
Messi Werbeeinnahmen in Höhe von Denn nach seinem 18. Geburtstag im Juni den. Tenor: höchstens die Saisonvorberei-
10,2 Millionen Euro kassiert haben. Unter 2005 unterschrieb er jeden Vertrag. tung. Vermutlich nicht mal das.
Messis Sponsoren, deren Zahlungen in Off- Für Messi hängt alles davon ab, ob er Es gibt Sportfeuilletonisten in Spanien,
shore-Finanzplätzen landeten, finden sich glaubhaft machen kann, dass er trotz sei- die schwören, allein Messi sei dafür ver-
illustre Namen: Pepsi, Procter & Gamble, ner Unterschriften das illegale Geschäfts- antwortlich, dass sich in diesem Land die
Danone, Adidas. modell nicht überblickte. Als die Staats- Liebe zum schönen, edlen Fußball letztlich
Es ist das gängige Motiv der Fußball- anwaltschaft ihn und seinen Vater Ende durchgesetzt habe. Nicht das profane, un-
branche, das Messi, den Außerirdischen, September 2013 als Beschuldigte anhörte, inspirierte Dauergewinnen, das Leute wie
nun in die Bredouille bringt: Gier. Bereits sagte Messi: „Um das Geld kümmert sich José Mourinho als Trainer von Real Ma-
im März 2005, er war zu dem Zeitpunkt mein Papa, und ich vertraue ihm.“ drid propagierten. Talent wird bestaunt,
17 Jahre alt, hatten seine Eltern für 50 000 Vater Messi nahm die ganze Verantwor- nicht Schweiß.
Dollar die weltweiten Vermarktungsrechte tung auf sich. Er habe das Firmendickicht War es nicht Messi, der auf dem Höhe-
an ihrem Sohn an eine Firma namens ersonnen und sämtliche Entscheidungen punkt dieses spanischen Kulturkampfs zwi-
Sports Consultants Ltd verkauft. „Ein lä- getroffen, Leo sei nur seinen Anweisungen schen Real und Barcelona die entscheiden-
cherlicher Preis“, wie der Untersuchungs- gefolgt. Sein Sohn sei nicht eingeweiht ge- den Tore schoss? Sicherte nicht er dem schö-
richter findet. Es blieb ein Geschäft in der wesen, weder in Fragen der Gesellschaf- nen Fußball den Sieg? In einem Land, in
Familie. Denn kontrolliert wurde Sports terstruktur noch in steuerliche Details. dem sich jeden Tag die Hälfte der Haupt-
Consultants Ltd mit Sitz im mittelameri- Die Staatsanwaltschaft Barcelona, die im nachrichten um Fußball dreht, sollte man
kanischen Steuerparadies Belize von den Juni 2013 von der Schuld des prominenten nicht unterschätzen, wie dankbar man Messi
Eltern Messi. Fußballers ausging, hält diese Version in- dafür ist. Ganz gleich, was die Akten sagen.
Wer fortan mit Lionel Messi werben zwischen für glaubwürdig. Sie plädierte in Alberto Garzón, Parlamentarier eines
wollte, musste mit Sports Consultants Ltd einem Schreiben im vorigen Sommer dafür, linken Bündnisses, brachte es kürzlich auf
FOTO: ULLSTEIN BILD

ins Geschäft kommen. Die Verhandlungen Messi nicht mehr als Beschuldigten zu füh- den Punkt. Im spanischen Kongress sagte
liefen zumeist über Firmen in der Schweiz ren. Das zuständige Untersuchungsgericht er: „In diesem Land kommst du nicht ins
oder in England, die Vater Messi zwischen- wies diese Kehrtwende in einer Erwide- Gefängnis, wenn du Messi heißt und Geld
geschaltet hatte. Im März 2007 übertrugen rung scharf zurück. Es gebe genügend An- hast.“ Juan Moreno, Michael Wulzinger

96 DER SPIEGEL 21 / 2015


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Sport

Hässliche
lich bald einen offenen Krieg führen wird. Liga sind die Arenen im Schnitt nicht mal
Vor dem Vorstoß der US-Senatoren hatten halb voll. Früher lief die Saison von Früh-
britische und deutsche Politiker gefordert, jahr bis Herbst, 2012 wurde der Spielplan

Sitten
das Turnier in ein anderes Land zu ver- an die westeuropäischen Ligen angegli-
legen. Die EU-Kommission schlug einen chen. Jetzt spielen die Klubs über den Win-
Boykott vor. ter. „Eine verrückte Idee“, sagt Igor Rabi-
Die Angriffe lassen Mutko bislang kalt. ner, einer der populärsten Fußballreporter
WM 2018 Russland ist kein blü- Der Minister weiß, dass er im Moment des Landes, „das Klima zerstört den Rasen.
nicht wirklich Angst haben muss um die Viele Vereine müssen auf Ausweichplätzen
hendes Fußballland. Die Stadien WM. In der Fußballwelt gibt es kaum weit entfernt spielen. So sinken die Publi-
sind oft schlecht besucht, auf jemanden, der für eine Neuvergabe oder kumszahlen weiter.“
den Tribünen kommt es regel- einen Boykott plädiert. Fifa-Präsident Das größte Problem im russischen Fuß-
Sepp Blatter erklärte kürzlich bei einem ball aber ist die Gewalt. Randale, Prüge-
mäßig zu rassistischen Exzessen. Besuch in Sotschi: „Die Führer der Länder, leien und rassistische Exzesse gehören zum
denen es nicht passt, dass die WM in Russ- Alltag der Premjer-Liga. Die Moskauer

E
nde April, vier Wochen nach der For- land stattfindet, sollen halt zu Hause blei- Nichtregierungsorganisation Sova veröf-
derung von 13 US-Senatoren, die ben.“ Auch Reinhard Rauball, Aufsichts- fentlichte einen Report, der allein in den
Fifa müsse Russland die Fußball-WM ratschef der Deutschen Fußball Liga, ist vergangenen zwei Spielzeiten über 200 ras-
2018 entziehen, gibt der russische Sport- gegen einen Boykott. „Ich erhalte mir die sistische Vorfälle dokumentiert. Fans, die
minister Witalij Mutko in Moskau eine Naivität zu sagen: Der Fußball hat national Fahnen mit Neonazi-Symbolen schwenken
Pressekonferenz. Er sitzt auf einem wei- wie international eine so bedeutende Rolle, oder öffentlich den Koran verbrennen.
ßen Ledersofa und hat gute Laune. Es geht dass er in der Lage ist, Botschaften zu ver- Fans, die dem Team aus dem Nordkauka-
um das WM-Maskottchen, „die Seele un- künden und auch in der Gesellschaft durch- sus einen Korb mit Bananen vor die Kabi-
serer Kampagne“, sagt Mutko. 50 De- zusetzen. Eine Fußball-WM kann etwas nentür stellen. Als Zenit St. Petersburg vor
signschulen und Universitäten in ganz bewegen bei den Themen freie Meinungs- drei Jahren mit Brasiliens Nationalspieler
Russland würden an Entwürfen für das äußerung, Völkerverständigung, Rassismus Hulk einen dunkelhäutigen Profi verpflich-
Maskottchen arbeiten, die Bevölkerung und auch Homophobie. Man muss dort tete, verfassten die Anhänger einen offe-
könne übers Internet Namensvorschläge hingehen und mit breiter Brust die Diskus- nen Brief: Schwarze oder schwule Profis
einreichen. Mutko lächelt. Er sagt, es gehe sion darüber führen.“ würden gegen die Vereinstradition versto-
gut voran mit der WM-Planung. Mehr als die geopolitische Lage umtreibt ßen. Eine besonders hässliche Sitte ist der-
Und der Aufruf der Amerikaner? die Fifa-Funktionäre derzeit in der Tat die zeit unter rechtsradikalen Fans von ZSKA
„Sport und Politik müssen getrennt blei- Sorge, das Turnier könnte alles andere als und Spartak Moskau beliebt. Auf Reisen
ben, schließlich wollen wir Völker zusam- ein Fest werden. Die Sanktionen des Wes- zu Spielen suchen die Männer Züge nach
menbringen“, sagt Mutko. Dann redet er tens wegen der Ukraine-Krise wirken, Russ- nicht slawisch aussehenden Menschen ab,
wieder über das Maskottchen. land geht das Geld aus. Wegen der Infla- um sie zu verprügeln. „Weißer Waggon“,
Es sind noch drei Jahre bis zur Fußball- tion sind die Kosten für den Bau der Stadien so nennen die Schläger ihre Attacken.
WM in Russland. Vor allem im Westen de- um bis zu 40 Prozent gestiegen. Das Budget „Die Gefahr, dass die Weltmeisterschaft
battieren Politiker darüber, ob das Turnier für das Turnier wurde um 430 Millionen von Rassismus verschmutzt wird, ist real“,
in einem Land ausgetragen werden kann, Euro reduziert. sagt Natalija Judina, Autorin des Sova-Re-
das die Krim annektiert hat und in der Ost- Vor allem aber ist Russland kein blühen- ports. Auch außerhalb der Stadien seien
ukraine zurzeit einen verdeckten, womög- des Fußballland. Bei Spielen der Premjer- rechte Ideen „weit verbreitet“. 2013 unter-
stützten zwei Drittel der Bevölkerung den
Slogan „Russland den Russen“.
Der Fremdenhass alarmiert die Fifa. Jef-
frey Webb, Fifa-Vizepräsident und Chef
der Anti-Rassismus-Task-Force, sagt, er sei
wegen der Zustände im kommenden WM-
Gastgeberland „sehr besorgt“. Jede WM
habe ihre Herausforderungen, „in Russ-
land ist eine der großen Herausforderun-
gen der Rassismus“. Schon im März warn-
te Webb, unter den jetzigen Umständen
könne es in Russland keine Weltmeister-
schaft geben. Ende des Jahres wird er nach
Moskau reisen, Webb will „Gespräche füh-
ren, Hilfe anbieten“.
Schwer zu sagen, ob sich die Russen von
dem Fifa-Mann helfen lassen. Sportminis-
ter Witalij Mutko sagt, der Fußballverband
habe gerade einen Anti-Rassismus-Beauf-
tragten ernannt. Ansonsten sehe er das
Problem nicht: „Bei uns spielen Fußballer
aus vielen Ländern, sie wären doch längst
ausgewandert, stünde es bei uns wirklich
FOTO: REUTERS

so schlimm.“
Lukas Eberle, Jörg Kramer, Pavel Lokshin,
Spartak-Moskau-Fußballfans in Jaroslawl: Bananen vor die Kabinentür Wladimir Pyljow, Matthias Schepp

98 DER SPIEGEL 21 / 2015


Kann man aus Tankwarten
Tankwarter machen?
MAN kann.
Der neue MAN EfficientLine 2 dreht ordentlich an der Spritsparschraube und verbraucht jetzt sogar noch
weniger als die erste Generation unserer Sparwunder. Das macht unterm Strich weniger Belastungen
für unsere Kunden – und für die Umwelt. Wie wir das schaffen? Mit einem kompromisslos auf Effizienz
getrimmten Gesamtpaket, mit D26-Motor, innovativen Wegen in Sachen Leichtbau und Luftwiderstand
sowie vielen weiteren Spritsparlösungen. Gut für die Umwelt und die TCO, schlecht für den Tankwart.
Wie man mit grünen Trucks schwarze Zahlen schreibt: www.man.eu/mankann

Engineering the Future – since 1758.


Wissenschaft+Technik
schämen sich plötzlich,
deutsch zu sein, haben kein
positives Nationalgefühl
mehr. Häufig fühlen sich die
Jugendlichen aber auch be-
vormundet.
SPIEGEL: Inwiefern?
Stubig: Sie haben das Gefühl,
dass die Lehrer ihnen vorge-
ben wollen, wie sie über den
Holocaust reden müssen, wel-
che Fragen erlaubt sind und
welche nicht. Es kommt bei-
spielsweise immer wieder
Deutsche Schüler bei Besuch des KZ Auschwitz
vor, dass Schüler bei einem
Auschwitzbesuch sehr techni-
Bildung sche Fragen stellen – etwa,
„Viele schämen sich, deutsch zu sein“ wie die Vergasungsanlagen
genau funktionierten. Viele
Silviana Stubig, 31, Psychologin Stubig: Das kann man so pau- Lehrer reagieren dann ge-
an der Universität Köln, über die schal nicht sagen. Aber so- schockt und ungehalten.
Schwierigkeiten Jugendlicher, bald Kinder anfangen zu fra- SPIEGEL: Solche Fragen kön-
mit dem Thema Holocaust um- gen, weil sie etwas dazu nen einen ja auch irritieren.
zugehen gelesen oder gesehen haben, Stubig: Sollten sie aber nicht.
sollten sie auch Antworten Es ist für Jugendliche nicht
SPIEGEL: Kürzlich haben viele bekommen.  einfach, die schrecklichen
Medien über das Ende des SPIEGEL: Wie reagieren die Eindrücke zu verarbeiten. Sie
Zweiten Weltkriegs und den Schüler auf das Thema Holo- suchen einen Weg, damit um-
Holocaust berichtet. Ab wel- caust?  zugehen. Welcher 16-Jährige
chem Alter sind Kinder in Stubig: Ich habe Schüler im will sich schon die Blöße ge-
der Lage, sich mit so schwieri- Rahmen einer Studie befragt. ben, vor seinen Klassenkame-
gen Themen zu befassen?  Viele sind überfordert. Sie raden zu weinen? elg

Waffentechnik E-Kanone: Die Geschosse flie- mit sogar ein Zerstörer tref-
Schienengewehr gen mit siebenfacher Schallge- fen ließe, der sich jenseits des
schwindigkeit dreimal so Horizonts befindet. Ohne
Nach Elektroautos und Elek- schnell durch die Luft wie her- Sprengkopf soll die Munition
trofahrrädern könnten bald kömmliche Projektile (was auch günstiger werden: Der
Elektrogeschütze auf den die Abwehr feindlicher Rake- Preis pro Schuss könnte auf
Markt kommen: Kanonen, ten erleichtert). Die Reichwei- läppische 25 000 Dollar sin-
die ihre Geschosse nicht mit- te soll mit über 200 Kilome- ken – 40-mal weniger als ein
Fußnote

86
hilfe von Explosivstoffen be- tern so groß sein, dass sich da- Marschflugkörper. hil
schleunigen, sondern rein
elektromagnetisch. „Railgun“
Das Projektil sitzt auf einem Schlitten, Magnetfeld
heißt das Konzept: Schienen-
der zwischen zwei leitenden Schienen
gewehr. Die Wattwumme
läuft. Werden diese unter Strom
funktioniert wie eine Arm-
brust, bei der ein Schlitten
zwischen zwei Strom führen-
gesetzt, baut sich ein Ma-
gnetfeld auf, welches den Projektil Prozent
den Schienen entlangrast und Schlitten nach vorn aller Freiwilligen, die an ei-
damit das Geschoss fort- beschleunigt. Schlitten nem Experiment der Har-
schleudert. Die Idee ist schon vard School of Public Health
teilnahmen, konnten an-
FOTO: SEPP SPIEGL / PHOTOWEB X / ACTION PRESS (O. L.)

hundert Jahre alt, doch bis-


lang kamen derartige E-Waf- hand ihrer Stuhlproben
fen nur in der Science-Fiction identifiziert werden. Analy-
zum Einsatz. Noch gilt die 10m langer Lauf siert wurde die Zusammen-
Technik als klobig und anfäl- setzung der Darmflora, die
lig; aber schon nächstes Jahr Energie- sich von Mensch zu
will die U. S. Navy ein solches Projektilgewicht 10 bis 20kg versorgung Mensch unterscheidet –
Geschütz testweise auf einem fast so charakteristisch wie
Hochgeschwindigkeitskatama- ein Fingerabdruck. Das Mi-
ran installieren, berichtet die Railguns sollen ab 2018 auf Tarn- krobenprofil könnte in Zu-
Militärzeitschrift „Jane’s“. schiffen der neuen Zumwalt-Klasse kunft dazu dienen, Verbre-
Die angeblichen Vorteile der eingesetzt werden. cher zu identifizieren.

100 DER SPIEGEL 21 / 2015


Bedrohter Schönling
Wie ein krabbelnder Regenbogen sieht dieser
Krebs aus Indonesien aus. Der Hobbyforscher
Christian Lukhaup aus Hinterweidenthal bei
Pirmasens hat die neue Art entdeckt und Che-
rax pulcher getauft – schöner Krebs. So
schön, dass er bedroht ist durch Tierhandel.

Kommentar

Warten auf die nächste Killerseuche


Die Entwicklung eines Ebola-Impfstoffs wurde verschlafen.

Als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Liberia voriges Impfstoff, wenn vor einigen Jahren die erforderlichen Vorun-
Wochenende für ebolafrei erklärte, feierten die Einwohner tersuchungen an gesunden Freiwilligen erfolgt wären. Dann
von Monrovia auf den Straßen. Keine Frage: Für die Men- hätte sich die Wirksamkeit der Vakzine noch auf dem Höhe-
schen in Westafrika ist es eine gute Nachricht, dass die Seu- punkt der Epidemie vor Ort testen lassen. Stattdessen fanden
che besiegt zu sein scheint. Für die Impfstoffforschung hinge- erst im vorigen Herbst, als in Westafrika bereits die Seuche
gen ist dies eine schlechte Nachricht. Wo kaum noch ein Risi- tobte, die Voruntersuchungen statt, vorwiegend an Proban-
ko besteht, sich anzustecken, kann auch die Wirksamkeit der den in den USA und Europa. Jetzt ist es für einen direkten
Vakzine nicht mehr direkt an Gesunden erprobt werden; le- Nachweis, dass die nun zur Verfügung stehenden Impfstoffe
diglich Antikörpertests können dann noch indirekte Hinweise tatsächlich wirken, womöglich zu spät. Leider hatte die Phar-
darauf liefern, ob ein Impfstoff schützt. Vielleicht wird das im maindustrie vor Ausbruch der Seuche kein Interesse daran,
FOTO: CHRISTIAN LUKHAUP (O. R.)

Not-Fall von Ebola sogar für eine Zulassung reichen. Die die Entwicklung eines Ebola-Vakzins voranzutreiben. Und
WHO lobte sich jedenfalls schon einmal selbst dafür, wie staatliche Fördergelder für die Voruntersuchungen gab es
schnell und reibungslos die Entwicklung eines Ebola-Impf- auch nicht. Dabei kosten diese Tests meist nur einige wenige
stoffs gelaufen sei, beispielhaft für andere Seuchen. Doch das Millionen Dollar – kein Vergleich zu den wirtschaftlichen
ist nicht einmal die halbe Wahrheit: Der Spurt am Schluss Schäden, die Ebola angerichtet hat. Jetzt müssen aus diesem
kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass lange Zeit nichts Desaster die richtigen Lehren gezogen werden. Die nächste
passierte. Vielleicht gäbe es heute schon einen zugelassenen Killerseuche kommt bestimmt. Veronika Hackenbroch

DER SPIEGEL 21 / 2015 101


Was Frauen wollen
Sexualität Wie wild mögen sie’s, wie zart,
wie oft? Forscher haben die Lust der Frauen
vermessen und festgestellt: Sie sind
beim Sex so mutig und selbstbewusst wie nie –
und dennoch treu.

102 DER SPIEGEL 21 / 2015


Titel

A
nna saß nackt auf ihrem Freund,
als die Tür aufging. Seine Mutter
stand im Zimmer – und machte kei-
ne Anstalten, wieder zu gehen. „Entspann
dich“, sagte sie zu Anna. „Das ist nicht
der erste nackte Hintern, den ich sehe.“
Anna, damals 16, fand den Auftritt
„wahnsinnig peinlich“. Sex machte mit
dem Kerl ohnehin nicht allzu viel Spaß.
Die Beziehung hielt nicht lange, nach ein
paar Monaten war es vorbei. „Wir haben
einfach nicht zusammengepasst“, sagt
Anna. Es folgten eine Bettgeschichte, „die
nicht der Rede wert war“, und eine weite-
re Affäre: „Das war auch nicht das Wahre.
Aber man probiert halt vieles aus.“
So richtig Spaß am Sex bekam sie erst
mit Tom. Er hatte sie in München auf der
Straße angesprochen. Da war Anna, blaue
Augen, schwarzes Haar, 19 Jahre alt und
hatte gerade ihre Ausbildung an einer Mu-
sicalschule begonnen. Sie war abends mit
ihrer besten Freundin unterwegs, er mit
ein paar Kumpels. „Hi, wie geht’s?“, sagte
er zu ihr – und daraus sind mittlerweile
sechs Jahre Beziehung geworden.
„Das mit Tom war von Anfang an rich-
tig gut“, sagt sie. Die beiden wohnen in-
zwischen zusammen in Regensburg, er stu-
diert noch, sie arbeitet als Schauspielerin.
Fünf-, häufig sechsmal in der Woche
hätten sie Sex, berichtet Anna, immer
noch, nach all den Jahren: „Echt jetzt!
Das ist uns beiden sehr, sehr wichtig.“ Die
beiden tun’s im Stehen, oral, anal, Doggy
Style (so mag sie’s am liebsten), im Urlaub
auf dem Balkon mit Meerblick oder ganz
klassisch im Bett. „Ich bin durch das viele
Tanztraining sehr gelenkig“, sagt sie.
Die 26-Jährige zeigt ihren Körper gern.
Gerade spielt sie die Hauptrolle in einem
Theaterstück, bei dem sie über lange Stre-
cken komplett nackt auf der Bühne steht.
Sie gibt die Verführerin, die den Männern
zeigt, wo’s langgeht.
Zu Hause, nach anstrengenden Arbeits-
tagen, mag Anna es lieber, wenn Tom
„die Führung übernimmt“. Aber Sado-
maso gehört – trotz des Erfolgs von
„Shades of Grey“ – nicht zum Standard-
repertoire des Paars. Unterwerfung müsse
dann doch nicht sein. Auf zu viel Zärt-
lichkeit allerdings steht sie genauso wenig,
FOTO: "REFRACTION", NATACHA MERRITT FROM "DIGITAL DIARIES" 2000

da sei sie „sehr unweiblich“, sagt Anna:


„Kuscheln nach dem Sex ist nicht mein
Ding.“
Wo ist die Schublade, in die sich Anna
packen ließe? Die junge Frau hat viel he-
rumprobiert, Sex bedeutet ihr viel, frei-
zügig spricht sie darüber – auch wenn sie
ihren echten Namen nicht gedruckt lesen
will, ebenso wenig wie die anderen jungen
Frauen, die dem SPIEGEL intime Erleb-
nisse erzählt haben.
Ist Anna eine Nymphomanin, nur weil
Foto aus dem Kunstband „Digital Diaries“ sie sehr oft Sex hat? Natürlich nicht. Anna
hält Tom seit sechs Jahren die Treue, ist
DER SPIEGEL 21 / 2015 103
Titel

Unisex Mehr Experimentierlust sie deshalb ein Heimchen am Herd? Na-


Praktiken beim Partnersex** türlich auch nicht.
Ergebnisse der Studie Die Schubladen gibt es nicht mehr, und
„Studentische Sexualität im Wandel“ daher ist es schwer zu sagen, was Frauen

44
Prozent gucken wirklich wollen. Und wie sie’s am liebsten
Q Frauen Q Männer gemeinsam haben: die harte Nummer? Romantik? Bei-
Quelle: Dekker / Matthiesen 2015, UKE; Befragungen von Pornos. des? Etwas ganz anderes? Welcher Män-
1966, 1981, 1996 und 2012; Auswahl: 9748 Studierende 1996: 29 Prozent. nertyp ist gewünscht? Die guten alten Ma-
im Alter von 20 bis 30 Jahren; Angaben in Prozent;
*26- bis 30-Jährige; **Paare, die zum Zeitpunkt der
Befragung in einer festen Beziehung sind
chos, mit Brusthaar und sonorer Stimme?
Oder eher die Glattrasierten mit den fein
manikürten Händen?

