Kalt erblüht: Wer zu wenig heizt, riskiert Schimmel in der Wohnung Seite 37

23. OKTOBER 2022 NR. 43 B * DEUTSCHLANDS GROSSE SONNTAGSZEITUNG GEGRÜNDET 1948 PREIS D € 5,00

„Ich habe SINKENDE

viel geweint“ GASPREISE –
WIRD JETZT
Fußball-Manager
Max Eberl
ALLES GUT?
und seine Eine Analyse zur
Reise zu sich Rohstofflage
selbst Seite 18

Seite 29
Schön
DATEN
schaurig

WIE DIE BUNDESWEHR

Halloween
RETTEN ist jetzt auch
LEBEN in Mode

SICH NEU ERFINDET

und Design
Die Forschung benötigt
angekommen
mehr Infos zu Patienten
Seite 56 Seiten 13 bis 16
Seite 47
FRÉDÉRIC SCHWILDEN FÜR WELT AM SONNTAG; ALEX KRAUS; CAVE THINGS/MORTEN BENTZON

UKRAINE

Russen ziehen Scholz zum China-Streit: „Es ist BUNDESLIGA

Verfolger-Trio
aus Cherson ab
Die russischen Besatzer von Cherson
haben am Samstag alle Einwohner zur
mir wichtig, nach Peking zu reisen“ jagt Union Berlin
Die Verfolger von Spitzenreiter 1. FC
Union Berlin, der heute beim Tabellen-
Der Bundeskanzler verteidigt im Interview mit dieser Zeitung die Kooperation mit der Volksrepublik.

„unverzüglichen Evakuierung“ aufgeru-
fen. Auf Telegram forderten sie Bewoh-
ner der illegal annektierten Stadt auf,
Boote über den Fluss Dnipro zu nutzen
und sich tiefer in von Moskau kontrol-
liertes Territorium zu begeben. Auch
der US-Thinktank Institute for the
Study of War meldete den Beginn des
„aktiven Abzugs“ russischer Truppen
aus der Region im Süden des Landes.
Hunderttausenden ukrainischen Bür-
gern droht Deportation. Seite 8
IN DIESER AUSGABE
Die spinnen, die Briten
Nach dem Rücktritt von Liz Truss
könnte ausgerechnet Boris Johnson
das Ruder übernehmen Seite 9
Sündhaft gute Rendite
Aktien in Glücksspiel, Tabak, Alkohol
oder Atomkraft schlagen alles ande-
re am Markt Seite 33
O
Verkauf von Terminal-Anteilen am Hafen Hamburg lässt er offen: Noch sei gar nichts entschieden
laf Scholz wehrt sich gegen Kritik an
seiner China-Politik: „Vor einem hal-
ben Jahr war ich bereits in Japan, nun
ist es mir wichtig, nach Peking zu rei-
sen; wenige Tage später dann nach
Vietnam und Singapur“, sagte er im Gespräch mit
WELT AM SONNTAG. Sein Besuch in der Volksre-
publik ist für Anfang November geplant. Der Bun-
deskanzler wird dann der erste westliche Spitzenpo-
litiker sein, den Staatspräsident Xi Jinping emp-
fängt, nachdem dieser sich auf einem Parteikongress
zu einer bisher von der Verfassung ausgeschlosse-
nen dritten Amtszeit wiederwählen ließ.
VON ROBIN ALEXANDER, DAGMAR ROSENFELD
UND NIKOLAUS DOLL
Der 69-jährige Xi steht für den Anspruch der
Staats- und Parteiführung, die Volksrepublik zu ei-
ner globalen Supermacht zu machen. Mit seiner
Wiederwahl hat die Kommunistische Partei Chinas
die Stellung Xis als mächtigsten Staatschef seit Mao
In der Bundesregierung war es bereits zuvor zu
einem Streit über den Umgang mit den Machtha-
bern in Peking gekommen. Während Außenministe-
rin Annalena Baerbock (Grüne) wegen zunehmen-
der autoritärer Tendenzen, anhaltender Menschen-
rechtsverletzungen und einer aggressiveren Rheto-
rik gegenüber Taiwan eine neue Distanz anmahnt,
warnt das Kanzleramt vor einer „Entkoppelung“, die
für die exportorientierte deutsche Wirtschaft
schwerwiegende Folgen haben könnte.
Eine im Koalitionsvertrag der Ampel vorgesehene
Erarbeitung einer neuen deutschen China-Strategie
ist bisher nicht fertig geworden. CDU und CSU
drängen die Ampelparteien nun zur Vorlage eines
Grundsatzpapiers zu einer deutschen China-Politik.
In einer Anfrage an die Bundesregierung, die dieser
Zeitung vorliegt, verlangen die Unionsparteien Aus-
kunft über den Stand der Arbeit an der geplanten
Strategie. In den 55 Fragen will die Opposition unter
anderem wissen, inwieweit die Bundesregierung
China als Wirtschaftspartner und -rivalen sieht, in
welchem Ausmaß sie „kritische Produktabhängig-
letzten VfL Bochum spielt, haben am
Samstag allesamt vorgelegt: Der FC
Bayern siegte bei der TSG Hoffenheim,
der SC Freiburg gewann gegen Werder
Bremen, und Borussia Dortmund de-
Streit eskaliert, als bekannt wurde, das Kanzleramt klassierte den überforderten VfB Stutt-
wolle eine Beteiligung einer chinesischen Firma an gart mit 5:0. Seite 30
einem Terminal am Hafen Hamburg zulassen. Die-
se könnte von der Bundesregierung untersagt wer- Freitag
den. Dafür hatten in internen Abstimmungen sechs
Mainz – Köln ......................................... 5:0
Ministerien der Bundesregierung plädiert. Auch
der Bundesnachrichtendienst und die EU-Kommis-
sion sind dagegen. Samstag
Abgeordnete von Grünen und FDP hatten ge- Dortmund – Stuttgart ..................... 5:0
warnt, bei dem Hafen handele es sich um kritische Leverkusen – Wolfsburg .................. 2:2
Infrastruktur, die nicht in chinesische Hände gehö- Freiburg – Bremen ............................. 2:0
re. Nach Einschätzung des Kiel Instituts für Welt- Hoffenheim – München ................... 0:2
wirtschaft (IfW Kiel) würde eine Terminal-Beteili- Augsburg – Leipzig ............................ 3:3
gung des chinesischen Unternehmens Cosco den
Hafen der Hansestadt in eine schwierige Lage brin-
gen. „Wenn Cosco sagt, ‚ihr werdet zu einem bevor-
zugten Hafen, wenn ihr die Beteiligung annehmt‘,
muss man natürlich die Frage stellen: Was ist, wenn ELEKTROMOBILITÄT
diese Beteiligung nicht genehmigt wird?“, sagte Rolf
Langhammer vom IfW Kiel dem NDR. „Würde dann
von Hamburg Ladung Richtung anderer Nordseehä- E-Autos laut
fen abgezogen – also Rotterdam, Seebrügge oder

Bücher, Preise und Proteste

Die Frankfurter Buchmesse findet
wieder in Präsenz statt. Aber normal
fühlt sich das nicht an Seite 41
„Lucky Luke ist asexuell“
Vegane Gangster und radikale Tier-
schützer: Autor Jul hat den Comic-Hel-
den in die Moderne geführt Seite 60
Tse-tung zementiert. Mögliche Rivalen des Präsi-
denten wurden auf dem Parteikongress demonstra-
tiv kaltgestellt. So wurde der frühere Staats- und
Parteichef Hu Jintao, der auf dem Podium unmittel-
bar zur Linken seines Nachfolgers Xi saß, während
der Abschlusssitzung am Samstag von zwei Ordnern
aus dem Saal gebracht. Der 79-Jährige folgte seinen
Begleitern erst nach offenkundigem Widerstreben.
Hu stand für ein kollektives Führungsmodell, das Xi
zunehmend abgeschafft hat.
keiten Deutschlands von China“ feststellt oder was
getan werden soll, um die „wirtschaftliche Abhän-
Antwerpen?“ Scholz hingegen betont: Es gehe nur
um „einen Minderheitenanteil an einem Unterneh-
ADAC zu teuer
gigkeit“ seitens deutscher Unternehmen von der men, das einen von einer ganzen Reihe von Contai- Der Automobilclub ADAC fordert güns-
Volksrepublik zu reduzieren. nerterminals betreibt. Grund und Boden bleiben tigere Elektromodelle. Viele deutsche
Scholz wehrt sich gegen den Vorwurf, mit seiner komplett im Besitz der Stadt.“ Hersteller würden Basismodelle strei-
Reise, auf der er von führenden Wirtschaftsvertre- Die Führung in Peking hat mittlerweile an die chen und auf teurere Varianten setzen,
tern begleitet werden soll, nun Fakten im Rich- Bundesregierung appelliert, für einen Einstieg von kritisiert Technikpräsident Karsten
tungsstreit der Ampel-Koalition zu schaffen: „Es Cosco offen zu bleiben. Ob es dazu kommt, ließ Schulze in einem Gastbeitrag. Elektro-
wäre ein absurder Gedanke, erst Papiere zu schrei- Bundeskanzler Olaf Scholz offen: „Noch ist gar mobilität dürfe „kein Privileg für weni-
ben und dann Politik zu machen.“ Zuletzt war der nichts entschieden.“ Seiten 2/3, 6 und 20 ge“ werden. Seite 27

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Der Googlemops terrorisiert die Innenstädte

I
n den letzten 50 Jahren sind, laut WWF, die Be-
stände wild lebender Wirbeltiere um 69 Pro-
zent zurückgegangen. Ein Beispiel dafür ist der
EC-Karten-Zahler. Als Hauptverbreitungsgebiet
gilt Deutschland, er wird aber in ganz Mitteleuro-
pa angetroffen. Von außen ist er schwer erkennbar,
erst wenn er seine farbenprächtige EC-Karte her-
vorholt, kann man ihn identifizieren. Sein Lebens-
raum wird ihm aber vom Kreditkartenhai streitig
gemacht, der wegen seiner Robustheit als Nilgans
unter den bargeldlosen Zahlern gilt. Relativ häufig
trifft man hierzulande auf den Festnetztelefonie-
rer, doch auch seine Tage sind gezählt. Ähnlich ver-
hält es sich mit dem linearen Fernsehzuschauer.
Die Population ist noch recht ansehnlich, aber
ähnlich wie bei Tintenfischen wird auch bei dieser
Art das erworbene Wissen über lineares Fernsehen
nicht an den Nachwuchs weitergegeben. Da hilft es
wenig, dass sich Festnetztelefonierer problemlos
mit linearen Fernsehzuschauern paaren können
und natürlich auch mit Zeitungslesern, deren öko-
logische Nische immer kleiner wird. Nur noch sel-
ten trifft man auf den N-Wort-Sager, sein Ausster-
ben wird sogar allgemein herbeigesehnt. Leider
werden unsere Innenstädte schon sehr bald nicht
mehr von bunt schillernden Stadtplanauffaltern
bevölkert sein, der gemeine Googlemops (lat. goo-
glemaps) wird sie verdrängen. Latent vom Ausster-
ben bedroht ist auch der Linke-Wähler, der noch
vor 40 Jahren ganz Ostdeutschland bewohnte.

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 ,,
2 THEMA DER WOCHE * WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022

Liebe Leserinnen,
liebe Leser!
Wenn der Zen-
tralrat der Juden
einen Preis verleiht,
dann sieht man
Polizei in einer
Massierung, die
deutlich macht,
dass jüdisches Le-
ben wehrhaft geschützt werden muss.
Am Donnerstagabend wurde der grüne
Bundesminister Cem Özdemir geehrt
für seinen unermüdlichen, unerschro-
ckenen, oft auch im eigenen Milieu
unbequemen Kampf gegen jede Er-
scheinungsform des Antisemitismus.
Die Documenta saß vielen Angehö-
rigen der jüdischen Community tief in
den Knochen, die Tatsache, dass die
Antisemiten von Ruangrupa nun Gast-
professuren in Hamburg bekamen,
wurde von Zentralratspräsident Josef
Schuster konsterniert vermeldet. Die
kluge Laudatio von Ronya Othmann
setzte den Ton für einen entschiede-
nen und kühlen Akt des Einspruchs
gegen jede Form des Antisemitismus:
den rechten, den linken, den isla-
mistischen.
Cem Özdemirs Dankesrede hat
dann noch mal deutlich gemacht, dass
er in seiner Entschiedenheit für die
Sache Israels und der jüdischen Bürger
keine Zurückhaltung kennt, auch nicht
in Richtung der eigenen Partei, den
eigenen Kollegen, den eigenen Wäh-
lern und auch nicht der eigenen Religi-
on gegenüber. Den Leo-Baeck-Preis
haben Richard von Weizsäcker, Roman
Herzog, Friede Springer, Helmut Kohl
und zuletzt Mathias Döpfner erhalten,
mit Özdemir der erste Bürger mit
muslimischem Hintergrund. Natürlich
habe der Terror im Iran etwas mit dem
Islam zu tun, natürlich gebe es ihn
auch in der muslimischen Community
– und er ist dort genauso unentschuld-
bar wie bei Rechtsradikalen. Es war
eine Rede, die Ignatz Bubis gefreut
hätte. Diesem, so erklärte Özdemir
bewegt, verdanke er viel. Dessen Wor-
te nach dem feigen Mordanschlag auf
die türkischstämmige Familie Genc
1993 in Solingen hatten Özdemir tief
berührt.
Dieser Moment hat Özdemir ver-
pflichtet. Wohl auch die tief pessi-
mistischen Aussagen von Bubis kurz
vor seinem Tod 1999: „Ich habe fast
nichts bewegt. Die Mehrheit hat nicht
O
Olaf Scholz hat getan, was seit Konrad
Adenauer kein Bundeskanzler getan hat:
Er hat seine Richtlinienkompetenz ge-
nutzt, um den Atom-Streit in der Am-
pel-Koalition zu beenden. Dafür, dass er
zum machttechnisch Ultimativen grei-
fen musste, wirkt Scholz erstaunlich
entspannt, als er zum Interview im
Kanzleramt empfängt. „Weil ich es
mir zutraue“:
VON ROBIN ALEXANDER, ULF POSCHARDT Olaf Scholz (SPD)
UND DAGMAR ROSENFELD in seinem Büro
im Kanzleramt
WELT AM SONNTAG: Herr Bundes-
kanzler, Sie sind jetzt fast ein Jahr in
diesem besonderen Amt, gab es für Sie
einen Moment, in dem Sie sich einmal
gefragt haben, ob Sie der Richtige da-
für sind?
OLAF SCHOLZ: Nein.
Sie tragen Ihr Selbstbewusstsein auch
für einen Spitzenpolitiker erstaunlich
unverhüllt vor. Warum tun Sie das?
Na, ich weiß nicht, ob ich Ihre Beobach-
tung teile. Richtig ist aber, dass ich
mich um das Amt des Bundeskanzlers
beworben habe, weil ich es mir zutraue.
Und ich bemühe mich sehr, es gut zu
machen.
In der vergangenen Woche irritierten
Sie mit der Aussage, Sie seien immer
schon sicher gewesen, dass Wladimir
Putin Energie als Waffe einsetzen
werde. Die Vorgängerregierung, der
Sie ja auch angehörten, hatte stets das
Gegenteil behauptet.
Mir war schon früh klar, dass es dazu
kommen könnte. Daraus folgte für
mich: Wir können zwar das günstige
Gas aus Russland nutzen, aber wir dür-

Politik ist kein

einmal kapiert, um was es mir ging.
Wir sind fremd geblieben.“ Das er-
scheint 2022 realistischer denn je.
Herzliche Grüße
Ulf Poschardt
fen uns nicht davon abhängig machen,
sondern müssen uns auch andere Be-
zugsquellen erschließen. In meiner Zeit
als Hamburger Bürgermeister habe ich
deshalb dafür geworben, LNG-Termi-
nals an der norddeutschen Küste zu er-

Chefredakteur WELT-Gruppe
AUTOREN
DIESER AUSGABE
Als Herausgeberin der
„Literarischen Welt“
war Mara Delius ge-
fühlt schon hundert
Mal auf der weltweit
größten Buchmesse in
Frankfurt. Was auf der ersten Prä-
senz-Messe seit Corona bislang ge-
schah und wie es in Zeiten der Wirt-
schaftskrise um den Buchhandel
bestellt ist, berichtet sie auf Seite 41
Martin Scholz kennt
den Simple-Minds-
Sänger Jim Kerr seit
34 Jahren. Auf Sizilien
hat Kerr ein neues
Album eingespielt, und
Scholz hat ihn dort besucht. Eine
Wanderung durch das Leben eines
Musikers, den man bereits abge-
schrieben hatte. Seiten 52/53
IHR
PERSÖNLICHES
SUPER-TICKET
richten. Leider vergeblich. Als Bundes-
finanzminister habe ich die Idee weiter-
verfolgt. Unter anderem hat die Vor-
gängerregierung ein Gesetz beschlos-
sen, das die Planungen für die LNG-
Terminals in Brunsbüttel, Stade und
Wilhelmshaven wirtschaftlicher mach-
te. Davon profitieren wir heute.
Aber dort ist nie investiert worden …
… weil es nicht gelungen ist, Investoren
zur Buchung von Kapazitäten der ge-
planten Terminals zu gewinnen.
Standen Sie mit Ihrer Einsicht in An-
gela Merkels Bundesregierung allein?
Das kann ich Ihnen nicht beantworten.
Klar ist: Kurz nach meiner Wahl zum
Bundeskanzler habe ich die zuständigen
Abteilungen im Kanzleramt gefragt, was
wir eigentlich machen, wenn kein Gas
aus Russland mehr kommen sollte. Da-
für gab es leider keinerlei Pläne.
Wir erinnern uns anders. Sozialdemo-
kraten haben sogar Kampagnen gegen
LNG-Terminals gefahren, weil dort
angeblich nur „dreckiges amerikani-
sches Fracking-Gas“ ankäme …
Für den LNG-Terminal in Brunsbüttel
haben die SPD-geführten Landesregie-
rungen in Schleswig-Holstein und
Hamburg sehr aktiv geworben. Was da-
mals versäumt wurde, haben wir jetzt
in Rekordzeit auf den Weg gebracht:
neue direkte Importmöglichkeiten an
John-Wayne-Western
Frühere Bundesregierungen haben diese
Vorhaben geprüft. Der Widerstand vor
Ort war so groß, dass sie nie verwirk-
licht wurden.
Wäre es nicht gute politische Füh-
rung, die Menschen von der Notwen-
digkeit zu überzeugen?
Erdgas ist nicht unsere Zukunft. Wich-
tig ist, die Bürgerinnen und Bürger von
den nötigen Schritten zu überzeugen,
die jetzt zu gehen sind. Deutschland
wird bis 2045 klimaneutral sein, das
heißt, unsere Industrie wird dann auf
der Nutzung von Wasserstoff und
Strom aus erneuerbaren Quellen basie-
ren. Dafür schaffen wir jetzt die nötige
Infrastruktur. Wir erneuern das Netz,
schaffen die erforderlichen Erzeu-
gungskapazitäten und beschleunigen
das Planungsrecht. Und all das läuft pa-
rallel zur akuten Krisenbewältigung.
Um es mal plastisch zu machen: Damit
wir im Augenblick Gas sparen können,
hat es meine Regierung ermöglicht,
Die Abschaltung dreier weiterer AKWs
haben Sie in dieser Woche abgewen-
det. Dazu haben Sie sich auf die Richt-
linienkompetenz berufen. Das hat seit
Adenauer kein Kanzler mehr getan. Ist
das ein Zeichen dafür, wie ernst die La-
ge der Energieversorgung ist oder wie
ernst die Lage Ihrer Koalition ist?
Es zeigt, wie ernst ich die Frage einer
verlässlichen Energieversorgung neh-
me. Die Entscheidung musste jetzt fal-
len. Anders wäre eine Einigung in der
Regierung nicht mehr rechtzeitig mög-
lich gewesen. In dieser Woche mussten
die gesetzlichen Grundlagen geschaffen
werden, um Nuklearenergie über Silves-
ter hinaus nutzen zu können. Mit den
drei Atomkraftwerken, die noch am
Netz sind. Und maximal bis 15. April
2023 laufen werden.
Noch im August haben Sie gesagt, Sie
wollten Ihre Richtlinienkompetenz
nicht ausüben „in der Form, dass ich
jemandem einen Brief schreibe, bitte,
Nein. Weil keine Einigung zustande
kam, habe ich als Kanzler entschieden.
Aber ich kann Sie beruhigen: Die Betrof-
fenen haben nicht erst mit dem Brief
von meiner Entscheidung erfahren, son-
dern ich habe sie ihnen vorher angekün-
digt. Das gehört sich so.
Als Habeck, Lindner und Sie am Sonn-
tag auseinandergingen, haben Sie ih-
nen da gesagt, dass Sie mit Richtlini-
enkompetenz entscheiden werden?
Das habe ich erst später entschieden.
Verstehen Sie das unter Führungs-
stärke?
Die Fähigkeit zum Kompromiss ist im-
mer ein Zeichen von Stärke. Unser Land
ist keine Präsidialdemokratie, und wir
sollten auch nicht so tun, als sei es eine.
Keine Einzelperson und keine einzelne
Partei diktieren die Politik. Wer sich Po-
litik wie einen John-Wayne-Western
vorstellt, wo ein Macker breitbeinig ent-
scheidet, wo es langgeht, der hat die De-
mente auch durch. Mit den neuen Im-
portkapazitäten für Gas und den Kohle-
kraftwerken verfügen wir dann über viel
mehr Leistung im Netz. Strukturell blei-
ben wir auf dem Pfad zur Klimaneutrali-
tät. Das bedeutet: massiver Ausbau der
erneuerbaren Energien, also Windkraft
und Sonnenenergie, und neue Möglich-
keiten zur Elektrolyse, um Wasserstoff
herzustellen, sowie eine Import-Infra-
struktur für Wasserstoff.
Warum kommen klimaschädliche
Kohlekraftwerke ans Netz und nicht
fast klimaneutrale Atomkraftwerke?
Die Kohlekraftwerke stehen bereit und
können in Betrieb genommen werden.
Die stillgelegten Atomkraftwerke kön-
nen nicht einfach schnell wieder in Be-
trieb gesetzt werden, weil schon begon-
nen wurde, sie abzubauen. Es gibt übri-
gens gute Gründe, warum wir aus der
Atomkraft aussteigen. Ich erinnere nur
an Tschernobyl, Fukushima und die nie
gelöste Endlagerfrage.

38MLVSE
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den norddeutschen Küsten und von Hä-
fen in den Niederlanden und in Belgien.
Zum ersten Mal können wir jetzt auch
Gas aus Frankreich einführen. Damit
sind wir nun unabhängig von russi-
schem Gas. Und in Europa bauen wir
die Infrastruktur weiter aus: von Spa-
nien nach Mitteleuropa und in den Bal-
kan. Überall tun wir das mit dem Ziel,
dass diese Infrastruktur dann später
mit der Nutzung von Wasserstoff eine
große Zukunft hat.
Ihre Regierung holt Gas aus der hal-
ben Welt, mit einer Ausnahme:
Deutschland. Warum erschließen Sie
nicht heimische Gasfelder, warum
bleibt Fracking ausgerechnet bei uns
ein Tabu?
dass die Kohlekraftwerke in Nordrhein-
Westfalen bis 2024 laufen dürfen.
Gleichzeitig bringen wir die Ausschrei-
bung für drei Gaskraftwerke auf den
Weg, die später auch mit Wasserstoff
betrieben werden können. Das ist eine
Technologie, die von deutschen Her-
stellern entwickelt wird. Darum geht
es. Denn in den 2030er-Jahren brau-
chen wir mehr als 30 neue Kraftwerke.
Auch das treiben wir jetzt voran.
Als Sie nach Amtsübernahme im De-
zember die Frage nach der Unabhän-
gigkeit von russischer Energie stell-
ten, haben Sie da auch erwogen, an
Neujahr nicht drei Atomkraftwerke
abzuschalten, wie es ja geschehen ist?
Nein.
Herr Minister, machen Sie das Folgen-
de“. Jetzt haben Sie es doch getan.
Ich bemühe mich immer, einen Kon-
sens im Kabinett herzustellen. In der
Regel gelingt dies, etwa bei den wichti-
gen Beschlüssen, die wir getroffen ha-
ben, um die Energieversorgung in
Deutschland zu sichern.
Nur einen Tag nachdem Sie den Brief
mit der Richtlinienkompetenz ge-
schrieben haben, hat das Umweltmi-
nisterium schon den Gesetzentwurf
vorgelegt. Der Eindruck drängt sich
auf, dass Robert Habeck ganz froh
war, dass Sie angeordnet haben, was
er in seiner eigenen Fraktion nicht
durchsetzen konnte. War das Macht-
wort in Wirklichkeit abgesprochen?
mokratie, insbesondere das deutsche
Koalitionssystem, nicht verstanden.
Was ich als Kanzler sicherzustellen ha-
be, ist, dass Entscheidungen rechtzeitig
fallen – wie jetzt die Verlängerung der
Laufzeiten der Atomkraftwerke.
Sie wollen kein „Basta“-Kanzler wer-
den?
Ich habe nicht viel Aufhebens um die
Entscheidung gemacht und mich sehr
bewusst entschieden, nicht vor Fernseh-
kameras zu treten, sondern schriftlich
mitzuteilen, was jetzt zu geschehen hat.
Können Sie ausschließen, dass es eine
weitere Laufzeitverlängerung gibt?
Am 15. April 2023 ist endgültig Schluss –
dann sind die verbliebenen Brennele-
Sie sagen nicht, wir kommen durch
den Winter. Sie sagen immer, wir
kommen wohl durch den Winter. Kön-
nen Sie diese Relativierung erklären?
Nach allem, was wir heute wissen, kom-
men wir durch den Winter. Es gibt aber
auch äußere Umstände, die wir nicht be-
einflussen können.
Ihr Wirtschaftsminister sagt, wenn
der Winter mild wird, kommen wir
durch. Meint das Ihr „wohl“?
Ich habe zum Beispiel mögliche Notla-
gen in Nachbarländern im Kopf. Gegen-
wärtig setzen wir noch viel Gas ein, um
Strom zu produzieren, den wir nach
Frankreich und in andere Nachbarlän-
der liefern. Dort sind viele Atomkraft-
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
Die Fähigkeit zum Kompromiss sei eine Stärke, sagt Olaf Scholz.
Wie das mit seiner Anordnung zur Laufzeit der Atomkraftwerke
zusammengeht? Ein Interview über harte Entscheidungen,
Energiesicherheit und die Angst vor dem Krieg
werke im Augenblick nicht einsatzfä-
hig. Andernorts hat die Sommerhitze
dazu geführt, dass Wasserkraftwerke
nicht so viel Strom liefern, wie das klas-
sischerweise der Fall ist. Insofern
meint mein „wohl“, dass wir vorsichtig
bleiben müssen.
Bisher war die Bundesrepublik ein
Land mit hohen Lohnkosten und ho-
hen Steuern und Abgaben, aber für die
Industrie relativ günstiger Energie.
Wenn Energie nun absehbar teuer
bleibt, können wir dann bei so hohen
Steuern und Abgaben bleiben?
Unsere Entscheidungen setzen darauf,
dass die Kosten der erneuerbaren Ener-
gien in den nächsten Jahren kontinuier-
lich sinken werden. Wir investieren
jetzt in den Aufbau der nötigen Kapazi-
täten, das wird ein riesiger Wettbe-
werbsvorteil für die elektrifizierte Zu-
kunft, vor der die ganze Welt steht.
Aber gerade explodieren die Preise …
Wir senken Steuern und Abgaben – und
zwar massiv! Der Steuertarif wird fast
über die ganze Breite gesenkt. Renten-
beiträge machen wir zu 100 Prozent an-
rechnungsfähig. Die Arbeitnehmerpau-
schale heben wir auf 1200 Euro an. Das
werden wir auch für die Ausbildungs-
pauschale machen, und wir werden den
Sparerfreibetrag erhöhen. Im nächsten
Reformschritt werden die Sozialversi-
cherungsbeiträge für diejenigen, die
unter 2000 Euro verdienen, nur noch
allmählich ansteigen, so, wie das jetzt
schon bei der Steuer der Fall ist. Je-
mand, der ein Arbeitseinkommen von
1000 Euro oder auch da drüber hat,
wird dann bis zu 50 Euro weniger Abga-
ben im Monat zahlen. Wir haben
gleichzeitig das Kindergeld erhöht: bei
NR. 43 * THEMA DER WOCHE 3
zwei Kindern im Jahr mehr als 400 Eu-
ro zusätzlich. Wir haben dafür gesorgt,
dass der Kinderzuschlag ausgebaut
wird. Das schützt die Bezieherinnen
und Bezieher davor, Grundsicherung
beantragen zu müssen.
Die wichtigste Maßnahme, um die
Energiepreise im Griff zu behalten,
dürfte die Gaspreisbremse sein. Dafür
haben Sie eine Expertenkommission
eingesetzt. Eines der Mitglieder, Lion
Hirth, ein Professor von der Hertie
School, hat über die Arbeit dies be-
richtet: „Innerhalb von 48 Stunden, in
denen ich nur vier Stunden geschlafen
habe, mussten wir Lösungen für ein
200-Milliarden-Paket entwickeln.“
Ohne ausreichende Datengrundlage.
Wie passt das zusammen mit dem An-
spruch an eine vorausschauende Re-
gierungspolitik?
Anfang September haben wir beschlos-
sen, eine solche Kommission einzuset-
zen, in der Wissenschaft, Verwaltung,
Tarifpartner und Praktikerinnen zusam-
mensitzen, um möglichst passgenaue
Lösungen zu finden, und das geschah
über mehrere Wochen. Ich habe auch
mit vielen Teilnehmern gesprochen –
vorher und hinterher. Ich weiß, wie in-
tensiv, gut und sachorientiert diese Be-
ratungen waren. Wenn nun der europäi-
sche Rahmen steht, können wir die nöti-
gen Gesetze finalisieren. Das wird jetzt
schnell passieren.
Warum geben Sie nicht zu, dass
Deutschland wichtige Wochen verlo-
ren hat, weil Sie zunächst auf eine
Gasumlage setzten?
Damals war die Lage ganz anders. Im Ju-
li standen wir vor der Situation, dass
Gasimporteure unter finanziellen Druck
HC PLAMBECK/ WELT
gerieten. Es bestand die Gefahr, dass
Kundinnen und Kunden exorbitant hohe
Aufschläge auf ihre Gasrechnungen hät-
ten tragen müssen. Spätestens mit dem
kompletten Lieferstopp durch Nord
Stream veränderte sich die Lage aber
völlig, die Preise schossen durch die De-
cke, und es war nötig, das Problem viel
grundsätzlicher anzugehen.
Haben Sie Angst, dass der russische
Krieg gegen die Ukraine zum Welt-
krieg eskaliert?
Davon gehe ich nicht aus, aber die Ge-
fahr darf man zumindest nicht aus den
Augen verlieren. In einer so gefährli-
chen Lage verbietet sich jeder unbeson-
nene Schritt. Es darf nicht zu einem di-
rekten Konflikt zwischen Russland und
der Nato kommen! Da bin ich mir einig
mit Joe Biden, den ich für einen hervor-
ragenden Präsidenten halte, der sehr
viel versteht von der Welt und ein fes-
tes eigenes Urteil hat. Zugleich unter-
stützen wir die Ukraine nach Kräften.
Nach den USA ist Deutschland einer
der stärksten Unterstützer der Ukrai-
ne. Finanziell, humanitär und auch mit
Waffen. Deutschland liefert Waffen, die
in diesem Krieg sehr entscheidend sind
– Artillerie und Flugabwehr. Vor weni-
gen Tagen erst haben wir Iris-T, das
modernste Luftverteidigungssystem
der Welt, übergeben, das nicht mal un-
sere Bundeswehr hat.
Hat Putin Ihnen jemals mit einer Aus-
weitung des Krieges gedroht?
Aus den Gesprächen, die ich mit dem
russischen Präsidenten führe, berichte
ich aus guten Gründen nicht. Aber viel-
leicht so viel: Meldungen, die ich über
angebliche Drohungen in diesen Ge-
sprächen gelesen habe, sind falsch.
Wir wissen, dass Sie die nächste Frage
nervt. Aber dennoch: Die Rückerobe-
rung der besetzten Gebiete in der
Ukraine geschieht im Moment mit
Panzern sowjetischer Bauart. Wenn
diese getroffen werden, explodiert das
Munitionsdepot, und die Besatzung
verbrennt. Aus einem getroffenen
Leopard-Panzer hingegen können die
Soldaten oft noch entkommen. Es
geht also um Menschenleben. Warum
verweigern Sie der Ukraine nach wie
vor Panzer westlicher Bauart?
Deutschland hat mit dem Ringtausch
dafür gesorgt, dass mehr als 100 Pan-
zer an die Ukraine geliefert werden,
die dort sofort eingesetzt werden kön-
nen: aus der Tschechischen Republik,
aus der Slowakei, aus Slowenien, aus
Griechenland. Die Logistik, die Ersatz-
teile, die Munition für diese Panzer aus
russischer oder postsowjetischer Pro-
duktion sind in der Ukraine vorhan-
den. Wir bemühen uns um Lieferungen
aus weiteren Ländern. Es bleibt aber
dabei: Die Frage, welche Waffen wir
liefern, richtet sich nach einem ganz
klaren Prinzip – keine Alleingänge.
Vielleicht gestatten Sie mir an dieser
Stelle eine Bemerkung?
Bitte.
Mein Eindruck aus Gesprächen mit Bür-
gerinnen und Bürgern: 20 bis 30 Prozent
sind weder mit der Sanktionspolitik
noch mit den Waffenlieferungen einver-
standen. Darunter sind Wählerinnen
und Wähler aus fast allen politischen
Richtungen, von CDU/CSU, FDP, Grü-
nen und auch von der SPD. Ich diskutie-
re mit Zweiflern und erläutere die Grün-
de für unsere Entscheidungen; der eine
oder andere ist davon auch überzeugt
worden. Sehr viele finden den besonne-
nen Kurs der Regierung richtig. Das
Meinungsbild ist also sehr breit. Das
sollten wir nicht aus den Augen verlie-
ren, wenn wir als Gesellschaft zusam-
menhalten wollen.
Sie waren der Architekt des EU-Next-
Generation-Fonds in der Corona-Kri-
se. Die gleichen Leute, die Sie dafür
gelobt haben, wollen jetzt wieder
Geld. Können Sie neue Transferleis-
tungen in den Süden ausschließen?
Die Geschlossenheit der Europäischen
Union ist ein wichtiger Faktor. Acht
Sanktionspakete haben wir inzwischen
gemeinsam verabschiedet. Damit hat
Putin nicht gerechnet. Klar ist aber
auch, dass wir gemeinsam auf die aktu-
ellen Herausforderungen reagieren
müssen. Alle EU-Länder müssen ihre
Bürgerinnen und Bürger unterstützen
können. Allerdings sind wir in einer
günstigeren Lage als bei Corona, weil
wir bereits zwei große Unterstüt-
zungsprogramme zur Verfügung ha-
ben: den europäischen Wiederaufbau-
fonds Next Generation EU, bei dem 80
Prozent des Gelds noch gar nicht aus-
gegeben sind. Und das Repower-EU-
Programm, mit dem Infrastruktur und
erneuerbare Energien ausgebaut wer-
den können. Die Beschlüsse des Euro-
päischen Rates in dieser Woche weisen
genau in diese Richtung.
Sie haben nicht „Nein“ gesagt.
Die Prioritäten müssen stimmen: Erst
müssen die Preise runter und die Märk-
te wieder funktionieren. Gerade haben
wir in Brüssel mit den anderen 26 Mit-
gliedstaaten eine gemeinsame Position
formuliert, die es Gas-Einkäufern er-
möglicht, zu kooperieren, und die den
Markt so reformiert, dass plötzliche,
kurzfristige Preisspitzen kein Einfalls-
tor mehr für Spekulanten sind.
Ihre Regierung hatte sich vorgenom-
men, eine neue China-Strategie zu er-
stellen. Bisher konnte keine Einigkeit
darüber erzielt werden. Nun lässt sich
Xi Jinping auf dem Parteikongress der
KP zum „großen Führer“ ausrufen.
Und Sie reisen unmittelbar anschlie-
ßend nach Peking, um ihm zu gratulie-
ren. Nehmen Sie damit nicht eigent-
lich die Ergebnisse dieser China-Stra-
tegie vorweg?
Nein. Es wäre ein absurder Gedanken,
erst Papiere zu schreiben und dann Po-
litik zu machen. Das wird mein An-
trittsbesuch in China sein. Vor einem
halben Jahr war ich bereits in Japan,
nun ist es mir wichtig, nach Peking zu
reisen; wenige Tage später dann nach
Vietnam und Singapur.
Ihr Kanzleramt will den Verkauf eines
Teils des Hamburger Hafens an chine-
sische Investoren durchsetzen, ob-
wohl sechs Ministerien abgeraten ha-
ben. Ist das Ihr Gastgeschenk für Xi?
Na – noch ist gar nichts entschieden. Es
geht im Übrigen nicht um einen Teil des
Hamburger Hafens. Das chinesische Un-
ternehmen Cosco möchte einen Min-
derheitsanteil an einem Unternehmen
erwerben, das einen von einer ganzen
Reihe von Containerterminals in Ham-
burg betreibt. Grund und Boden bleiben
komplett im Besitz der Stadt.
Planung mit
Haushaltsnotlage
Stephan Weil berichtet von Gespräch mit Kanzler,
A
das neue Aussetzung der Schuldenbremse nahelegt
ls die 16 Ministerpräsiden-
ten am Freitagmorgen in
Hannover in vertraulicher
Sitzung mit Bundesfinanz-
minister Christian Lindner (FDP)
über die Staatsfinanzen berieten, war
Olaf Scholz (SPD) nicht dabei. Den-
noch spielte der Kanzler die wichtigs-
te Rolle. Denn der Gastgeber, Nieder-
sachsens Regierungschef Stephan
Weil (SPD), hatte vorher mit ihm tele-
foniert. Und berichtete Erstaunliches:
„Der Bundeskanzler hat, erstens, zum
Ausdruck gebracht, es sei ihm be-
wusst, dass die Länder zur Deckung
der jetzt anstehenden Aufgaben auch
auf Kreditmittel würden zurückgrei-
fen müssen. Und, zweitens, er gehe
davon aus, dass Bund und Länder ge-
meinsam die Feststellung treffen,
dass die tatbestandlichen Vorausset-
zungen einer außerordentlichen Not-
situation vorliegen.“
VON ROBIN ALEXANDER, NIKOLAUS DOLL
UND CLAUS CHRISTIAN MALZAHN
Dieser Wortlaut wurde von mehre-
ren Ministerpräsidenten WELT AM
SONNTAG bestätigt. Sie hatten ge-
nau hingehört. Denn die „außeror-
dentliche Notsituation“ begründet
die Aussetzung der Schuldenbremse.
An dieser aber will die Bundesregie-
rung bisher für den Etat des kommen-
den Jahres festhalten. Mit der Positi-
on seines Chefs konfrontiert, wider-
sprach Lindner nicht. Sondern
schränkte lediglich ein: „Aber das ist
nicht die bereits abgestimmte Hal-
tung der Bundesregierung. Darüber
wird noch entschieden.“ Nachdem
diese Zeitung über den Vorfall berich-
tet hatte, dementierte Weil die
Schlussfolgerung, die auch mehrere
Ministerpräsidenten gezogen hatten.
Scholz habe ihm nicht gesagt, er wolle
die Schuldenbremse aufheben. Lind-
ner erklärte, es gehe um einen „Notla-
genbeschluss“: ,,Damit die Länder
mehr Kredite aufnehmen können.“
Die Fachwelt wunderte sich über
diese Erklärung: „Kann das jemand er-
klären? Die Länder stellen doch selbst
ihre Notlage fest?“, twitterte Philippa
Sigl-Glöckner von der Denkfabrik De-
zernat Zukunft. Die Ökonomin arbei-
tete unter Scholz in der Grundsatz-
abteilung des Finanzministeriums
und war Büroleiterin von Wolfgang
Schmidt, der heute Chef des Kanzler-
amtes ist. Tatsächlich scheint schwer
vorstellbar, dass der Bund die Notlage
der Staatsfinanzen formal anerkennt,
um damit den Ländern zusätzliche
Schulden zu ermöglichen, aber selbst
auf Einhaltung der Schuldenbremse
beharrt.
Es war Sachsen-Anhalts Minister-
präsident Reiner Haseloff (CDU), der
von Lindner wissen wollte, wie denn
die Länder nun die auf sie zukommen-
de Ausgabenlawine stemmen sollten.
Und er war es auch, der nach Ende der
Ministerpräsidentenkonferenz Frei-
tagmittag für WELT AM SONNTAG
die Position der Länder so zusam-
menfasste: „Wir sind uns dort einig,
dass vom Bund schnell eine Rechts-
grundlage geschaffen werden muss,
damit wir Kredite verfassungskon-
form aufnehmen können“, erklärte
der CDU-Politiker. „Der Bund muss
deshalb für 2023 die Feststellung der
Notsituation treffen. Das muss in der
Bundesregierung schnell geklärt wer-
den“, drängte Haseloff.
Zur Bewältigung der Krise hat die
Bundesregierung drei Entlastungspa-
kete für Privathaushalte und Unter-
nehmen geschnürt, um die Preisstei-
gerungen bei Gas und Strom abzufe-
dern. Allein das dritte hat ein Volumen
von 65 Milliarden Euro. Nach dem
Willen der Ampel sollen sich die Län-
der mit 19 Milliarden Euro daran be-
teiligen. Doch die Ministerpräsiden-
ten sperren sich. Die Länder wären da-
mit überfordert, 15 der 16 Bundeslän-
der könnten die sich daraus ergeben-
den Lasten nicht mit zur Verfügung
stehenden Haushaltsmitteln bezah-
len. Das Ringen um Finanzierung der
Entlastungen wird also weitergehen
und bestenfalls in der kommenden
Ministerpräsidentenkonferenz (MPK)
am 2. November gelöst. Denn dann ist
auch der Kanzler mit von der Partie.
Die Landeschefs drücken aufs Tem-
po. Dass einige Hilfsprogramme erst
zum 1. März beginnen sollen, also
mehr als ein Jahr nach Kriegsaus-
bruch, sei nicht akzeptabel, sagte Ha-
seloff. „Das dauert im Bund und auch
in der EU viel zu lange. Wir müssen
schneller handlungsfähig werden,
sonst wird das Vertrauen in das demo-
kratische System weiter sinken.“
Immer mehr Haushalte und Unter-
nehmen sollen inzwischen enorm ge-
stiegene Abschlagszahlungen zahlen,
die Nervosität in der Bevölkerung
steigt. Und damit in den Staatskanz-
leien. „Es wird höchste Zeit, dass der
Bund endlich handelt – nicht halbher-
zig wie bisher, sondern mit einem
breiten und umfassenden Ansatz“,
fordert auch Bayerns Ministerpräsi-
dent Markus Söder (CSU). Stattdes-
sen vernachlässige die Ampel weiter-
hin den ländlichen Raum und die Mit-
telschicht, konzentriere sich vor allem
auf die Nutzer von Erdgas. „Es
braucht dringend Entlastungen nicht
nur beim Gas, sondern auch bei Öl-
und Pelletheizungen. Es darf keine
Heizungen erster und zweiter Klasse
geben“, sagte Söder dieser Zeitung.
Im Zentrum der Kritik bei der MPK
am Freitag stand indessen die Gas-
preisbremse. Auszahlungen zur Ent-
lastung der Kunden erst ab März, wie
sie der Kanzler in seiner Regierungser-
klärung am Donnerstag angekündigt
hatte, kämen viel zu spät, erklärten die
Länderchefs unisono. Im Frühjahr
stünden Privat- und Gewerbekunden
längst vor einem Berg hoher Ab-
schlagszahlungen. „Wir brauchen
Tempo bei den Entlastungen für
Strom und Heizen. Am besten wäre,
die Gaspreisbremse wirkt schon ab Ja-
nuar, auf welchem Wege die Bundesre-
gierung das macht, ist zweitrangig“,
,,
erklärte die Regierungschefin im Saar-
land, Anke Rehlinger (SPD). Wie Sö-
der fordert sie: „Auch eine Entlastung
bei Heizöl und Pellets wäre ein wichti-
ges Signal.“ Die Länder sind zudem ei-
nig, dass ein zusätzlicher Härtefall-
NIEMAND HÄTTE
VERSTÄNDNIS, WENN
BIS 2. NOVEMBER KEINE
LÖSUNGSVORSCHLÄGE
VORLIEGEN
MARKUS SÖDER
Bayerns Ministerpräsident
fonds für Soforthilfen eingerichtet
werden müsse, sagte Bremens Bürger-
meister Andreas Bovenschulte (SPD):
„Der Bund steht hier in der Pflicht,
diesen Hilfsfonds so schnell wie mög-
lich auf die Beine zu stellen.“
Die Länder verstärken also den
Druck auf Berlin – weil sie ihrerseits
unter Druck stehen. Doch die Liste der
Punkte, in denen eine Einigung mit der
Bundesregierung aussteht, ist noch
länger. Ungeklärt ist etwa auch, wie die
Kosten des Wohngeldes verteilt wer-
den sollen. Es soll im kommenden Jahr
erhöht und der Kreis der Bezugsbe-
rechtigten erweitert werden. Die Län-
der hatten darauf gedrängt, dass der
Bund das bezahlt – doch der sperrt
sich. Einigung: ungewiss.
Noch verfahrener ist die Lage bei
der Unterbringung und Versorgung
der steigenden Zahl von Flüchtlingen.
Länder und Kommunen sehen sich
damit überfordert, verlangen auch
hier vor allem mehr Geld von der
Bundesregierung. Allerdings geht in
dieser Frage ein Riss durch die Län-
derfront. Weil sich in den drei Stadt-
staaten besonders viele Migranten
aufhalten, fordern diese, dass die Ver-
teilung nicht mehr nach dem soge-
nannten Königsteiner Schlüssel vor-
genommen wird, der sich allein nach
Steueraufkommen und Bevölkerungs-
zahl richtet. Stattdessen sollen antei-
lig deutlich mehr Flüchtlinge in den 13
Flächenländern aufgenommen wer-
den. Berlin, Hamburg und Bremen
werden dafür nun einen Vorschlag er-
arbeiten. Übernächste Woche soll es
mehr Klarheit geben. Söder sagt:
„Niemand im Land hätte Verständnis,
wenn bis zur nächsten MPK am 2. No-
vember wieder keine Lösungsvor-
schläge vorliegen.“
4 POLITIK
NEBEN
DER SPUR
VON HARALD MARTENSTEIN
Die deutsche
Naivität nimmt
kein Ende
N
ach der Niedersachsenwahl las
ich den vorwurfsvoll gemein-
ten Satz „Keine Partei bewirt-
schaftet die Angst so stark wie die
AfD“. Geäußert hatte ihn Johannes
Hillje, dessen Beruf mit „Politikbera-
ter“ angegeben wird. Von Politik
scheinen deutsche Politikberater
nicht mehr viel Ahnung zu haben.
Unser Heavyweight-Champion der
Angstbewirtschaftung, Karl Lauter-
bach, ist doch gar nicht in der AfD,
oder? Und hat etwa nicht Greta Thun-
berg ihr Programm mal in dem Satz
zusammengefasst „I want you to pa-
nic“? Das Politikangebot der Grünen
beruht zu großen Teilen auf der Angst
vor einer Klimakatastrophe. Das
Angstbewirtschaftungsrezept von An-
gela Merkel sah so aus: Kernkraft ist
hochgefährlich. Wladimir Putin dage-
gen ist völlig harmlos. Auf diesem lie-
ben Onkel haben wir fast unsere ge-
samte Energieversorgung aufgebaut.
Die CDU war währenddessen 16 Jahre
lang in Erziehungsurlaub.
Die Putin-Angst wurde also jahre-
lang unterbewirtschaftet. Erstaunli-
cherweise ist ausgerechnet die AfD,
die aus Protest gegen Merkel entstan-
den ist, in puncto Putin immer noch
auf angstfreiem Merkel-Kurs.
Dass Politiker auf Ängste der Bevöl-
kerung keinerlei Rücksicht nehmen
sollten, klingt nach einem sehr schrä-
gen Handlungsrezept. Angst gehört
zum Menschsein. Manchmal ist sie
nützlich, manchmal überflüssig – was
von beidem der Fall war, weiß man oft
erst im Rückblick. Auch wenn Angst
unbegründet erscheint, sollte man
über sie reden. Angst ist nichts Unan-
ständiges.
Während die Ängste vor Corona,
vor dem Klimawandel, Kernkraft, In-
flation, Blackouts und Putin Dauer-
thema in Talkshows sind, gilt die
Angst vor Migration, die es in der Ge-
schichte bei Massenmigration bei den
Einheimischen immer und überall
gab, in manchen Medien als unaus-
sprechlich. Seltsam fand ich allerdings
den Versuch des CDU-Chefs Friedrich
Merz, ausgerechnet den angeblichen,
vermutlich nicht sehr erheblichen So-
zialbetrug ukrainischer Flüchtlinge
zum Thema zu machen. Die Solidari-
tät mit der Ukraine ist zum Glück im-
mer noch groß und die Angst vor den
Ukrainern klein. Das hängt mit kultu-
reller Nähe zusammen, mit der Ver-
mutung, dass viele nach Ende des
Krieges wieder zurückkehren, auch
mit der Tatsache, dass oft Frauen und
NACHRICHTEN
EINWANDERUNGSGESETZ
Eckpunkte zur
Reform vorgelegt
Die Bundesregierung will den Ar-
beitsmarkt stärker für Fachkräfte aus
Ländern außerhalb der Europäischen
Union (EU) öffnen. Dies sehen erste
Eckpunkte für eine Reform des Ein-
wanderungsgesetzes vor, die am Frei-
tag zur Abstimmung in der Regierung
verschickt wurden. Vorgesehen ist
nach Angaben aus Regierungskreisen
unter anderem eine sogenannte
Chancenkarte, die auf der Grundlage
eines Punktesystems zur Arbeits-
suche in Deutschland berechtigt. Zu
den Kriterien könnten Qualifikation,
Sprachkenntnisse, Berufserfahrung
und Deutschlandbezug gehören.
„Deutschland braucht qualifizierte
Fachkräfte, um wirtschaftlich erfolg-
reich zu bleiben“, erklärte Arbeits-
minister Hubertus Heil (SPD) am
Abend. Ergänzend zur Mobilisierung
der inländischen Arbeitskräfte werde
„deutlich mehr Fachkräfteeinwan-
derung“ benötigt. Es gelte, „kluge
Köpfe und helfende Hände für unse-
ren Arbeitsmarkt zu gewinnen“. Die
Eckpunkte sollen den Angaben zu-
folge etwa Mitte November im Ka-
binett beschlossen werden. Die Ge-
setzesbeschlüsse sollen im kommen-
den Jahr folgen. Laut einer Studie
wächst die Fachkräftelücke zwischen
Neubedarf und Angebot bis 2026 auf
rund 240.000 Personen. RTR
Kinder kommen. 2015 war das anders.
Dass Einwanderung in einem über-
alterten Land nötig ist und gut sein
kann, haben die meisten begriffen. Die
weitverbreitete Angst bezieht sich
zum Teil auf außereuropäische Ein-
wanderung, vor allem auf islamische.
Diese Angst wird als „islamophob“ ta-
buisiert, was sie den Ängstlichen na-
türlich noch plausibler erscheinen
lässt. Die Probleme sind nämlich real,
kriminelle Clans sind dabei noch das
kleinste Problem. Mit dem Islam
wächst bei unkontrollierter Einwan-
derung auch der Islamismus im Land,
eine Ideologie, die unsere freie Le-
bensweise ablehnt und verachtet.
Auch das wäre zu bewältigen, wenn
diese Gefahr deutlich benannt und be-
kämpft würde. Stattdessen hat sich
ein aggressives Amalgam aus Islamis-
mus und der woken Ideologie gebil-
det, die vielerorts an Unis, im Kultur-
betrieb und in Medien, ohne viel Wi-
derstand, dominant geworden ist. Bei-
de, Islamismus und Wokismus, sind
sich bei aller Verschiedenheit einig in
ihren Feindbildern. Es sind der libera-
le Westen mit seinem Kapitalismus
und alle „Weißen“ (Juden gehören da-
zu, Araber nicht). Sie sollen schuld
sein an allem, was es in der Welt an
Unglück bisher gegeben hat, und das
ist ja leider recht viel.
Die Angst vor feindlicher Übernah-
me, wie sie der Autor Michel Houelle-
becq in seinem Roman „Unterwer-
fung“ geschildert hat, besitzt also ei-
nen realen Kern. Sie wird von vielen li-
beralen Muslimen geteilt, sie haben
Angst vor dem Islamismus, denn sie
kennen ihn besser als wir. Wie in die-
ser Zeitung zu lesen war, wächst in
den Regierungsparteien die Lust auf
ein neues Migrationsrecht, das fast
nur finanzielle Anreize kennt und fast
keine Forderungen mehr stellt.
Wir haben beinahe alle gestaunt
über die Naivität, mit der Deutsch-
lands Regierende auf Putin hereinge-
fallen sind, auch unsere Nachbarn ha-
ben gestaunt. In der Migrationspolitik
sind viele unserer Partner, etwa
Frankreich, längst vorsichtiger gewor-
den, jetzt wird Schweden sich an-
schließen. Wir aber steuern, genauso
naiv wie bei Putins Gas, mit vollen Se-
geln dorthin, wo Sturm und Schiff-
bruch warten. Kürzlich habe ich eine
Karikatur gesehen, der Text gefiel mir.
„Man hört immer nur: Wir sind ein
reiches Land, aber nie: Wir sind ein
kluges Land.“ Das mit dem Reichtum
ändert sich ja gerade.
BAERBOCK UND LAMBRECHT
Brief an Lindner: Mehr
Geld für Militärhilfen
Verteidigungsministerin Christine
Lambrecht (SPD) und Außenministe-
rin Annalena Baerbock (Grüne) for-
dern für das kommende Jahr deutlich
mehr Geld für die militärische Unter-
stützung der Ukraine als bislang ge-
plant. Die bisher im Haushaltsent-
wurf für 2023 eingeplanten 697 Mil-
lionen Euro sollten auf 2,2 Milliarden
Euro aufgestockt werden, verlangen
die beiden Ministerinnen in einem
Brief an Finanzminister Christian
Lindner (FDP). Lambrecht und Baer-
bock fordern von ihrem Kabinetts-
kollegen zudem eine Aufstockung der
bisher geplanten Verpflichtungs-
ermächtigung in Höhe von 100 Millio-
nen Euro auf eine Milliarde Euro.
Eine solche Ermächtigung ermöglicht
es, Verpflichtungen zur Leistung von
Ausgaben in künftigen Jahren recht-
lich verbindlich einzugehen. Die bis-
herigen Haushaltsansätze würden
„die Handlungsspielräume auf ein
politisch nicht mehr vertretbares
Minimum“ reduzieren, warnen Lam-
brecht und Baerbock in dem Brief.
„Die außen- und sicherheitspolitische
Handlungsfähigkeit und interna-
tionale Reputation der Bundesregie-
rung in diesem Konflikt hängen auch
von der bedarfsgerechten Ausstat-
tung des Ermächtigungstitels ab“,
schreiben die Ministerinnen. DPA
F
ür große Teile der ar-
beitenden Mittel-
schicht wäre es eine
erhebliche Entlastung.
Wer in Offenbach
wohnt, in Frankfurt
am Main arbeitet und
den dort gut ausgebauten öffentlichen
Personennahverkehr (ÖPNV) nutzt,
würde mit dem 49-Euro-Ticket monat-
lich 74 Euro sparen. Denn derzeit kos-
tet die reguläre Monatskarte dort 123
Euro. Noch größere Kostenvorteile
würde die neue Fahrkarte auf längeren
Pendlerdistanzen – etwa zwischen
Köln und Düsseldorf – bringen, wo bis-
her 200 Euro und mehr fällig sind.
VON MATTHIAS KAMANN
Mit dem 49-Euro-Ticket könnte
man auch den ganzen Regionalverkehr
im übrigen Land ohne Aufpreis nutzen
und müsste sich beim Besuch in Halle
an der Saale nicht durch verzwickte
Straßenbahntarife quälen. Doch trotz
dieser vielen Pluspunkte ist offen, ob
das Ticket im Januar kommt. Denn
vieles ist unklar, einiges unlösbar.
STREIT UMS GELD
Die Kompensation der Einnahmeaus-
fälle, die durch das 49-Euro-Ticket
entstehen, ist zwar geklärt: Bund und
Länder wollen jährlich je 1,5 Milliarden
Euro zusätzlich aufbringen. Aber die
Länder verlangen mehr. Denn wegen
der Kostensteigerungen durch hohe
Energiepreise sei das bisherige Ange-
bot bedroht. Schieße der Staat nicht
mehr zu, müssten Takte von Regional-
zügen ausgedünnt oder Buslinien ein-
gestellt werden. Und an einen Ausbau
des ÖPNV zur Sättigung der durch das
neue Ticket wohl wachsenden Nach-
frage sei gar nicht zu denken.
Deshalb müsse der Bund die soge-
nannten Regionalisierungsmittel, also
Gelder, die er laut Grundgesetz für
den regionalen Eisenbahnverkehr
jährlich zur Verfügung zu stellen hat –
aktuell knapp neun Milliarden Euro –,
über die automatischen Erhöhungen
hinaus deutlich aufstocken. Sonst dro-
he beim ÖPNV bis 2031 ein Defizit von
E
s sollte der große Auftakt zum
„Solidarischen Herbst“ wer-
den. Ein breites Protestbünd-
nis aus Gewerkschaften, Sozi-
alverbänden und Klimaaktivisten hatte
am Samstagmittag in den Berliner Inva-
lidenpark geladen, um für eine gerech-
tere Verteilung der Krisenlasten und die
ökologische Transformation der Wirt-
schaft zu demonstrieren. Doch in Ber-
lin-Mitte, wo es nach Erbrochenem
roch, versammelten sich nur knapp
2800 Menschen.
VON JÖRG WIMALASENA
Im Vorfeld waren die Veranstalter in
erster Linie darauf bedacht, sich bei ih-
rem Sozialprotest von Rechten und
Russland-Freunden zu distanzieren so-
wie Solidarität mit der Ukraine zu de-
monstrieren. Man fürchtete, dass Quer-
denker die Veranstaltung unterwandern
könnten. Eine Sorge, die sich als unbe-
gründet erwies. Die wenigen Demons-
tranten mit provokanten Plakaten zo-
gen lediglich die Aufmerksamkeit der
Presse auf sich. Ein Mann mit einem
„Europa tief im Arsch der USA“-Schild
absolvierte zwar einen Interviewmara-
thon, wurde aber ansonsten weitgehend
ignoriert.
Aber: An der Mobilisierung haperte
es offenbar. „Warum sind hier nur so
wenige Leute?“, fragte eine Frau am
Rande der Demo eine Begleiterin.
Schöne Idee,
aber …
Ein bundesweites 49-Euro-Ticket könnte
dem Nahverkehr einen großen Schub
geben. Einige Probleme sind noch zu lösen
mehr als 30 Milliarden Euro und es
könne das neue Ticket nicht geben.
Auch für Oliver Wolff vom Verband
Deutscher Verkehrsunternehmen
(VDV), dem Zusammenschluss der
ÖPNV-Anbieter, wäre es „vollkommen
absurd“, wenn das Ticket käme und
„gleichzeitig der Umfang an ÖPNV-
Leistungen erheblich zurückgefahren
werden“ müsste. Aber bisher verwei-
gern Bundesverkehrsminister Volker
Wissing und Bundesfinanzminister
Christian Lindner (beide FDP) mehr
Mittel. Auch die Ministerpräsidenten-
konferenz am Freitag brachte nichts. So
steht das Ticket weiter auf der Kippe.
SOZIALE UNWUCHT
Für weiteren Streit sorgt die Frage,
was Bedürftige zahlen sollen. Derzeit
kostet beispielsweise im Münchner
Stadtgebiet das Sozialticket IsarCard S
für Hartz-IV-Empfänger nur 31,10 Eu-
ro. Vielerorts müssten Ermäßigungs-
berechtigte also draufzahlen, wenn das
neue Ticket ihre bisherigen Karten
verdrängen sollte.
Deshalb gibt es Überlegungen, zeit-
gleich mit dem 49-Euro-Ticket ein er-
mäßigtes 29-Euro-Ticket einzuführen.
Wissing aber sagte dazu bei T-Online:
„Die Länder und Kommunen haben
wie bislang auch die Möglichkeit, mit
Vergünstigungen für Teilhabe zu sor-
gen.“ Das bedeutet, dass die Länder
zusätzlich zu ihrem 1,5-Milliarden-Bei-
„Warum
sind hier
nur so
wenige?“
Querdenker fanden sich
kaum bei den Protesten
des „Solidarischen
Herbstes“ in Berlin.
Ein Erfolg, immerhin
Laut Veranstaltern waren es in Berlin
6000 Teilnehmer und bei Parallelver-
anstaltungen in anderen Städten ins-
gesamt 24.000. Die Polizei geht nicht
nur in Berlin von weit weniger Teil-
nehmern aus.
Die überschaubare Zahl sollte den
Veranstaltern zu denken geben. Allein
die mitmobilisierende Gewerkschaft
* WELT AM SONNTAG
trag die alleinige Finanzierung einer
Ermäßigung stemmen müssten.
Manchmal wäre sogar ein 29-Euro-
Ticket eine Preissteigerung gegenüber
der bisherigen Ermäßigung. So kostet
das Nürnberger Sozialticket derzeit 15
Euro. Sollen dort die Hartz-IV-Emp-
fänger künftig monatlich 14 Euro mehr
bezahlen?
ABGEHÄNGTE DÖRFER
Nicht nur sozial, auch regional hat das
49-Euro-Ticket Lücken. Während es
den ÖPNV in Städten und Metropolre-
gionen stärken kann, dürfte es in länd-
lichen Räumen wenig Wirkung haben.
Dort hatte schon das 9-Euro-Ticket
wegen des oft sehr schlechten Ange-
bots und der Ausrichtung aller Lebens-
bereiche aufs Auto wenig Resonanz.
Dennoch könne das 49-Euro-Ticket
auch in ländlichen Räumen attraktiv
sein, meint Robert Hänsch, Ingenieur
für Verkehrsplanung beim Beratungs-
unternehmen Interlink – „wenn dort
auf starken Achsen zwischen den Zen-
tren ein schneller ÖPNV mindestens
im Stundentakt vom frühen Morgen
bis zum späteren Abend existiert“. Das
müsse nicht unbedingt der Schienen-
verkehr sein, sondern könne auch
durch attraktive Buslinien durch grö-
ßere Orte gewährleistet werden.
„So ein Busverkehr in der Qualitäts-
klasse wie im Bahnverkehr üblich muss
vielerorts erst geschaffen werden“, sagt
Wenig attraktiv:
Bushaltestelle
bei Letschin in
Brandenburg
Ver.di hat rund 1,9 Millionen Mitglie-
der, der Naturschutzbund BUND
674.000 Mitglieder.
Diverse rechtsradikale Vereinigungen
in kleinen Städten versammeln regel-
mäßig in Ostdeutschland mehrere Tau-
send Demonstranten. Der linksliberale
Protest des „Solidarischen Herbstes“
konnte dem in puncto Massenmobili-
sierung wenig entgegensetzen und dürf-
te so auch kaum genug Schlagkraft ent-
falten, um echten Einfluss auf die Bun-
despolitik auszuüben.
Auf der Bühne im Invalidenpark konn-
ten die Redner überwiegend wenig Pro-
teststimmung entfachen. Man forderte
Übergewinnsteuern, Umverteilung und
wandte sich gegen Hass und Rassismus.
Als ein Kaufhof-Gewerkschafter vom
Kampf der Belegschaft um die eigenen
Arbeitsplätze berichtete, hörten viele
Teilnehmer nicht einmal zu.
der
Wirklichen Enthusiasmus konnte nur
Stadtreinigungs-Gewerkschafter
Michael Erdmann erzeugen, der in brei-
tem Berliner Dialekt echte Klassen-
kampfatmosphäre erzeugte. „Alles ist
teurer geworden, sag mal, wollen die
uns für blöd verkaufen, wie dumm oder
arrogant muss die Regierung sein, dass
die uns nichts (von den Milliarden an
zusätzlichen Steuereinnahmen durch
die Preissteigerungen) abgeben?“, rief
der Mann im orangefarbenen Pullover
ins Mikrofon. Den Arbeitgebern, die sich
gegen die Forderung nach einer Erhö-
NR. 43 23. OKTOBER 2022
Hänsch. „Das kostet Geld.“ Und Busse
sind Sache der Kreise und Kommunen.
Denen aber fehlen weithin die Mittel
für besseren Busverkehr. „Daher ist es
politisch mindestens unglücklich“, sagt
Hänsch, „dass die Länder ihre Zustim-
mung zum 49-Euro-Ticket im Besonde-
ren von der Erhöhung der Regionalisie-
rungsmittel abhängig gemacht haben.“
Denn die sind laut Gesetz eben über-
wiegend nicht für Busse, sondern für
den Eisenbahnregionalverkehr ge-
dacht. „Wenn die Länder zusammen
mit dem Bund in der Fläche wirklich ei-
ne ÖPNV-Stärkung mit dem 49-Euro-
Ticket fördern wollen, müssen sie neue
Finanzierungswege auch für den
schnellen Busverkehr auf starken Ach-
sen im ländlichen Raum finden.“
Für Hänsch ist aber klar, dass in Dör-
fern das 49-Euro-Ticket wenig nutzt,
„weil dort das ÖPNV-Angebot kurz-
fristig kaum zu verbessern ist und das
Auto zwangsläufig das wichtigste Ver-
kehrsmittel bleibt“. Zwar gibt es man-
cherorts Versuche mit Rufbussen oder
Nachbarschaftsfahrdiensten. „Aber
die“, so Hänsch, „sind von flächende-
ckender Akzeptanz und Machbarkeit
noch weit entfernt und werfen zudem
komplizierte Finanzfragen auf, die mit
einem 49-Euro-Ticket allein nicht ge-
löst werden können.“
IM DSCHUNGEL
Ein Problem gibt es auch für kleinere
Verkehrsunternehmen in Städten wie
Lübeck oder Zwickau. Sie würden das
49-Euro-Ticket nur selten verkaufen.
Denn die meisten Interessierten am
Ort dürften es digital bei großen Play-
ern wie der Deutschen Bahn mit deren
Navigator-App kaufen. Laut Hänsch
von Interlink folgt daraus „für die Klei-
nen, dass sie kurzfristig weniger Ti-
cketerlöse in der Kasse haben, zumal
sie auch weniger Einzelfahrscheine
verkaufen dürften“. Zwar werden den
Kleinen diese Einnahmeausfälle bei
den komplexen Prozessen der Einnah-
meaufteilung im ÖPNV-System nach
einigen Jahren wieder ausgeglichen.
„Aber kurzfristig sind Liquiditätseng-
pässe bei kleineren Verkehrsunterneh-
men wegen rückläufiger Fahrschein-
Einnahmen eine reale Gefahr.“
Insgesamt kann der Tarifdschungel
der mehr als 70 Verkehrsverbünde mit
ihren verschachtelten Zonen nur zum
Teil gelichtet werden. Zwar müssten
sich Besitzer des 49-Euro-Tickets da-
rum nicht kümmern. Aber diejenigen,
für die es sich nicht lohnt oder die am
Auto hängen, wären bei einer aus-
nahmsweisen ÖPNV-Nutzung weiter-
hin mit dem Dickicht der Einzel-, Ta-
ges- oder Wochenkarten konfrontiert.
IMAGO IMAGES
hung der Tarife um zehn Prozent sträu-
ben, rief Erdmann entgegen: „Haben die
nicht mehr alle Latten im Zaun? Wir ha-
ben zehn Prozent Inflation, das (die
Ver.di-Forderung) ist eine Nullrunde.“
Wer sich unter den Teilnehmern um-
hörte, bekam nur ausweichende Ant-
worten zur Frage der ausbaufähigen Mo-
bilisierung. Zu viele ökologischen Forde-
rungen in einer sozialen Krise? Die The-
men gehörten zusammen, sagten Teil-
nehmer. Und Ulrich Schneider, Ge-
schäftsführer des Paritätischen Gesamt-
verbands, sagte bei der Abschlusskund-
gebung am Brandenburger Tor: „Die
beste Sozialpolitik macht keinen Sinn,
wenn wir nicht massiv und konsequent
etwas gegen den Klimawandel tun.“
Lag es an der vorgegebenen außenpo-
litischen Position in Sachen Ukraine?
Auf diese Frage gibt es an diesem Sams-
tag keine Antwort. Auf die Position der
Linkspartei-Rebellin Sahra Wagen-
knecht angesprochen, die zur Armuts-
bekämpfung vor allem eine Abkehr vom
„Wirtschaftskrieg“ gegen Russland for-
dert, sagte eine Armutsbetroffenen-Ak-
tivistin dieser Zeitung. „Frau Wagen-
knecht ist für mich nicht relevant.“
Und so bleibt der Eindruck, dass der
„Solidarische Herbst“, der eigentlich
die Sozialproteste bündeln wollte, am
Ende trotz prominenter Unterstützer
vorerst nur eines von vielen Bündnissen
in der zerklüfteten deutschen Protest-
landschaft bleibt.
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Der Plan für Fakten-Booster
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Schutzmaßnahmen
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Herbst und Winter Schutzmaßnahmen helfen,

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Mehr dazu lesen Sie hier.

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www.corona-schutzimpfung.de.
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Hygienekonzepte
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Angepasste
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Booster-Impfstoffe
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gelten
gelten
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rechtlich
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Einzelimpfung
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6 POLITIK
„Schiefergas ist ein
Gebot der Vernunft“
Justizminister Buschmann über Fracking,
O
Atomkraft und russische Kriegsverbrechen
b Washington, Boston
oder New York: Kriegsver-
brechen in der Ukraine
sind das Thema der USA-
Reise von Justizminister Marco
Buschmann (FDP). Im Flugzeug be-
fragte ihn diese Zeitung auch nach den
Folgen des Krieges für Deutschland.
VON THORSTEN JUNGHOLT
WELT AM SONNTAG: Die Bundesre-
gierung meint, Deutschland sei in der
Ukraine keine Kriegspartei. Finanz-
minister Christian Lindner sieht uns
dagegen in einem „Energiekrieg“ mit
Russland. Wie passt das zusammen?
MARCO BUSCHMANN: Kriegspartei
im völkerrechtlichen Sinne meint die
Teilnahme an einem bewaffneten
Konflikt. Das tun wir nicht, auch nicht
durch unsere Waffenlieferungen oder
die Ausbildung der ukrainischen Ar-
mee. Und mit Energiekrieg beschrei-
ben manche Kabinettskollegen meta-
phorisch, dass Russland seine ökono-
mischen Druckmittel gegen uns ein-
setzt. Das tun wir mit den Sanktionen
gegen Moskau im Gegenzug auch. Das
mögen viele einen Krieg im sprachli-
chen Sinn nennen, aber es ist kein
Krieg im Sinne des Völkerrechts.
Marco Buschmann
Bundesjustizminister
Der 1977 in Gel-
senkirchen ge-
borene Jurist
arbeitete zu-
nächst als Anwalt
für eine Wirt-
schaftskanzlei. Von 2014 bis 2017
war Marco Buschmann Bundes-
geschäftsführer der FDP, an-
schließend ihr Erster Parlamen-
tarischer Geschäftsführer im
Bundestag. Seit Dezember 2021
ist er Bundesjustizminister.
Sie haben Parallelen in der Politik
und im Denken Wladimir Putins zu
Adolf Hitler gezogen. Mit welcher
Intention?
Mir geht es nicht um den direkten Ver-
gleich der Personen. Hitler ist ein
Weltverbrecher, verantwortlich für die
Schoah. Damit ist nichts und niemand
vergleichbar. Ich sehe aber Strukturpa-
rallelen der sicherheitspolitischen Si-
tuation in Europa heute und im Jahr
1938. Wir haben es mit Diktatoren zu
tun, die Territorialansprüche stellen.
Und die darauf setzen, dass bedrängte
Staaten von den westlichen Demokra-
tien alleingelassen werden. Damals
glaubte man, es gehe nur um die
Tschechoslowakei. Heute haben viele
erst geglaubt, es ginge nur um die
Krim. Oder dann die Ukraine. Dem ist
aber nicht so. Hier wird unser gesam-
tes Wertesystem attackiert.
Was folgt daraus?
Dass sich mit Appeasement-Politik
nichts erreichen lässt. Das versteht
ein Diktator nur als Einladung. Dass
wir Deutsche nach der Krim-Annexion
die Nord-Stream-2-Pipeline vorange-
trieben haben, ist mit dem Wissen von
heute unser Beitrag zum Ausbruch des
Ukrainekrieges gewesen. Und wir alle
wissen, dass es bereits massive Desta-
bilisierungsoperationen der Russen
im Baltikum gab. Bei einem Angriff auf
unsere Nato-Partner dort wären wir
dann über die Nato-Beistandsver-
pflichtung tatsächlich Partei eines be-
waffneten Konfliktes.
Sie haben in den USA Gespräche mit
Ihrem Amtskollegen Merrick Gar-
land über die Verfolgung von russi-
schen Kriegsverbrechen in der
Ukraine geführt. Inwieweit kann
Deutschland dabei mit den Ameri-
kanern kooperieren?
Wir sind zur Verfolgung von Kriegsver-
brechen auf enge internationale Koope-
rationen angewiesen, weil die Opfer
und Zeugen der Gräueltaten in unter-
schiedliche Länder fliehen. Wir bemü-
hen uns um den Austausch von Beweis-
mitteln und objektiven Ermittlungser-
gebnissen. Darüber hinaus verfügen die
USA über militärische Aufklärungsmög-
lichkeiten, die weit über unsere hinaus-
gehen – und sie sind bereit, uns ihre Er-
kenntnisse zur Verfügung zu stellen. Je
mehr wir zusammentragen, desto
rechtssicherer ist eine spätere Anklage.
Die Bundesanwaltschaft führt ein
Strukturermittlungsverfahren we-
gen Völkerrechtsverbrechen auf
dem Gebiet der Ukraine. Welchen
Umfang hat das mittlerweile?
Es ist sehr umfangreich, weil ein Struk-
turermittlungsverfahren ja zunächst
bedeutet, dass es noch keine konkreten
Beschuldigten gibt. Es wird systemati-
sche Aufklärungsarbeit betrieben: Es
geht um die Erhebung und Sicherung
von Sachverhalten und Beweisdaten,
um die Anhörung von Opfern und Zeu-
gen, die Durchleuchtung von Komman-
dostrukturen und um die Identifizie-
rung von an den Kriegsverbrechen Be-
teiligten. Der Generalbundesanwalt
wertet alles aus und führt die Informa-
tionen mit Erkenntnissen aus anderen
Staaten zusammen. Ergibt sich daraus
das Bild eines Kriegsverbrechens, und
kann man die Verbrechen womöglich
sogar Einzelpersonen zuordnen, wer-
den wir am Ende die Verantwortlichen
in Deutschland vor Gericht stellen. Das
haben wir schon mit den Folterknech-
ten von Assad so gemacht, aber auch
mit Milizenführern aus Ruanda.
Wie passt diese juristische Füh-
rungsrolle zur Zurückhaltung in an-
deren Feldern der Außenpolitik?
Das ist nur konsequent vor dem Hin-
tergrund unserer Geschichte. Die
Nürnberger Prozesse waren der Beginn
des Versuchs, Kriegsverbrechen mit
den Mitteln des Rechts beizukommen.
Deshalb fühlt sich Deutschland diesem
Rechtsgedanken bis heute besonders
verpflichtet. Kriegsverbrecher dürfen
sich nirgends auf der Welt sicher füh-
len, schon gar nicht in Deutschland.
„Die Vernunft setzt sich durch“, so
haben Sie das Machtwort des Kanz-
lers im Atomstreit kommentiert.
Sind drei Monate mehr für ein AKW
tatsächlich ein ausreichendes Maß
an Vernunft in dieser Energiekrise?
Ich freue mich über jeden objektiv ver-
nünftigen Schritt. Robert Habeck hat
doch recht, wenn er sagt: Jede Kilo-
wattstunde zählt. Das gilt auch für die
Kilowattstunden aus AKWs. Dass wir
uns als FDP mehr vorstellen können,
ist bekannt. Ich persönlich halte es für
richtig, dass man in einer Ausnahmesi-
tuation von einem grundsätzlich rich-
tigen Atomausstiegsfahrplan abwei-
chen und Ausstiegsdaten um ein oder
zwei Jahre verschieben muss. Das ist
wie bei einem Torero: Wenn der Stier
auf einen zuläuft, dann muss man den
Schritt zur Seite gehen statt nach
vorn. Sonst wird es schmerzhaft.
Halten Sie einen Weiterbetrieb der
drei AKWs auch über den 15. April hi-
naus für möglich?
Der Bundeskanzler hat eine klare Auf-
fassung dazu geäußert.
Ist es klug, in Zeiten, in denen nie-
mand weiß, was die nächsten Tage
bringen, etwas auszuschließen?
Helmuth von Moltke hat das Bild vom
Nebel des Krieges geprägt. Das trifft
es bis heute. Weil man nicht weiß, was
morgen passiert, sollte man möglichst
viele Optionen in den Händen behal-
ten. Diese Auffassung bringt die FDP
in die Regierung ein, nicht breit in der
Öffentlichkeit, sondern seriös und
diskret in internen Gesprächen.
Haben wir wirklich eine Richtlinien-
entscheidung des Kanzlers erlebt –
oder eine Absprache, die allen Part-
nern Gesichtswahrung ermöglicht?
Ich war bei den Gesprächen nicht dabei.
Aber die politische Lebenserfahrung
lehrt mich, dass alle Beteiligten nicht
völlig überrascht gewesen sein werden.
Wäre es nicht auch vernünftig, deut-
sche Schiefergasreserven zu nutzen?
Wenn es so ist, dass wir uns nicht mehr
in die Abhängigkeit eines einzelnen Lie-
feranten wie Russland begeben wollen,
dann müssen wir auf dem Weltmarkt
deutlich teureres Gas, auch LNG-Gas,
einkaufen. Dann aber ist es ein Gebot
der ökonomischen Vernunft, sich auch
die Frage zu stellen, ob es mit verant-
wortbarer Technologie möglich ist, das
eigene Schiefergas zu nutzen. Ist das si-
cher möglich, sollte man es auch tun.
Das RÜTLI-Wunder
Überzeugte Campus-Rütli-Anhänger: die Schülerinnen Havin, Marie, Hannah und Pina (v.l.n.r.)
E
s war ein verzweifelter
Hilferuf, den das Kolle-
gium der Rütli-Haupt-
schule in Berlin-Neu-
kölln im März 2006 an
die Schulaufsicht
schickte. Die Stimmung
in der Schule sei geprägt von „Aggressivi-
tät, Respektlosigkeit und Ignoranz uns
Erwachsenen gegenüber“, hieß es dort.
„Lehrkräfte werden gar nicht wahrge-
nommen, Gegenstände fliegen zielgerich-
tet gegen Lehrkräfte durch die Klassen,
Anweisungen werden ignoriert.“
VON SABINE MENKENS
Die Kollegen seien am Rande ihrer
Kräfte, hieß es damals weiter. Und sie ha-
derten auch grundsätzlich mit der Rolle
der Hauptschule als Resterampe für Bil-
dungsverlierer: „Welchen Sinn macht es,
dass in einer Schule alle Schüler/innen ge-
sammelt werden, die weder von den El-
tern noch von der Wirtschaft Perspekti-
ven aufgezeigt bekommen, um ihr Leben
sinnvoll gestalten zu können?“ 16 Jahre
ist das jetzt her. Der Brandbrief der ver-
zweifelten Lehrer schlug damals über die
Grenzen Deutschlands hinaus Wellen.
„Rütli“ wurde zum Synonym für unbe-
herrschbare Zuwanderungsprobleme und
das Versagen der Bildungspolitik, insbe-
sondere in Berlin. Eine No-go-Area, abge-
stempelt für alle Ewigkeit, so schien es.
Ein sonniger Herbsttag im Jahr 2022.
Cordula Heckmann eilt zügigen Schrittes
über die weitläufigen Anlagen des Cam-
pus Rütli. Ihre 64 Jahre sieht man der
zierlichen Frau nicht an. Sie lacht viel, sie
vibriert vor Energie. Wahrscheinlich
brauchte es eine Frau wie sie für das
Wunder von Rütli. Denn heute ist der
Campus ein Leuchtturmprojekt. Ein Ge-
lände, auf dem die Kinder aus dem Kiez
von der Kita bis zum Abitur gemeinsam
lernen. Mit einer im gebundenen Ganztag
organisierten Gemeinschaftsschule, die
inzwischen so beliebt ist, dass sie Bewer-
ber abweisen muss.
Und die auch für die bildungsbürgerli-
chen Familien attraktiv ist, die mit der
zunehmenden Gentrifizierung Neuköllns
hierhergezogen sind. „Wenn ich einen El-
ternabend mache, bewege ich mich zwi-
NACHRICHTEN
BERLIN
Tausende unterstützen
Proteste im Iran
In Berlin haben sich Tausende Men-
schen bei einer Demonstration mit den
Protesten im Iran solidarisiert. An der
Berliner Siegessäule kamen am Sams-
tag Menschen aus weiten Teilen Eu-
ropas zusammen. Nach ersten Ein-
schätzungen der Polizei waren zum
Auftakt der Demonstration rund 6000
Menschen vor Ort. Auch nach Beginn
strömten Menschenmassen aus allen
Richtungen zur Demonstration. In der
Nacht und am frühen Morgen waren
bereits zahlreiche Iraner aus Dutzen-
den Städten angereist, um die system-
kritischen Proteste im Iran zu unter-
stützten. Seit fünf Wochen reißen die
Proteste gegen die Islamische Republik
Berlins bekannteste
Problemschule ist
heute ein
Leuchtturmprojekt.
Kann das Vorbild
sein für die gesamte
Republik?
Campus-Rütli-Schulleiterin
Cordula Heckmann
schen vegan und halal“, sagt Heckmann.
„Wir haben die Krise von 2006 genutzt,
etwas zu ändern und daran zu glauben,
dass es gelingen kann. Und der Erfolg gibt
H
uns bis hierhin recht.“
eckmann war Leiterin der be-
nachbarten Heinrich-Heine-Re-
alschule, als der Brandbrief der
Rütli-Lehrer erschien. Sie sieht darin
„eher einen Hilferuf als eine Bankrott-
erklärung“. Die Lebenswelt der Schüler
sei geprägt gewesen von Perspektivlo-
sigkeit und mangelnder gesellschaftli-
cher Akzeptanz. „Da braucht es schon
sehr viel innere Kraft aufseiten der Ju-
gendlichen, diesem Verliererbild in der
Gesellschaft etwas entgegenzusetzen.“
Die Zusammenarbeit von Haupt- und
Realschule wurde zu jener Zeit noch pein-
lich vermieden, die Pausenzeiten waren
versetzt, damit die Schüler sich nicht
mischten. Das änderte sich grundlegend,
und ihren autoritären Regierungskurs
nicht ab. dpa
KINDER UNTER FÜNF
Covid-Impfempfehlung
in nächsten Wochen
Die Ständige Impfkommission (Stiko)
will offenbar in den nächsten Wochen
eine Impfempfehlung für Kinder unter
fünf Jahren gegen Corona abgeben. Die
Stiko beschäftige sich „aktuell mit
einer Empfehlung für die Covid-19-
Impfungen für Kinder unter fünf Jah-
ren“, sagte der Kommissionsvorsitzen-
de Thomas Mertens den Zeitungen der
Funke Mediengruppe. Mit einem Er-
gebnis sei zeitnah in den nächsten
Wochen zu rechnen, sagte Stiko-Mit-
glied Fred Zepp. Die Impfkommission
* WELT AM SONNTAG
als 2007 der Berliner Senat ein Pilotpro-
jekt Gemeinschaftsschule ausschrieb.
Cordula Heckmanns Realschule, die Rüt-
li-Hauptschule und die ebenfalls benach-
barte Franz-Schubert-Grundschule be-
warben sich und erhielten den Zuschlag.
2009 wurde fusioniert, 2011 eine gymna-
siale Oberstufe eingerichtet. Heute ler-
nen die knapp 1000 Schüler gemeinsam,
von der ersten bis zur 13. Klasse. Zwei Ki-
tas, ein Stadtteilzentrum und ein Jugend-
treff ergänzen den Rütli-Campus, auf
dem 30 Millionen Euro investiert wurden.
Die Schulleitung hatte es den Kollegen
beim Start des Projekts Gemeinschafts-
schule übrigens freigestellt, ob sie mitma-
chen. Rund ein Drittel verabschiedete
sich. Dafür kamen neue, junge Kollegen,
die etwas ausprobieren wollten. Geför-
dert von der Freudenberg-Stiftung, wur-
den pädagogische Ideen zu konkreten
Plänen entwickelt, Klausurwochenenden
abgehalten. „Das pädagogische Konzept
musste damals natürlich ganz neu aufge-
setzt werden“, erinnert sich die Rektorin
und betont: „Die Chance der Gemein-
schaftsschule liegt darin, dass Kinder mit
verschiedenen Begabungen zusammen
sind, sodass die Schüler auch voneinan-
der lernen können.“ Zusätzlich wird jahr-
gangsübergreifendes Lernen angeboten –
ein anspruchsvolles Konzept, das nur auf-
geht, wenn die Lehrkräfte jedes einzelne
Kind und seinen Leistungsstand genau im
Blick haben. Der Leitgedanke: „Kein
Kind, kein Jugendlicher geht verloren.“
Damit kann die Rütli-Schule in gewis-
ser Weise als Blaupause dienen für das
von Bundesbildungsministerin Bettina
Stark-Watzinger (FDP) ab dem Schul-
jahr 2024/25 geplante sogenannte Start-
chancen-Programm. „Ziel sind bis zu
4000 Schulen mit Modellcharakter, die
dort unterstützen, wo die Herausforde-
rungen am größten sind“, sagte die Mi-
nisterin dieser Zeitung. Das Programm
sei „der ganz große Hebel, um für bes-
sere Bildungschancen in Deutschland
zu sorgen“.
Eine lohnende Kraftanstrengung, wie
auch Heckmann weiß. „Wir haben einen
klaren Fokus auf die Stärken unserer
Schüler gelegt, vor allem auf ihre Zwei-
sprachigkeit, und wir haben die Elternar-
beit stark gefördert.“ So bietet die Rütli-
berate über die vorliegenden Studien-
daten und berücksichtige bei ihrer
Entscheidung auch das aktuelle Infek-
tionsgeschehen in dieser Altersgruppe,
erläuterte Zepp. Die Europäische Arz-
neimittelbehörde hatte kürzlich Coro-
na-Impfungen für Kinder unter fünf
Jahren zugelassen. epd
HAMBURG
106 Hakenkreuze
an Schule gesprüht
Unbekannte Täter haben eine Grund-
schule im Hamburger Stadtteil Pop-
penbüttel mit 106 Hakenkreuzen be-
schmiert. Außerdem fanden die Ermitt-
ler zwei Schriftzüge mit Nazi-Parolen,
wie ein Polizeisprecher am Samstag
sagte. Es werde ermittelt. dpa
NR. 43 23. OKTOBER 2022
MARLENE GAWRISCH (2)
Schule heute auch Sprachunterricht in
Arabisch und Türkisch an. Trotzdem ha-
be es gut zehn Jahre gedauert, bis der Ruf
der Schule sich gedreht habe. „Die Ent-
scheidung für eine Schule treffen Eltern
auf dem Spielplatz oder dem Markt-
platz“, sagt Heckmann. „Sie müssen das
Vertrauen haben, dass sie ein guter Ort
für ihre Kinder ist.“
Die Eltern von Pina Dörr haben sich
bewusst für den Campus Rütli entschie-
den. Die 13-Jährige wurde hier bereits ein-
geschult und möchte hier auch ihr Abitur
machen. Von dem Brandbrief von 2006
hat sie noch nie etwas gehört. „Klar gibt
es auch mal Schüler, die Stress machen.
Aber ich mag die Atmosphäre. Die Lehrer
sind sehr nett.“ „Krass motivierend“ sei-
en ihre Lehrer, sagt auch die 15-jährige
Havin Tekin. „Sie interessieren sich wirk-
lich für uns und suchen eine Bindung zu
uns.“ Die 15-jährige Hannah Chorfi
kommt aus einem binationalen Haushalt,
ihr Vater stammt aus Algerien, ihre deut-
sche Mutter ist zum Islam konvertiert.
Hannah trägt Hidschab. Sie schätzt die
kulturelle Offenheit an der Schule. „Nie-
mand verurteilt mich wegen meines
Kopftuchs. Aber es will auch niemand an-
deren das Kopftuch aufzwängen.“ Das sei
eine Sache des Respekts, sagt auch Schul-
leiterin Heckmann: „Das Kernthema der
B
Schule ist Toleranz.“
enjamin Hafner ist einer von de-
nen, die noch die alten Zeiten
miterlebt haben. Der Jugend-
und Heimerzieher arbeitet seit 2008 in
der Rütli. „Das war damals ein komplett
anderer Kiez hier, Neukölln war gerade
erst im Aufbruch, hip zu werden“, sagt
der 40-Jährige. Damals habe er zu 90
Prozent Kinder mit türkischen und ara-
bischen Wurzeln betreut. Heute gilt
zwar nach wie vor die Hälfte der Schü-
ler als sozial schwach, aber die Milieus
mischen sich. Damit verändere sich
auch die Tätigkeit für die Sozialarbeiter-
.Die augenfälligste Veränderung aber ist
für Hafner der Geist, der auf dem Cam-
pus Rütli herrscht. „Damals war die At-
mosphäre geprägt von Menschen, die
nur noch weg wollten. Heute arbeiten
hier Leute, die Lust haben. Das spürt
man einfach.“
USA
Stopp des Teilerlasses
von Studienkrediten
Ein Berufungsgericht auf Bundesebene
hat US-Präsident Joe Bidens Plan zum
milliardenschweren Teilerlass von
Studienkrediten ausgesetzt. Erst vor
wenigen Tagen hatten potenziell An-
spruchsberechtigte damit begonnen,
Schuldenerlasse zu beantragen. Das
Gericht veröffentlichte die Anordnung
zur Aussetzung der Maßnahme, wäh-
rend es über die Forderung mehrerer
republikanisch regierter Staaten befin-
det, das Programm zu blockieren. Es
war zunächst unklar, was die Entschei-
dung für die 22 Millionen Menschen
bedeutet, die bereits einen Teilerlass
ihrer Studienschulden beantragt ha-
ben. AP
 POLITIK 7

E
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG NR. 43 *

Dichter Nebel um Meloni setzt auf

s ist nicht lange her, da weckt haben. Sowohl die Pharma-Fir-
waren die Covid-Impf- men als auch die EU weigern sich näm-

das politische
stoffe die begehrteste lich, Details ihrer Vereinbarungen offen-
Ware des Planeten, in zulegen. Schon seit eineinhalb Jahren
Windeseile entwickelt, drängt die Fraktion der Grünen/EFA im

von der Leyens SMS

um die Welt aus den
Fängen des Coronavi-
Europäischen Parlament die Kommissi-
on auf die Herausgabe der Verträge. Im Establishment
rus zu befreien. Geld spielte keine Rolle, Oktober 2021 reichten fünf Abgeordnete
und Details störten nur. Was zählte, war, sogar Klage beim Gericht der Europäi- Neue Regierungschefin
hält Berlusconi klein
die Medikamente so schnell wie möglich schen Union ein. „Dieses Verfahren ist

auf den Markt zu bringen. Das gelang:
Neun Monate und 16 Tage nachdem die
Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen der Impfstoff-Deals
Weltgesundheitsorganisation (WHO)
die pandemische Lage ausgerufen hatte,
lieferte Pfizer die ersten Impfdosen in
der EU aus. „Das ist Europas Moment“,
jubelte EU-Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen.
VON ELKE BODDERAS, ANNA KRÖNING,
TIM RÖHN UND BENJAMIN STIBI
Knapp zwei Jahre danach ermöglicht
das Abflauen der Corona-Krise den Blick
zurück – etwa auf die Deals, die die politi-
schen Entscheider mit den Impfstoffpro-
duzenten schlossen. Je tiefer Juristen, Po-
litiker und Journalisten graben, desto
mehr Ungereimtheiten und Merkwürdig-
keiten treten zutage. In der vergangenen
Woche gab die Europäische Staatsanwalt-
schaft (EPPO) bekannt, dass sie eine Un-
tersuchung zum Erwerb von Corona-
Impfstoffen in der EU eingeleitet hat. De-
tails nannte die Behörde nicht, sogar der
Tatvorwurf und die Verdächtigen werden
bislang geheim gehalten.
Recherchen von WELT AM SONNTAG
legen nahe, dass es der umfangreichste
EU-Impfstoffdeal ist, der im Visier der
Ermittler steht: jener über den Kauf von
1,8 Milliarden Impfdosen für schätzungs-
weise 35 Milliarden Euro im Mai 2021. Zu-
stande kam er nach einem privaten SMS-
Austausch zwischen von der Leyen und
Pfizer-Vorstandschef Albert Bourla. Zwi-
schen Januar und Mai standen die beiden
zuvor in Kontakt. Was in den Nachrich-
ten stand? Dazu schweigen die Beteiligten
– zum Missfallen vieler. Vor einem Monat
legte der Europäische Rechnungshof ei-
nen Bericht zur Beschaffung der Impf-
stoffe vor. Zwar stellte er fest, dass die
ein Präzedenzfall“, sagt die Grünen-Ab-
geordnete Jutta Paulus. In der Klagebe-
gründung wird argumentiert, die Öf-
fentlichkeit habe ein Recht auf Informa-
der EU. Im Fokus: geheime Absprachen hinter den Kulissen tion. Auf Anfrage von WELT AM SONN-
TAG wollte sich das Gericht nicht dazu
äußern, wann mit einer Entscheidung zu
rechnen ist.
UNBEGREIFLICHER PASSUS
Paulus erklärt, an den Zwischenüber-
schriften der veröffentlichten Verträge
könne man erkennen, dass die Schwär-
zungen unter anderem Haftungsfragen,
etwa im Fall von Impfschäden, betref-
fen: „Man weiß inzwischen, dass Pfizer
in den USA gar keine Haftung überneh-
men musste. Wenn davon nicht mal Pro-
duktionsfehler erfasst sein sollen, halte
ich das für falsch.“ Der Rechnungshof
hatte die ihm schon bekannten Haf-
tungsklauseln ebenfalls kritisiert. Diese
sehen zwar vor, dass Betroffene die Her-
steller verklagen können, etwaige Ent-
schädigungszahlen übernehmen aber
die EU-Mitgliedstaaten. Für Jutta Pau-
lus ist es zudem „unbegreiflich“, dass
die Verträge einen Passus enthalten, wo-
nach die Firmen ihre Erlaubnis geben
müssen, Impfdosen zu spenden.
Im Europäischen Parlament wächst
der Unmut. Dass Bourla bei einer Sit-
zung des Covid-Sonderausschusses ver-
gangene Woche trotz Zusage nicht selbst
im Ausschuss erschien, sondern sich von
einer Direktorin vertreten ließ, hält Pau-
lus für einen „Affront“. In der kommen-
den Woche wird nach Informationen
dieser Zeitung darüber abgestimmt, ob
Bourla erneut vorgeladen werden soll.
Aber der Ausschuss kann ihn nicht zwin-
gen, zu kommen. Paulus regt an, Pfizer
für den Fall eines erneuten Fernbleibens
JOHN THYS/AFP/GETTY IMAGES
Z
um bisher wichtigsten Tref-
fen ihrer Karriere fuhr Gior-
gia Meloni in einem weißen
Fiat 500 X. Am Freitagabend holte
sich die Siegerin der italienischen
Parlamentswahlen von Präsident
Sergio Mattarella den Auftrag zur
Regierungsbildung ab. Die Wahl des
Fiats darf man symbolisch verste-
hen: Meloni setzt auf „made in Italy“
und auf bewährte Lösungen.
VON VIRGINIA KIRST
AUS ROM
Bereits am Samstagvormittag
wurden Meloni und ihr Kabinett ein-
geschworen. Die Zeit drängt. Italien
steckt in einer Energie- und Haus-
haltskrise. Künftig regiert Meloni als
erste Frau in diesem Amt die rech-
teste Koalition Italiens seit Ende des
Zweiten Weltkriegs. Sie besteht aus
Melonis Fratelli d’Italia, die als post-
faschistisch bezeichnet werden
kann, Silvio Berlusconis rechtskon-
servativer Forza Italia sowie Matteo
Salvinis rechtspopulistischer Lega.
Die Besetzung des Kabinetts zeigt:
Meloni weiß sich gegen Salvini und
Berlusconi durchzusetzen, will inter-
national als verlässliche Partnerin
wahrgenommen werden und setzt
auf das politische Establishment. Ih-
re Regierung enthält vor allem Män-
ner, die bereits unter Berlusconi in
der Politik waren. Das Durch-
schnittsalter liegt bei 60 Jahren, es
sind 18 männliche und nur sechs
weibliche Minister. Berlusconi selbst
ging leer aus. Zu schwer wogen seine

Union sich ausreichend Impfdosen gesi-
chert hatte. Die Prüfung, wie wirksam das
Beschaffungsverfahren war, enthielt je-
doch eine Lücke: Die EU-Kommission ha-
be dem Rechnungshof „keinen Zugang zu
den relevanten Dokumenten“ über die
Vorverhandlungen der Kommissionsprä-
sidentin mit Pfizer gegeben, bemängelten
die Prüfer: „Dies war der einzige Vertrag,
bei dem das gemeinsame Verhandlungs-
team entgegen dem Beschluss der Kom-
mission über die Beschaffung von Co-
vid-19-Impfstoffen nicht in diese Ver-
handlungsphase einbezogen wurde.“
MANGEL AN TRANSPARENZ
Der Rechnungshof forderte die Kom-
mission auf, Details zu dem Austausch
zwischen der Präsidentin und dem
Pharma-Boss zu nennen – und stieß auf
taube Ohren. Fakt ist: Im Laufe der Ver-
handlungen erhöhte Pfizer den Preis für
seine Impfstoffe – von 15,50 Euro auf
19,50 Euro pro Dose. Warum? Der Vor-
gang spricht laut Jillian Kohler, Direkto-
rin des WHO-Zentrums für Überwa-
chung, Transparenz und Rechenschafts-
pflicht in der Pharmaindustrie, für den
Ursula von der Leyen bei einem Besuch einer Pfizer-Produktionsstätte im April 2021 in Puurs (Belgien)
„völligen Mangel an Transparenz und
Verantwortlichkeit im Zusammenhang
mit Covid-19-Impfstoffverträgen“.
Schon vor der Pandemie habe Pfizer den
Ruf gehabt, „ziemlich aggressiv“ und
„an Gewinnmaximierung auf Kosten
von allem anderen interessiert zu sein“,
kritisierte sie gegenüber WELT AM
SONNTAG. Die Pandemie habe die
Macht der Firma weiter gestärkt. Pfizer
reagierte auf eine Anfrage dieser Zei-
tung nicht. Ein Kommissionssprecher
erklärte im Blick auf den SMS-Aus-
tausch mit Bourla, man habe dem Rech-
nungshof und der Bürgerbeauftragten
bereits umfangreich Auskunft mitge-
teilt. Es gebe nichts hinzuzufügen.
Über eine Informationsfreiheitsan-
frage hatte auch der deutsche Blog
Netzpolitik.org versucht, an die SMS zu
kommen. Doch die Kommission lehnte
den Antrag im Sommer 2021 mit der Er-
klärung ab, es würden keine Aufzeich-
nungen über solche Nachrichten ge-
führt, da ihr Inhalt „kurzlebig“ sei. Die
Bürgerbeauftragte der EU prangerte
daraufhin einen „Missstand in der Ver-
waltungstätigkeit“ an und forderte zu
einer gründlicheren Suche nach den
SMS auf – Erfolg hatte sie nicht. In ih-
rem im Juli vorgestellten Bericht heißt
es, es bleibe der „bedauerliche Ein-
druck einer EU-Institution, die in An-
gelegenheiten von erheblichem öffent-
lichen Interesse mauert“. Die Untersu-
chung sei ein „Weckruf für alle EU-In-
stitutionen“.
Ein Weckruf, der von der EPPO ge-
hört wurde? Die erst im vergangenen
Jahr gegründete Behörde wird dann tä-
tig, wenn ein Schaden für den EU-Haus-
halt entstanden sein könnte. „Wo sonst
soll bei der Impfstoffbeschaffung gegen
finanzielle Interessen der EU verstoßen
worden sein?“, sagt der sozialdemokra-
tische Parlamentsabgeordnete und Eu-
roparechtsprofessor René Repasi im
Blick auf den Impfstoff-Deal, dem der
SMS-Austausch vorausging. Er vermu-
tet, dass auch geschwärzte Vertrags-
passagen das Interesse der Ermittler ge-
Bourlas den Zugang zum Parlament zu
untersagen und die Hausausweise für ak-
tuell sechs Firmenvertreter einzukassie-
ren. Eine Vorladung von der Leyens wird
ohnehin diskutiert.
Noch weiter würde die AfD-Abgeord-
nete Christine Anderson gehen. Sie for-
dert, einen Untersuchungsausschuss
einzurichten; die Zustimmung eines
Viertels des Parlaments wäre notwen-
dig. Kathleen Van Brempt, die Sonder-
ausschuss-Vorsitzende, hält diesen
nächsten Eskalationsschritt für verfrüht
– auch wenn sie ebenfalls der Meinung
ist, man brauche „endlich Antworten auf
die Frage, was zwischen Bourla und von
der Leyen diskutiert wurde“. Der Druck
sei schon jetzt sehr hoch. Darüber hi-
naus sind da nun die Untersuchungen
der EPPO. Es sei sinnvoll, das Ergebnis
abzuwarten, sagt Van Brempt. Die Be-
hörde kooperiert bei ihren Ermittlungen
mit Staatsanwaltschaften der Mitglied-
staaten und hat effektivere Werkzeuge
bei der Suche nach Vertragsinhalten und
Kommunikationsschnipseln.
Vielleicht gelingt es ja auf diesem
Weg, den Nebel zu lichten.
Kreml-freundlichen Ausfälle, zu we-
nig passt er zu Melonis Projekt, das
eine Verankerung in der transatlanti-
schen Allianz vorsieht.
Die wichtigste Personalie ist Wirt-
schaftsminister Giancarlo Giorgetti
von der Lega: Er ist der einzige Mi-
nister, der schon der Regierung von
Ex-Ministerpräsident Mario Draghi
angehörte. Das ist ein Signal der
Kontinuität an die internationalen
Finanzmärkte, welche die Regierung
in Rom wegen der hohen Staats-
schulden argwöhnisch beobachten.
Giorgetti wird sich weiter für ge-
meinsame EU-Schulden einsetzen.
Gleichzeitig ist Giorgetti der
wichtigste Gegenspieler Matteo Sal-
vinis in der eigenen Partei. Meloni
hat sich alle Mühe gegeben, Salvini
kleinzuhalten. Der für einen harten
Kurs gegen Flüchtlinge bekannte
Salvini hat nicht das Innenministeri-
um erhalten, als dessen Chef er be-
reits im Jahr 2019 die EU mit seiner
Politik der geschlossenen Häfen un-
ter Druck setzte, sondern lediglich
das Transportministerium. Auch
dort hat Salvini Einfluss auf anlegen-
de Schiffe von Hilfsorganisationen,
doch deutlich weniger. Um den
Schein einer gleichberechtigten Ko-

