Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Fußball
des RB Leipzig
Der beispiellose Aufstieg
Nr. 38 / 16.9.2017
Deutschland €4,90
Sie glauben nicht
an höhere Intelligenz?
Ob Sie an sie glauben oder nicht – im neuen Audi A8 werden Sie sie erleben. Seine künstliche Intelligenz
lässt sogar die eleganten OLED-Heckleuchten* mitdenken: Sie aktivieren automatisch die Nebelschlussleuchten
und dimmen an Ampeln das Licht, damit andere nicht geblendet werden. Beim Öffnen des Audi A8 werden
Sie von einer Lichtinszenierung* begrüßt, die sich im Innenraum faszinierend fortsetzt. Beim Aussteigen weisen
Ihnen die präzisen Scheinwerfer den Weg zur Haustür. Kaum zu glauben, aber wahr.
*Optionale Ausstattung.
Das deutsche Nachrichten-Magazin
6 Titelbild Fotos: Joerg Sarbach / AFP, Rainer Droese / IMAGO, Bernd Thissen / DPA, Manngold / IMAGO, Reinhard Krause / REUTERS, HC Plambeck; [M]
In diesem Heft
Titel Ausland
Parteien Selten gab es so Südkorea wünscht sich Vermittlung durch
viele Unentschlossene wie heute – Bundeskanzlerin Angela Merkel / Die Logik
eine Handreichung 12 hinter den polnischen Reparations-
Wahlkampf Die heimliche Sehnsucht der So- forderungen 92
zialdemokraten nach der Großen Koalition 20 Syrien In Rakka, der einstigen Hochburg des
LA COLLECTION / INTERFOTO
SPD SPIEGEL-Gespräch mit Kanzlerkandidat IS, hofft die deutsche Frau eines IS-Kämpfers
Martin Schulz über das misslungene auf eine Rückkehr in ihre Heimat 94
TV-Duell und seine Pläne für die deutsche Analyse Wird Donald Trump doch noch
Außenpolitik 22 zum überparteilichen Präsidenten? 98
Analyse Die Große Koalition hat wenig Estland Premier Jüri Ratas zur Bedrohungs-
versprochen, aber davon viel gehalten 26 lage angesichts des russischen Militär-
manövers „Sapad“ an seiner Landesgrenze 99
Deutschland Europa Die Krise der europäischen
Eva
Leitartikel Die SPD darf nicht wieder in
Sozialdemokraten – eine Bestandsaufnahme Sie hat zusammen mit Adam
die Große Koalition gehen 8
in Österreich, Frankreich, Dänemark und nach biblischer Erzählung
Großbritannien 100
die Sünde in die Welt
Meinung Kolumne: Im Zweifel links / So ge-
sehen: Warum wir seltener wählen sollten 10 gebracht. Ein Kulturforscher
Schulz verringert Abstand zu Merkel / Bund
Sport sagt, bis heute beeinflusse
versagt bei der Flüchtlingskontrolle / Warum Olympia immer teurer wird / das Märchen unser Denken
Berlin schützt Lobbyisten in der EU 28 Magische Momente: Eric Jelen über ein über Scham und Tod,
Karrieren FDP-Chef Lindner ist der große legendäres Duell im Davis Cup 107 Sex und Moral. Seite 116
Verpackungskünstler der deutschen Politik 32 Fußball RB Leipzig – ein Investorenklub
AfD Wie es die lesbische Ökonomin gegen die Langeweile in der Bundesliga 108
Alice Weidel an die Spitze einer rechts-
lastigen Partei schaffte 36 Wissenschaft
Kommentar Warum Junckers Ideen
für Europa nicht funktionieren 38
Ökokokosnuss, Ökomaniok – Biolandbau
hilft Kleinbauern in Entwicklungsländern /
CDU Hat die Partei für ihre Kampagne bei Keine Rettung vor Fake News / Kommentar:
Wirtschaft
Historiker Gerd Koenen über
Air-Berlin-Manager profitieren von Bundes- Kommunismus gestern und heute 132
bürgschaft / Autokonzerne knausern beim Konzertkritik Auf Krücken zu den Rolling
Diesel-Fonds / Foodora-Fahrerinnen klagen 74 Stones 138
Genussmittel Kaffee ist zum Lifestyle-Getränk
geworden – und immer noch ein Produkt
weltweiter Ausbeutung, selbst von Kindern 76 Bestseller 137
Euro Wie die Bundesregierung Jens Friederike Otto
Impressum 140
Weidmann als Nachfolger von EZB-Chef
Mario Draghi durchsetzen will 85 Leserservice 140 Sie begegnet Leugnern des
Dieselskandal Die VW-Händler müssen den Nachrufe 141
Klimawandels mit Evidenz,
Ärger der Kunden ausbaden, sagt ihr der Waffe der Wissenschaft.
Personalien 142 In Oxford berechnet die deut-
Verbandschef Dirk Weddigen von Knapp 86
Briefe 144 sche Physikerin, welche Rolle
Immobilien Es fehlt an Steckdosen für
E-Autos in Mehrfamilienhäusern 89 Hohlspiegel / Rückspiegel 146 die globale Erwärmung bei
Analyse Das neue iPhone enttäuscht – und Wetterereignissen wie Hurri-
wird dennoch ein Erfolg 90 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ kan „Irma“ spielt. Seite 122
Leitartikel
D
ie deutsche Sonne, das ist am Ende dieses verreg- zunehmen. Das zusammen ergibt das linke Desaster der
neten Wahlsommers Angela Merkel. Da drängt es letzten zwölf Jahre. Diese drei Parteien haben sogar die
sie hin; Grüne, FDP, SPD, alle bürgerlichen Par- Mehrheit im Parlament, aber keiner konnte das bislang
teien. Bei ihr suchen sie Licht und Wärme, mit ihr wollen als Chance begreifen. Merkel kann frohlocken, und der
sie eine Koalition bilden, von ihr Ministerwürden emp- deutschen Demokratie fehlt die Alternative, weshalb sie
fangen. Das ist das Drama des gemäßigten Wählers, der so öde wirkt.
Merkel nicht eine vierte Amtszeit gewähren will. Ob Ka- In den letzten Jahren durfte Merkel eine für die Bun-
trin Göring-Eckardt und Cem Özdemir, ob Christian Lind- desrepublik einmalige Machtposition genießen. Zwar
ner oder Martin Schulz – sie alle hoffen, die Stimmen, die haben die anderen Langzeitkanzler der Union, Konrad
sie einsammeln, Merkel andienen zu können. Adenauer und Helmut Kohl, meist höhere Stimmanteile
Während SPD-Chef Schulz öffentlich noch die Große eingefahren, aber sie mussten sich oft einer entschlossenen
Koalition ablehnt, bereiten sich die Sozialdemokraten Opposition erwehren. Und sie wurden auch aus der Mitte
insgeheim auf dieses Bündnis vor, in dem man wieder heraus angegriffen. Für Merkel gilt das nicht im gleichen
nur Juniorpartner wäre (siehe Seite 20). Dass die SPD die Maße. Sie ist die Bürgerkönigin dieses Landes.
Union noch überholt, dürfte Es ist ihr nicht bekommen.
angesichts des Abstands in Lange konnte sie den Versu-
den Umfragen ausgeschlossen chungen dieses Amts wider-
sein. Gleichwohl ist es die ver- stehen. Doch zuletzt zeigten
dammte Pflicht eines Kandi- sich auch bei ihr Entrücktheit
daten, bis zum letzten Tag zu und Selbstgefälligkeit. Wer
kämpfen und zu hoffen. Alles selbst vom größten Teil der
andere könnte man beinahe Konkurrenz wie eine Köni-
einen Verrat an den Wählern gin behandelt wird, glaubt ir-
nennen. gendwann, königlich zu sein.
Schulz weiß natürlich, was Wie würde das erst nach 13
gegen eine Große Koalition oder 14 Jahren aussehen? Die
spricht. Die Ränder würden Zwölf-plus-Jahre von Ade-
gestärkt, heißt es im Lehrbuch nauer und Kohl verheißen
der Demokratie, und nun nichts Gutes. Die Vermessen-
wird wohl die unsägliche, heit wuchs, die Macht franste
rechtspopulistische AfD in aus, es war ein Elend.
den Bundestag einziehen. Aus der Opposition heraus
FABRIZIO BENSCH / REUTERS
miele.de/twoinone
WAHL 2017
Sicherheit
und Wut
Parteien Die nächste Regierung steht vor großen
Herausforderungen: für bessere Schulen
und Universitäten, bei dem digitalen Umbau
der Wirtschaft und der Reform Europas.
CDU-Wahlkundgebung in Bremen
Seltsam labile Stimmungslage
tel sitzen. Sie wollen eine politische Ver- Breitbandanschlüsse Produktions-Know-how mit digitalen
änderung, so hat etwa das Institut für Anteil der Glasfaserverbindungen in Prozent Kompetenzen die größten Chancen für
Demoskopie in Allensbach ermittelt, aber die deutsche Wirtschaft. Doch nicht alle
sie sind sich unsicher, wie weit sie reichen 0 10 30 50 70 Unternehmen werden diesen Wandel
soll. Japan 74,9 schaffen, und deshalb ist es wichtig, dass
Es ist ein gespaltenes Bild, das so ähnlich neue Unternehmen entstehen, die in
auch das Hausblatt der internationalen Fi- Lettland der Wirtschaft von morgen eine wichtige
nanzelite zeichnet, der Londoner „Econo- Schweden Rolle spielen.
mist“. Deutschland sei unter Merkels Kanz- Die FDP, die sich in ihrem Programm
lerschaft „ganz gut gefahren“, urteilt das Spanien als wahre Digitalpartei ausgibt, will inno-
Blatt. Zugleich habe ihre Regierung „nicht vative Gründer fördern, etwa durch ein
OECD 21,2
genug getan, um Deutschland auf die Zu- bürokratiefreies Jahr für Start-ups und die
kunft vorzubereiten“. Vieles wurde liegen Türkei bessere steuerliche Behandlung von Wag-
gelassen, vieles vertagt, manches schön- niskapital. Sie fordert einen eigenen Digi-
gefärbt. USA talminister und stellt sich damit gegen die
Ein Neuanfang sei fällig, glaubt das bri- Polen Union. Der genügt ein Staatsminister für
tische Magazin, und das glauben auch viele Digitalpolitik im Kanzleramt.
Deutsche. An Merkel führt wahrscheinlich Frankreich
kein Weg vorbei, aber möglicherweise re-
giert sie bald mit anderen Partnern. Und
Italien Lebenslang lernen
noch etwas steht fest: Die nächste Regie- Deutschland 1,8 Vor neun Jahren rief Angela Merkel einen
Quelle: OECD
rung, ganz gleich, wer sie stellt, steht vor Dezember 2016, neuen Staat aus. Aus der Bundesrepublik
enormen Herausforderungen. Griechenland ausgewählte Länder solle eine „Bildungsrepublik“ werden,
wünschte sie sich. Wenige Worte der Kanz-
kaum noch zu schaffen. Und selbst wenn: lerin blieben hängen wie dieses. Und tat-
Die digitale Zukunft Es wäre wenig. Im internationalen Ver- sächlich: Kitas, Schulen, Hochschulen zu
Von einer „historischen Revolution“ ist die gleich hat der Hightech-Standort Deutsch- stärken, um Deutschlands Zukunft zu si-
Rede, von einem Umbruch, dem sich „kein land den Anschluss verloren und rangiert chern, ist, nun ja, alternativlos.
einzelnes Land, kein Unternehmen und bei der digitalen Infrastruktur auf Platz 29 Da erscheint es stimmig, dass in diesem
kaum ein Bürger entziehen kann“. Dieser der 35 OECD-Staaten. Bundestagswahlkampf so viel über Bil-
Befund aus dem Wahlprogramm der Union Alle Parteien beschwören die Breitband- dung geredet wird. Die Union verspricht
deckt sich mit der Einschätzung fast aller oder gleich die Gigabit-Zukunft, Union eine „digitale Bildungsoffensive“, die SPD
Experten. Die Digitalisierung wird unsere und SPD versprechen nun Glasfaser für formt eine „nationale Bildungsallianz“.
Art, wie wir leben, arbeiten und wirtschaf- alle oder nahezu alle Haushalte bis zum Am lautesten trommelt die FDP. „Super-
ten, grundlegend verändern, und die Frage, Jahr 2025. Grüne und FDP verraten sogar, macht Bildung“ plakatiert sie und verkün-
wie sich das Land und seine Regierung die- wie sie das realisieren wollen. Unter ande- det als Ziel „weltbeste Bildung für jeden“.
ser Herausforderung stellen, entscheidet rem sollen die verbleibenden 32 Prozent Wer könnte dagegen sein, zumal wenn al-
über die Zukunft des Landes und den Staatsanteile an der Deutschen Telekom les von der Kita bis zur Uni gratis sein soll,
Wohlstand seiner Bürger. verkauft und so Geld in die Kassen gespült wie es die SPD verspricht.
Tatsächlich hat diese Revolution längst werden. Wer aber nach der Wahl etwas dafür
begonnen und Deutschland die erste Phase Schnelle Netze sind jedoch keineswegs tun will, steht vor einem Problem. Bildung
weitgehend verschlafen. Die amerikani- die einzige Herausforderung für die Digi- ist Ländersache, auch die neue Bundesre-
schen Tech-Konzerne Apple, Google, talpolitik. Ebenso wichtig sind Bildung gierung hat an Schulen nichts und an den
Amazon oder Facebook sind im Alltag fast und Ausbildung, Cybersicherheit und vor
jedes Menschen präsent. Daten sind der allem eine bürgerfreundliche Digitalisie- Bildungsausgaben OECD-
Rohstoff ihres Geschäftsmodells, und da rung der Verwaltung. Doch wie kann die Durchschnitt
Anteil am BIP der Länder, 2014
sie immer mehr Daten sammeln, wächst künftige Regierung den Umbau der Wirt- in Prozent 5,2
ihre Macht ständig. schaft fördern, wie kann sie helfen, dass
Nie zuvor in der Wirtschaft sind Kon- der Sprung ins Digitalzeitalter gelingt, Großbritannien 6,6
zerne in so kurzer Zeit so groß geworden, ohne dass ganze Branchen hinweggefegt
nie zuvor wurden so schnell so große Ver- werden und Millionen Menschen ihren Norwegen
mögen geschaffen. Und dieses Geld nutzen Job verlieren? USA
sie, um in weitere Geschäftsbereiche ein- Da bleiben die Parteien vage. Von
zubrechen – auch in jene, in denen deut- „Chancen für neue Arbeitsplätze“ spricht Belgien
sche Unternehmen noch stark sind. die CDU/CSU, auch in Deutschland sollen Finnland
Was hat die bisherige Regierung dafür Plattformen entstehen, sagt sie, also Un-
getan, das Land auf diesen dramatischen ternehmen wie Facebook, Uber oder Goo- Niederlande
Umbruch vorzubereiten? Glaubt man dem gle, die auf Netzwerken basieren. Aber Frankreich
Eigenlob im CDU/CSU-Programm: eine wie, das sagt sie nicht.
ganze Menge. Zum Beispiel hat sie den Die SPD will daran arbeiten, dass Österreich
„Ausbau des schnellen Internets entschei- die Industrie 4.0 ein Erfolgsmodell für Japan
dend vorangebracht, massiv in Forschung Deutschland werde, also die Digitalisie-
investiert, Start-ups besser gefördert“. rung der traditionellen Industrie, und sie Deutschland 4,3
Tatsächlich wollte die Regierung sämt- will bei diesem Wandel vor allem den Mit- Spanien
liche Haushalte bis 2018 flächendeckend telstand unterstützen.
mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde Tatsächlich sehen die meisten Exper- Ungarn 3,8
schnellen Anschlüssen versorgen. Das ist ten in der Verbindung von klassischem Quelle: OECD
re später könnten es im schlimmsten Fall des Renteneintrittsalters geben werde. Reales Haushalts- obere 60 %
sogar insgesamt 9,5 Millionen Arbeitskräf- Doch ausgerechnet das wäre die vielleicht einkommen
te sein, schätzt das Deutsche Institut für klügste Möglichkeit, auf die alternde Ge- + 15
Veränderung seit 1991
Wirtschaftsforschung. sellschaft zu reagieren. in Prozent
Die Bevölkerung schrumpft. Wurden Als das heutige Rentensystem 1957 ein-
Mitte der Sechzigerjahre noch 1,4 Millio- geführt wurde, bezogen die meisten Men-
nen Kinder in Deutschland geboren, sind schen kaum zehn Jahre lang Rente. Heute Quelle: DIW Berlin 2017
es heute nur noch gut halb so viele. Die sind es im Durchschnitt zwei Jahrzehnte, + 10
vielen Zuwanderer, die in den vergange- weil die Menschen immer älter werden.
nen Jahren nach Deutschland drängten, Wenn aber die Lebenserwartung steigt,
haben zwar das große Schrumpfen gemil- sollte auch der Rentenbeginn verschoben
untere 40 %
dert. Doch die Bevölkerung altert weiter. werden. Gefragt sind dann lebenslanges
Alternde Gesellschaften gelten als we- Lernen – und eine ordentliche Altersver- +5
niger innovativ und risikofreudig. Ihre So- sorgung für alle, die sich wegen einer
zialsysteme ächzen, weil die jungen Bei- Krankheit schon früher aus dem Berufs-
tragszahler fehlen. In Deutschland wird es leben verabschieden müssen.
ab 2025 ernst, wenn die Babyboomer in Ökonomen empfehlen schon lange die
den Ruhestand gehen und die Pillenknick- Zwei-Drittel-Formel: Würde die allgemei-
0
Generationen für deren Rente aufkommen ne Lebenserwartung zum Beispiel um drei
müssen. Jahre steigen, dann sollte sich die Lebens-
Höchste Zeit, ernsthaft über unkonven- arbeitszeit um zwei Jahre verlängern. Das
tionellere Maßnahmen nachzudenken. wäre gerechter, als die Beiträge zu erhöhen 1991 2000 2014
Über ein modernes Zuwanderungsrecht, oder das Rentenniveau zu drücken.
das gezielt Fachkräfte ins Land bittet. Über scheidet schon die Geburt über die Chan-
nen soll, auf Fahrzeuge mit alternativem Stefan Kapferer, der Geschäftsführer des Arbeitslosenquote
Antrieb umzusteigen. „Zunächst müssen Bundesverbands der Energie- und Wasser- innerhalb der Europäischen Union
wir die steuerliche Bevorzugung von wirtschaft.
Diesel streichen“, sagt Ottmar Edenhofer Griechenland 21,2
vom Potsdam-Institut für Klimafolgen-
forschung. Er sieht sich mit dieser Forde- Kontinent mit Zukunft Spanien 17,1
rung nur im Wahlprogramm der Grünen Zeitenwende. Europa befinde sich in einer Italien 11,3
repräsentiert. „existenziellen Krise“, analysierte Jean-
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Claude Juncker vor einem Jahr. Inzwi- Frankreich 9,8 Quelle: Eurostat; Auswahl;
jeweils aktuellste monatliche
Verkauf von Elektroautos zu fördern. Kauf- schen scheint sich der Kontinent auf wun- Zahlen, saisonbereinigt
prämien zum Beispiel oder eine Quote. dersame Weise erholt zu haben. Findet Portugal 9,1
Ginge es nach Edenhofer, würde das Steuer- zumindest der Präsident der EU-Kommis- Irland 6,3
system reformiert und die Stromsteuer ge- sion. „Europa hat wieder Wind in den Se-
strichen. „Damit werden E-Autos automa- geln“, jubelte er an diesem Mittwoch in 5,4 Österreich
tisch attraktiver“, sagt der Klimaökonom. Straßburg. 4,8 Niederlande
Die Programme der beiden großen Partei- Tatsächlich? Die Stimmung hat sich auf-
en bleiben in dieser Frage stumm. geklart nach der Niederlage der Rechten 4,8 Polen
Wer den Verkehr elektrifizieren will, in Frankreich und den Niederlanden, aber
muss zwei Dinge machen: die Netze um- wirklich verbessert wurde kaum etwas in 4,3 Großbritannien
bauen und mehr Strom produzieren. Doch den vergangenen zwölf Monaten. Noch 3,7 Deutschland
das geht klimaneutral nur mit erneuerba- immer streiten die Mitgliedstaaten über
ren Energien. Der technische Fortschritt die Flüchtlingsfrage. Zwar wurde im Mi- 2,9 Tschechien
hat dafür gesorgt, dass Windräder und So- nisterrat mit Mehrheit eine Verteilungs-
laranlagen immer billiger werden. Neuan- quote beschlossen, doch Länder wie Un- nuel Macrons Wahlsieg in Frankreich ge-
lagen müssen kaum noch subventioniert garn erkennen sie nicht an, obwohl der öffnet habe.
werden. Der größte Teil des zusätzlichen Europäische Gerichtshof sie dazu zwingen „Wir sind bereit, mit der neuen franzö-
Stroms wird wohl von Windparks auf ho- will. Selbst Deutschland erfüllt die Vorga- sischen Regierung die Eurozone schritt-
her See produziert. ben nicht. weise weiterzuentwickeln“, schreibt die
Dieser Strom muss aus dem Norden der Nötig wären ein europäisches Asylrecht, CDU in ihrem Wahlprogramm. Konkreter
Republik in die Industriegebiete des Sü- das alle Mitgliedstaaten an einheitliche wird es erst, wenn es um den Schutz vor
dens gebracht werden. Drei große Strom- Standards bindet, und eine umfassendere unkontrollierter Einwanderung geht oder
autobahnen, weitestgehend unterirdisch Einwanderungspolitik. SPD, Grüne und um das Verbot gemeinsamer Schulden.
für mehr als zehn Milliarden Euro verlegt, FDP fordern ein Einwanderungsgesetz. Auch das ein Zugeständnis an die CSU.
sollen in den nächsten Jahren den Trans- Die CDU vermeidet auch aus Rücksicht Die FDP will die EU-Institutionen refor-
port gewährleisten. auf die bayerische Schwesterpartei das mieren, das Europäische Parlament auf-
Doch auch die engmaschigen Verteilnet- Thema. werten und staatenübergreifende Listen
ze in den Städten und den Regionen müs- Die Zukunft des Euro ist das zweite gro- bei der Europawahl einführen. Eine „so-
sen verstärkt werden. Nur so lässt sich der ße europapolitische Thema, mit dem sich ziale Säule“ in der EU aber wollen die Li-
höhere Verbrauch durch Elektroautos be- die neue Bundesregierung beschäftigen beralen ebenso wenig wie eine gemein-
wältigen. Die Sozialdemokraten haben muss. Die Implosion der Gemeinschafts- schaftliche Haftung für Mitgliedstaaten,
das in ihr Wahlprogramm aufgenommen, währung konnte durch den ESM-Rettungs- die in Not geraten sind. Griechenland, kri-
während die CDU vor allem Ladesäulen schirm zwar verhindert werden, doch im- tisiert die FDP, hätte 2015 nicht vor der
für die E-Autos bauen will. „Darin sehen mer noch bestimmt jedes Land seine Wirt- Pleite gerettet werden dürfen.
wir allerdings das kleinere Problem“, sagt schaftspolitik selbst, nicht selten zulasten Blackrock, der größte Vermögensverwal-
anderer EU-Partner. ter der Welt, warnt deshalb schon vor einer
Bruttostromerzeugung Während Deutschland boomt, stecken Regierungsbeteiligung der Liberalen. Von
in Deutschland, Anteile in Prozent Italien und Frankreich in der Krise, und der Partei gehe ein „beträchtliches Risiko
Quelle: Agora Energiewende die Spanier leiden unter hoher Jugend- für die Anleihemärkte“ aus, sagte Black-
2016 2030 arbeitslosigkeit. Es würde helfen, wenn rock-Mann Martin Lück der „Süddeut-
der Rettungsschirm in einen Europäischen schen Zeitung“. Wenn eine neue Bundes-
29,5 erneuerbare 60,7 Währungsfonds umgewandelt würde. Und regierung mit Beteiligung der FDP darauf
Energien die Eurozone einen Haushalt bekäme, beharre, dass die Prinzipien strikt einge-
der von einem europäischen Finanzminis- halten würden, könnte die europäische
davon ter verwaltet würde, kontrolliert durch Schuldenkrise zurückkehren.
Windkraft das EU-Parlament. Erst dann wäre die
12,1 41,0 Währungsunion „vollendet“, wie es die
EU-Kommission als Ziel bis zum Jahr 2025 Die Qual der Wahl
17,0 anpeilt. Martin Schulz muss dieser Tage in vielen
Nur SPD und Grüne teilen die Brüsseler Rollen auftreten, als Redner und Inter-
Pläne nahezu uneingeschränkt. Beide Par- viewpartner, als Parteitaktiker und, nicht
23,1 Erdgas 11,5 teien wollen das EU-Parlament und die zuletzt: als Schauspieler. Unverdrossen
Kommission stärken. „Statt nationaler Ego- muss der SPD-Chef bei jedem Auftritt,
Steinkohle 9,8 ismen setzen wir auf die Gemeinschafts- bei jedem Statement beteuern, dass er
methode“, heißt es im Wahlprogramm „Kanzler werden“ wolle. Auch wenn sein
Kernenergie Braunkohle 13,1 der Genossen. Aber sie warnen auch. Publikum, wenn die Journalisten und
13,1
Das „Fenster der Gelegenheit“ dürfe nicht selbst die eigenen Leute nicht mehr daran
5,2 sonstige 4,9 verpasst werden, das sich durch Emma- glauben.
18 DER SPIEGEL 38 / 2017
Noch im Frühjahr schien es, als könnte
der ehemalige Präsident des EU-Parla-
ments Merkel ernsthaft gefährden. Doch
inzwischen liegen seine Chancen nahe null.
Nicht nur, weil der Abstand zwischen
Union und SPD nach der jüngsten Infra-
test-dimap-Umfrage bei 17 Prozentpunk-
ten liegt. Sondern vor allem wegen der de-
moskopischen Werte der Kandidaten. Die
Deutschen finden Schulz zwar deutlich
bürgernäher als Merkel, doch bei nahezu
allen anderen Eigenschaften, die ein Kanz-
ler braucht, hat es der Mann aus Würselen
nicht geschafft, die Wähler von sich zu
überzeugen. Führungsstärke, Kompetenz,
Glaubwürdigkeit: Überall ist Merkel vorn.
Zwar lagen Meinungsforscher in jüngs-
ter Zeit öfter mal daneben. Doch die Dif-
ferenz zwischen den beiden Kandidaten
ist inzwischen derart groß, dass sich eine
wachsende Zahl von Demoskopen schon
heute festlegt: Den Wettlauf mit Merkel
kann Schulz nicht mehr gewinnen.
Auch eine rot-rot-grüne Koalition, die
bei extremen Zugewinnen von SPD, Lin-
ken oder Grünen Schulz zumindest theo-
retisch ins Kanzleramt führen könnte, ist
nahezu ausgeschlossen. Zu weit liegen die
Programme auseinander, zumal der Gra-
ben innerhalb des linken Lagers in den
vergangenen Wochen eher noch tiefer ge-
worden ist.
Doch das bedeutet nicht, dass die Wahl
schon gelaufen wäre. Nach Lage der Dinge
werden die Bürger mit ihrer Stimme zu-
NIKITA TERYOSHIN / DER SPIEGEL
Verbotene Liebe
Wahlkampf Öffentlich geht die SPD-Spitze auf Maximaldistanz zu Merkel. Doch führende Genossen
hoffen, dass sich die Partei in die Große Koalition retten kann. Die Basis übt schon den Widerstand.
A
m Mittwochnachmittag steht Mar- im SPIEGEL-Gespräch als „Quatsch“ (siehe an der Basis gegen eine Große Koalition
tin Schulz auf dem Marktplatz in Seite 22). Zwischen CDU und SPD liege scheint weitaus größer als vor vier Jahren.
Böblingen und äfft die Kanzlerin „programmatisch der Atlantikgraben“. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere
nach: Nach dem TV-Duell habe „sie ge- Doch seit so gut wie sicher scheint, dass Basis noch einmal einem Koalitionsvertrag
jammert: ‚Hach, es ist aber viel zu wenig Angela Merkel Bundeskanzlerin bleiben zustimmt“, sagt Matthias Miersch, Spre-
über Digitales diskutiert worden‘“. Schulz wird, treibt die SPD-Führung die schwie- cher der Parlamentarischen Linken.
zieht die Mundwinkel ganz weit nach un- rige Frage um: Regierung oder Opposi- Trotzdem wäre eine Reihe von Spitzen-
ten, seine Stimme ist jetzt sehr hoch, er tion? Zwar sind die Umfragen für die So- genossen dabei, sollte Angela Merkel nach
könnte genauso gut Heidi Klum imitieren. zialdemokraten zurzeit so schlecht, dass der Wahl anrufen, um die SPD zu Sondie-
Einige Genossen quieken vor Freude über das Schicksal der Parteispitze nach der rungsgesprächen ins Kanzleramt zu bitten.
so viel Gemeinheit. Endlich, so hoffen sie, Wahl ungewiss ist. Doch für den Fall, dass „Eine Regierung ohne uns ist schlechter
hat ihr Kandidat verstanden, dass Wahl- am Ende ein respektables Ergebnis steht, als eine mit uns. So einfach ist das“, sagt
kampf kein Benimmkurs ist. Schulz brüllt: denken Teile der SPD-Führung darüber einer führender Sozialdemokrat.
„Frau Merkel, greifen Sie zum Telefon- nach, wie sie die widerstrebende Partei Für die Anhänger der Großen Koalition
hörer! Ich stehe zur Verfügung für die Dis- noch einmal in eine Große Koalition füh- in der SPD liegen die Vorteile auf der
kussion um die Zukunft dieses Landes.“ ren können. Hand: Man hofft, mit einer geschwächten
Der Kandidat gibt sich Mühe, er muss „Na klar“ wolle er Außenminister blei- Union noch mehr rote Inhalte durchsetzen
ja. Denn nur eines ist für die SPD eine ben, verkündete Vizekanzler Sigmar Ga- zu können als in der letzten Legislatur.
gute Woche vor der Bundestagswahl ge- briel am vergangenen Dienstag bei einer Aber auch unter dem Gesichtspunkt der
fährlicher als der Eindruck, sie hätte das Konferenz des „Handelsblatts“. „Weiter persönlichen Berufsplanung ist für das
Rennen um das Kanzleramt schon verlo- Arbeitsministerin bleiben zu dürfen wäre sozialdemokratische Spitzenpersonal die
ren gegeben: die Sicherheit, dass am Ende schön“, sagte Andrea Nahles kürzlich. Und Regierungsbank attraktiver als die harten
die Große Koalition unter Merkel weiter- Thomas Oppermann, der oberste Sozial- Reihen der Opposition.
regiert. Nichts würde die SPD-Wähler demokrat im Bundestag, würde auch un- Parteichef Schulz dürfte sich ebenfalls
mehr demotivieren. gern abtreten: „Ich war immer gern Frak- einiges von einer Regierungsbeteiligung
Öffentlich gehen die Sozialdemokraten tionsvorsitzender und würde es auch gern versprechen. Als Außenminister und Vi-
deshalb auf größtmögliche Distanz zur bleiben.“ zekanzler, das hat Schulz in diesem Wahl-
GroKo 3 unter Merkels Führung. Schulz Allen ist klar, welch schwierige Opera- kampf beobachten können, hätte er opti-
bezeichnet eine Neuauflage des Bündnisses tion das werden würde. Der Widerstand male Voraussetzungen, um seine Popula-
20 DER SPIEGEL 38 / 2017
WAHL 2017
rität zu steigern und aus dieser Position Allerdings könnten die Hoffnungen der Die Neuauflage der Großen Koalition hät-
heraus in die Nach-Merkel-Ära zu starten. GroKo-Befürworter vom Wähler durch- te aus Merkels Sicht klare Vorteile. Sie hat
Sigmar Gabriel, dessen Alleingänge kreuzt werden. Je schlechter das Ergebnis, die Sozialdemokraten in nunmehr acht
Schulz im Wahlkampf zunehmend verär- desto schwieriger dürfte es werden, die gemeinsamen Regierungsjahren als ver-
gerten, müsste dann seinen Ministersessel Partei noch einmal für eine Regierung un- lässliche und professionelle Partner erlebt.
räumen. Als Gabriel in einem Interview ter Merkel zu gewinnen. Unterbietet die Zudem kann sie die Wirtschaftsliberalen
mit dem „Stern“ Anfang August eine Neu- SPD sogar das 23-Prozent-Ergebnis von und die Konservativen in den eigenen
auflage der GroKo ausschloss, schäumte 2009, dürfte rasch der Ruf nach einem ra- Reihen, ihre schärfsten parteiinternen Kri-
Schulz vor Wut. Auf einer Veranstaltung dikalen Neustart kommen. tiker, in diesem Bündnis am besten in
im Hamburger SPIEGEL-Haus sagte Ga- Die öffentlichen Verlautbarungen der Schach halten.
briel kürzlich, Schulz habe das Interview Parteispitze dürften dagegen kein Hinder- Merkel wüsste Horst Seehofer und die
vor der Veröffentlichung gekannt – was nis sein. Die hatte es auch vor vier Jahren CSU an ihrer Seite. In der eigenen Partei
aber wohl nicht zutrifft und das heikle The- gegeben: „Wir wollen keine Große Koali- würden allerdings einige führende Leute
ma noch ein wenig heikler macht. tion“, versicherte damals Parteichef Ga- Jamaika einer Großen Koalition vorzie-
In der Partei kursieren längst nicht nur briel. Und Spitzenkandidat Peer Stein- hen. Finanzminister Wolfgang Schäuble
Argumente gegen, sondern auch für ein wei- brück erklärte, die SPD wolle „nicht noch hat intern schon häufiger vor den Gefah-
teres Regierungsbündnis mit der Union. Die einmal der Steigbügelhalter für die CDU ren einer Großen Koalition gewarnt. Sie
SPD stehe im Zweifel in der Verantwortung, unter Frau Merkel sein“. Der Ausgang ist stärke vor allem die Ränder, wie man am
das wirtschaftlich stärkste Land in der EU bekannt. Erfolg der AfD sehe. Auch der schleswig-
nicht in instabile Verhältnisse zu schicken, Allen in der SPD-Spitze ist klar, dass es holsteinische Ministerpräsident Daniel
heißt es. Sozialpolitisch drohe ohne die SPD diesmal ein beispielloser Härtetest werden Günther, der ein Jamaika-Bündnis führt,
bestenfalls Stagnation, schlimmstenfalls könnte. Ohne eine Mitgliederbefragung, ist sich sicher: „Es gibt bei vielen in der
eine Rückabwicklung des Erreichten. In der das ist klar, würde es auch diesmal nicht Union die Neigung, nicht schon wieder
Opposition könnte die Partei zwischen AfD gehen. Darauf hat sich Schulz festgelegt. eine Große Koalition einzugehen.“
und Linkspartei zerrieben zu werden. Zu- In der Partei bildet sich bereits massiver Die Begeisterung der Deutschen für die
dem müssten die finanzschwachen Kommu- Widerstand gegen ein neues Bündnis mit GroKo nimmt ebenfalls ab. Zwar befür-
nen ohne einen echten Fürsprecher in der der Union. Fraktionsvize Axel Schäfer wortete im aktuellen ARD-Deutschland-
Regierung auskommen. sieht bei einem Mitgliederentscheid keine trend noch die Hälfte der SPD-Wähler das
Unterstützung erhielten die Sozialdemo- Chance für eine Mehrheit: „Die Stimmung Bündnis, aber andere Umfragen sehen die
kraten in dieser Woche von den Gewerk- an der Basis ist weitaus ablehnender als Regierungskombination nicht mehr an ers-
schaften, die sich von der GroKo offenbar 2013, das ist überhaupt kein Vergleich“, ter Stelle. Seit Merkel und Schulz im TV-
wesentlich mehr erhoffen als von anderen warnt er. Auch er selbst ist „strikt gegen Duell unter Beweis gestellt haben, wie gut
Regierungskonstellationen. Per großer Zei- eine weitere Große Koalition unter Angela sie miteinander harmonieren, wächst die
tungsannonce sprach sich die IG Metall Merkel“. Schäfer meint: „Die SPD hat kei- Ablehnung der Großen Koalition.
klar für die Rentenpläne der SPD aus. Dort ne Pflicht zur Selbstaufopferung.“ Ähnlich Der Weg in das neue Bündnis wird für
verstand man das als Plädoyer für eine sieht es SPD-Schatzmeister Dietmar Nie- die Großkoalitionäre nicht einfach. Die
Große Koalition. tan: „Nach den Erfahrungen dieses Wahl- Union müsste mit FDP und Grünen halb-
Auch für die Zeit nach Angela Merkel wegs ernsthaft verhandeln. Und am Ende
sieht sich die Parteiführung in der Regie- einen plausiblen Grund dafür finden, wa-
rung besser aufgestellt. Wenn Merkels
„Die Stimmung an der rum Jamaika einfach unmöglich ist. Die
Macht und Beliebtheit nach den Wahlen Basis ist weitaus SPD müsste sich zieren, so überzeugend,
nachlassen, womit die SPD-Spitze rechnet, ablehnender als 2013, dass die Union vielleicht mit Neuwahlen
wäre die Union leichter aus einer Regie- drohen würde. Und dann doch einknicken.
rung heraus zu besiegen als aus der Oppo- das ist kein Vergleich.“ In jedem Fall brauchte es eine gute Regie
sition, so die Parteistrategen. und schauspielerisches Talent.
Zudem kursiert ein Szenario, wonach kampfs ist eine Neuauflage der Koalition Wenig anderes wäre schädlicher für die
die Sozialdemokraten die Koalition vor- für unsere Basis keine Option mehr.“ Demokratie. Bereits jetzt beschert die Aus-
zeitig beenden könnten. Das hätte aus Auf der Gegenseite, im Kanzleramt, sicht auf ein „Weiter so!“ der AfD Zulauf.
Sicht der Genossen den Vorteil, dass sie wird die Zuneigung der SPD-Spitze durch- Etwa 30 Prozent der Wahlberechtigten
die Union in eine Personaldiskussion trei- aus erwidert. Dort hat man sich darauf ein- sind von der Politik so enttäuscht, dass sie
ben könnten. Merkel müsste sich dann ent- gerichtet, dass es weder für Schwarz-Gelb zu populistischen Ansichten tendieren.
scheiden, ob sie bei einer vorgezogenen noch für Schwarz-Grün eine Mehrheit ge- Wohin die endlose Folge Großer Koalitio-
Neuwahl noch einmal antreten soll. ben wird. Die Kanzlerin müsste sich also nen führen kann, zeigt das Beispiel Öster-
Überraschende Unterstützung erhalten zwischen Großer Koalition und einem Ja- reichs.
die Berliner Akteure von Teilen der Partei- maika-Bündnis entscheiden. Am Ende, das zeichnet sich ab, dürften
linken. „Wenn wir je einen Koalitionsver- Letzteres aber halten Merkel-Vertraute die Großkoalitionäre dem Souverän die
trag mit der Union bekämen, in dem die für „sehr, sehr unwahrscheinlich“. Öffent- Schuld geben. Der Ton wird mancherorts
Rentenkürzungen zurückgenommen wer- lich sagt die Kanzlerin natürlich nichts. schon geübt: Das Wahlergebnis, so heißt
den, die Bürgerversicherung eingeführt Nahe Parteifreunde zweifeln aber nicht da- es, habe keine andere Regierung zugelas-
wird und ein Rückkehrrecht auf Vollzeit ran, dass sie die bewährte Koalition mit sen. Wählerwille sei eben Wählerwille. Ja-
drinsteht, da kann man dann nichts dage- der SPD favorisiert. maika? Eine Dreierkombination im Bund?
gen haben“, bekennt die baden-württem- Warum sollte sie sich auf ein Experi- Das habe es doch noch nie gegeben. Ein
bergische Landesvorsitzende Leni Brey- ment mit Christian Lindners unerfahrener politisches Abenteuer in Zeiten von
maier. Sie setzt ganz auf den Vorsitzenden: Truppe und den dezimierten und von Iden- Trump, Brexit, Kim und Bombe? Nein, das
„Martin Schulz wird den Mitgliedern kei- titätskrisen geplagten Grünen einlassen? wollten die Deutschen doch nicht.
nen Koalitionsvertrag empfehlen, in dem Noch dazu, wenn das Bündnis nur über Christiane Hoffmann, Veit Medick,
nichts Substanzielles drinsteht.“ eine knappe Mehrheit verfügen würde? Ann-Katrin Müller, Ralf Neukirch, Hanna Voß
D
ienstagmorgen, zehn Uhr. Im Ber- Derzeit klammern sich in der Union na-
liner Willy-Brandt-Haus stehen an darf man in Berlin nicht zeigen, etwa, dass türlich alle an die Macht, aber in Wahrheit
jeder Ecke Willy-Brandt-Statuen: man sich verletzt fühlt. Tut man es doch, hat Angela Merkel mit Jens Spahn so viel
die eine große, viele kleine. Martin Schulz, kriegt man im besten Fall einen mitleidi- zu tun wie ich mit …
61, kommt in sein Vorsitzenden-Büro, das gen Artikel nach dem Motto: Lieber Kerl, SPIEGEL: … Viktor Orbán?
so aussieht, wie es aussah, als es noch aber er ist dem Ding nicht gewachsen. Die Schulz: Das ist Ihr Vergleich, nicht meiner.
Sigmar Gabriels Vorsitzenden-Büro war. Alternative ist, sich zu verpanzern und SPIEGEL: Zugleich macht sich auf Wahlver-
Im Bücherregal der Brockhaus. An der zynisch zu werden. Auch nicht gesund, anstaltungen vor allem in Ostdeutschland
Wand Fotos von Brandt, Rau, Schröder. Zynismus ist die schlimmste Eigenschaft, eine Wut gegen die Kanzlerin und die po-
Bevor es losgeht, muss Schulz schnell die ein Politiker haben kann. Deshalb litische Elite des Landes breit, wie man sie
noch einen Brief unterschreiben. An die musst du in Berlin eine innere Balance lange nicht gesehen hat. Warum?
Kanzlerin. Der Kandidat will ein zweites haben, um dir selbst treu zu bleiben. Und Schulz: Für mich ist Respekt ein ganz wich-
TV-Duell. Er liest die Zeilen, setzt seinen die habe ich. tiger politischer Begriff. Seit meiner Kan-
Namen darunter und wedelt mit dem SPIEGEL: Haben Sie einen Moment gehabt didatur steht er im Mittelpunkt jeder mei-
Schreiben. „Persönlich zustellen“, ruft er in den letzten Wochen und Monaten, über ner Reden. Viele Menschen haben das Ge-
seinem Mitarbeiter zu. Am Tag zuvor hat den Sie sagen würden, da habe ich mich fühl, dass die Politik sie nicht ausreichend
er vier wesentliche Anliegen der SPD for- zu sehr den Regeln unterworfen? beachtet. Die hören, das große Ganze sei
muliert: sichere Rente, bessere Bildung, Schulz: Könnte ich sagen, mache ich aber angeblich in Ordnung, aber in ihrem Leben
Lohngleichheit für Frauen und Männer und nicht. ist in Wirklichkeit überhaupt nichts in Ord-
mehr Europa. „Da geht noch was“, sagt er SPIEGEL: Beim TV-Duell? nung. Die Frau kann nicht in Vollzeit zu-
über den Wahlkampf. Ausgeruht und aus- Schulz: Ach, das TV-Duell. Das hat der ehe- rück, die Tochter kann in der maroden
geschlafen sei er in diesen letzten Tagen malige ZDF-Chefredakteur Nikolaus Bren- Schule nicht aufs Klo gehen, die Bahn
vor der Wahl gewiss nicht, aber kämpfe- der treffend beschrieben. Das war ein Kor- kommt nie pünktlich, der Großvater kriegt
risch und gut gelaunt, das noch immer. sett, basierend auf einer Erpressung des keinen Pflegeplatz, obwohl er dement ist.
Kanzleramts, in dem Merkel sich nicht zu Und als dann auch noch die Flüchtlinge
SPIEGEL: Herr Schulz, können Sie uns ver- bewegen brauchte und ich mich nicht be- gekommen sind, gab es das Gefühl: Für
raten, was Sie gestern Abend in Ihr Tage- wegen konnte. Vor ein paar Wochen habe die tut ihr alles, für uns tut ihr nichts. Diese
buch geschrieben haben? ich mir während einer Autofahrt eine De- Mischung aus Frust und Angst führt zu die-
Schulz: Das war wie immer eine ganze Sei- batte zwischen Schmidt und Strauß von ser Reaktion. Deswegen ist es so wichtig,
te. Im Wesentlichen habe ich die Presse- 1976 angeguckt. Mein lieber Mann, da ging dass wir den Menschen vermitteln: Wir
konferenz rekapituliert, bei der ich unsere es hoch her. Das war noch eine Debatten- respektieren euch.
vier Kernanliegen genannt habe, die wir kultur. Ich finde es beängstigend, dass in SPIEGEL: Die SPD regiert seit fast 20 Jahren
Sozialdemokraten nach der Wahl durch- Deutschland von heute kaum über die gro- mit kurzer Pause mit. Ist Ihre Partei nicht
setzen wollen. Und dann habe ich einen ßen Zukunftsfragen diskutiert wird – we- mitverantwortlich für dieses Problem?
privaten Teil eingetragen. Aber das lass der über die Digitalisierung noch über die Schulz: Johannes Rau hatte einen wunder-
ich jetzt mal raus aus diesem Gespräch. Bildung. baren Satz für uns Sozis: Wir sind die
SPIEGEL: Sie machen das tatsächlich jeden SPIEGEL: Wir haben den Eindruck, dass Sie Schutzmacht der kleinen Leute. Unsere
Tag? Immer eine Seite? sich oft selbst in ein Korsett zwängen. Vor Aufgabe ist es, das Leben der Normalver-
Schulz: Ja, seit 37 Jahren. Schade, das Ta- ein paar Wochen haben Sie Angela Merkel diener jeden Tag ein kleines Stück besser
gebuch liegt jetzt im Hotel. Ich kann es noch einen „Anschlag auf die Demokratie“ zu machen. Das ist die Chance der SPD
aber mal holen lassen, dann kann ich es vorgeworfen. Dann sagten Sie, Sie würden gegen eine Kanzlerin, die immer im Un-
Ihnen zeigen. das so nicht noch einmal sagen. gefähren bleibt und den Eindruck vermit-
SPIEGEL: Schildern und bewerten Sie nüch- Schulz: Ich habe damals zugespitzt formu- telt, sie wisse gar nicht, wie es der Mehr-
tern – oder beschreiben Sie Ihre Gefühle? liert, weil ich auf einem Parteitag geredet heit der Menschen geht.
Schulz: Wenn es bei solchen Ereignissen ei- habe. Das Wort „Anschlag“ war scharf, SPIEGEL: Viele Deutsche erleben die Kanz-
nen besonderen Moment, einen besonde- aber im Kern bleibe ich dabei. Merkels in- lerin als bodenständig.
ren Augenblick gibt, dann halte ich den haltliche Beliebigkeit schadet der demo- Schulz: Mag sein, dass sie dieses Image hat.
inhaltlich fest. Gestern habe ich eingetra- kratischen Kultur dieses Landes. Aber ihr ganzes Programm lässt sich in ei-
gen, dass ich mir Mühe geben musste, mich SPIEGEL: Viele Bürger empfinden Merkels nem Satz zusammenfassen: Vertraut mir,
nicht zu verstellen. Politik als gesunden Pragmatismus. dann geht schon alles gut. Sie sagt nicht,
SPIEGEL: Wieso das? Schulz: Es gibt einen Unterschied zwischen was sie will, wie sie sich die Zukunft unse-
Schulz: Ich mache schon seit Längerem die Pragmatismus und Prinzipienlosigkeit. res Landes vorstellt. Das macht viele Men-
Erfahrung, dass es einen gewissen Druck Merkels Versuch, sich der Kontroverse um schen verrückt. Sie fühlen sich entmün-
gibt, sich an die Berliner Szenerie anzu- die Zukunft des Landes zu entziehen, führt digt.
passen, an die Umstände, die um einen he- zu einem politischen Vakuum, das die Kon-
rum definiert werden. junktur-Ritter der Angst füllen. Und die 10.50 Uhr: Die Tür öffnet sich. Einer von
SPIEGEL: Jetzt klingen Sie wie Hannelore sitzen bei der AfD. Schulz’ Sicherheitsbeamten trägt einen
Kraft, die sich über die Atmosphäre in Ber- SPIEGEL: Heißt das, Merkel ist für den Auf- Kalender herein: das Tagebuch, schwarzes
lin zu beklagen pflegte. stieg der AfD verantwortlich? Kunstleder, ein „Sparkasse“-Aufdruck.
Schulz: Nein, ich beklage mich nicht. Aber Schulz: Nein. Aber natürlich hat die AfD Der Kandidat schlägt es auf, blättert und
im Berliner Betrieb muss man nun mal be- davon profitiert, dass Merkel der CDU je- sagt: „Diese Tagebücher haben den un-
stimmte Regeln zu Kenntnis nehmen, die den inhaltlichen Kern genommen hat. Des- schätzbaren Vorteil, dass ich mein Leben
man selbst nicht beeinflussen kann. Und halb sind die sogenannten Schwesterpar- richtig rekapitulieren kann.“
dann muss man schauen, dass man in all teien CDU und CSU heute in Wahrheit
den Regeln nicht verloren geht. Man darf gegnerische Parteien, und deshalb rebel- SPIEGEL: Die Umfragen zeigen, dass viele
sich den Regeln nicht unterwerfen. liert der konservative Flügel hinter ver- Bürger die Kanzlerin nicht so kritisch se-
SPIEGEL: Können Sie uns ein Beispiel geben? schlossenen Türen gegen die Kanzlerin. hen wie Sie. Sie nehmen wahr, dass überall
DER SPIEGEL 38 / 2017 23
Titel
auf der Welt autoritäre Regierungen an gesagt: Ja klar sitze ich hier, um den Laden
die Macht kommen und Merkel als Hüterin abzuschaffen. Und dafür stellt ihr mir noch
der westlichen Werte gefragt ist. einen Dienstwagen zur Verfügung. So den-
Schulz: Auch auf der internationalen Ebene ken diese Leute.
versucht sie es, so lange es irgendwie geht, SPIEGEL: Was heißt das konkret?
keine Position zu beziehen. Einem Mann Schulz: Die Geschäftsordnung des Bundes-
wie Donald Trump muss man aber mit ei- tags gilt auch für die AfD. Aber es wäre
ner klaren Haltung entgegentreten. fatal, im Parlament mit ihr zusammenzu-
SPIEGEL: Das tut Merkel. Ihr Satz dazu lau- arbeiten – so wie es die CDU ja bereits im
tete: „Die Zeiten, in denen wir uns auf an- Landtag von Sachsen-Anhalt getan hat.
dere völlig verlassen konnten, die sind ein SPIEGEL: Muss die AfD oder müssen einzel-
Stück vorbei.“ ne Mitglieder der AfD aus Ihrer Sicht vom
Schulz: Es stimmt, für diesen Satz hat sie Verfassungsschutz beobachtet werden?
viel Bewunderung bekommen. Aber mich Schulz: Die völkische Rhetorik auch in der
bringt der auf die Palme. Was heißt bitte AfD-Spitze zeigt doch, dass man davon
„ein Stück“ und wer sind die „anderen“? ausgehen muss, dass nicht nur an der Basis,
Wo sind wir denn hier? Die Politik von sondern auch in der Führung der Partei
Donald Trump führt die große amerikani- eine Gesinnung herrscht, die mit den
sche Nation in die Sackgasse, er löst mit Grundwerten unserer Verfassung nicht ver-
einem Tweet globale Krisen aus, diskredi- einbar ist.
tiert ganze Bevölkerungsgruppen. Das ist SPIEGEL: Die AfD ist auch für die SPD ein
nicht unsere Politik. So hätte ich das for- massives Problem. Kaum eine Partei verlor
muliert. Klare Kante, das ist die einzige in Nordrhein-Westfalen so viele Wähler
Sprache, die Trump und Autokraten wie an die AfD wie die Sozialdemokraten.
Putin oder Erdoğan verstehen. Treffen Sie mit Ihrem Stigmatisierungskurs
SPIEGEL: Merkel beherrscht die Regeln der auch die eigenen Leute?
Diplomatie. Wollen Sie sich darüber hin- Schulz: Nein. Meine Haltung ist: Die Funk-
wegsetzen? tionäre der Partei müssen wir bekämpfen,
Schulz: Die Regeln der Diplomatie beherr- auf die Sympathisanten dürfen wir nicht
sche ich auch. Aber wenn unsere Grund- einprügeln. Wir müssen uns um jede ein-
werte angegriffen werden, kann man da- zelne Wählerin, jeden einzelnen Wähler
rauf nicht mit fein ziselierten Bulletins bemühen.
antworten. Diese Herren dürfen nicht das SPIEGEL: Sigmar Gabriel ist vor zwei Jahren
Gefühl bekommen, wir Europäer passten zu Pegida gegangen …
uns an oder hätten gar Angst vor diesem Schulz: … er hat bei einer Diskussionsver-
Macho-Gehabe. anstaltung zugehört, bei der auch Pegida-
SPIEGEL: Erdoğan, Putin, Trump – ist das Anhänger zu Wort kamen …
für Sie dieselbe Kategorie? SPIEGEL: … und hat dafür in der SPD viel
Schulz: Seehofers Freund Viktor Orbán, der Kritik eingesteckt. War das ein Schritt zu
ungarische Ministerpräsident, hat sich aus- weit?
drücklich zur „illiberalen Demokratie“ be- Schulz: Wir müssen den Leuten, die sich
kannt. In Ankara, in Moskau und auch in zur AfD hingezogen fühlen, zuhören. Da
Washington denken viele ähnlich. Diesem SPD-Politiker Schulz gibt es überhaupt kein Vertun. Man kann
Gedankengut muss man sich mit Prinzi- „Die Autokraten hassen unseren Lebensstil“ sie auch zurückgewinnen. Klar gibt es vie-
pientreue entgegenstellen. Die Autokraten le ideologisch aufgeladene Wutbürger.
hassen unseren Lebensstil, sie verachten sche Partei im Bundestag sitzen. Was löst Aber es gibt auch viele Stille im Land, die
unsere aufgeklärte Liberalität, sie belä- das bei Ihnen aus? denken, ich wähle die jetzt mal, um ein
cheln uns für unsere Flüchtlingspolitik. De- Schulz: Kampfeswille. Den Feinden der De- Signal zu setzen. Die dürfen wir niemals
nen musst du sagen: Für euer Denken ist mokratie dürfen wir keinen Platz lassen. aufgeben.
bei uns kein Platz. Ich habe mein ganzes politisches Leben SPIEGEL: Sie haben den Aufstieg nach Er-
SPIEGEL: Ihr Parteifreund, Vizekanzler Sig- lang für ein starkes Europa und gegen die klärung Ihrer Kandidatur erlebt und dann
mar Gabriel, ist da anderer Auffassung. Er Verführer von rechts gekämpft. den Absturz. Wie erklären Sie sich das ei-
will zum Beispiel Putin entgegenkommen SPIEGEL: Sie nennen die AfD eine „Schande gentlich?
und unter bestimmten Bedingungen die für Deutschland“. Sorgen Sie damit nicht Schulz: Ich lese Ihnen mal vor, was ich am
Sanktionen gegen Russland lockern. erst recht für ein Gruppengefühl bei de- 17. Februar geschrieben habe, als die Um-
Schulz: Sigmar Gabriel und ich sind da auf nen? fragen so hoch schossen (schlägt das Tage-
einer Linie. Der Unterschied zwischen der Schulz: Das haben die sowieso. Die Spitze buch auf und zitiert): „Die SPD hat sechs
Türkei und der Russischen Föderation ist, der AfD ist rassistisch. Mit ihr darf es kei- Prozent zugelegt, gleich 30 Prozent im
dass Russland ein vetoberechtigtes Mit- nen Kompromiss geben. Politbarometer. Die SPD ist als die Partei
glied des Sicherheitsrats ist. Realpolitik ist SPIEGEL: Den etablierten Parteien im Bun- der sozialen Gerechtigkeit mit 49 Prozent
schwierig. Dennoch muss man auch Putin destag stellen sich künftig ganz praktische bewertet. Das ist eine Rückkehr der SPD
klar sagen, dass er sich an die getroffenen Fragen: Wie soll der parlamentarische Um- zu sich selbst. Ich liege im Vergleich
Vereinbarungen im Ukrainekonflikt halten gang mit der AfD aussehen? Schulz/Merkel bei 49 zu 38. Das ist ein
muss. Sonst können wir die Sanktionen Schulz: Das ist schwierig. Ich habe im Eu- Trend, aber ich bezweifle, dass er dauer-
nicht aufheben. ropäischen Parlament mit solchen Leuten
SPIEGEL: Der 24. September wird zur Zäsur: meine Erfahrungen gemacht. Marine Le * Klaus Brinkbäumer, Michael Sauga und Veit Medick in
Erstmals wird wohl eine rechtspopulisti- Pen zum Beispiel hat mir mal ganz offen Berlin.
