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MILITÄRGESCHICHTE

Gleichgewicht des
Schreckens
Das Konzept der Abschreckung

In den aktuellen Analysen zur sicherheitspolitischen Lage in Europa fällt


immer wieder der Begriff »Abschreckung«. Er stammt aus der Zeit des Kalten
Krieges und beschreibt ein System, das einen atomar geführten Dritten
Weltkrieg verhindern sollte. Was versteht man unter Abschreckung und
welche Prämissen müssen erfüllt sein, damit dieses System auch funktioniert?

Von Winfried Heinemann

Amerika Haus/Süddeutsche Zeitung Photo

Symbol des Kalten Krieges: Test einer Atombombe in der Wüste von Nevada, USA, in den 1950er Jahren.

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s war der Anfang einer neuen ums im Bereich der konventionellen Die technische Entwicklung der Bom-
Ära in der Sicherheitspolitik: (also nicht-nuklearen) Waffen zunächst ben ging auf beiden Seiten weiter: Die
Am 6.  August 1945 warf ein US- mit Gelassenheit hin: Ihr Atommonopol Sprengkörper wurden kleiner, leichter,
amerikanischer Bomber eine Atom- garantierte ihnen eine strategische handhabbarer – und viel wirkmächtiger.
bombe über der Stadt Hiroshima ab. Überlegenheit; Stalin würde es auf ei- Einen großen Schritt in die Richtung
Ihre Sprengwirkung entsprach in etwa nen Krieg nicht ankommen lassen. wesentlich gefährlicherer Waffen stellte
13  Kilo­tonnen (KT) TNT-Sprengstoff; die Entwicklung der Wasserstoffbombe
zwischen 20 000 und 80 000 Menschen Atomares Patt 1953/1954 dar, bei der die größte Waf-
starben sofort, weitere zehntausende fenwirkung nicht mehr auf eine Kern-
später an den Folgen der radioaktiven Aber die Geheimhaltung hatte nicht spaltung, sondern auf eine Kernfusion,
Strahlung. ausgereicht: Nicht zuletzt durch den also der Verschmelzung zweier Atome,
Die Amerikaner hatten ihr Projekt zur Verrat von Atomgeheimnissen (etwa zurückging. Unvorstellbare Sprengwir-
Entwicklung der Atombombe unter durch den deutschstämmigen Physiker kungen bis zum Äquivalent von
größter Geheimhaltung vorangetrieben. Klaus Fuchs) gelang es der Sowjetunion, 100 Millionen Tonnen TNT (100 Mega-
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrie- 1949 ihrerseits eine Atombombe zu tonnen) wurden dadurch möglich – das
ges nahmen sie daher die wachsende zünden. Das Zeitalter des »nuklearen Siebentausendfache der Hiroshima-
Überlegenheit des sowjetischen Imperi- Patts« brach an. Bombe. Trotzdem waren die USA zu-

NATO und Warschauer Pakt vor 1990


1 Niederlande
Island 2 Belgien
3 Luxemburg

Fin
4 Liechtenstein

nlan
5 Andorra

en

d
wed
Sch
en
weg
Nor

Kanada

Irland Sowjetunion
Vereinigte Staaten Vereinigtes
von Amerika Königreich
1 Polen
DDR
2
3
BR Tschecho-
Gründungsmitglieder des Deutschl. slowakei
Nordatlantikpaktes (NATO) 1949
Frankreich 4 Österr. Ungarn
Schw.
Beitritt: Griechenland und Türkei 1952, Rumänien
Bundesrepublik Deutschland 1955,
Spanien 1982
Jugoslawien
nicht in die Militärstruktur des 5 Italien Bulgarien
gal

Bündnisses integriert Spanien


Portu

Alb.
Gründungsmitglieder des Türkei
Warschauer Paktes 1955 Griechen-
land
DDR, Beitritt 1956
Albanien, Mitglied des Zypern
Warschauer Paktes 1955 – 61 Malta
© ZMSBw
09258-01

Ähnlichkeiten und Unterschiede

Vordergründig glichen sich die beiden großen Bündnisse des Kalten Krieges, die auf eine gemeinsame militärische Handlungsfähigkeit
und Integration setzten. Für den Warschauer Pakt stand die militärische Dimension jedoch eindeutig im Vordergrund. Die NATO verstand
sich hingegen immer als eine vorwiegend politische Organisation. Dabei spielten auch wirtschaftliche und sogar kulturelle Erwägungen
bei der Formulierung einer gemeinsamen Bündnispolitik eine entscheidende Rolle.

