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High-Protein-Hype: Warum Eiweisse für den Körper

wichtig sind
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Michael Marti

Die wichtigsten Fakten und TippsDie Wahrheit über den Protein-


Hype

Sie gelten als Wunderstoff: Proteine sollen uns schön, stark und gesund
machen – und retten wir mit pflanzlichen Eiweissen gar das Klima?
Antworten zum Kulturphänomen High Protein.

Michael Marti
Publiziert: 15.07.2023, 18:06

Kollektiver Heisshunger nach dem Nährstoff, aus dem unsere Muskeln sind: Bei vielen Sportlerinnen
und Sportlern gehört der Proteinshake zum Training dazu.
Foto: Getty Images

Was sagt der allgemeine Protein-Hype über den Zeitgeist?

Es ist nicht lange her, da schaufelten bloss Ernährungsextremisten wie Bodybuilder oder
Profisportler Extraportionen von Eiweiss in sich hinein. Mittlerweile ist der Protein-Hype in
den Regalen der Grossverteiler angekommen: High-Protein-Drink, High-Protein-Müesli,
High-Protein-Cordon-bleu, -Cracker, -Cookies, -Quark – es scheint, als gäbe es kein

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Lebensmittel, das man nicht mit Zusatzproteinen aufpeppen kann. Auf Instagram stiess
unlängst der Hashtag #protein auf Platz zwei der populärsten Fitnessschlagworte vor,
hinter #hardbody. Und auf Tiktok geht derzeit das Eiweiss-Glace aus Hüttenkäse viral.

Proteine sind unerlässlich für das Funktionieren eines gesunden menschlichen Körpers.
Sie sind gewissermassen der Baustoff unseres Körpers, bilden die Basis für Muskulatur
und Organe sowie für Haut, Haare, Hormone und Blutzellen. Proteine spielen zudem eine
entscheidende Rolle bei der Bekämpfung von Keimen und beim Sauerstofftransport.
Ebenso sind sie an der Verdauung unserer Nahrung beteiligt und unterstützen Prozesse,
die DNA-Schäden reparieren. In jedem von uns sind zwischen 80’000 und 400’000
verschiedene Proteine aktiv. Die Blaupausen für unsere Proteine sind in unserer DNA
festgelegt.

Der Heisshunger nach dem Nährstoff, aus dem unsere Muskeln sind, widerspiegelt das
kollektive Streben nach jugendlicher Kraft bis ins hohe Alter. Und gleichzeitig stellen uns
die Proteine – sie sind sogenannte biologische Makromoleküle, bestehend aus
Aminosäuren – vor eine Gewissensfrage: Verzehren wir, als wäre unser Leben eine
einzige Grillparty, vorwiegend tierische Eiweisse und killen mit den Schweinen, Rindern,
Hühnern gleich noch das Klima? Oder schlagen wir uns auf die Seite der moralisch
Starken, die sich mit pflanzlichem Eiweiss begnügen, Tofu und Quinoa futtern, um die
Erde und ihre Geschöpfe zu retten?

Wie immer wir uns entscheiden mögen, unser Eiweissverzehr ist nicht privat, sondern
hochpolitisch.

Ist High Protein das neue Low Calorie?

In Deutschland stieg im letzten Jahr der Absatz von Hochprotein-Produkten gemäss dem
Nachrichtenmagazin «Focus» um 30 Prozent. Für die Schweiz sind keine
entsprechenden Zahlen verfügbar. Gewiss aber ist: Der Protein-Trend nährt auch die
Umsätze der hiesigen Lebensmittelindustrie. Die Migros vermeldet eine «steigende
Nachfrage» nach Hochprotein-Angeboten und lancierte zwei entsprechende
Eigenmarken («Oh!» und «You»). Auch Coop registriert «einen Trend rund um High-
Protein-Produkte» und «baut das Sortiment laufend aus». Tatsächlich haben die High-
Protein-Nahrungsmittel in gewissem Masse die Light-Produkte abgelöst, «der Trend geht
weg von Diät hin zu Fitness», sagt Migros-Mediensprecherin Carmen Hefti,
«dementsprechend passt sich unser Angebot an».

Wer benötigt denn überhaupt diese High-Protein-Produkte?

Die meisten Expertinnen und Experten halten den Protein-Hype für einen ziemlichen
Unsinn, viele für reine Geschäftemacherei. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung
(DGE) etwa reagierte auf die Eiweiss-Offensive der Lebensmittelindustrie mit Klartext:
«Aus ernährungsphysiologischer Sicht sind High-Protein-Produkte überflüssig», gab die
Fachgesellschaft bekannt. Chips oder Schokoriegel würden nicht gesünder, nur weil
zusätzliches Protein beigemischt sei. Nicht weniger deutlich gibt sich die hiesige Stiftung
für Konsumentenschutz: «Es zeigt sich, dass die Lebensmittelindustrie unter dem

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Vorwand, die Gesundheit der Konsumentinnen und Konsumenten fördern zu wollen,
einfach viel Geld machen will», sagte Josianne Walpen, Leiterin Ernährung, unlängst
gegenüber dieser Redaktion.