SPIEGEL TV
spricht mit der Autorität des Amtes, die Ih- tenniveau sinkt. Das ist Altersarmut auf
nen fehlt. Die Rollenaufteilung war falsch. Programm. Zu unserer nationalen Bil-
Schulz: Nein. Der Außenminister ist immer dungsinitiative hat die Kanzlerin gesagt, Politiker Lindner im Wahlkampf
dann populär, wenn er nicht in erster Linie der Bund habe bereits genug Geld zur Ver-
als Parteipolitiker wahrgenommen wird. fügung gestellt. Eine weiterer klarer Un- mit FDP-Chef Christian Lindner;
Guido Westerwelle war der unpopulärste terschied. Und was die Lohngerechtigkeit Das Leiden nach der IS-Herrschaft – Ein
Außenminister, weil er das Außenminis- angeht: Es war Frau Merkel höchstpersön- Waisenhaus im irakischen Mossul.
teramt zu FDP-Zwecken missbraucht hat. lich, die das Recht auf Rückkehr von Teil-
Sigmar Gabriel ist deshalb so populär, weil zeit auf Vollzeit blockiert hat. Trotzdem
er ein exzellenter Außenminister ist und plappern alle nach, die Programme seien SPIEGEL GESCHICHTE
zugleich eine klare Haltung hat. Aber ich? fast deckungsgleich. Das ist verrückt. MONTAG, 18. 9., 20.15 – 21.00 UHR | SKY
Vormittags mit Merkel das Land zu regie- SPIEGEL: Die Große Koalition scheint Sie
ren und nachmittags zu sagen, diese Koa- ganz schön in Wallung zu bringen. Warum Baschar al-Assad:
lition muss abgelöst werden – das hätte schließen Sie eigentlich nicht die Rolle des Syriens Tyrann
niemand verstanden. Und das hätte vor al- Juniorpartners unter Merkel aus? Von seinem Vater übernahm Baschar
lem gegen meine Prinzipien verstoßen. Schulz: Weil ich gegenwärtig echt keine al-Assad im Jahr 2000 die Amts-
SPIEGEL: Die Lage scheint so wie immer: Zeit für Koalitionsdebatten habe. Über die geschäfte als Präsident Syriens. Das
Die SPD rackert sich ab, am Ende wird je- Zusammensetzung des Bundestags ent- Porträt analysiert den Mann, der
der Erfolg der Kanzlerin zugerechnet. Ist scheiden die Wählerinnen und Wähler. Medizin studierte und dem vorge-
das der Fluch der Großen Koalition? Wer mit uns koalieren will, der kann sich worfen wird, im blutigen Bürgerkrieg
Schulz: Das wissen wir erst am 24. Septem- unser Programm anschauen und ist dann Giftgas gegen sein eigenes Volk ein-
ber. Viel zu viele Menschen sind doch un- herzlich eingeladen, mit uns zu sprechen. zusetzen. Die Dokumentation fragt,
entschlossen, als dass man jetzt schon sa- SPIEGEL: Die SPD befragte 2013 ihre Mit- warum sich der Assad-Clan so
gen könnte, wie die Wahl ausgeht. Ich sehe glieder über eine Koalition mit der Union. lange an der Macht halten konnte,
das doch auf meinen Veranstaltungen: Sollte für die SPD eine Regierungsbeteili- und gibt Einblicke in die Entstehung
Vorn sitzen die, auf die ich mich immer gung, in welcher Konstellation auch immer, eines Konflikts, der die Weltpolitik
verlassen kann. Hinten sind die Unent- möglich sein: Werden Sie das wiederholen? seit Jahren prägt.
schiedenen, die aber irgendwann einstim- Schulz: Ja. Die Mitgliederbefragung war
men. Ich erreiche die Menschen. eine Sternstunde der innerparteilichen De-
SPIEGEL: Es riecht jetzt nach einer Neuauf- mokratie. Dahinter können und wollen wir
lage der Großen Koalition. nicht zurück. Unsere Mitglieder machen
Schulz: Das ist doch Quatsch. In Deutsch- mit unglaublichem Einsatz Wahlkampf.
land läuft ein systematisierter Etiketten- Aber Mitglied der SPD wird man nicht al-
schwindel. Zwischen CDU und uns liegt lein, um Plakate zu kleben. Mitglied wird
programmatisch der Atlantikgraben. Aber man, um mitzugestalten.
SPIEGEL: Herr Steinbrück hat damals vor
der Wahl angekündigt, er gehe auf keinen
Fall in ein Kabinett unter Merkel. Sie hal-
ten sich das offen. Warum?
Schulz: Weil ich Kanzler werden will. Weil
wir unsere Liberalität, unseren Wohlstand
nicht mit Schlaftabletten-Politik verteidi-
gen können. Ich bin davon überzeugt, dass
ich nach der Wahl eine Regierung bilden
kann. Daran glauben Sie nicht, das sehe
GETTY IMAGES
D
ie ersten Bundesregierungen kamen noch ohne wirksam gebremst wäre, und auch bei der E-Mobilität ist
große Verträge aus. Die Koalitionäre tauschten der Fortschritt eher klein. Immerhin ging es bei der Suche
sich per Brief darüber aus, was sie machen wollten, nach einem Endlager einen kleinen Schritt vorwärts.
und dann wurde gemacht. So war es in den Anfangsjahren Den Bund-Länder-Finanzausgleich neu zu regeln war
dieser Republik, aber so ist es längst nicht mehr. schwierig, aber dringend und wichtig. Der Bundesprä-
Als Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel sident unterzeichnete das Gesetzespaket letztlich trotz
vor knapp vier Jahren handelseinig waren, am 27. No- verfassungsrechtlicher Bedenken. Das war vor wenigen
vember 2013, setzten sie sich im Reichstag vor die Kame- Wochen, im August. Und im Juni, in einer seiner letzten
ras, griffen zum Füllfederhalter und unterzeichneten ein Sitzungen, hatte der Bundestag noch beschlossen, die Ren-
dickes Dokument. Übernächtigt sahen die drei Parteichefs ten in Ost und West bis 2025 anzugleichen, auch das hatte
aus, fünf Wochen lang hatten CDU, CSU und SPD ver- die Regierung versprochen. Das alles geschah, ohne dass
handelt, in der Nacht zuvor bis fünf Uhr morgens. Nun neue Schulden aufgenommen wurden: Seit 2014 steht im
war der Koalitionsvertrag fertig, Bundeshaushalt die „schwarze
185 Seiten, der Titel klang nach Null“.
großen Ambitionen: „Deutsch- Anderes blieb auf der Stre-
lands Zukunft gestalten“. cke, darunter die Lebensleis-
Die SPD befragte noch ihre tungsrente. Gleiches gilt für das
Mitglieder, die stimmten mehr- Recht, von einer Teilzeit- in
heitlich dafür, am 17. Dezember eine Vollzeitstelle zurückzukeh-
2013 wurde dann Angela Mer- ren, wovon zurzeit vor allem
kel zur Bundeskanzlerin ge- Frauen profitieren würden. Die
wählt und ihr Kabinett ernannt. versprochene zügige Umset-
Die Bundesrepublik hatte eine zung einer Finanztransaktion-
neue Regierung, ihre 23., wie steuer scheiterte in der EU. Und
immer eine Koalition. die Asylverfahren dauern, an-
MARKUS SCHREIBER / AP / DPA
„Der Duktus und der Geist ders als angekündigt, nicht un-
dieses Vertrags“ zeigten, be- ter drei Monaten bis zur ersten
hauptete Merkel, „dass wir eine Entscheidung.
Große Koalition sind, um auch Hier zeigt sich allerdings
große Aufgaben für Deutsch- auch: Man darf die Regierung
land zu meistern“. Doch die an ihren Worten messen, aber
Große Koalition war auch ein Koalitionäre bei Vertragsunterzeichnung 2013 die Welt dabei nicht aus dem
großer Kompromiss und der Blick verlieren – und die war
Koalitionsvertrag nicht der gro- bald eine andere als bei Ab-
ße Wurf. Man hätte ihn besser „Deutschlands Vergangen- schluss des Koalitionsvertrags. Dass ab 2015 so viele Flücht-
heit verwalten“ genannt, schrieb der SPIEGEL damals und linge kommen würden, sahen die Strategen der Großen
erkannte ein „Bündnis der Hasenherzen“ (Nr. 49/2013). Koalition in Deutschland natürlich ebenso wenig voraus
Auch viele andere Kommentatoren zeigten sich enttäuscht wie die Annexion der ukrainischen Krim durch Russland
darüber, dass die neue Regierung nicht mehr wollte, nicht im März 2014. So blieben der „offene Dialog“ und eine
größere, konkretere Ziele benannte, das ist zu berück- ausgedehnte „Modernisierungspartnerschaft“ mit Russ-
sichtigen, wenn man heute Bilanz zieht. land unerfüllte Forderungen.
Wie fällt diese aus? Die SPIEGEL-Dokumentation hat Auch an anderen Stellen wurde der Vertrag von der
jetzt, kurz vor Ende der Legislaturperiode, im Einzelnen Wirklichkeit überholt. „Transatlantische Partnerschaft und
überprüft, ob die Regierung ihre Versprechen gehalten Nato stärken“ war sicherlich ein ehrenwertes Ziel, ist aber
hat. Das Ergebnis: Viele Vorhaben aus dem Koalitions- schwerer zu erreichen, seitdem der Präsident Donald
vertrag wurden umgesetzt – die Regierung war keine mu- Trump heißt. Und Recep Tayyip Erdoğan war nicht der
tige, aber eine funktionierende und ziemlich fleißige. Sie einfachste Partner für eine Bundesregierung, die sich vor-
hat wenig versprochen, aber davon viel gehalten. genommen hatte: „Wir möchten die Beziehungen zwischen
Die Mütterrente: kam zum Juli 2014. Der Mindestlohn: der Europäischen Union und der Türkei weiter vertiefen.“
folgte ein halbes Jahr später, zum Jahresanfang 2015. Die Am Ende bleibt das Bild einer kleinen Koalition, die
Frauenquote für Aufsichtsräte: kam zum Mai 2015. Auch sich vor vielen großen Aufgaben gedrückt hat. Deutsch-
die Maut, die Elektromobilität und die Mietpreisbremse lands Zukunft gestalten? Rente, Pflege, Einwanderung,
trieb die Regierung voran, wie sie es angekündigt hatte. Klimawandel, Europa, das sind einige der großen Themen
An diesen Beispielen zeigt sich aber auch: Eine neue Rege- der Zukunft – die Probleme sind absehbar, künftige Re-
lung bedeutet noch lange nicht, dass auch das Ziel erreicht gierungen werden sie lösen müssen.
wurde. Niemand behauptet, dass der Anstieg der Mieten Hauke Janssen, Markus Verbeet
FRANK-WALTER
STEINMEIER
ANGELA
MERKEL
SIGMAR
GABRIEL
63
60
+7
55 54
50
+10
+8 48 47
43
+5
Kantar Public nannte die Namen von Politikern. 37 36
BELIEBTHEIT Anteil der Befragten,
die angaben, dass der genannte Politiker 33
+6
künftig „eine wichtige Rolle“ spielen solle +4
4 11 8 21 14 18 26
28 DER SPIEGEL 38 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Wahlkampf raufhin. „Es ist nicht unser
Teure Plakate Fehler, wenn die Plakate von
der Partei nachlässig aufge-
Der SPD drohen nach einem hängt wurden und der bislang
verlorenen Rechtsstreit Kos- größte Hagelsturm Deutsch-
ten von mehr als einer halben lands noch sein Übriges dazu-
Million Euro. Das Landge- tut“, sagt Firmenchefin Silke
richt Berlin verurteilte die Lahnstein. Das Gericht gab
Partei Ende August, weil sie ihr in wesentlichen Punkten
einer Vertriebsfirma die Wahl- recht. Lahnstein hofft nun,
plakate aus dem Bundestags- dass die SPD den vom Ge-
wahlkampf 2013 nicht bezahlt richt zugesprochenen Betrag
hatte. Die SPD begründete von über 390 000 Euro plus
Rechtsextremisten
NPD will Staatsgeld
Mit einer Klage vor dem
Bundesverfassungsgericht
will die rechtsextreme NPD
erreichen, dass sie weiterhin
finanzielle Unterstützung
vom Staat erhält. Wie ein
Gerichtssprecher bestätigte,
ging in dieser Woche ein ent-
sprechender Antrag der Par-
tei in Karlsruhe ein. Die Kla-
ge richtet sich gegen einen
im Juni gefassten Beschluss
des Bundestags zur Ände-
rung des Grundgesetzes.
Demnach sollen verfassungs-
feindliche Parteien von der
staatlichen Parteienfinanzie-
rung ausgeschlossen werden.
Seit Jahren hat die NPD mit
Der Selfiemademan
Karrieren Christian Lindner ist der begnadetste Verkäufer der
deutschen Politik. Doch was will eigentlich der Chef der
neuen, wahnsinnig hippen FDP? Von Markus Feldenkirchen
C
hristian Lindner will den Menschen willkommen. Lindner greift jeden Gag
auf dem Marktplatz von Kronberg persönlich auf, auch den Witz der Satire-
im Taunus jetzt etwas andrehen. Website Postillon, die meldete: „Parfum-
„Wissen Sie, wo ich Sie grad hier sehe und Verkäuferin genervt, weil sie ständig nach
wir so zusammenkommen“, sagt er char- neuem Duft ‚FDP‘ gefragt wird“.
mant lächelnd auf der Bühne. „Warum ge- Es kann gut sein, dass Lindners FDP
hen Sie nicht den Schritt vom Wähler …“, bald aus der außerparlamentarischen Op-
lange Kunstpause, „… zum Mitglied?“ position in die Bundesregierung zurück-
Im Netz wird er dieser Tage als Thermo- kehrt. Weniger klar ist, was für eine Partei
mix-Verkäufer verulkt. Wie der erfundene zurück an die Macht drängt. Ist die neue
„Thermi-Lindner“ die Vorteile des Thermo- FDP so ultraflockig, hip und modern, wie
mix aufzählt („Und alle Teile können in die die Inszenierung ihres Spitzenmannes glau-
Spülmaschine!“), preist der echte Lindner ben machen soll? Steckt hinter der schö-
nun die Vorteile einer FDP-Mitgliedschaft nen neuen Verpackung tatsächlich eine
an. Als Mitglied könne man auch nach der neue FDP? Und hat die Partei unter Lind-
Wahl den Kurs der Partei bestimmen. ner jenen inneren Kompass gefunden, der
„Und deshalb: warum nicht heute?“, ruft unter Jürgen Möllemann und Guido Wes-
Lindner. „Vertrauen Sie mir bitte. Vertrauen terwelle abhandengekommen war?
Sie mir! Wenn Sie heute den Aufnahmean- Die Werbeagentur, die seine Kampagne
trag für die FDP hier unterschreiben … die- inszeniert, heißt „Heimat“. Sie war es, die
ses Gefühl!“ Er macht eine noch längere im Jahr 2000 Jürgen Möllemanns „Werk-
Pause, atmet theatralisch tief ein, als söge statt 8“ in Nordrhein-Westfalen miterfand
er den Duft einer Blumenwiese auf. „Haben und jene erfolgreiche und vergleichsweise
Sie das schon mal gefühlt, einen innerlich bescheidene Kampagne, die zum Vorläufer
aufsteigenden Vogelschwarm? Dieses Gefühl des maßlosen „Projekts 18“ wurde, einer
von innerer Unabhängigkeit, Sie können es populistischen, bisweilen nach rechts blin-
heute hier haben. Nutzen Sie die Gelegen- kenden Strategie, die zugleich auf Spaß-
heit! Und gönnen Sie sich auch mal was im elemente und umfängliche Personalisie-
Leben! Wenn Sie jetzt zugreifen, pack ich rung setzte. Irgendwann wurde es den
noch zwei Ananas gratis obendrauf.“ Leuten von Heimat zu viel, sie stiegen aus.
Das ist natürlich gelogen. Den Satz mit Ihnen fehlte der innere Kompass der Partei.
der Ananas hat er nicht gesagt. Alle ande- Heute ist die Agentur wieder an Bord. Ihre
ren schon. Macher haben den Eindruck, dass die FDP
Es ist nicht ganz klar, ob die derzeit in mit Lindner die Phase der Hybris und Un-
Umlauf befindlichen Lindner-Karikaturen reife hinter sich gelassen hat.
einfach sehr treffend sind. Oder ob der Am Flughafen Tegel betritt Lindner an Niemals wäre ein männlicher Kollege ge-
FDP-Chef die Karikaturen zielsicher auf- diesem Vormittag als Letzter die Lufthan- fragt worden, ob er die Kollegin scharf oder
greift, um den Kultcharakter seiner Kam- sa-Maschine. Es geht nach Frankfurt, er heiß finde.“ Er habe sich in der Werbe-
pagne zu mehren. reist noch allein, ohne Begleitung. pause bei Strunz beschwert. „Das ist eine
Nach der Rede umringen ihn die Zuhö- Die leichte Verspätung macht er mit ei- Reduzierung von Politik auf Äußerlichkei-
rer vor der Bühne. Eine Frau, Mitte dreißig, nem flotten Marsch durch den Frankfurter ten, die mich sprachlos macht.“
fragt ihre Freundin: „Meinst du, wenn ich Flughafen wieder wett. Währenddessen Als Nächstes beginnt er eine Parodie
jetzt FDP-Mitglied werde, kriege ich ein spricht er über seinen Auftritt bei Claus auf die bisherige journalistische Begleitung
Selfie mit ihm?“ Eine Band spielt „Einer Strunz auf Sat.1 wenige Tage zuvor. Strunz seines Wahlkampfes. Er könne genau sa-
von 80 Millionen“ von Max Giesinger, dem fragte Lindner gleich, ob es bei der Dating- gen, wie die Interviews mit ihm abliefen:
Star der neuen deutschen Ultraleichtpop- App „Tinder“ gut für ihn laufe. Später frag- „Herr Lindner, kommen wir zu den Inhal-
welle. Das Selfie gibt es dann auch ohne te er die ebenfalls anwesende Katja Kipping ten: Welches Amt streben Sie an? Und
FDP-Mitgliedschaft. Lindner bleibt, bis je- von der Linken, ob ihr Lindners Dreitage- jetzt mal zu den Inhalten, Herr Lindner:
der auf dem Platz sein Foto hat. bart gefalle und ob sie ihn „scharf“ finde. Welche Koalition möchten Sie machen?
Nach den Gesetzen der Aufmerksam- „Peinlich“ sei das gewesen, sagt Lindner. Ja, aber zu den Inhalten: Wer hat eigent-
keitsökonomie ist Lindner der beste Wahl- „Eine Bagatellisierung von Politik.“ Nüch- lich die Plakatfotos bei Ihnen geschossen?
kampf dieses Sommers gelungen. Dass er tern betrachtet sei er das erste männliche Einige Passanten schauen ihm, den sich
von Spöttern mit der jüngsten H&M-Kam- Sexismus-Opfer der deutschen Politik. selbst Befragenden, verdutzt nach. „Immer
pagne verwechselt wird, scheint höchst „Nur, bei mir ist es nur noch viel krasser: dasselbe inhaltsleere Zeug!“, sagt Lindner.
32 DER SPIEGEL 38 / 2017
GORDON WELTERS / DER SPIEGEL
Parteivorsitzender Lindner: Er bleibt, bis jeder auf dem Platz sein Foto hat
Es ist nicht ungeschickt, die eigene Ober- weiße Turnschuhen und eine jener Blue- sitzenden gewählt wurde, waren die Libe-
fläche erst so glatt zu wienern, dass sich jeans, für die man extra zahlt, damit sie ralen gerade mit 4,8 Prozent aus dem Bun-
ihrem Glanz kaum jemand entziehen nicht neu aussehen. Dazu eine Pilotenbril- destag geflogen, und niemand weinte ih-
kann, und sich später empört darüber zu le von Ray Ban, die silberne. nen nach. Als Lindner übernahm, war die
beklagen. Genauso geschickt ist es, auf all Er sei heute etwas im Stress, sagt er, FDP der Dinosaurier unter den Parteien,
die Modelplakate so viele Inhalte zu dru- weil er noch „richtig viel Text produzie- akut vom Aussterben bedroht.
cken wie keine andere Partei, auch wenn ren“ müsse, aber er könne sich nicht be- Lindner bestellt Büffelmozzarella mit
die Buchstaben so klein sind, dass Auto- klagen. Dass die FDP in allen Umfragen Bresaola, nichts Üppiges jetzt, er hat heu-
fahrer einen Stau und ein Fernglas brauch- stabil über der Fünfprozenthürde liege, so- te noch keinen Sport gemacht. „Der Ab-
ten, um etwas zu entziffern. Man kann gar eine Chance auf Platz drei habe, das sturz nach 2013 war noch krasser, als ich
dann immer darauf hinweisen, dass man habe er noch vor Kurzem nicht zu träu- es befürchtet hatte“, sagt er. „Noch viel
die inhaltsreichsten Plakate habe. men gewagt. 28 Tage sind es an diesem krasser.“
An einem heiteren Sonntag vier Wo- Sonntag noch bis zur Wahl, beziehungs- Was folgt, ist seine Heldengeschichte.
chen vor der Wahl betritt Lindner seinen weise „27 Tage brutto“, wie Lindner sagt. Vier Jahre lang musste Lindner irgend-
Stammitaliener am Prenzlauer Berg. Die Rund 1400 Bruttowahlkampftage liegen welche Lebenszeichen senden. Er flitzte
45-Quadratmeter-Wohnung, in der er mit bereits hinter ihm. kreuz und quer durch die Republik. Be-
seiner Frau in Berlin lebt, ist nur drei Häu- Im Grunde sei er seit 2013 im Wahl- suchte Ortsvereine, um sie von der Auf-
ser entfernt. Er trägt, Achtung, inhaltsfreie kampfmodus. Habe nur keiner mitbekom- lösung abzuhalten. Bot kleinen Regional-
Beschreibung des Äußeren: weißes T-Shirt, men. Als er im Dezember 2013 zum Vor- zeitungen Interviews an, weil sie die Ein-
DER SPIEGEL 38 / 2017 33
zigen waren, die noch zu einem Interview Digital 2017“, eine Veranstaltung des über irgendeinen Quatsch abstimmen.
bereit waren. Die Sicht der FDP auf die Verbands der Internetwirtschaft in der Wenn man Lindner länger durch seine Pa-
großen politischen Fragen war in etwa so Berliner Dependance von, logisch, Micro- rallelwelt begleitet, stellt sich unweigerlich
interessant wie die von Hans Eichel. soft. Sein Vortrag ist wie immer eine Mi- die Frage, ob die Digitalisierung nicht auch
Nach den 4,8 Prozent bei der Bundes- schung aus Motivationsseminar, Impuls- zu einer gewissen Infantilisierung führt.
tagswahl sackte die FDP in den Umfragen referat und Comedy. Er schlendert frei Obwohl mit 38 Jahren noch immer recht
weiter ab. „Auf Strich“, sagt Lindner. „Auf redend am Bühnenrand lang, gestikuliert jung, ist Lindner schon eine halbe Ewigkeit
Strich! 2014, Politbarometer, ZDF! Da war gelernt, schäkert mit dem Publikum. Politiker. Mit 21 wurde er Landtagsabge-
Strich! Wir wurden gar nicht mehr aufge- „Wann waren Sie zuletzt in Ihrer ehe- ordneter in Nordrhein-Westfalen, 2009
führt. Man hatte uns bei den Violetten ein- maligen Schule?“, fragt er eine Frau in machte ihn Guido Westerwelle zum Ge-
geordnet. Den Sonstigen!“ 2014 sei „ein der ersten Reihe. neralsekretär der Bundespartei. „Die un-
Horrorjahr“ gewesen. „Vor vier Jahren, aha. Und alles anders angenehmste Zeit meines politischen Le-
Er verordnete seiner Partei, ein neues Leit- als zu Ihrer Schulzeit? Nein? Riecht auch bens“, sagt er heute über diese Phase. Er
bild zu entwickeln: „Wir brauchten einen noch wie damals. Die Lehrer …“ Er lässt habe nichts mitbekommen und trotzdem
Relaunch“, sagt Lindner. Relaunch ist ein eine Pause hinter „die Lehrer“, das Publi- immer vorn stehen und die desaströse Poli-
Begriff aus der Marketing- und PR-Welt. Er kum reagiert auf die angeblich riechenden tik seiner Partei in der schwarz-gelben
meint die Überarbeitung und Verbesserung Lehrer wie geplant mit Gelächter. „Ach Regierung verkaufen müssen.
eines bereits eingeführten Pro-
dukts.
„Das Ziel war: erst mal unsere
Identität klären – dann den äuße-
ren Auftritt modernisieren.“ Bil-
dung und Digitalisierung sollten
die neue Priorität werden, nicht
mehr Steuersenkungen. Man
wollte nicht länger Anwalt der
Etablierten sein, sondern von Ein-
steigern und Gründern. Beim
Dreikönigstreffen im Januar 2015
sollte der Relaunch fertig sein.
Während Lindner noch am
Leitbild werkelte, verlor die FDP
die Europawahl und drei Land-
tagswahlen. Der Druck wuchs, es
gab Zerfallserscheinungen, in
Hamburg spalteten sich die „Neu-
en Liberalen“ ab. Im Herbst 2014,
sagt Lindner, habe er nicht ge-
GORDON WELTERS / DER SPIEGEL
dete Firma reden. „Probleme sind nur dor- Aber da ist noch etwas anderes. Das alte unterband den Rechtsruck. Nach heftigem
nige Chancen“, sagt er mit modischer Kuh- Kompassproblem. Streit kam es zum Bruch zwischen ihm
krawatte in die Kamera. Vielen fehle das Vor vier Wochen war Lindner Gast bei und Papke. Der Kompass schien klar.
Selbstbewusstsein, auch älteren Geschäfts- „Anne Will“. Dort wurde er Zeuge, wie Als die Flüchtlingskrise der AfD zum
führern zu sagen: „Das, was Sie gemacht seine Sitznachbarin Alice Weidel den SPD- Aufschwung verhalf, war plötzlich nicht
haben bisher, das sind überkommene Fraktionschef Thomas Oppermann ins mehr so deutlich, wo Lindner stand. Zwar
Strukturen. Sie müssen umdenken.“ Stottern brachte, als sie behauptete, die verteufelte er stets die AfD, bezeichnete
„Denken wir neu“, lautet 20 Jahre später Grenzwerte für Stickoxide seien für die Merkels „Politik der grenzenlosen Aufnah-
der Slogan der FDP. Straße weitaus strenger als für Büroräume. me“ aber zugleich als „unverantwortlich“
Wie „Relaunch“ ist auch sein zweites Kurz darauf verbreitete er diese These der und warf ihr vor, „Europa ins Chaos ge-
Lieblingswort „Narrativ“ ein Begriff aus AfD-Spitzenkandidatin in Interviews und stürzt“ zu haben.
der PR-Welt. In Lindners Narrativ von der auf Facebook. Sie geht zurück auf einen Im August fiel er mit der Aussage auf,
neuen Partei kommt der Versandhandels- Artikel auf Focus.de, einer deutschsprachi- man müsse die russische Annexion der
apotheke eine Schlüsselrolle zu. Er weist gen Version von Breitbart News, der später Krim „als dauerhaftes Provisorium“ be-
gern darauf hin, dass die Apotheker nicht korrigiert werden musste. trachten. Dass er dafür vor allem von AfD-
mehr so gut auf seine Partei zu sprechen Was Lindner in diesem Wahlkampf pro- Anhängern Unterstützung erhalten würde,
seien. Wie die Zahnärzte, die Hoteliers biert, ist eine neue Form von Populismus, dürfte Lindner bewusst gewesen sein.
und die Anwälte gehörten sie all die Jahre die irgendwie aus der Mitte zu kommen Vergangene Woche gab er Joachim
zur Klischeeklientel der FDP. Man sei jetzt scheint, aber auch offen für Abstecher ist. Steinhöfel ein Interview für dessen Face-
an der Seite der Verbraucher, sagt Lindner. In seinen Werbespots präsentiert er sich als bookseite und das Internetportal „Die Ach-
Schreibe leider keiner. „Dabei wär das mal eine Art Märtyrer, der an den Rand seiner se des Guten“. Steinhöfel, früher RTL-Mo-
ein Attention-Getter gewesen.“ Kräfte geht, um gegen große Widerstände derator, ist einer der wortgewaltigsten Kri-
Lindners FDP hat sich bestenfalls in do- zu kämpfen. Man sieht ihn angespannt, sich tiker von Merkels Flüchtlingspolitik in den
sierter Form erneuert. Früher hieß ihr Man- übermüdet die Augen reibend, dazu eine sozialen Netzwerken. Der „Bild“-Zeitung
tra Bürokratieabbau, heute nennt sie es Musik, die immer dramatischer wird, als erklärte Lindner, wie er künftig mit Flücht-
„One in – two out“ – ist aber noch immer spitzte sich alles zu, als brauchte es jetzt lingen umgehen wolle. „Alle Flüchtlinge
Bürokratieabbau. Sie stellt sich offensiver endlich einen, der irgendwas zerschlägt. müssen zurück!“, lautete die Schlagzeile
gegen Konzerne wie den Internetmono- „Haben Sie mal was gemacht, von dem über dem Interview.
polisten Google. Außerdem will die FDP, Sie überzeugt waren, dass es richtig ist?“, Natürlich kann der Eindruck, Lindner
so Lindner, „gucken, dass der einzelne wolle auf den letzten Metern Stimmen am
Mensch nicht unter das Diktat einer künst- rechten Rand einsammeln, das Resultat
lichen Maschine gerät, weil er im Auto
Das alte Kompass- böser Missverständnisse sein. Aber es wä-
sitzt, das allein fährt und man gar nicht problem der FDP ren schon recht viele Missverständnisse
eingreifen kann“. Die neue FDP schmiegt hat Lindners Relaunch auf einmal, gerade für einen, der sich sonst
sich weniger an die Union an und will stär- so viele Gedanken über seine Wirkung
ker auf eigene Themen vertrauen. Lindner nicht gelöst. macht. Wer seine Partei davor bewahren
möchte zudem mehr innerparteiliche De- musste, vergessen zu werden, dem gerät
mokratie wagen. Über Koalitionsverhand- fragte er im Spot für die NRW-Wahl. Er zi- der Schrei nach Aufmerksamkeit früher
lungen soll die Basis abstimmen und nicht tiert Vorwürfe und Anfeindungen, die er oder später zur Selbstverständlichkeit.
wie früher diejenigen, die von einer Re- aushalten müsse, darunter die Frage: „Wa- Sollten Bürger, die mit der AfD lieb-
gierungsbeteiligung profitieren. rum sprecht ihr über Schulen?“ Es wirft äugeln, sich nun für Lindners Bewegung
Vor sieben Jahren, damals noch als Ge- der FDP zwar niemand vor, dass sie genau entscheiden, wäre das nicht das Schlech-
neralsekretär, sorgte Lindner mit dem Be- wie alle anderen Parteien über Schulen teste für die demokratische Kultur im Lan-
griff des „mitfühlenden Liberalismus“ für sprechen will, aber Hauptsache, das Nar- de. Andererseits will ein Law-and-Order-
Aufsehen. Der Liberalismus sei im Kern rativ des heroischen Kampfs gegen Wider- Liberalismus so gar nicht zum selbst ge-
immer auch empathisch, hatte er gesagt. stände wird beibehalten. „Du hast das alles malten Bild einer neuen, hippen Partei
Ihm gefiel das, aber er geriet umgehend vorher gewusst“, sagt Lindner im Spot. passen.
in Weichei-Verdacht, und dann gefiel es „Und trotzdem gemacht.“ Das alte Kompassproblem der FDP hat
ihm bald nicht mehr so gut. Heute spricht Im neuen Film für die Bundestagswahl Lindners Relaunch nicht gelöst. Es bleibt
er lieber von einem „ganzheitlichen Libe- erklärt er nun, dass es gut sei, wenn man das Bild eines hoch talentierten Mannes,
ralismus“, den ein differenzierteres Staats- gezwungen werde, neu zu denken. „Die der für den Erfolg zwar nicht alles, aber
verständnis auszeichne. Man sei nicht neue Idee findet nicht jeder gut, eigentlich vieles zu tun bereit ist.
mehr per se gegen den Staat. sogar katastrophal“, hört man ihn sagen. Am Ende seines Auftritts in Kronberg
Doch egal was Lindner beteuert, egal „Jetzt musst du dich fragen: Ist sie trotz möchte die örtliche FDP-Kandidatin Lind-
wie schick der Relaunch gewesen ist – vie- des Widerstands richtig? Dann musst du ner ein Geschenk überreichen. Sie hält es
les von der alten Partei steckt noch in der dafür kämpfen.“ Im AfD-Spot sagt Alice gut verpackt in den Händen. Für einen
Lindner-FDP. Wenn er etwa über Wirt- Weidel: „Ich hab mich einiges in meinem Thermomix habe es leider nicht gereicht,
schafts- und Energiepolitik spricht, hat Leben getraut. Meinen Job an den Nagel entschuldigt sie sich.
man den Eindruck, es sei noch immer 1982. gehängt. Um Politik zu machen. Für die „Aber vielleicht ist es das neue FDP-Par-
Den Glauben, dass der Markt fast alles AfD. Ausgerechnet für die.“ Die Musik fum“, unterbricht Lindner und macht
besser regle als der Staat, ist der Kern des hämmert dramatisch. gleich wieder Werbung: „Ab dem 25. Sep-
Programms geblieben. In diesem Jahr er- Als die FDP im Herbst 2014 „auf der tember im Handel: FDPoison.“
hielt die FDP bereits mehr als 1,6 Millionen Kippe“ stand, gab es Versuche, sie in eine
Euro an Großspenden, fast so viel wie die rechte Protestbewegung zu verwandeln. Video:
Union, sechsmal so viel wie die SPD. Wei- Lindners einstiger Vertrauter Gerhard Wer wählt die FDP?
te Teile der alten Klientel scheinen noch Papke, der frühere Fraktionschef in NRW, spiegel.de/sp382017lindner
immer an Bord zu sein. schrieb ein islamkritisches Papier. Lindner oder in der App DER SPIEGEL
Die Unerbittliche
AfD Alice Weidel ist lesbisch und zieht zwei Kinder mit einer Partnerin aus Sri Lanka groß. Wie kommt
so eine Frau an die Spitze einer rechtspopulistischen Partei? Von Melanie Amann
A
lice Weidel steht im Foyer des Köl- Die „Welt“ publizierte eine angebliche Als Weidel nach 56 Minuten Glaser end-
ner Maritim-Hotels, Ende April, Mail von Weidel, in der sie Politiker als lich an der Reihe ist, widerspricht sie ihm
der zweite Tag des AfD-Bundes- „Schweine“ und „Marionetten der Sieger- nicht. Was Parteifreunde sagen, dafür ist
parteitags. Tags zuvor wurde Parteichefin mächte“ schmäht – die AfD dementiert. sie nicht zuständig. Als politische Ich-AG
Frauke Petry auf offener Bühne gedemü- Zuletzt meldete die „Zeit“, dass ausge- steht Weidel nur für ihre eigenen Inhalte
tigt, nun müssen die Delegierten entschei- rechnet die scharfe Flüchtlingskritikerin und Zahlen. Und heute Abend will sie
den, wer die Partei an ihrer Stelle in die Weidel eine syrische Asylbewerberin über Wirtschaftsthemen sprechen.
Bundestagswahl führen soll. schwarz bei sich habe putzen lassen. „Wir erleben eine gigantische Vermögens-
Alice Weidel gilt als heißer Tipp. Die Medien wollten „das schöne Gesicht umverteilung.“
Wie schätzt sie selbst ihre Chancen ein? von Alice Weidel zerkratzen“, klagt ihr „Wir sind praktisch pleite.“
Weidel erklärt, das sei alles ein großes Co-Spitzenkandidat Gauland. Weidel „Sie verlieren Ihre Privatautonomie.“
Missverständnis. selbst sagt wenig. Während die AfD in den „Sie sollen, ich muss es leider so sagen,
„Ich muss gar nicht Spitzenkandidatin Umfragen steigt, stützt sie mit aller Kraft ent-eig-net wer-den.“
sein, ich brauche das nicht. Ganz ehrlich, ihre Schutzmauer, stemmt sich gegen die Immer wieder zerhackt Weidel ihre
ich würde mich sogar verschlechtern. Ich Medien, die immer weiter bohren, ohne Wörter, setzt dramatische Kunstpausen.
stehe sowieso vorn auf der Liste, ich habe ihre Zustimmung oder Kontrolle. Ihre Rede ist eine Geisterbahnfahrt, in der
eine Firma, ich habe ein Privatleben.“ Seit Wochen lehnt sie Terminanfragen überall dunkle Mächte nach dem Porte-
Weidel spricht immer lauter. Umstehen- ab, „da ich momentan keine Porträts mehr monnaie des braven Bürgers greifen. Das
de Journalisten und Parteifreunde horchen bediene, sondern nur Wortlautinterviews Publikum lauscht halb fasziniert, halb ein-
auf, schlendern neugierig zu ihr. Die AfD- mit Leitmedien“. Ihr Sprecher reagiert geschüchtert, während die Scheinwerfer
Frau fasst jeden scharf ins Auge, der neu nicht auf Mails, Anrufe oder SMS, Weidels grüne Punkte auf Weidels Brille werfen.
in die Runde tritt: „Verzeihung, sind Sie Anwalt dafür umso schneller. Schon die Freunde in ihrem Heimatort
AfD-Mitglied oder Journalist?“ Man muss sich Weidel über Studien- Harsewinkel in NRW sahen „Lilles“ Ehr-
AfD-Leute schickt Weidel gleich wieder freunde und Ex-Kollegen nähern, viele geiz. Im Abi-Jahrbuch beschreibt einer ih-
fort. „Bitte haben Sie Verständnis, ich spre- wollen sich nur anonym äußern. Sie zeich- ren „dominanten Charakter“, zeichnet sie
che jetzt mit den Medien. Meine Rede vor nen das Bild einer hochintelligenten, aber als „äußerst durchsetzungsfähig anderen
der Partei halte ich ja gleich noch.“ zutiefst unsicheren Frau, die persönliche gegenüber, jedoch auch sehr verletzlich“.
Der AfD wird Weidel später auf der Schwächen durch große Härte gegen sich Weidel kommt aus einer wohlhabenden
Bühne eine ganz andere Geschichte erzäh- und andere kompensiert. Familie, der Vater verdient als Handels-
len. Ihrer Partei sagt sie, dass sie „für unser vertreter so gut, dass die Mutter sich als
Deutschland kämpfen“, das Land „rocken“ BINZ, INSEL RÜGEN, 19. AUGUST Hausfrau um die drei Kinder und den Da-
wolle, „so wahr mir Gott helfe“. Sie tut so, Im Hotel Arkona referiert die AfD-Spit- ckel kümmert. Man kennt die Weidels im
als wäre die Spitzenkandidatur die höchste zenkandidatin zum Thema „Warum Mer- Ort, der ältere Bruder hat lange Haare und
Auszeichnung, die sie je erfahren hätte. kel vor Gericht gehört“. Wer das Hotel spielt in einer Band, das Familienhaus hat
Seither führt Weidel mit Alexander Gau- über die Strandpromenade betritt, durch- einen Partykeller, in dem viel gefeiert wird
land den Wahlkampf der AfD, und immer quert zuerst das Restaurant. Dort sitzen und wo Alice lernt, Bier zu zapfen.
noch ist unklar, was sie eigentlich antreibt. Weidel und Albrecht Glaser vor zwei Wie viele AfD-Funktionäre stammt Wei-
Wieso kandidiert eine lesbische Frau für Tellern mit Sahnegeschnetzeltem. Glaser del aus einer Familie von Vertriebenen.
eine Partei, die schwule Paare mit Kindern war AfD-Kandidat zur Bundespräsidenten- Wie den Höckes oder Storchs gelang es
nicht für vollwertige Familien hält? Wieso wahl. Seine Stärke, sagte er damals, sei auch den Weidels offenbar nie, sich von
verharmlost Weidel den Rassismus der eine „sehr große Abwesenheit von Eitel- der Erinnerung an das erlittene Unrecht
AfD, obwohl ihre Lebenspartnerin aus Sri keit“. zu lösen. Sie konservierten die Erinnerung
Lanka stammt, die gemeinsamen Kinder Glaser redet auf Weidel ein, gestikuliert an die Mühe der Familie, sich nach dem
dunkelhäutig sind? Wieso engagiert sich mit Messer und Gabel, während sie mit Krieg eine neue Existenz aufzubauen.
die stets elegant gekleidete Ökonomin für verschränkten Armen auf ihrem Stuhl sitzt Vater Gerhard Weidel ist anspruchsvoll,
die selbst ernannte „Partei der kleinen Leu- und stumm auf das Tischtuch blickt. Es „Lille“ muss Leistung zeigen. Eigentlich
te“, deren Anhänger sich auf Marktplätzen wirkt, als redete ein Boxtrainer seinem habe sie Medizin studieren wollen, erzählt
vor Wut die Lunge aus dem Leib brüllen? Schützling vor dem Kampf Mut zu. sie vor der AfD in Leipzig, aber irgendwie
Im Machttableau der Rechtspopulisten Im Saal warten 200 Zuhörer, mehr Män- landete sie bei VWL. Sie schafft Spitzen-
ist Weidel die Rolle der gemäßigten Libe- ner als Frauen, mehr Alte als Junge. Vor noten an der Universität Bayreuth, ihre
ralen zugewiesen, sie soll den letzten Rest Weidel redet Glaser. Er zeigt Folien zur Promotion in China wird auch von der
der braven Lucke-AfD verkörpern, die bür- Geburtenrate in Afrika und Deutschland, Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) gefördert,
gerliche Wähler noch mit Zahlen und nicht zur Kriminalität von Ausländern und Deut- obwohl der Vater skeptisch gewesen sei,
mit Stammtischparolen locken wollte. schen. Die Kurven der Deutschen zeigen sagt eine Studienfreundin: Soll Alice sich
Doch von Anfang an hatte Weidels Fassade stets nach unten. Weidel klatscht, als Glaser von einer politischen Stiftung alimentieren
Risse, und es brechen ständig neue auf: sagt, es finde „ein Bevölkerungsaustausch“ lassen? Sie gab das Stipendium vorzeitig
Schweizer Zeitungen machten publik, dass statt. Nach dieser rechten Verschwörungs- auf, erinnert sich die ehemalige Freundin.
Weidel gar nicht in Deutschland lebt, sondern theorie will die Regierung die Bürger durch Vater Gerhard Weidel, auch AfD-Mit-
in einer Kleinstadt in der Nähe von Bern. willfährige Muslime ersetzen. glied und zeitweise Kreisvorsitzender am
36 DER SPIEGEL 38 / 2017
Dilworth kennt Weidel auch als un-
geduldig – und als unerbittliche Diskus-
sionspartnerin, wenn es um die Folgen des
Euro für Deutschland ging.
Weidels letzter Job war 2013 bei der He-
risto AG, einem Fleischkonzern in Bad Ro-
thenfelde, der aus der niedersächsischen
Provinz in alle Welt exportiert. Heristo
braucht international erfahrene Finanz-
experten wie Weidel. Aber Heristo ist auch
ein hierarchisch geführter Familienbetrieb,
der Juniorchef ist ein Schulfreund Weidels.
Damalige Nachbarn sagen, Weidel sei
höchstens ein halbes Jahr in Bad Rothen-
felde geblieben, bis man sich gütlich trenn-
te. Die Chemie stimmte einfach nicht.
Wenn Weidel also im AfD-Werbespot
sagt, sie habe ihren „Job an den Nagel ge-
hängt“ für die Partei, stimmt das nicht: Zu-
letzt war sie selbstständige Beraterin, und
nur ein Kunde, Rocket Internet, ist be-
kannt. Bei Rocket sei man zufrieden mit
Weidel gewesen, sagen Eingeweihte. Aber
sie sei eine Beraterin von vielen gewesen.
G
„Mich befremdet es“, sagt Pedolin, „dass ut ein Jahr nach der Entscheidung der Briten, die EU zu
Alice sich in unserer toleranten Stadt in verlassen, hat Jean-Claude Juncker zu alter Form zurückge-
‚alternativen Kreisen‘ bewegt und dann zu funden. Vorbei sind die Zeiten, in denen der Kommissions-
euch rüberfährt zum Hetzen.“ Neulich traf chef als lust- und kraftloses Sinnbild für die Malaise einer EU herhal-
er Weidel auf der Straße, und sie klagte, ten musste, die durch Brexit, Flüchtlingskrise und die Wahl
die Presse spioniere ihr Bieler Leben aus. Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten in ihrem Kern
„Hey, was hast du denn erwartet?“, habe erschüttert war.
er geantwortet. „So, wie du politisierst, war Nun ist der alte Juncker zurück. Doch leider feiern damit auch viele
doch klar, dass das Medieninteresse an dei- alte Ideen Wiederauferstehung: mehr Brüssel, mehr Geld für die EU,
nem Schweizer Wohnsitz kommen musste.“ mehr Integration, und das am besten in allen Mitgliedstaaten gleich-
In der AfD findet mancher Weidels se- zeitig – so lässt sich die Vision zusammenfassen, die Juncker am Mitt-
xuelle Orientierung abnormal, aber nie- woch vor dem Europaparlament in Straßburg präsentierte. Es soll
mand spricht sie an – die Kandidatin bringt auch sein Vermächtnis als Kommissionschef sein. Juncker hat ange-
ja volle Leistung und lebt diskret. Sie spot- kündigt, 2019 nicht mehr anzutreten.
tet in ihren Reden sogar über Schwule: Der Doch ist Junckers Europa für alle wirklich der richtige Weg? Der
Grüne Volker Beck habe bei der „Ehe für Kommissionschef erinnert an die Ausgangslage der Verträge, wonach
alle“ im Bundestag eine „Glitterparty“ ge- alle EU-Länder (mit zwei Ausnahmen) dem Euro beitreten müssen.
feiert, lästert Weidel. Sie meint das Kon- Möglichst rasch sollen Länder wie Bulgarien oder Rumänien nun in
fetti, das Grüne nach der Abstimmung die Gemeinschaftswährung gezwängt werden, am besten feierlich
über Beck verstreuten. Aus Weidels Stim- beschlossen bei einem Sondergipfel Ende März 2019, pünktlich zum
me trieft die Abscheu, wenn sie das Bild Austritt der Briten. Für Deutschlands Bürger, die angesichts der
beschreibt. „Da war der Volker Beck so Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank ohnehin um ihre
im Glitterregen, so uuuääähh.“ Weidel Sparguthaben und die Altersvorsorge fürchten, ist es eine furcht-
krümmt sich am Pult, wirft die Hände in erregende Botschaft. Und: War nicht schon der Beitritt Griechenlands
die Luft, schüttelt sich theatralisch. zum Euro das Ergebnis einer realitätsfernen politischen Träumerei?
Wer Weidel eine Weile begleitet, fragt Das Gleiche gilt für den Vorschlag, Bulgarien und Rumänien unver-
sich irgendwann, wie viele Widersprüche züglich in den Schengenraum aufzunehmen. Sicherheitspolitikern
ein Mensch erträgt. „Das Recht auf Adop- raubt allein der Gedanke den Schlaf. Auf den Schreibtischen europäi-
tion muss Ehepaaren vorbehalten bleiben“, scher Innenminister stapeln sich Berichte über die Korruption an
schreibt die AfD in Baden-Württemberg, der bulgarischen Grenze zur Türkei, durch die Flüchtlinge in die EU
für die Weidel 2016 zur Landtagswahl an- kommen. Nicht zuletzt deshalb drängen mehrere EU-
trat. Kinder müssten „von Vater und Mut- Staaten, darunter Deutschland, nun darauf, die Kon-
ter umsorgt aufwachsen“. Juncker beschwört trollen an den Schengenbinnengrenzen zu verlängern.
Wahrscheinlich hat es Weidel geschafft, den neuen Wind Es ist richtig, wenn Juncker versucht, mit dem Brü-
sich eine ganz eigene Realität zu konstru- ckenschlag nach Osteuropa die Spaltung der EU zu
ieren – so wie die AfD. in Europas Segeln. überwinden. Die Kommission liegt mit Polen wegen
Warum brüskiert der umstrittenen Justizreform im Clinch, zuletzt steu-
CHEMNITZ, 29. AUGUST
„Das Erste, was ich morgens mache“, sagt
er dann ausgerech- erte der Streit mit Warschau und Budapest auf eine
nie da gewesene Eskalationsstufe zu: Die EU-Mitglie-
Weidel, „ist, in meinem Handy Nachrich- net den Mann, der drohen, sich über Entscheidungen des Europäi-
ten zu lesen.“ Dann suche sie bei Google der für die frische schen Gerichtshofs hinwegzusetzen.
nach den Wörtern „Mann“ und „Messer“. Aber Juncker wählt den falschen Weg. Was Europa
Das tut sie nun auch auf der Bühne und
Brise sorgte? derzeit vor allem braucht, ist ein Gespür für das
liest wahllos Nachrichten vor. Mögliche. Es gibt keinen europäischen Konsens, der
„19-Jähriger verletzt Mann mit Messer.“ breit genug wäre, dass alle sich dahinter einreihen. Der Kontinent
„Einparken dauert zu lange, Mann zieht ist hin- und hergerissen zwischen einer neu erblühten Euphorie für
Messer.“ die europäische Idee und einer großen Integrationsskepsis. Eine
„Blutiger Streit in Asylunterkunft: Mann kluge europäische Politik muss zwischen diesen beiden Polen vermit-
geht mit Messer auf Helfer los.“ teln. Zuletzt plädierte Emmanuel Macron für ein Europa der mehre-
Mann, Messer, Messer, Mann, Messer. ren Geschwindigkeiten. Es überrascht, dass Juncker nun ausgerech-
„So geht das die ganze Zeit nach zwölf net dem neuen französischen Präsidenten in den Rücken fällt. Denn
Jahren Merkel“, ruft Weidel. Der Saal tobt. es war ja Macron, der mit seinem Sieg über den europafeindlichen
Es gibt keine Belege in der Kriminalsta- Front National für den „Wind“ gesorgt hat, den „Europa wieder in
tistik, dass die Zahl der Messerangriffe ge- den Segeln“ hat und über den sich Juncker in Straßburg so freute.
stiegen ist. Aber davon sagt Weidel nichts. Juncker hat viele Verdienste, aber es stellt sich die Frage, ob er
noch der richtige Mann ist, Europa den Weg in die Zukunft zu
weisen. Ihre stärksten Momente hatte Junckers Rede, als der Kom-
Video: Weidels Karriere missionschef persönlich wurde. „Nie habe ich meine Liebe zu
im Zeitraffer Europa verloren“, sagte er, aber „es gibt keine Liebe ohne Enttäu-
spiegel.de/sp382017weidel schungen.“ So ähnlich geht es den Europäern mit Juncker auch.
oder in der App DER SPIEGEL
WUNSCHZEIT/
WUNSCHTAG Pakete
am liebsten zu Hause
empfangen
PACKSTATION Für
Berufstätige eine
echte Alternative
WUNSCHORT
Zustellung in den
Geräteschuppen
oder die Garage
Fotos: DHL
Gebracht wie gewünscht
Pakete empfangen – wann Online-Shopper eine bequeme Lieferung ket, wann man es selbst wünscht. Oder man
direkt nach Hause, gefolgt von der Packsta- lässt es an eine der 3.000 bundesweiten
und wo man möchte. DHL tion. Besonders für Berufstätige ist Letztere Packstationen liefern. Auch die Lieblingsfi-
Wunschpaket macht den aufgrund ihrer permanenten Verfügbarkeit liale oder der nette Wunschnachbar sind eine
individuellen Paketempfang eine echte, attraktive Option. Option. Sendungen können auch an einem
Wunschort auf dem eignen Grundstück, wie
möglich. Bestellungen Der Kunde bestimmt selbst beispielsweise die Garage, hinterlegt werden.
werden so geliefert, wie es Mit DHL Wunschpaket gibt es den passenden Oft können Käufer schon direkt bei der Be-
Kunden wollen. Service für den individuellen Paketempfang stellung im Onlineshop ihre liebste Variante
– zeitlich unabhängig und örtlich flexibel. auswählen. Falls nicht, bieten nach der Be-
Mit Wunschtag in Kombination mit der stellung die Paketankündigung per E-Mail
V
iele Online-Shopper kennen das: ein- Wunschzeit erhält man genau dann sein Pa- oder die DHL App die Möglichkeit, noch Ort
fach bestellen und am Ende auf die und Zeit der Lieferung zu ändern. Registrier-
Pakete warten. Das ändert sich jetzt te DHL Kunden können zudem feste Zustell-
mit den Wunschpaket-Services von DHL. DHL präferenzen für Wunschort, Wunschnachbar
Bereits mehr als die Hälfte der Bundesbürger WUNSCHPAKET und Wunschtag bequem online hinterlegen.
kauft häufiger online als stationär ein. Ein www.dhl.de/wunschpaket
wesentlicher Faktor für nachhaltigen Erfolg VORTEILE
im E-Commerce ist die Kundenzufriedenheit ✔ Flexibel. Lieferung nach Hause zur Wunschzeit Kunden alle Optionen bieten
rund um den Paketempfang. Laut einer ak- am Wunschtag oder in die Packstation oder Damit solche Versandoptionen im Bestellpro-
tuellen Studie wünschen sich 78 Prozent der eine Filiale zess einfach wählbar sind, bietet DHL Betrei-
Befragten mehr Planungssicherheit und Fle- ✔ Vorlieben. Registrierte Nutzer können Wunsch- bern von Webshops kostenlose Software-
xibilität bei der Lieferung. Der Alltag soll frei tag, Wunschnachbar oder Wunschort dauerhaft Plugins und Schnittstellen für Eigenprogram-
planbar bleiben ohne zu Hause auf eine Lie- festlegen mierer an. So passt sich der Paketempfang
ferung warten zu müssen. Kunden möchten ✔ Last Minute. Wenn mal etwas dazwischen- dem Lebensrhythmus der Kunden an – für
selbst bestimmen, wie sie Pakete empfangen kommt: Kurzfristig den Liefertag oder -ort ändern ein rundum positives Einkaufserlebnis.
wollen. Dabei bevorzugt die Mehrheit der www.dhl.de/checkout
REVIERFOTO / IMAGO
Unionsplakat, Website der Regierungsstudie: „Diese Lektüre kann ich empfehlen“
A
ls die Bundesregierung vor einem reiches Anschauungsmaterial darüber, wie
Jahr ihren Bericht „Gut leben in die bürgerliche Mitte tickt. Das nutzte auch
Deutschland“ vorstellte, schwärm- der SPD, deren Wahlprogramm inhaltlich
te Regierungssprecher Steffen Seibert von ebenfalls Bezüge zum Regierungsbericht
den Erkenntnissen der Wissenschaftler. aufweist – die Sozialdemokraten verzich-
Monatelang hatten sie die Bürger gefragt, teten anders als die CDU allerdings ge-
wie die in Zukunft leben wollen. „Diese schickt darauf, einzelne Formulierungen
Lektüre kann ich Ihnen nur empfehlen“, wörtlich zu übernehmen.
sagte Seibert. „Auf der Grundlage dieses Die Opposition fühlt sich benachteiligt.
Berichtes ist es zukünftig möglich, politi- „Man kann schon drüber nachdenken, ob
schen Handlungsbedarf zu identifizieren.“ das Zweckentfremdung von Steuermitteln
Die CDU hat die Empfehlung offenkun- ist“, sagt Hendrik Thalheim, Sprecher der
dig wörtlich genommen. Ihre Wahlkampa- Linken. Seine Partei konnte zwar den ge-
gne wirkt streckenweise wie eine Kopie glätteten Abschlussbericht nutzen, hatte
des steuerfinanzierten Regierungsberichts, aber keinen Einblick in den Entstehungs-
vom Slogan („Für ein Deutschland, in dem prozess und die Zwischenergebnisse. Der
wir gut und gerne leben“) bis zum Layout Bürgerdialog habe den Regierenden einen
mit den auffälligen Zacken und Streifen. „Vorteil im Wahlkampf verschafft“, sagt
Auch die Inhalte der Unionskampagne deshalb Thalheim.
können Leser der 240 Seiten starken Re- Aus Sicht von Parteienrechtlern könnte
gierungsstudie nicht überraschen. In Bür- es sich bei der Studie tatsächlich um einen
gerdialogen hatten die Forscher zum Bei- geldwerten Vorteil für die Regierungspar-
spiel erkannt, dass sich die Deutschen teien handeln. Allerdings sei dieser schwer
„gute Arbeit zu fairen Löhnen“ wünschen. zu beweisen, sagt die Juraprofessorin So-
Prompt heißt es bei der CDU: „Für gute phie Schönberger von der Universität Kon-
Arbeit und gute Löhne“. stanz, „auch wenn die Sache ein starkes
• AUSGEZEICHNETE PASSFORM Andere Bürger wünschten sich im Ge- Geschmäckle hat“.
• SUPERBEQUEM-FUSSBETT spräch „eine starke Wirtschaft, gesicherte „Gut leben in Deutschland“ und „Für
Finanzen und Arbeitsplätze sowie eine ge- ein Deutschland, in dem wir gut und gerne
• OPTIMALE AUFTRITTSDÄMPFUNG
sicherte Rente“. Die CDU plakatiert im leben“ – die CDU will auf Nachfrage „kei-
• GEEIGNET FÜR INDIVIDUELLE EINLAGEN Wahlkampf: „Für eine starke Wirtschaft nen Zusammenhang“ zwischen dem Re-
und sichere Arbeit“. Auch in der Innen- gierungsbericht und ihren Wahlkampfma-
und der Familienpolitik finden sich viele terialien erkennen.
Parallelen zwischen dem Regierungsbe- Doch personell gibt es Verbindungen
richt und der Unionskampagne. zwischen Regierungs- und Parteiarbeit. Im
Haben Angela Merkels Parteistrategen Kanzleramt kümmerte sich damals die
KATALOG UND den aufwendigen Bericht also einfach ab- Merkel-Vertraute Eva Christiansen feder-
BEZUGSQUELLEN: gekupfert? Waren die Bürgerdialoge ein führend um den Bürgerdialog. Heute, im
www.finncomfort.de Testlauf für den Wahlkampf? Wahlkampf, hilft Christiansen als Minijob-
Im Laufe der Wahlperiode diskutierten berin bei der CDU aus.
rund 8600 Teilnehmer auf über 200 Bür- Sven Becker, Maria-Mercedes Hering
Jeder Moment
ist der richtige.
Plus 2.000 €1 Zukunfts-
Genau jetzt und noch bis 31.12.2017: Erhalte für
Prämie beim Kauf eines
deinen alten Diesel-PKW (bis Abgasnorm Euro 4)
SEAT Leon TGI (Erdgas) beim Kauf eines SEAT Leon die SEAT Umwelt-Prämie
zusätzlich. in Höhe von 5.000 €1.
Besuche uns auf der IAA in Halle 3.0, Stand A10.
SEAT Leon Kraftstoffverbrauch: kombiniert 6,9–4,0 l/100 km; CNG (Erdgas): kombiniert 3,6 kg/100 km (5,4 m³/100 km);
CO2-Emissionen: kombiniert 158–96 g/km. Effizienzklassen: D–A+.