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»O.K. Mr. President, let's

SZ Photo/Süddeutsche Zeitung Photo


talk.« Die Kubakrise brachte
die Supermächte UdSSR
und USA an den Rand einer
Katastrophe, Karikatur aus der
britischen Boulevardzeitung
»Daily Mail«, 1962.

nächst weiter im Vorteil. Sie verfügten einen künstlichen Satelliten in eine wjetische Raketen über den Nordpol in
nicht nur über mehr Sprengköpfe, sie Umlaufbahn brachte, ein Ereignis, das die USA einfliegen; die riesige amerika-
hatten auch die besseren Voraussetzun- als »Sputnik-Schock« in die Geschichts- nisch-kanadische Radarkette in der Ark-
gen, nukleare Waffen ins Ziel zu brin- bücher einging. Damit war klar, dass die tis sorgte hier für Vorwarnzeiten, die es
gen. Das einzige Mittel dazu war lange Sowjets innerhalb kurzer Zeit mit Rake- erlaubten, zumindest den Präsidenten
der strategische Bomber. Durch ihre ten auch nukleare Sprengsätze würden an Bord eines Flugzeugs in Sicherheit zu
Bündnissysteme, vor allem den 1949 befördern können  – bis in die USA. bringen.
geschlossenen Nordatlantikvertrag Beide Seiten profitierten bei der Ent- Die Lage drohte sich zu ändern, als die
(NATO), hatten die USA weltweit Stütz- wicklung ihrer Raketen von den Erfah- Sowjetunion 1962 Vorbereitungen traf,
punkte für solche Maschinen bauen rungen der deutschen Wissenschaftler, nuklear bestückte Raketen auf Kuba zu
können: von Grönland über Großbri- die im Krieg mit der V2 eine erste ballis- stationieren. Im Süden der USA gab es
tannien, Marokko (später Spanien), Di- tische Rakete gebaut hatten. Wie schon keine vergleichbare Radarkette und die
ego Garcia im Indischen Ozean und 1944/1945 ging man bis in die 1970er deutlich geringere Entfernung zum
Okinawa (Japan) bis hin nach Alaska. Jahre hinein davon aus, dass es gegen amerikanischen Festland hätte drastisch
Von diesen Basen aus konnten die Bom- eine einmal abgeschossene Rakete keine kürzere Vorwarnzeiten bedeutet. In der
ber der US Air Force vom Typ B-52, der Abwehrmöglichkeit gab. Folge schien auch ein Enthauptungs-
1955 zum ersten Mal zur Truppe kam schlag gegen Washington möglich zu
und heute noch verwendet wird, Ziele Enthauptungsschläge werden. Das war der Grund, weshalb
in allen Teilen der Sowjetunion angrei- US-Präsident John F. Kennedy so scharf
fen. Gleichwohl blieben die USA im Vorteil: reagierte und Kuba blockieren ließ.
1955 schloss die Sowjetunion mit den Sie konnten von ihren Basen aus die So- Beide Seiten schienen bereit zur Eskala-
anderen Staaten des Ostblocks ebenfalls wjetunion aus allen Richtungen angrei- tion; am Ende gelang es, die Krise mit
ein Bündnis, den Warschauer Pakt. Vor- fen, und das mit kurzen Vorwarnzeiten. diplomatischen Mitteln zu entschärfen.
erst waren die Sowjets jedoch nicht in Auch wenn sich das sowjetische Atom- Die USA zogen ihre veralteten Atomra-
der Lage, das Kernland der USA mit waffenpotenzial nicht würde ausschal- keten vom Typ Jupiter aus der Türkei
Bombern zu erreichen. ten lassen: Ein »Enthauptungsschlag« zurück, die Sowjets ihre aus Kuba. Es war
Das alles war schlagartig in Frage ge- gegen die politisch Verantwortlichen die Politik des brinkmanship gewesen  –
stellt, als die Sowjetunion 1957 erstmals schien möglich. Umgekehrt mussten so- die Bereitschaft, bis an den Rand des

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Abgrunds zu gehen, bevor eine der bei-

picture alliance/akg-images|akg-images
den Seiten einknickte.
Die USA und die NATO setzten in den
Jahren ihrer nuklearen Überlegenheit
auf die abschreckende Wirkung der
Atombombe: Der damalige Präsident
Dwight D. Eisenhower erklärte, auf jede
Aggression mit einem massiven Nukle-
arwaffeneinsatz zu reagieren (Massive
Vergeltung).

