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SV

Occupy Wall Street. Gezi-Park, Tahrir, Majdan. Ferguson


und Hongkong. Tea Party. Pegida. Die »Politik der Stra-
ße« hat Hochkonjunktur, wirft aber auch Fragen auf. Sind
solche Versammlungen als Ausdruck der Souveränität des
Volkes aus radikaldemokratischer Perspektive zu begrü-
ßen oder geben sie Anlass zur Sorge vor der Herrschaft
des »Mobs«? Und wer ist überhaupt »das Volk«?
Judith Butler geht den Dynamiken und Taktiken öf-
fentlicher Versammlungen unter den derzeit herrschen-
den ökonomischen und politischen Bedingungen auf den
Grund. In Erweiterung der sprechaktzentrierten Theorie
der Performativität und gegen Hannah Arendts »körper-
lose« Konzeption politischen Handelns unterstreicht sie
die Bedeutung der physischen Präsenz kollektiver Akteu-
re im öffentlichen Raum und arbeitet an aktuellen Beispie-
len die Effekte dieser Ausdrucksdimension heraus sowie
die Inklusions- und Exklusionsmechanismen, die dabei
am Werk sind. Der kollektive Schrei »Wir sind das Volk!«
zieht eben auch eine Grenze und lässt die Frage, wer wirk-
lich das Volk ist, umso deutlicher hervortreten.
Fluchtpunkt dieses hochpolitischen Buches ist eine
Ethik des gewaltlosen Widerstands in einer gefährdeten
Welt, in der die Grundlagen solidarischen Handelns all-
mählich zerfallen oder zerstört werden.
Judith Butler, geboren 1956, ist Maxine Elliot Professor
für Komparatistik und kritische Theorie an der University
of California, Berkeley. 2012 erhielt sie den Theodor-W.-
Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main.

Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: Gefährdetes


Leben. Politische Essays (es 2393), Haß spricht. Zur Poli-
tik des Performativen (es 2414), Kritik der ethischen Ge-
walt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2002 (stw 1792)
und Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen
des Menschlichen (stw 1989).
Judith Butler
Anmerkungen zu einer
performativen Theorie
der Versammlung
Aus dem Amerikanischen von Frank Born

Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

Titel der Originalausgabe:


Notes Toward a Performative Theory of Assembly
Die Originalausgabe in englischer Sprache, die dieser
Übersetzung zugrunde liegt, erschien erstmals 2015 bei
Harvard University Press

Copyright © 2015 by the President and Fellows of Harvard


College

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
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© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016


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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-74815-2
www.suhrkamp.de
Inhalt

Einleitung7

1. Geschlechterpolitik und das Recht


zu erscheinen 37
2. Körperallianzen und die Politik
der Straße 91
3. Gefährdetes Leben und die Ethik
der Kohabitation 133
4. Körperliche Verwundbarkeit,
koalitionäre Politik 163
5. »We the People« – Gedanken
zur Versammlungsfreiheit 201
6. Kann man ein gutes Leben in
einem schlechten Leben führen  ? 249

Anmerkungen281
Danksagungen295
Nachweise297
Register299
Einleitung

Seit dem Auftauchen großer Menschenmengen auf dem


Tahrir-Platz in den Wintermonaten des Jahres 2010 ist
unter Wissenschaftler / ​innen und Aktivist / ​innen das
Interesse an der Form und Wirkung öffentlicher Ver-
sammlungen wiedererwacht. Das Thema ist alt und
zeitgemäß zugleich. Gruppen, die plötzlich in großer
Zahl zusammenkommen, können ebenso eine Quelle
der Hoffnung wie der Furcht sein, und so begründet es
ist, sich vor den Gefahren der Handlungen des Mobs zu
fürchten, gibt es auch gute Gründe dafür, in unvorher-
sehbaren Versammlungen ein politisches Potenzial zu
erkennen. Demokratische Theorien haben »den Mob«
in gewisser Weise immer gefürchtet, selbst wenn sie die
Wichtigkeit der – auch unkontrollierten – Willensäuße-
rung des Volkes betonten. Es gibt enorm viel Literatur
zu diesem Thema, und sie neigt dazu, immer wieder auf
so unterschiedliche Autoren wie Edmund Burke und
Alexis de Tocqueville zurückzugreifen, die sich recht
explizit mit der Frage beschäftigten, ob demokrati-
sche staatliche Strukturen ungezügelte Äußerungen
der Volkssouveränität überstehen oder ob die Herr-
schaft des Volkes vielmehr sukzessive in die Tyrannei
der Mehrheit übergehen würde. Das vorliegende Buch
will diese wichtigen Debatten innerhalb der Demokra-
tietheorie weder aufarbeiten noch beurteilen, sondern
lediglich darauf hinweisen, dass Diskussionen über De-
monstrationen des Volkes häufig von einer Furcht vor
dem Chaos oder von einer radikalen Zukunftshoffnung
geleitet sind, wobei Furcht und Hoffnung manchmal

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auf komplexe Weise ineinander verschachtelt sein kön-
nen.
Ich nenne diese wiederkehrenden Spannungen in-
nerhalb der demokratischen Theorie, um gleich zu Be-
ginn auf ein gewisses Missverhältnis zwischen der po-
litischen Form der Demokratie und dem Prinzip der
Volkssouveränität hinzuweisen. Es handelt sich dabei
um zwei verschiedene Dinge, und es ist wichtig, sie aus-
einanderzuhalten, wenn man verstehen will, wie Wil-
lensbekundungen des Volkes eine bestimmte politi-
sche Form in Frage stellen können, zumal eine, die sich
als demokratisch bezeichnet, auch wenn diese Selbst-
charakterisierung von ihren Kritiker / ​innen bezweifelt
wird. Das Prinzip ist einfach und wohlbekannt, doch
die Annahmen dahinter bleiben irritierend. Wir könn-
ten die Hoffnung aufgeben, zu einer Entscheidung über
die richtige Form der Demokratie zu kommen, und
einfach deren Polysemie konzedieren. Wenn wir sagen,
dass Demokratien aus all jenen Formen bestehen, die
sich demokratisch nennen oder regelmäßig so genannt
werden, dann nehmen wir eine gewisse nominalistische
Haltung gegenüber der Angelegenheit ein. Wenn je-
doch als demokratisch geltende politische Ordnungen
von einem versammelten oder organisierten Kollektiv
in eine Krise gestürzt werden, das von sich behauptet,
den Volkswillen zu repräsentieren, für das Volk und
gleichzeitig für die Aussicht auf eine echtere und sub-
stanziellere Demokratie zu stehen, dann entbrennt ein
offener Streit über die Bedeutung der Demokratie, der
nicht unbedingt mit Bedacht und Überlegung geführt
wird. Ohne darüber zu urteilen, welche Versammlun-
gen des Volkes »wahrhaft« demokratisch sind und wel-
che nicht, lässt sich von vornherein feststellen, dass der
Kampf um den Begriff »Demokratie« mehrere politi-

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sche Situationen entscheidend prägt. Wie wir diesen
Kampf bezeichnen, scheint von entscheidender Bedeu-
tung zu sein, wenn man bedenkt, dass ein und dieselbe
Bewegung mal als antidemokratisch, ja sogar terroris-
tisch, und bei anderer Gelegenheit oder in einem an-
deren Zusammenhang als der Versuch des Volkes ge-
sehen werden kann, eine offenere und substanziellere
Demokratie zu verwirklichen. Das Blatt kann sich hier
sehr schnell wenden, und wenn strategische Bündnis-
se es erforderlich machen, eine bestimmte Gruppe im
einen Fall als »terroristisch« und in einem anderen als
»demokratische Verbündete« zu betrachten, erkennen
wir, dass »Demokratie« nicht nur als Bezeichnung ver-
standen werden kann, sondern sich auch mühelos als
strategischer Diskursbegriff einsetzen lässt. Neben
den Nominalist / ​innen, für die Demokratien jene Re-
gierungsformen sind, die als solche bezeichnet werden,
gibt es also offenbar auch Diskursstrateg / ​innen, für
die es von Formen des öffentlichen Diskurses, der Ver-
marktung und der Propaganda abhängt, welche Staaten
oder Volksbewegungen als demokratisch bezeichnet
werden und welche nicht.
Zu sagen, eine demokratische Bewegung sei eine, die
als solche bezeichnet wird oder sich selbst so nennt, ist
natürlich verlockend, doch es bedeutet, die Demokra-
tie aufzugeben. Zwar gehört Selbstbestimmung zur De-
mokratie dazu, daraus folgt jedoch nicht automatisch,
dass jede Gruppe, die sich selbst als repräsentativ de-
finiert, rechtmäßig von sich behaupten kann, »das Volk«
zu sein. Im Januar 2015 behaupteten die offen einwan-
derungsfeindlichen »Patriotischen Europäer gegen die
Islamisierung des Abendlandes« (Pegida) »Wir sind das
Volk« – eine Selbstbenennungspraxis, die genau darauf
zielte, muslimische Einwanderer von der gültigen Vor-

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stellung der Nation auszuschließen (und zwar indem
sie sich des 1989 berühmt gewordenen Ausspruchs be-
dienten und damit ein dunkleres Licht auf die deutsche
»Vereinigung« warfen). Angela Merkels Antwort »Der
Islam gehört zu Deutschland« erfolgte ungefähr zur
gleichen Zeit, als der Pegida-Vorsitzende zurücktreten
musste, nachdem Fotos aufgetaucht waren, auf denen er
als Hitler posierte. Eine Auseinandersetzung wie diese
wirft auf drastische Weise die Frage auf  : Wer ist »das
Volk« denn nun wirklich  ? Und welche Operation der
diskursiven Macht definiert »das Volk« zu einem be-
stimmten Zeitpunkt und zu welchem Zweck  ?
»Das Volk« ist keine festgelegte Bevölkerung  ; es wird
vielmehr durch die von uns implizit oder explizit gezo-
genen Grenzlinien konstituiert. Wir können daher – so
nötig es auch ist, zu überprüfen, ob eine bestimmte Set-
zung des »Volkes« inklusiv ist – ausgeschlossene Be-
völkerungsteile nur durch eine weitere Grenzziehung
kenntlich machen. Besonders problematisch wirkt un-
ter diesen Bedingungen die Selbstkonstitution. Nicht
jeder diskursive Versuch einer Festlegung, wer »das
Volk« ist, gelingt. Die Behauptung ist oft eine Wette, ein
Griff nach der Hegemonie. Wenn sich also eine Grup-
pe, eine Versammlung oder eine organisierte Kollekti-
vität »das Volk« nennt, dann lenkt sie den Diskurs in
eine bestimmte Richtung, macht Annahmen darüber,
wer dazugehört und wer nicht, und bezieht sich damit
nolens volens auf eine Bevölkerungsgruppe, die nicht
»das Volk« ist. Der Kampf um die Entscheidung darü-
ber, wer zum »Volk« dazugehört, kann so heftig wer-
den, dass eine Gruppe ihre Version von »das Volk« in
Opposition zu denen bringt, die außerhalb stehen und
als bedrohlich für »das Volk« oder als dieser Version
des »Volkes« entgegengesetzt erachtet werden. Wir ha-

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ben also (a) diejenigen, die versuchen, das Volk zu de-
finieren (eine Gruppe, die viel kleiner ist als das Volk,
das sie zu definieren versucht), (b) das im Verlauf dieser
diskursiven Wette definierte (und abgegrenzte) Volk,
(c) die Menschen, die nicht »das Volk« sind, und (d)
diejenigen, die jene letzte Gruppe als Teil des Volkes
etablieren wollen. Selbst wenn man sagt, dass »alle« da-
zugehören und so versucht, eine allumfassende Grup-
pe zu postulieren, macht man noch implizite Annah-
men darüber, wer einbezogen wird  ; es ist folglich fast
unmöglich, dem zu entgehen, was Chantal Mouffe und
Ernesto Laclau so treffend als »die konstitutive Exklu-
sion« beschrieben haben, die den einzelnen Vorstellun-
gen von Inklusion jeweils zugrunde liegt.1
Der Staatskörper wird als eine Einheit hingestellt, die
er niemals sein kann. Dies muss allerdings nicht not-
wendigerweise ein zynischer Schluss sein. Denjeni-
gen, die im Geiste der Realpolitik der Meinung sind,
»das Volk« könne, egal in welcher Zusammensetzung,
immer nur partiell sein und man solle diese Partialität
daher einfach als eine politische Tatsache hinnehmen,
stehen eindeutig diejenigen gegenüber, die versuchen,
jene Formen der Exklusion aufzudecken und ihnen ent-
gegenzutreten, und die, obwohl sie wissen, dass es eine
vollständige Inklusivität nicht geben kann, den Kampf
noch nicht aufgegeben haben. Dafür gibt es mindes-
tens zwei Gründe  : Zum einen werden Exklusionen
häufig unwissentlich vorgenommen, das heißt, die Ex-
klusion wird gar nicht als explizites Problem, sondern
als der natürliche »Stand der Dinge« angesehen  ; und
zweitens ist Inklusivität nicht das einzige Ziel der de-
mokratischen und insbesondere der radikaldemokrati-
schen Politik. Natürlich sind Versionen des »Volkes«,
die einen Teil der Menschen ausschließen, nicht inklusiv

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und daher nicht repräsentativ  ; wahr ist aber auch, dass
jede Festlegung von »das Volk« einen Akt der Abgren-
zung beinhaltet, mit dem, meist auf Basis der Natio-
nalität oder vor dem Hintergrund des Nationalstaats,
eine Linie gezogen wird und diese Linie wird unver-
mittelt zu einer umstrittenen Grenze. »Das Volk« kann
es, mit anderen Worten, nicht geben, ohne dass irgend-
wo eine diskursive Grenze gezogen wird, die entweder
entlang der bestehenden Nationalstaaten, ethnischen
oder sprachlichen Gemeinschaften oder politischen Zu-
gehörigkeiten verläuft. Die diskursive Bewegung, mit
der »das Volk« in irgendeiner Weise etabliert werden
soll, ist eine Bemühung um die Anerkennung einer be-
stimmten Grenze, ob man darunter nun eine Landes-
grenze versteht oder die Grenze jener Klasse von Men-
schen, die als ein Volk »anerkennbar« sein sollen.
Ein Grund, warum Inklusivität nicht das einzige Ziel
demokratischer und insbesondere radikaldemokrati-
scher Politik ist, liegt demnach darin, dass diese sich
damit auseinandersetzen muss, wer als »das Volk« gilt
und wie jene Grenzziehung vorgenommen wird, die in
den Vordergrund rückt, wer »das Volk« ist, und die jene
Menschen, die nicht dazu zählen, in den Hintergrund
drängt, an den Rand schiebt oder dem Vergessen auslie-
fert. Eine demokratische Politik kann sich nicht damit
begnügen, die Anerkennung einfach auf alle Menschen
gleichermaßen auszuweiten  ; es geht vielmehr darum
zu begreifen, dass es nur durch eine Veränderung des
Verhältnisses zwischen den Anerkennbaren und den
Nichtanerkennbaren überhaupt möglich ist, (a) Gleich-
heit zu verstehen und anzustreben und (b) »das Volk«
einer weitergehenden Ausarbeitung zugänglich zu ma-
chen. Selbst wenn man eine Form der Anerkennung auf
alle Menschen ausdehnt, bleibt die Prämisse bestehen,

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dass weite Teile dennoch nichtanerkennbar bleiben,
und dieses Machtgefälle wird mit jeder Erweiterung je-
ner Form von Anerkennung reproduziert. Obwohl die
Anerkennung also in gewisser Weise ausgeweitet wird,
bleibt das Feld der Nichtanerkennbaren paradoxerwei-
se erhalten und weitet sich entsprechend ebenfalls aus.
Die Schlussfolgerung daraus ist, dass solche expliziten
und impliziten Formen der Ungleichheit, die manchmal
durch fundamentale Kategorien wie Inklusion und An-
erkennung reproduziert werden, als Teil eines zeitlich
offenen demokratischen Kampfes behandelt werden
müssen. Gleiches lässt sich über jene impliziten und ex-
pliziten Formen der kontroversen Grenzpolitik sagen,
die aus ganz grundlegenden und als selbstverständlich
erachteten Formen der Bezugnahme auf das Volk, die
Bevölkerung und den Volkswillen erwachsen. Das Wis-
sen um die anhaltende Exklusion zwingt uns praktisch
dazu, zum Prozess des Benennens und Umbenennens
zurückzukehren und zu rekapitulieren, was wir eigent-
lich mit »das Volk« meinen und was andere meinen,
wenn sie den Begriff ins Feld führen.
Das Problem der Grenzziehung schafft eine neue
Dimension, denn nicht alle Diskurshandlungen im Zu-
sammenhang mit dem Anerkennen beziehungsweise
Verkennen des Volkes sind explizit. Die Funktionsweise
ihrer Macht ist in gewissem Maße performativ. Das be-
deutet, sie inszenieren bestimmte politische Unterschei-
dungen – einschließlich Ungleichheit und Exklusion –,
ohne sie immer zu benennen. Wenn wir sagen, dass Un-
gleichheit »effektiv« wiederholt wird, wenn »das Volk«
nur teilweise anerkennbar ist, ja sogar, wenn es in einem
restriktiv nationalen Sinne »vollständig« anerkenn-
bar ist, dann behaupten wir damit, dass das Postulieren
des »Volkes« mehr umfasst als seine bloße Benennung.

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Der Akt der Abgrenzung geht mit einer performativen
Form der Macht einher, die ein fundamentales Problem
der Demokratie darstellt, auch – oder gerade – wenn
sie deren Schlüsselbegriff (»das Volk«) hervorbringt.
Wir könnten durchaus noch länger bei diesem diskur-
siven Problem verweilen, denn es ist eine stets offene
Frage, ob »das Volk« dieselben Menschen sind wie die,
die den »Volkswillen« ausdrücken, und ob jene Akte
der Selbstbenennung als Selbstbestimmung oder sogar
als gültige Willensäußerungen des Volkes gelten kön-
nen. Mit dem Begriff der Selbstbestimmung ist dann
implizit auch die Idee der Volkssouveränität selbst mit
im Spiel. So wichtig es auch ist, diese Begrifflichkeiten
der Demokratietheorie zu klären – besonders vor dem
Hintergrund der jüngsten Debatten um die öffentlichen
Versammlungen und Demonstrationen, die wir im Ara-
bischen Frühling, bei der Occupy-Bewegung oder von
Gegnern der Prekarisierung gesehen haben – und zu
fragen, ob solche Bewegungen als echte oder vielver-
sprechende Beispiele für den Willen des Volkes inter-
pretiert werden können, macht der vorliegende Text
den Vorschlag, diese Szenen nicht nur im Hinblick auf
die Version des Volkes zu deuten, die sie explizit vertre-
ten, sondern auch in Bezug auf die Machtbeziehungen,
durch die sie inszeniert werden.2 Solche Inszenierun-
gen sind unweigerlich kurzlebig, solange sie außerpar-
lamentarisch bleiben  ; und wenn sie neue parlamentari-
sche Formen zu Wege bringen, laufen sie Gefahr, ihren
Charakter als Wille des Volkes zu verlieren. Versamm-
lungen des Volkes bilden sich plötzlich und unerwar-
tet, sie lösen sich unter freiwilligen oder unfreiwilligen
Bedingungen wieder auf und diese Flüchtigkeit ist mei-
ner Ansicht nach eng mit ihrer »kritischen« Funktion
verknüpft. Sosehr gemeinsame Äußerungen des Volks-

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willens die Rechtmäßigkeit einer Regierung in Frage
stellen können, die behauptet, das Volk zu vertreten, so
sehr können sie sich auch in den Regierungsformen ver-
lieren, die sie befürworten und neu einrichten. Regie-
rungen wiederum kommen und gehen, und sie tun dies
manchmal aufgrund von Handlungen seitens des Vol-
kes, so dass diese konzertierten Aktionen also nicht nur
gleichermaßen flüchtig sind, im Entzug der Unterstüt-
zung bestehen und den Legitimitätsanspruch der Re-
gierung dekonstituieren, sondern auch neue Formen
konstituieren. Da der Volkswille in den Formen fort-
besteht, die er initiiert, kann er sich in diesen Formen
auch nicht verlieren, wenn er das Recht behalten soll,
all jenen politischen Formen seine Unterstützung zu
entziehen, die ihre Legitimität nicht aufrechterhalten
können.
Was ist nun von diesen kurzlebigen und kritischen
Versammlungen zu halten  ? Eine wichtige Folgerung
lautet  : Es ist von Belang, dass die durch Demonstra-
tionen inszenierten politischen Bedeutungen nicht nur
durch den – geschriebenen oder gesprochenen – Dis-
kurs aufgeführt werden, sondern dass sich dort Kör-
per versammeln. Verkörperte Handlungen unterschied-
licher Art tun etwas auf eine Weise kund, die genau
genommen weder diskursiv noch vordiskursiv ist. Mit
anderen Worten, Versammlungen haben schon vor und
unabhängig von den spezifischen Forderungen, die sie
stellen, eine Bedeutung. Stille Zusammenkünfte, zu
denen auch Mahnwachen und Beerdigungen gehören,
haben häufig eine Bedeutung, die jeden schriftlichen
oder mündlichen Bericht darüber, worum es bei ihnen
geht, übersteigt. Diese Formen verkörperter und plura-
ler Performativität sind wichtige Bestandteile für jedes
Verständnis des »Volkes«, auch wenn sie notwendiger-

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weise partiell sind. Nicht jeder Mensch kann in leib-
licher Form erscheinen, und viele von denen, die nicht
erscheinen können, die am Erscheinen gehindert wer-
den oder die mittels virtueller oder digitaler Netzwer-
ke operieren, sind ebenfalls Teil des »Volkes« und gera-
de dadurch definiert, dass sie daran gehindert werden,
im öffentlichen Raum selbst körperlich in Erscheinung
zu treten. Wir sind somit gezwungen, die restrikti-
ve Art und Weise zu überdenken, in der »die Öffent-
lichkeit« von denjenigen unkritisch postuliert wird, die
von einem ungehinderten Zugang zu einer bestimm-
ten Plattform und einem uneingeschränkten Anwe-
senheitsrecht ausgehen. Im Lichte jener verkörperten
Handlungs- und Mobilitätsformen, deren Bedeutung
über das Gesagte hinausgeht, ergibt sich somit ein zwei-
ter Sinn der Inszenierung. Wenn wir uns überlegen, wa-
rum Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit ge-
trennt zu betrachten sind, finden wir den Grund exakt
darin, dass die Fähigkeit der Menschen, sich zu versam-
meln, schon an sich ein wichtiges politisches Vorrecht
darstellt, das von dem Recht, zu sagen, was immer man
zu sagen hat, sobald man sich versammelt hat, ganz ver-
schieden ist. Die Versammlung bedeutet etwas, das über
das Gesagte hinausgeht, und dieser Bedeutungsmodus
ist eine gemeinsame körperliche Inszenierung, eine plu-
rale Form der Performativität.
Wir könnten aus alter Gewohnheit versucht sein zu
denken  : »Wenn es etwas bedeutet, dann muss es wohl
auch diskursiv sein«, und vielleicht stimmt das ja auch.
Doch selbst wenn diese Erwiderung zutrifft, lässt sie
uns nicht jene wichtige chiasmische Beziehung zwi-
schen Formen sprachlicher und Formen leiblicher Per-
formativität untersuchen. Sie überschneiden sich  ; sie
sind nicht völlig verschieden  ; sie sind freilich auch nicht

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identisch. Wie Shoshana Felman gezeigt hat, hängt so-
gar der Sprechakt von den verkörperten Bedingungen
des Lebens ab.3 Zur Stimmgebung braucht man einen
Kehlkopf oder eine technische Prothese. Und manch-
mal ist das, was man mit seinen Ausdrucksmitteln zu er-
kennen gibt, etwas ganz anderes als das, was als eigent-
liches Ziel des Sprechakts explizit zugegeben wird. Die
Performativität ist häufig mit der individuellen Perfor-
manz assoziiert worden, doch eine Neubetrachtung
derjenigen Formen der Performativität, die nur durch
Formen koordinierten Handelns wirken, deren Be-
dingung und Ziel die Wiederherstellung pluraler For-
men des Handelns und sozialer Widerstandspraktiken
ist, könnte sich als wichtig erweisen. Diese Bewegung
oder Ruhe, dieses Parken meines Körpers inmitten der
Handlung eines anderen, ist weder meine noch deine
Handlung, sondern etwas, das aufgrund der Beziehung
zwischen uns geschieht, das aus ebendieser Beziehung
hervorgeht, zwischen dem Ich und dem Wir laviert und
den generativen Wert seiner Doppeldeutigkeit zugleich
zu bewahren und zu verbreiten versucht, einer aktiven
und willentlich aufrechterhaltenen Beziehung, einer
Zusammenarbeit, die weder eine halluzinatorische Ver-
schmelzung noch Verwirrung ist.

Die spezifische These dieses Buches lautet, dass ge-


meinsames Handeln eine verkörperte Form des Infra-
gestellens der inchoativen und mächtigen Dimensionen
herrschender Vorstellungen des Politischen sein kann.
Die Verkörpertheit dieser Infragestellung wirkt in min-
destens zwei Richtungen  : Zum einen werden Kontro-
versen durch Versammlungen, Streiks, Mahnwachen
und die Besetzung öffentlicher Räume inszeniert  ; und
zum anderen sind diese Körper der Gegenstand vieler

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Demonstrationen, die den Zustand der Prekarität zum
Ausgangspunkt nehmen. Der Körper, der mit anderen
Körpern in einer der medialen Berichterstattung zu-
gänglichen Zone eintrifft, verfügt schließlich über eine
indexikalische Kraft  : Es ist dieser beziehungsweise es
sind diese Körper, die nach einer Beschäftigung, einer
Unterkunft, medizinischer Versorgung, etwas zu essen
und einer Zukunft verlangen, die nicht nur aus unbe-
zahlbaren Schulden besteht  ; es ist dieser beziehungs-
weise es sind diese Körper oder Körper wie dieser oder
diese, die unter den Bedingungen einer zunehmenden
Prekarisierung und immer schwächer werdenden Infra-
struktur leben und deren Existenzgrundlage gefährdet
ist.
Mein Ziel ist es in gewisser Weise, das Offensicht-
liche in einer Situation zu betonen, in der das Offen-
sichtliche im Begriff ist zu verschwinden  : Es gibt Arten,
die Prekarität auszudrücken und zu demonstrieren, für
die verkörpertes Handeln äußerst wichtig ist, und For-
men der Ausdrucksfreiheit, die eigentlich zur öffent-
lichen Versammlung gehören. Manche Kritiker / ​innen
sehen den Erfolg der Occupy-Bewegungen einzig darin,
dass sie die Menschen auf die Straße gebracht und die
Besetzung von Räumen erleichtert haben, deren öffent-
licher Status durch zunehmende Privatisierung gefähr-
det ist. Manchmal sind diese Räume deshalb umstritten,
weil sie im wahrsten Sinne als Besitz an private Inves-
toren verkauft werden (wie der Gezi-Park in Istanbul).
In anderen Fällen werden sie jedoch im Namen der »Si-
cherheit« oder sogar der »öffentlichen Gesundheit« für
öffentliche Versammlungen gesperrt. Die erklärten Zie-
le jener Versammlungen variieren  ; sie richten sich gegen
despotische Herrscher, sekuristische Regime, Nationa-
lismus, Militarismus, wirtschaftliche Ungerechtigkeit,

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ungleiche Bürgerrechte, Staatenlosigkeit, Umweltschä-
den, die Verschärfung der wirtschaftlichen Ungleichheit
oder die rasante Prekarisierung. Manchen Versamm-
lungen geht es ausdrücklich darum, den Kapitalismus
selbst oder den Neoliberalismus, der als eine neue Ent-
wicklung oder Variante betrachtet wird, herauszufor-
dern  ; in Europa werden Sparmaßnahmen kritisiert, in
Chile und anderswo die potenzielle Zerstörung des öf-
fentlichen Hochschulwesens.4
Natürlich handelt es sich hier um unterschied-
liche Versammlungen und unterschiedliche Bündnis-
se, und ich glaube nicht, dass eine einzelne Erklärung
ausreicht, um diese jüngsten Formen öffentlicher De-
monstrationen und Okkupationen in einen breiteren
Zusammenhang mit der Geschichte und dem Prinzip
der öffentlichen Versammlung zu stellen. Sie sind nicht
alle Permutationen der Multitude, aber sie sind auch
nicht so unzusammenhängend, dass man keine Verbin-
dungen zwischen ihnen herstellen könnte. Sozial- und
Rechtshistoriker / ​innen hätten einen Teil dieser ver-
gleichenden Arbeit zu leisten – und ich hoffe, dass sie
dies im Lichte der jüngsten Formen der Versammlung
bald tun werden. Von meinem eingeschränkten Stand-
punkt aus möchte ich lediglich darauf hinweisen, dass
Körper, wenn sie sich auf Straßen, Plätzen oder in an-
deren öffentlichen Räumen (einschließlich virtuellen)
versammeln, ein plurales und performatives Recht zu
erscheinen geltend machen, eines, das den Körper in die
Mitte des politischen Feldes rückt und das in seiner ex-
pressiven und bezeichnenden Funktion eine leibliche
Forderung nach lebenswerteren wirtschaftlichen, ge-
sellschaftlichen und politischen Bedingungen darstellt,
die nicht mehr durch von außen auferlegte Formen der
Prekarität erschwert werden.

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In einer Zeit, in der die neoliberale Ökonomie im-
mer größere Bereiche und Institutionen des öffent-
lichen Dienstes strukturiert, einschließlich Schulen und
Universitäten, einer Zeit, in der immer mehr Menschen
ihr Zuhause, ihre Rente und ihre Aussicht auf Arbeit
verlieren, werden wir auf eine neue Weise mit der Idee
konfrontiert, dass Teile der Bevölkerung als frei ver-
fügbar erachtet werden.5 Es gibt Kurzarbeit, gar keine
Arbeit oder postfordistische Formen flexibler Arbeit,
die auf der Austauschbarkeit und Entbehrlichkeit der
arbeitenden Bevölkerung basieren. Diese Entwicklun-
gen, die durch die aktuell vorherrschende Haltung zur
Kranken- und Sozialversicherung noch verstärkt wer-
den, deuten darauf hin, dass die Marktrationalität darü-
ber entscheidet, ob die Gesundheit und das Leben eines
Menschen geschützt werden sollen oder nicht. Es ist
natürlich ein Unterschied, ob eine Politik den Tod be-
stimmter Teile der Bevölkerung ausdrücklich zum Ziel
erklärt oder ob sie Bedingungen der systematischen
Vernachlässigung schafft, die effektiv den Tod von
Menschen zur Folge haben. Um diesen Unterschied zu
artikulieren, können wir uns auf Foucault stützen, der
die spezifischen Strategien der Biomacht aufgezeigt hat,
das heißt der Regulierung des Lebens und des Todes
auf eine Weise, die nicht mehr von einem Souverän ab-
hängt, der die Macht hat zu entscheiden, wer leben darf
und wer sterben soll.6 Achille Mbembe hat diese Un-
terscheidung weiter ausgearbeitet und dazu den Begriff
der »Nekropolitik« eingeführt.
Ein krasses Beispiel dafür konnte man auf einem
Treffen der Tea-Party-Bewegung beobachten, bei dem
der US -Kongressabgeordnete Ron Paul andeutete, dass,
wer ernsthaft krank sei und keine Krankenversicherung
bezahlen könne – oder, wie er sich ausdrückte  : wer es

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»vorziehe«, nicht zu bezahlen –, eben sterben müsse.
Das anwesende Publikum reagierte veröffentlichten
Berichten zufolge mit Jubelrufen. Es handelte sich da-
bei, so vermute ich, um die Art von Jubel, die üblicher-
weise dann zu hören ist, wenn in den Krieg gezogen
oder nationalistischer Eifer zu Schau gestellt wird. Aber
wenn es hier für einige Grund zum Jubel gab, so muss
dahinter die Überzeugung stecken, dass jemand, dessen
Gehalt nicht reicht oder dessen Arbeitsverhältnis nicht
sicher genug ist, es nicht verdient, von der Gesundheits-
fürsorge abgesichert zu werden, und dass niemand von
uns anderen für diese Menschen verantwortlich ist. Die
Implikation war eindeutig, dass jemand, der es nicht
schafft, einen Job mit Krankenversicherung zu bekom-
men, zu einer Bevölkerungsgruppe gehört, die den Tod
verdient hat und letztlich selbst daran schuld ist.
Das Schockierende für viele Menschen, die nominell
noch immer in einer Sozialdemokratie leben, ist die zu-
grunde liegende Annahme, dass die oder der Einzelne
sich ausschließlich um sich selbst und nicht um ande-
re kümmern solle und dass die Gesundheitsfürsorge
kein öffentliches Gut, sondern eine Ware sei. In der-
selben Rede pries Paul auch die traditionelle Funktion
von Kirche und Wohlfahrt, sich um die Bedürftigen zu
kümmern. Zwar haben sich in Europa und anderswo
christlich-linke Alternativen zu dieser Situation ent-
wickelt, um Menschen, die aus der Sozialfürsorge he-
rausfallen, durch philanthropische und kommunitäre
Praktiken der »Sorge« aufzufangen, doch diese Alter-
nativen ergänzen und verfestigen oft nur den Abbau öf-
fentlicher Leistungen wie der Gesundheitsfürsorge. Sie
akzeptieren, mit anderen Worten, die neue Rolle für die
christliche Ethik und Praxis (und die christliche Hege-
monie), welche sich aus der Schwächung der sozialen

21
Grundversorgung ergibt. Etwas Ähnliches geschieht
in Palästina, wo die infrastrukturellen Lebensbedin-
gungen immer mehr durch Bombardierungen, Wasser-
rationierungen, die Rodung von Olivenhainen und die
Demontage bestehender Bewässerungssysteme zerstört
werden. Die Zerstörung wird durch Nichtregierungs-
organisationen gemindert, die Straßen und Schutzräu-
me wiederaufbauen, aber sie hört nicht auf  ; die NGO s
gehen bei ihren Interventionen davon aus, dass die Zer-
störung weitergeht, und sehen ihre Aufgabe darin, in
den Pausen zwischen den Zerstörungswellen Repara-
turen durchzuführen und die Bedingungen zu verbes-
sern. So entwickelt sich zwischen den Werken der Zer-
störung und den Werken der Wiederherstellung oder
des Wiederaufbaus (die häufig auch ein vorübergehen-
des Marktpotenzial freisetzen) ein makaberer Rhyth-
mus, der insgesamt der Normalisierung der Besetzung
Vorschub leistet. Das bedeutet natürlich nicht, dass
keine Anstrengungen unternommen werden sollten,
Häuser und Straßen zu reparieren, für eine bessere Be-
wässerung und damit für mehr Wasser zu sorgen und
zerstörte Olivenhaine wieder aufzuforsten oder dass
die NGO s keine Rolle spielten. Ihre Rolle ist ganz ent-
scheidend. Wenn ihre Arbeit jedoch an die Stelle eines
grundsätzlicheren Widerstands gegen die Besetzung
tritt, der diese beenden würde, dann droht sie zu einer
Praxis zu werden, die die Besetzung funktionsfähig
macht.
Worum handelt es sich bei jenen sadistischen Jubel-
rufen auf dem Tea-Party-Treffen, hinter denen die Vor-
stellung steckt, wer keinen Zugang zum Gesundheits-
system habe, werde sich völlig zu Recht Krankheiten
zuziehen, Unfälle erleiden und an deren Folgen ster-
ben  ? Unter welchen wirtschaftlichen und politischen

22
Bedingungen können solche grausamen Freudenaus-
brüche entstehen und sich Gehör verschaffen  ? Wol-
len wir das als Todeswunsch bezeichnen  ? Klar ist aus
meiner Sicht jedenfalls, dass etwas gründlich falsch ge-
laufen ist beziehungsweise schon seit langem falsch
läuft, wenn der Gedanke an den Tod eines verarmten
oder unversicherten Menschen einem Vertreter der Tea
Party Jubelrufe entlockt  ; der Republikanismus dieser
Bewegung ist eine nationalistische Variante des Wirt-
schaftsliberalismus, der jedes Gefühl einer gemein-
samen sozialen Verantwortung mit einer kühleren und
berechnenderen Metrik überdeckt hat, die von einem
recht freudvollen Verhältnis zur Grausamkeit flankiert
und begünstigt zu werden scheint.
Wenngleich »Verantwortung« ein Wort ist, das von
Vertretern des Neoliberalismus und neuerer Formen
des politischen und ökonomischen Individualismus
gern in den Mund genommen wird, will ich versuchen,
seine Bedeutung im Kontext der Betrachtung kollekti-
ver Versammlungsformen umzukehren und zu erneu-
ern. Es ist nicht leicht, die Idee der Ethik und mit ihr
Schlüsselbegriffe wie Freiheit und Verantwortung ge-
gen deren diskursive Aneignung zu verteidigen. Denn
wenn wir, wie die Befürworter der Kürzung von Sozial-
leistungen behaupten, nur für uns selbst und keinesfalls
für andere verantwortlich sind, und wenn Verantwor-
tung in erster Linie heißt, wirtschaftlich eigenständig
zu werden unter Bedingungen, die jede Aussicht auf
Eigenständigkeit unterminieren, dann stehen wir vor
einem Widerspruch, der einen leicht in den Wahnsinn
treiben kann  : Wir werden moralisch dazu gedrängt, ge-
nau die Art von Subjekt zu werden, die von der Ver-
wirklichung dieser Norm strukturell ausgeschlossen
ist. Die neoliberale Vernunft fordert Autarkie als mora-

23
lisches Ideal, während gleichzeitig neoliberale Macht-
formen genau diese Möglichkeit auf der ökonomi-
schen Ebene zunichtemachen, indem sie jedes Mitglied
der Bevölkerung zum potenziell oder tatsächlich Ge-
fährdeten machen und die allgegenwärtige Bedrohung
der Prekarität sogar zur Rechtfertigung der verstärk-
ten Regulierung des öffentlichen Raumes und der De-
regulierung der Marktexpansion benutzen. In dem Mo-
ment, in dem man sich als unfähig erweist, der Norm
der Selbstgenügsamkeit zu entsprechen (wenn man sich
zum Beispiel keine medizinische Versorgung leisten
oder die Vorzüge der privatisierten Fürsorge nicht nut-
zen kann), wird man potenziell entbehrlich. Und diese
entbehrliche Kreatur wird dann mit einer politischen
Moral konfrontiert, die individualistische Verantwort-
lichkeit fordert oder dem Muster der Privatisierung der
»Fürsorge« folgt.
Wir stecken mitten in einer biopolitischen Situation,
in der weite Teile der Bevölkerung zunehmend der so-
genannten Prekarisierung unterworfen sind.7 Dieser
in der Regel von Regierungs- und Wirtschaftseinrich-
tungen angestoßene und in Gang gehaltene Prozess ge-
wöhnt die Bevölkerung allmählich an Unsicherheit und
Hoffnungslosigkeit  ; er gliedert sich in die Institutionen
der Leiharbeit, der gestrichenen Sozialleistungen und
des allgemeinen Abbaus der letzten noch wirksamen
Reste der Sozialdemokratie zugunsten unternehmeri-
scher Modalitäten, für die, gestützt auf wilde Ideologien
individueller Verantwortlichkeit, das höchste Lebens-
ziel in der Verpflichtung liegt, den eigenen Markt-
wert zu maximieren.8 Meiner Ansicht nach muss dieser
wichtige Prozess der Prekarisierung um die Einsicht er-
gänzt werden, dass die Prekarität eine Veränderung der
psychischen Realität bewirkt, wie Lauren Berlant in ih-

24
rer Affekttheorie nahelegt  ;9 dazu gehört ein gesteiger-
tes Gefühl der Entbehrlichkeit oder Verfügbarkeit, das
in der Gesellschaft unterschiedlich verteilt ist. Je mehr
man der Forderung nach Eigenverantwortlichkeit nach-
kommt, desto stärker wächst die gesellschaftliche Iso-
lierung und das Gefühl der Prekarität  ; und je mehr un-
terstützende soziale Strukturen aus »wirtschaftlichen«
Gründen wegfallen, desto stärker isoliert kommt man
sich in seinem Gefühl der wachsenden Angst und des
»moralischen Scheiterns« vor. Prekarität bedeutet auch
eine Eskalation der Angst um die eigene Zukunft und
um diejenigen, die möglicherweise von einem abhän-
gig sind  ; sie zwingt die Person, die diese Ängste hat, in
einen Rahmen der Eigenverantwortlichkeit  ; und sie de-
finiert Verantwortung neu als die Forderung, zum Un-
ternehmer seiner selbst zu werden – unter Bedingun-
gen, die diese dubiose Berufung unmöglich machen.
Für uns stellt sich daher folgende Frage  : Welche
Funktion hat die öffentliche Versammlung im Kon-
text dieser Form der »Responsibilisierung« und welche
gegensätzliche Ethik wird von ihr verkörpert und aus-
gedrückt  ? Gegenüber einem zunehmend individuali-
sierten Gefühl der Angst und des Scheiterns steht die
öffentliche Versammlung für die Einsicht, dass es sich
dabei um eine gemeinsame und ungerechte soziale Be-
dingung handelt und dass die Versammlung eine pro-
visorische und plurale Form der Koexistenz darstellt,
die eine klare ethische und soziale Alternative zur »Re-
sponsibilisierung« bietet. Ich möchte zeigen, dass diese
Arten der Versammlung als aufkeimende und vorläu-
fige Formen der Volkssouveränität verstanden werden
können. Sie lassen sich auch als unverzichtbare Erinne-
rungen an die Funktionsweise der Legitimation in der
demokratischen Theorie und Praxis betrachten. Die

25
Geltendmachung der pluralen Existenz bedeutet kei-
neswegs den Sieg über jede Form von Prekarität, sie
bringt jedoch durch ihren Vollzug eine Opposition ge-
gen die von außen auferlegte Prekarität und ihre Be-
schleunigung zum Ausdruck.
Die Fantasievorstellung eines Selfmade-Individuums,
das sich angesichts der grassierenden Prekarität, wenn
nicht sogar Armut, in unternehmerischer Eigenverant-
wortlichkeit selbst versorgt, geht von der verblüffenden
Annahme aus, Menschen könnten und müssten unter
unerträglichen Lebensbedingungen autonom handeln.
Die These dieses Buches lautet dagegen, dass niemand
von uns handelt, ohne dass die Bedingungen dazu ge-
geben sind, auch wenn wir manchmal handeln müssen,
um genau diese Bedingungen zu schaffen oder zu erhal-
ten. Die Paradoxie liegt auf der Hand, und doch ist das,
was wir bei den Versammlungen der Gefährdeten be-
obachten können, eine Form des Handelns, welche die
Bedingungen zum Handeln und zum Leben einfordert.
Was bedingt solche Handlungen  ? Und inwiefern muss
plurales und verkörpertes Handeln in einer solchen his-
torischen Situation neu betrachtet werden  ?
Bevor wir uns diesen zentralen Fragen zuwenden,
wollen wir uns zunächst ansehen, wie jener wider-
sprüchliche Imperativ in anderen Bereichen wirkt.
Wenn wir die Begründung für die Militarisierung be-
trachten, die auf der Behauptung basiert, »das Volk«
eines bestimmten Staates müsse verteidigt werden, stel-
len wir fest, dass dies nur auf einen Teil des Volkes zu-
trifft und dass zwischen dem zu verteidigenden und
dem nicht zu verteidigenden Teil eine Unterscheidung
am Werk ist, die zwischen Volk und Bevölkerung dif-
ferenziert. Die Prekarität zeigt sich im Kern dieses Im-
perativs, »das Volk zu verteidigen«. Die militärische

26
Verteidigung verlangt und schafft Prekarität nicht nur
unter denjenigen, auf die sie zielt, sondern auch unter
denen, die sie rekrutiert. Wer in die US -Armee einbe-
rufen wird, dem werden immerhin Schulung, Ausbil-
dung und Arbeit versprochen, doch häufig werden die-
se Soldat / ​innen in Konfliktgebiete geschickt, für die
es kein eindeutiges Mandat gibt, wo ihre Körper ver-
stümmelt, ihre Psyche traumatisiert und ihr Leben zer-
stört werden können. Auf der einen Seite werden sie
als »unentbehrlich« für die Verteidigung der Nation be-
trachtet. Auf der anderen Seite werden sie zum entbehr-
lichen Teil der Bevölkerung erklärt. Ihr Tod wird zwar
manchmal glorifiziert, entbehrlich sind sie aber den-
noch  : Sie sind Angehörige des Volkes, die im Namen
des Volkes geopfert werden.10 Hier liegt eindeutig ein
operativer Widerspruch vor  : Der Körper, der das Land
verteidigen soll, wird in und mit der Erfüllung seiner
Aufgabe physisch und psychisch vernichtet. Auf diese
Weise schickt die Nation im Namen der Verteidigung
des Volkes Teile dieses Volkes in die Wüste. Der zum
Zwecke der »Verteidigung« instrumentalisierte Körper
ist während er ebendiese Verteidigung leistet dennoch
entbehrlich. Ein solcher in Erfüllung seiner Aufgabe,
die Nation zu schützen, schutzlos zurückgelassener
Körper ist zugleich unentbehrlich und entbehrlich. Der
Imperativ, für die »Verteidigung des Volkes« zu sorgen,
setzt also die Entbehrlichkeit und Schutzlosigkeit derer
voraus, die mit der Verteidigung betraut sind.
Natürlich ist es berechtigt, verschiedene Arten des
Protests zu unterscheiden und etwa zwischen antimili-
taristischen Bewegungen und Bewegungen gegen die
Prekarisierung oder zwischen der Black-Lives-Mat-
ter-Bewegung und Forderungen nach öffentlicher Bil-
dung zu differenzieren. Zugleich scheint sich die Pre-

27
karität durch eine ganze Reihe von Bewegungen dieser
Art zu ziehen, sei es die Prekarität der im Krieg Gefal-
lenen, die Prekarität derer, denen es an der grundlegen-
den Infrastruktur mangelt, die auf der Straße unver-
hältnismäßiger Gewalt ausgesetzt sind oder die für ihre
Bildung Schulden anhäufen, die sie nie werden zurück-
zahlen können. Manchmal findet eine Versammlung im
Namen des lebendigen Körpers statt, eines Körpers,
der das Recht hat zu leben, fortzubestehen, ja, zu gedei-
hen. Jeder Protest, egal wogegen er sich richtet, ist im-
plizit immer auch eine Forderung, zusammenkommen
und sich versammeln zu können, und zwar aus freien
Stücken, ohne Angst vor Polizeigewalt oder politischer
Zensur. Es geht also nicht nur um den Körper in seinem
Kampf mit der Prekarität und seinem Ringen um Persis-
tenz, der im Zentrum so vieler Demonstrationen steht,
sondern auch um den bei diesen selbst anwesenden Kör-
per, der seinen Wert und seine Freiheit aufs Spiel setzt
und zur Schau stellt und durch die verkörperte Form
der Versammlung eine politische Forderung aufstellt.

Die Bekräftigung, dass eine Gruppe von Menschen


noch existiert, dass sie Raum einnimmt und hartnäckig
weiterlebt, ist bereits eine expressive Handlung, ein po-
litisch signifikantes Ereignis, und dies kann wortlos im
Verlauf einer unvorhersehbaren und flüchtigen Ver-
sammlung geschehen. Ein weiteres »effektives« Resul-
tat solcher pluralen Inszenierungen ist, dass sie das Ge-
meinschaftliche einer Situation manifestieren und jene
individualisierende Moral anfechten, die die wirtschaft-
liche Unabhängigkeit zur sittlichen Norm erklärt, und
zwar ausgerechnet dann, wenn die Unabhängigkeit zu-
nehmend unrealistischer wird. Sich zeigen, stehen, at-
men, sich bewegen, stillstehen, reden und schweigen

28
sind allesamt Aspekte einer plötzlichen Versammlung,
einer unvorhergesehenen Form politischer Performa-
tivität, die das lebenswerte Leben in den Vordergrund
der Politik rückt. Und dies scheint schon der Fall zu
sein, bevor die Gruppe damit begonnen hat, ihre Forde-
rungen darzulegen oder sich im eigentlichen Sinne po-
litisch zu äußern. Auch wenn sie nicht in der parlamen-
tarischen Form schriftlicher und mündlicher Beiträge
stattfindet, ist die provisorische Versammlung ein Ruf
nach Gerechtigkeit. Aber um diesen »Ruf« zu verste-
hen, müssen wir uns fragen, ob es richtig ist, dass die
Verbalisierung immer noch der Standard ist, an dem
allein sich Überlegungen zum expressiven politischen
Handeln abarbeiten müssen. Tatsächlich müssen wir
neu über den Sprechakt nachdenken, um zu begreifen,
was bestimmte Arten körperlicher Inszenierungen tun
und schaffen  : Die versammelten Körper »sagen«, dass
sie nicht frei verfügbar sind, auch wenn sie nur still da-
stehen. Diese Ausdrucksmöglichkeit ist Bestandteil der
pluralen und verkörperten Performativität, die wir als
von Abhängigkeit und Widerstand gekennzeichnet be-
greifen müssen. Auf diese Weise versammelte Wesen
hängen von einer Reihe lebendiger und institutioneller
Prozesse, von infrastrukturellen Bedingungen ab, um
zu bestehen und um gemeinsam ein Recht auf die Be-
dingungen für ihr Bestehen geltend machen zu können.
Dieses Recht ist Teil eines umfassenderen Rufs nach
Gerechtigkeit, der sich auch in einer schweigenden ge-
meinsamen Haltung artikulieren kann. Worte mögen
für diese Haltung zwar wichtig sein, doch die politische
Wichtigkeit des pluralen und verkörperten Handelns
erschöpft sich nicht in ihnen.
Eine Versammlung kann eine Form des öffentlichen
Willens zum Ausdruck bringen, ja sogar Anspruch auf

29
»den« Willen des Volkes erheben und für die unerläss-
liche Voraussetzung der staatlichen Legitimität stehen  ;
auf der anderen Seite werden Versammlungen aber auch
von Staaten genau zu dem Zweck organisiert, den Me-
dien die breite öffentliche Unterstützung vor Augen zu
führen, die sie angeblich genießen. Das heißt, die cha-
rakteristische Wirkung der Versammlung – ihr Legi-
timationseffekt – lässt sich auch mittels orchestrierter
Inszenierungen und einer gesteuerten medialen Be-
richterstattung erreichen  ; die Verbreitung der »Volks-
meinung« ist dann nichts weiter als eine Strategie zur
Selbstlegitimierung des Staates. Da der öffentliche Wil-
le seine legitimierende Wirkung nicht entfalten kann,
wenn er eingegrenzt wird oder innerhalb eines Rah-
mens entsteht, findet der Kampf um die Legitimierung
unweigerlich im Spiel zwischen öffentlicher Inszenie-
rung und Medienbildern statt, bei dem sich die staat-
lich kontrollierten Schauspiele mit Smartphones und
sozialen Netzwerken um die Berichterstattung über
ein Ereignis und seine Bedeutung streiten. Das Filmen
von Polizeiaktionen ist zu einem wichtigen Mittel ge-
worden, um den staatlich geförderten Zwang zu ent-
larven, dem sich die Versammlungsfreiheit gegenwärtig
ausgesetzt sieht. Man könnte nun leicht den zynischen
Schluss ziehen, dass alles nur ein Spiel der Bilder sei.
Möglicherweise steht jedoch eine weitaus wichtigere
Erkenntnis auf dem Spiel, nämlich die, dass »das Volk«
nicht nur durch seine in Worte gefassten Ansprüche
hervorgebracht wird, sondern auch durch die Bedin-
gungen der Möglichkeit seines Erscheinens (also inner-
halb des visuellen Feldes) sowie durch sein Handeln
(also als Teil leiblicher Performanz). Diese Bedingun-
gen des Erscheinens umfassen infrastrukturelle Voraus-
setzungen der Inszenierung ebenso wie technische Mit-

30
tel der Erfassung und Übertragung einer Versammlung
oder Zusammenkunft im visuellen und akustischen
Bereich. Der Klang des Gesagten oder seine grafische
Darstellung sind für die Aktivität der Selbstkonstitu-
tion im öffentlichen Raum (und die Konstitution des
öffentlichen Raumes als Bedingung des Erscheinens)
genauso wichtig wie jedes andere Mittel. Insofern das
Volk durch ein komplexes Zusammenspiel von Perfor-
manz, Bild, Akustik und all den anderen Techniken, die
bei solchen Produktionen eine Rolle spielen, konsti-
tuiert wird, berichten die »Medien« nicht nur einfach,
wer das Volk zu sein behauptet, sondern sind selbst ein
ganz entscheidender Teil von dessen Definition. Sie un-
terstützen und ermöglichen diese Definition nicht nur,
sondern sie sind der Stoff der Selbstkonstitution, der
Ort des hegemonialen Kampfes darum, wer »wir« sind.
Wir müssen natürlich die Fälle untersuchen, in denen
der offizielle Rahmen von konkurrierenden Bildern de-
montiert wird, in denen eine einzelne Reihe von Bildern
zu einer unversöhnlichen Spaltung der Gesellschaft
führt, in denen die Zahl der zum Widerstand versam-
melten Menschen den Rahmen sprengt, durch den ihre
Größe reduziert werden soll, oder in denen sich ihre
Forderung in unzivilisierten Lärm verwandelt. Solche
Versammlungen sind nicht dasselbe wie die Demokra-
tie selbst. Wir können nicht auf eine provisorische und
vergängliche Versammlung deuten und sagen  : »Das ist
Demokratie in Aktion«, wenn wir damit meinen, dass
alles, was wir von der Demokratie erwarten, in einem
solchen Moment versinnbildlicht oder vollführt wird.
Versammlungen sind notwendigerweise vergänglich
und diese Vergänglichkeit ist mit ihrer kritischen Funk-
tion verknüpft. Man könnte nun beklagen, dass sie ja
leider nicht von Dauer sind, und das Ganze für zweck-

31
los halten, aber dieses Verlustgefühl wird durch die
Aussicht auf das, was kommen könnte, wettgemacht  :
»Sie sind jederzeit möglich  !« Derartige Versammlun-
gen sind einer der einleitenden oder »flüchtigen« Mo-
mente der Demokratie.11 Die Demonstrationen gegen
Prekarität könnten sich hier als ein einschlägiges Bei-
spiel erweisen.

Wie ich in meinem Buch Raster des Krieges angefan-


gen habe darzulegen, ist die Prekarität nicht nur einfach
eine existenzielle Wahrheit – jeder von uns kann durch
Ereignisse oder Prozesse, die wir nicht kontrollieren
können, Entbehrungen, Verletzungen, Krankheiten,
Schwächungen oder den Tod erleiden.12 Niemand weiß,
was uns möglicherweise erwartet, und diese Unwissen-
heit ist ein Zeichen dafür, dass wir nicht alle Bedingun-
gen, die unser Leben ausmachen, kontrollieren können.
Doch wie unumstößlich diese allgemeine Wahrheit
auch sein mag, sie wird auf unterschiedliche Weise ge-
lebt, denn gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze oder
der zunehmende Sozialabbau betreffen Arbeiter / ​innen
und Arbeitslose natürlich stärker als andere.
Auf der einen Seite ist jeder Mensch von Sozialbezie-
hungen und einer stabilen Infrastruktur abhängig, um
ein lebbares Leben führen zu können, an dieser Abhän-
gigkeit führt also kein Weg vorbei. Auf der anderen Sei-
te kann aus dieser Abhängigkeit sehr leicht Unterwer-
fung werden, auch wenn man beides nicht gleichsetzen
darf. Die Abhängigkeit menschlicher Wesen vom Be-
stand und Erhalt des infrastrukturellen Lebens zeigt,
dass die Organisation der Infrastruktur aufs Engste mit
dem individuellen Lebensgefühl – damit, wie und mit
welchem Maß an Leiden, Lebbarkeit oder Hoffnung
das Leben ertragen wird – verknüpft ist.

32
Anders ausgedrückt  : Niemand leidet unter Obdach-
losigkeit, wenn es kein gesellschaftliches Versagen gibt,
ein Scheitern an der Aufgabe, Wohnungen und Unter-
künfte so zu organisieren, dass sie jedem Menschen zu-
gänglich sind. Und niemand leidet unter Arbeitslosig-
keit ohne ein politisches oder ökonomisches System,
das die Menschen nicht vor dieser Möglichkeit schützt.
Das bedeutet, dass in einigen der schmerzhaftesten Er-
fahrungen sozialer und wirtschaftlicher Not nicht nur
unser Gefährdetsein als Einzelpersonen offenbar wird –
wenngleich dies durchaus auch der Fall sein kann –,
sondern auch die Versäumnisse und Ungleichheiten so-
zioökonomischer und politischer Institutionen. In der
individuellen Vulnerabilität gegenüber einer sozial er-
zeugten Prekarität kann jedes »Ich« potenziell erken-
nen, dass sein ganz eigenes Gefühl der Angst und des
Scheiterns immer schon in eine größere soziale Welt
eingebunden ist. Das schafft die Möglichkeit, jene in-
dividualisierende und unerträgliche Form der Verant-
wortung zu demontieren und an ihre Stelle ein Ethos
der Solidarität zu setzen, das die wechselseitige Abhän-
gigkeit und das Angewiesensein auf funktionierende
Infrastrukturen und soziale Netzwerke bejaht und den
Weg für eine Form der Improvisation öffnet, während
es kollektive und institutionelle Möglichkeiten ersinnt,
um das Problem der forcierten Prekarität anzugehen.
In den einzelnen Kapiteln dieses Buches versuche
ich in erster Linie, die expressive oder signifizierende
Funktion improvisatorischer öffentlicher Versamm-
lungsformen zu verstehen, aber auch zu ergründen,
was als »öffentlich« gilt und wer eigentlich »das Volk«
ist. »Expressivität« ist hier nicht so zu verstehen, dass
durch öffentliche Versammlungen ein bereits bestehen-
des Gefühl des Volkes ausgedrückt wird  ; ich will damit

33
nur sagen, dass die Versammlungsfreiheit genauso zur
»Ausdrucksfreiheit« gehört wie die Redefreiheit, inso-
fern eine Angelegenheit von politischer Bedeutung in-
szeniert und vermittelt wird. Die Untersuchung findet
zu einem historischen Zeitpunkt statt, an dem die Fra-
ge aufkommt  : Wie wird Prekarität in plötzlichen Ver-
sammlungen inszeniert und bekämpft  ? In dem Maße,
in dem Formen der wechselseitigen Abhängigkeit bei
solchen Versammlungen in den Vordergrund gerückt
werden, bieten sie die Chance, über die Verkörpert-
heit sozialer Handlungs- und Ausdrucksformen nach-
zudenken, also über das, was wir mit verkörperter
und pluraler Performativität meinen. Durch die poli-
tische Analyse zieht sich auf allen Seiten ein ethisches
Verständnis menschlicher Relationalität, das am deut-
lichsten in dem Kapitel zum Tragen kommt, in dem ich
mich mit Hannah Arendts Begriff der Kohabitation
auseinandersetze sowie mit Emmanuel Lévinas’ These,
dass eine ethische Forderung in gewissem Sinne der
Formierung des wählenden Subjekts vorausgeht und
damit auch klassisch liberalen Vertragsideen.
Die ersten Kapitel stellen Formen der Versammlung
in den Mittelpunkt, die Weisen der Zugehörigkeit und
ortsspezifische Anlässe für politische Demonstratio-
nen voraussetzen, während die letzten nach Formen
der ethischen Verpflichtung von Menschen fragen, die
kein geografisches oder sprachliches Zugehörigkeits-
gefühl teilen. Am Schluss greife ich Adornos Formu-
lierung auf, dass man kein richtiges Leben im falschen
führen kann, und argumentiere, dass das »Leben«, das
man führen muss, immer ein gesellschaftliches ist, wir
also stets in eine umfassendere soziale, ökonomische
und infrastrukturelle Welt verwickelt sind, die unsere
Perspektive und die ortsgebundene Ich-Modalität ethi-

34
scher Fragestellungen übersteigt. Aus diesem Grund
gehe ich davon aus, dass ethische Fragen unweigerlich
mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Belangen
verknüpft sind, von diesen aber nicht erstickt werden.
Tatsächlich impliziert schon die Annahme der durch-
gängigen Bedingtheit des menschlichen Handelns, dass
wir, wenn wir die grundlegende ethische und politische
Frage stellen – Wie soll ich handeln  ? –, stillschweigend
auf die Bedingungen der Welt Bezug nehmen, die die-
ses Handeln ermöglichen oder, wie es unter den Be-
dingungen der Prekarität zunehmend der Fall ist, die
Handlungsmöglichkeiten untergraben. Was bedeutet
es, gemeinsam zu handeln, wenn die Bedingungen des
gemeinsamen Handelns zerstört werden oder schwin-
den  ? Eine derart ausweglose Situation kann zur para-
doxen Bedingung einer gleichermaßen traurigen wie
freudvollen Form der gesellschaftlichen Solidarität
werden, einer von Körpern unter Zwang oder im Na-
men des Zwangs inszenierten Versammlung, bei der das
Sich-Versammeln selbst für Beharrlichkeit und Wider-
stand steht.

35
1.
Geschlechterpolitik und
das Recht zu erscheinen

»Körperallianzen« [Bodies in Alliance] war ursprüng-


lich der »Titel« einer Vorlesungsreihe, die ich 2011 am
Bryn Mawr College in Pennsylvania gehalten habe und
die diesem Text als Vorlage dient. Es war ein passender
Titel, wie sich zeigt, dabei konnte ich in dem Augen-
blick, als er mir einfiel, noch nicht ahnen, wie sich seine
Bedeutung im Laufe der Zeit entwickeln und welche
neue Gestalt und Kraft er erlangen würde. Während wir
in unserem akademischen Rahmen beisammensaßen,
versammelten sich überall in den Vereinigten Staaten
und in mehreren anderen Ländern Menschen, um ver-
schiedene Sachverhalte in Frage zu stellen, etwa despo-
tische Herrschaft oder wirtschaftliche Ungerechtigkeit,
manchmal auch den Kapitalismus selbst oder einige sei-
ner aktuellen Erscheinungsformen  ; dabei kamen oft
große Menschenmassen in der Öffentlichkeit zusam-
men, um als plurale politische Präsenz und Kraft gese-
hen und gehört zu werden.
Wir könnten in solchen Massendemonstrationen
eine kollektive Ablehnung der gesellschaftlich und
wirtschaftlich bedingten Prekarität sehen. Was wir aber
vor allem sehen, wenn Körper auf Straßen, Plätzen oder
an anderen öffentlichen Orten zusammenkommen, ist
die – wenn man so will, performative – Ausübung des
Rechts zu erscheinen, eine körperliche Forderung nach
besseren Lebensbedingungen.
Auch wenn die Idee der Verantwortlichkeit in pro-
blematischer Weise für neoliberale Zwecke verein-
nahmt worden ist, spielt der Begriff eine entscheiden-

37
de Rolle für die Kritik der zunehmenden Ungleichheit.
Nach der neoliberalen Moralvorstellung ist jeder nur
für sich selbst und nicht für andere verantwortlich, und
diese Verantwortung richtet sich in erster Linie darauf,
unter Bedingungen, unter denen die Autarkie struk-
turell unterminiert wird, wirtschaftlich unabhängig zu
werden. Diejenigen, die sich keine medizinische Ver-
sorgung leisten können, sind nur ein Beispiel dafür,
dass Teile der Bevölkerung als frei verfügbar betrachtet
werden. Und wer die wachsende Kluft zwischen Arm
und Reich wahrnimmt, wer das Gefühl hat, Sicherhei-
ten und Hoffnungen verloren zu haben, sieht sich auch
als jemand, der von einer Regierung und einer Volks-
wirtschaft im Stich gelassen worden ist, die eindeutig
den Wohlstand einiger weniger auf Kosten der brei-
ten Bevölkerung vermehrt. Eine Implikation der Tat-
sache, dass sich Menschenmassen auf den Straßen ver-
sammeln, scheint daher klar  : Es gibt sie noch und sie
sind noch da  ; sie lassen nicht locker  ; sie versammeln
sich und bekunden damit die Einsicht oder zumindest
den Beginn der Einsicht, dass ihre Situation etwas Ge-
meinsames ist. Und auch wenn sie nicht sprechen und
keine verhandelbaren Forderungen vorbringen, wird
hier ein Ruf nach Gerechtigkeit laut  : Die versammel-
ten Körper »sagen«  : »Wir sind nicht frei verfügbar«, ob
sie dazu Worte benutzen oder nicht. Was sie sagen, ist
gleichsam  : »Wir sind noch hier, wir harren aus, wir for-
dern mehr Gerechtigkeit, die Befreiung aus der Preka-
rität und die Aussicht auf ein lebbares Leben.«
Gerechtigkeit ist natürlich ein großes Wort und sie
zu fordern stellt jede Aktivistin und jeden Aktivisten
vor ein philosophisches Problem  : Was ist Gerechtig-
keit und mit welchen Mitteln kann die Forderung nach
Gerechtigkeit aufgestellt, verstanden und angenom-

38
men werden  ? Dass es manchmal heißt, es gebe »kei-
ne Forderungen«, wenn sich Körper auf diese Wei-
se und zu diesem Zweck versammeln, liegt daran, dass
die Liste der Forderungen nicht die ganze Bedeutung
der geforderten Gerechtigkeit ausschöpfen würde. Na-
türlich können wir uns alle gerechte Lösungen für das
Gesundheitssystem, die öffentliche Bildung, das Woh-
nungswesen oder die Verteilung und Verfügbarkeit von
Nahrung vorstellen – wir könnten also die Ungerech-
tigkeiten einzeln auflisten und als eine Reihe von spezi-
fischen Forderungen vorbringen. Doch vielleicht ist die
Forderung nach Gerechtigkeit ebenso in jeder dieser
Einzelforderungen präsent, wie sie notwendigerweise
über sie hinausgeht. Dies ist eindeutig ein platonisches
Argument, aber wir müssen uns nicht der Ideenlehre
anschließen, um zu erkennen, dass es auf andere Weise
wirkt. Denn wenn Körper sich versammeln, um ihrer
Empörung Ausdruck zu verleihen oder um ihre plura-
le Existenz im öffentlichen Raum zu inszenieren, dann
stellen sie zugleich auch weiter reichende Forderungen  :
Sie verlangen, anerkannt und wertgeschätzt zu werden,
sie machen das Recht geltend, zu erscheinen und ihre
Freiheit auszuüben, und sie fordern ein lebbares Leben.
Es müssen natürlich Bedingungen herrschen, unter de-
nen ein solcher Anspruch auch als Anspruch registriert
wird. Die Demonstrationen in Ferguson, Missouri, im
Sommer 2014 lassen unschwer erkennen, wie schnell
Formen der öffentlichen politischen Opposition – die
sich in diesem Fall gegen die Tötung des unbewaffneten
Schwarzen Michael Brown durch die Polizei richtete –
als »Unruhen« oder »Krawalle« tituliert werden kön-
nen.1 Die konzertierten Aktionen von Gruppen mit
dem Zweck, gegen staatliche Gewalt zu opponieren,
werden in solchen Fällen sogar dann als gewalttätig er-

39
achtet, wenn sie gar keine Gewalttaten beinhalten. Wie
verstehen wir die Art der Bedeutung, die solche Pro-
teste zu vermitteln versuchen, in Relation zu ihrer Be-
nennung durch ihre Opponenten  ? Handelt es sich hier
um eine politische Form inszenierter und pluraler Per-
formativität, deren Wirkungsweise eine eigene Betrach-
tung verlangt  ?

