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Hausmitteilung
Betr.: 70 Jahre SPIEGEL
ür Willy Brandt war es ein „Scheißblatt“; SPIEGEL-Journalisten, sagte Helmut Qualität mit
F Schmidt, seien „Geschmeiß“. Helmut Kohl, Schmidts Nachfolger, befand:
„Schad’ fürs Geld“ – uns hat das nie gestört, im Gegenteil. Seit Rudolf Augstein
im Januar 1947 die erste Ausgabe des Nachrichten-Magazins DER SPIEGEL he-
dem feinen
rausbrachte, gilt: Allein seinen Lesern ist der SPIEGEL verpflichtet, er kuscht
vor keiner Autorität, er kritisiert auch jene, die er zu seinen Freunden zählt.
Weil der SPIEGEL am 4. Januar einen runden Geburtstag feiert, ist dies ein
Unterschied.
besonderes Heft geworden. Die Redaktion schaut zurück und blickt nach vorn,
feiert (ein bisschen) sich selbst – und macht ansonsten, was sie immer gemacht
hat: recherchieren und Immer einen Schritt voraus, immer
einordnen, gewichten
eine Idee mehr Persönlichkeit. Wir
und prüfen, analysieren,
aufdecken und beschrei-
gratulieren dem SPIEGEL zu 70 Jahren
ben. In einer Zeit, die Qualität auf höchstem Niveau.
von Fake News, Ver-
schwörungstheoretikern Ikonen made in Germany
und Vereinfachern ge-
prägt wird, vielleicht
nicht die schlechteste
ILONA HABBEN / DER SPIEGEL
10 Titelbild: Fotos: W. Steche / Visum, Bonn-Sequenz, J. Giribas / SZ-Foto, S. Rheker / Attenzione, W. Randerath / Face to face
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In diesem Heft
70 SPIEGEL-Jahre
28 besonders erfolgreich junge Kämpfer
Portugal Premier António Costa
über das Ende der Austeritätspolitik
84
hier:
Leitartikel Die Aufgabe des SPIEGEL – und Populismus in Europa 88
damals wie heute 12 Essay Warum sich Fluchtursachen
40er-Jahre Nation – zweimal Deutschland nur langfristig in den
und zurück 30 Herkunftsländern bekämpfen lassen 90
50er-Jahre Kalter Krieg – das Ringen
zwischen Ost und West 62 Wissenschaft
60er-Jahre Utopien – was von den Australiens frühe Höhlenmaler / Wie sinnvoll
Träumen übrig blieb 76 sind Magenverkleinerungen? / Glosse:
70er-Jahre Terror – von der RAF zum Unfrohe Botschaften aus der Forschung 98
„Islamischen Staat“ 92 Kulinarik Warum der Mensch der
80er-Jahre Umwelt – Deutschland wird perfekte Feinschmecker ist – wie geschaffen
grün 104 für den Genuss von Wein und Sekt 100
90er-Jahre Bunte Republik – ersehnt Astronomie Planetenjäger wollen nach
und verhasst 128 leuchtenden Außerirdischen suchen 103
00er-Jahre Digitales Leben – die Welt
der schlauen Dinge 144
Kultur
10er-Jahre Idole – Heldendämmerung
im Sport 156 Erotikdrama „Die Taschendiebin“ /
Personalien DER SPIEGEL im Film 166 Die Wissenschaft vom Glück / Kolumne:
Briefe Zuschriften aus 70 Jahren 168 Zur Zeit 112
DER SPIEGEL in Zahlen 172 Lebensart SPIEGEL-Gespräch mit
DER SPIEGEL im Hohlspiegel 174 Wolfgang Schäuble über
seine Leidenschaft für Musik 114
Rückspiegel Eine Auslese 174
Literatur Martin Walsers neuer Roman
„Statt etwas oder Der letzte Rank“ 120
Deutschland Essay Von David Bowie bis Mein Schiff ®
Meinung Kolumne: Im Zweifel links / George Michael: Die Popgeneration
So gesehen: Donald Trumps Fackelzug nimmt Abschied 124
Himmel & Meer Suite
durch Washington 14 Serienkritik In „Designated Survivor“
Martin Schulz wird wohl nicht wird ein Tölpel US-Präsident 126
SPD-Kanzlerkandidat / CSU gegen
Cybermobbing / Ab Neujahr Wirtschaft
gelten Tausende Flüchtlinge als volljährig 38
Terror Zahllose Behörden befassten Deutsche Dieselkäufer klagen gegen VW /
sich mit den Straftaten und dem Islamismus Die Deutsche Bank scheitert
von Anis Amri – warum haben vorerst bei digitaler Geldanlage 134
sie seinen Anschlag nicht verhindert? 40 Freihandel Die Exportwirtschaft
Europa Österreichs Außenminister Sebastian leidet unter neuen Handelshemmnissen 136
Kurz kritisiert Merkels Flüchtlingspolitik 46 Karrieren Der zweimal gescheiterte Entdecken Sie den Unterschied:
SPD Die neue Liebe der Genossen für US-Unternehmer James Altucher über Nur Mein Schiff ® hat
Altkanzler Gerhard Schröder 48 Glück und Besitz 140
Lebenslüge In welchem Milieu sich die Autoindustrie Ein Deutscher und Premium Alles Inklusive an Bord.
Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete ein Chinese lassen den Erfahren Sie mehr in Ihrem Reise-
Petra Hinz zu Unrecht jahrzehntelang Borgward wiederauferstehen 142 büro, auf www.tuicruises.com oder
als Juristin ausgeben konnte 52
Karrieren Schleswig-Holsteins Umweltminister Sport unter +49 40 600 01-5111.
Robert Habeck versucht mit einer Sportler auf dem SPIEGEL -Titel /
Kampagne, Spitzenkandidat der Grünen für Magische Momente: Rennfahrer Willi Kauhsen
die Bundestagswahl zu werden 58 über seine Nürburgringtour mit
Gewalt Die Geschichte eines 15-jährigen Bundespräsident Gustav Heinemann
Flüchtlings, der mit Freunden als Beifahrer 151
einen Obdachlosen in Berlin angezündet Handball Nationalspieler Andreas Wolff
haben soll 60
über Selbstgespräche und
seine Schmerzen als Torhüter 152
Gesellschaft
Früher war alles schlechter: Vom Umgang Bestseller 118
des Menschen mit anderen Tieren /
Impressum, Leserservice 164
Was halten syrische Flüchtlinge von
Silvesterböllern? 68 Nachrufe 165
Ein Facebook-Post und seine Geschichte
Ein Pfarrer wird blutig geschlagen – und
vergibt dem Täter digital 69 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ
Leitartikel
SPIEGEL-Zeiten
Augsteins Auftrag, unser Erbe: Worum es damals ging, worum es heute geht
E
s ging, damals, um alles: die Freiheit, die Aufklärung, Es geht heute um Freiheit, Aufklärung, Demokratie, es
die Demokratie. Drei britische Offiziere hatten in geht wieder oder noch immer um alles. In den USA hat
Hannover die Idee gehabt, den besiegten Deutschen sich Donald Trump über Behinderte und über Eltern, de-
aus erzieherischen Gründen ein „News Magazine“ vorzu- ren Sohn im Krieg gefallen war, lustig gemacht; er hat
setzen. Was denn das sei, fragte Rudolf Augstein, 23. Eben Muslime, Mexikaner und eigentlich alle Minderheiten des
ein Nachrichten-Magazin, sagten sie und zeigten Augstein Landes diffamiert und bedroht. Trump hat sich am Telefon
die britische „News Review“: Nachrichten, lesbar gemacht als sein eigener Pressesprecher ausgegeben und Journa-
durch Handlung und so redigiert, als wären alle Texte von listen von Trumps Affären mit Carla Bruni und anderen
ein und demselben Erzähler verfasst. „Und unter beson- schönen Frauen erzählt, was Lügen waren. Trumps Stif-
derer Betonung des Persönlichen: Alter, Schlips, Haarfar- tung hat eine Staatsanwältin in Florida, die ein Betrugs-
be“, so erinnerte sich Rudolf Augstein später, „so fingen verfahren gegen seine Trump University einleiten wollte,
wir an, so wurden wir angefangen.“ mit einer Spende von über 25 000 Dollar beglückt, und
Die Zeitschrift DIESE WOCHE erschien Ende 1946 fünf- die Staatsanwältin eröffnete kein Verfahren. Donald
mal und nahm ihren Auftrag ernst. Deutschland sollte ein Trump gewann die Wahl trotz allem, denn er hat 18 Mil-
anderes Land werden, ein be- lionen Follower auf Twitter und
freites, waches, demokratisier- 17 Millionen auf Facebook.
tes; und Augstein und seine Dort erzeugt Trump seine ei-
Kollegen schrieben über alles, gene Wirklichkeit und unter-
auch die miserable Versorgungs- stellt denen, die ihn seiner Lü-
lage. Die Briten wollten diese gen überführen, dass sie Lügner
allzu obrigkeitskritische Wo- seien. Er ist Vorbild für viele.
chenschrift bald nicht mehr he- Längst nennen Lügner eine
rausgeben und boten Augstein Presse, die Wahrheiten sucht,
die Lizenz an. Der fragte seinen „Lügenpresse“. Die Türkei lässt
Vater Friedrich, einen Fotokauf- Journalisten verhaften. Und die
mann, wie das Blatt heißen solle. Verfasser von Fake News,
„Das Echo“? „Der Spiegel“? Falschmeldungen, bezeichnen
„Der Spiegel“, sagte der Alte. Nachrichten, die ihnen nicht
„Für unsere kleine Truppe“, passen, exakt so: „Fake News!“
so Augstein, „galt der Satz: ,Wir Postfaktisch wird die Gegen-
wollen das schreiben, was wir, wart genannt, da für viele Men-
hätten wir dieses Blatt nicht, an- schen Lügen so unterhaltsam
INTERFOTO / DER SPIEGEL
derswo lesen wollten.‘ Bei uns und bald so wahr sind wie die
allen stand die politische Über- Wahrheit. Wenn Algorithmen
zeugung im Vordergrund. Sie fä- zu Chefredakteuren werden,
cherte sich im Laufe der Jahre Verhafteter Augstein 1963 werden Menschen, die rassisti-
naturnotwendig auf. Eisern aber sche Texte lesen wollen, mit ras-
blieb der Grundsatz, vor keiner sistischen Texten beliefert. So
Autorität, nicht einmal vor einer befreundeten, zu ku- wird die Welt endlich logisch und der Rassist endlich mäch-
schen.“ Am 4. Januar 1947 erschien die Nummer 1. tig. Platon schrieb: „Wenn einer demokratischen, nach
70 Jahre, das sind 3650 SPIEGEL-Ausgaben, und darin Freiheit durstigen Stadt schlechte Mundschenken vorste-
standen 378 000 Artikel, die von rund 2000 Redakteuren hen und sie sich über die Gebühr in ihrem starken Wein
verfasst, von rund 500 Dokumentaren verifiziert und von berauscht: so wird sie ihre Obrigkeiten … zur Strafe zie-
27 Chefredakteuren verantwortet wurden. 70 Jahre: Ade- hen, indem sie ihnen Schuld gibt, bösartig und oligarchisch
nauer; die Kennedys; Armstrong und Aldrin auf dem zu sein.“ Die besten Philosophen sind gute Propheten.
Mond; die Schüsse auf Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke; Wichtige Zeiten für den SPIEGEL sind dies, Zeiten
Ulrike Meinhof und die RAF; Tschernobyl; Brandt, Schmidt, nämlich, die Medien wie den SPIEGEL brauchen. Lügner
Kohl; Schabowskis Zettel; Mohammed Atta; Lehman müssen Lügner genannt werden. Rassisten sind zu entlar-
Brothers; Fukushima; das Klima; Flucht und Migration. ven als das, was sie sind. Auch Facebook und Twitter sind
70 Jahre, das sind die Affären der Bundesrepublik: „Bedingt zu beschreiben: als manipulative Medienkonzerne, die
abwehrbereit“ und der Fall Strauß; Flick; Neue Heimat; Verantwortung tragen für das, was sie verbreiten.
Barschel; die Parteispenden; WikiLeaks und die Botschafts- All das sollten wir nicht unterschätzen. Unsere Art zu
depeschen; Edward Snowden, die NSA und das abgehörte leben, die Pressefreiheit, viele andere Freiheiten und die
Telefon der Kanzlerin; Franz Beckenbauer und das zerstörte Demokratien des Westens stehen auf dem Spiel.
Sommermärchen; zuletzt Football Leaks. Klaus Brinkbäumer
ALLES GT ZUM
GEBURTSTAG!
Die Adam Opel AG und der neue GT Concept
gratulieren dem Spiegel zum 70. Jubiläum.
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DIE GROSSE
EROSION
Aufklärung Der 70. Geburtstag des SPIEGEL fällt in eine kritische Zeit.
Weltweit mischen Populisten die Politik auf, Wutbürger randalieren
gegen die Eliten, im Internet blühen die asozialen Medien. Kann es sein,
dass eine Revolution bevorsteht? Von Ullrich Fichtner
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Behauptet wird, dass die Süddeutsche Zei- oder nur einen Ausschnitt? Höre ich die Medien fehlt hier und da die Frische, um
tung, die Frankfurter Allgemeine, die taz, ganze Wahrheit – oder höchstens die hal- neue Problemlagen, die sich vielleicht erst
die Stuttgarter Nachrichten, der Bonner be? Welche Interessen haben meine Ge- verstreut und im Kleinen zeigen, sogleich
General-Anzeiger, die Frankfurter Rund- sprächspartner? Welche Interessen habe zu erkennen und aufzugreifen. Das ärgert
schau, die Märkische Oderzeitung, die ich selbst? Ist die Geschichte interessant? die Bürger. Es ärgert die Leser und die Zu-
Nürnberger Nachrichten, die Frankenpost, Ist sie relevant? Stimmt sie wirklich? schauer, und zwar zu Recht.
DER SPIEGEL 1 / 2017 19
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Wer gerade, sagen wir, eine verstörte Diese Liste ließe sich fortsetzen, auch men, wie jeder journalistische Profi weiß,
Tochter vor sich sitzen hat, die im Freibad, mit Beispielen, die über das Erleben im All- dass es sich nicht nur die Politik, sondern
im Kino oder im Bus schon wieder von tag zwar weit hinausgehen, unser Lebens- manchmal auch eine Redaktion im publi-
den nordafrikanischen Jungs aus dem Heim gefühl aber trotzdem entscheidend mit- zistischen Tagesgeschäft ein bisschen zu
angemacht worden ist, der braucht keine prägen. Wer sich zum Beispiel Sorgen über leicht macht, dass Leitartikel zu schnell
Belehrungen darüber, dass man nicht alle die Kosten diverser europäischer Rettungs- hingeschrieben werden, Alltagsprobleme
Fremden über einen Kamm scheren dürfe, programme macht, will sich nicht abspeisen manchmal nicht energisch genug recher-
weil er das bestenfalls längst weiß, aber lassen mit Sprüchen darüber, dass Europa chiert und lokale Kleinigkeiten pauschal
vor allem weil das gerade gar nicht sein seit dem Krieg der Garant des Weltfriedens als unwesentlich abgetan werden.
Problem ist. Wer sich darüber beklagt, dass sei. Wer sich darüber empört, dass Banken Das ist so, es ist aber nur die eine Seite,
das Volleyballtraining nun schon seit vier und Börsen mit staatlichen Milliarden am und die andere geht so: In die – berechtigte
Monaten ausfällt, weil die Halle für Flücht- Laufen gehalten werden, steht nicht auto- – Klage darüber, dass „berechtigte Sorgen“
linge genutzt und Ersatz nicht zu finden matisch im Lager der Populisten. Und wer liegen bleiben, mischt sich in Zeiten des
ist, ist nicht zwangsläufig ein Rassist, son- Monat für Monat jeden Cent zweimal um- AfD-Aufstiegs und aufgrund der im Netz
dern zunächst nur ein Mensch, der sich da- drehen muss, um über die Runden zu kom- zu bemängelnden ideologischen Enthem-
rüber ärgert, dass er nicht Volleyball spie- men, auf den mag so manches Berliner mung, was man die „völlig unberechtigten
len kann. Eltern, denen unbehaglich zumu- Statement über den alternativlosen Spar- Sorgen“ der Bürger nennen könnte. Wer
te wird, wenn in der Schulklasse zur Hälfte kurs der Bundesregierung samt „schwarzer etwa glaubt, es gebe einen muslimischen
Migrantenkinder sitzen, die kein Deutsch Null“ regelrecht höhnisch wirken. Geheimplan, Deutschland umzukrempeln,
können, wollen von der Politik nicht mit Den Medien wird vorgeworfen, solche hat die Grenze zwischen berechtigter Sorge
Sonntagsreden auf die allgemeine Mensch- Gefühle, die zugehörigen Probleme und und unbegründeter Angst weit überschrit-
lichkeit beschallt werden, sondern sie wol- den berechtigten Ärger über die ganze pau- ten und muss deshalb, auch vonseiten der
len praktische Vorschläge zur Lösung des schale Wir-schaffen-das-Politik nicht aus- Medien, mit scharfem Widerspruch rech-
Problems. Und wer sich fragt, ob genug ge- reichend abzubilden, und es fällt keinem nen. Wer meint, obwohl dies seit Jahrzehn-
tan wird, um weitere Terroranschläge zu Redakteur in Deutschland ein Zacken aus ten jede seriöse Statistik widerlegt, dass
verhindern, muss nicht als Scharfmacher der Krone, die Berechtigung solcher Vor- Ausländer irgendwie doch krimineller seien
verdächtigt werden. würfe einzugestehen. Es soll ja vorkom- als Deutsche oder dass sie den Einheimi-
GROSSAR
Verhaftung von SPIEGEL-Herausgeber Augstein 1962: Missstände thematisieren – das ist der Job
schen „die Arbeitsplätze wegnehmen“, der dalisierung in Gang gekommen, die vielen fentlichen, trete ein „permanentes, oft
folgt Parolen ohne Wahrheitsgehalt und hat Mediennutzern heute schlechte Laune sorglos betriebenes ‚Gateblowing‘“, eine
als Bürger und Wähler die Pflicht, sich bes- macht bis hin zum Verdruss. mediengetriebene Welt, in der jeder und
ser zu informieren. Wer den verblasenen Aus jedem Sturm im Wasserglas wird jede mit einem Videofilmchen, einem Pro-
Sprüchen folgt, wie jetzt wieder nach dem ständig ein globaler Shitstorm, egal ob hier mi-Schnappschuss, einer SMS oder einem
Weihnachtsmarktattentat von Berlin, die mal ein BH verrutscht, da ein Berühmter Tweet zum Nachrichten- und Skandalpro-
Terroropfer seien „Merkels Tote“, der stolpert oder sich dort ein Minister ver- duzenten werden könne. Das kann der De-
macht es sich empörend einfach mit der haspelt. Alles rauscht ungeklärt durchs mokratie dienlich sein, wenn inhaltlich bri-
komplexen Welt, die uns umgibt. Und wer digitale Kanalsystem neben onanierenden sante Mitschnitte von Politikerauftritten
schließlich glaubt, der SPIEGEL unterdrü- Affen, lustigen Katzen, Bildern von blutver- oder Schüsse von Polizisten auf Bürger öf-
cke Artikel und tue dies womöglich auf schmierten Kindern aus Aleppo und schi- fentlich werden. Es kann belanglos sein,
Geheiß „von oben“, weiß über die Arbeit cken Himbeertörtchen aus Paris. Heftig und wenn nur irgendein neuer „Erregungsvor-
des SPIEGEL und anderer Medien wirklich hässlich wird auch Privates unter Privatleu- schlag“ gemacht wird, wie Bernhard Pörk-
nichts, und er verkennt völlig die Grenzen ten öffentlich ausgefochten, sodass sich aufs sen das nennt. Und es kann äußerst schäd-
und Möglichkeiten von Regierungsmacht Ganze gesehen manchmal das mulmige lich sein, wenn ahnungslose Leute glauben,
im liberalen Rechtsstaat Deutschland. Gefühl einstellt, die Digitalisierung unseres sie müssten oder sollten Bilder von Unfall-
Es gehört zum Grundauftrag einer freien Alltags könnte auf Dauer genauso viel opfern veröffentlichen, die gerade irgend-
Presse, Missstände zu thematisieren und Fluch wie Segen bringen. Auf jeden Fall wo in einem Straßengraben verbluten.
durch Kritik die Verbesserung der Lebens- reift die Erkenntnis, dass die sogenannten Sagen wir es so: Es wird gerade klar,
verhältnisse zu befördern – die Wut von sozialen Medien auch allem Asozialen eine dass das Heilsversprechen, mit dem die
Mächtigen, die sich getroffen fühlen, ge- nie gekannte Bühne bereitet haben. Pioniere des Internets einst antraten, nicht
hört dazu. Und wo die Mächtigen diesen Der Tübinger Medienwissenschaftler gehalten werden kann. Es wird, im Gegen-
Auftrag gefährden, wo Regierungen gegen Bernhard Pörksen sieht uns am Beginn ei- teil, deutlich, dass das Web nicht ins de-
Berichterstatter vorgehen wie in Russland, nes Zeitalters der „Empörungsdemokratie“ mokratische Bürgerparadies überall auf Er-
Ägypten oder China (siehe Kästen), ge- angelangt. An die Stelle des „Gatekeeping“ den führt, in dem sich alle Menschen
schieht das nicht nur zum Schaden der Me- durch Journalisten, die Informationen be- gleichberechtigt am herrschaftsfreien Dis-
dien, sondern zum Schaden der Bürger- schaffen, bewerten, auswählen und veröf- kurs beteiligen können.
rechte im Land.
Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben,
unaufgeklärtes Denken auszustellen und Pressefreiheit in Gefahr Korrespondent Christian Esch aus Russland
zu bekämpfen. Journalismus ist immer
auch ein Geschäft der ideologischen Müll-
diesen Zeiten wirkt es manchmal so, als einfacher geworden. Seit den Massen-
redeten zwar alle mit, aber auch ständig protesten gegen Wladimir Putins Rückkehr
aneinander vorbei. Die brutale Konkur- in den Kreml sind die Freiräume enger
renz auf den digitalen Kanälen macht es geworden, seit der Ukraine-Krise ist der
zudem wahrscheinlich, dass das Laute und Ton schärfer. Und der Kreml baut seinen
Grelle und bereits Berühmte leichter wahr- Moskau-Korrespondent Esch Propagandaapparat aus und spricht vom
genommen werden als das Leise und Kluge „Informationskrieg“ mit dem Westen.
und Abseitige. Es ist eine Spirale der Skan-
DER SPIEGEL 1 / 2017 21
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MARC-STEFFEN UNGER
Kanzlerin Merkel: Nachrichten aus der Empörungsdemokratie
Nein, es zieht nur wieder eine neue im- Wie sucht die Google-Suchmaschine, Regionalmilch klingt, es könnte aber un-
perfekte, ungeordnete Welt herauf, in der wie findet sie, und nach welchen Kriterien erfahrenen Mediennutzern, Jugendlichen,
alle alten Konflikte fortbestehen, auch sortiert sie die Ergebnisse? Wer sieht wel- Kindern trotzdem eine Hilfe sein. Es gibt
wenn sie nun mit neuen Mitteln ausgetra- che Facebook-Posts? Wie entsteht ein Twit- einen aufregenden Vorstoß der „Washing-
gen werden. Und dabei stellt sich heraus, ter-Trend? Welchen Kriterien folgt der Mit- ton Post“, die kurz vor Weihnachten ein
dass etwa in China, in Russland, aktuell in teilungsstrom auf den Apple-iPhones? Die Projekt zur laufenden Überprüfung und
der Türkei und in vielen anderen Ländern ehrliche Antwort auf diese Fragen lautet: Kommentierung von Twitter-Tweets star-
das Internet die schlimmsten Albträume Außer den Entwicklern und Anbietern tete. Und schließlich hat auch Facebook
von totaler diktatorischer Überwachung, selbst weiß das niemand. Der Gesetzgeber auf Druck der Politik ankündigen müssen,
Verfolgung und Durchleuchtung überhaupt hat davon keine Ahnung, und die Medien Hass-Posts, Fake News und dergleichen
erst möglich macht. werden kaum je vorgelassen und wissen künftig irgendwie aussieben zu wollen.
In den demokratischen kapitalistischen deshalb nie, wie viel sie eigentlich wissen Also: Da tut sich etwas.
Gesellschaften wiederholt sich während- – und wie viel nicht. Der Trend in die richtige Richtung fin-
dessen die alte Geschichte von Industrie- Es kommt jetzt, von Europa aus, Bewe- det sich auch in einer Idee wieder, die
monopolen, die ihre demokratiegefährden- gung in die Sache. Die Politik scheint auf- Medienwissenschaftler Pörksen propa-
den Nebenwirkungen entfalten. gewacht zu sein und will die Konzerne ver- giert. Wenn nun schon, argumentiert er,
Die Giganten aus dem Silicon Valley pflichten, mehr Verantwortung für die täg- durch Web und soziale Netzwerke alle frü-
predigen zwar stets Offenheit und Trans- lich milliardenfach versendeten Posts, die heren Empfänger von Nachrichten selbst
parenz, pflegen selbst aber eine Geheim- Fotos und Filmchen und Sprüche zu über- zu Sendern werden können, dann müssten
niskrämerei, die einen eher an die CIA- nehmen. Das wäre – für die Digitalwelt – die Ideale des Journalismus „zu einem
Zentrale in Langley denken lässt. Ange- ein Schock, der aus der wunderbaren Sphä- Element der Allgemeinbildung werden“.
sichts der Bedeutung, die Google, You- re der Anarchie wenigstens einen kleinen Pörksen weiter, in einem Beitrag für die
Tube, Facebook, Twitter und Apple mitt- Schritt zurück in die alte Ordnung brächte, „Zeit“: „Der klassische Journalismus ver-
lerweile für unser Leben haben, grenzt es in der der Journalismus groß wurde. Es knüpft den Akt der Publikation mit der
an Wahnsinn, dass wir über diese Firmen gibt Vorschläge, ein Gütesiegel für geprüf- Prüfung von Faktizität und Relevanz. Er
außer schicken Werbeoberflächen so gut te Informationen einzuführen, was sicher- liefert ein Wertegerüst für das öffentliche
wie nichts wissen. lich ein wenig hilflos nach Biofleisch und Sprechen.“ Der Journalismus habe Re-
22 DER SPIEGEL 1 / 2017
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chercheroutinen und Formen des Fact- „den meisten Nachrichten die meiste Zeit mit dem schönen Titel „Lügenpresse – Me-
Checkings und der Quellenprüfung ent- vertrauen“ – eine Frage, die auch auf dienkritik als politischer Breitensport“.
wickelt, um sich selbst „aus dem Gehäuse allgemeine Zufriedenheit oder Unbeha- Eine der Tabellen zeigt zum Beispiel
eigener Annahmen und Vorurteile heraus- gen zielt. In Deutschland bejahten 2016 dies: In Deutschland sagen 65,5 Prozent
katapultieren“ zu können. Klingt schmei- 52 Prozent die Frage, das bedeutet unter der Leute, dass sie Vertrauen zur Polizei
chelhaft und stimmt sogar: Beim SPIEGEL 26 betrachteten Ländern den siebten Platz. hätten, das ist Platz eins. 63,5 Prozent ver-
ist heute die Abteilung der Dokumenta- Die Finnen vertrauen ihren Nachrichten trauen dem Verfassungsgericht, 54 Prozent
rinnen und Dokumentare, die vor Veröf- zu 65 Prozent, das ist Platz eins. Weit hin- haben Vertrauen in die Justiz und 52,3 Pro-
fentlichung jede Tatsachenbehauptung auf ten erst kommen die USA, Frankreich, Un- zent in den öffentlich-rechtlichen Rund-
ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen, garn und andere, wo nur jeweils um die funk, das sind die ersten vier Plätze. Man
eine der größten im Haus. 30 Prozent der Befragten ihr grundsätz- versteht also die Lage besser, wenn man
Wäre das also ein Weg? Ein Schulfach liches Vertrauen in die Nachrichten be- dazu Carsten Reinemanns rhetorische Fra-
„Publizistik“? Oder der verbindliche Lehr- kundeten. ge hört, ob in Deutschland – angesichts
stoff „Internetverhalten“? Oder Benimm- Alle diese Zahlen sind relativ, aber sie des geringen Vertrauensvorsprungs der Jus-
kurse Marke „Netiquette“? Ein solcher helfen doch beim Nachdenken. Die viel- tiz vor den Medien – denn irgendwer von
neuer Bildungsauftrag kommt einem fast leicht aussagekräftigsten Daten erhebt einer Justizkrise sprechen würde? Man
zwingend vor. Und man könnte dann auch die Leipziger „Mitte“-Studie, die sich je- möchte anfügen: oder gar von einer Lü-
gleich auf ein paar weitere Probleme hin- des Jahr ausführlich mit den Einstellungen genjustiz?
weisen: darauf, wie Apple und die Netz- der Deutschen beschäftigt. Der Münchner Die Fernsehberichterstattung und die
konzerne am Beginn des 21. Jahrhunderts Kommunikationswissenschaftler Carsten Tages- und Wochenzeitungen folgen in die-
die ökonomischen Probleme klassischer Reinemann hat sie jüngst an der Universi- ser Liste auf den Rängen fünf und sechs,
Medien aus lauter Geldgier noch weiter tät Hamburg ausführlich zitiert, in Ham- und danach geht es immer steiler abwärts,
verschärften. burg läuft seit Herbst eine Ringvorlesung vom Bundestag zur Bundesregierung, zu
Weiß das eigentlich jeder? Dass der
SPIEGEL oder die „New York Times“ das
Geld für jede über den iTunes-Store ver- Pressefreiheit in Gefahr Korrespondent Jens Glüsing aus Lateinamerika
kaufte iPad-Ausgabe mit dem Apple-Kon-
zern teilen muss? Und dass Apple da rich-
den sozialen Medien, zum privaten Rund- des irrationalen Misstrauens. „Wenn in ei- Diesen Zusammenhang verkennt die
funk, zu den Kirchen – und schließlich, nem Land 14 Prozent der Leute sagen, die Politik, Bundesaußenminister Frank-Walter
ganz unten, zu den politischen Parteien, Presse lügt, dann ist das viel“, sagt Reine- Steinmeier verkannte ihn, als er in einem
denen gerade noch 23,1 Prozent der Deut- mann. Er glaubt allerdings auch, dass der Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemei-
schen Vertrauen entgegenbringen, wäh- Medienverdruss selbst nur wieder Symp- ne“ einmal relativ gönnerhaft mahnende
rend 47,7 Prozent sagen – ein dramatischer tom einer noch größeren Krankheit sei, und tröstende Worte an die Medien aus-
Spitzenwert – sie hätten in die Parteien die letztlich auf eine systemische Krise teilte. Medien seien die Grundlage einer
„kein Vertrauen“. hinauslaufe. stabilen Demokratie, schrieb Steinmeier,
Kommunikationsforscher Reinemann „Menschen, die Fundamentalkritik an und so weiter, aber sie seien eben in der
leitet daraus einerseits ab, dass das Miss- den Medien üben“, sagt Reinemann, „tun Krise, inhaltlich und ökonomisch, und
trauen den Medien gegenüber, und zumal dies offenbar, weil sie politisch unzufrie- wenn sich die Bundesregierung ein so
den „klassischen“, nicht so groß ist wie es den sind. Sie finden ihre Meinung nicht in schlechtes Krisenmanagement leistete wie
einem so mancher Sprechchor auf diversen den Medien repräsentiert und empfinden die Medienbranche, dann könne sie sich,
Dresdner Demos suggerieren möchte. Zu- die Medien deshalb als Stütze der etablier- so Steinmeier, in Schlagzeilen und Kom-
gleich sieht er aber eine beunruhigende ten Kräfte.“ Und wenn ebendiese eta- mentaren „auf einiges gefasst machen“.
Entwicklung in Gang gekommen: Eine blierten Kräfte so tief in der Grütze sitzen, Der Minister zählte dann Gründe auf,
nennenswerte gesellschaftliche Minderheit wie sie das gerade tun, dann ziehen sie warum der Journalismus in der Krise ste-
gleite gerade von einer Haltung der ver- die Medien und allerlei andere Instanzen cke, und sie waren alle falsch. Dass die Po-
nünftigen Medienskepsis hinein ins Reich zu sich herab. litik im Allgemeinen und Besonderen auch
Auf Staatslinie
Wer heute in Ägypten als Journalist arbeitet, Präsidenten Mohamed Morsi von der Mus- Im Namen der nationalen Sicherheit wer-
lebt gefährlich – zumindest wenn er dem limbruderschaft. den immer wieder Reporter als Anhänger
Regime von Präsident Abdel Fattah el-Sisi Ägypten ist das Land, in dem 2016 nach der Islamisten diffamiert und verhaftet. Im
kritisch gegenübersteht. Was die Freiheit China und der Türkei die meisten Journalis- Juni 2016 wurden sechs Journalisten sogar
der Presse betrifft, ist Ägypten im weltwei- ten verhaftet wurden, darunter mehrere Mit- zum Tode verurteilt, drei von ihnen in Ab-
ten Vergleich von 180 Ländern auf den arbeiter des Nachrichtensenders Al Jazeera. wesenheit. Das Regime geht brutal gegen
159. Platz abgerutscht. So schlecht sah es Ihnen wurde unter anderem vorgeworfen, Kritik jeder Art vor, selbst der Chef des Jour-
noch nie aus, nicht unter Diktator Hosni falsche Nachrichten zu verbreiten und da- nalistenverbandes, Yehia Kalash, und der
Mubarak und auch nicht unter dem ersten mit der Muslimbruderschaft zu helfen. Letz- Menschenrechtsanwalt Hossam Bahgat lan-
demokratisch gewählten, islamistischen tere gilt in Ägypten als Terrororganisation. deten im Gefängnis.
Zwar garantiert die 2014 in Kraft getrete-
ne Verfassung Presse- und Meinungsfrei-
heit. Doch in diesen Zeiten gelten andere
Regeln, Zensur ist erlaubt. So hat Präsident
Sisi im Rahmen eines Gesetzes zur Terror-
bekämpfung die Berichterstattung massiv
eingeschränkt. Wenn Journalisten von den
offiziellen Vorgaben abweichen, drohen
ihnen Geldstrafen und Berufsverbote. Ägyp-
tische Zeitungen und Sender berichten
heute weitgehend auf Staatslinie. Kritische
Medien gibt es fast nur noch im Ausland.
Auch für Korrespondenten und Reporter
aus Europa wird die Lage zunehmend
schwieriger. Denn die Spitzel des Sisi-Re-
gimes sind überall. Als wir im Kairoer Armen-
viertel mit Leuten auf der Straße sprachen,
war nach ein paar Minuten die Polizei vor
Ort. Wir konnten einen offiziellen Termin im
Bauministerium vorweisen. Doch das ge-
nügte nicht. Ein Mitarbeiter des Geheim-
dienstes wurde gerufen, wir mussten Pässe
JONAS OPPERSKALSKI / LAIF
etwas mit einer Krise der Medien zu tun schen Ausfälle aller Art zu unterbinden. tergeht. Das kann über Theorien gesche-
haben könnte, diesen Gedanken streifte Die Parteien haben, von ein paar irrlich- hen, die die Wissenschaft vorschlägt, es
Steinmeier nicht einmal, vielleicht kommt ternden Exoten Marke „Piraten“ abgese- kann aus Lebenserfahrung kommen, aus
er als Bundespräsident noch einmal auf hen, die größte gesellschaftliche Baustelle versichernden Traditionen, aus familiärer
das Thema zurück. unserer Zeit einfach weiträumig umfahren. Liebe, oder der Glaube an einen Gott kann
Er könnte dann nämlich darüber reden, Ob es jetzt reicht, ab und an Justizministerhelfen. Schwierig wird es, wenn nichts da-
wie vor allem die Politik das Internet ver- Heiko Maas dort vorbeizuschicken, ist zu- von richtig funktioniert. Wenn man verlo-
schlafen hat und wie sie seit Jahren, wenn mindest fraglich. ren geht in der Unübersichtlichkeit, wenn
nicht seit Jahrzehnten, nicht das Geringste sich Unbehagen breitmacht bis an den
dafür getan hat, den hier beschriebenen
Wildwuchs einzudämmen.
Nichts hat die Bundesregierung unter-
V. Jeder Mensch muss ständig seinen ei- Rand des Ekels. Alles gerät dann ins Rut-
genen Ort in der Welt bestimmen, schen.
sein Verhältnis zu den Dingen, seinen Ab- An dieser Schwelle stehen in den mo-
nommen, um die demokratiegefährdende stand zu Ereignissen, jeder stellt sich auf dernen, digital beschleunigten Gesellschaf-
Macht der Digitalkonzerne zu zähmen, seine Weise, aktiv interessiert oder passiv ten heute so viele Menschen, dass es nicht
nichts haben SPD, CDU und die anderen konsumierend, zu den Fragen der Zeit. Je- übertrieben scheint, von einer System-
zustande gebracht, um die ständigen Rechts- der muss dafür die ihn umgebende immen- krise zu reden. Der Weltmeister der Ver-
verletzungen im Netz, den Hass, die illega- se Komplexität reduzieren, irgendwie hand- einfachung, Donald Trump, ist ihr bislang
len Angriffe, die Schmähungen und Volks- habbar machen, Schneisen schlagen oder spektakulärster Profiteur, ein Mann, der
verhetzungen, die Sexismen und rassisti- Geländer finden, an denen entlang es wei- zwischen Wahrheit und Lüge nicht mehr
Lebenslange Überwachung
Am 29. Dezember 2012 brachen in der chen. Vor ein paar Tagen haben wir mit Li „Die Überwachung, sagten sie, gilt in
Stadt Guiyang Unbekannte in mein Hotel- Yuanlong gesprochen. Er sei gesund, sagte meinem Fall lebenslang.“ In der Weltranglis-
zimmer und in das meiner Mitarbeiterin ein, er, das sei die gute Nachricht. Doch er finde te für Pressefreiheit ist China unter seinem
löschten unsere Festplatten und zerstörten keine Arbeit mehr. Immer wieder werde er Präsidenten Xi Jinping auf den fünftletzten
unsere Mobilgeräte. Damit waren die Ver- zu Befragungen einbestellt. 2015 habe er ei- Platz abgestiegen, gefolgt von Syrien, Turk-
hältnisse zwischen dem chinesischen nen Tag lang im Gefängnis gesessen, weil er menistan, Nordkorea und Eritrea. Li Yuan-
Staat und mir geklärt: Ich war, nach zwölf sich zum zehnten Jahrestag seiner Inhaftie- long ist ein religiöser Mensch. Er glaube da-
Jahren im Nahen Osten, in einem Land an- rung im Internet über sein damaliges Ge- ran, sagt er, dass er das China noch erle-
gekommen, in dem die Freiheit der Presse richtsurteil lustig gemacht habe. In diesem ben werde, das er sich wünscht. „Aber ich
genauso wenig zählt wie unter Saddam Jahr wurde er zweimal vorgeladen. habe aufgehört zu schreiben.“
Hussein und Muammar al-Gaddafi.
Inzwischen sind vier Jahre vergangen,
und die Dinge haben sich verschlechtert.
Für Korrespondenten, vor allem aber für un-
sere chinesischen Kollegen. Die Geschich-
te, die wir 2012 recherchierten, handelte
vom tragischen Tod von fünf Kindern in der
Provinzstadt Bijie. Der Mann, der sie aufge-
deckt hatte, heißt Li Yuanlong.
Der 56-Jährige war lange Reporter bei der
staatlichen „Bijie-Zeitung“ gewesen. Er hatte
über Korruption und Machtmissbrauch ge-
schrieben, sich mit den Behörden angelegt.
2005 kam er wegen eines Kommentars vor
Gericht und wurde zwei Jahre lang inhaftiert.
Als er die Geschichte über den Tod der fünf
Kinder von Bijie enthüllte, folgte er einem
Drang, den jeder Journalist kennt: Er wollte
wissen, was passiert war, er fragte nach, er
deckte auf, was die Behörden verschwie-
gen. Dafür verschleppten sie ihn und nah-
men ihm den Computer weg. Als er sich mit
uns traf, war es erneut seine Story, die ihn
antrieb: Wenn er sie nicht erzählen könne,
dann solle das jemand anders tun. Kaum
waren wir weg, stand die Staatssicherheit
vor seiner Tür. Wir halten seither losen Kon- Zand, Journalist Li in der Provinz Guizhou
takt, oft ist er wochenlang nicht zu errei-
unterscheiden kann und will und der maß unser Leben durch Verschwörungen zieren. Oder es wurde geraunt, dass die
Behauptungen, Beschimpfungen, Legen- bestimmt wird, die im Geheimen ausge- zugehörigen Impfstoffe unsichtbare „Na-
den, Lügen, Gerüchte, berechtigte und heckt werden“. 28 Prozent stimmen teil- no-Chips“ enthielten, eigens dafür entwi-
unberechtigte Sorgen, falsche Hoffnungen weise, 34,8 Prozent stimmen voll zu, wenn ckelt, die behandelten Bürger fortan ge-
und aus der Luft gegriffene Versprechen es heißt: „Politiker und andere Führungs- wissermaßen fernzusteuern.
ganz oben in einen Trichter schüttet, persönlichkeiten sind nur Marionetten der Man meinte die längste Zeit, das alles
und unten kommt dann auf wunderbare dahinterstehenden Mächte.“ zu kennen und abtun zu können, die in-
Weise die Formel heraus: Make America Man kann das dreimal lesen und immer szenierte Mondlandung, die Thesen über
Great Again. noch nicht glauben. Aber diese Zahlen die Ermordung John F. Kennedys, die Ver-
Die wesentliche Zutat in Trumps Erfolgs- sind solide und in den Zirkeln der Wis- schwörung hinter dem 11. September, die
rezept, und dieses Problem ist längst auch senschaft als seriös anerkannt. Der nie- „wahre“ Geschichte über die Tötung Bin
in Europa und in Deutschland zu Hause, derländische Sozialforscher Stef Aupers Ladens, die „wahren“ Todesumstände von
ist eine grassierende Verschwörungsmen- leitet aus ihnen und aus vielen anderen Lady Di, die „Wahrheit“ über Freimaurer,
talität. Die bereits zitierte Leipziger „Mit- Daten und Beobachtungen den Beginn Juden, Jesuiten und, natürlich, die „Wahr-
te“-Studie über die Einstellungen und einer neuen, ungemütlichen Epoche ab. heit“ über den Muslim und Kenianer Ba-
politischen Ausrichtungen der Deutschen In einem Aufsatz vom Beginn des Jahres rack Obama – das alles hat es in vielen
fördert da Erschütterndes zutage. Die Zah- 2016 erzählt er die Geschichte vom Aus- Spielarten irgendwie immer gegeben, und
len für 2016 weisen zum Beispiel aus, dass bruch der Schweinegrippe 2009 und wie es wirkte stets wie ein intellektueller Ni-
38,6 Prozent der Deutschen dem Satz zu- Verschwörungstheoretiker ihre Funken schensport für Spinner. Es scheint nur, dass
stimmen: „Es gibt geheime Organisationen, daraus schlugen. diese Zeiten enden.
die großen Einfluss auf politische Entschei- Es kursierten damals zum Beispiel Ge- Stef Aupers kann zeigen, wie die abs-
dungen haben.“ 34 Prozent stimmen der schichten, der Erreger wäre von der US- trusen Theorien Boden gutmachen und
Aussage zu, dass die meisten Menschen Regierung willentlich in Umlauf gebracht wie die Verschwörung an und für sich –
nicht erkennen würden, „in welchem Aus- worden, um die Weltbevölkerung zu redu- auch über TV-Serien wie „X-Files“, Block-
26 DER SPIEGEL 1 / 2017
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buster-Filme Marke „Matrix“ und natür- Noch der größte Unsinn findet ein dis- sogar Doktortitel. Was also stimmt? Was
lich Dan Browns „Da Vinci Code“ – als kussionsfreudiges Publikum, und man soll- nicht? Kann man überhaupt irgendetwas
Denkmuster und Interpretationsangebote te sich nur kurz in die Lage eines auf- wirklich glauben?
in unseren Alltag einsickert. Aupers zitiert geweckten, neugierigen Jugendlichen ver- Diese Fragen betreffen heute nicht mehr
eine Studie, der zufolge 80 Prozent der setzen, der mit all diesen Märchen aus nur esoterische Phänomene, sondern die
Amerikaner sagen, dass die Regierung tausendundeiner digitalen Fälscherwerk- ganz reale Welt. Und was früher als Krank-
mehr über Außerirdische wisse, als sie zu- statt zum ersten Mal konfrontiert wird. heit mit Tendenz zur Paranoia wegsortiert
gebe, in Worten: achtzig Prozent. Wie soll er sich orientieren? Zumal die wurde, wird von Sozialforscher Aupers
Solche Einstellungen könnten nur in ei- Geschichten ja oft sehr gut sind. Und alles heute als rationale Strategie von überfor-
ner Kultur blühen, sagt Aupers, in der die plausibel wirkt. Und die Autoren tragen derten Bürgern gewertet, sich irgendwie
Wahrheit ziemlich grundsätzlich abhan-
dengekommen sei, und der Niederländer
bejaht das mit plausiblen Argumenten: Pressefreiheit in Gefahr Reporter Christoph Reuter über Syrien und Irak
Die Wissenschaft sei mit ihrem alten Ver-
sprechen gescheitert, an die Stelle von
Postfaktischer Krieg
Religion und Aberglauben eine auf Ver-
nunft und Überprüfbarkeit gebaute Welt
zu setzen. Gelungen sei ihr seit den Sech-
zigerjahren nur, so Aupers, die Macht der
Religionen nach und nach zu unterminie- Jahrelang habe ich als Korrespondent im prüfung standhielten und einander zudem
ren – aber die dadurch entstandene Sinn- Irak und in Afghanistan gelebt. Auch dort in der Summe widersprachen, spielt keine
lücke habe sie keineswegs füllen können, gab es Propaganda der verschiedenen Rolle mehr.
im Gegenteil. Kriegsparteien, angefangen mit George W. Auch dass die Inszenierungen gelegent-
Im ewigen Thesenstreit über alles und Bushs falschen Behauptungen über Sad- lich durch eigens vom Regime angefertige
jedes hätten die Wissenschaften nicht Sinn dams Massenvernichtungswaffen. Es gab „offizielle“ Fotos als solche entlarvt wer-
gestiftet, sondern nur immer mehr Verwir- Befürworter der beiden westlichen Inter- den – nicht der Rede wert. Als 2013 der re-
rung: „Fischöl ist gesund, Fischöl verur- ventionen und Kritiker. gimetreue höchste sunnitische Geistliche,
sacht Krebs; Kinder sollten mit Liebe und Aber es gab noch eine gemeinsame Scheich Mohammed al-Buti, angeblich von
Empathie erzogen werden, Kinder brau- Annahme von der Wirklichkeit, die durch einem Selbstmordattentäter in seiner
chen klare Regeln und Disziplin; die Ge- journalistische Recherchen belegt wurde. Moschee umgebracht wurde, zeigten Bil-
walt in westlichen Ländern nimmt ab, die Im Syrienkonflikt gilt all das nicht mehr. der aus dem Gebäude, die anschließend
Gewalt in westlichen Ländern nimmt zu; Ich habe noch nie einen Krieg erlebt, der veröffentlicht wurden: Die Kronleuchter
vor uns liegt ein ökologisches Desaster, die so gegensätzlich wahrgenommen wird hingen noch, die Blätter der Ventilatoren
Warnungen vor dem Klimawandel sind wie dieser. Und von dem so verschiedene waren intakt, in diesem Raum hatte es kei-
übertrieben; Impfungen gegen die Schwei- Deutungen und Bilder entworfen werden. ne Explosion gegeben. Es geht nicht mehr
negrippe sind zwingend, Impfungen dage- Eine dieser Deutungen wird gefüttert um Stichhaltigkeit, sondern um Futter für
gen sind ineffektiv und gefährlich.“ Jeder von der Propaganda aus Damaskus und die Gläubigen, die jede Abweichung von
kennt Aupers’ Beispiele; und sie machen Moskau, die zu allem, was in Syrien ge- ihrem Weltbild als „Lügenpresse“ abtun.
jedem schlechte Laune. schieht, eine eigene Version präsentiert: Was aus Damaskus kommt, ist nicht
Die Medien stellen solche Widersprüche ein Massaker von Assads Milizen an Zivilis- einfach nur Desinformation. Es ist zielgrup-
durchaus dar, profitieren aber auch von ih- ten? Nein, das waren Rebellen, die ihre pengerechte Desinformation, die an be-
nen. Das massenmediale Geschäft, schreibt eigenen Leute umbrachten. Ein Giftgasan- stehende Feindbilder anknüpft: Halten Sie
Aupers, sei nun einmal auf Konflikt ge- griff der Armee auf Damaszener Vororte die USA für die Wurzel allen Übels? Voilà,
richtet und nicht auf Konsens. der Opposition? Nein, das waren wahlwei- Sie werden versorgt mit Texten, dass CIA
Unumstrittene Wahrheiten, so der Nie- se türkische Provokateure oder saudi- und andere von langer Hand den Umsturz
derländer, seien nicht sehr sexy. „Nichts arabische Agenten oder syrische Dschiha- in Syrien geplant hatten. Sorgen Sie sich
ist für die Einschaltquote einer Talkshow disten. Dass diese Versionen keiner Über- um die Christen? Kein Problem, Sie be-
besser als zwei Klimawissenschaftler, die kommen Meldungen über geköpfte Bischö-
sich absolut uneins sind über den Treib- fe und verwüstete Kirchen. Dass die Bilder
hauseffekt.“ Nur ist die Kehrseite der keine Bischöfe zeigen und die Kirchen
Show auf Dauer eine Erosion allen Ver- von der syrischen Luftwaffe bombardiert
trauens. wurden – egal.
Zuerst verliert die Wissenschaft an Glaub- Gerade in Bezug auf die amerikanische
würdigkeit und danach alle anderen Instan- Rolle im syrischen Aufstand, die im Kern
zen, und dann erfasst die Erosion – ver- aus Ignorieren und geringer Unterstützung
stärkt durch die tausendfältigen Möglich- der Rebellen bestand, erstaunt die Vehe-
keiten heutiger medialer Verbreitung – den menz, mit der fortwährend das Gegenteil
Alltag. Was kann man noch glauben? Was der Realität verkündet wird. Aber die Pro-
nicht? Wenn darüber alle Klarheit abhan- paganda hat sich eben längst gelöst vom
denkommt, wird jede Diskussion nur noch Geschehen als Ausgangspunkt.
JACOB RUSSELL / DER SPIEGEL
Dündar, 55, veröffentlichte als Chef- Ich war in Haft, weil Erdoğan nach
redakteur der oppositionsnahen türki- einer Meldung, die ich geschrieben
schen Zeitung „Cumhuriyet“ Recherchen hatte, sagte: „Dafür wird er einen ho-
über Waffenlieferungen des türkischen hen Preis bezahlen.“ Für eine einzige,
Geheimdienstes an syrische Islamisten. übrigens nie dementierte Meldung
Daraufhin wurde er festgenommen, wurde ich mit der Forderung nach ei-
der Spionage angeklagt und im Mai 2016 nem Strafmaß angeklagt, das der
wegen der Veröffentlichung von Staats- Todesstrafe im alten Strafrecht ent-
geheimnissen verurteilt. Er lebt heute spricht. Vor dem Gerichtsgebäude
im Exil in Deutschland. wurde auf mich geschossen. Fünf Mo-
nate darauf ließ man den Attentäter
W
issen Sie, woher die Türken frei, er erhielt seinen Pass zurück.
erfuhren, dass der russische Meiner Frau dagegen wurde der Reise-
Botschafter in Ankara bei ei- pass entzogen, sie wurde quasi in
nem Anschlag getötet wurde? Geiselhaft genommen, obwohl ihr
Aus Moskau. Tatsächlich war der nichts vorzuwerfen ist. Auch wurden
Botschafter unmittelbar bei der Tat fast 900 000 Schulbücher vernichtet,
umgekommen, was auch die türki- weil darin ein Text von mir stand.
schen Sender wussten. Nur durften sie Vielleicht weckt das in Deutschland
es aufgrund einer Nachrichtensperre gewisse Erinnerungen.
nicht melden. Erst die Stellungnahme Kommen wir zur dritten Kategorie:
eines russischen Sprechers ermöglichte Journalisten „an der Seite der
ihnen, das Verbot zu durchbrechen. Macht“ gibt es reichlich. Erdoğan for-
Vorher hatten sie drei Stunden lang derte ihm ergebene Geschäftsleute auf,
auf ein Statement des türkischen In- Zeitungen und Fernsehsender zu kau-
ANDREAS PEIN / LAIF
in dieser heillos komplizierten Welt zu- theorien gekommen sind, um zu bleiben. Anfang 2016 ein paar Politiker damit be-
rechtzufinden. Dass sie für viele heute die einzige Mög- gannen, auf die Medien einzudreschen.
Die Europäische Union bietet sich dafür lichkeit sind, mit der überbordenden Kom- Der Bürger wolle „Wahrheit und Klar-
als Beispiel an: Wer weiß schon, was hin- plexität der Welt und der alltäglichen heit“, sagte etwa CSU-Generalsekretär
ter ihren Kulissen läuft? Wie sie funktio- Überforderung fertigzuwerden. Verschwö- Andreas Scheuer, der es in seiner alltäg-
niert? Aus welchen Behörden sie über- rungstheorien seien wie eine Krücke, die lichen Arbeit mit beidem nicht weiter ge-
haupt besteht? Wer das Sagen hat? Ein helfen soll, die Angst vor unverstandenen nau nimmt, und der ehemalige Bundesin-
Menschenleben reicht kaum aus, um das Zusammenhängen zu bannen – und in ver- nenminister Hans-Peter Friedrich sprach
herauszufinden; was also soll der Normal- ständliche Geschichten zu übersetzen. Und gar von einem „Schweigekartell“ der öf-
bürger tun? Er macht sich auf die Suche wenn das so stimmt, dann wird sich das fentlich-rechtlichen Medien, eine Unge-
nach Deutungsangeboten, die Komplexi- politische Spiel von Grund auf verändern heuerlichkeit, an der noch einmal gut
tät reduzieren helfen, und sie dürfen – je müssen, um die Menschen wieder zu er- sichtbar wird, wie selbstverständlich Ver-
geringer sein Interesse, je schlechter seine reichen und die Trumps dieser Welt in die schwörungstheorien heutzutage in Umlauf
politische Bildung, je prekärer sein Sozi- Schranken zu weisen. gebracht werden, sogar von Menschen,
alstatus – auch einfach auf den Vorschlag die selbst fest im System verankert waren
hinauslaufen: abschaffen! Brüssel zuma-
chen! Schluss damit!
Aupers’ unbequeme Nachricht an die
VI. Krisen befeuern immer das große
Schwarze-Peter-Spiel. In Deutsch-
land war das gut zu beobachten, als nach
oder sind.
Aber so ist nun die Lage, und sie wird
es lange bleiben: Es gibt derzeit große
Welt lautet also, dass die Verschwörungs- der berüchtigten Silvesternacht von Köln Minderheiten, die mit den eingeübten
Denkmustern und Deutungsangeboten
der Demokratie des 20. Jahrhunderts nicht
mehr allzu viel anfangen können. Viele
Pressefreiheit in Gefahr Korrespondent Bartholomäus Grill aus Afrika Menschen finden sich in der politischen
Kultur der Repräsentation nicht mehr wie-
der, das digitale Zeitalter entfaltet eine sa-
Achtung, Regierungsfeinde!
genhafte antiautoritäre Sprengkraft. Es
wird pauschal gegen „Eliten“ und alles
Elitäre randaliert, Kompetenz wirkt ver-
dächtig, Erfahrung gilt als Nachteil, Bil-
Journalisten? „Ihr lügt. Wir wissen, dass Ich bin seit nahezu drei Jahrzehnten in dung als anrüchig.
ihr Geheimagenten seid“, schrie der Mob Afrika unterwegs, im Laufe der Jahre wur- Wie sehr sich die Zeiten geändert ha-
und drohte, uns zu lynchen. Mit einem de die Arbeit zunehmend riskanter. Das ben, zeigt ein kleines Gedankenspiel: Man
Fotografen und einem Übersetzer wollte liegt an den chaotischen Verhältnissen in stelle sich nur kurz vor, die Bundeskanz-
ich in einem Dorf in Mosambik über die vielen Regionen, an Bürgerkriegen, an Ge- lerin würde, wie einst Kanzler Helmut
Nashorn-Wilderei recherchieren; am Ende waltexzessen. Selbst in einer Demokratie Schmidt, heute irgendwo öffentlich – und
entkamen wir nur mit Glück der lebens- wie Südafrika wächst das Misstrauen ge- mit Orchester – als Pianistin auftreten; sie
bedrohlichen Situation. Aber auch der gen Berichterstatter. Denn wie in vielen erntete sehr wahrscheinlich nicht Aner-
Staatsanwalt, der uns später in Maputo Ländern Afrikas versuchen die Mächtigen kennung, sondern Eierwürfe.
verhörte, behandelte uns wie Rechts- auch hier, die Pressefreiheit zu beschnei- Es hat gerade alles etwas von vorrevo-
brecher. den – bloß keine Enthüllungsgeschichten lutionärer Stimmung, Brexit und Trump
Korrespondenten sind in Afrika stets mehr über ihre korrupten Machenschaf- haben das sehr grell herausgestrichen.
dem Verdacht ausgesetzt, nur negativ zu ten. Deshalb bastelt die Regierung an Was galt, gilt nicht mehr; was kommt, ist
berichten oder falsche – gemeint sind einem neuen Mediengesetz, das Journalis- unklar. Für den Moment sind die Parteien,
regimekritische – Informationen zu verbrei- ten und Whistleblowern mit Strafen droht. nicht die Medien, die größten Verlierer
ten. Deshalb werden wir von den Behör- Eine andere Form der Zensur hat sie dieser Zeit, weil der politischen Klasse
den oftmals angefeindet und behindert. In längst durchgesetzt: Die öffentlich-recht- selbst angst und bange wird, wenn „Volkes
Diktaturen wie Äthiopien, Sudan oder Eri- liche SABC ist mittlerweile ein Propaganda- Stimme“ laut wird. Viele Menschen, wo-
trea ist es unmöglich, frei zu arbeiten, sender von Staatschef Jacob Zuma. Wer möglich bald eine kritische Masse, werden
oft wird uns die Akkreditierung verweigert. über Proteste gegen die Regierung berich- vom System nicht mehr richtig erreicht,
tet, wird gefeuert. wodurch das System wiederum Legitimi-
Nach dem Ende der Apartheid, in der tät verliert.
Amtszeit Nelson Mandelas, zählte die Das Land geht, auch wenn darüber fast
Pressefreiheit zu den Grundpfeilern der nie gesprochen wird, durch eine schwierige
Demokratie. Doch schon unter Mandelas Phase, das Grundrauschen aus beunruhi-
Nachfolger Thabo Mbeki wurden unab- genden Nachrichten wird lauter. So viel
hängige Journalisten als Unruhestifter ver- Argwohn, so viel Hass gegen die Macht
unglimpft. und die Mächtigen war nach dem Krieg
Ich bekam die Vorzeichen dieser Ent- kaum je, höchstens Ende der Sechziger-
wicklung während einer Pressekonferenz jahre. Damals endete eine Epoche. Und
von Mbeki am eigenen Leib zu spüren. eine neue begann.
RICCI SHRYOCK / DER SPIEGEL
NATION
Von Stefan Berg
D
eutschsein war schon immer ein ri- konnte das unheilige Deutsche Reich preu- Ist Deutschland tatsächlich kaputt?
sikobehaftetes Unterfangen, so wie ßischer Nation immer nur ein Kriegsreich Es findet sich Überraschendes dazu im
Bergsteigen stets das Risiko des Ab- sein. Als solches hat es, ein Pfahl im Flei- SPIEGEL, dem „deutschen Nachrichten-Ma-
sturzes in sich birgt. Gab oder gibt es ein sche der Welt, gelebt, und als solches geht gazin“, eine Formulierung, die von 1950 bis
richtiges Maß – oder immer nur zu viel es zugrunde.“ Und dann gibt Thomas 1953 auch auf der Titelseite zu finden ist,
und zu wenig von diesem (man mag schon Mann eine Idee Johann Wolfgang von nicht – wie heute – ganz klein und hauch-
das Wort nicht) Deutschsein? Wollten und Goethes weiter: die Deutschen in aller dünn unter dem Wort „Hausmitteilung“.
wollen wir überhaupt „Deutsche“ sein, Welt – gleich den Juden – zu „verpflanzen“ Im Gründungsjahr des Blattes, 1947, kommt
oder doch lieber Weltbürger, Kosmopoli- und zu „zerstreuen“. Härter wurde nie der in München geborene Johannes R. Be-
ten, Europäer? über Deutschland gerichtet. cher zu Wort, der spätere Dichter der DDR-
Wenn wir uns fürs Deutschsein entschie- Deutschland gehörte seit dem 8. Mai Nationalhymne. Er denkt ganz anders als
den haben: Sind wir dann zweierlei Deut- 1945 nicht mehr den Deutschen. Über die- Thomas Mann. Emigrant Becher veröffent-
sche in West und Ost? Oder gehörten wir ses Land entschieden nun andere: Die Sie- licht ein leidenschaftliches Bekenntnis zu
trotz allem immer zusammen, mal mit germächte teilten Deutschland auf, unter- Deutschland: „Jede Art von Auslands-
besserem, mal mit schlechterem Gefühl? einander und ohne Deutsche zu fragen, sie deutschtum war mir wesensfremd …“ Er
Der Blick zurück in den SPIEGEL seit trennten im Osten einen Teil Deutschlands ist ein Mensch, der „immer … auf der Aus-
seinen Gründungsjahren erschließt eine ab, Millionen Deutsche wurden in die schau und der Suche ist: nach dem deut-
Zeit, in der der Begriff „Nation“ perma- Flucht getrieben. Ganz im Sinne Thomas schen Menschen, deutscher Stadt, deutscher
nent unterschiedliche Färbungen annahm, Manns wird das alte Preußen zerstört. Landschaft!“ Schon 1945 erscheint von ihm
chamäleongleich: mal bunt, mal braun. Aber: Ist das das Ende der deutschen Ge- im Aufbau-Verlag ein kleiner Redenband
Und heute? Wieder schillert der Begriff, schichte? Des Vaterlands? Der Mutterspra- „Deutsches Bekenntnis.“ Becher träumt
im Jahr 2016: Von den einen wird er neu che, der viel beschworenen und stets ge- von einer „neuen Deutschlandwerdung“,
mit Bedeutung aufgeladen, während an- priesenen Kulturnation? die er geradezu religiös überhöht, er hofft,
dere sich fragen: Ist das nicht dieser selt- dass eines Tages die „Glocken Auferste-
sam altbekannte völkische Ton, am hung“ läuten werden und danach der Cho-
Dresdner Zwinger und anderswo? Selbst- ral „Nun danket alle Gott“ angestimmt wer-
zweifel, das zeigt der Blick zurück, gehört de. Dass „Deutschlands Auferstehung“
zum Markenkern deutscher Identität. einen ähnlichen Ton hat wie die Parole
Deutschsein – das war nach dem Zwei- „Deutschland erwache!“, kommt ihm offen-
ten Weltkrieg zum Synonym von Verbre- bar nicht in den Sinn. Oder es stört ihn
chen geworden, zum Unwort einer Epoche nicht. Becher, ein deutschnationaler Kom-
und infolgedessen an den Häuserwänden munist?
gelandet als Schmähschrift: „Deutschland Deutschland auf der Spur, gelangt man
kaputt“, schrieben sowjetische Soldaten unweigerlich zu Rudolf Augstein, der nach
1945 in Berlin an die Wände, es liest sich Kriegsende als Journalist zu arbeiten an-
wie eine Nachricht aus dem Handyzeit- fängt und am 4. Januar 1947 den ersten
alter. Und der militärischen Kapitulations- SPIEGEL erscheinen lässt. Im Herbst 1989
erklärung des Hitler-Reiches ließ Thomas schreibt Augstein: Gern lasse er sich als
Mann am 29. Mai 1945 die moralische Ka- Patrioten bezeichnen, „diesen Begriff habe
pitulationserklärung Deutschlands folgen. ich in aller Subtilität vor 40 Jahren von
In den USA hielt der Literaturnobelpreis- Carlo Schmidt geerbt. Damals schimpfte
träger einen Vortrag über „Deutschland man mich ‚Kommunist‘, weil ich als einer
und die Deutschen“. Es ist die Langfassung der ganz wenigen die Gebiete jenseits der
von „Deutschland kaputt“: „Eines mag Oder und Neiße auf immer abgeschrieben
diese Geschichte uns zu Gemüte führen: hatte“. Kürzlich sei er nun „Nationalist“
dass es nicht zwei Deutschlands gibt, ein genannt worden. Und „das bin ich auch,
böses und ein gutes, sondern nur eines, SPIEGEL-Ausgabe 21/1947 wie Mitterrand und Thatcher, um ganz
dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bö- Exilant Thomas Mann über hoch zu greifen“. Er akzeptiert das Etikett.
sen ausschlug.“ „Durch Kriege entstanden, die Fehler der Deutschen Augstein, ein liberaler Nationalist?