Deutschland, der Geisterfahrer Die Bundesregierung will die Maskenpflicht zurück. alition zu wahren, ist Salvini zudem

Andere Länder gehen entspannter mit Corona um

Geht es nach Karl Lauterbach (SPD), sollen die Bundesländer „spätestens im Winter“ wieder eine Maskenpflicht in Innenräumen einführen. Sonst drohe im Winter eine Überlastung der Kliniken,
warnte der Gesundheitsminister. Darüber müssen allerdings die Länder entscheiden. Zugleich wirbt die Bundesregierung offensiv für die vierte Impfung. Wie läuft die Debatte in anderen Ländern?
ITALIEN
Lange galten in Italien die
strengsten Maßnahmen in
der EU. Sie reichten von
Ausgangssperren bis zum
Impfzwang für Teile der
Bevölkerung. Sogar im Frei-
en trugen viele Italiener
noch Masken. Daran erin-
nert heute nichts mehr. Die
Impfpflicht ist ausgelaufen,
nur in Krankenhäusern gilt
noch Maskenpflicht. Allein
die Quarantänepflicht für
Positive ist geblieben, Frei-
testen ist nach fünf Tagen
möglich. Die vierte Impfdo-
sis erhalten derzeit nur
Bürger, die älter als 60 Jah-
re sind, sowie Gesundheits-
personal. Eine Debatte
über eine Verschärfung der
Maßnahmen gibt es derzeit
nicht. Wie in den meisten
Ländern ist die Datenlage
zur Inzidenz wenig verläss-
lich, weil viele auf Tests
verzichten. VIRGINIA KIRST
ÖSTERREICH
Darf man den Daten glau-
ben, ist die Spitze der aktu-
ellen Welle überwunden.
Dennoch steigt die Auslas-
tung der Krankenhäuser
weiter. Das sorgt für Debat-
ten. Die einen fordern die
Maskenpflicht, andere wet-
tern dagegen. Nachdem die
Handhabung der Pandemie
bereits zwei Gesundheits-
minister zu Fall gebracht
hat, geht es Amtsinhaber
Johannes Rauch (Grüne)
sehr zurückhaltend an. Ei-
ne Maskenpflicht gilt bis-
her nur gemäß regionaler
Bestimmung im öffentli-
chen Verkehr in Wien und
im Gesundheitssektor. Vor-
schriften zur Quarantäne
wurden durch Verkehrsbe-
schränkungen ersetzt. Infi-
zierte müssen zwar eine
FFP2-Maske tragen. Wenn
sie aber keine Symptome
haben, dürfen sie Veran-
staltungen besuchen und
müssen sogar zur Arbeit
gehen. STEFAN SCHOCHER
SPANIEN
Wenn in Spanien über Covid
diskutiert wird, dann nicht
über eine Verschärfung der
Maßnahmen. Sondern über
die Frage, ob die Pandemie
nun vorbei sei. Dann näm-
lich könnte auch die letzte
Regel abgeschafft werden:
die Maskenpflicht in öffent-
lichen Verkehrsmitteln und
im Gesundheitswesen. An-
sonsten behandelt man Co-
rona bereits wie eine Grippe.
Positive sollen nur zu Hause
bleiben, wenn sie Symptome
haben. Covid ist keine
meldepflichtige Krankheit
mehr. VIRGINIA KIRST
SCHWEDEN
Schweden hat im Umgang
mit Covid-19 von Anfang an
einen viel beachteten, aber
auch umstrittenen Sonder-
weg eingeschlagen: kein
Lockdown, keine Masken-
pflicht. Stattdessen Empfeh-
lungen und Appelle an die
Vernunft. Was dazu führte,
dass sich die Sterberate im
Land zunächst erhöhte. In-
zwischen liegt sie unter dem
europäischen Durchschnitt.
„Es ist fast wieder so wie vor
der Pandemie“, sagt Stig
Wall, emeritierter Professor
der Universität Umeå. Eine
neuerliche Welle dürfte rela-
tiv milde verlaufen, da die
Bevölkerung durch Impfun-
gen geschützt ist. Die Emp-
fehlung, gesunde Kinder und
Jugendliche von zwölf bis 17
Jahren zu impfen, hat die
Gesundheitsbehörde sogar
zurückgenommen, das Risi-
ko einer schweren Erkran-
kung sei gering. Mit Sorge
blicken die Behörden aber
auf eine mögliche Grippe-
welle. CLAUDIA EHRENSTEIN
GRIECHENLAND
Die Öffentlichkeit hat das
Interesse an der Pandemie
weitgehend verloren. Ande-
re Probleme wie der Konflikt
mit der Türkei und steigen-
de Preise erscheinen dringli-
cher. Eine Maskenpflicht gilt
weiter in öffentlichen Ver-
kehrsmitteln, Krankenhäu-
sern, Altenheimen, Apothe-
ken, Taxis und Innenräumen
auf Schiffen. Griechenland
führte bereits vor einem
Jahr eine Impfpflicht für den
Gesundheitssektor ein, An-
fang des Jahres folgte sie für
Menschen ab 60 Jahren.
Doch nun sieht es so aus, als
dürften Ungeimpfte doch
wieder in ihre Jobs zurück.
Senioren ohne Impfungen
müssen keine Bußgelder
mehr fürchten. Wer positiv
getestet, aber 24 Stunden
fieberfrei ist, darf die Qua-
rantäne abbrechen. Zwar er-
warten Gesundheitsexper-
ten steigende Zahlen für den
Herbst, aber keine Überlas-
tung des Gesundheitssys-
tems. CAROLINA DRÜTEN
SCHWEIZ
Die Schweiz hat bereits im
April die gesetzlichen Co-
vid-Maßnahmen abge-
schafft. Infizierte Bürger
sollten sich isolieren, müs-
sen es aber nicht. Allein in
einigen Krankenhäusern
muss noch Maske getragen
werden, darüber entschei-
det die Einrichtung selbst.
Angesichts steigender Zah-
len gibt es zwar auch in der
Schweiz eine Debatte über
eine erneute Maskenpflicht.
Dazu dürfte es vermutlich
aber nicht kommen. Ziel der
Regierung ist es nicht mehr,
jegliche Ansteckung zu ver-
hindern, sondern schwere
Verläufe bei gefährdeten
Personen zu unterbinden.
Sie geht davon aus, auch
künftige Wellen ohne eine
Überlastung des Gesund-
heitswesens zu überstehen,
da mittlerweile 97 Prozent
der Bevölkerung mit Corona
in Berührung gekommen
seien und die Immunität
hoch ist. VIRGINIA KIRST
GROSSBRITANNIEN
Normal leben, aber mit
vernünftigen Vorsichtsmaß-
nahmen – so lässt sich die
Strategie zusammenfassen.
Sämtliche Restriktionen
wurden längst aufgehoben.
Die Behörde für Gesund-
heitsschutz rät, sich regel-
mäßig die Hände zu wa-
schen, bei Bedarf eine Maske
zu tragen und Innenräume
gut zu lüften. Allen über 50-
Jährigen wird empfohlen,
sich boostern zu lassen. Wer
Erkältungssymptome hat,
sollte zu Hause bleiben. Es
sind Maßnahmen, die grund-
sätzlich die Verbreitung von
Erkältungsviren eindämmen
sollen. Die Rede ist von
einer „Twindemie“ – also ei-
ner doppelten Epidemie von
Corona und Influenza. Un-
terdessen hat die Aufarbei-
tung der britischen Corona-
Politik begonnen. Eine Kom-
mission soll untersuchen, ob
die hohe Zahl von mehr als
200.000 Pandemie-Opfern
vermeidbar gewesen wäre.
CLAUDIA EHRENSTEIN
Vizeregierungschef.
Diesen Titel gibt es auch für den
wichtigsten Minister des anderen
Koalitionspartners: Antonio Tajani
von Forza Italia. Er ist zudem Au-
ßenminister. Tajani gilt in Brüssel
als verlässlicher, moderater Politiker
und war bereits Präsident des EU-
Parlaments. In der Forza Italia be-
treibt Tajani stets Schadensbegren-
zung nach Ausfällen seines Partei-
chefs Berlusconi. Mit Tajani signali-
siert Meloni zwar, dass sie in Brüssel
nicht auf Frontalkonfrontation set-
zen wird. Doch die Besetzung von
Raffaele Fitto aus ihrer Partei als
Minister für EU-Angelegenheiten
zeigt, dass es ihr ernst ist mit der
Verteidigung von Italiens nationalen
Interessen, die sie im Wahlkampf
beworben hatte. Künftig ist Fittos
Ministerium für den „PNRR“ zu-
ständig. So heißt der Plan, mit dem
Italien die Milliarden des EU-Coro-
na-Wiederaufbauplans ausgeben
wird. Das zeigt, welche Relevanz
Meloni ihrem Minister beimisst.
Auch Namen von Ministerien hat
Meloni geändert. Das Familienminis-
terium erhielt den Zusatz „Natali-
tät“, also Geburtenförderung. Das
Landwirtschaftsministerium ist für
„Nahrungsmittelsouveränität“ zu-
ständig, das Ministerium für Wirt-
schaftsentwicklung für „Unterneh-
men und made in Italy“. Das Um-
weltministerium, das bisher für den
ökologischen Wandel sorgte, küm-
mert sich um „Energiesicherheit“.
8 POLITIK
CHRONIK
VON SASCHA LEHNARTZ
Was war denn
das jetzt?
L
ange haben wir nicht mehr so
viele Salatwitze gehört. Schuld
daran ist das britische Boule-
vardblatt „Daily Star“, das am Frei-
tag vor einer Woche die Überlebens-
chancen von Liz Truss als Premier-
ministerin in der Frage gebündelt
hatte: „Welcher matschige Salat hält
länger?“ Dazu zeigte das Titelbild
das Haupt der Tory-Chefin neben ei-
nem Eisbergsalat. Der straßenpoeti-
sche Charme dieser Schlagzeile lässt
sich kaum ins Deutsche übertragen:
Als „Wet Lettuce“ beschimpft man
im nordenglischen Slang gerne ver-
weichlichte Loser. Am Donnerstag
war klar, dass der Salat gewonnen
hatte. Liz Truss trat zurück und wird
fortan im „Guinness Buch der Rekor-
de“ als die Premierministerin mit
der kürzesten Amtszeit geführt: 44
Tage. Immerhin hat sie es geschafft,
in dieser Zeit zwei britischen Monar-
chen die Hand zu schütteln. Der
letzte Premier, dem das im Amt ge-
lang, war Winston Churchill. Liz
Truss hatte allerdings nie eine faire
Chance. Ihr Gegner war nicht ir-
gendein Salat, sondern ein Eisberg-
salat. Jeder, der in diese Dinger mal
hineingebissen hat, weiß, dass man
die Cellophanfolie, in die sie einge-
wickelt sind, auch mitessen könnte,
ohne dass man einen Unterschied
bemerken würde.
Bei Eisbergsalat handelt es sich
gar nicht um verrottbares Gemüse,
sondern um Plastikmüll aus dem Är-
melkanal, den man maschinell zu
blassgrünen Kugeln zusammenge-
presst hat. So etwas kann gar nicht
verrotten. Liz Truss hätte diesen
Wettbewerb auch verloren, wenn
sie noch vier Jahre im Amt geblie-
ben wäre.
Dazu wird es nun nicht mehr kom-
men. Stattdessen bestand am Freitag
ernsthaft die Möglichkeit einer be-
sonderen Pointe im Raum: Die Rück-
kehr von Boris Johnson ins Amt woll-
te plötzlich niemand mehr ausschlie-
ßen. Das kann nur daran liegen, dass
die Raupe Nimmersatt ein paar größe-
re Löcher ins Kurzzeitgedächtnis der
Tories gefuttert hat, und diese schon
wieder vergessen haben, wie erleich-
tert sie waren, als der Mann vor drei
Monaten zurücktrat. Johnson erneut
zum Premierminister zu wählen wäre
ungefähr so, als hätte man dem Gene-
ral Paulus im März 1943 noch einmal
eine komplette Armee hingestellt und
gesagt: „Schwamm drüber Fritz, pro-
bier das doch einfach noch mal mit
Stalingrad.“
Huch, werden historisch empfind-
same Gemüter jetzt monieren, ha-
ben wir da gerade einen britischen
Premier mit einem Wehrmachtsoffi-
zier verglichen? Nein, haben wir na-
türlich nicht. Und wir vertrauen da-
rauf, dass der humorverständige Bri-
te es im Zweifel mit Adorno hält:
„Fun ist ein Stahlbad.“ Wir erinnern
in diesem Zusammenhang an die
herzhafte Schlagzeile der britischen
Zeitung „The Mirror“ zum Halbfina-
le England-Deutschland bei der Fuß-
balleuropameisterschaft 1996: „Ach-
tung! Surrender! For you Fritz, ze
Euro 96 Championship is over.“ War
dann allerdings im Elfmeterschießen
mal wieder over für die Engländer.
Etwas Ähnliches im Sinn wie der
„Mirror“ 1996 hatte wahrscheinlich
Emmanuel Macron, als er am Don-
nerstag zum Auftakt des EU-Gipfels
in Brüssel erklärte, er hätte gern ei-
nen Gaspreisdeckel und mehr euro-
päische Schulden, und dann pfiffig
hinzufügte, es sei „weder für
Deutschland noch für Europa gut“,
wenn Deutschland sich isoliere. Zu
behaupten, der deutsch-französische
Motor stottere gerade, ist ein Euphe-
mismus. Dieser Motor ist so kraft-
voll wie ein matschiger Eisbergsalat.
Am Mittwoch sagte Bundespräsi-
dent Steinmeier einen Besuch in der
Ukraine aus „Sicherheitsgründen“
ab. Der für seine Waghalsigkeit be-
rühmte Schweizer Bundespräsident
Ignazio Cassis bewertete die Sicher-
heitslage etwas anders und traf am
Donnerstag in Kiew Präsident Se-
lenskyj. Vergangene Woche hatte
Steinmeier in einer Rede zum 70.
Jahrestag der Atlantik-Brücke in Ber-
lin gesagt: „Wir stehen fest an der
Seite der Ukraine.“ Er darf sich nun
nicht mehr wundern, wenn die
Ukrainer im Saal sich auf die Schen-
kel klopfen, wenn er so etwas das
nächste Mal sagt.
A
m Donnerstag besuch-
te Wladimir Putin ein
Ausbildungszentrum
für mobilisierte Solda-
ten in der Region Rja-
san. Vor den Kameras
des Staatsfernsehens
gab er drei Schüsse aus einem Scharf-
schützengewehr ab, danach klopfte er,
den Gehörschutz noch auf den Ohren,
einem Offizier auf die Schulter. Seine
Gespräche mit den Männern waren kurz.
„Die Handfertigkeit kommt wieder?“,
fragte er einen. „Jawohl.“ „Fühlen Sie
sich selbstbewusst?“ „Jawohl.“ Die Ver-
anstaltung war eine Art Psychotherapie
für Putin: In seiner Armee läuft es gut,
diesen Eindruck galt es zu vermitteln.
VON PAVEL LOKSHIN UND CLEMENS WERGIN
Am Tag zuvor hatte er eine Art gestaf-
felten Kriegszustand ausgerufen. Wie
zuvor bei der „Teilmobilisierung“ hatte
die Politelite monatelang versprochen,
dass es keinen Kriegszustand geben wer-
de. Dennoch schränkt Putin nun die
Rechte von etwa 55 Millionen Russen ein
– und von Ukrainern, die in den russisch
besetzten Gebieten leben. Denn der ei-
gentliche Kriegszustand gilt in Donezk,
Luhansk, Cherson und Saporischschja,
wo das „maximale Reaktionsniveau“
ausgerufen wurde. Putin begründete
den Schritt damit, dass hier schon vor
dem „Beitritt“ zu Russland der Kriegs-
E
zustand gegolten habe.
r gibt den Besatzungsbehörden
praktisch uneingeschränkte Voll-
machten: Kriegszensur und Aus-
setzung des Privateigentums, das für
Zwecke der „Verteidigung“ eingezogen
werden kann, faktische Einführung von
Zwangsarbeit für die Armee und „tem-
poräre Umsiedlung“ in „sichere Gebie-
te“, sowie die Internierung von Auslän-
dern sind möglich. Zudem wird in den
besetzten Gebieten die „Territorialver-
teidigung“ geschaffen, die personell von
den ukrainischen Einheimischen getra-
gen werden soll. Sie könnten im Zweifel
gegen das eigene Volk kämpfen müssen,
ein weiterer von zahlreichen russischen
Verstößen gegen das Kriegsvölkerrecht.
Einschränkungen drohen auch in den
meisten Regionen im europäischen Teil
Russlands. Im Südlichen sowie im Zen-
W
tralen Föderationsbezirk inklusive Mos-
kau gilt die „erhöhte Bereitschaft“. Dort
dürfen die Gouverneure entscheiden,
ie groß die
Anspannung
im Innern
des irani-
schen Staa-
tes ist, lassen
am ehesten
Details erahnen. Etwa jene in der Ge-
schichte von Mohammad Rasoul Rad. Der
junge Mann hatte in seiner Heimatstadt
Rascht gegen die Herrschaft der Religi-
onsgelehrten protestiert. Beamte in Zivil
hetzten ihn und seinen Bruder Amir mit
dem Motorrad durch die Straßen. Als sie
die beiden jungen Männer geschnappt
hatten, so erzählte es Amir später dem
Auslandssender Iran International, dro-
schen sie mit dem Schlagstock auf sie ein,
traten sie und richteten schließlich eine
Waffe auf Mohammad. Sie erschossen ihn
aus einem Meter Entfernung. Danach
prügelten sie weiter auf den Toten ein.
Als sei es nicht genug zu morden.
VON DANIEL-DYLAN BÖHMER
Die mutigen Proteste im Iran sind
nicht mehr nur ein kurzes Aufflackern
des Widerstands in der Diktatur. Sie ge-
hen immer weiter, in Städten und Dör-
fern quer durch das Land. Eine der weni-
gen strategischen Anweisungen, die häu-
fig in sozialen Netzwerken weitergegeben
werden: Plant nichts. Macht keine Ansa-
gen. Versammelt euch möglichst spontan.
Möglichst am Abend, damit ihr in der
Dunkelheit fliehen könnt. Die Herrschaft
der Geistlichen soll nicht mit einem ein-
zigen Kraftakt umgestoßen werden, sie
soll nach und nach mürbe gemacht wer-
den. Wie reagiert ein Regime, das viel-
leicht irgendwann die Nerven verliert?
Zumal: Was geschieht, wenn dieses Re-
gime der Fähigkeit zum Bau einer Atom-
bombe schon gefährlich nahe ist?
Immer wieder fordern Unterstützer
der iranischen Opposition ein Ende der
Atomverhandlungen mit Teheran, etwa
eine Gruppe junger Exil-Iraner, die ihren
Aufruf bei WELT veröffentlichten. Auch
die SPD-Vorsitzende Saskia Esken hat
nun diese Forderung erhoben. Man müs-
se der Führung in Teheran klarmachen:
„Bis hierher und nicht weiter“, sagte Es-
ken im ZDF. „So, wie gerade im Moment
gegen die Frauen und Männer auf der
Straße vorgegangen wird, müssen die Ge-
spräche enden.“ Die FDP schloss sich der
Forderung an, doch der außenpolitische
Sprecher der SPD, Nils Schmid, sprach
welche Maß-
nahmen sie wie
umsetzen wol-
len. Beschrän-
kungen des
Kraftverkehrs
sind ebenso mög-
lich wie die Kontrolle
über private Infrastruk-
turobjekte bis hin zu Dru-
ckereien, Rechenzentren und der
Technik von Mobilfunkanbietern. Auf
der besetzten Krim sowie in an die
Ukraine grenzenden Gebieten gilt das
„mittlere Reaktionsniveau“ mit Ein-
schränkungen, die an Maßnahmen in
den besetzten Gebieten erinnern: Die
Bewohner können zwangsumgesiedelt,
Ein- und Ausreise sowie die Bewegungs-
freiheit eingeschränkt werden. Die Gou-
verneure wollen ihre neuen Vollmach-
ten aber bislang nicht nutzen.
An der Front sieht die Lage für Putin
weiter düster aus. Zu Wochenbeginn
Staudamm als Waffe
Experten fürchten, dass russische Armee Cherson nicht ohne großen
Anschlag verlässt. Putin erhöht Druck auch auf eigene Bevölkerung
Ukrainische Soldaten überprüfen die von russischen Soldaten ausgehobenen Schützengräben bei Cherson
Zwei junge Frauen in Teheran umarmen sich beim Protest gegen die Kopftuch-Vorschriften des Regimes
Der Bombe so nah
Proteste machen das Regime im Iran nervös. Derweil kommt seine
Fähigkeit zum Bau nuklearer Waffen zunehmend in Reichweite
sich gegen einen Abbruch aus. Es müsse
unbedingt verhindert werden, dass Tehe-
ran eine Nuklearwaffe bekomme, so
Schmid. Dabei ist unklarer als je zuvor, ob
die in Teheran herrschenden Kleriker
noch dazu bewegt werden können, auf
A
dem Weg zur Bombe wieder umzukehren.
ls die sechs Vetomächte im UN-Si-
cherheitsrat und Deutschland
2015 eine Atomvereinbarung mit
dem Iran schlossen, sollte mit diesem
„Joint Comprehensive Plan of Action“
(JCPoA) Teherans Atomprogramm auf ei-
nem Stand eingefroren werden, bei dem
es mindestens ein Jahr bis zur Fähigkeit
zum Bau einer Bombe dauern würde.
Sanktionen gegen das Land wurden auf-
gehoben, und im Gegenzug wurde für
zehn Jahre ein System von Kontrollen
und Beschränkungen für das Atompro-
gramm eingeführt. Vor allem durfte das
Land nur noch 300 Kilo des nuklearen
hatte der neu
eingesetzte
Oberbefehls-
haber, General
Sergej Surowi-
kin, die „takti-
sche militärische
Situation“ in Cher-
son als „sehr schwierig“
beschrieben. Man werde
auch nicht vor „den schwierigsten
Entscheidungen zurückschrecken“. Vie-
le Experten verstanden das als Versuch,
die russische Bevölkerung auf einen be-
vorstehenden Abzug aus der Region im
Süden der Ukraine vorzubereiten. Die
Besatzungsbehörden forderte am Sams-
tag alle Zivilisten auf, die Stadt zu ver-
lassen. Zuvor hatten sie bereits damit
begonnen, nicht militärisches Personal
aus der Stadt zu bringen und ukraini-
sche Bürger gen Osten zu deportieren.
Auf Satellitenbildern waren Fähren zu
sehen, die leer zur Westseite des Flusses
Brennstoffs Uran lagern und das Mineral
nur auf 3,67 Prozent anreichern.
Doch die Bedingungen, die unter US-
Präsident Barack Obama ausgehandelt
worden waren, befand dessen Nachfolger
Donald Trump für zu milde. Auch Israel
und Amerikas arabische Verbündete sa-
hen in dem Abkommen keinen Schutz
gegen eine iranische Bombe. Trump ver-
kündete 2018 den Ausstieg der USA, und
schrittweise begann auch Teheran, sich
nicht mehr an die Vereinbarung zu hal-
ten. Heute besitzt der Iran mehr als 3000
Kilo angereicherten Urans. Bei einem
Anreicherungsgrad von teilweise 60 Pro-
zent bleibt nur noch ein winziger Schritt
zum Nuklearsprengstoff. Faktisch ist der
Iran schon heute zum Bau einer Atom-
bombe in der Lage, meint etwa der Wa-
shingtoner Thinktank Institute for Sci-
ence and International Security. Zwar be-
gannen nach dem Amtsantritt von
Trumps Nachfolger Joe Biden Verhand-
* WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022
Dnipro fuhren und dann voll bepackt russische Kräfte den Damm sprengen,
mit militärischem Gerät zurück zur Ost- nachdem sie sich aus dem westlichen
seite. Berichte wiesen darauf hin, „dass Teil der Oblast Cherson zurückgezogen
russische Truppen wahrscheinlich ge- haben, um dann den ukrainischen Kräf-
plant große Mengen an Personal und ten vorzuwerfen, sie hätten den Dnipro
Ausrüstung von der Westseite des Flus-
ses Dnipro abziehen“, heißt es im Lage-
geflutet und die umgebenden Ortschaf-
ten“, so das ISW. Russland vermine den
bericht des ISW, das am Samstag dann
auch vom Beginn eines „aktiven“ Rück-
Damm und Transformatoren des Kraft-
werks, um einen Dammbruch und eine
zug Russlands sprach. Das russische Mi- Flutwelle zu verursachen, sagte Mychai-
litär habe wahrscheinlich aus den Feh- lo Podoljak, Berater des ukrainischen
W
lern der panikartigen Flucht aus der Re- Präsidenten.
gion Charkiw gelernt. Ein „ungeordne-
ter Rückzug in Cherson könnte dazu olodymyr Selenskyj hatte ge-
führen, dass Truppen und Ausrüstung warnt, solch ein Anschlag
auf der Westseite des Flusses Dnipro in würde das Kühlsystem des
eine Falle geraten könnten“, so das ISW. Atomkraftwerks in Saporischschja be-
Experten fürchten jedoch, dass Russ- einträchtigen, den oberhalb des Damms
land nicht ohne großen Knall gehen abzweigenden Kanal zur Wasserversor-
wird. So behaupten Propagandakanäle gung der Krim trockenlegen und käme
seit Tagen, die Ukraine wolle den Damm einem Angriff mit Massenvernichtungs-
flussaufwärts in Nowa Kachowka spren- waffen gleich. Er würde sich allerdings
gen. „Russische Quellen bereiten das in- nahtlos einfügen in die Terrorkampagne
formationelle Umfeld vor dafür, dass von Surowikin, der die kritische zivile
Infrastruktur der Ukraine zuletzt inten-
siv bombardieren ließ. „Es ist klar, dass
er als Luftwaffenoffizier der Theorie an-
hängt, dass Bevölkerungen mit Luftan-
griffen zermürbt werden können“,
schreibt der australische Militärdenker
und Ex-General Mick Ryan. Seine ersten
Aktionen seien „darauf konzentriert ge-
wesen, den Willen des ukrainischen Vol-
kes zu brechen“.
Russland verfügt derzeit nicht über
genug Truppen, um die Offensive zu
übernehmen. Deshalb sei es Surowikins
erstes Ziel, seine Kräfte auf verteidigba-
re Linien zurückzuziehen, um den Win-
ter zu überstehen und seine Einheiten
und die Logistik neu aufzubauen, so Ry-
an. „Putin glaubt offenbar, dass der
Westen irgendwann das Interesse ver-
lieren wird an dem Krieg und an der Un-
terstützung der Ukraine“, auch wenn es
dafür bisher keine Anzeichen gebe.
DPA/LEO CORREA; GRAFIKQUELLE: INSTITUTE FOR THE STUDY
Kiew hingegen will weitere Gebiete be-
freien, bevor der Winter einsetzt. „Das
ukrainische Militär hat in den kommen-
den Wochen ein Fenster der Möglich-
OF WAR UND AEI'S CRITICAL THREATS PROJECT
keiten, der russischen Armee Gebiete
abzunehmen, wenn es ihr gelingt im Sü-
den und im Nordosten weiter Druck
auszuüben, bevor der schlammige Bo-
den und die Wolkendecke die gegneri-
schen Armeen zu einer Pause zwingen
und zu Umgruppierungen“, so die „New
York Times“ auf Grundlage von US-Ge-
heimdiensteinschätzungen. Gut mög-
lich, dass die Ukraine bald weitere Ge-
biete zurückerobert.
eigentlich nur denkbar, wenn der Iran sei-
ne Forderung nach einem Ende der IAEA-
Untersuchung aufgibt. Der Iran muss also
nachgeben, damit sich überhaupt noch
etwas bewegt. Jedenfalls kann die inter-
nationale Gemeinschaft diesem Regime
nicht gerade jetzt einen Rettungsanker
zuwerfen.“ Die Proteste könnten durch-
aus dazu führen, dass sich das Regime
einigele, meint Adebahr. Schon jetzt ver-
stärke Teheran seine Beziehungen zu den
letzten echten Freunden, die es in der
Welt noch habe, etwa der Führung von
Wladimir Putin in Russland. Darum auch
die Lieferung iranischer Kamikaze-Droh-
nen, die Russland derzeit gegen die ukrai-
nische Zivilbevölkerung einsetzt. Aber
Adebahr vermutet trotzdem, dass der
Iran den Bau einer Bombe weiter scheuen
wird. „Die Proteste verringern dieses Ri-
siko, weil das System im Iran durch sie
zusätzlich infrage gestellt wird.“ Eine of-
fene Atombewaffnung würde die Gefahr
AFP
durch das Regime noch erhöhen. Die
Atomverhandlungen dürften also offiziell
weitergehen, auch wenn es zunächst kei-
W
ne echten Fortschritte gebe.
ürde der Iran in so einem Sze-
nario doch noch einen Schritt
weiter gehen, etwa indem er
sein Uran auf waffenfähige 90 Prozent
anreichert, dann drohen auch Luftschläge
Israels. Teheran würde daraufhin zum
Angriff seiner Milizen rufen. Das Ergeb-
nis könnten Kämpfe im gesamten Nahen
Osten sein – mit dramatischen wirt-
lungen über eine Wiederbelebung des schaftlichen und migrationspolitischen
Abkommens. Aber angesichts der Fort- Folgen auch für Europa.
schritte des Atomprogramms fragen sich Diese Bedrohung bestimmt möglicher-
Beteiligte an den Verhandlungen, ob Te- weise auch den zurückhaltenden Kurs der
heran überhaupt noch eine Einigung will. Bundesregierung in Sachen Atompro-
Zumal die Iraner jüngst eine eigentlich gramm. Grünen-Parteichef Omid Nouri-
erledigte Forderung erhoben: Die Inter- pour verweist auf den ursprünglichen
nationale Atomenergiebehörde (IAEA) Zweck der Vereinbarung. „Ich kann die
solle ihre Untersuchung zur möglichen viele Kritik am Atomabkommen aus der
militärischen Dimension des Atompro- iranischen Bevölkerung verstehen, weil
gramms einstellen. sich die Europäer jahrelang dahinter ver-
Ist der Iran also bereits zum Bau einer steckt haben“, sagt Nouripour WELT AM
Bombe entschlossen? Und wie verändern SONNTAG. Gleichzeitig wäre die Atom-
die Proteste die Kalkulationen der Füh- bombe in den Händen dieses Regimes ei-
rung? „Die neuen Sanktionen, die EU und ne massive Gefahr für Israel und die ge-
USA wegen des brutalen Vorgehens gegen samte Region, gibt Nouripour zu beden-
die Proteste verhängt haben, führen zu ken. „Das Abkommen hat im Kern ein
einer Verhärtung der Positionen“, sagt Ziel: das Regime von der Atombombe
Cornelius Adebahr, Iran-Experte der fernzuhalten. An diesem Ziel müssen wir
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige festhalten.“ Die Diktatur der Schlagstö-
Politik. Das könne auch Auswirkungen cke löst weltweit Entsetzen aus. Doch ei-
auf die Atomgespräche haben. „Eine Wie- ne Diktatur mit Atomwaffen wäre kaum
derbelebung der Atomvereinbarung ist menschlicher.
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
D Bum,
ie schwarz lackierte Tür in
der Downing Street hatte
sich am Donnerstag kaum
hinter Liz Truss geschlos-
sen, da kamen bereits Boris Johnsons
Getreue aus der Deckung. „Ich hoffe, du
hattest schöne Ferien, Boss. Jetzt ist es
Zeit, zurückzukommen. Es gibt ein paar
Dinge im Büro zu regeln“, erklärte
James Duddridge auf Twitter. Duddrid-
ge diente als Staatssekretär unter John-
son, ist Abgeordneter der Tory-Partei
und keine einsame Stimme.
VON STEFANIE BOLZEN
Bereits am Freitagnachmittag zählte
der am 7. Juli zwangsweise zurückgetre-
tene Ex-Premier 24 Parlamentarier, die
ihm ihre Unterstützung zugesichert ha-
ben, sollte er sich für die Nachfolge von
Truss bewerben. 100 bräuchte er, um
anzutreten. So ist die Regel für eine vor-
läufige Nachfolge von Truss, während
die Opposition Neuwahlen einfordert.
Die Basis der Tories würde sich freuen.
Eine Mehrheit von 63 Prozent der Mit-
glieder will Johnson laut aktueller Um-
frage zurück.
Dass Johnson seine knapp dreijähri-
ge Amtszeit keineswegs als Schlusska-
pitel in der höchsten Politik versteht,
ließ er die Welt bei seinem Abgang wis-
sen. „Hasta la vista, Baby!“, so zitierte
Johnson bei seinem letzten Unterhaus-
Auftritt im Sommer den Terminator –
der ja bekannterweise nach seinem En-
de stets für die nächste Folge wieder-
Wahl
um
TRUMPS
Zukunft
P
Im US-Bundesstaat Georgia geht es um die Ausrichtung der Republikanischen Partei. Ein Anhänger
und ein parteiinterner Gegner des Ex-Präsidenten messen Kräfte. Wer kommt besser an?
ünktlich rollt der rote
Wahlkampfbus auf den
Parkplatz im Norden
von Atlanta. „Herschel
für den Senat“ ist in
großen Lettern darauf
zu lesen. Der Kandidat
steigt aus und winkt. Herschel Walker,
60, Ex-American-Football-Star, will Se-
nator für den US-Bundesstaat Georgia
werden. Teure Lebensmittel, zu viele
Verbrechen, eine unsichere Grenze – so
fasst Walker wenige Minuten später auf
der Bühne das Leben in den USA im Jahr
2022 zusammen. „Lest die ganze Bibel!“,
appelliert er an seine etwa 150 Zuhörer,
die trotz Kälte und Wind an diesem
Dienstagnachmittag gekommen sind.
VON DANIEL FRIEDRICH STURM
AUS ATLANTA
„Ich bin kein Politiker, sondern ein
Gotteskrieger“, ruft Walker. Beifall. „Ich
senke eure Steuern. Ich sichere die Gren-
ze“, verspricht er: „Ich will eure Kinder
nicht indoktrinieren.“ Und: „Ich kämpfe
für das Militär!“ Seine Mission: Bei den
Zwischenwahlen am 8. November will
der Republikaner Walker den Demokra-
ten Raphael Warnock als Vertreter in Wa-
shington ablösen. Georgia, im Südosten
der USA, einst über Jahrzehnte konserva-
tiv, nun aber umkämpfter Swing State,
erlebt ein offenes Rennen um den be-
gehrten Senatssitz. Am Ende könnte sich
hier entscheiden, ob Präsident Joe Biden
weiter eine Mehrheit in der zweiten Kon-
gresskammer hat. Oder ob eine republi-
kanische Mehrheit dem Präsidenten
künftig das Leben schwer macht.
Doch neben diesem Wettkampf zwi-
schen den bekannten Lagern – Demokra-
ten gegen Republikaner – erlebt Georgia
ein ganz anderes politisches Rennen. Da-
bei geht es um nicht weniger als die Zu-
kunft der Republikanischen Partei. Da-
rum, welcher Flügel in der Grand Old
Party (GOP) sich durchsetzt: derjenige
für Donald Trump – oder der gegen ihn.
Walker steht bei diesem inoffiziellen
Kräftemessen für die Anhänger des
Ex-Präsidenten. Trump unterstützt den
Politik-Neuling. An diesem Dienstag
schirmen Walkers Mitarbeiter ihn vor
NR. 43 * POLITIK 9
bum
Boris
Nach dem Scheitern
von Liz Truss hat der
britische Ex-Premier
Boris Johnson
gute Chancen auf
ein Comeback
aufersteht. Als Johnson am 6. Septem-
ber seine vorerst finale Rede als Pre-
mierminister hielt, brachte er dieses
Narrativ zur Vollendung. Dank ihm ha-
be das Vereinigte Königreich nicht nur
den Brexit „abgehakt“, sondern auch
das schnellste Corona-Impfprogramm
unter allen vergleichbaren Ländern
hingelegt sowie den zügigsten Ausstieg
aus dem Lockdown. Ohnehin seien nie
so viele Menschen in Arbeit gewesen,
und nebenbei zählten die Briten zu den
Journalisten ab. Besser nicht zu viele
Fragen. Seiteneinsteiger neigen zu Feh-
lern. Walker steht bereits unter Druck.
Da ist der Vorwurf der häuslichen Ge-
walt. Zudem soll er für eine Abtreibung
bezahlt haben – während er öffentlich
gegen Abtreibung wettert.
Der Gegenspieler Walkers ist Brian
Kemp, 58, Gouverneur von Georgia.
Auch er kandidiert am 8. November, die
Wahl zum höchsten Amt im Bundesstaat
finden zeitgleich mit der zum Senator
statt. Direkt herausgefordert wird Kemp
zwar von der Demokratin Stacey Ab-
rams. Viel bedeutender aber ist seine an-
dere Rolle: Kemp steht für eine GOP oh-
ne Trump. Die große Frage zur Zukunft
Amerikas lautet nun: Wer kommt besser
an beim Volk?
Dieses inoffizielle Kräftemessen hat ei-
ne Vorgeschichte. Trump hatte die Präsi-
dentschaftswahl 2020 unter anderem im
zuvor republikanischen Georgia verloren.
Das will er bis heute nicht akzeptieren. Er
forderte seine „Parteifreunde“ in dem für
seine Pfirsichplantagen bekannten Bun-
desstaat auf, seinen Sieg zu verkünden.
Doch Kemp und sein Staatssekretär Brad
Raffensperger widersprachen Trumps
haltlosem Gerede von einer „gestohle-
nen“ Wahl. Das Wahlergebnis in Georgia
wurde, wie üblich bei knappen Ergebnis-
sen, zweimal nachgezählt. Am 2. Januar
2021 forderte Trump schließlich Kemps
Staatssekretär telefonisch auf, 11.780
Stimmen für sich zu „finden“. Doch die
U
beiden Republikaner blieben standhaft.
nd Walker? Jetzt, drei Wochen
vor dem Wahltermin vermeidet
er es, Trumps Parolen von der
„gestohlenen“ Wahl nachzubeten. Zuvor
hat er das allerdings stets getan. Man
müsse klären, „wer diese Wahl gestohlen
hat“, forderte er. Der Ex-Football-Star
verbreitete Verschwörungstheorien. So
sah er bei der Erstürmung des Kapitols
nicht etwa einen Pro-Trump-Mob am
Werk. Walker behauptete, die Randalie-
rer seien „trojanische Pferde“, sie sähen
nicht wie „Maga-Leute“ aus, seien also
keine Anhänger von Trump und dessen
Parole Make America great again. So war
es nur konsequent, dass Trump Walker
„vollständig und uneingeschränkt“ un-
mutigsten Unterstützern der Ukraine
im Kampf gegen Putin.
Dabei ließ Johnson die vielen Nuan-
cen aus, die das wirkliche Leben der
Briten ausmachen – verdreifachte
Energiepreise, das geringste wirt-
schaftliche Wachstum unter den G-7-
Staaten, jahrelanges Warten auf Routi-
ne-Operationen in Krankenhäusern,
fehlende Schulplätze, ein nicht existie-
rendes Pflegesystem, im internationa-
len Vergleich minimale soziale Auf-
stiegschancen.
Petitessen für echte Johnson-Fans,
die den Hashtag #BringBackBoris be-
reits am Tag seines Rücktritts erfanden,
welcher sich nun als Trend verfestigt.
Der 58-Jährige wird das vergnügt und
erholt beobachten. Den Sommer ver-
brachte der Vater von mindestens sie-
ben Kindern mit Frau Carrie und den
beiden kleinsten Kindern in Fünf-Ster-
ne-Herbergen in Griechenland und Slo-
wenien. Zum Tod der Queen hielt er ei-
ne fulminante und bejubelte Rede im
Unterhaus. Als einfacher Abgeordneter
stahl er der neuen Premierministerin
leichtfüßig die Show.
Zu den großen Krisen, mit denen sich
Liz Truss herumschlagen musste, gab er
hingegen keinen Kommentar. Dafür hat
Johnson sein Fußvolk, etwa Nadine Dor-
ries, Ex-Ministerin und Erfolgsautorin
seichter Liebesromane. Boris sei super
drauf, verriet Dorries kürzlich der „Sun-
day Times“. Er spiele im Garten Cricket
und appelliere an die Tory-Fraktion,
„hinter Liz zu stehen“.
DANIEL FRIEDRICH STURM/WELT
Für Trump: Herschel Walker,
ehemaliger Football-Profi
REUTERS/CHENEY ORR
Gegen Trump: Brian Kemp,
Berufspolitiker
terstützte. Walker sei „ein Freund, ein
Patriot und ein hervorragender Ameri-
kaner, der ein großartiger Senator sein
wird“, säuselte Trump. So setzte sich
Walker locker in der republikanischen
Vorwahl durch.
Als „Verräter“, „Feigling“, „totale Ka-
tastrophe“ attackierte Trump hingegen
Gouverneur Kemp. Der Ex-Präsident
spendete 500.000 Dollar für Negativ-
werbung gegen seinen Parteikollegen.
Die Parole: Kemp tue nichts gegen Wahl-
betrug. Doch Kemp setzte sich trotzdem
bei den Republikanern durch und tritt
erneut als Gouverneur an. Ein Zeichen
dafür, dass viele in dieser Hochburg der
GOP mit Trumps Betrug nicht einver-
standen sind.
Montagabend, ein Fernsehstudio in
Atlanta, die Gouverneurs-Debatte. Kemp
rühmt sich, Georgia als ersten Bundes-
staat in der Corona-Krise wieder geöff-
net zu haben. „Wir haben uns so gut er-
holt wie kein anderer Bundesstaat im
Land“, sagt Kemp. Er lobt seine eigene
Leistungsbilanz, greift Joe Biden an, ver-
teidigt die von den Demokraten atta-
ckierte Wahlgesetzgebung: „In Georgia
ist es einfach zu wählen“, sagt Kemp,
„aber schwer zu betrügen.“
Für Beobachter außerhalb des König-
reichs ist es kaum vorstellbar: Aber
Johnson hat nach dem Rekordabsturz
seiner Nachfolgerin Chancen auf eine
Rückkehr. Die Buchmacher verkaufen
ihre Wetten auf Johnson bereits zu fal-
lenden Quoten. Ob Johnson am Ende
aber tatsächlich antreten wird, ist eine
andere Frage. Zumal im November im
Unterhaus eine fraktionsübergreifende
Untersuchung beginnt, ob er als Pre-
mier das Parlament belogen hat. John-
son hatte nach Bekanntwerden der ille-
galen Partys während der Lockdowns in
der Downing Street behauptet, es sei
niemals gegen Regeln verstoßen wor-
den. Was sich später als Unwahrheit he-
rausstellte. Eine der vielen Unwahrhei-
ten, für die der gelernte Journalist und
studierte Altphilologe letztlich mit dem
Rücktritt zahlen musste.
Am Samstag brach Johnson seinen
Urlaub ab und flog nach London. Wo-
möglich betrachtet er die Aufregung um
seine Person als willkommene Gelegen-
heit, um sich für einen besseren Zeit-
punkt im Spiel zu halten. So tat er es im
Jahr 2016, als er für die Nachfolge von
David Cameron antrat – um abzusprin-
gen, bevor es ernst wurde. Soll doch
erst einmal sein Kollege Rishi Sunak
versuchen, den Karren aus dem Dreck
zu ziehen. Der Ex-Finanzminister hat
bereits ausreichend Unterstützer, um
anzutreten. Seine Chancen auf Erfolg
stehen angesichts der britischen Krise
schlecht. Und Johnson konnte Sunak
angeblich noch nie wirklich leiden.
S
IMAGE
GET T Y
Von seiner Herausforderin lässt sich
Kemp nicht unter Druck setzen. Souve-
rän spult er sein Programm ab. Auf Pole-
mik verzichtet er, gibt den Staatsmann.
Kemp ist Berufspolitiker, er regiert
Georgia seit vier Jahren. Dann äußert er
etwas, das in Deutschland als Floskel er-
scheinen mag, für einen Republikaner
aber eine kleine Sensation ist. Er arbeite
für seine Wähler und all jene, die ihn
nicht gewählt haben, sagt Kemp. Trump
hat so etwas nie gesagt. Auch lässt Kemp
sich von der polternden Kritik seines Ex-
Präsidenten nicht provozieren. „Kein
böses Wort“, sage Kemp über Trump. Er
W
lässt ihn abtropfen.
enn da nicht die von Trump
aufgeputschte Parteibasis
wäre. Dienstagabend, ein
Spendendinner der Republikaner in At-
lanta. Walker sitzt am Tisch. Zum Weiß-
wein gibt es steile Thesen. „Habt ihr
schon gewählt?“ fragt der Kongress-Kan-
didat in die Runde. Er spricht viel über
Kriminalität. Die Wahl 2020? Kein Wort
dazu. Dafür urteilt ein älterer Herr am
Tisch: „Wahlbetrug“ sei das gewesen.
Natürlich habe Trump mit seinen Be-
hauptungen recht. Überhaupt, das Elend
habe bereits mit dem „Kommunisten“
Barack Obama begonnen. Was halten Sie
von Mike Pence? „Den würde ich, stünde
er vor meinem Haus, nicht reinlassen“,
antwortet der Herr. Der Sturm aufs Ka-
pitol? „Das waren Demokraten.“
Trumps Parolen haben sich wie ein Vi-
rus unter den Republikanern verbreitet.
Für Verschwörungstheoretiker ist Wal-
ker eine Bank. Aber was ist mit den Mo-
deraten, den Aufgeklärten? Wer mit Re-
publikanern redet, hört von einem ande-
ren Szenario für die Wahl in zwei Wo-
chen: Dass mancher wohl, vor allem im
linken Großraum Atlanta, für Kemp als
Gouverneur und für den Demokraten
Warnock als Senator stimmen wird.
Zwar misstrauen viele Amerikaner den
Wahlumfragen. Doch laut jüngsten Erhe-
bungen liegt Kemp vor der Demokratin
Abrams – und Walker hinter dem Demo-
kraten Warnock. Ein solches Ergebnis
wäre für Trump verheerend. Allerdings
hätte er bestimmt eine Ausrede bereit:
„Wahlbetrug“.
Kalkulierte Niederlage
beim Gaspreisdeckel
Auf dem EU-Gipfel wird Deutschland massiv
D
kritisiert. Ein Zugeständnis bringt Entlastung
ie Angriffe begleiteten
Bundeskanzler Olaf Scholz
bis ins Brüsseler Europa-
Gebäude. Noch auf dem
Weg zu der Gipfel-Sitzung am Don-
nerstag machte das Spitzenpersonal
aus anderen EU-Ländern vor den Mi-
krofonen und Kameras halt, um der
Bundesregierung Vorwürfe zu ma-
chen. Besonders aggressive Kritik an
Deutschland kam von Frankreichs Mi-
nisterpräsident Emmanuel Macron,
der innenpolitisch unter Druck steht.
„Ich glaube, es ist nicht gut, weder für
Deutschland noch für Europa, dass sie
sich isolieren“, sagte Macron.
VON TOBIAS KAISER
UND CHRISTOPH B. SCHILTZ
AUS BRÜSSEL
Der Hintergrund: Berlin und Paris
haben sehr unterschiedliche Vorstel-
lungen, wie die EU auf die derzeitige
Energiekrise reagieren soll. Frank-
reich gehört zu einer Mehrheit von
EU-Ländern, die ein stärkeres Eingrei-
fen in den Gas- und Strommarkt for-
dern. Diese Mehrheit will einen Preis-
deckel für Gas und außerdem eine
Preisgrenze für teures Gas, das zur
Stromproduktion eingesetzt wird. Ei-
ne Maßnahme, die den Strompreis
senken soll. Sie wird auch als „iberi-
sches Modell“ bezeichnet. Die Bun-
desregierung hat allerdings bei diesen
Markteingriffen erhebliche Bedenken.
Berlin fürchtet, dass ein Gaspreisde-
ckel dafür sorgen könnte, dass inter-
nationale Lieferanten andere Märkte
ansteuern, dass künstlich gesenkte
Strompreise den Gasverbrauch noch
zusätzlich anheizen und so das
Grundproblem verschärfen: Weltweit
ist zu wenig Gas auf dem Markt.
Deutschland muss stärker als ande-
re EU-Staaten darauf achten, interna-
tionale Lieferanten nicht zu vergrät-
zen. Die Bundesrepublik ist nach dem
Wegfall russischer Gaslieferungen auf
LNG-Flüssiggas aus der ganzen Welt
BRIEF AUS HONGKONG
VON GLACIER KWONG
Aus falscher Russlandpolitik lernen
V
or wenigen Tagen wurde im
britischen Manchester ein De-
monstrant auf das Gelände des
dortigen chinesischen Konsulats ge-
zerrt und angegriffen. Er gehörte zu
einer Gruppe von Menschen aus
Hongkong, die sich vor dem Konsulat
versammelt hatten, um gegen den in
Peking laufenden Parteitag zu protes-
tieren. Ein Video des Vorfalls löste
weltweit Bestürzung aus.
Die Menschenrechtsorganisation
Safeguard Defenders hat kürzlich
enthüllt, dass Peking in ganz Europa
außerstaatliche Polizeistationen be-
treibt. Erlaubt ist das nicht. China hat
inzwischen sogar eingeräumt, illegale
Polizeieinsätze durchzuführen, um
mutmaßliche Straftäter von der
Rückkehr nach China zu ihren Pro-
zessen „zu überzeugen“. Aber das ist
nur die Spitze des Eisbergs. Uiguren
und geflohene Dissidenten haben
auch im Ausland mit Verfolgung zu
kämpfen. Zudem werden in China
verbliebene Familien und Freunde als
Druckmittel eingesetzt, um Dissiden-
ten zur Rückkehr zu zwingen.
Auch ein Mitglied meiner Familie in
Hongkong wurde neulich von Behör-
den schikaniert. Es sollte eine War-
nung an mich als Aktivistin sein. Da-
her kann ich sagen: Das ist eine sehr
effektive Methode der Einschüchte-
rung. Es fühlte sich an, als wäre ich
verantwortlich; als wäre ich diejenige,
die im Unrecht ist. Dazu die überwäl-
tigenden Schuldgefühle, weil ich ande-
re Menschen in diesen Sumpf hinein-
gezogen habe. Es wäre leicht, ihnen
nachzugeben. Aber man muss sich
klarmachen: Die Partei wird immer so
vorgehen. Egal, was man tut. Es ist ein
diktatorisches Regime mit dem Ziel,
seine Macht zu vergrößern.
China lässt seine Muskeln im Aus-
land auf alle möglichen Arten spie-
len: Es infiltriert die akademische
Welt, nutzt das weltweite Netzwerk
der Einheitsfront kommunistischer
Parteien, investiert in Infrastruktu-
angewiesen. „Das ist ein Weltmarkt,
bei dem die Schiffe dahin fahren, wo
es den besten Preis gibt“, sagt dazu ein
hoher EU-Regierungsbeamter. Die
EU-Kommission teilt die deutschen
Bedenken, aber auch Staaten wie die
Niederlande, Irland, Luxemburg, Dä-
nemark und Schweden. Südeuropäi-
sche Länder hingegen könnten auch
bei einem Preisdeckel mit ausreichen-
den Lieferungen rechnen.
Letztlich war der Druck aber offen-
bar doch zu groß, und Scholz musste
nachgeben – zumindest ein bisschen.
So haben sich die Staats- und Regie-
rungschefs bei ihrer Sitzung auf einen
dynamischen Preisdeckel für den Gas-
großhandel geeinigt. Die Kommission
soll jetzt entsprechende Vorschläge
vorlegen. Deutschland hatte sich zu-
vor gegen diese Maßnahme gewehrt.
Das zeigen die Forderungen der Bun-
desregierung zur Abschlusserklärung
des Gipfels. Ein Entwurf der Gipfeler-
klärung wird in den Tagen vor dem
Treffen unter den Hauptstädten zur
Abstimmung herumgereicht. Die Än-
derungsvorschläge aus Berlin liegen
WELT AM SONNTAG vor.
Den dynamischen Preisdeckel hatte
die Bundesregierung aus dem Gipfel-
entwurf gestrichen. Dass er jetzt wie-
der auftaucht, zeigt schwarz auf weiß,
dass Scholz sich mit diesem Stand-
punkt nicht durchsetzen konnte. Al-
lerdings ist die beschlossene Maßnah-
me kein allgemeiner Gaspreisdeckel,
sondern eher eine Notbremse für den
Gasmarkt. Er soll nur vorübergehend
in Kraft sein, vermutlich nur bis zum
Jahreswechsel. Und der Mechanismus
soll auch nur dann greifen, wenn die
Preise unerwartet in die Höhe schie-
ßen. Es ist ein Formelkompromiss, mit
dem Scholz leben kann und den ande-
re Regierungschefs als „Gaspreisde-
ckel“ feiern können. Das machte
Scholz nach den Beratungen deutlich.
„Es geht um Preisspitzen, nicht um ei-
nen Preisdeckel“, sagte er. Insofern
wirkt diese Niederlage kalkuliert.
ren und betreibt Lobbyarbeit. Trotz-
dem zeigt eine aktuelle Umfrage,
dass nur sieben Prozent der Deut-
schen China als Bedrohung ihrer Si-
cherheit sehen. Diese Umfrage be-
schränkt sich zwar auf militärische
Bedrohung. Ich denke aber, die Deut-
schen sehen China grundsätzlich
nicht als gefährlich an. Es fühlt sich
weit weg an und ist für deutsche Fir-
men zudem ein riesiger Markt.
Tatsächlich ist China längst nicht
mehr nur ein außenpolitisches Thema,
sondern eine innenpolitische Angele-
genheit. Viele Länder der Welt haben
China über Jahrzehnte falsch einge-
schätzt, auch Deutschland. Die Zei-
chen weiter zu ignorieren wäre ein
gravierender Fehler. Wenn das Pro-
blem nicht mehr ignoriert werden
kann, ist es zu spät.
Das zeigt die Parallele zur Russ-
land-Politik. Im Jahr 2021 übernahm
die Regierung von Angela Merkel die
Einschätzung eines Gutachtens zur
Pipeline Nord Stream 2, in dem erklärt
wurde, dass die Gas- und Elektrizitäts-
versorgung der Bundesrepublik
Deutschland durch die Pipeline „nicht
gefährdet“ sei. Vier Monate später
marschierte Russland in die Ukraine
ein. Jetzt steht Deutschland vor einer
nie da gewesenen Energiekrise. Rück-
blickend gab es sowohl Anzeichen für
eine geplante Invasion als auch dafür,
dass Gaslieferungen von Moskau als
Druckmittel benutzt werden. Doch
viele Politiker beschlossen offenbar,
das zu ignorieren. Bis es zu spät war.
Wollen wir mit China ernsthaft die
gleichen Fehler wiederholen?
Glacier Kwong schreibt diese
Kolumne im Wechsel mit Joshua
Wong. Die beiden jungen Aktivisten
aus Hongkong kämpfen gegen den
wachsenden Einfluss Chinas in
ihrer Heimat. Da Wong derzeit
inhaftiert ist, setzt Kwong diese
Kolumne einstweilen allein fort.
10 LEBEN
LEUTE
McFit-Gründer vermisst
Vor der Küste Costa Ricas sind am
Samstagmorgen nach Angaben der
Behörden Reste eines Wracks ent-
,,
deckt worden, die womöglich der
seit Freitag vermissten Maschine
mit fünf deutschen Passagieren an
Bord zuzuordnen sind. Nach Infor-
mationen der „Bild“ sollen sich an
Bord der Maschine der Gründer der
Fitnessstudio-Kette McFit, Rai-
ner Schaller, seine Freundin
Christiane Schikorsky, deren
zwei Kinder sowie ein wei-
terer Mann befunden
haben. Die Zeitung mel-
dete dies unter Berufung
auf die Sprecherin des
McFit-Betreibers RSG-
Group GmbH, Jeanine
Minaty. „Mehr wissen
wir im Moment
auch nicht“,
sagte die
Spreche-
Realitystar Khloé Kardashian, 38,
erklärte in der Serie „The Kardas-
hians“, dass sie testamentarisch
festgelegt habe, auch im Koma
wöchentlich eine Maniküre zu
bekommen, „denn die Leute
werden mich besuchen“.
FALLS ICH IM
KOMA LIEGE,
LASSE ICH MIR
DENNOCH DIE
NÄGEL
MACHEN
Drew Barrymore
allein zu Hause
Am liebsten nackt: Wenn Hollywood-Star
Drew Barrymore („3 Engel für Charlie“), 47,
allein zu Hause ist und ihre Kinder bei
W
IR
EI
ihrem Vater sind, schließt sie die Türen ab,
M
AG
zieht ihre Kleider aus und läuft nackt durch
E/
AR
TU
die Wohnung. „Das fühlt sich einfach so
RO
befreiend an“, sagte sie in ihrer TV-Sen-
H
O
LM
dung „The Drew Barrymore Show“. ball
ES
SMALL TALK „POSTKARTEN SIND GLÜCK“
Frau Peters, wann haben
Sie zuletzt eine Postkar-
te verschickt?
Gestern – an meine
beiden Nichten im
Ausland.
Zusammen mit Ihrem
Mann Frank Dehner
haben Sie 2018 in Wien
art postal gegründet, einen
Verlag für Kunstpostkarten.
Seitdem verkaufen Sie witzige, schö-
ne Postkarten, auch in einer Wiener
Galerie. Wie kam es dazu?
Wir bringen alles mit, was man dafür
braucht. Frank hat ein sehr gutes Auge
für Bilder, ich mag Wörter sehr gerne.
So ergeben wir die zwei Seiten einer
Postkarte. Wir haben uns jahrelang an
Weihnachtskarten für Freunde und
Familie ausgetobt. Nachdem wir dann
unsere Postkarten immer wieder an
den Kühlschränken und Wänden unse-
rer Freunde fanden – auch außerhalb
der Weihnachtszeit –, dachten wir:
Das können wir auch für andere Men-
schen machen. Motto: Gute Postkar-
ten ziehen mit dem Kühlschrank um.
Wie läuft das Geschäft?
Zeitweise waren wir Pandemie-Gewin-
ner, vor allem während der Lock-
downs. Postkarten sind ein kleines
Glück. Romantisch. Ein Kraftbringer
für die Seele. Die meisten Menschen
leben schon noch hauptsächlich in der
haptischen Welt. Wir auch. Wir wollen
die vielen kleinen Gedanken und Grü-
ße, die wir über Facebook und Instag-
ram und was auch immer teilen, halt-
barer und spürbarer machen. Zum Ver-
reisen gehört eine Postkarte nach wie
vor dazu, der Kartengruß aus dem Ur-
laub ist relativ ungebrochen immer
noch da. Heute schreiben aber auch
rin demnach. Der costa-ricanische
stellvertretende Minister für öffent-
liche Sicherheit, Martín Arias, sagte
in einem Video, die Trümmer seien
etwa 28 Kilometer vom Flughafen
der östlichen Provinz Limón ent-
fernt im Meer entdeckt worden.
Arias machte keine Angaben dazu,
ob es Überlebende gegeben
haben könnte. Die Privat-
maschine habe sich auf
dem Weg von Mexiko
zum Flughafen der
Provinz Limón an der
Karibikküste befun-
den. Um 18.00 Uhr war
der Kontakt zu ihr
abgebrochen, wo-
raufhin sofort
Suchmaß-
5
nahmen
eingeleitet
wurden.
AFP
PICTURE ALLIANCE/ DPA/ MARIUS BECKER
MILLIONEN US-DOLLAR
Das war die Summe, auf die Rapperin
Cardi B, 30, von einem „gläubigen
Mann“ verklagt wurde, da sie seine
Rückentätowierung auf dem Cover ihres
Debüt-Albums zeigte – auf den Rücken
eines Models in sexuell anzüglicher
Pose montiert. Die Geschworenen ent-
schieden am Freitag zugunsten der
Musikerin. st
KSR GROUP
Caroline Peters, 51, Schau-
spielerin und Verlegerin
RAFAELA PRÖLL/
vermehrt junge Leute
Karten, die ihrer ange-
borenen Digitalität et-
was Neues hinzufügen
wollen.
Postkarte – das klingt so
nostalgisch wie Pferdekutsche.
Stimmen Sie zu?
Eine Postkarte ist alt und modern zu-
gleich. Wie Limonade. Oder die Eisen-
bahn. Oder das Auto. Alles Dinge, die
es in unsere Zeit geschafft haben, in-
dem sie sich immer wieder neu erfun-
den haben.
Als Schauspielerin sind Sie auf gro-
ßen Bühnen zu Hause, ob im Wiener
Burgtheater oder in Kinofilmen wie
„Der Nachname“, der gerade ange-
laufen ist. Wie viel Freude macht es,
mit einem Kunstpostkartenverlag
eine Nische zu bespielen?
Große Freude. Die meisten Menschen,
die wir mit unseren Karten in Kontakt
bringen, reagieren beglückt.
Eine Postkarte schreiben heißt: Man
muss mit der Hand schreiben. Eine
nahezu aussterbende Kunst. Erfüllt
Ihre Handschrift Ihre ästhetischen
Ansprüche?
Ich schreibe immer noch viel mit der
Hand, und wenn ich mich konzentrie-
re, ist es gut leserlich. Es ist ja wissen-
schaftlich bewiesen, dass wir Informa-
tionen besser verarbeiten, wenn wir
sie handschriftlich notieren. Aber in
Schönschrift hatte ich immer eine
Drei. Meine Aufsätze in der Schule ha-
ben mehr durch Inhalt bestochen.
INTERVIEW: FRANK LORENTZ
NACHRICHTEN
WATTENMEER
Mindestens zwei Tote
bei Fährunglück
Beim Zusam-
menstoß einer
Fähre mit ei-
nem Wasserta-
DPA/ ANTON KAPPERS
xi vor der nie-
derländischen
Insel Terschel-
ling im Wat-
tenmeer sind
am Freitag zwei Menschen ums Le-
ben gekommen, zwei weitere werden
noch vermisst. Medienberichten zu-
folge handelt es sich bei den Vermiss-
ten um einen Mann und einen zwölf-
jährigen Jungen. Die Ursache des Un-
falls wird derzeit untersucht. AFP
Wärmekraftwerk
für die SEELE
D
ie Nachmittagsvor-
stellung ist gerade
zu Ende gegangen,
nach dem Schluss-
applaus strömt eine
Menschenmenge
aus dem Zirkuszelt.
Manche mit fröhlichen, ja beseelten Ge-
sichtern, andere starren beim Gehen
auf ihre Handys. Eltern mit Kindern,
Reisegruppen, ein bunt gemischtes Pu-
blikum. Ein altes Ehepaar hält sich an
den Händen wie beim ersten Date, die
beiden müssen über 80 sein.
VON HEIKO ZWIRNER
Bernhard Paul nimmt sich Zeit für
ein Foto mit einer Zuschauerin aus Bre-
men, die ihm gerade Blumen überreicht
hat und zur Abendvorstellung wieder-
kommen will. Dann klingelt sein Tele-
fon, da muss er kurz ran. Es ist der
Mann von Wien-Marketing, dem er den
schönen Standort für seinen Zirkus zu
verdanken hat. „Du musst dir das neue
Programm anschauen, ja? Okay, dann
machen wir Dienstag“, sagt er ins Tele-
fon, bevor er sich dem Besucher zuwen-
det. „Sorry, das war wichtig.“
Es ist ein sonniger Herbsttag, der
Circus Roncalli hat sein Zelt gerade auf
dem Rathausplatz in Wien aufgeschla-
gen, zwischen dem Rathaus im Zucker-
bäckerstil und dem Burgtheater, wo die
österreichische Hauptstadt aussieht wie
ihre eigene Filmkulisse. Das Zelt ist ge-
säumt von einem Ring aus 80 Zirkus-
wagen, von denen einige über 100 Jahre
alt sind, der von Paul ist prachtvoll ein-
gerichtet. Wien ist ein Heimspiel für
den gebürtigen Niederösterreicher, fast
MUSIK-HACKER
18 Monate Haft für
Song-Diebstahl
Ein Hacker, der unveröffentlichte
Songs des britischen Popstars Ed
Sheeran und des US-Rapkünstlers Lil
Uzi Vert gestohlen hat, ist nach Anga-
ben der britischen Staatsanwaltschaft
zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt
worden. Der 23-Jährige aus Südeng-
land hatte die Cloud-Konten der Mu-
siker gehackt und verkaufte ihre
Songs im Darkweb gegen Kryptowäh-
rung. Nach Angaben der Londoner
Polizei erzielte der Mann damit
131.000 Pfund (150.000 Euro). Die
Kreativität der Künstler sei ihm völlig
gleichgültig gewesen, sagte eine Spre-
cherin der Staatsanwaltschaft. AP
Roncalli-Chef
Bernhard Paul
hat den Zirkus
als nostalgische
Traumwelt neu
erfunden. Bis heute
überlässt er nichts
dem Zufall
alle Vorstellungen sind ausverkauft. Als
Direktor und Clown in einer Person hat
er den Zirkus vor fast einem halben
Jahrhundert als nostalgische Traum-
welt neu erfunden. Aus Altersgründen
steht der 75-Jährige nicht mehr in der
Manege, er schaut sich auch nicht jede
Vorstellung an wie früher. Corona hatte
auch ihn erwischt und ganz schön aus
der Bahn geworfen. „Jetzt geht es wie-
der, aber am Anfang konnte ich nicht
E
mal die Faust ballen.“
nde Oktober erscheinen seine
Memoiren „Mein Weg zum Re-
genbogen“. Sie sind benannt
nach der berühmten Revue aus dem Jahr
1980, die für Pauls Ensemble den inter-
nationalen Durchbruch bedeutete und
mit der er auch die Menschen auf der
anderen Seite des Eisernen Vorhangs
zum Lachen und zum Staunen brachte.
Den Abgabetermin für das Manuskript
hat er nicht eingehalten. Paul ist keiner,
Hingabe zum Detail:
Zirkusdirektor Bernhard Paul
* WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022
GUTE ERNTE SEXUELLE ÜBERGRIFFE
Stabile Preise für Erfolg vor Gericht für
Weihnachtsbäume Kevin Spacey
Weihnachts- Nach zahlreichen Vorwürfen sexuel-
bäume werden ler Übergriffe hat Hollywood-Star Ke-
in diesem Jahr vin Spacey, 63, vor Gericht einen Er-
voraussichtlich folg verbuchen können: Eine Jury in
nicht mehr kos- New York hat ihn vom Vorwurf der
DPA/ MATTHIAS BEIN
ten als in den sexuellen Belästigung seines Kollegen
Vorjahren. Der Anthony Rapp, 50, freigesprochen.
Grund dafür sei Die Geschworenen glaubten der An-
eine außerge- schuldigung Rapps nicht, Spacey habe
wöhnlich gute Ernte, sagte Eberhard ihn 1986 sexuell bedrängt, wodurch er
Hennecke, Vorsitzender des Bundes- seelische Schäden davongetragen ha-
verbands der Weihnachtsbaum- be. In dem Prozess ging es um 40 Mil-
erzeuger der „Neuen Osnabrücker lionen US-Dollar Schadenersatz. Als
Zeitung“. Die Bäume seien schön das Urteil verlesen wurde, ließ Spacey
dunkelgrün und hätten fast keine im Saal seinen Kopf sacken, dann
Trockenschäden. epd umarmte er seine Anwälte. SR
wein malte hyperrealistische Schockge-
mälde. Paul wandte sich dem Zirkus zu,
der ihn schon als Kind fasziniert hatte.
„Das war damals eine Provokation“,
sagt Paul. Seine Mähne ist weiß und
schütter geworden, aber er trägt noch
immer einen buschigen Schnauzbart
und eine getönte Brille wie auf den alten
Fotos. Niemand aus seinem Bohème-
Umfeld habe es 1975 für eine gute Idee
gehalten, einen Zirkus zu gründen. Bis
auf den Aktionskünstler und Kulturma-
nager André Heller, der unbedingt dabei
sein wollte – eine Beziehung, die nach
wenigen Monaten in einem heftigem
Streit endete, bei dem es erst um Klei-
nigkeiten und dann um die grundsätzli-
che Ausrichtung der Show ging.
Paul ließ sich vom anfänglichen Miss-
erfolg nicht beirren und baute sich sei-
nen Traumzirkus aus den Überbleibseln
anderer Zirkusse, die er zusammenge-
kauft hatte. Inspiriert von den Filmen
Federico Fellinis, wollte er die Glanzzei-
ten einer Darbietungsform wieder aufle-
ben lassen, die Mitte der 70er-Jahre ein
trauriges Schattenda-
Artisten unter sein auf den Brachflä-
der Zirkuskuppel: chen am Stadtrand
Impressionen aus führte. Paul achtete da-
dem aktuellen
Roncalli-Pro-
rauf, sein Zelt stets an
zentralen Plätzen auf-
gramm „All For zubauen, er steckte sei-
Art For All“, das ne Mitarbeiter in Para-
Bernhard Paul deuniformen und sorg-
konzipiert hat te dafür, dass die Musik
nicht vom Band kam,
sondern von einem Orchester gespielt
wurde. Seine Shows waren keine bloße
Abfolge von Einlagen, sie hatten einen
Spannungsbogen, der sich über den gan-
zen Abend erstreckte. Zudem entwickel-
LUKAS BECK (3); CIRCUS THEATER RONCALLI (2)
te der Grafiker eine visuelle Identität,
die vom handgemalten Plakat über den
Schriftzug auf der Basstrommel bis zur
Eintrittskarte reichte. Auf seinem Handy
zeigt er Bilder von Zirkussen aus aller
Welt, die seinen Stil über die Jahre imi-
tiert haben. „Ich hatte einen Heißluftbal-
lon auf dem Plakat, auf einmal hatten al-
S
le einen Heißluftballon auf dem Plakat.“
chon eine kaputte Glühbirne in
der Lichterkette kann Paul auf
der schnell auf den Punkt kommt. Aber die Palme bringen, er ist berüch-
mit jeder Geschichte, die er erzählt, tigt für seinen Detailfanatismus. Bis
könnte man eine Zeitungsseite füllen. heute überlässt er nichts dem Zufall,
Die Freundschaft mit dem Volksschau- nicht einmal die Musik, die im Toilet-
spieler Heinz Rühmann, der bis ins hohe tenwagen gespielt wird, damit auch bei
Alter vom Lampenfieber geplagt wurde. der Pinkelpause eine angenehme Atmo-
Die Begegnung mit Andy Warhol, der sphäre herrscht. Es liegt sicher auch an
Roncalli nach New York holen wollte. diesem Auge für vermeintliche Neben-
Das Zitat von Charlie Chaplin, das Paul sächlichkeiten, dass Roncalli viele Tra-
erfand, um damit seinen Zirkus zu be- ditionsbetriebe überlebt hat. „Hagen-
werben – und das heute noch weit oben beck, Busch-Roland, Barum, Sarassani,
auftaucht, wenn man „Charlie Chaplin Althoff – alle weg“, sagt Paul. „Wir ha-
Zitate“ googelt: „Jeder Tage, an dem du ben 47 Jahre durchgehalten.“ Doch auch
P
nicht lächelst, ist ein verlorener Tag.“ bei Roncalli ist nicht alles so wie früher,
seit 2018 tauchen Tiere in den Vorstel-
aul hatte niemals Lampenfieber. lungen nur noch als Hologramme auf.
Bei seinen Auftritten als Zippo, Bei einer raffinierten 360-Grad-Projek-
der Clown, wurde er nur nervös, tion richten sich virtuelle Elefanten fast
wenn Leute im Publikum saßen, die er bis zum Zeltdach auf: ein Trugbild, das
bewunderte – der Schauspieler Gerd die alten Zeiten heraufbeschwört.
Fröbe, der Dirigent Leonard Bernstein, Mit seinem Perfektionismus und sei-
der Clown Oleg Popov. Als langjähriger nem Glauben an die Magie des Zirkus
Impresario ist er so mit seinem Zirkus hat Paul auch den Weg für Großproduk-
verwachsen, dass es heute kaum noch tionen wie den Cirque du Soleil geeb-
vorstellbar erscheint, dass es für ihn net, auch wenn er deren Überwälti-
auch eine Ära vor Roncalli gab. In sei- gungsästhetik eher skeptisch gegen-
nen Erinnerungen nimmt diese Zeit viel übersteht. „Da fehlt mir die Intimität
Raum ein. Wenn man sich die alten Fo- des Zeltes, die Nähe zu den Künstlern“,
tos anschaut, hätte sein Buch genauso sagt er. „Bei Roncalli bist du so nah
gut „Highway to Hell“ heißen können, dran, dass du die Schweißperlen der Ar-
denn mit seiner Mähne und seiner Mon- tisten siehst.“ Tatsächlich ist es kaum
tur sah Paul aus wie der Sänger einer möglich, sich dem etwas altmodischen
Hardrock-Band. Nach der Ausbildung Charme des Spektakels zu entziehen.
an der Höheren Graphischen Lehr- und Während der Vorstellung verwandelt
Versuchsanstalt in Wien wurde er zu sich das rote Zelt in ein Wärmekraft-
Beginn der 1970-Jahre Art Director des werk für die Seele, beim großen Finale
Nachrichtenmagazins „Profil“. An der kommen einem die Clowns und Akroba-
Hochschule hatte er sich mit den Künst- ten aus der Roncalli-Familie wie Freun-
lern Manfred Deix und Gottfried Heln- de aus der Kindheit vor. Aber was macht
wein angefreundet, die drei waren un- eigentlich Zippo, der Clown? „Gerade
zertrennlich. Deix zeichnete bösartige ist für ihn kein Platz im Programm“,
Karikaturen von Spießbürgern, Heln- sagt Paul. „Aber er kommt wieder.“

D
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
er Mann, der für die
Staatsanwaltschaft
Braunschweig einer
der wichtigsten
Zeugen der letzten
Jahre sein dürfte,
trägt eine schusssi-
chere Weste und eine schwarze Maske.
Er steht im Freien, hinter ihm ist ein
Wäldchen erkennbar, der Himmel ist
blau. Helge Büsching ist auf Korsika, er
gibt ein Video-Interview, und dafür hat
er sich so angezogen, als wolle er gleich
in den Krieg ziehen.
VON PER HINRICHS
„Du weißt doch gar nicht, mit wem du
dich anlegst“, raunt er mit dunkler Stim-
me in die Kamera. „Das ist ’ne brandge-
fährliche Sache“, behauptet der verklei-
dete Zeuge weiter. „Du weißt schon, dass
Leute von der Treppe gefallen sind? Der
Detektiv, der jahrelang recherchiert hat,
ist zu Tode gekommen“, sagt Büsching.
Dann brüstet er sich mit seinen Kon-
takten zum Bundeskriminalamt. Er ar-
beite seit drei Jahren mit einem „Rainer“
zusammen. „Wenn ich Probleme hab’,
rufe ich den an“, so Büsching. Die Identi-
tät des Polizisten ist WELT AM SONN-
TAG bekannt. Es handelt sich um einen
Ermittler, der einen Fall betreut, den die
ganze Welt kennt: das Verschwinden der
damals dreijährigen Madeleine McCann
aus einer Ferienanlage im portugiesi-
schen Praia da Luz im Jahre 2007.
Das Video-Interview, das er 2020 ei-
nem deutschen Journalisten gab und das
nie veröffentlicht worden ist, liegt
WELT AM SONNTAG vor. Der Mann
mag in dem Film wie eine Witzfigur wir-
ken. Doch er gab 2018 im wohl bekann-
testen Kriminalfall der Welt den ent-
scheidenden Hinweis auf Christian
Brückner. Der soll ihm 2008 auf einem
Hippiefestival in Spanien gestanden ha-
ben, Madeleine McCann entführt und
getötet zu haben. Bis jetzt ist ihre Lei-
che nicht gefunden worden.
Zurzeit sitzt Brückner wegen der Ver-
gewaltigung von Diana Menkes, damals
74 Jahre alt, in Haft. Das Landgericht
Braunschweig verurteilte ihn wegen
dieser Tat 2019 zu einer siebenjährigen
Gefängnisstrafe. Die Frau hatte er 2006
in Portugal vergewaltigt – da die Polizei
ein Haar sicherstellte, dessen DNA ihm
zugeordnet werden konnte, konnte der
Fall 2018 gelöst werden.
Der Mann mit der Maske ist auch der
Kronzeuge der Staatsanwaltschaft Braun-
schweig in der Anklage gegen Brückner,
die die Behörde in der vergangenen Wo-
che erhoben hat. Darin wirft sie diesem
vor, drei Vergewaltigungen begangen und
zweimal vor Kindern masturbiert zu ha-
ben. WELT AM SONNTAG konnte Ge-
richtsakten aus Portugal, England und
Deutschland auswerten.
EIN FALL VOLLER
UNGEREIMTHEITEN
Doch im komplexen Fall reihen sich Wi-
dersprüche und Ungereimtheiten anei-
nander. Nur bei einer der drei jetzt an-
geklagten Vergewaltigungen ist das Op-
fer überhaupt bekannt. Es handelt sich
um die Irin Hazel Behan, 39, die im Juni
2020 Fotos von Brückner sah, als dieser
als Hauptverdächtiger im Fall Maddie
präsentiert wurde. Behan meldete sich
sofort bei der Polizei und sprach seit-
NR. 43 *
Hazel Behan sprach mehrfach über
ihre Vergewaltigung
Die Staatsanwaltschaft hält Brückner
für einen Serien-Vergewaltiger
Eine Anklage
mit Fragezeichen
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat Christian Brückner
unter anderem wegen dreier Vergewaltigungen angeklagt. Sie
hat einen Kronzeugen, der Videos der Taten gesehen haben will.
Die sind jedoch verschwunden. Wie glaubwürdig ist der Mann?
dem mehrfach in der Öffentlichkeit
über das, was ihr in der Nacht zum 16.
April 2006 widerfahren sei.
Danach habe sie ein maskierter Peini-
ger mehrfach vergewaltigt und mit einer
ledernen Peitsche geschlagen. Schließ-
lich zog sie der Täter an den Haaren zum
Sofa ins Wohnzimmer und forderte sie
auf, sich hinzuknien und den Kopf zu
senken. In diesem Moment dachte die
Frau, dass er ihr mit dem Messer den
Kopf abschneiden wollte. Doch der
Mann sammelte seine Sachen ein, packte
sie in eine Tasche und verschwand durch
das Balkonfenster. Sie habe Brückner an
seinen Augen erkannt, so Behan.
Bei den anderen zwei Fällen gibt es nur
Helge Büschings Aussage. Der heute 51-
Jährige lebte in den 2000er-Jahren in Por-
Was stimmt, was nicht? Kronzeuge
Helge Büsching belastet Brückner
Verschwunden seit 2007: Madeleine
McCann, damals drei Jahre alt
tugal und verdiente seinen Lebensunter-
halt mit dem Diebstahl und Weiterverkauf
von Solarmodulen, die er von Dächern ab-
schraubte. Dabei half ihm ein Freund, der
Deutsche Manfred S. Die beiden lernten
Brückner im Jahr 2006 kennen.
Büsching und Manfred S. erfuhren
kurz nach der ersten Begegnung mit
Brückner, dass dieser wegen des Dieb-
stahls von Diesel im Gefängnis saß. Da-
raufhin beschlossen sie, in sein Haus
einzubrechen, um Wertgegenstände zu
stehlen. Büsching gab bei der Polizei an,
zwei Kameras der Marke Sony gefunden
zu haben – sowie eine grau übermalte
Schwimmbrille. Er nahm die Kameras
und etwa 20 Videokassetten mit. Mit
der Beute fuhr er zu seinem Wohnwa-
gen, den er bei einem deutschen Aus-
LEBEN 11
Brückner-Kassetten gesehen zu haben.
Dabei handelte es sich um ein etwa 14-
jähriges Mädchen, das gefesselt an ei-
nen Holzpfahl gequält wurde; auch dort
war Brückner der Aussage Büschings
zufolge erkennbar. Den Pfahl habe Bü-
sching in Brückners Haus gesehen.
Der Zeuge will die Videos seinem Kom-
plizen Manfred S. gezeigt haben, der sie
sich aber nicht vollständig angesehen ha-
be. Dann habe Büsching die Videos in sei-
nem Wohnwagen versteckt. Sie sind bis
heute unauffindbar. Doch die Staatsan-
waltschaft hat beide Fälle angeklagt.
Kein Opfer, keine Videos: Stimmt das
alles? Die Aussagen von Büsching und
Manfred S. weichen stark voneinander
ab. Während Büsching angibt, die Vi-
deos auf dem Kamerabildschirm gezeigt
zu haben, sagt Manfred S., dass sie die
Filme auf einem Fernseher gesehen hät-
ten. Er kann zudem nicht so detailliert
schildern, was zu sehen gewesen ist.
MAL STIMMT DIE
AUGENFARBE, MAL NICHT
Auch die Überzeugung der Staatsan-
waltschaft, Hazel Behan habe ihren Pei-
niger zweifelsfrei identifiziert, wird im
THE LATE LATE SHOW/RTE; DDP/THE SUN/NEWS LICENSING/DAN CHARITY; AP; DPA/REAL MADRID TV
anstehenden Gerichtsverfahren eine
Rolle spielen. Denn Behan will den Täter
an seinen blauen Augen erkannt haben,
die durch die Maske hindurchblickten.
In einem anderen Fall reichte das gera-
de nicht: Im Falle Diana Menkes nämlich
sagte das Opfer Jahre nach der Tat aus,
dass der Vergewaltiger braune Augen ge-
habt habe. Da Brückner blaue Augen hat,
taten die Richter diesen Widerspruch im
Urteil als lässlich ab; der Irrtum sei auf
die verstrichene Zeit zurückzuführen.
Hazel Behan wiederum gab weiter an,
dass der Täter eine Tätowierung an ei-
nem Oberschenkel in Form eines Kreu-
zes trug. Ein solches Mal ist aber bei ei-
ner erkennungsdienstlichen Behand-
lung Brückners im Sommer 2022 nicht
erkennbar gewesen.
Die Staatsanwaltschaft schaltete das
BKA ein und beauftragte die Behörde
mit einer „Operationellen Fallanalyse“:
Profiler sollten nach ähnlichen Fällen in
einer europaweiten Datenbank suchen.
Doch sie fanden keine – und aufgrund
der Ähnlichkeiten bei den Fällen gingen
die Ermittler davon aus, dass Brückner
auch der Täter im Fall Behan sein muss.
Brückners Verteidiger, der renom-
mierte Anwalt Friedrich Fülscher aus
Kiel, ist auf diese Widersprüche bereits
im Sommer 2022 in einem Antrag auf
Wiederaufnahme im Fall Menkes einge-
gangen. Fülscher sieht in dem Ergebnis
der BKA-Analyse einen Zirkelschluss.
wanderer, einem Tätowierer, der sich Weil sein Mandant wegen der Vergewal-
„Cheyenne“ nennt, untergestellt hatte. tigung verurteilt worden sei, käme er
Im Wohnwagen will er sich die Filme für die Ermittler automatisch für alle
zum ersten Mal angesehen haben. weiteren ähnlichen Fälle in Betracht.
Nach einigen harmlosen Urlaubsvi- Das habe keine Beweiskraft.
deos von Touristen stieß er nach seiner Der Prozess soll im Frühjahr 2023 am
Aussage auf einen Film, der ihn scho- Landgericht Braunschweig beginnen. Er
ckiert habe. Dort sei die Vergewaltigung dürfte Journalisten und Besucher aus al-
einer 70 bis 80 Jahre alten Frau zu se- ler Welt anziehen. Denn wenn Brückner
hen gewesen, die mit gefesselten Hän- auch nicht wegen des Falls Madeleine vor
den auf dem Rücken auf einem Bett lag Gericht steht, dann macht seine mögliche
– und eine grau übermalte Schwimm- Verwicklung in den Fall das anstehende
brille trug. Büsching will Brückner so- Verfahren zu einem Großereignis.
fort erkannt haben, als der ins Bild lief. Helge Büsching wird dann viele Fragen
Wer die Frau war und ob sie heute beantworten müssen. Im Video fragte ihn
noch lebt, ist unklar. Niemand zeigte der deutsche Reporter, was er von Made-
die Tat an, auch nicht nach den Zeugen- leine McCanns Verschwinden wisse. Da
aufrufen. Büsching berichtete weiter, überlegt der Mann mit der Weste kurz.
auch eine zweite, ähnliche Tat auf den Dann sagt er: „Dazu kann ich nix sagen.“
WIE ES IST
Wenn es bei
der Hochzeit
Feueralarm gibt
HENDRIK MAUL
HENDRIK MAUL, 27, IST SEIT 2017 STANDES-
BEAMTER IN EINER KLEINEN GEMEINDE IM
HESSISCHEN ODENWALD. DORT ERZÄHLEN
IHM MENSCHEN, WIE UND WO SIE SICH VER-
LIEBT HABEN – UND MAUL HÖRT DABEI
MANCHMAL ERSTAUNLICHE GESCHICHTEN
V
or mir saß mal eine Hochzeits-
gesellschaft, etwa 40 Perso-
nen, darunter 25 Feuerwehr-
leute. Auch das Brautpaar war in der
Feuerwehr. Feuerwehrleute haben
üblicherweise immer einen kleinen
Funkmeldeempfänger für Notfälle
dabei. Und der hat dann mitten in der
Trauung überall im Raum Alarm ge-
schlagen: Der halbe Raum ist aufge-
sprungen und rausgerannt, sogar der
Bräutigam und die Braut – die aber
mit ihrem Kleid ein bisschen langsa-
mer war. Ein paar Minuten später ka-
men sie dann zurück: Sie hatten ver-
gessen, dass es nur der Probealarm
war, der jeden Monat einmal stattfin-
det. Die Hochzeit konnte also weiter-
gehen. Das werde ich so schnell nicht
vergessen. In dieser Woche findet
meine 80. Trauung statt. Seit 2017 ar-
beite ich als Standesbeamter in der
kleinen Gemeinde Fischbachtal in
Hessen. Manchmal stehe ich jeden
Tag da und traue Menschen. Das kön-
nen an einem Samstag schon auch
mal vier Trauungen nacheinander
sein. Und wenn jemand kurzfristig
nach Terminen fragt, dann hänge ich
noch eine fünfte dran. Am Termin
soll die Hochzeit nicht scheitern. Die
Arbeit ist immer etwas Besonderes:
Ich sehe ständig neue, unterschiedli-
che Menschen, die mir erzählen, wie-
so sie sich lieben – und die darf ich
dann verheiraten.
Leute lernen sich immer öfter über
Tinder kennen. Aber das ist nicht die
Regel: Einmal habe ich einen Richter
und eine Oberstudienrätin getraut, ei-
gentlich eher etwas steifere Leute,
denkt man. Aber wo haben die sich
kennengelernt? Auf einer Swinger-
Party. Neben solchen schönen Ge-
schichten gibt es auch Überraschun-
gen: Vor drei Jahren habe ich im Mal-
lorca-Urlaub ein Paar am Strand ken-
nengelernt. Die hatten vor zu heira-
ten, aber wussten nicht so richtig, wie
das funktioniert – da konnte ich natür-
lich ein bisschen was zu erzählen. Und
drei Wochen später sind sie aus Augs-
burg zu mir ins Fischbachtal gekom-
men und haben sich das Jawort gege-
ben. AUFGEZEICHNET VON KEVIN CULINA
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LEBEN
WELT AM SONNTAG NR. 43
GAMMA-KEYSTONE/GETTY IMAGES
KRIMI AM
SONNTAG
VON PER HINRICHS
Boateng
will’s wissen
K
ein Deal, auch heute nicht. Der
Angeklagte geht nicht auf das
Angebot des Vorsitzenden ein,
am Donnerstag noch als freier, aber
vielleicht ärmerer Mann aus dem Ge-
richtssaal im Landgericht München zu
gehen. Er wäre nach wie vor schuldig,
hätte aber über die Höhe der Strafe aus
der ersten Instanz – 1,8 Millionen Euro
– verhandeln können. „Es hilft nichts“,
sagt Richter Andreas Forstner und
zuckt ein wenig resigniert mit den
Schultern. Dann tritt er ein in die Be-
weisaufnahme im Berufungsverfahren
gegen Jérôme Boateng und befragt die
frühere Lebensgefährtin des Fußball-
stars, die angibt, von dem heute 34-Jäh-
rigen geschlagen worden zu sein. So er-
zählt die junge Frau, mit der Boateng
von 2007 bis 2018 eine „On-off-Bezie-
hung“ führte, dann am Donnerstag
noch einmal stundenlang von diesem
schicksalhaften Abend vor vier Jahren
im karibischen Urlaubsparadies.
In einem Luxusresort auf den
Turks- und Caicosinseln, in dem sie
und Boateng zusammen mit den Zwil-
lingstöchtern und Freunden ein paar
Tage verbrachten, eskalierte die Stim-
mung. Boateng habe ihr den Daumen
ins Auge gedrückt, ihr mit der Faust in
die Flanke geboxt und ihr „seine Zähne
in meinen Kopf gebohrt“. Er habe ihr
ins Gesicht gespuckt, sie mit einer
Kühltasche beworfen und aufs Übelste
beleidigt. Am Freitag bricht eine Zeu-
gin, die vor Gericht angab, gesehen zu
haben, wie Boateng seine damalige
Freundin attackiert habe, in Tränen
aus. Boatengs Bodyguards hätten sie
im Gerichtsgebäude gefilmt. „Da hat
man einfach Angst, dass man bedroht
wird“, sagt sie. Die Anwälte beruhigen.
Man habe lediglich „das Umfeld eru-
iert“, um „die Sicherheitslage Boa-
tengs“ bewerten zu können. Es habe
sich um eine reine „Objektabklärung“
gehandelt, und die Zeugin sei nicht ge-
zielt und auch nur von hinten gefilmt
worden. Vielleicht war es so, vielleicht
aber auch nicht. Die Staatsanwalt-
schaft stellt jedenfalls die Personalien
der Männer fest. Sicher ist sicher.
Roncalli-Chef Bernhard Paul: Kein Tag ohne Lächeln S.10
23. OKTOBER 2022 SEITE 12 *
MEIN LEBEN
ALS MENSCH
VON JAN WEILER
Los, Baby,
schleck es!
F
VOR 88 JAHREN
Hoch
ür mich gibt es drei Sorten
von Autorität. Da ist zunächst
jene, der ich mich als Bürger
hinaus
beugen muss. Auch wenn es mir
schwerfällt, wie neulich im Zug. Ich
saß allein in einem Abteil und hatte
keine Maske auf. Da öffnete sich die
Tür, und zwei Männer in Uniform
glotzten mich an. Da war viel zere-
Fast 45.000 Zuschauer kamen am brale Ergebnislosigkeit im Blick, das
23. Oktober 1934 zum Flugplatz nach muss man sagen. Der eine grunzte:
Dearborn im US-Bundestaat Michigan, „Maske auf.“ Ich sagte, dass ich sie
um einen besonderen Start zu beob- anlegen würde, wenn jemand ins Ab-
achten. Dort sollte sich eine Stahlkugel teil käme. Ich finde das infektions-
erheben, die an einem mit Gas gefüll- schutztechnisch ausreichend. Der
ten Ballon hing. In der Kapsel namens andere Mann sagte: „Setzen Sie die
„Century of progress“ saßen die bei- Maske jetzt auf, oder Sie verlassen
den Wissenschaftler Jean und Jeanette an der nächsten Haltestelle den
Piccard, zwei damals berühmte Ballon- Zug.“ Es ist sinnlos, gegen diese was-
fahrer, die für Messungen in die Stra- serbüffelartigen Ungetüme aufzube-
tosphäre aufsteigen wollten. Jeanette gehren, um danach zwei Stunden
Piccard hatte das Steuer in der Hand – lang auf dem Bahnsteig von Plochin-
als erste lizensierte Ballonpilotin der gen rumzustehen. Also zog ich die
USA. Das passte nicht allen. Einige Maske über mein Gesicht.
Sponsoren kündigten die Verträge, als Die zweite Sorte Autorität ist jene,
klar wurde, dass Jeanette Piccard das der ich mich nicht unterordne, weil
Kommando haben würde. Das Ehepaar ich es selbst entscheiden kann. Zum
startete trotzdem und erreichte wäh- Beispiel begebe ich mich nicht unter
rend seiner achtstündigen Fahrt eine das Joch meiner Tochter. Die hat an-
Höhe von 17,5 Kilometern. Jeanette geordnet, das Wort „Frau“ nicht
Piccard hielt damit für drei Jahrzehnte mehr zu verwenden. Es sei bereits ei-
den Höhen-Weltrekord für Frauen. ne normative Zurücksetzung. Ich soll
Der Ausflug an die Grenzen des Him- nur noch über „Person mit Uterus“
mels endete mit einer Bruchlandung in und „Person ohne Uterus“ schreiben.
Ohio. Später scherzte die Pilotin über Das ist mir aber zu doof. Ich fragte
den verrumpelten Abschluss der Re- Carla, ob ich nicht auch „Person mit
kordfahrt: „Was für ein Unglück! Ei- Glied“ und „Person ohne Glied“ sa-
gentlich wollte ich auf dem Rasen vor gen könne. Aber das fand sie komi-
dem Weißen Haus landen.“ per scherweise diskriminierend. Ich bot
ihr eine Banane an und fragte, ob sie
Lust auf eine Dschungelwurst habe.
W
Anstatt über diesen astreinen Dad-
Joke zu lachen, erklärte sie mir, dass
der Begriff „Dschungelwurst“ ers-
tens Veganer diffamiere und zwei-
enn sich Deutsche Ge- Schwind witzeln nicht nur, sondern ver- Podcast hat seit 2018 immer mehr Hö- WAS BEWEGT DIE WELT? tens die Banane als Hauptnahrungs-
danken über ihr Land suchen im Gespräch zu ergründen, wo- rer gefunden. „Ein paar Tausend“ seien mittel von Dschungelbewohnern lä-
machen, klingt das her der germanische Akademikerstolz es, so Schwind, genaue Zahlen mögen cherlich mache und damit auch alle
meist düster. Den kommt (Ihre These: Offensives Zur- die beiden nicht verraten – bei nur fünf NEUSEELAND Personen mit und ohne Uterus, die
„kranken Mann Europas“ nennen sie ih- schaustellen der eigenen Intellektuali- Millionen Einwohnern ist es schwierig, GETEILTE FREUDE im Urwald lebten. Es sei ein typi-
re Heimat, vom „Abstieg eines Super- tät und Selbstvergewisserung einer Bür- einen großen Hörerstamm aufzubauen.
stars“ ist die Rede, von rechenschwa- gerlichkeit, die mit Bildung einhergeht). Dafür gelten die beiden als Germania-
Der australische Autor Thomas Ke-
neally („Schindlers Liste“) hat den
sches Beispiel für eine toxisch-kolo-
nialistische Perspektive auf die fru-
chen Schülern, Flüchtlings- und Ener- Schwind lebt seit 2010 in der norwe- Experten: „Uns rufen norwegische
giekrise und, wahlweise, entweder ei- gischen Hauptstadt und hat früher für Journalisten und Institutionen wie das
Buchpreis ARA Historical Novel Prize
gewonnen. Das Preisgeld in Höhe von
gale Situation in der Dritten Welt.
Darauf muss man erst mal kommen.
nem aufgeblähten Sozial- Goethe-Institut oder die rund 30.000 Die dritte Art von Autorität ist jene,
staat oder einem durch Handelskammer an, Euro teile er der ich mich gerne unterordne. Ich
Kahlschlag bedrohten Ge- wenn sie Fragen zu nun mit den spreche von jener Autorität, die Foto-
S. PADOV/ AWAKENING/ GETTY IMAGES
meinwesen. Wie ein Deutschland haben“, sagt Nominierten. grafen zu eigen ist. Alle paar Jahre ver-
Nicht
dunkler Vogel kreist zu- Schwind. So kann man Der 87-Jährige fügt mein Verlag, dass neue Bilder von
dem die jüngere Vergan- „Tyskerne“ auch als eine wolle helfen – mir gemacht werden müssen für den
genheit über der Repu- Art Influencer-Podcast es sei schwer, Fall, dass ich den Nobelpreis erhalte.
blik, die daher ein gestör- betrachten, der Werbung als Schrift- Dann braucht man anständige Fotos
schlecht,
tes Verhältnis zu sich für den südlichen Landes- steller seinen für die Presse. Es hieß, ein junger und
selbst hat. Immerzu ist nachbarn macht. Lebensunter- sehr berühmter Fotograf werde mich
Angst und Krise. Die beiden Podcaster halt zu ver- ablichten, und ich freute mich darauf.
Doch mit dieser stehen mit ihrer Begeiste- dienen. Fotografen wissen, wie man ein pro-
selbstgeißlerischen Sicht
auf sich selbst stehen die
Teutonen, immerhin Be-
wohner des wirtschaft-
Deutschland rung nicht allein da. Erst
2021 veröffentlichte der
britische Journalist John
Kampfner das Buch „Wa-
GROSSBRITANNIEN
BILDER DER TÄTER
blematisches Motiv wie mich am bes-
ten in Szene setzt. Es ist klug, dann al-
les mit sich machen zu lassen.
Ich musste mich an einer belebten
Im Podcast „Tyskerne“ erzählen
lich stärksten Landes rum Deutschland es bes- In London hat die Ausstellung „Seeing Straße einfinden und war pünktlich.
Europas, beinahe allein ser macht: Ein bewun- Auschwitz“ eröffnet. Gezeigt werden Der sehr junge Fotograf war schon
da – jedenfalls, wenn
man den (nur auf Nor-
zwei Osloer vom Nachbarn südlich dernder Blick von außen“.
Während anderswo auto-
Fotos aus einem Album, das ein Holo-
caust-Überlebender entdeckt hatte.
da und befahl mir, mich auf die Kreu-
zung zu setzen, wo er mich zwischen
wegisch verfügbaren) von Norwegen – und wurden so ritäre Politiker und Popu- Enthalten waren 193 Bilder, aufgenom- zornigen Pendlern fotografierte.
zu Deutschland-Influencern
Podcast „Tyskerne“, also listen regieren, sei die Re- men von SS-Männern, die die Ankunft Dann sollte ich wild winkend einer
„Die Deutschen“ hört. In publik ein Bollwerk aus der Menschen Straßenbahn hinterherlaufen. Ich
mittlerweile 126 Episo- Anstand und Stabilität, und die Aus- lief, und er schrie: „Schneller Baby,
den besprechen der ge- das Krisen ruhig und wahl derjeni- gut so, lauf!“ Als Nächstes musste
AUSCHWITZ-BIRKENAU STATE MUSEUM
bürtige Frankfurter Au- pragmatisch wegregiere, gen, die in die ich ein Softeis essen, also schlecken,
tor und Medienwissen- so Kampfner. Gaskammern richtig schlecken. Ich schleckte wie
schaftler Kai Schwind Auch Ingrid Brekke geschickt wer- verrückt, aber nicht nach seinen Vor-
und die Journalistin Ing- kennt das Land gut. Sie den sollten, stellungen. Er nahm mir das Eis weg
BY COURTESY MUSEALIA/
rid Brekke über Phäno- war lange Berlin-Korres- dokumentier- und schleckte mir was vor. Ich ver-
mene wie Angela Merkel, pondentin für ihre Zei- ten. Die Aus- suchte, es nachzumachen, und er
die Wahl in Niedersach- tung „Aftenposten“ und stellung läuft rief: „Gib’s mir, geiles Bild, los,
sen, Nina Hagen und wa- hat eine Merkel-Biografie noch bis Ende schleck es richtig.“ Ich glaube nicht,
rum hierzulande so viel sowie ein Buch über den Dezember. dass das jemand sehen will, und kle-
Wert auf den Doktortitel jüngsten Machtwechsel ckerte mich voll wie ein Krippenkind
ARCHIV SCHWIND
gelegt wird. Die beiden geschrieben („Das Land beim Zooausflug. Nach zwei Stun-
Osloer diskutieren über der gebrochenen Herzen. DEUTSCHLAND den sollte ich mich dann breitbeinig
deutsche Genderspra- Ein Einblick in deutsche DOKTOR MAUS auf eine Bank setzen und eine Zigar-
che, den Adel und freuen Politik“). Ihr gefallen die Der Miterfinder und Produzent der „Sen- re rauchen. Er befahl mir, mich
sich an lustigen Wörtern. Ingrid Brekke und Kai Hanno Schwind deutschen Debatten, die dung mit der Maus“, Armin Maiwald, hat obenrum frei zu machen. Ich wollte
Brekkes Favoriten: thematisch „über die Lan- die Ehrendoktorwürde der Rheinisch- gerade willfährig mein Hemd auf-
Schnapsidee, Glückspilz desgrenzen hinausgehen Westfälischen Technischen Hochschule knöpfen, als hinter dem Fotografen
und Treppenwitz. und sehr ernsthaft sind“. (RWTH) Aachen erhalten. Mit seinen eine Stimme rief: „Was machst du
Als die beiden in der In Norwegen lasse man „Sachgeschich- denn da?“ Das war der echte Foto-
Epsiode Nr. 95 dann über die beiden in den hessischen Rundfunk gearbeitet. häufig zwei Menschen im Fernsehstu- ten“ habe Mai- graf. Der andere war nur sein Assis-
Deutschland so wichtigen Buchstaben Die Idee zum Podcast kam auf, als Ing- dio aufeinander los, die völlig unter- wald Generatio- tent. Es war wie beim Zauberlehr-
vor dem Vornamen sprachen, spielten rid Brekke ihn vor ein paar Jahren schiedlicher Auffassung seien, und nen von Kin- ling. Er hatte die Verspätung seines
sie einen alten O-Ton aus den 90er-Jah- interviewte. „Wir hatten gleich einen „schaut einfach, wer gewinnt“. dern Wissen- Meisters dafür genutzt, auch mal ein
PA/ DPA/ ROLF VENNENBERND
ren von Altkanzler Helmut Kohl ein, der guten Kontakt, und sie als ehemalige Schwind, der schon „gut im Integrati- schaft und bisschen zu zaubern. Der Fotograf
in einer Menschenmenge einen Bürger Berlin-Korrespondentin interessiert onsprozess vorangekommen“ ist, fällt Technik ver- nahm ihm die Kamera weg und
anpfeift, er möge ihn mit „Dr. Kohl“ an- sich sehr für das Land. Die Idee zum bei Besuchen in der Heimat mittlerwei- ständlich näher- machte die Fotos mit mir, vier Moti-
reden. Norweger, die sich sämtlich mit Podcast kam uns im Café ,Liebling‘ im le auf, wie hektisch und nervös das Le- gebracht, erklär- ve in zwanzig Minuten. Ich hoffe
Vornamen ansprechen, finden das na- Viertel Grünerløkka.“ ben in Deutschland abläuft. „Hier in te die Hoch- jetzt, dass er die Bilder seines Assis-
türlich saukomisch. Dort spielen Titel Das Café, das einst Deutsche betrie- Norwegen sind alle insgesamt gelasse- schule am tenten löscht. Wenn die irgendwo
praktisch keine Rolle. Aber Brekke und ben, gibt es schon nicht mehr, aber der ner. Das mag ich schon.“ PER HINRICHS Samstag. auftauchen, bin ich geliefert.
THEMA
WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022 SEITE 13

Bundeswehrstand
auf dem
Heavy-Metal-

OLIVGRÜNE
Festival in Wacken

Zeitenwende
Auf der Suche nach Rekruten fährt die Bundeswehr
zu Festivals, Messen und Autorennen. Sie erfährt dort,
dass viele Deutsche ihr plötzlich wohlwollender begegnen