Eine Frage, die mir oft gestellt wird, lautet  : Wie kommt
man von einer Theorie der Performativität der Ge-
schlechter zu einer Betrachtung von gefährdeten Le-
ben  ? Auch wenn darauf manchmal eine biografische
Antwort erwartet wird, bleibt die Frage theoretisch
interessant – welche Verbindung besteht zwischen
den beiden Konzepten, wenn es denn eine gibt  ? Of-
fenbar habe ich mich zunächst mit der Queer-Theorie
und den Rechten sexueller und geschlechtlicher Min-
derheiten beschäftigt und schreibe jetzt allgemeiner
darüber, wie Kriege und andere gesellschaftliche Be-
dingungen bestimmte Bevölkerungsteile als unbetrau-
erbar ausweisen. In Gender Trouble (1990  ; dt. Das Un-
behagen der Geschlechter, 1991) hat es manchmal den
Anschein, dass bestimmte von einzelnen ausgeführte
Handlungen eine subversive Wirkung auf Geschlech-
ternormen haben oder haben könnten. Jetzt arbeite ich
an der Frage der Allianzen zwischen verschiedenen als
verfügbar erachteten Minderheiten oder Bevölkerungs-
gruppen  ; genauer gesagt beschäftige ich mich damit,
wie Prekarität – als Mittelbegriff und in gewisser Wei-
se auch als vermittelnder Begriff – als ein Ort der Al-
lianz von Gruppen wirken könnte oder schon wirkt,
die ansonsten nicht viel gemeinsam haben oder sich so-
gar mit Misstrauen oder Feindseligkeit begegnen. Ein
politischer Standpunkt ist dabei wahrscheinlich ziem-

40
lich unverändert geblieben, auch wenn sich mein Fo-
kus verschoben hat, nämlich dass die Identitätspoli-
tik keine umfassendere Vorstellung davon geben kann,
was es – politisch – bedeutet, über Unterschiede hin-
weg und manchmal in unfreiwilliger Nähe zusammen-
zuleben, zumal das Zusammenleben, wie schwierig
es auch sein mag, ein ethisches und politisches Gebot
bleibt. Außerdem wird Freiheit meistens mit anderen
ausgeübt und dies nicht notwendigerweise auf eine ver-
einheitlichte oder konformistische Weise. Sie erfordert
oder erzeugt nicht unbedingt eine kollektive Identität,
aber eine Reihe von ermöglichenden und dynamischen
Beziehungen, darunter Unterstützung, Streit, Bruch,
Freude und Solidarität.
Zum Verständnis dieser Dynamik schlage ich vor,
zwei Theoriebereiche zu untersuchen, für die abge-
kürzt die Begriffe »Performativität« und »Prekarität«
stehen  ; danach möchte ich auf das Recht zu erscheinen
als koalitionären Rahmen eingehen, der geschlechtliche
und sexuelle Minderheiten mit gefährdeten Bevölke-
rungsgruppen im Allgemeinen verbindet. Performati-
vität bezeichnet in erster Linie die Eigenschaft sprach-
licher Äußerungen, durch die im Moment des Äußerns
etwas geschieht oder ins Leben gerufen wird. Der Be-
griff stammt ursprünglich von John Langshaw Austin,
hat jedoch in der Zwischenzeit eine Vielzahl von Über-
arbeitungen und Veränderungen erfahren, insbesonde-
re in den Werken von Jacques Derrida, Pierre Bourdieu
und Eve Kosofsky Sedgwick, um nur einige zu nennen.2
Eine Äußerung bringt das, was sie beinhaltet, hervor
(Illokution) oder sorgt dafür, dass in ihrer Folge eine
Reihe von Ereignissen geschieht (Perlokution). Wa-
rum sollte sich jemand für diese relativ obskure Theo-
rie der Sprechakte interessieren  ? Nun, zunächst eröff-

41
net die Performativität offenbar die Möglichkeit, eine
der Sprache innewohnende Macht zu benennen  : die
Macht, eine neue Situation zu erzeugen oder eine Reihe
von Wirkungen in Gang zu setzen. Es ist kein Zufall,
dass die erste performative Äußerung im Allgemeinen
Gott zugeschrieben wird. Er sagt  : »Es werde Licht«,
und schon ist Licht da. Auch Präsident / ​innen, die einen
Krieg erklären, erleben in der Regel, dass der Krieg in-
folge ihrer Erklärung Realität wird  ; und Standesbeamt / ​
innen, die zwei Menschen für verheiratet erklären, pro-
duzieren, sofern alles rechtmäßig vonstattengeht, infol-
ge ihrer Äußerung verheiratete Paare. Der springende
Punkt ist nicht nur, dass Sprache handelt, sondern dass
sie machtvoll handelt. Wie wird nun aus einer perfor-
mativen Sprachtheorie eine performative Theorie der
Geschlechter  ? Es beginnt damit, dass ein wimmerndes
Baby nach der Geburt von medizinischen Fachleuten
zum Jungen oder zum Mädchen erklärt wird  ; und auch
wenn deren Äußerung in dem Lärm kaum hörbar ist, so
ist das Kreuzchen, das sie später auf der amtlichen Be-
scheinigung machen, mit Sicherheit lesbar. Meine Wet-
te ist nun, dass bei den meisten von uns das Geschlecht
dadurch festgelegt worden ist, dass jemand etwas an-
gekreuzt und das Formular dann weitergeleitet hat,
auch wenn das Ankreuzen in manchen Fällen – beson-
ders bei Menschen mit intersexuellen Merkmalen – ein
wenig gedauert haben mag oder das Kreuz mehrmals
wieder ausradiert wurde oder das Formular noch eine
Weile zurückgehalten wurde, bevor es abgeschickt wur-
de. Auf jeden Fall gab es zweifellos ein grafisches Ereig-
nis, das die große Mehrheit in ihr Geschlecht eingeführt
hat, oder vielleicht hat auch einfach jemand ausgerufen  :
»Es ist ein Junge  !« oder »Es ist ein Mädchen  !« (Wo-
bei dieser erste Ausruf manchmal sicher eher eine Frage

42
ist  ; wer sich nichts sehnlicher wünscht als einen Sohn
zu haben, mag auch nur eine Frage stellen  : »Ist es ein
Junge  ?«) Wenn man adoptiert wird, müssen die poten-
ziellen Adoptiveltern ankreuzen, welches Geschlecht
sie bevorzugen, oder sich mit dem Geschlecht einver-
standen erklären, das man hat, bevor sie die nächsten
Schritte unternehmen können. In gewisser Hinsicht
bleiben dies alles diskursive Momente am Beginn unse-
res geschlechtlich bestimmten Lebens. Und nur selten
gab es wirklich eine einzige Person, die unser Schick-
sal bestimmt hat – die Idee einer souveränen Macht mit
außerordentlichen sprachlichen Kräften ist größtenteils
von einer diffuseren und komplizierteren Menge dis-
kursiver und institutioneller Mächte abgelöst worden.
Wenn also die Performativität eine sprachliche
Eigenschaft ist, wie können dann körperliche Hand-
lungen performativ werden  ? Diese Frage müssen wir
uns stellen, wenn wir die Bildung des Geschlechts, aber
auch die Performativität von Massendemonstrationen
verstehen wollen. Im Falle des Geschlechts gehen jene
ersten Einschreibungen und Anrufungen mit den Er-
wartungen und Fantasien von anderen einher, die uns
in zunächst unkontrollierbarer Weise beeinflussen   ;
das ist das psychosoziale Auferlegen und langsame
Einimpfen von Normen. Sie erreichen uns, wenn wir
noch gar nicht mit ihnen rechnen können, sie begleiten
uns, sie regen unsere eigene Art der Empfänglichkeit
an und strukturieren sie. Solche Normen werden uns
nicht einfach aufgedrückt, sie markieren und prägen
uns nicht, so als wären wir nur passive Empfänger einer
Kulturmaschine. Sie »produzieren« uns auch, allerdings
weder in dem Sinn, dass sie uns ins Dasein treten las-
sen, noch dass sie strikt festlegen, wer wir sind. Viel-
mehr formen sie die gelebten Arten der Verkörperung,

43
die wir uns im Laufe der Zeit aneignen, und es kann
durchaus sein, dass ebendiese Verkörperungsarten die
Normen in Frage stellen oder sogar mit ihnen brechen.
Sehr deutlich zeigt sich dies zum Beispiel in dem Fall,
dass wir die Bedingungen unserer Geschlechtszuwei-
sung ablehnen  ; wir können diese Ablehnung durchaus
verkörpern oder inszenieren, bevor wir unsere Ansich-
ten in Worte gefasst haben. Tatsächlich kann es sein,
dass wir die Ablehnung zuerst als gefühlsmäßige Wei-
gerung, den mit der Geschlechtszuweisung zusammen-
hängenden Normen zu entsprechen, erfahren. Wir sind
zwar in gewisser Weise verpflichtet, die Geschlechter-
normen zu reproduzieren, aber die Polizei, die darüber
wacht, ob wir dieser Pflicht auch nachkommen, nickt
manchmal im Dienst ein. Und dann ertappt man sich
dabei, wie man vom vorgezeichneten Weg abschweift,
teilweise im Dunkeln, und sich fragt, ob man sich bei
einer bestimmten Gelegenheit wie ein Mädchen ver-
halten hat oder mädchenhaft genug oder jungenhaft ge-
nug oder ob der Junge, der man sein soll, ein gutes Bei-
spiel für das Jungesein ist oder ob man irgendwie am
Ziel vorbeigeschossen ist  ; und irgendwann findet man
sich dann glücklich oder nicht so glücklich zwischen
den etablierten Gender-Kategorien wieder. Die Mög-
lichkeit, am Ziel vorbeizuschießen, ist bei der Inszenie-
rung der Geschlechter immer gegeben  ; möglicherweise
ist das Vorbeischießen sogar eines ihrer Definitions-
merkmale. Kulturellen Geschlechternormen haftet eine
Idealität, wenn nicht eine trügerische Dimension an,
und selbst wenn Menschen in ihrer Entwicklung be-
müht sind, die Normen zu wiederholen und sich ih-
nen anzupassen, stellen sie doch auch eine anhaltende
Diskrepanz zwischen jenen Idealen – die sich vielfach
widersprechen – und ihren vielfältigen gelebten Ver-

44
suchen der Verkörperung fest, wo das eigene Verständ-
nis dem Verständnis anderer völlig zuwiderläuft. Das
soziale Geschlecht kommt zuerst als eine Norm von
anderen zu uns, doch es bleibt als eine Fantasie in uns,
die ebenso von anderen geformt wird, wie sie Teil unse-
rer eigenen Formung ist.
Mir geht es jedoch, zumindest an dieser Stelle, um
etwas sehr Einfaches  : Das Geschlecht wird empfan-
gen, aber es wird gewiss nicht einfach in unseren Kör-
per gemeißelt, als wären wir nur eine passive Schiefer-
tafel, die verpflichtet ist, eine Kennzeichnung zu tragen.
Wozu wir allerdings zunächst verpflichtet sind, ist, das
uns zugewiesene Geschlecht zu inszenieren, und dazu
gehört, dass wir, ohne es zu wissen, von einer Reihe
fremder Fantasien geformt werden, die durch Anru-
fungen unterschiedlicher Art vermittelt werden. Das
Geschlecht wird zwar wieder und wieder inszeniert,
doch die Inszenierung geschieht nicht immer ganz im
Einklang – geschweige denn in exakter Übereinstim-
mung – mit der Norm. Möglicherweise lässt sich die
Norm nicht ohne Weiteres entziffern (es können meh-
rere widersprüchliche Forderungen vorliegen, welche
Version des Geschlechts mit welchen Mitteln erreicht
werden soll), möglicherweise birgt aber auch die Insze-
nierung der Norm die Möglichkeit der Nichteinhaltung
schon in sich. Die Geschlechternormen gehen uns zwar
voraus und wirken auf uns ein (das ist ein Sinn ihrer
Inszenierung), aber wir sind verpflichtet, sie zu repro-
duzieren, und sobald wir – immer ohne es zu wissen –
mit ihrer Reproduktion beginnen, kann jederzeit etwas
schiefgehen (und das ist ein zweiter Sinn der Inszenie-
rung). Und doch offenbart sich im Verlauf dieser Re-
produktion eine Schwäche der Norm, oder eine andere
Reihe kultureller Konventionen dringt in das Normen-

45
feld ein und sorgt für Verwirrung oder Konflikte  ; oder
mitten in unserer Inszenierung übernimmt ein anderes
Begehren die Kontrolle und es regen sich Widerstände,
es passiert etwas Neues, das nicht ganz dem entspricht,
was eigentlich geplant war. Selbst in den frühesten Sta-
dien kann aus dem offenkundigen Ziel einer geschlecht-
lichen Anrufung durchaus ein ganz anderes werden, das
dann realisiert wird. Diese »Wende« des Ziels geschieht
mitten in der Inszenierung  : Wir stellen plötzlich fest,
dass wir etwas anderes machen, dass wir uns anders ma-
chen, dass wir in einer Weise handeln, die nicht gerade
dem entspricht, was die anderen für uns im Sinn hatten.
Es gibt autoritative Diskurse über das Geschlecht –
das Rechtssystem, die Medizin, die Psychiatrie, um nur
einige zu nennen –, die bestrebt sind, das menschliche
Leben in klar abgegrenzten Geschlechterbegriffen zu
definieren und zu erhalten, doch gelingt es ihnen nicht
immer, die Wirkungen der von ihnen ins Spiel gebrach-
ten Geschlechterdiskurse zu kontrollieren. Außer-
dem zeigt sich, dass geschlechtsspezifische Normen
nicht reproduziert werden können, ohne dass sie kör-
perlich inszeniert werden, und wenn ein solches Nor-
menfeld aufbricht, und sei es nur vorübergehend, se-
hen wir, dass die treibenden Ziele des regulatorischen
Diskurses in der körperlichen Inszenierung zu unvor-
hergesehenen Folgen führen können und es möglich
machen, sein Geschlecht auf eine Weise zu leben, die
vorherrschende Anerkennungsnormen in Frage stellt.
So können wir deutlich das Aufkommen von Trans-
gender, Genderqueer, Butch, Femme sowie hyperboli-
schen oder dissidenten Formen von Männlichkeit be-
ziehungsweise Weiblichkeit beobachten, ja sogar Zonen
des geschlechtlich bestimmten Lebens, die allen katego-
rialen Unterscheidungen dieser Art zuwiderlaufen. Vor

46
einigen Jahren habe ich versucht, in der Performativität
der Geschlechter eine Art unbeabsichtigte Handlungs-
fähigkeit auszumachen, die ganz sicher nicht völlig au-
ßerhalb von Kultur, Macht und Diskurs existiert, aber
wesentlich aus ihren eigenen Bedingungen und unvor-
hersehbaren Abweichungen heraus entsteht und kul-
turelle Möglichkeiten eröffnet, um die hoheitlichen
Ziele all jener institutionellen Regime und Erziehungs-
strukturen zu vereiteln, die das Geschlecht im Voraus
zu erkennen und zu normalisieren trachten.
Wenn man sagt, das Geschlecht sei performativ,
dann sagt man damit in erster Linie, dass es eine ge-
wisse Art der Inszenierung ist  ; die »Erscheinung« des
Geschlechts wird oft als Zeichen seiner inneren oder
inhärenten Wahrheit missverstanden  ; es wird von ver-
pflichtenden Normen hervorgerufen, die von uns ver-
langen, das eine oder andere Geschlecht zu werden (üb-
licherweise innerhalb eines streng binären Rahmens)  ;
die Reproduktion von Geschlecht ist somit immer ein
Verhandeln mit der Macht  ; und schließlich gibt es kein
Geschlecht ohne diese Reproduktion von Normen,
bei deren wiederholter Inszenierung immer das Ri-
siko besteht, dass die Normen in unerwarteter Weise
zunichtegemacht oder überholt werden, wie auch die
Möglichkeit, die Geschlechterwirklichkeit auf eine
neue Grundlage zu stellen. Das politische Bestreben,
ja vielleicht das normative Ziel dieser Analyse ist, dass
die Leben geschlechtlicher und sexueller Minderhei-
ten möglicher und lebbarer werden, dass geschlecht-
lich nonkonforme Körper ebenso wie solche, die sich
zu sehr (und zu einem hohen Preis) anpassen, imstan-
de sind, sich im öffentlichen wie im privaten Raum so-
wie in allen Zonen, die diese beiden durchkreuzen und
durcheinanderbringen, freier zu bewegen und zu at-

47
men. Die Performativitätstheorie der Geschlechter, die
ich formuliert habe, hat natürlich niemals vorgeschrie-
ben, welche Gender Performances richtig oder subver-
siver und welche falsch und reaktionär sind, auch wenn
klar war, dass ich den Durchbruch bestimmter Arten
von Gender Performances in den öffentlichen Raum,
frei von polizeilichen Übergriffen, Schikanen, Krimi-
nalisierung und Pathologisierung, sehr schätze. Es ging
gerade darum, den Zwang, den Normen auf das Ge-
schlechterleben ausüben, zu lockern – was nicht das-
selbe ist wie die Überwindung oder Abschaffung aller
Normen –, um ein lebbareres Leben zu ermöglichen.
Normativ ist dieser Standpunkt nicht, weil er sich auf
eine Form von Normalität bezieht, sondern nur in dem
Sinne, dass er für eine Sicht der Welt, wie sie sein sollte,
steht. Die Welt, wie sie sein sollte, müsste Brüche mit
der Normalität schützen und denen, die solche Brüche
wagen, Unterstützung und Bestätigung schenken.
Es ist vielleicht ersichtlich, dass die Prekarität schon
immer Teil dieses Bildes war, denn die Performativi-
tät der Geschlechter war eine Theorie und eine Praxis,
die, so könnte man sagen, gegen die unlebbaren Be-
dingungen gerichtet war, unter denen geschlechtliche
und sexuelle Minderheiten leben (und manchmal auch
jene geschlechtlichen Mehrheiten, die – zu einem ho-
hen psychischen und somatischen Preis – als normal
»durchgehen«). »Prekarität« bezeichnet den politisch
bedingten Zustand, in dem bestimmte Teile der Bevöl-
kerung unter dem Versagen sozialer und ökonomischer
Unterstützungsnetze mehr leiden und anders von Ver-
letzung, Gewalt und Tod betroffen sind als andere. Pre-
karität ist somit, wie schon erwähnt, die ungleiche Ver-
teilung von Gefährdetheit. Bevölkerungsgruppen, die
dieser stärker ausgesetzt sind, tragen ein erhöhtes Risi-

48
ko für Krankheiten, Armut, Hunger, Vertreibung und
Verletzung durch Gewalt ohne adäquaten Schutz oder
Wiedergutmachung. Prekarität charakterisiert auch den
politisch bedingten Zustand der maximierten Vulnera-
bilität und Entblößung von Bevölkerungsteilen, die
willkürlicher staatlicher Gewalt, Gewalt auf der Straße,
häuslicher oder anderen Formen von Gewalt ausgesetzt
sind, die nicht von Staaten begangen werden, gegen be-
ziehungsweise für die die staatlichen Rechtsinstrumen-
te jedoch keinen ausreichenden Schutz oder Wiedergut-
machung bieten. Mit dem Begriff Prekarität können wir
uns also auf Bevölkerungsgruppen beziehen, die Hun-
ger leiden oder verhungern, deren Nahrung am einen
Tag ankommt und am nächsten wieder nicht oder genau
rationiert ist – wenn etwa der Staat Israel entscheidet,
wie viel Nahrung die Palästinenser in Gaza zum Über-
leben brauchen – sowie auf die zahllosen Menschen auf
der ganzen Welt, die vorübergehend oder dauerhaft
ohne Unterkunft sind. Wir könnten auch über Trans-
gender-Sexarbeiter / ​innen sprechen, die sich gegen
Straßengewalt und Polizeischikanen wehren müssen.
Manchmal handelt es sich dabei um dieselben Gruppen,
manchmal unterscheiden sie sich. Wenn sie jedoch der-
selben Bevölkerungsgruppe angehören, sind sie durch
ihr sofortiges oder verzögertes Abrutschen in die Pre-
karität miteinander verbunden, selbst wenn sie diese
Verbindung nicht wahrhaben wollen.
In diesem Sinne ist die Prekarität direkt mit Ge-
schlechternormen verknüpft, was möglicherweise of-
fensichtlich ist, denn wie wir wissen, sind Menschen,
die ihr Gender nicht auf Weisen leben, die sich um-
standslos erschließen, stärker von Schikane, Patholo-
gisierung und Gewalt bedroht. Geschlechternormen
haben entscheidend damit zu tun, wie und in welcher

49
Weise wir im öffentlichen Raum erscheinen können,
wie und in welcher Weise das Öffentliche und das Pri-
vate unterschieden werden und wie diese Unterschei-
dung im Dienste der Sexualpolitik instrumentalisiert
wird. Wenn ich danach frage, welche Person aufgrund
ihrer öffentlichen Erscheinung kriminalisiert wird, so
meine ich, wer als Kriminelle / ​r behandelt wird und
wer als Kriminelle / ​r produziert wird (was nicht immer
dasselbe ist wie die Bezeichnung als kriminell durch
ein Gesetzbuch, das Manifestationen bestimmter Ge-
schlechternormen oder Sexualpraktiken diskriminiert)  ;
wer wird vom Rechtssystem oder, genauer  : von der Po-
lizei, auf der Straße, bei der Arbeit oder zuhause nicht
beschützt – in Gesetzbüchern oder religiösen Einrich-
tungen  ? Wer wird Opfer von Polizeigewalt  ? Wessen
Verletzungsbehauptungen werden zurückgewiesen
und wer wird stigmatisiert und entrechtet, während er / ​
sie gleichzeitig zum Gegenstand der Faszination und
des Konsumgenusses wird  ? Wer wird gesetzlichen An-
spruch auf medizinische Leistungen haben  ? Wessen in-
time und verwandtschaftliche Beziehungen werden vor
dem Gesetz anerkannt oder gesetzlich kriminalisiert  ?
Wer wird 25 Kilometer weiter plötzlich zu einem neuen
Rechtssubjekt oder zum / ​zur Kriminellen  ? Der Rechts-
status vieler Beziehungen (ehelich, elterlich) unterschei-
det sich radikal, je nachdem, welcher Gerichtsbarkeit
man unterliegt, ob das Gericht religiös oder säkular ist
und ob die Spannung zwischen konkurrierenden Ge-
setzeskodizes in dem Moment, in dem man erscheint,
gerade aufgelöst ist oder nicht.
Die Frage der Anerkennung ist eine entscheidende,
denn wenn wir die Überzeugung äußern, dass alle Men-
schen dieselbe Anerkennung verdienen, dann unterstel-
len wir, dass alle Menschen gleichermaßen anerkennbar

50
sind. Doch was ist, wenn das stark regulierte Feld des
Erscheinens nicht jede / ​n zulässt, sondern Zonen ver-
langt, in denen von vielen erwartet wird, dass sie nicht
erscheinen, oder ihnen dies sogar gesetzlich verboten
ist  ? Warum wird dieses Feld so reguliert, dass nur be-
stimmte Wesen als erkennbare Subjekte erscheinen
können, andere aber nicht  ? Die obligatorische Forde-
rung, auf eine ganz bestimmte und keine andere Wei-
se zu erscheinen, fungiert hier als Voraussetzung dafür,
überhaupt zu erscheinen. Das bedeutet, indem man die
Norm oder Normen verkörpert, durch die man An-
erkennbarkeit erlangt, ratifiziert und reproduziert man
bestimmte Anerkennungsnormen gegenüber anderen
und schränkt so das Feld des Anerkennbaren ein.
Ganz entscheidend ist diese Frage für die Tierrechts-
bewegung, denn warum werden nur menschliche Sub-
jekte und keine nichtmenschlichen Lebewesen an-
erkannt  ? Werden mit dem Akt, durch den Menschen
Anerkennung erlangen, implizit nur die Merkmale aus-
gewählt, die man für den Rest des Tierlebens ausschlie-
ßen kann  ? Der Dünkel dieser Form der Anerkennung
scheitert an sich selbst, denn wäre solch eine eindeu-
tig menschliche Kreatur überhaupt erkennbar, wenn
sie irgendwie von ihrer kreatürlichen Existenz ge-
trennt wäre  ? Wie sähe sie aus  ? In diese Frage mischt
sich ein weiteres, mit ihr verwandtes Problem  : Welche
Menschen zählen überhaupt als Menschen  ? Welche
Menschen kommen für eine Anerkennung in der Er-
scheinungssphäre in Frage und welche nicht  ? Welche
rassistischen Normen stecken beispielsweise hinter der
Unterscheidung zwischen denen, die als Menschen an-
erkannt werden können, und den anderen  ? Diese Fra-
gen werden umso bedeutsamer, wenn historisch tief
verwurzelte Formen von Rassismus auf bestialischen

51
Konstruktionen des Schwarzseins beruhen. Die bloße
Tatsache, dass ich fragen kann, welche Menschen als
Menschen anerkannt werden und welche nicht, zeigt,
dass es ein Feld des Menschlichen gibt, welches nach
den herrschenden Normen unerkennbar bleibt, aber
innerhalb des von gegenhegemonialen Erkenntnisfor-
men erschlossenen epistemischen Feldes offensicht-
lich erkennbar ist. Auf der einen Seite ist dies ein kla-
rer Widerspruch  : Eine Gruppe von Menschen wird als
menschlich anerkannt, eine andere Gruppe von Men-
schen – menschlichen Wesen – wird nicht als mensch-
lich anerkannt. Wer einen solchen Satz schreibt, erkennt
vielleicht, dass beide Gruppen gleich menschlich sind,
doch andere erkennen dies möglicherweise nicht. Diese
anderen halten noch an einem Kriterium dafür fest, was
das Menschliche ausmacht, auch wenn dieses nicht ex-
plizit thematisiert wird. Will diese zweite Gruppe für
ihre Version des Menschlichen argumentieren, gerät sie
in die Zwickmühle, denn die Behauptung, eine Gruppe
sei menschlich, ja sogar paradigmatisch menschlich, ist
dazu gedacht, ein Kriterium einzuführen, nach dem die
Menschlichkeit jedes Wesens, das menschlich zu sein
scheint, beurteilt werden kann. Und das Kriterium, das
die zweite Gruppe anführt, findet nicht die Zustim-
mung, die nötig wäre, um es wahr werden zu lassen.
Es setzt einen Bereich des nichtmenschlichen Mensch-
lichen voraus und hängt davon ab, dass dieser sich vom
Paradigma des Menschlichen unterscheidet, das es ver-
teidigen will. Diese Denkweise treibt einen natürlich
in den Wahnsinn. Man muss die Sprache falsch ver-
wenden und sogar logische Fehler begehen, um diesen
Bruch zum Vorschein zu bringen, der durch Normen
der Anerkennung herbeigeführt wird, die permanent
zwischen denen, die anerkannt werden sollten, und de-

52
nen, die nicht anerkannt werden sollten, unterscheiden.
Wir werden in eine schreckliche und kuriose Verlegen-
heit gestürzt  : Ein Mensch, der nicht als menschlich an-
erkannt wird, ist kein Mensch und deshalb sollen wir
nicht von ihm sprechen, als wäre er einer. Wir können
dies als eine Schlüsselformulierung des expliziten Ras-
sismus betrachten, der seinen Widerspruch selbst dann
offenbart, wenn er seine Norm durchsetzt. Ebenso wie
wir verstehen müssen, dass Geschlechternormen über
psychosoziale Fantasien weitergegeben werden, die zu-
nächst nicht von uns selbst stammen, können wir er-
kennen, dass Normen des Menschlichen von Macht-
modi geformt werden, die bestimmte Versionen des
Menschlichen gegenüber anderen normalisieren sollen,
indem sie entweder zwischen Menschen unterscheiden
oder das Feld des Nichtmenschlichen willkürlich er-
weitern. Zu fragen, wie diese Normen eingeführt und
normalisiert werden, ist der erste Schritt zu einer He-
rangehensweise, die die Norm nicht als selbstverständ-
lich hinnimmt und die es nicht versäumt, zu prüfen,
wie und auf wessen Kosten sie installiert und inszeniert
worden ist. Für diejenigen, die durch die Norm, die sie
verkörpern sollen, in den Hintergrund gedrängt oder
herabgewürdigt werden, wird der Kampf zu einem ver-
körperten Kampf um Anerkennung, zum öffentlichen
Beharren auf der eigenen Existenz und Geltung. Nur
durch einen kritischen Ansatz gegenüber den Normen
der Anerkennung können wir beginnen, jene bösarti-
geren Formen der Logik zu demontieren, die an Ras-
sismus und Anthropozentrismus festhalten. Und nur
durch ein beharrliches Erscheinen gerade dann und
dort, wo wir zurückgedrängt werden, bricht die Sphäre
der Erscheinung auf und öffnet sich für neue Möglich-
keiten.

53
Eine kritische Theorie dieser Art hat ständig mit einer
Reihe sprachlicher Probleme zu kämpfen  : Wie nennen
wir diejenigen, die nicht als »Subjekte« im hegemo-
nialen Diskurs erscheinen können  ? Eine naheliegende
Antwort wäre, die Frage zurückzugeben  : Wie nennen
sich die Ausgeschlossenen selbst  ? Wie erscheinen sie,
durch welche Konventionen und mit welchen Auswir-
kungen auf herrschende Diskurse, die durch vermeint-
lich selbstverständliche logische Schemata wirken   ?
Gender kann zwar nicht als Paradigma für alle Daseins-
formen dienen, die gegen die normative Konstruktion
des Menschlichen ankämpfen, wir können es aber als
Ausgangspunkt nutzen, um über Macht, Handlungs-
fähigkeit und Widerstand nachzudenken. Wenn wir
akzeptieren, dass es sexuelle und geschlechtliche Nor-
men gibt, die festlegen, wer anerkennbar und »lesbar«
ist und wer nicht, können wir beginnen zu erkennen,
wie sich die »Unlesbaren« als Gruppe formieren und
Möglichkeiten entwickeln könnten, füreinander lesbar
zu werden, wie sie differenziellen Formen geschlechts-
bezogener Gewalt ausgesetzt sind und wie dieses Aus-
gesetztsein zur Basis des Widerstands werden kann.
Um zum Beispiel zu verstehen, dass sie verkannt
werden oder, genauer, dass sie unerkennbar bleiben,
ist es vielleicht notwendig zu verstehen, wie sie an den
Grenzen etablierter Normen des Denkens, der Verkör-
perung, ja selbst des Personseins existieren – und per-
sistieren. Gibt es Formen der Sexualität, für die nur
deshalb kein passendes Vokabular existiert, weil die
mächtigen Logiken, die unser Denken über Begehren,
Orientierung, Geschlechtsakte und Lüste bestimmen,
nicht zulassen, dass sie lesbar werden  ? Ist es nicht ge-
boten, unser bestehendes Vokabular zu überdenken be-
ziehungsweise abgewertete Namen und Anredeformen

54
aufzuwerten, um die Normen aufzubrechen, die nicht
nur einschränken, was denkbar ist, sondern die Denk-
barkeit geschlechtlich nonkonformer Leben schlecht-
hin  ?
Die Gender-Performativität setzt ein Feld des Er-
scheinens voraus, in dem das Geschlecht erscheint, so-
wie ein Schema der Anerkennbarkeit, innerhalb dessen
es sich in der Weise zeigt, in der es sich zeigt  ; da nun das
Feld des Erscheinens von Anerkennungsnormen re-
guliert wird, die selbst hierarchisch und ausschließend
sind, hängt die Performativität der Geschlechter eng
damit zusammen, auf welch ungleiche Weise Subjekte
für eine Anerkennung in Frage kommen. Die Anerken-
nung von Gender hängt fundamental davon ab, ob es
für das jeweilige Geschlecht einen Präsentationsmodus
gibt, eine Bedingung seines Erscheinens  ; statt Präsen-
tationsmodus können wir dies auch sein Medium nen-
nen. Wahr ist aber auch, dass Gender manchmal in einer
Weise erscheinen kann, die sich auf etablierte Bedingun-
gen des Erscheinens stützt, sie überarbeitet oder sogar
mit ihnen bricht, indem es mit bestehenden Normen
bricht oder neue Normen aus unerwarteten kulturel-
len Beständen einführt. Normen scheinen zwar zu be-
stimmen, welche Geschlechter erscheinen können und
welche nicht, sie können die Erscheinungssphäre aber
auch nicht kontrollieren und wirken eher wie abwesen-
de oder fehlbare Polizisten als wie effektive totalitäre
Mächte. Wenn wir gründlicher über die Anerkennung
nachdenken, müssen wir außerdem fragen, ob es mög-
lich ist, zwischen vollständiger und partieller Anerken-
nung, ja zwischen Anerkennung und Verkennung zu
unterscheiden. Letzteres erweist sich als sehr wichtig,
wenn man bedenkt, dass die Anerkennung eines Ge-
schlechts häufig mit der Anerkennung einer bestimm-

55
ten körperlichen Normenkonformität zusammenhängt
und dass Normen zu einem gewissen Grad aus Idealen
bestehen, die nie ganz erfüllbar sind. Mit der Anerken-
nung eines Geschlechts erkennt man also den Verlauf
eines bestimmten Strebens danach an, ein reguliertes
Ideal zu erfüllen, dessen vollständige Verkörperung
zweifellos eine gewisse Dimension des kreatürlichen
Lebens aufgeben würde. Eine Person, die ein für alle
Mal zu einem normativen Ideal »wird«, hat jedes Stre-
ben, jede Inkonsistenz, jede Komplexität überwunden,
das heißt, sie hat eine entscheidende Dimension des-
sen eingebüßt, was es heißt zu leben. Geschlechtliche
Überanpassung kann Lebewesen ins Abseits bringen.
Manchmal ist es aber auch das »Über«, das mit Bedacht,
Hartnäckigkeit, Lust und einem tief empfundenen Ge-
fühl der Richtigkeit mit dem und gegen den konstitu-
tiven Fehlschlag arbeitet  ; es kann ein Weg sein, neue
und unterstützenswerte Lebensweisen für Transgender
zu kreieren. In anderen Fällen kann es möglich sein, die
Lücke zu schließen, so dass das Geschlecht, als das man
sich fühlt, zu dem wird, als das man anerkannt wird,
und dass diese Richtigkeit die Voraussetzung eines leb-
baren Lebens ist. Das Gender-Ideal ist keine Falle, son-
dern eine wünschenswerte Lebensweise, ein Weg, ein
Gefühl von Richtigkeit zu verkörpern, der Anerken-
nung verlangt und verdient.
Eine vollkommene Verkörperung und vollständige
Anerkennung erscheint uns wie ein Hirngespinst, das
uns in bestimmte Ideale zu zwängen droht, die unser
Dasein seiner Lebendigkeit berauben – aber ist ein gu-
tes Leben ohne irgendeine Fantasie dieser Art mög-
lich  ? Ein lebenswertes Leben kann aus dem Verlangen
hervorgehen, sein geschlechtliches Körpergefühl aus-
zuleben und so einer Beschränkung zu entkommen,

56
die es dieser Seinsweise nicht gestattet, frei in der Welt
zu existieren. Der radikale Entzug der Anerkennung
droht, das Existieren und Persistieren überhaupt un-
möglich zu machen.3 Um überhaupt ein Subjekt sein
zu können, muss man sich zuerst mit bestimmten Nor-
men zurechtfinden, die die Anerkennung beherrschen,
Normen, die wir uns nicht aussuchen, die auf uns ge-
kommen sind und uns mit ihrer strukturierenden und
belebenden kulturellen Kraft eingehüllt haben. Wenn
wir unseren Weg innerhalb der uns zugewiesenen ge-
schlechtlichen oder sexuellen Normen nicht oder nur
unter großen Schwierigkeiten finden können, werden
wir gewahr, was es heißt, die Grenzen der Anerkenn-
barkeit zu erreichen  : Die Situation kann, je nach Um-
stand, sowohl entsetzlich als auch aufregend sein. An
einer solchen Grenze zu existieren bedeutet, dass die
eigene Lebensfähigkeit selbst – das, was man als die
sozialontologischen Bedingungen des eigenen Fort-
bestands bezeichnen könnte – in Frage gestellt wird. Es
bedeutet aber auch, dass wir an der Schwelle zur Ent-
wicklung der Bedingungen stehen können, die es uns
erlauben zu leben.
In liberalen Diskursen werden Subjekte manchmal
als Wesen verstanden, die vor ein existierendes Gesetz
treten und um Anerkennung gemäß seinen Bedingun-
gen bitten. Aber was macht es überhaupt möglich, vor
das Gesetz zu treten (eine Frage, die natürlich an Kaf-
ka erinnert)  ? Man braucht offenbar einen Zugang oder
eine Berechtigung oder muss jedenfalls in der Lage
sein, in irgendeiner Form einzutreten und zu erschei-
nen. Bei der Vorbereitung eines Angeklagten, der sich
vor Gericht verantworten muss, geht es vor allem da-
rum, ein Subjekt zu produzieren, dessen Werben um
Anerkennung eine Chance hat. Häufig bedeutet das,

57
dass man bestimmten Rassennormen entsprechen oder
sich als »postrassistisch« präsentieren muss. Das »Ge-
setz« wirkt schon, bevor der Angeklagte den Gerichts-
saal betritt, und zwar indem es das Feld des Erscheinens
reguliert und strukturiert und so festlegt, wer gesehen,
gehört und anerkannt werden kann. Der juristische
Bereich überschneidet sich mit dem politischen. Den-
ken wir nur an die Situation von Schwarzarbeitern, die
Arbeitsvisa oder eine Staatsbürgerschaft anstreben –
allein schon ihr Versuch, »legal zu werden«, wird als
kriminelle Aktivität angesehen. Wer als Schwarzarbei-
ter einen Anwalt aufsucht, riskiert, verhaftet und aus-
gewiesen zu werden. Die richtigen »Bedingungen des
Erscheinens« zu finden ist eine komplizierte Ange-
legenheit, denn es geht nicht nur darum, wie sich der
Körper vor Gericht präsentiert, sondern darum, sich
überhaupt in der Schlange einreihen zu dürfen, um
eventuell die Möglichkeit zu bekommen, vor Gericht
erscheinen zu können.
Die in den letzten Jahren immer mehr zunehmenden
Massendemonstrationen von Menschen ohne Papie-
re erfolgen möglicherweise aus ähnlichen Beweggrün-
den, aus denen Menschen auf die Straße gehen, die von
politischen und ökonomischen Prozessen abgeschnit-
ten worden sind (was mit der stillen Übereinkunft zwi-
schen Regierungen, die öffentliche Versorgungsbetrie-
be verscherbeln, und der neoliberalen Wirtschaft zu tun
hat). Mit dem Eintritt solcher Bevölkerungsgruppen in
die Sphäre des Erscheinens ergibt sich eine Reihe von
Forderungen bezüglich des Rechts auf Anerkennung
und die Gewährung eines lebbaren Lebens, er bedeu-
tet aber auch einen Weg, den Anspruch auf die öffent-
liche Sphäre geltend zu machen, sei es in Form einer
Rundfunkübertragung, der Versammlung auf einem

58
Platz, eines Marsches durch die Hauptstraßen städti-
scher Zentren oder eines Aufstandes an den Rändern
der Großstadt.
Es mag den Anschein haben, dass ich dazu aufrufen
möchte, entrechteten Menschen ihren angemesse-
nen Platz innerhalb einer sich erweiternden Konzep-
tion der menschlichen Gemeinschaft zu gewähren. Das
trifft zwar in mancher Hinsicht zu, aber es wäre keine
gerechte Zusammenfassung dessen, worum es mir hier
geht. Würde die normative Verlaufskurve dieses Pro-
jekts auf eine solche Behauptung beschränkt, könnten
wir nicht verstehen, wie und auf wessen Kosten das
Menschliche differenziell produziert wird. Diejenigen,
die den Preis zahlen, ja, die in gewissem Sinne der Preis
des Menschlichen, dessen Abfälle und Trümmer »sind«,
sind genau diejenigen, die sich manchmal in unerwarte-
ten Allianzen zusammenfinden – im Bemühen um ihren
Fortbestand und darum, Formen der Freiheit ausüben
zu können, die eingeengte Versionen des Individualis-
mus überwinden, ohne sich auf obligatorische Formen
des Kollektivismus verkürzen zu lassen.
Ein kritisches Nachdenken darüber, wie die Norm
des Menschlichen konstruiert und aufrechterhalten
wird, erfordert, dass wir eine Position außerhalb ihrer
Denkkategorien einnehmen, nicht nur im Namen des
Nichtmenschlichen oder gar Antimenschlichen, son-
dern vielmehr in einer Form von Sozialität und wech-
selseitigen Abhängigkeit, die nicht auf menschliche
Lebensformen reduzierbar ist und sich mit keiner ob-
ligatorischen Definition der menschlichen Natur oder
des menschlichen Individuums adäquat erfassen lässt.
Wenn wir fragen, was im Leben des Menschen Leben
heißt, geben wir damit schon zu, dass menschliche Le-
bensweisen mit nichtmenschlichen Lebensmodi ver-

59
knüpft sind. Tatsächlich ist die Verbindung mit dem
nichtmenschlichen Leben für das, was wir menschliches
Leben nennen, unbedingt notwendig. Hegelianisch ge-
sprochen  : Wenn der Mensch ohne das Unmenschliche
nicht menschlich sein kann, dann ist das Unmensch-
liche nicht nur wesentlich für das Menschliche, sondern
gehört zum Wesen des Menschlichen selbst. Dies ist ein
Grund dafür, dass Rassisten so hoffnungslos abhängig
von ihrem eigenen Hass auf jene sind, deren Mensch-
lichkeit sie doch letztlich nicht leugnen können.
Es geht nicht einfach darum, die Verhältnisse so
umzukehren, dass wir uns alle unter dem Banner des
Nichtmenschlichen oder des Antimenschlichen ver-
sammeln. Und ganz gewiss geht es nicht darum, den
Status der Ausgeschlossenen als »nacktes Leben« ohne
die Fähigkeit, sich zu versammeln oder Widerstand zu
leisten, zu akzeptieren. Vielmehr sollten wir vielleicht
damit beginnen, im Geist dieses nur scheinbare Para-
dox in einem neuen Gedanken des »menschlichen Le-
bens« zusammenzuhalten, dessen zwei Bestandteile,
»menschlich« und »Leben«, nie vollständig überein-
stimmen. Wir müssen, mit anderen Worten, an diesem
Begriff festhalten, auch wenn er als Begriff gelegent-
lich zwei Begriffe in sich zu fassen versucht, die sich
gegenseitig abstoßen oder in verschiedene Richtun-
gen wirken. Menschliches Leben ist nie die Gesamtheit
des Lebens, kann nie alle Lebensvorgänge benennen,
von denen es abhängt, und Leben kann nie das einzi-
ge Definitionsmerkmal des Menschlichen sein – was
immer wir als menschliches Leben bezeichnen wollen,
wird daher unweigerlich aus einem Aushandeln dieser
Spannung bestehen. Das Menschliche ist vielleicht der
Name, den wir ebendiesem Aushandeln geben, welches
seinen Grund darin hat, dass wir Lebewesen unter We-

60
sen und inmitten von Lebensformen sind, die über uns
hinausgehen.
Meine Hypothese lautet, dass ein Eingestehen und
Aufzeigen bestimmter Formen der wechselseitigen
Abhängigkeit die Chance bietet, das Feld des Erschei-
nens selbst zu verwandeln. Ethisch betrachtet muss es
einen Weg geben, eine Reihe von Bindungen und Al-
lianzen zu finden und zu schmieden, die wechselseiti-
ge Abhängigkeit mit dem Gleichwertigkeitsprinzip zu
verknüpfen und dies auf eine Weise zu tun, die jenen
Mächten entgegenwirkt, die Anerkennbarkeit ungleich
verteilen, oder ihr selbstverständliches Vorgehen stört.
Sobald man nämlich Leben als gleichwertig und inter-
dependent begreift, ergeben sich bestimmte ethische
Formulierungen. In meinem Buch Raster des Krieges
habe ich dargelegt, dass selbst dann, wenn mein Leben
im Krieg nicht zerstört wird, etwas von meinem Leben
im Krieg zerstört wird, wenn andere Leben und Le-
bensprozesse im Krieg zerstört werden.4 Woraus folgt
dies  ? Da andere Leben – verstanden als Teil des Lebens,
der über mich hinausgeht – eine Bedingung dafür sind,
wer ich bin, kann mein Leben keinen Exklusivanspruch
auf das Leben erheben und mein eigenes Leben ist nicht
jedes andere Leben und kann es auch nicht sein. An-
ders gesagt  : Lebendig zu sein heißt immer schon, mit
dem, was nicht nur jenseits meiner selbst, sondern auch
jenseits meines Menschseins lebt, verbunden zu sein,
und kein Selbst und kein Mensch kann ohne diese Ver-
bindung zu einem biologischen Netzwerk des Lebens
leben, das den Bereich des menschlichen Tieres über-
steigt. Die Zerstörung wertvoller gebauter Umwelten
und stützender Infrastrukturen ist die Zerstörung des-
sen, was idealerweise das Leben in einer Weise organi-
sieren und erhalten sollte, dass es lebbar ist. Fließendes

61
Wasser wäre hier ein einschlägiges und nachdrückliches
Beispiel. Dies ist einer der Gründe, warum man sich mit
der Ablehnung des Krieges nicht nur gegen die Zerstö-
rung anderer Menschenleben richtet (was man natürlich
auch tut), sondern auch gegen die Vergiftung der Um-
welt und den allgemeineren Angriff auf eine lebendige
Welt. Nicht nur kann der Mensch, der abhängig ist, auf
vergifteter Erde nicht überleben, sondern der Mensch,
der die Erde vergiftet, untergräbt auch die Aussichten
in Bezug auf seine eigene Lebensqualität in einer ge-
meinsamen Welt, in der die »eigenen« Lebensaussich-
ten unweigerlich mit denen aller anderen zusammen-
hängen.
Nur im Kontext einer lebendigen Welt entwickelt
sich der Mensch als handelndes Wesen, dessen Abhän-
gigkeit von anderen und von lebenden Prozessen über-
haupt erst die Fähigkeit zum Handeln entstehen lässt.
Leben und Handeln sind so miteinander verknüpft,
dass die Bedingungen, die es jedem Menschen möglich
machen zu leben, zum Gegenstand politischen Den-
kens und Handelns gehören. Die ethische Frage – Wie
soll ich leben  ? – oder auch die politische Frage – Wie
sollen wir zusammenleben  ? – hängt von einer Organi-
sation des Lebens ab, die eine sinnvolle Beschäftigung
mit ihr überhaupt möglich macht. Die Frage, was ein
lebbares Leben ausmacht, geht daher der, welche Art
von Leben ich führen soll, voraus, was bedeutet, dass
das, was von manchen das Biopolitische genannt wird,
die normativen Fragen, die wir an das Leben stellen, be-
dingt.
Ich halte das für eine wichtige kritische Erwiderung
an politische Philosoph / ​innen wie Hannah Arendt,
die in ihrem Werk Vita activa oder Vom tätigen Le-
ben ausdrücklich das Private als die Sphäre der Ab-

62
hängigkeit und Untätigkeit vom Öffentlichen als der
Sphäre eigenständigen Handelns unterscheidet.* Wie
haben wir uns den Übergang vom Privaten zum Öf-
fentlichen vorzustellen und lässt überhaupt irgend-
jemand die Sphäre der Abhängigkeit »hinter sich«,
selbst wenn er / ​sie als eigenständig Handelnde / ​r in aus-
gewiesenen öffentlichen Sphären erscheint  ? Wenn das
Handeln als eigenständig definiert und damit ein fun-
damentaler Unterschied zur Abhängigkeit impliziert
wird, basiert unser Selbstverständnis als Handelnde auf
einer Verleugnung jener lebendigen und interdepen-
denten Beziehungen, von denen unser Leben abhängt.
Wenn wir politisch Handelnde sind, denen es darum
geht, die Wichtigkeit der Ökologie, der Haushaltspoli-
tik, der Gesundheitsfürsorge, der Wohnungspolitik,
der globalen Ernährungspolitik und der Entmilitari-
sierung aufzuzeigen, dann müssten unsere Bemühun-
gen eigentlich von einer Vorstellung des menschlichen
und kreatürlichen Lebens getragen sein, die die Spal-
tung zwischen Handeln und Interdependenz überwin-
det. Nur wenn wir als Geschöpfe die Bedingungen der
wechselseitigen Abhängigkeit anerkennen, die unseren
Fortbestand und unser Gedeihen sicherstellen, können
wir – in einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Bedin-
gungen der Existenz selbst unter ökonomischen und
politischen Beschuss geraten sind – überhaupt für die
Verwirklichung eines dieser wichtigen politischen Ziele
kämpfen.
Die Implikationen für die politische Performativi-
tät scheinen bedeutsam zu sein. Wenn Performativität
Handlungsfähigkeit impliziert, was sind dann die Le-
bensbedingungen und die sozialen Voraussetzungen
der Handlungsfähigkeit  ? Es kann ja nicht sein, dass
die Handlungsfähigkeit ein spezifisches Vermögen

63
der Sprache und der Sprechakt das Muster des politi-
schen Handelns ist. Gemäß dieser Voraussetzung, die
Arendt in Vita activa nennt, geht der Körper nicht in
den Sprechakt mit ein und der Sprechakt wird als Mo-
dus des Denkens und Urteilens verstanden. Die Öffent-
lichkeit, in der sich der Sprechakt als die paradigmati-
sche politische Handlung erweist, ist in ihren Augen
eine, die schon von der Privatsphäre getrennt ist, dem
Bereich von Frauen, Sklaven, Kindern und Menschen,
die zu alt oder zu schwach zum Arbeiten sind. Alle die-
se Gruppen werden in gewissem Sinne mit der körper-
lichen Daseinsform assoziiert, die sich durch die »Ver-
gänglichkeit« ihrer Arbeit auszeichnet, und echten
Taten gegenübergestellt, zu denen die Herstellung kul-
tureller Werke und die gesprochene Tat gehören. Die
implizite Unterscheidung zwischen Körper und Geist
in Vita activa hat schon seit längerem die kritische Auf-
merksamkeit feministischer Theoretiker / ​innen auf sich
gezogen.5 Diese Sicht des fremden, ungelernten, femini-
sierten Körpers, der der Privatsphäre angehört, ist be-
zeichnenderweise die Bedingung der Möglichkeit des
sprechenden männlichen Bürgers (der ja vermutlich
von jemandem genährt und behütet wird und um des-
sen Ernährung und Schutz sich normalerweise irgend-
eine entrechtete Bevölkerungsgruppe kümmert).
Fairerweise muss man sagen, dass Arendt in ihrem
Buch Über die Revolution darauf hinweist, dass die
Revolution verkörpert ist. In Bezug auf den »Elends-
strom der Massenarmut« schreibt sie, dass sich in ihm
»jenes Element der Unwiderstehlichkeit [verkörperte],
das, wie wir sahen, so eng dem ursprünglichen Sinn des
Wortes ›Revolution‹ assoziiert war«. Sie verknüpft die-
ses »Element der Unwiderstehlichkeit« freilich sogleich
mit »der Notwendigkeit, die wir natürlichen Prozessen

64
zuschreiben […], weil wir selbst Notwendigkeit als das
Charakteristikum unseres organischen Lebens erfah-
ren«. Wenn die Armen durch die Straßen strömen, han-
deln sie aus Notwendigkeit, aus Hunger und Not, und
sie versuchen, sich »die Befreiung [von dieser Lebens-
notwendigkeit] mit Gewalt« zu verschaffen. Dies habe
dazu geführt, so Arendt, »daß die Gewalt selbst sich
der Notwendigkeit anglich und den politischen Bereich
zerstörte – d. h. den einzigen Bereich, in dem Menschen
wirklich frei sein können«.6 Die durch Hunger hervor-
gerufene politische Bewegung wird nach Arendts Ver-
ständnis nicht durch Freiheit, sondern durch Notwen-
digkeit motiviert, und die Form der Befreiung, die sie
anstrebt, ist nicht Freiheit, sondern ein unmöglicher
und gewaltsamer Versuch, sich von den Lebensnot-
wendigkeiten zu befreien. Folgerichtig zielten sozia-
le Bewegungen der Armen nicht darauf ab, diese von
ihrer Armut, sondern von der Notwendigkeit zu erlö-
sen, und die Gewaltsamkeit zwischen Menschen, bei
denen sich das Thema Lebensnotwendigkeiten bereits
erledigt hat, sei, wie sie deutlich hervorhebt, »weniger
schrecklich« als die von den Armen ausgeübte Gewalt.
Sie stellt fest  : »Heute jedenfalls scheint nichts veralte-
ter und überflüssiger, als zu versuchen, die Mensch-
heit durch politische Mittel von Armut zu befreien.«7
Wir sehen hier nicht nur eine operative Unterschei-
dung zwischen »Befreiung« und »Freiheit«, die eindeu-
tig impliziert, dass Befreiungsbewegungen mit einem
weniger »wahren« Freiheitssinn operieren, sondern der
politische Bereich wird auch einmal mehr eisern vom
Bereich der ökonomischen Notwendigkeit unterschie-
den. Für Arendt scheint, wer aus Notwendigkeit han-
delt, vom Körper her zu handeln, aber Notwendigkeit
kann nie eine Form der Freiheit sein (sie ist ihr Gegen-

65
teil) und Freiheit kann nur von denjenigen erreicht wer-
den, die, nun ja, keinen Hunger haben. Doch was ist
mit der Möglichkeit, dass man hungrig, zornig, frei und
vernünftig ist und dass eine politische Bewegung zur
Überwindung der Ungleichverteilung von Nahrungs-
mitteln recht und billig ist  ? Wenn der Körper auf der
Stufe der Notwendigkeit bleibt, dann kann offenbar
keine politische Erklärung der Freiheit eine verkörper-
te sein.
Linda Zerilli hat überzeugend argumentiert, dass
Arendts Verweis auf den Körper als einer Sphäre der
Notwendigkeit die rhythmischen Muster der Vergäng-
lichkeit markieren soll, die Tatsache also, dass mensch-
liche Artefakte kommen und gehen, und dieses Faktum
der Sterblichkeit wirft seinen Schatten auf menschliche
Formen des Machens (poiesis) ebenso wie des Handelns
(praxis).8 Was wir als die unerbittliche und sich wieder-
holende Sterblichkeit des Körpers auffassen können,
lässt sich nicht durch menschliches Handeln angehen
oder beheben. Es gibt keine »Flucht aus der verkör-
perten Existenz« ohne den Verlust der Freiheit selbst.
Freiheit verlangt diese Versöhnung mit der Notwendig-
keit. Die »Flucht«-Formulierung ist sinnvoll, solange
»verkörpertes Handeln« mit »Notwendigkeit« gleich-
gesetzt wird  ; wenn aber die Freiheit verkörpert ist, er-
weist sie sich als zu weit gefasst. Die Suche nach einer
Form menschlichen Handelns, die den Tod überwinden
könnte, ist selbst unmöglich und gefährlich und führt
uns weiter von einem Gefühl für die Gefährdetheit des
Lebens weg. In diesem Sinne gebietet der Körper ein
Prinzip der Demut und ein Gefühl für die notwendige
Grenze alles menschlichen Tuns.
Betrachten wir das Problem jedoch vom Standpunkt
der ungleichen demografischen Verteilung der Prekari-

66
tät, so müssen wir fragen  : Wessen Leben werden eher
beschnitten  ? Wessen Leben werden in ein stärkeres
Gefühl der Vergänglichkeit und der Frühsterblichkeit
gestürzt  ? Wie wird das differenzielle Sterblichkeits-
risiko verwaltet  ? Wenn wir über Vergänglichkeit und
Sterblichkeit nachdenken, befinden wir uns, mit an-
deren Worten, schon mitten im Politischen. Das heißt
nicht, dass es in einer gerechten Welt keine Sterblich-
keit gäbe  ! Keineswegs. Es bedeutet lediglich, dass das
Engagement für Gleichheit und Gerechtigkeit es er-
forderlich macht, sich auf allen institutionellen Ebenen
mit der ungleich verteilten Gefährdung durch Tod und
Sterben zu beschäftigen, die gegenwärtig für das Leben
unterjochter Völker und gefährdeter Menschen cha-
rakteristisch ist, häufig als Folge eines systematischen
Rassismus oder von Formen einer kalkulierten Preis-
gabe. Ruth Gilmores mittlerweile berühmt geworde-
ne Beschreibung des Rassismus bringt dies besonders
deutlich auf den Punkt  : »Im Besonderen ist Rassismus
die staatlich sanktionierte oder außergesetzliche Erzeu-
gung und Ausnutzung von gruppendifferenzierter Vul-
nerabilität gegenüber einem vorzeitigen Tod.«9
Trotz dieser klaren Einschränkungen bietet uns
Arendt eine Möglichkeit zu verstehen, wie Versamm-
lungen und Zusammenkünfte den Erscheinungsraum
bestimmen oder neu bestimmen können, sogar die De-
monstrationen unter dem Namen »Black Lives Mat-
ter«. Denn auch wenn wir ihr nicht zustimmen können,
dass die Sterblichkeit des Körpers eine rein vorpoliti-
sche Bedingung des Lebens ist, liefern ihre Schriften
doch einige wichtige Ansätze zum Verständnis der Ver-
körpertheit pluralen menschlichen Handelns. Eine Ab-
sicht dieses Buches liegt vielleicht darin, dass wir ver-
suchen sollten, diese Unterscheidungen bei Arendt

67
zu überdenken und zu zeigen, dass der Körper, oder
vielmehr die konzertierte körperliche Aktion – Sich-
Versammeln, Gestikulieren, Stillstehen, das heißt all
jene Bestandteile der »Versammlung«, die sich nicht
so schnell von der verbalen Rede assimilieren lassen –
Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit zum Aus-
druck bringen kann.
Auch wenn ich Arendts Körperpolitik in Teilen kri-
tisiere,10 möchte ich auf ihren Text »Der Niedergang
des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte«
aufmerksam machen, der sich mit der Frage der Rech-
te der Rechtlosen beschäftigt.11 Arendts Behauptung,
auch die Staatenlosen hätten »das Recht, Rechte zu ha-
ben«, ist selbst schon eine Art performative Übung, wie
unter anderem schon Bonnie Honig überzeugend dar-
gelegt hat  ; Arendt macht nur durch ihre Behauptung
das Recht geltend, Rechte zu haben, und es gibt kei-
nerlei Grundlage für diese Behauptung außerhalb ihrer
selbst. Auch wenn diese Behauptung manchmal als rein
linguistisch aufgefasst wird, so ist doch klar, dass sie
durch Körperbewegung, Versammlung, Handeln und
Widerstand inszeniert wird. Im Jahr 2006 beanspruch-
ten mexikanische Arbeiter ohne Papiere ihre Rechte,
indem sie öffentlich eine spanische Version der ame-
rikanischen Nationalhymne sangen. Sie machten die-
ses Recht mit der und durch die Vokalisierung selbst
geltend. Und diejenigen, die sich gegen die Auswei-
sung der Roma – der Zigeuner – aus Frankreich wehr-
ten, sprachen sich damit nicht nur für die Roma aus,
sondern auch gegen die willkürliche und gewaltsame
Macht eines Staates, einen Teil seiner Bevölkerung in
die Staatenlosigkeit zu treiben. Die Ermächtigung der
Polizei durch die französische Regierung, verschleier-
te Frauen verhaften und abführen zu können, lässt sich

68
als ein weiteres Beispiel einer diskriminierenden Hand-
lung anführen, die auf eine Minderheit abzielt und ihr
eindeutig das Recht aberkennt, in der Öffentlichkeit zu
erscheinen, wie sie will. Französische Feminist / ​innen,
die sich Universalist / ​innen nennen, haben das Gesetz
befürwortet, das die Polizei berechtigt, Frauen, die auf
den Straßen Frankreichs einen Gesichtsschleier tragen,
festzuhalten, zu verhaften und mit einem Bußgeld zu
belegen. Was ist das für eine Politik, die die polizei-
lichen Aufgaben des Staates dazu benutzt, Frauen aus
religiösen Minderheiten in der Öffentlichkeit zu über-
wachen und einzuschränken  ? Warum befürworten die-
selben Universalist / ​innen, die offen für die Rechte von
Trans-Menschen eintreten, frei und ohne Polizeischika-
ne in der Öffentlichkeit zu erscheinen, gleichzeitig po-
lizeiliche Maßnahmen gegen muslimische Frauen, die
öffentlich religiöse Kleidung tragen  ? Die Befürworter / ​
innen des Verbots berufen sich auf einen universalisti-
schen Feminismus und argumentieren, der Schleier ver-
letze das Zartgefühl des Universalismus.12 Aber was ist
das für ein Universalismus, der sich auf eine ganz spe-
zifische säkulare Tradition gründet und die Rechte re-
ligiöser Minderheiten, Kleidercodes zu befolgen, nicht
anerkennt  ? Selbst wenn man den problematischen Be-
zugsrahmen dieses Universalismus nicht verlassen
würde, ließe sich schwerlich ein schlüssiges und wi-
derspruchfreies Kriterium dafür finden, warum Trans-
Menschen vor Polizeigewalt geschützt werden und mit
vollem Recht in der Öffentlichkeit erscheinen können
sollten, während muslimischen Frauen – nicht aber
Christinnen und Jüdinnen – das Recht aberkannt wird,
in einer Weise öffentlich zu erscheinen, die ihre Religi-
onszugehörigkeit zum Ausdruck bringt. Wenn Rechte
nur für diejenigen universalisiert werden können, die

69
sich an säkulare Regeln halten oder Religionen ange-
hören, die als rechtlich schützenswert erachtet werden,
dann ist das »Universelle« mindestens bedeutungsleer,
wenn nicht gar zum Instrument der Diskriminierung,
des Rassismus und der Exklusion geworden. Wenn
das Recht zu erscheinen »universell« anerkannt wer-
den soll, könnte es einen solch offensichtlichen und un-
erträglichen Widerspruch nicht überleben.
Was wir manchmal als »Recht« zu erscheinen be-
zeichnen, wird stillschweigend von Ordnungsschemata
gestützt, nach denen nur bestimmte Subjekte überhaupt
dafür in Frage kommen, dieses Recht auch auszuüben.
Wie »universell« das Recht zu erscheinen auch zu sein
behauptet – sein Universalismus wird von differenziel-
len Machtformen untergraben, die darüber entscheiden,
wer erscheinen kann und wer nicht. Für diejenigen, die
als »untauglich« erachtet werden, hat das Bemühen um
die Bildung von Allianzen oberste Priorität und dazu
gehört auch eine plurale und performative Postulierung
der Tauglichkeit, die bis dahin nicht existierte. Diese
Art der pluralen Performativität strebt nicht einfach da-
nach, den zuvor Unberücksichtigten und aktiv Gefähr-
deten einen Platz in einer bestehenden Erscheinungs-
sphäre zu geben. Sie versucht vielmehr, einen Spalt in
der Erscheinungssphäre zu erzeugen und den Wider-
spruch offenzulegen, mit dem deren Universalitäts-
anspruch postuliert und entkräftet wird. Es kann kei-
nen Eintritt in die Erscheinungssphäre ohne eine Kritik
an den differenziellen Machtstrukturen geben, die diese
Sphäre konstituieren, und ohne eine kritische Allianz,
in der sich die Unberücksichtigten, die Untauglichen –
die Gefährdeten – verbünden, um neue Erscheinungs-
formen zu etablieren, die jene Machtstrukturen zu
überwinden versuchen. Es kann durchaus sein, dass

70
jede Erscheinungsform von ihrer »Außenseite« konsti-
tuiert wird, das ist aber kein Grund, den Kampf auf-
zugeben. Es ist sogar ein Grund mehr, darauf zu beste-
hen, dass der Kampf weitergeht.

Wenn man versucht, die performative Politik in ihrem


Kampf gegen die Prekarität zu verstehen, geht es oft
um ganz alltägliche Situationen und Handlungen. Wie
wir wissen, ist es nicht für jeden Menschen selbstver-
ständlich, ohne Belästigung auf die Straße oder in ein
Lokal gehen zu können. Allein ohne Polizeischikane
auf der Straße zu spazieren heißt gerade nicht, sich in
der Gesellschaft anderer zu bewegen und die nichtpoli-
zeilichen Formen des Schutzes, die dies bietet, zu nut-
zen. Wenn jedoch eine Trans-Person in Ankara über
die Straße geht oder in Baltimore ein McDonald’s-Res-
taurant betritt,13 stellt sich die Frage, ob dieses Recht
vom Individuum allein ausgeübt werden kann. Wenn
die betreffende Person über außergewöhnliche Fähig-
keiten der Selbstverteidigung verfügt, ist das vielleicht
der Fall  ; wenn sie sich in einem Kulturraum befindet,
in dem das akzeptiert wird, ist es ganz sicher der Fall.
Doch wann immer es möglich wird, sich unbeschützt
fortzubewegen und dennoch sicher zu sein, wann im-
mer das alltägliche Leben selbst ohne Angst vor Ge-
walt möglich wird, liegt der Grund gewiss darin, dass
es viele gibt, die hinter jenem Recht stehen, auch wenn
es nur von einer einzigen Person ausgeübt wird. Wenn
das Recht ausgeübt und anerkannt wird, dann deshalb,
weil viele andere es ebenfalls ausüben, ob sie nun vor
Ort sind oder nicht. Jedes »Ich« bringt das »Wir« mit,
wenn es durch die Tür hinein oder hinaus tritt und sich
schutzlos in einem geschlossenen Raum oder auf offe-
ner Straße wiederfindet. Man kann sagen, dass in die-

71
sen Fällen immer eine Gruppe, wenn nicht eine Allianz,
mitläuft, ob diese nun zu sehen ist oder nicht. Natür-
lich ist es nur eine einzelne Person, die dort hingeht, die
das Risiko eingeht, dort hinzugehen, und doch durch-
zieht auch die soziale Kategorie diesen ihren Gang und
Weg, diese singuläre Bewegung in der Welt  ; und wenn
es einen Angriff gibt, so zielt er gleichermaßen auf das
Individuum wie auf die soziale Kategorie. Vielleicht
können wir sowohl die Geltendmachung des sozialen
Geschlechts als auch den verkörperten politischen An-
spruch auf Gleichheit, den Schutz vor Gewalt und die
Fähigkeit, sich mit und innerhalb dieser sozialen Kate-
gorie im öffentlichen Raum zu bewegen, nach wie vor
»performativ« nennen. Mit diesem Gang sagt man, dass
dies ein öffentlicher Raum ist, in dem Trans-Menschen
gehen, dass es ein öffentlicher Raum ist, in dem sich
ganz unterschiedlich gekleidete Menschen, egal für wel-
ches Geschlecht oder welche Religion sie stehen, frei
und ohne Gewaltandrohung bewegen können.
Um an der Politik teilzunehmen, um ein Teil kon-
zertierter und kollektiver Aktionen zu werden, darf
man nicht nur Gleichheit fordern (gleiche Rechte, glei-
che Behandlung), sondern muss auch im Sinne der
Gleichheit handeln und Eingaben machen – als Ak-
teur / ​in, der / ​die mit anderen auf einer Stufe steht. Auf
diese Weise können die Gemeinschaften, die sich auf
der Straße versammeln, eine andere Idee von Gleich-
heit, Freiheit und Gerechtigkeit inszenieren als die,
gegen die sie opponieren. Das »Ich« ist also unmittel-
bar ein »Wir«, ohne zu einer unmöglichen Einheit ver-
schmolzen zu werden. Ein / ​e politische / ​r Akteur / ​in zu
sein ist eine Funktion, ein Merkmal des gleichberech-
tigten Handelns mit anderen Menschen – diese wichti-
ge Arendt’sche Formulierung ist für heutige demokrati­

72
sche Kämpfe nach wie vor relevant. Gleichheit ist eine
Bedingung und eine Eigenart des politischen Handelns
selbst und ist zugleich dessen Ziel. Der Gebrauch der
Freiheit ist etwas, das nicht aus dir oder aus mir kommt,
sondern aus dem, was zwischen uns ist, aus dem Bund,
den wir in dem Moment schließen, in dem wir gemein-
sam Freiheit ausüben, einem Bund, ohne den es über-
haupt keine Freiheit gibt.
Im Jahr 2010 nahm ich an einer internationalen Kon-
ferenz gegen Homophobie und Transphobie in Ankara
teil. Die Tagung war ein wichtiges Ereignis in der türki-
schen Hauptstadt, wo Trans-Personen mit Geldstrafen
belegt werden können, weil sie in der Öffentlichkeit er-
scheinen, wo sie oft zusammengeschlagen werden, auch
von der Polizei, und wo es in den letzten Jahren fast
monatlich Morde, insbesondere an Transfrauen, gab.
Wenn ich die Türkei als Beispiel nenne, dann nicht, um
damit zu zeigen, wie »rückständig« sie ist – was mir
sehr schnell von der dänischen Botschaft unterstellt
wurde und was ich ebenso schnell zurückwies. Ich ver-
sichere Ihnen, dass es ebenso brutale Morde auch in der
Umgebung von Los Angeles und Detroit, in Wyoming
und Louisiana gab, dazu, wie wir wissen, Schikanen
und Tätlichkeiten in Baltimore und in der Penn Station
in New York City. Was mir in Ankara vielmehr exem-
plarisch erschien, war, dass verschiedene feministische
Organisationen dort gemeinsam mit queeren, schwul-
lesbischen und Transgender-Menschen gegen Polizei-
gewalt, aber auch gegen Militarismus, Nationalismus
und die diesen zugrunde liegenden Formen des Mas-
kulinismus vorgingen. So reihten sich also nach der
Konferenz Feminist / ​innen neben Dragqueens, Gen-
derqueere neben Menschenrechtsaktivist / ​ innen und
Lippenstift-Lesben neben ihren bi- oder heterosexuel-

73
len Freunden und Freundinnen ein  ; Säkularist / ​innen
marschierten gemeinsam mit Muslim / ​innen und skan-
dierten  : »Wir werden keine Soldaten und wir werden
nicht töten.« Die Ablehnung von Polizeigewalt gegen
Transgender stand somit für den offenen Protest gegen
militärische Gewalt und die nationalistische Eskalation
des Militarismus  ; desgleichen richtete sie sich gegen
die militärische Aggression gegen die Kurden und die
Nichtanerkennung ihrer politischen Forderungen, aber
auch gegen ein Vergessen des Völkermordes an den Ar-
meniern und gegen andere Akte des Verleugnens durch
Staaten, die ihre Gewalt auf andere Weise fortsetzen.
Während also in der Türkei Feminist / ​innen gemein-
sam mit Trans-Aktivist / ​innen auf die Straße gingen,
herrscht in vielen feministischen Kreisen nach wie vor
ein gewisser Widerstand gegen diese Art der Allianz.
So hat sich in Frankreich unter einigen Feminist / ​innen,
die sich selbst als links, ja als materialistisch verstehen,
die Ansicht durchgesetzt, dass Transsexualität eine Art
Krankheit sei. Es ist natürlich ein Unterschied, ob man
queere und Transgender-Personen, die in der Öffent-
lichkeit erscheinen, kriminalisiert oder ob man sie pa-
thologisiert. Die erste Position ist eine moralische, die
gewöhnlich auf einer falschen Auffassung von öffent-
licher Moral beruht. Wer Teile der Bevölkerung kri-
minalisiert, verwehrt diesen nicht nur den Schutz vor
polizeilicher und anderer öffentlicher Gewalt, sondern
versucht auch, die politische Bewegung zu unterminie-
ren, die für Entkriminalisierung und die Gewährung
politischer Rechte eintritt. Sich auf das Modell »Krank-
heit« – oder gar das Modell »Psychose« – zu verlegen
heißt, eine pseudowissenschaftliche Erklärung heran-
zuziehen, um bestimmte verkörperte Daseinsweisen
zu diskreditieren, die niemandem schaden. Tatsächlich

74
trägt das Modell der Pathologisierung zur Unterminie-
rung der auf die Erlangung von Rechten abzielenden
politischen Bewegung, denn die Erklärung impliziert,
dass die fraglichen sexuellen und geschlechtlichen Min-
derheiten eher eine »Behandlung« brauchen als Rechte.
Wir sollten uns folglich vor Vorstößen in Acht nehmen,
wie sie beispielsweise die spanische Regierung unter-
nommen hat, die Transsexuellen Rechte eingeräumt
und gleichzeitig Richtlinien zur psychischen Gesund-
heit übernommen hat, die ebenjene Bevölkerungsgrup-
pen pathologisieren, deren Rechte sie verteidigen. In
den Vereinigten Staaten und anderen Ländern, in de-
nen psychische Erkrankungen nach dem Diagnostic
and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) klas-
sifiziert werden, sollten wir ebenso misstrauisch gegen-
über den geltenden »Übergangsregelungen« sein, nach
denen Trans-Menschen zuerst einen pathologischen
Befund brauchen, um finanzielle Unterstützung für
ihre Transition beantragen zu können und rechtlich als
Transgender oder mit welchem Geschlecht auch immer
anerkannt zu werden.
Wenn Trans-Personen eine »Pathologisierung«
durchmachen müssen, um den nichtpathologischen
Charakter ihres Begehrens zu verwirklichen und eine
verkörperte Lebensweise durchzusetzen, die lebbar ist,
dann ist der Preis der Befreiung in diesen Fällen folg-
lich ein Leben durch Pathologisierung. Was für eine Be-
freiung ist das und wie ließe sich vermeiden, dass man
einen solch schrecklichen Preis zahlen muss  ? Unse-
re Instrumente werden wirksamer, je häufiger wir sie
verwenden und je öfter sie die gewünschten Ergebnis-
se erzielen. Gewünschte Ergebnisse sind jedoch nicht
immer dasselbe wie breitere soziale und politische Wir-
kungen. Wir müssen uns also anscheinend Gedanken

75
über die Art des Anspruchs machen, den Transsexua-
lität stellt. Dieser Anspruch bezieht sich auf das Recht,
in der Öffentlichkeit zu erscheinen und seine Freiheit
auf diese Weise auszuüben  ; dadurch ist er implizit mit
jedem anderen Kampf verknüpft, in dem es darum geht,
ohne Gewaltandrohung auf der Straße zu erscheinen.
In diesem Sinne ist die Freiheit zu erscheinen für je-
den demokratischen Kampf wesentlich, was bedeutet,
dass die Kritik der politischen Formen des Erscheinens,
einschließlich derer der Beschränkung und Vermitt-
lung, durch die jede solche Freiheit erscheinen kann,
entscheidend ist, wenn man verstehen will, was d ­ iese
Freiheit sein kann und welche Interventionen n ­ ötig
sind.
All das lässt natürlich nach wie vor die Frage unbe-
antwortet, was es heißt, zu erscheinen, und ob dieses
Recht nicht die Idee der körperlichen Präsenz oder
das, was manche als »Präsenzmetaphysik« bezeichnen
würden, privilegiert. Selektiert nicht das Medium, was
oder wer erscheinen kann  ? Und was ist mit denjeni-
gen, die es vorziehen, nicht zu erscheinen und sich auf
andere Weise demokratisch zu engagieren  ? Politisches
Handeln kann manchmal wirkungsvoller sein, wenn es
aus dem Schatten oder von den Rändern her angesto-
ßen wird, und das ist ein wichtiger Punkt – so hat etwa
die Vereinigung Palestinian Queers for Boycott, Divest-
ment, and Sanctions (Palästinensische Queers für Boy-
kott, Kapitalabzug und Sanktionen) Zweifel an der Idee
geäußert, dass queerer Aktivismus sich immer vollstän-
dig öffentlich exponieren muss.14 Jeder Aktivist und
jede Aktivistin muss aushandeln, wie viel und welche
Art von Exponiertheit erforderlich ist, um die eigenen
politischen Ziele zu erreichen. Es geht, so könnte man
sagen, um ein Abwägen zwischen dem Bedürfnis nach

76
Schutz und der Notwendigkeit, ein öffentliches Risi-
ko einzugehen. Manchmal kann diese öffentliche Seite
eine Reihe von Wörtern sein und manchmal müssen die
Körper auf der Straße nicht sprechen, um ihre Forde-
rung zu stellen.
Niemand sollte wegen seiner / ​ihrer Gender-Darstel-
lung kriminalisiert werden und niemandem sollte auf-
grund des performativen Charakters der eigenen Gen-
der-Darstellung ein gefährdetes Leben drohen. Dieser
Anspruch, dass Menschen Schutz vor Schikanierung,
vor Einschüchterung, vor Kriminalisierung genießen
sollten, egal als welches Geschlecht sie erscheinen,
schreibt dabei jedoch in keiner Weise vor, ob oder wie
sie erscheinen sollen. Es ist wirklich wichtig, dass man
die aus dem US -amerikanischen Kontext stammenden
Normen der Hypervisibilität nicht denen überstülpt,
die andere Wege der politischen Gemeinschaftsbil-
dung und des Befreiungskampfes gehen. Der entschei-
dende Punkt ist vielmehr, die Ungerechtigkeit der Kri-
minalisierung der Gender-Darstellung offenzulegen.
Ein Strafrecht, welches eine Kriminalisierung auf der
Grundlage der Darstellung oder Erscheinung des Ge-
schlechts rechtfertigt, ist selbst kriminell und illegitim.
Und wenn geschlechtliche oder sexuelle Minderheiten
dafür kriminalisiert oder pathologisiert werden, wie
sie erscheinen, wie sie Anspruch auf den öffentlichen
Raum erheben, durch welche Sprache sie sich verständi-
gen, mit welchen Mitteln sie Liebe oder Begehren aus-
drücken, mit wem sie sich öffentlich verbünden, wem
sie nahe sein oder mit wem sie geschlechtlich verkehren
möchten oder wie sie ihre körperliche Freiheit ausüben,
dann sind diese Akte der Kriminalisierung ihrerseits ge-
walttätig und in diesem Sinne auch ungerecht und kri-
minell. Die (polizeiliche) Überwachung und Kontrolle

77
des Geschlechts ist ein krimineller Akt, ein Akt, durch
den die Polizei zum Kriminellen wird, und diejenigen,
die der Gewalt ausgesetzt sind, schutzlos sind. Die Ge-
walt gegen Minoritätsgruppen seitens der Polizei nicht
zu verhindern ist selbst eine grobe Fahrlässigkeit  ; die
Polizei begeht hier ein Verbrechen und die Minderhei-
ten bleiben auf der Straße gefährdet.
Wenn wir von dem Recht Gebrauch machen, das
Geschlecht zu sein, das wir sind, oder Sexualpraktiken
auszuüben, die niemandem schaden, üben wir schon
eine gewisse Freiheit aus. Selbst wenn man das Gefühl
hat, dass man die eigene Sexualität oder das eigene Ge-
schlecht nicht selbst gewählt hat, dass sie von der Natur
oder einer anderen äußeren Autorität bestimmt worden
sind, ändert das nichts an der Situation  : Will man diese
Sexualität als Recht gegenüber einer Reihe von Geset-
zen oder Regeln geltend machen, die sie als kriminell
oder unehrenhaft erachten, dann ist diese Geltendma-
chung selbst performativ. Das ist eine Möglichkeit, die
Ausübung des Rechts zu benennen, gerade dann, wenn
es kein lokales Gesetz gibt, das diese Ausübung schützt.
Es mag lokale Gemeinschaften geben und natürlich
auch viele internationale Präzedenzfälle, aber wie Sie
wissen, schützen diese die Person, die den Anspruch
aktuell vor Ort erhebt, nicht unbedingt. Das Allerwich-
tigste ist jedoch in meinen Augen, dass man eine sol-
che Position in der Öffentlichkeit geltend macht, dass
man auf die Straße geht, wie man ist, dass man Arbeit
und eine Wohnung findet, ohne diskriminiert zu wer-
den, dass man vor Straßengewalt und polizeilicher Fol-
ter sicher ist.
Selbst wenn man sich dafür entscheidet, zu sein,
wer man ist, und wer man »ist« als nicht selbst gewählt
empfunden wird, hat man die Freiheit zu einem Teil

78
ebendieses sozialen Projekts gemacht. Wir beginnen
nicht als unser Geschlecht und entscheiden dann spä-
ter, wie und wann wir es inszenieren. Die Inszenierung,
die vor jeder Handlung des »Ich« einsetzt, gehört viel-
mehr zum ontologischen Modus des Geschlechts  ; es ist
daher wichtig, wie, wann und mit welchen Folgen die-
se Inszenierung stattfindet, denn alle diese Dinge ver-
ändern das Geschlecht, das man »ist«. Es ist somit nicht
möglich, die Geschlechter, die wir sind, und die Sexuali-
täten, die wir leben, von dem Recht jedes Menschen zu
trennen, diese Realitäten öffentlich, frei und vor Gewalt
geschützt zur Geltung zu bringen. Die Sexualität geht
dem Recht gewissermaßen nicht voraus  ; die Ausübung
der Sexualität ist eine Ausübung des Rechts, genau das
zu tun. Sie ist ein gesellschaftliches Moment inner-
halb unseres Intimlebens, und sie beansprucht Gleich-
heit  ; nicht nur Gender und Sexualität sind in gewissem
Sinne performativ, sondern deren politische Artikula-
tion und die Ansprüche, die in ihrem Namen gestellt
werden.
Wir können nun auf die Frage zurückkommen, was
es bedeutet, Rechte zu beanspruchen, wenn man kei-
ne hat. Es bedeutet, auf genau die Fähigkeit Anspruch
zu erheben, die uns verweigert wird, um ebendiese Ver-
weigerung zu entlarven und ihr entgegenzuwirken. Wie
im Falle der Hausbesetzer-Bewegungen in Buenos Ai-
res, wo Menschen ohne Zuhause in leerstehende Ge-
bäude einziehen, um damit die Grundlage dafür zu
schaffen, ein Wohnrecht geltend machen zu können,15
geht es manchmal nicht darum, zuerst Macht zu erlan-
gen, um dann handeln zu können  ; es geht vielmehr um
das Handeln selbst und darum, mit dem Handeln die
Macht zu beanspruchen, die man braucht. Das ist Per-
formativität, wie ich sie verstehe, und es ist ebenso eine

79
Möglichkeit, aus der Prekarität heraus und gegen sie zu
agieren.
Prekarität ist die Rubrik, die Frauen, Queers, Trans-
Personen, Arme, anders Begabte, Staatenlose, aber auch
religiöse und ethnische Minderheiten unter sich ver-
einigt  : Sie ist ein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher
Zustand, aber keine Identität (tatsächlich durchschnei-
det sie die genannten Kategorien und schafft poten-
zielle Allianzen zwischen denjenigen, die nicht erken-
nen, dass sie zueinander gehören). Und ich glaube, wir
konnten das bei den »Occupy Wall Street«-Demons-
trationen erleben – niemand wird je nach einem Aus-
weis gefragt, um Zugang zu solchen Demonstrationen
zu erhalten. Wenn man als Körper auf der Straße er-
scheint, hilft man dabei, den Anspruch zu erheben, der
aus der pluralen Menge von Körpern erwächst, die sich
ansammelt und beharrlich bleibt. Dies kann natürlich
nur geschehen, wenn man auch erscheinen kann, wenn
die Straßen zugänglich sind und man selbst nicht einge-
schränkt ist. Wir werden im fünften Kapitel auf dieses
Problem zurückkommen, wo es um die Versammlungs-
freiheit geht.
Die Frage nach dem Zusammenhang von Perfor-
mativität und Prekarität lässt sich womöglich in den
folgenden, wichtigeren Fragen zusammenfassen  : Wie
spricht die unaussprechliche Bevölkerung und wie
stellt sie ihre Forderungen  ? Um was für eine Art von
Störung im Feld der Macht handelt es sich hier  ? Und
wie können solche Bevölkerungsgruppen Anspruch auf
das erheben, was sie für ihren Fortbestand brauchen  ?
Wir müssen nicht nur leben, um handeln zu können,
wir müssen auch handeln, politisch handeln, um unse-
re Existenzbedingungen zu sichern. Manchmal binden
uns die Normen der Anerkennung in einer Weise, die

80
unsere Fähigkeit zu leben gefährdet  : Was ist, wenn das
Geschlecht, das die für unsere Anerkennung erforder-
lichen Normen bestimmt, uns auch Gewalt antut, ja un-
ser Überleben gefährdet  ? In diesem Fall nehmen uns
genau die Kategorien, die uns Leben zu versprechen
scheinen, das Leben weg. Es geht nicht darum, eine sol-
che Doppelbindung zu akzeptieren, sondern Lebens-
weisen anzustreben, in denen performative Akte ge-
gen die Prekarität ankämpfen, um mit diesem Kampf
eine Zukunft zu eröffnen, in der wir in neuen gesell-
schaftlichen Daseinsweisen leben, manchmal gefährlich
nah am Rande der Unerkennbarkeit und manchmal im
Scheinwerferlicht der beherrschenden Medien  ; in bei-
den Fällen aber – oder auch in dem Spektrum dazwi-
schen – gibt es kollektives Handeln ohne ein vorgefer-
tigtes kollektives Subjekt  ; das »Wir« wird vielmehr
von der Versammlung der Körper inszeniert – plural,
fortdauernd, handelnd und eine öffentliche Sphäre be-
anspruchend, von der man aufgegeben worden ist.

