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4 Merkmale moderner Demokratien


Leitfragen Welche Prinzipien machen Wie werden die Entschei- Welche Möglichkeiten gibt es,
die Demokratie aus? dungen innerhalb einer die demokratische Herrschaft zu
Demokratie getroffen? kontrollieren und zu begrenzen?

Kernelemente demokratischer Systeme

Modeme Demokratien zeichnen sich durch vier • Politische Entscheidungen müssen durch eine
Elemente aus: Volkssouveränität, Rechtsstaat- Mehrheit der Repräsentanten des Volkes im
lichkeit. Gewaltenteilung und Pluralismus. Parlament legitimiert werden.

Volkssouveränität Rechtsstaatlichkeit

Der Begriff der •Volkssouveränität" kam erst im Rechtsstaatlichkeit meint die Bindung allen staat-
18. Jahrhunden auf. Volkssouveränität meint da- lichen Handelns an das Gesetz. Der französische
bei. dass das Volk nicht nur der alleinige Ursprung Historiker und Politiker Alexis de Tocquevi.lle war
der Herrschaftslegitimation ist, sondern auch der Überzeugung, dass die Demokratie ohne
Herrscher über sich selbst. Der Gedanke der rechtliche Schranken zu einer •Tyrannei der
Volkssouveränität wurzelt in der Erkenntnis, dass Mehrheit" führe. Erst der Rechtsstaat setzt der de-
alle Menschen von Natur aus gleiche Rechte ha- mokratischen Herrschaft Schranken. Die Mehrheit
ben. Auf dieser gedanklichen Grundlage lässt sich darf in einem Rechtsstaat nicht alle beliebigen
eine Herrschaft von Menschen über Menschen, Entscheidungen treffen. Rechtsstaatlichkeit be-
ohne dass diese zustimmen, nicht mehr rechtfer- deutet dabei zum einen, dass ein Staat sich an die
tigen . Der Gedanke einer Herrschaft.fiir das Volk von ihm verabschiedeten Gesetze hält (formales
geht seither Hand in Hand mit dem Gedanken Rechtsstaatsprinzip), zum anderen, dass alles
einer Herrschaft durch das Volk. Die modernen staatliche Handeln an die Gewährleistung der
Demokratien deuten das Prinzip der Volkssouve- Grundrechte und den Gerechtigkeitsgedanken ge-
ränität so: Jede staatliche Herrschaft muss durch bunden ist (materielles Rechtsstaatsprinzip). Das
das Volk legitimiert sein (. alle Staatsgewalt geht Rechtsstaatsprinzip beinhaltet daher die Forde-
vom Volke aus·, An. 20 GG). Die Verwirklichung rung nach
der Volkssouveränität setzt zudem eine Beteili-
gung der Bürger an den politischen Entschei- • Gewaltenteilung
dungsprozessen voraus. Die Ausübung der Volks- • Vorrangstellung der Verfassung bzw. Vorrang
souveränität ist dabei eng an das Mehrheitsprinzip von Recht und Gesetz ;
gebunden, was nicht heißt, dass der Volkswille • einer unabhängigen (Verfassungs-)
in jedem Fall absolute Gültigkeit beanspruchen Gerichtsbarkeit ;
kann; er findet seine Grenzen in den Grund- und • garantiener Rechtssicherheit
Menschenrechten (wengebundene Demokratie). • Garantie auf ein faires Gerichts-
verfahren vor unabhängigen
folgende Elemente der Volkssouveränität sind Richtern.
kennzeichnend für die repräsentative Demokratie:

• Die Staatsbürger wählen Abgeordnete, die sie


Ale.ris dr Tocqu ,villc /1805 - 1859)
in einem Parlament vertreten.
u11tNSucltte i,i „0,,,,, die Drmokrorit
• Die Regierung wird - wie in Deutschland - vo n iu A merika " die Gru t1dlagen ,·011 Stao r
den Repräsrn1 a nten des Volkes im Parl ament und Politik, be~onders dns V1'rlw lr„is
oder direkt vo m Volk gewählt. t•on Fn-ilu~.l 1111d Glt·itll heil.