Von Sebastian Gubernator und Florian Sädler

Fotos: Marlene Gawrisch

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14 THEMA
Es ist ein grauer Samstagmorgen, als die Solda-
tin Yvonne Köhler in Brandenburg auf die Zu-
kunft der Bundeswehr wartet. Sie steht auf dem
Gelände einer Rennstrecke, der Wind weht das
Brüllen von Motoren heran, und in einiger Ent-
fernung kann Köhler die Zuschauer auf der Tri-
büne erahnen, klein und bunt wie Stecknadel-
köpfe. Es regnet.
„Ist mir egal, wie das Wetter ist“, sagt Köhler.
„Die Guten finden so oder so zu uns.“
Köhler, eine Frau von 40 Jahren mit blondem
Pferdeschwanz, hat im Kosovo gedient und in
Mali, ihren bedeutendsten Einsatz aber hat sie in
Deutschland gehabt. Köhler ist seit Jahren Teil
einer fast unmöglichen Mission. Sie und ihre Ka-
meraden sollen dafür sorgen, dass die Bundesre-
publik wieder eine wehrfähige Armee bekommt.
Jahrzehntelang ist die Bundeswehr klein-
gespart worden. Nach dem Kalten Krieg war die
Welt vermeintlich voller Freunde, die Zahl der
deutschen Soldaten sank seither von 500.000
auf 183.000. Kasernen wurden geschlossen, die
Wehrpflicht wurde erst verkürzt, dann ausge-
setzt. Einsätze fanden in weit entfernten Regio-
nen statt. Die Vorstellung, dass deutsche Solda-
ten ihr Heimatland gegen Angreifer verteidigen
müssen, erschien absurd. Seit am 24. Februar
dieses Jahres Russland die Ukraine angegriffen
hat, liegen die alten Haltungen und Gewisshei-
ten in Trümmern. Kanzler Olaf Scholz beschwor
im Bundestag eine „Zeitenwende“ und ver-
sprach ein Sondervermögen von 100 Milliarden
Euro für die Bundeswehr. Da eine funktionieren-
de Armee nicht nur Panzer, Flugzeuge und U-
Boote braucht, sondern auch Personal, soll die
Truppe in den kommenden fünf Jahren um
20.000 Soldaten wachsen. Sie braucht dafür
Männer und Frauen, die bereit sind zu einem Be-
rufsleben in Befehlsform. Bereit, im Zweifelsfall
in den Krieg zu ziehen.
Das ist die Aufgabe von Hauptbootsmann
Yvonne Köhler. Sie rekrutiert Soldaten, die Bun-
deswehr nennt Köhler und ihre Kameraden
„Karriereberater“. Da sie es sich nicht leisten
können, auf Interessenten zu warten, fahren sie
oft quer durch die Republik, zu Messen und Fes-
tivals. Sie treffen auf ein Land, das es sich in ei-
nem trügerischen Frieden bequem gemacht zu
haben schien.
Auf dem Lausitzring findet an diesem Tag eine
deutsche Meisterschaft statt. Sportwagen mit
Heckspoilern jagen über die Fahrbahn. Neben
dem Fahrerlager, weißen Pavillons, in denen Me-
chaniker an Autos schrauben, hat die Bundes-
wehr einen riesigen Sattelauflieger in Tarnfar-
ben abgestellt, 14 Meter lang, mehr als sechs Me-
ter hoch. Es ist eine Art fahrbarer Messestand,
ausgestattet mit Bildschirmen, Sitzpolstern und
einem Kickertisch. Davor stehen ein Spähwagen,
ein Transportpanzer, eine Bodenstation mit An-
tenne. Mehrere Soldaten, breitschultrige Män-
ner in Flecktarn, warten darauf, Fragen von Be-
suchern zu beantworten.
WELT AM SONNTAG hat die Rekrutierer in
den vergangenen Monaten zu mehreren Termi-
nen begleitet und mit Soldaten gesprochen, die
erst seit ein paar Monaten bei der Armee sind.
Die Bundeswehr hat verstanden, dass sie auf-
fallen muss. Seit der Bundestag im Jahr 2011 die
Wehrpflicht ausgesetzt hat, steht die Armee im
Wettbewerb mit anderen Arbeitgebern. Also
tritt sie auf wie andere Arbeitgeber auch. Sie hat
sich ein einheitliches Design gegeben wie ein
modernes Unternehmen, ein Tarnmuster aus
grünen und braunen Flächen. Sie hat Serien fürs
Internet drehen lassen, in denen Soldaten be-
gleitet werden wie die Stars einer Reality-Sen-
dung im Fernsehen. Sie plakatiert in Bahnhöfen,
an Bushaltestellen und macht Werbung im Kino.
Und sie fährt mit schwerem Gerät durch
Deutschland, zu Autorennen und Musikfestivals.
Yvonne Köhler hat sich für den Tag am Lau-
sitzring die Uniform in Tropentarn übergezo-
gen, die sie in Mali getragen hat. Wegen des Re-
gens ist weniger los als sonst. Ein paar Kinder
klettern in den Spähwagen, Eltern fotografieren,
Männer umrunden mit staunendem Blick den
Transportpanzer. Hin und wieder interessiert
sich jemand für einen Job bei der Bundeswehr.
Viele von ihnen sind minderjährig, wie ein
Junge von 14 Jahren, der eine Ausbildung ma-
chen will, aber noch nicht weiß, in welchem Be-
ruf. Schüchtern steht er neben seiner Mutter,
während sie erzählt, dass er „von klein auf bei
der freiwilligen Feuerwehr“ sei. Wenn alles nach
Plan laufe, werde er in zwei Jahren mit der Schu-
le fertig sein, Mittlere Reife. Vielleicht, deutet
die Mutter an, werde es auch nur ein Haupt-
schulabschluss.
Köhler holt einen Flyer mit Ausbildungsberu-
fen aus einem Karton und erklärt, dass die Bun-
deswehr auch zivile Angestellte habe, ganz ohne
Uniform und Waffe.
WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022
Später winkt sie eine Jugendliche zu sich,
ebenfalls 14. Sie will in zwei Jahren ihren Real-
schulabschluss machen und Krankenpflegerin
werden. Ihre Schwester, Stationsleiterin in ei-
nem Krankenhaus, habe erzählt, dass das auch
bei der Bundeswehr gehe.
Es gebe zwei Optionen, erklärt Köhler, den zi-
vilen und den militärischen Bereich. „Wo ver- Ein Land und seine
dient man mehr Geld?“, will der Vater des Mäd- Armee: Hauptbootsmann
chens wissen. Yvonne Köhler (großes
Nach dem Krieg in der Ukraine fragt an die- Foto unten) und der
sem Tag niemand. Das sei normal, wird Köhler Alltag ihrer Rekrutie-
später sagen. Sie hat die Erfahrung gemacht, rungsmissionen
dass sich die jungen Bewerber kaum für Politik
interessieren. Auch dann nicht, wenn es um Fra-
gen von Krieg und Tod geht. Viele wissen auch
nicht, wo die Bundeswehr gerade im Einsatz ist.
Der 17-Jährige, der nach dem Abitur zur Mari-
ne will, ist eine Ausnahme. Sein Vater war bei der
Bundeswehr, sein Großvater bei der NVA. Er
selbst, so erzählt er es, sei schon zu einem Trup-
penbesuch in Kiel gewesen, habe sich die Kaser-
ne angeschaut und mit Soldaten geredet. Er wol-
le die Welt sehen, auch die schlechten Seiten,
denn nur so lerne man schätzen, wie gut es ei-
nem gehe. „Kommt man kaputt aus einem Aus-
landseinsatz zurück?“, fragt er zögerlich.
„Man hat schon mit Tod und Verwundung
zu tun“, antwortet Köhler. Sie macht ein erns-
D
tes Gesicht.
er Krieg in der Ukraine verschafft der
Bundeswehr ungewohnte Aufmerksam-
keit. Politiker, die sich für Pazifisten
hielten, bereuen jetzt öffentlich, den Wehrdienst
verweigert zu haben. Verteidigungsexperten er-
klären in Talkshows, wie die Panzerhaubitze
2000 funktioniert. Und Menschen im ganzen
Land fragen sich, was für eine Armee Deutsch-
land braucht. Eine, die gut ausgerüstet ist, lautet
oft die Antwort.
„Die Bundeswehr“, sagt Yvonne Köhler, „ist in
der Gesellschaft angekommen. Und sie ist gut,
wie sie ist.“
In Gesprächen wie denen am Lausitzring,
Hunderten im Jahr, lernt Köhler die unter-
schiedlichsten Menschen kennen. Arbeiterkin-
der, Bäckersöhne, Lehrertöchter. Manche haben
ein vages Interesse an der Bundeswehr, andere
genaue Vorstellungen. Die einen sagen, dass sie
Hierarchien mögen, andere freuen sich auf die
Kameradschaft. Viele suchen einfach einen si-
cheren Job. So fing es auch für Köhler an.
Sie wurde in Prenzlau geboren, nordbranden-
burgische Provinz. Weil ihre Mutter alkohol-
krank war, wuchs sie bei ihren Großeltern auf.
Köhler erinnert sich an eine strenge Erziehung,
an ihre Angst, mit schlechten Noten aus der
Schule zu kommen. Über das Militär wurde in
der Familie nie gesprochen. Der Zweite Welt-
krieg hatte die Großeltern traumatisiert, vermu-
tet sie heute. Als im Radio die Meldung vom
Mauerfall kam, war sie sieben. Sie stand, erzählt
sie, mit ihrer Großmutter im Schlafzimmer und
machte die Betten. Mit 16 schloss sie die Real-
schule ab. In der Region gab es kaum Ausbil-
dungsplätze, zwei Jahre lang verschickte sie Be-
werbungen und bekam nur Absagen. Dann, im
Januar 2001, ließ die Bundeswehr zum ersten
Mal auch Frauen den Dienst an der Waffe leis-
ten, nachdem der Europäische Gerichtshof dies
in einem Urteil erzwungen hatte. So wurde Köh-
,,
ler noch im selben Jahr eine der ersten Rekrutin-
nen, die ihre Grundausbildung antraten.
Sie lernte, mit Sturmgewehr und Pistole zu
schießen, und baute ihre erste Dackelgarage, ein
flaches Zelt, das zwei Soldaten Schutz bietet. Sie
diente in Stadtallendorf bei Marburg und in
Oranienburg bei Berlin. Nach fünf Jahren wech-
selte sie vom Heer zur Marine, weil sie dort ei-
nen besser bezahlten Posten bekam. So hat sie
nach und nach Deutschland kennengelernt, den
Osten wie den Westen.
Köhler sagt, in der Grundausbildung ziehe
man sich eine Uniform an, erst nach und nach
verwandele man sich in einen Soldaten. Dieser
Beruf sei etwas Besonderes. Man sei ein kleiner
Teil von etwas Großem.
Wie vieles in Deutschland ist auch dieser Be-
ruf genau geregelt. Das Soldatengesetz umfasst
100 Paragrafen. Soldaten, heißt es da, müssen
der Bundesrepublik treu dienen. Sie müssen das
Recht und die Freiheit des deutschen Volkes ver-
teidigen. Es gibt einen Paragrafen, der Kamerad-
schaft definiert, und einen über Gehorsam. Die
Bundeswehr ist ein Kosmos, in dem Dinge zäh-
len, die außerhalb nicht selbstverständlich sind.
Mit 21 Jahren wurde Köhler in den Kosovo ge-
schickt. Das Land hatte einen brutalen Krieg
zwischen Serben und Albanern hinter sich, die
MAN HAT MIT TOD UND
Nato war eingeschritten. Jetzt sollten Soldaten
wie Köhler mit ihrer Präsenz verhindern, dass
die Lage wieder eskalierte. Ein halbes Jahr war
Köhler im Einsatz, als Kraftfahrerin und Aufklä-
rerin. Sie erinnere sich an ihre Angst vor Minen,
VERWUNDUNG ZU TUN
an Kriegsgräber und den Geruch von Verbrann-
tem. Mehr will sie darüber nicht sagen, sie blockt
das Thema ab, wenn man danach fragt.
Als sie 13 Jahre später, im Oktober 2016, in den
Kosovo zurückkehrte, war das Land sicherer ge-
worden. Köhler führte die Bar des Feldlagers, sie
kümmerte sich darum, dass ihre Kameraden
nach Dienstschluss Bier trinken und Billard spie- YVONNE KÖHLER, Rekrutiererin der Bundeswehr
len konnten. Sie brachte etwas Ablenkung in den
Einsatz. Ein wichtiger Job, sagt sie.
In ihrem letzten Einsatz, vor zwei Jahren in
Mali, tastete sie Frauen nach Sprengstoff ab, be-
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG NR. 43
,, WO VERDIENT
MAN MEHR
GELD?
VATER EINER INTERESSENTIN
Wesentlichen rekrutierten die Verbände in ihrer
jeweiligen Region. Und höhere Offiziersposten
bekleideten beispielsweise vor allem Westdeut-
sche. Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht, die
Bundeswehr erfasst die Herkunft der Soldaten
nicht nach Ost- und Westdeutschland.
Spricht man mit Soldaten, die schon im Dienst
waren, bevor die Wehrpflicht ausgesetzt wurde,
dann hört man, die Bundeswehr habe sich verän-
dert. Manche sagen, inzwischen werde „mehr
oder weniger jeder genommen“, auch „viele Trot-
tel“. Rekruten aus gut situierten Familien gebe es
zwar auch noch, sie seien aber seltener gewor-
den. Es komme vor allem die Mittel- und die Un-
terschicht. Auch die Ausbildung der Soldaten hat
sich geändert. Früher mussten Rekruten manch-
mal 30 Kilometer mit Gepäck marschieren, heute
sind es zwölf oder sechs. Dank der Arbeitszeit-
richtlinie der Europäischen Union sind sie nie
mehr als 48 Stunden pro Woche im Dienst. Die
neuen Stuben, die für die Kasernen geplant sind,
sehen aus wie Hotelzimmer. Eine Armee, die auf
Freiwillige angewiesen ist, muss etwas bieten.
Yvonne Köhler sagt, dass jetzt eine neue Ge-
neration zur Bundeswehr komme, der eine
„Work-Life-Balance“ wichtig sei. Die Bundes-
wehr passe sich den jungen Menschen an, nicht
umgekehrt. Manche in der Truppe sprechen von
„Verweichlichung“. Köhler hingegen findet es
gut, dass die Armee moderner wird.
Was das bedeutet, lässt sich an einem kühlen
Septembervormittag in Mecklenburg-Vorpom-
mern, nahe der polnischen Grenze begutachten.
Auf dem Gelände der Kürassier-Kaserne bei
Viereck, Standort des Panzergrenadierbataillons
411, richten Soldaten an diesem Mittwoch eine
Bundeswehr- Art interne Jobmesse aus. Rekruten, die in dieser
anwerber wie Kaserne gerade ihre Grundausbildung abge-
Marvin Euteneuer schlossen haben, sollen einen Eindruck davon
(oben rechts) bekommen, wie ihre Zukunft in der Bundeswehr
treffen auf ein Land, aussehen könnte.
das es sich in einem vor sie zum Arbeiten das Camp betraten. Einmal Ein paar Dutzend von ihnen touren über das
trügerischen Frieden stand sie auf einem Wachposten und sah Kinder Gelände. Auf einer Wiese können sie in Schüt-
bequem gemacht hat draußen im Müll spielen, sagt sie. Sie drückte ei- zen- und Transportpanzer klettern. Neben ei-
nem Kameraden ihr Fernglas in die Hand, drehte nem Waldstück am Kasernenrand führt ein
sich um und weinte. Yvonne Köhler hat zwei Scharfschütze mit gewaltigem Kinnbart sein
Kinder und ein Pflegekind. Sie hält die Welt für Präzisionsgewehr vor. Vor ihm liegen Tarnnetze
einen Ort mit vielen Problemen. Sie findet aber und Schalldämpfer, um ihn herum stehen ein
auch, dass die Bundeswehr diese Welt besser paar junge Männer und Frauen in Uniform. Auch
macht, zumindest ein bisschen. für die Bundeswehr sind solche Termine wie ei-
Zwischendurch, im August 2011, kurz nach ne Vorausschau auf die eigene Zukunft.
Aussetzung der Wehrpflicht, war Köhler Karrie- Da ist zum Beispiel Lennart, 22 Jahre alt, aus
reberaterin geworden. Seither arbeitet sie in Hamburg, der schon seit Längerem zur Armee
der Personalgewinnungsorganisation der Bun- wollte. Er hat vorher vorsichtshalber eine Aus-
deswehr, ein Begriff, der so klobig ist wie ihre bildung zum Lageristen abgeschlossen, „um was
Kampfstiefel. Zehn Jahre lang hatte sie ein Büro in der Hand zu haben“.
in Cottbus, im vergangenen Jahr wurde sie nach Da sind Daniel, 18 Jahre, aus Berlin, und Wuni-
S
Oldenburg versetzt. bald, 19, aus Magdeburg, beide sind sofort nach
dem Abitur zum Bund gegangen. „Samstag war
ie hat in den vergangenen Jahren viele Abiball und Montag Dienstantritt“, sagt Wunibald.
Klischees gehört, ein Bild davon, was die Er sei da vielleicht noch nicht wieder ganz nüch-
Bundeswehr angeblich oder tatsächlich tern gewesen, aber „dienstfähig, würde ich sagen“.
ist. Einige Zeit hieß es, sie sei eine ostdeutsche Da ist außerdem Wito aus Magdeburg, der mit
Unterschichtenarmee. Zum Beispiel im Jahr seinen 39 Jahren der Vater seiner Kameraden sein
2010. Damals wurden im Zusammenhang mit könnte. Wito ist Ingenieur, er hat promoviert,
dem Einsatz in Afghanistan einige Zahlen öffent- beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raum-
lich diskutiert. Von den 6391 Soldaten, die da- fahrt millionenschwere EU-Projekte geleitet, in
mals im Auslandseinsatz waren, stammten dem- Saudi-Arabien und Schweden gearbeitet. Dann
nach 3143 aus Ostdeutschland. Die Vermutung entschied er, lieber etwas für die Gesellschaft zu
war, dass Ostdeutsche häufiger zur Bundeswehr tun als für die Quartalszahlen eines Unterneh-
gingen, weil sie schlechtere Chancen auf dem mens. Er wurde Panzergrenadier in Viereck.
normalen Arbeitsmarkt hätten. In welche Einsätze er und die drei anderen künf-
Köhler sagt, sie mache diesen Unterschied tig geschickt werden, ist noch unklar. Die Bundes-
zwischen Ost und West nicht, und die Bundes- wehr hat aus Sicherheitsgründen darum gebeten,
wehr mache ihn auch nicht. Sie sagt aber auch, in dieser Geschichte nur Vornamen zu nennen.
dass es in manchen Regionen einfacher ist, Re- Keiner der vier Männer hat Freunde, die zur
kruten zu finden. Armee gegangen sind. Sie erzählen, dass ihre El-
Auf dem Lausitzring deutet Köhler mit ausge- tern sie überreden wollten, einen ungefährliche-
strecktem Arm zum Horizont. Dort zeichnen ren Beruf zu wählen. Von Anfeindungen, wenn
sich im Nebel die Umrisse eines riesigen Braun- sie uniformiert Bahn fahren. Vom Unverständnis
kohlebaggers ab. „Das Gerät da hinten“, sagt sie, mancher Freunde, die studieren. „Aber da sind
„ist für die Region hier maßgeblich. Danach doch die Nazis“, hätten sie gehört, in der Bun-
hört’s auch schon auf mit größeren Arbeitge- deswehr werde „von oben nach unten geprü-
bern.“ Aus ihrer Zeit in Cottbus weiß Köhler gelt“. Und wenn man erst mal drin sei, komme
noch, dass die Nachfrage dort im Karrierebüro man nicht mehr raus.
besonders hoch war. Ständig habe das Telefon Sie und ihre Kameraden sind in den vergange-
geklingelt, ein Sommerloch habe es nie gegeben. nen Monaten durch den Schlamm gekrochen.
In Oldenburg beispielsweise sei es ruhiger. Und haben gelernt, dass es nicht unglaublich viel
Experten wie der Historiker Sönke Neitzel ge- braucht, um Soldat zu werden. Körperliche Fit-
hen davon aus, dass Ostdeutsche in der Bundes- ness lasse sich antrainieren, sagen sie, das meis-
wehr nach wie vor überrepräsentiert sind. Sie te andere auch. Nur den Willen, den müsse man
halten die Formulierung von der ostdeutschen haben. Der bilde gewissermaßen einen ausbaufä-
Unterschichtenarmee trotzdem für Unsinn. Im higen Kern. Darum herum einen fähigen Solda-
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THEMA 15
ten zu bauen, das bekomme die Bundeswehr mit
ihren Ausbildungen schon hin.
Nach ihren ersten drei Monaten sind diese
vier Rekruten aus dem Osten und Westen des
Landes, jung und nicht mehr ganz jung, sich ei-
nig: Das Soldatenleben war bisher nicht so hart,
wie sie es erwartet hatten. Die Jüngeren hatten
sich auf herumbrüllende Ausbilder eingestellt,
weil sie es aus Erzählungen und Filmen so
kannten; Wito, weil er es während seines Wehr-
dienstes vor 20 Jahren erlebt hatte. Damals,
Anfang der 2000er, seien Rekruten in der
Grundausbildung „zum Laufen gezogen“ wor-
den, also gezwungen.
„Heute“, sagt Wito, „wollen sie selbst laufen.“
Trotzdem machen sie sich keine Illusionen.
Die Bundeswehr mag moderner geworden sein,
smarter, menschlicher, sie bleibt aber eine Ar-
mee. Auch ein freundlicherer Umgangston än-
dert nichts daran, dass ein Soldat verpflichtet
ist, im Einsatz notfalls seine Gesundheit oder
sein Leben zu riskieren.
Diese vier Rekruten in der Kaserne von Vier-
eck hatten sich beworben, bevor der Krieg in der
Ukraine ausbrach. Kein Grund, ihre Berufswahl
jetzt infrage zu stellen, sagen sie. Die Gefahr, in
einem Konflikt eingesetzt zu werden, gehöre
N
zum Beruf. Das sei ihnen klar gewesen.
ach dem 24. Februar bekam die Bundes-
wehr mehr Anfragen als üblich. Bürger
riefen an, um mit Rekrutierern wie
Yvonne Köhler zu sprechen. Zu mehr Bewerbun-
gen führte das offenbar nicht. Seit Beginn des
Jahres gehen die Bewerberzahlen für die militä-
rischen Verwendungen sogar zurück.
Die Bundeswehr verweist auf den demografi-
schen Wandel. Vielleicht hat der Rückgang aber
auch damit zu tun, dass Politiker in einem Ton-
fall über die Landes- und Bündnisverteidigung
reden, der an den Kalten Krieg erinnert.
Es war noch Sommer, als Yvonne Köhler auf
einer platt getretenen Wiese in Schleswig-Hol-
stein umherlief, umgeben von 80.000 Männern
und Frauen in schwarzen Klamotten, nicht alle
nüchtern. Köhler und einige ihrer Kameraden
waren zum Wacken Open Air gefahren. Auf dem
Gelände des Musikfestivals hatten sie ihre Argu-
mente aufgebaut: den Karrieretruck, den Späh-
wagen, den Transportpanzer. Daneben eine Spe-
zialdusche, in der sich Soldaten dekontaminieren
können, falls die Bundeswehr jemals in einen
Giftgasangriff geraten sollte. Die wenigsten, die
in Wacken zum Karrieretruck kamen, interes-
sierten sich tatsächlich für einen Job bei der Bun-
deswehr; viele wollten einfach reden. Ein Hoch-
schulprofessor erzählte, den Stolz des Staatsdie-
ners in den Augen, dass er Reservist sei. Ein an-
derer Mann erklärte, er sei Pazifist, aber es sei „ja
nicht alles schlecht“ an der Bundeswehr. Einmal
blieb ein Grüppchen stehen und beschimpfte die
Soldaten als „Kriegstreiber“. Die Soldaten schau-
ten zurück und schwiegen.
Köhler ist vor allem ein junger Mann in Erin-
nerung geblieben, der ihr um den Hals fiel. Sie
sagt, er habe wieder und wieder erklärt, wie
stolz er auf die Bundeswehr sei. In letzter Zeit,
sagt Köhler, würden sich Menschen öfter bei ihr
für ihren Dienst bedanken. Vor einigen Jahren
sei das selten vorgekommen.
Ihr Chef erzählt das auch. Leutnant Marvin
Euteneuer, 33 Jahre alt, ist gewissermaßen der
Kopf des mobilen Rekrutierungskommandos,
mit dem die Bundeswehr durch Deutschland
tourt. Er und ein zweiter Leutnant planen Ter-
mine und reden mit Veranstaltern. Manchmal
macht Euteneuer Fotos für Instagram. Während
Karriereberater wie Köhler nur zu einzelnen
Veranstaltungen fahren, ist er viele Wochen im
Jahr unterwegs.
Neulich, sagt er, waren sie in Rheinland-Pfalz,
auf dem Nürburgring. Da kamen Menschen zu ih-
nen, die während der Flutkatastrophe an der Ahr
alles verloren hatten. Euteneuer hat miterlebt,
wie schlimm es damals war. Als in Beyenburg die
Wupper über die Ufer trat, fuhren er und seine
Kameraden aus Köln los. Sie standen im
Schlamm und räumten Keller aus. Die Bewohner,
sagt Euteneuer, seien überrascht gewesen, wie
schnell die Soldaten die Trümmer wegschafften.
Die Bundeswehr hat gezeigt, dass die Men-
schen sich im Fall der Fälle auf sie verlassen kön-
nen. In der Pandemie saßen Soldaten in Impf-
16 THEMA
zentren und testeten vor Altenheimen die Besu-
cher. Als in Brandenburg und Sachsen der Wald
brannte, flogen Hubschrauber der Luftwaffe mit
Löschwasser los. Nun erinnert ein Krieg in Eu-
ropa viele Menschen daran, dass Deutschlands
Sicherheit kein Naturgesetz ist.
Die Bundeswehr weiß recht gut, wie die
Deutschen zu ihr stehen. Sie hat ein Institut in
Potsdam, das Daten dazu erhebt, das Zentrum
für Militärgeschichte und Sozialwissenschaf-
ten. Dort werden Umfragen in Auftrag gegeben
und ausgewertet.
Mehr als 80 Prozent der Deutschen vertrauen
demnach der Bundeswehr, mehr als 70 Prozent
betrachten sie als wichtigen Bestandteil der Ge-
sellschaft. Die Zustimmungswerte sind seit vielen
Jahren stabil, zuletzt sind sie sogar gestiegen. Das
Vertrauen in die Bundeswehr erreichte nach dem
Kriegsausbruch in der Ukraine mit 88 Prozent ei-
nen Höchstwert. Die Soziologin Meike Wanner,
die am Potsdamer Institut forscht, spricht von ei-
ner „schweigenden Mehrheit, die die Bundeswehr
unterstützt“. Die verbreitete Vorstellung von ei-
ner durch und durch pazifistischen Gesellschaft,
die nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Militär
gebrochen hat, sei falsch.
Die Daten zeigen aber auch, dass Soldaten die-
se Anerkennung kaum spüren. Zumindest schät-
zen sie den Rückhalt der Gesellschaft viel gerin-
ger ein, als er tatsächlich ist. Wanner führt das
unter anderem darauf zurück, wie Politiker über
die Bundeswehr reden und was Medien über sie
berichten. Im Bundestag und in den Nachrichten
geht es oft um das, was schlecht läuft, und selten
um das, was gut funktioniert. Schlagzeilen lasen
sich in der Vergangenheit oft wie Abrechnungen.
„Deutsche posieren in Afghanistan mit Toten-
schädel“. „Bundeswehr setzt Ausbildung auf der
,Gorch Fock‘ aus“. „Neuer Marinehubschrauber
darf nicht über Meer fliegen“. „Bundeswehr-
Kampfpanzern fehlt wirksame Munition“. „KSK-
Soldaten unter Rechtsextremismus-Verdacht“.
„Franco A. wegen rechter Terrorpläne verurteilt“.
Im Jahr 2017 hatten sich die Meldungen über
rechtsextreme Vorfälle dermaßen gehäuft, dass
die damalige Verteidigungsministerin Ursula von
der Leyen ihrer Armee ein „Haltungsproblem“ at-
testierte. Zigtausende gerieten unter Generalver-
dacht. Soldaten, die auf dem Boden des Grundge-
D
setzes standen, empfanden das als Beleidigung.
as Gefühl, die Bundesregierung und das
Volk ständen nicht hinter ihnen, beklag-
ten Soldaten schon in Zeiten des Kalten
Krieges. Trotzdem war die Bundeswehr mit gro-
ßer Selbstverständlichkeit in der Gesellschaft
verankert. Der weltpolitische Konflikt zwischen
Ost und West verlief direkt durch Deutschland,
und vielleicht kannte jeder jemanden, der gerade
auf einer der beiden Seiten seinen Wehrdienst
leistete. In den Garnisonsstädten sah man mor-
gens junge Soldaten durch die Straßen joggen,
und Garnisonsstädte gab es viele.
Nach dem Kalten Krieg verlor all das seine Be-
deutung. Zwischen Politik und Militär tat sich
ein Spalt auf, und je länger der Frieden in
Deutschland hielt, desto größer wurde er. Vertei-
digungsminister von SPD, CDU und CSU ließen
die Bundeswehr schrumpfen. Die Wehrpflicht
wurde 1996 von zwölf auf zehn Monate verkürzt,
danach verschwand sie ganz. Auch der Verteidi-
gungsetat wurde kleiner. Ausgerechnet 2014, als
,,ICH BIN PAZIFIST, ABER ES IST
JA NICHT ALLES SCHLECHT
AN DER BUNDESWEHR
FESTIVAL-BESUCHER
Russland auf der Krim einmarschierte, erreichte
er mit 1,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sei-
nen Tiefpunkt. Seit 2017 steigen die Verteidi-
gungsausgaben leicht an.
Die Bundeswehr war wichtiger Teil der deut-
schen Außenpolitik, Soldaten wurden auf den
Balkan, nach Mali, in den Libanon und ans Horn
von Afrika geschickt. Doch die Einsätze waren
personell begrenzt. Auch als Politiker sich trau-
ten, den Krieg in Afghanistan so zu nennen,
wähnten sich die meisten Deutschen nicht im
Kampf. Über das Sterben am Hindukusch rede-
ten sie ungern. Sie betonten lieber, dass die Sol-
daten dort Brunnen und Brücken bauten.
Ursula von der Leyen achtete zu Beginn ihrer
Zeit als Chefin des Verteidigungsministeriums
darauf, nicht mit Waffen im Hintergrund foto-
grafiert zu werden. Ihre Nachfolgerin, Annegret
Kramp-Karrenbauer, bekam den Posten vor al-
lem deshalb, weil er gerade frei war. Und über
die derzeitige Verteidigungsministerin Christine
Lambrecht sagen Menschen, die sich mit Sicher-
heitspolitik auskennen, dass sie sich noch immer
in das Amt einarbeite, das sie seit fast einem
Jahr bekleiden soll.
Die jahrelange Vernachlässigung hat dazu ge-
führt, dass viele Soldaten der Politik nicht mehr
vertrauen. So mancher in der Truppe freut sich
WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022
DIE BUNDESWEHR
IM WANDEL DER ZEIT
Am 12. November 1955 bekommt die
junge Bundesrepublik eine Armee. Ver-
teidigungsminister Theodor Blank er-
nennt die ersten freiwilligen Soldaten.
Einige der ersten Rekruten beginnen
Anfang 1956 ihre Ausbildung in Ander-
nach in Rheinland-Pfalz (siehe Foto).
Über den rechtlichen Rahmen streitet
der Bundestag da noch. Erst einige Mo-
nate später wird sie mit dem Soldaten-
gesetz von 1956 zur „Bundeswehr“.
Aufklärer in
eigener Sache:
Bundeswehrstand
auf dem Lausitzring
(auch Foto unten)
Im Februar 1962 überrascht eine Sturm-
flut Hamburg. Tausende Bewohner har-
ren auf Dächern aus, Polizei und Feuer-
wehr sind überfordert. Noch verbietet
das Grundgesetz einen Einsatz von Sol-
daten im Inland. Trotzdem bittet Innen-
senator Helmut Schmidt die Bundes-
wehr um Hilfe. 40.000 Soldaten rücken
an, retten Menschen und flicken Deiche.
Im Jahr 1999 hat die Bundeswehr ihren
ersten offiziellen Kampfeinsatz: im Rah-
men einer Nato-Operation im Kosovo
(im Foto: Prizren). Ihre Tornados schie-
ßen Raketen auf serbische Radarstel-
lungen. Der grüne Außenminister Josch-
ka Fischer rechtfertigt die Beteiligung
mit den Worten „nie wieder Auschwitz“.
daher über den neuen Ton des Bundeskanzlers,
bezweifelt aber, dass das Sondervermögen von Als Verteidigungsminister Peter Struck
100 Milliarden Euro an den richtigen Stellen an- im Dezember 2002 den Satz sagt:
kommen wird. Das Geld soll in Anschaffungen „Die Sicherheit Deutschlands wird auch
fließen, die die Streitkräfte lange vergeblich ge- am Hindukusch verteidigt“, ist die Bun-
fordert hatten; in Tarnkappenjets und Trans- deswehr schon knapp ein Jahr in Afgha-
porthubschrauber, Korvetten, Fregatten und U- nistan (Foto: Einsatz in Nahr-i-Sufi,
Boote, Nachtsichtgeräte und Kampfstiefel. 2012). Am Ende werden dort 35 Bundes-
Drohnen sollen bewaffnet und Schützenpanzer wehrsoldaten im Einsatz gefallen sein.
nachgerüstet werden. Geplant ist die Reparatur Viele weitere kehren mit psychischen
einer kaputtgesparten Armee. Problemen zurück.
Experten warnen jedoch davor, sich auf der
Zahlung des Sondervermögens auszuruhen. Die
Verteidigungsausgaben müssten auch langfris-
tig steigen, schließlich müssten die neuen Gerä-
te gewartet und Soldaten dafür ausgebildet
werden. Deutschland müsse endlich das Ziel
der Nato einhalten, zwei Prozent der Wirt-
schaftsleistung in die Verteidigung zu stecken.
Erst kürzlich berechnete das Institut der Deut-
schen Wirtschaft, dass dieses Ziel trotz des
Sondervermögens weiter verfehlt wird. Ein
weiteres Problem ist die überbordende Verwal-
tung. Doppelstrukturen lähmen das Verteidi-
gungsministerium, Abteilungen und Ämter
existieren nebeneinander, obwohl sie mehr
oder weniger das Gleiche machen. Die Bundes-
wehr hat mehr Generäle als im Kalten Krieg.
Beobachter sprechen von einem Koloss ohne
PICTURE ALLIANCE/DPA/KURT ROHWEDDER; IMAGO/CHRISTIAN DITSCH; JOHANNES EISELE/AFP/GETTY IMAGES
Kaltstartfähigkeit. Die Bundesregierung beschließt, die
An einem Dienstag im Oktober steht Streitkräfte im Jahr 2011 auf ein
Yvonne Köhler in ihrem Büro in Oldenburg Mindestmaß zu schrumpfen. Sie setzt
und schaut sich um. Ihr Blick wandert über Ur- die Wehrpflicht aus, damit bekommt
kunden an den Wänden, gedruckte Erinnerun- Deutschland eine Berufsarmee. Der
gen an Lehrgänge und Auslandseinsätze. In ei- Wehrdienst war zuvor in mehreren
nen Bilderrahmen hat sie ihre Armbinde aus Schritten verkürzt worden.
dem Kosovo geheftet, darüber Fotos, die sie als
junge Soldatin zeigen. 2013 schickt Deutschland erste Soldaten
All das wird Köhler in den kommenden Tagen nach Mali. Dschihadisten terrorisieren
in Kartons packen. Ihr Einsatz in der Karrierebe- das westafrikanische Land, UN-Truppen
ratung endet nach elf Jahren, Köhler hat das An- sollen für Stabilität sorgen. 2020 putscht
gebot bekommen, Sportfeldwebel an der Kaser- sich eine Militärregierung ins Amt, zwei
ne in Delmenhorst zu werden. Wenn man so Jahre später zieht Frankreich seine
will, wechselt sie die Seiten. Streitkräfte ab. Bis zu 1400 deutsche
Sie wird nicht mehr neue Soldaten rekrutie- Soldaten bleiben vorerst.
ren, sondern diejenigen trainieren, die schon bei
der Bundeswehr sind. Sie wird Fitnesskurse für Mit dem russischen Angriff auf die
ihre Kameraden anbieten, die in falscher Hal- Ukraine beginnt im Februar 2022 eine
tung vor dem Computer sitzen. Und sie wird „Zeitenwende“. So jedenfalls sagt es
junge Rekruten durch die Turnhalle jagen, im Bundeskanzler Olaf Scholz. Er verspricht
Feldanzug, mit gepacktem Rucksack und Ge- 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr
wehr in der Hand. Damit sie für den Krieg ge- und Waffen für die Ukraine.
wappnet sind, in dem sie vielleicht eines Tages
gebraucht werden.
WIRTSCHAFT & FORUM
Engel im Clinch: Rettungsflieger streiten um Aufträge S. 20

WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022 SEITE 17 *

herkommen soll. Und was das für Versi- befürchtet, dass Krankenhäuser diese VORSCHUSS

cherte und Patienten bedeuten wird.
Wer in Deutschland einen medizini-
schen Notfall hat, bekommt die Nöte
des Systems oft zu spüren. Die Leitstel-
len der Rettungsdienste operieren am
Limit – und kommen durch die Corona-
Wellen mitunter darüber hinaus. Erst
Ende Juni drohte der Rettungsdienst in
A
Mitarbeiter dann entlassen müssen.
uch für die Medikamentenver- VON CHRISTOPH KAPALSCHINSKI
sorgung könnte sich das neue
Gesetz als Bumerang erweisen.
So beklagt der Herstellerverband Pro- Bananen
Generika die fehlende Perspektive der
Politik, „um die stark gefährdete Ver- statt Olympia

Berlin zu kollabieren. Fast 16 Stunden
rang der Notruf in der Hauptstadt da-
mit, Rettungswagen aufzutreiben.
Schließlich mussten Löschfahrzeuge
M
sorgungssicherheit für viele wichtige
Medikamente langfristig zu sichern“.
Probleme mit dem Sparprogramm anch großer Traum endet
haben auch die Krankenkassen. Jens sehr profan. Edeka-Finanz-

I
Patienten einsammeln. Baas, Vorstandschef der Techniker chef Martin Scholvin stieß

Chronisch
Krankenkasse, kritisiert die ungleichen jetzt einen Spaten in ein Häuflein Er-

KRANK
n den Notaufnahmen der Kranken-
häuser setzt sich die Misere fort. Wer
keine lebensbedrohliche Verletzung
hat, verbringt dort mitunter einen gan-
zen Tag. Die aktuelle Kostenexplosion
aus gestiegenen Energiekosten und In-
flation dürfte die Lage für Krankenhäu-
ser und Patienten weiter verschlech-
tern. Lauterbachs Sparprogramm
macht es nur schlimmer.
„Ohne einen Inflationsausgleich zur
Stabilisierung drohen in den nächsten
Wochen Klinikinsolvenzen“, teilt der
Bundesverband Deutscher Privatklini-
ken mit. Vor diesem Szenario warnt
auch der Verband leitender Kranken-
hausärzte, der um die Lage der Klini-
ken fürchtet. Auch als „Schritt in Rich-
tung Abbau der Zwei-Klassen-Medizin“
lobte er das eigene Gesetz. Lauterbach
betont außerdem, dass es bei seinem
Sparprogramm keine Leistungskürzun-
gen geben wird.
Betroffen von Lauterbachs Kürzun-
gen ist auch die Pflege. Also jener Be-
reich, den die Regierung zu stärken ver-
sprach. So wird laut Bundesverband
Deutscher Privatkliniken ab 2025 die Fi-
nanzierungsgrundlage für 20.000 Pfle-
gekräfte über das Pflegebudget entfal-
len. Betroffen wären die Berufsgruppen
Belastungen: „Es sind vor allem die Bei-
tragszahlenden, die mit ihren Reserven
und höheren Beiträgen die Finanzlücke
schließen sollen.“
Die Frage, wie das Gesundheitssys-
tem über das kommende Jahr hinaus fi-
nanziert werden soll, bleibt die große
Unbekannte. BCG-Berater Matthias Be-
cker sieht einen der wirksamsten Hebel
in einer Ausdünnung der Zahl der Klini-
ken. Deutschland hat mit rund 2000
Krankenhäusern eine der höchsten Kli-
nikdichten der Welt. Ohne Eingreifen
der Politik wird sich das nicht ändern.
Doch nicht nur der Kliniksektor muss
schrumpfen, auch bei den gesetzlichen
Krankenkassen leistet Deutschland sich
aus Expertensicht Überkapazitäten.
„Ein Wettbewerb zwischen den Kassen
ist zwar sinnvoll, aber hundert von ih-
nen braucht man nicht“, so Becker.
Hoffnung besteht zumindest bei den
Krankenhausbetreibern. Nachdem Lau-
terbach sie durch sein aktuelles Gesetz
zur Kasse bittet, will er sie mit einer ge-
planten Krankenhausreform bald ent-
lasten. Auch wegen der steigenden
Energiekosten will er etwas unterneh-
men. Ob das dem Bedarf der Kliniken
gerecht wird, ist freilich ungewiss.
„Lauterbach hört nicht auf Fachverbän-
de, um den Start für ein ulkig klin-
gendes Projekt zu manifestieren: Der
Händler baut ab dieser Woche im
Hamburger Hafen eine neue Bana-
nenreiferei und ein Fruchtlager für
Schiffsladungen voller Obst. 60 Mil-
lionen Euro steckt das Unternehmen
in schlichte Lagerhallen.
Das Vorhaben wäre an dieser Stel-
le keine Erwähnung wert, würde da-
mit nicht ausgerechnet Edeka die
Hamburger Olympia-Pläne aus dem
Jahr 2015 endgültig begraben. Noch
am Tag des damaligen Volksent-
scheids hatte sich der Händler zum
ersten Großsponsor der Bewerbung
für 2024 erklärt. Doch das Projekt
fiel überraschend bei den Bürgern
durch – und damit auch die Pläne für
ein Olympiadorf auf ebender Elb-
insel, auf der Edeka seine Bananen-
kisten aufstellt.
Immerhin: Inzwischen hat die
Stadt ihre Olympia-Pläne in kleine-
rer Form recycelt. Direkt neben der
Edeka-Baustelle planieren Bauma-
schinen ehemalige Hafenanlagen für
einen neuen Stadtteil zum Wohnen
und Arbeiten – nur ohne Olympiasta-
dion. Dafür bald mit brandneuem Ba-
nanenlager. Welche Nutzung sinn-

T
der Physiotherapeuten, Ergotherapeu- de und Stimmen von außen“, ließ ein voller erscheint, liegt ganz an der
ten, Heilerziehungspfleger und Hebam- Krankenhausmanager diese Zeitung Sportbegeisterung der Betrachter –
GETTY IMAGES/ DIGITALVISION VECTORS / TIMANDTIM; GETTY IMAGES /FSTOP; MONTAGE: WELT AM SONNTAG

men. Der Verband der Privatkliniken wissen. und dem Appetit auf Südfrüchte.

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Mit seinem Sparpaket

zur Finanzierung
der Krankenkassen hat
Gesundheitsminister Lauterbach
die Branche gegen
sich aufgebracht.
Sie fordert langfristige Lösungen

Treffen mit Bundesgesundheitsminister
Karl Lauterbach (SPD) laufen meist
nach dem gleichen Muster ab. So schil-
dern ein Krankenhausmanager, ein
Pharmavorstand und ein Verbandslob-
das jüngste Gesetz, das der Minister auf
den Weg gebracht hat, um die Not im
Gesundheitssektor zu lindern. Denn in
der Finanzierung der Krankenkassen
klafft aktuell ein Loch von 17 Milliarden
So einhellig wie bei diesem GKV-Fi-
nanzstabilisierungsgesetz haben Fach-
verbände und Gesundheitsökonomen
allerdings selten zusammengestanden.
Was die Gesundheitsbranche auf die

byist gegenüber dieser Zeitung fast de-
ckungsgleich ihre Eindrücke: Sie hätten
bei geplanten Besprechungen lange auf
den meist verspäteten Gesundheitsmi-
nister warten müssen. Und egal mit
welchem Anliegen sie zu Lauterbach ka-
men, über kurz oder lang habe der das
Gespräch auf Corona gelenkt und sich
Referaten über die neuesten Studien
hingegeben. Denen hätten sie dann mi-
nutenlang lauschen müssen.
VON ANJA ETTEL, KAJA KLAPSA
UND ANDREAS MACHO
Gelinge es dann doch einmal, eine
von Lauterbachs Sprechpausen zu nut-
zen und das eigene Thema zur Sprache
zu bringen, lasse die Aufmerksamkeit
des Ministers schnell nach. „Man kann
förmlich zusehen, wie seine Gedanken
dann abschweifen, wäh-
rend der Minister aus
dem Fenster, zur Tür
oder aufs Handy schaut.
Man dringt einfach
nicht durch zu ihm. Es
ist unfassbar frustrie-
rend“, erzählt ein Bran-
chenvertreter, der sol-
che Treffen öfter miter-
lebt hat.
Alleingänge. Geset-
zesbeschlüsse ohne lan-
ge Konsultationen mit
Fachverbänden. Streit.
Dieser Tage wiederholt
sich, was man das Lau-
terbach-Szenario nen-
nen könnte. Grund ist
U
Euro.
m das zu stopfen, hat Lauter-
bach ein Sparpaket namens
GKV-Finanzstabilisierungsge-
setz vorgelegt, das diese Woche im Bun-
destag beschlossen wurde. Den Rotstift
müssen laut dem Gesetz jetzt so ziem-
lich alle Institutionen im Gesundheits-
wesen ansetzen: Krankenkassen, Kran-
kenhäuser, Apotheken und Pharmaun-
ternehmen. Auch für Versicherte wird
es teurer. So soll sich der Zusatzbeitrag
um durchschnittlich 0,3 Prozentpunkte
auf insgesamt 1,6 Prozent erhöhen. Ver-
sicherte müssen demnach künftig 16,2
Prozent ihres Bruttolohns für die Sozi-
alversicherung abführen. Ein Rekord-
wert.
Der Widerstand auf Lauterbachs
Sparbemühungen war programmiert.
Palme bringt, ist vor allem die Kurzfris-
tigkeit von Lauterbachs Maßnahmen.
„Die GKV wurde in den letzten Jah-
ren immer nur ,auf Sicht‘ refinanziert
und strukturelle Reformen tunlichst
vermieden. So auch diesmal“, kritisiert
Han Steutel, Präsident des Verbands
Forschender Arzneimittelhersteller.
„Das Gesetz verschlimmert die Finanz-
situation der Kliniken und verkennt die
Gefahr von Insolvenzen und Leistungs-
kürzungen“, heißt es vom Verband lei-
tender Krankenhausärzte. Die Liste der
Kritiker ließe sich beliebig fortsetzen.
Dass die Kritik der Branche mehr ist
als nur der Reflex, über Kürzungen im
eigenen Bereich aufzuschreien, ver-
deutlicht Nicolas Busch von der Bera-
tung Boston Consulting Group (BCG):
„Die Wirkung der geplanten Maßnah-
men aus dem jetzigen Finanzstabilisie-
rungsgesetz dürfte
schon 2024 fast voll-
ständig aufgebraucht
sein. Mit dem aktuellen
Gesetz ist nur Zeit er-
kauft worden.“
Nach dem Kurzfrist-
effekt von Lauterbachs
Flickgesetz könnte es
bald wieder düster wer-
den im Gesundheitssek-
tor. So rechnet das Iges-
Institut mit einem Defi-
zit von 30 Milliarden
Euro bis 2025. BCG geht
sogar von einer Finan-
zierungslücke von 33
Milliarden Euro aus. Die
Frage ist, wo das Geld
18 WIRTSCHAFT
S
GEMISCHTWAREN
KEIMENDE
WOCHENBILANZ
MONTAG: Nachdem mehrere Social-
Media-Konten des US-Rappers Kanye
West wegen antisemitischer Äußerun-
gen eingeschränkt wurden, kündigt er
an, die konservative Plattform Parler
Hoffnung
zu kaufen. Die Übernahme der Mut-
tergesellschaft Parlement Technolo-
gies durch West soll laut Unterneh-
mensangaben im vierten Quartal 2022
vollzogen werden.
DIENSTAG: Die Lufthansa-Tochter
Eurowings zieht Konsequenzen aus
den Piloten-Streiks und stoppt ihre
Wachstumspläne. Die für 2023 ge-
plante Flottenstärke von 81 Flugzeu-
gen werde zunächst um fünf verrin- Sollte jemand an diesem Wochenende
gert, teilt das Unternehmen mit. Der noch einen Überraschungsknüller für
vorgesehene Aufbau von mindestens den Party-Small-Talk suchen, dann fin-
200 weiteren Stellen bei Eurowings det er ihn beim Gaspreis. Denn trotz
Deutschland werde mit sofortiger des allgegenwärtigen Klagens über hohe
Wirkung gestoppt. Heizkosten: Der Preis für Gaskontrakte
liegt aktuell so niedrig wie seit dem
MITTWOCH: Als erster großer Le- Frühjahr nicht mehr. Industrie und Ver-
bensmittelhändler will Aldi Nord sorger können sich nun günstiger ein-
wegen der Energiekrise seine Öff- decken. Vor Beginn des Ukraine-Kriegs,
nungszeiten verkürzen. als Russland noch ein treuer Lieferpart-
Ab November sollen rund ner zu sein schien, notierten die Gas-
70 Prozent der gut 2200 Terminkontrakte in etwa auf dem heuti-
Filialen in Deutschland gen Niveau.
um 20 Uhr statt um 21
oder 22 Uhr schließen. VON CHRISTOPH KAPALSCHINSKI
Länger geöffnet blei- UND ANDREAS MACHO
ben Filialen mit hoher
Kundenfrequenz. Zugegeben: Damit ist nicht alles ro-
sig. Die Gefahr von leeren Speichern in
DONNERSTAG: Die Lausitz Deutschland besteht weiter, sollte das
soll zur Hochburg der Bifi werden. Winterwetter besonders eisig ausfallen.
Das US-Unternehmen Jack Link’s hat Doch die Preise signalisieren: Die Wirt-
im brandenburgischen Guben mit dem schaft hat schnell reagiert, Bezugsquel-
Bau einer Fabrik begonnen, in der ab len diversifiziert – und die Kunden spa-
2024 rund 100 Mitarbeiter die Mini- ren erfolgreich Energie ein.
Salamis herstellen sollen. Gas ist bei Weitem nicht der einzige
wichtige Rohstoff, dessen Preis in den
FREITAG: Der Rückversicherer vergangenen Wochen deutlich gesun-
Munich Re schreibt trotz eines Milliar- ken ist. Die Rekordnotierungen aus
denschadens durch Hurrikan „Ian“ im dem Frühjahr, also aus den Wochen
dritten Quartal voraussichtlich nach Kriegsbeginn, sind Geschichte.
schwarze Zahlen. Nach einem erwarte- Das gilt quer durch unterschiedliche
ten Quartalsgewinn von etwa einer Arten von Rohstoffen: von Aluminium
halben Milliarde Euro hält der Vor- und Stahl über Gold bis hin zu Baum-
stand daran fest, im Gesamtjahr einen wolle und Weizen. „Mit einigen Mona-
Überschuss von 3,3 Milliarden Euro zu ten Verzögerung werden die sinkenden
erreichen. Die Folgen von „Ian“ dürf- Kosten bei den Verbrauchern ankom-
ten dem Konzern etwa 1,6 Milliarden men. Das dämpft die Inflation“, erwar-
Euro kosten. tet Volkswirt Eric Heymann von Deut-
sche Bank Research.
SAMSTAG: Die IG-Metall hat in den Für den hochwillkommenen Preis-
aktuellen Tarifverhandlungen in Nie- verfall gibt es zwei Hauptgründe. Zum
dersachsen und Sachsen-Anhalt eine
fehlende Bereitschaft der Arbeitgeber
einen findet sich die Weltwirtschaft in
einer neuen Normalität wieder. Die Mi-
zu Verhandlungen angeprangert. „Bis
jetzt haben die Arbeitgeber eine Ver-
schung aus Angst und Spekulantentum,
die die Preise nach Beginn des Kriegs
Inflation für die Verbraucher in den
weigerungshaltung eingenommen, getrieben hat, ist einem neuen risikobe-
über nichts kann man aber nicht ver- wussten Realismus gewichen. Der zwei-
handeln“, sagte der Bezirksleiter der te Grund sind die gesunkenen Konjunk-
Gewerkschaft Thorsten Gröger. Die IG turerwartungen. Krieg und Inflation ha-
Metall fordert von den Arbeitgebern ben weltweit die Vorhersagen für das
acht Prozent mehr Geld. Wirtschaftswachstum gedrückt, eine Ein Weizenfeld in den USA. Der Preis für das Getreide hat Folgen für Milliarden von Menschen weltweit
Rezession scheint unausweichlich. Zu-
erst entweicht die heiße Luft aus den
TOP & FLOP
Sektoren, die im vergangenen Jahr allzu
weit aufgeblasen waren. „Das Markt-
prinzip von Angebot und Nachfrage
wirkt“, sagt Banker Heymann.
GEWINNER Das zeigt sich etwa am Preis für
Holz. Für die Baubranche ist es ein ent-
scheidender Rohstoff. Sein Preis ist
Ende September auf den tiefsten Stand
Sander van seit mehr als zwei Jahren gefallen – und
der Laan damit auf ein Niveau aus der Zeit vor
der Pandemie. Hauptgrund sind die
Der Niederländer Sander van der steigenden Zinsen: Sie bremsen den
Laan bekommt einen der heraus- Neubau von Privathäusern in den USA.
forderndsten Jobs im europäi- Matthias Frederichs, Hauptgeschäfts-
schen Einzelhandel: Er soll für führer des Bundesverbands Baustoffe,
den Finanzinvestor CVC die hoch setzt zudem auf die staatliche Energie-
verschuldete Parfümeriekette preisbremse: „Wir gehen davon aus,
Douglas durch die Krise bringen, dass die Dämpfung der Gas- und
um sie danach – finanziell und Stromkosten die zuletzt stark schwan-
operativ durchoptimiert – an die kenden Preise für Baumaterialien deut-
Börse zu bringen. lich stabilisieren wird.“
Van der Laan, der zuvor die Dis-
countkette Action geleitet hat, löst HEIKLE VERHANDLUNGEN
Tina Müller ab. Sie stand fünf Auch im Supermarkt könnten die fallen-
Jahre an der Spitze. den Rohstoffpreise die Inflation brem-
sen. Seit einem Abkommen mit Russ-
land und der Ukraine, das die Schiff-
VERLIERER
GETTY IMAGES/STONE RF/ART WOLFE; GETTY IMAGES/MOMENT RF/MIKROMAN6; GETTY IMAGES(3);
fahrt über das Schwarze Meer sichert,
sind die Weltmarktpreise für Weizen
und Speiseöl deutlich gesunken. „In den
letzten Wochen gab es keine Kosten-
sprünge bei den Agrarrohstoffen mehr.
Adidas Die Chance wächst, dass wir mit mode-
raten Preiserhöhungen für unsere Pro-
Über dem Sportartikel- und Klei- dukte auskommen“, sagt ein Manager
dungshersteller brauen sich im- eines großen Lebensmittelkonzerns un-
mer dunklere Wolken zusammen. ter dem Siegel der Anonymität. Denn
Wegen teils hausgemachter Pro- öffentliche Entwarnung möchte nie-
bleme in China, einer schleppen- mand in der Branche aussprechen – zu
den Nachfrage in vielen Ländern heikel sind die schwierigen Preisver-
und steigender Kosten senkte handlungen mit den Einzelhändlern.
Adidas seine Geschäftsprognose Zumindest kommt die Entlastung
PICTURE ALLIANCE ; ACTION; ALDI
für 2022 bereits zum dritten Mal. schon bei Bedürftigen an: Laut Welt-
Der spätestens 2023 aus dem Amt bank sind in den Ländern mit niedrigem
scheidende Konzernchef Kasper und mittlerem Volkseinkommen die
Rorsted hinterlässt seinem noch Preise für Nahrungsrohstoffe seit der
unbekannten Nachfolger damit Jahresmitte bereits spürbar gesunken,
ein Haus mit vielen Baustellen. nachdem sie zuvor auf Höchststände
geklettert waren.
* WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022
Die Agrarrohstoffe zeigen allerdings
auch die Verletzlichkeit des derzeitigen
Trends: Der russische Präsident Wladi-
mir Putin hat mehrfach damit gedroht,
das zunächst bis zum Spätherbst befris-
tete Getreide-Abkommen nicht zu ver-
längern. Sollte er den Schiffstransport
aus der Ukraine wieder unterbinden,
könnte der Preis erneut spürbar anzie-
hen. Auch andere Rohstoffpreise dürf-
ten auf eine mögliche weitere Kriegses-
kalation reagieren. „Wegen der anhal-
tenden Unsicherheit ist das Niveau der
Preise noch immer deutlich höher als
vor der Pandemie – und die Erholung
unsicher“, warnt Feodora Teti, Ökono-
min beim Ifo-Institut.
NUR EIN VORWAND?
In lauten Jubel verfällt daher keiner der
vielen Wirtschaftsverbände in Deutsch-
land – zumal diese gerade Staatshilfen
und Lohnzurückhaltung propagieren.
Die Klage über die Kosten erklingt noch
immer, ob beim Jahrestreffen des Mar-
kenverbands oder der Zusammenkunft
der Maschinenbauer.
Dabei geht unter, dass sich in
Deutschland viele Unternehmen bereits
einen Puffer erarbeitet haben: Sie haben
ihre Verkaufspreise stärker angehoben,
als ihre Kosten gestiegen sind. Das un-
termauerte gerade erst eine vor weni-
gen Tagen veröffentlichte Studie des
Ifo-Instituts Dresden.
Einige Unternehmen hätten die Kos-
tensteigerungen als „Vorwand“ genutzt,
um ihre eigenen Verkaufspreise über-
proportional zu erhöhen, hat Studien-
autor Joachim Ragnitz anhand volks-
wirtschaftlicher Daten ermittelt. Dem-
nach verdienen die Landwirte, die Bau-
unternehmen sowie Händler und Gas-
tronomen derzeit besonders gut. „So-
mit hat Deutschland derzeit nicht nur
eine Kosteninflation, sondern ganz of-
fensichtlich auch eine ‚Gewinninflati-
on‘“, sagt der Ökonom. Während die
Landwirte direkt von den höheren
Agrarpreisen profitieren, haben Handel
und Bau offenbar steigende Rohstoff-
kosten bereits einkalkuliert, die nun
Die Preise unter anderem für Gas,
vorerst nicht eintreten.
Andere Unternehmen konnten die vo-
Holz und Weizen fallen
rübergehend hohen Preise einfach aus-
sitzen – etwa die Automobilindustrie, die
überraschend. Das dürfte die meist mit lang laufenden Kontrakten für
Stahl abgesichert war. „Abgesehen von
Nickel, befinden sich die Preise für In-
dustriemetalle weitestgehend auf einem
kommenden Monaten bremsen – niedrigeren Niveau im Vergleich zum
und die deutsche Industrie freuen
Vorjahresmonat. Auch hier sorgen pessi-
mistische Konjunkturaussichten für ei-
nen Rückgang der Nachfrage, was sich
preisdämpfend auswirkt“, analysiert Ma-
rina Eurich vom Hamburgischen Welt-
wirtschaftsinstitut (HWWI).
RÜCKSTAU VON AUFTRÄGEN
Für die deutschen Autokonzerne ist
der Konjunkturrückgang jedoch noch
kein großes Problem. Sie haben ebenso
wie Maschinenbauer volle Auftragsbü-
cher: Wegen des Mangels an Chips
konnten sie in den vergangenen Mona-
ten die Nachfrage bei Weitem nicht de-
cken. „Auch wenn sich der Bezug von
Halbleitern in diesen Branchen lang-
sam einpendelt, haben speziell die
Fahrzeug- und Maschinenbauer mit ei-
nem Rückstau von Aufträgen zu kämp-
fen, der erst abgearbeitet werden
muss“, sagt ein Sprecher von Silicon
Saxony, dem Verband der sächsischen
Halbleiterhersteller.
Computerchips sind im IT-Zeitalter
ihrerseits fast schon ein Rohstoff. Auch
an diesem Markt beeinträchtigen seit
der Pandemie Knappheiten die Indus-
trie. Doch inzwischen zeichnet sich hier
ebenfalls Hoffnung ab. Die Preise für
Speicherchips sind deutlich gesunken:
Sie gingen laut dem taiwanesischen
Marktforscher Trendforce für DRAM-
Speicher im dritten Quartal bis Ende
September um 15 Prozent, für NAND-
Speicher sogar um 28 Prozent zurück.
„Gerade im Bereich der Konsumelek-
tronik wie PCs oder Laptops ist bei der
Chipversorgung eine leichte Entspan-
nung festzustellen“, heißt es von Silicon
Saxony. Das drückt zwar die Aktienkur-
se der Hersteller wie Samsung, ist aber
für die Anwender eine gute Nachricht.
Schließlich gelten Speicherchips als
Frühindikator auch für andere, aufwen-
digere Chips – der Optimismus, dass
sich die Lage im kommenden Jahr in der
Breite bessert, wächst. Allerdings droht
zumindest Batterieherstellern neues
Ungemach: Spezielle Rohstoffe wie Lit-
hium werden teurer. Das liegt jedoch
nicht in erster Linie am Krieg und sei-
nen Folgen, sondern am zunehmenden
Trend hin zum Elektroauto.
MITARBEIT: DANIEL ZWICK UND
THOMAS HEUZEROTH
 ANZEIGE

Unterschätzte Krankheit Gürtelrose:

wenn Schmerzen den Alltag fast unmöglich machen
Zurzeit warten wieder viele Herausforderungen auf Betroffene einer Post-Zoster- Ein frühzeitiger Schutz lohnt
unseren Körper – so stehen die nächsten potenziellen Neuralgie, einer der möglichen sich – insbesondere, da neueste
Langzeitfolgen der Gürtelrose, Studienergebnisse zeigen, dass
Grippe- und Corona-Wellen schon vor der Tür. Das leiden im Schnitt fast zwei Jahre COVID-19 auch das Risiko für
ganze Jahr über „Saison“ hat hingegen die Gürtelrose, unter starken Schmerzen und weitere Infektionskrankheiten
deren potenziellen Langzeitfolgen sehr gravierend Alltagseinschränkungen, wie eine wie Gürtelrose erhöht. Fehlt der
Analyse des PraxisRegister Schutz, ist eine Impfung gegen
und schmerzhaft sein können. Schmerz zeigt. Knapp zwei Drit- Gürtelrose bereits kurze Zeit
tel entwickeln ein chronisches nach der Genesung möglich,
Jede Person, die einmal Wind- erkrankung, die zu Unrecht oft Schmerzsyndrom. Fast 85 Prozent sofern keine schwere, akute
pocken hatte, trägt den Gürtel- verharmlost wird. Besonders ty- der Erkrankten sind deshalb im Krankheit mit Fieber über 38,5 °C
rose-Erreger bereits in sich. Auf pisch für sie ist beispielsweise Alltag beeinträchtigt. Zudem wird vorliegt.
mehr als 95 Prozent der über ein Hautausschlag mit Bläschen. die seelische Lebensqualität ne-
60-Jährigen in Deutschland trifft Zudem erleidet rund ein Drittel gativ beeinträchtigt. Ein Grund
das zu. Mit dem Alter wird das der Betroffenen langanhaltende dafür dürfte auch in der Behand-
Immunsystem schwächer und Komplikationen. Brennende, ste- lungsodyssee liegen, vor der viele
Menschen werden anfälliger für chende und quälende Schmerzen, Betroffene einer Post-Zoster-
Infektionskrankheiten wie Gürtel- auch Monate nach Abklingen des Neuralgie stehen: Sie werden im Weitere
rose. Eine von drei Personen er- Ausschlags, sind keine Seltenheit. Schnitt von fast acht unterschied- Informationen
krankt statistisch gesehen im Mindestens ein Drittel der an lichen Ärztinnen oder Ärzten be- zu Gürtelrose auf
Laufe ihres Lebens daran. Gürtelrose Erkrankten beschreibt handelt und müssen ebenso viele
www.impfen.de/
die Schmerzen als sehr stark verschiedene schmerzstillende
guertelrose
Bei der Gürtelrose handelt es sich sowie einschießend, pochend, Therapien über sich ergehen
um eine weit verbreitete Virus- juckend und mitunter heiß. lassen.

Die STIKO empfiehlt Personen ab 60 Jahren

und Personen mit Grunderkrankung oder Immun-
schwäche ab 50 Jahren eine Impfung
gegen Gürtelrose idealerweise bereits vor
einer COVID-Erkrankung.
Besonders gefährdet für Gürtelrose sind
• Menschen, die bereits Windpocken hatten,
• alle über 60 Jahre aufgrund eines altersbedingt
schwächer werdenden Immunsystems,
• Personen, die aufgrund von Stress oder z. B.
einer COVID-Erkrankung ein geschwächtes
Immunsystem haben.

Sprechen Sie mit Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt!

NP-DE-HZX-ADVR-220064 07.2022

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20 WIRTSCHAFT
Xi Jinping sucht einen Ankerplatz
V
Chinas Staatsreederei Cosco will sich am Hamburger Hafen beteiligen. Es fehlt nur die Genehmigung des Bundes. Peking setzt dafür deutsche Firmen unter Druck
om Fischmarkt aus lässt sich
der Ort des Anstoßes sehen:
das Tollerort-Containertermi-
nal im Hamburger Hafen. Die
staatliche chinesische Reederei Cosco
will hier mit 35 Prozent bei der städti-
schen Betreibergesellschaft Hamburger
Hafen und Logistik AG (HHLA) einstei-
gen. Die Verträge dazu sind geschlos-
sen. Jetzt allerdings muss die Bundesre-
gierung die Beteiligung absegnen. Das
sorgt für einen Grundsatzstreit nicht
etwa innerhalb der Ampelparteien, son-
dern zwischen sechs Bundesministerien
E
auf der einen und dem Kanzleramt auf
der anderen Seite.
VON JAN DAMS, NIKOLAUS DOLL, OLAF
PREUSS UND KARSTEN SEIBEL
Der Hintergrund des Streits ist bri-
sant: Cosco ist nicht nur irgendein chi-
nesisches Unternehmen, sondern die
drittgrößte Reederei der Welt. Und die
will ihr Geschäft ausbauen, dieses Mal
Emden in Ostfriesland. Eine unerbittli-
che Nordseebrise weht nasskalten Ok-
toberregen in die Gesichter. Doch die
zehn Männer, die in geduckter Haltung
über das Vorfeld des Provinzflugplatzes
eilen, sind auch nicht zum Urlaub hier.
Sie tragen rote Überlebensanzüge und
darüber Rettungswesten und besteigen
in dieser Kluft einen Helikopter des
Typs Leonardo AW139. Minuten später
schwebt das Fluggerät mit ohrenbetäu-
bendem Rotorknattern zwei Meter über
der Startbahn und dreht dann ab in
nördliche Richtung, auf hohe See. Die
Passagiere an Bord sind Ingenieure und
Techniker auf ihrem Arbeitsweg zu ei-
nem Offshore-Windpark.
VON STEFFEN FRÜNDT
Das Unternehmen, das hier den
Crewtransport zu den Windrädern
durchführt, hat seinen Hauptsitz in
Sande am Jadebusen, heißt Wiking Heli-
kopter Service – und ist pleite. Aufge-
fressen von hohen Wartungs- und Per-
sonalkosten auf der einen und, wie es
heißt, Kampfpreisen auf der anderen
Seite, gibt das Unternehmen auf. Im
Frühjahr stieg es Hals über Kopf aus der
Notfallrettung auf hoher See aus. Zum
Jahreswechsel wird auch der Crewver-
satz von einem anderen Anbieter über-
nommen. Bei Wiking hat nun der Insol-
venzverwalter das Sagen.
Die Wikinger sind das erste Opfer ei-
nes beinharten Verdrängungswettbe-
werbs in einer Branche, die für die
meisten eher mit selbstlosem Helden-
tum verbunden ist: der Luftrettung.
Die nach außen so altruistisch auftre-
tenden Unternehmen kämpfen hinter
den Kulissen mit sauberen und unsau-
beren Mitteln um Reputation und Mil-
lionenaufträge. Hinter vorgehaltener
Hand wird das ältliche Fluggerät oder
die medizinische Ausrüstung der Kon-
kurrenz schlechtgemacht, es gibt ano-
nyme Anzeigen und den Vorwurf des
unlauteren Wettbewerbs und der Steu-
erhinterziehung.
„Eiserne Engel“ werden die gelben
oder roten Hubschrauber genannt, wel-
che nach schweren Auto- oder Kletter-
unfällen einschweben und die auch an
abgelegenen Orten eine schnelle medi-
zinische Versorgung ermöglichen. Die
Luftrettung zu Land wird öffentlich
ausgeschrieben und über Kassenbeiträ-
ge, Spenden und öffentliche Zuwendun-
gen etwa aus Bußgeldern finanziert. Be-
trieben wird sie vor allem von zwei ge-
meinwohlorientierten Organisationen,
der ADAC Luftrettung und der DRF
N
Luftrettung.
eben diesem Geschäft hat sich
jedoch in den letzten Jahren für
die fliegenden Engel ein neues,
rein kommerzielles und perspektivisch
lukratives Betätigungsfeld aufgetan: die
Windparks auf See. Ein spektakuläres
Unterfangen, bei dem Kranke oder Ver-
letzte teilweise mit Seilwinden von den
Windkraftanlagen abgeborgen werden.
eben in Hamburg. Das Problem dabei:
Cosco ist noch dazu ein Staatskonzern.
Ausgerechnet Chinas mächtigster
Mann, Staatspräsident Xi Jinping, hätte
damit Zugriff auf kritische Infrastruk-
tur in Deutschland.
Will man das? Was passiert mit der Be-
teiligung, wenn die Chinesen Taiwan an-
greifen sollten, um sich das Land einzu-
verleiben, so wie Russland die Ukraine?
In der Bundesregierung werden diese
Fragen dem Vernehmen nach einhellig
bewertet – fast jedenfalls. Alle an der In-
vestitionsprüfung beteiligten Ressorts –
Wirtschafts-, Innen-, Verteidigungs-,
Verkehrs- und Finanzministerium so-
wie das Auswärtige Amt – sind dagegen.
Nur Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD),
einst Erster Bürgermeister Hamburgs,
sieht die Sache anders.
Massive Kritik an einem möglichen
chinesischen Einstieg übt die Oppositi-
on. CDU-Chef Friedrich Merz warnte da-
vor, dass China damit „Zugang zu we-
sentlichen Daten des Frachtverkehrs im
Die Fluggeräte sind für diesen Einsatz
mit Spezialgerät für sechsstellige Sum-
men ausgestattet, Piloten und Retter
lange geschult.
Die Windparkbetreiber sind arbeits-
rechtlich dazu verpflichtet, eine solche
Werksrettung vorzuhalten, und zahlen
dafür Millionen. Ein Markt, der sich
nach der Wiking-Pleite in den Händen
eines einzigen Unternehmens befindet,
der Northern Helicopter (NHC) in Em-
den. Sechs Helikopter, 89 Mitarbeiter,
zwölf Millionen Euro Umsatz, Rettungs-
stationen in St. Peter-Ording, Güttin
und bald noch in Norddeich. NHC führt
für alle Windparks in der deutschen
Nord- und Ostsee den Werksrettungs-
dienst durch. Angesichts der hohen Ein-
stiegsinvestitionen und Fixkosten ist es
vor allem für kleinere Konkurrenten
schwer möglich, hier gegen den Quasi-
Monopolisten anzutreten.
Gnadenlose
ENGEL
Rettungsflieger genießen Heldenstatus,
doch hinter den Kulissen herrscht Streit um
Aufträge und Marktanteile. Im Fokus steht
vor allem das lukrative Windpark-Geschäft
Christian Müller-Ramcke schaut dem
davonfliegenden Wiking hinterher.
Dann dreht er sich um zu den drei Hub-
schraubern, die dicht an dicht im Emder
NHC-Hangar stehen. An einem ist die
Verkleidung entfernt und gibt den Blick
auf die ganze hineingestopfte Technik
frei. Alle sieben Tage müssen die Ma-
schinen in die Inspektion. „Morgen ist
er wieder im Einsatz. Ein Corona-Pa-
tient muss aus einem Windpark ausge-
flogen werden“, erklärt der 55-Jährige,
der auch als NHC-Geschäftsführer
noch mit einer neongelben Fliegerjacke
mit Heli-Aufnäher herumläuft. Die jun-
genhafte Faszination für Hubschrauber
Hamburger Hafen“ bekommen würde.
CSU-Landesgruppenchef Alexander
Dobrindt forderte Bundeskanzler Scholz
auf, den chinesischen Einstieg „schnells-
tens zu unterbinden“. „Der Verkauf der
Gasspeicher an Russland sollte als mah-
nendes Beispiel dienen. Einseitige Ab-
hängigkeiten zu einer einzigen Region
auf der Welt schaffen eigene Erpressbar-
keit und ein Überlegenheitsgefühl auf
der anderen Seite“, sagte Dobrindt ge-
genüber WELT AM SONNTAG.
In der Hansestadt herrscht zwischen
Hafenwirtschaft und Politik hingegen
weitgehend Konsens: Geschäft ist Ge-
schäft. Ein Anteil von 35 Prozent am
Tollerort, dem kleinsten der vier Ham-
burger Containerterminals, bringe
mehr Ladung in den Hafen. Mit der Be-
teiligung von Cosco an der Betreiberge-
sellschaft des Terminals werde Ham-
burg für die Chinesen in Europa zum
„bevorzugten Umschlagplatz“, teilte die
HHLA im September 2021 nach Ver-
tragsunterzeichnung mit.
hatte ihn vor 30 Jahren zur DRF ge-
führt, wo er als Hubschraubersanitäter
anfing, nebenbei BWL studierte und
sich zum Abteilungsleiter hocharbeite-
te, bis er schließlich die strategische
Unternehmensentwicklung verantwort-
D
lich übernahm.
ann kam der Offshore-Boom,
und die Engel wollten unbe-
dingt dabei sein. Die ADAC
Luftrettung entwickelte ein Rettungs-
konzept und startete eine Kooperation
mit einem kleinen Helikopter-Unter-
nehmen an der Küste – Wiking. Die DRF
übernahm die NHC, Müller-Ramcke
Der Außenhandel mit China hat für
den größten deutschen Hafen überra-
gende Bedeutung: Im vergangenen
Jahr entfielen 30 Prozent des dortigen
Containerumschlags auf den Im- und
Export zwischen China und Europa.
2020 hatte der Terminal Tollerort 1,1
Millionen Containereinheiten (TEU)
umgeschlagen, diese Ladung entfiel
nahezu komplett auf Cosco, erfuhr
WELT AM SONNTAG. Bei einem Ge-
samtumschlag von 8,5 Millionen TEU
steuerte die Staatsreederei damals 13
Prozent zum Containerumschlag in
Hamburg bei.
Am HHLA-Terminal Tollerort aller-
dings soll CSPL, ein Tochterunterneh-
men von Cosco, weder Exklusivrechte
bekommen noch Eigentum an Grund-
stücken oder Infrastruktur. „CSPL er-
langt keinen Zugriff auf den Hambur-
ger Hafen oder die HHLA. Die Trans-
aktion betrifft nur eine Minderheits-
beteiligung an der HHLA Betriebs-
tochter CTT GmbH“, teilte die HHLA
Für ihren Windpark-Einsatz werden die Retter
lange geschult, hier bei der Firma NHC
wechselte als Geschäftsführer zu dem
neuen Tochterunternehmen. „Unser
Ziel ist es, Menschenleben zu retten“,
rechtfertigt er die kommerzielle Erwei-
terung des Tätigkeitsfelds unter dem
Dach der DRF. „Mit dem Engagement
im Werksrettungsdienst erzielen wir
Erträge, die an die DRF Luftrettung ge-
hen und die sie unter anderem unab-
hängiger von Spenden macht.“
In der Branche sieht man das aller-
dings ganz anders. Steuerbefreite Stif-
tungsgelder der DRF, so der Vorwurf,
würden hier zweckentfremdet, um Kon-
kurrenten mit nicht auskömmlichen
Preisen aus dem Markt zu drängen. „Da
kommt ein Wettbewerber rein, der sich
massivst quersubventioniert“, beklagt
etwa Oliver Freiland. Der 46-Jährige,
ehemaliger Berater bei Roland Berger,
ist ebenfalls nach Emden gekommen,
um sein Glück im Offshore-Geschäft zu
suchen. 2016 übernahm er mit einem
Partner das Unternehmen Heli Service.
Mit 150 Mitarbeitern und 36 Millionen
* WELT AM SONNTAG
mit. „Die Hafeninfrastruktur verbleibt
im Eigentum der Freien und Hanse-
stadt Hamburg. IT- und Vertriebs-Da-
ten bleiben allein in der Verantwor-
tung der HHLA.“ Hamburgs Erster
Bürgermeister Peter Tschentscher
(SPD) ließ mitteilen, in der Sache habe
sich „nichts verändert“ und damit
auch nichts an der positiven Haltung
des Senats. Die in Hamburg mitregie-
renden Senatoren der Grünen halten
sich zu dem Thema bedeckt. Die zwei-
te Reihe der Grünen in der Hansestadt
aber teilt die ablehnende Haltung ih-
rer Bundespartei: Warnungen etwa des
Bundesnachrichtendienstes vor China
zu ignorieren sei „fahrlässig“, twitter-
te Jenny Jasberg, die Fraktionsvorsit-
zende in der Bürgerschaft: „Aus den
Folgen der Abhängigkeiten von Russ-
land sollten wir gelernt haben und ent-
sprechend auf unsere Infrastruktur
schauen.“
Dass es China um mehr als nur eine
geschäftliche Beteiligung geht, zeigen
SAFEROPE/KNUT FOPPE
Euro Umsatz bietet er ebenfalls all das
an, was Windparkbetreiber so brau-
chen. Offshore-Transport, Windenser-
vice, Helikopterwartung und -rettung.
Allerdings, so sagt Freiland, „ohne eine
U
mächtige Stiftung im Rücken“.
nbekannte haben zwischenzeit-
lich anonym Anzeige beim Fi-
nanzamt gegen die DRF erstat-
tet und die Stiftungsaufsicht einge-
schaltet. Die Schreiben wurden an die
Presse weitergegeben, auch WELT AM
SONNTAG liegen sie vor. „Die in den
Medien dargestellten Anschuldigungen
sind schwerwiegend und zugleich unbe-
rechtigt“, sagt Müller-Ramcke. Die
NHC finanziere sich nicht über Stif-
tungsgelder, Investitionen würden aus
Bankkrediten getätigt. Im kommenden
Jahr werde man Gewinne erwirtschaf-
ten, die dann der DRF zugutekommen
würden. „Wir bereichern uns nicht an
Stiftungsgeldern und betreiben auch
kein Marktdumping.“
NR. 43 23. OKTOBER 2022
Vorgänge rund um den geplanten Deal.
Staatliche Stellen hätten Einfluss auf
deutsche Firmen mit China-Geschäft
geltend gemacht, hieß es in Wirt-
schaftskreisen. Diese sollten sich bei
Politikern für die Beteiligung engagie-
ren, hieß es. Peking habe „eine Art
Querdruck“ gemacht, um an sein Ziel zu
kommen.
Die ablehnenden Ministerien fürch-
ten den Einfluss der Volksrepublik
auch, weil Cosco eben nicht nur eine
reine Finanzbeteiligung sein soll. Die
Reederei dürfte im Fall eines Einstiegs
einen Geschäftsführer stellen und bekä-
me Mitspracherechte. Öffentlich äu-
ßern wollen sich die Minister nicht. Der
wirtschaftspolitische Sprecher der FDP
im Bundestag, Reinhard Houben, warnt
davor, Fachministerien und Nachrich-
tendienste bei der Entscheidung zu
übergehen. „Besonders gegenüber sys-
temischen Rivalen wie China ist ein kla-
rer Kurs auf Basis geltenden Rechts un-
abdingbar.“
Der Wind ist rauer geworden. Viele
Unternehmen an der Küste sind in wirt-
schaftliche Schwierigkeiten geraten,
nachdem die letzte Regierung den Aus-
bau der Windkraft abgewürgt hatte. Für
den Betrieb braucht es viel weniger Per-
sonal in den Windparks als während der
Bauphase, entsprechend weniger Flug-
stunden können die Heli-Firmen in
Rechnung stellen. Den hohen Kosten
für Material und Personal stehen sin-
kende Einnahmen gegenüber. Der
ADAC hat sich aus dem Offshore-Ge-
schäft schon vor Jahren wieder zurück-
gezogen. „Gründe waren die begrenz-
ten Personalressourcen an der Küste,
aber auch ein ruinöser Wettbewerb
durch einzelne Wettbewerber“, sagt ein
Sprecher. Die Vorwürfe gegen den Riva-
len DRF will er nicht kommentieren, be-
tont aber, dass das damalige Offshore-
Engagement der ADAC-Luftretter „oh-
ne Zuführung von gemeinnützigen Mit-
teln erfolgt“ sei.
Nachdem der ehemalige ADAC-Part-
ner Wiking die Waffen gestreckt hat,
sitzen nun Freiland und Müller-Ramcke
mit ihren Hubschraubern Hangar an
Hangar am Emder Flugplatz. Man grüßt
sich freundlich, doch hinter dem Rü-
cken wird mit harten Bandagen um Auf-
träge gekämpft. Alles natürlich im Sinne
der Sicherheit auf hoher See.
Nach der Wiking-Pleite hat sich die
NHC deren Offshore-Rettungsverträge
geschnappt und übernimmt zwei Hub-
schrauber und Teile des Personals. Heli
Service wiederum hat sich das Crewver-
satzgeschäft für den Energieriesen Ten-
net gesichert. Dafür hat die NHC dem
Lokalrivalen jetzt den prestigeträchtigen
„Polarstern“-Auftrag abgeluchst. Die
drei Hubschrauber des deutschen For-
schungsschiffs, die bislang von Freilands
Heli Service betrieben wurden, starten
K
nun mit NHC-Personal übers Eis.
onkurrent Freiland sieht die Er-
folge der Nachbarn mit wenig
Freude. „Bei den letzten Aus-
schreibungen waren wir angeblich um
250 Prozent zu teuer“, berichtet er.
„Auf dem Preisniveau brauchen wir gar
nicht erst anzufangen.“ Dennoch sei er
es nicht gewesen, der den Konkurren-
ten bei den Behörden angeschwärzt hat.
Wer dies gewesen sein könnte, darüber
wird in der Branche wild spekuliert. Es
gibt mehrere Unternehmen im In- und
Ausland, die ein Interesse haben könn-
ten, der DRF zu schaden. Weil sie an-
derswo mit ihr im Wettbewerb stehen
oder vielleicht selbst ins Offshore-Ge-
schäft einsteigen wollen.
Denn die Energiekrise hat die Off-
shore-Branche schlagartig zurück ins
Geschäft gebracht. Bis 2045 sollen die
deutschen Windparks nach den Plänen
der Ampelkoalition so viel Strom wie 70
Atomkraftwerke produzieren, eine Ver-
zehnfachung der heutigen Kapazität. An
Nord- und Ostsee werden in den kom-
menden Jahren gigantische Bautätigkei-
ten einsetzen, viele Menschen werden
von Emden und anderswo aufs Meer hi-
nausgeflogen werden.
Auch bei den Gelben Engeln scheint
man wieder Hochsee-Ambitionen zu
hegen. Möglicherweise ist den Wind-
parkbetreibern nicht ganz wohl damit,
von einem dominanten Anbieter abhän-
gig zu sein. „Es gibt aktuell Anfragen
von mehreren Unternehmen und Be-
hörden, ob die ADAC Luftrettung sich
im Offshore-Bereich wieder engagieren
würde“, sagt ein Sprecher. „Es ist nicht
ausgeschlossen, dass wir dort wieder
einsteigen.“ Der Kampf der Engel dürfte
weitergehen.

NACHHALTIGKEIT
AKTUELLE ASPEKTE RUND UM DIE ENERGIEWENDE
VERSORGUNG
H2 HAT EINE
ZENTRALE
BEDEUTUNG
Eine sichere und emissions-
freie Energieversorgung wird
nur mit Wasserstoff möglich
sein. Darauf hat der Deutsche
Wasserstoff- und Brennstoff-
zellen-Verband e.V. (DWV) in
diesen Tagen hingewiesen.
Grüner Wasserstoff (H2) ist das
Schlüsselelement, um die Versor-
gungssicherheit zu gewährleisten
und die Industrie gleichzeitig zu
dekarbonisieren. Entsprechend
der Vorgaben der EU sollen spä-
testens von 2030 an jährliche
Mindestmengen von 20 Millionen
Tonnen grünem Wasserstoff in
der EU gesetzlich verankert sein.
Der DWV hat drei Handlungsfel-
der definiert, damit eine inves-
titions- und versorgungssichere
Transformation der Industriepro-
zesse auf europäischer und natio-
naler Ebene gelingt:
> Beschleunigter Ausbau der er-
neuerbaren Energien in Kombi-
nation mit einem Hochlauf der
grünen Wasserstoff-Produkti-
onskapazitäten im industriellen
Maßstab.
> Aufbau einer versorgungssi-
cheren Wasserstoffinfrastruktur.
> Transformation und Markt-
hochlauf der grünen Industrie-
prozesse.
Es sei ein regulatives Gesamt-
konzept auf nationaler und eu-
ropäischer Ebene erforderlich,
das die Investitionssicherheit der
Unternehmen gewährleiste, so
der DWV.
> dwv-info.de
WINDENERGIE
AUSBAU
AUSGEBREMST
Der Denkmalschutz verhin-
dert immer häufiger Wind-
energieprojekte in Deutsch-
land.
Laut einer Erhebung der Fach-
agentur Windenergie an Land
werden mehr als zehn Prozent
aller beantragten Windenergie-
anlagen aus Gründen des Denk-
malschutzes abgelehnt bzw. die
Anträge zurückgezogen. Ohne
eine gemeinsame Intervention
des Bundes und der Länder ge-
hen wichtige Potenziale verlo-
ren.
„Dass zehn Prozent aller in Ge-
nehmigungsverfahren befindli-
chen Windenergieprojekte am
Denkmalschutz scheitern, ist
nicht hinnehmbar“, kommen-
tiert Hermann Albers, Präsident
des Bundesverbands Windener-
gie BWE e.V. „Momentan befin-
den sich Projekte mit einer Leis-
tung von rund 10.000 Megawatt
im Genehmigungsverfahren.
Rund 1.000 Megawatt drohen
allein aus Gründen des Denk-
malschutzes nicht zustande zu
kommen.“
> wind-energie.de
Windenergieanlage: Derzeit sind
Projekte mit rund 10.000 Mega-
watt im Genehmigungsverfahren
NACHHALTIGKEIT I 22./23. Oktober 2022
Realisierung: Boeddeker. Kommunikation & Medien,
Hamburg, www.boeddeker.com I Anzeigen: Petra
Mählmann-Radowitz, E-Mail: petra.maehlmann-
radowitz@axelspringer.com
ANZEIGEN-SONDERVERÖFFENTLICHUNG
Unsere Themen: Studie zur Energiewende in Deutschland –
Immer mehr vollelektrische Lkw rollen auf den Straßen –
Junge Erwachsene finden das Thema Nachhaltigkeit wichtig
VOLLELEKTRISCHE LKW
Foto: peterschreiber.media/stock.adobe.com
ZEITENWENDE TREIBT
ANTRIEBSWENDE
Elektrisch angetriebene Lkw Beschleunigt wird der Wandel
werden bald fester Bestand- von immer strikteren regulato-
teil des Straßenbilds sein rischen Anforderungen sowie
und innerhalb der nächsten gleichzeitig fallenden Gesamtbe-
15 Jahre Schritt für Schritt triebskosten für ZEVs. In Europa
die Neuzulassungen im Nutz- erhöhen zusätzlich der Krieg in
fahrzeugbereich dominieren. der Ukraine und seine wirtschaft-
Diese Prognose geht aus der lichen sowie politischen Folgen
neuen Studie „The Dawn of Elec- den Transformationsdruck: Viele
trified Trucking“ von Strategy&, Regierungen richten ihre Ener-
der Strategieberatung von PwC, giepolitik neu aus und reduzieren
hervor. dabei ihre Abhängigkeit von fos-
Laut der Studie werden von silen Energieträgern.
Batterien oder Brennstoffzel- Christian Foltz, Co-Autor der
len angetriebene Zero Emissi- Studie und Partner bei Strategy&
Deutschland muss den Ausbau der erneuer- on Vehicles (ZEVs) in Europa, Deutschland: „Die energiepoliti-
baren Energien forcieren, wenn das Land die Nordamerika und im Großraum sche Zeitenwende treibt wie bei
selbstgesteckten Ziele erreichen will China bereits 2030 ein Drittel Pkw auch bei Lkw die Antriebs-
aller neuzugelassenen Lastwa- wende. Der Wunsch nach Un-
gen ausmachen. Bis 2035 wird abhängigkeit und gewachsenes
ihr Anteil in diesen Märkten bei Vertrauen in elektrische Antriebe
MCKINSEY-STUDIE den Neuzulassungen auf etwa beflügeln die Lkw-Branche.“
70 Prozent steigen. > strategyand.pwc.com
HERKULESAUFGABE ENERGIEWENDE
Foto: Mercedes-Benz
Die Rahmenbedingungen Verbesserung im Vergleich zum müssen. Wichtig ist es daher, über schnellere Genehmigungs- pro Tag – und in der Offshore-
für die Energiewende in vorherigen EWI aus dem März die Importabhängigkeit durch verfahren bis hin zur Anwerbung Windkraft müsste sich die Ka-
Deutschland haben sich 2022: Sechs der 15 untersuch- Streuung von Lieferanten zu und Weiterqualifikation ausrei- pazität nahezu vervierfachen.
durch den russischen An- ten Indikatoren zum Status der verringern. Teil der Strategie chend vieler Fachkräfte für den Auch Erdgas wird weiter eine
griff auf die Ukraine drama- Energiewende in Deutschland muss es außerdem sein, ver- Bau und Betrieb der Anlagen.“ Rolle spielen. Eine Entspannung
tisch verändert. sind in ihrer Zielerreichung sta- mehrt grünen Wasserstoff für Um das 80-Prozent-Ziel zu er- der Lage sei, heißt es bei McKin-
Die neuen geopolitischen Reali- bil realistisch – sechs stehen die Verstromung verfügbar zu reichen, müssten jährlich PV- sey, aufgrund der breiteren
täten und die EU-Entscheidung, auf der Kippe, drei sind unrea- machen.“ Anlagen mit einer Kapazität von Streuung von Lieferanten eben-
zukünftig auf russisches Gas zu listisch. Positiv entwickelte sich Wo Deutschland im Jahr 2030 18 GW errichtet werden; in der so denkbar wie eine Fortschrei-
verzichten, treffen auch den vor allem der Indikator Anteil bei der Energiewende stehen Onshore-Windkraft müssten bung der aktuell angespannten
Stromsektor – denn flexible wird, kommt demzufolge ent- pro Jahr 1.800 Anlagen in Be- Situation. Ein vollelektrischer Mercedes-Benz eActros. An Megawatt-Ladesäulen be-
Gaskraftwerke sollen helfen, die Immer mehr scheidend auf den Ausbau der trieb gehen – umgerechnet fünf > mckinsey.com kommen E-Lkw inzwischen in 30 Minuten genug Strom für 400 Kilometer
Volatilität erneuerbarer Energi- erneuerbaren Energien (EE)
en auszugleichen. Vom massi- Erneuerbare und die Situation am Gasmarkt
ven Ausbau der Erneuerbaren, an. Mit ihrer neuen Ambition,
über eine stärkere Nutzung Erneuerbarer am Bruttostrom- den EE-Anteil in Deutschland bis
des Stroms aus Europa bis hin verbrauch, der wegen des guten zum Ende dieses Jahrzehnts auf
zu weitgehender Selbstversor- Wetters im ersten Halbjahr von 80 Prozent zu erhöhen, hat sich
gung auf Basis von Kohle und 41 auf fast 49 Prozent zulegte. die Bundesregierung viel vorge-
Kernkraft – eine Analyse dreier Thomas Vahlenkamp, Seni- nommen.
Szenarien für den Strommix im or Partner von McKinsey: Vahlenkamp: „Dieses Ziel zu er-
Jahr 2030 zeigt: Deutschland „Deutschlands Energiewende reichen, ist eine Herkulesaufga-
bleibt weiterhin auf Erdgas an- steht vor der größten Bewäh- be. Dafür muss die komplette
gewiesen. rungsprobe ihrer Geschichte. Wertschöpfungskette rund um
Diese Zahlen liefert der aktuel- Unsere Szenarienanalyse zeigt: den EE-Ausbau befähigt werden:
le Energiewende-Index (EWI) Erdgas wird auch zukünftig angefangen bei der Aufstockung
von McKinsey. Und er zeigt eine eine Rolle im Strommix spielen der Produktionskapazitäten
Foto: fotomek/stock.adobe.com
Eine Mehrheit
der Befrag-
ten ist der
Auffassung,
dass sich
Geldanlagen
und Nachhal-
tigkeit sehr
gut verbinden
lassen
STUDIE
Unter Nachhaltigkeit verstehen wir,
GENERATION Z OFFEN FÜR heute die Leistungsfähigkeit von
NACHHALTIGE GELDANLAGE morgen zu sichern.
Die meisten jungen Erwachsenen zwischen ren, zum Thema Nachhaltigkeit und Geldanlage Nachhaltigkeit braucht gezielte Anstöße, damit sie langfristig wirkt.
18 und 25 Jahren finden Nachhaltigkeit im Auftrag des genossenschaftlichen Fondsan- Wie bei einem Perpetuum mobile, das sich nach einem ersten Impuls
wichtig, handeln aber aus ihrer eigenen bieters Union Investment. von außen immer wieder selbst antreibt. Dieses ist zwar fiktiv, dient uns
von der DZ BANK aber als Vorbild und Haltungsgrundlage. Wir denken
Perspektive nicht immer entsprechend. Der Idee, sein Geld nachhaltig anzulegen, steht
in Kreisläufen und unterstützen unsere Kunden dabei, nachhaltige
Zwar haben sie vieles, was sie mit Nachhaltig- die Generation Z offen gegenüber. Gut die Hälf- Veränderungen anzustoßen. Dabei haben wir immer die langfristigen
keit verbinden, in ihr Leben integriert, sparen te (52 Prozent) ist der Meinung, dass sich Geld- Auswirkungen unseres Handelns im Blick. So sichern wir gemeinsam die
mehrheitlich Wasser und Strom, sind aber etwa anlagen und Nachhaltigkeit sehr gut verbinden Zukunft durch nachhaltige Leistungsfähigkeit. Erfahren Sie mehr über
beim Lebensmittelkauf preissensibler als andere lassen. unsere Haltung unter: dzbank.de/haltung
Altersgruppen. Überraschend ist, dass die Moti- Bei den Befragten über 60 Jahren sind es mit 41
vation, sich mit Nachhaltigkeit Prozent weniger. 58 Prozent
zu beschäftigen, mehr mit ra- Luft nach oben beim aller Befragten finden es posi-
tionalen als ideologischen Fak- tiv, durch Finanzanlagen etwas
toren begründet wird. Mehr als Thema Wissen Gutes für Gesellschaft und
die Hälfte der Befragten aus Umwelt zu bewirken.
der Generation Z ist überzeugt, dass man auch Dass nachhaltige Geldanlagen auch mehr Rendi-
als einzelne Person nachhaltige Ziele fördern te bringen, glauben nur 16 Prozent aller Befrag-
kann. Allerdings sehen sie hier vor allem Indust- ten. Unter den 18- bis 25-Jährigen sind es mit 21
rieunternehmen und den Staat in der Verantwor- Prozent etwas mehr. Luft nach oben ist beim
tung. Für nachhaltige Geldanlagen zeigen sich die Wissen rund um die nachhaltige Geldanlage. Nur
jungen Menschen offen. elf Prozent der Generation Z fühlen sich zu die-
Dies sind die wichtigsten Erkenntnisse aus einer sem Thema gut informiert, bei der Generation
Befragung von 3.500 Privatpersonen in Deutsch- über 60 Jahre sind es sogar nur sechs Prozent.
land, unter ihnen gut 500 zwischen 18 und 25 Jah- > union-investment.de
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22 WIRTSCHAFT
DIHK warnt
vor Ausfällen
bei Produktion
Unternehmen bangen
um Energieverträge
D Clausewitzianer
er Deutsche Industrie- und
Handelskammertag (DIHK)
hat infolge der Energiekrise
vor Produktionsstopps bei Unter-
nehmen gewarnt. DIHK-Präsident
Peter Adrian sagte der Deutschen
Presse-Agentur: „Quer durch die
Branchen erreichen uns täglich Hil-
ferufe von Unternehmen, die für das
kommende Jahr keinen Energiever-
sorgungsvertrag mehr bekommen.
Wenn hier keine Lösung gefunden
wird, stehen zum Jahreswechsel Tei-
le unserer Wirtschaft still.“ Adrian
forderte die Bundesregierung zum
Handeln auf.
Viele Energieversorger könnten
die Sicherheitsleistungen nicht mehr
bezahlen, die sie bei ihren Terminge-
schäften zur Absicherung von Ener-
giepreis-Schwankungen hinterlegen
müssten. „Diese Sicherheitsleistun-
gen haben analog zu den Börsenprei-
sen astronomische Höhen erreicht,
sodass Stadtwerke und andere Liefe-
ranten ihren Kunden keine Angebote
für die Belieferung mit Strom und
Gas mehr machen können. Wir brau-
chen daher schnell einen staatlichen
Garantierahmen wie bei der Finanz-
krise.“ Die vorgeschlagene Gaspreis-
bremse löse das Problem nicht.
„Denn sie reduziert mit dem staatli-
chen Zuschuss den Preis für den
Endkunden, nicht beim Versorger.“
Anders als für private Haushalte
und sehr kleine Unternehmen hätten
größere und mittlere Betriebe kei-
nen Anspruch auf Ersatz durch
Grundversorger. „Diese Unterneh-
men stehen deshalb ohne Vertrags-
angebot komplett ohne Energie da
und müssten den Betrieb einstellen.“
Adrian fordert eine Ersatzversor-
gung für die Betriebe und eine Liqui-
ditätssicherung für die Versorger.
„Anderenfalls drohen Einschränkun-
gen in wichtigen Wirtschaftsberei-
chen“, so Adrian.
Die Bundesregierung plant einen
„Abwehrschirm“ in Höhe von bis zu
200 Milliarden Euro, um Verbrau-
cher und Unternehmen wegen der
hohen Energiepreise zu unterstüt-
zen. Geplant ist, daraus auch erwei-
terte staatliche Hilfen für Unterneh-
men zu finanzieren. dpa
Deutsche
Flughäfen unter
Durchschnitt
Passagierzahlen bleiben
hierzulande niedrig
D
ie deutschen Flughäfen sta-
gnieren bei der Aufholjagd
nach dem Corona-Einbruch
und fallen im europäischen Vergleich
zurück. In den ersten neun Monaten
des Jahres haben 122,7 Millionen
Fluggäste die größeren Flughäfen ge-
nutzt. Das waren zwar weit mehr als
doppelt so viele wie im Vorjahr 2021
– zum Vorkrisenniveau aus dem Jahr
2019 fehlte aber mit 36,1 Prozent wei-
terhin noch mehr als ein Drittel, wie
der Branchenverband ADV am Frei-
tag mitteilte. Innerdeutsch waren
sogar fast zwei Drittel weniger Men-
schen per Flugzeug unterwegs.
Im September sind die Zahlen we-
gen der auslaufenden Feriensaison
im Vergleich zum August demzufol-
ge um eine halbe Million zurückge-
gangen. 26,8 Prozent fehlten im Sep-
tember noch zum Vorkrisenniveau,
eine Verschlechterung nach 25,2 Pro-
zent Rückstand im Vormonat.
Die Erholung in Deutschland fiel
damit deutlich schwächer aus als in
vielen anderen europäischen Län-
dern. Dem Airport-Verband ACI zu-
folge fehlen europaweit noch zwölf
Prozent der Passagiere. Italien, Spa-
nien und Portugal sind im Vergleich
zum Vorkrisenjahr 2019 nur noch
leicht im Minus, während Griechen-
land nach drei Quartalen sogar 4,5
Prozent mehr Passagiere verzeich-
nen konnte. ADV-Hauptgeschäfts-
führer Ralph Beisel warnte davor,
dass Deutschland im Wettbewerb
um neue Strecken für Airlines zuse-
hends unattraktiv werde. dpa
A
Als sein Vater, der in Künzelsau im
Nordosten Baden-Württembergs einen
Großhandel mit Schrauben, Muttern
und Nägeln aufgezogen hatte, 1954 ver-
starb, sprang Reinhold Würth ein, ob-
wohl er nach damaliger Rechtslage noch
gar nicht volljährig war. Der 19-Jährige
hatte nur einen einzigen Angestellten,
aber jede Menge Grips und Mumm. Was
sich entspann, war eine Wirtschafts-
wunder-Geschichte, die kein Klischee
aussparte, einschließlich eines ein-
drucksvollen Mäzenatentums: Als seien
sie angenagelt, jagte Reinhold Würth an
Konkurrenten vorbei, nahm sie en pas-
sant in Besitz oder schaltete sie gleich
aus – eine Schwabenmacht von gerade-
zu imperialistischer Annexionsfreude.
Reinhold Würth war und blieb immer
einer, der in Kilometereinheiten dachte,
wo andere in Zentimetern maßen.
VON KLAUS BOLDT
Die Würth-Gruppierung ist eine
prächtige Lebensäußerung, denn die
Befestigungs- und Montagebedürfnisse
der Menschen erweisen sich als unstill-
bar in Zeiten der Haltlosigkeit: Wie ge-
wohnt wird das Unternehmen wohl
auch 2022 alte Rekorde brechen und
den Umsatz um etwa 17 Prozent beflü-
geln. „Wir arbeiten daran, die 20 Milli-
arden Euro Umsatz zu knacken“, sagt
Würth. Der Gewinn werde „bei etwa 1,5
Milliarden Euro liegen statt 1,27 im ver-
gangenen Jahr.“ Es versteht sich von
selbst, dass die stolzen Schwaben seit
vielen Jahren den Rang des Weltmarkt-
führers bekleiden.
Zur Organisation mit ihren 83.000 Be-
schäftigten (man frönt dem Direktver-
trieb) gehören mehr als 400 Gesellschaf-
ten, dazu Schlösser, Hotels, Düsenjets, ei-
ne 85-Meter-Yacht und eine der größten
privaten Kunstsammlungen der Welt.
Mit einem Vermögen von mehr als 15 Mil-
liarden Euro rangieren die Würths unter
den 15 reichsten Deutschen. Der alte
Feldherr – seit 66 Jahren verheiratet mit
Ehefrau Carmen – wohnt ein paar Kilo-
meter entfernt vom Firmensitz auf
Schloss Hermersberg. Von dort kommt er
gerade her. Es ist 15.30 Uhr, und wir wol-
len heute kurz über die Familie sprechen.
WELT AM SONNTAG: Herr Würth, Sie
sind 87 Jahre alt, da ist die Frage
statthaft: Wie geht’s, wie ist die Lage?
REINHOLD WÜRTH: Ach, ich habe gera-
de ein einstündiges Mittagsschläfchen
gemacht, und mir geht’s an sich recht
gut, abgesehen von meiner Schwerhö-
rigkeit. Aber ich stehe auch unter guter
medizinischer Kontrolle und fühle mich
wirklich gut versorgt.
Sie haben kürzlich Nachfolgeregelun-
gen getroffen oder doch Anfang Okto-
ber publik gemacht, wonach Ihre En-
kel Benjamin und Sebastian Würth –
die Söhne Ihrer Tochter Marion –
künftig eine führende Rolle im Stif-
tungsaufsichtsrat beziehungsweise im
Beirat der Firmengruppe spielen und
in diesen Gremien Ihre Tochter Betti-
na und eines Tages Sie selbst ersetzen
sollen. Darüber hinaus soll Ihre Enke-
lin Maria die Geschäftsführung Ihrer
Kunstsammlung übernehmen. Spie-
gelt diese Entscheidung so eine Art Ur-
vertrauen in die Familie wider?
Ich glaube schon, ja. Also, die Familie
funktioniert an sich gut. Meine Töchter
Bettina und Marion verbringen manch-
mal sogar ein paar Urlaubstage mitei-
nander. Das ist alles in Ordnung. Ja, es
herrscht ein gutes Einvernehmen.
Mitte der 80er-Jahre hatten Sie des
guten Einvernehmens zum Trotz den
Entschluss gefasst, Ihr Unternehmen
von der Familie abzukoppeln und es
in mehrere Stiftungen einzubringen.
Sie veranschaulichten Ihren Beweg-
grund mit den Worten: „Die Kinder
und Enkel sollen das Vermögen nicht
in Ferraris verjubeln können.“
(lacht) Ich hatte damals von vielen
Unternehmen gelesen, die darunter lit-
Man könnte
mich schon als
bezeichnen
Reinhold Würth hat den Schraubenhandel seines Vaters
zu einem Weltkonzern aufgebaut. Bald treten seine Enkel
führende Rollen innerhalb der Würth-Gruppe an
Reinhold Würth
Stiftungsaufsichtsratsvorsitzender
ten oder sogar untergegangen sind,
weil die Familienstämme nicht harmo-
nierten. Viele Firmen mit klangvollen
Namen sind von anderen Unterneh-
men aufgekauft oder in Publikumsge-
sellschaften umgewandelt worden.
Dem wollte ich vorbeugen, denn spä-
testens in der dritten Generation tre-
ten ja häufig Differenzen auf, und jeder
will nur noch sein eigenes Süpplein ko-
chen. Das wollte ich vermieden wissen.
Und nach jetzigem Kenntnisstand glau-
be ich, auch eine gute Lösung gefunden
zu haben. Die Familienmitglieder sind
wohldotierte Destinatäre der Stiftun-
gen, haben aber eben keinen Zugriff auf
das Firmenvermögen.
Was sagten Ihre Kinder, die damals
Mitte 20 waren, dazu, dass sie, was
,, * WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022
Ja, gut. Wenn ich sehe, dass eine Ent-
scheidung absolut falsch ist, bestehe ich
darauf, dass sie nicht durchgesetzt wird.
Die Erben der Superreichen, meinte
der Ökonom Joseph Schumpeter, hät-
ten „die Beute geerbt, aber nicht die
Klauen“. Sind Ihre Enkel Sebastian
und Benjamin ...
... Benjamin und Sebastian: Benjamin ist
der Ältere.
… sind die aus dem gleichen Schrot
und Korn wie Sie?
Sie werden’s, sie werden’s … Ich bin mit
den beiden ja sehr eng. Da sind vor al-
lem die Urlaubszeiten sehr wertvoll,
hier ist uns ein enger Austausch mög-
lich. Ich glaube, das ist recht wohl ge-
lungen, das darf ich schon sagen. Wir
lieben uns richtig als Großvater und En-
kel, von beiden Seiten. Wir haben ein
sehr, sehr inniges Verhältnis.
Das Verhältnis zu den Enkeln ist nicht
selten besser als zu den eigenen Kin-
dern.
Ja, aber mit ihrer Mutter Marion bin ich
genauso eng. Wir schreiben uns abends
häufig sogar noch SMS mit Blümchen
und so und wünschen uns „Gute Nacht“.
In Ihrem Buch „Erfolgsgeheimnis
Führungskultur“ haben Sie geschrie-
ben, es gebe „viele Hinweise bei Carl
von Clausewitz, wie man einen Markt
erobern“ könne. Einmal beiseite, dass
sich kaum noch Manager auf den
preußischen Militärtheoretiker Clau-
sewitz berufen: Hoffen Sie, dass die
von Ihnen geprägte Führungskultur
fortbesteht oder dass sie sich Moden
und Trends öffnet?
Wissen Sie, ich habe das Unternehmen
ziemlich liberal und dezentral organi-
siert und viele Freiheiten gelassen. Man
kann Kultur nicht kommandieren oder
über Lehrbücher herstellen. Kultur ist
die Agglomeration der täglichen Hand-
lungen, der Kommunikation, des Um-
gangs miteinander. Ich war viele Jahre
lang im Kuratorium der Robert-Bosch-
Stiftung, und sowohl in diesem Gremi-
um als auch in der aktiven GmbH wurde
oftmals die Frage gestellt „Wie würde
Robert Bosch jetzt entscheiden?“, und
man hat dann versucht, nach bestem
Wissen dem Robert Bosch zu folgen. So
ähnlich, glaube ich, wird es eines Tages
auch bei uns sein. Das Allerwichtigste
PICTURE ALLIANCE / DPA / MARIJAN MURAT
war für mich immer, die Arroganz vom
Unternehmen fernzuhalten. Sie ist ein
verdammtes Übel! Ich habe so viele
Menschen und Unternehmen gesehen,
die mit ihrer wachsenden Bedeutung ihr
Auftreten, ihre Andienung, ihr charakter-
liches Bild gegenüber Kunden, Kollegen
und Freunden verändert haben, dass ich
einfach gesagt habe: „Arroganz ist das
Letzte, was ich haben will.“ Hierin sehe
ich bis heute meine Hauptaufgabe: die
Arroganz vom Unternehmen fernzuhal-
1935 im baden-württembergischen Öhringen geboren, ten. Wenn ein Unternehmen im Erfolg
begann Reinhold Würth im Alter von 14 Jahren eine
bescheiden bleibt, ist das eine unglaub-
Lehre in der Schraubengroßhandlung seines Vaters. lich gute Lebensversicherung für die Zu-
Nach dessen frühem Tod baute er den Betrieb über kunft. Bescheidenheit findet Anklang bei
die Jahre zu einem weltweit tätigen Konzern aus. Lieferanten, bei Kunden, bei Behörden,
Die Anteile seines Unternehmens hat Reinhold Würth bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
1987 auf mehrere Stiftungen verteilt: Der fünfköpfi- und erzeugt Wohlwollen. Nicht nur, aber
ge, von Würth selbst geführte Stiftungsaufsichtsrat, auch aus diesem Grund habe ich dem
dem zwei familienfremde Mitglieder angehören, bildet Unternehmen ja diese Kunstsammlung
das Machtzentrum des Konzerns. Anfang 2023 steigt aufgebaut mit heute mehr als 18.500
Benjamin Würth, 41, zum stellvertretenden Vorsitzen- Kunstwerken; wir haben in Künzelsau
den auf, während Sebastian Würth, 37, 2025 bei der sogar ein eigenes philharmonisches Or-
Würth-Gruppe von seiner Tante Bettina, 61, chester, das auf ganz hohem Niveau
die Leitung des Beirats übernimmt. spielt. Mitte Juni erst hat Christian Thie-
lemann in unserem Carmen Würth Fo-
rum Wagner und Mendelssohn Barthol-
dy dirigiert. All das zeigt der Öffentlich-
keit, dass dieses Unternehmen nicht nur
auf Umsatz und Gewinn starrt, sondern
eine gewisse Leichtigkeit, Zukunftsfähig-
keit und Lebensfreude ausstrahlt.
das Unternehmen anging, nun enterbt gegeben hat. Da gab es Abteilungsleiter,
wurden? die sagten: „Ich brauche keine Frau und Ihre Enkel sollen nun Führungsrollen
Die sagten: „Papa, mach’s!“ Die haben die Tochter vom Chef schon gar nicht.“ in Beirat und Aufsichtsrat überneh-
mir vertraut. Natürlich kann eine direk- Sie hat sich durch Leistung den Res- men. Sind dort gute Manager gefragt,
te Nachfolge auch funktionieren. Aber pekt der Kollegen erarbeitet und ist oder reicht es, wenn sie gute Aufpas-
das war mir zu kurzsichtig. Denn: Was heute Vorsitzende des Beirats der ser sind?
kommt nach dieser Person? Würth-Gruppe und hoch angesehen. Je weiter sie in der Hierarchie aufrü-
Sie ist eine super Frau, und ich bin cken, desto weniger Produktkenntnisse
Ihre Tochter Bettina, 61, zeigte keinen stolz auf sie. müssen sie haben, aber umso mehr
unternehmerischen Ehrgeiz? Menschenkenntnis. Die Positionen
(lächelt) Ja, gut, die Bettina war ein Sie hat über Sie gesagt: „Er ist schon ganz oben sind zuständig für die Kultur,
bisschen schwierig, wie es die jungen ein extremer Mensch. Er kann un- die Ruhe, den Frieden und die Freude
Leute dieser Generation halt oftmals glaublich hart, aber auch sehr weich im Unternehmen. Aber natürlich auch
waren. Irgendwann hat sie sich aber sein. Ein polarisierender Mensch – für eine gewisse Aggressivität und An-
doch entschlossen, ins Unternehmen unglaublich fordernd, aber auch groß- griffsbereitschaft.
zu kommen. Sie hat eine Lehre ge- zügig. Brücke über alles ist seine Zä-
macht, ganz normal, und ist nicht bes- higkeit und Geduld. Er hat es mir Clausewitz.
ser behandelt worden als andere – ach, nicht leicht gemacht.“ Was meint sie Sehen Sie! Ja, natürlich. Man könnte
teilweise sogar schlechter, was sie mir mit „nicht leicht gemacht“ und was mich schon als Clausewitzianer be-
aber erst sehr viel später zur Kenntnis mit „unglaublich hart“? zeichnen. (lacht)

