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Dänemark dkr 74,95 Frankreich € 7,70 Italien € 8,20 Norwegen NOK 125,– Portugal (cont) € 7,50 Slowakei € 7,70 Spanien € 7,70 Tschechien Kč 236,– Printed in Germany

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Werkstatt
Warum viele

Schock in der
GEFLÜCHTETE

Kasia Lenhardt
keinen Job haben

JÉRÔME BOATENG
Neue Vorwürfe im Fall
DENKEN
WAS BABYS
Hirnforscher entschlüsseln das Geheimnis der Intelligenz
DEUTSCHLAND
Nr. 12 | 16.3.2024
€ 6,40
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HAUSMITTEILUNG

Titel  | Seiten 86, 92, 94

Wohl alle Eltern halten ihren Nachwuchs für ungewöhnlich


begabt. Zu Recht, wie die Titelautorinnen Julia Koch und
Katrin Binner / DER SPIEGEL

­Veronika Hackenbroch – Mütter von insgesamt vier Kin-


dern – von Entwicklungspsychologen, Neurowissenschaft-
lern und Anthropologen lernten. »Babys können, wissen und
verstehen mehr, als lange vermutet wurde«, sagt Koch. Mit
ihrer Kollegin Katja Thimm lauschte sie den Aufnahmen von
Säuglingsgeschrei. Hackenbroch erhielt die Lösung auf ein
Rätsel, das sich ihr vor 19 Jahren stellte. Ihre ungeborene Tochter trat damals genauso oft zurück,
wie Hackenbroch während der Schwangerschaft auf ihren Bauch drückte. Kein Zufall: Wie For-
scher herausfanden, haben Kinder schon vor der Geburt ein Verständnis für Zahlen bis vier.

Sri Lanka | Seite 46

Als Redakteur Stefan Schultz (r.) zur Schuldenkrise des Globa-


len Südens recherchierte, wegen der seit 2020 rund 165 Millio-
nen Menschen verarmten, musste er an eine Geschichte von los
Antoine de Saint-Exupéry denken. Der französische Schriftstel- Kosten
testen

Noi Crew / DER SPIEGEL


ler beschreibt, wie er in der Bahn ein Kind von Wanderarbei-
tern beobachtet und sich fragt, ob da nicht ein potenzieller
­Mozart vor ihm sitze, der jedoch nie mit Musik in Berührung
kommen werde. In Sri Lanka begegneten Schultz und
­ PIEGEL -Mitarbeiter Susitha Fernando (l.) die Geschwister
S
Dhanush ­Kumara Madhushanka und Udeni ­Kumari, die fast Flexibles Weiterbilden mit staatlich
­alles verloren, seit der Staat pleiteging. Selbst Vater und Mutter ließen die beiden im Stich. ­Udeni, anerkannten Zertifikatskursen
26, wirkt blitz­gescheit; in einem anderen Teil der Welt hätte sie wohl viele Chancen. Dhanush,
17, scheint kaum noch an sich und seine Zukunft zu glauben. »Es heißt, jedes Leben sei lebens-
wert«, sagt Schultz. »Aber manche Leben scheinen weniger zu zählen.«

Israel | Seite 62
ChatGPT
Am 7. Oktober fielen die Hamas und andere Terrorgruppen über mehr als ein Dutzend Orte rund professionell
nutzen
um den Gazastreifen her, im Kibbuz Kfar Aza töteten sie 63 Menschen und entführten 19 weitere.
Wie gehen die Über­lebenden mit der Erinnerung um? Ist neues Leben da möglich, wo so viele star-
ben? Reporterin Juliane von Mittelstaedt und Fotograf Amit
Shabi besuchten ein Paar, das wieder in Kfar Aza wohnt – als
einzige Bewohner. Der Gazastreifen liegt nur zwei Kilometer
entfernt, dort wird gehungert und gekämpft, man hört Explo-
Eine Auswahl der Inhalte:
sionen. Von Kfar Aza aus gesehen wirkt der Krieg seltsam nah
Amit Shabi / DER SPIEGEL

und fern zugleich. Im Kibbuz traf Mittelstaedt auch Yuri Levin,


+ Was ist ChatGPT?
der den Terroristen knapp entkam und wie viele andere frühe- Einflussfaktoren und Grenzen
re ­Bewohner mit der Frage ringt, ob er hier wieder leben kann. + Chain of Thoughts &
»Die Rückkehr ist gewissermaßen eine nationale Mission«, sagt
sie. »Das macht die Entscheidung für viele so schwer.« fortgeschrittenes Prompting
+ ChatGPT: ADA –
Boateng | Seite 80
Advanced Data Analysis
Vor drei Jahren nahm Kasia Lenhardt, die Ex-Freundin des Fußball- + Datenschutz & Ethik
stars Jérôme Boateng, sich das Leben. Der SPIEGEL -Podcast »NDA:
Die Akte Kasia Lenhardt« geht dem Fall nach. Ein Team um
Maike Backhaus und Nora Gantenbrink wertete Akten aus, Zeugen-
aussagen, technische Geräte, klinische Befunde und mehr als
Gene Glover / DER SPIEGEL

25 Stunden Sprachnachrichten. Die Journalistinnen stießen auf neue


Indizien, dass Lenhardt in ihrer Beziehung Gewalt erlebt haben
könnte, was B­ oateng bestreitet. Folge eins des Podcasts ist ab sofort
auf Spotify, Apple Podcasts oder Amazon Music zu hören. Abon-
nenten von ­S PIEGEL + haben bereits Zugriff auf die ersten fünf
­Folgen: spiegel.de/nda.
Alle Kurse und Infos
Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 3 akademie.spiegel.de
INHALT TITEL

86 | Psychologie Wie Kinder


ihren Verstand entwickeln
DER SPIEGEL 78. Jahrgang | Heft 12 | 16.3.2024
92 | Förderung Tipps für Eltern
und Großeltern

94 | Sprache SPIEGEL -
Gespräch mit der Anthropologin
Kathleen Wermke über
die Bedeutung von Babylauten

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel Olaf Scholz ist


besser als sein Ruf

8 | Verfassungsschutz sieht
Schwerpunkt der »Identitären«
in Baden-Württemberg / Drogen­
beauftragter mahnt zur Eile

Anne-Sophie Bost / PhotoAlto / Getty Images


bei Cannabislegalisierung / Mas-
kenmillionärin ­Andrea Tandler
soll bei der Steuer getrickst
­haben / Die Gegendarstellung

12 | Soziale Medien Wie


die Politik auf TikTok um junge
Wähler kämpft

15 | Konzerne Der Grüne Kon­


stantin von Notz fordert härtere

Kleine Genies Regeln für Onlineplattformen

16 | Verkehr Die Wasserstoff-


Affäre setzt Minister Volker
TITEL Schon Säuglinge können Stimmen und Gesichter auseinanderhalten und Wissing zu
haben ein Grundverständnis von Mengen, sie versetzen sich in andere hinein
17 | Warum Bahnfahren wohl
und weinen in der Melodie ihrer Muttersprache. Wie bilden sich diese verblüffenden noch teurer wird
Fähigkeiten, wie lassen sie sich fördern? | 86, 92, 94
18 | Innere Sicherheit Vor
der Fußball-EM sind deutsche
Behörden nervös

20 | Finanzen Der Haushalt


2025 wird zur Schicksalsfrage
für die Ampel

21 | Diplomatie Ministerin
Sthanlee B. Mirador / Sipa USA / ddp images

­Annalena Baerbock ver­sucht,


den Kanzler in der Taurus-
Debatte umzustimmen

22 | Migration Hundert­-
tau­sende Geflüchtete sind ohne
Thomas Pirot / laif

Job – warum arbeiten sie nicht?

26 | Expertin Bettina Offer


Privat

über die Hürden für ausländische


Fachkräfte
Nicolas Cage Valentina Cafolla Marlene Engelhorn
In seiner Villa in Las Vegas er- Die Extremsportlerin taucht Über 25 Mil­lionen Euro hat die 29 | Studium WHU-Studenten
zählt der Schauspieler von Krise, 140 Meter weit unter dem Eis Wienerin geerbt. Jetzt will sie klagen über erniedrigende
Kontrollverlust und Kunst. | 104 mit nur einem Atemzug. | 78 das Geld verschenken. | 54 Saufrituale

4 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
32 | Krankenhäuser Die Staats- 72 | Italien Die Marien­
anwaltschaft ermittelt gegen Ärzte erscheinungen von Trevignano
des Klinikums Friedrichshafen

34 | Gefühle Ein Single-Mann SPORT


sucht jemanden zum Kuscheln
73 | Vierfachsprünge beim Eis-
kunstlauf / Hall of Fame:
REPORTER ­Mika­ela Shiffrin, Skirennläuferin

Ilkay Karakur t / DER SPIEGEL


36 | Familienalbum / Wie 74 | Vereine Machtkampf beim
­verhandelt man mit Erpressern? Fußballzweitligisten Schalke 04

37 | Eine Meldung und 78 | Extremsport Valentina


ihre Geschichte Wieso in Cafolla über ihren Weltrekord im
­Italien Verkehrspolitik mit Apnoetauchen unter dem Eis
­Trenn­schleifern betrieben wird Das Rätsel der offenen Stellen
80 | Justiz Neue Einblicke
Viele Geflüchtete haben keinen Job, dabei suchen zahl-
38 | Geflüchtete Zwei in den Fall Kasia Lenhardt und
reiche ­Handwerksbetriebe, Hotels oder IT-Firmen Mitarbeiter.
ukrainische Basketballer flohen Jérôme Boateng
Was läuft da schief? | 22
nach Deutschland –
und fanden hier den Tod
WISSEN
43 | Kolumne Alles Gutsch
84 | Herzinfarkt durch
Mikroplastik / Analyse: Come-
WIRTSCHAF T back für Biosprit?

44 | Union bleibt allein mit 97 | Geologie Hat der Mensch


Verbrennerliebe / Hohe Spesen ein neues Erdzeitalter geschaffen?
bei Wirtschaftsweisen
100 | Mobilität Die Reparatur­
46 | Armut Wie lebt es sich in anfälligkeit von Elektroautos
Noi Crew / DER SPIEGEL

einem Staat, der pleite ist?

50 | Immobilien Die Misere KULTUR


der landeseigenen Wohnungs-
unternehmen in Berlin 102 | Kafka-Film »Die Herr­
lichkeit des Lebens« / Kölner
54 | Gerechtigkeit SPIEGEL - Schau »Blick in die Zeit« Überleben im Pleitestaat
Gespräch mit der Millionärin
Sir Lanka hat bis in die Pandemie hinein enorme Schulden
Marlene Engelhorn, die ihr Erbe 104 | Kino Oscarpreisträger
­angehäuft. Zwei Geschwister erzählen, was es für
ver­schenken will Nicolas Cage gewährt Einlass in
ihr Leben bedeutet, wenn die Regierung bankrott ist. | 46
sein Zuhause der Extreme
57 | Energiewende Warum der
CO₂-Preis einbricht 108 | Humor Giulia Becker und
Chris Sommer sind »Drinnies«
und unterhalten mit empathischer
AUSLAND Comedy für Introvertierte

60 | Sieg der Gangs in Haiti / 110 | Glossar Die Begriffe


Trump baut die Republikaner zu in der Debatte um den
einem Familienbetrieb um Israel-Palästina-Konflikt und
was sie bedeuten
62 | Israel Rund ein halbes
Jahr nach dem Terror der 112 | Musik Brutalismus 3000
Rebecca Rütten / DER SPIEGEL

Hamas kehren Überlebende ist der erfolgreichste Act


in ihren Kibbuz zurück der ­Berliner Technoszene

67 | Gewalt im Netz Anonyme 115 | Sachbuchkritik Sophia


Täter missbrauchen, bedrohen Fritz’ Essayband über toxische
und demütigen Minderjährige Weiblichkeit
weltweit in Chatgruppen
Brutalismus 3000 bringt die Gen Z zum Raven
70 | Russland Der Historiker SPIEGEL-TV-Programm | 53 Bestseller | 107 Im Studium begannen Theo Zeitner und Victoria Daldas, Techno zu
Impressum, Leserservice | 116
Karl Schlögel über den Putinis- Nachrufe | 117 Personalien | 118
produzieren. Mit ihren Weltschmerzbeats touren sie jetzt ­
mus und die anstehende »Wahl« Briefe | 120 Letzte Seite | 122 weltweit und werden im Internet millionenfach geklickt. | 112

Titelfoto: Kelly Knox / Stocksy United Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 5


Jetzt ist dann auch mal gut
LEITARTIKEL Die Debatte um die Taurus-Lieferung hat Maß und Mitte verloren. Die Entscheidung des Kanzlers
mag falsch sein, aber sie ist legitim. Zeit für ein bisschen Fairness.

Wo früher 80 Millionen Bundestrainer exakt wuss­ten,


wie die Fußballnationalmannschaft zu spielen habe,
sind heute, so wirkt es manchmal, 80 Millionen Militär-
experten am Werk. Auch das ist eben Zeitenwende.
Für die Ukraine ist Scholz’ Entscheidung bitter, aber
ihre Soldaten, die gegen den russischen Ansturm
­kämpfen, brauchten gerade etwas anderes viel dringen-
der als den Taurus: Munition, Munition, Munition.
Beim Taurus wiederholt sich ein Ritual, das die
­deutsche Diskussion über Waffenlieferungen seit zwei
Jahren prägt: Die Ukraine wünscht sich ein bestimmtes
Waffensystem, der Kanzler gibt sich skeptisch bis
­ablehnend, der öffentliche Druck wächst, bis eine Art
­kollektiver Wunderglaube entsteht: Wenn jetzt endlich
diese eine Waffe geliefert wird, dann wird alles gut.
Markus Schreiber / AP So war es beim Flakpanzer, beim Schützenpanzer,
beim Kampfpanzer. All diese Waffen halfen der Ukraine,
aber natürlich wurde nie alles gut, weil dies hier ein Krieg
ist, kein Strategiespiel. Trotzdem verläuft die Debatte um
den Taurus wieder so holzschnittartig. Außer Acht bleibt,
wie viel Deutschland der Ukraine bereits geliefert hat.

S
Kanzler Scholz bei ollte Olaf Scholz der Ukraine Taurus-Marsch­ Der Kanzler hat einiges zum Verlauf der Debatte bei­
Regierungsbefragung flugkörper liefern lassen? Ja, sollte er. Sein Nein getragen. Erst begründete er seine Taurus-Ablehnung
im Bundestag
ist die falsche Entscheidung. gar nicht, dann tat er es in seiner verquasten Art und
Lässt Scholz also die Ukraine im Stich? Wäre er schuld, ließ ein verwirrtes Publikum zurück. Diese Art der
falls sie diesen Krieg verlieren sollte? Und ist er deswegen ­verunglückten Kommunikation zieht sich durch seine
ein schlechter Bundeskanzler? Nein, nein und nein. Kanzlerschaft, Taurus steht da für das große Ganze.
Die Debatte um die Taurus-Lieferung ist verrutscht, Scholz hat es nie wirklich geschafft, sich, sein Handeln
sie hat Maß und Mitte verloren. Es ist an der Zeit, sie und seine Motive verständlich zu machen.
zu ordnen, die Dinge ins Verhältnis zu setzen. Daraus und aus dem dauernden, nervtötenden Streit
Anders gesagt: Jetzt ist dann auch mal gut. in der Koalition ist ein Zerrbild dieses Kanzlers und
Zuerst zum Taurus selbst. Ja, es würde der Ukraine ­seiner Regierung entstanden, das sich in unterirdischen
helfen, wenn sie diese Präzisionswaffe auf ihre Feinde Umfragewerten niederschlägt. Eine Mehrheit der
und deren Infrastruktur richten könnte. Scholz will sie ­Deutschen glaubt offenbar, dass hier die schlechteste
aber nicht liefern, weil, so begründet er es, deutsche Regierung aller Zeiten am Werk ist, die außer Murks
­Soldaten beteiligt sein müssten, wenn die Zielkoordina- und Blödsinn nichts zuwege bringt.
ten eingegeben werden – und Deutschland damit faktisch Und auch hier muss man sagen: Jetzt ist mal gut.
am Krieg beteiligt wäre. Es ist ein gewichtiges Motiv. Diese Regierung ist an vielen Tagen ein Ärgernis, sie
Warum können die Ukrainer die Ziele nicht allein an- hat Erwartungen geweckt, die sie nie erfüllt hat, sie
steuern? Weil Scholz ihnen offenbar nicht zu 100 Prozent hat grobe handwerkliche Fehler gemacht. Sie hat dieses
traut. Was, wenn am Ende doch jemand die Koordinaten Land aber auch durch eine Energiekrise geführt und
des Kreml wählte? Auch diese Befürchtung ist legitim – hier die große Preisexplosion verhindert. Sie hat mit der
und wer jetzt empört aufschreit, dass der Kanzler einem Wiederbelebung der Bundeswehr begonnen, den
Verbündeten das Misstrauen ausspreche, muss sich eine Weg für den schnelleren Ausbau von Schienen, Straßen,
Frage gefallen lassen: Wer vermag vorherzusagen, wozu Brücken freigemacht, sie treibt den Ausbau der
ein Land fähig ist, das ums Überleben kämpft? ­er­neuerbaren Energien entscheidend voran und war
Es gäbe Wege, die Zielsteuerung nicht komplett den trotz schwerer innerer Krämpfe an einer großen, lange
Scholz wird ­Ukrainern zu überlassen und deutsche Soldaten trotzdem verschleppten europäischen Asylreform beteiligt.
sich seine herauszuhalten. Scholz hat öffentlich nahegelegt, dass Man muss deshalb nicht gleich Scholz wählen oder
­mehrere Nato-Verbündete mit militärischem Personal in der sich das SPD-Logo auf den Unterarm tätowieren lassen.
Entscheidung ­Ukraine vertreten seien – bei Bedarf könnten sie wohl helfen. Man kann der Meinung sein, dass all das mit F
­ riedrich
nicht leicht Scholz ist trotzdem zu einer anderen Entscheidung ge­ Merz im Kanzleramt deutlich besser laufen würde. Aber,
kommen. Er wird sie sich nicht leicht gemacht haben, daran sollte man sich hin und wieder erinnern: Dieses
gemacht doch in Teilen der Debatte klingt es, als wäre der Bundes­ Land hatte auch schon schlechtere Regierungen.
­haben. kanzler ein ahnungs- oder gewissenloser Totalver­sager. Christoph Hickmann n

6 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


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DEUTSCHLAND

Michael Probst / AP
Happy Ramadan! In einer Frankfurter Fußgängerzone fotografieren Passanten mit ihren Handys die prachtvolle Beleuchtung über ihren Köpfen.
Frankfurt am Main und Köln sind die ersten deutschen Großstädte, die ihre Einkaufsstraßen zu Beginn des für Muslime heiligen Monats
Ramadan wie in der Adventszeit mit bunten Lichtern schmücken. Während der Fastenzeit verzichten die Gläubigen vom Morgengrauen bis zum
Sonnen­untergang auf Essen und Trinken.

Radikale im Ländle
EXTREMISMUS Der Verfassungsschutz registrierte in den vergangenen Jahren verstärkte Umtriebe der
»Identitären Bewegung« in Baden-Württemberg – mit Kontakten zur AfD.

D ie rechtsextreme »Identitäre Bewegung« hat einen Schwer-


punkt in Baden-Württemberg. Rund ein Fünftel der bundes-
weit rund 500 Aktivisten verortet der baden-württembergi-
sche Verfassungsschutz im Südwesten. Das geht aus der Antwort
Jungen Alternative teil, bei denen auch AfD-Bundestagsabgeord-
nete anwesend waren. Wie umtriebig die Rechtsextremen sind, zei-
gen Aktivitäten, die der Landesverfassungsschutz auflistet. Rund
20 Banner- und Flyeraktionen, Wanderungen oder sonstige Aktio-
der Landesregierung auf eine Anfrage der Grünen-Landtagsfrak- nen sollen es 2023 gewesen sein. Eine Gruppierung namens »Pforz-
tion hervor. Die Regionalgruppe »Identitäre Bewegung Schwaben« heim Revolte« habe sich abgespalten. Sie zähle seit August 2023
tritt demnach seit Herbst 2023 unter der Bezeichnung »Reconquis- nicht mehr zur »Identitären Bewegung«, sondern müsse dem Um-
ta 21« in Erscheinung und pflegt personelle Verbindungen zur AfD. feld der Jugendorganisationen des NPD-Nachfolgers »Die Heimat«
Zuvor sei die Gruppe unter dem Namen »Wackre Schwaben« aktiv sowie der Partei »Der III. Weg« und somit dem Neonazismus zu-
gewesen. Mitglieder der »Identitären Bewegung Schwaben« nah- geordnet werden. Gegen fünf Personen laufen im Zusammenhang
men laut Verfassungsschutz an Diskussionsveranstaltungen und mit der »Identitären Bewegung« Ermittlungsverfahren, unter ande-
Stammtischen des baden-württembergischen Landesverbands der rem wegen Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch. KEK

8 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


Drogenbeauftragter sollen, die Gerichte überlasten
DIE GEGENDARSTELLUNG
könnte. Sie wollen nicht, dass
mahnt zur Eile
Mit Höcke reden
das Gesetz wie geplant zum
CANNABIS Der Bundesdrogen­ 1. April in Kraft tritt, und pla­
beauftragte Burkhard Blienert nen wohl die Anrufung des Ver­
(SPD) bittet die Ministerpräsi­ mittlungsausschusses. Blienert
denten der Länder in einem entgegnet, 2023 seien knapp Von Alexander Neubacher unter Druck. Ungestört ver­
Brief, die Cannabislegalisierung 15 Prozent aller Inhaftierten breitet er seine Theorien auf
nicht zu bremsen. Die bisherige
Cannabispolitik verfehle ihre
Ziele und habe zu einem An­
stieg des Konsums und einer
wegen eines Verstoßes gegen
das Betäubungsmittelgesetz
in Haft gewesen. Bundesweit
müssten maximal 7500 Ver­
T hüringens CDU-Spit­
zenkandidat Mario
Voigt will sich ein TV-
Duell mit dem AfD-Anführer
Tiktok und Facebook.
Manche sind gegen das TV-
Duell, weil sie Höcke für zu
gefährlich halten. Er sei rheto­
Vergrößerung des Schwarz­ fahren überprüft werden. Der Björn Höcke liefern. Viele fin­ risch geschickt, ein skrupello­
markts geführt. Der juristische Aufwand erscheine zwar nicht den das falsch, nicht nur Leute ser Faktenverdreher und über­
Aufwand, den die Bundesländer klein, sei »aber durchaus leist­ von links. Reiner Haseloff, zeuge damit einfach gestrickte
als einen Grund für eine Verzö­ bar«, schreibt Blienert. Die CDU-Ministerpräsident von Zuschauer. Hinter dieser Kri­
gerung des Gesetzes angeben, Bundesländer sehen eine zu­ Sachsen-Anhalt, sagte der tik stecken Paternalismus und
sei nicht so groß, wie diese sätzliche Arbeitsbelastung »Zeit«: »Dieser Partei würde ein pessimistisches Menschen­
meinten, schreibt Blienert. Die ­jedoch auch in Tausenden ande­ ich keine Plattform geben bild. Wer die Wählerinnen
Länder monieren, dass die im ren Fällen, etwa bei Geld- wollen.« Dass der Sender und Wähler für zu dumm hält
Gesetz vorgesehene Amnestie und Bewährungsstrafen, die Welt TV das Duell auf den und nicht an die Kraft von Ar­
für Fälle, die künftig legal sein überprüft werden müssten. MFH 11. April gelegt hat, den Jah­ gumenten glaubt, hat womög­
restag der Befreiung der Kon­ lich selbst ein gestörtes Ver­
zentrationslager Buchenwald hältnis zu Demokratie.
Uni-Rauswurf mit Hochschulgesetzen verankert. und Mittelbau-Dora, finden Die CDU ist die einzige
Laut einer SPIEGEL -Umfrage manche besonders schlimm. Partei, die verhindern kann,
Hürden in den Bundesländern gab es Ich habe keinen Zweifel,
ANTISEMITISMUS Der geplan­ solche Fälle in den vergangenen dass Höcke ein furchtbarer Wenn beim TV-Duell
te Rauswurf straffällig geworde­ Jahren jedoch kaum. Die Minis­ Mann ist. Seine Nazisprache,
ner Studierender aus der Uni­ terien berichten von weniger sein Rassismus und seine De­
einer etwas zu
versität erweist sich als schwie­ als zehn Zwangsexmatrikulatio­ mokratieverachtung wurden verlieren hat, dann
rig. Der Berliner Senat hat nach nen in den vergangenen Jahren. zigfach belegt und beschrie­ ist es der Umfrage­
einem Angriff auf einen jüdi­
schen Studenten eine entspre­
Ein antisemitischer Hintergrund
sei nirgends bekannt. »Die
ben. Allerdings hat das nicht
verhindert, dass Höcke und
könig Höcke.
chende Gesetzesänderung auf grundgesetzliche garantierte seine AfD immer beliebter dass die AfD in Thüringen
den Weg gebracht. Der Mann, Berufsfreiheit – auch eines Tä­ wurden. Laut Umfragen wür­ demnächst die stärkste Frak­
ein Student der Freien Universi­ ters – ist ein sehr hohes Gut«, den mehr als 30 Prozent der tion bildet. Die anderen Par­
tät Berlin, wurde bei der Atta­ heißt es dazu im hessischen Thüringer die AfD wählen. teien müssen sie nicht unter­
cke Anfang Februar schwer ver­ Wissenschaftsministerium. Im Über Höcke zu reden, aber stützen, aber es wäre fair,
letzt. Danach waren Forderun­ Kern gehe es demnach darum, nicht mit ihm, funktioniert als wenn sie aufhörten, CDU und
gen nach der Exmatrikulation die Berufsfreiheit aller zu ge­ Abwehrstrategie für die ande­ AfD in einen Topf zu werfen.
des mutmaßlichen Täters laut währleisten. Eine Exmatrikula­ ren Parteien nicht. Es ist des­ Mit dem TV-Duell werden zu­
geworden. Die meisten anderen tion sei keine Strafe, »sondern halb richtig, dass Voigt einen nächst weder Tabus gebro­
Bundesländer haben in schwer­ eher ein Schutzmechanismus, anderen Weg versucht. Was chen noch Brandmauern ein­
wiegenden Fällen den Uni- um den Frieden auf dem Cam­ hat er zu verlieren? gerissen. Voigt kann zeigen,
Rausschmiss bereits in ihren pus zu bewahren«. HIM Die Kritik, Voigt biete Hö­ dass zwischen konservativ
cke eine Plattform, ist falsch, und rechtsextrem eine Grenze
weil Höcke keine weitere verläuft. Umfragekönig Höcke
Plattform braucht. Die AfD ist derjenige von beiden, der
Nachgezählt beherrscht Social Media. Wür­ etwas zu verlieren hat.
den die klassischen Medien Voigt könnte Höcke fragen,
Durchschnittliche Ausgaben für öffentliche ab sofort kein einziges Wort ob er die KZ-Gedenkstätte in
Schulen pro Schülerin und Schüler
in Deutschland, 2022 mehr über Höcke berichten, Buchenwald auch für ein
rund 1300 Euro
laufender Sachaufwand
käme er trotzdem mit seinen »Denkmal der Schande« hält,
rund 7200 Euro und 900 Euro Botschaften durch. wie er es bereits über das
500
500 €€

Personalkosten Investitionen Wertet Voigt Höcke unnö­ ­Holocaust-Mahnmal in Berlin


500 €€
5000 €€

tigerweise auf, indem er mit gesagt hat. Oder ob Höcke am


5000

ihm diskutiert? Im Gegenteil. Gedenktag der KZ-Befreiung


50 50
5

Ich glaube, die anderen Par­ seine Forderung nach einer

50 0 5000 € teien und auch viele Medien »erinnerungspolitischen Wende

5000 €€
machen Höcke das Leben um 180 Grad« wiederholen
500 €€ leicht, indem sie nicht mit ihm möchte.

500 € € insgesamt
500 € reden. Nie muss er sich erklä­
ren, nie gerät er argumentativ
Der 11. April ist dafür der
ideale Termin.
500 €
9500
Euro
*
An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quelle: Destatis * Abweichung rundungsbedingt


Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 9


CHAPPATTES WELT Grüne Bahn-Reform
VERKEHR Grüne Partei und
Bundestagsfraktion fordern
einen »Befreiungsschlag« bei
der Deutschen Bahn. In einem
Positionspapier schreiben Heiko
Knopf, der stellvertretende
Bundesvorsitzende, sowie Mat­
thias Gastel, der bahnpolitische
Sprecher der Bundestagsfrak­
tion: »Deutschland braucht eine
Bahn, die funktioniert.« Man
wolle sich diesen Anspruch
nicht nehmen lassen, auch wenn
die »Schienenwege unter … rol­
lenden oder stehenden Rädern
zerfallen«. Die Autoren fordern
eine »komplette Reform der
Schienenfinanzierung«, eine ge­
sicherte Finanzierung über
mehrere Jahre sowie eine »ech­
te Reform unter dem Dach der
Deutschen Bahn«. Diese dürfe
»weder innerhalb noch außer­
halb des Konzerns« ausge­
bremst werden. Darüber hinaus
solle jede Großstadt an den
Fernverkehr angeschlossen und
der Deutschlandtakt zügig um­
Bewusst getrickst? können, dass die gewählte hätte zahlen müssen. Darauf­ gesetzt werden. Das Papier ist
Steuerkonstruktion für Mas­ hin setzten Andrea Tandler und eine Abgrenzung vom Koali­
JUSTIZ Im Fall der Politiker­ kenprovisionen in zweistelliger ihr Partner eine Konstruktion tionspartner. Die SPD lehnt
tochter und Maskenmillionärin Millionenhöhe in Ordnung ge­ auf, die laut dem Landgerichts­ eine grundlegende Reform des
Andrea Tandler, die im Dezem­ wesen sei. Das Urteil des Mün­ urteil den Eindruck erweckte, Bahn-Konzerns ab und hat nach
ber vier Jahre und fünf Monate chener Landgerichts zitiert von Beginn an seien alle Mas­ Ansicht der Grünen Neubau­
Freiheitsstrafe wegen Steuerhin­ dazu aus einer Präsentation kendeals über eine Firma, nicht vorhaben verhindert, etwa die
terziehung kassiert hat, liegt das der Steuerkanzlei, datiert auf über sie als Privatpersonen ab­ geplante Verbindung von Ham­
schriftliche Urteil des Landge­ Ende März 2020, wonach alle gewickelt worden. Zu diesem burg nach Hannover, die durch
richts München vor. Es belegt, bis dahin erzielten Provisionen Zweck sollen sie die Gründung den Wahlkreis von SPD-Chef
warum das Gericht der Version von Tandler und N. »auf priva­ einer Firma »fälschlich rückda­ Lars Klingbeil führen würde.
keinen Glauben schenkte, ter Ebene« und deshalb mit tiert« haben, heißt es. Obwohl »Der Ausbau hat für uns Priori­
Tandler und ihr Partner Darius dem »persönlichen Steuersatz« dem Urteil eine Verständigung tät«, so die Autoren. Man ver­
N. hätten sich arglos auf eine zu versteuern seien. Der liegt mit Geständnis vorausging, hindere keine ICE-Schnellstre­
renommierte Steuerkanzlei ver­ deutlich höher als die Körper­ ­haben Tandler und N. Revision cken, weil diese durch einen
lassen und darauf vertrauen schaftsteuer, wie sie eine Firma eingelegt. AMP Wahlkreis führen. FIN

Schutz vor Sabotage es zu schützen gelte. Das Par­ Keine einzige Stärke sei »besser als ihr Ruf, das Pro­
lament soll sich in der kommen­ dukt besser als die Marke«,
GESETZESINITIATIVEN Die den Woche mit den Forderun­ KOALITION Eine repräsenta­ sagt Dominic Schwickert, Ge­
Bundespolizei soll nach dem gen beschäftigen. Mit der Ge­ tive Umfrage des Meinungsfor­ schäftsführer der linksliberalen
Willen der Union zusätzliche setzesinitiative will die Union schungsinstituts Pollytix zur Denkfabrik »Progressives Zen­
Kompetenzen erhalten. Die Re­ der Bundespolizei neue Aufga­ Arbeit der Ampelregierung trum«, die die Umfrage in Auf­
gierung müsse ein »Seesicher­ ben übertragen: Sie soll künftig kommt zu dem Ergebnis, dass trag gegeben hat. Auch den
heitsgesetz« vorlegen und die für »die Unterbindung willent­ einzelne Maßnahmen bei der Ausbau erneuerbarer Energien
maritimen Kompetenzen des licher Beschädigung von Unter­ Bevölkerung zwar gut ankom­ und das Sondervermögen für
Bundes legislativ bündeln, heißt wasserinfrastruktur« zuständig men, die Koalitionsparteien die Bundeswehr bewertet eine
es in einem Bundestagsantrag sein. Die Genehmigungs- und davon aber nicht profitieren Mehrheit positiv. 62 Prozent
der CDU/CSU-Bundestagsfrak­ Sicherheitsbehörden sollen zu­ können. So bewerten rund drei verbinden mit der Koalition
tion. Seegebiete und die dorti­ dem die Betreiber von LNG- Viertel der Befragten die Erhö­ aber keine einzige Stärke, als
gen Versorgungsstrukturen sei­ Terminals und Offshore-Wind­ hung des Mindestlohns, das größte Schwäche nennt ein Drit­
en Ziele von hybrider Kriegfüh­ kraftanlagen zu Gefahrenab­ Deutschlandticket und die Gas- tel die fehlende Geschlossen­
rung, von Saboteuren oder Ter­ wehrmaßnahmen verpflichten und Strompreisbremse positiv. heit. Um ihr Ansehen aufzu­
roristen. Mit LNG-Terminals können. Die Union will rechtli­ Eine ähnlich große Gruppe ist polieren, brauche die Regierung
und Offshore-Windparks werde che Änderungen prüfen lassen, aber unzufrieden mit der Regie­ laut Schwickert eine gemein­
laut dem Papier »neue wertvol­ damit sich auch die Marine stär­ rung insgesamt und den einzel­ same Idee, etwa eine wirtschafts­
le Infrastruktur« aufgebaut, die ker engagieren kann. BUC nen Ampelparteien. Die Ampel politische Reformagenda. CTE

10 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


»Sie tragen ein lung. Diese Kinder sind sich
nicht mehr im Klaren darüber,
Messer, weil andere welche Folgen Gewalt im ech-
es auch tun« ten Leben hat.
SPIEGEL: Was können Eltern tun?
Herbert Scheithauer, 54, forscht Scheithauer: Sie müssen dafür
an der FU Berlin zu Gewalt an sorgen, dass ihre Kinder nicht
Schulen und Cybermobbing. Der auf alle Inhalte im Netz zu­
Psychologe erklärt, wie Schulen greifen können. Sie müssen
Gewalt eindämmen können. etwa lernen, wie man im Brow-
ser Filter setzt. Die Website
SPIEGEL: Herr Scheithauer, in klicksafe.de nennt Empfehlun-

Milos Djuric / DER SPIEGEL


Pforzheim, Wuppertal, Cuxha- gen zu Apps, die man für das
ven und Bischofswerda haben entsprechende Endgerät down-
Jugendliche in den vergangenen loaden kann, um Inhalte zu
Monaten Mitschüler mit einem sperren. Und: Eltern müssen
Messer ­attackiert. In Ibbenbüren mit ihren Kindern aushandeln,
erstach ein 17-Jähriger seine Leh- dass sie die Sperren nicht zu

»Goebbels auf dem Rücken«


rerin. Gibt es gerade eine Welle umgehen versuchen.
der Gewalt auf Schulhöfen? SPIEGEL: Schulen bezahlen Se-
Scheithauer: Es gibt weniger curity-Personal, Eltern patrouil-
Gewaltvorfälle als noch vor lieren auf Pausenhöfen, bewa-
DER AUGENZEUGE Krankenpfleger Bastian Gassl,
15 oder 20 Jahren. Aber wir chen Schultoiletten. Sind die
nehmen diese Taten intensiver Schulen überfordert, wenn Kin- 37, will bei Patienten keine Nazi-Tattoos sehen,
wahr, weil auch die Medien der gemobbt werden? deswegen überklebt er sie.
mehr darüber berichten. Scheithauer: Nicht unbedingt.
SPIEGEL: Untersuchungen zei- Aber sie müssen sofort handeln, »Bei uns in der Notaufnahme Pflegekräfte müssen oft genug
gen, dass mehr Schülerinnen wenn etwas passiert. Wird ein in Berlin-Mitte fallen mir auf ihre eigene Würde ver-
und Schüler Messer mit an die Mädchen über mehrere Monate immer wieder Patienten mit zichten, um professionell zu
Schule nehmen. hinweg ausgegrenzt und Nazi-Tattoos auf. Es sind im- bleiben, und da ist bei den
Scheithauer: Der Anteil von schreibt in einem Aufsatz, ihr mer Männer. Meist haben sie Nazi-Tattoos für mich Schluss.
Schülern, die Waffen mit in die Leben sei nicht mehr lebens- SS-Runen oder Reichsadler Es geht mir auch um Respekt:
Schule nehmen, ist tatsächlich wert, müssen Lehrkräfte mit der auf der Haut. Ich hatte aber Ich kann doch niemanden mit
leicht angestiegen. Jugendliche Betroffenen und ihren Eltern re- auch schon einmal jemanden solchen Tattoos zum Röntgen
sagen, sie bräuchten die Waffen, den, den schulpsychologischen mit einem Porträt von Joseph schieben, wenn ich nicht weiß,
um sich selbst zu verteidigen. Dienst oder das Jugendamt ein- Goebbels auf dem Rücken, ob wir jüdische oder homose-
SPIEGEL: Klingt dramatisch … schalten. Die Schule muss Ruhe ein anderer hatte Heinrich xuelle Patienten im Kranken-
Scheithauer: Vielleicht fühlen in die Situation bringen. Himmler auf der Schulter. haus haben.
sie sich unsicher, weil das so­ SPIEGEL: Wie bekommt man Ich will diese Tattoos nicht Viele der Patienten mit Na-
ziale Klima an der Schule die Klasse dazu, nicht weiter zu sehen, deswegen klebe ich sie zi-Tattoos kommen aus Polen
schlecht ist oder es kaum Zu- mobben? mit Pflastertape ab. Die Täto- oder dem russischsprachigen
sammenhalt gibt. Sie nehmen Scheithauer: Es gibt dafür ver- wierten reagieren meist pam- Raum. Einige kommen immer
Waffen mit, um nicht selbst schiedene gruppendynamische pig, wenn ich die Tattoos ver- wieder zu uns, und bei man-
zum Opfer zu werden. Für und auch andere Methoden: decke. Aber ich versorge die chen muss ich mich richtig
manche können Waffen Aus- Die Schüler müssen etwa auf Leute nicht, wenn sie das überwinden, sie zu entklei-
druck einer Jugendkultur sein. einer Meinungslinie anzeigen, nicht zulassen. Manche von den, weil ich schon ahne, was
Sie tragen ein Messer, weil an- welches Verhalten für sie Mob- ihnen pöbeln, sie spucken, mich erwartet. Es sind nicht
dere es auch tun. bing ist. Wenn jemand in den werfen mir Mundspüllösung nur ihre Tattoos, die mich er-
SPIEGEL: Soziale Medien spülen Klassenchat schreibt: »Habt ihr hinterher oder pinkeln ins schrecken, sondern auch ihre
Kindern und Jugendlichen un- schon die neue Frisur von Jenny oder vor das Behandlungs- Wunden. Diese Männer sind
gefiltert Pornografie und Gewalt gesehen? Ist die nicht fancy?«, und Patientenzimmer. Wenn obdachlos, alkohol- oder dro-
in die Timeline. Welchen Ein- müssen sie sich fragen, ist das wir ausschließen können, dass gensüchtig. Sie haben oft
fluss haben diese Videos? für Jenny schon eine Grenzüber­ die Patienten lebensgefähr- Hunger und suchen ein Bett
Scheithauer: Wenn Kinder etwa schreitung? Vielleicht macht sie lich verletzt sind, und sie für für die Nacht. Sie riechen und
zum Ukrainekrieg recherchie- sich Sorgen, weil über sie gere- uns und andere Patienten haben Abszesse von Spritzen
ren und plötzlich ein Video det wird. Oder jemand schreibt: nicht zumutbar sind, brechen oder anderen Wunden, die
angezeigt bekommen, in dem »Warum hat Sarah einen dicken wir die Behandlung ab. nicht verheilen. Als Pfleger in
ein Soldat enthauptet wird, Arsch gekriegt?« Das verletzt Es geht mir weniger darum, einer Berliner Notaufnahme
kann sie das traumatisieren. eindeutig Grenzen. KHA mich gegen rechts zu engagie- muss man schon einiges aus-
Werden die Kinder und Jugend- ren. Die Freiheit kann ich mir halten. Ich weiß nicht, wie
lichen immer wieder mit Ge- Scheithauer als Krankenpfleger nicht he­ diese Menschen in Berlin ge-
waltvideos konfrontiert, kann rausnehmen, wenn ich Patien- landet sind, aber ich habe das
das auch zu antisozialem Ver- ten betreue. Aber ich muss Gefühl, in den vergangenen
halten führen, zu Feindselig- nicht alles mit mir machen Jahren sind es mehr gewor-
keit. Sie bekommen den Ein- lassen – und dazu gehört es, den. Wir schaffen es kaum
banane design

druck, diese Art von Gewalt Wunden zu versorgen, über noch, alle zu versorgen.«
sei normal. Das beeinflusst ihre denen ein Reichsadler prangt. Aufgezeichnet von Kristin Haug
sozialen Normen, ihre Einstel-

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 11


DEUTSCHLAND

sahra.wagenknecht / TikTok
markus.soeder / TikTok

al-halak / TikTok
BMG / TikTok

hneumannmep / TikTok
lars.klingbeil / tiktok
merzcdu / tiktok

die.linke / tiktok

Politikerinnen und Politiker auf TikTok: Ein Mindestmaß an Seriosität wahren

Die TikTok-Panik
SOZIALE MEDIEN Es gibt einen Ort, an dem die AfD so etwas wie eine Zweidrittelmehrheit hat: TikTok.
Jetzt versuchen die anderen Parteien, den digitalen Raum zurückzuerobern. Kommen sie zu spät?

12 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


DEUTSCHLAND

V »Die Generation TikTok


ier Wochen ist es her, dass Hannah de der Linken-Gruppe im Bundestag steht
­Neumann ihr erstes Video auf TikTok vergangene Woche auf der Fraktionsebene
gepostet hat. Die Grünen-Europaparla- droht zu einer im Reichstagsgebäude und will ein Video für
mentarierin schaut direkt in die Kamera.
­TikTok, sagt sie in dem kurzen Clip, sei ein Ort
Generation AfD zu werden.« TikTok aufnehmen. Nur worüber? Erste Idee:
Steuerpolitik. »Das hatten wir schon.« Fami-
voller »Hass und rechter Parolen«. Deswegen Johannes Hillje, Autor lienpolitik mit Seitenhieb auf die Konzepte
habe sie entschieden, sich hier einzusetzen. der AfD? Videos, in denen sie die AfD kriti-
In diesem Video wirkt Neumann noch et- siert, laufen schließlich gut. »Nicht schon wie-
was verkrampft. Mittlerweile ist sie sicherer Die Frage ist jetzt: Können Parteien auf der die Rechten«, sagt sie.
geworden. Schon 22 Videos hat sie bislang TikTok mit ernsthaften Inhalten überhaupt Reichinnek ist eine der erfolgreicheren De-
auf der Social-Media-Plattform gepostet. dauerhaft Erfolg haben? Geht es ohne Wut mokratinnen auf der Plattform. Ihr Account
Sie wolle überall dort hingehen, »wo viel und Populismus? Und: Können sie der Ver- besteht seit Jahren, und er funktioniert: Mehr
AfD ist und sonst kaum jemand«, sagt Neu- suchung, es selbst mit Populismus zu versu- als 144.000 Follower hat sie, 4,3 Millionen
mann am Telefon. In einem anderen TikTok- chen, widerstehen? Likes bisher. Zum Vergleich: Gregor Gysi, der
Video ist sie mit Irmela Mensah-Schramm aus Nur dann hätte der Kampf um TikTok Alt-Star der Linken, kommt nur auf gut
Berlin unterwegs, der 78-Jährigen, die seit ­etwas gebracht. 11.000 Follower.
Jahrzehnten Hakenkreuze im öffentlichen Dass er überhaupt begonnen hat, das liegt Wenn Schulklassen den Bundestag besu-
Raum übersprüht und Nazisticker abkratzt. wohl auch an Johannes Hillje. Der Politik- chen, sagt Reichinnek, werde sie erstaunlich
Mehr als 180.000 Aufrufe. berater aus Berlin hat ein Buch über die Kom- oft erkannt. Jugendliche reposten ihre Videos,
Wer sich auf TikTok gegen die AfD stellt munikation der AfD geschrieben, zum Thema es gibt sogar einen Fan-Account der 35-Jäh-
und gegen die extreme Rechte, der bedient promoviert. Er warnt schon lange vor der rigen. Ist sie der Beweis, dass Politik und Tik-
eine Nachfrage, für die es bislang wenig An- neuen AfD-Echokammer. Passiert ist wenig. Tok zusammen funktionieren?
gebot gibt. Aber je stärker die extrem rechte Partei in Reichinnek hat das nicht allein hinbekom-
Über Jahre hat die AfD TikTok zu einer Umfragen wurde, desto mehr dringt er mit men. Der Kopf hinter ihrem TikTok-Account
Plattform für ihre Parteipropaganda gemacht, seinen alarmierenden Zahlen durch. Ver- ist ihr Mitarbeiter Felix Schulz, 30 Jahre alt.
unterstützt von Influencern und Gleichgesinn- gleicht man die TikTok-Accounts der Frak- In seinem rechten Ohr glänzt ein Ohrring in
ten. Es ist eine mediale Parallelgesellschaft ent- tionen, sieht man: Die AfD hat mehr als Form von zwei gekreuzten Hämmern.
standen, in der es normal ist, Verschwörungs- 400.000 Follower – es folgt auf Platz zwei Die Zusammenarbeit begann damit, dass
theorien zu verbreiten, den Staat zu verachten, die SPD-Fraktion mit knapp 128.000 Follo- er im Jahr 2021 auf Reichinnek zuging. Schulz
gegen Flüchtlinge zu hetzen. Andere Parteien wern. Ein Video der AfD-Fraktion wird hatte schon auf Twitter eine gewisse Reich-
und auch Qualitätsmedien haben TikTok lan- durchschnittlich doppelt so oft angesehen wie weite aufgebaut. Dann bot er Reichinnek an,
ge ignoriert, trotz seiner Reichweite. Videos der Fraktionen von Union, SPD, Grü- sich um ihr TikTok zu kümmern.
Die Vorbehalte waren groß. TikTok, Platt- nen, FDP und der Linken-Gruppe zusammen. Es funktionierte – weil da zufällig einer
form des chinesischen Mutterkonzerns Byte- Wenn man so will, hat die AfD auf TikTok war, der das Medium ernst nahm und ver-
dance, wird verdächtigt, mögliches Einfallstor eine Zweidrittelmehrheit. stand. Und, das gehört zur Wahrheit, weil
für Spionage zu sein. Kritik gibt es auch am »Die Generation TikTok droht zu einer Reichinnek und Schulz sich an die Logik der
Datenschutz. Zugleich galt TikTok als zu un- Generation AfD zu werden«, sagt Hillje. Dass Plattform anpassen. Zu komplex darf es nicht
seriös, zu jung, zu wenig politisch. Wie man bei den Landtagswahlen in Bayern und Hes- sein. »Wir übersetzen Bürokratendeutsch in
sich täuschen kann. sen auch viele Jüngere die extrem rechte Par- verständliche Sprache«, sagt Schulz.
TikTok ist keine unwichtige Nischenplatt- tei wählten, habe auch an TikTok gelegen. Niemand weiß, ob sich Reichinneks Erfolg
form für Teenager. Es ist ein Massenmedium, Hillje sagt, bei den anderen Parteien sei eine beliebig kopieren lässt. Ob sich die Aufmerk-
für die Jugend eines der wichtigsten. Mehr regelrechte »TikTok-Panik« ausgebrochen. samkeit nicht auf wenige markante Personen
als 20 Millionen Deutsche sollen die Plattform Wer auf der Plattform Erfolg haben will, fokussiert. Aber zumindest ist nun bei vielen
monatlich nutzen. Knapp 60 Prozent der muss ihre Codes kennen, ihre Formate be- Politikern eingesickert, dass man das nie er-
Internetnutzer zwischen 12 und 19 Jahren ver- herrschen. Gerade aus den Ampelparteien fahren wird, wenn man es nicht versucht.
bringen dort regelmäßig Zeit, zum Teil etliche seien viele mit Beratungsanfragen auf ihn Ein Gespräch mit einem Kabinettsmitglied
Stunden am Tag. Wenn im Juni Europawahl ­zugekommen, berichtet Hillje. vor einigen Wochen. Auf die Frage, ob es Plä-
ist, dürfen viele von ihnen erstmals ihre Eine, die es schon geschafft zu haben ne gebe, sich TikTok zu erschließen, um dort
­Stimme abgeben. Das Wahlalter wurde auf scheint, ist Heidi Reichinnek. Die Vorsitzen- Falschinformationen etwas entgegensetzen
16 herabgesetzt.
Zwischen lustigen Clips, Schminktipps und
Gesangseinlagen bekamen junge Nutzer bis- Rechts überholt
lang immer wieder radikal rechte Videos
wie von AfD-Chefin Alice Weidel oder dem Anzahl der Follower der Bundesfraktionen Durchschnittliche Aufrufe pro Video auf den
auf TikTok, in Tausend TikTok-Accounts der Bundestagsfraktionen,
Europa­spitzenkandidaten Maximilian Krah 10. März 2023 bis 10. März 2024, in Tausend
aufs Smartphone gespielt. Aber kaum Inhalte
der anderen Parteien. 458
Die sind nun aufgeschreckt. Sie versuchen, 408,0
das eigene Versagen zu kompensieren, eilig
hineinzukommen in diese Parallelgesellschaft,
um die Jungen nicht an die AfD zu verlieren.
Ein TikTok-Account gilt plötzlich als ange- 127,6
wandter Antifaschismus. 72
35,2 34,8 39 57
Selbst der Kanzler hat angekündigt, dass 20,1 3,0
31 24
die Bundesregierung künftig auf der Plattform
AfD SPD Linke FDP Union Grüne AfD SPD Linke FDP Union Grüne
präsent sein soll. Es gibt also ein Problem-
bewusstsein, immerhin das. Einen Plan aller- S Quelle: Johannes Hillje, Stand: 10. März; Erstellung der Accounts: AfD im Januar 2022 (zuvor existierte bereits ein anderer Frak-


tionsaccount), SPD im Mai 2021, Linke im Juli 2021 (Account wird seit Auflösung der Fraktion im Dezember 2023 nicht mehr
dings gibt es noch nicht. bespielt), FDP im November 2020, Union im Dezember im 2023, Grüne im Januar 2024

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 13


DEUTSCHLAND

er auf Listenplatz 61. Einer, den man außer-


halb seiner Heimat früher nicht gekannt hät-
te. Auf TikTok aber ist er groß, hier folgen
ihm mehr als 120.000 Accounts. Einige seiner
Videos werden millionenfach geklickt.
Er beteuert, er habe sich schon länger mal
bei Hofreiter entschuldigen wollen, dafür,
dass er dessen langen Haare verspottet habe,
aber ihn nicht erreicht. Jetzt wäre die Gele-
genheit. Aber Dorendorf geht nicht hinüber.
Er dreht stattdessen ein TikTok-Video.
Dorendorf zieht an der Zigarre, stößt Rauch
aus und sagt: »Cannabis? Ist Verliererkraut.«
Zwei Versuche braucht er nur, dann ist alles
fertig. Abends geht das Video online, in der
Beschreibung steht: »Das Ergebnis des Kon-

Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL


sums kann man im Hintergrund erkennen.« Im
Hintergrund sieht man Hofreiter. Rund 80.000-
mal gesehen, etwas mehr als 5000 Herzen.
Es ist ein ziemlich typisches Dorendorf-
Video, hämisch, wie so oft gegen die Grünen
gerichtet. Im Landtag hätten die eine Zeit lang
Linke Reichinnek: Abgeordnete mit Fan-Account
nicht mit ihm gesprochen, sagt er. Er wirkt
nicht, als betrübe ihn das sehr.
zu können, schaut die Person, als hätte man Das Rennen um TikTok hat begonnen. Ist Der Kopf hinter Dorendorfs Erfolg ist Finn
danach gefragt, ob sie künftig ihre Pressemit- es so zu gewinnen? Werner, 24 Jahre. Auf der Website seiner Di-
teilungen jodeln wolle. Der Hamburger Politikberater Martin gitalagentur heißt es, man habe »Deutsch-
Mittlerweile spricht sich nicht nur der Bun- Fuchs, der schon lange digitale Wahlkämpfe lands bekanntesten TikTok-Politiker kreiert«.
deskanzler für einen TikTok-Account der beobachtet, ist skeptisch. Auch bei ihm mel- Mittlerweile arbeitet Werner als Social-Me-
Bundesregierung aus. Das Gesundheitsminis- den sich derzeit viele Politiker und wollen dia-Manager für die CSU im Bundestag. Do-
terium hat schon seit Jahren einen Account, Rat. Er empfiehlt: nicht ohne Plan loslegen, rendorf und er haben es ganz zu Beginn mit
Amtschef Karl Lauterbach will nun auch per- übereilt, aus Panik. zwei sachlichen Videos probiert, die zündeten
sönlich folgen: »Ich werde versuchen, dort Er warnt, dass Rechtsextremisten über ein aber nicht richtig. Im dritten Video dann
auch ein gutes Gegengewicht zur AfD zu bil- aktives Influencer-Netzwerk verfügten, das machte sich Dorendorf über die Grünen lus-
den«, sagte er gegenüber t-online.de. sich gegen Neuzugänge aus den anderen Par- tig, es wurde zwei Millionen Mal angesehen.
Die FDP hat schon lange einen Account, teien formiert habe. Darauf müsse man vor- Das ist der einfachste Weg zu Erfolg auf
allerdings mit überschaubarem Erfolg. Nur bereitet sein, sagt Fuchs. TikTok: zu kopieren, was zu funktionieren
einige wenige Vertreter pflegten ihre Kanäle Er beobachtet, dass sich viele Politiker jetzt scheint, Krawall, Streit, Häme.
wirklich, so wie Muhanad Al-Halak, 34, FDP- vor allem an der AfD abarbeiten. Solche Vi- Egal mit wem man spricht in diesen Tagen,
Bundestagsabgeordneter aus Grafenau in deos funktionierten zwar oft. Trotzdem sagt alle warnen vor überzogenen Erwartungen.
Bayern. Er postet auf eigene Faust Videos, Fuchs: »Nur die AfD zu bashen – das ist zu Es sei notwendig, TikTok zu besetzen. Es wer-
ohne Team im Hintergrund. Damit hat er ei- wenig. Demokratische Politiker sollten eige- de sich aber nicht schnell auszahlen.
nigen Erfolg, mehr als 50.000 Follower, Vi- ne Themen setzen.« Anstatt wie die AfD Jene, die schon erfolgreiche Accounts pfle-
deos mit Zehntausenden Aufrufen und mehr. Angst vor Migration zu schüren, könnten gen, egal aus welcher demokratischen Partei,
Er dreht gern kurze Clips, in denen er tanzt sie darüber sprechen, was Deutschland ohne beschreiben einen Zwang zur Vereinfachung.
oder, kürzlich, in einen Brokkoli beißt, den seine ausländischen Fachkräfte wäre. Und dass die Plattform dazu verführe, sich als
er zuvor vergebens versucht hat anzuzünden. Doch bei ihrem Ringen um die Aufmerk- AfD-Gegner zu positionieren. Das verspricht
Brokkoli, das wissen Al-Halaks Zuschauer, samkeit müssen die Parteien anarbeiten gegen Erfolg, aber bricht nicht den Bann der extre-
ist ein Synonym für Cannabis. Und sein Video die Plattform und ihre Eigenlogik, gegen das, men Rechten. So bleibt TikTok das Medium,
soll wohl so viel heißen wie: Er mag Cannabis was diese zu belohnen scheint. auf dem sich alles um sie dreht. Jene, die Tik-
lieber als Keks denn als Joint. So etwas funk- Im Garten des Jakob-Kaiser-Hauses, einem Tok erst neu erschließen, sagen, sie hätten
tioniere, sagt er. Aber es ist kein Rezept für Bürogebäude des Bundestags, pafft Uwe keinen Plan, sie müssten herumprobieren.
all die vielen Liberalen, die jetzt zu ihm kom- ­Dorendorf eine Zigarre. Hinter ihm, etwa Niemand wisse so genau, was funktioniere.
men und ihn um Rat fragen. 20 Meter entfernt, sitzt Anton Hofreiter im Und wie könnten erste Erfolge aussehen?
Es ist eine Gratwanderung: sich den Ge- Café, man sieht ihn durch die Fensterscheibe. Vielleicht so: Einer der vielen TikTok-Neu-
pflogenheiten der Plattform anzupassen, aber Ausgerechnet Hofreiter. zugänge aus dem Politikbetrieb erzählt an ei­
dennoch ein »Mindestmaß an politischer Dorendorf, 63, ist CDU-Landtagsabgeord- nem Abend diese Woche eine Anekdote. Mit
­Seriosität« zu wahren, wie Hillje es aus­- neter in Niedersachsen. Er kommt aus Lü- Namen zitiert werden will die Politikerin nicht.
drückt. chow-Dannenberg, bei der Wahl 2022 stand Eines ihrer Videos sei kürzlich einer jungen
Die Fraktionen der Union und der Grünen TikTok-Nutzerin angezeigt worden, so habe
haben nun ebenfalls Accounts. Auffallend die es ihr erzählt. Vorher habe das Mädchen
viele Abgeordnete auch, obwohl es keine aus der Politik allenfalls ab und an AfD-In-
Empfehlung gibt und immer noch die War- halte zu sehen bekommen. Doch nun sei das
nung, die App nicht auf dem Arbeitsgerät zu Video dieser Politikerin erschienen, zwischen
installieren. Nicht alle halten sich daran. »Nur die AfD zu bashen – den Inhalten, nach denen die Teenagerin
Die Parteizentrale der Grünen erarbeitet eigentlich sucht: Schminktipps.
seit einiger Zeit ein Konzept, vor der Europa- das ist zu wenig.« Dayan Djajadisastra, Maria Fiedler,
wahl soll ein Partei-Account online gehen. Martin Fuchs, Politikberater Johannes Müller, Jonas Schaible n

14 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


DEUTSCHLAND

SPIEGEL: In den USA hat das Reprä­ in Medien. Unter Umständen sogar
sentantenhaus gerade mit großer auf Richtigstellung, wenn eine Zei­
Mehrheit dafür gestimmt, TikTok aus tung unwahre Tatsachenbehauptun­
den App-Stores zu verbannen, wenn gen veröffentlicht. Gleichzeitig kön­

»Der Staat ist in


der chinesische Mutterkonzern Byte­ nen Menschen in sozialen Medien
dance die Plattform nicht verkauft. weiterhin krasseste Verhetzungen,
Notz: Um das zu verhindern, hat der Beleidigungen und Lügen verbreiten,

Teilen wehrlos«
Konzern Nutzern die Büronummer ohne dass dies irgendwelche Konse­
ihrer lokalen Abgeordneten einge­ quenzen hätte. Das ist verrückt.
blendet und dazu aufgefordert zu SPIEGEL: Seit Kurzem ist der Digital
protestieren. Die Kollegen wurden Services Act der EU, kurz DSA, in
geflutet von Tausenden Anrufen. Das Kraft. Er erlegt Plattformen zahlrei­
KONZERNE Der Grünenpolitiker und Extremismus­ ist ein klarer Machtmissbrauch. che neue Regeln auf. Nutzerrechte
SPIEGEL: Sollten Deutschland und die werden gestärkt, es gibt schärfere
experte Konstantin von Notz, 53, fordert EU ebenfalls einen Bann erwägen? Vorgaben für Onlinewerbung. Bei
mehr Härte gegen TikTok, Facebook und Co. Notz: Als Wirtschaftsminister hat Sig­ Regelverstößen drohen den Plattfor­
mar Gabriel schon einmal die Zer­ men hohe Geldstrafen. Reicht Ihnen
schlagung eines großen Techkonzerns das nicht aus?
SPIEGEL: Herr von Notz, Rechts­extre­ erwogen. Ich plädiere für klare rechts­ Notz: Der DSA ist sicher nicht der
me mit Zehntausenden Followern, staatliche Regulierung. Der Staat hat letzte Schritt, aber ein extrem wich­
Hetze und Propaganda per Kurz­ diese Möglichkeit. Er sitzt gegenüber tiger. Man erreicht, das ist die trauri­
video: Ist TikTok eine Gefahr für die Konzernen am längeren Hebel. ge Erkenntnis, nur etwas, wenn man
Demokratie? SPIEGEL: Die Realität sieht aber doch den Konzernen als börsennotierten
Notz: Leider ja. Der Aufstieg von so aus: Es gibt eine russische Des­ Unternehmen ans Geld geht. Alles
rechtsextremen Parteien hat in vielen informationskampagne, für die Web­ andere ist ihnen egal. Empfindliche
westlichen Ländern mehr mit dem seiten gefälscht werden, auch die des Strafen von bis zu sechs Prozent des
Konsum sozialer Medien zu tun als SPIEGEL . Diese Doppelgängerkam­ weltweiten Jahresumsatzes können
mit der Politik von Frau Merkel oder pagne ist seit 2022 bekannt, auch vie­ da durchaus Eindruck machen.
der Ampel. In den sozialen Medien le der Accounts, die daran beteiligt SPIEGEL: Kritiker fürchten, dass die
wird ein Frontalangriff auf unsere De­ sind. Viele sind immer noch aktiv, Umsetzung schwierig wird. In Deutsch­
mokratie orchestriert. Das müssen verbreiten derzeit etwa russische Nar­ land soll die Bundesnetzagentur zu­
wir klar benennen und rechtsstaatlich rative zum Taurus-Leak. ständig sein. Ist sie dazu in der Lage?
effektiv bekämpfen. Notz: Aktuell erleben wir einen in Notz: Das wird man sehen, sie erfüllt
SPIEGEL: Wer genau greift da an? Teilen wehrlosen Staat. Aber das zweifellos viele Voraussetzungen. Da
Notz: Demokratieverächter aller Cou­ muss nicht so bleiben. Andere, eben­ liegt durchaus große Verantwortung
leur: Rechtsextreme, aber auch Auto­ Jurist Notz:
falls international agierende Unter­ bei ihr.
kratien wie Russland oder China ha­ »Den Konzernen ans nehmen regulieren wir doch auch. Es SPIEGEL: An ihrer Spitze steht derzeit
ben erkannt, dass sie leichtes Spiel Geld gehen« gibt das Recht auf Gegendarstellung ein Grüner, Klaus Müller. Gleichzeitig
haben, weil Inhalte in sozialen Me­ sind viele Ihrer Parteifreunde beson­
dien kaum kontrolliert werden. Sie ders von Hetze betroffen. Von rechts
verbreiten Desinformation, verschie­ wird die Agentur schon jetzt als neue
ben bewusst Diskurse und destabi­ Zensurbehörde geschmäht.
lisieren unsere Gesellschaft. Darauf Notz: Natürlich erzählen russische
muss sich eine wehrhafte Demokratie Handpuppen und Rechtsextreme,
einstellen – oder sie wird ausgehöhlt. wir würden Freiheiten unverhältnis­
SPIEGEL: Nutzen rechtsextreme Ak­ mäßig einschränken, aber davon darf
teure einfach gekonnt die Logiken man sich nicht einschüchtern lassen.
etwa von TikTok – oder werden sie Ich bin ein sehr liberaler Mensch,
von ihnen gar strukturell bevorzugt? aber klare Rechtsverstöße müssen
Notz: Beides. In sozialen Medien eben geahndet werden – übrigens
funktioniert besonders gut, was uns auch, um die Meinungsfreiheit zu
empört und entsetzt. Denn das löst schützen.
Reaktionen aus und »klickt«. Und das SPIEGEL: Viele problematische Inhal­
bringt Unternehmen Geld. te sind nicht illegal. Die Meinungs­
SPIEGEL: Wie kommt es, dass via Tik­ freiheit ist in Demokratien absichtlich
Tok weitgehend ungehindert rechts­ weit gefasst, ein Grundrecht.
extreme Propaganda auf Kinder­ Notz: Das stimmt, aber klar strafbare
handys gelangen kann? Meinungsäußerungen, Beleidigun­
Notz: Die Politik hat viel zu lange gen, Bedrohungen und Volksverhet­
weitgehend tatenlos zugeschaut. Statt zungen sind eben nicht Teil der Mei­
sie knallhart zu regulieren, hat sie den nungsfreiheit. Wir wären sehr viel
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

großen Digitalkonzernen den roten weiter, wenn TikTok, X und Co. erst
Teppich ausgerollt. Den damals Ver­ einmal die strafrechtlich relevanten
antwortlichen waren Selfies wichtiger Beiträge entfernen und sehr viel bes­
als der effektive Grundrechtsschutz ser mit den Strafverfolgungsbehörden
von Millionen Menschen. Mark Zu­ kooperieren würden.
ckerberg ist 2019 in Berlin empfangen Interview: Marcel Rosenbach,
worden wie ein Staatsgast. Jonas Schaible n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 15


DEUTSCHLAND

einen Verdacht, den das »Handelsblatt« be­


reits vergangenen Sommer erhoben hatte:
Der Spitzenbeamte Bonhoff hatte – kurz vor
Wissings Amtsantritt – seinem Freund Werner
Diwald vom Deutschen Wasserstoff- und
Brennstoffzellenverband ein großes Weih­
nachtsgeschenk organisiert: eine Millionen­
förderung für den Verband.
Bonhoff und Diwald kennen sich gut. Sie
duzen sich, waren schon gemeinsam im
Urlaub. Über ein halbes Jahr lang wollte
Schnorr, Wissings Staatssekretär, darin nichts
Verwerfliches erkannt haben. Im Ministerium
ermutigten sie den in die Kritik geratenen
Abteilungsleiter Bonhoff sogar, juristisch
gegen das »Handelsblatt« vorzugehen.
Die Zeitung widerrief daraufhin Teile ihrer
Berichterstattung. Für Schnorr, das hat er
­Teilnehmern zufolge Ende Februar im Haus­
haltsausschuss zugegeben, ein Grund, bei der
Aufarbeitung nicht jeden Stein umzudrehen.

Hannes Jung / manager magazin


Eine gefährliche Fehleinschätzung. Seitdem
herrscht im Verkehrsministerium Verunsiche­
rung – und die hat nicht nur mit der Wasser­
stoff-Affäre zu tun. Sie reicht tiefer.
An einem Montag Ende Februar kommt
es im Verkehrsministerium zur Aussprache,
die Hausleitung hat zur Mitarbeiterversamm­
Ressortchef Wissing: Gefährliches Terrain lung eingeladen. Die Wut der Beamten über
die stümperhafte Untersuchung der Vorwür­
fe gegen Abteilungsleiter Bonhoff ist groß.
Sie richtet sich vor allem gegen Wissings

Aufräumen ohne Ordnung


Staatssekretär Schnorr. Eine Mehrheit der
Anwesenden soll laut Teilnehmern kritisiert
haben, dass Schnorr den beteiligten Referats­
leiter und dessen Sachbearbeiterin strafver­
setzt hat. Staatssekretär Schnorr, so der Vor­
VERKEHR In der Wasserstoff-Affäre muss der wichtigste ­ wurf, wolle sich damit bloß aus der Affäre
ziehen. Die beiden seien Bauernopfer.
Staatssekretär von Minister Volker Wissing Fehler bei der Aufklärung Darüber hinaus gibt es Ärger mit einem
einräumen. Dem FDP-Mann droht sein Haus zu entgleiten. Bewertungssystem, das Schnorr eingeführt
hat. Es soll unter anderem vorsehen, die Leis­
tung eines Beamten nach einer Versetzung

N
ach einer Stunde hat er es hinter sich. Abteilungsleiter Klaus Bonhoff wurde fristlos ein Jahr lang nicht zu beurteilen. Aber die
Stefan Schnorr, Volker Wissings wich­ entlassen, ein Referatsleiter und dessen Sach­ Beurteilung ist Voraussetzung für eine Be­
tigster Staatssekretär im Verkehrs­ bearbeiterin strafversetzt, Genehmigungen förderung. Einige Mitarbeiter empfinden die
ministerium, verlässt mit einer blauen Papp­ für Förderungen sofort gestoppt. neue Regel deshalb offenbar als ungerecht.
mappe den Sitzungssaal E 600, steuert auf Auslöser waren mehrere brisante E-Mails Sie könnte die Karriere behindern und ande­
eine lederne Sitzgruppe zu und lässt sich in und eine Aktennotiz, die der SPIEGEL mit re, die länger nicht versetzt worden sind, be­
einen der Sessel fallen. Hinweis auf das Informationsfreiheitsgesetz vorteilen. Man rechnet schon fest mit Klagen,
Es ist nicht gut gelaufen für ihn. Schnorr erhalten hatte. Diese Dokumente erhärteten die jene anstrengen, die bei einer Beförderung
hat an diesem Mittwoch im Verkehrsaus­ leer ausgehen. Die Hausleitung wollte sich
schuss Peinlichkeiten einräumen müssen. Es auf Anfrage nicht äußern.
sei »schlampig gearbeitet worden«, soll er Ein Fall für zwei Viele Mitarbeiter lasten die schlechte
Teilnehmern zufolge gesagt haben. Von wem, Hausführung Schnorr an, wie Wissing ein ehe­
sagte er nicht. Doch den Fachleuten im Aus­ maliger Richter aus Rheinland-Pfalz. Aber
schuss ist klar: Er meinte sich selbst. auch der Minister selbst steht in der Kritik.
Schnorr war es, der für Verkehrsminister Er wird von vielen als »kalt«, als unnahbar
Volker Wissing die Wasserstoff-Affäre hätte beschrieben.
dts-Agentur / picture alliance

aufklären müssen – und dabei versagte. Mit Hinzu kommt Wissings eher ernüchternde
seinem Auftritt vor dem Ausschuss hat er mehr politische Bilanz. Zwar hat er das Deutsch­
H.Ross / BrauerPhotos

Fragen aufgeworfen als beantwortet. Längst landticket eingeführt, eine spontane Idee in
belastet die Affäre auch Wissing. Dem FDP- einer nächtlichen Koalitionsausschusssitzung
Minister droht sein Ministerium zu entgleiten. im März 2022. Der Pauschalfahrschein, mil­
Recherchen des SPIEGEL zu Kungeleien lionenfach verkauft, war ein Coup für den
bei Förderanträgen für Wasserstoffprojekte Staatssekretär Abteilungsleiter
FDP-Politiker. Zur Verwunderung seiner Ko­
hatten Mitte Februar zu Verwerfungen in Schnorr: »Schlampig Bonhoff: Fristlos alitionspartner wollte er ihn zunächst nicht
Wissings Haus geführt. Der verantwortliche gearbeitet« entlassen für sich reklamieren.

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DEUTSCHLAND

Aber sonst? In Erinnerung bleiben wird


MOBILITÄT
Wissings Versuch, das große Aufräumen bei

Verschoben auf Sankt Nimmerlein


der Bahn zur Chefsache zu erklären. Ohne
Not hat sich der FDP-Minister die Probleme
des maroden Staatskonzerns zu eigen ge-
macht, sich hinter fragwürdige Vollsperrun- Bahnfahren wird wohl teurer und auf absehbare Zeit kaum
gen ganzer Strecken gestellt.
Danach, so das Versprechen an die Kun- ­zuverlässiger. Dem Konzern fehlt das Geld.
den, sollen 80 Prozent der Züge bis 2030
pünktlich fahren. Das wird, nach allem was Das große Sparen im Haushalt könnte die werde nichts gestoppt, es werde einfach
man weiß, kaum klappen. Die Bahn, auch das Ertüchtigung der Eisenbahn in Deutsch- später gebaut. »Wir streichen keine Bedarfs­
berichtete der SPIEGEL , sah sich aufgrund land noch stärker verzögern als bislang planprojekte«, so ein Sprecher. ­Intern
der angespannten Haushaltslage genötigt, angenommen. Auch wird Bahnfahren klingt es drastischer: »Die Beschränkung
zahlreiche Projekte zusammenzustreichen. wohl deutlich teurer – und auf absehbare der Investitionsmittel hat signifikante Aus-
Peinlich für Wissing: Im Ministerium wuss- Zeit nicht wirklich zuverlässiger. wirkungen auf das Trassen­angebot.«
te man nichts von der Tragweite der Rotstift- Diesen Schluss legt eine interne Unter-
Aktion, vom Bahnvorstand euphemistisch als lage des Konzerns nahe, die dem ­S PIEGEL Bis 2030 könnten für die Infrastruktur rund
»Repriorisierung« bezeichnet (siehe rechts). vorliegt. Trotz vieler Investitionen des 60 Milliarden Euro weniger zur Verfü-
Und das, obwohl Wissing die Bahn seit einiger Bundes in die Schiene fehlt dem Konzern gung stehen, als die Planung der Bahn ur-
Zeit eng kontrolliert, sich öfter mit ihren Vor- das Geld. Die Versprechen von Verkehrs- sprünglich unterstellt hat. Weil auch
ständen trifft. Für den Verkehrsminister ist minister Volker Wissing und Bahn-Chef die Kosten für die Instandhaltung und
die Bahn ein ähnlich gefährliches Terrain wie Richard Lutz, die Bahn endlich besser ­Sanierung stark steigen, will die Infra-
für den Verteidigungsminister das Beschaf- zu machen, dürften schwer zu halten sein. struktursparte der Bahn die Gebühren für
fungswesen. Rivalitäten und Skandale, die Devise bei zahlreichen Vorhaben: Auf- die Nutzung von Schienen und Bahn­
jederzeit hochkochen, die Karriere des Minis­ schub auf Sankt Nimmerlein. höfen erhöhen. Das könnte die Fahrschei-
ters bedrohen können. Selbst im Bahn-Kon- So könnten nach derzeitiger Finanzpla- ne im Fernverkehr verteuern, die Ein­
zern wundern sie sich über einen Minister, nung des Bundes bis 2030 statt der ur- stellung einzelner, dann unwirtschaftli-
der seine Karriere gefährlich eng an das sprünglich geplanten 4200 Kilometer cher IC-­Linien erscheint denkbar.
Schicksal der Deutschen Bahn geknüpft hat. Strecke nur noch 2600 Kilometer saniert Bereits im Februar hatte der SPIEGEL
Erheblichen Flurschaden verursachte Vol- und statt 750 lediglich etwa 600 Kilo­ über das große Sparen berichtet. Als Fol-
ker Wissings Engagement für sogenannte meter Gleis aus- und neu gebaut werden. ge dieser Berichterstattung wurde Bahn-
E-Fuels. Das sind synthetische Kraftstoffe, die Sogenannte Zukunftsbahnhöfe will der Chef Richard Lutz in den Verkehrsaus-
klimaneutral hergestellt und in konventionel- Konzern zwar weiterhin errichten, aller- schuss zitiert. Damals wies er die Darstel-
len Verbrennungsmotoren verwendet werden dings in diesem Szenario nur noch etwa lung laut Teilnehmern als »absurd,
sollen. Mit aller Macht stemmte sich Wissing 520 statt wie geplant 1800. Punkt« zurück, bislang sei nichts aufge-
in Europa gegen ein Verbot des Verbrenners, Und von den neu sowie auszubauen- halten oder verlangsamt worden. Konter-
erst bei Autos, dann bei Lkw. ­Wochenlang den Serviceeinrichtungen, also Stationen kariert werden diese Aussagen durch
lähmte Wissing die Ampelkoa­lition, verstör- zur Wartung und Reinigung von Zügen, ­Entscheidungen des Konzerns. Etwa im
te dabei zahlreiche EU-Mitgliedstaaten – und bleiben noch circa 18 übrig statt der 150, Südwesten, wo die weitere Digitalisie-
erwirkte letztlich bloß eine Absichtserklä- die dem Konzern ursprünglich vor- rung des Skandalprojekts Stuttgart 21 vor-
rung, das Thema doch noch anzupacken. schwebten. Auch die internen Schulnoten erst gestoppt wurde.
Und dann ist da der lahmende Ausbau der für das übrige Flächennetz könnten Bei den Parlamentariern und im Ver-
Ladeinfrastruktur. Tesla hat gegen das Minis- sich bis 2030 signifikant verschlechtern: kehrsministerium wächst das Befremden
terium geklagt, weil dieses die Schnelllade- von 2,8 auf 3,2. über den Staatskonzern. Die Deutsche
säulen von der Firma Tank & Rast an den »Repriorisierung« nennt der Konzern Bahn, so die Kritik, habe ein schwer kon­
deutschen Raststätten organisieren lassen sein Vorgehen in den Unterlagen. Öffent- trollierbares Eigenleben entwickelt.
wollte. Tesla sollte außen vor bleiben. Ein Fall lich beteuerte das Management stets, es Serafin Reiber n
für den Europäischen Gerichtshof.
Im Verkehrsministerium geht man davon
aus, dass man, ähnlich wie bei der Pkw-Maut,
auch diesen Prozess verlieren werde. Doch
das könnte noch Jahre dauern. Wissing hat
deswegen ein Moratorium verhängt: keine
weiteren Schnellladesäulen an Raststätten.
Warum also ein Elektroauto kaufen?
Für die Opposition ist all das Munition
gegen den Minister. »Volker Wissing hat sein
Haus nicht im Griff; im Verkehrsministerium
passieren schwere handwerkliche Fehler«,
sagte CDU-Verkehrspolitiker Christoph Ploß
nach der Sitzung des Verkehrsausschusses.
Arnulf Hettrich / IMAGO

Dieses Urteil dürfte Wissing einigerma-


ßen kaltlassen. Nicht aber jenes aus seiner
eigenen Partei, in der immer häufiger über
ihn gelästert wird. Er habe, spotten sie da, in
seinem Ministerium kaum mehr zu sagen als
ein Referats­leiter. Diesellokomotiven: Auch für viele Elektrifizierungen fehlt der Bahn das Geld
Serafin Reiber, Gerald Traufetter n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 17


DEUTSCHLAND

Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober


und dem anschließenden Krieg im Gazastreifen
gilt die Gefahr eines Anschlags auch in Deutsch-

Die Angst spielt mit


land als so groß wie lange nicht. In einem ersten
Lagebild für die EM, erstellt von der »Zentra-
len Informationsstelle Sporteinsätze« (ZIS) in
Nordrhein-Westfalen, ist von einer »abstrakten
Gefährdungslage für das Turnier« die Rede.
INNERE SICHERHEIT Wie groß ist die Gefahr von Anschlägen auf die Wie schnell es gefährlich werden kann,
zeigte sich am Rande des EM-Qualifikations-
Fußball-EM? Interne Dokumente zeigen, wie nervös deutsche spiels im Oktober. In Brüssel erschoss ein Isla­
Behörden sind. Zumal sich Israelis oder Ukrainer noch qualifizieren können. mist zwei schwedische Fans, die Terrorgruppe
»Islamischer Staat« (IS) reklamierte die Tat
für sich.

I
m Kabinett, so erzählt es Bundesinnen- Bund und Länder haben dafür eine »Rahmen- Die Schweden sind bei der EM nicht dabei.
ministerin Nancy Faeser (SPD), seien alle konzeption zur Bewältigung polizeilicher Ein- Allerdings richtet sich der Hass von Islamisten
»voller Vorfreude« gewesen, als es neu- sätze« während der EM erstellt (»nur für den auch gegen andere Nationalmannschaften,
lich um die Heim-EM ging. Kanzler und Mi- Dienstgebrauch«), es ist die Turnierbibel für etwa die der Niederlande. »Tötet sie, wo auch
nister stellten sich nach der Sitzung noch zum die Sicherheit. immer ihr sie findet«, heißt es in einer Pro-
Foto auf, jede und jeder mit EM-Ball in der »Störungen der öffentlichen Sicherheit und pagandapostille eines IS-Ablegers in Afgha-
Hand. Als würden sich Krieg, Krisen und Ordnung«, so heißt es in dem 99 Seiten langen nistan. Dazu sind Fotos von Stadien, Zu­
­Koalitionsstreit einfach so wegkicken lassen. Papier, seien bereits »im Ansatz« zu unter- schauermengen und Polizisten abgebildet.
Wenig später steht Faeser in ihrem Minis- binden. Detailliert ist festgehalten, wie »szene­ Die Terrortruppe bereitet dem nordrhein-
terium neben DFB-Sportdirektor Rudi Völler kundige Beamte« problematische Fans im westfälischen Innenminister Herbert Reul
auf einem grünen Teppich. Ex-Weltmeister Blick behalten sollen. Der Einsatz von Ver- große Sorgen. Sie versuche, »Einzeltäter und
Völler ruft: »Das wird ein Fußballfest.« bindungsbeamten (»Team Security Liaison Kleinstgruppen zu rekrutieren, die sie dann
Keine 100 Tage sind es mehr bis zum Er- Officers«) in den Trainingscamps der Mann- gegen sogenannte weiche Ziele einsetzen
öffnungsspiel der Fußball-Europameister- schaften ist ebenso geregelt wie die tägliche will«, warnte der CDU-Politiker Ende Fe­
schaft. Viele in Politik und Sport hoffen auf Verpflegungspauschale in Höhe von 60 Euro bruar im Landtag. Zum Schutz der EM wür-
ein neues Sommermärchen, eines wie 2006, für ausländische Polizisten. den »alle Mittel eingesetzt, die notwendig
als die Weltmeisterschaft in Deutschland statt- Um ferngesteuerte Drohnen entdecken und rechtlich zulässig sind«.
fand. 2,7 Millionen Besucher werden in den und abfangen zu können, hat die Polizei ihre Ende März werden in Play-offs die letzten
Stadien erwartet, bis zu 12 Millionen auf den Technik aufgerüstet. Selbst für den unwahr- drei EM-Plätze ausgespielt. Polen könnte sich
Fanmeilen der zehn Gastgeberstädte. scheinlichen Fall chemischer, biologischer beispielsweise noch qualifizieren, Island, Wales,
Doch nicht nur die durchwachsenen Leis- oder nuklearer Katastrophen steht eine Ex- Bosnien und Herzegowina. Oder Israel.
tungen der Nationalmannschaft lassen daran perteneinheit bereit. Aus einer eigens einge- Sportlich würden sie Israel eine Teilnahme
zweifeln. Die Kriege in der Ukraine und im richteten Flugeinsatzzentrale bei der Bundes- selbstverständlich gönnen, sagen Polizisten,
Gazastreifen führen dazu, dass die EM vom wehr in Uedem überwachen die Behörden aber unter Sicherheitsaspekten wäre sie eine
14. Juni bis zum 14. Juli unter verschärften den Himmel über dem Gastgeberland. enorme Herausforderung. Nicht nur Spieler
Sicherheitsbedingungen stattfindet. Besondere Sorge bereitet Polizei und Ge- und Staatsgäste müssten mit allem geschützt
Die Behörden bereiten sich auf eines der heimdiensten die neue Terrorgefahr. Seit dem werden, was die deutsche Polizei aufzubieten
meistgefährdeten Sportereignisse seit Langem habe. Auch für israelische Fans, die zu den
vor, wie vertrauliche Berichte zeigen, die dem Spielen anreisen oder auf den Fanmeilen fei-
SPIEGEL vorliegen. Die Nervosität ist groß, Unter Beobachtung ern, würden die Sicherheitsmaßnahmen noch-
zumal sich sowohl die ukrainische als auch mals erhöht. Ein Desaster wie das Olympia-
die israelische Mannschaft noch qualifizieren Austragungsorte der Fußball-EM 2024 attentat 1972 in München soll um jeden Preis
können. International Police Cooperation Center verhindert werden. Geisterspiele ohne Zu-
Der Ort, an dem der Kampf um die Sicher- (IPCC) schauer möchte die Bundesregierung aller-
heit der EM ausgetragen wird, liegt im nord- dings vermeiden. Es sei denn, die Israelis
rhein-westfälischen Neuss. Nahe einer mit würden selbst darum bitten.
dem Rhein verbundenen Marina steht das Auch die Ukraine könnte sich noch qua­
Bildungszentrum der Landespolizei. Schon Hamburg lifizieren. Dann würden andere Szenarien
vor gut 2000 Jahren wurden hier Uniformen relevanter: Wladimir Putins Geheimdienste
getragen: Die Römer brachten in einem Lager oder kremltreue Kräfte könnten sich gezielte
Hilfseinheiten unter. Berlin Störmanöver überlegen – bis hin zu Sabotage.
Finale
Nun werden auch zur EM Unterstützungs- Gelsenkirchen Wegen der »geopolitischen Konfliktlage«
truppen hier arbeiten: Bis Mai soll das Inter- Dortmund müsse man etwa mit sogenannten DDoS-­
Neuss Düsseldorf Leipzig
national Police Cooperation Center (IPCC) mit Attacken von prorussischen und anderen
Köln
300 Beamtinnen und Beamten eingerichtet »Hacktivisten« rechnen, heißt es in einem
sein. Neben Polizisten aus dem In- und Ausland internen Lagebild. Durch solche Angriffe kön-
Frankfurt am Main
finden Experten von Verfassungsschutz, Bun- nen Internetseiten von Flughäfen oder Be-
desnachrichtendienst und der Cybersicher- hörden blockiert werden. Ein weiteres Cyber-
heitsbehörde BSI Platz. Von einer »Drehschei- szenario: Hacker könnten versuchen, das
Stuttgart
be für den Informationsaustausch« ist die Rede. elektronische Einlasssystem lahmzulegen, um
In dem schmucklosen Zweckbau sollen die München Massengedränge vor den Stadien auszulösen.
Sicherheitsexperten alle Bedrohungen in den Eröffnungsspiel Wie angreifbar eine Fußball-EM ist, zeigte
Blick nehmen: Hooligans, islamistische Ge- sich 2021. Ein Greenpeace-Aktivist mit Gleit-
fährder, Hackerangriffe auf das Ticketsystem. S Grafik; Karte: OpenStreetMap flieger zerstörte kurz vor Anpfiff der Partie


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DEUTSCHLAND

Zitat groß Spiel gegen England einen Pub in der


Nähe des Stadions in Wembley. Es sei
Marginalie zu befürchten, dass deutsche »Risiko-
hier wären personen« bei der Heim-EM randa-
fünf Zeilen lierten oder rechte Parolen skandier-
ten, warnt die ZIS.
sehr schön Für Sicherheit rund um die Stadien
Zitat Autor und auf den Fanmeilen sollen auch
zahlreiche Ordner sorgen, die von
privaten Dienstleistern kommen.
Mancherorts ließ man sich Zeit mit
der Planung. In Köln etwa lief die ent-
sprechende Ausschreibung bis in den
Januar hinein.
Wochen später winkte der Kölner
Stadtrat eine Aufstockung des EM-

Boris Streubel / Getty Images


Etats um 5,8 auf 13,8 Millionen Euro
durch. Laut interner Beschlussvor-
lage war das nötig, da es zu »erheb-
lichen Kostensteigerungen« gekom-
men sei, »im Sicherheitsbereich zum
1
Teil über 100 %«. In Berlin hatte man
bereits im vergangenen Jahr vor einer
bundesweiten »Mangelsituation« bei
privatem Sicherheitspersonal ge-
warnt. In Nordrhein-Westfalen buh-
len mit Dortmund, Gelsenkirchen,
Köln und Düsseldorf gleich vier der
zehn EM-Spielorte um die regionalen
Mar vin Ibo Güngör / GES / picture alliance / dpa

Security-Dienstleister.
Um zu verhindern, dass Hooli-

Andreas Arnold / picture alliance / dpa


gans, islamistische Gefährder oder
sonstige »Störer« überhaupt anreisen,
empfiehlt die Bundespolizei laut
einem vertraulichen Bericht Grenz-
kontrollen an allen neun Außen­
grenzen der Bundesrepublik. Innen-
ministerin Faeser teilt diese Einschät-
2 3 zung. »Wir prüfen die Durchführung
vorübergehender Grenzkontrollen an
zwischen Deutschland und Frank- ber um die Arena, Spezialeinheiten 1 | Finalschauplatz den Binnengrenzen während des Tur-
reich die unbeschwerte Stimmung in waren zur Beobachtung eingesetzt. Berliner Olympia­ niers, um mögliche Gewalttäter an
stadion
der Münchner Arena. Was bleibt, ist die klassische Sorge 2 | Gleitschirmvorfall der Einreise hindern zu können«, s­ agte
Er näherte sich dem Stadion trotz bei Fußballspielen: die Angst vor in München 2021 Faeser dem SPIEGEL .
einer für diesen Tag eingerichteten Hooligans und gewaltbereiten Fans. 3 | Tribünengast Die Ministerin tingelt in diesen
Flugverbotszone. Doch der Flieger Bereits beim Vorrundenspiel der Faeser Wochen alle Gastgeberstädte ab, im
blieb an einem Stahlseil hängen, das deutschen Nationalmannschaft gegen Uefa-Sprech »Host Cities« genannt.
über die Arena gespannt war. Ungarn in Stuttgart könnte es brisant An einem Freitagmittag Ende Februar
Der Mann verlor die Kontrolle werden. Die Behörden rechnen da- steht sie am Spielfeldrand im Stadion
über das Fluggerät. Bei seinem Ab- mit, dass viele Fans der berüchtigten in Leipzig, wo vor 40.000 Zuschau-
sturz touchierte er einen Soundtech- »Karpaten-Brigade« anreisen. Diese ern unter anderem Frankreich gegen
niker des französischen Fernsehens, fielen schon bei der EM 2021 in Mün- die Niederlande spielen wird.
ein Trümmerteil traf einen Doping- chen negativ auf. Obwohl die Zahl Neben ihr posiert ein Student in
kontrolleur. Beide mussten im Kran- der Zuschauer wegen Corona be- einem Bärenkostüm mit großen Kul-
kenhaus behandelt werden. Glück grenzt war, reisten rund 600 »Risiko- leraugen und buntem Fußballtrikot.
im Unglück: Wegen Corona durften personen« aus Ungarn an. Einige Es ist Albärt, das Maskottchen der
damals nicht 70.000, sondern nur gingen auf deutsche Fans los, die Re- EM. Auch der Polizeipräsident ist
14.500 Besucher ins Stadion. genbogenfahnen trugen. Im Stadion ­gekommen. Immer wieder heult eine
Die Behörden hätten ihre Lehren skandierten sie schwulenfeindliche Sirene auf. Der schrille Ton ist kein
aus dem Debakel gezogen, so heißt es Parolen: »Deutschland, Deutschland Probealarm, keine Simulation eines
intern, der »Luftraumschutz« für die homosexuell.« Ernstfalls. Er soll Tauben davon ab-
Münchner Arena und die anderen Auch von einheimischen Fans halten, die roten Plastiksitze vollzu-
EM-Stadien wurde verbessert. »Wir könnte eine Eskalation ausgehen. Bei koten. Woran nicht alles gedacht wer-
gehen davon aus, dass so etwas nicht einem Länderspiel 2022 in Ungarn den muss bei dieser EM.
mehr passieren kann«, sagt ein Spre- attackierten rund 40 deutsche Kra-
Rasmus Buchsteiner, Jan Friedmann,
cher der Münchner Polizei, ohne wallmacher Polizisten und Ordner. Michael Fröhlingsdorf, Tobias
­Details zu nennen. Bei den EM-Folge- Wenige Monate später stürmten Hoo- ­Große­kemper, Fabian Hillebrand, Thilo
spielen 2021 kreisten zwei Hubschrau- ligans aus Deutschland bei einem Neumann, Wolf Wiedmann-Schmidt  n

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DEUTSCHLAND

ihr Geld also ausgeben, wie sie woll- Scholz (SPD) zugesichert, dass sie
ten, konnte die Verärgerung nicht glimpflich davonkommen würden.
dämpfen – im Gegenteil. Zufrieden sein kann Verteidi-
In den Ministerien regt sich Unmut gungsminister Boris Pistorius (SPD)

Spärlicher
über das Verfahren. Die Kritiker be- damit trotzdem nicht, er will mehr
mängeln, dass die einzelnen Ressort- Geld. Um das Zweiprozentziel der
etats isoliert betrachtet werden. Aus- Nato auch im nächsten Jahr zu er-

Sparplan
wirkungen der Ausgaben des einen reichen, braucht er nach aktuellen
auf die Aufgaben des anderen blieben Berechnungen seiner Fachleute zwi-
unberücksichtigt. Der Abgesandte schen 4,6 und 6 Milliarden Euro zu-
der Kulturstaatsministerin Claudia sätzlich zu den bislang für 2025 vor-
Roth (Grüne) wies darauf hin, dass er gesehenen 52 Milliarden Euro.
FINANZEN Schon zum Auftakt der Haushalts­ gar nicht anders könne, als der Deut- In den nächsten Wochen muss
schen Welle Mittel zu kürzen. In sei- Lindner den Unmut der Kollegen in
verhandlungen für das kommende Jahr regt sich nem Etat mache der Auslandssender geregelte Bahnen lenken. Die Minis-
Unmut in den Ministerien. Der neue Etat den größten Posten aus. terien haben bis zum 19. April Zeit,
könnte die Ampel in ihre nächste Krise stürzen. Doch sei es wohl kaum im Inte­ ihre Ausgabenpläne beim Finanz­
resse von Außenamt und Entwick- minister vorzulegen. Bis Anfang Juli
lungsministerium, wenn angesichts muss Lindner ein stimmiges Zahlen-

D
as Schreiben des Finanzminis- der internationalen Herausforderun- werk für den Etat 2025 und die Finanz-
ters erreichte die Kabinettsmit- Geringere gen die Stimme Deutschlands in der planung bis 2028 präsentieren.
glieder vergangene Woche. The- Ausgaben Welt schwächer werde. Die Vertreter Bleibt zu hoffen, dass seine Rech-
ma: der Bundeshaushalt für 2025. Für der angesprochenen Ressorts mur- nung am Ende besser aufgeht als bei
die Ausgabenwünsche im kommenden Haushaltsvolumen melten zustimmend. Offene Wider- seinem Herzensprojekt, der Aktien-
Jahr bildeten »die vom Kabinett am Deutschlands, in rede gab es jedoch nicht. rente, die der Finanzminister zusam-
Milliarden Euro*
3. Juli 2023 beschlossenen einzelplan- Die kam dafür aus dem Innenmi- men mit Arbeitsminister Hubertus
spezifischen Ansätze im Finanzplan 481
nisterium. Dessen Repräsentant er- Heil (SPD) in der vergangenen Woche
477
die Obergrenze«, schrieb Christian 457 452 klärte, dass die Sparanforderungen vorstellte.
Lindner. Was die Ministerien 2025 aus- für sein Ressort die gesamte IT-Kon- Bis 2035 will er mithilfe schulden-
geben dürfen, steht also schon fest. solidierung der Bundesregierung ge- finanzierter staatlicher Zuschüsse
Nur: Den Finanzplan, den der fährde, für die sein Haus federführend einen Kapitalstock von 200 Milliar-
FDP-Mann zum Maßstab aller Be- zuständig sei. Andere gaben zu Pro- den Euro in der staatlichen Renten-
gehrlichkeiten erklärt, beschloss die tokoll, dass es zielführender gewesen versicherung installieren. Das Geld
Regierungsriege nicht am 3., sondern wäre, wenn sich die Bundesregierung wird im Rahmen einer Stiftung an den
am 5. Juli vergangenen Jahres. bei einer Haushaltsklausur über ihre Finanzmärkten angelegt. Die Erträge
Lindners Lapsus wirft ein schlech- Ausgabenschwerpunkte verständigt sollen in die Alterskasse fließen, um
tes Licht auf eines der wichtigsten hätte, statt pauschal zu kürzen. die Rentenbeiträge zu senken.
Vorhaben der Ampel in diesem Jahr. Auffällig war nach Angaben von Auch in diesem Konzept klafft eine
Erbitterte Kämpfe scheinen unaus- Teilnehmern, welche Ressorts das Lücke. Wer die jährlichen Zuschüsse
weichlich, wenn es in den nächsten Vorgehen klaglos über sich ergehen bis 2035 aufaddiert, kommt nur auf
Monaten darum geht, das knappe 2022 2023 2024 2025 ließen. Arbeits- und Verteidigungs- eine Summe von 170 Milliarden Euro.
Geld unter den Ressorts aufzuteilen. * 2024 und 2025 laut Plan ministerium hielten sich mit Kritik Allzu große Hoffnungen auf die geld-
Vergangenes Jahr zerlegte sich die S Quelle: BMF zurück. Beiden hatte Kanzler Olaf vermehrende Wirkung von Zinseszin-


Ampel fast, weil nach einem Urteil sen darf sich Lindner nicht machen.
des Bundesverfassungsgerichts rund Denn die Rendite, die die Stiftung
12 Milliarden Euro fehlten. Jetzt tun erwirtschaftet, soll im Wesentlichen
sich noch größere Lücken auf. Bis zu sofort wieder an den Bund abfließen,
30 Milliarden Euro muss die Regierung um die Schuldzinsen der zusätzlichen
nach j­ etzigem Stand auftreiben – durch Kredite zu finanzieren.
Einsparungen, höhere Einnahmen oder Lindners Pläne sehen zwar vor,
eine Mischung aus beidem. auch 15 Milliarden Euro an Priva­
Häufig firmiert der Haushalt als tisierungserlösen in den Kapitalstock
»Schicksalsbuch der Nation«. Dieses zu stecken. Die hat der Finanzminis-
Jahr dürfte seine Aufstellung zur ter aber größtenteils schon anderswo
Schicksalsfrage für die Ampel wer- verplant. So will er mit den Verkaufs-
den. Streitpunkte gibt es so viele wie erlösen aus Post- und Telekom-­Aktien
Etatposten. Und da unterlaufen dem das Eigenkapital der Bahn aufpols-
Minister schon beim Auftakt Fehler? tern. Selbst wenn er einen solchen
Wie der Streit ums knappe Geld das Betrag zusätzlich an den Börsen er-
Klima in der Koalition belastet, offen- zielen könnte, würden ihm immer
Felix Zahn / photothek / IMAGO

barte sich bereits, als Lindners Haus- noch etliche Milliarden fehlen.
haltsstaatssekretär Wolf Reuter am Läuft es schlecht für Lindner,
Donnerstag vergangener Woche seine könnte die Lücke noch sein kleinstes
Kollegen aus den anderen Häusern auf Problem sein. Falls sich Kabinetts-
den Sparkurs einschwor. Sein Hinweis, kollegen weigern, die Sparvorgaben
innerhalb der vorgegebenen Ober- umzusetzen, rutscht die Koalition in
grenzen genössen die einzelnen Res- ihre nächste Krise.
sorts »Schichtungsfreiheit«, könnten Bundesfinanzminister Lindner: 30 Milliarden auftreiben Matthias Gebauer, Christian Reiermann n

20 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024

DIGAS_B2B-/tmp/divibib/digas_out/2878-sp2412
DEUTSCHLAND

»wohin gezielt wird, wohin geschossen wird


und wohin getroffen wird«, und diese Kon­
trolle komme nicht ohne deutsche Soldaten
aus. »Das lehne ich ab«, so Scholz.
Experten der Bundeswehr erklärten kürz-
lich vor Fachpolitikern des Bundestags, dass
der Marschflugkörper mit seinen vollen Fähig-
keiten nur mithilfe der Bundeswehr eingesetzt
werden könne. Denn dafür sei eine umfang-
reiche Planung nötig. Erst damit könne der
Marschflugkörper seine Qualitäten ausspielen:
unter feindlichem Radar durchfliegen, Flug-
abwehrstellungen automatisch umfliegen und
am Ende das Ziel mit einer Genauigkeit von
weniger als drei Metern treffen. So planen kön-
ne derzeit ausschließlich die Luftwaffe in Bü-
chel in Rheinland-Pfalz, nicht der Hersteller.