38
Prozent benutzen Sind die Frauen heute alle aufgeklärt
einen Dildo
oder Vibrator.
und selbstbestimmt, gieren sie nach Sex
1996: 11 Prozent. wie die Kerle, lieben sie Pornos und ver-
gnügen sie sich mit erotischen Spielen je-
der Variante? Oder sind sie immer noch
das prüdere Geschlecht, diejenigen, die da-
Intime Partner rauf warten, erwählt zu werden, statt selbst

36
Prozent
„Hatte bisher mehr als probieren auszusuchen? Geht es den Frauen am
sechs Geschlechtspartner“* Fesselspiele. Ende gar nicht so sehr um Sex, sondern
1996: 18 Prozent. vielmehr oder immer noch um die große
61 Liebe? Und schließlich: Bekommen sie,
was sie wollen?
Die Wissenschaft versucht, diese Fragen

20
Prozent zu beantworten – ohne Scheu, ohne Ste-
47 praktizieren reotype. Das gelingt nicht immer, zumal
51 Rollenspiele. Befragungen zum Thema Sex häufig un-
39 1996: 11 Prozent. zuverlässig sind und Modetrends überbe-
werten. Und doch gibt es eine Studie, die
schon so oft durchgeführt wurde und in
27 der Forscher so viele Leute befragten, dass
Pornokonsum man sie ernst nehmen muss. Die Langzeit-
„Habe in den vergangenen studie „Studentische Sexualität im Wan-
vier Wochen Pornos gesehen“ del“, bei der Frauen und Männer im Jahr
12 1966 erstmals zu ihrem Liebesleben befragt
wurden, kommt jetzt zu dem Ergebnis:
1966 1981 1996 2012
85 Junge Frauen zeigen sich deutlich experi-
mentierfreudiger als noch in den Neunzi-
gerjahren; ihr Erfahrungsschatz ist seitdem
Treue 23 Q Frauen Q Männer bemerkenswert gewachsen.
„Verlange sexuelle Treue Bei der jüngsten Befragungswelle des
von der Partnerin/vom Partner“** Instituts für Sexualforschung und Forensi-
sche Psychiatrie des Universitätsklinikums
Früher Sex Hamburg-Eppendorf, deren noch unveröf-
2012 85 Erster Geschlechtsverkehr
fentlichte Ergebnisse dem SPIEGEL vorlie-
gen, wurden Fragebogen an fast 2100 Stu-
1996 69 mit 18 Jahren oder früher 74 dierende in Deutschland verteilt. Demnach
ist Vaginalsex zwar wie eh und je die be-
liebteste Form: Fast 90 Prozent der befrag-
2012 82 62 ten Frauen gaben an, dass sie zuletzt auf
diese Weise dem Beischlaf frönten. Aller-
1996 62 Geburtsjahrgänge dings gibt es eine viel größere Bereitschaft,
1990 bis 1994
neue Sexpraktiken auszuprobieren, als bei
der letzten Erhebung 1996. „Der Markt
der Möglichkeiten wird immer bunter und
größer“, sagt Studienleiter Arne Dekker.
Während Mitte der Neunziger nur
knapp 30 Prozent der Frauen bereit waren,
zusammen mit ihrem Partner Pornos zu
20 schauen, sind es jetzt schon 44 Prozent.
Geburtsjahrgänge Einen Vibrator benutzten in jenen Zeiten,
10 1940 bis 1944 als man „Beverly Hills 90210“ schaute und
Fremdgehen bauchfrei trug, gerade mal 11 Prozent der
Studentinnen. Mittlerweile sind es 38 Pro-

8
Prozent sind in ihrer
gegenwärtigen Bezie- zent. Der Anteil der Frauen, die schon ein-
hung fremdgegangen. mal Erfahrung mit Fesselspielen gemacht
1981: 34 Prozent. haben, hat sich verdoppelt: von 18 auf 36
104 DER SPIEGEL 21 / 2015
Prozent. „Häufig bleibt es aber beim ein-
maligen Ausprobieren“, sagt Dekker.
Knapp 60 Prozent der Akademikerin-
nen gaben an, dass sie sich schon einmal
zu Frauen hingezogen gefühlt hätten. Die-
ser Wert ist seit der zweiten Befragungs-
welle 1981 weitgehend konstant geblieben.
Mitte der Sechzigerjahre hingegen, als die
sexuelle Revolution ihren Anfang nahm,
trauten sich weitaus weniger Frauen, ihr In-
teresse am gleichen Geschlecht zuzugeben:
Weniger als 20 Prozent waren es damals.
Bemerkenswert sind auch die Ergebnis-
se zum Thema Treue. Bei aller Offenheit
für sexuelles Neuland: Fremdgehen ist ver-
pönt. 70 Prozent der Frauen verlangten in
den Neunzigerjahren Treue von ihrem
Partner. 85 Prozent tun es heute. Die große
Mehrheit junger Akademikerinnen (74 Pro-
zent) wünscht sich gar eine „lebenslange

„Viele Beziehungen sind


kurz, treu und wechseln
sich ab mit ebenfalls kurzen
Singlephasen.“
Beziehung“ – vor 16 Jahren waren es
knapp 60 Prozent. Sie treffen laut Studie
auf junge Männer, die ähnliche Vorstellun-
gen haben.
Aber bleiben sie auch tatsächlich dem
Partner treu? In den Achtzigerjahren ga-
ben 34 Prozent an, ihren aktuellen Freund
schon einmal betrogen zu haben. Heute
sind es 8 Prozent.
„Das heißt aber nicht, dass heutige Stu-
denten zur monogamen Sexualmoral ihrer
Großeltern zurückkehren“, sagt Dekker.
„Das wäre eine Fehlinterpretation.“
Schauspielerin Anna ist alles andere als
prüde, trotzdem verlangt sie „die absolute
Treue“ von Tom. „Alles andere macht die
Liebe kaputt“, sagt sie. Natürlich sei ihr
klar, dass Tom auch andere Frauen attrak-
tiv finde. Das gehe ihr mit manchen Män-
nern genauso. „So zu tun, als wäre das
nicht so, wäre ja total verlogen“, sagt sie.
Trotzdem müsse man den Wert der Bezie-
hung kennen und sich immer wieder für
den eigenen Partner entscheiden.
Tom, sagt Anna, habe tolle Augen und
einen schönen Rücken – das sei ihr wichti-
ger als zum Beispiel ein wohlgeformter Po.
Außerdem achte er sehr auf sich. „Er ra-
siert sich die Achseln, das finde ich gut“,
sagt sie.
Eine Sexkrise nach drei Jahren Bezie-
hung konnten aber auch Anna und Tom
FOTO: NINO HALM / DER SPIEGEL

nicht verhindern. „Die Lust war plötzlich


nicht mehr so stark wie früher“, sagt sie.
„Irgendwann setzt ein Gewöhnungseffekt
ein. Darunter haben wir beide gelitten.“
Die Rettung brachten Sexgutscheine. Je-
der musste sich etwas für den anderen
ausdenken und auf einen Zettel schrei- Schauspielerin Anna: „Man probiert halt vieles aus“

DER SPIEGEL 21 / 2015 105


Titel

ben. „Gutschein für eine Penismassage“ Treue kann man sich wunderbar leis- großer Vorteil für die Anbahnung von One-
etwa. „Da lief es plötzlich wieder“, sagt ten – wenn man ohnehin nur für jene drei Night-Stands.
Anna. Besonders gut fand sie, als Tom sie Jährchen zusammenbleibt, in denen man Das System der Auslese ist einfach: Wer
einmal überraschte, als sie nach Hause aufeinander abfährt. ein Foto auf dem Smartphone nach links
kam. Er war nackt – nur ein rotes Ge- Auf erotische Abenteuer seien die meis- wischt, sortiert aus, was nicht gefällt. Nach
schenkband schmückte ihn. ten Frauen nur während ihrer Single- rechts bedeutet: engere Auswahl. Kontakt
Tom wusste wohl, was auf dem Spiel phasen aus, sagt Matthiesen. An Angebo- in Form eines Chats ist nur dann möglich,
stand. Ein fehlendes oder fortwährend un- ten mangelt es selten. Wer Sex haben will, wenn beide ihr Okay gegeben haben – so
befriedigendes Sexleben wäre für Anna kann sein passendes Gegenstück mit Leich- wie dieser Mann, 32, und diese Frau, 27,
ein Trennungsgrund. tigkeit finden: in Bars oder Diskotheken, die ihren Kennenlern-Chat zur Verfügung
„Sex ist zu einem Lebensbereich gewor- und auch das Smartphone birgt eine Welt gestellt haben:
den, den Frauen mittlerweile selbst gestal- von Offerten.
ten und optimal ausschöpfen können“, sagt Junge Erwachsene auf der Suche nach Sie: Hi
die Hamburger Sozialwissenschaftlerin Sil- schnellen Sexdates nutzen mit Vorliebe die Er: Hi
ja Matthiesen. Sie hat umfassende Studien Smartphone-App Tinder: Schätzungsweise Sie: Ich mag das Foto, auf dem deine
über das Sex- und Beziehungsverhalten 50 Millionen Menschen sind es weltweit, Finger in deinem T-Shirt stecken ;)
Jugendlicher und Studierender verfasst. Ih- in Deutschland mehr als 2 Millionen. Er: Danke! Alles gut bei dir?
ren Erhebungen zufolge haben Studentin- Sie: Ja, bin grad nach Hause, und bei dir?
nen bis zum Alter von 30 Jahren im Schnitt
mit sieben verschiedenen Partnern Sex ge-
Paulina machte ihre (…) Was willst du denn hier?
Er: Es wechselt immer mal ab. Eine Weile
habt. Damit liegen sie leicht vor ihren intensivste Sexerfahrung lang war es schon eher Sex, dann einfach
männlichen Kommilitonen. „Frauen sind
sexuell also etwas erfahrener“, sagt Mat-
auf einer Gefriertruhe interessante Gespräche, Menschen ken-
nenlernen. (…)
thiesen. Sie fangen auch früher an: mit in einer Kneipe in Istanbul. Sie: Waren bisher, wenn ich mal ganz
15,4 Jahren, die Jungs mit 16,5. ehrlich bin, nur recht wenige dabei, mit
Die Hälfte der Zeit – durchschnittlich Die App greift auf die Facebook-Profile denen ich sofort ins Bett gehen würde ;)
vom 13. Lebensjahr bis zum Zeitpunkt der ihrer Mitglieder zu. Wer Tinder herunter- Er: Haha, davon gibt es meist wirklich
Befragung – lebten die Mädchen und dann geladen hat, dem werden ständig neue nur sehr wenige. Gibt es aber auch. Und
jungen Frauen in festen Beziehungen. Die Profilbilder präsentiert. Heiko, 23, mit das ist ja auch irgendwie spannend ;)
Suche nach der großen Liebe ist ein Motiv, nacktem Oberkörper am Strand. Jasmin, Finden KÖNNTE man hier wohl wirklich
das nie verblasst. 29, Schmollmund, Bikini. Felix, 28, mit alles. (…)
Matthiesen konnte bei ihren Studien zu- meersalzgebleichtem Haar im Gelände- Sie: Zum Sex habe ich mich aber noch
dem ein eindeutiges Muster erkennen, sie wagen. nie verabredet.
nennt es „serielle Monogamie“. Das bedeu- Die Fotos sind wichtig. Sie geben einen Er: Wenn ich das richtig lese, bist du aber
tet: „Viele Beziehungen sind kurz, fast im- ersten Hinweis darauf, was er oder sie bei zumindest recht offen, was alles Mög-
mer treu, und sie wechseln sich ab mit eben- Tinder sucht. Viel nackte Haut heißt Sex, liche angeht. (…) Lass uns mal treffen
falls kurzen Singlephasen.“ Die Bruchstelle verträumter Blick in die Selfie-Linse lässt
in der Liebe kommt meist nach drei bis vier auf ernstere Absichten schließen. Aus wel- Ein paar Tage später hatten die beiden ein
Jahren, also spätestens dann, wenn der Sex cher Region die Angebote kommen sollen, Date – und landeten im Bett. Eine Bezie-
seltener und langweiliger wird. können die Nutzer vorab einstellen – ein hung wurde nicht daraus.
Das Angebot für Frauen, die sich sexuell
ausprobieren wollen, ist schier unerschöpf-
lich. Aber ist das tatsächlich auch ein Zei-
chen für Emanzipation und Selbstbestim-
mung? Ist viel Sex mit möglichst vielen
Männern gleichzusetzen mit sexueller Be-
freiung?
Paulina machte ihre intensivste Sex-
erfahrung erst mit Anfang 30 – auf einer
Gefriertruhe in einer Kneipe in Istanbul.
Der Sex war kurz und hart. Der Türke mit
dem gegelten Haar und den weichen Hän-
den hatte sie kurz zuvor auf der Straße
angesprochen und in die Kneipe eingela-
den. „Es ging tierisch schnell, aber wir wa-
ren ja auch tierisch scharf“, sagt die heute
32-jährige Kommunikationswissenschaft-
lerin. Die Tiefkühltruhe stand in einem
Nebenraum, der Barkeeper mixte derweil
ihre Drinks.
FOTO: ANDREA ARTZ / DER SPIEGEL

„Ein paar Tage später habe ich ihn noch


einmal getroffen, und wir hatten einen
ganz klischeehaften Hotelfick“, sagt Pau-
lina. Sie spricht gern und unverblümt über
ihre Abenteuer, ist stolz darauf. Denn jah-
relang, nachdem sie von ihrem Freund ver-
Pornoregisseurin Joy: „Auch Frauen sind Voyeure“ lassen worden war, hatte Sex in ihrem Le-
106 DER SPIEGEL 21 / 2015
Fotoshooting mit Pornodarsteller James Deen: Sexistische Propaganda

ben keine große Rolle mehr gespielt. Pau- Rolle, die dem weiblichen Geschlecht seit engagierter Emanzen vom 18. über das 19.
lina ist dick, das hemmte sie. „Ich musste je zugewiesen wurde und die offenbar bis bis ins 20. Jahrhundert gerettet – und ist
trotzdem mal raus aus dem Trockendock“, heute den Weg zur sexuellen Selbstbestim- selbst im Jahr 2015 noch präsent. Der Typ
sagt sie. mung verstellt – auch wenn Frauen heute Mann, der findet, dass Frauen unterwürfig
Erst in jenem Türkeiurlaub hat Paulina mit anderen Problemen zu kämpfen haben am erotischsten sind, hält sich hartnäckig.
gelernt, dass sie Sex haben kann, einfach als früher. Es gab eine Zeit, da bereiteten der Porno-
so, mit irgendwem, aus purer Lust. Es folg- Über Jahrhunderte hinweg wurden regisseurin Petra Joy Sexfilme Albträume.
te Sex mit Partybekanntschaften, Freun- Frauen, die Sex außerhalb der Ehe hatten, Joy, das ist ihr Künstlername, war Anfang
den, einem S-Bahn-Flirt. schwer bestraft: Ächtung, Verbannung, 20 und studierte Filmwissenschaft in Köln.
Mit 20 Männern hat sie seit Istanbul das Grausamkeiten. Im Bürgertum wurde das Sie war Feministin und damit gegen alles,
Bett geteilt. Vielleicht waren es auch ein Häusliche ihre Domäne, die Frau hatte was Frauen degradierte: also auch Porno-
paar mehr. Trotzdem sagt Paulina über dafür zu sorgen, dass es dort schön war grafie. Aber weil sie wissen wollte, woge-
sich: „Im Herzen bin ich konservativ.“ Sie und vor allem auch – dass sie selbst schön gen sie eigentlich kämpfte, lieh sie sich
hat selbst noch nie einen Mann angespro- war. „Anmut“ war ein Schlüsselbegriff des rund 50 Filme in der Videothek aus.
chen. Bei der Anbahnung ist ihr die klas- 18. und 19. Jahrhunderts. Die Gegenfigur „Was ich sehen musste, war im besten
sische Rollenverteilung am liebsten. Pauli- zur zarten, bürgerlichen Frau mit Korken- Fall hässlich und peinlich und im schlech-
na will „genommen werden“, weil genau zieherlocken war die Hure. Dazwischen testen Furcht einflößend“, sagt sie. Männer
das ihr das Gefühl gibt, unwiderstehlich gab es wenig. quälten Frauen, nannten sie Schlampen
zu sein. Mit der Studentenrevolte in den Sechzi- und schlugen sie. Für Joy war klar: Pornos
Sich begehrenswert zu fühlen, das sei gerjahren kamen Kampagnen für eine sind sexistische Propaganda, ihre Botschaft
eines der Motive für ihre Abenteuerlust, straffreie Abtreibung, für gleiches Recht ist frauenfeindlich. Die Frau begehrt nicht,
sagt Paulina. Denn beim Sex schämt sie auf Bezahlung und Karriere, und Frauen sie befriedigt. Sie hat kein Verlangen, sie
sich nicht für ihr Aussehen. Manch ein machten sich auf die Suche nach der au- erfüllt Wünsche. Sie dient, er befiehlt. Und
Mann steht genau darauf, genau auf sie, thentischen weiblichen Sexualität. Die Anti- wenn er zum Orgasmus kommt, endet der
die dicke Frau im Bett, auch wenn er nicht babypille, die 1960 auf den Markt kam, er- Film.
FOTO: F. SCOTT SCHAFER / CORBIS OUTLINE

ihr fester Freund sein will. Beim Sex hat leichterte die freie Liebe. „Nichts davon hat mich angemacht“,
Paulina die Chance, ihm nah zu sein. Frauengruppen entstanden, der Orgas- sagt Joy, die heute 51 ist und in England
Paulinas Sexleben zeigt, wie schwierig mus wurde zum Forschungsgegenstand. lebt. Sie wollte bessere Pornos machen,
es für manche Frauen noch immer ist, sich Die Penetration durch den Mann kam bei die weibliche Lust ins Zentrum rücken.
vom gängigen Schönheitsideal frei zu ma- radikalen Feministinnen in Verruf und wur- Doch vor 30 Jahren galt noch mehr als
chen. Weniger die Lust als das Bedürfnis de als Unterwerfung gebrandmarkt. In re- heute: Pornos sind für Männer, Frauen le-
zu gefallen treibt sie von Bett zu Bett. Es ligiös-konservativen Kreisen hingegen hat sen Liebesromane.
wirkt da immer noch eine starke Macht, sich das Bild von der tugendhaften, demü- „Das ist ein absurdes Vorurteil“, sagt Joy.
die in der Geschichte angelegt ist, in der tigen Vorzeigefrau trotz aller Bemühungen „Auch Frauen sind Voyeure.“ Sie sitzt in
DER SPIEGEL 21 / 2015 107
Titel

einem Hotel an der englischen Küste bei sen. Liebhaber sorgten sich um ihre Man- nicht sehr mit sexuellen Gefühlen irgend-
Brighton, man schaut über die Straße zum neskraft, ihre Liebsten ersehnten verge- welcher Art belastet“, schrieb einst Sexual-
Ärmelkanal. Seit rund zehn Jahren produ- bens diesen vollkommenen Höhepunkt, forscher William Acton, ein Zeitgenosse
ziert Joy Pornos für Frauen. Was darin bis heute spielen unzählige Frauen ihn vor, Darwins. Arme Mrs Acton.
nicht vorkommt, sind Spermaschüsse ins weil sie keine Lust auf Diskussionen haben. Noch Ende der Neunzigerjahre notierte
Gesicht und Frauen mit Brüsten wie Me- Irgendwann musste auch Freud zugeben: der Biologe Edward O. Wilson, dass es der
lonen. „Die große Frage, die ich trotz meines drei- „optimale Sexualinstinkt von Männern“
Ihr Film „Female Fantasies“ hat sich ßigjährigen Studiums der weiblichen Seele sei, sich „bejahend und allzeit bereit“ zu
20 000-mal verkauft. Es ist ihr bislang größ- nicht zu beantworten vermag, lautet: Was verhalten, jener der Frauen hingegen, „zu-
ter Erfolg. Für die kriselnde Pornobranche will eine Frau?“ rückhaltend und wählerisch“ zu sein. Auch
ist das in Zeiten, in denen es im Internet So wie ihm ging es vielen großen Män- der mindestens ebenso gefeierte Psycho-
fast alles gratis gibt, eine gute Zahl. Aber nern der Geistesgeschichte. Sie erforschten loge und Harvardforscher Steven Pinker
ein Massenmarkt erschließt sich hier nicht und beurteilten das weibliche Wesen – und sieht das monogame Wesen der Frau als
– für Joy wird es manchmal ein Verlustge- lagen doch meist falsch. So hält sich bis Diktum der Evolution: Schläft sie mit ei-
schäft: 40 000 Euro hat etwa ihr neuer Film heute das Bild vom muskelbepackten nem anderen, haut der Ernährer ab. Also
„(S)he Comes“ gekostet, bislang spielte der Steinzeitjäger auf Mammutjagd und seiner sei sie treu und keusch.
Film nur 20 000 Euro ein. Dass die Produk- daheim in der Höhle auf allen vieren Dabei ist längst klar: Was Gier und Lust
tion so teuer ist, liegt auch daran, dass Joy knienden, Felle schabenden Gefährtin. Da- auf Sex betrifft, stehen die Frauen den
manchmal stundenlang an den Kulissen bei haben Forscher längst Hinweise ent- Männern seit je in nichts nach. Uralte,
bastelt und jeder DVD ein Päckchen Gleit- deckt, die nahelegen, dass Mann und Frau noch heute existierende Stammesgesell-
gel beilegt. Das sei „persönlicher“. einst gemeinsam Beute machten: Sie trie- schaften in entlegenen Winkeln der Erde
Als Joy anfing, Pornos für Frauen zu ben Niederwild in Netze. Das lohnte sich zeigen, was unsere Ahnen schon umgetrie-
drehen, war sie damit noch fast allein. Heu- mehr, als gelegentlich mal ein Mammut zu ben haben könnte. Sie zeigen, was vorher
te gibt es Femporn-Konferenzen, Preise erwischen. war: die Natur des Menschen.
für alternative Pornografie, Pay-TV-Chan- In logischer Fortführung der alten Rol- Bei den im Nordosten Brasiliens ansässi-
nel, zugeschnitten auf Frauen. Immer mehr lenbilder glaubten Soziobiologen lange an gen Canela glaubte man lange, es bedürfe
Regisseurinnen folgen nach. das, was Feministinnen als „Prostitutions- mehrerer Ejakulate, um ein Kind zu zeu-
Es sei wichtig, dass endlich mehr Frauen these“ entlarvten. Diese besagt, Frauen gä- gen. Entsprechend suchten sich die Frauen
die Kamera in die Hand nähmen und ihre ben sich auch heute noch uralten Fettwäns- mehrere Beischläfer neben ihrem Ehemann.
Sicht auf die Welt zeigten – nicht nur in Hübsch sollten die sein und gut im Bett –
Pornos, sagt Joy. „Wir brauchen den aus- auch Klugheit, so fanden Anthropologen
gewogenen Blick.“ Eine Welt, in der auch heraus, war ein Kriterium für die Partner-
Frauen im Bett den Ton angeben, ohne wahl. Wer darüber hinaus noch tanzen und
gleich Domina sein zu müssen. singen konnte, hatte gute Karten bei den
In einem von Joys Filmen parfümiert Frauen – von wegen Prostitutionsthese.
sich eine Frau, sie legt Make-up auf. Er Sarah Blaffer Hrdy, die berühmte und
kommt herein, bringt Rosen. Sie küssen, inzwischen emeritierte US-Anthropologin,
sie fummeln, sie schlafen miteinander. Da- glaubt schon lange, dass die sexuelle Zu-
nach zieht sie sich wieder an, legt fünf 20- rückhaltung vieler Frauen der „extremen
Pfund-Scheine auf den Tisch und verlässt Diskretion und Sorge um den Ruf, nicht,
das Zimmer. wie Darwin annahm, dem vormensch-
Inspiriert hat Joy ein Brief einer ihrer lichen ,alten Erbe‘ entstammt“. Die Scham-
Kundinnen: einer Karrierefrau, die sich haftigkeit, so Hrdy, sei eine „kürzlich
alle paar Monate für ein Wochenende ei- evolvierte oder gelernte Anpassung von
nen reifen und gut gebauten Mann mietet. Frauen, die den Bestrafungen entfliehen
Im 08/15-Porno laufe es so: „Blowjob, wollten“, die im Patriarchat ausschweifen-
vaginal, anal, er kommt, möglichst in ihr den Gattinnen und Töchtern drohen.
Gesicht. Schnitt, Ende.“ Aber warum, fragt Therapeutin Henning Für viele junge Frauen ist es bis heute
sie: „Er hat doch auch Finger und eine Zun- „Es geht um Spürspaß“ nicht leicht, ihr Schamgefühl abzustreifen
ge? Ein Mann, der weiß, wie eine Frau auf und ein natürliches Verhältnis zu ihrem
ihre Kosten kommt. Das ist total wichtig.“ ten mit Aknenarben hin – Hauptsache, der Körper und ihrer Sexualität zu entwickeln.
Bei aller Aufklärung: Weit herumgespro- Kerl habe Geld und könne sie und die Kin- Zum 25. Geburtstag bekam Maja, 31,
chen haben sich verlässliche Informationen der ernähren. von ihren Freundinnen einen Vibrator ge-
über Lust und Anatomie des Weibes Solcherlei Paarungen geschehen, aber schenkt. Er hatte die Form eines Delfins.
nicht – weder bei Frauen noch bei Män- nur so lange, wie die Mehrzahl der Frauen Die Studentin schämte sich. Sie legte das
nern. Was auch daran liegt, dass die Wis- den Männern wirtschaftlich unterlegen ist. Geschenk in eine Schublade ihrer Kommo-
senschaft selbst über Jahrhunderte domi- So hat eine neue US-Studie gezeigt, dass de, unter ein paar T-Shirts. Ein Jahr lang
niert war von Klischees, Vorurteilen und die Zahl der Ehen unter Gleichgestellten wartete der Delfin dort, unbenutzt. „Mir
Männerfantasien. von 1960 bis 2005 stark gestiegen ist – wa- war es peinlich, dass ich es mir selber ma-
Sigmund Freud, der Erfinder der Psy- rum sollte der Personalchef immer nur auf che“, sagt sie heute. Obwohl sie mit 17 Jah-
choanalyse, behauptete lange, das Weib Assistentinnen stehen und nicht die Kolle- ren entjungfert worden war, war sie schon
bis zum letzten Winkel zu kennen. Mit sei- gin begehren, die den Vertrieb leitet? 20, als sie sich zum ersten Mal mit dem
FOTO: JULIANE WERNER

ner Fantasie vom vaginalen, allein durch Was den weiblichen Sexualtrieb betrifft, Spiegel zwischen die Beine schaute. Sie
Rein-raus-Gestoße zu erreichenden Orgas- galt in der Wissenschaft lange Charles sagt: „Das da unten war halt einfach da.
mus der Frau, der zudem dem „unreifen“ Darwins Vorstellung vom „zimperlichen So genau wollte ich davon nichts wissen.“
klitoralen überlegen sei, hat der Nerven- Weib“ als Wahrheit: „Die Mehrheit der Doch dann lernte sie einen Mann ken-
arzt ganze Generationen verzweifeln las- Frauen (ein Glück für die Gesellschaft) ist nen. Er flüsterte ihr Schimpfwörter ins Ohr.
108 DER SPIEGEL 21 / 2015
Foto aus dem Aufklärungsbuch „Make Love“: Für echte sexuelle Selbstbestimmung ist es unverzichtbar, den eigenen Körper gut zu kennen