N
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
och sind Deutschlands
erste Dienstwagen her-
kömmliche Verbren-
ner. Denn bis dato fah-
ren Bundeskanzler
Olaf Scholz und Bun-
despräsident Frank-
Walter Steinmeier eine Mercedes S-
Klasse vom alten Schlag. Zu schwer ist
die Panzerung, und zu gering wäre die
Reichweite, wenn die Staatskarossen
schon auf Strom umgestellt würden.
VON THOMAS GEIGER
Doch bei allen anderen Dienstwagen-
fahrern hat längst ein Umdenken einge-
setzt: Waren Elektroautos lange nur in
der Nische zuhause, fuhren als saubere
Kleinwagen durch die Stadt oder als prak-
tisches SUV an der Familienfront, erobert
der E-Antrieb im Windschatten des Tesla
Model S jetzt die Limousinen und mit ih-
nen die Langstrecke: Reichweiten jenseits
Die Elite fährt
von 500, 600 Kilometern sind für Autos
mit Strom
Kleine Stadtflitzer, große SUV oder potente
Sportwagen – die elektrische Revolution hat in
den Nischen begonnen. Doch so langsam erobert
der E-Antrieb mit großen Reichweiten auch die
Limousinen und damit die Firmenfuhrparks
wie den Mercedes EQS kein Problem
mehr, sodass mittlerweile auch Flotten-
und Firmenfahrer hellhörig werden.
Nachdem sich dieses Geschäft bis-
lang vor allem auf Tesla mit dem Model
S, Mercedes mit dem Doppel aus EQE
und EQS und Porsche mit dem Taycan
beschränkt hat, drängen in den nächs-
ten Monaten eine ganze Reihe weiterer
Dauerläufer in den Dienstwagen-Fuhr-
park – und erweitern das Spektrum
spürbar nach unten.
So hat Hyundai gerade den Ioniq 6
vorgestellt, der als stromlinienförmige
Alternative zum fast kubistischen Ioniq
5 allein durch seine effizientere Karos-
serie 20 Prozent an Reichweite gewinnt,
deshalb mit seinem rund 77 Kilowatt-
stunden (kWh) großen Akku über 600
Kilometer weit fährt und dabei bis zu
185 Stundenkilometer (km/h) erreicht.
Und das zu Preisen, die auf einem mit
dem Ioniq 5 vergleichbaren Niveau lie-
gen sollen und deshalb unter 45.000 Eu-
ro beginnen dürften.
In die gleiche Kerbe zielt auch VW,
wenn als Passat der neuen Zeit im
nächsten Jahr der ID6 kommt, der bis-
lang als Designstudie „Aero“ durch die
Gazetten geistert. Auch er setzt – no-
men est omen – auf eine ausgefeilte
Aerodynamik und wird zugunsten ei-
nes cW-Wertes (ein Luftwiderstands-
beiwert) von 0,23 zum Flachmann in
der ID-Familie – mit Erfolg: Finale
Zahlen gibt es zwar noch nicht, doch
mindestens 600 Kilometer Aktionsra-
Zwischen alter und neuer Welt
Aller Elektro-Euphorie zum Trotz gibt es noch einmal eine neue Generation
konventioneller Verbrenner – darunter mehrere Autos für Vielfahrer
W
enn Mercedes-Chef Ola Käl-
lenius über die Modellpalette
der Zukunft spricht, dann
fallen da vor allem zwei Begriffe: Luxus
und Elektro. Aber weil der Wandel ja ir-
gendwie bezahlt werden muss, können
die Autobosse nicht mal eben den Schal-
ter umknipsen, sondern tanzen tapfer
auf zwei Hochzeiten und bringen im-
mer noch Verbrenner auf den Markt.
VON THOMAS GEIGER
Während Källenius deshalb auf der
einen Seite vom EQE SUV als jüngstem
Mitglied der wachsenden Flotte an
Elektroautos für Familien und Vielfah-
rer schwärmt, preist er gleichzeitig den
neuen GLC an, mit dem Mercedes noch
einmal ein Meisterstück nach alter
Schule vorgestellt hat – entspannt, sou-
verän und für mehr als 1000 Kilometer
am Stück. Und der Spagat wird für Mr.
Mercedes bald noch ein bisschen
schwerer. Denn hinter den Kulissen le-
gen die Entwickler gerade letzte Hand
an die neue E-Klasse, die traditionell
das Herz der Marke war und sich als er-
NR. 43
dius stellt VW den Vielfahrern schon
in Aussicht.
Noch in diesem Jahr drängt auch ein
elektrischer BMW in die Firmenfuhr-
parks – und will dort ganz oben einstei-
gen. Denn zeitgleich mit dem neuen
Siebener bringen die Bayern auch einen
i7, der bei identischem Design und ver-
gleichbarer Technik allein mit E-Moto-
ren angetrieben wird. Der kommt als i7
xDrive60 mit je einem Motor pro Achse
auf 544 PS, beschleunigt mit bis zu 745
Newtonmeter (Nm) in 4,7 Sekunden
aus dem Stand auf Tempo 100 und er-
reicht eine Spitzengeschwindigkeit von
240 km/h. Die Energie dafür liefert ein
Akku mit rund 102 kWh Netto-Kapazi-
tät, der eine Normreichweite von 625
Kilometern ermöglicht. Mit bis zu 200
kW am Gleichstrom-Kabel geladen,
steht der Siebener danach im besten
Fall zehn Minuten für 110 Kilometer an
der Steckdose.
Und auch Audi will wieder mitmi-
schen im Geschäft mit den Vielfahrern
und plant nach dem genussorientierten
e-tron GT sowie den SUV e-tron und Q4
deshalb auch konventionelle Stromer
für die A6-Kundschaft. Auf einer neuen,
gemeinsam mit Porsche entwickelten
Plattform soll es deshalb in den nächs-
ten zwei Jahren auch eine elektrische
Mittelklasse-Limousine geben – und so-
gar nochmal einen Avant.
Aber die elektrische Revolution
bringt den Dienstwagenfahrern nicht
nur neue Modelle bekannter Marken,
sondern zudem ein paar aussichtsrei-
che Start-Ups: Aus den USA will Lucid
am Tesla-Thron wackeln und lockt die
elektrische Elite mit dem Air – einer
fünf Meter langen Stromlinien-Limou-
sine für Preise jenseits von 100.000
Euro, die in jeder Hinsicht Bestmarken
setzt: Denn in der stärksten Version
kommt sie auf 1111 PS und mit dem
größten Akku auf eine konkurrenzlose
U
Reichweite von 837 Kilometern.
nd aus China machen sich eben-
falls zwei vielversprechende Kan-
didaten auf den Weg nach Wes-
ten. Vom elektrischen Marktführer BYD
gibt’s in der Startaufstellung die Limou-
sine Han, die für 72.000 Euro bei einer
Systemleistung von 517 PS bis zu 521 Ki-
lometer Reichweite verspricht und ei-
nen Mercedes EQE plötzlich ziemlich
alt aussehen lässt. Und von Nio kommt
mit dem ET7 das vielleicht spannendste
E-Auto des Jahres – weniger wegen des
Designs der 5,10 Meter langen Luxusli-
folgreichste Firmenlimousine der Welt
besonders wehrhaft gegen den Wandel
stemmen muss. Dabei hat der Benz fürs
Business allerdings einen starken Ver-
bündeten. Denn Plattform, Antrieb und
Ausstattung stammen weitgehend von
der Mercedes S-Klasse.
Den Blick nach vorn und trotzdem
mit beiden Beinen im Hier und Heute –
natürlich ist Mercedes in dieser Zwick-
mühle nicht allein, auch Audi fährt
zweigleisig: Während die Bayern sehn-
lichst auf den Einsatz der so genannten
PPE-Modelle warten und bereits viel-
versprechende Designstudien für den
elektrischen Nachfolger des A6 gezeigt
MERCEDES-BENZ AG
Der neue Mercedes GLC, ein Meisterstück
nach alter Schule
SPEZIAL 23
FIRMENWAGEN
NIO
HYUNDAI
Die neuen Dauerläufer: Der Nio ET7,
den es mit Abo-Nutzung geben soll
mousine und auch nicht wegen der Fahr- (großes Bild), der Hyundai Ioniq 6 (oben)
leistungen, selbst wenn 653 PS und bis und der BMW i7er, den es auch als
zu 505 Kilometer Reichweite zwei gute Sonderschutzfahrzeug geben wird (r.)
Argumente sind. Was Nio ausmacht, das
DANIEL KRAUS
sind der Betrieb und der Vertrieb.
Den Betrieb eines Elektroautos wol-
len die Chinesen revolutionieren, weil
man die Akkus bei Nio nicht laden muss,
sondern an automatischen Stationen ANZEIGE
austauschen kann – und das binnen fünf
Minuten. Dumm nur, dass es davon in
China zwar schon 1100 gibt, dass für Eu-
ropa bis zum Jahresende aber nur 20 ge-
plant und gerade mal drei bereits eröff-
net sind. Und der Vertrieb ist neu, weil
man einen Nio bei uns nicht kaufen,
sondern nur abonnieren kann, wobei die
Gebühren mit der Laufzeit sinken und
bei stolzen 1199 Euro beginnen.
Hyundai Ioniq 6 und bald der VW
ID6 fürs mittlere Management, Merce-
des EQE und EQS, Nio ET7 oder BMW
i7 für die Führungskräfte – egal in wel-
cher Klasse die Kundschaft nach einem
Dienstwagen sucht, wächst die Aus-
wahl von Woche zu Woche. Und da
sind die unzähligen elektrischen
Crossover und SUV vom Polestar 3 bis
zum Porsche e-Macan noch gar nicht
mit eingerechnet.
Selbst die politische Elite kann ihr
Gewissen bald beruhigen: Am Rande
des G7-Gipfels hat BMW bestätigt, dass
es bald auch den i7 als Sonderschutz-
fahrzeug geben wird. Dann steht wo-
möglich bald auch Deutschlands erster
Dienstwagen unter Strom.
haben, lassen sie keinen Zweifel an ei-
ner weiteren Generation von Verbren-
ner-Modellen in der gehobenen Mittel-
klasse. Zwar mag sich die Nomenklatur
noch neu sortieren, aber im Grunde soll
es das Trio aus A6 Limousine, A6 Avant
und A7 Sportback einmal für Sprit ge-
ben und einmal für Strom.
Die vielleicht beste Figur beim Draht-
seil-Akt zwischen der alten und der neu-
en Auto-Welt macht derzeit allerdings
BMW. Denn während alle anderen das
eine nur tun, ohne das andere zu lassen,
machen die Bayern aus der Not eine Tu-
gend und bauen ihre Modelle konse-
quent als E-Autos und als Verbrenner.
Zwar zwingen diese Multi-Energy-Platt-
formen zu ein paar konstruktivem Kom-
promissen. Doch wer zum Beispiel im
neuen Siebener unterwegs ist, der spürt
keinerlei Einbußen, sondern wähnt sich
schon beim ersten Test mit den Prototy-
pen im Himmel der Bayern, hat mehr
Platz, mehr Komfort und mehr Luxus
als je zuvor. Wenn die Konsequenz aus
dem Umbruch solche Autos sind, dann
kann sich der Wandel ruhig noch ein
bisschen Zeit lassen.
24 WIRTSCHAFT
Tesla baut
seinen
Vorsprung aus
Deutsche Marken hinken
bei E-Autos hinterher
D
ie Zeit der Zwischenbilanzen
ist wieder angebrochen in
der Autoindustrie, Konzerne
wie General Motors, Mercedes-Benz,
Ford und Volkswagen legen kom-
mende Woche ihre Quartalszahlen
vor. Praktisch alle werden enorme
Gewinne melden, trotz Chipmangels
und globaler Krisen. Neben den Pro-
fiten stehen aber vor allem Zahlen
im Fokus, die Aufschluss über die
Zukunftsfähigkeit geben. Insbeson-
dere die Zahl der verkauften Elektro-
autos. Deren Absatz wächst global
rasant, während Autos mit Benzin-
und Dieselmotoren immer weniger
verkauft werden.
Aktuell liegt Tesla klar als globaler
Marktführer vorn. Rund 908.600
Fahrzeuge hat Elon Musks Unter-
nehmen 2022 bis Ende September
verkauft, mit mehr als 1,3 Millionen
rechnen Experten für das Gesamt-
jahr. Der chinesische Rivale BYD
kommt zwar schon auf 1,17 Millionen
Fahrzeuge. Allerdings zählt er dazu
auch Plug-in-Hybride, mit Elektro-
und Verbrennungsmotor, die etwa
die Hälfte des Absatzes ausmachen.
Der Volkswagen-Konzern liegt mit
seit Jahresbeginn 366.400 verkauf-
ten reinen E-Autos weit hinter Tesla.
Gemessen am Wachstum der Elek-
tro-Mobilität, erscheint die Steige-
rung um 25 Prozent gegenüber dem
Vorjahr eher moderat. Noch deutlich
kleiner sind die E-Verkaufszahlen bei
BMW (128.200) und Mercedes-Benz
(75.400).
Zum Vorsprung Teslas bei Softwa-
re und IT komme angesichts dieser
Zahlen ein Größenvorteil in der Pro-
duktion, meint Ferdinand Dudenhöf-
fer vom Center Automotive Re-
search. Tesla führe „fast uneinholbar
bei den wichtigen Skaleneffekten,
sprich besten Kostenbedingungen“.
Die sehr hohen Gewinnmargen, die
Tesla mit seinen E-Autos erzielt, sei-
en für die deutschen Autokonzerne
„in den nächsten fünf Jahren nicht
vorstellbar“. Ein Grund für die Ska-
leneffekte ist Teslas schmale Modell-
palette mit vier Fahrzeugen. Bloom-
berg-Analysten rechnen damit, dass
der Hersteller 2022 weltweit
760.000 Model Y verkaufen wird. Im
vergangenen Jahr wäre der Wagen
damit auf Platz vier der meistver-
kauften Autos auf der Welt gekom-
men – inklusive Verbrenner. Deut-
sche Modelle zählen nicht zu den
globalen Bestsellern. DANIEL ZWICK
Seite 27
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NEUE MOBILITÄT
Der ewige
Verbrenner
Während die großen Automarken
am Ausstieg aus Benzin- und
Dieselmotoren arbeiten, setzen
andere erst recht auf das Geschäft.
D
Firmen wie Aurobay wollen so noch
jahrzehntelang verdienen
ie Motorenfabrik im
schwedischen
Skövde hat eine lan-
ge Tradition. Seit
1907 werden in dem
Ort Antriebe gefer-
tigt, erst für Boote,
dann für Autos von Volvo. Seit Kurzem
gehört das Werk einem neuen Unterneh-
men namens Aurobay. Diese Volvo-Ab-
spaltung stellt Benzin- und Dieselmoto-
ren her – und wird das noch viele Jahre
weiter tun, versichert der Chef von Au-
robay, Michael Fleiss.
Seine Pläne sind der Gegenentwurf zu
den Strategien der globalen Automobil-
hersteller. Während sich Volkswagen,
VOLVO CARSSYSTEM
Mercedes-Benz oder Volvo auf den Ab-
schied vom Verbrennungsmotor vorbe-
reiten, soll sich die Produktion in Skövde
und der zweiten Aurobay-Fabrik im chi-
nesischen Zhangjiakou in die andere
Richtung entwickeln.
VON DANIEL ZWICK
„Ein großes Ziel für uns ist es, so
schnell wie möglich zu wachsen“, sagt
Fleiss im Gespräch mit WELT AM
SONNTAG. Er denkt an Fusionen und
Übernahmen: „Jede Autofirma wird ir-
gendwann an den Punkt kommen, an
dem sie überlegt, ob es Sinn macht, das
Verbrennergeschäft weiterzuführen oder
auszugliedern. Wir sind dann gern bereit,
solche Geschäfte zusammenzuführen.“
Der 49 Jahre alte deutsche Manager
beschreibt damit eine Strategie, zu der
man in der Industrie Schlagworte hört
wie „last man standing“ („der letzte
Mann, der noch steht“) oder „the win-
ner takes it all“ („der Gewinner be-
kommt alles“). Es ist eine Frage der
Sichtweise. „Das Geschäft mit Verbren-
nungsmotoren kann für einige Unter-
nehmen in den nächsten 10 bis 15 Jahren
noch attraktiv sein. Die Investitionen
sind abgeschrieben, es erwirtschaftet
stetige Renditen, und durch eine Konso-
lidierung könnte zusätzlich Wert ge-
schaffen werden“, sagt Patrick Schau-
fuss, Partner bei der Beratungsfirma
McKinsey. „Wir sehen zunehmend die
Tendenz der Automobilhersteller, ihr
Motorengeschäft auszugliedern.“
GEPLANTE FUSION
Aktuelles Beispiel ist der französische
Renault-Konzern. Dessen Chef, Luca de
Meo, will die Motorenproduktion aus-
gliedern. An der Gesellschaft soll Re-
nault nur noch eine Minderheit halten,
und mindestens ein anderer Autoher-
steller soll beteiligt werden. Gerüchten
zufolge verhandelt de Meo unter ande-
rem mit dem Eigentümer von Aurobay,
der chinesischen Geely-Gruppe. Kom-
mentieren wollte er das im WELT AM
SONNTAG-Interview nicht, auch Fleiss
will dazu nichts sagen. Käme es so, dann
würde Geely zu einem möglichen „last
man standing“ aufsteigen. Der Konzern
entwickelt mit Mercedes-Benz einen
Vierzylindermotor, der in kommenden
Autogenerationen laufen soll. Außerdem
ist die Fusion der Geely-Motorensparte
mit Aurobay geplant.
Aus Sicht kleinerer Autohersteller ist
die Ausgliederung sinnvoll. Volvo will
WELT AM SONNTAG
bis 2030 zur reinen Elektroauto-Marke
werden, Renault zumindest in Europa.
Marken wie BMW, die zögerlicher sind
beim Umstieg, werden aber auch weni-
ger Benziner oder Diesel bauen. Vor al-
lem in Europa, wo ab 2035 wohl keine
Neuwagen mit Verbrenner mehr ver-
kauft werden dürfen, sinkt die Zahl ra-
pide. McKinsey rechnet damit, dass E-
Autos 2030 hier einen Marktanteil von
bis zu 80 Prozent der Neuzulassungen
erreichen werden, in China sollen es gut
70 und in den USA etwa 65 Prozent sein.
„Wir erwarten, dass bis 2035 diese drei
Kernmärkte der Automobilindustrie
vollelektrisch sein werden“, sagt Schau-
fuss. Dann bleibt den Motorenbauern
Verbrennungsmoto-
ren von Aurobay:
Der Volvo-Konzern
kauft die Aggregate
neuerdings
von seiner aus-
gegliederten
Tochterfirma
und Zulieferern noch das Ersatzteilge-
schäft und der Absatz von Neuwagen in
Märkten wie Indien, Brasilien und Süd-
ostasien.
Weil sich die Produktion nur in ho-
hen Stückzahlen lohnt, werden sich vie-
le Autohersteller von der Motorenher-
stellung verabschieden. In der Entwick-
lung sind die Budgets bereits herunter-
gefahren. Selbst der Riese Volkswagen
passt seine Benzin- und Dieselmotoren
nur noch an neue Abgasnormen an und
optimiert hie und da. Die Zahl der Mo-
tor-Getriebe-Varianten, momentan
noch rund 60 bei den Marken VW, Sko-
da und Seat, soll laut Konzern um 40
Prozent verringert werden. Eine Neu-
entwicklung von Verbrennungsmotoren
findet bei VW nicht mehr statt. „Es
kann sich kaum noch jemand leisten, in
Elektromobilität und Digitalisierung zu
investieren und gleichzeitig noch den
Verbrennungsmotor weiterzuentwi-
ckeln“, sagt Fleiss. Deswegen bietet er
mit seinen 400 Ingenieuren auch Ent-
wicklungsleistungen an, wie das große
Zulieferer wie Bosch, ZF oder Conti-
nental auch tun. Aurobay habe diverse
NR. 43 23. OKTOBER 2022
Anfragen von potenziellen Kunden,
mehr dürfe er aber noch nicht sagen.
Fleiss, der 2012 von Bentley zu Volvo
gewechselt ist, hat fast sein ganzes Be-
rufsleben mit der Entwicklung und Pro-
duktion von Motoren verbracht. Nach
dem Studium in Lübeck arbeitete der In-
genieur neun Jahre lang bei Volkswagen.
Später stieg er bei Volvo unter Vor-
standschef Håkan Samuelsson zum Lei-
ter der Motorensparte auf. Dessen Nach-
folger Jim Rowan spricht praktisch nicht
mehr über Verbrenner.
Ganz anders Michael Fleiss: „Die Bat-
terietechnologie ist toll, aber den frühen
Ausstieg aus dem Verbrenner halte ich
für nicht machbar“, sagt er. Der Hype
um die Elektromobilität führe dazu,
dass einige Unternehmen die Entwick-
lung eingestellt haben – „das ist das
Schlimmste, was dem Weltklima passie-
ren kann“. Anders als die Autolobby
hofft er darauf, dass die strenge EU-Ab-
gas-Richtlinie Euro 7 bald verabschiedet
wird und damit die Verbrennermotoren
sauberer werden. Konzerne wie VW und
Stellantis (Peugeot, Fiat, Opel) warnen
zwar davor, dass dadurch die Kosten für
Verbrenner stark steigen. Der Motoren-
experte aus Schweden hält Euro 7 trotz-
dem für „extrem wichtig, um der Welt
zu beweisen, dass diese Technologie
nicht schädlich ist, wie alle vermuten“.
Gerade hat Aurobay auf dem Fahrzeug-
Kongress „Aachen-Colloquium“ einen
Prototyp vorgestellt, der über Euro 7 hi-
nausgeht: „Es kommt bessere Luft aus
dem Auspuff, als man heute in Megaci-
tys einatmet“, sagt Fleiss.
E-FUELS ALS LÖSUNG
Bleibt das CO2-Problem – für das der
Manager auf alternative Kraftstoffe
hofft, beispielsweise E-Fuels, die mit
Ökostrom gewonnen werden. „Man soll-
te nicht die Technologie verbieten, son-
dern den CO2-Ausstoß“, sagt er. „Es gibt
Firmen, die E-Fuels für weniger als zwei
Euro pro Liter produzieren könnten – da
müssen wir hinkommen.“
Sollte es so kommen, dann werden zu-
mindest die Industrieriesen noch selbst
Motoren produzieren. Volkswagen hat
die Antriebswerke aller Marken 2019 im
internen Zulieferer Group Components
gebündelt. Dort arbeiten weltweit
72.000 Menschen – 24 Mal so viele wie
bei Aurobay. Sie sollen nach und nach in
die neue Elektro-Welt wechseln. Den
Übergang kann man in Salzgitter gut se-
hen: Während im vorderen Teil des
Werks noch Motoren produziert werden,
entsteht im hinteren Teil eine Batteriefa-
brik. In einer der alten Hallen arbeiten
VW-Leute in einem Batterie-Labor und
einer Test-Produktion. Ein Fünftel der
Mitarbeiter in den norddeutschen Wer-
ken ist laut Konzern in die Zukunftsfel-
der gewechselt. An einen ähnlichen
Übergang denkt auch Aurobay-Chef
Fleiss: In der Fabrik in Skövde entsteht
ein Bereich, in dem E-Motoren gebaut
werden sollen. Ein zweites Standbein.
Trotzdem ist sich Fleiss sicher, dass er
die Verbrenner-Produktion in seinem
Berufsleben nicht mehr beenden wird.
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG NR. 43 SPEZIAL 25
STUDIEREN

DPA,HEIKO REBSCH/SCHULTE-STRATHAUS,UNIVERSITÄT EICHSTÄTT-INGOLSTADT/UNIVERSITÄT KÖLN

Fasziniert von der
Antike: Forscherin
Nadin Burckhardt
(oben) legt mit Stu-
dierenden der Katho-
lischen Universität
Eichstätt-Ingolstadt
ein Teilstück der
römischen
Überlandstraße im
oberbayerischen
Wettstetten frei.
Studierende der Uni
Köln (links) proben
im Rahmen einer
Lehrgrabung im Ar-
chäologischen Park

Moderne Entdecker
Xanten das Handwerk Archäologe Normen Posselt gehört zum Forscherteam, das die Überreste der gigantischen Königspfalz in Helfta (Sachsen-Anhalt) freilegt und auswertet

F
rüh um vier Uhr war Grabungen in aller chelor-Arbeit zu schreiben. Allerdings Straße aufgebaut war – mit nur einer „ich will Gegenstände im Zusammen- studiert, kann sich vorstellen, nach dem

Welt gehören nach

Thorben Isenbart aus nicht über seine Grabungen in Israel, Steinpackung auf dem Lehmboden“, hang sehen, neues Wissen schaffen über Studium in diesem Bereich zu arbeiten.
dem Bett gestiegen, hat- sondern über die Figur des Pothos, auf sagt Haufen. Er arbeitete viele Jahre im unsere Vorfahren“. Sein technisches Da gäbe es gerade in Bayern gute Per-

wie vor zum Beruf

te sich mit Kommilito- die er bei einem Besuch in den Uffizien Maschinenbau, bevor er sein Abitur Wissen aus dem Maschinenbau will er spektiven: „Hier wird viel gebaut. Wenn
nen auf den Weg ge- in Florenz stieß. Mit Leidenschaft wid- nachholte, auf einem humanistischen mit dem geisteswissenschaftlichen An- unter einem Grundstück Bodendenk-

macht in die Negev-
Wüste. Nicht unbedingt
die Uhrzeit, zu der Isenbart üblicher-
weise aufsteht. Aber in jenen fünf Som-
merwochen ist das notwendig, um mit
den Ausgrabungen in der antiken Stadt
Elusa voranzukommen. Spätestens am
des Archäologen.
met sich Isenbart auch der Grabarchi-
tektur. Anfang des Jahres war er auf Ex-
Aber das
kursion im Norden Griechenlands. „Da
haben wir Kammergräber besichtigt“,
Studienfach erzählt der 27-Jährige, „unter anderem
das mutmaßliche Grab des Makedonier-
wandelt sich und königs Philipp II., dem Vater von Ale-
Zweig mit Latein und Altgriechisch.
Durch die alten Sprachen habe er sich
mit der Geschichte der Römer und
Griechen befasst.
Das habe seinen Kindheitstraum neu
geweckt, Forscher zu werden. „Ich
möchte etwas entdecken“, sagt Haufen,
satz der Archäologie verbinden – und ir-
gendwann eine Grabungsleitung über-
nehmen. Seine Kommilitonin Maria Ka-
tharina Braun hat gerade ihr Praktikum
bei einer Grabungsfirma begonnen.
Auch die 22-Jährige, die als Nebenfächer
Alte Geschichte und Kunstgeschichte
mäler vermutet werden, müssen diese
dokumentiert werden.“ Jedoch kann sie
sich auch eine berufliche Zukunft in ei-
nem Museum vorstellen. „Ich gehe gern
in Museen“, sagt sie. „Es berührt mich,
wenn ich dort sehe, wie Menschen vor
2000 Jahren gewohnt haben.“

O
setzt auch auf
Mittag mussten die 30 Studierenden xander dem Großen“.
der Universitäten Köln und Bonn ihre

Arbeit vor Ort beenden, weil die Tem-
peraturen in der Wüstenregion bis auf
die 40-Grad-Marke kletterten. Die Gra-
bung sei körperlich extrem anstren-
gend gewesen, so Isenbart. Dennoch
hat er sie gern gemacht. „Man entwi-
ckelt eine Verbindung mit seinem ar-
chäologischen Schnitt“, sagt der 27-Jäh-
rige. Und dann erlebte er auch einen
dieser aufregenden Momente, als er auf
steinerne Überreste aus der Antike
stieß. Mauern, Bodenpflaster eines
Hauses und Überreste eines Stalls
konnte er freilegen. Isenbart studiert
Klassische Archäologie in Köln. Er ist
einer von rund 500 Studierenden am
Archäologischen Institut, einem der
größten in Deutschland.
VON KATRIN STARKE
Um die 50 Archäologie-Studiengänge
werden derzeit insgesamt an deutschen
Hochschulen angeboten – von Rostock
bis Regensburg, an großen Universitä-
ten wie der Humboldt- und der Freien
Universität (FU) in Berlin, in Köln,
Frankfurt am Main und München, aber
eben auch an der kleinsten Universität
Bayerns in Eichstätt. Lange Zeit hatte
die Archäologie den Ruf eines brotlosen
Studiums. Doch das Studienfach hat
sich gewandelt. „Mit ihren neuen Me-
thoden ist die Archäologie sehr modern
geworden“, sagt Sebastian Hageneuer,
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ar-
chäologischen Institut in Köln. Außer-
dem liefere die Archäologie so manchen
Lösungsansatz für Probleme im Hier
und Jetzt, hebt Nadin Burkhardt hervor,
Junior-Professorin am Lehrstuhl für
Klassische Archäologie der Katholi-
schen Universität Eichstätt-Ingolstadt
(KU). „Die Antike kann als Fallbeispiel
fungieren – ob es um Migration oder
Klimakatastrophen geht“, sagt Burk-
hardt. Generell lägen die Wurzeln für
vieles in der Antike: „Denken Sie nur an
den Demokratiegedanken.“ Nach wie
vor zählt die Archäologie an der KU je-
doch zu den kleinen Fächern.
Sebastian Hageneuer hat an der FU
Berlin studiert. Ursprünglich waren
Ausgrabungen in Westasien sein
Schwerpunkt. „Als der arabische Früh-
ling begann und Reisen in die Gebiete
nicht mehr möglich waren, bin ich in
den digitalen Bereich gegangen“, sagt
der Berliner. Als 2016 der Lehrstuhl für
digitale Methoden
Archäoinformatik in Köln gegründet
wurde, bewarb er sich als Assistent und
wurde genommen. „Köln war damals
die erste deutsche Hochschule, an der
Digitale Archäologie als eigenständige
Disziplin herausgebildet wurde. Lang-
sam ziehen andere Unis nach“, weiß Ha-
geneuer. Die Informationstechnologien
seien mit den Jahren immer komplexer
geworden. Damit hätten sich auch für
die Archäologie immer mehr und besse-
re Anwendungsmöglichkeiten ergeben.
Daten von Ausgrabungen werden in di-
gitale Karten übertragen, 3-D-Modelle
erstellt, Funde mittels Virtual Reality in
eine Umgebung eingefügt. „So lässt sich
viel anschaulicher zeigen, wie Men-
schen in der Antike gelebt haben“, sagt
Hageneuer.
Auch Thorben Isenbart zieht es in die
Archäoinformatik. „Das hat Zukunft“,
sagt er. Deswegen will er in seinem Mas-
ter-Studium diese Richtung einschla-
gen. Gerade hat er begonnen, seine Ba-
Hochschule, Film- oder
Game-Industrie?
Die Perspektiven für Archäologen
sind gut. Arbeitgeber sind Hoch-
schulen, archäologische Institute,
Sammlungen und Museen sowie
Denkmalpflegeämter und Gra-
bungsfirmen.
Absolventen des Faches Archäo-
logie werden auch in der Erwach-
senenbildung, im Kulturmanage-
ment und in der Touristikbranche
beschäftigt.
Ebenso setzten Film und Fernse-
hen auf ihr Expertenwissen, sagt
Nadin Burkhardt von der KU
Eichstätt. Sie verweist auf His-
torienfilme wie „Gladiator“,
„300“ oder „Troja“.
Ein spannendes neues Berufs-
feld bietet die Games-Industrie.
Archäologen seien als Berater
und Entwickler im Archäogaming
gefragt, „zumal solche Spiele
auch in der Museumspädagogik
eingesetzt werden“.
bwohl Exkursionen und Prakti- ANZEIGE
ka verpflichtend sind, über-
wiegt im Studium die Theorie.
„Gefühlte 90 Prozent macht die Lektü-
re von Fachliteratur aus“, sagt Hage-
neuer. Gerade während der Grundla-
genausbildung sei Leselust unerlässlich,
bestätigt KU-Professorin Burkhardt.
Und natürlich sei Interesse an den Bil-
dern und materiellen Befunden der Ver-
gangenheit eine Grundvoraussetzung
für das Archäologie-Studium. „Ebenso
ein gewisses Interesse an Auslandsauf-
enthalten“, ergänzt sie. Wer in die For-
schung wolle, für den gehörten Ausgra-
bungen an den antiken Stätten zum All-
tag. Sie selbst absolvierte als Studentin
eine Lehrgrabung in Xanten und war
dann auf Ausgrabungen in Marzabotto
(Italien) und in Priene (Türkei), bevor
sie eigene Projekte entwickelte. Als Pro-
fessorin betreute sie ein Grabungspro-
jekt auf Ischia. „Die Finanzierung ist
ausgelaufen, ein neuer Antrag in Vorbe-
reitung.“ Auf Lehrgrabungen müssen
ihre Studierenden dennoch nicht ver-
zichten. So habe man eine Überland-
straße „im römischen Grenzgebiet“ er-
graben – und das bedeutet nicht etwa
jenseits der Stadtgrenze von Rom, son-
dern das liegt mitten in Bayern, der rö-
mischen Provinz Rätien.
Der Student Jonas Haufen war mit
dabei bei den Grabungen in Wettstetten
bei Ingolstadt. Der Grabungsauftrag
kam von der Kommune anlässlich deren
1200-Jahr-Feier. Wettstetten habe die
römische Überlandstraße sogar als
Querbalken in ihrem Wappen. Doch vor
den Grabungen habe es über deren
Existenz nur Vermutungen gegeben.
„Wir konnten Daten sammeln, wie die
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26 WIRTSCHAFT
Dax-Vorstände
verzeichnen
mehr Diversität
Häufiger Ausländer und
Frauen in Chefetagen
D
ie Vorstände von Dax-Kon-
zernen sind einer Studie zu-
folge etwas internationaler
besetzt als noch vor fünf Jahren. So
stieg der Anteil von Menschen mit
ausländischem Pass von 34,1 Pro-
zent im Jahr 2017 auf 38,8 Prozent
im Jahr 2022, wie die Beratungsge-
sellschaft EY am Freitag mitteilte.
Die häufigsten Herkunftsländer wa-
ren demnach die USA, Frankreich
und Großbritannien. Betrachtet
wurden in der Untersuchung alle 40
im deutschen Leitindex vertretenen
Unternehmen.
Bei der Altersstruktur hat sich laut
der EY-Studie in den vergangenen
Jahren hingegen kaum etwas getan:
Das Durchschnittsalter in den Chef-
etagen sank demnach von 54,1 auf
53,9 Jahre. Nur vier Prozent der Vor-
stände waren jünger als 40 Jahre.
Deutliche Unterschiede gab es
bei der Geschlechterverteilung: Der
Frauenanteil legte über die vergan-
genen fünf Jahre merklich zu und
stieg von 10,7 Prozent auf 18,6 Pro-
zent. Jede vierte Dax-Vorstandseta-
ge war zum Stichtag 1. August aber
immer noch eine reine Männerdo-
mäne. Weibliche Vorstände waren
EY zufolge im Schnitt rund einein-
halb Jahre jünger als ihre männli-
chen Kollegen.
In dieser Woche wurde bekannt,
dass der weltweit größte und im
Dax gelistete Rückversicherer Mu-
nich Re die Südafrikanerin Mari-Li-
zette Malherbe, 38, und die Franzö-
sin Clarisse Kopff, 49, in den bis da-
to rein männlich besetzten Vor-
stand beruft.
ANZEIGE
D
urch Anlagebetrug, der
im Internet begangen
wird, ist im vergange-
nen Jahr ein Schaden
von mehr als 180 Millio-
nen Euro entstanden – allein in
Deutschland. Das ergab eine Recher-
che von WELT AM SONNTAG. Die
Opfer verlieren dabei meist Geld bei
windigen Geschäften mit Krypto-
Währungen. Da betrügerisches Cyber-
trading nicht gesondert in der polizei-
lichen Kriminalstatistik erfasst wird,
gibt es zwar keine bundesweit standar-
disierten Zahlen. Dennoch werteten ei-
nige Landeskriminalämter (LKA) aus,
wie hoch die Fallzahlen und die Scha-
densumme sind, die durch Anlagebe-
trug im Internet verursacht werden. Elf
der 16 LKA konnten nach Anfrage die-
ser Zeitung konkrete oder geschätzte
GETTY IMAGES/DIGITAL VISION VECTORS / AF-STUDIO; GETTY IMAGES/DIGITAL VISION VECTORS / ONDERO; MONTAGE: WELT AM SONNTAG
Schadensummen nennen, zehn Behör-
den nannten Fallzahlen. Demnach gab
es im vergangenen Jahr mehr als 3000
Fälle. Im laufenden Jahr liegt diese Zahl
bereits jetzt bei mehr als 1600.
VON JUDITH HENKE
Gleich mehrere LKA schilderten,
dass die erfassten Betrugsvorfälle in
den vergangenen Jahren angestiegen
sind. Die Tätergruppen haben ihren
Sitz überwiegend im Ausland und ge-
hen arbeitsteilig vor: Eine Gruppierung
ist beispielsweise auf die Kontaktauf-
nahme mit den Opfern spezialisiert, ei-
ne andere auf die Software.
Dabei setzen die Betrüger seit meh-
reren Jahren auf eine bestimmte
Masche: Sie erstellen täuschend echt
wirkende Zeitungsartikel, die den
Betroffenen beim Surfen im Netz als
Werbeanzeige eingeblendet werden.
Die Überschriften sind reißerisch, wie
zum Beispiel diese: „,Höhle der
Löwen‘-System macht Deutsche
Bürger reich! Sendung darf nicht
ausgestrahlt werden, der Sender ist
stinksauer.“
dpa
Betrüger erbeuten
Millionen-Vermögen
von SPARERN
In den Fake-Artikeln ist von hohen
Renditen die Rede, die Anleger einfah-
ren können, wenn sie etwa auf einen
Bitcoin-Trading-Bot setzen. Die Betrü-
ger geben vor, ihren Opfern helfen zu
wollen, deren Geld auf eine Krypto-
börse zu überweisen und überreden sie
dazu, ihnen über eine Fernwartungs-
software Zugriff auf ihren Rechner zu
verschaffen. Dadurch kommen die Tä-
ter an Daten ihrer Opfer.
In den Wochen danach werden den
Betroffenen auf einer falschen, digita-
len Broker-Plattform Gewinne simu-
liert, aber in Wahrheit ist das Geld weg
– der Täter hat es längst auf eigene
Konten überwiesen. „Häufig bleibt es
* WELT AM SONNTAG
nicht bei einer einmaligen Investition“,
beobachtet,
betont Frank Scheulen, erster Krimi-
nalhauptkommissar und Pressespre-
cher des LKA Nordrhein-Westfalen.
Die Opfer würden von den Betrügern
Anlagebetrug
dazu gedrängt, immer größere Sum-
men zu investieren – teilweise ihr ge-
immer mehr ins
samtes Vermögen.
Wegen der Schadensumme sehen
Politiker Handlungsbedarf. „Finanz-
bildung muss ein Schwerpunkt in der
Netz verlagert
Schulausbildung werden“, fordert
der FDP-Bundestagsabgeordnete
Frank Schäffler. Außerdem müsse
diese Art von Betrügereien in der Öf-
fentlichkeit bekannter gemacht wer-
den. Hier sieht er auch das Bundes-
NR. 43 23. OKTOBER 2022
ministerium für Umwelt und Ver-
braucherschutz (BMUV) in der
Pflicht. Eine Sprecherin betont ge-
genüber dieser Zeitung, dass das
BMUV Informationsmaßnahmen der
16 Verbraucherzentralen fördere. „In
diesem Rahmen werden unter ande-
rem auch gezielt junge Verbrauche-
rinnen und Verbraucher adressiert“,
etwa durch Veranstaltungen in
Schulklassen und digitale Formate.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete
Carsten Brodesser gibt jedoch zu be-
denken, dass es schwierig sei, junge
Menschen gezielt mit Warnungen zu
erreichen, da sie größtenteils soziale
Medien nutzten. „Hier bedarf es einer
breit aufgestellten Kampagne, wo man
sich vielleicht selbst seriöser Influen-
cer bedienen müsste“, schlägt er vor.
Ebenso müsse aber auch die Kontrolle
der Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
tungsaufsicht (BaFin) stärker ausge-
baut werden. Dem Grünen-Bundes-
tagsabgeordneten Stefan Schmidt zu-
folge müsse diese Behörde sichtbarer
werden, um ihre Warnungen vor unse-
riösen Angeboten effektiv in die Öf-
fentlichkeit zu tragen. „Neben Aufklä-
rung, Information und Prävention ist
es natürlich wichtig, den Betrug zu be-
kämpfen“, betont er außerdem.
Das Bundeskriminalamt weist darauf
Die Polizei hin, dass die Tätergruppierungen sehr
flexibel auf äußere Einflüsse wie etwa
geänderte rechtliche Rahmenbedin-
dass sich
gungen reagieren würden. Im digitalen
Raum könnten Straftaten besser ver-
schleiert und betrügerische Anlagepro-
dukte effizienter beworben werden, als
es im analogen Anlagebetrug der Fall
sei. Zudem würden einige geschädigte
Investoren die Tat aus Scham nicht an-
zeigen. Betroffene sollten umgehend
Anzeige erstatten, rät Niels Nauhauser
von der Verbraucherzentrale Baden-
Württemberg. Er verweist darauf, dass
Anleger allein schon bei hohen Rendi-
teversprechen skeptisch werden
sollten.
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
PRO UND CONTRA
Sollte es in Kitas nur noch
vegetarisches Essen geben?
Ja, sagt
Marie-Luise Goldmann
W W
ürden Kitas beschließen, ab
sofort keinen Vanillepud-
ding mehr anzubieten oder
keine Kürbissuppe – niemand würde
sich empören. Ohne Pressemeldung
würden es die meisten nicht einmal
bemerken. Dass die Stadt Freiburg
nun beschlossen hat, ab kommendem
Schuljahr fleischhaltige Gerichte in
Kitas und Grundschulen aus dem Pro-
gramm zu nehmen, ist weder ein
Fleischverbot noch eine Dogmatisie-
rung durch die Hintertür. Es geht
schlichtweg um eine vegetarische
Mahlzeit am Tag. Jeder Familie steht
es vollkommen frei, am Sonntag ihr
Steak zu zelebrieren. Oder abends.
Oder als Snack, den die Kleinsten an
ihre Kindergartenfreunde verteilen.
Die Wahrheit ist aber: Die meisten
Kinder essen heute nicht zu wenig,
sondern zu viel Fleisch. Wenn sich öf-
fentliche Institutionen also auf nur
ein Einheitsgericht einigen müssen
wie in Freiburg, sprechen für die vege-
tarische Lösung Kosten-, Integrati-
ons- und Gesundheitsgründe. Und
was das Beste ist: Es schmeckt.
T Mittlerweile schmecken die
vegetarischen Burger bei Burger King
so echt nach Fleisch, dass die
Autorin auch darauf verzichtet.
DIE GRETCHENFRAGE
VON DINA EL OMARI
Muss ich mich
ausnutzen lassen?
E M
s gibt Menschen, in deren Ge-
genwart fühlt man sich einfach
wohl. Sie verlangen nicht viel
von einem, sind unkompliziert und
wirken mit sich im Reinen. Doch nicht
immer sind Begegnungen, Freund-
schaften und Beziehungen dieser Na-
tur. Manchmal begegnen uns auch
Menschen, die uns auf unterschiedli-
che Weise unserer eigenen Energie be-
rauben, die sie förmlich aus uns he-
raussaugen. Manchmal brauchen wir
lange, bis wir das merken. Man will ja
niemanden vorschnell verurteilen, ist
gerne hilfsbereit und für den anderen
da. Aber man fühlt sich zunehmend
leer in der Nähe dieser Person, die
selbst nur gerade so viel Energie zu-
rückgibt, damit man nicht sofort das
Weite sucht. Wie sollte man mit sol-
chen (Energie-)Vampiren umgehen?
Zumindest sollte man ihnen mit viel
Vorsicht begegnen, Grenzen setzen
und im Zweifelsfall das Weite suchen.
Nicht umsonst verweist der Koran da-
rauf, dass Gott den Kindern Adams
Würde verliehen hat. Sie wird als eine
besondere Ehrung der Menschen
durch Gott beschrieben. Wenn nun
aber jemand unentwegt an uns zerrt,
gar unsere Grenzen permanent über-
tritt, wie können wir diese Würde, die
selbstredend auch Selbstachtung be-
deutet, aufrechterhalten?
Das geht nur, wenn wir auf unseren
inneren Kompass hören. Dieses
Bauchgefühl kann man unterschied-
lich definieren. Im Koran wird es
durch eine direkte Verbindung, eine
Art Kommunikationskanal, zu Gott
ausgedrückt, nämlich durch das Ein-
hauchen des Gottesgeistes in jeden
Menschen bei dessen Schöpfung: „Da-
mals, als dein Herr zu den Engeln
sprach: ‚Siehe, einen Menschen will
ich schaffen aus Ton, aus wohlgeform-
tem Lehm. Wenn ich ihn dann wohlge-
staltet und von meinem Geist in ihn
gehaucht habe – dann fallt vor ihm,
euch niederwerfend, nieder!‘“
Wenn sich also zunehmend ein un-
gutes Gefühl oder ein Gefühl von Er-
schöpfung, vielleicht auch Entfrem-
dung von sich selbst gegenüber einem
(Energie-)Vampir in einem bemerk-
bar macht, dann sollten alle Alarm-
glocken läuten.
T Die Autorin forscht und lehrt an
der Universität Münster zum Koran
und zu islamischem Feminismus.
An dieser Stelle antworten jede
Woche Theologinnen und Theologen
aus Judentum, Christentum oder
Islam auf eine Frage des Alltags.
NR. 43
Nein, sagt
Swantje Karich
ir leben vegetarisch, meine
Frau, meine zwei Kinder
und ich. Wobei, so richtig
eigentlich nur unsere große Tochter.
Sie ist sechs und mag weder Fleisch
noch Fisch, da ist nichts zu machen.
Unsere kleine Tochter ist vier und
liebt Fleisch. Sie braucht es, so scheint
es. Bei uns zu Hause aber bekommt sie
nur das Basisprogramm, weil wir
Fleisch nicht wirklich gekonnt zube-
reiten können: Sie hatte ihre Brat-
würstchen-Phase, dann, nach dem Ita-
lien-Urlaub, die Bresaola-Phase – und
Salami geht immer. Aber nichts ist
schöner, als wenn sie aus der Kita
kommt und sagt: „Es gab Fleisch!“
Letztens hat sie alle Fleischsorten
durchgefragt. Sie wollte wissen, wel-
che Tiere dahinterstecken und ob die
alle „für meinen Appetit sterben“? Sie
weiß, dass sie Fleisch nicht essen muss,
sie darf. In dem offenen System der
Berliner Kindergärten nimmt sich je-
des Kind selbst, was es möchte. Diese
Freiheit ist wichtig – und wird sie viel-
leicht irgendwann eine andere Ent-
scheidung treffen lassen. Bis dahin
aber darf sie so richtig genießen. Am
allerliebsten isst sie Wildschwein.
T In Italien hat die Autorin
auch Bresaola gegessen.
Elektroautos dürfen kein
Privileg für wenige sein
Wenn die Verkehrswende gelingen soll, ist nicht nur die Politik gefordert. Auch die
D
Industrie muss umdenken – und sollte bei den Flotten anfangen, sagt Karsten Schulze
ie Zukunft der Mobili-
tät ist – in weiten Tei-
len – elektrisch. Poli-
tik und Hersteller ha-
ben die Weichen ent-
sprechend gestellt und die Elektro-
mobilität zu einem Kerninstrument
für die Dekarbonisierung des Pkw-
Verkehrs erklärt. Das Ziel ist gesetzt
und mit einer ambitionierten Marke
von 15 Millionen E-Fahrzeugen in
Deutschland bis 2030 versehen.
Damit Klimaschutzziele im Ver-
kehr erreicht werden und der Hoch-
lauf der Elektromobilität gelingt,
wurden bereits große Kraftanstren-
gungen unternommen: Es wurden
und werden erhebliche Fördergel-
der investiert, die Ladeinfrastruktur
ausgebaut und gesetzliche Rahmen-
bedingungen auf Berliner und EU-
Ebene verändert. Alles in Richtung
E. Der ADAC begleitet diesen Pro-
zess aktiv – und unterstützt seine
Mitglieder beim Umstieg auf die
Elektromobilität. In Expertenforen,
öffentlichen Debatten und parla-
mentarischen Prozessen setzt sich
der ADAC für verbraucherfreundli-
che Lösungen ein, etwa für Transpa-
renz beim Laden. Es ist unser
Wunsch, dass die Menschen eine
Chance haben, emissionsfrei unter-
wegs zu sein und ihren Beitrag zur
Erlangung der Klimaschutzziele
auch dann zu leisten, wenn sie auf
das Auto angewiesen sind.
Aus der Verbraucherperspektive
betrachtet müssen wir allerdings
feststellen, dass der Umstieg für ei-
nen großen Teil der Bevölkerung ge-
rade eher schwieriger als leichter
wird. Dafür sind einerseits aktuelle
Entwicklungen verantwortlich, die
so nicht absehbar waren: Im Zuge
der Energiekrise, die auch die
Strompreise treibt, steigen die Un-
sicherheiten. Und der Chip- und
Rohstoffmangel sorgt für ein deut-
lich verringertes Angebot. Fahrzeu-
ge sind kaum oder nur mit langen
Lieferzeiten verfügbar. Ein Kauf-
anreiz ist beides nicht. Zusätzlich
ist die langfristige Perspektive einer
GASTBEITRAG
staatlichen Förderung unklar. Die
Hersteller sollten sich bewusst sein,
dass der Nachfrageüberhang der
Käufer in der aktuellen wirtschaftli-
chen Lage bald ein Ende finden wird
und die Preispolitik der letzten Jah-
re die Kaufzurückhaltung befeuert.
Unabhängig von diesen Entwick-
lungen sehen wir aber auch auf dem
deutschen Pkw-Markt Tendenzen,
die uns mit Blick auf die dringend
erforderliche Massentauglichkeit
der E-Mobilität Sorgen bereiten: So
sind Neufahrzeuge in Deutschland
in den letzten Jahren deutlich teu-
rer geworden. Nach Berechnungen
des ADAC stiegen die Preise seit
2017 um rund 20 Prozent. Das be-
trifft Verbrenner und E-Autos. Ge-
nerell gilt jedoch, dass das Ziel einer
teilweisen Bewältigung der Klima-
probleme über die Flottenerneue-
rung deutlich schwerer erreichbar
ist, wenn die Anschaffungskosten
für immer weniger Menschen zu be-
wältigen sind.
Verschärfend kommt hinzu, dass
E-Fahrzeuge weiterhin deutlich teu-
rer sind als Verbrenner. Die hohe
Preisdifferenz vieler E-Autos zum
vergleichbaren Verbrennermodell
wurde bisher durch die Förderung
von bis zu 9000 Euro überdeckt,
wird aber stärker zutage treten, so-
bald die Subventionen sinken. Auch
die Unsicherheit über die Förderhö-
he ist vor dem Hintergrund langer
Lieferzeiten für Käufer ein Ärgernis.
Die mit der Abwicklung beauftragte
Behörde weigert sich, ein zweistufi-
ges Verfahren der Förderzusage um-
zusetzen: eine Zusage direkt nach
Kauf und Auszahlung bei Zulassung.
Bisher können Käufer nicht sicher
sein, welche Förderung sie erhalten,
denn beantragt werden kann erst
nach Zulassung.
Ein weiteres Phänomen ist unter
dem Aspekt der Bezahlbarkeit von
E-Mobilität kritisch zu sehen. So ist
es auffällig, dass deutsche Herstel-
ler viele Basismodelle mit schwa-
chen Motorisierungen und wenig
Ausstattung aus ihrem Angebot
streichen und stattdessen auf teure-
re und besser ausgestattete Varian-
ten setzen. Hinzu kommt, dass die
Suche nach einem deutschen E-
Kleinwagen fast vergeblich verläuft:
Die deutschen Autobauer haben
sich aus dem Segment fast vollstän-
dig zurückgezogen und überlassen
es momentan europäischen und zu-
nehmend chinesischen Herstellern.
Welche dieser Fahrzeuge die Ak-
,,
zeptanz deutscher Kunden finden,
bleibt abzuwarten. Wichtig wäre es
in jedem Fall, den Kreis derer deut-
lich zu erhöhen, für die E-Mobilität
erschwinglich ist. Angesichts hoher
Inflation und steigender Energie-
DIE SUCHE NACH
EINEM
DEUTSCHEN
E-KLEINWAGEN
VERLÄUFT FAST
VERGEBLICH
kosten, die das verfügbare Einkom-
men der Menschen schmälern, wird
die Notwendigkeit, das Angebot in
diesem Sinne zu erweitern, noch
einmal dringlicher.
Zur Wahrheit gehört jedoch auch,
dass sich E-Autos für viele Men-
schen aktuell zumindest bei Be-
trachtung der Gesamtkosten rech-
nen. Der ADAC berücksichtigt in
dieser Berechnung auch Reparatur-
und Wartungskosten, Versicherung
und Steuer, Wertverluste und die
Kosten für das Laden beziehungs-
weise Tanken. In welchem Szenario
der E-Vorteil bei steigenden Sprit-
und Stromkosten kippt, ist nur für
den Einzelfall und abhängig vom
COMIC
Fahrprofil sowie den Lademöglich-
keiten zu beantworten.
Jenseits der Anschaffungs- und
Energiekosten sind nach Überzeu-
gung des ADAC für Verbraucher
weitere Faktoren wesentlich, die ak-
tuell nur sehr teilweise eingelöst
werden: Planbarkeit, Verlässlichkeit
und Transparenz. Und gerade weil
sich die Entwicklung der Energie-
krise derzeit kaum abschätzen lässt,
wird es umso wichtiger, Unsicher-
heiten dort zu beseitigen, wo es
möglich ist. Das betrifft etwa die
Kalkulierbarkeit staatlicher Fahr-
zeugförderung, die Transparenz bei
Preisen für das öffentliche Laden
und die Verfügbarkeit von Lade-
möglichkeiten. Mit dem Masterplan
Ladeinfrastruktur II hat die Bun-
desregierung im letzten Punkt gro-
ße Hoffnungen geschürt. Hier wird
es wichtig sein, dass auch die Wirt-
schaft ihrer Verantwortung nach-
kommt.
Mobilität wird vielfältiger, aber
das Auto bleibt – gerade auch ab-
seits der Innenstädte – relevant.
Aus Sicht des ADAC ist es daher
wünschenswert, dass „alles in Rich-
tung E“ für die Gesamtheit der zu-
künftigen Autofahrer einlösbar und
kein Privileg für wenige wird. Es ist
wichtig, dass Alternativen zum Auto
ausgebaut werden, an Attraktivität
gewinnen und zunehmend genutzt
werden. Und es ist zugleich realis-
tisch, dass viele Autofahrer weiter-
hin einen Verbrenner fahren wer-
den. Die Haltedauer für Pkw erhöht
sich unter den gegebenen Rahmen-
bedingungen. Auch hier braucht es
also eine Lösung, die eine Einhal-
tung der Klimaziele ermöglicht und
Einschränkungen der Mobilität ver-
hindert: alternative Kraftstoffe, die
den klimafreundlichen Betrieb die-
ser Fahrzeuge ermöglichen.
Formulieren wir es so: Bezahlba-
re, klimafreundliche Mobilität für
alle, darum geht es.
T Der Autor ist Technikpräsident
des ADAC.
FORUM 27
KOMMENTAR
Mitleid
mit CR7
von Lars Wallrodt
an mag von Cristiano Ronal-
do halten, was man will:
Schnösel oder Halbgott, die
Bandbreite der Emotionen ist groß.
Was dem Fußball-Superstar allerdings
bislang nicht vorzuwerfen war, war
mangelnde Professionalität. Im Ge-
genteil: Seine tadellose Einstellung
und ein fast schon pathologischer Sie-
geswille machten ihn zu dem Ausnah-
mespieler, der er ist – oder muss man
sagen: war?
37 Jahre ist er alt, und gegen den
schleichenden Abstieg vom Fußball-
Olymp helfen mittlerweile auch regel-
mäßige Besuche in der Kältekammer,
Extraschichten in der Muckibude oder
ein ausgeklügeltes System von
Powernaps nicht mehr weiter. Bei der
Wahl zum Weltfußballer landete er
jüngst auf Platz 20. Früher hätte er
sich dafür entleibt – oder die Jury.
Eigentlich sollte sein Karriereabend
glorreich werden, dafür war er 2021
extra zu Manchester United zurückge-
kehrt, wo seine Laufbahn einst ihre
ersten Höhepunkte erreicht hatte.
Doch der Jubel über die Rückkehr des
verlorenen Sohns verflog schnell, und
in dieser Saison sitzt CR7 öfter auf der
Bank als in seinen ganzen 20 Profijah-
ren davor. Das schmerzt die Fans, aber
vor allem schmerzt es ihn. Wer seine
Besessenheit kennt, kann sich ausma-
len, als was für ein Sakrileg er das
empfinden muss.
Was sich Ronaldo allerdings in die-
ser Woche beim Spiel gegen Totten-
ham geleistet hat, ist auch mit einer
toxischen Melange aus Ehrgeiz und
Frust nicht zu entschuldigen: Noch
vor dem Abpfiff erhob er sich von der
Ersatzbank, auf der Trainer Erik ten
Hag ihn zuvor hatte schmoren lassen,
stapfte in Richtung Kabine und verließ
das Stadion. Da sein Team noch zwei-
mal hätte wechseln können, war das
lupenreine Desertation. Manchester
suspendierte ihn für das folgende
Spiel, zudem wird über eine Geldstra-
fe in Höhe von einer Million Euro ge-
munkelt – was zwei Wochengehältern
entsprechen würde.
Dass Ronaldos Abgang in jeglicher
Hinsicht unprofessionell war, ist un-
strittig. Und er beschädigt sein Denk-
mal, das bisher zumindest in sportli-
cher Hinsicht ziemlich makellos war.
Wer allerdings diesem Ausnahme-
sportler in den vergangenen zwei De-
kaden gern zugeschaut hat bei seinen
Toren, Tricks und Sperenzchen, der
empfindet eher etwas, das bislang mit
Ronaldo so gar nicht in Verbindung zu
bringen war: Mitleid.
FORUM
ADAC-Präsident Schulze: Macht Elektroautos billiger! S. 27

WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022 SEITE 28

LESERBRIEFE LEITARTIKEL

Die Hybris
der Hersteller
In vielen Supermärkten bleiben Regale leer. Ursache ist ein Preiskampf, der für angestaubte
Marken das Aus bedeuten könnte, schreibt Christoph Kapalschinski
LESER SCHREIBEN, WIR ANTWORTEN

Chaos von Tag eins an

Zu: „Deutschlands wunde Punkte“ vom 16. Oktober

Die in dem Artikel aufgeführten Segmente, die bei einem Blackout in

Mitleidenschaft gezogen werden, sind eher zweitrangig. Zuvorderst Derzeit in
müsste erwähnt werden, dass in einem solchen Fall keine Kassensys- vielen Märkten
teme mehr funktionieren. Damit können Waren (Essen, Benzin etc.) schwer zu finden:
nicht mehr bezahlt werden. Dann laufen Handys leer, somit kann kei- Schnellgerichte
ne Warn-App mehr informieren. Tiefkühlschränke tauen ab, somit von Mirácoli
verderben große Teile der Lebensmittel. Kurz und gut: Es entsteht all-
gemeines Chaos von Tag eins an. FRITZ HOPP, KEMPTEN
IMAGO IMAGES/GERHARD LEBER

Lieber Herr Hopp, in der Tat: Ein großflächiger Stromausfall würde

das Leben in fast allen Bereichen innerhalb von Minuten enorm er-

D
schweren. Wie Sie schreiben, fielen in Supermärkten Kühlsysteme
und Kassen aus. In unserem Text und der begleitenden Grafik haben
wir noch ein paar weitere Auswirkungen aufgezeigt. Zum Beispiel
blieben Aufzüge und Straßenbahnen stecken, Handymasten fielen aus
– und in Mehrfamilienhäusern könnte kein Wasser mehr in obere Eta-
gen gepumpt werden. ANETTE DOWIDEIT, LEITERIN INVESTIGATIVTEAM

Rubikon der FDP
Zu: „Restlaufzeit der Ampel: Zwölf
Monate“, 16. Oktober
Eigentlich wünschenswert! Denn der
Zug, den Grüne und wesentliche Teile
der SPD steuern, rast ungebremst in
den Abgrund. Das sofortige Aus für
Atomkraft und bis 2030 für Kohle
sowie die Blockade etwa des Frackings
sind ein hochriskantes Vabanquespiel
mit den Erneuerbaren als Hoffnungs-
wert. Der Industrie ist nicht mit einem
spekulativen Planungshorizont ge-
dient. Dies muss die FDP als Wirt-
schaftspartei zu ihrem Rubikon ma-
chen. Damit bezeugte sie staatspoliti-
sche Verantwortung. „Besser nicht
regieren als falsch regieren“, dieser
Satz hat nichts an Aktualität verloren.
CHRISTOPH SCHÖNBERGER, AACHEN
Kleinere EU
Zu: „Scholz setzt auf starke EU
mit 30 Staaten“, 16. Oktober
Scholz wünscht sich eine EU mit mehr
Gewicht in der Welt. Eine Erweite-
rung in Richtung Osten erscheint ihm
daher sinnvoll. Dass die EU jetzt
schon in vielen Fragen entscheidungs-
unfähig ist und ein bürokratisches
native empfohlen, nicht zuletzt von
Kommunen. Dies hat nämlich den
nicht zu unterschätzenden Vorteil,
dass die Städte über ihre Beteiligungen
erhebliche Beträge für den kommuna-
len, meist notleidenden Etat generie-
ren. Wer also die „Macht der Ölkon-
zerne“ beklagt, sollte zumindest wis-
sen, dass er über den Gas-, Strom- und
Wasserpreis einen nicht unerheblichen
Betrag in die Stadtkasse zahlt! Böse
Zungen behaupten sogar, dass die
Umstellung auf alternative – und kli-
maneutrale – Wärme so lange dauert,
weil sie nicht von den Ölkonzernen
gemanagt wird.
MANFRED WALTERMANN, ESCHWEILER
Nicht vermittelbar
Zu: „Luxuriöse Rente vom Sender“,
9. Oktober
Da bleibt einem die Spucke weg:
Selbstbedienungsladen öffentlich-
rechtlicher Rundfunk! Das hat nichts
mit einer Neiddebatte zu tun. Es ist
schlicht und einfach unmoralisch und
schamlos gegenüber jedem, der sein
ganzes Leben gearbeitet hat und heute
seine kleine Rente erhält. Aber nicht
nur die Damen und Herren der öffent-
lichen Anstalten, auch Beamte oder
leitende Regierungsmitglieder erhalten
er Mirácoli-Tag
fällt diese Wo-
che aus: Statt
des Schnellge-
richts-Klassi-
kers steht bei
Rewe nur noch
eine weiße Pappschachtel der Billig-
marke „Ja!“ im Regal. Die Kopie hat
zwei Vorteile: Sie ist billiger als das
Original – und sie enthält auch noch
ein Tütchen mit geriebenem Parme-
san, das Mirácoli seit einiger Zeit
einspart.
Die Markennudeln mit Tomaten-
soße hinterlassen nur eine von vie-
len Lücken in den Sortimenten der
Supermärkte. Grund dafür sind
nicht mehr, wie noch in der Pande-
miezeit, Lieferprobleme. Vielmehr
eskaliert ein Machtkampf zwischen
Markenherstellern und Lebensmit-
telläden. Es geht darum, wer die Be-
lastungen aus der Inflation trägt:
die Hersteller oder der Handel. Als
Ergebnis des Konflikts könnten vie-
le altbekannte Marken dauerhaft
verschwinden, zugunsten von Su-
permarkt-Eigenmarken wie Ja! und
Gut & Günstig.
Die traditionellen Markenherstel-
ler sind dabei, ihre Karten zu über-
reizen. Das ist gefährlich für den
Markt: Wenn sie so weitermachen,
verschiebt sich die Machtstruktur
zugunsten des Handels. Mit seinen
Eigenmarken übt der Handel zuneh-
mend Kontrolle über die Produktion
aus – langfristig eine Bedrohung für
Mittelständler und Konzerne. Die
Vielfalt des Angebots und die Kon-
kurrenz der Hersteller untereinan-
der werden infrage gestellt.
Ausgangspunkt der aktuellen Ent-
wicklung: Die internationalen Mar-
kenkonzerne von Pepsico bis Unile-
ver stellen ihren Aktionären in die-
sen unsicheren Zeiten stabil hohe
Gewinnmargen in Aussicht, trotz
steigender Kosten für Energie und
Agrarrohstoffe. Diese Margen errei-
chen sie nur, wenn sie ihre Verkaufs-
preise erhöhen und die Kunden
trotzdem weiter zugreifen.
Global gelingt das bestens: Die
börsennotierten Konzerne vermel-
deten zum Jahresbeginn sogar stei-
gende Gewinne. Musterbeispiel
sind dabei die USA, Heimat von
Konzernen wie dem Mirácoli-Pro-
duzenten Mars, Coca-Cola oder
Procter & Gamble. Denn amerikani-
sche Supermärkte wie Wal-Mart
überlassen es weitgehend den Her-
stellern, die Preise zu setzen. Pro-
dukte fliegen in den USA nicht dann
aus dem Regal, wenn sie der Ein-
kaufschef einer Handelskette zu
teuer findet, sondern wenn zu weni-
ge Kunden sie kaufen.
In Deutschland ist das anders:
Hier schauen die vier großen Händ-
ler sehr genau auf ihre Einkaufs-
preise. Denn anders als die US-Me-
gamärkte, die in ihrer Region oft
konkurrenzlos agieren, stehen die
deutschen Ketten mit ihren engma-
schigen Filialnetzen in einem har-
ten Preiskampf zueinander. Edeka
und Rewe haben in den vergange-
nen Jahren viel Geld in Werbung
und Tiefpreise investiert, um ihr
Teuer-Image gegenüber Aldi und
Lidl abzulegen. Jede der vier Laden-
ketten fürchtet nun, in den Ver-
handlungen mit den Markenkonzer-
nen benachteiligt zu werden – und
die eigenen Kunden mit zu hohen
Preisen zu vergraulen.
Penibel analysieren die Einkäufer
die geforderten Preiserhöhungen
über Konkurrenzvergleiche und Zu-
tatenlisten. Im Ergebnis scheitern
die Preisverhandlungen mit den
Herstellern in Deutschland reihen-
weise. Dabei unterscheidet sich der
aktuelle Konflikt von seinen Vorläu-
fern: In den vergangenen Jahren war
es oft der Handel, der vermeintlich
zu teure Produkte auslistete. Jetzt
hingegen liefern die großen Produ-
zenten von sich aus keine Ware
mehr aus, um die Händler zu höhe-
ren Preisen zu drängen. Auch deut-
sche Markenhersteller schließen
sich dem Boykott mit Verweis auf
steigende Kosten an. Die Hersteller
vertrauen dabei fest darauf, dass die
Strahlkraft ihrer Marken für die
Händler unentbehrlich ist. Doch sie
überschätzen ihre Rolle. Angestaub-
te Traditionsmarken wie Mirácoli
drohen, einmal ausgelistet, dauer-
haft aus vielen Läden zu verschwin-
den. Denn sie bringen den Super-
märkten sowieso keine besondere
Aufmerksamkeit mehr, anders als
junge Marken: Fritz-Kola statt Co-
ca-Cola, Hafervoll-Riegel statt Mars.
Der Handel ersetzt Traditions-
produkte mit Eigenmarken, wie im
Fall Mirácoli. Aktuell tauscht Rewe
die Kellogg’s-Cornflakes durch Ja!-
Produkte aus, Edeka imitiert Mars-
Klassiker wie M&M’s. Für solche
Projekte verbündet sich der Handel
mit mittelständischen No-Name-
Lieferanten, deren – niedrigere –
Preisforderungen er bereitwillig er-
füllt. Die Produkte, die so entstehen,
müssen nicht schlechter sein als die
Originale. Doch die Abhängigkeit
der Lieferanten ohne eigene Marke
ist viel höher – und ihr Gestaltungs-
spielraum viel geringer: bei Pro-
duktvielfalt und auch beim Preis.

Monstrum, das erwähnt er natürlich
nicht. Als Beispiel sei nur die bereits
beschlossene Abschaffung der Som-
merzeit genannt, die jedoch bislang
nicht umgesetzt wurde, weil sich die
Staaten schlicht nicht auf eine ge-
meinsame Umsetzung einigen konn-
Altersvergütungen und Gehälter, die
schon lange nicht mehr vermittelbar
sind. Eine Diäten-, Pensions- und Ren-
tenreform ist überfällig.
ARMIN KNOOP, WEISSENSBERG
Nur nach Proporz
W
enn amerikanische Präsi- RECHT BEHALTEN ging es vor Gericht. Gestützt wurde die
denten von ihrem Begnadi- Klage insbesondere auf den presse-
gungsrecht Gebrauch ma- rechtlichen Auskunftsanspruch. Da-
chen, wird darüber auch in Deutsch- VON PROF. DR. ARND DIRINGER nach sind Behörden grundsätzlich dazu
land diskutiert. Solche Debatten gab es, verpflichtet, Medien Informationen zur

ten. Reformen sind mit dieser EU
schwer vorstellbar und auch nicht
unbedingt im Sinne der Bürger: Schon
heute haben die Nationalstaaten viel
zu viele Kompetenzen an Brüssel ab-
gegeben und damit ihr selbständiges
Handeln unnötig erschwert. Von daher
plädiere ich eher für eine kleinere EU,
eine, deren Hauptaugenmerk wieder
auf der wirtschaftlichen Zusammen-
arbeit liegt und nicht auf einer politi-
schen Union, die den einzelnen Bürger
nur machtloser macht gegenüber ei-
nem gigantisch aufgeblähten Beamten-
apparat und mit der sich niemand
wirklich identifizieren kann und will.
TONI VOLLMER, BONN
Gasprofiteure
Zu: „Jetzt noch eine neue Ölheizung?“,
16. Oktober
Seit uns alle der nicht zu leugnende,
vom Menschen verursachte Klimawan-
del über alternative Heizenergie nach-
zudenken zwang, wurde in unseren
Breitengraden auch das vermeintlich
saubere Erdgas den Bürgern als Alter-
Zu: „Faeser und die alte Garde“,
9. Oktober
Schon der Titel verrät, worum es ei-
nigen Leuten, die etwas zu sagen ha-
ben wollen, offensichtlich geht: Die
alte Garde muss weg, egal, was sie
geleistet hat. Es geht also nicht um die
Sache, sondern um Ideologie. Nach
einem Regierungswechsel wird bei den
Personalentscheidungen oft nicht nach
Qualität, sondern nach Proporz ge-
handelt. Und dass alle diejenigen, die
dabei in den Ruhestand versetzt wer-
den (was auf Kosten der Steuerzahler
geschieht), aus der Leistungsgesell-
schaft entfernt werden, lässt das Ni-
veau weiter sinken.
HERMANN SCHMITZ, BRAUWEILER
Leserbriefe geben die Meinung unserer Leser
wieder, nicht die der Redaktion. Wir freuen uns
über jede Zuschrift, müssen uns aber das
Recht der Kürzung vorbehalten. Aufgrund
der sehr großen Zahl von Leserbriefen, die bei
uns eingehen, sind wir nicht in der Lage,
jede einzelne Zuschrift zu beantworten.
Schreiben Sie uns unter: leserbriefe@wams.de
als Bill Clinton kurz vor Ende seiner
Amtszeit weit über 100 Straftäter be-
gnadigte – darunter mehrere Unter-
stützer seiner Partei. Und auch als Do-
nald Trump so agierte, fand das in
Deutschland erhebliche Beachtung.
Dass ebenso der Bundespräsident Men-
schen begnadigen kann, ist dagegen
vielen nicht einmal bekannt. Verwun-
derlich ist das nicht. Es gibt, wie es auf
dem Online-Portal „FragDenStaat“
heißt, einen „entscheidenden Unter-
schied“ zwischen „dem deutschen und
dem US-Gnadensystem: In Deutsch-
land erfolgen die Begnadigungen durch
den Bundespräsidenten im Verborge-
nen“. Das will das Portal ändern. Vor
dem Verwaltungsgericht Berlin hat es
dabei allerdings eine Niederlage erlit-
ten.
Der Bundespräsident „übt im Einzel-
falle für den Bund das Begnadigungs-
recht aus“, heißt es im Grundgesetz. Er
hat damit die Befugnis, in konkreten
Einzelfällen eine von einem Gericht
verhängte und auf dem Rechtsweg
nicht mehr zu ändernde Strafe abzu-
mildern oder zu erlassen. Eine Amnes-
tie für ganze Tätergruppen ist nicht
Ein antiquiertes
Majestätsrecht
möglich. Der Bundespräsident darf
auch nicht in laufende Verfahren ein-
greifen. Er kann seine Entscheidungen
allerdings grundsätzlich in freiem Er-
messen treffen, muss sie nicht begrün-
den, und eine Überprüfungsmöglich-
keit gibt es auch nicht.
Dass ihm diese Befugnis zusteht, be-
deutet, wie das Bundesverfassungsge-
richt Ende der 60er-Jahre ausgeführt
hat, „einen Eingriff der Exekutive in die
rechtsprechende Gewalt“, wie er
„sonst dem Grundsatz der Gewalten-
teilung fremd ist“. Dass Gnadenent-
scheidungen keiner gerichtlichen
Nachprüfung unterliegen, hat das
Karlsruher Gericht dennoch als zuläs-
sig angesehen. Allerdings mit wenig
überzeugenden Argumenten und in ei-
ner denkbar knappen Entscheidung:
mit vier zu vier Stimmen.
Der Bundespräsident hat jedoch nur
in bestimmten Fällen ein Begnadi-
gungsrecht, insbesondere bei terroris-
tischen Straftaten und Spionage. An-
sonsten wird dieses Recht durch die
Länder ausgeübt. Allzu häufig ist der
Bundespräsident also nicht zuständig.
Allerdings sind die Fälle politisch oft
heikel. Das zeigte sich bei der Begnadi-
gung der einstigen RAF-Terroristen
Adelheid Schulz und Rolf Clemens
Wagner durch Johannes Rau. Dass die
Öffentlichkeit davon überhaupt erfah-
ren hat, ist aber eine Ausnahme. Zu-
meist hüllt sich der Bundespräsident in
Schweigen.
An dieser Praxis stört sich das On-
line-Portal „FragDenStaat“. Es verlang-
te Auskunft zu sämtlichen Begnadigun-
gen in den Jahren 2004 bis 2021. Nach-
dem die Information verweigert wurde,
Verfügung zu stellen. Der Bundespräsi-
dent muss das nach Ansicht des Ver-
waltungsgerichts Berlin aber nicht.
Denn die Ausübung des Begnadigungs-
rechts stellt kein Verwaltungshandeln
dar. Insofern sei der Bundespräsident
auch nicht als auskunftspflichtige Stel-
le beziehungsweise Behörde im Sinne
des Presserechts anzusehen.
Diese Argumentation ist nachvoll-
ziehbar, ob die nächste Instanz ihr
folgt, ist naturgemäß offen. Unabhän-
gig davon sollten wir uns aber über das
Begnadigungsrecht grundsätzliche Ge-
danken machen. Es ist, wie die Straf-
rechtsprofessorin Elisa Hoven einmal
im Deutschlandfunk Kultur sagte, „ein
Relikt der Monarchie, ein antiquiertes
Majestätsrecht, das in einen demokra-
tischen Rechtsstaat nicht passt“. Es ge-
hört deshalb schlicht abgeschafft.
Arnd Diringer ist Professor
an der Hochschule Ludwigsburg.
Er ist Autor zahlreicher
Veröffentlichungen zum
Verfassungs-, Zivil- und Arbeitsrecht.
Die Kolumne erscheint alle 14 Tage.
SPORT
M
WELT AM SONNTAG NR. 43
Max Eberl, 49, sieht erholt aus, als er
mit Berater Marc Kosicke die Lobby be-
tritt. Auf dem Weg nach Zürich, wo er
inzwischen wohnt, macht er halt im
„Hilton“ am Frankfurter Flughafen. Für
das erste Interview seit seiner Presse-
konferenz im Januar 2022, auf der er
unter Tränen seinen Rücktritt als
Sportvorstand von Borussia Mönchen-
gladbach erklärte. Er sei müde und er-
schöpft, sagte Eberl damals: „Ich muss
raus und auf den Menschen Max Eberl
aufpassen.“
VON LARS GARTENSCHLÄGER
WELT AM SONNTAG: Wie geht es dem
Menschen Max Eberl heute?
MAX EBERL: Es geht ihm sehr gut. Ich
habe die Zeit intensiv genutzt, auf den
Menschen Max Eberl geschaut, auf ihn
geachtet und mich um ihn gekümmert.
Was haben Sie genau gemacht?
Eine lange Reise.
Wohin ging die?
Eigentlich reden wir von zwei Reisen.
Eine physische Reise, auf der ich ver-
schiedene tolle Orte besucht habe. Ich
war auf den Malediven, in Argentinien,
Namibia, Mosambik und in den USA.
Dazu gab es kleine Trips, etwa nach Ibi-
za und Berlin, um gute Freunde zu be-
suchen. Die größere Reise aber war die
psychische – eine Reise zu mir selbst.
Das müssen Sie erklären.
Eine Reise, um das, was passiert ist, zu
reflektieren. Um über Dinge nachzu-
denken. Für diese Reise habe ich mir
auch professionelle Hilfe gesucht, denn
es war eine sehr intensive Reise. Sie hat
am ersten Tag nach der Pressekonfe-
renz angefangen und lief dann mehr
oder weniger an jedem Tag.
Sie sind unmittelbar danach auf die
Malediven gereist. Konnten Sie sofort
abschalten, vielleicht sogar genießen?
Nein. Es hat wochenlang gedauert, bis
ich wieder etwas mit mir anfangen
konnte. Damals habe ich viele wunder-
schöne, empathische, auch sehr persön-
liche Nachrichten erhalten, aus dem
Fußball – nicht nur dem deutschen,
auch aus dem europäischen. Es haben
sich auch Leute aus der Politik gemel-
det, aus der Wirtschaft, den Medien.
Der Zuspruch war groß. Auf der Presse-
konferenz war mir die Tragweite des
Ganzen gar nicht so bewusst. Ich wollte
einfach nur sagen, wie es mir geht. Das
war Max Eberl pur.
Noch einmal zurück auf die Malediven ...
Dort war ich knapp zehn Tage. Es war
schön, aber in meinem Kopf war noch
ein großes Durcheinander. Ich habe
dort gemerkt, dass ich es allein nicht
schaffen werde und Hilfe brauche. Es
tat mir auch sehr gut, Sedrina (seine da-
malige Freundin – d.R.), meine Freunde
und die Familie an meiner Seite zu wis-
sen. Ich habe damals angefangen, Tage-
buch zu schreiben. Das tue ich bis heu-
te. Nicht jeden Tag, aber regelmäßig.
Was steht da drin?
Ich habe anfangs viel über Gefühle ge-
schrieben, über aktuelle und vergange-
ne Enttäuschungen, über emotionale
Höhepunkte. Auch über Trauer. Später
kamen Momente dazu, die ich auf mei-
nen beiden Reisen so erlebt habe.
Welche Rolle spielte dabei Fußball?
Der war natürlich präsent, aber nicht so
stark. Ich bin vom Glück gesegnet, in
meiner Karriere ging es quasi immer
nach oben: erst als Spieler, später als
Manager. Ich habe ganz viele positive,
erfolgreiche Momente erlebt. Doch all
das schützt nicht vor Erschöpfung und
Müdigkeit. Mir ist nichts geschenkt
worden, im Gegenteil: Ich habe viel in-
vestiert dafür und musste auch gegen
viele Widerstände ankämpfen. 23 Jahre
war ich insgesamt in Mönchengladbach;
ohne Pause, ohne Zeit, mal etwas zu re-
flektieren und zu verarbeiten. Dazu ge-
hört zum Beispiel auch Privates, wie die
Trennung vor knapp dreieinhalb Jahren
von meiner Frau nach knapp 25 Jahren.
Wissen Sie: Wir Fußballer neigen auf-
grund des dichten Zeitplans dazu, Dinge
Zoff bei den Turnerinnen: Gerichtsstreit trübt Vorfreude auf die WM S.32
23. OKTOBER 2022 SEITE 29
schnell abzuhaken, zu verdrängen und GRÄTSCHE
„Am Ende
weiterzumachen. Das nächste Spiel
steht ja an. Aber irgendwann wird der
Berg immer größer mit all dem, was sich VON LUCA WIECEK
war der BERG
so angehäuft hat. Ich habe das zu spät
gemerkt und auf dem Weg dorthin enge
Freunde und die Familie – ich sage es Lang lebe
mal in Anführungszeichen – „belogen“.
der König
H
Belogen?
Wenn ich gefragt wurde, wie es mir
geht, habe ich stets gesagt: „Gut, alles in ans Niemann dürfte in die-
Ordnung.“ Wenn ich mal traurig oder sen Tagen froh sein, dass die
unglücklich war, habe ich das nieman- englische Regenbogenpresse
zu groß“
dem gesagt. Ich wollte keinem zur Last noch nicht auf ihn aufmerksam ge-
fallen, keine Schwäche zeigen, schon worden ist. Ansonsten würde sein
gar nicht in diesem Business. Max Eberl Konterfei längst die Klatschblätter
ist immer marschiert. Ich wollte den zieren. Dazu die Zeile: „Skandal –
größtmöglichen Erfolg für den Klub und König wurde Krone abgebrochen!“
habe mich komplett hingegeben. Am Wer schließlich 27-mal im Jahr über
Ende aber war der Berg zu groß. Ich war die Scheidung von Charles und Ca-
in einer Sackgasse. Inzwischen weiß ich milla berichtet, schreckt auch davor
Im Januar trat Gladbach-Manager Max Eberl unter
das. Doch es hat gedauert, bis ich das nicht zurück. Dass es um Schach und
gemerkt habe und akzeptieren konnte, nicht um einen Eklat im britischen
Tränen von seinem Posten zurück, sagte: „Ich habe keine dass der Fußball mal nicht der Mittel-
punkt in meinem Leben ist.
Königshaus geht? Geschenkt.
Das Drama, das Niemann seit Wo-
Kraft mehr!“ Dann verschwand er von der Bildfläche. chen produziert, ist ohnehin unter-
Nun meldet er sich zurück …
Wie ging es weiter? haltsamer. Diesmal war es aber nicht
Als ich nach der Malediven-Reise Mitte der 19-jährige Großmeister selbst,
Februar zurück in Zürich war, habe ich sondern sein Gegner Samuel Sevian,
teils ganz banale Dinge gemacht: mich der sich in den Gepflogenheiten sei-
aufs Rad gesetzt, auf den Berg gefahren, ner Sportart vergriff. Während Nie-
ich war häufig im und am See. Und ich mann seinen Zug plante, verging sich
habe angefangen, Bücher zu lesen. Sevian derart an dessen König und
brach diesem die Krone ab. Dann
Was haben Sie gelesen? stellte er die enthauptete Figur auch
Unter anderem „Der Alchimist“ von noch auf ein falsches Feld.
Paulo Coelho oder die Sechserreihe von Gelebter Monarchenhass – in Eng-
John Strelecky. Dazu noch psychologi- land würde das einen Straftatbe-
sche Bücher. stand erfüllen. Beim Turnier in St.
Louis kam Sevian mit dem Tadel ei-
Später waren Sie noch in Argentinien nes Kollegen davon. Fabiano Carua-
und Afrika. na, der das Turnier später gewann,
In den ersten Tagen nach dem Ende in sprach vom „Höhepunkt der Res-
Gladbach erhielt ich eine Nachricht von pektlosigkeit“. Und Niemann selbst?
einem Bekannten aus Argentinien, den Der setzte dem bizarren Schauspiel
ich 2006 kennengelernt hatte. „Nun mit seiner Erklärung noch die Krone
kannst du doch deinen Traum leben“, auf. „Es war nur ein Missverständ-
schrieb er und meinte damit eine Reise nis. Der Stift der Figur war abgefal-
durch Patagonien. Ich schrieb ihm, dass len. Er wollte das Stück kleben.“ Da
ich mich erst einmal sortieren müsse, stellt sich doch die Frage, ob der
und fragte, ob er mir böse sei, wenn ich Schachverband Niemanns Gegnern
nicht kommen würde. „Nein, bin ich neben 16 Figuren neuerdings auch ei-
nicht“, schrieb er zurück, „aber ich brin- ne Heißklebepistole zur Verfügung
ge dich um.“ (lacht) Ich bin also Ende stellt. Hauptsache, der König lebt
Februar nach Argentinien. Ich habe bei lange – mit Krone.
ihm und seiner Familie gelebt, den All-
tag aufgesogen, mir Buenos Aires zeigen
lassen, viel über Politik debattiert – und TOP & FLOP
bin schließlich alleine weitergereist. Mit
einem kleinen Kutter namens „Santa
GEWINNER
Maria“ bin ich unter anderem den Bea-
gle-Kanal südlich der Magellanstraße
entlanggefahren, da waren vielleicht
noch zehn, zwölf andere Menschen an
Bord. Ich konnte das genießen. Es war Tyson
mein erster Urlaub, den ich allein ge-
macht habe. Dazu musste ich unge- Fury
wohnte Herausforderungen meistern.
Rücktritt vom Rücktritt! Der
Welche? Schwergewichts-Superstar wird
Ich habe das alles selbst gebucht. Ich den Weltmeistergürtel des Box-
kannte das ja nicht. Alles in meinem Le- verbandes WBC am 3. Dezember
ben war vorher organisiert und beglei- in London gegen seinen britischen
tet. Ich habe angefangen, mich darüber Landsmann Dereck Chisora ver-
teidigen. 2023 soll es dann zum
,,
zu freuen, Dinge wieder selbst in den
Griff zu bekommen. Das Reisen tat gut. Titelvereinigungskampf zwischen
Auch in Namibia hatte ich eine großarti- Fury und dem Ukrainer Oleksandr
ge Reise mit vielen tollen Momenten Ussyk, Weltmeister der Verbände
und Begegnungen. 1996 habe ich dort WBA, WBO und IBF, kommen.
mit Bochum gegen das Nationalteam
gespielt. Den Kapitän von damals traf
ich 26 Jahre später bei einer Safari auf VERLIERER
der Big-Daddy-Düne wieder.
Sind Sie auf Ihren Reisen eigentlich
erkannt worden? Mick
Nicht immer. Auf dem Kutter beispiels- Schumacher
weise war ein deutsches Paar, das mich
nicht kannte. Als ich später an der Neuer Vertrag oder Rauswurf?
Grenze zu Chile eine Bergwanderung Nach zwei selbst verschuldeten
am Cerro Guanaco (950 Meter hoher Unfällen und erheblichen Re-
Berg – d.R.) gemacht habe, bin ich vier paraturkosten geht es für den
Israelis begegnet. Wir kamen rasch auf 23-Jährigen in den vier Rennen
das Thema Fußball. Sie erzählten von bis zum Saisonende um seine
Gal Albermann und Roberto Colautti, Zukunft in der Formel 1. Team-
zwei Spielern aus Israel, die mal bei Bo- besitzer Gene Haas sagt klipp
russia spielten. Sie fragten, ob ich sie und klar: „Wenn er bei uns blei-
kenne. „Ja“, sagte ich. Sie wollten wis- ben will, muss er uns zeigen,
sen, woher. Ich hatte ihnen erzählt, dass dass er noch punkten kann. Da-
ich Manager bei einem Sportklub gewe- rauf warten wir.“
sen bin. Nun sagte ich ihnen, dass ich
bei dem Klub gearbeitet habe, bei dem
die beiden gespielt haben. Da waren sie
kurz ruhig, ehe einer meinte: „Okay, GUT GEBRÜLLT
dann bist du der Typ, der gerade aufge-
Ein Mann mit neuer Kraft: hört hat.“ Sie waren total respektvoll
Max Eberl hat in seiner und wollten unbedingt ein Foto mit mir. ER IST
ALEX KRAUS
Auszeit aufgetankt Ich habe zugestimmt, aber mit der Bit- UNERSÄTTLICH.
DPA/ MATTHIAS SCHRADER; JUSTIN SETTERFIELD
ER HAT EIN ZIEL
te, es nirgends zu posten. Ich habe es
auch nie irgendwo gesehen. (lacht)
IM KOPF. ER IST
Max Eberl Der in Niederbayern geborene Eberl wurde in der Jugend des FC Bayern
EIN KILLER
Haben Sie den Gipfel des Cerro Gua-
ausgebildet und bestritt 1991 sein erstes Bundesliga-Spiel für München.
Fußball-Manager Später war der Abwehrspieler noch in Bochum, Fürth und Mönchen-
naco erklommen?
Nein. Ich habe irgendwann gemerkt,
Xavi Hernandez, Trainer des FC Bar-
gladbach aktiv. 2005 wurde er bei der Borussia Nachwuchskoordinator, dass ich es von der Kraft her nicht celona, über Zugang Robert Lewan-
von 2010 an war er dann bis zum Rücktritt in diesem Jahr Geschäfts- schaffe. Trotzdem war ich glücklich und dowski. Der ehemalige Bayern-Stürmer
führer Sport. Am 15. Dezember tritt er diesen Posten bei RB Leipzig an. habe oft über mich selbst gelacht. Die führt die Torjägerliste der ersten Liga
Spaniens mit elf Treffern aus zehn
FORTSETZUNG AUF SEITE 31 Spielen souverän an
30 SPORT * WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022

ZWEITE LIGA BUNDESLIGA 11. SPIELTAG

Darmstadt – Kiel ..................... 1:1 (0:1) DIE SPIELBERICHTE
Rostock – Kaiserslautern ...... 0:2 (0:0)
Nürnberg – Hannover ............ 0:0 (0:0)
Regensburg – Sandhausen .. 2:1 (1:1)
Braunschweig – Paderborn.. 0:0 (0:0)
Bielefeld – St. Pauli ..................................
Choupo-Moting sticht Mané
aus und sorgt für Bayern-Sieg
Hamburg – Magdeburg...... So., 13.30
Heidenheim – Greu. Fürth . So., 13.30
Karlsruhe – Düsseldorf ....... So., 13.30

13. Spieltag Sp Tore Pt. Es ist durchaus überraschend, Pokalspiel unter der Woche in in Bedrängnis gerieten – je-
1. Darmstadt 13 23:13 28 dass ein Altstar im Sturm der- Augsburg (5:2) und das 5:0 in weils war der Ersatzmann für
2. SC Paderborn 13 32:12 26 zeit die Nase beim Rekord- der Liga gegen Freiburg mit Manuel Neuer zur Stelle: Sven
3. Hamburg 12 17:10 25 meister vorn hat, der eigentlich insgesamt drei Toren und zwei Ulreich parierte beide Schüsse
4. Hannover 13 21:16 21 lange Zeit nur als Ergänzungs- Vorlagen zur Eigenwerbung ge- des TSG-Angreifers (24., 40.).
5. Heidenheim 12 17:11 20 spieler galt: Eric Maxim Chou- nutzt hatte, sollte seinen Nach der Pause passierte nicht
6. Kiel 13 24:24 20 po-Moting, schon 33 Jahre alt, Coach auch im Kraichgau nicht mehr viel, außer dass Mané
7. Kaiserslautern 13 22:20 19 erhielt auch beim Gastspiel des enttäuschen. Nach dem 1:0 noch 30 Minuten mitspielen
8. Regensburg 13 14:18 18 FC Bayern am Samstagnach- durch Jamal Musiala (17.) war durfte, aber unauffällig blieb.
9. Düsseldorf 12 20:15 17 mittag bei der TSG 1899 Hof- es Choupo-Moting, der für die Die Debatte um einen fehlen-
10. Karlsruhe 12 21:17 17 fenheim den Vorzug gegenüber beruhigende Halbzeitführung den Mittelstürmer nach dem
11. Braunschweig 13 15:21 16 dem 32-Millionen-Euro-Zu- sorgte. Er selbst legte außen Abgang von Robert Lewan-
12. St. Pauli 12 18:17 14 gang aus dem Sommer, Sadio auf Sturmkollege Serge Gnabry dowski zum FC Barcelona
13. Nürnberg 13 12:21 14 Mané. „Ich hoffe, dass er heute ab, startete in den Fünfmeter- dürfte bei den Bayern dank
13. Rostock 13 12:21 14 genauso performt wie in den raum und wuchtete die präzise Choupo-Moting zunächst be-
15. Sandhausen 13 13:19 12 vergangenen beiden Spielen“, Flanke zum 2:0 ins Tor (38.). endet sein – zumindest bis zum
16. Greuther Fürth 12 17:22 10 sagte Trainer Julian Nagels- Die beiden Treffer waren Mittwoch: Dann kommt es in Die nächsten Spiele: Fr., 28.10., 20.30 Uhr: Werder Bremen – Hertha BSC; Sa., 29.10., 15.30 Uhr: RB Leipzig –
17. Magdeburg 12 13:25 10 mann kurz vor dem Anpfiff bei Ausdruck hochüberlegener der Champions League zum di- Bayer Leverkusen, FC Bayern – Mainz 05, VfB Stuttgart - FC Augsburg, VfL Wolfsburg – VfL Bochum; 18.30
Sky über Choupo-Moting. Bayern, die nur zweimal durch rekten Duell mit den Katala- Uhr: Eintracht Frankfurt – Borussia Dortmund; So., 30.10., 15.30 Uhr: Union Berlin – Bor. Mönchengladbach;
18. Bielefeld 12 14:23 8
Der Angreifer, der zuvor das Vorstöße von Georginio Rutter nen. WS 17.30 Uhr: Schalke 04 – SC Freiburg; 19.30 Uhr: 1. FC Köln – TSG Hoffenheim.
Greuther Fürth – Bielefeld Fr., 18.30
Magdeburg – Heidenheim Fr., 18.30
Kiel – Düsseldorf 29.10.
Regensburg – Rostock 29.10.
Kaiserslautern – Nürnberg 29.10.
St. Pauli – Darmstadt 29.10.
SC Paderborn – Hamburg 30.10.
Hannover – Karlsruhe 30.10.
Sandhausen – Braunschweig 30.10.