Es gibt vielleicht Modalitäten der Gewalt, über die


wir nachdenken müssen, wenn wir die polizeilichen
Funktionen verstehen wollen, die hier am Werk sind.
Schließlich handeln alle, die darauf bestehen, dass Gen-
der immer nur auf eine Art oder in einem Gewand und
keinem anderen erscheinen darf, und die versuchen,
Menschen zu kriminalisieren oder zu pathologisieren,
die ihr Geschlecht oder ihre Sexualität in nichtnorma-
tiver Weise leben, ihrerseits für die Erscheinungssphäre
als Polizei, ob sie nun tatsächlich zu einer Polizeieinheit
gehören oder nicht. Wie wir wissen, geht der staatliche
Polizeiapparat manchmal selbst mit Gewalt gegen se-
xuelle und geschlechtliche Minderheiten vor, manchmal
versäumt er es, zu ermitteln oder Morde an Transfrauen

81
als Straftaten zu verfolgen, und manchmal verhindert
er nicht, dass es zu Gewalt gegen Trans-Personen in der
Gesellschaft kommt.
Mit Hannah Arendt können wir sagen, dass das Aus-
geschlossensein aus dem Erscheinungsraum, der Aus-
schluss von der Teilnahme an der Pluralität, die den Er-
scheinungsraum entstehen lässt, bedeutet, des Rechts
beraubt zu werden, Rechte zu haben. Plurales und öf-
fentliches Handeln ist die Ausübung des Rechts auf
einen Platz und auf Zugehörigkeit, und diese Ausübung
ist das Mittel, durch das der Erscheinungsraum voraus-
gesetzt und ins Leben gerufen wird. Lassen Sie mich auf
den Geschlechterbegriff zurückkommen, mit dem ich
begann, um einerseits an Arendt anzuknüpfen und an-
derseits klarzustellen, warum ich ihr in manchen Punk-
ten widerspreche. Wenn wir sagen, dass Gender der Ge-
brauch von Freiheit ist, so ist damit nicht gemeint, dass
alles, was das Geschlecht konstituiert, frei gewählt ist.
Wir erklären lediglich, dass auch die Dimensionen des
Geschlechts, die eigentlich »fest verdrahtet« erschei-
nen – entweder konstitutiv oder erworben –, auf eine
freie Weise beansprucht und ausgeübt werden können
sollten. Mit dieser Formulierung nehme ich eine gewisse
Distanz zu Arendt ein. Diesem Gebrauch von Freiheit
muss dieselbe Gleichbehandlung zugestanden werden
wie jeder anderen rechtmäßigen Ausübung von Frei-
heit. In politischer Hinsicht müssen wir darüber hinaus
eine Erweiterung unserer Vorstellungen von Gleichheit
verlangen, um diese Form der verkörperten Freiheit mit
einzuschließen. Was meinen wir also damit, dass Sexua-
lität oder Gender eine Ausübung von Freiheit ist  ? Um
es noch einmal zu wiederholen  : Ich behaupte nicht,
dass wir unser Geschlecht oder unsere Sexualität frei
wählen. Wir werden ganz sicher durch die Sprache, die

82
Kultur, die Geschichte, die gesellschaftlichen Kämpfe,
an denen wir teilnehmen, durch psychologische eben-
so wie durch historische Kräfte geprägt – in der Inter-
aktion und dadurch, dass biologische Zustände ihre
eigene Geschichte und Wirksamkeit besitzen. Tatsäch-
lich können wir durchaus das Gefühl haben, was und
wie wir begehren, seien feststehende, unauslöschliche
oder irreversible Merkmale dessen, wer wir sind. Aber
unabhängig davon, ob wir unser Geschlecht oder un-
sere Sexualität nun als gewählt oder gegeben betrach-
ten, hat jeder Mensch das Recht, dieses Geschlecht und
diese Sexualität zu beanspruchen. Und es macht einen
Unterschied, ob wir diesen Anspruch überhaupt stellen
können. Wenn wir von dem Recht Gebrauch machen,
als das Geschlecht zu erscheinen, das wir bereits sind,
so üben wir damit, auch wenn wir keine andere Wahl zu
haben meinen, eine gewisse Freiheit aus – wir tun aber
auch noch mehr.
Wenn man frei von dem Recht Gebrauch macht, zu
sein, wer man schon ist, und eine soziale Kategorie zur
Beschreibung dieser Daseinsweise beansprucht, dann
macht man de facto die Freiheit zum Bestandteil eben-
jener Sozialkategorie und verändert diskursiv die jewei-
lige Ontologie. Man kann die Geschlechter, die wir zu
sein beanspruchen, und die Sexualitäten, die wir leben,
unmöglich von unserem Recht trennen, diese Realitäten
öffentlich oder privat – oder in den vielen Schwellen, die
dazwischen existieren – frei, das heißt, ohne dass Ge-
walt droht, zu behaupten. Als ich vor langer Zeit sagte,
das Geschlecht sei performativ, bedeutete das, dass es
eine bestimmte Art von Inszenierung ist, das heißt, man
ist nicht zuerst sein Geschlecht und entscheidet dann
später, wie und wann man es inszeniert. Die Inszenie-
rung gehört vielmehr schon zu seiner Ontologie, sie ist

83
eine Art des Überdenkens des ontologischen Gender-
Modus und deshalb ist es wichtig, wie, wann und mit
welchen Folgen diese Inszenierung stattfindet, denn all
das verändert das Geschlecht, das man »ist«.
Wir können diese Veränderung zum Beispiel in den
signifikanten Akten erkennen, mit denen anfängliche
Geschlechtszuweisungen abgelehnt oder revidiert wer-
den. Im Akt der Bezeichnung als dieses oder jenes Ge-
schlecht übt die Sprache eine bestimmte performati-
ve Wirkung auf den Körper aus, so wie sie es auch tut,
wenn uns von Anfang an, wenn die Sprache noch un-
ausgereift ist, eine bestimmte Hautfarbe, Rasse oder
Nationalität zugewiesen wird beziehungsweise wir als
behindert oder arm bezeichnet werden. Man stellt ir-
gendwann fest, dass die Art, wie man in Bezug auf all
diese Kategorien betrachtet wird, in einem Namen zu-
sammengefasst wird, den man weder kannte noch wähl-
te und der von einem Diskurs umgeben und infiltriert
ist, der auf eine Weise wirkt, die man in dem Moment,
in dem er seine Wirkung zu entfalten beginnt, unmög-
lich verstehen kann. Wir können fragen  : »Bin ich dieser
Name  ?« – und wir tun es auch.16 Und manchmal fragen
wir so lange, bis wir die Entscheidung treffen, dass wir
der Name sind oder nicht sind, oder wir bemühen uns,
einen besseren Namen für das Leben, das wir uns wün-
schen, zu finden, oder wir versuchen, in den Zwischen-
räumen all dieser Namen zu leben.
Wie denken wir über die Kraft und die Wirkung jener
Namen, mit denen wir bezeichnet werden, noch bevor
wir als sprechende Wesen in die Sprache eintauchen und
bevor wir zu irgendeinem eigenen Sprechakt imstande
sind  ? Wirkt die Sprache schon auf uns, bevor wir spre-
chen, und könnten wir überhaupt sprechen, wenn sie es
nicht täte  ? Vielleicht geht es hier auch nicht einfach um

84
die Reihenfolge  : Wirkt die Sprache genau in dem Mo-
ment, in dem wir sprechen, noch immer auf uns, so dass
wir noch glauben, zu handeln, während gleichzeitig auf
uns eingewirkt wird  ?
Vor einigen Jahren wies Eve Sedgwick darauf hin,
dass Sprechakte von ihren Zielen abweichen, wobei sie
häufig Folgen zeitigen, die vollkommen unbeabsichtigt
und oft äußerst glücklich sind.17 Nehmen wir als Bei-
spiel das Ehegelübde  ; dieser Akt kann durchaus einen
Bereich des Sexuallebens auftun, der ganz getrennt von
der Ehe und häufig unbemerkt stattfindet. Obwohl der
Ehe also eigentlich das Ziel zugeschrieben wird, die Se-
xualität in monogamer und konjugaler Weise zu orga-
nisieren, kann sie eine begehrte Zone für eine Sexua-
lität schaffen, die nicht der öffentlichen Überwachung
und Anerkennung unterliegt. Sedgwick macht deutlich,
wie ein Sprechakt (»Ich erkläre Sie zu Mann und Frau«)
von seinen eigentlichen Zielen abkommen kann und
dass diese »Abweichung« eine der wichtigsten Bedeu-
tungen des Wortes »queer« ist, das weniger als Identität
denn als Bewegung des Denkens, Sprechens und Han-
delns verstanden wird, die in eine ganz andere als die
ausdrücklich anerkannte Richtung verläuft. Anerken-
nung scheint zwar eine wichtige Voraussetzung für ein
lebbares Leben zu sein, sie kann aber auch den Zwe-
cken der Überprüfung, Überwachung und Normali-
sierung dienen, so dass eine queere Flucht notwendig
wird, um die Lebbarkeit gerade jenseits von ihr zu er-
reichen.
In meinen früheren Werken habe ich mich dafür in-
teressiert, wie verschiedene Gender-Diskurse bestimm-
te Geschlechterideale zu erschaffen und zu verbreiten
scheinen, wobei sie diese Ideale zwar selbst erzeugen,
aber so tun, als käme in ihnen ein natürliches Wesen

85
oder eine innere Wahrheit zum Ausdruck. Die Wir-
kung eines Diskurses – in diesem Fall eine Reihe von
Geschlechteridealen – wird also weitgehend als die in-
nere Ursache des eigenen Begehrens und Verhaltens
missverstanden, als eine Kernrealität, die in Gesten und
Handlungen zum Ausdruck kommt. Diese innere Ur-
sache oder Kernrealität tritt nicht nur an die Stelle der
gesellschaftlichen Norm, sie maskiert sie sogar und er-
leichtert ihre Umsetzung. Die Formulierung »Gender
ist performativ« führte zu zwei völlig gegensätzlichen
Interpretationen  : Die erste lautete, dass wir unser Ge-
schlecht von Grund auf selbst wählen, und die zwei-
te, dass wir vollkommen von Geschlechternormen
determiniert sind. Diese extrem unterschiedlichen Re-
aktionen zeigten, dass etwas noch nicht ganz deutlich
gemacht und verstanden worden war, das mit der Dua-
lität jeder Beschreibung von Performativität zu tun hat.
Denn wenn die Sprache schon auf uns wirkt, bevor wir
zu handeln beginnen, und in jedem Augenblick, in dem
wir handeln, weiterwirkt, müssen wir die Gender-Per-
formativität zuallererst als »Geschlechtszuweisung«
begreifen – als all die vielen Arten und Weisen, in denen
wir mit einem Namen belegt und sozialgeschlechtlich
markiert werden, noch bevor wir die geringste Ahnung
davon haben, wie Geschlechternormen auf uns wir-
ken und uns formen, und bevor wir imstande sind, die-
se Normen in irgendeiner selbstbestimmten Weise zu
reproduzieren. Die eigene Wahl spielt in diesem Pro-
zess der Performativität erst spät eine Rolle. Und dann
müssen wir Sedgwick zufolge verstehen, dass es Abwei-
chungen von diesen Normen geben kann und gibt, die
darauf hindeuten, dass im Herzen der Gender-Perfor-
mativität etwas »Queeres« abläuft, eine Queerness, die
sich nicht allzu sehr von den Schlenkern der Iterabilität

86
in Derridas Darstellung des Sprechakts als zitathaft un-
terscheidet.
Nehmen wir also an, dass Performativität sowohl
die Vorgänge beschreibt, mit denen auf uns eingewirkt
wird, als auch die Bedingungen und Möglichkeiten des
Handelns und dass sich ihr Wirken nur verstehen lässt,
wenn wir beide Dimensionen berücksichtigen. Dass
Normen auf uns einwirken, impliziert, dass wir für
ihre Wirkung empfänglich sind, dass wir von Anfang
an anfällig für gewisse Benennungen und damit auch
Beschimpfungen sind. Und dies schreibt sich auf einer
Ebene ein, die vor jeder Möglichkeit der Willensäuße-
rung liegt. Eine Theorie der Geschlechtszuweisung
muss dieses Feld einer ungewollten Empfänglichkeit,
Anfälligkeit und Verwundbarkeit mitberücksichtigen,
dieses Ausgesetztsein gegenüber der Sprache vor jeder
Möglichkeit, einen Sprechakt zu bilden oder zu voll-
ziehen. Solche Normen sind nicht ohne bestimmte For-
men der körperlichen Verwundbarkeit denkbar, auf die
sie einerseits angewiesen sind und die sie andererseits
begründen. Aus diesem Grund sind wir imstande, die
zitative Macht von Geschlechternormen zu beschrei-
ben, wie sie von medizinischen, rechtlichen und psy-
chiatrischen Institutionen eingeführt werden, und ge-
gen die Wirkung zu protestieren, die sie auf die Bildung
und das Verständnis der Geschlechter in einem patho-
logischen oder kriminellen Sinne haben. Und doch ist
genau dieser Bereich der Anfälligkeit, dieser Zustand
des Affiziertwerdens zugleich der Punkt, an dem etwas
Queeres geschehen kann, an dem die Norm zurück-
gewiesen oder revidiert wird oder an dem Neuformu-
lierungen von Gender ihren Anfang nehmen. Gerade
weil auf diesem Gebiet des »Affiziertwerdens« etwas
Unbeabsichtigtes und Unerwartetes geschehen kann,

87
kann das Geschlecht sich in Richtungen entwickeln,
die mit mechanischen Wiederholungsmustern brechen
oder von ihnen abweichen, die jene zitathaften Ket-
ten der Geschlechternormativität resignifizieren oder
manchmal sogar sprengen und Platz für neue Formen
des Geschlechterlebens schaffen.
Gender-Performativität beschreibt nicht nur, was wir
tun, sondern auch wie sich Diskurs und institutionelle
Macht auf uns auswirken, wie sie uns in Bezug auf das,
was wir unser »eigenes« Handeln nennen, einschränken
und lenken. Um zu verstehen, dass die Namen, die man
uns gibt, genauso wichtig für die Performativität sind
wie die Namen, die wir uns selbst geben, müssen wir die
Konventionen identifizieren, die in einem breiten Spek-
trum von geschlechtszuweisenden Strategien am Werk
sind. Dann können wir erkennen, wie der Sprechakt
uns in einer verkörperten Weise affiziert und animiert –
das Feld der Anfälligkeit und des Affekts hat immer
schon mit irgendeiner Art von körperlichen Einschrei-
bung zu tun. Gender und Performanz implizieren eine
Verkörperung und diese hängt grundsätzlich von insti-
tutionellen Strukturen und umfassenderen Sozialwel-
ten ab. Wir können nicht vom Körper sprechen, ohne
zu wissen, was diesen Körper unterstützt und wie seine
Beziehung zu dieser Unterstützung – oder Nichtunter-
stützung – aussehen könnte. In diesem Sinne ist der
Körper weniger eine Entität als vielmehr eine lebendige
Menge von Beziehungen  ; er lässt sich nicht vollständig
von den infrastrukturellen, ihn umgebenden Bedingun-
gen seines Lebens und Handelns ablösen. Sein Handeln
ist immer bedingtes Handeln, und dies ist eine Bedeu-
tung seiner Geschichtlichkeit. Des Weiteren offenbart
die Abhängigkeit menschlicher und anderer Lebewesen
von infrastruktureller Unterstützung eine spezifische

88
Verwundbarkeit, die uns trifft, wenn wir nicht unter-
stützt werden, wenn jene infrastrukturellen Bedingun-
gen sich aufzulösen beginnen oder wenn wir uns völ-
lig ohne jede Unterstützung im Zustand der Prekarität
wiederfinden. Ohne diese Unterstützung in ihrem Na-
men zu handeln ist das Paradox des pluralen performa-
tiven Handelns unter den Bedingungen der Prekarität.18

89
2.
Körperallianzen und die Politik der Straße

Im ersten Kapitel habe ich darauf hingewiesen, dass die


Geschlechterpolitik Bündnisse mit anderen, allgemein
als gefährdet charakterisierten Bevölkerungsgruppen
eingehen muss. Ich verwies auf Bewegungen, die sich
für die Rechte geschlechtlicher Minderheiten oder ge-
schlechtlich nonkonformer Menschen einsetzen, sich
auf der Straße frei zu bewegen, ihre Arbeit zu behal-
ten und sich gegen Belästigung, Pathologisierung und
Kriminalisierung zu wehren. Damit der Kampf für
die Rechte geschlechtlicher und sexueller Minderhei-
ten auch ein Kampf für soziale Gerechtigkeit ist, das
heißt, damit er als radikaldemokratisches Projekt cha-
rakterisiert werden kann, ist es notwendig zu erkennen,
dass wir nur eine Bevölkerungsgruppe sind, die Bedin-
gungen der Prekarität und Entrechtung ausgesetzt ist
oder werden kann. Außerdem sind die Rechte, für die
wir kämpfen, plurale Rechte, und diese Pluralität wird
nicht im Vorhinein durch die Identität eingeschränkt,
das heißt, es ist kein Kampf, zu dem nur einige Iden-
titäten gehören können, sondern ganz entschieden ein
Kampf, der versucht die Bedeutung dessen, was wir mit
»wir« meinen, auszudehnen. Die öffentliche Geltend-
machung des Geschlechts, die Ausübung des Rechts
auf das Geschlecht ist, so könnte man sagen, bereits
eine soziale Bewegung, und zwar eine, die stärker von
den Verbindungen zwischen Menschen abhängt als
von irgendeinem Individualismus-Begriff. Ihr Ziel ist
es, den militärischen, disziplinarischen und regulato-
rischen Kräften und Regimes entgegenzuwirken, die

91
uns der Prekarität preisgeben  ; es gibt natürlich zahlrei-
che Krankheiten und Naturkatastrophen, die das Le-
ben prekär machen können, worauf es aber ankommt,
ist – wie wir beim Hurrikan Katrina in New Orleans
auf dramatische Weise erleben konnten –, wie die be-
stehenden Institutionen Krankheiten behandeln oder
eben nicht behandeln oder dass Naturkatastrophen in
bestimmten Gebieten für einige Bevölkerungsteile zu
verhindern sind, für andere aber nicht; all das führt zu
einer demografischen Verteilung der Prekarität. Dies
gilt in starkem Maße für die Obdachlosen und die Ar-
men, aber auch für alle, die einer verheerenden Unsi-
cherheit und dem Gefühl einer zerstörten Zukunft aus-
gesetzt sind, da die infrastrukturellen Bedingungen
immer schlechter werden und der Neoliberalismus die
unterstützenden Einrichtungen der Sozialdemokratie
durch eine unternehmerische Ethik ersetzt, die selbst
noch die Machtlosesten dazu ermahnt, Verantwortung
für ihr eigenes Leben zu übernehmen, ohne von ande-
ren Menschen oder Dingen abhängig zu sein. Es ist, als
ob unter den gegenwärtigen Bedingungen ein Krieg ge-
gen die Idee der wechselseitigen Abhängigkeit geführt
würde, gegen das, was ich an anderer Stelle das sozia-
le Netzwerk der Hände, die versuchen, die Unlebbar-
keit von Leben zu minimieren, genannt habe. Bei dieser
Pluralität von Rechten – von Rechten, die wir als kol-
lektiv und verkörpert betrachten müssen – handelt es
sich nicht um eine Form der Affirmation der Art von
Welt, in der jede / ​r von uns leben können sollte  ; sie geht
vielmehr aus der Einsicht hervor, dass die Bedingung
der Prekarität differenziell verteilt wird und dass der
Kampf oder Widerstand gegen die Prekarität auf dem
Anspruch basieren muss, dass Leben gleich behandelt
werden und gleich lebbar sein sollten. Das bedeutet

92
auch, dass die Form des Widerstands selbst, die Art und
Weise, in der Gemeinschaften organisiert sind, um sich
der Prekarität zu widersetzen, idealerweise beispielhaft
für genau die Werte stehen sollte, für die diese Gemein-
schaften kämpfen. Allianzen, die sich zur Ausübung
der Rechte geschlechtlicher und sexueller Minderheiten
gebildet haben, müssen in meinen Augen, wie schwierig
es auch sei, Verknüpfungen innerhalb der Vielfalt ih-
rer eigenen Gruppe und, was sich daraus implizit er-
gibt, auch mit allen anderen Gruppen bilden, die heu-
te Bedingungen der auferlegten Prekarität unterworfen
sind. Dieser Verknüpfungsprozess, wie kompliziert er
auch sein mag, ist notwendig, weil die Gruppe der ge-
schlechtlichen und sexuellen Minderheiten selbst divers
ist – ein Wort, das für das, was ich sagen will, eigentlich
nicht präzise genug ist  ; die Gruppe speist sich bezüg-
lich Klasse, ethnischer Herkunft und Religion aus ganz
unterschiedlichen Milieus und geht über sprachliche
und kulturelle Grenzen hinweg.
Was ich hier Allianz nenne, ist nicht nur eine zukünf-
tige Sozialgestalt  ; manchmal ist sie latent, manchmal ist
sie auch die Struktur unserer eigenen Subjektbildung,
etwa dann, wenn die Allianz innerhalb eines einzelnen
Subjekts entsteht, wenn dieses sagen kann  : »Ich bin
selbst eine Allianz, ich verbünde mich mit mir selbst
oder meinen vielen kulturellen Wechselfällen.« Das be-
deutet lediglich, dass das fragliche »Ich« sich weigert,
einen Minderheitenstatus oder gelebten Ort der Preka-
rität zugunsten eines anderen in den Hintergrund treten
zu lassen  ; es ist eine Art zu sagen  : »Ich bin die Kom-
plexität, die ich bin, und das heißt, dass ich mit ande-
ren in Weisen verbunden bin, die für jede Berufung auf
dieses ›Ich‹ wesentlich sind.« Eine derartige Sichtweise,
die im Pronomen der ersten Person soziale Relationa-

93
lität andeutet, fordert uns heraus, die Unzulänglichkeit
identitärer Ontologien für die theoretische Erfassung
des Problems der Allianz zu begreifen. Der entschei-
dende Punkt ist nämlich, dass ich keine Ansammlung
von Identitäten, sondern bereits eine Versammlung bin,
ja sogar eine Generalversammlung beziehungsweise
eine Assemblage, wie Jasbir Puar in Anlehnung an Gil-
les Deleuze schreibt.1 Am wichtigsten sind aber viel-
leicht jene Formen der Mobilisierung, die von einem
geschärften Bewusstsein der Überschneidungen zwi-
schen verschiedenen Bevölkerungsgruppen angetrieben
werden  ; hier geht es um Menschen, denen der Verlust
ihres Arbeitsplatzes oder der Entzug ihrer Wohnung
durch Banken droht, Menschen, die differenziell dem
Risiko der Belästigung, Kriminalisierung, Inhaftierung
oder Pathologisierung ausgesetzt sind sowie um die be-
sonderen ethnischen und religiösen Hintergründe all
der Menschen, deren Leben von den Kriegsführern für
entbehrlich erklärt wird. Meiner Ansicht nach folgt aus
dieser Perspektive die Notwendigkeit eines allgemeine-
ren Kampfes gegen die Prekarität, eines Kampfes, der
aus einer gefühlten Wahrnehmung des Gefährdetseins
hervorgeht, gelebt als schleichender Tod, als beschädig-
tes Zeitgefühl oder als Gefühl, in willkürlicher Weise
und unkontrollierbar Verlust, Verletzung und Not aus-
gesetzt zu sein – dies ist eine Wahrnehmung, die zu-
gleich singulär und plural ist. Es geht nicht darum, für
eine Gleichheit auf die Straße zu gehen, die uns alle in
gleich unlebbare Bedingungen stürzen würde. Wir müs-
sen im Gegenteil zu einem gleichermaßen lebbaren Le-
ben aufrufen, das auch von denjenigen umgesetzt wird,
die den Aufruf starten, und das die egalitäre Verteilung
öffentlicher Güter verlangt. Das Gegenteil von Prekari-
tät ist nicht Sicherheit, sondern vielmehr der Kampf für

94
eine egalitäre gesellschaftliche und politische Ordnung,
in der eine lebbare Interdependenz möglich wird – das
wäre zugleich die Bedingung unserer Selbstverwaltung
als Demokratie und ihre Nachhaltigkeit wäre eines der
obligatorischen Ziele ebendieser Verwaltung.
Wenn es so aussieht, als sei ich ein wenig vom The-
ma Gender abgekommen, so kann ich Ihnen versichern,
dass der Schein trügt  ; denn eine der Fragen, die sich jede
Gruppe, die für die Rechte von Frauen sowie von se-
xuellen und geschlechtlichen Minderheiten einsteht,
stellen muss, lautet  : Wie sollen wir uns verhalten, wenn
sich Staatsregierungen oder internationale Organisa-
tionen für unsere Rechte einsetzen, um damit explizit
einwanderungsfeindliche Kampagnen zu legitimieren
(wie wir in Frankreich und in den Niederlanden sehen
konnten), oder wenn Staaten auf ihre relativ fortschritt-
liche Menschenrechtssituation in Bezug auf Frauen,
Lesben, Schwule und Transgender verweisen, um da-
mit von ihrer katastrophalen Menschenrechtsbilanz in
Bezug auf die Teile der Bevölkerung abzulenken, de-
ren Grundrechte auf Selbstbestimmung, Bewegung
und Versammlung beschnitten werden (wie im Fall der
»Pinkwashing«-Kampagne des Staates Israel, die von
dessen verbrecherischer Politik der Besatzung, Land-
enteignung und gewaltsamen Vertreibung ablenkt)  ?
Sosehr wir uns auch wünschen, dass unsere Rechte an-
erkannt werden, müssen wir dieser Art der öffentlichen
Anerkennung unserer Rechte entgegentreten, die nur
den Zweck hat, die massive Entrechtung anderer zu ka-
schieren, zu denen in diesem Fall auch Frauen, Queers
sowie geschlechtliche und sexuelle Minderheiten gehö-
ren, die ohne elementare Bürgerrechte in Palästina le-
ben. Ich werde im dritten Kapitel darauf zurückkom-
men, wo es nicht nur um die Frage gehen wird, was es

95
heißt, sich miteinander zu verbünden, sondern auch da-
rum, was es heißt, miteinander zu leben. Eine Politik
der Allianz, so werde ich versuchen zu zeigen, beruht
auf und bedarf einer Ethik der Kohabitation. Für den
Moment möchte ich nur sagen  : Wenn die Zuteilung von
Rechten für eine Gruppe für die Aberkennung grund-
legender Ansprüche einer anderen instrumentalisiert
wird, hat die berechtigte Gruppe die Pflicht, die Bedin-
gungen abzulehnen, unter denen die politische und ge-
setzliche Anerkennung und Berechtigung verteilt wer-
den. Damit ist nicht gesagt, dass wir bestehende Rechte
aufgeben sollen, sondern nur, dass wir erkennen müssen,
dass Rechte nur im Rahmen eines allgemeinen Kampfes
für soziale Gerechtigkeit einen Sinn haben  ; werden sie
differenziell verteilt, so wird durch die taktische Durch-
setzung und Rechtfertigung von Rechten für Schwule
und Lesben Ungleichheit installiert. Wir sollten uns da-
her daran erinnern, dass der Begriff »queer« sich nicht
auf Identitäten, sondern auf Bündnisse bezieht  ; inso-
fern ist er gut geeignet, wenn wir im Kampf für gesell-
schaftliche, politische und wirtschaftliche Gerechtigkeit
unbequeme und unvorhersehbare Bündnisse eingehen.

Immer wieder finden auf Straßen und Plätzen Massen-


demonstrationen statt, und auch wenn häufig unter-
schiedliche politische Ziele dahinterstecken, haben sie
doch eines gemeinsam  : Körper versammeln sich, sie be-
wegen sich und sprechen zusammen und sie erheben
Anspruch auf einen bestimmten Raum als öffentlichen
Raum. Es wäre einfacher, zu sagen, dass diese Demons-
trationen oder vielmehr Bewegungen dadurch cha-
rakterisiert sind, dass Körper zusammenkommen, um
im öffentlichen Raum einen Anspruch geltend zu ma-
chen  ; diese Formulierung setzt jedoch voraus, dass es

96
den öffentlichen Raum schon gibt, dass er bereits öf-
fentlich ist und auch als solcher anerkannt wird. Wir
übersehen einen wichtigen Aspekt dieser Demonstra-
tionen, wenn wir nicht erkennen, dass es gerade der
öffentliche Charakter des Raumes ist, der zur Debat-
te steht und manchmal sogar heiß umkämpft ist, wenn
die Massen sich versammeln. Natürlich sind die Bewe-
gungen darauf angewiesen, dass es das Pflaster, die Stra-
ße, den Platz schon gibt, und natürlich sind sie schon
oft an politisch bedeutsamen und geschichtsträchtigen
Orten wie dem Tahrir-Platz zusammengekommen  ;
wahr ist aber auch, dass die gemeinsamen Aktionen
den Raum selbst einnehmen – sie schaffen den Platz,
sie beleben und organisieren die Architektur. So sehr
wir darauf bestehen müssen, dass die materiellen Vo-
raussetzungen für die öffentliche Versammlung und
die öffentliche Rede vorhanden sind, so sehr müssen
wir auch fragen, wie Versammlung und Rede die Ma-
terialität des öffentlichen Platzes umgestalten und den
öffentlichen Charakter dieser materiellen Umgebung
hervorbringen beziehungsweise wieder hervorbringen
können. Und wenn Massen sich außerhalb des Platzes
bewegen, wenn sie in die Seitengassen und die Viertel
mit ungepflasterten Straßen gehen, dann geschieht noch
etwas mehr als das.
In solch einem Moment lässt sich nicht mehr sagen,
dass Politik ausschließlich in der Öffentlichkeit und
außerhalb der Privatsphäre stattfindet, sie überschreitet
diese Grenzen vielmehr ständig und lässt so erkennen,
dass sie immer schon in den Häusern, Straßen und Vier-
teln oder gar in jenen virtuellen Räumen ist, die nicht
an die Architektur von Häusern und Plätzen gebunden
sind. Wenn wir daher darüber nachdenken, was es be-
deutet, sich in großer Zahl, einer wachsenden Menge,

97
zu versammeln, und was es bedeutet, sich auf eine Wei-
se im öffentlichen Raum zu bewegen, die den Unter-
schied zwischen öffentlich und privat in Frage stellt,
können wir einige Möglichkeiten erkennen, wie Kör-
per in ihrer Pluralität die Öffentlichkeit beanspruchen
und das Öffentliche dadurch finden und hervorbringen,
dass sie die stoffliche Seite ihrer materiellen Umgebung
erfassen und umgestalten  ; gleichzeitig sind diese mate-
riellen Umgebungen auch Teil der Handlung und sie
handeln selbst, wenn sie zur Stütze des Handelns wer-
den. Entsprechend wird auch in Fällen, in denen Last-
wagen oder Panzer lahmgelegt und von Redner / ​innen
erklommen werden, die sich an die Menge richten, das
militärische Instrument selbst zu einer Basis oder Platt-
form des nichtmilitärischen Widerstands, wenn nicht
gar zum Widerstand gegen das Militär selbst  ; in solchen
Momenten wird die materielle Umgebung aktiv umge-
staltet und umfunktioniert, um es mit Brecht zu sagen.
Mithin müssen wir unsere Vorstellungen des Handelns
sodann überdenken.
Erstens stellt niemand eine Forderung nach Bewe-
gungs- und Versammlungsfreiheit, ohne sich gemein-
sam mit anderen zu bewegen und zu versammeln. Und
zweitens sind der Platz und die Straße nicht nur die
materielle Stütze des Handelns, sie müssen vielmehr
selbst in jede Darstellung des körperlichen öffentlichen
Handelns mit hineingenommen werden. Menschliches
Handeln ist auf unterschiedlichste Arten der Unterstüt-
zung angewiesen – es ist immer unterstütztes Handeln.
Aus den Disability Studies wissen wir, dass die Fähig-
keit sich zu bewegen von Geräten und Oberflächen ab-
hängt, die Bewegung möglich machen, und dass körper-
liche Bewegung von nichtmenschlichen Gegenständen
und deren besonderer Handlungsfähigkeit unterstützt

98
und erleichtert wird. Im Falle öffentlicher Versamm-
lungen sehen wir deutlich den Kampf um die Frage
nach dem öffentlichen Raum, aber auch einen ebenso
fundamentalen Kampf darum, wie Körper in der Welt
unterstützt werden – einen Kampf für Beschäftigung
und Bildung, für die gerechte Verteilung von Lebens-
mitteln, bewohnbare Unterkünfte sowie Freizügigkeit
und Meinungsfreiheit, um nur einige zu nennen.
Das bringt uns natürlich in eine Zwickmühle  : Wir
können nicht ohne Unterstützungen handeln, müssen
aber um die Unterstützungen kämpfen, die unser Han-
deln erst ermöglichen, weil sie wesentliche Bestand-
teile des Handelns sind. Hannah Arendts Auffassung
der Rechte der Versammlung und der freien Meinungs-
äußerung, der Handlung und des Rechtsgebrauchs, war
geprägt von der römischen Idee des öffentlichen Plat-
zes. Sie hatte zweifellos sowohl die klassische griechi-
sche Polis als auch das römische Forum im Sinn, als sie
erklärte, politisches Handeln erfordere grundsätzlich
einen »Erscheinungsraum«. Sie schreibt beispielswei-
se  : »So ist die Polis genau genommen nicht die Stadt
im Sinne ihrer geographischen Lokalisierbarkeit, sie ist
vielmehr die Organisationsstruktur ihrer Bevölkerung,
wie sie sich aus dem Miteinanderhandeln und -spre-
chen ergibt  ; ihr wirklicher Raum liegt zwischen denen,
die um dieses Miteinander willen zusammenleben, un-
abhängig davon, wo sie gerade sind.«2 Der »wirkliche«
Raum liegt also »zwischen« den Menschen, was bedeu-
tet, dass zwar jede Handlung an einem geografisch be-
stimmbaren Ort stattfindet, darüber hinaus aber auch
einen Raum schafft, der eigentlich der Allianz zugehört.
Für Arendt ist diese Allianz nicht an ihren Ort gebun-
den, vielmehr bringt sie sogar ihren eigenen, hochgradig
transponiblen Ort hervor. Arendt schreibt  : »Handeln

99
und Sprechen [etablieren] ein räumliches Zwischen […],
das an keinen heimatlichen Boden gebunden ist und sich
überall in der bewohnten Welt neu ansiedeln kann.«3
Wie ist nun dieser hochgradig, wenn nicht gar un-
endlich transponible Begriff des politischen Raumes
zu verstehen  ? Arendt besteht zwar darauf, dass Politik
den Erscheinungsraum braucht, sagt aber auch, dass der
Raum die Politik hervorbringt  : »Dies räumliche Zwi-
schen ist der Erscheinungsraum im weitesten Sinne, der
Raum, der dadurch entsteht, daß Menschen voreinan-
der erscheinen, und in dem sie nicht nur vorhanden sind
wie andere belebten oder leblosen Dinge, sondern aus-
drücklich in Erscheinung treten.«4 Einiges von dem,
was sie hier sagt, ist eindeutig wahr. Raum und Ort
werden durch plurales Handeln erzeugt. Ihrer Ansicht
nach kommt jedoch dem Handeln, in seiner Freiheit
und seiner Macht, die alleinige Fähigkeit zu, einen Ort
zu erzeugen. Eine solche Sicht vergisst oder verwirft,
dass jedes Handeln unterstützt wird und unweiger-
lich körperlich ist, selbst, wie ich zu zeigen versuche, in
seinen virtuellen Formen. Die materiellen Stützen des
Handelns sind nicht nur dessen Bestandteile, sondern
auch das, worum und wofür gekämpft wird, besonders
in den Fällen, in denen sich der politische Kampf um
Nahrung, Beschäftigung, Mobilität und den Zugang zu
Institutionen dreht. Wenn wir den Begriff des Erschei-
nungsraumes fruchtbar machen wollen, um die Macht
und Wirkung der öffentlichen Demonstrationen unse-
rer Zeit zu verstehen, werden wir die leiblichen Dimen-
sionen des Handelns genauer betrachten müssen  : was
der Körper braucht und was der Körper kann.5 Dies
gilt in besonderem Maße im Hinblick auf Körper, die
sich zusammen in einem geschichtlichen Raum befin-
den, der aufgrund ihres kollektiven Handelns eine his-

100
torische Transformation durchmacht  : Was hält sie dort
zusammen und was sind die Bedingungen ihres Fort-
bestands und ihrer Macht in Bezug auf ihre Prekarität
und ihr Ausgesetztsein  ?
Ich möchte über den Fahrplan nachdenken, mittels
dessen wir vom Erscheinungsraum zur gegenwärti-
gen Politik der Straße gelangen. Dabei weiß ich natür-
lich, dass es mir nicht gelingen würde, hier sämtliche
Demonstrationsformen zusammenzutragen, deren
Zeuge wir werden konnten und von denen einige nur
episodenhaft, andere Teil von anhaltenden und wieder-
kehrenden sozialen und politischen Bewegungen und
wieder andere revolutionär sind. Ich möchte darüber
nachdenken, was diese Versammlungen, diese öffent-
lichen Demonstrationen zusammenbringt. Im Winter
des Jahres 2011 gab es Demonstrationen gegen tyran-
nische Regime in Nordafrika und im Nahen Osten,
aber auch gegen die um sich greifende Prekarisierung
der arbeitenden Bevölkerung in Europa und auf der
Südhalbkugel  ; es gab Kämpfe für das öffentliche Bil-
dungswesen in den Vereinigten Staaten, in Europa und
zuletzt auch in Chile  ; und es gab Anstrengungen, die
Straßen sicherer für Frauen und für geschlechtliche
und sexuelle Minderheiten, einschließlich Trans-Per-
sonen, zu machen, deren öffentliches Erscheinen allzu
oft gesetzlicher und ungesetzlicher Gewalt ausgesetzt
ist. In öffentlichen Versammlungen von Transgendern
und Queers wird häufig die Forderung laut, die Stra-
ßen müssten vor der Polizei sicher gemacht werden, die
in die Kriminalität verstrickt sei, besonders dann, wenn
sie verbrecherische Regime unterstützt oder beispiels-
weise selbst genau die Verbrechen gegen sexuelle und
geschlechtliche Minderheiten begeht, die sie eigentlich
verhindern soll. Demonstrationen bieten eine der we-

101
nigen Möglichkeiten, die Polizeigewalt zu überwinden,
insbesondere wenn die Versammlungen plötzlich zu
groß oder zu beweglich, zu verdichtet oder zu zerstreut
werden, um von der Polizeigewalt in Schach gehalten
werden zu können, und wenn sie über die Mittel ver-
fügen, sich an Ort und Stelle zu regenerieren.
Vielleicht handelt es sich um anarchistische Momen-
te oder Übergänge, in denen die Rechtmäßigkeit eines
Systems oder seiner Gesetze in Frage gestellt wird,
aber noch keine neue Rechtsordnung da ist, um ihren
Platz einzunehmen. In dieser Zwischenphase artikulie-
ren die versammelten Körper eine neue Zeit und einen
neuen Raum für den Willen des Volkes, keinen einzel-
nen, identischen, einheitlichen Willen, sondern einen,
der sich durch die Allianz voneinander getrennter und
aneinander angrenzender Körper auszeichnet, deren
Handeln und deren Nichthandeln eine andere Zukunft
fordert. Gemeinsam üben sie die performative Kraft
aus, Anspruch auf die Öffentlichkeit in einer Weise zu
erheben, die noch nicht gesetzlich festgeschrieben ist
und sich nie vollständig gesetzlich festschreiben lässt.
Und diese Performativität umfasst nicht nur die Spra-
che, sondern auch die Ansprüche körperlicher Hand-
lungen, Gesten, Bewegungen, der Versammlung, der
Persistenz und des potenziell Gefährdetseins durch Ge-
walt. Wie ist dieses gemeinsame Agieren zu verstehen,
das Zeit und Raum außerhalb und entgegen der etab-
lierten Architektur und Zeitlichkeit des Regimes öffnet,
das Anspruch auf die Materialität erhebt, auf seine Stüt-
zen baut und aus seinen materiellen und technischen
Dimensionen schöpft, um deren Funktionen umzuar-
beiten  ? Derartige Aktionen sorgen für eine Neubestim-
mung dessen, was als Öffentlichkeit und was als politi-
scher Raum gilt.

102
Ich wende mich gegen Hannah Arendt, auch wenn
ich mich ihrer Ausführungen bediene, um meinen
eigenen Standpunkt klarzumachen. Ihr Werk unter-
stützt mein Vorhaben, aber ich lehne es auch in man-
chen Punkten ab. Arendts Standpunkt wird durch ihre
eigene Geschlechterpolitik entkräftet, da diese auf einer
Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und dem
privaten Bereich beruht, die die Sphäre der Politik den
Männern und die Reproduktionsarbeit den Frauen
überlässt. Wenn es einen Körper in der Öffentlichkeit
gibt, so ist er mutmaßlich männlich, ungestützt und
frei, etwas zu schaffen, aber selbst nicht geschaffen  ; und
der Körper in der Privatsphäre ist entsprechend weib-
lich, alternd, fremd oder kindlich und immer vorpoli-
tisch. Arendt war zwar, wie wir dank der wichtigen Ar-
beit von Adriana Cavarero wissen, eine Philosophin der
Natalität,6 doch sie verstand diese Fähigkeit, etwas ins
Leben zu rufen, als eine Funktion der politischen Rede
oder Tat. Wenn männliche Bürger den öffentlichen
Platz betreten, um über Fragen der Gerechtigkeit, der
Vergeltung, des Krieges oder der Emanzipation zu dis-
kutieren, setzen sie den illuminierten öffentlichen Platz
als architektonisch umschlossenes Theater ihrer Rede
als gegeben voraus. Und ihre Rede wird zur paradigma-
tischen Form der Handlung, sie ist physisch vom pri-
vaten Wohnsitz abgeschnitten, der seinerseits in Dun-
kelheit gehüllt ist und durch Tätigkeiten reproduziert
wird, die keine richtigen Handlungen im eigentlichen
und öffentlichen Sinn sind. Männer vollziehen den
Übergang von jener privaten Dunkelheit in das Licht
der Öffentlichkeit  ; sie werden angestrahlt, beginnen zu
reden und ihre Rede fragt nach den Prinzipien der Ge-
rechtigkeit, die sie artikuliert, sie wird selbst eine Form
der kritischen Befragung und der demokratischen Be-

103
teiligung. Arendt verlegt diese klassische Szene gedank-
lich in die politische Moderne und versteht die Rede als
körperliche und sprachliche Ausübung von Rechten.
Körperlich und sprachlich – wie lassen sich die beiden
Begriffe und ihre Verflechtung nun gegen jene Annah-
me einer geschlechtlich bestimmten Arbeitsteilung und
über sie hinaus neu fassen  ?
Für Arendt findet politisches Handeln unter der Be-
dingung statt, dass der Körper erscheint. Ich erschei-
ne anderen und sie erscheinen mir, das heißt, ein Raum
zwischen uns erlaubt uns jeweils zu erscheinen. Man
könnte erwarten, dass wir innerhalb eines Raumes er-
scheinen oder dass wir von einer materiellen Organi-
sation des Raumes unterstützt werden, doch das ist
nicht Arendts Argument. Die Erscheinungssphäre ist
nicht trivial, denn sie scheint nur unter der Bedingung
einer gewissen intersubjektiven Konfrontation zu ent-
stehen. Wir sind nicht einfach visuelle Phänomene für-
einander – unsere Stimmen müssen registriert und also
müssen wir gehört werden  ; wer wir in körperlicher
Hinsicht sind, ist schon eine Art von Sein »für« den
anderen, ein Erscheinen auf eine Weise, die wir weder
sehen noch hören können  ; das heißt, wir werden für
andere erreichbar, deren Perspektive wir weder voll-
ständig antizipieren noch kontrollieren können. In die-
sem Sinne bin ich als Körper nicht nur, ja nicht einmal
in erster Linie, für mich, sondern ich finde mich, so-
fern ich mich überhaupt finde, durch die Perspektive
anderer konstituiert und enteignet. Was das politische
Handeln angeht, muss ich also anderen in einer Wei-
se erscheinen, die ich nicht kennen kann, und folglich
wird mein Körper von Perspektiven bestimmt, die ich
nicht einnehmen kann, die aber gewissermaßen mich
einnehmen. Das ist ein entscheidender Punkt, denn es

104
ist nicht so, dass der Körper nur meine eigene Perspek-
tive bestimmt  ; er ist auch das, was diese Perspektive
verschiebt und aus dieser Verschiebung eine Notwen-
digkeit macht. Am deutlichsten zeigt sich das, wenn wir
an Körper denken, die zusammen agieren. Kein einzel-
ner Körper stellt den Erscheinungsraum her  ; sondern
diese Handlung, diese performative Geltendmachung
findet nur »zwischen« Körpern statt, in einem Raum,
der die Lücke zwischen meinem eigenen Körper und
dem eines oder einer anderen konstituiert. Somit han-
delt mein Körper nicht allein, wenn er politisch handelt.
Die Handlung erwächst vielmehr aus dem »Zwischen«,
einer räumlichen Figur für eine Beziehung, die sowohl
verbindet als auch trennt.
Es ist gleichermaßen problematisch wie interessant,
dass der Erscheinungsraum für Arendt nicht nur eine
architektonische Gegebenheit ist  : »Ein Erscheinungs-
raum entsteht, wo immer Menschen handelnd und
sprechend miteinander umgehen  ; als solcher liegt er
vor allen Staatsgründungen und Staatsformen, in die
er jeweils gestaltet und organisiert wird.«7 Mit ande-
ren Worten  : Dieser Erscheinungsraum ist kein Ort, der
von dem pluralen Handeln getrennt werden kann, das
ihn erzeugt  ; er liegt nicht außerhalb der Handlung, die
ihn hervorruft und konstituiert. Wenn wir uns dieser
Sichtweise anschließen wollen, müssen wir jedoch ver-
stehen, wie die handelnde Pluralität selbst konstituiert
wird. Wie bildet sich eine Pluralität und welche mate-
riellen Unterstützungen sind für diese Bildung notwen-
dig  ? Wer tritt in die Pluralität ein, wer nicht, und wie
werden solche Fragen entschieden  ?
Wie beschreiben wir das Handeln und den Status de-
rer, die aus dem Plural ausgegliedert werden  ? Welche
politische Sprache steht uns zur Verfügung, um diese

105
Exklusion und die Formen des Widerstands, welche
die Sphäre der Erscheinung in ihrer gegenwärtigen Be-
grenztheit aufbrechen, zu beschreiben  ? Sind die Men-
schen, die außerhalb der Erscheinungssphäre leben, die
deanimierten »Gegebenheiten« des politischen Lebens  ?
Sind sie bloßes Leben oder nacktes Leben  ? Sollen wir
sagen, dass die Ausgeschlossenen einfach unwirklich
sind, verschwunden, oder dass sie gar kein Sein besit-
zen – sollen wir sie als gesellschaftlich tote und bloß ge-
spensterhafte Wesen theoretisch aufgeben  ? Wenn wir
das tun, übernehmen wir nicht nur die Position eines
bestimmten Regimes der Erscheinung, sondern ratifi-
zieren diese Sichtweise sogar, auch wenn wir uns wün-
schen, sie in Frage zu stellen. Beschreiben solche For-
mulierungen einen Zustand der Verelendung aufgrund
bestehender politischer Regelungen oder wird dieses
Elend unwissentlich durch eine Theorie bestätigt, die
sich die Perspektive derer zu eigen macht, welche die
Sphäre der Erscheinung selbst regulieren und kontrol-
lieren  ?
Es geht um die Frage, ob die Notleidenden außer­
halb von Politik und Macht stehen, oder ob sie nicht
eigentlich in einer spezifischen Form des politischen
Elends leben, die mit spezifischen Formen des politi-
schen Handelns und des Widerstands einhergeht, wel-
che die Überwachung der Grenzen der Erscheinungs-
sphäre selbst offenbaren. Wenn wir sagen, dass die
Notleidenden außerhalb der Sphäre der Politik leben –
herabgesetzt zu entpolitisierten Daseinsformen –, dann
erkennen wir damit implizit die herrschenden Arten
der Festlegung der Grenzen des Politischen als richtig
an. Dies folgt in gewisser Weise aus der Arendt’schen
Position, die bezüglich der Frage, was Politik sein soll-
te, wer Zugang zum öffentlichen Platz haben sollte

106
und wer in der Privatsphäre bleiben sollte, den inneren
Standpunkt der griechischen Polis übernimmt. Solch
eine Sichtweise vernachlässigt und entwertet jene For-
men des politischen Handelns, die gerade in den als vor-
oder außerpolitisch erachteten Bereichen entstehen,
welche in die Erscheinungssphäre wie von außen – als
ihr Äußeres – einbrechen und so die Unterscheidung
zwischen innen und außen durchkreuzen. Denn in Mo-
menten der Revolution oder des Aufstands sind wir
nicht mehr sicher, was als politischer Raum wirksam
ist, ebenso wie wir oft nicht mehr genau sagen können,
in welcher Zeit wir eigentlich leben, weil die etablierten
Regime von Raum und Zeit in einer Weise auf den Kopf
gestellt werden, die ihre Gewalt und ihre kontingenten
Grenzen offenbart. Wir sehen dies, wie bereits erwähnt,
wenn sich illegale Arbeiter / ​innen in den Straßen von
Los Angeles versammeln, um ihr Recht auf Versamm-
lungsfreiheit und ihre Bürgerrechte einzufordern, ohne
dass sie Bürger/innen wären oder ein gesetzmäßig ver-
ankertes Recht dazu hätten. Ihre Arbeit soll notwendig
und im Verborgenen bleiben  ; wenn diese arbeitenden
Körper also auf der Straße auftauchen und sich wie Bür-
ger / ​innen verhalten, erheben sie einen mimetischen An-
spruch auf Staatsbürgerschaft, der nicht nur die Weise
ihres Erscheinens, sondern auch die Wirkungsweise der
Sphäre des Erscheinens verändert. Wenn eine ausgebeu-
tete und arbeitende Klasse auf der Straße erscheint, um
sich zu zeigen und deutlich zu machen, dass sie nicht
damit einverstanden ist, die unsichtbare Bedingung für
das zu sein, was als politisch erscheint, wird die Erschei-
nungssphäre sowohl aktiviert als auch deaktiviert.
Den Anstoß für Giorgio Agambens Begriff des
»nackten Lebens«8 bildet ebenjenes Verständnis der
Polis in Arendts politischer Philosophie, was ihn in

107
meinen Augen problematisch macht. Wenn wir näm-
lich der Exklusion selbst als politisches Problem, als
Teil der Politik selbst Rechnung tragen wollen, dann
reicht es nicht, zu sagen, dass jene Wesen, sobald sie
einmal ausgeschlossen sind, politisch keine Präsenz be-
ziehungsweise keine »Realität« besitzen, dass sie kei-
nen gesellschaftlichen oder politischen Rang haben
oder verstoßen und auf das bloße Sein reduziert wer-
den (als von der Sphäre des Handelns ausgeschlossene
Gegebenheiten). Derartige metaphysische Extravagan-
zen sind nicht nötig, wenn wir uns darauf verständigen,
dass sich die Sphäre des Politischen unter anderem des-
wegen nicht über die klassische Vorstellung der Polis
definieren lässt, weil wir dann keine Sprache für jene
Formen des Handelns und des Widerstands hätten und
verwenden könnten, derer sich die Besitzlosen bedie-
nen. Wer ständig und ohne grundlegenden politischen
Schutz durch Gesetze der Gewalt ausgesetzt ist, steht
deswegen nicht außerhalb des Politischen oder ist sei-
ner Handlungsfähigkeit vollkommen beraubt. Natür-
lich brauchen wir eine Sprache, um den Zustand des in-
akzeptablen Ausgesetztseins zu beschreiben, aber wir
müssen aufpassen, dass die Sprache, die wir verwen-
den, die betreffenden Bevölkerungsgruppen nicht noch
weiter von allen Formen der Handlungsfähigkeit und
des Widerstands, allen Möglichkeiten des Füreinander-
Sorgens oder des Aufbaus von Hilfsnetzwerken aus-
schließt.
Agamben stützt sich zwar auf Foucault, um eine
Vorstellung des Biopolitischen zu artikulieren, doch die
These des »nackten Lebens« bleibt von dieser Vorstel-
lung unberührt. Infolgedessen können wir die Hand-
lungsmodi der Staatenlosen, der Besetzten und der
Entrechteten nicht innerhalb dieses Vokabulars be-

108
schreiben, weil selbst das rechtlose Leben immer noch
der Sphäre des Politischen zugehört und somit nicht auf
das bloße Sein reduziert, sondern in den meisten Fäl-
len wütend, empört, aufgebracht und widerständig ist.
Auch wer außerhalb etablierter und gesetzmäßiger po-
litischer Strukturen steht, ist dennoch von Machtver-
hältnissen durchtränkt, und diese Durchtränkung ist
der Ausgangspunkt einer Theorie des Politischen, die
Formen der Herrschaft und der Unterwerfung ebenso
einschließt wie Modi der Inklusion, der Legitimierung,
der Delegitimierung und der Auslöschung.
Glücklicherweise ist Arendt ihrem Modell aus Vita
activa nicht konsequent gefolgt, weshalb sie sich bei-
spielsweise Anfang der 1960er Jahre wieder dem
Schicksal der Flüchtlinge und Staatenlosen zuwandte
und das Recht, Rechte zu haben, auf eine neue Weise
bekräftigte.9 Das Recht, Rechte zu haben, ist eines, des-
sen Legitimität nicht von einer bestehenden politischen
Organisation abhängt. Wie der Erscheinungsraum geht
es jeder politischen Institution voraus, die dieses Recht
kodifizieren oder garantieren könnte  ; gleichzeitig ist es
aus keiner natürlichen Reihe von Gesetzen abgeleitet.
Das Recht entsteht, wenn von ihm Gebrauch gemacht
wird, wenn es von denen ausgeübt wird, die gemein-
sam und im Bündnis handeln. Menschen, die aus be-
stehenden politischen Systemen ausgeschlossen sind,
die keinem Nationalstaat oder einer anderen zeitgenös-
sischen Staatsform angehören, kann nur für »unwirk-
lich« halten, wer die Bedingungen der Wirklichkeit zu
monopolisieren versucht. Auch diese Menschen han-
deln, sogar nachdem die öffentliche Sphäre durch ihren
Ausschluss definiert worden ist. Ob sie der Prekarität
überlassen oder durch systematische Vernachlässigung
dem Tod ausgeliefert werden – aus ihrem gemeinsamen

109
Handeln entsteht dennoch die konzertierte Aktion.
Und das ist es, was wir sehen, wenn sich beispielswei-
se illegale Arbeiter / ​innen auf der Straße versammeln,
ohne gesetzlich dazu berechtigt zu sein  ; wenn Haus-
besetzer / ​innen in Argentinien Anspruch auf Gebäude
erheben und damit von ihrem Recht auf eine bewohn-
bare Unterkunft Gebrauch machen  ; wenn Teile der Be-
völkerung einen öffentlichen Platz für sich beanspru-
chen, der dem Militär gehörte  ; wenn Flüchtlinge an
kollektiven Aufständen teilnehmen, um Unterkünfte,
Nahrung und ihr Recht auf Asyl einzufordern  ; wenn
sich Volksmassen ohne gesetzlichen Schutz und ohne
Demonstrationsgenehmigung versammeln, um ein un-
gerechtes oder verbrecherisches Rechtsregime zu stür-
zen oder gegen Sparmaßnahmen zu protestieren, die für
viele die Möglichkeit auf Beschäftigung und Bildung
zunichtemachen  ; oder wenn diejenigen, deren bloßes
öffentliches Erscheinen schon kriminell ist – Trans-
Menschen in der Türkei oder Frauen, die den Schleier
tragen, in Frankreich –, eben doch erscheinen, um die-
sen Status der Kriminalität anzufechten und ihr Recht
zu erscheinen geltend zu machen.
Das französische Gesetz, das »ostentative« religiöse
Zurschaustellungen in der Öffentlichkeit ebenso verbie-
tet wie das Verhüllen des Gesichts, will eine öffentliche
Sphäre schaffen, in der Kleidung ein Signifikant des Sä-
kularismus bleibt und die Entblößung des Gesichts zu
einer öffentlichen Norm wird. Das Verbot, sein Ge-
sicht zu verbergen, dient einer bestimmten Version des
Rechts zu erscheinen, insofern es Frauen das Recht gibt,
unverschleiert zu erscheinen. Zugleich spricht es genau
derselben Gruppe von Frauen das Recht zu erscheinen
ab, indem es von ihnen verlangt, religiöse Normen zu
missachten und staatliche zu befolgen. Der geforder-

110
te Akt der Absage an die Religion wird verpflichtend,
wenn die öffentliche Sphäre so verstanden wird, dass sie
religiöse Formen der Zugehörigkeit überwindet oder
negiert. Die in der französischen Debatte vorherrschen-
de Vorstellung, Frauen, die den Schleier tragen, könn-
ten dies unmöglich aus freien Stücken tun, dient dazu,
die eklatanten Diskriminierungen religiöser Minder-
heiten, die das Gesetz bewirkt, sozusagen zu verschlei-
ern. Denn zumindest eine Wahl treffen die Schleier tra-
genden Frauen mit Sicherheit  : sich nicht jenen Formen
der vorgeschriebenen Lossagung zu fügen, die den Zu-
gang zur öffentlichen Sphäre bestimmen. Hier wie an-
derswo wird der Erscheinungsraum in hohem Maße
reguliert. Dass diese Frauen auf eine bestimmte Wei-
se gekleidet sein sollen, konstituiert eine auf Kleidung
bezogene Politik der öffentlichen Sphäre, aber dassel-
be gilt auch für die verbindliche »Entschleierung«, die
selbst ein Zeichen dafür ist, dass man in erster Linie der
staatlichen und erst in zweiter Linie beziehungsweise
im Privaten der religiösen Gemeinschaft angehört. Dies
wird insbesondere in Bezug auf muslimische Frauen
vorgebracht, die verschiedenen aneinander angrenzen-
den oder sich überschneidenden Versionen öffentlicher,
weltlicher und religiöser Bereiche zugehören können.
Und es zeigt sehr deutlich, dass das, was als »öffentliche
Sphäre« bezeichnet wird, in solchen Fällen durch kon-
stitutive Ausschlüsse und verpflichtende Formen der
Verleugnung errichtet wurde. Der Akt der Befolgung
eines Gesetzes, das die Entschleierung verlangt, ist pa-
radoxerweise das Mittel, durch das eine fraglos hoch-
gradig kompromittierte, ja gewaltsame »Freiheit zu er-
scheinen« begründet wird.
Manchmal folgen Demonstrationen auf öffentliche
Trauerakte. Dies war etwa in Syrien häufig der Fall, be-

111
vor die Hälfte der Bevölkerung zu Flüchtlingen wurde  ;
bei diesen Gelegenheiten konnte die trauernde Menge
zum Ziel militärischer Zerstörung werden. Wir können
daran sehen, wie der existierende öffentliche Raum von
denjenigen erobert wird, die eigentlich kein Recht ha-
ben, sich dort zu versammeln, die aus Zonen des Ver-
schwindens auftauchen und aus denen im Zuge ihres
Sich-Versammelns und Beharrens in der Öffentlichkeit
Körper werden, die von Gewalt oder Tod bedroht sind.
Es ist gerade dieses Recht, sich frei von Einschüchte-
rungen und Gewaltandrohungen zu versammeln, das
systematisch von der Polizei, der Armee, bezahlten
Schlägertrupps oder Söldnern angegriffen wird. Der
Angriff auf die Körper kommt einem Angriff auf das
Recht selbst gleich, denn wenn diese Körper erscheinen
und agieren, machen sie von einem Recht außerhalb des
Regimes, gegen das Regime und ihm zum Trotz Ge-
brauch.
Auch wenn die Körper auf der Straße ihren Wider-
spruch gegen die Rechtmäßigkeit des Staates in Worte
fassen, machen sie dadurch, dass sie jenen Raum schutz-
los besetzen und dort ausharren, ihre Ablehnung auch
körperlich deutlich, das heißt, wenn ein Körper im po-
litischen Sinne »spricht«, so tut er das nicht nur münd-
lich oder schriftlich. Das Beharren des Körpers in sei-
nem Ausgesetztsein stellt jene Legitimität in Frage, und
zwar exakt aufgrund einer ganz bestimmten Performa-
tivität des Körpers.10 Handlung und Geste bezeichnen
und sprechen und sie tun dies jeweils sowohl als Hand-
lung als auch als Anspruch  ; das eine lässt sich nicht
endgültig vom anderen trennen. Wo die Rechtmäßig-
keit des Staates genau durch das öffentliche Erscheinen
in Frage gestellt wird, übt der Körper selbst ein Recht
aus, das kein Recht ist, oder anders gesagt  : Er übt ein

112
Recht aus, das aktiv durch Militärgewalt angefochten
und zunichtegemacht wird und das im Widerstand ge-
gen die Gewalt seine Lebensweise artikuliert, indem es
sowohl sein Gefährdetsein als auch sein Recht, fort-
zudauern, zeigt. Dieses Recht ist nirgends kodifiziert.
Es wird nicht von außerhalb oder durch geltende Ge-
setze gewährt, auch wenn es genau von dort manch-
mal Unterstützung erfährt. Es ist das Recht, Rechte zu
haben, und zwar weder als Naturgesetz noch als me-
taphysische Festlegung, sondern als das Beharren des
Körpers gegen die Kräfte, die seine Schwächung oder
Auslöschung anstreben. Dieses Beharren erfordert ein
Eindringen in das bestehende Regime des Raumes mit
einer Reihe mobilisierter wie mobilisierender materiel-
ler Unterstützungen.
Um es deutlich zu machen  : Ich rede nicht von einem
Vitalismus oder einem Lebensrecht an sich. Vielmehr
bin ich der Meinung, dass politische Forderungen von
Körpern aufgestellt werden, während sie erscheinen
und handeln, während sie sich widersetzen und unter
Bedingungen fortbestehen, unter denen allein diese Tat-
sache den Staat schon zu delegitimieren droht. So sehr
Körper politischen Mächten ausgesetzt sind, so sehr
reagieren sie auch auf ihr Ausgesetztsein, außer in den
Fällen, in denen die Bedingungen der Reaktionsfähig-
keit selbst dezimiert wurden. Ich habe zwar keinerlei
Zweifel, dass es möglich ist, die Reaktionsfähigkeit in
einem anderen Menschen abzutöten, aber ich wäre vor-
sichtig, diese Figur der vollständigen Dezimierung zur
Beschreibung des Kampfes der Besitzlosen heranzuzie-
hen. Obwohl es immer möglich ist, sich in der anderen
Richtung zu irren, wenn man behauptet, wo Macht sei,
da sei auch Widerstand, wäre es ein Fehler, die Möglich-
keit zurückzuweisen, dass die Macht nicht immer ge-

113
mäß ihren Zielen wirkt und dass tief sitzende Formen
der Ablehnung in folgenreichen kollektiven Formen
hervorbrechen. In diesen Fällen sind die Körper selbst
Vektoren der Macht, deren Kraftrichtung sich umkeh-
ren lässt  ; sie sind verkörperte Interpretationen, die im
Bündnis agieren, um Stärke mit einer anderen Art und
Qualität von Stärke zu begegnen. Einerseits sind diese
Körper produktiv und performativ  ; andererseits kön-
nen sie nur bestehen und agieren, wenn sie unterstützt
werden  : durch Umwelten, durch Nahrung, durch Ar-
beit, durch Formen der Sozialität und Zugehörigkeit.
Und wenn diese Dinge wegfallen und die Prekarität
zum Vorschein kommt, werden sie auf eine andere Art
mobilisiert, greifen nach den existierenden Unterstüt-
zungen, um geltend zu machen, dass es kein verkör-
pertes Leben ohne soziale und institutionelle Unter-
stützung geben kann, ohne dauerhafte Beschäftigung,
ohne Netzwerke der wechselseitigen Abhängigkeit und
Fürsorge, ohne kollektive Rechte auf Obdach und Mo-
bilität. Sie streiten nicht nur für die Idee der sozialen
Unterstützung und der Gewährung von politischen
Rechten, sondern ihr Kampf ist eine eigene Sozialform.
So beginnt im Idealfall eine Allianz damit, die Gesell-
schaftsordnung zu inszenieren, die sie durchsetzen will,
indem sie ihre eigenen Formen der Soziabilität etabliert.
Eine solche Allianz darf man jedoch nicht auf eine An-
sammlung von Individuen reduzieren und es sind auch
streng genommen nicht Individuen, die hier handeln.
Handeln im Bündnis ereignet sich darüber hinaus exakt
zwischen denen, die teilnehmen, und dies ist kein ide-
eller oder leerer Raum. Dieses Zwischen ist der Raum
der Sozialität und der Unterstützung, des Konstituiert-
seins in einer Sozialität, die nie auf den eigenen Stand-
punkt oder auf das Abhängigsein von Strukturen redu-

114
zierbar ist, ohne die es kein dauerhaftes und lebbares
Leben gibt.
Viele der Massendemonstrationen und Widerstands-
formen, die wir in den letzten Monaten beobachten
konnten, erzeugen nicht nur einen Erscheinungsraum  ;
sie bemächtigen sich eines bereits etablierten und von
der bestehenden Macht durchdrungenen Raumes und
versuchen, die Beziehungen zwischen dem öffentlichen
Raum, dem öffentlichen Platz und dem bestehenden
Regime zu durchtrennen. So werden die Grenzen des
Politischen offenbart und die Verknüpfung zwischen
dem Theater der Legitimität und dem öffentlichen
Raum wird aufgelöst  ; dieses Theater ist nicht länger
unproblematisch im öffentlichen Raum zuhause, weil
sich der öffentliche Raum nun inmitten einer anderen
Aktion befindet, die wiederum die Macht, die ihre Le-
gitimität beansprucht, genau dadurch verschiebt, dass
sie das Feld ihrer Wirkung übernimmt. Einfach aus-
gedrückt, verlegen die Körper auf der Straße den Er-
scheinungsraum, um die bestehenden Formen politi-
scher Legitimität anzugreifen und zu negieren – und
ebenso wie sie den öffentlichen Raum manchmal füllen
oder übernehmen, wirkt die materielle Geschichte jener
Strukturen auch auf sie, wird selbst zu einem Teil ihrer
Aktion, so dass die Geschichte inmitten ihrer konkre-
testen und sedimentiertesten Artefakte neu geschrieben
wird. Es sind unterworfene und ermächtigte Akteure,
die versuchen einem bestehenden Staatsapparat, der für
seine theatralische Selbstkonstitution auf die Regulie-
rung des öffentlichen Erscheinungsraumes angewie-
sen ist, die Legitimität zu entreißen. Mit dem Entrei-
ßen jener Macht wird ein neuer Raum geschaffen, ein
neues »Zwischen« der Körper, wenn man so will, das
durch die Aktion einer neuen Allianz Anspruch auf den

115
existierenden Raum erhebt, und im Vollzug ebenjener
Handlungen, mit denen die Körper die Bedeutung der
existierenden Räume zurückfordern und neu bestim-
men, werden sie von diesen ergriffen und belebt.
Ein solcher Kampf greift in die räumliche Organi-
sation der Macht ein, zu der auch die Zuteilung und
Beschränkung räumlicher Standorte gehört, in denen
und durch die Bevölkerungsgruppen erscheinen kön-
nen, und damit auch die räumliche Regulierung, wann
und wie der »Wille des Volkes« erscheinen kann. Die-
se Sicht der räumlichen Beschränkung und Zuteilung
mit Blick darauf, wer erscheinen darf – wer also effek-
tiv ein Subjekt des Erscheinens werden darf –, geht von
einer Funktionsweise der Macht aus, die sowohl durch
Ausschluss als auch durch differenzielle Zuteilung
wirkt.
Was bedeutet es nun also, innerhalb der aktuellen
Politik zu erscheinen, und können wir uns dieser Frage
überhaupt ohne Rückgriff auf die Medien zuwenden  ?
Wenn wir uns überlegen, was es heißt, zu erscheinen,
kommen wir zu dem Schluss, dass wir jemandem er-
scheinen und dass unsere Erscheinung von den Sinnen
registriert werden muss, nicht nur den eigenen, son-
dern auch von denen anderer. Wenn wir erscheinen,
müssen wir gesehen werden, das heißt, unsere Kör-
per müssen betrachtet und die von ihnen geäußerten
Töne müssen gehört werden  : Der Körper muss in das
visuelle und akustische Feld eintreten. Aber handelt es
sich nicht notwendigerweise um einen arbeitenden und
einen sexuellen ebenso wie einen in irgendeiner Weise
geschlechtlich und ethnisch bestimmten Körper  ? Hier
stößt Arendts Sichtweise eindeutig an ihre Grenzen,
denn der Körper ist selbst geteilt in einen, der öffent-
lich erscheint, spricht und handelt, und einen anderen,

116
sexuellen, arbeitenden, weiblichen, fremden und stum-
men Körper, der im Allgemeinen in die private und vor-
politische Sphäre verwiesen wird. Genau diese Art der
Arbeitsteilung wird in Frage gestellt, wenn gefährdete
Leben sich auf der Straße versammeln, das heißt Alli-
anzen bilden, die um einen Erscheinungsraum kämp-
fen müssen. Wenn ein Bereich des körperlichen Lebens
als abgesonderte oder verleugnete Bedingung für die
Sphäre der Erscheinung fungiert, wird er zur struktu-
rierenden Abwesenheit, welche die öffentliche Sphäre
beherrscht und ermöglicht.
Sind wir lebende Organismen, die sprechen und han-
deln, so stehen wir zweifellos in Beziehung zu einem
riesigen Kontinuum oder Netzwerk lebender Wesen  ;
wir leben nicht nur unter ihnen, sondern unser Fort-
bestand als lebendige Organismen ist von dieser Matrix
wechselseitiger Beziehungen abhängig. Unser Sprechen
und Handeln macht uns aber auch zu etwas anderem,
von den anderen Lebewesen Getrenntem. Wir müs-
sen gar nicht wissen, was das spezifisch Menschliche
am politischen Handeln ist, sondern letztlich nur er-
kennen, wie der Eintritt des verleugneten Körpers in
die politische Sphäre zugleich die essenzielle Verbin-
dung zwischen Menschen und anderen Lebewesen
herstellt. Der private Körper bedingt den öffentlichen
somit nicht nur in Theorien wie der Arendt’schen,
sondern auch in politischen Organisationen des Rau-
mes, die in vielen Formen andauern (und die in ih-
rer Theorie in gewissem Sinne naturalisiert werden).
Und auch wenn der öffentliche und der private Kör-
per nicht völlig verschieden voneinander sind (Kör-
per im Privaten »zeigen« sich manchmal in der Öffent-
lichkeit und jeder öffentliche Körper hat seine privaten
Momente), ist diese Aufspaltung entscheidend, um die

117
Unterscheidung von öffentlich und privat und ihre
Modi der Verleugnung und Entrechtung aufrechtzuer­
halten.
Vielleicht ist es eine Art Fantasievorstellung, dass
eine Dimension des körperlichen Lebens unsichtbar
bleiben kann und muss, während eine andere, vollkom-
men verschiedene in der Öffentlichkeit erscheint. Gibt
es keine Spur des Biologischen in der Sphäre der Er-
scheinung  ? Könnten wir nicht mit Bruno Latour und
Isabelle Stengers argumentieren, dass das Aushandeln
der Erscheinungssphäre im Grunde eine biologische
Aufgabe ist und zu den investigativen Fähigkeiten des
Organismus gehört  ? Es gibt schließlich keine Möglich-
keit, sich in einer Umwelt zurechtzufinden oder Nah-
rung zu beschaffen, ohne körperlich in der Welt zu
erscheinen, und vor der Verwundbarkeit und der Mo-
bilität, die das Erscheinen in der Welt mit sich bringt,
gibt es kein Entrinnen, was die vielen Formen der Tar-
nung und des Selbstschutzes im Tierreich erklärt. Ist
das Erscheinen also, anders gefragt, nicht ein notwen-
dig morphologisches Moment, insofern der Körper das
Erscheinen nicht nur riskiert, um zu sprechen und zu
handeln, sondern auch um zu leiden und sich zu bewe-
gen, um andere Körper einzubeziehen, um eine Um-
welt zu meistern, von der man abhängig ist, um eine
gesellschaftliche Organisation zur Befriedigung von
Bedürfnissen aufzubauen  ? Tatsächlich kann der Kör-
per in einer Art und Weise erscheinen und etwas zum
Ausdruck bringen, die der Art, wie er spricht, oder so-
gar dem Sprechen als seinem paradigmatischen Fall zu-
widerläuft. Könnten wir Handlungen, Gesten, Stille,
Berührungen und gemeinsame Bewegungen noch ver-
stehen, wenn sie sich alle auf die Äußerung von Gedan-
ken durch Sprache reduzieren ließen  ?