Sie fand das gut. Ein paarmal hatten sie Beispiel. Wenn sie die Jungs zwischen 15 ten von Sydow und Andrea Seiferth in ih-
Analsex. Maja wurde mutiger. Sie nahm und 18 danach fragt, ob sie sich schon ein- rem Buch „Sexualität in Paarbeziehun-
den Delfin aus der Schublade. mal selbst befriedigt hätten, gibt es meis- gen“. Bei den Männern seien es nur 3 bis
Mit jedem Mann, mit dem sie schlief, tens ein großes Hallo. Die typische Geste: 8 Prozent. 4 bis 10 Prozent der Frauen
sei sie ihrem eigenen Körper ein Stück Beine breit, und dann wird angegeben. führen sogar ein komplett orgasmusfreies
nähergekommen, sagt sie heute. Von man- „Bei den Mädchen ist das anders“, erzählt Leben. 16 Prozent kommen mit ihrem Part-
chem führte sie die Hand während des Bei- Henning. „Da muss ich von Anfang an ner nie, 22 Prozent nur selten zum Höhe-
schlafs zu ihrer Klitoris oder sagte ihm, vorsichtiger fragen. Kaum eine antwortet punkt. Ursachen dafür seien „meist eine
wie er sich bewegen solle. Es sei ihr wich- gern. Die meisten streiten es ab.“ Deren unzureichende Stimulation der Klitoris,
tig, einen Orgasmus zu bekommen. Sie Körpersprache: Beine zusammengepresst, die Angst der Frau vor Kontrollverlust und
sagt: „Wieso sollte ich denn Sex haben, Arme verschränkt. Probleme in der nichtsexuellen Paarbezie-
wenn der Orgasmus fehlt?“ Studien belegen Hennings Eindruck: hung“, schreiben die Autorinnen.
Sexualtherapeutin Ann-Marlene Hen- Nur 43 Prozent der Mädchen zwischen 16 Therapeutin Henning allerdings sieht
ning kennt die Probleme, mit denen Maja und 19 Jahren haben sich schon einmal solche Statistiken kritisch. Diese Fixierung
anfangs zu kämpfen hatte, aus den Er- auf den Orgasmus sei kontraproduktiv,
zählungen ihrer Klientinnen. Die Dänin
hat mit der Journalistin Tina Bremer-
16 Prozent der Frauen sagt sie. „Es geht doch darum, Druck weg-
zunehmen und nicht aufzubauen.“ Wenn
Olszewski „Make Love“ geschrieben, ein kommen mit ihrem Partner eine Frau keinen Orgasmus bekomme, sei
Aufklärungsbuch für Jugendliche, das
ein Bestseller wurde. Der Folgetitel „Make
nie zum Höhepunkt, das okay. „Hauptsache, der Sex gefällt
ihr“, sagt Henning.
more Love“ richtet sich nun an Erwach- 22 Prozent nur selten. Zu erfüllendem Sex gehören allerdings
sene. zwei. Nicht hilfreich ist darum, dass viele
„Viele Frauen haben einen großen Wi- selbst befriedigt. Die Quote der Jungs liegt Jungs heutzutage, lange bevor sie echten
derwillen, sich mit ihrem eigenen Ge- bei 97 Prozent. Sex haben, all ihr Wissen aus Pornos be-
schlechtsorgan zu beschäftigen“, sagt Hen- Für echte sexuelle Selbstbestimmung ist ziehen. Da lerne man, dass Frauen wahn-
ning. Die Therapeutin sitzt in ihrem hei- es Henning zufolge aber unverzichtbar, sinnig schnell erregt seien und rasend
meligen Beratungszimmer in Hamburg. den eigenen Körper gut zu kennen. „Es schnell zum Orgasmus kämen, sagt Hen-
Zwei Norwegische Waldkatzen schleichen geht ja nicht darum, mit möglichst vielen ning. Wenn die Praktiken, die sich Jungs
um ihre Beine. „Manche Mädchen ekeln Männern harten Sex zu haben. Es geht um in den Sexfilmchen abschauen, dann im
sich geradezu. Das erlebe ich bei Jungs Spürspaß“, sagt sie. „Spürspaß“ – eine echten Leben versagen, kann das zu sehr
eigentlich nie.“ Schlüsselvokabel bei Henning. enttäuschenden Momenten führen. Ent-
Henning gibt regelmäßig Sexualkunde Spielraum für mehr Spaß im Bett gibt weder er ejakuliert zu früh, oder es packen
FOTO: HEJI SHIN

in Schulklassen. Bei manchen Themen es anscheinend genug. Jede vierte Frau ihn Versagensängste, weil nichts so läuft
trennt sie Jungs und Mädchen in zwei habe Probleme, zum Höhepunkt zu kom- wie bei den Erotikstars. Das Mädchen hin-
Gruppen. Beim Thema Masturbation zum men, schreiben die Psychologinnen Kirs- gegen hat nicht die geringste Chance, über-
DER SPIEGEL 21 / 2015 109
privater und gesellschaftlicher Bereiche.
Sie nennt es die „Tyrannei der Sexuali-
tät“ – ein Leiden beider Geschlechter.
„Der Anspruch, sexy zu sein“, sagt Illouz,
„startet heute sehr früh und zieht sich lan-
ge durchs Leben.“
Auch viele Männer verbringen reichlich
Zeit im Fitnessstudio, um Frauen mit ih-
rem Sixpack zu beeindrucken. Sie rasieren
Brust und Rücken, weil zu viel Behaarung
nicht als sexy gilt – und sorgen sich, ob
die Größe ihres Geschlechtsteils wohl den
weiblichen Ansprüchen genügt. Einer Aus-
wertung der „New York Times“ zufolge
googeln Männer zu keinem anderen Kör-
perteil so oft Fragen wie zum Penis. Be-
sonders häufig wollen sie von der Such-
maschine wissen, wie sie ihren Penis ver-
größern lassen können.
Der fitte, attraktive Körper sei für Frau-
en wie für Männer zum gesellschaftlichen
Imperativ geworden, sagt Illouz. Sie ver-
mutet, dass viele Menschen sexuelle
Emanzipation gleichsetzen mit der reinen
körperlichen Befriedigung. „Das muss
nicht sein“, sagt sie. „Es gibt auch eine Se-
Erotikshop in Berlin: Für viele Frauen ist es nicht leicht, ihr Schamgefühl abzustreifen xualität, die Ausdruck der Liebe und Zu-
neigung füreinander ist.“
haupt in die Nähe eines Höhepunkts zu genauestens beschrieben, haben sich erst Maja, die Frau mit dem Delfin-Dildo,
kommen. um die Jahrtausendwende Mediziner be- hat beides gefunden, tiefe Zuneigung und
Henning macht trotzdem Hoffnung: müht. Die Frage hieß: Wo und wie ziehen befriedigenden Sex. Seit zwei Jahren lebt
„Das kann man lernen und üben und sollte sich die Lustnerven durchs Gewebe? Und sie in einer festen Beziehung. Den Vibra-
es auch tun. Für eine erfüllende und stabile dabei fanden die Forscher: Die Lehrbücher tor benutze sie immer noch, sagt sie, er
Beziehung ist ein gutes Sexleben von gro- steckten voller falscher oder ungenauer helfe ihr herauszufinden, was sie beson-
ßem Vorteil.“ Beschreibungen, selbst das Standardwerk ders mag. Manchmal befriedigt sie sich
Mit Romantik und Erotik hat der Weg „Gray’s Anatomy“ stellte das weibliche damit, während sie mit ihrem Freund
zur Selbsterfüllung allerdings erst einmal Lustorgan unkorrekt dar. In einem Buch schläft, „das ist Bombe!“. Sie probieren
wenig zu tun, er ähnelt eher sportlichem stand, die Klitoris sei eine „ärmliche Ho- viel aus. Einmal hatten sie Sex auf der
Training. Beckenbodenübungen für den mologie“ des Penis. Zugtoilette.
Aufbau wichtiger Muskeln sind mühsam, „Die gute Nachricht ist“, sagt Ann-Mar- Maja sagt, sie möge es, wenn Männer
und zunächst gilt es, sich mit der weiblichen lene Henning, „dass diejenigen, die wirk- wie Männer aussähen. Mit Brusthaar und
Anatomie vertraut zu machen. Selbst die größer als sie. Aber dominant mag sie es
jüngere Wissenschaft tut sich schwer. Über
manches streiten sich die Forscher bis heute.
Zu keinem anderen nicht. „Diesen ganzen Unterwerfungs-
scheiß verstehe ich nicht“, sagt sie. Sie sei
Besonders über den G-Punkt (gibt es nicht) Körperteil googeln Männer eine selbstbewusste Frau, die wisse, was
und, Dauerbrenner, über den vaginalen Or-
gasmus (gibt es auch nicht).
so oft Fragen sie zu bieten habe. Am schönsten findet
sie ihre Brüste. „Ich hatte nie Angst, dass
Eine neue Arbeit über den Zusammen- wie zu ihrem Penis. den Männern nicht gefallen könnte, was
hang zwischen Anatomie und Orgasmus sie sehen, wenn ich mich ausziehe.“
stammt vom Herbst vergangenen Jahres. lich aufgeklärt sein wollen, mittlerweile Früher hat sie mal einen Freund betro-
Die Autoren vom Italienischen Zentrum genügend Material in Bücherregalen und gen. Heute will sie mit keinem anderen
für Sexualforschung in Bologna schreiben, im Internet finden.“ Zudem erlebe sie ei- Mann außer ihrem Liebsten mehr Sex
und es klingt, als seien sie genervt vom nen zunehmenden Wissensdurst und auch haben.
ewigen Expertenstreit: „Die Vagina hat eine wachsende Offenheit für das Thema. Vor ein paar Wochen machte sie ihm
keine anatomische Beziehung zur Klitoris.“ Bekommen Frauen nun also, was sie einen Antrag. In einer Disco in Köln ging
Und der vaginale Orgasmus, über den wollen? Sind sie glücklicher im Bett? Und sie vor ihm auf die Knie. Es war laut, sie
manche Frauen berichteten, sei immer aus- was ist eigentlich mit den Männern? waren ein bisschen betrunken. „Willst du
gelöst worden von dem erektilen Gewebe Die israelische Professorin Eva Illouz, mich heiraten?“, schrie Maja. Er schrie:
rings um die Scheide. Also: bei der Selbst- 54, erforscht als Soziologin seit vielen Jah- „Ja!“
befriedigung, wenn der Partner Hand an- ren die Liebe. In ihrem Buch „Warum Lie-
FOTO: GABY AHNERT / FUN FACTORY

Rafaela von Bredow, Katrin Elger, Laura Höflinger,


legt, gern aber auch beim klassischen Rein- be wehtut“ beschreibt sie die Vor- und Joachim Kronsbein, Kerstin Kullmann,
raus-Spiel – „wenn die Klitoris dabei mit Nachteile der sexuellen Emanzipation. Vivian Pasquet, Hilmar Schmundt, Claudia Voigt
einem Finger stimuliert wird“. „Frauen haben heute wahrscheinlich mehr
Die Klitoris war ohnehin lange Zeit Ter- Orgasmen“, sagt Illouz. „Und sie kümmern Video: Regisseurin Petra Joy
ra incognita. Bis wohin reicht sie? Wie ge- sich auch mehr um ihr eigenes Vergnügen über ihre Pornofilme
nau ist sie aufgebaut? Um die exakte Lage im Bett.“ Doch diese Befreiung wurde be- spiegel.de/sp212015joy
der Nerven und Blutgefäße, beim Penis gleitet von einer immensen Sexualisierung oder in der App DER SPIEGEL

110 DER SPIEGEL 21 / 2015


Wissenschaft

Columbo der
stein liest wie in einem Geschichtsbuch. gestrichen ist. Ein alberner Wunsch, denn
Im Büro eines konservativen britischen dort gibt es ja nicht nur eine. Es war wie
Parlamentsabgeordneten etwa meißelte er ein Test – und ich weiß bei Tests gern die

Pigmente
ein vielsagendes Stück Putz aus der Wand. richtige Antwort“, sagt Baty.
Selbst das ungeübte Auge erkennt grob Im Laufe der Zeit lernte er immer bes-
jene Farbschichten, die verschiedene Maler ser, winzige Informationsschnipsel wie ein
im Laufe eines Jahrhunderts übereinander Puzzle zusammenzusetzen. Im Haus des
Geschichte Ein Brite ist ein welt- aufgetragen haben. Doch Baty sieht weit Opernvirtuosen Händel entdeckte Baty
mehr. erst nach langwieriger Suche brauchbare
weit gefragter Farbhistoriker – Im Fall des Abgeordnetenbüros entdeck- Hinweise. Lediglich an drei Stellen in dem
in den Anstrichen von Wänden te der Forscher winzige schwarze Flecken mehrstöckigen Gebäude in der Nähe des
auf einem der Farbstreifen. Die an Kaul- Hydeparks stieß der Farbdetektiv auf
liest er den Lebenslauf alter quappen erinnernden Punkte deutete er Spuren, die Rückschlüsse auf Händels
Häuser und ihrer Bewohner. als Rauchspuren auf der Farbe. Es stellte barocke Wohnstube zuließen. Die über-
raschende Enthüllung: Der Maes-

D
as Gerüst schwankte be- tro mit der markanten Locken-
denklich im eisigen Wind. perücke pflegte eine offenbar
Immer wieder wurden zeittypische Sparsamkeit beim
seine Fingerkuppen taub, wäh- Anstrich.
rend Patrick Baty, ausgerüstet „Er besaß ein wunderbares
mit Hammer und Meißel, Dut- Bett und wertvolle Textilien, ließ
zende kleine Splitter aus der Um- aber nur billige Farbe auftragen“,
mantelung der Londoner Tower sagt Baty. So war Händel um-
Bridge hackte. geben von grauen Wänden. Die
Doch ausgerechnet als keine einfache Farbe blieb wie Zement-
Gefahr mehr für Leib und Leben staub an seinem Rock hängen,
bestand, bekam der Forscher es wenn er die Wand berührte.
plötzlich mit der Angst zu tun. Mit der Qualität heutiger Pro-
Vor über 2000 geladenen Gästen dukte könnten es die Farben von
in der Royal Festival Hall schritt einst nicht aufnehmen. Auf dem
er, im Auftrag der Londoner Putz verteilte sich die Farbe von
Stadtverwaltung, zur Auflösung damals nur unregelmäßig. Baty:
eines historischen Rätsels. Mit- „Der Anstrich in diesen Wohnun-
hilfe einer mikroskopischen Ana- gen war nie perfekt. Es sah nicht
lyse der entnommenen Proben aus wie in einem Hochglanzma-
hatte er herausgefunden, dass die gazin.“
berühmte Klappbrücke bei ihrer In seiner Werkstatt hat der
Eröffnung 1894 mit einer Mi- Farbtüftler etliche der alten Re-
schung aus Preußischblau und zepturen zu Studienzwecken
dem damals noch gebräuchlichen angerührt. Als besonders heikel
giftigen Bleiweiß angepinselt war. erwies sich das bei Adligen be-
Der Farbforscher fühlte sich liebte Schweinfurter Grün, mit
allerdings unwohl mit einer sol- dem der sechste Duke von De-
chen Festlegung: „Nicht auszu- vonshire sein Sommerhaus in
denken, wenn mich ein jählings Brighton regelmäßig alle zwei
aufgetauchter Brief oder eine bis- Jahre streichen ließ. Baty wusste
her unbekannte Fotografie aus um die Farbintensität dieses
dieser Zeit widerlegen würde“, Grüns. Doch ahnte er auch, wie
sagt Baty. giftig es war?
Dass der Brite bei der Präsen- Farbexperte Baty „Um den Produktionsprozess
tation seiner Forschungsergeb- zu verstehen, musste ich alle Ori-
nisse auch heute noch Nerven ginalzutaten verwenden“, sagt
zeigt, erscheint ungewöhnlich. In den Ver- sich heraus: 1969 hatten Anarchisten eine Baty. Am eigenen Leib erlebte er dabei,
einigten Staaten gilt er, in Anspielung an Bombe durch das Vorderfenster des Ab- wie gefährlich Schweinfurter Grün ist: Der
den legendären TV-Inspektor, längst als geordnetenbüros geschleudert. „Ein paar Farbexperte zog sich eine Arsenvergiftung
„Columbo der Farben“. Und in seiner Schichten tiefer stieß ich erneut auf Rauch- zu, die ihn mehrere Tage außer Gefecht
Heimat Großbritannien wird der weltweit spuren. Ich fand heraus, dass die deutsche setzte.
bedeutendste Farbhistoriker inzwischen Luftwaffe das Haus im Zweiten Weltkrieg Wäre er auch in der Lage, jene Farbe
regelmäßig hinzugezogen, wenn histori- bombardiert hatte“, erzählt Baty. herzustellen, in der die Londoner vor mehr
sche Räume und Gebäude wieder in ihren Seine Obsession für Pigmente begann als hundert Jahren ihre Tower Bridge zum
FOTO: GERAINT LEWIS / DER SPIEGEL

ursprünglichen Zustand versetzt werden im Malerladen seines Vaters im Londoner ersten Mal sahen?
sollen – etwa im Fall jenes Hauses, das der Stadtteil Chelsea. Der Sohn wollte dort „Natürlich, das wäre kein Problem“, sagt
Komponist Georg Friedrich Händel über eigentlich nur aushelfen, fühlte sich aber Baty. „Aber mir würde nicht im Traum
30 Jahre lang zur Miete bewohnt hatte. rasch durch die Wünsche der Kundschaft einfallen, diesen Auftrag anzunehmen –
Seine wahre Kunst beweist Patrick Baty herausgefordert. „Einmal kam jemand in wir sprechen hier von mehreren Tausend
stets dann, wenn er in scheinbar belang- den Laden und verlangte nach der Farbe, Litern. Dafür reicht mein Labor nun wirk-
losen Bröseln aus Mauerwerk oder Ge- mit der die Verbotene Stadt in Peking an- lich nicht aus.“ Frank Thadeusz

DER SPIEGEL 21 / 2015 111


Wissenschaft

„Unsere hysterische Kultur“


SPIEGEL-Gespräch Die Autorin Lenore Skenazy wurde angefeindet, weil sie ihren neunjährigen Sohn in
Manhattan allein mit der U-Bahn fahren ließ. Jetzt fordert sie: Eltern, lasst eure Kinder von der Leine!