Von Massive Retaliation zu


Flexible Response

Aber die Berlin-Krise ab 1958 sowie das


sich abzeichnende nukleare Patt zwan-
gen zum Nachdenken. War es glaubwür-
dig, dass die USA ein nukleares Inferno
auslösten, wenn ein kompaniestarker B-52 Stratofotress: Das US-Militär nutzte Langstreckenbomber wie diese Boe-
Konvoi auf den Zugangswegen nach ing als Trägersystem für den Einsatz ihrer Nuklearwaffen.
Berlin bei Magdeburg festgehalten
würde? In der Kubakrise erklärten die
amerikanischen Generale ihrem Prä-
sidenten, im Ernstfall müsse er einem
nuklearen Schlag zustimmen, und dann ropa? Die Massive Retaliation war ein höhere Befehlshaber Nuklearwaffen
würden sie die Sowjetunion inner- Konzept zur Kriegsverhinderung durch ohne eine solche Freigabe einsetzen –
halb von zwei Wochen in die Steinzeit Abschreckung gewesen – war das neue falls eindeutig festgestellt werden
bomben. Was er in dieser Zeit denn tun nicht eher eine Kriegsführungsstrategie? konnte, dass der zentrale Führungsappa-
solle, fragte der Präsident und Oberbe- Andererseits wuchs mit Flexible Res- rat in den USA handlungsunfähig war.
fehlshaber. »Am besten gar nichts«, war ponse die Bedeutung der konventionel-
die Antwort. Aber mit dieser Absage an len Kräfte im Bündnis, und damit das Sichere Vernichtung
die politische Kontrolle des Atomkrie- Gewicht des größten konventionellen
ges war Präsident Kennedy keineswegs Kräftestellers auf dem europäischen Um dies zu verhindern, setzte man
einverstanden. Er begann die westliche Kontinent: der Bundesrepublik. auf die Mutually Assured Destruction
Strategie hin zu einer Flexiblen Antwort (MAD, Gesicherte Zweitschlagsfähig-
(Flexible Response) zu verändern. Erst keit). Die Zielsetzung lautete: Auch
wenn konventionelle Mittel nicht mehr nach einem Überraschungsangriff auf
ausreichten, sollte, politisch gesteuert, die nuklearen Waffensysteme und die
nuklear eskaliert werden – und selbst »Wer zuerst schießt, Führungsstruktur einer Seite würden
dann kontrolliert, stufenweise von nu- der anderen, angegriffenen Seite hin-
klearen Gefechtsfeldwaffen bis hin zu stirbt als zweiter.« reichend einsatzfähige Ressourcen ver-
strategischen Interkontinentalwaffen. bleiben, um dem Angreifer seinerseits
Und in der Tat bewies der Vietnam- vernichtende Schläge zu versetzen.
krieg, in dem sich die USA während der Dafür war es wichtig, redundante Füh-
Kennedy-Jahre immer stärker militä- rungssysteme zu schaffen. Zunächst
risch engagierten, dass weiterhin Kriege Nuklearwaffen sind immer politische wurden Vorkehrungen getroffen, den
unterhalb der Nuklearschwelle möglich Waffen. Selbst der Einsatz eines einzel- US-Präsidenten als den Oberbefehlsha-
waren. nen taktischen atomaren Sprengkopfs ber der Streitkräfte jederzeit in Sicher-
Die europäischen Partner, gerade auch für eine 155-mm- oder 203-mm-Haubitze heit bringen zu können. Dass Präsident
die Bundesrepublik, standen dem Kon- bedurfte und bedarf seit der Ära Kennedy Kennedy immer wieder seinen Sicher-
zept der Flexible Response anfangs skep- der Freigabe durch den Präsidenten – heitsleuten entkam, um sich mit Frauen
tisch gegenüber: Was, wenn der ameri- eben weil er einen Eskalationsschritt hin zu treffen, war daher ein Problem der
kanische Präsident irgendwann nicht zu einem globalen Atomkrieg darstellen nationalen Sicherheit: Was, wenn eine
weiter eskalierte? War dies der Ausstieg würde. Nur unter ganz eng gefassten Be- von ihnen eine sowjetische Agentin war
der USA aus der Nukleargarantie für Eu- dingungen durften vorher festgelegte und der Präsident im Falle des Falles un-