1
Die SEAT Deutschland GmbH, Max-Planck-Straße 3–5, 64331 Weiterstadt, gewährt bei Kauf oder Finanzierung/Leasing eines neuen SEAT Leon im Zeitraum vom 01.08. bis zum 31.12.2017 eine
Umwelt-Prämie in Höhe von 5.000 €, wenn der Kunde gleichzeitig oder bis spätestens vier Wochen nach Zulassung seines neuen SEAT Leon durch Vorlage eines entsprechenden Verwertungsnachweises
die Verschrottung eines PKW mit Dieselmotor eines beliebigen Herstellers belegt, für den die Abgasnorm Euro 1, Euro 2, Euro 3 oder Euro 4 gilt. Bei Kauf oder Finanzierung/Leasing eines neuen SEAT Leon
mit Erdgasmotor (CNG) und gleichzeitiger Inanspruchnahme der Umwelt-Prämie gewährt die SEAT Deutschland GmbH zusätzlich eine Zukunfts-Prämie in Höhe von 2.000 €, die ebenfalls als Nachlass auf
den Fahrzeugpreis angerechnet wird. Die Inanspruchnahme der Umwelt-Prämie ist dabei an bestimmte weitere Voraussetzungen geknüpft, über die Sie sich bei Ihrem SEAT Partner oder im
Internet unter www.seat.de informieren können. Abbildung zeigt Sonderausstattung.
Deutschland
E
s sollte ein bisschen wie beim Fuß- dem Sie vertrauen können. Seilschaft hat der Dompteur, der versuchen muss, die
ball sein, wo ein Experte alle Manö- einen negativen Klang, sie ist aber eine Kandidaten im Zaum zu halten?
ver, alle Pässe, alle Tore eines Spiels wichtige Voraussetzung, dass man über- Geißler: Wenn der Wahlkampf erst mal an-
kommentiert. In drei Terminen wollte Hei- haupt etwas erreicht, dass man eine Wand gefangen hat, sitzen die Kandidaten auf
ner Geißler über diesen Bundestagswahl- oder einen Grat bezwingen kann. So ist der Schiene, da können Sie nicht mehr
kampf sprechen, über die Strategien der es in der Politik auch. viel korrigieren. Ich bin bei den meisten
Parteien, darüber, ob sie aufgehen, aber Wahlkampfauftritten Kohls nicht dabei
auch über seine eigenen Erfahrungen als Die Aufkündigung einer Seilschaft, so gewesen.
Generalsekretär der CDU. Heiner Geißler, Geißler später, habe zum Beispiel der SPIEGEL: Warum?
der fast 50 Jahre seines Lebens Politik ge- CDU-Kandidatin Julia Klöckner bei der Geißler: Weil es unnötig war. Ich konnte ja
macht hat, war der bekannteste und er- Landtagswahl in Rheinland-Pfalz gescha- nichts mehr tun. Wenn er da auf dem
folgreichste Wahlkämpfer der Bundesre- det. Sie habe sich von Angela Merkels Kurs Podium steht und Quatsch erzählt, dann
publik. Aus seinen Beobachtungen sollte in der Flüchtlingsfrage distanziert, habe steh ich da und vergieße innerlich Tränen,
für das SPIEGEL-Heft zur Wahl in der Wahlveranstaltungen mit deren Rivalen aber sonst kann ich nichts machen.
nächsten Woche ein langes Gespräch ent- Horst Seehofer gemacht. Die Leute, so SPIEGEL: Haben Sie ihm mal gesagt, dass
stehen. Beim letzten Termin wollten wir Geißler, mögen so etwas nicht. etwas falsch war?
das TV-Duell diskutieren, die Rolle der Geißler: Das kam im Wahlkampf bei Kohl
kleinen Parteien, den Aufstieg der AfD. SPIEGEL: Was fühlt sich besser an? Nach ei- nicht so oft vor. Er hat sich an die inhalt-
nem schwierigen Aufstieg den Gipfel zu lichen Vorgaben gehalten, er ist nicht aus-
erreichen oder am Wahlabend zu merken: geflippt. Nur einmal, vor der Bundestags-
11. Juli, München Es ist vorbei, und wir haben es geschafft? wahl 1987, hat er Gorbatschow mit Goeb-
SPIEGEL: Nehmen wir an, ich würde Sie Geißler: Die Dimensionen sind etwas un- bels verglichen. Das ist ihm rausgerutscht.
morgen zum Generalsekretär der SPD ma- terschiedlich. Wenn Sie auf dem Gipfel Das war ein emotionaler Fehler, Kohl hat
chen. Wie käme die Partei aus ihrem Tief ankommen, haben Sie ein momentanes, sich tragen lassen von einer antisowjeti-
wieder heraus? unglaubliches Glücksgefühl. Es ist das wun- schen Stimmung. Es hat keine zu große
Geißler: Da kommt man mit eigenen Kräf- derbare Gefühl, so etwas geschafft zu ha- Auswirkung gehabt, weil einige das sehr
ten nicht mehr heraus. Sie müssen darauf ben. Wenn man eine Wahl gewinnt, ist das gut fanden: eine Beleidigung Gorbatschows
warten, dass der andere Fehler macht. Glücksgefühl ebenfalls groß. Aber es ist durch den Bundeskanzler.
ein bisschen anders. Oft ist es auch schön, SPIEGEL: Waren die Wahlkämpfe damals
Heiner Geißler ist genau so pünktlich, wie erleben zu können, dass die anderen nicht lauter?
es höfliche Menschen sind. Er kommt eine gewonnen haben. Geißler: Die Situation war eine andere, es
Minute vor dem vereinbarten Zeitpunkt ging um Sein oder Nichtsein, um das Über-
im SPIEGEL-Büro in München an. Geißler Zehn Tage vor diesem Gespräch hatte leben der rechtsstaatlichen Demokratie in
hatte Termine in der Gegend, er reise über- Geißler an der Trauerfeier für Helmut Deutschland. Mitte der Achtzigerjahre, auf
haupt viel, sagt er. Er wolle noch am glei- Kohl in Speyer teilgenommen, an der Seite dem Evangelischen Kirchentag, ist Antje
chen Tag zurückfahren, nach Hause, vier Norbert Blüms. Es war keine Selbstver- Vollmer einmal ausgerastet. Sie schrie
Autostunden Fahrt. Es liegt nichts von ei- ständlichkeit, dass Geißler zu dem Ab- mich an: „Ich hasse, hasse, hasse Sie.“ Das
ner Beschwerde in seiner Stimme. schied anreiste. war so, es ging nicht anders. Ich habe ein-
Gerade ging der G-20-Gipfel in Ham- Geißler hat zusammen mit Kohl die mal auf die Behauptung Joschka Fischers,
burg zu Ende. Geißler sagt, dass er im Hin- Fenster der CDU geöffnet und sie vom dass die CDU ein atomares Auschwitz vor-
und Herschieben von Schuld zwischen den Muff der Adenauer-Jahre befreit. Sie ha- bereite, gesagt, ohne den Pazifismus der
Parteien endlich die ersten Ausläufer des ben einander in dieser neuen CDU groß Dreißigerjahre wäre Auschwitz gar nicht
Wahlkampfs erkenne. Geißler hat für die gemacht. Es kam zum Bruch, als Kohl möglich gewesen. Da gab es schon eine
CDU in den Achtzigerjahren legendäre Geißler entmachtete und Geißler dann zu- gewisse Aufregung. Aber in den Achtziger-
Wahlkämpfe geführt. sammen mit Rita Süssmuth und Lothar jahren gab es eben ideologische Ausein-
Späth auf dem Bremer Parteitag 1989 mit andersetzungen mit weitreichenden Folgen.
SPIEGEL: Sie sind jahrzehntelang leiden- einem Putsch gegen Kohl scheiterte. Es geht heute nicht um Leben und Tod,
schaftlicher Kletterer gewesen. Haben Es gibt ein Bild von diesem Parteitag, Krieg und Frieden.
Wahlkampf und Klettern etwas gemein- Kohl lacht ausgelassen, Geißler wendet
sam? sich ab und starrt den Boden an. Es war Mit dem Ausdruck „eine gewisse Aufre-
Geißler: Man braucht beim Klettern einen der Wendepunkt in seinem Leben. Geißler, gung“ untertreibt Geißler. Die Zeit als
Kompass. So ist es bei Wahlen auch. Die der einst zweitwichtigste Mann der CDU, Wahlkämpfer war die grellste Zeit in sei-
Leute spüren, ob politische Entscheidun- verlor seinen Einfluss. nem Leben. Kaum jemand hat so laut und
gen ein ethisches Fundament haben. Das verletzend für den Sieg seiner Partei ge-
ist beim Klettern auch wichtig. Und Sie SPIEGEL: Wenn man als Generalsekretär für kämpft wie er. Geißler nannte die SPD die
brauchen einen guten Kletterkameraden, eine Wahl verantwortlich ist, ist man dann „fünfte Kolonne Moskaus“, er beschimpfte
42 DER SPIEGEL 38 / 2017
KONRAD R. MÜLLER / DER SPIEGEL
Politiker Geißler in Gleisweiler am 24. August: „Zu lügen in der Politik ist dumm“
Berlin,
Rednerpult trat. „Fairness ist eine Katego- pagne machen. So wie bei der Steuerlüge
rie, die nicht in die Politik passt“, sagte von Kohl.
Geißler einmal. Er war bekannt für solche
Sätze, die einem ein bisschen die Luft neh- Im November 1990 hatte Helmut Kohl ver-
nach Berlin?
klettern. In einer Wand sind Sie dem Stein- der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz, pla-
schlag ausgesetzt. Was von oben runter- katiert: „Wer so lügt, den wählt man nicht“.
kommt, fällt runter, und wenn Sie da sind, Auch deshalb hat Rudolf Scharping die
dann kriegen Sie den Stein ab. Wahl gewonnen.
SPIEGEL: Darf man im Wahlkampf nicht
lügen?
9. August, Gleisweiler Geißler: Zu lügen in der Politik ist dumm.
Heiner Geißler lebt in einem 600-Einwoh- Das darf man einfach nicht.
ner-Ort an der Weinstraße. Wenn man dort
ankommt, hat man das Gefühl, man habe Wenn Geißler die Augenbrauen hebt,
die Klimazone gewechselt. Der Ort liegt kann er einen so durchdringend ansehen,
zwischen Hügeln, geschützt wie in einer dass man sich ohne Grund als Lügner fühlt.
Hand. Es ist ihm schwergefallen, Abschied von
Franz Josef Strauß hat mal über Geißler der Politik zu nehmen. Bis zum Jahr 2002
gesagt, sein Gesicht sehe aus wie ein un- saß Heiner Geißler im Bundestag. Er kriti-
gemachtes Bett. Das mag damals gestimmt sierte Merkel, er warnte die CDU vor
haben, heute ähnelt er einem freundlichen „Thatcherismus“. Er, der Modernisierer,
Dinosaurier. An diesem Tag steht so viel war plötzlich ein Mann aus einer längst
Kuchen auf dem Tisch, als würde er acht vergangenen Zeit. Mit 72 Jahren zog er
Besucher erwarten. sich aus der aktiven Politik zurück.
Fünf Tage zuvor hat die grüne Abgeord- Viele Menschen werden im Alter kon-
nete Elke Twesten die Regierungskoalition servativer, Geißler wurde linker. Er verur-
in Niedersachsen mit ihrem Übertritt zur teile die Agenda 2010, die internationalen
CDU platzen lassen. Kurz danach kam he- Finanzsysteme, er forderte eine Steuer auf
raus, dass SPD-Ministerpräsident Stephan Finanztransaktionen. Er trat der globalisie-
Weil eine Rede mit dem Volkswagen- rungskritischen Organisation Attac bei.
Konzern abgestimmt hat. Die CDU griff Man kann es auch als das Ende einer
ihn scharf an. Es dauerte ein wenig, bis konsequenten Entwicklung betrachten.
Tagesspiegel„Neu in Berlin 2017/2018“: sich herausstellte, dass auch die CDU „For- Geißler, der ehemalige Jesuitenschüler,
Unverzichtbar für den perfekten Start in der mulierungshilfen“ von VW annahm. war einer der prominentesten Sozialpoli-
Hauptstadtregion. Die Umfragen zur Bundestagswahl be- tiker, die die CDU je hatte. Er hat die ers-
wegt das nicht. Heiner Geißler findet, dass ten Sozialstationen Deutschlands geschaf-
Berlin kompakt: Stadtteile, Kieze
die Parteien sich nicht scharf und schnell fen. In seiner Zeit als Familienminister
und Wohnlagen im Überblick
genug angreifen, und wundert sich, wie führte er das Erziehungsgeld ein und sorg-
Die besten Adressen 500 Empfehlungen brav Wahlkämpfer geworden sind. te für die Anerkennung von Erziehungs-
für alle Lebensbereiche Er ist gern Stratege, man kann mit ihm jahren in der Rentenversicherung. Wäh-
über die Fehler der SPD genauso gut wie rend der Flüchtlingskrise sagte er, Merkel
Wo das Umland boomt: Berlin wächst
über die seiner Partei reden. habe den Friedensnobelpreis verdient.
über sich hinaus
Potsdam-Booklet mit zwei Spaziergängen SPIEGEL: Wenn Sie die SPD beraten hätten, Geißler: Ich hatte der CDU schon vor drei
hätten Sie gesagt: So, jetzt werfen wir der Jahren vorgeschlagen, sie solle mit einem
Im Handel erhältlich oder einfach
CDU sofort vor, dass sie sich auch mit Slogan wie „Solidarität statt Kapitalismus“
versandkostenfrei bestellen.
Volkswagen abgestimmt hat? in den Wahlkampf gehen. Das wäre natür-
8,50 €
Geißler: Ja natürlich, sofort! Als sie es lich ein gewaltiger Schritt gewesen. So ge-
schließlich tat, hat es auch Eindruck ge- waltig, dass es sogar Sahra Wagenknecht
macht, das ist ja überall gelaufen. Es kam nicht gewagt hätte, diesen Slogan in An-
nur sehr spät, zu spät. spruch zu nehmen.
SPIEGEL: Wie wichtig ist in einem Wahl-
www.tagesspiegel.de/neu-in-berlin kampf das Timing? Jemand, der ihn gut kennt, sagt, Heiner
Geißler: Das muss man haben. Die SPD hät- Geißler habe immer gewusst, was Men-
Bestellhotline (030) 290 21 - 520 te da wirklich etwas rumreißen können. schen in ihrem Innersten bewegt. Es sei
Schulz hätte sagen müssen, dass die CDU sein vielleicht größtes Talent gewesen. Vie-
eine unehrliche Partei ist, eine unglaub- le Male wurde Heiner Geißler in seinen
würdige Partei, dass sie zu schmutzigen letzten Jahren als Schlichter berufen. Mit
Mitteln greift. Das darf man dann eben 80 Jahren wurde er Vermittler im Konflikt
44 DER SPIEGEL 38 / 2017
um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. Al-
lein in den letzten 20 Jahren seines Lebens
schrieb er 13 Bücher, über Luther, den
Glauben, das Bergsteigen. Man las immer
QUALITY WORKS.
wieder Interviews mit ihm, sah ihn in Talk-
shows. Ein bisschen wirkte er wie jemand,
der beim Suchen keine Antworten findet,
sondern nur noch mehr Fragen.
E
ine Großstadtsiedlung aus den Fünf- Jahr wachse die Stadt um 10 000 bis 15 000 Asphaltstreifen 100 kleine Wohnungen für
zigerjahren, dreigeschossige Wohn- Menschen. Die Preise auf dem Wohnungs- Bewohner mit geringem Einkommen ent-
blöcke in Reih und Glied, dazwi- markt explodierten. Wenn man wolle, dass standen. Nur sechs Parkplätze für Freibad-
schen gepflegte Grünflächen. Schilder auch junge Familien und Durchschnittsver- besucher fielen den Stahlbetonstützen zum
warnen: „Fußball- und Ballspielen ist nicht diener weiterhin in der Stadt leben kön- Opfer. Kaum standen die Fundamente, wur-
gestattet.“ Und mittendrin ein Stadtrat, nen, müsse gebaut werden. Josef hält den de das vierstöckige Gebäude im Modulbau-
der den Bewohnern an einem Montag- Kritikern entgegen: „Eine Stadt muss sich weise errichtet. Die Bäder baumelten als fer-
abend erklären will, dass ihre Umgebung entscheiden, ob sie die Kornkammer des tige Nasszellen am Kran ins Haus, wie Spiel-
künftig ganz anders aussehen werde. Landes sein will oder eine Metropole.“ zeugsteine folgten Wandmodul um Wand-
Mike Josef, Planungsdezernent in Frank- Fast alle Metropolen und urbanen Zen- modul. 9,40 Euro kalt zahlen die Mieter pro
furt am Main, hat zu einem „Stadtspazier- tren der Republik kennen diese Konflikte. Quadratmeter – das ist günstig für München.
gang“ durch die Platen-Siedlung im Nord- In Hamburg, München, Köln, Stuttgart und Es wird viele solcher Ideen geben müs-
westen der Stadt eingeladen. Ab 2018, sagt Leipzig wächst die Einwohnerzahl von sen, sagen Experten wie der Frankfurter
er, werde in dem Quartier wieder gebaut. Jahr zu Jahr um die Größe einer Klein- Architekt und Stadtplaner Albert Speer.
Josef, 34, hat Pläne mitgebracht. Sie zei- stadt, in Berlin drängen seit 2011 sogar zwi- Denn der Boom geht vermutlich weiter. Bis
gen kantige neue Häuser, die sich als „Tor- schen 40 000 und 50 000 Menschen pro Jahr 2035 werde die Einwohnerzahl von Frank-
bauten“ wie mächtige Brücken quer über zusätzlich in die Stadt. furt am Main noch einmal um gut 11 Pro-
eine Siedlungsstraße spannen sollen. Er In den letzten Jahrzehnten des vergan- zent wachsen, die von Berlin oder München
berichtet von Tiefgaragen unter den Grün- genen Jahrtausends gab es noch die Sorge, sogar um mehr als 14 Prozent, schätzt das
flächen und von zusätzlichen Geschossen, dass Menschen massenweise aufs Land Institut für Wirtschaft in Köln. In der Haupt-
die man auf die bestehenden Wohnblöcke ziehen würden. Dazu kam es nicht. stadt würden dann mehr als vier Millionen
setzen wolle, um Platz für mehr Einwoh- Stattdessen sprechen Forscher nun seit ei- Menschen wohnen. Hamburg rechnet mit
ner zu schaffen. „Nachverdichtung“ nennt nigen Jahren von einer „Renaissance der 100 000 zusätzlichen Einwohnern bis 2030,
Josef das. „Käfighaltung“, grummelt einer Städte“. Köln mit 200 000 bis zum Jahr 2040.
der Anwohner. Die Stadtplaner stehen vor der Aufgabe,
Rund 30 Mieter aus dem Viertel stehen
in einem Halbkreis um den Stadtrat herum,
Urbanität heißt für ihn für all diese Menschen ein Dach über dem
Kopf zu finden. Und das allein reicht noch
einige haben die Arme vor der Brust ver- Lebensqualität. nicht. Die neuen Bewohner brauchen auch
schränkt, Begeisterung strahlt keiner aus. Nicht mal an den Stadt- Schulen, Kitas, Straßen- und U-Bahnen,
„Wo sollen denn die Bewohner von 650 Kulturangebote, Einkaufsmöglichkeiten,
neuen Wohnungen ihre Autos abstellen?“, rand würde er ziehen. Arbeits-, Sport- und Freizeitflächen. Das
fragt einer. „Wie wirken sich die Neubau- verschärft den Kampf um kostbaren Platz.
ten auf das Mikroklima aus?“, will seine „Vor allem junge Menschen finden das Wie lange verkraften die Städte dieses
Nachbarin wissen. „Es gibt doch schon Leben in der Stadt attraktiv“, sagt Claus- Wachstum noch? Ist es verantwortbar, dass
jetzt viel zu viel Verkehr und zu wenige Christian Wiegandt, Geograf und Städte- die Städte weiter ins Umland wuchern?
Schulen hier“, schimpft ein weiterer Be- forscher der Universität Bonn. Es biete Ab wann beginnt die Enge in den Zentren
wohner. Und ein Kommunalpolitiker von Arbeitsplätze, Unterhaltung, Aufstiegs- zu nerven, stören der Verkehr, die Staus,
der Opposition nutzt die Gelegenheit zur chancen, Treffpunkte mit Gleichaltrigen die überlastete Infrastruktur? Bietet die
Grundsatzkritik: „Die Leute haben Angst, und Gleichgesinnten, kurze Wege zwi- zunehmende Enge die Chance für mehr
dass jedes bisschen Grünfläche in der Stadt schen Arbeit und Freizeit. Nur manche Urbanität und Lebensqualität, wie Stadt-
zugebaut werden soll.“ Städte in Ostdeutschland und einige klas- planer wie Speer meinen? Oder treiben
Josef war vorher klar, dass es kein leich- sische westdeutsche Arbeiterstädte wie Bo- die steigenden Mieten und Wohnungsprei-
ter Abend werden würde. Im Frankfurter chum oder Duisburg seien noch nicht von se die Bewohner dann doch wieder aufs
Nordend streitet der SPD-Politiker mit An- dem Trend erfasst. Land, wo es sich vermeintlich günstiger
wohnern und Kleingärtnern, die ihre Par- Der Siedlungsdruck in den Boomstädten und stressärmer wohnen lässt?
zellen für ein neues Wohnquartier räumen zwingt die Stadtplaner und Politiker zu Im Moment noch nicht, jedenfalls nicht
sollen. Mehr als 9000 Unterschriften dage- Kreativität und ungewöhnlichen Lösungen. an einem lauen Sommerabend in einem
gen haben sie schon gesammelt. Am west- In Hamburg und Frankfurt am Main wollen angesagten Viertel wie Hamburg-St. Pauli.
lichen Stadtrand, wo derzeit noch Gerste die Planer längere Autobahnabschnitte un- In der Wohlwillstraße reihen sich Bars an
und Roggen angebaut werden, protestieren ter begrünten „Deckeln“ verschwinden las- Restaurants, Hunderte Menschen drängeln
Bauern, Naturschutzverbände und Nach- sen, um Platz für Siedlungsflächen und sich vor dem Kiosk Tabak-Börse, um ihr
barkommunen gegen das Vorhaben, einen Grünanlagen zu gewinnen. Der Münchner Bier zu trinken. Cornern nennen sie das.
neuen Stadtteil für bis zu 30 000 Einwohner Oberbürgermeister Dieter Reiter experi- Schräg gegenüber vom Corner-Hotspot ist
aus dem Boden zu stampfen. Eine der meist- mentiert mit Häusern auf Stelzen, die auf eine Wohnung frei, zweiter Stock, 58 Qua-
befahrenen Autobahnen der Republik, die öden Parkplätzen errichtet werden können. dratmeter, zwei Zimmer ohne Balkon, für
A 5, sechs- bis achtspurig, würde mitten Im April dieses Jahres wurde das erste 781 Euro Kaltmiete. Ein stolzer Preis für
durch das künftige Wohngebiet führen. Stelzenhaus über einem Freibadparkplatz die Aussicht auf schlaflose Nächte.
„Es hilft nichts, wir brauchen dringend im Westen der Stadt fertiggestellt. In nur Drei Tage lang stand die Anzeige für
mehr Wohnungen“, sagt Josef. In jedem sechs Monaten sind über einem schmalen die Wohnung online, zur Besichtigung um
46 DER SPIEGEL 38 / 2017
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL
17 Uhr sind 30 Interessenten gekommen. schaut, nur weil er um 15 Uhr ein Bier in gend sind es Großstädte mit einem breiten
Zwei von ihnen: Hannes Weinig und der Hand habe. Angebot an Hochschulen und Bildungs-
Yann Chaudesaigues, beide 26. Weinig stu- Die Vorteile des urbanen Lebensstils lä- instituten, die auch nach dem Abschluss
diert Soziologie und ist vor sieben Jahren gen auf der Hand, meint der Bonner Stadt- Arbeitsplätze bei attraktiven Unterneh-
nach Hamburg gezogen, Chaudesaigues forscher Wiegandt: „Man genießt es, mit men oder Institutionen anbieten können –
kommt aus Berlin und arbeitet als Ange- dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren und in der Altersgruppe 25 bis 34 sind das vor
stellter. abends in der Nachbarschaft schick essen allem Frankfurt am Main, Düsseldorf,
Im Moment wohnen die beiden noch gehen zu können.“ Selbst wenn der Platz- München, Berlin, Köln, Stuttgart, Leipzig
auf 45 Quadratmetern in der Stresemann- bedarf durch Kinder und größere Ansprü- und Hamburg.
straße, einer der meistbefahrenen Straßen che steige, versuchten viele Familien, in Auch „weiche Standortfaktoren“ seien
Hamburgs. Jeder Lkw und jedes Auto, die der Stadt zu bleiben oder allenfalls auf die wichtig. Dazu gehörten ein „attraktiver
von der A 7 in die Innenstadt wollen, muss nahe Umgebung auszuweichen. Häufig und dichter öffentlicher Raum“, wie er in
hier durch. Im Sommer ist es heiß in der seien beide Eltern berufstätig, sodass die zentrumsnahen Gründerzeitvierteln zu fin-
Wohnung in der fünften Etage, im Winter Familie auf kurze Wege zwischen Arbeits- den sei. Oder auch besondere Anziehungs-
brummt eine stromschluckende Nachtspei- platz, Wohnung und Kinderbetreuung an- punkte wie der Hamburger Hafen.
cherheizung. Trotzdem wurde die Miete gewiesen sei: „Das Lebensmodell funktio- Die Forscher halten den Zustrom in die-
wieder erhöht. se Städte für einen sich selbst verstärken-
Weinig und Chaudesaigues wollen so
schnell wie möglich raus aus dieser Woh-
„Keiner fragt: Was willst den Prozess: Sei erst einmal eine größere
Zahl junger Leute vom Land in eine Stadt
nung, aber keinesfalls raus aus der Stadt. du in Berlin?“, erzählt gezogen, dann folgten ihnen bald viele
Nicht einmal an den Stadtrand würden sie sie. „Wenn wir könnten, andere nach. Man lebe eben lieber unter
ziehen. „Da ist nix los“, sagt Weinig. Gleichaltrigen und Gleichgesinnten. Deren
Seit Anfang des Jahres antworten sie kämen wir sofort nach.“ Anwesenheit ziehe meist schnell die pas-
Woche für Woche auf Inserate. Fünfmal sende Infrastruktur nach sich – noch mehr
wurden sie zu Besichtigungen eingeladen. niert nicht mehr, wenn die Eltern einein- Szenekneipen, Restaurants, Kinos, Läden.
Bei einer davon standen sie mit 150 ande- halb Stunden vom Wohnort auf dem Land Auf dem Land wird es dadurch einsamer
ren Interessenten im Treppenhaus. „Gegen zum Job in der Stadt pendeln müssen.“ für die noch verbliebenen jungen Leute.
die kinderlosen Paare mit zwei festen Ein- Welche Städte und Viertel besonders Kneipen und Kinos schließen, sobald ein
kommen haben wir keine Chance“, glaubt nachgefragt sind, entscheidet nach einer großer Teil der Kundschaft weggezogen
Weinig. Auch die Bürgschaft ihrer Eltern Studie des Berliner Beratungsbüros Empi- ist. Die Attraktivität der Herkunftsregio-
brachte keinen Erfolg. rica vor allem die Altersklasse der 20- bis nen sinkt etwa im gleichen Maße, wie die
Eine schönere und günstigere Wohnung 34-Jährigen. In dieser mobilen Lebenspha- der Schwarmstadt steigt. Dadurch, so die
ein paar Kilometer weiter draußen? Kom- se liegen oft ein Studium oder die erste Empirica-Prognose, werde sich die Kon-
me nicht infrage, meint Weinig. Eine gute Arbeitsstelle, mehrere Umzüge auf der Su- zentration der Bevölkerung auf ausgesuch-
Lage in einem der „üblichen Viertel“ wie che nach attraktiven Jobs und Partnern te Städte „aller Wahrscheinlichkeit nach
Altona, Schanze oder St. Pauli übertrump- oder auch die Gründung einer Familie. noch weiter verstärken“.
fe alles. Für Chaudesaigues ist Urbanität Die Empirica-Forscher haben Städte, die Und dieser Sog wirkt oft generationsüber-
gleichbedeutend mit Lebensqualität. In für junge Leute besonders attraktiv sind, greifend. Auch Brigitte Meese hatte vor ein-
den Vierteln könne jeder tun und lassen, in ihrer 2015 erschienenen Untersuchung einhalb Jahren genug von der Provinz. Jahr-
was er wolle. Keiner werde schief ange- als „Schwarmstädte“ bezeichnet. Überwie- zehntelang hatte sie in Ahrensburg gewohnt,
einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein, öst-
lich von Hamburg. Viele ihrer Freunde dort
sind krank, weggezogen oder schon gestor-
ben. Meese fand, es sei Zeit für einen Wech-
sel. Demnächst wird sie 88 Jahre alt. Sie
lebt jetzt in Berlin-Mitte, im selben Haus
wie ihr Sohn, der Künstler Jonathan Meese,
aber in einer eigenen Wohnung.
Jeden Morgen um 5.30 Uhr steht sie auf,
liest ihre E-Mails. Später fährt sie in den
Prenzlauer Berg, wo ihr Sohn sein Atelier
hat. Brigitte Meese verwaltet seine Finan-
zen. Vom Rentnerleben hält sie nichts. „Ich
arbeite jeden Tag“, sagt sie mit einem fei-
nen Lächeln.
Berlin mit seinen bald 3,7 Millionen Ein-
wohnern ist für Meese wie eine Ansamm-
lung kleiner Dörfer. „Ich finde das Leben
in der Großstadt gar nicht so schwierig,
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL
ihrem Viertel rund um die Auguststraße Einzelfall aber auch mal doppelt so viel, lagen, Wohnungen für Haushalte mit unte-
so viele junge Menschen unterwegs sind. trotz Mietpreisbremse. Die erklärte ein ren und mittleren Einkommen entstehen.
Als junge Frau hat Meese in Tokio ge- Münchner Amtsgericht vor einiger Zeit in Der Münchner Stadtrat hat das Ziel, un-
lebt, wo sie geheiratet und ihre drei Kinder Bayern für nicht anwendbar, weil bei der tere und mittlere Einkommensgruppen
bekommen hat. Nach der Trennung von Umwandlung von Bundesrecht in Landes- über das „München Modell“ bei der Miete
ihrem Mann zog sie nach Ahrensburg. recht Formfehler passiert seien. zu unterstützen. Anspruch hätten 50 bis
Dort war es übersichtlich, genau richtig Nach einer aktuellen Studie der Hans- 60 Prozent der Haushalte. Eine Familie
für ihr neues Leben. „Um Kinder zu erzie- Böckler-Stiftung und der Berliner Humboldt- mit zwei Kindern, deren Haushaltseinkom-
hen, ist eine Kleinstadt ganz gut“, sagt Universität müssen etwa vier von zehn Haus- men unter 94 300 Euro Jahresbrutto liegt,
Meese. Sie machte an der Volkshochschule halten in deutschen Großstädten mehr als ist danach schon förderberechtigt. Das Pro-
Italienischkurse, pflegte Freundschaften mit 30 Prozent ihres Nettoeinkommens nur für blem ist: Die Zahl der Wohnungen nach
den Eltern der Schulkameraden ihrer Kin- die Kaltmiete aufbringen – Heizkosten, „München Modell“ reicht bei Weitem nicht
der. Heute, in Berlin, ist sie meistens mit Warmwasser oder Strom kommen noch hin- aus, um die Nachfrage zu befriedigen. In
ihrem Sohn unterwegs und dessen Freun- zu. Etwa 1,3 Millionen Großstadthaushalten der Praxis müssen auch gut verdienende
den, viele davon Sammler oder Galeristen. bleibe nach Abzug der Miete lediglich ein junge Familien oft an den Stadtrand aus-
„Zu mehr komme ich eigentlich nicht.“ Resteinkommen unterhalb des Hartz-IV- weichen – oder darüber hinaus.
Der 87-Jährigen gefällt, dass ihre neue Niveaus übrig. Das sorgt für Konflikte in Sabine Kistner und Thomas Böhm, sie
Heimat noch so unfertig ist. London und den Städten. In den vergangenen Monaten Anwältin und Steuerberaterin, er Ange-
Paris seien etablierter, sagt sie: „Berlin wurden Farbbeutel auf frisch sanierte Alt- stellter bei einem Versicherungskonzern,
nicht, das wächst noch, das macht Spaß, bauten im stark nachgefragten Münchner wohnen seit sechs Jahren zur Miete in einer
das ist lebendig.“ Ihre wenigen verbliebe- Glockenbachviertel geworfen. „Kein Bock Zweizimmerwohnung, 60 Quadratmeter in
nen Freunde in Ahrensburg sähen das ganz auf Mieterhöhung? Profiteure angreifen!“, der Münchner Altstadt. Ihr Zuhause liegt
ähnlich: „Da fragt keiner: Was willst du sprayten Unbekannte Anfang Juni auf eine wunderbar zentral, nicht weit entfernt vom
denn in Berlin?“, so Meese. „Die sagen alle: Hausfassade. Viktualienmarkt, hat aber keinen Balkon,
Wenn wir könnten, kämen wir sofort nach.“ Dabei hat München nicht den Fehler an- keinen Garten, keinen Keller, keinen Stell-
In den Schwarmstädten hören das nicht derer Städte gemacht und Immobilien aus platz fürs Auto. Eine Familie ließe sich dort
alle wirklich gern. Viele Bewohner dort eigenem Besitz an Investoren verkauft. schon gründen, findet Thomas Böhm. Kin-
finden, das Ende der Fahnenstange sei er- Münchens Bodennutzung dient sogar als der großziehen auf Dauer aber eher nicht.
reicht, zumindest bei den Mieten, die als Vorbild: Baugenehmigungen erhalten nur Seit einem Jahr sucht das Paar eine fa-
Folge des starken Zuzugs ständig steigen. Investoren, die Wohngebiete selbst erschlie- milien- und katzentaugliche Wohnung im
In München zum Beispiel kostet eine 60- ßen und 30 Prozent der Flächen für Sozial- Stadtgebiet. Aufs Dorf ziehen wollen bei-
Quadratmeter-Wohnung nach den Ver- wohnungen reservieren. Andere Städte ha- de nicht. Zumindest ein S-Bahn-Anschluss,
gleichszahlen aktueller Angebotsportale ben das kopiert, um sicherzustellen, dass um zur Arbeit in der Innenstadt und am
im Schnitt schon mehr als 1100 Euro. Im in jedem Neubaugebiet, auch in den Luxus- Feierabend ins Kino zu kommen, ist
DER SPIEGEL 38 / 2017 49
Deutschland
Pflicht. „Wir lieben die Stadt “, sagt Böhm. In den Innenstädten kommen, neben schaftlern und Stadtplanern in Berlin. Im
Jeden Sonntag radeln die zwei ins Café der Verdrängung der angestammten Be- Verhältnis zum Städtewachstum am Be-
Katzentempel in Schwabing: Stadtmen- völkerung, andere Probleme hinzu. „Es ist ginn des 20. Jahrhunderts wüchsen die Me-
schen ohne Platz für eigene Haustiere kön- in Berlin wirklich sehr viel voller gewor- tropolen heute bescheiden. Dennoch, so
nen dort mit echten Katzen kuscheln und den. Egal wo ich hinkomme: überall Leu- Bodenschatz, sei Berlin darauf „nicht vor-
vegane Weißwurst frühstücken. te“, sagt Ramona Pop, Wirtschaftssenato- bereitet, nicht planerisch, nicht institutio-
Thomas Böhm hätte nichts gegen „etwas rin in Berlin. Die Bahnen sind voll, die nell, nicht politisch“.
mehr Natur“, vielleicht sogar einen klei- Busse, die Radwege, die Restaurants, die Bisher schien es Ausweichmöglichkeiten
nen Garten, in dem Kinder spielen könn- Geschäfte, die Straßen. zu geben. Städte, die Urbanität und Le-
ten. Aber die hohen Immobilienpreise der Als Wirtschaftsressortchefin hat Pop in bensqualität versprachen, aber nicht so
Stadt verderben auch die Preise bis weit der rot-rot-grünen Koalition die schwierige überlaufen waren, dass die Suche nach ei-
ins Umland. Das letzte Häuschen in der Aufgabe, die Stadt für das schnelle Wachs- ner neuen Wohnung sofort die Frage auf-
Nähe von München, das Kistner und tum umzubauen. Sie steckt dabei in einem wirft, was man sich noch leisten kann.
Böhm besichtigt haben, sollte fast eine Mil- Dilemma. Berlin hat nach den Jahren des Städte wie Leipzig.
lion Euro kosten und lag an einer Ausfall- Sparens unter Klaus Wowereit extremen Manche bezeichnen die sächsische Mes-
straße gegenüber einer Tankstelle. Nachholbedarf bei Investitionen. sestadt als das neue Berlin, und Parallelen
Nun sitzen die beiden im Großen Sit- Die Verwaltung, die den Wandel gestal- gibt es. Bis weit in die Neunzigerjahre war
zungssaal des Rathauses von Oberhaching, ten und bearbeiten muss, wurde verklei- Leipzig: arm, aber sexy. Nach dem Fall der
einer Gemeinde im Münchner Süden, nert. Die Infrastruktur der Stadt – Wohnen, Mauer hatten westdeutsche Investoren und
knapp 25 S-Bahn-Minuten vom Zentrum Verkehr, Bildung, Gesundheit – ist marode, Glücksritter zunächst viel Geld für Sanie-
der Landeshauptstadt entfernt. Ein Wand- überaltert, defekt. Die Behörden sind un- rungsprojekte in die Stadt mit einem der
gemälde zeigt Kirchtürme neben weiden- terbesetzt, die Mitarbeiter demotiviert. größten zusammenhängenden Gründer-
den Rehen, die blaue Isar fließt durch die Nach der Geburt eines Kindes warten Ber- zeitviertel Deutschlands gesteckt. Trotz-
Bildmitte, aber die Stimmung im Saal ist liner monatelang auf die Bewilligung von dem ging es bergab. Die Industrie aus DDR-
alles andere als idyllisch. Elterngeld oder die Geburtsurkunde. Wer Zeiten wurde von der Treuhand abge-
„So, wir fangen jetzt an zu schlitzen“, sagt dann keine Rücklagen hat, muss Hartz IV wickelt, die Arbeitslosigkeit stieg auf
Oberhachings Erster Bürgermeister Stefan beantragen. „Berlin hat Wachstumsschmer- annähernd 20 Prozent, das Umland mit rie-
Schelle und greift zum Brieföffner. Fünf Rei- zen“, sagt Pop. sigen Braunkohleabbauflächen war alles
henhäuser versteigert er an diesem sommer- Selbst wenn die Verwaltung effizienter andere als einladend.
lichen Abend, an Höchstbietende. Gebote wäre, fehlt es mittlerweile dort oft an Fach- Bis 1998 sank die Einwohnerzahl von
samt Finanzierungszusage einer Bank muss- leuten und Flächen, um all das zu bauen 530 000 im Wendejahr 1989 auf einen Tief-
ten vorab eingereicht werden. 36 Briefe lie- punkt: 437 000. Wohnungen standen leer
gen nun vor Schelle, die Bieter sitzen im Pu-
blikum, voll stummer Hoffnung. Hin und
Je dichter es wird, desto und waren billig, die Makler liefen den
Mietern hinterher.
wieder durchbricht ein quäkendes Neugebo- härter wird der Dann drehte sich der Trend. Leipzig,
renes im Strampler die Stille im Rathaussaal. Verteilungskampf um sagt die Baubürgermeisterin Dorothee
Die Mindestgebote lagen bei rund Dubrau, sei „derzeit eine der am stärksten
600 000 Euro; viel Geld für drei Stockwer- den knappen Platz. wachsenden Städte Deutschlands“. Von
ke Standardarchitektur, fünf Meter breit, 2011 bis 2015 wuchs die Einwohnerzahl mit
zehn Meter lang, mit Minigarten hinterm oder zu ergänzen, was Berlin jetzt braucht. 9,9 Prozent stärker als in Frankfurt (8,3),
Haus. Böhm und Kistner haben trotzdem Die Konkurrenz um Grundstücke für Woh- München (6,3) oder Berlin (5,8 Prozent).
mitgeboten, für das kleinere von zwei Rei- nen, Gewerbe, Verkehr und öffentliche Ende 2016 zählte die Stadtverwaltung
heneckhäusern. Bauten wie Schulen oder Kitas, so Pop, 580 000 Einwohner, im Jahr 2030 könnten
Nach 20 Geboten wähnt sich das Paar „ist sehr hart geworden“. nach aktuellen Schätzungen bis zu 722 000
noch gut im Rennen, dann öffnet der Bür- Jammern will die grüne Senatorin den- Menschen in der Stadt leben.
germeister einen Brief mit einem Gebot, noch nicht. Die Steuereinnahmen spru- Leipzig zieht die Menschen an, weil die
das deutlich über allen bisherigen liegt: deln, die Wirtschaft wächst im Bundes- Wirtschaft inzwischen boomt und das Um-
„886 777 Euro.“ Später bietet ein anderes vergleich überdurchschnittlich, die Arbeits- land keine Mondlandschaft mehr ist. In
Paar noch mehr. Für 901 021 Euro wird das losigkeit ist nach ewigen Zeiten endlich Leipzig werden Porsches gebaut, es gibt
Reihenhaus, dessen Bau noch nicht einmal unter zehn Prozent. Der „Mythos Berlin“, ein Werk von BMW und den DHL-
begonnen hat, am Ende versteigert. „Zwei sagt sie, sei real, ein Sehnsuchtsort für vie- Umschlagplatz auf dem Flughafen. Die
Geldscheißer haben den Preis auf Mond- le, gerade in der Start-up-Szene sei Berlin meisten Tagebaue sind geflutet, eine rie-
niveau getrieben“, ärgert sich Kistner. „the place to be“. sige Seenlandschaft ist entstanden. Neben
Was passiert, wenn selbst solvente Dop- Allerdings entwickelt sich Berlin schnel- dem schicken Loft gehört zum gut situier-
pelverdiener im Kampf um Wohnraum in ler als seine Repräsentanten, Manager und ten Leipziger nun auch das eigene Segel-
einer Umlandgemeinde nicht mehr mithal- Verwalter. Die Stadtgesellschaft koppelt boot.
ten können? Bürgermeister Schelle sagt, er sich ab von der Politik, viele Bürger ma- Der Leipziger Autor André Herrmann
sei „wirklich froh, dass die Millionenmarke chen selbst Politik. Volksbegehren gibt es bezeichnet den Run auf die Stadt ironisch
bei unserer Versteigerung nicht geknackt zu allem Möglichen, einige mit Erfolg oder als „Hypezig“. Er glaubt, dass gelangweilte
wurde“. Der Druck auf den Immobilien- Aussicht auf Erfolg: mehr Radwege bauen, Hauptstadtjournalisten das schöne Leipzig
markt in der ganzen Region sei immens. das Gelände des alten Flughafens Tempel- mit all jenen Leuten zu überschwemmen
„Und er gefährdet unsere Identität.“ hof nicht bebauen, den Flughafen Tegel versuchten, die man in Berlin nicht haben
Der Dax-Vorstand sei in Oberhaching offen halten, sogar für mehr Videoüber- wolle. Er beklagt „vor Metaphern nur so
herzlich willkommen, sagt Stefan Schelle, wachung werden in der Hauptstadt inzwi- triefende Lobeshymnen“ auf die Stadt und
„aber der macht uns nicht den Löschmeis- schen Unterschriften gesammelt. hat einen Blog eingerichtet, in dem er sol-
ter bei der freiwilligen Feuerwehr oder Harald Bodenschatz gehört zu den be- che Texte sammelt: „Hypezig – Bitte bleibt
den Jugendtrainer beim Fußballverein“. kannten und einflussreichen Sozialwissen- doch in Berlin!“
50 DER SPIEGEL 38 / 2017
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL
Passanten am Berliner Alexanderplatz: „Das wächst noch, das macht Spaß“
Viel geholfen hat es nicht. Die Mieten In Frankfurt am Main klagt die Bildungs- 1300 Parkplätzen und ist für Lastwagen
steigen bei Neuverträgen auch in Leipzig dezernentin, dass in einigen Stadtteilen kei- von Anlieferern über die nahe Autobahn
schneller als die Einkommen. Die Preise ne Grundstücke für dringend benötigte bestens erreichbar. „Das ist natürlich at-
für Baugrundstücke haben sich laut einer Schulen mehr zu finden seien. Bei Verhand- traktiv für ein Unternehmen“, sagt Marx.
aktuellen Analyse der Stadt in manchen lungen um die raren Flächen stehe die Aus dem beengten Stuttgart drängen etli-
Lagen von 2015 auf 2016 glatt verdoppelt. Stadt „in Konkurrenz zu Unternehmen, de- che Firmen ins Umland. Als Nächstes wird
Seit vier, fünf Jahren ziehe die Nachfrage nen es egal ist, was ein Grundstück kostet“, die Allianz ihren zentrumsnahen Standort
auf dem Leipziger Wohnungsmarkt an, sagt Stadträtin Sylvia Weber (SPD). in Stuttgart-West aufgeben, einem der am
sagt Steve Hoffmann, Makler bei der Firma Mitunter kapitulieren aber auch finanz- stärksten verdichteten Stadtbezirke Europas.
Engel & Völkers. Seit zwei Jahren brumme kräftige Unternehmen vor der Enge. Das 2020 laufen dort langjährige Mietverträge
es richtig. Wohnungen kosten bis zu 5200 führt dann zu einer kuriosen Entwicklung: aus. „Die in die Jahre gekommenen Gebäu-
Euro pro Quadratmeter. In angesagten Jahrzehntelang pendelten Beschäftigte aus de in der Stuttgarter Innenstadt müssten um-
Quartieren wie Gohlis-Süd, Plagwitz oder den Vorstädten zu ihrem Arbeitsplatz in fassend modernisiert werden, um den aktu-
Bachviertel stünden die Interessenten auf die Zentren. Jetzt kommt es immer häu- ellen Standards unseres Unternehmens
der Treppe Schlange. figer vor, dass sich Stadtbewohner auf gerecht zu werden“, erklärt der Versiche-
Anstehen müssen gehört zum Leben der Straßen und in Zügen ins Umland drängeln. rungskonzern. Das wäre teuer und logistisch
Schwarmstadtbewohner – für Wohnungen, Pitt Marx, Sprecher des Technologie- schwer zu stemmen gewesen. Die benötigten
Kita-Plätze, sogar für einen Platz im Fuß- und Rüstungskonzerns Thales, führt stolz Flächen für einen Neubau fand der Konzern
ballverein. In Hamburg gibt es bei Altona durch den Firmensitz. Jahrelang hatte das in Vaihingen, am Südwestrand der Stadt.
93, beim Winterhude-Eppendorfer Turn- Unternehmen in Stuttgart residiert, 2014 Die Schwarmstadtforscher des Büros
verein, dem Eimsbütteler Turnverband bezog es mit 1500 Mitarbeitern einen neu- Empirica sprechen von einem „ernst zu
oder dem Hamburg Eimsbütteler Ballspiel en Standort mit 50 000 Quadratmeter Flä- nehmenden Trend“. Viele Stadtbewohner,
Club offizielle Aufnahmestopps bei den che auf der grünen Wiese im schwäbischen die in die Nähe ihrer Arbeitsplätze in den
Kinder- und Jugendmannschaften. Ditzingen. Von den Fenstern geht der Blick Zentren gezogen seien, müssten nun aus
Auch die Leipziger bekommen zuneh- über Felder und eine Pferdekoppel. den Städten herauspendeln. In München
mend einen Eindruck davon, was es heißt, Die Landeshauptstadt hätte den promi- arbeite bereits jeder vierte in der Stadt
in einer Boomtown zu leben. Als im Juni nenten Arbeitgeber und Gewerbesteuer- wohnende Beschäftigte außerhalb des
in der Südvorstadt eine neue Kindertages- zahler gern behalten. Doch sie konnte kei- Stadtgebiets. Und „die Tendenz ist stei-
stätte öffnete, standen gleich 450 Bürger ne adäquaten Flächen in der Stadt mehr gend“, heißt es in der Studie.
an, um ihren Nachwuchs anzumelden. Sie anbieten. „Ditzingen war pfiffiger“, erzählt Eine Folge davon: noch mehr Verkehr.
blockierten Gehwege und die Straße, die Marx. Das Genehmigungsverfahren sei Auf den ohnehin belasteten Ein- und Aus-
Polizei musste anrücken. schnell durchgelaufen, die Gemeinde rich- fallstraßen drängeln sich die Pendler in bei-
Je dichter es wird, desto härter wird der tete eine Buslinie vom S-Bahnhof ein. Nun de Richtungen. In den Stadtvierteln am
Verteilungskampf um den knappen Platz. residiert Thales am Thalesplatz 1 mit über Rand und den Umlandgemeinden wächst
DER SPIEGEL 38 / 2017 51
Stadt, Land, Flucht Bevölkerungsentwicklung von ... nichts dazu beigetragen, die Urbanität in
... Großstädten ... Landgemeinden* den Städten zu verbessern.“
Gerade jetzt, in Zeiten des Booms, ist
Berlin
+187 056 die Gelegenheit günstig: Fast täglich stehen
Stadtplaner und Politiker vor wichtigen
Entscheidungen über Neubauten oder Um-
19 bis 94
20 bis 999
20 bis 004
bis 09
14
19 bis 994
20 bis 999
20 bis 004
bis 09
14
94 19
09 20
20
09 20
20
99 1
04 2
94 1
99 1
04 2
bauten, über die Zukunft einzelner Viertel
19 bis
19 bis
89
89
oder ihrer gesamten Stadt. „Das ist eine
19
19
München
+111195 echte Herausforderung“, sagt Mike Josef,
+ 4% der Frankfurter Planungsdezernent, „aber
Frankfurt das bietet auch enorme Chancen.“
am Main Hamburg + 3%
Köln +61884 Nachverdichtung zum Beispiel könne
+59320
+51748 +2 % man natürlich unter dem Aspekt „mehr
* Gemeinden Enge“ sehen, sagt Josef. Aber auch als
unter 5000 +1% Chance für mehr Urbanität und lebendi-
Einwohnern
Quelle: BBSR 2017
gere Stadtteile. Die zusätzlichen Häuser
0 in der Frankfurter Platen-Siedlung sollen
in den Erdgeschossen Räume für Läden,
–1%
Cafés oder Anwohnerinitiativen bekom-
–2%
men. Daran mangele es bislang in der Sied-
lung aus den Fünfzigerjahren.
–3% Auch Köln plant zahlreiche Projekte, die
das Bild der Stadt prägen und verändern
könnten. Oberbürgermeisterin Henriette
Reker will mindestens eine neue Brücke
über den Rhein bauen lassen und zwei
der Ärger: „Unsere Kollegen stehen jetzt die Welt, berät und plant in allen großen Fußgänger- und Radfahrerbrücken im In-
schon regelmäßig im Stau“, heißt es in Metropolen: von Moskau bis New York, nenstadtbereich. Am liebsten hätte sie
einem alteingesessenen Unternehmen im zwischen Barcelona und Shanghai. Er hat auch noch einen neuen U-Bahn-Tunnel auf
Vaihinger Industriegebiet. „Wenn jetzt einen einfachen Maßstab für die Städte: der Ost-West-Achse. Im Norden, hinter
noch die Allianz kommt, wird es noch den Menschen. Sein Buch „Leben zwi- Chorweiler und Blumenberg, soll auf der
schwieriger.“ schen Häusern“ wurde mittlerweile in über grünen Wiese ein neuer Stadtteil entste-
In Stuttgart sind die verstopften Straßen 50 Sprachen übersetzt, es ist vor 46 Jahren hen: Kreuzfeld mit bis zu 15 000 Bewoh-
das beherrschende Thema. Mehr als 800 000 erstmals auf Dänisch erschienen und hat nern. Keine Schlafstadt soll das werden,
Kraftfahrzeuge passieren pro Tag die Stadt- dennoch seine Aktualität behalten. Wa- verspricht die parteilose Politikerin, son-
grenzen, wie das Statistische Amt der rum? „Weil wir immer noch dieselben Feh- dern ein lebendiger Ort mit Arbeitsplätzen,
Landeshauptstadt ermittelt hat, die aller- ler machen“, sagt Gehl. Kneipen, Schulen und Sportstätten.
meisten davon Pendler-Pkw. Schadstoffe Er war im Frühjahr nach Berlin gekom- Andere Viertel sollen mit viel Aufwand
aus Dieselmotoren haben Stuttgart neben men, um an einer Konferenz des Bundes- lebenswerter gemacht werden: Chorweiler,
München und Hamburg zu einem der ers- umweltamts über die „Stadt für Morgen“ mit seinen tristen Hochhaussiedlungen aus
ten Kandidaten für mögliche Fahrverbote teilzunehmen. Da saß er im Garten und den Siebzigerjahren, galt lange Zeit als so-
werden lassen. Aber auch in Köln, Frank- erklärte mit Stift auf einer Serviette sein zialer Brennpunkt, sogar ein Abriss der
furt, Berlin oder Düsseldorf sind die Werte Arbeitsprinzip: Er zerlegt auch Millionen- Häuser war im Gespräch. Seitdem die
überhöht. metropolen in kleine Einheiten. Er betrach- Stadt dort viele Wohnungen übernommen
Was also tun? Im Grunde bieten Städte tet Raum nicht nur als zu bebauende Flä- und saniert hat, ist der Stadtteil begehrter
alle Voraussetzungen für umweltfreund- che, sondern als Lebensraum. geworden, auch weil die Mieten noch be-
liches Wohnen. Der Flächenverbrauch pro Am Beispiel Kopenhagens, seiner Hei- zahlbar sind.
Einwohner ist geringer als auf dem Land, matstadt, zeigt er, wie sich das soziale Le- Reker orientiert sich an einem „Master-
öffentliche Verkehrsmittel erlauben um- ben verändert hat durch den Vorrang für plan“, den das Frankfurter Büro Albert
weltfreundliche Beförderung. Radverkehr. „Kinder werden selbstständi- Speer + Partner für Köln entwickelt hat.
Allerdings sind die zentralen Verbindun- ger, weil sie sich in der Stadt sicher bewe- Auch Speer propagiert die Abkehr von der
gen in vielen Städten schon heute überlas- gen können“, die Menschen leben gesün- „autogerechten Stadt“. In dem Konzept geht
tet. Neue U- und S-Bahnen verschlingen der durch mehr Bewegung, sie haben mehr es um den Rückbau von Straßen, die Kon-
gigantische Summen und müssen immer Kontakt zu ihrer Umwelt. zeption einer „Via Culturalis“, einer Kultur-
tiefer in die Erde gegraben werden. Fast Kopenhagen hat über einen Zeitraum achse in der historischen Kölner Altstadt
vier Milliarden Euro soll ein bis zu 40 Me- von 20 Jahren öffentliche Parkplätze um- vom Dom bis zur Kirche St. Maria im Kapi-
ter tiefer Tunnel kosten, mit dem beispiels- gewandelt in Spielplätze, Grünanlagen, tol, und um die Verlängerung des Grüngür-
weise die Münchner in etwa zehn Jahren Radwege sowie Plätze für Cafés. Pro Jahr tels, Kölns grüner Lunge, bis an den Rhein.
den S-Bahn-Stau unter ihrer Innenstadt nahm die Stadt zwei bis drei Prozent Park- Der Architekt Albert Speer junior, 83,
auflösen wollen. fläche weg, erhöhte die Gebühren für die Sohn des NS-Rüstungsministers gleichen
Der Planer Jan Gehl fordert, dass Politik noch bestehenden Parkplätze. Gehl sagt, Namens, ist der wohl bekannteste Stadt-
und Stadtgesellschaften noch radikaler um- die richtige Infrastruktur schaffe Nachfrage planer Deutschlands. Er hat in den vergan-
denken. Nämlich dass sie damit aufhören, nach den neuen Angeboten. genen Jahrzehnten Stadtregierungen in
das Auto in den Städten in den Mittelpunkt „Je mehr Menschen öffentliche Plätze aller Welt beraten, Baukonzepte für Olym-
zu stellen. nutzen und bevölkern, umso sicherer sind pische Spiele erstellt, in China ganze Städ-
Gehl ist für viele Architekten und Stadt- sie auch“, sagt Gehl. „Die Strategen, die te geplant. Von den Politikern fordert er
planer eine Art Guru. Der Däne jettet um nur an autogerechte Städte denken, haben vor allem zwei Dinge: ein klares Konzept –
52 DER SPIEGEL 38 / 2017
Deutschland
und mehr Mut, Widerstände zu überwin- fordert Speer. Etwa Flächen nicht bis zum Zudem wünscht sich Speer mehr Mut
den und sich mit Investoren anzulegen. letzten Quadratmeter mit lukrativen Woh- beim Aussprechen unangenehmer Wahr-
Speer steht am Fenster seines Büros im nungen und Büros zu bebauen, sondern heiten. Ein „riesiges Thema“ sei, dass die
Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen. Er auch mit atmosphärisch ansprechenden Or- Wohnungsgrößen ständig zunähmen – auf
schaut auf die nach Süden leicht anstei- ten. Plätze und Treffpunkte zu schaffen, mittlerweile fast 40 Quadratmeter pro Ein-
gende Stadt, auf ein buntes Sammelsurium „Erlebnisräume“, wie Speer sie nennt. Und wohner in den 15 größten deutschen Städ-
aus Gründerzeithäusern, Wohnsilos aus auch: so zu bauen, dass eine soziale Mi- ten. „Ein großer Teil dessen, was wir neu
den Sechzigerjahren und funkelnagel- schung in der Stadt erhalten bleibt. bauen, wird durch den höheren Flächen-
neuen weißen Neubauten mit Hochpreis- Entscheidend sei, die Konzepte nicht über verbrauch pro Kopf wieder aufgesaugt“,
apartments, dazwischen Gärten, Hinter- die Köpfe der Anwohner hinweg zu entwi- sagt Speer. Politik und Gesellschaft müss-
höfe, Bahngleise, viele Straßen. Es sei ckeln. Bürgerversammlungen, Informations- ten „dringend überlegen, wie wir den
nicht ganz einfach, dort noch Grundstücke Trend stoppen“.
für eine Stadtentwicklung zu finden, sagt
Speer. Aber auch nicht unmöglich.