Political-Moments / IMAGO
Will ein Land den Taurus mit seinen spe-
ziellen Vorteilen einsetzen, müssten deutsche
Soldaten bei der Missionsplanung zumindest
assistieren. Das aber lehnt Scholz ab. Alter-
nativ könnte man den Taurus abgespeckt ein-
Sozialdemokrat Scholz, Grüne Baerbock: »Das lehne ich ab« setzen. Statt mit großen Missionsdatenpaketen
würde das System nur mit GPS-Zieldaten ge-
füttert. Dann allerdings würde die Ukraine die

Bauchrednerin Baerbock
Hightechwaffe unter Wert einsetzen.
Für Baerbock aber geht es um viel mehr als
ein einzelnes Waffensystem. Die Ukraine gerät
zunehmend in die Defensive, Putin setzt auf
die Wiederwahl Donald Trumps in den USA.
DIPLOMATIE Die Außenministerin versucht, den Kanzler hinter den Es wäre, so sieht man es im Umfeld der Außen-
ministerin, in dieser Lage wichtig, wenn der
­ ulissen zu einer Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine
K Kanzler den Deutschen klarmachte, was eine
zu bewegen. Was kann die Grünenpolitikerin erreichen? Niederlage der Ukraine für die Sicherheit
Europas bedeuten würde. »Auch Zögern und
Zaudern kann am Ende zur Eskalation bei-

D
ass David Cameron, konservativer Als Cameron nach seinem Treffen im Aus- tragen«, warnte die grüne Vize-Fraktions­chefin
­Ex-Premier, scharfer EU-Kritiker und wärtigen Amt per »Süddeutscher Zeitung« Agnieszka Brugger. »Wir sind uns alle der
Wegbereiter des Brexits, einmal ein ge- die Idee eines Ringtauschs aufgriff, wirkte das Tragweite dieser Entscheidungen bewusst, und
schätzter Amtskollege werden würde, hätte wie politische Bauchrednerei: Sprach der ­Brite das lassen wir uns als Grüne von niemandem
sich Annalena Baerbock wohl auch nicht träu- das aus, was Baerbock mit Rücksicht auf den absprechen, auch nicht vom Bundeskanzler.«
men lassen. Doch seit Cameron im November Kanzler nicht zu sagen wagte? In der FDP wird die Haltung des Kanzlers
überraschend zum britischen Chefdiplomaten Schon bei der Frage der Lieferung deutscher ähnlich kritisch gesehen. Die liberale Verteidi­
ernannt wurde, hat er sich für die deutsche Leopard-Panzer entstand der Eindruck, Baer- gungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmer­
Außenministerin rasch zu einem zentralen bock spiele über Bande. Im Januar vergange- mann stimmte bereits zum zweiten Mal für
diplomatischen Partner entwickelt. nen Jahres gab Großbritannien vier Tage nach einen Taurus-Antrag der oppositionellen
Deutlich wurde das bei Camerons jüngstem einem Besuch der Außenministerin in London Unionsfraktion. Auch FDP-Chef Christian
Berlin-Besuch. Länger als geplant dauerten bekannt, Challenger-Panzer in die Ukraine zu Lindner hofft, dass Scholz noch einlenkt. Dem
die Gespräche, die gemeinsame Pressekonfe- liefern – so wuchs der Druck auf den Kanzler. Vernehmen nach erklärte Lindner jüngst in
renz verzögerte sich. »Wir hätten noch stun- Nun sagte die Ministerin einen Tag nach FDP-Parteigremien, ukrainisches Personal
denlang weiter miteinander im Gespräch sein Camerons Interview in der ARD-Sendung sollte auf Taurus geschult und die Geodaten
können«, schwärmte Baerbock. »Caren Miosga«, der Ringtausch sei »sozusa- nur für die vereinbarten Zielgebiete zur Ver-
Ein Grund für die Verzögerung war ein Vier­ gen mit eine deutsche Erfindung«. Auch beim fügung gestellt werden. Dann wären die Be-
augenaustausch zu einem besonders heiklen Thema Taurus wäre er »eine Option«. Die dingungen des Bundeskanzlers erfüllt, soll
Thema: dem Marschflugkörper Taurus und Idee: London bekommt deutsche Taurus, Kiew Lindner gesagt haben.
seiner militärischen wie politischen Spreng- britische Storm-Shadow-Marschflugkörper. Die Union macht ebenfalls Druck. Warum
kraft. Baerbock ist dafür, das Waffensystem an Im Verborgenen tüftelt Baerbock laut der Kanzler der ukrainischen Armee nicht
die Ukraine zu liefern, Kanzler Olaf Scholz »FAZ« an einem Konstrukt, wie Deutschland vertraue, dass sie Taurus genauso wie andere
dagegen. Doch die grüne Außenministerin hat Taurus-Marschflugkörper doch noch in die Systeme verantwortungsvoll einsetze, wollte
die Hoffnung, ihn umzustimmen. Ukraine schicken könnte, ohne Scholz’ rote der Vizechef der Unionsfraktion Johann
Anders als in der Debatte um die Lieferung Linien zu übertreten. Eine Option: Die Deut- ­Wadephul im Bundestag von Scholz wissen.
von Kampfpanzern vor anderthalb Jahren schen geben Taurus an die Briten, die reichen »Was bewegt Sie, diesem tapferen Volk und
verzichtet Baerbock beim Thema Taurus seit sie an die Ukrainer weiter, behalten dabei dieser Armee, die sich bisher an alle Abspra-
Monaten auf öffentliche Äußerungen, die der aber die Kontrolle über Einsatz und Ziele. chen gehalten hat, so zu misstrauen?«
Kanzler als unbotmäßigen Druck empfinden Erfolg hatte die Außenministerin bei Es ist eine Frage, die sich Baerbock im Stil-
könnte. Selbst in Hintergrundgesprächen mit Scholz bislang nicht. Taurus sei eine sehr weit- len wohl auch stellt.
Journalisten wird sie bei dem Thema einsilbig. reichende Waffe, sagte der Kanzler im Bundes­ Matthias Gebauer, Christoph Schult,
Stattdessen setzt sie auf ihre Verbündeten. tag. Die Frage der Kontrolle sei essenziell, Severin Weiland  n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 21


DEUTSCHLAND

Die Fachkräfte-Illusion
MIGRATION Handwerksbetriebe, IT-Unternehmen und Gastronomen in Deutschland suchen verzweifelt nach
Arbeitskräften und Auszubildenden. Hunderttausende Geflüchtete sind ohne Jobs. Warum arbeiten sie nicht?
Sophie Kirchner / DER SPIEGEL

Ilkay Karakur t / DER SPIEGEL


1 2
Ilkay Karakur t / DER SPIEGEL

Ilkay Karakur t / DER SPIEGEL

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1 | Erzieherin Smirnova 2 | Arbeitsvermittler Kravchenko 3 | Asylsuchender B., Beraterin Erhard 4 | Bäckermeister Beck

22 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


DEUTSCHLAND

H
einer Beck hat kaum geschlafen. Schat- Zudem sind 1,1 Millionen Menschen aus der Die Bundesregierung hat bereits beschlos-
ten liegen unter seinen Augen, es sind Ukraine nach Deutschland gekommen, seit sen, dass in solchen Fällen das Bürgergeld für
anstrengende Zeiten. »Ich hoffe jeden vor gut zwei Jahren der russische Angriffs- zwei Monate gestrichen werden kann. Und
Morgen, dass alle zur Arbeit kommen«, sagt krieg begonnen hat. Sie sind vergleichsweise schon jetzt ist es den Jobcentern möglich, das
der Chef von BeckaBeck. gut gebildet, der Großteil von ihnen hat einen Bürgergeld um bis zu 30 Prozent zu kürzen,
Der Bäckermeister greift in seinem Büro Hochschulabschluss. falls jemand wiederholt Angebote ablehnt.
in Römerstein, einer Gemeinde im Landkreis Viele Betriebe in Deutschland profitieren Es passiert allerdings selten.
Reutlingen, zu einer Tasse Kaffee und einer bereits davon, Geflüchtete einstellen zu kön- Menschen aus der Ukraine müssen – an-
Biobretzel. Es klingt resigniert, als er sagt: nen. Doch die Unternehmen hätten Arbeit ders als etwa Geflüchtete aus Syrien oder Af-
»Ich habe null Personalpuffer und keine Hoff- für mehr Menschen. Auch Ausbildungsstellen ghanistan – kein Asylverfahren durchlaufen,
nung, dass sich daran bald etwas ändert.« bleiben offen, obwohl etliche Schutzsuchen- sondern erhalten direkt einen Schutzstatus
Mehr Automatisierung sei für ihn keine Op- de jünger als 25 Jahre sind. Allein dem Hand- und Bürgergeld. Während in Deutschland
tion, dadurch sinke die Qualität. »Wir brau- werk fehlten vergangenes Jahr 40.000 Aus- schätzungsweise 20 Prozent der ukrainischen
chen viele Hände.« zubildende. Kriegsflüchtlinge arbeiten, geht in Dänemark
Der Betrieb hat rund 330 Mitarbeiter und Zugleich empfangen viele Geflüchtete So- mehr als die Hälfte einer bezahlten Be­
Mitarbeiterinnen. Seine Frau leitet die 20 Fi- zialleistungen, auch wenn sie in einem Alter schäftigung nach. Ähnlich sieht es in Polen
lialen, gemeinsam hätten sie schon vieles aus- sind, in dem sie arbeiten könnten: 60 Prozent oder Tschechien aus. Laut Experten fällt es
probiert, erzählt der 61-Jährige: Annoncen der Ukrainer, 40 Prozent der Ausländer aus ihnen dort unter anderem deshalb leichter,
auf Instagram oder Facebook, eine Prämie Asylherkunftsstaaten. Arbeit zu finden, weil sie es sprachlich ein-
von 1000 Euro für jeden Mitarbeiter, der Warum ist das so? Von rechts außen heißt facher haben.
einen neuen Kollegen anwirbt. Der Draht zur es, die Migranten seien doch eh nur gekom- In anderen Ländern suchen sich die Ge-
Arbeitsagentur ist gut, der Stundenlohn hoch. men, um abzukassieren. Im linken Lager fin- flüchteten zudem schneller Jobs im Niedrig-
Er zahle seinen Verkäuferinnen im Schnitt det so mancher: Die Behörden seien bloß zu lohnsektor oder bei Zeitarbeitsfirmen. Zwar
17 Euro und damit mehr als in der Branche unflexibel, die Gesetze zu kompliziert, sind Statistiken und das Arbeitsrecht nicht
üblich, sagt Beck. Deutschland bemühe sich nicht genug, dabei eins zu eins vergleichbar, manches bleibt un-
Neben seine Firmenzentrale hat er ein könnten Geflüchtete die Lösung für den Fach- klar. Doch Bäckermeister Beck ist mit seinem
Haus für Mitarbeiter gebaut. Auf dem Land kräftemangel sein. Wunsch nach einer härteren Gangart nicht
seien die Busverbindungen nicht die besten, Zeit für eine Bestandsaufnahme. allein. Auch der deutsche Landkreistag for-
und in der Backstube gehe es früh los. dert eine Arbeitspflicht für Geflüchtete.
Genutzt hat ihm das alles nicht viel. 15 Stel- Der Bäcker in Römerstein: Ob tatsächlich deutlich mehr Geflüchtete
len sind unbesetzt, Bewerbungen bleiben aus. »Arbeitspflicht für alle, die länger als ein arbeiten würden, wenn ihnen nur beharrlich
Beck sucht Auszubildende, einen Konditor, halbes Jahr hier sind« das Bürgergeld gekürzt oder gar gestrichen
Reinigungskräfte, Verkäuferinnen. Ihm fehle Heiner Beck kann einige Erfolgsgeschichten würde, weiß niemand. Eindeutige Studien-
es an Personal, und demnächst gingen etliche erzählen. Von Aboudie, einem Iraner, ergebnisse gibt es nicht. Aus Gesprächen mit
in Rente. »Bringen Sie mir zwei Dutzend Leu- der anfangs Backbleche putzte und längst Arbeitsvermittlern, Arbeitgebern, Flücht-
te, die Lust haben zu arbeiten, ich stelle sie mit seinen alten Bäckern mithalten könne. lingshelfern und Migranten ergibt sich ein
ein. Egal aus welchem Land.« »Der hat seine Frau nachgeholt, arbeitet differenziertes Bild. Bei manch einem wäre
Der Bäcker teilt die Hoffnung vieler sechs Tage die Woche durch.« Oder von mehr Druck sinnvoll, bei einem erheblichen
Arbeitgeber aus dem Handwerk, der Gas­ Osama, dem Syrer, den die Handwerkskam- Teil der Geflüchteten allerdings brächte das
tronomie, der IT-Branche oder dem Ge­ mer ausgezeichnet hat, ein Bäckereifach­ wohl nicht viel. Sie wollen ja arbeiten, können
sundheitssektor: dass Zuwanderer die verkäufer. Bald soll er eine Filiale leiten. Auch es aber nicht. Woran scheitern sie?
Lösung sind. Jeder zweite Betrieb habe Aneta aus dem Kosovo sei unverzichtbar
Schwierigkeiten, Mitarbeiter für alle offenen geworden. Seit zwei Jahren sei sie da, ihre Der Arbeitsvermittler aus Reutlingen:
Stellen zu finden, heißt es bei der Deutschen handgemachten Spätzle und Fleischküchle »Unser Ziel ist es, Sie langfristig in Arbeit
Industrie- und Handelskammer. Nicht seien perfekt. zu bringen«
nur Spezialisten fehlten, in einigen Branchen In anderen Fällen sei es weniger gut ge- Eugen Kravchenko klemmt einen »Bitte nicht
herrsche ein »allgemeiner Mangel an Ar­ laufen, berichtet Beck. Die letzte Ukrainerin, stören«-Zettel an die Tür von Zimmer 18, Erd-
beitskräften«. die in der Backstube zur Probe gejobbt habe, geschoss, kurz vor dem Ende eines langen
Wirtschaftsexperten sagen, dass jährlich war »unpünktlich und unmotiviert«. Nerven Flurs. Der Arbeitstag kann beginnen.
400.000 Menschen mehr einwandern als aus- habe ihn auch eine ukrainische Konditorin Kravchenko, 35, trägt ein kariertes Hemd
wandern müssten, um Abhilfe zu schaffen. gekostet, »die den Unterschied zwischen Blät- und Lederschuhe. Schon als Jugendlicher,
Deutschland hat diese Marke zuletzt sogar terteig und Hefeteig nicht kannte«. Kein Fach- lange vor dem Kriegsausbruch, ist er mit sei-
weit übertroffen. Für 2022 meldete das Sta- wissen, kein Engagement. Nach zwei Tagen nen Eltern aus der Ukraine nach Deutschland
tistische Bundesamt fast 1,5 Millionen mehr war Schluss. gekommen. Er hat hier Abitur gemacht, sla-
Zuwanderer als Auswanderer, so viele wie Das kann viele Gründe haben. Etliche wische Sprachwissenschaft studiert und eine
noch nie seit Beginn der Zählung 1950. Ukrainerinnen wollen so schnell wie mö­g­ feste Stelle im Jobcenter Reutlingen gefunden.
Informatiker, Maschinenbauer, Altenpfle- lich zurück in ihre Heimat. Möglicherweise Er betreut Zuwanderer.
gerinnen und weitere Fachkräfte, die mit schmälert das die Motivation, sich frühmor- Der Arbeitsvermittler steht von seinem
Arbeitsvisum zuwandern, machen nur einen gens aus dem Bett zu quälen. Das Bürgergeld Bürostuhl auf und bittet eine Ukrainerin
kleinen Teil davon aus. Was ist mit den vielen reicht, um über die Runden zu kommen, bis herein. Sie ist gelernte Schneiderin, 40 Jahre
anderen? Die vor Krieg oder Zerstörung flie- der Krieg irgendwann endet. alt, möchte in Deutschland als Künstlerin
hen mussten oder sich schlicht in Deutschland Dem Bäckermeister passt das so nicht. arbeiten, sie hat beim Staatstheater Stuttgart
ein besseres Leben versprechen? »Warum packen wir die Flüchtlinge in in einem Stück mitgespielt. Doch ihr Deutsch
Mehr als zweieinhalb Millionen Menschen Watte?«, fragt Beck. Er fordert eine Ar­ ist schlecht.
stellten in den vergangenen zehn Jahren einen beitspflicht für alle, die länger als ein halbes Die Frau hat die üblichen 600 Stunden
Erstantrag auf Asyl. Die meisten von ihnen Jahr in Deutschland sind. »Wer sich weigert, Sprachunterricht im Integrationskurs hinter
stammen aus Syrien, Afghanistan oder dem sollte spürbar und konsequent weniger Geld sich, dazu 100 Stunden Orientierungskurs,
Irak, zuletzt waren es viele aus der Türkei. erhalten.« auch »Leben in Deutschland« genannt. In

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ihrem Fall reichten sie nicht für das


Niveau B1, so heißt der Abschluss im
»Viele wollen Von den Erwachsenen, die im zweiten
Halbjahr 2022 einen Asylantrag stell-
beauftragte der Bundesregierung für
die Arbeitsmarktintegration von Ge-
Amtsjargon. Wer den Kurs besteht, sofort Geld ten, hatten 35 Prozent keinen oder flüchteten«.
kann in der Regel Alltagssituationen verdienen und gerade einmal einen Grundschulab- Terzenbach gehört dem Vorstand
in der neuen Sprache meistern. schluss. In einer Studie des Deutschen der Bundesagentur für Arbeit an und
Kravchenko erklärt der Schneide-
nicht drei Instituts für Wirtschaftsforschung soll den »Jobturbo« umsetzen, den
rin, dass sie »fortgeschrittene Sprach- Jahre lang eine heißt es, dass traditionelle Rollenbil- Bundesarbeitsminister Hubertus Heil
kenntnisse« erwerben solle. Das Amt Ausbildung der, die in manchen Ländern vor- (SPD) im Herbst versprochen hat. Die
wird ihr weitere 300 Stunden herrschten, Frauen daran hindern Idee: Die Geflüchteten fangen turbo-
Deutschkurs bezahlen. »Unser lang- machen.« könnten zu arbeiten. Zwei Drittel der schnell an zu arbeiten, vielleicht erst
fristiges Ziel ist es, dass Sie in Arbeit Nanette Herrmann, Frauen hätten auch in ihren Heimat- mal in Helferjobs, anders als bisher
kommen«, sagt er. Vermittlerin ländern nicht gearbeitet. Zudem sei- laufen Deutschkurs und Weiterbil-
Danach setzt sich ein Syrer, 39, en fehlende Kitaplätze ein Problem. dungen nebenbei.
hinter die Plexiglasscheibe, er lebt seit Bei den Ukrainerinnen und Ukra­ Klingt gar nicht so schwer. Doch je
fünf Jahren in Deutschland. Ihm inern sind die Voraussetzungen bes- länger Terzenbach erzählt, desto
schwebt ein Job als Hausmeister oder ser, viele haben einen Hochschul­ komplizierter hört sich die Sache an.
als Auslieferungsfahrer vor. Einen abschluss. Es hapert allerdings an Die Bundesagentur für Arbeit ist nur
Führerschein besitzt er aber nicht. In Deutschkenntnissen. Anfang 2023 ein Rädchen in einer großen Maschi-
seiner Heimat saß er als Näher in gaben in einer breit angelegten Um- ne. Seit Wochen reist Terzenbach
einer Textilfabrik, Lesen und Schrei- frage nur acht Prozent an, »gut« oder durch die Republik, trifft Lobbyisten,
ben hat er erst in Deutschland gelernt. »sehr gut« Deutsch zu können. Das Gewerkschaften und Arbeitgeberver-
Er müsse erst B1 schaffen und könne Ergebnis der Integrationskurse sei bände, reiht Termin an Termin, er-
sich dann bewerben, rät ihm der »ernüchternd«, urteilte der Bundes- klärt, hört zu, drängt. »Wichtig ist es,
Arbeitsvermittler. rechnungshof kürzlich. »Mehr als die dass alle in die gleiche Richtung zie-
Auch der letzte Kunde an diesem Hälfte der ukrainischen Kriegsflücht- hen«, sagt er.
Vormittag ist ein Syrer. Er ignoriert linge schloss den Integrationskurs Die Sprachkurse sind Aufgabe des
den Arabischübersetzer im Raum und erfolglos ab.« Bundesamts für Migration und
legt direkt auf Deutsch los. 15 Mona- Flüchtlinge (Bamf), das dem Innen-
te wohne er schon in Deutschland und Der Sonderbeauftragte in Berlin: ministerium untersteht. Wo Geflüch-
habe sich einen Putzjob besorgt. Er »Wichtig ist es, dass alle in die tete ihre Zeugnisse und Berufsab-
wolle wieder in die Gastronomie, im gleiche Richtung ziehen« schlüsse anerkennen lassen können,
Libanon habe er früher ein Restau- Um acht Uhr am Morgen sitzt Daniel ist in jedem Bundesland anders orga-
rant geleitet. Der Mann hat aber ge- Terzenbach in einem Café im Berliner nisiert. Ein Viertel der Jobcenter sind
rade erst seinen Integrationskurs be- Regierungsviertel, bereit zum Inter- rein kommunale Einrichtungen. »Der
Sonderbeauftrager
gonnen, der ist Pflicht und wird noch Terzenbach: Er soll
view. Kein anderer Termin war an Jobturbo gilt aber in der ganzen Re-
ein paar Monate dauern. den »Jobturbo« dem Tag frei, sein Kalender ist voll. publik«, sagt Terzenbach.
Kravchenko nimmt den »Bitte umsetzen Seit Ende Oktober ist er der »Sonder- Auch beim ukrainischen Botschaf-
nicht stören«-Zettel von seiner Büro- ter hat er vorgesprochen. Der hat kein
tür und verabschiedet sich in die großes Interesse daran, dass die Ge-
Mittagspause. Es ist ein Tag wie vie- flüchteten hierzulande heimisch wer-
le im Reutlinger Jobcenter. Niemand den. Wer soll die zerstörte Ukraine
ist an diesem Vormittag im Novem- aufbauen? Am Ende habe er den Bot-
ber in Arbeit vermittelt worden, auch schafter überzeugt, dass das Projekt
nicht jene, die schon seit Jahren im für beide Seiten ein Gewinn sei, sagt
Land sind. Erst die Sprache lernen, Terzenbach. Schließlich helfe es dem
dann rein in den Job, das ist der deut- Land, wenn seine Staatsbürger gute
sche Weg. Kontakte in die deutsche Wirtschaft
Viele Geflüchtete würden in aufbauten und sich qualifizierten.
Sprachkursen stecken oder sich wei- Das Bamf bietet jetzt neue flexi­
terbilden, heißt es beim Institut für blere Sprachkurse an. Arbeitsagen­
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, turen und Jobcenter sollen besser
das zur Bundesagentur für Arbeit ge- kooperieren. Terzenbach gibt sich
hört. Sie fänden so bessere Jobs, die nach wochenlangen Diskussionen
Betriebe qualifiziertere Mitarbeiter. und Gesprächsrunden zufrieden. Die
Doch die Erfolge sind überschau- Zahlen entwickelten sich erfreulich,
bar. Fast 80 Prozent der erwachsenen sagt er. Obwohl die deutsche Wirt-
Geflüchteten sagten 2021 in einer schaft im Dauertief stecke, hätten
Umfrage, dass sie in ihrer Heimat kei- seit Januar im Vergleich zum Vorjahr
ne berufliche Ausbildung absolviert mehr Geflüchtete, die von Bürger­
hätten. Fünf bis sieben Jahre nach geld lebten, Arbeit finden können.
ihrer Ankunft in Deutschland standen Ende Juli läuft seine Zeit als Son­
sie allerdings kaum besser da: 67 Pro- derbeauftragter aus. »Alle sind sich
zent gaben an, noch keinen Berufs- in der Sache einig«, sagt er. »Jetzt
abschluss zu haben. Das zeigt eine geht es darum, das Ganze ins Rollen
Auswertung des Sozioökonomischen zu bringen, mit aller Energie, auf
Sonja Och / laif

Panels für den SPIEGEL . allen Ebenen.« In und um Ulm haben


Eine Erklärung könnten die sie im Sommer 2023 schon mal an-
schlechten Startbedingungen sein. gefangen.

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Die Arbeitsvermittlerin aus Ehingen: Im Mai 2022 kam er nach Deutschland und
»Hemmnisse unterschiedlichster Art« Langer Weg stellte einen Asylantrag, seitdem lebt er in der
Manchmal gehen Nanette Herrmann die Ge­ Gemeinschaftsunterkunft am Rand der bay­
schichten sehr nah. »Heute Vormittag, das Art der Beschäftigung von Geflüchteten* erischen Kleinstadt Elchingen, die zum Land­
in Deutschland, in Prozent
war zutiefst bewegend«, sagt die Arbeits­ kreis Neu-Ulm gehört. Rund 60 Männer hat
vermittlerin vom Jobcenter Alb-Donau mit nicht erwerbstätig arbeitslos die Gemeinde dort untergebracht.
Büros in Ehingen und Ulm. »Ein Vater aus erwerbstätig in Ausbildung Erkan B. hatte ein paar Semester lang in
Afghanistan, der eigentlich arbeiten möchte, Mutterschutz/Elternzeit der westtürkischen Stadt Edirne Elektro­
er hat aber zwei behinderte Kinder, denen es technik studiert. Maschinen und Systeme,
nicht gut geht und die ihn brauchen. Manch­ Frauen das ist sein Ding. Deshalb würde er gern
mal sitze ich da und bin froh, dass ich einen eine Ausbildung als Mechatroniker machen.
Menschen dazu motivieren kann, überhaupt 75 Die werden händeringend gesucht – dachte
weiterzumachen, sich nicht aufzugeben. Um Erkan B. zumindest. »Mich will aber keiner«,
Arbeit geht es da nicht.« 50 sagt er.
Zu ihr ins Jobcenter kämen Menschen, die Im Herbst wurde sein Asylantrag abge­
schwer traumatisiert seien, manche hätten 37,9 lehnt. Während einer Berufsausbildung müss­
25 23,8
Foltererfahrungen, seien suizidgefährdet. »Da 17,1 te er nicht fürchten, abgeschoben zu werden.
weiß ich, die kann ich nicht zu Thomas schi­ 16,3 »Manchmal platzt mir fast der Kopf«, sagt er.
cken.« Thomas Fleckenstein ist ihr Kollege 0 4,9 Dutzende Bewerbungen habe er geschrieben,
vom »Arbeitgeber-Service« bei der Agentur 2016 2017 2018 2019 2020 häufig sei nicht einmal eine Absage ge­
für Arbeit Ulm. kommen.
Die beiden gehören zu einem neuen Team, Männer Sein ehrenamtlicher Betreuer Ozan Kilic
das seit dem Sommer arbeitslose Geflüchtete 75 vom Freundeskreis Asyl in Elchingen bestätigt
und Arbeitgeber zusammenbringen soll. Na­ dies. Er klopft seinem Schützling auf die
nette Herrmann kümmert sich um 350 Men­ 55,1
Schulter und setzt sich zu ihm. »Nicht auf­
50
schen, die Bürgergeld beziehen, viele waren geben, Erkan«, sagt der Informatiker mit tür­
mal auf der Flucht. Thomas Fleckenstein hält kischen Wurzeln. »In der Realität scheuen
den Kontakt zu den Unternehmen, sucht nach 25 20,1 dann halt doch viele Unternehmen das Risiko
passenden Arbeitskräften. »Im Grunde wie 19,7 und den Aufwand, einen Geflüchteten einzu­
eine Art Headhunter«, sagt er. 4,9 stellen, der am Anfang sprachlich und fachlich
0 0,2
Seine Kollegin sagt ihm, wer ausreichend erst mal aufholen muss.«
2016 2017 2018 2019 2020
Deutsch spricht, Berufserfahrung hat und mo­ Erkan B. hat zwar bereits einen Deutsch­
* Geflüchtete zwischen 18 und 65 Jahren, die zwischen Januar
tiviert ist. »Ich kann bei den Unternehmen 2013 und Dezember 2016 in Deutschland angekommen sind kurs belegt und die B1-Prüfung bestanden,
nicht mit jedem ankommen«, sagt er. »Es S Quelle: DIW aber ihm fehlt die Praxis, er hat kaum
‰

muss schon eine realistische Perspektive ge­ Kontakt zu Deutschen. Als die Industrie- und
ben, dass das Ganze funktioniert.« mehreren Frauen, alle in Deutschland. »Bei Handelskammer (IHK) in Ulm im Mai
Fleckenstein erzählt zwei Erfolgsgeschich­ so jemandem weiß ich, der wird nicht in zwei, einen Infotag für Zuwanderer veranstaltete,
ten: Ein Betrieb suchte einen Glasfasermon­ nicht in fünf und auch nicht in zehn Jahren drückte Betreuer Kilic vorher fast allen
teur, er schlug einen ukrainischen Bewerber arbeiten«, sagt Herrmann. Geflüchteten in der Unterkunft einen Flyer
vor. Man traf sich in dem Betrieb, der Chef Auch an anderer Stelle stoße sie an ihre in die Hand. Es war eine gute Gelegenheit,
brachte Werkzeug mit, schnell war klar, dass Grenzen. Gern würde sie mehr junge Geflüch­ Kontakte zu knüpfen, auch viele örtliche
der Ukrainer weiß, was er da tut. Und eine tete dazu motivieren, eine Lehre zu machen. Betriebe waren anwesend. Von den 60 Män­
Ukrainerin fand Arbeit im Lager eines großen »Viele wollen aber sofort Geld verdienen und nern schauten nur Erkan B. und ein weite­
Bauunternehmens. »Sie konnte nicht gut nicht drei Jahre lang eine Ausbildung ma­ rer Bewohner bei der Veranstaltung vorbei.
Deutsch, aber Russisch«, sagt Fleckenstein, chen«, sagt Herrmann. »Sie fangen als Helfer Kilic erklärt sich das mangelnde Interesse
der Filialleiter stamme ursprünglich aus Ka­ auf dem Bau an, viele auch in der Security- damit, dass viele noch nicht gut genug
sachstan und spreche auch Russisch. So kom­ Branche.« Deutsch sprächen, zu träge seien, sich aufzu­
men die beiden klar. Ihr Deutschkurs kann Für jene, die sich auf eine Lehre einlassen raffen, oder sich aufgrund mangelnder Qua­
nebenbei laufen. wollen, sollte es also eine Leichtigkeit sein, lifikationen nichts von einem solchen Termin
Allen Beteiligten ist allerdings klar, dass es schnell einen Ausbildungsplatz zu finden. erhofften.
schwierig wäre, flächendeckend so zu arbei­ Oder doch nicht? Beim Infotag hat Erkan B. Xenia Erhard
ten. Es sind zu viele Arbeitslose, die Tag für kennengelernt, die bei der IHK junge Mi­
Tag in die Jobcenter kommen. Und Ulm ist Asylsuchender Erkan B. aus Elchingen: granten betreut. Sie versucht, für die Unter­
übersichtlicher als Berlin oder Hamburg, was »Mich will keiner« nehmen geeignete Kandidaten und Kandida­
die Betreuung einfacher macht. Im Zimmer der Gemeinschaftsunterkunft tinnen zu finden, und unterstützt dann beide
Vermittlerin Herrmann schätzt, dass etwa stehen zwei Stockbetten, die Wolldecken da­ Seiten. »Integration durch Ausbildung – Per­
ein Drittel ihrer Kundinnen und Kunden über­ rauf sind ordentlich zusammengelegt. Auf spektiven für Zugewanderte«, heißt das Pro­
haupt dafür infrage kämen, irgendwann ein­ die Tür eines Metallspinds in der Ecke hat jekt. Erhard half Erkan B. dabei, sein Bewer­
mal eine Arbeit aufzunehmen. Jene, die nicht jemand mit schwarzem Stift geschrieben: bungsschreiben zu formulieren und zu ge­
bereit seien, hätten »Hemmnisse unterschied­ »Allein zu sein ist hart, aber das Leben ist stalten, und konnte ihm ein Praktikum bei
lichster Art«. Psychische oder andere gesund­ immer schön«. Erkan B., 26, nimmt den Was­ einem Maschinenbauer vermitteln, mit der
heitliche Einschränkungen, Drogenprobleme, serkocher aus der Halterung auf dem Fenster­ Aussicht auf eine Lehrstelle.
manchmal gebe es auch kulturelle Gründe. brett, gießt Schwarztee auf und setzt sich an Nach einer Woche kam die Rückmel­
Einer ihrer Kunden, ein Afghane, habe ihr den Tisch in der Mitte des Zimmers. Draußen dung, es habe vorerst keinen Sinn wei­ter­­
erklärt, dass er als Oberhaupt der Familie ist die Sonne an diesem Novembertag bereits zumachen. Erkans Deutsch sei nicht aus­
nicht bereit sei zu arbeiten. In seinen Kreisen untergegangen, es regnet. »Ich weiß nicht, reichend, das theoretische Wissen aus dem
in Afghanistan zeuge dies von mangelndem wer den Spruch da hingeschrieben hat«, sagt Studium kein Vorteil bei der praktischen
Wohlstand. Der Mann habe 18 Kinder von er. »Aber ich mag ihn.« Arbeit. Auch Englisch spricht er kaum. »In

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ARBEITSMARKT
Infrastruktur in den Ausländerbehörden ist

»Einen echten Reformwillen kann


aber stark auf Fluchtmigration ausgerich-
tet. Alle müssen durch dasselbe Nadelöhr:
ein Flüchtling, der übers Mittelmeer ge-
ich in der Politik nicht erkennen« kommen ist und vielleicht kaum lesen und
schreiben kann, genauso wie eine Chirur-
gin aus Brasilien oder ein indischer Bank-
Die Rechtsanwältin Bettina Offer erzählt, wie schwer vorstand mit einem Jahresgehalt von meh-
Deutschland es ausländischen Fachkräften macht und was reren Hunderttausend Euro.
aus ihrer Sicht helfen könnte. SPIEGEL: Klingt immerhin fair.
Offer: Ja, schöner Gedanke. Das Ganze
Offer, 55, ist Rechtsan­ als Juristin einmal wünschen würde, funktioniert nur leider in der Praxis nicht.
wältin in Frankfurt am mit einer Brechstange Türen aufstemmen Dazu ist der globale Wettbewerb um die
Main und Expertin für zu können. besten Köpfe zu groß. Wir haben ohnehin
das Recht der Ausländer­ SPIEGEL: Das klingt dramatisch. einen Nachteil, weil die deutsche Sprache
beschäftigung. Als Sach­ Offer: Das war natürlich scherzhaft ge- für viele ein Hindernis ist. Und Fachkräf-
verständige hat sie 2019 meint, hat aber einen ernsten Hinter- ten wird in anderen Ländern auch noch
und 2023 den Innen­ grund. Meine Kanzlei stellt pro Jahr etwa ein roter Teppich ausgerollt. Dort erleben
Christian Schorn

ausschuss des Bundes­ 3000 Anträge. Das System hat noch nie sie, dass sie in ihrer Lebensleistung und
tags zur Fachkräfte­ besonders gut funktioniert, inzwischen ihrer beruflichen Kompetenz gesehen
zuwanderung beraten. ist es in manchen Regionen zusammen­ werden – und nicht auf ihre Eigenschaft
gebrochen. Man ruft bei der Behörde an, als »Ausländer« reduziert werden.
SPIEGEL: Frau Offer, Ihre Kanzlei hilft und es geht niemand ans Telefon. Man SPIEGEL: Und in Deutschland?
Unternehmen in Deutschland, wenn sie schreibt eine Mail, die wird nicht gelesen. Offer: Bei uns müssen sie erst monatelang
ausländische Fachkräfte einstellen wollen. Man versucht persönlich hinzugehen, auf einen Termin in einem Konsulat war-
Kommen die Personalabteilungen nicht aber da steht ein Sicherheitsbeamter ten, um endlich an ein Visum zu kommen.
allein klar? und lässt einen nicht rein, weil man kei- Wenn sie es nach Deutschland geschafft
Offer: Viele Leute haben immer noch eine nen ­Termin hat. Das ist selbstverständ- haben, stehen sie mitunter stundenlang
falsche Vorstellung davon, wie das mit lich nicht überall so, aber tatsächlich vor der Ausländerbehörde in der Schlange.
der Erwerbsmigration abläuft. Sie glauben, funktionieren zu viele Behörden derzeit Das schadet dem Image des Wirtschafts-
irgendwo in Indien wird ein IT-Spezialist einfach nicht mehr so, wie es wünschens- standorts Deutschland. Es muss doch für
von einem Geistesblitz getroffen und wert wäre. eine aus­ländische Fachkraft möglich sein,
denkt sich: Ich würde gern in Deutschland SPIEGEL: Was ist mit dem guten alten Post- eine Aufenthaltsgenehmigung zu verlän-
­arbeiten. Weil er eine Stellenanzeige gese- weg? gern, ohne einen Nervenkrimi zu erleben.
hen hätte oder Werbung für die Bundes­ Offer: Das können Sie versuchen und hof- SPIEGEL: Was passiert, wenn die Genehmi-
republik. So funktioniert das in der Praxis fen, dass der Brief nicht verloren geht. gung ausläuft?
aber nicht. Dann dauert es drei bis vier Wochen, bis Offer: Wer den Antrag rechtzeitig stellt,
SPIEGEL: Wie dann? der Umschlag von der Poststelle auf den ist nach wie vor legal im Land. Um das
Offer: Die internationalen Konzerne haben Schreibtisch des Sachbearbeiters gelangt. belegen zu können, müsste er oder sie
im Ausland, in Indien beispielsweise, an SPIEGEL: Wie kann das sein? aber eine sogenannte Fiktionsbescheini-
den Universitäten eigene Präsenzen und Offer: Viele Behörden sind unterbesetzt, gung erhalten. Wenn die Ausländerbe­
akquirieren dort ihr Personal. Die Leute die Krankenstände hoch. Hinzu kommt: hörde ­keine Zeit hat, das Papier auszustel-
werden in den Tochterfirmen vor Ort fit Wir sprechen die ganze Zeit über die drin- len, kann es für Arbeitnehmer aus Dritt-
für den internationalen Einsatz gemacht gend benötigte Fachkräftemigration, die staaten äußerst unangenehm werden.
und erst danach nach Kanada, in die
USA oder in europäische Länder wie
Deutschland ­geschickt. Das wickeln zu-
meist Dienst­leister aus den USA oder Groß-
britannien für die Personalabteilungen ab.
SPIEGEL: Und wann kommen Sie ins
Spiel?
Offer: Als deutsche Anwältin bin ich in
­diesem Fall das letzte Glied in der Kette.
Die globalen Agenturen kontaktieren
mich, wenn sie für ein Unternehmen be-
stimmte Mitarbeiter nach Deutschland
schicken wollen. Wir beraten die inländi-
schen Personalabteilungen, schauen,
­welche Visa infrage kommen, stellen die
Anträge bei den Auslandsvertretungen
und Ämtern und helfen, wenn es hier Pro-
bleme mit den Behörden gibt.
SPIEGEL: Man hört immer wieder, dass
Julian Rettig

einen das viele Nerven kosten kann.


Offer: Wie sagte eine Kollegin kürzlich
zu mir: Sie hätte nie gedacht, dass sie sich Wartende vor der Ausländerbehörde in Stuttgart: »Stundenlang in der Schlange«

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vielen Technikberufen kann es zum Si­


Werden sie von der Polizei kontrolliert, SPIEGEL: Sie haben ihre Vorschläge auch cherheitsrisiko werden, wenn sich jemand
können sie nicht nachweisen, dass sie ein als Sachverständige im Bundestag vor­ nicht gut verständigen kann«, sagt Xenia Er­
Aufenthaltsrecht haben. Und: Erzählen getragen. Wie kamen sie an? hard. Sie hoffe sehr, dass Erkan genug Durch­
Sie mal einem hochrangigen Mitarbeiter Offer: Es gab Signale von CDU und FDP, haltevermögen habe. »Am Ende kann das gut
eines internationalen Konzerns, dass er dass man den Gedanken interessant werden.«
leider nicht zum 80. Geburtstag seiner ­finde. Aber einen echten Reformwillen Tatsächlich hat der junge Türke nach
Mutter in die Heimat reisen kann, weil kann ich in der Politik nicht erkennen. vielen Monaten endlich Erfolg. Anfang März
die Ausländerbehörde nach Monaten SPIEGEL: Warum nicht? Es ist erklärter erhält er eine Zusage der Deutschen Bahn:
noch keine Zeit hatte, seinen Antrag zu Wille der Bundesregierung, mehr Fach­ Ausbildung als Elektroniker für Betriebs­
bearbeiten. Oder besser gesagt, er könn­ kräfte aus Drittstaaten nach Deutschland technik, und den B2-Deutschkurs bietet das
te natürlich ausreisen, dürfte aber da­ zu holen. Unternehmen dazu gleich mit an. Im Sep­
nach nicht mehr für seinen Job einreisen. Offer: Eines der Hauptprobleme ist der tember kann er anfangen, vorausgesetzt,
Da kommt es schon mal vor, dass diese Föderalismus und die verstreuten Zustän­ die Ausländerbehörde erteilt ihm recht­
Person dann hier kündigt und tatsächlich digkeiten. In den 16 Ländern haben wir zeitig eine Ausbildungsduldung. Erkan B.
wieder abreist – zum Nachteil des hiesi­ 540 verschiedene Ausländerbehörden traut dem Glück noch nicht ganz. »Ich freue
gen Arbeitgebers. mit unterschiedlichen IT-Systemen. Und mich erst, wenn ich alle Papiere dafür in der
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor? auf Bundesebene sieht es kaum besser Hand habe.«
Offer: Erwerbsmigration und Fluchtmi­ aus. Da bekommen wir es seit Jahren Die IHK Ulm hat Broschüren, Flyer und
gration getrennt zu behandeln: Wir soll­ nicht hin, eine einheitliche Migrations­ Infomaterial für Geflüchtete und Betriebe
ten eine parallele Infrastruktur in den politik auf Bundesebene zu entwerfen. zusammengestellt. Manchmal sind es
Behörden für qualifizierte Fachkräfte aus Zuständig sind: das Bundesministerium mehrseitige Schaubilder mit Pfeilen und Er­
dem Ausland aufbauen. Begrüßenswert für Arbeit und Soziales, das Bundesin­ klärkästen. Wann darf ein Asylbewerber ar­
wäre auch eine zentrale Einwanderungs­ nenministerium, das Auswärtige Amt, die beiten? In der Regel nach wenigen Monaten,
behörde, die über Einreisen entscheidet. Bundesbeauftragte für Migration, Flücht­ spätestens sobald er anerkannt ist. Was ist,
Im Moment läuft das alles über die Aus­ linge und Integration. Auch das Bundes­ wenn ein Migrant nur geduldet ist, also
landsvertretungen, bei denen teilweise wirtschaftsministerium mischt ein biss­ seine Abschiebung vorerst ausgesetzt wurde?
über Monate kein Termin zu kriegen ist. chen mit. Und in allen Häusern sind die Auch dann kann er nach ein paar Monaten
Eine neue Infrastruktur würde sich sofort Abteilungen in der Regel nach verschie­ eine Arbeitserlaubnis erhalten, jedoch nur,
rechnen. denen Koalitionsparteien aufgesplittert, wenn er seine Identität nicht verschleiert.
SPIEGEL: Warum? die unterschiedliche Meinungen zum Migranten aus Ländern wie Albanien oder
Offer: Der deutsche Staat könnte damit Thema haben. Ghana, die Deutschland als sichere Her­
leicht einen Gewinn einfahren und so SPIEGEL: Was machen Einwanderungs­ kunftsstaaten einstuft, dürfen keiner Er­
eine neue bessere Verwaltung finanzie­ länder wie Kanada anders? werbstätigkeit nachgehen, wenn ihr Asyl­
ren. In den USA zahlen Einwanderer Offer: In Kanada gibt es ein Ministerium, antrag abgelehnt wurde.
zehntausend Dollar für ein Arbeitsvisum, das ausschließlich für das Thema Einwan­ Die Bestimmungen, die Regeln, wer arbei­
in Großbritannien umgerechnet ein paar derung zuständig ist. Dort ist alles gebün­ ten darf, sind in den vergangenen Jahren
Tausend, in den Niederlanden ein paar delt. Der Minister kann sich an die Spitze zwar in vielen Fällen liberaler geworden.
Hundert. In Deutschland kostet der gan­ einer Debatte setzen, und das kanadische Trotzdem bringen sie die Mitarbeiter in den
ze Spaß 75 Euro fürs Visum und 110 für Parlament diskutiert selbstverständlich Personalabteilungen regelmäßig zur Ver­
den Aufenthaltstitel. Das war’s. darüber, wie viele Erwerbsmigranten zweiflung.
SPIEGEL: Das schreckt immerhin nie­ und wie viele Geflüchtete Kanada jähr­
manden ab. lich ins Land lassen möchte. Bei uns wird Die ukrainische Erzieherin:
Offer: Erwerbsmigranten werden nicht hingegen selten sachlich und lösungs­ »Ich möchte nicht mehr zurück«
von staatlichen Gebühren abgeschreckt, orientiert darüber diskutiert, wie viele Tetiana Smirnova, 48, hat nicht viel Zeit zu
wohl dagegen von langen Wartezeiten. Migranten mit welchem Hintergrund reden. Zehn Jungen und Mädchen sitzen auf
Die Leute wären gern bereit, mehr Geld Deutschland aufnehmen möchte – und kleinen Stühlen um runde Tische und löffeln
zu bezahlen, wenn dadurch das Zuwan­ wer in unseren Arbeitsmarkt passt. Wir Borschtsch, eine Suppe aus Roter Bete und
derungssystem funktionieren und ihr hängen immer noch an der Frage, ob und Weißkohl. Immer wieder schaut die Pädago­
Leben leichter würde. Außerdem zahlen wie wir Migration begrenzen können. gin, ob eines der Kinder Hilfe braucht. Seit
sie ab dem ersten Tag, an dem sie arbei­ SPIEGEL: Und in Kanada? vorigem Jahr arbeitet sie als Erzieherin in
ten dürfen, Steuern und Sozialversiche­ Offer: Ein Ausländerrechtler von dort sag­ einer Begegnungsstätte für ukrainische
rungsbeiträge. Und die Unternehmen te mir mal: »Wir Kanadier wissen, dass Flüchtlingskinder und ihre Eltern in Berlin-
brauchen die Leute händeringend. Je­ wir Migranten brauchen, und sind ihnen Wilmersdorf.
der Tag, den wir diese Personen warten gegenüber offen und positiv eingestellt. Bevor Russland ihre Heimat angriff, war
lassen, kostet uns als Solidargemein­ Wir wissen aber auch, dass wir nur eine Smirnova an einer Grundschule tätig, sie hat
schaft Geld. Es ist einfach nicht klug zu begrenzte Anzahl an Flüchtlingen finan­ mehr als 20 Jahre Arbeitserfahrung mit Kin­
sagen, wir behandeln alle gleich, nur zieren können. Deshalb setzen wir in Re­ dern. Als sie in Berlin ankam, suchte sie sich
weil sie Ausländer sind. Tatsächlich ne­ lation, wie viele der Erwerbsmigranten aber erst einmal einen Job als Zimmermäd­
giert es die Leistungsfähigkeit derjeni­ nötig sind, um einen Flüchtling zu finan­ chen. »Dafür braucht man nicht viel Deutsch«,
gen, die als Arbeitskräfte zu uns kom­ zieren. Daran macht sich die Zahl der erklärt sie. »Arbeiten ist wichtig für mich,
men wollen, und reduziert sie auf ihr Asylsuchenden fest, die wir aufnehmen.« damit ich abgelenkt bin.« Smirnovas Mann
»Ausländersein«. Diese Form der Dis­ Länder wie Kanada stellen sich eben ist an der Front, sie fühle die Angst um ihn in
kriminierung können wir dann auch in konkret drei Fragen: Wen brauchen wir? jedem Moment.
Studien erkennen, wenn Fachkräfte die Wer passt zu uns? Wer braucht unsere Neben ihrem Job besucht Smirnova einen
fehlende Willkommenskultur unserer Hilfe? Ganz rational. Deutschkurs. »Ich möchte nicht mehr zu­
Behörden bemängeln. Interview: Susmita Arp, Katrin Elger  n rück«, sagt sie und hofft, dass ihr Mann ir­
gendwann nachkommen kann. Bald wolle sie

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 27


DEUTSCHLAND

füllen. Deutschland nimmt Menschen


aus humanitären Gründen auf. Es
wäre eine glückliche Fügung, wenn
jene, die vor Krieg, Zerstörung oder
Armut fliehen, zu den Spezialisten
würden, die manche Branchen so
dringend suchen.
Die Rechtsanwältin Bettina Offer
aus Frankfurt am Main vertritt große
Konzerne, die ausländische Spezialis­
ten rekrutieren: Softwareentwickler,
Banker, Accountmanager. »Das ist ein
globaler Markt«, sagt sie. »Die High
Potentials, von denen wir hier spre­
chen, sind meistens nicht in Deutsch­
land unter Geflüchteten zu finden«
(siehe Interview Seite 26).
Rund die Hälfte der Geflüchteten

Sophie Kirchner / DER SPIEGEL


gab in der Umfrage von 2021 an, sechs
Jahre nach ihrer Ankunft eine Be­
schäftigung gefunden zu haben. Im
Schnitt verdienen sie aber kaum mehr
als den Mindestlohn. In die Statistik
einbezogen wurden Mini- und Teil­
zeitjobs sowie bezahlte Praktika.
sich um die Anerkennung ihrer Ab­ ­ öster dabei, Briefe an die Behörden
K Pädagogin, Kinder »Die Hoffnung, die manche am An­
schlüsse aus der Ukraine kümmern, zu schreiben oder eine Arbeit zu in Begegnungsstätte fang hatten, dass Deutschland mit
in Berlin-Wilmers-
um auch an einer deutschen Schule ­finden. dorf: »Die Eltern
Geflüchteten das Fachkräfteproblem
oder Kita arbeiten zu können. Der Die Leiterinnen des Zentrums ver­ und Kinder brauchten lösen kann, hat sich nicht erfüllt«,
Weg dahin ist weit. Der Beruf Erzie­ suchen, dafür zu sorgen, dass Kinder schnelle Hilfe« sagt der Ökonom Holger Bonin, Lei­
herin ist in Deutschland reglemen­ und Eltern einerseits den Kontakt ter des Wiener Instituts für Höhere
tiert, wer in dem Feld arbeiten möch­ zur Ukraine nicht verlieren, ande­ Studien. »Wenn wir uns aber die
te, muss seine Zeugnisse von den rerseits aber eine Chance bekom­ schlechten Voraussetzungen vieler
Behörden auf »Gleichwertigkeit« men, in Deutschland anzukommen. Geflüchteter anschauen, ist die
überprüfen lassen und ausreichend »Wir können nicht wissen, wer wie Arbeitsmarktintegration dennoch ein
Sprachkenntnisse nachweisen. lange bleibt«, sagt Köster. Gestern Erfolg«, sagt er. Man müsse weiterhin
Auch in anderen Branchen mit habe sich wieder eine Mutter ver­ »möglichst viel Kraft auf Fort- und
­reglementiertem Zugang, bei der abschiedet. »An Weihnachten war Weiterbildung verwenden, und das
­Pflege etwa, klagen Arbeitgeber über sie mit ihrem Sohn in der Ukraine, braucht Zeit.«
die deutsche Bürokratie. Sie sagen: als ihr Mann Fronturlaub hatte.« Das Sosehr sich alle bemühen: Es kom­
Die Behörden sollten weniger auf vierjährige Kind habe mit dem Vater men so viele Zuwanderer aus Kriegs-
Zeugnisse und Dokumente schauen gefremdelt, ihn sogar abgelehnt. und Krisenländern, dass die Unter­
und mehr auf die Berufserfahrung der »Die Mutter hatte eine sehr schwere stützung nicht ausreicht. Bürgermeis­
Leute. Entscheidung zu treffen, auch mit ter und Landräte schlagen in vielen
Alexandra Melendez, 33, und Blick darauf, was das Beste für ihren Regionen nicht nur Alarm, weil sie
Maria Köster, 44, kennen das Leid Sohn ist.« mit der Unterbringung überfordert
der Arbeitgeber. Die Gründerinnen Vielen der Eltern gehe es schlecht, sind. Sie wissen auch, dass zu Inte­
der Begegnungsstätte versuchten des­ sagt Köster. Auch die Kinder hätten gration mehr gehört als nur ein Dach
halb erst gar nicht, eine reguläre Kita viel durchgemacht. Die Begegnungs­ über dem Kopf. Es fehlen Pädagogin­
aufzubauen, sondern gingen einen stätte arbeitet deshalb mit einer rus­ nen, die sich um die geflüchteten Kin­
Sonderweg. »Die Eltern und Kinder sischsprachigen Psychologin zusam­ der kümmern können, Lehrkräfte an
brauchten schnelle Hilfe«, sagt Me­ men. »Wir müssen alles versuchen, den Sprach- oder Berufsschulen, Mit­
lendez, die in der Ukraine geboren damit die Kleinen aufgefangen und arbeiter in den Ämtern oder Psycho­
wurde und als Fünfjährige nach aufgepäppelt werden«, sagt Köster. loginnen, die Traumatisierte behan­
Deutschland kam. Köster ist Russin. »Ich finde, das ist unsere Pflicht, und deln können.
Auch deshalb ist das Projekt, das drei deshalb hängen wir uns so wahnsin­ Kann Deutschland ein erfolg­
Jahre lang von der Hasso Plattner nig rein.« reiches Einwanderungsland werden?
Foundation finanziert wird, etwas Be­
sonderes. Fünf Pädagoginnen haben Fazit: Die Flucht vor den
Es kommen Das hängt davon ab, ob jene, die
hier ankommen, ihren Platz in dieser
dort einen festen Job gefunden, ein ­unbequemen Fragen so viele Gesellschaft finden. Arbeit ist dabei
Hausmeister und eine Putzkraft, alle Der Bäcker, die Arbeitsvermittler, der aus Kriegs- sehr wichtig. Die Frage, wie viele Ge­
aus der Ukraine.
Die Mütter und Väter können über
Sonderbeauftragte, der Geflüchtete,
die Erzieherin: Sie und Unzählige an­
und Krisen- flüchtete dieses Land in welchem
Zeitraum aufnehmen kann, wird sich
die Website stundenweise Be­treuung dere wissen, wie schwer es viele Zu­ ländern, dass die deutsche Gesellschaft deshalb
ihrer Kinder buchen, um etwas zu wanderer auf dem deutschen Arbeits­ die Unter­ stellen müssen. Auch wenn sie unan­
erledigen oder um einen Deutschkurs markt haben. Die Hoffnung, dass genehm ist.
in der Einrichtung zu besuchen. Geflüchtete den Mangel an Fachkräf­ stützung nicht Susmita Arp, Florian Diekmann,
Außerdem helfen Melendez und ten ausgleichen, kann sich kaum er­ ausreicht. Katrin Elger, Christine Keck  n

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DEUTSCHLAND

»Ich habe an der WHU das Kotzen gelernt«


STUDIUM Die private Wirtschaftshochschule WHU mit Sitz in Vallendar bei Koblenz hat vier
Studierenden gekündigt, die andere zu exzessivem Alkoholkonsum
gedrängt haben sollen. SPIEGEL-Recherchen zeigen: Solche Vorfälle gab es wohl häufiger.

D
as Ritual hat einen Namen: »Rohr­ erst das Landgericht und im Fall der Patin sprochen, Chats, Videos und Bilder gesichtet.
bruch«. Typischerweise müsse man anschließend auch das Oberlandesgericht Ko­ Die Schilderungen und Dokumente legen die
große Mengen Bier »exen«, also ohne blenz. Die Verträge seien also wirksam ge­ Vermutung nahe: Was am 30. August 2023
abzusetzen trinken, immer wieder. Sich zwi­ kündigt worden. passierte, war kein Einzelfall.
schendurch ins Klo oder in ein Gefäß über­ Der Fall wirft einen Schatten auf eine Hoch­ Die Studenten berichteten von institutio­
geben. So schildern es drei Studenten, die das schule, die sich eigentlich mit ihren Studieren­ nalisierten Saufgelagen und erniedrigenden
Ritual nach eigenen Angaben durchlaufen den rühmt. 1984 gegründet, galt die WHU Ritualen im Umfeld der Uni, manchmal sogar
haben, als Teil ihrer Einführungswoche an der schnell als »Eliteuni« und »Start-up-Schmie­ in deren Räumen, meist in der Einführungs­
privaten Wirtschaftshochschule WHU – Otto de«. Das Gründermagazin »StartingUp« woche, aber auch mitten im Semester, etwa
Beisheim School of Management, organisiert nannte sie im vergangenen Jahr einen »Uni­ nach Klausuren. Frauen stehe frei, ob sie mit­
von sogenannten studentischen Patinnen und corn-Brutkasten«, weil sie regelmäßig Grün­ machen wollten, üblicherweise seien Männer
Paten. der sogenannter Einhörner hervorbringe, jun­ in der Überzahl.
Ein »Rohrbruch«, der sich am 30. August ge, innovative Unternehmen, die eine Markt­ Gegenüber dem SPIEGEL haben sich nur
2023 zugetragen haben soll, findet inzwischen bewertung von mindestens einer Milliarde Männer geäußert. Manche wollten nicht im
Erwähnung in einem Beschluss des Oberlan­ US-Dollar vor Börsengang bekommen. Detail über die Rituale sprechen. Andere ga­
desgerichts Koblenz vom 6. November. Eine 8500 Euro Studiengebühren verlangt die ben an, davon gehört, aber nicht daran teil­
Gruppe Studierender habe sich in einer Pri­ WHU pro Semester, sie ist damit eine der genommen zu haben. Wieder andere beton­
vatwohnung zu einer »Feier« getroffen. Mit teuersten Privatunis in Deutschland. Nur etwa ten vor allem die positiven Seiten der WHU:
dabei: Studierende aus höheren Semestern 2000 Studierende sind derzeit eingeschrie­ den guten Ruf, das beschauliche Campusleben
als Paten und solche, die ihr Studium gerade ben, entsprechend familiär geht es in den oder die studentischen Initiativen, die Studie­
erst begonnen hatten. An dem Abend seien Kursen zu. Auf ihrer Website betont die Hoch­ rende mit Dax-Vorständen oder Bundestags­
zwei der Paten mit einem Erstsemester­ schule »a strong sense of community«, ein abgeordneten in Kontakt bringen.
studenten und einem Kasten Bier in eines der starkes Gemeinschaftsgefühl. Diejenigen, die von Saufgelagen erzählt
Badezimmer gegangen, zwei weitere Patin­ Dass Studienanfänger zum Saufen ge­ haben, wollen anonym bleiben, aus Angst,
nen hätten die Tür von außen abgeschlossen. drängt worden sein sollen, passt nicht ins als Verräter zu gelten, von wichtigen Netz­
Etwa 30 Minuten habe der »Rohrbruch« Bild. Und doch hat es offenbar System. Der werken ausgeschlossen zu werden oder als
gedauert, so steht es im Beschluss. Immer SPIEGEL hat in den vergangenen Monaten beruflich verbrannt zu gelten. Einige sind in­
wieder seien aus dem Bad Rufe zu hören ge­ mit mehreren aktuellen und ehemaligen zwischen an andere Unis gewechselt, manche
wesen: »Lasst mich hier raus!« WHU-Studenten sowie mit einem Vater ge­ erst vor Kurzem – auch wegen des Klimas an
Dass Studierende Partys feiern, Alkohol der WHU, sagen sie.
trinken, mitunter auch viel, ist bekannt – die Wer anfängt, einen Bachelorstudiengang
Hochschule trägt in der Regel nicht die Ver­ in Internationaler BWL oder Wirtschaftspsy­
antwortung, die allermeisten Studierenden chologie an der WHU zu studieren, wird in
sind volljährig. Nach dem 30. August 2023 der Regel einer sogenannten Patengruppe zu­
aber entschied die WHU, die Studienverträge geteilt. Fünf bis sechs ältere Studierende sei­
von vier Paten zu kündigen, was einer Ex­ en für sechs bis sieben Erstsemester zuständig,
matrikulation gleichkommt – so bestätigte es heißt es von der WHU. Die Patinnen und Pa­
eine Sprecherin der Hochschule. Drei der ge­ ten sollen die Neulinge – in Vallendar auch
kündigten Ex-Studierenden, zwei Männer »Quietschies« genannt – ins Hochschulleben
und eine Frau, legten vor Gericht Beschwer­ einführen, den Einstieg ins Studium erleich­
de gegen ihren Rauswurf ein, ohne Erfolg. tern. Wer wen wie betreue, das organisierten
Über einen der Paten heißt es in den Ge­ die Studierenden selbst, schreibt eine WHU-
richtsdokumenten, er habe die Erstsemester Sprecherin.
an jenem Abend »massiv« unter psychischen In den Gerichtsbeschlüssen zu den Ereig­
Illustration: Karina Tungari / DER SPIEGEL

Druck gesetzt, »Alkohol zu konsumieren, um nissen vom 30. August spielt das Patenmodell
kein Außenseiter zu sein und Teil der Hoch­ eine entscheidende Rolle. Die Paten, heißt es
schulgemeinschaft zu werden«. Über die Pa­ Wer in Vallendar sein dort, hätten eine »offizielle Position« und be­
tin, sie habe durch das Abschließen der Bade­
zimmertür eine »psychologische Drucksitu­
Bier verschüttet, stimmten daher mit, welches Bild neue Stu­
dierende von der WHU hätten.
ation« mit aufgebaut. Alle drei könnten durch »blutet«. Man säuft Neulinge erhielten in den vergangenen
ihr Verhalten das Ansehen der Hochschule
beschädigen und hätten somit ihre Pflichten
nicht, man Jahren mitunter wohl schon vor Beginn der
Einführungswoche Post von den Paten: Chat­
aus dem Studienvertrag verletzt, entschied »kippt« oder »presst«. nachrichten mit Fragebögen nämlich, aus

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 29


DEUTSCHLAND

Er sei sich sicher, dass er sich an


seinen ersten Tagen an der WHU von
Montag bis Donnerstag täglich über-
geben habe. Nicht immer, weil ihm
vom Alkohol schlecht geworden sei,
sondern auch aus rein praktischen
Gründen: weil sein Körper bei den
Saufritualen nicht so viel Flüssigkeit
auf einmal habe aufnehmen können.
Und um länger durchzuhalten. Er
sagt: »Ich habe an der WHU das Kot-
zen gelernt.«
All diese Schilderungen beziehen
sich auf Ereignisse vor dem 30. Au-
gust 2023 und damit vor dem Raus-
wurf der vier Studierenden; die
nächs­ t e Einführungswoche für
­Bachelorstudierende beginnt erst im
Spätsommer. Den Gerichtsdokumen-
ten lässt sich entnehmen, dass die
WHU wohl von den Saufgelagen
wusste, zumindest zum Teil – und
dass sie zuletzt versuchte, sie zu
denen schnell klar wurde, welche der. Ein Student sagt, die Paten seien »Verträgst du unterbinden. In einer Mitteilung des
Qualifikationen von künftigen Kom- laut und beleidigend gewesen, wenn Landgerichts Koblenz zum Fall eines
militoninnen und Kommilitonen er- man nicht machte, was sie sagten. viel Alkohol?« der gekündigten Studenten etwa
wartet werden. Neben »Vollgas«, Manche Paten hätten selbst mit­ »Was ist deine steht, die Hochschule habe »wegen
»110 Prozent« und »Verzicht auf getrunken und sich erbrochen. ähnlicher Eskalationen in der Ver-
Schlaf« kommt es offenbar auch auf Die Sprache der Jung-BWLer er-
peinlichste gangenheit« vorab alle Studierenden
eine hohe Alkoholtoleranz an. Fragen innert an die von Burschenschaften. Saufstory?« per E-Mail gewarnt und »mit entspre-
lauten etwa: »Welches ist dein Lieb- Wer in Vallendar sein Bier verschüt- Im Chat gestellte chenden Konsequenzen bis zur frist-
lingsgetränk?«, »Verträgst du viel Al- tet, »blutet«. Man säuft nicht, man Fragen an losen Kündigung des Studienvertrags
kohol?«, »Was ist deine peinlichste »kippt« oder »presst«. Vor dem An- ­Erst­semester gedroht«.
Saufstory?« Entsprechende Screen- setzen eines Biers wird ein ritueller Von der WHU selbst heißt es, über
shots liegen dem SPIEGEL vor. Spruch »annonciert« – ein Vokabular, Exzesse in den Räumen der Hoch-
Die Botschaft dahinter scheint das man in Fechtregeln schlagender schule sei nichts bekannt. Auch in-
klar: Wer zur Business-Elite gehören Verbindungen findet. Und wenn das wieweit es in Privaträumen zu Vor-
will, muss beim Saufen dabei sein. Bier wieder hochkommt, erbricht fällen wie am 30. August 2023 kom-
Ähnliche Botschaften sendeten die man sich nicht, sondern »papstet«. me, entziehe sich ihrer Kenntnis:
Paten offenbar in der Einführungs- Der »Papst« taucht zudem in einem »Wir überwachen solche Aktivitäten
woche. Ein Student erinnert sich weiteren Ritual auf. Es finde oft in Kel- ebenso wenig wie das studentische
gegenüber dem SPIEGEL an sein »Pa- lerräumen statt, in privaten Häusern Leben insgesamt«, schreibt die Spre-
tendinner«, ein Abendevent, bei dem und Wohnungen, aber angeblich auch cherin. Wenn sie jedoch von »Fehl-
die Paten in kleinen Gruppen für die im »Gewölbekeller«, einem Raum entwicklungen« erführen, wie eben
Erstsemester kochen. Die Atmosphä- unter der Uni, sagen mehrere. Ein ehe- in der Einführungswoche 2023, wür-
re sei seltsam gewesen. Auf den Stu- maliger WHU-Student beschreibt die den sie dem »konsequent und um-
fen im Treppenhaus einer Privatwoh- Atmosphäre in einem der privaten gehend« entgegenwirken.
nung hätten Shots gestanden, die Keller so: »Es liegen Zigarettenstum- Fragt man die WHU-Studenten,
Paten hätten von den Erstsemestern mel herum, an der Seite stehen Kisten warum sie bei den von ihnen geschil-
verlangt, diese zu trinken – sonst wür- mit Bier, in der Mitte der Papst.« Ge- derten Ritualen mitgemacht hätten,
den sie nicht eingelassen. »Die Paten meint ist ein Kotzbehälter, das könne sagen die meisten: aus Sorge, aus der
warteten oben und feuerten uns an«, ein Mülleimer sein, eine Wanne oder Unigemeinschaft ausgeschlossen zu
sagt der Student. Nach dem Essen eine Regentonne. werden. Sie hätten den Druck der
habe sich das Prozedere an einer Die Paten, sagt der Student, hätten Gruppe gespürt, sich anstacheln las-
Treppe im Freien fortgesetzt. ihn und andere Erstsemester in den sen. Manche sagen auch, sie hätten
Ein weiterer Student – selber Jahr- Keller gelotst und die Handys einkas- Angst gehabt, das exklusive Netz-
gang, andere Patengruppe – hat das siert, damit niemand filmt. Was an- werk der Hochschule nicht mehr nut-
Trinken an der Außentreppe ähnlich in schließend passiert sein soll, schildert zen zu können und damit ihre Kar-
Illustration: Karina Tungari / DER SPIEGEL (2)

Erinnerung. Stufe für Stufe habe er sich er so: »Saufen, kotzen, demütigen.« riere zu gefährden.
auf Anweisung seiner Paten »hochge- Die Erstsemester hätten reihum Bier Zugleich gibt es offenbar jene, die
arbeitet«, dabei reichlich getrunken. geext und sich in den Behälter über- an den Praktiken Gefallen finden.
Auch vom »Rohrbruch« erzählen geben. Er sagt, er habe neben Kom- Wer sich hart gesotten präsentiere,
die Studenten. Wie am 30. August militonen in Unterhose gestanden, erzählen mehrere, gelte als potenziel-
2023 soll das Ritual in den Jahren da- manche seien komplett nackt ge­ ler Kandidat für das Partyministe-
vor in Privatwohnungen stattgefun- wesen und voller Erbrochenem. »Ich rium, eine Gruppe aus älteren Stu­
den haben, aber auch in den Toiletten habe mindestens zwei Stunden im dierenden, die mehrere Partys pro
der Hochschule, das berichten meh- Keller verbracht, was bei mir zu kur- Semester organisiert. An der WHU
rere Studenten unabhängig voneinan- zen Blackouts geführt hat.« kursieren entsprechende Bewer-

30 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


DEUTSCHLAND

Wie wir
bungsvideos für das Gremium, eines liegt dem
SPIEGEL vor. Zwei junge Männer schreiten
darin zu sakraler Musik in einen Kellerraum,
auf einem Tisch reihen sich Trinkbecher. In

20 Jahre
den nächsten Minuten kippen die beiden ein
Getränk nach dem anderen, zwischendurch
erbrechen sie sich, dutzendmal, offensichtlich

länger leben
freiwillig.
Die Frage ist, ob der Rauswurf der vier
Paten nachhaltig etwas an diesen Zuständen
ändert. Studenten berichten, der Fall sei an-
fangs zwar Thema gewesen auf dem Campus,
doch die Rituale würden weitergehen. Für
etliche Studierende gehörten sie eben zur
DNA der WHU, sagt ein Ehemaliger.
Die Hochschule sieht die Kündigungen als
Beleg für ihr entschlossenes Handeln: »Wie
wir unter Beweis gestellt haben, sind wir wil-
lens, Konsequenzen zu ergreifen und durch-
zusetzen«, schreibt die Sprecherin. Und ver-
weist darauf, dass es die Möglichkeit gebe,
entsprechende Vorfälle anonym zu melden,
über ein zertifiziertes Whistleblower-Modell.
Fest steht: Das Ansehen der Hochschule,
die sich rühmt, künftige Topmanagerinnen
und Topmanager auszubilden, hat bereits ge-

320 Seiten, gebunden � 26,00 € � Auch als E-Book erhältlich.


litten.
Der Vater eines ehemaligen WHU-Studen-
ten sagt, er sei schockiert gewesen von den
Berichten seines Sohnes: »Hätte ich etwas
von diesen üblen Erniedrigungsritualen ge-
ahnt, hätte ich mein Kind nicht dorthin ge-
schickt.« Er bereue, die WHU halbjährlich
mit mehr als 8000 Euro unterstützt zu haben,
und wolle andere Eltern warnen.
Ein Student, der nach eigenen Angaben
die Schikanen an der Treppe und beim
»Papsten« durchlebt hat, erzählt, er habe in
Vallendar ein neues Kapitel seines Lebens
starten wollen, studieren, Freundschaften
knüpfen. Anfangs sei er hoch motiviert ge-
wesen, stolz, sogar ehrfürchtig. Stattdessen
habe man ihn gedemütigt. Jetzt wolle er nur
noch seinen Abschluss machen, sagt er. Und
dann schnell weg.
Markus Sutera  n

SPIEGEL-Bestsellerautor Jörg Blech lüftet das Geheimnis


der Gesundheit und legt den ultimativen Masterplan für
Leib und Seele vor.
Er räumt mit Mythen der Medizin auf und zeigt uns die
wahren Bedürfnisse unseres Körpers. Denn die meisten
Alterserkrankungen sind gar nicht vorbestimmt.
Acht einfache Regeln zeigen: Wer seinen Körper kennt,
kann selbst mehr für seine Gesunderhaltung tun als die
besten Ärzte.
»Hätte ich etwas von diesen
Ritualen geahnt,
hätte ich mein Kind nicht
dorthin geschickt.«
Vater eines ehemaligen WHU-Studenten

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 31 www.dva.de


DEUTSCHLAND

Als Oberärztin in Rufbereitschaft sei sie


binnen zehn Minuten auf der Station gewe­
sen, um der Assistenzärztin zu helfen – zu

Allein gegen alle


spät. Der 50-jährige Patient sei schon hirntot
gewesen. Die junge Kollegin habe »aktiv Re­
animationsmaßnahmen unterbunden«, ob­
wohl die Pflegekräfte diese eingefordert und
die Lage richtig erfasst hätten. Ein im Auftrag
KRANKENHÄUSER Eine Oberärztin beklagte wiederholt Missstände der Klinik erstelltes Gutachten kommt zu dem
Ergebnis, dass ärztliche Fehler nicht ersicht­
am Klinikum Friedrichshafen, sogar zu vermeidbaren Todesfällen soll lich seien.
es gekommen sein. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft. Laut der Oberärztin ereigneten sich immer
wieder schwere Behandlungsfehler. Küßner
warnte vor fehlender Kompetenz einer ande­

D
ie Todesanzeige für Elke Küßner in der die Verstorbene vertreten hat, von einer ren Assistenzärztin und sah sich bestätigt:
der Lokalzeitung ist schlicht. Der Me­ »glasklaren Mobbingkampagne« gegen die »Am 18.2.2023 konnten nur drei Anästhesis­
dizin Campus Bodensee trauere um Oberärztin: »Sie sollte mundtot gemacht ten den unmittelbaren Tod zweier kritisch
eine »geschätzte Kollegin«, ist dort im Na­ ­werden.« kranker Patienten verhindern, indem sie be­
men der Geschäftsführung zu lesen. Und dass Elke Küßner konnte hartnäckig sein. Hoch sagter Kollegin die Patientenversorgung aus
man »ihr Wirken in guter Erinnerung behal­ im Anspruch an sich und an andere, so be­ der Hand nahmen.« Die Anästhesie habe eine
ten« werde. schreiben sie ihre ehemaligen Kolleginnen Gefährdungsmeldung verfasst, die Kollegin
Die Wahrheit hat in Todesanzeigen oft und Kollegen, eine Perfektionistin. Oder wie sei von der Intensivstation entfernt worden.
keinen Platz. Dass die Geschäftsführung die einer sagt: »Wenn Elke da war, wusste man, In Friedrichshafen ist ein Schwerpunkt die
leitende Oberärztin wirklich schätzte, daran es kann nichts mehr schiefgehen.« Kardiologie. Mit Eingriffen am Herzen lässt
gibt es erhebliche Zweifel. Elke Küßner, 46, Sie wollte den Jüngeren helfen, den Assis­ sich gutes Geld verdienen. 2019 wurde ein
starb Anfang Dezember. Bis zu ihrem Tod tenzärzten und -ärztinnen, die auf der Inten­ Spezialist an den Bodensee geholt, 2022 stieg
hatte sie Missstände in der Klinik in Fried­ sivstation an ihre Grenzen kamen und offen­ er als Medizinischer Direktor in die Führungs­
richshafen beklagt, immer und immer wieder. bar Fehler machten. Elke Küßner wies ihre etage auf. Er brachte eine neue Operations­
Jetzt, nach ihrem Tod, ermittelt die Staats­ Vorgesetzten darauf hin, in E-Mails, Gesprä­ methode für undichte Herzklappen mit und
anwaltschaft, und die Kriminalpolizei hat chen und auch in einer »Gefährdungsanzeige« nimmt an einer internationalen Studie zu so­
Beweise gesichert. an die Klinikverantwortlichen. genannten Impella-Pumpen teil. Sie können
Die Vorwürfe reichen von Abrechnungs­ Das Modell der Nachtdienste, in denen ein geschwächtes Herz vorübergehend unter­
betrug über Körperverletzung und unterlas­ Assistenzärzte alleingelassen würden, kriti­ stützen. Die Methode ist kostspielig, allein
sener Hilfeleistung bis zu fahrlässiger Tötung. sierte sie als »zu riskant«. Sie forderte eine der Materialwert liegt bei 12.750 Euro.
Ermittelt wird gegen fünf Ärztinnen und längere Einarbeitung für die Neuen, am bes­ Die Kardiologie als verlässliche Einnahme­
­Ärzte, darunter einen Chefarzt. Die AOK hat ten drei Monate. Ende Dezember 2021 schrieb quelle hat sich in vielen Krankenhäusern be­
federführend für die gesetzlichen Kranken­ sie ihren Vorgesetzten: »Nach vier Wochen währt. In Friedrichshafen seien die profitablen
kassen Anzeige erstattet, auch wegen mög­ Einarbeitungszeit sind die Kollegen völlig hilf­ Eingriffe am Herzen aber zulasten der Not­
lichen Abrechnungsbetrugs in Höhe von rund los in ihren Soloschichten und sie sowie die fallpatienten gegangen, sagt ein ehemaliger
einer Million Euro. Patienten überleben nur mit Dauerpräsenz Oberarzt. Schwerstkranke seien abgelehnt
Eine lückenlose Aufklärung haben die Ge­ erfahrener Kollegen.« und an andere Häuser verwiesen worden. Es
schäftsführung und der Aufsichtsrat angekün­ Akribisch führte sie Buch: »Am 28.12.2021 sollten Betten frei gehalten werden für Herz­
digt. Der Friedrichshafener Oberbürgermeis­ warnte ich vor dem eigenverantwortlichen patienten, sagt er.
ter Andreas Brand hat um Geduld und Zeit Einsatz der Kollegin … Sie selbst und ich hat­ Die Verstorbene habe dies bemängelt und
gebeten, er ist qua Amt Aufsichtsratsvorsit­ ten darum gebeten, sie aus dem Dienst der sei nicht gehört worden. »Aus finanziellen
zender. Eine Kanzlei soll bis Mitte Juli ihre Intensivstation zu nehmen. Sie war heillos Gründen sind falsche Prioritäten gesetzt und
Ergebnisse vorlegen. Und das alles ist zu überfordert mit kritisch kranken Patienten. Missstände ignoriert worden«, sagt der Me­
­wesentlichen Teilen auf Elke Küßner zurück­ Keine drei Monate später, am 8.3.2022, führ­ diziner. Im Grunde nicht verantwortbar, des­
zuführen, eine Frau, deren Wirken schon des­ te sie grob fahrlässig den Tod des Patienten … halb habe er gekündigt. »Im Haus war das ein
halb in Erinnerung bleiben wird. herbei.« Tabuthema.«
Das Klinikum Friedrichshafen, ein mehr­ Ein anderer Mediziner des Klinikums
stöckiger Bau mit 370 Betten, steht an einer spricht von einem »System der vielfachen
der schönsten Stellen des Bodensees, nah Abweisungen«, von »mehreren im Monat«.
am Wasser, an den Bergen, nicht weit zur Er schildert beispielhaft, wie in einer Nacht
Schweiz. Es ist eine wohlhabende Region, Ende 2023 eine Patientin mit Lungenentzün­
doch um die Klinik war es finanziell nicht dung und Coronainfektion in Friedrichshafen
gut bestellt. Jahr für Jahr gleicht die Stadt nicht aufgenommen worden sei. »Alles voll«,
Friedrichshafen die Verluste des Medizin habe es geheißen.
Campus Bodensee aus, für 2023 wird ein Der Arzt sagt, er habe telefonisch auf die
­Defizit von rund 19 Millionen Euro erwar­ Verpflichtung hingewiesen, Patienten auf­
tet. Ein Rettungsversuch folgte auf den zunehmen. Er brachte die Frau direkt in die
­nächsten. Ein externes Management, einge­ Klinik. »Entgegen den Beteuerungen waren
Ines Janas / DER SPIEGEL

kauft von der Sana Klinken AG, soll es besser Betten frei«, sagt der Arzt, »man wollte offen­
machen. sichtlich keine weiteren Zugänge, die Betten
Noch eine Krise ist das Letzte, was die waren für Herz-Clip-Patienten reserviert.«
­Geschäftsführung braucht. Doch alles sieht Die Geschäftsführung des Medizin Cam­
danach aus. Von »verheerenden Zuständen« pus Bodensee widerspricht: »Es ist Alltag im
spricht der Rechtsanwalt Detlef Kröger, Mediziner Stadler deutschen Gesundheitswesen, dass sich Kli­

32 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


DEUTSCHLAND

kann. Es misslingt, dem Mann eine Impella-


Herzpumpe einzusetzen. Er stirbt. Der Patient
hätte nicht in Friedrichshafen, sondern an
einem universitären Zentrum mit Herzchirur-
gie behandelt werden müssen, warf Elke Küß-
ner der Klinikleitung vor. Sie reichte beim
anonymen Hinweisgeberportal des baden-
württembergischen Landeskriminalamts eine
Meldung ein. Sie schrieb: »Operative Sicher-
heitsstandards wurden nicht eingehalten.«
Ein Friedrichshafener Klinikarzt kritisiert
ebenfalls den Eingriff. Angesichts der Gefahr,
dass das Aneurysma platzt, sei dieser kaum
zu verantworten gewesen. Außerdem schlös-
sen die Studienvorgaben für das Einsetzen
einer Herzpumpe ausdrücklich Alkoholkran-

Ines Janas / DER SPIEGEL


ke aus. Dagegen sei verstoßen worden.
Wer recht hat und wer nicht, ist noch un-
klar. Die Justiz bemüht sich um Aufklärung,
sie wird Gutachter brauchen, das alles kann
dauern. Fakt ist, dass die Oberärztin stapel-
Gedenkstein am Klinikum: »Wenn Elke da war, wusste man, es kann nichts mehr schiefgehen« weise Dokumente gesammelt und Unge-
reimtheiten aufgezeichnet hat. Die sie, mei-
niken temporär von der Notfallversorgung sei. Sie habe die Ärzte auf die lebensgefähr- nen ihre Chefs, niemals hätte nach außen
ab- und später wieder anmelden.« Dafür gebe liche Situation hingewiesen, sagt die Kranken- tragen dürfen.
es unterschiedliche Gründe. Außerdem gelte: schwester. Die Geschäftsführung ließ ein Gutachten
»Vor Ort befindliche Patienten werden aber – Ein Versuch, die Position des Geräts zu erstellen. Auf neun Seiten führt der Präsident
wenn medizinisch notwendig – trotzdem be- korrigieren, misslang. Ihr erneuter Einwand, der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie
handelt.« dass angesichts des Stillstands des Herzens aus, dass die Vorwürfe »völlig haltlos« seien.
Ist das, was in Friedrichshafen geschehen sofort gehandelt werden müsse, sei ignoriert Sein Fazit im Oktober 2023: »Es handelt sich
sein soll, womöglich Alltag in deutschen Kli- worden. Die Kardiologen seien der Meinung hier um den Versuch einer nicht qualifizierten
niken? Gibt es überforderte Assistenzärzte gewesen, dass mit einer Impella-Pumpe eine Oberärztin …, eine üble Nachrede oder Ver-
und daraus resultierende Krisensituationen maschinelle Wiederbelebung nicht mehr nö- leumdung in massiver Art und Weise zu über-
auf Intensivstationen vielerorts? Ist der Fokus tig wäre. Zehn Minuten bräuchten sie noch, mitteln.« Er empfiehlt »arbeitsrechtliche
auf lukrative Eingriffe in Krankenhäusern bis sie laufe, habe es geheißen. Das sei zu Konsequenzen«.
zwar ethisch bedenklich, aber gängig? lange, antwortete die Krankenschwester nach Elke Küßner sollte in die Zentrale Notauf-
Anfang Februar 2024 stellen sich rund ihrer Erinnerung. nahme versetzt werden, als leitende Ober-
60 Beschäftigte der Klinik zu einer stillen Die Kardiologen seien darauf fokussiert ärztin bei gleichem Gehalt. Sie wollte jedoch
Mahnwache vor den Haupteingang. Einer von gewesen, die Pumpe einzuführen, die Ver- auf der Intensivstation bleiben und weiterhin
ihnen ist Reinhard Stadler, Anästhesist und packung sei bereits aufgerissen gewesen. »Das im Rettungshubschrauber fliegen. Der Be-
Ärztlicher Leiter des Hubschrauberstand­ sind 20.000 Euro«, habe der Arzt gesagt und triebsrat stimmte ebenfalls nicht zu, er sprach
ortes. »Elkes Tod konnte keiner fassen«, sagt entschieden: »Der Patient bleibt jetzt genau von Diskriminierung. Die Kollegin müsse
er. Sie habe die Mängel im System abstellen so liegen.« Wollte der Arzt die Pumpe un- »vor Repressalien geschützt werden«. Ein
wollen und einen Maulkorb erhalten, syste- bedingt einsetzen, weil man sie nicht weiter- Termin beim Arbeitsgericht wurde angesetzt,
matisch habe man sie mürbe gemacht. verwenden oder abrechnen hätte können? Elke Küßner hat ihn nicht mehr erlebt.
Er wolle seinen Namen nennen, sein Ge- Der Mann starb wenige Tage später. Die Am 30. November erfuhr der Betriebsrat
sicht zeigen für die Kollegin, das sei er ihr Krankenschwester nutzte das interne Be- von der geplanten fristlosen Kündigung und
schuldig, »um ihren Ruf zu retten«, sagt er. richtssystem über kritische Vorkommnisse für gab die Nachricht an Elke Küßner weiter. Man
»Dass es Todesfälle durch überforderte As- eine anonyme Meldung. Die Rückmeldung wolle sie mit allen Mitteln loswerden, habe
sistenzärzte geben kann und wohl auch gab, lautete: »Die Fallinhalte wurden in Schulungs- die Oberärztin unter Tränen kurz darauf einer
das wissen die Chefs.« Geändert habe man maßnahmen zum Reanimationstraining inte- Kollegin erzählt und das Telefonat abgebro-
nichts. »Die Probleme wurden bis heute nicht griert.« Inzwischen hat sie sich an die Krimi- chen, berichtet diese. Entgegen aller Gewohn-
behoben.« nalpolizei gewandt. heit ließ sie weitere Anrufe unbeantwortet.
In Friedrichshafen komme vieles zusam- Der Anwalt des beschuldigten Kardiologen Ihre beste Freundin alarmierte am Abend die
men, sagt der Rechtsanwalt Detlef Kröger. Er äußert sich schriftlich. Die »Vorwürfe werden Polizei.
sitzt in seiner Kanzlei im bayerischen Illertis- durch die Akte eindeutig und nachweislich Elke Küßner beging Suizid, ein Rettungs-
sen an einem riesigen Besprechungstisch. widerlegt«. In keinem Fall werde der Einsatz wagen wurde gerufen. Sie starb im Klinikum
»Schauen Sie sich das an«, sagt er und zieht der Impella-Pumpe im Klinikum Friedrichs- Friedrichshafen, auf ihrer Intensivstation.
Unterlagen aus einem der dicken Aktenord- hafen »von wirtschaftlichen Erwägungen« Christine Keck  n
ner. »Wenn Sie mich fragen, war das fahrläs- abhängig gemacht.
sige Tötung.« Auch in einem anderen Fall gibt es ­schwere Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben
Ein 44-jähriger Mann mit Herz-Kreislauf- Vorwürfe. Im Oktober 2023 kam ein 70-Jäh- zu nehmen? Sprechen Sie mit anderen Men-
Stillstand wurde Anfang Mai 2020 in Fried- riger mit einem Tumorverdacht in die Klinik schen darüber. Sofortige Hilfe erhalten Sie
richshafen behandelt und musste reanimiert in Friedrichshafen. Die Ärzte stellten eine rund um die Uhr bei der Telefonseelsorge
werden. Eine Krankenschwester hat doku- Herzschwäche fest und fanden im Bauch des unter den kostenlosen Rufnummern 0800
mentiert, dass beim Umlagern auf den Herz- alkoholkranken Mannes ein sechs Zentimeter 111 0 111 und 0800 111 0 222. Eine Übersicht
katheterlabortisch das Wiederbelebungsgerät großes Aneurysma, ein krankhaft erweitertes weiterer Hilfsangebote gibt es auf der Website
auf dem Brustkorb des Patienten verrutscht Blutgefäß, das mit oft tödlicher Folge reißen suizidprophylaxe.de.