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auffindbar blieb? Als Kennedy im No- biet, waren sie lange das präziseste deli­ treffen – oder man musste hierzu sehr
vember 1963 ermordet wurde – und very vehicle (Trägermittel). große Nuklearsprengköpfe einsetzen,
auch dahinter hätte ja ein sowjetischer Das war wichtig, weil sich die Abschre- mit allen sich daraus ergebenden Ne-
Agent stecken können –, musste als al- ckung in den 1960er Jahren immer mehr benfolgen.
lererstes Vizepräsident Lyndon B. John- auf Interkontinentalraketen abstützte. In den 1960er Jahren kursierten Ju-
son in ein Flugzeug gebracht und noch Interkontinentalraketen aber brauchten gendbücher über aufregende technische
in der Luft vereidigt werden, damit die feste Startrampen, die dem jeweiligen Errungenschaften. Eines davon behan-
Reaktionsfähigkeit der USA sicherge- Gegner bekannt waren und daher in ei- delte die Fahrt des atomgetriebenen
stellt war. nem Erstschlag bekämpft werden konn- U‑Boots USS  Nautilus, das unter dem
Im März 1981 wurde Präsident Ronald ten. Versuche, solche Raketen auf Eisen- Nordpol hindurchtauchte. Was das Buch
Reagan von einem Attentäter angeschos- bahnwagen beweglich vorzuhalten und nicht verriet: Das Ereignis markierte
sen und schwer verletzt. Außen­minister so ihren jeweiligen Standort zu ver- eine neue Form der Bedrohung der Sow-
Alexander Haig, der danebenstand, re- schleiern, führten zu wenig greifbaren jetunion durch die USA. Ein solches
agierte mit »I’m in charge!« – »Alles hört Ergebnissen. Beide Seiten gingen dazu U‑Boot konnte unter dem Eis hindurch-
auf mein Kommando!« Das stimmte na- über, ihre Raketen in großen unterirdi- fahren, vor der sowjetischen Nordküste
türlich nicht – der Vizepräsident war jetzt schen Silos unterzubringen, die einen auftauchen und von dort mit einer kur-
in charge, aber Haig, dem früheren Vier- weitgehenden Schutz boten und aus zen Vorwarnzeit ballistische Raketen
Sterne-General und NATO-Oberbefehls- denen die Raketen, etwa vom Typ Minu- (Polaris, später Trident) gegen das Kern-
haber Europa, war daran gelegen, dass teman, abgefeuert werden konnten. land der Sowjetunion abfeuern.
sofort ein Entscheidungszentrum für Wollte man wiederum die Silos be- Während der gesamten zweiten Hälfte
den Fall einer Krise bereitstand. kämpfen, war es wichtig, sehr präzise zu des Kalten Krieges hatte die Sowjet-
Die Ausschaltung der gegnerischen
Führung in einem Erstschlag war eine
Möglichkeit, den potenziellen Feind an
einem Zweitschlag zu hindern. Die an-
dere Möglichkeit bestand darin, alle
oder doch sehr viele seiner Waffensys-
teme frühzeitig zu vernichten.

Die Triade

Daher kam es darauf an, die eigenen


Waffensysteme möglichst unverwund-
bar zu machen. Das »klassische« Träger-
system war der Bomber, der aus großer
Höhe einen nuklearen Sprengsatz ab-
werfen sollte, dann aber schnell genug
sein musste, selbst der Waffenwirkung
zu entkommen; schon die »Enola Gay«,
Jim West/imageBROKER/Süddeutsche Zeitung Photo

die Hiroshima bombardiert hatte, war


von der Druckwelle schwer durchge-
rüttelt worden. Bei Wasserstoffbomben
stellte sich das Problem noch viel stär-
ker.
Andererseits waren Langstrecken-
bomber zunächst einmal kaum durch
einen Überraschungsangriff auszuschal-
ten – zumindest so lange, wie ständig
einige nuklear bestückte Maschinen ir-
gendwo im Luftraum über den USA
kreisten. Zugleich wurde es angesichts
der verbesserten Luftabwehrsysteme
immer schwieriger, solche Bombenflug- Nach dem Ende des Kalten Krieges deaktiviert: Eine Minuteman II-Rakete
zeuge bis über das Ziel durchzubringen. in einem unterirdischen Silo, National Historic Site, Cactus Flat, South
Waren sie aber einmal über dem Zielge- Dakota, USA.