30 DER SPIEGEL 1 / 2017
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Es erstaunt in der Rückschau auf die frü- Strophe als vorläufiges deutsches Bundes- Aber Bundeskanzler Konrad Adenauer
hen Jahre, wie selbstverständlich nach die- lied benützen würden?“ schafft Fakten. Am 18. April 1950 spricht
sem verheerenden Krieg von Deutschen Anknüpfen an die alte Hymne, deren der Christdemokrat in Berlin, im Titania-
über Deutschland gesprochen wird. Es erste Strophe („Deutschland, Deutschland Palast. Am Ende seiner Rede bittet der
überrascht in der Rückschau auch, wie über alles“) von den Naziherrschern mit Rheinländer die Versammelten, mit ihm
selbstverständlich es vielen Deutschen er- dem Horst-Wessel-Lied der mörderischen die dritte Strophe des Deutschlandlieds zu
schien, Symbole der Nation erhalten zu SA („Die Fahne hoch, die Reihen dicht ge- singen, „ein heiliges Gelöbnis, dass wir ein
wollen oder neue zu finden, selbst als die schlossen“) verbunden worden war? Sozial- einiges Volk, ein freies Volk und ein fried-
Teilung in zwei Staaten schon im Gange demokraten drohen mit dem Auszug aus liches Volk seien wollen“. Nicht alle, aber
war. Gab es ein Deutschlandgefühl, das der Sitzung, sollte das Lied gesungen wer- viele stimmen begeistert ein. Das Tondoku-
die Teilung überstand? den. Ein Kompromiss wird gefunden. Als ment ist beeindruckend.
Neben den klaren Daten – Fakten wie der Bundestag am 7. September 1949 zu Der SPIEGEL berichtet über den Auf-
Staatsgründung, Mauerbau und Mauer- seiner ersten Sitzung zusammenkommt, tritt Adenauers: „Der Kanzler zeigte sich
fall – gibt es auch eine Kulturgeschichte, wird Musik von Beethoven gespielt – als starker Mann gegenüber dem Londoner
in der es um Gedanken und Gefühle, um deutsch, feierlich und unverdächtig. und Pariser Porzellan … Das Sanges-Echo
Fahnen, Hymne, Tradition und Sprache Auch im Osten wird der Wunsch nach aus dem Ausland war wenig freundlich …“
geht. Diese Geschichte deutscher Identität nationalem Liedgut laut. Er geht aber in Ein wenig Stolz klingt durch, dass einer
spielt sich auf anderen Ebenen ab als das, diesem Fall direkt von den Regierenden den Westmächten eins ausgewischt hat.
was gemeinhin „große Politik“ genannt aus. Wilhelm Pieck, erster Präsident der Und die Westalliierten sind wirklich ver-
wird. Deutschland als Staat lag 1945 in DDR, schreibt deshalb an Becher und hat ärgert. Der Minister für gesamtdeutsche
Trümmern, aber als Kulturnation und Er- den Wunsch nach einem Refrain, der die Fragen, Jakob Kaiser, spricht von einem
innerungsgemeinschaft lebte Deutschland „Einheit Deutschlands“ zum Inhalt haben „schönen Staatsstreich“. Heuss wiederum
(offenbar) weiter. Der SPIEGEL titelt mit solle. Einen Monat nach der Gründung der ist erzürnt, er fühlt sich hintergangen.
einem Zitat Heinrich Heines: „Denk ich DDR erklingt die neue Nationalhymne. Dieser Kulturkampf sagt vieles über die
an Deutschland in der Nacht“. Am 7. November 1949 wird sie erstmals in innere Beschaffenheit der Deutschen aus,
Worüber debattieren Menschen, deren der Deutschen Staatsoper in Berlin vor- über die Seelenlage der Nation. Deutsch-
Land in Schuld und Asche liegt? Nicht nur getragen. Bechers Text beginnt mit den land ist kaputt, aber das, was man damals
über Lebensmittelmarken, das tägliche Zeilen „Auferstanden aus Ruinen, und der noch Deutschtum nannte, lebt weiter. Zwi-
Brot. Auch über Symbole der Nation. Es Zukunft zugewandt“. Die zentrale Bot- schen der „Sowjet-Zone“ und der „Ade-
scheint ein Bedürfnis danach zu geben, in schaft lautet: „Deutschland einig Vater- nauer-Republik“ tobt zwar ein Propagan-
Ost und West. Am 9. August 1949 er- land“. Die Hymne wird stürmisch bejubelt. dakrieg über tatsächliche und angebliche
scheint in der Zeitung „Rheinpfalz“ ein Die DDR hat somit etwas erreicht, was „Kriegstreiber“, über tatsächliche und an-
Artikel eines CDU-Politikers namens ihr danach höchst selten gelingen wird: ein gebliche Offerten zur Vereinigung Deutsch-
Albert Finck. Jedes Volk, schreibt er, habe Bedürfnis schneller zu befriedigen als die lands, über Kapitalismus und Sozialismus.
„das Bedürfnis, den Idealen, auf denen Bundesrepublik Deutschland. Aber es gibt auch eine Geschichte der Ge-
sein politisches Dasein beruhen soll, im Die Staatsführung West ist gespalten. meinsamkeiten: Beide Staaten und deren
feierlichen Gemeinschaftsgesang Aus- Bundespräsident Theodor Heuss mag das Lenker, ob Demokraten oder Kommunis-
druck zu verleihen … Es erhebt sich nun Deutschlandlied nicht, das Hoffmann von ten, haben an einer Zukunft Deutschlands
die Frage: Was nehmen wir als vorläufiges Fallersleben 1841 auf der Insel Helgoland keinen Zweifel. Nation ist noch nicht zum
Bundeslied? Wie steht es in dieser Hin- verfasst hat. Für ihn scheint es unvorstell- Unwort geworden. Dennoch vertiefen bei-
sicht mit unserem früheren Deutschland- bar, dass dieses Deutschlandlied oder nur de Seiten die Spaltung, unter reger Beihilfe
lied? Wie wäre es, wenn wir die dritte Passagen daraus zum Neuanfang taugen. oder Anleitung der jeweiligen Besatzer.
SPIEGEL-Herausgeber Augstein agiert
ein wenig wie einst die deutschen Re-
Auszug aus dem SPIEGEL vom 6. Dezember 1947 bellen unter napoleonischer Besatzung.
Der SPIEGEL kritisiert und stichelt gegen
Dass der Dichter Johan- Russen, Amis und ihre deutschen Helfer:
nes R. Becher im SPIEGEL Konrad Adenauer, Walter Ulbricht. Über
publiziert, ist bemerkens- die Jahre schafft es Ulbricht siebenmal
wert. Becher ist Kom- auf den SPIEGEL-Titel. 1962 fordert Aug-
munist und ein Weggefährte Wilhelm stein: „Erdrückt Ulbricht, indem ihr ihn
Piecks, der 1949 erster Präsident umarmt!“
der DDR wird. Der aus München stam- Vorerst Wunschdenken. In der DDR ruft
mende Becher war in Moskau im die SED zum Aufbau des Sozialismus, ihre
Exil und schwärmte von Stalin. „Eine Macht basiert auf der sowjetischen Mili-
Seite für“ hieß damals eine regel- tärpräsenz. Der 17. Juni 1953 führt dies
mäßige Rubrik im SPIEGEL – dass jedem vor Augen. Als sowjetische Panzer
auch Becher sie füllen durfte, lag an in Ostberlin auffahren, ist der Arbeiter-
Augsteins liberalem Geist und der aufstand beendet. Das Ende einer Illusion
Tatsache, dass er ein bekennender von Gemeinsamkeit?
Deutscher war, der die Teilung nicht „Deutschland“ wird Fußballweltmeister,
hinnehmen mochte. Dies verband ihn 1954 mit dem „Wunder von Bern“ siegt of-
mit Becher, der bis zu seinem Tod fiziell Westdeutschland, aber als Helmut
1958 für die Einheit Deutschlands Rahn das entscheidende Tor schießt, kennt
warb. Die ganze Geschichte lesen Sie der Jubel keine Zonengrenzen.
unter spiegel.de/spiegel/print/ Rudolf Augstein kommentiert im August
d-41123815.html oder in der App. 1954 im SPIEGEL die Lage des Landes:
32 DER SPIEGEL 1 / 2017
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„Ein Volk kann noch so folgsam und er- „Tüchtigkeitsprotzentum“, wie er schreibt. tung in der Deutschen Demokratischen Re-
folgreich sein und trotzdem seine Zukunft Der Westen hat vor allem eines: die star- publik die Lebenshaltung in Westdeutsch-
verfehlen. Es wäre unsäglich und unaus- ke Westmark. Der Osten leidet dagegen land schon 1961 übertrifft.“
denkbar, wenn ... über den getünchten an zu viel von derselben Partei, unter der Immerhin, der Boden ist noch „deutsch“.
Trümmern der Nation endgültig das baby- Kollektivierung der Landwirtschaft und Und wider Willen hat Ulbricht etwas für
lonische Verdikt erschiene: mene, tekel, der Planwirtschaft, die jede Eigeninitiative die Einheit der Nation getan: Er hat Leben
upharsin: gezählt, gewogen – geteilt.“ erdrückt. In der Rede des DDR-Partei- und Lebensstandard der Deutschen in der
Danach sieht es allerdings aus. Und doch und Staatschefs Walter Ulbricht am 10. Juli „kapitalistischen BRD“ zum Maßstab des
kommt es anders. Eine Rede von Walter 1958 heißt es: „Auf deutschem Boden ste- eigenen Erfolgs erklärt. Unfreiwillig be-
Ulbricht hat damit zu tun, Ende der Fünf- hen sich Sozialismus und Kapitalismus ge- fördert Ulbricht damit die Fluchtwelle von
zigerjahre. Es ist die Zeit, da der Westen genüber. Unsere Aufgabe ist es darum, in Ost nach West, denn der kürzeste Weg
Deutschlands das sogenannte Wirtschafts- Deutschland, im Lande von Karl Marx und zum Lebensstandard des Westens ist im-
wunder erlebt, derart schnell, dass es man- Friedrich Engels, die Überlegenheit der so- mer noch der über die Grenze. Ob Ulb-
chen heimkehrenden Emigranten fröstelt: zialistischen Gesellschaftsordnung auf al- richt merkt, was er angestellt hat? Jeden-
Der bayerische Dichter Oskar Maria Graf len Gebieten praktisch zu beweisen … Es falls zieht er die Notbremse. Kurz nach-
fühlt sich abgestoßen vom westdeutschen ist durchaus möglich, dass die Lebenshal- dem er erklärt hat, niemand habe die Ab-
Ausgabe 4/1953 Ausgabe 50/1958 Ausgabe 29/1959 Ausgabe 13/1970 Ausgabe 19/1970
„Leninbärtiger Parteidikta- Moskau verlangt den Abzug Was will DDR-Verteidigungs- „Willy!“-Rufe: Kanzler Brandt Abschied von
tor“ – SED-Chef Ulbricht der Westalliierten minister Willi Stoph? besucht die DDR Großdeutschland
Mauerabriss in Berlin am 12. November 1989: „Die vier Siegermächte sollen aus Berlin verschwinden“
sicht, eine Mauer zu bauen, lässt er genau sche Republik“ mit „einer deutschen und freuen?“ Des Deutschen „sittliche
dies am 13. August 1961 tun. Staatsbürgerschaft“. Erst 1968 ändert das Größe, sie wohnt in der Kultur und im
Trotz Mauer, Schießanlagen und Sta- die DDR. Die DDR wird zum „sozialisti- Charakter der Nation, der von ihren poli-
cheldraht: Der Westen ist Vorbild. Das ist schen Staat deutscher Nation“ umdekla- tischen Schicksalen unabhängig ist …“ Li-
das Problem der DDR bis zum Schluss. riert. Die „deutsche Nation“ wird 1974 aus teratur bietet in der räumlich wie geistig
Westgeld ist in der DDR wertvoller als die der Verfassung der DDR getilgt, was prak- engen DDR die Chance zu gedanklicher
eigene Währung, für Westgeld verhökert tisch vor allem eine Auswirkung hat: Die Weltläufigkeit.
die klamme Staatsführung am Ende alles: DDR-Hymne wird nur noch orchestral prä- Und dann ist da glücklicherweise einer,
vom Pflasterstein bis zum politischen Häft- sentiert, „Deutschland einig Vaterland“ den heutige Kurzdenker als „Russlandver-
ling. Ost- wie Westdeutsche orientieren passt nicht mehr ins Konzept der SED. In steher“ diffamieren würden. Klar will er
sich genauso – sie blicken gen Westen. Die Schulbüchern werden nur noch die Noten Russland verstehen, muss er sogar, denn
Westdeutschen schauen, wie Franzosen, der DDR-Hymne gedruckt. dort muss er hin. Kanzler Willy Brandt
Briten und US-Amerikaner leben: Die jün- So merkt jeder, dass irgendetwas nicht fährt nach Moskau. „Wandel durch Annä-
geren Westdeutschen sind begeistert von stimmt im Staate DDR. herung“ heißt diese Politik, und sie bringt
Demokratie, Jeans und Beatles. Jüngere Den Klügeren unter den SED-Ideologen nicht nur ein Gefühl der Entspannung, son-
Ostdeutsche wiederum schauen, was sie und SED-Historikern fällt immerhin auf, dern reale Ergebnisse. Die Mauer wird
von dem übernehmen können, was sich dass diese Wurzelresektion, die jegliche durchlässiger. Bei seinem ersten Besuch in
die Westdeutschen von ihren westlichen Herkunft zur „deutschen Nation“ kappt, der DDR wird Brandt bejubelt.
Besatzern abgucken, die sich langsam zu auch jegliches Heimatgefühl unmöglich Rudolf Augstein und die Redaktion des
Partnern wandeln. Insofern gilt die West- macht. Sie brechen einige ihrer Meinung SPIEGEL unterstützen die Entspannungs-
bindung kulturell für ganz Deutschland. nach brauchbare Figuren aus dem Zen- politik der Koalition aus SPD und FDP. Sie
Die Mauer hält Menschen auf, nicht tralmassiv der deutschen Geschichte: Al- sind Brandt-Versteher. Augstein, Mitglied
aber Gedanken, sie schließt auch nicht die lein mit Karl Marx und Ernst Thälmann der FDP, kommentiert am 15. Mai 1972:
Ohren für westliche Rundfunksender. Der ist kein Staat zu machen. Und deshalb re- „Die Nachkriegszeit, oft schon totgesagt,
SPIEGEL beispielsweise ist im Osten nur klamiert die DDR nun Martin Luther, Tho- geht nun wirklich auch formal zu Ende,
als Schmuggelware zu bekommen; Funk- mas Müntzer, Gerhard von Scharnhorst, wenn der Bundestag, wie nicht mehr an-
tionäre lesen ihn, aber fürs Volk ist er tabu. alle und alles, was irgendwie nach Fort- ders zu erwarten, noch in dieser Woche
Rundfunk und Fernsehen bilden der Nation schritt klingt, für sich. Der Zugang zur die Verträge mit Polen und der Sowjet-
eine Brücke. Und noch immer gibt es auch klassischen deutschen Literatur ist ohnehin Union ratifiziert. Die Koalitionsregierung
in der DDR Einrichtungen, die das Wort offen: Goethe, Schiller, Lessing sind jeder- zwischen SPD und FDP hat ihre Probe
Deutschland im Namen führen – vom zeit lesbar im Arbeiter-und-Bauern-Staat. aufs Exempel bestanden … Außenpolitisch
Deutschen Roten Kreuz bis zur Deutschen Auch Schillers fragmentarischer Text über ist der Durchbruch in freies Land gelungen,
Reichsbahn. Auch nach dem Bau der Mau- „Deutsche Größe“, in dem es heißt: „Darf dank Brandt, dank Scheel.“ Bemerkens-
er gilt in der DDR noch die Verfassung des der Deutsche in diesem Augenblicke, wo wert ist die Titelzeile zum Abschluss des
Jahres 1949: „Deutschland“ ist danach er ruhmlos aus seinem tränenvollen Kriege Grundlagenvertrags: „Ein Volk? Ein Reich?
noch immer eine „unteilbare demokrati- geht … Darf er sich seines Namens rühmen Eine Nation?“
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Der SPIEGEL ergreift Partei für die Ost- te nicht wiedervereinigt werden. Mich des Deutschlandlieds zu verbinden. Und
politik, aber er verfällt nicht in den Flüs- drängt nichts in jenen Reichsverband zu- es gibt den Vorschlag, Bert Brechts Kin-
terton, wenn es um Menschenrechtsver- rück, über dessen Wiege das Schwert hing derhymne aus dem Jahr 1949 fürs neu ver-
letzungen im Osten geht: Der SPIEGEL be- und dessen Segnungen in gut 40 halbwegs einte und nicht zurückgeeinte Deutschland
richtet über die Dissidentenszene, über friedlichen, viertelwegs demokratischen zu nehmen. So heißt es bei Brecht in Stro-
Wolf Biermann, und 1977 fragt das Blatt: Jahren vom größenwahnsinnigen End- phe eins und vier:
Ist der Kommunismus am Ende? galopp in den Ersten Weltkrieg bei Weitem Anmut sparet nicht noch Mühe
Auch Helmut Schmidt fährt in den Os- überragt wurden. Wenig verbindet mich Leidenschaft nicht noch Verstand
ten. Und Helmut Kohl, 1987, empfängt mit den einzig demokratischen, aber Daß ein gutes Deutschland blühe
DDR-Staatschef Erich Honecker. In den schnell vom Wurm des Selbstzweifels und Wie ein andres gutes Land.
Kommentaren ist nun wieder häufiger der Not aufgefressenen 14 Jahren der Wei- Und weil wir dieses Land verbessern
vom „Zusammengehörigkeitsgefühl aller marer Republik. Und was sollte mich mit Lieben und beschirmen wir’s.
Deutschen“ die Rede. Selbst Honecker den hysterischen zwölf Jahren des Dikta- Und das Liebste mag’s uns scheinen
scheint dies zu spüren. tors Gröfaz verbinden, dem perversen So wie andern Völkern ihrs.
Aber der Glaube an ein Land, eine Na- Reichszernichter und seinen braunen Hor- Der Vorschlag wird abgelehnt. Es bleibt
tion, einen Staat, an Deutschland? Die den? … Lasst uns diesen Unfug der ‚Wie- bei Strophe drei von Hoffmann von Fal-
Deutschen haben sich an die Mauer ge- der‘-Vereinigung vergessen …“ lersleben.
wöhnt. Wer am Rhein, an der Saar oder Aber da ist der Nationalist und Patriot Hier könnte die Spurensuche nach
an der Mosel lebt, der kann sie leichter Augstein, der widerspricht und eine Woche Deutschland ihr friedliches Ende nehmen.
vergessen als die Menschen an der Spree. später fragt: „Warum eine Mauer mitten Könnte. Aber im Jahr 2016 sorgt die Zu-
Auch an der Alster wird die Einheit nicht durch Deutschland, wo doch alle Mauern wanderung erneut für Debatten über
unbedingt herbeigesehnt. In der SPIEGEL- bis zum Ural fallen sollen? Warum ein ge- Deutschland. Am Reichstagsgebäude steht:
Redaktion arbeiten nun auch viele jüngere teiltes Berlin, wo doch für Jerusalem trotz „Dem Deutschen Volke“.
Kollegen, die mit dem Osten wenig am aller ethnischer Annexionsprobleme gelten Wer gehört dazu, zum deutschen Volk,
Hut haben, die sich in der Toskana besser soll und gelten wird: Zweigeteilt? Niemals. wer will, wer soll, wer darf? Wer ist das
auskennen als in der Lausitz. Dies falsche Gewicht wird die junge Gene- Volk? Eine neue, andere Teilung wird sicht-
Selbst Martin Walser glaubt 1988 nicht ration, weil das nämlich nichts mehr mit bar. Ein Teil der Deutschen fürchtet um
mehr an Deutschland, ein „Wort, brauchbar Auschwitz zu tun hat, nicht mehr mittragen.“ das, was er für deutsch hält, er kann es
für den Wetterbericht“, wie er findet. Aber Der Riss geht durch die Redaktion. schlecht beschreiben. Er klammert sich an
dann kommt der Moment, in dem das Wort Und nicht nur durch die. Worte – Nation, Heimat, Abendland.
Deutschland in den Nachrichten vom Wet- Für einen Teil der Westdeutschen ist Ein anderer Teil, weltgewandt, kann da-
terbericht nach ganz vorn rückt. Auf dem Deutschland ein Schreckenswort. Sie grö- mit nichts anfangen; deutsch, das ist für
Titel bejubelt der SPIEGEL im Oktober 1989 len „Nie wieder Deutschland“. Sie sind – ihn deutsch-national und damit nationalis-
das „Volk ohne Angst“, womit die Ostdeut- würde man heute sagen – germanophob. tisch; Volk, das ist völkisch.
schen gemeint sind, die die SED und die Es wirkt ihnen fremd, wenn jemand wie Ein Wettbewerb der Verdächtigung ist
Mauer wegdemonstrieren. Aber die Bericht- der märkische Schriftsteller Günter de in vollem Gange. „Nazis“ rufen die einen,
erstattung vieler Blätter über den Osten Bruyn 1990 dazu rät, sich auf die verbin- „Volksverräter“ die anderen. Wohin das
und seine Bewohner steckt dennoch voller dende Kraft der Kulturnation zu besinnen. führt?
Häme und Geringschätzung. Leute, die ko- Sie sind so maßlos nicht deutsch, wie an- Ungewiss.
mische Sachen tragen und Pornoshops stür- dere im Übermaß deutsch sein wollten. Was hilft?
men. Wenn man manche Texte liest, sieht Augsteins Wunsch geht in Erfüllung: Vielleicht Johannes R. Becher lesen,
man, wie sich die Autoren den Bauch hal- „Und darum sollen alle vier Siegermächte Thomas Mann, Rudolf Augstein.
ten, hahaha. Wir, mit denen – ein Volk? aus Berlin verschwinden, sofern sie sich Oder: Hymnen singen? Vielleicht auch
Im SPIEGEL warnt der stellvertretende über eine neue Friedensordnung einigen das. Wie wäre es mit der Kinderhymne?
SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine vor können“, schreibt er in seiner Antwort an
dem „Gespenst des vierten Reiches“. Chef- Böhme. Wieder wird darum gerungen, wel- Zum Artikel: „So fingen wir an,
redakteur Erich Böhme schreibt sich in der cher Text und welches Lied zu diesem so wurden wir angefangen“
Ausgabe vom 30. Oktober 1989 die eigene Deutschland passen. Es gibt Experimente, (SPIEGEL Sonderheft 1/1997)
Angst vor dem Volk vom Leib: „Ich möch- den Text der DDR-Hymne mit der Melodie spiegel.de/sp012017_40er_2
Ausgabe 33/1989 Ausgabe 46/1989 Ausgabe 17/2008 Ausgabe 29/2014 Ausgabe 51/2015
Flucht, Demonstrationen: Die Mauer ist offen, Das vereinte Volk gibt neue Nach der WM – ein freund- Weiterhin: Schwierigkeiten
Der Osten steht auf alles scheint möglich Rätsel auf liches Deutschland? mit dem Fremden
Leitmedium statt
Medium light
Die REWE Group gratuliert dem SPIEGEL
zum 70. Geburtstag.
www.rewe-group.com
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SPD
38 DER SPIEGEL 1 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
KaelDesu deutschlernmaterialien.blogspot.com
Deutschland
RAF-Überfälle
Überweisungen aus liert werden“. Es sei wichtig,
Schwere Folgen
waffen ausgelegt ist, drang
eine Kugel in die Fahrerkabi- der Terrorhochburg „dass man die Geldflüsse der
Terroristen stoppt“, hatte
ne ein und blieb in der Lehne Die Europäische Union könn- Kanzlerin Angela Merkel
für Geldboten stecken. Geldbote und Fahrer te mehr dafür tun, die Geld- zwei Tage nach den Anschlä-
Das flüchtige Trio ehemaliger hätten Therapien machen flüsse der Terrormiliz „Islami- gen von Paris im November
RAF-Mitglieder hat bei sei- müssen, sagt SVG-Chef Otto scher Staat“ (IS) zu stoppen – 2015 gesagt; 130 Menschen
nen Raubüberfällen mehrfach Wilhelms. Die Staatsanwalt- zu diesem Schluss kommen waren gestorben, Hunderte
traumatisierte Opfer hinter- schaft stuft die Tat als ver- die Wissenschaftlichen Diens- verletzt worden. Doch bis
lassen. So konnten nach ei- suchten Mord ein. Nach te des Bundestages. Dies sei heute ist die Filiale der Com-
nem Raub im Juni 2015 zwei einem anderen Überfall war „aus technischer Sicht keine mercial Bank of Syria in Rak-
Mitarbeiter der Firma SVG ein Bote ebenfalls monate- Schwierigkeit“, heißt es in ka, der Hochburg des IS, im
15 Monate lang nicht arbei- lang krankgeschrieben. bhu dem Gutachten. In einer zwei- internationalen Finanzkom-
STAATSANWALTSCHAFT VERDEN / DPA
ten. Laut Polizei hatten Burk- ten Expertise schreiben die munikationsnetz Swift als ak-
hard Garweg, Daniela Klette Fachleute, dass es dafür auch tiv gemeldet. „Dass man an-
und Ernst-Volker Staub den eine rechtliche Grundlage geblich Krieg gegen Terror
Geldtransporter vor einem gebe: Die Regierungen der führt, aber der IS Geld nach
Supermarkt bei Bremen mit EU-Staaten könnten beschlie- und durch Europa schicken
einem Schnellfeuergewehr ßen, „dass Banken in vom IS kann, ist absurd“, kritisiert
beschossen. Da die Panze- besetzten Gebieten vom Zah- der Europaabgeordnete der
rung nicht für solche Kriegs- Fahndungsfotos lungsverkehr mit Banken au- Linken Fabio De Masi. mbe
Deutschland
„Funktionstyp Akteur“
Terror Der Attentäter von Berlin machte aus seinen Anschlagsplänen
keinen Hehl. Landes- und Bundesbehörden wussten, dass
er gefährlich war – und stoppten ihn dennoch nicht. Warum?
S
einen Fluchtweg wählte Anis Amri los mehreren Terrorpremieren beiwohnte: des Staates. Auch wenn klar ist, dass zu
so, als wollte er ein letztes Mal die in Würzburg der erste schwere Anschlag allem entschlossene Gewalttäter sich nie
Behörden narren. Als wäre es ein im Namen der Terrormiliz „Islamischer mit hundertprozentiger Sicherheit stoppen
Kinderspiel, reiste er Hunderte Kilometer Staat“ (IS), in Ansbach das erste Selbst- lassen werden.
quer durch Europa, zunächst nach Holland, mordattentat auf deutschem Boden – und Die lange Reise des Anis Amri beginnt
dann nach Frankreich, ausgerechnet Frank- nun in Berlin die erste Attacke im Namen im Frühjahr 2011. Aus Angst vor Verfol-
reich, wo seit November 2015 der Ausnah- des IS mit einer großen Zahl ziviler Opfer. gung macht sich der damals 18-Jährige auf
mezustand herrscht, um Terroristen besser Und weil jedes Mal Flüchtlinge oder den Weg nach Europa. Und in seinem Fall
aufspüren zu können. eher: Kriminelle, die sich als Flüchtlinge ist die Angst durchaus berechtigt, die Ver-
Von Chambéry aus setzte sich der Tu- ausgaben, die Täter waren, schwillt die folgung aber auch: Er wird in seiner Hei-
nesier dann am Abend des 22. Dezember Diskussion darüber gerade wieder an, ob mat von den Behörden gesucht – weil er
in einen Zug nach Turin, wo er drei Stun- der Staat vor allem warmherzig oder wehr- einen Lastwagen gestohlen haben soll.
den lang blieb. Schließlich, es war 22.54 haft zu sein hat. Beides zusammen scheint Seine kriminelle Karriere setzt er in Ita-
Uhr, verließ er unbehelligt den Bahnhof nach den Debatten eines Jahres, in dem lien nahtlos fort. Nachdem er sein Alter
Porta Nuova – und näherte sich der letzten der Alarm- zum Normalzustand geworden zu niedrig angegeben hat, kommt er im
Station seines Lebens. ist, kaum mehr möglich. sizilianischen Belpasso in einer Flüchtlings-
In Sesto San Giovanni bei Mailand, Noch ist nicht ausgemacht, welche Feh- unterkunft für Minderjährige unter.
mehr als 800 Kilometer von Berlin entfernt, lerkette dazu führte, dass kurz vor Weih- Zusammen mit vier weiteren Tunesiern
endete am frühen Morgen des 23. Dezem- nachten zwölf Unschuldige vor der Berli- legt er dort am 24. Oktober 2011 Feuer und
ber die lange Reise des Anis Amri. Nach ner Gedächtniskirche sterben mussten. verprügelt einen Angestellten. Er muss da-
einem Schusswechsel mit zwei Polizisten Und noch ist unklar, wer dafür die Haupt- für in den Knast. Während seiner fast vier-
lag der 24-Jährige tot auf der Piazza 1 Mag- verantwortung trägt. jährigen Haftzeit droht er einem christ-
gio. Bei ihm fanden die Ermittler mehrere Aber bereits jetzt zeichnet sich ab, dass lichen Mithäftling: „Dir schneide ich den
Handys, Sim-Karten und 1005 Euro in bar. womöglich nur ein parlamentarischer Un- Kopf ab.“
Der Rucksack, in dem er wohl seine Pistole tersuchungsausschuss das Chaos, das zum Schon damals ahnen die italienischen
versteckt hatte, enthielt auch eine Zahn- verheerendsten Anschlag seit dem Okto- Behörden, dass ihnen da kein gewöhnli-
bürste, eine Plastikflasche Shampoo made berfestattentat von 1980 führte, wird klä- cher Krimineller ins Netz gegangen ist. Die
in Germany und ein paar Hygieneartikel. ren können. Das könnte Monate, wenn Polizei in Catania beschreibt in einem Ver-
Der Mann, der Deutschland erschütterte, nicht Jahre dauern. merk den fundamental-islamistischen
wollte offenbar bis zuletzt eine gepflegte Die politischen Reflexe aber haben Glauben und den gewalttätigen Charakter
Erscheinung abgeben. schon eingesetzt. Allen voran Horst See- Amris.
Eine Woche liegt der Showdown von hofer und seine CSU verlangen ein neues Einzelheiten über ihn werden während
Sesto inzwischen zurück. Und während Asylsystem, das am Ende weniger ein seiner Haftzeit ans Komitee für strategi-
über Weihnachten die Erleichterung darü- Hilfs- als eher ein Abschreckungsinstru- sche Anti-Terror-Analysen übermittelt, das
ber dominierte, dass zumindest dieser „Ge-
fährder“ nicht mehr frei herumlief, stellt Im Knast drohte er einem Mithäftling:
sich seither immer drängender die Frage,
wieso Amri eigentlich nicht früher ge- „Dir schneide ich den Kopf ab.”
stoppt werden konnte.
Tag für Tag sickern neue Details durch, ment wäre. Neue Sicherheitsgesetze sollen direkt dem italienischen Innenminister un-
die belegen, wie ungehindert der Tunesier schnellstmöglich folgen, als hätte es all die tersteht. Der Tunesier, so vermuten die Be-
durch die Lücken des Asylsystems spazier- Sicherheitspakete der vergangenen Jahre hörden, könnte womöglich einen Terror-
te. Wie er sich unter den Augen der deut- nie gegeben. Zu Beginn des Bundestags- anschlag verüben.
schen Sicherheitsbehörden radikalisierte. wahljahrs paart sich die Angst vor dem Die Italiener wollen Amri daher so
Wie er offenbar mühelos in Berlin einen Terror mit der Angst vor Populisten – und schnell wie möglich loswerden. Nachdem
Lkw-Fahrer erschießen, dessen Lastwagen droht den Blick zu trüben. er am 18. Mai 2015 aus der Strafhaft ent-
rauben und damit elf Zufallsopfer töten Dabei zeigt die Geschichte des Anis lassen wird, stecken sie ihn ins Zentrum
konnte. Und wie schnell sich der mutmaß- Amri vor allem eines: dass Gesetze nur für Abschiebehäftlinge im sizilianischen
liche Attentäter vor der Gedächtniskirche dann Sinn ergeben, wenn sie auch ange- Caltanissetta. Da sich die tunesischen Be-
scheinbar in Luft auflöste, bevor er vier wendet werden; dass in einem föderalen hörden jedoch weigern, Amri zurückzu-
Tage später nahe Mailand wieder auf- Staat viel nicht immer viel hilft, sondern nehmen, wird er freigelassen mit der Auf-
tauchte. mitunter dazu führt, dass niemand sich forderung, Italien zu verlassen. Amri
All das hat das Zeug dazu, das ohnehin verantwortlich fühlt. taucht unter – und rund zwei Monate spä-
angekratzte Vertrauen in die Stärke des Die Fehler und Versäumnisse im Um- ter in Deutschland wieder auf.
Staates zu erschüttern. Eines Staates, der gang mit Amri aufzuklären und daraus Welchen Weg der junge Mann damals
im ablaufenden Jahr 2016 anscheinend hilf- Konsequenzen zu ziehen ist Kernaufgabe wählte, wird sich womöglich nicht mehr
40 Behörden
kooperieren im Rahmen
des Gemeinsamen
Terrorismusabwehr-
zentrums (GTAZ) zur
Bekämpfung des islamis-
tischen Terrorismus.
• Bundeskriminalamt
• Bundesamt für
Verfassungsschutz
• Bundesnachrichten-
dienst
• Bundespolizei
• Zollkriminalamt
• Militärischer
Abschirmdienst
• Bundesamt
für Migration
und Flüchtlinge
• Vertreter des General-
bundesanwalts
••••••••••••••••
16 Landes-
HANNIBAL HANSCHKE / REUTERS
kriminalämter
••••••••••••••••
16 Landesbehörden
für Verfassungsschutz
Deutschland
zweifelsfrei klären lassen. Sicher ist nur, Eurodac überprüft. In Amris Fall kommt kommunikation zu überwachen. Das über-
dass er Ende Juli 2015 im Berliner Landes- dieses System um Monate zu spät. nimmt das Landeskriminalamt (LKA)
amt für Gesundheit und Soziales (Lageso) Dabei eröffnet die Staatsanwaltschaft Nordrhein-Westfalen.
registriert wird. Dort stellt er sich unter Duisburg im April 2016 sogar ein Verfah- Die Ermittler beobachten, wie Amri im
dem Namen „Ahmad Zaghoul“ vor und ren gegen ihn, es geht um den Verdacht Internet Informationen zum Bau von Rohr-
gerät bald ins Visier der Staatsanwaltschaft, des Betrugs: Amri soll im November 2015 bomben sammelt; auch soll er gegenüber
weil er auf dem Lageso-Gelände einem Sozialleistungen doppelt kassiert haben. einem Gewährsmann die Absicht geäußert
Wachmann die Faust ins Gesicht geschla- Im November 2016, wenige Wochen vor haben, aus Frankreich Waffen für einen
gen haben soll. Das Verfahren muss aller- dem Anschlag in Berlin, wird es vorläufig Anschlag zu besorgen. Die Rede ist offen-
dings eingestellt werden, weil „Zaghoul“ eingestellt – weil in Duisburg keiner weiß, bar von einer AK-47, demselben Typ
bald nicht mehr auffindbar ist. wo Amri ist. Schnellfeuergewehr, mit dem Terroristen
In diesem Sommer 2015 kommen täglich So verblüffend einfach es Anis Amri in im November 2015 in Paris Dutzende Men-
Tausende, im Herbst manchmal sogar diesen ersten Monaten in Deutschland schen massakrierten.
10 000 Flüchtlinge pro Tag nach Deutsch- auch gelingt, die Ausländerbehörden zu In einem Internetchat äußert Amri
land. Die überforderte Bundespolizei an foppen: Noch verblüffender ist, dass er schließlich: „Ich will heiraten, ich will der
der Grenze winkt Ankömmlinge in großer offen seine radikalen Ansichten äußert – Religion Gottes dienen.“ Die Fahnder
fürchten, dass es sich dabei um ein ver-
Amri registrierte sich unter mindestens klausuliertes Angebot handeln könnte, ei-
nen Selbstmordanschlag zu begehen.
neun Namen in Deutschland. Im Februar 2016 stuft das LKA Nord-
rhein-Westfalen Amri als Gefährder ein,
Zahl ohne ordnungsgemäße erkennungs- sodass die deutschen Sicherheitsbehörden dem jederzeit ein Anschlag zuzutrauen sei.
dienstliche Behandlung durch. Die Erst- schnell auf ihn aufmerksam werden. Im Behördenjargon wird er als „Funk-
registrierung findet häufig notdürftig in Bereits im Sommer 2015, kurz nach sei- tionstyp Akteur“ bezeichnet. Ihn weiter
den Bundesländern oder in Kommunen ner Einreise, geht bei der Polizei in Nord- im Blick zu halten wird dem LKA aber
statt. rhein-Westfalen der Hinweis ein, dass durch eine simple Tatsache erschwert: Just
Dort erhalten die Ankömmlinge mitun- Amri Kontakt zum „Islamischen Staat“ ha- in dieser Zeit verlegt Amri seinen Akti-
ter ohne besondere Kontrollen eine „Be- ben soll. Wenig später fällt der Tunesier onsradius im Wesentlichen nach Berlin.
scheinigung über die Meldung als Asyl- auch der Bundesanwaltschaft auf, die zu Dort beschäftigt sich kurz darauf erst-
suchender“, genannt Büma. Es ist ein Blatt dieser Zeit gegen den Hildesheimer Hass- mals das Gemeinsame Terrorabwehrzen-
Papier, manchmal sogar ohne Foto, das prediger Abu Walaa ermittelt. Amri soll trum (GTAZ) mit dem Tunesier. In dem
aber von Behörden als eine Art Behelfs- in dessen Gruppe die Rolle eines „Nach- Zentrum arbeiten seit 2004 alle Polizeien
ausweis akzeptiert wird und vorüberge- richtenmittlers“ spielen, das heißt, Bot- und Geheimdienste von Bund und Län-
hend auch zum Bezug von Sozialleistun- schaften Abu Walaas an Gefolgsleute wei- dern zusammen, um den islamistischen
gen ausreicht. tergeben. Terrorismus einzudämmen.
In mehreren Ländern und Kommunen Um ein Verfahren gegen den Tunesier Die Behörden schließen sich stets in un-
werden dafür nicht einmal Fingerabdrücke zu eröffnen, reichen die Hinweise aber an- terschiedlichen Runden zusammen. Meist
genommen. Und wenn doch, sind manche scheinend nicht aus. Deshalb erwirken die sind das Bundesamt für Verfassungsschutz,
der dafür verwendeten Computersysteme Karlsruher Ermittler im Frühjahr 2016 das Bundeskriminalamt, der Bundesnach-
nicht miteinander kompatibel. Dadurch einen Gerichtsbeschluss, um Amris Tele- richtendienst (BND) und die Bundesan-
können die Daten teilweise weder mit den waltschaft dabei – je nach Betroffenheit
Behörden der Nachbarländer noch mit der kommen Vertreter der Länder dazu. In
Fingerabdruckdatei des Bundeskriminal- Amris Fall, der das GTAZ noch häufiger
amts (BKA) abgeglichen werden. beschäftigen wird, sind das Nordrhein-
Wer es darauf anlegt, kann in diesem Westfalen und Berlin. Außerdem stößt in
Sommer also unter verschiedenen Namen der sogenannten AG Status das Bundes-
von Unterkunft zu Unterkunft ziehen, im- amt für Migration und Flüchtlinge (Bamf)
mer neue Bümas beantragen und Leistun- hinzu.
gen für Asylbewerber mehrfach erhalten. Die Runde beschäftigt sich mit den De-
Auch Anis Amri nutzt diese Situation tails, die die Kollegen aus Nordrhein-West-
offenbar weidlich aus. In den Monaten falen in Amris Gefährderdatei zusammen-
nach seiner Einreise meldet er sich unter getragen haben. Darin ist explizit von sei-
mindestens neun Namen unter anderem ner Absicht die Rede, einen islamistischen
in Oberhausen, Dortmund, Karlsruhe und Anschlag zu begehen.
Freiburg. Da er in manchen Erstaufnahme- Beweise jedoch habe es seinerzeit nicht
einrichtungen erst gar nicht erscheint, wird gegeben, sagt ein hochrangiger Ermittler,
er teilweise zur Aufenthaltsermittlung aus- und im Schwadronieren sei fast jeder der
geschrieben. rund 550 islamistischen Gefährder groß.
Erst im Frühjahr 2016 wird es den Be- Die Schwierigkeit bestehe darin, „den Un-
JÖRG GLÄSCHER / DER SPIEGEL
hörden gelingen, das Spiel mit Identitäten terschied zwischen Maulheldentum und
weitgehend zu unterbinden. Von da an realer Tatabsicht zu erkennen“. Jeden eng-
werden alle Asylbewerber schon bei der maschig zu überwachen sei unmöglich.
ersten Registrierung mit ihren Finger- Und selbst wenn die Motive eines Ge-
abdrücken in einem zentralen Kerndaten- fährders klar zu sein scheinen, sind sich
system erfasst. Die Fingerabdrücke erhält die Terrorbekämpfer im GTAZ nicht im-
auch das Bundeskriminalamt, das sie in Koalitionäre Merkel, Seehofer mer einig über die Konsequenzen. Einen
der europäischen Flüchtlingsdatenbank Den Kniefall vermeiden potenziellen Terroristen zu früh aus dem
Deutschland
geprüft werden. „Eine längere Verfahrens- Da meldet sich der marokkanische Ge- tualisiert wurde: Darin sollen zwei Berliner
dauer (drei Monate bis mehrere Jahre)“ heimdienst DST mit einer ungewöhnlich Adressen stehen, an denen sich der Tune-
sei bisher „die Regel“ – so stand es Anfang konkreten Botschaft bei den Kollegen vom sier „zurzeit“ aufhalte.
des Jahres in einem internen Bericht des BND und gleichzeitig beim Bundeskrimi- Fünf Tage später, am Abend des 19. De-
Auswärtigen Amtes. nalamt. Der Tunesier Anis Amri, heißt es zember, rast Amri mit einem 40-Tonner
Erst seit einem Besuch von Bundes- darin, beabsichtige, in Deutschland einen über den Breitscheidplatz. Vorher findet
innenminister Thomas de Maizière in Ma- Terroranschlag zu begehen. Auch Kontakt- er noch die Zeit, über den Messengerdienst
rokko, Tunesien und Algerien beginnt sich personen des Tunesiers nennen die Marok- Telegram ein Foto aus dem Führerhaus
das allmählich zu ändern. Vor allem Tune- kaner angeblich, von denen befindet sich und eine Sprachnachricht an einen Ver-
sien kommt den Deutschen neuerdings ein aber offenbar keine in Deutschland. trauten zu versenden: „Mein Bruder, alles
wenig entgegen: Bis Ende November 2016 Zu den vielen Fragen bei der Aufklä- ist in Ordnung. Ich bin jetzt im Auto. Hast
wird es gelingen, 117 abgelehnte Asyl- rung des Falles gehört jene, wie BND und du mich verstanden? Bete für mich, Bru-
bewerber nach Tunesien abzuschieben, sie- BKA die Depesche der Marokkaner – die der, bete für mich!“ Nach dem Anschlag
benmal so viel wie 2015. sich am 11. Oktober noch einmal an die verschwindet er unerkannt.
Anis Amri aber ist nicht darunter. Deutschen wenden – bewerten. Und ob Mit wem Amri vor seiner Wahnsinnstat
Eine der besten Gelegenheiten, Amri sie die Behörden in Berlin und Nordrhein- kommunizierte, ist eine der zentralen Fra-
doch noch loszuwerden, verstreicht am Westfalen davon unterrichten. Zweifel sind gen, denen die Ermittler nun nachgehen.
30. Juli ungenutzt: Bei einer Routinekon- angebracht. Die Berliner Justiz beteuert, Hatte er Helfer? In Berlin oder anderswo?
trolle in einem Fernbus nach Italien greifen nichts davon erfahren zu haben. Wo schlief er in den letzten Tage seiner
Polizisten den Mann in Friedrichshafen mit Und so stellt die Generalstaatsanwalt- langen Reise? Und wieso wählte er auf
gefälschten Reisedokumenten auf. Das schaft am 21. September, zwei Tage nach dem Weg nach Mailand eine so ungewöhn-
Amtsgericht Ravensburg ordnet daraufhin dem Geheimdiensthinweis, die Überwa- liche Route?
Haft an, aus der Amri, weil nach wie vor chung Amris ein. Ein Antrag auf eine wei- Erste Ermittlungsergebnisse legen nahe,
die nötigen Papiere fehlen, zwei Tage spä- tere Verlängerung der Maßnahme beim zu- dass er von Berlin aus ein letztes Mal nach
ter wieder entlassen wird. ständigen Gericht wäre aus Sicht der Er- Nordrhein-Westfalen fuhr. Dort loggte sich
Das Recht lässt prinzipiell einen weitaus mittler aussichtslos gewesen. Der Tunesier, am 20. Dezember jemand in das Facebook-
größeren Spielraum zu. Danach ist es heißt es bei der Justizbehörde, konnte vom Profil des Tunesiers ein und löschte es. Wo-
statthaft, jemanden für längere Zeit in Staatsschutz „in Berlin zu diesem Zeit- möglich, so eine These der Ermittler, nutz-
Abschiebungshaft zu nehmen, wenn der punkt nicht mehr festgestellt, Verbindun- te Amri selbst die Gelegenheit, ein knapp
Betreffende die Verzögerungen selbst „zu gen zu seinen früheren Kontaktpersonen dreiminütiges selbst gedrehtes Video an
vertreten“ hat, etwa weil er seine Papiere nicht beobachtet und er an den bekannten das IS-Sprachrohr Amaq zu senden, auf
vernichtet hat oder fehlende Koopera- Anlaufstellen, namentlich einer relevanten dem er den Ungläubigen, Kuffar genannt,
tionsbereitschaft an den Tag legt. Moschee, nicht mehr aufgenommen wer- des Westens mit einem Blutbad droht.
Die Haftdauer kann sogar bis auf 18 Mo- den“. Mit anderen Worten: Rund drei Mo- Von Nordrhein-Westfalen ist es ein Kat-
nate verlängert werden. Aber im Fall Amri nate vor seinem Anschlag wissen zumin- zensprung bis in die Niederlande, wo Amri
verstreicht womöglich die Chance, ihm dest die Berliner nicht mehr, wo der Ge- mit großer Wahrscheinlichkeit gewesen ist:
mithilfe des bereits geltenden Ausländer- fährder Amri überhaupt ist. In seinem Rucksack fanden die italieni-
rechts beizukommen. Mit neuen Gesetzen Aber gilt das auch für alle anderen Si- schen Ermittler eine noch eingeschweißte
allein sei es daher auch nicht getan, sagt cherheitsbehörden? Der Tunesier bleibt Sim-Karte, die nur in den niederländischen
der Konstanzer Asylrechtsexperte Daniel bundesweit von hohem Interesse. Im Ok- Städten Zwolle, Nimwegen oder Breda
Thym – vor allem gehe es darum, vorhan- tober werden die Sicherheitsbehörden auf- ausgehändigt worden sein kann. Von Nim-
dene Gesetze zu vollziehen. „Es gäbe da gefordert, alle Beobachtungen zu Amri wegen aus wiederum verkehren regelmä-
ßig Nachtbusse nach Lyon, wo Amri am
Aus dem Lkw sendete er die Nachricht: Nachmittag des 22. Dezember vor eine
Überwachungskamera lief.
„Bete für mich, Bruder, bete für mich.” Ob Amri seine letzten Tage auf der
Flucht nutzte, um etwaige Kontakte zu pfle-
viele Stellschrauben, man könnte eine dem Bundesamt für Verfassungsschutz zu gen, ist noch offen. Genauso wie die Frage,
Menge machen.“ melden. wieso er auf seiner Reise nach Mailand
Gäbe. Könnte. Im Berliner Terrorabwehrzentrum wird noch drei Stunden in Turin verbrachte.
So kann Amri sich weiter frei bewegen. Amri Anfang November – kurz bevor Abu Wo wollte Amri hin auf seiner Reise
Gut zwei Wochen später erhält er von der Walaa und mehrere Mitstreiter verhaftet durch Europa? Wer half ihm bei seinem
Ausländerbehörde in Kleve eine Duldungs- werden – noch einmal auf das sogenannte Plan, einen Sattelschlepper zu entführen
bescheinigung – ausgestellt auf seinen Info-Board gehoben. Nordrhein-Westfalen und zum Mordwerkzeug zu machen? Wer
Aliasnamen Ahmed Almasri. Offenbar kei- will in der Sitzung darauf gedrängt haben, leitete ihn an? Wie dicht waren ihm die Be-
ne Panne, sondern Kalkül: „Um die lau- dass Amri weiter im Auge behalten wer- hörden am Ende auf den Fersen? Und wer
fenden Ermittlungen und Überwachungs- den solle. Wenn das stimmt: Wissen zu ist verantwortlich für die Entscheidungen,
maßnahmen gegen Amri nicht zu gefähr- diesem Zeitpunkt zumindest manche in die dazu führten, dass ein überwachter Ge-
den“, so ein hochrangiger Sicherheits- der Runde doch noch, wo Amri steckt? fährder zu einem Massenmörder werden
beamter, „sollte er in Sicherheit gewiegt Darauf könnte ein behördliches Personen- konnte? Es gibt viele Fragen, aber wenig
werden.“ Auf Bitten der Sicherheitsbehör- profil Amris hindeuten, das nach Angaben belastbare Antworten. Es wird noch Mo-
den ließ das Bamf den Tunesier in dem des WDR letztmalig am 14. Dezember ak- nate dauern, bis manche der Rätsel vom
Glauben, es würde seinen wahren Namen Breitscheidplatz gelöst sein werden.
nicht kennen. Video: Der Fall So lange freilich wird man im Politik-
Dass Amri in der Zwischenzeit seine An- Anis Amris betrieb nicht warten. In der Bundespolitik
schlagspläne keineswegs aufgeben hat, spiegel.de/sp012017terror
hat das „blame game“ längst begonnen,
wird einmal mehr am 19. September klar. oder in der App DER SPIEGEL das in den etablierten Parteien kaum einer
so gut beherrscht wie Horst Seehofer. Ei- Olaf Scholz: „Es muss möglich sein, Ge- dere Stellen. Im Bundeskriminalamt jeden-
gentlich ist seit Monaten ein Friedensgipfel fährder, deren Asylantrag abgelehnt wur- falls fürchtet man nun, dass der Anschlag
von CDU und CSU geplant, bei dem Mer- de, in Abschiebehaft zu nehmen und aus all jenen Kräften im Land Auftrieb geben
kel zur gemeinsamen Kanzlerkandidatin der Haft abzuschieben.“ wird, denen jeder Politiker als verlogen
ausgerufen werden soll. Jetzt macht See- Merkel, die lange die Modernisierung und jedes Gesetz als zu lasch gilt. Es sei
hofer diesen davon abhängig, dass die der CDU betrieben hat, wird nach rechts „davon auszugehen, dass Asylbewerber
CDU-Chefin den sicherheitspolitischen gedrängt. Noch wehrt sie sich gegen die bzw. als solche von der rechten Szene an-
Forderungen aus Bayern folgt. Forderung, eine Obergrenze für Flüchtlin- gesehene Personen verstärkt in den Fokus
„Die Klausur Anfang Februar macht nur ge einzuführen – auch, weil dies wie ein etwaiger Gewaltstraftaten rücken“, heißt
dann einen Sinn, wenn wir uns bis dahin Kniefall vor Seehofer wirken würde. Des- es in einem internen BKA-Papier. Zudem
in den Grundzügen der Sicherheits- und sen Leute aber wollen hart bleiben. „Es müsse man befürchten, „dass auch die Agi-
Flüchtlingspolitik einig sind“, sagt See- war noch nie ein Problem, wenn ein Poli- tation zum Nachteil von vermeintlich poli-
hofer. „Die CSU möchte einen Gipfel der tiker nach einem einschneidenden Ereignis tisch Verantwortlichen fortbesteht und an-
Klarheit und nicht des Streits.“ seine Meinung geändert hat“, sagt ein Ber- lassbezogen weiter intensiviert wird“.
Kommende Woche wird die CSU-Lan- liner CSU-Minister. „Ein Problem gibt es Dass Verbrecher wie Amri es genau
desgruppe in Kloster Seeon ein Papier ver- nur, wenn die Politik aus solchen Ereignis- darauf anlegen, wurde kurz nach dem An-
abschieden, in dem sie eine lange Liste sen keine Konsequenzen zieht.“ schlag von Berlin in einschlägigen Inter-
von Gesetzesverschärfungen verlangt – Merkel würde das Thema Flüchtlinge netforen von Islamisten deutlich. Dort wur-
von der Ausweitung der Videoüberwa- und die Sicherheitsdebatte am liebsten aus de dazu aufgerufen, weitere Anschläge mit
chung über die Forderung, dass Gefährder dem Wahlkampf heraushalten; sie glaubt, Lastwagen oder Pkw zu begehen, um den
wie Amri zur Abschiebung in Haft genom- dass die Union dabei nicht gewinnen kann „Feind“ weiter zu terrorisieren. Man
men werden können, bis hin zur Verlän- und am Ende nur die AfD profitiert; See- brauche dafür auch keine Weihnachts-
gerung des Ausreisegewahrsams auf vier hofer dagegen will die AfD offensiv be- märkte – „jede Versammlung der Kuffar
Wochen. kämpfen, auch mit deren Themen. „Es ist ist ein Ziel“.
Niedersachsens Ministerpräsident Ste- völlig klar, dass die Zuwanderung nach Matthias Bartsch, Maik Baumgärtner, Sven Böll,
phan Weil hält nichts von derartigen Vor- Deutschland Fragen an die Sicherheits- Jörg Diehl, Hubert Gude, Dietmar Hipp,
stößen. „Wir müssen Sicherheit schaffen politik aufwirft“, sagt er. „Wir müssen die- Walter Mayr, Rene Pfister, Sven Röbel,
Jörg Schindler, Fidelius Schmid, Andreas Ulrich,
und nicht simulieren“, sagt der SPD-Poli- se Fragen beantworten und unsere Politik Andreas Wassermann, Wolf Wiedmann-Schmid
tiker. Was die CSU mache, sei „ein Kon- auch neu justieren, gerade nach dem An- Mail: joerg.schindler@spiegel.de
junkturprogramm für die AfD“. Andere schlag von Berlin. Die Bevölkerung erwar-
in der SPD wollen sich angesichts der Ter- tet das von uns.“ Lesen Sie auch auf Seite 84
rorlage weiteren Gesetzesverschärfungen Für die Reaktion der Bevölkerung inte- Besuch im Heimatort des Attentäters
nicht verweigern. So sagt etwa SPD-Vize ressieren sich unterdessen auch ganz an- Anis Amri
DER SPIEGEL 1 / 2017 45
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Deutschland
„Die Einladungspolitik
war falsch“
Europa Österreichs Außenminister Sebastian Kurz, 30, kritisiert
die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und zeigt
sich bereit, die Sanktionen gegen Russland zu lockern.
SPIEGEL: Herr Kurz, CSU-Chef Horst See- die deutsche Grenze für Zehntausende
hofer hat nach dem Terroranschlag in Flüchtlinge aus Ungarn geöffnet hat.
Berlin gefordert, die „gesamte Zuwande- Kurz: Meine Position war immer klar. Ich
rungs- und Sicherheitspolitik zu überden- habe diese Einladungspolitik für falsch ge-
ken und neu zu justieren“. Sehen Sie das halten. Als eines von wenigen Regierungs-
auch so? mitgliedern habe ich mich nicht an den
Kurz: Zunächst gilt es, der Opfer zu geden- Wiener Westbahnhof gestellt, um die
ken und ihre Angehörigen bestmöglich zu Flüchtlinge zu begrüßen. Dafür wurde ich
unterstützen. Darüber hinaus geht es scharf kritisiert, aber ich war davon über-
darum, wie wir auch in Zukunft ein Maxi- zeugt, dass mit dem Weiterwinken die Pro-
mum an Sicherheit garantieren können. bleme nicht kleiner, sondern nur größer
Ich sage bewusst „ein Maximum“, denn werden.
absolute Sicherheit wird es nie geben. SPIEGEL: Haben Sie die Bedenken auch da-
SPIEGEL: Also hat Seehofer recht? mals während der Gespräche mit der deut-
Kurz: Ich mische mich nicht in die inner- schen Regierung zu Protokoll gegeben?
deutsche Debatte ein. Aber ich kann Ihnen Kurz: Ich war immer dieser Meinung. Ich
meine Haltung sagen: Wir müssen diese habe auch schon im August 2015 als einer
neue Form der Bedrohung bekämpfen. der ersten Grenzkontrollen und Blitzver-
Und es wäre falsch, nur vom Terrorismus fahren verlangt. Richtig ist, dass meine Li-
zu sprechen. Dahinter steht der politische nie damals nicht mehrheitsfähig war, nicht
Islamismus als Basis. Das Problem darf einmal in meiner eigenen Partei, der ÖVP.
man nicht kleinreden, sondern muss es Damals war die Politik sehr durch Medien
beim Namen nennen. Der Kampf gegen und Nichtregierungsorganisationen getrie-
Radikalisierung wird einer meiner Schwer- ben, aber auch von dem Gefühl vieler Kurz: Man muss schon unterscheiden zwi-
punkte als OSZE-Vorsitzender sein, denn Menschen, das Richtige tun zu wollen. Die schen Einzelnen, die es mittels Schlepper
er betrifft alle. Wir müssen etwa die Finan- Schließung der Westbalkanroute, die wir schaffen, bis nach Mitteleuropa durchzu-
zierung von Islamisten genauso bekämp- hier von Wien aus organisiert haben, wur- kommen, und den 15 000 Menschen, die
fen wie die Hintermänner salafistischer de vor einem Jahr noch heftig gescholten. im Jahr 2015 zu Spitzenzeiten pro Tag zu
Koranverteilaktionen. Hier wird versucht, SPIEGEL: Sie meinen Kanzlerin Angela Mer- uns kamen. Es ist die Frage, ob wir ein
eine Gegengesellschaft aufzubauen, die kel, die gesagt hat, die Schließung der Bal- System unterstützen, wo sich immer mehr
die Art, wie wir in Europa leben, ablehnt kanroute habe das Problem nicht gelöst. Menschen auf den Weg machen und wir
und bekämpft, letztlich auch mit Terror. Kurz: Ich wurde damals von Regierungs- am Ende sogar die Züge und die Fähren
SPIEGEL: Hilft dabei eine Obergrenze für kollegen kritisiert, von Deutschland und bezahlen, damit die Menschen schneller
Flüchtlinge, wie Sie sie in Österreich be- Brüssel will ich gar nicht reden. Mittler- zu uns durchkommen.
reits eingeführt haben? weile höre ich fast nur noch Zustimmung. SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
Kurz: In erster Linie geht es um die Siche- SPIEGEL: Hat Frau Merkel Ihnen für die Kurz: Wir brauchen in Europa ein gänzlich
rung der europäischen Außengrenzen. Schließung der Balkanroute gedankt? neues Asylsystem. Zum einen können wir
Wenn wir nicht kontrollieren können, wer Kurz: Es geht nicht um Dankbarkeit, son- nicht mehr so viele Menschen aufnehmen
überhaupt in die EU einwandert und wer dern darum, jetzt den richtigen Weg fort- wie in den vergangenen zwei Jahren. Zum
hier lebt, dann ist das ein Sicherheitsrisiko. zusetzen. Da gibt es noch viel zu tun. anderen müssen wir künftig in den Kriegs-
Es wäre fatal, Flüchtlinge mit Terror gleich- SPIEGEL: Wie wollen Sie künftig die Außen- gebieten direkt auswählen, wer auf lega-
zusetzen. Aber auf der anderen Seite ist grenzen der EU sichern? lem Weg nach Europa kommen darf. Um-
es ein großer Fehler zu glauben, nur weil Kurz: Wir diskutieren oft nur über Grenz- gekehrt muss gelten: Wer sich illegal nach
einer als Flüchtling zu uns kommt, können schutz, dabei muss die Frage sein, wen wir Europa aufmacht, wird an den Außengren-
wir sicher sein, dass er niemals zum Straf- in Europa überhaupt aufnehmen wollen. zen gestoppt, versorgt und zurückgebracht,
täter oder Terroristen wird. Ich habe schon Unser Problem ist doch, dass wir die Men- so wie es Australien oder Spanien erfolg-
vor anderthalb Jahren gewarnt, dass die schen anziehen. Wir vernachlässigen nicht reich machen. Und wenn das nicht möglich
Flüchtlingsrouten auch von Terroristen ge- nur den Grenzschutz, wir tun auch nichts ist, werden sie in ein anderes sicheres
nutzt werden können. Das hat sich leider gegen den Sogeffekt, den wir auslösen. Gebiet außerhalb Europas gebracht. Dort
als richtig herausgestellt. SPIEGEL: Erzeugt das nicht eine Sicherheits- haben sie dann Schutz, aber nicht das
SPIEGEL: Es war die Regierung, der Sie an- illusion? Solange das Gefälle so groß ist, bessere Leben, das man sich in Europa er-
gehören, die gemeinsam mit Bundeskanz- ökonomisch wie gesellschaftlich, solange hofft hat.
lerin Angela Merkel am ersten September- wird es Versuche geben, mittels Schlep- SPIEGEL: Wollen Sie das Recht auf Asyl ab-
wochenende 2015 die österreichische und pern nach Europa zu kommen. schaffen?
46 DER SPIEGEL 1 / 2017
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ÖVP-Politiker Kurz
„Ich sehe diese Türkei nicht in der EU“
IMAGO STOCK
Altkanzler Schröder
Z
u den liebsten Geschichten, die Ger- Es ist in Schröders Erzählung nicht ganz der Sozialdemokratie geehrt wurden, le-
hard Schröder in diesen Tagen er- klar, wie es passierte, aber irgendwann bende und verstorbene. Er diskutierte mit
zählt, gehört die Geschichte seiner machte die Geschichte von seiner Weih- dem Philosophen Oskar Negt über dessen
missglückten Weihnachtskarte. nachtspost in Hannover die Runde, und Autobiografie, er war Laudator für ein
Er ist kein Freund großer selbst geschrie- dann erfuhr auch der niedersächsische Buch über Helmut Schmidt und stellte eine
bener Texte. Aber diesmal, vor Weihnach- Legasthenikerverband von der Karte. Der neue Biografie über Sigmar Gabriel vor.
ten, verfasste er eigenhändig einen Weih- Verband nutzte postwendend die Gelegen- Es gibt Leute, die ihm jetzt wieder auf die
nachtsgruß. „Frohe Weihnachten“ sollte heit, so Schröder, und schrieb ihm einen Schulter schlagen und sagen, Gerd, es wäre
da stehen, bevor er seinen „Gerhard Schrö- Brief. Er macht eine kurze Pause, damit eigentlich Zeit, „dass du mal wieder den
der“ daruntersetzte. Aber dann schrieb er, die Pointe seiner Geschichte besser zur Kanzler machst“. Der Altkanzler hört das
ohne den Fehler zu bemerken, „Frohe Wirkung kommt: „Sie haben mir Recht- gern, auch wenn es natürlich scherzhaft
Weinachten“, ohne h. schreibhilfe angeboten, auf Lebenszeit.“ gemeint ist.
Es ist eine Geschichte, die man norma- Ein Scherz auf seine Kosten, über den Elf Jahre nach dem Ende der Ära Schrö-
lerweise nicht freiwillig erzählt. Aber er herzlich lachen kann. Aber von seinen der sucht die SPD wieder Nähe zu dem
Schröder hat noch nie gemacht, was man Schwächen hat sich Schröder nie zurück- Mann, der ihr den letzten großen Wahlsieg
sollte. Er sitzt gut gelaunt in seinem Ber- halten lassen. Es ist für ihn eine Demon- in der Bundespolitik bescherte. Es ist ein
liner Büro, das ihm als Bundeskanzler a. D. stration seiner Stärke, maximale Souverä- bisschen Nostalgie dabei, die Sehnsucht
für den Rest seines Lebens zusteht, ebenso nität. Er kann sie sich jetzt leisten. nach verlorener Größe, aber auch die Er-
wie mehrere Mitarbeiter und die Body- Schröder, 72, ist wieder gefragt in seiner kenntnis, dass die Partei gerade jetzt, da
guards, ein kleiner Hofstaat, der ihm er- Partei. Im Dezember 2015 hatte er erstmals sie Antworten auf den Populismus von
lauben soll, über den Dingen zu stehen, seit 2007 wieder auf einem SPD-Parteitag rechts finden muss, einen wie ihn brauchen
im lebenslangen Dienst für die Bundes- gesprochen, zuletzt trat er jeden Monat könnte, einen Mann, der nicht nur unver-
republik Deutschland. auf Veranstaltungen auf, bei denen Größen wüstliches Selbstbewusstsein ausstrahlt,
48 DER SPIEGEL 1 / 2017
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Deutschland
WANN
sondern der auf überraschende Weise
volksnah geblieben ist, einen Bundeskanz-
ler a. D. mit Rechtschreibschwäche.