118
Selbst innerhalb jener problematischen Arbeits-
teilung hängt der Akt des öffentlichen Sprechens von
einer Dimension des körperlichen Lebens ab, die gege-
ben, passiv, opak und damit von der üblichen Defini-
tion des Politischen ausgeschlossen ist. Wir können da-
her fragen  : Welche Regelung hält den gegebenen oder
passiven Körper davon ab, in den aktiven Körper über-
zugehen  ? Handelt es sich um zwei verschiedene Kör-
per und, wenn ja, welche Politik ist notwendig, um sie
auseinanderzuhalten  ? Sind es zwei unterschiedliche
Dimensionen desselben Körpers oder ist es die Wir-
kung einer bestimmten Regulierung der körperlichen
Erscheinung, die von neuen sozialen Bewegungen,
Kämpfen gegen sexuelle Gewalt, für Fortpflanzungs-
freiheit, gegen Prekarität und für Bewegungsfreiheit ak-
tiv angefochten wird  ? Wir sehen hier, dass eine gewisse
topografische oder sogar architektonische Regulierung
des Körpers auf der Ebene der Theorie stattfindet. Be-
zeichnenderweise ist es genau diese Wirkungsweise der
Macht – der Ausschluss oder die differenzielle Bewil-
ligung, ob und wie der Körper erscheinen darf –, die in
Arendts ausführlicher Darstellung des Politischen fehlt.
Im Grunde beruht diese Darstellung sogar auf ebendie-
ser Wirkungsweise der Macht, die sie gar nicht als Be-
standteil der Politik in Betracht zieht.
Worin ich Arendt zustimme, ist dies  : Freiheit kommt
nicht aus mir oder aus dir  ; sie entsteht als eine Bezie-
hung zwischen oder eigentlich unter uns. Es geht also
nicht darum, die menschliche Würde in einer einzelnen
Person zu finden, sondern vielmehr darum, den Men-
schen als ein relationales und soziales Wesen zu begrei-
fen, dessen Handeln auf Gleichheit angewiesen ist und
den Gleichheitsgrundsatz artikuliert. Tatsächlich gibt
es für Arendt keinen Menschen, wenn es keine Gleich-

119
heit gibt. Kein Mensch kann alleine menschlich sein.
Und kein Mensch kann menschlich sein, ohne mit an-
deren gemeinsam und unter den Voraussetzungen der
Gleichheit zu handeln. Ich würde dem noch Folgen-
des hinzufügen  : Der Gleichheitsanspruch wird nicht
nur mündlich oder schriftlich geäußert, sondern genau
in dem Moment gestellt, in dem Körper zusammen er-
scheinen oder vielmehr, wenn sie durch ihr Handeln
den Erscheinungsraum ins Leben rufen. Dieser Raum
ist ein Merkmal und ein Effekt des Handelns und er
wirkt Arendt zufolge nur, wenn Gleichheitsverhältnis-
se aufrechterhalten werden.
Es gibt natürlich viele Gründe, misstrauisch gegen-
über idealisierten Momenten zu sein, jedoch spricht
auch einiges dafür, Analysen, die sich gegen Idealisie-
rungen vollkommen abschotten, mit Vorsicht zu be-
gegnen. Im Zusammenhang mit den revolutionären
Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz gibt es zwei
Aspekte, die ich gerne hervorheben möchte. Der ers-
te hat damit zu tun, wie auf dem Platz eine bestimmte
Soziabilität hergestellt wurde, eine Arbeitsteilung, die
Geschlechterdifferenzen überwand und zu der auch
gehörte, dass abgewechselt wurde – nicht nur bei den
Reden, sondern auch beim Aufräumen und Putzen der
Bereiche, wo die Leute schliefen und aßen, indem ein
allgemeiner Arbeitsplan entwickelt wurde, um die Um-
gebung zu schonen und die Toiletten sauber zu halten.
Kurz, das, was einige als »horizontale Beziehungen«
unter den Protestierenden bezeichnen würden, bil-
dete sich mühelos und planmäßig  : Allianzen, die sich
bemühten, Gleichheit zu verkörpern, was die Gleich-
verteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern
einschloss – all das wurde zum wesentlichen Bestandteil
des Widerstands gegen das Mubarak-Regime und des-

120
sen starre Hierarchien, einschließlich der außerordent-
lichen Vermögensunterschiede zwischen dem Militär
und privatwirtschaftlichen Unterstützern des Regimes
einerseits und der arbeitenden Bevölkerung anderer-
seits. Die soziale Form des Widerstands begann somit,
Gleichheitsgrundsätze zu inkorporieren, die nicht nur
regelten, wie und wann jemand mit den Medien und
gegen das Regime sprach und handelte, sondern auch,
wie sich die Menschen um die verschiedenen Ecken
und Viertel des Platzes kümmerten, um die Betten auf
der Straße, die behelfsmäßigen Krankenstationen und
Waschräume, die Orte, an denen Menschen aßen, und
die Orte, an denen sie Gewalt von außerhalb ausgesetzt
waren. Wir reden hier nicht nur über heroische Taten,
die enorme physische Anstrengungen und große po-
litische Überzeugungskraft erforderten. Manchmal
bestand die eloquenteste politische Äußerung darin,
einfach dort, auf dem Platz zu schlafen – und auch dies
muss als Aktion gewertet werden. Alle diese Handlun-
gen waren in dem einfachen Sinne politisch, dass sie
eine konventionelle Unterscheidung zwischen öffent-
lich und privat überwanden, um neue Beziehungen der
Gleichheit zu etablieren  ; sie nahmen damit in die Sozi-
alform des Widerstands selbst die Grundsätze auf, für
deren Verwirklichung in allgemeineren politischen For-
men sie kämpften.
Der zweite Aspekt ist, dass viele Menschen, die sich
gewaltsamen Angriffen oder extremer Bedrohung aus-
gesetzt sahen, in der ersten ägyptischen Revolution von
2011 das Wort silmiyya skandierten  ; es leitet sich von
dem Verb salima ab, das so viel bedeutet wie »wohl-
behalten, unversehrt, heil, unbeschädigt, intakt sein«,
aber auch »einwandfrei sein  ; gesichert sein, klar erwie-
sen sein (Tatsache)«.11 Das Nomen dazu ist silm, was

121
»Frieden« bedeutet, aber bezeichnenderweise auch »die
Religion des Islam« bezeichnen kann. Eine Variante des
Wortes ist hubb as-silm, der arabische Begriff für »Pa-
zifismus«. In den meisten Fällen wirkt der Sprechchor
silmiyya als sanfte Ermahnung  : »Friedlich, friedlich.«
Auch wenn die Revolution größtenteils gewaltfrei ver-
lief, wurde sie nicht unbedingt von erklärten Gewalt-
gegnern angeführt. Der Sprechchor sollte eher dazu
ermutigen, dem mimetischen Sog der militärischen Ag-
gression – und der Aggression der Banden – zu wider-
stehen, indem man sich das größere Ziel vor Augen
hielt  : den radikalen demokratischen Wandel. Sich dem
Gewaltaustausch des Augenblicks hinzugeben hätte
bedeutet, die Geduld zu verlieren, die zur Realisierung
der Revolution notwendig war. Was mich daran interes-
siert, ist der Sprechchor, bei dem die Sprache nicht dazu
benutzt wurde, eine Handlung anzustacheln, sondern
sie zurückzuhalten  ; er steht damit für eine Zurückhal-
tung im Namen einer entstehenden Gemeinschaft von
Gleichen, deren primäre politische Strategie nicht die
Gewalt ist.
Es liegt auf der Hand, dass jede der Versammlun-
gen und Demonstrationen, die den Regimewechsel in
Ägypten herbeiführten, darauf angewiesen war, dass
die Medien ein Gefühl des öffentlichen Platzes und des
Erscheinungsraumes erzeugten. Jedes provisorische
Beispiel von »öffentlicher Platz« hat seinen Ort und es
ist übertragbar  ; tatsächlich scheint es von Anfang an
übertragbar gewesen zu sein, wenn auch nie vollstän-
dig. Und natürlich können wir uns die Übertragbarkeit
jener Körper auf dem Platz nicht ohne die Medien vor-
stellen. Die Medienbilder aus Tunesien ebneten gewis-
sermaßen den Weg für die ersten Medienereignisse auf
dem Tahrir-Platz sowie die darauf folgenden im Jemen,

122
in Bahrain, Syrien und Libyen, die alle unterschied-
liche Verläufe nahmen und immer noch nehmen. Viele
öffentliche Demonstrationen der letzten Jahre richte-
ten sich nicht gegen Militärdiktaturen oder tyrannische
Regime, und viele von ihnen brachten neue staatliche
Strukturen oder kriegsähnliche Zustände hervor, die
mindestens so problematisch sind wie die, die sie er-
setzten. Doch bei einigen der Demonstrationen, die auf
jene Aufstände folgten, insbesondere denjenigen, die
sich gegen die bedingte Prekarität richteten, wandten
sich die Teilnehmer ausdrücklich gegen Monopolkapi-
talismus, Neoliberalismus und die Unterdrückung po-
litischer Rechte, und sie taten dies im Namen all derer,
denen die neoliberalen Reformen – die darauf aus sind,
Formen der Sozialdemokratie und des Sozialismus zu
demontieren, Arbeitsplätze zu streichen, Teile der Be-
völkerung der Armut auszusetzen und die Grundrechte
auf öffentliche Bildung und Obdach zu untergraben –
den Boden unter den Füßen wegziehen.
Die Szenen auf den Straßen können nur dann eine
politische Wirkung entfalten, wenn sie uns live oder
ohne größeren Zeitabstand als Bilder oder Töne über-
mittelt werden  ; die Medien berichten also nicht nur
über die Szenen, sondern sind selbst Teil des Gesche-
hens  ; man kann sogar sagen, die Medien sind der Schau-
platz oder Raum in seiner erweiterten und wiederhol-
baren visuellen und akustischen Dimension. Dies kann
man zum einen einfach so erklären, dass die Medien die
Szene visuell und akustisch ausdehnen und an ihrer Ab-
grenzung und Übertragbarkeit mitwirken. Anders ge-
sagt  : Die Medien konstituieren die Szene in einer Zeit
und an einem Ort, die über deren lokales Auftreten hi-
nausgehen. Obwohl der Schauplatz zweifellos und aus-
drücklich lokal ist, haben die Nichtanwesenden das Ge-

123
fühl, durch die Bilder und Töne, die sie empfangen, eine
Art direkten Zugang zu haben. Doch auch wenn dies
so ist, wissen sie nicht, wie die Szenen geschnitten sind,
welche ausgewählt und übertragen wurden und welche
Szenen beständig nicht im Bild sind. Wird die Szene
übertragen, ist sie sowohl dort als auch hier, und würde
sie nicht beide Orte umspannen – viele Orte, um genau
zu sein –, so wäre sie nicht die Szene, die sie ist. Ihre
Lokalität wird dadurch, dass sie über sich selbst hinaus
kommuniziert und damit weltweit medial konstituiert
wird, nicht in Abrede gestellt  ; sie hängt von dieser Ver-
mittlung ab, um als das Ereignis stattfinden zu können,
das sie ist. Folglich muss das Lokale außerhalb seiner
selbst neu geschaffen werden, um als Lokales gelten zu
können  ; das heißt, nur durch globalisierende Medien
lässt sich das Lokale ermitteln und nur durch diese kann
dort wirklich etwas geschehen. Vieles findet natürlich
außerhalb dessen, was die Kamera oder andere digitale
Mediengeräte einfangen, statt, und die Medien können
Zensur ebenso leicht ausüben, wie sie ihr entgegenwir-
ken können. Viele lokale Ereignisse werden nie auf-
gezeichnet und gesendet, wofür auch wichtige Gründe
sprechen. Wenn ein Ereignis jedoch verbreitet wird und
es schafft, weltweite Empörung und Druck zu erzeugen
und aufrechtzuerhalten, wozu auch die Macht gehört,
Märkte zum Erliegen zu bringen oder für den Abbruch
diplomatischer Beziehungen zu sorgen, dann muss das
Lokale in einem Kreislauf, der über es hinausgeht, im-
mer wieder neu hergestellt werden.
Etwas Ortsgebundenes bleibt jedoch, das nicht auf
diese Weise verbreitet werden kann und wird  ; und die
Szene wäre nicht dieselbe, wenn wir nicht verstehen
würden, dass hier Menschen in Gefahr sind und dass es
genau die Körper auf der Straße sind, die das Risiko tra-

124
gen. So wie sie einerseits entrückt werden, müssen sie
natürlich andererseits vor Ort bleiben, um die Kamera
oder das Handy zu halten, Auge in Auge mit denen, de-
nen sie entgegentreten, ungeschützt, verwundbar, ver-
wundet, beharrlich, wenn nicht aufständisch. Es ist von
Bedeutung, dass diese Körper Handys dabeihaben, mit
denen sie Nachrichten und Bilder versenden  ; wenn sie
angegriffen werden, hat dies häufig mit der Kamera oder
dem Aufzeichnungsgerät zu tun. Der Angriff kann ein
Versuch sein, die Kamera und ihre / ​n Besitzer / ​in außer
Gefecht zu setzen, er kann aber auch ein Schauspiel für
die Medien sein, das als Warnung oder Drohung insze-
niert wird  ; oder er ist ein Mittel, um jede weitere Or-
ganisationsmöglichkeit zu unterbinden. Lässt sich das
Handeln des Körpers von der Technologie trennen und
hilft diese nicht, neue Formen des politischen Handelns
zu etablieren  ? Und wenn jene Körper zur Zielscheibe
von Zensur und Gewalt werden, richtet sich diese dann
nicht auch gegen den Zugang zu Medien, um so die he-
gemoniale Kontrolle darüber zu erlangen, welche Bil-
der verbreitet werden und welche nicht  ?
Die vorherrschenden Medien sind natürlich im Be-
sitz von Firmen, die ihre eigenen Arten der Zensur und
der Aufstachelung praktizieren. Dennoch scheint es
nach wie vor wichtig zu betonen, dass die Freiheit der
Medien, von diesen Stätten zu senden, ein Gebrauch
der Freiheit schlechthin und damit eine Form der Aus-
übung von Rechten ist, besonders wenn es sich um ro-
gue media handelt, die von der Straße kommen, die
Zensur unterlaufen und wo die Aktivierung des Geräts
selbst Teil der körperlichen Aktion ist. Das ist zwei-
fellos der Grund, warum sich sowohl Husni Mubarak
als auch David Cameron im Abstand von acht Mona-
ten für die Zensur von Social-Media-Netzwerken aus-

125
gesprochen haben. Wenigstens in einigen Fällen berich-
ten die Medien nicht nur über soziale und politische
Bewegungen, die auf verschiedene Weise Freiheit und
Gerechtigkeit fordern, sie üben auch eine der Freihei-
ten aus, für die diese Bewegungen kämpfen. Ich will da-
mit nicht etwa behaupten, alle Medien seien am Kampf
um politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit betei-
ligt (wir wissen natürlich, dass sie es nicht sind). Es ist
fraglos wichtig, von wem die globale Berichterstattung
stammt und wie sie erfolgt. Worum es mir geht, ist, dass
private Mediengeräte manchmal genau in dem Moment
global werden, in dem sie die Zensur von Berichten
über Proteste überwinden und auf diese Weise zum Teil
des Protests selbst werden.
Was Körper auf der Straße tun, wenn sie demonstrie-
ren, hängt fundamental damit zusammen, was Kom-
munikationsgeräte und -technologien tun, wenn sie
über das Geschehen auf der Straße »berichten«. Ihre
Handlungen sind verschieden, aber beide erfordern
den Körper. Die eine Ausübung der Freiheit ist mit der
anderen verknüpft, das heißt, es handelt sich in bei-
den Fällen um die Ausübung von Rechten und beide
erzeugen gemeinsam einen Erscheinungsraum und si-
chern dessen Übertragbarkeit. Einige würden vielleicht
darauf wetten, dass die Ausübung von Rechten aktuell
eher auf Kosten der Körper auf der Straße geschieht,
weil Twitter und andere virtuelle Technologien zu einer
Entkörperlichung der öffentlichen Sphäre geführt hät-
ten  ; ich würde dem jedoch in Teilen widersprechen.
Wir müssen uns die Wichtigkeit von »tragbaren« Medi-
en vor Augen halten, von Handys, die »hochgehalten«
werden und eine Art Gegenüberwachung militärischer
und polizeilicher Aktionen schaffen. Die Medien brau-
chen die Körper auf der Straße, um ein Ereignis zu ha-

126
ben, ebenso wie die Körper die Medien brauchen, um
in der globalen Arena zu existieren. Wenn allerdings
Bedingungen herrschen, unter denen Kamera-Besit-
zer / ​innen oder Internet-Aktivist / ​innen eingesperrt,
gefoltert oder deportiert werden, hat die Nutzung der
Technologie ganz entscheidend mit dem Körper zu tun.
Es ist nicht nur eine Hand nötig, die etwas tippt und
versendet, es ist auch ein Körper in Gefahr, wenn dieses
Tippen und Versenden nachverfolgt wird. Mit anderen
Worten  : Durch die Verwendung von Medien, die po-
tenziell weltweit senden, wird die Lokalisation kaum
überwunden. Und insofern dieses Zusammentreffen
von Straße und Medien eine sehr zeitgenössische Ver-
sion der öffentlichen Sphäre konstituiert, muss man
sich vorstellen, dass Körper in Gefahr sowohl hier und
da, jetzt und zu einem anderen Zeitpunkt, entrückt und
ortsgebunden sind, und dass aus diesen beiden Modali-
täten von Raum und Zeit jeweils sehr unterschiedliche
politische Konsequenzen folgen.
Es ist von Bedeutung, wenn öffentliche Plätze prall
gefüllt mit Menschen sind, wenn Menschen dort essen
und schlafen, singen und sich weigern, diesen Raum
aufzugeben, wie wir es bei den ersten Versammlun-
gen auf dem Tahrir-Platz sehen konnten und in ande-
ren Teilen der Welt weiterhin sehen. Es ist ebenfalls
von Bedeutung, dass es Gebäude von Bildungseinrich-
tungen waren, die in Athen, London und Berkeley ok-
kupiert wurden. Bei der Besetzung von Gebäuden auf
dem Campus von Berkeley wurden als Reaktion Buß-
gelder wegen Hausfriedensbruch verhängt. In einigen
Fällen wurden Studierende der Zerstörung von Privat-
eigentum beschuldigt. Doch genau diese Behauptun-
gen warfen die Frage auf, ob die Universität öffentlich
oder privat ist. Das erklärte Ziel des Protests der Stu-

127
dierenden – das Gebäude zu besetzen und sich dort-
hin zurückzuziehen – war eine Möglichkeit, sich eine
Plattform zu schaffen, ja die materiellen Voraussetzun-
gen für das Erscheinen in der Öffentlichkeit zu sichern.
Derartige Aktionen finden in der Regel nicht statt,
wenn bereits effektive Plattformen zur Verfügung ste-
hen. Die Studierenden dort, aber auch in noch jüngerer
Zeit in Großbritannien, besetzten Gebäude, um damit
ihren Anspruch auf Einrichtungen geltend zu machen,
die eigentlich – jetzt und in Zukunft – zur öffentlichen
Bildung gehören sollten. Das bedeutet nicht, dass jede
dieser Art von Hausbesetzungen gerechtfertigt ist, wir
sollten uns aber darüber im Klaren sein, worum es hier
geht  : Die symbolische Bedeutung der Besetzung die-
ser Gebäude ist, dass sie der Öffentlichkeit, dem öffent-
lichen Bildungswesen gehören, und es ist gerade der
Zugang zu diesem Bildungswesen, der durch die Er-
höhung von Studiengebühren und Haushaltskürzun-
gen untergraben wird. Es sollte uns nicht überraschen,
dass sich der Protest in Form von Hausbesetzungen
äußerte und so der Anspruch auf Bildung performa-
tiv geltend gemacht wurde, indem man darauf bestand,
buchstäblich Zugang zu den Gebäuden des öffentlichen
Bildungswesens zu erlangen, und zwar genau in dem
historischen Moment, da dieser Zugang versperrt wird.
Mit anderen Worten, diese Aktionen gegen die Institu-
tionalisierung ungerechter und ausschließender Macht-
formen werden von keinem positiven Recht legitimiert.
Können wir also sagen, dass es sich bei diesen Aktionen
dennoch um die Ausübung eines Rechtes handelt, eine
gesetzlose Ausübung, die genau dann erfolgt, wenn das
Recht falsch oder gescheitert ist  ?
Der Körper auf der Straße persistiert, aber er sucht
auch nach Bedingungen für seinen Erhalt. Diese Bedin-

128
gungen sind unweigerlich sozial und erfordern eine ra-
dikale Neuorganisation des Gesellschaftslebens für die-
jenigen, die ihre Existenz als gefährdet erleben. Wenn
wir nach gründlicher Überlegung zu dem Schluss kom-
men, dass wir zum Erhalt des Lebens in irgendeiner
Form verpflichtet sind, so hat dieses zu erhaltende Le-
ben eine leibliche Gestalt. Umgekehrt heißt das, dass
das Leben des Körpers – sein Hunger, sein Bedürfnis
nach Obdach und Schutz vor Gewalt – zu einem zen-
tralen Thema der Politik wird. Selbst die am stärksten
vorgegebenen, nicht selbst gewählten Merkmale unse-
res Lebens sind nicht einfach gegeben  ; sie sind in einer
Geschichte und einer Sprache gegeben, strukturiert von
Machtvektoren, die sich niemand von uns ausgesucht
hat. Ebenso wahr ist, dass eine gegebene Eigenschaft
unseres Körpers oder eine Menge von Definitions-
merkmalen vom dauerhaften Fortbestand des Körpers
abhängt. Jene sozialen Kategorien, die wir nicht selbst
gewählt haben, durchziehen den gegebenen Körper
auf bestimmte Weisen  ; die Kategorie Gender bezeich-
net zum Beispiel dieses Durchziehen ebenso wie sei-
ne Transformationen. Insofern sind diese äußerst drän-
genden und größtenteils unfreiwilligen Dimensionen
unseres Lebens – Hunger, das Bedürfnis nach Obdach,
medizinischer Versorgung und Schutz vor natürlicher
oder von Menschen verübter Gewalt – von zentraler
Bedeutung für die Politik. Wir können nicht von dem
eng umschlossenen und gut versorgten Raum der Polis
ausgehen, in dem alle materiellen Bedürfnisse irgend-
wie von außerhalb von Wesen gestillt werden, denen
aufgrund ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Herkunft
oder ihres Status keine öffentliche Anerkennung zu-
teilwerden kann. Vielmehr müssen wir die dringenden
materiellen Bedürfnisse des Körpers nicht nur auf die

129
Straßen und Plätze tragen, sondern sie auch zu zentra-
len politischen Forderungen machen. In meinen Augen
wird unser politisches Leben von einer gemeinsamen
Bedingung der Prekarität bestimmt, auch wenn die Pre-
karität differenziell verteilt ist. Und einige von uns sind,
wie Ruth Gilmore sehr deutlich gezeigt hat, in sehr viel
stärkerem Maße als andere gefährdet, verletzt zu wer-
den oder vorzeitig zu sterben.12 So lassen sich etwa an
Statistiken zur Kindersterblichkeit sehr genau ethnische
Unterschiede ablesen. Kurz gesagt bedeutet das, dass
die Prekarität ungleich verteilt ist und dass Leben nicht
in gleichem Maße als betrauerbar oder wertvoll angese-
hen werden. Wenn, wie Adriana Cavarero nahelegt, das
Ausgesetztsein unserer Körper im öffentlichen Raum
uns fundamental konstituiert und unser Denken zu
einem sozialen und verkörperten, verwundbaren und
leidenschaftlichen macht, dann führt unser Denken zu
nichts, wenn es nicht genau diese leibliche Interdepen-
denz und Verflechtung voraussetzt. Der Körper wird
durch Perspektiven konstituiert, die er nicht einnehmen
kann  ; eine andere Person sieht unser Gesicht und hört
unsere Stimme in einer Weise, wie wir es nicht können.
Wir sind in diesem Sinne – körperlich – immer schon
dort und doch hier, und diese Enteignung kennzeichnet
die Sozialität, zu der wir gehören. Wir sind ortsgebun-
dene Wesen und doch immer woanders, konstituiert in
einer Sozialität, die über uns hinausgeht. Dadurch ent-
steht unser Ausgesetztsein, unser Gefährdetsein, unser
Angewiesensein auf politische und gesellschaftliche In-
stitutionen, um fortbestehen zu können.

Wenden wir uns noch einmal den Demonstrationen zu,


bei denen die Menschen singen und reden, aber auch
medizinische Versorgung und provisorische Sozial-

130
dienste auf die Beine stellen  : Können wir die Stimm-
äußerungen des Körpers von jenen anderen Ausdrü-
cken materieller Not und Dringlichkeit unterscheiden  ?
In den Fällen, in denen die Demonstrierenden schließ-
lich auf dem öffentlichen Platz aßen und schliefen, Toi-
letten bauten und verschiedene Systeme zur gemein-
samen Nutzung des Raumes einrichteten, weigerten
sie sich damit nicht nur, zu verschwinden, nach Hause
zu gehen oder zuhause zu bleiben, und sie reklamier-
ten nicht nur den öffentlichen Bereich für sich – indem
sie gemeinsam unter egalitären Bedingungen agierten –,
sondern sie behaupteten sich auch als persistierende
Körper mit Bedürfnissen, Wünschen und Forderun-
gen  ; all das lässt sich mit und gegen Arendt interpre-
tieren, denn diese Körper, die ihre Grundbedürfnisse in
der Öffentlichkeit organisierten, richteten damit ja auch
die Bitte an die Welt, wahrzunehmen, was dort geschah,
ihre Unterstützung zu zeigen und so zum revolutio-
nären Handeln überzugehen. Die Körper agierten ge-
meinsam, aber sie schliefen auch in der Öffentlichkeit,
und in beiden Modalitäten waren sie jeweils sowohl
verwundbar als auch fordernd und gaben elementaren
leiblichen Bedürfnissen eine politische und räumliche
Organisation. Auf diese Weise formten sie sich zu Bil-
dern, die jeder sehen konnte, forderten uns dazu auf,
hinzusehen, zu reagieren und so für eine mediale Be-
richterstattung zu sorgen, die verhinderte, dass das Er-
eignis totgeschwiegen wurde oder verebbte. Auf der
Straße zu schlafen war nicht nur eine Möglichkeit, An-
spruch auf die Öffentlichkeit zu erheben und die staat-
liche Legitimität in Frage zu stellen, sondern eindeu-
tig auch ein Weg, den Körper in seiner Beharrlichkeit,
Hartnäckigkeit und Prekarität aufs Spiel zu setzen und
den Unterschied zwischen öffentlich und privat für die

131
Zeit der Revolution zu überwinden. Mit anderen Wor-
ten  : Erst als diese Bedürfnisse, die eigentlich privat blei-
ben sollten, auf dem Platz an den Tag und in die Nacht
traten und sich zum medialen Bild und Diskurs form-
ten, war es möglich, den Raum und die Zeit des Ereig-
nisses mit solcher Beharrlichkeit auszuweiten, dass das
Regime zu Fall gebracht werden konnte. Die Kame-
ras liefen schließlich immer weiter  ; Körper waren dort
wie hier  ; sie hörten nie auf zu sprechen, nicht einmal
im Schlaf, und konnten deshalb nicht zum Schweigen
gebracht, isoliert oder geleugnet werden – manchmal
entsteht eine Revolution, weil alle sich weigern, nach
Hause zu gehen, und auf der Straße als dem Ort ihrer
konvergenten und temporären Kohabitation ausharren.

132
3.
Gefährdetes Leben und
die Ethik der Kohabitation

Ich möchte im Folgenden auf ethische Verpflichtun-


gen eingehen, die ihrem Charakter nach global sind
und die sowohl in der Distanz als auch in Beziehun-
gen der Nähe entstehen. Die beiden Fragen, die mich
beschäftigen, sind auf den ersten Blick sehr verschie-
den. Die erste lautet, ob wir die Fähigkeit oder Nei-
gung haben, ethisch auf fernes Leiden zu reagieren, und
was diese ethische Begegnung, wenn sie denn stattfin-
det, möglich macht. Die zweite ist, was es für unsere
ethischen Verpflichtungen bedeutet, wenn wir es mit
einer anderen Person oder Gruppe zu tun haben, uns
unweigerlich mit denen verbunden sehen, die wir uns
nie ausgesucht haben, und auf Bitten in Sprachen, die
wir nicht verstehen oder nicht einmal verstehen wol-
len, reagieren müssen. Dies geschieht zum Beispiel an
den Grenzen einiger umkämpfter Staaten, aber die-
ses »Zu-tun-Haben-mit« spielt auch in verschiedenen
Momenten geografischer Nähe eine Rolle, etwa wenn
Menschen infolge von erzwungener Emigration oder
der Neuziehung von Staatsgrenzen unter Bedingungen
unfreiwilliger Nachbarschaft leben. Natürlich enthal-
ten die meisten uns bekannten Darstellungen der Ethik
bereits Annahmen über Ferne und Nähe. Es gibt Kom-
munitarist / ​innen, die nichts gegen den lokalen, provi-
sorischen und manchmal nationalistischen Charakter
der Gemeinschaften einzuwenden haben, mit denen sie
sich ethisch verbunden fühlen und deren spezifische
Gemeinschaftsnormen als ethisch verbindlich behan-
delt werden. Sie schätzen Nähe als Voraussetzung da-

133
für, anderen zu begegnen und andere kennenzulernen,
und nehmen ethische Beziehungen daher tendenziell
für diejenigen als bindend an, deren Gesicht wir sehen
können, deren Namen wir kennen und aussprechen
können, die wir bereits verstehen können und deren
Gestalt und Aussehen uns vertraut sind. Häufig wird
angenommen, dass Nähe bestimmte unmittelbare For-
derungen danach stellt, Prinzipien der körperlichen
Unversehrtheit, Gewaltlosigkeit sowie Gebiets- oder
Besitzansprüche anzuerkennen. Mir scheint jedoch et-
was anderes vorzugehen, wenn sich ein Teil der Welt
in moralischer Empörung über Handlungen und Ereig-
nisse in einem anderen Teil erhebt, einer Form der mo-
ralischen Empörung, die nicht von einer gemeinsamen
Sprache oder einem Gemeinschaftsleben in physischer
Nähe abhängt. In diesen Fällen sehen und vollführen
wir Solidaritätsbeziehungen, die über Raum und Zeit
hinweg entstehen.
In solchen Momenten werden wir ganz unwill-
kürlich und ganz unabhängig von jedem intentiona-
len Akt von Bildern fernen Leidens in einer Weise an-
gesprochen, die uns zur Anteilnahme zwingt und zum
Handeln bewegt, dazu, unseren Einspruch und unse-
ren Widerstand gegen solche Gewalt mittels konkreten
politischen Maßnahmen zu äußern und zu zeigen. In-
sofern könnte man sagen, dass wir nicht nur Informa-
tionen aus den Medien empfangen, auf deren Grund-
lage wir dann als Individuen entscheiden, etwas zu tun
oder auch nicht zu tun. Wir konsumieren diese Bil-
derflut nicht bloß und sind von ihr nicht nur gelähmt.
Manchmal, nicht immer, wirken die Bilder, die uns auf-
gezwungen werden, als ethische Bitte. Ich möchte für
einen kurzen Moment die Aufmerksamkeit auf diese
Formulierung lenken, um zu unterstreichen, dass uns

134
hier etwas zustößt, ohne dass wir in der Lage wären,
es vorherzusehen oder uns darauf vorzubereiten, das
heißt, wir werden in solchen Momenten von etwas an-
gegangen, das nicht unserem Willen unterliegt, das wir
nicht selbst gemacht haben, das von außen als Zumu-
tung, aber auch als ethische Forderung zu uns kommt.
Meiner Auffassung nach handelt es sich hier um ethi-
sche Verpflichtungen, die weder unserer Zustimmung
bedürfen noch das Ergebnis von bewusst geschlossenen
Verträgen oder Vereinbarungen sind.
Ich möchte diese Auffassung noch weiter erläutern.
Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass Bilder und
Berichte, die das Elend des Krieges zeigen, eine beson-
dere Form der ethischen Bitte darstellen, die uns dazu
zwingt, uns mit Fragen von Nähe und Distanz aus-
einanderzusetzen. Sie formulieren implizit ethische Di-
lemmata  : Ist das, was geschieht, so weit weg, dass ich
dafür keine Verantwortung tragen kann  ? Ist das, was
geschieht, mir so nah, dass ich es nicht ertragen kann,
die Verantwortung dafür zu übernehmen  ? Wenn ich
jenes Leid auch nicht selbst verursacht habe, bin ich
dennoch in irgendeinem anderen Sinn dafür verant-
wortlich  ? Wie sollen wir diese Fragen angehen  ? Was
ich hier anzubieten habe, konzentriert sich zwar nicht
auf Fotografien oder Bilder, ich bin aber dennoch der
Ansicht, dass die ethische Bitte, die uns etwa auf einem
Foto begegnet, das Kriegsleiden zeigt, weiter reichende
Fragen nach unserer ethischen Verpflichtung aufwirft.
Wir möchten die Bilder des Krieges, der Gewalt und
des Todes schließlich nicht immer sehen, und wir kön-
nen sie vehement von uns weisen. Wer hat mir dieses
Bild überhaupt zu Gesicht gebracht, welches Gefühl
will man damit in mir auslösen oder was will man mir
damit antun  ? Wir können das als die strukturelle Para-

135
noia des Bildes verstehen, insofern dieses mit einer un-
bestimmten Form der Ansprache verknüpft ist. Doch
selbst der oder die Paranoide wird in irgendeiner Weise
angegangen oder gibt zu erkennen, dass er oder sie in
irgendeiner Weise angesprochen worden ist. Schwingt
in diesem Moment, in dem man ungewollt einer Stim-
me zuhören oder ein Bild betrachten muss, ein Lévi-
nas’scher Unterton mit  ?
Solche Bilder können auf unserem Bildschirm auf-
tauchen oder wir stoßen plötzlich auf sie (oder sie auf
uns), während wir auf der Straße am Zeitungskiosk vor-
beispazieren. Wir können im Internet ganz bewusst auf
eine Seite klicken, um die Nachrichten abzurufen, aber
das heißt nicht, dass wir wirklich auf das vorbereitet
sind, was wir sehen, ja nicht einmal, dass wir uns dem,
was da visuell oder akustisch auf uns einwirkt, freiwil-
lig aussetzen. Wir wissen, was es bedeutet, von Sinnes-
bildern überschwemmt oder überwältigt zu werden,
aber sind wir in solchen Augenblicken auch ethisch
überwältigt und wäre es ein Problem, wenn es nicht so
wäre  ? Susan Sontag hat dargelegt, dass Kriegsfotogra-
fien uns zugleich überwältigen und paralysieren, und
sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, ob wir
noch auf das Bild vertrauen können, um eine politische
Deliberation über – und Widerstand gegen – die Unge-
rechtigkeit staatlicher Gewalt und des Krieges zu ent-
fachen.1 Aber können wir möglicherweise auch über-
wältigt und »entparalysiert« werden – und können wir
das als Wirken einer ethischen Verpflichtung auf unsere
Sensibilitäten verstehen  ? Ebendieses Wort, Sensibilität,
reserviert Lévinas für den Bereich der Responsivität,
der dem Ich vorausgeht, für eine Art von Reaktion, die
somit meine und zugleich doch nicht meine ist. Wenn
ich sage, es ist meine Reaktion, dann erkläre ich das Ich

136
zu ihrem Ursprung  ; was wir hier jedoch zu diskutieren
versuchen, ist eine Art von Responsivität, die eine Ent-
eignung des Egologischen impliziert. In diesem Sinne
komme ich auf meine Frage zurück  : Müssen wir tat-
sächlich zu einem gewissen Grad überwältigt werden,
um ein Motiv zum Handeln zu haben  ? Wir handeln nur,
wenn wir dazu bewegt werden, und bewegt werden wir
von etwas, das uns von außen, von woanders, vom Le-
ben anderer her berührt und ein Übermaß einführt, von
dem aus und dem entsprechend wir handeln. Gemäß
einer solchen Auffassung der ethischen Verpflichtung
ist die Rezeptivität nicht nur eine Voraussetzung des
Handelns, sondern eines seiner konstituierenden Merk-
male. »Medien« bezeichnen jeden Darstellungsmodus,
der uns eine Version der Wirklichkeit von außen über-
mittelt  ; sie funktionieren über eine Reihe von Verwer-
fungen, die das möglich machen, was wir ihre Botschaft
nennen können, was auf uns wirkt, und damit meine ich
sowohl die Verwerfung – was herausgeschnitten wird,
was außerhalb der Bildränder liegt – als auch das, was
präsentiert wird. Wenn wir uns plötzlich für irgend-
etwas empfänglich zeigen, reagieren wir normalerweise
auf etwas, das zu sehen wir uns nicht ausgesucht haben
(das kann etwas sein, das aus unserem Gesichtsfeld aus-
geschlossen, aber auch etwas, das im Bereich des visuel-
len Erscheinungsbildes gegeben ist). Es mag wie eine
Art Sprung erscheinen, ich bin jedoch der Auffassung,
dass diese sehr kurze Darstellung des Ungewählten an
der Macht des Bildes etwas über ethische Verpflichtun-
gen aussagt, die sich uns ohne unsere Zustimmung auf-
drängen. Wenn wir daher für diesen Punkt offen sind –
obwohl es genügend Gründe gäbe, ihn nicht vollständig
zu akzeptieren –, scheint er darauf hinzudeuten, dass
Zustimmung kein hinreichender Grund ist, um die glo-

137
balen Verpflichtungen einzugrenzen, die unsere Ver-
antwortung ausmachen. Vielmehr kann Verantwortung
sich durchaus auch aus einem ausgedehnten Bereich des
Nichteinvernehmlichen ergeben.
Als Zweites geht es mir jedoch darum, die Vorstel-
lung zu hinterfragen, dass ethische Verpflichtungen
nur im Kontext fester Gemeinschaften entstehen, die
sich innerhalb von Grenzen versammelt haben, von
einer gemeinsamen Sprache geeint werden und / ​oder
ein Volk oder eine Nation bilden. Verpflichtungen ge-
genüber Menschen, die uns fern sind, ebenso wie ge-
genüber denen, die uns nah sind, gehen über Sprach-
und Landesgrenzen hinweg und sind nur dank visueller
oder sprachlicher Übersetzungen möglich, zu denen
auch zeitliche und räumliche Verschiebungen gehören.
Derartige Kreisläufe bringen jede kommunitaristische
Begründung für eine Begrenzung unserer globalen Ver-
pflichtungen ins Wanken. Meine Anregung lautet daher,
dass der Bereich der Verpflichtungen, um den es mir
hier geht, weder durch Konsens noch durch Kommuni-
tarismus gerechtfertigt oder eingegrenzt wird. Wahr-
scheinlich ist dies eine Erfahrung, die wir im Zusam-
menhang mit den Medien machen, wenn sie uns weit
entferntes Leid sehr nahe bringen und das Nahe weit
entfernt erscheinen lassen. Meine These lautet, dass die
ethischen Forderungen, die sich aus den globalen Kreis-
läufen unserer Zeit ergeben, von dieser begrenzten, aber
notwendigen Umkehrbarkeit von Nähe und Distanz
abhängen. Ich bin sogar der Auffassung, dass bestimm-
te Bindungen gerade durch diese Umkehrbarkeit und
die sie konstituierende Ausweglosigkeit geknüpft wer-
den. Die Umkehrbarkeit endet sozusagen in der Sack-
gasse der körperlichen Verortetheit, denn wie medial
entrückt wir auch sein mögen, so sind wir es doch auch

138
ganz entschieden nicht. Wenn wir also auf der Straße
gefilmt werden, transportieren sich Körper und Stra-
ße in gewissem Maße und erlangen eine potenziell glo-
bale Dimension  ; ein solcher Befund und eine solche
Verlagerung werden aber nur verständlich, wenn man
davon ausgeht, dass gewisse zeitliche und räumliche
Dimensionen jenes körperlichen Standorts nicht trans-
portiert werden können, dort zurückgelassen werden
oder ausharren und ein hartnäckiges Da-sein besitzen.
Ich werde später noch auf dieses Problem des Körpers
zurückkommen, denn ich habe keine andere Wahl, und
vielleicht gilt das im Grunde für uns alle.
Für den Augenblick möchte ich nur ganz grund-
legend festhalten, dass in dem Fall, dass ich nur an die
Menschen gebunden bin, die mir nahe und schon ver-
traut sind, meine Ethik zwangsläufig beschränkt, kom-
munitär und ausschließend ist. Wenn ich nur an die ge-
bunden bin, die im abstrakten Sinne »menschlich« sind,
wende ich jeden Versuch einer kulturellen Überset-
zung zwischen meiner eigenen Lage und der anderer
ab. Wenn ich nur an diejenigen gebunden bin, die in der
Ferne leiden, und nie an die, die mir nahe sind, ziehe ich
mich aus meiner Situation zurück, indem ich versuche,
die Distanz zu halten, die es mir erlaubt, ethische Ge-
fühle zu hegen und mich selbst für ethisch zu halten.
Ethische Beziehungen sind jedoch vermittelt – ich be-
nutze dieses Wort hier ganz bewusst, um mitten im di-
gitalen Zeitalter auf Hegel zu verweisen. Das heißt, dass
Fragen des Standorts insofern vermengt sind, als das,
was »dort« geschieht, in gewissem Sinne auch »hier«
geschieht, und wenn das Geschehen »dort« davon ab-
hängt, dass das Ereignis in verschiedenen »Anderswos«
registriert wird, dann findet die ethische Forderung des
Ereignisses anscheinend immer in einem »Hier« und

139
einem »Dort« statt, die in gewissem Maße umkehrbar
sind  ; diese Umkehrbarkeit findet jedoch ihre Grenzen
in dem Umstand, dass der Körper durch sein vermit-
teltes Transportiertwerden nicht aus seiner Verortet-
heit, seinem Ausgesetztsein entlassen werden kann.
In einem gewissen Sinn ist das Ereignis eindeutig lo-
kal, denn es sind exakt die Menschen dort, deren Le-
ben auf dem Spiel steht. Wenn aber die Körper, die dort
in Gefahr sind, nicht anderswo bemerkt werden, er-
folgt keine globale Reaktion und keine globale Form
der ethischen Anerkennung und Verbindung, womit
ein Teil der Wirklichkeit des Ereignisses verlorengeht.
Es ist nicht einfach so, dass eine einzelne Bevölkerung
eine andere durch gewisse mediale Momente betrach-
tet, eine solche Reaktion macht vielmehr eine – wenn
auch provisorische – Form von globaler Verbundenheit
mit denjenigen deutlich, deren Leben und Handlungen
auf diese Weise registriert werden. Kurz, unvorbereitet
auf das überwältigende mediale Bild zu sein muss keine
Paralyse zur Folge haben, sondern kann eine Situation
herbeiführen, in der man (a) bewegt wird und daher ge-
nau kraft der Einwirkung von außen handelt, und in der
man (b) zugleich dort und hier ist und in jeweils ver-
schiedener Weise die Multilokalität und zeitliche Ver-
schränktheit ethischer Verbindungen akzeptiert und
aushandelt, die wir zu Recht global nennen dürfen.
Können wir uns also bestimmten philosophischen
Ethiken zuwenden, um neu zu formulieren, was es
heißt, in diesen Zeiten eine ethische Forderung zu re-
gistrieren, die sich weder auf den Konsens noch auf die
Vereinbarung reduzieren lässt und außerhalb etablierter
Gemeinschaftsbindungen stattfindet  ? Ich werde kurz
einige Argumente von Emmanuel Lévinas und Hannah
Arendt zu diesen schwierigen Beziehungen zwischen

140
Ethik, Nähe und Distanz erörtern. Dass meine Wahl
auf einen Denker und eine Denkerin fiel, die zum Teil
durch jüdische intellektuelle Traditionen (Lévinas) und
historische Situationen (Arendt) geprägt wurden, ist
kein Zufall. In einem anderen Projekt, das seine Schat-
ten auf dieses wirft, versuche ich eine Version der Ko-
habitation zu artikulieren, die aus meiner Beschreibung
der ethischen Verpflichtung folgt  ; Lévinas und Arendt
bieten Ansichten, die diesbezüglich zugleich erhellend
und problematisch sind. Zur Konkretisierung des Sach-
verhalts werde ich mich am Ende meiner Bemerkungen
dem Thema Palästina / Israel zuwenden, hauptsächlich
um eine Reihe jüdischer Ansichten zur Kohabitation
vorzustellen, die eine Abkehr vom Kommunitarismus,
sogar vom jüdischen Kommunitarismus fordern und
die in einer Zeit, da der Staat Israel versucht, seinen Al-
leinvertretungsanspruch über das Judentum zu wahren,
als kritische Alternative dienen können. Zum Glück für
Sie – und vielleicht ja auch für mich – wird diese letz-
te Angelegenheit nicht im Mittelpunkt meiner Ausfüh-
rungen stehen, obwohl ich sagen muss, dass sie das zen-
trale Thema meiner aktuellen Arbeit darstellt.

Lévinas

In Lévinas’ Ethik gibt es zwei nicht übereinstimmende


Dimensionen. Auf der einen Seite ist die Kategorie der
Nähe für seine Vorstellung von ethischen Beziehun-
gen sehr wichtig. Tatsächlich scheint die Art, wie an-
dere ohne unseren Willen auf uns einwirken, den An-
lass eines ethischen Appells oder einer ethischen Bitte
zu bilden. Das heißt, noch bevor wir das klare Empfin-

141
den einer Wahl haben, wird ethisch auf uns eingewirkt
und etwas von uns erbeten. Den Einwirkungen und
Übergriffen anderer ausgesetzt zu sein setzt körper-
liche Nähe voraus, und wenn es das »Antlitz« ist, das
auf uns wirkt, dann werden wir von diesem »Antlitz«
gewissermaßen affiziert und beansprucht zugleich. Auf
der anderen Seite erstrecken sich unsere ethischen Ver-
pflichtungen auch auf diejenigen, die nicht in irgend-
einem physischen Sinne in der Nähe sind und nicht Teil
einer erkennbaren Gemeinschaft sein müssen, der wir
beide angehören. Diejenigen, die auf uns wirken, sind
für Lévinas eindeutig anders als wir  ; es ist erklärterma-
ßen nicht ihre Gleichartigkeit, die uns mit ihnen ver-
bindet.
Lévinas vertrat natürlich einige widersprüchliche
Ansichten über diese Frage der Andersheit des an-
deren, der eine ethische Forderung an mich stellt  : Er
sprach sich eindeutig für Formen des Nationalismus,
insbesondere den israelischen Nationalismus aus, und
hielt auch an der Vorstellung fest, dass ethische Bezie-
hungen nur innerhalb der jüdisch-christlichen Tradi-
tion möglich seien. Aber lassen Sie uns für den Moment
Lévinas gegen ihn selbst lesen beziehungsweise sein
Werk auf die politischen Möglichkeiten abklopfen, die
es eröffnet, auch diejenigen, die er selbst gar nicht be-
absichtigte. Lévinas’ Position lässt den Schluss zu, dass
die Menge ethischer Werte, die eine Bevölkerungsgrup-
pe mit einer anderen verbindet, in keiner Weise davon
abhängt, dass sich die beiden Gruppen mit Blick auf
ihre nationale, kulturelle, religiöse oder ethnische Zu-
gehörigkeit ähneln. Interessanterweise betont Lévinas,
dass wir an diejenigen gebunden sind, die wir nicht ken-
nen, die wir uns nicht einmal ausgesucht haben und nie
hätten aussuchen können, und dass diese Verpflichtun-

142
gen streng genommen vorvertraglich sind. Er war aber
auch derjenige, der in einem Interview behauptete, die
Palästinenser hätten kein Gesicht und er wolle die ethi-
schen Verpflichtungen nur auf diejenigen ausweiten,
die durch seine Version jüdisch-christlicher und grie-
chisch-antiker Ursprünge miteinander verbunden sei-
en.2 In gewisser Weise bescherte er uns das Prinzip, das
er dann selbst verriet. Sein Versäumnis steht in direk-
tem Widerspruch zu seiner Formulierung der Forde-
rung, denen gegenüber ethisch empfänglich zu sein, die
über unsere unmittelbare Zugehörigkeitssphäre hinaus-
gehen, zu denen wir aber dennoch gehören, ungeachtet
der Frage, was wir uns aussuchen, durch welche Verträ-
ge wir gebunden sind oder welche etablierten Formen
kultureller Zugehörigkeit vorhanden sind.
Dies wirft natürlich die Frage auf, wie eine ethische
Beziehung zu Menschen möglich ist, die nicht im Hori-
zont der Ethik erscheinen können, die keine Personen
sind oder nicht als die Art von Wesen erachtet werden,
mit denen man in ein ethisches Verhältnis treten kann
oder muss. Ist es möglich, die hier formulierte ethische
Philosophie gegen genau die ausschließenden Annah-
men in Anschlag zu bringen, von denen sie in Teilen ge-
stützt wird  ? Können wir, mit anderen Worten, Lévinas’
Werk gegen ihn selbst aufbieten, um zur Artikulierung
einer globalen Ethik beizutragen, die über die religiösen
und kulturellen Gemeinschaften hinausgeht, die er als
deren notwendige Bedingung und Begrenzung ansah  ?
Betrachten wir als Beispiel sein Argument, dass ethi-
sche Beziehungen asymmetrisch seien. Für Lévinas hat
der andere mir gegenüber Vorrang. Was bedeutet das
konkret  ? Hat der andere mir gegenüber nicht diesel-
be Verpflichtung  ? Warum sollte ich einem anderen ver-
pflichtet sein, für den nicht umgekehrt dasselbe gilt  ?

143
Wechselseitigkeit kann für Lévinas nicht die Grundlage
der Ethik sein, weil diese kein Handel ist  : Es kann nicht
sein, dass meine ethische Beziehung zu anderen von de-
ren ethischer Beziehung zu mir abhängt, denn das wür-
de diese Beziehung weniger als absolut und verbindlich
machen und es würde meine Selbsterhaltung als dis-
tinktes und begrenztes Wesen über jede Beziehung zu
anderen stellen. Für Lévinas kann keine Ethik aus Ego-
ismus abgeleitet werden, ja, Egoismus ist nichts anderes
als die Vereitelung der Ethik selbst.
Ich distanziere mich hier von Lévinas, denn obwohl
ich der Widerlegung des Vorrangs der Selbsterhaltung
für das ethische Denken zustimme, möchte ich auf einer
gewissen Verflechtung zwischen jenem anderen Le-
ben – all den anderen Leben – und meinem eigenen be-
stehen, einer Verflechtung, die sich nicht auf nationale
Zugehörigkeit oder kommunitäre Angliederung redu-
zieren lässt. Meiner Ansicht nach (und damit stehe ich
gewiss nicht allein) ist das Leben der anderen, das Le-
ben, das nicht unser eigenes ist, auch unser Leben, denn
welchen Sinn »unser« Leben auch haben mag, er rührt
genau von dieser Sozialität her, von der Tatsache, dass
wir immer schon, von Anfang an, von einer Welt der
anderen abhängig sind, dass wir in und von einer sozia-
len Welt konstituiert werden. So gesehen gibt es sicher
andere, die von mir verschieden sind und deren ethi-
sche Forderung an mich nicht auf eine egoistische Be-
rechnung meinerseits reduzierbar ist. Dies liegt jedoch
daran, dass wir, wie verschieden wir auch sind, ebenso
aneinander gebunden sind wie auch an lebendige Pro-
zesse, die über die menschliche Form hinausgehen. Das
ist nicht immer eine schöne und glückliche Erfahrung.
Die Erkenntnis, dass das eigene Leben auch das Le-
ben anderer ist, bedeutet, auch wenn dieses Leben ver-

144
schieden ist und sein muss, dass die eigene Grenze nicht
nur eingrenzend, sondern auch angrenzend ist und mit
räumlicher und zeitlicher Nähe, ja sogar mit einer Form
von Eingebundenheit einhergeht. Außerdem ist die be-
schränkte und lebendige Erscheinung des Körpers die
Bedingung dafür, dass wir dem anderen ausgesetzt sind  ;
wir sind dem Flehen, der Verführung, der Leidenschaft
und der Verwundung ausgesetzt und dies in einer Wei-
se, die uns sowohl stärken als auch zerstören kann. In
diesem Sinn verweist das Ausgesetztsein des Körpers
auf dessen Gefährdetheit. Gleichzeitig ist für Lévinas
dieses gefährdete und körperliche Wesen für das Leben
des anderen verantwortlich, das heißt, ganz gleich wie
sehr man um sein eigenes Leben fürchtet, das Leben des
anderen hat Vorrang. Wenn nur die israelische Armee
so dächte  ! Allerdings ist es nicht leicht, dieser Form der
Verantwortung nachzukommen, wenn man einem tief
empfundenen Gefühl der Prekarität unterliegt. Preka-
rität bezeichnet sowohl die Notwendigkeit als auch die
Schwierigkeit der Ethik.
In welcher Beziehung steht die Prekarität zur Vul-
nerabilität  ? Es ist gewiss schwierig, sich anfällig für die
Zerstörung durch den anderen und gleichzeitig für den
anderen verantwortlich zu fühlen  ; Lévinas-Leser / ​innen
stoßen sich seit jeher an der Formulierung, dass wir –
wir alle – in gewissem Sinn verantwortlich für das sind,
was uns verfolgt. Damit meint Lévinas aber nicht, dass
wir unsere Verfolgung selbst verursachen – keineswegs.
»Verfolgung« ist vielmehr seine merkwürdige und irri-
tierende Bezeichnung für eine ethische Forderung, die
sich uns gegen unseren Willen aufdrängt. Ohne es zu
wollen sind wir offen für dieses Drängen, und obwohl
es sich über unseren Willen hinwegsetzt, zeigt es uns
auch, dass die Forderungen, die andere an uns stellen,

145
Teil unserer eigenen Sensibilität, unserer Empfänglich-
keit und unserer Verantwortlichkeit sind. Wir werden,
mit anderen Worten, angerufen, und das ist nur mög-
lich, weil wir in gewissem Sinne anfällig für Forderun-
gen sind, die wir nicht vorhersehen können und für die
es keine geeignete Vorbereitung gibt. Für Lévinas gibt
es keine andere Möglichkeit, die ethische Realität zu be-
greifen  ; die ethische Verpflichtung hängt nicht nur von
unserer Anfälligkeit für die Forderungen anderer ab, sie
macht uns auch zu Geschöpfen, die grundlegend durch
diese ethische Beziehung definiert sind. Die ethische
Beziehung ist keine Tugend, die ich besitze oder irgend-
wie ausübe  ; sie geht jedem individuellen Selbstgefühl
voraus. Wenn wir sie anerkennen, so tun wir dies nicht
als eigenständige Individuen. Ich bin bereits mit dir ver-
bunden, und das macht mich zu dem Selbst, das ich bin
und das auf eine Weise für dich empfänglich ist, die ich
nicht vollständig vorhersagen oder kontrollieren kann.
Das ist auch eindeutig die Bedingung meiner Verletz-
barkeit, und auf diese Weise sind meine Verantwortlich-
keit und meine Verletzbarkeit miteinander verknüpft.
Mit anderen Worten  : Du kannst mir Angst machen und
mich bedrohen und doch muss meine Verpflichtung dir
gegenüber bestehen bleiben.
Die ethische Beziehung geht der Individuation vo-
raus, und wenn ich ethisch handle, löse ich mich als
begrenztes Wesen auf. Ich falle auseinander. Ich wer-
de gewahr, dass ich meine Beziehung zu dem »Du«
bin, dessen Leben ich zu erhalten versuche, und dass
das »Ich« ohne diese Beziehung sinnlos ist und seine
Verankerung in der Ethik, die der Ontologie des Ego
immer vorausgeht, verloren hat. Man könnte auch sa-
gen  : Das »Ich« wird in seiner ethischen Beziehung
zum »Du« aufgelöst, das heißt, die ethische Relatio-

146
nalität wird erst möglich durch eine ganz spezifische
Art des Enteignet-Werdens. Wenn ich zu fest oder zu
starr über mich verfüge, kann ich nicht in einer ethi-
schen Beziehung sein. Die ethische Beziehung bedeu-
tet, eine bestimmte egologische Perspektive abzutreten
und einen Standpunkt einzunehmen, der grundlegend
von einem Modus der Anrede strukturiert ist  : Du rufst
mich an und ich antworte. Wenn ich jedoch antworte,
dann nur, weil ich schon verantwortlich war  ; das heißt,
diese Empfänglichkeit und Verwundbarkeit konstitu-
iert mich auf der fundamentalsten Ebene und besteht,
so könnte man sagen, schon vor jeder bewussten Ent-
scheidung, auf den Ruf zu antworten. Man muss also
schon fähig sein, den Ruf zu empfangen, bevor man ihn
wirklich beantwortet. In diesem Sinne setzt die ethische
Responsibilität die ethische Responsivität voraus.

Arendt

Die meisten Gelehrten würden wohl Betrachtungen


über Emmanuel Lévinas und eine Analyse Hannah
Arendts getrennt behandelt wissen wollen  : Er ist ein
Philosoph der Ethik, der sich auf religiöse Traditionen
stützt und der die ethische Bedeutung von Passivität
und Rezeptivität hervorhebt  ; sie dagegen ist eine ent-
schieden säkulare Sozialphilosophin und Theoretikerin
des Politischen, die unaufhörlich den politischen Wert
des Handelns betont. Warum also sollte man eine Dis-
kussion über Lévinas mit einer über Arendt zusammen-
bringen  ? Beide erheben Einwände gegen die klassisch
liberale Vorstellung des Individualismus, also die Idee,
dass Individuen wissentlich bestimmte Verträge schlie-

147
ßen und sich ihre Verpflichtung daraus ergibt, dass sie
absichtlich und willentlich Vereinbarungen miteinan-
der eingegangen sind. Diese Sicht geht davon aus, dass
wir nur für die – in Abkommen kodifizierten – Bezie-
hungen verantwortlich sind, die wir wissentlich und
absichtlich eingegangen sind. Und Arendt widerspricht
dieser Sichtweise. Tatsächlich bildet dies den Kern ihrer
Argumentation gegen Adolf Eichmann. Dieser dachte,
er könne entscheiden, welche Teile der Bevölkerung le-
ben und welche sterben sollten  ; er dachte also in diesem
Sinne, er hätte die Wahl, mit wem er die Erde bewohnt.
Was er laut Arendt nicht begriff, war, dass niemand das
Vorrecht hat, sich auszusuchen, mit wem er die Erde be-
wohnt. Wir können in gewissem Maße wählen, wie und
wo wir leben und auf lokaler Ebene auch mit wem wir
leben. Wenn wir aber darüber zu entscheiden hätten,
mit wem wir die Erde bewohnen, käme das einer Ent-
scheidung darüber gleich, welcher Teil der Menschheit
leben und welcher sterben soll. Wenn uns diese Wahl
verboten ist, dann deshalb, weil wir dazu verpflichtet
sind, mit den Menschen zu leben, die bereits existie-
ren, und jede Entscheidung darüber, wer leben darf und
wer nicht, immer eine genozidale Praxis ist  ; und auch
wenn wir nicht bestreiten können, dass Völkermor-
de stattgefunden haben und immer noch stattfinden,
wäre es falsch zu glauben, dass Freiheit im ethischen
Sinne jemals mit der Freiheit, einen Völkermord zu be-
gehen, vereinbar sein könnte. Der ungewählte Charak-
ter des irdischen Zusammenlebens ist für Arendt die
Bedingung dafür, dass wir überhaupt als ethische und
politische Wesen existieren. Wer sich das Recht zum
Genozid herausnimmt, zerstört daher nicht nur poli-
tische Bedingungen des Personseins, sondern die Frei-
heit selbst, verstanden nicht als individueller Akt, son-

148
dern als plurales Handeln. Ohne diese Pluralität, gegen
die wir uns nicht entscheiden können, haben wir kei-
ne Freiheit und somit auch keine Wahl. Dies bedeutet  :
Es gibt eine ungewählte Bedingung der Freiheit, und
wenn wir frei sind, bejahen wir etwas an dem, was wir
nicht wählen können. Wenn die Freiheit danach trach-
tet, über die Unfreiheit hinauszugehen, die ihre Bedin-
gung ist, zerstören wir die Pluralität und gefährden in
Arendts Augen unseren Status als Personen im Sinne
eines zoon politikon. Dies war eines der Argumente,
mit denen sie begründete, warum die Todesstrafe für
Eichmann gerechtfertigt war. Ihrer Ansicht nach hatte
Eichmann sich bereits selbst dadurch vernichtet, dass er
nicht einsah, dass sein eigenes Leben mit dem der Men-
schen, die er vernichtete, verbunden war  ; außerhalb des
gesellschaftlichen und politischen Rahmens, in dem je-
des Leben gleich viel wert ist, hat das individuelle Le-
ben keinen Sinn und besitzt keine Realität.3
In Eichmann in Jerusalem (1963) argumentiert
Arendt, Eichmann und seine Vorgesetzten hätten nicht
realisiert, dass die Heterogenität der Erdbevölkerung
eine irreversible Voraussetzung des gesellschaftlichen
und politischen Lebens selbst ist.4 Ihre Anklage gegen
Eichmann lässt die feste Überzeugung erkennen, dass
sich kein Mensch anmaßen darf, so zu handeln, und
dass die, mit denen wir die Erde zusammen bewohnen,
uns gegeben sind – vor jeder Wahl und damit vor jeder
Art von bewusst und freiwillig geschlossenem sozialem
oder politischem Vertrag. In Eichmanns Fall glich der
Versuch zu wählen, mit wem zusammen man die Erde
bewohnt, dem ausdrücklichen Bemühen, einen Teil der
Bevölkerung zu vernichten – Juden, Zigeuner, Homo-
sexuelle, Kommunisten, Behinderte, Kranke und ande-
re  ; der Freiheitsgebrauch, auf dem er bestand, war also

149
der Völkermord. Diese Wahl stellt für Arendt nicht nur
einen Angriff auf die Kohabitation als Voraussetzung
des politischen Lebens dar, sie verpflichtet uns auch zu
der folgenden Aussage  : Wir müssen Institutionen und
Strategien entwickeln, die die Ungewähltheit des offe-
nen und pluralen Zusammenlebens aktiv erhalten und
bekräftigen. Wir leben mit den Menschen, die wir uns
nicht ausgesucht haben und zu denen wir uns nicht un-
bedingt unmittelbar zugehörig fühlen, nicht nur zusam-
men  ; wir sind auch verpflichtet, ihr Leben zu schützen
und die offene Pluralität zu erhalten, die die Weltbevöl-
kerung ist.
Was Arendt in meinen Augen bietet, auch wenn sie
das zweifellos anders sähe, ist eine ethische Sicht der
Kohabitation, die als Richtschnur für einzelne For-
men der Politik dienen kann. In diesem Sinne ergeben
sich aus der Ungewähltheit jener Modi des Zusam-
menlebens konkrete politische Normen und Strate-
gien. Die Notwendigkeit des gemeinsamen Lebens auf
der Erde ist ein Grundsatz, der in Arendts Philosophie
die Handlungen und Vorgehensweisen jeder Nachbar-
schaft, Gemeinschaft oder Nation leiten muss. Es ist
vollkommen gerechtfertigt, darüber zu entscheiden, in
welcher Gemeinschaft man leben möchte, solange dies
nicht impliziert, dass diejenigen, die außerhalb der Ge-
meinschaft stehen, es nicht verdienen zu leben. Mit an-
deren Worten  : Kommunitäre Gründe der Zugehörig-
keit sind nur unter der Bedingung gerechtfertigt, dass
sie einer nichtkommunitären Ablehnung des Genozids
untergeordnet sind. So wie ich Arendt verstehe, gehört
jeder Mensch, der einer Gemeinschaft angehört, auch
der Erde an – ein Gedanke, den sie eindeutig von Hei-
degger übernimmt – und daraus folgt nicht nur eine
Verpflichtung gegenüber allen anderen Erdbewohner / ​

150
innen, sondern, so dürfen wir wohl hinzufügen, auch
zum Erhalt der Erde selbst. Und unter dieser Maßgabe
möchte ich eine ökologische Ergänzung zu Arendts
Anthropozentrismus vornehmen.
In Eichmann in Jerusalem spricht Arendt nicht nur
für die Juden, sondern für jede Minderheit, die von
einer anderen Gruppe von der Erde vertrieben wer-
den soll. Das eine impliziert das andere, und die »Für-
sprache« verallgemeinert das begründende Verbot, auch
wenn sie die Pluralität, deren Leben sie schützen will,
nicht aufhebt. Ein Grund für Arendts Weigerung, die
Juden von den anderen von den Nazis verfolgten so-
genannten Nationen zu trennen, ist, dass sie im Na-
men einer Pluralität argumentiert, die sich mit dem
menschlichen Leben in all seinen kulturellen Formen
deckt. Zugleich ist ihr Urteil über Eichmann eines, das
sich gerade aus der historischen Situation einer Jüdin
in der Diaspora ergibt, die selbst aus Nazideutschland
geflüchtet war, die sich aber auch dagegen aussprach,
dass das israelische Gericht eine bestimmte Nation re-
präsentierte, während das Verbrechen in ihren Augen
ein Verbrechen gegen die Menschheit war, und dass das
Gericht nur die jüdischen Opfer des Völkermordes re-
präsentierte, obwohl infolge der nationalsozialistischen
Pläne, die Eichmann und seine Schergen formuliert und
umgesetzt hatten, auch viele andere Gruppen vernichtet
und vertrieben worden waren.
Die Idee der ungewählten Kohabitation impliziert
nicht nur die irreversible Pluralität beziehungsweise
Heterogenität der Erdbevölkerung sowie die Pflicht,
diese Pluralität zu schützen, sondern auch ein Be-
kenntnis, dass alle Menschen das gleiche Recht haben,
die Erde zu bewohnen, und mithin ein Bekenntnis zur
Gleichheit. In Arendts Argumentation gegen die Idee

151
eines auf Prinzipien der jüdischen Souveränität gegrün-
deten Staates Israel und für ein föderales Palästina in
den späten 1940er Jahren nahmen diese beiden Dimen-
sionen eine spezifische historische Gestalt an. Das po-
litische Verständnis der Pluralität, für das sie stritt, er-
gab sich ihrer Ansicht nach aus der Amerikanischen
Revolution und verbot es ihr, ausschließlich nationa-
le, ethnische oder religiöse Begründungen der Staats-
angehörigkeit zu akzeptieren. Darüber hinaus sprach
sie sich grundsätzlich gegen die Gründung von Staaten
aus, die auf der Vertreibung ihrer Bewohner / ​innen und
der Schaffung einer neuen Klasse von Flüchtlingen ba-
siert, besonders dann, wenn ein solcher Staat sich auf
die Rechte von Flüchtlingen beruft, um seine Grün-
dung zu legitimieren.
Arendt vertritt die normative Ansicht, dass kein
einzelner Teil der Bevölkerung die Erde für sich be-
anspruchen kann, weder eine Gemeinschaft noch ein
Nationalstaat, eine regionale Einheit, ein Clan, eine
Partei oder eine Rasse. Ungewollte Nähe und unge-
wählte Kohabitation sind demnach Bedingungen un-
serer politischen Existenz, sie bilden die Grundlage
für Arendts Kritik am Nationalismus und beinhalten
die Verpflichtung, auf der Erde in einem Gemeinwe-
sen zu leben, welches Gleichheit für eine Bevölkerung
schafft, die notwendig und irreversibel heterogen ist.
Ungewollte Nähe und ungewählte Kohabitation bilden
auch die Basis unserer Verpflichtung, keinen Teil der
menschlichen Bevölkerung zu vernichten und Völker-
mord als Verbrechen gegen die Menschheit zu ächten,
aber auch, von Institutionen zu fordern, sich darum zu
bemühen, alle Leben gleichermaßen lebbar zu machen.
Aus der ungewählten Kohabitation leitet Arendt also
Vorstellungen von Universalität und Gleichheit ab, die

152
uns verpflichten, Institutionen zur Erhaltung von Men-
schenleben zu schaffen, ohne Teile der Bevölkerung als
gesellschaftlich tot, überflüssig oder wesenhaft lebens-
unwert und somit unbetrauerbar zu behandeln.
Mit ihrer Haltung zu Kohabitation, föderaler Au-
torität, Gleichheit und Universalität, die sie zwischen
den 40er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ent-
wickelte, stand Arendt in krassem Gegensatz zu den
Verteidiger / ​innen nationalistischer Formen jüdischer
Souveränität, differenzieller Klassifikationen jüdischer
und nichtjüdischer Bürger / ​innen, militärischer Strate-
gien, um Palästinenser / ​innen zu entwurzeln, und Be-
strebungen, eine demografische jüdische Mehrheit im
Staat herzustellen. Es heißt oft, Israel sei während und
nach dem Genozid durch die Nazis für die Juden zu
einer historischen Notwendigkeit geworden, und wer
die Gründungsprinzipien des jüdischen Staates in Frage
stelle, zeige damit eine ungeheure Gefühllosigkeit ange-
sichts der Notlage der Juden  ; es gab jedoch auch damals
jüdische Denker / ​innen und politische Aktivist / ​innen,
unter ihnen Hannah Arendt, Martin Buber, Hans Kohn
oder Judah Magnes, für die eine der wichtigsten Leh-
ren aus dem nationalsozialistischen Völkermord darin
bestand, gegen unrechtmäßige staatliche Gewalt sowie
gegen jede Staatenbildung zu opponieren, die Wahl-
und Bürgerrechte einer bestimmten Rasse oder Reli-
gion vorbehalten wollte  ; Nationalstaaten müssten des
Weiteren international daran gehindert werden, ganze
Bevölkerungsteile zu enteignen, die der Idee der reinen
Nation nicht entsprechen.
Wer aus der historischen Erfahrung von Internie-
rung und Enteignung Gerechtigkeitsgrundsätze ablei-
tet, muss das politische Ziel verfolgen, die Gleichheit
ungeachtet des kulturellen Hintergrunds oder der kul-

153
turellen Formation und über Sprachen und Religio-
nen hinweg auf diejenigen auszuweiten, die wir uns
nicht ausgesucht haben (jedenfalls nicht bewusst) und
denen gegenüber wir dauerhaft verpflichtet sind, eine
Möglichkeit des Zusammenlebens zu finden. Denn wer
»wir« auch sein mögen – auch uns hat sich niemand
ausgesucht, auch wir sind ohne irgendjemandes Zu-
stimmung auf dieser Erde aufgetaucht und gehörten
von Beginn an einer breiteren Bevölkerung und einer
tragfähigen Erde an. Und genau diese Bedingung macht
es paradoxerweise auf radikale Art möglich, neue For-
men der Sozialität und der Politik hervorzubringen, die
über die durch Siedlerkolonialismus und Vertreibung
entstandenen, von Gier getriebenen und kläglichen
Bindungen hinausgehen. Wir alle sind in diesem Sinne
die Ungewählten, aber wir sind eben auch alle gemein-
sam ungewählt. Es ist nicht uninteressant, dass Arendt,
selbst eine Jüdin und ein Flüchtling, ihre Pflicht nicht
darin sah, zum »auserwählten Volk« zu gehören, son-
dern vielmehr zu den Ungewählten, und gerade für eine
gemischte Gemeinschaft von denen einzutreten, deren
Existenz ein Recht, zu existieren und ein lebbares Le-
ben zu führen, impliziert.

Alternatives Judentum, gefährdetes Leben

Ich habe hier zwei Perspektiven vorgestellt, die in un-


terschiedlicher Weise aus dem Judentum hervorgegan-
gen sind. Lévinas, der sich selbst als jüdischen Denker
und als Zionisten bezeichnete, leitet seine Erklärung
der Verantwortlichkeit aus einer Interpretation der Ge-
bote ab und fragt danach, wie sie auf uns wirken und

154
uns ethisch fordern. Und Arendt, die zwar gewiss nicht
religiös war, machte ihre Lage als jüdischer Flüchtling
im Zweiten Weltkrieg dennoch zum Ausgangspunkt
ihrer Überlegungen über Völkermord, Staatenlosig-
keit und die pluralen Bedingungen des politischen Le-
bens.
Natürlich sind sowohl Lévinas als auch Arendt nicht
gerade unproblematisch, wenn es darum geht, politi-
sche Ideale für Israel / ​Palästina aufzustellen. Wie bei
Lévinas gibt es auch in Arendts Position Anteile, die
eindeutig rassistisch sind (so missbilligte sie beispiels-
weise arabische Juden, identifizierte sich selbst als Eu-
ropäerin und sah das Judentum restriktiv innerhalb die-
ser Kategorien), und dennoch eignet sich manches von
dem, was sie schreibt, nach wie vor als Quelle für die
Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen globalen
Verpflichtung, sich dem Genozid und der Vermehrung
staatenloser Bevölkerungen zu widersetzen und die
Wichtigkeit des Kampfes für eine offene Konzeption
der Pluralität zu erkennen.5

Arendts euro-amerikanisches Raster war eindeutig li-


mitiert, und wenn wir versuchen, das Verhältnis zwi-
schen Prekarität und Praktiken des Zusammenlebens
zu verstehen, wird noch eine weitere Beschränkung
deutlich. Für Arendt sind die Bedürfnisse des Körpers
der Privatsphäre zuzuordnen. Von Prekarität lässt sich
jedoch nur sinnvoll reden, wenn wir in der Lage sind,
körperliche Abhängigkeit und Bedürftigkeit, Hunger
und Schutzbedürftigkeit, die Anfälligkeit für Verlet-
zung und Zerstörung, Formen des sozialen Vertrauens,
die uns leben und gedeihen lassen, sowie die mit unse-
rem schieren Fortbestand verknüpften Leidenschaften
als eindeutig politische Angelegenheiten zu begreifen.

155
Während alle diese Dinge für Arendt also zum Privat-
bereich gehörten, verstand Lévinas zwar die Wichtig-
keit der Vulnerabilität, brachte sie jedoch nicht wirklich
mit einer Politik des Körpers in Verbindung. Er scheint
zwar einen Einwirkungen und Übergriffen ausgesetz-
ten Körper vorauszusetzen, räumt ihm in seiner Ethik
jedoch keinen expliziten Platz ein. Und Arendt äußert
sich zwar theoretisch zum Problem des Körpers, des
verorteten Körpers, des sprechenden Körpers, der als
Bestandteil jeder Erklärung des politischen Handelns
im »Erscheinungsraum« auftaucht, sie ist jedoch nicht
bereit, einer Politik zuzustimmen, die sich gegen Un-
gleichheiten bei der Nahrungsverteilung und für das
Recht auf Wohnen einsetzt und die gegen Ungleichhei-
ten im Bereich der reproduktiven Arbeit vorgeht.
Meiner Ansicht nach ergeben sich aus dem körper-
lichen Leben ethische Forderungen, und möglicher-
weise setzen alle ethischen Forderungen ein als verletz-
lich begriffenes körperliches Leben voraus, das nicht
unbedingt menschlich sein muss. Das Leben, welches
erhaltens- und schützenswert ist, das von Mord (Lévi-
nas) und Genozid (Arendt) verschont bleiben soll, ist
schließlich ganz wesentlich verbunden mit und abhän-
gig von nichtmenschlichem Leben  ; dies ergibt sich aus
der Idee des menschlichen Tiers, wie sie Derrida for-
muliert hat, die zu einem anderen Ausgangspunkt des
Nachdenkens über Politik wird. Wenn wir verstehen
wollen, was es konkret bedeutet, sich zum Erhalt des
Lebens des anderen zu verpflichten, werden wir un-
weigerlich mit den leiblichen Bedingungen des Lebens
konfrontiert, und das heißt, dass es uns nicht nur um
den körperlichen Fortbestand des anderen, sondern
auch um all die Umweltbedingungen gehen muss, die
das Leben lebbar machen.

156
Im sogenannten privaten Bereich, den Arendt in Vita
activa skizziert, finden wir die Frage der Bedürfnisse,
die Reproduktion der materiellen Lebensbedingungen
und die Probleme der Vergänglichkeit, der Fortpflan-
zung wie auch des Todes – all das, was mit dem gefähr-
deten Leben verbunden ist. Die Möglichkeit, dass gan-
ze Bevölkerungsgruppen durch eine genozidale Politik
oder durch systematische Vernachlässigung vernichtet
werden, folgt nicht nur aus dem Umstand, dass es Men-
schen gibt, die glauben, sie könnten entscheiden, mit
wem sie die Erde bewohnen, sondern auch daraus, dass
ein solches Denken die Verleugnung einer irreduziblen
politischen Tatsache voraussetzt  : der Anfälligkeit für
die Vernichtung durch andere, die sich aus einem Zu-
stand der Prekarität in allen Formen politischer und so-
zialer Interdependenz ergibt. Wir können daraus eine
umfassende Existenzbehauptung machen und sagen,
dass jeder Mensch gefährdet ist  ; dies folgt aus unserer
gesellschaftlichen Existenz als leibliche Wesen, die zu
ihrem Schutz und ihrer Versorgung aufeinander ange-
wiesen sind und deshalb unter ungerechten und un-
gleichen politischen Bedingungen von Staatenlosigkeit,
Obdachlosigkeit und Armut bedroht sind. Sosehr ich
hinter dieser Behauptung stehe, geht es mir auch noch
um eine andere, nämlich, dass unser Gefährdetsein in
großen Teilen von der Organisation wirtschaftlicher
und sozialer Verhältnisse abhängt, dem Vorhandensein
oder Nichtvorhandensein unterstützender Infrastruk-
turen sowie gesellschaftlicher und politischer Institu-
tionen. Sobald also die existenzielle Behauptung spezi-
fisch ausformuliert wird, ist sie nicht mehr existenziell.
Und weil sie spezifisch ausformuliert werden muss, war
sie auch nie existenziell. In diesem Sinne ist die Preka-
rität nicht von jener Dimension der Politik zu trennen,

157
die sich um die Organisation und den Schutz leiblicher
Bedürfnisse kümmert. Prekarität bringt unsere Sozia-
lität ans Licht, die fragilen und notwendigen Aspekte
unserer wechselseitigen Abhängigkeit.
Jede politische Bestrebung, Bevölkerungsgruppen
zu organisieren, beinhaltet eine taktische Verteilung
von Prekarität, ob diese nun explizit benannt wird oder
nicht  ; meistens äußert sie sich in einer Ungleichvertei-
lung, die von den herrschenden Normen darüber ab-
hängt, wessen Leben betrauerbar und schützenswert
und wessen Leben unbetrauerbar beziehungsweise nur
am Rande oder episodisch betrauerbar und somit in
diesem Sinne schon ganz oder teilweise verloren, mithin
weniger des Schutzes und der Erhaltung wert ist. Mir
geht es nicht um eine Rehabilitierung des Humanismus,
sondern vielmehr darum, für ein Verständnis der ethi-
schen Verpflichtung zu kämpfen, das in der Gefährdet-
heit begründet liegt. Kein Mensch entgeht der prekä-
ren Dimension des Soziallebens – sie ist, so könnte man
sagen, das Verbindende unserer Nichtgegründetheit.
Und wir können Kohabitation nur so verstehen, dass
eine verallgemeinerte Prekarität uns dazu verpflich-
tet, den Genozid abzulehnen und für egalitäre Lebens-
bedingungen einzutreten. Vielleicht kann dieses Merk-
mal unseres Lebens als Grundlage für das Recht auf
Schutz vor – bewusst oder fahrlässig herbeigeführtem –
Völkermord dienen. Unsere wechselseitige Abhängig-
keit macht uns zwar zu mehr als denkenden Wesen –
sie macht uns sozial und verkörpert, verwundbar und
leidenschaftlich –, aber schlussendlich bringt uns unser
Denken ohne die Grundannahme der interdependenten
und erhaltenden Bedingungen des Lebens nicht weiter.
Man könnte meinen, Interdependenz sei eine gute
oder vielversprechende Idee, dabei ist sie häufig die Be-

158
dingung territorialer Kriege und staatlicher Gewalt. Ich
bin mir nicht einmal sicher, ob wir überhaupt imstan-
de sind, die Unkontrollierbarkeit der Abhängigkeit auf
der Ebene der Politik zu ermessen – zu welcher Angst,
Panik, Ablehnung, Gewalt und Herrschaft sie führen
kann. Es ist richtig, dass ich mich mit meinen Ausfüh-
rungen hier um eine Bejahung der wechselseitigen Ab-
hängigkeit bemühe, jedoch nicht ohne zu betonen, wie
schwierig es ist, für soziale und politische Formen zu
kämpfen, denen es um die Förderung einer nachhalti-
gen Interdependenz unter egalitären Bedingungen geht.
Wenn wir vom Leiden anderer berührt werden, ist es
nicht nur so, dass wir uns in ihre Lage versetzen oder
sie unseren Platz usurpieren  ; möglicherweise ist es der
Augenblick, in dem eine gewisse chiasmische Verbin-
dung hervortritt und ich irgendwie in Leben verwickelt
werde, die eindeutig anders sind als mein eigenes. Und
dies geschieht sogar dann, wenn wir die Namen de-
rer, die ihren Appell an uns richten, nicht kennen oder
Mühe haben, den Namen richtig auszusprechen oder
eine Sprache zu sprechen, die wir nie gelernt haben. Im
besten Fall können mediale Darstellungen von entfern-
ten Leiden uns dazu veranlassen, unsere engen kom-
munitären Bindungen aufzugeben und – manchmal
unwillkürlich, manchmal sogar gegen unseren Willen –
auf ein erkanntes Unrecht zu reagieren. Solche Darstel-
lungen können uns das Schicksal anderer nahebringen
oder sehr weit entfernt erscheinen lassen, aber die Art
der ethischen Forderungen, die in diesen Zeiten durch
die Medien entstehen, hängt von dieser Umkehrbar-
keit von Nähe und Distanz ab. Tatsächlich werden be-
stimmte Bindungen durch ebendiese Umkehrbarkeit
hergestellt, wie unvollständig sie auch sei. Und viel-
leicht wird es ja möglich, die wechselseitige Abhängig-

159
keit, die das Zusammenleben charakterisiert, als genau
diese Bindungen zu begreifen. Denn wenn ich hier und
dort bin, bin ich auch nie vollständig dort, und selbst
wenn ich hier bin, bin ich doch immer mehr als voll-
ständig hier. Gibt es einen Weg, diese Umkehrbarkeit
als so vom Raum und der Zeit des Leibes begrenzt zu
verstehen, dass der andere nicht radikal anders ist und
ich nicht radikal hier bin als ein Ich, sondern dass viel-
mehr die Beziehung, das Verbindende, chiasmisch und
immer nur zu einem Teil umkehrbar ist und zu einem
anderen Teil nicht  ?
Es gibt, wie wir wissen, antagonistische Bindungen,
klägliche Beziehungen, wütende und traurige Arten
der Verbundenheit. In solchen Fällen ruft das Leben
mit anderen in angrenzenden, umkämpften oder kolo-
nisierten Gebieten Aggression und Feindschaft inmit-
ten dieser Kohabitation hervor. Die Art des ungewähl-
ten Zusammenlebens der Kolonisierten ist natürlich
etwas anderes als die Idee einer demokratischen Plu-
ralität, die auf dem Fundament der Gleichheit beruht.
Doch beide kennzeichnet ein Modus der kläglichen
Bindung und Nachbarschaft.6
Auch in Situationen antagonistischer oder unge-
wählter Arten der Kohabitation ergeben sich gewisse
ethische Verpflichtungen. Da wir nicht wählen kön-
nen, mit wem wir die Erde bewohnen, müssen wir die-
sen Verpflichtungen erstens nachkommen, um die Le-
ben derer zu schützen, die wir möglicherweise nicht
lieben, nie lieben werden, nicht kennen und uns nicht
ausgesucht haben. Zweitens ergeben sich die Verpflich-
tungen aus den gesellschaftlichen Bedingungen des
politischen Lebens, nicht aus irgendwelchen Verein-
barungen, die wir getroffen haben, oder aus einer be-
wussten Entscheidung. Und doch sind es genau diese

160
gesellschaftlichen Bedingungen eines lebbaren Lebens,
die erst erreicht werden müssen. Wir können uns auf
sie nicht als Voraussetzungen verlassen, die unser gutes
Zusammenleben garantieren. Im Gegenteil, sie liefern
uns die Ideale, die wir anstreben müssen, und dazu ge-
hört auch, dass wir uns mit dem Problem der Gewalt
auseinandersetzen müssen. Weil wir verpflichtet sind,
diese Bedingungen zu verwirklichen, sind wir auch ein-
ander verpflichtet, in leidenschaftlicher und angstvoller
Allianz, oft unwillkürlich, aber letztlich für uns selbst,
für ein »Wir«, das permanent im Werden begriffen ist.
Drittens implizieren diese Bedingungen Gleichheit, wie
Arendt uns lehrt, aber auch ein Ausgesetztsein gegen-
über der Prekarität (wie sich mit Lévinas folgern lässt),
was uns begreifen lässt, dass uns eine globale Verpflich-
tung auferlegt ist, politische und ökonomische Formen
zu finden, welche die Prekarität minimieren und wirt-
schaftspolitische Gleichheit herstellen. Solche Formen
der Kohabitation, die von Gleichheit und minimaler
Prekarität geprägt sind, werden zum Ziel jedes Kamp-
fes gegen Unterwerfung und Ausbeutung  ; der Weg zu
diesem Ziel beginnt aber schon bei den Praktiken von
Allianzen, die sich genau zu diesem Ziel über Entfer-
nungen hinweg bilden. Wir kämpfen in der Prekarität,
von ihr ausgehend und gegen sie. Es ist also keine alles
durchdringende Menschenliebe oder der reine Wunsch
nach Frieden, der uns danach streben lässt, zusammen-
zuleben. Wir leben zusammen, weil wir keine andere
Wahl haben, und auch wenn wir manchmal mit dieser
ungewählten Bedingung hadern, bleiben wir doch ver-
pflichtet, uns zu bemühen, den ultimativen Wert dieser
ungewählten sozialen Welt zu bejahen  ; diese Bejahung
ist nicht gerade eine Wahl und das Bemühen wird genau
dann erkennbar und spürbar, wenn wir Freiheit in einer

161
Weise ausüben, die der Gleichwertigkeit von Leben
notwendig verpflichtet ist. Wir können für das Leiden
anderer tot oder lebendig sein – sie können tot oder le-
bendig für uns sein. Aber nur wenn wir begreifen, dass
das, was dort geschieht, auch hier geschieht, und dass
»hier« immer schon und unausweichlich ein Anderswo
ist, haben wir eine Chance, die schwierigen und wech-
selnden globalen Zusammenhänge in einer Weise zu er-
fassen, die uns die Beförderung und die Beschränkung
dessen, was wir noch als Ethik bezeichnen können, er-
kennen lässt.

