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1 Identitäres Demokratiemodell
Es existieren unterschiedliche Auffassungen darüber, wie eine Demokratie aufgebaut sein
soll. Diese Auffassungen lassen sich auf zwei alternative Demokratietheorien zurückführen,
die in der Auseinandersetzung mit dem→ Absolutismus entstanden sind; sie sind später von
der Politikwissenschaft als „Identitätstheorie“ bzw. als „Konkurrenztheorie“ bezeichnet
worden.
Dies führt zu der Frage, wie die Gesetze beschlossen werden. Rousseau favorisiert hier die
direkte Demokratie. Gesetze sollen also durch Volksabstimmungen verabschiedet werden.
Doch hierbei soll nicht einfach die Mehrheit entscheiden. Rousseau geht davon aus, dass es
einen einheitlichen Volkswillen gibt, den Gemeinwillen (volonté générale). Das ist die
Entscheidung, die objektiv richtig ist und dem Gemeinwohl dient. Der Gemeinwillen
kristallisiere sich in der Diskussion während der Volksversammlung aus der Vielzahl der
Einzelwillen (volontés particulières) heraus. Der Gemeinwille sei also nicht einfach die
Gesamtheit der egoistischen Einzelinteressen (volonté de tous), sondern die jeweils
vernünftige, gemeinwohlorientierte Lösung. Es komme darauf an, die gemeinwohlorientierte
Lösung eines politischen Problems zu erkennen. Rousseau ist der Ansicht, dass nicht nur
eine Mehrheit den Gemeinwillen erkennen sollte, sondern möglichst alle Bürger. Denn nur,
wer Gesetzen gehorche, deren Sinn er selbst erkannt habe (und denen er selbst zugestimmt
habe), sei wirklich frei. Daher fordert Rousseau ein hohes Bildungsniveau der Bevölkerung,
damit diese in der Lage sei, die anstehenden politischen Probleme angemessen zu
beurteilen.
Der Gemeinwillen könne sich am besten unter der Voraussetzung bilden, dass es keine
organisierten Interessen, etwa in Form von Parteien oder Gewerkschaften gebe, da ein
geschlossenes Auftreten von Sonderinteressen deren Durchsetzung erleichtere. Wenn sich
Interessenorganisationen bildeten, könne es vorkommen, dass der Mehrheitswillen der
Bürger zum Ausdruck von Sonderinteressen werde; er stimme dann nicht mit dem
Gemeinwillen überein. In diesen Fällen besteht nach Rousseaus Ansicht die Gefahr einer
Tyrannei der Mehrheit.
Im Grunde setzt also Rousseaus Theorie eine homogene Gesellschaft voraus, in der
Partei- und Verbandsbildungen überflüssig sind. Die sozialen Gegensätze sollten möglichst
gering sein, an die Stelle verschiedener Religionen sollte ein gemeinsamer Wertekanon,
eine gemeinsame Ideologie (religion civile) treten.
Die moderne Rousseaukritik hat ihn als, wenn auch unfreiwilligen, Wegbereiter totalitärer
Ideologien bezeichnet. Mit seiner Annahme eines a priori (von vornherein) objektiv
erkennbaren Gemeinwohls, seiner Absage an einen gesellschaftlichen Pluralismus, mit
seinen Zweifeln am Mehrheitsprinzip könne eine Erziehungsdiktatur gerechtfertigt werden,
könnten Einzelne vorgeben, das Wahre und den richtigen Weg dorthin zu wissen. Im Dritten
Reich erhob Hitler für seine Person einen derartigen Anspruch; Volksabstimmungen hatten
lediglich den Zweck, die Zustimmung des Volkes zur Politik des „Führers“ zu demonstrieren.
Auch Lenins Überzeugung, dass eine Avantgarde der Arbeiterklasse, die kommunistische
Parteielite, höhere Einsichten besitze und dazu berufen sei, dem übrigen Volk den richtigen
Weg zum feststehenden Endziel zu zeigen, geht in diese Richtung. Ungeachtet dieser
missbräuchlichen Interpretationen der Rousseauschen Theorie werden in aktuellen
Diskussionen über Reformen der gegenwärtigen Demokratien Teile des identitären
Demokratiemodells aufgegriffen, z. B. in Bezug auf die vermehrte Einführung von
Volksabstimmungen zur stärkeren Beteiligung des Volkes an politischen Entscheidungen.
Auch Forderungen nach einem imperativen Mandat, nach Ämterrotation und
Basisdemokratie sind seit den 1980er-Jahren vor allem in der Partei der Grünen diskutiert
worden.
Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten. (l, 1)
„Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person
und das Vermögen jedes Gesellschaftsmitglieds verteidigt und schützt und kraft dessen
jeder Einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so
frei bleibt wie vorher?“ Dies ist die Hauptfrage, deren Lösung der Gesellschaftsvertrag
(contrat social) gibt. [...]
Scheidet man [...] vom Gesellschaftsvertrag alles aus, was nicht zu seinem Wesen gehört,
so wird man sich überzeugen, dass er sich in folgenden Worten zusammenfassen lässt:
„Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste
Leitung des allgemeinen Willens, und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des
Ganzen auf.“ (l, 6)
Oft besteht ein großer Unterschied zwischen dem Gesamtwillen (volonté de tous) und dem
Gemeinwillen (volonté générale). Letzterer zielt nur auf das Gemeininteresse, der andere
auf das Einzelinteresse und ist nur die Summe der Einzelinteressen. Zieht man davon die
Extreme ab, die sich gegenseitig aufheben, so bleibt als Summe der Differenzen der
Gemeinwille übrig.
[...] Wenn sich aber auf Kosten der Gemeinschaft Klüngel und Parteien bilden, dann wird
aus dem Willen eines jeden dieser Verbände in Bezug auf seine Mitglieder ein Gemeinwille
und in Bezug auf den Staat ein Sonderwille. Dann kann man sagen, dass es nicht mehr so
viele Stimmberechtigte wie Menschen gibt, sondern nur mehr so viele wie Verbände.