DRITTE LIGA
Zwickau – Freiburg II .................. 0:1 (0:0)
Duisburg – Vikt. Köln .................. 1:1 (0:1)
1860 München – Wiesbaden ... 3:1 (0:0)
Waldhof – RW Essen.................. 1:2 (1:2)
Elversberg – Osnabrück ............ 4:1 (2:0)
GETTY IMAGES/ MATTHIAS HANGST

Meppen – Dortmund II............... 0:2 (0:0)

Dresden – Saarbrücken............. 1:2 (0:1)
Oldenburg – Ingolstadt .......... So., 13.00
Verl – Aue .................................... So., 14.00
Halle – Bayreuth ...................... Mo., 19.00

13. Spieltag Sp Tore Pt.

1. Elversberg 13 34:12 31
Eric Maxim Choupo-Moting (r.) bejubelt seinen Treffer zum 2:0 in Hoffenheim
2. 1860 München 13 29:15 29
3. W. Wiesbaden 13 27:16 24
4. Freiburg II 13 17:15 24
5. Saarbrücken 13 21:11 23
6.
7.
Ingolstadt
Dresden
12
13
17:9
22:16
22
21
Friedl fliegt, Süle und Bellingham beenden
8.
9.
Waldhof
RW Essen
13
13
17:23
17:22
19
16
Werder verliert Dortmunder Sieglos-Serie
10. Vikt. Köln 13 17:18 15
Werder Bremen hat die erste Borussia Dortmund hat seine war defensiv noch völlig unsor-
11. Verl 12 16:18 15
Auswärtsniederlage der Saison Serie von drei Spielen ohne tiert: Bellingham legte den Ball
12. Oldenburg 12 16:20 15
kassiert. In Freiburg verlor der Sieg beendet und den VfB nach rechts auf Süle, der passte
13. Duisburg 13 13:17 15
Aufsteiger mit 0:2 (0:0) und Stuttgart beim 5:0 (3:0) regel- zart dosiert und exakt in die
14. Dortmund II 13 11:17 15
musste lange in Unterzahl recht vorgeführt. Süle erzielte Mitte zurück auf Bellingham,
15. Osnabrück 13 18:20 13
spielen. Kapitän Friedl hatte seinen ersten Pflichtspieltref- der aus elf Metern zum 1:0 für
16. Meppen 13 16:24 11
schon in der 14. Minute die Ro- fer für den BVB. den BVB einschob (2. Minute).
17. Zwickau 13 9:21 11
te Karte gesehen. Er stoppte Gleich im ersten Angriff Gut zehn Minuten später
18. Halle 12 15:19 10
den entwischten Gregoritsch zeigte der BVB eine hervorra- schon die Vorentscheidung:
19. Aue 12 12:17 10
mit einer Notbremse. gende Kombination. Stuttgart Nach einem Freistoß von Guer-
20. Bayreuth 12 8:22 9
Werder verlegte sich in Un- reiro schoss Süle den Ball vol-
W. Wiesbaden – Duisburg Fr., 19.00 terzahl aufs Verteidigen, Frei- ley zum 2:0 ins Netz (13.). Wie
Aue – Elversberg 29.10. burg tat sich zunächst schwer, schon beim 1:0 ließ der VfB sei-
Waldhof – Dresden 29.10. Chancen herauszuarbeiten. nen Gegenspielern zu viel
RW Essen – Zwickau 29.10.
Einzige Ausnahme im ersten Platz. Identisches Bild beim 3:0
Dortmund II – Verl 29.10.
Saarbrücken – Meppen 29.10. Durchgang: Verteidiger Sildil- (44.): Moukoko nutzte seine
Bayreuth – 1860 München 29.10. lia, der den Ball völlig frei vor Freiheiten in der Mitte und
Freiburg II – Oldenburg 30.10. Bremens Pavlenka am Tor vor- spielte links zu Reyna. Der
Ingolstadt – Vikt. Köln 30.10. beischob (16.). schlenzte ins lange Eck.
Osnabrück – Halle 31.10. Besser machte es dann Küb- In Durchgang zwei fand der
REUTERS/ BENJAMIN WESTHOFF

ler, der die erste Möglichkeit VfB weiterhin nicht statt. Bel-

ENGLAND
nach dem Wechsel zur Füh- lingham kopierte Mitspieler
rung nutzte (56.). Gregoritsch Reyna und zirkelte den Ball
verpasste noch die Vorent- nach Schlotterbecks Ballerobe-
scheidung (66.), Grifo beende- rung zum 4:0 (53.) ebenfalls ins
te aber Werders zarte Hoffnun- lange Eck. Moukoko erhöhte
Nott. Forest – Liverpool...............1:0 (0:0) gen auf einen Punktgewinn. Er nach Guerreiro-Querpass noch
FC Everton – Crystal Pal. ............................. lupfte einen Strafstoß frech in Youssoufa Moukoko erzielte bei aus zwei Metern zum 5:0-End-
Manch. City – Brighton.................................. die Mitte (80.). WS der BVB-Gala das 5:0 stand (72.). WS
Chelsea – Manch. United..............................
Villa – Brentford...........................So., 15.00
South. – Arsenal...........................So., 15.00
Leeds – Fulham............................So., 15.00
Wolves – Leicester......................So., 15.00
Tottenham – Newcastle ..........So., 17.30
Werksklubs Leipziger Baumgarts
West Ham – Bournemouth...Mo., 21.00
teilen Punkte Aufholjagd bitteres Fazit
13. Spieltag Sp Tore Pt.
1. Arsenal 10 24:10 27 Bayer Leverkusens Krise hält RB Leipzig wartet zwar weiter- Ein vermeintlich falsch ausge-
2. Manch. City 10 33:10 23 auch unter Xabi Alonso an. Im hin auf den ersten Auswärts- führter Elfmeter von Ingvart-
3. Tottenham 11 22:12 23 dritten Spiel unter dem neuen sieg in der laufenden Saison, sen (11.) leitete Kölns 0:5 (0:3)-
4. Chelsea 10 15:10 20 Coach gab es ein 2:2 (1:1) gegen schaffte aber beim FC Augs- Debakel in Mainz ein, auf die
5. Manch. United 10 15:15 19 den VfL Wolfsburg. burg nach einem 0:3-Rück- vermeintliche Doppelberüh-
6. Newcastle 11 18:9 18 Diaby, der in der 10. Minute stand noch ein 3:3 (0:1). rung wollte Trainer Baumgart
7. Liverpool 11 22:13 16 einen Elfmeter verschossen Berisha hatte den FCA in der die Niederlage aber nicht redu-
8. Brighton 10 14:11 15 hatte, brachte Bayer in der 34. Minute mit einem Elfmeter zieren. „Er war nicht spielent-
9. Fulham 11 19:20 15 17. Minute in Führung, ehe An- in Führung gebracht – und scheidend. 0:5 ist ganz eindeu-
10. Brentford 11 18:17 14 drich mit einem Eigentor im dann die Tore von Demirovic tig“, sagte der Coach. Stattdes-
11. Crystal Pal. 10 12:13 13 Duell der Werksklubs für den (51.) und Vargas (63.) vorberei- sen ärgerte er sich über die
12. Bournemouth 11 10:23 13 Ausgleich sorgte (29.). In der tet. Doch nachdem Augsburgs Leistung seiner Mannschaft,
13. West Ham 11 9:12 11 54. Minute gab es Elfmeter für Iago binnen weniger Sekunden die nach Gelb-Rot gegen Kilian
14. South. 11 10:18 11 den VfL. Arnold traf zum 2:1. erst Gelb für ein Foul, dann (28.) auseinanderbrach.
15. FC Everton 11 8:12 10 Bayer schaffte durch Frimpong Gelb-Rot für einen Rempler „Wir haben es dem Gegner
16. Leeds 10 11:15 9 aber noch den Ausgleich gegen (64.) gesehen hatte, kippte die zu einfach gemacht. Dafür gibt
17. Villa 11 7:16 9 die Wolfsburger, von denen ei- Partie. Die Mannschaft von es keine Entschuldigung“, ana-
18. Wolves 11 5:14 9 nige auf der Anfahrt im ICE ne- Marco Rose kam wieder ran: lysierte Baumgart die Tore von
19. Nott. Forest 12 8:23 9 gativ aufgefallen waren, da sie Silva (72.), Nkunku (89.) und Kohr (35.), Stach (40.), Aaron Die Zahlen in den Trikots Elfm. = Elfmeter
20. Leicester 11 17:24 8 keine FFP-2-Maske trugen. WS Novoa (90.) trafen für RB. WS (73.) und Onisiwo (84.). WS sind die Noten für die Spieler ET = Eigentor

I
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
n Krisenzeiten wird sein Credo
auf die Probe gestellt. Tim Wal-
ter hat es sich seit seinem Ein-
stieg beim Hamburger SV zu ei-
gen gemacht, seiner Mannschaft
sukzessive eine Art Wagenburg-
mentalität zu verleihen: „Wir las-
sen uns von unserem Weg nicht abbrin-
gen“, „meine Spieler sind von sich über-
zeugt“ oder „wir sind ganz bei uns“ – so
lauten regelmäßig vernommene Trai-
nersätze rund um den Zweitligaverein.
VON JENS BIERSCHWALE
Seit einigen Tagen sind sie wieder in
einer Art Dauerschleife zu hören. Denn
der Traditionsklub aus der Hansestadt,
der in einem früheren Leben einmal
sechs Meisterschaften, drei Pokalerfol-
ge und zwei Europacup-Triumphe er-
rungen hat, muss aktuell einigen hefti-
gen Herbststürmen über dem heimi-
schen Volkspark trotzen. Sich auf die ei-
genen Stärken zu besinnen und Zusam-
menhalt zu demonstrieren soll da ein
hilfreiches Gegenmittel sein.
Dabei sah es ja lange so aus, als wer-
de nun endlich alles gut in dieser Sai-
son. Walter durfte als erster Trainer
seit dem Abstieg des HSV aus der Bun-
desliga im Mai 2018 in eine zweite
Spielzeit starten, rasch führte er mit
den Seinen die Tabelle an. Im fünften
Jahr abseits des ganz großen Fußballs
in Deutschland, so schien es, müsste
die lang ersehnte Rückkehr in die Bel-
etage doch endlich gelingen – zumal ja
auch die ärgsten Konkurrenten aus
Gelsenkirchen und Bremen den Weg
schon im Sommer angetreten hatten.
Allerdings haben drei Spiele und einige
Blessuren beim kickenden Personal
ausgereicht, um beim nach wie vor un-
fassbar treuen Anhang schon wieder
das große Zittern auszulösen: Erst das
1:1 daheim gegen Kaiserslautern, dann
das 0:3 im Derby beim Stadtnachbarn
St. Pauli und schließlich die 0:4-Pa-
ckung in der zweiten Runde des DFB-
Pokals am Dienstagabend in Leipzig.
Die Krisensymptome beim Hamburger
Patienten sind binnen weniger Tage
V
wieder zurückgekehrt.
or dem wegweisenden Heimspiel
am Sonntag (13.30 Uhr) gegen
den Aufsteiger 1. FC Magdeburg
versuchen sie deshalb, Zuversicht zu ze-
lebrieren. Trainer Walter mit seinen
Wagenburgsätzen und Jonas Boldt mit
einer analytischen Bestandsaufnahme.
„Wir können die aktuelle Lage hier sehr
gut einschätzen. Mit Blick auf das erste
Saisondrittel haben wir uns nach und
nach gesteigert und zuletzt sehr stabil
gespielt. Uns war und ist ja klar, dass
wir nicht durch die Liga durchmarschie-
ren werden“, sagt der HSV-Sportvor-
stand im Gespräch mit WELT AM
SONNTAG. „Wir haben jetzt in Unter-
zahl ein Derby verloren, das schlägt na-
türlich gerade bei unseren fantastischen
Fans auf die Stimmung. Und im Pokal
mussten wir beim Titelverteidiger und
Champions-League-Teilnehmer antre-
ten. Da haben wir uns teuer verkauft“,
erklärt Boldt, 40.
Dass die aktuelle Krise die Leistun-
gen der Mannschaft nachhaltig beein-
flussen könnte, glaubt der Funktionär
nicht. „Wenn ich sehe, wie die Jungs
und das Trainerteam die letzten Spiele
reflektiert haben, stimmt mich das
überaus positiv.“ Coach Walter, 46, und
die Mannschaft seien „nach wie vor
sehr klar damit, wie wir spielen, was wir
wollen und was wir verbessern können
und müssen. Diesen Prozess der Ent-
wicklung werden wir weitergehen. Das
Ärgerliche ist, dass jetzt zwei, drei
Jungs ausfallen, die eine wichtige Rolle
spielen, aber das werden wir auch hin-
bekommen.“
Namentlich sind das Kapitän Sebasti-
an Schonlau, Rechtsverteidiger Moritz
Heyer sowie Außenangreifer Bakery Jat-
ta. Schonlau fehlt nach seiner Roten
Karte im Derby noch zweimal, für die
beiden anderen ist nach jeweils im Po-
kalspiel gegen RB erlittenen Außen-
bandrissen im Sprunggelenk die Hin-
runde vorzeitig beendet. Ein Ausfall zur
Unzeit, denn das Trio gilt als wichtiger
Stabilisator innerhalb des Teams.
Weit mehr als der Aderlass im Kader
belasten den Verein derzeit aber einige
Querelen in den Gremien des Vereins.
Vor allem die Personalie Thomas Wüs-
tefeld hat den HSV zuletzt einiges an
Image gekostet. Der 53-jährige Unter-
nehmer war Anfang des Jahres vom
Aufsichtsrat als Ersatz für Frank Wett-
stein in den Vorstand berufen worden
und nahm rasch für sich in Anspruch,
keinen Stein auf dem anderen zu las-
sen. Allerdings verprellte er mit seiner
Art viele im Traditionsverein, zudem
misslang sein wegweisendes Projekt:
die anstehende Sanierung der Arena
für rund 23 Millionen Euro. Um das
Volksparkstadion fit zu trimmen für
die EM 2024, hatte Wüstefeld zwar ei-
nige Finanzierungsideen, scheiterte
aber krachend an der Umsetzung. Als
NR. 43
Der Hamburger
PATIENT
Nach der Niederlage im Derby und dem Aus im Pokal sind die
Krisensymptome zurück: Neben sportlichen Turbulenzen leidet
der HSV auch unter Querelen in den Gremien des Klubs
dann auch noch Zweifel an seinem Ge-
schäftsgebaren als Medizinunterneh-
mer und an der ehrlichen Erlangung
seiner akademischen Titel aufkamen,
trat er Ende September von seinen
Posten als Finanzvorstand und Auf-
sichtsratsmitglied beim HSV zurück.
Mit 5,11 Prozent hält er aber noch wich-
D
tige Anteile an der Fußball-AG.
ie Posse um Wüstefeld wirft
auch kein gutes Licht auf den
Präsidenten und Aufsichts-
ratsvorsitzenden des HSV: Marcell Jan-
sen. Der frühere Linksverteidiger war
es, der Wüstefeld ein Engagement beim
HSV schmackhaft machte – und der
dann ungewöhnlich lange an ihm fest-
hielt. Dass der inzwischen Demissio-
nierte auch noch im Kuratorium eines
Jansen-Unternehmens sitzt und damit
privat geschäftliche Beziehungen zum
HSV-Chef pflegt, wirkt gleichsam recht
amateurhaft.
Der Klüngel könnte bald schon zum
Abgang des nächsten Funktionsträgers
führen: Vor rund zwei Wochen ging ein
Abwahlantrag gegen den 36-jährigen
Jansen beim Verein ein. „Aufgrund sei-
ner grob fahrlässigen Amtsführung als
Aufsichtsratsvorsitzender der HSV
Fußball AG ist in der Person von Herrn
Marcell Jansen ein Vertrauensverlust
eingetreten, welcher ihn auch für die
Fortführung seines Amtes als Präsident
des Hamburger Sport-Vereins e.V. als
ungeeignet erscheinen lässt“, schreibt
Klubmitglied und Jurist Till Hischemöl-
ler zur Begründung seines Antrags.
Und in dieser Gemengelage soll nun
der Hamburger Patient genesen? „Der
Sport schafft es, sich von den Themen
rund um den Klub einigermaßen loszu-
lösen“, glaubt Boldt. „Es hilft nicht,
wenn viel Energie in andere Dinge
geht. Der Fokus des Teams muss auf
Mit 34 Treffern in 54 Pflichtspielen
ist Torjäger Robert Glatzel (r.)
GETTY IMAGES/ MARTIN ROSE
eine der größten Stützen des HSV.
Wenn er fehlt, macht sich das
sofort bemerkbar
der sportlichen Performance liegen
und der Identifikation der Mannschaft
mit dem Klub und der Fans mit der
W
Mannschaft.“
elchen Faktor die Anhänger
,,
ausmachen, hat der HSV zu-
letzt regelmäßig eindrucks-
voll erfahren. Beim 2:1-Sieg in Hanno-
ver waren rund 15.000 Fans mit im Sta-
dion und sorgten für eine Heimatmo-
sphäre, gegen Kaiserslautern war die
Arena ausverkauft, im Derby und Po-
kalspiel gingen auch die komplett zur
Verfügung stehenden Auswärtstickets
binnen Rekordzeit weg. „Die Mann-
schaft geht nach dem Spiel in Leipzig in
die Kurve und wird nach einem 0:4 von
UNS WAR UND IST über 6000 mitgereisten Fans gefeiert.
Weil alle einfach gesehen haben, dass
JA KLAR, DASS unsere Jungs sich immer bis zum Spie-
WIR NICHT
lende komplett verausgaben, nie auf-
stecken. Das hat man beim HSV früher
DURCH DIE LIGA
schon anders erlebt“, zeigt sich Boldt
beeindruckt.
DURCHMARSCHIEREN Die nächste Partie des auf Tabellen-
platz drei abgerutschten Klubs gegen
WERDEN Magdeburg wird voraussichtlich auch
wieder zum Kassenschlager: Bis zum
JONAS BOLDT, HSV-Sportvorstand Freitag waren rund 53.000 der 57.000
Karten verkauft. „Wir haben bei den
Fans einen Hype wie in den letzten zehn
Jahren nicht. Selbst im fünften Jahr in
der Zweiten Liga kommen die Leute ins
Stadion, weil sie sehen, dass seit Lan-
gem eine Handschrift erkennbar ist,
dass der Trainer und die Mannschaft
sich zu einhundert Prozent mit dem
Verein und den Zielen identifizieren“,
erklärt Boldt. „Das gibt es aktuell sonst
nur noch beim SC Freiburg und Union
Berlin in dieser Form. Viele andere
Klubs suchen doch gerade nach ihrer
Identität. Der HSV ist da eines der we-
nigen Gegenbeispiele. Und das, obwohl
der Aufstieg noch nicht geglückt ist.“
SPORT 31
Eberl: „Ich habe lange Zeit
gar nichts verstanden“
FORTSETZUNG VON SEITE 29
Wochen in Argentinien taten gut. Hin
und wieder saß ich allein in einem
Café in Buenos Aires und bin in mich
gegangen. Ich fing an, mich zu fragen,
wie es so weit kommen konnte. Ich ha-
be zwar auch vorher Urlaube genos-
sen, aber ich war nie wirklich im Ur-
laub, sondern immer abrufbar für den
Job. Ich konnte nicht runterfahren,
habe nicht auf andere gehört und Rat-
schläge ignoriert. In „Der Alchimist“
von Coelho gibt es eine Passage, in der
es darum geht, die Sprache deines
Herzens zu verstehen, die Zeichen zu
verstehen, die du von deinem Körper
und der Umgebung bekommst. Ich ha-
be lange Zeit gar nichts verstanden.
Als Sie 2020 in Gladbach verlängert
haben, haben Sie sich eine vierwö-
chige Auszeit zusichern lassen. Ha-
ben Sie da schon gespürt, dass etwas
nicht stimmt?
Irgendwie schon, aber wie gesagt, ich
hatte die Zeichen noch nicht verstan-
den. Ich hätte nicht verlängern dürfen,
das weiß ich im Nachhinein. Ich habe
mich sicherlich auch ein wenig überre-
den lassen und für mich selbst nicht
erkannt, dass ich trotz der vielen schö-
nen und erfolgreichen Momente über-
drüssig war, für Borussia zu arbeiten.
Es gab immer mal wieder Anfragen an-
derer Klubs. Ich bin damit sehr offen
umgegangen und habe regelmäßig ge-
fragt, ob ich noch der richtige Mann
für Borussia bin, ob man mich noch
hören kann oder mir noch folgen will.
„Ja“, hieß es stets. Es passte also –
auch für mich. Die Borussia war kein
Job für mich, das war eine Passion.
Bei der Sie sich verloren haben?
Als ich aus Argentinien zurückgekom-
men bin, habe ich mir professionelle
Hilfe genommen und professionell re-
flektiert. Ich habe mir Fragen stellen
lassen und mich auf sie eingelassen.
Diese psychische Reise war auf-
schlussreich, aber auch sehr schmerz-
haft und hart. Ich war mit mir beschäf-
tigt und kann offen sagen: Ich habe
auch viel geweint. Inzwischen bin ich
an einem Punkt, an dem ich Dinge viel
bewusster mache.
Wann kam die Lust auf Fußball zu-
rück?
Anfangs hatte ich tatsächlich Angst,
nie wieder Spaß am Fußball zu haben.
Fußball war immer das, was ich kann
und liebte. Im Frühjahr hatte ich dann
zum ersten Mal wieder Lust, ein Spiel
zu sehen. Ich habe mir irgendwo in der
Schweiz ein Drittligaspiel angeschaut
– Fußball in seinem Ursprung. Das war
gut. Ich habe dabei gemerkt, dass ich
den Fußball immer noch liebe.
Am 15. Dezember beginnen Sie bei
RB Leipzig.
Das war lange nicht absehbar. Im Au-
gust habe ich dann gespürt, wie mich
der Fußball wieder anfixt und wie
Kraft und Energie zurückkommen. Ich
habe gemerkt und erkannt, was mit
mir passiert ist und wie ich es künftig
haben, wie ich mich organisieren
möchte. Ich werde ganz bewusst ein
Team um mich herum haben, in dem
die Aufgaben verteilt sind, sodass sich
jeder mal zurücknehmen kann. Ich
halte mich jetzt noch ganz bewusst
raus. Ich weiß, wie es weitergeht für
mich, bin aber in der komfortablen Si-
tuation, noch Zeit zu haben, mich psy-
chisch, mental und strukturell auf den
neuen Job vorzubereiten.
Sind Sie sich bewusst, dass viele
Fans nicht verstehen, warum Sie für
RB arbeiten? Sie selbst haben einst
von einem „Konstrukt“ gesprochen
und „Wettbewerbsverzerrung“ an-
gemahnt.
Über dem Ganzen steht doch das Tra-
ditionsthema. Ich habe bei einem Tra-
ditionsverein gearbeitet und alles für
den Klub gegeben. Nun werde ich die
nächsten Jahre alles für einen anderen
Klub geben. Ich gehe den nächsten
Schritt im Leben. Ich habe immer
schon innovativ gearbeitet und bin
selbst bei einem Traditionsklub ande-
re, neue Wege gegangen.
Das war nicht die Frage.
Natürlich war diese Debatte in meinen
Gedanken ein Thema. Als ich mich da-
mit auseinandergesetzt habe, habe ich
gemerkt, wie wichtig es mir jahrelang
war, den Menschen zu gefallen – dass
die Fans und die Leute um mich he-
rum zufrieden sind mit dem, was ich
mache. Heute aber sage ich: Am Ende
gibt es nur einen, dem du wirklich Re-
chenschaft ablegen musst, und das
bist du selbst. Und ich habe einfach
Bock, für Leipzig zu arbeiten.
Das klingt fast so, als hätten Sie RB
damals nur kritisiert, um die Glad-
bacher Fans zufriedenzustellen?
Nein. Leipzig war ein Konkurrent von
uns, den ich bewusst angegangen bin –
wie andere Konkurrenten auch. Wenn
ich für jemanden arbeite, gebe ich al-
les für ihn. Ich habe immer darauf ver-
wiesen, dass wir für das, was wir in
Gladbach erreicht haben, hart und
lang arbeiten mussten. RB hat durch
das Geld von Red Bull eine großartige
Möglichkeit bekommen. Und ja: Ich
habe diese Zuwendungen kritisiert.
Aber es ist herausragend, was sie in
Leipzig damit gemacht haben. Es gibt
viele Traditionsklubs, die – mal abge-
sehen von den Bayern – im Vergleich
zu RB viele falsche Entscheidungen
getroffen haben. Und jetzt ist die Si-
tuation eben die, dass Max Eberl, der
mit der Borussia verwoben war, nach
einer intensiven und vielleicht der
spannendsten Zeit seines Lebens sich
bewusst entschieden hat, ganz oben in
der Bundesliga mitzuwirken.
Wie ist Ihr Verhältnis zur Borussia
aktuell?
Erlauben Sie mir, da etwas auszuho-
len. Dass ich keine Kraft mehr hatte
und merkte, den Job nicht mehr so
ausüben zu können, wie er es verdient,
darüber habe ich den Klub bereits im
September 2021 informiert. Es gab
dann viele offene Gespräche. Ich habe
gesagt, dass ich nicht mehr kann und
zum Ende des Jahres rauswill. Ich ha-
be angeboten, bei der Suche nach ei-
nem Nachfolger zu helfen, musste
dann aber vier Monate kämpfen, um
wirklich rauszukommen. Ich hatte den
Eindruck, als habe man nicht wirklich
verstanden, worum es mir geht – und
vor allem: Wie es mir geht. Es hieß, ich
solle mich ein paar Wochen rausneh-
men, ein bisschen Urlaub machen.
Aber wie sollte das gehen? Ich hatte ja
keine Vorstellung davon, wie lange ich
brauchen werde. Wissen Sie, was mich
dann wirklich hart getroffen hat?
Was?
Der Brief des Gladbacher Fanprojekts
(von Anfang September – d.R.). Die da-
rin geäußerte Enttäuschung darüber,
dass ich zu RB gehe, verstehe ich. Aber
nicht, dass mir Lügen und Theater-
spiel vorgeworfen wird – und dass der
Klub so etwas nicht umgehend zu-
rückweist. Im Verein wissen sie, wie es
mir gegangen ist und wie oft ich in Ge-
sprächen geweint und gesagt habe,
dass ich nicht mehr kann. Deshalb ent-
täuschte es mich sehr, dass Menschen,
mit denen ich 23 Jahren lang fast täg-
lich zusammengearbeitet habe, mir
nicht glauben. Das kann ich nicht ver-
stehen.
Verständlich.
Ich habe damals offen kommuniziert,
was mit mir los ist. Ich bin bis zum
Aus täglich ins Büro gefahren, aber es
war ein Kampf. Am Ende bin ich zu
meinem Vertrauensarzt gegangen, der
mich krankgeschrieben hat und sagte,
er habe bereits seit anderthalb Jahre
darauf gewartet, dass ich komme. Als
ich diese Krankschrift auf den Tisch
gelegt habe, ging alles ganz schnell.
Seither ist der Kontakt abgerissen.
Ja. Das hat mich anfangs verletzt, aber
es hat mir auch geholfen, damit abzu-
schließen. Ich habe jahrelang funktio-
niert, und als ich nicht mehr funktio-
niert habe, war es ganz schnell vorbei.
Sie klingen immer noch enttäuscht.
Dass unkommentiert stehen gelassen
und nicht eingeordnet wird, wenn man
mir in einem offenen Brief vorwirft,
ich würde Menschen mit Burnout oder
Depressionen diskreditieren, kann ich
nicht verstehen. Die Menschen, die so
etwas schreiben, sind das Problem.
Wie meinen Sie das?
Mit mir hat sich jemand zu Wort ge-
meldet, der psychisch angeschlagen,
der krank war – und ihm wird nicht ge-
glaubt. Das ist das Problem! Aber ich
merke, wenn ich darüber rede, wie viel
Kraft ich wieder habe – und dass es
mich nicht mehr so sehr anfasst. Ich
kann damit besser umgehen und bin
im Reinen mit mir. Wenn ich irgend-
wann wieder ins Gladbacher Stadion
komme, kann mir keiner nehmen, was
ich dort geleistet habe und was wir zu-
sammen erreicht haben. Ich kann dort
allen Menschen in die Augen schauen.
Ob sie es auch können, weiß ich nicht.
32 SPORT
NACHRICHTEN
FUSSBALL
Machbare Aufgaben
für DFB-Frauen
Die deutschen Nationalspielerin-
nen treffen in der Vorrunde der
WM 2023 in Australien und Neu-
seeland (20. Juli bis 20. August) auf
Kolumbien, Marokko und Südko-
rea. Das ergab die Auslosung am
Samstag. Mögliche Gegnerinnen im
Achtelfinale sind Frankreich und
Brasilien. Auf Titelverteidiger USA
kann Deutschland erst im Spiel um
Platz drei oder im Finale treffen.
Das Auftaktspiel trägt das Team
von Bundestrainerin Martina Voss-
Tecklenburg gegen Marokko am 24.
Juli in Melbourne aus.
Liverpool verliert
beim Aufsteiger
Jürgen Klopp und der FC Liverpool
haben in der englischen Premier
League einen erneuten Rückschlag
kassiert. Beim bisherigen Tabellen-
letzten Nottingham Forest verloren
die Reds 0:1 (0:0). Liverpool war im
Stadion City Ground über weite
Strecken die dominante Mann-
schaft und hatte mehr vom Spiel.
Zu gefährlichen Chancen kam die
Klopp-Elf beim Aufsteiger aller-
dings nur selten. Nottingham ließ
defensiv wenig zu und ging schließ-
lich in der 55. Minute durch Taiwo
Awoniyi in Führung. Awoniyi war
in der Sommerpause vom Bundes-
ligisten 1. FC Union Berlin für 20
Millionen Euro zu Nottingham
gewechselt. Von 2015 bis 2020 hatte
der Stürmer aus Nigeria beim FC
Liverpool unter Vertrag gestanden.
Dopingfall bei
deutschem Gegner
Nationaltrainer Luis Fernando
Suárez hat seinen Auswahlspieler
Orlando Galo von Deutschlands
WM-Gruppengegner Costa Rica
nach einem positiven Dopingtest
verteidigt und hofft auf eine
schnelle Klärung. Allerdings ist
fraglich, ob der 62 Jahre alte Ko-
lumbianer mit Galo bei der WM
planen kann. Bei einem Dopingtest
vom 21. September wurde einen
anaboles Steroid bei Galo entdeckt,
Galo wurde von der Fifa vorläufig
suspendiert.
SKI ALPIN
Weltcup-Auftakt in
Sölden abgesagt
Die alpine Ski-Saison beginnt mit
einer Absage. Der für diesen Sams-
tag geplante Riesenslalom der Da-
men in Sölden wurde wetterbe-
dingt gestrichen. In der Nacht hat-
te es Niederschläge gegeben, auch
am Samstagmorgen hielt der Regen
an. Zudem war es an der Strecke
sehr neblig. Heute ist der Riesen-
slalom der Herren geplant. Bis
dahin ist wieder besseres Wetter
angekündigt.
MOTORSPORT
Die Formel 1 plant
eigene Frauen-Serie
Die Formel 1 will offenbar eine
eigene Frauen-Rennserie ins Leben
rufen. Laut BBC und dem Fach-
portal motorsport.com soll es
schon 2023 losgehen. Demnach soll
es zwölf bis 15 Plätze für Fahre-
rinnen bereits ab 16 Jahren geben.
Der Wettbewerb soll jungen Fahre-
rinnen den Weg in Formel 3 und
Formel 2 ebnen.
EISHOCKEY
Grubauer fährt
zweiten Sieg ein
Der deutsche NHL-Torhüter Phi-
lipp Grubauer hat mit den Seattle
Kraken im sechsten Saisonspiel
den zweiten Erfolg eingefahren.
Seine Mannschaft setzte sich mit
3:2 bei den Colorado Avalanche
durch. Moritz Seider musste sich
hingegen mit den Detroit Red
Wings auswärts den Chicago Black-
hawks 3:4 nach Verlängerung ge-
schlagen geben.
EIN SCHMALER
D
ie Augen von Emma
Malewski weiten
sich, wenn sie auf ih-
ren größten Erfolg
angesprochen wird.
Die 18-Jährige ist
zwar längst wieder
in ihrem turnerischen Alltag angekom-
men, doch der Gedanke an den Moment,
als vor zwei Monaten bei den Europa-
meisterschaften in München ihr sensatio-
neller Triumph am Schwebebalken besie-
gelt war, löst bei ihr immer noch ein
Empfinden endloser Glückseligkeit aus.
„Wann immer ich an diesen Augenblick
denke oder darüber rede, werde ich sehr
emotional“, sagt Malewski im Gespräch
mit WELT AM SONNTAG. Das werde
noch eine Weile so bleiben, vermutet sie,
auch wenn sie inzwischen ihre volle Kon-
zentration auf die in der nächsten Woche
in Liverpool beginnenden Welttitelkämp-
fe ausgerichtet hat.
VON GUNNAR MEINHARDT
Dem Druck des unbedingten Siegen-
wollens möchte sich die Anführerin der
deutschen Frauenriege bei ihrem ers-
ten globalen Championat nicht ausset-
zen. Ihr Ziel klingt deshalb auch eher
bescheiden: „Ich möchte vor allem Er-
fahrungen sammeln. Wenn ich wieder
im Finale stehen würde, wäre ich schon
happy. Dass ich meine WM-Premiere
erleben darf, finde ich schon großar-
tig“, erzählt die für den TuS Chemnitz-
Altendorf aktive Hamburgerin, die in
der bayrischen Landeshauptstadt nicht
nur mit ihrem überraschenden EM-
Gold für reichlich Gesprächsstoff ge-
sorgt hatte. Nicht vergessend, wem sie
den Erfolg mit verdankt, hatte sie nach
ihrer Ehrung zum Unmut der Verant-
wortlichen des Deutschen Turner-Bun-
des (DTB) mit rührenden Worten ihrer
einstigen Trainerin Gabriele Frehse,
62, gedankt, die vom nationalen Ver-
band zur Persona non grata erklärt
U
worden ist.
numwunden gibt Malewski auch
jetzt zu verstehen: „Ohne Gabi
Frehse würde ich nicht dort ste-
hen, wo ich heute stehe. Sie hat den ent-
scheidenden Anteil an meiner Entwick-
lung.“ Das sage auch ihr jetziger Trainer
Anatol Ashurkov, 40, ein gebürtiger Weiß-
russe, der aus Norwegen kam.
Malewski zog als Zwölfjährige aus dem
hohen Norden in die sächsische Indus-
triestadt. Über ein halbes Jahrzehnt trai-
nierte sie am Olympiastützpunkt Sachsen
(OSP) unter Frehse, ehe 14 Turnerinnen
aus ihrer früheren Übungsgruppen und
zwei Kolleginnen im November 2020
schwere Vorwürfe gegen Frehses Arbeits-
weise erhoben. Sie beklagten sich über
psychische Gewalt, die Frehse jahrelang
angewandt haben soll, dass sie von ihr in
die Essstörung getrieben wurden, deren
Schmerzen ignoriert und Medikamenten-
missbrauch betrieben habe. Frehse be-
stritt die Anschuldigungen vehement,
Psychische Gewalt oder notwendige
Härte? Der Gerichtsstreit zwischen
Gabriele Frehse und dem Turnverband
überschattet den WM-Auftritt der
Deutschen. Erfolgreiche Athletinnen
unterstützen die geschasste Trainerin
Wer erturnt die 100. WM-Medaille für Deutschland?
Seit 1903 gab es 50 Weltmeister-
schaften im Geräteturnen. Zum
vierten Mal werden die Titelkämpfe
in Großbritannien ausgetragen.
Erstmals präsentiert sich Liverpool
als Gastgeberstadt. Einen Titelge-
winn konnten die deutschen Turner
auf der Insel bislang nicht feiern.
Mit Spannung wird erwartet, ob
insbesondere die Frauen ihren Hö-
henflug von den Europameister-
schaften vor zwei Monaten in Mün-
chen fortsetzen können. Die Gold-
medaillengewinnerinnen Emma
Malewski (Chemnitz/Schwebebal-
ken) und Elisabeth Seitz (Stuttgart/
Stufenbarren) wurden von Bundes-
trainer Gerben Wiersma ebenso
aber das juristische Scharmützel nahm
seinen Lauf.
Ihr formeller Arbeitgeber, der OSP in
Chemnitz, suspendierte Frehse nach
dem Aufschrei umgehend. Der Chemnit-
zer Oberbürgermeister Sven Schulze
(SPD) belegte sie sogar mit Hallenver-
bot. Und der fachlich zuständige DTB
forderte und begrüßte die Freistellung
seiner erfolgreichsten Trainerin. Zu-
gleich beauftragte er eine in Frankfurt/
Main ansässige Anwaltskanzlei zum Er-
stellen eines Gutachtens.
Aus dem Untersuchungsbericht bilan-
zierte der DTB im Januar 2021 in einer 13-
seitigen Stellungnahme, dass Frehse als
Trainerin nicht mehr tragbar sei, und
forderte deshalb die vollständige Been-
digung des Arbeitsverhältnisses. Der
Olympiastützpunkt lehnte jedoch die
Kündigung vorerst ab, weil der Prüfbe-
richt weder der Beschuldigten, die seit
über vier Jahrzehnten in ihrem Job tätig
war, noch ihm selbst in Gänze vorlag.
Als Frehse auch ein Vierteljahr später
noch immer keine lückenlose Einsicht-
nahme gewährt worden war, verklagte
ECKHARD HERHOLZ
nominiert wie die WM-Zweite am
Balken, Pauline Schäfer-Betz
(Chemnitz), Karina Schönmaier
(Buchholz) und Anna-Lena König
(Bodersweier).
Bei den Männern berief Chefcoach
Valeri Belenki den Olympiazweiten
Lukas Dauser (Unterhaching/Bar-
ren), die EM-Dritten Andreas Toba
(Haannover/Reck) und Nils Dunkel
(Halle/Pauschenpferd) sowie Lucas
Kochan (Cottbus) und Glenn Tre-
bing (Hannover). Auf das deutsche
Erfolgskonto kommen 99 WM-
Medaillen, davon 25 in Gold. Den
bislang letzten Titel holte Pauline
Schäfer vor fünf Jahren am Schwe-
bebalken. WS
sie den DTB, der ihr darauf ein derart
umfassend geschwärztes Dokument
übersandte, anhand dessen es unmöglich
war, Zusammenhänge oder gar Vorwürfe
nachzuvollziehen. Von den 223 Seiten
enthielten 172 Blätter Schwärzungen,
wobei etwa ein Drittel nahezu vollstän-
dig unlesbar war. Die nicht geschwärzten
Stellen bestanden im Wesentlichen aus
Ausführungen zur Methodik des Be-
richts und Äußerungen von Frehse, die
B
sie ohnehin kannte.
is heute wartet die erfahrene
Sportlehrerin auf die kompletten
Unterlagen. Dabei hatte sie sich
sogar an den hessischen Datenschutzbe-
auftragten gewandt. Dieser gab ihr recht
und wies den DTB an, die Unterlagen he-
rauszugeben und lediglich gewisse Äuße-
rungen der Turnerinnen zu anonymisie-
ren. „Ich möchte mich endlich mit den
Vorwürfen der Turnerinnen auseinan-
dersetzen, doch der DTB versucht das
offenbar zu verhindern. Ich frage mich,
was er zu verbergen hat und warum er
weite Teile des Untersuchungsberichts
* WELT AM SONNTAG
GRAT
Oben: Europameisterin Emma Malewski auf dem Schwebebalken.
Links: Erfolgreiches Trio – Anatol Ashurkov, Emma Malewski
und Gabriele Frehse (v. l.)
vor mir geheim halten möchte“, sagte
Frehse im Gespräch mit WELT AM
SONNTAG und äußerte großes Unver-
ständnis.
Merkwürdig ist auch, dass es bislang
weder DTB-Präsident Alfons Hölzl, ein
promovierter Arbeitsrechtler, noch ein
anderer Vertreter aus der hochrangigen
Funktionärsriege des zweitgrößten deut-
schen Sportverbandes für nötig gehalten
hat, mit Frehse ein Gespräch über die im
Raum stehenden Behauptungen zu füh-
ren – obwohl die Angeprangerte mehr-
mals darum gebeten hatte. Zumindest
die Ethikbeauftragten des DTB, die ehe-
malige Bundesjustizministerin Brigitte
Zypries, und des Deutschen Olympi-
schen Sportbundes (DOSB), Thomas de
Maizere, früherer Bundesinnenminister,
gingen auf Frehses Ersuchen inzwischen
ein. Bislang allerdings nur in Form einer
schriftlichen Bestätigung, sich ihres An-
liegens anzunehmen. Die Verbands-
mächtigen des DTB übten stattdessen ei-
nen derart starken Druck auf den Olym-
piastützpunkt aus, dass dieser schließ-
lich im Mai 2021 klein beigab und ohne
Angabe detaillierter Gründe eine soge-
nannte „Verdachtskündigung“ gegen
Frehse aussprach, womit sie endgültig
D
auf der Straße stand.
ie von ihr daraufhin gegen die
fristlose Entlassung eingereich-
te Klage wurde fünf Monate spä-
ter vom Arbeitsgericht zu ihren Gunsten
entschieden. In der Begründung hieß es
unter anderem, dass sich weder „hinrei-
chende Verdachtsmomente für eine
schwerwiegende Pflichtverletzung oder
gar Straftat bestätigt hätten, die Fakten-
lage zudem nicht ausreichend begründet
und zudem der Gesamtvorgang nicht mit
der gebotenen Eile behandelt worden
war, um ausreichend Schaden von der
betreffenden Person abzuwenden ...“
Das Urteil veranlasste den Oberbür-
germeister von Chemnitz, das Hallen-
verbot wieder aufzuheben. Der DTB in-
des drängte den Olympiastützpunkt zu
einem Berufungsverfahren. Der Ein-
spruch ist seit einem halben Jahr beim
Landesarbeitsgericht in Chemnitz an-
hängig. Mit einem Termin für die münd-
liche Verhandlung ist nach Auskunft des
Gerichtssprechers frühestens zum
Jahresende zu rechnen.
Frehse gibt zu, sicher nicht immer al-
les richtig gemacht zu haben. „Wer kann
das schon von sich behaupten?“, entgeg-
net sie, ohne damit irgendetwas zu ent-
schuldigen, was beim Ausüben ihrer
Trainerleidenschaft nicht korrekt gewe-
sen sei. Sie sagt: „Wenn man als Leis-
tungssportlerin etwas erreichen will,
muss man über Grenzen gehen. Ich habe
den Turnerinnen geholfen, ihren inne-
ren Schweinehund zu überwinden. Dass
bei dieser harten Arbeit der Ton manch-
mal nicht richtig war, passiert leider.
Sollte ich jemanden verletzt haben, tut
mir das unglaublich leid.“
Die weltweit geschätzte Sächsin ge-
hört wie Emma Malewski dem TuS
NR. 43 23. OKTOBER 2022
DEFODI IMAGES VIA GETTY IMAGES
Chemnitz-Altendorf an. Ungeachtet al-
ler Mutmaßungen und Schmähungen
standen die dortigen Trainerkollegen,
die aktuellen Kaderturnerinnen und de-
ren Eltern von Beginn an hinter Frehse.
Mehrmals wurden von ihnen State-
ments und Forderungen an die Verant-
wortungsträger mit der Bitte um Freh-
ses Rückkehr veröffentlicht und ver-
schickt. Der Verein gab ihr die Möglich-
keit, die Turnerinnen ehrenamtlich als
Übungsleiterin weiter zu betreuen. Die
drei Topathletinnen Sophie Scheder,
Olympiadritte am Stufenbarren, Lisa
Zimmermann, deutsche Meisterin am
Boden, und Emma Malewski starteten
im Internet eine Spendenaktion, um
Frehse als Trainerin bezahlen zu kön-
nen. Binnen weniger Tage kamen mehr
Z
als 31.000 Euro zusammen.
u den prominenten Geldgebern
gehörte auch Wolfgang Hambü-
chen, der aus seinem Sohn Fabian
einen Olympiasieger und Weltmeister
geformt hat. Der Trainervater stärkte
Frehse den Rücken und forderte „das
Präsidium des DTB, den Sportdirektor
und die Cheftrainerin wegen kollektiver
Unfähigkeit zum sofortigen Rücktritt
auf“. Nur so könne weiterer Schaden von
der „wunderschönen Sportart Kunsttur-
nen“ abgewendet werden.
Derweil trat im Februar Gerben
Wiersma, 45, sein Amt als Bundestrainer
der Frauen an. Der Niederländer war im
Jahr zuvor als Auswahlcoach seines Hei-
matlandes zurückgetreten, nachdem es
gegen ihn Ermittlungen wegen körperli-
cher und emotionaler Misshandlungen
von Turnerinnen gegeben hatte. Ein hal-
bes Jahr nach seiner Demission wurde er
in einem Berufungsverfahren von der
niederländischen Sportrechtsprechung
wegen „grenzüberschreitenden Verhal-
tens“ schuldig gesprochen, blieb aber
straffrei, da die Taten zu lange zurücklä-
gen. Die Aufarbeitung habe ergeben,
dass Wiersma „in den Jahren 2010 und
2011 in begrenzten Fällen gegen die Dis-
ziplinarordnung des Verbandes versto-
ßen habe“, lautet die offizielle mildernde
Darstellung des DTB.
Frehse kennt Wiersma als „guten
Trainer und angenehmen Kollegen und
möchte nichts gegen ihn als Mensch sa-
gen. Ich verwahre mich aber gegen die
Zweiklassen-Moral des DTB“, betont sie.
Rechtlich dürfte sie wieder am Bundes-
stützpunkt agieren, an dem sie seit dem
Mauerfall über 200 Turnerinnen ge-
schult hat. Solange es jedoch keine end-
gültige juristische Klärung gibt, werde
sie dorthin nicht zurückkehren. „Ich
möchte die Mädchen und auch mich
schützen und die jungen Trainer in Ruhe
arbeiten lassen“, begründet Frehse ihre
Distanziertheit. Sie werde vermisst, sagt
Malewski. Über eine eventuelle zweite
Zukunft mit Frehse wolle sie sich derzeit
aber nicht den Kopf zerbrechen. Mit
Anatol Ashurkov verstehe sie sich auch
gut. Außerdem gilt es für sie jetzt erst
einmal, beim WM-Debüt zu bestehen.
FINANZEN & IMMOBILIEN
I
WELT AM SONNTAG NR. 43
In Deutschland ist Atomkraft ein Aus-
laufmodell: Die drei verbliebenen AKWs
sind noch bis Mitte April in Betrieb,
doch dann soll nach aktueller Be-
schlusslage endgültig Feierabend sein.
Ganz anders sehen das dagegen viele In-
vestoren: Sie steigen in die Kernkraft
ein. „Wir sehen einen konstanten An-
stieg des Anlegerinteresses in Nuklear-
energie“, sagt etwa Candace Browning,
Chefanalyst bei der Bank of America.
VON FRANK STOCKER
Eine Branche, um die viele Anleger
lange einen großen Bogen gemacht ha-
ben, erlebt ein Revival. So geht es nicht
nur der Atomenergie, das betrifft fast
alle Sektoren, die als nicht nachhaltig
oder sogar unethisch gelten: Öl- und
Kohleförderer, Rüstungskonzerne,
Glücksspielanbieter, Tabak- oder Alko-
holhersteller. Ihre Aktien haben in die-
sem Jahr den Gesamtmarkt weit hinter
sich gelassen. Doch Grund dafür ist
nicht eine neue Freude an der Sünde.
Vielmehr wandelt sich das Bild dessen,
was gut und was böse ist. Zudem verlie-
ren offenbar viele Sparer den Glauben
daran, dass sie durch nachhaltiges oder
ethisch korrektes Investieren Einfluss
auf den Lauf der Welt haben. Hinzu
kommt, dass vermeintlich unethische
Anlagen auf lange Sicht besonders ein-
träglich sind.
Mehr als 20 Prozent hat der MSCI
World Index, der das Börsengeschehen
in den Industrieländern abbildet, in den
vergangenen zwölf Monaten verloren.
Der MSCI World Energy Index, in dem
von Öl und Gas bis Kohle alles enthal-
ten ist, was dem Trend zum Klima-
schutz widerspricht, hat dagegen rund
29 Prozent zugelegt. Der AKW-Betrei-
ber Constellation Energy verzeichnete
sogar einen Aufschlag von fast 50 Pro-
zent. Northrop Grumman, einer der
großen US-Rüstungskonzerne, legte
mehr als 40 Prozent zu, Konkurrent
Raytheon immerhin knapp zehn Pro-
zent. Auch Glücksspielanbieter wie Ga-
laxy Entertainment oder DraftKings
bringen es auf ein Plus von rund 30 be-
ziehungsweise 20 Prozent, die Tabak-
hersteller Altria und Philipp Morris auf
Z
zwölf beziehungsweise vier Prozent.
u sündigen lohnt sich offenbar.
Das beste Beispiel sind Invest-
ments in Waffenhersteller. Sie
galten noch vor einem Jahr für viele
Sparer als völlig ausgeschlossen. Doch
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dann überfiel Russland die Ukraine.
Nicht nur die deutsche Politik änderte
ihre Haltung und liefert nun plötzlich
Waffen in ein Kriegsgebiet. Auch die In-
vestoren dachten um, trieben die Aktien
auf neue Höhen. Hans Christoph Atzpo-
dien, Hauptgeschäftsführer des Bundes-
verbands der Deutschen Sicherheits-
und Verteidigungsindustrie (BDSV),
forderte sogar, die Rüstungsindustrie
als „nachhaltig“ zu klassifizieren. „Die
Invasion in der Ukraine zeigt, wie wich-
tig eine starke Landesverteidigung ist“,
begründete er das. Eine Argumentation,
die vor Jahresfrist noch für Belustigung
23. OKTOBER 2022 SEITE 33
Manchmal auch ein Spieler: Geheimagent James Bond, hier dargestellt von Sean Connery im Film „Dr. No“ aus dem Jahr 1962
gesorgt hätte, inzwischen aber durch-
aus Verständnis findet.
Die Atomenergie hat es bereits ge-
schafft: Sie hat das Gütesiegel der
EU-Taxonomie, die Nachhaltigkeit defi-
nieren will, vor einigen Monaten erhal-
ten, vor allem auf Betreiben Frank-
reichs. In den meisten anderen
EU-Staaten – mit Ausnahme von
Deutschland – ist die Kritik daran allen-
falls verhalten. „Es gibt noch einige In-
vestoren, die sich etwas unwohl dabei
fühlen, in Atomenergie zu investieren“,
sagt Analyst Browning. „Aber diese
Gruppe wird kleiner.“
Die Definition von Nachhaltigkeit
verändert sich offenbar, und das ist
nicht neu. „Der Begriff der Nachhaltig-
keit hat in seiner Geschichte mehrere
Neuausrichtungen durchlaufen“, sagt
Gertrud Traud, Chefvolkswirtin der
Landesbank Hessen-Thüringen. Ur-
sprünglich kam der Ausdruck aus der
Forstwirtschaft, in den 70er-Jahren be-
zog er sich allgemein auf Ressourcen-
schonung. In den 80er- und 90er-Jah-
ren, mit der Ausweitung des globalen
Handels und dem Fall der Mauer, wan-
delte sich das Bild. „Nachhaltigkeit ging
dann insbesondere in Europa mit einem
Rückgang der Militärausgaben einher“,
sagt Traud. Noch später wurde der Slo-
gan „Global denken, lokal handeln“ zum
Ausdruck nachhaltigen Wirtschaftens.
Was das ist, lässt sich daher nicht ein-
deutig beantworten, auch wenn die EU
Online-Apotheken: Arznei direkt nach Hause – das ist zu beachten
Atomenergie, Glücksspiel, Tabak, Alkohol,
Rüstung – vermeintlich unethische Aktien schlagen
in diesem Jahr alle anderen. Das ist kein Zufall
versucht, die Frage der Nachhaltigkeit
in ein gigantisches Klassifizierungssys-
tem zu pressen. Völlig konfus wird es,
wenn sich der Begriff mit ethischen Fra-
gen vermischt. Ist Cannabis eine Droge
oder ein Heilmittel? Kann man noch in
klimaschädliche Fluggesellschaften in-
vestieren, zumal, wenn man selbst
zweimal pro Jahr in den Urlaub fliegt?
Und wie steht es um Alkohol- oder Ta-
bakhersteller, wenn man gleichzeitig
A
selbst deren Produkte konsumiert?
ll dies zeigt: Wer anfängt, Moral
und Weltanschauung in den In-
vestmentprozess einzubeziehen,
schaut in ein Fass ohne Boden. Vor al-
lem aber bringt dieses Vorgehen nichts:
Zahlreiche Untersuchungen haben in
den vergangenen Jahren gezeigt, dass
Investieren nach dem Ausschlussprin-
zip keinerlei Veränderungen in der
Wirtschaft herbeiführt. So stellt das
Leibniz-Institut für Finanzmarktfor-
schung klar fest: „Die Zusammenstel-
lung von grünen Aktientiteln, also von
Firmen, die ökologisch verantwortlich
wirtschaften, führt allein noch nicht zu
einer tatsächlichen Veränderung der
Produktion.“ Das Gleiche gilt für das
Investieren nach ethischen Kriterien.
Wer selbst keine „Problempapiere“ be-
sitzt, kann sich zwar moralisch „sauber“
fühlen. Veränderungen bei dem Unter-
nehmen wird er so aber nicht anstoßen,
denn der Firma wird auf diese Weise ja
kein Kapital entzogen. Die Aktien hält
einfach nur ein anderer.
Dieser kann sich darüber meist freu-
en. Denn die vermeintlich sündigen Pa-
piere haben nicht nur in den vergange-
nen Monaten besser abgeschnitten als
der breite Markt. Vielmehr gilt das auch
auf lange Sicht. Analysten der Crédit
Suisse haben die Wertentwicklung von
Sektoren an den US-Börsen zwischen
1900 und 2020 untersucht. Aus einem
Dollar, den ein Amerikaner im Jahr 1900
investiert hat, wurden bis 2020 im
Schnitt 58.191 Dollar. Hatte er den Dol-
lar jedoch nur in der Tabakbranche an-
gelegt, wurden daraus acht Millionen
Dollar. Zweitbester Sektor war die
Alkoholbranche.
Kann denn
RENDITE
Sünde sein?
D
er US-Ökonom Frank J. Fabozzi
hatte 2008 sogar die Wertent-
wicklung verschiedener Sekto-
ren in 21 Ländern analysiert. Seine Er-
gebnisse waren ganz ähnlich: Im unter-
suchten Zeitraum von 1970 bis 2007 lag
Glücksspiel ganz vorn, gefolgt von Rüs-
tung, Tabak und Pornografie. Diese
überdurchschnittliche Wertentwick-
lung der „sündigen“ Aktien galt für 19
der 21 Märkte.
Als Gründe führen die Wissenschaft-
ler einerseits an, dass die Märkte, in
denen die Unternehmen agieren, oft
hochgradig reguliert sind und es da-
durch hohe Eintrittsbarrieren sowie
wenig Konkurrenz gibt. Die Firmen
machen daher hohe Gewinne. Gleich-
zeitig ziehen sie weniger Anleger an,
sodass die Aktien oft billig eingekauft
werden können.
Ein Fondsanbieter hat daher aus der
Sünde sogar ein Geschäftsmodell ge-
macht. Der sogenannte Vice Fund
(„Fonds der Untugenden“) der US-In-
vestmentgesellschaft USA Mutuals in-
S. 34
GELD AM
SONNTAG
VON FRANK STOCKER
Verschleierte
Werte
A
n Kryptowährungen scheiden
sich bekanntlich die Geister.
Für die einen sind sie die Ba-
sis für eine Revolution des Geldwe-
sens, für die anderen eine unnütze
Spielerei für Spekulanten. Jetzt gibt
es jedoch eine Variante in dieser Pa-
rallelwelt, die beim Beobachter für
zusätzliches Kopfzerbrechen sorgt:
Caizcoin, die erste islamkonforme
Kryptowährung. In Frankfurt er-
blickte sie gerade das Licht der Welt.
Fragen drängen sich auf: Kann
man mit dieser virtuellen Währung
auch Schweinefleisch bezahlen?
Wird ihr Wert verschleiert? Geht es
um nüchterne Zahlen? Oder was
zeichnet islamkonforme Token aus?
Offiziell garantiert Caizcoin, dass
die internen Prozesse und der Ein-
satz der Kryptowährung mit islami-
schen Prinzipien vereinbar sind.
Und um das auch nach außen zu be-
legen, unterstützt Caizcoin Kinder
im Gazastreifen, Waisen in Pakistan
und andere Bedürftige, beispielswei-
se den Fußball-Klub Hertha BSC
über Bandenwerbung oder aber den
Euro. Besser gesagt: Das Euro-Zei-
chen vor der Europäischen Zentral-
bank in Frankfurt, das durch eine
Million von Caizcoin vor dem Abriss
gerettet wurde.
Vor zehn Tagen startete der Han-
del mit den virtuellen Münzen auf
fünf großen globalen Kryptobörsen.
Was jedoch etwas überrascht, ist die
Tatsache, dass der Vorverkauf be-
reits elf Monate zuvor begonnen hat-
te, und zwar am 11. November, pünkt-
lich um 11.11 Uhr – zum Start der Kar-
nevalssaison. Ist also doch alles nur
ein großer Gag?
GETTY IMAGES/MGM STUDIOS
Deutsche Bank
kündigt vielen
Junior-Bankern
vestiert ausschließlich in die verpönten Mitarbeiter in London und
New York müssen gehen
Aktien. Die Performance dieses Spezial-
D
fonds ist allerdings ambivalent. Für die
vergangenen zwölf Monate steht ein
Minus von rund 7,6 Prozent in den Bü- ie Deutsche Bank entlässt
chern – deutlich besser als der Gesamt- Dutzende Mitarbeiter aus
markt immerhin. In den vier Jahren von dem Emissions- und Bera-
2018 bis 2021 blieb er dagegen teilweise tungsgeschäft im Investmentban-
deutlich hinter der allgemeinen Börsen- king in London und New York. Das
entwicklung zurück. Seit 2002 lag er berichten mehrere Nachrichten-
zwölfmal vorn und neunmal hinten. agenturen übereinstimmend. Das In-
In Deutschland ist der Fonds übli- stitut baut demnach wegen des
cherweise nicht zu erwerben, Anlegern schwachen Geschäfts mit Übernah-
bleibt daher vor allem die Investition in men und Fusionen (M&A) Personal
Einzelaktien, wenn sie auf den Hang zur ab. Der Mitarbeiterabbau entspreche
Sünde setzen wollen. Sie können sich den Bemühungen der vergangenen
aber auch einfach dafür entscheiden, Jahre, die Kosten im Zaum zu halten,
nicht bei dem Trend zu vermeintlich hieß es in den Berichten.
nachhaltigem und ethischem Investie- Die ersten Stellenstreichungen in
ren mitzumachen. Dieser bringt wenig diesem Zusammenhang betrafen In-
und kostet Rendite. Sparer sollten viel- vestmentbanker in New York, die
mehr die ganze Bandbreite der Investi- den Agenturen zufolge am Mittwoch
tionsmöglichkeiten nutzen und keine über die Entscheidungen informiert
Branche ausschließen. Aus Anlegersicht worden seien. Es seien vor allem Ju-
gibt es keine bösen oder sündigen Un- nior-Banker, die ihren Job verloren
ternehmen – nur schlechte. hätten, sowie eine Handvoll leiten-
der Angestellter. So trennt sich die
Bank unter anderen von Mason Par-
ker, einem Managing Director im Be-
reich Leveraged Finance. Laut sei-
nem LinkedIn-Profil war er mehr als
20 Jahre für die Bank tätig.
Ein Sprecher der Deutschen Bank
wollte die Berichte nicht kommen-
tieren. Nach einem Rekordjahr von
M&A-Deals 2021 brachen die diesjäh-
rigen Provisionen im Investment-
banking aufgrund der schwachen
Konjunktur drastisch ein. Im Sep-
tember hatte die führende US-In-
vestmentbank Goldman Sachs Stel-
lenstreichungen angekündigt.
In Deutschland hatte die Deutsche
Bank in dieser Woche mit anderen
Problemen zu kämpfen: Die Staats-
anwaltschaft Köln durchsuchte die
Zentrale des Instituts in Frankfurt
und auch die Wohnung des ehemali-
gen Co-Vorstandsvorsitzenden Jür-
gen Fitschen. Die Behörde ermittelt
seit Jahren wegen der umstrittenen
Cum-Ex-Transaktionen und hat vie-
le der weltweit mächtigsten Finanz-
unternehmen im Visier. rtr/blo
34 FINANZEN

G
WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022

Medikamente
Stadtflucht in anze 18 Jahre hat es gedauert,
jetzt wurden die ersten ausge-
stellt: sogenannte E-Rezepte.
Deutschland Wenn der Arzt ein Medikament
verschreibt, bekommt der Pa-
nimmt zu tient zwar immer noch einen

auf einen Klick

Zettel ausgedruckt. Seit weni-
gen Wochen können Mediziner in manchen Regio-
Hauptgrund ist zu wenig nen aber auch Barcodes ausgeben. Wird die Punkt-
bezahlbarer Wohnraum
Strich-Kombination eingescannt, erhalten etwa

D
Apotheker Informationen zur benötigten Arznei.

ie Metropolen in Deutsch- VON LAURIN MEYER

land verlieren laut einer Stu-
die zunehmend Menschen
an das Umland. Profitierten die
Großstädte einst von einem Zu-
strom, hat sich der Trend zur Stadt-
flucht in den vergangenen Jahren
verstärkt. Das zeigt eine Auswertung
der Datenanalysefirma Empirica Re-
Was selbstverständlich klingt, ist für die Gesund-
heitswirtschaft ein Meilenstein – sie tut sich mit der
Digitalisierung seit jeher schwer. Das E-Rezept
könnte vor allem Online-Apotheken neuen Zulauf
bringen. Bei ihnen können Versicherte so verschrei- Corona hat den Online-Apotheken
großen Zulauf gebracht. Die Bestellung
bungspflichtige Medikamente mit wenigen Klicks
im Internet bestellen. Wer vorher beim Versandhan-

von Arznei übers Internet ist praktisch,

gio für Berlin, Hamburg, München, del orderte, musste die ärztliche Verordnung bislang
Köln, Frankfurt am Main, Düsseldorf per Post einschicken. Umständlicher also, als kurz

doch Kunden sollten einiges beachten

und Stuttgart. Wanderten 2018 un-
term Strich mehr als 47.000 Men-
schen aus den sieben größten deut-
schen Städten in direkt angrenzende
Landkreise oder kreisfreie Städte ab,
waren es 2021 rund 56.600. Beson-
ders aus Berlin (17.249), Hamburg
(11.145), Köln (7894) und Frankfurt
(6653) zog es demnach im Saldo viele
Menschen ins Umland.
Zwischen 2010 und 2013 waren die
Metropolen laut Empirica Regio noch
stark gewachsen. Doch seit 2018 habe
sich der Trend zur Abwanderung ins
Umland verstärkt. Für die Untersu-
chung hat die Firma Daten des Statis-
tischen Bundesamts analysiert.
Hauptgrund: Es gebe in den Metropo-
len zu wenig bezahlbaren Wohnraum.
Immer mehr Menschen seien bereit,
längere Fahrzeiten in die Städte auf
sich zu nehmen – auch Landkreise in
einer Entfernung von einer Stunde
und mehr profitierten davon, sagte
Jan Grade, Geschäftsführer von Em-
pirica Regio. Für Metropolen habe
das Folgen. „Insbesondere die Ab-
wanderung von Familien muss den
Städten Sorgen bereiten, da diese fi-
nanziell meist gut aufgestellt sind
und eine Stadt beleben.“
Den Umlandgemeinden wiederum
bringe die Stadtflucht neben Chancen
auch „Wachstumsschmerzen“, sagte
Grade: immer mehr Verkehr und Be-
darf an Bauland. Zudem müssten sie
das Angebot an Kitas und Schulen
stärken sowie den öffentlichen Nah-
verkehr und die Energieversorgung
ausbauen. In teuren Städten wie
Frankfurt und München ziehe es Zu-
wanderer aus dem übrigen Bundesge-
biet oft nicht mehr ins Zentrum, son-
dern direkt ins Umland.
Die Wanderungen bedeuten aber
nicht, dass alle Metropolen zwingend
schrumpfen. Zum einen hängt das
auch von der Zahl der Todesfälle und
Geburten innerhalb der Städte ab.
Und zum anderen gewinnen viele Me-
tropolen unterm Strich Einwohner
aus dem übrigen Bundesgebiet oder
aus dem Ausland. Bei der internatio-
nalen Zuwanderung etwa liegen Em-
pirica Regio zufolge Berlin (25.482)
und Hamburg (9255) vorne. dpa
ANZEIGE
in die Apotheke nach nebenan zu gehen.
Zwar laufe die Umsetzung derzeit noch schlep-
pend, beklagt Udo Son-
nenberg, Geschäftsfüh-
rer des Bundesverbands
Deutscher Versandapo-
theken (BVDVA). Es ge-
be Software-Probleme
in Arztpraxen, bislang Angebot und Beratung
nur eine wirkliche Test-
region und keine einfa- Zumindest beim Angebot sind
chen Übertragungswe- die Online-Apotheken mitt-
ge. Man sei aber opti- lerweile zur echten Alternative
mistisch, dass mittel- geworden. Nahezu alle gängi-
und langfristig das elek- gen Präparate der bekannten
tronische Rezept und Hersteller finden sich in den
dessen einfache Einlö- Sortimenten. Die Kunden
sung den Arzneimittel- können zudem das gesamte
Versand steigern werde. Angebot per Klick einsehen –
Die Internet-Händler anders als in den Vor-Ort-
werden allerdings schon Apotheken. Daneben sind die
jetzt von Millionen Ver- Versandapotheken auch zur
brauchern in Deutsch- Beratung verpflichtet. In der
land genutzt, weiß Sabi- Regel bieten sie hierfür Hotli-
ne Wolter, Gesundheits- nes und Auskünfte per E-Mail
expertin der Verbrau- an. Mit der Leistung der An-
cherzentrale Nordrhein- bieter zeigte sich die Stiftung
Westfalen. „Für viele Warentest zuletzt jedoch
allenfalls nur zufrieden, zwei
Unternehmen bekamen gar
das Testurteil „mangelhaft“.
Insgesamt seien die aufge-
deckten Schwächen bei der
Beratung bedenklich, schrei-
Menschen ist es sehr unkompliziert, in einer Online- ben die Tester. Denn wer schlecht informiert werde, bekomme
Apotheke zu bestellen.“ Schließlich lasse sich der womöglich die falsche Therapie. Eine notwendige Beratung
Weg in die Vor-Ort-Apotheke sparen. Nach Angaben können manche Anbieter demnach nicht ersetzen. Der Versand-
der Verbraucherzentrale haben 41 Prozent der Deut- apothekenverband BVDVA widerspricht und verweist auf eine
schen während der Corona-Pandemie mindestens hohe Kundenzufriedenheit. Die komme unter anderem daher,
einmal rezeptfreie Medikamente im Internet be- dass Internet-Apotheken „mehr spezialisiertes Personal für
stellt, ohne vorher zum Arzt zu gehen. Experten die Bearbeitung von Kundenfragen zur Verfügung“ hätten, wie
schätzen, dass der Marktanteil der Online-Apothe- der Verband erklärt. Verbraucherschützern stößt allerdings
ken bei rezeptfreien Arzneimitteln mittlerweile bei noch etwas anderes auf: Neben neutralen Informationen gebe
mehr als 20 Prozent liegt. Sind die Anbieter in es bei einigen bekannten Versandapotheken viel Produktwer-
Deutschland zugelassen, sei der Einkauf dort auch bung. Und auch Kundenbewertungen sollten Verbraucher nur
sicher. „Verbraucher können bei einer Versandapo- mit großer Vorsicht heranziehen. „Bei Versandapotheken gab es
theke genauso einkaufen wie bei einer deutschen Fälle, wo homöopathische Arzneimittel in Kundenrezensionen
Vor-Ort-Apotheke“, sagt Wolter. mit Wirkungen beworben wurden, die nicht belegt sind“, hat die
Neben der bequemen Zustellung nach Hause lo- Verbraucherzentrale NRW in einer Untersuchung festgestellt.
cken die Händler vor allem mit günstigen Preisen.
Wer vergleicht, kann pro Medikament mehrere Euro
sparen. Doch Online-Käufer müssten auch Abstri-
che machen, meinen Experten, etwa bei der Bera-
tung. Und auch über die eigene Gesundheit sollten
die Kunden besser Bescheid wissen. Ein Überblick, Preise und Kosten Versand
was bei Versandapotheken zu beachten ist.
In den Vor-Ort-Apotheken sind sie unterschieden sich die Preise zwischen Es ist der große Vorteil der Online-
meist eine Überraschung: die Kosten. den Apotheken im Netz pro Arznei- Apotheken: Statt die Medikamente
Nicht nur, weil viele Medikamente teu- mittel oft um mehrere Euro. Am güns- abholen zu müssen, bekommen die
rer sind als gedacht. Es hängen in der tigsten war laut Stiftung Warentest Kunden sie nach Hause geliefert. Die
Regel auch keine Preisschilder an den „Medikamente-per-Klick“ – im Ge- meisten Anbieter setzen dabei auf die
Regalen. Bei den Versandapotheken samtest schnitt der Anbieter allerdings bekannten Paketdienste wie Hermes
lassen sich die Kosten hingegen mit mit der Note mangelhaft ab. Mitt- und DHL. Damit kommen die Arzneien
wenigen Klicks einsehen. Hinzu lerweile bieten auch spezielle Ver- mit den üblichen Paketlaufzeiten von
kommt: „Im Internet locken die Ver- gleichsportale einen Überblick über die wenigen Werktagen beim Verbraucher
sandunternehmen mit oft günstigeren Preise der Versandapotheken an. Dazu an. Gekühlte Medikamente werden in
Preisen als in der Vor-Ort-Apotheke“, gehören Medipreis.de oder Medizin- der Regel von einem Spezialdienst-
erklärt die Verbraucherzentrale Nord- fuchs.de. Doch die Schnäppchensuche leister gebracht. Manche Online-Apo-
rhein-Westfalen auf ihrer Internetseite. hat Grenzen – nämlich bei verschrei- theken bieten darüber hinaus einen
Das gilt zumindest für rezeptfreie Me- bungspflichtigen Medikamenten. Eine Expressversand am selben Tag oder
dikamente. Denn diese unterliegen in Gesetzesänderung hat vor einigen Jah- spätestens am Folgetag der Bestellung
ILLUSTRATION: WELT AM SONNTAG / BARBARA KRÄMER

Deutschland keiner Preisbindung. Die
Stiftung Warentest hat im Frühjahr die
Unterschiede zwischen den On-
linehändlern und den Vor-Ort-Apo-
theken verglichen. Das Ergebnis: Zwi-
schen dem Listenpreis und dem güns-
tigsten Angebot der Versandapotheken
lagen bei einer Sammelbestellung von
vier beliebten Medikamenten ganze 39
Prozent. Doch auch unter den Online-
Anbietern lohnt sich der Vergleich. So
ren dazu geführt, dass Online-Apo-
theken aus dem EU-Ausland keine Ra-
batte mehr auf Rezepte geben dürfen.
Sie müssen sich an die Spannen halten,
die in der Arzneimittelpreisverordnung
festgeschrieben sind. Ob sich die güns-
tigeren Preise im Netz aber am Ende
auszahlen, hängt von einem Punkt ab,
den es nur online gibt: den Versand-
kosten. Wer Preise vergleicht, sollte die
Lieferkosten also einbeziehen.
an, so etwa Shop-Apotheke. Damit die
Lieferung kostenlos ist, müssen Kunden
meist einen bestimmten Bestellwert
überschreiten. Bei DocMorris sind es
knapp 25 Euro, bei Apotal zehn Euro.
Lediglich die Medikamente auf Rezept
werden weitgehend gratis verschickt.
Allerdings: Auch das kostenlose Ab-
holen ist gelegentlich möglich. So ar-
beiten manche Anbieter etwa mit Su-
permärkten zusammen.

Sicherheit und Datenschutz

Es sind mittlerweile Dutzende Internet-
seiten, auf denen Arzneimittel angebo-
ten werden – und das nicht immer legal.
Um einen seriösen Anbieter zu erken-
nen, sollten sich Verbraucher zunächst
am europaweit einheitlichen Sicher-
heitslogo für Versandapotheken orien-
tieren. Es ist ein weißes Kreuz auf grü-
nem Grund. Daneben müssen die Un-
ternehmen im offiziellen Versandhan-
delsregister gelistet sein, das im In-
ternet einsehbar ist. Beim Preisgeben
sensibler Daten dürften viele Kunden
allerdings auch bei seriösen Anbietern
ein mulmiges Gefühl haben. Ein ak-
tueller Test des Datenschutzportals
mobilsicher.de zeigt: Manche Anbieter
behalten diese Informationen nicht für
sich. Drei von fünf analysierten
Smartphone-Apps hätten demnach
sämtliche Suchabfragen an andere
Unternehmen weitergegeben. Auch
übermittelten sie Namen, Kontaktdaten
und Angaben zum Wohnort. Verbrau-
cher sollten daher die Datenschutz-
bedingungen prüfen. Und zudem ihre
Gesundheit im Blick behalten. Experten
der Stiftung Warentest orderten bei elf
Versandapotheken zwei Mittel gegen
Sodbrennen. Wer sie parallel schlucke,
riskiere eine Überdosierung, warnen die
Tester. „Wir hätten erwartet, dass die
Versender das Problem erkennen und
lösen.“ Doch nur ein Anbieter habe an-
gemessen reagiert. Stießen die Ver-
braucher bei der Selbstmedikation im
Netz direkt auf zuverlässige Informati-
onsquellen wie Webseiten von Behörden
oder wissenschaftlichen Einrichtungen,
wäre das Ganze weniger problematisch,
meint Gesa Schölgens, Gesundheits-
expertin bei der Verbraucherzentrale
NRW. Aber solche Quellen würden deut-
lich seltener genutzt als die Versand-
apotheken oder Internetforen.
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
GROSSE GRAFIK ARBEITSMARKT
Die Lücken
werden größer
I
nflation, Krieg, Energiekrise, Rezes-
sionsgefahr – doch der deutsche Ar-
beitsmarkt hält all dem bislang
stand. Arbeitskräfte werden sogar
händeringend gesucht. Annähernd zwei
Millionen Stellen sind laut dem Institut
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
(IAB) derzeit offen, Tendenz steigend.
Für die Bürger hat das Folgen: Auf einge-
schränkten Service in den Behörden,
längere Wartezeiten für Handwerker
und bei der ärztlichen Versorgung müss-
ten sich die Deutschen schon bald ein-
stellen, warnt Arbeitsmarktexperte Hol-
ger Schäfer vom Institut der Deutschen
Wirtschaft. Nach Berechnungen der Un-
ternehmensberatung Boston Consulting
Group kostet der Mangel das Land zu-
dem jährlich 86 Milliarden Euro an ver-
lorener Wirtschaftsleistung.
Das Ifo-Institut für Wirtschaftsfor-
schung stellt zwar bei einigen Firmen
fest, dass sie zurückhaltender einstellen.
Dennoch: Hält der Trend an, könnte es
bald mehr offene Stellen als Arbeitslose
geben. Die hohe Nachfrage nach Mitar-
beitern sorgt auch dafür, dass die Zahl
der Arbeitslosen wohl trotz der bevor-
stehenden Rezession nicht stark zuneh-
men wird – anders als das bei vorherigen
Wirtschaftskrisen der Fall war. Einer
Prognose des IAB zufolge steigt sie 2023
voraussichtlich um 2,3 Prozent auf rund
2,47 Millionen. Grundlage für die Be-
rechnung ist die Annahme, dass das
Bruttoinlandsprodukt im kommenden
Jahr um 0,4 Prozent schrumpfen wird.
Damit diese Quote nicht stark nach
oben schnellt, hat Bundesarbeitsminis-
ter Hubertus Heil (SPD) klargemacht,
dass die Kurzarbeit weiter Bestandteil
der Krisenbekämpfung sein soll. Waren
zu Lockdown-Zeiten im Jahr 2020 zeit-
weise bis zu sechs Millionen Menschen
in Kurzarbeit, sind es derzeit noch etwa
44.000. Zum Vergleich: In der Finanz-
krise 2009 lag der höchste Wert bei 1,14
NR. 43 * FINANZEN 35
Millionen. Die führenden Wirtschafts-
forschungsinstitute gehen davon aus,
dass die Kurzarbeiterzahlen im Winter
wieder steigen werden. Denn die Anfor-
derungen sind gering: Bereits ab einem
Arbeitsausfall von zehn Prozent können
Unternehmen Kurzarbeit beantragen.
Im Durchschnitt des laufenden Jahres
bezogen durchschnittlich 3,5 Millionen
Menschen Arbeitslosengeld II, bekannt
als Hartz IV. Es soll ab Januar durch das
Bürgergeld ersetzt werden. Allerdings
sind nur knapp 40 Prozent der erwerbs-
fähigen Leistungsberechtigten tatsäch-
lich arbeitslos. Elf Prozent absolvieren
sogenannte arbeitsmarktpolitische
Maßnahmen, zum Beispiel Weiterbil-
dungen, 14 Prozent sind in einer unge-
förderten Erwerbstätigkeit, zehn Pro-
zent in der Schule, im Studium oder in
Ausbildung. Als arbeitsunfähig sind nur
sieben Prozent registriert.
Die Lücke am Arbeitsmarkt wird
nicht nur deshalb größer, weil viele Ba-
byboomer – die zwischen 1946 und Mitte
der 60er-Jahre geboren wurden – in
Rente gehen und nicht genügend Zu-
wanderer in Arbeit kommen, um die
Verluste auszugleichen. Auch beim Ver-
hältnis von Studenten gegenüber Auszu-
bildenden herrscht ein Ungleichge-
wicht. Gab es 2005 noch weniger als
zwei Millionen Studenten hierzulande,
waren es im vergangenen Semester fast
drei Millionen – ein Höchststand.
Gleichzeitig fiel die Zahl der Azubis von
rund 1,55 Millionen auf 1,26 Millionen.
Gerade in vielen Lehrberufen, etwa im
Handwerk, ist der Mangel aber akut.
Mehr als 250.000 Arbeitskräfte fehlen
dort jetzt schon – Tendenz auch hier stei-
gend. Immerhin: In der IT-Branche, die
ebenfalls dringend Mitarbeiter sucht, ist
mehr Nachwuchs in Sicht: Fachinforma-
tiker ist derzeit der viertbeliebteste Aus-
bildungsberuf und Informatik das zweit-
beliebteste Studienfach. JAN KLAUTH
36 INVESTMENTFONDS
J
ournalismus im Jahr 2022
ist, wenn der Podcast-Hö-
rer auf die Zeitungsleserin
und den Digitalkonsu-
menten und die Fernseh-
zuschauerin trifft. Und
das Treffen dann auch
noch im traditionellen Journalistenclub
des Axel-Springer-Hauses stattfindet.
Moderne trifft auf Relevanz, Schnellig-
keit auf Tradition, Unterhaltung auf In-
formation. Genauso geht Journalismus
bei WELT und WELT AM SONNTAG.
Entsprechend war die Bühne bereitet für
die Club-Mitglieder von WELT, die im
Journalisten-Club in dieser Woche live
beim Wirtschaftspodcast „Deffner und
Zschäpitz“ dabei waren.
Wenn der Dauer-Optimist Dietmar
Deffner, gebürtiger Franke, auf mich – ge-
boren in Leipzig – trifft, dann sind Kon-
troverse und Widerspruch program-
miert. Und so bekam das Publikum die
Wirtschafts- und Börsenwelt aus zwei
Blickwinkeln präsentiert. Deffner rech-
net damit, dass es an der Börse jetzt wie-
der nach oben gehen und am Immobi-
lienmarkt höchstens zu einer kleinen
Delle kommen wird. Ich wiederum sehe
größeren Korrekturbedarf insbesondere
bei Häusern und Wohnungen mit
schlechter Energieeffizienz. Hier könn-
ten sich die Preise wegen der gestiegenen
*Gilt nur für WELT AM SONNTAG-Käufer mit gültigem Gutschein-Code aus der aktuellen gedruckten WELT AM SONNTAG-Ausgabe. Der Gutschein ist sieben Tage gültig. Die Mitgliedschaft endet spätestens 18 Monate nach Gutschein-Einlösung. Sie kann jederzeit mit einer Frist von 14 Tagen gekündigt werden.
Für die Mitgliedschaft im WELT Club entstehen keine zusätzlichen Kosten für Sie. WELT-Club-Mitglieder erhalten regelmäßig einen Club-Newsletter mit Einblicken in die Redaktionsarbeit, Neuigkeiten zum WELT Club und Informationen zu Angeboten und Aktionen exklusiv für WELT-Club-Mitglieder.
ANZEIGENSONDERVERÖFFENTLICHUNG
* WELT AM SONNTAG
Energiekosten und hoher Zinsen auch
„Welche
halbieren. Zwar glauben wir beide, dass
die Inflation gekommen ist, um zu blei-
ben. Doch für Deffner ist das kein Grund,
dass Aktien oder Immobilien neu bewer-
tet werden müssten – was ich anders se-
Aktien
he. Er erinnerte an die letzte Phase der
Hochinflation in den 1980er-Jahren. Da-
mals waren Aktien und Immobilien viel
günstiger bewertet.
Vor allem das Thema Inflation ließ
passen?“
auch die Club-Mitglieder nicht los. Muss
ich meine gesamte Geldanlage jetzt um-
stellen, um wenigstens die Kaufkraft zu
erhalten? Kann die Europäische Zentral-
bank (EZB) überhaupt die Zinsen kraft-
voll anheben, um die Geldentwertung
Einmal in der Woche streiten
wieder unter Kontrolle zu bringen, oder
müssen die Währungshüter auf hoch ver-
„Deffner und Zschäpitz“
schuldete Euro-Länder wie Italien,
Frankreich oder Spanien Rücksicht neh-
in ihrem Podcast darüber,
men, bei denen die Schuldenlast bei weit
über 100 Prozent der Wirtschaftsleistung
was die Wirtschaft liegt? Das waren nur einige der Fragen.
Die Club-Mitglieder von WELT erwie-
zusammenhält. Erstmals sen sich bei aller Unterschiedlichkeit als
CHRISTIAN HAHN
politische Bürger mit wirtschaftlichem
sind WELT-Club-Mitglieder Sachverstand. Sie haben offensichtlich
live dabei
ein gutes Gespür dafür, was einerseits
wirtschaftlich wünschenswert wäre, an-
Dietmar Deffner und Holger Zschäpitz im Welt-Club dererseits aber politisch überhaupt kon-
sensfähig ist. „Wir können uns in Europa
gar keine hohen Zinsen mehr leisten“,
NR. 43 23. OKTOBER 2022
sagte etwa ein Unternehmer, der aus
Düsseldorf angereist war.
Podcasts sind ein recht persönliches
Medium. Die Stimmen und Geschichten
der Moderatoren sind meist Teil des All-
tags der Hörer, beim Joggen, Kochen,
auf dem Weg zur Arbeit. Viele identifi-
zieren sich mit den Hosts, wie die Mode-
ratoren der Podcasts genannt werden.
Entsprechend wirkte der Abend im
Journalistenclub fast schon wie ein gro-
ßes Familientreffen, gemeinsame Fotos
wurden gemacht, Erfahrungen geteilt,
und natürlich waren die WELT-Club-
Mitglieder – naheliegend bei einem
Wirtschafts- und Börsen-Podcast – auf
Suche nach neuen Aktienideen. Wenn
die Kurse jetzt noch richtig verlieren, so
eine viel gestellte Frage, welche Aktien
sollten wir da kaufen? HOLGER ZSCHÄPITZ
Kostenlos Mitglied im
WELT Club werden und zu
Events anmelden*:
1. Einfach folgende Seite
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IMMOBILIEN
P
WELT AM SONNTAG NR. 43
ilze sind fast überall.
Wer an einem sonni-
gen Herbsttag durch
den Wald spaziert,
kommt mit jedem
Atemzug mit Sporen in
Kontakt, die durch die
Luft schweben. Pilze und ihre Fort-
pflanzungsteilchen sind elementarer
Bestandteil unserer Natur. Die Unterart
der Schimmelpilze ist zwar weniger
harmlos, doch auch diese eher pelzigen
Vertreter der Gattung „sind allgegen-
wärtig und nützlich für die Umwelt“,
stellt das Umweltbundesamt fest. Sie
zersetzen organisches Material und hel-
fen damit beim Aufräumen in der Natur.
VON MICHAEL FABRICIUS
Allerdings kommt es vor, dass sich
Schimmelpilze in der Wohnung festset-
zen. Hinter dem Schlafzimmerschrank,
unter der Tapete oder in der Dusche.
Das kann zum Problem werden, für
Atemwege und Immunsystem. Hohe
Luftfeuchtigkeit und kalte Oberflächen
begünstigen ihr Wachstum, und so be-
kommt das Thema aktuelle Brisanz:
Denn wird die Heizung herunterge-
dreht, wächst auch die Schimmelgefahr.
Es riecht muffig, an den Wänden zeigen
sich merkwürdige Flächen, manche Be-
wohner entwickeln Symptome wie Mü-
digkeit oder allergische Reaktionen.
Das Problem gilt als so gravierend,
dass vor Kurzem eine Gruppe von Bau-
sachverständigen, Umweltmedizinern
und Juristen sogar einen „Schimmel-
konvent“ veranstaltete. In Coburg tra-
fen sie sich und sprachen über die Ursa-
chen von Schimmel, was Gaseinsparun-
gen damit zu tun haben – und welche
Regeln gelten, wenn sich Mieter und
Vermieter über entstandene Schäden
streiten.
23. OKTOBER 2022
Ungebetene
GETTY IMAGES/ PHOTO BY MARIANNA ARMATA
Um Energiekosten zu sparen, drehen Eigentümer und Mieter
die Heizung herunter. Dadurch steigt das Risiko, dass sich
in den Räumen Schimmel bildet. Worauf es jetzt ankommt
SEITE 37
WIE ENTSTEHT SCHIMMEL?
Für Wolfgang Lorenz vom Bundesver-
band Schimmelpilzsanierung (BSS) gilt
zunächst eine einfache Regel: „Wenn
es feucht ist, wächst Schimmel im-
mer“, sagt er. Unterhalb von 60 Pro-
zent Luftfeuchtigkeit hat das Gewächs
kaum eine Chance. Liegt diese aller-
dings regelmäßig deutlich darüber und
an einer Materialoberfläche zudem
über 80 Pro-
Gefährlich, wenn er zent, sind die
massenweise auftritt: Bedingungen
schwarzer Schimmel für Schimmel-
unter dem Mikroskop pilze grund-
sätzlich gut. Als
weitere Nahrung genügen dann schon
der herumfliegende Hausstaub oder et-
wa Bestandteile in der Wand oder einer
Tapete.
Warum aber sollten niedrige Raum-
temperaturen Schimmel begünstigen?
Wie feucht die Luft ist und wie viel
Wasser sie aufnehmen kann, hängt von
der Temperatur ab. Deshalb ist stets
von „relativer“ Luftfeuchtigkeit die Re-
GÄSTE
de. Bei 25 Grad kann Luft 23 Gramm
Wasser pro Kubikmeter speichern. Bei
15 Grad sind es mit 12,8 Gramm nur gut
die Hälfte. 80 Prozent relative Luft-
feuchtigkeit erreicht man bei 18 Grad
Temperatur mit 12,5 Gramm Wasser pro
Kubikmeter, bei 16 Grad schon mit elf
Gramm. Sinkt die Temperatur, kann
sich in der Wohnung die Feuchtigkeit
auf Oberflächen niederschlagen, die im
Vergleich zur sonstigen Umgebung kühl
sind – relativ kühl.
„Wenn auf der Innenseite des Fens-
terrahmens Tröpfchen zu sehen sind,
heißt das, dass die Luft dort gesättigt
ist“, sagt Lorenz. Entscheidend sei aber
immer das Temperatur-Feuchtigkeits-
Gefälle. „So kann es auch passieren,
FORTSETZUNG AUF SEITE 39
HAUSRAT
VON CHRISTOPH KAPALSCHINSKI
Big Ben im
Nokia-Sound
B
ei uns läutet jetzt Big Ben. Na-
ja, er plärrt eher. Jedenfalls
schallt eine elektronische Ton-
folge, die den berühmten Londoner
Westminsterschlag imitiert, durch die
Wohnung, sobald jemand auf den
Klingelknopf drückt. Klanglich erin-
nert das an ein sehr altes Nokia-
Handy. Dabei ist die neue Klingelanla-
ge im Haus frisch installiert. Während
das Schlagwort „Smart Home“ durch
Immobilienprospekte und Elektro-
märkte geistert und die passenden
Apps auf Android- und Apple-Handys
vorinstalliert sind, ist die real verbau-
te Haustechnik in den meisten Fällen
noch auf dem Stand der 90er-Jahre.
Offenbar verkaufen sich Geräte mit
betagter Technik noch immer. Haus-
verwaltungen und Elektriker setzen
auf Bekanntes im zeitlosen Design.
Fortschritt gibt es so nur wenig – bis
auf unseren neuen Klingelton.
Allerdings: Die Traditionstechnik
aus der deutschen Provinz ist wo-
möglich zukunftssicherer als der letz-
te Schrei aus dem Silicon Valley. Denn
wer weiß, ob Apple, Google und Ama-
zon ihr Smart-Home-Programm
nicht ebenso plötzlich einstellen wie
zuvor schon andere frühere Hype-
Produkte. Dann heißt es plötzlich,
wenn jemand zu Besuch kommt: Ihre
Klingel-Software wird nicht mehr un-
terstützt.
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23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
Ungebetene Gäste
FORTSETZUNG VON SEITE 37
dass im Sommer, wenn warme Luft
von außen beispielsweise in kalte Kir-
chenräume gelangt, Schimmel ent-
steht.“ Die warmfeuchte Luft gerät in
Kontakt mit kalten Oberflächen, das
Wasser bleibt dort hängen.
Wer also die Schimmelgefahr zu
Hause herausfinden möchte, benötigt
nicht nur ein Thermometer, sondern
auch ein Hygrometer und idealerweise
zusätzlich ein Gerät, mit dem man die
Temperatur auf Oberflächen messen
kann. Steht ein Kleiderschrank an ei-
ner Außenwand, ist die Wahrschein-
lichkeit hoch, dass die Oberfläche da-
hinter kalt ist. Weil Schlafzimmer häu-
fig auch weniger geheizt werden als an-
dere Räume, ist die Schimmelgefahr
dort mehr also doppelt so hoch wie in
Küche oder Wohnzimmer.
Ob eine Außenwand gedämmt ist
oder nicht, ist ebenfalls nur relativ ent-
scheidend. Ein Problem entsteht hier
meistens nur dann, wenn wegen Bau-
oder Materialfehlern eine Kältebrücke
entstanden ist und eine bestimmte
Stelle auf der Innenseite kälter als an-
dere Bereiche wird. Hier findet Schim-
mel leicht ein Zuhause.
WIE VERMEIDET MAN IHN?
Regelmäßiges Lüften gilt als das Non-
plusultra. Im Winter wird die tempera-
turbedingt kühle Außenluft am besten
regelmäßig mit der warmfeuchten In-
nenraumluft ausgetauscht. Vom Quer-
lüften allerdings hält Experte Lorenz
nicht viel: „Dann gerät unter Umstän-
den die feuchte Luft aus Küche oder
Bad ins Schlafzimmer“ – mit den oben
beschriebenen Folgen.
„Bei etwa einem Drittel der Fälle,
die ich als gerichtlich beauftragter
Sachverständiger begutachtete, war
das Nutzerverhalten die Ursache“, sagt
Lorenz. „Werden im kommenden Win-
ter die Raumtemperaturen gezielt re-
duziert, aber das übrige Verhalten
nicht angepasst, wird es in noch viel
mehr Wohnungen als bisher zu Schim-
melbefall kommen“, warnt er. Wäsche
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trocknen, duschen, kochen – das alles
ist bei 18 Grad folgenreicher als bei 21
Grad. Daraus folgt: noch häufiger als
bisher die feuchte Luft austauschen.
Liegen allerdings bautechnische
Fehler vor, reicht Lüften nicht. Hier
sollten Spezialisten beauftragt werden.
Eine kalte Zimmerecke beispielsweise
hat häufig damit zu tun, dass von der
Außenseite her zu viel Kälte durch-
dringt. Solche Stellen abzudichten
oder zu dämmen kann also Schimmel-
gefahren sogar reduzieren.
WAS MÜSSEN MIETER TUN?
„Schimmel und Feuchtigkeit in der
Wohnung sind eines der Hauptstreit-
themen zwischen Mietern und Vermie-
tern“, sagt Jutta Hartmann, Sprecherin
des Deutschen Mieterbundes (DMB).
„Regelmäßig schieben sich die Ver-
Vor allem in Schlafzimmern
Anteil der Räume mit Schimmel-
pilzbefall in Prozent
0 5 10 15 20 25 30
Bad
Küche
Wohnzimmer
Kinderzimmer
Schlafzimmer
Sonst. (z. B. Flur)
WC
Quelle: Ehrenfried et al.
tragsparteien gegenseitig die Schuld
zu.“ Nicht selten ziehen Mieter dabei
den Kürzeren. Denn es gilt eine wichti-
ge Grundregel: „Es gehört zu den Ob-
liegenheiten eines Mieters, pfleglich
mit der Wohnung umzugehen“, sagt
Patrick Lerch, Rechtsanwalt und Fach-
anwalt für Bau- und Architektenrecht
in Nürnberg. Wenn sich Mieter also
achtlos verhalten und ihnen im Nach-
hinein schuldhaftes Nutzerverhalten
nachgewiesen werden kann, müssen
sie für die Kosten der Schadensbeseiti-
gung aufkommen.
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IMMOBILIEN 39
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In jedem Fall müssen Mieter früh-
zeitig Bescheid geben, wenn sie Schim-
mel entdecken. „Wenn sich nachteilige
Veränderungen der Mietsache zeigen,
dann gehört es zu den Pflichten des
Mieters, diese dem Vermieter anzuzei-
gen“, sagt Lerch.
Auf die Temperaturfrage indes gibt
es keine eindeutige Antwort. „Mieter
haben zwar keine Heizpflicht“, sagt
DMB-Sprecherin Hartmann. Doch
wenn die Wohnung eben doch so aus-
kühlt, dass genau dadurch Schimmel
entsteht, trifft sie eine Schuld, jeden-
falls wenn keine anderen Ursachen
festgestellt werden können.
Damit es erst gar nicht so weit kom-
me, könnten Vermieter sogar im Miet-
vertrag ein bestimmtes Lüftungsver-
halten vorschreiben, sagt Anwalt
Lerch. „Es ist durchaus möglich, den
Mieter im Mietvertrag dazu zu ver-
pflichten, regelmäßig zu lüften. Wenn
allerdings beispielsweise von ‚viermal
am Tag für jeweils zehn Minuten‘ die
Rede ist, dann stellt sich die Frage der
Villa „Sonnenhügel“ – Aachen
Zumutbarkeit, etwa bei alleinstehen-
den Berufstätigen“, so Lerch. Zumut-
bar ist laut Darstellung des Mieterbun-
des, dass die Wohnung drei- bis vier- Dieses aus einem Haupt- und einem einen Massageraum. Weiter befin- gebiet gelegen, genießen Sie hier me-
mal am Tag stoßgelüftet wird. Gästehaus bestehende Anwesen er- den sich hier u.a. ein temperierbarer diterranes Flair im eigenen Garten.
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nicht über 19 Grad steigen kann, „hat nem Wirtschaftsstandort und ländli-
Extras bieten Ihnen individuellen Lu- angenehmsten Wohnkomfort. Diese
ein Mieter wenig Handlungsmöglich- cher Idylle. Gelegen im Dreiländereck
xus kombiniert mit zeitlosem Stil. Im reichen von der Wohnraumbelüftung
keiten“, sagt Lerch – die Schimmel- – zwischen Deutschland, Niederlande
Haupthaus erwartet Sie ein großzügi- mit Dampfbefeuchter über ein inte-
Schuldwahrscheinlichkeit für Vermie- und Belgien – überzeugt Aachen zu-
ges, durchdachtes Wohnkonzept mit griertes Soundsystem und eine zen-
ter steigt. „Kommt ein Mieter aller- dem aufgrund seiner Nähe zu Köln
ca. 495 m2 Wohnfläche. Das lichtdurch- trale Staubsauganlage bis zur Fußbo-
und Düsseldorf.
dings selbst auf die Idee, die Tempera- flutete Wohnzimmer mit integriertem denheizung mit Kühlfunktion.
tur abzusenken, und entsteht deshalb Kamin und Blick in den Garten sorgt Auf einen Blick:
Das Gästehaus bietet auf weiteren ca.
Schimmel, dann kann der Mieter ver- für eine besondere Atmosphäre – hin- Baujahr: 2004
116 m2 Wohnfläche Büroräume und
antwortlich gemacht werden“, so der zu kommen zwei behagliche Essberei- 2.613 m2 Grundstücksfläche (ca.)
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Experte. Hohe Gaspreise seien streng che und eine hochwertige Küche. Im 611 m2 Wohnfläche (ca.), 12 Zimmer
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genommen kein Hinderungsgrund: Obergeschoss finden Sie drei Schlaf-
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Kaufen oder abwarten? Viele Anleger sind gegenwärtig unsicher. Dennoch –
Spitzenobjekte sind uneingeschränkt begehrt. Wer sich diese sichern möch-
te, muss Entschlusskraft besitzen, um sich diese zu sichern. Die Experten
ALS KAPITALANLAGE erwarten ohnehin, dass sich der Markt weiter stabil entwickeln wird.