162
4.
Körperliche Verwundbarkeit,
koalitionäre Politik

Ich möchte zu Beginn dieses Kapitels drei Themen in


den Blickpunkt rücken  : körperliche Verwundbarkeit,
Koalitionen und Street Politics – allerdings nicht um
sie in einer allzu offensichtlichen Weise miteinander zu
verknüpfen. Anschließend möchte ich darüber nach-
denken, inwieweit sich Vulnerabilität als eine Form des
Aktivismus beziehungsweise als das betrachten lässt,
was in gewissem Sinne in Formen des Widerstands
mobilisiert wird. Wie wir alle wissen, spielt sich Poli-
tik nicht immer auf der Straße ab, Vulnerabilität steht
bei ihr nicht unbedingt im Vordergrund und Koalitio-
nen können vielerlei Dispositionen zugrunde liegen, zu
denen nicht notwendigerweise eine gemeinsam emp-
fundene Verwundbarkeit gehört. Ich würde sogar sa-
gen, dass unsere Skepsis gegenüber der Verwundbar-
keit enorm groß ist. Frauen werden schon viel zu lange
mit ihr in Verbindung gebracht, und es ist alles ande-
re als klar, wie man aus diesem Begriff eine Ethik, ge-
schweige denn eine Politik ableiten soll. Ich mache also
keinen Hehl daraus, dass eine Menge Arbeit vor mir
liegt, wenn ich behaupte, dass diese drei Ideen einander
durchdringen und für eine Betrachtung der Vulnerabi-
lität fruchtbar gemacht werden können.
Das Gefühl, das sich mir im Zusammenhang mit
dem Reden in der Öffentlichkeit beziehungsweise dem
Schreiben für eine Öffentlichkeit immer mehr auf-
drängt, ist nicht, dass dieses Reden oder Schreiben uns
einen direkten Weg zum Handeln aufzeigen sollte  ; es
bietet vielmehr die Chance, gemeinsam innezuhalten

163
und über die Bedingungen und die Richtung unseres
Handelns nachzudenken, und diese Form der Refle-
xion hat nicht nur einen instrumentellen, sondern einen
eigenen Wert. Ob dieses Innehalten nun selbst Teil des
Handelns oder des Aktivismus ist, ist eine andere Frage,
doch ich neige zu der Antwort  : Ja, das ist es, aber nicht
nur, nicht ausschließlich. Ich möchte die Gelegenheit
nutzen, um einige Missverständnisse auszuräumen, die
bei diesen Themen leicht aufkommen könnten. Ange-
sichts von rassistischen Mobs und gewalttätigen Über-
griffen behaupte ich gewiss nicht, dass auf der Straße
versammelte Körper in jedem Fall eine gute Sache sind,
dass wir Massendemonstrationen per se bejubeln soll-
ten oder dass versammelte Körper ein gewisses Ge-
meinschaftsideal oder gar eine lobenswerte neue Politik
darstellen. Auch wenn auf der Straße versammelte Kör-
per manchmal durchaus einen Grund zur Freude oder
gar Hoffnung geben – und wogende Massen manchmal
revolutionäre Zuversicht wecken können –, sollten wir
nicht vergessen, dass der Ausdruck »Körper auf der
Straße« sich ebenso gut auf rechte Demonstrationen
beziehen kann, auf Soldaten, die sich versammeln, um
Demonstrationen niederzuschlagen oder die Macht zu
übernehmen, oder auch auf Lynchmobs und einwan-
derungsfeindliche populistische Bewegungen, die den
öffentlichen Raum einnehmen. Sie sind daher an sich
weder gut noch schlecht  ; der Wert der Körper auf der
Straße hängt davon ab, wofür sie sich versammeln und
wie die Versammlung abläuft. Und dennoch sorgt die
Vorstellung von Körpern, die gemeinsam auf die Straße
gehen, auf Seiten der Linken für freudige Erregung, als
ob man ein Stück Macht zurückgewänne, in sich auf-
nähme und auf eine irgendwie demokratischere Weise
ausübte. Ich verstehe diese Erregung und habe selbst

164
aus ihr heraus geschrieben  ; an dieser Stelle möchte ich
mich jedoch mit einigen meiner Zweifel beschäftigen,
mit denen ich gewiss nicht allein dastehe.
Wir müssen uns gleich zu Anfang die Frage stellen  :
Was sind die Voraussetzungen dafür, dass wir in Kör-
pern, die sich auf der Straße versammeln, einen Grund
zum Jubeln sehen, oder  : Welche Formen der Versamm-
lung können tatsächlich der Verwirklichung höherer
Gerechtigkeits- und Gleichheitsideale, ja der Verwirk-
lichung von Demokratie dienen  ?1
Zumindest lässt sich sagen, dass Demonstrationen,
die Gleichheit und Gerechtigkeit anstreben, zu begrü-
ßen sind. Doch wir sind natürlich gefordert, unsere Be-
griffe zu definieren, denn es gibt bekanntlich gegensätz-
liche Ansichten über Gerechtigkeit und gleichermaßen
viele verschiedene Arten der Betrachtung und Bewer-
tung von Gleichheit. Es stellt sich sogleich ein wei-
teres Problem  : In bestimmten Teilen der Welt zeigen
sich politische Bündnisse nicht als Versammlungen auf
der Straße oder können es nicht, wofür es gewichtige
Gründe gibt. Denken wir nur an Zustände der intensi-
ven polizeilichen Überwachung oder der militärischen
Besatzung, die Menschen von den Straßen und Märk-
ten fernhalten. Unter diesen Umständen können keine
Massen auf die Straßen strömen, ohne Gefahr zu lau-
fen, eingesperrt, verletzt oder getötet zu werden  ; des-
halb bilden sich Allianzen hier manchmal auf andere
Weisen mit dem Ziel, bei der Forderung nach Gerech-
tigkeit die Exponiertheit des Körpers zu minimieren.
Auch Hungerstreiks in Gefängnissen, wie sie etwa im
Frühjahr 2012 in Palästina stattfanden und sporadisch
weitergeführt werden, stellen Widerstandsformen dar,
die zwangsweise auf begrenzte Orte beschränkt blei-
ben, an denen in paralleler Weise isolierte Körper For-

165
derungen stellen nach Freiheit, ordentlichen Verfahren
und dem Recht, sich in der Öffentlichkeit zu bewe-
gen und von öffentlichen Freiheiten Gebrauch zu ma-
chen. Vergessen wir also nicht, dass das körperliche
Ausgesetztsein verschiedene Formen annehmen kann  :
Wenn Versammlungen ihre Körper ganz bewusst der
Polizeimacht auf der Straße oder im öffentlichen Raum
aussetzen, ist die körperliche Exponiertheit erhöht.
Gleiches geschieht täglich unter Bedingungen der Be-
satzung, wenn der Gang auf die Straße oder der Ver-
such, einen Kontrollpunkt zu passieren, den Körper
der Gefahr von Belästigung, Verletzung, Festnahme
oder Tod aussetzt  ; wieder andere Formen des körper-
lichen Ausgesetztseins finden sich in Gefängnissen, In-
ternierungs- und Flüchtlingslagern, wo Militär und Po-
lizei die Macht haben, zu überwachen, Handlungen zu
unterbinden, Gewalt anzuwenden, zu isolieren und zu
bestimmen, wie, wann und unter welchen Bedingun-
gen jemand isst oder schläft. Man kann also offenkun-
dig nicht behaupten, das Exponieren des Körpers sei
in jedem Fall ein politisches Gut oder sogar die erfolg-
reichste Strategie einer emanzipatorischen Bewegung.
Manchmal geht es im politischen Kampf gerade um die
Überwindung von Verhältnissen der körperlichen Ex-
poniertheit. Und manchmal ist es genau Teil der Bedeu-
tung politischen Widerstands, den Körper potenziellen
Angriffen auszusetzen.
Wir müssen natürlich auch bedenken, dass einige
Formen der politischen Versammlung nicht auf Straßen
und Plätzen stattfinden, weil diese einfach nicht existie-
ren oder nicht das politische Zentrum der betreffenden
politischen Aktion bilden. Es kann sich beispielswei-
se ganz plötzlich eine Bewegung zur Schaffung einer
angemessenen Infrastruktur bilden – wir können hier

166
etwa an die nach wie vor bestehenden informellen Sied-
lungen und Townships in Südafrika, Kenia und Pakis-
tan denken, an die provisorischen Unterkünfte an den
Grenzen Europas oder auch an die barrios in Venezuela
und die barracas in Portugal. Solche Orte werden von
Gruppen bevölkert – darunter auch Immigrant / ​innen,
illegale Siedler / ​innen und Roma –, die lediglich für
fließendes und sauberes Wasser, funktionierende Toi-
letten, manchmal auch nur ein Schloss an öffentlichen
Toiletten, gepflasterte Straßen, bezahlte Arbeit und
notwendige Vorsorgemaßnahmen kämpfen. Die Stra-
ße als öffentlicher Schauplatz oder öffentliche Stätte
für bestimmte Arten öffentlicher Versammlungen ist
also keine Selbstverständlichkeit  ; als öffentlicher Raum
und Verkehrsweg ist sie auch ein Gemeingut, um das
gekämpft wird – eine infrastrukturelle Notwendigkeit,
die zu einer der Forderungen bestimmter Volksbewe-
gungen werden kann. Die Straße ist nicht nur die Ba-
sis oder Plattform politischer Forderungen, sondern
auch ein infrastrukturelles Gut. Wenn sich daher Men-
schen an öffentlichen Orten versammeln, um gegen die
Abschaffung infrastruktureller Güter zu protestieren,
etwa gegen Sparmaßnahmen, die das Bildungswesen,
Bibliotheken, den öffentlichen Nahverkehr oder Stra-
ßen treffen, dann kämpfen sie manchmal für die Platt-
form der Versammlung selbst. Wir können, mit anderen
Worten, noch nicht einmal für infrastrukturelle Güter
kämpfen, wenn wir nicht in der Lage sind, sie auch in
einem gewissen Maß vorauszusetzen  ; wenn also die
infrastrukturellen Voraussetzungen für Politik einge-
schränkt werden, so schwächt das auch die Versamm-
lungen, die von ihnen abhängen. Die Bedingung des
Politischen ist in solchen Fällen eines der Güter, um die
es der politischen Versammlung geht – darin liegt mög-

167
licherweise die Doppelbedeutung der Infrastruktur un-
ter Bedingungen des fortschreitenden Abbaus öffent-
licher Güter durch Privatisierung.2
Die Forderung nach Infrastruktur ist eine Forderung
nach einer gewissen Art von bewohnbarem Raum, und
ihre Bedeutung und Kraft ergeben sich exakt aus des-
sen Fehlen. Die Forderung richtet sich daher nicht auf
alle Formen der Infrastruktur, da einige von ihnen eine
Schwächung des lebbaren Lebens bedeuten (zum Bei-
spiel militärische Formen des Arrests, der Inhaftierung,
Besatzung und Überwachung), während andere seiner
Stärkung dienen. In manchen Fällen kann man nicht
selbstverständlich von der Straße als Erscheinungsraum
ausgehen, der für Arendt der Raum der Politik ist, weil,
wie wir wissen, ein Kampf stattfindet, um diesen Raum
überhaupt zu etablieren oder ihn wieder der polizei-
lichen Kontrolle zu entreißen.3 Die Möglichkeit dazu
hängt freilich von der performativen Wirksamkeit der
Schaffung eines politischen Raumes aus den vorhande-
nen infrastrukturellen Bedingungen ab. Arendt hat zu-
mindest teilweise Recht, wenn sie schreibt, der Erschei-
nungsraum entstehe im Augenblick der politischen
Aktion. Das ist gewiss ein romantischer Gedanke, der
sich in der Praxis nicht immer so leicht umsetzen lässt.
Sie geht davon aus, dass die materiellen Bedingungen
der Versammlung vom jeweiligen Erscheinungsraum
zu trennen sind, die eigentliche Aufgabe besteht aber
darin, die Infrastruktur zum Teil der neuen Aktion, ja
sogar zu einem Gemeinschaftsakteur werden zu lassen.
Wenn eine Politik jedoch auf die Schaffung und Be-
wahrung lebbarer Bedingungen ausgerichtet ist, dann
scheint es, dass sich der Erscheinungsraum nie ganz von
Fragen der Infrastruktur und Architektur trennen lässt
und dass diese die Aktion nicht nur bedingen, sondern

168
auch an der Schaffung des politischen Raumes beteiligt
sind.
Die Straße ist natürlich nicht die einzige infrastruk-
turelle Basis der politischen Rede und des politischen
Handelns. Sie ist auch ein wichtiger Aspekt und Gegen-
stand der politischen Mobilisierung. In gewisser Weise
ist uns der Gedanke schon vertraut, dass Freiheit nur
ausgeübt werden kann, wenn sie eine Grundlage hat,
etwa in Form materieller Bedingungen, die den Frei-
heitsgebrauch erst möglich und wirkungsvoll machen.
So unterstellen wir, dass der Körper, der Sprache ver-
wendet oder sich im Raum und über Grenzen hinweg
bewegt, zum Sprechen und zur Bewegung in der Lage
ist. Ein Körper, der sowohl unterstützt wird als auch
handlungsfähig ist, ist die notwendige Voraussetzung
für andere Arten der Mobilisierung. Schon der Begriff
»Mobilisierung« setzt eine operative Beweglichkeit vo-
raus, die ihrerseits ein Recht ist, das für viele Menschen
nicht selbstverständlich ist. Damit ein Körper sich be-
wegen kann, braucht er in der Regel einen Untergrund
(außer er schwimmt oder fliegt) und muss über die zur
Bewegung notwendigen technischen Hilfsmittel ver-
fügen. Pflaster und Straße sind also von vornherein als
Voraussetzungen dafür anzusehen, dass der Körper von
seinem Recht auf Mobilität Gebrauch machen kann. Sie
werden selbst Teil der Handlung und sind nicht nur de-
ren Grundlage.
Es ließe sich eine ganze Reihe von politischen Be-
wegungen auflisten, in denen die Idee eines unterstütz-
ten und handlungsfähigen, mit der bewegungsermög-
lichenden Infrastruktur verbundenen Körpers implizit
oder explizit wirksam ist  : Kämpfe um Nahrung und
Obdach, um Schutz vor Verletzung und Zerstörung,
um das Recht auf Arbeit oder eine bezahlbare Gesund-

169
heitsfürsorge. Wir fragen also zum einen, welche Vor-
stellung des Körpers in bestimmten politischen For-
derungen und Mobilisierungen implizit wirksam ist  ;
gleichzeitig versuchen wir auf einer anderen Ebene he-
rauszufinden, inwiefern die Mobilisierungen jene Vo-
raussetzungen und Grundlagen, die untrennbar mit
dem, was wir den menschlichen Körper nennen, ver-
bunden sind, zum Gegenstand ihres politischen In-
teresses machen. Meiner Auffassung nach wird unter
Bedingungen der zunehmenden Schwächung von In-
frastrukturen die Plattform der Politik selbst zum Zen-
trum der politischen Mobilisierung. Das bedeutet, dass
Forderungen im Namen des Körpers (nach Schutz,
Obdach, Ernährung, Mobilität, Meinungsfreiheit)
manchmal mit dem und durch den Körper und dessen
technische und infrastrukturelle Dimensionen geäußert
werden müssen. Wenn dies geschieht, scheint der Kör-
per Mittel und Zweck der Politik zu sein.4 Mir ist je-
doch wichtig zu unterstreichen, dass der Körper nicht
isoliert von all jenen Bedingungen, Technologien und
Lebensprozessen ist, die ihn erst ermöglichen.
Man könnte nun den Eindruck gewinnen, dass ich
Zuflucht bei einer bestimmten Vorstellung des mensch-
lichen Körpers und vielleicht dessen essenziellen Be-
dürfnissen suche. Das ist jedoch nicht ganz der Fall.
Ein solcher unveränderlicher Körper mitsamt seinen
permanenten Bedürfnissen würde dann zum Maß-
stab, an dem sich beurteilen ließe, ob bestimmte For-
men der wirtschaftlichen und politischen Organisation
dem Menschen förderlich oder hinderlich sind. Wenn
der Körper als Grund oder Maßstab gedacht wird, wird
er üblicherweise als einzelner Körper aufgefasst (das
»Wir« ist dann jene Gruppe von Menschen, die sich
vorübergehend auf diese Auffassung einigt) oder sogar

170
als idealer oder idealtypischer Körper  ; meiner Ansicht
nach muss er jedoch im Sinne der ihn stützenden Be-
ziehungsgeflechte verstanden werden. Individualistisch
betrachtet kann man sagen, dass jeder einzelne Körper
ein gewisses Recht auf Nahrung und Schutz hat. Mit
einer solchen Aussage verallgemeinert man zwar (»je-
der« Körper hat dieses Recht), gleichzeitig partikula-
risiert man aber auch, indem man den Körper als von
anderen getrennt und individuell begreift  ; damit ist
dann dieser einzelne Körper selbst eine Norm für das,
was der Körper ist und wie er gedacht werden soll. Das
scheint auf den ersten Blick ganz richtig zu sein  ; wir
sollten aber bedenken, dass die Vorstellung dieses in-
dividuellen körperlichen Rechtssubjekts möglicher-
weise nicht dazu geeignet ist, jenen Sinn der Verwund-
barkeit, des Ausgesetztseins, ja der Abhängigkeit zu
erfassen, den das Recht selbst impliziert und der meiner
Ansicht nach einer anderen Sichtweise auf den Körper
entspricht. Mit anderen Worten  : Wenn wir akzeptie-
ren, dass zu dem, was ein Körper ist (und dies ist zu-
nächst einmal eine ontologische Behauptung), seine
Abhängigkeit von anderen Körpern und Unterstüt-
zungsnetzen gehört, dann sagen wir damit zugleich,
dass die Vorstellung einzelner Körper, die vollständig
von anderen getrennt existieren, nicht ganz richtig sein
kann. Natürlich verschmelzen sie auch nicht zu einem
amorphen Gesellschaftkörper, aber wenn wir nicht be-
reit sind, in unsere Konzeption der politischen Bedeu-
tung des menschlichen Körpers auch die Beziehungen
mit aufzunehmen, in denen er lebt und gedeiht, bringen
wir uns damit um die bestmöglichen Argumente für die
verschiedenen politischen Ziele, die wir anstreben. Mei-
nes Erachtens ist es nicht nur so, dass dieser oder jener
Körper in ein Beziehungsgeflecht eingebunden ist  ; viel-

171
mehr ist der Körper trotz oder vielleicht gerade wegen
seiner klaren Grenzen durch die Beziehungen definiert,
die sein Leben und Handeln erst möglich machen. Ich
hoffe zeigen zu können, dass wir die Verwundbarkeit
des Körpers ohne diese Vorstellung seiner konstitutiven
Beziehungen zu anderen Menschen, Lebensprozessen
und anorganischen Bedingungen und Hilfsmitteln des
Lebens gar nicht begreifen können.
Bevor ich auf dieses Verständnis der Relationalität
genauer eingehe, möchte ich den Gedanken äußern,
dass auch die Vulnerabilität nicht bloß eine Spur oder
episodische Disposition eines eigenständigen Körpers
ist, sondern vielmehr ein Modus der Relationalität, der
einzelne Aspekte dieser Eigenständigkeit immer wie-
der in Frage stellt. Dies wird wichtig, wenn wir über
politische Versammlungen oder Koalitionen, ja sogar
über Widerstand nachdenken. Körper kommen nicht
als selbstbewegende Akteure auf die Welt  ; ihre Bewe-
gungskontrolle entwickelt sich erst im Lauf der Zeit  ;
der Körper wird zuallererst unter Bedingungen der Ab-
hängigkeit in das Sozialleben eingeführt, als abhängiges
Wesen, das heißt, schon seine allerersten Laute und Be-
wegungen sind Reaktionen auf eine sich verändernde
Menge von Überlebensbedingungen. Zu diesen Bedin-
gungen gehören Menschen, aber nicht unbedingt eine
andere verkörperte Person, die im Übrigen auch nur
insoweit Nahrung und Schutz bieten kann, als sie ih-
rerseits unterstützt wird. Betreuer / ​innen bieten daher
nicht nur Unterstützung für andere, sondern sind auch
selbst auf unterstützende Bedingungen angewiesen
(dazu gehören erträgliche Arbeitsbedingungen, Erho-
lung, Vergütung, eine Wohnung und medizinische Ver-
sorgung). Die Bedingungen der Unterstützung in die-
sen ungeschütztesten Lebensmomenten sind ihrerseits

172
schutzbedürftig  ; sie sind zum Teil infrastruktureller,
zum Teil menschlicher und zum Teil technischer Na-
tur. Dass dies bei Kindern der Fall ist, würden die meis-
ten wohl sofort zugestehen, wären aber skeptisch, was
Erwachsene angeht  ; ich halte dagegen, dass niemand,
egal welchen Alters, dieser besonderen Bedingung der
Abhängigkeit und Anfälligkeit jemals entwächst. Da-
für spricht meines Erachtens auch die Feststellung,
dass die elementare Fürsorge mit umfassenderen so-
zialen und politischen Arbeits- und Anspruchsfor-
men verknüpft ist. In diesem Zusammenhang stellt sich
die Frage, ob es hier nur um menschliche Körper geht
und ob wir schlicht eine Denktradition fortsetzen, in
der die Psychoanalyse mit dem Marxismus verknüpft
wird. Ich würde sagen, ja, das stimmt, aber nicht ganz,
und die Gründe dafür wurden womöglich schon von
Donna Haraway ausführlich genannt. Wenn man gar
nicht wirklich von Körpern sprechen kann, ohne auch
deren Umwelt, die Maschinen und komplexen Syste-
me gesellschaftlicher Abhängigkeit zu berücksichtigen,
auf die sie angewiesen sind, dann sind all diese nicht-
menschlichen Dimensionen des körperlichen Lebens
folglich konstitutiv für das menschliche Überleben und
Gedeihen. Trotz der jahrhundertelangen Behauptun-
gen über den Homo erectus steht der Mensch nicht al-
lein.5 Es gibt ganz offenkundig Beispiele von Menschen
jeden Alters, die auf Maschinen angewiesen sind, und
auch die meisten von uns haben irgendwann Maschi-
nen oder Technologien nötig. Ähnliches ließe sich über
das nichtkontingente Verhältnis von Mensch und Tier
sagen. Menschliche Körper unterscheiden sich nicht
grundsätzlich von tierischen, auch wenn man ohne wei-
teres einige Unterschiede einräumen kann. Es genügt
allerdings nicht zu sagen, dass die körperliche Seite des

173
Menschen als seine tierische Dimension zu betrachten
sei, wozu eine bedauerlich lange philosophische Tradi-
tion leider neigt. Die menschliche Kreatur steht schließ-
lich immer schon in Beziehung zum Tier, und zwar
nicht in dem Sinn, dass dieses das »Andere« des Men-
schen ist, sondern weil der Mensch ein Tier ist, wenn
er auch den anderen Tieren nicht genau gleicht (wobei
natürlich keine Tierart den anderen genau gleicht und
die Kategorie des Tieres diese interne Variation per de-
finitionem vorsieht). Darüber hinaus gibt es eine gro-
ße Menge von Lebensprozessen, die Menschliches und
Tierisches durchkreuzen und sich herzlich wenig um
die Unterscheidung zwischen den beiden scheren. Ha-
raway erklärt unter anderem, dass die Formen der Ab-
hängigkeit zwischen Mensch und Tier nahelegen, dass
sie sich teilweise gegenseitig konstituieren. Wenn wir
diese Abhängigkeit als zentral betrachten, wird der Un-
terschied zwischen Mensch und Tier zweitrangig (bei-
de sind abhängig, beide sind aufeinander angewiesen,
um die Wesen sein zu können, die sie sind). So gese-
hen ergeben sich die ontologischen Unterscheidungen
zwischen ihnen aus ihren Beziehungen zueinander. Die
analytischen Unterscheidungen, die wir gewöhnlich
zwischen Maschine, Mensch und Tier treffen, beruhen
somit sämtlich auf einer gewissen Verschleierung wech-
selseitiger Beziehungen.6
Ich begann mit der Feststellung, dass wir das Ver-
hältnis zwischen Körpern, Koalitionen und Street Po-
litics neu überdenken könnten und habe die Meinung
vertreten, dass einige der nichtmenschlichen und in-
frastrukturellen Bedingungen menschlichen Handelns
zu Zielen der politischen Mobilisierung werden, was
insbesondere dann der Fall zu sein scheint, wenn in-
frastrukturelle Güter umfassend und schnell abgebaut

174
werden. Weiter habe ich darauf hingewiesen, dass Kör-
per auf mindestens zwei Arten in diese Kämpfe ver-
wickelt sind, nämlich sowohl als Basis wie auch als Ziel
der Politik. Zudem habe ich empfohlen, das Verhält-
nis zwischen dem menschlichen Körper und der In-
frastruktur zu überdenken, um so die Eigenständigkeit
und Selbstgenügsamkeit des als singulär imaginierten
menschlichen Körpers zu hinterfragen, aber auch vor-
geschlagen, diesen gewissermaßen in seiner Abhän-
gigkeit von der Infrastruktur zu denken, wobei unter
Infrastruktur das komplexe Geflecht aus Umwelt, So-
zialbeziehungen, Unterstützungs- und Versorgungs-
netzwerken zu verstehen ist, das sich über die Grenzen
des Menschlichen, des Tierischen und des Technischen
hinweg erstreckt. Selbst wenn es uns gelingt, die Be-
dürfnisse des Körpers zu verstehen und aufzuzählen,
in deren Namen Menschen in den politischen Kampf
eintreten, bleibt letztlich die Frage, ob wir das Ziel die-
ses Kampfes für erreicht halten, wenn jene Bedürfnisse
erfüllt sind. Oder kämpfen wir auch dafür, dass Körper
gedeihen und dass Leben lebbar werden  ? Ich reihe hier
Wort an Wort auf der Suche nach einem Begriffszusam-
menhang, um mich an ein Problem heranzutasten, das
sich einer technischen Terminologie widersetzt  ; kein
einzelnes Wort ist in der Lage, die Art und das Ziel die-
ses menschlichen Strebens zu benennen, dieses gemein-
samen oder gemeinschaftlichen Strebens, in dem eine
der Bedeutungen der politischen Bewegung oder Mo-
bilisierung zu liegen scheint.
Es scheint mir wichtig, all dies im Blick zu behal-
ten, weil es zwei Argumentationsstränge gibt, die sich
manchmal nur schwer in Beziehung zueinander den-
ken lassen. Ein Argument lautet, dass Körper bekom-
men sollten, was sie zum Überleben brauchen, weil das

175
Überleben die Grundvoraussetzung dafür ist, höhere
politische Ziele des Lebens verwirklichen zu können,
die sich vom Überleben selbst deutlich unterscheiden
(dies war zeitweilig die Auffassung Hannah Arendts).
Das andere besagt, dass es kein politisches Ziel gibt,
welches sich von der gerechten und fairen Reproduk-
tion der Bedingungen des Lebens selbst trennen ließe,
wozu auch der Gebrauch der Freiheit gehört. Können
wir also sagen, dass wir überleben, um zu leben, und da-
mit Überleben und Leben voneinander trennen  ? Oder
ist es eher so, dass das Überleben immer mehr sein muss
als bloßes Überleben, um lebenswert zu sein  ?7 Es gibt
schließlich Menschen, die gewisse traumatische Ereig-
nisse überleben, doch das bedeutet nicht, dass sie auch
im vollen Sinne leben. Und auch wenn ich nicht weiß,
wie zwischen Leben im vollen Sinne und anderem Le-
ben zu unterscheiden ist, gehe ich davon aus, dass die-
se Unterscheidung wichtig ist. Können wir den Schluss
ziehen, dass die Forderung nach Überleben mit der
nach einem lebbaren Leben verknüpft ist  ? Wenn man
uns fragt, was die Bedingungen eines lebbaren Lebens
ausmacht, müssen wir die Frage beantworten können,
ohne ein einzelnes oder einheitliches Ideal dieses Le-
bens zu postulieren. In meinen Augen geht es nicht da-
rum herauszufinden, was »der Mensch« wirklich ist
oder gar, wie ein »menschliches Leben« auszusehen
hätte. Ja, es scheint mir, dass die kreatürliche Dimen-
sion des menschlichen Daseins uns hier unsere Grenzen
aufzeigt. Die Behauptung, dass auch Menschen Tiere
sind, bedeutet schließlich nicht, dass man ihre Bestia-
lisierung im Sinne einer Erniedrigung oder Abwertung
gutheißt, sondern dass man neu über die organischen
und anorganischen Wechselbeziehungen nachdenkt, in-
nerhalb deren etwas erkennbar Menschliches erst ent-

176
steht  ; das Tier namens Mensch lässt uns, mit anderen
Worten, die Bedingungen der Lebbarkeit überhaupt
überdenken. Wir brauchen keine idealeren Formen des
Menschlichen, die immer auch niedrigere Formen des-
selben implizieren oder Lebensformen aus dem Blick-
feld verschwinden lassen, die sich nicht in diese Norm
übersetzen lassen und damit eher weniger lebbar als
lebbarer gemacht werden. Aber aus ebendiesen Grün-
den und gerade weil »das Menschliche« nach wie vor
politisch so aufgeladen ist, müssen wir neu über des-
sen niedrigeren Rang innerhalb einer Menge von Re-
lationen nachdenken, um dann nach den Bedingungen
der ungleichen Anerkennung des »Menschen« fragen
zu können.8 Wenn ich sage, dass »wir« diese Kategorie
durchdenken müssen, bemühe ich möglicherweise eine
selbstgefällige humanistische Redeweise, um zu zeigen,
dass die Kategorie uns noch immer im Griff hat, auch
wenn wir uns diesem zu entwinden versuchen.
Ich habe am Anfang gestanden, dass ich seit meiner
Jugend eine gewisse freudige Erregung verspüre, wenn
sich Körper auf der Straße zusammenfinden, und doch
bin ich äußerst skeptisch gegenüber politischen Auffas-
sungen, die beispielsweise besagen, Demokratie müsse
als das Ereignis der wogenden Menge verstanden wer-
den. Ich bin nicht dieser Ansicht. Ich glaube, dass wir
danach fragen sollten, was solche Gruppen zusammen-
hält, welche Forderungen oder welchen gefühlten Sinn
von Ungerechtigkeit und Unlebbarkeit sie teilen, wel-
che Anzeichen der Möglichkeit des Wandels ihr Ge-
meinschaftsgefühl stärken. Damit dies alles demokra-
tisch genannt werden kann, muss es eine Opposition
gegen bestehende und zunehmende Ungleichheiten,
gegen die ständig wachsende Prekarität zahlreicher
Bevölkerungsgruppen auf lokaler und globaler Ebene

177
sowie gegen autoritäre und sekuristische Kontrollfor-
men geben, die versuchen, demokratische Prozesse und
Bewegungen zu unterdrücken. Wir stellen uns zwar
manchmal vor, dass politisches Abwägen und Han-
deln in und durch Versammlungen stattfindet, es gibt
aber auch andere Möglichkeiten, sich zu beraten und
zu handeln, die keine Zusammenkunft am selben Ort
erfordern. Körper versammeln sich auf der Straße oder
online oder mittels anderer, weniger sichtbarer Solidari-
tätsnetzwerke  ; Letzteres gilt besonders für Gefangene,
die für ihre politischen Forderungen Solidaritätsformen
nutzen, die nicht unbedingt direkt an einem öffent-
lichen Ort erscheinen müssen, und deren Solidarität,
wenn sie entsteht, auf dem gemeinsamen und gewalt-
samen Ausschluss vom öffentlichen Raum und einer
Zwangsisolierung in von Polizei oder Sicherheitsper-
sonal überwachten Zellen beruht. Dies wirft die Frage
auf, welche Form die Versammlungsfreiheit annimmt,
wenn sie als Recht ausdrücklich verweigert wird. Wenn
man sagt, dass es im Gefängnis keine oder nur einge-
schränkte Versammlungsfreiheit gibt, erkennt man da-
mit an, dass die Gefangenen dieser Freiheit gewaltsam
beraubt wurden  ; man kann dann über Gerechtigkeit
oder Ungerechtigkeit des Entzugs eines so grundlegen-
den Bürgerrechts diskutieren. Dem schließe ich mich
voll und ganz an. Gleichzeitig möchte ich jedoch darauf
hinweisen, dass es im Gefängnis immer wieder heim-
liche und manchmal recht effektive Wege gibt, von der
Versammlungsfreiheit Gebrauch zu machen, und dass
wir diese Widerstandsform nicht richtig begreifen kön-
nen, ohne diesen Punkt zu berücksichtigen. Die Soli-
daritäts- und Aktionsformen, die in Gefängnissen ent-
stehen, einschließlich Hungerstreiks, bilden ebenfalls
eine Form der Versammlungsfreiheit oder der in einer

178
solchen Freiheit implizierten Solidarität, und auch
dies muss als aktive Widerstandsform anerkannt wer-
den. Schon hier wird deutlich, dass Straßen und Plätze
nicht die einzigen Plattformen des politischen Wider-
stands sind und es auch dort, wo die Freiheit, Plätze zu
besetzen oder auf die Straße zu gehen, nicht existiert,
sehr wohl Orte des Widerstands gibt. Können die vier
Wände einer Gefängniszelle möglicherweise eine ähn-
liche Funktion erfüllen wie die Panzer, die – wie 2011
in Kairo geschehen – zu Plattformen werden, von der
aus Menschen ihre Ablehnung des Militärs öffentlich
zum Ausdruck bringen  ? Der eingesperrte Körper kann
sich zwar nicht frei bewegen, aber er kann seine Einge-
schränktheit dennoch nutzen, um Widerstand aus-
zuüben. Der öffentliche Platz ist in diesen Fällen keine
Stütze für solche Aktionen (obwohl Menschen, die sich
dort versammeln, um die Gefangenen zu unterstützen,
sicher eine Hilfe sind und diese räumliche Stütze und
ihre symbolische Kraft nutzen können)  ; Unterstützung
bekommt hier jedoch, drinnen wie draußen, noch einen
anderen Sinn  : in Formen der Solidarität, in den ver-
schiedenen Arten der Nahrungs- und Arbeitsverwei-
gerung, im Ersinnen von Kommunikationsmöglichkei-
ten, in der Weigerung, als Gefangene / ​r reibungslos zu
funktionieren und in Maßnahmen, um die Reproduk-
tion der Institution Gefängnis zu stören. Haftanstal-
ten sind auf die erfolgreiche Regulierung menschlicher
Handlungen und Bewegungen angewiesen, auf die Re-
produktion des Körpers des beziehungsweise der Ge-
fangenen, und wenn diese regulative Macht versagt,
wie etwa bei einem Hungerstreik, verliert das Gefäng-
nis seine Funktionsfähigkeit. Dieses Funktionsversagen
ist darüber hinaus auch mit der Gefährdung oder Tö-
tung der Gefangenen selbst verknüpft. Man erinnert

179
sich vielleicht, dass der Bestrafungsapparat in Kafkas
Erzählung In der Strafkolonie den Offizier genau in
dem Moment zerstört, in dem er außer Kontrolle ge-
rät. Auch der Hungerstreik führt möglicherweise zu
einem solchen Kontrollverlust, was er aber eigentlich
entlarven will, ist die Tötungsmaschine, die das Gefäng-
nis immer schon gewesen ist, auch wo es effizient funk-
tioniert. Wenn nämlich die effektive Reproduktion der
Gefangenen Hand in Hand mit der Verschlechterung
ihrer Lebbarkeitsbedingungen geht, vollzieht sich die
Bewegung zum Tode bereits vor jedem Hungerstreik.
Dieser führt nur das Todbringende vor Augen, das dem
Gefängnis immer schon innewohnt. In diesem Sinne ist
der Hungerstreik eine körperliche Inszenierung, die ih-
ren eigenen Performativitätsregeln folgt  ; der Hunger-
streik vollführt, was er zeigen und wogegen er Wider-
stand leisten will.
Jede dieser Situationen muss natürlich im jeweiligen
Kontext betrachtet werden. Den jüngsten Versamm­
lungen auf Straßen und öffentlichen Plätzen, ob durch
die Occupy-Bewegungen oder die Indignados in Spa-
nien, ging es sowohl um die kurzfristige Unterstützung
der Teilnehmer vor Ort als auch um die umfassende-
re Forderung nach dauerhafter Hilfe vor dem Hinter-
grund, dass immer mehr Menschen arbeitslos werden,
Lohneinbußen hinnehmen müssen, ihre Wohnung ver-
lieren oder von Kürzungen der Sozialleistungen be-
troffen sind. Die Versammlung ist mithin kein exaktes
Spiegelbild der breiteren Struktur der ökonomischen
Welt. Jedoch werden bei diesen kleineren Versamm-
lungen bestimmte Grundsätze erarbeitet, die geeignet
sind, Ideale von Gleichheit und Interdependenz her-
vorzubringen – oder zu erneuern –, die sich durchaus
auch auf größere nationale und globale Zusammenhän-

180
ge übertragen lassen. Was die Versammlung tut und was
sie sagt, hängt zusammen, auch wenn es nicht immer
dasselbe ist  ; die politische Forderung wird zugleich in-
szeniert und gestellt, exemplifiziert und kommuniziert.
Das heißt, dass den erhobenen Forderungen in jedem
Fall eine performative Dimension innewohnt, wobei
die Performativität als chiasmische Beziehung zwischen
Körper und Sprache fungiert. Wir gehen also nicht aus-
schließlich oder vorrangig als Träger / ​innen abstrakter
Rechte auf die Straße. Wir gehen auf die Straße, weil
wir uns dort bewegen müssen  ; wir brauchen befestig-
te Straßen, damit wir uns zum Beispiel auch im Roll-
stuhl auf ihnen bewegen und diesen Raum durchque-
ren können, ohne behindert, belästigt oder verhaftet zu
werden und ohne befürchten zu müssen, verletzt oder
gar getötet zu werden. Wenn wir auf der Straße sind,
dann weil wir Körper sind, die auf öffentliche Unter-
stützung angewiesen sind, um stehen und uns bewe-
gen zu können und um ein Leben von Belang führen
zu können. (Ich gehe davon aus, dass diese weit gefasste
Behauptung aus den Disability Studies – dass alle Kör-
per Unterstützung brauchen, um sich bewegen zu kön-
nen – auch Auswirkungen darauf hat, wie wir uns vor-
zustellen haben, was öffentlichen Mobilisierungen hilft,
insbesondere solchen, die auf die öffentliche Förderung
der Infrastruktur hinwirken.) Diese Vulnerabilität zeigt
sich, ob wir uns nun aktuell besonders verwundbar
fühlen oder nicht. Mobilität ist an sich ein Recht des
Körpers, sie ist aber auch Voraussetzung für die Aus-
übung anderer Rechte, wie des Versammlungsrechts.
Viele Mobilisierungen kreisen um das Recht, sich frei
zu bewegen, zum Beispiel die wichtigen Slutwalks, die
mittlerweile an vielen Orten auf der ganzen Welt statt-
finden und eine Möglichkeit bieten, einer bestimmten

181
Etikettierung und der Ablehnung gegen sie Ausdruck
zu verleihen und die Straße als Ort zu beanspruchen,
der frei von Belästigung und Vergewaltigung sein sollte.
Es kann ein gefährlicher Akt sein, einfach nur spazieren
zu gehen – zum Beispiel nachts allein als Frau oder als
Transgender – oder sich zu versammeln, obwohl Po-
lizeigewalt droht. Menschen mobilisieren sich für das
Recht von Frauen, in religiöser Tracht auf die Straße
zu gehen  ; für das Recht von Transfrauen, zur Arbeit zu
gehen oder mit anderen Transfrauen in einem Akt der
Solidarität oder im Kampf für größere gesellschaftliche
Belange zu demonstrieren  ; für das Recht, als Schwar-
ze / ​r nachts auf der Straße zu sein, ohne dass jemand
annimmt, man sei kriminell  ; für das Recht von Behin-
derten auf barrierefreie Wege und Hilfsmittel  ; für das
Recht von Palästinenser / ​innen, jede Straße in Hebron
zu betreten, wo Bedingungen der Apartheid herrschen.
Diese Rechte sollten selbstverständlich und nicht der
Rede wert sein, und manchmal sind sie das auch. Für
bestimmte Regime stellt jedoch die Ausübung einer so
kleinen Freiheit wie der Gang auf die Straße eine He-
rausforderung dar, sie bedeutet eine geringfügige per-
formative Störung, ausgelöst durch eine Bewegung – im
körperlichen wie im politischen Sinne des Wortes.
Solche Aktionen brauchen und verdienen Solidari-
tät, sie bedürfen aber auch der Unterstützung durch in-
frastrukturelle Bedingungen und Gesetze und dürfen
nicht durch Gewalt- oder Zwangsmaßnahmen vereitelt
werden. Die angesprochenen Kämpfe gehen davon aus,
dass Körper Einschränkungen unterliegen beziehungs-
weise Gefahr laufen, eingeschränkt zu werden, dass sie
ohne Arbeit und ohne Mobilität sein und dass sie Ge-
walt oder Zwang erleiden können. Will ich damit sa-
gen, dass Körper nicht aktiv, sondern verwundbar sind  ?

182
Oder dass auch verwundbare Körper agieren können  ?
Tatsächlich lautet meine These, dass es ebenso falsch
wäre, den Körper als primär oder definitorisch aktiv
zu denken wie als primär oder definitorisch verwund-
bar und inaktiv. Wenn wir eine Definition des Körpers
brauchen, wird diese vielmehr davon abhängen, dass
wir Verwundbarkeit und Handlungsfähigkeit zusam-
men denken. Insbesondere bin ich mir im Klaren da-
rüber, wie kontraproduktiv es sein kann, die Körper
von Frauen als besonders verwundbar zu betrachten.
Wir geraten sofort auf unsicheres Terrain, wenn wir
an die lange und beklagenswerte Geschichte einer Ge-
schlechterpolitik denken, die Frauen und Männern die
Kategorien passiv und aktiv zugeordnet hat. Wenn wir
dennoch sagen, dass die Verwundbarkeit ungleich ver-
teilt ist, soll das lediglich heißen, dass gewisse Gruppen
unter bestimmten Machtregimes leichter zur Zielschei-
be werden, eher unter Armut leiden oder in stärkerem
Maße Polizeigewalt ausgesetzt sind als andere. Wir ma-
chen eine soziologische Beobachtung, die der weiteren
Absicherung bedarf. Aus dieser soziologischen Aus-
sage kann freilich auch leicht eine neue Beschreibungs-
norm werden, nach der Frauen anhand ihrer Verwund-
barkeit definiert werden. In diesem Fall würde das
Problem, das mit der Beschreibung angegangen werden
soll, durch diese gerade reproduziert und ratifiziert.
Dies ist einer der Gründe, warum wir genau darauf
achten sollten, was die Mobilisierung und besonders
die konzertierte Mobilisierung von Verwundbarkeit
eigentlich bedeutet. Für viele Menschen ist der Mo-
ment, in dem sie aktiv auf der Straße in Erscheinung
treten, mit dem bewussten Risiko des Ausgesetztseins
verbunden. Das Wort »Ausgesetztsein« kann uns hier
vielleicht helfen, bei der Betrachtung der Vulnerabilität

183
nicht in die Falle der Ontologie und der Letztbegrün-
dungstheorie zu tappen. Ausgesetzt sind besonders
diejenigen, die ohne Genehmigung auf der Straße er-
scheinen, die der Polizei, dem Militär oder anderen Si-
cherheitskräften unbewaffnet entgegentreten. Obgleich
schutzlos, ist man hier freilich nicht auf das »nackte Le-
ben« zurückgeworfen. Keine souveräne Macht stößt
hier das Subjekt aus dem politischen Feld als solchem,
im Gegenteil  : Wenn Körper auf den Straßen, in Zellen
oder an den Rändern von Städten und Ländern Über-
griffen ausgesetzt sind, haben wir es mit einem facetten-
reicheren und diffuseren Einsatz von Macht und Ge-
walt zu tun – einer spezifisch politischen Form der Not.
Feministische Theoretiker / ​innen vertreten natürlich
schon lange die Auffassung, dass Frauen von sozialer
Vulnerabilität überproportional betroffen sind.9 Zu be-
haupten, Frauen seien besonders verwundbar, ist im-
mer mit einem gewissen Risiko verbunden – wenn man
bedenkt, wie viele andere Gruppen dasselbe für sich in
Anspruch nehmen können und dass sich die Katego-
rie der Frauen noch mit anderen überschneidet, wie der
Kategorie der Klasse, der ethnischen Zugehörigkeit, des
Alters sowie weiteren Machtvektoren und Orten poten-
zieller Diskriminierung und Verletzung. Dennoch lässt
sich dieser Tradition immer noch etwas Wichtiges ab-
gewinnen. Manchmal wird die fragliche Behauptung so
aufgefasst, dass Verwundbarkeit ein unveränderliches
Definitionsmerkmal von Frauen sei, woraus sich dann
Gründe für paternalistische Schutzvorkehrungen ablei-
ten lassen. Wenn Frauen als besonders verletzlich gelten
und dann eben Schutz suchen, fällt dem Staat und ande-
ren paternalistischen Mächten die Aufgabe zu, für die-
sen Schutz zu sorgen. Nach diesem Modell ersucht der
feministische Aktivismus nicht nur paternalistische Au-

184
toritäten um Sonderregelungen und besonderen Schutz,
sondern bekräftigt geradezu die Machtungleichheit, die
Frauen die Position der Machtlosigkeit und damit Män-
nern die der Macht zuweist. Und wo nicht einfach oder
ausschließlich »Männern« die Schutzfunktion übertra-
gen wird, wird staatlichen Strukturen die paternalis-
tische Pflicht auferlegt, die Erreichung feministischer
Ziele zu fördern. Das ist eine ganz andere Auffassung
als etwa die, dass Frauen verwundbar, aber auch zum
Widerstand fähig sind, und dass Verwundbarkeit und
Widerstand gleichzeitig auftreten können, ja müssen,
wie sich an bestimmten Formen feministischer Selbst-
verteidigung und Einrichtungen (etwa Frauenhäusern)
erkennen lässt, die versuchen, Schutz zu bieten, ohne
paternalistische Kräfte zu stärken  ; ein anderes Beispiel
sind die Netzwerke zur Unterstützung von Transfrauen
in der Türkei und überall dort, wo die erweiterte und
erweiterbare Kategorie der Frauen aufgrund ihres Auf-
tretens Belästigungen oder Verletzungen ausgesetzt ist.
Selbstverständlich gibt es gute Gründe, von der dif-
ferenziellen Vulnerabilität von Frauen auszugehen  ; sie
sind übermäßig stark von Armut und Analphabetismus
betroffen – zwei sehr wichtige Kategorien jeder globa-
len Analyse der Lage von Frauen (und zwei Gründe,
warum wir nicht »postfeministisch« sein werden, so-
lange diese Bedingungen nicht vollständig überwun-
den sind). Viele der Feminist / ​innen, die gleichsam die
Wende zur Vulnerabilität vollzogen, taten dies, um den
Schutz von Frauen durch Menschenrechtsorganisatio-
nen und internationale Gerichte zu verbessern. Diese
Verrechtlichung des feministischen Projekts soll der
Sprache Priorität einräumen, die zur Stärkung solcher
Gesuche vor Gericht notwendig ist. So wichtig solche
Appelle auch sein mögen, ihr Vokabular ist doch recht

185
eingeschränkt für ein Verständnis weit verbreiteter und
nicht im juristischen Rahmen stattfindender feministi-
scher Widerstandsformen oder um die Dynamik von
Massenbewegungen sowie zivilgesellschaftliche Initia-
tiven oder von Vulnerabilität geprägte und mobilisierte
Formen des politischen Widerstands zu erfassen.
Die Notwendigkeit einer Politik, die paternalistische
Einschränkungen vermeidet, scheint auf der Hand zu
liegen. Wenn der Widerstand gegen den Paternalismus
jedoch zugleich auch alle staatlichen und wirtschaft-
lichen Einrichtungen der Sozialfürsorge ablehnt, dann
geht die Forderung nach infrastruktureller Unterstüt-
zung darin unter oder bewirkt sogar genau das Gegen-
teil. Die Aufgabe wird also unter Bedingungen wach-
sender Prekarität, in denen immer mehr Menschen von
Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Analphabetismus
und unzureichender medizinischer Versorgung bedroht
sind, nur umso schwieriger. Das Problem ist in meinen
Augen, den feministischen Anspruch, dass solche Insti-
tutionen lebenswichtig sind, effektiv aufrechtzuerhal-
ten und dabei gleichzeitig Formen des Paternalismus zu
widerstehen, die Ungleichheitsverhältnisse wiederher-
stellen und als natürlich erscheinen lassen.
Obgleich die Vulnerabilität also eine große Bedeu-
tung für die feministische Theorie und Politik hat, darf
sie nicht als Definitionsmerkmal für Frauen als Gruppe
dienen. Solche Versuche, eine auf die Verwundbarkeit
gegründete neue Norm für die Kategorie der Frauen
aufzustellen, würde ich ablehnen. Schon die Debatte
darüber, wer überhaupt zur Gruppe der »Frauen« ge-
hört, verweist ja auf eine ganz bestimmte Vulnerabili-
tät, die diejenigen trifft, die nicht den Geschlechternor-
men entsprechen und aus diesem Grund in erhöhtem
Maße Diskriminierungen, Belästigungen und Gewalt

186
ausgesetzt sind. Eine vorläufig unter der Bezeichnung
»Frauen« zusammengefasste Gruppe ist folglich weder
verwundbarer als eine vorläufig unter der Bezeichnung
»Männer« zusammengefasste Gruppe, noch ist es be-
sonders hilfreich oder richtig, wenn man zu beweisen
versucht, dass Frauen Verwundbarkeit einen größeren
Wert beimessen als Männer. Vielmehr ist es so, dass be-
stimmte geschlechtsdefinierende Attribute wie Ver-
wundbarkeit oder Unverwundbarkeit unter bestimm-
ten Machtregimes ungleich verteilt sind, und zwar
genau zu dem Zweck, solche Machtregime zu stützen,
die Frauen entrechten. Wir denken an die Ungleich-
verteilung von Waren im Kapitalismus oder von natür-
lichen Ressourcen, besonders Wasser, aber wir sollten
auch daran denken, dass sich Bevölkerungsgruppen un-
ter anderem dadurch organisieren lassen, dass Vulnera-
bilität ungleich verteilt wird, so dass sowohl im Diskurs
als auch in der politischen Praxis »verwundbare Bevöl-
kerungsgruppen« geschaffen werden. Neuerdings lässt
sich beobachten, dass soziale Bewegungen und politi-
sche Analyst / ​innen prekäre Bevölkerungsgruppen in
den Blick nehmen und dass über entsprechende Politik-
strategien nachgedacht wird, um deren Lage zu verbes-
sern.10 Dieselbe Forderung wird aber auch in den gän-
gigen Kämpfen auf breiterer Basis erhoben, in denen
die Prekarität sowohl sichtbar gemacht als auch zum
Einsatz gebracht wird und die sozusagen die Möglich-
keiten performativen politischen Handelns aufzeigen,
die sich aus der Prekarität selbst ergeben. Es scheint of-
fensichtlich, dass die Benennung der Verwundbarkeit
oder Prekarität in dem Fall, dass sie diese Form der
politischen Forderung auslöscht, genau den Zustand
noch stärker zementiert, den sie doch zu lindern ver-
sucht.

187
Wir sehen also, dass es schon riskant ist, den Begriff
»Vulnerabilität« überhaupt zu gebrauchen. Aber ist es
auch riskant, ihn zu scheuen  ? Bekommt die Vulnera-
bilität eine spezifisch politische Wertigkeit, wenn wir
stattdessen von Prekarität sprechen, und können wir
mit einem der beiden Begriffe mehr anfangen  ? Ich bin
mir nicht sicher, ob ein Austauschen der Begriffe uns
hier wirklich weiterhilft, denn beide bergen bestimm-
te Risiken.
Es gibt natürlich auch noch eine weitaus finsterere
Variante, die beiden Kategorien Prekarität und Ver-
wundbarkeit ins Feld zu führen. In der Terminologie
sowohl des Militärwesens als auch der Ökonomie wer-
den bestimmte Gruppen effektiv als (ungestraft) ver-
wundbar beziehungsweise verfügbar herausgegriffen
(sie leben unter der Bedingung der freien Verfügbar-
keit weiter oder auch nicht, sind also im wahrsten Sin-
ne des Wortes entsorgt worden – eine Unterscheidung,
die ein Intervall im Zeit-Raum des sozialen Todes bil-
det). Diese Art der expliziten oder impliziten Markie-
rung dient zur Rechtfertigung der Tatsache, dass man
solchen Gruppen Schaden zufügen kann (wie wir es in
Zeiten des Krieges oder im Fall staatlicher Gewalt ge-
gen Bürger / ​innen ohne Papiere erleben). Der Begriff
»Verwundbarkeit« kann also dazu dienen, eine Bevöl-
kerungsgruppe ins Visier zu nehmen, um sie zu dezi-
mieren. Das hat zu einem Paradox innerhalb des Neo-
liberalismus und seiner Idee der »Responsibilisierung«
geführt, nach der solche Gruppen für ihre prekäre Lage
oder das zunehmende Gefühl der Prekarisierung selbst
verantwortlich sind. Um dieser schändlichen Moral
entgegenzuwirken, verteidigen Menschenrechtsakti-
vist / ​innen die Idee der Vulnerabilität und bestehen auf
der Notwendigkeit des rechtlichen und institutionellen

188
Schutzes solcher Gruppen. Der Begriff der Verwund-
barkeit wirkt hier auf zweierlei Weise  : zum einen, um
auf eine Bevölkerungsgruppe abzuzielen, und zum an-
deren, um sie zu schützen, das heißt, der Begriff wurde
dazu benutzt, eine restriktive politische Logik zu etab-
lieren, der zufolge es nur die Alternative gibt, Zielschei-
be zu sein oder beschützt zu werden. Wenn der Begriff
so angewendet wird, dann bringt er effektiv sowohl
Volksbewegungen (wenn nicht gar Formen der Volks-
souveränität) als auch aktive Kämpfe um Widerstand
und gesellschaftlichen und politischen Wandel zum
Verschwinden. Man mag diese zwei Verwendungsarten
des Begriffs der Verwundbarkeit für antithetisch hal-
ten, und sie sind es auch – allerdings nur innerhalb einer
problematischen Logik, welche andere Formen politi-
scher Rationalität und Praxis verdrängt, die wohl dring-
licher und vielversprechender sein dürften.
Zur Zielscheibe erklären und schützen sind mithin
Praktiken, die ein und derselben Machtlogik entsprin-
gen. Wenn gefährdete Bevölkerungsgruppen ihre Lage
selbst herbeigeführt haben, gehören sie keinem Macht-
regime an, das Prekarität systemisch reproduziert. Die
Ursache ihrer prekären Situation liegt dann in ihrem
eigenen Handeln beziehungsweise Versagen. Wenn sie
als schutzbedürftig betrachtet werden und wenn pater-
nalistische Machtformen (zu denen auch Philanthropie
und humanitäre NGO s gehören können) sich dauerhaft
in die Position bringen wollen, die Machtlosen zu re-
präsentieren, dann werden ebendiese Gruppen damit
aus demokratischen Prozessen und Mobilisierungen
ausgeschlossen. Die Antwort auf dieses Dilemma liegt
weder darin, gefährdete Bevölkerungsgruppen in eine
moralische Position der Überverantwortlichkeit zu
bringen noch sie umgekehrt als Leidende hinzustellen,

189
die der »Fürsorge« guter Christ / ​innen bedürfen (wie
dies im gegenwärtigen sozialdemokratischen Diskurs
in Frankreich mit seiner impliziten Verbundenheit zu
christlichen Werten geschieht).
Der vorliegende Ansatz betrachtet Verwundbarkeit
und Unverwundbarkeit als politische Effekte, als un-
gleich verteilte Wirkungen eines Machtfeldes, das auf
und durch Körper wirkt  ; diese schnellen Umkehrun-
gen zeigen, dass Verwundbarkeit und Unverwundbar-
keit keine Wesensmerkmale von Männern oder Frauen
sind, sondern vielmehr Prozesse der Formation von
Geschlecht, Wirkungen von Machtmodi, die unter an-
derem das Ziel haben, auf Ungleichheit beruhende Ge-
schlechterdifferenzen zu erzeugen. Belege dieser Logik
finden wir beispielsweise, wenn es heißt, dass der Fe-
minismus die Männlichkeit »angreife« – hier ist also die
Männlichkeit in der Position der »Verwundbarkeit«  ;
oder es heißt, dass die Allgemeinheit von diversen se-
xuellen und geschlechtlichen Minderheiten »angegrif-
fen« werde  ; auch der Bundesstaat Kalifornien sieht sich
neuerdings »Angriffen« ausgesetzt, weil er seine wei-
ße Mehrheit verloren hat  ; und Arizona wird angeblich
von seiner Latinobevölkerung »angegriffen« und ver-
sucht folglich, seine Grenze nach Süden noch undurch-
lässiger zu machen. Auch von verschiedenen europäi-
schen Staaten heißt es, sie seien »Angriffen« durch neue
Einwanderer ausgesetzt, womit so getan wird, als be-
fänden sich die herrschenden Gruppen und ihre rassis-
tischen Vertreter im Zustand der Verwundbarkeit.
Diese strategische Verwendung des Begriffs der Ver-
wundbarkeit steht im Widerspruch zu Analysen des
psychoanalytischen Feminismus, die in etwa besagen  :
Die auf diese Weise konstruierte männliche Position
basiert praktisch auf der Verleugnung der eigenen kon-

190
stitutiven Verwundbarkeit. Wir alle kennen vermutlich
die eine oder andere Version dieses Arguments.11 Die
Verneinung oder Verleugnung setzt die politische In-
stituierung von Verneinung, Projektion und Verschie-
bung voraus. Sie versammelt sich um das Signum des
Weiblichen. Allerdings sieht sich diese Analyse einer
Umkehrung ihrer Formulierungen ausgesetzt  ; schließ-
lich kann die Erzeugung einer Hypervulnerabilität (der
Nation, der Männlichkeit) eine Begründung zur Einhe-
gung sowohl von Frauen als auch von Minderheiten
liefern. Wer jene Undurchlässigkeit erreicht, tilgt – das
heißt löscht und externalisiert – sämtliche Erinnerungs-
spuren der Verwundbarkeit und ist bestrebt, gegenwär-
tige, nicht kontrollierbare Gefühle der Verwundbarkeit
in den Griff zu bekommen. Eine Person, die sich er-
klärtermaßen für unverwundbar hält, sagt im Grunde  :
»Ich war nie verwundbar, und wenn, dann nicht wirk-
lich, und ich erinnere mich nicht an diesen Zustand,
aber im Moment bin ich es auf jeden Fall nicht.« Wer
so redet, beweist, was er / ​sie zu leugnen versucht. Eine
immer weiter wachsende Menge von Behauptungen
wird von der körperlichen Bedingung ihrer Äußerung
selbst Lügen gestraft und lässt so einen Teil der politi-
schen Syntax der Verleugnung erkennen. Wir sehen hier
freilich auch, wie Geschichten erzählt werden können,
um ein Ideal des Selbst zu stützen, von dem man möch-
te, dass es wahr ist  ; die Kohärenz solcher Geschichten
hängt von der Verleugnung ab und ist außerordentlich
brüchig.
Psychoanalytische Sichtweisen wie diese bieten
zwar wichtige Einblicke in die besondere Art der ge-
schlechtsspezifischen Verteilung von Verwundbarkeit,
sie liefern jedoch nur einen Teil der Art von Analyse,
die diesbezüglich nötig wäre  ; wenn wir nämlich sa-

191
gen, dass eine Person oder Gruppe ihre Verwundbar-
keit verleugnet, unterstellen wir damit nicht nur, dass es
diese Verwundbarkeit schon gab, sondern auch, dass sie
in gewissem Sinne nicht geleugnet werden kann. Ver-
leugnung ist immer ein Versuch, von etwas abzulenken,
das hartnäckig der Fall ist, und daher ist die potenzielle
Widerlegung der Verleugnung eines ihrer wesentlichen
Definitionsmerkmale. In diesem Sinne ist die Verleug-
nung der Verwundbarkeit zwar unmöglich, kommt
aber ständig vor. Zwar darf man Individuen und Grup-
pen hier nicht einfach gleichsetzen, zu verschieden sind
die Prozesse, in denen sie sich herausbilden, gewisse
Formen der Verneinung und Verleugnung lassen sich
jedoch bei beiden beobachten. Befürworter / ​innen mi-
litärischer Begründungen der Zerstörung von Grup-
pen oder Bevölkerungsteilen, die zur Zielscheibe er-
klärt werden, könnten wir beispielsweise sagen  : »Ihr
handelt, als ob ihr selbst nicht verwundbar für die Art
von Zerstörung wärt, die ihr verursacht.« Und Ver-
treter / ​innen bestimmter neoliberaler Wirtschaftsfor-
men könnten wir sagen  : »Ihr handelt, als ob ihr selbst
nie zu den Bevölkerungsgruppen gehören könntet, de-
ren Arbeit und Leben gefährdet ist, die plötzlich ihrer
Grundrechte oder des Zugangs zu Wohnraum und me-
dizinischer Versorgung beraubt werden können oder
die mit der Angst leben müssen, niemals eine Arbeit
zu finden.« Wir nehmen somit an, dass diejenigen, die
versuchen, andere der Verwundbarkeit auszusetzen –
oder sie dauerhaft in eine solche Lage zu bringen –, und
ebenso diejenigen, die versuchen, eine Position der Un-
verwundbarkeit für sich zu reklamieren und aufrecht-
zuerhalten, ihre eigene Verwundbarkeit leugnen wol-
len, kraft deren sie stur, wenn nicht sogar in kaum zu
ertragender Weise an die gebunden sind, die sie zu un-

192
terjochen trachten. Wenn man wider Willen an andere
gebunden ist, auch und gerade dann, wenn ein Vertrag
ein Mittel der Unterjochung ist, kann dieses Band einen
buchstäblich verrückt machen, stellt es doch eine inak-
zeptable Form erzwungener Abhängigkeit dar, wie bei
der Sklavenarbeit oder anderen Arten von Zwangsver-
trägen. Das Problem ist nicht die Abhängigkeit als sol-
che, sondern deren taktische Ausnutzung. Dies führt
dann zu der Frage, was eine Trennung von Abhängig-
keit und Ausbeutung bedeuten würde, so dass das eine
nicht unmittelbar das andere impliziert. Politische Wi-
derstandsformen, die für eine Autonomie ohne jede
Abhängigkeit eintreten, machen möglicherweise gera-
de den Fehler, Abhängigkeit als Ausbeutung zu begrei-
fen. Der Begriff der Abhängigkeit ist natürlich, wie Al-
bert Memmi in seinem wichtigen Text Von Süchten und
Sehnsüchten gezeigt hat, zur Rationalisierung kolonia-
ler Machtformen benutzt worden, indem erklärt wur-
de, manche Bevölkerungsgruppen seien eben abhängi-
ger als andere, sie benötigten die Kolonialherrschaft,
denn diese sei für sie oder zumindest manche von ihnen
der einzige Weg in die Moderne und die Zivilisation.12
Aber soll der Begriff nun diesen Makel behalten oder
lässt er sich vielleicht auf eine andere Weise mobilisie-
ren, die sogar einen gewissen Bruch mit seinem Erbe
erzwingt  ?
Wie anders wäre die allgemeine Behauptung zu ver-
stehen, dass Körper zum Überleben und Gedeihen un-
abdingbar auf stabile Beziehungen und Institutionen
angewiesen sind  ? Sagen wir mit einer solchen Behaup-
tung nicht, was Körper letztlich sind, das heißt, liefern
wir damit nicht eine allgemeine Ontologie des Kör-
pers  ? Und geben wir der Vulnerabilität dadurch nicht
einen generellen Vorrang  ? Ganz im Gegenteil  : Gera-

193
de weil Körper in Beziehung zu infrastrukturellen Un-
terstützungen (oder deren Fehlen) und sozialen und
technologischen Netzwerken und Beziehungsgeflech-
ten geformt und erhalten werden, lässt sich der Kör-
per nicht aus seinen konstitutiven Beziehungen he-
rauslösen – wobei es sich immer um ökonomisch und
historisch spezifische Beziehungen handelt. Wenn wir
also sagen, der Körper ist verwundbar, dann heißt das,
dass er für Wirtschaft und Geschichte verwundbar ist.
Die Vulnerabilität bezieht sich immer auf ein Objekt,
sie wird immer in Bezug auf eine Reihe von Bedingun-
gen geformt und gelebt, die außerhalb und doch Teil
des Körpers selbst sind. Man könnte also sagen, dass
der Körper in einem ekstatischen Verhältnis zu den
Rahmenbedingungen steht, die er hat oder braucht  ;
das heißt aber, dass er nie in einem von seiner histori-
schen Situation getrennten Seinsmodus existiert. Viel-
leicht wird es deutlicher, wenn ich es so formuliere  : Der
Körper ist der Geschichte, der Prekarität und der Ge-
walt ausgesetzt, aber auch dem, was ihm ungefragt oder
glücklicherweise widerfährt, wie Leidenschaft und Lie-
be, plötzliche Freundschaft oder unerwarteter Verlust.
Ja, man kann sagen, dass alles Unerwartete am Verlust
eine Vulnerabilität berührt, die uns eigen ist und die wir
nicht vorhersehen oder im Voraus steuern können. In
diesem Sinne bezeichnet Vulnerabilität eine Dimension
des Unvorhersehbaren, des Unvorhersagbaren und des
Unkontrollierbaren  ; das kann die beiläufige Bemer-
kung eines Fahrgastes sein, die man zufällig im Bus
aufschnappt, der plötzliche Verlust einer Freundschaft
oder auch die brutale Vernichtung von Leben durch
einen Bombenangriff. Das ist nicht dasselbe, aber dass
wir als Geschöpfe offen für das Geschehen sind, macht
uns möglicherweise auch verwundbar, wenn das, was

194
geschieht, nicht im Voraus erkennbar ist. Die Vulnera-
bilität verwickelt uns in etwas, das über uns hinausgeht
und doch Teil von uns ist  ; sie macht damit einen zentra-
len Aspekt dessen aus, was wir annäherungsweise unse-
re Verkörperung nennen können.
Ich kann nun vielleicht einige Punkte bezüglich der
Vulnerabilität klarstellen, die deren politische Bedeu-
tung weder idealisieren noch schmälern sollen. Der ers-
te ist, dass man Vulnerabilität nicht ausschließlich mit
Verletzlichkeit assoziieren darf. Unsere Empfänglich-
keit für alles, was geschieht, ist eine Funktion und eine
Wirkung der Vulnerabilität – des Offenseins gegen-
über der Geschichte, des Registrierens eines Eindrucks
oder des Beeindrucktwerdens. Vulnerabilität kann eine
Funktion der Offenheit sein, das heißt des Offenseins
gegenüber einer Welt, die nicht vollständig bekannt
oder vorhersagbar ist. Zu den Dingen, die ein Körper
kann (um eine Formulierung von Deleuze zu verwen-
den, die er in seiner Spinoza-Lektüre entwickelt), ge-
hört, sich dem Körper eines anderen oder einer Menge
von anderen zu öffnen, und folglich sind Körper kei-
ne in sich geschlossenen Entitäten.13 Sie sind gewisser-
maßen immer außer sich, erforschen oder erkunden
ihre Umwelt und werden durch ihre Sinne erweitert,
manchmal sogar enteignet.14 Dass wir uns in einem an-
deren verlieren können, dass uns unsere taktilen, mo-
tilen, visuellen, olfaktorischen oder auditiven Fähig-
keiten über uns selbst hinausführen, liegt daran, dass
der Körper nicht an seinem Platz bleibt und dass der-
lei Enteignung den Körpersinn ganz allgemein kenn-
zeichnet.
Von daher ist es auch wichtig, über die Regulierung
der Sinne als eine politische Angelegenheit zu spre-
chen – es gibt zum Beispiel Fotos verwundeter oder

195
zerstörter Körper im Krieg, die wir oft nicht zu sehen
bekommen, weil befürchtet wird, dass dieser Körper
nachfühlen könnte, was jene anderen Körper durch-
gemacht haben, oder dass dieser Körper in seinem sinn-
lichen Außersichsein nicht eingeschlossen, monadisch
und vereinzelt bleibt. Tatsächlich könnten wir die Fra-
ge stellen, welche Art der Regulierung der Sinne – je-
ner Modi der ekstatischen Relationalität – erforderlich
wäre, um den Individualismus als für die Wirtschaft
wie für die Politik notwendige Ontologie aufrechtzuer­
halten.
Wir reden häufig so, als sei Vulnerabilität ein kon-
tingenter und passagerer Umstand, es gibt aber auch
Gründe, dies nicht generell zu akzeptieren. Natürlich
kann man immer sagen  : »Damals war ich verwundbar,
aber jetzt bin ich es nicht mehr«  ; wir meinen damit Si-
tuationen, in denen wir uns gefährdet oder verletzlich
gefühlt haben. Das können wirtschaftliche oder finan-
zielle Situationen sein, in denen wir uns ausgebeutet
fühlen, die Arbeit verloren haben, verarmt sind und öf-
fentliche Hilfe brauchen, die ihrerseits gnadenlos zu-
rückgeschraubt wird. Oder es können emotionale Si-
tuationen sein, in denen wir besonders verwundbar
für Zurückweisungen sind und später feststellen, dass
wir diese Art der Verwundbarkeit abgelegt haben. Sol-
che Feststellungen haben durchaus ihren Sinn, genauso
sinnvoll ist es jedoch, den Versuchungen des Alltags-
diskurses an dieser Stelle mit Vorsicht zu begegnen.
Und auch wenn wir zu Recht das Gefühl haben, dass
wir manchmal verwundbar sind und manchmal nicht,
bleibt der grundsätzliche Zustand der Verwundbarkeit
selbst unveränderlich. Das heißt nicht, dass wir objek-
tiv oder subjektiv betrachtet immer auf die selbe Wei-
se und im selben Umfang verwundbar sind  ; es heißt

196
aber, dass die Verwundbarkeit ein mehr oder weniger
implizites oder explizites Merkmal unserer Erfahrung
ist. Indem wir sagen, dass wir alle verwundbare Wesen
sind, unterstreichen wir unsere radikale Abhängigkeit
nicht nur von anderen, sondern auch von einer Welt, die
uns erhält und die zu erhalten ist. Dies hat Auswirkun-
gen darauf, wie wir uns als emotional und sexuell lei-
denschaftliche Wesen begreifen, als von Anfang an mit
anderen verbundene, aber auch auf den eigenen Fort-
bestand bedachte Wesen, deren Erhalt gefährdet oder
gefördert werden kann, je nachdem, ob die sozialen,
ökonomischen und politischen Strukturen ausreichen-
de Unterstützung für ein lebbares Leben bieten.
Dass Bevölkerungsgruppen ungleich von Vulne-
rabilität und Prekarität betroffen sind, macht sie des-
halb noch nicht bewegungsunfähig. Wenn politische
Kämpfe gegen diese Bedingungen ausgetragen werden,
wird die Prekarität und manchmal sogar ganz bewusst
die öffentliche Exponierung des Körpers mobilisiert,
selbst wenn dies bedeutet, sich damit der Gefahr von
Gewalt, Verhaftung oder sogar Tod auszusetzen. Es ist
nicht so, dass die Vulnerabilität in Stärke umgewandelt,
diese also über die Vulnerabilität triumphieren würde.
Stärke ist nicht das genaue Gegenteil von Vulnerabilität,
was meiner Meinung nach deutlich wird, wenn die Vul-
nerabilität selbst mobilisiert wird, und zwar nicht als
individuelle Strategie, sondern im gemeinsamen Vor-
gehen. Das hatte Hannah Arendt wahrscheinlich nicht
im Sinn, als sie davon sprach, die Politik hänge von der
konzertierten Aktion ab – ich kann mir kaum vorstel-
len, dass sie großes Gefallen an den Slutwalks gefun-
den hätte.15 Wenn wir jedoch ihre Haltung noch einmal
überdenken und den Körper und seine Bedürfnisse als
Teil des Handelns und Ziel des Politischen mitberück-

197
sichtigen, nähern wir uns vielleicht einem Begriff der
Pluralität, in den Performativität und Interdependenz
mit einfließen.
Ich stelle am Ende des Kapitels fest, dass ich neue
Begriffe eingeführt habe, ohne deren Bedeutung hinrei-
chend zu klären. Interdependenz ist einer von ihnen.
Ich muss hier zur Vorsicht mahnen  : Wir können nicht
davon ausgehen, dass Interdependenz ein wunderbarer
Zustand der Koexistenz ist  ; sie ist nicht gleichbedeu-
tend mit gesellschaftlicher Harmonie. Wir schimpfen
zwangsläufig auf die, von denen wir am meisten abhän-
gig sind (oder die am meisten von uns abhängig sind),
und es gibt keine Möglichkeit, Abhängigkeit und Ag-
gression ein für alle Mal zu trennen – dies war viel-
leicht die Grundeinsicht von Melanie Klein und sicher
auch von Thomas Hobbes, wenn auch in einer anderen
Theoriesprache. Die afroamerikanische Feministin Ber-
nice Johnson Reagon hat dies Anfang der 1980er Jah-
re wie folgt ausgedrückt  : »Ich habe das Gefühl, als ob
ich jeden Moment umkippen und sterben könnte. So
fühlt es sich oft an, wenn man wirklich in einer Koali-
tion arbeitet. Meistens fühlt man sich zutiefst bedroht,
und wenn man das nicht fühlt, dann ist es keine ech-
te Koalitionsarbeit. […] Man geht keine Koalition ein,
nur weil es einem einfach gefällt. Der einzige Grund,
eine Zusammenarbeit mit jemandem, der dich womög-
lich töten kann, überhaupt in Erwägung zu ziehen, ist,
dass du dir keine andere Möglichkeit vorstellen kannst,
am Leben zu bleiben.« Gegen Ende ihrer Ausführun-
gen macht sie deutlich, dass zur Interdependenz auch
die Drohung des Todes gehört. Zur Idee einer gemein-
samen Welt, die wir »unsere gemeinsame Welt« nennen
könnten, bemerkt sie  : »Du musst begreifen, dass du
kein ›unser‹ [wie in ›unsere Welt‹] haben kannst, wenn

198
es nicht auch Bernice Johnson Reagon einschließt, denn
ich habe nicht vor, hier wegzugehen  ! Darum brauchen
wir Koalitionen. Weil ich dich nicht leben lasse, wenn
du mich nicht leben lässt. Darin liegt eine Gefahr, aber
eben auch die Möglichkeit, dass wir beide leben kön-
nen – wenn du das aushältst.«16
Die Leute, die man auf oder abseits der Straße trifft,
im Gefängnis oder in der Peripherie, auf dem Weg, der
noch keine Straße ist, oder in welchem Keller auch im-
mer diejenigen stecken mögen, mit denen eine Koali-
tion derzeit möglich wäre  : Es sind nicht unbedingt die,
die man sich ausgesucht hätte. Ich meine, wenn wir an-
kommen, wissen wir meistens nicht, wer noch kommt,
das heißt, wir akzeptieren bei unserer Solidarität mit an-
deren ein gewisses Maß an Ungewähltheit. Man könn-
te vielleicht sagen, dass der Körper immer Menschen
und Eindrücken ausgesetzt ist, über die er nicht bestim-
men, die er nicht vorhersehen und nicht ganz kontrol-
lieren kann, und dass dies die Bedingungen der sozialen
Verkörperung sind, die wir nicht vollständig selbst aus-
gehandelt haben. Daraus entsteht nach meiner Auffas-
sung eher Solidarität als aus absichtlichen, wohlüber-
legten Vereinbarungen. Wie lässt sich nun letztlich der
Widerstand als Mobilisierung von Vulnerabilität oder
Ausgesetztsein verstehen  ? Ich möchte, um zum Ab-
schluss zu kommen, dazu Folgendes sagen  : Wenn sich
die Körper der als »frei verfügbar« oder »unbetrauer-
bar« Erachteten öffentlich versammeln (wie dies immer
wieder geschieht, wenn sich Menschen ohne gültige Pa-
piere in den Straßen der USA öffentlichen Demonstra-
tionen anschließen), so sagen sie damit  : »Wir sind nicht
stillschweigend im Schatten der Öffentlichkeit ver-
schwunden  ; wir sind nicht zur eklatanten Abwesenheit
geworden, die euer öffentliches Leben strukturiert.« In

199
gewisser Weise ist die Versammlung von Körpern eine
Ausübung des Volkswillens, das Ein- oder Überneh-
men einer Straße, die einer anderen Öffentlichkeit zu
gehören scheint, ein »Platz-Schaffen« zum Zweck der
Aktion und der Rede, die Druck auf die Grenzen der
gesellschaftlichen Anerkennbarkeit ausüben. Menschen
versammeln sich jedoch nicht nur auf Straßen und Plät-
zen  ; wie wir wissen, können soziale Netzwerke sehr
eindrucksvolle und effektive solidarische Bindungen
im virtuellen Bereich hervorbringen.
Der Körper bleibt eine – weder endlose noch magi-
sche – Ressource, ob er nun ohne Technologie in der
Öffentlichkeit erscheint oder gemeinsam mit anderen
Smartphones hochhält (wie es heute viele tun, um Po-
lizeigewalt auf Demonstrationen zu dokumentieren)
oder ob er unter Zwangsbedingungen in Isolation und
Elend festgehalten wird. Eine gemeinsam agierende
Gruppe braucht Unterstützung, um agieren zu können,
und dies bekommt eine besondere Bedeutung, wenn die
Aktion immer mehr zur Forderung nach dauerhafter
Unterstützung und den Bedingungen für ein lebbares
Leben wird. Es ist wenig überraschend und klingt fast
wie ein Zirkelschluss, dass die Körper, die sich in sozia-
len Bewegungen versammeln, die soziale Modalität des
Körpers geltend machen. Dies kann ein kleiner Schritt
auf dem Weg zu der Welt sein, die wir uns wünschen,
oder gegen die Welt, die uns kaputtmacht. Ist dies nicht
eine Form des bewussten Sichaussetzens und Behar-
rens, die verkörperte Forderung nach einem lebbaren
Leben, die uns die Gleichzeitigkeit von Gefährdetsein
und Handeln vor Augen führt  ?