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Neue Form der Bedrohung:


sowjetische Mittelstreckenra-
kete vom Typ SS-20, 1987.

picture alliance/ITAR-TASS|ITAR-TASS

union bei den Interkontinentalraketen Das klingt nach einer Zersplitterung der weshalb fast nie sowjetische Raketen-
einen erheblichen Vorsprung, wogegen Kräfte, bedeutete allerdings auch min- U‑Boote im offenen Atlantik operierten:
die USA bei den seegestützten Raketen destens zwei voneinander unabhängige, Zu groß war die Angst der kommunisti-
überlegen waren. Ein Nachteil der see- wenn auch größenordnungsmäßig sehr schen sowjetischen Führung, ein sol-
gestützten Raketen war allerdings, dass unterschiedliche Entscheidungszent- ches U-Boot könnte sich der Kontrolle
sie eher ungenau in der Nähe des Ziels ren. Dies konnte den Abschreckungs- entziehen; bei den von den Sowjets prä-
detonierten, vor allem deshalb, weil sich wert erhöhen. ferierten landgestützten Waffensyste-
der genaue Standort des U-Boots beim Überhaupt war das Wichtige an den men war diese Gefahr geringer.
Abschuss nur schwer bestimmen ließ. Nuklearwaffen, dass sie politischer
Die Entwicklung eines satellitengestütz- Kontrolle unterlagen. 1964 brachte Neue Ungleichgewichte
ten Global Positioning System (GPS) Stanley Kubrick den satirischen Film
sollte dem abhelfen. »Dr. Seltsam, oder wie ich lernte, die Neben den strategischen gab es auch
Bombe zu lieben« heraus, in dem ein kleinere taktische Atomwaffensysteme,
Nukleare Kontrolle Wahnsinniger gezielt den nuklearen die zur Bekämpfung gegnerischer Trup-
Weltuntergang auslöst. Das galt es im penkonzentrationen oder für große
Eine eigene Rolle spielten im westli- realen Leben auf jeden Fall zu Sprengungen (Atomic Demolition
chen Verteidigungssystem Großbritan- vermeiden. Andererseits musste aber Muni­ tions oder Atomminen) gedacht
nien und Frankreich. Beide besaßen sichergestellt sein, dass die verbleiben- waren. Auch sie unterlagen der politi-
und besitzen Nuklearwaffen: Die bri- den Atomwaffen auch dann noch einge- schen Kontrolle, weil man allgemein
tischen Bomben und Polaris-Raketen setzt werden konnten, wenn die politi- davon ausging, dass die Entscheidung
waren amerikanischer Bauart; London sche Führung ausgeschaltet worden war zu ihrem Einsatz einen Sprung auf der
hatte sich vertraglich verpflichtet, seine – sonst wäre das eine Einladung zum Eskalationsleiter bedeutete und die
Zielplanung eng mit Washington abzu- Erstschlag gewesen. Welt dem »großen« Nuklearkrieg nä-
stimmen – hier besaßen die USA also Die Freigabeverfahren für Nuklearwaf- herbringen konnte.
einen erheblichen Einfluss. Frankreich fen sind bis heute in Ost und West streng In den späten 1970er Jahren ging die
dagegen hatte seine Atomwaffen selbst geheim und in Teilen nicht einmal den Sowjetunion dazu über, im europäi-
entwickelt. Französische Bomber, Ra- Verbündeten bekannt. Die weitest­ schen Teil ihres Landes Mittelstrecken-
keten-U‑Boote, Flugzeugträger und die gehende Autonomie haben, soweit man raketen vom Typ SS-20 zu stationieren.
Mittelstreckenraketen in ihren Silos weiß, die Kommandanten von raketen- Sie bedrohten nicht die USA, sehr wohl
auf dem Plateau d’Albion unterstehen bestückten U-Booten. Das aber war aber die europäischen Verbündeten. Das
allein dem französischen Präsidenten. ­während des Kalten Krieges der Grund, warf die alte Unsicherheit im nordatlan-