Poli11sche Theo"a und Sta alsformon Hl9


Gewaltenteilung

Der Zweck einer Ausbalancierung und Kontrolle Modeme Demokratien weisen folgende Formen
politischer Macht ist die Verhütung von Macht- der Gewaltenteilung auf:
missbrauch. Die englische Wendung „checks and
balances of powers" (Kontrolle und Balance der • Die Aufteilung der staatlichen Macht auf natio-
Mächte) erfasst besser als der Begriff „Gewalten - naler Ebene auf verschiedene Organe wird als
teilung" , was gemeint ist. Die staatliche Macht horizontale Gewaltenteilung bezeichnet.
soll erstens auf mehrere Organe verteilt werden.
Zweitens sollen diese Organe die Macht haben, • Eine weitere Möglichkeit der Machtbegrenzung
den anderen Trägem der Staatsgewalt Schranken ist die Aufteilung staatlicher Macht auf ver-
zu setzen, wenn diese ihre Machtkompetenzen schiedene staatliche Ebenen. Wenn demnach
überschreiten. Gliedstaaten und/oder Kommunen eigenständi -
ge Entscheidungsrechte erhalten, ist die Rede
Den demokratischen Grundgedanken einer von einer vertikalen Gewaltenteilung.
Machtkontrolle und Machtbalance haben erst-
mals die amerikanischen „Föderalisten" ausfor- • Ein Charakteristikum moderner Demokratien
muliert, die theoretische Begründungen für die ist zudem die Vergabe politischer Ämter bzw.
Gestaltung der Verfassung der USA lieferten. politischer Macht auf Zeit (temporale Gewal-
Dabei bauten sie ausdrücklich auf das Fundament tenteilung) .
der Überlegungen von Charles de Montesquieu
auf. In dieser Tradition wird bis heute eine aus- • Die Macht der Regierenden wird weiterhin
führende Gewalt (Exekutive), eine gesetzgebende durch bestimmte Verfassungsregeln ein ge-
Gewalt (Legislative) und eine richterliche Gewalt schränkt, die nur mit großen. in der Regel Zwei-
(Judikative) unterschieden. Drittel- Mehrheiten im Parlament überwind ba r
sind ; der unveränderliche Verfassungskern des
Tatsächlich ist die Tragfähigkeit dieser Unter- Grundgesetzes ist auch mit großen parla ment a-
scheidung umstritten. So sind die Regierungen in rischen Mehrheiten nicht abzuändern (konsti-
den modernen Demokratien in der Regel feder- tutionelle Gewaltenteilung).
führend in der Gesetzgebung. Die Gesetze führen
in der Regel Verwaltungsbeamte aus. Zur Macht- • Auch ist die Macht der Regierung durch den plu-
kontrolle gehört zudem die Aufteilung der Ge- ralistischen Prozess der Entscheidungsfindung
setzgebungskompetenz auf zwei Organe wie etwa begrenzt, an dem etwa Parteien, Interessenver-
auf Bundestag und Bundesrat in der Bundesrepu- bände und Medien teilhaben; diese üben ebenfalls
blik Deutschland oder auf Repräsentantenhaus Einfluss auf politische Entscheidungen aus (dezi-
und Senat in den USA. sive Gewaltenteilung).

Pluralismus

Unter Pluralismus ist dn legiti me Wettbewerb


unterschiedlichster und zum Teil auch ent gegen -
gesetzter Interessen zu verstehen. Der Plurali smus
geht über den Bl'rcich des Politischen hi naus:
Er ist ein zcntrnlcs gesellsc haftl iches Srruktu r-
pri nzip dem okra tischer Staaten. Der Pluralismu s
basiert auf der Gewährleistung zentraler Gru nd -
rtC'ht c wie
Charles dt' lvlo111t·s,111h•u
( 1689 - 1755 /. fm 11 züsi., clwr
Staatsth eo rctiNl' r. ""J • Mein u ngs- und Prcssr f'reiheit.
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200 Pol1t, sc he fl1 oorio u11 c1 St,J3 lsfo, men


M1 Demokratie und die Herausforderungen der Zukunft

Dass Demokratien bei der Lösung von gesellschaftspolitisch relevanten Problemen


versagen und in der Konsequenz sogar untergehen können, ist historisch vielfach
belegt. [... ] Letztlich gilt hier die Einsicht, dass kein politischer Systemtyp auf Dauer
per se stabil ist. Droht also die Gefahr, dass auch etablierte Demokratien versagen
, können, wenn sie sich als unfähig erweisen, auf neue Herausforderungen flexibel zu
reagieren? Und was genau charakterisiert dann eine solche [... ] Problemlösungska-
pazität demokratischer Systeme? [...] Unabhängig von tagtäglichen Entscheidungs-
vorgaben, die jedes demokratische System bewältigen muss, sind es für die künftige
Entwicklung von Demokratien im Wesentlichen vier Problemkreise, denen besondere
,, Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte.

Demokratische Selbstüberforderung
Eine der größten Herausforderungen für repräsentative Demokratien dürfte aus wach-
senden Phänomenen demokratischer Selbstüberforderung entstehen: Schuldzuwei-
sungen an die Fehlleistungen von Politikern - ohne hier im Einzelfall beschönigen zu
" wollen - sind häufig vorschnell und vor allem zu einfach. Zu den zentralen Entwick-
lungsmustern gerade demokratischer Systeme gehört jedoch der Trend , die Erwar-
tung an die Regelungskapazität von Politik kontinuierlich zu steigern. Die Aufgaben
des Staates und die Erwartungen der Bürger nehmen ständig zu - aber die Problem-
lösungsfähigkeit des demokratischen Staates hat sich nicht nennenswert geändert.
20 Wen wundert es also, dass sich die Schere zwischen Ansprüchen an und Leistung