Skenazy, 55, kämpft gegen die Auswüchse Pflicht für Eltern zu geben, immer vom Angst verkauft sich gut. Aber diese Angst
überfürsorglicher Elternschaft und hat dazu in Schlimmsten auszugehen. steht in keinem Verhältnis zur Realität.
den USA die „Free-Range Kids“-Bewegung ins SPIEGEL: Ist das ein neues Phänomen? SPIEGEL: Wie sieht diese Realität aus?
Leben gerufen. An amerikanischen Schulen Skenazy: Ich wurde mit fünf allein in den Skenazy: Es war niemals so sicher wie heu-
startet sie Projekte, die Eltern dabei unterstüt- Kindergarten geschickt – obwohl meine te, ein Kind zu sein. Die Kriminalitätsraten
zen sollen, die Selbstständigkeit ihrer Kinder Mutter Hausfrau war und mich gut hätte gehen runter, die Zahl vermisster Kinder
zu fördern. Skenazy lebt mit ihrem Mann und bringen könnte. Aber damals galt es noch ist seit 1997 rapide gesunken. Und dennoch
ihren zwei Söhnen, 17 und 19, in New York. nicht als Zeichen perfekter Elternschaft, finden Ortungsgeräte, mit denen man sein
sein Kind nonstop zu begleiten. All das Kind jederzeit überwachen kann, reißen-
SPIEGEL: Frau Skenazy, wie kam es dazu, Begleiten und Sichsorgen ist heute zu den Absatz. Mit der Angst der Eltern lässt
dass Sie in amerikanischen Medien zur sich viel Geld verdienen.
schlechtesten Mutter des Landes ernannt SPIEGEL: Auch in Deutschland steigt der
wurden? Markt für Satellitenortungssysteme. Ist das
Skenazy: Ich ließ meinen seinerzeit neun- nicht vielleicht ein guter Kompromiss: El-
jährigen Sohn allein mit der U-Bahn fah- tern können ihr Kind im Notfall aufspüren,
ren. Er hatte sich gewünscht, ohne Hilfe ohne ihm immer folgen zu müssen?
den Weg zu uns nach Hause zu finden. Skenazy: Ich glaube, dass das nur den
Das war für ihn ein großes Abenteuer. Wir Druck auf Eltern erhöht, immer wissen zu
fahren regelmäßig U-Bahn, mein Sohn müssen, wo das Kind gerade ist. Andern-
konnte sich schon sehr gut orientieren. falls, so der Gedanke, ist es in Gefahr. Und
Also dachten mein Mann und ich: Wenn das unterläuft eine ganz natürliche Ver-
der Junge sich das zutraut, dann trauen einbarung zwischen Eltern und Kindern:
wir es ihm auch zu. Wir gaben ihm eine Freiraum zu gewähren, sobald man es sich
Fahrkarte, Kleingeld zum Telefonieren gegenseitig zutraut.
und 20 Dollar für ein Notfall-Taxi mit. SPIEGEL: Was sollten Eltern tun, die Sorge
SPIEGEL: Ein Handy hatte er nicht dabei? Skenazy-Sohn in TV-Show 2008 um ihr Kind haben, es aber nicht dauerhaft
Skenazy: Nein. Wir wussten, dass er Er- „Schwebte fast über dem Boden vor Stolz“ überwachen wollen?
wachsene nach dem Weg fragen kann. Das Skenazy: Vertrauen Sie ihm. Ein „Free-
hat er auch gemacht. Er nahm eine U- einem echten Joch geworden, unter dem Range Kid“ macht, was Kinder immer
Bahn, einen Bus und stand dann wieder Eltern und Kinder leiden. schon getan haben: nach rechts und links
zu Hause vor unserer Tür. Er kam rein und SPIEGEL: Dabei denkt man doch gern an gucken, bevor es über die Straße geht.
schwebte fast über dem Boden vor Stolz. die Zeit zurück, in der man als Kind erst- Nicht mit Fremden mitgehen. Und wenn
SPIEGEL: Und warum sorgte dieses Ereignis mals allein unterwegs sein durfte. es Hilfe braucht, dann fragt es danach. Wir
2008 landesweit für Empörung? Skenazy: Viele Menschen schwelgen in die- müssen es wieder normal werden lassen,
Skenazy: Ich schrieb ein paar Wochen spä- sen Erinnerungen. Sie bezeichnen sie als dass Kinder auch allein draußen spielen.
ter eine Kolumne darüber. Danach wurden Kern dessen, was sie hat erwachsen wer- Ich glaube an Sicherheit für Kinder im öf-
wir in TV-Shows in ganz Amerika einge- den lassen. Doch dann sagen sie Sätze wie: fentlichen Raum, aber nur, wenn die Men-
laden. Die Leute regten sich wahnsinnig „Aber meinen Kindern würde ich das nie schen auch daran gewöhnt bleiben, dass
auf! Ich merkte aber bald, dass sich die erlauben.“ Genau das ist die Frage, die es dort Kinder gibt. Und dass man gegen-
Aufregung nicht in erster Linie am U-Bahn- mich seither beschäftigt: warum eigentlich seitig auf sich aufpasst.
Fahren festmachte, sondern an der Frage: nicht? Warum berauben wir unsere Kinder SPIEGEL: In Deutschland macht sich nur
„Was hättest du getan, wenn er nicht zu dieser tollen Erfahrung? etwa die Hälfte der Grundschüler allein
Hause angekommen wäre?“ SPIEGEL: Und weshalb sind wir so übervor- auf den Schulweg. 1970 waren es noch über
SPIEGEL: Wie haben Sie reagiert? sichtig? 90 Prozent.
Skenazy: Was soll man darauf schon ant- Skenazy: Weil unsere Kultur hysterisch ge- Skenazy: Ähnlich verhält es sich in den
worten? Das ist ja gar keine Frage, sondern worden ist. Sie fördert diejenigen, die in USA, hier sind es nur 13 Prozent. Vor vie-
eine Verurteilung. Das heißt: Du bist eine Worst-Case-Szenarien denken. Die Me- len Schulen bilden sich mittlerweile War-
schlechte Mutter, wenn du nicht in jeder dien machen uns verrückt. Eine Frau sagte teschlangen mit den Autos der Eltern.
Sekunde vom schlimmstmöglichen Szena- einmal zu mir: „Wie können Sie Ihren Mancherorts stellt man sein Namensschild
rio ausgehst. Deswegen habe ich begon- Sohn allein U-Bahn fahren lassen? Haben hinter die Windschutzscheibe, vor der
nen, darüber das Blog „Free-Range Kids“ Sie nie ‚Law & Order‘ gesehen?“ Das ist Schule steht eine Lehrkraft mit Walkie-
zu schreiben. Um klarzustellen: Ich liebe diese Krimiserie im Fernsehen. Und wissen Talkie, um die Abholer zu identifizieren.
meine Kinder, und ich achte auf ihre Si- Sie, was: Einige Zeit nachdem unser U- Drinnen warten die anderen Lehrer und
cherheit, auf Helme, Kindersitze, Sicher- Bahn-Erlebnis durch die Medien gegangen rufen die Kinder auf: „Monica, deine Mom
heitsgurte. Erwartet jemand ein Baby, war, kam tatsächlich eine TV-Folge heraus, ist da. Jason, deine Mom ist auch da.“ Die
schenke ich ihm einen Feuerlöscher. Das in der ein Kind, das allein zur Schule fah- Kinder huschen schnell raus und ab ins
tue ich wirklich. Aber es scheint heute eine ren wollte, entführt und ermordet wurde. Auto. Als bärge jede Sekunde, die die
Zufällig sah der Schauspieler, der den Kinder draußen allein verbringen, eine
Das Gespräch führte die Redakteurin Kerstin Kullmann. Jungen spielte, fast so aus wie mein Sohn. Gefahr.
112 DER SPIEGEL 21 / 2015
entschuldigte sich. Die Frau ließ nicht lo-
cker: Am Ende setzte sie durch, dass das
Städtchen sichere Fußwege bekam. Dort
ist das also gut gegangen. Woanders aber
bekommen viele Eltern richtig Ärger mit
den Behörden. Überall im Land werden
Eltern gegängelt, weil sie ihre Kinder allein
Fahrrad fahren lassen, allein einkaufen ge-
hen lassen. Menschen rufen die Polizei und
beschweren sich.
SPIEGEL: Wie bringt man seinen Kindern
bei, selbstständig zu werden?
Skenazy: In unseren „Free-Range Kids“-
Projekten ermuntern Lehrer die Schüler,
ihre Eltern darum zu bitten, Dinge zu er-
lauben, die sie sich zutrauen, aber bislang
nicht tun dürfen. Wir sprechen nicht von
Bungee-Jumping. Die Kinder wollen allein
in die Schule gehen, sich das Abendessen
machen oder mit dem Fahrrad zur Büche-
rei fahren. Banale Dinge. Wenn die Lehrer
das unterstützen, machen viele Eltern mit.
SPIEGEL: Was machen die Kinder also in
dem Projekt?
Skenazy: Eltern, die ihrem zehnjährigen
Sohn verboten hatten, mit dem Rad zur
Schule zu fahren, ließen ihn zunächst al-
lein zu Freunden, zum Üben. Das klappte.
Ein paar Tage später sagte der Vater mor-
gens zu seiner Frau: „Wieso lassen wir den
Jungen heute nicht einfach mal allein los?“
Aktivistin Skenazy Von da an hat er es jeden Tag getan.
SPIEGEL: Dann war das für die Eltern sicher
ein größerer Schritt als für den Sohn.
SPIEGEL: Auf diese Art geht man jedenfalls chen Konstellationen untergehen, gehän- Skenazy: Wir vergessen gern, dass unsere
kein Risiko ein. Was verpassen die Kinder? selt oder gar gemobbt werden. Sie sind Kinder nicht nur knuddelige, süße Teddy-
Skenazy: Wahnsinnig viel. Vor allem wenn gern dabei, um einschreiten zu können. bärchen sind. Sondern kompetente Wesen
ihnen die Möglichkeit genommen wird, Skenazy: Da ist viel zu viel Misstrauen im auf dem Weg, eigenständig zu werden.
frei zu spielen. Und damit meine ich nicht, Spiel. Kinder können ja durchaus lernen, Wir können ihnen hundertmal sagen: Ich
dreimal die Woche zum Fußballtraining mit solchen Situationen umzugehen. Aber vertraue dir, aber nicht den anderen
zu gehen. Sondern wirklich frei zu spielen. viele Eltern denken: Mein Kind ist so ver- Menschen. Oder den Autofahrern. Oder
Unbeaufsichtigt. Ein paar Kinder gehen in letzlich. Was, wenn es nicht ins Team ge- den anderen Kindern. Also behüte ich
den Park und wollen Fußball spielen – wählt wird? Wenn die Teams gar nicht fair dich, kämpfe deine Kämpfe für dich,
dann suchen sie eben Tore und bestimmen sind? Ich glaube, dass es gut ist, wenn man nehme dir all deine Sorgen ab. Aber was
die Mannschaften. Ganz allein, ohne An- lernt, mit ein paar Ungerechtigkeiten im wir unseren Kindern damit wirklich mit-
sagen von Erwachsenen. Leben klarzukommen. geben, ist die Botschaft: Ich liebe dich
SPIEGEL: Was ist dagegen zu sagen, wenn SPIEGEL: In Ihrem „Free-Range Kids“-Blog zwar, aber ich glaube nicht, dass du das
Kinder im Verein organisiert Sport treiben? berichten Sie auch von Fällen, in denen alles schaffst. Wir nehmen ihnen damit
Skenazy: Nichts. Aber freies Spiel ist eben Eltern Ärger mit der Polizei bekamen, weil eine Menge Stolz und Freude. Und uns
etwas anderes. Da gibt es keinen Trainer, sie ihre Kinder allein losgeschickt hatten. selbst übrigens auch.
der die Regeln festlegt, die Kinder müssen Skenazy: In der Tat sagen mir mittlerweile SPIEGEL: Wovor haben Sie bei Ihren eige-
alles selbst miteinander aushandeln. Hier viele Eltern: „Ich habe keine Angst mehr nen Kindern am meisten Angst?
in den USA gibt es einen Trend in der vor Verbrechern. Ich habe Angst, dass mei- Skenazy: Autos, Autos, Autos. Unser Jüngs-
Pädagogik, er lautet: altersgemischte Er- ne Nachbarn die Polizei rufen, weil ich ter – das ist derjenige, der als Neunjähriger
ziehung – also Klein und Groß miteinan- mein Kind allein im Vorgarten spielen las- allein mit der U-Bahn fahren durfte –
der. Das können Sie haben: Die Kinder im se.“ Einmal meldete sich eine Frau aus Mis- macht jetzt bald seinen Führerschein. Und
Park, in der Nachbarschaft, sind selten sissippi, die ihren zehnjährigen Sohn allein ich finde, er ist sich viel zu sicher, dass er
nach Jahrgängen getrennt wie im Sport- zum Fußballtraining geschickt hatte. Sie schon gut fahren kann. Er braucht noch
verein. Das ist eine bunte Mischung. Ei- hatte das zuvor zigmal mit ihm geübt. viel mehr Erfahrung.
nem Sechsjährigen kann man einen Ball Plötzlich aber stand ein Polizeibeamter bei SPIEGEL: Wie gehen Sie damit um?
FOTO: ANNA SCHORI / DER SPIEGEL

nicht zuwerfen wie einem Zwölfjährigen. ihr vor der Tür, der ihr vorwarf, er habe Skenazy: Mein Mann und ich haben ihm
So lernen die Kinder quasi nebenbei Em- Anrufe bekommen, ihr Sohn sei in Gefahr, die doppelte Menge Fahrstunden gekauft.
pathie, Selbstkontrolle, Organisationsfä- weil er allein unterwegs sei. Diese Zeit hat er jetzt noch, um zu üben.
higkeit, die Suche nach Lösungen. Andern- SPIEGEL: Wie ging die Geschichte aus? Viel mehr kann ich nicht tun, aber das
orts nennt man das: Führungsaufgaben. Skenazy: Die Frau beschwerte sich beim wird schon. Ich freu mich drauf.
SPIEGEL: Vielen Eltern ist das suspekt. Sie Polizeichef, dass sie wegen eines so nor- SPIEGEL: Frau Skenazy, wir danken Ihnen
haben Angst, ihre Kinder könnten in sol- malen Vorgangs kriminalisiert werde. Der für dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 21 / 2015 113
Wissenschaft

vielleicht in vielen Fällen einfach nur un- men schätzen, geht es ja am Ende darum,

Tödliche wichtig sind.“ den Patienten zu behandeln und nicht ei-


Haramati und ihre Mitarbeiter haben nen Befund auf einem Bild“, sagt Hans-
eine Datenbank des Bundesstaates New Ulrich Kauczor selbstkritisch.

Blutung York durchforstet, in der die Gesundheits- Anders als in der Vergangenheit, kon-
daten von fast 25 Millionen Menschen ge- statiert auch Bernd Pötzsch, Oberarzt am
speichert sind. In den Jahren 1994 und Institut für Experimentelle Hämatologie
Medizin Dank besserer Diagnostik 2004, so stellten die Mediziner bei ihrer und Transfusionsmedizin am Universitäts-
Analyse fest, waren jeweils etwa gleich klinikum Bonn, müsse der Arzt zumindest
werden doppelt so viele Lungen- viele Patienten an einer Lungenembolie bei einer zufällig entdeckten Lungen-
embolien erkannt wie früher. gestorben – während sich die Zahl der Dia- embolie heute von Fall zu Fall entscheiden,
Müssen wirklich alle Betroffenen gnosen im selben Zeitraum nahezu ver- ob der jeweilige Patient wirklich eine Blut-
doppelt hatte. verdünnung benötige.
Blutverdünner bekommen? Die Schwierigkeit für die Ärzte liegt so- Und das ist gar nicht so einfach. Einer-
mit auf der Hand: Müssen Patienten mit seits kann eine kleine Embolie der Vorbote

D
er Anruf kam für die 68-jährige einer kleinen Lungenembolie, möglicher- eines größeren, vielleicht sogar tödlichen
Rentnerin aus der Nähe von weise sogar ohne Beschwerden, in gleicher Gerinnsels sein. Andererseits können bei
Düsseldorf überraschend. Wegen Weise mit Blutverdünnern behandelt einer Behandlung mit Blutverdünnern
Darmproblemen war ihr Bauchraum mit- werden wie Patienten mit einer großen auch schwere, zuweilen sogar tödliche Blu-
hilfe eines Computertomografen (CT) Embolie, die bereits unter bedrohlichen tungen auftreten. Wie soll der Arzt da
durchleuchtet worden. Im Bauch sei zwar Symptomen leiden? Oder ist eine solche überhaupt noch eine Entscheidung treffen?
alles in Ordnung, eröffnete ihr die Ärztin Therapie in einigen Fällen überflüssig oder „Da wir oft nicht wissen, wie wir die ein-
am Telefon. Am Rande der Röntgenauf- sogar schädlich? zelne Lungenembolie bewerten sollen“,
nahme jedoch, in der Lunge, sei eine „Obwohl wir Radiologen natürlich die sagt Pötzsch, „ist es sinnvoll, den Patienten
Embolie entdeckt worden. Ob sie von hohe Qualität der modernen CT-Aufnah- in diese schwierige Entscheidung mit ein-
dem Gerinnsel denn gar nichts bemerkt zubeziehen.“
habe? Wie eine Doch aus Angst vor möglichen Scha-
Früher wäre eine solche Frage absurd densersatzklagen ist die Neigung vieler
gewesen. Denn bis vor einigen Jahren lie- Lungenembolie Ärzte groß, sicherheitshalber zu therapie-
ßen sich meist nur größere Embolien dia- entsteht ren. Radiologe Kauczor: „So ein Befund
gnostizieren. Fast immer waren die Betrof- ist für viele Kollegen natürlich eine Auf-
fenen zuvor mit Atemnot, Herzrasen und Einem Pfropfen forderung, etwas zu unternehmen.“
Brustschmerzen in die Notaufnahme ge- gleich, blockiert der In welchen Fällen das Risiko, durch Blut-
kommen. Um das Leben der Patienten zu Thrombus hier ein Gefäß. verdünner eine schwere Blutung zu erlei-
retten, wurden diese umgehend mit Blut- Bei kleinen Verschlüssen den, größer ist, als das Risiko, an einer
verdünnern behandelt, damit sich das Ge- bleibt dies unbemerkt. Embolie zu versterben, vermag derzeit
rinnsel auflösen konnte. Schwere Fälle enden tödlich, niemand zuverlässig zu beantwor-
Doch dank immer besserer CT-Geräte da die Verstopfung im ten. Eine kanadische Studie,
hat die Zahl der diagnostizierten Lungen- Blutkreislauf zu Herz- die diese Frage klären soll,
embolien stark zugenommen. Inzwischen versagen führt. wird wahrscheinlich erst im
lassen sich sogar millimetergroße Verstop- Jahr 2017 Ergebnisse lie-
fungen auf den gestochen scharfen Bildern fern. „Möglicherweise
erkennen. „Wir entdecken hier fast jede werden die Behandlungs-
Woche durch Zufall eine Lungenembolie, leitlinien dann geändert
die uns früher nie aufgefallen wäre“, be- werden müssen“, sagt
richtet Hans-Ulrich Kauczor, Direktor der der Gerinnungsspezialist Gré-
Klinik für Diagnostische und Interven- goire Le Gal vom Ottawa Hos-
tionelle Radiologie am Universitäts- pital Research Institute, einer
klinikum Heidelberg. der Studienleiter. „Auf jeden
Auch wenn Kranke mit Beschwer- Fall aber wird eine intensive
den wie Atemnot und Herzrasen in Über die untere Hohlvene ge-
Diskussion darüber beginnen.“
die Notaufnahme kommen, wird in- langt der Thrombus zum Herzen Als Ausweg aus dem Dilem-
zwischen immer häufiger eine Em- und wird von dort zur Lunge ma raten einige Radiologen in-
bolie mithilfe des CT diagnostiziert. gepumpt. zwischen sogar dazu, nicht zu
Bei solchen Verdachtsfällen wird die genau hinzusehen – zumindest
Lunge mit Kontrastmittel untersucht. dann, wenn die Messung der
Schon winzige Gerinnsel sind dabei Blutgerinnung und andere Vor-
Thrombus
zu erkennen. untersuchungen auf ein gerin-
Nun fragen sich viele Ärzte, ob all ges Embolie-Risiko hindeuten.
die leistungsstarken neuen Durch- Denn eine überflüssige CT-Un-
leuchtungsverfahren wirklich den Pa- Vene tersuchung der Lungengefäße,
tienten nutzen. „Ich bin von Natur mahnt Mark Schiebler, Radio-
aus skeptisch“, sagt Linda Haramati, logie-Professor an der Univer-
Radiologie-Professorin vom New Yor- Von der Gefäßwand sity of Wisconsin, könne für
ker Albert Einstein College of Medi- einer Vene, meist im den Patienten bedeuten, „die
cine. „Ich frage mich, ob die zusätz- Bereich des Beckens Büchse der Pandora zu öffnen“.
lichen Embolien, die wir entdecken, oder der Schenkel, Veronika Hackenbroch
löst sich ein Blut-
114 DER SPIEGEL 21 / 2015 gerinnsel (Thrombus).
Neubau mit
ßem Aufwand umgesiedelt oder für sie
neue Biotope in der Nähe geschaffen wer-
den müssen. Aber am Ende schwindet

Staubbad
doch fast immer ein Stück Lebensraum.
„Im Moment ist der Naturschutz der na-
türliche Feind der Landschaftsarchitektur“,
sagt Thomas Hauck, Freiraumplaner an
Umwelt Ökologen und Land- der Universität Kassel, „die Architekten
entwerfen etwas Schönes, und dann
schaftsplaner entwerfen tier- kommt irgendein Tier dazwischen.“
gerechte Häuser. Lässt sich mit Aber es gibt eben auch eine Gegen-
Mensch-Tier-WGs die Arten- bewegung. Vielerorts wächst der Wunsch
der Städter nach zumindest einem kleinen
vielfalt in den Städten schützen? Stück Natur. Auf Hochhausdächern sprießt
der Kopfsalat, Außenfassaden werden zu

W
enn in zwei Jahren die Häuser Wandgärten, Hobbyimker halten Bienen-
an der Münchner Brantstraße fer- völker mitten in der Stadt. Besonders kühne
tig sind, dürften sich rasch Mieter Visionäre möchten sogar landwirtschaft-
finden. In der Nähe des Kleingartenvereins liche Produktionsstätten in die Stadtzentren
„Südwest 52“ werden rund hundert neue verlegen – statt sie in der Fläche auszubrei-
Sozialwohnungen gebaut, verteilt auf vier ten, wollen sie die Anbauflächen in Hoch-
Gebäude, dazu zwei Kitas. Und Wohnun- hausfarmen übereinanderstapeln.
gen sind in der bayerischen Hauptstadt Hauck und der Ökologe Wolfgang Weis-
noch knapper als in den anderen westdeut- ser von der TU München wären schon zu-
schen Großstädten. frieden, wenn es gelänge, alltägliche Ar-
In der Brantstraße entsteht sogar kos- chitektur und Artenschutz miteinander zu
tenloser Wohnraum – allerdings nur für versöhnen. Zu diesem Zweck erstellen die
jene Interessenten, auf die Projektmanager Forscher derzeit Listen mit Voraussetzun-
Stefan Feller besonders gespannt ist: Igel, gen, die für die jeweiligen Arten erfüllt
Spatzen, Grünspechte und Fledermäuse sein müssen, um in einer städtischen Um-
sollen Fassaden und Außenanlagen der gebung leben zu können. „Das ist ja nicht
Neubauten besiedeln. anders als bei Menschen“, erklärt Weisser,
FOTOS: ALAMY / MAURITIUS IMAGES (O.); J. DANIELS / ARDEA.COM / MARY EVANS / PICTURE ALLIANCE / DPA (M.); R. HÖLZL / IMAGEBROKER / SÜDDEUTSCHER VERLAG (U.)

Die Wohnanlage im Münchner Stadtteil „es muss einen Platz zum Schlafen geben,
Laim ist die erste in Deutschland, die auch etwas zu essen und die geeignete Umge-
für Tiere geplant wird. „Animal Aided De- bung, um den Nachwuchs großzuziehen.“
sign“ (AAD) heißt das neuartige Konzept Für Buntspecht, Haussperling, Nachti-
für tierfreundliches Bauen; entwickelt ha- gall, Rotkehlchen, Zauneidechse und
ben es, in seltener Eintracht, Biologen und Zwergfledermaus gibt es bereits die er-
Architekten. forderlichen Gebrauchsanweisungen. Sie
„Unsere Mieter interessieren sich sehr für zu erstellen war kniffliger als gedacht.
die Tiere in ihrer Nachbarschaft“, sagt Land- „Ein Biologe sieht immer gern das ideale
schaftsarchitekt Feller, der für die verant- Habitat ohne Menschen“, sagt Weisser.
wortliche Wohnungsbaugesellschaft Gewo- Was eine Zwergfledermaus aber wirklich
fag arbeitet. „Wir haben früher häufig schon braucht und auf was sie notfalls verzichten
Nistkästen aufgehängt oder Insektenho- kann, ist wenig erforscht.
tels – nun gehen wir einen Schritt weiter.“ „Viele Tiere sind nicht sehr anspruchs-
Schlitze und Hohlräume für Nistplätze voll“, sagt Landschaftsarchitekt Hauck,
werden im Münchner Neubau in die Fas- Heimische Arten* „die brauchen keine unberührte Natur, son-
saden eingebaut. Fledermäuse brauchen „Viele Tiere sind nicht anspruchsvoll“ dern nur gewisse Voraussetzungen – dann
zudem Flugschneisen für die Jagd, auch können sie auch im künstlichen Habitat
darauf achten die Planer. Igel suchen sich feldern. Kaum eine Baulücke, Brache oder Großstadt leben.“
Verstecke; das nötige Totholz soll in Sitz- Wiese bleibt von Stadtentwicklern ver- Auch scheinbar nebensächliche Fakto-
gelegenheiten verbaut werden, auf denen schont. Vor allem Grünzeug und Getier ren können am Ende über Sein oder Nicht-
sich nebenbei auch Menschen sonnen. In fallen dem Wachstum der Siedlungsflä- sein einer Art entscheiden. „Wenn Wiesen
großen Baumstämmen sollen Spechte ihre chen zum Opfer. Auch das Areal in der und Verstecke fehlen, werden sich keine
Höhlen bauen können. Der Spatz schätzt Brantstraße war bisher eine teils unbebau- Igel ansiedeln“, sagt Hauck, „und wenn
sein tägliches Staubbad, mit dem er sich te Fläche, einige alte Bäume müssen für Sie vergessen, heimische Sträucher zu
vor Parasiten schützt. Sandigen Boden die Mietwohnungen weichen. pflanzen, an denen Vögel Nahrung finden,
dafür soll er an den Rändern der Wege fin- Zwar sind Bauherren verpflichtet, sol- können Sie so viele Nistkästen aufhängen,
den, die durch die Wohnanlage führen. che Kollateralschäden auszugleichen und wie Sie wollen – es werden trotzdem keine
Solche Mensch-Tier-WGs sollen helfen, für gefällte Bäume anderswo neue zu kommen.“ In vielen Städten sind inzwi-
die Artenvielfalt in den Städten zu er- pflanzen. Und so manches Bauvorhaben schen die Spatzen rar, weil sie keinen Sand
halten, denn es wird eng für die Natur: wird unverhofft teuer, weil bisherige An- mehr für ihre Staubbäder finden.
75 Prozent der Menschen in Deutschland rainer wie Juchtenkäfer, Zierliche Teller- „Wir richten alles so her, dass in unseren
leben im urbanen Raum. Die Fläche, die schnecken oder Zauneidechsen mit gro- Entwürfen die Tiere gut leben könnten“,
jeden Tag für neue Gebäude und Straßen sagt Hauck. „Ob sie das dann tatsächlich
überbaut wird, entspricht 105 Fußball- * Spatz, Zwergfledermaus, Rotkehlchen. tun, muss sich erst noch zeigen.“ Julia Koch
DER SPIEGEL 21 / 2015 115
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Mit Gewinnern von Castingshows ist es ein
bisschen wie mit den Trainern des HSV: Jeder
dreht kurz seine Runde und ist im Nu wieder
verschwunden. Lena Meyer-Landrut, die be-
rühmteste 23-Jährige Deutschlands, ist eine
Ausnahme. Meyer-Landrut hatte ihren größten
Auftritt vor fünf Jahren, als sie mit „Satellite“
den Eurovision Song Contest gewann. Danach
kam das große Nichts des Medienbetriebs:
noch mehr TV-Aufritte, Werbespots und Singles,
die mitunter wie schlechte Kopien ihres Hits
klangen. Burn-out mit Anfang zwanzig? Jeden-
falls drückte Meyer-Landrut dann die Pause-
taste. Jetzt erscheint ihr viertes Album, „Crystal
Sky“, und es klingt tatsächlich so, als hätte sie
gelernt, ihre Zerbrechlichkeit geschickt in Sze-
ne zu setzen: Der Sound des Albums erinnert
an die Fragilität der britischen Popsängerin Ellie
Goulding und Synthesizer-Pomp. Die Produktion
ist zeitgemäß, nie bemüht. Und die Melodien
hat man womöglich sogar noch nach dem
nächsten Trainerwechsel beim HSV im Ohr. skr

Festivals setzungen von „Charlie Kommentar


„Charlie Hebdo“ an Hebdo“ mit muslimischen
der Croisette Fundamentalisten bereits
2008 einen Film herausge-
Mit Papi in die Berge?
Während in Cannes bracht unter dem Titel „Es ist Die Berliner Philharmoniker spielen auf Zeit.
Hollywoodstars wie Charlize schwer, von Idioten geliebt
Theron oder Matthew zu werden“. Der neue Film Möglicherweise war es so wie in jeder Familie, in der am
McConaughey über den ro- wird an die Arbeit der Zeit- Esstisch darüber entschieden wird, welches Auto gekauft
ten Teppich laufen, sorgt eini- schrift erinnern und Inter- werden soll, welche Kacheln im Gästeklo an die Wand kom-
ge Etagen tiefer im Palais des views mit den überlebenden men oder wohin es im Urlaub gehen soll: ein Trip in die
Festivals eine Dokumenta- Redaktionsmitgliedern ent- Berge – ziemlich schön, aber anstrengend. Ein Resort-Ur-
tion für Aufregung: Auf dem halten. Verstärkte Sicherheits- laub am Meer, all inclusive – nett, aber auf die Dauer etwas
Filmmarkt wird „I Am Char- vorkehrungen sollten zur langweilig. Oder doch etwas Kreatives? Yoga mit bewusst-
lie“ gezeigt, eine Hommage Aufführung in Cannes jedoch seinserweiternder Ernährung auf einem anderen Konti-
an die Anfang Januar in Paris nicht nötig sein. Denn schon nent – aufregend, aber voller Risiken. Elf Stunden lang ha-
ermordeten Journalisten und seit Jahren muss sich ohnehin ben die Berliner Philharmoniker am vergangenen Montag
Zeichner der französischen jeder Besucher, der das grunddemokratisch darüber beraten, wer sie denn von 2018
Satirezeitschrift. Der Regis- „Bunker“ genannte Palais an als Nachfolger von Sir Simon Rattle führen soll. Einfach
seur Daniel Leconte hat über betritt, einer Leibesvisitation würde das nicht werden, das war klar. Aber so schwierig?
die langjährigen Auseinander- unterziehen. lob Die Zeiten, in denen Herbert von Karajan „mit tausend
Freuden“ sich auf Lebenszeit den Berlinern verschrieb, sind
vorbei. Bis zu einem Jahr haben sich die Philharmoniker
nun gegeben, um eine Lösung zu finden. In diesem Zeit-
FOTOS: UNIVERSAL MUSIC (O.); FRANCOIS DURAND / GETTY IMAGES (U.)

raum werden keine neuen Talente vom Himmel fallen.