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tischen Bündnis auf, wie sie schon den lear bestückt die Radarsysteme des War- ben, so hatte die solidarische Haltung
Strategiewechsel zur Flexible Response schauer Pakts unterfliegen und sein Ziel der Bündnispartner dies erfolgreich ab-
begleitet hatte: Konnte man sich auf die im Tiefstflug erreichen konnte. gewehrt.
amerikanische Nukleargarantie wirklich 1987 landete der Deutsche Mathias Hinzu kam, dass der amerikanische
verlassen? Würden die USA mit Inter- Rust, aus Finnland kommend, auf dem Präsident Reagan den Auftrag gab, ein
kontinentalraketen reagieren, wenn die Roten Platz. Wenn das schon einem Abwehrsystem zu entwickeln, das an-
Sowjetunion »nur« die Europäer be- Sportflieger mit einer Cessna gelingen fliegende sowjetische ballistische Rake-
drohte? Der Westen reagierte seinerseits konnte, um wie viel größer musste dann ten abwehren konnte (Strategic Defense
ab 1983 mit der Stationierung von Mit- die Bedrohung durch die oben genann- Initiative, SDI, das unter dem anschauli-
telstreckenraketen vom Typ Pershing-II, ten Marschflugkörper sein. chen Beinamen Star Wars bekannt
die von der Bundesrepublik aus weite wurde). Hätte dies Aussicht auf Erfolg
Teile der europäischen Sowjetunion er- Aus dem Gleichgewicht? gehabt, wäre es ein weiterer Anreiz für
reichen konnten. Das ermöglichte der die sowjetische Führung gewesen, die
NATO eine »vorbedachte Eskalation«: Es schien jetzt plötzlich erneut möglich, USA anzugreifen, solange sich das
Ein sowjetischer Angriff auf europäische die Moskauer Staats- und Parteifüh- Gleichgewicht des Schreckens nicht
NATO-Partner hätte sofort die Zerstö- rung in einem Überraschungsschlag vollends verschoben hatte. Sowjetische
rung sowjetischen Territoriums zur auszuschalten – ein potenziell destabi- Analysten kamen aber recht bald zu dem
Folge gehabt. lisierender Gedanke. Letztlich gelang zutreffenden Schluss, dass SDI techno-
Der Westen verfügte aber zusätzlich es der NATO dadurch, das nukleare logisch noch lange unausgereift bleiben
über ein technologisch völlig neues Sys- Gleichgewicht in Europa wiederherzu- und damit keine Bedrohung darstellen
tem: den Marschflugkörper oder Cruise stellen, das die Aufstellung sowjetischer würde.
Missile. Dabei handelte es sich um ein SS-20-Raketen erheblich gestört hatte. Langfristig aber waren die Sowjet-
computer- und radargesteuertes unbe- Wenn die sowjetische Führung ver- union und ihre im Warschauer Pakt zu-
manntes Flugzeug von erheblicher sucht hatte, zwischen die USA und ihre sammengeschlossenen Partner dem
Reichweite, das konventionell oder nuk- europäischen Partner einen Keil zu trei- Westen technologisch unterlegen. Auf

Reichweiten der SS-20 Mitgliedstaaten NATO


Staaten des Warschauer
Paktes
sonstige Staaten
Versorgungsbasen
SS-20
0 500 km Stationierungsräume
SCHWEDEN SS-20
FINNLAND
Ural Grenzen der
Sowjetrepubliken 200 km
NORWEGEN Krasnojarsk
SOWJETUNION

Novosibirsk
MOSKAU Tschita
DÄNE- Ufa
MARK Reichweite der
amerikanischen -20
SS 1800 km
IRLAND
GROSS- „Pershing 2“ d er
BRITANNIEN NIEDER- ite
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B. SS
L. ČSSR der
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REICH RUMÄNIEN
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ITALIEN BULGARIEN
CHINA
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PORTUGAL

SPANIEN
GRIECHEN-
LAND TÜRKEI

SYRIEN IRAN A F G H A N I STA N


TUNESIEN LIBANON
IRAN
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IRAK
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ISRAEL
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A