Die SPD dagegen ist eine Partei voller
Angst, nach den vielen Jahren der Großen
SETZEN
Koalition wirkt sie verbraucht und un-
sicher. Das hat auch etwas mit dem Partei-
chef zu tun. Seit Wochen schon scheint
sich Sigmar Gabriel mit der Frage herum-
zuquälen, ob er sein Leben als SPD-Par-
teichef im kommenden Jahr noch mit einer
SIE IHRE
Kanzlerkandidatur belasten soll. Oder ob
er, um das zu vermeiden, dem scheidenden
Präsidenten des Europäischen Parlaments,
Martin Schulz, den Vortritt lassen soll. Er
zögert seine Antwort hinaus und provo-
ziert mit seinem Zaudern nur weitere, un-
FLAGGE
angenehme Fragen: Traut sich Gabriel das
Kanzleramt nicht zu? Oder fehlt der SPD
der Machtwille?
Es ist ein fatales Signal, gerade in diesen
Zeiten, in denen Politiker der etablierten
© Hurtigruten
der Partei, aber auch unter Wählern, denn
der unbedingte Wille zur Macht trug auch spektakuläre Fjorde. Dazu treibende
das Versprechen in sich, unbedingt etwas Eisberge und die Fontänen der Wale
verändern zu wollen. Er schuf Hoffnung, zwischen den Wellen. Erleben Sie die
dass ein Neuanfang möglich ist, Reformen, vielfältige Natur der kanadischen Arktis
ein besseres Leben. Kann die SPD unter mit Hurtigruten. Auf Schiffen, die speziell
Gabriel das wiederholen?
JETZT BUCHEN
für Polarregionen gebaut sind. Begleitet
So wie es Schröder sieht, gibt es nur
KANADA &
von einer erfahrenen Besatzung und
eine erfolgreiche Antwort auf die neuen norwegischen Kapitänen, die in polaren
Populisten von rechts: einen anderen Gewässern zuhause sind. Gewässer,
GRÖNLAND
Populismus, der sich an den demokrati- die wir ab Sommer 2018 äußerst umwelt-
schen Werten orientiert, einen Populismus schonend ansteuern werden. Mit unse-
der Mitte. Einfache Botschaften, glaubt er,
rem neuen Flaggschiff Roald Amundsen
könne man nur mit einfacher Sprache be- 16 Tage Reise mit MS Spitsbergen
und seiner modernen, nachhaltigen
kämpfen, nicht mit gewundener, politisch inkl. Flug im Juli 2017
korrekter Sachlichkeit. Die SPD brauche Hybrid-Technologie.
deshalb einen „demokratischen Populis- Worauf warten Sie noch? Setzen Sie Ihre
ten“ an ihrer Spitze, sagt Schröder, einen persönliche Flagge in einer der aufre-
7.616 € P. P.*
AB
Mann, der mit den Menschen auf Augen- gendsten Gegenden der Welt. In jedem
höhe redet, nicht über sie hinweg. steckt ein Entdecker.
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vergeben. Zu groß war der Groll auf die Das Abenteuer beginnt jetzt! Tel. (040) 874 084 62
Agenda 2010, in der viele Genossen den In Ihrem Reisebüro oder auf (Mo.–Fr. 8:30–20 Uhr |
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zu verwandeln. Zu groß war auch der Frust
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31.12.2016: 8:30–14:00 Uhr, 01.01.2017 geschlossen.)
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Im Revier
Lebenslüge Jahrzehntelang blieb verborgen, dass sich die Bundestagsabgeordnete Petra Hinz zu
Unrecht als Juristin ausgab. Warum? Ausflug in ein Milieu, das um den Neuanfang ringt.
A
rbeiterwohlfahrt steht unten an feste, Frauenvereine, Kindergärten oder sich das Kernthema der Partei, die Frage
der Klingel des Mietshauses im Altenheime besuchte, lächelte, lachte sie. nach sozialer Gerechtigkeit, meint Glitza.
Essener Stadtteil Frohnhausen. Re- So jedenfalls berichten es jene, die sie „Und was machen wir?“
gen tropft auf den schmal beleuchteten kennen. Sie selbst schweigt über ihr Leben, Sie reden über den Ausbau der Kinder-
Bürgersteig, dann gibt ein Türsummer den nach wie vor. Als Journalisten des Stadt- gärten an diesem Abend, über Kunst-
Weg zu den Genossen frei. magazins „Informer“ die falsche Biografie rasenplätze, die Lage der Flüchtlinge und
„Herzlich willkommen“, sagt Raimund aufdeckten, suchte die Politikerin bald Hil- die anstehende Klausurtagung. Über die
Glitza, der am Kopfende eines langen Ti- fe in einer Klinik. Sechs Wochen dauerte Hintergründe der Lebenslüge reden sie
sches vor grünem Wachstuch und künstli- es, bis sie ihr Bundestagsmandat zurück- nicht. Sie wollen in die Zukunft schauen,
chen Blumen sitzt. Sie tagen immer hier. gab und aus der Partei austrat. Lauter wü- sie müssen bald schon einen Kandidaten
Arbeiterpartei und Arbeiterwohlfahrt, das tende Mails gingen damals in Frohnhausen finden, der nun statt Petra Hinz im Wahl-
war in dieser Gegend aus Kohle und ein: Der Ortsverein stütze eine Lügnerin, kreis 120 um einen Platz im deutschen Par-
Stahl einmal eine schlagkräftige Koalition. Verbrecherin. Nun brennt manchmal wie- lament kämpft.
Wer im Ruhrgebiet von Politik sprach, der Licht hinter den Vorhängen ihrer Woh- Es steht mehr auf dem Spiel als ein Man-
meinte die SPD und ihre Organisationen. nung auf der denkmalgeschützten Marga- dat. Es geht um einen Neuanfang – und
Nun sind die Zechen Denkmäler, und mit rethenhöhe. Doch auch der Runde am lan- um den Abschied von alten Sitten.
den Arbeitern schwanden die Genossen: gen Tisch hat sich Petra Hinz bislang nicht
W
3800 sind es noch in Essen, die Zahl hat erklärt. illi Nowack ist Western von ges-
sich mehr als halbiert. An diesem Freitag- Sorgfältig befüllt Raimund Glitza ein tern. So sagen sie in den Reihen
abend im Oktober stehen Glitza beim Mo- Bierglas. Der bärtige 60-Jährige muss nun der jüngeren Sozialdemokraten.
natstreff im Ortsverein gerade einmal fünf Vertrauen für die SPD zurückgewinnen – Vier Jahre lang hatte die Staatsanwalt-
Männer und eine Frau zur Seite. Struktur- gerade jetzt, wie er sagt. Den Oberbürger- schaft gegen den langjährigen Landtags-
wandel, überall. meister stellt seit 14 Monaten die CDU; abgeordneten und ehemaligen Fraktions-
Seit Juli gehört zur Krise auch ein Name. für die Wahlen zum Landtag und Bundes- vorsitzenden der Essener SPD ermittelt.
Petra. Sie war die Vorsitzende dieser Run- tag im nächsten Jahr sagen Beobachter 303 Anklagepunkte, am Ende blieben In-
de – jene Bundestagsabgeordnete, die ihr zweistellige Ergebnisse für die AfD in den solvenzverschleppung und eine Haftstrafe
Abitur, ihr Jurastudium und beide Staats- alten Essener Arbeitergegenden, den tra- von einem Jahr und vier Monaten stehen.
examen einfach erfunden hatte. Geboren ditionell roten Vierteln, voraus. Und dann Willi Nowack ist der Mann, den viele in
1962, Fachabitur, ein Praktikum bei der beschädigen auch noch zwei Ratsherren der Stadt den „Paten“ nannten – er hat
Sparkasse, so hätten die Stationen ihrer die Glaubwürdigkeit der Genossen. zweifellos einen eigenen Blick. Doch wer
Biografie heißen müssen. Guido Reil und Arndt Gabriel hatten ergründen möchte, in welcher Atmosphäre
Eine von uns, so hatten viele Petra Hinz den großen Zuzug von Flüchtlingen in Petra Hinz zur Politikerin heranwuchs, wer
hier gesehen. Mit 17 Jahren SPD-Mitglied, strukturschwache Stadtteile kritisiert. „In- erkunden will, auf welchem Boden Guido
neun Jahre später im Stadtrat, 2005 im Par- tegration hat Grenzen!“, lautete das Motto Reil und Arndt Gabriel fußen, der muss
lament der Hauptstadt – doch sie behielt angekündigter Protestmärsche, bis die mit ihm sprechen.
das schlichte Auto und die alte Wohnung. Landesvorsitzende der Partei, Hannelore Bis 2003 führte er die SPD im Rathaus,
Ihr Leben erschien wie ein Beleg für den Kraft, eingriff. Doch nun kämpft Ratsherr elf Jahre lang, zahlreiche Geschichten kur-
alten sozialdemokratischen Mythos: dass Reil nach 26 Jahren Mitgliedschaft in der sieren aus dieser Zeit. „Willi, gib ein Zei-
jeder, der aus kleinen Verhältnissen SPD zeternd für die AfD. Und Gabriel ver- chen!“, habe eine Dezernentin der in der
stammt, dank Bildung, Fleiß und Partei mietet ungeachtet seines früheren Protests Theorie unabhängigen Stadtverwaltung
nach oben gelangen kann. Und dass jene, Flüchtlingsunterkünfte an die Stadt. Mo- etwa auf eine Akte geschrieben – ein typi-
die es nicht schaffen, in Deutschland trotz- ralisch untragbar, fanden die Genossen scher Vorgang im „System Nowack“: Was
dem eine Stimme haben. und stimmten für seinen Ausschluss aus Willi wollte, geschah. Wen Willi brauchte,
Jemand wie Petra, darauf haben sie sich der Ratsfraktion. Er klagte dagegen und der konnte es weit bringen. Wer ihn ärger-
hier verlassen, würde für das Revier kämp- darf nun, laut Gericht, ab Juli in ihre Mitte te, der hatte es schwer. Ein Großteil seiner
fen, für Viertel wie Frohnhausen, in denen zurückkehren. Amtszeit fiel in die jahrzehntelange
früher gut verdienende Angestellte der Glitza spürt die Verachtung für solches Alleinherrschaft der SPD in Essen – eine
kruppschen Schwerindustrie den Bestand Politiktheater täglich, er arbeitet als Ar- Ära absoluter Mehrheit und ausufernder
bürgerlicher Häuser sicherten – und in de- beitsvermittler in einem Jobcenter. „Ihr Macht. Nowacks Genossen regierten in die
nen heute etwa 20 Prozent der Menschen solltet unsere Probleme lösen, stattdessen Verwaltung und in die Aufsichtsräte städ-
Arbeitslosengeld II beziehen. Jemand wie bereitet ihr neue“, Sätze wie diesen hört tischer Gesellschaften hinein, sie profitier-
Petra bekam das ja hautnah mit, wenn sie er oft. Die Stadt ist zweigeteilt, durch- ten von Posten, Wohnungen und Ge-
aus Berlin nach Hause kam. Doch sie wirk- trennt von einer Wohlstandskluft, in man- schäftsabschlüssen. Jeder hing an Privile-
te manchmal schroff und reizbar; keine chen Vierteln des Nordens hängen zwei gien, jeder kannte jeden, meist auch die
Kinder, unverheiratet, über ihr Privatleben von drei Kindern von den Bezügen aus unschönen Geheimnisse, überall Abhän-
sprach sie kaum. Und wie an der Spree Hartz IV ab. Im Süden hingegen, rund um gigkeiten, Machtkämpfe, Intrigen.
löste ihr Führungsstil auch bei Mitarbeitern die ehemalige Villa der Industriellenfami- Es scheint, als passte der Fall von Petra
an der Ruhr Bitternis aus. Aber sie lebte lie Krupp, wohnen noch heute viele Mil- Hinz bestens in das Milieu. Wer langjähri-
für die Basis der Partei. Sobald sie Bürger- lionäre des Ruhrgebiets. In Essen spiegle ge Beobachter danach fragt, erhält zumin-
dest Antworten, in denen von Rache die ten“ genannt hat. Es offenbart eine gewisse Unregelmäßigkeiten berichtet worden war.
Rede ist. Vielleicht habe jemand noch eine Reue, vor allem aber eine Kultur des Rän- Warum er den Vorfall für sich behielt? Viel-
Rechnung offen gehabt. Vielleicht habe keschmiedens. leicht, antwortet er, hätte ihm das Wissen
Frau Hinz jemandem auch eine der Fahr- Die Aufwandsentschädigungen für Kom- ja noch genutzt. „Fragt man zu intensiv
ten nach Berlin versagt, die Abgeordnete munalpolitiker stünden in keinem vernünf- nach, sticht man in eine Wunde. Und wenn
in ihrem Wahlkreis anbieten können. Ein tigen Verhältnis zur geleisteten Arbeit im man als Politiker Unterstützung für Mehr-
kleinlicher Grund, durchaus, doch in dieser Dienste der Allgemeinheit, schreibt er da- heiten sucht, hat man da Bedenken.“
SPD allemal denkbar. Die Hinweise auf rin zum Beispiel. „Wenig Kohle für viel
I
die falsche Biografie jedenfalls seien ziem- Aufwand“ – da habe es auch keine ernst- n Rüttenscheid, dem Viertel der Krea-
lich sicher aus den eigenen Reihen an den hafte Kritik gegeben, wenn Ratsmitglieder tiven und Szenegänger, sitzt hinter ei-
„Informer“ gelangt. Er könne kaum glau- ihre Position nutzten, um mit Ämtern und nem vollen Schreibtisch Birgit Rust. Die
ben, dass alle von der Causa Hinz tatsäch- Abteilungen der Stadtverwaltung private Rechtsanwältin hatte einmal große Ziele.
lich so überrascht gewesen seien, wie es Geschäfte abzuschließen. „Wir alle hatten Als junge Sozialdemokratin wäre sie eben-
gewirkt habe, meint auch Nowack. kein schlechtes Gewissen. Warum auch?“ falls gern in die Bundespolitik gezogen.
Gewiss ist, dass sich in den Achtziger- Nowacks Politikstil wirke bis heute nach, „Mir war bald klar, dass mir das nicht
jahren Parteimitglieder einmal mit der Fra- urteilen manche Genossen und erzählen gelingen konnte“, sagt die 52-Jährige. „Ich
ge beschäftigten, ob Petra Hinz überhaupt resigniert von Strippenzieherei, übler hatte mein Referendariat, ich musste ler-
studiere. Auch Thomas Kutschaty, damals Nachrede oder moralisch fragwürdigen Ge- nen. Ich konnte mich nicht ständig um eine
bei den Jusos, heute Essener Parteivorsit- schäften wie im Fall der neuen Flüchtlings- politische Karriere kümmern. Verglichen
zender und nordrhein-westfälischer Justiz- unterkünfte. „Kommt da nicht Petra mit Petra war ich weniger präsent.“
minister, erinnert sich an die Gerüchte. Sie Hinz?“, fragt Willi Nowack plötzlich und Manchmal fragte sie sich, wie die andere
seien wieder verebbt. Warum die Lügen rutscht auf dem Sessel herum. Eine Frau das hinbekomme, manchmal bohrte sie
gerade in diesem Sommer öffentlich wur- mit grauem Blazer und aschblonder Frisur nach, zuweilen stutzte sie auch. „Da ka-
den – nach 30 Jahren? Schulterzucken, hat die Halle betreten. Sie ist es nicht. men widersprüchliche Angaben: Mal stu-
überall. Erkennbar profitiert bislang nie- „Auch gut“, sagt Nowack. „Ich wüsste oh- dierte Petra in Bonn, kurz darauf war sie
mand vom Sturz der Politikerin. nehin wenig zu sagen. Hinz war nie No- in Siegen.“ Doch die Geschichte vom Jura-
Der Tag ist sonnig, im grünen Polohemd wack-Lager.“ studium passte in die Zeit. Viele junge Par-
sitzt Nowack in einem tiefen Sessel der Hinz war Reschke-Lager, wie es im alten teimitglieder waren in den Neunzigerjah-
Hotelhalle, die er als Treffpunkt vorge- Sprachgebrauch der Partei heißt, doch ren an Universitäten eingeschrieben, ohne
schlagen hat. Meckifrisur, am Ausschnitt Otto Reschke, ehemaliger Bundestags- ernsthaft einen Abschluss anzustreben.
steckt eine Sonnenbrille. Fotos aus frühe- abgeordneter und Ehrenvorsitzender im Studieren gehörte zum Profil, schließlich
rer Zeit zeigen ihn eher mit Designersakko, Ortsverein Frohnhausen, mag darüber hatte die Bildungspolitik der SPD allen
glänzendem Schnäuzer und großen Au- nicht sprechen. Er förderte die Karriere den Zugang zu den Hochschulen erleich-
tos – ein Arbeiterkind, das als Macher re- von Petra Hinz schon früh. Aber auch er tert. Und zudem, fährt Birgit Rust fort,
üssierte und neben der Fraktion auch ein weist Fragen über die Lebenslüge zurück. habe sie mit Petra am Ende mehr verbun-
Büro für Projektplanung führte. Abends „Otto“, sagt Nowack, „hat in jedem Gra- den als nur Konkurrenz. „Wir wollten eine
lud er Getreue in den Partykeller seines ben gelegen und Kriege ausgetragen.“ andere Partei. Wir haben dagegen ge-
Hauses: Theke, Zapfanlage, dazu Musik Dass dieser Mann nichts gewusst haben kämpft, dass Leute wie Willi Nowack noch
über die grenzensprengenden Sehnsüchte könnte, erscheint Nowack „fast unvorstell- mehr Macht an sich reißen.“
kleiner Leute. „Ich genoss einen Lebensstil, bar“. Sogar er habe die Kollegin früher ir- Wieder ein Kampf, dieser hieß „SPD
der mir bis dahin fremd war“, schreibt No- gendwann nach ihrer Ausbildung gefragt, von unten“, es war der Protest der Basis,
wack in einem Buch, das er „Nachgetre- weil ihm als Fraktionsvorsitzendem von die sich von ihren verfilzten Vertretern im
54 DER SPIEGEL 1 / 2017
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1 Früherer Fraktionschef Nowack, von manchen „der Pate von Essen“ genannt
2 Rechtsanwältin Rust, ehemalige Parteifreundin von Petra Hinz
3 Ortsvereinsvorsitzender Wiedwald
Rathaus und auch von der strikten Arbeits- mandat. Doch nun hat eine Findungskom- 30 Jahren Parteimitglied und kann jenen
marktpolitik Gerhard Schröders im Bun- mission Bewerber gesichtet: Neben den Bildungsaufstieg vorweisen, den Petra
deskanzleramt zunehmend verraten fühlte. üblichen Anwärtern aus den Parteigremien Hinz nur vorgab. Neben ihr verkörpert
Die Gefechte waren harsch, die Juristin er- sollten sich ausdrücklich Quereinsteiger Gereon Wolters mit 50 Jahren den verläss-
innert sich an Morddrohungen und aufge- vorstellen. Als ein Signal an die Wähler lichen Typen des sozialdemokratischen
schlitzte Autoreifen. verstand es der Kommissionsvorsitzende Intellektuellen: Autor juristischer Fach-
Petra, sagt Birgit Rust, tue ihr leid. „Je- Thomas Kutschaty: Seht her, die SPD ist bücher, verheiratet, vier Söhne, seit acht
der kennt sie jetzt. Aber eben nicht wegen nicht nur Funktionärspartei. Sie steht für Jahren Schulpflegschaftsvorsitzender. Nur
der Politik, die ihr so wichtig war.“ Menschen aus dem echten Leben! dem Dritten auf der Bühne fehlt der Segen
Sie trägt Pink an diesem Tag und eine Jan Wiedwald war begeistert, auch über der Kommission. Er will trotzdem nach
Kette aus goldenen Gliedern, vor ihr liegen die prominenten Interessenten und deren Berlin, ein Friedenserzieher, Judotrainer
Gesetzestexte zum Arbeitsrecht. Heilfroh Erfahrungen. Es gehe schließlich um den und Lehrer. Sechs Kinder, zwei Hunde, an-
sei sie, der Politik den Rücken gekehrt zu Bundestag, meint er. Dieter Gorny, ehe- tibürgerlich, Atomkraftgegner.
haben. Als sie die Nachricht von der Le- mals Geschäftsführer des Musiksenders Und nun? In zwei Wochen soll auf dem
benslüge der früheren Mitstreiterin gehört Viva, war im Gespräch; auch Albert Ritter, Parteitag die Entscheidung fallen. „Wer im-
habe, hätten sich die alten Zweifel am Präsident des Deutschen Schaustellerbun- mer es wird“, sagt Jan Wiedwald, „er muss
Stand des Berufspolitikers sofort wieder des. Und Stefan Heinemann, ein Professor die Widersprüche dieser SPD aushalten.“
eingestellt. „Menschen mit einer reinen mit schillernder Vita. Als junger Mann hat-
D
Parteikarriere haben vor allem gelernt, in te der Theologe, Rockmusiker und Kampf- er Ratsherr Udo Karnath hält die
Gremien den Eindruck der Unentbehrlich- sportler das erfolgreiche Computerspiel Findungskommission für neumo-
keit zu vermitteln“, urteilt die Anwältin. „Moorhuhnjagd“ vermarktet. Zwei Kolle- dischen Kram: Ein Mandatsträger
„Sie steigen dann in Positionen auf, für gen in der Softwarefirma wurden später müsse von der Pike auf lernen, meint er.
die sie oft weder ausreichende Qualifika- wegen Bilanzfälschung verurteilt. Heine- „In dieser Hinsicht war der Lebenslauf von
tionen noch das notwendige Können mit- mann aber ist mittlerweile Prorektor an Petra Hinz in Ordnung.“
bringen. Und sie haben im Fall des Schei- Deutschlands größter privater Hochschule. Karnath hat mit der damaligen Abge-
terns keine Rückfallposition. Am Ende Doch im Altarraum präsentieren sich ordneten oft im Lieferwagen gefrühstückt,
sind sie abhängig – steuerbar von jenen, an diesem Novemberabend eine Verbrau- sie brachte dann die belegten Brötchen
die ihnen das Mandat und damit ihre Exis- cherschützerin und ein Professor für Straf- mit ins Auto. Der 69-Jährige war bei der
tenz absichern.“ recht als Kandidaten der Findungskom- zurückliegenden Bundestagswahl ihr
mission. Verglichen mit deren Lebensläu- Wahlkampfleiter, mehr als 2000 Kilometer
J
an Wiedwald ist voll Hoffnung in die fen hätten die anderen wahrscheinlich zu fuhr er damals, brachte ihre Blazer zur
Frohnhauser Apostelkirche gekom- bunt und gefährlich gewirkt, mutmaßt Reinigung und warb um Spenden. Doch
men. Er wünscht sich, so erzählt er es, Wiedwald. Immerhin, beide seien keine ihre Lüge habe sie ihm nicht anvertraut,
einen neuen Politikertypus für seine SPD. klassischen Funktionäre. Aber er ärgert sagt er.
Der 38-jährige Meister für Veranstal- sich. Die Suche nach einem lupenreinen Karnath ist ein mitteilsamer Mann, Ge-
tungstechnik ist Vorsitzender im Ortsver- Kandidaten habe den Blick der Kommis- spräche mit den Leuten gehören zur Poli-
ein Kettwig, einem bürgerlichen Stadtteil sion verengt. tik, findet er. Aber als im Sommer die Ka-
im Süden, der wie Frohnhausen zum Wahl- Unbestreitbar stehen vor dem Mikrofon meraleute der Fernsehsender vor seinem
kreis 120 gehört. Auch wegen der extrem zwei Menschen wie aus einem Bilderbuch Reihenhaus standen, behielt er die Enttäu-
unterschiedlichen Lebensstile der Bewoh- der Sozialdemokratie: Margret Schulte schung für sich. Er dachte an den Abgrund,
ner gilt der Wahlkreis als schwierig; 2013 leitet die Essener Verbraucherzentrale, der Petra Hinz umgeben müsse, und bot
gewann der Kandidat der CDU das Direkt- stammt aus einer Arbeiterfamilie, ist seit ihr an, ihr eine Wohnung in einer anderen
DER SPIEGEL 1 / 2017 55
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Deutschland
Stadt zu vermitteln. Die Antwort blieb weilen Dreitagebart, ein scherzhafter, doch
aus. Nun trifft er ab und an noch die seriöser Ton: Im Lager der Reformwilligen
Schwester. Frag bloß nicht!, sage die dann. gilt Heidenblut, der sich von Parteigremien
Frau Hinz habe bei vielen Bürgern einen eher fernhielt, als Rollenmodell. Ein Un-
Generalverdacht geschürt, meint der Rats- abhängiger. Zuletzt war er Geschäftsführer
herr. Überall hätten sie sich plötzlich nach des Arbeiter-Samariter-Bunds in Essen. So-
seiner Ausbildung und seinen Einkünften ziale Fragen und Gesundheit, auch die psy-
erkundigt. Doch ähnlich wie der Ärger chische, sind seine Themen.
über seine Ratskollegen Reil und Gabriel Vielleicht habe Frau Hinz ihre Biografie
bilde dieser Skandal bloß den Gipfel lange in manchen Momenten ja gar nicht mehr
gewachsener Verdrossenheit. angezweifelt, fährt er nun fort. In dem ein-
Udo Karnath ist ein Auslaufmodell, er zigen Interview seit ihrem Rückzug, ab-
sagt das so, ein gelernter Büromaschinen- gedruckt in der „Westdeutschen Zeitung“,
mechaniker, der einmal Schreibmaschinen spricht sie von einer Lüge, die gleichzeitig
wartete. Wie vielen Genossen seiner Ge- da und so weit weg war.
neration gab ihm das Elternhaus das poli- Vielleicht war es so. Menschen, die ihr
tische Milieu vor. Im Kellerbüro seines Leben erfinden, verspüren oft ein tiefes
Hauses stehen Bücher über Turnhallen Bedürfnis nach einer besseren Lebensge-
und Vereine, er sitzt im Sportausschuss schichte. Häufig leiden sie an einer insta-
der Stadt, und weil Sport die Menschen bilen Persönlichkeit, fühlen sich schon als
bewegt, halten sie sich ihm gegenüber sel- Kinder zurückgesetzt, sind gleichzeitig ex-
ten zurück: die Toiletten in den Turnhal- trem ehrgeizig. Und irgendwann prägt sie
len – eine Katastrophe. Die alten Matten – der Wunsch nach einer anderen Vergan-
raus! Die Stadt könne nicht mehr so viel genheit derart, dass sie das erfundene
Geld ausgeben, sagt Karnath dann. Vieles Leben als wirklich empfinden. So zumin-
verkomme, weil niemand Rücklagen ge- dest erklären es Wissenschaftler.
bildet habe. Und die Jahre, in denen sich
A
Zechenbetreiber und Stahlunternehmer m 8. Dezember, am Abend des
für Wohnraum und Freizeitangebote mit- Parteitags, begrüßt Thomas Kut-
verantwortlich zeigten, seien vorbei. schaty 148 stimmberechtigte Mit-
Beim Abschied im Kelleraufgang hält glieder im Essener Lighthouse. Wieder
der Ratsherr noch einmal inne. „Wir haben eine Kirche, diese ist zum Veranstaltungs-
den Leuten nicht vermitteln können, dass saal umgebaut. Angetan mit rotem Schlips,
heute alles anders ist“, sagt er. „Meine Kin- steht er hinter dem Pult, ein Tannenbaum
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL
der werden wohl nie so viel verdienen wie ragt ins Gewölbe, und durch das Publikum
ich. Sie werden auch keine vergleichbaren läuft ein Nikolaus mit Bischofsstab.
Aufstiegschancen haben. Das ist in vielen Der Parteivorsitzende bittet um Ruhe,
Familien so.“ Wenn die SPD den Leuten einmal, zweimal. Er ist angestrengt, er
nicht endlich Ehrlichkeit zumute, steige will den Schlussstrich unter die Affäre
die Zahl der Verdrossenen noch uferlos. Hinz ziehen, endlich. Nur die Kandidaten
1
Vielleicht, sagt er, gräme ihn das am der Findungskommission treten noch ge-
Ende am meisten: dass Petra Hinz ja ge- geneinander an: Margret Schulte hält ihre
wusst habe, wie viel Bedeutung Glaubwür- 1 Bundestags- Rede, dann trägt der Professor für Straf-
digkeit in der Politik hat. abgeordneter Heidenblut recht vor, spricht vom großen Traum der
2 Ratsherr Karnath,
Politik und von den Vorbehalten, die er
V
ielleicht, sagt Dirk Heidenblut, einstiger Wahlkampfleiter
in den vergangenen Wochen trotz Vorzei-
habe Frau Hinz aber aus ihrer selbst von Petra Hinz
gebiografie zu spüren bekam: der Jura-
gebastelten Welt auch nicht mehr professor aus Bochum – ein Dreiklang der
herausgefunden. Der Essener Bundestags- Defizite in alten Essener Arbeitervierteln.
abgeordnete für den Wahlkreis 119 hat sich Gereon Wolters gewinnt trotzdem, deut-
über die Kollegin geärgert, sehr sogar. lich, die Genossen klatschen, und Kut-
Doch er hat überlegt, wie ein Mensch ei- schaty atmet auf. Die SPD in Essen ist
gentlich offenbaren soll, dass er in Wahr- mehr als Skandale und Machtkämpfe:
heit ein anderer ist. Er hat an die Lebens- Diese Botschaft kann von dem Parteitag
angst gedacht, die eine Lüge begleiten ausgehen.
muss, von der die berufliche, die finan- Der Friedenserzieher hatte seine Kan-
zielle Existenz abhängt – und das Selbst- didatur zwei Tage zuvor zurückgezogen.
wertgefühl. Und er nimmt an, dass sich Internetseiten zu seiner Personalie sind
der raue Umgangsstil von Petra Hinz mit nicht mehr verfügbar. Er ist Geschichte,
ebendieser Angst erklären lässt. SPD-Geschichte. In seinem Lebenslauf fan-
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL
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Deutschland
Muscheln nuscheln
Karrieren Robert Habeck, 47, will Spitzenkandidat der Grünen im Bundestagswahlkampf
werden. Wofür er steht, lässt er oft lieber im Unklaren. Damit passt er zu seiner Partei.
A
n einem sonnigen Tag an der Kieler
Hörnbrücke spricht Robert Habeck
von damals. Nicht von seiner Ver-
gangenheit, sondern von der einer Gruppe,
die er die „alte Generation“ nennt: Jürgen
Trittin, Reinhard Bütikofer, Bärbel Höhn.
„Tief durchdrungen“ seien die, von Politik.
Er denkt kurz nach und trommelt dabei
mit seinen ausgestreckten Zeigefingern auf
der Tischplatte im Café Blauer Engel.
Tok. Tok. Tok.
Er sagt, dass diese Grünen anders seien.
Sie hätten vor ihrem Eintritt in die Partei
schon ein politisches Leben gehabt, bei
K-Gruppen zum Beispiel. Danach erst hät-
ten sie zu den Grünen gefunden und die
mit aufgebaut. Sie ertrügen es nicht, ein-
mal über etwas anderes als Politik zu re-
den. Die aus der alten Generation seien
„zuallererst politische Menschen und erst
an zweiter Stelle Grüne“.
Robert Habeck bewirbt sich gerade
darum, grüner Spitzenkandidat für die
Bundestagswahl 2017 zu werden. Was er
an diesem Tag am Wasser sagt, klingt so:
Die alten Grünen sind passé. Sie sind
Ahnen auf verblichenen Schwarz-Weiß-
Bildern. Jetzt sind neue Grüne dran.
Habeck verkörpert diese neuen Grünen
perfekt. Sie müssen nicht mehr für die
großen Themen kämpfen. Seit ihrer Grün-
dung vor 37 Jahren hat die Partei viele
Schlachten gewonnen. Der Atomausstieg
kommt, es gibt mehr Gerechtigkeit für
Frauen, die Energiewende ist Konsens. Die
Partei hat viele ihrer alten Ziele erreicht.
Nun tut sie sich schwer damit, neue zu
finden. „Wir bleiben unbequem“, war das
Motto des letzten Parteitags. Aber stimmt
das auch?
Auf dem Parteitag in Münster einigten
sie sich zwar auf eine Vermögensteuer für
Reiche. Doch die stellt so viele Bedingun-
gen, dass sie aller Voraussicht nach nie
Realität werden wird, was wahrscheinlich
auch daran liegt, dass die Wähler der Grü-
nen andere geworden sind. Früher gewann
die Partei bei Linken und Mittellosen, heu-
te bei den gut gebildeten Bürgerlichen mit
überdurchschnittlich hohem Einkommen.
Früher waren fast 80 Prozent derer, die
HANS CHRISTIAN PLAMBECK / LAIF
Aufstand, werden.
Man merkt Habeck an, dass er nervös
heute Anstand. ist. Er fragt immer wieder, wie das, was er
sagt, rüberkomme, als habe er selbst in-
Bislang funktioniert das gut. Robert Ha- zwischen jedes Gefühl dafür verloren. Vor
beck hat die Grünen in Schleswig-Holstein ein paar Monaten, als die Entscheidung
als Spitzenkandidat im Wahlkampf in die noch nicht so nah war, war er mutiger. Ein-
Regierung geführt. Als Umweltminister ist mal musste er eine Eröffnungsrede vor Ver-
er angesehen. Es gibt keine Flügelkämpfe tretern der deutschen Fleischwirtschaft hal-
in seinem Landesverband, er duzt sich mit ten, die Reihen waren gut gefüllt, in einer
dem Vizepräsidenten des Bauernverbands, der ersten saß der Wurstfabrikant Clemens
und er reist zu Bürgertreffen, um über Tönnies. Habeck sah ins Publikum und
Windräder und Stromtrassen zu diskutie- sagte: „Das industrielle Halten und Töten
ren, die dann auch gebaut werden. von Tieren, wie wir es praktizieren, ist
An einem schönen Tag im Oktober be- ethisch nicht zu rechtfertigen.“
sucht er die Alte Mu in Kiel, ein Kultur- Inzwischen zelebriert er das Unkonkre-
zentrum, wo sich Kreative Gedanken über te. Hofreiter wird viele aus dem linken La-
Nachhaltigkeit machen. Habeck wird ein ger überzeugen, Özdemir die meisten Rea-
Fahrrad vorgeführt, das so umgebaut wur- los. Wenn Habeck eine Chance haben will, Buchen Sie jetzt: Reisebüro •
de, dass man damit auch größere Lasten muss er beiden Stimmen abziehen. Das AIDA Kundencenter +49 (0) 381/20 27 07 07 •
transportieren kann. An der Seite ist Platz hat er mit seiner Partei gemein. Wenn die www.aida.de
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Habeck. Er streicht die Seitenwand der nisse wollen wie Winfried Kretschmann in Frühbucher-Plus-Ermäßigung bei Buchung bis 31.01.2017,
Kiste vorn auf dem Fahrrad entlang: „Ein Baden-Württemberg, dann müssen sie für jeweils limitiertes Kontingent
alle wählbar sein. Auszug aus dem aktuellen AIDA Katalog März 2017 bis
Foto von mir hier, das wär doch was.“ April 2018, dessen allgemeine Reisebedingungen, Hin-
Es gibt viele schöne Bilder von Habeck. Habeck ist 47 Jahre alt und hat für seine weise und Informationen gelten
Sein Titelbild bei Facebook zeigt ihn beim Kandidatur viel aufs Spiel gesetzt. Wenn AIDA Cruises • German Branch of Costa Crociere S. p. A. •
Stagediving auf dem Landesparteitag. Auf er nicht Spitzenkandidat wird, wird er Am Strande 3 d • 18055 Rostock
dem Cover seines Buchs läuft er am Strand auch nicht für den Bundestag kandidieren.
lächelnd mit weit offenen Armen auf die Im Frühjahr sind Wahlen in Schleswig-Hol-
Kamera zu. stein, auch hier wird er nicht kandidieren,
Bei den Grünen in Berlin lachen manche weil sich die Partei längst ohne ihn für den
über Habecks Art, grün zu sein. Ein Spit- Wahlkampf aufgestellt hat. Hat er Angst?
Gefährliche Freunde
Tischplatte vor sich. „Was würdest du tun,
damit die Partei enger zusammen-
kommt?“, fragt Özdemir. Habeck windet
sich ein wenig, dann fixiert er Özdemir:
„Ich will den Job nicht, Cem.“ Gewalt Syrische Flüchtlinge erzählen, wie sich der Brandanschlag
Ein paar Minuten später steht Habeck
unten vor der Bühne und murmelt: „Jetzt auf einen Obdachlosen in Berlin abgespielt haben könnte.
wissen wir ja, woher das Gerücht kommt.“
A
Er sieht zu Özdemir. Dann sagt er ein ls Emad K. am zweiten Weihnachts- nachtsnacht um zwei Uhr früh im U-Bahn-
Wort, das so unfreundlich ist, dass er es tag nachmittags aus Langeweile hof Schönleinstraße die Kleidung eines
nicht gedruckt lesen will. sein Handy einschaltete, traute er dort auf einer Bank schlafenden 37-jähri-
Früher war Robert Habeck Schriftsteller, seinen Augen nicht. Auf Fahndungsfotos gen Obdachlosen angezündet haben.
er hat mit seiner Frau zusammen über ein der Berliner Polizei im Internet erkannte Durch schnelles Eingreifen von Passanten
Dutzend Bücher veröffentlicht. Irgend- er seinen jüngsten Bruder. „Die Mütze, und eines Zugführers, der mit einem
wann ging er aus Neugier zu den Grünen, die Nase, mir war klar, das ist Bashar.“ Feuerlöscher half, konnte laut Polizei
wurde Kreisvorsitzender, dann Landesvor- Emad K. erschrak. Die Polizei suche Schlimmeres verhindert werden.
sitzender. Habeck hat vier Kinder, und sei- sieben junge Männer, las er, die in der Der Brandanschlag auf einen Schutz-
ne Frau sagt, dass er ihr anfangs zu Hause U-Bahn einen Obdachlosen angezündet losen durch Menschen, die in Deutschland
gefehlt habe und dass es eine neue Erfah- haben sollen. Sofort rief der syrische Schutz suchen und bekommen, heizt die
rung gewesen sei, dass nun einer von bei- Flüchtling bei seinem 15-jährigen Bruder Debatte um Flüchtlingspolitik, innere Si-
den ein regelmäßiges Einkommen habe. an. Der sei da schon voller Panik und Angst cherheit und den wehrhaften Staat in ei-
Wenn man Habeck bittet, eines seiner gewesen. „Ich habe nichts gemacht“, soll ner freien Gesellschaft weiter an.
alten Werke aus dieser Zeit laut vorzutra- er gesagt haben. Erst der Terroranschlag auf einen Weih-
gen, tut er erst ein bisschen verschämt – Kurz darauf trafen sich beide am Ale- nachtsmarkt, dann der mutmaßliche An-
und liest dann doch. Es beginnt so: xanderplatz. Emad K., so sagt er, habe griff auf einen Obdachlosen: Berlin steckt
Bashar überzeugt, nicht abzuhauen. Er im Krisenmodus, Politik und Gesellschaft
ganz ohr sein solle lieber zur Polizei gehen und sich suchen nach Antworten, Auswegen. Vor
nicht sprechen stellen. Gemeinsam fuhren die Brüder mit allem die neu gewählte rot-rot-grüne
querfeldein der S-Bahn zum Ostbahnhof und gingen Koalition gerät unter Druck – sie hatte sich
ein radebrechen auf die Wache der Bundespolizei – so gerade erst auf eine weiche Sicherheits-
erzählt es der Ältere. Die Beamten glaub- politik verständigt: keine Abschiebehaft,
das licht atmet aus ten zunächst offenbar, frisch eingetroffene keine zusätzliche Videoüberwachung.
muscheln nuscheln Flüchtlinge wollten einen Asylantrag Emad K. weiß nichts von Forderungen
rauschender applaus stellen. Bis ihnen Emad K. erklärte, sein nach noch mehr jener Kameras, die in Ber-
büsche tuscheln Bruder sei einer der Männer von den lin bereits dazu beigetragen haben, dass
Fahndungsfotos und wolle aussagen. Und die Zahl der Gewaltdelikte im Öffentlichen
Er sagt, er habe das Gedicht vor vielen Emad wollte wissen: „Was passiert jetzt Nahverkehr gesunken ist (siehe Grafik)
Jahren in einem Zelt auf den Hebriden ge- mit ihm?“ und Verbrechen aufgeklärt werden. Er
schrieben, auf dem Boden eines Gasko- Mit Bashar passierte dasselbe wie mit weiß auch nichts von Kritikern, die eine
chers. Wenn man fragt, was das eigentlich den anderen fünf Syrern, die ebenfalls strengere Abschiebepraxis verlangen. Er
heißt, „Muscheln nuscheln“, dann sagt er, am Montag zur Polizei gingen, und dem kennt nur dieses Fahndungsfoto, auf dem
das Gedicht handle vom Verschwinden 21-jährigen Libyer, der noch in der fol- er seinen kleinen Bruder erblickte.
und dass das ein großes Glück sein könne. genden Nacht verhaftet wurde: Gegen die Am Dienstag nach Weihnachten sitzt
Robert Habeck wirkt eigentlich nicht wie fünf Minderjährigen und zwei Erwach- Emad K. in einer Bäckerei in Berlin-Kreuz-
jemand, der sein Verschwinden als Glück senen wurde am Dienstag Haftbefehl er- berg, mit weißem T-Shirt, Jeansjacke und
betrachten würde. lassen. Der Vorwurf: versuchter gemein- nach oben gegelten Haaren. Den Tee vor
Ann-Katrin Müller, Britta Stuff schaftlicher Mord. Sie sollen in der Weih- sich rührt er kaum an. Er macht sich Vor-
Deutschland
würfe, dass er sich als älterer Bruder nicht Kurz vor Weihnachten wurden in Berlin jener unglückseligen Nacht sei Bashar
genug gekümmert habe. Und er macht sich mehrere Notunterkünfte für Flüchtlinge nicht alkoholisiert gewesen, wohl aber der
Sorgen, denn er will glauben, was Bashar geräumt, meist die zweckentfremdeten Libyer. Emad hat sich noch nicht getraut,
ihm über diese Nacht erzählt hat: dass er Turnhallen. Die Menschen zogen in neu die Mutter daheim in Syrien zu informie-
unschuldig sei. Für Emad K. ist der Gedan- geschaffene sogenannte Tempohomes mit ren, zu groß ist die Scham.
ke unerträglich, dass der weite Weg, die mehr Privatsphäre und besserer Infrastruk- Er weiß nicht genau, was die Clique in
Flucht vor Verfolgung aus einem Vorort tur. Der neue Senat drückte dabei aufs den Stunden vor der Tat trieb, aber so wie
von Damaskus für Bashar nun in einem Tempo, man wollte ein Wahlversprechen Bashar ihm die Minuten unten in der U-
deutschen Gefängnis enden soll. einhalten. Bahn beschrieben hat, lassen sie ihn be-
In seinen Worten klingt diese Flucht- Für die meisten Flüchtlinge war der haupten: „Mein Bruder ist unschuldig“.
geschichte so: Vor knapp eineinhalb Jah- Umzug eine Verbesserung, vor allem für Sie hätten, so will es Emad K. von sei-
ren kam er, der älteste von drei Brüdern, Familien. Bashar sollte auch umziehen, so nem Bruder am Tag danach gehört haben,
als Erster in Deutschland an. Die Mutter sagt es Emad, aber die neue Unterkunft den Mann nicht gezielt und gemeinsam
schickte ihn auf die Reise, nachdem ihr hätte ihn noch weiter weggeführt von sei- angezündet. Der betrunkene Libyer habe
Mann in einem syrischen Gefängnis ge- nen Brüdern – und wohl auch von den ein Papiertaschentuch entflammt und auf
storben war. „Unser Vater war jahrzehn- neuen Freunden. Bashar habe sich gewei- eine neben dem Mann liegende Plastiktüte
telang Lehrer und wurde plötzlich verhaf- gert und stattdessen immer bei verschie- oder Tasche geworfen. Warum? Das weiß
tet. Wir wissen nicht, warum, und wir wis- denen Freunden geschlafen. er nicht. Imponiergehabe, besoffener Un-
sen nicht, woran er gestorben ist“, sagt Die Clique mit dem Libyer sei seine Be- sinn, Aggression?
Emad. Aus Sorge, auch die Söhne würden zugsgruppe geworden. Offenbar war es kei- Ein Cousin der beiden Brüder, Mo-
verhaftet oder für die Armee der syrischen ne gute Gesellschaft, der Libyer soll laut hammed, 21, lebt seit einem Jahr eben-
Regierung zwangsrekrutiert, sandte die Polizei zuvor bereits als Drogendealer auf- falls in Deutschland und ist eng mit Ba-
Mutter sie fort: einen nach dem anderen, gefallen sein. „Ich hätte besser auf ihn auf- shar befreundet. Er kenne, so erzählt er,
immer dann, wenn sie wieder genug Geld passen müssen“, sagt Emad K. Bashar habe drei weitere Jungs aus dessen Clique:
für den weiten Weg zusammenhatte. weder geraucht noch getrunken, auch in Nouri, Iyad und Khaled. Zwei von ihnen
Als Letzter kam Bashar, der Jüngste, vor stammten aus demselben Vorort von Da-
13 Monaten über die Balkanroute bis nach Gegengesteuert maskus wie Bashar, erzählt Mohammed.
Mannheim. Emad holte ihn nach Berlin. In Berlin hätten sie alle eine Zeit lang im
Zunächst lebten sie, sagt der älteste Bruder, Physische Delikte* in den Anlagen selben Hostel gewohnt, „so wurden sie
gemeinsam in einer Sammelunterkunft in der Berliner Verkehrsbetriebe Freunde“, sagt er. Einer dieser Freunde
der Nähe des Alexanderplatzes. Da Bashar 2011 sei schon mal mit Marihuana erwischt
minderjährig sei, habe man ihn unter Vor- 4 Delikte worden und in Schlägereien mit anderen
mundschaft des Jugendamts gestellt. umgerechnet auf Jugendlichen verwickelt gewesen, sagt
2015
Laut Emad sei in Bashars Asylverfahren eine Million Fahrgäste der Cousin.
3 Delikte
in den 13 Monaten bis heute nichts passiert: umgerechnet auf
Von seinem Freund und Vetter Bashar
keine Anhörung, geschweige denn eine 3897 eine Million Fahrgäste will Mohammed eine Version der Tatnacht
3749
Entscheidung über seinen Status. Bashar gehört haben, die mit den bisher bekann-
habe zwar seit einiger Zeit einen Deutsch- ten Polizeierkenntnissen nicht überein-
3183 3066
kurs besucht, aber richtig vorwärts ging es 2966 3028 stimmt. Der Obdachlose habe demnach
nicht, in der Unterkunft blieb es gedrängt, nicht geschlafen, er sei vielmehr auf dem
draußen lockte die Großstadt. Bahnsteig herumgelaufen und habe sich
Das endlose Warten, Nichtstun habe für neben sie auf die Bank gesetzt. Dann habe
Stress in der Unterkunft gesorgt, so berich- der Libyer oder ein anderer aus der Grup-
tet es Emad. Bashar habe mit anderen pe die Plastiktasche des Obdachlosen mit
Mai 2011
Flüchtlingen gestritten, verbale Auseinan- Der Berliner Senat beschließt einem brennenden Taschentuch angezün-
dersetzungen, aber doch genug, um ihn, ein Maßnahmenpaket für mehr det. So soll es Bashar seinem Cousin er-
„als Strafe“, in eine andere Unterkunft um- Sicherheit im Nahverkehr. zählt haben.
zusiedeln. Anwälte der Tatverdächtigen waren bis
Dort, in einer Einrichtung für minder- Redaktionsschluss nicht erreichbar. In ihrer
jährige Flüchtlinge in Berlin-Wedding, ge- 2010 2011 2012 2013 2014 2015 ersten Meldung nach dem Vorfall sprach
trennt von den älteren Brüdern, habe *Körperverletzung, Nötigung, Bedrohung, Freiheitsberaubung, die Polizei davon, dass der Obdachlose
Bashar wohl jene syrischen Jugendlichen Raub und Sexualdelikte Quelle: BVG geschlafen habe und mit Papier bedeckt
kennengelernt, mit denen er sich in der gewesen sei. Die Männer hätten ihn ange-
Weihnachtsnacht in Berlin rumtrieb. zündet, Passanten das brennende Papier
Die U-Bahn-Linie 8 verbindet die bei gelöscht. In einer zweiten Mitteilung der
Migranten, Flüchtlingen, Arbeitern und Polizei hieß es vorsichtiger, der Obdach-
Hipstern beliebten Viertel Wedding, Kreuz- lose sei durch das Feuer gefährdet gewesen.
berg und Neukölln. Viele ihrer Stationen – Die Ermittler bewerteten das Vorgehen als
Gesundbrunnen, Alexanderplatz, Kottbu- „versuchten Mord“, ein Richter erließ Haft-
ser Tor, Schönleinstraße – gehören zu den befehle gegen alle sieben.
gefährlichsten der Stadt. Von Bashar habe Emad gehört, in der
Irgendwo hier, so vermutet es Emad, auf Nacht seien sie einfach in den nächsten Zug
der verrufensten Strecke Berlins oder in der U8 gestiegen, erst von dort aus hätten
den umliegenden Problemzonen, hätten sie Rauch registriert.
Bashar und seine Kumpel jenen 21-jähri- Die Bilder der Überwachungskamera
gen Libyer kennengelernt, den die Polizei Tatverdächtige in Überwachungsvideo zeigen gut gelaunte, feixende junge Män-
als Haupttäter verdächtigt. Sieben Haftbefehle wegen versuchten Mordes ner. Riham Alkousaa, Markus Deggerich
KALTER KRIEG
Von Konstantin von Hammerstein
D
er Verteidigungsminister ist eine Man muss kein Raketentechniker sein, re Schwelle nach dem „Sputnik“-Schock
Weltgefahr, objektiv gesehen. Er um den nächsten Schritt zu prophezeien: anheben, er selbst will sie möglichst nied-
will die deutsche Atombombe, er Bald werden die Sowjets in der Lage sein, rig halten. Für ihn sind Atombomben
ist unberechenbar, er gehört der gegneri- statt eines Satelliten eine Atombombe mit politische Waffen. Jeder Angreifer soll von
schen Partei an, er muss weg. „Ich will, ihren neuen Interkontinentalraketen zu vornherein wissen, dass er den totalen, nu-
dass dieser Mann aus der Politik verschwin- transportieren. Dann können sie jedes Ziel klearen Krieg riskiert.
det“, sagt Rudolf Augstein über seinen In- in den USA in nur einer halben Stunde er- Für Augstein ist es eine „Todsünde wi-
timfeind Franz Josef Strauß. reichen. Die atomare Dominanz der west- der das friedliche Weiterleben der Mensch-
Der SPIEGEL-Gründer hat drei enge Mit- lichen Supermacht ist damit gebrochen. heit“, wenn ausgerechnet die Deutschen
arbeiter in sein Büro gebeten. „Er wolle Für die Sicherheit Westdeutschlands hat in dem großen Atomspiel mitmachen wol-
eine besondere Sache mit uns besprechen“, das gravierende Folgen. Bisher gilt die Stra- len. Und dass Strauß die Bombe will, da-
schreibt Georg Wolff an diesem 23. März tegie der massiven Vergeltung. Im Falle ei- ran zweifelt er nicht. Bei der Besprechung
1959 in sein Tagebuch. Der frühere SS- nes konventionellen sowjetischen Angriffs im SPIEGEL, die Wolff in seinem Tagebuch
Hauptsturmführer im besetzten Norwegen in Europa drohen die Amerikaner mit ei- beschreibt, führt er als Beleg ein Interview
hat es zum stellvertretenden Chefredak- nem vernichtenden atomaren Gegen- an, in dem der Verteidigungsminister die
teur des Nachrichten-Magazins gebracht. schlag. Doch nun sind sie bald selbst ver- Absicht, eine Atombombe zu bauen, nicht
„Haben Sie Juden erschossen?“, will Aug- wundbar. Werden die USA dann wirklich geleugnet habe.
stein 1951 von ihm wissen. Als Wolff mit noch bereit sein, Europa zu verteidigen „Nicht leugnen heißt in einem solchen
Nein antwortet, wird er eingestellt. und so die nukleare Auslöschung ihrer ei- Fall, es bejahen“, sagt Augstein. Er traue
Augstein eröffnet den drei Männern, genen Großstädte zu riskieren? Strauß alles zu. „Nehmen Sie die Intelli-
dass er einen Artikel gegen Verteidigungs- Verteidigungsminister Strauß zweifelt genz dieses Mannes. Der hat das beste Abi-
minister Strauß schreiben wolle. „Der Plan daran. Die Amerikaner wollen die nuklea- tur am Münchner Gymnasium gemacht.
ist alt“, notiert Wolff, „schon im vorigen Nehmen Sie, welchen Einfluss der Mann
Jahr zeigte A. mir eine Sammlung sehr ab- hat. Nehmen Sie, wie der redet.“
stoßender Bilder von Strauß und sagte, Es wird noch zwei Jahre dauern, bis 1961
dass er diese mal als eine Bildseite bringen die Strauß-Titelgeschichte („Endkampf“)
wolle. Die Absicht war, Strauß als den tatsächlich erscheint. Augstein-Biograf
Beelzebub der westdeutschen Politik ab- Peter Merseburger hält sie für die wohl
zumalen. Diese Absicht steckt auch in dem „schärfste Polemik gegen einen deutschen
jetzigen Plan eines Aufsatzes über Strauß. Politiker“ seit Kriegsende.
A. ließ keinen Zweifel, dass der Aufsatz Strauß habe ein Gesicht wie ein „stein
beleidigenden Charakter haben werde.“ of beer“, wie ein Maßkrug also, zitiert der
Als Chefredakteur Hans Detlev Becker SPIEGEL das amerikanische Nachrichten-
einwirft, man solle auf „Formalbeleidigun- magazin „Time“. Die „Tribune“ wird mit
gen“ doch besser verzichten, antwortet der Behauptung wiedergegeben, es sei das
Augstein, laut Wolff: „Formalbeleidigun- Gesicht „eines der gefährlichsten Männer
gen im Einzelnen nicht, nein, aber insge- in Europa“, und der österreichisch-ameri-
samt wird der Artikel beleidigend sein. kanische Journalist William S. Schlamm
Wenn es dann zum Prozess kommt, dann darf über Strauß urteilen, er sei rein äu-
soll’s mir recht sein. Dafür gehe ich auch ßerlich „fast genau das, was die Franzosen
sechs Monate ins Gefängnis.“ meinen, wenn sie sachlich ‚boche‘ sagen“.
Warum dieser erbitterte Feldzug gegen Der Verteidigungsminister zieht vor Ge-
Strauß? Weil der Kalte Krieg in eine neue richt und behauptet, die Augstein-Polemik
Phase eingetreten ist. Anderthalb Jahre enthalte insgesamt 62 Beleidigungen. Als
zuvor, am 4. Oktober 1957, ist es den Sow- das Gericht 8 davon zunächst verbietet,
jets gelungen, den ersten künstlichen Satel- SPIEGEL-Ausgabe 20/1957 druckt der SPIEGEL prompt alles, was
liten ins All zu schießen. Der „,Sputnik‘- Wider die Atombombe: „ … und nicht verboten wurde, ein zweites Mal.
Schock“ erschüttert die westliche Welt. führe uns nicht in Versuchung“ Doch so genüsslich Augstein alle Bosheiten
62 DER SPIEGEL 1 / 2017
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über Strauß auch auswalzt – der Kern sei- Westens und der totalitäre Kommunismus über die Regierung, „über Bonn erschei-
nes Angriffs ist ein politischer. in seiner sowjetischen Variante. nen – ,wie gut das und das Ministerium
„In Franz Josef Strauß haben wir die Die Auseinandersetzung wird weltweit dieses oder jenes Gesetz wieder gemacht
Verkörperung jenes vielleicht für uns alle und auf allen Ebenen geführt, auf der hat, das darf niemals im SPIEGEL stehen‘.
tödlichen Tatbestandes“, schreibt er, „dass politischen, militärischen, wirtschaftlichen Augstein nun: ‚Ja, ganz richtig. Ich meine
die moralischen Kräfte der Menschheit mit und kulturellen. Seit Moskau am 29. Au- ja auch bloß, dass man so Dinge rauslassen
ihren technischen nicht Schritt gehalten gust 1949 eine eigene Atombombe gezün- soll wie, dass man (CDU-Bundestagsprä-
haben. Wer so redet, wer so denkt, wer so det hat, liefern sich beide Seiten ein erbit- sident Eugen) Gerstenmaier wegen seiner
schreibt, der schießt auch.“ tertes Wettrüsten, das in den kommenden kleinen Statur veralbert.‘ Becker: ‚Na, ge-
Der Antagonismus des Kalten Krieges Jahrzehnten mehrfache Overkill-Fähigkei- rade das, meine ich, können wir nicht raus-
schärft die Konturen, die innenpolitische ten produzieren wird. lassen. Wir müssen die Leute attackieren.
Debatte wird von den Parteien, aber auch Zum ersten Mal in der Weltgeschichte Das wollen unsere Leser‘“.
von Blättern wie dem SPIEGEL, mit einer können eine politische Entscheidung, eine Claus Jacobi meldet sich zu Wort, zwei
Härte geführt, die heute kaum noch vor- falsche Einschätzung oder auch nur eine Jahre später wird er zum SPIEGEL-Chef-
stellbar ist. technische Panne das Ende der Menschheit redakteur aufsteigen: „Wenn die Bundes-
Von den Vierzigerjahren an stehen sich bedeuten. Und die Geschichte wird zeigen, regierung mal was Gutes macht, dann
die ehemaligen Weltkriegsalliierten USA dass die Welt in dieser Zeit ziemlich oft muss man eben die SPD angreifen und auf
und Sowjetunion in einem tödlichen Patt ge- am Rande des nuklearen Infernos steht. der rumkloppen.“ Darauf Augstein: „Ganz
genüber. Ein „Eiserner Vorhang“ sei vor der In Europa ist Deutschland der Haupt- richtig, so muss man das machen. Nur
sowjetischen Front niedergegangen, schreibt schauplatz des Kalten Krieges. Der Eiserne nicht für etwas Stellung nehmen.“
der britische Premier Winston Churchill am Vorhang verläuft mitten durchs Land, auf Das Gut-böse-Denken des Kalten Krie-
12. Mai 1945 in einem Telegramm an den beiden Seiten stehen sich waffenstarrende ges dominiert die Fünfzigerjahre, warum
neuen US-Präsidenten Harry S. Truman, Armeen kampfbereit gegenüber, das ge- sollte es vor der SPIEGEL-Redaktion halt-
„was dahinter vorgeht, wissen wir nicht“. teilte Berlin wird zum tragischen Symbol machen? Seit zehn Jahren schon attackiert
Der Konflikt zwischen Amerikanern einer Epoche, in der unversöhnliches Augstein die Westpolitik des ersten Nach-
und Sowjets hat mit der traditionellen Ri- Freund-Feind-Denken die öffentliche De- kriegskanzlers. Er ist der große publizisti-
valität verfeindeter Großmächte um batte beherrscht. sche Gegenspieler Konrad Adenauers. Erst
Macht, Einfluss und Territorien wenig zu Im November 1959 gibt der stellvertre- später wird Franz Josef Strauß in die Rolle
tun. Im Kern geht es um eine ideologische tende SPIEGEL-Chefredakteur Wolff in sei- des Großgegners wachsen.
Auseinandersetzung. Zwei politische Sys- nem Tagebuch eine Diskussion in der Re- Die französische „Le Monde“ nennt den
tem stehen sich unversöhnlich gegenüber: daktion wieder. Er zitiert Chefredakteur SPIEGEL-Gründer einen „célèbre journa-
die liberalen, offenen Gesellschaften des Becker: Niemals dürfe etwas Lobendes liste allemand“ und das „enfant terrible
de la presse“ der anderen Rheinseite. Sei-
ne Kolumnen, die er meist unter dem
Auszug aus dem SPIEGEL vom 2. Januar 1957 Pseudonym „Jens Daniel“ veröffentlicht,
finden weltweit Beachtung, in der „New
York Herald Tribune“ genauso wie in der
Moskauer „Prawda“.
Augstein hält Adenauers Politik der
Westintegration für einen „tödlichen Feh-
ler“, weil er befürchtet, dass sie die Wie-
dervereinigung der beiden deutschen
Staaten unmöglich machen wird. Im März
1952 bietet der sowjetische Diktator Josef
Stalin den Westmächten in einer Note
Verhandlungen über die Wiedervereini-
gung und Neutralisierung Deutschlands
an. Adenauer ist davon überzeugt, dass
es sich um ein Störmanöver handelt, mit
dem die Westintegration verhindert wer-
den soll.
Mitte 1952 wirft Jens Daniel alias Rudolf
Augstein dem Kanzler vor, einen „verbis-
senen, menschenverachtenden Kampf“ zu
führen, weil er einen „katholisch-födera-
listisch gezähmten Rheinstaat“ einem eher
protestantisch orientierten Gesamtdeutsch-
land vorziehe. Düster malt er im Oktober
die Folgen einer solchen Politik aus: „Die
Am 2. Januar 1957 druckt der SPIEGEL ein langes Gespräch („Der große Prügel“) mit Vertei- maßlose Not der 18 Millionen Menschen,
digungsminister Franz Josef Strauß. Beide Seiten schenken sich in dem Interview nichts, die wir preisgegeben haben, wird düster
aber noch ist das Verhältnis von kritischem Respekt gekennzeichnet. Das ändert sich über unserer politischen Zukunft hängen,
spätestens mit der Strauß-Titelgeschichte, die im Frühjahr 1961 und wer die Hand dazu geboten hat, wird
erscheint („Endkampf“). Augstein-Biograf Peter Merseburger sich verkriechen müssen.“
hält sie für die wohl „schärfste Polemik gegen einen deutschen Heute herrscht die Meinung vor, dass
Politiker“ seit Kriegsende. Die beiden Artikel lesen Sie unter Adenauer und Strauß in den Fünfzigerjah-
spiegel.de/spiegel/print/d-41120198.html oder in der App. ren in den entscheidenden politischen Fra-
64 DER SPIEGEL 1 / 2017
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BPK
Amerikanisch-sowjetische Konfrontation am Checkpoint Charlie in Berlin 1961: Explosion jederzeit möglich
gen richtig lagen – für die Westbindung ging, den zu bekämpfen der SPIEGEL, au- vität, von Korruption und Machtbesessen-
der jungen Bundesrepublik, für die Nato, ßen- wie innenpolitisch, jeden Grund hat- heit, zum Abziehbild des Bösen schlecht-
die deutsche Wiederbewaffnung, für die te.“ Und weiter: „Adenauer, der altböse hin zu machen“. Eine Rolle, in der Strauß
europäische Integration, all das, wofür sie Feind, konnte vom SPIEGEL nur indirekt, der Öffentlichkeit dann tatsächlich er-
von Augstein bekämpft worden waren. über dessen potenziellen Nachfolger scheint: in der SPIEGEL-Affäre, 1962, als
Zum 40. Geburtstag des SPIEGEL be- Strauß bekämpft werden. Adenauer wollte er, der unliebsamen Berichterstattung über-
gründete er Ende 1986 seine damalige Op- Atomwaffen für die Bundeswehr, weil er drüssig, die Werte des demokratischen
position. „Adenauer wollte einen um je- nicht wusste, was das war; der Verteidi- Rechtsstaats mit Füßen tritt und als Ver-
den Preis westlichen Staat“, schrieb Aug- gungsminister Strauß aber wollte sie, weil teidigungsminister zurücktreten muss.
stein, „erst allmählich, zwischen 1951 und er das sehr wohl wusste.“ Augstein sei es Zu diesem Zeitpunkt ist der Konflikt
1961, wurde mir klar, dass es hier nicht ver- in jenen Jahren gelungen, schreibt sein der Großmächte in Europa buchstäblich
bal, sondern in der Substanz um einen an- Biograf Merseburger, „Franz Josef Strauß einbetoniert. Das Schicksal der jetzt nur
tidemokratischen, antiparlamentarischen für die eher linke Intelligenz der Republik noch 17 Millionen Ostdeutschen ist für die
Sonderstaat von katholischer Heuchelei zur Inkarnation von Gefahr und Aggressi- nächsten 28 Jahre entschieden. Der Bau
Ausgabe 18/1957 Ausgabe 45/1962 Ausgaben 1 bis 2/1974 Ausgabe 39/1983 Ausgabe 30/1990
Augstein-Gegner Strauß: Strauß-Gegner Augstein: Ein Text, den die Sowjet- Aufrüstung, Abrüstung: das Aufs Sofa, bitte: Bonn und
für Wiederbewaffnung 103 Tage im Gefängnis bürger nicht lesen sollten große Thema der Achtziger Moskau vertragen sich
Ausgabe 36/1991 Ausgabe 36/1997 Ausgabe 34/2008 Ausgabe 41/2016 Ausgabe 46/2016
Das bittere Ende der Die USA und ihre Russlands Präsident Putin Syrien: Der kalte Krieg Trump – ein Hetzer auf dem
Sowjetunion Selbstüberschätzung auf dem Vormarsch wird ein heißer Weg ins Weiße Haus
1990
66,3
2015
60,2
1983
360 000
Fürchten Sie Silvester, Alhamza: Als meine Familie kann. Meine Frau und ich er- Alhamza: Wir haben nun eine
und ich gerade nach Deutsch- zählen ihnen, dass wir früher, Wohnung, müssen nicht mehr
Herr Alhamza? land gekommen waren, war vor dem Krieg, an Silvester im- in Containern leben, also
Arif Alhamza, 36, syrischer das ein Problem. Mein Sohn mer nach Damaskus gefahren laden wir unsere deutschen
Familienvater und Kriegsflücht- ist heute zehn Jahre alt, mei- sind, um das große Feuerwerk Nachbarn zum Essen ein.
ling aus Hamburg, über Raketen ne Tochter ist erst fünf. Beide zu sehen. Die ganze Stadt war Wir kennen sie zwar noch
und Kanonenschläge zum haben die ganze Nacht unter geschmückt, von den Bergen nicht, aber so haben wir im
Jahreswechsel ihren Betten gelegen, sie schossen Raketen, und in den neuen Jahr gleich neue
haben die Explosionen gehört, Straßen haben alle zusammen Freunde.