Kopenhagen wandelte „Es wird enger werden“, sagt Speer, da-
rauf müsse man sich in den Städten ein-
„Wir könnten noch eine ganze Menge Parkplätze um: in richten. Ein Problem sei das nicht. Man
Flächen entwickeln, die sich erst auf den Grünanlagen, Radwege müsse ja nicht asiatische Ballungsräume
zweiten Blick anbieten“, glaubt Speer: wie Shanghai oder Mumbai zum Maßstab
Zum Beispiel Grundstücke direkt am und Orte für Cafés. nehmen. Vielmehr lohne ein Blick auf
Bahndamm, an denen sich schall- und europäische Metropolen, die als besonders
schwingungsgedämmte Häuser bauen lie- veranstaltungen, Vor-Ort-Begehungen, das urban und lebenswert empfunden würden.
ßen. Oder Straßen- und Parkplatzflächen, alles sei mühsam. Aber die Planer lernten Städte wie Paris, Barcelona oder Mailand.
die man sinnvoller nutzen könne. bei solchen Terminen viel über die Beson- Diese Städte seien ungleich dichter be-
Jahrzehntelang seien Großstädte wie derheiten der Städte, die es zu erhalten und baut und enger bewohnt als deutsche
Frankfurt am Main praktisch ohne Kon- auszubauen gelte. „Es geht dabei auch um Großstädte. „Trotzdem lebt es sich dort
zept gewachsen. Politiker hätten sich von Emotionalität, um die Identifikation der gut, und wir fahren auch gern dorthin“,
Investoren und Spekulanten erpressen las- Menschen mit ihrer Stadt“, sagt Speer. Da sagt Speer. Das zeige: „Wir haben in unse-
sen, die auf die gewinnträchtigste Ausnut- könnten neue Wegebeziehungen, elegante ren Städten noch eine Menge Luft.“
zung ihrer Grundstücke gepocht hätten. Brücken, belebte Flussufer oder vielfältig Laura Backes, Matthias Bartsch, Anna Clauß,
„Die Stadtverwaltungen müssen klare nutzbare Flächen für Sport, Freizeit und Markus Deggerich, Jan Friedmann, Frank Hornig,
Forderungen an die Investoren stellen“, Kultur in einer Stadt „Wunder wirken“. Barbara Schmid, Steffen Winter
Es ist
Zeit
für mehr Gerechtigkeit.
Noch eine
Million Plätze
Familien Der Kita-Ausbau war
N
ur selten sind die Wege für berufs- die Geburtenrate weiterhin leicht steigt Zu wenige junge Leute erlernen den Beruf,
tätige Mütter so kurz wie für Caro- und die Zuwanderung anhält. Sogar mehr auch weil er schlecht bezahlt ist. Trotzdem
lin Weber: Keine zehn Meter Luft- als eine Million zusätzliche Plätze würden würde ein solcher Ausbau den Staat etwa
linie von ihrer Neubauwohnung im Münch- gebraucht, wenn Eltern darüber hinaus ihr 12 bis 18 Milliarden Euro kosten.
ner Westen entfernt baute die Stadt eine Kind für die tatsächlich gewünschte Stun- Unverdrossen verspricht die Politik in-
neue Kindertagesstätte. denzahl versorgt wissen möchten. des neue Wohltaten: Berlin und Hessen
Die Grundsteinlegung des Kindergar- In repräsentativen Umfragen ermittelte schaffen die Kita-Gebühren ab, die SPD
tens konnten Weber, ihr Mann und ihr das DJI, dass Väter und Mütter ihr Kind wirbt im Wahlkampf mit dem Rechtsan-
zweijähriger Sohn Noah vom Wohnzim- gern länger in der Kita betreuen lassen spruch auf den Besuch einer Ganztagsschu-
mersofa aus mitverfolgen. Den Baulärm würden. Vorbehalte gegenüber der Fremd- le, eine Forderung, die auch die CSU-Frau-
nahm die Familie gern in Kauf, Noah liebte betreuung schwinden, das erhöht die Zahl en-Union teilt. Dann stünde der Staat auch
die Bagger und die Betonmischer vor dem der interessierten Eltern zusätzlich. bei den Schulkindern für den Nachmittag
Fenster. Um den Bedarf zu decken, müssen die im Wort.
Ein Anruf bei der Stadt München, wann Kindergärten in den kommenden Jahren Zu solchen Plänen schreiben die For-
die Kita vor der Haustür denn nun begin- mehr als 200 000 Erzieherinnen und Erzie- scher jedoch: „Der politisch ins Auge ge-
ne, Kinder aufzunehmen, brachte die Er- her neu einstellen. Ungefähr so viele Ab- fasste weitere Ausbau ist unter den heute
nüchterung: „Wir können leider nicht öff- gänger werden die Ausbildungseinrichtun- gegebenen Rahmenbedingungen nicht zu
nen“, erfuhr Weber. Da der Stadt Erzieher gen verlassen. Wenn aber, wie von der realisieren.“ Der Bund müsse sich stärker
fehlten, bleibe das Haus mit den sonnen- Politik versprochen, die Zahl der Kinder an den Kosten beteiligen, die frühe Bil-
blumengelben Fensterrahmen vorerst un- pro Betreuer sinken soll und den Eltern dung müsse so aufgewertet werden, „dass
genutzt. zusätzliche Stunden angeboten werden sol- ein nennenswerter Teil junger Menschen
Der Bund hat seit 2007 fast zehn Milli- len, müssten sogar mehr als eine halbe Mil- zusätzlich als künftige Fachkräfte gewon-
arden Euro für Ausbau und Betriebskos- lion solcher Fachkräfte eingestellt werden. nen werden kann“. DJI-Leiter Rauschen-
tenzuschüsse in die Hand genommen, um Es sei „gegenwärtig völlig unklar, wie bach fordert: „Wir müssen Qualität und
eine flächendeckende Fremdbetreuung für diese Lücke auch nur annähernd geschlos- Quantität zugleich liefern.“
Kleinkinder zu garantieren. Doch viele El- sen werden soll“, schreiben die Autoren. Vor allem auch am richtigen Ort. In Ost-
tern bekommen weiterhin keinen Platz für deutschland wird es bald zu viele Plätze
ihren Nachwuchs. Von längeren Betreu- geben, während sie in westlichen Flächen-
ungszeiten und einer besseren pädagogi- Kindertagesplätze ländern und in den Stadtstaaten fehlen.
schen Qualität können die meisten Mütter Überschuss/Mangel nach Regionen* Und weil Länder und Kommunen wegen
und Väter ohnehin nur träumen. des Rechtsanspruchs auf solche Plätze vor
Im Wahlkampf vermitteln die Parteien Östliche Flächenländer +55 000 allem Angebote für die Kleinsten schufen,
den Eindruck, das Kindergartenangebot gerieten die älteren Kinder aus dem Blick.
sei schon ganz ordentlich. Der seinerzeit 40000 Die Münchnerin Carolin Weber blitzte
noch von der damaligen Familienministe- ÜBERSCHUSS auch bei vier weiteren Kindergärten in
rin Ursula von der Leyen (CDU) angesto- Laufweite ab. Dabei hatte das vermeintlich
0
ßene U3-Ausbau – gemeint ist keine 2017 2020 2025 gute Kita-Angebot die junge Familie vor
U-Bahn-Linie, sondern die Betreuung un- knapp zwei Jahren dazu gebracht, aus der
ter Dreijähriger – gilt als politische Erfolgs- –40 000 Altbauwohnung im Zentrum ins Neubau-
geschichte. Stadtstaaten viertel nach Aubing zu ziehen.
Doch eine Studie eines Münchner und –32000 In ihrem Block gebe es, so Weber, zwar
Dortmunder Autorenteams um den Leiter –80 000 „keinen Bäcker, weil statt Geschäften an
des Deutschen Jugendinstituts (DJI), Tho- MANGEL allen vier Ecken Kindertagesstätten gebaut
mas Rauschenbach, blickt kritisch auf die wurden“, das nützt der Familie aber nichts.
Zukunft des Großprojekts: Es seien noch –120 000 Seit diesem Monat besucht Noah an zwei
„erhebliche zusätzliche Anstrengungen Westliche Flächenländer Tagen pro Woche eine Spielgruppe des ka-
beim Ausbau der Kindertagesbetreuung“ –165 000 tholischen Kindergartens – er wird nun
–160 000
notwendig, und zwar für die gesamte Al- drei und stand ein Jahr auf der Warteliste.
tersgruppe der unter Zehnjährigen. Ihr Betreuungsproblem löste die Dop-
Es fehlen schlicht Plätze: Nach Berech- * für Kinder unter 6,5 Jahren; allein aufgrund demografischer
pelverdienerfamilie auf eher klassische
nungen der Wissenschaftler werden bis Veränderungen Weise: Auf Noah passen jeden Tag seine
2025 fast 340 000 zusätzlich benötigt, wenn Quelle: Forschungsverbund DJI/TU Dortmund Großeltern auf. Anna Clauß, Jan Friedmann
Die Briefwahl macht die Wahl zum Deutschen Bundestag ganz einfach.
Fordern Sie jetzt Ihre Briefwahl-Unterlagen an. 84.000 Wahlhelfer der
Deutschen Post liefern Ihnen Ihre Stimmzettel frei Haus und sorgen dafür, dass
diese sicher und pünktlich beim Wahlleiter eingehen. Und Sie
können den Wahltag entspannt genießen.
deutschepost.de/briefwahl
ANZEIGE
Das Thema Internet der Dinge und seine große Ganze, wird der hohe wirtschaftliche von Grund auf verändert werden – ein fun-
industrielle Ausprägung – Industrie 4.0 – Nutzen erst recht offenbar: Laut einer Studie damentaler Wandel, den Mitsubishi Electric
ist seit einigen Jahren in aller Munde. Viele des Bundesministeriums für Wirtschaft und erkannt hat und praktiziert. Als eines der
8QWHUQHKPHQSURÀWLHUHQEHUHLWVYRQGHQ Energie soll die Realisierung von Industrie wenigen Unternehmen bietet es das gesamte
Vorteilen der vierten industriellen Revolution: 4.0 bis 2020 ein wirtschaftliches Wachstum Spektrum der Industrieautomation an und
'LHGHXWVFKH:LUWVFKDIWEHÀQGHWVLFKPLWWHQ von bis zu 153 Milliarden Euro bedeuten – unterstützt damit die Transformation von
im elementarsten Wandel seit Beginn der bei geplanten Investitionen von 40 Milliarden Organisationen in vielen Bereichen. So führte
Industrialisierung. Die Prämisse des Internets Euro. 83 Prozent der Befragten sehen in Mitsubishi Electric bereits im Jahr 2000 offene
der Dinge scheint denkbar einfach: Alle den nächsten drei Jahren einen hohen Digi- Schnittstellen für alle Automationskompo-
Industrien, Unternehmen, Maschinen, Geräte talisierungsgrad ihrer Wertschöpfungsketten nenten ein und ermöglichte so die horizontale
und Menschen werden vernetzt und kommu- voraus. und vertikale Integration in die Geschäfts-
nizieren miteinander. Im wirtschaftlichen prozesse. Um maßgeschneiderte Lösungen
Umfeld bedeutet dies nicht weniger als einen Unternehmerische Chancen für seine Kunden produzieren zu können,
kompletten Wandel. So entsteht in Kombination erkennen und nutzen rief das Unternehmen 2003 die e-F@ctory
mit Systemen, die über künstliche Intelligenz Alliance ins Leben, ein global aufgestelltes
verfügen, eine Vielzahl neuer Chancen für Um den notwendigen Digitalisierungsgrad Unternehmensnetzwerk, in dem der Anbieter
Unternehmen. Diese reichen von neuen zu erreichen, reicht es nicht aus, Software eng mit Partnern aus der Industrie zusammen-
Geschäftsmodellen und Jobs bis hin zu einer zu implementieren oder Prozesse zu auto- arbeitet, um die Anforderungen der Digitali-
Steigerung der Produktivität auf Fertigungs- matisieren. Es müssen auch die Produktions- sierung in die Realität umzusetzen.
ebene. anlagen und selbst die Unternehmenskultur
Vernetzung rundum:
Industrie 4.0 verbindet Mensch
und Maschine
Industrie 4.0 bringen die Autos selbstorganisiert durch in unseren eigenen Fabriken zum Einsatz.
Einsatzszenarien und die Montagehalle. Und wir von Mitsubishi Damit schaffen wir deutliche Mehrwerte, mit
Electric betreuen dieses innovative und denen Mitsubishi Electric Unternehmen aller
Chancen spannende Projekt. Branchen zur Seite stehen kann.
Ein Interview mit Hartmut Pütz Wird sich der Arbeitsmarkt verändern? Wie sehen Sie die Chancen für den
Präsident Factory Automation EMEA Industrie 4.0 wird die Arbeit in der Produk- Standort Deutschland?
bei Mitsubishi Electric Europe B.V. tion stark vereinfachen und gleichzeitig Die deutsche Wirtschaft spürt die Folgen der
neue, komplexere Arbeitsplätze schaffen: Globalisierung, denn sie steht in direktem
etwa bei der Kontrolle und Steuerung der Wettbewerb mit Billiglohnländern. Dazu kommt
Anlagen. Aber auch im Vertrieb wird in die alternde Gesellschaft, in der immer mehr
=XNXQIWYLHOVHLWLJTXDOLÀ]LHUWHV3HUVRQDO Fachkräfte fehlen. Zahlen der Vereinten
benötigt. Eine permanente Weiterbildung Nationen zufolge entsteht in den nächsten
wird dabei von großer Bedeutung sein. 25 Jahren eine Lücke von 10 Millionen
Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Hier kann
Worauf müssen sich deutsche Industrie 4.0 die Antwort auf die Herausforder-
Unternehmen in Zukunft einstellen? XQJHQVHLQ'LHÁH[LEOHXQGNRVWHQHIÀ]LHQWH
Das Wettbewerbsumfeld wird sich inten- Produktion ermöglicht es, die globalen
sivieren. Durch das bedarfsgesteuerte Herausforderungen zu meistern und Unter-
Einbinden externer Produktionsmittel nehmen eine sichere Zukunft zu bieten.
Herr Pütz, was bringt uns Industrie 4.0? ergeben sich vollkommen neue Möglich- Mitsubishi Electric wird der deutschen Wirt-
Wir sind auf einem spannenden Weg mit keiten. Die Produktlebenszyklen werden schaft in allen diesen Fragen ein kompetenter
tollen Aussichten: Konsumenten werden sich weiter stark verkürzen und Druck auf Partner sein.
sich zum Beispiel über individuelle Pro- Unternehmen ausüben, immer schneller
dukte zu sehr günstigen Preisen freuen. Innovationen auf den Markt zu bringen.
8QWHUQHKPHQSURÀWLHUHQYRQGHXWOLFK Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten,
höheren Betriebszeiten ihrer Maschinen Kann Mitsubishi Electric den Unter- wie Mitsubishi Electric Sie bei Ihrem
und von ganz neuen Produktionsmöglich- nehmen dabei helfen? Vorhaben unterstützen kann:
keiten. Oder kurz gesagt: einer immensen Wir stehen in kontinuierlichem Austausch www.MitsubishiElectric.de
Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. mit unseren Kunden und entwickeln maß-
geschneiderte Lösungen basierend auf
Haben Sie für uns ein spannendes Bei- unseren eigenen Standardkomponenten,
spiel für den Einsatz von Industrie 4.0? binden aber auch die unserer Partner ein.
Es gibt zum Beispiel das Pilotprojekt eines Unsere umfangreiche Technologiepalette
bekannten Fahrzeugherstellers, der das ist dabei eine gute Ausgangsbasis – denn
klassische Fließband abschaffen möchte. sie deckt das gesamte Portfolio der Auto-
Dort entscheiden in Zukunft modernste mationstechnologie ab. Vor allem bieten
automatisierte Systeme, wann ein Auto wir ein sehr breit gefächertes Wissen, wie
an die nächste Montagestation übergeben sich Prozesse unserer Kunden optimieren
wird. Das heißt, autarke Transportwagen lassen. Dieses Know-how kommt auch
Deutschland
Der Hassmacher
Terror In Hildesheim radikalisierte ein mysteriöser Imam junge Männer für den Dschihad. Nun steht
Abu Walaa vor Gericht. Ermittler halten ihn für den Deutschland-Repräsentanten des IS.
E
s war noch dunkel, als der Observa- zu schließen, die in Wirklichkeit ein Hort Deutschland hat in den vergangenen
tionstrupp am Niederrhein in Stel- des Hasses war, und so womöglich noch Jahren viel lernen müssen über die ver-
lung ging. Die Polizisten beobachte- Schlimmeres zu verhindern. korksten Biografien junger Männer und
ten ein unscheinbares Haus mit hellblauer In wenigen Tagen stehen Abu Walaa ihre Wege in den Terror. Über die Hinter-
Fassade in der Kleinstadt Tönisvorst. Hier und vier mutmaßliche Komplizen in Celle männer dagegen, die Verführer und Ein-
sollte einer der gefährlichsten Islamisten vor Gericht. Der Generalbundesanwalt ist flüsterer des Dschihad, war lange wenig
Deutschlands wohnen. sich sicher, dass es sich bei ihm um den bekannt. Nur selten ließ sich nachvollzie-
Doch an diesem Dienstag im Februar Kopf eines Rekrutierungsnetzwerks han- hen, wie es Vordenkern und Propaganda-
des Jahres 2016 sahen die Beamten nur ei- delt, das junge Männer radikalisierte und führern mit einer Mischung aus Charisma
nen bärtigen Mann, der sich wie ein mus- dem „Islamischen Staat“ (IS) als Kämpfer und Kälte gelang, in das Gehirn Jugend-
tergültiger Familienvater verhielt. Um 7.40 zuführte. Mindestens sechs Männer aus licher vorzudringen. Der Prozess gegen
Uhr rollte er die Mülltonne über die Ein- Abu Walaas Dunstkreis sind heute tot – Abu Walaa verspricht tiefe Einblicke in
fahrt. Kurz danach packte er drei Kinder und mit ihnen Dutzende weitere Men- diese Mechanismen, das macht ihn zu
in den Opel Astra und fuhr zur Schule. schen, die sie bei Selbstmordattentaten mit einem der interessantesten Islamistenpro-
Am Mittag holte er sie wieder ab. Harm- sich rissen. zesse der vergangenen Jahre. Das Ober-
loser ging nicht. Die Ermittler werfen Abu Walaa, 33, vor, landesgericht Celle hat strenge Sicherheits-
Am Ende des Tages stellten die Polizis- Mitglied des IS zu sein, mit Verbindungen vorkehrungen angeordnet.
ten fest, dass der Mann seine Überwacher in den berüchtigten Geheimdienstapparat Der Weg ins Zentrum von Abu Walaas
genarrt hatte. Ein GPS-Gerät, das zur Or- der Terrorgruppe. Sie halten ihn sogar für Netzwerk führt nach Hildesheim, berühmt
tung unter dem Opel klebte, war ver- den „Deutschland-Repräsentanten“ des für seinen Mariendom und die prächtigen
schwunden. Abgerissen, ohne dass die Be- „Islamischen Staates“, für einen Prediger Fachwerkhäuser. Und inzwischen auch für
amten es mitbekamen. des Dschihad und Paten des Terrors. seine Islamistenszene.
Es sollte noch ein Dreivierteljahr dauern, Abu Walaa hatte Kontakte zu zahlrei- Es klang harmlos, als vor fünf Jahren
bis die Sicherheitsbehörden genügend Be- chen Köpfen der deutschen Islamisten- ein Moscheeverein in die Räume des frü-
lege gesammelt hatten, um Ahmad Abdul- szene. Auch der Attentäter vom Berliner heren Schlecker-Markts in der Nordstadt
aziz Abdullah A. alias „Abu Walaa“ fest- Weihnachtsmarkt, Anis Amri, bewegte einzog. Der Deutschsprachige Islamkreis
zunehmen. sich in seinem Netzwerk und soll offen Hildesheim e. V. war unter der Nummer
Sie konnten Informanten in sein Umfeld über Anschlagspläne geplaudert haben. VR 200674 ordentlich beim Amtsgericht
einschleusen und ehemalige Weggefährten Ebenso die Jugendlichen, die im vorigen registriert. Satzung, Vorsitzender, Schrift-
als Zeugen gegen ihn gewinnen. Es gelang Jahr in Essen nach einer Hochzeit eine führer, Kassenwart, Jugendsprecher – alles
ihnen, seine scheinbar harmlose Moschee Bombe an einem Sikh-Tempel zündeten. war vorhanden. In Wirklichkeit aber war
58 DER SPIEGEL 38 / 2017
REUTERS
Szene aus Hinrichtungsvideo des IS: „Sollen verrecken die Ungläubigen“
der „Islamkreis“ in der Martin-Luther-Stra- Liebe für die Gläubigen, Hass für die Un- C. ihnen im kleinen Kreis ein, dass jeder
ße ein Gehirnwäscheverein, der bald den gläubigen. Wir gegen den Rest der Welt. in den Dschihad ziehen könne, der älter
Verfassungsschutz auf den Plan rief. In Mitschriften seiner Anhänger fanden als 14 Jahre sei. Wer das nicht tue, komme
Zum geistigen Führer der Moschee wur- die Behörden später ein Bekenntnis in die Hölle. Hasan C., ein älterer Herr
de Abu Walaa, ein Iraker aus Kirkuk, der zu Abu Bakr al-Baghdadi, dem selbst mit Brille und grauem Bart, brachte seinen
mit zwei Frauen und sieben Kindern in ernannten „Kalifen“ des IS: „Wir sind die Schülern Arabisch bei, angeblich zur Vor-
Tönisvorst und Bad Salzdetfurth bei Hil- Schebeb aus Almanya“, heißt es darin, bereitung auf die Zeit beim „Islamischen
desheim lebte. Seine Anhänger nennen die Jugendlichen aus Deutschland, „mit Staat“. Auf dem Tablet-Computer zeigte
ihn ehrfürchtig „edler Bruder“. Oder ein- Scheich Baghdadi als unserem Anführer.“ er den jungen Männern grausame Videos,
fach nur ihren „Scheich“. Wie gefährlich Abu Walaa und sein Netz- in denen Kämpfer des IS Menschen hin-
Unter seinem bürgerlichen Namen Ah- werk sind, erkannten die Sicherheitsbehör- richteten. Nach den Exekutionen habe er
mad Abdulaziz Abdullah A. kam Abu Wa- den 2015. Das nordrhein-westfälische Lan- gejubelt: „Sollen verrecken die Ungläubi-
laa im Frühsommer 2001 als Asylsuchender deskriminalamt hatte einen V-Mann in der gen.“ Wenn nebenan im Reisebüro Kun-
nach Deutschland. Papiere konnte er bei Islamistenszene platziert, Tarnname „Mu- den waren, mussten die Jungs leise sein.
der Einreise nicht vorlegen, die seien ihm rat“, ein leicht untersetzter Mann, der Tür- An einem Sonntag im November 2015
von einem Schleuser abgenommen wor- kisch und ein bisschen Arabisch spricht und soll Hasan C. außer sich gewesen ein. In
den. A. verkaufte in Braunschweig in sei- im Toyota durch das Ruhrgebiet brauste. Paris hatten zwei Tage zuvor IS-Terroristen
nem Laden Dejavu Jeans & more Klamot- Ihm gelang es, sich in den geheimen Un- im Musikklub Bataclan 90 Konzertbesu-
ten und vertrieb Sultan-Cola in den Nord- terricht zweier Prediger aus Abu Walaas cher niedergemetzelt. Für ihn kein Grund
irak. Parallel trat er als Prediger auf und Netzwerk einzuschleichen, Boban S. und zur Trauer, im Gegenteil, C. zeigte seinen
begann, sich in der deutschen Islamisten- Hasan C. Der eine verkündete seine radi- Schülern begeistert Bilder von den Lei-
szene einen Namen zu machen. kalen Lehren in einem Wohnzimmer im chen: „Die haben mit denen getanzt!“ So
Junge Männer, oft noch halbe Kinder, ersten Stock eines Dortmunder Mietshau- berichtete es V-Mann „Murat“ dem LKA.
kamen zu seinen Vorträgen und saßen ihm ses, der andere im Nebenraum seines Rei- Boban S. aus Dortmund war nicht we-
zu Füßen. Er sang islamistische Lieder mit sebüros in Duisburg-Rheinhausen. niger radikal. In einer Unterrichtseinheit
ihnen, sogenannte Naschids, und pries in V-Mann „Murat“ tauchte in eine beängs- propagierte der Chemieingenieur mit ser-
schwülstigen Zitaten den Dschihad: „Wer tigende Parallelwelt ein. Er traf auf Jugend- bischen Wurzeln, den „Ungläubigen“ mit
von uns sich dafür opfert, wird seine Be- liche, die für den Dschihad brannten und dem Schwert den Kopf abzuschlagen. Er
erdigung im Paradies feiern.“ ihre eigenen Eltern zu „Ungläubigen“ er- hielt das offenbar für human: Das verursa-
Sein Auftreten hatte etwas Geheimnis- klärten, die sie töten würden. Ständig re- che am wenigsten Schmerzen. Die Jugend-
umwobenes. In Propagandavideos im Inter- deten sie davon, ins Kampfgebiet in Syrien lichen in seinen Seminaren seien wie Gold,
net achtete er streng darauf, dass er nur und im Irak ausreisen zu wollen – und falls schwärmte er dem V-Mann vor, man kön-
von hinten zu sehen war, in schwarzem Ge- das nicht gelinge, „etwas“ in Deutschland ne sie noch biegen, wie man wolle.
wand, schwarzem Turban. So wurde er zum zu machen. Eine Chatgruppe, in die der Mit seinen Schülern veranstaltete er an-
„Prediger ohne Gesicht“. Bis nach Frank- V-Mann sich einklinkte, hatte den Namen geblich sogar Trainingsmärsche als Vorbe-
reich, Spanien und Bulgarien sprach sich „Projekt J“ – Projekt Jihad. Konspirative reitung für das IS-Kampfgebiet. Kurz vor
unter Islamisten herum, dass Abu Walaa in Gespräche führten die Islamisten beim Weihnachten stapften sie 16,2 Kilometer
Hildesheim die richtige, nämlich radikale Dampfbaden im Hamam Sahara. durchs Sauerland, mit einem 25-Kilo-Ruck-
Lehre unterrichte. Er predigte ein extremes Glaubt man den Berichten des V-Manns, sack. Auch der spätere Berlin-Attentäter
Konzept der „Loyalität und Lossagung“. dann impfte der Reisebürobetreiber Hasan Anis Amri soll bei dem Marsch durch den
DER SPIEGEL 38 / 2017 59
Verräter. Klartext geredet wurde oft nur
im Keller. Die Handys blieben oben.
V-Mann „Murat“ bekam mit, wie einer
der Jungradikalen davon schwadronierte,
Polizisten umzubringen. Man könne aber
auch einen Lastwagen mit einer Bombe
beladen und in eine Menschenmenge ra-
sen. Ein anderer Islamist aus der Hildes-
heimer Moschee sprach im Keller von ei-
m
848
t8
Nº 89: 125 Jahre Rolltreppe
res
Eve
m
unt
163
m
Mo
m
lu 8
485
051
überragen.
der
nas
u8
k8
en
aus
Ma
kal
Pea
t
cht
Ma
m
A
ad
ller
027
Bro
ea
m
a8
höh
125
m
t
gm
sam
034
8
Ge
pan
bat
II 8
die
sha
Par
ie
ns
m
rd e
bru
Shi
nga
wü
r
iht
she
Na
m
586
ere
516
Ga
rg
8
de
8m
8
ga
n
ina
tse
zön
818
e
. An
Lho
end
n
yu
ppe
oO
re
gch
m
ollt
Ch
91
80
R
Kan
0 80
60
I 80
m
35
aI
167
m
s
bt e
um
urn
11
ri 8
In Deutschland gi
86
rbr
nap
agi
K2
she
An
aul
Ga
Dh
Aufwärts. Der alte, faule Menschheitstraum, ohne Anstrengung rei. Ein Amerikaner namens Jesse Reno, Eisenbahningenieur,
von hier nach dort zu gelangen, vor allem von unten nach meldete 1892 das Patent auf eine Art ansteigendes Personen-
oben, ist schon auf vielfältige Weise in Erfüllung gegangen, förderband an, und wie viele andere große Errungenschaften
und die Fliegerei ist natürlich die glamouröseste Lösung des wurde auch diese anfangs nicht recht ernst genommen: Das
Problems. Zur selben Zeit aber, da Otto Lilienthal Ende des Ding rollte zunächst nur zum Spaß, in einem Vergnügungs-
19. Jahrhunderts mit seinen ersten Flugapparaten abhob, wur- park in New York. In Deutschland gibt es heute rund 35 600
de anderswo eine scheinbar weit bescheidenere Erfindung ge- Rolltreppen, wie der Verband Deutscher Maschinen- und An-
boren: die Rolltreppe. Sie, die Bewegerin der Unbewegten, ist lagenbau schätzt. Würde man alle deutschen Rolltreppen an-
in diesem Jahr 125 Jahre alt – herzlichen Glückwunsch! Dank einanderbauen, so würden sie (bei einer vermuteten Durch-
ihr gleiten wir seither stehend und mit gleichbleibendem Puls schnittshöhe von gut drei Metern pro Stück) gemeinsam eine
von Etage zu Etage, statt im Schweiße des Angesichts die Stu- Höhe von rund 120 Kilometern überwinden – das ist höher als
fen hochzuächzen. Ohne die Rolltreppe wäre das urbane Le- alle 14 Achttausender der Welt aufeinandergestapelt.
ben – U-Bahnen, Kaufhäuser, Flughäfen – eine elende Placke- guido.mingels@spiegel.de
SPIEGEL: Heute schon aufge- waren Genies – und legendär Schutzschild, ein Abstands-
regt? schlecht gelaunt. Jeder sollte halter. Wer schlechte Laune
Gerk: Gleich nach dem Aufste- sich hin und wieder den Lu- hat, signalisiert, dass er in
hen, als sich meine Töchter xus gönnen, die geltenden Be- Ruhe gelassen werden möch-
für die Schule fertig machen nimmregeln zu verweigern und te. Das ist ja das Schlimmste,
sollten. Die eine wollte sich richtig schön grantig zu sein. was es gibt: Man ist so richtig
nicht kämmen, die andere SPIEGEL: Damit fällt man zu- mies drauf, dann kommt je-
nicht anziehen. Da war ich mindest auf. mand an und fragt: „Was hast
ziemlich gereizt. Und ich flu- Gerk: Wir leben in einer Wütender Fußballtrainer du denn? Kann ich was für
che beim Autofahren. Da be- Zeit, in der jeder nur noch Trapattoni 1998 dich tun?“ Schrecklich. mag
D
er König hockt eingesunken auf einer Bierbank Trinken, das bin ich von der Wirtschaft schon gewohnt.“
vor dem Zelt, trägt eine grüne Jacke über dem Im „Deutschen Eck“ saßen sie bis sechs, sieben Uhr
hageren Oberkörper, das weiße Haar ordentlich morgens, tranken. Noch in den Anfangsjahren muss es
gescheitelt, und hält ein Kölsch in der Hand, um Viertel gewesen sein, erzählt Willi Passmann, da kam einer rein
vor elf am Sonntagmorgen. Herren in Uniform und vom Schützenverein, bestellte ein Kölsch, knallte dem
Damen in Jeans drängen sich um ihn, schütteln seine Wirt einen Zettel auf den Tresen, das war der Mitglieds-
Hand, rufen „Mensch, Willi“ und „Glückwunsch zum antrag. Er unterschrieb, natürlich. Hier bedeutet Eigen-
Amt“. Es ist Schützenfest in Dümmlinghausen, Gum- brötlerei den Ruin. Noch heute ist Willi Passmann Mitglied
mersbach, mit der Regionalbahn und dem Bus eine Stun- in zwei weiteren Schützenvereinen, dem Männerchor, er
de und 30 Minuten entfernt von Köln. Der Mann, den geht angeln, knobeln, zum Frühschoppen und jeden Mitt-
sie alle bewundern, ist zu Besuch hier, er ist 99 Jahre alt woch zum Skat. „Der Willi ist aktiver als wir alle“, schreit
und ohne Hörgerät fast taub. Und, zum ersten Mal in eine Frau dazwischen, Passmanns Adjutantin. Aus dem
seinem Leben, König. Er regiert seit zwei Wochen den Festzelt wummern Schlager, Andrea Berg.
Schützenverein in einem In den Achtzigern probier-
anderen Ortsteil, Steinen- te Willi Passmann es zum
brück. Wahrscheinlich gab ersten Mal: Schützenkönig
es nie einen deutschen Kö- werden. „Na ja“, sagt er,
nig, der älter war. „der Männerchor hat mich
Willi Passmann ist über halt überredet.“ Er stellte
Nacht berühmt geworden, sich mit ein paar anderen
mit einem Schuss auf einen Anwärtern ans Kleinkali-
Vogel aus Schichtholz. Lo- bergewehr, zum „Königs-
kalreporter riefen an, die schießen“. Einen Holzadler
I
n einem Seminarraum der psychosoma- schöpfung, Unruhe, Traurigkeit und Leere ,Fack Ju Göhte‘, der mit Farbpatronen auf
tischen Klinik in Bad Bramstedt sitzen wie die über 50-Jährigen. seine Schüler schießt, damit sie sich be-
elf Frauen und zwei Männer in einem Die Lehrer fühlen sich ausgelaugt durch nehmen. Die Respektlosigkeit, die Null-
Stuhlkreis, vorn ein Tisch mit Kaffee und unmotivierte und undisziplinierte Schüler, Bock-Haltung der Kinder zehren an mei-
Keksen, eine Pinnwand, ein Flipchart, ein durch Streit mit der Schulleitung und den nen Nerven. In der Klasse sind 20 Schüler,
Karton mit bunten Karten und Filzstiften. Kollegen. Sie werden krank, weil ihre Vor- mehr Jungen als Mädchen, sie sind 16, 17
Alle, die hier sitzen, sind Lehrer. Draußen stellung vom Beruf der Wirklichkeit in der Jahre alt. Und immer kommt einer zu spät.
ist Sommer, der Schulbeginn kommt mit Schule nicht entspricht. Morgens zu Unterrichtsbeginn und aus den
jedem Tag näher. Die Runde trifft sich zu Frau Kiunke lädt ihre Kursteilnehmer Pausen, einfach immer. Und nicht einer
ihrer letzten Sitzung, der Kurs, den sie zu einer Übung ein. Sie sollen Abstand ge- oder zwei. Manchmal fünf, manchmal acht,
dann beendet haben wird, heißt „Agil“, winnen zum Alltag, zum Gewohnten, sie und immer sind es andere. Die kommen
eine Abkürzung für „Arbeit und Gesund- sollen sich selbst aus der Distanz anschau- ins Klassenzimmer gelatscht, Kopfhörer
heit im Lehrerberuf“. Dahinter steckt eine en. Sie sagt: Stellen Sie sich vor, Ihr Beruf auf, Energydrink in der Hand.“
Therapie, entwickelt für Lehrer, die ent- ist eine Party. Sie wollen da unbedingt hin, An ihrer Schule muss jeder Schüler ei-
weder schon unter Burn-out leiden oder Sie wollen Spaß haben. Aber da ist ein nen Vertrag unterschreiben: keine MP3-
die, wie in diesem Fall, befürchten, einen Hindernis. An wem müssen Sie vorbei, um Player im Unterricht, keine Handys, Caps
Burn-out zu bekommen. auf diese Party zu gelangen? müssen abgesetzt werden, Hausaufgaben
Mittendrin sitzt Wibke Kiunke, eine „Am Türsteher“, sagt der ältere der bei- sind zu erledigen. Interessiert die Schüler
Frau mit roten Haaren und runder Metall- den Männer. nicht. Die sitzen vor ihr, quatschen, essen,
brille, sie ist Oberärztin und stellt das The- Richtig, sagt Frau Kiunke. Am Türsteher. telefonieren, werfen mit Papierkugeln.
ma des Nachmittags vor: „Erholung, Wert- An Ihrem inneren Türsteher. Ihr innerer Wenn sie die Schüler auffordert, einen
schätzung“. Es geht um Fragen wie: Was Türsteher ist all das, was zwischen Ihrer Arbeitsbogen auszufüllen, legen die meis-
ist Wertschätzung? Und was ist Erholung? Vorstellung vom Lehrerberuf und der ten den Kopf auf den Tisch. Fordert sie
Kann Arbeit Erholung sein? Wirklichkeit steht. Es soll also in der die Schüler auf, endlich anzufangen, kriegt
„Haben Sie alle Ihre Ressourcen dabei?“, Übung darauf ankommen, am inneren Tür- sie zu hören: „Alte, nerv nicht!“
fragt Kiunke. Die beiden Männer, in prak- steher vorbeizukommen. Nachts liegt sie oft stundenlang wach
tischem Kurzarmhemd und bequemen und grübelt: Wie kriege ich die Klasse in
Schuhen, lehnen sich auf ihrem Platz zu- Ganz rechts im Stuhlkreis sitzt Julia H., den Griff? „Die Kunst ist es meiner Mei-
rück, die Beine übereinandergeschlagen, sie ist Lehrerin an einer Schule in Nord- nung nach, die Situation nicht eskalieren
als müssten sie sich von irgendwas distan- rhein-Westfalen, graue Haare, weiße Bluse, zu lassen“, sagt Julia H. „Es gibt Schüler,
zieren. Die Frauen, mit den Händen auf dunkler Blazer, ihr Alter möchte sie nicht die haben schon mal eine Kollegin ge-
dem Schoß, sitzen aufrecht da, der Frage- nennen. Nach dem Abitur wollte sie ei- klatscht, also körperlich angegriffen. Des-
stellung zugewandt. gentlich „was mit Büchern“ machen, am wegen halte ich mich zurück und versuche,
Fünfmal haben sie sich schon in diesem liebsten wäre sie Lektorin geworden, „aber nicht emotional zu werden. Ich sage mir:
Kreis getroffen, jeweils für viereinhalb das habe ich mich nicht getraut“, sagt sie. Die Konsequenz zeigt sich in der Note.“
Stunden, haben Begriffe gelernt wie „in- Sie hat Sonderpädagogik und Germanistik In Englisch hat sie Wörterbücher verteilt,
fernalisches Quartett“, „Grübel-Stopp- auf Lehramt studiert, aber erst einmal kein die Schüler sollten Vokabeln nachschlagen.
Strategie“ und „Rechtfertigungsreflex“. Referendariat gemacht, sondern bei einem Da hat einer sie gefragt, ob er auch nach
Die Schön Klinik in Bad Bramstedt ist kleinen Verlag angefangen. Mit 40 hat sie dem Wort für „Titten“ suchen könne. Fünf,
spezialisiert auf die Behandlung von Burn- Kinderbücher aus dem Spanischen über- sechs Schüler, sagt Julia H., hätten sich
out und Depressionen. Zweimal im Jahr setzt und sich gefragt, ob sie das mit 60 nicht mehr eingekriegt. Sie ist rausgegan-
bietet sie einen Präventionskurs an, der immer noch machen will. Wollte sie nicht. gen aus der Klasse, hat sich draußen hin-
speziell für Lehrer entwickelt wurde. Die- 17 Jahre nach ihrem ersten Staatsexa- gesetzt und gewartet. Bestimmt 20 Minu-
ser Kurs ist immer ausgebucht. Und von men hat sie angefangen, als Lehrerin zu ten. Erst hätten die Schüler das cool ge-
den rund 2000 Patienten, die sich hier pro arbeiten, 2007 war das. funden, weil die Lehrerin weg war, sagt
Jahr stationär wegen Depressionen behan- Julia H. hält sich für eine „ziemlich re- sie, dann seien sie irritiert gewesen.
deln lassen müssen, die so krank sind, dass siliente Person“, findet jedoch, nichts sei Schließlich kam ein Junge zu ihr auf den
sie ein Arzt schickt, bilden Lehrer die größ- so anstrengend, wie Lehrerin zu sein. Sie Flur, fragte, ob sie noch unterrichten wolle.
te Berufsgruppe. Es kommen mehr Frauen habe eine Klasse, bei der bekomme sie je- „Ich habe geantwortet: ,Nö, so nicht.‘
als Männer, sie arbeiten an Gymnasien, des Mal Bauchschmerzen, sagt sie, wenn Der Junge sagte: ,Wir reißen uns auch zu-
Grundschulen, Berufsschulen, auf dem sie hinmüsse. Weil sie weiß, dass es wieder sammen.‘ Ich meinte: ,Guck mal einer an.‘
Land und in der Großstadt. zu Konflikten kommt. An einem Morgen Danach lief der Unterricht halbwegs ge-
Etwa jeder dritte Lehrer in Deutschland war es so heftig, dass sie nach der Stunde ordnet weiter.“
leidet im Lauf seines Berufslebens an Burn- lange und laut zu weinen begann. Nur einmal ist sie ausgerastet. Es pas-
out, unabhängig vom Alter. Die unter 30- Julia H. sagt: „Manchmal hätte ich gern sierte, als ein Schüler an der Tafel stand
Jährigen klagen genauso häufig über Er- so eine Knarre wie der Lehrer in dem Film und Faxen machte. „Da habe ich aus voller
66 DER SPIEGEL 38 / 2017
ILLUSTRATIONEN: ELLIE FOREMAN-PECK / DER SPIEGEL
Kehle geschrien: ,Sie gehen mir so auf den chend seiner Begabung zu fördern, jedes nismus führt dazu, dass sie sich schlecht
Sack!‘ Hätte ich nicht tun sollen“, sagt Julia Kind individuell pädagogisch begleiten zu entscheiden kann. Deshalb wird sie mit ih-
H. „Mir ist das bis heute noch peinlich.“ wollen. Ihnen wird die Kluft zwischen rer Arbeit nur langsam fertig, und wenn
Wunsch und Realität eines Tages zu schaf- sie fertig ist, ist sie nicht zufrieden. Sie be-
Laut einer Studie des Instituts für Schul- fen machen. Diesen Lehrern mangelt es an wegt sich in einer Spirale des Zweifelns.
pädagogik der Universität München ist gut Distanz zu ihrem Beruf, sie überschätzen Schon im Referendariat hat sie ein paar
ein Drittel aller Lehramtsstudenten wohl sich, haben zu hohe Ansprüche. Sie zeich- Coachingstunden genommen, weil sie ge-
nicht für den späteren Beruf geeignet. Die- net ein maßloses Engagement aus, das der merkt hat, dass sie schneller werden muss.
se Studenten, die Gefahr laufen zu schei- Lebenswirklichkeit nicht entspricht. Sie ist mit einer Vier gerade noch durch
tern, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Ein Problem für diese Lehrer ist die vage das Examen gerutscht.
Zum einen sind da jene, die eigentlich Definition dessen, was zu ihren Aufgaben „Bei mir ist es so, dass ich große Proble-
gar nicht mit Kindern und Jugendlichen gehört. Ein Lehrplan lässt Spielraum – wie me damit habe, die Noten zu geben. Stän-
arbeiten, gar nicht unterrichten wollen. Sie intensiv und mit welchen zusätzlichen In- dig frage ich mich: Habe ich genug berück-
zweifeln an der eigenen Eignung, sie wür- halten er gefüllt wird, ist dem Lehrer weit- sichtigt, was die Schüler wirklich können?
den lieber Chemie oder Germanistik stu- gehend überlassen. Wann also hat ein idea- Was sie noch nicht können? Andere Kol-
dieren, lassen es aber, weil ihnen die An- listischer Lehrer genug getan? legen geben die Note einfach. Anderer-
sprüche zu hoch sind oder weil sie befürch- „Für diese Lehrer zählt Burn-out zum seits: Wenn von den Schülern einer kommt
ten, keinen Job zu finden. Der Beruf ist Ehrenkodex“, sagt Psychiater Andreas Hil- und nach einer Begründung für die Note
für sie eine Notlösung. Ihnen ist nichts Bes- lert, der das Agil-Training entwickelt hat. fragt, kann ich es jedes Mal rechtfertigen“,
seres eingefallen. sagt sie. „Deshalb mache ich es ja so aus-
Weil die pädagogischen Anforderungen Wahrscheinlich gehört Britta W. zu dieser führlich: damit ich Argumente habe.“
an Lehrer nicht geringer, sondern wegen zweiten Gruppe. Sie sitzt im Stuhlkreis ne- Eine Unterrichtsstunde ist für sie nie per-
der zunehmend heterogenen Klassen eher ben einer Kollegin, die mit ihr gemeinsam fekt. Sie hat immer die nächste Klausur im
größer werden, geraten diese Studenten an einem Gymnasium in Norddeutschland Kopf. Die Korrektur einer Arbeit ist nie er-
später häufig an ihr psychisches Limit. unterrichtet. Britta W. ist Deutsch- und ledigt. Ständig fragt sie sich: Habe ich den
Julia H., die Frau, die aus dem Klassen- Französischlehrerin, hat einen sportlichen individuellen Fortschritt eines Schülers aus-
zimmer rennt und nach der Stunde heult, Haarschnitt, sie stammt aus einer Lehrer- reichend gewürdigt? Ist eine Antwort gut,
gehört wahrscheinlich zu dieser Gruppe. familie, für sie war immer klar, dass sie wenn sie richtig ist? Oder ist sie ebenso
Die zweite Gruppe besteht aus Idealis- auch Lehrerin werden würde. gut, wenn sie falsch, aber originell ist?
ten. Das sind Studenten, deren Motivation Sie will, so sagt sie es, „dass mein Un- Sie hat im Lauf der Zeit ihre Illusionen
es ist, jeden einzelnen Schüler entspre- terricht, das Schule fair ist“. Ihr Perfektio- verloren. Im Referendariat hat sie zehn
68 DER SPIEGEL 38 / 2017
Gesellschaft
Stunden Unterricht gegeben, verteilt über wollte sie nie wieder etwas mit Schule zu mal bin ich nicht mehr ich selbst. Ich muss
vier Tage, sie hat gebastelt und laminiert, tun haben. Sie absolvierte eine Lehre und sehen, dass ich die letzten 15 Jahre noch
„man macht Zirkus“. Sie dachte, dass es so arbeitete zehn Jahre lang als Industriekauf- gesund hinkriege.“
ähnlich weitergehen würde, wenn sie Leh- frau. Sie war gerade in Elternzeit, als das
rerin sei. Als es dann richtig losging für sie, Unternehmen pleiteging. Sie brauchte ei- Nach der Pause zeigt Frau Kiunke ein kur-
kam erst mal ein kleiner Zusammenbruch. nen neuen Job, hatte aber keine richtige zes Video. Es geht um Lob, um Wertschät-
Britta W. sagt: „Das eigentliche Problem Idee. In der Zeitung las sie dann, es wür- zung. Lehrer, sagen die Lehrer in der Run-
ist doch dieses: Das, was hinter meinen den Berufsschullehrer gesucht. Warum ei- de, bekämen wenig Anerkennung, kaum
Schwierigkeiten steckt, ist etwas Positives: gentlich nicht?, fragte sie sich. Feedback. Anlass für Gespräche sei fast
Begeisterung, Leidenschaft, Freude am Un- Heute arbeitet Vera H. an einer Schule immer Kritik. Der ältere der beiden Män-
terrichten. Etwas, das ich nicht ablegen mit mehr als 2000 Schülern, von denen ner beklagt „die Kultur der Nörgler, die
will, weil es mich ausmacht. Das macht es sich jedes Jahr mindestens einer das Leben wir in Deutschland haben“.
so schwierig.“ nimmt. Sie unterrichtet neun Klassen. Den Ob nicht wenigstens andere Lehrer mal
Kurs in Bad Bramstedt besucht sie, weil loben, beispielsweise, wenn sie sehen, wie
Was könnte der innere Türsteher sein? sie eine Lehrerin kennt, die sich in der Kli- der Kollege unterrichtet, will Frau Kiunke
Nach zehn Minuten Bedenkzeit bittet Frau nik stationär behandeln ließ. wissen. „Wer soll denn gucken?“, sagt eine.
Kiunke die Teilnehmer wieder in den Vera H. hat sich gefragt, wie es passieren „Wir haben die Tür ja immer zu.“
Kreis, die Lehrer heften beschriebene konnte, dass ihre Kollegin ausgebrannt ist. Die sogenannte Gratifikationskrise führt
Pappkärtchen an die Pinnwand. Auf einer „Ich dachte, die führt ein entspanntes zu Dauerstress. Lehrer, die meinen, dass
steht: „Du hast noch zu viel zu tun.“ Auf Leben.“ sie sich für die Arbeit verausgaben, ohne
einer anderen heißt es: „Du musst Deine Sie erfuhr, dass die Kollegin nicht mehr dafür entsprechend gewürdigt zu werden,
Arbeit besser/schöner machen.“ Auf der zwischen Beruf und Freizeit trennen konn- haben ein sechsfach erhöhtes Risiko, an
nächsten Karte: „Die anderen denken, Du te, weil sie zu viele Probleme mit nach einer Depression zu leiden, als Kollegen,
bist ein Faulpelz.“ Hause nahm. Vera H. kam das bekannt vor. bei denen Engagement und Wertschätzung
Die Frage ist, was man seinem inneren Sie unterrichtet Klassen mit Inklusions- in der Balance sind.
Türsteher antwortet. „Meine Arbeit ist zu- kindern. In einer sitzen ein Mädchen mit Das Vorurteil, sie seien faul, hätten nach-
friedenstellend erledigt!“, hat jemand auf sozialer Phobie, eine Borderlinerin und mittags frei und ständig Ferien, nimmt Leh-
eine weiße Karte geschrieben. Ein ande- ein Junge mit Sehschwäche; insgesamt 5 rern den Mut. Je mehr sie zu tun haben,
rer: „Pausen sind sinnvoll!“ Ein Vorschlag von 28 Schülern brauchen besondere Für- je niedriger die Anerkennung, desto höher
lautet: „Wenn ich eine Pause mache, kann sorge und Freiräume. die Gefahr, Symptome eines Burn-out zu
ich später mehr leisten!“ Das Satzzeichen, Vera H. sagt: „Meine Borderlinerin fehlt entwickeln.
das die Lehrer am häufigsten verwenden, häufig im Unterricht, weil sie ins Kranken- Wibke Kiunke hat den Eindruck, dass
ist das Ausrufezeichen. haus muss. Ich telefoniere dann mit den die Lehrer, die zu ihren Patienten wurden,
Eine Befragung, die der Bayerische Be- Ärzten, schicke ihr Lesestoff und Übungs- in den vergangenen Jahren kränker gewor-
amtenbund in Auftrag gegeben hat, zeigt: aufgaben. In der Schule erzählt sie mir oft den sind. „Möglicherweise, weil sie sich zu-
Stärker als Angestellte im öffentlichen von ihren Problemen. Ich habe ihr meine nächst länger ambulant behandeln lassen,
Dienst meinen Lehrer, ihre Arbeit nehme Handynummer gegeben, sie schickt mir möglicherweise, weil sie unbedingt durch-
zu. Sie sammeln nach eigenem Bekunden SMS, sucht meinen Rat. Ich bin immer auf halten wollen und später Hilfe suchen.“
mehr Überstunden und spüren ein höheres Abruf. Einmal hat sie mich an einem Sams-
Maß an Verantwortung. Sie fühlen sich ge- tagabend um halb neun angerufen, sie war Ein paar Flure vom Seminarraum entfernt
stresster. in einer Verfassung, ich dachte, sie wirft liegt Station F2, wo sich fünf Psychologen
Ausgebrannte Lehrer können sich nicht sich vielleicht vor den nächsten Zug. Wo- und drei Ärzte um 27 Patienten kümmern.
gedanklich von der Situation lösen, die sie her soll ich wissen, wie man in so einer Si- In den vergangenen sechs Wochen hat Pe-
belastet. Sie kapitulieren bei beruflichen tuation mit dem Mädchen sprechen muss? tra L. hier ein Einzelzimmer bewohnt, im
Misserfolgen und kapseln sich ab, bleiben Ich habe keine Ahnung, was meine Worte zweiten Stock, auf dem Gang für Depres-
allein, lassen sich nicht helfen. bei ihr auslösen.“ sive und Traumatisierte. Petra L. ist Grund-
Psychiater Hillert meint, solche Lehrer Es ist noch nicht lange her, da sollte ein schullehrerin. Sie kommt aus Hessen, 58
könnten nicht mit Kritik umgehen. „Sie ver- Mädchen ein Referat halten. Als Vera H. Jahre alt, rote Haare, Brille.
stehen Kritik nie konstruktiv, sondern mei- es nach vorn bat, sagte die Schülerin, sie Als sie nach Bad Bramstedt kam, „war
nen immer, man wolle sie fertigmachen.“ sei in Therapie, sie könne nicht vor ande- ich fix und fertig, ich war gleichzeitig ner-
Für Hillert ist Lehrer ein Beruf, der den ren sprechen, in Physik habe sie in so einer vös und erschöpft“, sagt sie. Die Ärzte
ganzen Menschen fordert, vielen fehlten Situation einen Heulkrampf bekommen. diagnostizierten eine mittelschwere De-
jedoch „wesentliche Kompetenzen“. Dazu „Wie behandle ich so jemanden?“, fragt pression. Montags bekommt sie ihre Me-
zählen für ihn ein sicheres Auftreten, der Vera H. Sie hat aus dem Gefühl heraus dikamente für die Woche, Petra L. nimmt
Umgang mit der Stimme, soziale Kompe- entschieden, dass das Mädchen sein Refe- Sertralin, das ist ein Stimmungsaufheller,
tenz. „80 bis 90 Prozent der Lehrer hinter- rat vom Platz aus halten darf. „Ich habe der auch Rückfällen vorbeugt. Sie hat Be-
fragen das eigene Leistungsvermögen mich tagelang gefragt, ob ich es bevorzugt wegungstherapie, Achtsamkeitstraining,
nicht“, sagt Hillert. „Sie fragen sich nicht: habe. Was, wenn das Mädchen noch ein- soziales Kompetenztraining, lernt Atem-
Was ist mein Anteil am Konflikt mit den mal zusammengebrochen wäre? Was hätte techniken zur Entspannung, hat Ge-
Schülern? Warum sollen andere meinen ich dann machen sollen? Und wie hätte sprächs- und Gruppentherapie nach der
Erwartungen entsprechen? Warum will ich ich die Leistung bewerten sollen?“ Methode für Lehrer. Ab 16 Uhr hat sie
von allen gemocht werden?“ Zehn Stunden arbeitet sie am Tag, 60 frei, spätestens um 23 Uhr muss sie auf ih-
Stunden in der Woche. Sie sitzt jedes Wo- rem Zimmer sein.
Einige Plätze links von Britta W. sitzt Vera chenende am Schreibtisch: den Unterricht Was sie in der Klinik gelernt hat? Dass
H., sie ist Lehrerin in Mecklenburg-Vor- vorbereiten, die Woche planen. sie immer mehr Lasten auf sich geladen
pommern, eine Frau Anfang fünfzig, in „Die Wertschätzung ist gering, Rückmel- habe, bis sie zusammengebrochen sei, sagt
weißer Hose und Parka. Nach dem Abitur dung im Erfolgsfall gibt es nicht. Manch- sie. Dass sie ein Helfersyndrom habe und
DER SPIEGEL 38 / 2017 69
Gesellschaft
Gratis
ųšwćıŅ
ĬŸōťŭĴĬğšćŅťĴŋ-ćōĚğŅ łŸōĚĴĬğōųōĚğšıćŅŭğğĴō^V0(>(šćŭĴťığĨŭōćĔıwųōťĔıĚćų$
łœťŭğōŅœťğškšŅćųĒťťğšžĴĔğ
ĴōłŅųťĴžğ>0eZekZ^V0(> ĴōĨćĔıĿğŭŭćōĨœšĚğšō'
abo.spiegel.de/bequem
p 040 3007-2700 )ĴŭŭğłŭĴœōťōųŋŋğšćōĬğĒğō'^VǾ"ǿǾ*+
Gesellschaft
I
ch habe in letzter Zeit einige Interviews zur rätselhaf- einer Kollegin, dass sie in kleiner Runde die Frage disku-
ten Angela Merkel gegeben, obwohl ich sie auch nicht tiert hätten, wieso so wenige Journalisten in den überre-
verstehe. Im Dokumentarfilm „Die Unerwartete“ war gionalen Medien aus dem Osten stammten.
ich kurz zu sehen, allerdings nur ganz am Anfang, als es Schade, dass ich nicht zu der Runde gehörte, denn da-
um die ersten Jahre Angela Merkels in der Politik ging. rauf hätte ich eine Antwort gehabt.
Meine Erklärungsversuche zur späten Angela Merkel In der Republik im Osten gab es lange Jahre keinen wirk-
schienen die Filmemacher nicht so überzeugt zu haben. lichen Journalismus, die Journalisten, die dort ausgebildet
Diese Phase ihrer Karriere kommentierte vor allem der wurden, waren vor allem Parteiarbeiter. Sie sollten nicht
Kollege Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“, die Wirklichkeit beschreiben, sondern eine Art sozialisti-
ein leidenschaftlicher Erklärer deutscher Zustände. Ich sche Idealwelt. Als dann plötzlich Journalismus gefragt
saß vorm Fernseher und wartete auf meinen nächsten war, waren viele von ihnen nicht bereit, schämten sich
Auftritt, aber es erschien immer oder hatten Angst, enttarnt zu
nur Prantl und sagte, was los ist, werden, als was auch immer.
mit Angela Merkel und mit Manche ostdeutschen Journalis-
Deutschland. ten, die die Wende überlebten,
Ich war erst enttäuscht, aber kauften sich einen Westanzug
am Ende begriff ich die Auswahl. und verwischten ihre Spuren, an-
Ich habe Schwierigkeiten, die dere hatten keine Lust mehr auf
deutsche Seele und die deutsche Zugeständnisse und Kompromis-
Politik zu erklären, oft verstehe se, sie wollten sich nicht mehr sa-
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
ich nicht mal mich selbst. Aller- gen lassen, wohin die Reise geht.
dings arbeite ich im Erklärungs- Sie misstrauten Karrieristen, Kon-
gewerbe, da muss man Zugeständ- ferenzen und Netzwerken. Sie
nisse machen. Erst recht, wenn suchten nach Nischen, in denen
man freundlich gefragt wird, noch man sie in Ruhe ihre Arbeit ma-
dazu von ausländischen Kollegen. chen ließ. Sie scheuten Verant-
Der Bedarf an Erklärungsversu- wortung, Massenaufläufe und ga-
chen zu Angela Merkel ist auch Klappe, Merkel ben ihre Erfahrungen an die nach-
im Ausland hoch. wachsende Ostgeneration weiter.