ALGERIEN NIEN
M

INDIEN
IS

© ZMSBw
K
PA

Quelle: Memorandum of Understanding


zum INF-Vertrag vom 8.12.1987.
LIBYEN ÄGYPTEN SAUDI ARABIEN 09260-01

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Geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen 1983-1987


SCHWEDEN
DÄNE-
VEREINIGTES MARK
IRLAND Pershing II
KÖNIGREICH
96
Molesworth 48
64
Cruise SOWJETUNION
Greenham Common 1 Missile
Woensdrecht BRD DDR POLEN
Florennes 2 Wüschheim
3 Neckarsulm
Schwäbisch Gmünd TSCHECHO
96 48 Neu-Ulm SLOWAKEI
ÖSTER-
36 4 REICH
S. UNGARN
FRANKREICH
RUMÄNIEN
36
36
JUGOSLAWIEN
PORTUGAL
5 ITALIEN BULGARIEN
SPANIEN
1 NIEDERLANDE ALB.
2 BELGIEN TÜRKEI
3 LUXEMBURG GRIECHEN-
4 LIECHTENSTEIN
LAND
5 ANDORRA

Comiso
112
MALTA ZYPERN © ZMSBw
Quelle: Globus-Grafik 4769, 1984. 09259-01

dessen Fähigkeit, einen sowjetischen Es mag seltsam klingen, aber das Sys- ten waren nicht verrückt, und auch die
Überraschungsangriff abzuwehren und tem der gegenseitigen Abschreckung Führer der Kommunistischen Partei der
danach die Heranführung der zweiten hatte eine strenge innere Logik. Der Sowjetunion handelten rational. Weil
strategischen Staffel aus der Tiefe der amerikanische Politiker und Sicher- das gegeben war, blieb es bei der gegen-
Sowjetunion wirkungsvoll zu behin- heitsexperte Strobe Talbott schrieb ein seitigen Bedrohung und kam es nie zum
dern, hätte Moskau nur noch mit einer Buch, das auf Deutsch unter dem Titel Atomkrieg.
weiteren Steigerung seiner Rüstungsan- »Raketenschach« herauskam.
strengungen reagieren können, wozu Solange beide Seiten rational handel-
die Volkswirtschaften der sozialistischen ten, musste ihnen klar sein, dass es in Oberst a.D. Dr. Winfried Heinemann
Staatenfamilie nicht mehr in der Lage einem Atomkrieg keine Gewinner ge- ist Honorarprofessor an der Brandenbur­
waren. ben kann: »Wer zuerst schießt ...« Das gisch Technischen Universität Cottbus.
1987 unterzeichneten die USA und die System war also darauf ausgerichtet, ei- Seine Forschungsschwerpunkte sind die
Sowjetunion den INF-Vertrag. Mit ihm nerseits die Eskalation bis hin zum Nuk- Militärgeschichte des Warschauer Pakt
begann die letzte Phase des Kalten Krie- learkrieg als glaubwürdige Abschre- und der NATO sowie der militärische
ges, die mit dem Zusammenbruch der ckung vorzubereiten, andererseits aber Widerstand zur Zeit des Nationalsozia­
Sowjetunion 1991 endete (siehe den eine solche tatsächliche Eskalation lismus.
Beitrag »Beginn einer neuen Ära«). durch politische Kontrolle und techni-
sche Vorkehrungen zu verhindern. Literaturtipps
Ist MAD verrückt? Entscheidend war, dass beide Seiten Odd Arne Westad, Der Kalte Krieg. Eine Welt­
rational handelten. Der kommunisti- geschichte, Stuttgart 2019.
Natürlich hatten viele schnell bemerkt, schen Führung in Moskau unterstellte John Lewis Gaddis, Der Kalte Krieg. Eine neue
dass das Kürzel für das Gleichgewicht man das im Westen implizit. Was immer Geschichte, München 2007.
des Schreckens, MAD, gleich dem engli- über den Kommunismus kritisch zu sa- Militärgeschichte. Von der Frühen Neuzeit bis
schen Wort für »verrückt« war. War also gen ist: Er ist eine in sich geschlossene, in die Gegenwart. Hrsg. von Michael Epken­
das alles so verrückt wie Dr. Seltsam aus intellektuell anspruchsvolle Weltan- hans und Frank Hagemann, Braunschweig
dem Film? schauung. Die Spitzenpolitiker im Wes- 2021, S. 460–486.

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