Jetzt hilft nur noch Pragmatismus: Entweder verzichten die
Berliner ganz auf einen Chefdirigenten und machen es wie
die Kollegen in Wien, die nur mit Gästen arbeiten, oder sie
einigen sich auf jemanden, der jung, charismatisch und ver-
wegen genug ist, sich auf die Mutprobe einzulassen. Denn
die Herren, die bisher gehandelt wurden (Barenboim, Thie-
lemann, Jansons, Nelsons, Dudamel), werden sich wohl
kaum noch umstandslos bitten lassen. An ihnen allen klebt
jetzt das Etikett „zweite Wahl“. Pragmatisch wäre es auch,
den Vertrag zu befristen, sich aneinander auszuprobieren
und bei gegenseitigem Gefallen zu verlängern. Und dann
noch: Demokratie heißt nicht, dass alle einer Meinung sind,
Eröffnung der Filmfestspiele in Cannes sondern dass eine Minderheit auch die Meinung der Mehr-
heit mitträgt. Klaglos, wenn’s geht. Joachim Kronsbein

118 DER SPIEGEL 21 / 2015


Kultur
Museen schon früher an der Adresse Claudia Voigt Mein Leben als Frau
Enge Nachbarschaft ansässig war. Michael Hilti,

Im Fürstentum Liechtenstein
der die Familie im Verwal-
tungsrat des Konzerns vertritt, Das große Jammern
mit seinen 37 000 Einwohnern sagt dazu, dass es manchmal
ist Werkzeughersteller Hilti wichtig sei, das Unmögliche Ich habe gestern 47 Minuten mit
mit 1900 Beschäftigten der zu denken. Seit Jahrzehnten meinem Sohn verbracht, und das ist
größte Arbeitgeber. Die Nähe sammelt die Familie Kunst, noch großzügig gerechnet: 12 Minu-
zwischen allen und allem jüngste Erwerbung ist ein ten beim Frühstück, 5 Minuten vor
im Land wird deutlich durch Selbstporträt von Max Beck- dem Zubettgehen. In der halben
das Privatmuseum, das die mann aus dem Jahr 1936. Ein Stunde, die ich zwischen Büro und
Familie Hilti – beziehungs- paarmal fiel man auch auf Fäl- Abendverabredung zu Hause war,
weise die familieneigene schungen herein – unter ande- haben wir etwa 15 Minuten lang
Kunststiftung – am kommen- rem auf eine 6,5 Millionen miteinander gesprochen. Mein
den Wochenende in der Resi- Dollar teure Kopie des malen- Sohn ist 14 Jahre alt. Die ideale
denzstadt Vaduz eröffnen den Betrügers Wolfgang Bel- Mutter stellt er sich derzeit als eine
wird. Der weiße Betonwürfel tracchi. Rund 200 Bilder und Art Grundversorgerin vor. Wenn
ist zum einen ein direkter Skulpturen umfasst die Kol- die Kinder erst im Teenageralter
Anbau an das staatliche lektion heute, darunter Werke sind, spricht einiges dafür, ihnen auch mal aus dem Weg
Kunstmuseum, und zum an- von Ikonen wie Picasso und zu gehen.
deren wird er nicht nur 410 Giacometti. Zum Wert der Seit vielen Jahren verfolge ich die Debatte, ob sich Kin-
Quadratmeter Ausstellungs- Sammlung wolle er sich nicht der und Berufstätigkeit miteinander vereinbaren lassen.
fläche bieten, sondern auch äußern, sagt Michael Hilti, Mein persönliches Fazit lautet: an einigen Tagen ja, an
die Geschäftsräume eines man könne davon ausgehen, anderen nicht so gut. Natürlich ist das eine grobe Verein-
Juweliers beherbergen, der dass er beträchtlich sei. uk fachung des Problems. Ich weiß. Noch heute bekomme
ich Schweißausbrüche, wenn ich höre, dass die Kitas we-
gen Streiks geschlossen bleiben. Solche Tage zählen für
berufstätige Eltern eindeutig zu den holperigen Phasen.
Wundersamerweise finden sich auch dann Lösungen. In
den „Tagesthemen“ wurde eine Mutter dazu interviewt,
wie sie die nächste Zeit bewältigen werde. Sie berichtete,
dass ihr Sohn einen Tag bei der Nachbarin verbringen
würde, tags drauf wolle sie ihn zur Arbeit mitnehmen,
dann bleibe sie einen Tag zu Hause. Der Sohn lächelte
dazu voller Vorfreude: Für ihn versprach der Kita-Streik
FOTO: ANNE GABRIEL-JÜRGENS / HILTI ART FOUNDATION / VG BILD-KUNST, BONN 2015; ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL

abwechslungsreich zu werden.
In den vergangenen Monaten sind verschiedene
Bücher erschienen, in denen ausführlich beklagt wird,
warum Familie und Beruf nicht miteinander zu ver-
einbaren seien: „Geht alles gar nicht“, lautet ein Titel,
„Die Alles ist möglich-Lüge“ oder „Vater, Mutter, Staat –
Wie Politik und Wirtschaft die Familie zerstören“.
Könnte es sein, dass sich das große Jammern gerade
gut verkauft? Dass deshalb Hunderte Seiten damit vollge-
schrieben werden, wie sich Männer und Frauen aufreiben
zwischen den Anforderungen des Jobs und ihrer Sehn-
sucht nach mehr Zeit mit ihren Kindern? Besonders ärger-
lich am großen Jammern finde ich, dass die Eltern sich
und ihre Ansprüche so wichtig nehmen.
Es ist oft anstrengend, ja, Gelassenheit und Improvisa-
tionstalent können nicht schaden. Vor allem aber bleibt
es ein Privileg, eine Familie und einen Beruf zu haben.
Bis vor wenigen Jahrzehnten waren wir alle, Frauen und
Männer, auf die tristen Rollenbilder der Hausfrau und
des Geldverdieners festgelegt. Ich erinnere mich gut an
Mütter in den Siebzigerjahren, die nicht berufstätig wa-
ren und trübsinnig wurden, als ihre Kinder aus dem Haus
gingen. Ich erinnere mich an Väter, die kaum da waren.
Diese stereotype Rollenverteilung ist Vergangenheit.
Zum Glück. Mehr als 90 Prozent aller berufstätigen El-
tern sagen, sie seien zufrieden mit ihrem Familienleben,
das ergab eine Sinus-Studie im vergangenen Jahr. Das
große öffentliche Jammern beschädigt eine Gleichberech-
tigung, die noch immer nicht selbstverständlich ist.
Beckmann-Selbstporträt aus Hilti-Kunststiftung
An dieser Stelle schreiben Claudia Voigt und Elke Schmitter im Wechsel.

DER SPIEGEL 21 / 2015 119


Kannst du
vergessen
Pop Als Kind verlor John Lydon sein
Gedächtnis. Als junger Mann wurde
er Sänger der Sex Pistols. Beides spukt
bis heute in seinem Kopf.
Von Philipp Oehmke

120 DER SPIEGEL 21 / 2015


Kultur

D
as ist kein Ort für einen Menschen, gerollten „R“ sang der damals 20-Jährige
der sich einmal Johnny Rotten ge- von „Anarchy in the U.K.“ und einem
nannt hat, hier auf dem Sunset „fascist regime“, der verrotteten britischen
Boulevard in Hollywood, wo die Sonne Monarchie, in der alle, die in ihr leben
vom Himmel sticht. Hoffentlich zerfällt er, müssten, „no future“ hätten. Keinerlei
der Verrottete, nicht gleich zu Staub. Er Zukunft.
trägt übrigens immer noch einen Irokesen- Johnny Rottens letzte Worte beim letz-
haarschnitt, was ihn heute aussehen lässt ten Konzert der Sex Pistols in San Francis-
wie einen Profifußballer, der sich mehr für co im Januar 1978 lauteten: „Ever get the
seine Frisur interessiert als für sein Spiel. feeling you’ve been cheated?“ Jemals das
Plötzlich sagt Johnny, dass er diesen Ort Gefühl gehabt, reingelegt worden zu sein?
auf dem Sunset Boulevard kenne. Früher Diese Worte waren der Beginn für einen
war hier das sogenannte Riot Hyatt, ein jahrzehntelangen Kampf darüber, was die
Hotel, das sich Musiker in den Siebziger- Sex Pistols nun eigentlich waren, wofür
jahren aussuchten, wenn sie ein paar Zim- sie standen und ob sie tatsächlich etwas
mer zerlegen wollten. Heute steht an der bewirkt hatten oder nur das industriell-
Stelle ein modernes Boutiquehotel. kapitalistische Boyband-Produkt eines ge-
Vor mehr als 37 Jahren, es muss im rissenen Managers gewesen waren. Jahre-
Februar 1978 gewesen sein, Johnny war lang wurden Prozesse geführt, Tausende
gerade 22 geworden und Sänger der Sex Bücherseiten gefüllt, Menschen sind ge-
Pistols, bestellte er den Manager Malcolm storben, Freundschaften zerbrochen. Und
McLaren ins Riot Hyatt, um ihn über sei- natürlich ging es immer um viel Geld.
nen Ausstieg aus der Band zu informieren. No future, Johnny? Wirklich?
McLarens Plan war es eigentlich, mit den Nun hat er sein zweites Buch zu diesem
Sex Pistols, die damals schon weltberühmt Thema geschrieben, diesmal ist es eine rich-
waren, noch viel Geld zu machen. Aber tige Autobiografie. Das erste Buch sei eher
Johnny wollte nicht mehr. Alles nur noch eine Art großer Hausputz gewesen, sagt
ein Trümmerhaufen. 26 Monate lang war Johnny. Zu viele Leute hatten begonnen,
er der Sänger gewesen, 26 Monate, die ihn einen zu großen Teil in der Sex-Pistols-Ge-
zu einer Ikone machten, für die einen zum schichte für sich zu reklamieren. „Rotten:
Antichristen, wie er selbst über sich sang, No Irish, No Blacks, No Dogs“ erschien Mit-
für die anderen zum Erlöser der Popmusik. te der Neunzigerjahre, 16 Jahre nach dem
Die Verabredung in dem Hotel ist eher Ende der Band, und richtete sich vor allem
dem Zufall geschuldet, aber Johnny kann gegen den Manager Malcolm McLaren und
nicht still stehen vor guter Laune. In einer dessen damalige Partnerin, die Modedesig-
Plastiktüte trägt er seine Habseligkeiten, nerin Vivienne Westwood, die behaupteten,
iPhone, zwei Packungen Marlboro Lights, die Sex Pistols seien nur postmoderne Per-
Medikamente, ziemlich viele. Allergien, formance-Kunst und Johnny Rotten und
sagt er. Ist klar. Epilepsie. Sid Vicious ihre Marionetten gewesen.
„Müssen wir noch lange laufen?“, fragt Natürlich betrachtet sich Rotten als Künst-
Johnny. Er sagt, sein Diätplan für heute ler, das schon, auch wenn er den Begriff als
sehe vor, dass er nichts essen, sondern nur „prätentiösen Nonsense“ ablehnt. Damit
trinken dürfe. man das versteht, hat er sein Leben jetzt in
Was genau? Grünen Tee? Gemüsesaft? eine Autobiografie gefasst, sie handelt von
„No!“, ruft Johnny. „Sea Breeze! Wodka, seinen Eltern und seiner Kindheit und Ju-
Cranberry, Schuss Grapefruit!“ gend in Nordlondon, es geht auch um die
Er ist jetzt 59 Jahre alt. Achtziger- und Neunzigerjahre, seine zweite
Johnny Rotten, auf Deutsch Johnny Band Public Image Ltd., die es heute noch
Verfault, mit bürgerlichem Namen John gibt – aber im Zentrum stehen erneut diese
Lydon, ist eine wirklich große Nummer. 26 Monate bei den Sex Pistols, die ihn zwar,
Er war der erste große Star des Punk, er wie er sagt, nicht mehr schmerzen, aber
hat seine Rolle gut ausgefüllt. Punk ist heu- immer noch nicht loslassen*. „Es war die
te Massenkultur. Der Berliner Kulturstaats- wichtigste Zeit meines Lebens. Und man
sekretär Tim Renner ist ein ehemaliger hat versucht, sie mir zu nehmen.“
Punk. Die CDU lässt auf ihrer Bundestags- Es waren seine 15 Minuten. Johnny Rot-
wahlparty ein Lied der Toten Hosen spie- ten hatte England in eine Hysterie versetzt,
len. Richard Branson, Johnny Rottens ehe- wie es sie seit den Beatles nicht gegeben
maliger Plattenchef, ist heute Milliardär hatte. Aber mit dem Unterschied, dass die
FOTOS: ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL

und bietet Flüge in den Weltraum an. Steht Energie, die die Sex Pistols entfachten, sich
man also heute mit dem vor sich hin scher- zerstörerisch gegen jene Kultur richtete,
zenden Johnny auf dem Sunset Boulevard die sie hervorgebracht hatte.
in der Sonne, muss man sich kurz kneifen, Bis zu den Sex Pistols hatte sich die
um überhaupt zu begreifen, was dieser relativ junge Popkultur zwar auch schon
Mann alles ausgelöst hat.
Mit seinem blassen Kindergesicht, den * John Lydon, Andrew Perry: „Anger Is an Energy –
Musiker Lydon orange gefärbten Haaren, den stierenden Mein Leben unzensiert“. Heyne Verlag, München;
Augen, der heulenden Stimme und dem 656 Seiten; 24,99 Euro.
DER SPIEGEL 21 / 2015 121
mit Fragen der Politik oder der Lebens-
führung auseinandergesetzt. Wie sehr darf
man mit der Hüfte wackeln? Wie kurz
kann der Rock sein? Wie offen muss Sexu-
alität gelebt werden? Und lässt sich dieser
Krieg in Vietnam nicht endlich mal been-
den? Für Johnny aber war das alles nur
Oberfläche. Die Beatles lebten von der Af-
firmation, die Sex Pistols vom Nihilismus.
Johnny ist in Nordlondon aufgewachsen.
Die Wohnung hatte keine Toilette. In der
Benwell Road, wo der runtergekommene
Häuserblock seiner Kindheit stand, thront
heute das Emirates-Stadion des Arsenal
FC. Als Siebenjähriger erkrankte er an
einer Hirnhautentzündung, der Überträger
der Krankheit war vermutlich eine Ratte,
wie die Ärzte ihm erklärten. Johnny sagt,
er habe in einer Pfütze im Hof gespielt,
der voller Ratten war. Eine Ratte musste
wohl kurz vorher in die Pfütze uriniert ha-
ben, mit deren Wasser Johnny sich dann Punk-Star Rotten 1977, wiedervereinte Sex Pistols 1996: Sie verstanden sich immer noch nicht
das Gesicht kühlte. Er fand es immer merk-
würdig, wenn die Menschen ihn fragten,
wie um alles in der Welt, er damals mit
20 Jahren auf diese bösen Liedzeilen ge-
kommen sei. Seine Antwort: Er habe nur
fünf Minuten gebraucht, sie zu schreiben,
aber sie seien jahrelang in ihm gereift.
No future? Natürlich. Jeder, der etwas
anderes behaupte, sagt Johnny, habe sie
nicht alle.
Er erzählt von einer der Fehlgeburten
seiner Mutter. Er sei neun oder zehn ge-
wesen und habe den Eimer mit dem toten
Embryo ins Klo kippen müssen. „Schon
in der Schule brachten sie dir bei, dich wie

FOTOS: DAVID WAINWRIGHT / PHOTOFEATURES / FACE TO FACE (O. L.); KEVIN CUMMINS / GETTY IMAGES (O. R.); CHALKIE DAVIES / GETTY IMAGES (U.)
ein Bürger zweiter Klasse zu benehmen.
Niemand wollte, dass man sich anstrengt.
Das System hatte kein Interesse an Auf-
steigern. Du warst auf der falschen Seite
und solltest dort bleiben. Es gibt keine
Zukunft für dich. No. Future. For. You.
Das System wollte Untertanen für die
Königsfamilie.“
Dass seine Zeilen über Nacht berühmt
wurden und heute zum Kanon der Pop-
geschichte gehören, beweist für ihn, dass
er recht hatte. Viele Konzerte der Sex Pis- Plattenvertragsunterzeichnung vor dem Buckingham Palace 1977: Alles eine Erfindung?
tols wurden von Veranstaltern aus Angst
abgesagt, die erste Auflage der Single „God Beverley, berüchtigt als Sid Vicious, im Seine Mutter Anne Beverley war eine der
Save the Queen“ fast komplett einge- New Yorker Chelsea Hotel seine Freundin ersten Ibiza-Hippies gewesen und laut
stampft, Plattenfirmen gaben ihnen Ver- erstochen haben, das Heroin-Groupie Nan- Johnny ebenfalls seit vielen Jahren Junkie.
träge und schmissen sie wieder raus, der cy Spungen. Er wurde verhaftet und starb Sid hieß eigentlich auch John, aber Johnny
Inlandsgeheimdienst MI5 schaltete sich ein. ein paar Monate später, auf Kaution ent- gab ihm den Namen seines Hamsters: Sid.
Das konservative England begann eine lassen, an einer Überdosis Heroin, die ihm In Marina del Rey in Los Angeles be-
Jagd auf die vier Sex Pistols, vor allem angeblich seine Mutter besorgt hatte. wohnt Johnny heute das ehemalige Strand-
aber auf ihren Sänger Johnny Rotten, der Johnny sagt, er habe Sid geliebt, sie haus der Hollywood-Ikone Mae West, ge-
sich wochenlang verstecken musste, weil kannten sich seit ihrer gemeinsamen Zeit baut 1910. Johnny hat mal erzählt, dass in
aufgebrachte Bürger es auf ihn abgesehen auf einer Schule für schwierige Kinder, den Sechzigerjahren der junge Arnold
hatten. aber für den Sid Vicious der letzten Mo- Schwarzenegger in dem Haus als Bau-
Die Band, gegründet im Sommer 1975, nate habe er nur Verachtung übriggehabt. arbeiter gejobbt habe, als er gerade nach
gelenkt von dem genial-schurkischen Ma- Johnny selbst hatte Nancy an Sid weiter- L.A. übergesiedelt war, um hier ein Star
nager Malcolm McLaren, geriet in Panik, gereicht, weil sie ihm zu fertig war. Aber zu werden. Den Stuck an der Außenwand
zerstritt sich und fiel nach einer desaströ- Sid hatte nie ein Händchen für Frauen. Sid habe Schwarzenegger selbst angebracht. In
sen US-Tour im Januar 1978 auseinander. war immer ein Fashion-Victim und Styler, den Neunzigerjahren, zu „Terminator“-Zei-
Neun Monate später soll der Bassist John nicht der Hellste, aber wahnsinnig lustig. ten, hätten Arnold und seine Frau, Fahrrä-
122 DER SPIEGEL 21 / 2015
Kultur

der in der Hand, einmal bei ihm geklingelt: Hipsterklamotten steckte. Selbst der Name Zusammen mit dem Gitarristen Steve
Er habe dieses Haus renoviert, sagte Schwar- Johnny Rotten sei eine Erfindung McLa- Jones, dem Drummer Paul Cook und
zenegger völlig ahnungslos, wem er gegen- rens gewesen, der Manager nahm Johnny Anne Beverley, der Mutter von Sid Vicious,
überstand, und er fragte auch, ob er herein- nach dem Ende der Sex Pistols sogar den gründete er Sex Pistols Residuals, Sex Pis-
kommen dürfe. Johnny hat Nein gesagt. Ihm Namen weg, acht Jahre lang, bis 1986 stritt tols Überbleibsel. Die Firma verwaltet bis
ist es schon peinlich genug, dass er mit Leu- er mit McLaren um die Rechte. heute das Erbe und bestimmt die Außen-
ten wie Paul McCartney befreundet ist. Johnny sollte die Grundlage seines darstellung und das Merchandising der
Er trägt heute eine bunte, relativ scheuß- Lebens genommen werden, das war ihm Band. Natürlich hätten sie ein paar Fehler
liche Hose. Von Issey Miyake, sagt er stolz. schon einmal passiert. Durch seine Hirn- gemacht, die Reunion 1996 zum Beispiel,
Später muss er noch nach Malibu, in sein hautentzündung verlor er mit sieben Jah- bei der sie nur feststellten, dass sie sich
anderes Haus, das direkt am Pacific Coast ren das Gedächtnis, die Krankheit hatte immer noch nicht verstehen. Trotzdem
Highway liegt. Johnny Rotten hat es 1990 seine gesamte Erinnerung ausgelöscht. Er könnte alles gut sein. Die Sex Pistols ge-
zusammen mit seiner Frau Nora für 1,2 Mil- musste alles neu lernen, auch wer er über- hören den Sex Pistols.
lionen Dollar gekauft, es dürfte inzwischen haupt war. Und er musste den Erwachse- Sea Breeze Nummer sieben. Johnny Rot-
erheblich mehr wert sein. Sein Nachbar nen glauben, was sie ihm über ihn erzähl- ten spricht über Dadaisten in Berlin und
dort ist der Schauspieler Orlando Bloom.
Auch den findet Johnny überraschend sym-
pathisch.
Er hat Angst, einzuschlafen und sich beim Aufwachen
No future? Orlando Bloom. nicht mehr daran zu erinnern, wer er ist.
Die Handwerker seien da, deswegen müs-
se er noch mal raus, und er dürfe das auch ten. Bis er wieder vollständig wusste, wer Situationisten in Paris, über künstlerischen
nicht vergessen, sonst könnte es Ärger mit er war, vergingen vier Jahre. Danach war Nihilismus, aber man kann ihn immer noch
Nora geben. Nora ist eine Deutsche, die er ein misstrauisches, schüchternes Kind. verärgern, wenn man ihn auf das Buch des
beiden kennen sich seit den Sex-Pistols-Ta- Er sah aus wie ein Nerd, las Dostojewski, amerikanischen Popkritikers Greil Marcus
gen, sie ist 14 Jahre älter, sie war (oder ist später auch „Ulysses“ von James Joyce. „Lipstick Traces – A Secret History of the
es immer noch) ein hochgewachsenes, blon- Er fragte und fragte, denn so hatte er es Twentieth Century“ anspricht, dessen Ein-
des Glamourgirl mit großer Oberweite aus während der Amnesie gelernt, er nervte band das stierende Gesicht von Johnny Rot-
guter Familie. Vor Johnny war sie die Ehe- die Leute mit seinen ewigen Klugscheißer- ten schmückt und in dem noch mal die al-
frau des Fünfzigerjahre-Schlagerstars Frank fragen. Man nannte ihn ein Problemkind. ten McLaren-Geschichten erzählt werden.
Forster („Nachts im Grünen Kakadu“). No- Johnny hat drei Sea Breeze hintereinan- „Bitte aufhören“, sagt Johnny. „Ich habe
ras Vater Franz Karl Maier war in Stuttgart der getrunken und geht jetzt dazu über, die Texte der Sex Pistols geschrieben. Sie
Ankläger bei den Entnazifizierungsverfah- zwei gleichzeitig zu bestellen. Sea Breeze sind mir ernst gewesen.“
ren und später bis in die Achtzigerjahre Nummer vier und Nummer fünf. McLaren hat er immer für einen intel-
Herausgeber des „Tagesspiegel“ in Berlin. Der Alkohol beruhige ihn, sagt er, er dim- lektuellen Rumlaberer gehalten, der Angst
Aus der Ehe mit dem Schlagersänger Fors- me seine Hyperaktivität ein bisschen. Ge- bekam, wenn es gefährlich wurde. Als Rot-
ter hatte Nora schon eine 13-jährige Tochter, nauso wie Speed, Amphetamine ihn immer ten ihn kennenlernte, führte McLaren zu-
als sie Johnny kennenlernte. Johnny und beruhigt hätten, während sie andere auf- sammen mit Westwood eine Boutique in
Sid mochten das Mädchen, der Clash-Gi- putschten. Er sagt, er habe auch deswegen der King’s Road in Chelsea. Der Laden
tarrist Joe Strummer brachte ihm angeblich nie Heroin genommen, weil er Angst habe, hieß Sex, bisschen Gummifetisch und
das Gitarrespielen bei, und bald nannte sich einzuschlafen und beim Aufwachen sich Teddy-Boy-Mode. Als er die beiden zum
Ariane nur noch Ari Up und gründete The nicht mehr daran zu erinnern, wer er ist. ersten Mal sah, hielt Johnny sie für Per-
Slits, eine der ersten Mädchen-Punkbands Er wirkt wie ein ADHS-Kind, hochintel- verse. „Aber dann merkte ich, dass die
der Welt. Ihr Patenonkel hieß Udo Jürgens. ligent, schnell, das von Einfall zu Einfall beiden dazu gar nicht mutig genug sind.“
No future? Udo und Johnny. Schlager hetzt. Manchmal scheint er mit den Erwar- Wir verlassen das Restaurant um halb
und Punk. tungen seines Gegenübers zu spielen und drei. Johnny deutet auf die Hügel Holly-
Ariane starb 2010 an Krebs, ihre beiden erzählt plötzlich von den narrativen Be- woods. Da sitzt irgendwo noch Billy Idol
Kinder, Zwillinge, haben schon in den sonderheiten in Joyce’ „Ulysses“ oder von in seiner Villa. Ach Billy. Auch so ein
Neunzigerjahren zu großen Teilen bei ih- der Ausrottung der britischen Oberschicht Hängengebliebener. Großer Punkdarstel-
ren Großeltern, Nora und Johnny, in Los nach dem Zweiten Weltkrieg und davon, ler. Wie Sid. Manchmal sehen sich Billy
Angeles gelebt. was das mit seinem Text für den Song und Johnny. Billy redet gern über die alten
Nach Johnnys Ausstieg 1978 produzierte „God Save the Queen“ zu tun habe. Und Zeiten, London, Winter 1976, den 100
McLaren mit dem Rest der Band noch den manchmal erfüllt er auch die Erwartungen Club, den Pistols-Auftritt im Screen on the
Film „The Great Rock ’n’ Roll Swindle“. und rülpst in einem Restaurant am Sunset Green. Johnny schweigt dann meistens.
Auch der Film legt nahe, dass die Sex Pis- Boulevard. Sea Breeze Nummer sechs und „Mit meinen letzten Worten auf der Büh-
tols nur ein Spiel waren, ein Gedanken- Nummer sieben stehen auf dem Tisch. ne“, sagt Johnny plötzlich, „wollte ich nicht
konstrukt McLarens, eine poststrukturalis- Den Kampf gegen McLaren gewann er. sagen, dass die Band ein Betrug war, son-
tische Idee, die die Verkommenheit und Die anderen Sex Pistols hatten sich auf dern dass ich mich betrogen gefühlt habe!“
Dummheit des Popgeschäfts durch stupi- seine Seite geschlagen. Nach dem Prozess Er möchte jetzt auf meinem Hotelzim-
den Nihilismus entlarvt hatte: der große durfte Johnny sich wieder Johnny Rotten mer noch ein paar Bier trinken. Das klingt
Rock-’n’-Roll-Schwindel, und alle waren nennen, auch wenn er den Namen nicht beunruhigend. Und die Handwerker in
McLaren auf den Leim gegangen. Und hat- mehr mochte. Er siegte auch in der Aus- Malibu? Oh, sagt Johnny.
te Johnny das mit seinen letzten Worten einandersetzung darum, wem die Rechte Früher wäre er trotzdem geblieben.
auf der Bühne nicht auch angedeutet? an allen Sex-Pistols-Songs gehören und
Johnny war in diesem Erzählstrang nur auch am Film „The Great Rock ’n’ Roll Video:
noch der Verrückte, den McLaren gecastet Swindle“, er bekam außerdem eine Ent- Die Geburt der Sex Pistols
und ausgenutzt hatte und den McLarens schädigung von einer Million Pfund, heute spiegel.de/sp212015rotten
Lebensgefährtin Vivienne Westwood in sind das umgerechnet 3,6 Millionen Euro. oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 21 / 2015 123