SPIEGEL: Die Deutschen spren- und dann haben sie geweint getanzt, Muslime und Christen. SPIEGEL: Dürfen Ihre Nach-
gen jedes Jahr Feuerwerks- oder gezittert. Meine Frau hat SPIEGEL: Wie werden Sie jetzt barn böllern?
körper für mehr als hundert das Flüchtlingsheim drei Tage in Hamburg feiern? Alhamza: Natürlich, das ge-
Millionen Euro in die Luft. lang nicht verlassen. Sie dach- hört dazu. Ich werde auch ein
Wie finden Sie das? te, eine Granate würde sie paar Raketen zünden und
Alhamza: Super. Es ist sehr dann treffen. Frösche, die knallen, für die
viel Geld, aber ich liebe es, SPIEGEL: Haben Sie Ihrer Fa- Kinder. Es gibt nur eins, das
JULIAN STRATENSCHULTE / DPA
wenn der Himmel bunt ist milie für dieses Jahr die mich an Silvester in Deutsch-
und es richtig laut knallt. Angst genommen? land stört.
SPIEGEL: Sie sind vor einem Alhamza: Das hoffe ich. Ich SPIEGEL: Was denn?
Jahr aus Syrien nach Ham- habe meinen Kindern gesagt, Alhamza: Viele Deutsche
burg geflohen. Erinnert Sie dass Böller keine Bomben sind machen am Tag danach nicht
der Lärm nicht an den Krieg? und dass uns nichts passieren sauber. rel
Gesellschaft
gen die Tür zuzutreten. Er schreit nicht. Er ruft nur: „Das
Die andere Wange Blut spritzt überall.“ Sein Sohn Jonathan, 17 Jahre alt,
kommt die Treppe herunter, in der Hand einen Baseball-
schläger. Cervigne erinnert sich, dass er sich wundert,
Ein Facebook-Post und seine Geschichte dass sein Sohn einen Baseballschläger besitzt. Der Junge
drückt mit der Hand gegen die Tür.
Ein Pfarrer wird blutig geschlagen Cervigne wird später zu seinem Sohn sagen, dass er
und zeigt, wie man digital vergeben kann. sich nie so sicher gefühlt habe wie bei ihm in diesem Mo-
ment. Er schleppt sich durch den Flur auf die Veranda, er
B
evor der Pfarrer Charles Cervigne, 57 Jahre alt, auf braucht frische Luft. Seine Frau ruft den Krankenwagen.
seiner Türschwelle mit einem Stock blutig geschla- Den Satz aus der Bibel, dass man jemandem auch die
gen wurde, kaufte er für seine Gemeinde rote Rosen. linke Wange hinhalten solle, wenn man auf die rechte ge-
80 Stück, jeder im Sonntagsgottesdienst sollte eine be- schlagen worden sei, verstünden viele falsch, sagt Cer-
kommen. vigne heute. Das habe nichts mit Feigheit zu tun, es gehe
Aldenhoven ist eine Gemeinde an der Grenze zu Bel- um Gewaltlosigkeit. „Mit der Gewalt kann es doch nur
gien, nicht weit von Aachen. Geflüchtete gibt es hier viele. aufhören, wenn einer mit dem Aufhören anfängt.“
In den Neunzigern kamen sie vom Balkan, zehn Jahre Im Klinikum Aachen sagen die Ärzte in dieser Nacht
später kamen die Tamilen, seit 2014 kommen Syrer und zu ihm, dass seine Lesebrille ihm das Augenlicht gerettet
Eritreer. Charles Cervigne ist hier seit 27 Jahren evange- habe. Er hat nur einen Kratzer auf der Hornhaut und viel
lischer Pfarrer. Er wurde es, weil er den Glauben näher Blut verloren. „Die Nase war aber schon vorher krumm“,
an die Lebenswirklichkeit der Menschen bringen wollte. sagt Cervigne.
Deshalb hat fast jeder hier seine Handynummer. Deshalb Ab halb eins liegt er allein im Klinikzimmer und über-
gibt es Leute, die rufen Cervigne an, wenn sie nachts auf legt. Ab halb zwei langweilt er sich. Er loggt sich
der Landstraße mit dem auf Facebook ein und
Auto liegen bleiben. Und schreibt eine Nachricht
wenn eine Frau in den frü- über das, was passiert ist.
hen Morgenstunden an- Er sagt dem Täter, er
ruft und sagt, ihr Mann könne ihn beruhigen, es
sei betrunken und sie gehe ihm gut, und „viel-
habe Angst, verprügelt zu leicht bist du ja nun auch
werden, dann fährt Cer- erleichtert“. Er schreibt,
vigne hin. Jeder Mensch dass er sich nicht ein-
braucht manchmal Hilfe, schüchtern lasse. Dann
und jeder verdient eine wünscht er dem Täter
Chance, sagt er. Er sagt eine gute Nacht. Cervigne
nicht Chance, sondern klickt auf „posten“.
Schongse. Rheinländer. Er steht auf und geht
In Aldenhoven leben mit dem Infusionsträger
Christen, Atheisten, Mus- ins Bereitschaftszimmer.
lime. Cervigne fragt sie „Ich wollt jetzt dann ge-
nicht, woran sie glauben, Facebook-Nachricht Cervignes an den Angreifer hen“, sagt er zur Nacht-
wenn sie zu ihm kommen. schwester.
Am Abend des Überfalls sitzt Charles Cervigne Die Polizei ermittelt in der rechten Szene im
an seinem Computer und schreibt die Predigt Umland. Dass es jemand aus dem Ort war, glaubt
für den nächsten Tag. Er weiß, was er sagen wird, Cervigne nicht. „Wir haben hier in Aldenhoven
NORBERT GANSER / BILDZEITUNG
er muss die Gedanken nur noch aufschreiben. keine Rechtsradikalen“, sagt er.
Vor zehn Jahren gründete Cervigne in Alden- Vier Männer aus dem Ort, die Cervigne
hoven das „Bündnis gegen Rechts“. Wenn er auf als rechtskonservativ einstuft, kamen am Sonn-
Facebook einen Kommentar sieht, in dem je- tag nach der Tat zu ihm, Cervigne hat ihre
mand gegen Flüchtlinge poltert, antwortet er. Kinder getauft. „Die haben gesagt, ,Mensch,
Anfang 2016 bekam er erste Hassnachrichten. Charles, hör mal, tut uns unheimlich leid, dass
„Dass in der Gemeinde Autoreifen zerstochen dir das passiert ist. Wenn man dir irgendwie
wurden, dass auf die Kirche ‚Nationale Front‘ ge- Cervigne helfen kann, sag uns Bescheid‘“, erzählt Cer-
schmiert wurde, das kannten wir alles schon“, vigne.
sagt er. Aber rechtsradikale Parolen in E-Mails und auf Vor ein paar Wochen kam wieder eine Droh-E-Mail an
Facebook, die gegen den Pfarrer gerichtet waren, das war das evangelische Gemeindezentrum. Darin stand, man
neu. Darin stand, dass man ihm eine reinhauen müsse, müsste noch mal zum Haus des Pfarrers gehen und zu
damit er endlich sein Maul halte, dass Deutschland wieder Ende bringen, was angefangen wurde. Charles Cervigne
einen Führer brauche, solches Zeug. hat die E-Mail gelesen und weggeklickt. Er hat keine
Um kurz nach elf klingelt es an der Haustür. Cervigne Angst. „Ich sag mal so, ich weiß, dass mir nichts passieren
glaubt, es sei sein ältester Sohn, Josef, der wohl den Schlüs- kann, auch wenn mir etwas passiert. Der Mensch ist schon
sel vergessen habe. Er zieht die Haustür auf. Er sieht nie- ’n komisches Tier.“
manden. Etwas, vermutlich ein Holzstock, trifft ihn mit Am Morgen nach dem Verbrechen verteilt Cervigne
Wucht zwischen die Augen. Er spürt, wie Blut über sein die Rosen in der Kirche. 90 Leute sind gekommen, auch
Gesicht fließt. Cervigne sinkt zu Boden. Der Angreifer seine Söhne. Dann hält er seine Predigt, die von der Liebe
sprüht Pfefferspray. Cervigne gelingt es irgendwie, im Lie- handelt. Theresa Hein
I
n der Stadthalle von Schwerin, zehn steller von Powerdrinks in Getränkedosen; einer Welt, die den Mutigen gehört. Die
Meter über dem Boden, fliegt ein Mann wer das Logo der Firma, zwei rote Stiere, dann auf Skiern durch unberührten Pul-
durch die Luft. Sein Körper ist ge- auf seinem Helm trägt, gehört zu denen, verschnee fast senkrechte Hänge hinunter-
streckt, seine Hände umfassen den Lenker die es geschafft haben. Es sind Auserwähl- rasen oder auf Mountainbikes durch das
eines Motorrads, das über ihm durch die te, ausgestattet mit guten Verträgen und Betonlabyrinth einer Stadt springen. Red
Luft fliegt. Er ist dabei, mit dem Motorrad besonderen Verpflichtungen. Auch Luc Bull streut diese Bilder über die Welt, sie
einen Salto rückwärts zu springen. Unter Ackermann ist einer dieser Auserwählten. strotzen vor Optimismus, feiern die Inno-
ihm nichts als der harte Hallenboden, kein Seit gut zwei Jahren darf Ackermann vation, das Risiko und natürlich: die Dose.
Netz, keine Sicherung. diesen Helm tragen. Er wurde ihm in den Ein schlichtes Konzept, aber es funktio-
Der Mann heißt Luc Ackermann, er ist Katakomben der O2-Arena in Hamburg niert. Red Bulls Umsatz wächst stetig,
18 Jahre alt und von Beruf Actionsportler, überreicht, und Ackermann, damals gera- meist zweistellig. 2015 wurden in 169 Län-
Freestyle-Motocrosser. de 16 Jahre alt, das Gesicht noch weich dern der Welt knapp sechs Milliarden Do-
Für einen Augenblick scheinen Mensch und jungenhaft, nahm ihn mit Tränen in sen verkauft.
und Maschine jetzt stillzustehen, die Räder den Augen entgegen. Ackermann stammt All das kann man erfahren, wenn man
des Motorrads weisen zum Hallendach. aus Niederdorla in Thüringen, seine Eltern bei Red Bull in der Pressestelle anruft oder
Wenn man das Bild einfrieren würde, dann führen dort eine Gärtnerei, der Helm war die Homepage besucht, auf der jede Men-
wäre es der Moment unmittelbar vor dem eine Verheißung darauf, dass Luc Acker- ge gut gelaunte junge Männer zu sehen
Drama. Wenn man im Publikum sitzt, mann ein anderes, aufregenderes Leben sind. Es gibt aber auch andere Geschichten
spürt man, dass es jetzt noch einen Wim- führen würde als seine Mutter und sein im Zusammenhang mit dieser Firma. Sie
pernschlag dauert, ehe sich entscheidet, Vater. Der Helm gleicht in Ackermanns sind schwerer zu finden. Sie erzählen nicht
ob es hier zum Drama kommt oder zur Welt einer Krone, die das Haupt der Fä- von Erfolgen, sondern vom Scheitern. Es
perfekten Landung. higsten und Verwegensten ziert. sind Geschichten von Toten, kaum jemand
Nur Stunden zuvor, während des Trai- Der Helm dient auch als Eintrittskarte kennt ihre Namen. Michel Leusch. Caleb
nings, war zu beobachten, welche Folgen in ein Reich, in dem Dinge möglich sind, Moore. Eigo Sato. Shane McConkey. To-
dieses Spiel haben kann. Ein Fahrer aus die unmöglich erscheinen. Ein Mann, Felix riano Wilson. Eli Thompson. Ueli Gegen-
Skandinavien hatte ein sehr ähnliches Ma- Baumgartner, kann aus der Stratosphäre schatz. Diese sieben Männer starben in
növer gewagt, aber er war geschwächt von hinab zur Erde springen und dieses Wagnis den vergangenen sieben Jahren auf drei
einer Grippe, seine Bewegungen deshalb überleben. Ein Rennfahrer, Sebastian Vet- verschiedenen Kontinenten. Sie starben
den Bruchteil einer Sekunde zu langsam, tel, kann in der Formel 1 vier Weltmeis- auf Motorrädern, bei Basejumps in der
er brachte die Füße nicht zurück auf die tertitel in Folge gewinnen. Ein Fußball- Stadt und in den Bergen, nach dem Sturz
Fußrasten. Er klammerte sich mit den Hän- verein, RB Leipzig, kann von der fünften mit einem Schneemobil. Es wäre nicht kor-
den an den Lenker, was eine verständliche, Liga an die Spitze der Bundesliga durch- rekt, wenn man sagen würde, dass sie we-
aber falsche Entscheidung war. Die Wucht marschieren. gen Red Bull starben. Man kann auch nicht
des Aufpralls stauchte ihn zusammen, riss Red Bull hat all diese Erfolge und viele sagen, dass sie ohne Red Bull noch am Le-
seine rechte Hand, die den Gasgriff um- weitere mehr finanziert, mit Hunderten ben wären. Was wäre die richtige Formu-
fasste, nach unten. Er raste mit voller Ge- Millionen Euro Jahr für Jahr. Gefeiert wer- lierung? Dass sie für Red Bull starben?
schwindigkeit gegen die nahe Hallenwand, den die Siege und mit ihnen die Getränke- Gemeinsam ist diesen Männern, dass
die nur mit einer Matte gepolstert war. Als dose dann vor größtmöglichem Publikum, sie, wie Luc Ackermann, Actionsportler
er nach dem Rückprall auf dem Boden auf- zu laut ist das Getöse, als dass Kritiker waren, dass sie das Risiko suchten, die Be-
schlug, vor Schmerzen nur halb bei Be- durchdringen würden. Kopfmenschen, die wunderung genossen, dass sie ihr Leben
wusstsein, begann er zu heulen wie ein Tier. sagen, solche Stunts wie der von Baum- riskierten, für den Sieg in Wettbewerben,
Wenn das Kunststück aber gelingt, so gartner seien Irrsinn; Romantiker, die fin- die den meisten Menschen völlig unbe-
wie bei Luc Ackermann, dann gleitet der den, RB Leipzig sei ein Verein aus der Re- kannt sind. Und wenn man doch einmal
Körper in der Luft scheinbar mühelos zu- torte, zum Leben erweckt nur mit Geld, Disziplinen wie Freestyle-Motocross oder
rück auf die Sitzbank, bringt so die Rota- aber ohne Herz. Snowmobile-Freestyle begegnen sollte,
tion des Motorrads wieder in Gang, und Dietrich Mateschitz, den Chef von Red dann sieht man meist nur ein Kuriositä-
der Mensch setzt mit der Maschine unbe- Bull, kümmern solche Bedenken nicht. Er tenkabinett, Material für Fail-Videos auf
schadet auf der Landerampe auf. pumpt unverdrossen Geld in den Sport, YouTube: Aufnahmen von Unfällen, von
Es gibt viele perfekte Landungen an die- um Bilder, Clips, manchmal auch ganze Stürzen, vom Misslingen.
sem Abend, wenige Dramen, und man Dokumentationen in Spielfilmlänge pro- Gemeinsam ist den sieben Toten auch,
kann behaupten, dass genau das die rich- duzieren zu lassen, die seiner Firma und dass sie ihr Leben verloren bei Veranstal-
tige Mischung ist für alle, die so ein Spek- ihrem Produkt, einem taurinhaltigen, nach tungen, die Red Bull für Werbezwecke
takel sehen wollen. Das sind die Zuschau- Kaugummi schmeckenden Energydrink, nutzte, manche von ihnen besaßen Werbe-
er, Männer vor allem mit ihren Söhnen, Flügel verleihen. verträge mit der Firma und gehörten zu
und das ist der Sponsor einiger Fahrer, die Die Aufnahmen, die dabei entstehen, den Athleten, die, wie Luc Ackermann, das
hier ihr Leben riskieren: Red Bull, der Her- zeigen das Leben als Abenteuer, inmitten begehrte Bullen-Logo tragen durften. Das
Gesellschaft
VARIO IMAGES
nicht, dass nach jedem Unglück dieselbe
Frage gestellt wird: Trägt Red Bull Mit-
1 2
schuld am Tod des Sportlers? Zuletzt hat
sich eine ARD-Dokumentation ernsthaft
darangemacht, diese Frage zu beantwor-
ten. Sie wollte den Beweis erbringen, dass
der Sponsor mitverantwortlich sei am Tod
des Schweizer Basejumpers Ueli Gegen-
schatz. Es blieb bei dem Versuch.
Adrenalingetränkte Selbstverwirklichung
oder modernes Leibeigentum – zwischen
diesen beiden Polen pendeln die Meinun-
gen zu Red Bulls modernen Gladiatoren-
spielen. Wie sieht es also aus, das Verhältnis
Gesellschaft
Gesellschaft
er seine Karriere, vertreibt Fahrradgriffe, ist, für viele Fahrer aber nicht mehr als Das Ergebnis ist, dass Red Bull das Preis-
die er selbst entwickelt hat, und Fahrräder ein Zuschussgeschäft. Zink selbst hatte im geld aufgestockt hat, statt insgesamt
des deutschen Herstellers YT. Jahr zuvor für seinen sechsten Platz ganze 100 000 Dollar waren es in diesem Jahr
Was Zink in die Revolte trieb, war die 3000 Dollar erhalten, was kaum die Kosten 150 000. Die Zahl der Fahrer wurde hal-
Reaktion der Offiziellen am Berg unmit- für Unterkunft und Verpflegung seines biert, um die Konkurrenz zu mäßigen. Au-
telbar nach dem Sturz seines Freundes. Teams deckte, das aus „Diggern“ bestand, ßerdem zahlt Red Bull jedem Fahrer 5000
Erst, so schildert es Zink, sollte der aus Helfern, die ihn in den Tagen vor dem Dollar Spesen.
Schwerverletzte auf einem Geländefahr- Rennen unterstützen, wenn es darum geht, Ist Cam Zink zufrieden? „Es ist ein ers-
zeug ins weit entfernte Krankenhaus ge- eine Linie am Berg zu präparieren, die ter Erfolg, Skateboarder können deutlich
bracht werden, über löchrige Pisten. spektakulär, aber nicht tödlich ist. mehr verdienen, von Golfern erst gar nicht
Nur der entschiedene Widerstand einer Zink klagt, dass Red Bull von den Fah- zu sprechen, und deren Risiko ist wirklich
Ärztin soll das verhindert haben. Schließ- rern verlangt, selbst für eine Krankenver- gering.“ Zink denkt jetzt darüber nach,
lich wurde der Mann mit dem für solche sicherung zu sorgen, trotz der Zwänge, die eine Gewerkschaft für Fahrer zu gründen,
Fälle am Berg stationierten Hubschrauber der Veranstalter während des Rennens er hat Gefallen gefunden am organisierten
ausgeflogen. Der Wettbewerb hätte nun, schuf. Zink hat genug von Red Bull. Widerstand.
da kein Notfallhubschrauber mehr vor Ort Der Hashtag war eine unerhörte Provo- Luc Ackermann, der deutsche Free-
war, unterbrochen werden müssen, doch kation in der eng verwobenen Welt des styler, trainiert währenddessen weiter. Er
es ging weiter. Zink: „Weiß der Himmel, Actionsports. Szenemagazine berichteten, versucht, den Abstand zur Weltspitze zu
was passiert wäre, wenn sich kurz nach in Kommentaren wurde Red Bull angegrif- verringern, und arbeitet am Doppelsalto
Paul ein zweiter Fahrer schwer verletzt fen, es fielen Wörter wie Bigotterie, Aus- rückwärts. Ackermann springt, wie in sei-
hätte.“ beutung. Andere Fahrer meldeten sich zu nem Sport üblich, mit dem Motorrad in
In einer Stellungnahme bestreitet Red Wort, wenn auch anonym, Widerstand for- eine Grube voller Schaumstoffwürfel. Zur-
Bull, dass es eine Verzögerung gab, dass mierte sich. Es war genug, um Vertreter zeit allerdings ruht die Arbeit am Sprung.
die Sicherheit der Fahrer gefährdet gewe- von Red Bull an den Verhandlungstisch zu Ackermann hat sich im Training einen
sen sei. Ein Hubschrauber sei weiterhin zwingen. Cam Zink wurde mit einigen an- Oberschenkel gebrochen.
vor Ort gewesen. Allerdings war dies kein deren Fahrern nach Seattle geflogen. Dort
Notfallhubschrauber, sondern der mit den saßen sich Veranstalter und Fahrer gegen- Video:
Kameras. über, es war ein denkwürdiges Treffen, das Red Bull und die Toten
Cam Zink klagt an. Er klagt, dass die bewies, dass die Fahrer etwas bewegen spiegel.de/sp12017redbull
Rampage für Red Bull ein großer Gewinn können, wenn sie sich denn trauen. oder in der App DER SPIEGEL
Gesellschaft
sen war. Böhme mochte diesen Zirkus nicht. Als ich einen
Journalistenpreis gewann, schrieb er mir: „Herzlichen
Glückwunsch. Und vergessen Sie nicht: Zu viele Preise
töten den Journalisten.“ Einer Kollegin, die sich vorge-
nommen hatte, den brandenburgischen Ministerpräsiden-
ten Manfred Stolpe zu stürzen, sagte er, dass er keinen
Wachhunde Kampagnenjournalismus wolle. Sie verließ die Zeitung
und ging zum SPIEGEL. Im Sommer ließ er seine Sekretä-
rin und deren Familie in seinem Landhaus in Südfrank-
Leitkultur Alexander Osang denkt über reich Urlaub machen.
Böhme hat mich rausgehauen, als ich mich nach einer
die Rolle des Journalisten in Redaktionsparty mitten in der Nacht im Vollrausch in
einer wild gewordenen Welt nach. einer Verwaltungsetage des Berliner Verlages verlaufen
hatte und von einem Verlagsleiter gestellt wurde, weil ich
A
ls ich die Nachricht hörte, dass ein Lastwagen in auf dem langen Flur eine Tür nach der anderen öffnete.
den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gerast Der Mann drehte mir den Arm auf den Rücken und alar-
ist, kam ich gerade vom Fußballspielen. Ich fuhr mierte den Wachdienst. Ich war zu betrunken, um mich
in Turnhosen durch die Berliner Nacht und prüfte meine zu erklären, der Verlagschef regte in einem Schreiben mit
Gewissheiten. Ich dachte an meine Kinder, an meine Frau viel cc’s ein Disziplinarverfahren an. Böhme schrieb in
und meine Eltern, an das seltsame Jahr und daran, dass offiziellem Ton auf Kopfbogen zurück, dass ich gelegent-
ich Weihnachtsmärkte nun noch ärgerlicher finden würde. lich nachts durchs Haus streife, um auf Ideen zu kommen.
Früher, als Kind, erschienen sie mir wie eine vor- Er solle sich keine Sorgen machen.
weihnachtliche Prüfung, eng, mat- Ich glaube, ich habe wesentliche
schig, laut, dunkel und voller falscher Sachen über meinen Beruf bei ihm
Gefühle. Später wurde es nicht bes- gelernt.
ser. Als ich das letzte Mal einen Dazu gehört, denjenigen zu miss-
Weihnachtsmarkt besuchte, trug man trauen, die in Krisenzeiten erzählen,
dort den Sarg von Erich Böhme dass sie ganz genau wissen, wohin die
durch die Menge. Einem Mann, der Reise geht. Je mehr mein Berufsstand
mir viel bedeutet hat. Das ist sieben in Schwierigkeiten gerät, desto mehr
Jahre her. Die Trauerfeier fand in Ratschläge bekomme ich, was jetzt
der Gedächtniskirche statt, ungefähr zu tun sei. Ich muss die Populisten
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
da also, wo nun der schwarze Last- ignorieren, muss sie ernst nehmen,
wagen zum Stehen gekommen war. ich muss sie als Populisten kennzeich-
Anschließend musste der Trauerzug nen, darf aber nicht mehr das Wort
über den Weihnachtsmarkt. Leute Populisten schreiben. Wir müssen
mit Glühweinbechern glotzten auf innehalten, wir dürfen nicht innehal-
den Sarg, der zwischen den Buden ten. Wir müssen mehr in den sozialen
hin und her schwankte wie eine Jahr- Netzwerken agieren beziehungsweise
marktattraktion, der schwebende Böhmes Hochzeitsgeschenk weniger. Ein paar Jahre lang war die
SPIEGEL-Chef. Reportage tot, sie war naiv, nun ist
Ich glaube, Böhme hätte das gefallen. sie so wichtig wie nie. Wir brauchen weniger Meinung be-
Erich Böhme war 17 Jahre lang Chefredakteur des ziehungsweise mehr. Wir müssen mehr über Stahlarbeiter
SPIEGEL. Ich habe ihn erst danach kennengelernt. Er im amerikanischen Mittelwesten schreiben und über die
wurde nach dem Mauerfall Herausgeber der „Berliner Landbevölkerung in Sachsen-Anhalt, wir dürfen uns nicht
Zeitung“, wo ich damals gearbeitet habe. Es war eine wil- mit dem Volk gemeinmachen, wir müssen uns von Politi-
de Zeit, und ich dachte, sie sei vorbei, als ein Hamburger kern fernhalten und von aller Art von Blasen.
Verlag sich in unsere Zeitung einkaufte und den Mann Asche aufs Haupt. Keine Asche aufs Haupt.
vom SPIEGEL als Statthalter einsetzte. Böhme aber war Erich Böhme hätte gelächelt, mit dem Kopf gewackelt
entspannter als ich. und geraten, erst mal einen Schnaps zu trinken. Als ich ge-
Er schrieb zwei Sachen, die mir im Kopf geblieben sind. heiratet habe, schenkte er mir eine Hundefigur, einen brau-
Das ist viel für einen Journalisten. Erstens: Ich will nicht nen Hund mit Glupschaugen, der aussah, als hätte er ihn
wiedervereinigt werden. Zweitens: Schmeißt die verdamm- auf dem Weg zu unserer Hochzeitsfeier vom Geländer eines
ten Stasiakten alle in die Spree. alten Berliner Mietshauses gesägt. Ich habe nie begriffen,
Böhme war ein unabhängiger Mann. Er hatte schon ein was er mir damit sagen wollte, und dann war er tot.
Journalistenleben hinter sich, als ich ihn traf. Er redete In schwachen Stunden, oft nachts, saß ich vor dem
viel davon, dass die Jahre, die er SPIEGEL-Chefredakteur Hund und stellte ihm stumme Fragen. Ich fürchte, es gab
gewesen war, als doppelte Lebensjahre zählen. Ich glaube, Nächte, in denen ich auch laut mit ihm sprach. Er glotzte
er hatte einfach alles gesehen, was der Journalismus an nur, manchmal schien er Böhmes Gesichtsausdruck nach-
Abgründen zu bieten hat. Das entspannt. Manchmal traf zumachen. Eines Tages habe ich entdeckt, dass der Hund
ich ihn mitten am Tag mit Tennisschläger vorm Fahrstuhl. von Schrauben zusammengehalten wird. Ich war davon
Einmal erklärte er mir, dass Wodka keine Fahne mache, überzeugt, dass Böhme seine Botschaft im Hund versteckt
ein anderes Mal, dass ich die Redaktionskonferenz nicht hatte. Ich schraubte ihn auf. Ich war ganz kurz davor, dem
als Betriebsratsversammlung missbrauchen dürfe. Ich hatte Wesen der Dinge ins Auge zu schauen.
unseren Chefredakteur in einer kämpferischen Rede daran Der Hund ist im Innern hohl, leer und riecht leicht
erinnert, dass er früher Redenschreiber bei der FDJ gewe- muffig.
UTOPIEN
Von Elke Schmitter
I
m Juli 1967 kam Herbert Marcuse aus bundes (SDS), um über Utopie, die außer- Insel, geformt wie das Britannien seiner
Kalifornien nach Berlin. Ein Philosoph parlamentarische Opposition und den Zeit, bewohnt von normalen Menschen,
der Hoffnung, ein jüdischer Emigrant, Krieg in Vietnam zu diskutieren –, allerdings in einem politischen System, das
der mit Freud und Marx im Kopf und der 100 Jahre vor diesem Besuch wären sehr sich zu den Verhältnissen seiner Zeit wie
Liebe zur Revolution in der Seele für eine viele Selbstverständlichkeiten der späten eine Umkehrung verhält. Es gibt weder
utopische Zukunft stritt, strikt ausgehend Sechzigerjahre utopisch erschienen. Religionskriege noch Willkürherrschaft,
von der Gegenwart: Längst sind wir so Nicht nur das Flugzeug, mit dem er an- weder Armut der vielen noch Prachtent-
weit, so sein Argument, die Menschheit kam, nicht nur das Fernsehen, das über faltung der wenigen. Es herrscht Ruhe im
aus dem Zeitalter der Notwendigkeit in die utopieverliebte und gegenwartsver- Lande, die Politiker werden basisdemokra-
das der Freiheit zu führen. Der wissen- grimmte Apo berichtete. Sondern die tisch gewählt; oligarchische Strukturen,
schaftliche Fortschritt und der entwickelte schlichte Tatsache, dass gute Ernährung, Erbhöfe und aristokratische Fehden sind
Kapitalismus schufen Verhältnisse, in de- eine professionelle Gesundheitsversorgung ausgeschlossen.
nen das materielle Elend abgeschafft wer- und kostenlose Bildung für alle bereits Ge- Vor allem aber sind die beiden elemen-
den kann. In denen kein Erdenbewohner wohnheit waren. Von Antibabypillen, be- taren Ursachen für Zwist im Kleinen und
mehr hungern oder an heilbaren Krank- zahlten Urlaubstagen und Penicillin gar Grausamkeit im Großen systemisch elimi-
heiten sterben müsste. In denen außerdem nicht zu reden, auch nicht von einem west- niert: Auf Utopia gibt es keinen Privatbe-
die Produktion der notwendigen Güter lichen Europa der vertraglich friedvollen sitz, und das Staatswesen ist nicht religiös
sich so weit rationalisieren ließe, dass das Nachbarschaft. verfasst. Alle Güter werden gerecht verteilt,
Leben des durchschnittlichen Menschen Vor 500 Jahren, 1516, erschien in der flä- das kollektiv Erwirtschaftete kommt allen
endlich mehr sein könnte als Schufterei, mischen Stadt Leuven der Roman „Utopia“ gleichermaßen zugute. Alle arbeiten, aber
um zu überleben, und seine Kinder vorzu- des englischen Staatsmannes und Philoso- keiner muss schuften. Die Städte und die
bereiten, unter demselben Schicksal zu phen Thomas Morus, die genaue Beschrei- Häuser sehen überall gleich aus, auch sind
leiden. bung seines Traums: des Lebens auf einer die Bürger alle gleich gekleidet: Weder Ent-
Marcuse war von den Studenten, so der wicklung noch Vielfalt sind Ideale; das Le-
SPIEGEL 1969, „geradezu triumphal emp- ben ist so stabil wie übersichtlich, ein säku-
fangen worden. Dem Verlangen nach larer Kibbuz. Es handelt sich um ein etwas
schnell wirkenden Revolutionsrezepten bürokratisches Paradies, eine wunschlose,
hatte er allerdings nicht entsprochen“. unendliche Gegenwart.
Stattdessen erinnerte er an die marxsche Seit jener Schrift des Mannes, der 19 Jah-
Vision der Freiheit, in der es dem Einzel- re später unter Heinrich dem XIII. als
nen möglich ist, „heute dies, morgen jenes Staats- und Religionsverräter enthauptet
zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu werden sollte, ist die Utopie ein strittiger
fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach Begriff: für die einen die totalitäre Verfüh-
dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade rung schlechthin, ein gefährlich funkelnder
Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Stern des Unmöglichen, der Zorn schürt
Kritiker zu werden“, weil die gesellschaft- und die Menschen zu Geiseln unverwirk-
liche Produktion nicht die Profitmaximie- lichbarer Programme macht. Für die an-
rung, sondern die Zufriedenheit ihrer Mit- deren die Entwicklung jenes genuin
glieder zum höchsten Ziele hat. Dieses menschlichen „Möglichkeitssinns“ – so
Reich der Freiheit könnte nun angebro- Robert Musils Wortschöpfung in seinem
chen sein, meinte Marcuse. Die Verwirkli- Monumentalroman „Der Mann ohne Eigen-
chung der allerschönsten Utopie. schaften“ –, ohne den wir alle die Beute
Sie ist das Reich des Konjunktivs. Ein- des Tatsächlichen wären, hoffnungslos
mal verwirklicht, schwindet ihr Zauber da- dem ausgeliefert, was ohnehin der Fall ist.
hin; das Selbstverständliche ist kein Grund Utopie. Der Klang dieses Wortes ändert
zum Glücklichsein. 100 Jahre vor dem Be- sich unaufhörlich, er passt sich den Ver-
such Marcuses in Berlin – auf Einladung SPIEGEL-Ausgabe 26/1968 hältnissen an. Gegenwärtig sind weit aus-
des Sozialistischen Deutschen Studenten- Die „rote Brigade“ als Bürgerschreck spannende Visionen eher gesucht als auf-
dringlich. Noch immer scheint das visio- ten sich mit Erschließungsplänen bis zu ren Lösungen lassen sich eben nicht ima-
näre Denken unter der Lähmung zu leiden, 150 Metern unter der Erdoberfläche. ginieren. Zu oft sind technische Entwick-
die nach dem Fall der Mauer und dem Ob das Leben unter der Erde, in unter- lungen nicht Ergebnis gezielter Forschung,
Zusammenbruch der Sowjetunion unter irdischen Blasen in den Ozeanen oder im sondern ihr Abfallprodukt oder ihr ganz
der Losung vom „Ende der Geschichte“ Raumfahrtanzug auf anderen Himmelskör- unbeabsichtigter Effekt. Die Mikrowelle,
um sich griff. Demokratie und Marktwirt- pern – im technisch-visionären Denken die Teflonbeschichtung und Viagra sind
schaft, so hatte der Politikwissenschaftler zeigt sich im Rückblick eine so infantile die bekanntesten Beispiele, aber auch Pe-
Francis Fukuyama 1992 in seinem berühm- Fröhlichkeit, als hätte Jules Verne den Her- nicillin und LSD waren Überraschungen –
ten Aufsatz prophezeit, wären die bleiben- ren die Feder geführt. Doch auch die düs- keine Antworten auf bohrende Fragen,
den Sieger im Kampf der Systeme. teren Vorhersagen des Club of Rome ha- sondern mehr oder minder zweifelhafte
Was ist geblieben von den Utopien der ben sich, glücklicherweise, zum großen Geschenke. Innovationen lassen sich nicht
Sechzigerjahre, von den radikalen Hoff- Teil nicht erfüllt: Der Menschheit geht es verordnen, technische Entwicklungen nur
nungen auf den befreiten Menschen und insgesamt nicht schlechter, sondern besser, lückenhaft und ungenau imaginieren – und
von den Vorhersagen jener Institute, die, was Ernährung, medizinische Versorgung keine menschliche Vorstellungskraft reich-
beauftragt von der Regierung, die Politik und Bevölkerungswachstum betrifft. Bei te aus, das Aidsvirus zu prophezeien.
in die erwartbare Zukunft lenken sollten? den Rohstoffen sieht es besser aus als da- Nein, das utopische Denken ist von je-
Mit Letzterem ist man schnell fertig. Das mals angenommen. Und der deutsche her am produktivsten, wenn es sich mit
meiste gehört in die Abteilung Kabarett; Wald, dessen Sterben auch der SPIEGEL sozialphilosophischen Fragen befasst. Wie
es zeigt, dass der musilsche Möglichkeits- prophezeit hat, lebt immer noch. Wobei Thomas Morus mit seiner radikalen Vision
sinn wie eine Wünschelrute zuckt, seine natürlich niemals genau zu entscheiden ist, einer Welt ohne Eigentum und Bürger-
Ausschläge aber weit weniger verlässlich wie weit die apokalyptische Warnung krieg, wie Herbert Marcuse mit seinem
sind. Der damals so prominente wie ge- ebenjene Kräfte in Gang setzt, die zu einer Appell an den Möglichkeitssinn, der von
schätzte Professor Wagenführ, Chef des Verhinderung von Katastrophen führen. den Ressourcen Ausgang nimmt, die es be-
Tübinger Wickert-Instituts für Zukunfts- Ob aus dem Schwarzseher im Nachhinein reits gibt. Nichts davon hat sich erledigt,
forschung, sagte 1968 voraus, schon im ein Hysteriker wird, entscheidet ja eben im Gegenteil: Die Landwirtschaft ist noch
Jahr 2000 würden die Deutschen nur noch die Zukunft, an deren Gestaltung er seinen effizienter geworden, die Welt wächst zu-
drei Tage in der Woche arbeiten, und mit- Anteil hat. sammen in ihren internationalen Organi-
hilfe „elektronischer Stimulierung mensch- Für das utopische Denken ist aber oh- sationen, es gibt weniger Sterblichkeit auf-
licher Gehirnzentren“ oder auch durch nehin nicht die Vorhersage das Entschei- grund von Seuchen und weniger Opfer der
Drogen würde die Bevölkerung intelligen- dende. Sie krankt nicht nur an den so Armut denn je. Und doch erscheint die
ter. Der SPIEGEL war von dieser „grob- schwierig zu beantwortenden Fragen, wel- Gegenwart vielen beklagenswert, und vor-
maschigen Prophetie“ damals nicht über- che Daten man als Basis für die Hochrech- herrschend scheint ein Gefühl von Er-
zeugt. Aber nicht nur Wagenführ, sondern nung nimmt und welche Entwicklungen schöpfung und von zielarmer Durchwurs-
vielen sogenannten Zukunftsforschern man als wahrscheinliche zugrunde legt. Sie telei. Wo sind sie also hin, die utopischen
schien das Leben in unterirdischen Städten krankt vor allem an einem erkenntnistheo- Impulse aus den Sechzigern?
etwa von der Jahrtausendwende an selbst- retisch blinden Fleck: Denn selbst wenn Das berühmte Bild der Berliner Kom-
verständlich; britische Ingenieure befass- man die Probleme vorhersagen kann – de- mune 1, sieben nackte Rücken und ein klei-
ner Junge, der interessiert in die Kamera
guckt, es ist das ikonische Synonym ge-
Auszug aus dem SPIEGEL vom 19. September 1966 worden für den Ausbruch aus der bürger-
lichen Kleinfamilienordnung, die da hieß:
„Gammler“ waren 1966 ein neues Sex nur unter Verlobten oder Ehepaaren,
Phänomen auf den Straßen west- das Heterosexuelle als Norm, die Kinder-
deutscher Großstädte: „Langhaa- erziehung eine Privatangelegenheit auf re-
rig, trinkfest, schmuddelig, gleich- pressiver Grundlage. Auch Uschi Obermai-
gültig“, so beschrieb der SPIEGEL er trug als Kommunardin zur Verbreitung
die jungen Menschen, für die dieser Ideen bei (und zeigte außerdem 1969
es Wichtigeres gab als materiel- dem geneigten SPIEGEL-Leser in einer Bas-
len Wohlstand. „Sie verstehen telanleitung in acht Schritten, wie man ei-
es, auf jede Weise nichts zu tun“, nen Joint baut).
hieß es in der Titelgeschichte. Die Wohngemeinschaft ist ein Erfolgs-
Ein Dutzend SPIEGEL-Leute modell, sie hat sich längst als Lebensform
war mit der Recherche über etabliert, nicht nur für das studentische
die Jugendbewegung befasst, Leben, sondern auch als progressives Mo-
sie redeten zuallererst mit dell für das Zusammenleben von Senioren.
den jungen Leuten selbst: „Nils Die Erziehung hat normativ das Kindes-
von der Heyde“, so wird über wohl zur Hauptsache gemacht; nicht nur
einen Redakteur in der Haus- Kinder körperlich zu züchtigen ist so ver-
mitteilung berichtet, „rechnete boten wie geächtet – die freie Entwicklung
über eine Hamburger Reeper- der Persönlichkeit ist das häufig unerreich-
bahn-Bewirtung des Gammlers te, aber anerkannte Ziel in der familiären
Stein DM 4,50 ab.“ Die ganze Pädagogik wie in den Institutionen. Dass
Geschichte lesen dies auch die funktional passende Antwort
Sie unter spiegel.de/ auf eine Wirtschaftsentwicklung ist, die el-
spiegel/print/ terliche Erwartungen an die Karrieren ih-
d-46414560.html rer Kinder (Opa Schreiner, Vater Schreiner
oder in der App. und der Sohn natürlich auch, und das Mäd-
78 DER SPIEGEL 1 / 2017
KaelDesu deutschlernmaterialien.blogspot.com
chen heiratet ja sowieso) weitgehend zer- freiung. Und dass die frühere Bückware Die feministische Blüte der Siebzigerjahre
schreddert hat – geschenkt. nun im Netz für jeden, also auch für Kin- ist allein den Frauen selbst zu verdanken,
Das heterosexuelle Leben ist statistisch der, zugänglich ist, schafft neue Beunruhi- jenem unermüdlichen Zusammenwirken
vorherrschend, aber als eine natürliche gungen und Probleme. in den Selbsterfahrungsgruppen und den
Einstellung, die alles andere zur Abwei- Doch ein offen schwuler Außenminister, Kinderläden, in den Archiven und Betrie-
chung macht, zur klandestinen, scham- eine mit einer Frau verheiratete Umwelt- ben, in Frauenuniversitäten und Gleich-
erfüllten, als pervers geächteten, auch straf- ministerin, die Patchworkfamilie als statis- stellungsinitiativen.
baren „Handlung“, hat es sich erledigt. tische Häufigkeit sind nur einige weithin Inzwischen sind Frauen gebildeter und
Nicht in allen Versammlungen, Bundes- sichtbare Zeichen dafür, dass Sexualität besser für ein selbstständiges Leben gerüs-
tagsfraktionen, Schulkonferenzen, Unter- und Repression, wie Marcuse es genannt tet als jemals in der westlichen Geschichte.
nehmen und Kneipen. Aber als eine alles hätte, kein sich auf ewig versprochenes „Die Alpha-Mädchen – wie eine neue Ge-
beherrschende Norm. Stattdessen lebt die Paar mehr sind. neration von Frauen die Männer überholt“,
sexuelle Befreiung ihre Lust an der De- Entschieden nüchterner sieht die Bilanz titelte der SPIEGEL 2007. Doch die Frauen
monstration beim Christopher Street Day der Frauenbewegung aus. Ende der Sech- werden nicht nur im Durchschnitt immer
aus und hat in den leicht zugänglichen Ni- zigerjahre fiel es den Veranstaltern der Dis- noch schlechter bezahlt, sie stoßen nicht
schen der Kontakthöfe in der virtuellen kussionstage an der Freien Universität of- nur, je weiter sie aufsteigen, immer noch
wie der realen Welt für jede libidinöse Fan- fenbar nicht unangenehm auf, dass über und immer wieder an die berüchtigte „glä-
tasie die passende Erfüllung im Angebot. die progressive Gesellschaft allein ältere serne Decke“ – sie tragen vor allem wei-
Dass die Verbindung von Geld und Sex in und jüngere Männer diskutierten. Der so- terhin in ihren Biografien die ungelösten
der erlaubten Prostitution nach wie vor genannte Nebenwiderspruch war ein lästi- Widersprüche der Gesellschaft als Einzel-
verbrecherische Strukturen zulässt oder ges, unangenehm kläffendes Wesen, das kämpferinnen aus.
gar unabsichtlich befördert, ist so bitter sich in die Hosenbeine des Fortschritts ver- Wer Kinder erziehen und außerdem an-
wie unstrittig, aber keine Folge dieser Be- biss, unbelehrbar über die großen Fragen. spruchsvoll oder auch nur mit ordentlicher
Ausgabe 51/1967 Ausgabe 17/1968 Ausgabe 33/1971 Ausgabe 22/1985 Ausgabe 5/1988
„Die Revolution trägt Pull- Proteste nach dem Attentat Hippies suchen nach Bodybuilding – der fitte Gorbatschows Perestroika-
over“, schrieb der SPIEGEL auf Rudi Dutschke „apolitischem Freiraum“ Körper wird zur Ikone Politik zeigt Wirkung
Rentenaussicht arbeiten will, hat nach wie Generationen selten treffen. Ihre ideolo- dersetzungen, die sich seit den Sechziger-
vor nicht nur schlechte Aussichten – erst giekritische Wahrnehmung geht im Gen- jahren grosso modo durchgesetzt hat. Wir
recht, wenn zu pflegende ältere Familien- der Mainstreaming auf – in der Sprache leben, auch wenn wir es nicht immer glau-
mitglieder in der Nähe sind. Vor allem ist der EU: „geschlechtersensible Folgenab- ben wollen, friedlicher denn je.
dieses biografische Kunststück in aller Re- schätzung“ – was einerseits ein ungeheurer Und doch, und doch …
gel nur zu bewerkstelligen, wenn die Frau Fortschritt ist, tatsächlich eine realisierte Die utopischen Ressourcen der Sechzi-
andere, dürftig bezahlte, häufig ihrerseits Utopie. Denn dass bei Vermögenspolitik, gerjahre harren, was das solidarische Han-
ihre Kinder zurücklassende Frauen beschäf- bei Bildung und Chancenverteilung mitge- deln betrifft, mehr denn je der Erfüllung.
tigt, um „das bisschen Haushalt“, wie Johan- dacht wird, wie sich das auf die Geschlech- Vielleicht am wenigsten bei jenem Thema,
na von Koczian Ende der Siebzigerjahre ter auswirkt, nicht nur in der Bundesrepu- das durch die Flüge zum Mond eine ikoni-
sang, und die viele Pflege erledigen zu las- blik, sondern auch in den internationalen sche Fassung bekam, auch so eine „Neben-
sen – schlechtes Gewissen, schlechte Ner- Organisationen, ist ein wirklicher Gewinn. folge“ (Ulrich Beck) des wissenschaftlichen
ven und einsame Überforderung inklusive. So ist es der Frauenbewegung gelungen, Fortschritts: Die Fotos des Planeten Erde,
Und schließlich hat das Erreichte auch den heterosexuellen, gesunden Mann mitt- die ihn in seiner Schönheit und Verletz-
dazu geführt, dass die Lage komplexer ge- leren Alters als Maß des Denkens und als lichkeit zeigen, nicht als Masse, sondern
worden ist. „Die“ Frauenbewegung gibt ideelles Gesamtsubjekt sanft von seinem als schwebende Kugel mit einer zarten, fra-
es weniger denn je, sie scheint einstweilen Sockel der Selbstverständlichkeit zu schub- gilen Oberfläche, haben der Umweltbewe-
zerfallen in institutionelle oder gewerk- sen. So hat sie auch zu jener Zurücknahme gung ein emotionales Bildmotiv geliefert,
schaftliche Ämterarbeit und Erfahrungs- von Gewalt beigetragen, auf den Straßen das neben versteppten Brachen, abgeholz-
berichte der Frustration, in denen sich die und in innergesellschaftlichen Auseinan- ten Regenwäldern und Plastikschwemmen
Ausgabe 38/1996 Ausgabe 21/2000 Ausgabe 24/2007 Ausgabe 44/2007 Ausgabe 46/2014
Serie über Leben und Die 68er regieren – ihre Kin- Eine neue Generation von 16 Altrebellen diskutieren Bilanz nach neun Jahren mit
Sterben des „Comandante“ der gründen Unternehmen Frauen überholt die Männer über ihre Verdienste der Bundeskanzlerin
in den Ozeanen besteht – als Erinnerung persönlichen Feind betrachten. Die der
an eine Gegenwart, die wir bis dahin nicht weitgehende Zerfall der Occupy-Bewe-
sehen konnten, und als Appell an die ge- gung ratlos zurückgelassen hat und denen
meinsame Verantwortung für das fragile die kleinen Schritte im beschleunigten Ka-
Ökosystem, in und von dem wir leben. pitalismus als Rückschritt erscheinen.
Die Bewahrung der Natur, in den Sech- In Zeiten, da man auf die Straße ging,
zigern noch das Anliegen einer konserva- um etwas zu erreichen, waren kollektive
tiven Minderheit und einer aufbrechenden Bewegungen leichter zu erkennen als in
Jugendbewegung, ist zu einem elementa- der vernetzten Gegenwart. Utopisches
ren Programmteil der Politik geworden. Denken rumort nach wie vor. Es hält sich
Und wo die sich uneinsichtig zeigt bezie- einerseits in den sozialen Nischen auf. Und
hungsweise den Kapitalinteressen in allem es trägt auf der anderen Seite jene still
den Vorzug gibt, wie im neuen Kabinett wachsenden Bewegungen, die, im besten
der USA unter der Führung Donald Sinne visionär, elementare Kategorien der
Trumps, findet sich eine Initiative Super- Geschichte ablösen wollen: das zu beschu-
reicher zusammen, die zwar ihr Geld nicht lende Kind durch das aktiv lernende, wie
umweltschonend verdient haben, aber es beispielsweise bei der „Schule im Auf-
nun teilweise in die Umweltschonung in- bruch“ um den Neurobiologen Gerald Hü-
vestieren wollen. ther. Die Nation durch eine Europäische
Professionalisierung allenthalben. Gi- Republik der Regionen, wie in der EUto-
gantische Stiftungen wie die von Bill Gates pie-Bewegung um die Politikwissenschaft-
oder die Soros-Foundation sind zu macht- lerin Ulrike Gúerot. Den Sozialhilfeemp-
vollen Akteuren geworden – kein Aus- fänger durch den Bezieher eines Grund-
gleich für die immer weiter sich aufsprei- einkommens, wie in diversen Programmen
zende weltweite Verteilung des Vermö- nicht nur in Europa. Den passiven Wähler
gens, aber eine philanthropische Antwort durch den per Losverfahren bestimmten
auf eine politische Lage, in welcher der Mitgestalter der Demokratie, wie in der
Neoliberalismus und die Geldwirtschaft Initiative um den Flamen David Van Rey-
die Aushöhlung sozialer Institutionen im- brouck. Das utopische Denken selbst, das
mer weiter betreiben. in der „Futur Zwei“-Stiftung des Sozial-
Mit der kommunistischen Utopie scheint wissenschaftlers Harald Welzer von einer
auch das Programm der Sozialdemokratie radikalen Geste zu einer Transformation
einer Art von Ächtung anheimgefallen zu werden soll – indem eine bessere Welt von
sein – ihre Siege wurden zur Selbstver- morgen an vielen Beispielen im Heute de-
ständlichkeit, aber ihr größtes Potenzial, monstriert wird.
die solidarische Idee, liegt brach. An die Und schließlich den Staatsangehörigen
Stelle des gemeinschaftlich agierenden durch den Weltbürger – wie in den zahllo-
Subjekts, das bei den 68ern, in der Frau- sen Graswurzel- und Großinitiativen, die
en- und der Umweltbewegung zumindest das Netz ermöglicht, und in den interna-
als Idealtypus fungierte, ist der um sich tionalen Organisationen. Die beharrlich
selbst besorgte Selbstoptimierer getreten. darauf hinarbeiten, dass die allgemeinen
Statt zum Sportverein oder in die Volks- Menschenrechte von einer radikalen Uto-
hochschule geht er ins Fitnesscenter oder pie zu einer Realität werden, die sich in
bucht einen Coach, um Körper und Geist allen Nationen einklagen lässt: als das
zu bilden, statt der Selbsterfahrungsgrup- Recht auf den Zugang zu sauberem Wasser,
pe ist der Psychologe die seelische Ret- als das Recht, auf unverseuchtem Boden
tungsstation, und zu der Frage, ob Quinoa zu leben. Als das Recht auf Bildung und
oder Gojibeeren den eigenen Säure-Ba- körperliche Unversehrtheit, auf die Frei-
sen-Haushalt besser ausgleichen, fällt ihm heit von Diskriminierung, auf Pressefrei-
vermutlich mehr ein als zur Lebensmit- heit und soziale Gerechtigkeit.
telausgabe für Bedürftige gleich um die Ein Prozess, der von zahllosen Rück-
Ecke. schlägen begleitet ist, von realpolitischen
Aber es kann auch derselbe sein, der Machtmanövern, von Ignoranz, Korrup-
ebenda jeden Sonntag hinter der Theke tion und dem menschlichen Makel in jeder
steht, für Wikipedia oder die Einführung Form; wie sollte es anders sein?
einer internationalen Finanztransaktion- Aber eben eine fortlaufende Bewegung,
steuer aktiv ist und dessen Facebook-Grup- ins Werk gesetzt von Institutionen, die
pe Fahrräder für Flüchtlinge sammelt. In selbst schon so etwas sind wie die Verwirk-
der Generation nach ihm, bei den noch lichung einer Utopie: ein weites Feld für
nicht Berufstätigen, fällt eine Trennung den Möglichkeitssinn, der sich nicht nur
ins Auge zwischen den vielen polizeilich auf die Zukunft richtet, sondern auch in
Unauffälligen, die in Parteien oder ande- der Gegenwart trainiert.
ren sozialen Gruppierungen vor allem lö-
Fotostrecke: Uschi Obermaier baut
sungsorientiert aktiv sind, und jenen we-
nigen, die – wie die radikale und nicht einen Joint (SPIEGEL 46/1969)
pazifistischen Nach-68er-Bewegungen – spiegel.de/sp012017joint
„das System“, das große Ganze, als ihren oder in der App DER SPIEGEL
Ausland
Italien im Weg herumstehen“. Nun nen Ausgaben im Bildungs-
Pannenserie in Rom fordern Kritiker seinen Rück- sektor traditionell unter dem
tritt. Landesweite Proteste europäischen Schnitt. Beim
Die neue italienische Regie- richten sich gegen Bildungs- jüngsten Pisa-Test landeten
rung leidet schon unter ers- ministerin Valeria Fedeli, 67, die 15-jährigen Italiener im
ten Affären: Arbeitsminister weil sie ihren zunächst im Le- Vergleich mit 34 anderen
Giuliano Poletti, 65, hatte die benslauf angegebenen Hoch- OECD-Staaten auf dem
Massenabwanderung qualifi- schulabschluss in Sozialwis- neuntletzten Platz. 47 Pro-
zierter junger Leute mit den senschaften offenbar frei er- zent aller Einwohner zwi-
Worten kommentiert, „dass funden hatte. Die ehemalige schen Bozen und Palermo
dieses Land es gut verschmer- Gewerkschafterin hat noch gelten einer weiteren Studie
zen kann, wenn die hier nicht nicht einmal das Abitur abge- der Wirtschaftsorganisation
legt. Rücktrittsforderungen zufolge sogar als „funktiona-
lehnt Fedeli mit der Begrün- le Analphabeten“ – sie kön-
dung ab, die Mogelei sei Fol- nen nur einfachste Sätze le-
ge einer „Leichtfertigkeit“ ih- sen und verstehen. Ihr erstes
CAMILLA MORANDI / GETTY IMAGES
35
Parks Tage sind gezählt, seit
Elefanten,
acht Löwen, ein Dutzend
Hyänen und eine Giraffe
hat Grace Mugabe, Frau
des Diktators von Sim-
babwe, Robert Mugabe,
an einen chinesischen
Safaripark liefern lassen –
um mit dem Erlös von
mindestens zwei Mil-
lionen Dollar Militär-
uniformen und Stiefel zu
YONHAP NEWS / DDP IMAGES
An der Front
Früher war die Altstadt von Aleppo das Ausgehviertel der zweitgrößten Stadt Syriens – bis
sie im Krieg zwischen Rebellen und Armee großenteils zerstört wurde. Nach der Eroberung
durch Regimetruppen wagen sich nun Bürger zurück an die bisherige Frontlinie, die mitten
Analyse
Der Mitternachtspräsident
Kann Barack Obama mit Tricks in den letzten Tagen sein Erbe retten?
George W. Bush war nie als arbeitswütiger Präsident bekannt, ßenminister John Kerry auch noch in einer Art Regierungser-
doch in den letzten Wochen im Amt änderte sich das: Er klärung, die Zweistaatenlösung für Israel und Palästina als Ziel
lockerte Entsorgungsregeln für Kohlefirmen, erlaubte neue des Friedensprozesses festzuklopfen. Trump protestierte, und
Kraftwerke nahe Nationalparks und schwächte das Abtrei- er hat angekündigt, sofort viele der Manöver rückgängig zu
bungsrecht. Acht Jahre später versucht auch Barack Obama machen, aber das ist nicht einfach. In der Gesundheitspolitik
mit sogenannten Mitternachtsverordnungen, sein politisches braucht er den Kongress. Beim Beschluss gegen Bohrungen
Erbe über die Jahre unter dem kommenden Präsidenten Do- vor der US-Küste bediente sich Obama eines Gesetzes, das
nald Trump zu retten. Die meisten Verfügungen sind das glatte seinem Nachfolger unmöglich machen soll, die Entscheidung
Gegenteil der Republikaner-Agenda: Obama untersagte ver- im Alleingang zu revidieren. Trump müsste hier wohl auf eine
gangene Woche für große Flächen in der Arktis und im Atlan- Gerichtsentscheidung warten – bis zum Beginn der Bohrungen
tik die Öl- und Gasförderung. Für eine umstrittene Ölpipeline würden Jahre vergehen. Die Uno-Resolution gegen Israel hat
soll eine neue Route gesucht werden. Abtreibungseinrichtun- zwar nur moralische Bedeutung, ist aber nicht rückgängig zu
gen schützte er davor, dass Staaten ihnen aus ideologischen machen. An einem Rekord Obamas kann Trump ohnehin
Gründen Geld vorenthalten können. Im Uno-Sicherheitsrat nichts ändern: Seit fünf Jahrzehnten hat kein Präsident so vie-
ließ seine Botschafterin eine Resolution gegen den israelischen le Straftäter begnadigt wie Obama. Vergangene Woche waren
Siedlungsbau passieren, und am Mittwoch versuchte sein Au- es 231 an einem Tag. Weitere sollen folgen. Gordon Repinski
J
eden Tag sitzt Haythem Bouraoui im gleich Terrorist?“, fragt er mit trotzigen ner Ort, aus dem Anis Amri stammt, der
Café Arrabiaa und kämpft gegen das Lippen. Er habe sich für eine dritte Vari- junge Tunesier, der auf grauenhafte Weise
Nichts. Seit Jahren geht das schon so. ante entschieden, und die heiße „Geduld“. den IS-Terror nach Deutschland brachte,
Gegen elf Uhr morgens steht er auf, trinkt Seine Freunde lachen. Heute sind sie zu der am 19. Dezember einen Lastwagen in
einen Kaffee, zieht an einer Wasserpfeife neunt. Neun junge Männer in Jogging- die Menschenmenge auf einem Berliner
und trifft ein paar Freunde hier. Sie müs- hosen, hellen Jeans und Kunstlederjacken, Weihnachtsmarkt steuerte, 12 Menschen
sen irgendwie die Zeit totschlagen. Manch- nur einer von ihnen hat einen Job, kein tötete und mehr als 50 verletzte. Die Män-
mal spielen sie Karten. Sie bleiben bis nach einziger eine Frau. Neun Männer, gefan- ner im Arrabiaa sind im gleichen Alter wie
Einbruch der Dunkelheit. Dann gehen sie gen in einer endlosen Warteschleife des der Attentäter, sie kannten Amri, waren
nach Hause, fernsehen. Lebens. seine Freunde und Nachbarn.
Bouraoui hofft auf irgendetwas, ein Das Café Arrabiaa befindet sich in Oues- Wie Amri gehören sie zu einer ganzen
Wunder. „Soll ich kriminell werden oder latia im tunesischen Hinterland. Es ist je- Generation von jungen Tunesiern, die ab-
84 DER SPIEGEL 1 / 2017
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verkauft Teppiche und Ersatzteile für kann, wird nicht durchgelassen. Es sind
Mobiltelefone, sein Einkommen ändert Methoden, die an den alten Polizeistaat
sich von Monat zu Monat. „Aber ich habe des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali
einen Führerschein“, sagt Bouraoui stolz. erinnern.
Er habe versucht, Arbeit in der Lkw- Die Amris wohnen in einem flachen
Branche zu finden. Bei der Polizei habe Haus, davor sitzen Männer. Innen ist es
seits der Küstenmetropolen lebt und für er sich beworben, bei einem Stromprodu- kalt und karg. An den Wänden hängen Bil-
die es nichts zu gewinnen gibt. Einer von zenten, als Busfahrer. Nie habe irgendwer der von karibischen Stränden und euro-
ihnen, der Gemüsehändler Mohamed zurückgerufen. päischen Wäldern. Nachbarinnen und Ver-
Bouazizi, löste Ende 2010 die Arabellion 11 000 Menschen leben in Oueslatia. 80 wandte haben sich eingefunden, küssen
aus, als er sich in dem Ort Sidi Bouzid 200 Prozent der jungen Leute hier hätten kei- das rote Gesicht der Mutter Nour und spre-
Kilometer südlich von Tunis aus Protest nen Job, sagt ein Vertreter der örtlichen chen ihr Beileid aus. Sie nehmen auf Plas-
selbst anzündete. Danach flohen Tausende Arbeitervereinigung. Und wer kein Geld tikstühlen Platz. Nour Amri wiegt sich in
junger Männer in Booten nach Europa in verdiene, könne auch nicht heiraten. Eine ihrem Schmerz vor und zurück: „Warum
der Hoffnung auf ein besseres Leben. Heu- Freundin habe er zwar mal gehabt, sagt mussten sie meinen Jungen gleich erschie-
te rekrutiert der „Islamische Staat“ in ih- Bouraoui. Doch geküsst hätte er sie nie, ßen? Ich will die Wahrheit wissen! Keiner
ren Kreisen so erfolgreich wie nirgendwo unmöglich sei das im Ort. Als sie sich mit weiß, ob er schuldig war.“ Drei Schwestern
sonst. Die Zahl der ausländischen Kämpfer ihm verloben wollte, beendete er die Be- weinen. Die vierte, Halima, hält sich im
aus Tunesien wird, je nach Quelle, auf 5000 ziehung. „Ich kann ja nicht einmal für Hintergrund.
bis 7000 geschätzt. Angesichts der geringen mich selbst sorgen, wie soll ich mir eine Unschuldig war Amri nicht. Spätestens
Bevölkerungszahl (rund zehn Millionen) Familie leisten?“ seit ein Video auftauchte, in dem er dem
sind das erschreckend viele. Oueslatia liegt gerade mal 140 Kilometer „Islamischen Staat“ seine Treue schwört
Tunesien gilt als Musterland des Arabi- von Tunis entfernt, doch die Fahrt dauert und zu Attentaten an Nichtmuslimen auf-
schen Frühlings, weil der Staat hier nach drei Stunden, so schlecht sind die Straßen. ruft, ist das allen hier bewusst. Am Abend
der Revolution nicht völlig zerfallen ist Im Ort gibt es einen Laden für Brautmode, nimmt die Polizei Amris Neffen Fedi fest,
einen 18-jährigen Jungen, gekleidet ganz
in Schwarz. Fedi ist der Sohn von Halima,
80 Prozent der Jungen haben keinen Job. die sich nicht zeigen wollte.
Wer kein Geld hat, kann nicht heiraten. Amri sei der Kopf der Terrorzelle gewe-
sen, wird Fedi später aussagen. Sein Onkel
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SPIEGEL GESCHICHTE
SAMSTAG, 31. 12. 16, 15.25 – 16.20 UHR | SKY
nahda-Partei nach Unruhen Neuwahlen „Sie haben Tunesien verraten“, brüllen
zu. Es kommt zu einer Koalition der mo- sie, „wir wollen diese Leute nicht!“ In den Riskante Partie: Wenn das Spiel
deraten Islamisten unter Rachid al-Ghan- Gefängnissen würden die Terroristen nur zur Sucht wird
nouchi mit der 2012 gegründeten Partei weitere radikalisieren. Eine Glücksspielwelle hat den fünf-
Nidaa Tounes. Mit dieser Teilung der „Sie haben sich gegen die Nation Tune- ten Kontinent erfasst. Jedes Jahr
Macht zwischen Islamisten und Säkularen sien entschieden und für das Kalifat“, sagt versenken die Australier Milliarden
sorgte Tunesien international für Aufsehen. der prominente Philosoph Youssef Seddik. in Spielautomaten. Der vermeint-
Doch dem Vertrauen vieler, besonders jun- Schuld daran seien „die Monster von En- liche Spaß ist riskant, Interviews mit
ger Tunesier schadet die Versöhnung eher. nahda, die die Regierung übernommen ha- Neurologen, Spieleentwicklern
Sie empfinden das Handeln der Politiker ben“. Mit dieser Meinung ist er nicht allein. und Opfern zeigen ein detailliertes
als undurchsichtig. Der Hass auf die Partei wächst mit jedem Bild der Sucht und ihrer Folgen.