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 33


DEUTSCHLAND

Alexandra Polina / DER SPIEGEL (3)


Alexandra Polna / DER SPIEGEL

Berührung auflösen. Dann passiert


etwas, was mich vollkommen über­
fordert: Die Frau steht auf und geht,

Darf ich meinen Kopf


die Männer drehen sich beinahe so­
fort weg. Und ich bin plötzlich allein.
Kuscheln gilt als eine Art Super­

an deinen legen?
food für Seele und Körper. »Wenn wir
uns Sorgen machen, gestresst sind,
uns ein bisschen aus dem Lot fühlen«,
sorge sanfter Körperkontakt dafür,
dass wir uns entspannen, erklärt die
GEFÜHLE Absichtslose Berührungen gelten als Superfood für Körper und Seele. Psychologin Ilona Croy. Die Leiterin
des Lehrstuhls für Klinische Psycho­
Wie aber kuscheln, wenn man Single ist? SPIEGEL-Redakteur Benjamin Maack logie an der Uni Jena hat die Auswir­
hat es ausprobiert, auf Kuschelpartys, bei einer Therapeutin und im Freundeskreis. kungen zwischenmenschlicher Be­
rührungen erforscht. Beim Kuscheln
wird das Hormon Oxytocin ausge­

A
usgerechnet du?« Meine Ex- Natürlich kuschle ich ab und zu mit schüttet. »Der Schmerz geht runter,
Frau schüttelt belustigt den meinen Söhnen, sieben und elf Jahre das Stresshormon Cortisol geht run­
Kopf. Ich habe ihr erzählt, dass alt. Aber das passiert eher beiläufig. ter, die Herzrate geht runter«, erklärt
ich eine Geschichte über das Kuscheln Ich habe Freunde und Freundinnen, Croy. Zudem vermittle zärtlicher Kör­
schreibe. »Du hast doch immer Ku­ die ich gern umarme. Aber ich habe perkontakt ein »Signal der Verbun­
scheln und Sex verwechselt.« Auch noch nie daran gedacht, darüber hi­ denheit: Du bist hier willkommen, du
wenn wir schon lange getrennt sind, naus ihre Nähe zu suchen. bist nicht allein.«
schätze ich ihre Meinung sehr. Einige Tage später liege ich auf Warum ist Kuscheln dann kein all­
Vielleicht hat sie recht. Ich hole einer Fläche aus Matten und Decken gegenwärtiger Selbstoptimierungs­
eine zweite Meinung ein. Eine Ex- in einem Yogastudio im Hamburger trend? Vielleicht liegt es daran, dass
Freundin, mit der ich nach meiner Stadtteil Sankt Pauli. 16 Personen – es so schwer zu kriegen ist. Man kann
Ehe für einige Monate zusammen acht Männer, acht Frauen – sind zum Kuscheln nicht einnehmen wie ein
war, sagt, ich sei ein »guter Kuschler«. »Kuschel-Sonntag« gekommen, um Nahrungsergänzungsmittel, es nicht
Ich frage mich, was das ist. Und mer­ berührt zu werden und zu berühren. allein machen wie Yoga oder buchen
ke, dass ich den Begriff lose mit Tier­ Meine Hand streichelt sacht die wie eine Massage.
babys, Wolldecken und Vorspiel as­ Schulter einer Frau. Zwei Männer Und es gibt noch eine schlechte
soziiere, aber eigentlich keine richti­ sind dazugekommen, einer liegt hin­ Nachricht: »Kuscheln ist als Hand­
ge Vorstellung habe. ter mir, der andere hinter ihr. Es ist Kuscheltherapeutin lung schwer zu ersetzen«, sagt Croy.
Ab und an lerne ich Frauen über schön. Schon bald weiß ich nicht Ueberschär, Und viele Menschen haben nieman­
Autor Maack: Die
Dating-Apps kennen. Manchmal mehr, wer wen streichelt, wen ich Nähe ist wunder-
den, mit dem sie es tun könnten. Eine
knutschen wir, manchmal haben wir streichle. Als würden sich die Gren­ bar leicht, weil alles repräsentative Umfrage der Deut­
Sex. Kuscheln war nie ein Thema. zen meines Körpers in Wärme und so klar ist schen Depressionshilfe und Suizid­

34 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


DEUTSCHLAND

prävention ermittelte 2023, dass etwa ein


Viertel aller Deutschen sich »sehr einsam«
Unsere Nähe ist vom Sex­ genieße die Berührungen von Frauen und
Männern, älteren und jüngeren. Ich freue
fühlt. Laut der aktuellen Zeitverwendungs­ ballast erlöst, der mich darüber, wie leicht es fällt, mir in diesem
erhebung des Statistischen Bundesamts leiden
junge Erwachsene im Alter von 18 bis 29 Jah­
viele Beziehungen so sehr sich so sicher anfühlenden Raum Nähe zuzu­
trauen und anderen meine Nähe zuzumuten.
ren am stärksten unter Einsamkeit. Bei diesen im Griff hat. Der schönste Moment ist dieser: Ich sitze
Zahlen müsste es Unmengen an Angeboten am Rand, sehe die vielen Körper in ihren lei­
geben, die unsere unterkuschelte Gesellschaft sen Umarmungen, höre geflüsterte Jas und
mit körperlicher Nähe versorgen. Gibt es Neins, manchmal leises Kichern, sitze dane­
nicht. Im Internet stoße ich auf eine Kuschel­ Ich frage mich, warum ich nicht früher be­ ben und fühle mich etwas allein. Ein Mann
praxis in Hamburg, fünf in Berlin. Dazu eine wusst gekuschelt habe. Zum Beispiel, als ich kommt zu mir.»Darf ich mich neben dich set­
Handvoll Kuscheltreffen. Auch in anderen noch verheiratet war. Andrea Newerla ist So­ zen?«, fragt er. »Gern«, sage ich und frage,
Städten gibt es nur wenige Angebote. ziologin und Buchautorin (»Das Ende des ob ich meinen Kopf auf seine Schulter legen
Als Alexandra Ueberschär und ich uns zum Romantik-Diktats: Warum wir Nähe, Bezie­ darf.»Ja«, sagt er und fragt: »Darf ich meinen
ersten Mal treffen, habe ich Angst. Alexan­dra hungen und Liebe neu denken sollten«). Sie Kopf an deinen legen?«»Ja.«
– in Kuschelkreisen gilt das Du – ist Coachin hat eine Theorie dazu: »Wir sind nicht ge­ Irgendwann flüstert er mir ins Ohr, es sei
und hat 2018 eine therapeutische Kuschel­ wohnt, über unsere Wünsche in Beziehungen sehr schön gewesen, doch er habe sich vor­
praxis eröffnet. Ich habe einen Einzeltermin. zu sprechen, weil wir denken, dass sie sich genommen, noch mit einer anderen Person
60 Minuten kosten 80 Euro. automatisch erfüllen.« Wenn Paare lernen zu kuscheln. Wir umarmen uns fest. Er geht,
Am Anfang meiner Recherche habe ich würden, über Intimität zu reden, könnten sie und ich fühle mich kein bisschen einsam, son­
Fragen aufgeschrieben: Was ist, wenn ich auch eine Kuschelpraxis etablieren. dern bemerke, dass ich lächle.
mich beim Kuscheln nicht wohlfühle? Was, Ein nasskalter Januarabend am Hambur­ Nach meinen Kuscheltreffen hat sich etwas
wenn ich jemanden nicht attraktiv finde? Was, ger Hauptbahnhof. Nieselregen, Feierabend­ verändert. Kuscheln ist für mich nicht mehr
wenn ich eine Erektion bekomme, weil ich zeit. Körper drängen sich über S-Bahnsteige, nur ein ferner Begriff, den ich viel zu sehr mit
Kuscheln wieder mit Sex verwechsle? Treppen hinauf, kollidieren auf Plätzen und Sex assoziiere, sondern eine neue Möglich­
Ich solle gemütliche Kleidung mitbringen, Bürgersteigen. Ich drängle und werde gedrän­ keit, mit meiner Umwelt in Kontakt zu treten.
hat Alexandra gesagt. Ich trage Pulli, Jogging­ gelt, schiebe mich zwischen Menschen hin­ Nicht nur auf Kuschelpartys, denn nicht jeder
hose und Wollsocken. Meine Nackenmusku­ durch und werde zur Seite geschoben. Ich bin möchte mit Fremden kuscheln. Und nicht nur
latur ist steinhart, mein Mund trocken, meine ein Hindernis zwischen Hindernissen. mit Kuscheltherapeutinnen, denn nicht jeder
Zahnreihen pressen aufeinander. Vorher ha­ In Sankt Georg, einem Stadtteil mit netten hat das Geld für einen solchen Besuch.
ben wir vereinbart, dass ich nicht als Journa­ Cafés und liebevoll gestalteten Läden auf der Aber vielleicht können wir alle Kuscheln
list zu ihr komme, sondern als normaler Ku­ einen Seite, Drogenabhängigkeit und Prosti­ zum Teil unseres Alltags machen. Mir fällt es
schelkunde. Wir sitzen uns auf Stühlen gegen­ tution auf der anderen, findet eine Kuschel­ fast absurd leicht.
über und sprechen miteinander. Über meine party statt. Ich betrete eine geschmackvoll Ich umarme Freunde und Freundinnen
Vergangenheit, meine Kindheit, Eltern, mei­ eingerichtete Altbauwohnung. Der Kuschel­ bewusster, halte sie länger, wenn ich das Ge­
ne – ein sehr guter Fachbegriff – Kuschelbio­ raum sieht mit seinem massigen grünen Sofa fühl habe, dass es ihnen guttut. Auch bei mei­
grafie. Also darüber, wie ich bisher berührt und einer schweren alten Holzkommode aus nen Kindern wird das Kuscheln von der zu­
wurde und berührt habe. wie ein herrschaftliches Wohnzimmer. Der fälligen Haufenbildung und dem gemütlichen
Neben den Stühlen steht ein Bett. Boden ist mit Matratzen ausgelegt. gemeinsamen Rumhängen zu einer Form der
Irgendwann sagt sie: »Hast du noch Fra­ Lorenz und Aske Hansen Hoffmann emp­ Kommunikation. Ich frage öfter, ob sie eine
gen, oder fühlst du dich schon bereit, in die fangen 14 Männer und Frauen. Die Regeln Umarmung gebrauchen können, begleite
Berührung zu gehen?« Alexandra setzt sich werden erklärt: kein Küssen, keine Berührun­ unsere Gespräche mit Berührungen, halte sie
auf das Bett, den Rücken durch Kissen ge­ gen im Intimbereich, jede Berührung nur mit weniger beiläufig, wenn sie auf meinem
stützt, und fragt, ob ich mich an sie kuscheln Zustimmung der anderen Person. Ja heißt ja. Schoß sitzen.
möchte. Ich setze mich zwischen ihre Beine, »Wenn ihr ein Vielleicht spürt, ist es ein Ich frage eine Freundin, ob wir Kuschel­
lehne mich vorsichtig zurück, sie legt die Nein«, sagt Lorenz. freunde sein wollen, und hole mir eine sehr
Arme um mich. Alle Ängste flammen noch ein­ Wir gehen durch den Raum. Treffen wir liebe Abfuhr. Eine andere Freundin sagt, das
mal auf, dann passiert etwas Erstaunliches: auf eine andere Person, sagen wir Ja oder Nein seien wir doch schon längst. Dass wir offen
Ich fühle ich mich unglaublich wohl mit die­ zu einer Umarmung. Zu drei Menschen sollen darüber sprechen, nimmt unseren Berührun­
sem anderen Körper. Ich entspanne mich, wir Nein sagen. Das sollen wir üben, weil es gen ihren manchmal mitschwingenden sexuel­
lasse mich in Alexandras Umarmung sinken. vielen schwerfalle, erklärt Lorenz. Ich schaffe len Unterton. Eine große Erleichterung.
Ich spüre ihre Wärme, auch einen beson­ nur zwei. Das besonders entschlossen hervor­ Einer Frau, die ich in einer Dating-App
ders warmen Bereich, ihren Unterleib. Ein gebrachte Nein einer Frau verletzt mich. kennengelernt habe, erzähle ich von meiner
gutes Gefühl, weil ich an dieser Wärme noch Nach etwa 90 Minuten beginnt der Ku­ Recherche. »Soll ich am Samstag zum Ku­
einmal das Verhältnis zwischen mir, Kuscheln schelteil. Langsam bilden sich erste Paare. scheln vorbeikommen?«, fragt sie. Ich schrei­
und Sex verhandeln kann. Wie wenig ich in Auch Dreier- und Viererkonstellationen. Da be ihr, dass ich das schön fände. Aber, schrei­
meinem Leben über Kuscheln und wie viel ist eine Frau, über deren Nähe ich mich freu­ be ich kurz darauf eine weitere Nachricht, ich
zu viel ich über Sex nachgedacht habe. Die en würde. Sie liegt mit einer anderen Frau hätte Sorge, vor Aufregung eine Erektion zu
Nähe ist wunderbar leicht, weil alles so klar zusammen. Ich gehe langsam zu ihr und fra­ bekommen. Ob es in Ordnung wäre, wenn
ist. Warum ich hier bin. Warum Alexandra ge, ob ich mich neben sie legen darf. »Ja.« wir die einfach ignorieren und nicht als Auf­
hier ist. Warum wir beide nicht zusammen Dann ist auf einmal alles ganz polterig. Ich forderung missverstehen. Sie schreibt, dass
auf diesem Bett liegen. bin ungeschickt. »Entschuldige«, sagt sie, es manchmal auch gut sei, eine Frau zu sein.
Kuschelfachleute wie Alexandra nennen »kannst du ein bisschen abrücken?« Ich mer­ Ihnen würde man die Erregung nicht so leicht
das »absichtslose Berührung«. Ich spüre, was ke, dass mein Po gegen ihre Oberschenkel anmerken. Es wird ein schöner Nachmittag.
das bedeutet. Unsere Nähe ist von dem gan­ drückt und schäme mich schrecklich. »Du bist ein guter Kuschler«, hat die Ku­
zen komplizierten Sexballast erlöst, der zwi­ Eine Zeit lang liege ich da, umarme mich scheltherapeutin Alexandra am Ende unseres
schenmenschliche körperliche Beziehungen selbst, sammle mich. Ich fasse Mut und schaue ersten Treffens zu mir gesagt. Langsam traue
oft so sehr im Griff hat. mich nach anderen Kuschelpartnern um. Ich ich mich, ihr zu glauben.  n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 35


BAHNSTREIK
REPORTER
»Wie verhandelt
man mit Erpressern,
Herr Hofmann?«
SPIEGEL: Sie haben für das BKA
schon mit Geiselnehmern und
Erpressern gesprochen. Was
­raten Sie der Deutschen Bahn?
Hofmann: Die Sachebene suchen
und eine Beziehungsebene eta-
blieren. Ein Geiselnehmer etwa
will nicht Leute erschießen, sonst
würde er es machen. Er will
­etwas erreichen. Herr Weselsky
will nicht die Bahn zerstören.
Man muss Auswege aufzeigen.
SPIEGEL: Welche Rolle spielen
die Persönlichkeiten bei solchen
Verhandlungen?
Hofmann: Eine große Rolle.
Eine Einigung findet immer
zwischen Menschen statt, und
die sind nicht nur rationale, son-
dern auch emotionale Akteure.
Probleme auf der Beziehungs-
ebene führen dazu, dass sie auf
der sachlichen Ebene nicht
­vorankommen. Und das scheint
hier der Fall zu sein.
SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf?
Hofmann: Es fielen öffentlich
Worte wie Lügner, Betrüger und
Nieten in Nadelstreifen.
Privat

SPIEGEL: Was macht man, wenn


das Verhältnis zwischen Geisel-

Kameradensuche, 1961
nehmer und Verhandlungsfüh-
rer zerrüttet ist?
Hofmann: Wenn es keine Mög-
lichkeit gibt, dass die ihre Bezie-
hung wieder kitten, tauscht man
FAMILIENALBUM Michael Kröger, 67, aus Osnabrück die Verhandlungsführung aus.
SPIEGEL: Wichtig ist oft auch die

E s ist buchstäblich ein Familienalbum, in


dem ich auf dieses Foto gestoßen bin,
­sorgfältig von meiner Mutter eingeklebt
zwischen »Jetzt alle mal lächeln«-Urlaubsbildern
seine geliebte Zeiss Ikon nicht nur für Urlaubs­
bilder und die Entwicklung der Familie ge-
braucht. Offenbar hat er auch sehr bewusst foto-
grafiert, was er nicht vergessen konnte – und
Möglichkeit eines gesichtswah-
renden Endes.
Hofmann: Auch die Deutung
über das Ergebnis einer Ver-
von uns Kindern, Schwarz-Weiß-Szenen von nicht erzählen. Nicht uns, den Späteren. Das Foto handlung kann ein Verhand-
Wanderungen und Badeausflügen. erzählt so viel und verschweigt auf unheimliche lungsgegenstand sein: die eine
Das Foto zeigt den Ehrenfriedhof bei Oder- Weise alles. Partei einen »Sieg« kommuni-
brück im Harz. Auf dem Bild sind keine Menschen Dass eine einzelne Fotografie eine eigene zieren zu lassen, als Gegenleis-
zu sehen. Jedenfalls für uns Nachgeborene nicht. ­Zeiterfahrung auslösen kann, hat mich, den Sohn, tung ein besseres oder ökono-
Für meinen Vater wird es anders gewesen sein. ­immer wieder beschäftigt. Im Netz finden sich misch sinnvolleres Ergebnis zu
Er war Lehrer. Er kam leicht mit Menschen ins aktuelle Nahaufnahmen des Friedhofs. Auf einem erreichen. Das nennt sich Ver-
Gespräch. Aber wir haben in der Familie nie über Foto sind sogar die Inschriften einer der ersten handlungsmarketing. Das gibt
seine Zeit im Krieg und die fünf Jahre sowjeti- Reihen zu erkennen. Da liegen, ist zu erfahren, es auch bei der Festnahme von
scher Gefangenschaft gesprochen. Manchmal nur auch 14 unbekannte sowjetische Häftlinge, mög­ Straftätern. Wenn man die
kam ein Satz aus ihm heraus, in einer Sprache, licherweise des nahe gelegenen Konzentrations­ durch ein Sondereinsatzkom-
die wir nicht verstanden, etwas mit »pagoda« und lagers Mittelbau-Dora. Ich stelle mir vor, wie mando festnehmen lässt, ist das
»sewodnja«. Erst in hohem Alter veröffentlichte mein Vater damals dort gestanden haben muss, eine Form von Reputation, die
er in einer Kriegsheimkehrerzeitung einen Aufruf allein mit sich und seinen Erinnerungen, und mit ihnen in der Knast-
Die Hoffotografen GmbH Berlin

»Suche Kameraden aus dem Lager 190 Wladi- welchen Gedanken er diese Inschrift gelesen hat: Hierarchie hilft. FHU
mir«. Daraus entstand ein Kontakt nach Erlan- »Unbek. Russe«.
gen, der bis zu seinem Tod 2022, mit 96 Jahren, Aufgezeichnet von Alexander Smoltczyk Thorsten Hofmann,
andauerte. 47, war Ermittler
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns
Es war für mich ein Schock, dieses Foto zu Ihre Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: beim BKA. Heute be-
­finden, eher zufällig. Offenbar hatte mein Vater familienalbum@spiegel.de rät er Unternehmen.

36 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


italienischen Fernsehen. Schluss also
mit Radarfallen, die nur aufgestellt

Fleximan und
würden, »um Kasse zu machen«.
Außerdem sind bald Europawah-
len, und da treibt ihn die Sorge um,

Knöllchen-Horst
von Giorgia Meloni überholt zu wer-
den, der Ministerpräsidentin. Da
spürt man ein offenbar nicht ausge-
storbenes Schreckensbild autofahren-
der Breitbeiner, dies- und jenseits der
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Wieso in Italien Verkehrspolitik Alpen. Die Frau am Steuer.
mit Trennschleifern betrieben wird Tatsächlich gibt es in keinem an-
deren Land der EU mehr Radarfallen
als in Italien. Laut Verbraucher-

D »Wir stellen
er Zement war noch frisch in Minister, Matteo Salvini von der Lega: schutzverband Codacons stehen dort
Buccinasco. »Um 16 Uhr schien ein rechtslastiger Populist und frühe- 11.130 Autovelox-Apparate am Stra-
noch alles in Ordnung. Abends rer Innenminister. Salvini möchte einfach vier ßenrand. In Deutschland sind es –
lagen sie dann schon am Boden, alle Blitzer genauso streng im Auge be- zusätzliche nach Angaben der Betroffenen- und
vier.« Bevor sie überhaupt das erste
Mal hätten schießen können.
halten wie illegale Migranten und da-
von möglichst wenige im Land herum-
Videokameras Selbsthilfegruppe blitzer.de – derzeit
exakt 5868 Geräte, die meisten übri-
Die vier orangefarbenen Kästen. stehen haben. Es gehe nicht um die auf, um die gens in Baden-Württemberg.
Die Blitzgeräte. Die »Autovelox«, Bilder, sondern um angebliche Ab- Radarfallen zu Salvini fordert eine Vereinheitli-
wie sie in Italien heißen. zocke. Nicht um Privatsphäre, son- chung auf nationaler Ebene: »Die
Rino Pruiti, man spürt es auch am dern das Zurückstutzen kommunaler
überwachen.« Bürgermeister werden erklären müs-
Telefon, ist immer noch einigermaßen Freiheiten. Der Vorwurf der Bereiche- Rino Pruiti, sen, wo und weshalb sie die Autove-
fassungslos über diesen Akt des Van- rung sei billiger Unsinn, sagt Rino ­Bürgermeister lox aufstellen.« Es geht ihm also um
dalismus. Der 61-jährige ehemalige Pruiti: »Erstens bekommen wir nur angebliche Straßenräuberei, vor al-
Polizist und IT-Techniker benutzt das die Hälfte der Bußgelder, weil ohnehin lem der links regierten Kommunen
Wort »Tragödie«, spricht von den Al- nicht bezahlt wird und wir mühsam wie Bologna.
ten und Schwachen, die jetzt wieder Inkassofirmen beauftragen müssen. In den vergangenen Monaten hat
den Rasern ausgesetzt seien, in der Und zweitens bräuchten wir diese sich ein Guerillakrieg gegen Blitzge-
Gemeinde Buccinasco, vor den Toren Einnahmen auch gar nicht. Es geht um räte entwickelt, Kameramasten wur-
Mailands, wo er der Bürgermeister die Sicherheit unserer Bürger.« den nachts gefällt, Autovelox-Kästen
ist. Partei-, aber nicht ratlos, weshalb Seit Langem schon führt Matteo abgesägt, beschossen oder, so in Pa-
er sich eine Antwort auf die Radar- Salvini einen Kampf gegen Tempo 30 dua, in die Luft gesprengt. Anfangs
fallensaboteure hat einfallen lassen: und Radarfallen. Endlich ist er im pas- nur in Norditalien, dann auch im
»Wir stellen einfach vier zusätzliche senden Ministerium angekommen. ­Süden. Ende Januar tauchte eine Art
Videokameras auf, um die Radarfal- Das Liebesleben seiner Bürger liegt Bekennerschreiben auf, angebracht
len zu überwachen.« ihm dabei wohl weniger am Herzen an einem abgesägten Kameramast:
Der beobachtete Beobachter. als ihre gefühlte Bevormundung »Fleximan sta arrivando«, Fleximan
Es ist ein landläufiges Vorurteil, durch Lokalpolitiker. im Anmarsch.
dass in Italien gern schnell gefahren »Blitzer in der Nähe einer Schule, Der Rächer mit dem Trennschlei-
wird, besonders wenn eine Geliebte eines Kindergartens oder eines Kran- fer, der Flex. Inzwischen werden ihm
in der Nähe ist. Immerhin sollen so kenhauses sind in Ordnung. Blitzer mindestens 18 Anschläge zugeschrie-
Blitzgerät »Auto­
auch schon Kreuzfahrtschiffe auf Rif- auf zweispurigen Straßen sind eine velox«, Schlagzeile
ben. Wobei völlig unklar ist, ob es sich
fe gesetzt und zur Havarie gebracht Abzocke für Autofahrer und kein Plus von der Website nur um einen wütenden Heimwerker
worden sein. an Sicherheit«, erklärte Salvini im tagesschau.de handelt, um eine libertäre Gruppe
So wird auch eine angekündigte oder um Trittbrettfahrer, die genug
Reform der italienischen Straßenver- haben von Bevormundung und Beu-
kehrsordnung hierzulande in den Ka- telschneiderei. Gewiss ist nur, dass es
tegorien von »Dolce Vita« und »Cine- inzwischen Fleximan-T-Shirts gibt,
città« präsentiert. Demnächst sollen Wandmalereien, die seine Taten prei-
Zuschnellfahrern neben dem Bußgeld- sen, diverse Songs, Videos und jede
bescheid keine Blitzerfotos mehr nach Menge Sympathisanten – darunter
Hause geschickt werden? Klar, damit offensichtlich einen auf dem Amts-
Mamma nicht nach dieser Beifahrerin sessel des Verkehrsministers. Einige
Michael Weber / imagebroker / IMAGO

fragt, spätabends auf der Ausfallstra- haben Fleximan bereits gebeten, doch
ße, als doch eigentlich Tennis war. Zu bei ihnen vorbeizu­kommen.
viele Ehen, so heißt es in der Meldung, Von Privatleuten dagegen, die ihre
seien durch indiskrete Radaraufnah- Freizeit damit verbringen, reihen­
men zerstört worden. weise Anzeigen gegen Falschparker
»Das ist nicht die Wahrheit. Es geht und andere Volksfeinde zu erstatten,
ihm nicht um den Schutz der Per­ getrieben von der eigenen Güte – von
sönlichkeit. Das ist, wie die Lateiner denen hört man südlich der Alpen
sagen, ›captatio benevolentiae‹! Er eher weniger. Das ist der Unterschied.
fischt nach Stimmen«, sagt Bürger- Italien hat Fleximan.
meister Pruiti und meint den für Ver- Wir haben Knöllchen-Horst.
kehr und Infrastruktur zuständigen Alexander Smoltczyk n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 37


REPORTER

»Schnipp, sie sagen uns, er ist tot«


GEFLÜCHTETE Volodymyr Yermakov und Artem Kozachenko spielten Basketball in der ukrainischen
U-14-­Nationalmannschaft. Im Frühjahr 2022 flohen die Teenager aus der Ukraine.
Zwei Jahre später wurden sie am Busbahnhof Oberhausen tödlich verletzt. Ein Nachruf von Timofey Neshitov

A
m Abend des 10. Februar 2024 stiegen
in Oberhausen, Ruhrgebiet, zwei große
junge Männer und eine schlanke Frau
in den Linienbus SB 91. Sie sprachen Ukra­
inisch und fuhren vom Einkaufszentrum West­
field Centro zum Hauptbahnhof, Fahrzeit fünf
Minuten, drei Haltestellen. Am Bahnhof stie­
gen mit ihnen mehrere Jugendliche aus. Die­
se griffen die Ukrainer laut Zeugen sofort an,
noch an der Haltestelle, die Frau konnte die
Straßenseite wechseln, die Männer wurden
eingekesselt, geschlagen und getreten.
Einer der Angreifer zog ein Messer.
Es war Samstag, Karneval. Am Rosenmon­
tag war der Angriff in den Medien.
»Basketball-Nationalspieler aus der Ukra­
ine (17) erstochen«, titelte die »Bild«. Der
SPIEGEL schrieb: »Er floh vor dem Krieg,
spielte in Düsseldorf Basketball – nun ist ein
17-jähriger Ukrainer am Oberhausener
Hauptbahnhof getötet worden.«
Volodymyr Yermakov lebte erst seit einem
halben Jahr in Deutschland. Er spielte in einer
Nachwuchsmannschaft des Zweitligisten ART
Giants Düsseldorf. Zwei Stunden nach dem
Angriff starb er bei einer Not-OP. Sein Kind­
heitsfreund und Teamkollege Artem Koza­
chenko, erst im Januar 18 geworden, wurde
an Brust und Bauch verletzt. Artems Freundin
überlebte ohne physische Wunden. Auch sie
ist Ukrainerin, 17 Jahre alt.
Bei der Tragödie von Oberhausen kam
ausnahmsweise zusammen, was täglich in den
Nachrichten vorkommt: Krieg, Flucht, Ju­
gendkriminalität auf deutschen Straßen. Das
Ausmaß des Tragischen misst sich oft daran,
wie unwahrscheinlich ein Tod ist. Ich las d
­ iese
Meldungen und fragte mich, wie viele ukra­
inische Nachwuchssportler wohl bereits im
Krieg in ihrer Heimat ums Leben gekommen
waren.
Dann las ich, was der Basketballverband
in Kiew dazu schrieb.
Die beiden Spieler, hieß es auf der Face­
book-Seite des Verbands, seien nur angegrif­
fen worden, »weil sie Ukrainer waren!«. Die
Täter seien »acht junge Männer mit arabi­
schem Aussehen«.
Die Polizei Essen meldete ihrerseits, man
habe »einen 15-jährigen Deutschtürken« fest­
genommen, einen Schüler aus Gelsenkirchen,
»erheblich kriminalpolizeilich in Erscheinung Yermakovs Eltern, Trainer, Freunde in Düsseldorf
getreten«.

38 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


REPORTER

Warum musste Volodymyr Yermakov auf einen ukrainischen Pastor in Bautzen. nur in Ausnahmefällen verlassen. Vor dem
­sterben? Diese Täter scheinen allerdings weder einen ukrainischen Konsulat traf ich mich mit Yer-
Wer war er? arabischen noch einen türkischen Hinter- makovs Düsseldorfer Trainer Marcin Hansen.
Mit diesen Fragen im Kopf fuhr ich nach grund zu haben. Ein Sprecher des Dachver- Er ist ein Mann von 45 Jahren mit einem
Düsseldorf, wo Yermakov zuletzt gelebt und bandes ukrainischer Organisationen in vorsichtig federnden Gang und polnischem
gespielt hatte. Deutschland warnte vor der Wirkung der Akzent. Er kam als Teenager nach Deutsch-
Seit Beginn der russischen Invasion in der Kremlpropaganda auf Russen, Russlanddeut- land und träumte eine Weile von einer Kar-
Ukraine hat die deutsche Polizei in mehreren sche und andere Putin-Versteher. riere als Profibasketballer. Im vergangenen
Fällen ermittelt, in denen ukrainische Ge- Als ich in Düsseldorf ankam, vier Tage Sommer nahm er den Jungen aus Kiew bei
flüchtete angegriffen worden waren. Überfall nach dem Messerangriff, lag der Leichnam sich auf. Volodymyr teilte sich ein Zimmer
vor dem Brandenburger Tor auf eine Frau mit von Volodymyr Yermakov in der Rechts­ mit Hansens zwei Söhnen, er schlief auf einem
Ukraine-Sticker. Zerstochene Autoreifen in medizin. Seine Eltern warteten in Kiew auf die Ausziehbett am Fenster.
Bremen bei Autos mit ukrainischen Kenn- Ausreisegenehmigung für den Vater. Männer An dem Tag kümmerte sich Marcin Han-
zeichen. Angriff – mit einem Radschlüssel – im wehrpflichtigen Alter dürfen die Ukraine sen um den Sarg und den Spendenaufruf für
die Eltern in der Ukraine. Er fuhr mich zu sich
nach Hause, duzte mich, wie in der Sportwelt
üblich, konnte aber noch kaum reden, jeden-
falls nicht über den Mord. Ein befreundeter
Arzt rief ihn an, während er am Steuer saß,
sie sprachen über Artem, den zweiten Jungen,
den Verletzten. Artem habe anscheinend vier
Messerstiche abbekommen, sagte der Arzt,
er habe gerade mit der Intensivstation tele-
foniert, Blut in der linken Lunge, alles sei nun
geflickt, aber man müsse noch mal operieren,
die Magenwand sei angeritzt. »Grundsätzlich
keine große Sache«, sagte der Arzt. »Das wird
er überstehen.«
Marcin Hansen fuhr Schrittgeschwindig-
keit und musste beim Einparken in der Tief-
garage lange rangieren. In den Wochen da-
nach fuhr ich mehrmals nach Düsseldorf. Als
Yermakovs Eltern endlich nach Deutschland
kommen konnten, sah ich mit ihnen zusam-
men ein Spiel der ART Giants an, das erste
ohne ihren Sohn im Kader. Am Tag danach
fuhren wir zusammen ins Krematorium. Die
Giants erzählten mir von einem Teamkolle-
gen, der auch dann spielen wollte, als er ver-
letzt war. Von einem, der ihr Freund gewor-
den war, der noch sehr wenig Deutsch konn-
te und auf English gern knappe, das Leben
zusammenfassende Sätze sagte.
»Funny, funny. Nice, nice.«
»What the fuck.«
Bei meinem letzten Besuch in Düsseldorf
ging ich zum Gedenkgottesdienst für Artem
Kozachenko.
Zehn Tage nach Volodymyrs Tod war auch
er gestorben. Multiples Organversagen nach
der vierten OP.
Volodymyr und Artem kannten sich aus
Kiew. Als Kinder spielten sie im Verein 5
T.E.A.M, gewannen den Ukraine-Pokal, lie-
fen eine Weile zusammen für die ukrainische
U-14-Nationalmannschaft auf. Im Frühjahr
2022, als die ersten Bomben auf Kiew fielen,
flohen beide ins Ausland. Artem ging mit Mut-
ter und Schwester nach Düsseldorf. Volody-
myr, damals 15, fuhr erst zu einem Onkel nach
Polen, von dort nach Österreich, später nach
Deutschland.
Fabian Ritter / DER SPIEGEL

Ab dem Sommer 2023 spielten sie wieder


zusammen.
Artem, bei den Giants die Nummer 11, hat-
te sich in Düsseldorf über Monate gesteigert.
»Ein Spätentwickler«, sagt Trainer Marcin
über ihn. »Sehr geschmeidig, koordinativ her-

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REPORTER

vorragend. Tolle, unkonventionelle Bein- habe er Vova seinen ganzen Honig aus Kiew »Beileid an Familie und Freunde. Und für
arbeit.« Er habe Artem auf drei Positionen weggegessen. palästinensische Kinder ab jetzt null Mitge-
einsetzen können: Aufbauspieler, Shooting Hansens Frau Lucy, eine Hobbybasketbal- fühl.«
Guard, Kleiner Flügel. In letzter Zeit habe lerin mit kurzen Braids, aufgewachsen in »Kein Wort darüber in den deutschen Me-
Artem sogar bei den Profis mittrainiert. Er Togo, ging in die Küche, rauchen. Sie er­­- dien, die haben Angst vor Rassismusvorwürfen
war 1,98 Meter groß. zählte mir, wie sie Vova in Düsseldorf zu und verschweigen oft Verbrechen der Araber.«
Volodymyr, den alle bald nur Vova nann- einem Afrikafest mitnahm und wie er nicht Drei Tage nach der Tat, noch ganz am An-
ten, stand in Düsseldorf von Anfang an im glauben wollte, dass es in Deutschland Ras­ fang ihrer Ermittlungen, sah sich die Polizei
Startkader. Er war für seine 1,92 Meter un- sismus gebe. Lucy erzählte von der Geburt Essen zu einer Zwischenmeldung gezwungen.
gewöhnlich flink, punktete zuverlässig und ihrer Kinder: »Bei Saraphina habe ich 16 Stun- Alles deute auf eine »spontane Gewalteska-
feuerte mit seinen »Let’s go, guys!« die Mann- den gebraucht, bei Joshua 10 Stunden, bei lation des 15-jährigen Haupttäters hin«, hieß
schaft an, sobald sie zurücklag. Nur bei seinen Nelson 10 Stunden, bei Mimi 3 Tage. Dann es, es gebe keine Hinweise »auf eine fremden-
ersten Spielen musste Marcin öfter eingreifen. kommt einer, der ist nicht meiner, aber mein feindlich motivierte Tat«.
»Er hatte so eine Art, in Kontakt zu gehen Bauch …« Ich fragte mich, was »fremdenfeindlich«
und sich fallen zu lassen, um sich nicht zu Sie fragte mich: »Wie soll ich seiner Mutter in diesem Fall eigentlich bedeutet hätte. Dass
verletzen. Eine komische Fallsucht. Mit der jetzt ins Gesicht sehen?« ein Deutschtürke aus rassistischen Gründen
Zeit wurde er stabiler, vor allem mit dem Ich fragte sie, warum Vova sterben musste, Ukrainer tötet? Etwa weil er meint, er sei in
Krafttraining.« ihrer Meinung nach. Deutschland in der soundsovielten Genera-
Vova kam am 24. Juli 2023 nach Düssel- Sie würde, sagte Lucy, die Eltern des tion weniger willkommen als ein Basketballer
dorf, an seinem 17. Geburtstag. 15-jährigen Jungen fragen, wo sie eigentlich aus Kiew? Oder dass Araber Ukrainer töten?
Marcin holte ihn vom Bahnhof ab. Zu Hau- hinsahen, während ihr Kind mit einem Mes- Weil sie meinen, Ukrainer leben in Deutsch-
se wartete auf sie ein Zitronenkuchen, geba- ser loszog. land besser als Syrer?

Yermakovs Zimmer in Düsseldorf-Gerresheim, Gedenkplakat bei einem Spiel der ART Giants: Nur ein halbes Jahr in Deutschland

cken von Marcins ältester Tochter. In der Fa- Sie sprach wie eine Mutter, die nicht ver- Die Polizei nahm bald drei weitere Ver-
milie reden sie jetzt immer wieder über diesen stand, wie andere Mütter womöglich etwas dächtige fest. Einen 14-jährigen Deutschgrie-
Kuchen. Wie Vova ihn verschlungen habe, komplett anderes unter Muttersein verstehen chen, einen 14-jährigen Syrer und einen
wie er darüber gelacht habe, überhaupt, wie konnten als sie. Sie saß auf dem Bett im 15-jährigen Syrer.
Vova achtmal am Tag gegessen habe; Joghurt, Schlafzimmer, auf dem Boden neben ihr roll- Lange bevor es ein Gerichtsverfahren gab,
Hähnchen, Hafermüsli, Omelette, vier Eier te ihre fünfjährige Tochter einen Basketball löste der tödliche Messerangriff von Ober-
jeden Tag, Kartoffelpüree, Fufu aus Maniok. hin und her. Danuta – ein polnischer Name – hausen ein Rumoren aus, mit dem Marcin,
Als ich die Hansens das erste Mal besuch- trägt schon Braids wie ihre Mutter, hört aber der Jugendtrainer aus Düsseldorf-Gerres-
te, sah ihre Wohnung noch aus, als habe sich noch am liebsten auf »Mimi«. Vova brachte heim, überfordert war. »Ich komme nicht
dort ein Basketballer aus der Ukraine etwas Mimi Fahrradfahren bei. mehr mit«, sagte er mir, »was haben die Kin-
frech ausgebreitet. Seine Trikots, Socken, Unter dem Post des Kiewer Basketball­ der in Gaza damit zu tun?« Er musste die
Unterhosen hingen auf dem Wäscheständer, verbands – »... weil sie Ukrainer waren!« – Giants auf ihr nächstes Spiel vorbereiten, sie
Taschen mit seinen Jeans und Hoodies stan- hatte sich inzwischen eine weltpolitische hatten eine schwache Saison gespielt und wa-
den im Flur und auf dem Ausziehbett, zwi- Kom­mentarblase gebildet, ein Paralleluni- ren Tabellenvorletzte. Seit Vovas Tod konn-
schen ihnen lugte eine Ukraineflagge hervor. versum, in dem muslimische Teenager in ten sie sich kaum noch auf den Ball konzen-
Die Hansens hatten, so gut sie konnten, Vovas Deutschland dauernd ukrainische Flüchtlin- trieren. Bei einem ihrer Trainings, zu dem
Sachen für seine Eltern vorgepackt. Im Kühl- ge töteten, wobei »die deutschen Medien« Marcin mich mitnahm, liefen sie unnötig viel
schrank stand sein Quark, vor dem Fernseher wegschauten. und knallten gegeneinander. Marcin musste
eine Tüte mit sorgfältig verbundenen Säck- »Deportiert die Allahuakbaris weg von der immer wieder unterbrechen, einmal rief er:
chen: Nüsse, Trockenmangos, Pinienkerne. zivilisierten Menschheit.« »Es bringt nichts, dass wir uns alle verletzen!«
Ein Paket aus Kiew. »Das ist, weil die ukrainische Führung sich Auf der Bank saß ein Seelsorger mit Hund.
Sie aßen Bolognese an dem Abend, sto- mit Israel verbündet hat. Der Junge musste Marcin schien in den Tagen kaum zu schla-
cherten in ihren Tellern. Marcin sagte, einmal dafür zahlen.« fen. In einer der Nächte chattete er mit einem

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REPORTER

Kumpel, dessen Frau sei Richterin, sagte er mehrmals »Leinastraße, Lei-na«, er versuch- Haargummis und machte auf Vovas Kopf
mir. Er wollte von ihnen eine Einschätzung, te, die Adresse einzutippen, das Navi hängte einen kleinen Zopf. Sie filmte, wie er mit die-
welche Strafe die Täter nun wohl kriegen sich auf. Vovas Onkel schickte ihm von unter- sem Zopf zum Lied »Wake up in the Sky« mit
­würden. wegs eine Sprachnachricht, sie steckten im dem Kopf wackelte.
Sein Kumpel schrieb ihm um zwei Uhr Stau an der Grenze, wollten zum Spiel kom- »You can’t tell me I ain’t fly,
nachts, er habe die Frage bereits einem Kol- men, schafften es aber nicht zum Anpfiff. Die I know I’m super fly«.
legen von der Staatsanwaltschaft gestellt. Spieler hinten in Marcins Auto, Joris, Kaleb, Als ich mit Franca sprach, trug sie dieses
»Copy-Paste. Und bitte nicht übel nehmen.« Malik, drückten sich Kopfhörer in die Ohren Haargummi an ihrem Handgelenk. Vova woll-
Die Meinung des Staatsanwalts laut diesem und machten die Augen zu. Auf halbem Weg te mit ihr in den Weihnachtsferien laufen ge-
Chat: »Deutsch-türkische Herkunft. Das öff- mussten sie auf einer Raststätte anhalten. Et- hen, hatte aber keine Joggingschuhe dabei,
net bei mir wieder ganz böse Schubladen von was essen. Keiner hatte was dabei, nur Malik sie gab ihm die Schuhe ihres Vaters, Größe
pöbelnden Kleinkindern im Aldi, die ihre ver- einen Apfel. Sie bestellten Nuggets, Salate. 44. Vova trug 46. Er zog die Schuhe trotzdem
schleierte Mutter anschreien und den Laden »Stell dir vor, wir wären mitgefahren, an, lief mit, im Regen. Später schickte ihm
auseinandernehmen, während der Vater Schuhe kaufen.« Franca vom Bodensee Selfies auf Snapchat,
draußen mit Zigarette und Kollegen am 3er »Ich will mir das gar nicht vorstellen.« Fotos mit langen, offenen Haaren, den Kopf
BMW sein Tagesgeschäft verrichtet. Sorry für »Heute wird für Vova gewonnen.« zur Seite geneigt, sie nannte ihn Vovi, wollte
die Vorurteile.« Vova kam meistens früher als andere zum von ihm wissen, wie man auf Ukrainisch »Ich
Marcin kam auch bei dieser Art von Aus- Training und machte extra Dehnübungen. Zu vermisse dich« sagt.
länderdebatte nicht mit. Er schrieb seinem einigen Jungs ging er nach Hause, spielte Einen Monat später, als die Giants in der
Kumpel, er habe mehr Angst vor Deutschen ­Playstation, Darts, blieb über Nacht. Er lieb- Leinastraße in Gotha ankamen, waren ihre
in Anzügen, die gegen Leute hetzten, die nicht te Kissenschlachten. Daron, Co-Kapitän der Gegner, die Löwen, bereits auf dem Spielfeld.
deutsch aussähen. »Die triggern mich mehr. Giants, zeigte mir einen Fingertrick, den er Der Boden quietschte, die Giants brauchten

Maximilian Mann / DER SPIEGEL (3)

Fabian Ritter / DER SPIEGEL


Yermakovs Trainer mit Tochter, Teamkollegen bei der Trauerfeier: »Jetzt bricht seine Seele auf, bald ist sie im Himmel«

Die kleinen Türken haben eher Schiss vor mir. Vova beigebracht hatte: Man schnipst mit der länger in der Umkleide. Über ihre schwarzen
Mit Messer oder ohne.« rechten Hand, dann mit der linken, dann haut Spieltrikots zogen sie sich weiße an, auf denen
Sieben Tage nach dem Messerangriff von man mit der linken auf die rechte, schnipp, stand Vovas Nummer, 33, und der Satz: »For­
Oberhausen konnten Volodymyr Yermakovs schnipp, zack. »Man muss das ganz schnell ever in our hearts.«
Eltern die Ukraine verlassen. Präsident Se- hintereinander machen. Vova ist irgendwann Sie machten die Löwen platt an diesem
lenskyj sprach an dem Tag auf der Sicherheits- ganz stolz zu mir gekommen und hat mir ge- Abend.
konferenz in München, er forderte, mal wie- zeigt, dass er das auch kann. Jetzt taucht er Gegen Ende des dritten Viertels kamen
der, mehr Waffen für sein Land. nachts in meinen Träumen auf. Wir stehen Vovas Eltern.
Artem lebte noch. auf dem Spielfeld oder gehen spazieren, ich Sie stiegen auf die kleine Tribüne, gingen
Vovas Eltern fuhren zuerst nach Polen, freue mich. Dann wird mir klar, er ist nicht am Tisch mit Kaffee und Wiener Würstchen
schliefen in Ostrów Wielkopolski bei Vovas mehr bei uns, es ist wie ein Schnipser, von vorbei, setzten sich in die hinterste der drei
Onkel, er trainiert dort einen Basketballver- diesem Geräusch wach ich auf. Schnipp, ich Reihen. Tatjana, die Mutter, trug Sneaker und
ein. Am Morgen des 18. Februar fuhr der kriege die Nachricht, er liegt im Krankenhaus. einen schwarzen Hoodie. Sie drückte ihr
­Onkel sie nach Deutschland. Schnipp, sie sagen uns, er ist tot.« Kreuz durch, ihr Gesicht unter den kurzen,
Die Giants brachen am selben Morgen zu Die Weihnachtsferien verbrachte Vova bei hellen Haaren regte sich nicht. Gennadij, Vo-
ihrem Auswärtsspiel nach Thüringen auf. Sie Vincent, Shooting Guard, Nummer 1, die Fa- vas Vater, trug einen Trainingsanzug, er saß
mussten gegen die Löwen Erfurt antreten, die milie wohnt in Goch an der holländischen gebückt neben ihr und weinte geräuschlos.
Tabellenletzten. Grenze. Vincents Schwester Franca war da. Die Mutter rief auf ihrem Handy ein Mann-
Sie fuhren mit mehreren Autos, Marcin Sie kam vom Bodensee, vom Internat am Sa- schaftsfoto der Giants auf, vergrößerte einzel-
nahm drei Spieler mit, er sprach die Adresse lem Kolleg. Vova brachte den Geschwistern ne Spieler, zeigte sie dem Vater. Sie klatsch-
der Spielhalle ins Navi ein: Leinastraße 22, das rollende R bei und die ukrainischen Wör- ten, während die Giants immer mehr Punkte
Gotha. Das Navi kannte nur eine Leiner ter »mij brat«, mein Bruder. Sie hörten Bruno machten. Dann standen sie im Foyer und
­Straße und die nicht in Gotha, Marcin sagte Mars, Gucci Mane, Franca nahm eines ihrer warteten, bis die Sieger aus der Umkleide

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REPORTER

kamen. Der Vater schwankte etwas, er er-


holte sich noch von einem Autounfall in Kiew,
»Es freut mich sehr, dass jedes Mal zusammen, wenn einer der Spieler
oder die Bedienung sie ansprachen.
die Schulter tat weh, bei jeder Umarmung nun alle weinen.« Ich fragte sie, ob sie mir von Artem erzäh-
verzog er das Gesicht und sagte: »Thank you, Artem Kozachenkos Freundin len würde. Sie sagte, sie wolle nur nicht foto-
my son.« grafiert werden, sie habe Angst vor den Tä-
Deutschland, das Land, das mehr als eine tern, vor der Zeit, in der sie wieder auf freiem
Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen Fuß sein würden.
hat, war für Vovas Eltern neu. Sie hatten ihren trat wann, wer stach zu? Es gibt Videoaufnah- Sie versuchte, einen Salat zu essen, sagte,
Sohn in Deutschland nie besucht, sie hatten men der Sicherheitskameras, es gibt Zeugen. Artem habe keine neuen Schuhe gebraucht,
sich keine Sorgen um ihn gemacht. Nach dem Die Polizei geht von einem Haupttäter aus, der sie habe ihm erst im Januar welche geschenkt.
Spiel in Gotha fuhren Marcin und ich mit ih- ausrastete und mit seinem Messer zwei weite- Auch Vova habe an dem Abend keine gekauft,
nen nach Düsseldorf, der Vater saß vorn auf re Jugendliche verletzt haben soll. Sie wollten mal habe die Farbe nicht gepasst, mal die
dem Beifahrersitz, rauchte und schluckte Artem und Vova angeblich helfen. Ein 13-jäh- ­Größe. Gegen acht Uhr seien sie wieder zum
Schmerzmittel, der Onkel am Steuer spielte riges Mädchen mit libanesischen Wurzeln und Bus gegangen, »Artem und ich wollten den
Modern Talking. Die Mutter erzählte, wie Vova ein 14-jähriger Junge aus Syrien. Rest des Abends bei ihm verbringen. Lego
als Kind mit Blumen gesprochen habe. Sie Bei dieser Beweislage dürfte ein Gericht spielen, Carbonara kochen. Eins der wenigen
zeigte uns Fotos der Steinpilze, die er in einem feststellen können, wie genau Artem und Gerichte, die er konnte.«
Wald bei Kiew gesammelt habe. In diesen Vova starben. Wer von den Tätern wie viel Am nächsten Tag sollten die Giants gegen
Wald gingen sie nicht mehr, wegen der Minen. Schuld trägt an den tödlichen Verletzungen. die Dresden Titans spielen.
Sie zeigte ein Foto ihres Sohnes im Alter Die Frage, warum sie sterben mussten, kann Bereits beim Einstieg in den Bus habe einer
von 14 Jahren: Vova sitzt rittlings auf einem wohl kein Gericht beantworten, jedenfalls der Jugendlichen Artem geschubst, dann wäh-
Stuhl, die Arme auf die Lehne gestützt, die nicht für die Eltern in Kiew. Nicht für Marcin rend der Fahrt immer wieder mit dem Fuß
Haare fluffig hochgekämmt, er habe das Foto und Lucy Hansen, nicht für die Giants. gegen Vovas Bein getreten. Artem und Vova
nicht gemocht, »aber guckt, was er darunter- Bei dem Gottesdienst nach Artems Tod hätten nicht darauf reagiert.
schrieb, als Lebensmotto: Wähle immer den saß ich in der Kirche in Düsseldorf-Gerres- Nur auf die Frage: »Seid ihr Ukrainer?«
schwierigsten Weg, darauf begegnen dir die heim und hatte ein Déjà-vu wie aus einem hätten sie mit Ja geantwortet.
wenigsten Rivalen«. Albtraum. Wie bereits beim Abschied von Ich wollte wissen, was dann passierte. Ar-
Diesen Satz, sagte sie, wollten sie auf sei- Vova trugen die Giants wieder ihre schwarzen tems Freundin sah mir in die Augen und frag-
nen Grabstein in Kiew meißeln lassen. Vova Anzüge, wieder trug Marcin die fünfjährige te, ob ich über die Tat schreiben wolle oder
war ihr einziges Kind. Mimi auf dem Arm. Nur gab es diesmal kei- über Artem. Sie könne mir nicht einmal
Sie wollten in Deutschland keine Minute nen offenen Sarg. ­sagen, wie lange der Angriff gedauert habe,
länger bleiben als notwendig, Trauerfeier im Der Angriff auf die beiden, sagte der Pfar- sagte sie. Sie suche dringend eine gute The-
Krematorium, Versiegelung der Urne am rer, sei so sinnlos gewesen wie der andauern- rapeutin.
Konsulat, dann einmal zur Polizei, Vovas de Krieg gegen ihre Heimat. Ich sah auf die »Im Krankenhaus«, sagte sie, »als er auf-
Portemonnaie abholen, sein Handy. Für den beiden Porträts unter der aufgeschlagenen wachte, sagte er als Erstes: ›Ich liebe dich.‹
übernächsten Morgen plante der Onkel die Bibel, auf die Ukraineflaggen und dachte: Dann fragte er: ›Wo ist Vova?‹«
Rückfahrt. Er machte sich Sorgen wegen der What the fuck. Nach der zweiten OP sei es ihm so gut ge-
Staus, Landwirte aus mehreren EU-Ländern Artems Freundin – sie überlebte den An- gangen, dass er auf der Intensivstation sogar
hatten Blockaden angekündigt. Protest gegen griff – zündete eine Kerze an und blieb vor seine Lieblingsmusik gehört habe. Moby, Jus-
Importe aus der Ukraine. den Porträts knien, während sich die Kirche tin Bieber.
Ich fragte die Mutter, was sie empfand, leerte. Am Abend kam sie ins griechische Res- Sie zeigte mir Fotos von Artem. Artem
wenn sie an die Täter dachte. taurant, in dem die Giants zusammenkamen. sitzt in einem Bus und lächelt zum Fenster
»Leere«, sagte sie. Eine sportliche junge Frau mit langen dunklen hinaus. Artem isst Ramen-Nudeln. Artem
Keine Wut, kein Verlangen nach Rache. Haaren und abwesendem Blick, sie saß neben lässt am Rhein Steine hüpfen.
Kein Bedürfnis, mehr über die Mörder zu ihrer ukrainischen Seelsorgerin und zuckte Sie flohen beide aus Kiew, lernten sich aber
wissen, oder über ihre Familien. erst im vergangenen Sommer in Düsseldorf
Kurz nach Mitternacht, im Hotel in Düssel- kennen.
dorf, öffnete Marcin eine Flasche Rémy Mar- Neben uns am Tisch saß die Frau vom Be-
tin. Die Mutter hob ihr Glas und sagte: »Jetzt stattungsinstitut, auch sie Ukrainerin. Sie sag-
bricht seine Seele auf, bald ist sie im Himmel.« te: »Artem ist am Dienstag gestorben. Am
Marcin begann zu weinen. Vovas Vater sagte Donnerstagmorgen war ich um sieben Uhr
zu ihm: »Du und Lucy habt ihm das Leben bei der Leiterin der Mordkommission. Sie
geschenkt, von dem er träumte.« fing an zu weinen.«
Ende Februar wäre Volodymyr Yermakov Artems Freundin sah sie irritiert an. »Es
nach Spanien geflogen, ins Trainingslager der freut mich sehr«, sagte sie, »dass nun alle wei-
ukrainischen U-19-Nationalmannschaft. Da- nen, aber sie sollten etwas tun.«
für wollte er sich neue Basketballschuhe kau- Ich fragte Artems Freundin, was sie mein-
fen. Am Samstag, dem 10. Februar, fragte er te. Sie sagte, es gehe ihr um das Jugendstraf-
seinen Freund Artem Kozachenko, ob er mit recht. In Deutschland liegt die Jugendstrafe
ihm ins Centro fahren würde, nach Oberhau- bei maximal zehn Jahren. In der Ukraine
sen, das Einkaufszentrum mit der großen Aus- werden minderjährige Mörder bestraft, als
Fabian Ritter / DER SPIEGEL

wahl. wären sie Erwachsene. Artems Freundin


Was am Abend dieses Tages passierte, wird wünschte sich, dass sich Deutsche für härtere
demnächst in der Jugendstrafkammer des Strafen in Deutschland einsetzten.
Landgerichts Essen verhandelt. Unter Aus- »Meinetwegen können diese Polizistinnen
schluss der Öffentlichkeit, da die Beschuldigten jetzt Petitionen schreiben«, sagte sie, »oder
minderjährig sind. Wer schnitt Vova und Artem auf die Straße gehen. Wir haben auf dem Mai-
am Bahnhof den Weg ab? Wer schlug sie? Wer Yermakovs Freundin Franca (r.), Mutter Tatjana dan mehr erreicht.« n

42 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


REPORTER

Abendessen fertig waren, bestand


meine Frau darauf, noch sitzen zu
bleiben, um sich die russischen Lip-
pen anzuschauen. Sie sagte: Es ist wie
ein schlimmer Autounfall, man möch-

Wo steht das
te wegschauen. Aber es geht nicht.
Da meine Frau brasilianische Wur-
zeln hat, sind wir oft in Brasilien.
Dort lassen sich die Frauen gern den

Lenin-Denkmal, Genosse? Po vergrößern. Ich habe schon brasi-


lianische Hintern gesehen, die so volu­
minös aussahen, als hätte man unter
dem Kleid zwei Wassermelonen ver-
ALLES GUTSCH Über einen Urlaub unter Russen, Schönheitsoperationen steckt. Der Fachbegriff dafür heißt:
und das Zeichnen von Vulven am Frauentag Brazilian Butt Lift. Von allen Schön-
heitseingriffen erscheinen mir Lippen­
vergrößerungen am unsinnigsten.

D
as letzte Mal, dass ich halbwegs Aber was weiß ich schon. Auf der
Russisch sprach, muss im Som- Website der Klinik am Wittenberg-
mer 1990 gewesen sein, in der platz fand ich zum Thema »Lippen-
Abiprüfung. Dann kam der Westen, korrektur« folgende Einschätzung:
und die acht Jahre Russischunterricht »Zu einem harmonischen Gesicht
verpufften in meinem Hirn, bis kaum ­gehören schöne Lippen. Schön heißt:
mehr übrig blieb als der Satz: »Wo voll, geschwungen, attraktiv, sexy.
steht das Lenin-Denkmal, Genosse?« Denn schmale Lippen sehen nicht nur
Heute, fast 34 Jahre später, bin ich unschön aus, sie vermitteln auch, dass
im Urlaub in Ägypten und schaue auf die betreffende Person verkniffen,
das Rote Meer. Irgendwo dort drau­ ernst und humorlos ist.«

Illustration: Mario Wagner / DER SPIEGEL


ßen, denke ich, müssen die Huthi-­ Meine Lippen sind sehr schmal.
Milizen sein oder die deutsche Fre- Offensichtlich renne ich seit Ewig­
gatte »Hessen«, aber ich sehe nur keiten verkniffen und humorlos durch
bunte Fische im klaren Wasser, und die Welt. Für ein paar Hundert Euro
dann gehe ich ans Buffet und danach könnte ich mir nun Hyaluronsäure in
an den Pool, denn mehr gibt es zum die Lippen spritzen lassen. Aber dann
Glück nicht zu tun. dachte ich: Vielleicht wäre das ja mal
Ich wollte nach Ägypten, weil hier eine wirkungsvolle EU-Sanktion.
die Sonne scheint und die deutsche Eine, die die russische Gesellschaft
Krisenstimmung weit weg ist. Womit bis ins Mark trifft, die Putin zu Fall
ich nicht gerechnet hatte: dass ich zusammen Urlaub zu machen. Nun, bringt: eine Hyaluronsäure-Sanktion!
nach Ägypten fliege und in Russland ein wenig seltsam fühlte es sich an, Kurz vor dem Rückflug las ich,
lande. In fast jedem Strandurlaub aber es waren auch Ukrainer hier, was dass man in Berlin wieder nach RAF-
trifft man die klassische Stamm­ ich moralisch entlastend fand. Zudem Terroristen sucht. Die Welt erschien
besetzung: Franzosen, Deutsche, wäre es sinnlos gewesen, mit einer mir immer surrealer. Anscheinend
Engländer. Die Franzosen tragen ele- spektakulären Boykottgeste das Hotel reiste ich in einer Zeitschleife zurück
gante Sonnenbrillen, die Deutschen zu wechseln. Den Russen konnte man in die Achtzigerjahre. Angekommen
stopfen ihre Füße in Sandalen mit nicht entkommen. in Deutschland, war wieder ein Bahn-
Sohlen tief wie Winterreifen, und die Abends gingen wir durch die Stra- streik in Vorbereitung, und ich kauf-
Engländer sind erst sehr blass und ßen vor unserem Hotel und sahen: te meiner Frau Blumen zum Frauen-
dann sehr rot. Als Gott die Engländer überall Läden mit kyrillischen Buch- tag. Seit meiner Ost-Kindheit feiere
schuf, sagte er vermutlich: Attraktiv staben. Aus manchen dröhnte russi- ich Frauentag. Deshalb las ich im
seid ihr mir wahrlich nicht geraten, sche Popmusik, und die ägyptischen ­»Tagesspiegel« auch den Artikel
ihr guten Inselmänner und -frauen. Händler, die Gewürze und Tee ver- »50 Tipps für moderne Männer«, ge-
Dafür schenke ich euch die Pubs und kauften, sprachen mit großer Selbst- schrieben von drei Journalistinnen.
die Premier League, damit ihr euch verständlichkeit: Russisch. Genauso Tipp 22: »Lerne, die Anatomie einer
schönsaufen könnt. Sonnencreme wie die ägyptischen Kellner in unse- Vulva zu zeichnen.« Tipp 41: »Sorge
aber dürft ihr nie benutzen! rem Hotel. Es ist verwirrend: Man für Periodenprodukte in deinem Bü­
Schnell war klar, dass die Russen weiß, man ist in Scharm al-Scheich, ro.« Da wäre ich am liebsten wieder
in der Mehrheit waren. Ich möchte Nordafrika. Aber es klingt, als wäre nach Ägypten geflogen.
nicht von Invasion reden, aber es wa- man in Sankt Petersburg. Es mag reaktionär klingen, aber
ren sehr viele Russen, ähnlich wie in Ganz ehrlich? Ich fühlte mich wohl müsste ich mich entscheiden zwi-
meiner Kindheit in Berlin-Karlshorst, unter Russen, auch wegen der unter- Einige Lippen schen einer deutschen Frau, für die
wo es eine sowjetische Kaserne gab, haltsamen russischen Frauen. Sie waren ich Vulven zeichne, und einer Russin
ein sowjetisches Krankenhaus, eine ­waren jung, hatten kantige, finanz- mit Nacktschneckenlippen, mir fiele
sowjetische Schule, ein sowjetisches kräftige Männer an der Hand und so prall und die Wahl nicht schwer. Es war nur ein
Theater und das »Russenhochhaus«. ­gemachte Lippen. Mein Gott, diese groß wie kurzer Strandurlaub. Aber diese wert­
Meine Frau stellte die berechtigte Lippen! Einige waren so prall und volle gesellschaftspolitische Erkennt-
Frage, ob es denn aufgrund des Krie- groß wie zwei übereinanderliegende zwei Nackt­ nis, die wird für immer bleiben.
ges überhaupt okay sei, mit Russen Nacktschnecken. Wenn wir mit dem schnecken. Jochen-Martin Gutsch n

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WIRTSCHAFT

Julia Zimmermann / laif


Tankstelle in Berlin

Die einsame Verbrennerliebe der Union


AUTOINDUSTRIE Die CDU will den geplanten EU-Ausstieg aus Benzin- und Dieselantrieb stoppen.
Doch sie stößt auf Widerstand von Parteifreunden – und Konzernen.

E uropäische Schwesterparteien von


CDU und CSU halten wenig vom
Vor­haben der Union, das für 2035
­geplante EU-Verbrenner-Aus zu kippen.
Auch Kommissionspräsidentin Ursula von
der Leyen (CDU) will nicht an einem der
Kernbestandteile ihres Green Deal rütteln
lassen. Das gilt auch für das Datum, zu
eine entsprechende Verordnung vorgelegt.
Doch im zuständigen Gremium des
EU-Rats ist Deutschland isoliert, wie es
in einem internen Protokoll heißt. Kein an-
Konservative aus mehreren europäischen dem die EU das Verbrenner-Aus vereinba- deres Land habe Berlin »bei der jüngsten
­Ländern sowie der schwedische Minister- rungsgemäß überprüfen will. Berichte, Sitzung unterstützt«. Nicht einmal die
präsident Ulf Kristersson votierten ver­ ­wonach die Beamten den entsprechenden Autolobby steht geschlossen hinter den Plä-
gangene Woche in Bukarest gegen den Report um ein Jahr vorziehen könnten, nen. Für einen späteren Ausstieg gebe
CDU-Vorschlag, den Ausstieg aus dem Ver- um der Union entgegenzukommen, werden es kaum Chancen, heißt es im Verband der
brenner-Aus im Wahlprogramm der Euro- in Brüssel dementiert. »Das Jahr 2026 europäischen Automobilhersteller. Pkw
päischen Volkspartei (EVP) zu verankern. steht im Gesetz«, heißt es in der Kommis- mit Wasserstoff oder E-Fuels zu betreiben
Kristersson hat dabei auch die Interessen sion. »Wer das ändern will, muss dafür sei zu teuer; zudem müsste eine zusätzliche
des chinesisch beherrschten Autoherstellers erst einmal die entsprechenden Mehrheiten Infrastruktur für Produktion, Transport
Volvo im Blick, der stark auf E-Fahrzeuge zusammenbringen.« Die sind aber nicht und Vertrieb der Brennstoffe aufgebaut
setzt. Gemeinsam drückten die Verbrenner- zu erkennen. Auch der Plan der FDP, eine werden. Das sei bis 2035 nicht zu schaffen.
gegner durch, dass sich das EVP-Programm Ausnahme für synthetische Kraftstoffe »Es macht aus unserer Sicht überhaupt
lediglich allgemein zum »Prinzip der Tech- (E-Fuels) durchzusetzen, droht zu scheitern. ­keinen Sinn, jetzt einen Strategieschwenk
nologieoffenheit« bekennt. Der bisherige Zwar hat die Kommission nach mo­nate­ zu vollziehen«, sagt VW-Konzernvorstand
Ausstiegsfahrplan soll bestehen bleiben. langem Streit zwischen Brüssel und Berlin Thomas Schäfer. MSA, SH

44 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


»Es wirkt zu Loko: Rosa, Pink, Lila hat mit Doppelstreik treibt Check24: »Zu dem Zeitpunkt
der Nationalmannschaft nichts waren viele Geschäftsreisende
anbiedernd« zu tun. Es ist eine neumodische Mietwagenpreise bereits unterwegs und daher
Marcel Loko, Entscheidung, zu wenig zeitlos, MOBILITÄT Der Arbeitskampf ­gezwungen, sich eine ­Alternative
Johannes Arlt / DER SPIEGEL

59, Geschäftsführer gerade im Hinblick auf ein bei Bahn und Lufthansa lässt für die Rückreise zu orga­ni­
der Kommu­ Heimturnier. Andererseits: Nie- die Preise für Mietwagen stei- sieren.« Weil der GDL-Streik
nikationsagentur mand wird Fan des National- gen. Nach der Streikankün­ vergangene Woche bereits
­Hirschen Group, teams oder wendet sich von ihm digung der Lokführergewerk- am Sonntag angekündigt wur-
über das neue ab aufgrund der Trikotfarbe. schaft GDL am vergangenen de, blieb mehr Zeit, Reisen zu
­Adidas-Auswärts- SPIEGEL: Das Trikot soll für die Sonntag verteuerten sich verschieben. ADE
trikot der Fußballnational­ Vielfalt Deutschlands stehen. ­Buchungen für den folgenden
mannschaft Schon bei der WM 2022 in Katar Dienstag und Mittwoch in Teure Leihautos
Anstieg der Mietwagenpreise*
überlagerten politische Dis­ 15 der größten Städte Deutsch- an Streiktagen von Bahn und
SPIEGEL: Herr Loko, bei der kussionen den Auftritt des DFB- lands im Schnitt um 37 Prozent Lufthansa gegenüber streikfreiem
Heim-Europameisterschaft Teams. Droht uns das erneut? gegenüber der letzten streik­ Vergleichszeitraum (27. und 28.
wird die deutsche Mannschaft Loko: Die Gefahr besteht. Es freien Woche Ende Februar. Februar 2024)
unter anderem in Lila-Pink wird versucht, ein Statement zu Das zeigt eine Auswertung des Deutschland
­auflaufen. Wie gefällt das Ihnen setzen – wogegen nichts ein­ Preisvergleichsportals Check24. Frankfurt am Main
als Markenprofi? zuwenden ist. Die Aussage ist ja Weil gleichzeitig das Lufthansa-
Loko: Persönlich finde ich es eine gute. Aber überfordert Bodenpersonal streikte, zogen +128 %
ziemlich daneben, aber als es nicht die Spieler, wenn zu viel die Preise am Flughafen-Stand- +114 %
­Experte erkenne ich natürlich Gesellschaftspolitisches ins Tri- ort Frankfurt am Main beson-
die Absicht dahinter. kot gezwängt wird? ders stark an: Dort kosteten
SPIEGEL: Welche ist das? SPIEGEL: Die ersten Reaktionen Mietwagen mehr als doppelt so
Loko: Man will jungen Leuten ge- in sozialen Medien sind über- viel. Gegenüber der Vorwoche +54 %
fallen. Meine Tochter ist 20, die wiegend negativ. gingen die Preise allerdings
+37 %
schrieb mir gerade, dass sie das Loko: Die Macher werden sagen: deutschlandweit um elf Prozent
Trikot cool finde, es sei mal was Genau diese Diskussion wollten zurück. Grund sei die längere
anderes. Ich frage mich, ob die wir, jetzt reden alle darüber. Doch Dauer des GDL-Streiks in der
Intention zu durchsichtig ist. Auf mittelfristig droht ein kommuni- ersten Märzwoche sowie dessen 4. und 5. März 12. und 13. März
mich wirkt es zu ­anbiedernd, zu kativer Schaden, wenn mit zen­ kurzfristigere Ankündigung, * bei Buchung in den zwei Tagen vor Nutzung
»hey-wir-sind-cool«-artig. tralen Werten und Symbolen so sagt Andreas Schiffelholz von S Quelle: Check24 für den SPIEGEL


SPIEGEL: Was stört Sie? leichtfertig umgegangen wird. TNE

Investoren fühlen schont. Tatsächlich zeigten im


300.00 Euro setzlichen Verpflichtung zur Be-
sich bei Milliarden-
vergangenen Jahr aufgetauchte
gutachtung der gesamtwirt- Schriftstücke der Signa, dass
Reisekosten schaftlichen Lage und zur Er- deal getäuscht dieses Darlehen von Anfang an
WIRTSCHAF TSWEISE Hohe leichterung der Urteilsbildung nicht – wie im Zuge der Trans-
Spesen der Ökonomin Ulrike bei allen wirtschaftspolitisch ver- BENKO-PLEITE Die zusammen- aktion mitgeteilt – als Wandel-
Malmendier, die in ­Kalifornien antwortlichen Instanzen« ange- gebrochene Signa-Immobilien- darlehen ausgestaltet gewesen
lebt, führen zu Differenzen mit messen nachzukommen, wenn gruppe des österreichischen sei, notiert ein Geldgeber in
den Haushalts­politikern der Ko- die Mittel nicht ausreichend Unternehmers René Benko kos- Unterlagen, die dem SPIEGEL
alition. Internen Unterlagen zu- ­angepasst werden, so Schnitzer. tet ihre Investoren nicht nur vorliegen. Obendrein habe
folge beliefen sich die Reiseaus- Auf SPIEGEL-Anfrage erklärte viel Geld. Manche von ihnen sich Westons Investmentfirma
gaben des Sachverständigenrats der Rat, die Reisen der Mit­ werfen Benko vor, sie getäuscht Wittington monatlich 14 Pro-
2023 auf rund 300.000 Euro, glieder würden »langfristig« zu haben. Etwa bei der Über- zent Zinsen dafür gesichert.
allein 200.000 Euro entfielen und »so günstig wie möglich« nahme der Londoner Nobel- ­Dadurch habe die Familie »er­
auf Malmendier. Pro Reise nach gebucht. BUC kaufhauskette Selfridges, die heblichen Druck« auf Signa aus-
Deutschland sind im Schnitt 2022 von Signa und der thailän- üben können, zumal sie den
rund 13.000 Euro Flugkosten dischen Central Group für Kredit später fällig stellte. Auch
entstanden. Die Wirtschafts­ ­geschätzt rund vier Milliarden an anderer Stelle könnte der
weise, die in Berkeley lehrt, Euro gekauft wurde. Mit Self­ Deal unsauber gelaufen sein:
wurde 2022 von der Bundesre- ridges wollte Benko das Luxus- Seinem Partner Central Group
gierung in das Gremium beru- handelsgeschäft ausbauen, das sowie Mitarbeitern soll Benko
fen. Der Haushaltsausschuss des er mit dem Berliner KaDeWe lange verschwiegen haben, dass
Bundestags hat inzwischen Vor- bereits aufgebaut hatte. Benko, er gleich nach dem gemeinsa-
gaben für die Reisekosten der so ärgern sich Signa-Investoren, men Kauf von Selfridges einen
Wirtschaftsweisen gemacht: Pro habe ihnen erklärt, dass die Teil seiner Beteiligung an einen
Mitglied und Jahr soll eine ­kanadische Unternehmerfamilie saudi-arabischen Fonds weiter-
Obergrenze von 100.000 Euro Weston als Selfridges-Verkäufer verkaufte. Ein Anwalt Benkos
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

gelten. In einem Schreiben an den Deal mit einem Wandeldar- wies die Vorwürfe als »inhalt-
den Ausschuss warnte Monika lehen über 400 Millionen Euro lich unrichtig« zurück, ohne
Schnitzer, Chefin des Sachver- unterstützt habe. Die Familie ins Detail zu gehen, da es sich
ständigenrats, vor mehr hybri- wolle den Kredit später in Signa-­ um vertrauliche Geschäfts­
den ­Sitzungen mit Zuschaltung Anteile ummünzen, so sei informationen handle. Witting-
Malmendiers. Man sehe sich Malmendier es ­ihnen versichert worden. Das ton war für eine Stellungnahme
»nicht in der Lage, unserer ge- hätte das Kapital der Signa ge- nicht erreichbar. KIG

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 45


WIRTSCHAFT

Dhanush und die Staatspleite


Im Globalen Süden wütet die größte humanitäre Krise seit Jahrzehnten.
ARMUT
Rund 50 Staaten sind fast bankrott, 165 Millionen Menschen seit 2020 verarmt. Die Geschichte
eines Geschwisterpaars aus Sri Lanka, das fast alles verloren hat. Außer einander.