Im vorigen Jahr erklärte ich Angela Merkel an der New Die westdeutschen Kollegen bestaunten unsere Lebens-
York University, davor den Engländern. Die Kollegen der wege, wie man Katzen bestaunt, die aus der Fremde allein
BBC interviewten mich im Café Sybille. Das liegt auf der nach Hause finden. Aber es blieben weiße Stellen, es blieb
Karl-Marx-Allee und sieht so aus, wie sich England den Misstrauen. Man setzte lieber einen durchschnittlich be-
Osten vorstellt und ich mir inzwischen auch. Wenn sich gabten Westkollegen oder einen Soldaten ohne Vergan-
die Klischees mit den Erinnerungen decken, ist die Einheit genheit ins System als eine der unberechenbaren Ostkat-
vollzogen. Das Gespräch fand auf Englisch statt, was dem zen. Der Durchschnitt ist auf Netzwerke angewiesen. Alles
Ganzen eine angenehm absurde Note gab. Ostthema, Ost- soll so bleiben, wie es ist. Das ist meine Antwort. Beinahe.
kulisse, Ostpersonal, Ostzeitzeuge, aber alles auf Englisch. Vor ein paar Jahren bekam ich das Angebot, Chefredak-
Es erinnerte an das Musical „Cabaret“ oder an die Serie teur einer Tageszeitung zu werden, die man fast überregio-
„The Americans“, die von zwei sowjetischen Spionen in nal nennen kann. Ich wollte es eigentlich nicht, aber ich
Washington handelt, die nie Russisch sprechen, nicht mal, hatte das Gefühl, endlich auch mal mitmachen zu müssen,
wenn sie zusammen im Bett liegen. Einer der Spione wird um nicht als ewiger Nörgler ins Grab zu fallen. Ich habe
von einem walisischen Schauspieler dargestellt, der alle mich mit vielen Leuten beraten, denen ich vertraute, ich
Kraft darauf verwenden muss, einen amerikanischen Ak- habe hin und her überlegt. Am Ende habe ich abgesagt.
zent hinzubekommen. So in etwa fühle ich mich als Erklärer In den Tagen, als ich mich mit der Entscheidung herum-
von Angela Merkel. Ein Welshman auf der Weltbühne. schlug, bewarben sich zwei der Kollegen, die ich um Rat
Das letzte Merkel-Interview gab ich vor drei Wochen gefragt hatte, auf die Stelle, die mir angeboten worden
dem sehr netten Deutschlandkorrespondenten der „Irish war. Sie hatten mir beide abgeraten. Sie kamen beide aus
Times“. Ich erzählte ihm, dass Angela Merkel offenbar dem Westen. Seitdem traue ich bei wichtigen Entschei-
immer weniger Menschen traue. Er zitierte mich in seinem dungen eigentlich nur noch meiner Frau.
Text mit den Worten, dass ich mich fühle wie ein Sterne- Wahrscheinlich ist mir Angela Merkel gar kein so großes
deuter. Damit kann ich leben. Merkels Astrologe. Rätsel.
DieLochis Ralf Zacherl Philipp Christopher Iris Mareike Steen Tyron Ricketts
Foto: Privatfoto
Laura Osswald Tobias Strobl Nina Moghaddam Tim Raue Rebecca Mir
ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY IMAGES
Air Berlin
Beim Bodenpersonal der insolventen Fluglinie Air Berlin, bekommt sein angestammtes Salär weiter. Das sei üblich,
das von allen Mitarbeitern die schlechtesten Beschäfti- versichert der Air-Berlin-Generalbevollmächtigte Frank Ke-
gungsperspektiven hat, wächst der Unmut über die haus- bekus, man habe verhindern wollen, dass diese Mitarbeiter
eigenen Piloten und das Management. Die Flugzeugführer zu Wettbewerbern abwandern. Außerdem handle es sich
hatten sich Anfang der Woche zu Dutzenden krankgemel- nur um einen „erklecklichen siebenstelligen Betrag“. Aus
det, für chaotische Zustände an den Flughäfen gesorgt und dem Umfeld des Gläubigerausschusses heißt es dagegen,
damit die Verkaufsbemühungen der Firmenleitung gefähr- pro Monat würden rund zehn Millionen Euro fällig – zulas-
det. Dabei sind die Cockpitkräfte ohnehin privilegiert. ten der Masse und des von der Bundesregierung gewährten
Ähnlich wie die übrigen Mitarbeiter beziehen sie seit Be- Rettungskredits in Höhe von 150 Millionen Euro. Auch sei
ginn des Verfahrens Mitte August drei Monate lang Insol- eine Gehaltsaufstockung für Besserverdiener in einem In-
venzgeld von der Bundesagentur für Arbeit (BA). Weil das solvenzfall keineswegs selbstverständlich, zumal, wenn der
jedoch auf maximal 6350 Euro brutto pro Monat gedeckelt Staat einspringt. Bei einem ähnlichen Verfahren, der Pleite
ist, beschloss der Gläubigerausschuss, dem auch ein BA- des katholischen Weltbild-Verlags 2014, hatte der Betriebs-
Vertreter angehört, gleich in seiner ersten Sitzung am rat heftig kritisiert, dass die Führungskräfte finanziell abge-
23. August, den Betrag für die Piloten bis zu ihrem regulä- federt wurden. Gerade sie, argumentierten Arbeitnehmer-
ren Gehalt aufzustocken. In Einzelfällen kann das mehr als vertreter, hätten zu der Schieflage maßgeblich beigetragen
10 000 Euro pro Monat ausmachen. Auch das Management und sollten deshalb Solidaropfer bringen. did
Volkswagen chef Diess am Rande der Au- „Das Veränderungstempo die Botschaft bei einer Be-
Markenchef Diess tomesse IAA. Mit dem soge- muss in allen Bereichen kon- triebsversammlung am Don-
will mehr Tempo nannten Zukunftspakt, der
drastische Einschnitte beim
tinuierlich steigen.“ Im Vor-
stand stößt Diess mit solchen
nerstag. Die Eigentümerfami-
lien Porsche und Piëch geben
Herbert Diess erhöht den Personal und Milliardeninves- Aussagen nicht nur auf Zu- Diess indessen ausdrücklich
Druck auf die Belegschaft des titionen in neue Geschäfts- stimmung. Das Tempo ließe Rückendeckung. Wenn es
Wolfsburger Autoherstellers. felder vorsieht, sei bereits die sich nicht ohne Weiteres erhö- Möglichkeiten gebe, die Um-
„Wir müssen noch mehr Gas richtige Basis gelegt. VW hen, hieß es. Schon jetzt liege setzung des Zukunftspakts zu
geben, um den Wandel zu sei jedoch noch längst nicht VW beim Personalabbau beschleunigen, sollten diese
stemmen“, sagte VW-Marken- am Ziel, sagte der Manager: über Plan. Ähnlich lautete ergriffen werden. mhs, sh
W
ann hat es eigentlich angefangen, Ort der Langsamkeit inmitten der Hektik. der neu verpackt. Doch die Geschichte da-
dass Kaffee so wichtig wurde? Er Ein Handwerksprodukt und keins der In- hinter ist eine uralte. Sie erzählt davon,
ist ja schon lange das Lieblings- dustrie. Es ist eine Story, wie sie Tausende dass viel von dem, was heute Globalisie-
getränk der Deutschen, aber jahrzehnte- kleiner Läden auch erzählen, in denen Ba- rung heißt, in Wahrheit immer noch Kolo-
lang war er eben auch ein Langweilerpro- risti die Zubereitung jeder Tasse zelebrie- nialismus ist.
dukt, das von der Werbung mühsam auf ren wie eine spirituelle Handlung und ne-
„Verwöhnaroma“ gehievt werden musste. benbei mit den Kunden über den Einfluss 1. Die Ernte
Ein Symbol höchstens für hausfrauliche von Arabica- und Robusta-Bohnen auf die Eine Nespresso-Kapsel enthält 5,2 Gramm
Sorgfalt – in einer Liga mit Waschpulver, Struktur der Crema fachsimpeln. Kaffee und kostet 30 bis 40 Cent. Pro Ki-
Spülmittel und Halbfettmargarine. Es gehört jedoch auch zum Erfolg von logramm sind das 60 bis 80 Euro.
Heute ist das anders. Kaffee ist Luxusgut Kaffee, dass die Realität hinter den Ge- Für einen Caffè Latte in der mittleren
und Lifestyle-Accessoire. Zumindest wird schichten kaum jemand erzählt. Die Bru- Größe, Pappbecher inbegriffen, nimmt
er so inszeniert. Brühkapseln, die angeb- talität der Spekulanten, die den Rohstoff- Starbucks 3,85 Euro. Enthalten sind schät-
lich auch George Clooney benutzt, werden preis nach Belieben peitschen. Die welt- zungsweise 15 Gramm Kaffee.
in den Shops von Nespresso präsentiert weite Konzentration des Kaffeemarkts. Es könnte sein, dass Juan Gonzales die
wie Schmuckstücke beim Juwelier. Den deutschen Röst-Protektionismus. Den Bohnen für diesen Kaffee gepflückt hat.
Auch Starbucks stilisiert seinen Pappbe- Irrsinn der teuren Espressomaschinen. Er ist zwölf Jahre alt und arbeitet mit sei-
cher-Caffè-Latte immer mehr zum Luxus- Und die Ramschqualität des Supermarkt- ner Mutter Maria, einer Maya-Frau, bei
produkt hoch. In Seattle testet das Unter- 500-Gramm-Vakuumgesöffs. der Ernte an den Hängen des Vulkans To-
nehmen ein neues Filialkonzept. Der Kaf- Es geht um einen der wichtigsten Roh- liman westlich der Hauptstadt Guatemalas.
fee wird dort nicht nur frisch gemahlen, stoffe im Welthandel: Über 50 Milliarden Hier wächst der Arabica-Kaffee, den die
die Bohnen werden im Café auch geröstet. Euro ist der Markt für geröstete Bohnen Deutschen so schätzen. Der Junge und sei-
In bulligen schwarzen Maschinen aus Guss- schwer. Fast eine Billion Tassen der schwar- ne Mutter arbeiten für eine Finca, deren
eisen, die an Dampflokomotiven erinnern zen Droge werden weltweit jedes Jahr ge- Besitzer Carlos Torrebiarte heißt. Er ver-
und wohl Tradition signalisieren sollen. Fi- leert. Allein in Deutschland schüttet jeder kauft seinen Kaffee auch an Starbucks.
lialen in Shanghai, Tokio und New York Erwachsene durchschnittlich 162 Liter pro „Juan hat den über einen Zentner schwe-
sollen folgen. Jahr in sich hinein. ren Sack geschleppt“, sagt die Mutter,
Das deutsche Unternehmen Probat, Für die Konsumenten wird der Kaffee müde und stolz auf ihren Sohn. Sie ist kei-
Weltmarktführer bei Röstmaschinen, hat immer wieder neu erfunden, immer wie- ne 30 Jahre alt, sieht aber aus wie 50. Ein
das Modell eigens für Starbucks gebaut. Stahlstift ersetzt einen ihrer Schneide-
„Der Erfolg einer Kaffeemarke“, sagt Ge- zähne.
schäftsführer Wim Abbing, „ist zu 90 Pro- Rohstoffquellen Am Berg ist die Kaffeeernte in vollem
zent die Geschichte, die sie erzählt.“ Die zehn größten Produzenten von Rohkaffee, Gang. Frauen mit Scharen von Kindern
Und die Storys, die die Menschen hören Anteil an der Weltproduktion 2016, in Prozent ziehen die Hänge hinauf. Es ist schwer, als
wollen, ändern sich. Vor zwei Jahrzehnten Journalist mit ihnen zu reden. Sofort greift
zeigte die Werbung noch heimelige Fami- Quelle: ICO einer der bewaffneten Wachposten der
lienfeste. Starbucks’ Pappbecher stand für Plantage ein. Ein Gespräch ist nur möglich,
eine neue Laptop-Elite. Immer unterwegs, Brasilien 33 wenn man Maria und Juan sowie andere
nirgends zu Hause – und überall. Dann Frauen und Kinder auf der Ladefläche
kam George Clooney auf einen Nes- des Pritschenwagens mit nach unten ins
presso vorbei. Er brachte Kaffee-Indi- Dorf nimmt.
vidualität aus dem Automaten. Spit- Am Anfang der Wertschöpfungs-
zenespresso fürs Zuhause, so be- kette sind die Kosten niedrig. 42
quem wie Fertigpizza. Quetzales, knapp fünf Euro, be-
„Schnell noch eine Kapsel dieser kommen etwa die Pflückerinnen
DEP O S I TPH OTOS
Droge einwerfen, bevor man ab- Vietnam 19 in Guatemala für einen Zentner
baut, immer wach sein, das passt gepflückten Kaffee. Es ist nichts
in die Taktung unserer beschleunig- im Vergleich zu dem, was später
ten, individualisierten, durchökono- mit Kaffee verdient wird. Und es
misierten Zeit“, sagt der Münchner Peru 2 ist selbst für ein Land wie Guate-
Soziologe Stephan Lessenich. Guatemala 2 mala ein Hungerlohn. In Deutsch-
Starbucks versucht mit seinen Uganda 3 land gäbe es dafür bei Starbucks ge-
Röst-Dampfloks gerade eine neue Er- rade mal einen besonders großen Ca-
Kolumbien 10 Honduras 4
zählung, eine für das postglobalisierte Indien 4 ramel Macchiato.
Zeitalter. Kaffee, vor Ort geröstet, von Indonesien 8 Maria zeigt einen gelben Laufzettel.
Menschen, die man sieht und kennt. Ein Äthiopien 5 Für jeden Tag ist die von ihr und ihrem
DER SPIEGEL 38 / 2017 77
Wirtschaft
Kind gepflückte Menge eingetragen. Nach vollständig abhängig von dem Plantagen- fand 1870 den ersten Kugelröster der Welt
15 Tagen wird der Lohn gezahlt, abhängig besitzer oder dessen Verwalter, sagt Sabuc. – bis dahin brutzelten die Menschen ihre
von der gesammelten Menge. Mal sind es „Wer aufmuckt, fliegt.“ Kaffeebohnen zumeist zu Hause in der
1,5 Zentner am Tag, meist jedoch weniger. Pfanne. Probat beliefert die gesamte Welt
Früh in der Saison müssen viele Früchte 2. Die Röstung mit seinen Maschinen, von kleinen Kaffee-
hängen bleiben, weil sie noch nicht reif Die Preise für Kaffee liegen am Boden. Zu manufakturen bis zu Kaffeekonzernen.
sind. lange haben Konzerne wie Kraft oder Me- Abbing kann mit Begeisterung über den
Marias Tageslohn liegt in der Regel un- litta auf Masse gesetzt. Sie förderten damit Röstprozess reden. Über Röstzeit und Röst-
ter 87 Quetzales, zehn Euro, dem gesetz- nicht nur Monokulturen und ökologischen menge, darüber, wie die zugesetzte Luft den
lichen Mindestlohn in Guatemala für einen Raubbau in den Ursprungsländern, son- Prozess beschleunigt. Er bemerkt, wie der
Tag. Es wäre noch weniger ohne die Mit- dern stutzten auch ihre eigene Marge: Ein Trend zum Kleinen, Handwerklichen geht.
hilfe von Juan, der offiziell nicht mitzählt. Kilo Kaffee kostet im Supermarkt oft nur Von der Großanlage zum Trommelröster.
Kinderarbeit unter 14 Jahren ist in Guate- noch gut sechs Euro. Der Firmenchef will nicht viel zu den
mala verboten. Dennoch gehören arbei- Der Geiz der Konsumenten ist be- Tricks der Kaffeeröster sagen, er redet
tende Kinder in den großen Plantagen zum sonders beim deutschen Standardprodukt nicht gern über die Probleme seiner Kun-
Alltag. Ohne sie könnte der Kaffee nicht zu spüren, der 500-Gramm-Vakuumver- den. Er sagt nur, dass es ihn manchmal
so billig geerntet werden. packung. Hier ist der Preis seit Jahren wundere, welche „Plörre“ in der Masse
„Wenn Sie Kinder in den Kaffeeplanta- gleichbleibend niedrig – mit verheerenden verkauft werde.
gen gesehen haben“, rechtfertigt sich Plan- Folgen für die Qualität der Bohnen, die Probat verkauft selbst keinen Kaffee.
tagenbesitzer Torrebiarte später gegenüber für diese Produktkategorie verarbeitet Aber um die eigenen Maschinen zu testen,
dem SPIEGEL, „sind das Kinder, die mit werden. stellt das Unternehmen eine Hausmarke
ihren Familien sein wollten.“ Er stelle kei- Um die niedrigen Supermarktpreise hal- her, die nur an Mitarbeiter abgegeben
ne Kinder an, biete sogar Kinderbetreuung ten zu können, müssen die Röster mit im- wird. Zum Selbstkostenpreis. „Wir kom-
für die Familien. mer mieserer Ware arbeiten. Um über- men da auf zwölf Euro für das Kilo“, sagt
Auch der Kaffeekonzern Starbucks will haupt noch geschmacklich akzeptable End- Abbing. „Und für weniger ist seriöserweise
nichts Negatives auf der Farm gesehen ha- resultate abliefern zu können, greifen die kein guter Kaffee herzustellen.“ Die meis-
ben. Die Plantage Santo Tomas Perdido Röster zu Tricks. Früher wurden die ver- ten Konsumenten seien derzeit jedoch
habe bei einer Überprüfung im Oktober schiedenen Kaffeesorten, aus denen jeder nicht bereit, so viel Geld auszugeben.
2016 zu den „Top-Performern“ unter den Markenkaffee gemischt wird, gemeinsam
Lieferanten gehört. Wenn dort „Null-To- geröstet und gemahlen. Doch heute reicht 3. Die Kapsel
leranz-Praktiken“ wie Kinderarbeit nach- das oft nicht mehr. Jetzt wird jede Sorte Bei Nestlé, dem größten Lebensmittelkon-
gewiesen würden, hätte das aber selbstver- Kaffee getrennt geröstet, um die letzten zern der Welt, glaubte lange Zeit niemand,
ständlich Konsequenzen. Geschmacksnuancen aufzuspüren. Und ge- dass in Aluminiumdöschen verkaufte Kaf-
Die Fahrt geht vorbei an den sogenann- trennt gemahlen, um an der Krümeligkeit feeportionen jemals ein Erfolg werden
ten Galeras der Finca, an Hütten aus Beton des Gesamtprodukts zu feilen. Erst am könnten. Nespresso galt im Unternehmen
und Steinen, in denen rund hundert Pflü- Ende wird alles zusammengeschüttet. Gute als Karrierekiller.
cker hausen. In der Nacht drängen sich oft Röstmeister pressen auf diese Weise auch Auch Jean-Paul Gaillard war gewarnt,
zwei Familien mit vielen Kindern in einem schlechter Ware noch das Letzte an Ge- als er 1988 bei der damals glücklosen Ab-
Raum, der kaum mehr als einen nackten schmack ab. teilung anfing. Kollegen hatten versucht,
Betonboden hat. Gekocht wird im Das Rösten ist nicht nur aus Genießer- ihn von seinem Wechsel zur damaligen
Schlamm vor der Hütte, private Toiletten sicht der interessanteste Punkt, sondern Kapselklitsche abzubringen.
gibt es nicht. Hier wohnen die Wander- auch ökonomisch. Hier wird aus dem preis- Doch der Manager baute um die Dös-
arbeiter, die Ärmsten der Armen, die nur werten Rohstoff das mitunter teure Kon- chen eine Edelaura mit Boutiquen, in de-
für die Zeit der Ernte von dem Finca-Be- sumprodukt. Hier findet die eigentliche nen Grand-Cru-Kaffees zelebriert werden
sitzer engagiert werden. Wertschöpfung statt. wie teure Weine. Innerhalb weniger Jahre
Emanuel Sabuc, 26, kennt die nicht so Brasilien ist der größte Exporteur von wuchs eine Art Glaubensgemeinschaft he-
schöne Kehrseite des globalen Kaffeege- Rohkaffee. Pro Kilo, mühsam in Hand- ran, deren Produkttreue allenfalls mit der
schäfts. Er hat als Kind in einer solchen arbeit gepflückt, erlöst das Land 2,70 Dol- Kundschaft des Handybauers Apple ver-
Hütte von Santo Tomas Perdido gelebt. lar. Deutschland ist der größte Exporteur gleichbar scheint: „Wir waren eine Art
„Damals war es ein richtiges Dorf, jede Fa- von geröstetem Kaffee – und setzt pro Kilo iPhone des Kaffees“, sagt Gaillard.
milie hatte eine Hütte und lebte dauerhaft 6,21 Dollar um. Ein Plus von über hundert Die Inszenierung ist sagenhaft. In den
dort“, sagt der junge Mann. Prozent. Werbespots grinst George Clooney, und
Als Torrebiarte vor rund 20 Jahren die Deutschland und die EU schützen ihre in den Nespresso-Filialen lächeln Ange-
Plantage kaufte, sei es mit der prekären Kaffeeindustrie. Auf importierten Röstkaf- stellte in schwarzem Tuch. In der „Tasting
Idylle vorbei gewesen. „Das ganze Dorf fee wird für die meisten Anbauländer Area“ fragen sie die Kunden so einfühlsam
wurde gezwungen, die Finca zu verlassen“, 7,5 Prozent Zoll fällig. Rohkaffee dagegen nach der bevorzugten Geschmacksrich-
sagt Sabuc. Torrebiarte, der einer der ein- wird zollfrei eingeführt. Man kann diese tung, als ginge es um etwas Intimes. Der
flussreichsten Mitglieder der nationalen Art der Wirtschaftspolitik Kaffeeprotek- Eingangbereich sieht aus wie das Entree
Kaffeevereinigung Anacafé ist, bestreitet tionismus nennen oder Kolonialismus. Das einer Bank. Dort stehen Geräte, die aus-
diesen Vorwurf. Kein Arbeiter sei vom Ergebnis ist dasselbe. sehen wie Geldautomaten, nur edler. Der
Farmgelände gedrängt worden. Zu den Leuten, die weltweit am meisten Kunde schiebt seine Kreditkarte hinein –
Heute werde die Ernte von Saisonarbei- über das Rösten wissen, gehört Probat-Chef die Kapseln fallen in Papiertüten mit gol-
tern und die Pflege der Plantage durch Abbing, der Mann, der das Erzählen einer denem Schriftzug.
sogenannte Parcelistas erledigt, berichtet guten Geschichte für den wichtigsten Er- Gaillard selbst ist mittlerweile vom Glau-
Sabuc. Das sind Angestellte, denen eine folgsfaktor von Kaffee hält. Das Werk von ben abgefallen. Nach Nespresso ging es für
bestimmte Fläche in der Plantage zur Be- Probat liegt in der westfälischen Provinz, ihn im Nestlé-Konzern nicht so recht weiter.
arbeitung zugeteilt wird. Die Leute seien in Emmerich am Rhein. Der Gründer er- Er verließ das System und sabotierte es
78 DER SPIEGEL 38 / 2017
Plötzlich waren die Mini-Renditen aus
dem Massen- und Dumpinggeschäft mit
500-Gramm-Röstmischungen nicht mehr
genug. Asien entdeckte den Kaffee. Star-
bucks expandierte selbst ins Teetrinker-
land China. Und mit einem Mal interes-
sierten sich für die behäbige Bohnenbran-
che ganz andere Leute.
4. Das Geschäft
Peter Harf ist eine Figur, als würde John
Malkovich plötzlich im deutschen Fernse-
hen auftreten. Wenig Haare, große Prä-
senz – aber ein wenig gemütlicher. Harf,
71, der derzeit mächtigste Investor der
Branche, spricht mit rheinischem Akzent
und empfängt im trutschig-vergoldeten
Fünfsternehotel Excelsior am Kölner Dom.
Der Kaffee wird in Tassen aus feinem Por-
zellan serviert. Doch Harf scheint sich für
das Getränk kaum zu interessieren. Er ist
weniger aus Leidenschaft ins Kaffeege-
schäft eingestiegen, sondern aus Vernunft.
Kaffee ist für ihn ein Rohstoff, ein stabi-
les Geschäft mit hoher Rendite. „Kaffee
wird immer getrunken“, sagt er, „ganz
egal, was auf der Welt passiert.“
Harf führt eine milliardenschwere Fi-
nanzholding namens JAB. Die Holding ist
innerhalb weniger Jahre hinter Nestlé und
Starbucks zum drittgrößten Kaffeekonzern
der Welt aufgestiegen. Inzwischen wird
etwa jede fünfte Tasse Kaffee mit Bohnen
aus dem JAB-Imperium gebraut.
Der Geldfluss, der Harfs Geschäfte
nährt, scheint nie zu versiegen. Sein größ-
ter Kapitalgeber ist die Familie Reimann,
eine der reichsten Sippen Deutschlands,
die bereits ein Imperium aus Konsumgü-
termarken wie Calgon, Finish oder Clea-
rasil aufgebaut hat. Nun will sie den nächs-
ten Milliardenmarkt erobern.
Harf hat 2012 angefangen, in großem
Stil Marken aufzukaufen, darunter Jacobs,
Douwe Egberts, Senseo oder Tassimo.
Mittlerweile umfasst das JAB-Portfolio fast
JAMES RODRÍGUEZ / DER SPIEGEL
tion erobert hat“. Harf referiert gern über teure und teuerste Espressogeräte. Edel- ten meist eine billige Brühe verkauft, die
„Skaleneffekte“ und dergleichen. Weniger marken wie La Pavoni und Elektra. Geräte, mit Kaffee als Genussmittel eigentlich
akademisch ausgedrückt heißt das: Die die eigentlich für die Gastronomie gedacht nichts mehr zu tun habe.
JAB ist äußerst geschickt darin, Kapital sind und die dann in den Küchen des ge- Dabei, sagt Benvenuto, sei an gutem
aus ihrer Marktmacht zu schlagen. hobenen Bürgertums prangen. Kaffee ja gerade das Schöne, dass er die
Wird eine Kaffeefirma von der JAB Auch das ist eine Parallele zwischen Verbindung von Genuss und Alltag schaffe,
übernommen, gelten für deren Zulieferer Kaffee und Bier. Als Gegenbewegung zum von Masse und Klasse. „Ein guter Espresso
umgehend härtere Bedingungen. Zuliefe- Einheitsgeschmack der Industrie hat ist ein klassenloses Getränk. Ein täglicher
rer von JAB-Firmen berichten: Das Geld sich eine Szene etabliert, in der es auf Luxus für alle.“
für den Rohkaffee erhielten sie nun nicht Individualität, Qualität und Geschmack
mehr nach 30 Tagen, sondern teilweise erst ankommt und in der dafür hohe Preise 6. Das Siegel
nach 180 Tagen. Wer den neuen Regeln bezahlt werden. Für die richtige Espresso- Warum ist es so, dass kaum ein Konsument
nicht zustimme, laufe Gefahr, ausgemus- mischung gern 30 Euro pro Kilo. Für ein paar Cent mehr für fair gehandelten
tert zu werden. die passende Espressomaschine samt Kaffee ausgibt – aber so mancher das Zig-
Der Clou für die JAB: Während die Lie- Kaffeemühle gern mal mehrere Tausend fache des gewohnten Preises für schicke
feranten monatelang auf die Bezahlung Euro. Kapseln berappt?
warten, können die Manager den Kaffee „Die Deutschen“, sagt Benvenuto, „neh- Die Frage stellt sich nicht nur bei Kaffee,
bereits verkaufen und das Geld anderwei- men die Sache unglaublich ernst.“ Sie sondern auch bei Bananen, T-Shirts und
tig investieren – zum Beispiel in weitere betrachteten den Kauf einer Espressoma- Goldschmuck. Aber beim Kaffee ist die
Zukäufe. Auf diese Weise finanzieren die schine wie den Erwerb eines neuen Autos. Ungerechtigkeit besonders offensichtlich.
Lieferanten das Wachstum der JAB mit. Leider erwarteten sie dann auch, dass es Und sie ist seit Jahrzehnten eigentlich je-
„Die Händler zahlen praktisch ein zins- genauso funktioniert. „Man kann eine Es- dem Konsumenten bekannt.
loses Darlehen“, kritisiert Sara Morrocchi, pressomaschine und ein Mahlwerk aber „Vielleicht ist das auch ein Problem“,
Gründerin der Organisation Vuna Origin nicht einmal perfekt einstellen, und dann sagt Soziologe Lessenich. Fairtrade-Kaffee
Consulting, die Kaffeeproduzenten berät. laufen sie immer gleich.“ Wie ein Espresso sei für viele Konsumenten „vielleicht zu
„Schlimmstenfalls werden die Kosten bis gemahlen und gebrüht werden müsse, hän- politisiert“, erinnere zu sehr an Nicara-
zu den Farmern weitergereicht.“ ge vom Wetter ab, von der Wärme, der gua-Kaffee, an linke, gar kommunistische
Harf bestreitet das. Die Firmen aus der Luftfeuchtigkeit, von der Mischung und Projekte.
JAB-Holding setzten „auf nachhaltige und der Qualität der Bohnen. Ohne eine ge- Lessenich sieht die Möglichkeiten der
dauerhafte Beziehungen zu ihren wichtigs- wisse Leidenschaft und Liebhaberei sei Weltverbesserung durch richtigen Konsum
ten Zulieferpartnern“. Von den verhandel- auch die teuerste Espressomaschine eine eher nüchtern. „Die meisten Menschen ha-
ten Verträgen würden „alle Seiten profi- vergebliche Investition. ben mit Konsumpolitik nichts im Sinn“,
tieren“. Unstrittig ist, dass die JAB das Da die Geräte für sie nur ein Nebenge- sagt er. Ohnehin sei den Deutschen trotz
Netz ihrer Rohkaffeelieferanten deutlich schäft sind, rate sie kaufwilligen Kunden aller Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeits-
ausgedünnt hat. Wer den neuen Eigentü- manchmal auch ab. „Wer nur ab und zu bekenntnisse das Elend der Welt um sie
mern nicht wettbewerbsfähig erschien, einen Espresso trinken will, für den ist herum ziemlich gleichgültig.
wurde ausgemustert. auch ein simpler Kocher, den man auf den „Im Endeffekt ist es uns scheißegal, wel-
Die Blaupause für Harfs Aktivitäten ist Herd stellt, eine gute Art, einen Espresso che Effekte unser Kaffeekonsum auf das
der Biermarkt, der in den letzten Jahren herzustellen.“ Leben anderer hat“, sagt er. „Und wenn
von einem globalen Konzern neu sortiert Obwohl sie vom Boom profitiert, sieht wir mal ethisch konsumieren, dann in ers-
wurde. Das belgische Unternehmen AB sie ihn kritisch. „Dem Markt fehlt die Mit- ter Linie, weil wir uns dann selbst besser
Inbev kaufte Marken in über 150 Ländern, te“, sagt sie. An der Spitze würden die fühlen.“ Doch die meisten Deutschen hiel-
vom amerikanischen Budweiser über Kunden oft abgezockt mit überdimensio- ten sich schon für vorbildliche Konsumen-
Beck’s bis hin zum Franziskaner Weißbier, nierten Espressomaschinen, überteuerten ten, jedenfalls im globalen Vergleich, nur
senkte die Kosten und steigerte die Profite. Kapseln und fragwürdigen Premium-Rös- weil sie ihren Müll trennten und über ein
Harf hat lange den Verwaltungsrat des tungen. Und in der Masse würde den Leu- Elektroauto nachdächten.
AB-Inbev-Konzerns geleitet, er freundete Doch wie fair ist eigentlich fair?
sich sogar mit den Eigentümern an. Was Wir sind Röstmeister Fernando Morales-de la Cruz, ein Exil-
beim Bier so gut geklappt hat, wird seiner Guatemalteke mit Wohnsitz in Straßburg,
Ansicht nach auch beim Kaffee funktio- Die zehn größten Exporteure kann richtig wütend werden, wenn er über
nieren. von Röstkaffee 2013, in tausend Tonnen die Fairness von Fairtrade redet, jenem
Siegel, das eines der bekanntesten Zertifi-
5. Der Konsument Deutschland 191
zierungszeichen überhaupt ist und auch
Marisa Benvenuto und ihre Schwester Na- Italien 150 auf Eigenmarken von Darboven, Tchibo
dia haben den Familienbetrieb von ihrem Quelle: FAO oder Lidls Fairglobe klebt. Morales-de la
Vater übernommen. Er war ein Pionier des USA 98 Cruz hält das Ganze für ein teures Placebo,
guten Geschmacks, als er 1959 aus La Spe- Schweiz 53 das das Gewissen westlicher Konsumenten
zia in Italien nach Hamburg zog. Ein Gast- beruhige. Letztlich diene es nur dazu, den
arbeiter unter vielen. Neben dem Job auf Polen 51 Industrieländern weiter billige Rohstoff-
der Werft fing er an, Espressobohnen an quellen zu sichern. Am grundlegenden Ge-
italienische Restaurants und Eiscafés zu Belgien 49 rechtigkeitsproblem, dass Länder wie
liefern. Konkurrenz gab es kaum. Nie- Niederlande 43 Deutschland ihre Röstindustrie schützen,
mand witterte ein Geschäft. Die Kaffee- ändere das Siegel nichts.
kultur der Deutschen steckte bei Filterma- Kanada 39 „Fairtrade trägt dazu bei, Armut und
schinen und Kondensmilch fest. Schweden 23 Kinderarbeit in der Lieferkette zu erhal-
Benvenuto verkauft in ihrem Laden in ten“, sagt Morales-de la Cruz. „Die Fair-
Hamburg-Eimsbüttel neben Bohnen auch Slowakei 22 trade-Prämie liegt bei einem Drittel Cent
80 DER SPIEGEL 38 / 2017
JOSHUA TRUJILLO
Starbucks-Café in Seattle: Die schlafende Branche gierig gemacht
pro Tasse Kaffee. Wie kann so ein unbe- will den Segen des Siegels nicht nur auf ben die reichen Konsumenten des Nordens
deutender Betrag fair genannt werden?“ den Finanzierungsstrom reduzieren. „In- den Mehrwert: Sie bekommen Fairtrade-
Er schlägt ein transparentes Entloh- dem wir im Kaffeebereich ausschließlich Ware, ohne dafür einen Cent mehr bezah-
nungssystem vor, bei dem die Arbeiter in mit Kooperativen zusammenarbeiten, ge- len zu müssen.“
den Kaffeeplantagen mindestens zehn ben wir den Kleinbauern ihr Selbstbestim-
Cent pro Tasse Kaffee erhalten würden. mungsrecht zurück“, sagt er. 7. Das Projekt
Nur so ließe sich die Armut in den Kaffee- Um sich abzusichern, lassen sich viele Am Ende ist auch Fairtrade ein bloßes
ländern reduzieren. Farmen und Kooperativen mehrfach zer- Herumdoktern an den Symptomen der
Die Prämie, die Fairtrade den Kaffee- tifizieren und erfüllen etwa gleichzeitig Ungerechtigkeit, solange die einen immer
produzenten zusätzlich zum Weltmarkt- den AAA-Standard von Nespresso oder nur Rohkaffee exportieren und die
preis zahlt, liegt aktuell bei 20 US-Cent den von Fairtrade. Doch mitunter genügt anderen daran verdienen, ihn zu rösten
für 454 Gramm Kaffee. Hinzu kommt eine die Qualität den Einkäufern der Konzerne und zu vermarkten. Am Ende gibt es
Mindestpreisgarantie von 1,40 Dollar für nicht, oder die verfügbare Geschmacks- vielleicht nur einen Ausweg aus dem Kaf-
ein Pfund Kaffee, die aktuell nicht greift, note passt nicht in die Mischung. Die Folge feekolonialismus: indem die Rohstoff-
weil der stark schwankende Weltmarkt- ist eine absurde Überzertifizierung: Im länder ihre Bohnen selbst rösten, mahlen,
preis gerade etwas darüber liegt. Aufschlä- Zeitraum 2014/15 wurden etwa 560 000 verpacken und das fertige Produkt ex-
ge für besondere Qualitäten oder Bioware Tonnen Rohkaffee nach Fairtrade-Stan- portieren.
kommen noch obendrauf. Doch mehr als dard zertifiziert, aber nur 157 000 Tonnen Felix Ahlers, 51, versucht genau das in
zwei Euro pro Pfund kann der Kaffee- davon mit Fairtrade-Siegel verkauft. Äthiopien. In Addis Abeba lässt er Kaffee-
bauer auch bei Fairtrade selten kassieren. „Fairtrade, heißt es immer, sei der Mehr- und Espressobohnen rösten, die er unter
Im vergangenen Jahr zeigte eine Studie, wert, der vom Norden in den Süden wan- dem Namen Solino in Supermärkten in
dass in Brasiliens Kaffeeregion Minas dere“, sagt Ndongo Sylla. Er hat früher Deutschland verkauft. Oder besser gesagt:
Gerais auch Arbeiter auf von verschiede- selbst als Berater für die Kölner Organisa- Er hat dafür gesorgt, dass in Äthiopien Kaf-
nen Organisationen zertifizierten Farmen tion mit deren blaugrünem Yin- und Yang- fee geröstet wird, der in Deutschland ver-
mit rund 300 Euro pro Monat rund 25 Pro- Label gearbeitet. kauft wird.
zent unter einem existenzsichernden Inzwischen gilt der Senegalese Sylla als Im Hauptberuf ist Ahlers Chef des Tief-
Lohn liegen. einer ihrer härtesten Kritiker. „Wenn aber kühl- und Fertiggerichteanbieters Frosta
Fairtrade-Geschäftsführer Dieter Ove- überschüssige Fairtrade-Ware als konven- AG. Die Firma stellt ihre Produkte ohne
rath findet diese Sichtweise verkürzt. Er tionelle verkauft werden muss, dann ha- Zusatzstoffe her. Ahlers gilt in der nicht
DER SPIEGEL 38 / 2017 81
Bundestags-
wahl 2017
Unser Wahlprogramm
EXKLUSIVE PRÄMIE FÜR EINEN NEUEN LESER!
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
Anschrift des neuen Lesers:
SPIEGEL-Vorteile Wertvolle Wunschprämie für den Werber.
Frau
ğšwğšĒğšŋųťťťğŅĒťŭłğĴō^V0(>>ğťğšťğĴō
Herr
ųŋvœšųĬťŝšğĴťťŭćŭŭǽōųšǽĿğųťĬćĒğĴōłŅ>ĴğĨğšųōĬ Name, Vorname
Auf Wunsch den SPIEGEL digital für nur € 0,50 je Ausgabe inkl.
SPIEGEL-E-Books. 19
Straße/Hausnr. Geburtsdatum
Anschrift des Werbers: Der neue Abonnent liest den SPIEGEL für zunächst 52 Ausgaben für zurzeit € 4,60 pro Ausgabe statt € 4,90 im Einzelkauf,
den SPIEGEL digital zusätzlich für € 0,50 pro Ausgabe. Das Abonnement verlängert sich jeweils um weitere 52 Ausgaben,
Frau wenn nicht sechs Wochen vor Ende des Bezugszeitraums gekündigt wird.
Herr
Name, Vorname Ich zahle bequem per SEPA-Lastschrift* vierteljährlich € 59,80, digitale Ausgabe halbjährlich € 13,–
Die Mandatsrefe-
DE renz wird separat
mitgeteilt.
Straße/Hausnr. IBAN
SP17-106
PLZ Ort Datum Unterschrift des neuen Lesers
Angst
ums Erbe
Euro Die Deutschen hätten gern
Bundesbankpräsident Weidmann
als EZB-Chef. Italiener und Fran-
zosen sind dagegen. Auch dem
Amtsinhaber missfällt die Idee.
M
ario Draghi und Jens Weidmann
Weddigen von Knapp, 62, Vorsitzender des die Grenzwerte auch auf der Straße Weddigen von Knapp: Herr Müller spricht
Volkswagen und Audi Partnerverbands, vertritt schaffen. kein Wort mit uns. Wir reden mit dem Ver-
1330 Händler und 970 Servicepartner der Mar- SPIEGEL: Und das glauben Sie einem Kon- trieb für Deutschland.
ken VW und Audi. VW vertreibt rund drei Viertel zern, von dem nun alle wissen, dass ihm SPIEGEL: Und was sagt Ihnen der Vertrieb?
seiner gut 600 000 jährlich verkauften Autos nicht zu trauen ist – schon gar nicht, wenn Weddigen von Knapp: Die tun so, als ginge
in Deutschland über die Händler. es um Abgaswerte geht? das Leben weiter wie bisher. Der Vertrieb
Weddigen von Knapp: Das ist eine Fangfrage, macht eine Händlerkonferenz und will
SPIEGEL: Zwei Jahre Dieselskandal – was die beantworte ich nicht. Als Kaufmann dort mit uns über die Verkaufsziele im
macht das mit den VW-Händlern im Land? kann ich nur die Eigenschaften zur Kennt- nächsten Jahr reden. Als wäre der Abgas-
Weddigen von Knapp: Im September 2015 hat nis nehmen, die mir der Hersteller zu- skandal eine Grippe, die schnell überstan-
uns die Nachricht überrascht, dass Volks- sichert. den ist. Dabei müsste der Vertrieb jetzt
wagen, den wir bis dahin für den Konzern SPIEGEL: Jetzt drücken Sie sich davor, die erst mal mit uns darüber sprechen, welche
der Konzerne gehalten haben, betrogen Dinge beim Namen zu nennen. wirtschaftlichen Folgen der Skandal für
hat. Ausgerechnet der Hersteller, der bis Weddigen von Knapp: Nein, bestimmt nicht. die Händler hat. Wenn eine Krise die Au-
ins Kleinste perfekt sein wollte, der das Wir haben einen Skandal, und wie der tohäuser so trifft wie diese, müsste unter
Spaltmaß zwischen zwei Blechen zum Konzern damit umgeht, das ist unglaublich. wirklichen Partnern viel mehr darüber ge-
Maß aller Dinge erklärt hat. Was da ans Die Wolfsburger reden jetzt von einer „In- redet werden.
Licht kam, hat die Händler in eine Krise dustrie-Diskussion“. Das muss man sich SPIEGEL: Der Konzern ist vermutlich so mit
gestürzt wie noch nie. Viele von ihnen sind auf der Zunge zergehen lassen. Sie meinen sich beschäftigt, dass ihn die Händler ge-
mit Volkswagen groß geworden, auch damit, der Dieselskandal sei eigentlich rade nicht sehr interessieren.
wohlhabend. Nun standen sie vor einem kein Volkswagen-Thema, sondern ein The- Weddigen von Knapp: Den Eindruck muss
Problem, das sich keiner hatte vorstellen ma der deutschen Autoindustrie insgesamt. man haben. Die Händler haben jedenfalls
können. Wir waren entsetzt – und glauben Das ist eine grobe Verletzung ethischer das Gefühl, dass Volkswagen sie im Stich
Sie mir: nicht nur aus Angst ums Geschäft. Werte. Man bekennt sich nicht mehr schul- lässt. Mit Vorführ- und Werkswagen stellt
SPIEGEL: Bei den Händlern lief danach die dig für das, was man verursacht hat. Das VW ihnen Autos auf den Hof, dafür müs-
größte Rückrufaktion in der Geschichte von empfinde ich als schwierig. sen sie jetzt die Verluste hinnehmen. Trotz-
VW an. Softwareupdates für 2,4 Millionen SPIEGEL: Haben Sie das VW-Vorstandschef dem kümmert sich der Konzern nicht um
Autos mit dem Dieselmotor EA 189. Matthias Müller schon gesagt? ihre Sorgen. Im Gegenteil: Gerade jetzt will
Weddigen von Knapp: Es klingt vielleicht Audi einen neuen Händlervertrag durch-
merkwürdig, aber das hat uns Händler erst drücken. Dann könnte Audi das wichtige
mal beruhigt: Rückrufaktionen, das ken- Vergraulte Kundschaft Geschäft mit Großkunden ohne die Händ-
nen wir, damit werden wir fertig. Bis heute Veränderung gegenüber 2014 ler machen. Das läuft mit uns nicht.
sind 90 Prozent der betroffenen Autos + 13,6 SPIEGEL: Wie sieht denn in Zeiten von Die-
geflasht, wie wir das nennen, haben also selgate der Alltag auf dem Hof Ihrer Au-
die neue Software bekommen. Dann aber tohäuser aus?
rollte Ende 2016 die nächste Manipula- Pkw-Neuzulassungen + 10,4 Weddigen von Knapp: Wenn die Leute kom-
tionswelle an, bei den Temperaturfenstern, in Deutschland, men, ist das allererste Thema: Was ist los
in denen die Abgasreinigung läuft. Und Zunahme in Prozent mit meinem Auto? Meinem Diesel? Kann
seit dem Dieselgipfel Anfang August geht ich das überhaupt noch weiterfahren? Wie
es um alle Euro-5-Dieselmotoren. Die VW- kannst du mir garantieren, dass der Wagen,
Händler fühlen sich so, als wären sie den du mir für 40 000 Euro aus meiner Fa-
keuchend aus dem Wasser aufgetaucht, + 5,6 milienkasse verkauft hast, so läuft, wie er
und gleich drückt sie wieder einer runter. soll?
SPIEGEL: Würden Sie selbst noch einen Die- SPIEGEL: Haben sich die Händler schon an
sel kaufen? brüllende Kunden gewöhnt?
Weddigen von Knapp: Das habe ich getan. Weddigen von Knapp: Die gibt es vermutlich
Einen Golf Diesel mit Euro-6-Motor. auch. Verbrieft ist aber die elend lange
SPIEGEL: Aber selbst bei einem Touareg mit Zeit, die man mit der Beruhigung von Au-
Euro-6-Motor können Sie keinem Kunden tokäufern verbringt; Familienväter und
mehr garantieren, dass er damit demnächst -mütter oder Rentner, die bisher jedes Golf-
noch in die Stadt kommt. Modell gekauft haben. Und jetzt kommen
Weddigen von Knapp: Wir Händler geben ja – 0,2 noch die Fuhrparkmanager hinzu. Und die
keine Garantie. VW-Marktanteil Klempner, die Schreiner, die Heizungsin-
SPIEGEL: Volkswagen auch nicht. in Deutschland, – 2,0 stallateure, die zu Hunderten in der Stadt
Weddigen von Knapp: Dann verstehen Sie ja Abnahme in Prozentpunkten herumfahren, alle mit Dieseltransportern.
auch, in welcher Rolle der Händler ist. – 3,3 Was machen die, wenn morgen die Städte
Schwierig. Aber VW verspricht uns, dass gesperrt werden? Die haben wir jetzt auf
die aktuellen Euro-6-Modelle den ak- 2014 2015 2016 2017* der Matte stehen, die fragen: Ist das euer
tuellen Zulassungsregeln entsprechen und *Januar bis August Ernst? Was liefert ihr mir hier für ein Auto?
86 DER SPIEGEL 38 / 2017
Klagen anhängig, macht 4000 Klagen. Und
wir haben etwa 950 kleinere Betriebe, je-
der mit rund 5 Klagen. Zusammen noch
mal 4750. Aber das ist nur der Anfang.
Ende 2017 läuft eine wichtige Frist ab. Des-
halb wird bis zum Jahresende noch ein
ganzer Schwung hinzukommen.
SPIEGEL: Was heißt das für die Autohäuser?
Weddigen von Knapp: Der Händler wird ver-
klagt und muss sich einen Anwalt nehmen.
Der reicht den Fall bei VW ein; dort wird
ihm gesagt, wie er sich zu verhalten habe.
Wenn er sich daran nicht hält, übernimmt
der Konzern hinterher nicht die Kosten.
SPIEGEL: Was hat Volkswagen den Händ-
lern zugesagt?
Weddigen von Knapp: Dass der Konzern die
Gerichtskosten ersetzt. Aber so wie bisher
geht das nicht weiter. Die VW-Händler müs-
sen in Vorleistung gehen und bis zum Ende
des Gerichtsverfahrens durchhalten. Audi
rechnet schon nach der ersten Instanz ab,
das haben wir gerade mit Audi so verab-
redet, und das ist fair. VW macht das nicht.
Dort wird erst am Ende abgerechnet. Aber
wenn ich als Händler 80 Verfahren habe
und damit in die zweite Instanz muss, habe
ich 80 Mal gut 20 000 Euro auf der Uhr.
SPIEGEL: Sie sagen doch, im Prinzip halten
Sie die Ansprüche für nachvollziehbar.
Trotzdem muss der Händler gegen den
Kunden kämpfen und für VW die Klage
durchziehen.
Weddigen von Knapp: Ja, grotesk. Das ist
eine perverse Situation, und sie führt dazu,
dass wir diese Kunden nie mehr wiederse-
hen. Wer klagt, den haben wir als Kunden
verloren, das ist doch klar. Für diese Kun-
SONJA OCH / DER SPIEGEL
einer Ladestation opfern muss? Und die Dann müssten ihr sämtliche Eigentümer
A
lle zwei Wochen fährt Thomas De- ler, Geschäftsführer des Dachverbands mung der Nachbarn wäre demnach nicht
genfelder zu McDonald’s. Nicht Deutscher Immobilienverwalter. mehr nötig. Ein bemerkenswerter Vorstoß
weil er Hamburger und Pommes Kaßler vertritt bundesweit rund 2200 der Freistaaten, leider aber hilft das Papier
so gern mag: Degenfelder lädt dort die Bat- Hausverwalter. Immer öfter höre er von nur bedingt weiter, da ein zentrales Pro-
terien seines Elektroautos auf. Die Strom- den Mitgliedern, dass die Frage der Lade- blem nonchalant übergangen wird: wer
Tankstelle auf dem Parkplatz der Fast- stationen Eigentümergemeinschaften ent- nämlich die Kosten trägt. Und die können
Food-Kette im Münchner Stadtteil Solln zweie, berichtet Kaßler. Das Problem: Die erheblich sein.
ist eine von nur drei Ladestationen in Rechtslage ist nicht eindeutig. Sie hängen insbesondere davon ab, wie
einem Umkreis, in dem fast 100 000 Bürger Wer auf dem Stellplatz eines Mehrfami- viele Anschlüsse zu legen sind. Geht es
leben. „Es ist beinahe unmöglich, hier an lienhauses einen Stromanschluss einrich- nur um eine Ladestation, mag das vorhan-
Stoff zu kommen“, sagt Degenfelder. ten will, muss sich nach geltendem Recht dene Hausnetz den zusätzlichen Bedarf
Gern würde er seinen Renault Zoe dort die Zustimmung der Eigentümer einholen, verkraften. Melden aber weitere Autofah-
laden, wo er einen Stellplatz gemietet hat, schließlich tangieren die nötigen Arbeiten, rer ebenfalls Interesse an einer Steckdose
in einer benachbarten Tiefgarage. Doch etwa das Verlegen von Leitungen, gemein- an, stößt das System vielfach an Grenzen
die Gemeinschaft der Eigentümer sperrt schaftliches Eigentum. Juristisch unklar ist und bricht zusammen. Auf solche Lasten
sich gegen die Installation einer Ladesta- indes, ob die Installation einer Ladestation ist das Stromnetz vor allem älterer Gebäu-
tion. Degenfelder wäre sogar bereit, die als bauliche Veränderung zu werten ist: de selten ausgelegt.
Kosten von rund 2000 Euro für In diesen Fällen muss die elek-
Gerät und Einbau weitgehend trische Infrastruktur oft rundum
zu übernehmen – vergebens. erneuert werden. Es ist nötig,
„Eine Mentalitätsfrage“, sagt er, neue Leitungen zu verlegen,
„die wollen das einfach nicht.“ Mauern zu durchbrechen und
Mit solchen Problemen kämp- ein Lademanagementsystem ein-
fen zurzeit viele E-Auto-Pionie- zurichten, das die Stromvertei-
re. Sie möchten ihr Fahrzeug lung steuert. Da kommen be-
bequem zu Hause über Nacht trächtliche Kosten zusammen,
an eine sogenannte Wallbox bei größeren Objekten können
hängen, aber die Vermieter stel- es hohe fünfstellige Summen
len sich quer. Selbst wenn ihnen sein – plus die regelmäßigen Aus-
die Stellfläche gehört, scheitert gaben für die Wartung.
eine Installation vielfach am Es ist also kaum damit getan,
Veto der Miteigentümer. Die Fol- lediglich den Anspruch auf eine
ge: Kaum einer der schätzungs- Steckdose gesetzlich festzu-
weise vier Millionen Parkplätze, schreiben, wenn in Mehrfamili-
die den rund neun Millionen Ei- enhäusern zunächst die Elektrik
gentumswohnungen hierzulan- aufgerüstet werden muss. Ver-
de zuzurechnen sind, ist mit ei- bandsgeschäftsführer Kaßler
ner Steckdose ausgestattet. regt ein nationales Förderpro-
Damit fehlt einem Großteil gramm an. Rund hundert Mil-
der Bevölkerung in Deutschland lionen Euro sollte die Bundes-
ein entscheidender Anreiz zum regierung bereitstellen, schlägt
Umstieg auf ein Elektroauto. er vor, immerhin unterstütze sie
Zwar belohnt der Staat den den Bau öffentlicher Ladesäu-
Kauf mit einer Prämie von bis len mit dem dreifachen Betrag.
zu 4000 Euro, er gewährt sogar Erst wenn private Stellplätze
DIETER MAYR / DER SPIEGEL
Kult allein
Analyse Das teuerste iPhone aller Zeiten ist nicht gerade innovativ,
verkaufen wird es sich trotzdem.
F
ast fünf Milliarden Dollar hat das neue Apple-Haupt- mehr zur Konzernphilosophie. Bislang funktioniert das.
quartier gekostet, das teuerste jemals gebaute Ge- Auch die Apple Watch kam Jahre später als andere Smart-
bäude Amerikas. Nun thront es als gigantischer watches und verkaufte sich trotzdem besser. Aber diese
Fremdkörper inmitten der Kleinstadt Cupertino, schön Strategie geht nur auf, solange die Käufer glauben, bei
und elegant natürlich, aber auch gewaltig, protzig, fett. Apple immer noch die besten Produkte zu bekommen.
Ein Angeberbau. Eine Machtdemonstration. Kult allein reicht auf Dauer nicht.
Seit dem Tod von Steve Jobs im Jahr 2011 gab es immer Das Jubiläums-iPhone ist vor allem ein defensives Gerät.
wieder Phasen, in denen versucht wurde, Apple abzu- Es bietet wenig Neues, holt vor allem Neuerungen der
schreiben und ein Ende der kulturellen Bedeutung des Konkurrenz nach. Etwa das kabellose Laden, von anderen
Konzerns vorherzusagen. Weil es nicht mehr so gut laufe, seit Jahren angeboten. Ein spezieller Chip für maschinelles
weil nichts mehr wirklich brillant sei, weil es an transfor- Lernen soll die Software klüger, die Apps besser machen
mativen Ideen fehle: iPhone, iPad – und jetzt? Das war’s? und etwa ermöglichen, das Gesicht der Nutzer zu erken-
Am schlimmsten dabei schien die Abhängigkeit vom nen, um das Gerät freizuschalten. Ähnliches haben Firmen
iPhone; gut 60 Prozent des gesamten Umsatzes mit einem wie Google schon vor Jahren eingeführt. Hinzu kommen
einzigen Produkt, das kann doch nicht gut gehen. Oder? neue Sensoren, um unter anderem mit einer Infrarotka-
Das erste iPhone, auf den Markt gebracht vor zehn mera Gesichter oder Gegenstände dreidimensional zu kar-
Jahren, hat die Welt verändert, aber dieses Rad lässt tieren. Auch das gibt es bei anderen Geräten schon lange.
sich nicht ständig neu erfinden, zehn So wie das iPhone den Anfang der
Modellgenerationen später lassen Smartphone-Ära markiert, scheint
sich kaum neue Sensationen schaf- das iPhone X ihren beginnenden Nie-
fen. Und das versuchen sie auch dergang anzudeuten. Das Handy ver-
nicht; die Manager im neuen Haupt- liert zunehmend seinen Status als al-
quartier sind eher Realisten als les vereinendes Universalgerät.
Visionäre. Das Angebot zersplittert immer
Am vergangenen Dienstag haben weiter in immer kleinere digitale Hel-
sie mit gewohntem Pomp das Jubi- ferlein, von Smartwatches über spre-
läums-iPhone vorgestellt, versehen chende Lautsprecher von Amazon
mit einem X, der lateinischen Zehn, und Google bis hin zu Datenbrillen.
STEPHEN LAM / REUTERS
und natürlich muss es besonders sein, Was zählt, sind weniger Geräte als fle-
aber eben auch nicht zu sehr. Nach xible Dienste, die auf jeder Plattform
mehr als einer Milliarde verkaufte laufen: Uhr, Fernseher, Auto.
Geräte geht es vor allem darum, das Welche Dienste und Geräte sich
vielleicht einträglichste Produkt der durchsetzen werden, weiß niemand.
Geschichte so lange wie möglich am Auch Apple nicht. Das zeigte die hilf-
Leben zu halten: Massenprodukte lose Präsentation von sprechenden
können nur evolutionär, nicht revolutionär weiterent- Emojis, die den Mundbewegungen der Nutzer folgen, da-
wickelt werden. runter auch ein sprechender Hundehaufen.
Also hat Apple die neue Variante seines Longsellers Solche Albernheiten verdecken, dass manche Neuerung,
gerade so viel schicker und futuristischer gemacht, dass die Apple jetzt einbaut, ethisch fragwürdig ist. Einmal ge-
es sich teurer verkaufen lässt: 1149 Euro Einstiegspreis in hackt, wendet das iPhone die Gesichtserkennung gegen
Deutschland, positioniert für einen Markt, den es eigent- seinen Besitzer, es kann zum Überwachungsinstrument
lich nicht gibt: Luxusprodukte für die Masse. werden. Schon heute versucht Software, aus den Gesichts-
Apple ist vor allem ein Designkonzern. Das ist jederzeit zügen enorm viel über einen Menschen herauszulesen:
deutlich zu spüren, wenn man einerseits mit Designern ob er vermutlich lügt, welche sexuelle Orientierung er
des Konzerns spricht und dann mit Ingenieuren, da gibt hat. Apple sagt, die Daten aus der Erkennung blieben auf
es ein klares hierarchisches Gefälle. Zumindest aus Sicht dem Gerät, seien dort sicher. Doch was geschieht, wenn
der Designer: „Die Technikjungs schauen auf zu uns“, der Konzern dieses Vertrauen enttäuscht? Wenn Apple
sagt einer der Topgestalter, achselzuckend, natürlich, wie diesmal weder der Erste ist noch der Beste?
kann es anders sein. Das iPhone X wird dennoch ein Verkaufsschlager. Na-
Die Ingenieure sind genervt von diesem noch von Steve türlich. Im Weihnachtsquartal 2016 setzte Apple 78 Mil-
Jobs verfügten Primat des Designs. Sie müssen mitanse- lionen Stück der damals aktuellen iPhone-Generationen
hen, wie der Konzern bei technischen Grundsatzentwick- ab, dreieinhalb Millionen mehr als im Vorjahr. Der Umsatz
lungen den Anschluss verliert. Apple versucht aufzuholen, kletterte auf 78 Milliarden Dollar bei einem Gewinn von
arbeitet nun etwa im Bereich selbstfahrende Autos. knapp 18 Milliarden. Für das kommende Quartal gibt es
Man müsse nicht immer der Erste sein, wichtiger sei, schon Prognosen, sie sind leicht zu merken: mehr, mehr,
alles in Ruhe besser, schicker zu machen, das wurde immer mehr in allen Bereichen. Hilmar Schmundt, Thomas Schulz
Prämie
zur Wahl
Ja, ich möchte 12 x den SPIEGEL für nur € 19,90 frei Haus testen, über 66 % sparen und eine Prämie!