200
5.
»We the People« – Gedanken
zur Versammlungsfreiheit

»We the People« (»Wir, das Volk«) sind die ersten


drei Worte der Präambel zur Verfassung der Vereinig-
ten Staaten, von der man sagt, dass sie den rechtlichen
Bruch mit Großbritannien eingeleitet hat  ; implizit wer-
den diese Worte aber auch in zahllosen öffentlichen
Versammlungen ins Feld geführt, die nicht den gesetz-
lichen Rahmen der USA teilen – die englische Über-
setzung eines Buchtitels von Étienne Balibar, We, the
People of Europe  ?, ist hier ein gutes Beispiel.* Tatsäch-
lich kommt es aber nicht oft vor, dass diese Worte wirk-
lich ausgesprochen oder geschrieben werden – wird
ihre performative Kraft also mit anderen Mitteln kom-
muniziert  ? Als Ausgangspunkt dieses Kapitels wähle
ich nicht nur die Occupy-Bewegungen, sondern auch
andere Versammlungen, die genau an den Stellen er-
scheinen, an denen der öffentliche Raum entweder ver-
scherbelt wurde oder verschiedenen Arten der von Si-
cherheitswahn getriebenen Kontrolle unterworfen
wird  ; dazu zählen auch die für ein öffentliches Schul-
und Bildungswesen kämpfenden Bewegungen in Chile,
Montreal und ganz Europa, wo Studierende gegen
Haushaltskürzungen oder die Bologna-Reform protes-
tieren. Ich will damit freilich keinesfalls behaupten, dass
alle diese Versammlungen gleich sind oder dass sie voll-
kommen parallele Strukturen aufweisen.
Mit welchen Mitteln wird der Anspruch auf den öf-
fentlichen Raum erhoben  ? Wenn es nicht immer die
Sprache ist, die die Menschen als Einheit bezeichnet und
zur Einheit formt, spielen dann möglicherweise andere

201
körperliche Ressourcen eine Rolle – Schweigen, kon-
zertierte Bewegung, Reglosigkeit oder jene beharrliche
Bündelung von Körpern im öffentlichen Raum bei Tag
und Nacht, die für die Occupy-Bewegung charakteris-
tisch war  ? Vielleicht fordern diese aktuellen Versamm-
lungen dazu auf, uns zu fragen, ob wir unsere Vorstel-
lungen des öffentlichen Raumes revidieren müssen, um
den Formen der Allianz und der Solidarität Rechnung
zu tragen, die nur teilweise von der Fähigkeit abhängen,
auf dem öffentlichen Platz erscheinen zu können. Dass
Politik nicht nur einen Erscheinungsraum braucht, son-
dern auch Körper, die erscheinen, entspricht natürlich
Arendts berühmter These. Für sie ist das Erscheinen eine
Voraussetzung des Sprechens, und nur die öffentliche
Rede zählt wirklich als Handlung. In Revolutionen, so
erklärt sie uns, findet gewissermaßen ein gemeinsames
oder plurales Handeln statt. Aber hätte sie sich vorstel-
len können, dass das »Wir«, jene Pluralität, die als so we-
sentlich für die Demokratie gilt, von der pluralen Bewe-
gung von Körpern artikuliert wird  ? Wie können wir die
öffentliche Versammlung als von der Sprache verschie-
dene politische Inszenierung begreifen  ?
Es gibt viele Beispiele dafür, wie Menschen zusam-
menkommen, wie sie Möglichkeiten schaffen, als Kol-
lektiv zu sprechen, einen Politikwechsel fordern oder
das Fehlen staatlicher Legitimität beziehungsweise den
Zerfall einer Regierung aufdecken. Der Tahrir-Platz
erschien eine Zeitlang als Symbol für die demokrati-
sche Macht öffentlicher Versammlungen, wir muss-
ten allerdings mit ansehen, wie Konterrevolutionen
ihre eigenen Vorstellungen davon geltend machen, wer
»das Volk« ist, auch wenn sie polizeiliche und militäri-
sche Gewalt aufbieten, um das Volk zu attackieren und
einzusperren. Wenn wir von diesem sich immer noch

202
entwickelnden Beispiel ausgehen, kommen wir zu dem
Schluss, dass eine einzelne Volksversammlung nie die
Gesamtheit des Volkes repräsentieren kann  ; vielmehr
riskiert oder schürt jede Postulierung des Volkes durch
eine Versammlung eine Reihe von Konflikten, die wie-
derum wachsende Zweifel daran aufkommen lässt, wer
das Volk wirklich ist. Wir können somit festhalten,
dass eine einzelne Versammlung nicht zur rechtmäßi-
gen Grundlage für Verallgemeinerungen hinsichtlich
aller Versammlungen werden kann und dass der Ver-
such und die Versuchung, eine bestimmte Erhebung
oder Mobilisierung mit der Demokratie selbst zu ver-
knüpfen, ebenso verlockend wie falsch ist – er wird dem
Konfliktprozess, durch den die Idee des Volkes artiku-
liert und ausgehandelt wird, nicht gerecht. In gewissem
Maße handelt es sich hier um ein erkenntnistheoreti-
sches Problem  : Können wir jemals wirklich wissen, wer
das »Wir« ist, das sich auf den Straßen versammelt, und
ob eine Versammlung tatsächlich das Volk als solches
repräsentiert  ? Und ob irgendeine Versammlung für das
stehen kann, was wir mit der Versammlungsfreiheit als
solcher meinen  ? Jedes Einzelbeispiel versagt hier und
dennoch gibt es bestimmte wiederkehrende Themen, so
dass wir uns noch einmal der Frage zuwenden können,
in welcher Weise die Behauptung »Wir, das Volk« auf-
gestellt wird. Manchmal handelt es sich ganz explizit
um einen Streit um Worte, politische Signifikanten oder
Bilder und Beschreibungen. Bevor jedoch eine Gruppe
überhaupt über die Sprache debattieren kann, gibt es
eine Zusammenkunft von Körpern, die gleichsam auf
eine andere Weise spricht. Versammlungen behaupten
und inszenieren sich durch Sprache oder Schweigen,
durch Handeln oder beharrliches Nichthandeln, durch
Gesten, durch ihr Zusammenkommen als Gruppe von

203
Körpern im öffentlichen Raum mit seinen infrastruktu-
rellen Bedingungen – sichtbar, hörbar, fühlbar, absicht-
lich oder ungewollt exponiert und in organisierter oder
spontaner Interdependenz.
Gehen wir also von der Annahme aus, dass eine
Gruppe nicht durch einen bestimmten und punktuel-
len Sprechakt als »Volk« zusammenkommt. Obwohl
wir oft denken, dass der deklarative Sprechakt »Wir,
das Volk«, der die Volkssouveränität konsolidiert, einer
solchen Versammlung entspringt, ist es vielleicht tref-
fender, wenn man sagt, dass die Versammlung bereits
spricht, bevor sie ein Wort geäußert hat, dass sie durch
ihr Zusammenkommen schon eine Inszenierung eines
Volkswillens ist  ; die Bedeutung dieser Inszenierung
ist eine ganz andere, als wenn ein einzelnes und ver-
eintes Subjekt seinen Willen durch eine ausgesproche-
ne Aussage erklärt. Das via Sprache geäußerte »Wir«
wird bereits durch die Versammlung von Körpern,
deren Gesten, Bewegungen, Stimmen und die Art ih-
res gemeinsamen Handelns inszeniert. Gemeinsam zu
handeln heißt nicht, in Übereinstimmung zu handeln  ;
es kann sein, dass Menschen sich in ganz verschiedene
Richtungen bewegen, unterschiedliche Aussagen tref-
fen oder sogar aneinander vorbeireden. Es heißt auch
nicht, dass sie exakt dieselben Worte sagen, auch wenn
dies manchmal vorkommt, wie bei den Sprechchören
oder dem »menschlichen Mikrofon« der Occupy-Ver-
anstaltungen. Und manchmal handelt »das Volk« kraft
seines kollektiven Schweigens oder seines ironischen
Sprachgebrauchs  ; sein Humor, ja auch sein Spott greift
eine Sprache auf, greift auf sie über und ergreift sie, um
sie ihren üblichen Zwecken zu entfremden.
Schon an dieser Stelle möchte ich zwei Punkte unter-
streichen  : Der erste ist, dass die Handlungen, durch die

204
Menschen sich versammeln und zu einem Volk erklären,
sprachlich oder auf eine andere Weise inszeniert werden
können. Der zweite ist, dass wir fähig sein müssen, sol-
che Handlungen als plurales Handeln aufzufassen, in-
dem wir von einer Pluralität von Körpern ausgehen, die
ihre konvergenten beziehungsweise divergenten Ab-
sichten auf eine Art inszenieren, die sich nicht auf eine
einzelne Handlungsweise oder auf eine einzige Forde-
rung reduzieren lässt. Für uns wird es um die Frage ge-
hen, wie sich die Politik verändert, wenn die Idee, dass
abstrakte Rechte von Individuen lautstark eingefor-
dert werden, der einer Pluralität verkörperter Akteure
weicht, die ihre Forderungen manchmal mittels Sprache
inszenieren, manchmal aber auch nicht. Überlegen wir
uns also, was wir im Lichte dieser Rahmenverschiebung
unter Versammlungsfreiheit verstehen könnten. In wel-
chem Sinn ist sie ein Recht und wie wird dieses einge-
fordert  ? Welche Vorannahmen darüber, wer wir sind
und wer wir sein könnten, wohnen diesem Recht inne  ?
Das Recht auf Versammlungsfreiheit ist mittlerweile im
internationalen Recht gut dokumentiert. Die Interna-
tionale Arbeitsorganisation (IAO) stellt klar, dass die
Rechte auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
mit dem Recht auf Tarifverhandlungen verknüpft sind.1
Das heißt, dass Menschen sich versammeln, um über
ihre Arbeitsbedingungen zu verhandeln  ; dazu gehören
Forderungen nach Arbeitsschutz, Arbeitsplatzsicher-
heit und dem Schutz vor Ausbeutung, aber auch das
Recht auf Tarifverhandlungen selbst. Das Recht bringt
Arbeitende zusammen – niemand hat ein Recht auf Ver-
sammlung ohne andere, die in Bezug auf die Arbeiter-
schaft strukturell in der gleichen Lage sind.
In einigen Menschenrechtsdiskursen wird die Ver-
sammlungsfreiheit als fundamentale Form der Freiheit

205
beschrieben, die den Schutz der Regierung verdient, das
heißt, der Staat ist paradoxerweise dazu verpflichtet,
diese Freiheit vor staatlicher Einmischung zu schützen,
was nichts anderes bedeutet, als dass die Regierungen
der strikten Verpflichtung unterliegen, Angriffe auf das
Versammlungsrecht durch den unrechtmäßigen Einsatz
polizeilicher und richterlicher Gewalt – Festnahmen,
Inhaftierungen, Schikanen, Drohungen, Zensur, Ge-
fängnisstrafen, Verletzungen oder Tötungen – zu un-
terlassen. Wie wir sehen, birgt diese Formulierung ein
grundsätzliches Risiko  : Beruht die Versammlungsfrei-
heit auf dem Schutz durch die Regierung oder vor der
Regierung  ? Und ist es vernünftig, wenn sich das Volk
auf die Regierung verlässt, um sich vor der Regierung
zu schützen  ? Existiert das Recht nur, wenn eine Regie-
rung es ihren Bürger / ​innen auch erteilt und gilt es nur
in dem Maße, in dem sich eine Regierung einverstan-
den erklärt, es zu schützen  ? Falls es so ist, kann man
gegen die regierungsseitige Zerstörung der Versamm-
lungsrechte nicht dadurch vorgehen, dass man die Ver-
sammlungsrechte geltend macht. Wir können uns da-
rauf verständigen, dass die Versammlungsfreiheit nicht
im Naturrecht zu finden ist, aber ist sie dennoch in ir-
gendeinem wesentlichen Sinne unabhängig von jeder
Regierung  ? Geht das Recht auf freie Meinungsäuße-
rung nicht über jene Maßnahmen seitens der Regierung
hinaus, ja hinweg, durch die es geschützt und / ​oder ver-
letzt wird  ? Diese Rechte sind nicht vom Schutz der Re-
gierung abhängig, sie können es gar nicht sein, wenn die
Rechtmäßigkeit der Regierung und die Macht des Staa-
tes gerade durch solche Versammlungen in Frage ge-
stellt werden oder wenn ein bestimmter Staat das Ver-
sammlungsrecht derart verletzt, dass seine Bevölkerung
nicht mehr frei zusammenkommen kann, ohne dass ihr

206
staatliche Eingriffe bis hin zu brutalen militärischen
und polizeilichen Übergriffen drohen. Und wenn die
Macht des Staates, Rechte zu »schützen«, die gleiche ist
wie die, ebendiesen Schutz zu entziehen, und Menschen
von der Versammlungsfreiheit Gebrauch machen, um
diese Art der willkürlichen und unrechtmäßigen Macht
anzufechten, die nach Belieben Schutz gewährt oder
entzieht, dann gerät etwas in oder von der Versamm-
lungsfreiheit aus dem Geltungsbereich der staatlichen
Souveränität. Ein Aspekt der Staatssouveränität ist ge-
nau diese Fähigkeit, den Schutz der Rechte von Be-
völkerungsgruppen zurückzunehmen.2 Das mag stim-
men, wogegen man sich jedoch möglicherweise wenden
kann, ist die Idee, dass die Versammlungsfreiheit selbst
als Recht verlorengehen kann, wenn der Staat gegen die
Ziele jener Versammlung vorgeht und die Versammlung
zu verbieten versucht. Dies geschieht, wie wir wissen,
wenn der Staat selbst die Erleichterung des Ausbaus
der Märkte betreibt, wenn er seine Dienste an Finanz-
institute veräußert und so aus öffentlichen Ansprü-
chen Konsumgüter oder Anlagemöglichkeiten macht.
Die Antiprivatisierungsbewegung versucht, das Auf-
gehen des Staates in den Kräften des Marktes aufzuhal-
ten. Solche Bewegungen sind oft mit der Forderung
verbunden, die Legitimität einer Regierung zu hinter-
fragen, die autoritative Macht erlangt hat – heute be-
hauptet niemand mehr, freie Märkte förderten die De-
mokratie, wie dies Milton Friedman bekanntlich noch
in Chile unter Pinochet getan hatte. In derartigen Fäl-
len, in denen es öffentlichen Widerstand gegen Privati-
sierung und Autoritarismus gibt, setzt der Staat seine
militärische, polizeiliche und gesetzliche Macht ein, um
die Versammlungsfreiheit wie auch andere (potenziell
revolutionäre) Freiheiten zu unterdrücken.

207
Die Versammlungsfreiheit ist also etwas anderes als
ein spezifisches Recht, das von bestehenden National-
staaten erlassen und geschützt wird. Das ist der Grund
dafür, dass es zwar viele hervorragende Studien zur Ge-
schichte der Versammlungsfreiheit, beispielsweise in
den USA , gibt, diese uns aber nicht unbedingt Einblicke
in transnationale Bündnisformen oder globale Netz-
werke geben, wie sie etwa für die Occupy-Bewegung
typisch sind. Wenn wir die Analyse der Versammlungs-
freiheit nur auf eine bestimmte Landesgeschichte dieses
Rechts beschränken, implizieren wir damit möglicher-
weise unwissentlich, dass das Recht nur insofern gilt,
als es vom Staat zugelassen und geschützt wird. Die
Wirksamkeit des Rechts wäre dann vom Fortbestehen
des betreffenden Nationalstaates abhängig. Das erweist
sich freilich als falsch, wenn der Nationalstaat mit der
»Versammlungsfreiheit« genau das Recht schützt, das,
wenn es kollektiv ausgeübt würde, den Staat selbst zu
Fall bringen könnte. Ich nehme an, dass Arendt und an-
dere dies meinen, wenn sie in der Versammlungsfreiheit
eine Wiederholung des Rechts auf Revolution sehen.3
Und dennoch  : Selbst wenn ein bestimmtes Regime ein
solches Recht beinhaltet oder schützt, muss die Ver-
sammlungsfreiheit meines Erachtens jeder Regierungs-
form, die das Recht darauf erlässt und schützt, vo-
raus- und über sie hinausgehen. Ich sage dies nicht, um
einer permanenten Anarchie das Wort zu reden, und
schon gar nicht, um irgendwelche Formen der Pöbel-
herrschaft zu entschuldigen  ; ich bin lediglich der Auf-
fassung, dass die Versammlungsfreiheit durchaus eine
Grundvoraussetzung von Politik selbst sein kann, einer
Politik die davon ausgeht, dass Körper sich in nicht re-
gulierter Weise bewegen und versammeln können, in-
dem sie ihre politischen Forderungen in einem Raum

208
inszenieren, der dadurch öffentlich wird oder ein be-
stehendes Verständnis des Öffentlichen neu definiert.
Man kann so eine Versammlung »das Volk« nen-
nen, oder sie kann eine Version des »Volkes« sein – es
spricht nicht mit einer Stimme, ja nicht einmal dieselbe
Sprache. Aber es handelt sich um Wesen mit der Fä-
higkeit, sich mittels der dazu nötigen technischen und
infrastrukturellen Hilfsmittel zu bewegen (dies ist eine
wichtige Erkenntnis aus den Disability Studies, aus der
sich konkrete Implikationen für das Nachdenken über
die öffentliche Versammlung ergeben). Und das bedeu-
tet, dass sie sich dazu entschließen können, stillzuste-
hen, sich nicht zu bewegen, ja sogar in ihren Wünschen
und Forderungen unbeweglich zu werden. Das Ver-
mögen, sich zu bewegen oder reglos zu sein, zu spre-
chen und zu handeln, eignet der Versammlung vor allen
Rechten, die eine bestimmte Regierung zu erlassen oder
zu schützen beschließt, und geht über diese hinaus. Das
Zusammenkommen der Menge hat, wie John Inazu er-
klärt, »eine expressive Funktion«, die jeder besonderen
Forderung oder Äußerung, die sie möglichweise vor-
bringt, vorausgeht.4 Die Macht der Regierung kann
durchaus zu dem werden, gegen das sich die Versamm-
lungsfreiheit richtet, und in diesem Moment sehen wir
das Wirken einer Form der Volkssouveränität, die von
der staatlichen Souveränität verschieden ist und deren
Aufgabe es ist, sich von dieser zu unterscheiden.
Was ist nun also von der Versammlungsfreiheit und
der Volkssouveränität zu halten  ? Ich weiß, dass es Leu-
te gibt, die »Souveränität« für einen schlechten Begriff
halten, weil er Politik mit einem einzelnen Subjekt und
einer Form der Exekutivgewalt mit territorialen An-
sprüchen assoziiert. Manchmal wird er gleichbedeu-
tend mit Beherrschung verwendet und manchmal mit

209
Unterordnung. Möglichweise hat er aber auch noch an-
dere Konnotationen, die wir nicht völlig aufgeben wol-
len. Man muss dazu nur an die Debatten über die Sou-
veränität der Ureinwohner / ​innen in Kanada denken
oder die wichtigen Arbeiten von J. Kēhaulani Kaua-
nui über die Paradoxien der hawaiischen Souveränität
lesen, um zu verstehen, wie wichtig dieser Begriff für
Volksbewegungen sein kann.5 Souveränität kann eine
Art der Beschreibung von Akten der politischen Selbst-
bestimmung sein, weshalb Bewegungen indigener Völ-
ker, die für ihre Souveränität kämpfen, zu wichtigen
Möglichkeiten geworden sind, den Anspruch auf Raum
geltend zu machen sowie darauf, sich frei bewegen zu
können, seine Meinung zu äußern und Entschädigung
und Gerechtigkeit einzufordern. Eigentlich sollen ge-
wählte Regierungsvertreter / ​innen die Volkssouverä-
nität (oder, genauer gesagt, den »Willen des Volkes«)
repräsentieren, doch die Bedeutung der Volkssouverä-
nität wird im Akt des Wählens nie völlig ausgeschöpft.
Wahlen sind natürlich essenziell für jeden Begriff von
Volkssouveränität, aber die Ausübung der Souveräni-
tät beginnt weder mit dem Wahlakt noch endet sie mit
ihm. Demokratietheoretiker / ​innen erklären schon seit
langem, dass Wahlen die Souveränität nicht vollständig
vom Volk auf dessen gewählte Vertreter / ​innen übertra-
gen – ein Teil der Volkssouveränität bleibt stets unüber-
tragbar und markiert die Außenseite des Wahlverfah-
rens. Wäre es nicht so, dann gäbe es für das Volk keine
Möglichkeit, gegen manipulierte Wahlen zu protestie-
ren. Die Macht des Volkes bleibt in gewissem Sinne
auch nach der Wahl von der Macht der Gewählten ge-
trennt, denn nur so, in dieser Getrenntheit, kann das
Volk die Bedingungen und Ergebnisse der Wahl ebenso
wie die Handlungen der Gewählten weiter anfechten.

210
Würde die Souveränität des Volkes vollständig auf die
von der Mehrheit gewählten Vertreter / ​innen übertra-
gen und von diesen übernommen, so gingen die Kräfte
verloren, die wir kritisch nennen, die Akte, die wir Wi-
derstand nennen, und die gelebte Möglichkeit, die wir
Revolution nennen.
Die »Volkssouveränität« wird also durchaus in elek-
torale Macht übersetzt, wenn das Volk wählt, doch die-
se Übersetzung ist nie vollständig oder adäquat. Ein
Teil der Volkssouveränität bleibt unübersetzbar, nicht
übertragbar, ja sogar unsubstituierbar, daher kann sie
Regime sowohl wählen als auch auflösen. So sehr die
Volkssouveränität parlamentarische Formen der Macht
legitimiert, so sehr behält sie auch die Macht, ihre Un-
terstützung genau diesen Formen wieder zu entziehen,
wenn sie sich als illegitim erweisen. Parlamentarische
Machtformen brauchen zu ihrer Legitimität die Volks-
souveränität, aber sie fürchten sie auch, denn ihr eignet
etwas, das jeder parlamentarischen Form, die sie ja
einsetzt und begründet, entgegenläuft, das sie übersteigt
oder übertrifft. Ein gewähltes Regime kann von einer
öffentlichen Versammlung zum Stillstand gebracht
oder bezwungen werden, die »im Namen des Volkes«
spricht und damit jenes »Wir« inszeniert, das unter de-
mokratischen Herrschaftsbedingungen die entschei-
dende Legitimationsinstanz ist. Mit anderen Worten  :
Die Bedingungen demokratischer Herrschaft beruhen
letztlich auf einer Anwendung der Volkssouveränität,
die in keiner demokratischen Ordnung je vollständig
enthalten ist oder zum Ausdruck kommt, die aber die
Voraussetzung ihres demokratischen Charakters ist.
Es handelt sich um eine außerparlamentarische Macht,
ohne die kein Parlament rechtmäßig arbeiten könnte
und die jedes Parlament mit Dysfunktion oder gar Auf-

211
lösung bedroht. Wir könnten wieder von einem »anar-
chistischen« Intervall oder einem permanenten Prinzip
der Revolution sprechen, das demokratischen Ordnun-
gen innewohnt und das sich mehr oder weniger sowohl
in Momenten der Gründung als auch in denen der Auf-
lösung zeigt, aber auch in der Versammlungsfreiheit
selbst wirksam ist.
Inszenierungen [enactments] lassen sich nach meiner
Auffassung nicht vollständig auf Behauptungen [asser-
tions] reduzieren  ; diese sind vielmehr nur eine Form der
politischen Inszenierung, weshalb die Sphäre der po-
litischen Performativität gesprochene und geschriebe-
ne Äußerungen sowohl beinhaltet als auch überschrei-
tet. In diesem Sinne möchte ich mich auf Jason Franks
wichtigen Begriff der »konstituierenden Momente«
stützen, in denen die Inszenierung des Volkes über des-
sen Repräsentation hinausgeht  ; nach Franks Ansicht
muss das Volk inszeniert werden, um repräsentiert wer-
den zu können, gleichwohl es keiner Inszenierung ge-
lingen kann, es zu repräsentieren.6 Die Dissonanz zwi-
schen Inszenierung und Repräsentation erweist sich für
ihn als Kernparadox demokratischer Versammlungen.
Solange der Staat die Bedingungen der Versamm-
lungsfreiheit kontrolliert, wird die Volkssouveränität
zu einem Instrument der Staatssouveränität, und die
Legitimationsbedingungen des Staates gehen in dem
Moment verloren, in dem die Versammlungsfreiheit
ihrer kritischen und demokratischen Funktionen be-
raubt wird. Ich möchte noch etwas hinzufügen  : Wenn
wir annehmen, dass die Souveränität des Volkes von
der des Staates abhängt, und meinen, dass der souve-
räne Staat kraft seiner Macht, eine Ausnahme zu ma-
chen, die Kontrolle darüber behält, welcher Teil der Be-
völkerung durch das Recht geschützt wird und welcher

212
nicht, dann reduzieren wir, wenn auch vielleicht un-
beabsichtigt, die Macht der Volkssouveränität auf das
nackte Leben beziehungsweise auf eine Form des Anar-
chismus, die einen Bruch mit der Staatssouveränität vo-
raussetzt. Wenn aber dieser Bruch der Volkssouveräni-
tät schon innewohnt oder die Volkssouveränität dieser
Bruch ist, dann verhüllt und verschiebt die Reduktion
der Volkssouveränität auf die Staatssouveränität die-
ses ihr wichtigstes Potenzial, das zahlreiche um Selbst-
bestimmung kämpfende Volksbewegungen als ihren
höchsten organisatorischen Wert bestätigen. Die Beru-
fung auf das Volk wird – notwendigerweise – in dem
Moment anfechtbar, in dem es erscheint. »Erscheinen«
kann die sichtbare Präsenz und das gesprochene Wort
bezeichnen, aber auch vernetzte Repräsentationen oder
Stille. Des Weiteren müssen wir in der Lage sein, uns
solche Akte als ein plurales Handeln vorzustellen, das
eine Pluralität von Körpern voraussetzt, die ihre kon-
vergierende Absicht in einer Form inszenieren, die kei-
ne strikte Konformität mit einer einzigen Handlungs-
weise oder einer einzelnen Forderung verlangt, und die
nicht zusammen ein einzelnes Subjekt bilden.
Auch wenn diese Punkte hinreichend deutlich zu
sein scheinen, steht eine schwierige Frage immer noch
im Raum  : Wer ist »das Volk«  ? Haben wir uns diese Fra-
ge schon gestellt  ? Mir ist bewusst, dass das Thema von
Jacques Derrida, Bonnie Honig, Étienne Balibar, Er-
nesto Laclau und Jacques Rancière bereits ausführlich
diskutiert worden ist, und ich behaupte nicht, diesen
Debatten zum gegenwärtigen Zeitpunkt etwas Neu-
es hinzuzufügen. Allerdings wird von allen Genannten
akzeptiert, dass die Bezeichnung des »Volkes« immer
auf dem Wege einer Grenzziehung geschieht, die Be-
dingungen der Inklusion beziehungsweise der Exklu-

213
sion aufstellt. Das ist einer der Gründe, warum Demo-
kratietheoretiker / ​innen sich stets bemüht haben, den
zeitgebundenen und ergebnisoffenen Charakter des Be-
griffs »Volk« zu unterstreichen, oft verbunden mit dem
Versuch, eine Überprüfung der Exklusionslogik einzu-
bauen, die jeden Bezeichnungsprozess begleitet. Auch
vom imaginären Charakter des »Volkes« haben wir
schon gehört, womit gemeint ist, dass jede Verwendung
dieses Begriffs mit einem gewissen Risiko des Nationa-
lismus oder Utopismus behaftet ist oder aus dem »Volk«
einen unentbehrlichen leeren Signifikanten macht.7 Für
den Moment möchte ich nur hervorheben, dass wir uns
nicht einfach auf einen Schnappschuss verlassen können,
um die Anzahl der Körper zu bestimmen, die das Volk
ausmachen. Wir können uns nicht einfach auf Luftbil-
der berufen, die die Polizei im Zuge ihrer Aufgabe, die
Massen auf den Straßen in den Griff zu bekommen, auf-
genommen hat, um herauszufinden, was das Volk will
oder ob es das wirklich will. Ein solches Vorgehen wür-
de sich in paradoxer Weise auf eine Technologie stüt-
zen, die dazu gedacht ist, Bevölkerungsgruppen zu
kontrollieren, und würde »das Volk« zu einem Ergeb-
nis demografischer Kriminalistik machen. Jedes Foto
und jede Bildserie hätte zweifellos einen oder mehrere
Rahmen, und diese Rahmen fungierten als potenzielle
Ausschlusskennzeichnung, die das einschließt, was sie
erfasst, indem sie eine Zone des Unerfassbaren schafft.
Gleiches gilt für jedes Video, welches irgendwann an-
fängt und irgendwann aufhört und dadurch eine Se-
quenz erzeugt. Es wäre immer durch die Perspektive
eingeschränkt, mit der sein Objekt selektiv gestaltet und
übermittelt wird.
Ein Grund, warum die Frage der visuellen Repräsen-
tation wichtig ist, liegt darin, dass kein Bild der Menge

214
das Volk repräsentieren kann, wenn nicht alle Menschen
die Fähigkeit haben, sich auf der Straße – oder jedenfalls
auf derselben Straße – zu versammeln. Heran- und He-
rauszoomen nützt uns in diesem Fall nichts, weil die-
se Techniken gerade dazu dienen, zu redigieren und zu
selektieren, was oder wer zählt, das heißt  : Wir können
die Frage, wer das Volk ist, nicht von den technischen
Möglichkeiten trennen, die festlegen, welche Menschen
als das Volk zählen. Möglicherweise ist »das Volk« die
Bezeichnung, die jeden visuellen Rahmen übersteigt,
der das Volk zu erfassen sucht, und die demokratische-
ren Rahmen sind diejenigen, die imstande sind, ihren
porösen Charakter zu inszenieren, die nicht unmittel-
bar die Strategie der Begrenzung reproduzieren und wo
sich der Rahmen teilweise selbst zerstört.
Manchmal ist das Volk oder sind Teile des Volkes
eingeengt, abwesend oder außerhalb des Blickfeldes
der Straße und der Kamera – sie sind die Unerfassbaren,
auch wenn sie durchaus in einem anderen Sinne erfasst
werden können. Es kommt praktisch nie vor, dass wirk-
lich alle Menschen, die durch den Begriff »das Volk« re-
präsentiert werden, am selben Ort und zur selben Zeit
auftauchen, um für sich in Anspruch zu nehmen, das
Volk zu sein  ! Als ob sich alle frei bewegen könnten, als
ob sie alle aus freien Stücken gemeinsam irgendwo und
irgendwann eintreffen könnten und sich dieser Ort in
irgendeiner allumfassenden Weise beschreiben oder fo-
tografieren ließe  !
Es wäre ja auch seltsam, wenn nicht gar grauenvoll,
sich vorzustellen, dass alle Mitglieder der »das Volk«
genannten Gruppe zusammenkämen und unisono spre-
chen würden – das wäre eine Fantasievorstellung be-
ziehungsweise potenzielle Verfolgungsfantasie, deren
Verführungskraft mit ihrer grundsätzlichen Unreali-

215
sierbarkeit verknüpft ist. Normalerweise verbinden wir
Ereignisse, bei denen alle das Gleiche sagen, mit dem
Faschismus oder anderen Formen aufgezwungener
Konformität. Tatsächlich fehlt in der Äußerung, dem
Sprechchor oder der geschriebenen Zeile »Wir, das
Volk« immer irgendeine Gruppe, die der Satz zu re-
präsentieren behauptet. Manche kommen einfach nicht
oder werden am Kommen gehindert  ; viele leben an
den Rändern der Metropolen  ; manche sammeln sich
in Flüchtlingslagern an den Grenzen und warten auf
Dokumente, Weiterleitung oder Schutz  ; wieder andere
sind im Gefängnis oder werden in Lagern festgehalten.
Diejenigen, die sich an anderen Orten befinden, kön-
nen, wenn sie die Möglichkeit haben, etwas anderes sa-
gen, sie können SMS oder Blogs schreiben oder durch
neue Medien wirken  ; manche sprechen – ganz bewusst
oder weil es ihnen gleichgültig ist – überhaupt nicht.
Das bedeutet, »das Volk« tritt nie wirklich als eine kol-
lektive Präsenz auf, die als verbaler Chor spricht  ; wer
es auch sein mag – es ist nicht homogen, die Menschen,
aus denen es besteht, treten differenziell, sequenziell,
gar nicht oder graduell in Erscheinung, wahrscheinlich
sind sie in gewissem Maße auch sowohl versammelt als
auch verstreut und somit letztlich keine Einheit.8 Dem
entspricht, was wir bei den Demonstrationen im Som-
mer 2013 in der Türkei und in Ägypten beobachten
konnten  : Eine Gruppe versammelt sich an einer Stelle
und macht für sich geltend, das Volk zu sein, und gegen-
über versammelt sich eine andere Gruppe und behaup-
tet dasselbe, oder die Regierung versammelt Menschen,
um genau das Bild zu erzeugen, das als visueller Signifi-
kant für »das Volk« wirkt.
Jeder Zugang zu einem öffentlichen Platz setzt den
Zugang zu einem Medium voraus, das die Ereignisse

216
außerhalb dieses Ortes und dieser Zeit überträgt  ; der
öffentliche Platz ist mittlerweile teilweise als Medien-
wirkung etabliert, aber auch als Teil des Kundgebungs-
apparates, mittels dessen eine Gruppe von Menschen
behauptet, das Volk zu sein  ; die Verbindung des öffent-
lichen Platzes mit den Medien, die das Ereignis verbrei-
ten, bedeutet, dass die Menschen sich in dem Moment
zerstreuen, in dem sie sich versammeln  : Das mediale
Bild zeigt und zerstreut die Versammlung. Daraus folgt
die Notwendigkeit, den öffentlichen Platz radikal neu
als etwas zu denken, das durch die mediale Darstellung
immer schon zerstreut ist, ohne die er seinen repräsen-
tativen Anspruch verlöre. Weiter bedeutet es, dass man
nicht genau weiß und wissen kann, wer das Volk eigent-
lich ist, und dies nicht nur, weil der mediale Rahmen
die von ihm übermittelte Idee des Volkes begrenzt und
verformt. Was man jedoch weiß, ist, dass die Menschen,
wer sie auch sein mögen, kommen und nicht kommen,
zahlreichen bewegungs- und versammlungsmäßigen
Einschränkungen unterliegen und uneins darüber sind,
wer sie sind. Sich zusammen zu zeigen heißt nicht, dass
jeder mit allem, was im Namen der Versammlung gesagt
wird, einverstanden ist, ja noch nicht einmal, dass die
Versammlung einen Namen hat. Der Streit um den Na-
men wird zum hegemonialen Kampf, und »das Volk«
scheint ein anderer Name für diesen Streit zu sein.
Was folgt nun daraus  ? Ein Volk muss nicht in je-
der Frage einig sein – und kann es auch gar nicht. Zu-
dem müssen nicht alle an einem einzigen Ort versam-
melt sein, damit die konzertierte Aktion im Namen des
Volkes stattfinden kann. Die Bezeichnung »das Volk«
und sogar die Erklärung »Wir, das Volk« erfassen nicht
ganz, was das Volk tut, denn es gibt immer noch etwas
anderes als die Gruppe, die sich jeweils gebildet hat, er-

217
schienen ist und auszusprechen scheint, was das gan-
ze Volk will, und zwar genau deshalb, weil zwischen
dem, was im Namen des Volkes geschieht, und dem,
was das Volk will, eine Lücke herrscht. Nicht alle Men-
schen wollen das Gleiche oder wollen es auf die glei-
che Weise – dieses Scheitern muss nicht beklagt werden.
Der Name des Volkes wird vereinnahmt, angefochten
und erneuert, ständig droht er, enteignet oder verwor-
fen zu werden, und die Brüchigkeit und Heftigkeit, die
den hegemonialen Kampf um den Namen kennzeich-
nen, sind nichts als Anzeichen seines demokratischen
Wirkens. Selbst wenn ein Redner, eine Rednerin oder
eine ganze Reihe von Redner / ​innen sich auf ein »Wir«
beruft, das ganz und gar alle Menschen repräsentiert,
kann daher der Plural »Wir« nicht wirklich leisten, was
er dennoch leistet  ; gewiss können solche Redner / ​innen
weiterhin noch mehr Inklusion anstreben und den rich-
tungsweisenden Charakter des »Wir« betonen  ; wenn es
jedoch politisch wirksam sein soll, muss es auf diejeni-
gen beschränkt werden, die versuchen, durch die Beru-
fung auf das »Wir« hegemoniale Macht zu erlangen und
auszuüben. Die Menschen, die sich als »Wir« versam-
meln und als »das Volk« präsentieren, repräsentieren
das Volk letztlich nicht vollständig und angemessen  ;
sie erfüllen vielmehr mehrere Funktionen auf einmal  :
Wenn sie zum Beispiel wählen können, schaffen sie die
Legitimationsgrundlage für die gewählten Vertreter / ​in-
nen des Volkes. Ebenso wichtig ist aber vielleicht, dass
der Anspruch der Repräsentativität gewählter Funktio-
när / ​innen die Kondensation des Volkes zu einer Men-
ge von Stimmen verlangt, die als Mehrheit gezählt wer-
den können. So gesehen wird das Volk in dem Moment,
in dem es seine Repräsentant / ​innen wählt, verkürzt
und geht beinahe verloren  ; in diesem Sinne verkürzt

218
und quantifiziert die politische Repräsentation etwas,
das wir als den Willen des Volkes bezeichnen könnten.
Zugleich ist aber auch etwas am Werk, das nichts mit
Wahlen zu tun hat. Die Menschen, die – bei der Wahl,
außerhalb von ihr oder gegen sie – »Wir« sagen, kon-
stituieren sich im Verlauf der Inszenierung oder Voka-
lisierung dieses Pluralpronomens entweder wörtlich
oder im übertragenen Sinne als Volk. Im Angesicht der
Polizei zusammenzustehen kann genau so eine Insze-
nierung dieses Pronomens sein, ohne dass dabei auch
nur ein Wort fällt. Als die türkische Regierung im Som-
mer 2013 Versammlungen auf dem Taksim-Platz ver-
bot, stellte sich ein Mann einzeln unter den Augen der
Polizei einfach dorthin, er »befolgte« also eindeutig das
Versammlungsverbot. Während er so dastand, taten an-
dere es ihm sukzessive gleich  ; viele Individuen standen
»allein« in seiner Nähe, aber eben nicht als »Menge«.
Sie standen dort als Einzelne, aber als solche standen
alle dort, stumm und reglos  ; sie unterliefen so die ge-
wöhnliche Vorstellung einer »Versammlung«, setzten
jedoch gleichzeitig eine andere an ihre Stelle. Indem sie
einzeln dastanden und nichts sagten, hielten sie sich im
Prinzip streng an das Gesetz, das Versammlungen und
Bewegungen von Gruppen untersagte. Das Ganze wur-
de zu einer ebenso deutlichen wie wortlosen Demons-
tration.9

Diese Akte der Selbstgestaltung oder Selbstkonstitu-


tion sind nicht dasselbe wie die Repräsentation eines
Volkes, das sich bereits vollständig gebildet hat. Der
Begriff »das Volk« steht nicht für eine präexistieren-
de Ansammlung von Menschen  ; täte er es, so läge er
zeitlich hinter der Herstellung der Kollektivität selbst.
Der Begriff kann eine im Entstehen oder im Prozess

219
der Selbstgestaltung befindliche Kollektivität nie ad-
äquat repräsentieren – seine Unzulänglichkeit und sei-
ne Selbstteilung sind Bestandteile seiner inszenierten
Bedeutung, seines inszenierten Versprechens. Die dis-
kursive Berufung auf das »Wir« bezieht sich folglich
auf ein Volk, dessen Bedürfnisse, Begehren und Forde-
rungen noch nicht vollständig bekannt sind, und dessen
Zusammenkunft mit einer Zukunft verknüpft ist, die
erst noch gelebt werden muss. Derartige Praktiken der
Selbstbestimmung sind nicht ganz dasselbe wie Akte
der Selbstrepräsentation, und doch sind beide bei der
Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv, wenn »Wir,
das Volk« in irgendeiner Weise ausgesprochen oder in-
szeniert wird. Die Inszenierung ist insofern performa-
tiv, als sie das von ihr benannte Volk ins Leben ruft oder
dazu aufruft, sich im Namen der Äußerung zu versam-
meln. Und dies bedeutet, dass performative Handlun-
gen wie diese Teil des Prozesses sind, den wir politische
Selbstbestimmung nennen, Bezeichnungen dessen, wer
wir sind, die zugleich auch damit befasst sind, ebendie-
ses »Wir« herzustellen. Außerdem trennt die Berufung
auf das »Wir« die Volkssouveränität von der staatlichen
Souveränität  ; sie benennt und inauguriert diese Tren-
nung immer und immer wieder. Die Pluralität bricht
immer mit denen, die gewählt wurden oder deren Wahl
uns fragwürdig erscheint  ; sie bricht auch mit einem
Staat, dessen Repräsentant / ​innen wir nie wählen konn-
ten, wie es eindeutig bei einer Besatzung der Fall ist und
auch für Menschen ohne Papiere, mit eingeschränkten
Bürgerrechten oder Nichtbürger / innen gilt.
Etwas, das als Repräsentation scheitern muss und das
wir, beinahe tautologisch, als nichtrepräsentational und
nichtrepräsentativ bezeichnen können, wird also zur
Grundlage demokratischer Formen politischer Selbst-

220
bestimmung – eine von der Staatsouveränität verschie-
dene oder, präziser, eine sich intermittierend von der
Staatsouveränität unterscheidende Volkssouveränität.
Nur in diesem fortwährenden Trennungsakt von der
Staatssouveränität ergibt die Volkssouveränität einen
Sinn  ; sie ist mithin ein Weg der Bildung eines Volkes
durch Akte der Selbstbezeichnung und Selbstversamm-
lung  ; dabei handelt es sich um wiederholte Inszenie-
rungen, die verbal und nonverbal, leiblich und virtuell,
über unterschiedliche Raum- und Zeitzonen hinweg,
auf verschiedenen Arten von öffentlichen Bühnen, vir-
tuellen Realitäten und Schattenregionen vorgenom-
men werden. Das ausgesprochene Performativ »Wir,
das Volk« ist sicher ein Bestandteil der Inszenierung,
die wir Selbstkonstitution nennen, man darf diese Fi-
gur aber nicht für eine buchstäbliche Darstellung der
Wirkungsweise politischer Selbstbestimmung halten.
Nicht jeder Akt der politischen Selbstbestimmung lässt
sich in diese verbale Äußerung übersetzen – ein solcher
Schritt würde das Verbale gegenüber den anderen Be-
reichen zu stark herausheben. Tatsächlich ist die Insze-
nierung politischer Selbstbestimmung notwendiger-
weise eine Kreuzung aus Sprachlichem und Leiblichem,
auch wenn die Handlung stumm und der Körper iso-
liert ist.
Wie sollen wir beispielsweise einen Hungerstreik
verstehen, wenn nicht als praktizierte Verweigerung
eines Körpers, der nicht in der Öffentlichkeit erschei-
nen kann  ?10 Das heißt, dass das öffentliche Erscheinen
in körperlicher Form keine adäquate Figur für die po-
litische Selbstbestimmung ist. Gleichzeitig kann ein
Hungerstreik, über den im öffentlichen Raum nicht be-
richtet und der dort nicht repräsentiert wird, die Kraft
des Aktes selbst nicht transportieren. Gefangenennetz-

221
werke sind genau die Formen der Solidarität, die nicht
körperlich in der Öffentlichkeit erscheinen (können)
und die vorwiegend von digitalen Medienberichten mit
wenigen bis gar keinen Bildern abhängig sind. Solche
Netzwerke aus Gefangenen, Aktivist / ​innen, Anwält / ​
innen und erweiterten Verwandtschafts- und Sozial-
beziehungen, ob in der Türkei, in palästinensischen
Gefängnissen und Internierungslagern oder im kali-
fornischen Staatsgefängnis Pelican Bay, sind ebenfalls
»Versammlungen«, in denen Menschen mit ausgesetz-
ter Staatsbürgerschaft mittels Streiks, Petitionen sowie
Formen der legalen und politischen Repräsentation eine
Art von Freiheit ausüben. Auch wenn sie nicht erschei-
nen (dürfen), nehmen sie ein gewisses Recht wahr, öf-
fentlich zu erscheinen, entweder vor dem Gesetz oder
im öffentlichen Raum, und wenden sich damit genau
gegen das Verbot, öffentlich zu erscheinen, das die Be-
dingung ihrer Haft ist.
Lassen Sie uns vor diesem Hintergrund noch einmal
rekapitulieren, was dies alles für eine Neubetrachtung
der Versammlungsfreiheit in Bezug auf die Volkssouve-
ränität bedeutet und eben auch nicht bedeutet  : (1) Die
Volkssouveränität ist eine Form der reflexiven Selbst-
gestaltung, die von dem repräsentativen Regime zu
trennen ist, welches durch sie legitimiert wird  ; (2) sie
entsteht im Verlauf ebendieser Trennung  ; (3) sie kann
kein Regime legitimieren, ohne von diesem getrennt,
das heißt teilweise außerhalb von dessen Kontrolle zu
sein und nicht von ihm instrumentalisiert zu werden,
und ist dennoch die Grundlage, auf der sich eine recht-
mäßige Regierung durch faire und inklusive Wahlen
bildet  ; (4) ihr Akt der Selbstgestaltung ist in Wahrheit
eine ganze Serie räumlich verteilter Akte, die nicht im-
mer auf dieselbe Weise und auf denselben Zweck hin

222
wirken. Zu den wichtigsten dieser räumlichen Unter-
scheidungen gehört die zwischen der öffentlichen Sphä-
re und den Sphären des Freiheitsentzugs, einschließlich
des Gefängnisses, in dem politische Gefangene – Men-
schen, die von der Versammlungs- und Meinungsfrei-
heit Gebrauch gemacht haben – festgehalten und un-
terjocht werden. Der Weg in die öffentliche Sphäre und
aus ihr heraus wird gerade durch Gesetzesmacht, Po-
lizeigewalt und die Institution des Gefängnisses regu-
liert. (5) Außerdem kann die Inszenierung von »Wir,
das Volk« sprachlich erfolgen oder nicht  ; Rede und Stil-
le, Bewegung und Reglosigkeit sind allesamt politische
Inszenierungen  ; der Hungerstreik ist genau das Gegen-
teil des gutgenährten Körpers, der frei in der Öffent-
lichkeit steht und redet – er markiert und wehrt sich
gegen den Entzug dieses Rechts und er inszeniert und
offenbart den Entzug, dem Gefängnisinsass / ​innen un-
terworfen sind.
Die Berufung auf das Volk wird im Moment seines
Erscheinens anfechtbar – und muss es auch werden.
»Erscheinen« kann eine sichtbare Präsenz bedeuten,
gesprochene Worte, aber auch eine vernetzte Repräsen-
tation oder konzertierte Aktionen der Stille. Eine dif-
ferenzielle Form der Macht, die sowohl räumliche als
auch zeitliche Formen annimmt, legt fest, wer Teil einer
solchen Inszenierung sein darf und welche Mittel und
Methoden dabei eingesetzt werden. Inhaftiert zu sein
heißt, von öffentlichen Versammlungen räumlich ge-
trennt zu sein, hat aber auch eine zeitliche Dimension  :
die Dauer der Strafe beziehungsweise die Ungewiss-
heit einer unbegrenzten Haftdauer. Da die öffentliche
Sphäre in Teilen durch Orte der gewaltsamen Isolie-
rung konstituiert wird, sind die Grenzen, welche die
Öffentlichkeit definieren, dieselben, die auch die Einge-

223
sperrten, die Isolierten, die Inhaftierten, die Vertriebe-
nen und die Verschwundenen definieren. Ob wir über
die Grenzen des Nationalstaats sprechen, wo Men-
schen ohne Papiere in Flüchtlingslagern eingesperrt
sind, wo Bürgerrechte verwehrt oder unbegrenzt aus-
gesetzt werden, oder über Gefängnisse, wo die unbe-
grenzte Haft zur Norm geworden ist – das Verbot, in
der Öffentlichkeit zu erscheinen, sich zu bewegen und
zu sprechen, wird zur Vorbedingung des verkörperten
Lebens. Das Gefängnis ist nicht das genaue Gegenteil
der öffentlichen Sphäre, weil Netzwerke für die Rech-
te von Gefangenen die Gefängnismauern durchdringen.
Widerstandsformen von Häftlingen sind Formen der
Inszenierung, die per definitionem eigentlich nicht Teil
des öffentlichen Platzes sein können  ; durch Kommuni-
kationsnetze und die Repräsentation durch Bevoll-
mächtigte können sie es aber dennoch werden. Doch
wie virtuell wir uns den öffentlichen Platz auch vorstel-
len mögen (wofür es viele gute Gründe gibt)  : Das Ge-
fängnis bleibt doch der Grenzfall der öffentlichen Sphä-
re, der die Macht des Staates markiert, zu kontrollieren,
wer in die Öffentlichkeit treten darf und wer aus ihr
heraustreten muss. Das Gefängnis ist also der Grenz-
fall der öffentlichen Sphäre und die Versammlungsfrei-
heit wird von der Möglichkeit der Inhaftierung heim-
gesucht. Man kann für das, was man sagt, eingesperrt
werden, oder einfach dafür, dass man sich versammelt.
Oder man wird eingesperrt, weil man über Versamm-
lungen oder Freiheitskämpfe schreibt oder lehrt, oder
dafür, dass man Lehren über Volkskämpfe um Souve-
ränität verbreitet und etwa an türkischen Universitäten
über die kurdische Freiheitsbewegung spricht.
Dies alles sind Gründe, warum die Menschen, die
mit der Freiheit, zu erscheinen, ausgestattet sind, das

224
Volk nie vollständig oder angemessen repräsentie-
ren können, denn es gibt, wie wir wissen, immer auch
Menschen, die in der Öffentlichkeit, in der hier im Ge-
zi-Park versammelten Öffentlichkeit, fehlen  ; das sind
diejenigen, die eine Repräsentanz finden müssen, auch
wenn der Versuch, sie zu repräsentieren, im Gefängnis
enden kann. Und es ist nicht nur so, dass einige Men-
schen bei der Versammlung fehlen, weil sie gerade et-
was anderes zu tun haben  ; vielmehr gibt es Menschen,
die nicht oder nicht mehr zur Versammlung erscheinen
können oder die auf unbestimmte Zeit daran gehindert
werden. Diese Macht der Einschränkung ist ein Mittel,
zu definieren, zu produzieren und zu kontrollieren, was
die öffentliche Sphäre ist und wer zur öffentlichen Ver-
sammlung zugelassen wird. Zusammen mit Privatisie-
rungen wirkt sie als Prozess, der darauf ausgerichtet ist,
den öffentlichen Raum in das unternehmerische Feld
des marktgesteuerten Staates zu überführen. Wenn wir
uns also wundern, warum Demonstrationen gegen Pri-
vatisierungen durch Polizeikräfte, Tränengas und tät-
liche Angriffe aufgelöst und zerstreut werden, sollten
wir uns daran erinnern, dass der Staat, der den öffent-
lichen Raum der Privatwirtschaft überlässt oder damit
beginnt, Entscheidungen nach Marktgesichtspunkten
zu treffen, in mindestens zwei Hinsichten in die Kon-
trolle und Schwächung des öffentlichen Raumes invol-
viert ist. Manche beklagen, dass eine Bewegung, die als
Opposition gegen die Privatisierung beginnt, zwangs-
läufig zu einer Bewegung wird, die sich gegen Polizei-
gewalt richtet. Wir sollten jedoch versuchen zu verste-
hen, dass das Entreißen des öffentlichen Raumes aus
den Händen der Volkssouveränität genau das Ziel so-
wohl der Privatisierung wie auch polizeilicher Angriffe
auf die Versammlungsfreiheit ist. Auch auf diesem Weg

225
arbeiten Markt und Gefängnis zusammen – in einer Ge-
fängnisindustrie, die, wie Angela Davis deutlich gezeigt
hat, auf eine Regulierung von Bürgerrechten hinwirkt  ;
in den Vereinigten Staaten geschieht dies zudem unter
unbestreitbar rassistischen Vorzeichen, da die überwäl-
tigende Mehrheit der Gefängnisinsassen nach wie vor
von schwarzen Männern gebildet wird.11 Wir können
hinzufügen, dass Markt und Gefängnis überdies auch
zusammenarbeiten, um den öffentlichen Raum einzu-
engen, zu schwächen und zu vereinnahmen, und damit
Hannah Arendts Idee des »Rechts, zu erscheinen« er-
heblich einschränken.
Damit möchte ich nun zur theoretischen Frage der
Versammlungsfreiheit zurückkehren, um auf einige po-
litische Implikationen unseres Denkens hinzuweisen.
Meine Untersuchung ging von folgenden Fragen aus  :
In welchem Sinn ist Versammlungsfreiheit ein punk-
tueller Ausdruck der Volkssouveränität  ? Und ist sie als
performative Übung zu verstehen beziehungsweise als
das, was Jason Frank »die kleinen Dramen der Selbst-
ermächtigung« nennt  ?12 Ich habe zunächst die Ansicht
geäußert, dass die performative Kraft des Volkes nicht
in erster Linie auf Worten beruht. Das Konzept der
Versammlung ergibt nur einen Sinn, wenn Menschen
zusammenkommen oder sich in irgendeiner Weise ver-
binden können und dies auch tun  ; Sprechakte, die sich
daraus entwickeln, artikulieren dann etwas, das auf der
Ebene des pluralen Körpers bereits stattfindet. Aber
vergessen wir nicht, dass die Lautsprache, wie die Ge-
bärdensprache, ebenfalls ein körperlicher Akt ist, das
heißt, es gibt kein Sprechen, ohne dass der Körper et-
was andeutet, und manchmal deutet er etwas völlig an-
deres an als das, was jemand gerade sagt.

226
In der Demokratietheorie stellt »We the people« den-
noch in erster Linie einen Sprechakt dar. Jemand sagt
gemeinsam mit anderen »wir« oder eine Gruppe sagt es
zusammen, vielleicht als Sprechchor, oder sie schreibt
es auf und schickt es in die Welt, oder es steht jeder
für sich, vielleicht steht man auch zeitweilig zusam-
men, reglos und wortlos, und inszeniert und vollführt
die Versammlung. Mit dem »Wir« wollen sich die Teil-
nehmenden in dem Moment, in dem es ausgesprochen
wird, als »das Volk« konstituieren. Als Sprechakt ist
»We the people« also eine Äußerung in der Absicht,
die soziale Pluralität herbeizuführen, die sie benennt.
Sie beschreibt diese Pluralität nicht, sondern führt die
Gruppe erst durch den Sprechakt zusammen.
In dem Ausdruck »We the people« scheint mithin
eine sprachliche Form von Autogenese am Werk zu
sein  ; er scheint eine Art magische Handlung zu sein
oder zumindest eine, die uns an die magische Natur
des Performativs zu glauben zwingt. Natürlich bildet
die Aussage »We the people« den Anfang einer länge-
ren Deklaration von Wünschen und Begehren, Hand-
lungsabsichten und politischen Forderungen. Sie ist
eine Präambel  ; sie bereitet den Weg für eine spezifische
Reihe von Behauptungen. Sie ist ein Ausdruck, der uns
auf eine substanzielle politische Forderung vorberei-
tet – doch hier sollten wir innehalten und uns fragen, ob
nicht schon eine politische Forderung gestellt worden
oder im Entstehen ist, bevor irgendjemand etwas sagt
oder in der Gebärdensprache ausdrückt. Es ist wohl
unmöglich, dass die Formel »We the people« wirklich
von allen, die sie betrifft, unisono geäußert wird. Und
wenn es geschieht, dass eine Gruppe gemeinsam »We
the people« ruft, wie es bei Versammlungen der Occu-
py-Bewegung manchmal vorkommt, so ist dies ein kur-

227
zer und flüchtiger Augenblick  : Eine einzelne Person
spricht zur gleichen Zeit wie andere und aus der kon-
zertierten Aktion, aus dem gemeinsam, nacheinander
und mit allen für Wiederholungen typischen Variatio-
nen geäußerten Sprechakt resultiert ein unbeabsichtig-
ter pluraler Klang.
Aber wir wollen zugeben, dass ein solcher Augen-
blick, in dem wirklich alle gleichzeitig sprechen und sich
unisono als »das Volk« bezeichnen, in dieser Form –
simultan und plural – kaum vorkommt. Schließlich ist
die Erklärung »We the people« in den USA auch ein
Zitat und kann sich von dieser Zitathaftigkeit nie ganz
frei machen. Auch die amerikanische Unabhängigkeits-
erklärung beginnt mit Worten, die ihre Verfasser be-
vollmächtigen, für das Volk im Allgemeinen zu spre-
chen. Es sind Worte, die politische Autorität begründen
und zugleich eine Form der Volkssouveränität verkün-
den, die an keine politische Einzelautorität gebunden
ist. Derrida hat dazu wegweisende Analysen geliefert
und Gleiches gilt für Bonnie Honig. Die Volkssouve-
ränität kann sich selbst einsetzen (Zustimmung) oder
sich selbst annullieren (Ablehnung oder Revolution),
das heißt, jedes Regime ist auf ihre Einsetzung ange-
wiesen, wenn seine Legitimität nicht nur auf Zwang be-
ruhen soll.
Doch wie punktuell der Sprechakt auch sein mag, er
ist immer in eine zitathafte Kette eingereiht, das heißt,
seine zeitlichen Bedingungen gehen dem kurzen Au-
genblick seiner Äußerung voraus und über ihn hinaus.
Und der Sprechakt ist, unabhängig von seinem illoku-
tionären Gehalt, noch aus einem anderen Grund nicht
ausschließlich auf den Moment seiner Äußerung be-
schränkt  : Die soziale Pluralität, die er bezeichnet und
erzeugt, kann sich nicht vollständig am selben Ort ver-

228
sammeln und zur selben Zeit sprechen, sie ist also ein
räumlich wie zeitlich ausgedehntes Phänomen. Wenn
und wo die Volkssouveränität – die selbstgesetzgebende
Macht des Volkes – »erklärt« wird oder vielmehr »sich
erklärt«, geschieht dies nicht bei einer einzigen Gele-
genheit, sondern vielmehr in einer Reihe von Sprech-
akten beziehungsweise dem, was ich als performative
Inszenierungen bezeichnen würde, die nicht allein auf
die Sprache beschränkt sind.
Meine Frage ließe sich also in etwa folgendermaßen
formulieren  : Was sind die leiblichen Bedingungen der
Äußerung »We the people«, und ist es ein Fehler, die
Frage der freien Meinungsäußerung von der der Ver-
sammlungsfreiheit zu trennen  ? Ich schlage vor, die
Versammlung von Körpern als performative Inszenie-
rung zu begreifen, und sage damit nicht nur, (a) dass
Volkssouveränität performativ geltend gemacht wird,
sondern auch (b) dass sie notwendigerweise eine per-
formative Inszenierung von Körpern einschließt, die
manchmal am selben Ort versammelt sind und manch-
mal nicht. Als Erstes müssen wir uns meiner Ansicht
nach klarmachen, welche Vorstellung von Volkssou-
veränität mit dem Ausspruch »We the people« erwirkt
werden soll.
Wenn das in der amerikanischen Verfassung als »We
the people« bezeichnete Volk »eine Reihe von Wahrhei-
ten für selbstevident erklärt«, was es in der Unabhän-
gigkeitserklärung ganz offensichtlich tut, dann sind
wir schon in der Zwickmühle  : Diese Wahrheiten sollen
durch eine performative Erklärung herbeigeführt wer-
den, wenn sie aber »selbstevident« sind, handelt es sich
um genau die Art von Wahrheiten, die nicht erst herbei-
geführt werden müssen. Sie werden entweder perfor-
mativ induziert oder sie sind selbstevident, aber etwas

229
Selbstevidentes herbeizuführen scheint paradox. Wir
können sagen, eine Reihe von Wahrheiten werde auf-
gestellt, oder wir können sagen, wir hätten diese Wahr-
heiten gefunden und hätten sie nicht aufgestellt. Wir
können auch sagen, dass die Art von Wahrheiten, um
die es hier geht, für selbstevident erklärt werden müs-
sen, um ihre Selbstevidenz bekannt zu machen. Das hie-
ße, sie müssen evident gemacht werden, was wiederum
bedeutet, dass sie nicht selbstevident sind. Diese Zirku-
larität scheint in einen Widerspruch oder eine Tauto-
logie zu münden, aber vielleicht werden die fraglichen
Wahrheiten ja auch erst in der Art und Weise evident,
in der sie erklärt werden. Will sagen  : Die performati-
ve Inszenierung der Wahrheit ist das Mittel, mit dem
ebendiese Wahrheit evident gemacht wird, da sie nicht
vorgegeben oder statisch ist, sondern erst durch eine
bestimmte Form pluralen Handelns inszeniert oder
geltend gemacht wird. Wenn bei der Behauptung der
Volkssouveränität die Fähigkeit zum pluralen Handeln
selbst auf dem Spiel steht, gibt es keine Möglichkeit,
diese Wahrheit außerhalb der pluralen und zwangsläu-
fig konflikthaften Inszenierung, die wir Selbstkonstitu-
tion nennen, zu »zeigen«.
Wenn das plurale Subjekt erst im Verlauf seines per-
formativen Handelns konstituiert wird, ist es davor
noch nicht konstituiert  ; welche Form es vor seiner per-
formativen Geltendmachung auch haben mag – sie un-
terscheidet sich von derjenigen, die es im Handeln und
nachdem es gehandelt hat, annimmt. Wie ist nun also
diese Bewegung des Versammelns zu verstehen, die eine
Dauer hat und gelegentliche, periodische und maßgeb-
liche Momente der Streuung beinhaltet  ? Sie ist keine
einzelne Handlung, sondern ein Zusammenfließen ver-
schiedener Aktionen, eine Form politischer Sozialität,

230
die sich nicht auf Konformität reduzieren lässt. Auch
wenn eine Menge gemeinsam spricht, müssen die Be-
teiligten nah genug beieinanderstehen, um einander
hören zu können, um ihre Sprechgeschwindigkeit auf-
einander abzustimmen, um ein ausreichendes Maß an
Rhythmus und Harmonie zu erreichen, und so in eine
auditive wie körperliche Beziehung zu denjenigen zu
treten, mit denen eine signifikante Aktion oder ein sig-
nifikanter Sprechakt vollzogen wird. Wir fangen jetzt
an zu sprechen und hören jetzt auf. Wir setzen uns jetzt
oder jedenfalls zu einem mehr oder weniger festgeleg-
ten Zeitpunkt in Bewegung, aber gewiss nicht als ein
einzelner Organismus. Wir versuchen, gleichzeitig an-
zuhalten, doch einige bewegen sich weiter und andere
gehen und pausieren in ihrem eigenen Tempo. Zeitliche
Serialität und Koordination, körperliche Nähe, akus-
tische Reichweite, aufeinander abgestimmte Stimm-
äußerung – dies alles sind wesentliche Dimensionen
jeder Versammlung und Demonstration. Und sie alle
werden von dem Sprechakt »We the people« voraus-
gesetzt  ; sie sind die komplexen Elemente des Anlasses
seiner Äußerung, die nonverbalen Formen seiner Be-
deutung.
Wenn wir die Stimmgebung als Vorbild des Sprech-
akts betrachten, so wird der Körper als Sprachwerk-
zeug vorausgesetzt, sowohl als organische Bedingung
als auch als Vehikel der Sprache. Der Körper verwan-
delt sich beim Sprechen nicht in reines Denken, son-
dern zeigt die organischen Bedingungen der Verbali-
sierung an  ; nach Shoshana Felman bedeutet das  : Der
Sprechakt tut immer etwas mehr und etwas anderes als
das, was er gerade sagt. Ebenso wie es keinen rein lin-
guistischen, von seinen leiblichen Handlungen getrenn-
ten Sprechakt gibt, gibt es demnach auch kein rein be-

231
griffliches Moment des Denkens, das seine organische
Voraussetzung beseitigt. Und dies verrät uns etwas
über die Bedeutung der Worte »We the people«  : Die-
se bezeichnen nämlich, ob sie in einem Text geschrie-
ben stehen oder auf der Straße ausgesprochen werden,
eine Versammlung im Akt ihrer Bezeichnung und For-
mierung. Der Akt wirkt gleichzeitig auf sich selbst und
es wird eine körperliche Bedingung der Pluralität an-
gezeigt, unabhängig davon, ob diese nun beim Anlass
der Äußerung erscheint oder nicht. Diese plurale und
dynamische körperliche Bedingung ist eine konstitutive
Dimension jenes Anlasses.
Die Verkörpertheit des Volkes erweist sich als wich-
tig für die Art von Forderungen, die gestellt werden,
denn vielfach werden körperliche Grundbedürfnisse
aufgrund zerstörter Lebensumstände nicht erfüllt. Es
mag uns theoretisch widerstreben, hier von »körper-
lichen Grundbedürfnissen« zu sprechen, so als berie-
fen wir uns auf eine gewisse ahistorische Vorstellung
des Körpers, um moralische und politische Forderun-
gen nach fairer Behandlung und gerechter Verteilung
öffentlicher Güter zu stellen. Aber vielleicht wäre es
noch weniger akzeptabel, wenn man sich aus Angst, in
eine theoretische Sackgasse zu geraten, weigern würde,
überhaupt über körperliche Bedürfnisse zu reden. Es
geht nicht darum, die ahistorische oder historische Ver-
sion des Körpers zu akzeptieren, denn selbst die For-
mulierung der historischen Konstruktion trägt Merk-
male der Invarianz, und jeder allgemeine Begriff des
Körpers entstammt ganz spezifischen Geschichtsfor-
mationen. Keine der beiden Seiten dieser Debatte weiß
also, in welcher Beziehung sie zur jeweils anderen steht.
Jedes einzelne körperliche Bedürfnis kann historisch
auf die eine oder andere Weise artikuliert werden, und

232
es ist durchaus möglich, dass das sogenannte »Bedürf-
nis« nichts anderes ist als eine historische Artikulation
der Dringlichkeit, die darum kein bloßer Effekt der Ar-
tikulation ist. Es gibt, mit anderen Worten, keine Mög-
lichkeit, die Idee eines körperlichen Bedürfnisses von
dem Repräsentationsschema zu trennen, das körper-
liche Bedürfnisse nur selektiv und allzu oft überhaupt
nicht anerkennt. Dadurch werden körperliche Bedürf-
nisse nicht vollkommen ahistorisch, doch ebenso we-
nig werden sie zu reinen Effekten eines spezifisch his-
torischen Diskurses. Zwischen Körper und Diskurs
besteht, um es noch einmal zu sagen, ein chiasmisches
Verhältnis, das heißt, der Körper muss repräsentiert
werden und wird durch diese Repräsentation nie ganz
erschöpft. Darüber hinaus durchdringen die differen-
ziellen Arten seiner Repräsentation oder Nichtreprä-
sentation die Repräsentation von Bedürfnissen in Fel-
dern der Macht. Wir können hier auch die Produktion
von Bedürfnissen berücksichtigen, wie sie von Marx
diskutiert und von Ágnes Heller theoretisch verstärkt
worden ist,13 ohne zu behaupten, so etwas wie ein Be-
dürfnis gebe es nicht. Zweifellos könnten wir auch an-
dere Worte wählen, wir könnten auch dem produktiven
Charakter der Worte nachspüren, die wir zur Verstär-
kung der Phänomene verwenden, und dennoch wür-
den wir über etwas sprechen, auch wenn es unmöglich
ist, ohne die Sprache, die wir benutzen, zu diesem Et-
was zu gelangen, und obwohl wir dieses Etwas durch
unseren Sprachgebrauch unweigerlich umformen. Der
Begriff der »Bedürfnisse« hätte somit die immer schon
sprachlich geformte Bedeutung der Erforderlichkeit
oder Dringlichkeit und könnte weder mit diesen noch
mit irgendwelchen anderen Synonymen adäquat erfasst
werden.

233
Ganz ähnlich ist auch der Verweis auf das »Organi-
sche« ebenso obligatorisch wie problematisch  : Das rein
Organische ist ebenso wenig wiedererlangbar wie das,
als nichtorganisch verstandene, rein Begriffliche. Bei-
de Vorstellungen erscheinen als immer schon in irgend-
einer Weise organisiert  ; sie gehören nicht zu einer be-
stimmten metaphysischen Substanz, sondern zu einem
Bündel von Beziehungen, Gesten und Bewegungen, die
den sozialen Sinn des »Organischen« ausmachen und
sehr häufig dessen metaphysische Interpretationen re-
gulieren. Welche anderen Arten körperlicher Handlun-
gen und Nichthandlungen, Gesten, Bewegungen, Ko-
ordinations- und Organisationsmodi konstituieren nun
also den nicht mehr ausschließlich als Stimmäußerung
verstandenen Sprechakt  ? Laute sind nur eine Möglich-
keit, gemeinsam etwas kundzutun – Gesänge, Sprech-
chöre, Erklärungen, das Schlagen auf Trommeln und
Töpfe oder das Hämmern gegen Gefängnis- und Tren-
nungsmauern. Inwiefern »sprechen« alle diese verschie-
denen Akte in einer Weise, die einen anderen Sinn des
Organischen und des Politischen anzeigt, der sich als
die performative Inszenierung der Versammlung selbst
verstehen ließe  ?

Wenn Menschen, die sich in immer stärkerem Maße der


Prekarität ausgesetzt sehen, auf die Straße gehen und
ihre Forderungen mit den Worten »We the people«
oder »Wir, das Volk« beginnen lassen, dann beanspru-
chen sie damit, dass sie – diejenigen, die dort erschei-
nen und sprechen – als »das Volk« identifiziert werden.
Sie wehren sich dagegen, in Vergessenheit zu geraten.
Die Worte implizieren weder, dass Profiteure nicht
»das Volk« sind, noch ein schlichtes Gefühl der Inklu-
sion im Sinne von  : »Auch wir sind das Volk«. Sie kön-

234
nen bedeuten  : »Wir sind immer noch das Volk« – und
daher noch da, hartnäckig, noch nicht zerstört. Oder
sie können eine Form der Gleichheit angesichts der
zunehmenden Ungleichheit bekunden  ; die Teilneh-
menden tun dies nicht nur einfach, indem sie die Wor-
te äußern, sondern indem sie Gleichheit in jedem nur
möglichen Maße verkörpern, indem sie eine Versamm-
lung des Volkes auf der Grundlage der Gleichheit bil-
den. Man könnte sagen, dass hier Gleichheit inmitten
der Ungleichheit experimentell und provisorisch gel-
tend gemacht wird. Dagegen lässt sich kritisch einwen-
den, dass dies insofern vergeblich und zwecklos ist, als
es sich um rein symbolische Taten handelt, die nichts
daran ändern, dass wirkliche wirtschaftliche Gleichheit
für Menschen mit astronomischen Schulden und we-
nig Aussicht auf Beschäftigung in immer weitere Ferne
rückt. Und doch scheint die Verkörperung von Gleich-
heit in den Praktiken der Versammlung, das Beharren
auf Interdependenz und einer gerechten Verteilung von
Arbeitsaufgaben, die Idee einer gemeinsamen Grund-
lage (der »commons« oder Allmende) eine Version von
Gleichheit in die Welt zu bringen, die an anderen Stel-
len rapide verschwindet. Es geht darum, den Körper
nicht bloß als Instrument zur Aufstellung einer politi-
schen Forderung zu betrachten, sondern diesen Körper
beziehungsweise die Pluralität von Körpern zur Vo-
raussetzung aller zukünftigen Forderungen zu machen.
Tatsächlich stehen die Grundbedürfnisse des Kör-
pers im Zentrum der straßenpolitischen Mobilisierun-
gen, die uns in den letzten Jahren begleiten – die Oc-
cupy-Bewegung, die Frühphase der Proteste auf dem
Tahrir-Platz, Puerta del Sol, Gezi-Park oder die Fave-
la-Bewegung in Brasilien – die Bedürfnisse werden hier
öffentlich inszeniert, noch bevor irgendeine politische

235
Forderung gestellt wird. Gegen die Kräfte der Privati-
sierung, die Zerstörung öffentlicher Dienste und den
Sturz der Ideale des Gemeinwohls durch die Über-
nahme neoliberaler Formen der Rationalität in Regie-
rungen wie im Alltag verlangen Körper nach Nahrung
und Obdach, Schutz vor Verletzung und Gewalt und
der Freiheit, sich bewegen, arbeiten und medizinische
Versorgung in Anspruch nehmen zu können  ; Körper
brauchen andere Körper zur Unterstützung und zum
Überleben.14 Es ist natürlich von Belang, wie alt und
wie gesund diese Körper sind, denn in allen Formen der
Abhängigkeit brauchen Körper nicht nur eine andere
Person, sondern komplexe soziale Unterstützungssys-
teme, die sowohl menschlich als auch technisch sind.
Gerade in einer Welt, in der sich die Stützen des kör-
perlichen Lebens für eine wachsende Zahl von Men-
schen als hochgradig prekär erweisen, treten die Kör-
per gemeinsam heraus auf den Bürgersteig, in den Staub
oder an die Mauer, die sie von ihrem Land trennt – diese
Versammlung, zu der auch virtuelle Teilnehmer / ​innen
gehören können, setzt immer noch eine Reihe mitein-
ander verflochtener Orte für eine plurale Menge von
Körpern voraus. Und auf diese Weise gehören die Kör-
per zur Straße, zum Boden, zu der Architektur und
Technologie, durch die sie leben, sich bewegen, arbeiten
und begehren. Der Ansicht, dass aktive, auf der Stra-
ße versammelte Körper eine machtvolle und wogende
Menge bilden, die an sich schon ein radikaldemokrati-
sches Ereignis oder eine radikaldemokratische Aktion
darstellt, kann ich nur teilweise zustimmen. Wenn Men-
schen sich von der etablierten Macht lösen, inszenieren
sie den Willen des Volkes, aber um ganz sicher zu sein,
müsste man wissen, wer sich löst und wo, und wer sich
wo nicht löst. Es gibt schließlich alle möglichen Arten

236
von wogenden Mengen, die ich nicht gutheißen würde
(auch wenn ich ihr Versammlungsrecht nicht in Abre-
de stelle), wie etwa Lynchmobs, antisemitische, rassis-
tische oder faschistische Versammlungen und gewalt-
same antiparlamentarische Massenbewegungen. Mir
geht es nicht so sehr um die angebliche Vitalität wo-
gender Mengen oder um irgendeine aufkeimende und
viel versprechende Lebenskraft, die ihren kollektiven
Aktionen innezuwohnen scheint, sondern vielmehr da-
rum, mich einem Kampf anzuschließen, der angesichts
einer systematisch herbeigeführten Prekarität und viel-
gestaltigen ethnischen Armut die Schaffung tragfähi-
ger Bedingungen für ein lebbares Leben anstrebt. Das
Endziel der Politik ist nicht einfach, gemeinsam voran-
zupreschen (obwohl dies innerhalb eines umfassende-
ren Kampfes gegen Prekarität einen wesentlichen Mo-
ment affektiver Intensität darstellen kann) und einen
neuen gelebten Sinn des »Volkes« zu stiften  ; es gibt
freilich auch Situationen, in denen es zum Zwecke des
radikaldemokratischen Wandels – den ich befürworte –
wichtig ist, in einer Weise voranzupreschen, die das In-
teresse der Welt für eine dauerhaftere Möglichkeit eines
lebenswerten Lebens für alle fordert und verändert.
Sich lebendig zu fühlen oder Lebendigkeit zu bejahen
ist das eine, aber es ist etwas völlig anderes, wenn man
sagt, dieses flüchtige Gefühl sei alles, was wir von der
Politik erwarten könnten. Sich lebendig zu fühlen ist
nicht ganz dasselbe, wie für eine Welt zu kämpfen, in
der das Leben für diejenigen lebbar wird, die noch nicht
als Lebewesen geschätzt werden.
Ich verstehe zwar, dass es etwas geben muss, das eine
solche Gruppe zusammenhält – irgendeine Forderung,
ein tief empfundenes Gefühl der Ungerechtigkeit und
Unlebbarkeit, eine gemeinsame Ahnung der Möglich-

237
keit des Wandels –, es gibt aber auch den Wunsch da-
nach, auf der Stelle eine neue Form der Sozialität zu
erzeugen. Diese Mobilisierungen stellen ihre Forde-
rungen mittels Sprache, Aktionen, Gesten und Bewe-
gungen  ; durch gegenseitiges Unterhaken  ; durch die
Weigerung, sich zu bewegen  ; durch das Bilden körper-
licher Blockaden gegen polizeiliche und staatliche Kräf-
te. Eine Bewegung kann, je nach ihrer Strategie und den
militärischen und polizeilichen Bedrohungen, die sie
fürchten muss, den Raum erhöhter Exponiertheit be-
treten oder verlassen. In jedem Fall lässt sich allerdings
sagen, dass die beteiligten Körper gemeinsam Wider-
standsnetzwerke bilden, wenn man bedenkt, dass Kör-
per, die aktiv Widerstand leisten, auch fundamental der
Unterstützung bedürfen. Die Verwundbarkeit wird im
Widerstand nicht exakt in Handlungsfähigkeit umge-
wandelt – sie bleibt die Bedingung des Widerstands,
eine Bedingung des Lebens, aus dem sie hervorgeht,
die Bedingung, die – als Prekarität – bekämpft werden
muss und bekämpft wird. Dies ist etwas anderes als
Schwäche oder Viktimisierung, denn der Widerstand
verlangt von den Gefährdeten, die aufgegebenen oder
nicht unterstützten Dimensionen des Lebens zu expo-
nieren, aber auch, jene Verwundbarkeit als bewusste
und aktive Form des politischen Widerstands zu mobi-
lisieren  ; er verlangt ein Aussetzen des Körpers gegen-
über der Macht in der pluralen Aktion des Widerstands.