Die Revolution fällt mal wieder aus
Zeitgeist Asymmetrischer Diskurs: An der Berliner Humboldt-Universität bekämpfen linke Studenten
einen prominenten Professor – im Netz und anonym. Von Georg Diez

D
er Professor spricht von „Angrei- die Münkler für „erbärmliche Feiglinge“ Watch“ ändert damit ziemlich einseitig die
fenden“ und von „Strategie“, er hält, wie er nicht ohne Genuss sagt – aller- Regeln des Spiels.
spricht von „minimalem Ressour- dings hat er sich wiederum Zwischenfra- Andererseits, auch das wird hier deut-
ceneinsatz und maximalem Effekt“, er gen in seiner Grundlagenvorlesung verbe- lich: Es herrscht ein Klima der Vorsicht,
spricht von „asymmetrischer Kampffüh- ten, er müsse ja seinen Stoff durchkriegen. bei dem sich die Studenten genau über-
rung“ und von einem „Zermürbungs- Aber was ist im Jahr 2015 so aufwühlend legen, was sie sagen. Die anonyme Gruppe,
krieg“, den es zu vermeiden gelte. daran, wenn das Internet genutzt wird, um die nach eigenen Angaben das Blog be-
Es geht ihm an diesem Punkt seiner Vor- seine Meinung zu sagen? Liegt es an der treibt, sagt dann auch explizit, dass sie ihre
lesung am vergangenen Dienstag aber Kritik, die den Professor kränkt? Wittert Karrieren, Jobs und ihren Wohlstand nicht
nicht um al-Qaida und den globalen Terror, er eine Kampagne? Ist es nicht eine ganz gefährden wolle – und wenn das Ironie
wie man denken könnte, sondern um Stu- normale politische Auseinandersetzung, war, dann steckt doch etwas Wahrheit da-
denten der Berliner Humboldt-Universität rin: Der Druck, auch der Konformitäts-
und die Frage, was heute akademische
Öffentlichkeit ist, wie sie sich strukturiert
Was Öffentlichkeit ist, druck, scheint an den Universitäten in den
vergangenen Jahren gewachsen zu sein.
und wer sie bestimmt. das entscheiden heute ein Es geht bei alldem um einen Professor,
Etwas Seltsames ist passiert an dieser
Hochschule mit dem berühmten Namen:
paar Studenten mit der sich im Hörsaal so zu Hause fühlt wie
im Fernsehstudio, um einen Denker der
Es gibt eine Diskussion um Form und In- einem Internetzugang. Macht, einen Theoretiker des neuen, star-
halt der Lehre, und die Sprache wird krie- ken Deutschland, einen Mann, wie ihn sich
gerisch, und Kritik nennt man auf einmal nur mit anderen Mitteln? Oder ist das Pro- Angela Merkel nur wünschen kann und
Denunziation. blem die Anonymität und die Angst, kon- der in seinem kürzlich erschienenen Buch
Aber ist das so? Wird wirklich jemand tinuierlich verfolgt zu werden? In Zeiten „Macht in der Mitte“ zeigt, wie sich eine
„diffamiert“, wie die „Süddeutsche Zei- der NSA kann sich leicht dieses Gefühl Führungsrolle Deutschlands in Europa heu-
tung“ schreibt, wenn Studenten einen Pro- einstellen, und etwas von der Paranoia der te legitimieren lässt.
fessor kritisieren und diese Kritik anonym Dauerüberwachung liegt auch in diesem Ihn interessiert dabei nicht die Frage,
im Netz veröffentlichen? Fall, auf beiden Seiten. wie demokratisch dieses Europa ist – ihn
Herfried Münkler sieht das so. Er be- Unter den Studenten ist die Aktion je- interessiert vor allem die geopolitische
setzt den Lehrstuhl für Politische Theorie denfalls umstritten, und besonders der Logik, die er bis weit in die Geschichte zu-
und ist es gewohnt, das Wort und die Punkt der Anonymität ist angreifbar: Dis- rückverfolgt. Er ist ein Realist, so nennt
Macht zu haben. Gegen ihn richtet sich kurs funktioniert normalerweise so, dass man das, er ist aber auch ein Regierungs-
das Blog „Münkler-Watch“, das offenbar der Angesprochene weiß, mit wem er denker, denn seine Analyse ist direkt in
von ein paar Studenten betrieben wird, redet und wem er antwortet – „Münkler- aktive Politik umzusetzen.
124 DER SPIEGEL 21 / 2015
Kultur

derum können geteilt werden und neue


Kommentare produzieren.
Der Vorteil des Ganzen liegt auf der
Hand: Es ist der Triumph des Digitalen
über die Tradition der Diskussion. Ein
Kampf des 21. gegen das 19. Jahrhundert,
und am Ende entsteht eine neue Balance
der Macht.
Münkler selbst ist dabei in seiner Art
ein Professorentyp, wie ihn seinerzeit Max
Weber kritisierte – und die Macht, die
Münkler ausstrahlt, gibt es in dieser Form
nicht mehr, seine Funktion verändert sich
in der digitalen Welt genauso wie das We-
sen der Universität.
Die Brüche, die das Digitale erzeugt,
zeigen sich nur selten so deutlich: Da ist
einerseits der Professor als Großdenker,
der über „Die neuen Kriege“ und „Die
Deutschen und ihre Mythen“ schreibt, da
sind andererseits die Studenten als Bache-
lor-Kaninchen, die ihr Studium durchzie-
hen müssen in Rekordzeit.
Was wiederum nicht ihre Schuld ist, son-
dern die Entscheidung der Bildungspolitik,
die ja genau diese Art von Universität woll-
te und diese Art von Studenten – die vor
allem davon reden, wie „durchgetaktet“
ihre Tage sind und wie wenig Raum und
Aufkleber-Aktion im Hörsaal, Lust besteht für Diskussionen, Grundsätz-
Wissenschaftler Münkler bei Vorlesung liches, Widerstand.
Auch in diesen Mangel hinein ist etwas
wie „Münkler-Watch“ gesetzt – wo im
Übrigen die Vorlesungen eher nüchtern
und weitgehend sachlich kommentiert wer-
Und hier liegt eine mögliche Ursache darüber ist, wie Öffentlichkeit und Streit den. Es ist eben kein Beispiel für einen
für den Streit mit den Studenten: Schon im digitalen Zeitalter funktionieren. auch möglichen digitalen Moralismus, der
im vergangenen Jahr wurde Münkler von Man könnte es eine asymmetrische Dis- keine abweichenden Meinungen mehr dul-
der sozialwissenschaftlichen Fachschaft kursführung nennen: Was Öffentlichkeit det, es ist eher eine andere und sehr wir-
heftig kritisiert, weil er als „die größte si- ist, das bestimmen nicht mehr einige kungsvolle Form des Streits.
cherheitspolitische Herausforderung des wenige, das kontrollieren nicht mehr Pro- Die meisten Studenten scheint dieser
21. Jahrhunderts“ die Flüchtlinge bezeich- fessoren oder Redakteure – was Öffentlich- Streit aber nicht wirklich zu interessieren.
nete, die „nicht der wirtschaftlichen Pro- keit ist, das entscheiden ein paar Studenten Sie schreiben in der Vorlesung Münklers
sperität Europas zugutekommen, sondern mit einem Internetzugang. eifrig mit, jedes Wort ist wichtig, sie schrei-
die sozialen Sicherungssysteme der euro- Eine Minderheit dominiert mit einfa- ben mit dem Füller in ihre Hefte wie in
päischen Staaten überfordern und damit chen Mitteln die Diskussion und findet der Schule, aus der sie gerade kommen.
die soziale Ordnung infrage stellen“. eine im Verhältnis zum Aufwand extrem Es ist nicht mehr die Universität der
Einen „Extremisten der Mitte“ haben große mediale Aufmerksamkeit – man politischen Kämpfe, der Maulhelden und
ihn die Studenten von „Münkler-Watch“ kann das bedauern, man kann aber auch der Träumer, so scheint es, es ist eine Uni-
deshalb genannt, auch weil er die Logik nüchtern feststellen, dass das eine Macht- versität, die von ähnlichen Ängsten be-
des Helfens durch eine Logik des Kampfes verschiebung ist, wie sie schon weite Teile stimmt wird wie der Rest der Gesellschaft.
ersetzte: „Gleichzeitig ist Europa infolge der Gesellschaft erreicht hat und nun also Und so ist dieser Fall auch weniger ein
seiner Wertbindungen nicht in der Lage, auch die Universität, die sich auf die neu- politischer Skandal als ein digitales Sitten-
diese Flüchtlingsströme an seinen Grenzen en Formen der Öffentlichkeit einstellen gemälde, bei dem am Ende beide Seiten
zu stoppen und zurückzuweisen, wie man könnte. nicht besonders gut dastehen.
dies bei einem militärischen Angriff ver- Es ist die Logik des Internetzeitalters, Der Professor, der so gern im schnarren-
suchen würde.“ die sich hier zeigt: Selbst wenn die Stu- den Ton der Einschüchterung spricht und
Die Studenten, die ihn kritisieren, nen- denten mit Münkler diskutieren würden, der sich nun damit arrangieren muss, dass
nen Münkler militaristisch und nationalis- wenn sie im direkten Gespräch versuchen seine Rolle infrage gestellt wird.
FOTOS: CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL

tisch, sie bezeichnen ihn als sexistisch und würden zu begründen, warum sie nicht Und die Studenten, die in einer Zeit der
halten seine eurozentristische Überheb- seiner Meinung sind – wer würde das mit- Umbrüche und der Krise des Kapitalismus
lichkeit für eine Form von Rassismus, die bekommen außer einigen Kommilitonen, nichts Besseres zu tun haben, als gegen
volle Packung also: Aber warum, fragt die rasch ungeduldig werden, weil sie noch einen graubärtigen Professor zu kämpfen.
man sich, äußern sie ihre Kritik dann nicht ins Fitnessstudio wollen? Eine Revolution jedenfalls, das machte
dort, wo der Ort dafür wäre, im Hörsaal? So aber haben sie die ganz große Bühne, Münkler in seiner Vorlesung deutlich,
Und an dieser Stelle wird deutlich, dass potenziell grenzenlos und weltweit, jeder kann man so nicht machen, und das hat
der Fall Münkler eben auch ein Lehrstück kann kommentieren, die Kommentare wie- ihn dann wieder sichtlich gefreut. I

DER SPIEGEL 21 / 2015 125


Kultur

„Es werde Geld, und es ward Geld“


SPIEGEL-Gespräch Warum sieht der Neubau der Europäischen Zentralbank in
Frankfurt am Main aus wie ein Tempel? Weil er einer ist. Der Philosoph Christoph Türcke
ergründet die Triebkraft des Geldes – und dessen Ursprung im Opferkult.

Die Krise des Finanzsystems beflügelt Zusam- von Himmelsgottheiten galten, wo man Opfertier schlechthin, weil es als der wert-
menbruchfantasien. Aber lässt sich eine glaubte, dass sich im Gold die Sonne re- vollste Besitz galt. Das lateinische Wort
Gesellschaft ohne Geld denken? In seinem flektiert, im Silber der Mond, im Kupfer für Geld, „pecunia“, kommt von „pecus“,
neuen Buch beschreibt Türcke, 66, studierter die Venus. Die Priester von Babylon setz- Vieh. Bezahlt wurde zunächst einmal mit
Theologe und emeritierter Professor für ten das Wechselverhältnis von Gold und Vieh, aber keineswegs im profanen Kon-
Philosophie in Leipzig, die Geschichte des Gel- Silber auf 1 zu 13¹⁄³ fest, sie errechneten text des Güteraustauschs auf dem Markt,
des von den archaischen Anfängen bis zu den es aus den Umlaufzeiten der Himmels- sondern im sakralen des Opferkults.
Turbulenzen unserer Tage als Dialektik von körper. Diese Wertrelation hielt sich grosso SPIEGEL: Das Geld ist nur ein Ersatz für das
Schuld und Sühne: ein nicht enden wollender modo während der ganzen Antike und so- Opfer, das den Göttern geschuldet wurde?
Kreislauf von Angst und Hoffnung*. gar bis in die Neuzeit hinein. Türcke: „Geld“ kommt nicht von Gold, son-
SPIEGEL: Der Wert des Geldes wurde ge- dern vom angelsächsischen „gilt“. Es heißt
SPIEGEL: Herr Türcke, wir glauben alle zu wissermaßen vom Himmel geholt und Schuld, das Geschuldete. Die „Gilde“ war
wissen, was Geld in einer Marktwirtschaft religiös beglaubigt? ursprünglich nicht die Handwerkerzunft,
ist: ein Tauschmittel, ein Wertaufbewah- Türcke: Ja, und auch das erst in einer ziem- sondern die Opfergemeinschaft. Archai-
rungsmittel und ein neutrales Maßsystem lich späten Phase. Der religiöse Ursprung sche Kollektive fühlten sich gegenüber
für den Wert von Waren. Warum aber löst des Geldes reicht noch viel weiter zurück. höheren Mächten schuldig. Deswegen ihr
Geld so starke Emotionen in uns aus? Er liegt im Opfer, das den höheren Mäch- Drang zur Opferdarbringung.
Türcke: Offensichtlich ist es mehr als ein ten dargebracht wurde. Das Rind war das SPIEGEL: Wie ist denn die Schuld, die ja
bloßes Hilfsmittel. Das aber begreift die auch in der Erzählung der Erbsünde auf-
Ökonomie nicht. Die Magie des Geldes scheint, in die Welt gekommen?
lässt sich nur verstehen, wenn man seine Türcke: Weil sie anfangs, so paradox es
Herkunft kennt. Und da muss man sehr auch klingen mag, das Leben erleichterte.
weit zurückgehen. Bis in die Altsteinzeit. Wo immer man auf Rückstände früher Kul-
SPIEGEL: Das Geld ist doch eine relativ turen trifft, findet man Spuren von Opfern.
junge Erfindung in der Menschheits- Geopfert aber wurde nicht aus Spaß. Die
geschichte. Menschen mussten mit einem elementaren
Türcke: So scheint es, wenn man glaubt, Daseinserlebnis fertigwerden: dem trau-
dass die anfängliche Geldform die Münze matischen Schrecken vor den Naturgewal-
war. Eine pragmatische Erfindung, die den ten, denen sie schutzlos ausgeliefert waren
Austausch von Naturalien vereinfachte und denen sie nicht entfliehen konnten.
und regulierte; ein allgemein anerkanntes SPIEGEL: Die Natur enthält ein Versprechen:
Maß für den Wert von Gütern. Fruchtbarkeit und Vermehrung, aber sie
SPIEGEL: Und das den Handel erleichtert stellt auch eine Bedrohung dar: Tod und
und ein soziales und wirtschaftliches Leben Vernichtung. Das Opfer soll das eine si-
über die Grenzen der eigenen Horde hinaus chern und das andere verhindern?
erst möglich machte. Noch bei Homer war Türcke: Im Opfer versucht der Mensch, dem
das Rind das Maß aller Dinge. Ziemlich Schrecken durch eine Flucht nach vorn
schwerfällig als Zahlungsmittel. zu begegnen. Man begann, das Schreck-
Türcke: Die Münze ist praktischer. Aber sie liche – den erlebten Tod von Stammes- FOTO: JÖRG GLÄSCHER / DER SPIEGEL; ILLUSTRATION: TIM MÖLLER-KAYA / DER SPIEGEL
wirft die Frage auf, warum Menschen sich genossen – in Eigenregie zu wiederholen,
auf Edelmetall, Gold und Silber, als Maß- indem man kollektiv über seinesgleichen
stab festgelegt haben. herfiel. Man opferte das Wertvollste und
SPIEGEL: Ganz einfach: Gold und Silber ver- schlechterdings Unentbehrliche, nämlich
rottet nicht, glänzt schön und liegt nicht den eigenen Mitmenschen. Ein Schrecken,
überall offen herum. der einen nicht einfach von außen über-
Türcke: Schönheit, Haltbarkeit, Formbar- fällt, den man selbst immer wieder eigens
keit, Knappheit – das sind die typischen veranstaltet und allmählich ritualisiert,
Rationalisierungen, die sich über den Ur- wird erträglicher. Natürlich ist er immer
sprung des Metallgeldes gestülpt haben. noch schlimm genug.
Entscheidend ist jedoch, dass die sogenann- SPIEGEL: Aber er bekommt einen Sinn, das
ten Edelmetalle Stoffe mit sakralem Bezug Unfassbare wird fassbar?
waren. Zu Zahlungsmitteln wurden sie nur Türcke: Daher war der nächste große Epo-
dort, wo sie als der irdische Widerschein chenschritt, sich die Wiederholung des
Schrecklichen als etwas einzubilden, das
* Christoph Türcke: „Mehr! Philosophie des Geldes“.
von einer höheren Macht verlangt wird.
Verlag C. H. Beck, München; 480 Seiten; 29,95 Euro. Autor Türcke Höhere Mächte oder Gottheiten waren an-
Das Gespräch führte der Redakteur Romain Leick. Geld ist eine Schöpfung aus dem Nichts? fangs nichts als imaginäre kategorische Im-
126 DER SPIEGEL 21 / 2015
DER SPIEGEL 21 / 2015 127
Kultur

perative: Tut das Schreckliche! Ihr schuldet banken ist ähnlich mysteriös wie die Er-
es mir! Die elementare Gottheit manifes- schaffung des Urgeldes. Die Menschen, die
tiert sich in einem „Du sollst“. Die Pointe als Opfer ausgewählt und zugerichtet wur-
dabei ist: Wenn eine quälende Zwangs- den, hatten ja nicht von Natur aus Sühne-
handlung als Begleichung von Schuld ge- qualität oder, modern gesagt, Kaufkraft.
fühlt wird, ist sie besser auszuhalten. Sie Sie bekamen sie durch einen Ritus ange-
bekommt einen Adressaten, ein Wozu, ei- zaubert. Das Anzaubern, überhaupt das
nen Sinn. Schuld war im Zeitalter der Herbeizaubern von Kaufkraft, die vorher
Menschwerdung der Sinnstifter schlecht- nirgends war, ist älteste Priestertätigkeit
hin – und das Opfer der mit Sinn versehe- und aktuellste Geldpolitik zugleich. Inso-
ne traumatische Wiederholungszwang des fern sind Mario Draghi und seine Kollegen
Schrecklichen, des Todes, durch nachge- nicht nur in metaphorischem Sinn Priester.
stelltes Tun. Und nicht von ungefähr mutet die über
SPIEGEL: Die eingebildete Schuld wird be- eine Milliarde teure neue Residenz der
glichen, indem man mit dem Leben be- EZB wie ein riesiger Tempel an.
zahlt? Eine Halluzination wird in die Wirk- SPIEGEL: Traut man deshalb den Zentral-
lichkeit projiziert? banken gegenwärtig mehr Macht und
Türcke: Die Zahlung hat im Opferkult ihren mehr Glaubwürdigkeit zu als den welt-
Ursprung. Das Urgeld war, nach allem, lichen Herrschern, den Staats- und Regie-
was sich rekonstruieren lässt, das Men- rungschefs?
schenopfer. Sein Gegenwert, der Schutz Türcke: Zumindest besteht der Wert des
durch höhere Mächte, war völlig imaginär, Geldes nur so lange, wie er dekretiert wird
die Zahlung selbst aber furchtbar real. und eine Gemeinschaft oder eine Gesell-
SPIEGEL: Die Entstehung des Religiösen schaft bereit ist, dieses Dekret anzuerken-
wäre demnach gleichbedeutend mit der nen. Jedes Geld verlangt kollektiven Glau-
Entstehung des Geldes und aus der Verar- ben an seine Kaufkraft. Deswegen braucht
beitung des Naturschreckens zu erklären? jede Geldwirtschaft Geldpriester.
Türcke: Man versteht die Geschichte der SPIEGEL: Der Glaube ist eine ziemlich wack-
Opfer und damit die Geschichte der Zah- lige Grundlage. Was, wenn die Seifenblase
lungsmittel nicht, wenn man sie nicht platzt?
als eine Substitutionsgeschichte durch- Türcke: Dann geht es wie mit Brot und
schaut: vom Menschenopfer über das Tier- Wein. Im katholischen Ritus werden sie
opfer zur Opfermünze bis hin zum Papier- durch Einsetzungsworte zu Leib und Blut
geld. Die Opfer der Frühzeit wurden im Christi. Tja, wenn man an diesen Zauber
Laufe vieler Jahrtausende durch immer nicht glaubt, dann sind sie bloß noch Brot
weniger schreckliche, immer erträglichere, Wall-Street-Gegner in New York und Wein, wie Geld bloß noch Papier ist,
immer kostengünstigere Zahlungsmittel „Die Finanzindustrie ist nicht bestreikbar“ wenn man kollektiv an seiner Kaufkraft
abgelöst. zweifelt.
SPIEGEL: Die ursprünglich sakrale Opfer- Nullen auf digitalisierten Konten ist poten- SPIEGEL: Wenn es zum großen Krach an
gemeinde hatte damit das Outsourcing von ziell unbegrenzt. Ist der Vermehrung des der Börse kommt, müssen viele dran glau-
Schuld ersonnen, man kaufte sich frei? Geldes, und damit auch der Gier, keine ben. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat
Türcke: Zumindest wirtschaftete man im- Schranke gesetzt? in den Schuldnerländern schon jetzt ihre
mer mehr an den Göttern vorbei und so- Türcke: Der Goldstandard ist längst aufge- Opfer gefordert. In Griechenland ist die
zusagen in die eigene Tasche. Nur so ha- geben, das Geld, das heute in der Welt zir- Zahl der Selbstmorde merklich gestiegen.
ben der Tempel- und dann der Staatsschatz kuliert, nur noch zu einem Bruchteil durch Haftet der moderne Mensch noch immer
entstehen können. „Capital“ heißt ja wört- die Realwirtschaft gedeckt. Der Industrie- physisch für den Wert des Geldes?
lich todeswürdiges Verbrechen. Die ersten kapitalismus ist in einen gigantischen Fi- Türcke: Die neoliberale Ökonomie predigt
großen Anhäufungen von Edelmetall wur- nanzkapitalismus verwickelt. Und der, so ihm täglich: Die Schuldner müssen durch
den durchaus als Unrecht gegenüber den suggerieren uns die Ökonomen, hat das das Tal der Tränen, denn das Leiden ist
Göttern verspürt. Geld endlich zu einer rational steuerbaren nun mal im Preis der Schuld inbegriffen.
SPIEGEL: Ist der Drang nach ständiger Geld- Manövriermasse gemacht. Endlich kann Der Schmerz gehört zur Austeritätspolitik:
vermehrung, die Plusmacherei, wie Karl man nach rein ökonomischen Abwägun- Ihr müsst Buße tun, denn ihr habt über
Marx das genannt hat, ein Überbleibsel je- gen Geld erschaffen und seinen Umlauf eure Verhältnisse gelebt, weil ihr nicht
nes traumatischen Wiederholungszwangs? regulieren. Man ist dabei nicht mehr von zurückzahlen könnt. Die Frage nach der
Türcke: Die Schaffung des Geldes geschieht einem Haufen Edelmetall abhängig. Verantwortung für die Schulden, nach der
heutzutage auf höchst erstaunliche Weise. SPIEGEL: Rational? Statt mit einem Berg Entstehung der Schuld, müsste indes ganz
Die Europäische Zentralbank zieht ja die Gold haben wir es mit einem Haufen Nul- anders gestellt werden. Wer hat denn die
Milliarden, die sie gegenwärtig an die Ge- len zu tun. Diese Abstraktion löst Beklem- Kreditverträge überhaupt geschlossen? Ha-
schäftsbanken ausreicht und auf diesem mung aus, nämlich Angst davor, dass das ben die staatlichen Repräsentanten dabei
Umweg den Staaten der Eurozone leiht, Geld plötzlich nichts mehr wert ist. wirklich für ihre Bevölkerung oder gegen
Türcke: Die Urangst vor dem Schrecken
FOTO: EMMANUEL DUNAND / AFP