„Für uns ändert sich sowieso nichts. Wir Anschlag.
brauchen keine Politiker, sondern Magier“, Fadoua Braham, eine 35-jährige Men-
sagt Bahoun im Arrabiaa. schenrechtsanwältin, sitzt in der Lobby SPIEGEL TV WISSEN
Die Partei Nidaa Tounes, ein Zusam- des Mövenpick-Hotels in Sousse und lä- SONNTAG, 1. 1. 17, 17.40 – 18.15 UHR | PAY-TV
menschluss von Linksliberalen, Geschäfts- chelt. Sie gilt als gefährdet, seit sie auch
leuten und Politikern der Vergangenheit, IS-Rückkehrer verteidigt, aber so sei das Der Lauf seines Lebens
repräsentiert für viele das alte Ben-Ali-Re- eben, „auch Terroristen haben Rechte“. Als sich Michael Klotzbier im
gime. Ohnehin zerfällt die Partei derzeit Oft seien die Männer noch sehr jung Januar 2015 entschließt, einen Mara-
aufgrund interner Machtkämpfe – es fehlt und traumatisiert. „Sie wollen nur nach thon zu laufen, wiegt er 160 Kilo-
eine wirkliche gemeinsame Hause zu ihren Familien“, sagt gramm bei einer Größe von 1,83 Me-
Idee. Und so gibt es keine star- die Anwältin. Doch nach al- tern. Experten halten es für aus-
Tunis
ke Kraft, um die wirtschaftli- lem, was sie gesehen und ge- geschlossen, dass er innerhalb eines
chen und sozialen Probleme Oueslatia Sousse tan hätten, „die Gewalt, die Jahres fit genug sein wird, um sich
des Landes anzugehen. Kairouan Drogen, die Frauen, das Tö- dieser Herausforderung zu stellen.
Es sind vor allem die Rück- Sidi Bouzid ten“, sei es für sie unmöglich,
kehrer aus Syrien und Libyen, in ein normales Leben zurück-
die dem Land zu schaffen ma-
T U N ESI E N
zufinden. Bereuen würden sie SPIEGEL TV MAGAZIN
chen. Seit der „Islamische ihre Taten nicht. SONNTAG, 1. 1. 17 | RTL
Staat“ an Territorium verliert, Wer nach Tunesien kommt
wollen viele Kämpfer nur und identifiziert wird, sitzt mit Die Sendung entfällt.
noch weg. Ihre Mission kön- ALGERIEN LIBYEN Kriminellen in den überfüllten
nen sie auch woanders fortset- Massenzellen der Hochsicher-
zen, der IS hat zu Anschlägen 200 km heitsgefängnisse. Bis zu 160 SPIEGEL TV REPORTAGE
in Europa und Nordafrika auf- Menschen teilten sich dort DIENSTAG, 3. 1. 17, 23.00 – 00.00 UHR | SAT.1
gerufen. Rund 800 Dschihadis- einen Raum, beim Schlafen
ten seien bereits nach Tunesien zurückge- wechselten sie sich ab, so Anwältin Bra- Tatort: zu Hause – Wie schütze
kehrt, teilte das Innenministerium mit. An- ham. Die tunesische Justiz sei vollkommen ich mich gegen Einbrecher?
dere warteten in der Türkei auf ihre Rück- überfordert im Umgang mit den neuen He- Alle drei Minuten wird in Deutsch-
reise in die Heimat. Und wieder andere rausforderungen. Es gebe gerade mal acht land eingebrochen. SPIEGEL TV
wollen erst gar nicht nach Tunesien, weil Antiterrorrichter und nur ein einziges Ge- Reportage macht den großen Ein-
ihnen dort lange Haftstrafen drohen. Sie richt in Tunis, vor dem die Fälle verhandelt
wollen lieber mit gefälschten Papieren würden. Hinzu kommt, dass die Verbre-
nach Europa. chen von IS-Kämpfern in Syrien und Li-
Viele reisen unter falscher Identität, ge- byen kaum zu beweisen sind. Wenn die
naue Zahlen gibt es dazu nicht, die 461 Ki- Betroffenen nicht aussagen, bleiben die
lometer lange Grenze zu Libyen ist in gro- Akten leer und Staatsanwälte und Richter
ßen Teilen durchlässig. Selbst die Anzahl müssen die Männer gehen lassen.
der im Gefängnis sitzenden Exkämpfer ist Einmal in seinem Leben, erzählt Bou-
ungewiss, weder das Justizministerium raoui, der trotzige junge Mann aus Oues-
noch die Gefängnisverwaltungen kennen latia, habe er wirklich eine Chance gehabt.
sie. Laut Schätzungen von Terrorexperten Damals glaubte er, im Tourismus einen
dürften es rund 300 sein. Job finden zu können. Er machte ein Prak-
Die drohende Terrorgefahr und der Um- tikum bei einer tunesischen Reiseagentur,
gang mit den Kämpfern aus Syrien und auf der Insel Djerba und im Badeort Sous-
dem Irak spaltet Politik und Gesellschaft: se. Doch dann erschoss ein islamistischer
„Wir haben nicht genug Platz für all die Attentäter am 26. Juni 2015 in der Nähe
Rückkehrer in unseren Gefängnissen“, er- am Strand 39 Menschen. Bouraouis Traum
SPIEGEL TV
klärte Staatspräsident Béji Caïd Essebsi war vorbei. Der Tourismus, eine der
vor Kurzem. Ennahda-Parteichef Ghan- wichtigsten Einnahmequellen des Landes,
nouchi forderte bei einem Besuch in Kai- hat sich von diesem Schock seither nicht Szene aus Einbruchstest
rouan, man müsse die Terroristen aufneh- erholt.
men, sich um sie kümmern und ihnen psy- „Die Terroristen haben mich gefickt“, bruchstest und zeigt dabei nicht nur,
chologische Betreuung zukommen lassen. sagt er. Drei Tage später zündet sich in wie verblüffend schnell Eindring-
Zugleich demonstrierten in der Hauptstadt Oueslatia ein Freund von ihm an. Er stirbt. linge Fenster und Türen überwinden
Tunis Hunderte gegen die Wiederaufnah- Der junge Mann war 24 Jahre alt und können, sondern auch, was die
me der Dschihadisten. arbeitslos. Twitter: @NicolaAbe Betroffenen dagegen tun können.
DER SPIEGEL 1 / 2017 87
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Costa, 55, trat schon vor seinem Jurastudium setzen. Wir balancieren neu aus. So be- abschiedet haben. Auch zum konservati-
in die Sozialistische Partei (PS) ein und war steuern wir den Konsum höher als die Ar- ven Staatspräsidenten stehe ich in ausge-
von 2007 bis 2015 Bürgermeister von Lis- beitslöhne. Wir müssen die Staatsschulden zeichnetem Verhältnis. Das Land genießt
sabon. Seit November 2014 ist er General- finanzieren können, dazu ist es nötig, an sozialen Frieden.
sekretär der PS, ein Jahr später übernahm einigen Stellen zu sparen. Aber Regieren SPIEGEL: Sehen Sie kein Risiko, dass der
er das Amt des Ministerpräsidenten. heißt ja gerade, dass jedes Land den eige- schwache Bankensektor, belastet durch
nen Weg finden muss, um Möglichkeiten viele faule Kredite, die Erholung verdirbt?
SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, als Sie im für Wachstum auszuschöpfen. Costa: Die Probleme der Banken sind nicht
November 2015 mit Ihrer Minderheitsre- SPIEGEL: Trotzdem wächst die Wirtschaft neu. Sie wurden von meinen Vorgängern
gierung antraten, hätten nicht viele darauf nur zaghaft. Wie wollen Sie gut ausgebil- verheimlicht, das war unverantwortlich.
gewettet, dass Sie so lange durchhalten. dete junge Leute daran hindern, ins Aus- Ich habe beschlossen, die Misere offen-
Wie haben Sie es geschafft, die extreme land abzuwandern? zulegen und zu bekämpfen. Wir haben
Linke, die Kommunisten und den Links- Costa: Die Exporte sind 2016 um mehr als mit der EU die Rekapitalisierung der größ-
block einzubinden? 6,5 Prozent gestiegen, die Arbeitslosigkeit ten Bank, der staatlichen Caixa Geral de
Costa: Wir haben vor allem eine Wende in ist um mehr als 2 Prozent gesunken. Das Depósitos, beschlossen. Im Fall zweier an-
der Wirtschaftspolitik eingeleitet. Wir ha- Haushaltsdefizit beläuft sich auf 2,4 Pro- derer Geldinstitute verhandeln wir über
ben den Familien zu mehr Einkommen zent der Wirtschaftsleistung, die immerhin Beteiligung ausländischen Kapitals. Mit
verholfen und die Renten erhöht. Im drit- wächst. Es war ein Irrtum zu glauben, man der Portugiesischen Zentralbank sind wir
ten Quartal 2016 ist Portugals Wirtschaft könne die Wirtschaft mit drastischer Kür- dabei, unser gesamtes System wieder den
in der gesamten Eurozone mit am stärks- zung der Löhne und exzessiven Einschnit- europäischen Regeln anzupassen.
ten gewachsen. Und wir haben unser nied- ten in den Sozialstaat sanieren. Meine SPIEGEL: Es gab keine Sanktionen dafür,
rigstes Haushaltsdefizit in 42 Jahren er- Vorgänger haben so die größte Auswan- dass Portugal seit der Finanzkrise 2008 die
reicht. Dabei halten wir klar die Regeln derungswelle seit den Sechzigerjahren Defizitvorgaben nicht eingehalten hat. Ihr
der Europäischen Union ein. Haushalt für 2017 wurde ohne Zusatzmaß-
SPIEGEL: Im Wahlkampf hatten Sie sich
noch gegen eine Erhöhung der Staatsver-
„Die Probleme der nahmen akzeptiert. Ist die Europäische
Union einsichtig geworden, oder ist der
schuldung ausgesprochen, inzwischen sind Banken wurden Stabilitätspakt tot?
Portugals Staatsschulden auf über 130 Pro-
zent des Bruttoinlandsprodukts angestie-
verheimlicht, das war Costa: Man kann ja sehr viel Schlechtes
über meinen konservativen Vorgänger sa-
gen. Haben Sie den Parteien im Parlament, unverantwortlich.“ gen, nicht aber, dass er sich nicht bemüht
die Sie unterstützen, zu viele Zugeständ- hätte, das Defizit zu verringern. Das hat
nisse gemacht? ausgelöst. Dadurch haben wir unsere er von über 10 Prozent auf 3,1 Prozent
Costa: Es war nicht einfach, weil alle sehr Wachstumschancen verringert. Wir müs- der Wirtschaftsleistung gedrückt. Weil es
unterschiedliche Einstellungen zur Brüs- sen unser Bruttoinlandsprodukt wieder geringfügig überschritten wurde, darf man
seler Politik haben. Wir Sozialisten sind steigern. uns doch nicht bestrafen. Und es wäre
Verteidiger der europäischen Integration, SPIEGEL: Werden ausländische Unterneh- kontraproduktiv, gerade in dem Moment
die Kommunisten kritisieren sie, und der mer nicht abgeschreckt durch Ihre politi- Sanktionen zu verhängen, wo wir zum
Linksblock ist gegen den Stabilitätspakt. schen Partner? ersten Mal klar im vorgegebenen Rah-
Trotzdem haben wir 2016 alles erfüllt, was Costa: Offensichtlich nicht. Gerade jene men liegen.
unsere konservative Vorgängerregierung Firmen, die Portugal gut kennen, wie SPIEGEL: Würden Sie sich eine Wende in
mit Brüssel vereinbart hat. Und die Staats- Volkswagen, Bosch, Continental, inves- der europäischen Finanz- und Wirtschafts-
schulden werden von 2017 an sinken. Wir tieren. Siemens errichtet hier ein Techno- politik wünschen?
haben bewiesen, dass es möglich ist, mit logiezentrum, auch französische Unter- Costa: Seit Beginn ist die Währungsunion
einer gelockerten Sparpolitik in der Euro- nehmen expandieren. Ich war kürzlich in unvollständig. Wir müssen die Eurozone
zone zu überleben. China und bin auf großes Interesse gesto- mit Regeln stabilisieren, die zur Konver-
SPIEGEL: Sie haben abgeschaffte Feiertage ßen. Im Januar werde ich nach Indien rei- genz führen. Portugal ist seit 30 Jahren in
wieder eingeführt ebenso wie die 35- sen. Viele Investoren, die nach dem Brexit der EU, davon waren 15 ein großer Erfolg,
Stunden-Woche. Die Mehrwertsteuer in in Europa bleiben wollen, finden bei uns, aber seit Beginn des neuen Jahrtausends
der Tourismusbranche haben Sie wieder nur zwei Flugstunden von London ent- stagniert die Wirtschaft. Die Einführung
gesenkt, Pensionen im Staatsdienst und fernt, ideale Möglichkeiten. des Euro, die Osterweiterung der EU und
den Mindestlohn erhöht. Und das alles SPIEGEL: Einige Mitgliedsländer der EU sor- die globale Öffnung der Märkte haben un-
soll mit dem Stabilitätspakt zusammen- gen sich dennoch, dass Portugal wieder sere Wettbewerbsfähigkeit geschmälert.
passen? an den Rand des Abgrunds gerät. Dieses Strukturproblem müssen wir kor-
Costa: Der beste Beweis ist doch, dass Costa: Diese Unkenrufe sind purer Unsinn. rigieren.
Brüssel den Haushalt für 2017 angenom- Meine Regierung hat ausgezeichnete Be- SPIEGEL: Wohin sollte die EU steuern? Und
men hat. Vor allem die Deutschen hatten ziehungen zur Europäischen Kommission. wie können populistische Bewegungen
Vorurteile gegen meine Regierung. Klar, Ich habe eine ungefährdete Mehrheit im verhindert werden?
um die Ausgaben zu erhöhen, mussten Parlament, mit der wir schon den Haus- Costa: Der Rückzug ins Nationale bringt
wir an anderer Stelle Kürzungen durch- halt für die Hälfte der Regierungszeit ver- keine Lösung. Es gibt keine Alternative
88 DER SPIEGEL 1 / 2017
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Der K-Kontinent
Essay Der Glaube, man könnte Fluchtursachen in den afrikanischen Herkunftsländern
von außen bekämpfen, ist vor allem eines: naiv. Von Bartholomäus Grill
G
ekenterte Schlauchboote, angeschwemmte Lei- der Willkommenskultur etwas gegen das Flüchtlingspro-
chen, Menschen, die zu Tode erschöpft die italie- blem tut, kein anderes Thema wühlt die Bürger so sehr
nische Küste erreichen. Das Mittelmeer ist in die- auf. Die bevorzugte Medizin sind sogenannte Migrations-
sem Jahr endgültig zum Mare Monstrum geworden, zu partnerschaften, Abkommen mit afrikanischen Staaten,
einem Meer des Schreckens. Nach groben Schätzungen die die Zuwanderung eindämmen sollen. Auf dem Bei-
sind 2016 mindestens 5000 Menschen auf der Überfahrt packzettel könnte auch stehen: Wir zahlen, ihr haltet uns
nach Europa ertrunken, mehr denn je. eure Armen vom Leib.
Und immer mehr Flüchtlinge und Migranten wählen Der Deal mit dem türkischen Autokraten Recep Tayyip
diese Route, trotz des tödlichen Risikos. Erdoğan zeigt, dass man mit solchen Abwehrbündnissen
Die meisten von ihnen kommen aus Afrika. Aus einem viel Geld verdienen kann – Ankara erhält bis zu sechs
Erdteil, der in Europa als Bedrohung wahrgenommen Milliarden Euro, um Flüchtlingen den Weg in die EU zu
wird, als K-Kontinent. K für Katastrophen, Kriege, Krank- erschweren oder zu versperren. Niger, das wichtigste Tran-
heiten, Korruption. 50 Millionen Afrikaner säßen auf ge- sitland für afrikanische Migranten, bekommt für denselben
packten Koffern, behaupten Rechtspopulisten. Solche Fan- Zweck bereits eine Budgethilfe aus Brüssel, insgesamt gut
tasiezahlen schüren in postfaktischen Zeiten die Ängste 600 Millionen Euro. Und schon fordert der nigrische Prä-
der Bevölkerung vor einer „Flüchtlingsflut“, und die kon- sident eine weitere Milliarde. Flüchtlinge als Währung –
fuse Migrationspolitik der EU verstärkt die allgemeine ein profitables Geschäft.
Verunsicherung.
D
Wir sollten uns viel mehr für das Schicksal unseres erartige Migrationspartnerschaften sind, genau be-
Nachbarkontinents interessieren, Afrikas Wohlergehen trachtet, nur eine Art vorverlagerte Grenzsiche-
sei im Interesse Deutschlands, mahnt Bundeskanzlerin rung, an der sich korrupte Politiker bereichern. Im
Angela Merkel und wiederholt ihr Mantra zur Lösung des Falle Eritreas alimentiert man sogar eine Despotie, die
Problems: Man müsse die Fluchtursachen bekämpfen, um Zehntausende Menschen aus dem Land treibt. So werden
den Migrationsdruck zu vermindern. Im Klartext heißt nicht Fluchtursachen bekämpft, sondern Flüchtlinge. Über-
das: Die Afrikaner sollen bleiben, wo sie sind. dies zeigen afrikanische Machthaber trotz gegenteiliger
Seit dem Beginn der Flüchtlingskrise haben Rettungs- Beteuerungen wenig Interesse, die Abwanderung zu be-
vorschläge für Afrika wieder Konjunktur. Unter dem deut- grenzen. Denn die Rücküberweisungen der afrikanischen
schen Vorsitz des Klubs der G-20-Staaten will die Kanzlerin Diaspora – jährlich rund 58 Milliarden Euro – sind will-
den maroden Kontinent zu einem Schwerpunkt machen. kommene private Entwicklungsleistungen, die ihre Staaten
Der angestaubte Club of Rome empfiehlt einen Marshall-
plan für die afrikanischen Staaten. Entwicklungshilfe-
minister Gerd Müller unterstützt diese Idee und fordert
einen „neuen umfassenden Zukunftsvertrag“ mit Afrika.
Solche Anläufe gab es immer wieder mal. Aber wer
kann sich heute noch an die Nord-Süd-Kommission unter
Willy Brandt oder an die Afrika-Initiative eines gewissen
Tony Blair erinnern? Alle wohlmeinenden Mammutpläne
wurden schnell wieder zu den Akten gelegt. Oder sie sind
gescheitert. Denn sie beruhten auf der schlichten Philoso-
phie des Big Push: Viel hilft viel. Doch die auf insgesamt
zwei Billionen Dollar geschätzten Entwicklungsgelder, die
in den vergangenen 60 Jahren geflossen sind, haben wenig
bewirkt. Warum sollte nun plötzlich gelingen, was seit
Jahrzehnten nicht funktioniert?
Wirtschaftsexperten warnen vor einem Marshallplan
nach amerikanischem Modell. Er habe Europa in einen
Absatzmarkt für US-Firmen verwandelt, stellt Asfa-Wos-
sen Asserate fest. Der deutsche Unternehmensberater mit
äthiopischen Wurzeln befürchtet, ein derartiger Plan könn-
te Afrika mittelfristig mehr schaden als nutzen.
In den Niederungen der Realpolitik fallen die Rettungs-
initiativen bescheidener aus: Merkels Regierung hat ledig-
lich punktuelle Maßnahmen anzubieten, die mit Blick auf
die nächste Bundestagswahl wohl eher zur Beruhigung
gedacht sind. Die Kanzlerin will an der Macht bleiben, Merkel-Besuch in Niger
sie muss zeigen, dass sie nach dem stillen Abschied von
entlasten. Zugleich werden sie dank Migration unzufrie- denken. Denn in der jetzigen Form haben sie wenig mit
dene und rebellische junge Männer los. Partnerschaft zu tun, im Gegenteil: Es sind aufgezwungene
Aber die sind in den Wohlstandsfestungen des Nordens Freihandelsverträge, die es den Europäern ermöglichen,
unerwünscht. Grenzen dicht!, schreien dort nicht nur die afrikanische Märkte mit hoch subventionierten Agrarpro-
Fremdenfeinde. Das Vorbild der Abschottungspolitik lie- dukten zu überfluten. Den Schaden haben die einheimi-
fert der künftige US-Präsident Donald Trump, der elf Mil- schen Bauern: Sie können gegen die Billigimporte nicht
lionen illegale Einwanderer deportieren und eine gewalti- konkurrieren, verlieren ihre Lebensgrundlage – und bre-
ge Grenzmauer zu Mexiko errichten will. chen irgendwann Richtung Europa auf.
Wir scheinen vergessen zu haben, dass in Zeiten, in de-
S
nen es Europa schlecht ging, 60 Millionen Menschen emi- ogar Günter Nooke, der Afrika-Beauftragte der Bun-
grierten. Dass die Geschichte der Menschheit auch eine deskanzlerin, kritisierte die Handelsverträge: Sie soll-
Geschichte der Völkerwanderungen ist. Der Homo mi- ten nicht kaputt machen, was man durch Entwick-
grans, der umherziehende Mensch, sucht nach einem bes- lungshilfe aufgebaut habe. Konsequenzen will man aus
seren Leben. Das wird so bleiben und sich durch extreme dieser Einsicht allerdings nicht ziehen, denn dann müsste
globale Ungleichheiten verschärfen. Man kann nur ver- man ja das globale Raubwirtschaftssystem und all die neo-
suchen, diese Kluft einzuebnen und auf lange Sicht den liberalen Glaubensdogmen infrage stellen, die viele Pro-
Wohlstand zu globalisieren – das ist die eigentliche Jahr- bleme erst heraufbeschworen haben.
hundertaufgabe der Weltgesellschaft. Auch im Umgang mit afrikanischen Regimen, die ihre
Migration sei das wirksamste Mittel gegen die Armut, Länder plündern und Hilfsgelder in großem Stil verun-
sagt Angus Deaton, Nobelpreisträger für Wirtschaft. Des- treuen, wie im Südsudan, in der Demokratischen Republik
halb braucht die EU dringend eine neue Einwanderungs- Kongo oder Burundi, hat man nichts gelernt. Dabei gäbe
politik, die legale Migration in größerem Ausmaß zulässt es durchaus Druckmittel. Man könnte einem Vorschlag
und den temporären Austausch von Arbeitskräften, Schü- der Afrikanischen Union folgen und die enormen Summen
lern, Studenten und Auszubildenden verstärkt. Zu einer konfiszieren, die Kleptokraten auf ausländische Schwarz-
solchen Politik gehören andererseits auch Restriktionen, konten geschleust haben. Nimmt man die Steuerbetrüge-
die nicht den Beifall der liberalen Öffentlichkeit finden reien multinationaler Rohstoffkonzerne hinzu, durch die
werden. Zum Beispiel striktere Grenzkontrollen, um die Afrika pro Jahr geschätzte hundert Milliarden Dollar ver-
Zahl illegaler Einwanderer zu reduzieren. Es geht dabei lieren soll, wäre reichlich Kapital für große Aufbaupro-
keineswegs um jene Obergrenze, wie sie die CSU fordert. gramme vorhanden.
Aber es müssen Aufnahmekontingente für Migranten fest- Ohne einen Paradigmenwechsel in der Entwicklungs-
gelegt werden, um den sozialen Frieden in den Zielländern politik werden sie allerdings scheitern. Afrikaner und Eu-
zu bewahren und die Anreize für einen Massenexodus ropäer müssen deshalb gemeinsam eine kohärente Strate-
einzuschränken, bei dem die Herkunftsländer junge, hoch gie entwerfen, die die Fehler der Vergangenheit korrigiert.
motivierte Menschen verlieren. Denn es sind oft gerade Zuallererst bedarf es wirksamer Kontrollinstrumente, da-
die besser ausgebildeten und wohlhabenderen, die gehen. mit Machtcliquen in Ländern wie Simbabwe oder Nigeria
Nachhaltig helfen aber kann Afrika nur eine grund- die Hilfe nicht weiterhin missbrauchen.
legende Reform unserer Handels- und Entwicklungspolitik. Entscheidend aber ist: Entwicklung lässt sich nicht wie
Die EU müsste etwa die Abkommen mit dem trügerischen eine Impfkampagne exekutieren. Sie kann nicht von au-
Namen „Economic Partnership Agreements“ (EPA) über- ßen aufgepfropft werden, sondern muss von innen kom-
men, und junge Menschen sind dabei die wichtigste Trieb-
kraft. Doch die meisten Regierungen Afrikas zerstören
deren Zukunftschancen und sehen gleichgültig zu, wie
junge Afrikaner massenhaft abwandern. In der jetzigen
Krise gab es keinen einzigen Migrationsgipfel der Afrika-
nischen Union, keine nennenswerte Anstrengung eines
Staates, um den Aderlass zu drosseln.
Dabei könnten die Eliten Afrikas viel tun – wenn sie
nur wollten. Zum Beispiel besser regieren, knappe Mittel
gerechter verteilen, die Korruption bekämpfen, den inner-
afrikanischen Handel ankurbeln, ein stabiles Investi-
tionsklima schaffen. Vor allem aber: das rapide Bevölke-
rungswachstum verlangsamen, denn es macht kleine Ent-
wicklungsfortschritte schnell wieder zunichte und erhöht
den Migrationsdruck. Schon im Jahr 2050 werden in Afrika
Warum sollte voraussichtlich 2,4 Milliarden Menschen leben – doppelt
nun plötzlich so viele wie heute. Bei ungebremster Zunahme der Be-
völkerung ist es noch keinem Land gelungen, sich aus der
gelingen, was seit Armut zu befreien.
Diese Lehre aus der Geschichte hat man in Afrika noch
Jahrzehnten nicht gezogen oder will sie nicht ziehen. Die meisten Re-
nicht
gierungen scheinen sich lieber an die Botschaft des „Mo-
MICHAEL KAPPELER / DPA
In den 70 er-Jahren hatte es der Westen vor allem mit Gruppen wie
der Roten Armee Fraktion zu tun, heute sind es al-Qaida und
der „Islamische Staat“. Die Welt verändern wollen sie alle. Haben sie sonst noch
etwas gemeinsam? Eines auf jeden Fall – das Mittel
TERROR
Von Mathieu von Rohr und Britta Sandberg
D
ie Mitarbeiter im Krisenstab des Aber dies war etwas Neues. Eine kleine tion, und er hat keine eindeutige Defini-
Kanzleramts sind aufgewühlt. Sie Gruppe von Terroristen forderte den Staats- tion. Der Begriff schillert, er hat Unschär-
haben ein Video vor sich, mit ei- apparat heraus, hielt ihn 45 Tage lang in fen. Was die einen als Terror betrachten,
nem Mann in Unterhemd und Hose, er hat Atem und führte die Polizei in ihrer Hilf- sehen andere möglicherweise als legitimen
dunkle Ringe unter den Augen. Er hält ein losigkeit vor, indem es ihr gelang, ihr Opfer Befreiungskampf an.
Pappschild vor dem Bauch, auf dem steht: in einem Apartmenthochhaus 20 Kilome- Es gab den anarchistischen Terrorismus
„Gefangener der R.A.F.“ Der Mann ist ter außerhalb von Köln wochenlang zu ver- vom Ende des 19. Jahrhunderts an, in
Hanns Martin Schleyer, Arbeitgeberpräsi- stecken. 300 Kugeln hatten die Entführer Frankreich und Russland beispielsweise, die
dent, entführt von der Roten Armee Frak- verschossen, um die Schleyer-Begleiter au- „Propaganda der Tat“. Es gab den natio-
tion (RAF). ßer Gefecht zu setzen. Vier von ihnen hat- nalistischen Terror, wie ihn die IRA in
„Der Mann auf dem Bildschirm wirkte ten nicht überlebt. Nordirland oder die Eta im Baskenland
wie in Trance“, schreibt der SPIEGEL in Damals in den Siebzigerjahren begann oder die „Tamilen-Tiger“ auf Sri Lanka
seiner Titelgeschichte vom 12. September eine neue Ära, und sie dauert, wie in die- praktizierten. Und es gab den rechten Ter-
1977. „Mit schleppenden, anscheinend von sen Tagen nach dem Attentat von Berlin ror, der mit dem Mord an dem Sozialisten
Drogen gehemmten Bewegungen blätterte schmerzhaft zu erfahren war, bis heute an: Kurt Eisner 1919 begann, in den Achtziger-
(Schleyer –Red.) in der ‚Stuttgarter Zei- das Zeitalter des internationalen Terroris- jahren bei Massenanschlägen wie am
tung‘ und las mit erschöpfter Stimme au- mus, der die verletzliche liberale Gesell- Münchner Oktoberfest oder am Haupt-
ßenpolitische Nachrichten vor. Er schien schaft attackiert. Ein Terrorist, heiße er An- bahnhof von Bologna zu zahllosen Toten
unverletzt, und auch Spuren von Miss- dreas Baader oder Anis Amri, will mit Ge- führte, und später auch die NSU-Terrorzelle
handlungen waren nicht zu erkennen, aber waltakten Aufmerksamkeit erlangen. Er will um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und
im verfallenen Gesicht spiegelte sich das die Macht angreifen, Strukturen zerstören. Beate Zschäpe, die von 2000 bis 2007 mor-
ganze Elend des Gefangenen.“ Der dama- Der Begriff Terrorismus geht zurück auf dete – deren Opfer waren vor allem Mig-
lige CDU-Chef Helmut Kohl wird an je- die Ära „terreur“, die Schreckensherr- ranten, denen die Gruppe das Lebensrecht
nem Tag sagen, es sei das Erschütterndste schaft im Zuge der Französischen Revolu- in Deutschland absprach.
gewesen, was er je in seinem Leben gese- Es gibt den weltlichen Terror, und es
hen habe. gibt jenen, der sich auf Religion beruft,
Eine Geisel in ihrem Unglück, vorgeführt wie al-Qaida und der „Islamische Staat“
als Machtdemonstration: Man wird das spä- (IS). Mit beidem hat sich der SPIEGEL über
ter in noch viel grausamerem Maße bei den die Jahre ausführlich beschäftigt, und in
Terroristen des „Islamischen Staats“ erle- manchen Zügen, das war festzustellen, gibt
ben. Damals, im Deutschen Herbst, wirkt es Ähnlichkeiten.
es wie ein Schock, es erschüttert die Bun- Verglichen mit den Terrornetzwerken
desrepublik zutiefst. al-Qaida und „Islamischer Staat“ nehmen
In den 45 Tagen dieses Deutschen Herbs- sich die Anschläge und die internationalen
tes erreicht der politische Terrorismus eine Verbindungen der RAF bescheiden aus.
Dimension, die man bis dahin in der Bun- Doch schon die RAF sah sich als Teil einer
desrepublik nicht gekannt und wohl auch internationalen Bewegung. Sie hatte Kon-
nicht für möglich gehalten hatte. takt zu anderen linksterroristischen Grup-
Vorboten hatte es gegeben. Westdeutsch- pierungen in Europa und zur PLO von Jas-
land hatte Banküberfälle von RAF-Anhän- sir Arafat, die logistisch Hilfe leistete.
gern erlebt, hatte machtlos zugesehen, wie Die RAF unterstützte die Ziele der pa-
der Berliner CDU-Landesvorsitzende Pe- lästinensischen Bewegung, denen sich später
ter Lorenz im Februar 1975 entführt wor- aus anderen Gründen auch Osama Bin La-
den war, hatte erfahren müssen, dass die den verschrieb. Mitglieder der Roten Armee
RAF eine palästinensische Terrororganisa- Fraktion, der ehemalige RAF-Mann Peter-
tion beim Anschlag auf die israelische Jürgen Boock hat es im SPIEGEL beschrie-
Olympiamannschaft 1972 in München un- SPIEGEL-Ausgabe 38/1977 ben, wurden im Südjemen für Terroran-
terstützt hatte. Ein 45 Tage langer Deutscher Herbst schläge und Flugzeugentführungen trainiert.
92 DER SPIEGEL 1 / 2017
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Aber zunächst war die RAF ein west- „um wirklich klarzumachen, dass wir es minister Hans-Dietrich Genscher reduziert
deutsches Phänomen. Zu Beginn der Sieb- ernst meinen“). Sie beschreibt auch, wie sich das Tun der Gruppe auf „gemeine Kri-
zigerjahre konnte sie auf einen großen weit die RAF gehen würde: „Bullen sind minalität“, für Kanzleramtsminister Horst
Kreis von Sympathisanten setzen: Linke, Schweine, wir sagen, der Typ in der Uni- Ehmke sind die Gesuchten „die gefähr-
die Verständnis für die Gewalt der ver- form ist ein Schwein, das ist kein Mensch, lichsten Gangster, die es gibt“.
meintlichen Weltverbesserer zeigten und und so haben wir uns mit ihm auseinan- Selbst Bonns oberster Sicherheitschef,
die Gruppe für einen radikalen, aber letzt- derzusetzen … es ist falsch, überhaupt mit der Leiter des Verfassungsschutzes, Gün-
endlich nicht so gefährlichen Ableger der diesen Leuten zu reden, und natürlich ther Nollau, bezeichnet die RAF als „eine
Studentenbewegung hielten. Auch manche kann geschossen werden.“ Gruppe von Desperados“, wenn auch eine
Akademiker oder Journalisten unterstütz- Dem Text ist nur eine kurze Einleitung sehr gefährliche. Irritierend findet er, „dass
ten die RAF und gewährten ihren Mitglie- vorangestellt, keine Distanzierung, kein da so viele Mädchen dabei sind. Vielleicht
dern Unterschlupf. Kommentar. Es ist unvorstellbar, dass man ist das ein Exzess der Befreiung der Frau,
„Würdest du einem von denen einen Jahrzehnte später ähnlich mit Pamphleten was hier deutlich wird“.
Schlafplatz anbieten, wenn sie abends bei von Osama Bin Laden oder dem IS-Anfüh- Ende der Siebzigerjahre ist die Sicht auf
dir klingeln?“, war in jenen Kreisen damals rer Abu Bakr al-Baghdadi umgegangen wäre. die RAF längst eine andere. Der Deutsche
eine beliebte, aber durchaus ernst gemein- Noch werden die Terroristen der RAF Herbst 1977 ist ein Wendepunkt. Dabei
te Partyfrage. nicht Terroristen genannt. Im allerersten hatten ihre Mitglieder schon seit Langem
Deshalb erstaunt es nicht, dass erste Tex- Titel, den der SPIEGEL der Bewegung im gezeigt, dass sie auf Menschenleben wenig
te, die der SPIEGEL nach den Kaufhaus- Februar 1971 widmet, ist von Anarchisten Rücksicht nehmen. Von der Devise der
bränden von Frankfurt zur Roten Armee die Rede, von „Chaotikern“ der Freiheit, deutschen Linken – „Gewalt gegen Sachen
Fraktion veröffentlichte, von den Protago- Linksradikalen oder auch von einer Berli- – ja, Gewalt gegen Personen – nein“ – hat-
nisten der Bewegung selbst stammten. Im ner Stadtguerilla. Das Wort Terror fällt ten sie sich seit Jahren weit entfernt.
Juni 1970, wenige Wochen nachdem die kein einziges Mal. Selbst das Bundeskri- Später hieß es oft: Angriffe auf die
Journalistin Ulrike Meinhof den inhaftier- minalamt spricht damals lediglich von ei- „Herrschenden“ seien legitim, nicht aber
ten Andreas Baader gewaltsam befreit hat- ner Gruppe, die „den radikalen Umsturz auf Normalbürger. Eine Differenzierung,
te und anschließend abgetaucht war, druck- der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung“ die die RAF angesichts von Menschen, die
te der SPIEGEL unredigierte Auszüge eines anstrebe, warnt aber schon vor möglichen der Tat im Wege standen, wie Polizisten
RAF-Pamphlets. Meinhof, die mittlerweile Entführungen „im öffentlichen Leben ste- oder Begleitpersonal, aber fallen ließ.
steckbrieflich gesuchte Journalistin, hatte hender Personen“. Schon bei der Befreiung Andreas Baaders
es auf Tonband gesprochen. Auch die Politik ist Anfang der Siebziger streckten sie einen Unbeteiligten mit ei-
Darin erklärt sie, warum Baader befreit noch nicht auf Terrorismus im eigenen nem Lebersteckschuss nieder. Im April
werden musste (weil er ein Kader sei und Land eingestellt: Für den damaligen Innen- 1977 starben der Generalbundesanwalt
Siegfried Buback, sein Fahrer und ein wei-
terer Begleiter.
Auszug aus dem SPIEGEL vom 24. Oktober 1977 In jenem Herbst 1977 entscheidet die
Regierung Helmut Schmidts, sich nicht er-
pressen zu lassen. Der Bundeskanzler sagt
in einer Fernsehansprache, die in diesen
Tagen wieder häufig zitiert und in den so-
zialen Medien verbreitet wird: „Der Ter-
rorismus hat auf die Dauer keine Chance.
Denn gegen den Terrorismus steht nicht
nur der Wille der staatlichen Organe, ge-
gen den Terrorismus steht der Wille des
ganzen Volkes.“
Elf Terroristen wollen Schleyers Geisel-
nehmer freipressen, dieselbe Forderung
stellt das palästinensische Kommando, das
flankierend dazu die Lufthansa-Maschine
„Landshut“ mit 82 Passagieren und 4 Be-
satzungsmitgliedern entführt. Schmidt
lässt die „Landshut“-Geiseln in Mogadi-
schu von der Elitetruppe GSG 9 befreien
und nimmt damit den Tod Hanns Martin
Schleyers bewusst in Kauf.
„Was in aller Welt unterscheidet das Kil-
ler-Quintett der letzten Woche von den fa-
schistoiden Henkern Rosa Luxemburgs?“,
fragt SPIEGEL-Chefredakteur Erich Böh-
Nach der Befreiung der entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“ im somalischen me in einem Kommentar. „Bestenfalls ihre
Mogadischu veröffentlicht der SPIEGEL in seiner Titelgeschichte Details zum Ende kriminelle Energie. Nichts mehr von Ge-
des 106-stündigen Geiseldramas: „Mediziner und Sanitäter, vorwiegend Italiener, hirn oder Gesinnung einer Meinhof der
gingen in der Flughafenhalle auf Position. Im münsterländischen Milte 68er-Jahre, eines Dutschke …“ Ulrike
richtete sich eine 42 Meter hohe Antenne auf Somalia: Mit Direktleitung Meinhof, von der Böhme mit halber An-
in Kanzlers Krisencenter wurde auf den Kurzwellensprechverkehr erkennung spricht, lebt da schon nicht
von Mogadischu geschaltet.“ Die ganze Geschichte lesen Sie unter mehr. Im Mai 1976 hat sie sich umge-
spiegel.de/spiegel/print/d-40749082.html oder in der App. bracht.
94 DER SPIEGEL 1 / 2017
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ASTRID PROLL
RAF-Anhänger Ensslin, Baader 1969 in Paris: Sie sahen sich als legitime Widerstandskämpfer gegen ein unmenschliches System
Die Schleyer-Entführung und die Tage, Widerstand gegen Tyrannen jeglicher Or- teln des Terrorismus die Welt verändern
die ihr folgten, räumten mit dem verklär- ganisationsform. Die blutige, inhumane will, durch den Angriff auf den westlichen
ten Bild von Untergrundkämpfern auf, die, Wirklichkeit der eigenen Handlungen Kapitalismus. Doch ihre Ziele und Beweg-
wenn auch äußerst brutal, für Solidarität blendeten sie weitgehend aus.“ Auch in gründe sind ganz andere.
und mehr soziale Gerechtigkeit einstehen, dieser Logik werden andere folgen. Der radikale Islamismus entstand in den
für die große sozialistische Utopie. Der Terror der RAF wird die Bundes- Zwanzigerjahren in Ägypten. Einer seiner
Der spätere SPIEGEL-Chefredakteur republik bis Anfang der Neunzigerjahre wichtigsten Vordenker war Sajjid Kutb, ein
Stefan Aust wird in seinem Standardwerk erschüttern und beschäftigen. Erst 1998 er- Muslimbruder und Antikolonialist, für den
zur RAF („Der Baader-Meinhof-Kom- klärt die Gruppe, das „Ende dieses Pro- sich der große Kampf der Zukunft zwi-
plex“) schreiben, Gudrun Ensslin und ihre jekts“ sei nun erreicht, da sich gezeigt schen dem wahren Islam und dem Mate-
Kampfgefährten hätten sich selbst nie als habe, „dass wir auf diesem Weg nicht rialismus abspielen würde.
Terroristen gesehen, „sondern als legitime durchkommen konnten“. Da erscheint der Seine Idee einer panislamischen Revo-
Widerstands- und Freiheitskämpfer gegen Linksterrorismus schon als ein Anachro- lution inspirierte unter anderem einen
ein unmenschliches ,System‘, legitimiert nismus. Längst hat sich eine neue Bewe- Mann namens Osama Bin Laden, den
durch ein geradezu religiöses Recht auf gung gebildet, die ebenfalls mit den Mit- Sohn des reichen saudi-arabischen Bau-
Ausgabe 17/1986 Ausgabe 49/1989 Ausgabe 5/2001 Ausgabe 38/2001 Ausgabe 17/2002
Amerikas Krieg gegen Die Ermordung des Bankers Über die linksradikale Ver- Nach den Anschlägen des Attentat auf der
Libyens Herrscher Gaddafi Alfred Herrhausen gangenheit grüner Minister 11. September Ferieninsel Djerba
unternehmers Mohammed Bin Laden. Er lage seiner Geschichte: 1,4 Millionen Hefte. mende Verwandlung der straff geführten
wurde seiner Familie abtrünnig und zog SPIEGEL ONLINE, im damals noch relativ Terrororganisation al-Qaida in ein Fran-
in den Achtzigerjahren nach Afghanistan, neuen Medium Internet, zählte fast zehn chiseunternehmen, das die Ideologie und
um sich am Kampf der Mudschahidin ge- Millionen Zugriffe – fünfmal so viele wie den Namen zur Verfügung stellte, aber
gen die Sowjetunion zu beteiligen. Erst an den besten Tagen davor. kaum mehr selbst an der Ausführung der
später fand er einen noch lohnenderen Einige Attentäter vom 11. September hat- Attentate beteiligt war. Zu berichten war
Feind: die USA. ten in Hamburg gelebt, nur wenige Kilo- über den amerikanischen Anti-Terror-
Zum ersten Mal tauchte Osama Bin La- meter vom SPIEGEL-Haus entfernt. Die Re- Kampf, die Redaktion begleitete ihn kri-
den in einer SPIEGEL-Geschichte im No- porter erfuhren als erste Journalisten welt- tisch. Besonders vehement kritisierte sie
vember 1995 über Saudi-Arabien auf, als weit die Namen der Attentäter, sie beglei- später den Irakkrieg, der den Terrorismus
ein Tycoon, „der angeblich vom Sudan aus teten Polizeieinsätze in Hamburg-Harburg. in der Region massiv beförderte.
auch militante Fundamentalisten in Alge- Eine Gruppe von Redakteuren widmete sich Was dabei herauskam, beschrieb der
rien oder Ägypten sponsert“. den Biografien der Täter, ihrem Netzwerk SPIEGEL am 8. Dezember 2003 so: „Seit
Es folgt eine kurze Meldung im Oktober und rekonstruierte deren Leben in Deutsch- Jahren ziehen militante Islamisten aus
1996: Der „ausgebürgerte saudi-arabische land und die Vorbereitung der Anschläge. Deutschland in alle Welt, um den Heiligen
Multimillionär Ussama Ibn Ladin“, wie er Was hatte diese gut situierten jungen Krieg zu kämpfen. Ihr neues Ziel: der
damals geschrieben wurde, finanziere und Männer, die in Deutschland studierten, zu Irak.“ Ein Mann mit dem Kampfnamen
leite ein Trainingslager für Araber, die in Osama Bin Laden getrieben? Es war die Abu Musab al-Zarkawi kommt in diesem
Afghanistan an der Seite der „radikalisla- gleiche Frage, die später immer wieder ge- Text vor, der „ehemalige Leiter eines der
mischen Taliban-Milizionäre“ kämpfen stellt werden sollte, auch nach den An- Ausbildungslager Osama Bin Ladens“.
wollten. Ganz so unauffällig war er also schlägen auf „Charlie Hebdo“ im Januar Zarkawi, ein Jordanier, kam in den Ta-
nicht, wie später oft behauptet wurde. Bis 2015 und auf Caféterrassen und die Kon- gen vor der US-Invasion nach Bagdad; ein
zum 11. September 2001 wird er in 52 SPIE- zerthalle „Bataclan“ in Paris am 13. No- damals 36-jähriger, tätowierter Schulabbre-
GEL-Geschichten namentlich erwähnt. Sie vember des vergangenen Jahres, als eben- cher mit einer Vision: die Errichtung eines
zeichnen in Grundzügen seinen Weg nach: falls große Reporterteams versuchten, das sunnitischen Kalifats von Syrien bis zum
die Anfänge in Afghanistan, die Attentate Leben der Attentäter zu erforschen – weil Golf. Mit Anschlägen auf Schiiten will er
auf die US-Botschaften in Nairobi und Da- sich der Terrorismus ohne die Motivation einen Religionskrieg entfachen, der alle
ressalam im August 1998, sein Aufstieg der Täter nicht verstehen lässt. Sunniten in sein Lager treiben und die
zum „Kopf einer neuen, weltweit wirken- Waren es Unterlegenheitsgefühle ange- Schiiten ins Exil zwingen soll. Er beginnt
den islamistischen Terrororganisation“. sichts der Arroganz des Westens gegen- fünf Monate nach der Invasion mit einer
Im Jahr 1998 wird auch der Name „el- über der muslimischen Welt? Serie spektakulärer Bombenanschläge, da-
Qaida“ erstmals im SPIEGEL genannt: In War es Orientierungslosigkeit, Suche runter einen auf das Uno-Hauptquartier in
Bayern war ein Mann namens Mamduh nach Werten, ins Fürchterliche gekippt? Bagdad, und greift vor allem Schiiten und
Mahmud Salim festgenommen worden, Hatten Wut- und Hassgefühle in den ihre Heiligtümer an.
der als Finanzchef von al-Qaida galt. „Die Gettos mit sozialer Verelendung zu tun? Zunächst schließt er sich 2004 Osama
Vorwürfe gegen ihn sind nach Ansicht der Die Suche nach den Ursachen dauert an, Bin Laden an und nennt seine Organisa-
deutschen Behörden nur dürftig belegt“, die Auseinandersetzung mit dem Islam, tion „al-Qaida im Irak“. Doch bald gerät
stand in dem Artikel. Doch sie erwiesen die Frage nach der Brüchigkeit westlicher er in Konflikt mit Bin Laden, der von ei-
sich als richtig, der Mann wurde an die Werte, nach der Zerbrechlichkeit offener nem Religionskrieg wenig hält. Nach Zar-
USA ausgeliefert. Gesellschaften – Fragen, die sich nach At- kawis Tod nennt sich die Gruppe um in
Zwei Jahre später, im Oktober 2000, tentaten wie dem in Berlin, mit neuer „Islamischer Staat im Irak“ (ISI), bleibt al-
folgte das Attentat auf das Kriegsschiff Dringlichkeit stellen. Qaida aber weiter verbunden. Sie verwan-
USS „Cole“ im Jemen, bei dem 17 US-Sol- Es begann eine neue Sicherheitsdebatte, delt den Irak in den kommenden Jahren
daten starben. die in Variationen bis heute geführt wird: in eine Hölle aus Bombenanschlägen auf
Dann kam der 11. September 2001. die Rufe nach Vergeltung und Interven- Zivilisten, irakische und US-Soldaten.
Der Erscheinungstermin des SPIEGEL tion, die militärische Aufrüstung. Als ein US-Luftschlag Zarkawi im Jahr
wurde vorgezogen. Die Ausgabe mit der Es begann die Jagd auf die Qaida-An- 2006 tötet, sagte der jordanische König Ab-
Titelzeile „Der Terror-Angriff: Krieg im führer in Afghanistan, auf ihre Anhänger dullah II. dem SPIEGEL in einem Ge-
21. Jahrhundert“ erzielte die höchste Auf- weltweit. Zu beobachten war die zuneh- spräch: „Wir haben nun Grund, nach vorn
Ausgabe 12/2004 Ausgabe 37/2004 Ausgabe 38/2007 Ausgabe 3/2015 Ausgabe 52/2016
Bomben auf Vorstadtzüge Geiselnahme an einer Das neue Rückzugsgebiet Hinrichtungen in der Re- Terror in Berlin: Tote auf
in Madrid Schule in Beslan von al-Qaida daktion von „Charlie Hebdo“ dem Weihnachtsmarkt
AP/DPA
Kämpfer des „Islamischen Staats“ im Irak 2014: Nutznießer des Chaos in Syrien und im Irak
zu schauen. Aber womöglich ist das nur nach 2003 zerfallenen Geheimdienst des die ihre Bedeutung beweisen wollen und
ein taktischer Sieg. Unser strategisches Ziel irakischen Diktators Saddam Hussein bei müssen, Menschen wie Andreas Baader.
muss dagegen die Stabilität für den Irak der Gründung des IS spielten, mit welcher Wäre Baader heute womöglich zum IS
sein, die dem Land Hoffnung gibt. Nur so Akribie sie die Einnahme von Dörfern gegangen? Neumann hält das nicht für aus-
lässt sich der Terrorismus bezwingen.“ Da- planten, wie sie nach alten Geheimdienst- geschlossen. Baader sei letztlich kein sehr
mit sollte er recht behalten. methoden Spitzel einsetzten, um an Infor- ideologischer Mensch gewesen, habe im
Im Juni 2014 erschien ein Nachfolger mationen über einzelne Bewohner zu Mittelpunkt stehen wollen, habe ein star-
Zarkawis auf dem SPIEGEL-Titel mit der kommen, die sie dann mit dem erworbe- kes Bedürfnis nach Abenteuer und Auf-
Zeile: „Das neue Gesicht des Terrors“. nen Wissen erpressten und für ihre Zwecke merksamkeit gehabt, anders als Ulrike
Sein Name: Abu Bakr al-Baghdadi. Über- einsetzten. Der Terror des IS erschien auf Meinhof und Gudrun Ensslin, die starken
raschenderweise hatte sich die Organisa- einmal überraschend bürokratisch. Frauen der RAF.
tion, die Zarkawi einst im Irak gegründet Über den Unterschied zwischen Gueril- Andreas Baader ähnelt darin vielmehr
hatte, nach Syrien ausgebreitet, von al- lero und Terrorist schrieb in den Siebzi- den „foreign fighters“ des IS, die aus den
Qaida losgesagt und ein Gebiet von der gerjahren der Journalist Franz Wörde- französischen Vorstädten oder deutschen
Größe Großbritanniens eingenommen. mann: „Der Guerillero will den Raum, der Kleinstädten gen Syrien und Irak aufbre-
Damit hatte sie den Traum ihres Gründers Terrorist will dagegen das Denken beset- chen, um dort Kämpfer zu werden und
wahr gemacht, die von den Kolonialmäch- zen.“ Der IS hingegen will beides, er wur- endlich nicht mehr Verlierer zu sein. Der
ten gezogene Grenze zwischen dem Irak de als Terrorstaat mit eigenem Territorium Terrorismus ist immer wieder das Mittel
und Syrien ausgelöscht und ein „Kalifat“ gegründet. Zugleich verpackte er die Ideo- derer gewesen, die aus der Gesellschaft
gegründet. Der IS war der große Nutznie- logie von Kutb und Bin Laden, das brutale ausbrechen wollen und sich von ihm ein
ßer des Chaos in Syrien und im Irak. Morden zu einem Mix aus Pop, Videoclip grausames Abenteuer versprechen.
Aber wer sind diese Leute, die einen und Splattermovie, der Zehntausende Wie also umgehen mit dem Terroris-
Staat des Terrors errichten wollen, im „Na- Dschihadisten aus aller Welt anzog. mus? Wie ihn besiegen?
men Gottes“? Wie sind sie organisiert? In Politisch verbindet den radikalen Isla- Der 2002 verstorbene SPIEGEL-Heraus-
die Hände des SPIEGEL-Reporters Chris- mismus und die RAF nicht viel, sieht man geber Rudolf Augstein widmete sich nach
toph Reuter gelangten 2014 geheime Pa- davon ab, dass sich beide diffus antimate- den Anschlägen vom 11. September 2001
piere des Architekten des IS, eines Mannes rialistisch und antiimperialistisch positio- in einem seiner letzten Kommentare dem
namens Haji Bakr. Er hatte eine Art Bau- niert haben. Vielleicht ist das Gemeinsame amerikanischen Krieg gegen den Terror.
plan des IS hinterlassen, eine prall gefüllte vor allem die berauschende Wirkung, die Er schrieb Sätze, die bis heute gelten:
Mappe handschriftlicher Organigramme, sie auf ihre Anhänger ausüben. „Täter, die man kennt, kann man womög-
Listen und Ablaufpläne, die beschrieben, Der Terrorexperte Peter Neumann vom lich aufspüren und unschädlich machen.
wie sich ein Land schrittweise unterwerfen Londoner King’s College sagt, der „Isla- Den Terror als solchen zu bekämpfen ist
lässt: „Der Quellcode der erfolgreichsten mische Staat“ habe natürlich etwas mit hingegen eine Verlegenheit, eine Unmög-
dschihadistischen Terrorarmee der Neu- dem Islam zu tun, aber auch beim IS gehe lichkeit. Auf welche Weise soll man denn
zeit“, schrieb Reuter in der Geschichte es um eine Protestideologie, einen Gegen- den weltweiten Terrorismus ausrotten, der
„Der Stratege des Terrors“. entwurf zur westlichen Gesellschaft, ähn- in so vielen Erscheinungsformen daher-
Die Entdeckung belegte erstmals, wel- lich wie in den Siebzigerjahren bei der kommt, der so viele unterschiedliche Wur-
che Rolle die ehemaligen Kader aus dem RAF. Und um eine Bühne für Menschen, zeln hat?“ I
Wissenschaft+Technik
Medizin
„Effektivste Maßnahme gegen Diabetes“
beizubringen, sich körperlich Horbach: … und es müssten
mehr zu bewegen und auf viel, viel mehr sein. Mehr als
Stress nicht mit Essattacken 15 Prozent der Deutschen
zu reagieren. Erst wenn diese sind fettleibig, mehr als 10
Bemühungen scheitern, wird Prozent leiden unter Diabe-
operiert. tes. Krankenkassen versu-
SPIEGEL: Wird die Öffentlich- chen aus Kostengründen zu
keit nun einen schlanken vermeiden, dass Übergewich-
Gabriel zu sehen bekommen? tige operiert werden. Dabei
Horbach: Nein, immer noch ist das die effektivste Maß-
einen übergewichtigen Mann, nahme gegen Diabetes und
Thomas Horbach, 53, Adipositas- aber nicht mehr einen krank- spart am Ende Geld.
chirurg an der Schön Klinik haft übergewichtigen. Der SPIEGEL: Das sagen Sie, der an
Nürnberg Fürth, erklärt, warum verkleinerte Magen sorgt da- Magenverkleinerungen gut
eine operative Verkleinerung für, dass Gabriel viel weniger verdient. Ist das oft auch ein
des Magens bei einigen Hunger haben wird. Er wird kosmetischer Eingriff?
Patienten alternativlos ist. kleinere Portionen essen, er Horbach: Das wird gern be-
wird Besprechungskekse und hauptet, nach dem Motto:
SPIEGEL: SPD-Chef Sigmar andere Süßigkeiten nicht Jetzt wollen die Leute wieder
Gabriel hat sich offenbar den mehr gut vertragen. schlank und schön werden!
Magen verkleinern lassen. SPIEGEL: Wie kommt das? Aber darum geht es nicht. Die
Wann wird ein solcher Ein- Horbach: Nach der Magenver- Blutzuckerwerte Sigmar Ga-
griff notwendig? kleinerung führt zu viel Zu- briels werden sich deutlich ver-
Horbach: Ein Grund ist, wie cker dazu, dass Flüssigkeit bessern, auch seine Medika-
bei dem Bundeswirtschafts- aus den Gefäßen in den mente werden besser wirken.
minister, ein Diabetes Darm wechselt. Das macht In einer Korrekturoperation
mellitus Typ 2, der sich mit Bauchbeschwerden – dadurch könnte überschüssige Haut
konservativen Maßnahmen kann einem sogar schwinde- entfernt werden, aber auch das
oder Medikamenten nicht lig und schlecht werden. hätte nichts mit einer Schön-
mehr beherrschen lässt. SPIEGEL: Jedes Jahr werden in heitsoperation zu tun, sondern
Allerdings versuchen wir zu- Deutschland 8000 bis 10 000 wäre eher eine Wiederherstel-
nächst stets, den Betroffenen Mägen verkleinert … lung von Körperfunktion. ble
Glosse
Zukunft im Zwielicht
Warum unser Wissen auch das Ungewisse vermehrt
Hat der Fortschritt nur deshalb ein so enormes kleine Gehirne. Doch so ist es eben: Wer viel
Tempo aufgenommen, weil es mit uns bergab forscht, steigert auch das Wissen darüber, wie
geht? In Südkorea wurde im März ein Mensch böse alles enden kann. Jener Urmensch, der
beim Brettspiel Go von einem Computer be- das erste Lagerfeuer anzündete, wird kaum
siegt. Kurz darauf kam in Mexiko ein Kind geahnt haben, dass seine Innovation der-
zur Welt, dessen Erbgut aus drei Eltern ge- maleinst zu einem irrsinnigen Abschmelzen
mischt ist – was bedeutet, dass sich der Homo des arktischen Eises führen würde. Schon ab
sapiens als Allerlei in der Retorte herstellen 2050, so die Wissenschaftsgeschichte auf Platz
lässt. Beide Ereignisse gehören zu den wich- fünf, wird man mit Vergnügungsdampfern
tigsten Wissenschaftsmeldungen des Jahres quer über den Nordpol fahren können. Vom
2016, gekürt vom Magazin „Science News“. Eisbären bis zum Plankton wird sich dort alles
Wer sich die Charts ansieht, könnte zum verändern. Wir lernen daraus: Der Weltgeist
Schwarzmaler werden. Gerät die Krone der wandelt auf verschlungenen Pfaden. Auch
Schöpfung ins Abseits? Auf Platz eins stehen die Glühbirne war ja nicht einfach die Weiter-
die Gravitationswellen. Mit ihrem Nachweis entwicklung der Kerze. Hoffnung macht
haben wir es klipp und klar: Im All stoßen immerhin Proxima Centauri b: Im August hat
schwarze Löcher so katastrophal zusammen, man den ersten erdähnlichen Planeten in
dass die Raumzeit verbeult. Auch Rang zwei, galaktischer Nähe gesichtet (siehe Seite 102).
das Zika-Virus, gibt wenig Anlass zu Heiter- Raketen brauchten für die Strecke 80 000 Jah-
keit. Ein unauffälliger Erreger, vor 70 Jahren re. Tiefgekühlt könnte man also dorthin ent-
entdeckt, bricht plötzlich aus und erzeugt fliehen – falls der Fortschritt auf Erden weiter
bei über 2000 brasilianischen Säuglingen zu an Tempo gewinnt. Matthias Schulz
Schein-Werfer Archäologie
Australiens erste
„Kleine Taschenlampe brenn“,
das Neue-Deutsche-Welle-Lied,
Künstler
passt zu dem Rätselfoto ebenso Am Kernforschungszentrum
wenig wie die Lichtdome, mit Ansto ist es erstmals geglückt,
denen die Nazis ihre Reichspartei- prähistorische Malereien der
tage illuminierten. Denn dieses Aborigines exakt zu datieren.
Himmelslicht strahlt von oben Wann genau die ersten Men-
nach unten. Erzeugt hat es eine schen den fünften Kontinent
abhebende russische „Sojus“- eroberten, ist nicht bekannt.
Rakete; ihr Start wurde mit einer Weil die Ureinwohner mit mi-
Belichtungszeit von einer neralischen Farben malten, ist
Sekunde fotografiert. Der Raum- eine Altersmessung ihrer Höh-
transporter ist fast schon ins lenbilder mit der klassischen
All entschwunden, geblieben sind C-14-Methode nicht möglich.
die glühend heißen Triebwerks- Ihre Krakelwerke – einige zei-
gase, die wie Flammensäulen gen durchsichtige Figuren mit
über der nächtlichen Steppe Skeletten und Eingeweiden –
am kasachischen Weltraumbahn- sollen zum Teil bereits vor
hof von Baikonur stehen. 40 000 Jahren entstanden sein.
Zumindest die jetzt unter-
suchten Zeichnungen aus der
„Red Lily Lagoon“ in Nord-
australien entpuppten sich
aber als weit jünger. Die For-
scher kratzten Ocker vom Fel-
sen ab und gewannen daraus
Kalziumoxalat. So ermittelten
sie, dass die Kunstwerke höchs-
tens 9402 Jahre alt sind. slz
TRISTEN JONES
Felsbild aus Nordaustralien
Fußnote
1 Ei
brütet der älteste bekannte
wild lebende Vogel derzeit
auf dem pazifischen Midway-
Atoll aus. Der Albatros
„Wisdom“ wurde 1956 be-
ringt, damals lebte er
schon seit mindestens sechs
Jahren. Trotzdem hat das
betagte Tier vor wenigen
Wochen noch einmal ein Ei
ZUMA PRESS / IMAGO
Weinkeller
Wissenschaft
W
enn Gordon Shepherd an seinem teils von Früchten, Knollen und Nüssen; Nicht umsonst ist der Geruchssinn eng
Riesling nippt, ist zu sehen, wel- stets musste er sorgsam beurteilen, welche mit dem Emotionszentrum des Gehirns
chen Aufwand ein echtes Wein- Funde ihm reif und nahrhaft schienen. Der verbunden, dem limbischen System. Auch
erlebnis erfordert: Der Kiefer malmt, die Vorfahr hatte ein energiehungriges Gehirn deshalb können wir uns an manche Ge-
Wangen schlackern, derweil die Zunge des zu versorgen, er war angewiesen auf die rüche, selbst längst verschollene, plötzlich
Forschers mit Eifer im Mund herumrührt – größtmögliche Ausbeute an Kalorien. wieder lebhaft erinnern, wenn sie uns
alles für den optimalen Genuss. Auf die Empfindsamkeit der Zunge ist begegnen. Aus demselben Grund lassen
„Das ist wichtig“, sagt Shepherd. „Sie da nur begrenzt Verlass. Ihre Geschmacks- Gerüche uns selten gleichgültig. Das Ge-
müssen den Wein im Mund intensiv be- knospen kennen süß und sauer, salzig und hirn bewertet sie unbewusst sofort: ange-
wegen, um seine Aromen zu erschließen.“ bitter, dazu den würzig-fleischigen Ge- nehm oder abstoßend, gut oder schlecht
Man mag dabei albern aussehen, aber der schmack umami. Das genügt für eine (siehe Grafik Seite 100).
Gewinn, so glaubt der Forscher, mache das grobe Vorentscheidung: ausspucken oder Die ganze aufwendige Geruchsverarbei-
wett: Wenn der Mensch sich Mühe gebe, nicht. tung läuft auf dieses oft lebenswichtige
sei er zu ungeahnt feiner Witterung im- Erst geduldiges Kauen aber macht ein Urteil hinaus – und beim Wein, einem der
stande. differenziertes Urteil möglich. Dabei wer- komplexesten Lebensmittel, wurde das
Der Neurowissenschaftler Gordon M. System offenbar umfunktioniert zu einer
Shepherd sitzt in seinem Labor an der Yale Quelle des Vergnügens.
