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Demokratie gestern, heute, morgen in Theorie und Praxis

LK PW 1/2

Demokratietheorien1
Peter Massing/ Gottbard Breit

5 Die Demokratie als "Projekt des 21. Jahrhunderts" (Werner Weidenfeld)


scheint in eine Krise geraten zu sein. Prozesse der Individualisierung und
der Globalisierung haben die Demokratie in eine grundlegende Reflexion
ihrer sozialen, sachlichen, zeitlichen und räumlichen
Bestandsbedingungen und Bestandsvoraussetzungen hineingezogen.
10 Politikverdrossenheit, zunehmender Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit, wachsende Distanz, insbesondere junger Bürger
zum staatlichen System, Vertrauensverlust gegenüber den Institutionen,
Entsolidarisierung und Erosion der Gemeinschaftsbindungen scheinen sie
von innen auszuzehren (Weidenfeld: 9). Solche Krisendiagnosen sind umso
15 erstaunlicher, als noch vor wenigen Jahren die Dinge für die Demokratie
nicht schlecht standen (Schmalz-Bruns: 13). Der Triumph der Demokratie,
zumindest als abstrakte Idee, schien fast vollständig und allgemein zu
sein. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts glaubte man, die Demokratie
würde in eine neue, glanzvolle Epoche eintreten, der Wettlauf der
20 Systeme sei entschieden, die Feinde der Demokratie endgültig besiegt.
Mittlerweile ist dieser Optimismus durch pessimistischere Tendenzen
abgelöst. Man sieht die Demokratie als Staatsform und als Lebensform
vor ihrer größten Belastungsprobe und dafür nur schlecht gerüstet
(Lepenies). Doch weder die optimistische noch die pessimistische
25 Variante dieser Szenarien scheint die Realität angemessen wiederzugeben,
die immer noch am besten mit der abgewandelten Churchill-These
gekennzeichnet ist, dass die Demokratie zwar eine ziemlich schlechte
Staatsverfassung sei, aber besser als alle bisher erfundenen Regime (so
Manfred G. Schmidt). Anders formuliert: Demokratie ist das Beste, was wir
30 haben, aber es kann sicher bessere Demokratien geben. Wenn es aber
bessere Demokratien geben kann, ist dies Anlass, sich immer wieder mit
demokratischen Systemen auseinander zusetzen, sie einer
Bestandsaufnahme zu unterziehen und nach Reformmöglichkeiten, nach
Verbesserungen zu fragen.
35 Eine weitere Begründung, immer wieder über Demokratie nachzudenken,
liegt auf einer anderen Ebene. Die Stabilität der Demokratie hängt unter
anderem auch davon ab, dass der Bürger die Demokratie sowie seine
eigene Rolle darin versteht. Die Politikwissenschaftler der ersten Stunde
hatten diese Bestandsvoraussetzung der Demokratie begriffen. Sie wird
40 z.B. in der Aussage Theodor Eschenburgs deutlich, der noch 1994 in
einem Interview zu seinem neunzigsten Geburtstag betonte, dass man
Demokratie klarmachen müsse. "Das ist eine so komplizierte Staatsform,

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Aus dem Vorwort von P. Massing/ G. Breit: Demokratietheorien. Schwalbach 2004, S. 7-9.
Demokratie gestern, heute, morgen in Theorie und Praxis
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dass man sich in ihr nur zurechtfinden kann, wenn man es gelernt hat.
Mit den Gemüts- demokraten kann ich überhaupt nichts anfangen. Wenn
45 ich die Freiheit will, muss ich auch wissen, wie ich sie organisiere. Wenn
ich da keinen König mehr haben will oder keine Adelsschicht, wo drei
oder vier oder fünf miteinander beraten können, sondern eine
Demokratie, dann ergibt sich daraus der unerlässliche Zwang, eine
komplizierte Konstruktion aufzubauen." Von dieser Überzeugung
50 getragen, verstand sich die Politikwissenschaft der frühen Bundesrepublik
im Wesentlichen als Demokratiewissenschaft. Nachdenken über Politik
stand unter dem Eindruck der gerade zurückliegenden geschichtlichen
Erfahrungen des Niedergangs der Weimarer Republik, des Aufstiegs des
Nationalsozialismus und der in die Katastrophe führenden
55 nationalsozialistischen Herrschaft. Ihr Leitmotiv sah die
Politikwissenschaft denn auch in dieser Zeit vor allem in der Vermittlung
demokratischen Grundwissens, in der Werbung für die liberale,
repräsentative Demokratie und in der Auseinandersetzung mit noch
vorhandenem faschistischen Bewusstsein und in der Abwehr des
60 Totalitarismus in all seinen Formen. Die Politikwissenschaft als
Demokratiewissenschaft war sich bewusst, dass Unverständnis und
Unkenntnis gegenüber der Demokratie auf diese negativ zurückwirken
und zu Veränderungen führen kann, die sich unkontrolliert vollziehen
und die so nicht gewollt sind. Eine politische Kultur, die um die
65 Voraussetzungen, die Funktionsbedingungen, den Sinn und den Wert der
Demokratie nicht weiß, vermag auch ihre Kontinuität und Stabilität nicht
zu verbürgen. Vor diesem Hintergrund muss es heute Sorge bereiten,
dass das Vertrauen in die demokratischen politischen und
gesellschaftlichen Institutionen insgesamt abzunehmen scheint und eine
70 zunehmende Unsicherheit bei der Einschätzung und Beurteilung des
demokratischen Systems festzustellen ist. „Über wesentliche Institutionen,
Prinzipien und demokratische Verfahren herrscht bei beachtlichen
Minderheiten Unkenntnis" (Massing, 8). Gerade auch bei jugendlichen
scheint z.B. die Bedeutung der Grund- und Freiheitsrechte, der
75 Gewaltenteilung, des Pluralismus, des Parlamentarismus und die Regeln
rechtsstaatlicher Ordnung weder reflektiv noch emotional tief verankert
zu sein. Aber nicht nur bei jugendlichen, auch bei vielen Erwachsenen,
selbst bei politischen Bildnern, nehmen offensichtlich die Schwierigkeiten
zu, die Demokratie zu verstehen und adäquat zu bewerten. Einerseits
80 existieren häufig utopische und idealisierte Vorstellungen von
Demokratie und überzogene Anforderungen an die Leistungsfähigkeit
eines demokratischen Systems, die sich weit von der Realität entfernt
haben und vor denen die alltägliche Praxis demokratischer Wirklichkeit
unscheinbar, wenn nicht abstoßend wirken muss, andererseits führt diese
85 Wirklichkeit sowie Enttäuschungen über Teilrealitäten der Demokratie
Demokratie gestern, heute, morgen in Theorie und Praxis
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leicht zu einer emotionalen Ablehnung und Skepsis gegenüber der
Demokratie überhaupt.
Politische Urteilskraft und politische Beteiligung setzen in der Bürger-
schaft vor allem Wissen über die Demokratie voraus. Dazu gehören
90 Kenntnisse über die Ideengeschichte, die strukturellen Grundlagen und
die Funktionsbedingungen der Demokratie. Die moderne Demokratie
wurde mit Hilfe von Theorien realisiert.
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In Geschichte und Politik ist keine Frage endgültig beantwortet, aber auch
95 Kein Konflikt, keine Idee, keine Illusion, keine Legende ist endgültig
verloren gegangen, und die Entschlüsselung dieser historischen
"Denkspuren" in unserem aktuellen Demokratieverständnis ist eine
wichtige Möglichkeit, Demokratie "besser zu verstehen".
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