nicht etwa aus einem dicken Portemon- sie gehandelt? Haben die Finanzmärkte,
naie. Sie erschafft sie. Das erinnert ver- lebt weiter. Daran wird deutlich, dass wir die den Staaten das Geld liehen, als die
blüffend an die ersten Verse der Bibel. Es in der gegenwärtigen Finanzwirtschaft große Verschuldung in den Siebzigerjahren
werde Geld, und es ward Geld. dem sakralen Zusammenhang keineswegs ihren Lauf nahm, nicht von vornherein
SPIEGEL: Eine Schöpfung aus dem Nichts? entronnen sind. Er zieht sich vielmehr fahrlässig gehandelt? Haben sie die Un-
Die verfügbare Goldmenge war begrenzt. durch die ganze Menschheitsgeschichte. fähigkeit, die Schulden zurückzuzahlen,
Die Geldschöpfung als Akkumulation von Die moderne Geldschöpfung der Zentral- nicht schon vorab einkalkuliert und billi-
128 DER SPIEGEL 21 / 2015
gend in Kauf genommen, weil sie sich da- windung begonnen. Im Geld selbst steckt
von Vorteile versprachen? eine utopische Dimension – nämlich der
SPIEGEL: Nutzten die Finanzmärkte die inständige Wunsch nach einem Zustand
Chance, den Staaten ihre Souveränität ohne Schrecken, Elend, Schuld. Geld hat
abzukaufen? gewissermaßen ein Triebleben. Es drängt
Türcke: Das haben die Zentralbanken bei in der Tat zu einer Gemeinschaft, in der
Ausbruch der großen Krise 2007 zugelassen gilt: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem
und damit gleichsam für einen Moment das nach seinen Bedürfnissen! Selbst die Geld-
Heft aus der Hand gegeben. Was sich mei- gier hat einen utopischen Überschuss. Sie
nes Erachtens gegenwärtig abspielt, ist eine ist bloß Ersatz und Fassade des Wunsches
Art Showdown zwischen Zentralbank und nach Trost, Genugtuung, Geborgenheit,
Finanzmarkt: Wer ist wirklich „Verleiher Frieden.
letzter Instanz“? Nur die Zentralbank darf SPIEGEL: Die vollkommen gerechte Gesell-
Geld drucken, und sie will, dass diese von schaft wäre eine schuld- und schuldenfreie
ihr in die Welt gesetzte Liquidität wieder Gesellschaft? Milch und Honig sollen flie-
in ihren großen Rachen zurückfließt – in ßen statt Blut und Geld. Das ist die Sehn-
das Nichts, aus dem sie hervorgegangen ist. sucht nach dem Gelobten Land.
Rechtlich ist sie die letzte Verschuldungs- Türcke: Die wohl nicht ganz zufällig im
und Schuldtilgungsinstanz. Aber faktisch biblischen Israel, in einem schwer heim-
war in der Krise der Finanzmarkt der Groß- gesuchten kleinen Volk, entstanden ist.
verleiher. Das hat die Zentralbank ange- Eine vollkommen schulden- und schuld-
nagt – und sie reagiert ähnlich wie das freie Menschheit ist schwer vorstellbar.
mittelalterliche Papsttum, als es in die ba- Wohl aber ein anderer, wesentlich huma-
bylonische Gefangenschaft nach Avignon nerer Umgang mit Schuld, einer, der auf
musste. Um seine Autorität wiederherzu- wechselseitigem Respekt statt auf hammer-
stellen, machte es sich mit der weltlichen harter Buße beruht. Nicht jeder zukünftige
Macht gemein, betrieb Ämterschacher und Umgang mit Geld muss notwendig ein ka-
versteigerte ungeniert Abteien und Bi- pitalistischer sein.
schofssitze. Auch die Zentralbank folgt SPIEGEL: Die Zähmung des Raubtiers bleibt
nicht mehr nur ihrer priesterlichen Funktion eine Kulturmission?
der Gelderschaffung und -rücknahme, son- Türcke: Die Staaten werden sich notgedrun-
dern begibt sich auf den Markt und fängt gen zusammenraufen müssen, um mit den
an, Staatsanleihen von Geschäftsbanken Finanzmärkten in anderer Weise fertigzu-
aufzukaufen. Sie hat sich auf einen neo- werden als bisher. Gegenwärtig sind sie
liberalen Investiturstreit eingelassen. deren Spielball. Sie leihen sich dort Geld,
SPIEGEL: Setzt sie den Tempel beziehungs- Zentralbankchef Draghi statt es abzuschöpfen. Das Wiedererstar-
weise den geldpäpstlichen Sitz damit der „Geldpolitik ist Priestertätigkeit“ ken der Staatengemeinschaft brächte zwar
Gefahr seiner Selbstentzauberung aus? neue Probleme mit sich, könnte aber auch
Türcke: Durchaus. Sie kompromittiert sich, dass die Opposition dagegen sich kaum zu einer Neuformierung der Demokratie
wenn sie sich direkt auf den Markt begibt. noch sinnvoll formieren kann. Fabriken und der Zivilgesellschaft führen, einer
Dort ist sie bloß ein Akteur unter vielen, kann man leicht bestreiken, die Finanz- Selbstermächtigung der Politik gegenüber
selbst wenn all das Geld, das dort kursiert, industrie nicht. Die Schwächung der Ge- den Märkten, die die Gesellschaft aus der
ihre Schöpfung ist. „Verleiher letzter In- werkschaften vollzog sich parallel zu den Zuschauerdemokratie reißt und den Ein-
stanz“ war eigentlich der Ehrentitel einer gigantischen Geldverlagerungen vom öf- zelnen bewusst macht: Es geht um dich
Priestermacht, in deren Schuld sich das ge- fentlichen auf den privaten Finanzsektor. und deine Sache.
samte Geldsystem befindet; heute ist es SPIEGEL: Alle Verflüchtigung und Beschleu- SPIEGEL: Stattdessen wächst eher das Ge-
der Name für einen Dauernotdienst, der nigung hat das Geldsystem nicht stabil fühl von Resignation und Ohnmacht. Lässt
an allen Ecken und Enden Geldlöcher gemacht, ganz im Gegenteil. Unendliche sich die Macht des Geldes überhaupt noch
stopft. Kapitalvermehrung übersteigt die Vorstel- kontrollieren?
SPIEGEL: Durch diese Eingriffe ins Markt- lungskraft. Wo führt das Ganze hin? Türcke: Wenn man sich ernsthaft auf seinen
geschehen ist die eigentlich unabhängige Türcke: Dass der Kapitalismus zur Selbst- Ursprung zurückbesinnt. Geld kam nicht
Zentralbank auch politisch angreifbar ge- zerstörung neigt, bemerkte schon Marx. in die Welt, um gehortet und rentabel
worden. Diese Neigung hat sich seither lediglich angelegt zu werden. Es entstand, um seine
Türcke: Der Tempelbau in Frankfurt hat verwandelt, nicht aufgelöst. Doch trotz Anlässe – Schrecken und Schuld – zu
nicht von ungefähr Wut und gewalttätige hoher Anfälligkeit für Erschütterungen beseitigen und damit sich selbst zu erübri-
Proteste von Blockupy auf sich gezogen. öffnet sich keinerlei Aussicht auf einen gen. Sich das klarzumachen hat etwas
Diese Wutausbrüche sind freilich einiger- finalen Zusammenbruch. Und selbst wenn enorm Befreiendes. Der Finanzkapita-
maßen hilflos, weil die Finanzmacht so we- er käme, brächte er nicht schon die Er- lismus muss nicht das letzte Wort haben.
nig greifbar ist. Deswegen konnte man den rettung vom Geld. Da war Marx viel zu Das Geld werden wir zwar nicht los, aber
Demonstranten mit Kennergestus sagen: blauäugig. die Erinnerung daran, dass es in die Welt
FOTO: FRANK RUMPENHORST / DPA

Bei der EZB seid ihr an der falschen Adres- SPIEGEL: Eine höhere Form menschlichen kam, um schnellstmöglich wieder daraus
se. Die sorgt doch bloß dafür, dass auch Zusammenlebens ohne Geld als Zentral- zu verschwinden, kann es entzaubern und
ihr Geld habt. Nur sind Demonstranten nervensystem bleibt utopisch, die Zahlung dazu verhelfen, dass es zu einem bloßen
gegen die Ungeheuerlichkeit der globalen hört nie auf? Mittel degradiert wird. Erst damit wäre es
Geldbewegungen heutzutage nirgends an Türcke: Nie ganz. Dennoch ist Utopie nicht humanisiert.
der richtigen Adresse. Der Finanzkapita- einfach nur blauer Dunst. Zahlung hat ja SPIEGEL: Herr Türcke, wir danken Ihnen
lismus ist dermaßen abstrakt geworden, zur Schreckbewältigung und Schrecküber- für dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 21 / 2015 129
„Mein Herz tanzt“, 2014
Riklis-Filme
„Ein Scherz kann dich nicht töten“

erzählt er. „Bei einem guten Film kriegst


du diesen Perspektivwechsel als Zuschauer
oft gar nicht mit.“ Die Kunst von Riklis
besteht darin, dass er es seinem Publikum
nahezu unmöglich macht, sich bei seinen
Filmen auf eine Seite zu schlagen.
Am Ende seines Films „Lemon Tree“
(2008) steht ein israelischer Minister in
seinem Garten und starrt auf eine meter-
hohe Mauer, die er zu seinem eigenen
Schutz bauen ließ. Auf der anderen Seite
der Mauer irrt eine Palästinenserin durch
die Überreste ihres Zitronenhains. Aus
Sicherheitsgründen musste sie ihre Bäume
bis auf 50 Zentimeter Höhe stutzen lassen.
Der Film blickt mit den Augen der Juden
auf die Araber und mit den Augen der
Araber auf die Juden – und sieht nur
Verlierer.
Riklis kam 1954 in Israel zur Welt und
„Lemon Tree“, 2008 „Die syrische Braut“, 2004 verbrachte seine Kindheit in Kanada, den
USA und Brasilien. Sein Vater arbeitete
im diplomatischen Dienst. Mit 13 bekam
Riklis seine erste Kamera. 1975, nach sei-
ner Zeit beim Militär, ging er nach England
und studierte dort Film.
Der stete Wechsel von Innen- und Außen-
sicht auf sein Land prägte ihn. Irgendwann
hat er sich entschieden, ein israelischer
und kein internationaler Filmregisseur zu
sein. Doch wann immer er nach Israel zu-
rückkehrt, von den zahllosen Festivals, auf

Die tanzenden Araber


denen seine Filme gezeigt werden, über-
rascht ihn sein Land aufs Neue.
Anfang des Monats kam er gerade aus
New York, wo er „Dancing Arabs“ einem
Kino Die Filme des israelischen Regisseurs Eran Riklis über „sehr konservativen, aber erstaunlich wohl-
wollenden Publikum“ amerikanischer Ju-
seine Heimat haben etwas Hinterhältiges, weil er sich im Irrsinn den vorgestellt hatte. Am Flughafen von
des Nahen Ostens niemals auf eine Seite schlägt. Tel Aviv sagte ihm der Taxifahrer sofort,
dass Riklis mit einem langen Umweg rech-

A
ls die ersten Raketen in Tel Aviv Seit rund 25 Jahren macht Riklis Filme, nen müsse. In der Stadt würden Straßen-
einschlagen, tanzen die Palästinen- in denen er Israel als ein so vielfältiges schlachten toben. Riklis: „Ich dachte sofort:
ser vor Freude auf dem Dach. Es wie zerrissenes Land beschreibt. Er erzählt wie aufregend!“
ist Anfang 1991, der irakische Diktator Sad- von den zahlreichen Minderheiten in Isra- In Tel Aviv eskalierten an diesem Tag
dam Hussein hatte mit seinen Truppen das el, von den syrischen Drusen auf den Go- Protestmärsche gegen Übergriffe der Poli-
Emirat Kuwait überrannt und greift Israel lanhöhen, den jüdischen Wanderarbeitern zei auf Juden, die aus Äthiopien stammen
an. In den von Israel besetzten Gebieten aus Osteuropa oder von den Palästinen- und seit Jahrzehnten in Israel leben. Min-
bejubeln die Palästinenser jeden seiner sern. Riklis nennt sie „die Unsichtbaren“. destens 20 Polizisten wurden dabei ver-
Treffer. „Saddam, hoffentlich hast du die Sein neuer Film „Dancing Arabs“, der letzt. „Wir haben viele zugewanderte Ju-
Raketen mit Giftgas bestückt!“, ruft einer am Donnerstag unter dem Titel „Mein den, die sich wie Bürger zweiter Klasse
von ihnen in den Nachthimmel. Herz tanzt“ in die deutschen Kinos kommt, fühlen“, sagt Riklis.
Der jüdische Regisseur Eran Riklis be- handelt von dem palästinensischen Jungen Seine Filme spielen an Mauern, Zäunen
trachtet die Palästinenser in dieser Szene Eyad (Tawfeek Barhom), der in den Acht- und Grenzbefestigungen. Riklis zeigt eine
seines Films „Dancing Arabs“ nicht wie zigerjahren in einem kleinen Dorf nord- Welt, in der jeder in seiner Zelle sitzt und
FOTOS: NFP (O.); MARY EVANS / INTERFOTO (U. L.); DPA (U. R.)

Terroristen oder Feinde. Stattdessen lässt östlich von Tel Aviv aufwächst. Als ein Freiheit nur ein ferner Traum ist. Aber
er sie herumtollen wie Kinder bei einem Lehrer Eyad fragt, welchen Beruf sein Va- wenn es den zugewanderten Juden kaum
Feuerwerk. ter habe, sagt er stolz: Terrorist. besser geht als den Palästinensern, dann
Riklis weiß genau, wie es sich anfühlt, Sein Vater saß wegen politischer Akti- verschwimmen die Demarkationslinien.
angegriffen zu werden. 1973, während des vitäten im Gefängnis und muss nun als „Von den israelischen Zuschauern be-
Jom-Kippur-Kriegs, war er auf dem Sinai Erntehelfer die Familie ernähren. Er be- komme ich oft zu hören: Warum machst
stationiert. „Doch mit der Zeit habe ich schimpft die Juden ständig und hofft, dass du es dir so schwer?“, erzählt er. „Aber
begriffen, dass man dem Irrsinn im Nahen sein Sohn eines Tages der erste Palästinen- ich will es gar nicht einfach haben. Ich bin
Osten nur mit Humor begegnen kann“, ser sein wird, der eine Atombombe baut. ein bisschen Philosoph, ein bisschen Psy-
sagt der 60-Jährige. „Ein Scherz kann weh- Er liebe diese Figur, sagt Riklis. chologe und ein bisschen Geschichten-
tun, aber er kann dich nicht töten. Du über- „Das Tolle am Kino ist, dass es dich die erzähler. Und vielleicht auch ein ganz klei-
lebst ihn.“ Welt mit ganz anderen Augen sehen lässt“, nes bisschen Mediator.“
130 DER SPIEGEL 21 / 2015
Sein Publikum nehme „völlig gegensätz- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere
liche und zum Teil ziemlich extreme Posi- Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
tionen“ ein. Riklis macht Filme für Men-
schen, die sich außerhalb des Kinos die Belletristik Sachbuch
Köpfe einschlagen. Er will sie dazu brin-
gen, ihre Überzeugungen für zwei Stunden 1 (1) Jussi Adler-Olsen 1 (1) Thomas Gottschalk
hinter sich zu lassen. Verheißung dtv; 19,90 Euro Herbstblond Heyne; 19,99 Euro

Nichts sei besser geeignet, den Wider- 2 (3) Dörte Hansen 2 (2) Jürgen Todenhöfer
stand des Publikums zu brechen, als Altes Land Knaus; 19,99 Euro Inside IS – 10 Tage im „Islamischen
Humor. „,Dancing Arabs‘ beginnt als Staat“ C. Bertelsmann; 17,99 Euro
schwarze Komödie“, sagt er. „Die Zu- 3 (2) Martin Walker
schauer lachen, manchmal wider Willen, Provokateure Diogenes; 23,90 Euro 3 (3) Helmut Schmidt
und verlieben sich dabei immer mehr in Was ich noch sagen wollte
diesen kleinen Jungen, ganz egal, ob sie 4 (4) Tess Gerritsen C. H. Beck; 18,95 Euro

Palästinenser, Juden oder Christen sind.“ Der Schneeleopard Limes; 19,99 Euro
4 (4) Wilhelm Schmid
Riklis redet darüber, als verriete er eine 5 (5) Martin Suter Gelassenheit Insel; 8 Euro
List, wie man jemanden in eine Falle Montecristo Diogenes; 23,90 Euro
lockt. 5 (6) Hape Kerkeling
In „Dancing Arabs“ zeigt er, wie sich 6 (7) Lucinda Riley Der Junge muss an die frische Luft
sein Held, der von den Eltern auf eine Piper; 19,99 Euro
Die sieben Schwestern
Eliteschule nach Jerusalem geschickt wird, Goldmann; 19,99 Euro 6 (5) Ajahn Brahm
durchkämpfen muss. Eyad wird von jü- Der Elefant, der das Glück vergaß
dischen Mitschülern gemobbt, muss sich 7 (12) Siri Hustvedt Lotos; 16,99 Euro
erniedrigenden Kontrollen unterwerfen Die gleißende Welt Rowohlt; 22,95 Euro

und verliebt sich in die hübsche Jüdin Nao- 7 (7) Mahtob Mahmoody
8 (6) Jennifer L. Armentrout Endlich frei Bastei Lübbe; 19,99 Euro
mi. Er gerät zwischen zwei Kulturen und Opal – Schattenglanz Carlsen; 19,99 Euro
muss sich am Ende für eine von den beiden 8 (9) Udo Ulfkotte
entscheiden. 9 (11) Jan Weiler Gekaufte Journalisten Kopp; 22,95 Euro
Immer wieder erzählt Riklis von Men- Kühn hat zu tun Kindler; 19,95 Euro
schen, die ihre Identität aufgeben müssen. 9 (8) Thilo Bode
In der letzten Szene von „Die syrische 10 (8) Klaus Modick Die Freihandelslüge DVA; 14,99 Euro
Braut“ (2004) geht die Titelheldin von Is- Konzert ohne Dichter
rael aus über die Grenze nach Syrien, um Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro 10 (10) Bernard Cornwell
dort zu heiraten. Sie weiß, dass sie niemals Waterloo – Eine Schlacht verändert
11 (9) Michel Houellebecq Europa Wunderlich; 24,95 Euro
zu ihrer Familie zurückkehren kann. Es ist Unterwerfung DuMont Buch; 22,99 Euro
ein todtrauriges Happy End. 11 (11) The Bodleian Library (Hg.)
„Ich würde gern an die Kraft der Liebe 12 (13) Sebastian Fritzek Leitfaden für britische Soldaten in
glauben“, sagt Riklis. „Dass sie alle Gren- Passagier 23 Droemer; 19,99 Euro Deutschland 1944
zen durchbricht. Aber die Grenzen, an Kiepenheuer & Witsch; 8 Euro
die sie in meinen Filmen stößt, sind ver- 13 (10) Amos Oz
Judas Suhrkamp; 22,95 Euro 12 (–) Léa Linster / Kerstin Holzer
dammt stark gesichert.“ Bittersüß seien Mein Weg zu den Sternen
die Geschichten, die er erzählt, sagt er, oft 14 (14) Robert Seethaler Kiepenheuer & Witsch; 18,99 Euro
hart, aber von einem grundsätzlichen Op- Ein ganzes Leben Hanser Berlin; 17,90 Euro
timismus geprägt. 13 (13) Guido Maria Kretschmer
Riklis ist nicht glücklich über die israe- 15 (19) Jürgen von der Lippe Eine Bluse macht noch keinen
lische Regierung, die gerade gebildet wird. Beim Dehnen singe ich Balladen Sommer Edel Books; 17,95 Euro
Ministerpräsident Benjamin Netanyahu Knaus; 14,99 Euro
14 (15) Henry Marsh
koaliert nun auch mit der extrem kon-
16 (–) Antoine Laurain Um Leben und Tod DVA; 19,99 Euro
servativen Siedlerpartei. Riklis’ Tochter
Liebe mit zwei
Tammy, eine Künstlerin und Aktivistin, Unbekannten 15 (20) Ayaan Hirsi Ali
wettert in einem Blog gegen die neue Atlantik; 20 Euro Reformiert euch! Knaus; 19,99 Euro
Administration. Ein Mann findet in Paris
Als Riklis 1973 auf dem Sinai stationiert eine Handtasche mit 16 (–) Florian Huber
war, habe er sich auch nicht vorstellen kön- einem Buch persönlicher Kind, versprich mir, dass du dich
nen, dass der ägyptische Präsident Anwar Notizen und verliebt sich erschießt Berlin; 22,99 Euro
in die Besitzerin
as-Sadat schon fünf Jahre später einen Frie-
17 (16) Jean Ziegler
densvertrag mit Israel schließen würde. 17 (–) Ken Follett Ändere die Welt! C. Bertelsmann; 19,99 Euro
Heute reist er mit seiner Frau nach Kairo, Kinder der Freiheit Bastei Lübbe; 29,99 Euro
um dort seine Filme zu zeigen. „Ich bin 18 (–) Miriam Gebhardt
zuversichtlich“, sagt Riklis, „wenn ich nach 18 (15) Milan Kundera Als die Soldaten kamen DVA; 21,99 Euro
vorn blicke, sehe ich Technicolor.“ Das Fest der Bedeutungslosigkeit
Lars-Olav Beier Hanser; 16,90 Euro 19 (12) Friedrich Schorlemmer / Gregor Gysi
Was bleiben wird Aufbau; 19,95 Euro
Video: Regisseur Eran Riklis 19 (17) John Williams
über „Dancing Arabs“ Butcher’s Crossing dtv; 21,90 Euro 20 (19) Margot Käßmann /
Konstantin Wecker (Hg.)
spiegel.de/sp212015film 20 (–) Susanne Fröhlich Entrüstet euch!
oder in der App DER SPIEGEL Wundertüte Fischer Krüger; 16,99 Euro Gütersloher Verlagshaus; 14,99 Euro