University, vor sich im Glas einen präch- Manche Trinker interessiert tatsächlich
tigen Wein vom rheinhessischen Morstein, nur, ob der Tropfen im Glas ihnen
der gerade im Dienst der Wissenschaft ent- schmeckt oder nicht. Wer aber den Wein
korkt wurde. Sein Leben lang hat der nicht achtlos wegschluckt, kann mit etwas
Mann erforscht, wie das Gehirn Geschmä- Übung eine bezaubernde Aromenvielfalt
cker und Gerüche verarbeitet. erleben: Mal machen sich exotische Früch-
Nun ist er unterwegs zum Gipfel des Ge- te bemerkbar, mal Gewürznelken oder bal-
nusses: Shepherd will die Entstehung der samische Noten. In reiferen Weinen sind
Wonnegefühle klären, die speziell Wein gelegentlich Anklänge von Leder oder
und Sekt im Menschen hervorrufen – und Waldboden zu erschnuppern.
nebenbei herausfinden, wie der Trinker Den Zugang zum Weinvergnügen er-
sein Vergnügen optimieren kann. schließt die bewegliche Zunge. Nicht um-
Jeder Schluck zieht Kaskaden von Sin- sonst vollführt sie, wie Untersuchungen
nesreizen nach sich, beginnend mit dem zeigten, beim Essen und Trinken komple-
ersten Schnuppern am Glas. Die Schlüs- xere Bewegungen als beim Sprechen. Pro-
selfrage für die Forschung ist: Was macht fis trainieren sie wie Tennisspieler ihren
das Gehirn daraus? Wie übersetzt es die Arm. Denn beim Verkosten von Wein, so
gleichgültige Chemie der Säuren, Zucker Shepherd, komme der Zunge eine beson-
und Duftmoleküle in ein – falls der edle ders wichtige Rolle zu: als „Meisterdirigent
SHAWN G. HENRY / DER SPIEGEL
Wissenschaft
Leuchtende
Doch wie wahrscheinlich ist es wirklich, Variante der Biofluoreszenz, schützen die
dass auf dem Planeten irgendwelche exo- Korallen empfindliche Algen, die mit ihnen
tischen Organismen entstanden sind? Auch in Symbiose leben.
wenn die äußeren Bedingungen gut geeig- „Biofluoreszenz ist auf der Erde weit-
A
uf dem fremden Planeten ist kein einen Teil der Strahlung abschirmen sollte. gen. „Bei jedem Strahlungsausbruch des
Land in Sicht. Nirgendwo gibt es Vielleicht aber ist es doch möglich, dass Flackersterns würden solche fremdartigen
einen Strand, auf den sanfte Wel- Organismen das Dauerfeuer des glutroten Lebensformen farbenprächtige Signale hin-
len plätschern. Nirgendwo tauchen Konti- Zwergsterns überleben – vorausgesetzt, sie terlassen“, sagt Kaltenegger. „Mit geeigne-
nente aus den Fluten auf, nicht einmal verfügen über einen natürlichen Schutz- ten Teleskopen könnten wir diese Lebens-
kleinste Inseln. mechanismus. Eine faszinierende Hypo- spuren von der Erde aus erkennen.“
Ein gigantisches Meer bedeckt die Ober- these hat dazu die österreichische Astro- Voraussetzung dafür wäre es, den Pla-
fläche. An der tiefsten Stelle ist der all- nomin Lisa Kaltenegger, 39, aufgestellt – neten direkt zu beobachten und sein Licht
umfassende Ozean mehr als 200 000 Meter ihre Idee eröffnet zugleich einen Weg, wie aufzufangen. Die heutigen Observatorien
tief. Im Vergleich dazu wirken irdische sich die Außerirdischen von der Erde aus sind dazu noch nicht in der Lage. Erst die
Meere wie Pfützen. nachweisen ließen. „So seltsam es klingen Himmelsaugen der nächsten Generation
So maritim könnte es auf Proxima Cen- mag“, sagt Kaltenegger, „wir sollten nach werden scharfsichtig genug sein. Die Pla-
tauri b aussehen – sofern eine Klima- leuchtenden Aliens Ausschau halten.“ netenjäger setzen vor allem auf das
simulation französischer Astrophysiker zu- Die temperamentvolle Forscherin leitet „Extremely Large Telescope“ mit seinem
trifft. Demnach handelte es sich bei dem das Carl-Sagan-Institut an der amerikani- 39 Meter messenden Vergrößerungsspiegel.
kürzlich aufgespürten Himmelskörper, der schen Cornell-Universität. Sie entwickelt Bis zum Jahr 2024 will die Eso dieses
ungefähr so schwer und so groß ist wie die Nachweismethoden, um lebensfreundliche größte jemals gebaute Spiegelteleskop auf
Erde und auf dem ein Jahr nur elf Tage Planeten zu identifizieren. Wie nur wenige einem Berg in der chilenischen Atacama-
dauert, um einen Ozeanplaneten. Flüssiges Forscher begeistert sie mit Vorträgen und Wüste errichten.
Wasser wiederum gilt als wichtigste Zutat Büchern für die Suche nach Leben im All*. Für Lisa Kaltenegger hat die Suche nach
für die Entstehung von Leben, wie wir es Ihr aktuelles Gedankenexperiment hat sie neuen Welten, die nie ein Mensch zuvor
kennen. sich zusammen mit ihrem Kollegen Jack gesehen hat, auch eine wichtige irdische
Seit Wissenschaftler der europäischen O’Malley-James ausgedacht. Dimension. „Je mehr wir über andere
Südsternwarte (Eso) im Sommer die Ent- Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist Planeten lernen“, so die Astronomin, „des-
deckung der neuen Welt bekannt gaben, ein real existierendes Vorbild auf der Erde: to mehr lernen wir auch über unsere
herrscht unter Himmelsforschern Auf- Einige Korallenarten besitzen die erstaun- Erde – und wie wir besser auf sie aufpassen
bruchstimmung. Denn der Planet umkreist liche Fähigkeit, schädliche UV-Strahlung können.“ Olaf Stampf
unsere Nachbarsonne – den nur 4,2 Licht- in harmloses sichtbares Licht umzuwan- Mail: olaf.stampf@spiegel.de
jahre entfernten Zwergstern Proxima Cen- deln – sie fangen dann an, gespenstisch zu
tauri. Nie zuvor haben Astrophysiker eine leuchten. Mit diesem Trick, eine spezielle Video: Wie könnte es auf
mögliche zweite Erde gefunden, die so nah Proxima Centauri b aussehen?
ist. Dies bietet die Chance, dort Lebens- * Lisa Kaltenegger: „Sind wir allein im Universum? Mei- spiegel.de/sp012017exoplanet
spuren nachzuweisen. ne Spurensuche im All“. Ecowin; 208 Seiten; 19,95 Euro. oder in der App DER SPIEGEL
Mit den 80
ern wuchs die Sorge um die Natur. Die Deutschen
erwiesen sich als Meister des Schreckensszenarios: Waldsterben, Ozonloch,
Erderwärmung. Dann kam Tschernobyl. Und es gediehen
die Grünen – weil die Menschen ein neues Wort erlernten. Es heißt
UMWELT
Von Johann Grolle
Ö
dnis. Und ein kalter Wind. Nur da deutsche Wald gestorben sein“, spekulier- ganze Nation so besessen vom Tod der
und dort eine tote Tanne, die ihre te er 1983. Und diese Kassandrarufe ka- Wälder sein? Es lohnt sich, dieser Frage
kahlen Zweige hängen lässt. So men nicht von irrlichternden Außensei- nachzugehen, denn wie kaum eine andere
traurig sah einst die Zukunft aus. tern. Ulrich und Schütt waren angesehene rührt sie an die Befindlichkeit Deutsch-
Mit ihrer Doku-Fiktion „Kahlschlag“ Experten, die den Ton der Waldsterbens- lands in den Achtzigerjahren.
entführte die ARD die Fernsehzuschauer debatte vorgaben. Wissenschaftlich war das Phänomen,
Ende der Achtzigerjahre ins damals noch Heute wissen wir: Das „ökologische Hi- das damals die Republik erschütterte, gar
ferne Jahr 2010. In der ersten Einstellung roshima“ (SPD-Abgeordneter Freimut nicht neu: Bereits Anfang des 20. Jahr-
sind ein Revierförster und zwei Beamte Duve) ist ausgeblieben. Seit dem ersten hunderts befasste sich eine umfängliche
des Bundesumweltministeriums zu sehen, Waldzustandsbericht im Jahr 1984 fluktu- „Rauchschadensforschung“ mit der Wir-
die mit bedrückter Miene einen Hang im iert der Anteil der Bäume der Schadens- kung von Immissionen auf die Gesundheit
Hochschwarzwald inspizieren. Ihr Blick stufen eins bis vier auf und ab, ohne dass der Bäume. In den Siebzigerjahren er-
schweift hinab ins Tal. Bis tief hinunter ein klarer Trend erkennbar wäre: Das Ge- wachte das Interesse der Wissenschaft
dehnt sich dort die Steppe aus. samtbild zeigt weder fortschreitendes erneut. Vor allem in den hoch belasteten
„Oberhalb von 600 Metern wird ab- Siechtum noch langsame Genesung. Bis Regionen Mitteleuropas, etwa im Ruhrge-
geholzt“, verkündet die Stimme des Spre- heute ist nicht einmal klar, ob die alljähr- biet, in Bitterfeld oder im Erzgebirge, sa-
chers. „Zu retten ist da nichts mehr.“ Im liche Inventur wirklich mehr liefert als die hen einige Forscher die Existenz ganzer
Schwarzwald, im Bayerischen Wald, im mit viel Aufwand betriebene Erfassung des Wälder bedroht.
Fichtelgebirge und im Odenwald – überall Normalzustands im deutschen Wald. Zunächst aber blieb die Debatte weit-
begegne der Naturfreund denselben be- Wie nur war so etwas möglich? Wie gehend auf forstwissenschaftliche Kreise
klemmenden Bildern. konnte ein Notstand zum „Umweltpro- beschränkt. Nur vereinzelt befasste sich
Auf seiner Website rühmt sich noch heu- blem Nummer eins“ avancieren, wenn bis auch die Publikumspresse mit dem Thema.
te Joachim Faulstich, der Autor der Fern- heute strittig ist, ob er in der damals be- Wie ein Vorbote mutet etwa ein Bericht
sehdokumentation, der digitalen Technik, klagten Form je bestand? Wie konnte eine der „Süddeutschen Zeitung“ von 1978 an,
die er zur Entwaldung des Schwarzwalds in dem es bereits mit dem Pathos der
verwendet habe. Sein Fernsehbeitrag zeige wenig später einsetzenden Waldsterbens-
ein „Worst-Case-Szenario“, das zu verhin- hysterie heißt: „Der deutsche Wald muss
dern er mit seiner Schreckensvision beige- sterben, der Kölner Dom zerfallen, weil
tragen habe. die Schlote qualmen sollen.“
Es fällt nicht leicht, sich klarzumachen, Drei Jahre später schreckte dann eine
wie real die Apokalypse in den Achtzigern Studie des Göttinger Bodenkundlers Ul-
war. Wenn vom „Waldsterben“ geredet rich die breite Öffentlichkeit auf. Der For-
wurde, dann war dies keineswegs meta- scher hatte langjährige Messreihen aus
phorisch gemeint. Das Ökosystem Wald dem Solling, einem niedersächsischen Mit-
als solches galt als gefährdet, die Verstep- telgebirge, ausgewertet und war dabei auf
pung Mitteleuropas schien bevorzustehen. einen erschreckend hohen Eintrag von Säu-
In der Zeit, in der „Kahlschlag“ entstand, re gestoßen.
war Umfragen zufolge ein Viertel der Aus diesem Befund leitete Ulrich eine
Deutschen davon überzeugt, der heimi- kühne These ab: Der saure Regen setze
sche Wald sei unwiderruflich dem Unter- im Boden Aluminium frei, welches auf
gang geweiht. Bäume toxisch wirke. Die dadurch entste-
Die Sorge wurde auch genährt: „Die henden schweren Tannenschäden seien
ersten großen Wälder werden schon in nicht auf Industrieregionen beschränkt,
fünf Jahren sterben“, verkündete im sondern dehnten sich auch auf „Reinluft-
November 1981 der Bodenkundler Bern- gebiete“ wie den Solling aus. Kurzum: Ul-
hard Ulrich im SPIEGEL. Ähnlich äußerte rich fürchtete, Zeuge vom „Beginn einer
sich Forstbotaniker Peter Schütt: „Schon SPIEGEL-Ausgabe 33/1986 großflächig drohenden Waldvernichtung
zum Ende dieses Jahrzehnts kann der Lust an der Apokalypse in Mitteleuropa“ zu sein.
Diese Botschaft traf einen Nerv in ei- Volksseele die tief wurzelnde Naturver- sen. So einig wie über das Ausmaß der
nem Land, in dem sich tiefes Unbehagen bundenheit verknüpft mit dem Drang, sich Misere, so zerstritten waren die Forstwirte
über die rasant fortschreitende Industriali- in Untergangsfantasien hineinzusteigern – über deren Ursachen. Gelangten die
sierung breitgemacht hatte. Ölkrise und ein Vorgang, der sich später angesichts von Schadstoffe nun über den „Luftpfad“ in
Club of Rome hatten den Fortschrittsglau- Vogelgrippe, Gentechnik, BSE und Fra- die Pflanze oder eher über den „Boden-
ben der Wirtschaftswunderjahre untergra- cking wiederholen sollte. pfad“ durchs Wurzelwerk? Und wer war
ben. Nicht mehr der Wohlstand, sondern Es war seltsam: An der deutschen Gren- der schlimmste Übeltäter: Schwefelsäure,
die Schattenseiten des Wachstums – giftige ze schien die tödliche Umweltseuche, die Ozon oder doch die Stickoxide? Wenn kei-
Schwaden und trübe Fluten – standen im in Taunus, Spessart und Odenwald die Bäu- ne dieser Substanzen das Schadbild so
Mittelpunkt des Interesses. me dahinraffte, unvermittelt haltzuma- recht erklären konnte, spekulierten die
Bei allem Spott, den sich die „Ökos“ da- chen. Während die Förster in den Vogesen Forscher über den noch unbekannten
mals hatten anhören müssen, kann heute und den Ardennen keine Veranlassung zur „Faktor X“.
niemand mehr ihre Verdienste bestreiten. Sorge sahen, rief Deutschland den Wald- Für Zweifel am Grundtatbestand des
Ohne die Forderung der Umweltbewegung notstand aus. In seltener Eintracht schau- Waldsterbens aber war kein Platz auf dem
zum Umdenken wäre der Pariser Klima- kelten sich die Warnungen von Wissen- Höhepunkt der Debatte. Einhellig empörte
gipfel 2015, bei dem sich die teilnehmenden schaftlern, Journalisten und Politikern sich die Presse. Aufrüttelnd titelte der
Länder endlich zu Maßnahmen verpflichtet wechselseitig hoch. „Stern“ („Über allen Wipfeln ist Gift“),
haben, die die Erderwärmung begrenzen Rasch hatten die Forscher ein Vokabular apodiktisch der SPIEGEL („Der Wald
sollen, vermutlich nie zustande gekommen. entwickelt, um das Leid der Bäume in stirbt“). Und auch die „Zeit“ duldete kein
Der kranke Wald stand in den Achtzi- Worte zu fassen. Die Rede war von der Leugnen des Notstands: „Am Ausmaß des
gern stellvertretend für alle Opfer der hoch „krankhaften Verkümmerung des Feinwur- Waldsterbens könnte nicht einmal der un-
industrialisierten Welt. Geradezu begierig zelsystems“, „Hexenbesen“ und „Verzwei- gläubige Thomas zweifeln.“
wurde auch im SPIEGEL die Nachricht vom gungsanomalien“. Besonders das „Lamet- Manches liest sich heute geradezu ko-
Siechtum der Bäume aufgenommen. Foto- tasyndrom“, wie Nadel-Schwindsucht und misch. So fürchtete der „Stern“, Deutsch-
grafen reisten ins tschechische Erzgebirge, schlaff hängende Zweige der Fichten ge- land werde „zur Pershing-geschützten Di-
um dort die Baumskelette abzulichten, nannt wurden, galt als untrügliches An- oxid-Steppe verkommen“. Einziger Trost
nach denen der deutsche Hunger nach zeichen des Niedergangs. schien den Redakteuren, dass auch der
Waldsterben verlangte. Und Förster rich- Tatsächlich jedoch verbarg die nekro- Nürnberger Reichswald Nadeln und Blät-
teten Sterbelehrpfade ein, damit sich Spa- phile Wortseligkeit nur, dass es an Maß- ter verlieren werde: „Dann sind all die
ziergänger angesichts „krankhafter Harz- stäben, die Gesundheit der Bäume zu be- dort verborgenen Bunker und Depots der
flüsse“ an der Rinde und „pathologischer urteilen, fehlte. Denn ob Nadelverlust und Bundeswehr und der US-Armee ihrer na-
Nasskerne“ im Stamm der Bäume gruseln Kronenverlichtung, die wichtigsten Krite- türlichen Deckung beraubt.“ Spätestens
konnten. rien im Waldzustandsbericht, als alleiniger das werde die Mächtigen im Lande zum
Ratlos verfolgten Franzosen, Briten und Gradmesser der Schäden überhaupt taug- Handeln bewegen.
Niederländer, wie sich in ihrem Nachbar- lich sind, ist bis heute zweifelhaft. Angst ging um, und die Politik tat ein
land die „German Angst“ Bahn brach. Of- Natürlich gab es auch damals schon Mei- Übriges, sie zu schüren. Im September
fensichtlich regte sich in der deutschen nungsverschiedenheiten in Forscherkrei- 1983 startete die christliberale Bundesre-
gierung unter Kanzler Helmut Kohl ein
umfängliches Aktionsprogramm „Rettet
Auszug aus dem SPIEGEL vom 17. Oktober 1983 den Wald“. Neben dem Friedenserhalt,
verkündete Bundesinnenminister Friedrich
Joseph, nicht Joschka Fi- Zimmermann, sei der Schutz der Umwelt
scher nannte der SPIEGEL die „wichtigste Aufgabe der Menschheit“.
den aufstrebenden Grünen- Die Leute verstanden es als Indiz dafür,
Politiker im Herbst 1983 dass es schlimm stand um den deutschen
noch, als die Redakteurinnen Wald.
Marion Schreiber und Marie- Von 1984 an sorgte dann der alljährliche
Luise Hauch-Fleck den da- Waldzustandsbericht dafür, dass das The-
mals 35-jährigen Bundes- ma nicht in Vergessenheit geriet: Stets im
tagsabgeordneten zum Ge- November oder Dezember wurden die
spräch trafen. Zwei Jahre be- Balkendiagramme der Schadensstufen bei
vor er hessischer Umweltmi- Nadel- und Laubbäumen veröffentlicht,
nister wurde, dementierte und zuverlässig lösten sie jeweils eine
der Realo Fischer, dass „die neue Welle öffentlicher Bestürzung aus.
Grünen demnächst auf Mi- Die Kohl-Regierung sah sich auch des-
nistersesseln Platz nehmen“ halb zu entschlossenem Handeln gezwun-
wollten. Fischer wusste: Der gen, weil die Parteienlandschaft der
Fundi-Flügel seiner Partei Republik ins Wanken geraten war. Im
war noch nicht so weit. Januar 1980 hatte sich ein bunt-alterna-
Die ganze Geschichte tiver Haufen in Strickjacken und Turn-
lesen Sie unter spiegel.de/ schuhen in der Karlsruher Stadthalle zu-
spiegel/print/d-14023519. sammengefunden. Zwei Tage lang stritten
html oder in sie um Satzungsfragen, am Ende war
der App. aus der chaotischen Diskussion eine neue
Partei hervorgegangen, deren konstitu-
ierendes Anliegen die Rettung der Um-
welt war.
106 DER SPIEGEL 1 / 2017
KaelDesu deutschlernmaterialien.blogspot.com
FRIEDRICH STARK
Gründungsparteitag der Grünen in Karlsruhe 1980: Deutungsmacht in Umweltdingen
Erstmals seit Gründung der Bundesre- einer Anfrage der Grünen-Bundestags- den Regen säuern und damit dem Wald
publik geriet damit das etablierte Dreipar- fraktion. schaden, farblos.
teiensystem aus den Fugen. Im März 1983 Zumindest in einer Hinsicht sollte sich ‣ Und sie war global. Kraftwerksschwa-
zogen 28 Abgeordnete der Grünen in den dies als prophetisch erweisen: Der Bun- den halten sich nicht an Landesgrenzen.
Bundestag ein. Fortan sah sich nicht nur desrepublik standen im Verlauf der Acht- Ein beträchtlicher Teil der Säure, die
die SPD, sondern auch die christliberale zigerjahre weitere große Umweltdebatten über deutschen Wäldern abregnete,
Koalition gezwungen, mit diesem Trupp bevor, und jedes Mal folgte die Erregungs- stammte aus Nachbarländern, so wie
von Rebellen um die Deutungsmacht in kurve einem ähnlichen Muster. Vor allem umgekehrt die Schadstofflast der deut-
Umweltdingen zu ringen. zwei Eigenschaften des sauren Regens, der schen Industrie zur Versauerung der
Den Grünen selbst reichte der Tod des als Hauptursache des Waldsterbens galt, skandinavischen Seen beitrug.
Waldes bald nicht mehr. Sie sahen ihn als erwiesen sich dabei als prototypisch für Genau diese beiden Merkmale kenn-
Auftakt noch schlimmeren Ungemachs: eine neue Art der Bedrohung: zeichnen auch den zweiten Gegner, gegen
„Das Waldsterben stellt ein Warnzeichen ‣ Die Gefahr war unsichtbar. Anders als den sich das erwachende Umweltbewusst-
für eine sich anbahnende noch größere Rußwolken in der Luft oder Schaumkro- sein in Deutschland richtete: die Atom-
ökologische Katastrophe dar“, hieß es in nen auf dem Wasser sind die Gase, die kraft. Von Greenpeace über Robin Wood
Ausgabe 47/1981 Ausgabe 2/1984 Ausgabe 45/1985 Ausgabe 20/1986 Ausgabe 7/1992
Das Waldsterben – ein Ist der plötzliche Kindstod Chemiekonzerne wollen aus Tschernobyl führt zur FCKW und die Folgen: von
heute strittiger Befund Folge von Umweltgiften? Hessen wegziehen „Strahlenfurcht in Europa“ Hautkrebs bis Missernten
GAMMA / STUDIO X
Radioaktivitätsmessung in der Sperrzone von Tschernobyl: Die Gefahr ist unsichtbar, und sie wirkt grenzübergreifend
bis hin zum BUND – sämtliche neu ge- Brokdorf. Die Kundgebung endete in einer Hauskatze abgeduscht werden? Half es,
gründeten Umweltverbände einte die Ab- Schlacht: Über den horizontweiten Marsch- die Fenster geschlossen zu halten?
lehnung der Kernenergie und die Angst wiesen hingen Tränengasschwaden, in der Wer sein Kind noch auf den Spielplatz
vor radioaktiver Verseuchung. Wie beim Luft tosten Polizeihelikopter, Wasserwerfer ließ, erntete vorwurfsvolle Blicke. Die Ge-
sauren Regen, so hatten es die Naturschüt- verteidigten das Tor des Baugeländes. müsehändler blieben auf ihrem Spinat und
zer auch hier mit einem Phänomen zu tun, Doch so erbittert der Kampf um die ihren Radieschen sitzen. Und alle wussten:
das unsichtbar seine unheimliche Wirkung Atomkraft auch ausgetragen wurde und Auch die biodynamischen Schrumpelka-
tat und das keine Grenzen kannte. so erschöpfend jeder denkbare Störfall rotten boten keinen Schutz vor radioakti-
Schon in den Siebzigerjahren hatte sich durchdiskutiert war, so perplex reagierten vem Cäsium.
eine Vielzahl zersplitterter Anti-AKW- die Deutschen, als sie plötzlich wirklich Jeder versuchte nun, einen Geigerzähler
Initiativen zu einer Bewegung formiert. In da war, die unsichtbare Gefahr. zu ergattern. Gekauft wurde alles, solange
den Achtzigern verbreitete sich die lachen- Ende April 1986 meldeten die Schweden es nur das berüchtigt-unheilvolle Knattern
de rote Anti-Atomkraft-Sonne weltweit einen abrupten Anstieg radioaktiver Strah- von sich gab. Entsprechend konfus war
und reckte bisweilen siegessicher eine klei- lung in ihrem Land. Skandinavische For- bald die Vielzahl der Messwerte, die im
ne Faust. scher waren die ersten, die vermuteten, Umlauf waren – zumal ein unverständ-
Im Frühjahr 1980 errichtete ein Sponti- in einem sowjetischen Kernkraftwerk liches Kauderwelsch aus „Mikrosievert“,
trupp auf einer Waldlichtung nahe dem könnte es zu einem schweren Unfall ge- „Becquerel“ und „Millirem“ auf die Deut-
geplanten Endlager im niedersächsischen kommen sein. schen niederregnete.
Gorleben ein Dorf aus 110 Holz- und Die Folge war, in Deutschland mehr als Vor allem aber: Wem sollte man glau-
Lehmhütten. Selbst an eine Krankensta- in jedem anderen Land Europas: Verwir- ben? Der hannoversche Nuklearmediziner
tion, einen Frisiersalon, eine Sauna und rung, Ratlosigkeit, Angst. Während im Re- Heinz Hundeshagen verkündete: „Man
eine Mülldeponie war gedacht. Die Bewoh- aktorblock 4 des Kraftwerks im ukraini- kann wirklich sagen: Gefahr null.“ Der
ner riefen die „Republik Freies Wendland“ schen Tschernobyl noch die Uran-Lava Münchner Strahlenbiologe Edmund Leng-
aus und stellten jedem, der zehn D-Mark qualmte und Hubschrauber Tonnen von felder warnte: In der Bundesrepublik sei
dafür zu bezahlen bereit war, beim Passie- Blei, Lehm und Sand in die nukleare Glut „mit etlichen Tausend zusätzlichen Krebs-
ren des Schlagbaums einen „Wendenpass“ abwarfen, starrten die Deutschen bang auf fällen“ zu rechnen.
mit Einreisestempel aus. den Wetterbericht. Vor allem nach Bayern Kein Wunder, dass sich der Psychoana-
Im Jahr darauf hatte die Bewegung be- schoben sich dunkle Regenwolken von Os- lytiker Horst-Eberhard Richter ernsthafte
reits enorm an Schlagkraft gewonnen. Nun ten her über die Grenze. Sorgen um die seelische Gesundheit des
versammelten sich 100 000 Demonstranten Was war zu tun? Durfte die Wäsche zum Volkes machte. „Bedrücktheit, Missmut,
in der Wilstermarsch vor dem Bauzaun in Trocknen noch auf die Leine? Musste die Gereiztheit“ hätten wie nie zuvor zuge-
108 DER SPIEGEL 1 / 2017
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SELLA
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nommen, konstatierte er. Auch sei zu be- tiven Szenerie aus dem Sommer 2040, in lieferten Messungen am Südpol Gewiss-
fürchten, dass die Menschen massenhaft dem Hamburg und Hongkong, London, heit: Der Ozonfraß in der Stratosphäre
an „unguten Träumen“ litten. Kairo und New York „längst vom Meer schritt sogar noch viel schneller fort, als
Nur sechs Wochen nach dem GAU in verschluckt“ sind. Großbritannien ist „in es die schlimmsten Befürchtungen vorher-
Tschernobyl wurde in Bonn das Bundes- einen Archipel zerfallen“. gesagt hatten. Allwinterlich gähnte in der
umweltministerium aus der Taufe gehoben. Da war sie wieder, die autoaggressive Stratosphäre über der Antarktis ein regel-
Nie wieder wurde der Bau eines Atom- deutsche Lust an der Apokalypse. Heute rechtes Ozonloch.
kraftwerks in Deutschland in Angriff ge- ist klar, wie maßlos übertrieben dieses düs- Wieder gingen Horrormeldungen um.
nommen. 25 Jahre später war dann die tere Katastrophenszenario war. Doch rief Diesmal sorgten sich die Deutschen um er-
nukleare Großkatastrophe im japanischen es der breiten deutschen Öffentlichkeit blindete Schafe in Chile und hautkrebs-
Fukushima der Anlass für den endgültigen erstmals ein Problem ins Bewusstsein, das kranke Australier. Und diesmal zeigte der
Ausstieg aus der Atomkraft. bis heute als größte Herausforderung für Einsatz der Aktivisten erstaunlich rasch
Weniger Traumata löste eine weitere die globale Umweltpolitik gilt. Wirkung: Die Geschichte des Ozonlochs
große Umweltbedrohung der Achtziger- Anders als beim Waldsterben gab es darf als eigentliche Erfolgsstory des Um-
jahre aus. Wie Waldsterben und radioakti- eine breite Diskussion in der wissenschaft- weltschutzes gelten.
ver Fallout war auch hier die Ursache un- lichen Weltgemeinschaft über die Klima- Im September 1987, nur zwei Jahre nach-
sichtbar, und sie wirkte grenzübergreifend. erwärmung. Heute stellt kein seriöser dem die Zeitschrift „Nature“ erstmals vom
Trotzdem drang die Problemlage viel lang- Forscher mehr die Indizien für den men- Ozonverlust über dem Südpol berichtet
samer ins Bewusstsein der Deutschen vor – schengemachten Klimawandel infrage. hatte, trafen sich Vertreter von 49 Staaten
obwohl es sich um die wohl tief greifendste Doch es hat bis 2015 gedauert, dass die im kanadischen Montreal, um gemeinsam
und nachhaltigste aller Veränderungen in Vereinten Nationen auf dem Pariser Kli- über einen Emissionsstopp für FCKW zu
der Natur handelte. magipfel Maßnahmen beschlossen, die beraten. Heraus kam ein Ausstieg auf Ra-
Mitte der Achtzigerjahre mehrten sich den Temperaturanstieg auf zwei Grad be- ten, auch allerlei Ausnahmeregeln wurden
die Indizien dafür, dass das Klimage- grenzen sollen – fast 30 Jahre nach dem zugestanden. Dennoch gilt das Montrealer
schehen des Planeten Erde im Wandel be- SPIEGEL-Titel. Protokoll heute als Paradebeispiel für wirk-
griffen war. Verantwortlich dafür war In demselben Artikel, der von der glo- samen internationalen Umweltschutz.
der Mensch – und dies sogar in zweifacher balen Erwärmung kündete, erfuhr der Es ist wohl Ausdruck ihrer notorischen
Hinsicht. SPIEGEL-Leser auch, dass der Mensch der Vorliebe für düstere Aussichten, dass die
Vor „einer drohenden Klimakatastro- irdischen Atmosphäre noch auf eine zwei- Deutschen seinerzeit nicht fähig waren, es
phe“ warnte im Januar 1986 ein Aufruf te Weise schweren Schaden zufüge. Die als solches zu erkennen. Nicht nur Ver-
der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Sorge galt der Ozonschicht in der Strato- braucher- und Umweltverbände geißelten
der für einiges Aufsehen sorgte. Bei der sphäre. die in Montreal beschlossenen Maßnah-
Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas, Schon im Jahr 1974 hatten zwei kalifor- men fast einhellig als bloße Augenwische-
so hieß es darin, entstünden große Mengen nische Chemiker vor der fatalen Wirkung rei. Auch unter Wissenschaftlern herrschte
Kohlendioxid, welches als Treibhausgas sogenannter Fluor-Chlor-Kohlenwasser- Skepsis vor. „Von Vorsorge oder Hilfe für
die Atmosphäre aufheize. Hinzu kämen stoffe (FCKW) gewarnt. Diese reaktions- die bedrohte Ozonschicht kann keine Rede
Methan, Stickoxide und weitere Gase mit trägen Gase, die als Treibgas in Sprüh- sein“, monierte die ehrwürdige Max-
ähnlicher Wirkung. Deshalb sei in ein bis dosen und als Kühlmittel in Klimaanlagen Planck-Gesellschaft. Die Beschlüsse von
zwei Jahrzehnten eine Erhitzung des Pla- und Kühlschränken verwendet wurden, sei- Montreal würden sich als „eine Art Ster-
neten um drei bis neun Grad zu befürch- en fähig, Ozon zu zerstören. Dieses Gas behilfe für die Ozonschicht erweisen“.
ten. Einen besonders starken Effekt sagten schütze das Leben vor hoch energetischer Fast 30 Jahre später hatten Atmosphä-
die Klimamodelle in den Polregionen vor- UV-Strahlung. Wenn die Ozonhülle in der renchemiker der Menschheit dann endlich
her. Ein Teil des Eises an den Polkappen Stratosphäre ausdünne, werde die Haut- eine gute Nachricht zu verkünden: Im Juni
werde schmelzen und den Meeresspiegel krebsgefahr steigen. 2016 teilten sie mit, dass die jüngste Aus-
ansteigen lassen. Anfangs fand diese Warnung wenig Ge- wertung von Stratosphärendaten das Mont-
Der SPIEGEL nahm diese Prognose zum hör. Denn die Chemie der Stratosphäre realer Protokoll in anderem Licht erschei-
Anlass, auf seinem Titel publikumswirk- war nur ungenügend verstanden und ob nen lassen: „Das, was wir damals getan
sam den Kölner Dom unter Wasser zu set- der befürchtete Ozonabbau dort über- haben, hat die Erde auf den Weg zur Hei-
zen. Die Geschichte hebt an mit einer fik- haupt stattfand, fraglich. Erst im Jahr 1985 lung geführt.“ I
Ausgabe 45/2006 Ausgabe 19/2007 Ausgabe 46/2010 Ausgabe 11/2011 Ausgabe 9/2015
Wie gefährlich ist die Ist am Ende doch Die Grünen etablieren sich Der GAU in Japan zwingt Bestandsaufnahme vor
globale Erwärmung wirklich? alles nur Hysterie? als dritte politische Kraft zum Umdenken dem Klimagipfel in Paris
Deutsche Bank
Kino
Die Kunst der Täuschung
KOCH FILMS
Solange man lügt, lebt man. gerpaar, das an das Vermö- kaum noch zu erkennen. erscheinen. Der Film ist ein
Nach dieser Devise handeln gen eines reichen Mannes zu Selten macht es im Kino so ebenso sanftes wie böses, ein
die Hauptfiguren in Park kommen versucht. Der hat viel Spaß, sich als Zuschauer ebenso sinnliches wie bluti-
Chan-wooks Thriller Die jedoch selbst etwas zu verber- nach allen Regeln der Kunst ges Lehrstück über Macht,
Taschendiebin. Der Film spielt gen. Wer wen begehrt und täuschen zu lassen. Dreimal Sex, Gewalt und die Mani-
in den Dreißigerjahren im wer wen betrügt, das ist in ändert sich die Erzählperspek- pulation von Gefühlen – fast
von Japan besetzten Korea diesem kriminalistischen und tive und lässt die Gescheh- zweieinhalb Stunden lang,
und erzählt von einem Betrü- erotischen Ränkespiel bald nisse in einem neuen Licht aber überaus kurzweilig. lob
Sprache
Kultur
Glücksbringer Welt hat Grenzen. Unsere Nils Minkmar Zur Zeit
„Einstein irrte“
Der Quantenphysiker und
Psyche wehrt sich jedoch
dagegen, sie erkennt Muster
und konstruiert Gründe, wo
Bild vom Glück
Autor Florian Aigner, 37, keine sind. Zum Beispiel im Meinem französischen Großvater war
über die Macht des Zufalls Beruf, in dem wir Glück oft das Essen eine Ersatzreligion. Er las
mit Leistung verwechseln. darin, wie die Zeiten waren, erlebte
SPIEGEL: Herr Aigner, auf SPIEGEL: Das Glück ist mit den Erlösung und ahnte, wie Verdam-
welche Glücksbringer setzen Tüchtigen. mung schmeckt. Er erinnerte sich oft
Sie zum Jahreswechsel? Aigner: Das ist Unsinn. Wir an ferne Mahlzeiten und entwarf
Aigner: Ich bin nicht aber- müssen akzeptieren, dass es ständig neue. Und er fotografierte sie.
gläubisch. den Zufall gibt und dass er War ein besonders gelungener Braten,
SPIEGEL: Aber so ein Marzi- unser Leben jederzeit in eine eine Lammkeule oder ein beeindrucken-
panschwein kann durchaus neue Richtung wirbeln kann. des Geflügel auf den Tisch gelangt, gab es folgende Pause:
eine Funktion haben. Es ver- SPIEGEL: Was ist mit dieser Er lief in ein Nebenzimmer und kam mit seiner Kamera-
mittelt Zuversicht. Erkenntnis gewonnen? ausrüstung wieder heraus. Suchte das passende Objektiv,
Aigner: Es hat eine Funktion, Aigner: Trost. Es liegt nicht machte einige Aufnahmen aus diversen Perspektiven,
solange es schmeckt. unbedingt an uns, wenn und erst dann, wenn das flüchtige Glück für die Nachwelt
SPIEGEL: Sie klingen wie ein etwas schiefgeht. Der Zufall dokumentiert war, durfte serviert und gegessen werden.
vorbildlicher Physiker: ein ist in gewisser Weise das Irgendwo muss es noch Hunderte dieser Bratenporträts
rationaler Mensch, der nicht Gegenteil des Schicksals, an geben. Zweifellos hätte Großvater, wenn man ihm den
an Zufall und Glück glaubt. das die Menschen in der An- Katalog vorgelegt hätte, zu jedem Braten etwas sagen
Aigner: Oh, an Zufälle glaube tike glaubten. Psychologisch können. Aber natürlich wurden diese Bilder nie in Alben
ich schon. Das Leben ist ein betrachtet haben sie jedoch geklebt, sie erfüllten nicht den geringsten Zweck, darin
Glücksspiel. Wer sich ein- eine ähnliche Funktion: Sie lag ja genau der Spaß. Diese kuriose und völlig sinnfreie
redet, die Zukunft vorauspla- entlasten. Ödipus war nicht Praxis meines Großvaters ist nicht etwa ausgestorben,
nen zu können, liegt falsch. selbst schuld an seiner Situa- sie hat die Welt erobert. An manchen Tagen kommt es
SPIEGEL: Einstein sagte: „Gott tion. Für ihn war es einfach einem vor, als würde die Digitalisierung der Welt nur die-
würfelt nicht!“ dumm gelaufen. tob sen drei Zwecken dienen: dem Lobpreis der Herrschaft,
Aigner: Da irrte Einstein. die Hauskatzen über uns Menschen ausüben. Der leicht
Florian Aigner
SPIEGEL: Die Welt ist kein sadistischen Dokumentation kindlichen Ungeschicks.
System von Ursachen und Der Zufall, das Universum und Und, drittens, der Abbildung von Dingen, die wir gleich
Du. Die Wissen-
Wirkungen? schaft vom Glück verputzen werden. Vor, während und nach Festtagen do-
Aigner: Die Chaostheorie und Brandstätter; miniert eindeutig letztere Kategorie, wobei es heute
die Quantenphysik haben ge- 248 Seiten; kaum noch Lammhirn, Schweinsfüße oder frittierte Sing-
F1ONLINE
zeigt, dass es so einfach nicht 22,90 Euro. Er- vögel zu sehen gibt, sondern glutenfreies Sushi oder vega-
ist. Die Berechenbarkeit der scheint am 9. Januar. nen Kuchen. Aber das Prinzip bleibt dasselbe – und das
ist eine sehr gute Nachricht. Denn so ein leichter Spleen,
ein absurdes Hobby oder ein ordentlicher Tick helfen uns
durch komplizierte Zeiten. Wer den Winter über an einer
Science-Fiction-Film tion-Romanze Passengers Nachbildung eines Modellschiffs sitzt oder Wanderstöcke
Verschraubt (Start: 5. Januar) lässt er den schnitzt, fühlt sich im Frühjahr mental erquickt.
Boy Chris Pratt mit Hammer Es war viel los im vergangenen Jahr, Hirn und Hände
„Boy meets girl“ ist als Grund- und Schraubenschlüssel brauchen etwas Relevanzfreiheit. Das fotografische Ab-
idee für einen Film eigentlich 116 Minuten lang durch ein bilden von Speisen vor ihrem Verzehr ist im Sinne des
eine sichere Nummer, zumal Raumschiff stolpern, als wäre französischen Soziologen Pierre Bourdieu besonders zu
wenn das Girl Jennifer er Bob der Baumeister. empfehlen. Bourdieu brachte die Fotografie auf die Kurz-
Lawrence heißt. Wie man die Wobei den Darstellern kein definition, sie sei das Gegenteil von Selbstmord: Man
Nummer unter dem Einsatz Vorwurf zu machen ist, außer macht Fotos in der Familie, auf Festen, auf Reisen. Vom
vieler Violinen vergeigen dass sie vor ihrer Verpflich- Suizid gefährdet sind hingegen Personen, die all das nicht
kann, zeigt Regisseur Morten tung vielleicht das Drehbuch mehr haben und machen. Das Handybild vom Essen
Tyldum: In der Science-Fic- hätten lesen sollen. es ist somit ein Dokument der Zufriedenheit. Dass in diesen
Tagen Millionen von Speisebildern durch alle verfüg-
baren Datenleitungen übermittelt werden, erinnert daran,
dass es heute mehr Menschen besser geht als je zuvor.
Das größte Glück der größten Zahl – wir sind auf dem
Weg der Realisierung dieses liberalen und demokrati-
schen Ideals aus dem 18. Jahrhundert weit gekommen. Es
begann mit philosophischen Debatten und Revolutionen
und findet nun sein Resultat in bunten Bildern von
selbst gebackenen Zimtschnecken. Menschliches Glück
ist meistens uncool, oft sogar etwas lächerlich. Aber
SONY PICTURES
Pratt, Lawrence in „Passengers“ An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.
Kultur
Kulturliebhaber Schäuble
„Man unterschätzt gelegentlich die Abgeordneten“
Kultur
Jubilar Schäuble, Bläser der Berliner Philharmoniker*: „All die Sorgen nach ein paar Takten vergessen“
Kultur
Im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control); sie Kulturstaatsministerin wurde. Über den
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt
weiß man, dass er gern Klavier spielte,
Belletristik Sachbuch über seinen Nachfolger Helmut Kohl war
so etwas aber nicht zu hören.
1 Joanne K. Rowling / John Tiffany / 1 Peter Wohlleben Schäuble: Vielleicht hat sich mittelbar et-
Jack Thorne Das geheime Leben was verändert, einfach weil in einer Stadt
Harry Potter und das der Bäume wie Berlin das Angebot größer ist. Das
verwunschene Kind Ludwig; 19,99 Euro Schöne an Berlin ist ja, dass man unheim-
Carlsen; 19,99 Euro lich viel mitnehmen kann. Früher hätte ich
Ein Theaterstück auf Platz eins Das meistverkaufte Sachbuch mir nicht träumen lassen, dass ich einmal
der Jahresbestsellerliste: 2015 hält sich auch 2016 so oft die Berliner Philharmoniker hören
Das kann nur gelingen, wenn an der Spitze. Bestsellerförster könnte. Helmut Kohl hatte keinen aus-
der Name Joanne K. Rowling Wohlleben ist ausdauernd
auf dem Buchumschlag steht wie eine Eiche geprägten musikalischen Sinn, das stimmt,
aber er hatte sehr viel Interesse für Malerei
2 Sebastian Fitzek 2 Eckart von Hirschhausen Wunder und natürlich für Geschichte. Und Helmut
Das Paket Droemer; 19,99 Euro wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro Schmidt war typisch für die Generation,
3 Peter Wohlleben Das Seelenleben die ganz jung in den Krieg eingezogen wor-
3 Jojo Moyes Ein ganz
der Tiere den ist und im Schnellkurs erwachsen
neues Leben Wunderlich; 19,95 Euro Ludwig; 19,99 Euro
werden musste. Denen ist ja die Jugend
4 Elena Ferrante Meine geniale 4 Dalai Lama Der Appell des Dalai gestohlen worden von den Nazis, die ha-
Freundin Suhrkamp; 22 Euro Lama an die Welt Benevento; 4,99 Euro ben dann einen Hunger gehabt nach all-
dem, was sie versäumt hatten. Helmut
5 Juli Zeh 5 Bruce Springsteen
Schmidt hat im Alter, als er nur noch
Unterleuten Luchterhand; 24,99 Euro Born to Run Heyne; 27,99 Euro
schlecht hören konnte, oft gesagt, das
6 Nele Neuhaus 6 Rainer M. Schießler Himmel, Schlimmste für ihn sei, dass er keine Musik
Im Wald Ullstein; 22 Euro Herrgott, Sakrament Kösel; 19,99 Euro mehr hören könne. Man unterschätzt ge-
legentlich die Abgeordneten. Viele von de-
7 Elke Heidenreich 7 Andrea Wulf Alexander von Humboldt nen können doch nicht nur schreiben und
Alles kein Zufall Hanser; 19,90 Euro und die Erfindung der Natur lesen, sondern haben auch einen gewissen
C. Bertelsmann; 24,99 Euro
Bildungshintergrund.
8 Charlotte Link SPIEGEL: Geben Sie und die Kanzlerin sich
Die Entscheidung Blanvalet; 22,99 Euro 8 Wilhelm Schmid
Gelassenheit Insel; 8 Euro gegenseitig Kulturtipps?
9 Volker Klüpfel / Michael Kobr Schäuble: Wir haben keinen engen persön-
Himmelhorn Droemer; 19,99 Euro
9 Thilo Sarrazin lichen Kontakt, aber so etwas kommt
Wunschdenken DVA; 24,99 Euro schon vor. Vor Kurzem hat die Staatsoper
10 Simon Beckett die „Elektra“-Inszenierung von Patrice
Totenfang 10 Christian Hartmann / Thomas
Wunderlich; 22,95 Euro
Vordermayer / Othmar Plöckinger Chéreau im Schiller Theater gezeigt, Frau
11 Benedict Wells Vom Ende u. a. (Hg.) Hitler, Mein Kampf – Merkel war bei der Premiere gewesen, am
der Einsamkeit Diogenes; 22 Euro Eine kritische Edition nächsten Morgen haben wir uns getroffen,
Institut für Zeitgeschichte; 59 Euro und sie sagte: Herr Schäuble, Sie müssen
12 Jonas Jonasson Mörder Anders die „Elektra“ hören, die wird nur noch
und seine Freunde nebst dem einen 11 Benjamin von Stuckrad-Barre drei- oder viermal in dieser Besetzung ge-
oder anderen Feind Panikherz Kiepenheuer & Witsch; 22,99 Euro spielt. Wenn sie so etwas lobt, dann ist es
Carl’s Books; 19,99 Euro
12 Andreas Englisch Der Kämpfer im wirklich gut. Meine Frau und ich sind zwei
Vatikan C. Bertelsmann; 19,99 Euro
Tage später in die Staatsoper gegangen, es
13 Matthias Brandt Raumpatrouille war unglaublich.
Kiepenheuer & Witsch; 18 Euro
13 Roger Willemsen SPIEGEL: Die klassische Musik gilt als das
14 Dörte Hansen Wer wir waren S. Fischer; 12 Euro Wahre, Schöne und Gute. Sie macht gleich-
Altes Land Knaus; 19,99 Euro wohl die Menschen nicht besser. Als be-
14 Wolf Biermann Warte nicht rühmte Beispiele müssen immer auch die
15 Siegfried Lenz Der Überläufer auf bessre Zeiten! Propyläen; 28 Euro
schlimmsten Politiker herhalten. Stalin war
Hoffmann und Campe; 25 Euro
15 Carolin Emcke ein Schlächter, ging aber dauernd ins
Gegen den Hass S. Fischer; 20 Euro Bolschoi, um Opern zu hören. Hitler war
16 Joachim Meyerhoff
Wagnerianer.
Ach, diese Lücke, diese entsetzliche 16 Ildikó von Kürthy Schäuble: Dafür kann aber der Wagner
Lücke Kiepenheuer & Witsch; 21,99 Euro Neuland Wunderlich; 19,95 Euro nichts.
17 Jan Weiler Im Reich der 17 Horst Lichter Keine Zeit für SPIEGEL: Aber warum ist es so? Warum hal-
Pubertiere Kindler; 12 Euro Arschlöcher! Gräfe und Unzer; 16,99 Euro ten die Künste, die für das Schöpferische
im Menschen stehen, ihn nicht ab von der
18 Bodo Kirchhoff Widerfahrnis 18 Navid Kermani Ungläubiges Zerstörung? Ist das eine Frage, auf die es
Frankfurter Verlagsanstalt; 21 Euro Staunen C. H. Beck; 24,95 Euro keine Antwort gibt?
19 Heinz Strunk Der goldene 19 Hardy Krüger Was das Leben Schäuble: Es gibt eine. Die ist von Imma-
Handschuh Rowohlt; 19,95 Euro sich erlaubt Hoffmann und Campe; 20 Euro nuel Kant. Der hat gesagt, der Mensch sei
aus krummem Holz geschnitzt.
20 Henning Mankell Die schwedischen 20 Tim Marshall Die Macht der SPIEGEL: Herr Finanzminister, wir danken
Gummistiefel Zsolnay; 26 Euro Geographie dtv; 22,90 Euro Ihnen für dieses Gespräch.
118 DER SPIEGEL 1 / 2017
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Kultur
Letzte Lockerung W
enn die Welt schon auseinander-
zufallen scheint und die Zukunft
so unsicher wirkt, ist es beruhi-
gend, dass wir auch das neue Jahr wieder
mit einer felsenfesten Gewissheit, einer
Literatur Martin Walser wird bald 90 – mit seinem neuen herrlichen Routine, der Wiederkehr des
Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“ Immergleichen beginnen können: mit
fliegt er vor unseren Augen in die Unerreichbarkeit. einem neuen Walser. Auch wir Kritiker
stehen gern auf festem Grund. Ständig
neue Sensationen um uns herum, Begeis-
terungen, Enttäuschungen, Überraschun-
gen, neue Stars, immer neue Entdeckun-
gen der Saison. Das nervt doch. Da ist
Walser eine sichere Sache. Gegengift der
Beharrungskräfte. Einer bleibt. Einer
schreibt. Und wir wissen Bescheid.
Nur der Ankündigungstext des Rowohlt-
Verlags beunruhigt etwas: „So nah am
Rand der Formlosigkeit, ja so entfesselt
hat Martin Walser noch nie geschrieben.
Das fulminante Porträt eines Menschen,
ein Roman, wie es noch keinen gab.“ Das
klingt nun allerdings schlecht. „Noch nie
geschrieben“? „Wie es noch keinen gab“?
Was soll das denn? Ist die Marke kaputt?
Muss sich jetzt auch noch Martin Walser
neu erfinden?
Doch das erweist sich schnell als leeres
Gerede. Der neue Roman „Statt etwas oder
Der letzte Rank“ ist ein höchst verlässli-
cher, echter Walser. Darin: ein schwanken-
des Ich zwischen den beiden Polen seiner
Welt. Der Südpol, also Sehnsuchtspol:
Frauen, Busen, Vögeln. Der Nordpol, also
Schreckenspol: Kritiker, Feinde und der
Feuilletongewaltige. Zwischen diesen Wal-
ser-Weltmagneten wird der schwankende
Held hin und her gerissen, wie immer
schon. Er weiß es ja. All das gehört zu ihm
für alle Zeiten. Vor allem die Gegner: „Die
Feinde und ich – wir waren ein Team. Zur
Unterhaltung der Welt.“
Wie in einem Kasperltheater der Ewig-
keit lässt er sie alle noch einmal auftreten.
Zunächst den sehr Reich-Ranicki-ähnlichen
„Feind“: „Er hatte es satt, sich wieder über
mich ärgern zu müssen. Ihm schmeckte
sein Kaffee, sein Wein, und dann tauchte
ich wieder auf mit einer Aktion, einer Mei-
nung, gar mit einem Buch.“ Klar, er fühlt
sich ganz vorurteilsfrei, dieser Feind,
nimmt jedes neue Buch, als könnte es dies-
mal wirklich großartig sein: „Er würde sich
doch freuen, wenn er sich endlich einmal
freuen könnte über etwas, was von mir
kam. Das formulierte er. Umso krasser die
Enttäuschung, dass, was ich war und mach-
te, wieder nichts war als ein Anlass zu Är-
ger und Verdruss.“ Der Icherzähler weiß,
jede Handlung, jeder Text gegen ihn stärkt
das Selbstbewusstsein des Kritikers. Er,
SLAVICA / DER SPIEGEL
mich selbst. Könnte es sein, dass das, was seine Füße nicht mehr bis zum Boden
ich als die in mich eingebaute Beobachtung reichten, also in der Luft baumelten“. Ein
erlebte, einfach eine allmähliche Verfesti- kleiner Mann, von den Vorwürfen seiner
gung all dessen war, was meine Feinde im Feinde zusammengeschrumpft. Doch das
Lauf der Jahrzehnte gegen mich prakti- Beinebaumeln, das Kleinsein, Sich-klein-
ziert hatten?“ Fühlen, es ist auf der anderen Seite der
Und könnte es also sein, schreibt man Raketenantrieb des Lebens und Schreibens
als Leser innerlich fort, dass diese stets für den Erzähler. „Du warst dir zu wenig“,
verfeinerte Selbstbeobachtungsgabe mit beschreibt er sich. „Du hast geglaubt, nicht
den Jahren zu immer besseren Büchern leben zu können, wenn nicht jemand lie-
geführt hat, womöglich? Er jedenfalls, der bend an dich dachte, und zwar jemand,
Erzähler, so wie er sich heute sieht, den du auch lieben konntest.“ Er liebt, er
schreibt über sich: „Ich würde gerne in die sehnt, er bewundert, er schenkt sich weg,
Welt hinausposaunen: Wer immer sich ein- es tobt in ihm eine umfassende „Umar-
bildet, mein Feind sein zu müssen, er darf mungsbereitschaft“. Zuflucht vor den
zur Kenntnis nehmen, dass ich nicht mehr Feinden, Zuflucht vor der Welt, zwischen
KARSTEN DE RIESE
einholbar bin.“ Und weiter: „Ich habe den Bergen der Sehnsucht, eine „hatte
mich in jahrzehntelanger Anstrengung aus wirklich zu große Brüste, die kein bisschen
der Erreichbarkeit entfernt.“ zu groß waren. Bei diesen Brüsten bleiben.
Ein schwebender Mann. Den aber die Um Asyl bitten“.
Erinnerungen an Feinde von einst immer Schriftsteller Walser um 1965 Ein Mann macht sich frei. Letzte Wahr-
wieder auf den Boden der Schrecklichkei- „Kein bisschen zu groß“ heiten scheinen plötzlich vor ihm auf wie
ten zurückholen. Auch im Politischen ha- ein Erkenntnisflash: „Offenbar war es
dert er mehr mit der ganzen Welt als mit nach und nach und nach. Sich immer mit nicht erlaubt, zwei Menschen zugleich zu
sich. Immer auf der falschen Seite gestan- den Augen seiner Feinde sehen zu müssen, lieben.“ Wer hat jetzt das wieder erfun-
den zu haben, das wirft er der Welt vor. das ist sein Fluch. Sie haben diese Geg- den, um den Erzähler in eine moralisch
Mit verachtender Bewunderung schaut er nerschaft in ihn implementiert wie einen zweifelhafte Ecke zu drängen? „Das ganze
auf die Blitzumwandler ihrer eigenen Bio- Chip der Selbstverkleinerung. Wie schnei- Treue-Brimborium ist nichts anderes als
grafie, die Familie Weizsäcker ist ihm Sym- den wir den raus? Ihm hilft in diesem Buch die kulturelle Verbrämung einer barbari-
bol des glanzvollen Lebens in allen Syste- die Ironie. Und ihm hilft in diesem Buch schen Strafroutine.“
men, „Familien, die dem Nationalsozialis- eine Frau, sie trägt den Namen Regina von Martin Walser wird im März des neuen
mus rühmlich dienten, als Staatssekretär Coeli und die Züge der einstigen Literatur- Jahres 90 Jahre alt. Vor 61 Jahren ist sein
zum Beispiel, die in der folgenden Demo- chefin der „FAZ“, Felicitas von Lovenberg. erstes Buch erschienen. Vor 59 Jahren
kratie den Bundespräsidenten stellten“. Sie, die warmherzige Kritikerin, über die sein erster und bester Roman „Ehen in
Als besonders flexiblen Immer-richtig- er schreibt, „ihre Urteile waren immer Philippsburg“. Er war politisch mal weit
Steher betrachtet er Thomas Mann, den auch von der Sonne des Gefühls beschie- links und mal auch rechts, in der Summe
Schnellwechsler vom Antidemokraten in nen“, lehrt ihn, das Leben und die Angriffe des Lebens wohl letztlich in der deutschen
antidemokratischen Zeiten zum Super- nicht so ernst zu nehmen. Sondern als ein Mitte. Er meinte immer, besonders viele
demokraten in der Zeit danach. Der Ich- Spiel. Auch der Feuilletongewaltige selbst, Feinde zu haben, doch er war vor allem
erzähler hält es da eher mit Heinrich so erklärt sie dem vom Angriff Zerschmet- ängstlich. 1972 hat er das letzte Kapitel
Mann, der „lag immer falsch“. Mit sich terten am Telefon, nehme das alles gar seines Romans „Die Gallistl’sche Krank-
selbst hat dieser Erzähler vor allem großes nicht so ernst. Schon am Montag nach der heit“ „Es wird einmal“ genannt. Darin
Mitleid. Einer wie er steht eben immer auf Attacke habe er dies in der Redaktion „mit hofft der Held Gallistl, eines von unzähli-
der falschen Seite, weil er „mit sich selbst einer Mischung aus Jux und Protzerei“ gen Alter Egos, die sich Walser zeit seines
nicht übereinstimmt“. Er kriegt es nicht kundgetan. Und er habe seine Kollegen Lebens erfand, sich aus seiner kleinbür-
rechtzeitig mit, wenn die öffentliche Moral gebeten, ihn nicht prüfend anzusehen. „Es gerlichen Abhängigkeit lösen zu können.
mal wieder den Standort gewechselt hat. genüge, dass er das Gefühl habe, er brau- Im harmonischen Zusammenleben mit lie-
Er steht einfach immer verkehrt in der che bald einen Anzug um eine Nummer benswerten Gleichgesinnten. Damals war
Welt. Seine Bewunderung für die klugen größer.“ Er leide nun mal unter „Selbst- Walsers Hoffnung der Kommunismus. Von
Positionswechsler zur rechten Zeit ist in vergrößerungssucht“, da sei nichts zu der Krankheit Utopie ist auch der Er-
Wahrheit Verachtung. machen. zählerheld bis heute nicht geheilt, nur von
Auch der „Feuilletongewaltige“ von da- Der Erzähler hört sich das an, und es der Politik.
mals tritt auf, wenig verhüllt, der 2014 ge- erleichtert ihn, aber die Wörter bleiben Das letzte Kapitel seines neuen Romans
storbene Herausgeber der „FAZ“, Frank mächtig. Später sitzt er am Schreibtisch, ist überschrieben mit „Friedensfeier, aber
Schirrmacher, der Walser einst, vor Erschei- wundert sich, als er plötzlich merkt, „dass bald“. Es schreibt hier ein Erschöpfter,
nen seines Schlüsselromans über Marcel erschöpft von all den Kämpfen mit sich
Reich-Ranicki, „Tod eines Kritikers“, scharf selbst: „Dass ich nichts mehr wissen will
angegriffen und ihm die Verwendung anti- von den Quartieren, in denen das Recht-
semitischer Klischees vorgeworfen hatte. haben blüht, ist schon fast ein Verbrechen.
Die „Autorität selbst“, heißt er hier. Und
über diese: „Was die schrieb, durfte nicht Er meinte immer, Umarmen, streicheln, küssen, aber alle.
Alle Fallensteller, Untersteller, Verdächti-
hinterfragt werden.“ Und: „Nicht mehr an
den zu denken war nicht möglich.“ Im Ro-
besonders viele Feinde ger. Mir ist zum Umarmen keiner zu
schrecklich. Zum Unterscheiden bin ich
man lautet die Überschrift der Feuilleton- zu haben, doch er nicht blind genug. Wie jeder werd ich
großattacke: „Das deutsche Desaster“.
Der Erzähler ist im Gefängnis der Wort-
war vor allem ängstlich. durch Zustimmung schön. Zur Friedens-
feier komm ich, sagt mir, wohin.“
macht seiner Gegner. Die Wörter wirken Volker Weidermann
Die exklusive
Kino-Preview!
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Berlin
Filmtheater am Friedrichshain
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Beginn: 20.00 Uhr
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Frankfurt am Main
Cinema
DIE BLUMEN VON GESTERN Roßmarkt 7
Toto Blumen (Lars Eidinger) ist Histo- Beginn: 20.00 Uhr
riker. Als solcher versteht er keinen Spaß. Hotline 0900 3242040-02*
Weder im Allgemeinen noch im Beson- Hamburg Zeise Kinos
deren, wenn seine Kollegen versuchen, Friedensallee 7–9
aus einem Auschwitz-Kongress ein Beginn: 20.00 Uhr
werbefinanziertes Medienevent zu Hotline 0900 3242040-03*
machen. Als ihm sein Vorgesetzter (Jan
Josef Liefers) auch noch die junge und Hannover
sehr nervige französische Praktikantin Kino am Raschplatz
Zazie (Adèle Haenel) vor die Nase setzt, Raschplatz 5
ist Toto am Ende. Doch Jammern hilft Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 3242040-04*
nicht – erst recht nicht bei seiner Frau
(Hannah Herzsprung), die allmählich Köln Cinenova
genug von Totos latent schlechter Laune Herbrandstraße 11
hat. Und so macht er weiter seine Arbeit, Beginn: 20.00 Uhr
unterstützt von der überdrehten, exzent- Hotline 0900 3242040-05*
rischen Zazie. Die scheint jedoch ihre
ganz eigene Agenda zu haben – eine Leipzig Passage Kinos
Agenda, die eng mit Totos Herkunft und Hainstraße 19a
Familie verknüpft ist … Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 3242040-06*
DIE BLUMEN VON GESTERN wurde
unter anderem beim Tokyo Film Festival München City Kinos
Sonnenstraße 12
als „bester Film“ und von der Filmbewer- Beginn: 20.00 Uhr
tungsstelle mit dem „Prädikat besonders Hotline 0900 3242040-07*
wertvoll“ ausgezeichnet: „Ein meister-
licher Film, stilsicher zwischen Komik Nürnberg Cinecittà
und Tragik … Aberwitzig, anspruchsvoll, Gewerbemuseumsplatz 3
genial.“ Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 3242040-08*
ar www.die-blumen-von-gestern.de
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Stuttgart
nuar Metropol
Kinostart am 12. Ja Bolzstraße 10
Wählen Sie die Hotline eines der zehn aufgeführten Beginn: 20.00 Uhr
Kinos. Sie erhalten eine vierstellige Eintrittsnummer Hotline 0900 3242040-09*
und können Ihre Karten bis kurz vor Beginn der Vorführung
QR-Code scannen abholen. Bei einer ausgebuchten Veranstaltung in Ihrer * Mondia Media, 0,69 €/Min. aus dem dt. Festnetz;
und Trailer ansehen. Stadt erhalten Sie eine entsprechende kurze Ansage. Mobilfunk ggf. abweichend.
KaelDesu deutschlernmaterialien.blogspot.com
Kultur
E
rst starb Lemmy Kilmister, Gründer und Sänger der „Street Fighting Man“ von den Rolling Stones gewünscht
Band Motörhead, da hatte 2016 noch gar nicht an- habe. „Einer der letzten Live-Rock-’n’-Roller der deut-
gefangen, am 28. Dezember 2015, im Alter von 70 schen Politik“, wie er sich nach dem Ende seiner Politi-
Jahren. Dann traf es David Bowie, das war am 10. Januar, kerlaufbahn selbst nannte. 1968 war Fischer 20 Jahre alt.
er wurde 69 Jahre alt. Prince starb am 21. April, mit 57. Seine großen Tage fallen zusammen mit der Ära des Pop.