SEASIDE RESIDENCIES Krisenfest und inflations-

sicher – Immobilien bleiben

LUXURIÖS als Investments gefragt, bei

Heringsdorf auf Usedom
professionellen Anlegern
ohnehin, aber auch bei Pri-
vatleuten. Gerade für sie sind
in den Städten die eigenen vier
Wände Schutz vor steigenden
Mieten. Aber auch die Inves-
tition in zusätzliche Objekte
zur Alterssicherung gewinnt
weiter an Bedeutung. Auch im
Hinblick auf die Unsicherheiten
am Kapitalmarkt.
Dennoch zögern manche In-
teressenten und Käufer: Es
ist eine Preisfrage. Nach Jah-
ren des stetigen Aufschwungs
herrscht einerseits – zumin- AUCH WENN DIE PREISE HOCH SIND: ANLEGER SETZEN AUF HAUS UND WOHNUNG
dest auf dem Sektor der priva-
stehen unter dem Projektna-

VERTRAUEN AUFS GRUNDBUCH

war – wie seine Nachbar-
orte Ahlbeck und Bansin –
schon im 19. Jahrhundert
ein gefragtes Seebad, ge-
prägt durch die Architektur
der Gründerzeit. Das hat sich
nicht geändert. Usedom ist eine
Insel der Superlative mit 2000
Sonnenstunden im Jahr. In die-
sem Idyll befindet sich in erster
Lage an der Ostsee und der
Promenade das Steigenberger
Grandhotel & SPA, im Stil der
Seebäder-Architektur errich-
tet, flankiert von historischen
Villen und umgeben von einem
16.000 m² großen Park. Dane-
ben sind zwei Residenz-Gebäu-
de entstanden, das Palais Wil-
helm und das Palais Bismarck.
Auch sie sind inspiriert von der
Gründerzeit, aber realisiert mit
allen Annehmlichkeiten der Mo-
derne – mit bodentiefen Spros-
senfenstern, großen Balkonen,
hohen Räumen und einer luxu-
riösen Ausstattung. Die Woh-
men Seaside Residencies zum
Verkauf – für Eigennutzer, aber
auch als Investment. Die Eigen-
tümer einer dieser luxuriösen
Seaside Residencies – jede mit
eigener Sauna und Kamin und
mit unterschiedlichen Größen
und Raumkonzepten – profi-
tieren von dem kompletten
Angebot des Hotelresorts und
dem Prestige des bekannten
Grandhotels, dessen Service sie
nutzen können – von der Lobby
über den 20 Meter langen Au-
ßenpool und den 2000 m² gro-
ßen Wellness- und SPA-Bereich
bis zur vielfältigen Gastrono-
mie. Sie können ihre Wohnung
auch vom Hotel als edle Suite
vermieten lassen und somit
Einnahmen generieren, dabei
aber auch selbst ausführlich
ihre Residenz und das Hotelan-
gebot selbst nutzen. Neben den
Einnahmen erwarten sie ent-
spannte Tage der Eigennutzung
mit allen Annehmlichkeiten des
ten Investoren – Unsicherheit
im Hinblick auf die weitere Ent-
wicklung: Soll man jetzt kaufen
und vielleicht zu viel bezahlen?
Oder soll man warten und ris-
kieren, dass die attraktiven Ob-
jekte vergeben sind?
Doch ungeachtet der weiteren
Unwägbarkeiten wie höhere
Zinsen, Inflation und steigende
Baupreise bleibt die Nachfrage
nach Anlageimmobilien, auch
Häuser oder Apartments in Kommt hinzu: Die Eigentümer
Resorts, die den Urlaubern können sich in ihren Ferien-
nicht nur vier Wände für die domizilen Termine freihalten,
schönsten Tage des Jahres bie- in denen sie selbst ihre Apart-
ten, sondern eine Infrastruktur ments und Häuser nutzen.
mit Läden, Gastronomie und Doch man kann auch indivi-
Freizeitangeboten. Gerade die- duell auf die Ferienregionen
ses Ambiente ist die Basis für setzen. An vielen Orten ent-
die gute Nachfrage der Urlau- stehen gegenwärtig Apart-
ber, die den Eigentümern eine menthäuser und Quartiere, in
gute Auslastung sichert. Auch denen sich Investoren einzelne
für diese Objekte gilt, dass der oder mehrere Einheiten si-
Käufer sie mit Service erwirbt chern können, um sie zu ver-
– die Entwickler bieten die mieten, an Feriengäste oder an
Immobilien in der Regel nicht ortsansässige Bewohner. Die-
Eigentümern an Betreiber ver- nur komplett vermietungsfer- se Objekte können dauerhaft die potenzielle Nutzung durch und für Anleger mit größerem
pachtet werden. Zunehmend tig ausgestattet vom Kleider- als Renditeobjekte erworben Senioren ist für die Entwickler Portfolio Zinshäuser, die aller-
gefragt sind auch Apartment- schrank bis zum Suppenteller, werden oder als zukünftiger Anlass, die Neubauprojekte dings wegen der großen Nach-
häuser, die nach demselben sondern sie kooperieren auch Altersruhesitz in schöner Lage, zum Teil barrierearm oder -frei frage preisliche Höhenflüge
Konzept als Investment funk- mit professionellen Ferien- der sich durch die zwischen- zu konzipieren. absolviert haben. Deshalb: Wer
tionieren und als Wohnsitze hausvermietern, die sich um zeitliche Vermietung selbst fi- Ebenfalls weiter im Trend blei- sich auskennt, erwirbt Objekte
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stoßen bei privaten Anlegern
auf zunehmendes Interesse.
Zum Beispiel Ferienobjekte,
aber auch Seniorenresidenzen
mit Apartments, die als Invest-
ment verkauft und von den
KRISENSICHERE ANLAGEFORM
Raumbedarf haben, aber gern
einen mehr oder weniger um-
fangreichen Service nutzen
möchten. In vielen Städten Die Kapitalanlage in Pflege-
entstehen derzeit solche Mi- immobilien gilt in der Fi-
kroapartments, ebenfalls ein nanzbranche schon länger
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den Eigentümer von jeglicher kunftsorientierte Anlage-
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Redaktion: Dr. Gisela Schütte · Anzeigen: Petra Mählmann-Radowitz, Tel. +49(0) 1512 7717604, petra.maehlmann-radowitz@axelspringer.de 22./23.10.2022

© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten (einschl. Text und Data Mining gem. § 44 b UrhG) - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung
KULTUR & KUNSTMARKT
D
WELT AM SONNTAG NR. 43
Dass diese Buchmesse eine Buchmesse
der Krise werden würde, war klar, noch
bevor die Vorsteherin des Börsenver-
eins des Deutschen Buchhandels, Karin
Schmidt-Friderichs, mit ihrem Holz-
hammer auf das weiße Stehpult im Kon-
gresscenter Frankfurt, Saal „Harmo-
nie“, schlug, um sie zu eröffnen. Weni-
ger klar war, welche der vielen Krisen
sie denn bestimmen würde oder wohl
eher: welche nicht.
VON MARA DELIUS
In den vorhergehenden Wochen war
in den Branchenblättern zu lesen gewe-
sen, dass in diesem Jahr, nach zwei coro-
nabedingten Ausfalljahren, in denen die
Buchmesse 2020 gar nicht und dann 2021
in hybrider Kleinform stattgefunden
hatte, ein Neustart erfolgen würde. Die
Zahl der Aussteller und die der erwarte-
ten Besucher sei fast wieder auf Vorpan-
demieniveau, wenn auch die Bedingun-
gen schwierig seien, weil der Effekt der
multiplen aktuellen Krisen von der Pa-
pierpreisexplosion bis zur Inflation bis-
her erst in seinen Anfängen spürbar und
damit noch nicht richtig behandelbar sei;
was im späten Herbst oder im für den
Buchhandel wichtigen Weihnachtsge-
schäft komme, könne also keiner so ge-
nau abschätzen. Sicher ist nur, folgt man
den Statistiken, dass 2021 die Zahl der
Buchkäufer im Vergleich zum Vorjahr
wieder einmal zurückgegangen ist: Rund
27 Millionen Menschen kauften Bücher,
etwa fünf Prozent weniger, wobei dieje-
nigen, die Bücher kauften, mehr als zu-
vor kauften; 2022 wird es keinen gegen-
läufigen Trend geben, im Gegenteil.
Angesichts dieser Marktentwicklung
forderte kürzlich der Hauptgeschäfts-
führer des Börsenvereins des Deutschen
Buchhandels, Peter Kraus vom Cleff, Un-
terstützung von der Politik: „Die Redu-
zierung der Mehrwertsteuer für Bücher
auf null Prozent bei vollem Vorsteuerab-
zug, wie sie durch die EU-Gesetzgebung
möglich ist“, wäre „eine große Hilfe“, da-
mit die Buchbranche ihren kulturellen
Auftrag in der Gesellschaft erfüllen kön-
ne. Aber wie genau sieht der heute ei-
K
gentlich aus, im Herbst 2022?
risen haben auf die Buchbranche
nicht nur ökonomische Auswir-
kungen, sondern auch ideelle: So-
bald es kriselt, muss das Buch herhalten
für die gute Sache an und für sich; bei zu-
nehmender Dichte an Phänomenen, die
auf Krisen verweisen, scheint das, was
das Buch so alles plötzlich können soll,
ins Utopische zu steigen: „Vorurteile ab-
bauen“ und „Empathie trainieren“ oder
gleich „Brücken bauen“ – das Buch ist
nicht mehr die „Axt für das gefrorene
Meer in uns“ (Franz Kafka), sondern ein
sonntagsredenkompatibles, barrierefrei
zugängliches Instrument für ein mög-
lichst progressives Leben.
Der idealistische Hang, neben all den
Buchumsatzzahlen und Studien zum
Käuferverhalten auch den unmittelbaren
Zugang zu einer höheren Geisteswelt
mitdenken zu können, ist besonders in
Deutschland verbreitet; auf der Londoner
Buchmesse etwa würde einem diese sich
am Symbolobjekt Buch aufladende Zuver-
sichtswärme nicht in dieser Intensität
entgegenschlagen. In Frankfurt aber, im-
merhin nicht weit entfernt von Mainz, wo
Johannes Gutenberg 1440 den Buchdruck
erfand, wie wahrscheinlich noch auf jeder
Buchmesse seit 1949 erwähnt worden ist,
kann sich jeder, der sich die knappe Wo-
che auf dem Messegelände und den ange-
schlossenen Lesungen und Empfängen
bewegt, im guten Gewissen bestätigt füh-
len, auf der Seite des Buches sei man auch
beinahe automatisch auf der richtigen
Seite der Geschichte.
So fing es am Montagabend an, als der
Börsenverein des Deutschen Buchhan-
dels den Deutschen Buchpreis an „Blut-
23. OKTOBER 2022 SEITE 41
KRITIK und KRISE
Nach zwei Jahren Pause findet die Frankfurter Buchmesse wieder in Präsenz statt –
und plötzlich scheint die Normalität unnormal. Bericht einer surrealen Empfindung
„Die Freiheit ist wehrhaft“: Präsident Selenskyj wird
per Video ins Kongresscenter übertragen
buch“ von Kim de l’Horizon verlieh. Es
war eine doppelte Premiere: Zum ersten
Mal ging der Preis an ein Debüt und an
eine sich als nicht binär definierende
Person.
Auch wenn das Buch selbst ästhetisch
avanciert und in Teilen eine gelungene
Sprachspielavantgardistik, in anderen
eher mystisch umflort ist, jedenfalls kei-
ne identitätspolitisch motivierte Ichsa-
ger-Literatur, wirkte de l’Horizons Dan-
kes-Performance für manche derjenigen,
die im Festsaal des Römers anwesend
waren, anrührend – und zugleich auch
etwas peinlich, weil der Literaturbetrieb,
begeistert von und ermächtigt durch die
schillernde Außenseiterfigur, sich selbst
mitfeierte für einen Buchpreis, der auf
einmal nicht einfach nur dem besten
Buch des Jahres und seinem Autor galt,
sondern nun auch ein Preis für „die Lie-
be“ und „die Frauen im Iran“ sein sollte,
mit denen man sich in diesem Moment
solidarisch zeigen konnte. Aber was für
eine Solidarität wäre das genau? Und war
man ein Spielverderber der beseelten
Einvernehmlichkeit, wenn man sich kurz
fragte, ob man nicht doch auch in emo-
tionale Geiselhaft geraten war im ste-
hend applaudierenden Publikum?
Klassiker für jedermann: Ein Tag mit der Theaterregisseurin Anne Lenk
Der Krieg ringt mit der Sprache: Die Ukraine ist
mit einem eigenen Stand vertreten
I
m Vorfeld der Buchmesse hatte für
Aufregung gesorgt, dass sich die
Buchmesse einen „Code of Conduct“
gegeben hat als Reaktion auf die Debatte
um die Präsenz neurechter Verlage im
letzten Jahr und den Aufruf mehrerer
Autorinnen, die Buchmesse zu boykot-
tieren aus Solidarität mit Jasmina Kuhn-
ke, die ihren Auftritt abgesagt hatte, weil
sie sich als Schwarze auf der Buchmesse
nicht sicher fühle. Der „Code of Con-
duct“ nun wiederholt das, was implizit in
der Hausordnung steht, in einfacher
Sprache: Niemand darf diskriminiert
werden. Außerdem gibt es nun ein „Awa-
reness-Team“, das die Buchmesse in Dis-
kriminierungsfragen berät. Ja, heute hät-
te es allein vier Fälle gegeben, aber eher
aus dem Bereich der Meinungsfreiheit,
kein Rassismus oder Sexismus, erzählt
ein Mann am auffällig platzierten „Awa-
reness“-Stand im Foyer einer Halle. Wie
das funktioniere? Die Leute kämen vor-
bei und meldeten Fälle, oder man gehe
herum und schaue, ob es Diskriminie-
rendes gebe. Auf dem Stuhl neben ihm
liegen neongelbe Warnwesten. Die Awa-
reness-Team-Uniform?
In diesem Jahr gab es vereinzelt Boy-
kottaufrufe, auch wurde der Rücktritt
„Dieser Preis ist nicht nur für mich“:
Kim de l’Horizon nimmt im Kaisersaal
des Frankfurter Römers den Deutschen
Buchpreises entgegen
Bücher gegen das gefrorene Meer in uns: Klassiker am
Stand des Reclam-Verlags
Wo geht’s hier zum Buch, das Brücken baut? Im Li-
terarischen Agentenzentrum (LitAG) der Buchmesse
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und das
spanische Königspaar beim Messerundgang
des Messedirektors Jürgen Boos gefor-
dert: Er positioniere die Messe nicht
„gegen rechts“, das Awareness-Team sei
ein Feigenblatt. Die Messe habe doch
Russland ausladen können, wieso dann
nicht gleich rechte Verlage? Die Buch-
messe wiederholte dagegen, dass grund-
sätzlich alle Aussteller, gegen die straf-
rechtlich nichts vorliege, auch die Mög-
lichkeit hätten auszustellen; nicht alles,
was als illegitim empfunden werde, sei
auch illegal.
Wer sich durch fünf Tage Messe-Pro-
gramm bewegt, hat jeden Tag mindes-
tens zehn Mal Demokratie, Opposition,
Grundrechte, Diversität und Sichtbar-
keit gehört. Vielleicht ist das ein surrea-
ler Effekt dieser Buchmesse: Alles
scheint beim Alten – die gleichen
Wurststände, warmen Hallen, Weiß-
weinempfänge – und aber eben doch
ganz anders; ein unbestimmtes Gefühl.
Ja, das sei wohl der Krieg, sagt ein Kolle-
ge, für uns hier in Frankfurt nur ein Ge-
fühl, aber es geht nicht mehr weg. Und
vielleicht ist es tatsächlich so, denkt
man, als man später im Vorbeigehen
den Satz „Es muss zu einem Kniefall in
Irpin kommen“ hört, den Michael
Schischkin sagt über eine Zeit der Ver-
S. 46
DER AKTUELLE
KLASSIKER
VON MICHAEL PILZ
„Brigitta“ von
Gundermann
B
rigitta war der Name einer
Braunkohlengrube in der
Lausitz. 1877 wurde sie als Ta-
gebau nahe der Ortschaft Schwarze
Pumpe bei Brigittenhof erschlossen.
Anfangs hieß sie Hoffnung III. Aber
wie Bergleute so sind: Sie sprachen
ihre Grube lieber an wie eine schwie-
rige Geliebte, der sie schicksalhaft
verfallen waren, bis sie 1991 starb –
und darüber hinaus.
Nachdem die Maueröffnung und
die Deutsche Mark, der Weltmarkt
und die Treuhandanstalt sie erledigt
hatten, sang der Liedermacher Ger-
hard Gundermann sein Requiem:
„Ach, meine Grube Brigitta ist pleite
/ Und die letzte Schicht lang schon
verkauft / Und mein Bagger, der
stirbt in der Heide / Und das Erd-
beben hört endlich auf.“ Der singen-
de Baggerführer wusste, was Braun-
kohle für die Region bedeutete. Ar-
beit, Identität und Heimat, Land-
fraß, sterbende Dörfer, Dreck und
früher Tod. „Die Lunge ist wie’n
Sack mit Kohlebrocken voll / Im
Herzen Asche, in den Adern Alko-
hol.“ Gundermann selbst starb sie-
ben Jahre später. Gundi, mehr steht
nicht auf seinem Grabstein auf dem
Waldfriedhof in Hoyerswerda, wur-
de 43 Jahre alt.
Im Rheinischen Revier für Braun-
kohle, dem größten in Europa, tief
im deutschen Westen, sorgt die
Energiekrise gerade dafür, dass der
Tagebau Garzweiler II erweitert und
dafür die Siedlung Lützerath geop-
fert wird. Grüne besetzen die verlas-
senen Häuser, während andere Grü-
ne wie der Bundeswirtschaftsminis-
ter für die Bagger werben und den
von 2038 auf 2030 vorgezogenen
Ausstieg aus der Braunkohle als Kli-
maschutzmaßnahme feiern.
Wie in Lützerath bei Erkelenz
geht es den Menschen in der Lausitz
in Dörfern wie Schleifen und Klein
Trebendorf. Auch ihnen droht die
Umsiedlung, wenn der Tagebau
Nochten ihnen ihren Grund und ihre
Häuser nimmt. Es ist die Grube, in
der „Gundermann“, der Film, ge-
dreht wurde. 2018 kam er in die Ki-
nos, als Brigitta längst geflutet und
in eine blühende Seenlandschaft ver-
wandelt worden war.
Durch den Erfolg im Kino wurde
Gundermann vom Ostsänger zum
Sänger und „Brigitta“ zu einem mo-
dernen Klassiker des deutschen
Liedguts. Alexander Scheer trägt
ihn als Gundermann im Nochtener
Tagebau den letzten Bergarbeitern
vor, denen das Regenwasser von den
Helmen tropft und sich mit ihren
Tränen mischt: „Ich wurde Berg-
mann wie mein Vater und fuhr ein /
Aber mein Sohn wird hier kein Berg-
mann mehr sein / Die Gleise rosten,
und das Förderband ist leer / Die
braune Kohle von hier will jetzt kei-
ner mehr.“
söhnung nach Putins Tod. Kurz zuvor DAS FÖRDERBAND
hatte Wolodymyr Selenskyj gesprochen,
per zugeschalteter Videobotschaft, wie- IST LEER,
DIE BRAUNE
der in den Saal „Harmonie“. Schreibt
weiter Bücher, lest weiter, verbreitet
KOHLE VON
weiter Wissen über das, was passiert,
hatte er in seinem schnellen, harten,
klaren Ton gesagt: „Sie müssen wissen, HIER WILL JETZT
dass die Freiheit wehrhaft ist, erinnern
Sie die Leute daran.“ KEINER MEHR
Die Sprache sei „schwer wie die
Kleidung der Fliehenden im eisigen
Fluss“, der Krieg ringe mit der Spra- Die Kohle wollte damals, 1991,
che: Worte erscheinen unpassend, die niemand mehr, weil mit der DDR
Wirklichkeit erweist sich stärker als auch der Bedarf nicht mehr vorhan-
die Sprache, so formuliert es der den war: Die DDR hatte die besse-
ukrainische Schriftsteller Serhij Zha- ren fossilen Brennstoffe aus der
dan, der am Sonntag den Friedens- Sowjetunion weiter nach Westen
preis des Deutschen Buchhandels ver- exportiert, um den notorischen De-
liehen bekommt, beim Kritikeremp- visenmangel zu beheben, und auch
fang bei Suhrkamp. Und vielleicht ist noch die letzte Braunkohle verfeu-
ARNE DEDERT; SEBASTIAN GOLLNOW (5)
das das Wichtigste, was die Bücher ert. Für die Kraftwerke, die Kohle-
können in dieser Zeit: mit der Sprache öfen und den grauen Nebel, der frü-
ringen. Die Rede vom Buch, das Brü- her an schlechten Tagen über dem
cken baut, schien nie leerer als nach gesamten deutschen Osten lag.
der Lesung von Zhadan, der zeigt, wie „Gehör dazu wie auf ’m Fenster-
er ein Buch schreibt, während sich die brett der Staub“, singt Gundermann
Wirklichkeit um ihn herum verändert mit seiner Band, der Seilschaft, in
und sich die Worte der Vernichtung „Brigitta“, seiner Hymne auf die
entgegenstellen. Braunkohle.
42 KULTUR WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022

Die dunkle Seite BILDBETRACHTUNG

eines weltweiten Spiels
Die Serie „Das Netz“ leuchtet in die Finsternisse des
Fußballs. Ausgerechnet Red Bull finanziert sie mit

F
ußball ist mehr als ein Spiel. Ist Netz – Spiel am Abgrund“) und eine
Schicksal. Ist Hoffnung. Ist kor- italienische („Das Netz – Power
rupt. Ist mörderisch. Schreibt Play“). In Brasilien und Portugal und
die seltsamsten Geschichten. Die we- Skandinavien geht es möglicherweise
nigsten sind schön. Die unschönen weiter.
will aber keiner lesen, keiner sehen. Die Geschichten kreuzen sich, Sze-
Sie schreibt kaum einer auf. nen der einen Serie begegnen einem in
der anderen. Hartmann wollte das
VON ELMAR KREKELER Phänomen Fußball und seine Protago-
nisten von Zürich bis Berlin-Köpenick
Wenn die unter dubiosen Umstän- aus verschiedenen Perspektiven spie-
den zustande gekommene Vergabe der geln. In unterschiedlichen Ländern
diesjährigen Fußballweltmeisterschaft unterschiedliche Aspekte in unter-
ins fußballferne Katar und ihre Verle- schiedlicher Ästhetik erzählen.
gung in die für den Zustand der Fifa „Prometheus“ verhandelt in einer
bezeichnenderweise in Zentraleuropa Art Nahzukunftgeschichte, wie es mit
dunkle Jahreszeit zu etwas geführt dem Doping und der Sportmedizin
hat, dann, dass nicht nur vonseiten weitergeht. In Zeiten, in denen Spieler
der üblichen Kritiker des globalen schon in jungen Jahren genetisch im-
Fußballwesens und seines umstritte- mer präziser analysiert werden kön-
nen Zentralgehirns Gianni Infantino nen, was ihre biologischen Perspekti-
Licht in die Schattenwelt des Fußballs ven angeht. Und der Druck auf die
geworfen wird. Wer jedenfalls vier Spieler, möglichst rasch nach Verlet-
Wochen vor der WM in Katar behaup- zungen wieder fit zu werden, geradezu
tet, davon keine Ahnung zu haben, ins Unmenschliche steigt. Es geht um
muss die vergangenen Jahre im Koma nichts Geringeres als das ewige Leben
zugebracht haben. und die Formel dafür. Leichen stapeln
Wie aber fasst man ein globales sich. Die Geschichte verknäult sich,
Phänomen wie den Fußball in einer dass man Hirnknoten bekommt. Los
Serie? Matthias Hartmann hatte da ei- wird man die Story in ihrer realisti-
ne Idee. Matthias Hartmann ist schen Kunsthaftigkeit schwer.
Opern- und Theaterregisseur, Burg- Spinne im Netz ist Jean Leco, der
theater-Chef war er einmal, dann wur- Präsident der Fifa, die im „Netz“ WFA
de er Creative Director im Red Bull heißt. Er will dem Fußball immer neue
Media House von Dietrich Mateschitz. Märkte öffnen, verkauft – was eigent-
Die Idee für ein gewissermaßen globa- lich eine Turbokapitalisierung bedeu-
les Netz von Serien, in denen sich das tet – als ethische und kulturelle und
DANIEL SUMESGUTNER/COURTESY PPP ARCHITEKTEN + STADTPLANER LÜBECK/HAMBURG

gesellschaftliche Erneuerung, als Akt,

die Vorherrschaft der weißen alten Ki-
cker zu brechen. Raymond Thyris
ARD DEGETO/SOMMERHAUS SERIEN GMB

spielt Jean Leco so charismatisch, so

menschlich, so gefährlich und gewieft,
so doppelbödig auch und rätselhaft
wie es Gianni Infantino gern wäre.
Leco will eine World League etab-
lieren, eine Welt-Clubmeisterschaft.
Um die Macht der Weißen zu brechen,
die Regionen zu stärken. Vor allem na-
türlich, das sagt er aber nicht offensiv,
Raymond Thyris als Weltfußballpräsident um neue Märkte zu eröffnen. Dazu ist
ihm jedes Mittel recht. Bernd Lange
ganze Ausmaß von Wirklichkeit und hat das Drehbuch geschrieben, Rick
Phantasma des Fußballs spiegeln soll- Ostermann führte Regie.
te. Dass die ausgerechnet bei Red Bull Ein Träumeverkäufer – darum dreht
in Salzburg geboren wurde, das für sich alles in „Spiel am Abgrund“ –
wahre Fußballfans oder jene, die sich stirbt am Anfang vor der Alten Förste-
dafür halten, einer der zentralen See- rei in Köpenick, dem Stadion des Bun-
lenverkäufer des Spiels ist, gehört zu desligatabellenführers Union Berlin.
den Treppenwitzen der Fernsehge- Daniel hieß er, er war ein Talentscout, Deutsche Großstädte schmücken sich mit Repliken Kloster spiegelt, sind unter bauhistorischer Be- handelt, wie die Landesbaupreis-Jury es zu würdigen
schichte. Jedenfalls tat sich Hartmann er holte Kinder aus Ghana und brachte alter Bauten, die ihnen durch unglückliche Um- trachtung unkorrekt. Die Scheune ist ein Neubau, weiß, erkennt man an den großen Südfenstern für
mit Plinius Bachmann zusammen, der sie in die Ligen Europas. Jedenfalls stände abhandenkamen. Dresden hat die Frauenkir- sie ist stolz darauf, auch danach auszusehen. Die eine „oberflächennahe Geothermie“. Die „trans-
Dramaturg am Burgtheater war, und versprach er das. Kaum einer aber che wieder, Frankfurt seine Altstadt und Berlin das Lübecker Architekten PPP haben die neue Amts- luszente Fotovoltaik“ auf dem abgeflachten Spitz-
beide baldowerten ein Projekt aus, das machte die Karriere, die er sich erhoff- Stadtschloss. Die Gemeinde Zarrentin im Westen scheune von Zarrentin entworfen und sagen es so: dach ist nur aus der Luft zu sehen, was wiederum
es so noch nie gab in der globalen Me- te. Tausende gehen dabei zugrunde. Mecklenburg-Vorpommerns musste ihre Amts- Sie orientiere sich in ihrer „äußeren Kubatur“ am der Architektur zugutekommt und sie nicht durch
dienwelt, aber durchaus zukunftswei- Die Pässe werden ihnen abgenommen. scheune am Zisterzienserkloster abreißen, weil sie Original. Dafür wurde sie in gleich zwei Kategorien Solarzellen wieder verschandelt. Interessant sind
send sein könnte. „Das Netz“ – eine Es geht zu wie bei der Zwangsprosti- nicht mehr zu retten war, und neu errichten lassen. mit dem Landesbaupreis ausgezeichnet, für „Archi- auch die neuen Klinker, die wie Schindeln wirken
Art vernetztes Franchise-Unterneh- tution. Daniel wollte aussteigen. Dann Links im Bild steht vor der Pfarrkirche keine Ko- tektur“ und „Technische Gebäudeausrüstung“. und sich von den Altbauziegeln gegenüber abheben.
men für eine Serie aus vielen Serien, in war er tot. Birgit Minichmayr legt ihre pie der Klinkerscheune. Schon die hohen Gauben Die Architektur sieht man im Bild. Dass es sich Da sieht man: Manchmal geht es in der Stadt kon-
deren Erzähl-, Produktions- und Fi- ganze Galligkeit in die Rechtsanwältin und die großen Fenster, in denen sich das sanierte bei der Scheune um ein „Nahezu-Nullenergiehaus“ servativer zu als auf dem Land. mp
nanzierungsstruktur sich die Funkti- Lea Brandstätter, die den Tod Daniels
onsweise des modernen Fußballs spie- aufklären will und immer tiefer in den
gelt. Und die vor allem von seinen WFA-Sumpf gerät.
Finsternissen erzählt. Es gibt viel zu viele Geschichten im
Ein Joint Venture von Red Bull Me- „Netz“. Wer das sieht und das
dia und der Beta Film wurde gegrün- Fußballelend-Sonderheft der „Elf
det. Erst sollten es fünf vernetzte Seri- Freunde“ zur Fußball-WM liest und
en werden, geworden sind es erst ein- dann noch Infantinos Weltmeister-
mal eine österreichische („Das Netz – schaft guckt, dem ist auf dieser Welt
Prometheus“), eine deutsche („Das nicht mehr zu helfen.

KURZKRITIKEN

„FROM AFAR“ „MIDNIGHTS“ „RHEINGOLD“ „COMICVERFÜHRER“ „HÖHENRAUSCH“ SO WIRD DER „TATORT“

KLASSIK POP
Aus weiter Ferne kommt die Musik, Die Zeit der Pandemie hat Taylor
sie geht auf uns zu, schreitet aus. Swift genutzt, um sich mit ihrem
Víkingur Ólafsson sitzt am Flügel. Frühwerk zu beschäftigen. Wie schon
Er hat sich eine Playlist zusammen- als kleines Mädchen sang sie zur Gi-
gestellt. Die spielt er. Bach, Schu- tarre, nahm die Lieder auf und über-
mann, Bartók, Brahms, Mozart, Adès. ließ sie ihrer Plattenfirma, um sie als
Und immer wieder Miniaturen von „Folklore“, so hieß eines ihrer Lock-
György Kurtág. Kürzestgeschichten, down-Alben, zu verkaufen. Anschlie-
die ganze Romane erzählen. Kurtág ßend spielte sie zwei ältere Platten
ist einer von Ólafssons Hausgöttern, neu ein. Nun, auf ihrem nagelneuen
ihn hat er getroffen, den 95-Jährigen. Album „Midnights“, ist sie wieder
Frei habe er sich gefühlt hinterher, ganz die Alte und singt hochmoderne
sagt Ólafsson. Frei für „From Afar“, Popsongs, deren Poesie unter der ele-
diesen melancholischen, hyggeligen ganten Oberfläche der Musik kaum
Wahnsinn. 22 Stückchen, einmal auf auffällt. „Dies ist eine Liedersamm-
einem Flügel, einmal auf einem ge- lung, mitten in der Nacht geschrie-
dämpften offe- ben“, erklärt
nen Klavier ge- Taylor Swift:
KINO SACHBUCH SACHBUCH FERNSEHREIHE
Im Wikipedia-Eintrag zum kurdisch- Timur Vermes ist nicht nur Bestsel- Schon mit „Wolfszeit“ war Harald Wie sagt der Kölner immer: „Mer
deutschen Rapper Xatar erscheint lerautor („Er ist wieder da“), son- Jähner ein Bravourstück anschauli- muss och jönne könne.“ Wenn man
dessen Karriere als Drogenhändler dern auch überaus leidenschaftlicher cher Geschichtsschreibung gelun- 20 Jahre lang vor Millionen in den
und Goldbarrenräuber eher wie eine und kompetenter Comic-Kenner, der gen. Damals ging es um die Deut- Unter- und Abgründen der Domstadt
Nebentätigkeit, in Xatars Filmbio- regelmäßig über das Genre schreibt schen zwischen 1945 und 1955, nun ermittelt, kann man sich mal für ei-
grafie „Rheingold“ eher als Hauptbe- (früher auch in der WELT). Nun hat erzählt der Journalist vom Alltag der nen Fall dezent zurückhalten. Es ist
schäftigung. Fatih Akins neuer Film er eine Einführung in Geschichte Weimarer Republik, von Inflation Jubiläum in Köln, zwei Jahrzehnte, 85
benutzt das Motiv des Goldes, das und Vielfalt des Comics verfasst. und Yo-Yo-Fieber, vom Bauhaus und „Tatorte“. Ballauf und Schenk stehen
nie gefunden wird (bei Xatar und den (Harper Collins), in der er nicht nur vom Boxen, von Großraumbüros und vor der Leiche eines Mädchens. Wir
Nibelungen) und unsterblich macht, die großen Klassiker noch einmal fei- neuen Geschlechterrollen: „Höhen- haben es leben sehen und anschaffen
um zwei Mythologien zu verbinden, ert, sondern auch viele neue Anre- rausch“ (Rowohlt Berlin, 28 Euro) und Heroin drücken. Ein handelsüb-
die kartoffel- und die kanakdeutsche. gungen gibt und über umstrittene bietet viele, im Detail oft unbekann- licher Kölner „Tatort“. Sozialdrama,
Vor allem ist Akin fasziniert von ei- Phänomene wie Mangas (geliebt von te Facetten der deutschen Alltags- ehrlich, geradeaus. Dann dreht die
nem viel abenteuerlicheren Einwan- Jüngeren, gehasst von Älteren) oder kultur zwischen den beiden Welt- Kriminaltechnikerin frei, Freddy
dererleben als dem eigenen, von Ge- Comic-Verfil- kriegen. Jähner do- Schenk und Max Ballauf treten hinter
fängnissen im Irak nach Nordrhein- mungen (fast im- ziert nicht über die deren irrlichternde Selbstsuche zu-
Westfalen, von mer verabscheut Weimarer Repu- rück. Und Jo-
der Opern- auf von den Fans) In- blik, sondern er- sef Hader
WDR/ BAVARIA FICTION GMBH

spielt. Zwei „Eine Reise die Hip-Hop- telligentes äußert. zählt von ihr. Aus- taucht auf.
Stunden Medita- durch Schrecken Bühne, vom Für alle Liebhaber gesuchte histori- Muss man
tion. Gänge ins und Schweiß, die Shisha-Tabak- auf der Suche nach sche Fotografien schauen. Die
Innere. Zum Geschichte von Verkäufer zum historischer und ergänzen dieses Wurstbude
Stillwerden 13 schlaflosen Gastronomen. intellektueller fesselnd zu lesende bleibt dies-
schön. elk Nächten.“ mp hgr Vertiefung. mh Panorama. rei mal zu. elk

E
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
s ist ein Phänomen
wie man es in al-
ten Schwarz-
Weiß-Aufnah-
men aus den
Sechzigerjah-
ren von Auf-
tritten der Beatles sehen kann.
Hysterisch kreischende weib-
liche Fans, manche brechen
in Tränen der Ekstase aus.
Saalordner haben Mühe, sie
hinter der Absperrung zu-
rückzuhalten. Die Objekte
der Anbetung sind hin- und
hergerissen zwischen Ent-
zücken und Angst: Was ge-
schieht, wenn die Flut der
Anbetung alle Dämme bre-
chen lässt?
VON HANNS-GEORG RODEK
Früher nannte man das
Beatlemania. Jetzt heißt es
Leoomania und spielt sich in
Einkaufszentren ab. Die
Beatles machten Musik und
verkauften ihre Platten, an de-
nen sie lange gefeilt hatten.
Leoo macht Videos und bewirbt
fremde Produkte, von denen sie
keine Ahnung hat. Monetarisierung
heißt das auf Wirtschaftsdeutsch.
„Girl Gang“ ist ein Dokumentar-
film über einen der unehrlichsten Be-
rufe, der sich heutzutage auf diesem Pla-
neten ausüben lässt – den aber Millio-
nen junger Leute liebend gern ergreifen
würden: den des Influencers. Vielleicht
werden es ein paar von ihnen nicht mehr
wollen, sollten sie Susanne Regina Meu-
res’ Film zu Gesicht bekommen.
Leonie war 13, als Susanne Meures ihr
begegnete. Die Regisseurin suchte Mäd-
chen, die ein Leben durch das Medium
Social Media führen, auf Instagram,
YouTube und TikTok. Eine moderne
Girl Gang wollte sie porträtieren. Zu
diesem Zeitpunkt folgten Leonie be-
reits eine halbe Million Jünger, auch be-
kannt als Follower. Die Berlinerin –
Kunstname „Leoo“ – füttert sie mit Vi-
deohäppchen aus ihrem Leben, von den
Hausaufgaben, die sie noch machen
muss, bis zum Schmusen mit Cocker-
spaniel Maja. Sie trägt ihre langen, ro-
ten Haare gern als Pferdeschwanz, ist
unauffällig gestylt, bewegt sich gut zu
Musik und bricht bei jeder Gelegenheit
in Kichern aus. Ein ganz normaler Teen-
S
ager. Aber nicht mehr lange.
chnell erkannte Meures, dass sie
es nicht mit einer Gang von
Freundinnen zu tun hatte, son-
dern mit einer Familienbande. Einem
Familienunternehmen, genauer gesagt.
Andreas und Sani, Leonies Eltern, hat-
ten sich entschlossen, ihre Tochter
nicht in die Hände eines geldgierigen
Beraters zu geben, sondern sie selbst zu
managen. Sie hatten sogar ihren Job ge-
kündigt, um alles für die Tochter sein zu
können, Frühstücksmacher und Fahrer,
Kameramann und Verhandler, Beschüt-
zer und Antreiber.
Das klingt edel, klingt vernünftig.
Aber was bedeutet es? Es gibt nun nur
noch eine Ernährerin in der Familie, und
das ist ein pubertierender Teenager. Und
die Eltern müssen ihr Kind zu Leistung
antreiben: noch ein Video, noch ein
Mächtiger als Materie
D
Das Museum Barberini holt die Ausstellung „Surrealismus und Magie“ aus Venedig nach Potsdam – und feiert den emanzipierten Menschen als Zauberer
as Ende der Welt ist nah.
Dunkles Wasser steht der
nackten Schönheit bis zur
Brust. Pflänzlein welken,
Tierschädel schwimmen, doch die Fri-
sur sitzt tadellos. Das Gemälde „Die En-
den der Welt“ von Leonor Fini aus dem
Jahr 1949 ist eine von über 50 interna-
tionalen Leihgaben, die man in der Sur-
realismus-Ausstellung im Potsdamer
Museum Barberini zu sehen bekommt.
VON BORIS POFALLA
Die Biografie der Künstlerin hat bei
aller Individualität auch etwas Typi-
sches. Fini war eine in Argentinien ge-
borene italienische Malerin, die sich in
den 1920ern mit den Pariser Surrealis-
ten anfreundete, von Henri Cartier-
Bresson in einer berühmten Aufnahme
nackt fotografiert wurde und den Zwei-
ten Weltkrieg weitgehend in Monte
Carlo verbrachte.
Viele Künstler der Ausstellung
„Surrealismus und Magie – Verzauberte
Moderne“ balancierten entlang der Ab-
gründe der europäischen Geschichte. Die
Erfindung des Surrealismus als Bewegung
ging auf die verstörenden Erfahrungen
des Ersten Weltkriegs zurück. Ihr Vor-
KULTUR 43
NR. 43
Leoo ist Influencerin,
hat 1,6 Millionen
Follower und ernährt
als Teenager eine
ganze Familie.
Der Kinofilm Nicht im
„Girl Gang“ Bild:
dokumentiert ihr
Leonies
Eltern
Leben und
zeigt, was ein
17-Stunden-Tag am
Smartphone für
alle Beteiligten
bedeutet
© RISE AND SHINE CINEMA
ICH-AG im
die ihnen Technik und Zeit-
geist eröffnen, und sei der
Preis, 17 Stunden am Tag am
Smartphone zu hängen.
Shoo- Man kann im Influencen durch-
schwarzen Spiegel
ting, noch aus eine Art der Selbstermächtigung
ein Abgabe- sehen. Die Teenager heute sind jünger
termin. Es ist ein als die Euphorisierten von einst und be-
straffer Zeitplan für sitzen ganz andere Möglichkeiten als
die gesamte Woche, die Beatles-Fans, die sich Poster in ihre
und was anfangs eine ver- korrum- Zimmer hängten. Sie können das Mate-
gnügliche Freizeitaktivität piert wird. rial von ihrem Idol teilen, kommentie-
war, mutiert zum Dauerstress. Die alten Paro- ren, sich einschmuggeln. Sie können so-
Wir sehen die Momente, bevor Leonie len vom Kommunis- gar die Initiative ergreifen wie Melanie,
das Kameralicht einschaltet und nach- mus, der allein den Welt- Leoos größter Fan, die in dieser Rolle
dem sie es wieder ausknipst. Und wir se- frieden schütze, sind ersetzt selbst Tausende von Anhängern auf Ins-
E
hen, wie sie ihr Lächeln einschaltet und worden durch die Parolen des Konsu- tagram gewinnt.
wieder ausknipst. Es ist harte Arbeit, wäre ja blöd, sol- mismus, der allein den Wohlstand der
mühselige Arbeit, unehrliche Arbeit. che Summen abzulehnen. Welt sichern könne. s stimmt, durch die sozialen Me-
Der Kern des Influencens besteht da- Susanne Meures hat Leoo vier Jahre eine ostdeutsche Geschichte. Andreas Meures’ Film ist in vielerlei Hinsicht dien haben die Fans an Macht ge-
rin, ein perfektes Leben vorzugaukeln, begleitet, immer wieder besucht. Man und Sani haben bis 1989 in der DDR ge- ein kleines Wunder. „Girl Gang“ ist wonnen, auch wenn diese Macht
jenes perfekte Leben, das sich die Mil- spürt geradezu, wie der Druck wächst. lebt. Sie haben den Zusammenbruch ei- nicht der erste Film über Influencer, weitgehend in der Weiterverbreitung
lionen Follower wünschen. Und in die- Leonie macht sich selbst Druck, weil sie nes Systems erlebt, das ihnen Sicherheit aber Vorgänger wie „Lord of the Toys“ des von ihrem Idol vorgegebenen Images
ses ideale Leben Produkte einzustreu- ihre „Fans nicht enttäuschen“ möchte. versprach, und ziehen die radikale Kon- oder „Pornfluencer“ begnügten sich besteht; im Grunde sind sie gutwillige
en, Schuhe, Klamotten, Fast Food, Kos- Das ist mehr als eine Phrase. Das gesam- sequenz daraus: Sie verlassen sich nur mehr oder minder mit einer Abbildung Helfershelfer, die – im Gegensatz zum
metik, ohne die dieses Leben angeblich te System beruht auf der totalen Zu- noch auf sich selbst, auf den Familien- der Szene. Meures gelingt der Spagat, Influencer – nicht bezahlt werden. Man
nicht perfekt sein kann. Bloß nach pro- gänglichkeit des Vorbilds. Den Beatles verband. Sie sind die personifizierte die wachsende Ödnis hinter dem schö- sollte „Girl Gang“ am besten zusammen
fessioneller Werbung darf es nicht aus- konnte man schreiben und bekam – im Dreier-Ich-AG des durchdigitalisierten nen Schein zu zeigen, aber auch gleich- mit Meures’ vorhergehendem Film se-
sehen, sondern nach dem Alltagsleben besten Fall – eine Autogrammkarte zu- Neoliberalismus, Schmiede des eigenen zeitig den damit verbundenen Traum im hen, mit „Saudi Runaway“. Darin doku-
des Mädchens von nebenan, das man rück. Leoo kann man medial beinahe be- Glücks, die mit eiserner Disziplin daran Hamsterrad der Selbstverwirklichung. mentiert eine junge Frau in Saudi-Ara-
vorher singen, tanzen und blödeln gese- rühren, ihr Leben mit anderen teilen – arbeiten, diese eiserne Disziplin nicht Als Ü30-Erwachsener möchte man bien mit zwei Smartphones heimlich ih-
hen hat. Ein Sympathieträger ist ein oder zumindest das Ideal, das sie für ih- sichtbar werden zu lassen: locker sein, die drei manchmal am liebsten wach- ren Alltag, mit all den Einschränkungen,
perfekter Werbeträger. re Fans entwirft. Man kann mit ihr kom- immer gut drauf, stets ein Lächeln oder schütteln und aus ihrem goldenen Käfig denen Frauen in dem muslimischen Kö-
M
Hin und wieder blendet Susanne Meu- munizieren, und wenn sie auch nicht auf ein Scherz auf den Lippen. zerren, in den sie sich gesperrt haben, nigreich unterworfen sind. Schließlich
res ein paar Sekunden lang die Ergebnis- alle Botschaften antwortet, so doch auf und wenn der einzige Junge des Films gerät sie in eine Chatgruppe von Frauen,
se von Meinungsumfragen ein. Neun von viele. „Girl Gang“ begibt sich auch auf an ist versucht zu sagen, eine auftaucht, der Leoo per Hatemail „Du die aus dem Land fliehen wollen.
zehn Teenagern lassen sich offenbar von die Fanseite in Person von Leoos größ- größere Selbstverleugnung sei machst Scheiße, Scheiße, Scheiße“ zu- In „Saudi Runaway“ wurde das Handy
Influencern zum Kauf eines bestimmten tem Fan Melanie, die sehnsüchtig auf überhaupt nicht möglich, doch ruft, kann man sich ein klammheimli- – Meures nennt es „kleiner, schwarzer
Produkts verführen. 80 Prozent aller Leoos Antworten wartet und verzwei- das ist ja das Teuflische an dem Influen- ches Nicken kaum verkneifen. Doch das Spiegel“ – zu einem Mittel der Selbstbe-
Marken, sagt eine weitere Einblendung, felt weint, wenn keine kommen. cer-System: Anfangs befindet sich das, ist nicht Meures’ Haltung. In keinem freiung. In „Girl Gang“ wird es letzt-
setzen auf Influencer-Marketing. Wäre Die Eltern machen Druck, weil die was Leoo veranstaltet, durchaus in Moment desavouiert sie Leoo, Andreas endlich zum Werkzeug der Selbstein-
das nicht so, könnte Leoo mit einem ein- Tochter jetzt die Alleinverdienerin ist. Übereinstimmung mit ihrem Ich, bevor oder Sani. Es gibt keinen pädagogischen kerkerung. Inzwischen hat Leonie 1,6
zigen Auftrag nicht schlappe 15.000 Euro Womit wir bei einem anderen, leicht zu es im Laufe der Zeit von dem Druck des Zeigefinger über ihrem Lebensentwurf. Millionen Follower. Da bricht man nicht
verdienen. Und ihr Vater erklärt, man übersehenden Aspekt sind: Dies ist auch ständigen Postens, des Liefernmüssens Die drei nutzen lediglich die Chance, einfach aus.
1940er. Demgegenüber wirken die Män- den befreundeten Künstlerinnen Leono-
© VG BILD-KUNST, BONN 2022/ THE CHARLES B. GODDARD CENTER FOR THE VISUAL
ner bei ihr oft wie Haremsdamen. Eine ra Carrington und Remedios Varo.
mit dem Bildgrund verschmelzende Varos Malerei, so der Katalog, „ver-
dunkle Sphinx wacht über den Schlaf ei- sinnbildlicht die Idee, dass wahre Eman-
nes Epheben, dessen Beine geöffnet sind, zipation geistig und seelisch vom Indivi-
die Scham bedeckt von einem rosa Tuch duum selbst ausgehen muss – ein Kern-
– Gendertrouble im Zweiten Weltkrieg. gedanke surrealistischer Philosophie“.
Das Interesse der Ausstellung aber Carrington wiederum porträtiert ihren
AND PERFORMING ARTS, ARDMORE, OKLAHOMA
gilt vor allem der Magie, also der vermu- zeitweiligen Partner Max Ernst als ent-
teten Allmacht der Gedanken, die sogar rückten Wanderer im Federkleid, der ei-
Materie beeinflussen kann. Für den Vor- nen eiförmigen Behälter spazieren führt
denker des Surrealismus, André Breton, – ein klassisches Fruchtbarkeitssymbol.
war Magie kein esoterischer Aberglaube, Bemerkenswert an der Schau ist die
© VG BILD-KUNST, BONN 2022
sondern eine emanzipatorische Kraft, Bandbreite der Stile. Da gibt es die
bei der wiederum der Frau eine zentrale „Magnetischen Stürme“ eines Wolfgang
Rolle zukam – wenn auch eine latent Paalen, abstrakte Wucherungen in wei-
fragwürdige. Breton schaute wie viele ten Bildräumen aus den 1930ern, da sind
andere Surrealisten eben nicht nur nach die wie vom Computer gerenderten Ob-
vorn, sondern auch zurück ins 19. Jahr- jekte mit glatten Oberflächen eines
„Das Ende der Welt“ von Leonor Fini, 1949 „Großmutter Moorheads aromatische Küche“ von Leonora Carrington, 1975 hundert und damit hinein in die Roman- Yves Tanguy, ebenfalls aus den 1930ern,
tik, in der Frauen mit einer naturnahen und da ist auch Giorgio de Chirico mit
Irrationalität in Verbindung gebracht seinen leeren Plätzen und metaphysi-
denker André Breton wurde 1916 einberu- hat der Surrealismus in den internatio- Potsdam sind mit fast 90 Werken von wurden, die beim männlichen Schaffen- schen Musen, bereits 20 Jahre früher.
fen und pflegte als junger Mediziner trau- nalen Ausstellungshäusern ein Come- 20 Künstlern aber noch einmal deutlich den besondere Kräfte entfesseln sollte. Weniger bekannt sind die komplexen
matisierte Soldaten; Max Ernst war selbst back erlebt. Die gemeinsam mit der mehr zu sehen als in der Lagunenstadt. Was wie ein Nobilitierung klingt, ist ei- architektonischen Fantasien eines Kay
an der Front, zugleich vertraut mit okkul- Guggenheim Foundation organisierte Manches ist auf den ersten Blick gentlich ein Othering: die Frau als Sage oder Enrico Donati.
ten Ideen wie mit der Psychoanalyse. Schau „Surrealismus und Magie“ nimmt schwer zu datieren. Leonor Finis Amazo- mächtig lockendes Wesen, das keiner je- Was der Surrealismus war, darüber
Die Grauen des Zweiten Weltkriegs nun erstmals die Rolle des Übersinnli- nen mit den wallenden Mähnen und den mals ergründen kann, ist und bleibt eine wird man noch einmal neu nachdenken
schienen die surrealistischen Künstler chen ins Visier. Das Barberini markiert nackten Brüsten könnten auch aus einem klassische Männerfantasie. Besonders müssen.
vorwegzunehmen – und vielleicht noch dabei die zweite Station nach der Peggy italienischen Trashfilm der 1960er-Jahre spannend ist in diesem Zusammenhang
einige mehr. In den vergangenen Jahren Guggenheim Collection in Venedig. In stammen, gemalt wurden sie Anfang der das in Potsdam gezeigte Werk der bei- T Bis 29. Januar 2023
KUNSTMARKT
WELT AM SONNTAG NR. 43
KOMMENTAR
Von der
Volksbühne
zu Cartier
Von Swantje Karich
V
or fünf Jahren wurde Chris
Dercon als eine Art Königs-
mörder vom damaligen Kul-
turstaatssekretär Tim Renner von
der Tate Modern in London abgewor-
ben und an die Volksbühne nach Ber-
lin geschickt. Der Auftrag: die ver-
schworene Truppe aufbrechen. Doch
der Kulturmanager lief stattdessen
ins offene Messer und wurde nach zä-
hem Kampf als kapitalistischer Verrä-
ter verjagt – nach Paris. Wo er tat-
sächlich zum Turbokapitalisten wur-
de: Er vermittelte zwischen Macron
und den saudischen Prinzen im Fall
des 450-Millionen-Dollar-Bilds „Sal-
vator Mundi“, rühmte sich für die gi-
gantomanische Blue-Chip-Show für
Anselm Kiefer, um schließlich die
Vergabe der Pariser Kunstmesse an
die Art Basel zu lancieren, die an die-
sem Wochenende als Paris+ zum ers-
ten Mal stattfindet – und das Ende
der traditionsreichen Fiac bedeutet.
Das Urteil der Franzosen: Königin-
nenmord.
Dercon ist in Paris allerdings nur
ein gut geöltes Rädchen im Getriebe,
das benutzt wird, um den Einfluss der
Privatsammlungen auszuweiten, wie
Louis Vuitton im Bois de Boulogne
oder Pinault in der Bourse de Com-
merce. Auch Emma Lavigne hat gera-
de ihren Posten als Präsidentin des
Palais de Tokyo aufgegeben, um Ge-
neraldirektorin der Pinault Collecti-
on zu werden. Vom Palais zu Pinault
ist es nur unwesentlich weniger weit
als von der Volksbühne zur Fondation
Cartier. Denn dort hat nun Chris Der-
con angeheuert: in der Welt des Kul-
tursponsorings durch Luxusmarken,
die natürlich auch prominent auf der
Art Basel vertreten ist. Wie die Mu-
seen dieser Milliardärskonkurrenz et-
was entgegensetzen wollen ist frag-
lich, besonders wenn sie sich weiter
so anstellen wie der Louvre: Zur Pa-
ris+ ist dem Museum nicht mehr ein-
gefallen als eine Ausstellung zur „Ge-
schichte des Stilllebens“.
ANZEIGE
G
23. OKTOBER 2022 SEITE 44
rößer konnten die
Erwartungen an die
neue Pariser Kunst-
messe kaum sein.
Wird die französi-
sche Hauptstadt so
wieder Europas
Zentrum der Gegenwartskunst? Wie sie
es bis ins frühe 20. Jahrhundert war,
dann aber nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs in den einstweiligen Ruhe-
stand geschickt wurde.
VON MARCUS WOELLER
In Europa hatte sich stattdessen Lon-
don als Kunsthandelszentrum durchge-
setzt. Dass sich Paris im Aufwind befin-
det, war bereits seit Längerem spürbar.
Dann schlug der Brexit ein. Eine Dis-
ruption auch für den Kunstmarkt, selbst
wenn das Geschäft mit den Künsten in
der Pandemie gezeigt hat, dass es kri-
senresistenter ist als andere Branchen.
Ob Paris in dieser Situation London ab-
lösen kann, wird sich erst herausstellen.
In dieser Woche wurde aber eine wichti-
ge Weiche gestellt.
Paris+ par Art Basel heißt die Messe,
die erst vor neun Monaten erfunden
wurde. Es erschien wie ein Akt feindli-
cher oder zumindest nicht gerade
freundlicher Übernahme: Die Schweizer
Messegesellschaft MCH Group landete
mit der Dachorganisation für die staatli-
chen französischen Ausstellungshäuser
Réunion des musées nationaux et du
Grand Palais (RMN-GP) einen Coup, der
der Pariser Traditionsmesse Fiac den
Todesstoß versetzte. Dabei hatte die sich
unter der Leitung von Jennifer Flay in
den vergangenen Jahren zunehmend in-
F
ternationalisiert und professionalisiert.
ederführend für den Coup waren
der Global Director der Art Basel,
Marc Spiegler, und Chris Dercon,
der damalige Direktor der RMN-GP, der
jetzt bei der Fondation Cartier ange-
heuert hat. Und so wurde Spiegler bei
der Pressekonferenz nicht nur wohl-
wollend empfangen. Schließlich hatte er
jahrelang behauptet, es werde keine
vierte Art-Basel-Messe (neben Basel,
Hongkong und Miami Beach) geben.
Nun betonte er, man habe sich „eine
solche Gelegenheit nicht entgehen las-
sen“ können. Spiegler schürte sogleich
jene Hoffnung, „das Image von Paris
wiederherzustellen“. Die Gegenwart
zeigte sich aber am Eröffnungsmorgen
von einer ganz anderen Seite. Für Infla-
tionsausgleich und höhere Löhne strei-
kende Eisenbahner, Lehrer, Angestellte
Das NEUE Zentrum
Symbolkunst für die Place Vendôme: Alicja Kwades Monumentalskulptur „Au cours des mondes“
Die französische Hauptstadt empfängt Amerikaner und Asiaten zur
ersten Paris+ der Art Basel – an London glaubt hier niemand mehr
im öffentlichen Dienst hatten Paris
weitgehend lahmgelegt, der General-
streik drohte. Doch die saturierte
Kunstszene schwebt gewöhnlich über
derlei Alltagssorgen.
Schwerer wiegt die Frage, ob Paris
wirklich gegen London bestehen könne.
Dort waren gerade erst die Kunstmes-
sen Frieze (für zeitgenössische Kunst)
und Frieze Masters (für ältere und eta-
blierte Kunst) zu Ende gegangen.
90.000 Besucher wurden in den beiden
Zelten im Regent’s Park gezählt. Viele
Amerikaner, die sich über das schwache
Britische Pfund freuten, sollen da gewe-
sen sein. Aber wie viele würden in St.
Pancras den Eurostar besteigen, um nur
zwei Stunden und sechzehn Minuten
später am Gare du Nord anzukommen?
Seit vergangenem Wochenende sei
„eine Flut“ von Amerikanern und auch
Asiaten in Paris, sagt Karsten Greve, der
seit Jahrzehnten Kunsthandlungen in
Köln und Paris führt. Darunter seien
„Hunderte Art Consultants“ gewesen.
Ob das nur am VIP-Netzwerk der Art Ba-
sel liege? Das verstärke sicher den Trend,
so Greve. Paris sei seit etwa acht Jahren
immer attraktiver geworden. Auch we-
gen der Fiac, die schon besser gewesen
sei als die Frieze. „Die Investoren hinter
der Art Basel haben diese Dynamik von
Paris erkannt“, glaubt Greve. An London
scheint er nicht mehr zu glauben. Der
Brexit sei ein Schlag gewesen, dessen
Wellen noch gar nicht richtig angekom-
men seien. „Wie wenn eine Hallig unter-
geht“ – diesen Vergleich hat in Bezug auf
D
London wohl noch niemand gezogen.
er aktuelle Wettbewerbsvorteil
von Paris rühre aber schon län-
ger her, sagt Greve und erinnert
an den Sieg François Hollandes zum
französischen Staatspräsidenten im
Jahr 2012. Gewonnen habe der mit sei-
nem Versprechen, den Reichen 80 Pro-
zent Einkommensteuer abzuknöpfen.
Das sei zwar verfassungsrechtlich nicht
durchzusetzen gewesen, hätte aber eine
regelrechte Flucht der Reichen aus
Frankreich zur Folge gehabt. „Damit
gramms zeigen, macht Xippas eine Aus-
nahme. Die Galerie aus dem Marais (mit
Filialen in Genf und im uruguayischen
Punta del Este) stellt die sehenswerte
Videoinstallation „Mineur Mineur“ der
französischen Künstlerin Bertille Bak
vor (50.000 Euro, Edition von 7). Die
COURTESY OF PARIS+ PAR ART BASEL; KAMEL MENNOUR/MARC DOMAGE
39-Jährige widmet sich in einem Ta-
bleau vivant auf fünf Monitoren der
Kinderarbeit und wie sich in den Struk-
turen der Ausbeutung gewissermaßen
unsichtbare Gesellschaften gebildet ha-
ben. Das schwere Thema ist gleichzeitig
tief berührend, aber ästhetisch so
leichtfüßig inszeniert, dass man unwill-
kürlich innehält und sich lange hinsetzt,
um sich hineinziehen zu lassen. Über
den Sommer war es in Baks Ausstellung
I
im Louvre Lens zu sehen.
n der Sektion „Émergentes“ für 16
junge Galerien hatte Seventeen einen
guten Lauf. Die Galerie aus London
hat „Whoopsie’s Dream“ von Patrick
Goddard, eine 20-minütige, surreale
Filmkomödie um ein sprechendes
Schoßhündchen, für 17.000 Pfund ver-
kauft. Passende Wandarbeiten mit fah-
renden Modelleisenbahnen gingen für
10.000 Pfund weg. Einen der am besten
kuratierten Stände hat die Londoner
Galerie Victoria Miro. Aufgeteilt in klei-
ne Kabinette, stellt sie Gemälde von Ce-
lia Paul vor (15.000 bis 70.000 Pfund).
Die einstige Partnerin von Lucian Freud
hat sich einer existenzialistischen Intro-
spektive verschrieben. Im Kontrast dazu
stehen poetische Schwarz-Weiß-Foto-
sind in Paris etliche Top-Immobilien für grafien von Francesca Woodman um
ausländische Investoren frei gewor- 1979/80 und neueste Bildcollagen der
den“, schlägt Greve den Bogen, dass die Simbabwerin Kudzanai-Violet Hwami.
ihre Steuern nicht in Frankreich zahlen, Viele der großen Galerien mischten
habe der Luxusindustrie zusätzlichen ihr zeitgenössisches Angebot mit Wer-
Schub gegeben. ken aus dem Sekundärmarkt. Gut mög-
Und wie sehr die Kunst längst ein ei- lich, dass dieses weite Feld der Nach-
gener Zweig dieser Luxusindustrie ge- kriegsmoderne, der vergessenen oder
worden ist, erkennt man in Paris viel- übersehenen Positionen und der vielen
leicht noch deutlicher als in London. Künstlernachlässe, um die Galeristen so
Längst machen den staatlichen Museen zahlreich konkurrieren, im kommenden
private Ausstellungshäuser von Pinault Jahr noch stärker wird – auch um den
bis Louis Vuitton Konkurrenz. Sie pro- Wettbewerb mit der Frieze Masters auf-
fitieren von einem 2003 unter dem zunehmen. Dann sollen die Tageslicht-
kurzzeitigen Kulturminister Jean- hallen des Grand Palais saniert sein und
Jacques Aillagon erlassenen Gesetz. Es mehr Platz für die Paris+ bieten. Die
erlaubt Unternehmensstiftungen, ihre Stände der dann rund 200 Aussteller
Investitionen in Kunstbesitz vom Ge- sollen außerdem größer werden. Und
winn abzuschreiben. die Stadt Paris, die sich kurz vor den
Im Grand Palais Éphémère haben Olympischen Spielen auch kulturell
sich derweil unter der künstlerischen runderneuert, steht hinter der Messe,
Leitung von Clément Delépine zur Pa- deren „Plus“ freilich vielen Galeristen
ris+ 156 größtenteils europäische Gale- und Besuchern noch ausbaufähig er-
rien versammelt. 61 davon haben einen scheint. Der Vertrag mit der Art Basel
Sitz in Frankreich. Während die mei- wurde für sieben Jahre geschlossen.
sten Händler ein Best-of ihres Pro- Viel Zeit, sich unverzichtbar zu machen.
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
DIE HÖHEPUNKTE DES TAGES SAMSTAG/SONNTAG, 22./23. OKTOBER 2022
S A M S TAG 2 2 .1 0 . 2 0 2 2
ARD
5.30 Kinder-TV 9.50 ¥ Tagesschau 9.55
¥ g Elefant, Tiger & Co.
11.30 ¥ g Quarks im Ersten
12.00 ¥ g Tagesschau
12.05 ¥ Die Tierärzte Reihe
12.55 ¥ g Tagesschau
13.00 ¥ g Die Liebe kommt selten
allein Melodram (D 2006)
14.30 ¥ g Utta Danella – Die Hoch-
zeit auf dem Lande Liebesdrama
(D 2002) Mit Mathieu Carrière
16.00 ¥ g W wie Wissen – Spezial
16.30 ¥ g Alle lieben Ota –
Große Kunst aus Böhmen
17.00 ¥ g Tagesschau
17.10 ¥ g Brisant Magazin
17.50 ¥ g Tagesschau
18.00 ¥ Sportschau Magazin
20.00 ¥ g Tagesschau
20.15 ¥ g Das große Schlager-
jubiläum 2022 – auf die nächs-
ten 100! Mit Helene Fischer,
Roland Kaiser, Andreas Gabalier,
Kelly Family, Jürgen Drews, Ross
Antony, Melissa Naschenweng, ,
Andy Borg, DJ Ötzi, Daniela
Katzenberger, Lucas Cordalis
23.30 ¥ g Tagesthemen
23.50 ¥ g Das Wort zum Sonntag
23.55 ¥ g Mai time is now Reihe
1.30 H ¥ g Thirteen Days Polit-
thriller (USA 2000) Mit Kevin
Costner. Regie: Roger Donaldson
3SAT
10.45 ¥ Liebesg’schichten und Heirats-
sachen 11.30 ¥ g Liebe versetzt Ber-
ge Heimatfilm (D/A 1999) 13.00 ZIB 13.10
Aus dem Ausland 13.15 quer 14.00 Län-
dermagazin 14.30 ¥ Kunst & Krempel
15.05 g Der wilde Wald der Kaiserin
15.20 ¥ g Unsere Wälder Dokureihe
17.30 ¥ Clarissas Geheimnis Drama
(D/A 2012) Mit Katja Riemann
19.00 ¥ g heute
19.20 g Futur Wir – Das neue
deutsche Selbstverständnis
(1/3) Wer wir sein wollen
Gäste: Max Czollek, Hendrik
Bolz, Apsilon, Düzen Tekkal
20.00 ¥ g Tagesschau
20.15 g Don Giovanni Oper. Mit Kyle
Ketelsen, Ain Anger, Stanislas
de Barbeyrac. Aufzeichnung
aus der Wiener Staatsoper
23.05 H ¥ g Offenes Geheimnis
Drama (E/F/I/ARG/D 2018)
Mit Penélope Cruz, Javier
Bardem. Regie: Asghar Farhadi
1.10 g lebens.art Magazin
S O N N TAG 2 3 .1 0 . 2 0 2 2
ARD
5.30 Kinder-TV 7.20 ¥ g Till Eulen-
spiegel Kinderfilm (D 2014) 9.15 Kinder-
TV 10.10 Die Maus 10.40 ¥ g Tages-
schau 10.45 ¥ g Friedenspreis des
Deutschen Buchhandels Gala. Verlei-
hung an Serhij Zhadan
12.03 ¥ g Presseclub Diskussion
12.45 ¥ g Europamagazin
13.15 ¥ g Wildes Südostasien
14.03 ¥ Das Traumhotel: Malaysia
TV-Reiseepisoden (D/A 2009)
15.30 ¥ g Das Traumhotel:
Kap der Guten Hoffnung
TV-Reiseepisoden (D/A 2009)
17.00 ¥ g Brisant Magazin
17.45 ¥ g Tagesschau
18.00 ¥ g Bericht aus Berlin
18.30 ¥ g Weltspiegel Magazin
19.15 ¥ g Sportschau
20.00 ¥ g Tagesschau
20.15 ¥ g Tatort: Spur des Blutes
TV-Krimi (D 2022) Mit Klaus J.
Behrendt. Regie: Tini Tüllmann
21.45 ¥ g Brokenwood – Mord
in Neuseeland: Tödliche
Erinnerung TV-Krimi (NZ 2017)
Mit Neill Rea, Fern Sutherland,
Nic Sampson. Regie: Mark Beesley
23.15 ¥ g Tagesthemen
23.35 ¥ g ttt extra Magazin
0.20 H ¥ g Das kalte Herz
Märchen (D 2016) Mit Frederick
Lau. Regie: Johannes Naber
3SAT
10.10 g Das Blaue Sofa 11.40 g Ein
Leben für Liechtenstein – Fürst Hans-
Adam II. 12.25 ¥ g Druckfrisch 13.00 ¥
ZIB 13.05 ¥ g Himmelslust 13.30 ¥ g
Magie der Märchen Dokumentation
15.00 ¥ g Magisches Deutschland
15.50 ¥ g Die verborgene Welt von
Stonehenge Dokumentation
16.35 H ¥ õ g Maria Mafiosi
Komödie (D 2017) Mit Lisa Maria
Potthoff. Regie: Jule Ronstedt
18.00 g Buchzeit – Crime Time
19.00 ¥ g heute
19.10 g Migräne Dokumentation
19.40 g Schätze der Welt Dokureihe
20.00 ¥ g Tagesschau
20.15 g Till Reiners’ Happy Hour
21.00 g Die Anstalt Politsatire
21.45 ¥ g Charlottes Welt – Geht
nicht, gibt’s nicht Komödie
(D 2013) Mit Aglaia Szyszkowitz
23.10 H ¥ õ g The Residenth
Mysterythriller (GB/USA 2011)
0.35 H Blue Tiger Actionthriller
(USA/J 1994) Mit Virginia Madsen
WIR SIND
LIVE IM TV
NR. 43
ZDF
5.30 Kinder-TV 10.05 ¥ g Terra X-
Show Kids Krasse Geheimnisse
11.10 g heute Xpress
11.15 ¥ g SOKO Stuttgart
12.00 ¥ g einfach Mensch
12.15 ¥ g Das Glück der Anderen
Liebeskomödie (D 2014)
13.40 ¥ g Rosamunde Pilcher:
Wahlversprechen und andere
Lügen Melodram (D 2015)
15.10 ¥ g heute Xpress
15.15 ¥ g Bares für Rares
16.10 ¥ g Die Rosenheim-Cops
17.05 ¥ g Länderspiegel Magazin
17.35 ¥ g Zum Schutz der Regen-
wälder – Wie Palmöl eine
Zukunft hat Reportage
18.05 ¥ g SOKO Wien
19.00 ¥ g heute / Wetter
19.25 ¥ g Der Bergdoktor
20.15 ¥ g Friesland: Fundsachen
TV-Krimi (D 2022) Mit Maxim
Mehmet. Regie: Dominic Müller
21.45 ¥ g Der Alte Krimi-Serie
Schöner Schein
22.45 ¥ g heute-journal
23.00 ¥ g Das aktuelle Sportstudio
0.25 g heute Xpress
0.30 ¥ g heute-show
1.00 H ¥ g Crimson Peak Horror-
film (USA/MEX 2015) Mit Mia
Wasikowska, Jessica Chastain
Regie: Guillermo del Toro
ARTE
5.55 g George Orwell, Aldous Huxley
7.20 g GEO Reportage 9.10 g Stadt
Land Kunst Spezial 10.30 g Zu Tisch ...
Reportagereihe 11.05 g Tierische Frei-
beuter der Meere 11.55 g Spanien –
Das entzweite Land 12.50 g Wasser
ist Zukunft 13.35 g Extremadura, ein
Naturparadies in Europa 14.20 g Ibe-
ria – Zeit der Tier-Hochzeiten
15.05 g Spaniens einzigartige Wald-
landschaft Dokumentation
15.55 g Abenteuer Spanien
17.25 Arte Reportage Reportagereihe
18.15 Mit offenen Karten Magazin
18.30 g Die Pferderetterin Doku
Spaniens vergessene Tragödie
19.20 Arte Journal
19.40 Zu Tisch ... in Kastilien – León
20.15 g 24 Stunden Reihe. Spanien
21.45 ¥ g Künstliche Intelligenz –
Haben Maschinen Gefühle?
22.40 g Der wahre Champion Doku-
mentation. Siegen mit Hightech
23.35 g 42 Bist Du psychopathisch?
0.05 g KurzSchluss Magazin
ZDF
6.00 Kinder-TV 9.03 ¥ g Zwei Spra-
chen – Eine Familie 9.30 ¥ g Ev. Got-
tesdienst 10.15 ¥ g Das Traumschiff:
Vancouver Vancouver. TV-Reiseepiso-
den (D 2005) Mit Heide Keller
11.55 ¥ g Bares für Rares –
Lieblingsstücke Magazin
14.10 ¥ g Bares für Rares –
Händlerstücke Neue Folgen
14.55 Mein Zuhause richtig schön
15.45 ¥ g Tod in der Wildnis Doku
16.15 ¥ g Die Rosenheim-Cops
17.00 ¥ g heute
17.10 ¥ g sportstudio reportage
18.00 ¥ g Abenteuer Autokauf –
Von Mondpreisen und Liefer-
zeiten Dokumentation
18.30 ¥ g Terra Xpress Magazin
18.55 ¥ g Aktion Mensch Gewinner
19.00 ¥ g heute
19.10 ¥ g Berlin direkt Magazin
19.30 ¥ g Unsere Kontinente
20.15 ¥ g Inga Lindström: Fliehen-
de Pferde in Sörmland Roman-
ze (D/S 2022) Mit Vita Tepel
21.45 ¥ g heute-journal
22.15 ¥ g The Chelsea Detective
23.40 ¥ g Precht Gespräch
Keine Zeit fürs Klima – Moral im
Zwiespalt. Gast: Luisa Neubauer
(Klimaschutzaktivistin)
0.30 ¥ Der große Knall. Deutsch-
land und der Atomkrieg (Wh.)
ARTE
12.15 g Der geheimnisvolle Brillenbär
13.00 g Baumkängurus: Geister des
Waldes 13.45 H g Blondinen bevor-
zugt Musikkomödie (USA 1953)
15.15 g Marilyn – Made in
Hollywood Dokumentation
16.10 g Joan Mitchell – Poetin
des Abstrakten Porträt
17.05 g Twist Magazin
17.40 Sternstunden der Musik
18.25 g Zu Tisch ... in der Provence
18.55 g Karambolage
19.10 Arte Journal
19.30 g Auf uralten Pfaden –
Viehtriebe im Hochgebirge
20.15 H g Crimson Tide – In tiefs-
ter Gefahr Thriller (USA 1995)
Mit Denzel Washington (Wh.)
22.10 g Denzel Washington –
Spiegelbilder Amerikas Porträt
23.05 g Klangwütig – Ein Jahr
an der Karajan-Akademie
0.00 g Daniel Barenboim dirigiert
Ludwig van Beethovens
Symphonie Nr. 4 Konzert
RTL
6.25 g King of Queens Sitcom. Das lusti-
ge Quartett / The King of Sandwich / Haus-
arrest / Happy Hour / Der Liebestöter /
Echte Wohltäter / Reich für einen Tag /
... er hat doch gebohrt! / Psycho-Kisten /
Ein seltsames Paar. Mit Kevin James
11.10 Hör mal, wer da hämmert!
Sitcom. Der Garagenkrieg /
Frauen und Poker / Al, der
Aufreißer / Die neue Anlage /
Die Überraschung. Mit Tim Allen
13.45 g Der Blaulicht-Report Doku-
Soap. Frau mit Kinderwagen wird
angegriffen / 8-Jährige verliert ih-
ren Vater beim Versteckspiel
15.20 g Pompöös! Die fabelhafte
Welt des Harald Glööckler
16.45 g Explosiv – Weekend Magazin
17.45 g Gala Magazin
Moderation: Annika Lau
18.45 g RTL Aktuell
19.05 g Life – Menschen,
Momente, Geschichten Magazin
20.15 g RTL Wasserspiele Show
Gast: Prince Damien. Mit Mathias
Mester, Filip Pavlovic, Benjamin
Melzer, Marc Terenzi, Hanna
Sökeland, Lola Weippert, Ekate-
rina Leonova, Larissa Marolt
23.30 g Take Me Out Show
Moderation: Jan Köppen
1.40 g Mario Barth rettet
Deine Liebe Show
2.30 g Die Cindy aus Marzahn
Show Mit Mario Barth, Bülent
Ceylan. Moderation: Ilka Bessin
WDR
10.30 ¥ g Eine Robbe zum Verlieben
Liebeskomödie (D 2006) 12.00 g Eine
Robbe und das große Glück Liebesko-
mödie (D 2007) 13.25 ¥ g Hogräfer &
Binkenstein 13.55 Sport inside: Katar –
WM der Schande 14.25 ¥ Doc Esser
15.10 ¥ g Björn Freitags
Heimathäppchen-Duell
15.40 ¥ g Familien-Kochduell
16.30 ¥ g Land und lecker
17.15 ¥ g Einfach und köstlich
17.45 ¥ Kochen mit Martina
und Moritz Magazin
18.15 ¥ g Westart Magazin
18.45 ¥ g Aktuelle Stunde Magazin
19.30 ¥ g Lokalzeit Magazin
20.00 ¥ g Tagesschau
20.15 ¥ g Tatort: Der dunkle Fleck
TV-Krimi (D 2002)
21.45 ¥ g Mitternachtsspitzen
22.45 ¥ g Jürgen Becker – „Der
Künstler ist anwesend“ Show
0.15 ¥ g Popmusik – Ein Abend
mit Rainald Grebe und Fortuna
Ehrenfeld Konzert
RTL
5.10 g RTL Wasserspiele Show (Wh.)
8.15 H g Wintersonnenwende – Die
Jagd nach den sechs Zeichen des Lichts
Fantasyfilm (USA 2007) Mit Alexander
Ludwig 10.05 H g Die Reise zum Mit-
telpunkt der Erde Abenteuerfilm (USA
2008) Mit Brendan Fraser, Josh Hutcher-
son, Anita Briem. Regie: Eric Brevig
11.40 H g Wickie und die starken
Männer Abenteuerfilm (D 2009)
Mit Jonas Hämmerle, Waldemar
Kobus. Regie: Michael Herbig
13.25 H g Wickie auf großer Fahrt
Kinderfilm (D 2011) Mit Jonas
Hämmerle, Waldemar Kobus
Regie: Christian Ditter
15.10 H g Asterix und die Wikinger
Zeichentrickfilm (F/DK 2006)
16.45 g Die Versicherungsdetektive
Doku-Soap
18.45 g RTL Aktuell
19.05 g Exclusiv – Weekend Magazin
20.15 g Die 100.000 Mark Show
Moderation: Ulla Kock am Brink
Vier Paare werden an den Start
gehen, doch nur dem Siegerpaar
winkt am Ende das große Geld.
23.30 g stern TV am Sonntag
0.30 H g Brick Mansions
Actionfilm (USA/E/F/CDN 2014)
Mit Paul Walker, David Belle,
RZA. Regie: Camille Delamarre
2.20 H g Collide Actionthriller (D/
GB/USA/CHN 2016) Mit Felicity
Jones, Anthony Hopkins, Ben
Kingsley. Regie: Eran Creevy
WDR
9.50 ¥ g Westart 10.20 ¥ g Kölner
Treff 11.50 ¥ g Rheinhotel Dreesen –
Das Weiße Haus am Rhein 12.35 ¥ g
Einfach Leben! 13.20 g Die Sonnen-
menschen von Tokelau 14.05 ¥ g
Verrückt nach Meer Dokureihe
15.45 ¥ g Kilimandscharo – Reise
ins Leben Abenteuerfilm (D ’17)
17.15 Die Tierärzte – Retter mit Herz
18.00 ¥ Tiere suchen ein Zuhause
18.45 ¥ g Aktuelle Stunde
19.30 ¥ g Westpol Magazin
20.00 ¥ g Tagesschau
20.15 ¥ g Wunderschön! Kleines
Land, große Vielfalt: Luxemburg
21.45 ¥ g Sportschau –
Bundesliga am Sonntag
22.15 ¥ g Tatort: Auf ewig Dein
TV-Krimi (D 2014) Mit Jörg
Hartmann. Regie: Dror Zahavi
23.45 ¥ g Zeiglers wunderbare
Welt des Fußballs Show
0.15 H ¥ g Kein Science Fiction
Komödie (D 2003) Mit Jan Henrik
Stahlberg. Regie: Franz Müller
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FERNSEHEN 45
SAT.1 PRO 7 KABEL 1 BILD-TV
5.05 g Sechserpack Show (Wh.) 5.25 6.10 Galileo 7.10 ¥ g Two and a Half 5.00 ¥ g Hawaii Five-0 Krimi-Serie. Nachrichten um 8, 9, 12, 15, 18, 19 und 20 5.15 g Lost Places Global Icons 6.00 g
Die dreisten drei – Die Comedy-WG Men 8.05 ¥ g The Big Bang Theory Dunkle Stunden 5.40 Watch Me – Kino- 8.00 Am Morgen 11.15 g Katar – nein Ikonen Dokureihe. Eiffelturm vs. Tokyo
Show (Wh.) 5.40 g Auf Streife Doku- Sitcom 9.20 g The Neighborhood Co- magazin (Wh.) 5.45 ¥ g The Mentalist danke? 12.00 g Die Welt am Mittag Skytree / Kolosseum vs. Wembley-Stadi-
Soap. Koitus in der Familienkutsche / Auf medy-Serie 9.45 ¥ g Will & Grace Sit- Spätes Wunder (Wh.) 6.15 ¥ g Blue 12.05 g Caravaning & Cooking 13.00 on / Boeing 314 Clipper vs. Airbus A350 /
falschen Sohlen / Das letzte Eichhorn / com 10.40 g Speechless Comedy-Serie Bloods – Crime Scene New York Krimi- g Die Welt am Mittag 13.05 g Big Empire State Building vs. Burj Khalifa /
Blendwerk / Wir brauchen Bass / Fami- 13.30 ¥ Die Simpsons Lisa, die Schön- Serie. Achtzehn Jahre / Ein Abend in der Mac, Whopper & Co. 14.00 g WELT- Golden Gate Bridge vs. Viadukt von Mil-
lienausflug / Blutwäsche heitskönigin / Bösartige Spiele / Stadt / Schwarz und Blau / Der Lockvo- Newsroom 14.05 g Von Currywurst lau / Antikes Alexandria vs. Rotterdam /
12.10 g Auf Streife – Berlin Doku- Bart wird bestraft / Marge muss gel / Die 3000-Dollar-Frage 10.45 ¥ g bis Sauerbraten Reportage Eiffelturm vs. Tokyo Skytree / Kolosseum
Soap. Dieb klaut Auto mitsamt jobben / Laura, die neue Nachba- Castle Krimi-Serie. Keine Ganovenehre / 15.05 g Project Impossible vs. Wembley-Stadion / Boeing 314 Clipper
Kind / Kids überfallen Würst- rin / Einmal als Schneekönig! Leiche am Stiel / Zu viel des Guten / Der 16.00 g WELT-Newsroom vs. Airbus A350 / Empire State Building vs.
chenverkäuferin / Gebraucht / 16.20 ¥ g Two and a Half Men tote Spion / Eine tödliche Affäre 16.05 g Project Impossible Burj Khalifa / Golden Gate Bridge vs. Via-
Tagesmutter braucht Ruhe Sitcom. Die Mutterfigur / 15.25 ¥ g Hawaii Five-0 17.05 g Die Super-Airliner dukt von Millau / Antikes Alexandria vs.
16.00 g Die Ruhrpottwache Das Wunschkind Krimi-Serie. Große Träume 18.05 g Mega-Konstruktionen Rotterdam / Eiffelturm vs. Tokyo Skytree
Doku-Soap. Der Apotheken- 17.20 g Fresh off the Boat Mit Alex O’Loughlin 19.05 g „Peter Pan“ – Eine Fähre 17.05 g Inside Dubai: Playground of
räuber / Die falsche Geisel / Sitcom. Irische Zwillinge / 16.20 g News wird vergrößert Doku the Rich Dokumentationsreihe
Versehentlich verprügelt Wo sind all die Cowboys hin? 16.35 ¥ g Hawaii Five-0 Krimi- 20.05 g Alpina – Luxus-BMWs 20.15 g Inside Monaco –
19.55 g Sat.1 Nachrichten 18.15 Newstime Serie. Streithähne / Das letzte mit 600 PS Reportage Adel, Geld und Glamour
20.15 H ¥ g Der Anschlag Thriller 18.25 ¥ g Die Simpsons Zeichen- Kapitel / Der Anfang vom Ende / 21.05 g Building Big Dokumentationsreihe. Es liest:
(USA/D/CDN 2002) Mit Ben trick-Serie. Daddicus Finch / Ohana. Mit Alex O’Loughlin 23.05 g Heilig’s Blechle Doku Fred Sirieix. Monaco, ein Zwerg-
Affleck, Morgan Freeman, James Weihnachten in Florida / Plastik- 20.15 ¥ g 9-1-1: Lone Star Drama- staat nicht viel größer als der
Cromwell. Regie: Phil Alden trauma / Das Mädchen im Bus Serie. Hochmut kommt vor dem Londoner Hyde Park, liegt an der
Robinson. Der CIA-Agent Jack 20.15 ¥ g The Masked Singer Show Fall / Tornado. Mit Rob Lowe französischen Riviera. Jeder drit-
Ryan will einen nuklearen Ver- Jury: Ruth Moschner. Modera- 22.15 ¥ g Navy CIS: L.A. te Einwohner hier ist ein Millio-
nichtungskrieg zwischen Ameri- tion: Matthias Opdenhövel Krimi-Serie. Tot im Wasser / när. Auf diesem exklusiven Spiel-
kanern und Russen verhindern. Im Ganzkörperkostüm singen Byron Brown. Navy-Lieutenant platz der Superreichen tummeln
22.50 H ¥ g Maze Runner – Prominente vor einem Rateteam, Naomi Elder, die in Los Angeles sich Milliardäre und Menschen,
Die Auserwählten im Labyrinth das herausfinden muss, wer Urlaub hatte, wurde ermordet. die ihnen das Leben schön ma-
Sci-Fi (USA/GB 2014) Mit Dylan hinter der Maske steckt. Bei der Durchsuchung ihres chen. Diese Folge ermöglicht
O’Brien, Thomas Brodie-Sangster, 23.30 g The Masked Singer – Wohnhauses werden brisante 19.05 In den German Dry Docks in einen Blick hinter die Kulissen
Kaya Scodelario. Regie: Wes Ball red. Spezial Magazin Daten über China entdeckt, die Bremerhaven steht ein fast unmög- und zeigt die dekadenten Leben
1.00 H ¥ g Der Anschlag Thriller Moderation: Annemarie sie offenbar verkaufen wollte. licher Auftrag bevor: Die Autofähre der Einwohner Monacos.
(USA/D/CDN 2002) Mit Ben Carpendale, Viviane Geppert 0.10 ¥ g Navy CIS Krimi-Serie „Peter Pan“ der TT-Line wird vergrö- 23.20 g Inside New York Dokureihe
Affleck, Morgan Freeman (Wh.) 0.00 g The Masked Singer Ex ist Ex / Der Eismörder ßert – von 190 auf 220 Meter Länge. Schöne und Reiche / Traum und
3.00 H ¥ g Maze Runner – Die Show (Wh.) 1.55 ¥ g 9-1-1: Lone Star Das Schiff soll komplett zerteilt wer- Wirklichkeit / Abenteuer Luxus
Auserwählten im Labyrinth 2.45 g The Masked Singer – Drama-Serie. Hochmut kommt den, damit ein vorgefertigtes Verlänge- 1.30 g Inside Dubai: Playground of
Sci-Fi-Film (USA/GB 2014) (Wh.) red. Spezial Magazin (Wh.) vor dem Fall / Tornado (Wh.) rungsstück eingepasst werden kann. the Rich Dokumentationsreihe
NDR BAYERN SWR HESSEN MDR
10.00 ¥ g S.-H. Magazin 10.30 buten un 10.55 ¥ Schlaflos in Schwabing Komö- 9.30 ¥ Marktcheck 10.15 ¥ g Preis- 8.25 Maintower 8.50 ¥ Heidi 9.15 ¥ Fa- 18.00 ¥ Heute im Osten 18.15 ¥ g Un-
binnen 11.00 ¥ Hallo Nieders. 11.30 ¥ die (D 2012) 12.25 Kreuzer trifft ... 12.55 wert, nützlich, gut? 11.00 ¥ g Nacht- milie Dr. Kleist 10.05 Bärbel Schäfers terwegs in Thüringen 18.45 ¥ g
Hofgeschichten 12.00 ¥ Als der Rock ’n Ski alpin: Weltcup Riesenslalom Damen, café 12.30 ¥ g Ein Wahnsinnstag Ko- Bücher-Talk 10.35 ¥ Kölner Treff 12.15 Glaub-würdig 18.54 ¥ Sandmann 19.00
’Roll nach Hamburg kam 12.45 ¥ g 2. Lauf 14.20 Verrückt nach Meer mödie (D 2022) 14.00 Fußball: 3. Liga SV ¥ Nachtcafé 13.45 ¥ NDR Talk Show ¥ g Regional 19.30 ¥ aktuell 19.50 ¥
Krieg um Taiwan? Die Macht der Mi- 15.10 Glockenläuten Magazin Waldhof Mannheim – Rot-Weiss Essen 16.00 ¥ Hessen à la carte Quickie 20.15 H ¥ g Der gezähmte
crochips 13.15 ¥ g Mit dem Schiff 15.15 ¥ Bauer gesucht 16.00 Eisenbahn-Romantik 17.15 ¥ Challenge Nachhaltigkeit – Widerspenstige Komödie (I 1980) 21.55
durch Schottland – Der Caledonian 16.00 ¥ BR24 Magazin 16.15 ¥ Garten & Lecker eine Straße will das Klima H ¥ g Robinson jr. Komödie (I 1976)
Canal 14.00 ¥ g Fußball: 3. Liga 13. 16.15 ¥ Die Donau – Lebensader 16.30 ¥ g Koch ein! retten Lecker ohne Fleisch? Mit Paolo Villaggio 23.40 Mankells Wal-
Spieltag: SV Elversberg – VfL Osnabrück Europas Dokumentation 17.00 ¥ g Riga, da will ich hin! 17.45 maintower weekend Magazin lander: Der unsichtbare Gegner Krimi-
16.00 ¥ g Rute raus, der Spaß be- 17.00 ¥ Anna und die Haustiere 17.30 ¥ SWR Sport 18.15 Hauptsache Kultur nalfilm (S/D/DK/N/FIN 2006)
ginnt! Neue Staffel 17.15 Blickpunkt Sport 18.00 ¥ Aktuell BW 18.45 ¥ Der Camping-Check
16.30 ¥ g Erlebnis Weserradweg – 17.45 ¥ Zwischen Spessart und ... 18.15 ¥ menschen & momente 19.30 ¥ g hessenschau
Von Nienburg bis ans Meer 18.30 ¥ BR24 Magazin 18.45 ¥ Stadt – Land – Quiz Show 20.00 ¥ Tagesschau
STREAMING-TIPP
17.35 ¥ Neues aus Büttenwarder 19.00 ¥ Gut zu wissen Magazin 19.30 ¥ SWR Aktuell BW 20.15 g Sagenhaft Reportagereihe
18.00 ¥ g Nordtour Magazin 19.30 ¥ Kunst & Krempel Magazin 20.00 ¥ g Tagesschau Das Sächsische Burgenland Barbaren (Historienserie) Staffel 2: Ein
18.45 ¥ g DAS! Magazin 20.00 ¥ Tagesschau 20.15 ¥ g Nord bei Nordwest: 21.45 g Höllental – Schicksals- Jahr nach der Varusschlacht sind die rö-
19.30 Ländermagazine 20.15 H ¥ Das fliegende Klassen- Dinge des Lebens TV-Krimi (D schlucht Dokumentarfilm mischen Truppen stärker denn je nach
20.00 ¥ g Tagesschau zimmer Jugendfilm (D 1973) 2020) Mit Hinnerk Schönemann (D 2018) Regie: Tamara Spitzing Germanien zurückgekehrt. Ari wird er-
20.15 ¥ g Die Kanzlei Mit Joachim Fuchsberger 21.45 ¥ SWR Aktuell BW Magazin 23.15 ¥ Rebecka Martinsson: neut mit seiner Vergangenheit konfron-
21.45 H Von oben nach unten 21.45 ¥ BR24 Magazin 21.50 ¥ g Die Bestatterin – Die un- Bis dein Zorn sich legt (1+2) tiert. Sein Bruder hat sich der römischen
Komödie (D 2016) 22.00 Bericht über die Landes- bekannte Tote Krimi (D 2021) TV-Krimi (S 2017) Mit Ida Engvoll, Seite angeschlossen, um Ari für seinen
23.15 ¥ g Maria Wern, Kripo parteitage von AfD und SPD 23.15 ¥ g Die Frau am Strand Eva Melander, Jakob Öhrman Verrat an Rom zu bestrafen. Thusnelda
Gotland: Sommerrausch 22.30 H ¥ Die Feuerzangenbowle Drama (D 2013) Mit Katja Flint Regie: Fredrik Edfeldt und Ari versuchen, die Stämme gegen
TV-Krimi (S 2015) Mit Eva Röse Komödie (D 1970) 0.45 ¥ g Ein Wahnsinnstag 0.40 ¥ g Hubert ohne Staller Krimi- Rom zu vereinen, Folkwin fordert unheil-
0.45 ¥ g Wo ist Hilal? Dokureihe 0.05 ¥ õ Brettl-Spitzen XI Show Komödie (D 2022) (Wh.) Serie. Schönes Wochenende voll die Götter heraus. Netflix
SAT.1 PRO 7 KABEL 1 BILD-TV
5.40 g Auf Streife – Berlin Doku-Soap 5.00 g Speechless Comedy-Serie 7.00 5.30 ¥ g Elementary Krimi-Serie. Im Nachrichten um 8, 9, 12, 15, 18, 19 und 20 5.25 g Inside Monaco – Adel, Geld
8.40 g So gesehen – Talk am So. Gast: g Galileo Magazin 10.05 g Zervakis & Rampenlicht / Kampfhähne / Zwei Ohren 6.55 g Die Modelleisenbahner 9.30 g und Glamour 6.15 g Inside New York
Gabi Rimmele. Moderation: Max Cappabi- Opdenhövel. Live. Magazin. Moderation: zu viel (Wh.) 8.00 g Achtung Abzo- Katar – nein danke? Deutschland vor Dokumentationsreihe. Schöne und Rei-
anca 9.00 g SAT.1-Frühstücksfernse- Linda Zervakis, Matthias Opdenhövel cke – Peter Giesel rettet den Urlaub der Fußball-WM 12.05 g Wunderwelt che / Traum und Wirklichkeit / Abenteuer
hen am Sonntag Magazin 10.55 ¥ g 11.20 g Big Countdown! Show 12.05 g Mein Lokal, Dein Lokal Korallenriff 14.05 g Die Drachenin- Luxus 9.00 g Die Lage der Liga 9.30 g
The Voice of Germany Sing Offs (3) Die 50 größten Helden der 90er „Taverna Santorini“, Tutzing / „Die sel – Königreich der Echsen InTORnational 10.30 g Bayern-Insider
13.35 H ¥ g Ein Mann für alle 13.30 ¥ g Joko & Klaas gegen Post Herrsching“, Herrsching / 15.05 g Power Suit – Training zum 11.00 Reif ist Live. Der Fußball-Talk
Unfälle Komödie (USA 2008) ProSieben Mit Jessica Schwarz, „Morattina“, Tutzing / „Land- Anziehen Dokumentation 11.30 g Die Lage der Liga Mit Walter
Mit Owen Wilson, , Nate Hartley, Florian David Fitz, Alexander gasthof Osterseen“, Iffeldorf 16.05 g Spacetime Dokureihe M. Straten, Alfred Draxler
David Dorfman. Regie: Steven Brill Klaws, Daniel Abt, Wigald 16.05 g News 18.05 g Kubas Gold – Rum, Zigarren 12.00 g InTORnational
15.30 H g Der Kindergarten Daddy Boning, Simon Gosejohann 16.15 g Mein Lokal, Dein Lokal – und Oldtimer Dokumentation 13.00 g Explorers Reportagereihe.
Komödie (USA 2003) Mit Eddie 16.20 g taff weekend Magazin Der Profi kommt Reihe 19.05 Katar – nein danke? Deutsch- Im Einbaum zwischen zwei Welt-
Murphy. Regie: Steve Carr 17.45 ¥ Newstime „Forsthaus am See“, Pöcking land vor der Fußball-WM meeren / Raues Land – Namibia /
17.20 g Das große Backen Show 17.55 g Galileo Stories Magazin 17.15 g Die geheime Welt ... der 20.05 g Lost Places Dokumentati- 600 Meilen quer durch Grön-
In der ersten Runde sollen die 18.30 ¥ g NFLsüchtig XXL-All-inclusive-Hotels. An der onsreihe. Der Teufelsberg / Der land / Unbekannter Norden /
Teilnehmer Schnitten herstellen, 19.00 ¥ g American Football: NFL türkischen Riviera gibt es einen geheime U-Boot-Hafen / Festung Nordatlantik im Kajak / Höhlen-
wobei die Jury besonders auf ei- Spiel 21: Carolina Panthers – Fünf-Sterne-Palast, der voller Ge- im Sumpf / Der Hollywood-Knast tauchen in Timor / Im Einbaum
ne präzise Struktur Wert legt. Tampa Bay Buccaneers. Kom- heimnisse steckt: Das „Rixos Pre- 0.00 g Hidden Places – Unge- zwischen zwei Weltmeeren
19.55 g Sat.1 Nachrichten mentar: Jan Stecker, Max Zielke. mium Belek“ bietet Zimmer, Sui- wöhnliche Orte weltweit 19.25 g Weggesperrt – Kinder im
20.15 H ¥ g Independence Day Mit Patrick Esume. Die beiden Ri- ten und Villen mit Platz für 2000 US-Gefängnis Dokumentation
Sci-Fi-Film (USA 1996) Mit Will valen aus der AFC South starte- Personen. Wie schaffen es die 20.15 Die Verurteilten – Warten
Smith, Bill Pullman. Regie: Roland ten jeweils mit zwei Niederlagen Mitarbeiter, dass dieser Mikro- auf den Henker Doku. Die USA
Emmerich. Raumschiffe greifen in die NFL-Saison und holten sich kosmos im XXL-Format Tag für gehören zu den weltweit 25 Staa-
die Erde an, und eine Welle im dritten Spiel ihren ersten Sieg. Tag reibungslos funktioniert? ten, in denen Menschen hinge-
der Zerstörung vernichtet alle 22.20 ¥ g American Football: NFL 20.15 ¥ g Willkommen richtet werden. Oft warten die
großen Städte. Der Satelliten- Spiel 22: San Francisco 49ers – bei den Reimanns Dokureihe Verurteilten viele Jahre auf die
techniker David Levinson und Kansas City Chiefs. Kommentar: In Hamburg steht Konny ein Vollstreckung ihrer Strafe. Trevor
der Kampfflieger Steven Hiller Carsten Spengemann, Max Zielke schmerzlicher Abschied bevor. McDonald hat einige besucht.
starten einen Gegenangriff. Mit Björn Werner. Die 49ers Konnys und Manus treuer alter 20.05 Über dem Berliner Ortsteil 21.10 g Das Gefängnis HMP Foston
23.25 H ¥ g Prometheus – Dunkle mussten wegen der Verletzung Caddy, der die Auswanderer Grunewald thront eine Festung: der Hall Dokumentationsreihe
Zeichen Sci-Fi (USA/GB 2012) von Quarterback Trey Lance schon so lange begleitet, be- Teufelsberg. Die Field Station wurde Arrival / Trauma / Family
Mit Noomi Rapace, Michael schon im zweiten Saisonspiel kommt einen neuen Besitzer. von den Alliierten während des Kalten 23.55 g Weggesperrt – Kinder im
Fassbender, Charlize Theron wieder auf Jimmy Garoppolo 22.20 g Abenteuer Leben am Krieges als Abhörstation gebaut. Rund US-Gefängnis Dokumentation
Regie: Ridley Scott als Spielmacher setzen. Sonntag Finnischer Freizeitspaß 250 Kilometer hinter den feindlichen 0.50 g Die Verurteilten – Warten
1.45 H ¥ g Independence Day 1.45 ¥ g Love is King Show für Ulm: Der Grillkota-Bau Linien konnte der Westen die Opera- auf den Henker Dokumentation
Sci-Fi-Film (USA 1996) (Wh.) Moderation: Olivia Jones 0.25 Willkommen bei den Reimanns tionen der Sowjets ideal aushorchen. 1.35 Das Gefängnis HMP Foston Hall
NDR BAYERN SWR HESSEN MDR
9.30 ¥ g Hamburg Journal 10.00 ¥ g 8.30 ¥ Anne auf Green Gables (2/3) Fa- 9.45 ¥ g Der Umwelt-Paddler 10.15 ¥ 12.30 ¥ Die drei von der Müllabfuhr: 15.50 ¥ g MDR aktuell 16.00 ¥ g
S.-H.-Magazin 10.30 buten un binnen milienfilm (CDN 2016) (Forts.: So., 30. 10., Schnittgut 10.45 ¥ g 100 Jahre Land- Mission Zukunft Komödie (D 2020) Sport im Osten 18.00 ¥ g aktuell 18.05
11.00 ¥ g Hallo Nieders. 11.30 ¥ g 8.35 Uhr) 9.55 Ski alpin: Weltcup Riesen- wirtschaft im Südwesten Wie die Tech- 14.00 ¥ Campervan-Roadtrip – von ¥ g Brisant Magazin 18.52 ¥ Sand-
Oma zockt sie alle ab Tragikomödie slalom Herren, 1. Lauf 11.00 Der Sonn- nik aufs Land kam. Dokumentarfilm (D der Hansestadt Bremen nach Norder- mann 19.00 ¥ Regional 19.30 ¥ g ak-
(D/A 2016) 13.00 ¥ g Bauernherbst im tags-Stammtisch 12.00 ¥ quer Magazin 2014) 12.15 ¥ g Almuth und Rita Tragi- ney 14.45 ¥ g Den Harz erleben tuell 19.50 ¥ g Kripo live 20.15 ¥ g
Salzburger Land 13.45 ¥ g Fußball: 12.45 Ski alpin: Weltcup Riesenslalom komödie (D 2014) 13.45 ¥ g Die Scheu- 15.30 ¥ g Alles Wissen Magazin Sagenhaft 21.45 ¥ aktuell 22.00 ¥
Bundesliga der Frauen 5. Spieltag: VfL Herren, 2. Lauf 14.00 Fußball: Bundesli- ne 14.30 ¥ g Hamburg – Tor zur Welt 16.15 ¥ Mex – Das Marktmagazin Sportschau – Bundesliga 22.20 ¥ g
Wolfsburg – FC Bayern München ga der Frauen 5. Spieltag: VfL Wolfs- 15.15 ¥ g Die Anden – Natur 17.00 Mittendrin Dokureihe Wer bezahlt die Zukunft? Dokumenta-
16.00 ¥ g Kochen mit Martina burg – FC Bayern München am Limit Wüstes Hochland 17.45 ¥ g Friso sucht die Freiheit tionsreihe 23.50 ¥ g Call me DJ! Re-
und Moritz Magazin 16.00 ¥ BR24 Nachrichten 16.00 Verrückt nach Zug 18.30 ¥ Moderne Hexen und Scha- portagereihe 1.30 ¥ g Kripo live (Wh.)
16.30 g Schmeckt. Immer. 16.15 ¥ Alpen-Donau-Adria 16.45 g Mit Herz am Herd manen – Was fasziniert daran?
17.00 g Bingo! – Die Umweltlotterie 16.45 Kreuzer trifft ... Martina Ertl 17.15 ¥ g Lecker aufs Land 19.00 ¥ g Rettung für das rote
18.00 ¥ g Rund um den Michel 17.15 ¥ Einfach. Gut. Bachmeier 18.00 ¥ SWR Aktuell BW Höhenvieh – Biozucht aus STREAMING-TIPP
18.45 ¥ g DAS! Magazin 17.45 Schwaben und Altbayern 18.15 Ich trage einen großen Namen Niedenstein Dokumentation
19.30 Ländermagazine 18.30 ¥ BR24 Nachrichten 18.45 ¥ Treffpunkt Reportagereihe 19.30 ¥ g hessenschau Magazin Peripherie (Sci-Fi-Serie) Irgendwo in
20.00 ¥ g Tagesschau 18.45 ¥ freizeit Magazin 19.15 ¥ g Die Fallers Soap. Fotosafari 20.00 ¥ Tagesschau Amerika, irgendwann in der Zukunft. Die
20.15 ¥ g Ohne Trecker 19.15 ¥ Unter unserem Himmel 19.45 ¥ SWR Aktuell BW 20.15 ¥ Traumtouren durch Spanien junge Flynne (Chloë Grace Moretz) ver-
geht es nicht Reportage 20.00 ¥ Tagesschau 20.00 ¥ g Tagesschau Unterwegs im Norden, Osten, sucht, die Scherben ihrer zerrütteten
21.45 g Sportschau – Bundesliga 20.15 ¥ õ Brettl-Spitzen XXI Show 20.15 ¥ g Wunderschön! Kleines Westen. Dokufilm (D 2015) Familie zusammenzuhalten. Sie ist klug,
22.05 ¥ g Die NDR-Quizshow 10 Jahre ... die Volkssänger-Revue Land, große Vielfalt: Luxemburg 21.45 Sportschau Magazin ehrgeizig und dem Untergang geweiht.
22.50 ¥ g Sportclub Gast: Merle 21.45 Sportschau 21.45 ¥ Sportschau – Bundesliga 22.05 heimspiel! Bundesliga Magazin Flynne hat keine Zukunft – bis die Zukunft
Frohms (VfL Wolfsburg) 22.05 Bayerischer Sportpreis 2022 22.05 ¥ g SWR Sport 22.15 ¥ g Dings vom Dach nach ihr ruft. – Die Serie basiert auf dem-
23.35 ¥ Sportclub Stars 23.35 ¥ BR24 Nachrichten 22.50 ¥ g NDR Talk Show 23.00 ¥ Strassen-Stars Show Bestseller von William Gibson und wirft
Porträtreihe. Helmut Haller 23.50 News-WG Challenge 0.50 H ¥ g Hannah Arendt 23.30 Ich trage einen großen Namen einen Blick auf das Schicksal der Mensch-
0.05 ¥ g Quizduell – Olymp Show 0.30 ¥ Fraueng’schichten Show Biografie (D/LUX/F/ISR 2012) 0.00 ¥ Dings vom Dach Show heit. Amazon Prime
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Was wird heute wichtig?
Die Nachrichten des Tages, die Vorschau im
DIE WELT
AM MORGEN
kompakten Überblick.
Montag bis Freitag, 6 - 9 Uhr
46 KULTUR
A
Aufmerksamkeit an
Wer sagt, das Theater wäre tot? Wenn Anne Lenk nicht inszeniert und probt, geht sie am liebsten in der Berliner
Hasenheide spazieren und erinnert sich daran, was sie in einem Workshop für Clowns gelernt hat
Anne Lenk kommt nicht zur Ruhe. Erst
vor drei Tagen hatte die Regisseurin mit
„Minna von Barnhelm“ Premiere am
Deutschen Theater Berlin, einen Tag spä-
ter als geplant. Eine Erkrankung im En-
semble erforderte Umbesetzungsproben
bis zum letzten Moment – eine Heraus-
forderung für Lenk, die lieber gründlich
und mit etwas Zeit arbeitet. Und weil ei-
ner der Schauspieler wegen eines Film-
drehs für die nächsten Vorstellungen
ausfällt, musste sie gleich zwei Tage nach
der Premiere wieder auf die Probebühne,
die nächste Umbesetzung.
VON JAKOB HAYNER
Keine Pause? Oder Urlaub? Lieber
nicht, sagt Lenk lachend. Ihr reicht es,
einmal gut zu kochen. Gründlich und
mit Zeit – wie im Theater. Beim Gemü-
seschnippeln kommt sie zur Ruhe. Die
Endproben sind in der Regel alles ande-
re als ruhig, selbst zum Essen kommt sie
dann manchmal nicht, vom Kochen ganz
zu schweigen. Hier die Absprachen mit
der Bühnentechnik und der Beleuch-
tung, dort noch die letzten Feinheiten
bei den Schauspielern, es gibt immer
noch etwas zu tun und zu verbessern.
Und dann steht schon wieder das
nächste Stück an, nach der Premiere ist
vor der Premiere. Dieses Mal „Drei
Schwestern“ von Anton Tschechow, bis
in den frühen Nachmittag hinein konfe-
riert Lenk mit dem Hamburger Thalia-
Theater, obwohl die Premiere erst im
nächsten Frühjahr ist. Die gelangweil-
ten Schwestern, die wirklichkeitsent-
rückt um sich selbst kreisen, sich von
ihren Erinnerungen und Träumereien
nährend, während sie zum Handeln völ-
lig unfähig sind; was sagen sie uns noch
– oder wieder? „Nach Moskau!“, was
V
heißt das heute?
on der Konferenz geht es in die
Hasenheide in Berlin-Neukölln.
Das Denkmal Friedrich Ludwig
Jahns grüßt am Eingang von einer An-
höhe. Der „Turnvater“ propagierte die
Leibesertüchtigung als vaterländisches
Programm, Frauen und Juden waren
unerwünscht. Der erste öffentliche
Turnplatz des Landes war in der Ha-
senheide, bis auf das Denkmal erinnert
daran wenig. Doch seit einem Jahr gibt
es neue bunte Sportgeräte, die sich
über das Gelände verteilen. „Berlin be-
wegt sich“, hat die Stadt das Pro-
gramm genannt.
Anne Lenk spaziert lieber. An Stan-
gen hangeln oder an „Bewegungsele-
menten“, wie es offiziell heißt, sich ver-
renken, das ist nicht ihre Sache, auch
joggen nicht. Lieber spazieren. Die Ha-
senheide ist noch nass vom Regen, ein
Windstoß weht die Tropfen aus den
Bäumen, die Säufer haben sich unter
dem Flachbau der „Hasenschänke“ ver-
sammelt, die nur in den Sommermona-
ten geöffnet hat, ein paar Drogennah-
versorger streifen durch die Büsche. Es
ist leer, ein einsamer Plastikstuhl steht
auf der Wiese, wenig später bricht ein
Sonnenstrahl durch die Wolkendecke –
Berliner Herbstidylle.
Selbst das Spazieren ist bei Anne
Lenk in letzter Zeit etwas zu kurz ge-
kommen, obwohl die Hasenheide oder
das ehemalige Flugfeld Tempelhof nicht
weit von ihrer Wohnung im angesagten
Norden Neuköllns entfernt liegen.
Manchmal fragt sie sich, ob sie nicht
wegziehen sollte aus der Hauptstadt.
Aufs Land? Ihr Sohn im Teenager-Alter
wäre wohl kaum begeistert. Der hätte
lieber ein Smartphone. Lenk ist skep-
EIN TAG IM LEBEN VON ANNE LENK
Licht aus,
„Theater ist eine analoge Veranstaltung“: Anne Lenk im Stadtpark
tisch. Wir hingen so viel an den Bild-
schirmen, sollte man damit nicht besser
so spät wie möglich erst anfangen?
Skeptisch ist Anne Lenk auch, wenn
verkündet wird, die Zukunft des Thea-
ters läge im Digitalen. „Für mich ist
Theater noch immer eine analoge Ver-
anstaltung“, sagt sie. Menschen kom-
men zusammen, richten ihre Blicke von
den Endgeräten, die sie permanent mit
sich herumtragen, auf eine gespielte Sa-
che vorn auf der Bühne. Licht aus, Auf-
merksamkeit an. Eine Übertragung auf
einen Bildschirm erzeugt nicht densel-
ben Sog, diese kollektive Gespanntheit
des Publikums, der man sich kaum ent-
ziehen kann.
Doch was ist, wenn das Publikum
wegbleibt, die Säle halb leer bleiben –
Stichwort: Publikumsschwund? Das
kennt die Regisseurin nur vom Hörensa-
gen. Die Vorstellungen ihrer Inszenie-
rungen sind meistens ausverkauft. Des-
wegen auch die umständlichen Umbe-
setzungen, kein Intendant sagt gerne ei-
ne Vorstellung vor vollem Haus ab. Was
Lenk macht, ist nicht nach drei Vorstel-
lungen abgespielt; auch das ist nachhal-
tiges Theater. „Der Menschenfeind“,
„Maria Stuart“ und „Der zerbrochne
Krug“ laufen alle im Repertoire des
Deutschen Theaters auf der großen Büh-
ne – und sie laufen gut. Woran liegt das?
Um die Frage zu beantworten, muss
Anne Lenk etwas ausholen. 1978 gebo-
ren, geht sie zum Studieren nach Gie-
ßen. Das dortige Institut für Angewand-
Anne Lenk
Regisseurin
Anne Lenk, geboren 1978, studier-
te in Gießen Angewandte Thea-
terwissenschaften, bevor sie für
ein Regiestudium nach München
wechselte. Nach ihrem Abschluss
wurde sie Hausregisseurin am
Theater Augsburg. Sie inszeniert
regelmäßig am Deutschen Thea-
ter Berlin, zuletzt „Der Men-
schenfeind“, „Maria Stuart“ und
„Der zerbrochne Krug“. „Minna
von Barnhelm“, ebenfalls am
Deutschen Theater, feierte am
15. Oktober Premiere. Daneben
arbeitet Lenk noch in Nürnberg,
Hannover und Hamburg. „Der
nackte Wahnsinn“ hat im De-
zember in Hannover Premiere,
„Drei Schwestern“ im April in
Hamburg. Lenk wohnt in Berlin.
MARLENE GAWRISCH
te Theaterwissenschaft, gegründet An-
fang der 1980er-Jahre, ist so etwas wie
die Kaderschmiede des Performance-
Theaters. „Postdramatisches Theater“
von Hans-Thies Lehmann und „Die Äs-
thetik des Performativen“ von Erika Fi-
scher-Lichte sind die heiligen Schriften,
unter den berühmten Absolventen fin-
den sich René Pollesch und Kollektive
wie Rimini Protokoll und She She Pop.
Für Lenk ist das nichts, sie will Theater
machen, das Handwerk lernen – und
W
wechselt nach München.
ährend in schöner Regelmä-
ßigkeit das literarische oder
psychologische Theater für
tot und überholt erklärt wird, geht Anne
Lenk einen anderen Weg. „Ein Mensch
ohne Psyche, was soll das sein?“, fragt
sie. „Das gibt es nicht. Selbst wenn wir
alle autistisch wären, ist das eine psy-
chologische Tatsache.“ Psyche, Körper
und Sprache, in diesem Spannungsfeld
findet das Theater von Lenk statt, ein
Theater der Welt des Menschen. Das
Material findet sie in Klassikern der
Bühnenliteratur wie Racine, Lessing,
Schiller und Kleist, ebenso in modernen
Stoffen wie „Der nackte Wahnsinn“, an
dem sie zurzeit in Hannover arbeitet.
Unvermeidlich kommt das Gespräch
auf die gegenwärtige Krise des Thea-
ters, begleitet von einem Wechsel der
Atmosphäre. Aus der Hasenheide geht
es über den trubeligen Hermannplatz in
ein kleines Café direkt am St.-Jacobi-
WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022
AUF DEM SCHIRM
MUSIK UND MILITÄR
Sorge um
K-Pop-Band BTS
Die wirkmächtigste Band der Welt
und dieser Zeit heißt BTS und
stammt aus Südkorea. K-Pop führt
nicht nur in Asien zu Hysterie, er ist
ein globales Phänomen. Daher die
Panik, die in der vergangenen Wo-
che ausbrach, als die sieben Mega-
stars erklären ließen: Auch sie wer-
den ihren Militärdienst antreten
und ihrem Land dienen. Sie müss-
ten es nicht tun. Ein Referendum
des Verteidigungsministeriums war
bereits geplant, um sie von ihrer
Wehrpflicht zu entbinden. Spitzen-
Friedhof. Die Grabsteine und Statuen sportler nehmen solche Privilegien
versprühen einen morbiden Charme. gern in Anspruch. Jin, der Älteste
Ist das Theater tot? So schlimm ist es bei BTS, wird im Dezember 30 und
auch nicht, sagt Lenk, aber sie hofft auf wäre der Erste, der für 20 Monate
den Nachwuchs. Dem sie vielleicht et- verschwände. In drei Jahren wäre
was mitgeben kann; Lenk hat bereits auch der Jüngste wieder da. Zuletzt
Gastprofessuren an Schauspielschulen beruhigte die Band ihr Publikum in
in Hamburg und Berlin gehabt. Busan: „Was immer auch mit uns
Bei der Sprache fängt es für sie an. geschieht, wenn wir alle dasselbe
„Ich kann keinem Roboter zuhören“, wollen und ihr uns vertraut, werden
sagt Anne Lenk: „Da bin ich sofort wir unseren Weg gemeinsam fort-
raus.“ Darum geht es in der Arbeit mit setzen.“ Der Angst der A.R.M.Y., wie
den Schauspielern, um „gedachte Spra- sich ihre Fans selbst nennen, BTS
che“, wie sie es nennt. Das Gegenteil könnte am Militäralltag zerbrechen,
von gedankenlosem Aufsagen. Und trat Verteidigungsminister Lee
auch das Gegenteil davon, nur eine Ton- Jong-sup bereits entgegen: Prinzi-
lage auf den Text anzuwenden. Ob Flüs- piell spreche nichts gegen Auftritte
tern oder Schreien, manierierte Beto- in Uniform. Die Aktie ihres Unter-
nungen oder Dialekt, wenn die Sprache nehmens Hybe schoss nach ihrem
nicht durch Kopf und Körper gegangen patriotischen Bekenntnis sogar in
ist, hilft das alles nichts. Niemand arbei- die Höhe. Schon John Lennon irrte
tet im Theater zurzeit so präzise mit sich mit seinem Nachruf auf den
Sprache wie Lenk; kein Wunder, dass sie Sängerkönig seiner Jugend: „Elvis
keine Laxheiten erträgt. starb, als er zur Army ging.“ Elvis
Lenk hat den Ruf, streng zu sein. Gut, wurde danach noch größer. mp
aber streng, so hat ein Schauspieler die
Kollegen informiert. Oder gewarnt?
Lenk ist gründlich, das wird geschätzt. NUMISMATIK
Anna May Wong auf
Mit ihrer Bühnenbildnerin und ihrer
Kostümbildnerin arbeitet sie seit Jah-
ren zusammen, wenn es passt, bevor- Vierteldollar geehrt
zugt sie Langzeitbeziehungen statt
künstlerischer One-Night-Stands. Die Ab Montag wird die 1961 verstorbe-
Wertschätzung hat auch im Betrieb ih- ne Kino-Ikone Anna May Wong als
ren Ausdruck gefunden: Mit „Der Men- erste asiatischstämmige Amerikane-
schenfeind“ wurde Lenk erstmals zum rin auf neuen Dollarmünzen zu
Berliner Theatertreffen eingeladen, be- sehen sein. Obwohl Wong als eine
reits im nächsten Jahr folgte mit „Maria der schönsten Schauspielerinnen
Stuart“ die nächste Einladung. Es dürfte
B
kaum die letzte gewesen sein.
ei „Der Menschenfeind“ war die
damalige Bundeskanzlerin Ange-
la Merkel, sonst nicht als eifrige
Theatergängerin bekannt, im Publikum.
Nach der Premiere von „Der zerbroch-
ne Krug“ gehörte sie, kurz zuvor aus ih-
rem Amt verabschiedet, zu den ersten
Gratulanten hinter der Bühne. Es habe
ihr gefallen, aber den Krug als koloniale Der
Raubkunst darzustellen, ging Merkel neue
dann doch zu weit. Was sie prompt mit US-Quarter
den Glückwünschen übermittelte. Ein
Tadel von „Mutti“? Ein bisschen eigen- ihrer Zeit galt, bekam sie nie roman-
artig war es schon, erzählt Lenk, doch tische Rollen angeboten. Für ihre
ohne die Kritik wäre es vermutlich auch Arbeit in „Shanghai Express“ erhielt
eigenartig gewesen. Wong 6000 Dollar, Marlene Die-
Klassiker zu inszenieren könnte heu- trich 78.166 Dollar. Die Münze ist
te am Theater als Strafe aufgefasst wer- das fünfte Motiv des American-
den. Nicht für Anne Lenk, für sie als ge- Women-Quarters-Programms, nach
naue Leserin und von Sprache begeis- der Astronautin Sally Ride, der
terte Regisseurin ist es eine glückliche Dichterin Maya Angelou, der Chero-
Gelegenheit. Nichts gegen Kino oder kee Wilma Mankiller und der Fe-
Serien – sie liebt „Fleabag“ –, aber ministin Nina Otero-Warren. mp
Theater ist eben auch eine Auseinan-
dersetzung mit Stoffen, die älter sind
als Netflix. Man kann mit den Fragen FATSUITS IM FILM
Nur Dicke sollen
der Gegenwart an die Stücke aus der
Vergangenheit herangehen, um dann,
zum eigenen Erstaunen, festzustellen, Dicke spielen
dass sich daraus ein fruchtbarer Dialog
über die Epochen hinweg ergibt. In Hollywood ist eine Debatte über
„Minna von Barnhelm“, den Klassi- Fatsuits entbrannt. Der gepolsterte
ker von Gotthold Ephraim Lessing, hat Körperanzug erlaubt schlankeren
Lenk als Komödie über Geschlechter- Schauspielern, kräftigere Typen zu
rollen inszeniert. Sie konzentriert sich verkörpern. Das nehme nicht nur
ganz darauf, das Spiel der Figuren mit- dicken Schauspielern Rollen weg,
einander zu zeigen. Das Publikum darf sondern bediene auch das Klischee,
sich ermutigt fühlen, selbst das verges- dicke Menschen wären lächerlich:
sene Spielerische im eigenen Leben zu Solche Kritik am Fatsuit wurde
entdecken, das verborgene Geworden- bereits laut, als Bilder der kom-
sein auf die Bühne zu bringen. Das Mit- menden Musical-Verfilmung von
tel, das Lenk nutzt, ist der Humor, der „Matilda“ öffentlich wurden. Darin
sich nicht über die Figuren erhebt, son- trägt Emma Thompson für die Rolle
dern diese miteinander ins Spiel der Schulleiterin einen Fatsuit. Nun
bringt. Das hat sie in Studienzeiten bei wurde auch Brendan Fraser in der
einem Workshop für Clowns gelernt, „New York Times“ kritisiert. Der
erzählt Lenk, das hat Spuren bis heute Schauspieler verkörpert in „The
hinterlassen. Whale“ einen 270-Kilo-Mann. Noch
Lenks Vorliebe für das Subtile und dazu spielt der heterosexuelle Fra-
Untergründige sticht heraus, das steht ser darin einen Schwulen. Der ame-
im Gegensatz zu den grellen Extrem- rikanische Talkmaster Bill Maher
performances einer Florentina Holzin- hielt dagegen, dass es Schauspieler
ger oder den martialischen Stampf- doch ausmache, nicht sie selbst sein
und-Brüll-Abenden eines Ulrich Ra- zu wollen. Casting-Direktoren soll-
sche. Das Theater kann aus anderen ten nicht auf die „Casting-Polizei“
Quellen schöpfen, aus ruhigeren, klare- hören, sondern den Besten für die
U.S. MINT VIA REUTERS
ren und tieferen. Inzwischen ist es Rolle auswählen. Wie Hollywood zu
dunkel, Anne Lenk verabschiedet sich dieser Frage steht, könnte sich bei
Richtung Sonnenallee. Sie hat am den Oscars im nächsten Jahr zeigen.
Theater zu tun, die nächste Inszenie- Fraser gilt für seine Performance als
rung ruft schon. aussichtsreicher Kandidat. lmk
STIL & REISEN
WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022
SKELETT AUS DIAMANTEN
Wer in einem „blühenden Frauenkörper“ das
Skelett zu sehen vermöge, sei ein Philosoph,
meinte Kurt Tucholsky. Und Goethe glaubte, der
Charakter verhalte sich zum Schönen wie das
Skelett zum lebendigen Menschen. Egal, mit wel-
cher dieser Weisheiten man seiner Liebsten die-
ses funkelnde und schaurig-schön bewegliche
Klappergestell (Foto 4) überreicht, was wirklich
zählt, ist das Karat! Denn um die Philosophin
Marilyn Monroe hier noch zu zitieren, „these
rocks don’t lose their shape“ und sind für die
Ewigkeit gedacht. Kettenanhänger in 18 Karat
Weißgold mit 0,4 Karat Brillanten. Um 3800 Euro
bei Cada.de
KILLERMODE
Die gruseligste Assoziation zu Trainingsklamot-
ten ist mittlerweile nicht mehr der Sportlehrer,
der mit seiner Trillerpfeife die Schulkinder mal-
trätiert, seit der Netflix-Serie „Squid Game“ ist
man in sportiven Outfits das perfekte Opfer, das
irgendwann abgeschlachtet wird. Der in L.A. an-
sässige Graffiti-Künstler Neckface entwarf für
Nike in diesem Jahr den Sneaker „Neckface SB
Dunk Low Halloween“ (Foto 10, um 110 Euro) mit
Zombie-Patches wie Totenköpfen, Dämonen,
Fledermäusen, Grabsteinen, Schlangen; Designer
JW Anderson hat eine Kollektion lanciert, die
vom Horror-Filmklassiker „Carrie“ inspiriert ist
(Foto 1, Preise ab 145 Euro). Swatch lässt die
Stunde mit einem Totenkopf im Zifferblatt schla-
gen (Foto 9, um 130 Euro). Extra atmosphärisch
kommt Anya Hindmarchs Tasche (Foto 5, um
1000 Euro) aus nachtblauen Pailletten daher.
Spooky: Bless hat eine Bürste (Foto 2) aus 50
Prozent echtem Haar im Angebot zum Abstau-
ben von Kleidern, Möbeln oder einfach nur zum
hinlegen als Conversation Piece. Über Blessweb-
shop.com.
ELVIS-KOSTÜM STATT VAMPIRGEBISS
Dieses Jahr liefern Filme und Serien jede Menge
Inspiration für Partyoutfits. Laut Auswertung des
Online-Moodboards Pinterest finden sich die be-
liebtesten Verkleidungsideen unter der Suchanfra-
ge „Stranger Things Kostümideen“ (Foto 11): zum
Beispiel das Monster Demogorgon (Foto 3), das
alles tötet, was sich ihm in den Weg stellt. Maske
wie Anzug sind über Online-Shops bestellbar, ab
69,90 Euro. Oft gesucht wird auch „Elvis und Pris-
cilla Kostüm“. Wer als der übergewichtige King of
Rock in seinen späteren Jahren auftreten will, fin-
det Einteiler in Übergröße mit Metallreifen auf
Maskworld.com, um 50 Euro. Zu Halloween sind
schon lange nicht mehr nur Vampirgebiss und
Skelett-Overall gefragt, sondern originelles Ver-
kleidungsgeschick und Stil. „Patrick Bateman Kos-
tüm“ belegt den dritten Platz bei den Suchanfra-
gen. Der serienmordende Investmentbanker im
Maßanzug aus „American Psycho“: klassisch und
doch furchteinflößend.
AUGEN AM SPIESS ZUM SNACKEN
Auf Instagram serviert eine ehrgeizige Food-Art-
Community Kunstvolles aus Lebensmitteln. Seit
ein paar Wochen rastet sie komplett aus mit Hal-
loween-Snacks wie zum Beispiel „Augen am
11
Spieß“: schwarze Oliven in kleine Mozzarella-Ku-
geln drücken, mit rotem Lebensmittelstift Adern
auf die Augäpfel zeichnen, das Ganze auf einen
Zahnstocher stecken. Etwas eleganter sind
Gnocchis (Foto 8), die wie kleine Kürbisse ausse-
hen. Ginevra Castaldi, Teilnehmerin der italieni-
schen Version von „Das Große Backen“, zeigt auf
ihrem Instagram-Account (ginevra.bakeoff10),
wie leicht sich mit einem Faden die typischen Ril-
len in der Schale zaubern lassen. Beliebt ist in
diesem Jahr auch Allerhand aus Obst, zum Bei-
spiel Spinnen aus Mandarinen: eine Hälfte als
Körper auf den Teller legen, die andere in Stücke
zerteilen und als Beine drumherum drapieren.
Zuckerguss-Augen, fertig!
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Sizilien: Simple-Minds-Sänger Jim Kerr gibt Wandertipps
SEITE 47
KÜRBIS-KASSEROLLE
Zu dieser Kasserolle von Staub aus Steingut in
Was wäre der Herbst ohne Halloween? Kürbisform (Foto 7) fallen einem gleich mehrere
Auch Modemarken und Hobbyköche
schaurig-schöne Gerichte ein, die Halloween ei-
nen ästhetischen Mehrwert liefern: Tintenfisch-
entdecken das Fest des Gruselns für sich.
Risotto aus schwarzem Venere-Reis mit einem
Schuss Sepia-Tinte vielleicht oder eine köstliche
Die wichtigsten Trends
„Black Soup“, ein nigerianisches Nationalgericht
aus gekochtem Fleisch, Brühe, gemahlenen Egu-
Schaurig-
si-Samen und Cayenne-Pfeffer. Die schwarz-grü-
ne Farbe bekommt es von pürierten Blättern des
Baumbasilikums, das mit einer starken Nelken-
note besticht. „Looks ugly, tastes yummy“ sagt
SCHÖN
man zu solchen Gerichten.
„BASIC BITCH“-GETRÄNK
Seit sich regelmäßig im Herbst die internationa-
len Fashionistas beim Schlürfen von gewürzten
Pumpkin Spice Lattes, dem Saisongetränk von
Starbucks, vor Kürbisfeldern auf Selfies feiern,
hat sich das Heißgetränk der Influencer offiziell
den Namen „Basic Bitch“ eingehandelt. In die-
sem Herbst gibt es eine frostige neue Version,
den Pumpkin Cream Cold Brew aus gesüßtem,
1 kalt gebrühtem Kaffee und geschäumter Kürbis-
creme.
KIMCHI MARGARITA
Fermentierte Cocktails sind der neueste Schrei.
Die Koreanerin Susan Choi führt in Berlin-Mitte
eine Bar, das „Mr. Susan“, wie ein kleines Labor.
Dort jagt sie Gemüse, Seetang, Sojabohnen, Pa-
strami durch den Evaporator, einen rotieren-
2 den Verdampfer, und serviert ganz neue Aro-
men. Promillestarke „Gänge“ auf ihrem Menü
(Foto 6) sind die „Kimchi Margarita“, ihre „Ca-
yenne Mezcal Hot Chocolate“ mit geröstetem
Marshmallow und der „GohChuJhang Old Fa-
shioned“. Mordsmäßig köstlich, gesund sind sie
außerdem.
ABGRÜNDE IM VILLEN-VORORT
3 Für alle, die sich zu Hause gruseln wollen, hält
Amazon Prime ein paar der besten Filme aus der
„Halloween“-Reihe bereit. Disney+ hat für die
ganze Familie „Hocus Pocus 2“ oder „Muppets
4
Haunted Mansion“ im Angebot. Richtig schau-
dervoll wird’s auf Netflix. Seit ein paar Tagen hält
sich dort „The Watcher“ mit der süßen Naomi
Watts auf dem ersten Platz der beliebtesten Seri-
5
JW ANDERSON; AMAZON; BLESS; CADA (2); JACOB SCHICKLER (2); TISCHKULTURSHOP.COM; INSTAGRAM/GINEVRA.BAKEOFF10 (3); NIKE; SWATCH
en, die Geschichte einer Familie, die in eine
traumhaft schöne Vorstadtvilla zieht, wo sie
plötzlich Drohbriefe erhält und dann nur noch
Furchteinflößendes erlebt. Dienstag startet „Ca-
binet of Curiosities“ von Horrorspezialist Guil-
lermo del Toro. Der preisgekrönte Regisseur,
Produzent und Schriftsteller tritt in den Episo-
den, die je eine abgeschlossene Geschichte erzäh-
len, selbst als Showrunner auf.
WERWÖLFE UND RATTEN
8 Aus der „Trick or treat“-Nummer zum Abstauben
7 von Süßigkeiten in der Nachbarschaft kommt
man als Eltern kaum mehr raus. Verkürzen lässt
sie sich, wenn man den Nachwuchs mit Lego-
6
Bauen ablenkt. Die Spielzeugmarke hat ein neues
Harry-Potter-Set aus „Heulender Hütte und peit-
schender Weide“ im Angebot (777 Teile, 89,99
Euro, ab neun Jahren). Wem ein menschenfres-
sender Baum und ein Vollmond-Gestaltwandler,
der Werwölfe und Ratten fabriziert, zu viel Gru-
sel im Kinderzimmer sind, der widmet sich der
harmlosen 228-teiligen Eule samt Kürbis. Damit
9
wäre für 14,99 Euro auch direkt die Halloween-
Deko abgedeckt.
10 FÜRST DER FINSTERNIS
Nick Cave, dessen Mörderballaden auf keiner
Grusel-Playlist fehlen sollten, hat jetzt eine „Ca-
ve Things“-Kollektion entworfen. Darunter sind
auch ein kleiner weißer Geist sowie eine blutrote
Hand, Kettenanhänger aus Emaille. Um 90 Euro,
über cavethings.com. cp, db, dvt, eube, fav, st
S. 52/53
MEIN LEBEN
ALS BLITZ
VON EVA MUNZ
Müheloser
Aktionismus
B
ewegung empfinde ich als be-
sonders angenehm, wenn es
um spontanen Tanz oder
Einzelsport geht. Rigide Choreo-
grafie, Märsche, Massenveran-
staltungen und Vereinsmeierei asso-
ziiere ich mit Fanatismus und Kon-
formität, mit Riefenstahl, Vatikan
und Taliban. Doch während der
grässlich asozialen Zeit des Social
Distancing habe ich Gruppendynamik
zu schätzen gelernt, spätestens seit
dem Marathontraining bin ich von
den Vorzügen des kollektiven Drills
überzeugt. Seit 14 Wochen stehe ich
jeden Donnerstag frühmorgens auf
der 400-Meter-Bahn in Brooklyns
McCarren Park und gehe mit meinen
Mitstreitern auf Tuchfühlung.
Anfangs bestand unsere Tempo-
gruppe aus knapp zehn mir wild-
fremden Leuten, die in angemesse-
nem Abstand im Kreis liefen. Irgend-
wann setzte eine seltsame Synchro-
nizität ein, wir liefen im Rudel ganz
nah beieinander, als würden wir ge-
meinsam einen unsichtbaren Wagen
ziehen. Nach ein paar Wochen konn-
te ich ein paar verschwitzten Gesich-
tern Namen zuordnen. Wir wurden
immer weniger, manche gaben auf,
andere liefen in Chicago oder Berlin.
Ich wunderte mich zunehmend, dass
ich selbst noch dabei war. In meiner
hedonistischen Seele musste ein
Erzmasochist begraben sein.
Inzwischen sind wir nur noch zu
dritt, und ich laufe immer genau zwi-
schen dem sehr jungen S. mit dem un-
definierbaren Akzent und der sehr
strengen G., deren Eltern in den Acht-
zigern aus China kamen. S. reißt mich
mit, während G. anschiebt. Nach je-
dem absolvierten Intervall tauschen
wir Fistbumps und motivierende
Worte aus. Anfangs waren mir diese
Gesten peinlich. Das hat sich gelegt.
Neulich experimentierte ich mit
Pranayama-Atmung, dem Taj Mahal
der Sauerstoffversorgung. Wir japs-
ten nach dem Speedtest vornüberge-
beugt nach Luft. Ein Blick auf meine
Fitnessuhr zeigte, dass wir uns in nur
zwei Monaten um mehr als eine Mi-
nute pro Meile verbessert hatten.
Wir krönten unseren Fortschritt mit
einem knallenden High Five und dis-
kutierten atemlos, wem von uns die
sportliche Leistung zu verdanken sei.
„Wir praktizieren kollektives Wu
Wei!“, sagte G. schließlich. Wu, wie
bitte? „Wu Wei ist chinesische Philo-
sophie,“ erklärte G., „es bedeutet so
viel wie müheloser Aktionismus.“
G. wurde rot. „Das Atmen, das kommt
von selbst, und wenn man es mit an-
deren in Einklang bringt, schafft es
Verbundenheit und Empathie und
verleiht Superkräfte.“ S.’ Augen
sprangen alarmiert zwischen G. und
mir hin und her. „Mühelos nennst du
das? Ihr seid mir zwei Spinner!“
48 STIL WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022