Boomender Markt: High-Protein-Riegel.


Foto: Christopher Polk (Getty Images)

Die ganz grosse Mehrheit der Bevölkerung, darin sind sich die Fachleute einig, ist durch
die herkömmliche Ernährung ausreichend mit Proteinen versorgt und kann sich das Geld
für teure Hoch-Eiweiss-Lebensmittel sparen. Das gilt selbst für Freizeitsportler oder
Seniorinnen und Senioren, falls sie sich um einen ausgewogenen Speiseplan bemühen.
Wer trotz des klaren Expertenkonsenses nicht auf Eiweiss-Ergänzungsprodukte
verzichten will, der greift, so der Ernährungsfachmann und Autor Paolo Colombani, «am
besten zu zuckerfreien oder zuckerarmen Proteinpulvern». Populäre Proteinbomben wie
Riegel oder Puddings sind oft auch Zuckergranaten – und somit für die meisten von uns
kaum empfehlenswert.

Lesen Sie auch: «Wie die richtige Ernährung das Leben verlängert»

Warum verkaufen Migros und Coop Produkte, die eigentlich niemand benötigt?

Die Migros, die auf der Website Migros-Engagement erklärt, sie wolle «möglichst vielen
Menschen zu einer besseren Gesundheit verhelfen», verweist darauf, dass die bei den
Experten umstrittenen High-Protein-Angebote «eine Kundennachfrage befriedigen». «Wir
bewerben diese Produkte nicht mit dem Versprechen, dass sie gesundheitsfördernd
seien», sagt Migros-Sprecherin Carmen Hefti, «das sind lediglich proteinreiche
Lebensmittel.» Coop lässt auf die Kritik von Gesundheitsfachleuten und
Konsumentenschützern am boomenden Geschäft mit der Protein-Power verlauten: «Wir

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richten unser Angebot grundsätzlich nach den Bedürfnissen unserer Kundinnen und
Kunden.» Das Gesetz von Angebot und Nachfrage taugt offenbar auch als
Ernährungskompass.

Welche Eiweisse sind effizienter: Pflanzliche oder tierische?

Jedes Protein, ob pflanzliches oder tierisches, besteht aus 20 Aminosäuren. Neun davon
sind für den Menschen lebensnotwendig, er muss diese neun essenziellen Aminosäuren
mit der Nahrung aufnehmen. Tierische Eiweisse haben in der Regel eine höhere
biologische Wertigkeit als pflanzliche, daran gibt es nichts zu rütteln – sie enthalten alle
essenziellen Aminosäuren in reichlicher Menge, die wir in unserer Ernährung benötigen.
Pflanzliche Proteine sind dagegen suboptimale Proteinquellen, sie liefern das
vollständige Aminosäurenprofil nur in geringerem Ausmass. Aus Effizienzgründen wäre
somit tierischen Eiweissen der Vorzug zu geben – und weil diese so potent sind, genügen
auch bescheidene Mengen an Fleisch auf dem Speiseplan, so wie allgemein empfohlen.

Proteine bestehen aus einer Kombination von zwanzig unterschiedlichen Aminosäuren.


Zwölf dieser Aminosäuren kann der Körper selbst herstellen, die restlichen acht jedoch
nicht. Diese werden als essenzielle Aminosäuren bezeichnet: Isoleucin, Leucin, Lysin,
Methionin, Phenylalanin, Threonin, Tryptophan, Valin und für Säuglinge zusätzlich
Histidin. Diese essenziellen Aminosäuren müssen wir über unsere Ernährung zu uns
nehmen. Die üblichen Empfehlungen nennen täglich 0,8 Gramm Protein pro Tag und pro
Kilogramm Gewicht als Zielmenge – dies ist allerdings ein Minimalwert. Besser sind 1,2
bis 1,6 Gramm pro Kilogramm Gewicht. Im Sport gelten schon lange 1,2 bis 2,0 Gramm
als Richtwert.

Gibt es gute und böse Proteine?

Essen, wir wissen es, ist mehr als Nahrungsaufnahme. Essen ist heute ebenso eine
moralische Frage. Und in der Sphäre von Gut und Böse haben die Pflanzenfresser unter
uns, die Veganerinnen und Veganer, die grundsätzlich tierisches Protein ablehnen, die
besseren Argumente. Sie wenden sich gegen das Töten von Tieren. Sie verweisen auf
die angeblich ungleich bessere CO₂-Bilanz und den geringeren Wasserverbrauch bei der
Produktion von pflanzlichen Proteinen. Dem können Karnivoren entgegenhalten: Es ist
ganz besonders den tierischen Eiweissen zu verdanken, dass das Gehirn des Homo
sapiens in den vergangenen 2,5 Millionen Jahren dermassen gewachsen ist – und wir
uns überhaupt über politisch korrektes Protein streiten können.