Meine Wunschprämie: JBL-GO-Bluetooth-Lautsprecher in Schwarz, Zzlg. € 1,– (5416)
Alles inklusive: das Sparpaket für Studenten 10 € Amazon.de Gutschein (5065)
Anschrift:
Frau
Herr
12 x den SPIEGEL testen Name/Vorname
66 % Preisvorteil 19
Straße/Hausnr. Geburtsdatum Gläubiger-Identifikationsnummer DE50ZZZ00000030206
Kostenfreie Lieferung
PLZ Ort
Ja, ich möchte zusätzlich den SPIEGEL digital für nur € 0,50 SP17-054
SD17-031
pro Ausgabe beziehen statt für € 4,99 im Einzelkauf. Datum Unterschrift
883
nicht. Die E-Mail-Affäre, die
unterschätzt wurde. Die man-
gelnde Aufmerksamkeit, die
sie den Arbeitern widmete,
deren Stimmen die Wahl in
einigen Staaten entschieden. Flüchtlinge sind laut der
Der Einfluss, den die Russen italienischen Polizei zwi-
nahmen. Der Kampf mit schen Januar und August
Bernie Sanders. Clinton ist per Jacht aus der Türkei
selbstkritisch, zerknirscht in Sizilien eingetroffen. Es
und kämpferisch, wenn sie sei ein ungewöhnlicher
davon erzählt. Sie will die Fluchtweg, der vor allem
Niederlage verstehen, um sie von wohlhabenden Fami-
hinter sich zu lassen. Die ent- lien aus Syrien und Afgha-
scheidende Einsicht versteckt nistan genutzt werde, die
sich allerdings in einem Ne- bis zu 100 000 Euro für
bensatz. „Wir mussten die die komfortable Überfahrt
SETH WENIG / DPA
Analyse
Polnische Wutbürger
Warum der aggressive Kurs der Regierung im Inland beklatscht wird
Es gibt ein neues politisches Subjekt in Europa: den Wutbür- aus polnischer Sicht eine Art europäische Oberschicht sind.
ger. Er hasst die meisten Parteien und misstraut den Medien, Die nächste PiS-Kampagne zeichnet sich schon ab.
er fühlt sich betrogen, und er will keine Muslime im Land. In Da wird es um die sogenannte Repolonisierung polnischer
Frankreich wählt er den Front National, in Deutschland die Medien gehen. Die PiS bereitet ein Gesetz vor, das ausländi-
AfD, in Polen ist er an der Macht. Mit der EU, ihrem wichtigs- schen Konzernen, wie etwa dem Ringier-Axel-Springer-Verlag,
ten Partner, hat sich die rechtsnationalistische Regierung zer- verbieten soll, mehr als 20 Prozent Anteil an Zeitungen oder
stritten. Jetzt geht es wieder gegen die deutschen Nachbarn. Sendern zu besitzen. Derzeit halten sie rund 70 Prozent. Die
Bis zu eine Billion Dollar an Kriegsentschädigungen könnte Botschaft an Kaczyńskis Wutbürger-Anhänger: Wir zeigen
Warschau demnächst von Deutschland fordern. Eine juristisch diesen aus dem Ausland bezahlten Journalisten mal, wie der
aussichtslose Forderung, doch darum geht es nicht. Jaroslaw Pole wirklich denkt. Außerdem schützen wir unser Land und
Kaczyński, Chef der Regierungspartei „Recht und Gerechtig- schrauben die Globalisierung ein Stück zurück.
keit“ (PiS), weiß, was er tut. Die Vorstöße der Regierung PiS-Politik ist vor allem die Reproduktion von Feindbildern.
folgen einer eigenen, scharfen Rationalität. Immer wieder in- Das Versprechen lautet: Wir verstehen eure Wut, wir schüt-
szeniert sie den Kampf der einfachen Leute gegen betrüge- zen euch, ihr müsst euch nicht ändern. Im Augenblick liegt
rische Eliten und stärkt so den Zusammenhalt ihrer Anhänger. die PiS damit in den Umfragen 17 Prozentpunkte vor der
Im Fall der Reparationen geht es gegen die Deutschen, die stärksten Oppositionspartei. Jan Puhl
S
o viel Sehnsucht nach einer eigentlich oben, die sich am Himmel aufwölbt, bis Kinder von arabischen Familien aufgenom-
unspektakulären Stadt: Überall in grauer Dunst zurückbleibt, der langsam men wurden.
den sonnendurchglühten Dörfern verweht. Als der IS Anfang 2014 Rakka endgültig
und Städten Nordostsyriens, in den Flücht- Manchmal, sagt Khalil, dauere es auch eroberte, setzte er eine gespenstische
lingslagern und halben Ruinen, in denen zwei, vier Minuten, „aber höchstens zehn“. Wechselbewegung in Gang: Zehntausende
Flüchtlinge aus Rakka seit Monaten, teil- Dann ist einer der fortwährend über Rakka Menschen verließen nach und nach die
weise seit Jahren hausen, fiebern sie ihrer kreisenden amerikanischen Jets nahe ge- Stadt, einige von ihnen flohen nach
Rückkehr entgegen. Schwärmen von den nug, um das gemeldete Ziel zu vernichten. Deutschland. Von dort wiederum kamen
Abenden in den „Casino“ genannten Knei- Von einer der vordersten Stellungen unter über 900 der „Muhadschirun“, der auslän-
pen am Euphratufer. Sprechen von ihren Khalils Kommando im fünften Stock eines dischen Anhänger des IS, viele von ihnen
Häusern und Gärten, als hätten sie im Gar- Hauses, dessen Fenster mit Wolldecken zog es nach Rakka. Für sie lag dort das
ten Eden gewohnt. verhängt sind, ist das hitzeflimmernde In- Heil, während für andere das Leben in der
Bis ins 100 Kilometer entfernte Tall ferno zu sehen, das einmal Rakkas Innen- Stadt zum Horror wurde.
Abjad haben zwei Brüder Weintrauben stadt war: ein Ruinenmeer, grau und men- So erging es auch einer Deutschen und
aus ihrem Garten in Mischlab mitge- schenleer. zwei Syrern, deren Pfade sich zwischen
bracht, dem ersten befreiten Viertel im Es ist ein Kampf gegen einen meist un- Rakka und Baden-Württemberg gleich
Südosten der Stadt: „Wir dürfen noch sichtbaren, militärisch einfallsreichen Geg- zweimal kreuzten: Die Frau aus Weinheim
nicht zurück, aber konnten nachsehen, ob ner: „Alles ist vermint, die setzen Scharf- machte sich Ende Juni 2014 auf den Weg
das Haus noch steht“, erzählt einer von schützen ein, manchmal Selbstmordatten- zum IS, um, wie sie sagt, dort endlich ein
ihnen. Die Trauben schmecken nach: täter in gepanzerten Wagen“, so Khalil. islamisches Leben führen zu können. Der
Trauben. Aber sie werden serviert wie Am tückischsten seien die Sprengstoffdroh- syrische Grundschuldirektor und ein
eine rare Köstlichkeit. nen des IS: winzige, von Weitem nicht hör- Freund fliehen im selben Monat vor dem
Seit dem 6. Juni greifen die kurdisch bare Fluggeräte mit ein paar Hundert IS aus Rakka und landen in Deutschland;
kontrollierten Truppen der „Syrian Demo- Gramm Sprengstoff, die kurz nach Son- einer in Dortmund, der andere in Meßstet-
cratic Forces“ (SDF) mit massiver ameri- nenaufgang auf die Dächer gelenkt wer- ten, über zwei Autostunden südlich von
kanischer Luftunterstützung Rakka an, die den. Dort schlafen die Soldaten, wenn Weinheim.
inoffizielle Hauptstadt des „Islamischen Temperaturen über 40 Grad die Häuser in Im Juni 2017 wiederum will die Deut-
Staates“ auf syrischer Seite. Anfang Sep- Backöfen verwandeln. sche aus Rakka fliehen, wird festgenom-
tember erklärten sie, die Altstadt vollstän- Erst vor Kurzem tötete eine Drohne ei- men und in einem Flüchtlingslager nörd-
dig eingenommen zu haben und damit nen von ihnen, verwundete fünf weitere lich der Stadt interniert. Im selben Monat
etwa 65 Prozent des Stadtgebietes. Nur Männer. Weswegen der Befehl erfolgte, hält es den Grundschuldirektor nicht mehr
noch wenige Wochen werde es dauern bis schon im Morgengrauen die Dächer zu räu- in Deutschland. Er geht zurück nach Rak-
zur gänzlichen Befreiung. men. Und dann seien da natürlich die Tun- ka und baut in seinem befreiten Dorf west-
Wie sieht sie inzwischen aus, die Stadt nel, erzählt Khalil, wie überall im IS-Ge- lich der Stadt die erste Schule wieder auf.
der Sehnsucht? Es dauert Tage, bis die biet. Der Stadtuntergrund sei durchzogen Ein Spiegelbild der Wege: der Reiserou-
Genehmigung erteilt wird, ins Innere zu von ihnen, manche hätten Stromleitungen, ten ebenso wie der Lebensentwürfe.
fahren. Aus Straßen sind Schluchtenpfade Licht, einer sogar einen Lastenaufzug. Vie- Das erste Zusammentreffen mit der 32-
zwischen aufragenden Häuserruinen, le würden entdeckt, aber längst nicht alle. jährigen Deutschen, die vor über drei Jah-
Schuttbergen und unwirklich verbogenen Weshalb immer wieder Stoßtrupps des IS ren allein zum IS nach Syrien reiste, be-
Autowracks geworden. Man kann mit ge- hinter den Linien auftauchen, zuschlagen ginnt ungewöhnlich: „Der SPIEGEL? Sie
schlossenen Augen spüren, dass Rakkas und wieder verschwinden. haben doch schon vor 20 Jahren über mich
Mitte näher rückt. Es riecht. Erst nur ver- Rakka ist derzeit die Hölle. geschrieben, Nadja Ramadan, guten Tag!“
einzelt, dann immer öfter, bis der Geruch Aber für andere ist diese Stadt mit ihren Nadja war damals von ihrem eigenen
nicht mehr fortgeht. Es riecht nach Leichen einst zweckmäßigen Wohnblocks und ein- Vater, einem Libanesen, entführt worden.
in allen Stadien der Verwesung, die unter stöckigen Familienhäusern noch immer Das sieben Jahre alte Mädchen lebte bei
den Geröllschichten einst mehrstöckiger das Paradies. Erst vor einigen Wochen stol- der Mutter in Deutschland, ihre Eltern hat-
Wohnhäuser liegen. perte die Gruppe der letzten 30, 40 Arme- ten sich scheiden lassen. Der Vater, der
„40 Sekunden“, sagt Luqman Khalil mit nier Rakkas aus der Kampfzone, bleich, wegen Rauschgiftbesitz und anderer De-
müdem Stolz, einer der SDF-Kommandeu- die Männer mit wüsten Bärten. Sie hatten likte in einem deutschen Gefängnis saß,
re an der Ostfront der Stadt. Länger dau- sich bis dahin geweigert, die Stadt zu ver- wollte im Hafturlaub seine Tochter sehen,
ere es oft nicht von der ersten Meldung lassen, hatten die islamische „Kopfsteuer“ entführte sie aber in den Libanon. Die Be-
einer IS-Position, meist eines Scharfschüt- an den IS bezahlt und ausgeharrt. Sie woll- amten hatten ihm seinen Pass ausgehän-
zen, bis zum Einschlag einer Rakete oder ten nicht gehen, denn Rakka, so sagten digt und ihn ausreisen lassen.
Bombe und dem Verschwinden der IS- sie, sei 1915 die Rettung für ihre Großväter Sieben Jahre bleibt Nadja im Libanon,
Position. Wo eben noch ein Haus war, und vor allem Großmütter vor dem türki- der Vater zieht immer wieder mit ihr um,
schießt eine turmhohe Staubwolke nach schen Genozid gewesen, als armenische für eine Weile geht sie auf eine Koran-
94 DER SPIEGEL 38 / 2017
ALICE MARTINS / DER SPIEGEL
ALICE MARTINS / DER SPIEGEL
Rakka nach einem US-Luftangriff, Kämpfer der „Syrian Democratic Forces“: Es riecht nach Leichen in der Stadt
schule. Mehrmals folgt die nach Beirut ge- Zur selben Zeit flieht Fadi al-Hadi, der ihn so sehr geliebt, habe nie Freundinnen
flogene Mutter im Taxi dem Schulbus, ver- Direktor der Ibn-Ruschd-Grundschule in eingeladen. Ich hatte Angst, hinterher hei-
zweifelt, hilflos, wissend, wo die Tochter Salhabija, einem Dorf westlich von Rakka: ratet er die noch. Er ist alles für mich, mein
ist – aber außerstande, sie zurückzuholen „Ich war Monate zuvor bei den allerletzten Mann, Vater, Freund.“
aus diesem Land, dessen Gerichte das Demonstrationen gegen den IS dabei ge- Die Seelenverletzte und der Einbeinige,
Trennungskind dem Vater zusprächen. wesen. Als sie einen aus unserer Gruppe sie fügen sich zu einem seltsamen Ganzen:
Ihr Leben sei nicht schön gewesen, sagt ermordeten, wussten wir, dass sie uns alle „Zwischen uns durfte nichts kommen! Die
die Tochter heute in dem tristen Büro, das umbringen werden.“ Er entkommt über Zeit unter IS-Herrschaft war die beste Zeit
der Direktor des Flüchtlingslagers, in dem die Türkei, mit dem Boot nach Griechen- meines Lebens“, sagt die zierliche, voll-
sie nun festgehalten wird, für das Gespräch land, dann geht es zu Fuß weiter. „Die har- kommen verschleierte Frau. Es ist ein ver-
zur Verfügung gestellt hat. Treffender wäre te Route“, sagt er, „über Albanien, Mon- störender Satz.
zu sagen, dass ein Grauen auf das nächste tenegro, durch die Berge, weiter nach Ser- Fadi al-Hadi, der fast gleichaltrige Schul-
folgte. Als Nadja 14 ist, zwingt ihr Vater bien, Ungarn“, über Zäune, durch Gräben. direktor, erlebt erst in Dortmund, dann in
sie, einen Cousin zu heiraten, der in Wein- Er braucht zweieinhalb Monate, erreicht Leipzig, wie Freiwillige sich monatelang
heim lebt. schließlich Deutschland. um ihn kümmern, „obwohl sie uns über-
„Sie haben mich bedroht: Wenn ich rede Nadja Ramadan heiratet in Rakka, wird haupt nicht kannten“. Er begegnet Pegi-
oder abhaue, bringen sie mich um. Und schwanger. Nach einer Weile ziehen sie da-Pöblern in Dresden, geht in Museen,
ich habe mich gefügt, bekam mein erstes weiter ins irakische Tall Afar. Ihr Mann „ich wollte verstehen, wieso der Staat hier
Kind, mit 18 mein zweites, dann ein drittes. verliert ein Bein bei einem Bombenangriff. funktioniert“. Er reist viel durch Deutsch-
Ein Jahr lang hatte ich Angstzustände, Als Invalide, sagt sie, habe er im Fernmel- land. Eine winzige Szene hat sich ihm ein-
dachte, ich sterbe. Ich habe den Mann deamt gearbeitet. Sie wird plötzlich laut, geprägt: „Es war in Wuppertal, spät
nicht geliebt, sondern mich gefühlt, als ob als es um den Terror des IS geht, erklärt, abends im Winter. Da stand eine Frau an
ich das alles nur spiele. Aber mein Glaube sie sei schnell gereizt, weil jeder sie frage: einer roten Ampel. Es war eiskalt, der
wuchs in dieser Zeit. Im Traum ist mir Mo- Hast du Bomben gelegt? Warst du bei Ent- Schnee stand knöchelhoch, die Straße war
hammed, der Prophet, erschienen. Ich hauptungen dabei? Hattet ihr auch Skla- menschenleer, aber sie wartete auf Grün.“
habe mich islamisch bedeckt, die Gebete vinnen? Er liebe diese Hingabe an die Regeln
befolgt. Das hat mir Ruhe gegeben.“ Dabei sei sie doch immer zu Hause ge- eines funktionierenden Miteinanders. Das
Mit 26 verlässt sie ihren Ehemann und wesen. Kochen, im Koran lesen, putzen, Gefühl von Verantwortung. „Warum ist
die drei Kinder, geht in ein Frauenhaus, ab und an einen Film sehen. Schießen kön- unser Land nicht so?“
schließlich in ein Familienheim – und dann ne sie nicht, sie habe Angst vor Waffen. Im Irak zieht sich der Belagerungsring
nach Rakka: „Über Facebook habe ich „Ich wollte in Ruhe in einer islamischen um die IS-Gebiete Anfang 2017 enger zu.
einen gläubigen Mann gesucht und gefun- Welt leben, Gott dienen und meine Kinder Aber auch auf syrischer Seite kämpfen
den.“ Einen Deutschtürken, der bereits großziehen.“ Auch mit ihren syrischen und sich die Soldaten der SDF über Monate
beim IS in Rakka ist: „Ich solle rasch zu irakischen Nachbarn habe sie nie etwas zu durch die Dörfer des Umlandes an den Eu-
ihm kommen, meinte er, dort sei ein isla- tun gehabt, „ich war es ja gewohnt, immer phrat heran. Nadja Ramadan und ihr
misches Leben möglich.“ Anderthalb Tage allein zu sein. Das macht mir nichts aus“. Mann gehen zurück nach Rakka, Mitte
nach ihrer Ankunft in Istanbul wird sie Am Anfang habe sie nicht einmal etwas Mai wird dort ihr zweiter Sohn Moham-
schon über die Grenze und nach Rakka ge- dagegen gehabt, wenn ihr Mann noch eine med geboren.
bracht: „Es war wie ein Spaziergang.“ 2014 zweite Frau geheiratet hätte. „Aber als er Ende Mai erfolgt der Sturm auf Salhabi-
hat die türkische Regierung noch nichts da- dann sein Bein verloren hatte, während ja, Fadi al-Hadis Dorf westlich von Rakka,
gegen, dass Tausende Dschihad-Jünger aus ich gerade schwanger war, habe ich ihn ge- er kann sich nicht mehr auf seinen
aller Welt über die Türkei zum IS strömen. pflegt, war für ihn da. Und dann habe ich Deutschkurs konzentrieren: „Da ging es
96 DER SPIEGEL 38 / 2017
ALICE MARTINS / DER SPIEGEL
um meine Heimat, meine Familie! Und ich gern loswerden. Nur wie? „Wenn jemand Nun beginnt jeden Morgen, sonntags
sollte Vokabeln lernen. Ich hielt es nicht von ihrer Familie oder den deutschen Be- bis donnerstags, um acht Uhr der Unter-
mehr aus. Mir war klar: Ich muss zurück!“ hörden kommt, kann er sie sofort mitneh- richt in der einzigen funktionierenden
Im Jobcenter raten sie ihm ab, deutsche men, solange man die Verantwortung für Schule weit und breit. Auch Schüler aus
Freunde sind bestürzt, aber nichts stimmt sie übernimmt!“ umliegenden Dörfern kommen. Nur vier
ihn um. Dreimal bewirbt er sich um ein Ihre Mutter Helga hat die Hoffnung nie Räume sind nutzbar. Keiner der sieben
türkisches Visum, dreimal wird es abge- aufgegeben, ihre Tochter aus Syrien zu- Lehrer bekommt ein Gehalt. Seit Mai ist
lehnt: „Da bin ich nach Griechenland ge- rückzuholen. Aber noch weiß sie nicht, Salhabija sich selbst überlassen, es gibt
flogen und auf demselben Schmuggelpfad wie sie ins Kurdengebiet hinein und mit keinen Strom, kein Leitungswasser, kein
durch den Grenzfluss im Norden zurück- ihrer illegal eingereisten Tochter wieder Telefonnetz. Fadi al-Hadi arbeitet nach-
gekehrt. Verrückt“, er sagt es auf Deutsch, herauskommen soll. mittags auf den Feldern seiner Familie und
„alle wollten in die Gegenrichtung.“ Er Von den deutschen Behörden sei nichts bangt dem Winter entgegen: „Wir müssen
nicht. Griechische Grenzer, die ihn aufgrei- zu hören. Die Offiziellen im Verhör hätten die Fenster reparieren, brauchen Öfen,
fen, sind erst verwundert, dann gerührt Nadja gesagt: „Euer Land will euch nicht. Diesel, etwa 8000 Euro. Woher wir die
und lassen ihn ziehen. Was können wir dafür?“ nehmen sollen? Entweder kommt Hilfe
Tage später kommt er in Salhabija an. 70 Kilometer weiter südlich haben Fadi von außen – oder wir werden bei jeder
Eine US-Rakete hat eines der beiden Ge- al-Hadi und ehemalige Lehrer den unzer- Familie sammeln.“
bäude seiner alten Schule zerstört, wo sich störten Teil der Grundschule in Salhabija Nadja Ramadan hat im Lager das einzi-
die letzten beiden IS-Männer des Ortes wiederhergerichtet. Aus dem Schutt ha- ge Erinnerungsstück an ihren Mann ver-
versteckt hatten. Kurz darauf folgt ihm Ab- ben sie Pulte, Stühle und drei Sessel fürs kauft – „ein kleiner Gold-Dinar vom ‚Isla-
dullah aus Meßstetten, Fadi al-Hadis Büro geborgen und geputzt; jede Familie mischen Staat‘, den er mir geschenkt hatte.
Freund aus den Tagen der ersten Demons- musste Hefte und Stifte für die Kinder Ich brauche das Geld, um Windeln zu kau-
trationen gegen die Diktatur 2011. kaufen. fen. Es wäre gut, wenn Deutschland mir
Zur selben Zeit beschließt Nadja Rama- „Als ich ankam“, erinnert sich der Rück- einen Weg weisen würde, zurückzukom-
dans Mann, seine Frau und die Kinder kehrer, „war der IS ja schon weg. Aber die men“, sagt sie. „Denn aus meinen Kindern
aus der Stadt zu bringen. Ein Schmuggler Angst vor ihm saß noch so tief, dass alle soll etwas werden, sie sollen ein ganz nor-
soll die drei durchs Kurdengebiet bis in wie gelähmt waren. Sie fragten mich: Dür- males Leben haben. Nicht so ein kaputtes
die Türkei geleiten. Im Morgengrauen des fen wir denn die Schule einfach aufma- wie ich.“ Während sie das sagt, spielt ihr
19. Juni beginnt ihre Fahrt, an einem chen? Mein Vorgänger, der alte Direktor zweieinhalbjähriger Sohn Nuh draußen
Kontrollposten der Kurden endet sie. Für mit Parteibuch, sagte, er werde abwarten, mit dem fünfjährigen Abu Bakr, Sohn ei-
18 Tage landen sie im Gefängnis von Ko- bis Baschar al-Assad die Wiedereröffnung ner anderen IS-Frau, benannt nach Abu
bane, danach im Flüchtlingslager von Ain anordne. Aber das habe ich in Deutschland Bakr al-Baghdadi, dem Anführer des „Is-
Issa, in der Abteilung für IS-Angehörige. gelernt: nicht warten. Machen! Wir haben lamischen Staates“.
Zwölf Frauen, 34 Kinder und ein Telefon. drei Jahre verloren, in denen es hier über- Irgendwo in einem Keller in Rakka sitzt
Aber sie leben. haupt keine Schule gab. Drei Jahre, in de- währenddessen Nadjas Mann, mit einem
„Wir erleben sie hier als kooperativ und nen man aus Kindern alles machen konnte, Bein, kann nicht vor, nicht zurück. Bleibt
moderat“, sagt Dschalal Ajaf, der Direktor gütige Menschen oder Monster.“ Der IS er, treffen ihn irgendwann die Angreifer.
des Lagers, „auch vom Geheimdienst liegt habe Monster aus ihnen machen wollen, Versucht er, sich mit einer weißen Fahne
nichts gegen sie vor. Sonst hätten die sie habe mit Süßigkeiten, Gewinnspielen und bis zur Front durchzuschlagen, werden die
ja gar nicht hierher gebracht.“ Videos für die Kleinen angefangen, um die eigenen Leute auf ihn schießen.
Nadja Ramadan will das Lager verlassen, Älteren dann in seine Trainingscamps zu „Man stirbt nur zu dem Zeitpunkt, der
auch Ajaf würde seine Mustergefangene locken. von Gott gegeben ist“, sagt seine Frau. I
DER SPIEGEL 38 / 2017 97
Ausland
E
s ist nicht wahnsinnig kompliziert, in den USA eine Unzufriedenen im Land, das ja, aber Trump hat weder
neue Partei zu gründen. Man braucht, abhängig vom die Geduld noch die Weitsicht, diesen Menschen eine
Bundesstaat, einige Tausend Unterschriften von Mit- politische Heimat zu geben.
streitern und muss sich bei der Wahlkommission registrie- Die Republikaner sind heute schon in Wahrheit zwei
ren. Der schwierige Teil ist, eine neue Partei in einem Parteien. Da ist zum einen ein Rumpf aus Pragmatikern
Land zu verankern, das seit anderthalb Jahrhunderten wie die Senatoren John McCain oder Jeff Flake, und da
von Demokraten und Republikanern beherrscht wird. ist die radikallibertäre Bewegung, als deren Wegbereiter
Die Parteienfrage wird gerade wieder diskutiert. Vori- Stephen Bannon auftritt. Dennoch gibt es keine Anzeichen
ge Woche schloss Donald Trump im Streit um die Staats- dafür, dass die Partei sich tatsächlich spalten könnte. Die
schulden überraschend einen Pakt mit den Demokraten, Republikaner wissen, dass das vermutlich Selbstmord wäre.
vorbei an seiner Partei. Zum Entsetzen seiner Partei- Interessant ist aber, dass sich Demokraten wie Republi-
freunde lud Trump am Mittwoch auch noch die beiden kaner zehn Monate nach Trumps Wahl immer noch nicht
demokratischen Fraktionschefs zum Dinner ins Weiße mit der veränderten Realität arrangieren können. Ähnlich
Haus, Chuck Schumer und Nancy Pelosi – oder, wie wie in Europa bilden die Parteien auch in den USA nicht
Trump sie inzwischen nennt, „Chuck und Nancy“. mehr die Lager ab, die es noch vor 20 oder 30 Jahren gab.
Für viele Republikaner klingt das wie der Titel eines Für die Republikaner ist das besonders schmerzhaft.
schlechten Films. Trump steckt wie ein Keil in seiner Partei. Trotz ihrer
Danach hieß es von den Mehrheit im Kongress konn-
Demokraten, sie hätten sich te sie kein größeres Geset-
mit Trump darauf geeinigt, zesvorhaben umsetzen.
einen gesetzlichen Schutz Natürlich stritten sich auch
für Kinder illegaler Einwan- Präsidenten vor ihm mit ih-
derer einzuführen. Die Mau- ren Parteifreunden. Barack
er zu Mexiko sei vom Tisch. Obama ärgerte sich mit den
Breitbart, einstmals Trumps Demokraten herum, George
Kampforgan, schimpfte ihn W. Bush mit den Republi-
daraufhin „Amnesty Don“, kanern. Aber keiner von
Amnestie-Donald. Schnell er- Trumps Vorgängern machte
WIN MCNAMEE / GETTY IMAGES
ist es auch. Weit stärker als zu len zu ziehen. Wir sind in der Projekt unterstützen, mit dem russisches
Sowjetzeiten. Ich habe gerade EU und in der Nato. Hinzu Gas geliefert werden soll?
mit dem britischen Außenmi- kommt: Wir haben keine rus- Ratas: Ob das Unterfangen komplett ge-
nister Boris Johnson über das sischen Truppen oder Mili- stoppt wird, hängt tatsächlich von der deut-
Manöver „Sapad“ gesprochen. tärstützpunkte auf unserem schen Regierung und den dortigen Geneh-
Wir sind ja Mitglied der EU Staatsgebiet. migungsbehörden ab. Denn auf deutschem
und aktives Nato-Mitglied. Premier Ratas SPIEGEL: Aber ein Viertel Ihrer Territorium käme das Gas ja an.
Wenn Sie von Panzern spre- „Böse Überraschung“ Staatsbürger zählt sich zur rus- Interview: Walter Mayr, Peter Müller
E
igentlich sollte es laufen. Christian ten. Wenn nun in Deutschland und im Mit „sozialer Gerechtigkeit“ möchte
Kern, der österreichische Bundes- Frühjahr in Italien gewählt wird, könnten Martin Schulz die Bundestagswahl gewin-
kanzler, ist an einem Spätsommer- sie in den letzten beiden Kernstaaten der nen. Doch die Arbeiterschaft, einst
abend wie ein Rockstar im Tourbus nach Europäischen Union (außer Österreich) Trägermilieu der Sozialdemokratie, ist
Illmitz im Burgenland gekommen. Er wird aus der Regierung fliegen. Dann wären es fragmentiert in gut verdienende Kernbe-
mit Jubel und Blasmusik empfangen und noch 6 von jetzt 28 Ländern. Alle an der legschaften und eine Peripherie von Leih-
hat vor lauter Selfiejägern Mühe, sich zur europäischen Peripherie: Malta, Portugal, arbeitern, die oft die gleiche Arbeit ma-
Bühne des Gewerkschaftsfests durchzu- Rumänien, Schweden, die Slowakei, Tsche- chen und dafür weniger Geld bekommen.
kämpfen, vor der etwa zweihundert Men- chien. In Griechenland regiert das links- Andere hängen in perspektivlosen Dienst-
schen warten. populistische Bündnis Syriza. In Tsche- leistungsjobs fest. Ist die Sozialdemokratie
Als er schließlich oben steht, spricht er chien wird im Oktober gewählt. Dass die noch die Partei der Arbeiter? Oder ist das
vom „österreichischen Traum“. Sozialdemokraten wieder gewinnen, ist nur noch eine ferne Erinnerung, an die
Kern erzählt von sich und davon, wie eher unwahrscheinlich. sich Bildungsaufsteiger klammern, die ihre
er es aus kleinen Verhältnissen nach oben Es gibt sogar ein neues Wort für diesen Heimat im öffentlichen Dienst gefunden
geschafft hat. Er redet über das Land und Absturz: Pasokisierung. So wie die Pasok, haben? So sehen zumindest die Fraktionen
darüber, was die Leute ihm von ihren Sor- die langjährige griechische Regierungspar- der SPD in den Parlamenten aus.
gen erzählen. Und er skizziert einen Plan, tei, die bei der Wahl von 2015 in die Be- Die Arbeit war der zentrale Begriff, um
aus Österreich wieder ein Land zu machen, deutungslosigkeit fiel. Ähnlich in den Nie- den sozialdemokratische Identität jahr-
in dem jeder „die Chance auf ein geglück- derlanden: Die traditionsreiche Partei der zehntelang kreiste, aus ihr bezog man all-
tes Leben bekommt“. So reden eigentlich Arbeit kam bei der letzten Wahl gerade täglichen Stolz und das Gefühl für den
amerikanische Präsidenten, nicht österrei- noch auf 5,7 Prozent. BenoÎt Hamon, der eigenen Wert. Der Wandel der Arbeits-
chische Sozialdemokraten. Kandidat der französischen Sozialisten, er- welt, die neuen Beschäftigungsverhältnisse
Dummerweise läuft es aber nicht. Trotz reichte bei den Präsidentschaftswahlen mit wie der Aufstieg der Dienstleistungen und
eines guten Kandidaten, eines guten Wahl- 6,4 Prozent nur den fünften Platz. Bei den die Digitalisierung haben all das durch-
kampfs und einer guten Lage im Land – Wahlen zur Nationalversammlung lande- einandergeworfen. Als wäre das nicht ge-
die Arbeitslosigkeit liegt bei zwei Prozent, ten die Sozialisten bei erbärmlichen nug, funktioniert auch das Parteiensystem
das Wachstum bei gut zwei Prozent. 9,5 Prozent. In Polen sind die Sozialdemo- als Ganzes nicht mehr wie früher: Wer sich
Besser als in Deutschland. Doch in den kraten gar nicht mehr im Parlament. heute engagiert, tut dies oft lieber in einer
Umfragen bewegt sich die SPÖ seit Mo- Dabei gibt es bei vielen Wählern einen Bürgerinitiative als in einer Partei. Das
naten zwischen 22 und 28 Prozent. Das Wunsch nach sozialer Sicherheit. So lässt trifft besonders die Sozialdemokraten, die
wird nicht reichen, um den Kanzler zu sich wohl auch der kurzzeitige Aufstieg immer Mitgliederparteien waren, Organi-
stellen. von Martin Schulz am Anfang des Jahres sationen der Ortsvereine – und der Funk-
Kern, 51, war Chef der österreichischen erklären, als er die SPD in den Umfragen tionäre. Heute sind die Arbeiterparteien
Bundesbahn, bevor er im vergangenen nach oben zog und bis auf einen Prozent- vor allem Rentnerparteien. Das enge Ge-
Jahr Kanzler wurde. Er war der Mann, der punkt an die CDU herankam. Dann stürz- flecht von Vereinen und Organisationen,
während der Flüchtlingskrise 2015 dafür te er ab. Das lag bestimmt am unentschlos- das sie einmal unterhielten und das die
sorgte, dass die Sonderzüge fuhren. Er ver- senen Wahlkampf der SPD, und an Schulz verschiedensten Menschen zusammenhielt,
drängte den glücklosen Werner Faymann selbst, der nicht mehr begeistern kann. ist zerrissen. Viele der kleinen Leute wäh-
von der Regierungsspitze. Kern hat ein jun- Doch auch an einem größeren Problem. len Rechts- oder Linkspopulisten.
ges Team um sich gesammelt, in seinem Niemand weiß mehr so richtig, was das Wie in Italien. Dort hat die populistische
Bus ist kaum jemand älter als Ende dreißig, eigentlich sein soll: Sozialdemokratie. Fünf-Sterne-Bewegung des früheren Fern-
Multimedialeute jagen Filme in die sozia- Was erstaunlich ist. Waren nach der Fi- sehkomikers Beppe Grillo, 69, die Sozial-
len Netzwerke. Doch wenn kein Wunder nanzkrise von 2008 nicht die Rückkehr des demokraten in den Umfragen hinter sich
geschieht, wird Kern nach dem 15. Okto- starken Staats und das Ende des Finanz- gelassen. Zwar ist „manische Zersplitte-
ber abtreten müssen. kapitalismus ausgerufen worden? Driften rung“ ein stabiler Bestandteil der Ge-
Das liegt auch an Sebastian Kurz, 31, Arm und Reich nicht fast überall in Europa schichte der italienischen Linken, wie der
seinem Herausforderer. Der hat seine Par- auseinander? Gäbe es nicht allen Grund, „Corriere della Sera“ schreibt. Doch der-
tei, die österreichischen Konservativen, in jetzt sozialdemokratisch zu wählen? zeit ist ihre Lage besonders ärgerlich, weil
eine bunte Wahlliste verwandelt, er setzt Die Sozialdemokraten haben Westeuro- alles vor Kurzem noch so gut aussah. Der
auf seine Jugend und einen strammen pa geprägt wie keine andere politische Be- Ex-Premier Matteo Renzi, 42, verspielte
Anti-Islam-Kurs. Im persönlichen Ver- wegung. Ihre Vorstellungen sind bis weit seinen Posten mit einem Referendum, ist
gleich liegen Kern und Kurz in den Um- ins bürgerliche Lager selbstverständlich ge- aber zurückgekehrt, um die Demokra-
fragen zwar fast gleichauf. Der staatsmän- worden. Der Wohlfahrtsstaat, die Idee, tische Partei wieder zu führen. Eine Partei,
nische Kern sieht neben Kurz aber aus wie dass die Stärkeren Verantwortung für die in der ihm der Rückhalt fehlt, weil er den
ein Vertreter des Bestehenden. Die Men- Schwächeren haben oder dass jeder die Altgenossen zu fortschrittsfreundlich,
schen verbinden ihn trotz allem mit der gleiche Chance zur gesellschaftlichen Teil- wirtschaftsliberal und gewerkschaftsfeind-
alten, erstarrten Sozialdemokratie. habe bekommen sollte. Das ist grundsozial- lich ist.
2000 regierten in 10 von damals 15 EU- demokratisch. Aber die einschlägigen Par- Eigentlich war Renzi ein Hoffnungs-
Staaten Sozialdemokraten oder Sozialis- teien profitieren davon nicht mehr. träger der europäischen Sozialdemokra-
100 DER SPIEGEL 38 / 2017
REX / SHUTTERSTOCK
Österreichischer Kanzler Kern bei einer Veranstaltung in Graz: „Die Chance auf ein geglücktes Leben“
REUTERS
tie. Der Erste dieses neuen Politikertypus, mittags vor 1500 Zuhörern vor einer Mo- will Schlüsselindustrien verstaatlichen. Er
der die europäischen Regierungsviertel er- schee absolviert. ist kein Sozialdemokrat, er ist Sozialist.
obert: junge Männer in schmalen Anzügen, Dabei ist gar kein Wahlkampf. Die letz- Wie konnte so einer Parteichef werden?
die gutes Aussehen, beste Verbindungen te Wahl liegt gut drei Monate zurück und Das wäre niemals möglich gewesen ohne
und Organisationstalent zusammenbringen. endete mit zwei Sensationen: Die Tories den Hass, den große Teile der Parteibasis
Und nun? Gut möglich, dass bei den unter Theresa May verloren ihre absolute gegen den Ex-Premier und Erfinder des
Neuwahlen 2018 gar nicht mehr Renzi für Mehrheit – und die totgesagte Labour-Par- „dritten Weges“ Tony Blair hegen. Corbyn
die Linke antritt – sondern der aktuelle tei exhumierte sich selbst. Seither macht ist alles, was Blair nicht ist. Er ist nicht gla-
Premier, der so lautlos wie unaufgeregt re- Jeremy Corbyn einfach weiter. Er will be- mourös, er ist kein Zyniker. Corbyn ist der
gierende Paolo Gentiloni, dem zugetraut reit sein für die nächste Wahl, die, stürzt Abwehrzauber gegen die Gier der neo-
wird, die rivalisierenden Lager der Linken May, tatsächlich bald kommen könnte. liberalen Ära. Die retroeske Neuerfindung
zumindest nicht weiter gegeneinander auf- Als May im Frühjahr Neuwahlen ausrief, von Labour hat vor allem mit dem Ab-
zubringen. Die Chancen auf einen Wahl- prophezeiten ihr die Umfragen einen Erd- schied von Blair zu tun.
sieg sind ungewiss. rutschsieg. Labour schien nicht viel mehr Viele europäische Mitte-links-Parteien
zu sein als ein zerrütteter Haufen. Doch haben ihren Tony Blair. In Deutschland ist
J
eremy Corbyn steht an einem Don- dann geschah etwas Seltsames. Gegen die es Gerhard Schröder. Und was der Irak-
nerstag Ende August etwas linkisch Übermacht der Konservativen, gegen einen krieg für Labour ist, ist die Agenda 2010
neben einer leeren Bühne. Er hat sich Großteil der britischen Medien, gegen ent- für die SPD. Der Verrat an dem, wofür die
durch einen Seiteneingang reingeschlichen scheidende Kräfte in seiner eigenen Partei Sozialdemokratie einmal stand.
in die Glasgower Drygate-Brauerei, kaum und gegen jede Wahrscheinlichkeit kam Doch Leute wie Blair oder Schröder
einer der rund 400 Gäste hat ihn bemerkt. Corbyn am 8. Juni landesweit auf rund wird man nicht so einfach los. Sie sind die
Er zuppelt an seinem Bart, nippt an einem 40 Prozent. letzten Sieger. Das ist eine Menge in Par-
Wasser, kritzelt ein paar Worte in ein klei- Erstmals seit langer Zeit begeistern sich teien, die in letzter Zeit zu den Verlierern
nes Notizbuch, dann blickt er gespannt in Großbritannien wieder Menschen für gehören. Und sie sind die Helden großer
zur rot erleuchteten Bühne. Als er nach die Politik – genauer: für einen Politiker –, sozialdemokratischer Bildungsromane, in
oben gerufen wird, scheint er ein wenig die von fast allen Parteien längst abge- denen sich viele Menschen wiedergefun-
überrascht zu sein. schrieben waren. Die Jungen, die Abge- den haben. Der Abschied von den alten
Corbyn ist eine Lichtgestalt der euro- hängten, die Minderheiten und Gewerk- linken Idealen war ja auch die Kehrseite
päischen Linken. Und tatsächlich. Die schafter sehen in Corbyn den Posterboy des großen gesellschaftlichen Aufstiegs,
Menschen hängen an seinen Lippen. Sie des Postkapitalismus. Sie alle spricht er an, den die sozialdemokratische Bildungspoli-
klatschen, als er das Spardiktat verurteilt, wenn er sagt: „Es gibt ein fundamentales tik seit den Sechzigern vielen Menschen
unter dem das Land ächzt. Sie johlen, als Unbehagen darüber, dass eine Gesellschaft ermöglicht hat. Dieser Abschied von der
er der Regierung vorwirft, einen Klub der Armut und Ungleichheit duldet, während Herkunft konnte auch ein Glück sein.
Reichen immer reicher zu machen. Sie ju- eine kleine Zahl von Menschen immer rei-
beln, als er ruft: „Dafür schäme ich mich!“ cher wird.“ sind auch zurückgeblieben.
Es ist Corbyns zweiter Auftritt an diesem Aufmerksam schaut auch die europäische Die Milieus, die die Sozialdemokraten
Tag in Glasgow, den ersten hat er nach- Linke auf den Aufstieg von Labour. Corbyn überall in Europa jahrzehntelang getragen
102 DER SPIEGEL 38 / 2017
Ausland
haben, haben sich aufgelöst. In Hamburg Ist das so? Liegt die Zukunft der Sozial- könnten die Sozialdemokraten nicht bei-
und Bremen, in den französischen Kohle- demokratie im Schutz der Leute, die von seite bleiben. Sicher wäre es klüger gewe-
gebieten, im englischen Norden: Jedes der Globalisierung abgehängt worden sen, wenn die Sozialdemokraten die Fi-
Land hat diese sogenannten Herzkam- sind? Möglicherweise. nanzmärkte damals stärker kontrolliert
mern seiner Sozialdemokratie. Sie haben Allerdings waren es historisch die Kon- hätten, anstatt sie weiter zu liberalisieren.
fast überall aufgehört zu pumpen. Nicht servativen, die versuchten, den gesell- Aber Schröder und Blair wollten da sein,
nur die sozialdemokratischen Ideen haben schaftlichen Fortschritt zu verlangsamen wo der Fortschritt war.
sich im gesamten Parteienspektrum ver- und die Veränderungen im Leben der Bür- Erstaunlicherweise sind die rechten
teilt – auch die Menschen, die einmal So- ger überschaubar zu halten. Sie waren es, Populisten eher ein Phänomen des reichen
zialdemokraten waren. Die einen sind weg- die den Verunsicherten eine Heimat gaben. Nordens. In Spanien oder Griechenland,
gezogen, in die Viertel der neuen Mittel- Den Sozialdemokraten ging es darum, den dort, wo Finanz- und Schuldenkrise in den
schichten. Die, die in den ärmeren Vierteln Wandel zu gestalten. An der Spitze des vergangenen Jahren Armut und wirtschaft-
leben, orientieren sich neu. Fortschritts zu stehen. liche Stagnation mit sich gebracht haben,
Wie geht man damit um? Niemand weiß Ob es im späten 19. Jahrhundert war, finden sich die Populisten vor allem auf
es. Als Sigmar Gabriel bei einer Parteikon- als die Arbeiterbewegung glaubte, durch der Linken. Syriza ist das in Griechenland
ferenz eine Putzfrau aufs Podium holte, Bildung, Disziplin, Solidarität und Kampf und Podemos in Spanien.
flogen den beiden die Herzen zu, gerade eine neue, bessere Welt entstehen lassen Podemos entstand aus den Protesten
weil Reinigungskräfte das Gesicht der Par- zu können. Oder in den Sechzigern und von 2011, die sich gegen Sparzwänge, aber
tei so wenig prägen wie Hilfsarbeiter oder frühen Siebzigern des vergangenen Jahr- auch gegen die Korruption in den großen
Verkäuferinnen. Es gibt aber einen tiefen hunderts, als die riesigen Produktivitäts- Parteien richteten. Damals war in Spanien
Wunsch danach, sie in den eigenen Reihen zuwächse der Industriegesellschaft auch eine riesige Blase aus Immobilienkrediten
zu haben. bei den Arbeitern in Form höherer Löhne geplatzt, die das Bankensystem in den Ab-
landeten. Als die Sozialdemokraten der grund zu ziehen drohte. Die sozialistische
I
n keinem anderen Land machen sich Ära Brandt-Kreisky-Palme ein paar glor- Regierung verhinderte dies – musste aber
die Sozialdemokraten gerade so de- reiche Jahre lang nicht nur glaubten, Ge- auf Druck der EU die staatlichen Ausgaben
monstrativ locker, wenn es um eine sellschaft und Wirtschaft ließen sich durch zurückfahren. Podemos („Wir können“)
mögliche Zusammenarbeit mit den Rechts- die Politik sinnvoll steuern. Sondern es sind gegen europäische Sparprogramme
populisten geht, wie in Dänemark. Es auch taten. und seien deshalb die „neuen Sozialdemo-
könnte sie sogar zurück an die Macht füh- Selbst Ende der Neunziger war das so, kraten“, sagt ihr Chef Pablo Iglesias, 38,
ren. Wenn in zwei Jahren gewählt wird, als Blair, Schröder und ihre Stichwortgeber ein Politologe von der Universität Madrid.
will Mette Frederiksen, 39, seit 2015 Vor- glaubten, wo eine New Economy entstehe, Die Sozialisten, die das moderne Spa-
sitzende der dänischen Sozialdemokraten, nien aufgebaut haben, die den Wohlfahrts-
nicht ausschließen, mit der rechtspopulis- Linke Regierungen in der EU * staat errichtet und die gesellschaftliche Er-
tischen Dänischen Volkspartei an die Re- neuerung nach der Franco-Diktatur getra-
Sozialdemokraten/
gierung zu kommen. Sozialisten gen haben, tun sich schwer mit der neuen
Die Volkspartei, das einstige Schmuddel- regieren
Konkurrenz von links. Sie wollten vergan-
kind der dänischen Politik, positioniert sich genes Jahr Podemos in eine Regierungs-
sind
erfolgreich als Stimme der anständigen, regierungs- koalition holen, aber Podemos wollte nicht,
pflichtbewussten Leute. Ihre rigide Auslän- beteiligt weil sie hofften, bei der Parlamentswahl
derpolitik verknüpft sie mit einer Soziala- übrige die Sozialisten zu überholen. Jetzt wollen
genda: für humanere Bedingungen am Ar- EU-Länder sie den Pakt.
beitsplatz und niedrigere Steuern für Ge- Auch die Grünen und die Linkspartei
ringverdiener, gegen eine Erhöhung des in Deutschland sind Zerfallsprodukte der
gesetzlichen Rentenalters. Eigentlich klassi- sozialdemokratischen Linken. In den Sieb-
sche Programmpunkte von Traditionssozis. zigern verpasste es die SPD unter Helmut
Natürlich weiß Frederiksen, dass viele Schmidt, die Friedensbewegung und die
im linken Spektrum ein Herz für Flücht- Umweltaktivisten einzubinden. Die Links-
linge haben und ihre Nähe zur Volkspartei partei ist nicht nur Nachfolgerin der ost-
kritisch sehen. Deshalb nimmt sie für sich deutschen PDS, auch die westdeutsche
in Anspruch, weder für noch gegen Zu- 2000 WASG ging in ihr auf, gegründet von ent-
wanderer zu sein, sondern lediglich für 2017 täuschten Sozialdemokraten nach der An-
eine realistische Politik einzutreten: „In kündigung der Agenda 2010.
Dänemark hat man vom ersten Tag an An- Spaltung muss nicht Schwäche sein. Die
spruch auf beinahe sämtliche Leistungen. Grünen erreichten Wählerkreise, die der
Es ist ein schwieriges System, wenn viele SPD allein verschlossen geblieben wären.
Leute ins Land kommen.“ Ihr großes An- Zusammen reichte es dann für eine rot-
liegen ist der dänische Zusammenhalt. grüne Mehrheit. Doch für solch ein Regie-
Ein Schlüsselsatz für Frederiksens Stra- rungsprojekt müssen alle Beteiligten wis-
tegie ist ihre Aussage: „Wenn es den Sozial- sen, was sie wollen und wo sie stehen.
demokraten nicht gelingt, diejenigen ab-
D
zuholen, die von den Herausforderungen er Politikwissenschaftler Wolfgang
der Zukunft und von den Veränderungen Merkel hat die Theorie entwickelt,
unserer Gesellschaft am stärksten betrof- dass der Unterschied zwischen
fen sind, dann sind wir keine richtige so- rechts und links in den Demokratien der
zialdemokratische Partei.“ Das geht, so westlichen Welt immer mehr an Bedeu-
selbstbewusst ist sie, auch an die Adresse Niederlande: Regierungsbildung im tung verliere – und dass dafür eine andere
der anderen Sozialdemokraten in Europa. Gang, künftig wohl nicht beteiligt *2000: EU 15; 2017: EU 28 Differenz wichtiger werde: die zwischen
DER SPIEGEL 38 / 2017 103
DER NR. 1-
BEST-
Gütern und Kapital begrüßen und für Ein- Marine Le Pen bei den Präsidentschafts-
wanderung sind. Und den anderen, die all wahlen fiel auch deshalb so deutlich aus,
das als Bedrohung sehen. weil Macron jene Kräfte bündelte, die ge-
Zu Ende gedacht, heißt dieser Gedanke: gen Nationalismus und Abschottung sind.
Möglicherweise ist die Zeit der rechten Macron war der Kandidat derer, die ver-
und der linken Volksparteien, die sich an hindern wollten, dass Le Pen die Wahlen
der Macht abwechseln, schlicht vorbei. gewinnt.
Vielleicht gehört die Zukunft anderen Kon- Er schaffte es, den Mainstream mit
stellationen. Bewegungen für ein offenes einem für Frankreich neuen Ton des Zu-
Land – und dagegen. kunftsoptimismus wieder attraktiv zu ma-
In kaum einem Land war der klassische chen: Macron steht für den Glauben daran,
Gegensatz zwischen links und rechts bis dass ein siechendes Land wirtschaftlich
vor Kurzem noch so ausgeprägt wie in wieder erfolgreich werden kann, wenn es
Frankreich, dem Land, das ihn überhaupt sich nur reformiert. Seine Rezepte sind ge-
erst erfunden hat. Und ausgerechnet hier nauso wenig klassisch links wie einst Ger-
hat sich das Parteiensystem bei den letzten hard Schröders Agenda 2010: Es geht da-
Wahlen auf spektakuläre Weise neu geord- rum, den Staat zurückzudrängen und
net. Es ist kein Zufall, dass das erste Opfer Wachstum zu ermöglichen, es geht darum,
dieser Verschiebung ausgerechnet die So- die Arbeitslosigkeit dadurch zu verringern,
zialistische Partei war. Nur ein kläglicher dass Einstellungen und Entlassungen ver-
Ungekürzte Lesung
mit Dietmar Wunder
Rest ist von ihr geblieben: Sie hat 249 ihrer einfacht werden.
280 Sitze verloren. Das ist der Kern von Macrons Arbeits-
2 mp3-CDs • ca. 13 h 10 min Schon immer mussten sozialdemokrati- marktreform. Aus Sicht der klassischen
EUR 19,99 (UVP) sche Parteien viele Strömungen beherber- Linken ist jeder Rückbau bei den Arbeit-
gen, doch sie sind zu gegensätzlich gewor- nehmerrechten Verrat; aus der Sicht eines
den. Der Konflikt zwischen jenen, die Sozialliberalen wie Macron ist es wichtiger,
mehr Öffnung, Europa und Reformen wol- dass Unternehmen erfolgreich sein und
»Noch nie wurde len, und jenen, die dagegen ankämpfen, trotz der massiven Veränderungen in der
hat die französischen Sozialisten zerrieben. Arbeitswelt neue Jobs entstehen können.
ein dänischer Thriller Deshalb könnten ihre Erben kaum ge- Etwa die Hälfte aller Arbeitsplätze in
auf solch hohem gensätzlicher sein: Auf der einen Seite ist den westlichen Ländern wird bis zum Jahr
Niveau geschrieben.« da Emmanuel Macron, der neue Präsident, 2030 durch die Robotisierung verschwin-
ein Sozialliberaler, der die Wahlen mit den, besagt eine Studie der Universität Ox-
HORSENS FOLKEBLAD einer Botschaft des Aufbruchs und einem ford. Was heißt das? Werden andere Jobs
Bekenntnis zu europäischen Werten ge- entstehen – oder nicht? Wo werden die
wonnen hat. Und auf der anderen Seite Gewinne landen, die dieser Produktivitäts-
der heimliche Oppositionsführer: der Alt- sprung bedeutet? Muss die Sozialdemokra-
Trotzkist Jean-Luc Mélenchon. Er kämpft tie sich mit der Idee des bedingungslosen
für einen aufgeblähten Sozialstaat, für Pro- Grundeinkommens anfreunden?
tektionismus in der Wirtschaft und verbin- Viele offene Fragen. Gegen die gesell-
det das Ganze mit Ressentiments gegen schaftlichen Umwälzungen, die auf die
www.der-audio-verlag.de
104 DER SPIEGEL 38 / 2017
Ausland
SPIEGEL-Gespräche live
E
rzählung ist das Lieblingswort der
Parteistrategen in Wahlkampfzeiten,
es ist aus der Werbung herüberge-
wandert. Wer Erfolg haben will, braucht
eine Erzählung. Eine emotionale Botschaft,
im Thalia Theater –
mit der sich der Wähler und die Wählerin
identifizieren können, stimmige Bilder und
Symbole. Martin Schulz ist ein sympathi- Deutschland vor der Wahl:
scher Mann, dessen Lebensweg Brüche hat,
wie der vieler Menschen. „Zeit für mehr
Gerechtigkeit“, ist sein Wahlslogan. Nie-
mand dürfte ihm widersprechen. Aber ruft
traumlos, wunschlos, glücklich?
Thomas Müller
Christian O. Bruch
Bundesregierung/Denzel
deshalb jemand begeistert: „Ja!“?
In vielen europäischen Ländern zeigt
sich, dass die sozialdemokratischen Partei-
en als klassische Sammelbecken keine Zu-
kunft haben. Erfolgreich sind jene, die sich
als links außen positionieren, als Wider-
ständler gegen Globalisierung und die EU,
wie Corbyn oder Mélenchon. Oder jene,
die sich von links verabschieden und, wie
Macron, die Mitte erobern. Die deutschen
Sozialdemokraten stemmen sich gegen die-
sen Trend, sie wollen eine Volkspartei blei-
ben; doch eine Erzählung haben sie dafür
nicht. Aydan Özoğuz Juli Zeh Nils Minkmar
Die Sozialdemokraten waren einst die
Helden einer der großen Geschichten der Seit zwölf Jahren regiert Kanzlerin Merkel, seit vier mit einer
Menschheit. Sie traten in Deutschland an,
das Los der Arbeiter zu verbessern und Großen Koalition. Und Deutschland geht es gut. Oder?
die Menschheit einer neuen Zeit entgegen- Sind wir alle zu träge geworden, werden drängende
zuführen. Sie füllten die bundesrepublika-
nische Demokratie mit Leben und fanden Zukunftsthemen verpasst? Befinden wir uns in einem neuen
schließlich mit Rot-Grün ihren Weg ins
Kanzleramt. Es waren junge, optimistische Biedermeier, in dem die Deutschen ihr Glück im Garten
Gesellschaften, in denen diese Kämpfe aus- und beim Sport suchen? Die Beauftragte der Bundesregierung
getragen wurden.
So leben wir nicht mehr. Deutschland für Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin
ist ein älteres, postheroisches Land gewor-
den, wie die anderen europäischen Staaten Aydan Özoğuz, und die Schriftstellerin Juli Zeh diskutieren
auch. Die meisten Ängste der Deutschen mit SPIEGEL-Autor Nils Minkmar über diese Fragen und
beziehen sich auf Bedrohungen von außen.
Klimawandel. Neue Kriege. Krisen, die suchen nach Zeichen der Repolitisierung.
von unberechenbaren Diktatoren losgetre-
ten werden. Flüchtlinge, die unkontrolliert
ins Land strömen.
Das ist bisher nicht das Feld der Sozial- Montag, 18. September 2017, 20.00 Uhr
demokraten. Wer Sozialdemokrat ist, Thalia Theater, Alstertor, 20095 Hamburg
möchte Teil des gemeinsamen Strebens
nach einer besseren Gesellschaft sein. Was
das heute heißen könnte, darauf müssen Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter www.thalia-theater.de.
Sozialdemokraten Antworten geben kön- Eintritt: 9 bis 18 Euro. Einlass ab 19.30 Uhr. Änderungen vorbehalten.
nen. Wenn sie eine hätten, wäre es immer
noch eine der stärksten Geschichten, die Die Veranstaltung wird per Live-Stream auf www.spiegel.de übertragen.
es in der Politik gibt.