Leonard Cohen war immerhin 82 Jahre alt, als er am Das ist seine Welt von gestern. Und mit ihr dürfte es
7. November starb. Und nun George Michael, 53. Gestor- tatsächlich langsam vorbei sein.
ben ausgerechnet am 25. Dezember, einem Tag, an dem Was war Pop in seiner großen Zeit? Ein heroisches Pro-
die Radiosender fast weltweit seinen Weihnachtsevergreen jekt. Ein Plan zum Umbau der Welt, ein Bruch mit den
„Last Christmas“ gespielt haben dürften. Werten der Elterngeneration – und auch der letzte, ent-
Ist noch jemand übrig? Mag der Tod eines Popstars scheidende Schub im langen Säkularisierungsprozess des
auch den gleichen schnöden biologischen Gesetzen folgen Westens. „Imagine there’s no heaven“, sang John Lennon.
wie der Tod anderer Menschen – angesichts der Menge Wen kein ewiges Leben im Jenseits erwartet, dem bleibt
der Poptoten der vergangenen Monate drängt sich der nur das ewige Leben auf dieser Welt. Niemand verkörpert
Eindruck auf: Hier geht es nicht nur um Einzelschicksale, das so gut wie Mick Jagger, die Idealfigur des Rock,
hier endet eine ganze Epoche. Die Popgeneration wird scheinbar für immer Teenager geblieben, Vorbild für eine
mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert. ganze Generation, die auch mit 60 oder 70 noch so tut,
„Forever Young“ hatte Bob Dylan einst gesungen und als wäre sie 20.
damit der Kulturrevolution, die sich mit dem Siegeszug Der eigentliche Protagonist des Pop war der Teenager.
von Rock und Pop verband, ihr Motto geliefert. Sie war ge- In den Fünfzigern betrat er die Bühne der westlichen Welt,
tragen vom Glauben an ewige Jugend. Bob Dylan hat sich mit der demografischen Kraft der geburtenstarken Jahr-
die entsprechende, die jugend- gänge. Erst tauchte der Begriff in den USA auf, dann in
liche Verweigerungsgeste bis Europa. Der Teenager gab der Popkultur ihre Themen:
Was war Pop in ins Alter bewahrt. Was, wenn Sex, Rebellion, Jungsein als Lebenseinstellung. Wenn
1 2
DYLAN MARTINEZ / REUTERS
ULLSTEIN BILD
3 4 5
1 Lemmy Kilmister 2015 2 David Bowie 1992 3 Prince 2007 4 Leonard Cohen 2013 5 George Michael 1984
beteiligt, im Videoclip für „Freedom!“ hatten die Super- knüppelschwingender Polizist: eine schwule Sehnsuchts-
models Naomi Campbell, Linda Evangelista, Tatjana Pa- figur.
titz, Christy Turlington und Cindy Crawford 1990 einen Mitte der Neunzigerjahre wurde der Traum von der
gefeierten gemeinsamen Auftritt. Wham! hieß seine Band, ewigen Jugend im Silicon Valley weitergeträumt. Dort
ein wunderbar selbstreferenzieller Name wie die Sprech- begann eine andere Generation von Nerds, an ihrer
blase aus einem Comicstrip oder einem Bild des Pop- Vision der Welteroberung zu arbeiten. Ihnen ging es nicht
Art-Künstlers Roy Lichtenstein – in ihren besten Mo- mehr um die verführerische Geschichte, die sich in den
menten klang sie auch so wie in dem unwiderstehlichen dreieinhalb Minuten eines Popsongs erzählen lässt, den
„Wake Me up Before You Go-Go“. Michael musste sich Sound, der im Ohr bleibt, und die flüchtige Unsterblich-
die Formensprache des Pop nicht mehr erobern, sie war keit der Charts, Jungsein als bloßes Lebensgefühl. Nein,
bereits da. Er musste sie sich nur zu eigen machen. Auf sie wollten Ernst machen mit dem ewigen Leben: Die
dem Höhepunkt ihres Erfolgs lösten Wham! sich 1986 Programmierer spielen mit Zahlenkolonnen, die Geschich-
auf. ten, die sie inspirieren, finden sie in der Science-Fiction-
Kultur. Im Silicon Valley träumt man davon, dass sich
M
ichael hatte als Solokünstler Erfolg, mit „I Want die Seele eines Tages auf die Festplatte eines Supercom-
Your Sex“ 1987 einen Welthit. Als sein Lebens- puters übertragen lassen wird. Die ewige Jugend, das
gefährte Anselmo Feleppa 1993 starb, verstumm- ewige Leben, ist zu einer Frage geworden, die Wissen-
te Michael für drei Jahre – um schließlich das Album „Ol- schaftler beschäftigt.
der“ zu veröffentlichen, eine der besten Popplatten der George Michael war die ewig währende oder die zu-
Neunzigerjahre. Ein Album über den Verlust, das Weiter- mindest fast ewig währende Jugend nicht vergönnt. Auf
machen und das selbstbestimmte Leben: Im Song „Fast- den letzten Fotos wirkte er aufgeschwemmt. Wenn man
love“ betrauert er eine verlorene Liebe und lockt mit in den vergangenen Jahren von ihm hörte, war er wieder
dieser Geschichte gleichzeitig eine neue Eroberung in mal bekifft am Steuer eines Autos erwischt worden.
seinen BMW. Natürlich sind dies schwule Geschichten, Sie haben keine Erfahrung ausgelassen, Lemmy, Bowie,
die er da erzählt. 20 Jahre später ist kaum noch vorstell- Prince, Cohen, Michael, Joschka. Ein Rebell zu sein. Die
bar, dass diese Songs einmal anders verstanden werden Macht zu haben. Treu zu sein. Untreu zu sein. Drogen zu
konnten. Aber so weit war die Welt damals noch nicht. nehmen. Wieder nüchtern zu werden. Zu schwärmen und
Michaels Coming-out folgte, nachdem er 1998 von einem zu argumentieren. Steine zu schmeißen und Farbbeutel
Undercoverpolizisten in Beverly Hills auf einer öffentli- abzubekommen. An eine Sache zu glauben, eine Sache
chen Toilette wegen „unzüchtigen Verhaltens“ festgenom- zu verraten.
men wurde. Für den Videoclip des nach seiner Verhaftung Das ewige Leben war ihr Projekt. Rentner zu werden
veröffentlichten Songs „Outside“ verkleidete er sich als gehörte nicht dazu. I
Kultur
A
ls der amerikanische Fernsehsender ABC den Poli- Höllenmächten paktiert; mit einem Topgeneral, der sofort
tiker Tom Kirkman im September dieses Jahres einen Krieg anzetteln möchte.
dabei zeigte, wie er im Jogginganzug vereidigt Allerdings ist der Präsident in „Designated Survivor“
wurde, da war seine Story noch ein Seriengruselmärchen kein großsprecherischer Populist, sondern ein zögerlicher
unter vielen. Der eher windige Volksvertreter Kirkman, Weichling. Seine Geschichte ist die eines Mannes, dem
gespielt von Kiefer Sutherland, wird in der Serie „De- die Verblüffung über die ihm zugefallene Rolle ins Gesicht
signated Survivor“ zu seiner eigenen Überraschung Prä- geschrieben steht. Er sieht aus wie ein Hasenfuß, als seine
sident der Vereinigten Staaten. Der Grund dafür ist ein Mitarbeiter ihm den Atomkoffer vorführen, der für Krisen-
Terroranschlag: Ein Bombenattentat hat das Kongress- fälle im Gepäck des Präsidenten mitgeschleppt wird –
gebäude in Washington zerstört, während der „State of ohne roten Knopf und „nicht ganz wie im Kino“, wird er
belehrt. Kirkman hat Mühe, sein Ka-
binett zu rekrutieren. Er wirkt unbe-
lehrbar in Situationen, die über Leben
und Tod entscheiden. Erst blafft er
störrisch: „Wir machen es auf meine
Weise!“ Dann murmelt er kleinlaut:
„Falls es nicht funktioniert, machen
wir’s auf Ihre.“
So schafft es Kirkman, dass mindes-
tens die Hälfte der US-Amerikaner
überzeugt ist: Wir haben eine Null
zum Präsidenten, die uns alle in den
Abgrund befördern wird.
„Designated Survivor“ präsentiert
einen Helden, dessen Arbeitsalltag
von himmelschreiender Überforde-
rung geprägt ist. Wenn Hacker die Re-
gierungscomputer attackieren, wenn
Staatschefs ihn am Telefon beschimp-
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4
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Die 90
er gaben sich als das Jahrzehnt der Chancen –
die Mauer war weg und fast alles möglich. Aber dann: Krieg auf dem Balkan und in Deutschland
der Hass derer, die sie absolut nicht wollen, die
BU NTE REPUBLIK
Von Alexander Smoltczyk
D
as Jahrzehnt beginnt in Bonn und Alles geht. Es beginnt ein Jahrzehnt, in Blick, so schmachtet er los, der erotische
endet in Berlin. Aber es muss fast dem Nationen noch ihre Restbedeutung Imperialist aus dem goldenen Westen“,
über die gesamte Länge gehen, be- haben. Und wenn wir jetzt „ein ganz nor- mäkelt der Feuilletonist des SPIEGEL.
vor die Deutschen sich vom „ewigen Kanz- males Volk“ wären, wie Martin Walser es Dennoch ist Lindenberg einer der ersten
ler“ lösen können. Dann verschwindet bald fragen wird? Prompt bricht eine Video- gesamtdeutschen Künstler – und es bis heu-
Helmut Kohl so leise, wie das ganze Jahr- wand zusammen, als zu viele vereint zur te geblieben. Seine Tournee heißt: „Bunte
hundert sich auflöst, ohne Millenniums- Quadriga hochklettern wollen. Republik Deutschland“.
Blackout und als ob nichts geschehen sei. Die Westberliner Bundessenatorin hat Es gibt Handys, aber sie sind noch nicht
Dabei ist die Republik im mächtigen erklärt, jetzt brauchte man eigentlich auch smarter als ihre Besitzer. Zeitungen und
Schatten Kohls in ein buntes Durcheinan- keine Turnhallen mehr für die Flüchtlinge Verlage verdienen noch viel Geld mit Pa-
der geraten. Und wenn sich in Hoyerswer- zweckentfremden – sie redet von DDR- pier. Es gibt die D-Mark, aber eingebunden
da, Mölln und Rostock-Lichtenhagen noch Bürgern. in das Europäische Währungssystem. Hin-
andere Schatten zeigen, dann sind das Der beliebteste Politiker der Deutschen term Horizont geht’s weiter. Das kann nie
wohl nur Überbleibsel, keine Menetekel. ist Hans-Dietrich Genscher, der ewige zu Ende sein. Das ist die Stimmung dieser
Die Mauern sind weg, und das ist auch Außenminister. Es folgen Rita Süssmuth, Jahre. Wird schon, Deutschland.
gut so. So das Grundgefühl. Es lässt sich Lothar Späth und Hans-Jochen Vogel. Von 25. Juli 1991. Aber wie kann es weitergehen,
noch weitgehend ungestört wirtschaften im Merkel, Gabriel, Seehofer etc. ist noch kei- wenn welthistorisch Happy End angesagt
D-Mark-Land. Von Chinas Macht ist noch ne Spur in der SPIEGEL-Liste derjenigen, ist? Francis Fukuyama hat gerade das
wenig zu spüren. Wirtschaftlich sind die denen in Zukunft „eine wichtige Rolle“ ge- „Ende der Geschichte“ ausgerufen. Es gebe
Neunziger das, was der AfD viele Jahre spä- wünscht wird. keine Gegensätze mehr, keine Dramen
ter einmal als Zukunft vorschweben wird. 6. Januar 1990, Suhl, Stadthalle. Mit einem zwischen Ost und West. Ein sozialdemo-
Irgendwann werden auch die Landschaf- dahingenuschelten „Hallo Suhl“ startet kratischer Mainstream von Parlamentaris-
ten im Osten schon noch blühen, und die Udo Lindenberg seine erste DDR-Tournee. mus und Marktwirtschaft hat gesiegt, und
Kriege weit hinten auf dem Balkan sind Für 20 000 Ostmark Gage pro Auftritt. noch im letzten Winkel setzt sich eine
wie Pulverkaffee, unappetitlich, aber lös- „Träg kreisende Hüften und trüb verklärter schlecht gewürzte Form von Liberalismus
bar. In den USA beantragt Donald J. durch.
Trump Gläubigerschutz. Und schlimmer noch: „Es gibt keine Li-
Als die Neunziger zu Ende gehen, sitzt teratur mehr“, schreibt der junge Literat
im Amt des Äußeren als Minister ein Maxim Biller in einem Manifest. „Das, was
Frankfurter Straßenkämpfer a. D. Der Bun- heute in Deutschland so heißt, wird von
deskanzler trägt kein Zirkuszelt mehr, son- niemandem gekauft und gelesen, außer
dern italienische Anzüge, und hat als Kind von Lektoren und Rezensenten.“
selbst einmal in einer Baracke gelebt. Alles Ihren Hunger nach dem, was passiert,
geht. Rot-Grün wurde halb freiwillig, meist stillen die Leute im Kino, im Fernsehen,
jedoch gezwungenermaßen zur ersten glo- in den Reportagen der Zeitungen.
balen Regierung in Deutschland. In den Die Geschichte mag zu Ende sein, aber
Neunzigerjahren ist es so, als würde das die Geschichten liegen gleich hinter der
Land noch einmal tief einatmen, bevor Wohnungstür, auf der Straße. Es wird wie-
sich an einem 11. September des folgenden der frisch erzählt werden, in den Neunzi-
Jahrzehnts alles zum Schlechteren wendet. gern. Judith Hermann, Karen Duve, Feri-
1. Januar 1990, Berlin, 1.30 Uhr. Alles ist of- dun Zaimoglu, Ingo Schulze machen sich
fen. Während am Brandenburger Tor die an die Wiederentdeckung der Wirklichkeit,
Einheit gefeiert wird, ziehen einige Hun- Felicitas Hoppe geht an Bord eines Con-
dert Kambodschaner und Vietnamesen, tainerschiffs. Als hätte Billers Text sie auf-
Vertragsarbeiter, aus Ostberlin nach Wes- geweckt.
ten. Man kann nie wissen. Über der Qua- Mitte der Neunziger haben Lesungen
driga hängt zerzaust die DDR-Flagge, da- von Benjamin von Stuckrad-Barre, Chris-
neben hat jemand die Fahne Europas ge- tian Kracht, Rainald Goetz Ähnlichkeit
hisst. Und die Bundestrikolore ist sowieso SPIEGEL-Ausgabe 43/1998 mit Popkonzerten. In Hollywood erhält
überall. In Berlin übernimmt Rot-Grün Donald Trump die Goldene Himbeere als
128 DER SPIEGEL 1 / 2017
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schlechtester Nebendarsteller des Jahres. ehemaligen Bundespräsidenten, versuchen, hoch. Die Menschen sterben hier. Ich habe
In Hannover hat die Ärztin Ursula von der in einer „Aktion Standesamt“, das Auf- vor einer Dreiviertelstunde die Polizeiin-
Leyen promoviert, ihr Thema: „C-reakti- gebot zu bestellen. Hape Kerkeling, Alfred spektion Lütten-Klein informiert.“
ves Protein als diagnostischer Parameter Biolek werden geoutet, und die Welt bricht „Ja.“
zur Erfassung eines Amnioninfektionssyn- nicht zusammen. Die Bundestagspräsiden- „Es tut sich nichts.“
droms bei vorzeitigem Blasensprung und tin Rita Süssmuth denkt laut über steuer- „Ja, wir versuchen, alle Maßnahmen ein-
therapeutischem Entspannungsbad in der liche Gleichberechtigung von Homo-Be- zuleiten, die wir hier können.“
Geburtsvorbereitung“. Und wo sehen Sie ziehungen nach. Im Hintergrund der Tonaufnahme sind
sich in 25 Jahren, Frau Doktor? Diese Republik wird manchem zu bunt. „Sieg Heil“-Rufe zu hören. Es sind die
30. März 1992, Ulm. Am frühen Morgen kau- Da könne er ja gleich „über Teufelsanbe- wohl dunkelsten Stunden in diesem bun-
fen Mitglieder des türkisch-islamischen tung diskutieren“, entgegnet Edmund Stoi- ten Jahrzehnt. „Ein Pogrom“, sagt Wolf-
Kulturvereins in Ulm knapp tausend druck- ber, Bayerns Innenminister. Es wird noch gang Richter noch heute. Das ist „Dunkel-
frische Exemplare des SPIEGEL auf. Man bis 2007 dauern, bis sich mit Marcus Urban deutschland“, wie Joachim Gauck es spä-
wolle „Lügen“ über die Situation im kur- ein deutscher Fußballspieler outet. Aber ter nennt. Gauck, der ehemalige Pfarrer
dischen Teil der Türkei verhindern. Anlass Grenzen werden schon mal durchlöchert, aus Rostock, meldet sich in jenen Tagen
ist ein Bericht über das Vorgehen des tür- und vielleicht nährt sich auch der spätere nicht zu Wort. Er ist beschäftigt mit Stasi-
kischen Militärs gegen die Kurden. Auf Populismus von den kulturellen und poli- akten, über Heinrich Fink, Manfred Stolpe
eine geplante öffentliche Verbrennung der tischen Wagnissen dieser Jahre. und andere vergessene Namen.
Hefte wird verzichtet. 24. August 1992, Rostock-Lichtenhagen, 21.40 Die Vietnamesen aus Lichtenhagen sind
Die Neunziger sind das letzte Jahrzehnt Uhr. Der Ausländerbeauftragte der Stadt, fast alle in Rostock geblieben und betrei-
vor dem Globalisierungsschub. Eine „Schar- Wolfgang Richter, ruft die Feuerwehr an: ben Nagelstudios, Nähereien, Chinarestau-
nierzeit“, schreibt der Historiker Edgar „Ja, passen Sie auf, ich erkläre es Ihnen rants. „Dass die Angegriffenen wenige
Wolfrum, in der Tabus gebrochen werden ganz in Ruhe. Mecklenburger Allee 19, das Tage danach einen Verein zur Aussöhnung
und große Veränderungen in Gang kom- Wohnheim der Vietnamesen, dort sind 150 gegründet haben, den es heute noch gibt,
men. Ein Innehalten, bevor Finanzkrise, Menschen drin, 150 Vietnamesen. Die Po- ist eine der emotionalsten Erfahrungen
Weltklima, Krieg und Frieden sich nach lizei hat sich zurückgezogen.“ meines politischen Lebens“, sagt, wieder
vorn schieben, Probleme, die national „Ja.“ per Telefon, Wolfgang Richter heute.
nicht mehr zu bewältigen sind, wenn über- „Die Chaoten haben unten das Haus an- 12. Oktober 1993, Bocholt, Jugendhaus Ewaldi.
haupt. gesteckt.“ Zwei Jugendgangs, Skinheads und Türken,
26. Mai 1992, Köln, Standesamt. Die „lesbi- „Ja.“ haben einen Waffenstillstand geschlossen,
sche Ulknudel“ (SPIEGEL) Hella von Sin- „Die Gase kommen schon hoch, und sie aus dem noch Frieden werden soll. „Aus
nen und Cornelia Scheel, die Tochter des kämpfen sich Stockwerk um Stockwerk dem Kreislauf der Gewalt herauszukom-
men“ lohne sich immer, sagt die anwesen-
de Ministerin für Frauen und Jugend, An-
Auszug aus dem SPIEGEL vom 15. Juli 1996 gela Merkel. Sie sei hierhergereist, „um
ein bisschen Hoffnung für die eigene Ar-
beit zu bekommen“.
Die damalige Sozialarbeiterin Monika
Pacho trifft einige der Jugendlichen bis-
weilen wieder, bei Aldi an der Kasse oder
auf Elternabenden. „Das Abkommen hat
gehalten. Auch wenn die nationalistischen
Tendenzen jetzt wieder auftauchen, bei
den Kindern der Kids von damals.“
25. Februar 1994, Bonn. Der Bundestag
stimmt über die Verhüllung des Reichstags
ab und befürwortet sie mit 292 Jastimmen
(bei 223 Neinstimmen, 9 Enthaltungen und
einer ungültigen Stimme). Ausgerechnet
eine Verhüllung wird zum Emblem dieses
Jahrzehnts der Öffnungen. Mit der Aktion
rückt Berlin ins Zentrum der Republik, am
Ende des Jahrzehnts rückt dann auch die
Republik ins Zentrum von Berlin.
23. November 1994, Wien. Am Anfang ist
das Wort. Deswegen ist auch die Schluss-
empfehlung der „3. Wiener Gespräche“
zur Rechtschreibreform erst der Anfang
eines Kulturkampfs, an dessen Ende nie-
„Der pure Sex. Nur besser“ hieß die Geschichte, in der sechs SPIEGEL-Redakteure mand mehr weiß, wie „weiß“ denn nun
und -Mitarbeiter, darunter der Schriftsteller Christian Kracht, das Phänomen Love geschrieben wird.
Parade beschrieben, den jährlich in Berlin stattfindenden Straßenumzug der Techno- 9. Nissan, 5755, Berlin, Palace-Hotel (in christ-
szene: „Für die einen ist es die härteste Party der Welt, für die anderen licher Zeitrechnung 9. April 1995). Es heiraten
ist es die Versammlung einer schnell wachsenden Jugendbewegung.“ Myriam Steinmaus und Andreas Schlesin-
Die hellorangefarbene Schriftart der Zwischentitel heißt Serpentine, sie ger, eine der jüdischen Hochzeiten, die in
wurde im Technoumfeld häufig verwendet. Die ganze Geschichte lesen Berlin wieder gefeiert werden. Seit dem
Sie unter spiegel.de/spiegel/print/d-8947048.html oder in der App. Mauerfall sind Tausende Juden aus der
130 DER SPIEGEL 1 / 2017
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Ausgabe 37/1991 Ausgabe 30/1993 Ausgabe 8/1995 Ausgabe 42/1996 Ausgabe 16/1997
Ist das Boot voll? Kontroverse um ein Gen für Wird Berlin zur Superstadt, Die Rechtschreibreform? Woran scheitert die multi-
Heftige Debatten folgen Homosexualität oder droht die Pleite? „Murks mit Majonäse“ kulturelle Gesellschaft?
daktion sehr umstritten ist: „Gefährlich 31. Dezember 1997, Bonn. Der Bundeskanz- löst eine Solidaritätswelle aus. Wie Christo
fremd“. Es verkündet das Ende der multi- ler ahnt nichts Gutes. In seiner Neujahrs- mit seiner Reichstagsverpackung schafft
kulturellen Gesellschaft. Vor allem seien ansprache sagt er: „Die Welt verändert auch die Oder starke Bilder und lässt Ost
es die Konflikte mit Russlanddeutschen sich weiterhin – und zwar dramatisch. Für und West, die beiden zusammengewach-
und Türken. Deutschland geht es um Aufbruch oder senen Geschwister, auch emotional etwas
„Aufgeschreckte Bürger verlangen nach Abstieg.“ Und für ihn sowieso. Überall zusammenrücken. Wir schaffen das. So
Polizeischutz und verbarrikadieren sich in sind jetzt Sprechchöre zu hören: „Helmut wie Jan Ullrich.
ihren Wohnungen“, heißt es. „Die lokalen weg! Helmut weg!“ „Kanzlerdämmerung“ Der streift sich in den Pyrenäen das Gel-
Kriegshandlungen könnten sich zu einem titelt der SPIEGEL einmal mehr und prä- be Trikot über. Aus dem Wasserträger im
Flächenbrand ausweiten.“ sentiert die Kronprinzen: Volker Rühe, Telekom-Team wird „Il Kaiser“. Jan Ull-
Eine Umfrage aus NRW wird zitiert. Wolfgang Schäuble, Edmund Stoiber, Theo rich gewinnt die Tour de France mit 9.09
Demnach seien mehr als 40 Prozent der Waigel. Minuten Vorsprung. Wir sind Jan. Den Ti-
Bewohner der Ansicht, dass „sich die 26. März 1998, Bonn. „Die Sprache gehört tel kann uns niemand nehmen. Die Ent-
Deutschen im eigenen Land gegen die vie- dem Volk“, beschließt der Bundestag in hüllungen über sein Doping, seine Alko-
len Ausländer wehren müssen“. Aber wer einer Resolution und erklärt die neue holfahrten und Abstürze bleiben dem
ist deutsch? Die Zugezogenen aus Ka- Rechtschreibung verbindlich für Beamte, nächsten Jahrzehnt vorbehalten. In diesem
sachstan oder die Ruhrpöttler mit türki- Schüler und Soldaten. Die bunte Republik Sommer ist nichts unmöglich.
schem Opa? gibt sich einem Kulturkampf hin, bei dem 16. April 1998, Leipzig. Niedersachsens Mi-
Interviewt wird Hakan Durmuş, ehema- in apokalyptischem Ton um Interpunktion nisterpräsident Gerhard Schröder hält sei-
liges Mitglied der Gang „36 Boys“ und auf und Worttrennung gestritten wird. Es folgt ne Rede auf dem Parteitag der SPD. Die
Knasturlaub. Er sagt: „Wenn ich in der Tür- eine orthografische Kleinstaaterei, jeder Neue Mitte ist da. Die Ehe mit der Journa-
kei aufgewachsen wäre, wäre ich heute be- Verlag pflegt seine Hausrechtschreibung. listin Doris Köpf, Schröders vierte, hält
stimmt nicht so. Dann wäre ich ganz an- Heute sind die Helden des Widerstands weitaus länger als die Rede von der Neuen
ders. Die zwei Kulturen, die Spannung, in die innere Emigration gegangen, treiben Mitte.
das hat uns total fertiggemacht.“ im Netz „grammatikalische Exerzitien“, 27. September 1998, Bonn, 18.46 Uhr. „So“,
Frage: Hatten Sie einen Spitznamen? verlegen Anti-Duden und haben recht. sagt Helmut Kohl. Er sieht alt aus. Das
Durmuş: Ja, Killa Hakan. Dank der Reform sind sich heute 80 Pro- Kinn hängt ihm schwer am Gesicht, und
Inzwischen hat er seinen Gangnamen zent der Deutschen bei vielen Wörtern als sie jetzt im Konrad-Adenauer-Haus
wieder angenommen und damit Karriere nicht mehr sicher, wie man sie schreibt. „Helmut, Helmut!“ rufen, schimmert es in
als Rapper gemacht. Er sagt: „Sie haben Was dank Rechtschreibprogrammen im seinen Augen. „So“, sagt der neue Alt-
die Seele von Kreuzberg gefickt.“ Und Computer sowieso egal ist. kanzler. Er klappt seine Redemappe zu,
meint die Touristen, die Drogen, die Zu- Manche Existenzängste der Neunziger- dreht sich und schaut auf dem Boden he-
gezogenen. jahre erledigen sich auch von selbst. An- rum, als habe er etwas verloren.
Aus einigen „36 Boys“ sind später deres liest sich wie ein umgekehrtes Déjà- Zum ersten Mal in der Nachkriegsge-
Streetworker geworden. Aus einem, Tim vu: falsche Gewehre für die Bundeswehr schichte ist eine amtierende Regierung voll-
Raue, ein Sternekoch mit Restaurant in (1995), Islamistenanschlag in Ägypten ständig abgewählt worden.
Kreuzberg. Kulturübergreifende Küche. (1997), Flüchtlinge, Populisten rechts von 10. September 1998, Quellendorf. Im Klassen-
Denis Cuspert alias „Deso Dogg“ tauchte der CDU (1990 ff), Kanzlerdämmerung zimmer der Grundschule trifft sich der Ge-
plötzlich als islamistischer Prediger auf, (1991, 1992, 1993, 1994 ...). meinderat. Beschlossen wird die Abwahl
verschwand nach Syrien und wurde auf ei- 15. Mai 1997, Bonn: Vergewaltigung in der des Bürgermeisters Norbert Lindner. Mitte
nem Video gesehen, mit einem abgetrenn- Ehe wird strafbar, so beschließt es der Bun- Mai war er geschminkt und in Frauenklei-
ten menschlichen Kopf in der Hand. destag – auf Drängen von Parlamentarie- dern zum Dienst erschienen. „Ich bin trans-
Hakan sagt: „Die deutsche Polizei ist rinnen aller Fraktionen. Ein Vierteljahr- sexuell“, erklärt er dem Gemeinderat, und
die beste Polizei überhaupt auf der Welt. hundert hat dieses Reförmchen gedauert. heiße jetzt Michaela. Sie lebt heute als
Die lassen nichts durchgehen. Wenn du da Nun ist das eheliche Schlafzimmer keine Theatermanagerin in Erfurt.
einmal gemeldet bist, hast du verloren. Du rechtlose Zone mehr. Der neue FDP-Vorsitzende Guido Wes-
darfst nie mit ihnen in einen Konflikt kom- 15. Juli 1997, Frankfurt an der Oder beziehungs- terwelle, der Abgeordnete Klaus Wowereit,
men. Wenn die dich einmal erwischen, bist weise unter der Oder. Es nähert sich der die Bundesschatzmeisterin Barbara Hen-
du für dein Leben gefickt.“ Scheitelpunkt der Flut. Das Hochwasser dricks, Ole von Beust und ein weiterer gu-
Ausgabe 32/1999 Ausgabe 41/1999 Ausgabe 25/2006 Ausgabe 29/2012 Ausgabe 16/2016
Die Sonnenfinsternis Der SPIEGEL benennt die Das Sommermärchen – Zwei Prominente im Ein Schmähgedicht wird zur
verdunkelt Deutschland Erben von Günter Grass noch ohne Skandal Rollstuhl über ihr Leben Staatsaffäre
ter Teil der späteren Bundespolitik warten krieges“ klebe, sagt der Aktivist. Es gehe 3. August 1999, Brandenburg. Das Oberlandes-
noch ein wenig mit dem Coming-out. ihm um Krieg und Frieden. Allen geht es gericht stellt Rechtswidrigkeiten bei der Auf-
11. Oktober 1998, Frankfurt, Paulskirche. Der darum. „Ich war bei Milošević “, sagt Fi- tragserteilung für den Berliner Flughafen
Schriftsteller Martin Walser bekommt den scher in seiner Rede. „Ich habe mit ihm fest. Die Eröffnung für 2007 ist gefährdet.
Friedenspreis und kritisiert das einfache zweieinhalb Stunden diskutiert, ich habe 11. August 1999, 12.30 Uhr. Eine totale Son-
Moralisieren und den aufgezwungenen ihn angefleht, drauf zu verzichten, dass nenfinsternis legt sich über den Süden des
Meinungsdienst des Intellektuellen. Walser die Gewalt eingesetzt wird im Kosovo.“ Landes, der Himmel verdunkelt sich. Die
bezieht sich auf Jürgen Habermas, der von Der kunstblutbefleckte Anzug Fischers Rechtschreibreform ist wenige Tage zuvor
„Würstchenbuden vor brennenden Asylan- liegt heute im Bonner Haus der Geschichte. in Kraft getreten. Ihr Kernschatten trifft
tenheimen“ in Rostock-Lichtenhagen ge- Der Beutelwerfer hat sein Outfit gewech- alle Klassenzimmer.
schrieben hatte. „Die mit solchen Sätzen selt, nicht aber die Weltanschauung, und 12. Oktober 1999, Sarajevo, Kosevo-Kranken-
auftreten, wollen uns wehtun, weil sie fin- kämpft als Samira F. gegen Berliner Bau- haus, 00.01 Uhr. Der Säugling Adnan Mević
den, wir haben das verdient.“ Er spricht löwen. wird zur Nummer 6 000 000 000 in der Uno-
von der „Banalität des Guten“ und sagt: 20. Juli 1999, Stuttgart. Angela Merkel be- Zählung der Erdenbürger ernannt. Gene-
„Auschwitz eignet sich nicht dafür, Droh- klagt das „antiquierte Rollenbild“, mit der ralsekretär Kofi Annan gratuliert persön-
routine zu werden, jederzeit einsetzbares Frau zu Hause und dem Ehemann im Büro. lich. Adnans Eltern sind heute arbeitslos.
Einschüchterungsmittel oder Moralkeule „Dieses Bild müssen wir aufheben“, und Bei der siebten Milliarde, 2012, gab es kei-
oder auch nur Pflichtübung.“ sie wird dafür ihren Beitrag leisten. nen Besuch des Uno-Generalsekretärs
13. Mai 1999, Bielefeld, Seidensticker-Halle. Gegen Ende des Jahrzehnts ist schon mehr. Es reicht. Steffi Graf und Boris Be-
Ein nur mit einer Brille bekleideter Pazi- eine neue Unruhe zu spüren. Die Schön- cker beenden in diesem Jahr ihre Karriere
fist ruft: „Kriegstreiber!“. Andere Grüne wetterzeiten sind vorbei. Hinter der Jahr- als Tennisprofis. Der Schlagersänger Rex
haben Bettlaken gegen die Parteiführung tausendwende liegt unkartografiertes Ter- Gildo stürzt sich aus dem Fenster in den
entfaltet und ganz besonders gegen ihren rain, es müssen neue Gleise gelegt werden. Tod. Zeit für einen Neuanfang.
Minister Joschka Fischer. Es ist der Son- Das Personal steht in den Startlöchern. 29. November 1999, Berlin, „Bar jeder Ver-
derparteitag der Grünen. Der Bundestags- Merkel, die mit einer Art offenem Brief nunft“. Als fünf Popliteraten in Wilmersdorf
abgeordnete Hans-Christian Ströbele ver- in der „FAZ“ im Dezember 1999 den Ab- zur Lesung antreten, fühlt sich der SPIEGEL-
langt ein sofortiges Ende des Kosovoein- schied von Helmut Kohl einleitet, wird Autor Henryk M. Broder wie beim Teenie-
satzes, was er auch heute noch tut. Da dann im April 2000 zur CDU-Vorsitzenden Konzert: Er spürt einen „Hauch von Back-
wirft Samir F., ein Autonomer aus Berlin, gewählt werden. Wladimir Putin hat kurz street Boys“ in der vollgequalmten Luft,
einen Farbbeutel und trifft Fischer mit zuvor in Russland sein Amt als Präsident spottet über die „parfümierten Popschnö-
Wucht am Ohr. angetreten, George W. Bush in den USA. sel“ und nennt sie „faselnde Fünf“.
Er habe demonstrieren wollen, dass an Von anderen heute erfolgreichen Populis- Das Jahrzehnt faselt langsam aus. Und
Fischers Händen das „Blut des Kosovo- ten ist noch nichts zu sehen. dann wird’s ernst. I
Wirtschaft
Deutsche Bank
Kaum Kunden für
den Robo-Advisor
Die von der Deutschen Bank
groß angekündigte digitale
Vermögensverwaltung ist vor-
erst gefloppt. Vor einem Jahr
hatte der Konzern den „An-
lagefinder“ gestartet. Die An-
wendung legt das Geld der
Kunden nach einem Algorith-
mus automatisch an. Der
Digitalbeauftragte der Deut-
schen Bank, Markus Pertlwie-
ser, erklärte Anfang des Jah-
res, der Anlagefinder solle im
Kommentar
für
Exklusiv-Angebot
zum Jubiläum
Über 70 %
sparen
Wirtschaft
I
m Jahr 1834 erfand Johann Sebastian es bereits in Deutschland darauf unter- dance ihres Unternehmens zu eröffnen.
Staedtler in Nürnberg den modernen sucht worden ist. Seit der Trump-Wahl zögert sie. „Wir über-
Buntstift. Ihm sei es gelungen, berich- Solche Auflagen nerven, sie sind nichts legen uns jetzt dreimal, ob wir den Schritt
tete er stolz, „Rötelstifte hervorzubringen, als Schikane. Es sind neue Spielarten des gehen“, sagt sie.
welche in Hinsicht ihrer Güte alle früheren Protektionismus. Und sie passen ins Bild. Handwerks Ingenieurbüro CE-Con ist
Sorten weit übertreffen“. Staedtler präsen- Seit Jahren befindet sich der freie Aus- darauf spezialisiert, Maschinen auf Be-
tierte die Neuheit auf der Weltausstellung tausch von Produkten und Dienstleistun- triebssicherheit hin zu untersuchen. Mit
in New York, bald lieferte sein Betrieb die gen auf dem Rückzug. Der globale Handel dieser Dienstleistung sei sie gut im Ge-
Stifte bis in den Orient: ein Global Player verliert an Dynamik, er wächst inzwischen schäft, sagt sie, vor allem in den USA. Nun
im Spätbiedermeier. langsamer als die Wirtschaft insgesamt. fürchtet Handwerk, dass dort manches
Heute ist Staedtler in mehr als 150 Staa- Die Welthandelsorganisation WTO hat schwierig werden könnte: Personal zu re-
ten präsent, rund 80 Prozent der Produkte ihre Wachstumsprognose für 2016 von krutieren zum Beispiel oder Arbeitsvisa
gehen in den Export. „Wir sind in beson- 2,8 auf 1,7 Prozent nach unten korrigiert, zu erlangen. Deshalb gibt sie die Idee einer
derem Maße auf den freien Zugang zu die Aussichten hätten sich „erheblich ver- Niederlassung fürs Erste auf. „Es ist sowie-
Auslandsmärkten angewiesen“, sagt Ge- schlechtert“, bedauert WTO-Chef Roberto so kein Spaziergang, einen fremden Markt
schäftsführer Axel Marx – und dieser Azevêdo. zu erobern“, sagt sie.
Umstand bereitet ihm nun Sorgen: Seit ei- Die Polit-Turbulenzen der jüngsten Zeit Die Vereinigten Staaten waren 2015
niger Zeit stoßen Marx und seine Kollegen geben dem Abwärtstrend weiteren Schub. wichtigster Handelspartner Deutschlands,
im Auslandsgeschäft auf Mauern, Zäune, Die Präsidentschaftswahl in den USA, der noch vor Frankreich. Die heimische Wirt-
Hindernisse. Brexit-Entscheid in Großbritannien, das schaft exportierte Güter im Wert von 114
An vielen Orten der Welt beobachtet Referendum in Italien, der autoritäre Coup Milliarden Euro in die USA, fünfmal so
der Manager, wie Regierungen ihre natio- in der Türkei und, fast vergessen, Russ- viel wie 1990, vor allem Autos, Maschinen,
nalen Industrien vor Wettbewerbern zu lands Krieg in der Ukraine: Die Zeichen Elektrotechnik und Pharmazeutika. Die
schützen versuchen: „In den letzten vier, stehen auf Abschottung. deutsche Wirtschaft hat also eine Menge
fünf Jahren hat sich das Klima nachteilig „Es fühlt sich an, als ob wir am Ende ei- zu verlieren.
verändert.“ Schwierigkeiten bereiteten ner ökonomischen Ära angelangt sind“, „Wir dürfen das Erreichte nicht leicht-
nicht nur Zölle, die neuerdings wieder stei- beschreiben die Chefstrategen der Deut- fertig aufs Spiel setzen und das Feld den
gen, oder Lieferbegrenzungen durch Kon- schen Bank in einer Studie den Umbruch, Populisten überlassen“, warnt Carl Martin
tingente; solche Handelshemmnisse ist der sich anbahnt. Die Ära hatte in den Welcker, der neue Präsident des Verban-
Marx lange gewohnt. Heute gingen die Siebzigerjahren begonnen, als mit dem des Deutscher Maschinen- und Anlagen-
Staaten subtiler vor. Eintritt Chinas in die Weltwirtschaft die bau. Drei Viertel ihrer Produkte verkau-
Nach Südkorea etwa liefert Staedtler Globalisierung Fahrt aufnahm. Nun geht fen die Maschinenbauer ins Ausland: „In
Zirkel. Lange gab das keine Probleme. diese Turbophase dem Ende entgegen, einer globalisierten Welt die Handels-
Doch von einem Tag auf den anderen än- sie wird abgelöst von einer Art Merkan- schranken wieder aufzubauen ist der fal-
derten die Einfuhrbehörden die Klassifi- tilismus. sche Weg, der am Ende alle zu Verlierern
zierung des Produkts. Früher definierten In dieser Wirtschaftsform, erfunden im macht“, sagt Welcker. Sein Appell klingt
die Beamten ihn als Zeichengerät, nun Absolutismus des 17. Jahrhunderts, unter- fast flehentlich.
plötzlich falle er in die Kategorie „Spiel- nimmt der Nationalstaat alles, um die Bin- Deutsche Autohersteller sowie ihre
zeug“. Mit weitreichenden Folgen. Da nenwirtschaft zu stärken: Er fördert die Zulieferfirmen unterhalten bedeutende
Spielwaren in Südkorea praktisch kein Blei Ausfuhr von Fertigwaren und drängt Im- Standorte in den USA, aber auch in Me-
enthalten dürften, die Messinglegierung porte durch Schutzzölle zurück. Es ist xiko. Sie lassen Einzelteile in dem einen
der Zirkel aber Spuren davon aufweise, dieser Kleingeist, der voraussichtlich auch Land fertigen, montiert werden die Fahr-
kommt die Neuregelung einem Import- die Präsidentschaft Donald Trumps tra- zeuge im anderen. Der Warenaustausch
stopp gleich. Als ob Kinder an Zirkeln lut- gen wird. funktioniert dank des nordamerikani-
schen würden, wundert sich Marx. Der Amerikaner will alles bekämpfen, schen Freihandelsabkommens Nafta rei-
Solche erratischen Eingriffe ins Wirt- was der heimischen Wirtschaft zur Kon- bungslos und ohne Zollaufschlag, bislang
schaftsgeschehen machen vielen deutschen kurrenz werden könnte. Er kündigt höhe- jedenfalls.
Exportunternehmen das Leben schwer. re Zölle auf Importwaren an, und er be- Nun gerät die eingespielte Arbeitstei-
Heute geben die Behörden detailgenau absichtigt, Handelsabkommen aufzuhe- lung in Gefahr. Vor der Wahl bezeichnete
vor, wie die eingeführte Ware beschaffen ben, denn: „Sie saugen unsere Wirtschaft Trump das Nafta-Abkommen als „den
sein muss, wie die Unternehmen die Ver- aus.“ Diese Haltung, so xenophob wie schlimmsten Handelsvertrag, den die USA
packung zu gestalten haben, welche Si- präpotent, verunsichert viele, die im US- jemals unterzeichnet haben“. Kündigte der
cherheitsbestimmungen zu erfüllen sind. Geschäft aktiv sind – oder die es noch künftige US-Präsident die Mitgliedschaft
Sie bestimmen beispielsweise, bei ein- werden wollen. auf, ginge die Rechnung der deutschen
heimischen Labors die Entflammbarkeit Die Bremerin Maren Handwerk hatte Wirtschaft in Mexiko nicht mehr auf. Laut
eines Produkts prüfen zu lassen – obwohl eigentlich geplant, in Atlanta eine Depen- einer Umfrage unter den Mitgliedern der
Wirtschaft
kfw.de
Wirtschaft
WAS IST
bauten. Plötzlich waren Sie wieder Mil-
lionär.
Altucher: Aber ich machte den Fehler, mein
Altucher: Die Buchhalterin könnte einen
Onlinekurs belegen und lernen, Websites
zu programmieren und anschließend ihre
EIGENTLICH
Geld in Aktien zu stecken. Dann kam die
Finanzkrise und fraß alles wieder auf.
Leistung im Internet anbieten. So ist sie
vielleicht irgendwann nicht mehr auf ihre MIT DEN
SPIEGEL: Hat sich Amerika vom Trauma Stelle als Buchhalterin angewiesen.
der Finanzkrise erholt?
Altucher: Nein. Das Land leidet noch immer
unter einer posttraumatischen Belastungs-
SPIEGEL: Ist das nicht ein bisschen naiv?
Vielen Freiberuflern, die so arbeiten, geht
es nicht besonders gut.
BRITEN LOS?
störung. Viele Amerikaner sind zutiefst Altucher: Das sehe ich anders. Das Internet
frustriert und fragen sich, wofür sie sich eröffnet den Menschen ganz neue Mög-
abstrampeln. lichkeiten, sich zu entfalten und Geld zu
SPIEGEL: Für den amerikanischen Traum verdienen. In erster Linie geht es aber
von Wohlstand und Sicherheit? darum, sich innerlich frei zu machen.
Altucher: Der ist für viele unerreichbar ge- SPIEGEL: Klingt banal.
worden. Früher war es leicht, einen guten Altucher: Ist es auch, aber ich habe 15 Jahre
Job zu finden, ein Haus und zwei Autos gebraucht, um es zu kapieren.
zu kaufen und sich irgendwann zur Ruhe SPIEGEL: Was haben Sie konkret geän-
zu setzen. Diese Zeiten sind für die Mit- dert?
telschicht vorbei. Altucher: Irgendwann habe ich überlegt,
SPIEGEL: Stimmt es, dass viele Amerikaner wann es mir in meinem Leben gut ging.
aus diesem Grund Donald Trump gewählt Ich begann, acht Stunden zu schlafen, ge-
haben? sund zu essen und mich mehr um meine
Altucher: Die Angst der Menschen um ihren beiden Töchter zu kümmern. Und ich lern-
Job erzeugt Wut. Von dieser Wut profitiert te, mein Wohlbefinden von Geld und ma-
Trump. Dabei führt er die Menschen hin- teriellen Dingen zu entkoppeln.
ters Licht, weil er die Schuld an allem auf SPIEGEL: Haben Sie deshalb vor Kurzem
andere schiebt: auf die Mexikaner, auf die Ihren gesamten Hausstand verschenkt
Muslime. oder weggeworfen?
SPIEGEL: Warum ist die soziale Ungleichheit Altucher: Es war mir nie wichtig, Dinge zu
in den USA so groß? besitzen. Richtig bewusst wurde mir das,
Altucher: Das fängt mit unserem Hoch- als ich letztes Jahr auf Reisen ging und nur
schulsystem an. Die Studiengebühren sind einen Rucksack dabeihatte. Da begriff ich:
in den letzten Jahren explodiert. Absol- All die Sachen in deinem Apartment
venten, die nicht aus wohlhabenden Fa- brauchst du gar nicht.
milien kommen, verlassen das College SPIEGEL: Sie haben sogar Ihre Fotoalben
heute hoch verschuldet. Gleichzeitig sind und Ihr College-Zeugnis entsorgt. Was ha-
die Einstiegsgehälter gesunken und die ben Sie überhaupt behalten?
Jobs immer unsicherer geworden. Altucher: Zwei Pullover, zwei T-Shirts, zwei
SPIEGEL: Raten Sie deshalb jungen Ameri- Hosen, zwei Paar Schuhe und Unter- Gebunden mit Schutzumschlag
kanern davon ab, aufs College zu gehen? wäsche. Außerdem meinen Computer, ein 240 Seiten mit Abb. | € 17,99 [D]
Altucher: Ja, denn es macht sie zu Sklaven Tablet und ein Smartphone. Auch als E-Book erhältlich
der Konzerne. Um ihre Schulden zurück- SPIEGEL: Wir sitzen hier in einem schicken
zuzahlen, müssen sie einen Job annehmen, Loft in Manhattan. Ihr Vermögen haben
der schlecht bezahlt ist und den sie wo- Sie offenbar nicht liquidiert.
Um diese Frage zu beantworten, ist
möglich hassen. Altucher: Das Loft gehört mir nicht, ich
SPIEGEL: Konzerne versklaven ihre Mitar- habe es über Airbnb gemietet. Christoph Scheuermann von Südengland
beiter? Ist das nicht ein bisschen drastisch? SPIEGEL: Sind Sie wieder Millionär? bis in die schottischen Highlands gereist. Er
Altucher: Wo arbeiten die meisten Ange- Altucher: Oh ja. Ich bin an einigen sehr er-
stellten denn? In kleinen, abgetrennten folgreichen Firmen von Freunden beteiligt. diniert mit einer Familie aus dem verarmten
Bürozellen. Diesmal hat es funktioniert, aber ich habe Landadel, er feiert mit hysterischen jungen
SPIEGEL: Was schlagen Sie als Alternative es nicht darauf angelegt. Frauen einen Junggesellinnenabschied, er
vor? SPIEGEL: Sie besitzen also nichts, außer ein
Altucher: Die Leute müssen ihr Schicksal paar Millionen. Ein interessantes Verständ- sucht nach Ufos, vergrabenen Schätzen und
selbst in die Hand nehmen, statt sich über nis von Verzicht. dem Geheimnis royalen Smalltalks. Sein
Politik und Konzerne zu beklagen. Altucher: Ich behaupte nicht, radikalen Ver-
Buch ist eine Sympathiebekundung an ein
SPIEGEL: Aber was heißt das konkret? zicht zu üben. Von irgendetwas muss ich
Altucher: Achte auf dich, und umgib dich ja leben. Volk, das man trotz – oder wegen – seiner
mit Leuten, die dir guttun. SPIEGEL: Sind Sie heute glücklich? Skurrilität einfach lieben muss.
SPIEGEL: Und das soll den Menschen aus Altucher: Eher zufrieden als glücklich.
ihrer wirtschaftlichen Schieflage helfen? SPIEGEL: Was ist der Unterschied?
Altucher: Es bedeutet auch, sich einen Beruf Altucher: Glück ist flüchtig. Du bist glück-
zu suchen, der einen mehr erfüllt als der lich, wenn du befördert wirst oder Lob
öde Buchhalterjob. Nicht, dass wir uns von deinem Chef bekommst. Zufrieden-
falsch verstehen: Ich rate niemandem, von heit ist das große Ganze. Wie sehr du mit
heute auf morgen zu kündigen. dir und deinem Leben im Reinen bist.
SPIEGEL: Sondern? Interview: Matthias Fiedler, Ann-Kathrin Nezik
BORGWARD
Borgward-Modell Hansa in den Fünfzigerjahren in Paris
I
n China gilt Christian B. als bedeuten- Investor aus China sie wiederentdeckte, Die Marke war relativ günstig zu haben.
de Persönlichkeit. Er diniert mit dem der Großes mit ihr vorhat. Sie kommt aus Deutschland und erzählt
Sohn des Präsidenten und mit Gouver- Wang Jinyu, 53, will den Namen zu Geschichte.
neuren chinesischer Provinzen. Sein Geld machen. Gesprächspartner beschrei- Borgward steht für die Ära des Wirt-
Name steht auf Fahnen, die eine kilome- ben den Ingenieur, der stets in teuren schaftswunders, für die Sehnsucht der
terlange Allee am Rande Pekings säumen. dunklen Anzügen auftritt, als Schöngeist Deutschen nach Aufbruch und Wohlstand.
Er prangt an den Overalls von fast 2500 und Schnelldenker, dem man intellektuell Der sportliche Kleinwagen Isabella ver-
Mitarbeitern einer Fabrik, zu der die nicht so rasch folgen könne. kaufte sich rund um die Welt, der Kunden-
Prachtstraße führt. Als Unternehmer ist Wang deutlich er- stamm reichte von Herbert Wehner bis
Zu Hause in Wolfsburg wohnt B. in ei- folgreicher als Christian Borgward. Er hat Paul Newman.
ner Flachdachvilla aus den Sechzigerjah- Beiqi Foton Motor aufgebaut, den größten Oldtimerfans verehren bis heute den Er-
ren. Er trägt Jeans mit Rissen und Turn- Lkw-Hersteller Chinas. Danach wollte er findergeist des Gründers Carl F. W. Borg-
schuhe, und er raucht E-Zigarette. Bekannt auch Pkw produzieren und verkaufen – ward. Der baute serienmäßig Blinker ein,
ist der 51-Jährige nur einer kleinen Kund- vor allem in China. als die Konkurrenz noch elektromechani-
schaft: Bis vor Kurzem betrieb er einen Wang hatte dazu alles, was er braucht. sche Winkarme verwendete, gemäß dem
Getränkelieferservice. Geld, Fabriken, sogar Know-how. Was ihm Werbeslogan „Der Zeit voraus mit Borg-
Seine Prominenz in China verdankt der fehlte, war eine Marke, die Tradition und ward“. Doch der Gründer verrannte sich
Getränkehändler seinem Namen. Christian Qualität verhieß. Am liebsten eine deut- mit immer neuen Ideen und Modellen.
Borgward ist der Enkel von Carl F. W. sche Marke. 1961 ging die Firma pleite.
Borgward, einem der bekanntesten Auto- Er dachte zunächst an Opel oder BMW, Rund fünf Jahrzehnte später traf sein
fabrikanten der Fünfzigerjahre. Die Marke merkte aber bald, dass er sich daran ver- Enkel Christian auf Investor Wang. Das
geriet so gut wie in Vergessenheit, bis ein heben könnte. Warum nicht Borgward? ungleiche Duo führte stundenlange Ge-
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Wirtschaft
spräche. Wang forderte sämtliche Marken- ward, er habe die Seele der Marke ver- Plan sieht vor, 2018 ein Werk in Bremen
rechte, Christian Borgward wollte Mitspra- scherbelt. zu eröffnen, dem ehemaligen Borgward-
che im Unternehmen. Im Dezember 2013 Erst als Wang Jinyu und sein Geld ins Hauptsitz. 10 000 Autos sollen dort im ers-
war der Deal perfekt. Spiel kamen, beruhigten sich die selbst er- ten Jahr vom Band rollen, ein Bruchteil
Für den Gründerenkel begann ein neues nannten Gralshüter der Marke. Wang star- der Produktion in China. Bremen wird nur
Leben. Seinen Getränkehandel („Borg- tete Teil eins seines Masterplans. Er machte Kulisse sein für die Inszenierung des
ward bringt’s“) hat er verkauft. Sein neuer die Oldtimerfahrer zu Statisten seiner Wer- Märchens von der deutschen Marke, die
Jobtitel klingt nach mehr Prestige: Auf- bestrategie – und zu seinen Verbündeten. wiederauferstanden ist.
sichtsratschef der Borgward Group AG. Erst sponserte er die Feiern zum 125. Ge- Nach Wangs Vorstellungen soll in Bre-
Für Christian Borgward muss es eine Ge- burtstag Carl F. W. Borgwards, zu der im men nicht irgendeine Wellblechhalle ste-
nugtuung sein. Mai rund tausend Fans aus 16 Ländern hen, sondern ein Gebäude mit historischer
Endlich kann er sich und seinen Ver- nach Bremen kamen. Im September lud Anmutung – möglichst mit angeschlosse-
wandten beweisen, dass er doch ein paar Wang dann eine Gruppe von Borgward- nem Museum. Ihm schwebt ein Monument
Erfolgsgene vom Großvater abbekommen Besitzern zu einer zweiwöchigen Reise vor, das jeden beeindruckt, der daran vor-
hat. Wie oft haben sie ihn belächelt, den nach China ein. Der Chinese zeigte sich beifährt.
kleinen Getränkehändler mit dem großen generös. Die Fahrer bekamen Business- Ist Borgward II nur Blendwerk? Oder
Namen. Class-Flüge, ihre Autos einen Platz im der geniale Businessplan eines chinesi-
Schon Christians Vater hatte sich schwer- Schiffscontainer. schen Erfolgsmanns?
getan, aus dem Schatten des Patriarchen Vor Ort wurden die Borgward-Fans be- Wäre die Borgward-Story tatsächlich
zu treten. Claus Borgward war nach Wolfs- handelt wie Showstars. In Peking durften das Märchen, als das sie verkauft wird,
burg gezogen, um ein eigenes Leben auf- sie bei einer Oldtimertour mitfahren, be- dann wären jetzt alle glücklich. Wang, der
zubauen. Er machte Karriere bei Volks- gleitet von Dutzenden Journalisten und in China bereits Zigtausende Autos mit
wagen, arbeitete sich vom Assistenten zum umschwirrt von Kameradrohnen. Die Bot- deutschem Namen verkauft hat. Und
Vorstand hoch. schaft an alle potenziellen Käufer: Seht Christian Borgward, der als Repräsentant
Christian Borgward hingegen litt da- her, Borgward ist kein Fake aus China, der Marke ein bisschen in den Fußstapfen
runter, dass die Leute ihn ständig auf seine sondern eine reale Marke aus Deutsch- des Großvaters herumspazieren kann. Er
erfolgreichen Vorfahren ansprachen. land. sagt: „Mein Traum, Borgward wieder auf
„Manchmal“, sagt er, „ist es eine Heraus- Wang selbst hingegen will lieber unsicht- die Straße zu bringen, ist in Erfüllung ge-
forderung, den Namen Borgward zu tra- bar bleiben. Mit Journalisten redet er gangen.“
gen.“ Er wagte es anfangs nicht einmal, selten. Er versteckt sich gern hinter der Ob es wirklich ein Happy End gibt, ist
ein Auto der Familienmarke zu fahren. Marke. „Borgward ist ein deutsches Unter- jedoch unsicher. Immer wieder treten Pro-
Fast so, als fühlte er sich ihrer nicht würdig. nehmen“, betonen seine Strategen bei je- bleme auf, angefangen bei den kulturellen
Als Chance begriff er seine Herkunft der Gelegenheit. Möglichst wenig soll auf Differenzen.
erst im Jahr 2005. Da beschloss er, den die chinesischen Hintermänner hindeuten. Wang spricht kaum Englisch. Ein Dol-
Markennamen zu verkaufen – und ihn wie- metscher sitzt stets mit am Tisch. Hinzu
der groß zu machen. Er begann, seine Er- kommt, dass er seine eigenen Vorstellun-
sparnisse in diese Idee zu investieren. Ei- gen vom Tempo der Expansion hat.
nen Teil der Markenrechte an Borgward Dem chinesischen Investor kann es nicht
besaß er bereits. Den Rest kaufte er diver- schnell genug gehen. 2017 soll Borgward
sen Markenjägern teuer ab. bereits mehr als eine Milliarde Euro Um-
Was fehlte, war ein Geldgeber. Die Su- satz machen. In vier bis sechs Jahren er-
che nach ihm lief zäh. Investoren aus Ame- wartet Wang Gewinne. Mit frühen Erfol-
rika oder Russland winkten ab, sobald gen will er weitere Anteilseigner gewinnen,
Christian Borgward seine Forderung nach ein Börsengang ist angedacht.
OBS / BORGWARD
In den 00
er-Jahren platzte die erste Phase des Internets, als Blase.
Und jetzt verwandelt sich die Wirklichkeit in eine datenbasierte
Hightech-Welt, die niemandem Veränderung erspart. Ist der Mensch dem gewachsen?
Schließlich hat er es selbst geschaffen: sein
D I G I TAL E S L E B E N
Von Thomas Schulz
D
as Silicon Valley ist eine wunder- des Jahrtausends. Die Lage, im Jahr 2001: Vor allem die deutsche Wirtschaft glaubt
liche Welt. Wer sie das erste Mal Die erste Phase des Internets endet in ei- nicht an die Macht des Digitalen: Das In-
betritt, fühlt sich erinnert an die ner gigantischen platzenden Blase. Enor- ternet ist ein Problem für die Musikindus-
Weltausstellungen in den Sechzigerjahren me Börsenwerte sind geschaffen worden, trie, nicht für Maschinenbauer oder Auto-
mit ihren glitzernden Visionen des nächs- aber wenig von Substanz. Das Urteil über hersteller.
ten Jahrtausends, überall futuristische Ent- die New Economy scheint gefällt: ein Aber dann ist da noch Steve Jobs; Vi-
würfe einer besseren Welt, in der alles grandioser Hype. Die digitale Revolution: sionär, Genie, aber auch Menschenschin-
Technologie ist, und dabei immer die Fra- schon im Ansatz gescheitert. der, Choleriker. Kein netter Mensch. Er
ge: Was ist echt, was nur Attrappe? Die Gegenreaktion ist ebenso extrem lässt Apple das iPhone entwickeln, eine
Hier, auf diesen knapp hundert Kilome- wie die vorangegangene Euphorie. Die al- Sensation, schon als es erstmals vorgestellt
tern entlang der kalifornischen Pazifikküs- ten Industrien ergehen sich in Schaden- wird, 2007. Schnell wird klar: Dies ist ein
te, scheint all das längst normal: Selbstfah- freude, das Feuilleton übt sich in Abgesän- Telefon? Nein. Dies ist ein Katalysator, der
rende Autos kurven durch die Straßen von gen auf die neue Zeit. die Welt verändert. Ein handtellergroßes
San Francisco, Roboter liefern Cookies aus Auch der SPIEGEL ist skeptisch, 2005 Gerät, das die ständige Verlängerung ins
in der Innenstadt von Redwood City, Droh- schließt er seine Redaktionsvertretung in Digitale bietet für jeden zu jeder Zeit:
nen bringen Pakete nach Mountain View. San Francisco wieder, die erst kurz vor Das könnte Sigmund Freud gemeint haben,
Hunderttausende Ingenieure, Program- der Jahrtausendwende eröffnet worden als er das Wort „Prothesengott“ erfand:
mierer und Mathematiker leben in einer ist: nicht genügend Berichtenswertes. So Der Mensch wird omnipotent dank seiner
ständigen Begeisterungsschleife – eupho- sehen es viele in der Wirtschaft, auch die, Maschinen.
risiert vom Tempo des Fortschritts, der auf die es besser wissen müssten; Microsoft Das Smartphone, sagt die Soziologin
ihrer Arbeit basiert: Smartphones verste- etwa, Sony, Hewlett-Packard, IBM. Tech- Sherry Turkle, die über die Auswirkungen
hen jedes menschliche Wort, Maschinen nologieriesen, die nicht viel halten von der der neuen Technik forscht, „fühlt sich fast
fressen sich durch Terabyte von Daten, neuen Technologie. Die sich nicht fürchten, an wie ein Teil des Körpers, es macht mich
durch das gesamte Wissen der Menschheit, obwohl sie es müssten. quasi zu einem Maschinenmenschen“.
lernend, offenbar verstehend. Der Daten- Und was geschieht dabei mit uns? Kom-
transfer erreicht enorme Geschwindigkei- munizieren wir anders, leben wir anders?
ten, 100 Petabit, also 100 Milliarden Mega- Die Fähigkeit, bewusst miteinander zu
bit pro Sekunde, wurden im Labor schon kommunizieren, macht den Menschen
erzielt. Physiker basteln am Quantencom- zum Menschen. Und wenn sich die Kom-
puter, der Tausende Male schneller sein munikation grundsätzlich wandelt, ändert
soll als der größte Supercomputer bisher. sich dann nicht zwangsläufig die Gesell-
Eine ganz neue Informatik soll entstehen. schaft? Während Steve Jobs das iPad ent-
Software frisst die Welt. So hat es einst wirft, das iPhone zum größten Verkaufs-
Marc Andreessen formuliert, der bekann- schlager der Geschichte wird, Apple zum
teste Wagniskapitalgeber im Silicon Valley, führenden Unternehmen der Welt auf-
in dessen Büro, hübsch eingerahmt, Fotos steigt, diskutiert die Wissenschaft: Verar-
von Atombombentests an den Wänden men wir emotional, weil wir zu viel online
hängen: Die alte analoge Welt wird in die leben? Lässt der soziale Kitt nach, verloren
Luft gejagt. Alles wird digitalisiert, ob öf- im Virtuellen? Wie verändert das Internet
fentlich oder privat, jedes Unternehmen, unser Gehirn?
jede Behörde. Der SPIEGEL titelt zum fünfjährigen Ju-
Jede Woche fliegen Manager und Kon- biläum des Smartphones: „iPhone, also
zernchefs ein aus aller Welt, vor allem aber bin ich.“ Erzählt wird die Geschichte einer
aus Deutschland, sie fragen: Was passiert Hassliebe, einer Technologie, die befreit
hier, dass ich mein eigenes Geschäft nicht und gleichzeitig abhängig macht. Apropos
mehr verstehe? Liebe: Fast jedes dritte Paar mit Internet-
Wie ungeheuerlich diese Entwicklung SPIEGEL-Ausgabe 8/2007 zugang lernt sich online kennen, in einem
ist, zeigt der Blick zurück auf den Beginn Das Spiel mit dem Ich im Cyberspace sozialen Netzwerk, beim Chatten oder mit-
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hilfe einer Onlineagentur. Das Leben wan- Recherche pflegen, das Nachdenken, die sen auch nicht, wohin es rollt. Selbst die
delt sich, schnell. Analyse. besten Konzernstrategen sehen kaum
Nicht nur im Silicon Valley ist unbestrit- Wie alle klassischen Medien arbeitet der mehr als sechs, zwölf Monate in die Zu-
ten: In den vergangenen drei Jahren waren SPIEGEL an digitalen Geschäftsmodellen. kunft, danach kommen nur noch Visionen
die Schritte größer als in den vorherigen Aber Erfolgsbeispiele sind noch immer rar. und vage Ideen. Wird Virtual Reality eine
15 Jahren zusammen. Denn der Fortschritt Kulturpessimisten behaupten deswegen ganz neue Mediengattung? Die Chancen
läuft exponentiell, nicht linear, so die ein- seit Jahren, der traditionelle Qualitätsjour- sind gut, die Konzerne investieren Milli-
hellige Meinung. Und was das bedeutet, nalismus habe ausgedient, werde ersetzt arden, aber weder Mark Zuckerberg noch
zeigt folgende Rechnung: Mit 30 linearen durch Nachrichtenhappen, Listen, Katzen- Larry Page würden darauf eine Wette ab-
Schritten läuft man 30 Meter, mit 30 ex- videos, für die keiner mehr zahlt. Aber schließen. Die Folgen der Technologie, die
ponentiellen Schritten 30 Milliarden. Wenn Ähnliches hatten sie auch über das Fern- heute entsteht, werden erst in Jahren zu
also die Verdoppelungssprünge bei diesem sehen gesagt. Nun also: Jugendliche wür- erkennen sein, und das wissen all die füh-
Tempo bleiben – hebt der Fortschritt in den nur noch YouTube schauen und snap- renden Köpfe in Kalifornien sehr genau.
wenigen Jahrzehnten ab in die Sphären chatten. Stattdessen hat ein neues goldenes Eric Schmidt, heute Chairman der Goo-
von „Star Trek“? Hollywoodzeitalter begonnen, es wird gle-Mutter Alphabet, hat es einst so gesagt:
Der SPIEGEL ist zurück im Silicon Val- mehr Fernsehen produziert und konsu- „Das Internet ist das erste Ding, das die
ley seit 2009, denn klar ist, dass diese Welt miert denn je: dank der Technologien, Menschheit sich gebaut hat, das sie aber
erklärt werden muss, dass grundsätzliche dank Streaming wie bei Netflix. nicht versteht, das größte anarchische Ex-
Fragen gestellt werden müssen, solche Wie werden also die Medien der Zukunft periment der Geschichte.“
etwa: „Naht die nächste Zeitenwende?“, aussehen? Niemand weiß es. Auch nicht die Gestört hat das die Vordenker des Sili-
gerichtet an Satya Nadella, den Chef von besten Ingenieure von Google und Apple. con Valley bislang nie, sie sind Dogmatiker,
Microsoft. „Wir befinden uns bereits mit- Außerhalb des Silicon Valley denken und ihre Formel lautet: Fortschritt ist gut,
ten in der Zeitenwende“, sagt Nadella. viele, im Silicon Valley gebe es eine Blau- immer. Seine Vorteile überwiegen unter
Niemand wird sich entziehen können, die pause für die Eroberung der Welt, einen dem Strich immer die Nachteile. Ständiger
Wirtschaft wird sich weiter und noch genauen Plan, wohin die Digitalisierung Wandel ist deswegen das Ziel. Je größer
schneller wandeln, gerade die Medien. führt, wenigstens aber eine Vorstellung, das Tempo, desto besser.