Noi Crew / DER SPIEGEL

Jugendlicher Dhanush (r.), Großvater Madasamy, Neffe Oshada, Schwester Udeni: »In mir gärt eine große Wut«

46 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


WIRTSCHAFT

D Oshada
hanush ist zu jung, um am Le- Anlagen in reichen Staaten kaum würde das Haus gern streichen, doch
ben zerbrochen zu sein; aber noch Geld verdienen. Private Geld- das können sie sich nicht leisten.
er ist davon gezeichnet. Er ist häuser wie Blackrock, HSBC und ­weinte »Wir waren schon immer arm«,
17, sein Bart ist noch weich, aber sein
Blick wirkt resigniert. So, als hätte er
Goldman Sachs steckten daher viele
Milliarden in Entwicklungsländer, wo
manchmal sagt die 26-Jährige. »Aber wir kamen
zurecht.« Erst seit der Staatspleite
schon zu viel Schlechtes erlebt. deutlich höhere Renditen lockten. vor Hunger, habe sich ihre Armut in Elend ver-
Morgens früh, wenn die Luft
schwüler wird und die Sonne durch
Auch die chinesische Regierung gab
dem Globalen Süden großzügig Kre-
Udeni ­ wandelt.
Udeni ist mager und selbst für sri-
die Blätter der Kumbukbäume bricht, dit, nicht zuletzt, um geopolitischen schickte ihn lankische Verhältnisse klein. Sie er-
geht Dhanush in der Zentralprovinz
Sri Lankas zum Mahaweli-Fluss, fährt
Einfluss zu gewinnen.
»Entwicklungsländer hatten plötz-
dann früh fasst Situationen und Menschen so-
fort und koordiniert souverän die An­
mit einem Floß ans andere Ufer und lich Zugang zu den internationalen ins Bett. gelegenheiten der Familie. In einem
kratzt mit einer Schöpfkelle Sand Kapitalmärkten«, sagt der Ökonom anderen Teil der Welt hätte sie ver-
vom Grund, stundenlang, bis seine Ulrich Volz, der an der Universität mutlich gute Chancen, sich etwas auf-
dünnen Arme nicht mehr können. London zur globalen Schuldenkrise zubauen.
Der Sand an der Flussbiegung ist forscht. »Sie konnten sich praktisch Im Eingangsbereich des Hauses ste-
fein, genau richtig für die Bauindu­s­ aussuchen, von wem sie sich Geld lei- hen Familienbilder, Erinnerungen an
trie. Abends kommt ein Laster und hen.« Ihre Staatsverschuldung ver- die Kindheit der beiden Geschwister.
kauft Dhanush die Tagesausbeute ab. doppelte sich. Ihre Verbindung war schon immer eng.
Bis zu 4000 Rupien, rund zwölf Euro, Dann kamen die Pandemie und Kurz nach Dhanushs Geburt sollte
verdient er am Tag. der Ukrainekrieg, schickten Schock- Udeni für den Bruder eine Milchfla-
Die Strömung ist stark, gerade wellen durch das Weltwirtschaftssys- sche holen. Auf dem Weg nach Hau-
jetzt, Anfang Dezember, am Ende der tem, und die Billionen-Dollar-Blase se zerfetzte ein Hund ihr den Rücken.
Monsunzeit. Ab und zu kentert ein platzte. Sie blutete stark, doch sie schleppte
Floß, weil die Sandschürfer es über- Selbst Regierungen, die einiger- sich mit der Flasche zurück bis zur
laden. Es heißt, mehrere Männer maßen gut gewirtschaftet haben, müs- Klinik. Noch heute ist ihr Rücken vol-
­seien hier schon ertrunken. sen nun sparen. Und sie tun das oft ler Narben. »Seit ich denken kann,
Dhanush müsste eigentlich zur auf Kosten der Bevölkerung, strei- hatte ich immer nur meine Schwes-
Schule gehen. Doch ohne seinen chen Sozial-, Gesundheits- und Bil- ter«, sagt Dhanush. »Und meine
Lohn würden seine Schwester Udeni, dungsausgaben. »Die Folge ist ein Schwester hatte immer nur mich.«
ihr Sohn Oshada, sein Großvater Ma- millionenfaches Elend«, sagt Carmen In der Küche brummt ein moder-
dasamy und er kaum überleben. Reinhart, die einmal Chefökonomin ner Kühlschrank. Die Wände über der
Sri Lanka könnte ein reiches Land der Weltbank war. Arbeitsplatte sind gekachelt. Es sind
sein. Sein Tee ist weltberühmt, die Rund 165 Millionen Menschen Dinge, die in Sri Lanka nicht jeder
Landschaft ein Touristenmagnet. Als sind nach Recherchen des Uno-Ent- hat. Relikte aus einer Zeit, in der es
2009 die verfeindeten Volksgruppen wicklungsprogramms zwischen 2020 der Familie besser ging.
der Tamilen und Singhalesen endlich und 2023 verarmt. Das entspricht In den Zehnerjahren, als die Mil-
Frieden schlossen, wuchs auf der Insel mehr als einem Drittel der EU-Be- liardenkredite flossen, ging die Mut-
an der Südspitze Indiens die Zuver- völkerung. Wie sieht ihr Leben aus? ter nach Saudi-Arabien und arbeitete
sicht. Das Haus, in dem Dhanush und als Haushaltshilfe. Rund 85.000 Ru-
Ausländische Investoren gaben der Udeni leben, steht an einem schlam- pien verdiente sie im Monat, damals
Regierung Milliardenkredite, doch migen Feldweg am Rande der Sied- fast 600 Euro. Den Großteil des Gel-
die verplemperte das meiste Geld für lung Janaudanagama, was sich mit des schickte sie nach Hause. Der Va-
spekulative Bauprojekte. Im April »Dorf der glücklichen Menschen« ter verkaufte Früchte auf dem Markt.
2022 konnte sie ihre Schulden nicht übersetzen lässt. Die Pflanzen im Während die Familie etwas Geld
mehr bedienen, die Wirtschaft stürz- Garten sind gestutzt, die türkisfarbe- ansparte, versuchte die Regierung, die
te ab. Dhanush und seiner Familie ne Fassade ist voller Flecke. Udeni Wirtschaft zu reformieren. Das Land
geht es seitdem schlecht. hatte seit Jahren über seine Verhält-
Die Regierung hat unklug gewirt- nisse gelebt, mehr importiert als ex-
schaftet, doch das ist nicht der ein- Globale Krise portiert und sich so im Ausland immer
zige Grund, warum das Land pleite mehr verschuldet. Im November 2015
Länder mit kritischer Staatsverschuldung*
ist. Etliche andere Staaten des soge- versprach der damalige Premier­
nannten Globalen Südens, Länder unkritisch leicht kritisch kritisch sehr kritisch minister Ranil Wickremesinghe, die
keine Angabe nicht Teil der Betrachtung
wie Sambia, El Salvador oder Paki­ Einfuhren zu senken und Produktion
stan, durchleiden ähnliche Krisen. und Export von Hightech-Gütern an-
15 Staaten sind seit Beginn der zukurbeln. Auch das marode Steuer-
Pandemie bankrottgegangen, rund system wollte er modernisieren.
40 weitere können laut der Organi- Doch die Regierung zerstritt sich
sation Debt Justice kaum noch ihre und setzte die Reform nicht um. 2019
Kredite bedienen. Uno-Generalsekre- wurde sie abgewählt. Der neue Prä-
tär António Guterres sprach vergan- sident Gotabaya Rajapaksa ließ,
genen Sommer von einem »systemi- kaum im Amt, die Steuern senken.
schen Versagen«. Dabei stiegen die Staatsschulden
Das Desaster geht auf eine Billio- schon bedenklich.
nen Dollar große Kreditblase zurück, Etwa zu dieser Zeit wurde Udeni
die sich ab 2010 gebildet hat. Damals, schwanger und zog zu ihrem Mann.
* Forderungen privater, bilateraler öffentlicher und multilateraler Gläubiger,
nach der Weltfinanzkrise, waren die aggregierte Indikatoren laut Schuldenreport Dhanush fürchtete, nach der Mutter
Zinsen mickrig, und man konnte mit S Quelle: erlassjahr.org/Misereor auch noch die geliebte Schwester zu


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WIRTSCHAFT

verlieren. Doch schon im Juli 2020 an Treibstoff, an Nahrung, an Medi­


kehrte Udeni zurück, zusammen mit kamenten.
dem damals einjährigen Oshada. Ihr Am 12. April 2022 erklärte die Re­
Mann habe sie schlecht behandelt, gierung das Land für zahlungsunfä­
sagt sie heute. Mehr möchte sie da­ hig. Anfang Mai trat Premierminister
rüber nicht erzählen. Mahinda Rajapaksa zurück. Auf den
Während sich die Familie im Haus Straßen demonstrierten Zehntausen­
neu arrangierte, brach Sri Lankas de Menschen. Regierungsanhänger
Wirtschaft zusammen. Die Pandemie attackierten ein Protestcamp vor dem
würgte den Tourismussektor ab, von Präsidentenpalast. Es kam zu einer
dem mehr als ein Zehntel der Wirt­ Straßenschlacht, neun Menschen star­
schaftsleistung abhing. Die Staatsver­ ben, rund 220 wurden verletzt.
schuldung überstieg bald das Brutto­ Ausgerechnet zu dieser Zeit wurde
inlandsprodukt. Ratingagenturen Oshada krank. Udeni musste ihren
zweifelten immer mehr an Sri Lankas Job in der Fabrik aufgeben. Dabei
Kreditwürdigkeit. brauchten sie dringender denn je
Ende 2020 lieh dem Staat kaum Geld. Früher war die Familie mit rund
noch jemand Geld. Die Regierung ließ 15.000 Rupien im Monat zurecht­
Sandschürfer
auslaufende Kredite aus den Devisen­ Dhanush, Freunde
gekommen, nun kosteten allein die
reserven der Zentralbank bedienen, Grundnahrungsmittel jeden Monat
die aber schmolzen im Rekordtempo das Doppelte.
dahin. Udeni verpfändete ihren Schmuck.
Panisch suchte die Regierung nach Der Großvater verzichtete auf die
einem Ausweg. Im April 2021 setzte Medikamente für seine schmerzen­
sie eine radikale Landwirtschafts­ den Beine. Der Vater verschuldete
reform durch. Sie verbot den Import sich bei den Nachbarn. Dhanush
und Einsatz von chemischen Dünge­ schmiss die Schule und ging arbeiten,
mitteln, Pestiziden und Unkrautver­ erst als Gärtner, dann als Holzhacker,
nichtern. Sri Lanka sollte zum welt­ schließlich in der Sandmine.
weit ersten Land mit einem pauscha­ Die Schule, auf die Dhanush ge­
len Biolabel werden. Das sollte die gangen ist, wird von einem Mönch
Exportindustrie ankurbeln; tatsäch­ geleitet. Was Vorteile hat, denn Mön­
lich verschärfte es die Krise. che haben in Sri Lankas Gesellschaft
Das Pestizidverbot führte zu gro­ eine hohe Stellung. Entsprechend gut
ßen Ernteausfällen. Die Reisproduk­ kann Direktor Venereble Imbulpitiya
tion brach um mehr als ein Drittel ein, Vipassi gerade Spenden organisieren.
die Maisproduktion um die Hälfte. Vipassi zeigt eine Liste, die er für
Einfache Grundnahrungsmittel wur­ die Hilfsorganisation Caritas erstellt
den knapp und teuer. Nur ein halbes hat. Auf ihr sind die Namen jener
Jahr später nahm die Regierung das Schüler vermerkt, deren Familien in
Pestizidverbot zurück. Doch die Le­ besonders großen Nöten sind. Sie be­
bensmittelkrise ließ sich nicht aufhal­ kommen von der Caritas nun Essens­
ten. Udeni erinnert sich, wie sie selbst
für eine Packung Zucker einen halben
»Er ist ein guter Junge, aber pakete.
»Viele Kinder bringen nur noch
Tag lang anstehen musste. es war nie jemand für ihn da.« eine kleine Portion Reis und etwas
Im Februar 2022 griff Russland die Rasika Mudannayake, Lehrerin Gemüse mit«, sagt Vipassi. Als Ration
Ukraine an und löste einen Preis­ für den ganzen Tag. »Aber Menschen
schock an den globalen Energiemärk­ mit leerem Magen kann man nicht für
ten aus. Für Sri Lanka, das viel Benzin Bildung begeistern.«
und Diesel importiert, war das ein Dhanushs Familie hätte es sicher
weiterer Schlag. Auch Treibstoff wur­ auch auf die Caritas-Liste geschafft,
de nun teuer und knapp. Die Infla­ sagt Rasika Mudannayake, seine ehe­
tionsrate stieg bis März auf 16 Prozent. malige Klassenlehrerin. Aber er sei ab
Udeni begann, in einer Textil­ Mai 2022 nicht mehr zum Unterricht
fabrik zu arbeiten. Teils saß sie von gekommen. So wie inzwischen fast
7.30 bis 22 Uhr an der Nähmaschine. jeder dritte Schüler. »Manche kommen
Eine ihrer Tanten passte auf Oshada schon in der fünften Klasse nicht mehr.
auf. »Es fühlte sich schrecklich an, ihn Die Mädchen passen auf ihre jüngeren
allein zu lassen«, sagt Udeni. »Aber Geschwister auf, damit die Eltern län­
wir brauchten das Geld.« ger arbeiten können. Und die Jungs
Anfang März waren Sri Lankas müssen oft selbst Geld verdienen.«
Finanzreserven praktisch aufge­ Frau Mudannayake möchte wis­
Noi Crew / DER SPIEGEL (3)

braucht. Die Währung kollabierte, sen, was aus Dhanush geworden ist.
verlor in rund zwei Wochen knapp Als der Fotograf ihr die Bilder aus der
50 Prozent an Wert. Alles, was Sri Sandmine zeigt, werden ihre Augen
Lanka importierte, wurde noch teu­ feucht. »Er ist ein guter Junge«, sagt
rer. Gleichzeitig gingen die Einfuhren Dhanushs Haus sie. »Aber es war nie jemand für ihn
zurück. Es fehlte nun an fast allem; da.«

48 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


WIRTSCHAFT

Im Sommer 2022 kletterte Sri Lankas Schuldencasinos. Zentralbankchef Weera­ »Praktisch jede Demonstration kann inzwi­
I­ nflationsrate auf mehr als 60 Prozent. Ein singhe und seine Kollegen trafen Dutzende schen zum Terrorakt erklärt werden.« Und
älterer Mann starb auf einer Tankstelle, nach­ Gläubiger. Keiner wollte der Erste sein, der für fast jeden kritischen Kommentar in sozia­
dem er fünf Tage lang im Auto auf Benzin ihnen hilft, weil er damit indirekt allen ande­ len Medien könnten Menschen nun verhaftet
gewartet hatte. Im Dorf Warunagama, rund ren Gläubigern geholfen hätte. werden. »Die Krise hat dieses Land auch auto­
140 Kilometer östlich von Colombo, versuch­ Hinzu kam ein geopolitischer Machtkampf. kratischer gemacht.«
te eine verzweifelte Mutter von drei Kindern, »Die Regeln, wie Staatspleiten ablaufen, wer­ Aus dem Ausland ist kaum Hilfe zu erwar­
sich das Leben zu nehmen. den noch immer stark von reichen Gläubiger­ ten. Zwar hat sich Sri Lanka seit Ende Okto­
In Dhanushs Dorf verstummten alle Feste. staaten und dem IWF bestimmt«, sagt Öko­ ber 2023 mit einigen Gläubigern geeinigt.
Mehr Mütter gingen in den Nahen Osten, um nom Volz. »Doch China möchte das nicht mehr Doch ein Gesamtkonzept für einen Schulden­
als Haushaltshilfen zu arbeiten; manche wur­ hinnehmen.« Einen Schuldenschnitt lehnte schnitt fehlt. Vor allem die Verhandlungen
den misshandelt und missbraucht. Nachbarn Pekings Regierung ab. Stattdessen wollte sie mit den privaten Geldgebern laufen zäh.
neideten sich gegenseitig das kleinste bisschen Sri Lanka mehr Zeit geben, um seine Kredite Auch für den Rest des Globalen Südens
Wohlstand; gleichzeitig halfen sie einander, zurückzuzahlen. Gut anderthalb Jahre lang gibt es wenig Hoffnung. Ein funktionales Pro­
wo sie konnten. kamen die Verhandlungen kaum voran. zedere, wie der Westen, China und Privat­
Das Geschäft des Vaters lief immer schlech­ Die Regierung in Colombo versuchte, die investoren zusammenarbeiten, ist nicht in
ter. Das wenige Geld, das er verdiente, versoff Gläubiger wohlwollend zu stimmen. Erst er­ Sicht – trotz Gesprächen und Konferenzen.
er oft. Manchmal schlug er betrunken auf höhte sie die Mehrwertsteuer – was vor allem Für kriselnde Banken wie die Credit Suisse
Udeni ein – bis sich Dhanush brüllend da­ für ärmere Bürger das Leben weiter verteu­ seien teils binnen Tagen Milliardenhilfen mo­
zwischenwarf. erte. Dann kürzte sie Subventionen für Ben­ bilisiert worden, sagt Schuldenökonom Volz.
Statt drei Mahlzeiten am Tag gab es meist zin und Strom. Udeni sagt, der Preis für Elek­ Entwicklungsländer seien oft jahrelang
nur noch zwei. Fast immer aßen sie Reis mit trizität habe sich mehr als verdoppelt. In ­bankrott. »Politiker ärmerer Länder deuten
Gemüse, fast nie mehr Fleisch, Fisch oder ihrem Haus schalteten sie seitdem kaum noch das als Hinweis, wie wenig sich die Welt um
Eier. Oshada weinte manchmal vor Hunger, das Licht an. sie schert.«
Udeni schickte ihn dann früh ins Bett. Sie Mit dem Land ging es weiter bergab. Rund Die Schuldenkrise im Globalen Süden ver­
hoffte, er würde bald schlafen und seinen neun Millionen Menschen sind seit Anfang schärft sich derweil. Ende 2023 mussten är­
knurrenden Magen nicht mehr spüren. »Ich 2022 verarmt. Rund 43 Prozent der Kinder mere Länder im Mittel schon fast 15 Prozent
fühlte mich wie eine Versagerin«, sagt sie. unter fünf Jahren sind mangelernährt. Im Juli ihrer Einnahmen für Zinsen und Tilgung von
»Welche Mutter lässt ihr Kind hungern?« 2023 startete die Regierung mit der Weltbank auslaufenden Krediten ausgeben. 2024 und
Am 9. Juli stürmte ein wütender Mob den ein Sozialprogramm für die ärmsten 2,3 Mil­ 2025 dürften es noch mehr sein, denn gerade
Palast von Präsident Rajapaksa. Videos von lionen Menschen. Dhanush und Udeni haben werden besonders viele ausländische Kredite
Demonstranten, die in seinem Swimmingpool bis heute kein Geld gesehen. fällig.
badeten, gingen um die Welt. Rajapaksa floh Zentralbankchef Weerasinghe sagt, die Und so drohen weitere Staatspleiten. Und
auf die Malediven. Er entkam womöglich ­Reformen seien kompliziert. Man müsse alles neue humanitäre Krisen. Nach einer Analyse
durch einen Geheimtunnel. gleichzeitig voranbringen. Den Schulden­ des Weltbank-Ökonomen Clemens Graf von
In der Regierung übernahmen nun Kräfte, abbau. Die Reform der Staatsfinanzen. Den Luckner sinkt in zahlungsunfähigen Ländern
die das Land aus der Krise führen wollten. Aufbau neuer Wirtschaftszweige. Den Kampf die Lebenserwartung. Dauert die Pleite mehr
Doch sie merkten bald, wie sehr sie Spielball gegen die soziale Krise. »Es dürfte noch zwei als drei Jahre, steigt die Kindersterblichkeits­
eines globalen Machtkampfs waren. bis drei Jahre dauern, bis sich die Lage bessert.« rate sprunghaft an.
Aus dem 15. Stock von Sri Lankas Zentral­ Kritiker indes fragen sich, warum die Re­ Kommt es zum Schuldenschnitt, ist dieser
bank kann man den Präsidentenpalast sehen, gierung nicht auch die Steuern für Reiche er­ selten groß genug, um die Wirtschaft eines
den der Mob im Juli 2022 stürmte. In einem höht. Warum sie Banken und Privatinvesto­ Landes nachhaltig neu aufzustellen. Manche
der Büros sitzt Zentralbankchef Nandalal ren schont. Und warum der Staatsapparat mit Länder hangeln sich schon lange nur noch
Weerasinghe hinter einem großen Schreib­ seinen geschätzt 1,5 Millionen Angestellten von Hilfsprogramm zu Hilfsprogramm.
tisch und überfliegt die internationale Finanz­ – bei 22 Millionen Einwohnern – noch immer »Kicking the can down the road« nennen
presse. »Wir hätten den IWF schon ein Jahr so aufgebläht ist. Kritiker das. Als wären Staaten mit Millionen
früher um Unterstützung bitten sollen«, sagt »Die Elite zahlt fast nichts für diese Krise«, Menschen rostige Büchsen, die man immer
er. »Dann wären die sozialen Folgen der K ­ rise sagt Jayadeva Uyangoda, emeritierter Polito­ mal wieder ein Stück die Straße hinunter­
nicht so hart gewesen.« loge der Universität in Colombo. Obendrein schießt, wenn sie einem in die Quere kommen.
Die Zeit nach der Staatspleite beschreibt beschneide der Staat die Rechte der Bürger. Auch mit Sri Lanka könnte das so laufen.
man in Regierungskreisen als chaotisch. Man Vor ein paar Monaten hat Udeni ihre Mut­
habe keine Erfahrung gehabt, wie man mit ter angerufen. Doch die ging nicht ans Tele­
den Gläubigern umgehen soll, sagt einer, der Verheerender Preisschub fon. Später ließ sie über eine Tante ausrichten,
dabei war. Also habe man Berater der Kanz­ sie wolle keinen Kontakt mehr.
lei Clifford Chance und der Investmentbank Inflationsraten, Veränderung zum Der Vater hat begonnen, sich im Suff zu
Vorjahresmonat in Prozent
Lazard engagiert. Die aber habe man zu­ Höchstwert im prügeln. Vor ein paar Wochen hat ein Gericht
Sri Lanka
nächst nicht bezahlen können, weil die Dol­ Deutschland September 2022: ihn zu einer Schadensersatzzahlung von
larreserven aufgebraucht gewesen seien. 72,5 200.000 Rupien verurteilt. Seitdem ist er ab­
Die Verhandlungen gestalteten sich schwie­ 50 getaucht.
rig. Die Staatsschulden waren auf Dutzende Udeni würde gern ins Ausland flüchten,
Gläubiger verstreut. Mehr als 50 Milliarden zusammen mit ihrem Bruder. Oshada ein Stu­
Dollar standen Ende September 2023 bei pri­ dium ermöglichen. Das Leben, das sie sich
25
vaten Geldgebern aus, 11,2 Milliarden Dollar nicht ausgesucht hat, weit hinter sich lassen.
bei multilateralen Organisationen, 7,3 Mil­ Dhanush ähnelt manchmal schon dem
liarden Dollar bei China und noch einmal 6,5 ­Vater. Auch wenn er das auf keinen Fall will.
rund 6,8 Milliarden bei 21 weiteren Ländern. 0 »Äußerlich wirke ich ruhig«, sagt er. »Aber
2,9
Wie schon bei Sambia, Tschad oder Äthio­ 2021 2022 2023 2024 in mir gärt eine große Wut.«
pien zeigte sich die Schattenseite des globalen S Quelle: Refinitiv Stefan Schultz n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 49


WIRTSCHAFT

Gewobag-Objekt Neues Kreuzberger Zentrum


am Kottbusser Tor in Berlin

Reto Klar / FUNKE Foto Ser vices / IMAGO


Rein in die Schulden!
IMMOBILIEN Die Berliner Wohnungspolitik rutscht ins nächste Desaster. Die landeseigenen Wohnungs-
unternehmen sollen bauen, ankaufen, sanieren und günstig vermieten. Doch weil die Zinsen gestiegen sind,
geht die Rechnung nicht mehr auf. Das bekommen die Mieter zu spüren.

I
n der Friedrichstraße 4, Berlin-Kreuzberg, mieter müsse endlich Energiesparmaßnah- etwa über die Howoge oder die Gesobau. Die
ließ sich in der fünften Etage eines Mehr- men umsetzen. Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) lan-
familienhauses der Fahrstuhl über zwei Ziemlich viel Ärger, und er richtet sich dete vor wenigen Tagen in den Schlagzeilen,
Jahre nicht mehr rufen, ein behinderter Rent- gegen ein und denselben Großvermieter. Kein als bekannt wurde, dass das ehemalige RAF-
ner konnte das Haus nur über beschwerliche gewinnorientierter Konzern, der sich auf dem Mitglied Daniela Klette jahrelang ohne Miet-
Umwege verlassen. Rücken der Mieterinnen und Mieter berei- vertrag in einer ihrer Wohnungen lebte.
Im Burscheider Weg 25 quollen Müll­ chert, wie man es sonst aus der Hauptstadt Immer wieder kommen in den Berliner Ta-
tonnen so stark über, dass eine Rattenplage gewohnt ist. Es sind Berichte über ein landes- geszeitungen frustrierte Mieter zu Wort. Einer
folgte. eigenes Unternehmen: die Gewobag. Sie ver- spricht von einer »dysfunktionalen Verwal-
Am Kottbusser Tor, berichtete ein Mieter, waltet in Berlin mehr als 74.000 Wohnungen. tung«. Ein anderer fühlt sich gar an »die Zeit
müsse er es achtmal anmahnen, bis ein Licht- Die Gewobag teilt mit, man habe inzwi- des Niedergangs von Jugoslawien« erinnert.
schalter repariert werde. schen diese Störungen behoben. Man habe Die sechs Gesellschaften verwalten insgesamt
In der Kluckstraße 23 bemühten sich Mie- auf manche Ersatzteile wegen Lieferengpäs- fast 360.000 Wohnungen und sind damit hin-
ter um einen barrierefreien Zugang. Am Ende sen durch Ukrainekrieg und Coronapandemie ter dem Großkonzern Vonovia Deutschlands
lehnte der Vermieter ab: Der Anbau einer lange warten müssen. Zudem wolle das zweitgrößter Vermieter (siehe Grafik).
Rampe sei wegen der Berliner Bauordnung Unternehmen »besser in der Kommunikation Berlin steht vor dem nächsten Desaster
nicht umsetzbar. werden«, sagt Malte Bädelt, Gewobag-Vor- seiner Wohnungspolitik. Ausgerechnet die
Im Quartier Bülowstraße Ost gründete sich stand für Bewirtschaftung. kommunalen Wohnungsunternehmen, in
eine Mieteriniative: Unter anderem seien die Ähnliche Klagen gibt es über die fünf an- denen Politik und Bürgerinitiativen die Lö-
Heizkosten unverhältnismäßig hoch, der Ver- deren Berliner Wohnungsbaugesellschaften, sung der Immobilienmisere der Hauptstadt

50 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


WIRTSCHAFT

gesehen haben, entwickeln sich zu dern um eine »Rückführung der »Nur warum sollen die Bestandsmie-
einem neuen Dauerproblem. Die lan- Grundmiete«. Als er 2019 einzog, ter allein den Neubau finanzieren?«
deseigenen Gesellschaften mit den zahlte er bereits die höhere Miete, Sie hätten k ­ eine Schuld am gegen-
etwas klapprigen Kunstnamen haben dann wurde sie überraschend gesenkt. wärtigen Wohnungsmangel und den
enorme Schulden angehäuft – nun Um Druck aus dem Wohnungsmarkt Versäumnissen der Wohnungspolitik
machen ihnen die gestiegenen Zinsen zu nehmen, trat unter dem rot-grün- in der Vergangenheit.
und die hohen Baukosten zu schaffen. roten Berliner Senat 2020 der Mie- Ulrich Schiller, Chef der Howoge,

Benjamin Pritzkuleit
Die Fachleute sind resi­gniert. »Die tendeckel in Kraft: Insgesamt wurden empfängt in einem nüchternen Be-
landeseigenen Wohnungsunterneh- in rund 340.000 Wohnungen in Ber- sprechungsraum im vierten Stock
men sind von den politischen Anfor- lin die Mieten reduziert, bevor das eines Neubauhochhauses in Berlin-
derungen an eine öffentliche Woh- Bundesverfassungsgericht der Praxis Lichtenberg. Sein Unternehmen ver-
nungswirtschaft zunehmend überfor- einen Riegel vorschob. schickte 25.000 Schreiben mit Miet-
dert«, sagt Jan Kuhnert, Ex-Vorstand Kwiatkowski hält es für »skanda- »Die Gesell- anpassungen. Er kann die Aufregung
der Wohnraumversorgung Berlin,
einer Verwaltung, die die sechs Unter-
lös«, dass die landeseigenen Unter-
nehmen nun auf einen Schlag die alte
schaften nicht verstehen: »Wir können mit Fug
und Recht behaupten, dass unser
nehmen berät und kontrolliert. Miete verlangen. »In Zeiten von ho- können nicht ­gesamtes Portfolio einen sozialen
Die Berliner Wohnungsunterneh- her Inflation überfordert das viele den Bedarf Zweck erfüllt, auch wenn nur ein ge-
men stecken in einer vertrackten Si- Leute.« Überhaupt sei die Summe ringer Teil der Sozialbindung unter-
tuation: Einerseits sind sie dazu ver- grundsätzlich überhöht. Sie liege über
einer ganzen liegt.«
donnert, ihre Einnahmen zu bremsen, dem Mietspiegel, der Zustand der Stadt decken.« Die Durchschnittsmiete seiner
weil sie günstigen Wohnraum bieten Wohnung ließe zu wünschen übrig: Ulrich Schiller, rund 75.000 Wohnungen betrage im-
sollen. Andererseits müssen sie die abgeranzter Dielenboden, uralte Howoge-Chef mer noch 6,42 Euro pro Quadrat­
Ausgaben erhöhen, um all die ande- Elektrik, kein Balkon. »Wir unter- meter. Zudem hätten alle sechs Unter-
ren Aufgaben zu bewältigen, die ih- schrieben den Mietvertrag damals nehmen versprochen, dass bei Vor-
nen die Berliner Politik auferlegt hat: nur, weil wir nichts anderes finden liegen bestimmter Einkommens- und
Sie sollen bauen, was das Zeug hält, konnten.« Auf die Mietpreisbremse Wohnflächenkriterien Mieter nicht
um den Wohnungsmangel zu ent- pochen wollen sie nicht, da sie hohe mehr als 27 Prozent ihrer Haushalts-
schärfen. Außerdem sollen sie enor- Anwaltskosten fürchten. nettoeinkommen für die Miete auf-
me Wohnbestände ankaufen, um Kwiatkowski ist mit seiner Erfah- wenden müssen. Schiller hält es für
Tausende Wohnungen dem freien rung nicht allein. Seit Ende vergange- »verzerrend«, diese Information bei
Markt zu entziehen. Dabei schieben nen Jahres rollt eine Mieterhöhungs- der Diskussion zu unterschlagen. An-
die Gesellschaften schon riesige welle durch Berlin. Insgesamt 132.000 gesichts von Inflation und jahrelanger
Schuldenberge vor sich her, die durch »Mieterhöhungsverlangen« verschick- Zurückhaltung sei die Erhöhung mo-
den Anstieg der Zinsen immer be- ten die landeseigenen Wohnungs- derat. Auch die Howoge müsse wirt-
drohlicher werden. »Die Gesellschaf- unternehmen an ihre Mieterinnen und schaftlich arbeiten. »Die neue Koope-
ten drohen von ihrer Aufgabenlast Mieter. Die Gesellschaften hoben die rationsvereinbarung hilft, die Einnah-
erdrückt zu werden«, sagt Kuhnert. Forderungen oft nicht lediglich auf das meseite zu verbessern, was auch die
Als wäre die Lage nicht schon alte Niveau an, in einigen Fällen Finanzierung des Neubaus deutlich
schwer genug, erwartet die Politik schraubten sie die Mieten nach oben. erleichtert«, sagt Schiller.
auch noch, dass die Wohnungsgesell- Eine Vereinbarung mit dem 2004 wäre fast einmal ein kommu-
schaften eine Sanierungsoffensive schwarz-roten Senat sieht vor, dass nales Wohnungsunternehmen pleite-
starten: Bis 2045 müssen die Bestän- die Unternehmen das alte Mietniveau gegangen. Um das zu verhindern,
de klimaneutral werden, so will es das wieder einführen dürfen – plus elf verkaufte der Senat die damals städ-
deutsche Klimaschutzgesetz. Hei- Prozent Erhöhung in drei Jahren. Die tische Gemeinnützige Siedlungs- und
zungssysteme müssen ausgetauscht Preisbremse sei »richtig und wichtig« Unbekannter Wohnungsbaugesellschaft mit 65.700
werden, unzählige Fassaden ge- gewesen, sagte der Senator für Stadt- Riese Wohnungen an private Investoren.
dämmt werden. entwicklung, Bauen und Wohnen, Seitdem erhöhen die Konzerne die
Wie aber soll ein Unternehmen Christian Gaebler (SPD), »stoße nun Deutschlands größte Mieten kräftig.
seinen gesamten Gebäudebestand aber an ihre Grenzen«. Wohnungsunter- Mit renditeorientierten Konzer-
nehmen 2022 nach
überholen, wenn es schon damit Seitdem sind diejenigen gefrustet, vermieteten Wohn- nen, die sich nicht an das Mietrecht
überfordert ist, ein paar kaputte Auf- die bisher am besten vor Mieterhö- einheiten, in Tausend halten, will der Howoge-Chef keines-
züge zu reparieren? hungen geschützt waren. »Es wurden wegs verglichen werden. Natürlich
Vonovia
Als Lars Kwiatkowski, der in Wirk- die meisten sozialen Versprechen machten auch seine Mitarbeiter Feh-
549
lichkeit anders heißt, im November ­gestrichen, die bisher landeseigene ler, mal dauere eine Reparatur länger
vergangenen Jahres einen Brief seines Wohnungen leistbar für alle gemacht Landeseigene als gewünscht, oder eine Betriebskos-
Wohnungsbaugesell-
Vermieters Gewobag in den Händen haben«, sagt Ulrike Hamann-On- schaften Berlin* tenabrechnung sei falsch. »Aber uns
hielt, war er schockiert. Satte 370 nertz, Geschäftsführerin des Berliner 357 zu unterstellen, dass wir das aus Bos-
Euro mehr Miete sollte er zahlen. Ins- Mietervereins. All das werde »dra- haftigkeit tun, finde ich grotesk.« Auf
LEG Immobilien
gesamt 1632 Euro warm für 110 Qua- matische Auswirkungen auf die so- Veranstaltungen werde er als »Kapi-
167
dratmeter in Berlin-Charlottenburg, ziale Wohnraumversorgung haben«. talistenschwein« beleidigt, das zeige,
die der Historiker gemeinsam mit Die Erhöhungen beeinflussten zudem Saga Hamburg wie das gesellschaftliche Miteinander
seiner Frau und seinen zwei Kindern den gesamten Berliner Mietspiegel, 139 aus den Fugen gerate.
bewohnt. »Die Erhöhung kam zum an dem sich auch private Vermieter TAG Immobilien Konstantin Kholodilin, Wissen-
denkbar schlechtesten Zeitpunkt, wir orientieren. 88 schaftler am Deutschen Institut für
hatten uns gerade erst von Inflation Sie stört, dass Mieterhöhungen * Dazu zählen Degewo,
Wirtschaftsforschung, forscht seit
und hohen Energiepreisen erholt.« unter anderem damit gerechtfertigt Gesobau, Gewobag, Howoge, zehn Jahren zum Berliner Wohnungs-
Stadt und Land, WBM.
Genau genommen geht es bei Kwiat- wurden, dass man den benötigten S Quellen: Statista, Berliner
markt. Er hat sich die Bilanzen der
kowski nicht um eine Erhöhung, son- Neubau in Berlin anschieben wolle. Wohnungsunternehmen angesehen


Senatsverwaltung

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 51


WIRTSCHAFT

Jetzt im neuen Hef t:


r
und sieht die Firmen in einem Schlamassel,

nn en al le K ind e
aus dem sie auch Mieterhöhungen nicht be-

Wie kö
freien können. »Die Gesellschaften sind zu
stark überschuldet.« Abzulesen sei das am

tun te rr ich t
Verschuldungsgrad, dem Verhältnis von

Spaß a m Sp or
Fremdkapital zu Eigenkapital. Bei der Dege-
wo und der Gewobag liege dieser Wert bei
rund 2000 Prozent. Der börsennotierte Kon-
zern Vonovia kommt lediglich auf eine Quo-

haben?
te von gut 150 Prozent. Selbst das ist schon
ein sehr hoher Wert.
Die Schuldenlast der städtischen Firmen
wächst und wächst: Für alle sechs Gesellschaf-
ten liegt sie mittlerweile bei fast 17 Milliarden
Euro. Knapp ein Drittel der Mieteinnahmen
geht bereits für Kreditabzahlungen drauf, wie
aus vertraulichen Berichten hervorgeht. Die
Gesellschaften bekämen nur deshalb noch
neue Kredite, weil Banken wüssten, dass im
Ernstfall das Land Berlin einspränge, sagt
Kholodilin.
Einige der Unternehmen nehmen inzwi-
schen auch Geld am freien Kapitalmarkt auf.
Dafür begeben sie Anleihen, was sie anfälliger
für Zinsrisiken macht. Auslaufende Darlehens-
verträge mit ihren Gläubigern müssen sie häu-
fig zu viel höheren Zinssätzen refinanzieren.
Die Howoge zum Beispiel zahlt durchschnitt-
lich 0,65 Prozent Zinsen auf ihre Anleihen.
Doch das sind die Konditionen aus einer Zeit
vor der Zinswende. Auf neue Anleihen muss
die Howoge rund 4 Prozent zahlen.
Die wirtschaftliche Kraft schwindet in
einer Zeit, in der die Unternehmen eine neue
monumentale Aufgabe lösen sollen: die Sa-
nierung der Wohnungen. Bis 2045 sollen alle
Häuser in Berlin komplett klimaneutral sein.
Zugleich sollen die Firmen dafür sorgen, dass
die finanziellen Zumutungen für die Mieter
erträglich bleiben.
Laut einer Studie der Initiative Wärme-
wende würde es rund 91 Milliarden Euro kos-
ten, den gesamten Berliner Wohnungsbestand
energetisch zu sanieren. »Diese Investitionen
sprengen die Leistungsfähigkeit aller Unter-
nehmen«, sagt Maren Kern, Chefin des BBU
Verband Berlin-Brandenburgischer Woh-
nungsunternehmen. Sie vertritt rund 340
Unternehmen, die in Berlin und Brandenburg
mehr als eine Million Wohnungen vermieten.
Sie fordert zusätzliche Förderprogramme.
Nun rächt sich die Hektik, mit der in Berlin
Wohnungspolitik gemacht wurde. In den ver-
gangenen Jahren kaufte die Stadt zurück, was
die Bilanzen der Gesellschaften hergeben.
»Vor allem bei der Gewobag wurden beson-
ders problematische Immobilien abgeladen«,
sagt Experte Kuhnert. Dazu zählen etwa das
Das Nachrichten-Magazin für Kinder Neue Kreuzberger Zentrum am Kottbusser
Tor oder das Pallaseum in Schöneberg. Alles
Orte, die als soziale Brennpunkte verschrien
sind, mit hohem Instandsetzungsbedarf. In
vielen Objekten wurde Asbest verbaut.
Was die Politik unter dem Schlagwort »Re-
Du findest uns auch auf kommunalisierung« feiert, hat seinen Preis.
Für die rausgeballerten Milliarden hätten die
deinspiegel.de Firmen auch neue Wohnungen bauen können.
Stattdessen müssen die Gesellschaften den

52 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


WIRTSCHAFT

»Die Unternehmen SPIEGEL TV Programm


drohen von ihrer Aufgaben-
last erdrückt zu werden.«
Jan Kuhnert, Immobilienexperte

Neubau nun aus ihren Mieteinnahmen finan-


zieren. Und das gelingt immer schlechter: Die
sechs Unternehmen haben 2023 insgesamt
4599 Wohnungen fertiggestellt, 1370 weniger
als noch im Jahr 2022. Für die kommenden
Jahre dürfte der Berliner Senat sein Ziel damit
noch deutlicher verfehlen als in den vergan-
genen Jahren. CDU und SPD hatten sich wie
die rot-grüne-rote Vorgängerregierung das
Ziel gesetzt, dass die Gesellschaften pro Jahr
6500 neue Wohnungen bauen.

Maxim Kusminow
Howoge-Chef Schiller ist stolz darauf, dass
sein Unternehmen »angesichts der ambitio-
nierten Rahmenbedingungen« aktuell 2500
Wohnungen im Bau hat. »Die kommunale Pilot Kusminow
Wohnungswirtschaft kann aber nicht den Be-
darf einer ganzen Stadt decken.« Ohne die
privaten Wohnungsunternehmen gehe es SPIEGEL TV RE:
nicht, so Schiller. Diese müssten etwa den MONTAG, 18. 3., 23.20 – 0.00 UHR, RTL DIENSTAG, 19. 3., 19.40 – 20.15 UHR, ARTE
Markt für Eigentumswohnungen bedienen.
Wie es anders geht, kann man in Wien Mord im Auftrag des Kremls? Pazifische Austern erobern
beob­achten. Immer wieder reisen Delegatio- Der Fall Maxim Kusminow das Wattenmeer
nen von Berliner Abgeordneten dorthin, um Am 13. Februar stirbt im spanischen Sie wird bis zu 40 Zentimeter lang, ist
sich anzuschauen, wie gelungene Wohnungs- Villajoyosa der russische Hubschrauber- ausgesprochen robust, krank­heits­
politik aussieht. Dort gibt es keine sechs pilot Maxim Kusminow. Seine Vorge- resistent und schmeckt nach Meer: die
­verschiedenen Gesellschaften, sondern einen schichte ist brisant. Ein halbes Jahr zuvor Pazifische Felsenauster. Seit den
dominanten Player: 220.000 Wohnungen desertierte Kusminow aus Putins Armee, 1960er-Jahren breitet sie sich im Wat-
sind im Besitz der Wiener Wohnen, keine flog samt Militärgerät in die Ukraine. tenmeer der Nordsee aus, erst in den
andere kommunale Gesellschaft Europas be- Seine weitere Flucht führte den Überläu- Niederlanden, seit 20 Jahren auch in
sitzt so viele. fer an die Mittelmeerküste, wo er ­Dänemark. 70.000 Tonnen sollen allein
Das ist kein bloßes Erbe der Vergangenheit, schließlich in einer Tiefgarage erschossen hier auf dem Sandboden liegen, eine
bis heute betreibt Wien eine ambitionierte wird. Offenbar hingerichtet von unbe- Plage. Menschen wie der Biologe John
Neubaupolitik. In Aspern beispielsweise. In kannten Auftragskillern. Frikke betrachten die Expansion der
der Mitte der Retortenstadt liegt ein künst- ­invasiven Art mit Sorge. Für die Bremer
licher See mit Badestelle und Uferpromenade, Freiwillig an die ukrainische Fischhändler ­Marco Schnackenberg
daneben der U-Bahnhof. Die U-Bahn-Linie Front und Joost Becken sind die wilden Aus-
wurde zuerst gebaut, erst dann die Wohnun- Sie kommen aus Deutschland, Tsche- ternbänke vor der niederländischen
gen. Bis in die Dreißigerjahre dieses Jahr- chien, Belarus und Frankreich, um die Küste dagegen eine Goldgrube. Bei Ebbe
hunderts sollen in dem Viertel mehr als Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen liegen hier Millionen Felsenaustern
25.000 Menschen wohnen. Damit aus der Putin zu unterstützen. Einige verlieren ihr frei und können mit der entsprechenden
Seestadt keine Schlafstadt wird, sollen bis zu Leben, wie die deutsche Sanitäterin ­Lizenz kommerziell geerntet werden.
20.000 Arbeitsplätze entstehen. Weil alle Ge- Diana Wagner, die nahe Swatowe durch Vom Schlamm befreit, kosten die
bäude der ersten Bauphase öffentlich geför- Artilleriebeschuss getötet wurde. ­wilden Austern auf einem Hamburger
dert wurden, sind die Mieten günstig und die Andere kämpfen weiter, selbst wenn sie Wochenmarkt vier Euro pro Stück.
Wohnungen klein. verletzt werden, so wie der Franzose Ein Film über Fluch und Segen eines
Solche Projekte gelingen, weil die Wiener Maxim, der sein Bein durch eine Mine hartnäckigen Eindringlings, der heimi-
Stadtverwaltung die Neubauaktivitäten in verlor. Die 22-jährige Tschechin Lara lässt sche Arten verdrängt und Mies­
eine eigene Gesellschaft ausgegliedert hat, die sich zur Drohnenpilotin ausbilden. muschel- in Austernbänke verwandelt.
Großprojekte stemmen kann. Die Wiener
Wohnen muss im Gegensatz zu den Berliner
Gesellschaften ihre Erträge nicht in Neubau-
projekte investieren, sondern kann sie für
Instandhaltung und Sanierung verwenden.
Beschwerden von Mietern über die Wiener
Wohnen sind selten.
Die Milliarden, die das kosten würde, hat
Berlin bereits für das Projekt Rekommuna-
Jana Ander t

SPIEGEL TV

lisierung verbraucht. Neues Geld ist nicht


in Sicht.
Henning Jauernig n Kämpferin Lara in der Ukraine Fischhändler Becken, Schnackenberg

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WIRTSCHAFT

»Ich bestehe auf dem Etikett


›Millionenerbin‹«
SPIEGEL-GESPRÄCH Marlene Engelhorn, 31, stammt aus einer Familie der Superreichen, nun will die Wienerin
ihr Erbe verschenken und das normale Leben der weniger privilegierten 99 Prozent führen. Was treibt sie an?

SPIEGEL: Frau Engelhorn, wenn Sie


aus Ihrem Leben erzählen, hört es
sich oft an, als wäre es ein schweres
Los, reich zur Welt zu kommen.
Engelhorn: Da muss ich widerspre­
chen. Erstens rede ich in der Öffent­
lichkeit nicht über mein Privatleben.
Ich rede über das, was typisch ist für
das reichste Prozent der österreichi­
schen Gesellschaft, zu dem ich durch
mein Erbe zähle und das fast die Hälf­
te aller Vermögen besitzt. Zweitens
möchte ich betonen, dass es den
Überreichen durchaus gut geht, aber
nur, weil es auch extreme Armut gibt.
SPIEGEL: Wir zitieren Sie: Einer rei­
chen Familie anzugehören habe ei­nen
»beinahe religiösen Charakter«. Man
werde bei der Geburt »auf Überreich­
tum getauft«. Und: »Ein Hinterfragen
ist ein Frevel, gegen das Geld zu sün­
digen ist bedrohlich.« Sie übertrei­
ben, oder?
Engelhorn: Überreiche sind eingebet­
tet in einen Mikrokosmos, der vor al­
lem darauf ausgerichtet ist, die eigene
Position zu legitimieren. Wenn Sie in
diese Blase piksen, kann es sein, dass
Sie den Zugang zu den wichtigsten Be­
ziehungen in Ihrem Umfeld verlieren.
Es kommt zu einer Abwehrreaktion,
mitunter zum Bruch. Das kann ein Ge­
fühl auslösen von: O mein Gott, ich
darf mich nicht kritisch äußern, sonst
verliere ich meine Bezüge.
SPIEGEL: Sie selbst äußern sich sehr
wohl kritisch.
Engelhorn: Meine Kritik ist strukturell.
SPIEGEL: Wie sind Sie aufgewachsen?
Engelhorn: Können Sie Ihre Frage spe­
zifizieren?
SPIEGEL: In einer Villa mit Park und
Pool? Mit Limousinen, Chauffeur und
Hausangestellten?
Engelhorn: Nicht alles davon kann ich
Hermann Bredehorst / DER SPIEGEL

bestätigen. Und der Witz ist: Es ist


irrelevant. Meine unsympathische Ant­
wort lautet: Das geht Sie nichts an.
SPIEGEL: Sie werden demnächst
25 Millionen Euro verschenken, die

Das Gespräch führten die Redakteure Florian Kapitalismus­kritikerin Engelhorn


Diekmann und Alexander Kühn in Wien.

54 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


WIRTSCHAFT

Ihre Großmutter Ihnen 2022 vererbt hat. Anhänger der rechtsextremen FPÖ in Ihrem fänden es als undankbar, wenn jemand sich
Kann man das begreifen, ohne zu wissen, wie Bürgerrat sitzen. Ist Ihnen das egal? darüber nicht freuen kann. Aber aus meiner
Sie groß geworden sind? Engelhorn: Die Wahlentscheidung wurde Perspektive ist das ein Verwaltungsaufwand.
Engelhorn: Absolut. Es ist total sinnfrei, sich nicht abgefragt. Darüber zu spekulieren, hiel- SPIEGEL: Das nennt man wohl ein Luxus­
auf die persönlichen Erfahrungen von Über- te ich nicht für gut. Wir wollen die Demokratie problem.
fluss zu konzentrieren. Der Fokus auf meine ernst nehmen. Was gibt uns das Recht zu ent- Engelhorn: Ja.
Person ist der Versuch, sich nicht mit dem scheiden, wer gut genug ist, am Tisch zu sitzen? SPIEGEL: War das der Tag, an dem Sie be­
eigentlichen Problem zu beschäftigen. Die rich- SPIEGEL: Ihr Geld darf nicht für verfassungs-, gonnen haben, sich für den Reichtum Ihrer
tige Frage lautet nicht: Wie ist die Engelhorn menschen- oder demokratiefeindliche Zwecke Familie zu schämen?
aufgewachsen, und ist das erstrebenswert oder verwendet werden, das haben Sie festgelegt. Engelhorn: Ich habe nie behauptet, dass ich
nicht oder weiß der Kuckuck. Fragen Sie lieber, Also bestimmen Sie doch. mich für den Reichtum der Familie schäme.
was dem zugrunde liegt. Es geht darum, wie Engelhorn: Nein, ich halte mich raus. Das sind Ich schäme mich eher für die Tatsache, dass
wir als Gesellschaft Vermögen verteilen. Wer nur Leitplanken. Ich kann mir nicht vorstel- es generell eine Ungleichverteilung gibt. Dass
hat die Macht, darüber zu entscheiden – und len, dass sich 50 Leute an sechs Wochenenden meine Familie sich nicht mit Ruhm bekleckert
wer nicht? Oder würden Sie allen Ernstes be- treffen und am Ende sagen: Jetzt machen wir hat, macht es auf der persönlichen Ebene
haupten, Armut sei selbst verschuldet? mal etwas richtig Menschenfeindliches. ­vielleicht heftiger.
SPIEGEL: Die meisten Superreichen haben SPIEGEL: Dass Sie 25 Millionen Euro erben SPIEGEL: Ihr Ururururgroßvater hat den
keine Ahnung, wie es ist, ohne Privilegien werden, hat Ihre Großmutter Ihnen bereits ­Chemiekonzern BASF mitgegründet.
aufzuwachsen. 2019 mitgeteilt. Bei Tee und Gebäck in ihrem Engelhorn: Mein Urahn hat BASF schon im
Engelhorn: Wer nur unter seinesgleichen ist, Wohnsitz am Genfer See? Oder auf einem 19. Jahrhundert wieder veräußert. Mit dem
hinterfragt sein Leben nie. Ich habe eine fran- langen Spaziergang? Vermögen, das er damit erlöste, ist er beim
zösischsprachige Privatschule besucht, da Engelhorn: Es traf eine E-Mail bei mir ein, von Pharmakonzern C. F. Boehringer und Söhne,
saßen die Rich Kids aus der Wiener Schicke- den Finanzberatern der Familie. später Boehringer Mannheim, eingestiegen.
ria. Es gab aber auch einen klitzekleinen An- SPIEGEL: Sie hat es Ihnen nicht selbst gesagt? Damit hat er seinen Reibach gemacht.
teil französischer Schüler:innen mit Stipen- Engelhorn: Nein. SPIEGEL: Boehringer bekam in der NS-Zeit
dium oder Förderung, die anders aufwuchsen. SPIEGEL: Über Geld spricht man nicht … sogenannte arisierte Betriebe zugeschlagen.
Diese beiden Gruppen mischten sich kaum. Engelhorn: … man hat es. Die Berater küm- Inwieweit beeinflusst das Ihre Haltung zum
In meiner Naivität dachte ich damals, es liege mern sich darum, dafür bezahlt man sie ja. eigenen Reichtum?
an der Sprache. Unfug, wir konnten alle flie- Übrigens: Man erbt die Finanzberater der Engelhorn: Ich fände es spannend, das um-
ßend Französisch. Erst viel später ist mir auf- Familie gleich mit. Sich von denen zu lösen fassend aufzuarbeiten, nicht nur bei Boehrin-
gegangen, dass es mit den Klassenunterschie- ist nicht leicht. ger. In den allermeisten Familienunternehmen
den zu tun hatte. SPIEGEL: Haben Sie es getan? war irgendeine Form von Ausbeutung bis hin
SPIEGEL: Hatten Sie nur Freundinnen aus Engelhorn: Jetzt wird es schwierig. Ja, ich habe zur Kollaboration mit dem NS-Regime ent-
Ihrer Schicht? mich gelöst. Ich versuche, vorsichtig zu for- scheidend dafür, dass es ein Vermögen gibt.
Engelhorn: Nein, ich war auch mit Schulkol- mulieren, weil ich bei der Familie oder den SPIEGEL: All das ist weit vor Ihrer Geburt
leg:innen aus anderen Verhältnissen befreun- Beratern nicht den Eindruck erwecken möch- ­geschehen. Fühlen Sie sich trotzdem mitschul-
det. Die habe ich in ihren Wohnungen besucht, te, ich wollte hier jemandem bös einschenken. dig, weil Sie von dem Geld profitiert haben?
sie lebten nicht wie ich in einer Villa. Mit elf SPIEGEL: Wie war das, als die E-Mail eintraf? Engelhorn: Schuld ist nicht die richtige Katego­
oder zwölf Jahren habe ich das nicht hinterfragt. Engelhorn: Ich hatte nicht damit gerechnet, rie. Eher Verantwortung. Wir wissen, dass der
SPIEGEL: Ist Ihnen jemals ein Wunsch ver- und ich wollte mich nicht damit beschäftigen, Zweite Weltkrieg in der Form ohne das Zutun
wehrt geblieben? was ich mit irgendwelchen blöden Millionen des Großkapitals nicht möglich gewesen wäre.
Engelhorn: Selbstverständlich. Aber auch das machen muss. Wenn Sie es gewohnt sind, auf Können wir mal überlegen, wie wir das alles
ist irrelevant. Wenn Sie nicht an der struktu- Ihrem Konto höchstens einen sechsstelligen regulieren, damit so was nie wieder passiert?
rellen Fragestellung mit mir arbeiten wollen, Betrag zu sehen, ist das schon ein Schock. SPIEGEL: Boehringer wurde Ende der Neun-
bewegen wir uns so weit vom Thema weg, SPIEGEL: Was ist denn blöd an den Millionen? zigerjahre verkauft, für elf Milliarden Dollar.
dass mir das Interesse an diesem Interview Engelhorn: Das war flapsig formuliert. Aber Ihre Familie hat ihr Vermögen damals vor
verloren geht. es ist ein gutes Beispiel dafür, wie privilegiert dem Fiskus in Sicherheit gebracht, Firmen
SPIEGEL: An diesem Wochenende wird der man ist, wenn man sagt: Das viele Geld ist und Wohnsitze auf die Bermudas verlagert.
Gute Rat seine Arbeit aufnehmen … mir lästig. 99 Prozent der Gesellschaft emp- Ihr Großonkel …
Engelhorn: … es ist so aufregend … Engelhorn: … o Gott, ja …
SPIEGEL: … ein von Ihnen initiiertes Gremium SPIEGEL: … hat damals dem SPIEGEL gesagt:
aus 50 Menschen, die Österreichs Gesellschaft Sehr viel für sehr wenige »Herr Waigel wird sich ärgern.« Also der
abbilden sollen. Es soll festlegen, was mit ­damalige Bundesfinanzminister.
Ihrem ererbten Vermögen geschieht. Warum Verteilung des Gesamtvermögens*, Haushalte Engelhorn: »Und keinen Pfennig Steuern«,
in Deutschland, Anteile in Prozent
scheuen Sie sich, das selbst zu entscheiden? lautete eine Schlagzeile.
Engelhorn: Es käme mir illegitim vor. Wer 1 SPIEGEL: Versuchen Sie, etwas davon wieder-
sagt, dass ich das Richtige tun würde? Was 9 gutzumachen?
weiß ich denn schon? Und wer sagt, dass das 26,0 Top-Vermögende Engelhorn: Mir geht es nicht darum, meine
Ergebnis so wichtig ist? Es geht um den demo- 40 Familiengeschichte zu bearbeiten. Meine
kratischen Diskurs. Der Weg ist das Ziel. 35,2 Oberschicht Überzeugung ist, dass alle vermögenden
SPIEGEL: Warum sind die Beratungen dann ­Familien öffentlich in die Kritik genommen
nicht öffentlich? werden müssen.
Engelhorn: Damit die Teilnehmer:innen in 50 36,5 Mittelschicht SPIEGEL: Wikipedia bezeichnet Sie als »Akti-
einem geschützten Raum miteinander spre- 2,3 vistin«. Sehen Sie sich so?
chen können. Wenn 100 Kameras auf einen ärmere Hälfte Engelhorn: Uh, das könnte ich nicht guten Ge-
Bevölkerung Vermögen
gerichtet sind, hemmt das. wissens behaupten. Der Begriff sollte Leuten
* laut Bundesbank beträgt das Gesamtvermögen 16,5 Billionen
SPIEGEL: Die Teilnehmer wurden repräsenta- Euro (Stand 3. Quartal 2023) vorbehalten bleiben, die wegen ihrer Arbeit
tiv ausgewählt, somit dürften rund 30 Prozent S Quellen: EZB, Bundesbank, eigene Berechnungen Schwierigkeiten erdulden müssen. Ich bin
Œ

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 55


WIRTSCHAFT

hoch privilegiert. Ich kann es mir leisten, auf


eine Erwerbsarbeit zu verzichten und seit drei
»Es kann nicht sein, Engelhorn: Nein. Nicht die Tatsache, dass
­ rivatmenschen die Eigentümer:innen sind,
P
Jahren meine Zeit für Öffentlichkeitsarbeit dass wir uns der Gier hat dafür gesorgt, dass es diesen Impfstoff
und Bewusstseinsbildung zu verwenden.
SPIEGEL: Stört Sie das Etikett »Millionenerbin«?
unterordnen und hoffen, gibt. Da ist schon davor so viel Arbeit rein­
geflossen, beginnend bei der Grundlagen­
Engelhorn: Ich bestehe sogar darauf. Es gibt dass ab und zu mal forschung zu mRNA-Impfstoffen, die von der
nur einen einzigen Grund, warum die Engel­
horn überall eingeladen wird, sich zu äußern,
was Gutes rauskommt.« Gesellschaft bezahlt wird.
SPIEGEL: So einfach ist es nicht. Die Wissen­
ob sie Ahnung hat oder nicht: weil sie reich ist. schaftlerin Katalin Karikó, die in den USA zum
SPIEGEL: Sogar die »New York Times« und der mRNA-Verfahren geforscht hatte, war von
»Guardian« haben Sie interviewt. Sie sind eine aber all diese Leistungen sind doch nur not­ ihrer Universität degradiert worden, weil es
Medienfigur geworden. Genießen Sie das? wendig, weil die Ungleichheit so viel krasser ihr nicht gelungen war, Forschungsmittel ein­
Engelhorn: Alter Schwede, es ist einfach wird. zutreiben. Es bedurfte enormer Geldmittel von
­wichtig, das Thema in die Öffentlichkeit zu SPIEGEL: Offenbar unterscheiden Sie nicht Biontech, um ans Ziel zu gelangen.
bringen. Ich hoffe aber, dass die Medien bald zwischen den wirklich turbokapitalistischen Engelhorn: Ja, es brauchte Geld. Aber das
verstehen, dass es nicht zielführend ist, per­ USA und Sozialstaaten wie Deutschland oder musste doch kein privates sein.
manent mit mir zu sprechen. Der Diskurs Österreich. SPIEGEL: Die öffentlichen Strukturen hatten
muss sich von mir emanzipieren. Man sollte Engelhorn: Nur weil es hier a bissel besser ist die mRNA-Technologie bereits aussortiert.
die wirklich interessanten Gäste einladen. als woanders, heißt das nicht, dass man nicht Ohne den Anreiz, aus Geld noch viel mehr
Zum Beispiel Expert:innen, die ein Steuer­ noch besser werden kann, oder? Vergleichbar Geld zu machen, würde der Impfstoff über­
modell zerlegen können. ist, wie Vermögen verteilt ist und was das be­ haupt nicht existieren. Um Nutzen für alle zu
SPIEGEL: Wollen Sie sich irgendwann aus der deutet. Sagen wir, ich stehe stellvertretend für schaffen, brauchte es die Gier derer, die in
Öffentlichkeit herausziehen? das reichste Prozent, und Sie stehen für die 99 Biontech investiert hatten.
Engelhorn: Ich glaube, langfristig muss ich das. anderen. Ich lege mein Geld an, kaufe Staats­ Engelhorn: Es kann nicht sein, dass wir uns
Die Aufmerksamkeit und Sprechmacht sorgen anleihen und die Häuser, in denen Sie wohnen. der Gier unterordnen und hoffen, dass ab und
dafür, dass ich eine Diskurshoheit bekomme. Ich bekomme durch die Zinsen Ihr Steuergeld, zu mal was Gutes rauskommt. Es gibt die Idee
Das ist nicht gescheit. Sonst bilde ich mir noch auch Ihre Miete geht an mich. Ich kann gar des Verantwortungseigentums: Die Gewinne
ein, dass ich zu allem was zu sagen hätte. nicht so viel ausgeben, wie ich einnehme. Also werden nicht ausgeschüttet, sondern verblei­
SPIEGEL: Sie haben sich selbst als Klugschei­ kaufe ich noch mehr Finanzprodukte, noch ben im Unternehmen.
ßerin bezeichnet. mehr Häuser und erhöhe Ihnen die Miete. SPIEGEL: Machen Sie keinen moralischen
Engelhorn: Das bin ich. Auf jeden Fall. Dann brauchen Sie einen Wohnzuschuss. Die­ Unterschied zwischen Reichtum, den man
SPIEGEL: Sind Sie ein moderner Robin Hood? se Dinge hängen zusammen. selbst erlangt, und ererbtem Geld?
Engelhorn: Robin Hood nimmt es den Reichen SPIEGEL: Ein Unternehmer ist für Sie jemand, Engelhorn: Das ist mir Jacke wie Hose. Ent­
und gibt es den Armen. Ich nehme nieman­ der von Ausbeutung lebt. scheidend ist, dass Wohlstand irgendwann um­
dem etwas weg. Engelhorn: Das ist das Grundprinzip. kippt in einen Exzess. Dann können Reiche die
SPIEGEL: Sich selbst. 25 Millionen. SPIEGEL: Sie blenden aus, wie schwer es Unter­ Gesellschaft verändern. Ohne Mandat, ohne
Engelhorn: Ich mache, was man mit Geld so nehmer mitunter haben. Der Architekt, der Rechenschaftspflicht. Vermögen ist Macht.
macht. Ich geb’s aus. Das ist vielleicht das größ­ in der Baukrise ohne Aufträge dasteht, aber SPIEGEL: Sie haben in Ihrem Leben nie Exis­
te Privatvergnügen überhaupt, dass ich es zur seine Mitarbeiter bezahlen muss. Das Restau­ tenzangst gehabt.
Verfügung stelle für ein demokratisches Projekt. rant, das dichtmacht, weil Personal fehlt. Engelhorn: Wenn Sie die auf Vermögen hin
SPIEGEL: Sie bezeichnen Überreichtum als Engelhorn: Mir geht es nicht um regionale definieren: nein.
undemokratisch. Aber es ist doch umgekehrt: oder kleine Unternehmen, sondern um grö­ SPIEGEL: Fehlt Ihnen diese Erfahrung?
Die wirtschaftlichen Freiheiten gehören unab­ ßere Strukturen. Engelhorn: Ich wüsste nicht, warum ich Exis­
dingbar zur Demokratie. Und damit auch die SPIEGEL: Biontech ist ein großes Unterneh­ tenzangst erstrebenswert finden sollte.
Möglichkeit, reich zu werden. men. Die Gründer Özlem Türeci und Uğur SPIEGEL: Werden Sie jemals ein normales
Engelhorn: Im Kapitalismus ist das so. Aber Şahin kommen aus einfachen bis soliden ­Leben haben?
der ist nicht automatisch demokratisch. ­Verhältnissen. Sie haben mit ihrem Corona­ Engelhorn: Keine Ahnung. Fragen Sie mich
SPIEGEL: Wollen Sie den Kapitalismus ab­ impfstoff der Menschheit großen Nutzen ge­ das, bevor ich ins Gras beiße.
schaffen? bracht und sind damit zu Multimilliardären SPIEGEL: Sie wollen künftig als Lektorin arbeiten.
Engelhorn: Der aktuelle Kapitalismus hat be­ geworden. Das ist doch legitim. Engelhorn: Ich weiß nicht, was passieren wird.
wiesen, dass er nicht läuft, ohne Menschen Und ich will mich nicht festlegen.
auszubeuten und die Natur zu vernichten. SPIEGEL: Aber Sie wollen von einer Erwerbs­
SPIEGEL: Was ist Ihre Alternative? Sozialismus? arbeit leben?
Engelhorn: Mich interessiert diese -ismus-­ Engelhorn: Ich werde es müssen, weil ich mich
Frage nicht sehr. Spannender ist: Was funk­ vom Reichtum meiner Familie unabhängig
tioniert, was nicht? mache und den Aufstieg in die 99 Prozent der
SPIEGEL: In Ihrem Buch »Geld« schrieben Sie Gesellschaft vorhabe. Wenn es fast allen Men­
vor zwei Jahren von einem »Sozialstaat, der schen zumutbar ist, dann mir doch wohl auch.
dem neoliberalen Kapitalismus unserer Zeit SPIEGEL: Wie bereiten Sie sich darauf vor?
Fabrice Coffrini / AFP / Getty Images

immer mehr geopfert wird«. Da müssen wir Engelhorn: Ich frage andere, wie es geht.
widersprechen. In den vergangenen zehn Jah­ SPIEGEL: Das Einstiegsgehalt einer Lektorin
ren wurden in Deutschland die Grundrente, liegt bei gut 2000 Euro netto. Damit müssten
die Mütterrente, die Rente mit 63 eingeführt Sie auskommen.
oder ausgebaut. Ebenso das Wohngeld und Engelhorn: Es ist entzückend, dass sich der
der Kinderzuschlag, es gibt staatliche Zu­ ­S PIEGEL sorgt, ob es der Engelhorn gut geht.
schüsse fürs Pflegeheim. Aber einen Tick paternalistisch klingt es schon.
Engelhorn: Ich muss ehrlich sagen: Ich kenne SPIEGEL: Frau Engelhorn, wir danken Ihnen
nicht die genauen Zahlen für Deutschland, Netzwerkerin Engelhorn in Davos für dieses Gespräch. n

56 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


WIRTSCHAFT

seitdem sind die Preise nur um weni- und Transformationsfonds, mit dem
ge Euro gestiegen. die Bundesregierung den Umstieg auf
Kein Wunder, dass Klimaschützer grüne Technologien fördert. Blieben
und Ökonomen jetzt besorgt sind, der die Preise bis zum Jahresende auf
Einbruch könnte falsche Signale set- ihrem aktuellen Niveau von rund
zen. Für Industrie- und Energieunter- 60 Euro je Tonne, hätte Wirtschafts­
nehmen würden sich klimafreund­ minister Habeck in diesem Jahr rund
liche Investitionen weniger lohnen, 1,8 Milliarden Euro weniger in der
fürchten sie. Kasse, so hat Klimaforscher Pahle er-
Zudem fehlen dem Staat Einnah- rechnet. Muss der Staat also eingrei-
men für die grüne Transformation, fen, um langfristige Investitionen zu
der Kampf gegen die Erderwärmung befördern?
könnte sich deshalb gefährlich ver- Bislang nimmt die EU jedes Jahr
zögern. »Um die Klimaziele mit ho- Emissionsrechte vom Markt, um im
her Sicherheit zu erreichen, können Jahr 2050 bei null anzukommen – in
im Jahr 2030 Preise von bis zu einer CO₂-neutralen Welt. Möglich
190 Euro je Tonne notwendig sein«, wäre es, die Zahl der Emissionsrech-

Julian Stratenschulte / dpa


sagt Michael Pahle, der am Potsdam-­ te stärker zu verknappen als bisher
Institut für Klimafolgenforschung vorgesehen.
Kohlekraftwerk über den Emissionshandel forscht. Die Regierenden in Berlin und
Mehrum im »Je länger die Preise so niedrig blei- Brüssel sehen für solche Eingriffe
­L andkreis Peine
ben, desto schwieriger wird später der ­allerdings noch keinen Grund. Die
Umstieg.« Beamten des Habeck-Ministeriums
Grund für den Preisrutsch ist vor verweisen darauf, dass der Emissions-
allem die Energiekrise nach dem rus- handel ein »komplett regelgebunde-
sischen Überfall auf die Ukraine. Weil nes« System sei, das den Unternehmen

Verschmutzen
die Produktion von Chemie- oder »gesicherte Rahmenbedingungen«
Stahlfirmen eingebrochen ist und die biete. Auch die Brüsseler EU-Kom-
Konjunktur in der Eurozone lahmt, mission will die Zahl der Emissions-

lohnt sich wieder


benötigt die Industrie weniger CO₂- rechte nur so stark zurückfahren wie
Zertifikate als geplant und kann die bislang geplant. »Das stellt sicher«,
überschüssigen Papiere verkaufen. so heißt es, »dass die Klimaziele der
Der Ausbau von Wind- und Solar- EU erreicht werden.«
parks führt dazu, dass weniger Strom Der CDU-Umweltexperte Peter
ENERGIEWENDE Der CO2-Preis im europäischen aus Kohle- und Gaskraftwerken be- Liese hält den Preissturz sogar für
nötigt wird. Im Januar und Februar heilsam. Europa könne »nur Vorbild
Emissionshandel ist dramatisch eingebrochen. 2024 etwa haben Braun- und Stein- im Klimaschutz sein, wenn wir unse-
Das erschwert den Kampf gegen die Erd­ kohlekraftwerke in Deutschland re Industrie halten und dekarbonisie-
erwärmung und verteuert grüne Investitionen. 28 Prozent weniger Strom erzeugt als ren, und nicht, indem wir die Produk-
im Vorjahreszeitraum. Zudem hatte tion zurückfahren«, sagt der Europa-
die EU in der Gaskrise des vergange- parlamentarier. Sein grüner Kollege

E
s ist erst ein paar Wochen her, da nen Jahres beschlossen, zusätzliche Michael Bloss dagegen fordert die EU
frohlockte das Umweltbundes- Billig Papiere auf den Markt zu werfen, um zum Gegensteuern auf. »Solange die
amt über »Rekordeinnahmen« rausblasen die Energiepreise zu drücken. Preise zwischen 50 und 100 Euro je
aus dem europäischen Emissionshan- Für die angeschlagene Industrie in Tonne liegen, fehlen die notwendigen
del. Die Abgaben, die Energie- und CO2-Preis im Deutschland war das eine willkom- Investitionen für die Elektrifizierung
Industriefirmen für den Ausstoß von europäischen mene Verschnaufpause. Aber wo- der Produktion und für die Umstel-
Emissionshandel,
Treibhausgasen an den Staat zahlen, in Euro pro Tonne möglich sind die Preise zu tief gefallen lung auf Wasserstoff.«
waren um zwölf Prozent auf rund und setzen langfristig die falschen Experten freilich warnen davor,
7,7 Milliarden Euro gestiegen. Ein 100 Anreize. Viele Experten sehen dafür jetzt schnell Zertifikate vom Markt
schönes Plus für die Bundesregierung, erste Anzeichen. zu nehmen und die Unternehmen erst
die mit dem Geld den Einsatz von Mit viel öffentlichem Wirbel hatte recht zu verunsichern. Stattdessen
Wärmepumpen, Elektroautos oder 80 Wirtschaftsminister Robert Habeck empfehlen sie der EU, eine Art Klima-
grünen Stahlwerken fördert. Und ein (Grüne) jüngst die Weichen für den Zentralbank zu gründen, die sich an
Gewinn für die Erdatmosphäre, so Einsatz der sogenannten CCS-Technik einem langfristigen Korridor aus
die Behörde; schließlich seien steigen- 60 gestellt, bei der schädliche Treibhaus- Höchst- und Mindestpreisen ausrich-
de CO₂-Preise »ein entscheidender gase etwa von Zementfirmen einge- tet – ähnlich wie es die Währungs-
Hebel, um die gesetz­lichen Klima- 54 fangen und im Meeresboden gespei- hüter der Europäischen Zentralbank
ziele zu erreichen«. 40 chert werden sollen. Rechnen werde mit ihrem Inflationsziel tun. Das soll
Fragt sich nur, ob es dabei bleibt. sich die Technik jedoch erst, wenn die extreme Schwankungen der Markt-
Seit der Preis für die umweltschäd­ CO₂-Preise jenseits der 100-Euro- preise verhindern. »Der Emissions-
lichen Emissionen im vergangenen 20
Marke liegen, schätzen Experten. handel funktioniert«, sagt Klima­
Frühjahr auf eine historische Höchst- Noch stärker müssten sich die Zerti- forscher Pahle. Aber der Staat müsse
marke von mehr als 90 Euro je Tonne fikate verteuern, damit es sich lohnt, vorgehen »wie in der Geldpolitik« –
geklettert war, hat er sich in den ver- die Stahlproduktion von Kohle auf und mit klaren Vorgaben den Unter-
0
gangenen Monaten nahezu halbiert. grünen Wasserstoff umzustellen. nehmen Sicherheit bieten.
Ende Februar wurde die Tonne Treib- 2023 2024 Mit dem Preisrückgang sinken Benedikt Müller-Arnold,
hausgas für 51 Euro gehandelt, und S Quelle: EEX, Stand 11. März auch die Einnahmen für den Klima- Michael Sauga n


Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 57


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muss es einen Weg geben!« Mit dieser Schwachhauser Heerstraße 207
Lebenseinstellung schrieb Sir Nicholas Beginn: 20 Uhr
»Nicky« Winton (Anthony Hopkins)
Geschichte, als er in einem Wettlauf gegen Düsseldorf
die Zeit kurz vor Ausbruch des Zweiten UFA Palast
Weltkriegs 669 überwiegend jüdische Worringerstraße 142
Beginn: 20 Uhr
Kinder vor den Nazis rettete.
Dezember 1938: Der junge Londoner Bör- Frankfurt
senmakler Nicholas Winton (Johnny Flynn) Astor Film Lounge MyZeil
erfährt über einen Freund von den ent- Zeil 106
setzlichen Zuständen in den tschechischen Beginn: 20 Uhr
Flüchtlingslagern. Kurzentschlossen fährt er Hamburg
nach Prag und erlebt aus erster Hand, wie Astor Hafencity
jüdische Familien auf der Flucht vor Verfol- Am Sandtorkai 46a
gung ohne Obdach und Essen ihrem Schick- Beginn: 20 Uhr
sal ausgeliefert sind. Bestürzt entwickelt er
einen waghalsigen Plan. Und so beginnt mit
Köln
Residenz
Unterstützung seiner tatkräftigen Mutter Kaiser-Wilhelm-Ring 30
(Helena Bonham Carter) in London und Beginn: 20 Uhr
einer Hilfsorganisation vor Ort eine bei-
spiellose Rettungsaktion – immer bedroht Leipzig
von der nahenden Invasion der Faschisten. Passage Leipzig
Hainstraße 19a
Wie viele Kinder können sie retten, bevor Beginn: 20 Uhr
die Grenzen geschlossen werden?
München
London 1988: Noch Jahrzehnte später wird City München
Winton vom Schicksal der Kinder verfolgt, Sonnenstraße 12a
die er nicht retten konnte. Erst als die BBC- Beginn: 20 Uhr
Fernsehshow »That’s Life« die überleben-
den »Winton-Kinder« ausfindig macht und
Nürnberg
Cinecittà
diese unglaubliche Geschichte ans Licht Gewerbemuseumsplatz 3
bringt, vermag er sich seinem Kummer und Beginn: 20 Uhr
den Schuldgefühlen zu stellen, die er so
lange mit sich herumgetragen hat. Stuttgart
Gloria
Königstraße 20
/SquareOneEntertainmentGmbH Beginn: 20 Uhr
AUSLAND

Chalinee Thirasupa / REUTERS


Was ist niedlicher und vor allem geschickter – die Kinderhand oder der freche Rüssel des Elefanten? In der thailändischen Stadt Ayutthaya füttert
ein Mädchen einen Elefanten mit Bananen. Jedes Jahr am 13. März wird in Thailand der Nationaltag des Elefanten gefeiert. Er soll daran ­
erinnern, sich für den Schutz und die Erhaltung einer der intelligentesten und treuesten Spezies starkzumachen. Früher wurden Elefanten in Kriegen
und als Transporttiere eingesetzt, heute leben in Thailand nur noch knapp 2000 Wildtiere sowie 3000 Tiere für den Tourismus.

Die Macht des Clans


Nun wird Trump erneut Präsidentschaftskandidat für die
­ epublikanische Partei, die er vollständig zum Vehikel seiner
R
Machtambitionen umgebaut hat. So gesehen ist es nur konse-
quent, dass Trump seine Schwiegertochter Lara auf den Posten
ANALYSE Wie Donald Trump die Republikanische
der Co-Vorsitzenden der Republikanischen Partei hievte. Die
Partei zum Familienimperium umbaut 41-Jährige war sich nie zu schade, für Trump auch schwierige
Missionen zu übernehmen. Sie trat in rechten Krawallsendern
Man kann Donald Trump alles Mögliche vorwerfen – aber nicht, auf und sprach bei der »ReAwaken America Tour«, einer
dass es ihm an Familiensinn mangelte. Der ehemalige Präsident ­Ver­anstaltung, die so stark von religiösen Fanatikern und Ver-
hat es immer verstanden, die Geschäfte im kleinen Kreis der schwörungstheoretikern frequentiert wird, dass es selbst Trump
Verwandtschaft zu halten. Er beauftragte seine Söhne Donald Jr. für besser hielt, etwas Abstand zu halten.
und Eric, das Firmenimperium zu übernehmen, als er im Januar Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass Lara Trump
2017 ins Weiße Haus einzog, das er dann auch als eine Art nach dem Motto handelt: Erst die Familie, dann die Partei.
­Clanbetrieb führte. Sein Schwiegersohn Jared Kushner wurde Und Lara hat schon die Idee ventiliert, dass die Partei in Zukunft
Berater des Präsidenten mit eigenem Büro im West Wing und Trumps enorme Anwaltsrechnungen übernimmt. Für den Ex-
kümmerte sich um die Nahostpolitik – was sich insofern als Präsidenten wäre es eine große Entlastung, da er bis Ende März
praktisch erwies, als später ein saudischer Fonds zwei Milliarden eine Sicherheitsleistung von mehr als 450 Millionen Dollar hin-
Dollar in Kushners Firma investierte. Trump selbst brachte terlegen muss. Der Betrag wird fällig, weil er Berufung gegen das
seine Tochter Ivanka als Weltbank-Präsidentin ins Gespräch, New Yorker Zivilurteil wegen Finanzbetrugs eingelegt hat. Viele
und Sohn Don Jr. fungierte später auch als eine Art Zuschläger Republikaner glauben, dass Trump die Partei zu neuen ­Siegen
gegen Demokraten und Entertainer für die Fangemeinde führen wird. In Wahrheit hat er sie sehr erfolgreich in die Marke
des Präsidenten. Trump integriert. René Pfister

60 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


»Es braucht einen langen Atem«
HAITIExpertin Katja Maurer darüber, wie der Westen
dem bitterarmen Land jetzt helfen müsste

Maurer, 66, betreut Welche Krisenhilfe wäre not-


die Haiti-Arbeit der wendig?
Hilfs- und Men- Maurer: Der Rücktritt des Pre-
schenrechtsorgani- miers ist eine Zäsur, ja. Aber

Ralph Tedy Erol / REUTERS


sation Medico das Schicksal Haitis wird nicht
Privat

International. in Haiti entschieden.


SPIEGEL: Sondern?
SPIEGEL: Frau Maurer, Haitis Maurer: Auf Jamaika wurden
Premier Ariel Henry hat in der jetzt Vorschläge unterbreitet: Ein
Nacht zu Dienstag seinen Rück- fünfköpfiger Präsidialrat soll den Haitianische Familien auf der Flucht in Port-au-Prince
tritt angekündigt. Lässt das auf Übergang bis zur nächsten Wahl
einen Neuanfang hoffen? gewährleisten. Das ist wieder müsste exemplarische Prozesse tianer besser miteinbeziehen.
Maurer: Mit Hoffnung muss so eine technokratische Lösung gegen Korruption geben, also Sie müssen wissen, wohin die
man in Haiti vorsichtig sein. von Staaten wie den USA, die gegen Entwendung von Erd­ Gelder gehen und warum. Sie
Denn was wir dort sehen, ist befürchten, dass ihnen Haiti um bebenhilfe etwa. Und Morde sollten diese Prozesse selbst
der Durchmarsch der bewaffne- die Ohren fliegt und Millionen durch Gangs dürften nicht länger ­bestimmen und nicht von au­-
ten Gangs. Ich würde das mit Haitianer an ihre Türen klopfen. to­leriert, sondern müssten mit ßen diktiert bekommen. Dazu
dem Sieg der Taliban in Afgha- Es geht um Angst vor möglichen Gefängnis bestraft werden. Es braucht es einen langen Atem
nistan vergleichen. Auch Haiti Flüchtlingen. Und nicht etwa müsste einen glaubwürdigen und keine Besserwisserei mit
ist ein Land, das seit Jahrzehn- um das Interesse, ein demokrati- Wahlprozess geben. Ein geeigne- fertigen Rezepten. Bisher haben
ten von außen regiert wird. sches Staatswesen aufzubauen. ter Partner für den Wiederauf- alle Rezepte das Land ins aktu-
Jetzt bricht alles zusammen. SPIEGEL: Für Sie ist Haiti ein bau wäre die haitianische Dias- elle Chaos gestürzt.
Der Sieg der Gangs ist auch ­Paradebeispiel dafür, dass pora in den USA und Kanada. SPIEGEL: Wie blicken Sie derzeit
eine große Niederlage west­ ­Entwicklung neu gedacht wer- SPIEGEL: Und das alles geht nach Haiti?
licher Politik. den muss. Wie denn? ohne Hilfsgelder? Maurer: Mit Besorgnis. Ich
SPIEGEL: Wie könnte denn das Maurer: Dazu bräuchte es ein Maurer: Nein, ohne die geht es fürchte, dass dem Westen dieses
Staatswesen aufgebaut werden? Paket aus Maßnahmen: Es nicht. Aber wir müssen die Hai- Umdenken nicht gelingt. FIO

Krisen-PR vom mit Blick auf Russland klar. Hungerkrise im


Noch deutlicher äußerte sich der
Heiligen Stuhl Botschafter des Heiligen Stuhls Ramadan
VATIKAN Papst Franziskus in Kiew, Visvaldas Kulbokas: AFGHANISTAN Ausgerechnet
­ ekommt von seinen eigenen
b Um zu verstehen, woher zu im Fastenmonat Ramadan
Leuten Nachhilfe in Realpolitik. Kriegsbeginn vor zwei Jahren ­verschärft sich die Hungerkrise,
Seitdem der 87-Jährige die die Raketen, Panzer und Solda­ 15,8 der 42 Millionen Afghanen
Ukra­ine zu »Mut zur weißen ten kamen, brauche man »weder sind inzwischen von Hunger

Wakil Kohsar / AFP


Fahne« und zu Verhandlungen Philosophie noch Theologie«. ­bedroht, und mehr als jeder zwei-
mit Russland aufgerufen hat, Die Frage sei, was ein größeres te wird dieses Jahr nach Uno-
betreibt der Heilige Stuhl Kri- Opfer darstelle – sich dem Krieg Angaben abhängig von humani-
sen-PR im Vatikanstaat. zu stellen oder sich zu ergeben. tärer Hilfe sein. Wegen der zu Afghanen mit Hilfsgütern
Die erste Voraussetzung für »Die Ukrainer kennen ihre den Feiertagen besonders ho-
Verhandlungen bestehe darin, Geschichte, sie wissen, was ih- hen Lebensmittelnachfrage sind reiche Oberschicht abgesetzt,
»den Angriff zu beenden«, stell- nen mehrfach widerfahren ist«, die Preise auf dem Basar vieler- die Mittelklasse dagegen ist ver-
te der Regierungschef des Vati- sagte Kulbokas der Zeitung orts bedrohlich angestiegen. armt, und die Besitzlosen ver-
kan, Kardinalstaatssekretär Pie- »La Repubblica«. »Es darf keine Um die Not im Fastenmonat zu elenden, weil nichts mehr bei
tro Parolin, in einem Interview Unterwerfung geben.« Fran­ lindern, hatten die Taliban für ihnen ankommt.« Der Hunger
ziskus kann sich unterdessen auf Grundnahrungsmittel feste Preise ist ein Resultat verschiedener
neues Lob der Russen freuen. beschlossen. Doch viele Händler Faktoren: Seit 2015 gab es in
Als er Mitte der Woche sein halten sich nicht an die Anord- Afghanistan mehrere Dürre­
11. Jubiläum im Papstamt be- nung. Statt 25 Afghani (umge- perioden, die die Ernten massiv
ging, veröffentlichte die Kreml- rechnet 0,32 Euro) für ein Kilo- beeinträchtigten. Nach dem
Evandro Inetti / ZUMA Wire / IMAGO

Botschaft am Heiligen Stuhl gramm Kartoffeln, wie fest­ Rückzug der internationalen
herzliche Glückwünsche: Der gelegt, müssten sie 36 Afghani Gemeinschaft sei zudem die
Papst sei »ein echter Verteidiger bezahlen. Auf dem Welthunger- Wirtschaft kollabiert. Die Uno
der Menschlichkeit, des Friedens Index lag Afghanistan 2023 auf beziffert den Finanzbedarf an
und der traditionellen Werte«, Platz 114 von 125. Die Programm- humanitärer Hilfe für dieses
schrieben die russischen Diplo- leiterin der Welthungerhilfe, Jahr auf über drei Milliarden
maten – und habe »eine wirklich Rina Mattinson, sagt, nach der Dollar. Zugesagt haben die Ge-
Pro-Ukraine-Flagge auf dem strategische Perspektive auf die Machtübernahme der Taliban berländer bisher 166 Millionen,
Petersplatz in Rom globalen Probleme«. HOR im August 2021 hätte sich »eine das sind gut fünf Prozent. SUK

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 61


AUSLAND

Rückkehr nach Kfar Aza


ISRAEL Rund ein halbes Jahr nach dem 7. Oktober sind die ersten Überlebenden wieder in ihrem Kibbuz
zurück, in dem fast jeder Zehnte ermordet oder entführt wurde. Ist neues Leben
da möglich, wo so viele Menschen gestorben sind? Von Juliane von Mittelstaedt und Amit Shabi (Fotos)

Die Entschlossenen 28 Stunden saß er mit seiner Frau Ayelet Wie gehen die Überlebenden mit der Erinne-
Eine Israelflagge weht im sanften Wind, die Khon im Schutzraum ihres Hauses, dann wur- rung an den 7. Oktober um, wie leben sie
Vögel zwitschern fast schon unverschämt laut, den sie gerettet. Passiert ist ihnen nichts, zu- weiter, und: Wollen sie zurückkehren? Kann
und Shar Shnurman sitzt auf seiner Veranda mindest nicht äußerlich. man überhaupt zurückkehren an einen Ort,
und bietet Mandarinensaft an. Die Früchte »Damals sagte ich zu meiner Frau: In ein an dem so viele Menschen ermordet wurden?
hat er selbst geerntet. Ein Idyll, wären da paar Tagen sind wir zurück«, erzählt Shnur- Der Krieg wird nicht nur geführt, um die
nicht die dumpfen E ­ xplosionen in der Ferne. man. Aus den paar Tagen sind fast zwei Mo- Geiseln zu befreien und die Hamas zu zer-
Das Donnern der Artillerie. Das Zischen der nate geworden, schließlich hielten sie es nicht schlagen. Es geht auch darum, dass Zehntau-
Kampfjets. Shnurman wohnt im Kriegsgebiet, mehr aus in Tel Aviv. Anfang Dezember pack- sende Menschen wieder in der Nähe des Ga-
zwei Kilometer hinter seiner Veranda beginnt ten sie ihre Sachen und kehrten nach Hause zastreifens leben können. Ja, wenn man so
der Gazastreifen. zurück. »In der ersten Nacht haben wir wie will: dass dieser Staat langfristig eine sichere
Shar Shnurman zuckt bei den Explosionen Babys geschlafen.« Heimstätte für Juden ist.
nicht zusammen. »Das ist der Sound unseres Rund 950 Bewohner hatte Kfar Aza vor Für die Bewohnerinnen und Bewohner von
Lebens«, sagt er und lehnt sich in seinem dem 7. Oktober 2023. Jetzt sind sie hier zu Kfar Aza geht es noch dazu darum, ihre Ge-
Campingstuhl zurück. Vor ihm liegt sein Han- zweit. Ihre Mission ist, dass sich das ändert. meinschaft zu bewahren. Zwar gibt es im Kib-
dy, es klingelt ständig. Fremde Menschen Die meisten der Überlebenden wurden in buz, anders als früher, inzwischen Privat-
gratulieren ihm, sie wollen Geld spenden, einen Kibbuz nördlich von Tel Aviv gebracht, eigentum, und der Lohn wird nicht mehr ge-
vor allem aber wollen sie wissen, wie es ist, die anderen wohnen in Hotels oder Privat- teilt. Aber sie fühlen sich hier noch immer als
wieder in Kfar Aza zu leben. An dem Ort, wohnungen. Sie sind Flüchtlinge im eigenen große Familie. Und die zerfällt gerade.
an dem 63 Menschen von der Hamas und Land, so wie zeitweise rund 60.000 Men- »Wenn nur die alten Leute zurückkehren,
anderen Terrorgruppen brutal ermordet und schen, die im Umkreis des Gazastreifens leb- aber nicht die Familien mit Kindern, hat die
19 entführt wurden. Inzwischen sind bis ten. Dazu kommen noch einmal etwa so vie- Hamas gewonnen«, sagt Shar Shnurman.
auf fünf alle frei, zwei weitere wurden ver- le aus dem Norden Israels, wegen der An- »Dann haben wir keine Zukunft.« Den
sehentlich von der israelischen Armee er- griffe aus dem Libanon. Kinderlärm, der ihn früher so oft störte, ver-
schossen. Bald ein halbes Jahr liegt das Massaker misst er jetzt.
Und, wie ist es hier? »Großartig.« zurück, bei dem rund 1140 Menschen getötet In diesem Moment bleibt vor seiner Ve-
Shnurman, 62, hat sich das Datum auf den und etwa 250 verschleppt wurden. Und das randa eine Besuchergruppe stehen. Shnurman
Arm tätowiert: 07.10.23 steht da jetzt. Nicht einen Krieg auslöste, in dem bisher mehr als stemmt sich hoch, schüttelt Hände, bietet Saft
zufällig ähnelt es einer KZ-Nummer. 30.000 Palästinenser gestorben sein sollen. an und Kuchen, den seine Frau gebacken hat.