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Proteinquelle der Zukunft? Verzehrfertige Mehlwürmer der Schweizer Firma Entomos AG, die einen
sehr hohen Eiweissgehalt aufweisen.
Foto: Anthony Anex (Keystone)

Historisch gesehen war das Fleisch immer dort, wo die Macht war: bei den Privilegierten,
die den Zugriff auf Ländereien hatten, die über das Recht verfügten, zu jagen. Die Abkehr
vom Fleisch hingegen war immer auch ein Protest gegen die Mächtigen; ein Beispiel aus
der Antike ist die griechische Reformbewegung der Pythagoreer, die ersten Vegetarier
gewissermassen, die ihre fleischlose Ernährung als Zeichen ihrer moralischen
Überlegenheit betrachteten.

Kann man sich ausschliesslich mit pflanzlichen Eiweissen ernähren?

«Ja, es ist möglich, sich als Veganerin oder Veganer ausschliesslich mit
Pflanzenproteinen zu versorgen», sagt Ernährungsexperte Colombani, «aber es ist alles
andere als einfach.»

Alle essenziellen Aminosäuren kommen auch in pflanzlichen Proteinen vor, aber, wie
erwähnt, generell in geringeren Mengen als in tierischen Proteinen. «Wer sich vegan
ernähren will, muss sich genau informieren, mit welchen Kombinationen an pflanzlichen
Nahrungsmitteln er oder sie essenzielle Aminosäuren in genügenden Mengen aufnimmt»,
sagt Colombani. Eine anspruchsvolle Aufgabe, an der, so beobachtet der
Ernährungsfachmann, insbesondere «Zeitgeist-Veganer» oft scheitern, wenn diese ohne
ausreichendes Wissen auf eine rein pflanzliche Ernährung umsteigen. Die Folge?
Mangelerscheinungen, auch bei diversen Mineralstoffen und Vitaminen.

Können wir mit einer proteinreichen Ernährung abnehmen?

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Diättrends sind ähnlich launisch wie die Mode. Low Carb und Low Fat waren gestern,
High Protein heisst das neue Abnehmrezept. Tatsächlich machen Lebensmittel, die viel
Eiweiss enthalten, schneller satt als solche mit einem tiefen Proteingehalt – zudem hält
das Sättigungsgefühl länger an. «Unser Appetit hält so lange an, bis der Körper seinen
Proteinbedarf gestillt hat», sagt Colombani. Allerdings verliert man deshalb noch nicht an
Gewicht – um abzunehmen, gibt es nur eine Strategie: weniger Kalorien zu sich zu
nehmen, als man verbraucht. So enthält ein High-Protein-Bar von Mars zwar mehr
Eiweiss als der klassische Riegel, der Kaloriengehalt ist allerdings derselbe, stolze 230
Kilokalorien pro Riegel.

Das Leben als eine einzige Grillparty: Barbecue-Festival in Argentinien.


Foto: Ricardo Ceppi (Getty Images)

Was geschieht, wenn wir zu viele Proteine zu uns nehmen?

Nahrungsergänzungen, die versprechen, uns gesünder zu machen, können bei zu hoher


Dosierung genau das Gegenteil bewirken. So weiss man, dass eine chronische
Überzufuhr von Vitaminen und Mineralstoffen ernsthafte Krankheiten bis zu Krebs
verursachen kann (beispielsweise erhöhen sehr hohe Vitamin-E-Gaben das Risiko für
Prostatakrebs, bei der Überdosierung von Kalium drohen Herzrhythmusstörungen).

Proteine hingegen sind in dieser Hinsicht gnädiger, schädlich ist ein übertriebener
Proteinkonsum nicht. Die überschüssigen Aminosäuren werden zu Ammoniak umgebaut
und als Harnstoff ausgeschieden. Wenn man genug trinkt und gesunde Nieren hat, ist
dies unbedenklich.

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Aber es bedeutet: Wer mehr Eiweiss aufnimmt, als er benötigt, verschwendet sein Geld –
und geht einiges häufiger auf Toilette.

In einer früheren Version des Artikels stand «So enthält ein High-Protein-Bar von Mars
zwar mehr Eiweiss als der klassische Riegel, der Kaloriengehalt ist allerdings derselbe,
stolze 230 Kilokalorien pro 100 Gramm.» Richtig ist: 230 Kilokalorien pro Riegel.

Michael Marti ist Autor bei der SonntagsZeitung und beim Tages-Anzeiger und schreibt
vor allem über gesellschaftspolitische Themen. Von 2013 bis 2022 war er Mitglied der
Chefredaktion Tamedia, von 2013 bis 2018 Leiter Digital bei Tamedia. Der studierte
Germanist und Historiker ist Träger des Zürcher Journalistenpreises.Mehr Infos
@michaelmarti
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