Wäre der Körper in der politischen Sphäre per de-


finitionem aktiv – stets sich selbst konstituierend, nie
konstituiert –, müssten wir nicht für die Bedingungen
kämpfen, die dem Körper die freie Aktivität im Namen
sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit erlauben.
Dieser Kampf setzt voraus, dass Körper eingeschränkt

238
und einschränkbar sind. Die Bedingung der körper-
lichen Verwundbarkeit wird in jenen öffentlichen Ver-
sammlungen und Koalitionen ans Licht gebracht, die
der beschleunigten Prekarisierung entgegenzuwirken
versuchen. Von daher ist es umso dringender geboten,
das Verhältnis zwischen Vulnerabilität und jenen For-
men der Aktivität zu verstehen, die unser Überleben,
unser Gedeihen und auch unseren politischen Wider-
stand kennzeichnen. Auch im Moment unseres aktiven
Erscheinens auf der Straße sind wir ausgesetzt, anfällig
für Verletzungen der einen oder anderen Art. Das legt
nahe, dass es bewusste oder gewollte Mobilisierungen
der Vulnerabilität gibt, die wir treffender als politische
Exponiertheit bezeichnen könnten.
Schlussendlich sollten wir bedenken, dass jeder An-
spruch auf den öffentlichen Raum, den wir erheben,
vom Spuk des Gefängnisses begleitet wird und das Ge-
fängnis antizipiert. Mit anderen Worten  : Wer im Ge-
zi-Park oder auf anderen Straßen der Türkei öffent-
lich erscheint, riskiert, festgenommen und eingesperrt
zu werden. Die Mediziner / ​innen, die den Protestie-
renden zur Hilfe kamen, wurden dafür verhaftet. Die
Anwält / ​innen, die das Recht auf Versammlungs- und
Meinungsfreiheit verteidigen wollten, wurden fest-
genommen und inhaftiert, und die Menschenrechts-
aktivist / ​innen, die diese Verbrechen der internationa-
len Öffentlichkeit zugänglich machen wollten, wurden
ebenfalls inhaftiert oder mit Haft bedroht. Auch die
Medienvertreter / ​innen, die sich darum bemühten, die
Ereignisse publik zu machen, wurden zensiert, fest-
genommen und inhaftiert. Wo immer Menschen den
öffentlichen Raum beanspruchen wollten, liefen sie Ge-
fahr, von der Polizei aufgehalten, verletzt oder einge-
sperrt zu werden. Wenn wir daher über die öffentliche

239
Versammlung nachdenken, denken wir immer auch an
die Polizeigewalt, die sie entweder stattfinden lässt oder
ihr Stattfinden verhindert, und wir sind auf der Hut vor
dem Moment, in dem der Staat anfängt, das Volk zu at-
tackieren, das er eigentlich repräsentieren soll, und in
dem ein gewaltsamer Übergang vom öffentlichen Raum
ins Gefängnis geschaffen wird. Der öffentliche Raum
wird im Grunde durch diesen gewaltsamen Übergang
definiert. Die Solidarität mit politischen Gefangenen –
ja, mit allen Menschen, die unter unrechtmäßigen Be-
dingungen eingesperrt sind – muss folglich die Sphären
der Öffentlichkeit und der Gefangenschaft überschrei-
ten. Gefangene sind genau diejenigen, denen die Ver-
sammlungsfreiheit und der Zugang zum öffentlichen
Raum verwehrt wird. Die Regierungsabsicht, staatliche
Parks zu privatisieren und der Privatwirtschaft zu er-
lauben, an die Stelle schützender öffentlicher Güter und
Rechte zu treten, zielt folglich darauf ab, die polizei-
liche Kontrolle über den öffentlichen Raum zu etab-
lieren. Um dieses Ziel zu erreichen, ist nichts effektiver
als diejenigen, die das Recht auf den öffentlichen Raum
geltend machen, zu inhaftieren und Protestierende, die
den öffentlichen Raum für die Öffentlichkeit selbst be-
anspruchen, anzugreifen und zu vertreiben. Dies ist
eine Möglichkeit, die Festnahme und Inhaftierung de-
rer zu verstehen, die den Staat in seinem Krieg gegen
das öffentliche Leben bekämpfen.
Wenn die Privatisierung auf die Zerstörung des öf-
fentlichen Raumes aus ist, dann bietet das Gefängnis die
ultimative Möglichkeit, den Zugang zu ihm zu versper-
ren. So gesehen arbeiten Privatisierung und Gefängnis
zusammen, um uns von den Orten fernzuhalten, von
denen wir wissen, dass wir dort hingehören. Niemand
kann das Recht auf Versammlungsfreiheit alleine haben.

240
Wenn jemand dieses Recht beansprucht – und das müs-
sen wir –, dann müssen wir dies miteinander tun, trotz
aller Differenzen und Unstimmigkeiten und solidarisch
mit denen, die dieses Recht bereits verloren haben oder
nie als zur öffentlichen Sphäre gehörend anerkannt
worden sind. Dies gilt insbesondere für Personen, die
ohne Genehmigung auf der Straße erscheinen, die der
Polizei, dem Militär oder anderen Sicherheitskräften
unbewaffnet entgegentreten, die als Transgender in
transphobischen Umgebungen leben oder die sich ohne
gültige Papiere in Ländern aufhalten, in denen Men-
schen kriminalisiert werden, die sich um ihre Bürger-
rechte bemühen. Der Mangel an Schutz macht aus dem
Dasein kein »nacktes Leben«, sondern vielmehr eine
konkrete Form der politischen Exponiertheit und des
potenziellen Kampfes, die einerseits konkret verwund-
bar, ja zerbrechlich, zugleich aber auch potenziell und
aktiv aufsässig, ja revolutionär ist.
Die sich versammelnden Körper bezeichnen und for-
mieren sich als »Wir, das Volk«  ; sie zielen auf Abstrakti-
onsformen, die so tun, als ob jene sozialen und leiblichen
Bedürfnisse des Lebens als Folge neoliberaler Metriken
und Marktrationalitäten, die heute im Namen des Ge-
meinwohls agieren, zerstört werden könnten. Sich bei
einer gegen dieses Elend gerichteten Versammlung zu
zeigen heißt, genau die Körper aufzuführen, für die wir
solche Forderungen stellen, und dies manchmal auch
auf eine andere Weise als wir beabsichtigen. Wir müssen
uns vorher nicht kennen oder beraten, um diese Forde-
rung füreinander zu stellen, denn kein Körper ist wirk-
lich ohne jene anderen möglich, mit denen wir sozusa-
gen Arm in Arm, aber auch im Namen eines anderen
Demokratiebegriffs verbunden sind, der neue Formen
der Solidarität auf und außerhalb der Straße verlangt.

241
Ich bin der festen Überzeugung, dass Versammlungen
dieser Art nur erfolgreich sein können, wenn sie sich zu
den Grundsätzen der Gewaltlosigkeit bekennen. Von
Prinzipien geleitete verkörperte Akte der Gewaltlosig-
keit nehmen einen wichtigen Platz in der Begegnung
mit Gewalt ein, und diese Akte müssen bestimmend für
jede Bewegung sein, die für das Recht der öffentlichen
Versammlung eintritt. Wenn ich so etwas behaupte,
muss ich erklären, wie ein Prinzip verkörpert wird, und
ich werde versuchen zu zeigen, was ich damit meine  ; ich
muss aber auch zeigen, wie gewaltloser Widerstand ge-
gen Gewalt möglich ist (dieser Frage werde ich in einem
anderen Kontext noch genauer nachgehen). Worauf es
mir ankommt, ist, dass es bei der Gewaltlosigkeit nicht
nur darum geht, ein geistiges Prinzip zu haben, sondern
sein Verhalten, ja sogar sein Begehren von einem Prin-
zip formen zu lassen – es geht, so könnte man sagen, um
eine Abtretung an das Prinzip. Gewaltfreies Handeln
ist nicht einfach eine Frage der Ausübung des Willens,
seinen Drang zum Ausleben der eigenen Aggressio-
nen zu unterdrücken  ; es ist vielmehr ein aktives Rin-
gen mit einer kultivierten Form von Zwang, die körper-
liche und kollektive Gestalt annimmt.
Gewaltfreier Widerstand bedarf eines Körpers, der
erscheint, der handelt und der mit seinem Handeln
eine Welt begründen will, die anders ist als die, der er
begegnet, und das bedeutet, der Gewalt zu begegnen,
ohne deren Bedingungen zu reproduzieren. Er sagt
nicht einfach Nein zu einer Welt der Gewalt, sondern
gestaltet das Selbst und seine Beziehung zur Welt neu,
indem er sich, und wenn auch nur versuchsweise, be-
müht, die Alternative zu verkörpern, für die er kämpft.
Lässt sich somit sagen, dass der gewaltfreie Widerstand
performativ ist  ? Ist Gewaltlosigkeit eine Tat, eine an-

242
dauernde Aktivität und, falls ja  : Wie ist ihre Beziehung
zur Passivität  ? Passiver Widerstand ist zwar eine Form
der gewaltfreien Aktion, doch nicht alle Formen las-
sen sich auf ihn reduzieren.15 Die Idee, sich vor einen
Panzer zu legen, sich in der Konfrontation mit der Po-
lizei »schlaff zu machen«, erfordert die kultivierte Fä-
higkeit, eine gewisse Haltung zu wahren. Der schlaffe
Körper scheint seine Handlungsfähigkeit aufgegeben
zu haben, doch indem er zum Gewicht und zum Hin-
dernis wird, verharrt er in seiner Stellung. Die Aggres-
sion wird nicht ausgemerzt, sondern kultiviert, und ihre
kultivierte Form ist am Körper abzulesen, wie er steht,
fällt, sich sammelt, anhält, schweigend verharrt und die
Unterstützung anderer Körper annimmt, die er seiner-
seits unterstützt. Durch das Unterstützen und Unter-
stütztwerden wird eine Idee körperlicher Interdepen-
denz inszeniert, die zeigt, dass gewaltfreier Widerstand
nicht auf heroischen Individualismus reduziert werden
sollte. Selbst die Einzelperson, die allein nach vorn tritt,
tut dies zum Teil, weil andere hinter ihr stehen.
Können wir sagen, dass es sich hier um öffentliche
Akte der Selbstkonstitution handelt, in denen das Selbst
nicht nur dieses oder jenes individuelle Selbst ist, son-
dern eine soziale Verteilung belebter und interdepen-
denter Selbstheit, ausgestattet mit der Kraft und der
Freiheit des Ausdrucks, der Bewegung und Versamm-
lung, die Körper ins Feld führt und gestaltet, welche
ihren Grundanspruch auf Arbeit, Schutz und Nahrung
manifestieren  ?
Auf dem Weg zur Realisierung eines solchen Ide-
als liegen viele Schwierigkeiten. Zunächst einmal ist es
nicht immer möglich, Gewaltlosigkeit mit Sicherheit zu
definieren. Genau genommen ist jede Definition eine
Interpretation dessen, was Gewaltlosigkeit ist oder sein

243
sollte. Dies führt immer wieder zu verzwickten Situa-
tionen  : Eine von Prinzipien geleitete Vorstellung von
Gewaltlosigkeit kann manchmal als Gewalt interpre-
tiert werden, und wenn dies geschieht, halten diejeni-
gen, die diese Interpretation vornehmen, sie für rich-
tig, während diejenigen, deren Handeln als gewalttätig
interpretiert wird, sie für vollkommen falsch halten.
Wenn Gewaltlosigkeit als Gewalt interpretiert wird,
dann wird sie im Allgemeinen entweder als Deckmantel
für gewaltsame Ziele oder Impulse und damit als List
hingestellt oder als eine Form von Nichtbeteiligung, die
es den Starken effektiv ermöglicht, sich durchzusetzen.
Es kann passieren, dass man glaubt, gewaltfrei zu han-
deln, um dann feststellen zu müssen, dass die Hand-
lung gewaltsame Aspekte oder Folgen hat oder man mit
ihr eine Grauzone betritt, besonders wenn Gewalt im
Dienste der Selbstverteidigung angewendet wird. Hier
muss man jedoch unterscheiden  : Die Tatsache, dass
man nicht alle Folgen des eigenen Handelns vollstän-
dig kennt, ist etwas anderes als der aktive Versuch, die
Aktion verzerrt darzustellen, indem Gewaltlosigkeit in
Gewalt umbenannt wird.
Taktiken wie Streiks, Hungerstreiks im Gefängnis,
Arbeitsniederlegungen, gewaltfreie Besetzungen von
Regierungs- oder Amtsgebäuden und Räumen, deren
privatwirtschaftlicher Status umstritten ist, Konsum-,
Kultur- und andere Arten von Boykotts, Sanktio-
nen, aber auch öffentliche Versammlungen, Petitio-
nen, Formen der Nichtanerkennung illegitimer Auto-
ritäten oder die Weigerung, zu Unrecht geschlossene
Institutionen zu räumen, sind durchaus überlegens-
wert. Diese Aktionen – oder, je nach Interpretation,
Formen des Nichthandelns – eint, dass sie die Recht-
mäßigkeit bestimmter Vorgehensweisen oder Maß-

244
nahmen beziehungsweise die Legitimität einer spezi-
fischen Herrschaftsform in Frage stellen. Dabei können
sie – insofern sie zu einem Wandel bei der Polizei, der
Staatsbildung oder der Herrschaft aufrufen – alle als
»destruktiv« bezeichnet werden, denn sie fordern eine
tiefgreifende Veränderung des Status quo. Wenn jedoch
die Aufhebung einer Politik oder die Forderung nach
einer rechtmäßigen Grundlage der Staatsbildung – bei-
des eindeutige Äußerungen des Volkswillens in einer
Demokratie – zur Gewalt oder gar zum »Terror« er-
klärt werden, so liegt eine fatale Verwirrung vor, die un-
sere Fähigkeit, gewaltfreie Aktionen im Kontext demo-
kratischer Kämpfe zu benennen, blockiert.
In Gandhis Worten, der sich wiederum auf Thoreau
stützt, ist gewaltloser ziviler Ungehorsam ein »ziviler
Bruch unmoralischer gesetzlicher Bestimmungen«.16
Seiner Ansicht nach kann ein Gesetz oder Statut als
unmoralisch oder moralisch falsch betrachtet werden
und dadurch zum legitimen Gegenstand einer zivilen
Aktion werden. Das Gesetz wird also missachtet, da
es aber unmoralisch ist, ist der Ungehorsam berech-
tigt. Ein unmoralisches öffentliches Statut oder Gesetz
nicht zu befolgen ist ein Bürgerrecht, da der Bereich
des Rechts verantwortlich gegenüber den Formen der
Moral ist, die nach Gandhis Verständnis das Zivilleben
strukturieren. Man kann gewiss in Frage stellen, ob die
Moral die Bürgerrechte in der Weise untermauert, wie
Gandhi dies annimmt, doch scheint es mir wichtig, sei-
ner generellen These zu folgen. Es gibt Arten der Infra-
gestellung von Legitimität, die manchmal die explizite
Form von Sprechakten annehmen  ; andere stützen sich
auf die expressive Dimension pluralen und verkörper-
ten Handelns oder der Handlungsverweigerung. Wenn
sie auf pluralem und verkörpertem Handeln beruhen,

245
sind sie auf verkörperte Handlungsfähigkeit angewie-
sen, und wenn die Polizei, Sicherheitskräfte oder das
Militär eine gewaltlose Versammlung auflösen und zer-
streuen will, kommt es vor, dass diese Versammlung
in direkten Kontakt mit anderen Körpern kommt, die
möglicherweise Objekte oder Waffen dabeihaben, wel-
che physische Schäden anrichten können. Wer in Hun-
gerstreik tritt, nimmt das Risiko physischer Zwangs-
maßnahmen oder Schäden an, denn Gefangene, die die
Nahrung verweigern, weigern sich nicht nur, eine ver-
bindliche Bestimmung zu befolgen, sondern auch, sich
als Gefangene zu reproduzieren. Das Gefängnis ist auf
die physische Reproduktion der Inhaftierten angewie-
sen, um seine besondere Zwangsmodalität ausüben zu
können. Mit anderen Worten  : Die gewaltfreie Aktion
findet manchmal innerhalb eines Kraftfeldes der Ge-
walt statt und daher ist die Gewaltlosigkeit selten eine
Position der Reinheit oder Zurückhaltung, das heißt
eine, die losgelöst und distanziert vom Schauplatz der
Gewalt eingenommen wird. Im Gegenteil  : Sie findet
genau dort, am Schauplatz der Gewalt statt. Jemand,
der freundlich und friedlich eine Straße entlangspaziert,
übt weder Gewalt noch Gewaltlosigkeit aus. Gewalt-
losigkeit kommt erst mit der Androhung von Gewalt
ins Spiel  : Sie ist ein Weg, sich allein oder mit anderen in
einem potenziell oder tatsächlich konflikthaften Raum
zu halten und zu verhalten. Das soll nicht heißen, dass
Gewaltlosigkeit ausschließlich reaktiv ist  : Sie kann eine
Möglichkeit sein, an eine Situation heranzugehen, sogar
eine Weise, in dieser Welt zu leben, eine tägliche Praxis
der Achtsamkeit, die sich der Gefährdetheit lebender
Wesen annimmt.
Gerade weil die Gewaltlosigkeit ein bewusstes Mit-
tel ist, um ein verkörpertes Selbst angesichts eines Kon-

246
flikts oder konflikthafter Bedrängnisse und Provoka-
tionen zu behaupten, muss sie sich auf eine gewaltlose
Praxis stützen, die dem eigentlichen Augenblick der
Entscheidung vorausgeht und ihn antizipiert. Diese
Form der Selbstbehauptung, diese Haltung der Reflexi-
vität wird durch historische Konventionen vermittelt,
die als erkennbare Basis der gewaltfreien Aktion die-
nen. Auch wenn die Gewaltlosigkeit als eine Einzeltat
erscheint, so ist sie doch sozial vermittelt und hängt von
der Erhaltung und Anerkennung von Konventionen ab,
die gewaltlose Verhaltensweisen steuern.
Es gibt natürlich Menschen, die aufgeben oder sich
gewaltsamen Methoden zuwenden, oder auch solche,
die gewaltfreie Versammlungen aufsuchen, um sie in
eine andere Richtung zu lenken  ; auch ihnen muss man
sich widersetzen. Gewalt ist eine konstitutive Möglich-
keit jeder Versammlung, nicht nur, weil hinter den Ku-
lissen meistens schon die Polizei lauert, und nicht nur,
weil gewaltbereite Gruppen versuchen, gewaltfreie Ver-
sammlungen an sich zu reißen, sondern weil politische
Versammlungen ihre eigenen konstitutiven Antagonis-
men nie ganz überwinden können. Die Aufgabe besteht
darin, einen Weg zu finden, den Antagonismus zu einer
gewaltfreien Praxis zu kultivieren. Die Vorstellung, wir
könnten eine friedliche Region der politischen Subjek-
tivität finden und bewohnen, unterschätzt jedoch die
drängende Daueraufgabe, Aggression und Antagonis-
mus in die Substanz des demokratischen Wettstreits
einzugliedern. Ohne die taktische und von Prinzipien
geleitete Kultivierung von Aggression zu verkörperten
Aktionsmodi lässt sich Gewaltlosigkeit nicht erreichen.
Wir können die Gesten der Gewalt mimen, nicht um
damit zu zeigen, was wir beabsichtigen, sondern um die
Wut anzudeuten, die wir verspüren und die wir herun-

247
terbremsen auf den verkörperten politischen Ausdruck
und in ihn umwandeln. Es gibt viele Möglichkeiten, den
Körper einzusetzen, ohne jemandem zu schaden, und
das ist zweifellos der Weg, den wir gehen sollten.
Letztlich ist es wahrscheinlich nicht möglich, über
Taktiken der Gewaltlosigkeit außerhalb ihres jewei-
ligen historischen Kontexts nachzudenken. Sie ist kei-
ne Regel mit Absolutheitsanspruch, sondern lässt sich
vielleicht eher als Ethos definieren  ; tatsächlich wohnt
jeder Taktik ein implizites Ethos inne. Gewaltlosigkeit
ist ebenso ein Ethos wie eine Taktik, und das heißt, dass
gewaltfreie Bewegungen, wie Boykotts und Streiks,
nicht einfach Krieg mit anderen Mitteln sein können.
Sie müssen sich als substanzielle ethische Alternativen
zum Krieg erweisen, denn nur durch die Manifestation
des ethischen Anspruchs lässt sich der politische Wert
der Position erkennen. Eine Demonstration in diesem
Sinne ist nicht leicht durchzuführen, wenn es Leute
gibt, die die Taktik nur als Hass und als Fortsetzung des
Krieges mit anderen Mitteln verstehen können. Das ist
zweifellos einer der Gründe dafür, dass Gewaltlosigkeit
nicht nur durch das etabliert wird, was wir tun, sondern
auch dadurch, wie es erscheint, was wiederum bedeutet,
dass wir die Medien brauchen, die Gewaltlosigkeit als
solche erkennbar machen können.

248
6.
Kann man ein gutes Leben
in einem schlechten Leben führen  ?

Ich möchte in diesem Kapitel einer Frage nachgehen,


die Adorno gestellt hat und die für uns heute immer
noch aktuell ist. Es ist eine Frage, auf die ich immer wie-
der zurückkomme und die sich immer wieder neu stellt.
Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage und wir
können der Forderung, die sie an uns stellt, nicht leicht
entgehen. Adorno schreibt bekanntermaßen in seinen
Minima Moralia  : »Es gibt kein richtiges Leben im fal-
schen.«1 Dies lässt ihn jedoch nicht die Hoffnung auf
die Möglichkeit der Moral aufgeben. Wir stehen somit
vor der Frage  : Wie kann man ein gutes Leben in einem
schlechten Leben führen  ?* Adorno hebt die Schwierig-
keit hervor, für sich selbst und als man selbst einen Weg
zu finden, um inmitten einer von Ungleichheit, Aus-
beutung und Formen der Auslöschung geprägten Welt
nach einem guten Leben zu streben. So sähe zumindest
mein erster Versuch aus, seine Frage umzuformulieren.
Bei diesem Versuch bin ich mir durchaus bewusst, dass
es sich um eine Frage handelt, die sich je nach dem ge-
schichtlichen Zeitpunkt, zu dem sie gestellt wird, wan-
delt. Wir stehen also von Anfang an vor zwei Proble-
men  : Das erste betrifft das eigene gute Leben, also die
Frage, wie man in einer Welt, in der das gute Leben für
so viele Menschen strukturell oder systematisch un-
möglich ist, zur sinnlosen Phrase verkommt oder offen-
bar eine Lebensweise bezeichnet, die in vielen Punkten
schlecht ist, sagen kann, man führe ein gutes Leben. Das
zweite Problem ist, welche Gestalt die Frage für uns
heute annimmt  : In welcher Weise bedingt oder durch-

249
dringt die historische Zeit, in der wir leben, die Form
der Frage selbst  ?
Bevor ich fortfahre, muss ich zunächst einige Begrif-
fe klären. Der Begriff »das gute Leben« ist natürlich
kontrovers, denn schließlich gibt es sehr viele unter-
schiedliche Auffassungen darüber, was »das gute Le-
ben« (das richtige Leben) wäre. Für viele ist es gleichbe-
deutend mit wirtschaftlichem Wohlstand oder auch mit
Sicherheit, doch Wohlstand und Sicherheit lassen sich,
wie wir wissen, auch von denen erreichen, die kein gu-
tes Leben führen. Dies wird besonders deutlich, wenn
diejenigen, die behaupten, ein gutes oder richtiges Le-
ben zu führen, von der Arbeit anderer oder von einem
Wirtschaftssystem profitieren, das auf Ungleichheit be-
ruht. Wir müssen »das gute Leben« also so weit fassen,
dass es keine Ungleichheit voraussetzt oder impliziert,
oder anders gesagt  : Wir müssen den Begriff mit anderen
normativen Werten in Einklang bringen. Wenn wir uns
auf die Alltagssprache verlassen, um zu erfahren, was
das gute Leben ist, können wir leicht in Verwirrung ge-
raten, denn der Ausdruck ist zu einem Vektor für kon-
kurrierende Wertsysteme geworden.
So könnten wir schnell zu dem Schluss kommen,
dass »das gute Leben« entweder einer veralteten aristo-
telischen Begrifflichkeit angehört, die an individualis-
tische moralische Verhaltensformen geknüpft ist, oder
aber dass der kommerzielle Diskurs den Ausdruck
schon so sehr kontaminiert hat, dass er für Betrach-
tungen über das Verhältnis der Moral beziehungsweise
der Ethik im Allgemeinen zur Sozial- und Wirtschafts-
theorie nicht mehr zu gebrauchen ist. Wenn Adorno
bezweifelt, dass es möglich ist, ein richtiges Leben im
falschen zu führen, dann fragt er damit auch nach dem
Verhältnis zwischen moralischem Handeln und dessen

250
gesellschaftlichen Bedingungen oder, allgemeiner be-
trachtet, zwischen Moral und Gesellschaftstheorie  ; tat-
sächlich beschäftigt er sich auch mit der Frage, wie die
umfassenderen Macht- und Herrschaftsmechanismen
unsere individuellen Betrachtungen darüber, wie zu le-
ben sei, infiltrieren oder stören. Er schreibt, dass »das
ethische Verhalten oder das moralische oder unmora-
lische Verhalten immer ein gesellschaftliches Phänomen
ist – das heißt, [dass] es überhaupt keinen Sinn hat, vom
ethischen und vom moralischen Verhalten unter Abse-
hung der Beziehungen der Menschen zueinander zu re-
den, und [dass] das rein für sich selbst seiende Individu-
um eine ganz leere Abstraktion ist«.2 An anderer Stelle
heißt es, dass »die gesellschaftlichen Kategorien bis ins
Innerste der moralphilosophischen sich hinein erstre-
cken«.3 Und der vorletzte Satz der Probleme der Mo-
ralphilosophie lautet schließlich  : »Kurz, also was Moral
heute vielleicht überhaupt noch heißen darf, das geht
über an die Frage nach der Einrichtung der Welt – man
könnte sagen  : die Frage nach dem richtigen Leben wäre
die Frage nach der richtigen Politik, wenn eine solche
richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirk-
lichenden gelegen wäre.«4 Es ist also durchaus sinnvoll,
danach zu fragen, welche gesellschaftliche Konfigura-
tion des »Lebens« in der Frage, wie zu leben sei, ge-
meint ist. Wenn ich mich frage, wie ich am besten le-
ben sollte oder wie ein gutes Leben zu führen sei, dann
stütze ich mich ja offensichtlich nicht nur auf Vorstel-
lungen davon, was gut und richtig ist, sondern auch auf
Vorstellungen davon, was »Leben« heißt. Um mir Ge-
danken darüber machen zu können, welches Leben ich
führen soll, muss ich meines Lebens als solchem gewahr
sein und es muss für mich etwas sein, das ich führen
kann, nicht etwas, von dem ich nur geführt werde. Klar

251
ist aber auch, dass ich, obwohl ich der Frage, wie ich
mein Leben führen soll, nicht ausweichen kann, nicht
alle Aspekte des lebendigen Organismus, der ich bin,
auch wirklich »führen« kann. Wie führt man ein Leben,
wenn sich nicht alle Prozesse, aus denen es besteht, füh-
ren lassen, oder wenn sich nur bestimmte Aspekte des
Lebens bewusst und mit Bedacht lenken oder gestalten
lassen, andere aber eindeutig nicht  ?
Wenn die Frage nach dem richtigen Leben eine der
grundlegenden, ja vielleicht sogar die bestimmende
Frage der Moral ist, dann ist Moral von Anfang an mit
Biopolitik verknüpft. Unter Biopolitik verstehe ich
die Mächte, die das Leben organisieren, auch diejeni-
gen, die Leben im Rahmen eines umfassenderen Bevöl-
kerungsmanagements durch staatliche und nichtstaat-
liche Maßnahmen selektiv der Prekarität ausliefern und
gleichzeitig Maßstäbe zur ungleichen Bewertung des
Lebens selbst aufstellen. Indem ich mir die Frage stelle,
wie ich mein Leben führen soll, bin ich schon dabei, sol-
che Formen der Macht auszuhandeln. Die persönlichste
Frage der Moral – Wie führe ich dieses Leben, das mei-
nes ist  ? – hängt bereits mit biopolitischen Fragen wie
den folgenden zusammen  : Wessen Leben zählt  ? Wel-
che Leben zählen nicht als Leben  ? Wer ist gar nicht als
lebend erkennbar oder hat nur den zweifelhaften Status
des Lebendigen  ? Wir können es, das legen diese Fra-
gen nahe, nicht als gegeben voraussetzen, dass jeder le-
bende Mensch den Status eines Subjekts hat, welches
Rechte und Schutz verdient, in Freiheit lebt und sich
politisch zugehörig fühlt  ; im Gegenteil, ein solcher Sta-
tus muss durch politische Maßnahmen erwirkt werden,
und wo er verwehrt wird, muss diese Deprivation ma-
nifestiert werden. Ich habe bereits an früherer Stelle den
Vorschlag gemacht, sich zum besseren Verständnis der

252
ungleichen Verteilung dieses Status die Frage zu stellen,
welche Leben als betrauerbar gelten und welche nicht.
Der biopolitische Umgang mit den Unbetrauerbaren
erweist sich als entscheidend für die Beantwortung der
Frage  : Wie führe ich dieses mein Leben  ? Und wie füh-
re ich dieses Leben im Leben, unter den Lebensbedin-
gungen, die uns heute strukturieren  ? Folgendes wäre
zu prüfen  : Wessen Leben wird schon nicht mehr oder
nur noch teilweise als Leben betrachtet oder gilt schon
als beendet und vorbei, noch bevor es ausdrücklich zer-
stört oder aufgegeben wurde  ?
Am drängendsten stellt sich diese Frage natürlich für
jemanden, der sich bereits als entbehrliches Wesen be-
greift, das auf einer gefühlsmäßigen oder körperlichen
Ebene registriert, dass sein Leben offenbar nicht wert
ist, erhalten, geschützt oder wertgeschätzt zu werden.
Ein solcher Mensch erkennt, dass man beim Verlust sei-
nes Lebens nicht um ihn trauern würde, und ist somit
jemand, für den die bedingte Behauptung »Niemand
würde um mich trauern« schon Lebenswirklichkeit
ist. Wenn ich nicht sicher sein kann, ob ich Nahrung
oder ein Dach über dem Kopf habe oder ob ein soziales
Netz oder eine Institution mich auffängt, wenn ich fal-
le, dann gehöre ich zu den Unbetrauerbaren. Das heißt
nicht, dass überhaupt niemand um mich trauern würde
oder dass die Unbetrauerbaren auch einander nicht be-
trauern. Es heißt nicht, dass nirgendwo um mich ge-
trauert oder dass der Verlust überhaupt nicht bemerkt
würde. Diese Formen der Persistenz und der Resis-
tenz finden jedoch nur im Schatten der Öffentlichkeit
statt, aus dem sie gelegentlich heraustreten und sich ge-
gen das herabwürdigende System stellen, indem sie ih-
ren kollektiven Wert geltend machen. Tatsächlich ver-
sammeln sich die Unbetrauerbaren also zu öffentlichen

253
Aufständen der Trauer, und deshalb lassen sich in vielen
Ländern Begräbnisse nur schwer von Demonstrationen
unterscheiden.
Ich übertreibe also, aber ich tue das aus einem ganz
bestimmten Grund  : Dass um jemanden nicht getrauert
wird oder er schon als eine Person, um die nicht getrau-
ert werden wird, feststeht, liegt daran, dass es gegen-
wärtig keine Unterstützungsstruktur gibt, die ihr Le-
ben erhalten würde  ; dieses Leben wird damit implizit
abgewertet, es ist nach dem herrschenden Werteschema
nicht wert, als Leben erhalten und geschützt zu wer-
den. Von dieser Unterstützung hängt die Zukunft mei-
nes Lebens selbst ab. Werde ich nicht unterstützt, ist
mein Leben damit als unsicher und prekär definiert – es
ist in diesem Sinne nicht wert, vor Verletzung oder Ver-
lust geschützt zu werden und somit auch nicht betrau-
erbar. Wenn nur ein betrauerbares Leben wertgeschätzt
werden kann, und zwar auf Dauer, dann kommt auch
nur ein solches Leben für soziale und wirtschaftliche
Unterstützung, eine Wohnung, Krankenversicherung,
Beschäftigung, das Recht, sich politisch zu äußern, For-
men der gesellschaftlichen Anerkennung und die Mög-
lichkeit, politisch aktiv zu werden, in Betracht. Man
muss sozusagen betrauerbar sein, bevor man verloren-
geht, bevor überhaupt die Frage aufkommt, ob man
vernachlässigt oder aufgegeben wird, und man muss in
dem Wissen leben können, dass der Verlust dieses Le-
bens, das ich bin, betrauert würde und daher alles dafür
getan wird, diesem Verlust vorzubeugen.
Aber wie ist es, wenn man lebendig ist und gleich-
zeitig registriert, dass das Leben, das man führt, nie als
verlierbar oder verloren angesehen werden wird, weil es
überhaupt nie als Leben erachtet wurde oder als schon
verloren erachtet wird – was ist das für ein Schatten-

254
dasein und wie ist diese Modalität des Nichtseins zu be-
greifen, in der Menschen ja dennoch leben  ? Wie lässt
sich aus dem tiefen Gefühl, dass das eigene Leben nicht
betrauerbar oder entbehrlich ist, die moralische Frage
stellen und wie erfolgt die Forderung nach öffentlicher
Trauer  ? Oder anders gefragt  : Wie soll ich ein gutes Le-
ben anstreben, wenn ich gar kein nennenswertes Leben
besitze oder wenn das Leben, um das ich mich bemü-
he, als entbehrlich erachtet wird oder sogar schon abge-
schrieben wurde  ? Wenn das Leben, das ich führe, un-
lebbar ist, ergibt sich ein ziemlich quälendes Paradox,
denn die Frage »Wie führe ich ein gutes Leben  ?« setzt
voraus, dass es überhaupt Leben gibt, die geführt wer-
den können, das heißt Leben, die als solche anerkannt
werden, und dass das meine dazugehört. Außerdem
setzt die Frage voraus, dass es ein Ich gibt, das im-
stande ist, sie reflexiv zu stellen, und dass ich auch mir
selbst erscheine, das heißt, in dem mir zugänglichen Er-
scheinungsfeld erscheinen kann. Damit die Frage einen
Sinn hat, muss die Person, die sie stellt, fähig sein, je-
der denkbaren Antwort auch zu folgen. Und damit sie
einen Weg ebnet, dem ich folgen kann, muss die Welt so
strukturiert sein, dass mein Reflektieren und Handeln
sich nicht nur als möglich, sondern auch als wirksam
erweisen. Um darüber nachdenken zu können, wie ich
am besten leben sollte, muss ich davon ausgehen, dass
das Leben, das ich anstrebe, als Leben anerkannt wer-
den kann, dass ich selbst es anerkenne, selbst wenn es
im Allgemeinen nicht anerkannt wird oder auch unter
der Bedingung, dass es nicht so einfach zu erkennen ist,
ob eine gesellschaftliche und ökonomische Anerken-
nung meines Lebens stattfindet. Dieses Leben, das mir
gehört, wird mir schließlich von einer Welt zurück-
gespiegelt, die dazu neigt, den Wert des Lebens ungleich

255
zu verteilen, einer Welt, in der mein eigenes Leben mehr
oder weniger gilt als andere. Dieses mein Leben spiegelt
mir, mit anderen Worten, ein Problem der Gleichheit,
der Macht und, im weiteren Sinne, der Gerechtigkeit
beziehungsweise Ungerechtigkeit der Wertzuteilung
wider.
Wenn nun diese Art von Welt – das »schlechte Le-
ben«, wie wir vielleicht sagen müssen – mir nicht mei-
nen Wert als lebendes Wesen zurückspiegelt, dann muss
ich kritisch gegenüber den Kategorien und Strukturen
werden, die diese Form der Auslöschung und Ungleich-
heit hervorbringen. Ich kann, mit anderen Worten,
nicht mein eigenes Leben bejahen, ohne die Struktu-
ren, die das Leben selbst ungleich bewerten, kritisch zu
beurteilen. In dieser Praxis der Kritik ist mein eigenes
Leben mit den Gegenständen, über die ich nachdenke,
verknüpft. Mein Leben ist dieses Leben, ich führe es
hier, vor dem raumzeitlichen Horizont, der von mei-
nem Körper festgelegt wird, aber es ist auch da drau-
ßen, es ist in andere lebendige Prozesse verwickelt, von
denen ich nur einer bin. Außerdem hängt es mit den
Machtdifferenzialen zusammen, die darüber entschei-
den, wessen Leben mehr oder weniger zählt, wessen
Leben zum Paradigma alles Lebendigen und wessen
Leben unter den gegenwärtig den Wert von Lebewe-
sen bestimmenden Bedingungen ein Nichtleben wird.
Adorno merkt an  : »Man muß an dem Normativen, an
der Selbstkritik, an der Frage nach dem Richtigen oder
Falschen und gleichzeitig an der Kritik der Fehlbarkeit
der Instanz festhalten, die eine solche Art der Selbst-
kritik sich zutraut.«5 Das »Ich« mag nicht so viel über
sich wissen, wie es behauptet, und es mag auch durch-
aus sein, dass die einzigen Begriffe, mit denen das Ich
sich erfassen kann, einem Diskurs zugehören, der dem

256
Denken vorausgeht und es formt, ohne dass irgend-
jemand sein Wirken und seine Wirkung vollständig
begreifen könnte. Und da Werte durch Machtformen
definiert und verbreitet werden, deren Autorität be-
zweifelt werden muss, befinde ich mich in einer gewis-
sen Zwickmühle  : Richte ich mich in den Bedingungen
ein, die mein Leben wertvoll machen würden, oder übe
ich Kritik an der herrschenden Wertordnung  ?
Obwohl ich also die Frage nach dem guten Leben
stellen muss und stelle und obwohl dieses ein wichti-
ges Ziel ist, muss ich auch sorgfältig über dieses Leben
nachdenken, das mir gehört, aber auch ein soziales Le-
ben ist, welches mit anderen Lebewesen auf eine Weise
verbunden ist, die mich in ein kritisches Verhältnis zu
den diskursiven Lebens- und Wertordnungen setzt, in
denen ich lebe oder vielmehr zu leben versuche. Was
verleiht ihnen ihre Autorität  ? Und ist diese Autorität
legitim  ? Bei diesen Fragen geht es um mein eigenes Le-
ben und deshalb ist die Kritik der biopolitischen Ord-
nung für mich wesentlich  ; hier steht die Möglichkeit,
ein gutes Leben zu führen, ebenso auf dem Spiel wie die
Anstrengung zu leben und das Bemühen, in einer ge-
rechten Welt zu leben. Ob ich ein Leben führen kann,
das einen Wert hat, oder nicht, kann ich nicht allein ent-
scheiden, denn es zeigt sich, dass dieses Leben mir ge-
hört und doch nicht mir gehört, und genau das macht
mich zu einem sozialen und zu einem lebendigen We-
sen. Die Frage, wie das gute Leben zu leben sei, ist
also von vornherein bereits mit dieser Ambiguität ver-
knüpft, ebenso wie sie mit einer lebendigen Praxis der
Kritik verknüpft ist.
Wenn ich nicht imstande bin, meinen Wert in der
Welt in einer mehr als nur flüchtigen Weise zu be-
weisen, dann ist mein Sinn für das Mögliche eben-

257
so flüchtig. Der moralische Imperativ, ein gutes Le-
ben zu führen, kann ebenso wie die reflexive Frage,
die er hervorruft, manchmal sehr grausam und unbe-
dacht gegenüber denjenigen wirken, die in hoffnungs-
losen Verhältnissen leben  ; und der Zynismus, der zu-
weilen die Praxis der Moral selbst umgibt, ist vielleicht
verständlich  : Warum soll ich moralisch handeln oder
überhaupt die Frage nach dem richtigen Leben stellen,
wenn mein Leben erst gar nicht als Leben betrachtet,
sondern schon als eine Form des Todes behandelt wird,
oder wenn ich in einem Zustand lebe, den Orlando Pat-
terson als »sozialen Tod« bezeichnet hat – ein Begriff,
mit dem er das Leben unter den Bedingungen der Skla-
verei beschreibt  ?6
Die gegenwärtigen Formen der ökonomischen Preis-
gabe und Enteignung, die aus der Institutionalisierung
neoliberaler Denkweisen und der differenziellen Pro-
duktion von Prekarität folgen, lassen sich nicht gene-
rell mit der Sklaverei gleichsetzen und deshalb ist es
wichtig, zwischen den Modalitäten des sozialen Todes
zu unterscheiden. Man kann die Bedingungen, unter
denen Leben unlebbar werden, wohl nicht mit einem
Wort beschreiben, doch der Begriff »Prekarität« erlaubt
es uns immerhin, zwischen verschiedenen Arten von
»Unlebbarkeit« zu differenzieren. Diese betreffen zum
Beispiel Menschen, die ohne die Chance auf ein ordent-
liches Gerichtsverfahren in Haft sind  ; Menschen, die in
Kriegsgebieten oder unter Besatzung Gewalt und Zer-
störung erleben müssen, ohne eine Zuflucht oder einen
Ausweg zu haben  ; Menschen, die ihre Heimat verlas-
sen mussten und in Randzonen auf die Öffnung einer
Grenze, auf Lebensmittel und auf die Chance auf ein
Leben mit gültigen Papieren warten  ; Menschen, die zu
einer entbehrlichen oder verzichtbaren Arbeiterschaft

258
gehören, die kaum noch Aussicht auf einen gesicherten
Lebensunterhalt zu haben scheinen, deren Zeithorizont
eingestürzt ist, die nur noch von Tag zu Tag leben, unter
dem tiefsitzenden und durchdringenden Schmerz einer
beschädigten Zukunft leiden und sich zwar bemühen,
noch etwas zu empfinden, sich aber mindestens ebenso
sehr vor den möglichen Empfindungen fürchten. Wie
kann man sich fragen, wie man am besten leben soll,
wenn man keinerlei Kraft verspürt, sein Leben zu len-
ken, wenn man gar nicht sicher ist, ob man überhaupt
lebt, oder wenn man nach dem Gefühl sucht, am Leben
zu sein, sich aber gleichzeitig vor diesem Gefühl und
dem Schmerz, so leben zu müssen, fürchtet  ? Unter den
gegenwärtigen Bedingungen der erzwungenen Emi-
gration und des Neoliberalismus leben riesige Bevölke-
rungsgruppen ohne das Gefühl einer sicheren Zukunft
oder einer dauerhaften politischen Zugehörigkeit, de-
ren tägliche Erfahrung des Neoliberalismus das Gefühl
eines beschädigten Lebens hinterlässt.
Ich bin nicht der Ansicht, dass der Kampf ums Über-
leben Vorrang vor dem Bereich der Moral oder der mo-
ralischen Verpflichtung als solcher hat, denn es gibt, wie
wir wissen, Menschen, die selbst in Situationen äußers-
ter Bedrohung tun, was sie nur können, um anderen zu
helfen. Wir wissen das dank einiger der außergewöhn-
lichen Berichte aus den Konzentrationslagern. Bei Ro-
bert Antelme zum Beispiel können wir lesen, wie eine
Zigarette von Menschen geteilt wird, die keine gemein-
same Sprache haben, aber sich in derselben Situation
des Eingesperrtseins und der Gefahr im Konzentrati-
onslager befinden. Bei Primo Levi kann das Entgegen-
kommen darin bestehen, dass man dem anderen einfach
zuhört und die Einzelheiten der Geschichte, die er zu
erzählen hat, aufzeichnet, um sie zum Bestandteil eines

259
unleugbaren Archivs werden zu lassen, zum dauerhaf-
ten Zeichen des Verlusts, mit dem die dauerhafte Ver-
pflichtung zur Trauer einhergeht  ; bei Charlotte Del-
bo wiederum ist es das unerwartete Verschenken des
letzten Stücks Brot, das man eigentlich selbst dringend
bräuchte. Es gibt in diesen Berichten aber immer auch
diejenigen, die nicht ihre Hand reichen, die das Brot
selbst essen, die Zigarette für sich behalten und manch-
mal die Qual erleiden, anderen im Zustand äußerster
Not nicht zu helfen. Mit anderen Worten  : Auch bei
extremer Gefahr und erhöhter Prekarität verschwin-
det das moralische Dilemma nicht  ; es hält sich genau
in der Spannung zwischen dem Wunsch, zu leben, und
dem Wunsch, auf eine bestimmte Weise mit anderen zu-
sammenzuleben. In kleinem, aber ganz entscheidendem
Maße »führt« man immer noch ein Leben, indem man
die Geschichte erzählt oder hört, indem man jede sich
bietende Gelegenheit nutzt, das Leben und das Leiden
anderer anzuerkennen. Schon die Nennung eines Na-
mens kann ein außerordentlicher Akt der Anerkennung
sein, besonders dann, wenn der oder die Genannte na-
menlos oder zu einer bloßen Nummer geworden ist
oder überhaupt nicht mehr angesprochen wird.
Im Rahmen ihrer Beschäftigung mit dem jüdischen
Volk macht Hannah Arendt zu einem Zeitpunkt, den
man durchaus als unpassend bezeichnen kann, deutlich,
dass es nicht ausreicht, wenn die Juden nur ums Über-
leben kämpfen, und dass das Überleben nicht Ziel und
Zweck des Lebens selbst sein kann.7 Unter Berufung
auf Sokrates besteht sie auf dem entscheidenden Un-
terschied zwischen dem Wunsch, zu leben, und dem
Wunsch, gut zu leben, oder vielmehr dem Wunsch nach
dem guten Leben.8 Für Arendt ist das Überleben kein
Selbstzweck und soll auch keiner sein, weil das Leben

260
an sich kein intrinsisches Gut ist. Nur als gutes Leben
ist ein Leben lebenswert. Sie löst das sokratische Di-
lemma mühelos, wenn auch, so scheint mir, etwas zu
vorschnell. Ich bin mir nicht sicher, ob ihre Lösung für
uns noch zu gebrauchen ist, ja nicht einmal, ob sie es
je wirklich war. Für Arendt muss das Leben des Kör-
pers größtenteils von dem des Geistes getrennt werden  ;
dementsprechend unterscheidet sie in ihrem Werk Vita
activa zwischen der öffentlichen und der privaten Sphä-
re. Zum Privaten gehören demnach der Bereich der Be-
dürfnisse, die Reproduktion des materiellen Lebens,
Sexualität, Leben, Tod und Vergänglichkeit. Arendt er-
kennt deutlich, dass der Bereich des Privaten den öf-
fentlichen Raum des Handelns und Denkens stützt,
ihrer Ansicht nach definiert sich das Politische jedoch
durch das Handeln und dazu gehört auch das han-
delnde Sprechen. Die sprachliche Tat wird damit zur
Handlung des deliberativen und öffentlichen Raumes
der Politik. Wer die öffentliche Sphäre betritt, kommt
aus der privaten, und somit hängt der öffentliche Raum
wesentlich von der Reproduktion des Privaten ab so-
wie von dem unversperrten Korridor, der vom Privaten
zum Öffentlichen führt. Wer nicht griechisch spre-
chen konnte, wer von außerhalb kam und wessen Spra-
che man nicht verstand, wurde als Barbar betrachtet,
das heißt, die Öffentlichkeit wurde nicht als ein Raum
der Mehrsprachigkeit angesehen und beinhaltete folg-
lich auch nicht die Praxis des Übersetzens als öffent-
liche Pflicht. Dennoch können wir erkennen, dass der
wirksame sprachliche Akt (a) von einer stabilen und ab-
geschiedenen Privatsphäre abhängig ist, die den männ-
lichen Sprecher und Akteur hervorbringt, und (b) einer
für die Sprechhandlung, das Definitionsmerkmal der
Politik, bestimmten Sprache bedarf, die gehört und

261
verstanden wird, weil sie den Ansprüchen der Einspra-
chigkeit entspricht. Der durch eine verständliche und
wirksame Menge von Sprechakten definierte öffent-
liche Raum wird somit ständig von den Problemen der
nicht anerkannten Arbeit (Frauen und Sklaven) und der
Mehrsprachigkeit überschattet. Und der Punkt, an dem
beide zusammenlaufen, war genau die Situation der
Sklaven, die austauschbar waren, keinen politischen
Status hatten und deren Sprache gar nicht als Sprache
angesehen wurde.
Arendt erkannte natürlich, dass der Körper wesent-
lich für jeden Handlungsbegriff ist und dass selbst die-
jenigen, die im Widerstand oder in Revolutionen kämp-
fen, körperliche Handlungen ausführen müssen, um
ihre Rechte einzufordern und etwas Neues zu schaf-
fen.9 Der Körper ist auch wesentlich für die als sprach-
liche Form des Handelns verstandene öffentliche Rede.
Im Zusammenhang mit Arendts wichtigem Begriff der
Natalität, der mit ihrer Konzeption von Ästhetik und
Politik verknüpft ist, taucht der Körper als zentrale Fi-
gur wieder auf. Das »Gebären« als Handlung scheint
mit der revolutionären Handlung nicht viel zu tun zu
haben, allerdings verbindet sie die Tatsache, dass es sich
um jeweils verschiedene Formen der Schaffung von et-
was Neuem, noch nie Dagewesenem handelt. Das Lei-
den, das mit Akten des politischen Widerstands oder
eben des Gebärens einhergeht, dient dem Zweck, et-
was Neues zur Welt zu bringen. Aber was sollen wir
von jenem Leiden halten, das mit Formen der Arbeit
einhergeht, die den Körper der Arbeitenden mehr oder
weniger schnell zerstören, oder mit anderen Formen,
die überhaupt keinem instrumentellen Zweck die-
nen  ? Wenn wir Politik restriktiv als – sprachlich und
physisch – aktive Haltung definieren, die innerhalb

262
einer klar abgegrenzten öffentlichen Sphäre stattfin-
det, dann scheint uns nichts anderes übrigzubleiben,
als das »sinnlose Leiden« und die nicht beachtete Ar-
beit dem Vorpolitischen zuzuordnen, das heißt, es als
Erfahrung – nicht als Handlung – anzusehen, die au-
ßerhalb des Politischen als solchem existiert. Da jedoch
jede Auffassung des Politischen berücksichtigen muss,
welche Machtoperation das Politische vom Vorpoliti-
schen abgrenzt und wie die Unterscheidung zwischen
öffentlich und privat verschiedene Lebensprozesse un-
gleich bewertet, müssen wir die Arendt’sche Definition
ablehnen, auch wenn sie viel Wertvolles enthält. Oder
vielleicht sollten wir besser sagen  : Wir nehmen die
Arendt’sche Unterscheidung zwischen dem Leben des
Körpers und dem Leben des Geistes zum Ausgangs-
punkt unserer Überlegungen über eine andere Art von
Körperpolitik. Denn schließlich unterscheidet Arendt
Körper und Geist nicht einfach in einem cartesischen
Sinn  ; vielmehr bejaht sie nur diejenigen Formen des
verkörperten Denkens und Handelns, die etwas Neues
schaffen, die mit performativer Wirksamkeit vorgehen.
Performative Handlungen lassen sich nicht auf tech-
nische Anwendungen reduzieren und unterscheiden
sich von passiven und vergänglichen Formen der Er-
fahrung. Wo also Leid und Vergänglichkeit herrschen,
müssen sie in das Leben des Handelns und Denkens
umgewandelt werden, und dieses Handeln und Denken
muss performativ im illokutionären Sinne sein, muss
einem ästhetischen Urteil folgen und etwas Neues in
die Welt bringen. Das bedeutet, dass der nur mit Fra-
gen des Überlebens, mit der Reproduktion materieller
Bedingungen und der Befriedigung von Grundbedürf-
nissen beschäftigte Körper noch nicht der »politische«
Körper ist  ; das Private ist gewiss notwendig, denn der

263
politische Körper kann nur ans Licht der Öffentlich-
keit treten, um zu handeln und zu denken, wenn er gut
genährt und gut geschützt ist, wenn er also von zahl-
reichen vorpolitischen Akteuren unterstützt wird, de-
ren Handeln nicht politisch ist. Insofern es keinen po-
litischen Akteur gibt, der nicht davon ausgehen kann,
dass der private Bereich als Stütze fungiert, ist das als
Öffentlichkeit definierte Politische wesentlich vom Pri-
vaten abhängig, das heißt, das Private ist nicht das Ge-
genteil des Politischen, sondern gehört zu dessen De-
finition dazu. Es ist jener gutgenährte Körper, der offen
und öffentlich spricht  ; der Körper, der die Nacht wohl-
behütet in der privaten Gesellschaft anderer verbracht
hat, tritt immer erst später öffentlich in Erscheinung.
Die Privatsphäre wird zum Hintergrund des öffent-
lichen Handelns, aber muss man sie deshalb als vor-
politisch deklarieren  ? Spielt es beispielsweise eine Rol-
le, ob es in diesem schattenhaften Hintergrund, in dem
Frauen, Kinder, Alte und Sklaven leben, Beziehungen
der Gleichheit, der Würde oder der Gewaltlosigkeit
gibt  ? Wird eine Sphäre der Ungleichheit verleugnet, um
eine andere Sphäre der Gleichheit zu rechtfertigen und
zu fördern, so brauchen wir mit Sicherheit eine Poli-
tik, die ebendiesen Widerspruch und die ihm zugrunde
liegende Verleugnung benennen und aufdecken kann.
Wenn wir Arendts Definition des Öffentlichen und des
Privaten akzeptieren, laufen wir Gefahr, jene Verleug-
nung billigend in Kauf zu nehmen.
Was steht nun also auf dem Spiel, wenn wir Arendts
Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öf-
fentlichen in der klassischen griechischen Polis neu
betrachten  ? Die Verleugnung der Abhängigkeit wird
zur Voraussetzung für das autonome denkende und
handelnde politische Subjekt, was sogleich die Fra-

264
ge aufwirft, wie »autonom« dieses Denken und Han-
deln dann wohl sein kann. Wenn wir uns der Unter-
scheidung zwischen öffentlich und privat anschließen,
die Arendt vorbringt, akzeptieren wir damit die Ver-
leugnung der Abhängigkeit als Voraussetzung des Po-
litischen, anstatt diese Mechanismen der Verleugnung
selbst zum Gegenstand unserer kritischen Analyse zu
machen. Tatsächlich bildet die Kritik jener nicht beach-
teten Abhängigkeit den Ausgangspunkt für eine neue
Körperpolitik, die mit der Einsicht in die menschliche
und zwischenmenschliche Abhängigkeit beginnt, oder
anders gesagt  : eine Politik, die der Beziehung zwischen
Prekarität und Performativität Rechnung trägt.
Wie wäre es also, wenn man den Zustand der Ab-
hängigkeit und die Normen, die dessen Verleugnung
erleichtern, zum Ausgangspunkt nähme  ? Welchen Un-
terschied würde dies für die Idee der Politik, ja für die
Rolle der Performativität innerhalb des Politischen be-
deuten  ? Lässt sich die ausführende und aktive Dimen-
sion der performativen Rede von den anderen Dimen-
sionen des körperlichen Lebens trennen, einschließlich
der Abhängigkeit und Verwundbarkeit, also auch
von Daseinsweisen des lebendigen Körpers, die nicht
einfach oder nicht vollständig in Formen eindeutigen
Handelns übersetzt werden können  ? Wir müssten uns
nicht nur von der Idee verabschieden, dass die verbale
Rede das menschliche vom nichtmenschlichen Tier un-
terscheidet, sondern auch jene Dimensionen des Spre-
chens anerkennen, die nicht immer bewusste und über-
legte Intentionen widerspiegeln. In der Tat ist es, wie
Wittgenstein bemerkt hat, manchmal so, dass wir spre-
chen, Worte äußern, und erst hinterher ein Gefühl für
deren Leben entwickeln. Meine Rede beginnt nicht mit
meiner Intention, auch wenn sich während des Spre-

265
chens etwas formt, was man durchaus als Intention be-
zeichnen kann. Darüber hinaus erfolgt die Performati-
vität des menschlichen Tieres durch Gesten, Gang- und
Bewegungsarten, Klänge, Bilder und zahlreiche weitere
Ausdrucksmittel, die sich nicht auf öffentliche Formen
der verbalen Rede reduzieren lassen. Jenes republika-
nische Ideal muss einem umfassenderen Verständnis der
empfundenen Demokratie weichen. Wie wir uns auf
der Straße versammeln, singen, Sprechchöre anstim-
men oder auch Stille bewahren, kann ein Teil der per-
formativen Dimension der Politik sein und ist es auch,
wobei die Rede nur ein körperlicher Akt unter ande-
ren ist. Natürlich handeln Körper, wenn sie sprechen,
aber Sprechen ist nicht die einzige Art, in der sie han-
deln – und schon gar nicht die einzige Art, in der sie
politisch handeln. Wenn sich öffentliche Demonstratio-
nen oder politische Aktionen gegen Formen der Nicht-
unterstützung richten – gegen Nahrungsmangel oder
fehlende Unterkünfte, gegen unsichere oder unbezahl-
te Arbeit –, dann wird, was zuvor als »Hintergrund«
der Politik galt, zu deren erklärtem Gegenstand. Wenn
Menschen zusammenkommen, um gegen prekäre Be-
dingungen zu demonstrieren, dann handeln sie perfor-
mativ und stellen eine Verkörperung der Arendt’schen
Idee der konzertierten Aktion dar. Die Performativi-
tät der Politik ergibt sich in solchen Momenten jedoch
aus Bedingungen der Prekarität und in politischer Op-
position zu dieser Prekarität. Wo Teile der Bevölkerung
jenseits der Wirtschaft oder der Politik abgeschrieben
werden, da werden Leben als nicht unterstützenswert
erachtet. Gegenüber derartigen Entwicklungen besteht
die aktuelle Politik der Performativität auf der wech-
selseitigen Abhängigkeit lebender Wesen und auf den
ethischen und politischen Verpflichtungen, die sich aus

266
Strategien ergeben, die Teile der Bevölkerung eines leb-
baren Lebens berauben oder zu berauben versuchen.
Die Politik der Performativität ist auch eine Möglich-
keit, inmitten eines biopolitischen Systems, das solche
Bevölkerungsgruppen zu entwerten droht, Werte zu
äußern und darzustellen.
Diese Diskussion führt natürlich zu einer weiteren
Frage  : Reden wir hier nur von menschlichen Körpern  ?
Wir haben schon erwähnt, dass Körper nicht ohne die
Umgebungen, die Maschinen und die gesellschaftliche
Organisation von Abhängigkeiten verstanden werden
können, auf denen sie beruhen und die zusammen die
Voraussetzungen für ihr Bestehen und Gedeihen bil-
den. Und selbst wenn wir die Bedürfnisse des Kör-
pers verstehen und benennen könnten – geht es uns nur
darum, dass diesen Bedürfnissen entsprochen wird  ?
Arendt war, wie wir gesehen haben, sicherlich nicht
dieser Ansicht. Oder bemühen wir uns auch darum,
dass Körper gedeihen und dass Leben lebbar werden  ?
Ich hoffe gezeigt zu haben, dass man sich nicht um ein
gutes, lebenswertes Leben bemühen kann, ohne die Be-
dingungen zu erfüllen, die es einem Körper erlauben,
überhaupt zu existieren. Es ist notwendig, zu fordern,
dass Körper bekommen, was sie zum Überleben brau-
chen, denn ihr Überleben ist die Voraussetzung für alle
weiteren Forderungen, die wir stellen. Die Forderung
erweist sich jedoch als unzureichend, denn wir über-
leben ja, um zu leben, und das Leben, sosehr es auch das
Überleben voraussetzt, muss mehr sein als dieses, um
lebenswert zu sein. Man kann überleben, ohne wirk-
lich leben zu können. Und mit Sicherheit gibt es Fälle,
in denen es sich nicht zu lohnen scheint, unter solchen
Bedingungen zu überleben. Die übergreifende Forde-
rung muss folglich die nach einem lebbaren Leben sein,

267
nach einem Leben also, das auch gelebt werden kann.
Wie können wir nun aber über ein solches lebbares Le-
ben nachdenken, ohne ein einzelnes oder einheitliches
Ideal dieses Lebens zu zeichnen  ? Wie ich in den vo-
rangegangenen Kapiteln dargelegt habe, geht es mei-
ner Meinung nach nicht darum, herauszufinden, was
der Mensch wirklich ist oder sein sollte  ; es sollte klar
geworden sein, dass der Mensch auch ein Tier ist und
dass seine körperliche Existenz auf Unterstützungs-
systeme angewiesen ist, die sowohl menschlich als auch
nichtmenschlich sind. Ich schließe mich hier also bis zu
einem gewissen Grad meiner Kollegin Donna Hara-
way an, die uns auffordert, über die komplexen Rela-
tionalitäten nachzudenken, die das körperliche Leben
ausmachen, und der Ansicht ist, dass wir keine weite-
ren Idealformen des Menschlichen brauchen  ; vielmehr
müssen wir das komplexe Beziehungsgeflecht verste-
hen und beachten, ohne das wir überhaupt nicht exis-
tieren würden.10
Es gibt natürlich Bedingungen, unter denen die Art
der Abhängigkeit und Relationalität, von der ich spre-
che, unerträglich erscheint. Wenn Arbeiter / ​innen von
Arbeitgeber / ​innen abhängig sind, von denen sie aus-
gebeutet werden, dann scheinen die Abhängigkeit die-
ser Arbeiter / ​innen und der Grad ihrer Ausbeutung
äquivalent zu sein. Man könnte zu dem Schluss kom-
men, dass die Abhängigkeit grundsätzlich abgeschafft
werden sollte, da die soziale Form, die sie annimmt, die
der Ausbeutung ist. Es wäre jedoch ein Fehler, die kon-
tingente Form, die die Abhängigkeit unter den Bedin-
gungen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse annimmt,
mit der endgültigen oder notwendigen Bedeutung der
Abhängigkeit gleichzusetzen. Auch wenn die Abhän-
gigkeit immer in irgendeiner gesellschaftlichen Form

268
auftritt, bleibt sie etwas, das zwischen diesen Formen
wechseln kann und dies auch tut, weshalb sie nicht auf
eine von ihnen reduziert werden kann. Worum es mir
geht, ist schlichtweg Folgendes  : Kein menschliches
Wesen kann ohne eine stützende Umwelt, gesellschaft-
liche Formen der Relationalität und Formen der Öko-
nomie überleben oder bestehen, die allesamt wechsel-
seitige Abhängigkeiten voraussetzen und strukturieren.
Es stimmt zwar, dass Abhängigkeit mit Vulnerabili-
tät einhergeht und dass wir manchmal besonders ver-
wundbar gerade gegenüber Machtformen sind, die un-
sere Existenz schwächen oder bedrohen  ; das bedeutet
aber nicht, dass wir die Abhängigkeit oder den Zustand
der Verwundbarkeit gegenüber sozialen Formen ge-
setzlich verhindern können. Tatsächlich könnten wir
gar nicht verstehen, warum es so schwierig ist, ein gutes
Leben in einem schlechten Leben zu führen, wenn wir
nicht anfällig für jene Formen der Macht wären, die un-
ser Lebensverlangen ausnutzen oder manipulieren. Wir
begehren zu leben, ja sogar gut zu leben, und wir tun
dies im Rahmen sozialer Organisationen, biopolitischer
Regime, die unser Leben selbst zuweilen für entbehr-
lich oder unbedeutend erklären oder, schlimmer noch,
es zu negieren versuchen. Wenn wir nicht ohne gesell-
schaftliche Lebensformen bestehen können und die
einzig verfügbaren solche sind, die unseren Lebensaus-
sichten entgegenwirken, dann sind wir in einer schwie-
rigen, wenn nicht gar aussichtslosen Lage.
Wir sind, um es noch einmal anders zu formulieren,
als Körper verwundbar durch andere und durch Insti-
tutionen, und diese Vulnerabilität macht einen Aspekt
der sozialen Daseinsweise von Körpern aus. Der Tat-
bestand meiner oder deiner Vulnerabilität verwickelt
uns in eine umfassendere politische Problematik von

269
Gleichheit und Ungleichheit, denn Vulnerabilität kann
projiziert oder geleugnet werden (psychologische Ka-
tegorien), sie kann aber im Verlauf der Erzeugung und
Naturalisierung sozialer Formen der Ungleichheit auch
ausgenutzt und manipuliert werden (soziale und öko-
nomische Kategorien). Das ist mit der ungleichen Ver-
teilung von Vulnerabilität gemeint.
Mein normatives Ziel besteht nun allerdings nicht
einfach darin, eine Gleichverteilung der Vulnerabilität
zu fordern, denn vieles hängt davon ab, ob die zugeteil-
te soziale Form der Vulnerabilität überhaupt erträglich
ist. Man kann, mit anderen Worten, nicht wollen, dass
das Leben für alle gleichermaßen unlebbar ist. So not-
wendig das Ziel der Gleichheit auch ist, es bleibt un-
zureichend, wenn wir nicht einschätzen können, ob die
zu verteilende soziale Form der Vulnerabilität gerecht
ist oder nicht. Zum einen bin ich der Ansicht, dass die
Verleugnung der Abhängigkeit und insbesondere der
daraus resultierenden sozialen Form der Vulnerabilität
auf eine Unterscheidung zwischen denen, die abhän-
gig sind, und denen, die es nicht sind, hinwirkt. Und
diese Unterscheidung steht im Dienste der Ungleich-
heit, indem sie Formen des Paternalismus stützt oder
Bedürftige in essentialistische Begriffe packt. Zum an-
deren glaube ich, dass sich eine soziale und politische
Welt, die die Prekarität im Namen des lebbaren Lebens
zu überwinden versucht, nur mit Hilfe eines Begriffs
der Interdependenz denken lässt, der die körperliche
Abhängigkeit, die Bedingungen der Prekarität und die
Möglichkeiten der Performativität anerkennt.
Nach meiner Auffassung bildet die Vulnerabilität
einen Aspekt der politischen Modalität des Körpers,
wobei dieser eindeutig als ein menschlicher, aber als der
eines menschlichen Tieres zu verstehen ist. Die gegen-

270
seitige, das heißt die als wechselseitig begriffene Vul-
nerabilität markiert eine vorvertragliche Dimension
unserer Sozialbeziehungen. Das bedeutet auch, dass
sie auf einer gewissen Ebene jener instrumentellen Lo-
gik trotzt, die behauptet, dass ich deine Verwundbar-
keit nur dann nicht ausnutze, wenn du meine nicht
ausnutzt (wodurch Politik zu einer Sache des Aushan-
delns oder des Abwägens der eigenen Chancen wird).
Tatsächlich stellt die Vulnerabilität eine der Bedingun-
gen der Sozialität und des politischen Lebens dar, die
sich nicht vertraglich festlegen lassen und deren Ver-
leugnung und Manipulierbarkeit in das Bemühen mün-
den, eine interdependente gesellschaftliche Bedingung
der Politik zu zerstören oder zu verwalten. Man darf,
wie Jay Bernstein deutlich gemacht hat, Vulnerabili-
tät nicht ausschließlich mit Verletzlichkeit assoziieren.
Unsere Empfänglichkeit für alles, was geschieht, ist im-
mer eine Funktion und eine Wirkung der Vulnerabili-
tät, sei es die Offenheit für das Registrieren einer Ge-
schichte, die noch nicht erzählt worden ist, oder die
Rezeptivität für das, was ein anderer Körper durch-
macht oder durchgemacht hat, selbst wenn dieser Kör-
per gar nicht mehr da ist. Körper sind, wie ich weiter
oben ausgeführt habe, immer in gewissem Sinne außer
sich, sie erforschen oder erkunden ihre Umgebung, sie
werden durch die Sinne erweitert und manchmal so-
gar enteignet. Dass wir uns in einem anderen verlieren
können, dass uns unsere taktilen, motilen, visuellen, ol-
faktorischen oder auditiven Fähigkeiten über uns selbst
hinausführen, liegt daran, dass der Körper nicht an sei-
nem Platz bleibt und dass derlei Enteignung den Kör-
persinn ganz allgemein kennzeichnet. Wenn dieses Ent-
eignetwerden in der Sozialität als konstitutive Funktion
dessen betrachtet wird, was es heißt, zu leben und am

271
Leben zu bleiben, was bedeutet das dann für die Idee
der Politik selbst  ?
Wenn wir zu unserer Ausgangsfrage zurückkeh-
ren – Wie kann man ein gutes Leben im schlechten füh-
ren  ? –, können wir dieses moralische Problem im Lich-
te sozialer und politischer Bedingungen neu betrachten,
ohne dabei seine moralische Wichtigkeit zu verdrängen.
Möglicherweise hängt die Frage nach dem guten Leben
davon ab, ob man die Fähigkeit hat, ein Leben zu füh-
ren, und ob man das Gefühl hat, ein Leben zu besitzen,
es zu leben, ja, lebendig zu sein.
Es gibt immer die Möglichkeit einer zynischen Ant-
wort, die etwa lauten könnte, es gehe gerade darum, die
Moral und ihren Individualismus zu vergessen und sich
ganz dem Kampf für soziale Gerechtigkeit zu widmen.
Wenn wir diesem Weg folgen, kommen wir vermutlich
zu dem Schluss, dass die Moral der Politik im weitesten
Sinne das Feld überlassen muss, das heißt einer Poli-
tik als Gemeinschaftsprojekt zur Realisierung von Ge-
rechtigkeits- und Gleichheitsidealen in einer Art und
Weise, die verallgemeinerbar ist. Doch auch in diesem
Fall bleibt natürlich ein quälendes Problem weiterhin
hartnäckig bestehen, denn es gibt ja immer noch dieses
»Ich«, das irgendwie in eine breitere soziale und poli-
tische Bewegung eintreten, mit ihr verhandeln und in
ihr agieren muss  ; wenn aber diese Bewegung versucht,
das »Ich« und das Problem seines »Lebens« zu verdrän-
gen oder auszumerzen, vollzieht sich eine andere Form
der Auslöschung  : eine Absorption in eine allgemeine
Norm und damit eine Zerstörung des lebendigen Ich.
Es kann ja nicht sein, dass die Frage, wie das Leben
am besten zu führen sei oder wie man ein gutes Leben
führt, in der Auslöschung oder Zerstörung dieses »Ich«
und dessen »Leben« gipfelt. Andernfalls führt die Be-

272
antwortung der Frage direkt zur Zerstörung dieser Fra-
ge selbst. Ich glaube zwar nicht, dass sich die Frage der
Moral außerhalb des Kontextes des gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Lebens stellen lässt, ohne schon
Vorannahmen darüber zu haben, wer als Subjekt des
Lebens oder als lebendiges Subjekt gilt, aber ich bin si-
cher, dass die richtige Antwort auf die Frage nach dem
guten Leben nicht in der Zerstörung des Lebenssub-
jekts liegen kann.
Wenn wir zu Adorno zurückkehren, der (sinngemäß)
sagt, man könne kein gutes Leben in einem schlechten
Leben führen, stellen wir fest, dass hier zweimal der
Ausdruck »Leben« auftaucht, und das ist kein Zufall.
Wenn ich mich frage, wie ein gutes Leben zu führen
sei, beziehe ich mich auf ein »Leben«, das völlig un-
abhängig davon, ob ich diejenige bin, die es führt, gut
wäre  ; dennoch bin ich es, die nach der Antwort sucht,
also ist es in gewissem Sinne auch mein Leben. An-
ders gesagt  : Vom Standpunkt der Moral betrachtet ist
das Leben immer schon ein doppeltes. Wenn ich zum
zweiten Teil des Satzes gelangt bin und mich frage, wie
ein gutes Leben im schlechten Leben möglich ist, wer-
de ich mit der Idee konfrontiert, dass das Leben etwas
sozial und ökonomisch Konstruiertes ist. Diese soziale
und ökonomische Konstruktion des Lebens ist deshalb
»schlecht«, weil sie nicht die Bedingungen für ein le-
benswertes Leben schafft, weil die Lebbarkeit ungleich
verteilt wird. Man könnte sich einfach wünschen, ein
gutes Leben inmitten eines schlechten Lebens zu füh-
ren, so gut es geht seinen eigenen Weg zu finden und
die umfassenderen sozialen und ökonomischen Un-
gleichheiten, die durch bestimmte Organisationen des
Lebens hervorgerufen werden, außer Acht zu lassen,
aber so einfach ist es nicht. Schließlich ist das Leben,

273
das ich führe, zwar eindeutig dieses und kein anderes
Leben, aber es ist dennoch immer schon mit breiteren
Lebensnetzwerken verknüpft, denn wenn es das nicht
wäre, könnte ich gar nicht leben. Mein eigenes Leben
hängt also von einem Leben ab, das nicht mir gehört,
nicht nur vom Leben des / ​der anderen, sondern von
einer umfassenderen sozialen und ökonomischen Or-
ganisation des Lebens. Mein Leben, mein Überleben,
ist abhängig von diesem weiteren Sinn des Lebens, zu
dem das organische Leben ebenso gehört wie lebendige
und erhaltende Umgebungen sowie soziale Netze, die
wechselseitige Abhängigkeiten anerkennen und unter-
stützen. Sie bestimmen, wer ich bin, das heißt, ich tre-
te einen Teil meines eindeutig menschlichen Lebens ab,
um zu leben, um überhaupt menschlich zu sein.
In der Frage, wie ein gutes Leben in einem schlechten
Leben zu leben sei, steckt implizit die Idee, dass wir uns
zwar immer noch fragen können, wie ein gutes Leben
aussehen könnte, wir es uns aber nicht mehr ausschließ-
lich als das gute Leben des Individuums vorstellen kön-
nen. Es gibt zwei solcher »Leben« – meines und das
gute Leben, verstanden als eine soziale Lebensform –
und das eine ist in das andere verwickelt. Wenn wir über
soziale Leben sprechen, dann beziehen wir uns folglich
darauf, wie das Soziale das Individuelle durchzieht oder
sogar die soziale Form der Individualität hervorbringt.
Zugleich bezieht sich das Individuum – unabhängig
vom Grad seiner Selbstreferenzialität – immer nur ver-
mittelt, durch ein Medium, auf sich selbst, und selbst
die Sprache seiner Selbsterkenntnis kommt von an-
derswo her. Das Soziale bedingt und vermittelt dieses
Erkennen meiner selbst, das ich betreibe. Wie wir von
Hegel wissen, erkennt das sich selbst und sein eigenes
Leben erkennende »Ich« sich immer auch als das Leben

274
eines anderen. Der Grund für die Ambiguität des »Ich«
und des »Du« ist, dass sie beide mit anderen Systemen
der wechselseitigen Abhängigkeit zusammenhängen,
die Hegel Sittlichkeit* nennt. Das wiederum bedeu-
tet, dass ich diese Erkenntnis meiner selbst zwar leis-
te, während ich dies tue jedoch eine Reihe von sozialen
Normen entwickelt wird, deren Urheber ich definitiv
nicht bin, obwohl ich ohne sie gar nicht denkbar wäre.
Was in Adornos Probleme der Moralphilosophie als
moralische Frage nach dem richtigen Leben in einem
schlechten beginnt, kulminiert in der Behauptung, man
müsse Widerstand gegen das schlechte Leben leisten,
um das gute verfolgen zu können. Er schreibt, dass
»das Leben selbst eben so entstellt und verzerrt ist, daß
im Grunde kein Mensch in ihm richtig zu leben, sei-
ne eigene menschliche Bestimmung zu realisieren ver-
mag – ja, ich möchte fast so weit gehen  : daß die Welt
so eingerichtet ist, daß selbst noch die einfachste For-
derung von Integrität und Anständigkeit eigentlich
fast bei einem jeden Menschen überhaupt notwendig
zu Protest führen muß«.11 Interessant ist, dass Adorno
an dieser Stelle schreibt, er würde »fast« so weit gehen,
zu sagen, was er dann sagt. Er ist sich seiner Formulie-
rung nicht ganz sicher, aber er bringt sie dennoch vor.
Er überwindet sein Zögern, bringt es aber zur Sprache.
Kann man so einfach sagen, dass das Streben nach dem
moralischen Leben unter den gegenwärtigen Umstän-
den zum Protest führen kann und muss  ? Kann man
den Widerstand auf den Protest reduzieren  ? Oder ist
der Protest für Adorno die gesellschaftliche Form, die
das Streben nach dem richtigen, guten Leben heute an-
nimmt  ? Adorno fährt in demselben spekulativen Ton
fort  : »Das einzige, was man vielleicht sagen kann, ist,
daß das richtige Leben heute in der Gestalt des Wider-

275
standes gegen die von dem fortgeschrittensten Bewußt-
sein durchschauten, kritisch aufgelösten Formen eines
falschen Lebens bestünde.«12 Adorno spricht vom »fal-
schen« Leben, was in der englischen Übersetzung als
»das schlechte Leben« [the bad life] wiedergegeben
wird – der Unterschied ist natürlich sehr wichtig, denn
das Streben nach dem guten Leben kann zwar mora-
lisch durchaus ein richtiges Leben sein, das Verhält-
nis zwischen den beiden muss aber erst noch geklärt
werden. Außerdem scheint Adorno sich zur erlesenen
Gruppe derer zu zählen, die fortschrittlich und fähig
genug sind, um die kritische Arbeit zu leisten, die erfor-
derlich ist. Auffällig ist, dass die kritische Praxis in die-
sem Satz gleichbedeutend mit »Widerstand« verwendet
wird. Und doch sind auch diese Erklärungen, wie der
Satz davor, nicht frei von Zweifeln. Protest und Wider-
stand sind Merkmale von öffentlichen Kämpfen, von
Massenaktionen, hier charakterisieren sie jedoch die
kritischen Fähigkeiten einiger weniger. Adorno selbst
schwankt ein wenig, auch wenn er seine spekulativen
Bemerkungen nachfolgend erläutert und eine etwas an-
dere Forderung zur Reflexion aufstellt  : »[D]ieser Wi-
derstand gegen das, was die Welt aus uns gemacht hat,
ist nun beileibe nicht bloß ein Unterschied gegen die
äußere Welt […], sondern dieser Widerstand müßte sich
allerdings in uns selber gegen all das erweisen, worin
wir dazu tendieren, mitzuspielen.«13
Was Adorno in solchen Momenten auszuschließen
scheint, ist die Idee des öffentlichen Widerstands, der
Kritik, die sich dadurch formiert, dass Körper auf den
Straßen zusammenkommen, um ihre Gegnerschaft ge-
gen bestehende Machtregime zum Ausdruck zu brin-
gen. Er versteht Widerstand freilich auch als ein »Nein-
sagen« zu dem Teil des Selbst, der beim Status quo

276
»mitspielen« will. Widerstand wird also zum einen als
eine Form der Kritik verstanden, die nur von einigen
wenigen Auserwählten geübt werden kann, zum an-
deren aber auch als Widerstand gegen einen Teil des
Selbst, der sich dem Falschen anschließen will, als inne-
re Barriere gegen die Komplizenschaft. Damit schränkt
er die Idee des Widerstands auf eine Weise ein, die ich
so nicht akzeptieren kann. In meinen Augen werfen
beide seiner Äußerungen weitere Fragen auf  : Welcher
Teil des Selbst wird im Widerstand zurückgewiesen und
welcher gestärkt  ? Wenn ich den Teil zurückweise, der
das schlechte Leben mitspielt, habe ich mich dann ge-
läutert  ? Habe ich eingegriffen, um die Struktur der so-
zialen Welt zu verändern, von der ich mich fernhalte,
oder habe ich mich isoliert  ? Habe ich mich mit anderen
zu einer Widerstandsbewegung und zum Kampf für ge-
sellschaftliche Veränderungen zusammengeschlossen  ?
Diese Fragen in Bezug auf Adornos Haltung ste-
hen natürlich schon lange im Raum – ich erinnere mich
an eine Demonstration in Heidelberg 1979, wo er von
einigen linken Gruppen angegriffen wurde, die seine
Idee des Protests für zu eng hielten. Was mich und viel-
leicht uns alle in der heutigen Situation betrifft, so kön-
nen wir uns immer noch fragen, ob Widerstand nicht
mehr sein muss als nur die Ablehnung einer bestimm-
ten Lebensweise, denn diese Position abstrahiert letzt-
lich das Moralische vom Politischen auf Kosten der So-
lidarität, indem sie den gescheiten und moralisch reinen
Kritiker zum Vorbild des Widerstands erklärt. Soll der
Widerstand für die Grundsätze der Demokratie einste-
hen, für die er kämpft, dann muss er sowohl plural als
auch verkörpert sein. Dazu gehört auch die Versamm-
lung der Unbetrauerbaren im öffentlichen Raum, das
Aufmerksammachen auf ihre Existenz und ihren An-

277
spruch auf ein lebbares Leben, einfach gesagt  : auf ein
Leben vor dem Tod.
Wenn der Widerstand wirklich zu einer neuen Le-
bensweise führen soll, zu einem lebenswerteren Leben,
das der ungleichen Verteilung von Prekarität entgegen-
steht, dann müssen Akte des Widerstands zugleich
Nein zur einen Lebensweise und Ja zur anderen sagen.
Zu diesem Zweck müssen wir die performativen Fol-
gen der konzertierten Aktion im Arendt’schen Sinne
für unsere Zeit neu interpretieren. Nach meiner Auffas-
sung lässt sich das gemeinsame Vorgehen, das den Wi-
derstand kennzeichnet, manchmal im Sprechakt oder
im heroischen Kampf finden, es findet sich aber auch in
jenen körperlichen Gesten der Ablehnung, des Schwei-
gens, der Bewegung oder der Weigerung, sich zu bewe-
gen, die charakteristisch sind für Initiativen, die demo-
kratische Grundsätze der Gleichheit und ökonomische
Grundsätze der wechselseitigen Abhängigkeit allein
schon durch ihr Handeln umsetzen, mit dem sie eine
im radikaleren und substanzielleren Sinne demokrati-
sche und interdependente Lebensweise fordern. Eine
gesellschaftliche Bewegung ist auch eine Sozialform,
und wenn sie eine neue Lebensweise, eine lebenswer-
tere Form des Lebens fordert, muss sie dabei selbst den
Grundsätzen folgen, die sie verwirklichen will. Wenn
dies gelingt, kann radikale Demokratie in solchen Be-
wegungen performativ auf eine Weise zum Ausdruck
gebracht werden, die schon allein erkennen lässt, was
ein gutes im Sinne eines lebbaren Lebens bedeuten
könnte. Ich habe darauf hingewiesen, dass sich viele
neue soziale Bewegungen gegen den Zustand der Pre-
karität richten. Diesen Bewegungen geht es bei ihrem
Kampf nicht darum, die Interdependenz oder gar die
Vulnerabilität zu überwinden  ; sie versuchen vielmehr,

278
Bedingungen herbeizuführen, unter denen Vulnerabili-
tät und Interdependenz erträglich werden. Das ist eine
Politik, in der performatives Handeln körperlich und
plural wird und die einen kritischen Blick auf die Be-
dingungen des körperlichen Überlebens, Durchhaltens
und Gedeihens im Rahmen der radikalen Demokratie
wirft. Wenn ich ein gutes Leben führen soll, dann wird
es ein Leben mit anderen sein, ein Leben, das ohne die-
se anderen gar kein Leben wäre. Ich verliere dabei nicht
das Ich, das ich bin  ; wer ich bin, wird durch meine Ver-
bindungen zu anderen beeinflusst und verändert, denn
meine Abhängigkeit von anderen ist, ebenso wie mei-
ne Verlässlichkeit für andere, unabdingbar, um zu leben
und um gut zu leben. Dass wir gleichermaßen von Pre-
karität bedroht sind, ist nur ein Grund für unsere po-
tenzielle Gleichheit und unsere wechselseitige Pflicht,
gemeinsam die Bedingungen für ein lebbares Leben zu
schaffen. Indem wir uns eingestehen, dass wir einan-
der brauchen, bekennen wir uns auch zu wesentlichen
Grundlagen der gesellschaftlichen und demokratischen
Bedingungen dessen, was wir nach wie vor als »das gute
Leben« bezeichnen können. Diese Bedingungen sind
für das demokratische Leben von entscheidender Be-
deutung, weil sie einerseits Teil einer anhaltenden Krise
sind, andererseits aber auch einer Form des Denkens
und Handelns angehören, die auf die drängenden Pro-
bleme unserer Zeit eingeht.