DER SPIEGEL 21 / 2015 131


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Kultur

Auf der Flucht vor der Familie, vor der Politik, vor der ganzen
verdammten Wirklichkeit. Viele Anfragen erreichen ihn aus
Deutschland, ob er nicht politische Verantwortung in der
entstehenden Republik übernehmen möchte. Das weist Hesse
empört zurück: „Mein Dienst und göttlicher Beruf ist der der
Menschlichkeit. Aber Menschlichkeit und Politik schließen sich
Rakete zur Hölle im Grunde immer aus“, schreibt er an den Unternehmer und
Sozialreformer Emil Molt, der dem Dichter in die Schweiz
telegrafiert hatte, „wir brauchen dich als geistigen mitarbeiter
Literaturkritik Auf der Flucht vor den Frauen, in unserer neuen bewegung. Bitte sofort kommen“. Hesse
vor der Politik und der verdammten kam nicht.
Und als in München im April 1919 die Dichter der Räterepu-
Wirklichkeit: Hermann Hesses Briefe 1916 bis 1923 blik versuchten, die Welt oder wenigstens den bayerischen Teil
davon umzustürzen, machte sich Hermann Hesse auf in den
Süden, ins Tessin, nach Montagnola. „Ich muß im Voraus sagen,
daß ein Ruf oder Auftrag, wie Sie ihn mir zuzudenken scheinen,
in mir kein Ja erweckt“, hatte er schon vorsorglich an den
Räterepublik-Aktivisten Wilhelm Muehlon geschrieben.
Der Hermann Hesse jener Jahre will sich abkapseln von der
Welt und sich neu erfinden. Wie im Rausch schreibt er die No-
velle „Klein und Wagner“, die er sogar in seinen Briefen als
sein bislang bestes Werk und einen kompletten Neubeginn be-
schreibt. Der kleine Beamte und Verbrecher Klein, Protagonist
des Buches, ist ein kaum verhülltes Selbstbildnis Hesses. Klein
flieht vor seiner Frau und seiner Familie in den Süden. „Ein
Flüchtling, der aus einem Leben heraus in ein Märchen gereist
war.“ Er verdampft beinahe in Glücksvisionen. War ein Leben
im Rausch des Ich, ein nur sich selbst verpflichtetes Leben
möglich? Am Ende bringt dieser Klein sich um. Er rudert hinaus
auf den See, holt die Ruder ein, setzt sich auf den Rand des
Bootes und lässt sich fallen. „Nur Lächeln, nur Erlösung, nur
Einverstandensein.“
Der Hermann Hesse, den wir aus den Briefen jener Jahre
kennenlernen, lebt ständig an der Schwelle zum Tode. Mal
droht er nur mit Selbstmord, um sich lästige bürokratische
Hürden vom Leib zu halten oder die lästige Verpflichtung ge-
genüber seiner Frau, die er hasst, und gegenüber seinen Söhnen.
Mal macht er ernst, nimmt eine Überdosis Opium, bleibt aber
Schriftsteller Hesse stark lädiert am Leben und fragt dann brieflich seinen Arzt,
im Tessin 1929 wie er es das nächste Mal besser machen kann.
Dass dieser Mann, spätestens seit dem Erfolg seiner Erzäh-
lung „Demian“, die im Jahr 1919 erschienen war und die den

A
ls im Deutschen Reich 1918 der Waffenstillstand vorbe- Reifeprozess eines Jugendlichen zu einem Erwachsenen schil-
reitet wird, wirft Maria Hesse bei Bellinzona ihr Gepäck dert, als Führer der Jugend galt, erscheint nach dem Lesen der
aus dem Fenster des fahrenden Zuges. Nervenzusam- Briefe mehr denn je als Missverständnis. Eine Projektion, die
menbruch, Psychose, sie wird in eine Heilanstalt eingewiesen, Hesse selbst am meisten verwunderte und
und Hermann Hesse steht allein mit seinen drei Söhnen da, die er nicht wollte. Er war, wie alle großen Hermann Hesse
überfordert und hilflos. Wie sehr hatte er das Kriegsende her- Künstler, ein irrsinniger Egoist. Die Krankheit Die Briefe.
beigesehnt, einer der wenigen deutschen Dichter, die nicht in seiner Frau empfand er als Angriff auf sein 1916 – 1923.
das Kriegsgeheul der Zeit eingestimmt hatten. Von der Schweiz Seelenheil, Verantwortung für seine Söhne „Eine Bresche
aus hatte er die Fürsorge für deutsche Kriegsgefangene in Frank- wollte er auch für den kleinsten Moment ins Dunkel der
reich unterstützt, arbeitete an der „Deutschen Interniertenzei- nicht tragen. Er war kein Mann zum Heiraten, Zeit!“
tung“ mit, hatte das literarische Arbeiten vernachlässigt, setzte das schrieb er immer wieder selbst. Trotzdem Suhrkamp Verlag,
all seine Hoffnung auf die Neuordnung der Welt nach dem heiratete er die bildhübsche, junge Ruth Wen- Berlin; 672 Seiten;
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Krieg. Und jetzt geht endlich die alte Zeit zu Ende, und seine ger, die er in „Klingsors letzter Sommer“ als
Welt zerbricht. „schlanke Rakete“ beschrieben hatte.
Es ist ein Schock. Aber Hermann Hesse ist ein selbstbewusster Als der Schweizer Publizist Carl Seelig ihn
Dichter. Er sieht das Schicksal Deutschlands in seinem eigenen auf den Widerspruch zwischen Wort und Tat
gespiegelt: „Ich erlebe, jetzt wo ich allein und näher bei mir sel- aufmerksam machte, entgegnete Hesse resi-
ber bin, alle Auflösung der letzten Jahre durch und nach und gniert: „Sie wissen, daß ich in klugen Gedan-
sehe mein persönliches Leben, wie das meines Volkes, durchaus ken lediglich ein Spiel sehe, und daß ich dem
als Teil und kleines Sinnbild größerer Entwicklungen“, schreibt Leben gegenüber nichts andres anerkenne als
er fast ein Jahr später an seinen Freund Walter Schädelin. Ausessen, Sichunterwerfen, Schicksal auf sich
Es sind entscheidende Jahre im Leben dieses Dichters, die nehmen. Dies tue ich, indem ich heirate.“
der gerade erschienene, von Volker Michels herausgegebene Die Ehe wurde unglücklich. Sie dauerte
Band seiner Briefe umfasst. Hermann Hesse ist auf der Flucht. drei Jahre. Volker Weidermann
FOTO: AKG

DER SPIEGEL 21 / 2015 133


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134 DER SPIEGEL 21/ 2015


Nachrufe
ALEXANDRE LAMFALUSSY, 86 senscheiben gehen, in die
Der belgische Ökonom, der schreiende Gesichter geschnit-
1949 aus seinem Heimatland ten waren. Viele seiner Skulp-
Ungarn geflüchtet war, zählt turen bestehen aus gewalztem
zu den Vätern des Euro. Er Stahl und beziehen sich auf
leitete von 1994 bis 1997 das biblische Themen; so auch die
Europäische Währungsinstitut Pietà vor dem Dominikaner-
in Frankfurt am Main, den kloster in Braunschweig. Ka-
Vorläufer der Europäischen dishman, der 1968 an der Do-
Zentralbank (EZB). Lamfalus- cumenta in Kassel beteiligt
sy schuf gemeinsam mit seinen war und 1978 sein Land auf
Kollegen aus den nationalen der Biennale in Venedig ver-
Zentralbanken die Regeln für trat, malte und zeichnete auch
die Geldpolitik der EZB. Mehr- und galt als einer der bedeu-
PETER GAY, 91 mals hatte sich der kleine, be- tendsten Künstler Israels.
In seinen Memoiren erzählt der Historiker und Psycho- scheidene Banker mit dem gro- Menashe Kadishman starb am
analytiker davon, wie er 1936 mit seinem Vater im Berliner 8. Mai in Tel Aviv. kle
Olympiastadion saß und fasziniert den Athleten zusah.
Den Genuss vergällte ihm nur der Anblick Adolf Hitlers ODO MARQUARD, 87
und Hermann Görings. Schon damals dachte die Familie Am Katheder wurde der
Fröhlich daran auszuwandern, aber es dauerte noch drei Gießener Philosoph zum Star
Jahre, bis es so weit war – wahrscheinlich hätten sie ein- seines Fachs: Mit Anekdoten
fach zu viele nichtjüdische Freunde gehabt, meinte er im und Wortspielen brachte
Nachhinein mit seiner Vorliebe für Paradoxe. 1939 nahmen er sein Publikum gern vom
die Fröhlichs ein Schiff nach Kuba und landeten zwei Jahre Schmunzeln ins Grübeln.
später in Denver; seither nannten sie sich der Einfachheit Marquard war, geboren im
halber Gay. Für Peter Gay war das Schreiben das Schönste. ßen Gespür für die Diplomatie pommerschen Stolp, ein um-
Er lehrte in Yale die Sozialgeschichte der Ideen, aber ei- gegen seine Berufung nach sichtiger Anwalt der Zivilisa-
gentlich interessierten ihn die Ideenträger, die Menschen. Frankfurt gewehrt. Doch galt tion. Die sprachliche Sorgfalt
Über Voltaire und Freud verfasste er viel gelesene Biogra- er als Präsident der Bank für hatte er im Münsteraner Kreis
fien. „The Bourgeois Experience“ war sein staunenswerter Internationalen Zahlungsaus- um den Hegelianer Joachim
FOTOS V. O. N. U.: MARILYNN K. YEE / NYT / REDUX / LAIF; ARNE DEDERT / PICTURE ALLIANCE / DPA; ISOLDE OHLBAUM / LAIF; DEPO PHOTOS / PICTURE ALLIANCE / DPA; AMIT SHABI

Streifzug durch Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhun- gleich als beste Wahl und hatte Ritter trainiert; dem Pro-
derts. Immer beglückten seine Bücher durch die Leichtig- schon 1988 bis 1989 dem Aus-
keit der Prosa und die Heiterkeit des Denkens; das Schwie- schuss des damaligen EU-Kom-
rige machte er den Lesern leicht, behandelte sie wie Freun- missionspräsidenten Jacques
de, mit denen er gern sein Wissen teilte. Peter Gay starb Delors angehört, der sich mit
am 12. Mai in New York. gs konkreten Schritten zu einer
Währungsunion beschäftigt
hatte. 1995 warnte Lamfalussy
KENAN EVREN, 97 in einem SPIEGEL-Interview
Im September 1980 eindringlich, dass eine ver-
putschte sich der General- nünftige Geldpolitik durch ex-
stabschef und ranghöchs- zessive Schulden in den
te Soldat des Landes an Mitgliedsländern konterkariert gramm seiner Doktorarbeit
die Macht. Er beendete werden könne. Alexandre „Skeptische Methode im
damit die bürgerkriegs- Lamfalussy starb am 9. Mai im Blick auf Kant“ (1958) blieb
ähnlichen Auseinanderset- belgischen Ottignies. pau er treu. Ob es um den ver-
zungen zwischen Linken meintlichen Sinn der Ge-
und Rechten, die etwa MENASHE KADISHMAN, 82 schichte, Utopien von Ver-
5000 Menschen das Leben Mehrmals sorgte der in Tel nunft und Glück oder das
gekostet hatten. Aber Aviv geborene Bildhauer Ringen um Begriffe ging, stets
Evren, Sohn eines Imams vom Balkan, entfesselte eine auch in Deutschland für Auf- misstraute der selbst ernannte
staatliche Gewalt ungeahnten Ausmaßes. Mehr als eine sehen. Im Jüdischen Museum „Transzendentalbelletrist“
halbe Million Menschen, angeblich Staatsfeinde, ließ er in lauten Parolen, riet zum „Ab-
die Gefängnisse werfen, 50 wurden sofort hingerichtet, schied vom Prinzipiellen“,
mehrere Hundert starben in Folterkellern. Sein Ziel: Ruhe warb aber auch um Vertrauen
und Ordnung wiederherzustellen. Angesprochen auf die in die Fähigkeit des Men-
Exekutionen, sagte Evren: „Sollen wir sie etwa nicht hän- schen, Angst und Endlichkeit
gen? Sollen wir sie weiter durchfüttern?“ Bis 1989 blieb er zu „kompensieren“. Seine
Präsident. Danach lebte er zurückgezogen in seiner Villa behutsamen Plädoyers für
an der Ägäis und malte Landschafts- und Aktbilder. Erst bürgerliche Liberalität, vor-
nachdem eine Verfassungsänderung eine Strafverfolgung getragen mit dem hintersin-
möglich gemacht hatte, wurde er 2012 angeklagt und zu le- nigen Charme antiker Welt-
benslanger Gefängnisstrafe verurteilt. Wegen seines hohen Berlin etwa: Kadishman ließ weisheit, machten ihn zu ei-
Alters musste er die Haft aber nicht antreten. „Historische die Besucher in seiner Instal- nem beliebten Denker seiner
Ereignisse lassen sich nicht juristisch beurteilen“, erklärte lation „Shalechet“ (Gefalle- Generation. Odo Marquard
er. Kenan Evren starb am 9. Mai in Ankara. kaz nes Laub) über Tausende Ei- starb am 9. Mai in Celle. sal
DER SPIEGEL 21 / 2015 135
Personalien
Der Chronist Klare Ansage
Es war lange Zeit verschwunden, sagt der Rolling-Stones-Gi- Es ist gerade einen Monat her,
tarrist Ronnie Wood, 67, über sein Tagebuch aus dem Jahr 1965. da schrieb die „Bild“-Zeitung:
Jetzt veröffentlicht Wood die Notizen als signierte Sonder- „So jubelt ein Topmodel, das
edition in einer Auflage von 1965 Stück für 295 Pfund mit mit 34 Jahren in Rente geht.“
eigenen aktuellen Illustrationen unter dem Titel „How Can It Gemeint war die Brasilianerin
Be?“. Das Tagebuch war für den 17-Jährigen, damals Gitarrist Gisele Bündchen, die ihren
und Songwriter für The Birds, eine Art Logbuch. Er schrieb letzten Laufstegauftritt in São
kurz über Auftritte der Band, Übungssessions und Begegnun- Paulo nach 20 Jahren Karriere
gen mit anderen Musi- zelebrierte. Dass sie weiterhin
kern; am 20. Februar in ihrer Branche arbeiten wird,
1965: „Vorspiel bei der stellte Bündchen jetzt noch
BBC vergeigt. The einmal unmissverständlich klar:
Who sind durchge- als nacktes Covergirl der Mai-
kommen.“ Mit seiner Ausgabe der brasilianischen
Band tourte Wood „Vogue“. ks
durch das ganze Land,
fast jeden Abend hat-
ten die Birds irgend-
wo einen Auftritt: Schein und Chance gang des Niveaus an den
„Dieses Tagebuch Schulen. Alles „Pseudointel-
zeigt, wie heftig mein Die französische Bildungsmi- lektuelle“, sagte die Sozia-
Terminkalender war“, nisterin Najat Vallaud-Belkacem, listin in einem Fernsehinter-
sagt Wood. „Wir wa- 37, schafft sich im Kampf für view über ihre Kritiker. Die
ren so jung, es war ein ihre Schulreform immer mehr schießen nun zurück: Belka-
endloses Abenteuer.“ Feinde. Unter anderem will cem sei eine „Pseudoministe-
Die Einträge reichen sie die Kurse für Latein und rin“, die die Kultur des Lan-
bis Anfang 1966. „Es Altgriechisch weitgehend des nicht richtig verstehe,
änderte sich alles, die abschaffen, stattdessen soll es sagte der Politikberater und

FOTOS: DAVID M. BENETT / GETTY IMAGES (O. L.); VOGUE COVER: INEZ & VINOODH (O. R.); JB LACROIX / WIREIMAGE / GETTY IMAGES (U. L.); SUZANNE PLUNKETT / REUTERS (U. R.)
Drogen kamen hinzu, ein Lehrfach für „die Spra- Ökonom Alain Minc. Der
der Alkohol, mehr chen und Kultur der Antike“ Philosoph Régis Debray sag-
Druck“, begründet geben. Sowohl Lehrer als te: „Zivilisation ist kein
der Musiker das Ende auch rechte und linke Politi- Nutella, dafür muss man sich
der Chronik. ks ker prophezeien den Nieder- schon anstrengen.“ pe

Ein Abschiedskuss ausgekommen sind, doku-


mentierte ein kurzer Film,
Das Urgestein der amerikani- der sie während einiger die-
schen Late-Night-Show David ser Zusammenkünfte zeigte:
Letterman, 68, sagt Goodbye, Küsschen gehörten für Letter-
seine letzte Sendung wird am man und Roberts von Anfang
20. Mai ausgestrahlt, und an zum Ritual, auch mal kurz
seit Wochen nimmt die Nation auf den Mund. Dieses Mal
Abschied. Vergangenen jedoch wurde aus dem klei-
Mittwoch tat dies auch Julia nen Schmatzer ein richtiger
Roberts, 47, die bereits zum (Hollywood-)Kuss: Letterman
26. Mal bei Letterman im Stu- und Roberts knutschten
dio saß. Dass die beiden gefühlte drei Sekunden lang,
schon immer gut miteinander ganz genüsslich. red

Jay R. Ferguson, 40, amerikanischer Schauspieler, Joanne K. Rowling, 49, britische Bestsellerautorin
ist überzeugt, dass Marihuana-Konsum Sympathien („Harry Potter“), lässt Beleidigungen auf Twitter nicht
weckt. Er habe das als Darsteller des Artdirectors länger unkommentiert. Im vergangenen Jahr spendete
Stan Rizzo in „Mad Men“ erlebt. Von dem Augenblick sie für die Kampagne gegen die Unabhängigkeit
an, als Stan hemmungslos zu kiffen begann, flogen Schottlands eine Million Pfund, die verbalen Prügel
ihm die Herzen der Zuschauer zu: „Das Grasrauchen ignorierte sie. Jetzt, nach dem Wahlerfolg der schotti-
wirkt Wunder, um die Liebe des Publikums zu wecken.“ schen Nationalisten, kamen wieder Hasskommentare.
Er sei bereits einige Male von Fans zum Kiffen einge- Einer lautete: „schleimige Labour-Fotze“. Entnervt
laden worden. Bisher habe er allerdings jedes Mal mit twitterte sie zurück: „Das Internet eröffnet nicht nur
der gleichen Begründung abgelehnt: „Ich sage immer, Möglichkeiten für frauenfeindliche Hetze, auch Penis-
dass ich drei Kinder habe.“ ks verlängerungen können diskret erworben werden.“ red

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Wie im Leben für die „Best All-Girl Group Sex Scene“. Seit 2012 versucht
Leone, sich als Schauspielerin in Indien zu etablieren. Der
In den USA war sie ein Pornostar: Sunny Leone, 34, in Kanada Wechsel ins seriöse Fach erweist sich als schwierig. In einer
geborene Tochter indischer Einwanderer, wirkte in mehr ihrer ersten indischen Produktionen spielte sie eine ehemalige
als 50 Sexfilmen mit, war eine der „No More Bush Girls“, die Pornodarstellerin, die eine Bollywood-Karriere anstrebt. Ihr
sich die Schamhaare abrasierten, um gegen die Präsident- neuer Film wird als „Sexkomödie“ beworben, im eher prüden
schaft von George W. Bush zu demonstrieren, und wurde von Indien ein sehr gewagtes Genre. Leone bleibt optimistisch:
dem Männermagazin „Maxim“ zu einem der zwölf Top- Sie hoffe, dass ihre Pornovergangenheit irgendwann in Ver-
Pornostars 2010 erklärt, im selben Jahr erhielt sie den Preis gessenheit gerate. red
FOTOS: AFP (O.); JUSTIN TALLIS / AFP (U. L.); IMAGO (U. R.)

Chuka Umunna, 36, ehemaliger DJ und wirtschafts- Zlatan Ibrahimović, 33, Stürmer beim FC Paris Saint-
politischer Sprecher der Labour-Partei, will als Nach- Germain, entging 2010 um Haaresbreite einem Mord-
folger von Ed Miliband Karriere machen. Der war als anschlag. Das erzählt der schwedische Heckenschütze
Parteichef nach der Wahlniederlage vergangene Woche Peter Mangs, wegen zwei Morden und acht versuchten
zurückgetreten. Umunna, seit 2010 Mitglied im Parla- Morden zu lebenslanger Haft verurteilt, in seiner ge-
ment, legte während seiner Studienzeit in Manchester rade erschienenen Autobiografie. Er habe den roten
auf, „ausschließlich Vinyl“, wie er betont. Über zehn Ferrari des Fußballstars einmal in Malmö im Parkverbot
Jahre lang war Umunna, der auch als Rechtsanwalt und stehen sehen: „Ein typisches Verhalten für diese Typen
Journalist arbeitete, in der Klub-Subkultur aktiv. Die vom Balkan“, so Mangs. Er sei sofort nach Hause
britische Musikindustrie hält er für einen der wichtigs- gelaufen, um seine Waffe zu holen. Doch als er zurück-
ten Wirtschaftszweige des Landes. ks kehrte, war der Ferrari verschwunden. pe

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Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate
Die „taz“ über den SPIEGEL-Titel „Der
Aus dem „Kölner Wochenspiegel“ Verrat“ (Nr. 19/2015) und die Rolle von
Bundesinnenminister Thomas de Maizière
in der BND-Affäre:
Aus dem Magazin der „Tiroler
Tageszeitung“: „Die Vögel können Seine Unterstützer sagen, er habe Mut
ihren Herzmuskel effektiver mit zur Ehrlichkeit. Seine Gegner werfen
Sauerstoff versorgen als andere Säuge- ihm Zynismus vor. Aus seiner Sicht ist
tiere, mutmaßen britische Forscher.“ das vielleicht: sagen, was ist, auch wenn
es wehtut. Die Affäre um die Geheim-
dienste jedenfalls muss sein Weltbild ins
Wanken gebracht haben. Keiner scheint
ihm mehr zu glauben. Die „Bild“-Zei-
tung druckte eine Montage, de Maizière
mit Pinocchio-Nase. Der SPIEGEL hob
ihn auf den Titel, neben Merkel und dem
BND-Chef. Darüber in dicken Buchsta-
ben: „Der Verrat“. Verrat. Das Wort muss
Aus dem „Isenhagener Kreisblatt“ einen protestantischen Pflichtmenschen
quälen. De Maizière beantwortet vor
den Mikrofonen noch drei, vier Journa-
Bildunterschrift im TV-Programm der listenfragen. Manchmal weicht er aus.
„Kieler Nachrichten“: „Hanna Seit wann er von den Listen mit Suchbe-
(Petra Schmidt-Schaller) will ein Kind. griffen gehört habe, welche die NSA
Ihr Freund Jan überredet sie, es dem BND zum Ausspähen übersandte?
zuerst mit einem Hund zu versuchen.“ Er sagt: Das müsse er erst in den Akten
nachschauen. Dann nickt er kurz.

Die „Süddeutsche Zeitung“ über einen


Prozess gegen mutmaßliche Betrüger vor
dem Landgericht München I und den
SPIEGEL-Bericht „Aus einem Guss“ (Nr.
15/2013):

Die Angeklagten machten zum Prozess-


auftakt zunächst keine Angaben. Fünf
Verhandlungstage hat die Kammer an-
gesetzt. Unbehelligt blieb bislang der
Kunstfälscher Robert Driessen selbst. Er
Schild vor der Toilette eines betreibt in Thailand ein Café und
Sportcenters in Adelberg www.spiegel-wissen.de kann nicht ausgeliefert werden. Als der
SPIEGEL ihn dort 2013 aufstöberte,
sagte der Niederländer: „Wer glaubt, für
Aus dem Fernsehmagazin „prisma“ in 20 000 Euro einen echten Giacometti
einem Liebesbriefratgeber: „Wir empfeh- kaufen zu können, verdient es, hinters
len: weiches Papier, das wollzart in Licht geführt zu werden.“
der Hand liegt und schon an die Laken AUSDAUER
gemahnt, die, wenn alles gut läuft …“ Die „Frankfurter Allgemeine Sonntags-
Laufen wirkt wie zeitung“ zum SPIEGEL-Interview mit dem
Interpol-Chef Jürgen Stock, „Der Bank-
Medizin raub stirbt aus“ (Nr. 16/2015):

Stock erklärte …, dass der Bankraub


Aus der „Neuen Westfälischen“ vermutlich aussterben würde, weil er
GELENKE inzwischen im Internet stattfinde, wo die
Banditen viel schwerer gefasst werden
Aus dem „rtv“-Magazin: So bleibt der Körper könnten. Für das Kino ist das natürlich
„Die Befreiung von ein Problem, denn es ist langweilig,
den Alliierten April 1945“ geschmeidig jemanden dabei zu filmen, wie er vor
einem Rechner sitzt. Dreck, Schweiß,
Blut, Schüsse und Geschrei, all das ver-
Aus dem „Delmenhorster Kreisblatt“ TRAINING schwindet und mit ihm die Geschichte,
über einen Tretbootverleih: woran eine Tendenz deutlich wird, die
„Eine halbe Stunde kostet fünf Euro,
30 Minuten acht Euro.“
Welche Sportart für viele langweilige Filme und Bücher
verantwortlich ist.
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passt zu mir?
WELCOME TO MY WORLD

In der Hauptrolle: John Travolta, Filmlegende, Pilot und Aeronautik-


Freak. Im Rampenlicht: die mythische North American X-15, ehemalige
Geschwindigkeits- und Flughöhenrekordhalterin sowie Wegbereiterin
für Weltraumflüge. Produktionsleiter: Breitling, der privilegierte Partner
der Aeronautik dank seiner zuverlässigen, präzisen und bahnbre-
chenden Instrumente – wie der Chronomat, des Pilotenchronografen par
CHRONOMAT 44 AIRBORNE
excellence. Willkommen in der Welt der Legende, der Spitzenleistung
und der Performance.

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