HIGH 5: STIL-TIPPS DER WOCHE

ZUSAMMENGESTELLT VON MARIA-ANTONIA GERSTMEYER

Sie wollte Chef-Schuhe

MOMENTAUFNAHME AUS KOREA
K-Pop von Bands wie Blackpink und BTS
begeistern Millionen von Teenies, K-
Beauty stellt die Schönheitsindustrie auf
den Kopf, K-Serien wie „Squid Game“
boomen auf Netflix. Was genau Kreati-
vität aus Korea ausmacht, das erzählt
Autorin Fiona Bae im Bildband „K-Pop,
K-Style. Music, Art & Fashion aus Süd-
korea“: 15 Geschichten verschiedener
Persönlichkeiten, die den K-Style in den
diversen kreativen Bereichen prägen. Da-
zu gibt es Foto-Essays von Less Taekyun
Kim, der für „Vogue Korea“, „i-D Korea“
und „Dazed“ arbeitet. Erscheint am 5. No-
EDEL BOOKS

vember bei Edel Books, 26 Euro.

GUT IM GESCHÄFT
Die dänische Modemarke
Ganni wurde im Jahr 2000
vom Galeristen Frans Truel-
sen gegründet. 2009 über-
nahm das Ehepaar Nicolaj
und Ditte Reffstrup. Unter
ihrer Leitung entwickelte
sich das Label in kürzester
Zeit vom Kopenhagener Ge-
heimtipp zum Liebling von
Influencern und It-Girls wie
Camille Charrière. Nun wur-
de in Berlin ein Flagshipsto-

MARCUS HÖHN (2)

E
re eröffnet. Er ist wie die Mo-
de selbst: ein gut gelaunter
Mix aus Pastellfarben und
poppigen Akzenten, ironisch Dunkelgrünes Kalbsleder mit texanischem Flammen-Motiv, das L innen steht für Lena, das Herz für die Liebe an sich
angehauchten Stilbrüchen.
Gelegen in der Rochstraße in
Berlin Mitte.
s gibt Kleidungsstücke, Cowboystiefel sind der Inbegriff der Schmirgeln der Sohlen – kein einziges
GANNI

Coolness und hochfeministisch, sagt die

die haben eine ganz be- Motorgeräusch.
sondere Magie, sie Über drei Monate haben wir über den

Kunsthändlerin Lena Winter. Hier erzählt

richten einen auf. Die perfekten Cowboystiefel gesprochen,
zieht man an, wenn haben Muster, Bestickungen, Formen,

sie, wie sie sich einen Jugendtraum erfüllte

man weiß, dass es ein Schaft- und Absatzhöhen verglichen, ge-
besonderer Tag wird lesen, uns Filme angeschaut und uns
– für den Preis einer Einbauküche
oder werden soll, an dem es um etwas Screenshots hin- und hergeschickt: die
GLÄNZENDER ANLASS geht und man Halt braucht, Mut. Genau Fotos von Prinzessin Diana, die sie in
das sind Cowboystiefel für mich: Mut- Jeans und Jackett, Haare unters Käppi
Paloma Picasso, Tochter der Künst- Boots. Ich bin Kunsthändlerin, arbeite geklemmt, oder einmal auch in einem
ler Pablo Picasso und Françoise in Berlin und beschäftige mich den gan- weißen Jogginganzug in Cowboyboots
Gilot, hat neue Schmuckstücke für zen Tag mit Oberflächen und ihrer durch London gehend zeigten. Vorlage
Tiffany & Co. entworfen. Seit An- möglichen Tiefe. Schönheit zu suchen waren natürlich auch „Thelma & Loui-
fang der Achtzigerjahre hat sie den und in allen erdenklichen Objekten zu se“ und „Easy Rider“, das Model Hailey
Stil des Hauses mitgeprägt. Zu den finden ist Teil meines Lebens, meines Bieber. Ich habe die Marlboro-Werbung
Meilensteinen ihrer Arbeit gehört Sehens und meiner Begegnung mit der studiert, die New Yorker Schriftstellerin
etwa die Kollektion Paloma’s Graffi- Welt. So wie der Kunst begegne ich auch Fran Lebowitz, die mit 71 nichts anderes
ti, inspiriert durch die Straßenkunst meiner Kleidung. Es geht mir um Ästhe- an den Füßen trägt und vermutlich so-
New Yorks. Picassos Liebe für farbi- tik und um die Aussage, die ein Klei- gar in ihren Stiefeln schläft. Und natür-
ge Edelsteine ist grenzenlos. Wes- dungsstück treffen kann, wie auch um lich „Dallas“ und den „Denver-Clan“,
halb die auch im Zentrum der neuen die bewusste Verweigerung einer Aussa- auch um auszuschließen. Beschläge
Kollektion Paloma’s Studio stehen. ge. Trends sind mir nicht wichtig, aber wollte ich auf gar keinen Fall, auch keine
Sie erscheint zur Feier der 40-jähri- Materialien, Schnitte, Verarbeitung, die Nieten oder Schnallen. Der Schaft sollte
gen Zusammenarbeit von ihr und Qualität. Ich kann vor einem Kleidungs- eine Handbreit unterm Knie enden, die
Tiffany & Co. (und des 185-jährigen stück die gleiche Ehrfurcht empfinden Spitze nicht eckig, aber auch nicht al-

V
TIFFANY & CO.

Geburtstags des Hauses selbst). wie vor einem Kunstwerk. bern spitz sein. Dunkelgrün erschien
mir zu allem tragbar. Zum Schluss galt
or einem guten Jahr kam ich mit es, aus zig Büchern eine Stickerei auszu-
40 Jahren aus München nach wählen. Ich entschied mich für ein texa-
Berlin, um einen neuen Job in ei- nisches Motiv aus den Dreißigerjahren:

ner Galerie anzunehmen. Ich sollte zum
IM DUNKELN LEUCHTEN ersten Mal in einer Chefposition ein
Team leiten und dachte: Dafür braucht’s
aber auch ein Paar Chefschuhe. Es stand
Francesco Ragazzi hat einen interes- sofort fest für mich, es konnten nur
santen Karriereweg hinter sich: Er star- Cowboystiefel sein. Früher wurden Stie-
tete als Praktikant im Pressebereich fel von Generälen, von Männern, die et-
von Moncler, arbeitete sich in zwölf was zu sagen hatten, getragen. Heute
Jahren zum Artistic Director hoch und tragen mächtige Männer den traurigs-
gründete anschließend sein Streetwe- ten aller Looks: Anzug mit Turnschuhen
ar-Label Palm Angels, mit prominen- – und wir Frauen haben mehr und mehr
ten Fans wie ASAP Rocky oder Pharrell die Stiefel an. Das ist gut! Man kann mit
MONCLER X FRANCESCO RAGAZZI
U
eine nach innen gekehrte Flamme.
nd jetzt einfach mit den Stiefeln
leben“, hatte Heß gesagt, als sie
fertig vor mir standen. „Abends
Schuhspanner rein, alle sechs Monate
putzen, ansonsten gilt: Auf gar keinen
Fall schonen!“ Leicht gesagt, bei einem
Preis von 7180 Euro. Klar, ich wollte et-
Maßschuhmacher Korbinian Ludwig Heß und Lena Winter was für die Ewigkeit, das mich mein
ganzes Leben begleitet, aber es war
auch eine finanzielle Ansage an mein

Williams. Jetzt ist er zum 70. Geburts- Schuhen Raum einnehmen. Es waren
tag von Moncler als Gastdesigner tätig die coolen Mädchen aus der Oberstufe
geworden: Die ikonische Maya-Puffer- auf meinem Gymnasium in Darmstadt,
jacke hat er mit Leuchtfasern versehen, die Cowboystiefel trugen. Einerseits
die dank eingebauter Batterien im Dun- waren sie Anarchos, andererseits Jahr-
keln leuchten (875 Euro). gangsbeste, das imponierte mir. Man
hat aufgeschaut zu ihnen, sie konnten
etwas. Und dann sahen sie auch noch so
und ein Freund zeigte Fotos aus seiner
Jugend in Hamburg: er im dunkelblauen
Blazer-Mantel, Levi’s 501, Cowboystie-
fel. Mein Wiedererweckungserlebnis.
Ganz wichtig: Es waren Second-Hand-
Cowboyboots, die er trug, in New York
bei irgendeinem kleinen Lederfritzen
Maßschuhmacher Korbinian Ludwig
Heß sei der Beste, der Teuerste, ein
Spinner, kompromisslos, hieß es. Aus-
bildung beim Hofschuhmacher Rudolf
Scheer & Söhne, einem Traditionsbe-
trieb in Wien. Im Unterschied zu Texas,
wo man die Stiefel recht grob baut, mit
Leben. Für das Geld hätte ich mir eine
Einbauküche kaufen können, die hat al-
lerdings nicht so richtig viel mit mei-
nem Bild von mir zu tun. Irgendwie ist
mir dieser Preis plötzlich auch völlig
egal. Vielleicht, weil ich mit meinen fünf
Zentimeter hohen sogenannten Kuba-
Absätzen jetzt ein bisschen über den

unbemüht super aus in ihren zerfetzten
Jeans und ausgelatschten Stiefeln. Sie
waren die Chefs, und alle, die sich ihnen
in den Weg stellten, nur piepsende Krü-
mel unter ihren Boots. Damals in den
Neunzigern waren Cowboyboots big; es
war die Zeit, als auch das Roadmovie
„Thelma & Louise“ ganz groß war.
Nach der Schule habe ich diesen
Cowboystiefel-Move dann irgendwie
vergessen. Der Dresscode in der Kunst-
SISI IN FRANKEN szene war bis vor Kurzem noch: alles in
Schwarz, minimalistisch und ernsthaft.
Wer sich einmal wie Kaiserin Sisi fühlen will, kann jetzt im Dazu hohe, spitze Schuhe oder flache
entsprechenden Ambiente speisen und schlafen. Allerdings Gucci-Loafer. Es gab mal eine Zeit, da
nicht in Österreich, sondern auf Schloss Weißenstein in wirkten Cowboyboots etwas museal,
Pommersfelden, dem Hauptschauplatz für die Sisi-Verfil- weil andere Moden kamen und man mit
mung, die gerade auf Netflix angelaufen ist. Eine Suite, die da- ihnen nur noch ein paar heisere Schla-
rin zu sehen ist, ist normalerweise nicht für die Öffentlichkeit gerstars assoziierte oder Hoody-Philo-
zugänglich. Ab dem 2. November wird sie über Airbnb für 185 sophen, die lauter Silberringe an den
Euro für zwei individuelle Buchungen am 19. sowie 20. Juni Fingern trugen, diesen Navajo-
2023 vermietet. Schmuck. Für die neue Coolness stan-
den auf einmal Marken wie Prada. Und
Miuccia Prada trug Gummistiefel. Ir-
AIRBNB
M
gekauft – Stiefel, die etwas erlebt hatten.
an kauft keine Westernstiefel
von der Stange, genauso wie
man keine nachgemachte
Kunst kauft. Mit diesem Schuh ist eine
Handwerkskunst und Haltung verbun-
den, die sich gegen die heutige Fast-Fa-
shion-Industrie stemmt, die immer un-
persönlicher, vulgärer wird. Der Cowboy-
stiefel findet eigentlich dich. Du siehst
sofort, ob es ein guter oder ein Fake ist.
Ich hatte also beschlossen, mir mit mei-
nem Jobantritt eine ganz besondere Sa-
che zu gönnen, auch um diesen Neuan-
fang zu markieren. Es war eine Art Dia-
na-Moment, die ja ihre höchsten High
Heels angezogen haben soll am Tag, als
Charles seine Untreue gestand. Ich woll-
te für meinen neuen Job gewappnet sein
und mir Autorität verschaffen. Das
kannst du nicht in Tussy-Pumps, es
brauchte etwas mit maximaler Realness.
Cool sollten meine Cowboystiefel
dicken Nägeln, arbeitet Heß im Stil des
Londoner Westend – feiner, detailrei-
cher und ausschließlich per Hand.
In seiner Werkstatt in Berlin-Wil-
mersdorf, die gleichzeitig Laden ist, wo
Heß auch kleine Schüttelbörsen, Feu-
erzeuge und Hemden verkauft, trifft
die richtige Mischung aus Perfektion
und Improvisation aufeinander: altes,
schönes Werkzeug, stille Arbeit und
Konzentration, Geruch von Leder,
Holz und Leim, im Hintergrund läuft
leise eine Wagner-Oper. Dreimal muss-
te ich erscheinen. Beim ersten Mal
wurde mein Fuß vermessen, nach die-
sen Maßen schnitzt Heß ein Holzmo-
dell, den sogenannten Leisten, um den
dann ein Probeschuh gebaut wird. Der
erste passte schon nahezu perfekt. Heß
tastete das Modell ab, kritzelte mit ei-
nem Bleistift Zahlen und Notizen auf
ein Blatt. All diese wunderbaren Ar-
beitsschritte und Geräusche, das Klop-
fen des Leders, das Hämmern der Ab-
Dingen wie eben auch Geld stehe. In
diesen Stiefel zu schlüpfen gibt mir eine
tiefe innere Ruhe, einerseits verspüre
ich eine Angriffslust, andererseits eine
Souveränität, die mir die Angst vor An-
griffen nimmt. Die Stiefel machen et-
was mit mir, sie machen mich jeden Tag
ein bisschen stärker. Deshalb trage ich
sie inzwischen auch täglich, zu allem –
zur Taufe, zu Vernissagen, Beerdigun-
gen, im Büro, zu Hosen wie Kleidern.
Selbst im Pyjama!
Früher stand in München-Schwabing
immer ein Typ auf der Straße, breitbei-
nig, verschränkte Arme, schweigend
über einem Kasten Bier. Rempelte oder
sprach man ihn aus Versehen an, kam
immer nur: „Dooo steeeeh iii!“ Manch-
mal, wenn ich bei gesellschaftlichen An-
lässen denke, wie unwohl ich mich frü-
her gefühlt hätte, schaue ich an mir he-
runter, schiebe den rechten Fuß noch ein
bisschen weiter weg vom linken und sage
leise: Dooo steeeh iii!

gendwann saß ich beim Abendessen, sein, sexy, aber auch classy. Der Berliner sätze, das Raspeln am Leisten, das AUFGEZEICHNET VON DAGMAR VON TAUBE

E
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
s ist ein schmaler Grat,
auf dem Cyrille Vigne-
ron sich gerade bewegt.
Einerseits ist das 175
Jahre alte Schmuck-
haus Cartier so erfolg-
reich, weil es sich auf
Tradition beruft. Andererseits führt nur
der behutsame Bruch von Traditionen
den Pariser Juwelier in die Zukunft. Es
kommt also auf die Zwischentöne an.
Als Musikliebhaber ist Vigneron ein
Mensch mit Taktgefühl. Zum Treffen in
Venedig kommt Cartiers Präsident und
CEO gerade vom Konzert der geor-
gisch-französischen Pianistin Khatia
Buniatishvili und ist noch ganz beseelt
vom Auftritt. Ein Gespräch über Millen-
nials, die Prunk verachten, neue Tech-
nologien, die das Schmuckhandwerk be-
drohen und Political Correctness in der
Luxuswelt.
VON MARIA-ANTONIA GERSTMEYER
WELT AM SONNTAG: Monsieur Vigne-
ron, Sie haben während der Filmfest-
spiele in Venedig eine kleine Ausstel-
lung namens „Cartier und Cinema“
gezeigt, in der man erstaunliche
Schmuckstücke von glamourösen
Filmstars aus der Vergangenheit be-
trachten konnte. Ist Glamour tot?
CYRILLE VIGNERON: Glamour ist nicht
mehr das, was er einmal war. Früher war
es viel schwieriger, Filme zu drehen, es
gab weniger Regisseure, Schauspieler
und Schauspielerinnen, dafür handelte
es sich um sehr starke Charaktere. Oh-
ne Social Media war ihre Privatsphäre
außerdem viel geschützter, was ihnen
eine gewisse Mystik verliehen hat.
Manchmal auch Tragik, siehe Marilyn
Monroe oder Maria Callas. Andy War-
hol sagte in den 1970er-Jahren, in Zu-
kunft könne jeder berühmt sein. Tat-
sächlich kann sich inzwischen jeder auf
Instagram inszenieren. Es ist nur
schwierig, das Besondere auszumachen.
Glamour ist nicht tot, es gibt ihn noch.
Die mexikanische Filmdiva María
Félix kam mal mit einem lebenden Ba-
bykrokodil in eine Cartier-Boutique
als Vorlage für eine Kette. Würde Sie
so ein Auftrag heute schockieren?
Mich überrascht nichts. Wenn wir ein
bestimmtes Design in einer Vorlage
nicht erkennen, dann setzen wir es
nicht um – oder nur so weit, wie wir es
vertreten können.
Heute besteht schnell die Gefahr, ei-
nen Shitstorm zu riskieren, sei es we-
gen des Vorwurfs der kulturellen An-
eignung oder aus Mangel an Diversi-
tät. Ist die Luxusindustrie zu ängst-
lich geworden?
Auch das würde ich so nicht sagen. Sie ist
nur vorsichtiger geworden. Sicherlich
konnten sich Designer in den 1970er-Jah-
ren mehr austoben. Dafür wurden häufig
öffentlich Bemerkungen und schlechte
Witze gemacht, die heute als Beleidigung
oder Respektlosigkeit empfunden wer-
den. Deshalb muss Luxus vorsichtiger
sein, um niemanden zu verletzen.
Hat Luxus überhaupt noch eine Chan-
ce im Lebensstil der Millennials?
E
r sieht aus wie ein echter Rolls-
Royce, keine Frage. Der mar-
kante Pantheon-Grill mit sei-
nen quer stehenden Streben
aus Edelstahl sorgt bei diesem Wagen al-
lerdings nicht für die Kühlung des Mo-
tors, sondern nur für den Wiedererken-
nungswert. Unter der langen Fronthau-
be steckt nämlich kein Zwölfzylinder-
Aggregat, sondern ein Geflecht aus Lei-
tungen und elektronischen Bauteilen.
Auch diese Haube in erster Linie als Mar-
kenzeichen, öffnen müssen wird man sie
nur, um Flüssigkeit für die Scheiben-
wischanlage nachzufüllen. Die Kühlerfi-
gur Emily beugt sich ein bisschen weiter
nach vorn als bisher. Sie soll so wenig
Turbulenzen verursachen wie möglich,
das ist besser für die Aerodynamik.
VON HEIKO ZWIRNER
In einem Gewitter aus Lichtblitzen
und elektronischem Musikgedonner
wurde am Montag der Spectre enthüllt,
das erste Elektroauto von Rolls-Royce.
Der Hersteller hatte dazu in seine Fir-
menzentrale im südenglischen Good-
wood geladen, die sich mit ihren be-
grünten Dächern in die liebliche Land-
schaft einfügt. Welchen Stellenwert die-
ses Ereignis für die Traditionsmarke
hat, konnte man auch daran erkennen,
dass Oliver Zipse mit seiner Entourage
angereist war. Der Vorstandsvorsitzen-
de der Konzernmutter BMW kündigte
an, dass Rolls-Royce ab 2030 keine Au-
tos mehr mit Verbrennungsmotor her-
stellen werde. „Kann schon sein, dass es
dann noch einen Markt für luxuriöse
Verbrenner gibt“, sagte er auf Nachfra-
NR. 43
Der Panther ist
das Symboltier
der Marke
„GLAMOUR
ist nicht tot“
Für Cartier-Chef Cyrille Vigneron ist Schmuck
identitätsstiftend – und die junge Generation
eine relevante Zielgruppe
Mehr denn je. Junge Menschen haben
viel mehr Möglichkeiten und gleichzei-
tig mehr Schwierigkeiten, ihre Identität
auszudrücken. Meine Generation muss-
te sich noch an soziale Codes anpassen,
um von den anderen akzeptiert zu wer-
den. Nun ist es anerkannt, so zu sein,
wie man ist. Mit einer Tätowierung
kann man zu einer anderen Person wer-
den, man kann plastische Operationen
durchführen lassen oder sein Ge-
Kommt ein
Rolls-Royce
zur Ladesäule
Die britische Luxusmarke enthüllt
ihr erstes Elektroauto – und will ab
2030 keine Verbrenner mehr bauen
Auch wenn es sich streng genommen um eine Attrappe handelt,
hat der Spectre den breitesten Kühlergrill in der Geschichte von Rolls-Royce
CARTIER
schlecht ändern. Man kann so vieles
tun, was früher weder physisch möglich
noch erlaubt war, und niemand verur-
teilt einen dafür. Und das ist gut so.
Sucht man hingegen materielle Dinge,
um sich auszudrücken, spielt Schmuck
auf einmal wieder eine große Rolle. Mitte der Siebziger ließ sich Filmdiva María Félix
von Cartier eine Kette anfertigen, die inspiriert
Wie realistisch ist es, dass er das bei war von einem lebendigen Babykrokodil (o.).
beiden Geschlechtern tut? Timothée Timothée Chalamet trug beim Filmfest in Venedig
Chalamet, Ihr neuer Markenbotschaf-
ge. „Aber wir werden ihn nicht mehr be-
dienen.“ Der 11. Duke of Richmond, von
dessen Ländereien das Werk umgeben
ist, war ebenfalls zugegen, seine Groß-
zügigkeit gegenüber den Pächtern aus
der Autoindustrie wurde bei der Präsen-
tation ausdrücklich hervorgehoben.
Rolls-Royce ist so ziemlich der letzte
Autobauer von Rang, der sich der Elek-
tromobilität zuwendet. Zur Feier des
Tages haben die Organisatoren der Ver-
anstaltung ein Zitat ausgegraben, das
der Namensgeber Charles Stewart Rolls
bereits im Jahr 1900 von sich gab, noch
bevor er sich mit dem anderen Namens-
geber Henry Royce zusammentat. In
den Anfangstagen des Automobils war
der Elektroantrieb eine gängige Alter-
native zum Verbrennungsmotor; nach-
dem Rolls sich also ein Gefährt namens
The Columbia Electric Carriage zuge-
legt hatte, lobte er die Antriebsform in
einem Interview mit der Zeitschrift
„Motor Car Journal“: „Das Elektroauto
ist geräuschlos und sauber. Es gibt kei-
nen Geruch oder Vibrationen. Sie soll-
ten sehr nützlich werden, wenn feste
Ladestationen eingerichtet sind.“
Diese Aussage möchte man in Good-
wood rückblickend als Prophezeiung
verstanden wissen, es hat allerdings ei-
ne Weile gedauert, bis sie sich bewahr-
heiten sollte. 2011 stellte Rolls-Royce
das Forschungsfahrzeug 102 EX vor, ei-
ne elektrisch angetriebene Limousine,
die auf dem Top-Modell Phantom ba-
ROLLS-ROYCE
sierte. Mit einer Akkuladung schaffte
das himmelblaue Einzelstück damals ei-
ne Runde um den Genfer See, immerhin
180 Kilometer – aber zu wenig für die
Ansprüche der Kunden.
STIL 49
ter, verkörpert diesen neuen ge-
schlechterunabhängigen Typus. Gera-
Cyrille Vigneron de zierte er das Cover der britischen
Präsident und CEO „Vogue“ – als erstes männliches Mo-
von Cartier
del seit 106 Jahren. Auf dem roten
Teppich der Filmfestspiele in Venedig
trug er einen roten Seidenoverall und
Seit Anfang 2016 ist Cyrille natürlich auch Schmuck.
Vigneron Präsident und CEO Ich denke, diese junge Generation fin-
der Schmuckmarke Cartier, det zunehmend Gefallen an wertvollem
die zum Luxuskonzern Riche- Schmuck, egal ob Mann oder Frau. Aus
mont gehört. Der 60-Jährige dem einfachen Grund, dass er sehr sinn-
war bereits von 1988 bis 2013 lich ist. Man trägt ihn auf der Haut, am
für die Richemont-Gruppe Handgelenk, am Ohr, am Hals, am Her-
tätig, unter anderem als Ge- zen, also an Stellen, die sehr symbolisch
schäftsführer von Cartier sind – in gewisser Weise also wie eine
Japan, Präsident von Riche- Tätowierung.
mont Japan und Geschäfts-
führer von Cartier Europe. Machen sich die gegenwärtigen
Von Januar 2014 bis Dezember Krisen wie Corona, der Krieg oder die
2015 war Vigneron Präsident Inflation auf dem Luxusmarkt
von LVMH Japan. Er lebt in bemerkbar?
Genf, ist verheiratet und Vater Natürlich tun sie das, nur paradoxer-
von vier Kindern. Vigneron ist weise schadet es ihm nicht. Die Dyna-
Musikliebhaber und hat ein mik hat sich verändert, doch der Luxus-
Buch über die japanische markt insgesamt war sehr widerstands-
Kultur geschrieben. fähig. Die stärksten Marken, die sich
einzigartig und klar positionieren,
schneiden gut ab. Und wir sind nicht die
Einzigen, denen es gut geht.
Welches Cartier-Schmuckstück ist ei-
ne sinnvolle Investition?
Geht es einem ums Geld, dann Haute
Joaillerie. Außerdem gibt es gerade eine
hohe Nachfrage nach Stücken aus den
1920er-Jahren. Auch bei Uhren aus den
NICOLAS GUERBE/CARTIER
1970er-Jahren steigen die Preise. Die
beste Investition ist aber meiner Mei-
nung nach das, was einen berührt. Wie
bei einem Kunstwerk sollten wir nicht
nur an den finanziellen Wert denken,
sondern auch an den emotionalen. Da-
rüber, wie lange es uns gefällt, und ob es
irgendwann unseren Kindern gefallen
würde. Deshalb arbeiten wir an mög-
lichst zeitlosen Designs.
Was halten Sie von Diamanten, die im
Labor gezüchtet werden?
Sie werden wahrscheinlich grundlegend
den Wert von Diamanten verändern.
Natürliche Diamanten überdauern Mil-
lionen Jahre und sind deshalb ein star-
kes Symbol für Reinheit und Ewigkeit.
Auf der anderen Seite kommen zuneh-
PHOTOGRAPH BY SNOWDON TRUNK ARCHIVE CARTIER; CARTIER/JULIAN UNGANO
mend Bedenken hinsichtlich der Um-
welt und sozialer Fragen auf. Im Labor
gezüchtete Diamanten könnten theore-
tisch ein Gegenentwurf sein. Gleichzei-
tig ist der Handel mit ihnen auch nicht
transparent, sie können von überall
stammen. Hat man die Möglichkeit, so
viele Steine zu züchten, wie man will,
sinkt außerdem ihr Wert. Mich interes-
sieren die herausragenden Formen, die
man mit im Labor gezüchteten Diaman-
ten herstellen kann. Formen, die vorher
nicht möglich waren. Ein riesiger Voll-
diamant, das wäre doch der Hammer,
oder?
Also könnten sie für Cartier interes-
sant sein?
Mal sehen, wir sind offen, aber vorerst
mit dem Versprechen von Natürlichkeit
und Transparenz. Beides können im La-
bor gezüchtete Diamanten noch nicht
bieten. Sie täuschen etwas vor, was nur
zwei Ringe des Schmuckhauses (l.) teilweise wahr ist.
Beim Spectre – wie bei allen Model- und John Lennon, dem ein mit psyche-
len der Marke soll der Name möglichst delischen Farbgirlanden bemalter Phan-
bedeutungsvoll und mysteriös klingen – tom gehörte. Was ein Träumer wie Len-
steht die offizielle Zertifizierung noch
an, aber die Entwickler versprechen ei-
ne komfortable Reichweite von 520 Ki-
lometern. Bei der Karosserieform hat
non wohl zum Spectre gesagt hätte?
Rolls-Royce-Chef Torsten Müller-Ötvös
ist sich darüber im Klaren, dass ein
Elektroauto mit einem Gewicht von
man sich gegen eine Limousine oder ein knapp drei Tonnen und einem Ein-
SUV entschieden – und für ein zweitüri- stiegspreis von 318.000 Euro nicht die
ges Coupé, also einen Fahrzeugtyp, in Welt retten wird. Aber für die Marke sei
dem man sich auf dem Fahrersitz deut- es ein wichtiger Schritt in die richtige
lich wohler fühlt als auf der Rückbank. Richtung.
Seit der Übernahme durch BMW ist die Der Spectre soll im Herbst 2023 auf
Kundschaft von Rolls-Royce jünger ge- den Markt kommen. Mit seiner Einfüh-
worden und sitzt gern selbst am Steuer rung neigt sich die Ära eines V12-Motors
– das Durchschnittsalter liegt nach Un- seinem Ende entgegen, der für seine
ternehmensangaben bei 42 Jahren und gleichmäßige Kraftentfaltung und seine
damit deutlich unter dem eines BMW- sagenhafte Laufruhe geschätzt wurde.
Käufers. Auch bei der Lackierung des Um das Gefühl von Entrücktheit und
Prototyps hat man eine extravagante Souveränität, das von diesem Motor
Option gewählt. Er ist in Schwarz und ausgeht, mit einem Elektroantrieb zu
Chartreuse gehalten, einem knalligen reproduzieren, haben die Entwickler
Grüngelb. Der Innenraum ist beim Pro- sehr lange an einem harmonischen Zu-
besitzen jedoch nicht von dem eines sammenspiel von Hardware und Soft-
herkömmlichen Rolls-Royce zu unter- ware gefeilt. Bei der Abstimmung sei es
scheiden, nur der künstliche Sternen- nicht darum gegangen, dem Wagen ein
himmel unterm Dach, der von mehr als Beschleunigungsverhalten mitzugeben,
1300 Glasfaser-Lämpchen illuminiert das die Insassen beim Start tief in ihre
wird, erstreckt sich jetzt auch über die Sitze drücke, sagt Mihiar Ayoubi, der
Innenverkleidung der Türen. leitende Ingenieur des Projekts. „Die-
Trotz Inflation und unsicherer Welt- sen Rummelplatz-Effekt kann jeder hin-
lage rechnet Rolls-Royce mit einer ho- bekommen, er passt aber nicht zu ei-
hen Nachfrage nach seinen elektrischen nem Rolls-Royce. Was wir beim Spectre
Modellen. Das Werk in Goodwood soll erreichen wollten, war zivilisierte Kraft
ausgebaut werden, mit dem Duke of – und keine rohe Gewalt.“
Richmond hat man sich schon über eine
T Die Teilnahme an der Veranstaltung
Erweiterung der Anlage verständigt. Im
Flur des Verwaltungstrakts hängen wurde unterstützt von Rolls-Royce.
Schwarz-Weiß-Fotos von berühmten Unsere Standards der Transparenz und
Rolls-Royce-Besitzern aus vergangenen journalistischen Unabhängigkeit finden
Zeiten, darunter Twiggy, Tony Curtis Sie unter go2.as/unabhaengigkeit
50 STIL
KOCHSCHULE HERBSTKÜCHE
Käsekuchen
mit Mandarinen
VON VOLKER HOBL UND ROBIN KRANZ (FOTOS); WEINTIPP: MANFRED KLIMEK
Käsekuchen mit Mandarinen ist ei-
ne meiner Leibspeisen aus der
Kindheit. Er wurde grundsätzlich
mit Mandarinen aus der Dose geba-
cken, bei denen ich mich oft gefragt
habe, wer das weiße Häutchen so
penibel vom Fruchtfleisch entfernt.
Gerade sind die ersten Clementi-
nen und Mandarinen auf den Markt
Zutaten
Für den Mürbeteig:
12–15 Mandarinen oder Clementi-
nen (unbehandelt)
300 g Mehl
110 g Puderzucker
35 g geriebene Mandeln
Abgeriebene Schale von drei Man-
darinen
180 g Butter in kleinen Stücken
1 Prise Salz
1 Ei
Ein Eigelb zum Bestreichen
Für die Füllung
1 kg Quark
190 g Zucker
80 g Mehl
100 g zerlassene Butter
Mark von einer Vanilleschote
5 Eier
150 ml Mandarinensaft
50 ml Buttermilch
Abgeriebene Schale von drei
Mandarinen
Zuerst die Schale von sechs Mandari-
nen fein abreiben, dann samt der wei-
ßen Haut darunter abschneiden und
die einzelnen Fruchtstücke herauslö-
sen. Für den Belag benötigt man unge-
fähr eine kleine Tasse Filets.
Mehl, Puderzucker, Mandeln, Salz
und Butter mit dem Abrieb in eine
Schüssel geben und mit einer Teigkar-
te durchhacken. Dann das Ei dazuge-
ben und zügig zu einem glatten Teig
kneten. Zu einer Kugel formen, platt
drücken, in Folie hüllen und im Kühl-
schrank circa eine Stunde ruhen las-
sen. Den Backofen auf 190 Grad vor-
heizen, eine Springform mit 26 cm
Passt perfekt: Etwas Furztrockenes, Außergewöhnliches. Ich
hole den Ube de Ubérrima 2020 aus dem Kühlschrank, eine
Cuvée aus drei autochthonen Sorten der Region Cádiz, die mir
der junge Wiener Sommelier Simon Schubert empfohlen hat. Der
Ube ist ein Sherry, der nie mit Alkohol versetzt wurde, wie das bei
Sherrys sonst die Regel ist. In der Nase Nüsse, grüne, unreife Oli-
ven, gering das Innere einer Zigarrenkiste, Nashi-Birne und sehr
gering ein Ledersitz in einem Auto. Im Mund elegant, cremig,
enorm salzig, ohne die Balance zu verlieren. Ein großer Spaß.
Für etwa 20 Euro vorzubestellen bei shop@weinskandal.at
ESSEN & TRINKEN
gekommen, und so mache ich mich
daran, einen Käsekuchen zu ba-
cken, der ohne Dosenfrüchte aus-
kommt. Der Saft, die fein geriebene
Schale und die Filets geben das Aro-
ma. Die Zubereitung des Käseku-
chens orientiert sich an einem Ba-
sisrezept aus dem Buch „Richtig gut
backen“ von Christian Hümbs.
Durchmesser leicht mit Butter fetten
und mit Mehl bestäuben. Überschüssi-
ges Mehl ausklopfen.
Den Mürbeteig ungefähr fünf Milli-
meter dünn ausrollen, in die Form le-
gen und am Rand etwas andrücken,
gerade schneiden und am Boden
mehrfach mit einer Gabel einstechen.
Zum Blindbacken Backpapier auf den
Teig legen, mit Hülsenfrüchten wie
zum Beispiel Linsen beschweren und
15 Minuten backen. Dann die Hülsen-
früchte und das Backpapier entfernen,
den Mürbeteigboden mit Eigelb ein-
streichen und nochmals fünf Minuten
backen, anschließend abkühlen lassen.
Für die Füllung den Quark gut mit
den übrigen Zutaten verrühren, in die
vorbereitete Backform gießen und auf
der mittleren Schiene backen. Nach
etwa zehn Minuten die vorbereiteten
Mandarinenfilets auf dem Käsekuchen
verteilen und ungefähr weitere 80 Mi-
nuten backen. Nach dem Backen ab-
kühlen lassen und erst nach dem Ab-
kühlen aus der Form nehmen.
A Volker Hobl ist Koch und
Foodstylist. Manfred Klimek
ist Autor, Weinkritiker
und Fotograf.
D ESSKRITIK
er Herbst ist mir die liebste Jah-
reszeit. Nach langer Durststre-
cke beginnt für meine Art der
Küche jetzt eine Saison mit einem gan-
zen Füllhorn an Produkten, die über
den Sommer nur schwer zu beschaffen
waren, weil die Meere zu warm waren.
Wir hatten große Probleme, Krystal-
Austern, Entenmuscheln oder Jakobs-
muscheln zu bekommen. Wolfsbarsch,
Steinbutt oder Seezunge, die wir das
ganze Jahr über von denselben kleinen
Kuttern beziehen, haben im Sommer
nicht so ein schönes Fleisch. Aber jetzt,
Mitte Oktober, nachdem wir aus dem
Betriebsurlaub zurückgekehrt sind, ist
alles wieder in einer Güte verfügbar, die
mein Kochherz höher springen lässt.
Nach längerer Pause habe ich eins
meiner liebsten Gerichte in abgewan-
delter Form wieder auf die Karte ge-
nommen: Das Chawanmushi ist ein ge-
dämpfter japanischer Eierstich, den ich
– statt wie früher mit Kaviar – mit einer
ganzen Reihe Meeresfrüchte serviere.
Dazu lasse ich Gamberi Rossi aus San
Remo in etwas Krustentieröl nur ganz
leicht unter der Wärmelampe lauwarm
anziehen. Hinzu kommen frische See-
igel von den Färöer-Inseln, eine bei 42
Radikal
RUSTIKAL
In Belgrad veredelt Vanja Puskar traditionelle
Gerichte aus der Balkanregion. Seine Küche
strotzt nur so vor Selbstbewusstsein
B
„Wir haben alles hier, was man braucht“: Vanja Puskar gehört zu den renommiertesten Köchen Serbiens
elgrad, die Balkanme-
tropole. Die Häuser-
fassaden sind grau, im
Lokal aber ist es strah-
lend weiß. An den
Wänden hängen ein-
gerahmte Zeichnun-
gen von diversen Kräutern wie in den
Küchen bürgerlicher Haushalte. Eine
grobe Mauer, unverputzter Baustein
und der graue Holzboden erinnern aber
eher an hippe Restaurants in Berlin
oder New York. Zu einem bereits einge-
schenkten Naturwein, einem Furmint
aus Fruska Gora bei Novi Sad, reicht das
Personal, die weißen Hemden nicht in
die Hose gesteckt, die Speisekarte.
VON MANFRED KLIMEK UND JULIANE REICHERT
„Wir können auch vegetarisch“, sagt
der Kellner. Das stimmt wohl. Doch
man merkt schnell: Hier isst man besser
Fleisch. Das Restaurant heißt „Iva“, ei-
ne Tafel an der Außenwand verspricht
„New Balkan Cuisine“ – eine neue Bal-
kanküche. Inhaber Vanja Puskar, der
mit dem „Tisa“ gerade ein zweites Res-
taurant mit ähnlichem Anspruch eröff-
net hat, will seinen Küchenstil mit die-
sem Claim über die Grenzen des Landes
hinaus bekannt machen. Und er will da-
ran erinnern, dass der Balkan eine kuli-
narische Großregion ist, in der man
trotz regionaler Unterschiede und Riva-
litäten auf ähnliche Zutaten und Rezep-
te zurückgreift. Die Produkte, die im
„Iva“ und im „Tisa“ verarbeitet werden,
kommen vor allem aus Serbien, aber
auch aus Montenegro und aus Kroatien.
„Auf Importe aus anderen Ländern sind
wir nicht angewiesen“, sagt Puskar.
„Wir haben alles, was man braucht.“
Lokale Produkte, Zutaten aus der Re-
gion – für die meisten Serben ist das
selbstverständlich. Das im europäi-
schen Vergleich niedrige Lohnniveau
gestattet keine Austern und keinen
VON CHRISTIAN BAU
Endlich wieder
aus dem Vollen
schöpfen
Grad pochierte Auster, Entenmuscheln
aus Portugal, Venusmuscheln und ein
Dashi-Kaviar aus Saiblingsrogen, die in
einer geräucherten Brühe eingelegt
werden. Am Tisch wird dann noch ein
lauwarmer Sud aus geräucherter Thun-
fisch-Backe mit Ingwer-, Miso- und Ko-
rianderöl angegossen. Das ist eine gan-
ze Sinfonie jodiger Aromen mit dem
Chawanmushi als heißer Unterlage. Es
wird bei uns nach japanischer Tradition
mit einem kleinen Holzlöffel gegessen
und ist ein Fest für jeden Meeresfrüch-
te-Liebhaber. Gestern habe ich zwei
Gästen die ersten Jakobsmuscheln der
Saison als Sashimi mit Buttermilch und
etwas Kräuteröl und Kaviar serviert, sie
Champagner. Puskar sieht sein Lokal als
ambitionierte Ergänzung zur eher
schlichten Gasthausküche seines Lan-
des. Sein Ansatz, traditionellen Gerich-
ten mit verfeinerten Rezepturen und
hochwertigen Produkten zu neuem
Glanz zu verhelfen, orientiert sich an
der Philosophie der Nordic Cuisine.
Doch während man in gehobenen skan-
dinavischen Restaurants jede Steckrübe
angepriesen bekommt, als handle es
sich um ein Kronjuwel, hält sich der
Service im „Iva“ mit Vorträgen zurück.
Die Vorspeisen kommen ohne umständ-
liche Erklärungen auf den Tisch: viel
Käse, auch vom Schaf und gut gereift,
gerieben, gegrillt, geräuchert oder in
Form eines Küchleins, dazu Rindfleisch,
Hirsch, Lamm. Und es gibt Schweine-
fußkroketten – auch nicht gerade leicht,
aber sehr schmackhaft. Das Essen, auf
den Tellern oft zu kleinen Türmen ge-
formt, wird zum Teilen hingestellt. Und
Aivar, die klassische Balkanpaste aus Pa-
prika und Auberginen? Gibt es hier
auch, angeblich zubereitet von den
Müttern der Köche.
ITALIENISCH ANMUTENDE
HERZLICHKEIT
Vanja Puskar stammt aus einer Familie,
in der das gemeinsame Essen stets ei-
nen sehr hohen Stellenwert besaß und
in der Gastfreundschaft immer auch et-
was mit dem Stolz darauf zu tun hatte,
dass man es sich leisten konnte, jemand
anderen zum Essen einzuladen. Wer in
Serbien zu Tisch bittet, will zeigen, was
er hat. Die Gastgeber geben alles, schon
eine mitgebrachte Flasche Wein würden
sie als Beleidigung auffassen. Puskar er-
zählt, er habe sehr früh erkannt, dass es
beim Essen lebendig und herzlich zuge-
hen müsse. Und diese fast italienische
Herzlichkeit, in Belgrad sonst eher sel-
ten, ist im „Iva“ zu spüren, wenn alle Ti-
sche voll mit Menschen und Essen sind
– wie an nahezu jedem Abend.
WELT AM SONNTAG
haben vor Begeisterung mit den Ober-
schenkeln geschlackert.
Auch das Geflügel hat unter den ho-
hen Temperaturen gelitten. Mein bes-
ter Geflügelzüchter vom La Cour d’Ar-
moise hat einfach keine Hühner mehr
geschlachtet, weil er sie mit seiner
schonenden Aufzucht bei der großen
Hitze im Sommer nicht mehr auf das
nötige Schlachtgewicht bringen konn-
te. Jetzt habe ich endlich wieder welche
bekommen, die zuvor zwei Wochen ab-
gehangen sind. Die Brust mache ich
ganz klassisch mit frischen Steinpilzen
und Vin Jaune, dazu gibt es gefüllte
Agnolotti, für die ich die Keulen schmo-
re und für die Füllmasse verarbeite. Als
Soße serviere ich eine „Jus Gras“ aus
den ausgekochten Knochen der Hüh-
ner, die mit dem Fett von ausgelasse-
nen Gänselebern verfeinert wird. Mit
einigen Parmesanspänen und gehobel-
tem Trüffel ist das eine echte Ge-
schmacksbombe, ich könnte davon ei-
nen ganzen Eimer essen. Das Gericht
habe ich derzeit als Supplement auf der
Karte, es wird häufig bestellt, weil un-
sere Gäste in dieser Jahreszeit genauso
danach lechzen wie ich. Da verbindet
sich Substanz mit geschmacklicher Tie-
Dabei ist Serbien kein einfaches
Pflaster, wenn es um ein freundliches
Miteinander geht. Die Bevölkerung ist
extrem gespalten. Da sind jene, die das
Land seit Jahrzehnten nur als Opfer
westlicher Aggression sehen und die
Kriegsverbrechen der serbischen Trup-
pen im Balkankrieg nicht wahrhaben
wollen. Und da sind jene, die den Still-
stand und das Selbstmitleid, das sich
auch in den kreativen Schichten breit-
gemacht hat, nicht länger ertragen
möchten und sich einen schnellen Bei-
tritt zu EU wünschen. In diesem Span-
COURTESY NEW BALKAN CUISINE
Einfach, aber präzise: Krokette
vom Schweinsfuß im „Iva“
nungsfeld erlaubt sich Puskar die An-
maßung, etwas zur kulinarischen Iden-
titätsfindung seines Landes beisteuern
zu wollen – und zwar nicht als Kopist
westlicher Küchentrends, sondern als
eigenständiger Kreateur. Seine New
Balkan Cuisine sieht er als Aufforde-
rung, sich intensiver mit den eigenen
Traditionen zu beschäftigen – und den
neuen Möglichkeiten, die sich daraus
ergeben. „Wenn man Vergleiche anstel-
len will“, sagt er, „dann kann man sa-
gen, dass man in Slowenien von allen
Ländern Ex-Jugoslawiens heute die
beste und weltläufigste Balkanküche
mit mediterranem Einschlag bekommt.
In Kroatien ist man in Sachen Fine Di-
NR. 43 23. OKTOBER 2022
fe und den erdigen Noten von Steinpilz
und Trüffel zu einer Dichte, die erst
jetzt möglich ist.
Die Steinpilzsaison wird bei uns im-
mer kürzer. Die richtig guten, festen
Champagnerkorken gibt es mittlerweile
nur noch vier Wochen im Jahr. Aber
wenn die Zeit der Steinpilze endet,
fängt die gute Phase der Weißen Trüffel
an. Sie haben unter dem trockenen
Sommer in Italien gelitten und sind mo-
mentan noch sehr klein, doch in einer
Woche, wenn Quantität und Qualität
stimmen, wird das erste Trüffelgericht
des Jahres auf unserer Karte stehen. Da-
zu ersetzen wir bei den Agnolotti die
Steinpilze einfach durch Trüffel.
Bei einigen Produkten lohnt es sich,
noch etwas länger zu warten. Die beste
Zeit für Wildhasen beginnt Mitte No-
vember, wenn es schon Nachtfrost ge-
geben hat. Nichts macht mich als Koch
glücklicher, als mit so wunderbaren
Produkten arbeiten zu dürfen.
Unser Kolumnist Christian Bau
kocht im „Victor’s Fine Dining“ in
Perl-Nennig, das mit drei Michelin-
Sternen ausgezeichnet ist
NEWBALKANCUISINE.COM/LCF
ning weit vorn. Bei uns in Serbien und
vor allem in Belgrad ist die Alltagskü-
che am besten aufgestellt.“
Die Hauptspeisen im „Iva“ scheinen
diese Einschätzung nur zu belegen:
Schwein, Lamm, Huhn, aus dem Ofen
und vom Grill. Ein Schweinskotelett
wird unter einem Brotteig gegart – eine
Verneigung vor der bäuerlichen Küche.
Dazu kommen Gemüse, Salate und Dips
auf Joghurtbasis. Klar ist: Es muss im-
mer mehr als genug Essen auf dem
Tisch stehen. Und wer hier „meins“
sagt, der hat nicht begriffen, dass es an
diesen Tischen kein „mein“ oder „dein“
gibt, sondern nur geteilte Freude über
eine sehr einfach wirkende, aber extrem
präzise Küche, die mit ihren Gewürzen
und Aromen eine radikal-rustikale Ele-
ganz auf die Teller bringt.
GEZIELTER RÜCKGRIFF
AUF DAS ARCHAISCHE
Diese Eleganz macht eine Einkehr im
„Iva“ zum kulinarischen Erlebnis. Die
Küche von Vanja Puskar strotzt nur so
von Selbstbewusstsein, die noch junge
serbische Ausgabe des Restaurantfüh-
rers „Gault-Millau“ hat sein Lokal völ-
lig zu Recht mit zwei Kochmützen ge-
adelt und damit zu einem der besten
Restaurants des Landes erklärt. Aber
handelt es sich bei den Speisen, die hier
serviert werden, tatsächlich um eine
neue Balkanküche? Es ist auf jeden Fall
eine Küche, die Fleisch und kräftige
Würze favorisiert.
Und dann taucht die Gabel in einen
Teller mit Gnocchi ein, die sich in aus-
gelöstem Ochsenschwanz und Kalbs-
hirn sattsaugen. Dazu gibt es glasierte
Zwiebeln und kräftig angebratene Ka-
rotten. Dieses Gericht steht für das, was
ein Restaurant heute leisten kann: den
gezielten Rückgriff auf das Archaische,
das Eigenwillige und das Autochthone,
das auf Erneuerung und Verfeinerung
harrt – nicht nur in Serbien.
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
Die Villa aus dem Jahr 1904 liegt erhöht über dem Seeufer
HOMESTORY MOLTRASIO, COMER SEE
Nicht ohne
den Lüster
Der Zürcher Galerist Damian Grieder und seine
E © DAMIAN GRIEDER/ FOTO RETO GUNTLI (6); © VG BILD-KUNST, BONN 2022
Frau, die Künstlerin Melli Ink, haben eine über
100 Jahre alte Villa in Norditalien wachgeküsst.
Der Kauf war an eine besondere
Bedingung geknüpft
Eigentlich war schon alles ausgehan-
delt, der Kaufvertrag kurz vor der Un-
terzeichnung, und das Ehepaar Grieder-
Swarovski sah sich gedanklich schon auf
der Terrasse der Villa am Seeufer sit-
zen, da überbrachte der Schwiegersohn
der Besitzerin, einer betagten Gräfin,
eine Botschaft. Und zwar, dass sie sich
nur von ihrem Haus trennen werde,
wenn die Interessenten auch den Mura-
no-Lüster im Esszimmer erwerben wür-
den. Also wurde ein separater Preis für
den mauvefarbenen Kronleuchter ver-
einbart – und der Kauf konnte über die
Bühne gehen. Der Lüster hängt heute
immer noch über dem Esstisch.
VON ANNEMARIE BALLSCHMITER
Vorangegangen war eine erstaunlich
kurze Besichtigungstour am Comer See,
zu der Melanie Grieder-Swarovski, auch
bekannt unter ihrem Künstlernamen
Melli Ink, ihren Mann, den Zürcher Ga-
leristen Damian Grieder (Grieder Con-
temporary), entführt hatte. Das Paar
spielte mit dem Gedanken, sich ein
Pied-à-terre südlich der Alpen zuzule-
gen. Beide schauen sich gern Immobi-
lien an, wenn sie unterwegs sind, und
widmen sich immer wieder der Sanie-
rung interessanter Objekte.
An der Villa aus dem Jahr 1904 faszi-
nierten das Paar gleich mehrere Aspek-
te: Es handelte sich eben nicht um ei-
nen weitläufigen Palazzo, sondern um
ein vergleichsweise kompaktes Haus
mit 300 Quadratmetern Wohnfläche.
Außerdem liegt es vier Meter erhöht
über der Uferstraße, die das Grund-
stück vom See trennt, man hat also ei-
nen wunderbaren Blick. Und zur Villa
gehört ein Bootshaus, das heißt, es gibt
einen eigenen Seezugang. Dazu kommt
noch die Tatsache, dass die Liegen-
schaft in über einhundert Jahren nur
zwei Besitzer hatte. Die letzte Renovie-
rung fand im Jahr 1964 statt. „Die gan-
zen originalen Features waren noch er-
halten, das fanden wir toll“, sagt Dami-
an Grieder am Telefon.
2017 zog das Paar nach einer Minimal-
renovierung ein, bei der nur gestrichen
NR. 43
und die Böden abgeschliffen wurden –
und stellte fest, dass es einen entschei-
denden Punkt unterschätzt hatte: Wie
umständlich das Leben in einem Haus
ohne Parkmöglichkeit sein kann. Das än-
derte sich durch die Entscheidung, unter
dem Garten am Hang eine Garage zu
bauen und darauf einen Pool anzulegen,
selbstverständlich mit Seeblick – der ist
heute Grieder-Swarovskis Lieblings-
platz. Damian Grieder wiederum fühlt
sich im Schlafzimmer am wohlsten, das
gleich nach zwei Seiten auf den Comer
See ausgerichtet ist. Gleichzeitig wurde
die Villa komplett saniert, eine neue Hei-
zung eingebaut, alle Böden erneuert.
Fast zwei Jahre dauerte die Renovie-
rung, im Frühsommer 2021 war sie abge-
schlossen. Für die Gestaltung der In-
nenräume kam die Schweizer Innenar-
chitektin Ina Rinderknecht an Bord, sie
und Melanie Grieder-Swarovski arbeite-
ten eng zusammen. Der an ein Back-
gammonbrett erinnernde Boden im
Eingangsbereich aus rotem, weißem
und grauem Marmor ist beispielsweise
ein Entwurf von Rinderknecht, das geo-
metrische Mural wiederum stammt von
der Hausherrin. Diese hat an mehreren
Stellen ihre künstlerischen Spuren hin-
terlassen: eine Einlegearbeit im Stein-
boden des Kellers, ein Gesicht samt
Friedenstaube auf dem Fliesenspiegel
in der Küche (eine Hommage an Jean
Cocteau) und die an einen Rorschach-
test erinnernde Marmorwand im Bad.
Der gleiche Marmor, ein Calacatta Viola
mit Adern in Auberginetönen, kommt in
der Küche zum Einsatz. Grieder-Swa-
rovski hat auch die auf die Terrasse füh-
renden Fenstertüren mit den anthrazit-
farbenen Metallrahmen entworfen, für
die sie das Design der Balkongitter mit
ihren Quadraten aufgriff.
Bei der Einrichtung setzt das Paar auf
einen eklektischen Mix, den es mit sei-
ner Sammlung zeitgenössischer Kunst
kombiniert. „Eine Mischung aus Vinta-
ge, Antiquitäten, neuem Design“, sagt
Melanie Grieder-Swarovski. „Wir su-
chen Teile, bei denen wir eine Verbin-
dung zum Haus sehen.“ Der Murano-
Leuchter der Gräfin gehört dazu.
Der Murano-Leuchter über dem Esstisch gehörte der Vorbesitzerin. Über dem Kamin ein Bild von Gert & Uwe Tobias:
„Dresdener Großer Grüner II“ (2012). Esstisch und Stühle stammen von Habitat, die Vase auf dem Tisch von Melli Ink.
Die gelbe Zitronen-Bodenvase aus Sizilien verweist auf die Zitronenbäume im Garten
Aus zwei mach eins: Der große Salon bestand ursprünglich aus
zwei Zimmern. An der Decke ein Vintage-Leuchter aus Mailand
Das Mural stammt von Melli Ink, der Marmorboden
ist ein Entwurf von Innenarchitektin Ina Rinderknecht
STIL 51
Drunter ist das
neue Drüber
Warum Boxershorts
wieder in der Männer-
mode sichtbar sind
A
uf der Prada- und Dior-Show
für diesen Herbst dachte man
noch, es sei ein Scherz: Bei ei-
nigen Models blitzten die Boxer-
shorts überm Bund feiner Wollhosen
hervor. Teils steckten sogar dünne
Strickpullover in den Shorts, damit
ja keine Haut zu sehen war. War das
die erwachsene Version jenes Eltern-
schreck-Stylings cooler Jungs in den
späten Neunziger- und Nullerjahren,
bei dem die Baggypants mit jedem
Schritt tiefer sanken und die Unter-
wäsche höher rutschte? Genau die-
ses „Sagging“ (durchhängen) feiert
jetzt ein Comeback.
Zumindest, wenn es nach der Mo-
de geht: Vor ein paar Wochen hat
nun so gut wie jedes Label, das etwas
auf sich hält, für das kommende
Frühjahr Jeans, Jogging- und Cargo-
hosen auf halbmast und mit hochge-
zogenen Boxershorts präsentiert.
Givenchy, Dsquared2, Vetements,
MSGM, Balenciaga, Y/Project. Die
Liste ließe sich beliebig verlängern.
Die Gründe dafür liegen auf der
Hand. Der wichtigste Motor für den
Trend ist ein Megatrend namens
Y2K (so werden die Nullerjahre auch
genannt). Alles, was vor rund 20 Jah-
ren schon mal angesagt war, ist jetzt
wieder da. Bei Frauen sind es Bauch-
frei-Tops, Hüfthosen und sichtbar
getragene Tangas, bei Männern T-
Shirts mit ellenbogenlangen Ärmeln,
weite Hosen und nun eben auch
sichtbar getragene Boxershorts.
Damals machten Gangsta-Rapper
wie Tupac, Dr Dre oder Snoop Dogg
die Trageweise bekannt. Sie liefen so
herum, weil Gefängnisinsassen in
den USA der Gürtel abgenommen
wird, damit sie sich damit nicht er-
PASCAL LE SEGRETAIN/GETTY IMAGES/
Bei Dior: Boxershorts (um 350 Euro)
blitzen aus Jogginghosen
hängen oder ihn als Waffe gegen an-
dere einsetzen können. Botschaft:
Seht her, mir rutscht die Hose, also
bin ich ein ziemlicher harter Typ!
© VG BILD-KUNST, BONN 2022
Heute liegt der Fokus eher auf der
Unterwäsche. Viele Modeexperten
nennen den Trend „Peekaboo Bo-
xers“. Peekaboo bedeutet so viel wie
Guck-guck. Der Begriff spielt nicht
nur auf das Herausschauen der Bo-
Der Gewölbekeller ist seit der Sanierung trocken. xershorts an sich an, sondern auch
Das Stein-Auge ist eine Arbeit von Melli Ink auf das der Markeninsignien, die
sich mittig auf dem Bund einer
Shorts befinden. Mal ist es der Na-
me eines Designers, mal sein Logo:
mal plakativ und zentimeterbreit
eingewebt (Vetements) mal nur
ganz dezent und klein eingestickt
(Dior). In Zeiten des Logowahns
nutzen Designer eben jede Fläche,
um Produkten ihren Stempel aufzu-
drücken. In wirtschaftlich schwieri-
gen Zeiten sind im Luxusbereich zu-
dem verstärkt Produkte gefragt, für
die Kunden vergleichsweise nicht
ganz so viel Geld ausgeben müssen.
Wobei man über den Preis von Ba-
lenciaga-Boxershorts aus Viskose
und Acetat (295 Euro) durchaus
streiten darf. Fakt aber ist: Unterho-
sen, egal in welcher Form, bilden in
Das Schlafzimmer hat Fenster zur Seite und auf den See. Die der Luxusmännermode eine Pro-
Vegetation draußen setzt sich drinnen auf der Tapete fort duktkategorie, die viele Designer für
sich noch nicht ausgereizt oder gar
entdeckt haben. Ralph Lauren, Dol-
ce & Gabbana, Calvin Klein und
Giorgio Armani sind Klassiker der
gepflegten Herrenunterwäsche. Gi-
venchy, MSGM und all die anderen
haben Nachholbedarf. Jetzt wittern
sie ihren Moment.
© GRIEDER/© VG BILD-KUNST, BONN 2022
Zum Schluss ein kleiner Tipp für
alle, die den Trend mitmachen wol-
len. Egal, ob tief oder akkurat sitzen-
de Hosen: Boxershorts rutschen auf-
grund ihres weiten Schnittes irgend-
wann immer unbequem hoch. An
Ort und Stelle bleiben dagegen eng
anliegende Slipboxer aus Jersey,
auch Trunks genannt. Auch die sind
Melanie Grieder-Swarovski und Damian Grieder im großen in den Onlineshops vieler Designer
Salon, im Hintergrund ein Werk von David Ostrowski schon erhältlich. DENNIS BRAATZ
REISEN
WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022 SEITEN 52/53

UNTERWEGS

Wanderungen und ein Vulkan spendeten ihm

Ein Schotte
VON PHILIPP LAAGE

auf SIZILIEN
Handy weg, Trost, als Taormina während der Pandemie zur

L
Leben weg? Geisterstadt wurde. Seit gut 20 Jahren lebt
Jim Kerr, Sänger der Simple Minds, auf Sizilien.

A Im Lockdown spielte er hier ein neues Album ein.

lles weg. Das war mein zwei-

Unser Autor hat ihn beim Wandern begleitet

ter Gedanke, nachdem mein
Handy in den Fluss gefallen
war. Der erste Gedanke war: Viel-
leicht lässt es sich noch retten, weil
das Wasser gar nicht tief ist und nur
träge dahinfließt. Jemand könnte
tauchen, suchen und das Gerät ber-
gen, dann ließen sich vielleicht noch
die Daten sichern. Ich fragte den
einheimischen Bootsführer, doch der
schaute mich nur mitleidig an.
Armer, verwirrter Tourist, sagte sein
Blick. Wir waren unterwegs im
Westen Javas, im dichten Dschungel
des Ujung-Kulon-Nationalparks, als
der Tag eine aus meiner Sicht tragi-
sche Wendung nahm. Ich saß im
Kanu und zog meine Kamera aus
dem wasserdichten Sack zwischen
meinen Füßen hervor. Dabei
plumpste mein Handy, das ganz
oben lag, zuerst auf die Bootskante
und dann, ohne dass ich es verhin-
dern konnte, in den grünbraunen
Strom, auf dem wir durch den einsa-
men Regenwald schipperten.
Bald sah ich ein: Hier war nichts
mehr zu machen. Man konnte zwar
im Fluss stehen, doch in der trüben
Brühe war jeder Taucher blind. Der
Sandboden am Grund hatte das
Handy wahrscheinlich sofort ver-
schluckt und würde es nun für Tau-
sende von Jahren hüten, als Artefakt
einer irgendwann untergegangenen
Zivilisation. Für mich fühlte es sich
an wie ein schwerer Verlust: All die
Fotos, Videos und Chatverläufe, all
die geteilten Erinnerungen mit der
Familie und meinen Freunden, all
die heiteren und oft albernen Mo-
mentaufnahmen, die mein beschei-
denes Dasein auf dieser Erde be-
zeugten – weg waren sie. Ich war
ausgesprochen wütend, vor allem auf
meine eigene Tollpatschigkeit.
Zwei Tage blieben wir in dem Na-
tionalpark, auf einer einsamen Insel
mit zahmen Rehen, frechen Affen
und prächtigen Waranen. Genug
Zeit, um mir Vorwürfe zu machen:
Hätte ich das Handy doch bloß mit
einem Cloud-Speicher synchroni-
siert! Doch das hatte ich blöderweise
nicht getan. Am Ende verflog die
Wut, und zurück im Ort warteten
neue Probleme, die ich zu lösen hat-
te. Ich musste wegen anstehender
Flüge auf meine E-Mails zugreifen.
Aber ich kam auf keinem anderen
Smartphone in mein Postfach. Nur
an einer echten Tastatur konnte ich
das Passwort eintippen, wie im
Schlaf, ohne mich an die genauen
Ziffern erinnern zu müssen. Ich
brauchte also einen richtigen Com-
puter. Was hier, am Ende der Welt,
nicht einfach war. Doch irgendwann
klappte es, mir fiel das Passwort
wieder ein, und ich konnte die Wei-
terreise organisieren.
PHILIPP LAAGE
Lässig und zügig zugleich geht er den
steingepflasterten Weg von Taormina
zum Bergort Castelmola hinauf. Der
Mann in der hellbraunen Hose, dem
dunklen T-Shirt und den weißen Snea-
kers wirkt so gar nicht rockstarhaft.
Nichts erinnert an jenen charismati-
schen Zampano, der einst bei Live-Aid
oder im Wembley-Stadion mit wenigen
Gesten die Massen entfesselte, wenn er
die Arme zur Erlöserpose hochriss, sie
hin und her schwenkte – und es ihm
80.000 Fans nachmachten. Das würde
in dieser Umgebung, zwischen Kakteen
und Wolfsmilchbüschen, auch seltsam
wirken. Jim Kerr, Sänger der schotti-
schen Rockband Simple Minds, ist bei
seiner morgendlichen Wanderung in
seiner sizilianischen Wahlheimat eher
„casual“ unterwegs. Mal abgesehen von
der verspiegelten Sonnenbrille. Die
wirkt zumindest ein bisschen extrava-
gant und erinnert an den großen Rock-
’n’-Roll-Exzentriker Lou Reed, mit dem
Kerr einmal zusammengearbeitet hat.
VON MARTIN SCHOLZ
Seit einer halben Stunde geht er den
Weg hinauf zu dem 550 Meter hohen
Bergdorf. Er nennt das seinen Morgen-
spaziergang. Momentan ist es auf Sizi-
lien immer noch ziemlich warm, um 10
Uhr bereits über 20 Grad. Kerr wischt
sich ein paar Schweißtropfen von der
Stirn, zeigt aber ansonsten eine er-
staunliche Kondition. Er geht und
spricht im Einklang, ohne dass ihm die
Puste auszugehen scheint. „Alive And
Kicking“, man merkt, dass der 63-Jähri-
ge so etwas öfter macht.
Dass er jetzt trotzdem kurz pausiert,
liegt an dem anschwellenden Gekeuche
von zwei Touristen, die schon seit Län-
gerem in seinem Windschatten sind.
Das stört ein bisschen. Er wartet, nickt
freundlich, als sie vorbeiziehen – zwei
Deutsche, die sich darüber beklagen,
dass der Weg zu dem Bergort doch stei-
ler als gedacht sei. Und, nein, sie haben
ihn nicht erkannt, den schottischen
Rockstar im italienischen Exil. „Ich
werde so gut wie nie von Touristen er-
kannt. Das Letzte, was sie in den Hü-
geln von Taormina erwarten, ist, hier
einen Typen zu treffen, der in den
80ern auf MTV zu sehen war“, lacht
Kerr. Man hat nicht den Eindruck, dass
lien zu tun, sagt Kerr. In Taormina sind
auch die Songs des neuen Simple-
Minds-Albums „Direction Of The
Heart“ entstanden, aber Kerrs Faszina-
tion für diese Insel reicht weit zurück.
Seine Liebe zu Italien begann bereits
mit 13, als er auf Klassenfahrt nach Ri-
mini fuhr. „Das war, als hätte ich erst-
mals erkannt, dass es die Welt auch in
Farbe gibt. Glasgow war damals vor
allem grau gewesen“, sagt er. „Schon da-
mals habe ich mir gesagt: Wenn ich mal
alt bin, will ich in Italien leben.“ 1983
spielten die Simple Minds erstmals auf
Sizilien, seitdem hat er hier oft Urlaub
gemacht und später Monate bei Freun-
den in Taormina gewohnt. Als seine
Band in die Krise kam, kaufte er im Jahr
2000 ein Grundstück, wollte dort ein
Hotel bauen.
2004 konnte er es eröffnen, seine
„Villa Angela“, den Beton hat er selbst
mit angerührt. Der Schotte spricht in-
zwischen fließend Italienisch, seit zwei
Jahren ist er italienischer Staatsbürger.
„Als Schotten wollten wir nicht mit den
anderen Briten infolge dieses verrück-
ten Brexits aus der EU gestoßen wer-
den. Mein ganzes Leben lang habe ich
mich in meinem Herzen als Europäer
gefühlt. Zwei Monate bevor der Brexit
dann in Kraft trat, wurden Charlie Bur-
chill und ich italienische Staatsbürger.
Niemand soll später über uns sagen
können, dass Boris Johnson uns aus der
EU gekickt hat. Das hat er nicht ge-
schafft.“ Kerr nennt das seine Wieder-
geburt auf Sizilien – als Mensch und
auch als Künstler.
Der Sänger ruht sich für einen
Moment auf einer Steinmauer aus, die
Hälfte des Weges zu dem 550 Meter
hoch gelegenen Bergdorf Castelmola
hat er hinter sich. Von hier aus kann
man auch jenes Viertel sehen, in dem
sein Hotel liegt, inmitten der Häuser,
„Waterfront“: Blick von oben auf den steinigen Strand der Isola Bella, die durch eine „Real Life“: Simple-Minds-Sänger Jim Kerr (l.) hat seinen Motorroller
Sandbank mit dem Ortsteil Mazzarò von Taormina verbunden ist geparkt und wird von einem Bekannten in Taormina in ein Gespräch verwickelt

er darunter leidet. „Die Einzigen, die

Gluck, gluck, weg war es: In diesen
Fluss fiel das Handy des Autors
Danach wurde ich auf einmal ganz
ruhig. Geradezu gelöst. Denn ich
fragte mich: Hatte ich mir all die Fo-
tos und Datenschnipsel auf meinem
Handy eigentlich je wieder ange-
schaut? Nein, praktisch nie. Was von
mir nicht sofort ins Internet geladen
worden war, verstopfte lediglich als
digitaler Beifang mein Smartphone.
Dort, auf Java, wurde mir bewusst,
dass wir nichts daraus ziehen, jeden
Cafébesuch, jeden Sonnenuntergang
mit fünf verschiedenen Fotos zu
dokumentieren. Und dass das Be-
dürfnis, ständig alles festzuhalten,
etwas Zwanghaftes hat, das uns nicht
guttut. Das Gehirn speichert sowie-
so nur wichtige Erinnerungen. Der
Rest ist verzichtbar. Wir können den
Ballast einfach loslassen, auch den
digitalen. Gibt es dafür eine bessere
Gelegenheit als eine Reise?
mich erkennen, sind Einheimische.
Aber die treffe ich nicht beim Wandern,
sondern in der Stadt oder wenn sie auf
dem Motorroller an mir vorbeiziehen
und winken.“
JIM KERR MEDITIERT
BEIM WANDERN
In den 80er- und 90er-Jahren hat Kerr
mit seinem Freund Charlie Burchill,
dem Gitarristen und Gründungsmit-
glied der Simple Minds, Hits wie „New
Gold Dream“, „Don’t You (Forget About
Me)“ oder „Alive And Kicking“ ge-
schrieben, beschallte mit dieser Mi-
schung aus Elektro-Sounds, Punk, spä-
ter Folk und Rock die größten Hallen
und Fußballstadien. In den Nullerjah-
ren war es damit vorbei. Die Band aus
Glasgow schien ausgebrannt, die Alben
verkauften sich schlecht, zeitweise hat-
te die Gruppe nicht mal mehr eine
Plattenfirma. Der „New Gold Dream“ –
er schien ausgeträumt. Erst in den ver-
gangenen zehn Jahren fanden sie wie-
der zurück in die Erfolgsspur. Dass ih-
nen das gelang, habe vor allem mit Sizi-
die sich an die Hügellandschaft schmie-
gen, dahinter die Bucht vor Taormina
und rechts der Ätna, mit rund 3400 Me-
ter Höhe der größte aktive Vulkan
Europas. Dessen Gipfel ist gerade zum
Teil in Wolken gehüllt, die sich langsam
in Richtung Taormina ausbreiten. Man
glaubt Kerr sofort, wenn er sagt, dass er
sich an diesem Panorama nie sattsehen
kann.
Der Schotte ist nicht der einzige
Künstler, dem es so ging. Taormina war
schon früher Sehnsuchtsort für Kreati-
ve und Exzentriker, die sich hier inspi-
rieren ließen. Tennessee Williams und
Oscar Wilde zog es hierher, und auch
Ernest Hemingway, der in Taormina
eine Verwundung aus dem Ersten Welt-
krieg kurierte – und hier seine frühe
Short Story „The Mercenaries“ schrieb.
Nicht zu vergessen D. H. Lawrence, der
sich vom Mittelmeerklima Milderung
für seine Tuberkulose erhoffte, und
dann Affären seiner Ehefrau mit einem
italienischen Maultiertreiber ertragen
musste, was ihn zu seinem Skandal-
roman „Lady Chatterley“ inspirierte.
Kerr kennt sie alle, die Geschichten
und Mythen über jene wilden Empfind-
samen, die es wie ihn auch nach Sizilien
zog. Nur dass er nicht an schweren
Krankheiten oder Verletzungen litt, als
er die Mittelmeerinsel als Zufluchtsort
wählte. Ihm machte das Verblassen des
Ruhms zu schaffen. „Als ich mich ent-
schloss, nach Sizilien zu ziehen, war das
ein Wendepunkt. Mit den Simple Minds
war es nur noch bergab gegangen. Ich
war von mir selbst gelangweilt, dachte,
ich hätte der Musik nichts mehr zu bie-
ten.“ Auf Sizilien wollte er das Leben,
die Landschaft und das Essen genießen
– und nebenbei ein bisschen mit der ört-
lichen Fußballmannschaft kicken. Bis
ihn ein paar junge Mitspieler, die auch
DJs waren, nach seinem musikalischen
Rat fragten, ihn in ihre Songproduktio-
nen einbezogen. „Das war wie eine Ver-
jüngung, ich merkte, wie sehr mir die
Musik fehlte, du kannst Kreativität eben
nicht abstellen.“
Die Wolken vom Ätna sind noch nä-
her gekommen. „Das gibt bestimmt
noch Regen“, sagt Kerr, macht sich wie-
der auf den Weg, weiter rauf gen Castel-
mola. Im Herbst sind deutlich weniger
Touristen in der Region als im Juli und
August. Da sei es ohnehin zu heiß zum
Wandern, und in der Altstadt und am
Meer bekomme man kein Bein an den
Boden, sagt er. Die beste Jahreszeit zum
Wandern auf Sizilien sind Oktober und
November und das Frühjahr: „Selbst
wenn es ab und zu mal regnet, gibt es
hier im Winter die meiste Zeit etwas,
das in Nordeuropa Mangelware ist: die-
sen endlos blauen Himmel.“
Wandern, das sei für ihn wie ein
Gegengift, es helfe gegen den Stress des
Alltags. „Ich meditiere beim Wandern.
Besonders auf Tournee ist das Leben
reglementiert, jeder Tag und jede
Stunde sind verplant. Hier auf Sizilien
stehe ich meist sehr früh auf, um 4.30
Uhr, dann wandere ich los. In Richtung
Ätna, in Richtung Meer und in die Hügel
des Hinterlandes.“ Nicht sehr Rockstar-
like. Früher genoss er es, als Rockmusi-
ker den ganzen Tag im Bett zu liegen
und abends auf den Putz zu hauen. „Auf
Sizilien habe ich mich in einen Früh-
aufsteher verwandelt. Beim Wandern
frühmorgens fühle ich mich frisch, da
kommen mir die besten Ideen für Songs
oder für fehlende Zeilen in den Lie-
dern.“ Das sei bei dem neuen Song „Na-
tural“ so gewesen, aber auch Klassiker
wie „This Is Your Land“, „Different
World“ oder „New Sunshine Morning“
seien beim Wandern entstanden.
SEHNSUCHTSORT FÜR
EXZENTRIKER
Nach einer Stunde ist er oben angekom-
men im Bergdorf Castelmola. Der Sän-
ger sucht sich einen Tisch im Aussichts-
restaurant „La Taverna Dell’Etna“ aus,
das Panorama ist atemberaubend. Noch
scheint die Sonne, doch die Wolken
vom Ätna haben ihn fast erreicht. Nicht
alle Tische sind besetzt, um ihn herum
sitzen ein paar Amerikaner, Engländer
und Deutsche. Jim Kerr bestellt einen
Caffè Americano. Niemand erkennt ihn.
Wenn er jetzt mehr Zeit hätte, würde er
von hier aus ins bergige Hinterland wei-
terziehen – zum Monte Veneretta, 884
Meter hoch. Der Weg dorthin führt über