Walter Mayr, Dietmar Pieper, Tobias Rapp,
Mathieu von Rohr, Jörg Schindler, Helene Zuber
s*
s
y
84 ele
28 ele
68 Cit
2 a
72 n
76 l
99 on
19 trea
19 che
19 kau
19 Ang
20 Ang
19 nta
2 on
19 iko
2 ing
2 ey
20 o*
1 el
*
2 n
19 l
8
4
20
80
60
24
88
o
96
16
64
ris
ou
nd
he
rc
o*
ün
on
dn
m
os
ex
00
00
00
ki
ki
la
01
k
s
s
20
20
Ba
Se
Ro
Pe
Pa
19
19
Lo
Lo
Lo
To
To
At
At
Ri
M
Si
keine keine
Angabe Angabe
1997 2228 2227 2520 4366 2540 21890
ty
y
r
le
i
e
d
02 e C
10 er
94 m
92 lle
60 Val
80 ci
64 ck
76 ck
84 o
68 e
19 ham
20 couv
19 Pla
19 poro
19 jew
20 Lak
19 obl
19 rtvi
19 bru
19 bru
19 ano
19 ary
20 chi
19 aw
6
88
98
14
rin
en
ke
ra
e
lg
ts
ns
ns
0
le
lt
g
u
n
7
20
Na
Ca
Sq
Sa
Sa
Sa
So
Va
Gr
Lil
La
Tu
Al
In
In
*vorab kalkulierte Kosten Quelle: The Oxford Olympics Study 2016; ohne Ausgaben für Infrastruktur, inflationsbereinigt
Olympische Spiele plant, im Schnitt um 156 Prozent. Montreal (1976) ist Spitze
Kostentreiber mit einer Überschreitung von 720 Prozent, gefolgt von Lake
Placid (1980) mit 324 Prozent. Die Entscheidung für die Spiele
Paris und Los Angeles, die Ausrichter der Olympischen Spiele bedeute, „das finanziell risikoreichste und teuerste Megapro-
2024 und 2028, rechnen mit Ausgaben von 4,8 Milliarden jekt anzustreben, das es gibt“. Häufig würden „IOC-Funktio-
beziehungsweise 4,1 Milliarden Dollar. Ohne Infrastruktur- näre und Ausrichter falsche Informationen über Kosten und
bauten, etwa Straßen und Flughäfen, für die erfahrungsge- Mehrkosten der Spiele“ liefern, schreiben die Wissenschaftler.
mäß mindestens noch einmal die gleiche Summe anfällt. For- Ein Grund, warum die Kosten aus dem Ruder liefen, sei der
scher der Universität Oxford haben indes errechnet, dass die feste Eröffnungstermin: „Die Organisatoren können nur noch
Kosten aller Spiele seit 1960 erheblich höher ausfielen als ge- mehr Geld auf die Probleme werfen, und das tun sie.“
WILLY C. RANDERATH / ALL4PRICES
Magische Momente
SPIEGEL: Vor 30 Jahren ge- stark. Die extreme Situation Jelen: Ich stand in der Welt- Mayotte. Der Abstieg aus
wann Deutschland 3:2 im Ab- schien ihn besonders zu rangliste auf Nummer 68, der Weltgruppe war verhin-
stiegsduell gegen die USA. motivieren. Als er nach dem Mayotte war über 50 Plätze dert, ein Jahr später gewann
Wie haben Sie die aufgeheizte Sieg eine Ehrenrunde mit vor mir. Als er nach dem Deutschland erstmals den
Atmosphäre im amerikani- der Deutschlandfahne lief, vierten Satz spürte, dass Davis Cup. Gab der Sieg von
schen Hartford in Erinnerung? zollten ihm sogar patrioti- ihm das Spiel entglitt, war Hartford Rückenwind?
Jelen: Die über 15 000 Zu- sche Amis Respekt. es schon zu spät. Es war Jelen: Es war ein Schlüssel-
schauer waren wie elektri- SPIEGEL: Das US-Team hielt ein Nervenspiel mit Happy ereignis. Und wer weiß,
siert. Bei meinem Match ge- sich damals für unschlagbar, End. ob Boris im Falle eines Ab-
gen Tim Mayotte ging es ja aber Sie bezwangen Mayotte SPIEGEL: Becker holte den stiegs mit uns in der zweiten
noch, aber bei John McEn- gleich zum Auftakt. nötigen dritten Punkt gegen Division gespielt hätte.
roe gegen Boris Becker war SPIEGEL: Wahrscheinlich
die Stimmung – sagen wir – hätte ihm sein Manager ab-
grenzwertig. geraten.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? Jelen: Boris hätte sich von
Jelen: Jeder Fehler von Boris keinem Manager der Welt
wurde bejubelt, auf der verbieten lassen, im Davis
Teambank putschten die Cup anzutreten. Deshalb
Doppelspezialisten Ken Flach finde ich die Absage von
und Robert Seguso die Men- Alexander Zverev für das
ge auf – es herrschte eine An- Abstiegsspiel gegen Portugal
spannung, die mit Worten auch unverständlich. Viel-
kaum zu beschreiben ist. leicht kenne ich nicht alle
SPIEGEL: Nach rund sechsein- Interna, aber vor so einer
halb Stunden siegte Becker entscheidenden Partie abzu-
mit 4:6, 15:13, 8:10, 6:2, 6:2. sagen, weil einem der Boden
SVEN SIMON
Spitze
Fußball RB Leipzig war wegen seines Eigentümers Red Bull
verhasst. Nun sehen viele in dem Verein eine Hoffnung
gegen die Langeweile in der Bundesliga. Doch hat der Klub
wirklich die Kraft, ganz oben mithalten zu können?
K
urz bevor RasenBallsport Leipzig RBL ein reines Marketinginvestment oder
die europäische Bühne betritt, be- ein Segen für den deutschen Fußball? Wird
sinnt sich der Klub auf seine Tradi- der Fußball missbraucht, oder ist der Ver-
tion. Es ist Mittwochabend, 25 Minuten ein der Retter des ostdeutschen Sports und
vor Anpfiff des ersten Spiels in der Cham- die letzte Hoffnung gegen die Übermacht
pions League. Der Stadionsprecher zappelt des FC Bayern München? Und ist das Leip-
im roten Sakko an der Seitenlinie entlang ziger Erfolgsmodell tatsächlich so einmalig,
und brüllt 15 „RBL-Legenden“ herbei. dass es in den nächsten 50 Jahren nicht
Es sind Spieler der ersten Stunde und wiederholt werden kann, wie dessen Vor-
doch Helden der Neuzeit, die winkend den denker Ralf Rangnick behauptet?
Innenraum des Stadions betreten. Sie hei- Wenn Oliver Mintzlaff, der Vorstands-
ßen Ingo Hertzsch, 40, Tim Sebastian, 33, vorsitzende von RBL, den sportlichen Auf-
und Lars Müller, 41, und haben für RB stieg seines Vereins beschreibt, vergleicht
Leipzig (RBL) gespielt, als der Europa- er ihn mit der Karriere eines Betriebswirts:
pokal noch einige Jahre und einige Ligen Man hat als Praktikant angefangen und ist
entfernt war. zum Produktmanager aufgestiegen. Schließ-
An diesem Abend treffen sich Leipzig lich landet man in der Geschäftsführung.
und Monaco in einem Spiel der „Königs- „Und oben wird die Luft dünner“, sagt
klasse“, wie Sportmoderatoren die Cham- Mintzlaff und lehnt sich im Ledersessel
pions League nennen. Noch vor wenigen nach vorn, „dann bleibt nur noch der Vor-
Spielzeiten landete Monaco praktisch plei- stand und irgendwann der Vorstandsvor-
te in der zweiten französischen Liga, und sitz.“
Leipzig kickte gegen Meuselwitz und Mep- Wer Mintzlaff zuhört, versteht, warum
pen. Seitdem haben Investoren beide der beispiellose Aufstieg von RasenBall-
Teams mit viel Geld nach oben gespült. sport Leipzig untrennbar mit seinem
„Hättest du das damals gedacht?“, brüllt Namen verbunden ist. Konzentriert und
der Stadionsprecher die „Legende“ Müller leidenschaftlich breitet der athletische
an. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so 42-Jährige mit hoher Stirn und langen Au-
schnell geht“, antwortet der Ruheständler. genbrauen das Selbstverständnis seines
Die Champions League 2017: Hier spielen Vereins aus. Rangnick hat die Strategie
Franzosen mit katarischem Geld um den entworfen, die Philosophie, wie sie es in
Titel, die Monegassen und englische Klubs Leipzig und bei Red Bull nennen: Über-
mit russischem Oligarchenkapital und nun fallfußball mit jungen Talenten, schnelle
eben auch RB Leipzig als Beitrag der Bun- Erfolge, aber organisches Wachstum.
desliga zur Welt des Investorenfußballs – Mintzlaff führt die Geschäfte. „Globaler
ohne das Investment des österreichischen Fußballchef“, das war einige Jahre lang
Getränkeherstellers Red Bull würde dieser sein Titel im österreichischen Getränke-
Verein in Sachsen nicht existieren. und Eventkonzern Red Bull. Er war gleich- Konkurrenz zu spüren. Eine harte Probe
Seit seiner Gründung vor acht Jahren zeitig für vier Vereine auf drei Kontinenten hat RBL in diesem Sommer bestanden.
hat der Klub auf diese Partie hingearbeitet. verantwortlich. Den Job musste er aufge- Es ist Tag fünf im Tiroler Trainingslager,
Aber das reicht nicht. Die RBL-Bosse wol- ben, als er sich mit seiner Vision für RB als Naby Keita, 22, zutritt. Dem Leipziger
len nicht nur einmal schnuppern und da- Leipzig dem Ziel näherte. Spielmacher verspringt während eines
nach in Erinnerungen schwelgen. In der Mintzlaff hat die Vorzüge eines einma- Trainingsspiels der Ball, sein Mitspieler
vergangenen Saison ist RB Leipzig zu ei- ligen Fußball-Filialnetzes ausgenutzt, um Diego Demme sprintet heran. Keita stürzt
nem Spitzenklub geworden. Nun steht er an die Spitze der Bundesliga zu stürmen. mit beiden Beinen voraus in den Zwei-
vor einer noch schwierigeren Aufgabe: In Seit 2014 wechselten 15 Spieler von Red kampf und trifft Demme am Knie.
einem Markt, der sich weiter aufgeheizt Bull Salzburg nach Leipzig, 8 von ihnen Es ist vorbei mit der Trainingsidylle in
hat, will er unbedingt oben bleiben. stehen noch im aktuellen Kader. Wer sich den bewaldeten Bergen von Seefeld am
Mit einem bisher in Deutschland nicht einen Platz in der Beletage des Fußballs Fuße einer Skisprunganlage. Der Regen
gekannten Konzept hat RBL einen Kader erkämpfen will, muss kreativ sein – und prasselt auf die Spieler herab, Keita rempelt
aus internationalen Talenten zusammen- alle Möglichkeiten ausnutzen. seine herbeieilenden Mitspieler an, Demme
gestellt – stets argwöhnisch begleitet von Und wer seine Ambitionen mit aller wälzt sich auf dem Boden. Er wird einen
der Kritik der Fußballtraditionalisten. Bis Macht durchzusetzen versucht, kann sich Monat lang verletzt ausfallen. Die fast 50
heute spaltet Leipzig das Kickervolk: Ist nicht beklagen, auch die Störgeräusche der Leipzig-Fans am Spielfeldrand sind entsetzt.
108 DER SPIEGEL 38 / 2017
MICHAEL SOHN / AP
Leipziger Abwehrspieler am vergangenen Mittwoch im Spiel gegen Monaco: „Hätte nicht gedacht, dass es so schnell geht“
Eine Anhängerin mit RBL-Ohrsteckern folg: Spätestens jetzt schaut ganz Europa Es ist eine Botschaft an Keita und an
schüttelt ungläubig den Kopf: „Mensch, wa- nach Leipzig. alle anderen wechselwilligen Profis, die in
rum macht der Naby denn so was?“ Am Abend in der Lobby des Tiroler Leipzig spielen, aber von Klopp, Guardiola
Ja, warum macht er das? War das nur Teamhotels: Mintzlaff passt hier mit sei- und Mourinho träumen: Ihr Trainer soll
ein normaler Zweikampf zwischen zwei nem hellblauen Businesshemd besser auch in der kommenden Saison Ralph
ehrgeizigen Spielern, oder versucht sich hinein als die Zwanzigjährigen aus dem Hasenhüttl heißen. „Wir sehen uns nicht
der wohl beste Leipziger der vorigen Bun- Profikader, die in Badelatschen und Jog- als Ausbildungsverein, der Topspieler an
desligasaison bei seinem Arbeitgeber un- ginghosen durch das Foyer schlurfen. Topklubs liefert“, sagt Mintzlaff, „wir wol-
beliebt zu machen? Schließlich ist es an Mintzlaff bestellt sich einen Espresso, len selbst ein Topklub werden.“
diesem Tag Ende Juli kein Geheimnis setzt sich auf die vordere Kante eines Ses- Es würde nicht in die Wachstumsstrategie
mehr, dass der FC Liverpool an Keita in- sels und redet über sein Geschäft. „Wir ha- von RBL passen, nach einer sehr guten Sai-
teressiert ist und mindestens 75 Millionen ben gleich nach Saisonende gesagt, dass son die wichtigsten Spieler abzugeben. Das
Euro als Ablöse geboten hat. Am Abend wir keinen Stammspieler abgeben.“ „Dass unterscheidet Leipzig etwa vom AS Mona-
veröffentlicht der Verein ein Video, in ein Berater seinem Spieler verschiedene co, der diesen Sommer neben Toptalent
dem Keita und Demme sich versöhnen. Möglichkeiten aufzeigt, ist normal. Aber Kylian Mbappé, der zu Paris St. Germain
Mit der Ruhe rund um RBL ist es aber wir sind nicht die Berater des Spielers. Wir wechselte, noch weitere Jungspieler an
vorbei. Das haben sie nun von ihrem Er- haben laufende Verträge.“ Manchester City und den FC Chelsea ab-
DER SPIEGEL 38 / 2017 109
Sport
gegeben hat. Seit 2014 hat Monaco Spätestens mit der Verpflich-
über 462 Millionen Euro an Trans- tung des Franzosen war die Ge-
fereinnahmen eingeholt und 293 haltsobergrenze von drei Millio-
Millionen Euro ausgegeben. Leip- nen Euro passé, die Rangnick
zig nahm im gleichen Zeitraum 25 selbst proklamiert und öffentlich
Millionen ein, bei gleichzeitigen immer wieder verbreitet hatte.
Ausgaben von über 150 Millionen. „Wir haben auch schon mal Spie-
„Jedes Unternehmen plant und ler nicht verpflichtet, weil wir uns
setzt sich Ziele“, so Mintzlaff, „und deren Gehalt nicht hätten leisten
ein Fußballverein ist für mich auch können“, sagt Mintzlaff. Nach
ein Unternehmen.“ dem Upamecano-Transfer be-
Im Fall Keita beweist Mintzlaff kommt man eine Vorstellung da-
Verhandlungsgeschick. Es ist der von, wie hoch die Grenze für RBL
erste richtig ertragreiche Spieler- wirklich liegen dürfte.
verkauf der Leipziger. Anstatt Kei- Die Ausstiegsklausel von Upa-
gische Lebens- den Boden vor Erosion, er eben ohne in die Abhängig-
mittelwirtschaft, verdichtet sich nicht und hält keiten von Saatgut- oder
über Ökoland- die Feuchtigkeit besser. Pestizidfirmen zu geraten.
bau als Entwick- SPIEGEL: Gut, also Mischkultu- SPIEGEL: Wer bringt den Bau-
lungshilfe ren – aber warum die dann ern bei, welche Mischkultu-
nicht konventionell anbauen? ren am besten funktionieren?
SPIEGEL: Ist Bio nicht Luxus? Löwenstein: Dafür brauchen Löwenstein: Solches Wissen
Löwenstein: Nein, eine Not- die Kleinbauern Pflanzen- wird am besten von Bauer zu
wendigkeit. In Entwicklungs- schutz- und Düngemittel, Bauer weitergegeben. Man-
ländern kann Ökolandwirt- aber wenn sie beim Wuche- ches ist neu, vieles sind ver-
schaft Hunger bekämpfen rer im Ort dafür Geld leihen gessene Traditionen. Hier
und die Folgen des Klima- müssen, geraten sie schnell in muss viel mehr geforscht wer-
wandels abfedern. Auch un- die Verschuldungsfalle. Au- den. Wir führen aber auch
ter schwierigen Bedingungen ßerdem leidet durch den Ein- Gespräche mit dem Bundes-
lassen sich damit Ernten und satz von Kunstdünger und ministerium für wirtschaft-
Einkommen stabilisieren. synthetischen Pestiziden die liche Zusammenarbeit und
SPIEGEL: Aber die industrielle Biodiversität. Hinzu kommt, Entwicklung, das in 14 Län-
Landwirtschaft erzielt höhere dass der tropische Kleinbauer dern, beispielsweise in Äthio-
Erträge. Agrochemikalien eher nicht pien, Ghana und Kamerun,
Löwenstein: Das stimmt für in der abschließbaren Spritz- Innovationszentren für Land-
Monokulturen. Aber von Pro- mittelkammer lagert, sondern wirtschaft gegründet hat. Wir
jekten zum Beispiel auf den unter seinem Bett. Das birgt wollen, dass dort künftig
Philippinen oder in Kenia ein erhebliches Gefahren- auch agrarökologische Metho-
wissen wir, dass die dortigen potenzial. den gelehrt werden. phb
4,5
ten – ob wahr oder falsch –
als glaubwürdiger bewertet.
Gar nichts brachte es, Quellen
zu nennen, um das Vertrauen
in die Echtheit der Nachricht
Prozent
zu stärken. aller Todesfälle in den
Für soziale Netzwerke sind Niederlanden gingen 2015
das schlechte Nachrichten. auf Euthanasie zurück.
So hat sich Facebook eigens 2010 betrug der Anteil
Partner gesucht, die dabei derer, die von Mediziner-
helfen sollen, Lügengeschich- hand gestorben waren,
ten richtigzustellen; in noch 2,8 Prozent, 2005
Deutschland ist dies das waren es 1,7 Prozent.
Recherchezentrum Correctiv. Legal ist die Euthanasie
Die Arbeit der Journalisten in den Niederlanden
dürfte weitgehend wirkungs- seit 2002. Mittlerweile,
los bleiben. Bisherige Me- so berichten Forscher im
thoden, um Fake News zu Fachblatt „New England
bekämpfen, würden „nicht Journal of Medicine“, er-
annähernd ausreichen, um füllen Ärzte rund die Hälf-
dieses Problem zu lösen“, te der Bitten Schwerst-
Fake News auf Facebook sagt Rand. phb kranker um Tötung.
114 DER SPIEGEL 38 / 2017 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen
Über allen
Gipfeln
Kaum ein Hauch bewegt das
Wasser des Antorno-Sees in den
Sextener Dolomiten; so spiegeln
sich ungestört und in aller Pracht
die Felsmassive der Cadini-Gruppe.
Der Fotograf Uli Wiesmeier hat
diese und andere atemberaubende
Alpenlandschaften aufgenommen:
für seinen am Donnerstag
bei Knesebeck erscheinenden
Bildband „Berg …“.
Lindners Kohle
Der Klimawandel ist im Wahlkampf kaum ein Thema. Warum eigentlich?
Trump-Hasser durften in den vergangenen Wochen frohlocken: Deutschland wird seine Klimaziele für das Jahr 2020 krachend
Die Wirbelstürme „Harvey“ und „Irma“ tobten über Texas verfehlen. Statt der zugesagten Treibhausgasminderung von
und Florida und zeigten dem Klimawandelleugner im Weißen 40 Prozent gegenüber 1990 werden mit den bisher beschlosse-
Haus, was an Sintfluten droht, wenn das Meer wärmer wird. nen Maßnahmen nur etwa 30 Prozent zu erreichen sein, hat
Da hast du’s, Lump!, möchte man rufen. Doch halt! Sind wir die Denkfabrik Agora Energiewende errechnet. International
hier in Deutschland einen Deut besser? Die größte globale Ge- gibt sich die Bundesregierung als Klimaschützerin, im eigenen
fahr wird im Wahlkampf zwar nicht geleugnet, aber beinahe Land hat sie den CO -Ausstoß seit acht Jahren nicht bedeu-
²
vollständig ausgeblendet. Scheinbar unbeirrt hält die Bundes- tend gesenkt. Die Abschaltung der Kohlekraftwerke ist über-
regierung an der klimaschädlichen Kohleverstromung und an fällig, der Verbrennungsmotor ein Auslaufmodell. Wer das
Verbrennungsmotoren fest. Bundeskanzlerin Angela Merkel den Wählern vorenthält, handelt fahrlässig.
ging so weit, den Dieselmotor als Klimaschutzinstrument zu Allein der FDP unter Christian Lindner gebührt Lob für
loben, während China, Indien, Großbritannien und Frankreich deutliche Worte: Im Wahlprogramm stellt sie sich gegen
bereits das Ende des Verbrennungsmotors anpeilen. das Erneuerbare-Energien-Gesetz, feste Emissionsziele und
Warum sagt niemand den Wählern, dass auch ihre fetten einen staatlich gelenkten Ausstieg aus dem Verbrennungs-
Diesel-SUVs ein Problem sind? Warum wird die Regierung motor. Nachhaltiger kann man die Welt nicht ruinieren. Wer
nicht hartnäckig für ihr Klammern an die Kohle gegeißelt? den Klimawandel will, muss Gelb wählen. Philip Bethge
E
s war einmal eine Katastrophe. Eine anmutendes Paradox, das kein Entrinnen Nach einer Geschichte, die ihnen Identität
Katastrophe, die sich nur in den Köp- erlaube. und damit Trost in ihrer Verzweiflung ge-
fen vollzog. Doch richtete sie mehr Die beiden ersten Menschen dürfen auf währen konnte.
Verheerungen an als jedes Erdbeben und keinen Fall die Früchte antasten, die am Was die Juden daraufhin ersannen, un-
jeder Hurrikan. Sie warf die Menschheit Baum der Erkenntnis von Gut und Böse terschied sich vom babylonischen Vor-
um ein Jahrtausend zurück. hängen. Unschuldig aber, wie sie er- bild – vor allem, weil sie die Rolle des
Diese Katastrophe schildert jetzt der schaffen sind, wissen Adam und Eva nicht, Schöpfers grundlegend anders besetzten.
amerikanische Kulturwissenschaftler Ste- was gut und was böse, was richtig oder Während über die Welt der Babylonier
phen Greenblatt**. Aber würde sein Buch falsch ist. Wie also sollten sie begreifen, eine ganze Horde von Gottheiten herrsch-
nur vom Desaster handeln, sagt er, hätte was es heißt, ein Verbot zu verletzen? te, die launisch, aufbrausend und fehlbar
er es nicht schreiben können. Mehr noch Um das zu verstehen, mussten sie gegen waren wie die Menschen selbst, saß im
interessiere er sich für das Schöne, das ebendieses Verbot verstoßen und von Himmel der Juden ein gerechter, weiser
Erhabene, das Großartige. Und auch da- der Frucht kosten, die zu essen ihnen bei und einsamer Gott. Wenn dieser Gott
von gibt es genug zu erzählen. Denn am der schrecklichsten aller Strafen verboten straft, dann tut er dies nicht aus Willkür
Anfang stand eine fast 3000 Jahre alte Ge- war. oder aus Wut; er urteilt aus gerechter mo-
schichte. Und diese, sagt Greenblatt, sei Es ist eine poetische, eine unvergess- ralischer Empörung.
außergewöhnlich, kraftvoll und wunder- liche, doch auch eine heimtückische Er- Die Geschichte, die davon erzählt, wie
schön. Sie erzählt von Adam und Eva. zählung. Wie konnte eine solche Story in dieser Gott den Menschen erschuf, kommt
Greenblatt liebt Geschichten. Sein gan- die Welt kommen? Wurde sie mutwillig unbedarft daher wie ein Märchen, und
zes Forscherleben lang hat er sich mit ihrer und planvoll komponiert? Entsprang sie doch findet sich versteckt darin eine er-
Macht und ihrer Wirkung beschäftigt. Und einer spirituellen Eingebung? Oder war sie staunlich umfassende Welterklärung. Die
indem er dies tat, hat er selbst neue Ge- eines Tages einfach da? Rede ist einerseits von einem märchenhaf-
schichten geboren. ten Garten, einer sprechenden Schlange
Eine von ihnen, sie handelt von William
Shakespeare, hat ihn auch über die Fach-
„Diese Story hat geprägt, und einer verbotenen Frucht. Andererseits
handelt der Plot auch von Tod und ewigem
welt hinaus berühmt gemacht. Kühn ver- wie wir über Moral, Tod, Leben, von Mühsal und Scham und davon,
sucht Greenblatt, in dieser Schriftstellerbio- Arbeit, Ehe, Geschlecht was es für zwei Menschen bedeutet, von
grafie aus wenigen, dürftigen Quellen das einem Fleische zu sein.
Leben des großen Dichters zusammenzu- und Neugier denken.“ Wer auch immer diesen nur wenige Sei-
setzen. Und er tut es auf seine ganz eigene ten umfassenden Bibeltext verfasst hat, er
Weise. Statt sich, wie viele seiner Kollegen, Natürlich kennt auch Greenblatt die bewirkte damit mehr, als es jeder König
hinter literaturwissenschaftlichem Jargon Antworten auf diese Fragen nicht. Trotz- oder Kaiser vermochte. „Diese Story“,
zu verschanzen, bevorzugt er die pralle, dem wagt er es, darüber zu spekulieren. schreibt Greenblatt, „hat über Jahrhunder-
direkte Sprache. Greenblatt erörtert nicht, So wie er das Elisabethanische Zeitalter te geprägt, wie wir über Verbrechen und
er erzählt. heraufbeschwor, um die Figur Shakes- Strafe, über Moral, Tod, Schmerz, Arbeit,
Auch sein neues Buch ist eine Geschich- peares lebendig werden zu lassen, so malt Muße, Gemeinschaft, Ehe, Geschlecht,
te für sich: die Geschichte einer Geschichte. er jetzt auch die Szenerie aus, in der sich Neugier, Sexualität und über das Wesen
Sie erzählt, wie die Legende vom Sünden- Menschen erstmals vom Paradies erzählt des Menschseins denken.“
fall im Orient ersonnen wurde; wie später haben könnten. Greenblatt schildert die Bildnisse der
die Christen die Fabelwesen Adam und Greenblatt ist sich sicher: Es war im dun- Maler und Bildhauer, die zeigen, wie sich
Eva zu historischen Figuren erhoben und kelsten Kapitel der biblisch-jüdischen Ge- die Schlange durchs Geäst des Baums der
wie schließlich das zur Wahrheit erklärte schichte, in der Zeit des Babylonischen Erkenntnis windet; wie Eva neugierig nach
Märchen das Abendland prägte. Exils. Besiegt von den Eroberern aus Me- dem Apfel greift; wie der Erzengel mit
Die Story vom Garten Eden, sagt Green- sopotamien, mussten die Juden fern der dem Flammenschwert das zerknirschte
blatt, sei radioaktiv. Sie strahle Energie Heimat Kanäle graben, Ziegelsteine bren- Paar aus dem Garten Eden verscheucht.
aus, und diese sei bis ins Mark der christ- nen, Paläste mauern. Und alljährlich sahen Und er stellt Dichter, Philosophen und
lichen Kultur vorgedrungen, wo sie das sie zu, wie die Babylonier ihrem obersten Theologen vor, die sich an der Auslegung
Denken der Menschen verändert habe. Gott Marduk huldigten. Der Höhepunkt der Paradieserzählung versucht haben.
Greenblatt glaubt, die Quelle jener zer- der Festlichkeiten war erreicht, wenn unter Einer aber sticht heraus: Wie kein ande-
störerischen Kraft zu kennen, die der Er- der Aufsicht des Königs der heilige Text rer habe der Kirchenvater Augustinus die
zählung vom Sündenfall innewohnt. Im verlesen wurde, der vom Ursprung des christliche Vorstellung von der biblischen
narrativen Zentrum stehe ein kafkaesk Zweistromlandes kündet. Paradiesszenerie beeinflusst.
Das, schreibt Greenblatt, müsse einen Meisterhaft gelingt es Greenblatt, diesen
* Gemälde „Adam und Eva“ von Lucas Cranach dem tiefen Eindruck bei den Juden hinterlassen brillanten Denker und seine fatalen Ideen
Älteren.
** Stephen Greenblatt: „The Rise and Fall of Adam and haben. Es weckte in ihnen die Sehnsucht dem Leser nahezubringen. Er schlüpft
Eve“. Norton & Company; 432 Seiten. nach einem eigenen Ursprungsmythos. dazu in die geistige Welt seines Protago-
DER SPIEGEL 38 / 2017 117
Wissenschaft
schließlich sanierte er, als Geschäftsführer, silien: Da eröffnete 2015 in Rio de Janeiro
D
ie Zukunft ist auch nicht mehr das, Blick zum Bahnhof ist verbaut durch einen stellung mit einer Wutrede über lahmes
was sie einmal war. Früher spielte breitbrüstigen Betonwürfel. Internet und fehlende Informatiklehrer ein-
das Morgen vor allem zwischen Drinnen präsentiert das Haus ganz an- leiten. Es gäbe Lösungen, aber Kanzlerin
den Buchdeckeln abgefingerter Science- dere Perspektiven: Weit öffnet sich das Angela Merkel vertagt und verschlampt
Fiction-Romane. Dem Gestern hingegen Foyer, in einem Veranstaltungssaal finden das Thema seit mehr als einem Jahrzehnt.
widmete man ganze Paläste, allein Berlin 600 Besucher Platz. Das Obergeschoss bie- Die Frage ist auch, wie kritisch das Fu-
zählt mehr als 170 klassische Museen und tet einen erhebenden Panoramablick über turium werden darf. Zu den Gründungs-
Sammlungen. die Spree zum Kanzleramt, im Keller sol- gesellschaftern gehören neben dem BMBF,
Mit dem Futurium soll nun das Morgen len große und kleine Kinder die Zukunft der Fraunhofer- und der Max-Planck-Ge-
eine Heimstatt bekommen. Woher kom- zum Anfassen serviert bekommen: Robo- sellschaft Firmen wie Siemens und Bayer.
men wir, diese Frage will das „Zukunfts- ter basteln, 3-D-Drucker erkunden. Auch Und die Telekom, deren Kupferkabelstra-
museum“ am Berliner Hauptbahnhof nach das Dach mit seinen Solaranlagen ist be- tegie maßgeblich dazu beigetragen hat,
vorn drehen: Wohin wollen wir? gehbar. dass Deutschland weit abgeschlagen ist in
„Wir bauen hier eine Zukunftsbühne, Karlheinz Steinmüller, Zukunftsforscher Sachen Breitband; viel früher schon hätte
ein Forum, ein Labor“, schwärmt Stefan und Science-Fiction-Autor, findet das umgestellt werden müssen auf Glasfaser.
Brandt beim Rundgang durch die Baustel- Futurium zum Teil „ein wenig langweilig“. In Dubai lässt sich ein weiterer Irrweg
le, der Museumschef schlängelt sich um Immerhin, das Praxislabor im Tiefgeschoss beobachten: ein Zukunftsmuseum als Kom-
Leitern, Werkzeug, Kabelknäuel. sei eine „gute und zeitgemäße Idee“. merzschaufenster der Industrie. Das Mu-
Improvisation sieht Brandt, 41, als seine Tückisch dürfte es für das Futurium wer- seum of the Future soll dort ab Juni 2019
Stärke, das habe er in seiner Heimatstadt den, die Unabhängigkeit von den Geldge- ziemlich plump „futuristische Prototypen“
gelernt, als die noch in einem Land der bern zu bewahren – der Weg in die Zu- von „angesagten Start-ups und Technik-
Vergangenheit lag, in der DDR. Brandt stu- kunft verirrt sich leicht im Nirgendwo. giganten“ bewerben. Auch die Technik-
dierte Gesang, trat auf, dann jobbte er bei So verführt das Sujet zur Gedanken- schau Miraikan in Tokio tappt immer wie-
der Unternehmensberatung McKinsey, flucht in allzu luftige Visionen. Wie in Bra- der in diese Falle. „Das droht in naiven
Technikbombast abzugleiten“, warnt Mat-
thias Horx, ein bekannter Trendforscher.
„Wir werden inhaltlich komplett unabhän-
gig sein“, beteuert Stefan Brandt und ver-
weist auf einen hochkarätig besetzten Pro-
grammrat, zu dem auch der Klimaforscher
Hans Joachim Schellnhuber, die Design-Pro-
fessorin Gesche Joost und der Moderator
Ranga Yogeshwar gehören.
Der Tag der offenen Tür jedenfalls ver-
spricht eine anarchische Freude am wilden
Zukunftsdenken bis in die Morgenstunden:
Tanzperformances, Expertenplaudereien
(„Speakdating“), ein Flugsimulator, Gla-
diatorenkämpfe, bei denen Roboter aus
Schrottbauteilen gegeneinander antreten
(„Hebocon“). Dazu heizt die Band Com-
pressorhead ein, an der Gitarre ein Auto-
mat mit 78 Elektrofingern, am Schlagzeug
ein Drummer mit vier Armen, aber ohne
Hirn – Heavy Metal vom Feinsten und
THEO HEIMANN / DDP IMAGES
W
er ist schuld, wenn’s regnet? Für könnte in Zukunft in den Medien, aber Bis vor Kurzem bezweifelte die Mehrzahl
Friederike Otto, 34, ist diese Fra- auch vor Gericht und in der Politik Bedeu- der Wissenschaftler, dass individuelle Wet-
ge alles andere als dämlich oder tung erlangen. Detektiven gleich, suchen terereignisse jemals sicher der globalen
überflüssig. An der Universität von Oxford Zuordnungsforscher dicht am Ereignis Erwärmung angelastet werden könnten.
hat die aus Kiel stammende Physikerin ein nach Indizien, die belegen können, ob Schietwetter gab es schließlich immer schon,
politisch brisantes Wissenschaftsgebiet mit- eine extreme Dürre, ein extremes Hoch- vor 500 Jahren ebenso wie jetzt. Klimawan-
erfunden, das derzeit in den Fachblättern wasser, eine Hitzewelle, ein Sturm ganz del hin oder her, im chaotischen Wettersys-
Furore macht. natürlich entstanden sind – oder ob hier tem sind extreme Ausreißer jederzeit mög-
Die neue Disziplin trägt den Namen der von Menschen gemachte Klimawandel lich. Es schien, als ließe sich der Beweis,
Attribution Science, zu Deutsch: „Zuord- in flagranti ertappt und als Übeltäter ent- dass eine Wetterlage ohne Klimawandel an-
nungswissenschaft“. Was spröde klingt, larvt werden kann. ders ausgefallen wäre, niemals führen.
122 DER SPIEGEL 38 / 2017
Wissenschaft
Vor sechs Jahren kam Friederike Otto licher gemacht hat – oder auch unwahr- An dieser Art von Forschung beteiligen
nach Oxford, seit Januar ist sie stellver- scheinlicher.“ Geradlinige Kausalität kann sich derzeit auch an die 30 000 Freiwillige,
tretende Direktorin des Environmental auch sie nicht bieten, wohl aber ein hohes allesamt Teilnehmer des Weather@home-
Change Institute. „Ich war zur rechten Zeit Maß an statistisch gesicherter Probabilität. Projekts. Sie stellen den Forschern über-
am rechten Platz“, sagt sie. Jetzt zählt die Die National Academy of Sciences, das schüssige Rechnerkapazität auf ihrem
in Philosophie promovierte Physikerin zu höchstrangige Wissenschaftlergremium der privaten Computer zur Verfügung. Die
den meistzitierten Experten ihres Fachs – USA, hat der Methode vergangenes Jahr Wissenschaftler verschicken gestückelte
und zu den ehrgeizigsten. Noch während ihren Segen erteilt. Rechenaufgaben über das Internet und
ein extremes Wetterereignis in den Nach- Etwa 20 Ereignisse haben die Forscher sammeln sie nach getaner Arbeit wieder
richten verhandelt wird, will Otto ein der WWA bisher aufgerollt, darunter: ein. Auf diese Weise können die Forscher
wissenschaftlich fundiertes Schnellgutach- ‣ das Rekordhochwasser von Louisiana. einen Supercomputer nutzen, ohne Super-
ten vorlegen zu der Frage, inwiefern die Im August 2016 starben 13 Menschen kosten zu verursachen.
globale Erwärmung dabei eine Rolle ge- nach einem Starkregen, der über wenige Die neue Klimawandelwissenschaft er-
spielt hat. Tage hinweg Milliarden Kubikmeter öffnet ungeahnte Perspektiven für Politik
Ihr nächstes Projekt liegt auf der Hand: Wasser über den US-Bundesstaat ergoss. und Justiz. Otto arbeitet zum Beispiel mit
„Harvey“ und „Irma“. Mit etwa zehn Kol- Die Attribution-Studie ergab, dass ein dem Roten Kreuz zusammen, das wissen
legen aus aller Welt, der „World Weather solches Ereignis jetzt um mindestens will, welche Regionen Afrikas vom Klima-
Attribution“-Gruppe (WWA), will Otto he- 40 Prozent wahrscheinlicher ist als in wandel besonders betroffen sein werden.
rausfinden, wie viel Klimawandel in den einer Welt ohne Klimawandel; Die Hilfsorganisation richtet ihre Katas-
Monsterhurrikanen steckt. Verursacht hat ‣ die arktische Hitzewelle. Im vorigen No- trophenschutzplanung auch nach Ottos
er die Rekordwirbelstürme nicht – aber vember fing es am Nordpol an zu tauen, Prognosen aus.
verschlimmert, schon dadurch, dass die die Temperaturen erreichten Werte von Ähnlich gehen britische Behörden vor,
wärmere Erdatmosphäre mehr Wasser- 15 Grad Celsius über ihrem üblichen die erfahren möchten, welche Regionen
dampf speichert und somit mehr Regen Stand, das Meereis schrumpfte auf die Großbritanniens besonders gegen stärkere
transportieren kann. Im Oktober wird Otto geringste je gemessene Winterausdeh- Überflutung geschützt werden müssen.
ihre Analyse veröffentlichen, weitere At- nung. Wie die Forscher ermittelten, ist „Regen tötet keine Menschen“, sagt Otto.
tribution-Gruppen in den USA dürften solch ein Taunovember in einem Szena- „Entscheidend ist, was passiert, wenn er
Ähnliches tun. rio ohne Klimawandel nahezu unmög- auf den Boden kommt.“ Maßnahmen wie
Kein Hurrikan wurde je so schnell auf das richtige Flussmanagement oder eine
seinen Gehalt an Klimawandel abgeklopft
wie „Harvey“ und „Irma“. Das liegt auch
Welche Verantwortung angemessene Stadtplanung können darü-
ber entscheiden, ob ein Gebiet in Zeiten
daran, dass Klimaleugner wie die republi- trägt Deutschland des Klimawandels einer Katastrophe an-
kanischen Gouverneure der am meisten für den Untergang der heimfällt oder nicht.
betroffenen Bundesstaaten Texas und Flo- Auch Juristen betrachten die Arbeit
rida in den Rekordfluten keinerlei Anzei- Malediven? der Klimaforscher mit Interesse, denn sie
chen globaler Erwärmung erkennen mö- bietet ihnen neue Möglichkeiten, Verursa-
gen, ebenso wenig der Leiter der mächti- lich. In der realen Welt stehe er jetzt cher des Klimawandels in die Pflicht zu
gen Umweltbehörde EPA und dessen Chef, einmal alle 50 bis 200 Jahre zu erwarten. nehmen.
Donald Trump. In diesen Zeiten zählen Wenn die globale Erwärmung aber zwei Drei kalifornische Küstengemeinden ha-
forschende Klimawandelwissenschaftler Grad erreicht – und das ist das im Pari- ben im Juli Klage gegen 37 der größten
bereits zum aktiven Widerstand. Und ihre ser Klimaabkommen vereinbarte Ziel –, Produzenten von fossilen Brennstoffen ein-
schärfste Waffe gegen die Ignoranz ist wis- dann wird die Arktis alle fünf Jahre kurz gereicht. Sie verlangen Entschädigung für
senschaftliche Evidenz. vor Weihnachten zum Taugebiet; die Kosten, die ihnen aus dem Anstieg des
Die Grundidee hinter der Attribution ‣ der Rekordjuni 2017 in Westeuropa. Eng- Meeresspiegels erwachsen. Die steigenden
Science: Mit gewaltiger Computerpower land erlebte den heißesten Tag seit 1976, Pegel, so die Argumentation, seien eben
und gestützt auf eine Fülle von Beobach- Frankreich die heißeste Nacht über- kein Fall von höherer Gewalt, sondern die
tungsdaten berechnen Forscher anhand haupt, und in Portugal starben 64 Men- seit Jahrzehnten absehbare Folge des Kli-
von Klimamodellen, wie wahrscheinlich schen bei den schlimmsten Waldbrän- mawandels, der von Mineralölkonzernen
es war, dass ein bestimmtes Wetterereignis den seit mehr als einem Jahrhundert. wie ExxonMobil in voller Kenntnis der Fol-
überhaupt eingetreten ist. Tausende Sze- Der Klimawandel hat solche Hitzetage gen verursacht werde.
narien möglichen Wetters werden für eine viermal so wahrscheinlich gemacht in Die neue Klimakunde könnte auch eine
bestimmte Region und eine bestimmte Frankreich, fünfmal so wahrscheinlich globale Gerechtigkeitsdebatte befeuern.
Zeit im Detail durchgespielt. in England und zehnmal in Portugal. Ge- Denn es lässt sich ermitteln, welches Land
Danach stellen die Wissenschaftler gen Ende des Jahrhunderts wird die welche historischen Emissionen verursacht
exakt die gleichen Berechnungen an in ei- jetzt noch ungewöhnliche Superhitze hat und welche anteilige Verantwortung
ner simulierten Welt, die eben nicht mit zum neuen Normalwert. zum Beispiel Deutschland am bevorstehen-
Unmengen an Treibhausgasen wie Koh- Aber generell gelte, sagt Friederike Otto, den Untergang der Malediven trägt.
lendioxid aufgeheizt worden ist. Gegen- dass die meisten seltenen Ereignisse „Die Methoden existieren, das zu tun“,
über der vorindustriellen Zeit hat sich die selten blieben. „Nur kommen sie beispiels- sagt Friederike Otto. Allerdings wäre da
Erde bisher im globalen Mittel um circa weise alle 70 Jahre vor und nicht mehr eine weitere knifflige Zuordnungsfrage zu
ein Grad Celsius erwärmt. alle 100 Jahre.“ Und: Längst nicht jedes klären. Wem soll die historische Schuld an-
Der Vergleich beider Ergebnisse offen- Unwetter sei auf den Klimawandel zurück- gelastet werden? Förderländern wie Sau-
bart die Macht des Klimawandels: „Man zuführen. Das Elbhochwasser von 2013 di-Arabien? Oder Konsumländern wie
kann dann zum Beispiel sagen“, erzählt etwa, das nach tagelangem Starkregen Deutschland? Bei der Suche nach Antwor-
Friederike Otto, „dass die Erwärmung ein weite Teile Deutschlands und Mitteleuro- ten auf diese Frage können Wissenschaft-
bestimmtes Wetterereignis um 50 Prozent, pas verheerte, habe natürliche Ursachen ler wenig helfen. Marco Evers
100 Prozent oder 500 Prozent wahrschein- gehabt. Mail: marco.evers@spiegel.de
Einwurf
Heiland im Hurrikan
Wie der Nachrichtensender CNN mit dem Sturm „Irma“ kämpfte
Als die Sonne noch scheint und der Wind noch nicht bläst, kaum zu verstehen. Sie haben allerdings auch wenig zu sagen,
machen sich Anderson Cooper, Chris Cuomo und John Ber- außer dass ein tierischer Sturm herrsche, man die immer
man, drei der bekanntesten Anchormen von CNN, nach wieder aussetzende Technik entschuldige und dass sich jeder
Florida auf. Angelockt von den fantastisch apokalyptischen (außer ihnen natürlich) in Sicherheit bringen solle. Es wirkt, als
Wettervorhersagen, begeben sie sich an Orte, wo Hurrikan wollten sie den Sturm für uns alle durchleben, so wie Jesus
„Irma“ besonders heftig einschlagen soll. Sie tragen enge die Sünden der Menschheit auf sich genommen hat. Vielleicht
Polohemden – für Cuomo und Cooper die Gelegenheit, ihre befürchtet CNN auch, dass die Zuschauer ihnen in Zeiten von
muskulösen Oberarme zu zeigen. Dem Zuschauer wird so Fake News den Sturm nicht abnehmen, so wie die Russland-
signalisiert: keine Sorge, wir haben unsere stärksten Männer verbindungen der Trump-Regierung, die ein Großteil des Lan-
geschickt. des so lange nicht glaubt, wie man sie nicht sehen kann.
Dann verspätet sich „Irma“. CNN sendet trotzdem rund um CNN sieht die Moderatoren als Helden. Indem sie Gefahr
die Uhr. Die Moderatoren überbrücken die Zeit, indem sie liefen, weggeweht oder von Wellen verschluckt zu werden,
beschwören, wie heftig „Irma“ noch werde. Manche tragen Re- demonstrierten sie, wie gefährlich der Sturm sei. Diese Argu-
genjacken mit CNN-Logo. Je höher in der Hierarchie, desto mentation zieht ab Mitte vergangener Woche nicht mehr. Da
weniger Merchandise-Klamotten müssen die Reporter tragen. ist der Sturm abgeklungen, die Moderatoren stehen wieder in
Sie stemmen sich in den Wind, krallen sich ans Geländer, hin- kurzem Hemd da. Allerdings in neuer Kulisse. Jetzt senden
ter ihnen kippen Palmen /Kräne/Autos um. Ihre Worte sind sie aus den Trümmern. Philipp Oehmke
kapiert das um sein Leben in der es den Leuten gut geht, seelenruhig das Tor
japsende Kind, kann man zur Hölle.
sich nicht aussuchen. Dieser
Szene aus „Schloss aus Glas“ Film lehrt einen: leider. höb An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.
M
aeva Emden wohnt im Schanzen- auch ihr jüngster Bruder Frederick, 28, Vielleicht ist das sogar Absicht, weil sich
viertel in Hamburg und findet es hierher; er hatte sein Studium in Chile auf- so besser verschweigen lässt, was auch Teil
noch immer erstaunlich, wie wohl gegeben und absolvierte in einem elegan- der Geschichte ist: Max Emden wohnte
sie sich fühlt in dieser Stadt. In ihrer Kind- ten Hotel an der Elbe eine Ausbildung. In zwar seit 1927 bevorzugt in der Schweiz,
heit in Chile sei Hamburg, ach, sei ganz dem Hotel, sagt er, habe es ein paar ältere aber er hat den größten Teil seines immen-
Deutschland etwas gewesen, was man bes- Stammgäste gegeben, die ihn gefragt hät- sen Vermögens in Deutschland zurück-
ser nicht erwähnte. ten, ob er zu den Emdens gehöre. gelassen, und daran haben sich viele be-
Doch in demselben Maße, wie das Die Emdens? reichert. Für die Nazis war er „der Jude
Schweigen über Deutschland immer mehr Eigentlich müssten sie in diesem Land Dr. phil. Max James Israel Emden“, und
Platz in der Familie einnahm, wuchs ihre eine Berühmtheit sein, aber wer kennt sie das, was er sich erarbeitet hatte, weckte
Neugier auf dieses Land. Sie zog zum Stu- schon? Vor allem Maevas und Fredericks ihre Gier.
dium nach Berlin, sie lernte ihren späteren Urgroßvater Max Emden war eine beinahe Das alles ist nichts, was sich als ferne
Mann dort kennen, ausgerechnet einen sagenhafte Gestalt, ein hanseatischer Mogul, Vergangenheit abhaken ließe. Die heutigen
Hamburger. Jetzt wachsen ihre Kinder auf der ein internationales Imperium aufgebaut Emdens kämpfen schließlich noch gegen
in dieser Stadt, gebürtige Hamburger, wie hatte, ein echter Visionär, Mäzen. Doch so das Vergessen an, sie wollen Aufklärung
Maeva Emdens Großvater, wie überhaupt gut wie nichts erinnert an ihn. Nicht in darüber, was war. Maeva Emden, 43, sagt,
viele ihrer Ahnen. Vor einigen Jahren zog Deutschland, nicht einmal in Hamburg. sie fürchte mittlerweile, dass noch die
126 DER SPIEGEL 38 / 2017
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL
Auszug aus privatem Fotoalbum mit Aufnahmen von Max Emden: Angestrengt im Paradies
nächste Generation in der Familie damit Nazis galten – auch wenn das ein Wider- sei moralisch zu nichts verpflichtet. In Ge-
zu tun haben werde. Das Geschehene lässt spruch in sich ist. sprächen hört man die Sorge heraus, dass
sich auch deshalb nicht von der Gegenwart Zwar hat die Bundesregierung eine man einen Präzedenzfall schaffen könnte,
abkoppeln, weil viel von dem, was Max Kommission eingerichtet, in der strittige würde man nachträglich auch noch die An-
Emden besaß, ja noch vorhanden ist. Raubkunstfälle verhandelt werden sollen. sprüche jüdischer Deutscher berücksichti-
Da wären die Immobilien, die nun an- Aber ausgerechnet für die beiden Bellot- gen, die im Ausland lebten – selbst wenn
deren gehören, auch die teuren Bilder, von to-Bilder im eigenen Bestand wollte man sie im Inland bestohlen worden waren.
denen sich einige immerhin in Museen keine Empfehlung der Fachleute einholen. Wie Max Emden, Jahrgang 1874, gelebt
nachweisen lassen. Und vielleicht lösen Nun ist man in Berlin bereit, die Kom- hat, wird sozusagen bis heute gegen ihn
zwei der Bilder schon bald eine Debatte mission einzuschalten, so hat man es die verwendet. Wie also war dieses Leben?
darüber aus, ob man es in diesem Land Anwälte der Familie wissen lassen. Im Der promovierte Chemiker stieg in den
mit dem Bekenntnis zur Wiedergutma- Grunde ist das eine Sensation. mittelständischen Engroshandel der Eltern
chung und auch zur Wahrheitsfindung je- Die Emdens, müde in dieser Angelegen- ein und expandierte vor allem im Einzel-
mals wirklich ernst gemeint hat. heit, haben mögliche Ansprüche allerdings handel, beschäftigte schließlich 10 000 Mit-
Gemeint sind zwei Gemälde des be- auf eine jüdische Gemeinde in Berlin über- arbeiter. Er eröffnete immer neue Kaufhäu-
rühmten Venezianers Bernardo Bellotto, tragen. Man kann Rabbiner Yehuda Teich- ser, unter anderem in Hamburg, Lübeck,
die einst Emden gehört hatten und über tal – der dem SPIEGEL sagt, er hoffe auf Potsdam, Danzig, Stettin, Stockholm und
Händler ausgerechnet in Hitlers Sammlung konstruktive Gespräche mit dem Finanz- Budapest (dort das berühmte Corvin). Auch
gelangt waren. Später wurden diese so ma- ministerium – nur Glück wünschen. das Warenhaus Oberpollinger in München
lerischen wie wertvollen Ansichten von Denn es gibt in Ministerien und Behör- war in seinem Besitz, am Berliner KaDeWe
Dresden und Wien zum Eigentum der den einen eigenen Abwehrmechanismus, hielt er von Anfang an eine Beteiligung.
BRD, eine schmückte lange die Villa des wenn es um diese besondere Familie geht, Die Warenhäuser wirkten oft imposant, fast
Bundespräsidenten in Bonn; heute befin- oft wird dann ein seltsamer Unterton ange- herrschaftlich, Einkaufen wurde zum Erleb-
den sich die Werke als Leihgaben der Bun- schlagen. In internen Vermerken heißt es, nis, zu einem Inbegriff modernen Lebens.
desrepublik in Museen. Das Bundesfinanz- Max Emden habe einen „aufwendigen Le- Emden prägte seine Zeit mit.
ministerium lehnte eine Rückgabe an die bensstil“ gepflegt, keines der Familienmit- In Hamburg wohnte er auf Sechslinden,
Emdens wiederholt ab, im Grunde, weil glieder sei deportiert worden, es sei ihnen einem malerischen Landhaus, das ihm
die Bilder als legale Erwerbungen der in jeder Hinsicht gut ergangen, und man Anfang des 20. Jahrhunderts ein Reform-
DER SPIEGEL 38 / 2017 127
Kultur
HANDOUT / AFP
besser: ein glamouröser Neuanfang. Em-
den verkaufte 1926 etliche (aber nicht alle) 1
Warenhäuser, ließ sich scheiden. Er erwarb
die beiden Brissago-Inseln im Lago Mag-
giore und ließ sich auf der größeren einen
Palast errichten. Dort, im Tessin, wurde
er zu einer legendären Figur, über die heu-
te noch Anekdoten verbreitet werden –
ein Luxusaussteiger.
Und das war er ja tatsächlich, getrieben
von der Sehnsucht, das Leben zu genießen,
auch wenn er auf Fotos oft angestrengt
wirkt. Da waren das Hochgeschwindigkeits-
boot der Marke Riva, im Palazzo der edle
2 3
Marmor, die Wandteppiche, die eindrucks-
vollen Bilder, etwa von Claude Monet und
Pierre-Auguste Renoir, die erlesenen Gäste.
Und das Personal, denn auch im Paradies auf seine Bankunterlagen und hissten die Ländern dort auf, versuchte, sich eine Exis-
verzichtete er ungern auf Bügelfalten. Hakenkreuzflagge auf den durch sie be- tenz aufzubauen. Er heiratete erneut, eine
Seine junge Freundin war stets an seiner schlagnahmten Warenhäusern, in die sie Chilenin, nannte sich Juan Enrique, wurde
Seite, nicht selten auch seine ehemalige längst ihre eigenen Geschäftsführer ein- Vater von drei Söhnen. Die Inseln in der
Frau. Von seiner Großzügigkeit profitier- gesetzt hatten. Emden bat die Schweizer Schweiz verkaufte er ein paar Jahre nach
ten viele, selbst der neue Ehemann der ge- Behörden verzweifelt um Hilfe, doch die Kriegsende an den Kanton Tessin.
schiedenen Gattin, ein Graf Einsiedel, und mischten sich lieber nicht ein. Ein einigermaßen gutes oder wenigstens
auch das vornehme, aber knauserige Ham- Wie freiwillig waren vor diesem Hinter- glimpfliches Ende? Einerseits ja, anderer-
burg. Das meldete sich regelmäßig schrift- grund Emdens hektische Verkäufe von Im- seits: Viel war verloren, wertvollste Bilder,
lich bei ihm, und fast immer wollte es Geld. mobilien in Deutschland, die er seit Mitte Liegenschaften – allein in Hamburg meh-
So auch der Poloklub. Emden sicherte der Dreißigerjahre vornahm? Oder der Bil- rere Millionen Quadratmeter Grundbesitz.
dessen Weiterbestehen, als er das Gelände der, die er über Händler anbot? Wie ange- Und nun, in der Nachkriegszeit, wurde
1927 von einem Baron von Jenisch erwarb, messen die Preise, und welche Zahlungen die Schmach fortgesetzt, warfen die deut-
er stiftete dann noch den Bau eines Klub- erhielt er überhaupt? schen Behörden den Emdens vor, nicht jü-
hauses, stundete immer wieder die Pacht Ein Freund, der Schriftsteller Erich Ma- disch genug gewesen zu sein. Sie seien des-
für das Gelände. Ein weiteres Vereinsheim ria Remarque, verspottete Emdens Nervo- halb keine echten Opfer gewesen. Doch
entstand mit seinem Geld für den Golfklub sität zuerst noch als „Millionärskrankheit“, wie definierte man damals Opfer, wie de-
Falkenstein. später bedauerte er ihn, aber da war der finiert man sie heute?
Seine alten Freunde dankten es ihm – Mann schon tot. 1956 legte ein Angestellter einer Ham-
aber wohl nur bis 1933. Dann war Dr. Em- 1940 starb Emden, er war 65 Jahre alt burger Behörde einen Aktenvermerk an,
den der Jude Emden. geworden. Alleiniger Erbe war sein Sohn darin ging es um eines von vielen Grund-
Das Pologelände verkaufte er Mitte der Hans Erich, Maevas und Fredericks Groß- stücken, die Max Emden in den 1930ern
Dreißigerjahre an die damals noch eigen- vater. Damals war er Ende zwanzig, hatte verkauft hatte, um den Poloplatz in Ham-
ständige Stadt Altona. Wie man ihn dazu eine Kindheit auf Sechslinden, Schuljahre burg. In dem Schriftstück wird daran erin-
brachte, ist unklar. Aus dem alten Proto- im Schweizer Internat und eine Banklehre nert, dass die Jewish Trust Corporation ei-
kollbuch des Klubvorstands wurden nach- in New York hinter sich. Auf Wunsch des nige Jahre zuvor die Rückgabe des Platzes
träglich viele Seiten entfernt, aber es ist Vaters führte er dann das Budapester von der Stadt Hamburg als Eigentümerin
noch zu lesen, dass die Mitglieder des Kaufhaus. verlangt hätte. Doch sei seinerzeit – und
Poloklubs Reiter der SS ausbildeten. In dem Jahr, in dem sein Vater im Tessin das erwähnte der Mitarbeiter mit einem
Zwar war Emden 1934 Schweizer Staats- starb, bürgerten die Deutschen Hans Erich gewissen Stolz – eine besondere List an-
bürger geworden, aber die radikalen Ver- Emden als „Mischling ersten Grades“ aus, gewandt worden: Man habe diese Organi-
änderungen in Deutschland, wo eben ein die Schweiz wollte ihn nicht aufnehmen, sation im Falle Emdens einfach nicht als
Großteil seines Vermögens lag und seine er kaufte sich einen haitianischen Pass, zuständig anerkannt.
verbliebenen Unternehmungen angesie- doch es rettete ihn vor allem, dass seine Denn diese Gesellschaft sei für jüdische
delt waren, bekam er auf dramatische Wei- Mutter in Chile zur Welt gekommen war. Anspruchsteller gegründet worden. Max
se zu spüren. Die Nazis fingierten Steuer- Ihr Geburtsrecht ging auf ihn über. Der jun- Emden aber sei „getaufter Jude“ gewesen.
schulden, griffen auf seine deutschen ge Emden gab rasch weitere Bilder in Kom- Tatsächlich war er als junger Mann Protes-
Konten zu, sperrten Wertpapierdepots, mission, schaffte es mit seiner Frau bis nach tant geworden, nur raubten ihn die Nazis
stempelten den sogenannten Judenstern Südamerika, hielt sich in unterschiedlichen als Juden aus.