1 2

62 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


AUSLAND

»Warum wolltet ihr zurück?«, ruft sie wisse gar nicht, was die Aufregung palästinensische waren. Und sie wählten auch weiter
eine Besucherin. solle. »Alles, was ich getan habe, war, Gebiete linke Parteien.
»Ich will nirgends anders leben«, in mein Haus zurückzukehren. Das »Wir haben immer versucht, die
sagt Shnurman. Die Besucher applau- ist doch nichts Besonderes!« Menschen dort drüben nicht als Fein-
dieren. Sie redet dann doch. Erzählt, dass Mittel- de zu sehen. Da gab es Terroristen,
meer
Seine Veranda ist so etwas wie der ihre Eltern nach dem Armeedienst ja, aber die anderen waren so wie wir
informelle Treffpunkt des Kibbuz. nach Kfar Aza gezogen seien, sie und wollten Frieden.« Ayelet Khon
Schefajim West-
Alle kommen hier vorbei, Bewohne- selbst ist hier geboren. Als sie noch jordanland will das noch immer glauben, aber es
Tel Aviv
rinnen, die nach ihren Häusern schau- ein Kind war, fuhren sie nach Gaza fällt ihr schwer.
en. Soldaten, staubig und verschwitzt und an die Strände des Sinai. Das Jerusalem Die Nachbarin, deren Terrasse sie
vom Einsatz im Gazastreifen. Mit- Küstengebiet wurde 1967 von Israel gerade schrubbt, lebt nicht mehr. Die
arbeiter der Plastikfabrik, die vom erobert und besetzt, doch anfangs Beer Scheva Terroristen warfen eine Granate in
Kibbuz gegründet wurde und welt- kam man miteinander aus, trotz aller ihren Schutzraum.
weit exportiert. Vor allem aber ganz politischen Konflikte. Die Bewohner ISRAEL Zu Shnurman und Khon kamen sie
normale Israelis, die sich aus der von Kfar Aza kauften dort günstig nicht. Offenbar glaubten die Terro-
Nähe ansehen wollen, was am 7. Ok- Gemüse und aßen Schawarma. risten, in dem Haus befände sich nie-
tober passiert ist. Kfar Aza, das war der kleine Nach- 50 km mand. Es grenzt direkt an das Haus
Manchmal sind es so viele, dass bar von Gaza. Der Name bedeutet der getöteten Nachbarin. Dass sie
sich die Autos an der Einfahrt nach nichts anderes als: Dorf Gaza. leben: pures Glück.
Kfar Aza stauen. Mit Beginn der ersten Intifada, des »Wir können nicht verzeihen, was
Jeden Donnerstag macht Shnur- Aufstands der Palästinenser Ende der Ruhama die Hamas uns angetan hat. Aber was
Sderot
man ein Barbecue. Als er anfing, im Achtzigerjahre, nahm der Kontakt Kfar Aza
sie ihrem eigenen Volk antut, ist viel
Dezember, kamen zehn Leute, inzwi- immer mehr ab. Ein Zaun wurde ge- Schu- schlimmer«, sagt Shnurman. Den
schen sind es bis zu 80. Die Vorberei- baut, später kam eine unterirdische dschaija Krieg sieht er kritisch. »Wir haben das
tung ist derzeit seine wichtigste Auf- Mauer dazu, gegen die Tunnel. Die Gaza- Beeri Recht, uns zu verteidigen. Aber hilft
gabe. Nachdem ein Soldat einmal gefühlte Distanz wuchs. Bereits vor streifen es, wenn dort Kinder sterben?«
nach einer Cola fragte, hat er jetzt der Machtübernahme der Hamas im 20 km Hinter ihm auf dem Sofa rekeln
immer ein paar Flaschen im Kühl- Jahr 2007 flogen immer mehr Rake- sich zwei Katzen, zurückgelassen von
schrank. ten. Der Kibbuz-Kindergarten bekam S Grafik ihren Besitzern. Er füttert sie, obwohl
Während er redet, putzt seine ein Dach aus Beton, selbst die Strom- er Katzen nicht mag. Seinen Hund
Frau. Als ließen sich Terror und Trau- kästen tragen seither einen Beton- hat er beim Bruder gelassen. Der Ar-
ma mit Seife bekämpfen. Sie macht mantel. tillerielärm sei nichts für ihn. Er hat
seit Wochen kaum etwas anderes. Die Bei Raketenalarm haben sie hier auch versucht, die herrenlosen Hun-
Praxis für Massage und Akupunktur, zehn Sekunden, um sich in Sicherheit de zu füttern, die aus Gaza kamen
die sie im Kibbuz betrieben hat, wird zu bringen. und durch den Kibbuz streunen. Aber
mangels Patienten noch lange ge- Ein-, zweimal im Jahr packten die sie haben Angst vor Menschen.
schlossen sein. meisten Bewohner ihre Sachen, zo- Wenn man durch Kfar Aza läuft,
Gerade kniet Ayelet Khon, 55, auf gen in Hotels oder zu Freunden, bis sieht es an vielen Orten aus, als wä-
der Terrasse der Nachbarn und der Raketenhagel wieder vorbei war. 1 | Rückkehrer ren die Bewohner nur kurz weg.
schrubbt den Boden, sie trägt eine Sie hatten sich daran gewöhnt. Shnurman, Khon ­Kinderräder sind achtlos abgestellt,
2 | Zerstörtes Haus
Jogginghose und ein ausgewaschenes Khon und Shnurman blieben, so- 3 | Überlebende Aviani
Schaukeln schwingen im Wind, Klei-
T-Shirt, ein Berg von dreckigen Lap- gar noch nachdem 2014 zwei Raketen auf dem­»Geiselplatz« dung hängt auf Wäscheständern.
pen stapelt sich neben ihr. Sie sagt, direkt vor ihrem Haus eingeschlagen in Tel Aviv Doch auf allem liegt eine Schicht

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 63


AUSLAND

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Staub. An den Bäumen faulen Zitronen und views und WhatsApp-Nachrichten zusammen. hier leben, sagt sie bestimmt. »Gaza und die
Pomelos. Der 7. Oktober, er wird sich eines Tages in Hamas sind noch immer so nah.« Für Yuri
Anfangs standen alle Türen offen, aber es Endlosschleife virtuell durchleben lassen. Levin steht dagegen fest, dass er zurück­
gefiel den Bewohnern nicht, dass sie plötzlich Nur was mit den realen Tatorten gesche- kehren will. Oder eher: muss. Er wolle kein
Fotos von ihren Schlafzimmern im Internet hen soll, das ist noch unklar. Sollen sie Orte Flüchtling im eigenen Land sein. »Und ich
sahen. Dass ihre Politiker, die nichts getan des Gedenkens werden – oder Orte neuen habe kein anderes Land, in dem ich leben
hatten, um sie vor dem Terror zu schützen, Lebens? kann.« Doch es gebe eine Bedingung: »Die
sich nun hier mit ausländischen Gästen in- Hamas muss zerstört sein.«
szenierten, mit Elon Musk, Boris Johnson, Der Verbitterte Bis zum Tag des Überfalls, sagt Levin,
Ivanka Trump und Ursula von der Leyen. »Ich würde am liebsten alles so lassen, wie habe er an Frieden geglaubt, er arbeitete an
Inzwischen sind einige Türen verschlossen es ist«, sagt Yuri Levin. »Aber ich weiß, dass einem Projekt der Regionalverwaltung mit,
oder versiegelt. das nicht möglich sein wird. Wir müssen das Palästinenserinnen und Palästinenser aus
Auch im Viertel der »Dor Zair«, der jungen hier leben.« Vielleicht, sagt er, halb im Spaß, Gaza zu Workshops einlud. Sein Chef träum-
Generation, flattert rot-weißes Absperrband. halb ernst, könne man die Häuser ja anders- te von einem Industriegebiet direkt am
In den Wohnungen lebten vor allem Studie- wo originalgetreu aufbauen. Wie wäre es Grenzübergang nach Gaza, Hunderte sollten
rende und Wehrdienstleistende. Viele von etwa mit dem Platz vor der Knesset? Sie dort arbeiten, Geld verdienen und sich damit
denen, die am 7. Oktober hier waren, sind tot könnten dort, vor dem israelischen Parla- ein besseres Leben in Gaza aufbauen. Am
oder entführt. Es ist der Ort, an dem das Grau- ment, stehen als Mahnmal für das Versagen 7. Oktober wurde er getötet. Und mit ihm
en am spürbarsten ist. Einige Häuser sind aus- der Regierung. sein Traum.
gebrannt, ihr Inhalt liegt verstreut herum: Er ignoriert das Absperrband und betritt »Früher haben wir gesagt, da sind ein paar
Kleidungsstücke, Matratzen, aufgerissene eine vom Ruß geschwärzte Wohnung. Das Tausend Leute, die sind Hamas – und da sind
Kissen, zerbrochene Teller. Dach gibt es nicht mehr, das Vordach ist ge- zwei Millionen Menschen, die sind wie wir«,
Die schlichten Häuserblocks sind zu einer schmolzen, die Waschmaschine nur noch ein sagt Yuri Levin verbittert. »Aber am 7. Okto-
Pilgerstätte geworden. Besucher machen Sel- Gerippe. Dass Yuri Levin lebt, ist ein Wunder. ber haben wir gesehen, dass sie sich alle über
fies vor den Ruinen, andere beten oder stellen Denn das war seine Wohnung. das Massaker gefreut haben. Alles, was wir
Kerzen auf. Coffee-to-go-Becher liegen herum. Er stakst durch Asche und Schutt, ein glaubten, hat sich als falsch herausgestellt.«
Nichts anfassen! Nichts mitnehmen! So schmaler 29-Jähriger, der immer noch nicht Bewohner von Kfar Aza erzählen, sie hät-
steht es auf den Schildern. ganz fassen kann, was hier geschehen ist. ten früher Musikinstrumente für Schulen in
Nichts soll verändert, nichts aufgeräumt Als am 7. Oktober das Haus brannte, sagt Gaza gesammelt, sogar ein Klavier hätten sie
werden, denn diese Häuser sind ein nationa- Levin, da dachte er, er würde sterben. Der über die Grenze gebracht. Sie können nicht
les Mahnmal, für manche sogar: ein neues Qualm habe ihn fast erstickt, und vor dem verstehen, warum sie für die Menschen auf
Yad Vashem. Ein Ort, der an das größte Ver- Fenster standen die Terroristen. Er sprang der anderen Seite des Zauns trotz allem Fein-
brechen an den Juden seit dem Holocaust hinaus, aber er wurde nicht erschossen. Sie de blieben. Doch in Abwesenheit eines eige-
erinnern soll. wollten ihn offenbar entführen. Und so rann- nen Staats wurden die guten Taten wohl nur
Während dieses Verbrechen für viele Op- te er um sein Leben. Stundenlang lag er im als Almosen empfunden. Es ist ein gegensei-
fer noch immer kein Ende hat, denken einige Gebüsch, über seinen Kopf flogen die Kugeln. tiges, tragisches Missverständnis.
schon darüber nach, wie man zukünftigen Seine Freundin war am Tag des Überfalls Im Dezember hat Yuri Levin den Chef­
Generationen davon erzählen wird. nicht da, sie ist jetzt zum ersten Mal seit dem ankläger des Internationalen Strafgerichts-
Kameraleute haben hier und in anderen 7. Oktober in Kfar Aza. Sie wolle nie mehr hofs durch Kfar Aza geführt. Levin macht
Kibbuzim wochenlang jedes Haus, jeden Raum jetzt die Runde, die er auch mit der Delega-
aufgenommen, dazu Drohnen für Luftaufnah- 1 | Überlebender Levin vor seiner ausgebrannten tion aus Den Haag gemacht hat. Der Nachbar
Wohnung 2 | Soldaten an einem von den
men losgeschickt. Archäologen sammeln All- Terroristen zerstörten Tor, im Hintergrund Gaza,
dort: getötet. Die beiden da gegenüber: auch
tagsgegenstände, die vom Terror zeugen. Die am 15. Oktober 3 | Reservist Asor vor der getötet. Der Freund eine Wohnung weiter:
Nationalbibliothek trägt Videos, Fotos, Inter- Tunnelinstallation in Tel Aviv geköpft. Die Zwillinge da drüben: entführt.

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Und die beiden Nachbarinnen dort: ebenfalls den »Geiselplatz« als Treffpunkt vorgeschla- Wort ­»Hajati«, »mein Leben«, so habe ihr
verschleppt. gen, wo seit Monaten für die Entführten Vater sie genannt. Die Freundinnen wurden
Direkt hinter Yuri Levins Wohnblock be- demonstriert wird. Auf der einen Seite das ermordet, genauso wie ihr Vater. Er war der
findet sich eines der Tore, durch die die Ter- Kunstmuseum, auf der anderen das Verteidi- Chef des Sicherheitsteams und starb bei der
roristen eindrangen. Man blickt über ein paar gungsministerium, und in der Mitte seit Kur- Verteidigung des Kibbuz.
Felder, und dahinter beginnt, unwirklich nah zem ein Tunnel aus Holz und Gips. Eng, san- Vor dem 7. Oktober war Shaili Aviani, 20,
und fern zugleich, der Gazastreifen. Einst wa- dig, dunkel ist es innen, sogar ein Hallen und eine junge Wehrpflichtige, die in ihrer Freizeit
ren dort Häuser, jetzt sind nur noch Ruinen Wummern wie von Mörsereinschlägen ist zu TikTok-Videos drehte, in zwei Filmen mit-
zu sehen. Manchmal steht eine Rauchwolke hören. Dutzende Menschen stehen an, für die gespielt hatte und davon träumte, Schauspie-
darüber. Tunnelerfahrung und für ein Selfie. lerin zu werden. »Ich hatte so viele Pläne«,
»Ziemlich gut gemacht«, sagt Guy Asor. sagt sie. »Jetzt habe ich keinen Plan mehr.«
Der Kämpfer Er war selbst in mehreren Tunneln, meist sind Sie dreht eine Zigarette und raucht.
Guy Asor war daran beteiligt, einige dieser sie nur ein paar Meter hineingegangen, zu In diesem Moment jault der Alarm auf. Die
Häuser in die Luft zu sprengen, wenige Tage gefährlich. Hamas hat eine Rakete Richtung Tel Aviv
nach dem Besuch des Chefanklägers ist er »Es geht mir nicht um Rache«, sagt er. Son- geschossen. Shaili Aviani geht in den Keller
ebenfalls in Kfar Aza. Er trägt Uniform und dern um Sicherheit für seine Freunde und des Kunstmuseums, sie schreibt dabei in aller
ein Sturmgewehr, er zeigt seinen Kameraden seine Familie, die Rückkehr der Entführten. Ruhe Nachrichten auf dem Handy. Kurz da-
die Zerstörung durch die Terroristen, die Dafür ist er in den Krieg gezogen. Doch nach rauf ist eine dumpfe Explosion zu hören. Der
Nacht verbringen sie im Haus seiner Mutter. den 60 Tagen scheint er desillusioniert. »Wir Iron Dome hat die Rakete abgefangen.
Am nächsten Morgen geht es wieder in den brauchen einen Waffenstillstand, um die Einen Monat später wohnt sie noch immer
Krieg. 20 Minuten zu Fuß sind es nach Gaza, ­Geiseln zurückzuholen«, sagt er. In seiner in Tel Aviv. Das Treffen findet diesmal in
höchstens, sagt Asor. Aber natürlich werden Einheit stehe er mit dieser Position ziemlich einem Café statt, in dem nicht nur die Wände,
sie da nicht einfach rüberlaufen. allein da. sondern auch die Torten pink sind. Sie er-
Da drüben, in Schudschaija, einem Viertel Die Zerstörungen, die er gesehen hat, die zählt, dass sie sich jetzt oft mit einer ihrer
von Gaza-Stadt, sei alles untertunnelt, sagt Bilder von flüchtenden Familien, sie belasten Mitbewohnerinnen streite, über die Wäsche
er. In fast jedem Haus hätten sie Waffen, Ra- ihn. Er ringt im Gespräch um Lösungen für oder dreckiges Geschirr in der Küche. Auch
keten oder Kampfausrüstung gefunden. Und Gaza, aber er weiß auch keine. Es brauche die Freundin ist eine Überlebende. »Wie kann
es dann in die Luft gesprengt. mehr Bildung, damit junge Palästinenser nicht man streiten, wenn man so etwas zusammen
Guy Asor studiert Wirtschaft und Recht. zur Hamas gingen, sagt er. Und: Könnte erlebt hat?«
Er ist 27 Jahre alt und lebt in Tel Aviv, Ägypten nicht die Kontrolle übernehmen? Wie fast alle Überlebenden macht sie eine
aber aufgewachsen ist er in Kfar Aza. Seine Er spürt Mitleid, aber er will hier eines Therapie, gemeinsam mit ihren Freunden.
Mutter und seine Schwester überlebten hier Tages auch wieder leben, wenn er eine Fami- Manche könnten bis heute nicht über das
den 7. Oktober. Viele seiner Freunde nicht. lie gründet, ohne die Bedrohung durch die Erlebte reden, sagt Shaili Aviani. Ihr dagegen
Er verteidigt sozusagen seinen Kibbuz, auch Hamas. helfe Reden. Sie hat inzwischen auch eine
weil er hofft, an diesem Ort eine Zukunft Einzeltherapie begonnen. Aber ihre wich-
zu haben. Die Verlorene tigste Therapie sind die Touren im Kibbuz,
Als Angehöriger von Überlebenden hätte Auch Shaili Aviani sitzt auf dem »Geisel- sie zeigt dort jetzt Israelis die Spuren des
er nicht in den Krieg ziehen müssen. Doch es platz«, vor einem Zelt, in dem sie an die Gei- Massakers. »Die Touren sind das Einzige,
sei ihm leichter erschienen zu kämpfen, als seln von Kfar Aza erinnern. Sie kommt oft woran ich denken kann. Es ist hart, aber es
ihre Geschichten zu ertragen, sagt er. Also hierher. Sie trägt Goldrandbrille, hat rosa- hilft mir.«
meldete er sich freiwillig, gerade als die Bo- farbene Fingernägel und zwei Tattoos. Am Ihre Großeltern hätten den Kibbuz einst
denoffensive Ende Oktober begann. linken Unterschenkel zwei Engel, sie sollen mitgegründet, erzählt sie, 1951 war das, ge-
Im Januar, nach insgesamt 60 Tagen im ihre beiden besten Freundinnen darstellen. rade mal drei Jahre nach der Staatsgründung.
Kriegseinsatz, ist er zurück in Tel Aviv. Er hat Und auf dem linken Oberarm das arabische Ihre Mutter wuchs dort auf, genauso wie sie

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und ihre drei Geschwister. »Ich bin die dritte Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Dis­ In diesem Jahr wollten sie in ihr neues Haus
Generation im Kibbuz, und mein Plan war kussion über die Rückkehr die Gemeinschaft einziehen, in einem Neubauviertel für rund
es, hier auch meine Kinder großzuziehen. spaltet, die einst so eng war. 50 Familien. Der Kibbuz boomte. Nah genug
Aber das ist vorbei.« Die einen wollen lieber direkt zurück nach an den Städten im Zentrum Israels, aber trotz­
Sie sagt diesen Satz, den fast alle sagen: Kfar Aza, die anderen finden auch Ruhama dem ein Ort, an dem sich eine Familie ein
»Kfar Aza war zu 95 Prozent der Himmel noch zu nah am Gazastreifen. Manche wollen Haus leisten kann. Dazu Fußballplatz,
und zu 5 Prozent die Hölle.« Sie atmet tief mit der Entscheidung warten, bis der Krieg Schwimmbad und Kindergarten in nächster
aus. »Jetzt ist es umgekehrt.« zu Ende ist. Und manche sind zu traumati­ Nähe. Vor dem 7. Oktober betrug die Warte­
siert, um überhaupt eine Entscheidung treffen zeit, Mitglied zu werden, drei Jahre.
Die Zweifler zu können. Der Kredit ist ausgesetzt, aber sie werden
Die Frage der Rückkehr ist zu einem zentra­ Oft geht der Riss auch mitten durch die sich bald entscheiden müssen, ob sie das Haus
len Thema in Israel geworden. Die Regierung Familien. weiterbauen.
drängt darauf. Zu hoch sind die Kosten, Zehn­ 38 Stunden lang saßen Amit und Tomer »Nicht zurückzukehren würde für mich
tausende Menschen in Hotels unterzubringen, Ades mit ihren drei Kindern während des bedeuten, dass wir alles verlieren«, sagt To­
zu sehr leidet die Wirtschaft. Und die Befürch­ Massakers im Schutzraum ihres Hauses. Sie mer Ades. »Wir haben die Toten verloren.
tung ist, dass viele gar nicht zurückkehren haben darin den fünften Geburtstag ihres Wenn wir nicht zurückgehen, dann verlieren
wollen, je mehr Zeit vergeht. mittleren Sohnes gefeiert. Tomer Ades zeigt wir auch die Lebenden.«
Wer mehr als vier Kilometer entfernt vom auf seinem Handy ein Foto von einem Scho­ Seine Frau Amit, 37, dagegen glaubt nicht,
Gazastreifen wohnt, erhält seit dem 1. März kokuchen, schnell zwischendurch aus der dass die Hamas in Gaza besiegt werden kann.
weniger Mietzuschuss für ein Ausweichquar­ Küche geholt, darin eine schiefe Kerze. Die Sie arbeitet für die Druckerei im Kibbuz Beeri,
tier. In den Hotels dürfen die Evakuierten nur Papiergirlanden hängen immer noch im viele ihrer Kolleginnen und Kollegen dort
noch bis Anfang Juli bleiben. Zudem be­ Wohnzimmer. Die Leiche des Terroristen da­ wurden getötet. Sie ist überzeugt, dass die
kommt jeder Rückkehrer eine Prämie. Um­ runter wurde inzwischen weggeschafft. Terroristen erneut über Kfar Aza herfallen
gerechnet rund 3700 Euro für Alleinstehende, Tomer Ades, 39, sitzt auf einem Plastik­ werden. »Ich habe meinen Kindern das beste
15.000 Euro für eine Familie mit vier Kin­ stuhl unter einem der Banyanbäume in Schefa­ Leben versprochen, ich kann sie nicht an einen
dern. Je später die Rückkehr, desto niedriger jim, er trägt ausgebeulte Jeans und ein T-Shirt, Ort bringen, wo sie nicht sicher sind.«
die Prämie. was leicht darüber hinwegtäuscht, dass er Sie fürchtet sich vor dem Tag, an dem die
Auch die Überlebenden von Kfar Aza 86 Angestellte hat und vor dem 7. Oktober Rückkehr nach Kfar Aza als sicher erklärt
­können nicht mehr lange in Schefajim blei­ ein florierendes Unternehmen mit mehreren wird. »Ich habe Angst, dass die Regierung
ben, einer Hotelanlage in einem Kibbuz nörd­ Hummus-Restaurants betrieb. Monatelang sagt: Wenn ihr nicht zurückgeht, seid ihr auf
lich von Tel Aviv, direkt hinter dem Strand, war nur die Filiale in Jerusalem offen, gerade euch allein gestellt. Es ist im Interesse der
mit weiten Grünflächen und ausladenden hat der Laden in Beer Sheva wieder den Be­ Regierung, dass wir zurückkehren.«
Banyanbäumen. Im Hotel wurde die Kneipe trieb aufgenommen, bald soll Sderot folgen. Sie hat, wie fast alle aus den überfallenen
von Kfar Aza nachgebaut, inklusive signierter Beide Städte liegen nicht weit vom Gazastrei­ Kibbuzim, das Vertrauen in die Regierung, ja
Fußballtrikots und Wandbemalung. Es gibt fen entfernt. Ades zahlt seit fast sechs Mona­ in den Staat insgesamt verloren. Schon lange
Gitarrenunterricht, eine Werkstatt und eine ten allen Angestellten ihren Lohn, obwohl vor dem 7. Oktober fühlten sich viele Israelis,
Bibliothek. Und im Speisesaal erinnert ein nur ein Teil von ihnen arbeiten kann. Und er die rund um den Gazastreifen lebten, ver­
stets gedeckter Tisch an die letzten ihrer fünf sammelt Spenden, um Hummus zu produzie­ nachlässigt. Die Hamas und die Raketen, so
Geiseln. ren, den sie den Soldaten schicken. schien es ihnen, nahm man im restlichen Israel
Fast die Hälfte der aus Kfar Aza Evakuier­ Gerade hat er erfahren, dass er selbst Mit­ einfach so hin.
ten sind hier untergebracht. Freigelassene te März als Reservist in den Einsatz muss, Amit Ades hat daher nach dem 7. Oktober
Geiseln und Eltern, deren Kinder noch immer vermutlich im Norden Israels. mit angepackt. Sie reiste nach Washington,
in Gaza sind, Verletzte und Traumatisierte. Seine Kinder gehen in Schefajim zur Kita wo sie den katarischen Botschafter traf, um
Was aussieht wie ein Paradies, ist ein Ort der und in die Schule, extra eingerichtet für die für die Freilassung der Geiseln zu werben.
Schmerzen. Überlebenden. Untergekommen ist die Fa­ Und nach New York, wo sie Spenden für Kfar
Im Januar haben die früheren Bewohner milie in der Nähe, in einer Wohnung, die ihr Aza sammelte. In den Monaten nach dem
mehrheitlich dafür gestimmt, nach Ruhama jemand kostenlos zur Verfügung gestellt hat. Massaker haben die Bewohner, unterstützt
umzusiedeln, etwa 15 Kilometer entfernt Aber wie lange werden sie dort bleiben kön­ von Freiwilligen, Crowdfunding gemacht,
vom Gazastreifen. Der Umzug dorthin nen? Und wo sollen sie dann hin? Websites aufgebaut, Zoom-Meetings mit
soll spätestens im September abgeschlossen Die Familie lebte seit 2017 in Kfar Aza. Spendern veranstaltet. Sie finanzieren damit
sein. Ein provisorisches Quartier, damit Tomer Ades ist dort aufgewachsen, dann Hilfsleistungen für die Überlebenden, vor al­
die Kinder wieder in ihre Schulen gehen durch die Welt gereist, vor der Geburt des lem aber sammeln sie für die Zukunft.
­können, die Erwachsenen zur Arbeit. Es ersten Kindes zog er mit seiner Frau zurück. Umgerechnet fünf Milliarden Euro hat die
soll ein erster Schritt in die Normalität sein, Regierung für die nächsten fünf Jahre zugesagt,
bevor sie dann im Sommer 2025 nach Kfar um die überfallenen Orte wiederaufzubauen.
Aza zurückkehren. Ähnliche Pläne haben Aber Amit Ades und viele andere zweifeln da­
die meisten evakuierten Gemeinden rund ran, dass das reichen wird, für den Wiederauf­
um Gaza. bau der Häuser, für die Unterstützung der Über­
Es soll dann nichts mehr an den Tag des lebenden, für die Therapie all der an Körper
Horrors erinnern. Fast die Hälfte der Häuser und Seele Verletzten. Und wird der Staat auch
ist zerstört oder beschädigt, sie sollen repa­ denen helfen, die nicht zurückkehren wollen?
riert oder neu gebaut, Wege und Gemein­ Amit Ades glaubt, dass das viele sein wer­
schaftshäuser anders gestaltet werden. Außer­ den. Vor allem Familien wie ihre, mit kleinen
dem sollen die Schutzräume verstärkt wer­ Kindern. Stattdessen würden andere Leute
den, mit schusssicheren Türen und Riegeln. kommen: Religiöse, Nationalisten, Siedler aus
Aber wer kehrt zurück, wenn er das Gefühl dem Westjordanland. Eine »rechte Übernah­
hat, so einen Schutzraum in Zukunft vielleicht me«, so nennt sie es. Kfar Aza wird dann ein
zu brauchen? Familie Ades in ihrem Übergangsquartier anderer Ort sein, in jeder Hinsicht. n

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»Starte dort, wo du die


verletzlichsten Mädchen findest«
GEWALT IM NETZ Sie zwingen Minderjährige zu Nacktfotos, Selbstverletzungen und sogar Suizid –
Recherchen enthüllen nun, wie sich Sadisten weltweit in Chatgruppen
zu solchen Taten verabreden. Wie schaffen es die Täter, andere unter ihre Kontrolle zu bringen?

A
nfangs redet sie sich ein, dass alles frei- Also habe sie draufgeklickt, als ihr eine On- einem Polizeibericht. Immer wieder posten
willig passiert. Dass sie von sich aus linebekanntschaft eine Einladung zu einer der sie Telefonnummern und Adressen, um zu
Nacktfotos an Männer schickt, von Gruppen schickte. beweisen, dass sie das könnten. Manche über-
denen sie kaum etwas weiß. Dass sie sich Die Fremden in den Chats werden ihr listen ihre Opfer, zu viel von sich preiszuge-
­freiwillig deren Namen in die Haut ritzt und schnell vertraut. Jeden Tag habe jemand ge- ben, andere hacken Accounts, davon schrei-
davon Aufnahmen macht, »Cutsigns« sagen fragt, wie es ihr gehe, manche der Männer ben sie ganz offen.
sie dazu in den Chatgruppen, in die die Ju- versprechen ihr Geschenke. »Ich hatte das Über Jahre hinweg war Sophia Opfer eines
gendliche gerät. Lange hält sie das für eine Gefühl, dass sie mich wirklich lieben. Dass weltweiten Netzwerks. Auf den Plattformen
Art Deal: »Ich verstümmle mich, und sie wür- sie sich um mich sorgen.« Sie wird in weitere Discord und Telegram manipulieren und
digen das.« Gruppen aufgenommen, die ähnlich funktio- zwingen anonyme Täter Minderjährige zu
Sophia, die in Wirklichkeit anders heißt, nieren: eine Szene, die sich heute nur COM grausamen Taten – die Gruppen sind eines
sagt, sie sei etwa 15 Jahre alt gewesen, als sie nennt, für »Community«, Gemeinschaft. der extremsten Beispiele für sogenanntes Cy-
einer virtuellen Gruppe beitrat, in der Männer Irgendwann sei sie Tag und Nacht online bergrooming, so nennt man es, wenn Erwach-
Illustration: Jan Rober t Dünnweller / DER SPIEGEL

sie zu diesem Verhalten drängten. In mehre- gewesen. sene übers Internet sexualisierten Kontakt zu
ren Videotelefonaten erzählt sie, wie sie »auf Auch dann noch, als der Ton plötzlich um- Kindern aufbauen.
der falschen Seite des Internets« landete. Mit schlägt. Einmal habe sie sich vor die Kamera Im Unterschied zu anderen Tätern im Netz
ihrer Mutter sitzt die heute 18-Jährige in einer knien und quieken sollen wie ein Schwein. geht es denen der »Community« nicht nur
Wohnküche irgendwo in Kanada, manchmal »Ich war damals dick, darauf hatten sie es um Geld und sexuelle Befriedigung. Sie wol-
streift ihr Kater durchs Bild. abgesehen.« len andere erniedrigen. Dafür teilen sie in
Angefangen habe alles in der Pandemie, Wer in den Gruppen einmal intime Bilder den Gruppen alles: Fotos von erzwungener
sagt sie: »Keine so gute Zeit.« In der Schule geteilt hat, muss ständig neuen »Content« Selbstverletzung, Missbrauchsbilder von Kin-
habe sie sich damals einsam gefühlt, mit den liefern. Sophia drohen die Täter, andernfalls dern, Videos von Morden. Ihre Währung ist
meisten Mitschülern nichts anfangen können. Aufnahmen an ihre Schule zu schicken oder die Anerkennung für Taten, die der Rest der
»Ich wurde zur Außenseiterin«, sagt Sophia. Verwandten etwas anzutun, so steht es in Gesellschaft verachtet – je krasser die Posts,

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desto besser. Manche Gruppen geben Geleakter Chat aus User auch »Liveshows« auf der Platt­ sich Minderjährige offenbar vor der
sich entsprechende Namen, »Harm den Netzwerken form Discord. Bei solchen Videoanru­ Kamera erhängen. Überprüfen lässt
der Sadisten
Nation« etwa, »Nation des Leids«. (übersetzt aus dem
fen können alle Zuschauer mitreden, sich das nicht. Eines davon hat ein
Andere tragen bloß Nummern, wie Englischen) wenn ein Mädchen vor der Kamera User als seinen »besten Content« be­
764. Um einzelne Gruppen nicht be­ Aufträge der Täter ausführt. Vieles worben. In Ermittlerkreisen heißt es,
kannter zu machen, werden ihre Na­ User 1: davon zirkuliert später als Mitschnitt. das Netzwerk habe mindestens ein
men hier weitgehend weggelassen. Was ist das für Dem SPIEGEL liegen mehr als ein Kind tatsächlich in den Tod getrieben.
Die amerikanische Bundespolizei ein Video? Dutzend solcher Aufnahmen vor. Die Täter fühlen sich in der »Com­
FBI warnt seit September vor dem User 2: An eine sogenannte Show erinnert munity« sicher, das zeigen Leitfäden,
Netzwerk, viele Mitglieder hätten das 18 Minuten Sophia sich besonders – im Videochat die sie in Chats posten. Darin teilen
Ziel, Minderjährige nicht nur zu er­ Selbstbefriedi- seien etwa hundert Zuschauer gewe­ sie Tipps für ihr Vorgehen. In einem
pressen, sondern ihre Opfer auch »in gung, der ganze sen. Ein Mitschnitt belegt, wie sich schreibt ein Verfasser: »Starte dort,
Scheiß. Im
den Selbstmord zu treiben«. Grunde genom- zwei Täter gegenseitig anstacheln. Zu wo du die verletzlichsten Mädchen
Der SPIEGEL, das rumänische Me­ men Kinderpor- sehen ist ein Mädchen, die 14-Jährige findest.« In entsprechenden Online­
dium »Recorder«, die »Washington nografie. Addet hält ihren Hamster in der Hand. Aus foren solle man Personen mit psychi­
Post« und »Wired« erhielten Einblick sie, und fangt dem Off geben ihr zwei Männer An­ schen Belastungen suchen. Im nächs­
an, sie zu
in 50 Chatgruppen und Kanäle der erpressen, Jungs weisungen: Sie soll ihr Haustier mit ten Schritt müsse man sie »mit Liebe
»Community«. In dem größten Chat einer Rasierklinge enthaupten. Das bombardieren«, dann: die Aufmerk­
versammeln sich mehr als 5000 Mit­ User 3: Sieht man tut sie, fängt an zu weinen. Im Off samkeit abziehen und Forderungen
ihr Gesicht
glieder. Insgesamt haben die Jour­ darauf? Weil ich hört man Zuschauer lachen. stellen, wenn es der Betroffenen
nalisten einen Datensatz mit rund es an die Schule Sophia sagt, sie wisse nicht, was schlecht geht. Schließlich könne man
drei Millionen Textnachrichten aus­ schicke. Von aus dem Mädchen geworden ist. Aber das Mädchen immer weiter unter
gewertet. einem Account sie verstehe inzwischen die Mechanis­ Druck setzen. Je nach Diagnose sei
mit 50.000
Sie identifizierten Täter und spra­ Followern. Dann men besser. Auch geleakte Chats zei­ »der Ertrag zehnmal so hoch«.
chen mit den Familien von sieben müssen sie es gen, wie sich Mitglieder für Aktionen Die deutsche Psychologin Julia
Opfern. Sie trafen Ermittler, die von sehen zusammentun. von Weiler von der NGO »Innocence
den verstörendsten Fällen ihrer Lauf­ Immer häufiger drohen Täter, in­ in Danger« kennt diese Strategie aus
bahn berichteten. Und sie konfron­ User 2: Gut. Lass time Bilder im Netz zu posten, seit anderen Fällen: Die Täter kombinier­
sie leiden
tierten die Betreiber der Plattformen, Jahren steigen weltweit die Fälle von ten die Angst der Opfer vor ihrer
auf denen sich die Täter ständig neu sogenannter Sextortion. Laut einer Bloßstellung mit der Furcht, eine ge­
organisieren. Chatverläufe und Ge­ Studie der Landesmedienanstalt liebte Person zu verlieren. Weiler
richtsdokumente belegen, wie die Nordrhein-Westfalen hat 2022 bereits unterstützt seit 20 Jahren Opfer von
Täter ­labile Personen gezielt unter jedes fünfte Kind in Deutschland Auf­ sexualisierter Gewalt im Netz. Oft
ihre Kontrolle bringen. forderungen erhalten, im Netz Nackt­ setzten die Täter darauf, dass Betrof­
Das FBI schätzt, dass die Täter des fotos von sich zu schicken. Das FBI fene die Schuld für den Missbrauch
Netzwerks bereits Tausende Kinder spricht von einer »globalen Krise«: bei sich selbst suchen.
kontaktiert haben. Europol und Inter­ Allein in den USA registrierten Er­ Sophia hat das erlebt. Sie berichtet
pol koordinieren internationale Er­ mittler von Oktober 2021 bis März von drei Usern, denen sie über die
mittlungen. In mindestens acht Län­ 2023 mindestens 20 Suizide von Min­ Monate näherkam.
dern gab es in den vergangenen zwei derjährigen, die darauf zurückgehen. Der erste war der Mann, der sie
Jahren Festnahmen und Prozesse Zweimal, sagt Sophia, habe sie in auf Telegram einlud: Er habe sie spä­
wegen Kinderpornografie, Entfüh­ Livestreams der Community beob­ ter am härtesten erpresst.
rung und Mordes. Auch zwei Männer achtet, wie andere sich selbst töten Den zweiten beschreibt Sophia als
aus Deutschland sind angeklagt. Laut sollten. Dem SPIEGEL liegen zwei eine Art Anwerber. In den Chats zeig­
Ermittlern sind die Opfer zwischen Videos aus den Chats vor, in denen te er sein Gesicht, was selten ist. »Er
8 und 21 Jahre alt, die Täter zumeist sah gut aus.« Eine Zeit lang hielt sie
Jungen und Männer bis Mitte 40. ihn für ihren Freund, er rief sie jeden
Für Sophia entwickelten die Grup­ Abend an. Sie schickte ihm Nackt­
pen schnell einen Sog. Kurz bevor sie bilder, obwohl sie ihm nur online be­
beitrat, diagnostizierten Ärzte bei ihr gegnete, bis er irgendwann ver­
eine Lernschwäche und eine Depres­ schwand.
sion. Schon damals verletzte sie sich Heute sitzt der 21-Jährige in einem
selbst: Schmerz war ihr Ventil für Pro­ rumänischen Gefängnis, verurteilt zu
bleme, die sie erst später mit Thera­ drei Jahren wegen Verbreitung von
peuten besprechen würde. Kinderpornografie. Der Schulabbre­
Sophia hat Chatverläufe, Klinik­ cher soll Hunderte Videos im Netz
berichte und Seiten aus ihrem Tage­ zum Verkauf angeboten haben, wohl
buch mit den Reportern geteilt, sie auch Aufnahmen von Mädchen aus
belegen ihre Geschichte. Zu ihrem der »Community«.
Schutz stehen hier keine Details, mit Ein dritter, so schildert es Sophia,
denen man sie identifizieren könnte. habe ausgenutzt, dass ein naher Ver­
Von ihrem Fensterplatz in der Kü­ wandter sie als Kind sexuell miss­
che aus beschreibt sie, was in den braucht habe. Sie erzählte ihrer Chat­
Gruppen passierte. Von ihr hätten die bekanntschaft davon. Der schrieb,
Täter vor allem Nacktbilder und dass er sich »kümmern« werde, ob­
»Cutsigns« verlangt. Die habe sie mal wohl sie krank sei. »Ich war über­
privat geschickt, mal direkt in die zeugt, dass ich ihn liebe und er mich.
Gruppe gepostet. Oft organisieren die Ich war das perfekte Ziel.« Er stellte

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Ländern ausgestattet: »Man versucht mit


­nationalen Mechanismen, Kriminalität in
einem globalen digitalen Raum zu begegnen.
Selbst wenn immer wieder einzelne Gruppen
ausgehoben werden, bleibt das Risiko für die
Täter insgesamt eher gering.«
Helfen könnten den Betroffenen auch die
Plattformen, auf denen die Täter sich treffen.
Discord schreibt dazu auf Anfrage, die Zer-
schlagung des Netzwerks mit seinen »sadis-
tischen Aktivitäten gehört zu den höchsten
Prioritäten des Sicherheitsteams«. Discord
arbeite »eng« mit dem FBI in den USA zu-
sammen. Allein 2023 hat das Unternehmen
demnach 130 Gruppen und 34.000 Accounts
des Netzwerks gesperrt.
Auch Sophia und andere Opfer schildern,
dass Discord immer wieder Gruppen löscht
und auffällige Nutzer blockiert. Sie hätten
sich dann auf Telegram neu organisiert. Dort
waren Bilder und Videos, die den Redaktio-
Forderungen, die Sophia heute absurd er- an, damit er selbst etwas sagt. In Chats hat- nen vorliegen, teils seit Monaten online.
scheinen: Sie unterschrieb Liebesbriefe mit te »White Tiger« noch mit seiner Sammlung Telegram wiederum teilt dem SPIEGEL
Blut, ritzte seinen Namen auf ihre Brust. Er geprahlt – mindestens 16 Terabyte Kinder- mit: »Kindesmissbrauch und Gewaltaufrufe
kündigte an, sie zu entführen und ihre Mutter pornografie sollen es gewesen sein. Jetzt sind durch Telegrams Nutzungsbedingungen
umzubringen. Damals hielt sie das für eine windet er sich. Er sagt, er wolle »mit der explizit verboten.« Jeden Tag würden »Mil-
»romantische Fantasie«, obwohl sie Fotos Sache nichts mehr zu tun haben«. Weitere lionen« Inhalte entfernt. Zu den Gruppen der
kannte, auf denen er eine Waffe trägt. Nachfragen zu seiner Chat-Vergangenheit »Community« äußert es sich nicht. Kurz vor
Schließlich verlangte er, dass Sophia ihren beantwortet er nicht. der Veröffentlichung dieser Recherche hat das
Hund tötet. Zum ersten Mal sagte sie zu etwas Auch ein zweiter Deutscher ist laut Sophia Unternehmen jedoch Dutzende Gruppen aus
Nein – und wurde im Chat dafür beschimpft. früh dabei: In den Gruppen heißt er »Tobbz«, dem Netzwerk gesperrt.
Irgendwann habe sie sich an ihre Mutter sie schildert ihn als »Psychopathen«, der ihr Für Sophia kommt der Wendepunkt an
gewandt: »Ich erinnere mich, dass ich meiner von toten Tieren in seinem Schrank erzählt einem Sommertag. Ihre Mutter ruft in einem
Mutter meinen Körper zeigte und schrie: habe. Im vergangenen August verurteilte ihn Safe House an, wo Therapeuten Jugendlichen
›Schau, was sie mit mir gemacht haben!‹« ein rumänisches Gericht zu 14 Jahren Haft. nach sexueller Ausbeutung helfen. Sophia hat
Auf das Drängen ihrer Mutter hin meldete In den Chats wird er dafür gefeiert, dass er versucht, sich umzubringen, auch das ist in
sich Sophia schließlich bei der kanadischen eine rumänische Rentnerin erstochen hat, ein den Unterlagen dokumentiert. Drei Monate
Polizei. »Sie sahen die Schnitte in meinem schwer erträgliches Video davon kursiert noch verbringt sie in der Einrichtung. Zum ersten
Körper, machten Fotos, und das war’s«, er- immer im Netz, man hört den damals 17-Jäh- Mal spricht sie mit Therapeuten über den
zählt Sophia. »Sie haben nicht verstanden, rigen am Ende jubeln. Für die »Community« Missbrauch durch ihren Verwandten, ver-
dass ich missbraucht wurde.« Sophia gab ihr sei »Tobbz« »einer der Großen« gewesen, steht, mit welchen Methoden die Täter sie
Handy und einen Laptop ab, auf dem viele sagt Sophia. manipuliert haben, erzählt sie.
Nachrichten gespeichert sind. Die Polizei Reporterinnen des SPIEGEL und der ru- Ihre Therapie gleicht einem Entzug, bei
stellte das Verfahren später ein. mänischen Tageszeitung »Libertatea« haben dem lange der Rückfall droht. In ihr Tagebuch
Die Psychologin Julia von Weiler kritisiert, seinen Fall vor einem Jahr rekonstruiert. Im schreibt sie weiter Liebesbotschaften an einen
dass Gerichte und Staatsanwaltschaften oft Leben draußen galt »Tobbz« als Verlierer: Er der Täter. Nach ihrer Entlassung will sie sich
zu Unrecht annähmen, sexualisierte Gewalt schaffte keinen Schulabschluss, fand keine bei der »Community« zurückmelden, doch
im Internet sei harmloser als analoge. »Wis- Freunde. Schon als Kind war er mit Gewalt- im entscheidenden Moment ist in der wich-
senschaftliche Studien belegen dabei längst, ausbrüchen aufgefallen, ein deutsches Jugend- tigsten Gruppe nichts los. Sophia schafft den
dass sie genauso schwer traumatisiert.« amt hatte ihn zu einer Pflegefamilie nach Absprung.
Spätestens im Sommer 2021 fällt einer US- ­Rumänien geschickt. Nach seiner Tat im April Einen von ihren Peinigern haben Polizisten
Behörde in den Chats ein erster Nutzer aus 2022 postete »Tobbz«: »Ich fühle mich wie im August in den USA festgenommen. Ihm
Deutschland auf. Er nennt sich »White Tiger«, Gott«. Eine Gesprächsanfrage an ihn lehnt drohen mehrere Jahre Haft wegen der Ver-
auch Sophia erinnert sich an ihn. Er habe ihr das rumänische Gefängnis ab. breitung von Kinderpornografie. Für den­
nette Direktnachrichten geschickt und sie zu- Das Bundeskriminalamt (BKA) erfuhr spä- selben Tatbestand verurteile ein US-Gericht
gleich in den Gruppen beleidigt. Inzwischen testens 2022 von seinem Fall. Über die inter- im Mai auch den 17-jährigen Gründer der
erwartet ihn ein Prozess wegen Verbreitung nationalen Ermittlungen zur »Community« »Community« zu 80 Jahren Haft.
Illustration: Jan Rober t Dünnweller / DER SPIEGEL (2)

von Jugendpornografie in Deutschland. schreibt es auf Nachfrage, es stehe im »Aus- Sophia erfährt davon im Telefonat mit den
Man kann die Eltern von »White Tiger« tausch« mit den Landesbehörden Interpol Reportern, sie lacht erleichtert. Jeder Täter
besuchen, sie wohnen in einer noblen Ge- und Europol. Bei Europol will man sich zu in Haft ist einer weniger, der Videos in Umlauf
gend im Norden hinter bodentiefen Fenstern. den laufenden Ermittlungen nicht äußern. bringen kann. Und einer mehr, dessen Be-
Der Vater öffnet die Tür, sein Sohn sei gera- Interpol lässt eine Anfrage offen. strafung andere vielleicht zum Nachdenken
de in der Uni. Er bittet hinein, im Wohnzim- Der deutsche Cyberkriminologe Thomas- bringt.
mer serviert die Mutter Pistazien. Zur An- Gabriel Rüdiger von der Hochschule der Poli- Derjenige aber, der Sophia in die Chats
klage ihres Sohns wüssten sie wenig, irgend- zei Brandenburg geht davon aus, dass weiter- einlud, ist weiter frei. In der »Community«
etwas mit Videos und Chats. Es klingt, als hin nur die wenigsten Täter ihre Verfolgung heißt es immer wieder, er sei Deutscher.
habe der Sohn sich bloß verklickt, in einer fürchten. Die jeweiligen Sicherheitsbehörden Roman Höfner, Roman Lehberger,
Welt, die den beiden fremd ist. Sie rufen ihn würden in erster Linie für die Arbeit in ihren Lina Verschwele n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 69


AUSLAND

schaft nach dem Zerfall der Sowjet-


union so sehr mit sich selbst beschäf-
tigt sein würde und damit, das Chaos
zu bewältigen und ein normales Le-

»Putins Losung ist:


ben zu führen, dass sie gegenüber
imperialen Verführungen und Aben-
teuern resistent sein würde.

Nach mir die Sintflut«


SPIEGEL: Sie sind einer der besten
Kenner der russischen Geschichte in
Deutschland, Ihre ganze Lebensge-
schichte ist eng mit dem Land ver-
bunden. Können Sie Russland heute
RUSSLAND Karl Schlögel, der wohl renommierteste deutsche Osteuropa­ eigentlich noch leiden?
Schlögel: Wie soll ich sagen? Da bre-
historiker, sucht nach einer neuen Sprache, um das Regime in Moskau chen natürlich Vorstellungen und
zu beschreiben. Viele Hoffnungen für das Land haben sich zerschlagen, doch Hoffnungen zusammen. Aber die
Geschichte sei offen: Europa sei dem Herrscher im Kreml nicht ausgeliefert. Analyse, die ich jetzt mache, hat
nichts mit einer enttäuschten Liebe
zu tun. Für mich ist das alles eher ein
Schlögel, 76, hat in Berlin, Moskau Schlögel: Ich meine das nicht im Sin- Anstoß dafür, dass wir anfangen müs-
und Sankt Petersburg Philosophie, ne einer Gesundbeterei oder einer sen, die russische Geschichte noch
­Soziologie, osteuropäische Geschichte Happy-End-Vorstellung, sondern einmal neu zu betrachten – wie schon
und Slawistik studiert. Er war bis 2013 ganz nüchtern. Es sind in den ver- zuvor die lange ignorierte eigenstän-
Professor für osteuropäische Geschich- gangenen Jahrzehnten immer wieder dige Geschichte der Ukraine.
te an der Europa-Universität Viadrina unerwartete Dinge passiert, im Posi- SPIEGEL: Sie haben nach der Anne-
in Frankfurt an der Oder und ist Autor tiven wie im Negativen. Plötzlich xion der Krim 2014 die Puschkin-Me-
zahlreicher Bücher. tauchte in der Sowjetunion ein Mann daille abgelehnt, mit der Russland
namens Michail Gorbatschow auf, ein Menschen ehrt, die sich im Bereich der
SPIEGEL: Herr Professor Schlögel, der »Held des Rückzugs«, wie der Schrift- Kultur- und Geisteswissenschaften um
russische Machthaber Wladimir Putin steller Hans Magnus Enzensberger die Annäherung der Völker verdient
lässt sich an diesem Wochenende mit ihn genannt hat. Ich war nicht darauf machen. Sie haben damals einen Brief
großem Aufwand im Amt bestätigen. gefasst, dass ein Söldnerführer na- an den russischen Botschafter ge-
Nie war eine Präsidentschaftswahl in mens Jewgenij Prigoschin in Russland schrieben, in dem Sie gegen die An-
Russland so stark manipuliert und so einen Aufstand proben würde oder nexion protestierten. Haben Sie je-
wenig legitim. Wozu braucht der Dik- dass Hunderttausende wehrfähige mals eine Antwort erhalten?
tator diese Farce überhaupt noch? Russen vor der Mobilmachung außer Schlögel: Nein, ich habe keine Ant-
Schlögel: Diese sogenannte Wahl ist Landes fliehen. wort bekommen vom damaligen Bot-
natürlich eine große Inszenierung, SPIEGEL: Die Welt war allerdings auch schafter Wladimir Grinin, obwohl ich
aber Inszenierungen sind nicht ein- auf den Angriffskrieg gegen die Ukra­ ihn kannte und wir vorher Gespräche
fach nur bloßer Schein. Ich glaube, ine nicht gefasst, der nun in sein drit- geführt hatten über eine Ausstellung
der Kreml nimmt diese Abstimmung tes Jahr geht. im Russischen Haus in Berlin, über
sehr ernst. Putin will dadurch die Le- Schlögel: Das ist wahr. Ich habe es die Pflege von Russischunterricht an
gitimation für die nächsten Jahre be- befürchtet, aber mir konkret nicht deutschen Schulen. Stattdessen kam
kommen. Für mich laufen da zwei vorstellen können, wie ich schon die Moskauer Straßen- dann so eine Art Shitstorm oder wie
Dinge zusammen: Der 18. März, der Annexion der Krim und die Beset- szene mit Putin man das nennt. Man bezeichnete
auf Bildschirm:
Tag nach der »Wahl« in Russland, ist zung des Donbass vor zehn Jahren »Diese sogenannte
mich als Nato-Intellektuellen. Und
der zehnte Jahrestag der Annexion nicht erwartet hatte. Meine Einschät- Wahl ist eine mein Antrag auf ein Visum für wis-
der Halbinsel Krim. Und der »Wahl- zung war, dass die russische Gesell- große Inszenierung« senschaftliche Arbeit wurde damals
kampf« ist begleitet von pausenlosen auch nicht mehr weiterbe­arbeitet.
Angriffen und systematischer Bom- SPIEGEL: Waren Sie danach je wieder
bardierung der Ukraine. Putin will in Russland?
am Sonntag abermals einen Triumph Schlögel: Ich war später noch einmal
feiern, sich im Amt bestätigen lassen dort, 2019 wollte ich mir die Grenze
und demonstrieren, dass er die Ukra­ zur Ukraine im Süden in der Region
ine in die Knie zwingt. um Rostow am Don ansehen. Mich
SPIEGEL: Fürchten Sie, dass Putin so- interessiert die Stadt selbst, ihre Ge-
wohl im eigenen Land als auch in der schichte, die Orte der deutschen Ver-
Ukraine erreicht, was er will? brechen im Zweiten Weltkrieg, vor
Schlögel: Für mich ist die Geschichte allem aber wollte ich sehen, wie es in
offen. Wir sind nicht dazu verurteilt, einer Stadt zugeht, von der aus der
Putin bis in das Jahr 2030 an der Krieg im Donbass geführt wird.
Macht zu sehen, und es steht keines- SPIEGEL: Sehen Sie es heute als Ihre
wegs fest, dass er in der Ukraine Verantwortung an, über Russland auf-
Dmitr y Serebr yakov / AP

triumphieren wird, auch wenn die zuklären?


Situation dort sehr beunruhigend ist. Schlögel: Ja, es ist ungeheuer wichtig,
SPIEGEL: Sehen Sie konkreten Anlass dass wir verstehen, was in Russland
für Optimismus, oder meinen Sie das passiert, und das meine ich nicht
eher grundsätzlich? unter versöhnungspolitischen Ge-

70 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


AUSLAND

sichtspunkten, sondern um zu wissen, mit herauszuführen und es in eine moderne Nation,


wem wir es zu tun haben. eine offene Gesellschaft von Staatsbürgern zu
SPIEGEL: Womit haben wir es denn eigentlich verwandeln. Putin hat keine Vorstellung davon,
zu tun? Sie bezeichnen die Herrschaftsform, wie ein modernes, postimperiales Russland aus-
die Wladimir Putin etabliert hat, als Putinis- sehen könnte. Er misstraut dem Volk und hasst
mus. Warum scheuen Sie die herkömmlichen jede unabhängige Bewegung. Er hatte kein In-
Begriffe der Politikwissenschaft: Autokratie teresse daran, dass sich die Kräfte, die vorhan-
oder Diktatur? den waren, entfalten konnten: mittelständische
Schlögel: Ich bezeichne Putin auch als Dikta- Unternehmen, die Intelligenzija, die weltoffe-
tor. Aber ich glaube, wenn man von Auto- nen, gebildeten, patriotischen Kräfte. Stattdes-
kratie oder Diktatur spricht, stellt man Putin sen hat er alles dafür getan, diese Kräfte, ihre
einfach in die Tradition der über Jahrhunderte wichtigsten Vertreter, zu marginalisieren, zu
gewachsenen und uns irgendwie vertrauten disziplinieren oder gar gezielt auszuschalten.
Selbstherrschaft. Er wird dann einfach zu SPIEGEL: Eigentlich ist Putin also ein Feind
einer Art neuem Zaren. Man erfasst mit diesen der Modernisierung?

Agata Szymanska-Medina / DER SPIEGEL


Begriffen aber nicht das Neuartige und Be- Schlögel: Absolut. Er macht mit der Rückkehr
sondere an seiner Herrschaft. Auch der Begriff zum Staatseigentum, der Kontrolle der Medien,
Mafiastaat erfasst nur einen Aspekt dieser Repression und Zensur den Fortschritt rück-
Herrschaft, aber eben nicht seine spezifische gängig, den es in Russland sehr wohl gegeben
Ausformung. Mit dem Mafiastaat kann man hat. Er bekämpft Gruppen, Menschen, die
treffend die Verwandtschaft zur Organisierten Modernisierung und Öffnung wollen, schaltet
Kriminalität beschreiben, hier ist aber mehr sie aus und denkt nur an sich. Das klingt jetzt
im Spiel, die Macht der Geheimdienste und alles zu brav – ich will eigentlich sagen, dass
staatlichen Terrorapparate, totaler Medien- Autor Schlögel
Putin Russland in den Abgrund führt, seine
kontrolle, Militarisierung der Gesellschaft. Losung ist in Wahrheit: Nach mir die Sintflut.
SPIEGEL: Nicht nur die Ukrainerinnen und bahnte. Sie spürten, dass sich etwas Unge- SPIEGEL: Für viele liberale Menschen in Russ-
Ukrainer sprechen mit Blick auf Russland von heuerliches zusammenbraute, aber selbst die land und auch im Exil war der Tod des Kreml-
Faschismus. scharfsinnigsten Denker haben sich damals kritikers Alexej Nawalny ein schwerer Schlag.
Schlögel: In der Ukraine hat man das Wort nicht ausmalen können, was nach 1938, 1939, Tausende haben es trotz großer Risiken gewagt,
Raschismus, Russo-Faschismus, geprägt. Ich 1941 passierte. Es kommt mir so vor, als wären die Beerdigung und das Grab des Oppositio-
zögere nicht, den Faschismusbegriff zu ge- wir heute in einer vergleichbaren Situation, nellen zu besuchen. Hätten Sie das erwartet?
brauchen, aber er ist heute inflationär gewor- in einer neuen Vorkriegszeit. Schlögel: Es hat mich überrascht und tief be-
den. Das absolut Böse in Gestalt der Herr- SPIEGEL: Was treibt Wladimir Putin in diesen wegt. Diese Leute sind immer da gewesen,
schaft Putins erfasst er nicht. Krieg gegen die Ukraine? Ist es die Erniedri- wir haben sie jetzt aber gesehen, sie haben
SPIEGEL: Worin besteht denn das Neuartige gung nach dem Zerfall der Sowjetunion? Die- sich trotz drohender Repressionen versam-
von Putins Herrschaft? ses Trauma bewirtschaftet Putin sehr erfolg- melt. Es sind nicht nur Einzelne, sondern es
Schlögel: Der Putinismus ist, anders als der reich, wie Sie gern sagen. ist eine Kraft, die in der Gesellschaft trotz
italienische Faschismus oder der deutsche Na- Schlögel: Ich bin skeptisch gegenüber der Vor- allem vorhanden ist. Das bedeutet nicht, dass
tionalsozialismus, nicht aus einer Massenbe- stellung, dass Putin in der Ukraine ausschließ- daraus sogleich eine Bewegung entsteht, die
wegung hervorgegangen, und er spielt mit lich einer imperialen Idee folgt oder einer das System zum Einsturz bringt.
Formen, die es im Totalitarismus des 20. Jahr- seiner historischen Lektüren. Ich bin über- SPIEGEL: Sie rufen zu rückhaltloser Unter-
hunderts so nicht gegeben hat. Es ist ein Sys- zeugt, dass er dieses Trauma der Erniedrigung stützung für die Ukraine auf. Tut die Bundes-
tem entstanden, in dem es keine Unterschei- empfindet, und Geschichte ist für Putin nicht regierung genug?
dung von wahr und falsch mehr geben soll. nur ein Ornament, sie gehört zu seiner geis- Schlögel: Es wird immer gesagt, dass die Re-
Orthodoxe Kirche und die Errichtung von tigen Grundausstattung. Aber ich glaube, die gierung und der Bundeskanzler Schaden vom
Stalindenkmälern, Parteitagschoreografien wesentliche Triebfeder für alles, was Putin deutschen Volk abwenden müssen. Sehr rich-
und Entertainment, die Verachtung des de- jetzt tut, ist der Machterhalt. Putin braucht tig. Aber die kategorische Weigerung, der
kadenten Westens und der Besitz eines Apart- diesen Krieg, um seine Macht zu sichern. Ukraine jene Waffen zu liefern, die ihr wirk-
ments in Manhattan. Das geht alles zusammen. SPIEGEL: Als Putin vor 24 Jahren an die Macht lich helfen würden, sich zu verteidigen, er-
Auf Massenrepressalien im Stil der stalinschen kam, war Russland eine schwache Demokra- laubt es Putin, weiter zu eskalieren. Es sind
Säuberungen ist Putin nicht angewiesen, so- tie. Wann ist er falsch abgebogen? in diesem Augenblick die Ukrainerinnen und
lange er Einzelne mit chirurgischen Operatio- Schlögel: Putin hat früh begonnen, das System Ukrainer, die mit ihrem Leben dafür stehen,
nen ausschalten und vernichten kann. umzubauen. Er war nicht der Typ, den Unter- dass Schaden von Europa abgewendet wird,
SPIEGEL: Ist es überhaupt möglich, Ereignisse, gang der Sowjetunion als das Ende eines Im- auch von den Deutschen.
die sich vor unseren Augen entwickeln, ana- periums zu akzeptieren, das an seine Grenzen SPIEGEL: Wie weit müssen wir dafür gehen?
lytisch und historisch einzuordnen? gekommen war. Er hatte nicht das Format und Der ehemalige Außenminister Joschka Fi-
Schlögel: Es ist sehr schwierig, aber ich glaube, nicht das Interesse, Russland aus dem Imperium scher hat gerade europäische Atomwaffen
wir müssen es versuchen, um in der Ausein- gefordert und eine Wiedereinführung der
andersetzung begrifflich und analytisch dem Wehrpflicht. Halten Sie das auch für sinnvoll
Gegner gewachsen zu sein. Diese Ohnmacht und notwendig?
im Analytischen, die wir jetzt wieder beob- Schlögel: Ich gehöre zu einer friedensver-
achten, erinnert mich an die Dreißigerjahre »Er hat keine ­ wöhnten Generation. Wir hätten uns längst
des letzten Jahrhunderts. Unsere besten Köpfe,
die Philosophen der Frankfurter Schule Theo-
Vorstellung davon, wie darauf einstellen müssen, dass wir unsere Si-
cherheit nicht mehr gratis bekommen. Wir
dor Adorno, Max Horkheimer, der Polito- ein modernes, ­ müssen bereit sein, für die Verteidigung unse-
loge Franz Neumann im Exil haben darum
gerungen, eine Sprache für das zu finden, was
postimperiales Russland rer Freiheit und Lebensform im Ernstfall auch
militärisch einzustehen.
sich damals in Deutschland, in Europa an- ­aussehen könnte.« Interview: Ann-Dorit Boy n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 71


AUSLAND

Schlamm«, sagt Cardia. Aber das sei Rom eine neue Existenz aufbaute und
nicht schlimm. »Denn der Herrgott ver­ mit der Meldung für Aufsehen sorgte,
wandelt diesen Schlamm in Glorie.« dass ihre Madonnenstatue blutige
Fernsehteams filmen aus sicherer Tränen weine. Der Verdacht, dass es
Entfernung das Geschehen. Tageszei­ sich in Wahrheit um Schweineblut ge­
tungen melden ungläubig die jüngsten handelt habe, wurde damals weder
»Prophezeiungen« Marias, die immer bestätigt noch widerlegt: Die Polizei
am dritten Tag eines jeden Monats in ließ die verdächtige Flüssigkeit unter­
Trevignano zu Cardia sprechen soll. suchen, teilte das Ergebnis der Öffent­
Die Kirche hat den Kult ­zunächst lichkeit aber bis heute nicht mit.
geduldet und dann vorsichtig kriti­ Neun Monate lang ließ Bischof
siert. Anfang März kam es zum Bruch: Marco Salvi das Phänomen von einer
Erbittert streiten die Seherin und ihr Kommission analysieren. Ein psychia­
lokaler Bischof seither um die Frage, trisches Gutachten sollte klären, ob

Stephanie Gengotti / DER SPIEGEL


ob die mutmaßlichen Erscheinungen Cardia tatsächlich über seherische
nun authentisch sind oder nicht. Fähigkeiten verfüge. Jetzt stellte der
Ist es eine eher weltliche Lust am Bischof fest, dass es in Trevignano
Spektakel, die den jüngsten Marien­ keine übernatürlichen Erscheinungen
hype erklärt? Blitzt eine alte Fröm­ gebe. Die Aussagen der Signora seien
migkeit wieder auf? Oder geht es um »bizarr« und mit der katholischen
Orientierung in verwirrenden Zeiten? Lehre unvereinbar, heißt es in seinem
»Seherin« Cardia: »Ich werde keinen Millimeter weichen« Italien ist ein Land, in dem charis­ Bericht. Cardia, die mit dem SPIEGEL
matische Figuren auf ein dankbares nicht sprechen will, mag sich ihre
Publikum treffen. Silvio Berlusconi ­Visionen vom Bischof nicht verbieten
schuf mit einer Mischung aus Enter­ lassen. »Ich werde keinen Millimeter

Warten auf
tainment und einfachen Versprechen weichen«, sagte sie.
einen Personenkult, den später Mat­ Allein seit Anfang Januar meldete
teo Salvini und Giorgia Meloni imi­ sie auf ihrer Website bereits elf »Er­

Maria
tierten. Influencerinnen wie Chiara scheinungen«. Maria spricht offen­
Ferragni können eine fast grenzen­ sichtlich nicht nur am Monatsdritten
lose Bewunderung erleben. Immer ist zu ihr. »Meine lieben Kinder, legt
es eine Beliebtheit auf Zeit, bis ein euch Vorräte an«, soll eine Botschaft
neuer Superstar die Vorgänger über­ gelautet haben. »Der Krieg steht vor
ITALIEN Jeden Monat spricht die Gottesmutter strahlt oder Skandale deren Ruhm der Tür.« Italien, Frankreich und
erschüttern. Deutschland müssten am meisten da­
angeblich zu einer Ex-Keramikhändlerin bei Rom. Diese Begeisterungsbereitschaft für büßen, so will es Cardia vernom­
Fasziniert verfolgen viele die Prophezeiungen – will offenbar auch Cardia nutzen. Sie men haben. »Es wird schwer sein,
auch wenn sie nicht wahr werden. fordert die Kirche mit ihren Erzäh­ Lebensmittel zu finden.«
lungen ähnlich heraus wie Populisten Frühere Prophezeiungen wurden
die Vertreter jahrzehntealter Parteien. bisher ebenfalls nicht Wirklichkeit.

D
ie Sonne strahlt am See von Sie verführt mit Fake News eine von Es fiel kein Feuer vom Himmel, es
Bracciano, als auf einer Wiese verstaubten Glaubensritualen gelang­ stiegen keine Monster aus dem Meer,
hoch über dem Ufer die Got­ weilte Gesellschaft. und Rom wurde nicht durch ein Erd­
tesmutter erscheinen soll. Hunderte Auf der Wiese wird es still. Etwa beben zerstört.
Gläubige haben sich in Vorfreude ver­ eine Stunde lang hat die Menge ge­ Auf der Wiese warten die Marien-
sammelt. Was würde Maria diesmal sungen und ein Ave-Maria nach dem Fans geduldig, bis sich die »Seherin«
zu verkünden haben? anderen gemurmelt, als die »Seherin« wieder vom Boden erhebt und auf
Es ist ein Samstagnachmittag in plötzlich zu Boden sinkt und einige einem Zettel notiert, was sie gerade
Trevignano, einem Ausflugsort etwa Getreue einen blickdichten Schutz­ gehört haben will. Diesmal liest Car­
50 Kilometer nördlich von Rom. Hohe ring um sie bilden. Maria persönlich, dia eine ziemlich unspektakuläre Bot­
Zäune mit Überwachungskameras davon sind die Anwesenden über­ schaft vor. Die Menschen sollten ihre
schützen das Gelände, auf dem sich zeugt, erscheint in diesem Augenblick Herzen »für Gnade und Liebe öff­
Himmel und Erde begegnen sollen. Gisella Cardia und spricht zu ihr. nen«. Anscheinend gehen auch Got­
Medien sind dabei nicht gern ge­ Sollte dem so sein, dann hätte sich tesmüttern schon mal die Ideen aus.
sehen. Es reicht, das Telefon in die die Gottesmutter eine im biblischen Es wird Abend am See, vor der
Hand zu nehmen, schon eilen Auf­ Sinne durchaus passende Ansprech­ Kultstätte kommen die Leute ins Ge­
passer herbei, um Fotos und Aufnah­ »Meine partnerin gesucht. Komplizierte, spräch. »Echte Propheten unterschei­
men zu verhindern. lieben Kinder, schuldbeladene Charaktere enden den sich von falschen durch ihre Wer­
Um 14.30 Uhr ist es so weit. Gisel­ schließlich im Neuen Testament oft ke«, sagt Gabriella Salerno, eine Ju­
la Cardia tritt neben eine Madonnen­
legt euch als Gewinner. ristin aus Rom. Sie ist überzeugt, dass
skulptur und nimmt ein Mikrofon in Vorräte an. Auch Cardia war eine Sünderin. die Madonna von Trevignano Un­
die Hand. In Italien ist sie als die Der Krieg Auf Sizilien hatte sie einen kleinen gläubige bekehren und Kranke heilen
­»Seherin von Trevignano« bekannt. Keramikhandel betrieben, bevor sie könne. Eine Radfahrerin bleibt stehen
»Ihr seid nicht meinetwegen gekom­ steht vor der vor zehn Jahren wegen Insolvenz­ und lacht. Der »Seherin« gehe es doch
men, sondern wegen Maria«, begrüßt Tür.« betrugs verurteilt wurde. Aber dann nur um Geld, sagt Itala Lan­da­no, eine
sie ihr Publikum, bevor sie Luft holt Angebliches Zitat
gab es eine wundersame Wandlung pensionierte Postangestellte. »Was
und sich an die Journalisten wendet. von Maria, in ihrem Leben. Die angeblichen Er­ für ein Zirkus.«
»Wer im Schlamm lebt, wirft mit ­Gottesmutter scheinungen begannen, als sie sich bei Frank Hornig n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 72


SPORT Bis heute hat noch keine
Frau diese Sprünge in einem Männer Frauen
internationalen Wettkampf
gestanden.
Vierfacher Axel 12,50
2020
Alexandra Trussowa
Russland
Vierfacher Rittberger 10,50
Vierfacher Flip 11,00

Sprunghafte Entwicklung Vierfacher Lutz 11,50 2010

Bei internationalen Wettbewerben


erstmalig gestandene Vierfachsprünge
mit Schwierigkeitsniveau,
nach Geschlecht
2000

Vierfacher Salchow 9,70


2002
gelang mit Miki Ando
aus Japan erstmals
1990
einer Frau ein
Vierfacher Toeloop 9,50 vierfacher Sprung.

S Quelle: ISU


Die Eiskunstlauf-Weltmeisterschaften in Montreal ab dem 18. März dürften ein Spektakel der Sprungartisten und -artistinnen werden. Zu Zeiten
von Katarina Witt in den Achtzigerjahren war ein gestandener Dreifach-Flip etwas Besonderes bei den Frauen. Bis heute gibt es nur sehr
wenige Athletinnen, die einen Vierfachsprung stehen können. Bei den Männern dagegen werden diese Elemente des höchsten Schwierigkeits-
niveaus öfter gezeigt.

HALL OF FAME präsentiert sich in den sozialen ­ ugelte sich die Schulter aus.
k
Medien mal mit Videoclips Zwei Wochen später raste seine
Mikaela Shiffrin, aus dem Urlaub oder von einer
Silvesterfeier, mal mit Filmen
Freundin mit einer Geschwin­
digkeit von fast 100 Kilometern
Skirennläuferin vom gemeinsamen Training.
Zu sehen sind zwei Athleten,
pro Stunde in einen Fangzaun.
Sechs Wochen lang konnte
die die Grenzen ihres Sports aus­ Shiffrin kein Rennen fahren.
Der alpine Skirennsport kämpft eingefahren. Ein einsamer Re­ loten – und dabei auch schei­ Die beiden besuchten sich
mit schlechten Zukunftsaus­ kord. Bereits vor dem Saison­ tern. Kilde stürzte im Januar bei gegenseitig im Krankenhaus,
sichten. Gletscher schmelzen, finale, das an diesem Wochen­ der Lauberhorn-Abfahrt in absolvierten gemeinsam das
Pisten tauen infolge der Erd­ ende in Saalbach-Hinterglemm Wengen, erlitt eine Schnittwun­ Reha-Training. In einem Inter­
erwärmung. Die internationale beginnt, stand die Olympia­ de am Unterschenkel und view erzählten Shiffrin und
Rennserie des Weltverbands siegerin und Weltmeisterin zum Kilde, dass sie diskutiert hätten,
Fis wurde dieses Jahr durch achten Mal als Gewinnerin der mit dem Skilaufen aufzuhören.
Wetter­kaprio­len durcheinan­ Gesamtwertung im Slalom fest – »Es gibt immer die Belastung,
dergewirbelt. Zudem verliert obwohl sie bei einigen Rennen dass ein Sturz nicht nur deine
der Profizirkus an Bedeutung, wegen einer Verletzung gar Karriere beenden, sondern
weil es an Stars mangelt, die nicht hatte teilnehmen können. lebens­verändernde Verletzun­
die Massen elektrisieren. Shiffrin, 29, ist ein Phäno­ gen mit sich bringen kann«,
Schon seit Jahren wird die men, sie ist talentierter, diszi­ sagte Shiffrin. »Das ist ein
mikaelashiffrin / Instagram

Show der besten Skifahrer der plinierter und fleißiger als die ziemlicher Rucksack.«
Welt im Prinzip allein von der Konkurrenz. Entertainment Aber beide machen weiter.
Strahlkraft der Seriensiegerin liefert sie auch abseits der Kilde will kommende Saison
Mikaela Shiffrin aus Colorado Wettkämpfe durch ihre Bezie­ wieder in der Abfahrt starten,
getragen. Die Amerikanerin hung mit dem norwegischen Shiffrin gab Anfang März im
hat in ihrer Karriere 96 Welt­ Spitzenskirennläufer Aleksan­ schwedischen Are ihr Come­
cupsiege im alpinen Rennsport der Aamodt Kilde. Das Paar Kilde, Shiffrin back im Slalom. Sie gewann. GP

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SPORT

Schatten der Vergangenheit


VEREINE Mit einem Sparprogramm versucht die neue Führung, Schalke 04 wieder auf Kurs zu bringen. Gleichzeitig
führt sie einen Machtkampf mit dem früheren Klubpatron Clemens Tönnies. Von Marc Hujer und Thilo Neumann

B
evor er sich in den Familien-Van setzt, zur Theatralik. Vom Manager Rudi Assauer hohen Rückstand seiner Mannschaft einmal in
um von seinem Haus in seiner Heimat- etwa, einem Macho alter Schule, in dessen der Halbzeitpause in die ­Kabine gerufen wor-
stadt Hagen zur Arena nach Gelsen- Zeit die Arena gebaut wurde, der Stolz einer den sein soll und vor Empörung ein Trikot zer-
kirchen zu fahren, vorbei an einer geschlos- mit Prestigebauten nicht gerade verwöhnten rissen habe, um die Spieler wachzurütteln. Wer
senen Zeche und einem Schrottplatz, geht Region. Oder von Jürgen W. Möllemann, so schlecht spiele, habe es nicht verdient, das
Axel Hefer noch schnell in den Keller. Er be- einst Staatsminister, Bundesminister, Vize- Schalker Trikot zu tragen, soll er gerufen haben.
wahrt dort seine Schals von Schalke 04 auf. kanzler, der 2001 mit dem Fallschirm vor dem Man würde Tönnies gern selbst dazu hö-
Er hat eine kleine Sammlung davon. Einen letzten Punktspiel im alten Parkstadion lan- ren, aber er will sich nicht zitieren lassen.
blau-weiß gestreiften, »so wie ihn mir meine dete und erst Verwaltungsrats-, dann Auf- Hefer schaut nach vorn auf die Straße. Es
Oma früher gestrickt hat«. Einen Schalke- sichtsratsmitglied bei Schalke war. ist viel los, der öffentliche Nahverkehr wird
Nürnberg-Freundschaftsschal, »sicher 20 Jah- Und natürlich von Clemens Tönnies, dem an diesem Freitag in Nordrhein-Westfalen be-
re alt«. Und einen Erinnerungsschal an den Fleischunternehmer aus Rheda-Wiedenbrück. streikt, aber Hefer ist rechtzeitig losgefahren.
Uefa-Cup-Sieg 1997, der leicht fusselig sei, Fast 20 Jahre lang lief auf Schalke so gut wie Er will sichergehen, dass er pünktlich kommt.
weil ihn seine Frau ein paar Mal gewaschen nichts ohne ihn. Er ließ sich 1994 nach dem Er nimmt die A 45 Richtung Norden.
habe. Sie lege Wert auf saubere Schals. Tod seines Bruders Bernd Tönnies, der bis da- Hefer spricht über das bisher letzte Heim-
Hefer überlegt, welchen er heute tragen hin Vereinspräsident gewesen war, in den Auf- spiel gegen St. Pauli im Mai 2022. Es war die
soll, an einem so wichtigen Abend, als Auf- sichtsrat wählen, und war von 2001 an dessen entscheidende Partie im Kampf um den Auf-
sichtsratsvorsitzender von Schalke 04. Vorsitzender, bis er während der Coronapan- stieg in die Bundesliga, ein »Jahrhundert-
Es ist Freitag, der 1. März, zwei Drittel der demie 2020 zurücktrat, um sich stärker auf spiel«, wie er es nennt. Schalke lag zur Halb-
Saison sind gespielt, und Schalke 04 steht nicht sein Unternehmen zu konzentrieren. Es war zeit 0:2 zurück, gewann dann aber noch mit
etwa auf einem der Aufstiegsplätze, sondern wegen mangelnder Hygienemaßnahmen und 3:2. »Nie mehr zweite Liga«, sangen die Fans.
auf Platz 14 in der zweiten Liga, nahe der Ab- verheerender Arbeitsbedingen in die Kritik Hefer überlegt, ob er den Schal, den er
stiegszone. Und dann ist an diesem Abend geraten, auch bei den Fans von Schalke 04. heute trägt, auch damals getragen habe. Er
noch Tabellenführer FC St. Pauli zu Gast. Für Tönnies war es besser, nicht mehr je- erinnert sich nicht. »Ich muss da mal die Fotos
Auf Hefers Küchentisch liegt der Sportteil den Tag in der Zeitung zu stehen. anschauen, dann kann ich das sagen«, sagt er.
der »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung«. Bis heute kursieren Geschichten über ihn Er ist kein Geschichtenerzähler, sondern
»Mehr als nur 22 Punkte Unterschied«, lautet und seinen Führungsstil. Wie er etwa einen einer, der sich an Fakten orientiert.
die Überschrift. »Schalke-Gegner St. Pauli seiner Stürmer zur Seite genommen haben soll, »Vermutlich«, sagt er über den damaligen
steht in jeder Hinsicht dort, wo die Königs- der länger kein Tor geschossen hatte, ihm bei Sieg gegen St. Pauli, »kam der Wiederaufstieg
blauen stehen wollten.« Er habe den Text nur einem gemeinsamen Spaziergang gut zuredete, zu früh.« Das Team sei noch nicht reif gewe-
überflogen, sagt Hefer. Artikel über Schal- aber dann erklärte: »Und am Samstag machst sen, in der Bundesliga bestehen zu können,
ke 04 tun dieser Tage weh. du mir zwei Tore, klar?!« Oder wie er bei einem weshalb auf den Wiederaufstieg 2022 gleich
Von einem schnellen Aufstieg in die Fuß- der Wiederabstieg 2023 folgte. Es klingt über-
ballbundesliga ist in dieser Saison jedenfalls raschend nüchtern, wenn er das sagt.
längst keine Rede mehr. Stattdessen von der Tönnies hätte nie so gesprochen. Für ihn,
Befürchtung, Schalke könne in einen Ab- heißt es, sei Fußball zu 80 Prozent Emotion.
wärtsstrudel geraten und in der Bedeutungs- In seiner Gefühlswelt passen Schalke 04 und
losigkeit verschwinden. die zweite Liga nicht zusammen.
Hefer kommt aus seinem Keller. Lange Zeit gab der Erfolg Tönnies recht.
Er hat sich für den Uefa-Cup-Schal von Während seiner Regentschaft gewann Schal-
1997 entschieden. Er trägt dazu einen dunklen ke zweimal den DFB-Pokal und wurde vier-
Kurzmantel und weiße Sneakers. »Können mal deutscher Vizemeister, zuletzt 2018. Zwei
wir losfahren?«, fragt er. Jahre darauf verließ Tönnies den Verein, ein
Seit zweieinhalb Jahren führt Axel Hefer weiteres Jahr später übernahm Hefer.
Schalke 04, einen Verein, der wie kaum ein Doch einer wie Clemens Tönnies ver-
anderer in Deutschland von Emotionen lebt, schwindet nicht einfach so. Wenn Schalke
von Erinnerungen. Doch seitdem Hefer im dieser Tage verliert, rufen seine Anhänger
Amt ist, seitdem er versucht, diesen Verein mit wieder nach ihm. Dann fragen die Zeitungen:
seinen rund 180.000 Mitgliedern nüchtern zu Muss Tönnies nicht zurückkommen?
Ralf Ibig / firo Spor tphoto

steuern, mit kühlem Kopf statt großem Pathos, »Dilettanten 04! Ohne Tönnies geht es
hat Schalke öfter verloren als gewonnen. Kann nicht«, schreibt die »Bild«-Zeitung Ende Fe-
man Schalke mit Sachlichkeit führen? bruar, drei Tage vor dem Spiel gegen St. Pauli,
In der Vergangenheit wurde der Verein von nach einer 0:3-Niederlage in Magdeburg.
großen Persönlichkeiten geprägt, von Män- Die Empörung wird befeuert von einer
nern mit ausnehmendem Ego und mit Hang Schalke-Aufsichtsratschef Tönnies 2018 Gruppe, die aus einem Dutzend, vielleicht

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SPORT

Dominik Asbach / DER SPIEGEL

Wandbild am Schalker Trainingsgelände mit Vereinsgrößen: Ein Klub, der von Erinnerungen lebt

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SPORT

auch 20 Personen besteht, alles Män- ratskollege erwidert: »Wir sind hier
ner. Ex-Trainer und Aufsichtsräte sind Schalkes Talfahrt doch nicht bei McKinsey!«
dabei, Sponsoren und Mitglieder, »Ja«, habe sich Hefer gedacht,
Vertreter der alten Schalker Garde, Platzierungen in Erster und Zweiter Bundesliga, nach Saison* »und genau das ist das Problem.«
viele über 60, der ehemalige Coach 2.
Er lacht, wenn er davon erzählt,
Peter Neururer etwa, der langjährige 3. auf der Autobahn 45. Er fährt auf das
Mannschaftsarzt und Ex-Aufsichtsrat 5. Kreuz Dortmund-Nordwest zu, an
6.
Armin Langhorst, Ex-DFB-General- dem er auf die A 2 abbiegt, nicht nach
sekretär Helmut Sandrock und Cle- 10. Osten, wo es nach Rheda-Wieden-
mens Tönnies. Erste Liga 12. brück geht, zu Tönnies, sondern nach
Was die Gruppe zusammenhält, 14. Westen, Richtung Schalke.
ist nicht ganz klar, die Sehnsucht nach Sein Einfluss sei damals gering ge-
früheren, besseren Zeiten, alte Riva- 17. wesen, nicht er war Vorsitzender, son-
Abstiegsplätze 18.
litäten oder die Sorge um den Verein. dern Tönnies, der sich selbst gern als
Wenn man mit Mitgliedern der Grup- 2013/14 2015/16 2017/18 2019/20 1. »Souverän« gesehen haben soll, als
pe spricht, hört man viele Klagen, viel * jeweils am letzten Spieltag, Saison 23/24: 25. Spieltag Aufstiegs- einer, der über allen Dingen schwebt,
Kritik, aber nur vage Andeutungen, S Quelle: Kicker plätze ohne immer direkt eingreifen zu müs-
‹

wie es anders laufen soll. sen. Hefer bekam einen Posten als
Wenn Schalke verliert, findet sich te so nicht. Das gilt auch für einen Zweite Liga Belegprüfer, was sich zwar wichtig
in der Regel mindestens einer aus der Fußballverein.« 14. anhörte, von großen Entscheidungen
Gruppe, der öffentlich die Vereins- 2014, bevor Hefer zum ersten Mal aber habe er immer erst erfahren,
führung kritisiert. in den Aufsichtsrat gewählt wurde, Abstiegsplätze wenn sie bereits getroffen waren.
Sie böten nur ihre Hilfe an, aus habe er sonntags beim Frühstück »Es wurde sehr schnell deutlich,
2021/22 2023/24
Sorge um den Verein, heißt es aus der ­gesessen und von Satzungsänderun- dass wir sehr unterschiedliche An-
Gruppe. Sie wollten Hefer und seine gen gelesen, die die damalige Ver- sichten hatten«, sagt Hefer über sein
Vertrauten stürzen, sagen die Kriti- einsführung beschließen wollte. Sei- Verhältnis zu Tönnies. Als Hefer
sierten. Sie seien eine Pro-Schalke- ner Ansicht nach hätten sie aber schließlich eine Kanzlei damit be­
Gruppe, sagen die einen. Sie seien »die Mitglieder de facto entmachtet«, auftragte, die Schalker Geschäftsord-
Opposition, die anderen. da habe er beschlossen, selbst zu nung zu prüfen, um zu klären, ob
Seit Monaten geht das so, ein ­kandidieren. auch er persönlich für Entscheidun-
Schattenkampf um Schalke 04. Hefer war damals 36, Partner in gen mithafte, an denen er als Auf-
Axel Hefer und Clemens Tönnies einem Private-Equity-Unternehmen sichtsratsmitglied gar nicht beteiligt
vereint wenig, weder die Generation und stand kurz vor dem Wechsel zu war, kam es zum Bruch. Hefer wurde
noch die Herkunft, die Hobbys, der einem Online-Möbelhaus, als Ge- für drei Monate suspendiert. Er zog
Style. Tönnies ist 67, Hefer 46, Tön- schäftsführer und Finanzchef. Er hat- dagegen vor Gericht und gewann.
nies ist gelernter Fleischtechniker, te ein MBA-Programm absolviert und Seitdem gilt er als »Tönnies-Kritiker«.
Hefer Diplom-Kaufmann, Tönnies bei der Unternehmensberatung Folgt man den Argumenten der
liebt die Großwildjagd, Hefer verach- McKinsey gearbeitet. Und wenn er aktuellen Führung, spielt Schalke
tet sie. Wenn Clemens Tönnies ins eins zu verstehen glaubte, dann, wie heute in der zweiten Liga, weil der
Stadion geht, trägt er gern Anzug, man ein Unternehmen zu führen hat. Verein in den vergangenen Jahren zu
Hefer bevorzugt Freizeitlook. Nach seinen ersten Aufsichtsrats- viele Schulden angehäuft und nicht
Es gibt ein Foto, das häufig in den sitzungen 2014, bei denen er einen abgebaut hat. Derzeit sind es Ver-
Medien auftaucht, wenn die Krise Einblick bekam, wie Schalke geführt bindlichkeiten von rund 165 Millio-
auf Schalke, der Machtkampf zwi- wurde, habe er gedacht: genau so nen Euro, die es dem Verein gegen-
schen der alten und der neuen Gene- eben nicht. Es habe keine Strategie wärtig nicht erlauben, bessere Spieler
ration wieder thematisiert werden. gegeben, keine verbindliche Budget- Aufsichtsrats­ zu kaufen oder zu beschäftigen. Unter
Darauf steht Tönnies schräg hinter planung, keine Kennzahlen, anhand vorsitzender Hefer: Tönnies habe Schalke Geld ausge­
»Wir wollen, dass
Hefer auf der Tribüne bei einem Aus- derer Erfolg gemessen worden wäre, die Emotionen so
geben, das der Verein eigentlich nicht
wärtsspiel in München. Hefer kann so erinnert er sich. Als er das ange- weit wie möglich hatte, er habe über seine Verhältnisse
sich kaum vorstellen, dass dies ein sprochen habe, habe ein Aufsichts- ­objek­tiviert werden« gelebt. Das räche sich jetzt.
echtes Foto ist, sagt er, er könne sich »Unser großer Fehler war, dass wir
nicht an die Situation erinnern. Tön- jahrelang den kurzfristigen sport­
nies und er so nahe beieinander, das lichen Erfolg über Nachhaltigkeit
sprengt offenbar seine Vorstellungs- ­gestellt haben«, sagte Christina Rühl-
kraft. Hamers, im Vorstand für die Finan-
Über Tönnies sagt Hefer: »Was zen zuständig, 2021 auf der Mitglie-
unser Führungsverständnis angeht, derversammlung. Sie nannte es eine
sind wir auf den entgegengesetzten Wette auf die Zukunft, die verloren
Seiten des Spektrums. Er ist extrem gegangen sei. Tönnies und sein lang-
old school, sehr paternalistisch, er ist jähriger Finanzchef Peter Peters setz-
der Chef und diktiert nach unten ten auf Wachstum durch Fremdkapi-
Dominik Asbach / DER SPIEGEL

runter – was wahrscheinlich in einem tal, der Verein nahm ein Darlehen
Schlachtbetrieb, wie er ihn betreibt, nach dem anderen auf, bei Banken,
auch notwendig ist, weil man sonst aber auch bei Tönnies selbst, der
diese Menschenmassen gar nicht ge- Schalke bis zu 90 Millionen Euro ge-
managt kriegt. Bei einem modernen liehen haben soll.
Technologieunternehmen geht das Der Erfolg blieb aus. Trainer,
aber nicht, da bekommt man die Leu- Sportdirektoren, Spieler kamen und

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SPORT

gingen, nichts wurde besser. Stattdessen


rutschte Schalke ins Mittelfeld der Liga ab,
verlor während der Coronapandemie weite-
re Einnahmen, und die ohnehin labile Finanz-
lage verschärfte sich. Das Land Nordrhein-
Westfalen half Schalke 04 schließlich mit der
Bürgschaft für einen 35-Millionen-Euro-Kre-
dit. »Wenn man heute zurückblickt, dann
kann man natürlich faktisch sagen, dass viel
zu viel Geld ausgegeben wurde für zu wenig
Ertrag«, sagte Rühl-Hamers 2022 der »FAZ«.
Danach empörten sich Kritiker in einem
Schreiben an Axel Hefer über Rühl-Hamers’
Aussagen und stellten ihre Eignung als Vor-
standsmitglied infrage. »Eine ernsthafte Kri-
se zeigte sich erst nach Beginn der Corona

Dominik Asbach / DER SPIEGEL


Pandemie und nach dem Ausstieg des Vor-
gängers von Christina, Peter Peters, sowie
von Clemens Tönnies nach Saisonabschluss
in 2020. Abstieg und wirtschaftliche Krise
kamen erst danach, also unter Verantwortung
von Christina (sowie auch von Dir).« Über-
schrieben ist das Schreiben mit »Stellungnah- Schalke-Fans beim Spiel gegen den FC St. Pauli Anfang März: »Nie mehr zweite Liga«
me ehemaliger Mitglieder des S04-Aufsichts-
rates zur aktuellen Lage des Vereins«. ist auf Schalke mittlerweile nahezu unsichtbar. nicht anders zu helfen weiß, als den Ball ins
Ex-Aufsichtsrat Armin Langhorst erklärte Angeblich sind im Schalke-Museum inzwi- Seitenaus zu schlagen, erheben sich die Schal-
gegenüber dem SPIEGEL , dass er den Inhalt schen sogar Bilder abgehängt worden, die ker Fans und peitschen ihre Mannschaft nach
des Schreibens kenne und »die darin geäu- Tönnies zeigen. Hefer sagt, es seien tatsäch- vorn. Plötzlich ist wieder beste Stimmung.
ßerten Sorgen und Nöte … vollumfänglich lich einige Bilder im Museum entfernt wor- Ein 20-jähriger Leihspieler schießt das 1:0
nachvollziehen« könne. Zudem beklagte er den, allerdings nicht wegen Clemens Tönnies, und auch das 2:0. Das dritte Schalker Tor fällt
»den rasanten sportlichen Abstieg, der seitens sondern weil auf einigen Bildern der ehema- in der Nachspielzeit, Schalke gewinnt 3:1. Auf
der Verantwortlichen ständig nur mit dem lige Sponsor Gazprom zu sehen war. Von dem den Rängen werfen Fans Bierbecher in die
gebetsmühlenartig wiederholten Narrativ von hatte sich Schalke nach dem Überfall Russ- Luft, die Ersatzspieler laufen von der Seiten-
den sog. ›Altlasten‹ bedient wird«. lands auf die Ukraine getrennt. Der Verein linie über den halben Platz, um den Torschüt-
Als Hefer 2021 den Vorsitz des Aufsichts- bestätigt diese Darstellung. zen zu umarmen. Es wirkt, als hätten sich mit
rats übernahm, wenige Wochen nachdem die Immer wieder hört man aus dem Vereins- einem Schlag alle Sorgen erledigt.
Mannschaft in die zweite Liga abgestiegen umfeld Geschichten, dass Tönnies dem Klub In ihrer Loge in der Nordkurve liegen sich
war, sei die Lage auf Schalke »existenzbedro- helfen wollte mit seinem Unternehmen und die Aufsichtsräte in den Armen. Es ging auch
hend« gewesen, sagt er. »Wir hatten einen seinem Geld. Dass er etwa vorübergehend als um ihren Kurs. Am Ende zählt im Sport der
Kader mit mehr als 80 Millionen Euro Perso- Trikotsponsor einspringen wollte, als Schalke Sieg. Nur der gibt einem recht.
nalkosten, und kein Spieler hatte im Vertrag den Vertrag mit Gazprom kündigte, dass er Wenige Minuten nach Abpfiff verlässt Axel
ein gesondertes Zweitligagehalt vereinbart. anbot, neue Spieler zu finanzieren, die Schal- Hefer die Loge, er muss seinen Sohn nach
Hätten wir die Kaderkosten nicht drastisch ke hätten helfen können, den Abstieg 2021 Hause bringen, der am nächsten Morgen ein
reduzieren können, wären wir vermutlich ir- zu verhindern. Aber aus dem Umfeld Hefers Fußballspiel hat. Und je länger er wartet, des-
gendwann bankrott gewesen.« Es war für heißt es, die Angebote seien nie konkret ge- to schlimmer wird der Verkehr. Er kann es
Hefer keine Alternative mehr, immer weiter wesen und im Fall des Trikotsponsoring­ sich nicht leisten, den Sieg ausgiebig zu feiern.
Schulden zu machen. »Irgendwann muss man vertrags auch viel zu spät gekommen, als Auf den Straßen vor dem Stadion staut sich
seine Verbindlichkeiten eben zurückzahlen.« Schalke schon Vivawest zugesagt hatte. bereits der Verkehr. Hefer ruft auf dem Han-
Hefer ist auf dem Parkplatz vor der Arena Tönnies habe seine Handynummer, sagt dy die Spielstatistik auf. Auf seine Initiative
angekommen. Er stellt seinen Van ab. Er muss Hefer, er könne ihn jederzeit anrufen. baute der Verein das eigene Datenteam aus.
schnell los, er hat vor dem Spiel noch ein paar Beim Spiel gegen St. Pauli spannen die »Wir wollen, dass die Emotionen so weit wie
Gespräche, Vorstände, potenzielle Sponso- Fans am Rand der Nordkurve ein Transparent möglich objektiviert werden«, sagt er. Daten
ren. Ein Spiel wie das gegen St. Pauli ist auch auf, auf dem »Redeverbot für senile alte Män- könnten den Blick auf ein Spiel, »das man ja
eine Chance. Es zieht mehr wichtige Leute ner!« steht, darunter unter anderem der nie komplett neutral schaut, so ein bisschen
an, als wenn Elversberg kommt. Name von Peter Neururer, dem ehemaligen zurechtrücken«, sagt Hefer.
Clemens Tönnies, der seine Loge trotz al- Schalke-Trainer und Mitglied der Männer- Er zeigt auf seinem Smartphone die Sta-
lem nicht aufgegeben hat, ist an diesem gruppe, die sich Sorgen um Schalke macht. tistik des vergangenen Spieltags mit dem 0:3
Abend nicht im Stadion. Er zeigt sich nur Hefer sitzt ebenfalls in der Nordkurve, gegen Magdeburg, er scrollt durch Grafiken
noch selten auf Schalke, vielleicht zwei-, drei- ­direkt über den Ultras, wo auf seine Initiative und Tabellen, Pass- und Zweikampfwerte,
mal pro Jahr. Die Kluft zwischen ihm und dem hin die Loge für die Aufsichtsratsmitglieder Expected Goals, die zu erwartenden Tore, ein
Verein wird immer größer. und ihre Gäste eingerichtet worden ist. Wert, der die Anzahl und Qualität der Ab-
Bis heute, so heißt es auf Schalke, schmerzt Er, direkt bei den Ultras, die mit Clemens schlüsse bemisst. Er liebt das, er diskutiert die
Tönnies sein unglamouröser Abgang als Auf- Tönnies nichts zu tun haben wollen. Man Statistiken mit seinem Sohn.
sichtsratschef, mitten in der Coronapandemie. kann das als ein Zeichen verstehen. Auf Hefers Handy treffen Nachrichten
Nach Rudi Assauer, dem langjährigen Mana- Schalke dominiert an diesem Abend über- ein. Siegesbeschwörungen. »Und hier, Nach-
ger des Vereins, wurde ein Platz vor dem Sta- raschend das Spiel. St. Pauli kommt kaum aus richt aus der Türkei, eine geballte Faust.«
dion benannt, andere Vereinsikonen zieren der eigenen Hälfte. Und als sich der Torwart Hefer lacht. Er liest weiter vor. »Wir sind
ein Wandbild am Trainingsgelände. Tönnies der Hamburger Mitte der ersten Halbzeit nicht tot.« n

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SPORT

Freitaucherin Cafolla

»Ich war so abgekoppelt von der Welt«

Predrag Vuckovic / extreme-photographer.com


EXTREMSPORT Die Apnoetaucherin Valentina Cafolla schaffte Ende Februar einen Rekord:
140 Meter unter der Eisdecke entlang mit nur einem Atemzug. Die Kroatin über die Stille des zugefrorenen
Sees, den »Titanic«-Song in Gedanken und Übungen, die jedem helfen, Stress zu reduzieren.