279
Anmerkungen

Einleitung

1 Vgl. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Hegemonie und radi­


kale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien
1991.
2 Vgl. Hamid Dabashi, The Arab Spring. The End of Postcolo-
nialism, London 2012.
3 Vgl. Shoshana Felman, The Scandal of the Speaking Body.
Don Juan with J. L. Austin, or Seduction in Two Languages,
Palo Alto 2003.
4 Vgl. Wendy Brown, »Neo-liberalism and the End of Liberal
Democracy«, in  : Theory & Event 7, 1 (2003), ⟨http  ://muse.
jhu.edu / ​login  ?auth=0&type=summary&url=/journals / ​theo-
ry_and_event / ​v007 / ​7.1brown.html⟩, letzter Zugriff 13. 12. ​
2015.
5 Der Begriff des frei verfügbaren Lebens [disposable life] taucht
in zahlreichen aktuellen Debatten auf. Vgl. Achille Mbembe,
»Nekropolitik«, in  : Marianne Pieper u. a. (Hg.), Biopolitik –
in der Debatte, Wiesbaden 2011, S. 63-96, sowie Elizabeth A.
Povinelli, Economies of Abandonment. Social Belonging and
Endurance in Late Liberalism, Durham 2011. Siehe auch die
Website der Columbia University  : ⟨http  ://historiesofviolen-
ce.com / ​specialseries / ​disposable-life/⟩, letzter Zugriff 16. 04. ​
2016.
6 Vgl. Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vor-
lesungen am Collège de France 1975 / ​1976, Frankfurt / ​M.
1999  ; ders., Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit,
Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France
1977 / ​1978, Frankfurt / ​M. 2004.
7 Vgl. Isabell Lorey, State of Insecurity. Government of the Pre-
carious, London 2015.

281
8 Vgl. Michel Feher, »Self-Appreciation  ; or, The Aspirations
of Human Capital«, in  : Public Culture 21, 1 (2009), S. 21-41.
9 Vgl. Lauren Berlant, Cruel Optimism, Durham 2011.
10 Vgl. ebd.
11 Vgl. Sheldon S. Wolin, »Fugitive Democracy«, in  : Constel-
lations. An International Journal of Critical and Democratic
Theory 1, 1 (1994), S. 11-25.
12 Vgl. meine »Einleitung  : Gefährdetes Leben, betrauerbares
Leben«, in  : Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht
jedes Leid beklagen, Frankfurt / ​M. 2010.

1. Geschlechterpolitik und
das Recht zu erscheinen

1 Ein ernüchterndes Beispiel für diese Weigerung, dem politi-


schen Anspruch von Versammlungen Beachtung zu schen-
ken, liefern die Vorfälle in London 2011 oder in den Pari-
ser Vorstädten 2005. Siehe den Beitrag »Paul Gilroy Speaks
on the Riots« aus dem Blog Dream of Safety vom 16. 08.​
2011, ⟨http  ://dreamofsafety.blogspot.com / ​2011 / ​08 / ​paul-gil-
roy-speaks-on-riots-august-2011.html⟩, letzter Zugriff 17. 01. ​
2016. Vgl. dazu auch mehrere jüngere Berichte über den
Einsatz von militärischem Personal aus Israel und Bahrain in
den USA, um die dortige Polizei darin zu schulen, Demons-
trationen zu unterdrücken und aufzulösen  : Max Blumen-
thal, »How Israeli Occupation Forces, Bahraini Monarchy
Guards Trained U. S. Police for Coordinated Crackdown on
›Occupy‹ Protests«, in  : The Exiled, 2. 12. ​2011, ⟨http  ://exi-
ledonline.com / ​max-blumenthal-how-israeli-occupation-for-
ces-bahraini-monarchy-guards-trained-u-s-police-for-coor-
dinated-crackdown-on-occupy-protests/⟩, letzter Zugriff
17. 01. ​2016.
2 Vgl. Jacques Derrida, »Signatur Ereignis Kontext«, in  : ders.,
Limited Inc, Wien 2001, S. 15-45  ; Pierre Bourdieu, Was heißt
sprechen  ? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien

282
1990  ; Eve Kosofsky Sedgwick, Epistemology of the Closet,
Berkeley 1990.
3 Im Hegel’schen Sinne überwindet der Kampf um Anerken-
nung nie ganz den Kampf um Leben und Tod.
4 Vgl. Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes
Leid beklagen, Frankfurt / ​M. 2010.
* Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben,
München 1967. A. d. Ü.
5 Vgl. Linda Zerilli, »The Arendtian Body«, in  : Bonnie Honig
(Hg.), Feminist Interpretations of Hannah Arendt, University
Park 1995, S. 167-194, und Joan Cocks, »On Nationalism  :
Frantz Fanon, 1925-1961  ; Rosa Luxemburg, 1871-1919  ; and
Hannah Arendt, 1906-1975«, in  : ebd., S. 221-246.
6 Alle Zitate in dieser Passage  : Hannah Arendt, Über die Re-
volution, München 1963, S. 145 f.
7 Ebd., S. 145.
8 Zerilli, »The Arendtian Body«, S. 178 f.
9 Ruth Wilson Gilmore, Golden Gulag. Prisons, Surplus, ­Crisis,
and Opposition in Globalizing California, ­Berkeley 2007,
S. 28.
10 Zur zentralen Bedeutung des Rechts auf körperliche Mobili-
tät für eine demokratische Politik siehe Hagar Kotef, Move-
ment and the Ordering of Freedom. On Liberal Governances
of Mobility, Durham 2015.
11 Hannah Arendt, »Der Niedergang des Nationalstaates und
das Ende der Menschenrechte«, in  : dies., Elemente und Ur-
sprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus,
totale Herrschaft, München 1986, S. 559-625. Vgl. auch Ju-
dith Butler, Gayatri Chakravorty Spivak, Sprache, Politik, Zu-
gehörigkeit, Zürich, Berlin 2007.
12 Vgl. Joan W. Scott, The Politics of the Veil, Princeton 2010.
13 Siehe ⟨http  ://baltimore.cbslocal.com / ​2011 / ​04 / ​22 / ​video-
shows-woman-being-beaten-at-baltimore-co-mcdonalds/⟩,
letzter Zugriff 30. 01. ​2016.
14 Vgl. die Website der Vereinigung ⟨www.pqbds.com⟩, letzter
Zugriff 07. 02. ​2016.
15 Vgl. Jorge E. Hardoy, David Satterthwaite, Squatter Citizen.
Life in the Urban Third World, London 1989.

283
16 Vgl. Denise Riley, »Am I That Name  ?« Feminism and the Ca-
tegory of Women in History, Minneapolis 1988.
17 Eve Kosofsky Sedgwick, »Queere Performativität. Henry
James’ The Art of the Novel«, in  : Matthias Haase u. a. (Hg.),
Outside. Die Politik queerer Räume, Berlin 2005, S. 13-37.
18 Dieser letzte Diskussionspunkt beruht auf meiner Vorlesung
»Rethinking Vulnerability and Resistance«, die ich im Juli
2014 in Alcala in Spanien gehalten habe. Teile daraus wurden
im Online-Magazin Profession der Modern Language As-
sociation veröffentlicht  : ⟨https  ://profession.commons.mla.
org / ​2014 / ​03 / ​19 / ​vulnerability-and-resistance/⟩, letzter Zu-
griff 17. 04. ​2016.

2. Körperallianzen und die Politik der Straße

1 Jasbir K. Puar, Terrorist Assemblages. Homonationalism in


Queer Times, Durham 2007.
2 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Mün-
chen 1967, S. 192.
3 Ebd.
4 Ebd.
5 »Der Standpunkt einer Ethik ist  : Wessen bist du fähig, was
kannst du  ? Daher die Rückkehr zu dieser Art Aufschrei Spi-
nozas  : Was kann ein Körper  ? Wir wissen nie im Voraus, was
ein Körper kann. Wir wissen nie, wie wir organisiert sind
und wie die Daseinsweisen in jemanden eingewickelt sind.«
(Gilles Deleuze, »Cours Vincennes  : Ontologie-Ethique«,
21. 12. ​1980, ⟨http  ://www.webdeleuze.com / ​php / ​texte.php  ?
cle=190&groupe=Spinoza&langue=2⟩, letzter Zugriff 17. 02. ​
2016  ; s. a. ders., Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der
Philosophie, München 1993, S. 191-205. Meine Darstellung
unterscheidet sich von Deleuzes in mehreren Hinsichten, vor
allem dadurch, dass sie Körper in ihrer Pluralität begreift,
aber auch dadurch, dass sie die Frage stellt, was die Bedin-
gungen dafür sind, dass ein Körper überhaupt irgendetwas
kann.

284
6 Vgl. Adriana Cavarero, For More than One Voice. Toward a
Philosophy of Vocal Expression, Palo Alto 2005.
7 Arendt, Vita activa, S. 193.
8 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht
und das nackte Leben, Frankfurt / ​M. 2002.
9 Ihre erste Untersuchung des Rechts, Rechte zu haben, im Zu-
sammenhang mit Flüchtlingen nahm sie 1943 in ihrem Essay
»We Refugees« vor (Hannah Arendt, »We Refugees«, in  : Me-
norah Journal 31 [1943], S. 69-77  ; deutsch erstmals erschienen
als »Wir Flüchtlinge«, in  : dies., Zur Zeit. Politische Essays, hg.
v. Marie Luise Knott, B­ erlin 1986, S. 7-21). Siehe auch Giorgio
Agambens kurzen Kommentar zu diesem Essay  : »Jenseits der
Menschenrechte«, in  : ders., Mittel zum Zweck. Noten zur Po-
litik, Zürich, Berlin 2001, S. 23-35.
10 Vgl. Zeynep Gambetti, »Occupy Gezi as Politics of the
Body«, in  : Umut Özkırımlı (Hg.), The Making of a Protest
Movement in Turkey  : #occupygezi, Basingstoke u. a. 2014,
S. 89-102.
11 Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der
Gegenwart. Arabisch – Deutsch, Wiesbaden 51985, S. 591.
12 Vgl. Ruth Gilmore, Golden Gulag. Prisons, Surplus, Crisis,
and Opposition in Globalizing California, Berkeley 2007.

3. Gefährdetes Leben und


die Ethik der Kohabitation

1 Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München 2003.


2 Vgl. Judith Butler, Am Scheideweg. Judentum und die Kritik
am Zionismus, Frankfurt / ​M. 2013, sowie meinen Beitrag un-
ter ⟨http  ://laphilosophie.blog.lemonde.fr / ​2013 / ​03 / ​21 / ​levi-
nas-trahi-la-reponse-de-judith-butler/⟩, letzter Zugriff 02. 03. ​
2016  ; siehe auch Lévinas’ Bemerkungen über die »asiatischen
Horden«, welche die ethische Grundlage der jüdisch-christ-
lichen Kultur bedrohten  : Emmanuel Lévinas, »Das jüdische
Denken heute«, in  : ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das

285
Judentum, Frankfurt / ​M. 1992, S. 116-125. Ich diskutiere dies
ausführlicher in Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt.
Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt / ​M. 2007, S. 122-130.
3 Vgl. Butler, Am Scheideweg.
4 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der
Banalität des Bösen, München 1964, S. 327-329.
5 Siehe Arendts berüchtigten Brief an Karl Jaspers von 1961,
in dem sie ihren Abscheu vor Juden arabischer Abstammung
zum Ausdruck bringt  : »Mein erster Eindruck  : Oben die Rich-
ter, bestes deutsches Judentum. Darunter die Staatsanwalt-
schaft, Galizianer, aber immerhin noch Europäer. Alles orga-
nisiert von einer Polizei, die mir unheimlich ist, nur Hebräisch
spricht und arabisch aussieht  ; manche ausgesprochen brutale
Typen darunter. Die gehorchen jedem Befehl. Und vor den Tü-
ren der orientalische Mob, als sei man in Istanbul oder einem
anderen halbasiatischen Land. Dazwischen, sehr prominent in
Jerusalem, die Peies- und Kaftan-Juden, die allen vernünftigen
Leuten hier das Leben unmöglich machen.« (Hannah Arendt,
Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969, hg. v. Lotte Köhler u.
Hans Saner, München 1985, S. 472 [Brief vom 13. 4. ​1961]).
6 Vgl. Meron Benvenisti, »The Binationalism Vogue«, in   :
Haaretz, 30. 04. ​2009, ⟨http  ://www.haaretz.com / ​print-edi-
tion / ​opinion / ​the-binationalism-vogue-1 275 085⟩, letzter Zu-
griff 19. 04. ​2016.

4. Körperliche Verwundbarkeit,
koalitionäre Politik

1 Es ist eine Sache, das Versammlungsrecht derer zu verteidigen,


deren Meinung man nicht teilt, aber eine andere, aktuelle De-
monstrationen zu begrüßen oder zu unterstützen. In diesem
Text geht es zwar nicht um die Voraussetzungen und Grenzen
des Versammlungsrechts, es scheint mir aber wichtig, von An-
fang an zu betonen, dass ich das Recht aller möglichen Grup-
pen, sich auf der Straße zu versammeln, achte, auch solcher,

286
mit deren Auffassungen ich überhaupt nicht einverstanden
bin. Die Versammlungsfreiheit hat gewiss Grenzen, diese las-
sen sich nach meinem Dafürhalten aber nur aufstellen, wenn
man überzeugend nachweist, dass eine Gruppe das körper-
liche Wohl anderer vorsätzlich gefährdet, die denselben recht-
mäßigen Anspruch auf den öffentlichen Raum haben.
2 Siehe die Arbeiten von Wendy Brown über die Privatisierung
öffentlicher Güter, zum Beispiel »Neo-liberalism and the
End of Liberal Democracy«, in  : Theory & Event 7, 1 (2003),
⟨http  ://muse.jhu.edu / ​login  ?auth=0&type=summary&url=/
journals / ​theory_and_event / ​v007 / ​7.1brown.html⟩, letzter
Zugriff 13. 12. ​2015, oder auch ihren Vortrag unter ⟨http  ://
cupe3913.on.ca / ​wendy-brown-on-the-privatization-of-uni-
versities/⟩, letzter Zugriff 26. 03. ​2016.
3 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben,
München 1967, S. 192.
4 Vgl. Zeynep Gambetti, »Occupy Gezi as Politics of the
Body«, in  : Umut Özkırımlı (Hg.), The Making of a Protest
Movement in Turkey  : #occupygezi, Basingstoke u. a. 2014,
S. 89-102.
5 Vgl. Stephen Jay Gould, »Die Haltung macht den Menschen
aus«, in  : ders., Darwin nach Darwin. Naturgeschichtliche Re-
flexionen, Frankfurt / ​M. u. a. 1984, S. 174-180.
6 Auf diesen Punkt verweisen auch die jüngste Arbeit von Rosi
Braidotti, Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen,
Frankfurt / ​M. 2014, sowie Hélène Mialet, Hawking Incorpo-
rated. Stephen Hawking and the Anthropology of the Know­
ing Subject, Chicago 2012.
7 Vgl. meine »Einleitung  : Gefährdetes Leben, betrauerbares
Leben«, in  : Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht
jedes Leid beklagen, Frankfurt / ​M. 2010, S. 9-38.
8 Zum Thema komplexe Relationalitäten siehe Donna J. Hara­
way, Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Na-
ture, New York 1991, und dies., The Companion Species Mani-
festo. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago 2003.
9 Eine Vielzahl von feministischen Theoretiker / ​innen widmet
sich dem Thema Vulnerabilität. Die folgenden neueren Texte
vermitteln einen Einblick in die wichtigen politischen Impli-

287
kationen des Begriffs  : Martha A. Fineman, »The Vulnerable
Subject  : Anchoring Equality in the Human Condition«, in  :
Yale Journal of Law and Feminism 20, 1 (2008), S. 8-40  ; Anna
Grear, »The Vulnerable Living Order  : Human Rights and the
Environment in a Critical and Philosophical Perspective«, in  :
Journal of Human Rights and the Environment 2, 1 (2011),
S. 23-44  ; Peadar Kirby, »Vulnerability and Globalization  :
Mediating Impacts on Society«, in  : Journal of Human Rights
and the Environment 2, 1 (2011), S. 86-105  ; Martha A. Fine-
man, Anna Grear (Hg.), Vulnerability. Reflections on a New
Ethical Foundation for Law and Politics, Burlington 2013  ;
Katie E. Oliviero, »Sensational Nation and the Minutemen  :
Gendered Citizenship and Moral Vulnerabilities«, in  : Signs  :
Journal of Women and Culture in Society 32, 3 (2011), S. 679-
706  ; siehe auch Bryan S. Turner, Vulnerability and Human
Rights, University Park 2006, sowie Shani D’Cruze, Anu-
pama Rao (Hg.), Violence, Vulnerability and Embodiment.
Gender and History, Oxford 2005.
10 Überlegungen zur gegenwärtigen Prekarität finden sich in
Luc Boltanski, Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalis-
mus, Konstanz 2006.
11 Der taktische Einsatz der Unterscheidung zwischen Ver-
wundbarkeit und Unverwundbarkeit hängt auch von der dif-
ferenziellen Verteilung von Durchlässigkeit ab. Besondere
Bedeutung erhielt die Rede von der Durchlässigkeit in den
USA nach dem 11. September 2001  ; mit dem Verweis auf die
Durchlässigkeit der nationalen Grenzen wurden Ängste da-
vor geschürt, dass ungewollt in uns eingedrungen wird, also
vor einem Überschreiten körperlicher Grenzen. In einer sol-
chen Sprache sind sexuelle Verbote ebenso wie Geschlechter-
normen am Werk – die Furcht vor Vergewaltigung und das
Vorrecht, selbst zu vergewaltigen, sind nur zwei Beispiele von
vielen, wie geschlechtsspezifische Unterschiede mit politi-
schen Problemen zusammenhängen, die sich aus der Durch-
lässigkeit des Körpers ergeben, welche man lediglich kontrol-
lieren, aber nicht beseitigen kann (da alle Körper Öffnungen
haben oder mit Instrumenten durchdrungen werden kön-
nen). Trotzdem setzt sich das unmögliche Projekt fort, ein

288
Geschlecht als durchlässig und das andere als undurchlässig
zu betrachten.
12 Vgl. Albert Memmi, Von Süchten und Sehnsüchten, Mainz
1999.
13 Vgl. Gilles Deleuze, »Was kann ein Körper  ?«, in  : ders., Spi-
noza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, Mün-
chen 1993, S. 191-205.
14 Vgl. Isabelle Stengers, Thinking with Whitehead. A Free and
Wild Creation of Concepts, Cambridge, MA 2011.
15 Die Slutwalks sind ein bemerkenswertes Beispiel für die mu-
tige Übernahme des öffentlichen Raumes, haben aber auch
die konstruktive Kritik schwarzer Frauen auf sich gezogen,
die ihnen fehlendes Verständnis für die Unmöglichkeit einer
Wiederaneignung des Begriffes »slut« (»Schlampe«) vorwer-
fen. Siehe dazu den Eintrag »An Open Letter from Black Wo-
men to the SlutWalk« aus dem Black Women’s Blueprint Blog
vom 23. 09. ​2011, ⟨http  ://www.huffingtonpost.com / ​susan-
brison / ​slutwalk-black-women_b_980 215.html⟩, letzter Zu-
griff 04. 04. ​2016.
16 Bernice Johnson Reagon, »Coalition Politics  : Turning the
Century«, in  : Barbara Smith (Hg.), Home Girls. A Black Fe-
minist Anthology, New York 1983, S. 356-368, hier S. 356 f.,
das letzte längere Zitat findet sich auf S. 365.

5. »We the People« –


Gedanken zur Versammlungsfreiheit

* Étienne Balibar, Nous, citoyens d’Europe  ? Les frontières,


l’État, le peuple, Paris 2001  ; engl. We, the People of Europe  ?
Reflections on Transnational Citizenship, Princeton 2004  ; dt.
Sind wir Bürger Europas  ? Politische Integration, soziale Aus-
grenzung und die Zukunft des Nationalen, Bonn 2005. A. d. Ü.
1 Die IAO macht deutlich, dass das Recht, sich friedlich zu ver-
sammeln und zu Vereinigungen zusammenzuschließen, ein
zentraler Bestandteil von Tarifverhandlungen sowie der Be-

289
teiligung und Mitgliedschaft in internationalen Arbeitsorga-
nisationen ist. Vgl. David Tajgman, Karen Curtis, Freedom of
Association  : A User’s Guide. Standards, Principles, and Proce-
dures of the International Labour Organization, Genf 2000,
S. 6. In der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« der
Vereinten Nationen (1948) wird das Versammlungsrecht in
den Artikeln 20 und 23 spezifiziert. Am bedeutendsten aber
dürfte sein, dass der Grundsatz in der Formulierung der IAO –
hier unter der Bezeichnung »Vereinigungsfreiheit und Schutz
des Vereinigungsrechts« – in Artikel 22 des »Internationa-
len Paktes über bürgerliche und politische Rechte« (1976)
bestätigt wird  ; siehe ⟨http  ://www.auswaertiges-amt.de /
cae / ​servlet / ​contentblob / ​360 794/ publicationFile / ​3613 / ​IntZi
vilpakt.pdf⟩, letzter Zugriff 20. 04. ​2016.
2 Auf diesen Punkt legt Giorgio Agamben bei seiner Darstel-
lung der staatlichen Souveränität tendenziell das Hauptaugen-
merk  ; vgl. Giorgio Agamben, Ausnahmezustand. Homo sacer
II . 1, Frankfurt / ​M. 2004.
3 Arendt geht zwar in Über die Revolution nicht direkt auf die
Versammlungsfreiheit ein, sie zeichnet aber den Weg nach,
wie aus den Menschen, die während der Französischen Re-
volution aus Wut über das Elend auf die Straße gingen, die
Massen wurden, deren Hauptziel die Rache war (Hannah
Arendt, Über die Revolution, München 1963, S. 140-142). Ihr
Ziel, sich von ihrem Leiden zu befreien, ist in Arendts Augen
nicht identisch mit dem eigentlichen Ziel der Freiheit. Zu die-
ser gehört das gemeinsame Handeln, um das Neue hervorzu-
bringen und, im politischen Sinne, um das Neue auf der Basis
der Gleichheit hervorzubringen. Die Aufgabe besteht für sie
darin, von der Rache zu einem »Gründungsakt, der über die
neue Staatsform entscheidet« (ebd., S. 287), überzugehen (ein
Schritt, der an Nietzsches Versuch denken lässt, diejenigen
aus der Reserve zu locken, die eine Sklavenmoral praktizie-
ren, um Quellen der Bestätigung zu finden). In ihrem Essay
»Ziviler Ungehorsam« greift sie die an Tocqueville erinnernde
Idee der »freiwilligen Vereinigung« auf (Hannah Arendt, »Zi-
viler Ungehorsam«, in  : dies., Zur Zeit. Politische Essays, hg. v.
Marie Luise Knott, Berlin 1986, S. 119-160). Es ist bezeich-

290
nend, dass die »Versammlung« in diesem Text nur im Zusam-
menhang mit der »verfassungsgebenden Versammlung« im
Sinne der Nationalversammlung diskutiert wird. Jason Frank
entdeckt in der Versammlungsfreiheit die »verfassungsgeben-
de Gewalt« und stellt fest, dass diese in Arendts Analysen der
Französischen beziehungsweise Amerikanischen Revolution
jeweils unterschiedlich bewertet wird (Jason Frank, Con-
stituent Moments. Enacting the People in Postrevolutionary
America, Durham 2010, S. 62-66). Siehe auch Seyla Benhabib,
Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne,
Frankfurt / ​M. 2006.
4 John D. Inazu, Liberty’s Refuge. The Forgotten Freedom of
Assembly, New Haven 2012. Inazu schreibt, man müsse die
Versammlungsfreiheit von der Vereinigungsfreiheit und dem
Recht auf freie Meinungsäußerung trennen  : »Es geht etwas
Wichtiges verloren, wenn wir nicht den Zusammenhang zwi-
schen der Bildung, Zusammensetzung und Existenz einer
Gruppe und deren Ausdruck begreifen. Viele Gruppenäuße-
rungen sind nur vor dem Hintergrund der gelebten Praxis
verständlich, die ihnen eine Bedeutung geben« (ebd., S. 2).
5 Siehe J. Kēhaulani Kauanui, Hawaiian Blood. Colonialism
and the Politics of Sovereignty and Indigeneity, Durham 2008.
6 Frank, Constituent Moments.
7 Vgl. Ernesto Laclau, On Populist Reason, London 2005,
S. 65-128.
8 Zur Beziehung dieser Bemerkungen zu Deleuzes Begriff der
Assemblage siehe Naomi Greyser, »Academic and Activist
Assemblages. An Interview with Jasbir Puar«, in  : American
Quarterly 64, 4 (2012), S. 841-843.
9 Gemeint ist der »stehende Mann« [türk.   : duran adam  ;
A. d. Ü.], Erdem Gunduz, der dem Versammlungsverbot
trotzte, indem er sich allein auf den Platz stellte, worauf auch
andere dazukamen, bis eine veritable Ansammlung von In-
dividuen zusammenkam, die stumm dort standen und da-
mit gleichzeitig das Versammlungsverbot befolgten und
gegen es verstießen  : ⟨https  ://www.youtube.com / ​watch  ?v=-
SldbnzQ3nfM⟩, letzter Zugriff 22. 03. ​2016  ; siehe auch Emma
Sinclair-Webb, »The Turkish Protests – Still Standing«, Hu-

291
man Rights Watch, 21. Juni 2013, ⟨http  ://www.hrw.org / ​
news / ​2013 / ​06 / ​21 / ​turkish-protests-still-standing⟩, letzter
Zugriff 22. 03. ​2016.
10 Vgl. Banu Bargu, »Spectacles of Death  : Dignity, Dissent,
and Sacrifice in Turkey’s Prisons«, in  : Laleh Khalili, Jillian
Schwedler (Hg.), Policing and Prisons in the Middle East. For-
mations of Coercion, New York 2010, S. 241-261, sowie dies.,
»Fasting unto Death  : Necropolitical Resistance in Turkey’s
Prisons« (unveröffentlichtes Manuskript).
11 Vgl. Angela Y. Davis, Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse  ?
Der gefängnisindustrielle Komplex der USA , Berlin 2004, und
dies., Abolition Democracy. Beyond Empire, Prisons, and Tor-
ture, New York 2005.
12 Frank, Constituent Moments, S. 33.
13 Ágnes Heller, Theorie der Bedürfnisse bei Marx, Berlin 1976.
14 Vgl. die aufeinander folgenden Kritiken der Privatisierung von
Wendy Brown  : »Sacrificial Citizenship  : Neoliberal Austeri-
ty Politics«, 14. 02. ​2012, ⟨http  ://globalization.gc.cuny.edu /
 ​events / ​sacrificial-citizenship-neoliberal-austerity-politics/⟩,
letzter Zugriff 11. 04. ​2016  ; »The End of Educated Democra-
cy«, in  : Colleen Lye, James Vernon (Hg.), The Humanities
and the Crisis of the Public University, Berkeley 2011, S. 19-
41  ; »Neoliberalized Knowledge«, in  : History of the Present
1, 1 (2011), S. 113-129  ; und Die schleichende Revolution. Wie
der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin 2015.
15 Vgl. Mahatma Gandhi, Selected Political Writings, Indianapo-
lis 1996. Gandhi unterscheidet zwischen passivem Widerstand
und gewaltlosem zivilem Ungehorsam. Der passive Wider-
stand ist für ihn eine nicht von einem Prinzip geleitete Tak-
tik, während Gewaltlosigkeit eine Aktionsform ist, die einem
Prinzip folgt und unter allen Umständen um Konsistenz be-
müht ist. Er betrachtet den passiven Widerstand als Waffe der
Schwachen, der gewaltlose zivile Ungehorsam erfordert da-
gegen in seinen Augen »intensive Aktivität« und »Stärke«
(vgl. ebd., S. 50-52).
16 M. K. Gandhi, Non-Violent Resistance (Satyagraha), Mineo-
la 2001, S. 2.

292
6. Kann man ein gutes Leben
in einem schlechten Leben führen  ?

1 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 4  : Mini-


ma Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frank-
furt / ​M. 1997, S. 43.
* Eine Schwierigkeit in diesem Text ist die Bedeutungsnuan-
cierung zwischen »gut«/»richtig« bzw. »schlecht«/»falsch«.
Während Adornos berühmtes Diktum ins Englische (von
E. F. N. Jephcott) übersetzt wurde mit  : »Wrong life cannot be
lived rightly«, gibt die englische Übersetzung von Probleme
der Moralphilosophie (durch R. Livingstone) das »richtige«
bzw. das »falsche« Leben mit »the good life« bzw. »the bad
life« wieder. (Butler gibt sowohl die Originalfassungen als
auch diese Übersetzungen an.) Butler selbst beutet diese Nu-
ance m. E. absichtlich aus, so dass hier überwiegend und auch
im Titel des Kapitels vom »guten« bzw. »schlechten« Leben
die Rede ist. Dass es diese Nuance gibt, und dass sie einen sig-
nifikanten Unterschied markiert, wird von der Autorin thema-
tisiert, siehe S. 276; A. d. Ü.
2 Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frank-
furt / ​M. 21997, S. 34 f.
3 Ebd., S. 205.
4 Ebd., S. 262.
5 Ebd., S. 250.
6 Vgl. Orlando Patterson, Slavery and Social Death. A Com-
parative Study, Cambridge, MA 1985.
7 In dem Artikel »Die jüdische Armee. Der Beginn einer jü-
dischen Politik  ?«, der 1941 in der Zeitschrift Aufbau erschien,
schreibt Arendt  : »Der jüdische Lebenswille ist berühmt und
berüchtigt. Berühmt, weil er einen in der Geschichte europäi-
scher Völker verhältnismäßig langen Zeitraum umspannt. Be-
rüchtigt, weil er in den letzten 200 Jahren zu etwas ganz Ne-
gativem zu entarten drohte  : zu dem Willen, um jeden Preis zu
überleben.« (Hannah Arendt, »Die jüdische Armee. Der Be-
ginn einer jüdischen Politik  ?«, in  : dies., Die Krise des Zionis-
mus. Essays und Kommentare 2, hg. v. Eike Geisel und Klaus

293
Bittermann, Berlin 1989, S. 167-170, hier S. 167 f.) Im Jahr 1946,
als man noch dabei war, das ganze Ausmaß des Schreckens der
nationalsozialistischen Konzentrationslager zu offenbaren,
und die politischen Folgen des Zionismus noch aktiv diskutiert
wurden, kommt sie in ihrem Text »›Der Judenstaat‹  : Fünfzig
Jahre danach oder  : Wohin hat die Politik Herzls geführt  ?«
noch einmal auf diesen Punkt zurück  : »Was die Überlebenden
jetzt vor allem wollen, ist das Recht, mit Würde zu sterben – im
Fall eines Angriffs mit der Waffe in der Hand. Das Überleben
um jeden Preis, diese jahrhundertealte Hauptsorge des jüdi­
schen Volkes ist wahrscheinlich für immer dahin. Stattdessen
trifft man auf etwas vollkommen neues bei den Juden, auf den
Wunsch nach Würde um jeden Preis.« (Hannah Arendt, »›Der
Judenstaat‹  : Fünfzig Jahre danach oder  : Wohin hat die Politik
Herzls geführt  ?«, in  : dies., Die Krise des Zionismus, S. 61-81,
hier S. 80.) Weiter schreibt sie  : »Von welch großem Vorteil
diese neue Entwicklung für eine im wesentlichen gesunde jü-
dische politische Bewegung auch wäre, sie stellt im gegenwärti-
gen Rahmen zionistischer Auffassungen doch so etwas wie eine
Gefahr dar. Die nun ihres ursprünglichen Vertrauens in die hilf-
reiche Natur des Antisemitismus beraubte Lehre Herzls kann
nur zu selbstmörderischen Gesten ermutigen, für deren Zwe-
cke sich der natürliche Heroismus von mit dem Tode vertrau-
ten Menschen leicht ausbeuten läßt.« (Ebd., S. 80 f.)
8 Vgl. Hannah Arendt, »Die Antwort des Sokrates«, in  : dies.,
Vom Leben des Geistes, Band 1  : Das Denken, München 1989,
S. 166-179.
9 Vgl. Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Übungen im politischen Denken 1, hg. v. Ursula Ludz, Mün-
chen 1994, S. 44 f.
10 Vgl. Donna J. Haraway, Simians, Cyborgs, and Women.
The Reinvention of Nature, New York 1991, und dies., The
Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant
Otherness, Chicago 2003.
* Im Original deutsch. A. d. Ü.
11 Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 248.
12 Ebd., S. 248 f.
13 Ebd., S. 249.

294
Danksagungen

Als Erstes möchte ich mich beim Bryn Mawr College


dafür bedanken, dass ich dort 2010 die Mary Flexner
Lectures halten durfte, insbesondere bei den Kolleg / ​
innen und Studierenden, die sich so intensiv mit mei-
ner Arbeit auseinandergesetzt haben, sowie bei der frü-
heren Präsidentin Jane McAuliffe, die so liebenswürdig
war, diese Einladung zu verlängern, und deren beein-
druckende Mitarbeiter / ​innen meinen Aufenthalt eben-
so angenehm wie produktiv werden ließen. Ich danke
allen Mitarbeiter / ​innen von Harvard University Press
für ihre Geduld beim Warten auf die Endfassung dieses
Texts und der Andrew Mellon Foundation, die mich in
der Zeit unterstützt hat, als ich diese Vorlesungen vor-
bereitete, in Kapitel umwandelte und versuchte, sie in
Buchform zu bringen. Das vorliegende Buch entstand
aus Gesprächen und gemeinsamen Projekten mit Kol-
leg / ​innen und Aktivist / ​innen, die ebenfalls an Fragen
der politischen Versammlung, der Prekarität und des
Widerstands arbeiten. Die Kapitel 1, 2 und 4 begannen
als Vorlesungen, die ich in Bryn Mawr hielt und dann
in verschiedenen Formen weiterentwickelte und um-
arbeitete. Ich danke auch meinen Gesprächspartner / ​
innen an der Bosporus-Universität in Istanbul für ihre
offenherzige Kritik des 5. Kapitels, »We the People«,
im Jahr 2013, nur wenige Monate nach den Demons-
trationen im Gezi-Park. Dankbar bin ich auch den Be-
sucher / ​innen der Watson Lecture am Nobelmuseum in
Stockholm 2011, deren Reaktion auf die erste Fassung
von »Gefährdetes Leben und die Ethik der Kohabita-

295
tion« sehr hilfreich war, sowie der Biennale von Vene-
dig, wo ich 2010 eine frühe Version von »Körperalli-
anzen und die Politik der Straße« präsentieren durfte.
»Kann man ein gutes Leben in einem schlechten Leben
führen  ?« war meine Dankesrede anlässlich der Verlei-
hung des Adorno-Preises im September 2012 in Frank-
furt am Main.
Ich danke Sarah Bracke und Aleksey Dubilet für ihre
unschätzbare intellektuelle wie textliche Unterstützung
bei der Fertigstellung des Manuskripts. Ich danke Lind-
say Waters dafür, wie sie das Buch vorangetrieben und
begleitet hat, und Amanda Peery für all ihre Hilfe. Wie
immer bin ich all meinen Gesprächspartner / ​innen zu
großem Dank verpflichtet – denen, die mir am nächs-
ten sind, denen, die ich nur selten sehe, ebenso wie de-
nen, die ich erst noch treffen werde. Ich danke Wen-
dy Brown, der Person, die mir am nächsten ist und die
dieses Werk mit unschätzbarer Aufmerksamkeit und
genau dem richtigen Maß an Distanz unterstützt und
kritisch hinterfragt hat. Ich danke auch meinen ande-
ren Leser / ​innen, deren produktive Auseinandersetzun-
gen und außergewöhnliche Fragen von unschätzbarem
Wert waren  : Michel Feher, Leticia Sabsay, Zeynep
Gambetti, Michelle Ty, Amy Huber, Alex Chasin sowie
meinen anonymen Leser / ​innen, die sich alle als wert-
volle Begleiter / ​innen erwiesen, als sich Zweifel zu re-
gen begannen und es Zeit wurde, diese Spekulationen –
ob zu spät oder zu früh – zu zerstreuen. Das Buch ist
Isaac Butler-Brown gewidmet, der schon gelernt hat,
sich zu zeigen, seine Meinung zu sagen.

296
Nachweise

Kapitel 2, »Körperallianzen und die Politik der Straße«, ist


die erweiterte Version eines gleichnamigen Textes, der zu-
erst erschien in  : Meg McLagan, Yates McKee (Hg.), Sensible
Politics. The Visual Culture of Nongovernmental Activism,
New York 2012, S. 117-138.

Kapitel 3, »Gefährdetes Leben und die Ethik der Kohabita-


tion«, geht zurück auf meine Watson Lecture, die ich 2011 im
Nobelmuseum in Stockholm gehalten habe. Der Erstdruck
in leicht abgeänderter Form erfolgte unter dem Titel »Pre-
carious Life, Vulnerability, and the Ethics of Cohabitation«
in  : Journal of Speculative Philosophy 26, 2 (2012), S. 134-151.

Kapitel 4, »Körperliche Verwundbarkeit, koalitionäre Poli-


tik«, erschien zuerst unter dem Titel »Bodily ­Vulnerability,
Coalitions, and Street Politics« in  : Joana Sabadell-Nieto,
Marta Segarra (Hg.), Differences in Common. Gender, Vul-
nerability, and Community, Amsterdam, New York 2014.

Kapitel 6, »Kann man ein gutes Leben in einem schlechten


Leben führen  ?«, war meine Dankesrede anlässlich der Ver-
leihung des Theodor-W.-Adorno-Preises, gehalten in Frank-
furt am Main im September 2012. Erstdruck in  : Radical Phi-
losophy 176 (2012), S. 9-18.

297
Register

Abhängigkeit und Unter- amerikanische Unabhängig-


stützung 15, 25, 29, 32- keitserklärung 228 f.
34, 41, 48, 59-63, 75, 88 f., amerikanische Verfassung
92, 98-100, 104 f., 113 f., 201, 229
117 f., 131, 144, 155, 157, Analphabetismus 185 f.
159, 169, 171-175, 179, 180- Anarchie 102, 208, 212 f.
182, 185 f., 193 f., 197 f., 200, Andere/r 17, 21, 43, 45 f.,
236, 238, 243, 254, 264-270, 51 f., 61 f., 92 f., 104 f., 116,
274 f., 278 f.; siehe auch 120, 130, 133 f., 137, 139,
­Interdependenz; Rela- 141-146, 156 f., 159 f., 162,
tionalität; Vulnerabilität 171 f., 174, 193, 195-197,
Adorno, Theodor W. 34, 199, 236, 243, 259 f., 271,
249-251, 256, 273, 275- 274 f., 279
277 Anerkennung, Anerkenn-
Affekttheorie 25 barkeit 12 f., 39, 46, 50-
Agamben, Giorgio 107 f., 58, 61, 74 f., 80 f., 85, 95-97,
290 Anm. 2 129, 140, 177, 200, 241, 244,
Aggression 74, 122, 160, 198, 254 f., 260, 262, 274, 283
242 f., 247; siehe auch Ge- Anm. 3
walt Antelme, Robert 259
Allgemeinheit 70, 152 f., 190 antisemitische Versammlung
Allianzen und 237
Koalitionen 37, 40 f., 59, Arabischer Frühling siehe
61, 70, 72, 74, 80, 91, 93 f., Tahrir-Platz
96, 99, 102, 109, 114 f., 117, Arbeit 20 f., 24, 27, 32 f., 58,
120, 161, 163, 165, 172, 174, 64, 78, 91, 94, 101, 107,
198 f., 202, 208, 239; siehe 110, 114, 116 f., 120 f., 167,
auch Kohabitation 169, 172, 180, 182, 186,
Allmende (the ­Commons) 192, 196, 205, 236, 243 f.,
235 258, 262, 266, 268; siehe
Amerikanische Revolution auch ­Reproduktions­
152, 291 Anm. 3 arbeit

299
Arbeitslosigkeit siehe Arbeit 164, 174, 200, 238, 266, 279,
Arbeitsteilung 104, 117, 284 Anm. 5
119 f.; siehe auch Arbeit; Beerdigungen 15
öffentliche Sphäre; Privat- Beharren, Beharrlichkeit siehe
sphäre Persistenz
Arendt, Hannah 34, 62, 64- Behinderte 84, 149, 182
68, 72, 82, 99 f., 103-107, Berichterstattung siehe
109, 116 f., 119 f., 131, 140 f., Medien
147-157, 161, 168, 176, 197, Berkeley 127
202, 208, 226, 260-267, Berlant, Lauren 24
278, 285 Anm. 9, 286 Anm. Besitzlosigkeit 108, 113
5, 290 f. Anm. 3, 293 f. Betrauerbarkeit 130, 158,
Anm. 7 253-255; siehe auch Unbe-
Argentinien 79, 110 trauerbarkeit
Aristoteles 250 Beweglichkeit siehe Mobi­
Arizona 190 lität
Athen 127 Bildung 27 f., 39, 99, 101,
Ausbeutung 107, 161, 193, 110, 123, 127 f., 167, 201
196, 205, 249, 268 Biologische, das 61, 83,
auserwähltes Volk 154 118
Ausgesetztsein 28, 48 f., Biomacht 20
54, 78, 87, 91 f., 94, 101, Biopolitik 24, 62, 108, 252 f.,
108, 112 f., 121, 130, 140, 257, 267, 269
142, 145, 156, 161, 166, Black-Lives-Matter-
171, 183-187, 190, 194, Bewegung 27, 67
199, 234, 239; siehe auch Bourdieu, Pierre 41
Exponiertheit Boykott 76, 244, 248;
Austin, John Langshaw 41 siehe auch Protest
Autarkie 23-26, 38, 63, Brown, Michael 39
146, 172, 175; siehe auch Buber, Martin 153
Responsibilisierung Bündnis siehe Allianzen und
Autoritarismus 46, 207 Koalitionen
Bürgerrechte 19, 95, 107,
Bahrain 123, 282 Anm. 1 153, 178, 220, 224, 226, 241,
Balibar, Étienne 201, 213 245
Bedingungen des (gemein-
samen) Handelns 17, 26, Cameron, David 125
30, 35, 73, 87-89, 104, 131, Cavarero, Adriana 103, 130

300
Chile 19, 101, 201, 207 250, 256 f.; siehe auch
christliche Ethik 21, 142, ­Sprache
285 Anm. 2 Durchlässigkeit 190 f.,
288 f., Anm. 11; siehe auch
Davis, Angela 226 Vulnerabilität
Delbo, Charlotte 260
Deleuze, Gilles 94, 195, 284 Egoismus 144
Anm. 5 Eichmann, Adolf 148-151
Demokratie 7-9, 11-14, 31 f., Eigenständigkeit siehe
72 f., 76, 91, 95, 103, 122, Autarkie
160, 164 f., 177 f., 189, 202 f., Eigenverantwortlichkeit siehe
207, 210-212, 214 f., 218, Autarkie; Verantwortlich-
220, 227, 236 f., 241, 245, keit
247, 266, 277-279; siehe Einwanderer 9, 95, 164, 167,
auch Repräsentation; Volk 190; siehe auch Menschen
Demonstration 7, 14 f., 18 f., ohne Papiere
28, 32, 34, 37, 39, 43, 58, 67, Erscheinung siehe
80, 96 f., 100 f., 110 f., 115, ­Erscheinungsraum;
120, 122 f., 126, 130 f., 164 f., Erscheinungssphäre; Feld
182, 199 f., 216, 219, 225, des Erscheinens
231, 248, 254, 266, 277, 282 Erscheinungsraum 67, 82,
Anm. 1, 286 Anm. 1; siehe 99-101, 105, 109, 111,
auch Protest 115, 117, 120, 122, 126,
Denken 54, 59, 64, 85, 130, 156, 168, 202; siehe auch
158, 226, 231 f., 256 f., Erscheinungssphäre; Feld
261, 263-265, 279; siehe des Erscheinens
auch Geist-Körper- Erscheinungssphäre 51, 55,
Unterscheidung 70, 81, 104, 106 f., 118;
Derrida, Jacques 41, 87, 156, siehe auch Erscheinungs-
213, 228 raum; Feld des
Deutschland 9 f., 151, 277 ­Erscheinens
digitale Netzwerke 16, 124, Ethik 21, 23, 25, 34 f., 41,
222; siehe auch Handys 61 f., 92, 96, 133-148, 150,
Disability Studies 98, 181, 155 f., 158-160, 162 f., 248,
209 250 f., 266, 284 Anm. 5;
Diskurs 9-16, 23, 43, 46 f., siehe auch Gewaltlosigkeit;
54, 57, 83-86, 88, 132, 187, Moral
190, 196, 205, 220, 233, Ethik der Kohabitation 96,

301
133, 141, 150; siehe auch Frank, Jason 212, 226, 290 f.
Kohabitation Anm. 3
ethische Beziehung 134, Frankreich 68 f., 74, 95,
139-147 110 f., 190
ethische Verpflichtung siehe Frauen 64, 68 f., 73, 80 f., 95,
Verpflichtung 101, 103, 110 f., 163, 182 f.,
Europa 9, 19, 21, 101, 155, 184 f., 186 f., 190 f., 262, 264,
167, 190, 201, 286 Anm. 5, 289 Anm. 15; siehe auch
293 f. Anm. 7 Arbeitsteilung; Gender;
Exklusion 11, 13, 51, 55, 70, Privatsphäre; öffentliche
82, 106, 108 f., 111, 116, 119, Sphäre
128, 139, 143, 178, 213 f.; frei verfügbares Leben (dis-
siehe auch Inklusion posable life) 20, 25, 38,
Exponiertheit 76, 165 f., 197, 188, 199, 281 Anm. 5; siehe
204, 238 f., 241; siehe auch auch Unbetrauerbarkeit
Ausgesetztsein Freiheit 23, 28, 39, 41, 59,
65 f., 68, 72 f., 76-78, 82 f.,
falsches Leben 34, 249 f., 100, 111, 119, 125 f., 148 f.,
256, 276 f.; siehe auch 161, 166, 169, 176, 178 f.,
schlechtes Leben 182, 205-207, 222-224, 243,
Fantasie 26, 43, 45, 53, 252, 290 f. Anm. 3; siehe
56, 118, 215; siehe auch auch Meinungsfreiheit;
Ideal Recht zu erscheinen;
Faschismus 216, 237 ­Versammlungsfreiheit
Feld des Erscheinens 30, 51, Friedman, Milton 207
55, 58, 61, 114, 255; siehe
auch Erscheinungsraum; Gandhi, Mahatma 245, 292
Erscheinungssphäre Anm. 15
Felman, Shoshana 17, 231 Gebären 262
Feminismus 64, 69, 73 f., gebaute Umwelten 61
184-186, 190, 198, 287 f. Gefährdetsein siehe Prekarität
Anm. 9 Gefangene, Gefängnis 165 f.,
Ferguson, Missouri 39 178-180, 199, 216, 221-226,
Flüchtlinge 109 f., 112, 234, 239 f., 244, 246
152, 154 f., 166, 216, 224; Geist-Körper-
siehe auch Einwanderer; Unterscheidung 64, 261,
Menschen ohne Papiere 263; siehe auch Denken
Foucault, Michel 20, 108 gemeinsames Handeln 17,

302
35, 73 f., 97 f., 102, 109, 118, 178, 182-184, 186, 188, 194,
120, 131, 164, 175, 197, 197, 200, 202, 206, 209,
200, 202, 204, 236 f., 278, 223, 225, 236 f., 240, 242-
290 f. Anm. 3; siehe auch 248, 258; siehe auch Ge-
konzertierte Aktion schlechternormen; ge-
Gender 44, 46, 48 f., 54-56, waltfreier Widerstand;
77, 79, 81 f., 84-88, 95, 129; Gewaltlosigkeit; Polizei;
siehe auch Gender-Per- Transgender; wogende
formativität Menge
Gender-Performativität 47 f., gewaltfreier Widerstand
55, 77, 79, 83, 86, 88; siehe 242-248; siehe auch
auch Performativität Gewaltlosigkeit; Wider-
Genozid siehe Völkermord stand
Gerechtigkeit 29, 38 f., 67, Gewaltlosigkeit 134, 242-
72, 91, 96, 103, 126, 153, 248, 264, 292 Anm. 15;
165, 178, 210, 238, 256 f., siehe auch gewaltfreier
272 Widerstand
Gerichte 50, 57 f., 151, 185, Gezi-Park 18, 219, 225, 235,
258 239; siehe auch Gunduz,
Geschlechterideal 44, 56, Erdem
85 f. Gilmore, Ruth 67, 130
Geschlechternormen 40, 43- Gleichheit 12, 67 f., 72 f.,
57, 86-88, 186, 288 f. Anm. 79, 82, 94, 119-121, 151-
11 153, 160 f., 165, 180, 235,
Geschlechtszuweisung 44 f., 256, 264, 270, 272, 278 f.,
57, 84, 86-88 290 f. Anm. 3; siehe auch
Gesetze 50, 57 f., 69, 78, 96, Ungleichheit
101 f., 107-111, 113, 182, Greyser, Naomi 291
201, 207, 219, 222 f., 229, Anm. 8
245, 269 Großbritannien 127 f., 201,
Gesundheitsfürsorge 18, 282 Anm. 1
21 f., 24, 38 f., 50, 63, 129 f., Gunduz, Erdem 219, 291 f.
172, 186, 192, 236 Anm. 9
Gewalt 28, 39 f., 48-50, 54, gutes Leben 56, 249-251,
65, 68 f., 71-74, 76-83, 95, 255, 257 f., 260 f., 267, 269,
101 f., 107 f., 111-113, 119, 272-276, 278 f.; siehe auch
121 f., 125, 129, 134-136, richtiges Leben
153, 159, 161, 164, 166,

303
Haft siehe Gefangene Identitätspolitik 41
Handlungsmotiv 137 Inazu, John 209
Handys 30, 125 f., 200 Individualismus 23-25, 33,
Haraway, Donna 173 f., 268 59, 91, 147, 171, 196, 243,
Hausbesetzung 79, 110, 250, 272
127 f., 244 Individuum siehe Ich
Hawaii 210 Infrastruktur 18, 22, 28-
Hebron 182; siehe auch 30, 32-34, 61, 88 f., 92, 157,
Palästina 166-170, 173-175, 181 f.,
Hegel, Georg Wilhelm 186, 194, 204, 209
Friedrich 60, 139, 274 f., Inklusion 10-13, 109, 213,
283 Anm. 3 218, 222, 234; siehe auch
Hegemonie siehe Macht Exklusion
Heidegger, Martin 150 Inszenierung 13-17, 28-30,
Heidelberg 277 34 f., 39 f., 44-47, 53, 68, 72,
Heller, Ágnes 233 79, 81, 83 f., 114, 125, 180 f.,
historischer Kontext 19, 34, 202-205, 209, 211-213,
83, 151-153, 194, 232 f., 247 f. 215, 219-224, 229 f., 234-
Hobbes, Thomas 198 236, 243; siehe auch Per-
Homophobie 73 formativität
Honig, Bonnie 68, 213, 228 Interdependenz 61, 63, 95,
Hungerstreik 165, 178-180, 130, 157-159, 180, 198, 204,
221, 223, 244, 246 235, 243, 270 f., 278 f.; siehe
auch Abhängigkeit und
Ich (Individuum) 17, 23 f., Unterstützung
26, 28, 32 f., 59, 61, 71 f., Internationale Arbeits-
79, 93, 114, 134, 144, 146- organisation (IAO) 205,
149, 171, 191 f., 196 f., 289 f. Anm. 1
205, 219, 242 f., 249, 251, Islam 9 f., 122; siehe auch
255 f., 272, 274-277; siehe muslimische Frauen
auch Egoismus; Subjekt; Israel 49, 95, 141 f., 145, 151-
Wir 155
Ideal 24, 44, 56, 85 f., 120,
155, 161, 164 f., 171, 176 f., Jemen 122
180, 191, 236, 243, 266, 268, Judentum 141-143, 151-155,
272; siehe auch Fantasie 260, 286 Anm. 5
Identitäten 41, 80, 85, 91,
94, 96

304
Kafka, Franz 57, 180 siehe auch Militarismus
Kairo 179; siehe auch Tahrir- und Militarisierung
Platz Kriminalisierung 48, 50, 74,
Kauanui, J. Kēhaulani 210 77, 81, 91, 94, 241
Klein, Melanie 198 Kurden 74, 224
Kohabitation 34, 96, 132 f.,
141, 150-153, 158, 160 f.; Laclau, Ernesto 11, 213
siehe auch Allianzen und Latinos 190
Koalitionen; Ethik der Latour, Bruno 118
Kohabitation lebbares Leben, Lebbar-
Kohn, Hans 153 keit 29, 32, 38 f., 47 f., 56,
Kollektivismus 59 58, 61 f., 75, 85, 92, 94 f.,
Kolonialismus 154, 193 115, 152, 154, 156, 161, 168,
konstitutive Exklusion 11 175-177, 180, 197, 200, 237,
Konzentrationslager 259 261, 267 f., 270, 273, 278 f.;
konzertierte Aktion 15, siehe auch Unlebbarkeit
39, 68, 72, 110, 183, 197, lebenswertes Leben siehe
217, 223, 228, 266, 278; ­lebbares Leben
siehe auch gemeinsames Legitimität 15, 30, 77, 95,
Handeln 102, 109, 112 f., 115, 128,
Körper und Verkörperung 131, 152 f., 202, 206 f., 211 f.,
15-19, 25-29, 34 f., 37-39, 218, 222, 228, 244 f., 257
43-47, 53 f., 56, 58, 64-68, Leiden 32, 48 f., 106, 133-
72, 74-77, 80-82, 84, 87 f., 139, 159, 162, 189, 260,
91 f., 96, 98-100, 102-107, 262 f.
112-122, 124-132, 138- Lesbarkeit 54
140, 145, 155 f., 163-166, Lévinas, Emmanuel 34, 136,
169-184, 190-200, 202-205, 140-147, 154-156, 161,
208, 213 f., 221-224, 226, 285 f. Anm. 2
229, 231-236, 238-248, 253, Libyen 123
256, 261-271, 276-279, 284 Lokalität 78, 123 f., 140
Anm. 5 London siehe Großbritannien
Krankenversicherung 20 f., Lynchmob 164, 237
254; siehe auch Gesund-
heitsfürsorge Macht 10, 13 f., 20, 24, 31,
Krieg 21, 28, 40, 42, 61 f., 42 f., 47, 52-55, 61, 68, 70,
92, 94, 103, 123, 135 f., 155, 79 f., 87 f., 100 f., 106, 109,
159, 188, 196, 240, 248, 258; 113-116, 119, 124 f., 128 f.,

305
164, 166, 179, 183-185, 187, Mob 7, 164; siehe auch
189 f., 193, 202, 206 f., 209- Lynchmob; Pöbelherr-
213, 217 f., 223-225, 229, schaft
233, 236, 238, 251 f., 256 f., Mobilisierung 94, 113 f.,
263, 269, 276; siehe auch 163, 169 f., 174 f., 181-183,
Biomacht; Paternalismus 186, 189, 197, 199, 203, 235,
Magnes, Judah 153 238 f.
Männlichkeit 46, 64, 103, Mobilität 100, 114, 118,
183, 185, 187, 190 f. 169 f., 181 f., 283 Anm. 10
Marktrationalität 20, 241 Montreal 201
Marx, Karl 233 Moral 23-25, 28, 38, 74, 134,
Marxismus 173 188 f., 245, 249-252, 255,
Maschinen 173 f., 267 258-260, 272 f., 275-277;
Mbembe, Achille 20 siehe auch Ethik
Medien 18, 30 f., 76, 81, 116, Mouffe, Chantal 11
121-127, 131 f., 134, 137 f., Mubarak, Husni 120, 125
140, 159, 216 f., 222, 239, Multitude 19
248; siehe auch Technik muslimische Frauen 69,
medizinische Versorgung 74, 111; siehe auch Islam;
siehe Gesundheits­ Schleier
fürsorge
Meinungsfreiheit 16, 34, 99, nacktes Leben 60, 106-108,
170, 223, 239 184, 213, 241
Memmi, Albert 193 Nähe und Distanz 133-135,
Menschen ohne Papiere 58, 138-142, 152, 159
68, 188, 199, 220, 224, 241; Naher Osten 101
siehe auch Einwanderer; Namen 84, 86, 88, 217 f.,
Flüchtlinge; Recht, Rechte 260
zu haben Natalität 103, 262
Menschenrechte 68, 95, 185, Nationalismus 21, 23, 74,
188, 205 133, 153
Menschlichkeit 51-54, 59- Nekropolitik 20
61, 119 f., 156, 174-177, Neoliberalismus 19 f., 23 f.,
268, 274 37 f., 58, 92, 123, 188, 192,
Merkel, Angela 10 236, 241, 258 f.
Militarismus und Mi- Nichtanerkennung
litarisierung 18, 26 f., siehe Anerkennung­
73 f.; siehe auch Krieg nichtmenschliches

306
Leben 51-53, 59 f., 156, Pakistan 167
173 f. Palästina 22, 49, 55, 95, 141,
Nichtregierungs- 152 f., 155, 165, 182, 222
organisationen Parlament 14, 29, 211
(NGO s) 22, 189 passiver Widerstand
Niederlande 95 siehe Widerstand
Nordafrika 101 Paternalismus 184-186, 189,
Normen 43-59, 80 f., 86 f., 270
110, 133, 150, 158, 183, 186, Pathologisierung 49, 74 f.,
265, 275; siehe auch Ge- 77, 81, 91, 94
schlechternormen Patterson, Orlando 258
Notwendigkeit 60, 64-66, 77, Paul, Ron 20 f.
94, 145, 150, 153, 158, 167, Pegida 9 f.
186, 217 Performativität 13-17, 29,
40-43, 47 f., 63, 71 f., 78-
Occupy-Bewegungen 14, 87, 102, 112, 128, 180 f.,
18, 80, 180, 201 f., 204, 208, 198, 212, 220 f., 226-
227, 235 230, 234, 242, 263, 265-
öffentliche Sphäre, 267, 270, 278 f.; siehe auch
öffentlicher Raum 16- Gender-Performativität;
19, 24, 31, 39, 48, 50, 58, Inszenierung; plurale
62-64, 72, 77, 81, 96- ­Performativität
99, 103, 106, 108-111 f., Persistenz 28, 35, 38,
115, 117, 126 f., 130, 164, 53 f., 57, 80, 102, 112 f.,
166 f., 178, 201 f., 204, 128, 131 f., 139, 200, 202,
221-226, 238-241, 261- 253
264, 277, 286 f. Anm. 1; Pinochet, Augusto 207
siehe auch ­Arbeitsteilung; Platon 39
Erscheinungssphäre; plurale Performativität 15 f.,
Privat­sphäre 28 f., 34, 40, 70, 89, 198,
Ökonomie 19 f., 23-25, 33- 279; siehe auch Per-
35, 37 f., 48, 58, 121, 157, formativität; plurales
161, 170, 180, 188, 194, Handeln
196 f., 225, 238, 250, 258, plurales Handeln 17, 26, 29,
269 f., 273 f., 278 67, 89, 100, 105, 149, 202,
Ortsgebundenheit siehe 205, 213, 230, 238, 245, 279;
Lokalität siehe auch plurale Per-
formativität

307
Pöbelherrschaft 208; Hungerstreik; Tahrir-Platz;
siehe auch Mob Widerstand
politischer Raum 100, 102, Psychoanalyse 173, 190 f.
107, 168 f.; siehe auch Puar, Jasbir K. 94
Erscheinungsraum; öffent- Puerta del Sol 235
liche Sphäre
politische Sphäre siehe öffent- Queer 40, 46, 73 f., 76, 80,
liche Sphäre 85-87, 95 f., 101
Polizei 30, 39, 48-50, 68 f.,
71, 73 f., 77 f., 81, 101 f., 112, radikale Demokratie 11 f.,
126, 165 f., 168, 182-184, 91, 122, 236 f., 278 f.
202, 206 f., 214, 219, 223- Rancière, Jacques 213
225, 238-247; siehe auch Rassismus 51, 53, 58, 60,
Überwachung 67, 70, 155, 164, 190, 226,
Portugal 167 237
Prekarität 18 f., 24-28, 32- Reagon, Bernice
35, 37 f., 40 f., 48 f., 66 f., Johnson 198 f.
70 f., 80 f., 89, 91-94, 101 f., Recht zu erscheinen 19,
109, 113 f., 117, 119, 123, 37, 41, 70, 110; siehe auch
129-131, 133, 145, 154 f., Erscheinung; Freiheit
157 f., 161, 177, 186-189, Recht, Rechte zu haben 68,
192, 194, 197, 200, 234, 109, 113
236-238, 246, 252, 254, Rechtmäßigkeit siehe
258, 260, 265 f., 270, 278 f., ­Legitimität
288 Anm. 10; siehe auch Redefreiheit siehe Meinungs-
Vulnerabilität freiheit
Privatisierung 18, 24, 168, Reflexion 164, 222, 247, 255,
207, 225, 236, 240 276
Privatsphäre 62-64, 97 f., Relationalität 34, 119,
103, 107, 117 f., 155-157, 172, 196, 268 f.; siehe
261, 263-265; siehe auch auch ­Abhängigkeit und
Arbeitsteilung; öffentliche ­Unterstützung
Sphäre Religion 50, 69 f., 72, 80,
Protest 27 f., 40, 74, 110, 120, 93 f., 110 f., 122, 142 f., 147,
126-128, 167, 201, 235, 240, 152-155, 182
275-277; siehe auch Ara- Repräsentation 8 f., 12, 189,
bischer Frühling; Boykott; 203, 210, 212-225, 233, 240;
Demonstration; Gezi-Park; siehe auch Wahlen

308
Reproduktionsarbeit 103, 178 f., 182, 199 f., 202, 222,
156 240 f., 277
Responsibilisierung 25, Sontag, Susan 136
188; siehe auch Soziabilität 114, 120
­Verantwortung soziale Gerechtigkeit siehe
Revolution 64, 101, 107, Gerechtigkeit
120-122, 131 f., 202, 208, soziale Netzwerke 30, 33,
211 f., 228, 262; siehe 92, 125, 194, 200, 222, 224
auch Amerikanische sozialer Tod 188, 258
Revolution Sozialität 59, 114, 130, 144,
richtiges Leben 34, 56, 249- 154, 158, 230, 238, 271
252, 256, 258, 275 f.; siehe Sozialleistungen 23 f., 180;
auch gutes Leben siehe auch Gesundheits-
Roma 68, 167 fürsorge
Spanien 75, 180
Säkularismus 74, 110 Spinoza, Baruch de 195, 284
schlechtes Leben 249, 256, Anm. 5
269, 272-277; siehe auch Sprache 41-43, 64, 82, 84-
falsches Leben 87, 102, 104, 108, 118, 122,
Schleier 68 f., 110 f. 129, 138, 169, 181, 185,
Schweigen 15, 28 f., 118, 201-205, 226-229, 231, 233,
202-204, 213, 223, 243, 266, 261 f.; siehe auch Diskurs;
278 Sprechakt
Sedgwick, Eve Kosofsky 41, Sprechakt 17, 29, 64, 84-
85 f. 88, 204, 226-231, 245, 278;
Selbst siehe Ich siehe auch Sprache
Selbstbestimmung 9, 14, Staat 7, 11 f., 26, 30, 49,
86, 95, 210, 213, 220 f.; 68 f., 81, 95, 105, 109-
siehe auch Volks­ 115, 131, 136, 152 f., 184-
souveränität 186, 202, 206-209, 212 f.,
Selbstgenügsamkeit siehe 220-222, 224 f., 240, 245;
Autarkie siehe auch Biopolitik;
Sklave, Sklavenarbeit 64, Krieg; Militarismus und
193, 258, 262, 264 Militarisierung; Neo-
Slutwalks 181, 197, 289 liberalismus; Polizei;
Anm. 15 ­Staatenlosigkeit; Staats-
Smartphones siehe Handys bürgerschaft
Solidarität 33, 35, 41, 134, Staatenlosigkeit 19, 68, 80,

309
108 f., 155, 157; siehe auch 75, 80, 82, 95, 101, 110, 182,
Staat 241
stehender Mann (duran transnationale Allianzen 208
adam) siehe Gunduz, Transphobie 73, 241
Erdem Trauer siehe Betrauerbarkeit;
Stengers, Isabelle 118 Unbetrauerbarkeit
Sterblichkeit 66 f., 130 Tunesien 122
Stille siehe Schweigen Türkei 73 f., 110, 185, 216,
Straße 18 f., 37 f., 49 f., 58 f., 219, 222, 224, 239; siehe
71 f., 76-78, 80, 91, 94, 96- auch Gezi-Park
98, 101, 107, 112, 123-132,
163-169, 177-184, 199 f., Überleben 172-176, 193,
214 f., 234-236 259 f., 263, 267, 279
Subjekt 23, 34, 51, 54-57, 81, Überwachung 69, 77, 85,
93, 116, 184, 204, 209, 213, 165 f., 168, 178; siehe auch
230, 252, 264, 273; siehe Gegenüberwachung;
auch Ich ­Polizei
Südafrika 167 Umwelt 62, 118, 156, 173,
Syrien 111, 123 175, 269
Unbetrauerbarkeit 40, 153,
Tahrir-Platz 7, 14, 97, 120, 158, 199, 253-255, 277;
122, 127, 202, 235 siehe auch Betrauerbarkeit;
Taksim-Platz siehe Gezi-Park frei verfügbares Leben
Tarifverhandlungen 205, Ungewähltheit 137, 148-154,
289 f. Anm. 1 160 f., 199
Tea-Party-Bewegung 20-23 Ungleichheit 13, 33, 48,
Technik, Technologie 30 f., 66 f., 96, 130, 156-158,
102, 125-127, 169 f., 173- 177, 185-187, 190, 235,
175, 194, 200, 209, 214 f., 249 f., 252 f., 256, 264,
236; siehe auch Handys; 270, 273, 278; siehe auch
Medien ­Gleichheit
Terrorismus 9, 245 Universalismus 69 f.
Thoreau, Henry David 245 Universalität siehe All-
Tocqueville, Alexis de 7 gemeinheit
Trans-Aktivist/innen 74 Unlebbarkeit 48, 92, 177,
Transfrauen 73, 81, 182, 237, 255, 258, 270; siehe
185 auch lebbares Leben; Neo-
Transgender 46, 49, 56, 69- liberalismus

310
Unruhen 39 34, 80, 98, 107, 178, 203-
Unterjochung 67, 193 209, 212, 220, 222, 224-226,
Unterstützung siehe ­ 229, 240, 286 f. Anm. 1
Abhängigkeit und Verteidigungsfähigkeit 27
­Unterstützung Vertragstheorie 34, 135, 143,
US -Armee 27 147 f., 271
Utopismus 214 Verwundbarkeit 87-89,
118, 130 f., 147, 163, 171 f.,
Venezuela 167 181-197, 238-241, 265,
Verantwortlichkeit siehe Ver- 269, 271, 288 f. Anm. 11;
antwortung siehe auch Verletzlichkeit;
Verantwortung 23-26, 33, Vulnerabilität
37 f., 92, 135, 138, 145-148, virtuelle Räume 19, 97
154 f., 188 f. visuelles Feld siehe Feld des
Vereinigte Staaten von Ame- Erscheinens
rika 37, 75, 77, 101, 199, Volk 7-16, 26 f., 30-33, 201-
201, 208, 226, 228 f. 241; siehe auch Wille des
Vereinte Nationen 289 f. Volkes
Anm. 1 Völkermord 74, 148, 150-
Verkennung 13, 55 153, 155-158
verkörpertes Handeln siehe Volkssouveränität 7 f., 14,
Körper und Verkörperung 25, 189, 204, 209-213, 220-
Verkörperung siehe Körper 230; siehe auch Selbst-
und Verkörperung bestimmung; Volk; Wille
Verletzlichkeit 156, 184, des Volkes
195 f., 271; siehe auch Vulnerabilität 33, 49, 67, 145,
Vulnerabilität; Verwund- 156, 163, 172, 181-188, 193-
barkeit 199, 239, 269-271, 278 f.;
Verleugnung 63, 74, 111, siehe auch Abhängig-
117 f., 157, 190-192, 264 f., keit und Unterstützung;
270 f. Ausgesetztsein; Durch-
Verpflichtung 24, 34, 44 f., lässigkeit; Prekarität; Ver-
47, 111, 129, 133, 135-138, letzlichkeit; Verwundbar-
141-143, 146, 148, 150, 152- keit
156, 158, 160-162, 206,
259 f., 266 Wahlen siehe auch Re-
Versammlungsfreiheit, Ver- präsentation 210 f., 218-
sammlungsrecht 16, 30, 220, 222

311
wechselseitige Abhängigkeit 216-223, 227, 234 f., 241;
siehe Interdependenz siehe auch Ich; Volk
Widerstand 17, 22, 29, 31, Wirtschaft siehe Ökonomie
35, 54, 60, 68, 92 f., 98, 106, Wittgenstein, Ludwig 265
108, 113, 115, 120 f., 134, wogende Menge 164, 177,
163, 165 f., 178-180, 185 f., 236 f.
193, 199, 207, 211, 224, Würde 119, 264
238 f., 242 f., 262, 275-278,
292 Anm. 15; siehe auch Zensur 28, 124-126, 206, 239
gewaltfreier Widerstand; Zerilli, Linda 66
Gunduz, Erdem; Protest ziviler Ungehorsam 245, 292
Wille des Volkes 7 f., 13-15, Anm. 15
30, 102, 116, 200, 204, 210, Zukunft 18, 25, 81, 92, 102,
219, 236, 245; siehe auch 220, 254, 259
Volk Zu-tun-Haben-mit 133
Wir 9, 31, 71 f., 81, 91, 154, Zynismus 11, 30, 258, 272
161, 170, 177, 201-204, 211,

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