von demokratischer Politik ständig weiter öffnet und der Unmut enttäusch ter Bür-
ger wächst? [... ] In wachsendem Maße werden Demokratien zudem vor das Problem
gestellt, auf parlamentarischem Wege nicht schnell genug entscheiden zu l,bnnen,
um mit dem rasanten Entwicklungstempo neuer Technologien Scl1ritt zu na!!en [...).
" So finden Debatten über gentechnologische Gesetzgebung im Deuts;;hen Bundestag
üblicherweise auf einem Stand der Gentechnik statt, der mehrere Jahre vor der Par-
lamentsdebatte gültig war. Die entstehenden Regelungen sind daher zwangsläufig
schon veraltet, wenn sie vom Parlament verabschiedet werden . Die Forschung arbei-
tet indessen weiterhin im Freiraum ungeregelter Normen und Kompetenzen. Zusätz-
" lieh bedrohen strukturkonservative Entscheidungsblockaden die Handlungsfähigkeit
demokratischer Systeme. Wenn notwendige Reformen im Unterholz besitzstands-
wahrender Lobbygruppen stecken bleiben, werden auch Demokratien auf Dauer nicht
in der Lage sein, Zukunftsprobleme zu lösen.

Eigenverantwortung und Staat


" Zur wesentlichen Herausforderung künftiger Politik in demokratischen Systemen wird
das Spannungsverhältnis zwischen Eigenverantwortung und Staat, anders formuliert
zwischen individueller Freiheit, Anspruchsdenken und der Entzauberung der Politik
werden. Individuelle Freiheit ist für [... ] uns längst zur selbstverständlichen Rahmen-
bedingung unseres Daseins geworden. Dabei scheinen wir eines zu vergessen: Die
,, Erlangung individueller Freiheit ist gleichbedeutend mit der ersehnten Loslösung nor-
mativer· Fesseln, welche wiederum nur zum Preis des Verlustes von Sicherheit und
der Übernahme von Verantwortung für das eigene Tun zu haben ist. So einfach ist
das: Wer frei ist oder es sein will, ist auch verantwortlich für das, was er tut. Doch ge-
nau hier setzt der Verdrängungsmechanismus ein: Statt sich der eigenen Verantwor-
" tung zu stellen, tendiert das moderne Individuum dazu, zwar die Vorzüge der Freiheit
in vollen Zügen zu genießen, die Kehrseite aber, die Verantwortung, abzuschieben auf
ein Kollektiv, das wir üblicherweise Staat nennen. [... ]

Pollli sche Theorie und Staatsformen 20 1


Medien und Demokratie
Der dritte Gesichtspunkt unterstreicht diesen Wahrnehmungseffekt mit Nachdruck:
so Es geht um die Rolle von Medien und unkontrollierbaren neuen Entscheidungszen-
tren , die mit den demokratisch legitimierten Institutionen in Konkurrenz treten. [... ]
Das Überangebot an moderner Unterhaltung hat durchaus das Potenzial, aus freien
Bürgern abhängige Junkies der Entertainmentindustrie zu machen. Mediale Massen-
verdummung bietet gelangweilten Wohlstandskindern ein Maximum an Fluchtmög-
ss lichkeiten mit einem Minimum an Aufwand - die elektronische Variante von „ panem et
circenses" ... Statt Probleme zu lösen, fliehen wir in Scheinwelten. [... ]

Sicherheit
Viertens schließlich werden demokratische Repräsentativsysteme herausgefordert
durch steigende Erwartungen ihrer Bürger an Sicherheit. Es ist eine Binsenweisheit,
so dass der Mensch nach Sicherheit strebt. längst aber steht er nicht mehr vor dem Pro-
blem, natürliche Unsicherheiten z.; reduzi eren, sondern er muss heute umgehen mit
den Bedrohungen, die er durch menscti iiche3 Zusammenleben selbst geschaffen hat
- also mit zivilisatorisch erzeugten Gefahren. [... ] Dieses Streben nach umfassender
Sicherheit verändert Politik. Pol itisches Handeln wird gemessen an der Fähigkeit,
ss Unsicherheiten zu beseitigen. Die Verantwortung für Sicherheit wird in wachsendem

Maße vom Individuum auf die Politik verlagert und sie droht, Politik, gerade auch de-
mokratische Politik, nachhaltig zu überfordern. [... ] Die Zukunft der Demokratie ist also
weder so rosig, wie sie Theoretiker ersinnen, noch so düster, wie Skeptiker sie ausma-
len. Das überleben der repräsentativen Demokratie verlangt als dauerhaftes Projekt
,o die stetige flexible Anpassung an äußere und vor allem innere Herausforderungen. Im
Wandel , nicht in der Stabilität liegen die eigentlichen Chancen der Zukunft.

Eberha rd Sa11dsclmt."ider, Tod durrll Überforderung?


Über die Zuku,ift der repräscntative,i Dt'mokrarie. in:
/lltematio ,iale Politik Nr. 8/ 2003. S. 4f

•norm atil,"" durch No nnen (Gesetze. Prinzipien) fes tgelegt


-pam.·m et ci rcenses, lat: Brot mul Spie{('

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