Als Cafolla, 26, am 23. Februar in den getaucht, nur mit einer Brille. Das Wasser im Cafolla: Als ich noch klein war, haben wir mit
­Antholzer See in Südtirol steigt, begibt sie sich Gesicht war sehr, sagen wir, erfrischend. Nach der Familie oft Reisen ans Meer unternom-
in eine Situation, vor der die meisten Men- 30 Metern hatte ich mich an die Kälte ge- men und sind mit dem Boot rausgefahren.
schen große Angst hätten. Die Sportstudentin wöhnt. Ich kam sehr schnell voran und war Meine Oma ließ dann Teller oder Töpfe ins
aus Zagreb taucht unter einer von Schnee be- ganz bei mir. Neben und hinter mir waren aus Wasser fallen, und mein Bruder, meine Cou-
deckten dicken Eisschicht entlang, 140 Meter Sicherheitsgründen noch Taucher mit Unter- sins und ich mussten danach tauchen. Wer
weit, ohne Pressluftflasche, mit nur einem wasser-Scootern, weitere Taucher machten kommt tiefer? Daraus haben wir einen Wett-
Atemzug. Als einzige Hilfe trägt sie eine Fotos und Videos, aber die habe ich gar nicht kampf gemacht. Der Gewinner durfte die
Monoflosse an den Füßen. Die Kroatin ist richtig wahrgenommen. Sachen behalten. Als ich acht Jahre alt war,
­Apnoetaucherin, ihr Sport ist auch bekannt SPIEGEL: Wie haben Sie sich in diesem Mo- tauchte ich schon 10 Meter tief. Mit 14 Jahren
als Frei­tauchen in die Länge oder in die Tiefe. ment gefühlt? schaffte ich 35 Meter, mit 16 Jahren tauchte
Im Antholzer See schafft Cafolla die Länge Cafolla: Ich war so abgekoppelt von der Welt, ich 40 Meter tief.
von 140 Metern und übernimmt wieder den es war erstaunlich. SPIEGEL: Was war Ihr tiefster Tauchgang?
Weltrekord. Diesen hatte ihr nur 36 Stunden SPIEGEL: Konnten Sie viel sehen? Cafolla: Etwa 45 Meter, da bin ich in der Nähe
zuvor die Japanerin Yasuko Ozeki entrissen. Cafolla: Es hatte vor meinem Tauchgang stark meiner Heimat Rovinj bis zum Grund ge-
geschneit. So kam kaum Licht durch das Eis, taucht, tiefer geht es dort nicht.
SPIEGEL: Frau Cafolla, 140 Meter in eiskaltem es war sehr dunkel. Nur durch die Löcher, durch SPIEGEL: Mit 18 Jahren fingen Sie mit dem
Wasser mit einem einzigen Atemzug, wie ma- die ich auftauchen konnte, fiel Licht in den See. sogenannten dynamischen Apnoetauchen
chen Sie das? SPIEGEL: Sie sagen, Sie haben sich von der an, Tauchen in der Strecke, nicht in der Tie-
Cafolla: Die Menschen nutzen oft nicht ihre Welt um Sie herum abgekoppelt. Wann haben fe. 2016 starteten Sie Ihren ersten Welt­
komplette Lungenkapazität. Beim Training Sie zurückgefunden? rekordversuch. Wie haben Sie sich darauf
für das Freitauchen lernt man, das gesamte Cafolla: Nach etwa 100 Metern. Dann musste vorbereitet?
Potenzial der Lunge auszuschöpfen. In Ruhe ich mich mehr anstrengen, stärker mit der Cafolla: Ich tauchte im Winter im Meer, um
und ohne Bewegung kann ich dadurch etwa Monoflosse schlagen und meine Herzfre- mich an kaltes Wasser zu gewöhnen. Und ich
fünf Minuten lang die Luft anhalten. quenz steigern. Bei 140 Metern tauchte ich machte Stresstraining. Ich versetzte meinen
SPIEGEL: Nehmen Sie uns mit auf Ihren Welt- durch das Loch im Eis auf und holte tief Luft. Körper in Stresssituationen, während ich die
rekord-Tauchgang! Nach einem solchen Tauchgang muss man Luft anhielt. Zum Beispiel eine Minute Luft
Cafolla: Als ich am See ankam, jubelten mir einen tiefen Atemzug nehmen, um nicht be- anhalten und dabei Kniebeugen absolvieren.
schon einige Leute zu. Dann stieg ich durch wusstlos zu werden. Ich habe ein Zeichen Das sollte meinen Tauchrhythmus unter dem
ein Loch im Eis ins ein Grad kalte Wasser. gegeben, dass es mir gut geht, und mir wurde Eis simulieren.
Dort habe ich etwa sechs Minuten lang Atem- angezeigt, dass ich den Weltrekord wieder SPIEGEL: Sie haben nie unter Eis trainiert,
übungen gemacht, um meine Herzfrequenz gebrochen habe. Ich war sehr glücklich. der Weltrekordversuch 2016 war die Premie-
auf etwa 50 Schläge pro Minute runterzu- SPIEGEL: Wann hat das mit dem Tauchen für re. Wie hat sich das angefühlt, als Sie ins
fahren. Dann ging es los. Ich bin ohne Maske Sie angefangen? ­Wasser stiegen?

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SPORT

Cafolla: Einfach unglaublich, denn es »Meine Oma sah bei Instagram, dass sie den Re- Cafolla: Dazu kann ich auch eine
hat mich an meine Jugend erinnert. kord gebrochen hat. Einerseits war Übung erklären. Man hält für eine
Früher bin ich oft durch Höhlen ge- ließ Teller ich glücklich, dass mich jemand so Minute die Luft an. Dann atmet man
taucht, da hatte ich auch immer eine oder Töpfe ins herausfordert, denn man kann sich anderthalb Minuten lang normal. Da-
Decke über meinem Kopf, das fühlte
sich unter dem Eis ganz ähnlich an.
Wasser fallen, nicht immer nur mit sich selbst mes-
sen. Andererseits stresste es mich
nach hält man die Luft für eine Minu-
te und 15 Sekunden an. Dann atmet
Hier war aber etwas anders als in den und mein auch, weil ich anfing, daran zu zwei- man wieder anderthalb Minuten nor-
Höhlen: Durch die Löcher im Eis fiel Bruder, meine feln, ob ich das schaffen würde. Wir mal. Die Zeit des Luftanhaltens stei-
Licht ins Wasser, das war wunder- organisierten also meinen erneuten gert man drei- oder viermal um je-
schön anzuschauen. Ich habe eine
Cousins und Rekordversuch. Am Abend davor weils 15 Sekunden, irgendwann geht
solche Ruhe gespürt. ich mussten konnte ich kaum schlafen, weil mein es nicht weiter. Fünf Minuten Pause.
SPIEGEL: Sie tauchten damals ohne danach Herz so schnell schlug. Danach hält man einmal die Luft bis
Pressluft in kaltem Wasser unter einer SPIEGEL: Wie haben Sie sich beruhigt? zum Maximum an. Das ist eine der
40 Zentimeter dicken Eisschicht. Wie ­tauchen.« Cafolla: Das war etwas seltsam. Am besten Übungen.
können Sie da Ruhe spüren? nächsten Morgen hat sich meine Stim- SPIEGEL: Ihr Weltrekord fand in
Cafolla: Bei der Organisation war et- mung komplett verändert, von jetzt einem See statt, aber am liebsten tau-
was schiefgelaufen. Deswegen war auf gleich. Ich habe mich fokussiert chen Sie im Meer. Warum?
schon vor dem Tauchgang klar, dass und kam zu einer Ruhe, die ich so Cafolla: Als Achtjährige zeigte mir
mein Weltrekord nicht anerkannt noch nie zuvor gespürt habe. mein Vater beim Tauchen einen gro-
werden würde. Vielleicht ist dadurch SPIEGEL: Sie haben von Atemübun- ßen Fisch, eine Bernsteinmakrele, die
etwas Druck abgefallen, ich habe ein- gen gesprochen, die Sie zur Beruhi- viel größer war als ich damals. Seit-
fach den Moment genossen. gung machen. Welche ist besonders dem wollte ich immer tiefer tauchen
SPIEGEL: Woran dachten Sie damals effektiv? und sehen, was das Meer da unten
unter dem Eis? Cafolla: Am besten legt man sich be- noch zu bieten hat.
Cafolla: Ich habe in Gedanken diesen quem hin. Eine Hand auf den Brust- SPIEGEL: Hatten Sie keine Angst da-
»Titanic«-Filmsong »My Heart Will korb, eine Hand auf den Bauch. Dann vor, was dort in der Tiefe auf Sie war-
Go On« gesungen. atmet man so, dass sich nur die Hand ten könnte?
SPIEGEL: Warum? auf dem Bauch auf und ab bewegt, Cafolla: Nein, nie. Das Meer strahlt
Cafolla: Um mich zu beruhigen und aber nicht die Hand auf dem Brust- eine große Ruhe für mich aus, das
nicht daran zu denken, dass ich Luft korb. Das Ausatmen sollte doppelt habe ich immer gemocht. Ich mache
holen muss. Das hat mir geholfen, so lange dauern wie das Einatmen. auch Gerätetauchen mit Luftflaschen
mich zu fokussieren. Das ist eine der besten Übungen, die und arbeite als Tauchlehrerin. Ich
SPIEGEL: Welches Lied haben Sie bei man machen kann. Sie stimuliert das kann mit den Schülern 100-mal an
Ihrem neuen Weltrekordversuch im parasympathische Nervensystem des derselben Stelle im Meer tauchen, es
Februar im Kopf gesungen? Körpers, das vorwiegend für die Er- ist immer anders.
Cafolla: Vor dem Tauchgang habe ich holung und den Aufbau von Energie- SPIEGEL: Haben Sie einen Lieblings-
in Dauerschleife Eminem gehört: reserven zuständig ist. ort zum Tauchen?
»Lose Yourself« und »Not Afraid«. SPIEGEL: Kann das auch im Alltag hel- Cafolla: Ich will eines Tages an den
Aber unter Wasser singe ich mittler- fen? Ort zurückkehren, an dem mein Vater
weile keine Lieder mehr in Gedan- Cafolla: Das hilft bei jeder Art von mir die Bernsteinmakrele gezeigt hat.
ken. Wenn ich heute tauchen gehe, Extremsportlerin Stress. Ich habe solche Übungen zum Denn in diesen Ort habe ich mich ver-
ist mein Kopf wie ausgeschaltet. Ich Cafolla bei ihrem Beispiel auch vor Prüfungen im Stu- liebt. Damals war ich zu jung, die
bin reifer geworden. Weltrekordversuch dium gemacht. 50 Meter bis zum Grund zu tauchen.
über 140 Meter
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? im Antholzer See SPIEGEL: Und wie trainiert man, län- Aber heute würde ich das schaffen.
Cafolla: Ich nehme an Tauchwettbe- Ende Februar ger die Luft anhalten zu können? SPIEGEL: Haben Sie schon Pläne,
werben wie der Weltmeisterschaft Ihren Weltrekord noch einmal zu
teil. Das hat mich mental stärker ge- ­verbessern?
macht. Aber es hat auch einfach da- Cafolla: Nein. Aber schon bei mei-
mit zu tun, dass ich erwachsener wer- nem letzten Versuch hätte ich auch
de. In meiner Jugend habe ich mir 150 Meter weit tauchen können,
sehr viele Gedanken darüber ge- wenn da ein Loch im Eis gewesen
macht, was andere über mich denken. wäre. Im Schwimmbad, wo ich zu-
Jungs haben eine Rolle gespielt, die meist trainiere, schaffe ich 200 Meter.
Schule. Heute mache ich mir viel Ich bin optimistisch, dass ich den
­weniger Druck. Ich kann besser los- Weltrekord noch ausbauen könnte.
lassen, wenn ich etwas nicht kontrol- Hoffentlich bricht ihn jemand anders
lieren kann. vorher. Das wäre für mich eine große
SPIEGEL: 2017 tauchten Sie unter Eis Motivation.
Predrag Vuckovic / extreme-photographer.com

125 Meter weit, Ihr erster Weltrekord. SPIEGEL: Würden Sie dann wieder
Ende Februar stellte die Japanerin versuchen, den Weltrekord innerhalb
Yasuko Ozeki eine neue Bestmarke von nur 36 Stunden zurückzu-
auf. Sie aber benötigten nur 36 Stun- erobern?
den, um sich den Rekord mit 140 Me- Cafolla: Es tut mir leid für Yasuko
tern zurückzuholen. Hatten Sie nur Ozeki, dass sie den Rekord nur so
darauf gewartet, dass jemand Sie kurz hatte. Beim nächsten Mal würde
­herausfordert? ich mir mehr Zeit lassen. Eine Woche
Cafolla: Es war Zufall. Ich lag abends vielleicht.
im Bett, schaute auf mein Handy und Interview: Florian Pütz n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 79


SPORT

Eine Woche nach Erscheinen des Inter-


views nahm sich Kasia Lenhardt das Leben,
in einem Apartment an der Spree, das Jérôme
Boateng für sie beide gemietet hatte. Es war
der 9. Februar 2021, der 6. Geburtstag ihres
Sohnes. Sie wurde 25 Jahre alt.
Einen Monat nach ihrem Tod, im März
2021, schrieb die Mutter von Jérôme Boateng
die E-Mail an die Berliner Anwältin, die eine
Ex-Freundin von Boateng vertritt.
Der SPIEGEL recherchiert und berichtet
seit 2021 zum Tod von Kasia Lenhardt und
zu Gewaltvorwürfen gegen Jérôme Boateng.
Seine Anwältin schrieb 2021, ihr Mandant
lege Wert auf die Feststellung, dass er Kasia
Lenhardt »zu keinem Zeitpunkt körperlich
angegriffen« habe. Dies wiederholt sie auf
SPIEGEL -Anfrage im März 2024. Weiter
schreibt sie: »Unserem Mandanten ist es auf-

»Keine Sorge ich


grund laufender Verfahren derzeit nicht mög-
lich, auf Ihre Fragen im Detail einzugehen.
Daher grundsätzlich: Sie sind in weiten Teilen

werde niemals gegen


schlicht falsch informiert; darüber hinaus wer-
den Sie offenbar nur mit selektiven Informa-
tionen versorgt.«

dich vorgehen !!!«


Der SPIEGEL rekonstruiert jetzt in einem
Podcast mit dem Titel »Die Akte Kasia Len-
hardt« in sechs Folgen die Hintergründe des
Falls.
JUSTIZ Vor drei Jahren nahm sich Kasia Lenhardt, ehemalige Katarzyna Lenhardt, kurz Kasia, kam als
kleines Mädchen gemeinsam mit ihrer Mutter
­ andidatin bei »Germany’s Next Topmodel« in Berlin das Leben. Sie
K aus Polen nach Deutschland. Mit 16 machte
war die Ex-Freundin von Jérôme Boateng. Jetzt liegen dem SPIEGEL sie bei der TV-Show »Germany’s Next Top-
Chatnachrichten vor, in denen sie dem Profifußballer Gewalt vorwirft. model« (»GNTM«) mit und war im Finale.
[M] DER SPIEGEL

Sie kam aus einer wohlhabenden Familie, die


Warum hat sie bis zu ihrem Tod darüber öffentlich geschwiegen? eine Villa im Westen der Hauptstadt bewohnt.
Sie studierte Wirtschaftspsychologie, jobbte
in Klamottenläden auf dem Berliner Ku’-
»Es tut mir weh, alle Träume und Pläne mit wurde Weltmeister und zu Deutschlands Fuß- damm und verdiente ihr Geld als Model und
dir zu begraben und mir einzugestehen, dass baller des Jahres gewählt. Influencerin. Als sie Anfang 2018 Jérôme
es vorbei ist, aber es tut nicht annähernd so Vielen Menschen galt Jérôme Boateng als Boateng kennenlernte, war sie 22.
doll weh wie die Erfahrungen, die ich mit dir Vorbild. Seine Geschichte war die eines klei- Bei dieser Recherche wurde mit Einwilli-
gemacht habe.« nen Jungen, der es geschafft hatte vom Ber- gung der Hinterbliebenen das iPhone, das
Kasia Lenhardt in einer Nachricht an liner Bolzplatz bis zum Multimillionär. Vom Kasia Lenhardt in den letzten Monaten bis
Jerôme Boateng am 1. Februar 2021 Bordstein bis zur Skyline. Im Berliner Stadt- zu ihrem Tod nutzte, digital-forensisch unter-
teil Wedding ziert sein Gesicht eine Haus- sucht und mehr als 25 Stunden Audionach-

A
m 25. März 2021 geht eine E-Mail bei wand. Darauf der Satz: Gewachsen auf Beton. richten ausgewertet. Der Podcast stützt sich
einer Berliner Anwältin ein. Die Ab- Eine Geschichte wie aus einem Märchen. auf bislang unveröffentlichte Aussagen von
senderin ist die Mutter von Jérôme Aber seit 2021 haben die Nachrichten über Kasia Lenhardt, neue Dokumente, Akten,
Boateng. In diesem Schriftstück, das dem Jérôme Boateng nichts Märchenhaftes mehr klinische Befunde, eidesstattliche Versiche-
SPIEGEL vorliegt, schreibt sie: »Seit Jahren und wenig mit seiner Leistung auf dem Platz rungen und Aussagen aus Boatengs engstem
misshandelt mein Sohn Frauen psychisch und zu tun. Im Februar 2021 gab er ein »Bild«- Umfeld. Diese Dokumente sowie die Ermitt-
physisch, jetzt hat sich Kasia Lenhardt das Interview, in dem er seiner Ex-Freundin Ka- lungsakte zu ihrem Tod erhärten den Vorwurf
Leben genommen und er will immer noch sia Lenhardt vorwarf, dass sie ihn in der Be- der Partnerschaftsgewalt in der Beziehung
nicht die Konsequenzen für sein Verhalten ziehung erpresst habe. Es war ein ungewöhn- von Kasia Lenhardt und Jérôme Boateng.
tragen.« lich persönliches Interview, in dem Boateng Laut den Chatnachrichten, die dem
Jérôme Boateng, 35, ist einer der be­ harte Vorwürfe erhob. Er unterstellte Kasia ­S PIEGEL vorliegen, warf Kasia Lenhardt 2019
rühmtesten Fußballspieler der Welt. Er war Lenhardt ein Alkoholproblem und warf ihr Jérôme Boateng erstmals Gewalt vor und leg-
lange Zeit ein herausragender Innenvertei- vor, ihn damit bedroht zu haben, seine Kar- te nahe, bei der Polizei Anzeige gegen ihn
diger. Dank seiner 1,92 Meter Körpergröße riere zu zerstören oder ihm seine Kinder zu erstatten zu wollen. Dazu kam es laut
gewann er viele Kopfballduelle, an seiner nehmen, wenn er sie betrüge oder sie öffent- ­S PIEGEL -Informationen aber nicht.
mächtigen Statur kamen nur wenige Angrei- lich bloßstelle. In ihren Nachrichten aus dieser Zeit schil-
fer vorbei, und trotz seiner Masse konnte Das Interview wurde vom Deutschen Pres- dert sie einen Vorfall, der sich während des
Boateng schneller sprinten als andere Fuß- serat gerügt. Medienrechtler stuften es als Oktoberfests 2019 in München abgespielt
baller. rechtswidrig ein, sprachen von Verleumdung. haben soll: »Leider hat er meinen linken Dau-
Zehn Jahre lang spielte Boateng beim FC In sozialen Medien wurde Kasia Lenhardt men fast gebrochen«, sagt Kasia Lenhardt in
Bayern, gewann neun deutsche Meisterschaf- nach dem »Bild«-Interview bedroht und be- einer Sprachnachricht. Ein Streit zwischen
ten und zweimal die Champions League, er schimpft. ihr und Boateng sei eskaliert, sagt sie darin.

80 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


SPORT

Boateng sei wütend geworden und habe sie NDA: teng gegenüber der »Bild«: »Ich habe mich
verletzt. Sie schickt außerdem Bilder von Die Akte Kasia Lenhardt schon vor längerer Zeit von Jérôme distan-
­Hämatomen an ihren Armen, die ebenfalls spiegel.de/nda ziert. Ich schätze und respektiere das deut-
Boateng verursacht haben soll. Er habe mit sche Gesetz. Ich verachte Gewalt gegen Frau-
Gläsern geworfen. Das Hotelzimmer sei vol- en. Ich identifiziere mich nicht mit den Taten
ler Scherben gewesen. Mehrere Personen, mit meines Bruders, und deswegen habe ich
denen auch der SPIEGEL gesprochen hat, be- nichts mehr mit ihm zu tun.«
richten, dass Kasia Lenhardt auch ihnen da- Die E-Mail, in der sich auch die Mutter zu
von erzählt habe. den Gewaltvorwürfen gegen Jérôme Boateng
2019 spricht Kasia Lenhardt demzufolge äußert, war vor Gericht Gegenstand im Sor-
das erste Mal in Nachrichten an die Ex-Freun- gerechtsverfahren mit seiner Ex-Freundin
din von Jérôme Boateng über Gewaltvorwür- Sherin S. Es falle ihr schwer, schreibt die Mut-
fe gegen ihn und behauptet, bei der Polizei ter, sich gegen ihren Sohn zu wenden, sie habe
Anzeige gegen ihn erstatten zu wollen, tut das In einer Sprachnachricht an ein Familien- lange mit sich gerungen. Aber am Ende be-
aber nicht und bleibt mit Boateng zusammen. mitglied sagt Kasia Lenhardt auf Polnisch: kräftigt sie die Gewaltvorwürfe.
Wenige Wochen später machen die beiden »Und wir haben uns dann gestritten, und er Für Boateng war der Prozess wegen vor-
ihre Beziehung öffentlich. Eine Anzeige we- hat meinen Ohrring rausgerissen, überall war sätzlicher Körperverletzung an Sherin S. von
gen Körperverletzung erreicht aber über Drit- Blut am Ohr. Und ich denke einfach, er hat Anfang an eine Bedrohung. Im Fußball geht
te trotzdem die Polizei in München. Die Er- dann Angst bekommen und wusste auch, dass es immer um das nächste Tor, den nächsten
mittlungen werden im Sommer 2020 vorläu- das alles keinen Sinn mehr macht, weißt du.« Sieg, den nächsten Titel. Was zählt, ist der
fig eingestellt. Kasia Lenhardt habe gegenüber Laut Recherchen des SPIEGEL hat Kasia Erfolg. Vereine sehen es nicht gern, dass ihre
Boateng »vorerst keine belastenden Anga- Lenhardt in den Tagen vor ihrem Tod Angst Fußballhelden außerhalb des Platzes Negativ-
ben« gemacht, heißt es in einem Statement gehabt; sie wurde von Hackern im Netz er- schlagzeilen produzieren. Das beschädigt das
der Staatsanwaltschaft an den SPIEGEL . presst, wurde beschimpft, und Nutzer Millionengeschäft.
Boateng geht damals gegen die ermitteln- wünschten ihr den Tod. Kasia Lenhardt gab Nachdem das Bayerische Oberste Landes-
de Staatsanwältin vor. Sein Anwalt zeigt sie wiederholt gegenüber ihrem Umfeld an, unter gericht den Revisionsanträgen unter anderem
wegen »Verfolgung Unschuldiger« an. Nach anderem auch Angst vor einem Assistenten wegen Verfahrensfehlern stattgegeben hat,
wenigen Wochen wird das Verfahren ein­ von Boateng zu haben, der sie in diesen Tagen wird der Vorwurf der Körperverletzung nun
gestellt. Ein anderer Vorfall soll sich rund um dazu gedrängt haben soll, die gemeinsame im Sommer 2024 erneut ein Gericht beschäf-
den Tag ereignet haben, an dem Kasia Len- Wohnung zu räumen. Sie soll einen Tag vor tigen. Boateng gilt insofern weiter als unschul-
hardt eine Verschwiegenheitsverpflichtung ihrem Tod noch das Schloss an ihrer Wohnung dig und spielt bei US Salernitana, einem Klub
unterzeichnet hat. Die Verschwiegenheitsver- ausgetauscht haben, so berichten es Nahe- aus Salerno in Süditalien. Im Moment ist er
pflichtung, ein sogenanntes NON DISCLO- stehende. Tabellenletzter der Serie A, der ersten italie-
SURE AGREEMENT (NDA) ist auf den 25. In der Ermittlungsakte zum Tod von Kasia nischen Liga. Jérôme Boatengs Vertrag läuft
Januar 2021 datiert. Dieses NDA liegt dem Lenhardt, die dem SPIEGEL vorliegt, ist ver- nur bis zum Saisonende.
SPIEGEL vor, es ist von Jérôme Boateng und merkt, dass die letzten beiden Anrufe, die Das Körperverletzungsverfahren im Fall
Kasia Lenhardt unterzeichnet, verpflichtet Kasia Lenhardt offenbar angenommen hat, Sherin S. ist nicht das einzige Verfahren gegen
aber nur Kasia Lenhardt zum Schweigen. von der Nummer des Assistenten von Boa- Jérôme Boateng. Es gibt noch ein weiteres, es
Diese Nachrichten schrieb Kasia Lenhardt, teng kamen. Die Polizei hat nach SPIEGEL - wird von der Öffentlichkeit kaum wahrge-
drei Tage nach der Unterzeichnung, am 28. Informationen weder den Assistenten Boa- nommen. Auch dort geht es darum, dass Boa-
Januar 2021 an Jérôme Boateng: tengs noch Boateng selbst nach Kasia Len- teng eine Frau verletzt haben soll: Kasia Len-
»Lass mich in Ruhe hardts Tod befragt. hardt. Die Staatsanwaltschaft München nahm
Für immer Kasia Lenhardt hat kurz vor ihrem Tod das Verfahren – einen Tag nach Kasia Len-
Du tust mir nicht gut mit mehreren Berliner Anwälten gesprochen. hardts Tod – wieder auf, weil sie durch das
Du machst mich nur traurig Einer der Anwälte bestätigt gegenüber dem Todesermittlungsverfahren in Berlin neue
Du hast mein Ohr zerrissen letzten Monat SPIEGEL , dass Kasia Lenhardt plante, An- Erkenntnisse erreicht haben.
mein Knie zeige gegen Jérôme Boateng zu erstatten und Es ist unklar, ob jemals ein Gericht gegen
Lass mich in Ruhe auszusagen obwohl sie die Verschwiegen- Boateng verhandelt, um festzustellen, ob er
Ich will nichts von dir wissen heitsverpflichtung unterschrieben hatte. Len- Kasia Lenhardt körperlich angegriffen hat.
Lass mich mein Leben aufbauen ohne dich hardt habe dem Anwalt kurz vor ihrem Tod Das mutmaßliche Opfer ist tot. Auf Anfrage
Lass MICH IN RUHE als Beweis Fotos von Hämatomen geschickt. bestätigt die Staatsanwaltschaft München
(…) Der Vorwurf, dass Jérôme Boateng Frauen dem SPIEGEL , dass das Verfahren wegen vor-
Hast Angst? Keine Sorge ich werde niemals körperlich angegriffen haben soll, ist nicht neu. sätzlicher Körperverletzung gegen Jérôme
gegen dich vorgehen !!! Nie wieder!« Im Sommer 2021 endete der Vertrag von Boateng, auch drei Jahre nach dem Tod von
Boateng bestreitet in diesem Chat mit Ka- Jérôme Boateng mit Bayern München nach Kasia Lenhardt, noch läuft.
sia Lenhardt die Vorwürfe. Lenhardt erwidert, rund zehn Jahren ablösefrei. Kurz danach Die Akte Kasia Lenhardt ist nicht ge­
jeder wisse, dass er ihr diese Verletzung zu- begann ein Prozess in München gegen ihn. schlossen.
gefügt habe: »Niemand ist in der Lage sich Boateng stand wegen vorsätzlicher Kör- Maike Backhaus, Käthe Bergmann,
selber so krass das Ohr aufzureißen oder perverletzung vor Gericht. Seine Ex-Freundin Nora Gantenbrink, Özlem Gezer, Roman Höfner,
Danial Montazeri n
gegen sein Knie zu schlagen.« Boateng be- Sherin S., die Mutter seiner Zwillinge, hatte
zeichnet sie daraufhin in dem Chat als Lüg- Anzeige erstattet. Der Vorwurf wurde in den Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben
nerin. Die Anwältin Jérôme Boatengs äußert vergangenen Jahren in mehreren Instanzen zu nehmen? Sprechen Sie mit anderen Men-
sich nicht konkret, betont aber, dass sich vie- vor Gericht verhandelt. Boateng beteuerte schen darüber. Sofortige Hilfe erhalten Sie
le Sachverhalte »belegbar gänzlich anders stets seine Unschuld. rund um die Uhr bei der Telefonseelsorge unter
zugetragen« hätten. Auch sei es »der auto- Nachdem Boateng im September 2021 in den kostenlosen Rufnummern 0800 111 0 111
nome und vor Zeugen geäußerte Wunsch von München vorerst zu einer Geldstrafe ver- und 0800 111 0 222. Eine Übersicht weiterer
Kasia Lenhardt« gewesen, eine Verschwiegen- urteilt worden war, 60 Tagessätze, 1,8 Millio- Hilfsangebote gibt es auf der Website suizid-
heitsverpflichtung zu unterzeichnen. nen Euro, sagte sein Bruder Kevin-Price Boa- prophylaxe.de.

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 81


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WISSEN

Yves Herman / REUTERS


Strauße gelten gemeinhin als aggressive Vögel, denen man sich nur mit Vorsicht nähern sollte. Die Exemplare, die auf einer Farm im nordbelgischen
Kalmthout mit der Hand aufgezogen wurden, sind allerdings so umgänglich, dass sie sogar als Therapietiere für Menschen mit psychischen
­Problemen eingesetzt werden. Aus Sicht von Farmchefin Wendy Adriaens, die hier beim Kuscheln zu sehen ist, eigneten sich die Vögel dafür sogar
besser als die oft genutzten Pferde: »Strauße sind sensibler.«

Wende zum Biosprit


landen. Nach Ansicht von Umweltverbänden wird dadurch der
globale Landverbrauch deutlich angeheizt – auch zulasten
von Wäldern, die doch dauerhaft CO₂ speichern sollen. Die Poli-
tik hat deshalb eigentlich umgesteuert. Für Sprit aus Pflanzen
ANALYSE Weil die E-Mobilität nicht schnell
gelten inzwischen niedrige Höchstgrenzen, Palmöl ist in der
genug vorankommt, fordern Energieexperten mehr Europäischen Union künftig tabu, Sojaöl könnte folgen. Die von
alternative Biokraftstoffe. Grünen geführten deutschen Ministerien für Umwelt und Land-
wirtschaft wollen noch weiter gehen und bald ganz aus Pflanzen-
Der nur noch schleppend verlaufende Wechsel zum Elektroauto sprit aussteigen.
alarmiert die Ökostrombranche. »Bei der Elektromobilität gerät Aus Sicht des BEE wäre dies aber kurzsichtig. Dann würden
Deutschland international ins Hintertreffen«, kritisiert Simone noch mehr fossile Energieträger verbrannt, warnt Peter, »fatal«
Peter, Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energien für die Umwelt- und Klimabilanz. Stattdessen sollte die Umwelt-
(BEE) und frühere Grünenchefin. Und das hat Folgen für den bilanz der Alternativtreibstoffe verbessert werden. Nachhaltiger
­Klimaschutz: Laut einer neuen Studie ihres Verbands werden wäre Biosprit etwa mit einem Fruchtwechsel zu ökologisch ver-
die CO₂-Einsparziele im Verkehr bis 2045 krachend verfehlt. träglicheren Energiepflanzen, vor allem aber durch die vermehrte
Um die Lücke zum erlaubten Emissionslevel zu schließen, Verwendung von Bioabfall. Biomethan, das etwa aus Gülle oder
­fordert Peter, in den verbleibenden Verbrennern mehr Biosprit Mist erzeugt wird, könne in Gasmotoren eine deutlich größere
zu nutzen – einen mittlerweile eher verpönten Stoff. Mit der Rolle spielen. Dass man damit als Zweitverwerter an der Massen­
Bei­mischung biologisch erzeugter Treibstoffe in Benzin und Die- tierhaltung hängt, ficht Simone Peter nicht an. Mit sinkendem
sel wurden bislang die größten CO₂-Mengen im Autoverkehr Fleischkonsum könnte es in Zukunft weniger Gülle geben – aber
eingespart. Doch Umweltschützer beurteilen es kritisch, dass bis dahin wäre es Verschwendung, die anfallenden Mengen nicht
Pflanzen wie Raps, Mais oder Soja im Tank statt auf dem Teller zu nutzen. Arvid Haitsch

84 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


Mit Katzen gegen den Teufel in einem anderen sechs. Schad ist sich sicher, den. Außerdem stießen Eigentümer auf
dass die Katzen nicht zufällig in ihre Gräber das Flügelpaar einer Schleiereule, einzelne
VOLKSKUNDE In Süddeutschland macht gelangten, sondern in den meisten Fällen Schuhe und sogenannte »Nachgeburts­
ein unheimliches Phänomen von sich reden. bewusst dort deponiert wurden, meist beim töpfe«, in denen Plazenta- und Nabelschnur­
Es geht dabei um mumifizierte Katzen, Bau des Hauses, manchmal nachträglich. reste verwahrt wurden. All das deuten
die überraschend bei Sanierungsarbeiten in »Wir haben es mit sogenannten Bauopfern Volkskundler als Bannzeichen gegen das
­alten Häusern aufgetaucht sind. Die Tiere zu tun«, sagt Schad. Böse und einen Beitrag im Kampf gegen den
steckten meist in Hohlräumen von Böden Der Brauch ist schon aus der schriftlosen Höllenfürsten und seine Helfer. GUI
und Wänden, oft in der Nähe des Kamins, Zeit bekannt und archäologisch in aller
wo vor allem wegen der trockenen Luft Welt nachgewiesen worden. Er beruht wohl
gute Bedingungen für eine natürliche Mu­ auf dem Aberglauben, dass beim Bau eines
mifikation herrschen. Mittlerweile seien Hauses in den Herrschaftsbereich dämoni­
etwa 200 Katzen in mehr als 100 Häusern scher Mächte eingegriffen werde, die durch

[M] DER SPIEGEL; Foto: Thomas Hitschler


bekannt, sagt die Historikerin Petra Schad, eine besondere Opfergabe versöhnt werden
die sich intensiv mit dem Thema befasst. müssen. Außerdem sollen die Gaben die
Fündig wurden vor allem Eigentümer Bewohner vor Bränden und anderen Katas­
von Gebäuden, die mehr als 300 Jahre alt trophen schützen. In einigen der Häuser, in
sind; doch auch in einem Haus von 1910 denen mumifizierte Katzen entdeckt wur­
gab es einen Fund. Vielfach tauchten in ein den, tauchten auch andere mysteriöse
und demselben Gebäude gleich mehrere ­Objekte auf: Gesangbücher mit handschrift­
Tiere auf: In einem Fall waren es sieben lichen Notizen etwa oder Bocksfüße, die Katzenmumien
Katzen, die parallel nebeneinanderlagen, ­gemeinhin mit dem Teufel assoziiert wur­

»Vom Immunsystem Paolisso: … und bei diesen Pa­ plastik ist ein Fremdkörper, es SPIEGEL: Ist denn mit Ihrer
tienten, das haben wir in drei wird vom Immunsystem als ­ tudie tatsächlich schon
S
als Feind erkannt« Jahren Nachbeobachtung gese­ Feind erkannt, und das Immun­ ein ­ursächlicher Zusammen­
Der Medizin­ hen, war das Risiko für einen system versucht, die Fremdkör­ hang bewiesen zwischen
professor Giuseppe Herzinfarkt, Schlaganfall oder per zu zerstören. Dabei kommt Mikro- und Nano­plastik im
­Paolisso, 67, von Tod wesentlich höher als bei es zu einer Entzündungsreak­ Körper und einem erhöhten
der Universität ­jenen, bei denen wir nichts fan­ tion – und eine Entzündung, das ­Risiko für Herzinfarkte und
Kampanien hat in den. Es lag bei 20 Prozent statt wissen wir, kann eine Plaque Schlaganfälle?
Privat

den Halsschlag­ bei 7,5 Prozent. Rechnet man ­destabilisieren. Sie bricht dann Paolisso: Nein. Wir haben einen
adern von Patienten Nanoplas­ die kardiovaskulären Risikofak­ leichter auf, und es bildet sich ersten Hinweis, dass es diese
tik gefunden. Hier erklärt toren heraus, die in den beiden ein Thrombus, ein Blutgerinnsel, Gefahr geben könnte, aber
er, warum diese Partikel Herz­ Gruppen etwas ungleich verteilt das einen Herzinfarkt oder ­vieles ist noch immer ungeklärt.
infarkte oder Schlaganfälle waren, ist das Risiko für Herz­ Schlaganfall verursachen kann. Um mehr Licht ins Dunkel zu
­auslösen könnten. infarkte und Schlaganfälle bei SPIEGEL: Mikro- und Nano­ bringen, müssen jetzt Biomarker
den Patienten mit Plastik in plastikteilchen können durch im Blut für die Belastung des
SPIEGEL: Herr Professor Paolisso, Plaques mindestens zweimal so das Essen in den Körper gelan­ Körpers mit Mikro- und Nano­
Sie haben in den Halsschlag­ hoch wie bei den anderen. gen, oder sie können einge­ plastik gefunden werden. Nur
adern von Patienten nach ­Mi­kro- SPIEGEL: Wie lässt sich dieser atmet werden. Aber wie gelan­ dann kann man große Popula­
und Nanoplastik gesucht. deutliche Unterschied erklären? gen sie in diese Plaques? tionsstudien mit vielen Tausend
­Warum ausgerechnet dort? Paolisso: Ich finde das nicht Paolisso: Das wissen wir leider Teilnehmern und Teilnehme­
Paolisso: Uns hat interessiert, überraschend. Mikro- und Nano­ noch nicht. rinnen durchführen, die noch
welche Auswirkungen Mikro- mehr Informationen über einen
und Nanoplastik auf die kardio­ möglichen Kausalzusammen­
vaskuläre Gesundheit haben hang liefern könnten. Das wird
könnte, auf die Häufigkeit von aber leider noch lange dauern.
Herzinfarkten und Schlag­ SPIEGEL: Raten Sie den Men­
anfällen. Deshalb haben wir schen, den Kontakt mit Plastik
­atherosklerotische Plaques ab sofort zu reduzieren – also
untersucht, denn sie sind oft der etwa kein Wasser mehr aus
­Ausgangspunkt für einen Plastikflaschen oder -bechern
Schlaganfall oder Herzinfarkt. zu trinken?
Dass wir ­dabei Ablagerungen Paolisso: Nach dieser Studie
in der Halsschlagader verwendet eine klare Empfehlung zu
haben, liegt einfach daran, geben ist sicher nicht angemes­
dass diese häufig operativ ent­ sen. Aber ich denke, man
fernt werden, um Schlag­anfälle kann schon sagen: Unsere Stu­
zu verhindern. Die entfernten die zeigt, dass möglicherweise
Svetlozar Hristov / Getty Images

Plaques konnten wir dann im die Gefahr bestehen könnte,


Labor unter die Lupe ­nehmen. dass Mikro- und Nanoplastik
SPIEGEL: In den Proben von das ­Risiko für Herzinfarkte
150 der 257 Patientinnen und und Schlaganfälle erhöht. Also
Patienten haben Sie bei Ihren ist es vielleicht auch besser,
Untersuchungen tatsächlich Mikroplastik zukünftig weniger Plastik zu
Plastikpartikel gefunden ... ver­wenden. VH

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 85


TITEL

Guck mal,
wer da denkt!

PSYCHOLOGIE Schon im Mutterleib haben Kinder ein Verständnis für Zahlen, kurz nach der Geburt unterscheiden
sie Gesichter und versetzen sich in andere Menschen hinein. Säuglinge sind Multitalente,
das zeigt die moderne Hirnforschung. Auch Entwicklungsprobleme könnten früher entdeckt werden.

D
er graue Vorhang am Ende des Tischs wird, hält jetzt einen kleinen Rechen in der ten sie sich erst einmal so, als wäre es noch
sieht nicht besonders spannend aus, Hand. Nach ein paar Wiederholungen hat sie da. Und so widersprüchlich es klingen mag:
doch dahinter versteckt sich ein Zoo begriffen, dass sie damit herannahende Genau das spricht dafür, dass sie ununter-
bunter Badetiere. Eins nach dem an- Gegenstände – es sind jetzt bunte Stoffwür- brochen lernen. Die Kinder haben nun be-
deren fährt auf einer Schiene durch einen fel – erreichen kann, lange bevor sie mit den griffen, dass der Raum vor ihnen größer ist
Schlitz im Tuch hervor. Liane, 13 Monate alt, Händen herankommen würde. als die Reichweite ihrer Hand.
lutscht an einem Stift und staunt. Liane muss den Rechen ablegen, und die Aber Liane ist erst ein gutes Jahr alt. Für
Dann klingelt ein Glöckchen, ein hellgrü- Zooparade beginnt von Neuem: Krokodil, sie wäre es eine verblüffende Leistung. Es
nes Krokodil schiebt sich durch den Vorhang. Fuchs, Frosch, Ente und Delfin. Wird das Kind würde bedeuten, dass sie ein bestimmtes
Als sich das Gummispielzeug nähert, greift diesmal früher nach den Tieren greifen? Das ­Verhalten viel früher lernen könnte als all-
Liane zu. Sie juchzt. würde bedeuten, dass Liane nach dem Durch- gemein angenommen. Versteht womöglich
Als Nächstes fahren vor: ein Fuchs, ein gang mit dem Rechen den Aktionsradius ihres auch Liane unbewusst bereits, was ein Werk-
Frosch, eine Ente und ein Delfin. Nun wird Arms für größer hält, als er ist. zeug ist?
es komplizierter, ein Hilfsmittel kommt ins Zumindest Zweijährige scheinen genau so Gudrun Schwarzer, Leiterin der Abteilung
Spiel. Liane, die hier auf Wunsch ihrer Eltern zu denken: Wenn sie gemerkt haben, dass ein Entwicklungspsychologie an der Justus-
nur mit ihrem zweiten Vornamen genannt Werkzeug ihren Spielraum erweitert, verhal- Liebig-­Universität Gießen, und ihre Kollegin

86 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


TITEL

das sie umgibt, jene Informationen heraus, Hürde ist es, die Familie das erste Mal hier-
die für ihr Überleben wichtig sind. Rund um herzubekommen«, sagt die Wissenschaftlerin.
die Uhr erbringt ihr Gehirn Höchstleistungen, »Wenn sie einmal mitgemacht haben, kom-
sie nehmen wahr, denken, erkennen. men die meisten gern wieder.«
»Neugeborene schlafen zwar die meiste Das Gießener Team hält kleine Geschenke
Zeit«, sagt Neurowissenschaftler Michael in einer Spielzeugkiste bereit, Liane wählt
Skeide vom Leipziger Max-Planck-Institut eine blau-weiße Kuh mit einer Rassel im
(MPI) für Kognitions- und Neurowissenschaf- Bauch. Keine Familie geht ohne eine Urkun-
ten, »aber unter der Oberfläche laufen ge- de nach Hause: erfolgreich teilgenommen,
waltige Lernprozesse ab.« Minute für Minu- dazu ein Bild. Auch von Liane hat eine Mit-
te, Tag für Tag, der Erkenntnisgewinn voll- arbeiterin ein Foto gemacht und im Labor
zieht sich so rasant wie in keiner anderen ausdrucken lassen, es klebt auf der Urkunde.
Lebensphase. »Wir tun alles, damit die Eltern glücklich
Nie wieder, sagt der Entwicklungspsycho- sind«, meint Schwarzer.
loge Andrew Meltzoff von der University of Die andere Hürde: Die Forschenden kön-
Washington in Seattle, lerne ein Mensch so nen das Wissen ihrer Versuchspersonen
mühelos so viel Neues wie in dieser Zeit: nicht abfragen wie bei einer Schulaufgabe.
»Neugeborene können weder laufen noch »Das ist die große Schwierigkeit«, sagt die
sprechen, aber schon zwei bis drei Jahre spä- Psychologin.
ter laufen und reden die Kinder, empfinden Stattdessen müssen die Forscherinnen und
Mitgefühl und helfen anderen, ohne dass es Forscher den verborgenen Schatz der Kleins-
ihnen selbst nützt.« Kein anderes Tier auf ten indirekt heben. Sie testen das Verhalten
dem Planeten, sagt der renommierte Baby- in ausgeklügelten Versuchen wie in Gießen
forscher, verfüge »über diese sozialen und oder legen Babys und Kleinkinder in High-
kognitiven Fähigkeiten«. tech-Apparaturen wie Magnetresonanztomo-
Die Befunde der Forschenden interessieren grafen (MRT). Oder sie stülpen ihnen wie
nicht nur Fachleute und natürlich Eltern und am Leipziger Max-Planck-Institut elektro-
Großeltern. Wie Babys sich entwickeln, wie denbestückte EEG-Kappen auf den Kopf,
sie in der Welt zurechtkommen, wie sich ihre um Hirnströme zu messen und herauszu­
Intelligenz, ihr Geist und ihre Gefühle formen, finden, wie Kinder lernen, Gesichter zu er-
berührt auch die Politik, wenn über frühe kennen.
Förderung, Familienhilfen oder Prävention Andere Forschungsteams untersuchen die
diskutiert wird. Lernkompetenz ungeborener Kinder im
Forschende wie Schwarzer, Jovanovic Mutter­leib. In Würzburg hat die Anthropo-
oder Skeide untersuchen Grundsätzliches. login Kathleen Wermke fast eine halbe
Ihre Experimente handeln davon, wie das ­Million Aufnahmen von Babygebrüll analy-
Denken entsteht. Weil jedes Kind diesen Pro- siert, um universelle Muster zu finden, aus
zess durchläuft, liegt es nahe, das Reifen des denen sich die Sprache herausbildet (siehe
Verstands schon an den Kleinsten zu erfor- Seite 94).
schen. Die Säuglingsforschung hilft, genauer Die neuen Technologien und Techniken
Katrin Binner / DER SPIEGEL

zu verstehen, wie sich Kinder später im Le- erweitern auch alte Erkenntnisse. Meltzoff,
ben gut entwickeln können. Und sie trägt der Entwicklungspsychologe aus Seattle, hat-
dazu bei, mögliche Abweichungen oder Ver- te schon 1977 nachgewiesen, dass Neugebo-
zögerungen in der kindlichen Entwicklung rene die Mimik von anderen imitieren. Er
früh zu erkennen. schnitt Babys Grimassen, und sie reagierten,
Doch wie lässt sich erfassen und vermes-
sen, was im Gehirn von Babys geschieht?
Studienteilnehmerin Liane im
Gießener Babylabor: Versteht sie bereits Welche Schlüsse können Eltern und Groß-
unbewusst, was ein Werkzeug ist? eltern aus den Erkenntnissen ziehen?
Trickreiche Methoden sind nötig, um die
Fähigkeiten von Säuglingen sichtbar werden
zu lassen.
Bianca Jovanovic, die das Experiment ent- Liane kommt an diesem kühlen Dienstag
worfen hat, halten das für möglich. Die Ver- warm verpackt in einem Fleeceanzug in die
suchsreihe ist noch nicht ausgewertet, doch Gießener Universität, ihr Vater rollt sie im
Ergebnisse ihrer bisherigen Forschung haben Buggy in Jovanovic’ Labor. Mit der Wissen-
immer wieder gezeigt: Babys und Kleinkinder schaft hinter der Gummitierparade hat er sich
können und verstehen viel mehr als lange nicht beschäftigt, die Mutter hat das Kind für
vermutet. die Versuchsreihe angemeldet. Sie schreibt
Der Mensch fühlt, denkt und verhält sich gerade ihre Masterarbeit und sagt: »Mir ist
bereits in seinen ersten Lebens­monaten, ja es wichtig, gute Wissenschaft zu unterstüt-
Katrin Binner / DER SPIEGEL

zum Teil vor seiner Geburt erstaunlich kom- zen.« Die Entwicklung ihrer Tochter nehme
plex. Schon im Mutterleib interpretiert ein sie jetzt bewusster wahr. »Ich achte zum Bei-
Kind seine Umgebung, ordnet Geräusche zu spiel darauf, wie sie nach Sachen greift.« Seit
und registriert die Bewegungen der Mutter. zwei Tagen kann Liane laufen.
Vom Moment der Geburt an bilden die Babys Forscherin Schwarzer freut das Interesse
­Kategorien, trennen Wichtiges von Unwich- der Mutter, denn die Suche nach kleinen Ver-
tigem und filtern aus dem wirren Rauschen, suchspersonen ist harte Arbeit. »Die größte Forscherin Jovanovic

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 87


TITEL

indem sie die Zunge herausstreckten oder den Frühgeborene, sagt Schwarzer, könnten
Mund weit aufrissen. von einer Laufhilfe möglicherweise profitie­
Wenige Tage alte Babys, so folgerte der ren. Diese Kinder schneiden in vielen Berei­
Forscher, müssten also wissen, was ein Ge­ chen ihrer Entwicklung im Schnitt schlechter
sicht ist. Und dass sie selbst eines haben, bei ab als termingerecht auf die Welt gekomme­
dem Mund und Zunge denen des Gegenübers ne Gleichaltrige. Auch Voraussagen zu treffen
entsprechen. Meltzoff war fasziniert. Andere fällt ihnen schwerer. »Das könnte daran lie­
Menschen zu erkennen ist elementar für das gen, dass sie in einer Phase mit visuellen Rei­
Zusammenleben. Doch Neugeborene haben zen konfrontiert wurden, in der sie eigentlich
noch nie jemanden gesehen, sie kennen auch noch im Schummerlicht der Gebärmutter sein
nicht ihr eigenes Gesicht. sollten«, vermutet Schwarzer. Wichtige Ent­
Inzwischen hat Meltzoff mithilfe eines wicklungsschritte liefen dann nicht in der rich­
Magnet­enzephalografen die Zellansammlun­ tigen Reihenfolge ab. Solche Nachteile mit­
gen aufleuchten sehen, die bei dieser Imita­ hilfe motorischer Stimulation auszugleichen
tion aktiv sind. Die Maschine misst jene win­ könne ein möglicher Therapieansatz sein.
zigen magnetischen Felder, die durch das

Katrin Binner / DER SPIEGEL


Feuern der Nervenzellen im Gehirn entstehen. Rund 300 Kilometer südlich von Gießen
Endlich, sagt Meltzoff, könnten auch mit forscht Hubert Preißl mithilfe noch jüngerer
solchen Methoden »Ursprünge und Entwick­ Probandinnen und Probanden. Der Physiker
lung des menschlichen Geistes untersucht« leitet die Arbeitsgruppe »Metabolic Neuro­
werden. imaging« am Institut für Diabetesforschung
Dabei zeigt sich: Alles, was die kleinen Wissenschaftlerin Schwarzer
und metabolische Erkrankungen des Helm­
Menschen für ihren erstaunlichen Weg vom holtz-Zentrums München an der Universität
hilflosen Geschöpf hin zu einem selbststän­ Die Gießener Psychologin Schwarzer in­ Tübingen. Preißls Forschungsgebiet sind
digen, sprachgewandten, humorvollen und teressiert sich für die Frage, wie Babys Vo­ ­Ungeborene, Föten ab der 24. Schwanger­
großzügigen Individuum benötigen, ist im raussagen treffen. Die sogenannte Prädiktion schaftswoche. Er kennt viele Geschichten,
Gehirn vorinstalliert: die Fähigkeit, bereits ist eine der wichtigsten Fähigkeiten des Men­ die Eltern ihm erzählen. Wahre Wunderdin­
im Mutterleib die Stimmen von Familienmit­ schen, sie hilft ihm zu planen und sich in sei­ ge habe er gehört in all den Jahren, sagt er:
gliedern zu erkennen, ebenso wie eine Art ner Umwelt zurechtzufinden. Dazu zählt Ungeborene reagierten auf das Klingeln einer
physikalisches Grundwissen und die Gabe, auch, dass Kinder ihren Lieblingsteddy er­ Glocke, sie träten mit einem Fuß ein-, zwei-
Gesichter auseinanderzuhalten. kennen, obwohl sie ihn nur von hinten sehen, oder dreimal, je nachdem wie oft man auf
»Eine Botschaft unserer Forschung ist: Der oder ihre Hand beim Greifen nach einer den Bauch drücke.
Mensch ist von Anfang an für alle Erfahrun­ Trinkflasche ungefähr so weit öffnen, dass die »All diese Geschichten sind spannend, aber
gen offen«, sagt Entwicklungspsychologin Flasche hineinpasst. Schon mit zehn Monaten sie sind keine Wissenschaft«, sagt er. »Ich will
Schwarzer. Alles ist angelegt, alles ist möglich. gelingt ihnen diese Vorjustierung der Greif­ wissen, was Ungeborene wirklich schon kön­
Ein Mensch, der auf die Welt kommt, ist so hand, das haben Schwarzer und ihr Team nen und was nicht.«
ausgestattet, dass er akzentfrei zugleich eine, 2017 nachgewiesen. In Preißls Labor steht in einer abgeschirm­
zwei oder auch drei Sprachen lernen könnte. In einer weiteren Studie fanden die For­ ten Kammer ein traktorgroßes Gerät. Welt­
Erst mit etwa einem halben Jahr fokussiert scherinnen heraus, dass Babys bei diesem weit gibt es nur zwei dieser Fetal-Magnet­
sich das Wissen. Kinder lernen dann vor allem Antizipieren besser abschneiden, wenn sie enzephalo­grafen, kurz fMEG. Mithilfe ­ex­trem
durch jene Erfahrungen, die sich häufig wie­ vorher im Experiment motorische Erfahrun­ empfindlicher Sensoren misst die Maschine
derholen und damit wichtig dafür sind, sich gen gesammelt haben: etwa wenn sie lernen, die winzigen Magnetfelder, die entstehen,
in der Welt zurechtzufinden. Dieser Prozess sich in einer Laufhilfe fortzubewegen, jenen wenn die Gehirnzellen der Ungeborenen In­
läuft gewissermaßen von allein ab. Solange »Walkern«, die Kinder sonst wegen Unfall­ formationen weiterleiten.
Eltern ihr Kind dabei liebevoll begleiten, gefahr nicht benutzen sollten. An einem Montagmorgen im Februar klet­
brauchen sie sich in der Regel wenig Sorgen tert eine Doktorandin zu Anschauungszwe­
zu machen: Gerade weil Babys hochkompe­ cken rittlings auf den tonnenförmigen Sitz
tent sind, müssen Erwachsene nicht viel des fMEG. Sie ist in der 28. Schwangerschafts­
unternehmen, damit Kinder das gewaltige woche, der runde Bauch liegt in einer weißen
Potenzial ausschöpfen können, das ihnen die Mulde, die sich vorn am Messgerät befindet.
Evolution mitgegeben hat (siehe Seite 94). Hinter der Mulde sitzen die Sensoren.
Vom wachsenden Wissen über die frühen Vor der isolierten Tür der fMEG-Kammer
Entwicklungsprozesse erhoffen sich die Fach­ nimmt Preißl an einem Schreibtisch mit
leute aber Hilfe für jene, die tatsächlich Unter­ ­mehreren Monitoren Platz. Er drückt auf
stützung benötigen. Erst wenn bekannt ist, einen Knopf. »Alles in Ordnung?«, fragt er
wie sich Kinder üblicherweise entwickeln, über Lautsprecher. »Wir beginnen mit der
fallen Abweichungen davon auf. Subtile An­ Messung.«
zeichen für Probleme ließen sich mithilfe der Gleich darauf sind auf dem linken Monitor
neuen Erkenntnisse im besten Fall so früh einige Dutzend Kurven zu sehen. »Man sieht
diagnostizieren, dass sie behandelt werden hier das mütterliche und das fötale Herz­
Annette Cardinale / DER SPIEGEL

könnten, bevor ein Kind spät und langsam signal«, sagt Preißl. Sie seien viel stärker als
sprechen lernt, eine Rechenschwäche zeigt das Signal des fötalen Gehirns, doch wenn
oder sich aufgrund von Autismus auffällig man beides aus den Daten herausrechne, sei
verhält. Laut Schreiforscherin Wermke weist am Ende noch ein winziger Ausschlag zu er­
eine bestimmte Art von Babyweinen darauf kennen, in der Größenordnung von 100 Bil­
hin, dass ein Säugling schlecht hört. Solche liardstel Tesla.
Befunde könnten helfen, um Kinder frühzei­ Dieses winzige Signal gebe Aufschluss über
tig mit Hörhilfen zu versorgen. Fetal-Magnetenzephalograf in Tübingen die Hirnaktivität des Fötus, so Preißl. Daraus

88 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


TITEL

lasse sich ableiten, wie sich das Gehirn im inzwischen an der University of Minnesota
Laufe der Schwangerschaft entwickle, wie der Wunder Kind arbeitende Wissenschaftlerin wollte wissen,
Fötus auf akustische Reize oder optische Si- ob Föten dann bereits komplexere Muster
gnale reagiere und was Ungeborene bereits Gehirnentwicklung ungeborener Kinder*, erkennen können.
nach Schwangerschaftswochen
imstande seien zu lernen. Die Wissenschaftlerin untersuchte, wie
»Die Geburt ist ein krasser Bruch für das Großhirn Mittelhirn Kleinhirn Ungeborene auf zwei verschiedene Tonfolgen
Kind«, sagt Preißl. Lernen habe danach vor Rückenmark mit jeweils vier Tönen reagieren. Eine der
allem ein Ziel: In einer lauten, hellen und Woche 3 Tonfolgen bestand aus vier gleichen Tönen,
verwirrenden Welt müsse das Neugeborene bei der anderen war der letzte Ton verändert.
Strukturen erkennen. Welche der vielen Men- Woche 5 In einer Lernphase wurde Föten im fMEG
schen und Sinnesreize sind wichtig, welche immer nur eine dieser Tonfolgen vorgespielt.
unwichtig? »Damit das Kind nicht orientie- Sie lernten also entweder, dass immer vier
rungslos bei null anfangen muss, beginnen gleiche Töne zu erwarten sind, oder, dass mit
die Lernprozesse bereits im Mutterleib.« drei Tönen und einem besonders hohen Ton
So können Neugeborene nicht nur gleich Woche 6 zu rechnen ist. Danach, in der sogenannten
Die ersten Hirnstruktu-
nach der Geburt die Stimme der Mutter von ren bilden sich heraus. Testphase, hörten sie beide Tonfolgen durch-
anderen Stimmen unterscheiden. Sie haben einander; das Muster aus der Lernphase wur-
auch bereits im Uterus ein Basisverständnis In Woche 7 misst de also durchbrochen.
für Zahlen von eins bis vier. der Embryo ungefähr So wollte Moser herausfinden, ob Föten
9 mm vom Scheitel
Preißl hat Föten im Abstand von einer Se- bis zum Steißbein. nur auf die lokale Änderung des vierten Tons
kunde Tonfolgen aus zwei Tönen vorgespielt. innerhalb einer Tonfolge reagieren können –
Ab und zu jedoch waren es vier Töne hinter- Woche 10 oder auch, global, auf eine Änderung der
einander. War diese seltenere Tonfolge zu Die inneren Organe gesamten Tonfolge im Vergleich zur Lern-
hören, registrierte das Messgerät einen Aus- sind nun angelegt, man phase. Würde es sich um Musik handeln,
spricht vom Fötus. Im
schlag. Preißl deutet das als Überraschungs- Gehirn entwickeln sich ­ließe sich das entfernt damit vergleichen,
reaktion im Gehirn des Ungeborenen und pro Minute rund 250.000 ob nur einzelne Töne erfasst und verstan-
somit als ein Zeichen dafür, dass Föten über neue Nervenzellen. den werden können oder auch eine einfache
ein einfaches Zahlenverständnis verfügen. Melodie.
»Das frühe Zahlenverständnis hat nichts mit Woche 12 In der Auswertung der Daten der fMEG
Mathematik zu tun«, aber es bereite das Ge- Das Gehirn strukturiert zeigte sich: Föten ab der 35. Schwanger-
sich bereits in ver-
hirn des Fötus wahrscheinlich darauf vor, spä- schiedene Anteile, die schaftswoche reagieren tatsächlich mit einer
ter etwas Struktur in die chaotische Welt brin- Großhirnrinde hat aber veränderten Gehirnantwort auf die globale
gen zu können. noch eine glatte Änderung der Tonfolge, also gewissermaßen
So ist auch zu erklären, dass Kinder offen- Oberfläche. auf die einfache Melodie. Dies sei ein klarer
bar schon vor der Geburt lernen, den Klang Hinweis darauf, dass Ungeborene eine Infor-
ihrer Muttersprache vom Klang anderer Spra- mation über einen längeren Zeitraum in
chen zu unterscheiden. Schwedische Neuge- ihrem Gedächtnis behalten könnten. Die Wis-
borene beispielsweise zeigten in einer Studie senschaftlerin wertet dieses Ergebnis als »ein
kurz nach der Geburt großes Interesse an dem Woche 16 Zeichen für bewusste Verarbeitung«; es lege
typischen US-amerikanischen I-Laut (»ei«), sogar nahe, dass das Bewusstsein wahrschein-
den sie zuvor noch nicht gehört hatten, wäh- lich nicht erst mit der Geburt beginne.
rend amerikanische Neugeborene eher vom Die Ergebnisse, so sieht es Mosers ehe-
ihnen unbekannten schwedischen Y über- maliger Chef Preißl, eröffneten völlig neue
rascht zu sein schienen, das wie eine Mi- Ansätze zu einem besseren Verständnis der
schung aus I und Ü klingt. Woche 24 frühesten kindlichen Entwicklung. »Wir be-
Das Phänomen, dass das Gehirn über- Um diesen Zeitpunkt ginnen zu verstehen, wie Erfahrungen im
rascht auf Neues reagiert, während es sich an bilden sich die ersten Mutterleib die Gehirnentwicklung langfristig
häufig Vorkommendes gewöhnt, bezeichnen typischen Furchen in beeinflussen können.«
der Großhirnrinde.
Experten als Habituation. Sie bildet eine Ba- Es ist ein elementares Muster, das die Neu-
sis jenes Lernens, mit dem Föten und später geborenen da vorführen. »Wir Menschen ent-
Neugeborene die Welt erkunden. Für Eltern, Woche 36 wickeln aufgrund unserer Beobachtungen und
die hoffen, schon im Mutterleib das mathe- Erfahrungen Modelle, wie die Welt funktio-
matische Talent ihrer Kinder fördern oder nieren könnte«, sagt der Neurowissenschaft-
ihnen Fremdsprachen beibringen zu können, ler Joel Frohlich, Postdoktorand am Institut
hat Preißl dennoch eine enttäuschende Bot- für Neuromodulation und Neurotechnologie
schaft. »Dazu gibt es keinerlei belastbare For- am Universitätsklinikum Tübingen. »Und
schungsergebnisse«, sagt er. Grundsätzlich wenn wir neue Beobachtungen und Erfah-
könne man in der Schwangerschaft dem Un- rungen machen, wenn wir also lernen, dann
geborenen zwar sehr schaden, etwa durch aktualisieren wir diese Modelle.«
Alkohol, manche Medikamente oder trauma- Frohlich hat soeben eine Studie in der
tische Erlebnisse. Dass Genies durch frühes Fachzeitschrift »Nature Mental Health« ver-
Training im Mutterleib entstünden, sei aber öffentlicht, für die er die Daten aus Julia Mo-
unwahrscheinlich. sers fMEG-Untersuchungen neu ausgewertet
Gegen Ende der Schwangerschaft, etwa ab hat. Er verwendete sechs Algorithmen, die
der 35. Woche, wird das Lernen offenbar zu- Bei Geburt wiegt das Gehirn des Babys etwa ein Maß für die Komplexität der fötalen Hirn-
300 Gramm. Zu diesem Zeitpunkt haben sich
nehmend ausgefeilt, wie ein Experiment der darin rund 100 Milliarden Nervenzellen gebildet. aktivität liefern. Dabei zeigte sich: Je weiter
Kognitionsforscherin Julia Moser, einer frü- * schematische Darstellung die Schwangerschaft fortschreitet, je weiter
heren Mitarbeiterin Preißls, nahelegt. Die S Quelle: Universitätsspital Zürich sich das fötale Gehirn entwickelt und je mehr


Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 89


TITEL

hat, wenn sie sich in der Welt der Zahlen nur


mit viel Mühe zurechtfinden. Ähnliches gilt
für die Sprachentwicklung: »Wir gehen davon
aus, dass eine beträchtliche Anzahl von Kin­
dern, die in der Schule wegen Problemen mit
der Rechtschreibung auffallen, in ihrer frühen
Kindheit Schwierigkeiten mit der Sprache
hatte«, sagt Skeide. Je früher solche Jungen
und Mädchen unterstützt würden, desto ge­
zielter könne die Förderung sein.
Der spezielle Ultrahochfeld-Tomograf für
Skeides Studien steht in einem separaten Ge­
bäude des Leipziger Instituts. Wer es betreten
will, muss wegen des starken Magnetfelds
metallische Gegenstände ablegen und unter­

Alexander Schmidt / PUNCTUM


schreiben, dass er oder sie keine Piercings
oder Zahnspange trägt.
An einem Mittwoch im Februar gilt das
auch für Sachsens Ministerpräsidenten Mi­
chael Kretschmer. Der CDU-Politiker ist ans
MPI gekommen, um unter anderem die For­
Probandin Lina, Mutter (l.) im MRT in Leipzig: Die Eltern sind fasziniert von den Aufnahmen
schung zu den Fähigkeiten von Kindern zu
bestaunen. Im September sind Landtagswah­
ein Fötus lernt, desto weniger komplex ist die Skeide hat zudem nachgewiesen, dass Kin­ len in Sachsen, ein Besuch mit Spitzenfor­
Aktivität des Gehirns. der, die in der Schule häufiger eine Lese- schung und kleinen Kindern gehört da zu den
Die Befunde passen zu dem, was über das Rechtschreib-Schwäche entwickeln als ande­ angenehmen Terminen.
Lernen insgesamt bereits erforscht ist: Nur re, bereits im Vorschulalter auffielen: Die Im MRT liegt an diesem Tag Lina, fünf Jah­
die dafür nützlichen Hirnzellen verbinden wellenförmige Aktivität der Hörrinde in re alt, Blümchenbluse über mintgrüner Leg­
sich zu neuronalen Netzen, unwichtige und ihrem Gehirn, jenes Bereichs also, in dem gings. Über eine Videobrille könnte sie »Bob
damit ungenutzte Nervenzellen sterben ab. Töne verarbeitet werden, ist aus dem Takt. der Baumeister« schauen, wenn jetzt ihre
»Lernen«, sagt Frohlich, »ist Reduktion von Das erschwert die Kommunikation mit ande­ Hirnströme gemessen würden, aber heute ist
Komplexität.« Es helfe, die Welt verständ­ ren Arealen, die daran beteiligt sind, Schrift­ Lina ans MPI gekommen, damit der Minister­
licher, strukturierter, weniger komplex zu sprache zu bewältigen. präsident vorgeführt bekommt, wie For­
machen. Andere Forschende hätten bei Babys eben­ schung funktioniert. »Herrlich!«, sagt
Das reifende Gehirn spezialisiert sich. Da­ falls Anzeichen dafür gefunden, dass be­ Kretschmer, »Wissenschaft ist so was Tolles!«
bei nimmt nicht nur die Fähigkeit ab, eine stimmte Muster im Gehirn Vorboten einer Lina ist seit ihrer Geburt als Studienteil­
neue Sprache akzentfrei oder wie nebenbei Dyslexie sein könnten, so Skeide. »Das Gehör nehmerin registriert. Wie die anderen Mäd­
ein Instrument zu erlernen. Auch das Spek­ dieser Kinder ist unauffällig«, erklärt er, »aber chen und Jungen, die bei den MRT-Versuchen
trum an Gesichtern, das Kinder wiedererken­ sie haben offenbar Schwierigkeiten, das, mitmachen, hat Lina die Prozedur erst einmal
nen, verengt sich. Können Babys anfangs was sie hören, zu verarbeiten.« Zum Beispiel in einem Nachbau des Geräts geübt. Dabei
noch anders als viele Erwachsene die Gesich­ falle es ihnen schwer, Laute wie »ba« und wird zunächst eine Puppe in die Röhre des
ter von Affen mühelos auseinanderhalten, »da« auseinanderzuhalten. Auch eine Zahlen­ vermeintlichen Tomografen geschoben, und
geht diese Fähigkeit nach und nach zurück. schwäche kann sich laut Skeide früh ab­ den Kindern werden die typischen Pfeif- und
Im Gedächtnis bleiben am Ende vor allem zeichnen. Klopfgeräusche des Geräts vorgespielt. Lina
Mutter, Vater, Geschwister, Erzieherinnen in In manchen Studien werden Babys Bilder freut sich vor jedem Versuch auf die Filme,
der Kita und alle anderen, die sich um den mit 8 oder 16 Punkten gezeigt, und bereits die sie in der Röhre schauen darf, und sie fin­
Babyalltag kümmern. mit sechs Monaten sind sie in der Lage, sie det es spannend, »wie das Gehirn von innen
nach der ungefähren Anzahl zu unterschei­ aussieht«.
Mit der Frage, wie sich im Gehirn Fähigkeiten den. Skeide wäre nicht überrascht, wenn die Auch viele Eltern sind fasziniert von sol­
wie Zählen und Rechnen, Lesen und Schrei­ Zahlenneuronen jener Kinder, die später eine chen Aufnahmen aus dem Kopf ihrer Kin­
ben ausbilden, befasst sich auch MPI-­ Rechenschwäche entwickeln, schon im Säug­ der. »Einige haben schon gefragt, ob sie die
Forscher Skeide in seinem Leipziger Labor. lingsalter Schwierigkeiten mit dem Empfang Bilder mit nach Hause nehmen können«, sagt
Seine Probandinnen und Probanden haben solcher Informationen hätten. MPI-Forscher Skeide. Er entsendet regelmä­
das Babyalter bereits hinter sich. Skeide Heißt das, dass zur Vorsorge im Kleinkind­ ßig studentische Hilfskräfte auf die Geburts­
will herausfinden, wie die Entwicklung wei­ alter künftig ein Hirnscan-Screening auf dro­ station der benachbarten Uniklinik. Dort
tergeht. hende Lese- oder Rechenschwächen gehören verteilen sie Flyer über geplante Studien und
Derzeit setzt der Forscher Elf- und Zwölf­ sollte? Das wohl nicht, sagt Forscher Skeide. fragen die Eltern, ob sie ihre Babys anmelden
jährigen Zahlen vor, die unterschiedlich Aber für manche Kinder könne eine möglichst möchten.
­dargestellt werden: als Ansammlung von frühzeitige Diagnose entlastend wirken, ge­ Lina gehört zu den Versuchspersonen von
Punkten, als Ziffern, als Tonfolgen oder Zahl­ nau wie die Botschaft, dass es einen Grund Skeides Kollegin Charlotte Grosse Wiesmann.
wörter. Via Magnetresonanztomografie be­ Im Moment nimmt das Mädchen an einer
obachtet er, was dabei in den Gehirnen der Studie teil, in der die Neuropsychologin unter­
Kinder geschieht. Seine Vermutung: Be­ sucht, wie sich ab einem Alter von etwa vier
stimmte auf Zahlenwahrnehmung spezia­ bis fünf Jahren die kindliche Sprache von ein­
lisierte Nervenzellen haben bei manchen »Spannend, wie das Gehirn fachen Hauptsätzen zu verschachtelten Kon­
Kindern einen etwas verrauschten Empfang, struktionen entwickelt und wie sich Sprach­
so nennt er es, was die neuronale Grundlage von innen aussieht.« vermögen, soziale Fähigkeiten und das Pla­
für eine Rechenschwäche sein könnte. Lina, 5, Studienteilnehmerin nen von Handlungen ausbilden. Erst in dieser

90 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


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Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 91


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Lebensphase sind Kinder bewusst zum so- Forschung. Danach versetzt das Betrachten
genannten Perspektivwechsel fähig. von Gegenständen, die auf einem Bildschirm
Sie verstehen dann, dass ihr Gegenüber in regelmäßigem Rhythmus aufleuchten und
nicht unbedingt dasselbe weiß wie sie selbst. wieder verschwinden, das Gehirn von Babys

Glitzerfolie
Ein klassischer Versuch sieht so aus: Das Kind in charakteristische Schwingungen, die im
und eine weitere Person beobachten, wie ein EEG zu sehen sind. Das Muster tritt auch
Gummibärchen versteckt wird. Dann verlässt dann noch auf, wenn die Figuren aus Sicht

und Reis
die Person den Raum, und das Gummibär- der Babys verdeckt sind, eine erwachsene
chen wird in ein neues Versteck gelegt. Nach- Person sie aber – für die Babys erkennbar –
dem die Person zurückgekehrt ist, wird das weiterhin sieht.
Kind gefragt, wo sie wohl nach der Leckerei »Das bedeutetet, dass die Säuglinge die
suchen wird. Jüngere Kinder nennen dann Information der anderen Person verarbeiten,
meist das neue Versteck. Sie glauben, dass als würden sie die Figuren selbst sehen«, sagt FÖRDERUNG Eltern müssen nicht
die Person wissen müsse, wo der Gegenstand Grosse Wiesmann. In einer anderen Studie
ist, auch wenn sie beim Versteckwechsel nicht suchten 14 Monate alte Kleinkinder in einer
viel tun, damit ihre Töchter
im Raum war. Denn ihnen, den Kindern, ist Kiste nach einem Gegenstand, von dem eine und Söhne sich gut entwickeln.
es schließlich klar. erwachsene Person glaubte, dass er noch da- Nur das Richtige.
Dennoch können sich auch Babys offenbar rin versteckt sei. Die Kinder setzten die Suche
schon auf bestimmte Weise in andere Men- auch dann fort, wenn sie gesehen hatten, dass

K
schen hineinversetzen. Diese frühe Fähigkeit dieser Gegenstand mittlerweile aus der Kiste aum ist ein Kind geboren, stellt sich
zur Perspektivübernahme haben Grosse herausgenommen wurde. Auch dieses Ergeb- vielen Eltern nicht nur die Frage nach
Wiesmann und andere Forschende nachge- nis werten Wissenschaftler wie Grosse Wies- dem besten Kitaplatz, sondern auch
wiesen, indem sie analysierten, wohin die mann als Beleg dafür, wie sehr kleine Kinder die nach dem Curriculum für die Zeit davor.
Kleinen bei der Suchaufgabe schauen. darauf geeicht sind, sich von der Perspektive Babymassage, Pekip, Krabbelgruppe, Baby-
Das Ergebnis: Die Einjährigen blickten der Großen leiten zu lassen. schwimmen, Babyturnen, Baby-Yoga, Musik-
meist dorthin, wo die andere Person das Gum- Grosse Wiesmann hat zudem gezeigt, dass garten. Und Zeichensprache. Noch ehe
mibärchen vermuten müsste – obwohl sie sich anhand der Aktivität bestimmter Hirn- ­Säuglinge zu sprechen beginnen, können sie
gesehen hatten, dass jemand es von dort weg- strukturen von Babys vorhersagen lässt, wie Gebärden üben, auch das ist ein Ansatz in der
genommen hatte. Die Fähigkeit, dies dann gut sich diese Kinder im Alter von drei Jahren frühen Förderung.
auch in Worten auszudrücken, hängt laut in andere hineinversetzen können. »Wenn Helfen Säuglingen solche Kurse, um sich
Grosse Wiesmann mit Hirnstrukturen zusam- man das besser versteht, kann man früh er- optimal zu entwickeln? Und welcher wäre
men, die bei Kindern im Kita-Alter noch nicht kennen, wenn es nicht so läuft wie bei den der beste, damit sie möglichst schlau, sportlich
entsprechend ausgeprägt seien. Daher wür- meisten Gleichaltrigen«, sagt die Forscherin, und sozial kompetent werden? Wie können
den sie trotzdem meist die falsche Antwort etwa bei Störungen aus dem Autismus­ Eltern, Großeltern, Erzieherinnen und Er-
nennen. spektrum. Menschen, die darunter leiden, fällt zieher sich verhalten, damit den Kindern spä-
Dass Säuglinge so gut darin sind, die Per- es oft schwer, sich in andere hineinzuverset- ter alle Türen offenstehen?
spektive anderer zu übernehmen, liegt mög- zen. Schon bei kleinen Kindern könne dann Die Antwort der Hirnforschung ist ein-
licherweise daran, dass sie in dieser frühen mit gezieltem Training der betroffenen Hirn- deutig: Ein Kind, das auf die Welt kommt,
Lebensphase maximal abhängig sind. Sie strukturen gegengesteuert werden, hofft sie. bringt bereits alles mit, um sich so zu ent­
können nicht sprechen, sich nicht selbst ver- »Dafür müsste man aber im ersten Lebensjahr wickeln, wie es die Evolution für den Men-
sorgen, und die Fortbewegung aus eigener wissen, ob eine solche Störung besteht.« schen im Programm hat. Neugeborene, das
Kraft ist noch nicht weit entwickelt. Sie leben Im Labor von Andrew Meltzoff, der vor zeigen Erkenntnisse aus Neurowissenschaft
und erleben also vor allem durch andere. fast 50 Jahren entdeckte, dass Neugeborene und Entwicklungspsychologie, können und
Dazu passt ein weiteres, noch nicht ver- die Grimassen anderer Menschen nachahmen verstehen sogar weit mehr als lange angenom-
öffentlichtes Ergebnis aus Grosse Wiesmanns können, nehmen sich die Babyforscher seit men. Ganz ohne Förderprogramme.
Kurzem auch Erwachsener an. Sie vermessen »Ein Kurs in der Gruppe kann trotzdem
die Hirnströme von Müttern und Vätern, sehr spannend sein«, sagt Sabine Walper,
wenn die mit ihren Kindern spielen oder ih- ­Direktorin des Deutschen Jugendinstituts
nen vorlesen. (DJI) in München. Denn die Kleinen erken-
Das Team will wissen, ob sich die enge nen andere Babys als Artgenossen, »die ge-
Verbindung zwischen Baby und Bezugsper- nauso herumrollen und kriechen wie sie
son im Gehirn widerspiegelt, ob sich eine gute selbst«. Gerade weil viele Kinder nicht mehr
Bindung bereits daran erkennen lässt, dass mit einer Schar von Geschwistern, Cousins
sich die Ausschläge in ihren EEGs gleichen. und Cousinen im ähnlichen Alter aufwüchsen,
Und ob wenig synchrone Hirnaktivitäten um- seien solche Erfahrungen anregend.
gekehrt zeigen, dass Mutter oder Vater die Zugleich verpasst niemand etwas, der als
Bedürfnisse von Sohn oder Tochter nicht rich- Baby keinen Krabbelkurs besucht. Am Anfang
tig erkennen. »Das ist ein ganz neues Gebiet des Lebens ist alles neu, alles bedeutet Lernen,
in der Entwicklungspsychologie«, sagt Melt- Staunen, Erfahren. Das eigene Zuhause und
zoff. »Wir werden damit eine Art der Kom- der Familienalltag liefere in aller Regel den er-
munikation untersuchen, die tiefer geht als forderlichen Input für die beeindruckenden
Sprache.« Entwicklungsschritte in dieser Phase, so Psy-
Es wären Erkenntnisse, die dabei helfen chologin Walper, vor allem wenn Eltern, Groß-
könnten, frühen Bindungsstörungen vorzu- eltern und andere Bezugspersonen die Kinder
beugen. Diese gehören zu den größten dabei unterstützen, Erfahrungen zu sammeln,
Hemmnissen für die gesunde Entwicklung und ihre natürliche Neugier nicht unterdrücken.
MPI CBS

eines Kindes. Eltern sollten viel mit dem Baby reden und
Baby mit EEG-Kappe, Mutter in Leipzig Veronika Hackenbroch, Julia Koch n dabei eine abwechslungsreiche Sprache ver-

92 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


TITEL

wenden. Sie sollten es dabei anschau­


en und signalisieren, dass sie es ver­
stehen; und wahrnehmen, wofür das
Kind sich interessiert. »Gemeinsam die
Aufmerksamkeit auf etwas zu richten,
bietet den Kindern ganz wichtige Ent­
wicklungsmomente«, sagt Walper.
Später sind erste Spiele hilfreich,
Bilderbücher anschauen, malen, kne­
ten, basteln. »Das sind Tätigkeiten, die
Kinder für ihre Entwicklung brauchen,
die Erwachsenen müssen sie ermög­
lichen und die Kinder einfach machen
lassen – mit Anteilnahme und interes­
sierter Begleitung, ohne währenddes­
sen aufs Smartphone zu schauen.«
Denn Kinder registrieren, wenn die
Großen nicht bei der Sache sind. Das
Smartphone binde oft viel zu viel Auf­
merksamkeit der Eltern, die dann den
Kleinen fehlt. Das könne fast so schäd­
lich sein wie die Kleinen selbst vor den
Bildschirm zu parken.
Walper empfiehlt, die Magie der

Ian Waldie / Getty Images


Worte zu nutzen. Geschichten, Mär­
chen, Reime, erzählt oder vorgelesen,
sollten die gesamte frühe Kindheit
begleiten. »Es gibt viele Belege dafür,
dass Vorlesen die Kinder gut auf die
Schule vorbereitet«, sagt die Entwick­
lungspsychologin. Glück habe, wer in Eltern mit Babys schen umgehen, sagt auch Andrew Ebenso wenig haben alle zur sel­
der Nähe von Oma und Opa wohne: im Schwimmbad: Meltzoff von der University of Wa­ ben Tageszeit Lust auf einen Baby­
»Ein Kurs in der
»Großeltern lesen ihren Enkelkindern Gruppe kann sehr
shington in Seattle. Der Psychologe kurs. »Manchmal passt ein fester Ter­
in der Regel sehr gern vor und können spannend sein« ist einer der renommiertesten Exper­ min nicht in den Rhythmus, weil das
sich dafür oft Zeit nehmen.« Schät­ ten für die frühe Entwicklung. Er sagt: Baby gerade schläft oder sich ent­
zungsweise 13,5 Millionen Menschen »Wir sind die ersten Lehrer unserer spannt, wenn die größeren Geschwis­
in Deutschland haben Enkelkinder, Kinder. Sie wollen sein wie wir.« ter in der Kita sind und es zu Hause
die jünger als 14 Jahre sind. Wenn Eltern wollten, dass ihre Kin­ ruhig ist«, sagt Hummel.
Auch für Eltern sollte es kein Pro­ der zu mitfühlenden und respektvol­ Die Erziehungsexpertin hält ohne­
blem sein, ausgiebig vorzulesen: Sie len Menschen heranwachsen, »dann hin wenig von Trainingstipps für be­
verbringen heute die Zeit mit ihrem sollten sie sich selbst so verhalten«. stimmte Fertigkeiten. Sie rät Eltern,
Nachwuchs anders als früher. Laut dem Allerdings sind die besonders ein­ im Alltag »Lerngelegenheiten« zu
jüngsten Familienbericht der Bundes­ fach klingenden Ratschläge oft am schaffen und Spielzeuge zu basteln,
regierung, der von einer Gruppe von schwersten umzusetzen. Inke Hum­ mit denen die Kinder Wahrnehmung
Sachverständigen unter Leitung der mel erlebt das täglich, die Bonner und Feinmotorik trainieren können:
DJI-Chefin Walper wurde, hat sich in Pädagogin arbeitet als Familienbera­ leere, transparente Trinkflaschen
Deutschland »die Elternschaft intensi­ terin, teils selbstständig, teils in einer etwa, gefüllt mit Glitzerfolie, Reis
viert«. Mütter und Väter widmen ihren kinderpsychiatrischen Praxis, außer­ oder gefärbtem Wasser. Außerdem
Kindern viel mehr ungeteilte Aufmerk­ dem schreibt sie Erziehungsratgeber. sollten Eltern auch schon Babys
samkeit. Und das, obwohl die Mehr­ Einen Teil ihrer Kundschaft ver­ ­erlauben, Alltagsgegenstände wie
zahl der Mütter, anders als vor einigen dankt sie inzwischen der heilen Welt ­Küchenutensilien zu erkunden. »So
Jahrzehnten, berufstätig ist. Das könn­ von Instagram. »Die Eltern sehen dort, können sie ein Umfeld schaffen, in
te erklären, warum Elternsein heute was andere Kinder schon alles können, dem ihr Kind viele Lernchancen hat.«
als anstrengender empfunden wird als wie gut sie kooperieren, und machen Vom klassischen Krabbelkurs pro­
in der Vergangenheit. sich Sorgen, wenn es bei ­ihnen anders fitieren vor allem Eltern, weil es sie be­
Verausgaben sich Eltern allerdings läuft«, sagt Hummel. Dann kämen sie ruhigt, sich auszutauschen. Für Päda­
zu sehr in ihrer Sorge und Fürsorge, in ihre Beratung und wollten wissen, gogin Hummel jedenfalls liegt das wich­
kann das im schlimmsten Fall die Ent­ warum nur ihr Kind Wutanfälle habe. tigste Lernziel bei ihnen: »Vertrauen in
wicklung ihrer Töchter und Söhne aus­ Eine Zeit lang hat Hummel auch Kinder und in ihre Entwicklung.« So
bremsen. Kinder müssten schon mal Babykurse angeboten, Vergleiche wa­ sieht es auch Sabine Walper, die Chefin
hinfallen dürfen, um Körperempfin­ ren dort ständig ein Thema: Ist mein am DJI. »Den Eltern, die sich richtig
den und Muskelbeherrschung zu schu­ Kind zu dick, warum kann es noch viel Stress machen mit der Förderung
len, sagt Walper. »Wenn wir sie vor nicht krabbeln, die anderen sprechen ihrer Kinder, möchte ich deutlich sagen:
Christina Scheuer

allen Gefahren schützen und ihnen schon. »Viele dieser Eltern waren sehr Entspannt euch! Kinder haben in aller
jedes Hindernis aus dem Weg räumen, nervös«, sagt die Pädagogin. Sie habe Regel ein eingebautes Programm, mit
tun wir den Kindern keinen Gefallen.« dann immer erklärt, »dass eben nicht dem sie sich das holen, was sie für ihre
Kinder nähmen sehr genau wahr, alle Kinder im selben Alter laufen und Entwicklung brauchen.«
wie Erwachsene mit anderen Men­ Pädagogin Hummel sprechen«. Julia Koch  n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 93


TITEL

»Je modulierter das Weinen,


umso ­sprachbegabter«
SPIEGEL-GESPRÄCH Die Anthropologin Kathleen Wermke, 63, erforscht das Schreien von Neugeborenen:
Was wollen Babys damit sagen? Und wann sollten sich Eltern Sorgen machen?