In nur einer Generation hat das Internet was genau Google, Apple und Facebook Die Anführer der Technologiebewegung
völlig verändert, wie wir Medien kon- eigentlich sein wollen. Aber selbst Goo- entwerfen die Digitalisierung nicht nur als
sumieren und produzieren. Es ist ein exis- gle-Gründer Larry Page sagt: „Immer öfter Geschäftsmodell, sondern als Weltbild,
tenzieller Umbruch, vor allem für die geht es um physikalische Grundsatzfragen, eine gewichtete Interpretation der Zivili-
Printmedien, auch für den SPIEGEL. Das die kaum noch ganz nachzuvollziehen sationsgeschichte, man kann auch sagen:
Leseverhalten ändert sich, die Welt dreht sind. Deswegen ist es so schwer, die Zu- Ideologie. Manche nennen es die kalifor-
sich schneller, also muss der SPIEGEL-Jour- kunft der Informatik, den Weg der Digita- nische Ideologie, weil sie die linksalterna-
nalismus schneller werden – mit SPIEGEL lisierung vorherzusagen.“ tiven Werte der Gegenkultur der Sechzi-
ONLINE – und muss in all der neuen Hektik Das Rad dreht sich viel zu schnell, und gerjahre mit neoliberalen Marktprinzipien
besonnen bleiben, muss die intensive diejenigen, die es in Bewegung halten, wis- mischt. Blumenkinder, die gleichzeitig
knallharte Kapitalisten sind. Es geht ihnen
nicht allein um Profit, sondern all ihr Tun
Auszug aus dem SPIEGEL vom 5. September 2005 sehen sie als Mission: die Menschheit vo-
ranbringen, die Gesellschaft besser machen.
Ein Jahr nach seinem Bör- Andere sehen in der Beschwörung der Zu-
sengang von 2004 hat sich kunft womöglich auch einen Weg, die Bör-
der Internetkonzern Google senwerte der Unternehmen hochzutreiben.
deutlich verändert: Was frü- „Bislang ist die Welt durch Fortschritt
her mal eine sympathisch- doch immer ein Stück besser geworden,
unkonventionelle Campus- mit weniger Armut, mit weniger Men-
firma war, ist nun zum un- schen, die in Kriegen sterben“, so sagt es
durchschaubaren Riesen Google-Gründer Larry Page im SPIEGEL-
geworden. Google ist groß, Gespräch. „Das Internet, selbstfahrende
mächtig und erfolgreich – Autos, das sind doch grandiose Errungen-
und hat mit aggressiver Kon- schaften, die aus Optimismus geboren wur-
kurrenz zu kämpfen: Micro- den. Und es ist ja nicht so, dass uns die
soft. Und mit einer Internet- großen Probleme ausgehen würden, die
gemeinschaft, aus der es noch zu lösen gilt. Warum sind wir also
plötzlich Misstrauen strömt, nicht begeisterter von den Zukunftsaus-
wenn nicht gar Furcht – ge- sichten?“
genüber einer Firma, deren Die Logik ist klar und simpel: Die Ge-
Unternehmensmotto „Sei schichte der Menschheit ist eine Geschich-
nicht böse“ lautet. Die te des Fortschritts, also brauchen wir mehr
ganze Geschichte lesen davon, mehr Technologie. „Das ist totaler
Sie unter spiegel.de/spie- Quatsch“, sagt Jared Diamond, einer der
gel/print/d-41682537.html führenden Experten für die Geschichte der
oder in der menschlichen Zivilisation. Seine Bücher
App. wie „Kollaps: Warum Gesellschaften über-
leben oder untergehen“ waren Welterfolge,
er gewann den Pulitzerpreis, er ist fast 80
Jahre alt und lehrt noch immer als Profes-
146 DER SPIEGEL 1 / 2017
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JOHNG.MABANGLO/DPA
dem 8. November 2016 ist alles erfinden. Wie auch? Längst ist
anders. Der Beginn der Trump- der Fortschritt zu schnell, die
Ära hat das Silicon Valley er- Bandbreite zu enorm, sind die
schüttert, hat Schock, Selbst- Konsequenzen zu komplex.
zweifel, Sinnkrise ausgelöst. Wie soll man vorhersagen, was
Die sozialen Medien, das In- Apple-Ikone Jobs 2004: Was ist echt, was nur Attrappe? die Auswirkungen von allem
ternet, sollten Demokratie und auf alles sind?
Gemeinschaft transportieren, das Instru- kationsmechanismen sind, welche Macht- Das Smartphone war ja nur der erste
ment des Arabischen Frühlings, so hat man verhältnisse sich verschoben haben. Schritt. Die Technologen träumen schon
es sich gewünscht. Aber dass sich der Spieß Es wird diskutiert in den Hauptquartie- lange vom allgegenwärtigen Computer.
auch umdrehen ließe, dass eine gewaltige ren von Facebook, Twitter, Google, was Die ganze Welt soll vernetzt sein, mit
Propagandamaschine entstehen könnte, er- die Folgen der Echokammern sind, die sie Computern überall um uns herum. Das
schien unmöglich, denn die erste und wich- geschaffen haben, in denen alle Pluralität Ziel ist in greifbarer Nähe: Winzige Chips,
tigste aller Regeln der Digitalisierung lau- verloren geht und scharf voneinander ab- so billig und leistungsstark, dass es sich
tet doch: Das Internet ist eine Technologie geschottete Gruppen nur ihr eigenes Welt- lohnt, sie in jede Maschine zu setzen, ma-
der Freiheit, von zutiefst demokratischer bild immer und immer wieder bestätigt be- chen es möglich – der denkende Pullover,
Natur. kommen. der kluge Kühlschrank, der Joghurt, der
Aber die Fakten lassen sich nicht leug- Diskutiert werden in Nordkalifornien mitteilt, ob er noch frisch ist; all das gibt
nen: Twitter ist das Megafon, über das auf einmal wieder fast 50 Jahre alte Thesen es bereits.
Trump seine Lügen verbreitet, Facebook des Soziologen Marshall McLuhan, der be- Und der nächste große Sprung steht
der Desinformationskanal rechter Kultur- schrieb, wie eine totale Medienwelt neue schon an, die Konzerne investieren Milli-
kämpfer. Wirklichkeiten herstellt: „Wir formen un- arden, Tausende Start-ups arbeiten daran:
Nun beginnt endlich auch im Silicon Val- ser Werkzeug, und danach formt unser die künstliche Intelligenz (KI).
ley ernsthaft die Debatte, die wohl schon Werkzeug uns.“ Es scheint so gut zu pas- Im ersten Schritt geht es dabei nicht um
längst hätte geführt werden müssen: wel- sen auf die verrohenden Umgangsformen, Bewusstsein, um denkende Roboter, son-
ches die Schattenseiten neuer Kommuni- das Onlinemobbing, die Trolle, die Hass- dern um Software, die immer klüger wird,
Ausgabe 8/2000 Ausgabe 12/2001 Ausgabe 33/2008 Ausgabe 27/2011 Ausgabe 41/2011
Shoppen und klicken: der Was Handys alles können – Macht das Internet dumm? Kriminell im Netz: eine neue Tod einer Legende: Apple-
Handel im Wandel schon 2001 Kommt drauf an Art Verbrechen Mitbegründer Steve Jobs
Ausgabe 19/2012 Ausgabe 27/2012 Ausgabe 43/2012 Ausgabe 34/2015 Ausgabe 32/2016
Ohne Facebook leben – Geburtstag einer Revolu- Die mächtigste Mensch sein im Erziehungsschlacht ums
geht das überhaupt? tion: iPhone, also bin ich Suchmaschine der Welt Google-Zeitalter Smartphone
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Sport
Auswahl an Sportlern, die auf dem SPIEGEL-Titel erschienen sind
Don Deforrest Harry Saager Gustav Kilian Johannes Frömming Herbert Klein Eddie LeBaron Sepp Herberger Hans Günter Winkler Marika Kilius/
Schwimmer Radrennfahrer Radrennfahrer Trabrennsportler Schwimmer American-Football-Spieler Fußballtrainer Springreiter Hans-Jürgen Bäumler
Heft 29/1948 31/1949 12/1950 38/1950 26/1952 15/1954 28/1954 34/1955 Paar-Eisläufer
9/1960
Wolfgang Graf Uwe Seeler Heidi Biebl Bubi Scholz Jutta Heine Boris Spasski/ Muhammad Ali Franz Beckenbauer Niki Lauda
Berghe von Trips Fußballspieler Skifahrerin Boxer Sprinterin Bobby Fischer Boxer Fußballspieler Rennfahrer
Rennfahrer 26/1960 6/1962 25/1962 38/1962 Schachspieler 43/1975 18/1977 40/1977
21/1960 32/1972
Helmut Schön Björn Borg Birgit Dressel Steffi Graf Boris Becker Michael Schumacher Robert Enke Joachim Löw Cristiano Ronaldo
Fußballtrainer Tennisspieler Siebenkämpferin Tennisspielerin Tennisspieler Rennfahrer Fußballtorwart Fußballtrainer Fußballspieler
21/1978 27/1981 37/1987 24/1996 6/2001 43/2009 47/2009 28/2014 49/2016
Magische Momente
„Kurz vor der Ohnmacht“
Willi Kauhsen, 77, aus Aachen über seine Fahrt im Rennauto mit Bundespräsident Gustav Heinemann als Beifahrer
SPIEGEL: Sie sind am 3. April Und den Nürburgring kannte hinzu: In der Nacht zuvor SPIEGEL: Wie ging die winter-
1973 mit Gustav Heinemann ich von sehr vielen Rennen. gab es einen Wintereinbruch. liche Fahrt los?
über den Nürburgring ge- Es ging ja auch nicht darum, Bekam Heinemann Angst? Kauhsen: Zuerst fuhr ein
fahren. Sie waren zu jener mit dem Heinemann im Kauhsen: Er nicht, aber alle Mannschaftswagen auf die
Zeit ein bekannter Renn- Rekordtempo zu fahren. Die anderen. Als die ganze Ab- Strecke, um zu gucken,
pilot – wie kam es dazu? Beschleunigung des Autos ordnung anrollte, fragte mich ob da Terroristen sind. Mit
Kauhsen: Anfang Februar rief war so wahnsinnig, dass Hilda Heinemann, seine Polizisten links und rechts
jemand aus Bonn bei mir an jeder, der das nicht kannte, Frau: „Herr Kauhsen, ist das auf den Trittbrettern, schwer
und fragte: „Also, der Bun- kurz vor der Ohnmacht nicht zu gefährlich?“ Ich ant- bewaffnet. Heinemann
despräsident, der wünscht stand. wortete: „Nur an zwei, drei bekam einen Helm und setz-
sich, im stärksten Rennauto SPIEGEL: Sie ahnten also: Stellen wird Schnee liegen, te sich mit Anzug und
der Welt eine Runde über Heinemann würde leicht zu da fahre ich vorsichtig.“ Mantel neben mich. Dann
den Nürburgring gefahren zu beeindrucken sein. SPIEGEL: Was meinte Heine- starteten wir.
werden. Von Ihnen. Können Kauhsen: Ja. Ich musste mann selber? SPIEGEL: Lief die Fahrt glatt?
wir das machen?“ nichts Wildes anstellen. Kauhsen: Der war happy und Kauhsen: Es taute, und tat-
SPIEGEL: Der Ring war eine SPIEGEL: Es kam allerdings strahlte mich an. Von Beden- sächlich: zunächst alles
Berg- und Talstrecke über ein unerwartetes Problem ken wollte er nichts hören. frei. Aber plötzlich sah ich
rund 22 Kilometer und galt den Mannschaftswagen im
als hochgefährlich. Es war Graben liegen. Die Polizis-
extrem riskant, dort im Por- ten liefen herum und sam-
sche 917, der wegen seiner melten ihre Maschinenpisto-
1000 PS „Monster“ hieß, zu len ein. Ich machte eine Not-
fahren. bremsung – und das Auto
MANFRED FÖRSTER
MANFRED FÖRSTER
Handballtorwart Wolff bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016: „Wir sind aus dem Schatten ins Licht getreten“
Sport
Sport
PIXATHLON / NEWSPIX
ren zuletzt so gut, wir sind die Besten, das
wird schon irgendwie laufen. Eine solche
Haltung kann gefährlich sein für den Team-
geist, da mussten wir schon bei Olympia
Deutsches Handballteam mit Trainer Sigurdsson (M.): „Kein Mann vieler Worte“ aufpassen.
SPIEGEL: Die WM ist das letzte Turnier des
habe ich zu wenig Ahnung. Ansonsten gebe fentlich findet sich für die WM kurzfristig Bundestrainers Dagur Sigurdsson. Er hat
ich die meisten Antworten aus dem Bauch noch eine Lösung, bei welchem Sender kürzlich verkündet, dass er nach Japan
heraus. Hat bislang gut funktioniert. auch immer. wechseln wird, um das Nationalteam auf
SPIEGEL: Haben Sie Mitspieler, die Ihre Me- SPIEGEL: Lassen Sie uns über den vielleicht die Olympischen Spiele 2020 in Tokio vor-
dienpräsenz nervt? Nach dem Motto: Der wichtigsten Titel sprechen, den Sie 2016 zubereiten. Wie haben Sie von seiner Ent-
Wolff geht an keiner TV-Kamera vorbei! gewonnen haben: „Bart des Jahres“. scheidung erfahren?
Wolff: Bei meinem Klub, dem THW Kiel, si- Wolff: Oh ja, der ist ganz weit oben anzu- Wolff: Er hat uns seinen Entschluss über
cher nicht. Im Nationalteam gibt es den ei- siedeln. WhatsApp mitgeteilt, ganz unaufgeregt.
nen oder anderen, der selbst gerne ein biss- SPIEGEL: Hatten Sie vorher von dem Preis Dagur ist ein Mann großer Worte, aber
chen mehr Aufmerksamkeit bekommen schon etwas gehört? kein Mann vieler Worte. Es kam nicht un-
würde. Andererseits ist das alles auch Arbeit Wolff: Nein. erwartet für mich.
für mich: Heute ein Spiel in Flensburg, mor- SPIEGEL: Unter den vorherigen Preisträgern SPIEGEL: Sind Sie enttäuscht von ihm?
gen ein Interview in Hamburg, übermorgen sind Leute wie der Schauspieler Mario Wolff: Überhaupt nicht. Er hat gesagt, dass
ein Spiel in Balingen. Das ist Stress. Und es er für sein Leben noch was mitnehmen
gibt auch Leute, die sagen: Super, dass du
das machst, das ist gut für unseren Sport.
„Jeder, der mich zu will, und weil er ein großer Japan-Fan ist,
möchte er nochmals dort leben. Das kann
SPIEGEL: Die deutsche Mannschaft wurde Hause besucht, wundert jeder nachvollziehen. Wir gehen bestimmt
2007 Weltmeister, beim Turnier im eigenen
Land. Viele gingen damals davon aus, dass
sich: Was bist du denn nicht im Bösen auseinander.
SPIEGEL: Wird sein Weggang eine Rolle in
die Euphorie um den Titel einen Handball- für ein eitler Gockel?“ der Mannschaft spielen?
boom hierzulande auslösen werde. Das ge- Wolff: Natürlich. Seine Ära war kurz, aber
schah aber nicht. Was wollen Sie anders Adorf oder Harald Glööckler, Designer erfolgreich. Wir haben Dagur viel zu ver-
als Ihre Vorgänger machen? überbordend kitschiger Mode. danken, deshalb möchten wir ihm ein Ab-
Wolff: Damals gab es keinen aus dem Team, Wolff: Ich habe eine Bartskulptur und ein schiedsgeschenk machen und Weltmeister
der vorweggelaufen ist und versucht hat, großes Foto von mir bekommen. Beides werden.
den Sport populärer zu machen. Wir müs- steht zu Hause auf einer kleinen Empore, SPIEGEL: Mannschaftssportler geben einan-
sen es hinkriegen, dass die Leute nicht nur direkt hinter der Wohnungstür. Jeder, der der gern ein Versprechen für den Fall eines
wissen, dass Handball gespielt wird. Sie mich besucht, wundert sich: Wieso hast Turniererfolgs – und zücken dann schon
sollen auch wissen, wer die Spieler sind, du solch ein Bild von dir in der Wohnung? mal den Rasierer. WM-Titel gegen Bart:
wie sie drauf sind, was sie gerade machen. Was bist du denn für ein eitler Gockel? Würden Sie sich darauf einlassen?
SPIEGEL: Die Weltmeisterschaft im Januar SPIEGEL: Ein Statement der Selbstironie? Wolff: Vorher müsste ich erst mit meiner
in Frankreich wird höchstwahrscheinlich Wolff: Ich finde es amüsant. Chefin zu Hause Rücksprache halten.
nicht im deutschen Fernsehen übertragen. SPIEGEL: Sie haben über Ihre Funktion im SPIEGEL: Ist Ihrer Freundin der Bart so
So wird es schwierig mit der Popularität. Nationalteam einmal gesagt: „Ich bin der wichtig?
Wolff: Es ist traurig, dass wir diesmal wohl Big bad Wolff der Gruppe.“ Gehört der Wolff: Ich trage ihn seit etwa sieben Jahren.
nicht zu sehen sein werden. Beim EM-Fi- Vollbart zu Ihrer Rolle? Sie kennt mich nichts anders. Schließlich
nale hatten uns bis zu 17 Millionen Men- Wolff: Schon. Ohne ihn würde ich aussehen will ich sie nicht erschrecken, wenn ich
schen live im öffentlich-rechtlichen Fern- wie ein 18 Jahre alter Milchbubi – nicht so zur Tür hereinkomme.
sehen zugeschaut – das hat unseren Sport gut für einen Handballtorhüter. Mit Bart SPIEGEL: Herr Wolff, wir danken Ihnen für
richtig vorangebracht. Wir sind dadurch sieht man erwachsener aus, reifer, ein biss- dieses Gespräch.
aus dem Schatten ins Licht getreten. Hof- chen wilder. Mail: lukas.eberle@spiegel.de; Twitter: @DetlefHacke
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Abonnements, Online-Produkten und Veranstaltungen) per Telefon und/oder E-Mail. Mein Einverständnis kann ich jederzeit widerrufen.
IDOLE
Von Gerhard Pfeil
F
ranz Beckenbauer hat ein neues späteren Sommermärchen. Cohn-Bendit um die Frage: Was ist mit den 6,7 Millio-
Hobby, er ist Winzer geworden. Er hatte eine Initiative namens „Allianz ge- nen Euro passiert, die im Jahr 2002 über
ist Miteigentümer eines Weinguts in gen Franz“ gegründet. Es war ein Protest ein Konto Beckenbauers in der Schweiz
der Nähe von Kapstadt, es heißt Lammers- gegen die Kommerzialisierung des Fuß- auf ein Konto flossen, das einer Firma
hoek Farms &Winery, Beckenbauer hat balls, die er in der Person des damaligen eines katarischen Skandalfunktionärs zu-
dort ein eigenes Apartment. Er hält sich Multifunktionärs Franz Beckenbauer auf zurechnen war?
häufig dort auf. Der eigene Rotwein, den die Spitze getrieben sah. Beckenbauer könnte das Rätsel auflö-
er kreiert hat, heißt „Libero No. 5“ und Die „Allianz gegen Franz“ war ein De- sen. Aber er schweigt. Oder er behauptet
kostet gut 60 Euro pro Flasche. saster. Niemand schloss sich an. Der Kaiser treuherzig, er habe keine Ahnung, was da-
Beckenbauer liebt die Welt der Winzer. war einfach zu beliebt, er war der Welt- mals genau gelaufen sei, weil er all die Pa-
Er besucht Weinmessen in Salzburg und meister, der Weltmeistertrainer. Er konnte piere und Verträge, die ihm im Rahmen
Weinproben in Zürich. Er redet gern über einen Ball von einem Weißbierglas aus in der WM 2006 vorgelegt worden sind, nie ge-
Wein. das rechte untere Loch der ZDF-Torwand lesen habe. Ja, wirklich, so sei das gewesen.
Noch vor einem Jahr war Beckenbauer schießen, das hatte er im „Aktuellen Sagt der Franz.
in der Welt des Fußballs allgegenwärtig, Sportstudio“ vorgemacht. Beckenbauer kommt aus einer sehr spe-
als TV-Kommentator und Zeitungskolum- Derzeit, mehr als zehn Jahre später, gibt ziellen Welt, der Welt des Fußballs. Dort
nist hatte er zu allem etwas zu sagen. Dann es wieder eine Allianz gegen Franz. Sie ist alles möglich. Wer gut kicken kann und
kam die Sommermärchen-Affäre, und Be- wird angeführt von Steuerfahndern aus Glück hat, der wird berühmt, verdient ei-
ckenbauer tauchte ab. Deutschland und der Schweizer Bundes- nen Haufen Geld, weil im Fußball, dem
Vorigen März besuchte ein Team von anwaltschaft, und damit ist klar: Das ist beliebtesten aller Spiele, irrsinnige Sum-
SPIEGEL TV Beckenbauer in seiner Wahl- jetzt eine ernste Sache. Es wird gegen Be- men bezahlt werden. Wer helle genug ist,
heimat im Salzburger Land. Die Reporter ckenbauer ermittelt, unter anderem we- der macht, so wie Beckenbauer, nach der
wollten mit ihm darüber reden, ob die WM gen der Sommermärchen-Affäre, die der Karriere als Spieler auch noch Karriere als
2006 gekauft war. Beckenbauer, der ehe- SPIEGEL im Oktober 2015 lostrat. Es geht Funktionär. Beim DFB, bei der Fifa. Fliegt
malige Chef des WM-Organisationskomi- First Class durch die Welt, schläft in den
tees, wollte nicht reden, er sagte nur: „Ja, besten Hotels. Und überall ist Geld.
ihr habts ja einen Vogel“, setzte sich ans Beckenbauer hat dabei immer gern zu-
Steuer und brauste davon, als wäre er auf gegriffen. Im Zuge der Sommermärchen-
der Flucht. Affäre kam heraus, dass er Millionen für
Wenn man auf die letzten Jahre zurück- seine Arbeit als WM-Chef kassierte, ob-
blickt, fällt auf, dass dem Sport ein paar wohl er immer wieder beteuert hatte, als
Idole abhandengekommen sind. Der Rad- Ehrenamtler tätig gewesen zu sein. So ver-
profi Lance Armstrong wurde lebenslang blasst die Heldenfigur Beckenbauer, die
wegen Dopings gesperrt, die Sprinterin einst alles überstrahlte.
Marion Jones saß im Gefängnis, Real Ma- Der ganze Fußball, der ganze Sport er-
drid hat einiges an Steuervermeidung auf- scheint plötzlich düsterer.
zuklären. Deutschland hat auch einiges zu Sport ist in der Gesellschaft so präsent
bieten: den Doper Jan Ullrich, den Cele- wie nie zuvor. Andererseits hat das Publi-
brity-Unfall Boris Becker, den abgetauch- kum noch nie so viele Skandale miterlebt
ten Beckenbauer, dem man das Heldentum wie in den vergangenen Jahren. Der Fifa-
nicht mehr glaubt. Skandal, die DFB-Affäre, das verlogene
Vor allem der Kaiser liegt in der Land- IOC, der Niedergang Olympias, das Staats-
schaft herum wie eine schwer kontami- doping in Russland: Nie hat sich der Sport
nierte Altlast. als so korrupt und von Gier getrieben ge-
Der Europapolitiker Daniel Cohn-Ben- zeigt wie in der letzten Dekade.
dit bezeichnete Deutschland einmal als Der kommerzielle Sport ist ein großes
„Franzland“. Das war ein Jahr vor Beginn SPIEGEL-Ausgabe 43/2015 Illusionstheater, und zum Job des SPIEGEL
der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, dem Beckenbauer steht im Zentrum der Affäre gehört, dass er hinter dessen Kulissen
156 DER SPIEGEL 1 / 2017
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blickt. 1999 druckte das Magazin eine Ge- tionale Leichtathletikverband IAAF, des- hatte. Die Steuersparmodelle von Fußball-
schichte, die das Doping im Team Telekom sen Präsident gegen Geld positive Doping- stars wie Cristiano Ronaldo und Mesut
aufdeckte, für das auch das Radidol Jan proben verschwinden ließ, sind klandesti- Özil flogen auf.
Ullrich fuhr. ne, von Kameraderie und Gier durchsetzte In der Fußballbranche versuchte man,
Kurz nach Erscheinen der Story ging ein Gebilde, die sich ihre eigenen Regeln ge- die Enthüllungen herunterzuspielen. Das
Fax in der Redaktion ein, in dem stand, geben haben. Jahrzehntelang konnten die Publikum aber reagierte heftig, emotional.
die Behauptungen seien unwahr, es gebe Funktionäre, die es an die Spitze dieser Als Ronaldo nach der Veröffentlichung mit
kein Doping beim Team Telekom. Der Apparate geschafft hatten, ungestört mau- Real Madrid beim Clásico in Barcelona an-
SPIEGEL wurde verklagt. Weil ein Kron- scheln und tricksen. treten musste, sangen die Zuschauer Spott-
zeuge absprang, mussten Gegendarstellun- Doch in den vergangenen Jahren ist ihr lieder.
gen gedruckt werden. schmutziges Geschäft schwieriger gewor- Die Fans sind die ständigen Affären leid.
Die Journalisten, die die Geschichte re- den. Das FBI treibt die Fifa vor sich her. Sport soll anders sein als der Alltag – sau-
cherchiert hatten, blieben dran. Es gab ei- Steuerfahnder marschieren in der DFB- ber, gerecht, moralisch. Um Menschen, mit
nen neuen Kronzeugen. Und 2007 erschien Zentrale in Frankfurt ein. Whistleblower denen man sich identifizieren kann, darum
eine Titelgeschichte. Diesmal kam kein offenbaren sich den Medien. Hacker kna- geht es. Im Slum von Kapstadt kicken und
Fax, auch keine E-Mail. Stattdessen ge- cken Datenbanken und E-Mail-Accounts. Messi sein. Im staubigen Hochland von
standen reihenweise Telekom-Fahrer, ge- Nach Jahrzehnten der Verklärung erlebt Äthiopien barfuß Langstrecke laufen und
dopt zu haben. Der ehemalige Telekom- der Sport eine Ära der Aufklärung. Die denken: Irgendwann bin ich Tirnesh Di-
Sprecher Jürgen Kindervater, der jahrelang abgeschottete Welt der Funktionäre, sie baba, die Weltmeisterin.
öffentlich die Unwahrheit verbreitet hatte, ist nicht mehr ganz so sicher. Es gibt wunderbare Sportgeschichten.
entschuldigte sich beim SPIEGEL. Erst vor Monaten wurde von einer Solche wie die des Turners Fabian Ham-
Die Lüge war schon immer ein fester Gruppe namens „Fancy Bears“ die Daten- büchen, dem das Publikum jahrelang dabei
Bestandteil des Sports. Ben Johnson war bank der Wada, der Welt-Anti-Doping- zusah, wie er sich abrackerte für den einen
ein Lügner. Marion Jones war eine Lüg- Agentur, gehackt und kurz darauf offen- ganz großen Moment am Reck. Und dann
nerin. Armstrong war ein Lügner. Ullrich gelegt, dass über hundert Spitzensportler kam dieser Moment tatsächlich, beim
auch. Beckenbauer? Man wird sehen. Ausnahmegenehmigungen für Medika- olympischen Finale von Rio. Hambüchen
Vielleicht dauert es wieder acht Jahre, mente haben, die eigentlich auf der Do- gewann Gold.
bis auch die Sommermärchen-Affäre auf- pingliste stehen. Oder die Geschichte des tapferen An-
geklärt ist. Aber irgendwann wird die Und der SPIEGEL wertete monatelang, dreas Toba, der in Rio trotz eines Kreuz-
Wahrheit auf dem Tisch liegen. zusammen mit internationalen Partnern, bandrisses für sein Team im Mehrkampf
Große Verbände wie die Fifa, der DFB, Datenmaterial aus, das die Enthüllungs- an das Pauschenpferd ging. Ein junger
das IOC oder der betrügerische Interna- plattform „Football Leaks“ bereitgestellt Athlet, der sich überwand für seine Ka-
meraden. In solchen Storys bündelt sich
alles, was der Sport sein kann: ein Werte-
Auszug aus dem SPIEGEL vom 24. Juni 2013 system, das Teamgeist lehrt, Fair Play,
Leistungswillen. Eine Lebensschule, eine
Vorbildwelt, in der man einander achtet,
füreinander einsteht.
Ja, diese Idealwelt gibt es wirklich. Tau-
sende Ehrenamtler, die in Sportvereinen
als Trainer arbeiten oder am Wochenende
Kinder zu Wettkämpfen fahren, können
davon berichten.
Trotzdem hat vor allem der Profisport
seine Glaubwürdigkeit verloren. Er wird
heute nicht mehr als Wertesystem wahr-
genommen, sondern als Betrugssystem.
Daran sind Männer wie Beckenbauer
schuld. Funktionäre wie der deutsche IOC-
Präsident und ehemalige Fecht-Olympia-
sieger Thomas Bach, der sich nicht traute,
die russischen Athleten von den Sommer-
spielen in Rio auszuschließen, obschon
Beweise für ein gut organisiertes Staats-
doping in ihrem Land vorlagen.
Schuld sind auch Figuren wie Sepp Blat-
ter, der inzwischen abgesetzte Fifa-Chef.
Der Mann aus der Schweiz war in den ver-
gangenen Jahren ebenso mächtig wie ver-
Es begann mit einer Enthüllungsgeschichte, in SPIEGEL 24/1999. Der deutsche Rad- hasst, weil er in seinem Weltverband ma-
sportprofi Jan Ullrich, Gewinner der Tour de France 1997, hatte gedopt, und der fiöse Strukturen zuließ und sich auch selbst
SPIEGEL hatte dafür Zeugen. Ullrich erwirkte eine Gegendarstellung – und es folgte die Taschen mit Geld vollstopfte.
eine 14 Jahre dauernde Auseinandersetzung zwischen dem SPIEGEL Blatter hat selbst mal Fußball gespielt,
und dem Sportler. Nachdem Ullrich 2012 von einem Sportgericht wegen irgendwo in der Schweizer Amateurliga.
Dopings schuldig gesprochen worden war, beschrieben zwei Reporter Er sei der „Uwe Seeler des Oberwallis“
noch mal ihr langes Ringen um die Wahrheit. Die ganze Geschichte lesen gewesen, sagte er einmal. Wie er auf die-
Sie unter spiegel.de/spiegel/print/d-99311860.html oder in der App. sen Vergleich kam, weiß kein Mensch.
158 DER SPIEGEL 1 / 2017
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ASSOCIATED PRESS
ren und Fahnengeschwenke, die hohlen,
pathetischen Reden, das Funktionärsge-
pränge, die Medaillenzählerei – es bewegt
sie nicht mehr. Es rührt sie nicht an.
Der einzige Grund, warum es Olympia Nationalspieler Hoeneß, Beckenbauer 1974: „Ihr habts ja einen Vogel“
überhaupt noch gibt, warum TV-Sender
und Sponsoren dafür noch immer Milliar- de dreifacher Olympiasieger in Peking, in waren die Proben negativ. Aber heißt das,
den bezahlen, sind die großen Athleten, London und nochmals in Rio. er ist sauber?
die Menschen, die aus dem Nichts kom- Wenn es eine große Konstante gibt im Die wahren Heldengeschichten des Sports
men und zu Stars geworden sind. Weltsport der vergangenen zehn Jahre, werden heute zeitversetzt geschrieben.
Vor zehn Jahren reiste eine Gruppe dann ist es Usain Bolt. Er war immer da. Die Doping-Nachtests von Peking haben
Journalisten aus Europa nach Kingston, in Er war immer der große Gewinner. Er ist ergeben, das 37 Medaillengewinner seiner-
die Hauptstadt Jamaikas, um über den die Attraktion des Sports. Bolt ist größer zeit gedopt waren. Die Nachtests von
Sprinter Asafa Powell zu berichten. An als Messi. Er ist der schnellste Mensch aller Olympia in London haben bisher ergeben,
einem Abend gab es ein großes Essen. Ir- Zeiten. Immer wenn er bei Olympischen dass 9 Sieger betrogen haben.
gendwann gesellte sich ein anderer drahti- Spielen in den Startblock trat, hielt die In einigen Jahren wird man wissen, wel-
ger Athlet zu der Runde. Der junge Mann, Welt den Atem an. che Gewinner in Rio Lügner waren. Erst
auch ein Sprinter, flirtete ein bisschen mit In der Figur Bolt zeigt sich aber auch dann kann abgerechnet werden. Es gibt
einer schönen Frau, die neben ihm saß, das ganze Dilemma des Sports: Bolt fas- immer neue, bessere Methoden, im ein-
trank ein Bier und sogar noch ein Bier und ziniert die Menschen, weil nie ein Läufer gelagerten Urin der Sportler verbotene
ging anschließend in einer Bar tanzen. so schnell, so dominant und dabei so lässig Substanzen aufzuspüren.
Am nächsten Tag sahen die Journalisten war wie er. Er irritiert die Menschen, weil Man wird auch die Proben Bolts immer
ihn beim Training wieder. Er lief barfuß man sich nicht vorstellen kann, dass es wieder nachkontrollieren.
über eine Wiese und zog Autoreifen hinter ausgerechnet bei diesem Ausnahme- Vielleicht geht er wirklich als Wunder-
sich her. athleten mit rechten Dingen zugehen läufer in die Geschichte ein. Wenn aber
„Er wird der neue Weltrekordler“, sagte soll. doch noch eine Probe auftauchen sollte,
ein Trainer. Die Reporter zuckten mit den In den vergangenen Jahren wurden vie- die das Gegenteil beweist – das wäre der
Schultern. le große Sprinter des Dopings überführt, Moment, in dem im Sport endgültig das
Zwei Jahre später rannte der schlaksige Justin Gatlin, Tyson Gay, Tim Montgome- Licht ausgeht.
Läufer tatsächlich zum Weltrekord, er wur- ry. Bolt wurde hundertfach getestet, immer Ausgehen müsste, jedenfalls. I
Ausgabe 18/2007 Ausgabe 15/2008 Ausgabe 2/2014 Ausgabe 23/2015 Ausgabe 44/2015
Radsport: Ein neuer Olympia in Peking – Spiele Michael Schumacher: Spielverderber – Sepp Beckenbauer im Winter
Kronzeuge packt aus in der Diktatur Unglück einer Sportlegende Blatters Schattenreich seines Missvergnügens
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Nachrufe
SIBYLLE BODEN-GERSTNER, 96 rierte Lieder. „Am Bekannt-
Die Kritik ihrer Vorgesetzten sein störte mich immer das Be-
GÜNTER PRUST
Drogen- und Alkoholprobleme und ihre bipolare Persön- denn der Preis darf nur an Le-
lichkeitsstörung in mehreren Büchern verarbeitet, sie hatte bende verliehen werden. Vera
erfahrungsgesättigte Drehbücher verfasst und das Leben Rubin starb am 25. Dezember
in Hollywood hellsichtig und scharfzüngig beschrieben. Sie in Princeton, New Jersey. hil
war eben eine ganz besondere Prinzessin, die in Licht- verwirklichen durfte. Danach
geschwindigkeit durchs All gesaust war, in ihrem strahlend arbeitete sie als Kostümbild- RICK PARFITT, 68
weißen Kostüm, aber die Tiefen und den Schmutz der nerin. Sibylle Boden-Gerstner Fast ein halbes Jahrhundert ist
irdischen Existenz durchschritten hatte: eine Überlebens- starb am 25. Dezember in es her, dass der britische Gitar-
kämpferin. Im nächsten „Star Wars“-Film, der schon ab- Kleinmachnow bei Berlin. gla rist Rick Parfitt in eine aufstre-
gedreht ist und Ende 2017 anlaufen soll, wird sie posthum bende Band namens Status
noch einmal zu sehen sein. Carrie Fisher starb am 27. De- KNUT KIESEWETTER, 75 Quo einstieg. Nur ein paar
zember in Los Angeles. lob Der Friesen-Beatle wurde er Jahre später kam der weltwei-
genannt, weil seine Lieder te Erfolg: „Rockin’ All Over
die Poesie des Plattdeutschen the World“ spielte die Band
HANS TIETMEYER, 85 zeigten. Aber er hatte auch,
CONSTANTIN FILM
Leaks-Gründer Julian Assange beim Ausbau der Enthüllungs-
Turbo-Journalismus plattform geholfen und mit dem SPIEGEL bei der Veröffent-
Dem deutschen Schauspieler Daniel Brühl schwirrt in dem lichung von Geheimdokumenten zusammengearbeitet hat.
amerikanischen Thriller „Inside WikiLeaks – Die fünfte Condon schaute sich die Berliner SPIEGEL-Büroräume zur
Gewalt“ der Kopf, als er das Berliner SPIEGEL-Büro betritt. Vorbereitung auf den Film an und ließ sie dann in einem
Emsiges Treiben, wohin er schaut, es wird geschrien, gerannt Brüsseler Filmstudio nachbauen, größer als im Original, wie
und in die Tasten gehämmert. Regisseur Bill Condon insze- es sich für Hollywood gehört. Auch die Plakate von SPIEGEL-
nierte die Redaktionsarbeit 2013 als frenetischen Turbo-Jour- Titeln über Karl Marx und Albert Einstein, die in einem der
nalismus in einem Krieg um Informationen. Rudolf Augstein Redakteurszimmer hingen, waren Condon zu klein. Im Film
hätte seine Freude, das Sturmgeschütz der Demokratie in gehen sie vom Boden bis zur Decke, Brühl (M.) verschwindet
einem solchen Dauerfeuer zu sehen. Brühl spielt den deut- darunter fast. Wenn sich der SPIEGEL und Hollywood zu-
schen Netzaktivisten Daniel Domscheit-Berg, der dem Wiki- sammentun, kann selbst ein Star zum Zwerg werden. lob
Zündstoff spielt von Laura Tonke. „Auf führen?“, kommt es aus der der RAF 2002 als Räuber-
der Flucht, kein Fernsehen, Gruppe ihrer Gefährten zu- pistole über notorisch mies
Wenn sie nichts zu tun haben, kein Plattenspieler, kein rück. Regisseur Christopher gelaunte Radaubrüder und
wenn sie nicht ihre Knarren Strom – und den Kanzler ent- Roth erzählte die Geschichte -schwestern, die gern richtig
oder große Worte schwingen, coole Gangster wären. Es
dann lesen die RAF-Terro- scheint, als seien die SPIE-
risten in dem Film „Baader“ GEL-Hefte ihr einziger Reali-
gern den SPIEGEL (hier tätsbezug. Kein Wunder also,
Andreas Hofer, Hinnerk Schöne- dass sie den auch noch zer-
mann und Angie Ojciek). Das stören. Als sie in einem Haus
ATLAS PICTURES / UNIVERSUM FILM
Personalien
Dramatik am Kiosk man seit den Verzögerungen
bei der Eröffnung des Pan-
Sie schaut sich verzweifelt nen-Airports BER weiß.
um, denn ihre Tochter ist ver- Der deutsche Regisseur
schwunden. Hollywood-Star Robert Schwentke drehte
Jodie Foster spielt in dem diese Szene seines Holly-
Thriller „Flightplan – Ohne wood-Debüts lieber gleich
jede Spur“ (2005) eine Ame- auf dem Leipziger Flughafen.
rikanerin auf einem Berliner Das Cover ließ er von der Ti-
Flughafen. Da fällt ihr Blick telbildredaktion des SPIEGEL
auf einen Kiosk: Ihre Tochter entwerfen. Es zeigt einen
steht vor einem Zeitungsstän- Terroristen, den es in der
Der Augenzeuge
blättchen ein bisschen hoch gegriffen. Neh- umgeschaltet, er da- mal, als 57-jähriger aus dem Knien mit
men Sie zum Beispiel das adäquate Pro- heim das Blatt ent- einem Ruck aufzustehen, ohne die Hände
dukt der Christenpartei, „Deutsches Mo- faltet, blicken Frau zu Hilfe zu nehmen oder sich zuerst mit
natsblatt“, es kostet 50 Pfennig. Nehmen und Kind perplex einem Bein aufzurichten und dann das an-
Sie das Organ der Sozialfanatiker, „Vor- auf den ungewohn- dere nachzuziehen.
wärts“, nehmen Sie ein Taschenbuch: Es ten Sex, und des Klaus Rademacher, Solingen
gibt schon welche für 2,20 Mark. Hausherrn Renom-
Werner Blume, Bad Oeynhausen (NRW) mee schmilzt so Darf man, nachdem Ihnen mit der schrägen
schnell wie Mär- Titelblattfrage der Durchbruch zur Bilder-
In Deutschland geh’n die Lichter aus, den zenschnee. Wer, o blatt-Berichterstattung gelungen ist, sich
SPIEGEL druckt das Springer-Haus! Spieglein an der jetzt auf die fällige Zusatzquote freuen (SPIE-
Axel Herrmann, Hamburg Wand, darf wohl GEL-Umfrage: Kniete Brandt zu lange?).
heut im deutschen Land von St. Pauli bis Wolfgang Kessler, Marburg
In der SPIEGEL-Affäre bin ich für Sie auf zum Rhein ungestraft so sexy sein?
die Straße gegangen und habe gleich drei Felix Burckhardt, Basel Nr. 4/1973 Augstein gibt sein FDP-Bundestagsmandat
Exemplare gekauft, um Sie finanziell zu auf
unterstützen. Würden Sie morgen einge- Nr. 47/1970 Titel: Vertrag mit Polen – Aussöhnung Gratuliere zu dem Entschluss, das Steuer
sperrt, würde ich für Sie keinen Finger oder Ausverkauf? des SPIEGEL erneut zu ergreifen. Was ist
mehr rühren. Nun ist es so weit: Pommernland ist abge- schließlich der Bundestagsabgeordnete
Ein SPIEGEL-Leser der ersten Stunde, Hamburg brannt. So werden es jetzt die restdeutschen Augstein gegen den Chefredakteur des
Kinder singen und schreiben. SPIEGEL? Bestenfalls ein Scharfschütze ge-
Sind Ihnen sehr verbunden für das neue Wilhelm Raddatz-Pommern, Bad Homburg (Hessen) gen eine mehrstrahlige B-52, um im Jargon
SPIEGEL-Format. Eignet sich hervorra- unserer gewalttätigen Zeit zu bleiben.
gend für Benutzung unter der Schulbank. Sie haben doch einen großen Leserkreis. Erich Karsten, Gelsenkirchen
SPIEGEL-Leser der O IIa der Kieler Gelehrtenschule Dabei gibt es sicher auch viele Menschen,
die aus den besetzten Gebieten kommen. Die gleichförmige Reaktion der Presse lässt
Endlich gelang es mir, in einem Laden Können Sie diese Menschen nicht einmal vermuten, dass Ihre Entscheidung mögli-
am Rande der Stadt vom Nachschub ein fragen, ob wir Deutsche aus den Ostgebie- cherweise richtig war.
SPIEGEL-Exemplar zu ergattern. Ver- ten nicht mit Würde hergeben können, was Lothar Mascheck, Frankfurt am Main
dattert, ergriffen und beschämt stelle ich wir schon seit 1945 nicht mehr besitzen?
fest: Meine im Zorn entwickelte Prognose, Ursula Leichnitz, Berlin Sie haben mir mit Ihrem Rücktritt als FDP-
dass der SPIEGEL durch seine Selbsterhö- Abgeordneter und Ihrem Ausscheiden aus
hung sich verkehrstechnisch im Umlauf Einen besseren Anwalt als den SPIEGEL dem Siebten Deutschen Bundestag eine
mindern würde, war eine glatte Fehlzün- kann sich Polen gar nicht wünschen. Aber große Freude gemacht. Ich danke Ihnen
dung. erst die Geschichte wird darüber richten, dafür. Von allen mir nicht sympathischen
Benno Rilke, Lindau ob die bisher de facto und in Zukunft wohl Abgeordneten des Bundestages wären Sie
de jure vollzogene Westverschiebung die Nummer eins, noch weit vor Wehner
Nr. 24/1967 Proteste anlässlich des Schah-Besuchs Polens gerechtfertigt ist. gewesen.
Mir scheint, Sie übersehen bei Ihrer ge- Rüdiger Priebisch, Kornwestheim Heinrich Schneller, Hamburg
genüber den studentischen Terroristen in
Berlin deutlich positiv gehaltenen Bericht- Nr. 51/1970 Titel: SPIEGEL-Umfrage zur Geste des Nr. 37 und 39/1975 Titelbilder zu „Kino der Lüste“ und
erstattung, dass, wenn diese Art von Aka- Bundeskanzlers in Warschau: Durfte Brandt knien? „Kampf um die Pfunde“
demikern dereinst als Richter und Staats- Mit der knienden Gebärde des Bundes- Die Ausgabe des SPIEGEL sende ich Ihnen
beamte auf alle deutschen Bürger und als kanzlers Willy Brandt wurde eine priester- anliegend zurück. Es widerstrebt mir,
Studienräte speziell auf deren Kinder los- liche Funktion für Atheisten und Christen meinem Chef dieses Heft, das den An-
gelassen werden, auch Ihre Stunde geschla- in ganz Deutschland ausgeübt, und wir strich einer Porno-Zeitschrift hat, auf den
gen haben wird. alle schulden ihm Dank. Tisch zu legen. Sofern Sie Schwierigkeiten
Wolfgang Brocke, Essen Heinrich Giesen, Pastor, Berlin haben sollten, Ihre Titelseite zu gestalten,
so empfehle ich Ihnen, sich gegebenenfalls
Der SPIEGEL scheint relativ fassungslos Aus den beiden letzten SPIEGEL-Ausgaben Anregungen aus Ihrem Leserkreis zu
dem Phänomen gegenüberzustehen, dass werde ich mir folgende Fotos aufheben: holen.
in der Bundesrepublik jemand, in der Re- die aus Vietnam und die vom knienden Ruth Köhler, Vorstandssekr. Sauerstoffwerk Westfalen AG,
gel außerhalb der Parteiungen nach Bon- Kanzler Brandt in Warschau. Man kann Münster
ner Vorbild stehend, politisch, weltan- aus ihnen lernen, dass sinnloser und be-
schaulich etc. rege ist: Studenten. Eigent- fohlener Völkermord noch heute vor- Ich habe mir aufgrund der beiden letzten
lich sollten sowohl Sie als auch in seltener kommt und dass es Titel die Mühe gemacht, einmal aufzu-
Einigkeit mit Ihnen die Politiker darob froh Gesten gibt, die die schlüsseln, wie viele Fotos von Frauen und
sein, wenn bedacht wird, dass bei Weitem Erinnerung daran Männern im Heft 39 zu finden sind. Er-
zu viele Bewohner dieses Landes politisch mildern können. gebnis: „Normal“-Fotos Frauen gleich 19,
völlig desinteressiert sind. Ch. Ekowski, Therwil Männer gleich 74, Frau/Mann 5. Nackt-
(Schweiz)
H. Arno Demant, Düsseldorf fotos Frauen: 6 plus Titel. Nacktfotos Män-
Klaus Schmuda, Köln ner: eins aufgrund der Titelgeschichte
Kein Mensch kann (ohne Penis!). Die Einstellung des SPIEGEL
Nr. 32/1970 Titel: Zuviel Sex? Deutschland erlebt eine mir weismachen, kann nicht deutlicher zum Ausdruck ge-
„Sex-Welle“ dass dieser Kniefall bracht werden als durch diese Visuali-
Freut der SPIEGEL sich an Porno, denkt nicht vorher geübt sierung.
der Abonnent an Storno. Wenn, auf Muße war. Versuchen Sie Ingrid Borchers, Hamburg
Nr. 26/1977 Serie Kommunismus heute: Was war bei dem Gedanken, Nr. 33/1983 Titel: Aufruhr bei den Grünen – Die
die Ursache der russischen Despotie? dass diese Zeit- belästigte Frau; ein Bundestagsabgeordneter hatte
Sie vom SPIEGEL nehmen zur Kenntnis, genossen eines Ta- seinen Mitarbeiterinnen an den Busen gegriffen
wie die asiatische Herrschafts- und Erobe- ges unseren Staat Ich werde die Grünen wieder wählen, wenn
rungsweise der Moskowiter in der mongo- allein führen. Ich sie sich verpflichten, ins Kloster zu gehen,
lischen Tradition entstanden ist – etwas, bleibe bei meiner was keineswegs eine inhumane Zumutung
was jene Linken, die mit einem Bein in Meinung, dass das ist. Die weiblichen grünen MdB sind als
Moskau oder Peking zu stehen pflegen, Problem einfach zu Nonnen dann endlich am Ziel ihrer Begehr-
krampfhaft ignorieren. Wie verhängnisvoll lösen ist: jagen, fan- lichkeiten anbelangt. Ich gestehe, das alles
aber die Unklarheit in dieser Sache sich auf gen und erschlagen. schlage ich nur vor, damit wir anderen, wir
die Begriffe von Demokratie und Sozialis- Edwin Radzak, Oberhausen grünen, roten, weißen und schwarzen Wäh-
mus auswirkt, kann nur der übersehen, der ler, unter uns bleiben können, einander be-
die Untrennbarkeit von Sozialismus und Ich habe lange gezögert, dies niederzu- tatschend, begehrend, liebend, bumsend,
Erbschaft der bürgerlichen Revolution miss- schreiben, aber auch ich habe zu lange geilend. Ich wähle grün, ohne fundamen-
achtet. Die Wege Russlands und Europas mein Maul gehalten und habe schönge- taloppositionell zu sein oder zu werden.
trennten sich fundamental voneinander. macht, damit keiner mit Fingern auf mich Mir reichte es schon, ließen sich die Atom-
Marx hat nicht umsonst bis zum Schluss zeigt. Was aber nützt das Schweigen. Hier- rüstungen verhindern und der drohende
strikt abgelehnt, die Kategorie des Feuda- mit drücke ich meine Hochachtung vor Krieg sabotieren. Love not war.
lismus auf Russland anzuwenden. Brandt, Böll, Grass, Gollwitzer, Scharf, Al- Gerhard Zwerenz, Schriftsteller, Schmitten (Hessen)
Rudi Dutschke, Aarhus (Dänemark) bertz, dem SPIEGEL und all jenen aus, die
auch in Zukunft ihre Schnauze nicht halten Nr. 9/1987 Theater: SPIEGEL-Redakteur Hellmuth
Nr. 31/1977 Titel: Urlaubsland Italien und auch nicht auswandern, wenn Strauß, Karasek über Intendanten-Farce und Theaterkrise in
Glückwunsch zu Ihrem gelungenen Italo- Filbinger & Co. die Regierung überneh- Hamburg
Titelfoto. Allerdings: Es fehlt etwas Toma- men sollten. Lieber SPIEGEL, ich glaube, bei Ihnen ist
tensoßenblut, und Rainer Guleleisch-Mebes, Arbeiter, Augsburg die Krise. Sicherlich nicht bei uns im
der deutsche Weih- Schauspielhaus. Wir arbeiten mit Lust und
rauch-Arminius-Re- Sie haben recht behalten: Ich werde wei- Freude und kümmern uns einen Dreck um
volver gehörte durch terhin mit dem Ruch eines Sympathisanten eingestürzte Altkritiker, die sich auf Lan-
eine Made-in-Italy- von meiner bürgerlichen Umwelt distan- zarote den Arsch bräunen.
Pistole ersetzt; mein ziert bleiben. Ich frage mich auch, ob mich Peter Zadek, Intendant des Deutschen Schauspielhauses,
Vorschlag: Beretta, nicht als Publizist eine Mitschuld trifft. Wir Hamburg
rede, als Sympathisant abgestempelt. ist, was Männer an Frauen schätzen, dann
V. Ludwig Stropp, Friedrichstadt (Schl.-Holst.) ist es wohl noch ein weiter Weg bis zur Nr. 25/1997 SPIEGEL-Essay: Die ehemalige BRD
„gesellschaftlichen Anerkennung“ der von Hans Michael Kloth
Zum Glück haben wir noch Strauß im Frau. Es ist erstaunlich, wie viele zündelnde Platt-
Land, sonst könnte einem angst werden Sibylle Kramer, Sekretärin, Ehefrau und Hausfrau, Hannover heiten man über zwei Seiten verrühren
170 DER SPIEGEL 1 / 2017
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kann, um den Leichnam des dritten Weges Schlichtheit und einer unspektakulären Nr. 41/2012 Internet: Warum uns der Abschied
mit volkseigenem Milchbrei zu füttern. Überschrift gelingt es Ihnen, dieses vom Papierbuch schwerfällt – Erfahrungsbericht des
Dr. Helmut Seidel, Rodenbach (Rhld.-Pf.) schreckliche Ereignis einzufangen. E-Book-Fans Hilmar Schmundt
Roger Tschudin, Oberwil (Schweiz) Sie scheinen nie das Vergnügen verspürt
Der Essay verdiente es, kniend gelesen zu zu haben, ein antiquarisches Buch in der
werden. Da stimmt einfach alles. Da ist Ganz und gar unnötig war es, den Blick Hand zu halten, das fantastisch illustriert,
nichts hinzuzusetzen. Er macht aber auch der Zuschauer auf jene zuzulassen, die sich großartig gebunden und durch zig Hände
deutlich, dass der Weg zu einer neuen re- im Angesicht des Todes nur noch aus dem gegangen ist. Nie scheinen Sie Sand zwi-
formierten demokratischen Republik lang- Fenster stürzen konnten. Nicht nur, dass schen den Seiten gefunden zu haben, nie
wierig und steinig ist. dies mit journalistischer Aufklärung auch scheint Ihr Vater Ihnen ein Buch geschenkt
Tilo Walz, Neumark (Sachsen) nicht das Allergeringste zu tun hat, dass zu haben mit dem Hinweis, dass es einst
dies den Schock über das Gesehene zu- in einer Bombennacht Schutz und Trost
Nr. 9/1998 Titel: Passen Männer und Frauen sätzlich bis ins Unerträgliche aufbläht, es gespendet hat.
überhaupt zusammen? entwürdigt und entblößt zudem das Andreas Groell-Döhring, Euskirchen (NRW)
Da möchte ich mit meiner weisen Mutter Schicksal dieser Menschen auf schändlichs-
antworten: „In der Mitte schon!“ te Weise. Nr. 15/2014 Titel: Jugend
Konrad Schnabel, Monheim (NRW) Lars Gewehr, Stuttgart forscht – Wie schädlich
ist Pornografie?
Nr. 38/2001 Titel: Bei aller Anteilnahme für die Toten des Für einen angeb-
Der Terror-Angriff: Krieg Terrors wird nun offensichtlich die Trauer lich kritischen Ar-
im 21. Jahrhundert von den Parteien missbraucht. Die einen tikel selbst mit
In der Vergangen- sind begeistert, dass der Spendenskandal einem halb porno-
heit haben die kein Thema mehr ist, und spekulieren be- grafischen Titelbild
USA Milliarden reits auf eine Große Koalition. Die ande- aufzumachen zeigt,
ausgegeben, um ren frohlocken, dass sich das Thema Schar- wie läppisch, jovial,
sich Feinde zu ping erledigt hat und die undemokratische pubertär und un-
schaffen. Jetzt stel- Disziplinierung einiger Abgeordneter kei- verantwortlich Sie
len sie Milliarden ne Zeitungszeile mehr Wert ist. Die Grü- mit dem Thema
bereit, diese Fein- nen sind ohnehin nicht mehr für voll zu umgehen. „Jugend forscht“ – Pennäler-
de zu bekämpfen. nehmen, weil sie als Lehensträger der SPD witze! Ich bitte Sie! Peinlich, peinlich. Bitte
Werden die Amerikaner je aus ihren Feh- zum Vasall des Kanzlers wurden und ihre erinnern Sie sich daran, dass auch Frauen
lern lernen? Man kann nur hoffen, dass Geisteshaltung auf dem Altar der Macht den SPIEGEL lesen.
sie erst einmal nachdenken, ehe sie Bom- geopfert haben. Und die Regierung nutzt Gerd Fröhlich, Emmendingen (Bad.-Württ.)
ben werfen. Europa sollte mit einer un- die Trauer der Bevölkerung, um unbelieb-
eingeschränkten Solidarität mit den USA te Gesetze und Steuererhöhungen ohne Super. Ich habe lange und herzlich über
vorsichtig sein. großes Lamento voranzutreiben. das Titelbild gelacht. Der SPIEGEL zeigt,
Gerard Boekel, Kaitaia (Neuseeland) Anton Hackhausen, Siegen dass man auf ernsthafte Themen auch mit
Humor eingehen kann.
Das ist eine neue Dimension dessen, was Auch wenn vermutlich islamische Extre- Dr. Milan C. Pesic, Bad Harzburg (Nieders.)
der Mensch dem Menschen an Bösem an- misten hinter diesen Anschlägen stehen,
zutun vermag. Das erste große Erschre- so steht jedoch keinesfalls der Islam oder Nr. 26/2015 Hausmitteilung: Umstellung der Leser-
cken des 21. Jahrhunderts. gar die Mehrheit der Muslime dahinter, briefe ans Heftende
Dietrich Steinwede, Bonn genauso wenig wie die katholische oder Sicher ist es richtig, ab und an Dinge zu
protestantische Kirche hinter den Anschlä- verändern, um auch bessere Ergebnisse zu
Vielen Dank für die Vorverlegung des Aus- gen in Nordirland oder im Baskenland erzielen. Diese Entscheidung gefällt mir
gabedatums. Ich wagte anlässlich des Me- steht. Leider häufen sich zurzeit Pauschal- jedoch nicht. Ich vermisse die vielschichti-
dienaufschreis gar nicht zu hoffen, vor urteile. Aus diesem Grund rufen wir zur ge Reflexion der Leser als Einstimmung
nächstem Montag an verlässlich recher- starken Differenzierung zwischen den Ter- auf die neuen Artikel. Bitte überprüfen Sie
chierte Informationen zu den Vorfällen zu roristen auf der einen sowie den Muslimen Ihre Entscheidung doch einmal, vielleicht
gelangen. und dem Islam auf der anderen Seite auf. bin ich ja auch nicht der Einzige, der diese
Carsten Riggelsen, Norderstedt (Schl.-Holst.) Wir verurteilen jeden Terrorismus und be- Empfindung hat.
kunden den Opfern, deren Angehörigen Hansjörg Peters, Stuttgart
Ich bin entsetzt über die Anschläge, aber sowie allen weiteren Beteiligten unsere ab-
noch mehr über die Reaktionen der west- solute Anteilnahme und beten für eine Nr. 44/2015 Gesundheit: Wir sind nur noch Pflege-
lichen Welt, die nun eine Kriegspropagan- friedlichere Welt. roboter, von Laura Höflinger
da vorantreibt, um Legitimation für Ver- Kinan Darwisch, Islamische Studentengemeinschaft an Neben dem interessanten und gut geschrie-
geltungsanschläge gegen ein total verarm- der TU Clausthal, Clausthal-Zellerfeld (Nieders.) benen Artikel über Pflegekräfte empfand
tes Land zu erreichen, in dem Kinder nicht ich im SPIEGEL Ihr Profilfoto als das High-
einmal genug Wasser und Nahrung haben. Seit dem 11. September dieses Jahres sollte light. Daher die Frage: Sind Sie Single? Ich
Chang-Hun Jo, Frankfurt am Main allen klar sein, dass der Terrorismus die würde Sie gern mal auf einen Kaffee ein-
gesamte friedlich gesinnte Staatengemein- laden.
Als langjähriger treuer SPIEGEL-Leser schaft bedroht. Bomben und Raketen, die Henning L., männlich, 33, gebildet
möchte ich Ihnen für die Titelblatt-Gestal- zu allererst wieder unschuldige Zivilisten
tung dieser Ausgabe mein Kompliment töten, sind der beste Weg, den Krieg gegen Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
aussprechen. Wo andere Blätter billige Ef- den internationalen Terrorismus langfristig (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
fekthascherei betreiben, heben Sie sich zu verlieren. sowie digital zu veröffentlichen und unter
wieder mal wohltuend vom Rest ab. Mit Ulrich Flaig, Frankfurt am Main www.spiegel.de zu archivieren.
DER SPIEGEL
I N ZAH LE N
Wie ein SPIEGEL-
Artikel entsteht
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In 14 Stationen bis zum Druck
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stimmberechtigte Mitarbeiter
Ein typischer Ablauf für Text.
Ähnlich werden Bilder und Grafiken überprüft.
1947
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SPIEGEL-Zitate wurden
einer Hausfrau in Düssel-
dorf eingemündet“
(O-Ton SPIEGEL 27/1965).
Korrekturen an den Autor
und an das Ressort weiter.
Belletristik Sachbuch
Studentische Helfer
1. Michael Ende 1. Hape Kerkeling unterstützen die
Die unendliche Geschichte 113 Ich bin dann mal weg 101 Schlussredaktion.
2. Noah Gordon
Der Schamane 69
2. Christiane F.
Wir Kinder vom Bahnhof Zoo 95 70
Dokumentations-
3. Gabriel García Márquez 3. C. W. Ceram
Die Liebe in Der erste Amerikaner 64 journalisten
Zeiten der Cholera 68 recherchieren für die
4. Ute Ehrhardt SPIEGEL-Redaktionen
4. Jostein Gaarder Gute Mädchen kommen in
Sofies Welt 63 den Himmel, böse überall hin 57 und überprüfen alle Die Schluss-
Artikel und Bilder vor redaktion II
5. Benoîte Groult 5. Marcel Reich-Ranicki Drucklegung auf ihre liest den Text
Salz auf unserer Haut 59 Mein Leben 52 sachliche Richtigkeit. ein letztes Mal.
13,4
Millionen Leser
nutzen SPIEGEL-Inhalte
Woche für Woche – 51278955
gedruckt oder digital. Exemplare des SPIEGEL
wurden 2015 gedruckt;
7463 038 362 Seiten mit
einem Gesamtgewicht
von 14874978 Kilogramm.
5 Tage
vergingen bis zum schnellsten
Die Fahne geht wieder zurück an den Autor … Rauswurf: Am 8. Februar 1982
berichtete der SPIEGEL, dass sich
Vorstandsmitglieder der Neuen
Heimat (NH), unter anderen der
Vorsitzende Albert Vietor, persönlich
am Konzern und an den Mietern
bereichert hatten. Am 13. Februar
beurlaubte der NH-Aufsichtsrat
die Beschuldigten.
§
… an die Chefredaktion …
1446325
Exemplare verkaufte
der SPIEGEL von der
Ausgabe 38 /2001
… an die Rechtsabteilung … („Terror-Angriff“) zu
den Ereignissen am
11. September:
das bestverkaufte Heft
des Nachrichten-Magazins.
1948
war zum ersten Mal eine Politikerin
auf dem Titel des SPIEGEL zu sehen:
62 die Berliner Oberbürgermeisterin
17366 Louise Schröder.
1
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Die Schlussredaktion I
korrigiert die Ressortseiten. 75 SPIEGEL-Titel zeigten Helmut Kohl. 45-mal
erschien dort Franz Josef Strauß, 42-mal Willy Brandt.
DER SPIEGEL 1 / 2017 173
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Zitate
Die Labour-Wochenzeitung „Tribune“ in
einem Bericht über angebliche bundes-
deutsche Raketenpläne im Zusammen-
hang mit dem SPIEGEL-Bericht „Rake-
ten – Einfach idiotisch“ (Nr. 35/1960):
Zusammen sind wir stark. Damit das so bleibt, muss gute Arbeit fair bezahlt
werden, auch im digitalen Wandel. Das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales sichert das mit dem Mindestlohn sowie klaren Regeln für Leiharbeit
und Werkverträge. Im Weißbuch Arbeiten 4.0 zur Digitalisierung in der Arbeits-
welt haben wir Maßnahmen gesammelt – damit Arbeit auch in Zukunft zum
Leben passt. www.bmas.de
KaelDesu deutschlernmaterialien.blogspot.com