„Promised You A Miracle“: Wanderer auf dem Ätna,
dem größten aktiven Vulkan Europas
eine alte Mulattiera, einen mit Steinen
gepflasterten Maultierweg, durch weit-
gehend unberührte Landschaft. Dauert
etwa vier Stunden. „Schon nach 20 Mi-
nuten bist du in einer anderen Welt,
hörst keine Autos mehr, nur noch Zie-
genglocken, Grillen, Vögel oder wenn
jemand Holz hackt. Es sind Klänge der
alten Welt.“ Die Befreiung aus der
Hightech-Welt nennt er das.
Die dunklen Wolken vom Vulkan sind
jetzt fast über Castelmola. Zeit zu zah-
len. Kerr macht sich auf den Rückweg
und wird prompt vom Regen erwischt.
„Get in, get out of the rain“ – so
schlimm, wie er es in dem Simple-
Minds-Gassenhauer „Waterfront“ be-
singt, ist es dann doch nicht. Der Regen
ist eher wie eine dezente Sprinkleranla-
ge, die einen leicht erfrischt, ohne dass
die Kleidung durchnässt wird.
An einer Stelle des Abstiegs hat Kerr
einen besonders guten Blick auf das
Gassengewirr in der Altstadt von Taor-
mina und auch auf das Teatro Antico,
das man von hier aus „en miniature“ se-
hen kann. Es ist eines der eindrucksvoll-
„Alive And Kicking“:
Charlie Burchill in Taormina
Tipps, Informationen und Wander-Tipps von Jim Kerr
WIE KOMMT MAN HIN? dorf Castelmola. Ausblick auf Bucht
Es gibt Nonstop-Flüge nach Cata- von Naxos und Ätna (7,5 Kilometer).
nia von vielen deutschen Flughäfen, 2. Acht-Kilometer-Rundwanderweg
von dort weiter mit dem Mietwagen zum 546 Meter hohen Monte Reca-
nach Taormina. vallo, Start im Bergort Forza d’Agrò
durch die bäuerliche Hügelland-
WO WOHNT MAN GUT? schaft (hier drehte Francis Ford
„Villa Schuler“, charmanter Luxus Coppola Szenen seiner Mafia-Trilo-
in der Altstadt, DZ ab 240 Euro, gie „Der Pate“).
hotelvillaschuler.com; „Hotel 3. Ätna-Wanderungen – ohne Guide
Rivage“, direkt am Strand, DZ ab 80 nur bis rund 2500 Meter erlaubt;
Euro, hotelrivagetaormina.it; „Villa Touren weiter oben mit Reiseführer
Angela“, Jim Kerrs Boutiquehotel zulässig, man nimmt die Seilbahn
oberhalb des Zentrums, DZ ab 180 (30 Euro), von der Bergstation
Euro, hotelvillaangela.com geht es per Bus hinauf zur Tour auf
3000 Meter Höhe (68 Euro inkl.
JIM KERRS WANDERTIPPS Guidegebühr, funiviaetna.com).
1. Von der Altstadt auf den 884
Meter hohen Monte Veneretta – mit WEITERE INFOS
Zwischenstopps an der Felskirche visitsicily.info/en/; enit.de (Italie-
Madonna della Rocca und im Berg- nische Zentrale für Tourismus)
„New Gold Dream“ – Land-
schaften, die wie Songs von den
Simple Minds klingen. Das
antike Theater in Taormina,
im Hintergrund der Ätna
immer noch Freunde, machen immer
noch Musik zusammen. Es gibt nicht
viele Freundschaften wie diese, schon
gar nicht in einer Band. Meistens tren-
nen sich die Musiker irgendwann, has-
sen einander.“
Die lange Terrasse der „Villa Angela“
thront über einem weiter unten am
Hang gelegenen Pool, von hier aus hat
man den großen Rundumblick auf Taor-
mina, das Meer und den Ätna am Hori-
zont. In den letzten zwei Jahren, wäh-
rend der Lockdowns, hat sich der Sän-
ger hier mit seinem Gitarristen ver-
schanzt. Nur die beiden, als Selbstver-
sorger allein in einem Hotel, das wegen
der Pandemie keine Gäste hatte. Die
Tourismus-Hochburg Taormina war
eine Geisterstadt.
„Wir kamen uns vor wie in dem Hor-
rorfilm ,The Shining‘ – nur ohne den
Horror und Jack Nicholson, der uns mit
einer Axt durch die leeren Gänge gejagt
hätte“, sagt er lachend. Mit einem
mobilen Aufnahmestudio belegten sie
Zimmer, gingen morgens wandern, da-
nach nahmen sie neue Songs auf, die
jetzt auf dem Album „Direction Of The
Heart“ zu hören sind – Elektrorock zum
Wohlfühlen. Das Video zur Single „First
FOKKE BAARSSEN/PICTURE ALLIANCE/ZOONAR(2); MARTIN SCHOLZ/WELT(2); ROMAS_PH/ALAMY STOCK PHOTO
You Jump“ haben sie im antiken Theater
von Taormina gedreht – ein Song, der
von Absprüngen, vom Abheben handelt
und davon, schlimme Zeiten hinter sich
zu lassen. Was einem halt so einfällt,
wenn man wochenlang isoliert in einem
leeren Hotel sitzt und dabei auf einen
Vulkan blickt, der ab und zu ein bisschen
eruptiert.
Drei-, viermal sei das während der
Lockdown-Phasen passiert, sagt der
Sänger und zeigt ein paar Videos davon,
die er mit dem Handy aufgenommen
hat. „In all der Verrücktheit jener Mo-
nate gab es für mich nur wenige Kon-
stanten: meinen alten Freund Charlie,
unsere Musik und, so seltsam das auch
klingen mag, den Ätna, diesen gewalti-
gen, mythischen Berg“, sagt er und
blickt dabei auf den Vulkan am Hori-
zont. Der ragt in den jetzt wieder blau-
en Himmel wie auf einer kitschig-schö-
nen Postkarte.
MANCHMAL MUSS KERR
VULKANASCHE AUFKEHREN
Ein aktiver Vulkan als beruhigende
Konstante in einer aus den Fugen gera-
sten erhaltenen Theater der Antike, von tenen Welt. „Der Ätna hat schon alles
den Griechen erbaut im dritten Jahr- gesehen, Kriege, Hungersnöte, Erdbe-
hundert vor Christus und ein Wahrzei- ben. Aber er ist immer noch da, laut
chen der Stadt. Die Touristenattraktion und stolz, spuckt immer wieder Feuer
ist zugleich Konzertarena. Bob Dylan, und Lava aus. Man kommt sich vor, als
Sting und Robert Plant haben hier lebte man in der Steinzeit“, erzählt
schon gespielt. Und vor ein paar Mona- Kerr und schwärmt von der brütenden,
ten auch die Simple Minds, vor ausver- gefährlichen Präsenz, die der Vulkan
kauften Rängen. Die halbe Stadt sei da ausstrahle.
gewesen, sagt Kerr, dazu seien viele Bei heftigeren Eruptionen kann es
Fans aus aller Welt angereist, um die vorkommen, dass der Flughafen im nahe
Band an diesem besonderen Ort zu erle- gelegenen Catania für ein paar Stunden
ben. Ein Heimspiel und einer geschlossen wird. „Dann berichtet Sky
der Höhepunkte einer News, und schon rufen Freunde aus
Tournee, die sie in den aller Welt besorgt bei mir an, ob bei mir
letzten Monaten eu- alles in Ordnung sei. Ich mache dann
ropaweit wieder immer Witze und sage: ‚Ich wate in mei-
durch die größten nen Gucci-Schuhen gerade durch die La-
Arenen in Europa va.‘“ Er lacht. Die Vulkanasche streue
geführt hat. oft bis nach Taormina. „Dann müssen
„Die Simple wir sie auf der Terrasse aufkehren“, sagt
Minds sind wieder Kerr, „aber das ist ja kein Schmutz, die
angesagt und in be- Asche ist extrem mineralhaltig, eine Art
ster Form“, schrieb Turbodünger, der alles in der Gegend
die Londoner „Ti- zum Wachsen bringt.“
mes“ über dieses Das gilt wohl auch für die Musik. Der
Comeback, das nicht neue Song „Vision Thing“ ist eine pul-
über Nacht kam, son- sierende Hymne an die Inspiration, an
dern sich über Jahre hinweg lang- Menschen, die einen im Leben unter-
sam aufgebaut hat. Mit Alben, die von stützt haben im Allgemeinen und an
der Kritik gelobt wurden und sie wieder Kerrs Vater James im Besonderen. Er
in die Top Ten brachten. Der Grund- verstarb 2019. Auch er liebte das Wan-
stein für diese Wiederbelebung liege dern, hatte seinen Sohn oft auf Sizilien
hier in Sizilien, sagt Kerr, hier habe er besucht. Der Lieblingsplatz seines Va-
nicht nur ein Hotel, sondern auch die ters sei die Küste gewesen, im unterhalb
Band wieder aufgebaut. von Taormina gelegenen Ort Giardini-
Zurück in Taormina hat es aufgehört Naxos. „Da saßen wir oft nach unseren
zu regnen. Kerr selbst wohnt nicht weit Wanderungen mit einem Sandwich in
von seinem Hotel entfernt. Gitarrist der Hand auf einer der Küstenmauern,
Charlie Burchill lebt nur etwa 200 Me- während unsere Füße über dem Wasser
ter Luftlinie in einem weiter unten am baumelten.“ Kerr hält einen Moment
Hügel gelegenen Haus. Er kann ihm inne. „Mein Vater sagte mir dann oft:
von der Terrasse seines Hotels aus zu- ,Junge, ist das hier nicht der schönste
winken, behauptet der Sänger. Er ruft Ort auf der Welt?‘“
seinen Freund auf dem Handy an, der
ihm kurz darauf tatsächlich von der T Die Teilnahme an der Reise wurde
Terrasse seines Hauses zuwinkt. „Wir unterstützt von BMG Rights
kennen uns, seit wir acht sind und in Management. Unsere Standards
derselben Straße in Glasgow aufwuch- der Transparenz und journalistischen
sen. Jetzt leben wir beide auf Sizilien, Unabhängigkeit finden Sie unter
quasi wieder Haustür an Haustür, sind go2.as/unabhaengigkeit
SOUVENIR
VON KATHARINA KOPPENWALLNER
Salziges aus
Rumänien
E
iner der schicksten Kurorte
Rumäniens ist Sovata in den
Ostkarpaten. Hier gibt es
hübsche Hotels, die aussehen, als
seien sie einem Walt-Disney-Mär-
chenfilm entsprungen, zudem dichte
transsylvanische Wälder und den be-
rühmten Bärensee (Lacul Ursu), der
so genannt wird, weil er die Form ei-
nes Bärenfells hat. Er ist der größte
heliothermische Sees Europas, was
bedeutet, dass er Sonnenwärme auf
besondere Weise speichert: Er be-
steht aus zwei Schichten – oben kal-
tes Süßwasser, etwa anderthalb bis
zwei Meter darunter Salzwasser. Die
Süßwasserschicht bündelt die Son-
nenstrahlen wie eine Art Brennglas
und erwärmt die darunterliegende
Salzwasserschicht auf 35 Grad und
mehr. Richtig untergehen kann man
aufgrund der hohen Salzkonzentrati-
on nicht. Man nennt den Bärensee
deshalb auch das Tote Meer Europas.
Gut für die
Schönheit:
Knallbuntes
Badesalz aus
den Karpaten
KATHARINA KOPPENWALLNER
Das Gewässer gibt es erst seit 1875
– es entstand damals durch den Ein-
sturz eines Salzbergwerks. Nieder-
schlag und zwei zuströmende Bäche
sorgen seitdem dafür, dass sich an
der Oberfläche besagte Süßwasser-
schicht bildet, die sich nicht mit dem
darunterliegenden Salzwasser aus
der Erde vermischt, weil ihre Dichte
geringer ist.
Kein Wunder also, dass alle Souve-
nirs im Ort etwas mit Salz zu tun ha-
ben. Auf dem Kevin Market in der In-
nenstadt stehen zum Beispiel lange
Reihen mit durchsichtigen Plastik-
eimern, die mit schreiend buntem
Badesalz gefüllt sind. Ein anderer
Kassenschlager sind Lampen aus
Salzkristallen. Das Salz kommt aus
der nahe gelegenen Salzmine in
Praid (deutscher Name: Salzberg).
Das Städtchen liegt auf einem riesi-
gen Salzblock von fast zwei Kilome-
ter Länge, der so groß ist, dass man
mit ihm theoretisch die Weltbevöl-
kerung 40 Jahre lang mit Kochsalz
versorgen könnte.
Überall in Sovata werden salzige
Anwendungen angeboten. Die die-
nen zum einen der Schönheit: Wie
bei einem Bad im Meer verändert Ba-
desalz den osmotischen Druck des
Wassers auf den Körper. Dem wer-
den also weniger Salze entzogen, die
Haut wird praller und man hat weni-
ger Falten. Zum anderen eignen sich
das warme Salzwasser und der mine-
ralreiche Schlamm hervorragend für
Heilanwendungen. Behandelt wer-
den Erkrankungen des Nervensys-
tems, der Atemwege und des Bewe-
gungsapparates, außerdem bei Frau-
en gynäkologischen Leiden und
Wechseljahr-Beschwerden.
Seit seiner Entstehung zieht der
Salzsee Reisende an. 1882 wurden
200 Urlauber registriert, bereits
zwei Jahre später erhielt Sovata den
Status eines Kurortes. In den
1920er-Jahren gab es einen regel-
rechten Boom, viele Hotels wurden
gebaut. Zu den Besuchern gehörte
sogar die rumänische Königsfamilie.
Bis heute ist der Ort sehr beliebt.
Um die heliothermische Wirkung zu
erhalten, gibt es jeden Tag stunden-
weise Badeverbot. Dann muss der
See ruhen, damit sich die Wasser-
schichten wieder neu sortieren. Ge-
nug Zeit also, um in den Souvenir-
shops nach salzigen Präsenten zu
suchen. Für die Osmose in der hei-
mischen Badewanne.
Die Autorin bereist für ihren
Berliner Laden „International
Wardrobe“ die Welt. Was sie
dort findet, stellt sie hier vor
54 REISEN WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022

WELTREISE HOHER ATLAS

Die marokkanische Region in Zahlen und Fakten ZUSAMMENGESTELLT VON MAIKE GRUNWALD

DAS GEBIRGE
Grandiose Landschaften, authenti- ICH WEISS, DASS ICH
sche Kultur: Der Hohe Atlas in
DEN FRAUEN EIN BISHER
VERBOTENES UNIVERSUM
Marokko zählt zu den auf-
regendsten Reisezielen

GEÖFFNET HABE
der Erde. Der höchste
Zug des Atlasgebirges
erstreckt sich vom
Atlantik nach Osten
bis vor die algerische Yves Saint Laurent (1936–2008) gilt als Revolutionär der
Grenze und bildet Modewelt; seine Kreation des Damenanzugs Le Smoking war
eine Klimascheide 1967 ein Symbol der Emanzipation. Sein privates Lieblings-
zwischen dem mediter- universum fand der Pariser Modeschöpfer in Marrakesch
ranen Norden und der MAULTIER-TREKKING MIT AUSSICHT am Fuß des Hohen Atlas. Mit seinem Partner erwarb er
Sahara-Hitze im Süden. Er dort 1980 den Jardin Majorelle, einen der schönsten Gärten
ist das Dach Nordafrikas – Nordafrika aufs Dach steigen: Trekking im Hohen Atlas ist ein wunderbares Abenteuer. Eine sport- der Welt. Ebenfalls einen Besuch wert ist das angrenzende
viele Gipfel ragen über 3500 Meter liche Tour, bei der man den gesamten Gebirgszug von Ost nach West überquert, beginnt im Musée Yves Saint Laurent. Es zeigt YSL-Designs wie Le
auf, etwa der Jbel Toubkal, Nord- Aït-Bougoumez-Tal. Wegen seines idealen Klimas und den grünen Feldern zwischen den Smoking, aber auch Kunst der Berber, und beherbergt eine
afrikas höchster Berg (4165 Meter). Berberdörfern nennt man es das „Tal der Glücklichen“. Mit Maultieren und Begleitern Forschungsstätte mit Bibliothek zu deren Kultur.
In der griechischen Mythologie ver- geht es in mehreren Etappen durch die Bergwelt, auch über den Jbel Toubkal. Über-
körpert das Gebirge den Titan Atlas, nachtet wird im Zelt oder als Gast in Berberhäusern. Man wandert über Pässe mit
der auf ewig den Himmel stützt. grandiosem Panorama, durch Wälder und Täler, genießt Stopps in Dörfern
Um den Jbel Toubkal liegt Marok- und Schluchten, an Quellen und Lehmburgen. Endpunkt ist das

7
kos erster Nationalpark. Hier kann Berberdorf Imlil. Je nach Veranstalter sind kurze Trekking-
man Atlashörnchen, Mähnenspringer, touren buchbar, aber auch zweiwöchige.
Berberaffen, Streifenhyänen und
Wüstenfalken sehen. Mit seinen FLÜSSIGES GOLD
Schluchten, Gipfeln, Flüssen und
Wasserfällen wurde der unwegsame ÄLTESTE GIGANTEN 100 Euro pro Liter kann es schon
kosten: Arganöl ist einer der wich-
DIRECTION DU PATRIMOINE CULTUREL, MAROC; IMAGO IMAGES/VWPICS RF

Hohe Atlas zum Rückzugsort der

Berber, Marokkos indigenes Volk, Vor gut 160 Millionen Jahren streifte tigsten Schätze Marokkos. Es wird zu
dessen Kultur sich hier erhalten er durch die Region, auf der Suche Hochzeiten verschenkt, veredelt
konnte, ungestört von den arabischen nach prähistorischem Gemüse: Der Speisen und gilt als Wundermittel für
Atlasaurus war mit 15 Meter Länge schöne Haut, weshalb es auch die
te
Eroberern. Amazigh nennen sie sich,
„die Freien“. In Berberdörfern wer- ein Titan. Bald nach seiner Entde- Krönung eines Bades im Hammam
ilif

den Berbermusik und Tänze vorge- ckung im fossilienreichen Hohen Atlas ist. Es stammt aus den Samen des mit chemischen Lösungsmitteln ge-
Sk

führt. Berühmt sind die Berberteppi- grub man dort noch einen Riesen- seltenen Arganbaumes, der nur im wonnen wurde, auf den Markt kam,
che, der Silberschmuck und die Gast- vegetarier aus: Tazoudasaurus, be- Südwesten Marokkos wächst. Die schlossen sich die „Arganfrauen“, die
freundschaft. Die Festungsstadt Aït- nannt nach dem Fundort Tazouda, gibt es in Oukaïmeden. Nur 80 Kilometer von Marrakesch entfernt, kann Argangebiete zwischen den Hängen ihr Handwerk und Wissen seit Gene-
Ben-Haddou ist Unesco-Erbe und war war mit „nur“ neun Meter Länge nicht man hier im Hohen Atlas Wintersport betreiben. Mit einer Lage auf über des Hohen Atlas und Antiatlas wur- rationen an ihre Töchter weitergeben,
Kulisse für Filme wie „Lawrence von ganz so groß, aber dennoch spek- 2600 Metern ist er als höchster Skiort Afrikas bekannt und bietet dazu den den 1998 zum Unesco-Biosphären- in Kooperativen zusammen. Dabei
Arabien“ und „Gladiator“. Touren in takulär. Denn er lebte bereits vor rund höchsten Skilift; er führt auf fast 3300 Meter. Die Saison dauert von Ende reservat erklärt. Seit Jahrhunderten wurden sie vom marokkanischen
den Hohen Atlas starten meist in 180 Millionen Jahren. Damit schlug er Dezember bis März, es gibt zehn Pistenkilometer, Skilehrer, einen Verleih wird das Öl von Berberfrauen in mü- Königshaus unterstützt. Ihre Kennt-
Marrakesch. Für die Königsstadt mit den bisherigen Rekordhalter Atlasau- und sogar Après-Ski – wobei man hier statt hochprozentigem Schnaps süßen hevoller Handarbeit gewonnen, zwei nisse und Praktiken wurden als Teil
ihrer Unesco-gekrönten Medina sollte rus als Marokkos ältesten Dino und ist Pfefferminztee trinkt. „Berber-Whisky“ nennen ihn die Einheimischen. Tage dauert der Prozess. Nachdem der Berberkultur 2014 als immateriel-
man unbedingt Extra-Zeit einplanen. einer der betagtesten weltweit. Wer will, kann sich auch auf einem Esel an die Piste bringen lassen. auch Arganöl, das maschinell oder les Kulturerbe anerkannt.

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WISSEN & GESCHICHTE
WELT AM SONNTAG NR. 43
A
Warnung vor dem Wintersmog
Vermehrtes Heizen mit Kohle und Holz wird in diesem Winter zu höheren Schadstoffemissionen in Europa
führen. In Kombination mit bestimmten Wetterlagen kann das durchaus gefährlich werden
Anfang Dezember 1952 lag dichter Ne-
bel über London. „Der große Smog“,
auch bekannt aus der Serie „The
Crown“, kostete vor 70 Jahren bis zu
12.000 Menschen das Leben. Ursache
waren Abgase aus Fabrikschloten und
Kaminen, die sich bei einer sogenann-
ten Inversionswetterlage angerei-
chert hatten. Manche Orte leiden
häufig unter gefährlichen Abgasmen-
gen: In asiatischen Großstädten
macht Feinstaubsmog Studien zufol-
ge Millionen Menschen krank. Euro-
pa schien bislang in Sicherheit. Filter-
anlagen, Zentralheizungen, Kernkraft
und strenge Vorschriften für Abgas-
verursacher haben die Luft auf dem
Kontinent so sauber gemacht wie seit
Jahrhunderten nicht. Jetzt droht ein
riskanter Rückfall.
VON AXEL BOJANOWSKI
Die Europäische Umwelt-Agentur
EEA teilt auf Anfrage von WELT AM
SONNTAG mit, die zunehmende Ver-
wendung von Holz zu Heizzwecken
könnte diesen Winter zu erhöhten
Emissionen verschiedener Luftschad-
stoffe führen, besonders zu mehr
Feinstaub. Die Umwelt-Agentur rät
Verbrauchern, „hochwertiges“ Holz in
modernen und regelmäßig gewarteten
Öfen zu verbrennen: Zertifiziertes
Holz in effizienten Öfen könne die
Zunahme schädlicher Emissionen
„verhindern“.
Angesichts der immer wieder ho-
hen Abgasbelastung aus Holzöfen in
Wohngebieten müsste diesen Winter
mit teils hoher Schadstoffbelastung
23. OKTOBER 2022 SEITE 55
gerechnet werden, sagt Achim Dittler
vom Karlsruher Institut für Technolo-
gie, Experte für Luftverschmutzung.
Neben Feinstaub und krebs-
erregendem Ruß würden die Öfen gif-
tige Gase ausstoßen. Er habe zwar
Verständnis dafür, dass Bürger ihre
Kamine nutzten, um nicht frieren zu
müssen. „Prinzipiell jedoch stellen die
Abgase aus Komfortkaminen eine Ge-
fahr für die Umgebung dar“, sagt Ditt-
ler. Genaue Prognosen für die kom-
menden Monate seien aber nicht
möglich.
Lange hat Dittler zusammen mit
Kollegen vor Holzfeuerung in
Deutschland gewarnt, etwa auch im
Gutachten der Wissenschaftsvereini-
gung Leopoldina 2019. Holzheizungen
verursachen in Deutschland laut Um-
weltbundesamt mehr Feinstaub als
der Straßenverkehr. Mehr als elf Mil-
lionen „Einzelraumfeuerstätten“, also
Kamine und Öfen, gibt es hierzulande;
zusätzlich heizen mehr als eine Milli-
on Haushalte in Deutschland mit Holz
als primärer Energiequelle ihren kom-
D
pletten Wohnraum.
ie Deutschen haben sich im
Angesicht der Energiekrise in
den vergangenen Wochen mit
Kaminholz eingedeckt. Die Nachfrage
ist massiv gestiegen: Preise für Brenn-
holz und Holzpellets hätten sich fast
verdoppelt im Vergleich zum Vorjahr,
die Preise für Holzschnitzel noch
stärker, meldete das Statistische Bun-
desamt Ende September. Nachschub
ist auf dem Weg. In Osteuropa und
Nordamerika werden Wälder gerodet,
um Kaminholz nach Europa exportie-
ren zu können.
Messungen von Achim Dittler und
seinen Kollegen haben offenbart, dass
vor allem durch den Betrieb von Kom-
fortöfen in Wohngebieten in den
Abendstunden die Luft dreimal stär-
ker mit lungengängigem Feinstaub be-
lastet war als am berüchtigten Ne-
ckartor in Stuttgart, jener Hauptver-
kehrsstraße, wo deutschlandweit re-
gelmäßig Höchstwerte gemessen wer-
den. „Kaminbetrieb zwingt zum Pas-
sivrauchen im Wohnumfeld“, mahnt
Riskantes Reden: Die Nebenwirkungen von Psychotherapie
Dittler. Anwohner hätten wegen der
Rauchgase über Kopfschmerz und
Übelkeit berichtet, sagt der Forscher.
In solchen Fällen sei durch den Be-
trieb der Kamine „die öffentliche Si-
cherheit gefährdet“.
Im Winter ist das Risiko für Smog
in Deutschland am höchsten, nicht
nur wegen der Hochsaison für Holz-
„
öfen. Bei Inversionswetterlage, wenn
kalte Luft am Boden von warmer Luft
überlagert wird, bleiben Abgase in Bo-
dennähe gefangen – es herrscht Win-
tersmog. Das Problem ist teils staat-
lich gefördert: Der Kauf von Pellet-
DIE GRENZWERTE
SIND VERALTET
UND VIEL ZU LASCH
ACHIM DITTLER,
Experte für Luftverschmutzung
öfen wurde in Deutschland subventio-
niert wegen angeblicher Klimafreund-
lichkeit. Selbst das Umweltbundes-
amt hat kürzlich eingeräumt, dass es
sich dabei um einen Fehler handelt.
Doch die Energiekrise hat die Nach-
frage nach den Anlagen weiter ange-
kurbelt.
Experte Dittler gibt Handlungs-
empfehlungen: Feuchtes Holz und
Müll sollten nicht verbrannt werden,
und die Feuerstelle sollte von oben
angezündet werden. „Überfüllen Sie
den Brennraum nicht, und drehen Sie
dem Ofen nicht die Luft ab, sonst ver-
gast der Brennstoff, und es entstehen
besonders viele Schadstoffe“, sagt er.
Kaminbetreiber sollten ihre Nachbarn
fragen, ob sie von Rauchgasen beein-
trächtigt würden.
Risiken wären vielen Verbrauchern
nicht klar, sagt auch das Bundesinsti-
tut für Risikobewertung (BfR) ange-
sichts des bevorstehenden Winters.
Würden die Anlagen nicht sachge-
recht betrieben, könne sich das giftige
Gas Kohlenmonoxid im Wohnraum
ansammeln. „Kohlenmonoxid verur-
sacht in Deutschland jedes Jahr meh-
rere Tausend Vergiftungen, darunter
mehrere Hundert Todesfälle“, sagt
der Präsident des BfR, Andreas Hen-
sel. Das farblose und geruchlose Gas
breite sich rasch in geschlossenen
Räumen aus und werde von Rauch-
meldern nicht angezeigt. Heizungsan-
lagen, Kaminöfen und Gasthermen
müssten regelmäßig überprüft wer-
den. Die Installation von Kohlenmo-
noxid-Meldern könne helfen, Unfälle
zu vermeiden.
Die Auswirkungen von Kamin-Ab-
luft in Deutschland sind ungenügend
bekannt. In der EU starben 2019 nach
einer Schätzung der Europäischen
Umwelt-Agentur durch Feinstaubbe-
lastung 307.000 Menschen vorzeitig.
Laut einer neuen Studie eines inter-
nationalen Forscherteams, veröffent-
licht vor wenigen Tagen im „British
Medical Journal“ (BMJ), sind es euro-
paweit sogar mehr als doppelt so vie-
le. Weltweit sterben demnach jährlich
fast neun Millionen Menschen vorzei-
tig, weil sie zu viel Feinstaub eingeat-
met haben. In Europa gilt Luftver-
schmutzung als größtes Umweltrisi-
ko, ihr werden Erkrankungen von
Lunge und Herz und Schlaganfälle zu-
W
geschrieben.
o genau die Gefahr droht,
bleibt großenteils im
Dunkeln: Gerade einmal
rund 360 Messstationen für gröbe-
ren Feinstaub, und nur gut die Hälfte
für lungengängigen Feinstaub über-
wachen die Luft in der Bundesrepu-
blik. Die meisten stehen an Haupt-
verkehrsstraßen, kaum welche in der
Nähe von Holzöfen in Wohngebie-
ten. Als Grenzwerte hat Deutschland
lediglich Durchschnittswerte festge-
legt: Für den kleinen Feinstaub gilt
ein Jahresmittelwert, der nicht über-
troffen werden soll, für die groben
Partikel zusätzlich ein Tagesdurch-
schnittslimit. Extremer Smog über
ein paar Stunden, typisch für Holz-
S. 57
QUANTENSPRUNG
VON EDDA GRABAR
Haare aus
der Petrischale
D
er Türkei könnte künftig ein
Teil ihres Tourismusge-
schäfts flöten gehen: das mit
Haartransplantations-Willigen. Wer
feuer, werde daher „völlig unzu- kennt nicht die Bilder aus Flugzeu-
reichend erfasst“, moniert Dittler. gen, voll besetzt mit Männern, die
„Die Grenzwerte sind veraltet und sich mit frischem, aber in Mull ver-
viel zu lasch.“ stecktem Haupthaar auf den Weg in
Die Europäische Kommission will die Heimat machen? Wenig scheint
noch dieses Jahr neue Richtlinien für das männliche Gemüt mehr zu ver-
Luftqualität erlassen, um den neuer- unsichern als die Neigung zur Glat-
dings ebenfalls strengeren Richtlinien zenbildung. Nun gibt es Hoffnung
der Weltgesundheitsorganisation zu aus dem Labor: Forschern von der
genügen. Die Veröffentlichung könnte Yokohama National University ist es
im Winter also zusammenfallen mit gelungen, Haarfollikel in der Petri-
der Zeit größter Verschmutzung. schale zu erzeugen. Jedes Haar be-
Bulgarien hat den Export von Holz steht aus einem Schaft und der Wur-
verboten, um den heimischen Betrieb zel, die bis ins Unterhautgewebe
der Öfen sicherzustellen. In Rumä- reicht. Sie ist von einer Bindege-
nien erhalten Verbraucher Gutschei- webshülle umgeben, eben dem Haar-
ne, um sich mit Brennholz für den follikel. Sobald ein Haar ausfällt, be-
Winter eindecken zu können. Der ginnen sich an dessen Grund Zellen
Vorsitzende der Konservativen in Po- zu vermehren und zu einem neuen
len, Jaroslaw Kaczynski, hat seine Haar zusammenzusetzen.
Landsleute dazu motiviert „alles zu Die Follikel sind sozusagen der
verbrennen, außer Reifen und ähnlich Quell unserer Haarpracht. Ihre Bil-
schädlichen Dingen“, um warm zu dung wird bereits im Embryo durch
bleiben diesen Winter. das Zusammenwirken zweier Haut-
Die polnische Regierung hatte im schichten angeregt. Die japanischen
Juli erklärt, die vielen Haushalte, die Forscher gaben beide Zellarten auf
mit Kohle heizen, finanziell unter- ein Netzwerk, das Zellen und Gewe-
stützen zu wollen wegen der Energie- ben auch im Körper zusammenhält.
knappheit. Das geplante Hochfahren Daraus züchteten sie Organoide, in
der Kohlekraftwerke in Deutschland denen nicht nur der Follikel, sondern
dürfte die Schadstoffmenge in der auch drei Millimeter lange Haar-
Luft ebenfalls erhöhen, auch wenn schäfte wuchsen. Als sie ihre Or-
Filtersysteme die Abgase großteils ganoide transplantierten, konnten
abfangen. sie sogar sich wiederholende Haarzy-
Schwefelgase aus Kohleverbren- klen beobachten. Ist den Männern
nung lieferten die Grundlage für den also geholfen? Nun ja, die Forscher
Londoner Todesnebel vor 70 Jahren. hoffen, dass sie künftig besser ver-
Wissenschaftler haben 2016 das Re- stehen, wie die Follikel angeregt wer-
zept für die Katastrophe in London den, Haarzellen zu bilden, und damit
von 1952 dargelegt. Die entscheiden- zur Entwicklung neuer Therapien
de Zutat war Stickstoffdioxid, wie es gegen Haarausfall beitragen.
bei der Verbrennung von Kohle ent-
steht, berichten die Wissenschaftler
von der Chinese Academy of Sci-
ences. Sie verband sich mit Wasser zu QUÄNTCHEN
5
Schwefelsäure. Die Luft in London
Anfang Dezember 1952 sei aufgrund
der seltenen Wetterkonstellation be-
sonders feucht gewesen, sodass viel
Säure entstehen konnte. Die For-
scher um Gehui Wanga haben in ihrer
Studie gewarnt: „Das richtige Zusam- Stunden Schlaf
menspiel aller Faktoren kann auch
woanders als in London tödlichen sind, allen Legenden zum Trotz –
Nebel entstehen lassen.“ Napoleon! –, eher nicht empfehlens-
wert. Im mittleren und höheren Al-
ter kann wenig Schlaf zu erhöhten
Risiken bei verschiedenen chroni-
schen Krankheiten führen. Engli-
sche Forscher haben in einer Studie
gravierende Unterschiede gegen-
über Menschen festgestellt, die sie-
ben Stunden und mehr schlafen.
BEFUND
Ein besonderer
Luchs
Zugegeben, Forschung ist manchmal
wackelig im Ergebnis. Unser Foto
lässt sich nur verschwommen zei-
gen. Zu sehen ist zum allerersten
Mal ein schwarzer kanadischer
Luchs – ein Fall von Melanismus, der
Schwarzfärbung von Haaren und
Hautpigmenten. Normalerweise ist
GETTY IMAGES/ IMAGEBROKER RF/ MARTIN SIEPMANN
das Fell der Tiere im Sommer röt-
lich-braun und silbergrau im Winter.
Ein Biologe der University of Alberta
SCREENSHOT/ COURTESY OF J. STUCKEY
machte das 30-sekündige Smartpho-
ne-Video aus 50 Meter Entfernung
im Sommer 2020 in einem Wohnge-
Im Winter ist das Risiko für biet in Whitehorse am Yukon. Jetzt
Smog in Deutschland am wurde es publiziert und im Fachjour-
höchsten – hier Rauchfahnen nal „Mammalia“ beschrieben. Mögli-
über Wolfratshausen, Bayern cherweise ist Melanismus für Luchse
hinderlich: Durch die Färbung wird
die Jagd im Winter behindert. krei
56 WISSEN
RETTET DIE
LEBENSRETTENDEN DATEN!
A
Als im April 2020 das Netzwerk Univer-
sitätsmedizin gegründet wurde, er-
schien das Politikern und Forschern wie
ein dringend benötigter Wurf. Die erste
Welle der Corona-Pandemie hatte
Deutschland gerade erfasst. Da wollten
die 36 Universitätsklinika im Land ihre
Forschungsressourcen bündeln und
dringend benötigtes Wissen über das
unbekannte Virus bereitstellen.
VON PAUL KLAMMER
Heute sind manche der Beteiligten
ernüchtert. „Die Finanzierung lag
schnell vor, die Zustimmung der Ethik-
kommission für eine Studie auch“, erin-
nert sich Markus Lerch, Vorstandsvor-
sitzender des Klinikums der Universität
München. „Und dann dauerte es sehr
lange, bis der Datenschutz geklärt war.“
Eine Folge: Bis heute haben die 36 Kran-
kenhäuser zusammen nur rund 5000
Corona-Patienten für eine Langzeitstu-
die rekrutiert, bei rund 33 Millionen In-
fektionsfällen. Eine ähnliche Studie in
Großbritannien hat bereits 48.000 Pa-
tienten eingeschlossen. Aus dieser Stu-
die stammt die lebensrettende Erkennt-
nis, dass Kortison die Todesrate von
Corona-Patienten im Krankenhaus um
bis zu ein Drittel senken kann.
Nicht nur in diesem Fall hat Corona
offengelegt, wie weit Deutschland beim
Zugang zu medizinischen Daten für die
Forschung international zurückliegt.
„Die Studien, die Grundlage für politi-
sche Entscheidungen in der Pandemie
waren, kamen im Wesentlichen aus Isra-
el, Großbritannien und den USA“, sagt
Jonas Schreyögg, Mitglied im Sachver-
ständigenrat zur Begutachtung der Ent-
wicklung im Gesundheitswesen. „Wir
liegen beim Zugang zu medizinischen
Routinedaten für die Forschung weit zu-
rück hinter anderen Ländern. Das ist ein
großes Problem für den Innovations-
standort Deutschland“, sagt er.
Tag für Tag wächst in Arztpraxen und
Krankenhäusern ein Datenschatz aus
Laborwerten, Diagnosen und Behand-
lungsverläufen heran – ohne dass er ge-
nutzt wird. Dabei ist die Not groß. „Es
gibt in medizinischen Leitlinien viele
Fragen, für die wir keine ausreichende
Datenbasis haben“, erklärt Monika
Klinkhammer-Schalke, Vorsitzende des
Deutschen Netzwerks Versorgungsfor-
schung. Therapie-Empfehlungen beru-
hen dann nicht auf Forschungsergebnis-
sen, sondern auf Erfahrungen von Spe-
zialisten. Die Daten könnten helfen.
Andere Länder haben längst Stellen
eingerichtet, die Forscher unterstüt-
zen, diesen Schatz zu heben. Deutsche
Mediziner sammeln wertvolle Daten über Krankheiten und Patienten. Doch ein Labyrinth
aus Datenschutz, Bürokratie und Kleinstaaterei in Deutschland verhindert, dass Forscher
sie nutzen können – zulasten der Patienten
Wissenschaftler hingegen müssen die-
se Schatzkiste in einem Labyrinth auf-
spüren, um am Ende festzustellen, dass
ihnen der Schlüssel zum Öffnen der
Kiste fehlt.
Die wertvollen Gesundheitsdaten lie-
gen verteilt in 64.000 Arztpraxen, 1900
Krankenhäusern, 97 gesetzlichen und
weiteren privaten Krankenkassen, in
Dutzenden medizinischen Registern
und Hunderten Studienzentren – Zu-
gang vielerorts unklar. „Der Überblick
über bereits vorhandene Datensätze
und deren Durchsuchbarkeit muss
zwingend verbessert werden“, forderte
schon vor einem Jahr eine Kommission
der Deutschen Forschungsgemein-
schaft als Lehre aus der Pandemie.
ÜBERHOLTE BÜROKRATIE
Ein häufiger begangener Pfad der For-
scher führt zu den gesetzlichen Kran-
kenkassen. Sie wissen sehr genau Be-
scheid über die Behandlung ihrer 73
Millionen Versicherten. Mit Zustim-
mung der jeweiligen Kasse können For-
scher diese Daten prinzipiell nutzen. Al-
lerdings nur die von einem Bruchteil
der Versicherten, weil jede Versiche-
rung einzeln überzeugt werden muss.
Zudem erhalten sie die Erlaubnis zur
Nutzung der Daten nicht direkt von den
Kassen, sondern über eine Anfrage beim
Bundesamt für soziale Sicherung in
Köln. Die Behörde prüft erst einmal, ob
das Forschungsvorhaben überhaupt zu-
lässig ist. Dann wartet ein zehnseitiges
Formular mit sieben Anlagen auf die
Forscher. „Eine wahnsinnige Bürokra-
tie“, klagt Gesundheitsökonom Schrey-
ögg. Von der Antragstellung bis zur Be-
reitstellung von Daten können durch-
aus anderthalb Jahre vergehen, eine
Ewigkeit für Wissenschaftler. In ande-
ren Ländern, beispielsweise in Großbri-
tannien, kämen sie wesentlich schneller
und einfacher an Datenmaterial.
Abhilfe könnte ein neues Forschungs-
datenzentrum Gesundheit leisten, das
derzeit aufgebaut wird. Dorthin sollen
alle gesetzlichen Krankenkassen ihre
Abrechnungsdaten liefern. Ab nächstem
Jahr könnten Wissenschaftler dann An-
träge stellen, um zusammengefasste
Datensätze zu erhalten – zunächst aber
nur über wenige Jahre. Zu wenig, um
langfristige Entwicklungen im Gesund-
heitswesen zu untersuchen, kritisiert
Schreyögg.
Doch auch dann lauern weitere Hür-
den. Der Epidemiologe Alexander Kata-
linic von der Universität Lübeck, der
auch Vorsitzender der Gesellschaft der
epidemiologischen Krebsregister ist,
nennt ein Beispiel: Wer etwa versuchen
Wann werden die
Daten gelöscht?
Für die Speicherung und Nutzung
von Gesundheitsdaten gelten
strenge Regeln. Das gilt auch für
deren Löschung. Wer muss wann
welche Information vernichten?
10
Jahre mindestens sind
Arztpraxen und Krankenhäuser
gesetzlich verpflichtet, ihre Auf-
zeichnungen über Patienten und
deren Behandlungen aufzube-
wahren, in manchen Fällen auch
länger – etwa der Röntgendiag-
nostik. Nach Ablauf dieser Fris-
ten sollten die Daten gelöscht
werden. Für Forschungszwecke
jedoch, zum Beispiel in Registern,
die jahrzehntelange Entwick-
lungen verfolgen, können Daten
so lange genutzt werden, wie es
erforderlich ist.
30
Jahre müssen Kran-
kenkassen die nicht medizi-
nische Daten, etwa zur Ver-
sicherungspflicht einer Person,
aufbewahren. Die Behandlungs-
daten ihrer Versicherten müssen
sie hingegen nach 10 Jahren
löschen. Werden die Angaben
aber so reduziert, dass nicht
mehr nachvollziehbar ist, welcher
Arzt welchen Versicherten be-
handelt hat, dürfen die Daten
sogar unbegrenzt gespeichert
werden.
Patienten und Teilnehmer medi-
zinischer Studien haben jederzeit
das Recht, ihre persönlichen
Daten löschen zu lassen, sofern
nicht ein anderes Gesetz zur
Aufbewahrung verpflichtet.
Wenn die Daten nicht gelöscht
werden können, lässt sich zu-
mindest deren Nutzung ein-
schränken, sodass zum Beispiel
mit den eigenen Daten nicht
mehr geforscht werden darf.
will, aus Kassendaten die Zahl der Haut-
krebs-Neuerkrankungen in Deutsch-
land zu ermitteln, stößt schnell an
Grenzen. „Da kommen Sie auf Werte,
die Sie kaum reproduzieren können“,
berichtet er. Die Zahlen lägen viel zu
hoch.
Denn bei der Abrechnung mit den
Kassen kommt es zu Ungenauigkeiten,
glaubt Katalinic. Da könne mal die Diag-
nose Hautkrebs übermittelt werden,
wenn der Arzt nur ein verdächtiges Pig-
mentmal herausgeschnitten hat, ver-
mutet Katalinic. Oder ein wiederkeh-
rendes Krebsgeschwür oder eine Nach-
untersuchung werden fälschlicherweise
als neuer Tumorfall interpretiert. „Das
sind Daten, die nicht für die genaue Be-
schreibung des klinischen Zustands op-
timiert sind, sondern für die Abrech-
nung bei der Kasse“, erklärt Katalinic.
BARRIERE: DATENSCHUTZ
In manchen Fällen ist es aber schlicht
unmöglich, überhaupt bis zu einem Da-
tensatz vorzudringen. So wollte Katali-
nic untersuchen, wie die Hautkrebs-To-
desfälle in verschiedenen Regionen
Deutschlands verteilt sind. Dafür benö-
tigte er Fallzahlen, nach Landkreisen
aufgeschlüsselt. „Wir haben die Daten
nicht bekommen“, resümiert Katalinic.
Die statistischen Landesämter hätten
angesichts der niedrigen Fallzahlen in
einzelnen Kreisen Bedenken gehabt,
dass die Forscher trotz anonymisierter
Daten Rückschlüsse auf einzelne Perso-
nen hätten ziehen können. „Das ist Ver-
hinderung von Forschung“, sagt der
Epidemiologe. Schließlich unterlägen
Forschungsinstitute eigenen Daten-
schutzregeln, die verhindern würden,
dass Daten an Unbefugte gingen oder
missbräuchlich verwendet würden.
Im Dickicht der Medizindaten kann
der Datenschutz zu einer echten Barrie-
re werden, wie das Beispiel des Trauma-
registers zeigt. Seit 1993 sammeln Un-
fallmediziner aus dem deutschsprachi-
gen Raum die Behandlungsverläufe von
Schwerverletzten. 450.000 Fälle haben
sie bereits, eine wertvolle Quelle für ein
Feld, in dem man klinische Studien nur
schwer planen kann. Doch mit der Da-
tenschutzgrundverordnung (DSGVO)
ist nun grundsätzlich eine Einwilligung
der Patienten erforderlich, um sie an
dieses Register zu melden. Das aber sei
insbesondere bei den schwersten Fäl-
len, die im Koma liegen oder sterben, ei-
ne unmöglich zu erfüllende Anforde-
rung, kritisiert Klinikvorstand Lerch.
Die Folge: Seit Einführung der DSGVO
2018 sind die Meldezahlen um mehr als
20 Prozent gesunken. „Das führt zu ei-
WELT AM SONNTAG
ner Verzerrung des Registers“, sagt
Lerch. Die schwersten Fälle fehlen nun,
das schmälert den wissenschaftlichen
Wert der akribischen Datensammlung.
Insbesondere bei Forschungskoope-
rationen mit vielen Standorten können
Wissenschaftler am Datenschutz ver-
zweifeln. „Wenn Sie mit 20 Kliniken ei-
ne Studie durchführen wollen, müssen
Sie die Datenschützer in jedem betrof-
fenen Bundesland einbeziehen“, sagt
Lerch. Jeder von ihnen kann Einwände
erheben und das Vorhaben verzögern.
So kämen aber keine sehr großen Da-
tensätze zusammen, wie sie beispiels-
weise für das Training von künstlicher
Intelligenz benötigt werden. „Selbst
5000 Fälle aus einer Klinik reichen da-
für nicht aus“, sagt Lerch. Also sind As-
sistenzsysteme, die Mediziner heute
bereits einsetzen, nicht auf Daten
deutscher Patienten trainiert. „Ein Bei-
spiel ist ein System, das Ärzte bei der
Darmspiegelung unterstützt“, erläu-
tert der Gastroenterologe. „Die Trai-
ningsdaten dafür stammen aus China,
weil wir so etwas in Deutschland nicht
hinbekommen.“
Das Problem sind jedoch nicht nur
,,
die Datenschutzvorgaben, sondern de-
ren Interpretation durch die Behörden.
„Die Auslegung der DSGVO erfolgt in
Deutschland aus historischen Gründen
sehr restriktiv“, erklärt Gesundheitsfor-
scher Schreyögg. Während in Deutsch-
land der Grundsatz gelte, dass erst mal
DIE NICHTNUTZUNG
VON DATEN KANN
MENSCHENLEBEN
KOSTEN
DOROTHEA WAGNER
Vorsitzende des Wissenschaftsrats
nichts erlaubt sei und dann begründete
Ausnahmen zugelassen werden, sei der
Ansatz in anderen Ländern umgekehrt.
Als Vorreiter gilt Dänemark, das schon
seit Jahrzehnten zahlreiche Behand-
lungsdaten verpflichtend in zentralen
Registern sammelt. Auch in Finnland
und Großbritannien, wo bis zum Brexit
ebenfalls die EU-Datenschutzregeln gal-
ten, gibt es zentrale Stellen, die Gesund-
heitsdaten zusammenführen und für die
Forschung verfügbar machen.
NR. 43 23. OKTOBER 2022
In Deutschland aber fehlt es an einem
einheitlichen Erkennungsmerkmal. An-
ders als beispielsweise in Dänemark ist
die Krankenversicherungsnummer, die
ein Leben lang gleich bleibt, für For-
scher in Deutschland tabu. Selbst
Krebsregister, die als einzige medizini-
sche Register überhaupt einen gesetzli-
chen Sammelauftrag haben, dürfen
nicht darauf zugreifen. Stattdessen ge-
hen sie einen mühsamen Umweg. Mit-
unter behandeln mehr als ein halbes
Dutzend Ärzte einen Krebspatienten –
sie alle sind per Gesetz verpflichtet die
Fälle zu melden. Mit einem Algorithmus
prüfen die Register, ob Namensanga-
ben, Geburtsdaten und weitere Daten,
die mit jeder Meldung übermittelt wer-
den müssen, übereinstimmen. In mehr
als 80 Prozent der Fälle klappt das, in
den restlichen Fällen muss ein Mitar-
beiter die Angaben abgleichen und im
Zweifelsfall beim Arzt nachfragen, ob es
sich wirklich um den vermuteten Pa-
tienten handelt. Der Zugriff auf die Ver-
sichertennummer könnte den Aufwand
erheblich reduzieren.
DEUTSCHLAND ABGEHÄNGT
Die Ampel-Koalition will die Nutzung
medizinischer Daten für die Forschung
erleichtern. Bereits in Arbeit ist ein Re-
gistergesetz, das etwa Vorgaben enthal-
ten soll, damit Daten aus verschiedenen
Registern miteinander verknüpft wer-
den können. Wichtiger erscheint vielen
Experten jedoch ein von der Koalition
versprochenes Gesundheitsdatennut-
zungsgesetz. Das soll Forschern
DSGVO-konform einen leichteren Da-
tenzugang ermöglichen.
Angesichts der im internationalen
Vergleich großen Hürden mahnen Wis-
senschaftler zur Eile. „Wir fallen drama-
tisch zurück“, warnt Gesundheitsöko-
nom Schreyögg. Selbst der Wissen-
schaftsrat, das wichtigste wissen-
schaftspolitische Beratungsgremium
der Republik, hat sich eingeschaltet.
„Die Nichtnutzung von Daten kann
Menschenleben kosten“, warnte die
Vorsitzende Dorothea Wagner bei der
Vorstellung eines Positionspapiers zur
Digitalisierung im Gesundheitswesen
im Juli.
An der Zustimmung der Patienten je-
denfalls dürften solche Maßnahmen
nicht scheitern. Und tatsächlich ist die
Bereitschaft der Deutschen groß: In einer
repräsentativen Umfrage im Auftrag der
Technologie- und Methodenplattform
für die vernetzte medizinische For-
schung waren 79 Prozent der Deutschen
bereit, ihre Daten anonymisiert für die
Forschung zur Verfügung zu stellen.

E
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG
s steht schlecht um die
Psyche der Bürger –
das ist eine Sorge, die
Experten wie Politiker
in Europa und den Ver-
einigten Staaten um-
treibt. Massimiliano
Mascherini von Eurofound, der EU-
Agentur für die Verbesserung der Le-
bens- und Arbeitsbedingungen, spricht
gar von einer „parallelen Pandemie der
seelischen Gesundheit“. Und US-Präsi-
dent Joe Biden erklärte jüngst, mentale
Gesundheit habe höchste Priorität. Sei-
ne Regierung werde 300 Millionen Dol-
lar für psychosoziale Programme be-
reitstellen. Der Grund dafür: In den
USA leidet jeder Fünfte an einer menta-
len Erkrankung. Aber auch hierzulande
suchten schon vor der Pandemie mehr
als jede zehnte Frau und 8,1 Prozent der
Männer einen Psychologen oder Psy-
chiater auf. Das geht aus Daten des Ro-
bert-Koch-Instituts hervor.
VON KATJA RIDDERBUSCH
Die Corona-Krise hat den Trend noch
verstärkt: Nach Angaben der Weltge-
sundheitsorganisation ist die Zahl der
Menschen, die bei denen Angststörun-
gen und Depressionen diagnostiziert
werden, seit Beginn der Pandemie welt-
weit um 25 Prozent gestiegen. Die Fol-
ge: Mehr Menschen suchen professio-
nelle Hilfe. „Der Bedarf an Psychothera-
pie ist auch im dritten Pandemiejahr
unverändert hoch“, sagt Gebhard Hent-
schel, Bundesvorsitzender der Deut-
schen Psychotherapeuten-Vereinigung
(DPtV). Die Anzahl der Patientenanfra-
gen habe im Sommer 2022 weiterhin
um etwa 40 Prozent höher gelegen als
vor Corona. Wartelisten der Praxen und
Kliniken sind entsprechend lang.
Bislang galt der eklatante Mangel an
Behandlungsplätzen als größtes Man-
ko. Nun rückt die Forschung ein Pro-
blem in den Fokus, das bislang unter
dem Radar lief: Mit einer Psychothera-
pie gehen – genau wie bei anderen me-
dizinischen Interventionen – Risiken
einher. „Etwa zehn Prozent der Psycho-
therapiepatienten erfahren schwerwie-
gende und länger andauernde Neben-
wirkungen“, sagt Michael Linden, Neu-
rologe, Psychiater und Psychothera-
peut an der Charité in Berlin. Einige Pa-
tienten entwickeln gar neue und tiefere
Ängste, es entstehen Abhängigkeiten
und Konflikte, bisweilen bricht das so-
ziale Gefüge auseinander – es geht ih-
nen schlechter als zuvor, im seltenen
Fall ende die Therapie im Suizid. „Das
ist nicht unerheblich im Vergleich zur
Arzneimitteltherapie,“ so Linde.
MESSBARE WIRKUNG
ODER PLACEBO-EFFEKT
Nebenwirkungen der Psychotherapie –
das Thema wird zwar seit Langem in
der Fachwelt diskutiert, „aber in syste-
matischer und substanzieller Weise gibt
es die Debatte erst seit rund fünf Jah-
ren“, erklärt Linden. Mit seinem Kolle-
gen Bernhard Strauß von der Universi-
tät Jena und einer kleinen Gruppe von
Psychologen und Psychotherapeuten
gilt Linden auf dem Gebiet als Pionier
in Deutschland. Das Thema sei noch
nicht bei jedem Therapeuten angekom-
men, ebenso wenig wie in der breiten
Öffentlichkeit und beim Gesetzgeber,
sagt er. „Und auch in der Wissenschaft
ist noch viel zu tun.“ Immerhin gibt es
mittlerweile eine Reihe von Studien – in
Europa, in den USA, in Australien.
Die Debatte über Wirkung – und Ne-
benwirkungen – der Psychotherapie sei
fast so alt wie die Disziplin selbst, sagt
Gary Burlingame von der Brigham
Young University im US-Bundesstaat
Utah – „und der Streit darüber, ob Psy-
chotherapie nichts bewirke außer einem
Placebo-Effekt“. Burlingame entwickel-
te in den frühen 1990er-Jahren gemein-
sam mit seinem Kollegen Michael Lam-
bert einen Fragenkatalog für Patienten,
mit dessen Hilfe sich die Wirksamkeit
einer Therapie empirisch messen lässt –
„die Vitalzeichen der mentalen Gesund-
heit“, nennt er das. Der sogenannte
OQ-Katalog gehört heute zum Stan-
dardinstrument von Psychotherapeu-
ten in den USA.
Zwar stehe die Wirksamkeit von Psy-
chotherapien mittlerweile außer Zwei-
fel, sagt Moria Smoski, klinische Psy-
chologin an der Duke University in
North Carolina. „Aber mit der Akzep-
tanz kommt auch der Anspruch der
Fachwelt, die Psychotherapie stärker
nach einem medizinischen Modell zu
bewerten“ – in klinischen Studien die
Wirkungsmechanismen, Risiken, Ne-
ben- und Wechselwirkungen zu unter-
suchen. Dabei werde deutlich: Das gän-
gige Stereotyp „Reden schadet nicht“
stimme so nicht. „Wer sich einer Psy-
chotherapie unterzieht, wird sich un-
wohl fühlen“, erklärt Smoski. „Schließ-
lich geht es um schwere, schmerzhafte,
belastende Dinge, um das Eintauchen in
Erinnerungen, die man versucht zu ver-
meiden.“
NR. 43
Zu Risiken und
Nebenwirkungen
fragen Sie Ihren
Psychotherapeuten.
Noch ist wenig
bekannt über die
negativen Effekte
Mit Freud
kommt das Leid
Bislang galt die Psychotherapie schlimmstenfalls als wirkungslos.
Jetzt zeigt die Forschung: Mit der Behandlung gehen ernsthafte
Risiken einher. Jeder zehnte Patient erlebt Nebenwirkungen bis
hin zur Verschlechterung der mentalen Gesundheit
Um Nebenwirkungen in der Psycho-
therapie überhaupt zu identifizieren
und zu klassifizieren, brauche es zu-
nächst eine klare Definition, sagt der
Berliner Psychotherapeut Linden. „In
der Medizin allgemein und auch in der
Psychotherapie gilt: Nebenwirkungen
sind negative und unerwünschte Be-
gleitwirkungen einer korrekt durchge-
führten Behandlung.“ Dazu gehören
ausdrücklich nicht Therapiefehler wie
eine dominante oder herablassende
Haltung des Therapeuten oder die Ba-
gatellisierung von Suizidankündigun-
gen. Auch schwere Verstöße wie sexuel-
ler Missbrauch von Patienten, die straf-
rechtlich geahndet werden, zählen nicht
zu Nebenwirkungen.
Die unerwünschten Begleiterscheinun-
gen variieren je nach Psychotherapiever-
fahren, sagt Linden – sei es die Verhal-
tenstherapie; die psychodynamische The-
rapie, die sich aus der Psychoanalyse ent-
wickelt hat; oder die systemische Psycho-
therapie, die sich auf den sozialen Kon-
text fokussiert. So könne eine im Rahmen
der kognitiven Verhaltenstherapie durch-
geführte Expositionsbehandlung zur
Überwindung einer Angststörung, bei der
der Therapeut den Patienten schrittweise
mit seinen Ängsten konfrontiert, auch
schiefgehen. Linden erinnert sich an ei-
nen Patienten mit Platzangst. Anders als
bei der Klaustrophobie, der Angst vor En-
ge, hatte dieser Patient Panikattacken in
offenen Räumen, zog sich zunehmend in
seine Wohnung zurück. Im Verlauf der
Behandlung lernte er, kurze Spaziergänge
bis zur nächsten Straßenecke zu machen.
Doch bei einer Autofahrt mit seinem The-
rapeuten erlitt er aus unerfindlichen
Gründen eine Panikattacke, wagte sich
fortan gar nicht mehr aus dem Haus und
brach die Therapie ab.
Eine andere Nebenwirkung ist die
Entstehung von false memories, falschen
Erinnerungen. Das könne bereits beim
Anamnesegespräch passieren, sagt Lin-
den. Der Therapeut fragt nach der Kind-
heit, dem Verhältnis zu den Eltern –
WISSEN 57
Symptome reichen von Amnesie über
Wahrnehmungs- und Empfindungsstö- Beziehungschaos
auch bei den
rungen bis hin zu Krampfanfällen und
Lähmungserscheinungen. Bei Kriegsve-
teranen trete diese Form der Nebenwir-
kung häufiger auf, sagt Smoski – „ein-
fach, weil der Grad der Traumatisierung Neandertalern
und die Schwere der psychischen Ver-
letzungen häufig größer ist“. Drei neue Studien über
die nahen Verwandten
Eine weitere Dynamik: Patienten ent-
D
wickeln eine pathologische Anhänglich-
keit an ihren Therapeuten, meinen ir-
gendwann, nicht mehr ohne Therapie er Neandertaler ist in den
leben zu können. „Das nennt man dann vergangenen Wochen wie-
Therapieabhängigkeit“, sagt Linden. der einmal ins Zentrum wis-
Und betont: Es sei Aufgabe des Thera- senschaftlicher Aufmerksamkeit ge-
peuten, mit dem Patienten einen Weg rückt. Der Schwede Svante Pääbo
aus der Behandlungsschleife zu finden. vom Max-Planck-Institut für evolu-
tionäre Anthropologie in Leipzig hat
PATIENTEN KOMMEN den Nobelpreis erhalten, nachdem er
AUF DEN EGOTRIP das Erbgut unseres Verwandten ent-
Auch Gruppentherapien bergen ihre ei- schlüsselt hatte. Es ist auch einiges
genen Risiken, erklärt Linden. Patien- Neues über den Steinzeitmenschen
ten hören die bisweilen dramatischen zutage gefördert worden – wie er
Geschichten anderer, doch statt aus liebte, lebte und sich labte, zwischen
dem geteilten Leid Kraft zu schöpfen, Westsibirien und der Iberischen
fühlen sie sich demoralisiert. „Da be- Halbinsel.
steht eine Art Ansteckungsgefahr,“ so
Linden. VON VERENA MÜLLER
Bei manchen Patienten führt eine
psychotherapeutische Behandlung auch Eine Höhle an den Ausläufern des
zu einem Egotrip. So lernen sie wäh- Altaigebirges in Zentralasien lieferte
rend der Therapie – häufig zum ersten jetzt einen bislang einzigartigen Ein-
Mal in ihrem Leben –, auf die eigenen blick in die Sozialstruktur des Homo
Bedürfnisse achtzugeben. In dem Buch sapiens neanderthalensis. Demnach
„Risiken und Nebenwirkungen von Psy- verließen die Frauen in der Regel ih-
chotherapie“, das Michael Linden mit re Gruppen und schlossen sich frem-
herausgegeben hat, beschreiben Exper- den Sippen an. Herausgefunden hat-
ten Patienten, die nach einer Therapie te das ein Team unter Führung des
so sehr auf sich selbst bezogen waren, Leipziger Max-Planck-Instituts,
dass sie eine „inadäquate Lebensbewäl- nachdem es die Genome von 13 Ne-
tigung am Arbeitsplatz und zu Hause“ andertalern aus Knochen und Zäh-
an den Tag legten. Sie trennten sich nen rekonstruiert hatte.
vom Partner, kündigten den Job, bra- Diese Gruppe, so zeigte sich, lebte
chen Kontakt zu Familie und Freunden nicht in völliger Isolation, sondern
ab; entwickelten also Züge einer nar- vermutlich in einer Art Netzwerk-
zisstischen Persönlichkeit. verbund mit anderen Gemeinschaf-
Wie bei jeder Behandlung, so gibt es ten der Umgebung. Das Team hatte
auch in der Psychotherapie Wechselwir- dazu sowohl die genetische Vielfalt
kungen – zwischen der Psychotherapie auf dem Y-Chromosom untersucht,
und Medikamenten ebenso wie zwi- das vom Vater zum Sohn vererbt
schen verschiedenen Therapieansätzen, wird, als auch die Vielfalt der mito-
sagt Smoski. So rate sie in Einzelfällen chondrialen DNA, die die Mutter an
Angstpatienten davon ab, bei einer Pa- die Kinder weitergibt. Die mitochon-
nikattacke ein Beruhigungsmittel etwa driale genetische Vielfalt war etwa
aus der Familie der Benzodiazepine ein- um den Faktor zehn höher. Mindes-
zunehmen. „Weil es die Wirkung der tens 60 Prozent der Frauen hatten
Psychotherapie beeinflusst“, sagt sie. demnach ihre eigene Gemeinschaft
Mitunter ist dadurch das Gefühlsleben verlassen und in anderen Sippen ge-
und Erinnernungsvermögen beein- lebt. Möglicherweise diente dieser
trächtigt. Austausch dazu, mehrere Gruppen
GETTY IMAGES/EYEEM/KATARÍNA KACICOVÁ / EYEEM
Bisweilen sei die Entscheidung für ei- miteinander zu verbinden – und In-
nen Therapieansatz nicht eindeutig zu zucht zu begrenzen.
treffen, sagt Smoski weiter. Sie erinnert Dass der Neandertaler über Jahr-
sich an einen Patienten, den sie wegen tausende hinweg dabei auch mit und
posttraumatischer Belastung, Depressio- neben dem modernen Menschen,
nen, Schlafstörungen und Medikamen- dem Homo sapiens sapiens, lebte, ist
tenabhängigkeit behandelte. Sie ent- bekannt. Echte Belege für ihre Ko-
schied sich, mit der Schlaftherapie zu be- existenz in den einzelnen Regionen
ginnen – „weil die Forschung nahelegt, gab es bislang aber nur wenige. Mehr
dass die Behandlung von Schlafproble- als 8000 Kilometer westlich vom Al-
men häufig zu einer erfolgreicheren Be- taigebirge, nahe der Stadt Saragossa,
handlung von Depressionen führt“. Doch erbringen Überreste nun den Beweis
dann stellte sich heraus: Der Patient für Nordspanien und Frankreich. Ein
konnte nicht schlafen, weil ihn schwere Forscherteam um Igor Djakovic von
Albträume plagten, resultierend aus sei- der Universität Leiden, Niederlande,
nem Trauma. „Ich hatte die falsche Rei- hatte dafür einen Datensatz von 56
henfolge gewählt – und habe mein Thera- Objekten aus archäologischen Stät-
pieprotokoll geändert“, sagt Smoski. ten und Neandertalerproben der Ge-
Therapeuten seien dafür verantwort- gend analysiert, deren Alter zuvor
lich, Patienten über mögliche Nebenwir- mithilfe der Radiokarbontechnik be-
kungen aufzuklären, diese im Verlauf der stimmt worden waren. Die Auswer-
Therapie zu erkennen und die Behand-
lung entsprechend anzupassen, sagt Lin-
den. Dabei ließen sich mit einiger Erfah-
rung schon beim Eingangsgespräch be-
stimmte Reaktionen voraussehen. Wenn
ein Patient zum Beispiel eine ängstlich-
abhängige Persönlichkeit habe, werde er
PICTURE ALLIANCE / ANP/BART MAAT
oder sie wahrscheinlich eine enge Bin-
dung an den Therapeuten entwickeln.
Wer eine Borderline-Persönlichkeits-
struktur aufweise, zu Impulsivität, Emo-
tions- und Stimmungsschwankungen
neige, sei empfänglich für falsche Erin-
nerungen. Und bei vegetativ instabilen
Patienten, häufig sind dies Angstkranke,
sei bei Expositionsbehandlungen beson- Bitte lächeln: Rekonstruktion eines
dere Vorsicht geboten. Neandertalers in den Niederlanden
Die größte Herausforderung in der
und Patienten, auf der Suche nach einer Nebenwirkungsforschung sei die man- tung ergab: Die beiden Menschen-
Erklärung für ihren Zustand und mögli- gelhafte Datenlage, sagt Lynn Bufka, kli- gruppen wohnten und jagten zwi-
cherweise empfänglich für Suggestion, nische Psychologin bei der American schen 1400 und 2900 Jahre lang ge-
erinnern sich an Dinge, die gar nicht Psychological Association (APA), dem meinsam in der Region.
stattgefunden haben, zum Beispiel: se- Fachverband der Psychologen in den Ebenfalls aus Funden in Nordspa-
xueller Missbrauch. Vor allem in den USA. Bislang existierten kaum systema- nien weiß man jetzt, dass sich der
90er-Jahren gab es mehrere False-me- tische Daten, die Aufschluss darüber gä- Steinzeitmensch vorrangig von
mory-Fälle in den USA. Hierzulande be- ben, „ob ein negativer Effekt Folge der Fleisch ernährte – und weniger als
rät der Verein False Memory Deutsch- Behandlung oder Symptom der zu be- bislang angenommen auch von Wild-
land Menschen, die aufgrund einer handelnden Krankheit ist“. Die APA ver- getreiden oder Urbohnen. Sein Spei-
Pseudoerinnerung des Missbrauchs be- pflichtet seit 2018 Autoren dazu, in wis- seplan wird in Fachkreisen kontro-
schuldigt werden. senschaftlichen Artikeln über Therapie- vers diskutiert, gilt dessen Eintönig-
Vor allem die Behandlung von schwe- verfahren deren potenzielle Risiken und keit doch als ein möglicher Grund
ren Traumata wie einer posttraumati- Nebenwirkungen aufzuführen. für sein Aussterben vor rund 40.000
schen Belastungsstörung (PTBS) sei Bei aller notwendigen Forschungs- Jahren. Die Studie im Fachmagazin
nicht ohne Risiko, erklärt Psychothera- und Aufklärungsarbeit rät Psychothera- „PNAS“ hatte nun die bevorzugte
peutin Smoski. „Eine andauernde Kon- pie-Professor Linden seinen Kollegen Speise der nordspanischen Sippe an-
frontation mit den traumatisierenden aber auch: „Man darf als Therapeut keine hand von Zinkisotopen in den dort
Erlebnissen kann bisweilen extreme Re- Angst vor Nebenwirkungen haben.“ Ein gefundenen Zähnen analysiert. Je ge-
aktionen triggern.“ In schweren Fällen Mediziner habe schließlich keine Angst ringer der Anteil dieser Isotope, des-
entwickeln Patienten eine dissoziative davor, ein Antibiotikum zu verschreiben, to wahrscheinlicher, dass sie zu ei-
Störung, spalten die Erinnerung an ein- wenn der Nutzen größer ist als der mög- nem Fleischfresser gehören. Das Er-
zelne belastende Erlebnisse oder ganze liche Schaden. „Wer als Therapeut keine gebnis: Seine Werte waren ähnlich
Teile ihrer Persönlichkeit, die mit die- Nebenwirkungen erkennt, der hat sie hoch wie die der damaligen Raubtie-
sen Erlebnissen verbunden sind, ab. vermutlich schlicht übersehen.“ re – darunter Luchse und Wölfe.
GESCHICHTE

W
WELT AM SONNTAG NR. 43 23. OKTOBER 2022 SEITE 58

Wer mit einem Spaten auf den Kopf eines

wehrlosen Menschen schlägt, will töten.
Es gibt nur wenige Bilder aus Friedens-
zeiten, die einen Mordversuch so unmit-
telbar dokumentieren wie die Aufnahme,
die der Fotograf Tobias Heldt am 28. Fe-
bruar 1981 machte: Zwei „Autonome“, al-
so linksextreme Gewalttäter, attackieren
am Rande der bürgerkriegsartigen „De-
monstration“ gegen das geplante Atom-
kraftwerk Brokdorf einen Polizisten.

VON SVEN FELIX KELLERHOFF

Dank seines Helmes überlebte der

Beamte Rolf Sch.; die beiden Täter, Mi-
chael D. und Markus M., kamen mit mo-
deraten Strafen von drei und fünfein-
halb Jahren davon, wegen gefährlicher
Körperverletzung und Landfriedens-
bruch statt wegen versuchter Tötung.
Sowohl das NDR-Magazin „Panorama“
wie der „Spiegel“ hatten die Attacke auf
den Polizisten nach Kräften kleingere-
det. Die Großdemonstration bei Brok-
dorf 1981 war der Tiefpunkt des linken
Kampfes gegen die Atomkraft.
Ziemlich genau 42 Jahre später, vo-
raussichtlich Mitte April 2023, sollen
die letzten drei deutschen Kernkraft-
werke abgeschaltet werden; die Versor-
gungskrise durch die Energiewende hat
dieser CO2-neutralen Art der Stromer-
zeugung eine kurze Gnadenfrist ver-
schafft. In einer Demokratie ist der Wil-
le der Mehrheit eines der entscheiden-
den Kriterien für die Gestaltung der Po-
TOBIAS HELDT/BILD

litik. Wie aber hat sich die Haltung der

Bevölkerung in der Bundesrepublik zur
Kernkraft entwickelt?
Das kann man anhand repräsentati-

Die SPALTUNG der Gesellschaft

ver Umfragen rekonstruieren. Von allen Bei Protesten gegen das Kernkraftwerk Brokdorf am 28. Februar 1981 schlagen Michael D. mit einem Knüppel und Markus M. mit einem Spaten auf den Polizisten Rolf Sch. ein. Die Täter werden nur moderat bestraft
deutschen Meinungsforschungsunter-
nehmen hat das Institut für Demosko-
pie (IfD) in Allensbach am Bodensee die
umfassendste Sammlung solcher auf
den Bevölkerungsschnitt hochgerech-
neter Ergebnisse. Dagegen verfügt etwa
die ZDF-nahe Forschungsgruppe Wah-
len, wiewohl seit 1974 aktiv, nach eige-
nen Angaben nicht über „methodisch
vergleichbare Zeitreihen-Daten“. Die

Gegner der Atomenergie entfesselten bei

Analyse der Allensbach-Daten, deren
Zuverlässigkeit durch Vergleiche mit chen die Werte der Anhänger des Wei- kungen: Die Zahl der erklärten Gegner Stroms noch stärker als bisher von

Protesten mitunter bürgerkriegsähnliche

Ergebnissen anderer Institute wenigs-
tens punktuell überprüft werden kann,
ergibt spannende Einsichten.
Anderthalb Jahrzehnte lang war die
Atomenergie in der Bundesrepublik
nicht nur nicht umstritten, sondern galt
fast ausnahmslos als Zukunftstechnolo-
gie; seit 1955 gab es sogar ein Bundesmi-
nisterium für Atomfragen. Zwei Jahre
terbetriebs wie des Ausbaus stark ein.
Doch nach kurzen heftigen Abwei-
Zustände. Doch sie waren fast immer eine
chungen der Werte stellte sich wieder
der vorherige Normalwert ein: Je etwa
Minderheit. Die Mehrheit der Deutschen 35 Prozent der Bevölkerung waren für
Ausbau oder Weiterbetrieb, etwa 15 Pro-
hielt, das zeigen historische Umfragedaten, zent forderten einen möglichst schnel-
len Ausstieg. Dieses Allensbach-Ergeb-
die nukleare Stromerzeugung meist für nis bestätigte eine repräsentative Um-
der Kernenergie stieg zwar auf etwa 36
Prozent an, doch dieser Wert sank bald
wieder auf 28 Prozent; die Befürworter
der weiteren Nutzung blieben bei
knapp zwei Dritteln.
IfD-Chefin Elisabeth Noelle-Neu-
mann nannte auf einer Tagung im Juni
1987 die Annahme „falsch“, eine „Mehr-
zahl der Deutschen sei gegen die Kern-
Lieferanten in den Nachbarländern ab-
hängig“ werde.
Nach dem „Atomkonsens“ zwischen
rot-grüner Bundesregierung und Ener-
gieversorgern vom Juni 2000, der eine
flexible Restlaufzeit der vorhandenen
Reaktoren von bis zu 25 Jahren vorsah,
trat das Thema in den Hintergrund. Bis
März 2010 stieg sogar die durchschnitt-

nötig – ohne die Risiken zu ignorieren

später lief der erste Forschungsreaktor
an, 1961 speiste erstmals ein Versuchs-
atomkraftwerk Strom ins westdeutsche
Netz ein, und seit 1968 lieferte der erste
kommerzielle Reaktor in Obrigheim am
Neckar Energie.
AUFTAKT 1970
Der Umschwung begann mit einem Ar-
tikel in der Hamburger Wochenzeitung
„Die Zeit“. Der Wissenschaftsjournalist
Theo Löbsack veröffentlichte am
24. April 1970 unter dem Titel „Wenn
der Rhein dampft“ eine Warnung vor
dem geplanten Ausbau der Kernenergie.
Die notwendige Kühlung der Reaktoren
könnte den Fluss auf „40 bis 50 Grad
Celsius“ erwärmen – mit katastropha-
len Folgen für Tier- und Pflanzenwelt.
Der Artikel wurde zum Ausgangs-
punkt der deutschen Anti-Atom-Bewe-
gung. Denn Anwohner des nahe der
südbadischen Kleinstadt Breisach ge-
planten Kernkraftwerks Süd erzwangen
die Verlegung des Bauprojekts nach
Wyhl am Kaiserstuhl, etwa 20 Kilome-
ter flussabwärts. Obwohl 55 Prozent der
Bewohner von Wyhl in einem Bürger-
entscheid für den Verkauf des vorgese-
henen Grundstücks stimmten und die
Bauvorbereitung begann, verhängte das
Verwaltungsgericht Freiburg 1977 einen
Baustopp. Es war der erste große Sieg
der Anti-Atom-Bewegung.
Nach Daten des IfD war zu dieser
Zeit etwa ein Achtel der westdeutschen
Bevölkerung „strikt Gegner der Kern-
energie“; knapp ein Drittel befürworte-
te den Ausbau, und etwa 45 Prozent
sprachen sich für den Weiterbetrieb der
Kernenergie aus. Das Bonner Meinungs-
forschungsinstitut Infas kam im Früh-
jahr 1977 auf einen Wert von zwölf Pro-
zent Gegner, während die „Zeit“ im
Sommer vage von „je nach Umfrage 20
bis 40 Prozent“ schrieb. Zu dieser Zeit
waren 18 kommerzielle Reaktoren im
Betrieb oder im Bau (Forschungsreakto-
ren nicht gerechnet). Auf einer Skala
von plus fünf (sehr für Kernenergie) bis
minus fünf (sehr dagegen lag die durch-
schnittliche Haltung der westdeutschen
Bevölkerung bei einem Wert von 0,7, so
die Allensbacher Forscher.
KERNSCHMELZE 1979
Eine erste starke Veränderung dieser
Haltung brachte ein Störfall im Atom-
kraftwerk Three Mile Island bei Harris-
burg im US-Bundesstaat Pennsylvania
Ende März 1979. Bei der partiellen
Schmelze des Reaktorkerns entwich Ra-
dioaktivität, die allerdings laut einer
Langzeitstudie an 30.000 Anwohnern
bis 1997 nicht zu gesundheitlichen Fol-
gen geführt hatte. Nach IfD-Daten ver-
doppelte sich die Zahl der Westdeut-
schen, die sich als „strikte Gegner der
Atomenergie“ bezeichneten, direkt
nach diesem Störfall; entsprechend bra-
frage der Universität Mainz, laut der
zwei Drittel der Bundesbürger für den
Weiterbetrieb waren, auch wenn sie Ri-
siken sahen. Bei dieser Untersuchung
wurde berücksichtigt, wie weit die Be-
fragten von einem laufenden oder pro-
jektierten Reaktor entfernt wohnten –
Ergebnis: „Die Zahl der Kernenergie-
gegner nahm mit der Entfernung vom
Standort des Kraftwerks zu.“
Die Gewalt bei der Auseinanderset-
zung um Brokdorf an der Elbe 1981 ein-
schließlich des Angriffs auf den Polizis-
ten Rolf Sch. führte zur nächsten deutli-
chen Verschiebung: Die Zahl der Anhän-
ger eines weiteren Kernenergie-Aus-
baus nahm stark ab; zugleich stieg der
Anteil jener, die für den Weiterbetrieb
der aktiven und der im Bau befindlichen
Reaktoren eintraten. Offenbar hielten
angesichts der Exzesse von Atomkraft-
gegnern immer mehr Deutsche die ge-
sellschaftlichen Gefahren des Ausbaus
für zu groß – sie wichen der Gewalt.
Trotzdem machten die Anhänger der
Kernkraft immer noch mehr als zwei
Drittel der Wahlberechtigten aus. Die
durchschnittliche Haltung, die wenige
Monate nach dem Störfall von Harris-
burg laut IfD-Daten noch bei minus 0,2
gelegen hatte, stieg wieder auf einen
Wert von plus 0,6.
Erstaunlich gering waren die Auswir-
kungen des tatsächlich schlimmsten
Unfalls in einem Kernkraftwerk: Am
26. April 1986 explodierte in der damals
noch existierenden Sowjetunion, nörd-
lich der ukrainischen Hauptstadt Kiew,
der Block vier in Tschernobyl. Die nahe
gelegene Planstadt Prypjat musste eva-
kuiert werden. Ob an den Folgen der
Katastrophe 50 Menschen starben oder
mehr als 100.000, ist auch Jahrzehnte
später umstritten. Auf die Haltung in
Deutschland jedenfalls hatte die Kata-
strophe nur kurzfristig größere Auswir-
kraft“. Allerdings hätten die Behaup-
tungen „selbst ernannter, doch oft ah-
nungsloser ,Experten’ zu einer tiefen
Verunsicherung in der Bevölkerung“ ge-
führt. Die Feststellung der Demoskopin,
„dass gerade noch 39 Prozent der Be-
fragten in Sicherheitsfragen den Wis-
senschaftlern glauben, aber 53 Prozent
dem Fernsehen“, löste ein „ungläubiges
bis verzweifeltes Lachen der versam-
melten Experten“ aus.
In der DDR gab es naturgemäß keine
offene Diskussion über Vor- und Nach-
teile der Kernenergie. Alle sechs betrie-
benen Reaktoren in Greifswald und
Rheinsberg wurden noch 1990 abge-
schaltet, einer davon kam über einen
gut dreiwöchigen Probebetrieb nicht hi-
naus. Nach der Wiedervereinigung war
die Haltung zur Atomenergie in Ost-
deutschland deutlich weniger negativ
als in der alten Bundesrepublik: Die
Werte auf der Skala von plus fünf bis
minus fünf lagen recht stabil um minus
0,1, während die IfD-Meinungsforscher
im Westen gleichzeitig auf minus 1,0 bis
minus 0,2 kamen.
Der Atomausstieg, das politisch
wichtigste Ziel der rot-grünen Bundes-
regierung seit Herbst 1998, brachte das
Thema stark zurück in die öffentliche
Wahrnehmung. Die Akzeptanz der
Kernenergie nahm deutschlandweit
deutlich ab: Das Meinungsforschungs-
institut Emnid kam kurz nach der
Wahl Gerhard Schröders (SPD) zum
Bundeskanzler auf 14 Prozent Befür-
worter eines sofortigen Ausstiegs und
45 Prozent Befürworter eines Aus-
stiegs bis etwa 2013; nur knapp ein
Drittel trat für einen längeren Weiter-
betrieb der vorhandenen Reaktoren
ein. Gleichzeitig sahen jedoch 64 Pro-
zent der Wahlberechtigten die Gefahr,
dass „Deutschland durch den dann
notwendigen Einkauf ausländischen
liche Haltung der Deutschen zur Atom-
kraft auf einen Wert von 0,0 an. Das war
ein Faktor, dessentwegen die schwarz-
gelbe Koalition, das zweite Kabinett von
Kanzlerin Angela Merkel (CDU), in die-
sem Jahr beschloss, den Atomausstieg
zu strecken. Mit dem vehementen Pro-
test der Anti-Atom-Bewegung jedoch
hatte sie offensichtlich nicht gerechnet.
KEHRTWENDE 2011
Unter dem unmittelbaren Eindruck der
dreifachen Kernschmelze im japani-
schen Kernkraftwerk Fukushima Ende
März 2011, nach der bis zu 150.000 Men-
schen evakuiert wurden (die Angaben
über die Todesopfer der Verstrahlung
schwanken zwischen genau einem und
1260), machte Merkel eine Kehrtwende:
Acht laufende Reaktoren wurden sofort
abgeschaltet, sechs weitere bis Ende
2021; die restlichen drei sollten nur
noch ein Jahr länger laufen. Die zwangs-
läufige Versorgungslücke, so der Plan,
werde durch vorwiegend aus Russland
importiertes Erdgas geschlossen.
55 Prozent der Deutschen waren 2012
für diesen Ausstiegsplan, ermittelten
die Forsa-Meinungsforscher; vier Jahre
später kam Emnid sogar auf 77 Prozent.
Doch mit den steigenden Strompreisen
nahm die Unterstützung ab: Im August
2022 ergab eine repräsentative Unter-
suchung für den „Spiegel“, dass inzwi-
schen 41 Prozent der Bevölkerung für
den Bau neuer Kernkraftwerke seien.
„Energiewende?“, fragte das Magazin
daraufhin: „Diese neuen Umfragezahlen
zeigen eher den Wunsch nach einer
Energiekehrtwende.“ Ergebnisse von
Meinungsforschern sind eben immer
wieder für Überraschungen gut.
T Neue Geschichten aus der
Geschichte lesen Sie täglich auf:
www.welt.de/geschichte
23. OKTOBER 2022 WELT AM SONNTAG NR. 43 RÄTSEL & WETTER 59

SCHACH SONNTAGSRÄTSEL – Gewinne im Wert von 338 € SUDOKU

Awerbach – eine 100-jährige Legende VON STEFAN HEINE

MIT HELMUT PFLEGER

Beim jährlichen deutschen auch im Schweizer Fernsehen

Treffen der Schachsammler der
Chess Collectors International,
2022 vom 28. bis 30. Oktober in
Plauen, geht es nicht nur um
schöne Schachspiele. Auch
„Schach und Humor“ bei kari-
katurartigen Schachfiguren
oder „Schach und Musik“ (vom
5. bis 27. November gibt es dazu
in Ebersberg eine Ausstellung)
mit berühmten Schach spielen-
den Komponisten und Musi-
kern wie dem sowjetischen
Großmeister und Konzertpia-
nisten Mark Taimanow werden
in Vorträgen beleuchtet. Und es
wird der Schachlegende Yuri
Awerbach gedacht, der mit 100
am 7. Mai starb. Oft war er bei
den Treffen dabei – nicht nur
zur Eröffnungstheorie und
Endspielen, sondern auch zur
Schachgeschichte trug er We-
sentliches bei.
Beim Kandidatenturnier 1953 in
Zürich, das der Konzertsänger
(!) und spätere Weltmeister
Wassili Smyslow gewann, konn-
te Awerbach den Pianisten (und
seinen späteren Schwieger-
auf.
Awerbach – Taimanow
Sizilianisch
1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4
4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 d6 6.Lc4 e6
7.0-0 a6 8.Le3 Dc7 9.Lb3 Le7
10.f4!?
Marke Bobby Fischer!
10…Sa5 11.Df3 b5 12.e5!? Lb7
13.Dg3 dxe5 14.fxe5 Sh5 15.Dh3
Dxe5? Dieser Bauer war vergif-
Stellung nach 15…Dxe5 tet, wie ein Yuri Awerbach zum
100. Geburtstag gewidmetes
Sonderheft des Kulturellen
Schachmagazins Karl zeigte.
16.Lxe6!! fxe6.m Schwarz ist
verloren. Auch 16…0-0 17.Tf5 Sf4
18.Txe5 Sxh3+ 19.Lxh3! mit Figu-
rengewinn hätte nicht gerettet.
17.Sxe6. Weiß droht sowohl
18.Ld4 als auch 18.Dxh5+! Trotz
einstündigen Nachdenkens
fand Taimanow keine Rettung,
z.B. 17…Sf6 18.Lf4! mit Damen-
Stellung nach 17…Lc8 fang! 17…Lc8. 18.Dxh5+! Dieser
taktische Schlag gewinnt.
sohn) Taimanow mit einem 18…Dxh5 19.Sxg7+ Kd7
„Furioso“ überfahren – übri- 20.Sxh5.m Der Rest war Ago-
gens traten Taimanow und nie, im 36. Zug setzte Awerbach
Smyslow als Musiker (!) damals matt.

BRIDGE
Schnellschuss
MIT ROBERT BOEDDEKER

Getreu dem Motto „Haben ist Coeur und ein Treff ab. Süd
besser als brauchen“ stürzte ♠ KD3 setzte mit Karo zu ♦K und Osts
sich Ost sofort auf jeden Stich, ♥ KD82
♦ K4
Ass fort. Ost brachte Coeur, Süd
den er gewinnen konnte. Doch ♣ AB93 stach, ging mit Treff zum Tisch,
die Partnerschaft brauchte vier ♠ B98 N ♠ 2 spielte Karo. Ost setzte ♦D ein,
♥ 65 W O ♥ A B 10 9 4
Stiche, hatte am Ende nur drei. ♦ 852 ♦ AD97 damit hatte Süd gewonnen.
♣ S ♣ K74
Nord eröffnete 1♣, Ost bot 1♥, D 10 6 5 2
Bleibt Ost klein, kann Süd zwar
♠ A 10 7 6 5 4
Süd 1♠ (zeigte vereinbarungsge- ♥ 73 ♦10 nach Hause bringen, muss
mäß mindestens eine Fünfer- ♦ B 10 6 3 dann aber von ♦B,6 in Osts
♣ 8
länge), Nord ging begeistert auf ♦D,9 antreten.
4♠, alle passten. Teiler: Nord, Gefahr: Keiner Aufgabe für den 23.10.22:
Dass Nords Coeurwerte nicht Können Sie auf Süd 5♣ erfüllen?
ihre volle Wirkung entfalten Aufgabe West greift mit ♦K an.
würden, war nach der Reizung ♠ B93 Lösung der Aufgabe vom
keine Überraschung. West ♥ D42 16.10.22: Süd sticht, geht mit DUGENA verlost 2 x das neue Uhrenmodell VENTO. Es vereint ein maskulines Design mit robustem Edelstahl
und lebendigen Highlights. Ein absoluter Eyecatcher ist das raffinierte Zifferblatt mit Strukturmuster und
♦ 6
spielte Coeur aus, ♥D vom ♣ AB9763 Trumpf zum Tisch, schnappt
die geriffelte Lünette. So kann die VENTO je nach Geschmack lässig oder chic kombiniert werden.
Tisch, Ost gewann mit ♥A, setz- ♠ 10 5 N ♠ KD86 Karo, zieht zwei Runden
♥ ♥ KB93
K D 10 9 5 4 3 W O ♦ B 8 7 2
10 7 5
te mit ♥B fort, ♥K machte den ♦ Trumpf. Er setzt mit Coeur SO SPIELEN SIE MIT:
♣ S ♣ 2 Nennen Sie das Lösungswort per Telefon: 01379-560 056 (0,50€/Anruf aus allen deutschen Netzen) oder Sie
Stich. Würde Süd seine weite- 4
zum König fort, trumpft aber-
♠ A742 senden eine SMS mit folgendem Text an die 40400 (0,50€/SMS): Rätsel, Lösung, Name, Anschrift
ren Verluste auf zwei Karosti- ♥ A86 mals Karo, kassiert seine Stiche
che beschränken können, wäre ♦ A in den Oberfarben. West muss Teilnahmeschluss ist am 28.10.2022 um 24 Uhr. Rechtsweg und Barauszahlung sind ausgeschlossen.
Das Lösungswort in Nr. 40 hieß: Sauerteig
♣ K D 10 8 5
er fein raus. Er startete mit drei entweder die Deckung in Treff Je einen Akku-Kompressor von RYOBI haben gewonnen: Anne Paff, Jülich; Wolfgang Zöllner,
Runden Trumpf, Ost warf ein Teiler: Süd, Gefahr: Keiner oder Karo aufgeben. Bietigheim-Bissingen. www.dugena.de

IMPRESSUM Geschäftsführender Redakteur: Thomas Exner

Verleger AXEL SPRINGER (1985 †)
Herausgeber: Stefan Aust
Chefredakteure: Dr. Ulf Poschardt;
Dagmar Rosenfeld
Stellvertreter des Chefredakteurs:
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DAS GESPRÄCH
D
WELT AM SONNTAG NR. 43
Der Wilde Westen ist auch nicht mehr das,
was er mal war. In dem neuen „Lucky Luke“-
Comic „Rantanplans Arche“ (erscheint am
4. November) werden Falschspieler jeden-
falls nicht mehr wie sonst üblich „geteert
und gefedert“ aus der Stadt gejagt. Aus
Rücksicht auf die Hühner werden geteerte
Schurken künftig nur noch mit Blättern ge-
spickt. Das alles ist Folge der Radikalisie-
rung eines Tierschützers, der, zu unverhoff-
ter Macht gekommen, mit Desperados ge-
gen Rinderbarone und Fleischesser im All-
gemeinen in den Kampf zieht. Für Lucky Lu-
ke, diesen ebenso coolen wie vernunftge-
steuerten Cowboy, gibt es viel zu tun.
VON MARTIN SCHOLZ
Der französische Comic-Autor Julien Lu-
cien Berjeaut, bekannt unter seinem Künst-
lernamen Jul, teilt in dieser Westernsatire
nach allen Seiten aus. Ausgehend von real
existierenden Tierschützern in den USA
des 19. Jahrhunderts, würzt er diese Ge-
schichte mit Zutaten aus hitzigen Debatten
der Gegenwart, macht sich lustig über Ve-
ganer wie Fleischfetischisten. Wenn man so
will, ist diese Story ein Update der bereits
1965 erschienenen „Lucky Luke“-Geschich-
te „Stacheldraht auf der Prärie“. Damals
stellten Zeichner Maurice De Bevere alias
Morris sowie Texter René Goscinny noch
die Viehzüchter als raffgierige Schurken
und die Gemüse anbauenden Farmer als die
uneingeschränkt Guten dar. Heute ist die
Welt komplizierter. Sie muss deshalb nicht
weniger komisch sein, findet Jul, als er sich
per Videoschaltung aus seiner Wohnung in
Paris zum Interview meldet.
WELT AM SONNTAG: In dem neuen „Lu-
cky Luke“-Comic machen Sie sich über
radikale Tierschützer und Vegetarier im
Wilden Westen lustig. War es humoristi-
sche Schwerstarbeit, sich in Zeiten von
woken Shitstorms zu überlegen, welche
Gags man dazu machen kann und welche
lieber nicht?
JUL: Schauen Sie, „Lucky Luke“ ist das Ge-
gengift zu Twitter und Social Media. Wa-
rum? Weil die Comic-Serie sehr ausgewo-
gen ist. Sie spricht nach wie vor alle Gene-
rationen, alle gesellschaftlichen Klassen an,
vom Fabrikarbeiter bis zum Börsenmakler,
alle lesen „Lucky Luke“. Es ist heute sehr
selten geworden, dass Werke der Populär-
kultur nicht von künstlicher Intelligenz
und Big Data formatiert sind, um den Soci-
al-Media-Blasen mit ihren Geschmäckern
und Meinungen zu entsprechen. „Lucky
Luke“ schafft es nach wie vor, Kinder, El-
tern und Großeltern um einen Tisch zu ver-
sammeln, sie alle lesen diese Comics –
selbst wenn sie zu gesellschaftlichen Ent-
wicklungen nicht einer Meinung sein soll-
ten. Als Autor der Reihe ist es für mich ei-
nerseits wichtig, an die klassischen Ge-
schichten mit ihrer Mischung aus Humor
und Action anzuknüpfen. Andererseits ha-
be ich für die Serie, seit ich sie als Autor
übernahm, immer wieder gesellschaftlich
relevante Themen gewählt, derentwegen
sich die Leute angeschrien haben – und
zwar zu Zeiten des Wilden Westens wie
auch heute, auch wenn der Kontext der Ge-
genwart natürlich ein anderer ist.
In „Das gelobte Land“ erzählten Sie erst-
mals in einem „Lucky Luke“-Comic die
Geschichte jüdischer Siedler im Wilden
Westen, Sie schilderten Probleme der
Migrationspolitik zwischen den USA und
Mexiko, und in „Fackeln im Baumwoll-
feld“ stellten Sie Lucky Luke im Kampf
gegen den Ku-Klux-Klan den afroameri-
kanischen Hilfsmarshall Bass Reeves zur
Seite, eine historisch verbürgte Figur.
Ja. Nun könnte man einwenden, dass die
Themen des neuen Albums – Tierschutz,
fleischlose Ernährung oder die Jagd – im
Vergleich zu Rassismus oder Religionsfra-
gen eher leichtgewichtig seien. Weit ge-
fehlt. Denn inzwischen wird darüber so er-
bittert gestritten, dass man gar nicht mehr
darüber diskutieren kann. Daher habe ich
versucht, Protagonisten mit völlig entge-
gengesetzten Standpunkten, die durchaus
legitim sind, einander gegenüberzustellen.
So hinterfragt man sich beim Lesen: „Wo
stehe ich eigentlich? Auf der Seite der Vieh-
züchter und Rodeo-Betreiber, die Kühen
Brandzeichen in die Haut brennen? Oder
sympathisiere ich mit dem Tierschützer?
Würde ich so rabiat gegen den Tiermiss-
brauch vorgehen, wie es seine veganen
Gangster tun?“
23. OKTOBER 2022 SEITE 60
Das sind von dem Tierschützer angeheu-
erte fiktive Desperados namens Quinoa
Bob, Tofu Sam, Carott Jim oder Straw-
berry Susan. Die verstehen ja nun gar kei-
nen Spaß, tyrannisieren alle Fleischesser,
drohen sogar, sie aufzuhängen.
Aber Lucky Luke ist ja immer zur Stelle, um
das Schlimmste zu verhindern und auszu-
gleichen. Zunächst schützt er den Tier-Ak-
tivisten, als dieser bedroht wird. Als dieser
Vertreter einer Minderheit dann zu viel
Macht bekommt, wird aus diesem Vertreter
einer an sich gerechten Sache ein Diktator,
ein Tyrann. Die Botschaft ist: Man darf In-
teressen nie mit Gewalt durchsetzen.
Aus Cattle Gulch wird im Comic Veggie
Town. In Deutschland hatten die Grünen
mal eine ähnliche Vision, als sie einen
Veggie Day einführen wollten. Haben Sie
sich auch von solchen Debatten inspirie-
ren lassen?
Die Grünen in Deutschland sind den Grü-
nen in Frankreich ja seit jeher eine Genera-
tion voraus. Sie sind die Pioniere. Mich hat
bei dieser Geschichte etwas Grundsätzli-
ches fasziniert: Wann immer Menschen
zum Extremen neigen – ganz gleich, ob sie
nun Tierschützer oder Jäger sind – eignen
sie sich gut für eine dramatische Geschich-
te. Weil man an ihnen entlang die Frage
erörtern kann, wie weit man gehen kann.
Für eine humorvolle, zugespitzte Geschich-
te musste man die Wesenszüge solcher
Leute in der Regel noch etwas übertrieben
darstellen. Angesichts der extrem verbisse-
nen Debatten zu solchen Themen ist das
inzwischen gar nicht mehr nötig. Weil sich
diese Menschen schon in der Realität wie
Karikaturen benehmen.
Viele Verlage heuern inzwischen „sensiti-
vity reader“ an, externe Lektoren, die
Manuskripte und Gags auf politische
PHILIPPE MATSAS/ LAIF
Korrektheit hin überprüfen. Gibt es das
inzwischen auch bei „Lucky Luke“?
Nein, im Allgemeinen vertrauen mir der
Verlag und die Erbengemeinschaft von „Lu-
cky Luke“-Schöpfer Morris. Bisher haben
sie mich noch nie gebeten, etwas zu ändern
oder nicht zu machen. Nun antizipiere ich
allerdings auch mögliche Probleme, die
entstehen könnten. In diesem Album bei-
spielsweise gibt es eine Szene, die, nun ja,
ein bisschen schockierend ist.
Als Jolly Jumper, Pferd und getreuer Ge-
fährte von Lucky Luke, ange-
schossen wird.
Ich war selbst schockiert, als
ich mir das ausdachte: Dieses
ikonische Pferd, das eigent-
lich unsterblich ist, anzu-
schießen – das ist ein Tabu. Es ist
ein bisschen so, als würde man
Gott töten, im Kontext dieser
Comicserie wirkt das fast
blasphemisch. Also fragte ich vorher
den Verlag, die Morris-Erbengemein-
schaft und auch den Zeichner Achdé: „Ist
euch das zu extrem?“ Nein, sagten sie alle,
die Szene sei im Kontext der Geschichte
gut eingebettet. Also haben wir es gemacht.
Sie haben mal gesagt, Sie fühlten sich
schon immer zu Themen hingezogen, die
als schwierig gelten. Ist das Ihre Methode
geworden, diese mehr als 75 Jahre alte
Comic-Reihe im Funny-Stil relevant zu
halten, indem Sie stets nach verbinden-
den Themen suchen, die im Wilden Wes-
ten wie heute für Debatten sorgten?
Es ist nicht die einzige Art und Weise, das
zu machen. Natürlich erreicht man auf die-
se Weise auch Leser, die eben nicht nur
Fans von Comics oder „Lucky Luke“ sind.
Aber oft sind es auch eher kleine, subtile
Änderungen, die Lucky Luke in meinen Ge-
schichten moderner wirken lassen. In mei-
ner ersten Geschichte „Das gelobte Land“
beispielsweise war er dicker geworden – so
sehr, dass ihm der Knopf von der Hose
platzte. Das war in 75 Jahren zuvor nie pas-
siert. In „Ein Cowboy in Paris“ wird er see-
krank und muss sich übergeben. Nie zuvor
hatte man Lucky Luke kotzen sehen. Und
in meinem letzten Album „Fackeln im
Baumwollfeld“ sieht man zum ersten Mal,
wie Figuren auf die Toilette gehen – in die-
sem Fall die Daltons. Als sein Pferd ange-
schossen wird, weint Lucky Luke, er stellt
sich und seine Haltung auch mal infrage.
Das alles sind nur kleine Details, nimmt
LUCKY COMICS @2022/ STORY HOUSE EGMONT
JUL
Lucky Luke ist
asexuell, also
ultramodern
Der französische Comicautor Jul hat den Klassiker „Lucky Luke“
modernisiert. Der Cowboy kämpft jetzt gegen radikale
Tierschützer. Ein Gespräch über vegane Gangster,
Indianer und angeschossene Ikonen
Jul
Comic-Autor
Seit 2016 verfasst der am 11. April 1974 im französischen
Maisons-Alfort geborene Julien Lucien Berjeaut alias Jul
die Texte zu den Abenteuern des von Hervé Darmenton
(bekannt unter dem Künstlernamen Achdé) gezeichneten
Comic-Cowboys Lucky Luke. Die ersten Geschichten der
Reihe erschienen 1946. Ausgedacht hatte sie sich der
Belgier Maurice De Bevere alias Morris. Nach dessen Tod
2001 übernahm Achdé die Reihe, zunächst mit unter-
schiedlichen Textern. Jul wurde im März 2017 mit dem
nationalen Verdienstorden Frankreichs ausgezeichnet.
Schockmoment:
In dem neuen Album
„Rantanplans Arche“
sieht man Lucky Luke
auch mal, wie er die
Fassung verliert
man die Verknüpfung von historischen wie
aktuellen relevanten Themen hinzu, wirken
die Figuren plastischer, körperlicher. Es
sind nicht nur Silhouetten.
Es gibt eine Konstante: Bis heute ist Lu-
cky Luke eine asexuelle Figur geblieben,
die sich weder für Männer noch für Frau-
en interessiert. Wird sich das je ändern?
Warum eigentlich nicht? Wobei, es gab ja
mal ein Album namens „Die Verlobte von
Lucky Luke“, da wird zumindest mit dem
Gedanken gespielt, wie es wäre, hätte Lu-
cky Luke eine Verlobte – die er ja dann
nicht wirklich hat. Stimmt schon, Sexuali-
tät spielt bei ihm keine Rolle, wobei ja gera-
de das heute sehr modern ist. Nehmen Sie
nur die Bezeichnung LGBTQIA+.
Der Begriff für verschiedene sexuelle
Orientierungen, zusammengesetzt aus
den Anfangsbuchstaben der englischen
Wörter Lesbian, Gay, Bisexual, Transse-
xual/Transgender, Queer, Intersexual
und Asexual.
Ja, und Lucky Luke ist asexuell. Man könn-
te sagen: Er entspricht einer Kategorie von
Sexualität, die ultramodern ist. Von Men-
schen, die über Fragen der Sexualität erha-
ben sind, die es schaffen, ihr Leben zu
meistern, ohne eine sexuelle Zuordnung zu
haben. Lucky Luke ist also ein Pionier für
ein Thema, das seit Kurzem in Debatten be-
sprochen wird.
Nun kommen in der neuen Geschichte
auch Indianer vor, die bei Ihnen nach wie
vor Indianer genannt werden. Eindeutig
als diskriminierend empfundene Begriffe
wie Rothäute oder „peaux rouges“, wie es
auf Französisch heißt, sind inzwischen
aus der Comicsprache verschwunden.
Gab es dennoch Momente, in denen Sie
überlegten, ob Sie statt Indianer ameri-
kanische Ureinwohner schreiben sollten?
Das habe ich nie wirklich diskutiert. Ich ha-
be allerdings in diesem Sommer eineinhalb
Monate in den USA auf den Spuren von
„Lucky Luke“-Geschichte verbracht – für
eine Doku-Serie, die auf Arte ausgestrahlt
werden soll. Ich besuchte Orte, die in den
Alben vorkommen. Ich besuchte die Sioux
in South-Dakota, auch die Navaho, wohnte
teilweise bei ihnen. Ich entdeckte eine
sehr komplexe Welt, die ich vorher
so nicht gekannt habe. Ich habe
dabei sehr viel gelernt, vieles war
sehr neu für mich. Beispielsweise sag-
ten sie mir, dass Tipi keineswegs ein
Synonym für Zelt sei, sondern dass
damit eine Behausung an sich ge-
meint sei – oft eben auch ei-
ne Hütte. Was die Begriff-
lichkeit betrifft – Indianer
oder amerikanische Urein-
wohner – haben sich die
Sioux oder Navaho, die ich
traf, mir gegenüber selbst
als Indianer bezeichnet. Im
Anschluss ging es aber immer
um ihre jeweilige Zugehörigkeit –
also, ob sie Sioux- oder Blackfeet-India-
ner waren. In meinen Gesprächen in
den USA mit ihnen war der Begriff
Indianer nie tabuisiert. Ich weiß
aber, dass dies beispielsweise
in Kanada anders ist, wo sich
die Ureinwohner als
„First Nations“ be-
zeichnen.
Haben Sie mit Sioux
und Nahavo auch über
die Darstellung von India-
nern bei „Lucky Luke“ gesprochen?
Ja, ich habe ihnen viele Alben gezeigt. In
den früheren werden ja auch ernste The-
men, wie beispielsweise die Alkoholsucht
vieler Indianer, dargestellt. In den alten Co-
mics ist das ein Klischee, dass Indianer oft
Alkoholiker sind. Fakt ist jedoch auch, dass
Alkoholismus noch heute ein großes Pro-
blem ist; in den Indianerreservaten ist es
daher strengstens verboten, Alkohol mitzu-
bringen. Das Alkoholproblem gibt es natür-
lich auch in anderen Bereichen der Gesell-
schaft. Wir haben über Themen wie diese
gesprochen. Mein Eindruck war, dass sie
die Darstellung von Indianern in den Co-
mics mit Abstand einordnen konnten. Ein
größeres Problem scheint für viele zu sein,
dass sie für weiße Amerikaner nahezu un-
sichtbar geworden sind, dass das weiße
Amerika denkt, Indianer existierten gar
nicht mehr. Vor dem Hintergrund fanden es
zumindest jene, die ich in den USA getrof-
fen habe, gut, dass wir weiter Geschichten
über Indianer erzählen.