SPIEGEL: Frau Professorin Wermke, welches SPIEGEL: Sind deutschsprachige Babys denn genommen. So konnten wir nachweisen,
ist Ihr liebstes Babygeräusch? ähnlich talentierte Sängerinnen und Sänger dass das Weinen schon ganz früh typische
Wermke: Ich mag die Mischung aus Melodie wie die in Kamerun? Eigenschaften hat.
und dem Beginn von Artikulation: Wenn die Wermke: Prinzipiell ja. Auch bei uns unter- SPIEGEL: Welche sind das?
Babys beim Weinen zwischendurch »chr, chr« teilen Babys vom ersten Lebenstag an die Wermke: Japanische und schwedische Babys
machen. Oder »pf, pf«. Und das Klicken fin- Luft, die sie ausatmen, sie machen zum Bei- weinen melodisch komplexer als gleichaltrige
de ich traumhaft schön. spiel »aaaaaaa-ch-aa«. Dadurch entsteht deutsche Kinder, mit einer größeren Zahl so-
SPIEGEL: Das Klicken? Rhythmus, der unbedingt geübt werden muss, genannter Melodiebögen. Darin deutet sich
Wermke: Ja. Mein Team und ich haben frühe um in die Melodie später gezielt Konsonanten schon eine Eigenschaft ihrer jeweiligen Mut-
Laute von Säuglingen aus dem Volk der Nso einzufügen und damit Worte zu bilden. Säug- tersprache an: Japanisch und Schwedisch sind
in Kamerun aufgezeichnet und festgestellt, linge mit sogenannter orofazialer Spaltbil- sogenannte Tonakzentsprachen. Die Melodie-
dass die Kinder dort schon mit drei Monaten dung, zum Beispiel einer Lippen-Kiefer-Gau- bögen heben einzelne Silben stark hervor.
komplizierte Klicklaute in ihre Brabbelmelo- menspalte, geben solche Laute öfter von sich. Schon im Mutterleib hören die Babys diese
die einbauen. Die Klicks sind für die Sprache Wir nehmen an, dass sie damit bereits ihre Sprachmelodien, und wir konnten sie in ihren
der Erwachsenen typisch. Wir dachten erst, eingeschränkte Fähigkeit zur Bildung von Weingeräuschen wiederfinden. Französische
es sei ein technischer Fehler in den Aufnah- Konsonanten auszugleichen versuchen. We- Neugeborene heben beim Weinen die Stimme
men, wir haben nicht verstanden, dass es gen ihrer anatomischen Besonderheit können am Ende eines Lautes, sie schreien mit an-
wirklich Säuglingsgeräusche sind. Dass wir sie Konsonanten ja nicht so gut erzeugen, steigenden Melodiekonturen. Deutsche Babys
sie gefunden haben, war eine kleine Sensa- jedenfalls, solange die Spalte chirurgisch nicht tun das eher mit fallender Melodiekontur.
tion. Damals war es die Lehrbuchmeinung, verschlossen worden ist. Und das spiegelt schon die charakteristische
dass Kinder so komplex erst artikulieren kön- SPIEGEL: Und Babys weinen von Anfang an Intonation der beiden Sprachen wider.
nen, wenn der Kehlkopf absinkt, also mit etwa im landestypischen Tonfall, auch das zeigt SPIEGEL: Haben Sie auch Unterschiede im
sechs Monaten. Ihre Forschung. Weinen von Jungen und Mädchen gefunden?
SPIEGEL: Aber in Wahrheit beginnt Sprache Wermke: Ja, ich hatte das Glück, dass einige Wermke: Durchaus. Aber sie haben erst ein-
viel früher? meiner Doktorandinnen solche Unterschie- mal nichts mit dem Geschlecht zu tun, son-
Wermke: Wenn wir Sprache streng linguis- de erforschen wollten. Eine hatte Großeltern dern damit, wie ausbalanciert unterschiedli-
tisch definieren, dann beginnt sie mit dem in Japan, eine wollte gern nach Schweden, che Sexualhormone sind. In den ersten sechs
ersten Laut, den ein Kind verwendet, um eine andere hatte früher in Frankreich ge- Lebensmonaten steigen Testosteron und Es-
etwas Bestimmtes zu bezeichnen. Das kann lebt. Sie sind dann in diese Länder gereist tradiol an. Je höher dann der Anteil des weib-
auch ein sogenanntes Protowort sein, wenn und haben Laute von Neugeborenen auf- lichen Geschlechtshormons Estradiol ist, des-
es etwa »äh-äh« sagt und damit Milch meint. to komplexer sind die Melodien der Babys.
Aber der Weg dahin lag für die Wissenschaft Es gab Jungs in einer unserer Studien, die
lange im Dunkeln. Babyweinen wird bis heu- hatten hohe Estradiol-Werte und haben wun-
te in den meisten Modellen zur frühen derbar gesungen. Und genauso wie die Mäd-
Sprachentwicklung ignoriert. Es gilt ja auch chen, die besonders melodiös klangen, haben
meist als negativ: Viele Eltern haben die sie sich in der Brabbelphase mit sechs Mona-
Vorstellung, dass es ein Ausdruck von Leid ten vielfältiger ausgedrückt als Kinder mit
sei, und tun alles, um es zu stoppen. Aber einem niedrigen Estradiol-Wert. Der Effekt
Weinen gehört nun mal zu den ersten Lau- hält offenbar an: Im Alter von zweieinhalb
ten, die ein Baby von sich gibt. Es übt damit Jahren schneiden Kinder, die als Babys be-
vieles ein, was es für die Sprache brauchen sonders komplexe Schreimelodien produzie-
wird. Die ersten Wörter kommen ja nicht ren, in Tests zu Sprachverständnis besser ab
plötzlich aus dem Nichts, es dauert viele und können auch besser sprechen als andere.
Monate bis dahin. Der Weg zur Sprache SPIEGEL: Werden aus Babys, die besonders
führt über die Melodie des Weinens. Sie viel schreien, also besonders sprachgewaltige
drückt emotionale Botschaften aus, ähnlich Menschen?
Kathrin Königl / DER SPIEGEL

wie Musik. Ich nenne alle Babylaute daher Wermke: Nein, die Qualität ist entscheidend,
auch lieber Gesang. nicht die Menge der Laute: je modulierter,
umso sprachbegabter. Das ist ein zuverlässiger
Befund, sozusagen ein ganz früher Sprachtest.
Kathleen Wermke: »Babygesänge«. Molden Verlag; 224 Sei- Aber natürlich können auch Kinder, die nicht
ten; 26 Euro.
Das Gespräch führten die Redakteurinnen Julia Koch und ganz so variantenreich klingen, ein ordent-
Katja Thimm. Wissenschaftlerin Wermke liches Sprachlevel erreichen.

94 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


TITEL

SPIEGEL: Wenn melodisches Weinen


ein Hinweis auf Sprachbegabung ist:
Müssen Eltern sich dann sorgen,
wenn aus dem Kinderbett vor allem
eintöniges Gebrüll kommt?
Wermke: Um Himmels willen! Das
sind erst einmal interessante Laute,
über die sich Eltern freuen dürfen,
weil sie ihnen etwas mitteilen. Dass
ihr Kind Hunger hat, dass es Nähe
braucht. Wenn Eltern ihren Kindern
liebevoll zuhören, verstehen sie diese
Laute, diese emotionale Sprache, ja
meist auch ziemlich zuverlässig.
SPIEGEL: Sind Laute und Sprache das
wichtigste Instrument, mit dem Men-
schen Bindungen aufbauen?
Wermke: Bindung entsteht ebenso
über Gerüche und Berührung; ein
Pullover im Kinderbett, der nach
Mutter oder Vater riecht, beruhigt
ein Baby oft auch. Aber die Möglich-
keiten, Empfindungen auszudrü-
cken, sind mit Lauten natürlich viel-

Westend61 / IMAGO
fältiger. Das gilt sogar noch für
­Erwachsene. Es ist ein großer Unter-
schied, ob ich mit einer monotonen
Stimme sage »Ich freue mich, dass
Sie heute hier sind« oder ob ich dabei
erfreut oder überrascht klinge. Die Vater mit Säugling chen. Das könnte auch mithilfe von dass ich dann früher aus dem Labor
Fähigkeit, über Stimme und Sprache künstlicher Intelligenz geschehen. nach Hause kommen würde.
Bindung aufzubauen, ist eine Grund- SPIEGEL: Sie haben den ersten Schrei SPIEGEL: Was passiert im schlimmsten
lage unserer gesamten menschlichen Ihrer eigenen Tochter im Kreißsaal Fall, wenn das Geschrei eines Kindes
Kultur. »Vocal Bonding« heißt das in aufzeichnen lassen. Wie kam das an ignoriert wird?
der Fachwelt. Es ist der Antrieb für beim Team der Geburtsmedizin? Wermke: Das Baby würde immer
den gesamten Spracherwerb. Das Wermke: Die fanden das spannend. mehr schreien und am Ende erschöpft
primäre Ziel von Neugeborenen ist Das war 1982, da hat ja noch kein einschlafen. So weit sollte man es
nicht zu sprechen. Sie wollen dazu- Mensch an so etwas gedacht. Es gab aber nicht kommen lassen. Ich bin
gehören. auch keine Handys, mit denen die auch nicht dafür, dass man Babys auf
SPIEGEL: Was denken Sie, wenn Sie Väter filmten. Mein Mann hatte ein diese Weise das Einschlafen anzutrai-
im Großraumabteil eines ICE sitzen, Tonbandgerät dabei, eine ziemlich nieren versucht. Schreien gehört zum
und hinter Ihnen schreit die ganze große Maschine, und wir nahmen ab- normalen Lautrepertoire, es ist im-
Zeit ein Säugling? wechselnd das Weinen der ersten Le- mer eine Botschaft. Wenn Eltern es
Wermke: Ich analysiere innerlich die benstage auf. Unsere Tochter ist in hören, schauen sie, was los ist, sie
Struktur, die wiederkehrenden Mus- einem kleinen Krankenhaus in der nehmen ihr Kind auf den Arm. Wir
ter. Wenn ein Kind besonders melo- damaligen DDR geboren. Ich habe werden doch auch gern getröstet,
diös weint oder Brabbellaute von sich gesagt: Ich bin Babyforscherin, meine wenn es uns nicht gut geht. Babys
gibt, frage ich manchmal, wie alt es Tochter muss in meiner Nähe bleiben. schreien, weil sie Nähe brauchen.
ist, und gleiche es im Geiste mit mei- Das Tonband hatte ich auch die gan- SPIEGEL: Gilt das auch für sogenann-
nem Entwicklungsmodell ab. Und bei ze Zeit mit im Zimmer. te Schreibabys?
sehr hochfrequenten oder ungewöhn- SPIEGEL: Bis zu welchem Alter haben Wermke: Dieses Wort verwende ich
lich klingenden Schreien horche ich Sie das Gebrüll Ihrer Tochter dann nicht. Babys, die in diese Kategorie
auch auf. aufgenommen? eingeordnet werden, können sich oft
SPIEGEL: Warum das? Wermke: Oh, ich habe alle ihre wun- nicht entwicklungsgerecht selbst re-
Wermke: Weil schrilles Schreien mit derbaren Lautäußerungen dokumen- gulieren und beruhigen. Das hat nicht
monotoner Melodie ein Hinweis auf tiert, wann immer ich Zeit dafür hatte. zwangsläufig etwas damit zu tun, dass
Gehörlosigkeit sein kann. Auch an- Bei meiner zweiten Tochter habe ich die Mutter oder Eltern die Bedürf-
dere Störungen im Gehirn schlagen das genauso gemacht und später bei nisse des Kindes nicht erkennen, auch
sich in der Lautbildung nieder, ein- meinen Enkelkindern. Meine For- wenn das früher in den Schreiambu-
fach deswegen, weil die entsprechen- schung war immer auch ein Familien- lanzen manchmal so vermittelt wor-
den neuronalen Systeme eng mitein- projekt, alle mussten mitmachen. den ist. Weinen besser zu verstehen
ander verwoben sind. Um Hörschä- »Meine For- Mein Mann hat die Laute alle archi- könnte auch diesen Babys helfen.
digungen möglichst früh zu erkennen viert und eine Software für die SPIEGEL: Gestressten Müttern dürfte
und Hörhilfen bestmöglich anzupas- schung war ­Auswertung programmiert. So eine das manchmal schwerfallen.
sen, würde es sich wirklich lohnen, immer auch Analyse von Babygesang ist enorm Wermke: Das stimmt, aber es hilft,
das Weinen und Brabbeln betroffener ­aufwendig, es gab dafür keine Förder- dem Baby zuzuhören. Es geht darum,
Babys systematisch zu analysieren ein Familien- mittel. Mein Mann hat sich auch dass wir Erwachsenen versuchen zu
und nach Gemeinsamkeiten zu su- projekt.« ­deshalb so engagiert, weil er hoffte, begreifen, was es ausdrücken will.

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 95


TITEL

Mütter sollten das Baby nicht immer gleich


an die Brust nehmen und die Lautbotschaften
»Manchmal will ein Kind SPIEGEL: Bildet der Spracherwerb eines Babys
wie im Zeitraffer die Evolution der Sprache ab?
durch Nahrung stoppen. Manchmal will ein auch einfach Ruhe haben.« Wermke: Das denke ich durchaus. Die kind-
Kind auch einfach Ruhe haben. Oft sind Ba- liche Entwicklung ist unsere beste Chance,
bys in unserer hektischen Welt überreizt. um zu verstehen, wie der Mensch grundsätz-
Also: Radio aus, Fernseher aus. Für Babys ist lich zur Lautsprache gekommen ist. Wenn
das hochfrequente Piepen des TV-Geräts wie Aber in der Sprachentwicklung sind alle Babys lallen, brabbeln oder greinen ähnelt
für uns ein Tinnitus. Schritte aufeinander abgestimmt. Die Melo- das nach allem, was wir wissen, dem Singsang
SPIEGEL: Welchen Einfluss hat es dann auf die die ist erst einfach und wird dann immer kom- unserer Vorfahren vor ein bis zwei Millionen
Sprachentwicklung, wenn kleine Kinder in plexer, der Rhythmus immer variantenreicher, Jahren. Wenn die am Feuer saßen, kann sich
Krippen oder Kitas auf viele lärmende, schrei- Konsonanten werden in die Melodie einge- das durchaus ein bisschen so angehört haben
ende Kinder treffen? baut. Diese Prozesse gehen mit der Reifung wie heute in einer Kinderkrippe.
Wermke: Die Stimmen anderer Kinder sind des Gehirns einher. Bei manchen Kindern SPIEGEL: Säuglinge können einerseits jede
erst einmal gut. In Krippen oder Kitas gibt es beginnt dieser Prozess früher als bei anderen, Sprache der Welt erlernen, andererseits be-
viele brabbelnde, rufende, sprechende Kin- das ist ganz normal. Aber wenn ein Kind in reits kurz nach der Geburt eine fremde Spra-
der, die auf demselben oder einem ähnlichen dieser Phase emotionale Kälte erlebt oder che als fremd erkennen. Wie kann das sein?
Entwicklungsstand sind: Das regt die eigene nicht gut hören kann, wird es ihm schwerer Wermke: Die Prägung auf die Muttersprache
Lautproduktion an. Wir hatten in unserem fallen, sprechen zu lernen. beginnt schon während der Schwangerschaft.
Labor einmal eine Versuchsreihe mit Babys, SPIEGEL: Was raten Sie Eltern, die ihre Kinder Im Uterus hören die Ungeborenen die Stim-
von denen wir annahmen, dass sie sich aus beim Sprechenlernen unterstützen wollen? me der Mutter, die Gespräche der anderen,
medizinischer Sicht später mit Sprache Wermke: Sie sollten sich möglichst liebevoll gedämpft zwar, aber erkennbar. Die grund-
schwertun könnten. Denen haben wir Laute verhalten und dabei auf die Laute ihrer Kin- sätzliche Fähigkeit, auf diese Weise die Um-
von etwas älteren Babys vorgespielt, die wir der in all ihren Variationen eingehen. Sie dür- gebungssprache zu erlauschen, ist universal.
mit Cembalo-Musik gemischt haben. Diese fen gern selbst viel singen, Reizüberflutung Und je nachdem, welche Sprache das Baby
Klangkombination hat die Lautbildung der sollten sie dagegen möglichst vermeiden. Die dann vor allem hört, entwickeln sich Wort-
jüngeren offenbar stimuliert, sie stimmten mit meisten Eltern wissen intuitiv, wie das geht, schatz, Grammatik, Syntax. Diese Fähigkeit
eigenem Gesang ein. nur ist dieses Wissen oft überlagert von einer ist angeboren. Die Ursprache, nach der oft
SPIEGEL: Viele Eltern sorgen sich, wenn ihr Flut von Tipps aus Büchern oder Elternblogs. gesucht wird, findet sich nicht in einer Ur-
Kind mit anderthalb Jahren noch keine Wör- Mein Rat an alle Eltern ist: Akzeptiert, dass grammatik oder einem Ursatzbau, wie viele
ter spricht. der Weg zur Sprache mit Melodie und Rhyth- Linguisten annehmen. Die Ursprache liegt im
Wermke: Die meisten Kinder sprechen dann mus im Weinen beginnt. Das ist doch wie Gesang aller Babys auf der Welt.
ja auch, und es stimmt, dass der Spracherwerb Magie: sich vorzustellen, dass das bei allen SPIEGEL: Frau Professorin Wermke, wir dan-
in einem frühen Alter besonders leichtfällt. Babys auf der Welt gleich ist. ken Ihnen für dieses Gespräch. n

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WISSEN

Crutzen war ein niederländischer Atmosphä-


renchemiker, für seine Forschung zum Ozon-
loch erhielt er den Chemienobelpreis. Damals
schrieb er einen Artikel, der sich für manche

Auf den Grund gegangen


wie ein Appell las. Darin hieß es: »Die
Menschheit wird eine wichtige geologische
Kraft für viele Jahrtausende, vielleicht Mil-
lionen von Jahren bleiben.«
Die Idee verfing. In den folgenden Jahren
GEOLOGIE Wie tiefgreifend hat der Mensch den Planeten verändert? wurden etliche Symposien und Konferenzen
zum Anthropozän ausgerichtet. Lehrstühle
Haben wir bereits ein neues Erdzeitalter geschaffen? wurden geschaffen. Politiker sprachen in ihren
Der Streit um das Anthropozän spaltet die Wissenschaft. Im Zentrum Reden davon. Die Vereinten Nationen nutz-
der Debatte: ein kleiner See in Kanada. Eine Spurensuche. ten den Begriff. Museen widmeten ihm Aus-
stellungen. Bücher wurden über das Anthro-
pozän geschrieben, und es wurde in Liedern

W
as bleibt? Was bleibt, wenn der besungen.
Mensch nicht mehr ist, vielleicht in Natürlich war damit noch nicht bewiesen,
einigen Jahrzehntausenden, viel- dass tatsächlich eine neue Erdepoche ange-
leicht auch erst in Jahrmillionen? Was findet brochen war. Doch aus Sicht vieler Menschen
man von uns in ferner Zukunft? Tim Patterson war die Sache klar. Sie mussten sich auf dem
hat eine Ahnung. Diese lagert in einem Labor Planeten nur umblicken. Seen sind trocken-

De Agostini / Getty Images


im kanadischen Ottawa in einer Kühltruhe. gelegt, Täler geflutet, Flüsse begradigt, Kanä-
Eingewickelt in Folie liegt ein Gebilde, das le gegraben. Küsten sind befestigt und neue
ein wenig einem missglückten Teigfladen äh- Inseln aufgeschüttet. Der Mensch hat Urwäl-
nelt. Etwa einen Meter lang, einige Zentime- der gerodet. Er hat nach Gold geschürft, nach
ter dick, braun. Entfernt der Forscher die Fo- 1 Kohle, nach Diamanten. Er hat sich genom-
lie, werden Streifen sichtbar, manche dünner men, was vorher in Jahrmillionen entstand.
als ein Millimeter. Helle und dunkle wechseln Viele Kurven kennen nur eine Richtung:
sich ab wie bei einem Baumkuchen. nach oben. Der Verbrauch an Öl oder Gas.
Würde man den Fladen auftauen lassen, Der Anteil an Kohlendioxid in der Luft. Die

Raul Ariano / Bloomberg / Getty Images


würde er nach und nach seine Form verlieren. Produktion von Plastik, Beton, Aluminium,
Er würde zu dem werden, was er einmal war: die Fläche von Städten – alles nimmt zu. Dazu
Schlamm. Geborgen vom Grund eines kleinen droht das größte Artensterben seit 66 Millio-
Sees bei Toronto, dem Crawford Lake. nen Jahren.
Patterson ist Geologe, er erforscht an der Nur eine Gruppe von Wissenschaftlern
Carleton University in Ottawa das Klima der stand der Idee eines neuen Zeitalters in gro-
Vergangenheit. Jahrzehntelang hat er Tau- ßen Teilen skeptisch gegenüber: die Geolo-
sende Bohrkerne aus Meeren und Seen ge- 2 gen. Und auf sie kommt es an.
sammelt. Wenn er sie im Labor analysierte, Für die Einteilung der Erdzeitalter ist eine
erfuhr er stets die Geschichte des jeweiligen geologische Fachgesellschaft zuständig, die
Ortes. Wie die Temperaturen schwankten, Internationale Kommission für Stratigrafie
wie Fischpopulationen verschwanden, wie (ICS). Ihre Mitglieder sind so etwas wie die
Arsen einen See vergiftete. Die Probe aus Hüter der Erdgeschichte. Mehr als 4,5 Mil-
dem Crawford Lake aber erzählt eine ganz liarden Jahre seit Entstehung des Planeten
besondere Geschichte. haben sie geordnet, unterteilt in Einheiten
Deutlicher als andere Gewässer speichert und Untereinheiten. Die Kommission beauf-
der See auf seinem Grund ab, was im Wasser tragte 2009 eine Arbeitsgruppe, die Idee eines
versank. Vor allem in den letzten Jahrzehnten Menschenzeitalters auszuarbeiten, »Anthro-
Bettmann Archive

verzeichnet dieses natürliche Archiv viele pocene Working Group«, kurz AWG.
markante Ereignisse. Kohlekraftwerke feuer- 3
Für die Ausrufung eines Erdzeitalters
ten Ruß fast ungefiltert in die Luft. Der See schreibt die Kommission Regeln vor. Anträge
speicherte es. Amerikaner und Sowjets tes- müssen gestellt werden, verschiedene Gre-
teten Atombomben, Tausende Kilometer ent- mien darüber abstimmen. Vor allem braucht
fernt. Gespeichert. In den Achtzigerjahren es einen Ort, an dem sich im Gestein klar
ging saurer Regen auf kanadische Wälder zeigt, dass die Erde eine Zäsur durchlebte.
nieder. Gespeichert. Pestizidrückstände, Dün- 14 Jahre lang sammelten die AWG-Mit-
gemittel, Mikroplastik. Gespeichert. glieder Anzeichen für das, was der Mensch
Ulet Ifansasti / Getty Images

Der Mensch gestaltet den Planeten um, mit dem Planeten anrichtet. Ende 2023 legten
das ist das große Thema unserer Zeit. Doch sie ihre Arbeit zur Abstimmung vor. Sie spra-
die Probe aus dem kanadischen See zeigte chen sich dafür aus, das Holozän zu beenden,
noch mehr. Geologe Patterson ist davon über- das aktuelle Zeitalter. Es begann vor 11.700
zeugt, dass sie den Beginn eines neuen Erd- Jahren, nach dem Ende der letzten Eiszeit.
4
zeitalters markiert. Das neue Zeitalter wäre keine 75 Jahre alt.
Geologen denken in Jahrmillionen, sie fin-
Es war eine kühne Idee, für manche auch eine 1 | Kupfermine in Utah den ihre Spuren in meterdicken Gesteins-
2 | Skyline von Shanghai
absurde. Im Jahr 2000 rief Paul Crutzen das 3 | Atombombentest im Pazifik schichten. Auf einmal ging es um eine Zeit-
Anthropozän aus, das Menschenzeitalter. 4 | Gerodeter Wald in Indonesien spanne, die kürzer war als so manches Men-

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 97


WISSEN

schenleben. Viele Geologen machten deshalb


von Beginn an keinen Hehl daraus, dass sie
»Was wir in diesem See gehen, dass Forscher weltweit die Grenzen
zwischen zwei Erdzeitaltern gleich ziehen,
den Antrag für Unsinn hielten. finden, ist wahrscheinlich gaben sich die Geologen Standards. Über-
Einige Wochen lang beriet ein Untergre-
mium der ICS, die Mitglieder tauschten zahl-
weltweit einmalig. Es wacht werden sie von der ICS.
Ein Katalog legt fest, dass sich etwa deut-
reiche Mails aus. Die Fronten waren verhär- sind die perfekten Belege liche Spuren finden lassen müssen, die eine
tet. Anfang März wurde bekannt, dass nur vier
Mitglieder dem AWG-Antrag zugestimmt hat-
für das Anthropozän.« Zäsur in der Erdgeschichte belegen. Die Spu-
ren müssen sich über den gesamten Planeten
ten, zwei enthielten sich. Zwölf waren dagegen. Francine McCarthy, Geowissenschaftlerin ziehen. Die Orte sollten gut zugänglich sein
In der Fachwelt herrscht seither Auf­regung. – und gut geschützt. Mehrere Gremien müs-
Manche Geologen sind entsetzt über die Ent- sen diesen Ort bestätigen. Erst dann wird dort
scheidung – andere erleichtert. Man könnte eine Plakette ins Gestein geschlagen, als eine
das als einen sonderbaren Fachstreit abtun. Nach und nach sinkt es zu Boden und formt Art Grenzmarker der Zeitalter. Golden Spikes
Doch dabei geht es um eine Frage, die größer eine weiße Schicht. Im Herbst, wenn die Tem- werden sie genannt, goldene Nägel. Sie finden
kaum sein könnte: Wie sehr prägt der Mensch peraturen fallen und Algen und Bakterien sich in Australien oder Usbekistan, in Marok-
die Erde? absterben, bildet sich eine dunkle Schicht. ko oder der Eifel.
Viermal schon fuhr Patterson zum Crawford Hell. Dunkel. Hell. Dunkel. Hell. Dunkel. Aber kann es so einen Ort auch für ein
Lake, um Proben zu nehmen. Der See liegt im Da sich in dem See zudem zwei Wasser- Zeitalter geben, das gerade erst beginnt? Und
Südosten Kanadas. Er ist nicht besonders groß. schichten befinden, die sich nicht mischen, welche Spuren sollten das sein, die so ein-
Spaziergänger haben ihn in gut 30 Minuten und da auf dem Grund keine größeren Lebe- deutig sind?
umrundet. Er ist auch nicht außer­gewöhnlich wesen existieren, keine Pflanze und kein Tier, Jahrelang suchte die Anthropozän-Gruppe
schön. Thujen und Birken säumen das Ufer, lagert sich so, Jahr für Jahr, ungestört alles ab, danach. Teams erforschten Korallenriffe im
zwischen ihnen windet sich eine zerklüftete was der Mensch der Umwelt antut: Dünger- Golf von Mexiko und ein Moorgebiet in
Karstlandschaft. Seit 1969 ist der Crawford Lake reste, Flugasche, Plutoniumstaub. Polen, sie bohrten ins antarktische Eis und
ein Naturschutzgebiet, bewacht von Rangern. kletterten in eine Tropfsteinhöhle in Italien.
Das letzte Mal kam Patterson im April 2023 An jenen Apriltagen warteten die Forscher 30 Kein Platz schien ihnen so gut geeignet wie
hierher. Eine ungewöhnliche Wärme zog an Minuten auf dem Floß. Dann zogen sie das der Crawford Lake. »Was wir in diesem See
jenen Tagen über die Region. Das Forscher- Rohr wieder aus dem Wasser. Mit einem finden, ist wahrscheinlich weltweit einmalig«,
team hatte ein Floß inmitten des Sees veran- Schlauchboot brachten sie die Probe ans Ufer. sagt Francine McCarthy. »Es sind die perfek-
kert und ein Rohr mit Trockeneis und Alkohol Sie wischten mit einem Spachtel den Schlamm ten Belege für das Anthropozän.« McCarthy
gefüllt. Das ließen die Wissenschaftler in den ab, der nicht gefroren war. Dann zeigten sich arbeitet als Geowissenschaftlerin an der ka-
Grund des Sees gleiten. Es bedarf einer spe- ihnen die Jahresschichten. nadischen Brock University, sie verantworte-
ziellen Technik, um weiche Sedimente vom Vor gut 200 Jahren entdeckte ein britischer te die Erforschung des Crawford Lake.
Grund eines Gewässers zu bergen. Freeze Co- Ingenieur, dass in gleich alten, aber weit von- Indem sich die Anhänger des Menschenzeit-
ring wird das genannt. Patterson gilt als einer einander entfernten Gesteinsschichten die alters für den See entschieden, trafen sie auch
der erfahrensten Experten Kanadas. Er nennt gleichen Fossilien zu finden sind, in jüngeren eine weitere Entscheidung: wann das neue
die Methode auch: »Eis am Stiel«. Dank der jedoch nicht mehr. An besonders markanten Menschenzeitalter begonnen haben soll. Paul
Kühlung bleibt alles am Rohr haften. Übergängen machten Geologen fortan die Crutzen, der Schöpfer des Konzepts, plädierte
Spezielle geologische Bedingungen ma- Grenze zwischen zwei Erdzeitaltern fest. Eine dafür, den Start im späten 18. Jahrhundert zu
chen den Crawford Lake zu einem idealen neue Forschungsdisziplin entstand, die verorten, kurz nach dem Beginn der industriel-
Archiv des menschlichen Einflusses. Der See Schichtenkunde, genannt Stratigrafie. len Revolution. Andere Forscher gingen Jahr-
liegt in einem Bassin aus Kalkstein. Wenn im In den Sechziger- und Siebzigerjahre än- tausende zurück, zu den Anfängen des Acker-
Sommer die Temperaturen steigen, steigt derte sich das Vorgehen. Es gab inzwischen baus. Doch die Mitglieder der Arbeitsgruppe
auch der pH-Wert des Wassers. Kleinste Flo- die Möglichkeit, das genaue Alter der Ge- entschieden sich für das Jahr 1952. Das lag vor
cken bilden sich, ein Mineral, Kalzit genannt. steinsproben zu messen. Und um sicherzu- allem an einem Element: Plutonium.

Justin Tang / DER SPIEGEL


Peter Power / AFP

Crawford Lake in Kanada, Forscher Patterson mit Bohrprobe: Botschaft aus dem Schlamm

98 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


WISSEN

Die Proben aus dem Crawford Lake gin- ten geologischen Gesellschaft. Sie hat das
gen auf eine lange Reise. In Kanada wurden Archiv im Wasser letzte Wort bei Entscheidungen über geolo-
sie mit einem Skalpell bearbeitet; aus den KANADA gische Zeitalter. Finney sagt: »Die Anthropo-
einzelnen Schichten wurden wenige Milli- So entstehen die zän-Epoche wurde von Beginn an durch die
Sedimentschichten Crawford Lake
gramm Sediment in Plastikröhrchen gekratzt. im Crawford Lake Medien gepusht.«
Im britischen Southampton wurden die Krü- USA Schon vor Jahren kritisierte er, dass allein
mel in Säure aufgelöst und bearbeitet. Der See hat zwei Funde aus der Vergangenheit nicht ausreichen
Schließlich landeten sie an der Uni Wien bei Wasserschichten, würden, um ein Menschenzeitalter zu begrün-
die sich nicht obere Schicht:
Karin Hain. mischen: warm und belebt
den. Es müssten dafür Vorhersagen darüber
Die Physikerin untersucht, welche radio- getroffen werden, was in den kommenden
aktiven Spuren der Mensch hinterlässt. Auf Jahrzehn­tausenden geschehe. Das sei jedoch
der Erde findet man in der Natur mehr als 90 geologisch nicht seriös zu leisten. Der Bonner
Elemente. Sauerstoff, Eisen und Silizium zäh- rund 24 m tief untere Schicht: Geologe Thomas Litt wendet ein, eine schar-
len zu den häufigsten, Plutonium eigentlich kalt und unbewegt fe Grenze bei 1952 greife »viel zu kurz und
zu den seltensten Elementen. Und doch lässt ist willkürlich«. Auch Litt stimmte gegen den
Partikel wie Pollen, Staub oder Aus-
es sich auf allen Kontinenten nachweisen. Das scheidungen von Fischen sinken im Wasser Antrag.
liegt vor allem an den Atombomben. hinab und sammeln sich am Grund an. Es ist eine Debatte, bei der die Kontrahen-
Am 16. Juli 1945 zündeten US-amerikani- ten in verschiedenen Kategorien denken.
sche Soldaten die erste Atombombe in der Während die einen besorgt in die Zukunft
Wüste New Mexicos. Über die Jahre folgten blicken und für sie die Folgen schon jetzt ab-
weitere Test, die Bomben explodierten in sehbar sind, orientieren sich die anderen
Wüsten oder auf abgelegenen Inseln. Doch streng an geowissenschaftlichen Regeln.
die Wucht der Detonation schleuderte radio- Aus Sicht der Antragsgegner gibt es aber
aktiven Staub in die Atmosphäre. Manchmal einen Kompromiss. Das Anthropozän könn-
wirbelte er nur für wenige Kilometer durch Im Sommer entsteht te als ein »geologisches Ereignis« anerkannt
das Mineral Kalzit,
die Luft, manchmal überquerte er Kontinen- das sich ebenfalls auf werden. Es ist eine vagere Einstufung, es muss
te. Irgendwann rieselte er nieder, auf Städte dem Grund ablagert. keinen festgelegten Anfang haben wie ein
und Wälder, auf Wiesen und Strände, und Erdzeitalter, macht aber deutlich: Auf der
erreichte auch den Crawford Lake. Erde verändert sich Gravierendes. Es gibt vie-
Um das Plutonium im Sediment nachzu- le Einschnitte in der Erdgeschichte, die so be-
weisen, benutzt Physikerin Hain eine mehr zeichnet werden. So erwärmte sich der Planet
als 30 Meter lange Messapparatur, die aus- vor 56 Millionen Jahren um bis zu acht Grad
sieht, als wären mehrere Heizkessel hinter- Celsius. Fluten und Stürme waren die Folgen,
einander mit Rohren verbunden. Dieses Korallenriffe starben ab. Diese Heißzeit dau-
­Beschleuniger-Massenspektrometer findet erte mehr als 100.000 Jahre – aus Sicht von
heraus, welche Isotope, also welche Pluto- Geologen eine zu kurze Zeitspanne, um ein
niumarten, in einer Probe vorhanden sind. Durch die hellen Kalzitschichten können Erdzeitalter zu rechtfertigen.
Daraus ergibt sich, ob das radioaktive Ele- einzelne Jahre klar identifiziert werden. So Die Anthropozän-Befürworter wollen sich
lassen sich bei der Analyse des Sediments
ment auf natürlichem Weg in eine Sediment- Umwelteinflüsse aufs Jahr genau zuordnen. damit jedoch nicht zufriedengeben. Für sie
probe gelangt ist oder durch einen Atom- macht der Planet gerade mehr durch als in
bombentest. Sedimentkern aus dem Crawford Lake früheren Epochen. Sie wollen weiter für ihre
Hains Messungen lesen sich wie ein Ge- von 2023: Forderung werben. Manchmal bräuchten
schichtsbuch: Ab dem Jahr 1952 wurden ver- Über dem Sediment Ideen in der Wissenschaft einfach Zeit, um
befindet sich eine
mehrt Atomwaffen getestet – die Plutonium- 2023 Schicht gefrorenen sich durchzusetzen.
werte im See stiegen. Von 1958 bis 1961 galt Wassers. Tim Patterson kennt das. Der kanadische
ein Testmoratorium – die Werte sanken. Ab Geologe hat selbst lange an etwas gezweifelt,
1961 wurde gezündet wie nie zuvor – die Kur- das heute unbestritten ist: dem Einfluss des
ve schnellt nach oben, bis sie Mitte der Sech- 1952
Menschen aufs Klima. In den Nullerjahren
zigerjahre ihren Höhepunkt erreicht. fürchtete Patterson keine Klimaerwärmung,
1936
Für die Forscher vom Crawford Lake ist vorgeschlagener
sondern eine neue Kaltzeit. Seine Begrün-
das Ergebnis wie aus dem Lehrbuch. Nur hat Beginn des dung: Die Forschung würde die Schwankun-
das am Ende nicht gereicht, ihre Geologen- 1874 Anthropozäns gen der Sonnenaktivität und deren Einfluss
kollegen zu überzeugen. aufs Klima unterschätzen. Inzwischen hat er
eingesehen, dass seine Einwände unbegrün-
Wie erbittert der Streit ums Anthropozän ge- det waren. »Ich hatte mich damals ernsthaft
führt wird, zeigt sich in den Tagen nach der um die Landwirtschaft gesorgt«, sagt Patter-
ICS-Abstimmung. Im Internet kursieren in- son. »Eine Kaltzeit hätte eine Katastrophe
terne Mails aus dem Gremium. Darin wird ausgelöst. Mit den Informationen von heute
angezweifelt, dass die Abstimmung recht­ um 1300 würde ich die Thesen nie wiederholen.«
mäßig abgelaufen sei. Ein Mitglied prangert Patterson sagt, es gehöre als Forscher dazu,
Foto: Justin Tang / DER SPIEGEL

an, durch die Ablehnung werde »die Glaub- Irrtümer einzugestehen. Wenn er heute mit
würdigkeit der Wissenschaft« untergraben. Kollegen über das Anthropozän diskutiert,
Stanley Finney versteht die Aufregung muss er manchmal an seine Einlassungen zum
nicht. Das negative Votum sei absehbar ge- Klimawandel denken. Er sieht dabei nur einen
wesen, sagte er dem Wissenschaftsmagazin Unterschied: Heute glaubt er, auf der richtigen
20 cm
»Science«. Finney zählt zu den einflussreichs- Seite zu stehen. Und die anderen überzeugen
ten Gegnern der Anthropozän-Einstufung. S Quelle: Patterson Lab,
zu müssen.


Er ist der Generalsekretär der weltweit größ- Carleton University Christopher Piltz n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 99


WISSEN

brenner. Erste Großkunden stoßen Elektro­


Empfindliche Technik autos zu Tausenden wieder ab.
Anfällige Komponenten in Elektroautos
Um die globale Wende hin zum energie­
Ladeabbrüche Starterbatterie sparenden E‑Antrieb steht es ohnehin nicht
fällt oft aus. gut. In den USA verkaufen Hersteller weniger
Stromer als erwartet. In der EU werden Rufe
lauter, den Abschied vom ineffizienten Ver­
Komplexe Vernetzung Bordelektronik
meldet Fehler. brennungsmotor hinauszuzögern.
von Hardware und Fällt nun noch ein zentrales Argument für
Software
das Elektroauto weg? Oder zeigen sich in
Werkstätten bloß Anlaufschwierigkeiten, die
die Industrie bald in den Griff bekommen wird?
Zu einem alarmierenden Befund kommt
Motor
der Gesamtverband der Versicherer (GDV).
Dessen Fachleute haben verglichen, wie häu­
Batterie fig es zu Schäden bei 37 ähnlichen Elektro-
und Verbrennermodellen kommt. Demzufol­
ge fallen die Reparaturkosten von E‑Autos im
Durchschnitt um etwa ein Drittel höher aus.
Besonders teuer wird es, wenn die Batterie,
das Herz des Antriebs, kaputtgeht. Tausch­
Bremsen werden seltener akkus kosten mitunter 15.000 Euro und mehr.
benutzt und können
schneller rosten. Auch beim Cupra Born in Frank Szillats
Werkstatt war schon der Akku defekt. Szillat
nutzt den Wagen als Firmenauto. Die defek­
Achsaufhängung, Fahrgestell te Batteriezelle habe der Hersteller im Rah­
und Reifen sind durch das höhere men der Garantie getauscht, sagt Szillat.
S Grafik Gewicht stärker belastet. Zeigen kann er den reparierten Akku nicht,


er verbirgt sich wie bei den meisten E‑Autos


hinter Abdeckungen. Der Kfz-Meister öffnet
die Motorhaube. Auch die Elektronik sei gut

Das Märchen vom


versteckt, was Reparaturen erschwere: »Da
muss man erst einmal hinkommen.«
Fachleute sind aber knapp und teuer, hat

­soliden Elektroauto
der GDV festgestellt. »Den meisten Werk­
stätten fehlt für Arbeiten an Elektroautos noch
das Know-how.« Deshalb stehen E‑Autos oft
länger auf dem Hof als Verbrenner.
Bevor Szillat an Elektroautos arbeiten
MOBILITÄT Weniger Verschleißteile, weniger Kosten: E‑Autos gelten als durfte, musste er Schulungen in Hochvolt­
technik absolvieren. Das Arbeiten unter sol­
robust und langlebig. Doch nun zeigen sich Schwachstellen. Werkstätten cher Spannung ist lebensgefährlich, Schutz­
sind überfordert, an der komplexen Technik scheitern selbst Fachleute. material und Spezialwerkzeug sind nötig. Der
Aufwand sei beträchtlich: »10.000 Euro muss
man da schon auf den Tisch legen.«

I
n der Werbung glänzt der Cupra Born rund 35 Prozent sparen, errechnete das Insti­ In Vertragswerkstätten kommt es ebenfalls
verführerisch. »Leidenschaftlich. Elek­ tut für Automobilwirtschaft. Gerade auf Auto­ zu Engpässen. Jeden Monat steigen in Deutsch­
trisch«, so preist die spanische Marke aus vermietungen und Dienstwagenflotten-Be­ land Tausende Menschen auf ein E‑Auto um,
dem Volkswagenkonzern den schnittigen treiber wirkten solche Zahlen attraktiv. Anfang 2024 waren gut 1,4 Millionen rein
Kompaktwagen an. Doch inzwischen mehren sich Zweifel, ob batterieelektrische Pkw zugelassen. Eine Me­
Unter der Hebebühne einer Werkstatt in sie stimmen. Elektrische Großserienmodelle chanikerstunde für die Arbeit am E‑Auto kos­
Berlin-Marzahn jedoch kratzt Frank Szillat von Tesla, Volkswagen und Co. fahren seit tet mitunter mehr als beim Verbrenner.
an der angerosteten Antriebswelle eines Born. einigen Jahren im Alltagsbetrieb, und nun Große Probleme gibt es bei Tesla. Das auch
Eine rotbraune Flocke fällt auf den Boden. zeigt sich: E‑Autos sind keineswegs so an­ in Brandenburg gebaute Model Y war 2023
»Hier wurde an der Beschichtung gespart«, spruchslos und robust wie angenommen. der meistverkaufte Pkw der Welt. Doch das
sagt der Kfz-Mechanikermeister. Die Ent­ Komplizierte Elektronik macht die Autos Servicenetz wächst nicht schnell genug mit.
deckung scheint ihn zu überraschen: Der Wa­ fehleranfällig. Gehen bestimmte Teile kaputt, Kunden monieren Qualitätsprobleme, zu we­
gen ist erst 20.000 Kilometer gelaufen. kann es weit teurer werden als beim Ver­ nige Werkstätten und lange Wartezeiten.
Cupra betont, die Welle ausgiebig getestet brenner. Zu Qualitätsproblemen führen könn­ Den Autovermietern Sixt und Hertz wur­
zu haben, Mängel seien nicht bekannt. Und te der Sparkurs in der Industrie. Mit E‑Autos de es genug. Hertz kündigte an, sich von rund
doch fragt sich Szillat: Welche Defekte wird machen manche Hersteller nach eigenen An­ 20.000 Elektroautos zu trennen – einem Drit­
das Fahrzeug erst in vier, fünf Jahren haben? gaben Verluste oder weniger Gewinn als mit tel seiner Stromer. Die Wartung sei zu teuer.
Derartige Sorgen machten sich viele Fahrer Verbrennern. Sie senken Kosten, wo es geht. Auch Sixt wurden Elektroautos im laufenden
von E‑Autos lange Zeit nicht. Die Wagen gal­ Private Autokäufer sind verunsichert, denn Betrieb zu kostspielig. Der Anbieter infor­
ten als pflegeleicht, weil es in ihnen deutlich Langzeittests und Studien weisen auf Pro­ mierte Kunden Ende 2023, dass er vorerst
weniger Verschleißteile gibt als in Ver­ bleme hin. So haben Batteriefahrzeuge laut keine Teslas mehr anschaffen werde.
brennern. Bei Wartung und Reparatur ließen dem US-Marktforschungsunternehmen J. D. In weiteren Firmen mit großem Fuhrpark
sich im Vergleich zum Diesel oder Benziner Power deutlich mehr Qualitätsmängel als Ver­ klagen Manager über ihre E‑Autos. Nicht nur

100 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


WISSEN

bei den Teslas fielen Reparaturkosten gen schneller kaputt, weil sie offenbar »In einem tronik, sei »weniger anfällig« als der
höher aus als erhofft, sagte ein Mit- für das höhere Gewicht der Stromer Antrieb beim Verbrenner.
arbeiter eines größeren Flottenbetrei- nicht ausgelegt seien, so Klemstein. solchen Zugleich entwickelt sich die Tech-
bers. Sein Unternehmen müsse teil- »Diesen Trend können wir schon jetzt ­System wird nologie bei allen Autos schnell weiter.
weise länger auf Ersatzteile warten,
Fahrzeuge stünden ungenutzt herum.
in der Mängelstatistik sehen.«
Selbst banale Komponenten wie
niemand Stetig kommen Assistenzsysteme hin-
zu, Ziel ist das autonome Fahren. So
Einige Teile für Elektroautos seien teu- Reifen verschleißen schneller, wohl mehr etwas gelangten neue potenzielle Fehler-
rer, sogar Stoßstangenverkleidungen. weil sie stark belastet sind. Sogenann- reparieren quellen ins Auto, sagt Thoben. An
Dabei wollen vor allem die großen te EV-Reifen seien pro Stück um etwa Lösungen könne nur von Fall zu Fall
Mietwagenfirmen CO2-Emissionen 20 Euro teurer, sagt Kfz-Meister
können.« gearbeitet werden. An Updates und
senken. Sixt plant, bis zu 90 Prozent Frank Szillat. Bei seinem Cupra Born Michael Klemstein, Rückrufe werden sich Halter von
seiner Flotte in Europa bis 2030 zu sind die Pneus schon arg herunter- Kfz-Sachverständiger Elektroautos wohl gewöhnen müssen.
elektrifizieren. Hertz erhielt für seine gefahren. Das Fahrwerk hingegen Weitgehend offen ist, ob all das die
»E‑Offensive« eine Förderurkunde lobt Szillat: Die Querlenker sähen Lebensdauer der E‑Autos reduziert.
vom Bundesverkehrsministerium. noch sehr gut aus, auch die Vollgum- Wie etwa die höhere Belastung von
Nun will der Vermieter seine Elektro- mibuchsen seien sichtbar verstärkt. Achsen, Aufhängungen und Bremsen
autos durch Verbrenner ersetzen. Damit sie großen Kräften stand- langfristig wirkt, ist laut ADAC noch
Bei Tesla klaffen Anspruch und halten, stattet Cupra die E‑Modelle unbekannt. Auch ob die Batterien so
Wirklichkeit besonders weit auseinan- nach eigenen Angaben mit speziellen lange funktionieren wie ein Antrieb
der. Die Fahrzeuge galten einst als Sportfahrwerken aus. »Beispielswei- mit Verbrennungsmotor, könne die
»wartungsfrei«. Feste Serviceintervalle se verbauen wir verstärkte Stabilisa- Pannenstatistik »Stand heute« nicht
schaffte der US-Hersteller demons­ toren«, erklärte der Hersteller. beantworten. Erste Dauertests zeigen
trativ ab. Doch im TÜV-Report 2024 Besonders kompliziert bei E‑Autos immerhin, dass die Akkus ein ganzes
schneidet der Tesla Model 3 als Pkw ist die Vernetzung von Hard- und Autoleben durchhalten könnten.
mit den meisten Mängeln ab, schlech- Software. Es gibt Kühl- und Wärme- Viel wird davon abhängen, wie
ter als der Dauerverlierer Dacia Logan. kreisläufe, um die Batterien zu tem- stark die Hersteller künftig an der
Tesla ließ eine Anfrage des SPIEGEL perieren. Dazu kommen Pumpen, Qualität sparen. Die Konkurrenz aus
zur Fahrzeugqualität unbeantwortet. Wandler und unzählige Sensoren. China schmerzt, der Preiskampf tobt.
Oft beanstandeten die Prüfer Brem- »Die Komponenten sind verschach- Die europäischen Marken müssen
sen und Achsaufhängung des Tesla. telter und nicht so einfach zu tauschen rasch günstige Elektroautos liefern.
Die Bremsscheiben waren fast vier- wie bei einem Verbrenner«, erklärt Wie groß der Druck bei E‑Autos
mal so oft hinüber wie im Schnitt aller Klemstein. Dazu seien Eingriffe an ist, zeigt ein Vergleich zwischen dem
TÜV-Kandidaten. der Hochvolttechnik gefährlich. »In VW ID.3 und dem E‑Golf. Den ID.3
Gerade die Bremsen werden bei einem solchen System wird niemand entwickelte Volkswagen schnell, um
Elektroautos als langlebig beworben. mehr etwas reparieren können.« Tesla etwas entgegenzusetzen. An-
Denn um zu verzögern, genügt es im Sind Elektroautos also Wegwerf- fangs bereitete die Software viel Är-
E‑Auto meist, den Fuß vom Gas zu produkte auf vier Rädern? Waren die ger. Beim mittlerweile eingestellten
lupfen. Dann wirkt der E‑Motor wie Zeiten besser, als sich viele Defekte E‑Golf traten weniger Mängel auf: Er
eine Bremse, wenn er als Generator am Wagen mit Schraubenschlüssel basierte auf der siebten Generation
Energie zurückgewinnt und in die oder Schlaghammer beheben ließen? des Golf, der in der Pannenstatistik
Batterie speist. Die eigentlichen So negativ sieht es Elektroan- des ADAC gut abschnitt. Volkswagen
Bremsen werden weniger betätigt, triebsexperte Markus Thoben von gibt an, die Probleme beim ID.3 kä-
Mechaniker Szillat
können deshalb aber früh rosten. der Fachhochschule Dortmund nicht. mit Batterie-Pkw
men inzwischen nicht mehr vor.
Unlösbar sind solche Probleme Das Kernstück des E‑Autos, der An- Born: Wegwerfprodukt Auch Kfz-Meister Frank Szillat hat
offenbar nicht. Volkswagen habe er- trieb aus Motor und Leistungselek­ auf vier Rädern? schon Softwarepech gehabt mit sei-
höhte Korrosion bei Bremsen von nem Cupra Born, der mit dem ID.3
Elektroautos erwartet, erklärt der technisch eng verwandt ist. So stürz-
Hersteller. Man setze deshalb einen te auf einer Fahrt nach Sachsen das
speziellen Bremsbelag ein, der Rost komplette System ab, der Bildschirm
effektiv von der Scheibe reibe. im Cockpit war plötzlich schwarz. In
Für Kfz-Sachverständige kommt Foren fand Szillat heraus, dass es sich
die Mängelflut nicht überraschend. um ein typisches Problem bei E‑Fahr-
»Man hat uns glauben lassen, dass zeugen von Volkswagen handelt.
Elektroautos nicht so wartungsinten- »Hirntoter ID: Was passiert, wenn
siv wie Verbrenner seien. Das erweist das Infotainment nicht mehr funktio-
sich jetzt als Trugschluss«, sagt niert«, lautet ein Beitrag.
­Michael Klemstein. Er ist leitender »Da mussten auch wir neue Erfah-
Ingenieur bei einer Kfz-Sachverstän- rungen machen, es lief nicht gänzlich
digenorganisation, seinen echten Na- problemfrei«, erklärt ein Sprecher bei
men will er nicht öffentlich machen. Cupra. Die Schwierigkeiten seien weit-
Zwar hat ein E‑Auto tatsächlich gehend gelöst, bei fast allen Wagen.
weniger Verschleißteile als ein Ver- Szillat nahm den Ausfall sportlich,
brenner. Zündkerzen, Turbolader das Auto sei ja noch gefahren. »Kinder­
oder Injektoren braucht es nicht. Das krankheiten haben sie alle.«
Getriebe ist nur noch einstufig. Dafür Zum Ausgleich fährt er privat
Haiko Prengel

gibt es andere Schwachstellen. ­Oldtimer. Mit Abgasen, aber simp-


Probleme machen häufig Fahr- ler Technik.
werk und Achsaufhängung. Sie gin- Haiko Tobias Prengel n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 101


KULTUR

Porträt von Catherine, Princess of Wales, in der Londoner National Portrait Gallery, 2013

Avalon / IMAGO
Ein Königreich für einen Pinsel
KUNST Die ganze Welt empört sich über Photoshop-Kate, sie selbst sieht sich lediglich als experimentier­
freudige »Hobbyfotografin«. Tatsächlich gehört die Bildbearbeitung zu den royalsten aller Traditionen.

A
ndere Studierende gehen in ihrer Frei- cess of Wales und ihrer Kinder, das der sich auch Kate, die Gattin des Kronprinzen,
zeit auf Partys, der Doktorand Tho- ­Palast veröffentlicht hat. Catherine führte auf eine königliche Tradition. Einst waren
mas Knoll erfand Ende der Achtziger doch nur fort, was Hobbyfotografen seit ­ es Hofmaler, die royale Persönlichkeiten
mit seinem Bruder lieber ein Programm zur je tun: Sie »experimentierte« mit Bildbe- vorteilhaft darstellten, Authentizität war
Bildbearbeitung. Die beiden hätten es auch arbeitung, so sagte sie es. keine Option. Heute übernimmt eine künf-
»Knollomat« nennen können, dann wäre ihr Diese Beschreibung klingt fast zu tech- tige Königin (oder ihre Social-Media-Hof-
Familienname längst berühmt. Stattdessen nisch für einen Vorgang, in den viel Herz- dame) die harte Arbeit eben selbst, wenn-
wahrten sie ihre Privatsphäre, ihr Programm blut fließt: Niemand sitzt so lange freiwillig gleich das nicht immer meisterhaft gelingt.
heißt schlicht: Photoshop. am PC wie ein Mensch, der sich nicht schön Sogar königliche Ehen wurden schon mit-
Heute benutzen es Millionen Menschen, genug findet. Im britischen Königshaus floss hilfe von Porträts angebahnt und entschie-
die ihre Privatsphäre geringer schätzen – das Herzblut sogar noch an einem Freitag- den. So wählte Heinrich VIII. seine vierte
sie teilen Privates gern und auf allen Kanä- abend bis kurz vor 22 Uhr, wie »Sky News« Gattin aus, Anna von Kleve. Beim ersten
len. Nur hübschen sie es vorher auf. Die festgestellt haben will. So viel Zeit und Lei- Treffen dann die Ernüchterung. Dennoch
Sonne auf den Urlaubsfotos wird sonniger, denschaft haben sonst nur große Künstler. kam Kleve mit dem Leben davon, die Ehe
das Meer blauer, der Teint frischer. Die Als die Gebrüder Knoll vor ein paar Jah- wurde annulliert – und auch der Schöpfer
­Privatheit ist längst eine retuschierte. Desto ren eine Auszeichnung erhielten, erinnerte des Porträts blieb unbehelligt. Der hatte
mehr überrascht die Empörung über ein der Laudator an ihre frühe Vision einer schließlich nur gemacht, was jeder macht:
nicht ganz naturbelassenes Porträt der Prin- ­»digitalen Malerei«. Und tatsächlich beruft ein wenig Bildbearbeitung. Ulrike Knöfel

102 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


Kafka am Strand der Schauspielerin Henriette
Confurius. Es ist das melancho­
KINO Filme über das Leben lische Märchen einer nahezu
und Sterben berühmter Schrift­ perfekten Liebesgeschichte, in
stellerinnen und Schriftsteller der sich zwei noch ziemlich jun­
sind oft angestrengte Liebes­ ge Menschen mit aufgekratzter
beweise. In »Die Herrlichkeit Selbstverständlichkeit füreinan­
des Lebens« ist das anders. Das der entscheiden, das hier nach
Regieduo Georg Maas und einer Buchvorlage von Michael
­Judith Kaufmann zeigt darin Kumpfmüller erzählt wird.
einen Helden namens Franz Am sommerlichen Meer und
Kafka, der überraschend heiter in der Berliner Boheme sind
und als sympathischer, leicht Diamant und Kafka ein hinrei­

Christian Schulz / Majestic


overdresster Allerweltsmensch ßendes Paar, das durch die
an einem Ostseestrand im Som­ Krankheit des Helden noch en­
mer 1923 herumspaziert. Der ger zueinanderfindet. Über die
Mann kommt offensichtlich Bedeutung der grundsätzlich
ohne den Heiligenschein aus, eher mittellustigen Literatur
den literarische Heldengestalten Tambrea, Confurius in »Die Herrlichkeit des Lebens« von Franz Kafka erfahren die
wie Virginia Woolf, Pablo Zuschauerinnen und Zuschauer
­Neruda oder Bertolt Brecht in Theater für seinen Feinsinn schrittenen Tuberkulose eher in diesem Film nicht besonders
Kinowerken wie »The Hours«, ­bekannten Schauspieler Sabin unbeeindruckt, in Deutschland viel. Als Lehrstück über die
»Il Postino« oder »Abschied – Tambrea. Er spielt einen Hel­ ein neues Leben beginnen will. ­Liebe in Zeiten existenzieller
Brechts letzter Sommer« mit den, der sich von der Düsterkeit Die Frau, die dieses Aufbruchs­ Not allerdings ist »Die Herrlich­
sich herumzuschleppen schei­ seiner Prager Arbeits-, Liebes- glück verkörpert, ist die fürs keit des Lebens« überraschend
nen. Kafka wird gespielt von und Familienverstrickungen be­ Tanzen und Theater begabte ­vergnüglich und noch dazu eine
dem schmalgesichtigen und im freit hat und, von seiner fortge­ Dora Diamant, dargestellt von Augenweide. HÖB

Roswithas von Otto I. Es geht um die läh­ Letzte Zeugnisse


mende Wirkung alltäglicher
Erweckung Kriegsgefahr auf die ländliche FOTOGR AFIE Sie blicken zwi­
LITER ATUR Hrotsvit ist ein Bevölkerung und den erhebenden schen Kletterrosensträuchern
Name, der auf den ersten Blick Eindruck, den die Großbaustelle hindurch aus dem Fenster, die
fremd und spröde zu sein der Kaiserpfalz in Magdeburg Arme in die Hüften gestemmt.
scheint. Man muss ihn sich eine auf Zeitgenossen gehabt haben Sie sortieren Golfschläger oder
Weile auf der Zunge zergehen muss: »In was für einer Welt sie Rosenkränze, sitzen vor dem
lassen, damit er sich zu seiner lebte, wo solche Dinge erschaf­ Fernseher, schauen American
geschmeidigeren Variante ent­ fen wurden!« Raich imaginiert Football. Nüchtern und respekt­
faltet: Roswitha. Die Dame im die alltägliche Gewalt gegen voll zeigt die Ausstellung, die
Kloster Gandersheim lebte im Frauen (»Beim ersten Mal, das noch bis Juli läuft, »Blick in die
frühen Mittelalter und gilt als hatte sie gemerkt, war es über Zeit. Alter und Altern im Photo­
erste namentlich bekannte deut­ ihn gekommen, sodass sie einan­ graphischen Porträt« der SK

Deanna Dikeman
sche Dichterin überhaupt. Seit der überrascht angeschaut hat­ Stiftung Kultur in Köln Men­
einem Jahrtausend wartet sie ge­ ten«) ebenso wie eine befreiende schen, die man sonst nicht oft in
duldig auf ihre Wiederentde­ Begegnung mit den unerhörten Kunstwerken bestaunt: Rentne­
ckung – trotz mehrerer Anläufe Gedichten der Sappho. Sprache rinnen und Rentner. Auch Alte­ Foto von Deanna Dikeman
von Humanisten und Feminis­ und Handlung schmiegen sich rungsprozesse werden in der
tinnen. Mal galten die von ihr eng an die Epoche, ohne in Schau intim eingefangen. Die Porträt? Der Tod ist eine Vor­
erhaltenen Legenden, Dramen Kitsch abzugleiten oder als Folie frühesten der mehr als 170 aus­ ahnung, die bei jedem der aus­
und Geschichtswerke als zu für die Gegenwart dienen zu gestellten Werke stammen von gestellten Bilder mitschwingt.
sperrig, mal als zu religiös, mal wollen. dem Fotografen ­August Sander aus Einige Werke kommen der
als zu erotisch und komisch, als »Hell und laut« ist weder für den Zwanzigerjahren. Er beglei­ Schwelle zwischen Leben und
dass eine Frau sie hätte geschrie­ den Mittelaltermarkt noch für fe­ tete damals vier Schwestern beim Tod sehr nah. Etwa die Serie
ben haben können. Die Fakten­ ministische Lesezirkel geschrieben Erwachsenwerden. Die Bilder »Leben im Sterben« von Daniel
lage über ihr Leben ist so dünn, – kein Wunder, dass dieser 2023 zeigen zunächst kleine schüchter­ Schumann, der Menschen im
dass ihre Existenz bisweilen ins erschienene Roman bisher weit­ ne Mädchen. Später werden sie Hospiz fotografierte. Fotos wer­
Reich der Legende verwiesen gehend über­ als verheiratete Frauen gezeigt. den zum letzten Zeugnis eines
wurde. Für Sarah Raich war das sehen wor­den Auch Cindy Sherman ist mit Lebens. Das zeigen auch die
ein Ansporn, Hrotsvit und ihre ist. Er sitzt einem Beispiel ihrer »Society Schnappschüsse von Deanna
Zeit zum Gegenstand eines his­ stolz zwischen Portraits« vertreten. Die Ver­ Dikeman: Ihre Eltern winken
torischen Romans zu machen. ­allen Stühlen. wandlungskünstlerin parodiert ihr in der Serie »Leaving and
In »Hell und laut« stellt sie Wie seine etwa die Rentner der Upper­ Waving« nach jedem Besuch
sich nicht nur den frommen Tex­ Heldin. FRA­ class. Außerdem stellt sie Fra­ zum Abschied zu. Die Reihe en­
ten ihrer Heldin, sondern malt gen: Wie geht die Geschichte det mit einer verwaisten Ein­
beherzt die blinden Flecken Sarah Raich: weiter, wenn eine Fotoserie fahrt. Für die Lebenden, das
»Hell und laut«.
ihrer Biografie aus zu einem le­ Marix; 432 Sei- ­endet? Was geschieht nach dem zeigt die Schau, bleibt der Tod
ben­digen Wimmelbild der Welt ten; 24 Euro. Tod eines Menschen mit seinem die endgültige Leerstelle. FYD

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 103


KU LT U R

Der Traumtänzer
KINO Nicolas Cage wurde zum Internetgag. Das will der Oscarpreisträger nicht länger sein – und lädt zum
Gespräch über Kontrollverlust und Kunst in seine Villa, in der alle Regeln guten Geschmacks aufgehoben sind.

L
as Vegas, eine gebaute Illusion. Nicolas Er spricht ein wenig schleppend. Wie in Vegas« (1995) neben zahlreichen Nominie­
Cages Villa steht im Norden der Stadt ganz leichter Zeitlupe. Oder wie jemand, der rungen für den Negativpreis Goldene Him­
und simuliert eine mexikanische Hacien­ es gewohnt ist, dass man ihm geduldig zuhört. beere.
da. Man kann direkt in den Innenhof spazie­ Seine eigenen Slipper stehen am Eingang, An den Wänden hängt Kunst neben Krem­
ren. Es ist kein Mensch zu sehen, nicht einmal daneben die Sandalen seiner fünften Ehefrau pel. Im Kamin brennt Feuer, flankiert von
eine Überwachungskamera. Unter zwei Pal­ Riko Shibata, 29, und die Puschen seiner an­ dämonischen Skulpturen, daneben wartet ein
men parkt ein schwarzer Ferrari, der mal wie­ derthalbjährigen Tochter. Die Kleine hat ge­ mit blauem Tuch bespannter Billardtisch auf
der gewaschen werden könnte. In der Garage rade laufen gelernt und macht davon ausgie­ Spieler. Es gibt eine funktionstüchtige Juke­
steht ein goldfarbener Lamborghini. Das big Gebrauch in einer Wohnzimmerland­ box, einen Zeitschriftenständer mit »Super­
WLAN ist offen und heißt »BruceLee«. Über schaft, in der alle Regeln des guten Ge­ man«-Comics aus den Vierzigerjahren und
den üppigen Garten, durch den mit Wucht ein schmacks aufgehoben sind. einen von innen beleuchteten Amethyst, so
künstlicher Wasserfall rauscht, wacht in einem Es ist die sympathisch zugerümpelte Män­ groß, dass man sich hineinsetzen könnte.
Gehege ein gigantisches Schwein. nerhöhle eines 16-jährigen 60-Jährigen, für »Manchmal mache ich das auch, er hat eine
Je näher man Nicolas Cage kommt, desto den Geld keine Rolle spielt. Das Interieur er­ positive Energie«, sagt Cage, während er he­
mehr scheint sich die Wirklichkeit zurück­ scheint wie ein Spiegel seiner Filmografie, in rumführt. Den meisten Raum nimmt die kup­
zuziehen. der ebenfalls das Meisterwerk neben dem pelförmige Voliere für Hoogan ein, die Krähe.
Schon das Treffen mit dem Filmstar selbst Trash Platz hat, der Oscar für »Leaving Las Cage tritt ans Gitter, sofort gesellt sich der
ist unwirklich. Die Tatsache, dass es über­ Vogel zu ihm und schimpft: »Ass!« Arsch. Das
haupt stattfindet. Normalerweise lässt ein
United Ar tists / Everett Collection / ddp images
Tier sei »unglaublich schlau«, freut sich Cage
moderner Star dieser Gewichtsklasse keine und wirft ihm ein paar Körner hin. »Außer­
Nähe zu. Heute gilt es schon als Privileg, ihn dem erinnert er mich an Edgar Allan Poe.«
für ein Viertelstündchen per Videoschalte Hin und wieder lasse er Hoogan frei durchs
nach seinem neuesten Werk oder seiner Kunst Haus fliegen, »aber dann scheißt er mir alles
befragen zu dürfen. voll«. Unter einem Porträt von Beethoven
Nicolas Cage aber hat dem SPIEGEL einen teilen sich ein Wels, ein Arowana und eine
exklusiven Hausbesuch vorgeschlagen, eine Schildkröte einen Wassertank.
volle Stunde, nur Fotos sind streng verboten. Die Suche nach einem geeigneten Ort für
Offenbar möchte er zu seinem neuen Film das Interview führt uns in sein Büro im Sou­
»Dream Scenario« mehr sagen, als er vertrag­ terrain. Rechter Hand ist ein ganzes Regal wie
lich verpflichtet wäre. Weil er nach mehr als »Leaving Las Vegas«, 1995 ein Setzkasten gefüllt mit klassischem Spiel­
vier Jahrzehnten in der Branche und mehr zeug des 20. Jahrhunderts, Flugzeugmodelle,
als 100 Filmen auf dem Buckel plötzlich das Automobile, aufziehbare Roboter aus Blech.
Gefühl hat, seine Kunst verteidigen zu müs­ Linker Hand reihen sich die Vinylschallplatten
sen. Und seinen Ruf. seiner Jugend und Bücher, darunter eine frü­
In den Achtzigerjahren ist Nicolas Cage he Ausgabe von Isaac Newtons »Optik oder
der vielleicht talentierteste Schauspieler sei­ Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen,
ESCAPE ARTISTS / IMAGO

ner Generation. Es gibt kein Extrem mensch­ Beugungen und Farben des Lichts«. Cage
licher Empfindung, das er nicht mit Intensität schlägt das Buch auf, liest ein paar Zeilen in
verkörpert. In den Neunzigerjahren macht er gehobenem Englisch, stellt es wieder zurück:
etwas aus seinem Talent – Ruhm, Kunst. Er »Scheint eine interessante Lektüre zu sein!«
gehört zu den Größten in Hollywood, als er Wenn er am Schreibtisch sitzt, kann er im
sein Vermögen zu verschleudern beginnt. Und »Pig«, 2021 Terrarium gegenüber seinem Waran beim
sein Talent in schlechten Filmen. Aufstieg und Dösen zuschauen. Cage nennt ihn liebevoll
Fall, er hat inzwischen beides hinter sich. »meinen schwarzen Drachen« und hofft, dass
Heute ist er 60 Jahre alt und steht vor der die Echse nicht noch größer wird. »So wie das
Frage, wie man sich an ihn einmal erinnern Schwein im Garten, da hat man mich übers
wird. An ein Genie oder an einen Clown? Ohr gehauen. Der Verkäufer meinte, es wür­
Und liegt das überhaupt noch in seiner Hand? de immer ein Ferkel bleiben«, und nun müs­
Keine Assistentin, kein PR-Berater, kein se er sich mit diesem Monstrum herumschla­
Leibwächter. Nicolas Cage öffnet die Haustür gen. Und vermutlich noch ein zweites Schwein
persönlich. Er wirkt ein wenig zerknautscht, kaufen, »damit es nicht so einsam ist«.
das schwarz gefärbte Haar zerzaust, die Füße Einmal hatte er sich zwei Königskobras
nackt: »Komm rein, komm rein«, sagt er fröh­ aufschwatzen lassen, »aber sie waren un­
lich. »Und bitte die Schuhe ausziehen, das ist glücklich und wollten mich ständig töten«.
A24

die erste Regel in meinem Haus!« »Dream Scenario«, 2023 Immerhin habe er von den Schlangen »viel

104 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


Devin Oktar Yalkin / The New York Times / Redux / laif
KU LT U R

Schauspieler Cage 2023

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 105


KU LT U R

für meine Schauspielerei abgeschaut«, etwa


die reptiloide Reglosigkeit vor dem Angriff.
Er trug seinen Namen Nicolas Cage geblieben. Auch unter den haar­
sträubendsten Flops seiner Karriere wird
Andermals ersteigerte er für 276.000 Dollar zu Markte, beinahe man kaum einen Film finden, in dem ein ge­
einen Dinosaurierschädel, der sich später als
Diebesgut und Eigentum der Mongolei he­
zu Grabe – und merkte langweilter Star mit den Gedanken woanders
ist. Noch in den größten Mumpitz warf er
rausstellte. Cage gab den Schädel zurück. es nicht. sich mit unverbrauchter Leidenschaft – was
»Das Geld habe ich nie wiedergesehen«, sagt im Ergebnis nicht selten von unfreiwilliger
er mit einem Schulterzucken. Komik ist.
Überhaupt, das Geld. Er selbst erkannte diese Komik so spät,
Sein ausschweifender Lebensstil gilt als dass es fast schon wieder komisch ist: »Vor
legendär, sogar nach den in Hollywood gel­ drei Jahren habe ich etwas getan, was nie­
tenden Maßstäben. Fragt man ihn nach seiner machte in einer Gegenklage geltend, dass sein mand jemals tun sollte. Ich habe meinen eige­
Shoppingsucht, sieht er noch in den absur­ Klient allein 2007 rund 33 Millionen Dollar nen Namen gegoogelt.«
desten Anschaffungen einen sentimentalen für Häuser, 22 Automobile, Schmuck, Kunst Dabei stöberte er bei YouTube ein altes
Sinn. Das Schwein im Garten? Erinnerung an und exotische Sammlerstücke ausgegeben Video auf, in dem einige seiner dramatischs­
den Film »Pig« (2021), in dem er einen ehe­ habe. Zusätzlich forderten die US-Steuer­ ten Darbietungen der Lächerlichkeit preis­
maligen Koch spielt, dem sein Trüffelschwein behörden eine Nachzahlung in mutmaßlich gegeben werden. In schneller Folge schreit er
abhandenkommt. Eine »Superman«-Ausgabe zweistelliger Millionenhöhe: »Ich hätte mei­ in dem Clip aus Leibeskräften »Fuck!«, immer
von 1938? Verbeugung vor einem gescheiter­ nen Bankrott erklären können, aber das woll­ wieder, bricht mehrfach in theatralische Trä­
ten Projekt des Regisseurs Tim Burton, in dem te ich nicht. Ich wollte es aus eigener Kraft nen aus, prügelt verzweifelt auf eine Matrat­
er den Helden in Strumpfhosen spielen sollte. schaffen.« ze ein, schlägt Frauen ins Gesicht, zertrüm­
Der goldene Lamborghini? Hommage an Er verkaufte, was er verkaufen konnte, mert einen Spiegel, zerschlitzt ein Gemälde,
einen Episodenfilm von Federico Fellini, in und verlegte seinen Wohnsitz aus steuerlichen beschmiert seinen Körper mit schwarzer Far­
dem ein alkoholkranker Schauspieler mit Gründen nach Nevada. Obwohl es ihm hier, be und taumelt von Nervenzusammenbruch
einem goldenen Ferrari in den Abgrund rast. wie er in seiner unterirdischen Schwarzlicht­ zu Nervenzusammenbruch. Titel des kurzen
Weil kein goldener Ferrari aufzutreiben ge­ kammer betont, viel zu hell sei: »Tagsüber Videos: »Nicolas Cage Losing His Shit«.
wesen sei, erklärt Cage und entriegelt die Sonnenlicht, nachts elektrisches Licht!« Mit ­Nicolas Cage verliert den Verstand.
Kindersicherung vor einer engen Wendel­ »Leaving Las Vegas« hat er der Stadt ein fil­ Allmählich dämmerte ihm, dass es von
treppe nach unten, habe er eben den Lam­ misches Denkmal gesetzt. Nun lebt er in Las vergleichbaren Filmchen nur so wimmelte,
borghini gekauft. Vegas wie ein Vampir, der sich vor Las Vegas einzelne seiner Gesichtsausdrücke längst für
Nun führt der Gastgeber durch einen ver­ verstecken muss. Memes verwendet wurden – und er dabei
winkelten Gang in eine Kammer von klau­ Und doch hat er es aus eigener Kraft ge­ war, sich in eine Witzfigur im Internet zu ver­
strophobischer Enge. UV-Strahler illuminie­ schafft. Mit dem gleichen störrischen Ethos, wandeln. Und es stimmt schon, ohne den
ren Schwarzlichtposter aus den Siebziger­ das auch am Anfang seiner Karriere stand. Kontext lassen ihn seine versammelten Zu­
jahren, mit denen die Wände des Zimmers Damals änderte er seinen prominenten Nach­ spitzungen wie eine Knallcharge erscheinen.
tapeziert sind. Led Zeppelin, »Jesus Christ namen Coppola, weil er es aus eigener Kraft In diesem Moment wurde ihm klar, dass ge­
Superstar«, die Beatles, Peter Fonda in »Easy schaffen wollte – und nicht als Neffe des gro­ rade das Genialische an seiner Arbeit dazu
Rider«. Cage hält diese Poster für »eine ver­ ßen Filmemachers Francis Ford Coppola. Nur verführen kann, sich an ihn als einen abge­
gessene Kunstform« und fand die Vorstellung einmal, als Jugendlicher, habe er den berühm­ halfterten Clown zu erinnern: »Das war neu.
»cool, einen solchen Ort zu haben«. Also hat ten Onkel aufgefordert, doch einmal Probe­ Ich bin Schauspieler geworden, weil ich James
er ihn sich eingerichtet. Auf Thaikissen setzen aufnahmen mit ihm zu machen: »Ich erinne­ Dean sein wollte oder Marlon Brando. Weil
wir uns an einem flachen Tisch gegenüber. re mich noch gut an die Stille, die danach im ich das Kino liebe. Nicht um ein Gag zu sein,
»Wo waren wir? Ach ja, das Geld!« Auto herrschte.« über den ich keinerlei Kontrolle habe.«
Spätestens nach den erfolgreichen Action­ Cage gehört vor seiner Pleite bereits zu Er hat den Schock über diesen Kontroll­
filmen »Im Körper des Feindes«, »Con Air« den Fleißigen, danach arbeitete er wie ein verlust noch nicht verarbeitet, da erreicht ihn
und »The Rock« habe er keine finanziellen Wahnsinniger. Es gab Jahre, da kamen fünf ein Drehbuch über einen Kontrollverlust. Im
Sorgen mehr gehabt – trotz vier gescheiterter bis sechs Spielfilme mit ihm in die Kinos. Oder Zentrum von »Dream Scenario« des norwe­
Ehen, darunter mit Lisa Marie Presley und auch nur in die Ramschkiste namens »Video- gischen Filmemachers Kristoffer Borgli steht
der Kollegin Patricia Arquette. Sein Vermö­ on-Demand«. Er trug seinen Namen zu Mark­ Paul Matthews, ein linkischer Professor, der
gen habe er in Immobilien angelegt. Ver­ te, beinahe zu Grabe – und merkte es nicht. plötzlich in den Albträumen anderer Men­
gleichsweise konservativ, das aber in ganz Wie auch? Er drehte ja Filme. Wie immer. schen auftaucht. Während Schreckliches ge­
großem Stil, so beschreibt er es. Und die waren mal besser, mal schlechter. schieht, steht er tatenlos dabei. Nur kurz er­
Auf den Bahamas gehörte ihm eine Insel, Interessanterweise ist Nicolas Cage selbst freut er sich seiner unverhofften Berühmtheit,
die er gern mit einer seiner Luxusjachten an­ auf diesem kommerziellen Tiefpunkt ganz dann kippt das Szenario. Matthews wird un­
steuerte. In New Orleans kaufte sich der Dar­ verschuldet zur Hassfigur. Cage erkannte so­
steller von »Ghost Rider« ein berüchtigtes fort: »Das geht mich persönlich etwas an, das
Spukhaus, um »näher an den Gespenstern zu bin ich!«
sein« – und ein pyramidenförmiges Grabmal »Dream Scenario« wird als Komödie
gleich noch dazu. Und in der bayerischen ­vermarktet, könnte aber eine Studie über
Oberpfalz hatte es ihm Schloss Neidstein an­ Identität und Ruhm in Zeiten sozialer Medien
getan, ein Anwesen aus dem 16. Jahrhundert, sein. Mit Bäuchlein und Haarkranz ist Cage
60 Minutes / PL ANET PHOTOS

von dessen ehrwürdiger Bibliothek er heute kaum wiederzuerkennen. Trotzdem sagt


noch schwärmt. er: »Das ist vielleicht meine persönlichste
»Dann kam die Finanzkrise«, sagt er. »Und Rolle. Ich musste kaum spielen.« Als Paul
die hat mich voll erwischt.« Matthews einen psychischen Zusammenbruch
2009 war sein Vermögen weg. Cage ver­ erleidet, wirkt es fast lebensnah. »Ich wusste
klagte seinen früheren Finanzmanager, von einfach, was er in diesem Moment empfin­
dem er sich übers Ohr gehauen fühlte. Der Filmstar Cage (r.) in seinem Lamborghini det«, sagt Cage.

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Seine Rolle in »Dream Scenario« könnte


fortsetzen, was mit seiner Rolle als Koch in
»Pig« begonnen hat – eine Abkehr von stilis-
tischer Überspanntheit als Markenzeichen.
Bisher schaute man ihm nicht deshalb gebannt BELLETRISTIK SACHBUCH
zu, weil er seine Charaktere so realistisch
spielt. Sondern weil er es versteht, sie in sen- Der Literaturnobel­ Der Autor beobachtet
timentale oder aggressive Extreme explodie- preisträger starb vor zehn Kafka, der von sich
­Jahren, nun ist sein selbst sagte, er bestehe
ren zu lassen. letztes Werk posthum aus Literatur, beim
Was diese Intensität betrifft, fühlte sich der erschienen. Im Zentrum Schreiben. Das Schrei­
Regisseur Werner Herzog bei Cage an Klaus des ­kurzen Romans steht ben war dessen Exis­
eine verheiratete Frau, tenz, dabei erlebte er
Kinski erinnert. Cage kennt den Vergleich die nach einer Affäre die Mo­mente des Glücks
und schwächt ihn sogleich ab. In Herzogs Dra- Routinen ihres Lebens genauso wie völlige
ma »Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen« hinterfragt. | Platz 5 Entfremdung. | Platz 15
habe er immerhin versucht, in dieser Hinsicht
sein Bestes zu geben: »Da wollte ich ein ka- 1 (–) Sarah J. Maas Crescent City – 1 (1) Peter Hahne
Wenn die Schatten sich erheben dtv; 26 Euro Ist das euer Ernst?! Quadriga; 12 Euro
lifornischer Kinski sein.«
Wie seinerzeit Kinski sieht sich Cage in 2 (1) Carissa Broadbent The Serpent and the 2 (11) Volker Busch
direkter Nachfolge des deutschen Expressio- Wings of Night Carlsen; 18 Euro Kopf hoch! Droemer; 20 Euro
nismus. Wobei sein Pathos stets eine spiele-
rische Komponente hat und sich nicht aus den 3 (17) Jana Hoch The Ruby Circle – 3 (2) Florian Illies
eigenen Abgründen speist. Er will überwäl- All unsere Lügen Arena; 20 Euro Zauber der Stille S. Fischer; 25 Euro

tigen, wie er selbst vom »Schrei« Edvard


4 (4) Ingrid Noll 4 (3) Uwe Wittstock
Munchs, von »A Day in the Life« der Beatles Marseille 1940
Gruß aus der Küche Diogenes; 26 Euro C. H. Beck; 26 Euro
oder »Naked Lunch« von William S. Bur-
roughs überwältigt wurde. »Was, wenn du 5 (–) Gabriel García Márquez Wir sehen uns im 5 (4) Axel Hacke Über die Heiterkeit in schwie-
kein Maler, kein Musiker und kein Schrift- August Kiepenheuer & Witsch; 23 Euro rigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns
steller bist, nur Schauspieler? Wie kannst du der Ernst des Lebens sein sollte Dumont; 20 Euro
deine Liebe zum Surrealen und Absurden 6 (6) Iris Wolff
ausleben?« Lichtungen Klett-Cotta; 24 Euro 6 (–) Melanie Pignitter Wenn das Kind in dir
noch immer weint Graefe und Unzer; 19,99 Euro
Im Film brauche es schon einen triftigen
Grund zum Ausflippen. Deshalb spiele er gern 7 (3) Elizabeth Strout
Am Meer Luchterhand; 24 Euro
7 (9) Leonie Schöler
Rollen, »deren Überschlag ins Unheimliche Beklaute Frauen Penguin; 22 Euro
durch die innere Logik der Figur gedeckt ist«. 8 (7) Barbara Kingsolver
Ein perfektes Beispiel dafür sei die Drogen- Demon Copperhead dtv; 26 Euro
8 (6) Brianna Wiest 101 Essays, die dein Leben
sucht seines Cops in »Bad Lieutenant«. Oder verändern werden Piper; 22 Euro

seine Rolle in der Horrorkomödie »Vampire’s 9 (8) Sebastian Fitzek


Die Einladung 9 (5) Uschi Glas
Kiss«. Weil sich der Held für einen Vampir Droemer; 24 Euro
Ein Schätzchen war ich nie Mosaik; 24 Euro
hält, konnte Cage sich »direkt am Expressio-
10 (11) Bonnie Garmus
nismus, also an Max Schreck und seinem Nos-
Eine Frage der Chemie Piper; 26 Euro
10 (14) Leah Weigand
feratu orientieren«. Zuletzt hat er diesen Trick Ein wenig mehr Wir Knaur; 18 Euro
im Film »Renfield« variiert, wo er seinen Dra- 11 (9) Haruki Murakami Die Stadt und ihre
cula an den diabolischen Grimassen Christo- 11 (–) Nathalie Pohl / Jan Stremmel
ungewisse Mauer Dumont; 34 Euro
Im Meer bin ich zu Hause Polyglott; 22,99 Euro
pher Lees ausrichtete. In »Massive Talent«
spielt Nicolas Cage sogar einen Schauspieler 12 (10) Alex Capus Das kleine 12 (10) Giovanni di Lorenzo Vom Leben und
namens Nicolas Cage. Er stellt also sich selbst Haus am Sonnenhang Hanser; 22 Euro
anderen Zumutungen Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro
dar, während er sich selbst darstellt – ein Spie-
13 (5) Rebecca F. Kuang 13 (12) Michel Friedman
gel im Spiegel. Yellowface Eichborn; 24 Euro
Womöglich ist seine bewährte Methode des Judenhass Berlin; 12 Euro

Overacting spätestens mit dieser letzten Um- 14 (15) Rebecca Yarros 14 (7) Heinz Bude
drehung an ihr Ende gekommen. Im Gespräch Iron Flame – Flammengeküsst dtv; 32 Euro Abschied von den Boomern Hanser; 22 Euro
klingt es fast, als habe der Surrealist nun sei-
nen Frieden mit dem Naturalismus gemacht. 15 (13) Bernhard Schlink 15 (15) Rüdiger Safranski
Aufstieg, Fall, Aufstieg. Als was wird man Das späte Leben Diogenes; 26 Euro Kafka Hanser; 26 Euro
Nicolas Cage nun erinnern, Genie oder
16 (12) Ursula Poznanski 16 (16) David Goggins
Clown? Die Burg
Mit jedem Schritt aus dem Verlies der
Knaur; 24 Euro Can’t Hurt Me Riva; 22 Euro

Leuchtposter ins Licht wird Nicolas Cage sich 17 (2) John Grisham 17 (18) Ewald Frie
wieder ähnlicher. Gleich sei er mit seinem Die Entführung Heyne; 24 Euro Ein Hof und elf Geschwister C. H. Beck; 23 Euro
erwachsenen Sohn in der Stadt verabredet.
Er wird den goldenen Lamborghini nehmen. 18 (16) Karsten Dusse Achtsam morden 18 (–) Jan Frerichs
Zeit für eine letzte Frage, schon in der Tür. durch bewusste Ernährung Heyne; 24 Euro Wilde Kirche Patmos; 20 Euro
Wenn er nur noch eine einzige Rolle spielen
19 (14) Nele Neuhaus 19 (20) Herfried Münkler
dürfte, welche wäre das? Monster Ullstein; 24,99 Euro Welt in Aufruhr Rowohlt Berlin; 30 Euro
Er denkt keine Sekunde nach: »Kapitän
Nemo von Jules Verne.« Ein unwirklicher 20 (19) Bodo Kirchhoff Seit er sein Leben 20 (19) Robert Greene Power –
Held in einer unwirklichen Welt. mit einem Tier teilt dtv; 24 Euro Die 48 Gesetze der Macht Hanser; 22 Euro
Arno Frank n Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »BuchMarkt« (Daten: media control). Informationen unter spiegel.de/bestseller.