128 DER SPIEGEL 38 / 2017
Viele hatten von der Verfolgung der Juden
materiell profitiert und wollten später nichts
mehr zurückgeben. Die Nutznießer lavier-
ten, logen. Die Opfer hatten Anträge zu stel-
len, Beweise vorzulegen, die es auf ihrer Sei-
te oft nicht mehr geben konnte, und selbst
dann wurde noch vieles abgeschmettert.
Mitte der Neunzigerjahre reiste Hans
Erich Emden ein letztes Mal ins ungeliebte
Deutschland, er besichtigte damals sein
altes Elternhaus in Klein Flottbek, dieses
weitläufige Anwesen, das schon lange nie-
Traumpaar im Schlachthaus
Kino Als der Eiserne Vorhang fiel, war die Ungarin Ildikó Enyedi ein junger Regiestar – und verschwand.
Nun ist sie mit dem Berlinale-Siegerfilm „Körper und Seele“ glorios zurückgekehrt.
S
igmund Freud ging selten und ungern schmale Lippen, ihr Blick und ihre Bewe- tigten in der Kantine essen und in der Zi-
ins Kino, und doch sind das Handwerk gungen zeigen, dass sie sich schwertut garettenpause über ihre erotischen Aben-
von Seelendoktorei und Traumdeu- im Umgang mit den Menschen. Auf die teuer plaudern. Die Tötung der Tiere zeigt
tung und das Filmgewerbe Geschwister. Ge- Fragen und Albereien ihrer Kollegen re- der Film nicht, der Zuschauer hört nur den
gen Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie agiert sie mal hilflos und mal schroff. Of- Knall des Bolzenschussapparats, mit dem
fast zur gleichen Zeit in die Welt gesetzt. fensichtlich ist die mit einem außergewöhn- die Rinder umgebracht werden. Als ein
Schon früh hat man das Gemeinschaftser- lichen Gedächtnis gesegnete, frisch von neuer, junger Arbeiter (Ervin Nagy) ein-
lebnis im finsteren Kinosaal als kollektives der Universität kommende Maria eine gewiesen wird und mit seiner Vorfreude
Abtauchen in Wunschvorstellungen und Autistin. Als sie zum ersten Mal mit dem auf das Abschlachten der Tiere prahlt,
Albträume beschrieben. Der Schriftsteller Finanzchef des Schlachthofs, einem stark sagt man ihm streng, dass diese Mordlust
Hugo von Hofmannsthal behauptete: „Was verknitterten, sanftäugigen älteren Mann gegen den Geist des Betriebs verstoße. Im
die Leute im Kino suchen, ist der Ersatz namens Endre (Géza Morcsányi) zu spre- Schlachthaus des effektiven Budapester
für die Träume.“ Und Regisseur Federico chen genötigt ist, merkt man den beiden Fleischkapitalismus wird rational darauf
Fellini sagte mal, dass wir Menschen erst sofort eine zaghafte Vertrautheit an. Wie geachtet, das Vieh mit einem Minimum an
im Kino gelernt hätten, sowohl vor als auch Maria ist auch Endre ein Versehrter, sein Gewalt abzumurksen.
nach dem Einschlafen zu träumen. linker Arm ist gelähmt. Der Versuch eines Die Wahrheit über das verborgene Band
Die ungarische Regisseurin Ildikó Enye- Gesprächs aber scheitert kläglich: Die Spra- zwischen Maria und Endre kommt in „Kör-
di erzählt nun in ihrem Kinofilm „Körper che ist zwischen diesen sehr ungleichen, per und Seele“ durch eine Krimihandlung
und Seele“ von einem Mann und einer nicht bloß durch ihr unterschiedliches Le- zutage. Eines Tages sind größere Mengen
Frau, die sich in ihren Nächten exakt im bensalter einander fernen Menschen ein eines Medikaments verschwunden, das die
gleichen Traum aufhalten – wenngleich sie kaum taugliches Kommunikationsmittel. Potenz von Bullen steigern soll und für
diesen Traum aus unterschiedlichen Per- Mit großer Ruhe zeigt Enyedi eine un- Menschen als Droge taugt. Deshalb kom-
spektiven erleben. Natürlich rührt diese erhörte Liebesgeschichte – vor allem aber men nicht nur Polizisten in den Schlacht-
Geschichte an das innerste Wesen des Ki- die penibel organisierte Arbeit in einem hof, sondern auch eine Psychologin sucht
nos, und man staunt darüber, dass sie nicht modernen Schlachthof. Man sieht Rindern ihn auf. In ihren strengen Mitarbeiter-
schon vielen anderen Filmemachern ein- beim Warten in hell erleuchteten, geka- befragungen stellt sich heraus, dass Endre
gefallen ist. Zugleich erlebt man sie in chelten Räumen zu; man sieht Arbeiterin- und Maria jede Nacht den gleichen Traum
Enyedis Film als Zauberkunststück. Der nen und Arbeiter mit Wasserschläuchen träumen, in dem er der Hirsch ist und sie
Kinozuschauer blickt auf einen verschnei- Blut wegspülen und mit Fleischkränen han- eine Hirschkuh. Sehr ulkig zeigt Enyedi
ten Wald, einen winterlichen Teich, einen tieren; man sieht die Schlachthausbeschäf- die Verwirrung, die diese Nachricht auslöst;
Hirsch und eine Hirschkuh in gestochen den Zorn der Psychologin, die sich veräp-
scharfer Klarheit. Es ist ein surreales Idyll, pelt fühlt; die Fassungslosigkeit der beiden
fast ein romantisches Gemälde. Wenig spä- Träumenden, die im Wachzustand nur in
ter ist zu sehen, dass die beiden Menschen, maximaler Verklemmtheit zueinanderfin-
die des Nachts von dieser wunderschönen den. Es dauert eine Ewigkeit, bis Maria am
Szene in freier Natur träumen, tagsüber Kantinenbüfett ihre Wünsche aussprechen
an einem Ort der perfekt technisierten kann. „Ich könnte heute Abend bei Ihnen
Grausamkeit arbeiten: in einem Buda- schlafen. Ich habe meinen Pyjama dabei.“
pester Schlachthof. Der Gegensatz von Technik und Natur,
„Mein Ziel ist es, Filme zu machen, die Imagination und Vernunft wird nie ins Al-
so einfach sind wie ein Glas Wasser“, sagt legorische übersteigert in Enyedis Film.
die Regisseurin Enyedi. Und weil ihr das „Ich möchte niemanden belehren. Der Zu-
gelungen ist, darf man von „Körper und schauer soll direkt teilhaben an dem, was
Seele“ sagen: Auch für Menschen, die sel- der Film erzählt“, sagt die Regisseurin.
ten und widerwillig ins Kino gehen, ist die- Selbst die Frage, ob der Mensch Fleisch es-
ser Film womöglich der eine im Jahr 2017, sen oder sich vegetarisch ernähren soll,
den sie sich auf jeden Fall ansehen sollten. müsse jeder für sich entscheiden; sie wolle
Weil er eine merkwürdige, hochinteressan- mit ihrem Film keineswegs Propaganda ma-
te Gegenwelt zu unserer Realität entwirft, chen. Enyedi ist eine schmale Frau mit im
mit großer Entschiedenheit und in hinrei- Nacken gebündeltem Haar und wuchtiger
ßenden, sorgsam komponierten Bildern. Brille. Im Februar hat sie mit „Körper und
Und weil er auf sehr kluge, komische und Seele“ den Hauptpreis der Berlinale, den
BIRGIT KLEBER / VISUM
nie naseweise Art die richtigen Fragen stellt Goldenen Bären, gewonnen. Weil der Film
danach, was eigentlich los ist mit den Men- nun in den deutschen Kinos anläuft, ist sie
schen unserer Zeit. für Interviews nach Berlin zurückgekehrt.
Eine junge Frau namens Maria (Alexan- Enyedi spricht in kurzen, präzisen Sätzen,
dra Borbély) fängt in „Körper und Seele“ denen man anmerkt, dass sie viele Jahre
ihren Job als Kontrolleurin in einem Regisseurin Enyedi lang als Lehrerin an der Budapester Thea-
Schlachthaus an. Sie hat blasse Haut und „Ich möchte niemanden belehren“ ter- und Filmhochschule gearbeitet hat. Sie
130 DER SPIEGEL 38 / 2017
Szene aus „Körper und Seele“: Nachts träumen die Helden von einer Winterlandschaft, die aussieht wie ein romantisches Gemälde
sei kolossal überrascht worden von der lernt und ging dann zum damals berühm- tion in Ungarn gefragt wurde, antwortete
Auszeichnung in Berlin, sagt sie mit einem ten Béla Balázs Studio, der einzigen un- Enyedi spontan, dass es „eine Schande“
Lächeln. „Es ist ein kleiner, keineswegs teu- abhängigen Filmfabrik im Ostblock. Sie sei, was derzeit in ihrem Land geschehe.
rer Film, den wir gemacht haben. Aber für war unbelastet von den Pressionen und Zu Hause in Ungarn ergoss sich in Briefen,
mich steckt die Arbeit von mehr als zehn faulen Kompromissen, von denen sich vie- Anrufen und E-Mails ein Shitstorm über
Jahren darin.“ le Künstler im realsozialistischen Ungarn sie. Heute sagt Enyedi: „Ich bitte Sie zu
Als vor fast drei Jahrzehnten der Eiser- beschmutzt fühlten. Im Filmgeschäft war verstehen, dass ich mich nicht noch einmal
ne Vorhang fiel, war die heute 61-jährige sie eine von wenigen Frauen. Weil im zer- zur Politik äußern werde. Ich will weiter
Ildikó Enyedi ein Jungstar des osteuro- fallenden Ostblock auch die Kinoproduk- Filme drehen in Ungarn.“ Und nach einem
päischen Kinos. Mit ihrem Erstlingsfilm tion in Trümmer ging, brauchte sie ein Zögern: „Ich lebe in einem verletzten, blu-
„Mein 20. Jahrhundert“ gewann sie in Jahrzehnt, bis sie mit „Simon der Zaube- tenden Land.“
Cannes 1989 die Goldene Kamera für das rer“ 1999 wieder einen großen Spielfilm In Ungarns Kinos war „Körper und See-
beste Debüt des Festivals. Kritiker aus aller zustande brachte. Im Westen hatte man le“ ein großer Erfolg. Der Film zeigt die
Welt lobten hingerissen die erstaunliche Enyedi zu dieser Zeit schon weitgehend Menschenwelt als Ort der Ausgrenzung; je-
Sicherheit und Originalität ihrer Arbeit. vergessen, in den deutschen Kinos wurde des abweichende Verhalten, jede Schwäche,
Auch „Mein 20. Jahrhundert“ handelt von der Film nie gezeigt. „Ich wusste, dass jedes Widerwort wird bestraft. Die Tierwelt
ein paar Grundgeheimnissen des Kinos, mein Film gut ist“, sagt Enyedi, „die Zu- erscheint als idyllischer Schutzraum, in dem
etwa von der Erfindung der elektrischen schauer in Ungarn mochten ihn sehr, aber die Hirsche trinken, den Winterwald be-
Glühbirne durch den Amerikaner Thomas die Verleiher und die meisten Kritiker ha- staunen und einander zart beschnuppern –
Alva Edison – zugleich war der Film ein ben kein Wort darüber verloren.“ aber ist das mehr als ein Trugbild? Ildikó
wildes, feministisches Märchen, in dem im Viele Jahre lang feilte die Regisseurin Enyedi hat natürlich Freud und C. G. Jung
Kindesalter getrennte Zwillingsschwestern an neuen Projekten und unterrichtete ne- gelesen, und sie sagt: „In der realen Welt
mit dem Orientexpress am Silvesterabend benher Studenten, alle größeren Filmvor- haben wir das Bewusstsein dafür verloren,
1899 nach Budapest reisen, dort Anarchis- haben scheiterten. „Ich habe meinen In- wie wir leben sollten. Vielleicht müssen wir
tenbomben mit brennender Zündschnur stinkt für Menschen ignoriert und hatte deshalb in unserem Unbewussten, in unse-
spazieren tragen, reiche Lebemänner ihrer plötzlich mit wirklich üblen Leuten zu ren Träumen eine Vision von diesem bes-
Besitztümer berauben und dem wüsten tun“, sagt die Regisseurin. Umso dank- seren Leben finden.“ Wolfgang Höbel
Frauenhasser Otto Weininger bei einem barer sei sie, dass „Körper und Seele“
Vortrag aus seinem Pamphlet „Geschlecht schließlich doch zustande kam. Als sie Video: Ausschnitte aus
ALAMODE FILM
und Charakter“ zugucken. während der Berlinale im Februar von ei- „Körper und Seele“
Enyedi hatte ihr Handwerk auf der Thea- ner Rundfunkreporterin nach dem Bezug spiegel.de/sp382017enyedi
ter- und Filmhochschule in Budapest ge- ihres Films auf die gesellschaftliche Situa- oder in der App DER SPIEGEL
„Mehr als
Bettelsuppen-Rhetorik“
SPIEGEL-Gespräch Der Frankfurter Historiker und ehemalige Maoist
Gerd Koenen, 72, über Fundamentalopposition früher und heute,
über die radikale Linke und den Sozialdemokraten Martin Schulz
SPIEGEL: Herr Koenen, als junger Mann wa- derne, als Ausdruck der Sehnsucht nach
ren Sie Kommunist, ein ziemlich extremer. einer ursprünglichen Einheit und Har-
In Ihrem Buch zitieren Sie nun Herta monie.
Müller: „Gestern wäre ich mir lieber nicht Koenen: Das war eines der populären Mo-
begegnet.“ Ist Ihr über tausend Seiten tive, die ihn getragen haben. Marx hat ver-
dickes Kommunismusbuch auch eine Spu- gebens versucht, sich dieses uralten Erbes
rensuche in eigener Sache, eine Suche zu entledigen. Im „Kommunistischen
nach Geistesverwandten in der Welt- Manifest“ von 1848, das ja zugleich ein
geschichte*? Hymnus auf die moderne Welt war, ver-
Koenen: Als Kinder der Weltkriegskatastro- wirft er ein Dutzend utopischer, patriar-
phe lebten wir mehr in der Vergangenheit chaler, feudaler, christlicher Sozialismen
als in der Gegenwart. An großartige Zu- und Kommunismen, die er als reaktionär
kunftsgemälde kann ich mich gar nicht er- brandmarkt. Tatsächlich haben alle idealen
innern. Stattdessen lauerte der Faschismus Gesellschaftsentwürfe der Neuzeit seit
wieder gleich um die Ecke. Mein Zitat Thomas Morus’ „Utopia“ eine stillgestellte
drückt ein nachträgliches Erschrecken da- Welt entworfen, worin die Gemeinwirt-
rüber aus, wohin es mich – zum Beispiel schaft den Stachel der modernen Unruhe
im Falle des Verbots unserer neokommu- beseitigen sollte.
nistischen Sekte 1977 – noch hätte treiben SPIEGEL: Revolution bedeutet wörtlich: zu-
können. Das verbindet meine an sich ganz rückdrehen.
unbedeutende biografische Erfahrung mit Koenen: Schon die französischen Jakobiner
dem großen Drama des Weltkommunis- kleideten sich in die Gewänder von Sparta-
mus im 20. Jahrhundert. nern und tugendhaften Römern. Und wo
SPIEGEL: Die Sekte nannte sich Kommunis- Kommunisten im 20. Jahrhundert an die
tischer Bund Westdeutschland, KBW, und Macht kamen, mischten sich in ihre schein-
wurde letztlich nicht verboten. War der bar hypermodernen Entwürfe einer durch-
KBW die zeitgemäße, coole Form des geplanten Gesellschaft fast sofort archaische
Kommunismus in der Bundesrepublik der Welt- und Sozialvorstellungen. Zwar wird
Siebzigerjahre? die traditionelle Sozialpyramide auf den
Koenen: Cool waren wir nicht, eher Nerds: Kopf gestellt, werden alte Eliten durch ju-
sehr ernsthafte junge Leute. Überernst. gendliche neue ersetzt. Aber Russland oder
Wir steckten fest in unserer Binnenwelt, China – das sind eben alte große Reiche
in einem Strudel großer Texte und Theo- und Kulturen. Das Bild der stalinistischen
rien. Wir betrieben einen Sowjetunion bestimmten
enormen intellektuellen schon bald wieder die Or-
Aufwand, um das, was densbrüste der Militärs,
wir sahen, gegen den die Bratenröcke der Aka-
Strich zu bürsten: Der demiker, der klassische ligen Hauptrivalen. Aber auch die haben
Wohlstand um uns ver- oder folkloristische Stil. ja fleißig theoretisiert und kommuniziert.
deckte nur die Verelen- SPIEGEL: Eine linke Fun- Man wollte sich doch mitteilen, hat exzes-
dung. Und die Gräuel- damentalopposition war siv Papier bedruckt, Transparente gemalt.
taten der Roten Khmer in aus der bundesrepubli- Die heutigen Autonomen wirken auf
Kambodscha mussten Er- kanischen Öffentlichkeit mich autistisch, ihre Aktionen erinnern an
findungen derer sein, die lange verschwunden. Ha- Videoclips oder Gruppenselfies. Worum
Indochina in die Steinzeit ben die Krawalle der Au- es genau geht, erfährt man nicht – und die
MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL
hatten zurückbomben tonomen beim G-20-Gip- Zehntausende, die in Hamburg ihre vielen
wollen. fel Sie an die Siebziger- Anliegen formuliert haben, wurden so
SPIEGEL: In Ihrem Buch le- jahre erinnert? letztlich mundtot gemacht.
sen Sie den Kommunis- Koenen: Diese sogenann- SPIEGEL: Kann man von einer Renaissance
mus als Antithese zur Mo- ten Autonomen sind mir des europäischen Linksradikalismus spre-
ziemlich fremd. Sie er- chen?
* Gerd Koenen: „Die Farbe Rot. innern mich eher an die Koenen: Renaissance, nein. Bisher sehe ich
Ursprünge und Geschichte des
Kommunismus“. C. H. Beck; 1134 Autor Koenen Putztruppe der Frankfur- eher eine postmoderne Melange von Zita-
Seiten; 38 Euro. „Wir waren Nerds“ ter Spontis, unsere dama- ten und Bildern, die man sich herauspickt
132 DER SPIEGEL 38 / 2017
CARLOS BARRIA / REUTERS
Besucherin des Mao-Plaketten-Museums in Weihai: „Die Urangst, dass die Gesellschaft auseinanderfliegt“
und zu einem neuen Mix zusammenrührt. domestiziert worden: als Farbe der Regie- Wirklichkeit eher aus der „World of War-
Aber die Temperatur steigt innerhalb der rungspartei SPD. Die Farbe der linksradi- craft“ oder dem Internetporn als aus irgend-
Jugend, das ist sicher. kalen Straßenkämpfer von heute, das einer traditionellen muslimischen Gesell-
SPIEGEL: Ihr Buch heißt „Die Farbe Rot“, Schwarz, ist auch die Farbe des IS. schaft. Aber westlich gebildete Intellektu-
die Proteste beim G-20-Gipfel in Hamburg Koenen: Der politische Islamismus hat in elle waren die Köpfe der Roten Khmer auch.
waren allerdings … der ganzen muslimischen Welt schon seit den SPIEGEL: Hat nicht der Antisexismus der
Koenen: … schwarz, ja. Wenn es da histori- Neunzigerjahren die Linke marginalisiert europäische Linken ebenfalls seine prüde
sche Bezüge gibt, dann eher zu den Anar- und seine eigene, fundamentale Kritik der Seite? An der Alice-Salomon-Hochschule
chosyndikalisten, die Ende des 19. Jahr- gott- und seelenlosen kapitalistischen Kom- in Berlin diskutiert der Asta ein Gedicht
hunderts unter schwarz-roten Fahnen auf- merzkultur entwickelt. In seinen extremen von Eugen Gomringer, das als Wand-
traten. Mussolini nahm von dort die Farbe Ausprägungen kann das durchaus an den schmuck fungiert, weil es den männlichen
seiner Schwarzhemden in den Faschismus totalitären Anspruch der kommunistischen Blick verherrliche.
mit. Rot blieb dagegen die Farbe, die mit Bewegungen auf Gestaltung und „Säube- Koenen: Ja, man möchte eine Auflockerung
den Emanzipationsversprechen des Sozia- rung“ der ganzen Gesellschaft erinnern. aller Geschlechterrollen und zugleich eine
lismus verknüpft war. Wenn mich die Dschihadisten an etwas er- verbindliche neue Lebens- und Sittenord-
SPIEGEL: Dieses Rot der aufrührerischen So- innern, dann an die Roten Khmer in ihren nung etablieren. Einiges daran kann ich
zialisten ist in der Bundesrepublik längst schwarzen Pyjamas. Zwar kommen sie in allerdings nachvollziehen. Auch die 68er-
DER SPIEGEL 38 / 2017 133
ITAR-TASS / IMAGO (MEHRFACHBELICHTUNG)
Parade auf dem Roten Platz in Moskau: „Säuberung der Gesellschaft von allen Sozialfeinden“
Bewegung mit ihren Parolen von der sexu- die sie als die Keime des Übels betrachten, SPIEGEL: Sie sehen kein Verteilungsproblem?
ellen Revolution war in Wirklichkeit ja dop- aus der Gesellschaft raussäubern, im Zwei- Koenen: Doch, aber das Problem ist viel
peldeutig. Marcuses Polemik gegen die felsfall gewaltsam. größer. Auf dem Grund der Weltfinanz-
„repressive Entsublimierung“ versuchte, ge- SPIEGEL: Ähnliches hat auch die Sowjet- krisen unserer Zeit liegt die Überakkumu-
genüber der alles überschwemmenden Kom- union versucht. lation von verfügbarem Reichtum. Das
merzialisierung des Sex einen geschützten Koenen: Ja, in gewisser Weise entsprach Kapital weiß schon nicht mehr, wohin mit
Raum erotischer Intimität zu bewahren. der Sowjetkommunismus einer zugleich sich. Warum leben wir so, wie wir leben?
SPIEGEL: Sie beschreiben revolutionäre Uto- archaischen und modernen Utopie: der Warum stecken so viele Menschen in
pien als Sehnsucht nach einer ursprüng- Säuberung der Gesellschaft von allen So- einem Hamsterrad, nicht nur prekäre Exis-
lichen Unschuld. zialfeinden, Schädlingen und so weiter. tenzen, auch Akademiker? Das Ziel hinter
Koenen: Ich beschreibe die Urangst, dass SPIEGEL: In den USA oder in Großbritan- dem Leistungsstress ist immer nur die
die Gesellschaft auseinanderfliegt durch nien gab es zuletzt ein Comeback des de- Effektivierung der Produktion um der
all das, was wir als Folgen der Moderne mokratischen Sozialismus: Sanders und Produktion willen. Da bin ich dann bei
verstehen. In Marx ’ Zeit, während der Corbyn. Befriedigen die das Bedürfnis nach marxschen Formeln. Man muss diese
gerade erst beginnenden industriellen einer anderen Politik auf zivile Weise? Formeln auf der Höhe unserer Zeit noch
Revolution, herrschte ja keine heitere Fort- Koenen: Diese linkssozialdemokratischen mal neu überdenken. Es ist alles da. Aber
schrittsfreude, sondern eher apokalyp- Versuche sind mir zu konventionell, nicht so weit denken Corbyn und Sanders nicht.
tische Stimmung. Niemand stellte sich wirklich auf der Höhe der Zeit. Sie sind SPIEGEL: Sie wollen ernsthaft den alten
damals vor, dass es immer so weitergeht, völlig fixiert auf Fragen der sozialen Un- Marx reaktivieren?
auch die liberalen Denker nicht. Dass alles gerechtigkeit, also die Einkommens- und Koenen: Worin besteht denn der Fortschritt
sich immer weiter beschleunigen, immer die Vermögenskluft, wie sie der Wirt- unserer Gesellschaften? Es geht immer nur
weiter wachsen muss, ist ein Gedanke, mit schaftswissenschaftler Thomas Piketty und um mehr Effizienz, um mehr Wachstum,
dem erst die Neoliberalen nach den Welt- andere dargestellt haben. um mehr Wohlstand auch. Diese Gesell-
kriegen um die Ecke kommen. Als Indivi- schaft tritt uns als eine riesige Warensamm-
duum hat man Angst, sich in dieser ver-x- lung entgegen. Marx hingegen ging es
fachten Welt zu verlieren. Daraus entsteht nicht um Wohlstand, ihm ging es um freie
immer wieder der Impuls, Bodenhaftung Zeit für freie Entwicklung: weniger im Sin-
zu suchen. Das finde ich nicht per se nega- ne von mehr Freizeit und Fun, sondern
tiv. Das ist für mich das Kunststück, das von Möglichkeiten, sich mit oder neben
man historisch mit dem Sozialismus oder „Herr Schulz ist dem Broterwerb mit wirklich wichtigen
auch Kommunismus verbunden hat – diese
in x Richtungen auseinanderstrebende
ein konventioneller und interessanten Dingen zu beschäftigen.
Und es ist ja nicht so, dass es heute nichts
Welt in einen Modus zu überführen, der Sozialdemokrat. mehr zu tun, zu forschen, zu entwickeln
sich demokratisch kontrollieren lässt. To-
talitäre Strömungen wie neuerdings der
Da fand ich selbst gäbe, im Gegenteil. Aber die produktiven
und kreativen Potenziale der Einzelnen
Dschihadismus neigen natürlich dazu, das Gabriel spannender.“ wie der Gesellschaften im Ganzen liegen
Problem zu lösen, indem sie diejenigen, zu erheblichen Teilen brach.
134 DER SPIEGEL 38 / 2017
Kultur
SPIEGEL: Von wem fühlen Sie sich politisch Koenen: Es gibt eine große Unzufrieden- Koenen: Dieses regressive Element gab es
in Deutschland vertreten? heit, aber diese Unzufriedenheit weiß zur- auch im realen Sozialismus des 20. Jahr-
Koenen: Am ehesten noch von den Grünen. zeit nicht, wohin mit sich. Die politische hunderts – und das hat ihn zu einem Gut-
Bei ihnen gibt es diese Themen, wenn auch Inkorrektheit der AfD bedeutet ja auch teil niedergezogen. Aber es gab in den
nur in irgendwelchen nachrangigen Think- nur, dass sie einen bestimmten „comment“ kommunistischen Parteien immer auch
tanks. Im politischen Betrieb und selbst einer nichtgehässigen Redeweise ständig eine spannungsvolle, manchmal anspruchs-
jetzt im Wahlkampf sehe ich bei ihnen kalkuliert überschreitet. Sie transportiert volle Debatte über die großen Fragen der
eher wenig davon. einen Protest, aber sie enthält keine so- Welt und der Geschichte, und deshalb ha-
SPIEGEL: Wäre es an der Zeit, dem Projekt ziale Fantasie, keine Perspektive. Pure Ge- ben sie auch so viele kluge Renegaten her-
Rot-Grün das Projekt Rot-Rot-Grün folgen meinheit soll für das Nein gegen eine vorgebracht, so eine große Kunst und Li-
zu lassen? Ein Land ohne klare Alternative Politik stehen, auf die sie angeblich keinen teratur. Das soll nicht heißen, dass der
ist auf Dauer politisch gelähmt. Einfluss hat. Geist nur immer links weht und es auf der
Koenen: Ich bin nicht per se dagegen, die SPIEGEL: Macht die AfD Ihnen denn keine politischen Rechten nichts intellektuell und
Frage ist, wie innovativ Rot-Rot-Grün Angst? literarisch Satisfaktionsfähiges gäbe. In den
wäre. Und da bin ich eher skeptisch. Herr Koenen: Die Nationalsozialisten konnten Achtzigerjahren, als ich Redakteur beim
Schulz ist für mich ein sehr konventionel- über die Wahlurnen an die Macht kom- „Pflasterstrand“ war …
ler Sozialdemokrat. Da fand ich, um ehr- men, weil sie leider das modernste Wirt- SPIEGEL: … Daniel Cohn-Bendits links-
lich zu sein, selbst Gabriel spannender. schaftsprogramm ihrer Zeit hatten, das al- alternativer Stadtzeitung, falls wir das an
Und Die Linke ist im Grunde linkskonser- lerdings einer Aufrüstungskampagne dien- dieser Stelle für die Post-68er unter unse-
vativ, eine Mischung aus Staatsgläubigkeit te und den Weg in den Krieg bereitete. ren Lesern anmerken dürfen.
und Bettelsuppen-Rhetorik. Dass jemand Die heutigen Rechtspopulisten hingegen Koenen: Wir haben gesagt, okay, wenn wir
für die Armen und Arbeitslosen streitet, bewirtschaften reine Ressentimens und ha- nur mit uns selber reden, verdummen wir
ist gut, aber die soziale Frage ist viel grö- ben kaum attraktive Wirtschafts- oder So- uns selbst. Aber es muss sich lohnen, sich
ßer, sie betrifft unsere ganze Gesellschaft. zialprogramme. Was werden die Arbeits- zu streiten. Wenn ein bedeutender Um-
SPIEGEL: Kann das politische Leben eines losen denn bei der AfD finden? Ich weiß welthistoriker wie Rolf Peter Sieferle in
Landes ganz ohne Gegnerschaft auskom- es nicht. Ich kann die AfD nicht ernst neh- seinen letzten Schriften in den Migratio-
men, ohne die Möglichkeit, Nein zu sagen? men, nicht mal als Gefahr. nen unseres Zeitalters den Tod unserer
Wer sich eine radikale Oppositionspartei SPIEGEL: Die AfD bedient die Sehnsucht Kultur heraufziehen sieht, kann ich mich
wünscht, hat bei dieser Bundestagswahl nach der Rückkehr in eine heile, über- damit auseinandersetzen – muss ich aber
scheinbar nur eine Option, die AfD. schaubare Welt. Ein Evergreen. auch nicht.
DIE STUDIENGÄNGE:
Das Duale Studium Wirtschaft & Management
an der FOM
• Banking & Finance (B.A.)
• Business Administration (B.A.)
• International Management (B.A.)
• Marketing & Digitale Medien (B.A.)
IT Management
• Wirtschaftsinformatik (B.Sc.)
• Wirtschaftsinformatik – Business Information
Systems (B.Sc.)
• Wirtschaftsinformatik – kommunal (B.Sc.)*
Ingenieurwesen
• Elektrotechnik (B.Eng.)**
• Elektrotechnik & Informationstechnik (B.Eng.)
• Maschinenbau (B.Eng.)**
• Mechatronik (B.Eng.)**
Unternehmer haben es schwer, geeigneten Nachwuchs zu • Wirtschaftsingenieurwesen (B.Sc.)
JETZT
EN!
finden. Die Lösung: das Duale Studium an der FOM. Dabei INFORMIER Gesundheit & Soziales
kombinieren Ihre AUSZUBILDENDEN, PRAKTIKANTEN,
es_Studium • Angewandte Pflegewissenschaft (B.A.)
TRAINEES oder VOLONTÄRE die Arbeit in Ihrem Unterneh- fom.de/Dual • Gesundheits- und Sozialmanagement (B.A.)
0800 6 97 97 97
men mit einem Bachelor-Studium. Damit bieten Sie ihnen • Gesundheitspsychologie & Medizinpädagogik (B.A.)
• Pflegemanagement (B.A.)
den besten Einstieg ins Berufsleben – und sichern sich gut • Soziale Arbeit (B.A.)
ausgebildete Fachkräfte für die Zukunft. * Kooperation mit der Landeshauptstadt München
** Kooperation mit der Hochschule Bochum
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Was Kinder gerne
Belletristik Sachbuch lesen und hören
1 (1) Elena Ferrante Die Geschichte 1 (1) Andreas Michalsen Heilen mit
der getrennten Wege Suhrkamp; 24 Euro der Kraft der Natur Insel; 19,95 Euro
6 (5) Elena Ferrante Meine geniale 6 (6) Eckart von Hirschhausen Wunder
Freundin Suhrkamp; 22 Euro wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro
ste n lo s
Ingo Schulze 14 (11) Heinrich August Winkler Zerbricht ko
12 (–)
dler!
Buchhän
Peter Holtz S. Fischer; 22 Euro
der Westen? C. H. Beck; 24,95 Euro
15 (11) Mariana Leky Was man von 17 (–) Thomas Middelhoff Die Bücherbox stellt jährlich
hier aus sehen kann DuMont; 20 Euro A115 – Der Sturz über 200 empfehlenswerte
LangenMüller; 24 Euro
16 (–) Viet Thanh Nguyen Kinder- und Jugendmedien-
Der Sympathisant Blessing; 24,99 Euro Die Selbstrechtfertigung Neuerscheinungen vor. Ob
des inhaftierten ehe-
© freedesignfile
20 (–) Perry Rhodan 20 (–) Peter Wohlleben Das geheime Im Vertrieb der Harenberg Kommunikation
Einsteins Tränen Pabel-Moewig; 19,95 Euro Netzwerk der Natur Ludwig; 19,99 Euro Verlags- und Medien GmbH & Co. KG
Königswall 21, 44137 Dortmund
DER SPIEGEL 38 / 2017 137
www.buchaktuell.de
Kultur
E
s gibt viele Gründe, Mick Jagger Kopfverletzung). Ich habe mir nur das
zu bewundern: seine Stimme, linke Knie verdreht, mehrere Bänder
seine Unterlippe, sein Rockstar- und Sehnen angerissen, dazu ein Stau-
Leben, seine Patchwork-Familie, acht chungstrauma im Gelenk. Ja, die Sto-
Kinder von fünf Frauen. Seinen jüngs- nes können noch laufen. Ich gerade
ten Sohn hat er während der vorletz- nur mit Krücken. Am Knie trage ich
ten Stones-Tour mit einer Balletttän- eine Hightech-Stütze, die aus einem
zerin gezeugt; das Kind, es heißt De- „Terminator“-Film stammen könnte.
veraux Octavian Basil Jagger, kam im Wer auf Krücken unterwegs ist,
Dezember 2016 zur Welt. Urgroßvater reist mit einer Zeitmaschine. Sie
ist Jagger übrigens auch schon. schickt einen erbarmungslos in die ei-
Ich bewundere Mick Jagger aber ge- gene Zukunft. Treppenstufen verwan-
rade vor allem für seinen Physio- deln sich in Klettersteige, im Bus bie-
therapeuten. Und für seinen Orthopä- tet mir eine ältere Dame ihren Sitz-
den, für seine Fitnesstrainer, ich habe platz an. Und eine Mitarbeiterin der
sogar eine gewisse Ehrfurcht vor jenen Konzertagentur schlägt am Telefon
Leuten, die ihn vor vier oder fünf Jahr- einen therapeutischen Tonfall an. Auf
zehnten mit Drogen versorgt haben. IBRAHIM OT / DDP IMAGES/IBRAHIM OT
Krücken zu den Stones? „Da brau-
Alle Menschen, die sich um Jaggers chen Sie ein Attest.“
Wohlergehen kümmern, einschließlich Denn heutzutage wollen nicht nur
Jagger selbst, müssen Vollprofis sein, fußlahme Fans zu Konzerten, sondern
die besten der Welt. möglicherweise auch Terroristen. Al-
Anders ist es nicht zu erklären, dass les, was als Waffe dienen könnte, darf
er beim Konzert im Hamburger Stadt- eigentlich nicht mit aufs Konzertge-
park zweieinhalb Stunden lang schein- lände. Also auch meine Krücken nicht.
bar mühelos über die Bühne tänzeln Stones-Sänger Jagger in Hamburg Mein Orthopäde hört lieber Deep
kann, laufen, springen und mit den Noch eine große Karriere vor sich? Purple. Aber auch für die Stones stellt
Hüften wackeln, das Singen nicht zu er mir ein Attest aus: „Der Patient
vergessen. Vom Hals abwärts wirkt er wie ein sehr junger muss das Konzert mit Unterarmgehstützen besuchen.“
Mann von, sagen wir, 43 Jahren. „My Goodness“, sagt Jag- Ich muss!
ger an diesem Abend immer wieder, als könne er es selbst Zwischen 82 000 Leuten bewegt man sich auf Krücken
kaum glauben. Jagger ist 74. besonders vorsichtig. Doch Stones-Fans sind sehr rück-
Der Autor dieses Textes ist 43 Jahre alt. So bewegen sichtsvolle Menschen. Ich bin auch nicht der Einzige, der
wie Mick Jagger konnte er sich allerdings noch nie. Im keine Hand freihat; etliche tragen in jeder Hand einen
Moment sogar weniger denn je. Literplastikbecher Bier.
Wer über die Stones spricht, erzählt immer auch von Als es dunkel ist, werfen die Stones ihre Zeitmaschine
sich selbst. Je älter sie und ihr Publikum werden, desto an. Wenn man die Augen schließt, glaubt man, junge,
weniger geht es dabei um Musik. Es geht um das eigene aber unfassbar professionelle Musiker zu hören, die viel
Älterwerden, um den Trost, dass die Stones noch immer Spaß haben und noch eine große Karriere vor sich. Sie
auftreten; um die Ahnung, dass jedes Konzert ihr letztes spielen die Klassiker, „Sympathy for the Devil“, „Gimme
sein könnte. Keith Richards, 73, ähnelt inzwischen Yoda, Shelter“, „Paint It Black“, einige Songs sind über 50 Jahre
dem weisen Hutzelzwerg aus den „Star Wars“-Filmen. alt. Aber an diesen Abend strahlen sie so viel Energie
„What a drag it is getting old“, sangen die Stones in aus, als wären sie gerade erst komponiert worden. Nur ei-
„Mother’s Little Helper“. Der Song ist von 1965. nen Song im Programm kennen auch viele Fans kaum:
Noch vor ein paar Wochen hatte „Dancing with Mr. D.“ von 1973, die
ich kein richtiges Konzert erwartet, Lesen Sie zum Thema Stones haben das Stück seit damals
sondern eher einen Besuch im auch das aktuelle Heft nicht mehr live gespielt. Mr. D., das
Naturkundemuseum: zum letzten Mal SPIEGEL BIOGRAFIE ist natürlich der Tod. „And one of the-
in die Dinosaurierabteilung. Als Kind The Rolling Stones se days“, singt Mick Jagger, „he’s gon-
hatte man sich dort gefürchtet, als Ju- Erhältlich am Kiosk, na set you free.“
gendlicher hat man sie ignoriert. Jetzt im Buchhandel oder im Mein kaputtes Bein wippt im Takt.
also ein ironisch-nostalgischer Blick SPIEGEL SHOP unter Es geht mir schon viel besser.
auf die Fossilien des Blues-Rock, ver- www.spiegel.de/shop Martin Wolf
Hammelehle (stellv.). Redaktion: Tobias 40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, Ulrike Preuß, Axel Rentsch, Thomas Riedel,
Becker, Lars-Olav Beier, Anke Dürr, Ulrike Fax 86679-11 Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, E-Mail: aboservice@spiegel.de
Knöfel, Katharina Stegelmann, Claudia Marko Scharlow, Mirjam Schlossarek,
FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario
Voigt, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Martin Hesse, An der Welle 5,
Georg Diez, Dr. Martin Doerry, Lothar Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla
60322 Frankfurt am Main, Tel. 069 9712680, Siegenthaler, Meike Stapf, Rainer Staud-
Gorris, Wolfgang Höbel, Dr. Nils Minkmar, Fax 97126820 Abonnementsbestellung
Volker Weidermann hammer, Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia
KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, Stodte, Rainer Szimm, Dr. Marc Theodor, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
GESELLSCHAF T Leitung: Matthias Geyer, Andrea Tholl, Nina Ulrich, Ursula
Özlem Gezer (stellv.), Guido Mingels
76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
Fax 9204449 Wamser, Peter Wetter, Holger Wilkop,
(stellv.). Redaktion: Maik Großekathöfer, Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller, oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
Barbara Hardinghaus, Maren Keller, M Ü N C H E N Anna Clauß, Dinah Deckstein, Malte Zeller
Dialika Neufeld, Claas Relotius, Jonathan Jan Friedmann, Rosental 10, Ich bestelle den SPIEGEL
Stock, Takis Würger. Autoren, Reporter: 80331 München, N AC H R I C H T E N D I E N ST E AFP, AP, dpa, ❏ für € 4,60 pro gedruckte Ausgabe
Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Jochen-Martin Tel. 089 4545950, Fax 45459525 Los Angeles Times / Washington Post, ❏ für € 4,10 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
Gutsch (frei), Alexander Osang, Cordt New York Times, Reuters, sid
Schnibben, Alexander Smoltczyk, Barbara REDA KT IONSVERT RE TUNGEN AUSL AND E-Paper beträgt € 3,60)
Supp BA N G A LO R E Laura Höflinger, 811, SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN ❏ für € 0,50 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper
10th A Main Road, Suite No. 114, 1st Floor, GMBH & CO. KG
S P O RT Leitung: Udo Ludwig. Redaktion: Bangalore – 560 038 beträgt € 0,49) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe. Der Bezug
Gerhard Pfeil, Tim Röhn, Christoph Win- Verantwortlich für Anzeigen: ist zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar. Alle Preise inkl.
terbach BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, André Pätzold
02138 Cambridge, Massachusetts, MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur in Deutschland. Bitte
INVEST IGATIVREPORTER Rafael Busch- Tel. +1 857 9197115
mann, Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch,
Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 71 vom liefern Sie den SPIEGEL an:
BRÜSSEL Peter Müller, 1. Januar 2017
Jörg Schmitt (Investigativreporter@spie-
rue Le Titien 28, 1000 Brüssel, Mediaunterlagen und Tarife:
gel.de). Koordination SPIEGEL ONLINE:
Tel. +32 2 2306108, Fax 2311436 www.spiegel.media
Jörg Diehl, Koordination SPIEGEL TV: Ro-
man Lehberger Name, Vorname des neuen Abonnenten
ISTANBUL Maximilian Popp, Verantwortlich für Vertrieb:
SONDERTHEMEN Leitung: Dr. Susanne Tel. +90 5413971567 Stefan Buhr
Weingarten, Dr. Eva-Maria Schnurr
(stellv.); Redaktion: Annette Bruhns, Mar- K A P STA DT Bartholomäus Grill, Verantwortlich für Herstellung: Straße, Hausnummer oder Postfach
kus Deggerich, Uwe Klußmann, Joachim P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, Silke Kassuba
Mohr, Bettina Musall, Dr. Johannes Saltz- Tel. +27 21 4261191
wedel Autorin: Marianne Wellershoff KIEW Luteranska wul. 3, kw. 63, Druck: PLZ, Ort
01001 Kiew, Tel. +38 050 3839135 Stark Druck,
KOORDINATION MEINUNG Markus Felden-
Pforzheim
kirchen, Christiane Hoffmann LON DON Jörg Schindler, 26 Hanbury
S P I EG E L P LU S Alexander Neubacher Street, London E1 6QR, E-Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
Tel. +44 203 4180610, Fax +44 207 0929055 VERL AGSLEITUNG Jesper Doub,
DEIN SPIEGEL Leitung: Detlef Hacke, Dr. Michael Plasse
Bettina Stiebel; Redaktion: Antonia Bauer, MADRID Apartado Postal Número 100 64, Ich zahle nach Erhalt der Rechnung.
Claudia Beckschebe, Alexandra Schulz 28080 Madrid, Tel. +34 650652889 G E S C H Ä F TS F Ü H RUN G Thomas Hass
Hinweise zu den AGB und meinem Widerrufsrecht finde ich
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel unter www.spiegel.de/agb
INTERNE T www.spiegel.de DER SPIEGEL (USPS no 0154520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Known
REDA KT IONSBLOG spiegel.de/spiegelblog Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten SP17-003, SD17-006
Office of Publication: German Language Publications Inc, 153 S Dean St, Englewood NJ SD17-008 (Upgrade)
TWIT TER @derspiegel 07631, 1-855-457-6397. Periodicals postage is paid at Paramus NJ 07652. Postmaster:
FACEBOOK facebook.com/derspiegel Send address changes to: DER SPIEGEL, GLP, PO Box 9868, Englewood NJ 07631.
ULLSTEIN BILD
Paris. Er wollte Journalist werden, mit 19 gründete er seine gen Louis Dupree. Das Liebes-
erste Zeitschrift. Er verkehrte mit Albert Camus, Jean paar sorgte für einen Skandal;
Anouilh, Jean-Paul Sartre; später lernte er in dem Mode- beide ließen sich scheiden,
schöpfer Yves Saint Laurent die Liebe seines Lebens ken- heirateten einander – und wa-
nen. Bergé investierte in die schönen Dinge des Lebens 1955, den unbekannten iri- ren für den Rest ihres Lebens
und in alles, was ihm wichtig war. Der Vorkämpfer für die schen Autor Samuel Beckett sehr glücklich. Nach dem
Homo-Ehe finanzierte mehrere Magazine und unterstützte auf die Bühne zu bringen, Staatsstreich 1978 flohen sie
in den Achtzigerjahren seinen Freund François Mitterrand „Warten auf Godot“ feierte wie auch viele Afghanen ins
im Wahlkampf; der Präsident zeigte sich später erkenntlich, seine englischsprachige pakistanische Peschawar. Ge-
indem er Bergé zum Direktor der Opéra Bastille berief. Erstaufführung. Mit 29 Jah- meinsam begannen sie, Doku-
Bergés finanzielles Engagement in gesellschaftlich und kul- ren gründete Hall die Royal mente zu sammeln, die ande-
turell bedeutsame Projekte war immens; er förderte das Shakespeare Company, ren eher wertlos erschienen:
Centre Pompidou und rettete die Tageszeitung „Le Monde“ 15 Jahre lang war er Intendant Flugblätter der Mudschahidin,
vor der Insolvenz. Bergé und der junge, wilde Modede- des National Theatre und ne- später Verlautbarungen der
signer Yves Saint Laurent wurden 1958 ein Liebespaar. benbei inszenierte er noch Taliban, vor allem unzählige
Bergé hatte Saint Laurents Genialität sofort erkannt, und Opern und Filme. Ein Zampa-
ihm ist es zu verdanken, dass das Modehaus Yves Saint no mit Feinsinn. Sir Peter
Laurent zu einem der bedeutendsten des 20. Jahrhunderts Hall starb am 11. September
wurde. Bergé gab auch Geld, vor allem aber gab er dem in London. ks
labilen, hypersensiblen Saint Laurent Halt. Ihre Beziehung
MASSOUD HOSSAINI / AP
war innig und turbulent, sie dauerte fünf Jahrzehnte. Zeit EDITH WINDSOR, 88
seines Lebens war er ein überzeugter und überzeugender Sie sei von kleiner Statur ge-
Linksliberaler, obwohl er gleichzeitig ein Vertreter der wesen, aber sie habe für Ame-
High Society war. Dabei blieb ihm die Hysterie der Mode- rika so viel bewegt wie nur
branche immer fremd: „Ich bin in diese Welt der Mode nur wenige, schrieb Barack Oba-
wegen der Liebe geraten“, sagte er 2014 in einem SPIEGEL- ma über die Aktivistin, die in
Gespräch. Auf die Frage, ob Yves Saint Laurent ihm fehle, ihren letzten Lebensjahren Fotos. Sie wollten verhindern,
antwortete er: „Jeden Tag.“ Die Erinnerung an ihn wird zur zentralen Figur im Kampf dass die Erinnerung an die
bleiben, denn Bergé hat dafür gesorgt, dass im Oktober für gleiche Rechte von Lesben tragische jüngste Geschichte
gleich zwei Museen zu Ehren seines verstorbenen Geliebten und Schwulen in den USA Afghanistans verloren geht,
eröffnet werden, in Paris und in Marrakesch. Pierre Bergé geworden war. Am Anfang und archivierten alles in der
starb am 8. September in seinem Haus in der Provence. ks stand 2009 eine Erbschaftsteu- Agency Coordinating Body
erforderung der US-Behörden for Afghan Relief in Pescha-
an Windsor nach dem Tod war. Nancy Dupree organisier-
STEFAN KOLLE, 55 ihrer jahrzehntelangen Partne- te 2005 den abenteuerlichen
In einer Welt von Werbetrompetern, die wie ihre eigene rin, mit der sie nach kanadi- Transport ihrer Sammlung mit
PowerPoint-Präsentation klingen, war er eher ein Typ von schem Recht verheiratet war. 80 000 Exponaten in 300 Sä-
nachdenklicher Bescheidenheit – und dabei einer der Die ehemalige Softwareent- cken nach Kabul. Die Sinolo-
Erfolgreichsten. Kolle gründete 1994 mit einem WG-Mit- gin erstritt einen würdigen
bewohner aus Studentenzeiten die Werbeagentur Kolle Platz für ihre Sammlung: das
Rebbe, eine der kreativsten der Republik. Die Hamburger heutige Afghanistan-Zentrum
JAMES ESTRIN / NYT / REDUX / LAIF
schufen Kampagnen für TUI, Bionade, Otto, Google in der Universität Kabul.
oder Netflix. Zur Fußballweltmeisterschaft 2014 ließ Kolle Keine andere Amerikanerin
eine Boeing 747-8 des Agenturkunden Lufthansa mit machte sich so verdient um
dem Schriftzug „Siegerflieger“ bekleben – in der Maschine das seit über vier Jahrzehnten
kamen die Weltmeister nach Berlin. Stefan Kolle starb von Kriegen erschütterte
überraschend in der Nacht auf den 13. September auf der Land. Nancy Dupree starb am
Insel Ibiza. mum 10. September in Kabul. suk
DER SPIEGEL 38 / 2017 141
Rache von
Mutter Erde?
Die amerikanische Schauspie-
lerin Jennifer Lawrence, 27, in-
terpretiert die beiden Hurri-
kane „Harvey“ und „Irma“
als „Ausdruck von Mutter Er-
des Wut und Zorn“. Das sag-
te der Hollywoodstar im briti-
schen Fernsehen während ei-
nes Interviews zu seinem
neuen Film „Mother!“, einem
Psychothriller von Darren
Aronofsky. Die desaströsen
Unwetter in der Karibik und
in Florida sind für Lawrence
eine Bestätigung ihrer
schlimmsten Befürchtungen:
Vor etwas mehr als einem
Jahr hatte sie „das Ende der
Welt“ prophezeit, sollte
Trump Präsident der Vereinig-
ten Staaten werden. Die an-
dauernde Leugnung des Kli-
mawandels und aller wissen-
schaftlichen Erkenntnisse
dazu sei „Furcht einflößend“,
sagte Lawrence, zumal man
nichts machen könne, außer
auf die nächste Wahl zu war-
ten. Furcht einflößend sei
auch die gesamte politische
Ein Sieg der Demokratie Kaum erstaunlich, dass eine Bevölkerung Bärenstark
einen Zuwachs von rund einer Million Mi-
Nr. 37/2017 Alles wird Wut! Die Berliner Ruhe trügt – granten – das entspricht einer Größenord- Nr. 36/2017 Was passiert in einer Familie,
in Deutschland brodelt es wenn der Vater mit Anfang vierzig an
nung von etwa zweimal Nürnberg – nicht
einer seltenen Form von Alzheimer erkrankt?
Die beharrlich hohen Umfragewerte der ohne Weiteres hinnehmen will. Diesen
AfD, mit eher steigender Tendenz, erfor- Standpunkt als fremdenfeindlich zu be- Mit dieser eindringlichen und berührenden
dern nicht nur ein Umdenken, sondern wo- zeichnen und die so denkenden Menschen Reportage haben Sie für mich der Krank-
möglich ganz andere Strategien im Um- als rassistisch abzutun, empfinde ich als heit Alzheimer ein Gesicht gegeben und
gang mit dieser dann demokratisch gewähl- diskriminierend. gezeigt, wie viel Kraft, Einsamkeit, Trauer
ten Partei. Nicht auszuschließen, dass in Margarete Hürzeler, Stein (Bayern) und innere Stärke den Betroffenen und
naher Zukunft mehr als 60 Abgeordnete Angehörigen abverlangt werden, um da-
der AfD den Bundestag bevölkern werden. Wie Jan Fleischhauer vor einiger Zeit in mit leben zu können. Es ist bewunderns-
Wie soll man die komplett ausgrenzen, zu- seiner Kolumne schrieb: Im Bundestag sit- wert, dass diese Familie es trotz aller
mal, wie Sie schreiben, „die Politiker fest- zen zurzeit vier mehr oder weniger linke Tragik geschafft hat, einen friedlichen
stellen werden, dass die AfD-Welt nicht Parteien, weil Merkels CDU ja unbestritten Abschluss dieser extrem schwierigen Le-
nur schwarz und weiß ist“? Eine Demo- SPD-Politik betreibt. Da kann es doch bensphase zu finden, und bereit ist, sich
kratie wird damit fertig. Seien Sie unbe- nicht so schlimm sein, wenn neben all den für Neues zu öffnen.
sorgt! Astrid Lauer-Krass, Trier
Dr. Christian Clausen, Wuppertal
Barbara Hardinghaus versteht es meister-
Politiker – und Medien – haben zu dieser haft, den steinigen Weg des Erkrankten
Beide Seiten kennen treuungszeitaufwand frei. Hinterher ist das Selbst die „Weiter so“-Fraktion in unse-
plötzlich nicht mehr angesagt, und „Mann“ rem Land muss doch endlich aufwachen,
Nr. 36/2017 Nach einer Trennung sind viele Väter fühlt sich diskriminiert. Das Wechselmo- wenn sie diesen Text liest. Ein großer Teil
hilflos, sie müssen für ihre Kinder zahlen, haben aber
dell dient in sehr vielen Fällen keinesfalls des Ackerlands in Deutschland befindet
geringe Chancen auf gleichberechtigte Betreuung
dem Kindeswohl. Wie soll sich ein Paar sich in privater Hand und ist an die kon-
Das von Ihnen unterschwellig gepriesene ausgerechnet nach einer Scheidung auf ventionelle Landwirtschaft verpachtet.
Wechselmodell nimmt Kindern den einen eine gerechtere Arbeitsteilung einigen? Kann man nicht bereits die Verpachtung
Lebensmittelpunkt und den so wichtigen Jennifer Schlegel, Mannheim in Richtung der Ökolandwirtschaft unter-
Freundeskreis. Wirklich dazu gehört kein
Kind, das nur jede zweite Woche dabei Der größte Parasit der Erde
sein kann. Nichtakademiker können Kin-
derzimmer in beiden Wohnungen kaum Nr. 36/2017 Deutschland leidet unter einem dramati-
schen Artenschwund – schuld daran sind die Bauern
stemmen. Die Teilung der anfallenden
Kosten in der Praxis birgt zusätzliches Ein Rückgang der Insekten-Biomasse von
Streitpotenzial. Vielleicht sollten die Re- bis zu 80 Prozent in den letzten 20 bis 25
nahezu gleichem Ertrag auch noch 500 nieren und nicht mehr die konventionelle.
Euro pro Hektar einspart: Er pflügt nicht, Mit flächendeckender Biolandwirtschaft
sät direkt in einen permanenten Pflanzen- werden unsere Lebensmittel gesünder und
bewuchs, der gegen Austrocknung und Ab- Wasser und Boden weniger beeinträchtigt.
schwemmung schützt und dem Boden Wolfgang Maucksch, Herrieden (Bayern)
Struktur verleiht.
Martin Müller, Dipl.-Agrarbiologe, Filderstadt (Bad.-Württ.) Ich möchte so gern optimistisch bleiben,
doch denke ich ganz ehrlich, dass die Na-
Was mir fehlt, ist, die Verantwortlichen zu tur erst wieder Ruhe finden wird und alles
nennen. In Deutschland ist das insbeson- erst dann wieder gut wird, wenn der größ-
wissen das Handeln des anderen wertzu- dere der ehemalige Landwirtschaftsminis- te Parasit diese Erde wieder verlassen hat:
schätzen, sodass eine für alle Beteiligten ter Horst Seehofer, der mit seiner Subven- der Mensch. Was wir dieser Erde antun,
vernünftige Regelung zustande kommt. tionspolitik nicht nur massenweise bäuer- ist einfach eine Schande.
Anne Oster, Fachanwältin für Familienrecht, Hildesheim liche Betriebe zerstört hat zugunsten der Katja Wasserthal, München
Großbetriebe, sondern das auch noch auf
Meist stehen Frauen nach einer Trennung Kosten der Gesundheit der Bevölkerung – Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
mit Job und Kindern allein da und rennen Stichwort Gülle, vergiftete Böden und ver- (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
jedem Cent Unterhalt hinterher. Vor der giftetes Grundwasser. sowie digital zu veröffentlichen und unter
Trennung kauft „Mann“ sich gern vom Be- Jochen Richter, Karlsruhe www.spiegel.de zu archivieren.
Zitate
Die „Bild am Sonntag“ zum SPIEGEL-
Aus dem „Pinneberger Tageblatt“ Gespräch „Fußball ist Kapitalismus pur“
mit dem Fußballer Robert Lewandowski
von Bayern München (Nr. 37/2017):
Aus einem Bericht auf Gmx.de: „... an-
ders als in Deutschland sind in den USA
die Leitungen meist überirdisch verlegt.“
NEU Feuer unterm Bayern-Dach. Angefacht
durch Robert Lewandowski mit einem
Jetzt im brisanten SPIEGEL-Interview. Tenor: Der
Handel FC Bayern müsse mehr in teure Topstars
Aus der „Schwäbischen Post“: „Grün ist investieren und nicht nur 40-Mio-
der rote Faden, der die Räume verbindet.“ Schnäppchen einkaufen, um mit den
Großen mitzuhalten. Fußball sei Kapita-
lismus pur, Emotionen und Loyalität
ziemlich romantischer Unsinn. O-Ton:
„Wenn ein Spieler wirklich wechseln will,
kann er das auch in der Regel durchset-
Aus dem „Weser Report“ zen.“ Das sind ja mal Ansagen! Lewan-
dowski hat sie am Arbeitgeber vorbei in
die Öffentlichkeit gebracht. Das Inter-
Aus dem SPIEGEL: „Schulz hat die view wurde nicht, wie sonst vorgeschrie-
SPD nie nur als Vehikel für ben, von der Medienabteilung gelesen
seinen Aufstieg gesehen, so wie und entschärft. Deshalb ist das Interview
Schröder und Merkel.“ bla-bla-frei und meinungsstark. Dafür
ein Kompliment!