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der, die allergisch sind, die könnten mich dann


nicht mehr besuchen kommen«. Kunstpause.
»Was eigentlich dafür spräche, sich eine an-
zuschaffen.«

Laut für leise Leute


So wird das die nächste Stunde weiterge-
hen, zwei einander sehr vertraute Menschen
spielen Gag-Pingpong, sie sind ihre eigenen
Stichwortgeber und lachen nur über sich
selbst. Es ist ihre Podcastroutine. Es ist leicht,
HUMOR Giulia Becker und Chris Sommer steuern als Gagschreiber die die beiden gleich zu mögen.
Sie sind ein Paar und leben zusammen,
Comedylandschaft, aber scheuen das Rampenlicht. Ihr Podcast »Drinnies« möchten aber nicht erzählen, wie sie sich ken-
über introvertierte Menschen wird heiß geliebt. Wer sind die beiden? nengelernt haben. Aus ihren Biografien lässt
sich aber erahnen, über welche Humorredak-
tion sie sich kennengelernt haben. »Das

A
uf ihre größten Momente folgt oft der fortzone zu verlassen. Dafür haben wir Wohl- Schlimmste wäre, wenn uns jemand einen
größte Kater. Als Giulia Becker und fühlmaßnahmen eingeplant: etwa zwei Mo- Pärchenpodcast nennen würde«, sagt Becker,
Chris Sommer für ihre besonders wit- nate Vorlaufzeit, um sich mental auf das Ge- »wir sind hier, weil wir ähnlich ticken und
zige Arbeit mit dem Deutschen Podcast Preis spräch einzustellen. Als Treffpunkt wünschte deshalb zusammenarbeiten.«
ausgezeichnet wurden, trauten sie sich kaum sich das Paar ein riesiges Gartencenter in Giulia Becker, Jahrgang 1991, wuchs in der
auf die Bühne. Man ahnt das ja nicht: Zwei Köln-Vogelsang. Man denkt: Ah klar, die sind Nähe von Siegen in Nordrhein-Westfalen auf.
Humoristen, die sich seit Jahren öffentlich viel zu Hause, bestimmt lieben sie Zimmer- Das Dorf Unglinghausen hat 1085 Einwohner,
über die eigenen Marotten lustig machen, pflanzen. Doch nein, es geht um die Größe die Eltern arbeiteten, Becker hatte viel Zeit
scheuen das Rampenlicht. des Geschäfts. Bei einer Ladenfläche von etwa für sich und sah fern, »vor allem unglaublich
»Ich hatte vorher beinahe eine Panikatta- vier Fußballfeldern ist die Wahrscheinlichkeit viel Schrott«, erzählt sie. Sie schrieb Ge-
cke und bin nur mitgekommen, weil du mich geringer, vom Verkaufspersonal angespro- schichten und spielte Theater, und trotz Hän-
überredet hast, Giulia«, sagt Chris Sommer. chen zu werden. seleien erinnert sie sich an die Schulzeit als
Den Rest des Abends habe das Paar sich ver- Giulia Becker schreitet mit suchendem unpro­blematisch. »Es war ein geschützter
steckt. »Wir saßen hinter den großen Pflanzen Blick zwischen Sukkulenten hindurch und be- Raum.« Erst später merkte sie, dass es ande-
bei den Toiletten, um Gespräche mit unan- tritt zögerlich ein hohes Gewächshaus mit ren leichter fiel, auf Menschen zuzugehen.
genehmen Branchenmenschen zu vermei- Palmen, ein Café ist dort untergebracht. Sie »Plötzlich dachte ich: Scheiße, vielleicht
den.« Danach mussten sie sich erst mal er- streckt als Erste die Hand aus, drückt kurz zu. schaffe ich es im Berufsleben nicht.«
holen. Die sozialen Akkus waren leer. Begrüßungsrituale gehören zu jenen sozia- Der Drinnie-Schock kam als Praktikantin
Psychologen würden sie als introvertiert len Standards, die den Drinnies wahnsinnig bei der Telenovela »Sturm der Liebe«. Sie
beschreiben, sie selbst nennen sich Drinnies: unangenehm sind. Einige Tage später entwi- sollte Recherchen am Telefon erledigen. »Der
Giulia Becker, 33, und Chris Sommer, 31, ma- ckeln sie im Podcast eine Typologie der Hand- Horror«, erinnert sich Becker. »Ich sollte bei
chen über ihr Naturell den Comedypodcast schläge: »Es gibt den langen Zieher, der deine Ärztinnen anrufen und fragen, wie sich Leu-
»Drinnies«. Und schaffen mit ihm etwas Er- Hand nicht wieder loslässt.« Schlimmer noch te bei einem Herzinfarkt verhielten.« Sie habe
staunliches: Stubenhockertum zu adeln. sei aber »der Glitscher, der nur andeutet, fühlt oft gesagt, sie habe niemanden erreicht, »und
Ihr Rezept ist die radikale Selbstentlar- sich an wie toter Fisch«. Sommer weiß Ab- lieber die Kaffeemaschine gereinigt«.
vung. Sie tauschen sich darüber aus, wie un- hilfe: »Zwei, drei Meter Abstand halten und Die eigene Telefonhemmung ist ein Run-
angenehm es für sie ist, im Supermarkt an- nur winken. Große Gesten machen, und die ning Gag seit Episode Nummer eins im De-
gesprochen zu werden. Wie sie sich überwin- Sache ist gegessen.« zember 2020. Ist das schon eine Phobie?
den, beim Arzt anzurufen. Wie sehr sie Auch heute verstecken sie sich hinter Pflan- Becker: »Ich fange jetzt nicht an zu zittern,
­Betriebsfeiern hassen. In welcher Nische des zen, diesmal vor dem Fotografen. Das Posie- wenn ich telefonieren muss. Aber ich mache
Internets sie sich danach verkriechen. ren ist ihnen sichtlich unangenehm. Am an- es wirklich ungern. Ist wie Restmülltonne von
Alleinsein ist bei ihnen nicht trist, Passivi- deren Ende des Gewächshauses rauscht ein innen putzen.«
tät nicht dumpf – sondern quietschvergnügt. künstlicher Wasserfall, die Luft ist warm und Schon als Zehnjähriger habe er sich ver-
Rückzug münzen sie um in einen fröhlichen schwül. »Ist immer wie ein Tag Urlaub hier«, steckt, wenn im Elternhaus das Telefon klin-
Akt der Emanzipation. Hunderttausende lie- sagt Becker, »Shirt ist durchgeschwitzt und gelte, sagt Sommer. Als Student habe er lan-
ben sie dafür, sie rufen den Podcast monatlich die Frisur im Eimer.« Klassischer Einzeiler, ge Zeit kein Mobiltelefon gehabt. Bei Arzt-
eine Million Mal ab. Manche von ihnen be- wie aus dem Gaghandbuch. praxen gehe er lieber persönlich vorbei, als
schreiben sich auf ihren Tinder-Profilen nun Witze sind ihnen Ventile für so ziemlich anzurufen. »Wenn ich doch mal ans Telefon
selbstbewusst als Drinnies. alles, und damit haben sie enormen Erfolg: muss, lüge ich gleich zu Beginn, ich würde
Dabei haben es Introvertierte sonst nicht Becker und Sommer legen Fernsehgrößen wie gerade kochen. Dann kann ich jederzeit sa-
leicht. Sie werden oft beäugt, als stimme et- Jan Böhmermann, Hazel Brugger oder Maren gen: Du, mir brennt gerade alles an.«
was nicht mit ihnen. Schätzungsweise hat ein Kroymann die Witze in den Mund. Sie spielen Chris Sommer wurde 1992 in der Schweiz
Drittel bis knapp die Hälfte der Menschen Sketche im »ZDF Magazin Royal« und in der geboren. Schon als Kind dachte er sich für die
dieses Persönlichkeitsmerkmal, doch unsere »Carolin Kebekus Show«. Sie schreiben Sa- Eltern Sketche aus, in denen er »Mister Bean«
Gegenwart ist grell und aktionistisch, die tire für die »Titanic« und entwickeln Comedy- imitierte. Als Teenager plagte ihn ein schlech-
Selbstbewussten setzen sich durch. Wer viel serien. Für ihren Roman »Das Leben ist eins tes Gewissen, weil er am Wochenende lieber
zu Hause abhängt, wird schnell als seltsam der Härtesten« bekam Becker den Debütpreis zu Hause blieb, als auszugehen, doch er
oder uncool abgestempelt. Den Imperativ der der Buchmesse lit.Cologne. brauchte diese Zeit zur Regeneration vom
Extroversion haben Becker und Sommer lä- Im Herbst soll das nächste Buch erschei- Schulalltag. Er studierte Jazzsaxofon in Lau-
chelnd besiegt. Dreimal haben sie dafür den nen. Kurze Texte über »Katzen, Einräder und sanne und Luzern, merkte aber bald, dass ihm
Deutschen Podcast Preis bekommen. Thermalbäder. Was mich halt so beschäftigt«, die Hochschule zu akademisch war. Er zog
An diesem grauen Vormittag im Februar sagt Becker, auch wenn sie selbst keine Katze dann für einige Monate als Museumswärter
haben sich die Drinnies aufgerafft, ihre Kom- halte, denn »ich habe viele Familienmitglie- in ein Schloss. Die Einsamkeit empfand er als

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­ ände zu scheidenförmigen Rauten zusam-


H
menlegen.
Ein paar Jahre lang war Becker »die mit
dem Scheidensong« und wurde als lustige
Vorzeigefeministin gefeiert. Auch eine eigene
Fernsehshow sei ihr angeboten worden, aber
sie habe abgelehnt, sagt Becker. »Als Frau
musst du Entscheidungen sehr überlegt tref-
fen«, sagt sie. »Ich sehe männliche Kollegen
die 34. Chance bekommen, sich zu beweisen
und besser zu werden. Und ich sehe Frauen,
mit denen ein Pilot gedreht wird, und wenn
der nicht klappt, sagt man: ›Ach, Scheiße, mit
der machen wir nichts mehr.‹«
Heute stehen Becker und Sommer sehr
wohl auch vor der Kamera, etwa in Sketchen
für die »Carolin Kebekus Show« und Böh-
mermanns »ZDF Magazin Royal«. Ist das
nicht ein Paradox, wenn man doch eigentlich
schüchtern ist? Auf Bühnen sei ihnen
fast nichts zu peinlich, sagt Sommer. Das
habe mit der Berechenbarkeit der Situation
zu tun.
Das Wichtigste ist ihnen aber der Podcast.
Dort ist es kein Problem, das Innere nach
außen zu kehren, denn die Gespräche fühlen
sich privat an. Dafür quetschen sie sich mit
ihren USB-Mikrofonen in eine Abstellkam-
mer ihrer Wohnung, »da passt nur einer rein,
der andere sitzt halb auf dem Flur«. Von dort
aus zelebrieren sie den Drinnie-Lifestyle, eine
Häuslichkeit, die wenig zu tun hat mit den
Heile-Welt-Bubbles auf Instagram.
Die Drinnies halten weder Ordnung, noch
backen sie gern. Auf dem Balkon sprieße kein
Kräutergärtchen, erzählen sie, »da steht nur
der Grill«. Sie glotzen »Bares für Rares« und
»Das perfekte Promi-Dinner«, zocken danach
»Sims« auf der Playstation, dazu gibt es
Jann Höfer / DER SPIEGEL

Snacks mit Nutri-Score im roten Bereich. Aus


der Banalität des Alltags generieren sie durch
präzise Beobachtung Spaß mit Psychonote,
eine sehr empathische Comedy. Sie geben
empfindsamen Grüblern Lebenshilfe, etwa
Autoren Sommer, Becker: »Telefonieren ist wie Restmülltonne von innen putzen«
dem Kinobesucher, der sich den Kopf darüber
zerbricht, welche Armlehne seine ist. Ihm
wohltuend. Nur manchmal hätten ihn Rentner Ihre Posts als »Schwester Ewald« wurden tau- sagen sie: Du bist nicht allein. Wie viel davon
angesprochen, oft aber ohne Erfolg: »Ich bin sendfach retweetet. Eines Tages soll Jan Böh- humoristisch zugespitzt ist, bleibt offen.
im Small Talk so schlecht, dass es sogar mei- mermann in die Redaktionsrunde gefragt Die Medienbranche, besonders den Kölner
nem Gegenüber unangenehm wird.« haben: »Weiß eigentlich jemand, wer hinter Humorzirkel, kritisieren Becker und Sommer
Weil er die US-Sitcom »Curb Your Enthu- ›Schwester Ewald‹ auf Twitter steckt?« Ant- gern und gründlich: »Mächtige weiße Typen
siasm« über den Fernsehautor Larry David wort: »Das ist doch die Praktikantin in der und andere weiße Typen, die den mächtigen
liebte, begann er, selbst Witze zu formulieren. Redaktion.« Böhmermann holte sie in sein Typen am Hintern kleben. So werden die Jobs
Dann las er eine Onlineausschreibung des Autorenteam, damals die einzige Frau. verteilt«, sagt Becker. Lange Zeit habe sie
»Neo Magazin Royal«, schickte seine Gags Kurz darauf, die Drinnies waren sich noch gedacht, sie selbst sei das Problem. »Ich fand
ein und kam ins Autorenteam. »Da gab es nicht begegnet, wurde Becker mit der femi- die anderen nicht zu laut, sondern mich zu
keine künstlichen Hürden, wie ich sie aus der nistischen Hymne »Verdammte Sch***e« leise. Heute denke ich: Andersherum sollte
Musikszene kannte. Niemand forderte, ich plötzlich berühmt, den Böhmermanns Team die Anpassung passieren.«
müsse erst einen ›Bachelor of Comedy‹ ma- mit ihr ersonnen hatte. Sie sang darin über Nach mehr als einer Stunde schalten wir
chen, um Stand-up zu schreiben.« ihren Alltag als schüchterne Frau. »Geh zum die Audioaufnahme aus, die Drinnies atmen
Auch Giulia Becker war beim »Neo Ma- Fernsehen, haben sie gesagt, denn für ’ne Frau tief durch. Nun haben sie doch noch Lust,
gazin Royal« gelandet. Sie hatte sich von bist du echt komisch. Doch seit meinem ersten Pflanzen zu kaufen. Wir schlendern durch die
einem Fernsehpraktikum zum nächsten ge- Tag lief es hier nicht so harmonisch.« Sie wer- Orchideen, doch »die sind zu lieblich«. Ein
hangelt, sehnte sich aber nach Stillarbeit. Auf de immer übersehen, könne nicht zeigen, was Stück weiter kommen Strelitzien in Pink und
Twitter jedoch liebte sie es laut, dort hatte sie in ihr stecke, heißt es in dem Song, und dann Orange. Becker nimmt eine heraus, ihre Blät-
sich anonym einen Namen gemacht. Da konn- im Refrain: »Schuld ist meine Scheide«. Im ter sind zerlöchert. »Oh, ein Schönheitsfehler.
te sie so sein, wie sie sich im echten Leben Video sah man Fernsehfrauen wie Hazel Die kauft sonst keiner. Die nehme ich.«
nicht zu sein traute: spitz und schlagfertig. Brugger, Olivia Jones und Ina Müller die Carola Padtberg n

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stand bleibt bewaffneter Wider­


stand – also die Ausübung von
Gewalt gegen bewaffnete Kräfte
oder die Infrastruktur eines Geg­

Mehr als nur Wörter


ners mit dem Ziel, seine Über­
macht zu brechen. Dann hat Ju­
dith Butler unterm Strich gesagt,
dass der terroristische Angriff
GLOSSAR »Israelkritik« und »Antisemitismus«, »Apartheid« und »Staatsräson«: der Hamas seine Richtigkeit hat­
Im Gespräch über Israel und Palästina ist die Wahl der Begriffe entscheidend. te, weil er sich gegen Israelis
Wofür stehen sie? Versuch einer Orientierungshilfe im Dickicht. richtete – vom Säugling bis zur
Greisin. Arno Frank

Konflikte und Kriege hinterlassen Holocaust sollten sie ausge­ gänge jedenfalls für fließend,
ihre Spuren in der Kommunika­ löscht werden: allein deswegen, wie er vor zwei Jahren im Ge­ »From the river to the sea,
tion, sie verändern die Sprache. weil sie Juden waren. Was genau spräch mit dem SPIEGEL sagte. Palestine will be free«
Zuletzt prägte neben dem rus­ als Antisemitismus gilt, ist ak­ Damals fragte Sznaider, ob
sischen Angriffskrieg auf die tuell in zwei – in Teilen unter­ man denn Formulierungen »wie Manche Reime liegen eher im
­Ukraine der Gazakrieg die De­ schiedlichen – Definitionen fest­ Frankreichkritik oder Deutsch­ Zuständigkeitsbereich der Poli­
batte – und führte im Wochentakt gehalten: der Definition der landkritik« kenne? Kennt man tik als der Poesie. Dieser Satz
zu neuen Fragezeichen: Wieso International Holocaust Re­ eher nicht. Man kennt nicht ein­ reimt sich im Englischen – und
sprach vor Kurzem eine der be­ membrance Alliance (IHRA) mal Nordkoreakritik. Manchmal reizt international. In den USA
rühmtesten Philosophinnen der aus dem Jahr 2016 und der Je­ sagen die Wörter, die es nicht und in Großbritannien bekamen
Welt, Judith Butler, im Hinblick rusalemer Erklärung von 2021, gibt, sehr viel aus. Ulrike Knöfel Politiker Probleme, nachdem sie
auf das Massaker der Hamas am die Erstere ersetzen soll. Ziel ihn verbreitet hatten. In Deutsch­
7. Oktober von »bewaffnetem beider ist es, Antisemitismus er­ land kann die Parole als Straf-
Widerstand«? War der gelöschte kennen und bekämpfen zu kön­ Terroristischer Angriff / tat verfolgt werden: Sie wurde
Post im Instagram-Account der nen. Die Jerusalemer Erklärung bewaffneter Widerstand kürzlich als »Kennzeichen« der
Berlinale, der die Parole »Free kritisiert, die IHRA-Definition Terrororganisation Hamas ver­
Palestine. From the river to the stelle den Staat Israel in den Mit­ Die Rhetorikprofessorin Judith boten. Es geht um »From the
sea« enthielt, legitim oder sogar telpunkt, und erläutert, fakten­ Butler hat Anfang März bei river to the sea, Palestine will
illegal? Wie steht es um Begriffe basierte Kritik an israelischer einem Auftritt in Paris das Mas­ be free«, übersetzt etwa: »Vom
wie »Genozid« und »Apartheid«, Politik sei keinesfalls antisemi­ saker der Hamas am 7. Oktober Fluss (dem Jordan) bis zum
die ihren Ursprung woanders tisch. ­Katharina Stegelmann einen »Akt des bewaffneten Wi­ Meer (dem Mittelmeer) wird
­haben, aber jüngst wieder lauter derstands« genannt, der, wolle ­Palästina frei sein.« Der Satz
ausgesprochen werden? Es sind man »ehrlich und historisch kor­ steckt also jenen Raum ab, in
mehr als Wörter. Mit ihnen wird Israelkritik rekt« statt verlogen und falsch dem auch ­Israel liegt. Organisa­
Politik gemacht. sein, »kein terroristischer An­ tionen wie das American Jewish
Lange tauchte der Begriff nur griff gewesen« sein könne, »kei­ Committee oder die Anti-Defa­
sporadisch auf, vielleicht schien ne antisemitische Attacke, son­ mation League sehen in der Pa­
Antisemitismus er angesichts der Geschichte un­ dern eine gegen Israelis«, die role daher klar Antisemitismus:
angemessen. Das war in den demnach, weil der Terror nicht Sie fordere die Auslöschung Is­
Es ist eine der wiederkehrenden Siebzigerjahren und noch in den Juden generell, sondern Bürge­ raels. Andere, wie zum Beispiel
Fragen, wenn es um den Kon­ Neunzigerjahren so. Geändert rinnen und Bürgern des jüdi­ der US-palästinensische Polito­
flikt zwischen Israel und Paläs­ hat es sich nach der Jahrtausend­ schen Staats gegolten habe, als loge Yousef Munayyer, meinen
tina geht: Wo endet Kritik an wende, und vor allem in den Widerstand bezeichnet werden hingegen, sie stehe nur für den
Israel, wo beginnt Antisemi­ vergangenen Jahren. »Israelkri­ müsste. Wunsch nach einem Staat, in
tismus? Aus historischer Sicht tik« wurde in einer bestimmten Das ist ein rhetorisches Hüt­ dem Palästinenser »als freie und
liegen die Anfänge »gruppen­ Szene zu einer Modevokabel – chenspiel, das schnell in Ord­ gleichberechtigte Bürger leben
bezogener Menschenfeindlich­ und zu einem Tarnbegriff, der nung zu bringen ist. Was die eine können«. Der Kontext ist hier,
keit gegenüber Juden« oder »Ju­ viel toxischer ist, als er sich an­ Seite als terroristischen Angriff wie so oft, entscheidend: Zwar
denfeindschaft«, so definieren hört. So ist eine Kritik an Israel wertet, sieht die andere Seite als wird der Slogan, der seit dem
Lexika den Wortsinn, Jahrtau­ nicht dasselbe wie Israelkritik. bewaffneten Widerstand. Oder, 7. Oktober unter propalästinen­
sende zurück. Die Forschung Der erste Ausdruck ist legitim: wie die Angelsachsen sagen: sischen Aktivisten offensichtlich
versucht, Judenhass unter an­ Israel steht hier für die Regie­ »One man’s ceiling is another an Popularität gewonnen hat,
derem mit einer Sündenbock­ rung des Landes, dessen Ent­ man’s floor.« Die Decke des schon sehr lange verwendet.
theorie zu ­erklären. Juden wur­ scheidungen infrage gestellt einen ist der Boden des anderen. Doch die Hamas, deren Ziel die
den demnach als Außenseiter werden können wie die Politik Die Frage ist lediglich, auf wel­ Eliminierung des Staates Israel
identifiziert und verantwortlich jedes Landes. Der zweite Aus­ cher Seite man stehen möchte. ist, hat ihn 2017 in ihre Charta
gemacht für die Verbreitung der druck ist heute nicht mehr als Nehmen wir versuchsweise ein­ geschrieben. Dennoch tauchen
Pest, für unerklärliche Todes­ ein hässlicher Slogan, denn oft mal an, ein terroristischer An­ seine Partikel in ganz entgegen­
fälle und für schlechte Ernten. genug ist der Unterton ein anti­ griff bleibt ein terroristischer gesetzten Varianten auf: hier
Die Mehrheitsgesellschaft woll­ semitischer, so sagen es auch die Angriff – also die Ausübung von »Free Palestine from German
te sich entlasten, vermeintlich Experten. Oder man spricht mit Gewalt gegen Unbeteiligte mit Guilt« (»Befreit Palästina von
Schuldige benennen und bestra­ ihm Israel das Existenzrecht dem Zweck, Angst und Schre­ deutscher Schuld«), da »Free
fen. Juden wurden ausgegrenzt, ab – der israelische Soziologe cken zu verbreiten. Nehmen wir Gaza from Hamas« (»Befreit
gedemütigt, vertrieben, und im Natan Sznaider hält die Über­ ferner an, bewaffneter Wider­ Gaza von der Hamas«). Selbst

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die nationalkonservative Likud freien. Er sollte sich neu erfin- auf Israel als Demokratie mit Genozid
von Premierminister Benjamin den, die Diaspora hinter sich garantierten Rechten für eth­
Netanyahu hat sich mal des lassen und das alte Land Israel nische oder religiöse Minder­ Völkermorde gibt es, seit Men-
­Satzes angenommen und sich in neu besiedeln. Er sollte einen heiten, wie sie in der Region schen die Möglichkeit haben, sie
den Siebzigerjahren zwischen- neuen, muskulösen Körper ha- beispiellos sind. Aus einer rea- zu begehen. Den Begriff des Ge-
zeitlich eine Abwandlung davon ben, Sport treiben, wehrhaft len Bedrohungslage ließen sich nozids gibt es aber erst seit dem
zu eigen gemacht: »Zwischen sein, das Land bearbeiten, eine legitime Sicherheitsinteressen Zweiten Weltkrieg. Er wurde
dem Meer und dem Jordan wird neue Sprache sprechen. Es war zum Schutz der eigenen Bevöl- von dem jüdischen Juristen Ra-
es nur israelische Souveränität eine wahrhaft heroische Unter- kerung ableiten. Bis hierüber phael Lemkin entwickelt, der
geben.« Jurek Skrobala nehmung, die damals in Europa entschieden ist, wird der Vor- einen Ausdruck dafür suchte,
ihren Anfang nahm und in Pa- wurf der Apartheid bestehen gleichzeitig den Holocaust zu
lästina ihren Ort suchte. Und es bleiben – und als Metapher für beschreiben, in dem er fast seine
Boykott gelang den Zionistinnen und historisches Unrecht zugleich ganze Familie verlieren sollte,
Zionisten tatsächlich, diesen ein Urteil sein. Arno Frank und den Völkermord des Osma-
Der Boykott ist der scheinbar Traum zu verwirklichen: einen nischen Reichs an den Arme-
nette Bruder der Cancel-Cul- Staat für das Volk der Juden zu niern 30 Jahre zuvor. Lemkin
ture. Die ist ja eher ein Schreck- gründen. Aber wie es mit den Staatsräson wollte diese Taten zum ersten
gespenst: Menschen zu canceln großen Ideen und den Helden- Mal in der Menschheitsgeschich-
heißt, ihnen die Möglichkeit zu geschichten eben so ist: Der In einem demokratischen Land te juristisch verfolgbar machen.
nehmen, sich zu äußern, aufzu- Kontakt mit der Realität kann ist Staatsräson zuallererst nur Es gelang: 1948 wurde der Ge-
treten oder zu veröffentlichen. grausam sein. 75 Jahre nach der ein Wort. Der Staatstheoretiker nozid mit der UN-Völkermord-
Will niemand, machen nur die Gründung Israels sind die alten Niccolò Machiavelli entwickelte konvention ein Straftatbestand.
anderen, hat keinen guten Ruf. Ideale so zersplittert wie die is- den Begriff im 16. Jahrhundert. Einen Genozid zu begehen
Boykott läuft letztlich aber aufs raelische Gesellschaft, und der Ein Staat setze demnach alle heißt seitdem, »eine nationale,
Gleiche hinaus: Produkte nicht Zionismus ist ein mitunter um- Mittel ein, um nach Sicherheit ethnische, rassische oder reli­
kaufen, Menschen nicht einla- strittener Begriff. Die einen be- und Selbstbehauptung zu stre- giöse Gruppe als solche ganz
den, Beziehungen zu Institutio- nutzen ihn abwertend, für die ben. Gemeint war der absolutis- oder teilweise zu zerstören«. Er
nen abbrechen. Für die Israel- anderen beschreibt er den Kern tische Staat, dessen Herrscher unterliegt nicht der Verjährung,
Boykott-Bewegung BDS ist das des Staates Israel. Tobias Rapp souverän entscheiden konnte. und die Absicht, ihn zu begehen,
historische Vorbild der Boykott So etwas gibt es in Demokratien ist entscheidend. Die Liste der
des Apartheid-Südafrika, weil nicht. Was meinte Angela Mer- Genozide ist lang, und sehr vie-
die Palästinenser durch Israel auf Apartheid kel also, als sie 2008 vor der le Fälle sind umstritten. Selbst-
eine ähnliche Art um ihre Rech- Knesset, dem israelischen Parla- verständlich ist »Genozid« aber
te gebracht würden. Das kann Bis zu ihrer formellen Abschaf- ment, davon sprach, die Sicher- genauso ein politischer Kampf-
man nun richtig finden oder fung im Jahr 1994 war die Apart- heit Israels sei »Teil der Staats- begriff wie ein völkerrechtlicher
falsch – unstrittig ist, dass sich heid als Praxis der strengen Ras- räson meines Landes – das Straftatbestand. Begeht Israel
das Boykottdenken längst selbst- sentrennung in der Verfassung heißt, die Sicherheit Israels ist also einen Genozid? Die Frage
ständig gemacht hat. Wer einen der Republik Südafrika fest­ für mich als deutsche Bundes- ist nicht nur wegen der Größe
Künstler oder eine Künstlerin geschrieben. Systematische Dis- kanzlerin niemals verhandel- des Verbrechens so emotional
zu irgendetwas einlädt, sollte kriminierung zog sich durch alle bar«? Weniger, als man denkt. besetzt. Der Angriff der Hamas
­genau prüfen, ob er oder sie sich Bereiche der Gesellschaft, deren Ja, es gibt eine enge Koopera- zielte auch darauf ab, das jüdi-
in den vergangenen Jahren ir- Gestaltung den Weißen vor­ tion zwischen Deutschland und sche Trauma des Holocaust zu
gendwie zum Israel-Palästina- behalten war. Lässt sich der Vor- Israel in Rüstungsfragen. Und reaktivieren. Südafrika reichte
Konflikt g­ eäußert oder gar einen wurf der Apartheid nun gegen die Bundesrepublik stimmt bei Ende Dezember Klage vor dem
der zahlreichen offenen Briefe Israel anwenden? Rhetorisch der Uno selten gegen Israel. Internationalen Gerichtshof in
unterschrieben hat. Es könnte geschieht das längst. Rechtlich Aber als es 2015 um das Atom- Den Haag ein mit dem Vorwurf,
über Wohl oder Wehe einer Aus- ist Apartheid als Verbrechen abkommen mit Iran ging, nahm Israel würde die Völkermord-
stellung oder einer Tagung ent- gegen die Menschlichkeit klar Deutschland eine andere Posi- konvention verletzen. Das Ge-
scheiden. Tobias Rapp definiert und in drei Punkte tion ein als Israel. Und da ging richt entschied Ende Januar im
unterteilt: erstens, die Absicht es immerhin um die Bombe, die damit verbundenen Eilverfah-
einer rassischen Gruppe, eine Israels Existenz bedrohen wür- ren, dass Israel Schutzmaßnah-
Zionismus andere zu dominieren. Zwei- de. Es ist in den vergangenen men für die palästinensische
tens, die systematisierte Unter- Jahren auch eine Menge deut- Zivilbevölkerung ergreifen und
Es gab zu Anfang des 20. Jahr- drückung der marginalisierten sches Geld in die Palästinenser- alles dafür tun müsse, einen Völ-
hunderts Versuche, den »Neuen Gruppe durch die dominante. gebiete geflossen. Das Wort kermord zu verhindern. Den
Menschen« zu erschaffen. Auf Drittens, besonders schwere Staatsräson sagt also nichts Krieg darf die israelische Armee
der linken wie auf der rechten Verstöße in Form unmensch­ ­anderes als: Es gibt ein beson- allerdings weiterführen. Das
Seite. Sie scheiterten alle – nur licher Behandlung. Auf dieser deres Verhältnis der Bundes­ ­Gericht sieht die Gefahr eines
der Zionismus nicht. Der Begriff Grundlage kommen unter ande- republik (dem Nachfolgestaat Völkermords – nicht mehr und
leitet sich ab vom Namen eines rem die Menschenrechtsorgani- des Deutschen Reichs) zu Israel nicht weniger. Ein Verfahren
Bergs in Jerusalem, dem Berg sationen Amnesty International (dem Staat der Holocaust-Über­ gegen die Hamas gibt es nicht.
Zion. Nach Jahrhunderten der und Human Rights Watch zu le­benden), das durch eine kom- Nicht weil das Massaker vom
Pogrome, der antisemitischen dem Schluss, dass Israel sich der plizierte Mischung aus Freund- 7. Oktober keine genozidalen
Diskriminierung und der Verbo- Apartheid schuldig mache, etwa schaft und Schuld geprägt ist. Züge trug, sondern weil vor
te, das war damals die Idee, soll- durch die gezielte Ansiedlung in Was die jeweiligen Regierungen dem Internationalen Gerichts-
te der neue Jude sich von den den besetzten Gebieten. Kriti- daraus machen, ist ihnen über- hof nur Staaten verklagt werden
alten Bildern des Judentums be- ker dieser Auffassung verweisen lassen. Tobias Rapp können. Tobias Rapp

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 111


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Raven gegen den Weltschmerz


MUSIK Victoria Daldas und Theo Zeitner begannen im Studium, Techno zu produzieren. Heute touren sie als
Brutalismus 3000 um die Welt. Ihren Erfolg verdanken sie einer neuen Fangeneration – die auf TikTok feiert.

S
ie waren einfach Studierende, die sich »Wir sind zu oft hier«, sagt Zeitner. »Pein- wie dieser. Keiner von ihnen, sagen sie, habe
nachts in Technoklubs austobten. Zwei lich«, kommentiert Daldas. Dann geben sie damals nach einer Beziehung gesucht. Sie
Neu-Berliner-Normalos. Theo Zeitner, ihrem Manager ein Zeichen, er solle Bier, grinsen sich an.
blasses Gesicht, strähnige blonde Haare, kam Campari Soda und Korn bestellen. Seit diesem Abend sind sechs Jahre vergan-
nach dem Abitur für ein Filmschnittstudium Während sie auf die Drinks warten, erzäh- gen – die letzten vier, in denen sie gemeinsam
nach Berlin. Victoria Vassiliki Daldas, blasses len Daldas und Zeitner von einem Jetsetleben Musik gemacht haben, seien ein einziger Rausch
Gesicht, schwarze Haare bis zu den Knien, voller Alkoholexzesse. Zuletzt hätten sie je- gewesen. »Wir haben in den vergangenen Mo-
studierte in der Hauptstadt Modemanage- des Wochenende in irgendeinem anderen naten alle Geburtstage unserer Freunde ver-
ment. Doch dann swipten sie auf Tinder nach Land einen Auftritt gehabt. passt«, sagt Daldas. Die würden nun oft ohne
rechts, verliebten sich ineinander und began- Doch dieses erste Treffen könnte man auch sie raven gehen. Denn dort, wo Technofans die
nen, selbst Technomusik zu produzieren. ohne die Coolness beschreiben, die manchmal Anonymität dunkler Räume suchen, werden
Zeitner liefert die Beats, Daldas schreit dazu. gespielt wirkt. Man könnte von einer Musik- Zeitner und Daldas inzwischen erkannt.
Die Texte handeln von den Kriegen in der szene erzählen, in der Handykameras am Als überm Bartresen eine Champions-­
Ukraine und in Nahost, vom Rechtsruck in Klubeingang abgeklebt werden, damit nie- League-Übertragung beginnt, erzählen Zeit-
Europa und von harten Drogen: mand filmt und ins Internet stellt, was dort ner und Daldas, wie die Technomusik für sie
Alles, was ich seh, ist Schmerz passiert. Oder von Managementteams, die nur zum Beruf wurde.
Durch die Nase ins Herz ungern jemanden an ihre Stars heranlassen.
Willst du das wirklich alles ziehen? Daldas und Zeitner haben einem Treffen SPIEGEL: Lässt sich eine Karriere als Techno-
Die Liebe kommt nicht aus Berlin mit dem SPIEGEL erst nach vielen Gesprä- star planen?
chen zugestimmt – und zunächst nur auf Daldas: Nein, wir hatten definitiv andere Plä-
Die beiden wurden unter dem Namen Bruta- »neutralem Boden«, den Lenau-Stuben. Sie ne für unser Leben. Wir sind beide in Bayern
lismus 3000 zum aktuell erfolgreichsten Act seien das erste Mal seit drei Tagen außerhalb aufgewachsen. Ich komme aus Sonthofen, der
der Berliner Technoszene, die gerade erst zum ihrer Neuköllner Dachgeschosswohnung, sa- südlichsten Stadt Deutschlands – schön, aber
immateriellen Unesco-Kulturerbe erklärt wur- gen sie, als wollten sie damit die Blässe ihrer halt superlangweilig. Nach dem Abitur be-
de. Ihr Debütalbum »Ultrakunst«, erschienen Gesichter erklären. gann ich, in Würzburg BWL zu studieren, das
im April 2023, erreichte über 45 Millionen Zeitner raucht viel und redet schnell. war mir immer noch zu langweilig. Also zog
Streams und landete auf Platz elf der deutschen Manchmal legt ihm Daldas unter dem Tisch ich weiter nach Berlin, um in der Modebran-
Charts – für ein Technoalbum ungewöhnlich eine Hand aufs Knie, als wollte sie ihn beru- che zu arbeiten.
erfolgreich. Auf ihren bislang zwei Konzert- higen. Sie selbst spricht leise und bedacht. Zeitner: Ich bin in Coburg aufgewachsen.
touren füllten sie 2023 und 2024 Hallen in Kennengelernt haben sich die beiden im Mein Vater ist Anwalt und wollte immer, dass
Polen, der Slowakei, Tschechien, Frankreich, März 2018, erzählen sie. Ein schnelles Date ich studiere. Meine ganze Jugend hindurch
England, Italien und Deutschland. Alle Kon- um zwei Uhr nachts in einer Neuköllner Bar habe ich unzählige Filme geschaut. Also dach-
zerte waren ausverkauft. te ich: Warum werde ich nicht Regisseur?
Überhaupt, eigene Konzerttouren spielen: SPIEGEL: Was ist aus diesen Plänen geworden?
Für Techno-DJs aus Deutschland ist das ein Zeitner: Wir haben sie trotz der Musik weiter-
Novum. verfolgt. Wenn wir nach einem Auftritt in
Die Musik von Brutalismus 3000 ist ohne Berlin landeten, fuhr ich direkt vom Flug­hafen
Hoffnung. Und doch tanzt die Generation Z zu meinen Seminaren.
zu dieser Musik. Sogar auf dem Coachella in Daldas: Ich habe mein Modemanagement-
Kalifornien, dem vielleicht bekanntesten Fes- Studium beendet, kurz bevor wir begannen,
tival der Welt, sollen Zeitner und Daldas im Musik zu machen. Während ich bei einem
April auftreten. Modeversand arbeitete, veröffentlichten wir
Wie haben es zwei junge Deutsche ge- unsere ersten Songs.
schafft, in so kurzer Zeit zu weltweit gefeierten
Technostars zu werden? Der SPIEGEL hat Am 18. Januar 2020 luden Daldas und Zeitner
Zeitner und Daldas begleitet. Ihre Geschichte ihren Song »Galerie Terror« auf der kosten-
erzählt von rasanten Aufstiegen – ihrem eige- losen Musikstreaming-Plattform SoundCloud
nen und dem eines ganzen Musikgenres. hoch. Als ihren Künstlernamen hätten sie da-
Rebecca Rütten / DER SPIEGEL

mals einfach »Brutalismus 3000« eingetippt,


An einem Mittwochabend im Dezember 2023 eine Anspielung auf den Architekturstil mit
betreten Theo Zeitner und Victoria Vassiliki seinen mächtigen Betonbauten. Zwei Mona-
Daldas die Eckkneipe Lenau-Stuben in Ber- te später ging Deutschland in den ersten Co-
lin-Neukölln. Sie haben Augenringe und tra- rona-Lockdown. Plötzlich waren sie viel zu
gen Bomberjacken, die nass sind vom ersten Hause, verbrachten Stunden, manchmal Tage
Schnee des Winters. Der Barkeeper grüßt. Technostars Zeitner, Daldas mit ihrer Musik.

112 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


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SPIEGEL: Woher kam die Idee, es mit


Techno zu versuchen?
Zeitner: Victoria spricht durch die
Herkunft ihrer Mutter Slowakisch.
Als wir ein halbes Jahr zusammen
waren, kam ich auf die Idee, ihre slo-
wakischen Texte über einen Techno-
beat zu legen.
Rebecca Rütten / DER SPIEGEL

Rebecca Rütten / DER SPIEGEL


Daldas: Unsere ersten Mixtapes nah-
men wir in Theos WG-Zimmer auf.
Wir hatten uns ein billiges Mikrofon
gekauft und eine Socke darüberge-
1 2 stülpt, um Störgeräusche zu filtern.
Weil uns die Nachbarn Stress mach-
ten, führten wir ein, dass ich pro Stun-
de nur einmal ins Mikro schreien
durfte.
SPIEGEL: Gibt es rückblickend einen
Moment, an dem das alte Leben vor-
bei war – und das neue begann?
Zeitner: Irgendwie wollte ich schon
lange kein Student mehr sein – gera-
de während Corona. Ich habe mein
Studium über weite Strecken online
erlebt. Das Musikmachen hat es ein-
fach ersetzt. Victoria dagegen hat
auch dann noch gearbeitet, als wir mit
unserer Musik schon viel Geld ver-
dient haben.
Daldas: Ich bin ein Gastarbeiterkind,
meine Eltern haben mir früh beige-
bracht, dass man für sein Geld mit
viel Disziplin arbeiten muss. Auf
unserer ersten Tour im April 2023
­besuchten sie zum ersten Mal eines
unserer Konzerte in München, hinter-
her sagte mein Vater zu mir: »Okay,
Victoria, du kannst deinen Job
­kündigen.«

Während der Lockdowns entstand


ihre »Liebes-Trilogie« – die drei Plat-
ten »Amore Hardcore« (über zehn
Millionen Streams bei Spotify), »Lie-
be in Zeiten der Kola« (über zehn
Millionen Streams) und »Eros Mas-
sacre« (über 30 Millionen Streams).
Alle ohne Management.
Florian Bode

Ihre Eigenständigkeit verloren


3 Daldas und Zeitner erst nach Corona,
im Berliner Edelrestaurant Borchardt.
Sie hätten dort nur einmal sitzen wol-
len, um die Luft der Neureichen zu
atmen, sagen sie. Dann habe ihnen
ein Kellner Wodkashots gebracht und
Grüße des Rappers Yung Hurn aus-
gerichtet. Sie hätten zum Dank Shots
zurückgeschickt – und wenige Minu-
ten später am Tisch des Rappers ge-
Peter Zeitner / Live From Ear th

Rebecca Rütten / DER SPIEGEL

sessen und einen Mitgründer von


dessen Label Live From Earth ken-
nengelernt.

4 5 An einem Sonntagnachmittag wenige


Tage nach dem Treffen in der Neu-
1 | Eckkneipe Lenau-Stuben in Berlin-Neukölln 2 | Technoduo Zeitner, Daldas, SPIEGEL-Redakteur
köllner Eckkneipe öffnet Jacob
­Hildebrand 3 | Fans bei Brutalismus-3000-Konzert 2022 4 | Musiker Zeitner beim Auflegen 5 | Paar Zeitner, Bauernfeind, ein bärtiger Typ mit
Daldas in Kneipe Hertha-Schal und Earpods, ein Me-

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talltor zu einem Hinterhof in Berlin-Schöne- zu sehen war, zeigen Technofans der Gene- zu bewerben. Er bedient sich bei »Sweet
berg. Dort liegen, zwischen einem Hamam ration Z der breiten Masse heute im Internet. ­Dreams« des britischen Popduos Eurythmics
und einem Kampfsportstudio, die Büros von Bei Fans der ersten Stunde kommt das nicht aus den Achtzigerjahren und erzählt von neu-
Live From Earth. Eine Freundesclique grün- gut an. en Panzergräben in Europa und einer jungen
dete das Label. Sie fuhr während der Finanz- Zeitners und Daldas’ Management bat vor- Generation, die in Technoklubs von einer
krise 2009 nach Griechenland und streamte ab, keine Fragen zu TikTok zu stellen. Kommt besseren Welt träumt.
dort Videos von linken Demonstrationen auf man doch darauf zu sprechen, wirken die bei- Im Gegensatz zu Techno-DJs der Neun-
YouTube – live von der Erde. den genervt. Sie sehen ihre Kunst dadurch zigerjahre zeigen Daldas und Zeitner ihr Ge-
Heute hängen in den Fluren Goldene auf kurze Tanzvideos reduziert – die millio- sicht in Musikvideos und auf Social Media,
Schallplatten vieler Rap-Alben. Sie erinnern nenfach geklickt werden. dazu ihren exzentrischen Kleidungsstil: Im
an die Zeit um 2015, als Live From Earth In der Szene ist der kommerzielle Erfolg Berliner Hinterhof tragen sie im Partnerlook
durch Rapper wie Yung Hurn und Rin eines von Zeitner und Daldas zu einem Politikum Baggy-Jeans der Luxusmarke Balenciaga und
der tonangebenden Labels in der Berliner geworden. Als das Berghain 2023 einen Auf- Bomberjacken.
Musikszene wurde. Die Hip-Hop-Geschichte tritt von Brutalismus 3000 ankündigte, gab Es gibt keine allgemeingültigen Zahlen da-
sei für das Label inzwischen auserzählt, sagt es viel Kritik für den Klub. Technomusik auf rüber, wie viel ein Techno-DJ verdient. Die
Manager Bauernfeind. Stattdessen setzten sie TikTok widerspricht dem Selbstbild vieler Veranstalter des Festivals »Sonne Mond Ster-
jetzt auf Techno. älterer Technofans: zu jung, zu Mainstream. ne« sprechen von einer Verdreifachung der
Bauernfeind zeigt auf die Plakate der label- Von der breiten Masse wollte sich Techno, Gage angesagter Technoartists.
eigenen Partyreihe im Berghain. Darauf ste- wie jede Subkultur, schließlich abgrenzen.
hen die Namen derzeit erfolgreicher Techno- Viel wichtiger für ihren Erfolg als TikTok, Anfang Februar 2024 steht der Nightliner-Bus
künstler wie DJ Gigola, MCR-T – und Bruta- sagen Daldas und Zeitner, sei ohnehin die von Brutalismus 3000 vor der Carlswerk-Vic-
lismus 3000. Deren Debütalbum, erschienen Coronapandemie gewesen. Dass viele junge toria-Konzerthalle in Köln. Zeitner und Dal-
bei Live From Earth, wurde eines der meist- Menschen so lange auf ihre ersten Klubnäch- das sind gerade aus Bratislava gekommen,
gehörten Alben der deutschen Techno­ te warten mussten, habe ihnen in die Karten später müssen sie weiter nach Paris. Drei
geschichte. Auf dem Album befinden sich gespielt. Am Ende der Lockdowns habe es Stunden vor Showbeginn warten am Eingang
Songs wie »Nur mein Körper und die Angst« eine große Sehnsucht nach Ekstase gegeben. der Halle Hunderte Fans. Viele von ihnen sind
oder »Die Liebe kommt nicht aus Berlin«. Dass TikTok erheblich zum aktuellen Hype jung, tragen schwarze Lederoutfits, knappe
Die Texte sind brutal, grenzdepressiv und um Technomusik beiträgt, streiten Daldas und Röcke, teure Luxusmarken, Sonnenbrillen.
werden immer wieder übertönt vom gnaden- Zeitner nicht ab. Auf Spotify gehört »Satan Was a Baby-
los hämmernden Beat, 168 Schläge in der Das Label Warner Music etwa schrieb, boomer« zu den meistgestreamten Hits von
Minute. Im dazugehörigen Musikvideo ren- man registriere eine signifikante Entwicklung Brutalismus 3000. Darin schreit Daldas an
nen Daldas und Zeitner betrunken über eine der Technomusik in den vergangenen fünf gegen ältere Generationen und deren Vor-
Kegelbahn, bis sie müde vom Exzess umfallen Jahren. Deshalb investiere man in junge DJ- stellungen von Normalität. Was nach Punk­
– Hand in Hand. Ihre Musik passt in Räume, Talente. Denn diese ließen sich zunehmend attitüde klingt, ist es am Ende auch: Als
in denen Menschen mit geschlossenen Augen besser als »gesichtsbekannte Marken« eta­ »Punk mit Anwaltsvater« beschreibt sich
in Trance schwitzen und alles um sich herum blieren. Wie diese Markenbildung bei Bruta- Zeitner, Daldas nennt Bands wie The Pro­digy
vergessen. Musik zum gemeinsam Abstürzen. lismus 3000 funktioniert, lässt sich im Schö- und die Elektropunkgruppe Deutsch Ameri-
Etwas später kommen Daldas und Zeitner neberger Hinterhof beobachten. Es ist Abend kanische Freundschaft als ihre musikalischen
ins Büro des Labels. Zeitner gähnt und raucht geworden, als Zeitner und Daldas Spraydosen Vorbilder.
am Fenster eine Zigarette. Er habe gestern auspacken und zwölf Sterne im Stil der Euro- Früher, so sagen die beiden, seien Punks
mit Vicky, wie er Daldas nennt, Tequila ge- paflagge auf einen Teppich sprayen. Mehrere gegen alles gewesen. Sie hingegen würden
trunken, »Jackass« geschaut und dann die Stunden Arbeit – für eine Handvoll Fotos und versuchen, die Gedanken ihrer Generation
ganze Nacht hindurch am Küchentisch Tracks ein TikTok-Video. auszusprechen, ohne anderes per se abzu-
produziert, sagt er. Die Bilder verwenden sie einen Monat lehnen. Auch das ist eine Erklärung für den
Fragt man ihn nach den Gründen für den später, um ihren neuen Song »Europaträume« Erfolg von Brutalismus 3000: Dass Daldas
Erfolg ihrer Musik, verweist er auf »Boiler und Zeitner ihre Technomusik mit Gesang
Room«, eine Partyreihe, die um die Welt unterlegen, verschafft ihnen einen Vorteil.
tourt, DJs bei Liveauftritten filmt und das Auch der politisierte Teil der Generation Z
Ganze live auf YouTube überträgt. Brutalis- kann sich in ihren Texten wiederfinden.
mus 3000 wurden dort im Oktober 2021 zum Um 21.45 Uhr trennt Daldas und Zeitner
ersten Mal gestreamt. Bei »Hör-Berlin«, das nur noch eine Tür von ihren Fans in Köln. Sie
deutsche Pendant des »Boiler Room«, traten warten in einem leeren Gang, sagen kein Wort
sie schon im Dezember 2020 auf. Beide Vi- und schauen sich minutenlang an. Plötzlich
deos zusammen haben heute mehr als acht wird die Tür aufgestoßen, ein Sanitäter rennt
Millionen Aufrufe. mit einem bewusstlosen Fan über der Schul-
Die Pandemie war eine Zäsur für die deut- ter zwischen ihnen hindurch Richtung Kran-
sche Technoszene. Klubs blieben wegen Ab- kenwagen. Der Manager des Duos schaut auf
standsregeln und Hygienevorschriften mona- die Uhr und nickt ihnen zu. Zeit loszulegen.
telang geschlossen, einige öffneten nie wieder. Im Scheinwerferlicht setzt Zeitner seine
Als die Beschränkungen aufgehoben wurden, Kopfhörer auf und startet den ersten Beat,
kehrten die Fans zwar zurück in die Klubs. der das Geschrei der Fans übertönt. Daldas
Rebecca Rütten / DER SPIEGEL

Doch die Technokultur fand nun längst auch nimmt ihr Mikrofon, rennt zum Rand der
im Netz statt. Bühne und schreit der Menge drei Wörter
Unter den Hashtags #techtok oder #rave- immer wieder entgegen:
tok werden auf TikTok Videos geteilt, die er- Alles wird gut
klären, wie man zur Musik von Brutalismus Alles wird gut
3000 tanzt und wie man sich anzieht. Was Alles wird gut.
früher nur hinter gut bewachten Klubtüren Künstler Zeitner, Daldas: Musik für die Gen Z Lukas Hildebrand  n

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nungslosen Blick auf die Frauen zu


werfen, die sich selbst ja eh scho­
nungslos be- und verurteilen. Fritz
lenkt die dabei entstehenden Emotio­
nen, die Wut, nicht auf die Strukturen,

Tox-Ich
denen Frauen es ja zu verdanken ha­
ben, dass sie sich selbst so hassen.
Statt ein Gemeinschaftsgefühl zu be­
tonen und es in Handlungsmacht zu
übersetzen, steht Kritik im Zen­trum.
SACHBUCHKRITIK Toxische Männlichkeit kennt man. Aber gibt es Das könnte daran liegen, dass sie
einen Schwerpunkt des Buchs auf die
auch toxische Weiblichkeit? In ihrem Essayband untersucht Veränderung individuellen Verhaltens
Sophia Fritz ­Verhaltensweisen von Frauen, die ihnen schaden. legt. Dabei wissen wir längst, dass es
schwierig ist voranzukommen, wenn
man nur das eigene Verhalten ändert,

M
änner sind an allem schuld, ohne das System umzukrempeln.
oder? Der Autorin Sophia Auch der Titel selbst wirft Fragen
Fritz ist das zu platt. Auch auf. Beschreibt er wirklich das, was
Frauen halten das Patriarchat schließ­ im Buch steht? Toxische Weiblichkeit
lich aufrecht. Mit dem Sachbuch klingt natürlich wie das Gegenstück
­»Toxische Weiblichkeit« lenkt sie den zur toxischen Männlichkeit. Clever,
Blick nun auf solche Frauen – und er­ aus Marketingsicht. Dass das beschrie­
frischenderweise vor allem auf sich bene toxisch weibliche Verhalten eine
selbst. Mit Anekdoten, Zitaten aus der Antwort auf bestehende Strukturen
feministischen Literatur und ihren eige­ ist, geht daraus nicht hervor. Dass
nen Reflexionen nähert sie sich ihrem ­toxische Männlichkeit tötet und ver­
Titel – einem Begriff, der in eine weni­ gewaltigt, während toxisch weibliches
ger patriarchale Welt führen könnte. Verhalten vor allem der ausführenden
Toxische Weiblichkeit, damit meint Person selbst schadet, auch nicht.
Fritz Verhaltensweisen, die Frauen Dieses Hufeisen wird zwar im Buch
durch das Patriarchat gelernt haben, angetippt, jedoch als notwendiges
die jedoch ihnen und ihren Beziehun­ ­Risiko abgetan. Schade.
gen schaden. Fritz schreibt: »Im Ge­ Allerdings liegt in der schonungs­
gensatz zur toxischen Männlichkeit losen Kritik auch eine Stärke des
ist sie eine Notlösung, eine Strategie ­Essays. Fritz erzählt so nahe an sich
für das Fortbestehen in einem patriar­ selbst, dass Leserinnen sich in ihr
chalen Gesellschafts­system.« Kon­ wiederfinden. Sie spricht Gedanken
fliktscheu oder der Wunsch, es immer aus, die viele kennen, auch Gefühle
Eno de Wit

allen recht machen zu wollen, auch wie Neid oder Schmerz legt sie frei.
so kann toxisches weibliches Verhal­ So entsteht zumindest etwas Kompli­
ten aussehen. zinnenschaft.
Das Buch erklärt das Phänomen an­ könne schnell Stimmungen lesen, Autorin Fritz Vor allem das Kapitel der Bitch
hand von fünf Prototypen. Das gute ­Risiken besser abschätzen. Letztend­ überzeugt. Darin beschreibt Fritz ein
Mädchen ist nett, eckt nicht an. Die lich mache erst der öffentliche Auftritt Augen öffnendes Gespräch mit zwei
Powerfrau steht auf Selbstoptimierung, als Opfer manch diskriminierende Freundinnen, in dem diese feststellen,
sie ist erfolgreich und immer busy. Die Struktur sichtbar. wie ähnlich ihre Erfahrungen sind.
Mutti ist gesellschaftlich toleriert, liebt Sehr genau beschreibt sie den har­ Sie alle seien von anderen ausge­
ihre Kinder und ihren Mann und wehrt ten Blick auf sich selbst. Nach einer schlossen worden, erzählen sie, und
sich nicht gegen das Patriarchat. Das Tantramassage, bei der Fritz ihr Dop­ haben andere ausgeschlossen. Sowohl
Opfer ist unschuldig und verantwor­ pelkinn unangenehm war, googelte die Opfer- als auch die Täterperspek­
tungslos. Der Bitch kann niemand was, sie Schönheits-OPs. Dann löschte sie tive ist ihnen bekannt. »Wann habe
sie ist fies, und ihr ist alles egal. den Suchverlauf wieder. »Selbstkritik, ich andere Frauen ausgegrenzt, mir
Das ist natürlich etwas plakativ, Selbstkleinhaltung, Selbstkritik – wie zum Nachteil einer anderen Person
öffnet aber einen Diskursraum, der in einer Dauerschleife gehe ich von einen beruflichen Vorteil verschafft?«,
spannende Impulse zur feministi­ einem Zustand in den nächsten über, fragt Fritz sich in ihrem Buch. Auch
schen Zukunft liefert. Im Opferkapi­ denn als Feministin im 21. Jahrhundert man selbst denkt darüber nach. Im
tel schreibt Fritz etwa: »Vielleicht weiß ich, dass die Selbstkleinhaltung Prototyp der Bitch sieht sie schließ­
können wir es schaffen, die Wut- und falsch ist, und so schwanke ich zwi­ lich eine Möglichkeit zu mehr Solida­
Leidenskraft der Opferrolle als Res­ schen internalisierter misogyner und rität: »Vielleicht ist es möglich, dass
source zu sehen, die uns bisher nur angelesener feministischer Selbst­ »Selbstkritik, wir auf authentischere Weise solida­
deshalb nicht weitergeholfen hat, weil kritik.« Fritz zeigt, wie diese ständige Selbstklein­ risch miteinander sind, wenn wir kol­
sie von Beschämung vollkommen Selbstkontrolle Frauen beschäftigt lektiv bitchiger, das heißt unerschro­
überlagert war.« Eine Person, die hält. Und ihnen schadet, weil sie ihnen haltung, ckener und kampflustiger, auftreten?«
Sinn für gefährliche Situationen habe, die Kraft für den eigentlichen feminis­ Selbstkritik – Ja, will man ihr antworten. Das wäre
tischen Kampf raubt. ein längst überfälliger Schritt in eine
Sophia Fritz: »Toxische Weiblichkeit«. Hanser Leider macht das Buch ein Stück wie in Dauer­ neue Richtung.
Berlin; 192 Seiten; 22 Euro. weit das, was es kritisiert: den scho­ schleife« Anna Dreussi n

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 115


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116 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Karl Wallinger, 66 Achim Frenz, 66
NACHRUFE Von klein auf soll sich der 1957 Wer ihn in späten Jahren kann-
geborene Waliser obsessiv in te, eine Gestalt von bärenhafter
die Musik der Beatles vertieft Gemütlichkeit, wird die Anfän-
haben. Angeblich soll er ver- ge seines segensreichen Wirkens
sucht haben, alle Sounds, die er für die Satire kaum im Fußball
auf »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts vermuten. 1982 gründete Achim
Club Band« hörte, allein mit Frenz, zugezogen aus Bremer-
seiner Stimme nachzumachen. haven, mit Gleichgesinnten den
Seine Leidenschaft galt außer- FSC Dynamo Windrad Kassel.
dem den Beach Boys und Bob Ein Name, der lange juristische
Dylan. So wurde Karl Wallinger Auseinandersetzungen mit dem
in den Achtzigerjahren zu Landessportbund Hessen we-
einem der maßgeblichen Musi- gen des Bezugs zu den Gepflo-
ker und Multi-Instrumentalis- genheiten im DDR-Sport nach
ten, die nach Punk, Post-Punk sich zog – zur Freude von
Carmen Jaspersen / picture-alliance / dpa

und New Wave eine Rückkehr Frenz, der das Subversive zu


zu den Pop- und Folk-Formen seinem Beruf machen sollte. Pa-
der Sechzigerjahre anleiteten. rallel zur Documenta 8 organi-
Passend dazu sah er mit Wu- sierte er 1987 die Ausstellung
schelmähne und runder John- »Caricatura I«, um diese Leis-
Lennon-Brille auch aus wie ein tungsschau der modernen Kunst
Späthippie. Zunächst bewarb um das Komische zu berei-
er sich bei der Folkrockband chern. Ab 1995 fand die Idee
The Waterboys als Keyboarder eine dauerhafte Heimat im Kul-
und begleitete deren erfolg- turbahnhof Kassel. Das Kon-
Percy Adlon, 88 reichste Phase. 1985 verließ er zept des Kulturbahnhofs mach-
Es ist nicht selten das Schicksal von Künstlern, dass man sich we- die Band und erfand sein Solo- te bundesweit Schule. Mit Wer-
gen eines einzigen Werks an sie erinnert, obwohl ihr Schaffen viel projekt World Party, zu dessen ken von Loriot, Tomi Ungerer,
mehr Raum einnahm. Dass der deutsche Regisseur Percy Adlon da- ständigen Mitgliedern nur er
runter gelitten hätte, ist allerdings nicht überliefert. Im Gegenteil, selbst zählte. Das Debütalbum
der internationale Erfolg seiner absurden Culture-Clash-Komödie »Private Revolution« erschien
»Out of Rosenheim« (1987) ermöglichte es ihm, in Los Angeles 1986 und enthielt den auch im
zu leben und dort weitere Filmprojekte zu verfolgen. Auch wenn US-College-Radio populären
er, wie er dem SPIEGEL anvertraute, zu den »winzig kleinen Fisch- Hit »Ship of Fools«. Wallingers

Tim Wegner / epd-bild


lein in diesem Wasser« gehörte. Dafür fühlte er sich unabhängig. Lieder setzten sich bei aller
Adlon, der als unehelicher Sohn eines Opernsängers geboren wur- ­musikalischen Verspieltheit oft
de und zu dessen Vorfahren die Betreiber des gleichnamigen Berli- kritisch mit dem Zustand der
ner ­Luxushotels gehören, drehte vor »Out of Rosenheim« mehr Umwelt auseinander, so auch
als 150 Dokumentarfilme für den Bayerischen Rundfunk. 1982 ver­ sein zweiter Erfolgssong »Mes-
öffentlichte er mit »Fünf letzte Tage« einen stillen Spielfilm über sage in the Box« von 1990. In
Sophie Scholl. Warmherzig, komisch, mit tragischem Einschlag wa- den Neunzigern wurde Wallin- F. W. Bernstein, F. K. Waechter,
ren vor allem seine Filme mit Marianne Sägebrecht, die bereits in gers Stil von Grunge und Brit- Robert Gernhardt und weiteren
»Zuckerbaby« (1985) unter seiner Regie brillierte. Verzaubern wol- pop verdrängt. Eine unverhoffte Künstlern aus dem Umfeld eher
le er sein Publikum, sagte Adlon einmal. Seine Filme sollten wirken Alterssicherung in Form von linksalternativer Medien wie
wie Hans Albers’ Ritt auf der Kanonenkugel in »Münchhausen«. ­Tantiemen erhielt er jedoch, als »taz« und »Titanic« avancierte
Percy Adlon starb am 10. März in Los Angeles. KAE Popstar Robbie Williams 1999 die Galerie nicht nur für den
seinen Song »She’s the One« Fremdenverkehr der Stadt
coverte und zum Welterfolg zu einem großen Erfolg. Frenz’
Herbert Kroemer, 95 machte. Karl Wallinger starb Pionierarbeit trug auch maß-
Er langweile sich, beklagte sich der Schüler des Fried- am 10. März in seinem Haus im geblich dazu bei, das Ansehen
rich-Schiller-Gymnasiums in Weimar einmal. Sich in englischen Hastings. BOR des »Witzbilds« als ernsthaften
Würde langweilen zu können sei eine der Fähigkei- Beitrag zur visuellen Kommu­
akg-images

ten, die er lernen müsse, erwiderte die Lehrerin. Im nikation zu steigern. Seine
Jahr 2000, mehr als 50 Jahre später, erinnerte Her- ­Diplomarbeit hatte Frenz über
bert Kroemer sich an diese Kindheitsepisode. Da hatte »Die Grenzen der Satire« ge-
ihm soeben der schwedische König den Physik-Nobelpreis über- schrieben, nun erweiterte er sie
reicht. Zeitlebens bewahrte sich Kroemer seine Neugier, und stets Schritt für Schritt – bis zur Er-
war er dabei seiner Zeit voraus. 1954 emigrierte er im Alter von öffnung des Caricatura Mu-
26 Jahren in die USA und wurde dort zu einem Pionier der Halb- seums für Komische Kunst in
leiterphysik. Für die praktischen Probleme, mit denen sich die Frankfurt am Main, um dort vor
­Kollegen herumschlugen, interessierte Kroemer sich weniger. Statt- allem die Künstler der Neuen
Paul Natkin / Getty Images

dessen tüftelte er Erfindungen aus, die niemand verwirklichen Frankfurter Schule zu würdi-
konnte. So erfand er das Prinzip der Hochfrequenz-Transistoren gen. Sein plötzlicher Tod, weni-
und der Halbleiterlaser, lange bevor jemand sie bauen konnte. ge Monate nach seiner Pensio-
Erst Jahrzehnte später zeigte sich, dass diese Erfindungen bahn­ nierung, ist das Ende einer Ära.
brechend für die Entwicklung der Mobilfunktechnologie waren. Achim Frenz starb in der Nacht
Herbert Kroemer starb am 8. März. JG zum 11. März in Kassel. FRA

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 117


PERSONALIEN

Gerechtes
Glück
Während der Coronapandemie
bewarb sich Charithra Chandran,
27, bei Schauspielagenturen –
und hatte Glück. Ohne nen­
nenswerte Ausbildung wurde
sie gecastet, 2021 hatte die
Schauspielerin ihr Debüt in
­einer Amazon-Serie, dann be­
kam sie eine große Rolle in
der zweiten Staffel der unter­
haltsamen Historienserie »Brid­
gerton«. Und ist seither zu eini­
ger Bekanntheit gelangt. Sie
wurde als Tochter einer Endo­
krinologin und eines Chirurgen
in Perth, Schottland, geboren,
ihre Eltern waren gemeinsam
von ­Indien nach Großbritannien
emigriert. Chandran glaubt,
dass es eine politische Kompo­
nente gibt, die ihre Karriere be­
fördert hat: »Ich profitierte von
der Black-Lives-Matter-Bewe­
gung«, sagte sie in einem Inter­
view mit dem »Guardian«. Das
Bedürfnis nach Diversität, nach
mehr People of Color im Film­
business sei damals gerade er­
wacht. Sie war zur richtigen
Zeit am richtigen Ort. Falls ihre
Hautfarbe eine Rolle gespielt
haben sollte, als sie zum ersten
Mal gecastet wurde – das sieht

Iona Wolff / BAF TA / Getty Images


sie als eine Art ausgleichende
Gerechtigkeit: Es habe in ihrem
Leben auch schon Situationen
gegeben, in denen ihr Chancen
vorenthalten worden seien we­
gen ihrer Hautfarbe oder ihres
Geschlechts. KS

Doppelherzblatt galan und der finalen Rosen­ kann bei der Staffelrückschau
empfängerin zumindest bis zur treuherzig bestätigen, dass
Dass RTL in diesem Jahr mit Wiedersehensfolge anhält, hat die Beziehung weiterhin besteht.
Dennis Gries, 30, und Sebastian sich glatt verdoppelt. Abon­ Moderatorin Frauke Ludowig
Klaus, 35, zum ersten Mal gleich nenten der Streamingplattform verkündet bei der Gelegenheit
zwei »Bachelors« ins Balz­ RTL+ wissen schon, wie die ihrerseits eine weitere Neuerung
rennen schickte, hat einen prak­ doppelte Liebesmission ausgeht. im deutschen Balz-TV-Wesen:
Benno Kraehahn / RTL+

tischen Nebeneffekt: Die beiden Wer das Finale erst im linearen Nach US-amerikanischem Vor­
waren rein optisch zwar nur Fernsehen anschauen will, bild soll bald auch hierzu­
überschaubar divers gecastet, dem sei an dieser Stelle sachte lande ein »Golden Bachelor«
doch die Chance, dass das Ver­ gespoilert: Das Kalkül geht ab 60 Jahren nach seinem
liebtheitsgefühl beim Dating­ voll auf, mindestens ein Paar ­Herzblatt suchen. ARÜ

118 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


Grundschülerin mit 25 neue Namen Roman Reigns den Bad Guy ge-
ben. Da Johnson immer ein
Businessplan Im Mai wird er 52 Jahre alt, das ­besonders gewiefter Geschäfts-
Der Berufseinstieg findet bei ist ein Alter, in dem es mit der mann war, hat er sich im Vorfeld
den meisten Menschen statt, körperlichen Betätigung oft der Show gleich 25 Titel, Namen
wenn sie um die zwanzig Jahre nicht mehr so reibungslos funk- und Formulierungen aus seiner
alt sind. Nicht so bei North tioniert. Aber auch ein Alter, Wrestlingzeit rechtlich schützen
West, Tochter von Kim Karda­ in dem Männer es sich und der lassen. Das berichtet »Variety«.
shian und Kanye West: Die Welt gern noch einmal bewei- Darunter natürlich »The Rock«,
Zehnjährige kündigte bei einer sen wollen. Dwayne Johnson, aber auch Bezeichnungen
Veranstaltung ihres Vaters in berühmt als Wrestler »The wie »The Nation«, schlicht »The
Phoenix an, ein eigenes Album Rock« und als »Fast & Furious«- Great One« oder »The most
herauszubringen. In der Anspra- Schauspieler, will nach Jahren electrifying man in sports and
che an das aus Kanye-West-Fans wieder bei der WrestleMania, entertainment«. Noch ein Titel,
Agency People Image USA

bestehende Publikum redete das dem jährlichen Großfest des den sich Johnson schützen
Mädchen wie ein alter Hase. Sports, in den Ring steigen. Die lässt: »The mil­lions … and mil­
Der Titel des Albums: »Elemen- Nachricht von diesem Come- lions«, und das kann man
tary School Dropout«, eine An- back, geplant für Anfang April ­getrost auf sein Vermögen be-
spielung auf Begriffe wie »High im NFL-Footballstadion der ziehen: Das wird auf bis zu
School Dropout« oder »College Philadelphia Eagles, elektrisiert 790 Millionen Dollar geschätzt.
Dropout«, die aufmüpfige junge »Vultures 1« verspottet er jene, die Szene. Johnson soll an der Er gilt als einer der bestverdie-
­Menschen bezeichnen, die vor die ihn aus guten Gründen einen Seite von Wrestlingchampion nenden Schauspieler. AHA
dem Schul- oder Universitäts­ Antisemiten nennen. Auf dem
abschluss das Handtuch schmei- kontrovers diskutierten Werk
ßen. Doch bei dem offenbar gab North eine musikalische
frühreifen Promikind beginnt die Kostprobe; in dem Track »Tal-
Phase der Aufmüpfigkeit eben king« hört man sie mit einer
in der Grundschule, der Elemen­ ­Rapeinlage. Die kleine North ist
tary School. Zugleich ist der ein Musterbeispiel eines Nepo-

Louis Grasse / ZUMA Wire / picture alliance / dpa


­Titel eine Verbeugung vor dem Babys, also eines Kinds, das
Vater und seinem Debütalbum durch die Prominenz seiner
»The College Dropout« aus dem ­Eltern begünstigt wird. Dem US-
Jahr 2004. Damals galt Kanye Magazin »People« sagte die
West als Erneuerer des Hip- Neu-Rapperin nun, dass sie ge-
Hop, heute ist er das Irrlicht der denke, die elterlichen Firmen­
Szene. In den vergangenen Jah- imperien zu übernehmen.
ren machte er immer wieder mit Das mit der Musik ist für die
antisemitischen ­Ausfällen auf atembe­raubend abgeklärte
sich aufmerksam. Auf seinem im Grundschülerin offenbar nur
Februar erschienenen Album eine Phase. CBU

Lieber rosa Glitzer des Filmpreises. Eilish schien


das aber nicht so sehr zu beein-
als Gold drucken. »Ich hatte vergangene
Popstar Billie Eilish, 22, konnte Nacht einen Albtraum über das
nach der Verleihung der Oscars hier«, sagte sie, als sie die gol-
gleich doppelt dekoriert nach dene Statue auf der Bühne in
Hause gehen. Als Erstes gewann Empfang nahm. Deutlich ent­
Eilish zusammen mit ihrem husiastischer reagierte sie später
Bruder Finneas O’Connell am am Abend, als sie ein zweites
vergangenen Sonntagabend den Geschenk überreicht bekam.
Preis für den besten Song. Für Rapper Flavor Flav, 65, Grün-
den Blockbuster »Barbie« hat- dungsmitglied von Public Ene-
ten die Geschwister die Ballade my und bekannt für seinen
»What Was I Made For?« kom- ­exaltierten Schmuck in Form
Stefanie Keenan / Vanity Fair / WireImage / Getty Images

poniert und aufgenommen. Da- von übergroßen Uhrenanhän-


mit konnten sie sich sogar gegen gern, hatte ihr ein Sondermo-
»Barbie«-eigene Konkurrenz dell einer solchen Kette anferti-
durch Ryan Gosling und seine gen lassen: mit rosa Glitzer­
Powerballade »I’m Just Ken« steinen und Eilishs Namen im
durchsetzen. 2022 hatten Eilish Stil des Barbie-Schriftzugs.
und O’Connell bereits den ­Eilish kreischte begeistert auf,
­Oscar für den Bond-Titelsong als sie das Geschenk auspackte.
»No Time to Die« gewonnen. Bevor sie die Kette anlegte,
Der zweite Oscar macht die bei- zückte sie ihr Handy, um den
den nun zu den jüngsten Dop- Moment festzuhalten. Dann fiel
pelgewinnern in der Geschichte sie Flavor Flav in die Arme. HPI

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 119


BRIEFE Kohle? Für die Umwelt sollte es
doch egal sein, ob CO₂ aus der
Verbrennung von Kohle oder Fra-
cking-Gas gespeichert wird. Mal
ganz abgesehen von der sonstigen
Umweltbelastung beim Fracking
und den nötigen Folgeprozessen.
Ein weiterer Flop in unserer Ener-
mationssicherheit die Ereignisse zeigt, dass wir uns in einem Cy- giewende?
beeinflussen konnte. Das könnte berkrieg befinden. Nach innen Dietmar Sobottka, Chemnitz
sich wiederholen. bringt das mehr Wachsamkeit
Karl Erhard Vögele, Travemünde und in Richtung Regierung neue Wir sind eine Gesellschaft von
(Schl.-Holst.) Argumente für neue Budgets. Bedenkenträgern. Egal, ob Geo-
Deutschland wird nicht mehr am thermie, Fracking oder CCS, wir
Niemand scheint bisher in Erwä- Hindukusch verteidigt, sondern sind gegen alles, wollen aber die
gung zu ziehen, dass es auch Teil auf unseren Computern. Erde retten. Wir müssen mal ent-
einer psychologischen Taktik sein Klaus Gebhardt, Loxstedt-Nesse scheiden, was wir wollen. Fra-
kann, sich ganz bewusst abhören (Nieders.) cking wurde schlechtgeredet. Wir
zu lassen, sich praktisch dumm haben für 15 Jahre Schiefergas in
zu stellen, aber die eigentliche Was regen Sie sich eigentlich sei- Deutschland. Aber das ist poli-
Botschaft damit zu vermitteln: tenlang so auf? Das ist doch etwas tisch nicht gewollt. Wir müssen
Wir könnten, wenn wir wollten, für die werteorientierte Krabbel- mal die Rechtslage ändern, weil
auch ganz anders. Ist natürlich gruppe. Dass wir eine Abhör- jeder dagegen klagt.
nur eine Spekulation, findet sich Olympiade haben, ist doch satt- Martin Bauer, Stuttgart
aber in den Handbüchern der sam bekannt. Jeder hört jeden ab.
Bundeswehr zur psychologischen Beispiele: der Kim Jong Un den CCS noch vor Jahren Teufels-
Ein alter Hut Kriegsführung wieder. Xi Jinping, der Putin den Biden, zeug, jetzt der Deus ex Machina
Dr. Klaus Neumann, München der Obama die Merkel – und si- in der Einsicht, dass ohne Kohle
Nr. 11/2024 Titel: Putin hört mit cher auch umgekehrt. Dass Mili- und Atom vielleicht ein Leben in
Habe nichts davon erkannt. Ich tärs sich über den Einsatz von Botswana erträglich ist, nicht
Es ist hier das gleiche Verhalten dachte nur: Was soll das Ohr auf Waffen austauschen, ist doch eher aber in einem entwickelten In-
zu beobachten wie bei vielen an- dem Titel? Dass der Untergrund ein normaler Vorgang. Dieses dustrieland. Aber selbst diese
deren Bedrohungen der Demo- die russische Fahne sein soll – das Wissen aber perfekt zu lancieren Technologie ist in großindustriel-
kratie. Es werden die Köpfe in nimmt man nicht wahr. Oh – das ist Politik. Wer daraus einen si- lem Maßstab unrealistisch und zu
den Sand gesteckt, sonst müsste ist ja ein roter Stern auf dem Ohr- cherheitspolitischen Albtraum teuer. Am Ende rächt sich die in-
man ja ernsthafte Konsequenzen stöpsel – wer sieht den über- macht, ist selbst schuld – cui brünstig über Jahrzehnte gestreu-
ziehen und über unangenehme haupt? Nicht, wenn man, wie die bono? te grüne Fortschrittsverheißung,
Dinge sprechen und diese anfas- meisten, nur eine Sekunde hin- Rolf Pühlhofer, Nürnberg angefangen mit Merkels Atom-
sen. Also verniedlicht man die schaut. Viel zu verkopft. Aus. Eine Fahrt in die Sackgasse.
Gefahr durch Putin und China ​Herbert Fell, Berlin Der »lupenreine Demokrat« Pu- Wer weiß, vielleicht fällt dem-
und sieht gern mal nach kurzer tin (laut Gerhard Schröder) ent- nächst auch das Tabu gegen Fra-
Empörungsrhetorik weg. Glaubt jemand ernsthaft, der rus- spricht auch als Abhörposten der cking. Dann wäre die Ökopartei
Anke Wiesmann, Frankfurt am Main, sische Geheimdienst hätte soeben Demokratie allen Charakteristika in der Gegenwart angekommen,
via SPIEGEL Debatte den ersten Lauschangriff gegen von Orwells Big Brother. nur Deutschland hätte derweil
die Bundeswehr gestartet? Er Dr. Volker Brand, Bad Oeynhausen (NRW) den Anschluss verloren.
Mangelnde Informationssicher- dürfte schon mehrmals militäri- Christoph Schönberger, Aachen
heit in Deutschland – ein alter sche Informationen des Bundes
Hut. Kurz nach Beginn des Ers- abgesaugt haben, vermutlich Entscheiden, was Friedlich in die Katastrophe. Man
ten Weltkriegs musste die kaiser- auch mit höherem Informations- muss keinen Leistungskurs Che-
liche Kriegsführung aus einer wert als bei der letzten Abhör- wir wollen mie belegt haben, um das zu ver-
französischen Tageszeitung zur aktion. Interessant ist, warum er Nr. 10/2024 Leitartikel: Die Speicherung stehen: Wenn wir dem Kreislauf
Kenntnis nehmen, dass alle deut- gerade jetzt seine erfolgreiche von CO₂ unter der Nordsee ist überfällig der Natur CO₂ entziehen und in
schen Funksprüche von den Aktion veröffentlichte. Der Kreml den Boden unter der Nordsee für
Franzosen entschlüsselt werden zielt auf die Spaltung Europas, Warum denn dieser hektische immer versenken, geschähe et-
konnten. Als Antwort darauf was ihm zumindest teilweise ge­ und mit extrem negativen Folgen was Katastrophales: Pro Atom
wurde Enigma – eine Rotor- lungen ist. Frage: Wann veröf- für Wirtschaft und Bevölkerung Kohlenstoff würden dem atmo-
Schlüsselungsmaschine – erfun- fentlicht der BND endlich seine verbundene Ausstieg aus der sphärischen Kreislauf unseres
den. Sie galt als absolut sicher. Informationen aus dem russi-
Doch die polnischen Mathema- schen Kriegsministerium? Oder
tiker konnten den Engländern die gibt es keine nennenswerten Er- Aus der SPIEGEL-Redaktion
Entzifferung von Enigma erleich- kenntnisse? Lange hielt sich der Glaube, die Deutschen hätten
mit Sklaverei nichts zu tun gehabt, doch mittlerweile
tern. Historiker meinen, dass Dr. Martin Böttger, Zwickau (Sachsen)
entdecken Historiker immer neue Spuren deutscher
durch die Entzifferung der Funk- Akteure. In einem neuen Buch gehen SPIEGEL-Auto-
sprüche und anderer eingesetzter Putin wird sich mächtig geärgert rinnen und Wissenschaftler nun der deutschen
Verschlüsselungssysteme der haben, dass diese Bespitzelung Beteiligung an Menschenhandel und Zwangsarbeit
nach. »Die Sklaverei und die Deutschen«, herausgege­
Zweite Weltkrieg um Jahre ver- öffentlich wurde. Für die Bundes- ben von Jasmin Lörchner und Frank Patalong, ist
kürzt worden sei. Klar ist heute, wehr ist es ein Glücksfall, dass am 13. März bei DVA erschienen, hat 240 Seiten und
wie massiv der Mangel an Infor- dieses harmlose Leck nun allen kostet 24 Euro.

120 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


Diese unsägliche Debatte über
Die schreckliche Julian Assange ist Toller Essay! Der Antisemitismus. Dieser wichtige
Banalität des Bösen: ein moderner investi­ Artikel gibt mir das Begriff wird als Synonym für Kri­
Von der Beute spen­ gativer Journalist, Gefühl, ein gutes tik an der israelischen Regierung
missbraucht. Das ist aber falsch.
dierte die nette Klette der amerikanische Stück weit dabei Meine Kritik am Vorgehen der
ab und zu Eis und Kriegsverbrechen gewesen zu sein, der israelischen Verteidigungsstreit­
Limo für die Kinder öffentlich gemacht Autor lässt mich an kräfte in Gaza, an der Missach­
der Wohnanlage, hat. Die Länder des seinen Erlebnissen, tung der humanitären Rechte und
an der Besatzungs- und Sied­
denen sie vielleicht Westens betonen Eindrücken und lungspolitik im Westjordanland
auch ihre beeindru­ sehr den Wert umfassenden Gedan­ hat nichts damit zu tun, dass Ju­
ckende Waffensamm­ von Meinungs- und ken dazu auf die den dafür verantwortlich sind. Ich
stelle auch nicht die Existenz Is­
lung samt Sprengstoff Pressefreiheit, bestmögliche Weise raels infrage, sondern die Art und
und Panzerfaust­ wird hier nicht eine teilhaben. Danke! Weise, mit der Israel seine Staats­
granate gezeigt hat. schlimme Doppel­ Marc Meyer, Berlin macht gegen die Palästinenser
Dr. Fred Maurer, Aalen moral betrieben? benutzt.
Folke Persson, Bielefeld
(Bad.-Württ.)
Dr. Alexander Schulze, Hohen
Neuendorf (Brandenb.)

Nr. 10/2024 Warum die


Es gibt nur ein
mutmaßliche RAF-Rentnerin
Daniela Klette so lange
Nr. 10/2024 Julian Assanges
Vater John Shipton will seinen
Nr. 10/2024 Die Konzerthalle
The Sphere in Las Vegas
Deutschland
unentdeckt blieb Sohn retten überwältigt die Sinne Nr. 10/2024 Wie sich in Ostdeutschland
ein neues Selbstbewusstsein ausprägt

Planeten zwei Atome Sauerstoff gen, die endlich Leid und Zerstö­ Den Ball nicht weit Die vielfach nachgewiesene Mehr­
für ewig entzogen und stünden rung in der Ukraine ein Ende ­heitshoffnung der Ostdeutschen:
unserer Atmung nie wieder zur setzen. Olaf Scholz könnte und genug gespielt Eines Tages werden wir, unsere
Verfügung. Darüber hat Robert sollte sich hier engagieren, denn Nr. 10/2024 Kulturstaatsministerin Kinder und Enkel für diese ge­
Habeck sicher noch nie nachge­ »Friedenskanzler« darf keine ab­ ­ laudia Roth im SPIEGEL-Gespräch über
C samtdeutsche Alleinleistung, für
dacht. Fataler könnten wir so den wertende Charakterisierung sein. den Eklat bei der Berlinale das freie Leben unserer »Brüder
Ast, auf dem wir sitzen, nicht ab­ Schließlich erhielt schon einmal und Schwestern« im Westen, an­
sägen. ein SPD-Kanzler den Friedens­ Pures Entsetzen über die Ausre­ gemessen belohnt und soweit ir­
Prof. Dr. Horst Crome, Bremen nobelpreis – Willy Brandt. den von Staatsministerin Roth. gend möglich entschädigt wer­
Brigitte Schellnhuber, Ingolstadt Mich schockierten besonders den. Für ihr Schicksal als die Gei­
die Antworten: Ich tue mich seln für die Rückgewinnung der
Was möchte die Es ist erschreckend, wie jüngere sehr schwer zu intervenieren. Ja, Freiheit für das ganze noch ver­
Menschen (so unter 80) sich ­hallo, wer denn sonst? Anstand bliebene Deutschland. Das Ver­
Bevölkerung? heute geradezu kriegssüchtig und klare Bekenntnisse zu den
­ ständnis dafür verminderte sich
Nr. 10/2024 Olaf Scholz inszeniert sich ­verhalten. Ich selbst habe noch­ unbeschreiblichen Verbrechen im freien Westdeutschland von
als Friedenskanzler heute im Ohr, wie ich als Minder­ der Hamas hätten genügt. Sehr Jahr zu Jahr, reduzierte sich auf
jähriger aus dem kleinen Volks­ schlimm fand ich die Entschuldi­ Feiertage und Bekundungen.
Man könnte den Kanzler verste­ empfänger zu hören bekam: gungen, warum sie zu bestimm­ Lutz Rackow, Berlin
hen, wenn Deutschland oder zu­ »Wollt ihr den totalen Krieg?« ten Äußerungen geklatscht habe
mindest Europa in der Lage wäre, Und alle schrien zustimmend. und zu anderen angeblich nicht. Sehr geehrte Redaktion, der Os­
ausreichend sonstige Munition an Die Äußerungen vieler Entschei­ Das ist so billig. Ich könnte plat­ ten ist keine Erfindung des Wes­
die Ukraine zu liefern. Taurus dungsträger in der Politik gehen zen vor Zorn. tens, der Osten ist eine Schöpfung
könnte die Lage vermutlich ver­ heutzutage unverkennbar in ­diese Kirsten Lindner, Weinheim (Bad.-Württ.) der DDR. 40 Jahre DDR haben
bessern. Mit seiner – wieder ein­ Richtung. sich tiefer im Bewusstsein vieler
mal – zögerlichen Haltung ver­ Rolf Hiller, Deckenpfronn (Bad.-Württ.) Die Analyse von Claudia Roth Ostdeutscher eingeprägt, als es
liert Olaf Scholz aber eher den spielt den Ball noch nicht weit 40 Jahre Demokratie tun werden.
Ukrainekrieg. Dann kann er sich Was möchte die Bevölkerung? genug. Schließlich besteht das Leider.
als Friedenskanzler feiern lassen. Wenn die Deutschen den »beson­ eigentliche Problem in Deutsch­ Kurt Czombera, Leipzig
Zu Putins Bedingungen! nenen Scholz« dem »mutigen land beim Thema Antisemitis­
Carl Ibs, Salzgitter (Nieders.) Scholz« vorziehen, warum sollte mus folgendermaßen: Bei jedem Es gibt kein West- oder Ost­
er sein Verhalten ändern in Bezug größeren Geschehnis, ähnlich deutschland, es gibt nur ein
Es ist höchste Zeit für diplomati­ auf die nächsten Wahlen, trotz wie bei einem pawlowschen Re­ Deutschland, wann wird dies
sche Anstrengungen und inter­ Ihrer warnenden Anekdote über flex, kommt es zunächst erst ein­ endlich einmal begriffen?
national überwachte Waffenstill­ Schröder? Solange er Paris, Lon­ mal zu einem empörten Auf­ Rudolf Schmitt, Saarbrücken
stands- und Friedensverhandlun­ don und Co. nicht auf feige und schrei. Danach lässt die Aufmerk­
schadhafte Weise bloßstellt, samkeit in der Regel schnell nach,
könnte seine Blockade gegenüber und so gut wie gar nichts mehr
Sagen Sie den anderen Ampelpolitiker:in­ passiert. Deshalb bedarf es hier
auch digital Ihre nen auch als »mutiger Scholz« in jedem Fall eines wesentlich Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
Meinung – auf gelten. nachhaltigeren Ansatzes. gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
SPIEGEL Debatte Lara Beynio, Wien Rasmus Helt, Hamburg unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 12 / 16.3.2024 DER SPIEGEL 121


L E TZ T E S E I T E

Der »hässliche Deutsche« HOHLSPIEGEL

In einem Bremer Supermarkt:


ZEITREISEAlfred Tetzlaff, aka »Ekel Alfred«, begeisterte die West­
deutschen, obwohl er als Superspießer doch eigentlich
abschrecken sollte. Den Machern wurde ihr Erfolg bald unheimlich.
Nr. 12/1974 »Meckert für
Deutschland«

»Charme und Höflichkeit


Von »T-Online«:
sind Tugenden, die im
Hause Tetzlaff nicht ge­ »Der Bundeswehr fehlt ein Millionen­
handelt werden«, urteilte betrag im Budget: Ganze sechs
der SPIEGEL im März Milliarden Euro sollen es laut einem

Mar y Evans / IMAGO


1974. Nach der Devise »Je Bericht der ›Bild‹-Zeitung sein.«
gröber, je lieber« beschimpfte Familienvater
Alfred Ehefrau Else als »Arschloch« oder »Ein Herz und eine Seele«-Ensemble mit
Schauspieler Schubert (2. v. l.) Aus einem Inserat in der »Ludwigsburger Kreiszeitung«:
»blöde Sau«. Seinen Schwiegersohn Michael,
SPD-nah, schmähte Alfred als »Anarchist«
oder »bolschewistische Hyäne«. ­ ozialdemokraten: »Libanesen, Syrer,
S
Die Fernsehserie »Ein Herz und eine Ägypter, alles Bombenleger.« Klar,
Seele« über die Tetzlaff-Familie war eine dass die Fernsehserie »Ein Herz und eine
WDR-Billigproduktion in Schwarz-Weiß. Seele« polarisierte. Für die einen war Aus dem »Trierischen Volksfreund«:
Seit Januar 1973 lief sie in den dritten Pro­ sie ein »schändliches Stück«, für viele die
grammen – und war dort so populär, dass »beste Sendung des Jahres«. »Sportbekleidung, Schwimmsport sowie
man sich entschied, die Serie ab Silvester Drehbuchautor Wolfgang Menge und Team- und Schlagersport sind
in voller Farbenpracht im Ersten zu zeigen. Hauptdarsteller Heinz Schubert wollten da­ ebenfalls wichtige Teile des Sortiments.«
Sozialdemokraten waren darin »Ekel bei kein reaktionäres Gedankengut verbrei­
­Alfreds« Lieblingsopfer: Der Schlimmste ten. Im Gegenteil: Menge hatte ein Zerrbild Schild an einem Radweg in Duisburg:
der Bande war der Kanzler! Wenn man so des deutschen Spießers schaffen wollen.
»ein uneheliches Kind an die Regierung Reaktionen auf die Serie zeigten jedoch,
lässt«, noch dazu geschieden und mit einer dass es »den hässlichen Deutschen« noch
Ausländerin verheiratet – dann dürfe immer gab. Die Mehrheit der Zuschauer
man sich über gar nichts mehr wundern. ­allerdings dürfte das Geschimpfe einfach
Aus­länder rangierten gleich hinter den lustig gefunden haben. Rainer Lübbert

Vielen Dank auch


Sie müssen wissen: Solche Regelungen
Von derwesten.de:
sind ja komplizierter, als viele denken. Wir
werden jeden Ihrer Vorschläge zunächst »Friedrich Merz, der Anführer der Konser­
einmal an den zuständigen Ausschuss über­ vativen im Bundestag, ist einer derer,
SO GESEHEN Bundestag begrüßt
weisen und dort mit den kompetenten die sich freuen dürfen. CDU/CSU kommen
Empfehlungen des Bürgerrats. Fachpolitikern beraten. Die verstehen etwas auf 31 Prozent. Damit erzielen sie einen
von der Materie und haben auch gute Prozentpunkt mehr als in der letzten Woche.
Sehr geehrte, liebe Mitglieder des Bürger­ ­Kontakte zu den Experten der Industrie, Die Union würde damit abgeschlagen auf
rats! Ich darf mich auch im Namen meiner die natürlich auch kreative Ideen haben. dem ersten Platz landen.«
Fraktion sehr herzlich für Ihr Engagement Wir sind ja alle keine Experten. Bis auf die
und Ihre Empfehlungen bedanken. In Experten.
Überschrift von »Watson« bei Google News:
­zahlreichen Gesprächen konnte ich mich Und bedenken Sie auch: Vieles von dem,
persönlich davon überzeugen, mit welcher was Sie vorschlagen, ist Ländersache,
Ernsthaftigkeit und mit wie viel Herzblut da können wir hier sowieso nichts machen.
Sie sich des Themas angenommen und Es stellt sich auch ganz grundsätzlich
wichtige Impulse erarbeitet haben. Ihre die Frage der Finanzierung. Und da sind Aus dem »Hamburger Abendblatt«:
Vorschläge nehmen wir hier im Deutschen wir ganz schnell bei der Gerechtigkeitsfrage.
Bundestag sehr ernst. Das ist gelebte Gar nicht so einfach! »Ein früherer Top-Agent erläutert, wie
­Demokratie, und dafür danke ich Ihnen Sie ahnen es vielleicht schon, und ich russische Gemeindienste in Deutschland
von Herzen! will da ganz ehrlich sein: Es wird nichts da­ arbeiten.«
Vieles von dem, was Sie raus. Aber das macht ja nichts, denn auch
vorschlagen, ist – lassen Sie das ist Demokratie: Dabei sein ist alles. Von der Website des iPhone-Herstellers Apple:
mich das ganz deutlich sa­ Und so lade ich Sie ganz herzlich ein, sich
gen – sehr gut und außer­ auch am nächsten Bürgerrat so engagiert
ordentlich wünschens­ zu beteiligen. Ich bin schon sehr gespannt,
wert. Sie haben was Ihnen dann alles einfällt zum wichtigen
sich viel Mühe Thema Bekämpfung der Politikverdrossen­
gegeben. Nun sind heit! Nochmals: vielen Dank! Und einen
wir Profis an der Reihe. schönen Tag noch. Stefan Kuzmany

122 DER SPIEGEL Nr. 12 / 16.3.2024


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